IMMANUEL KANTS
WERKE
LIBRARY
718053
UNIVERSITY OF TOROMTO
IMMANUEL KANTS
U{
WERKE
IN GEMEINSCHAFT
MIT
Hl.RMANN COHEN, ARTĂśR ĂźUCHENAU,
OTTO BĂśEK, ALBERT GĂ–RLAND,
B. KELLERMANN, O. SCHĂ–NDĂ–RFFER
HERAUSGEGEBEK VON
ERNST CASSIRER
BAND VII
\ I RLECrr BEI I5RUNO CASSIRER
\] E R L l N
DIE METAPHYSIK
DER SITTEN
DER STREIT DER FAKULTĂ„TEN
HERAUSGEGEBEN
VON
DR. BENZION KELLERiMANN
VERLEGT BEI BRUNO CASSIRER
BERLIN 1922
3.-5. TAUSKND
Die
M e t a p ii y s i k der Sitten
in zwei Teilen.
Di
Metaphysik der Sitten
in zwei Te i 1 e n
AbgefaĂźt
von
Immanuel Kant.
Königsberg
bey Friedrich Nicolovius
Metaphysische Anfangsgrund
de;
Rechtslehr
Von
Immanuel Kant.
Königsberg
bey Friedrich Nicolovius
^797
Vo r r e d e
Auf die Kritik der praktischen Vernunft sollte das System, die
/jl Metaphysik der Sitten, folgen, welches in metaphysische
AnfangsgrĂĽnde der Rechtslehre und in eben solche fĂĽr die
Tugendlehre zerfällt (als ein Gegenstück der schon gelieferten
metaphysischen AnfangsgrĂĽnde der Naturwissenschaft), wozu
die hier folgende Einleitung die Form des Systems in beiden vor-
stellig und zum Teil anschaulich macht.
Die Rechtslehre als der erste Teil der Sittenlehre ist nun
das, wovon ein aus der Vernunft hervorgehendes System verlangt
wird, welches man die Metaphysik des Rechts nennen könnte.
Da aber der Begriff des Rechts als ein reiner, jedoch auf die
Praxis (Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle)
gestellter Begriff ist, mithin ein metaphysisches System desselben
in seiner Einteilung auch auf die empirische Mannigfaltigkeit jener
Fälle Rücksicht nehmen müßte, um die Einteilung vollständig zu
machen (welches zur Errichtung eines Systems der Vernunft eine
unerläßliche Forderung ist), Vollständigkeit der Einteilung des
Empirischen aber unmöglich ist, und, wo sie versucht wird
(wenigstens um ihr nahe zu kommen), solche Begriffe nicht als
integrierende Teile in das System, sondern nur als Beispiele in
die Anmerkungen kommen können: so wird der für den ersten
Teil der Metaphysik der Sitten allein schickliche Ausdruck sein
metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Rechtslehre: weil in
Rücksicht auf jene Fälle der Anwendung nur Annäherung zum
System, nicht dieses selbst erwartet werden kann. Es wird daher
hiemit, so vne mit den (frĂĽheren) metaphysischen AnfangsgrĂĽnden
der Naturwissenschaft, auch hier gehalten werden: nämlich das
Recht, was zum a priori entworfenen System gehört, in den Text,
die Rechte aber, welche auf besondere Erfahrungsfälle bezogen
6 Vo r r e d e
werden, in /um Teil wcitläuftigfc Anmerkungen zu bringen: weil
sonst das, was hier Metaphysik ist, von dem, was empirische
Rechtspraxis ist, nicht wohl unterschieden werden könnte.
Ich kann dem so oft gemachten Vorwurf der Dunkelheit, ja
wohl gar einer gcHissenen, den Schein tiefer Einsicht affektierenden
Undeutlichkeit im philosophischen Vortrage nicht besser zuvor-
kommen oder abhelfen, als daĂź ich, was Herr GARVE, ein Philo-
soph in der echten Bedeutung des Worts, jedem, vornehmlich
dem philosophierenden Schriftsteller zur Pflicht macht, bereitwillig
annehme und meinerseits diesen Anspruch bloĂź auf die Bedingung
einschränke, ihm nur soweit Folge zu leisten, als es die Natur
der Wissenschaft eriaubt, die zu berichtigen und zu erweitern ist.
Der weise Mann fordert (in seinem Werk, Vermischte Auf-
sitze betitelt, S. 3 5 1 u. f.) mit Recht, eine jede philosophische
Lehre mĂĽsse, wenn der Lehrer nicht selbst in den Verdacht der
Dunkelheit seiner Begriffe kommen soll — zur Popularität (einer
zur allgemeinen Mitteilung hinreichenden Versinnlichung) gebracht
werden können. Ich räume das gern ein, nur mit Ausnahme des
Systems einer Kritik des Vernunftvermögens selbst und alles dessen,
was nur durch dieser ihre Bestimmung beurkundet werden kann:
weil es zur Unterscheidung des Sinnlichen in unserem Erkenntnis
vom Ăśbersinnlichen, dennoch aber der Vernunft Zustehenden ge-
hört. Dieses kann nie populär werden, so wie überhaupt keine
formelle Metaphysik; obgleich ihre Resultate fĂĽr die gesunde
Vernunft (eines Metaphysikers, ohne es zu wissen) ganz einleuchtend
gemacht werden können. Hier ist an keine Popularität (Volks-
sprache) zu denken, sondern es muĂź auf scholastische PĂĽnkt-
lichkeit, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten wĂĽrde, gedrungen
werden (denn es ist Schulsprache): weil dadurch allein die
voreilige Vernunft dahin gebracht werden kann, vor ihren dog-
matischen Behauptungen sich erst selbst zu verstehen.
Wenn aber Pedanten sich anmaĂźen, zum Publikum (auf
Kanzeln und in Volksschriften) mit Kunstwörtern zu reden, die
ganz, fĂĽr die Schule geeignet sind, so kann das so wenig dem
kritischen Philosophen zur Last fallen, als dem Grammatiker der
Unverstand des Wortklaubers (Jogodae dolus). Das Belachen kann
hier nur den Mann, aber nicht die Wissenschaft treffen.
Es klingt arrogant, selbstsĂĽchtig und fĂĽr die, welche ihrem
alten System noch nicht entsagt haben, vcrkleinerlich, zu be-
haupten: daĂź vor dem Entstehen der kritischen Philosophie es
Vo r r e d g 7
noch gar keine gegeben habe. — Um nun über diese scheinbare
Anmaßung absprechen zu können, kommt es auf die Frage an:
ob es wohl mehr als eine Philosophie geben könne?
Verschiedene Arten zu philosophieren und zu den ersten Vernunft-
prinzipien zurĂĽckzugehen, um darauf mit mehr oder weniger GlĂĽck
ein System zu grĂĽnden, hat es nicht allein gegeben, sondern es
muĂźte viele Versuche dieser Art, deren jeder auch um die gegen-
wärtige sein Verdienst hat, geben; aber da es doch, objektiv be-
trachtet, nur eine menschliche Vernunft geben kann: so kann es
auch nicht viel Philosophien geben, d. i. es ist nur ein wahres
System derselben aus Prinzipien möglich, so mannigfaltig und oh
widerstreitend man auch ĂĽber einen und denselben Satz philo-
sophiert haben mag. So sagt der Moralist mit Recht: es gibt
nur Eine Tugend und Lehre derselben, d. i. ein einziges System,
das alle Tugendpflichten durch ein Prinzip verbindet; der Chymist:
es gibt nur Eine Chemie (die nach LAVOISIER); der Arznei-
1 ehr er: es gibt nur Ein Prinzip zum System der Krankheits-
einteilung (nach BROWN), ohne doch darum, weil das neue
System alle andere ausschließt, das Verdienst der älteren (Mora-
hsten, Chemiker und Arzneilehrer) zu schmälern: weil ohne dieser
ihre Entdeckungen, oder auch miĂźlungene Versuche wir zu jener
Einheit des wahren Prinzips der ganzen Philosophie in einem
System nicht gelangt wären. — Wenn also jemand ein System
der Philosophie als sein eigenes Fabrikat ankĂĽndigt, so ist es eben
so viel, als ob er sagte: vor dieser Philosophie sei gar keine andere
noch gewesen. Denn wollte er einräumen, es wäre eine andere
(und wahre) gewesen, so würde es über dieselbe Gegenstände
zweierlei wahre Philosophien gegeben haben, welches sich wider-
spricht. — Wenn also die kritische Philosophie sich als eine
solche ankĂĽndigt, vor der es ĂĽberall noch gar keine Philosophie
gegeben habe, so tut sie nichts anders, als was alle getan haben,
tun werden, ja tun mĂĽssen, die eine Philosophie nach ihrem eigenen
Plane entwerfen.
Von minderer Bedeutung, jedoch nicht ganz ohne alle Wich-
tigkeit wäre der Vorwurf: daß ein diese Philosophie wesentlich
unterscheidendes Stück doch nicht ihr eigenes Gewächs, sondern
etwa einer anderen Philosophie (oder Mathematik) abgeborgt sei:
dergleichen ist der Fund, den ein tĂĽbingscher Rezensent gemacht
haben will, und der die Definition der Philosophie ĂĽberhaupt
angeht, welche der Verfasser der Kritik d. r. V. fĂĽr sein eigenes.
8 Vor r e d e
nicht unerhebliches Produkt ausgibt, und die doch schon vor
vielen Jahren von einem anderen tast mit denselben AusdrĂĽcken
gegeben worden sei.') Ich ĂĽberlasse es einem jeden, zu beurteilen,
ob die Worte: iutellectualis quaedam constructio^ den Gedanken der
Darstellung eines gegebenen Begrit^ts in einer Anschau-
ung a priori hätten hervorbringen können, wodurch auf einmal
die Philosopliie von der Mathematik ganz bestimmt geschieden
wird. Ich bin gewiĂź: HAUSEN selbst wĂĽrde sich geweigert
haben, diese Erklärung seines Ausdrucks anzuerkennen; denn die
Möglichkeit einer Anschauung a priori, und daß der Raum eine
solche und nicht ein bloĂź der empirischen Anschauung (Wahr-
nehmung) gegebenes Nebeneinandersein des Mannigfaltigen auĂźer
einander sei (wie WOLFF ihn erklärt), würde ihn schon aus dem
Grunde abgeschreckt haben, weil er sich hiemit in weit hinaus-
sehende philosophische Untersuchungen verwickelt gefühlt hätte.
Die gleichsam durch den Verstand gemachte Darstellung be-
deutete dem scharfsinnigen Mathematiker nichts weiter, als die
einem Begriffe korrespondierende (empirische) Verzeichnung einer
Linie, bei der bloĂź auf die Regel acht gegeben, von den in
der AusfĂĽhrung unvermeidlichen Abweichungen aber abstrahiert
wird; wie man es in der Geometrie auch an der Konstruktion
der Gleichungen wahrnehmen kann.
Von der allermindesten Bedeutung aber in Ansehung des
Geistes dieser Philosophie ist wohl der Unfug, den einige Nach-
älFer derselben mit den Wörtern stiften, die in der Kritik d. r. V.
selbst nicht wohl durch andere gangbare zu ersetzen sind, sie auch
außerhalb derselben zum öffentlichen Gedankenverkehr zu brauchen,
und welcher allerdings gezĂĽchtigt zu werden verdient, w^ie FJr.
NICOLAI tut, wiewohl er über die gänzliche Entbehrung der-
selben in ihrem eigentĂĽmlichen Felde, gleich als einer ĂĽberall bloĂź
versteckten Armseligkeit an Gedanken, kein Urteil zu haben sich
selbst bescheiden wird. — Indessen läßt sich über den unpopu-
lären Pedanten freilich viel lustiger lachen, als über den un-
kritischen Ignoranten (denn in der Tat kann der Metaphysiker,
welcher seinem Systeme steif anhängt, ohne sich an alle Kritik
') Porro de actuali constnicrione hie non quaerirur, cum ne possint
quidem scnsibiles tigurae ad rigorcm dcfinirionum effingi; sed requiritur
cogniticj eorum, quibus absolvitur Formario, quae inrellectualis quaedam
consrructio est. C. A. Hausen, Eiern. Marlies. Pars I. p. 86. A. 1734.
Vor r e d e 9
zu kehren, zur letzteren Klasse gezählt werden, ob er zwar nur
willkĂĽrlich ignoriert, was er nicht aufkommen lassen will, weil
es zu seiner älteren Schule nicht gehört). Wenn aber nach
SHAFTESBURYS Behauptung es ein nicht zu verachtender Probier-
stein fĂĽr die Wahrheit einer (vornehmlich praktischen) Lehre ist,
wenn sie das Belachen aushält, so müßte wohl an den kritischen
Philosophen mit der Zeit die Reihe kommen zuletzt und so auch
am besten zu lachen: wenn er die papierne Systeme derer, die
eine lange Zeit das groĂźe Wort fĂĽhrten, nach einander einstĂĽrzen
und alle Anhänger derselben sich verlaufen sieht: ein Schicksal,
was jenen unvermeidlich bevorsteht.
Gegen das Ende des Buchs habe ich einige Abschnitte mit
minderer AusfĂĽhrlichkeit bearbeitet, als in Vergleichung mit den
vorhergehenden erwartet werden konnte: teils weil sie mir aus
diesen leicht gefolgert werden zu können schienen, teils auch weil
die letzte (das öffentliche Recht betreffende) eben jetzt so vielen
Diskussionen unterworfen und dennoch so wichtig sind, daĂź sie
den Aufschub des entscheidenden Urteils auf einige Zeit wohl
rechtfertigen können.
Die metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
hoffe ich in kurzem liefern zu können.
lo Taffl der Einteilung der Rechtslehre
Tafel
der Einteilung der Rechtslehre.
Erster Teil.
Das Privatrecht in Ansehung äußerer Gegenstände (Inbegrifl-
derjenigen Gesetze, die keiner äußeren Bekanntmachung bedürfen).
Erstes HauptstĂĽck.
Von der Art etwas Ă„uĂźeres als das Seine zu haben.
Zweites HauptstĂĽck.
Von der Art etwas Ă„uĂźeres zu erwerben.
Einteilung der äußeren Erwerbung.
Erster Abschnitt.
Vom Sachenrecht.
Zweiter Abschnitt.
Vom persönlichen Recht.
Dritter Abschnitt.
Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht.
Episodischer Abschnitt.
Von der idealen Erwerbung.
Drittes HauptstĂĽck.
Von der subjektiv-bedingten Erwerbung vor einer Gerichtsbarkeit.
Zweiter Teil.
Das öffentliche Recht (Inbegriff der Gesetze, die einer öffent-
lichen Bekanntmachung bedĂĽrfen).
Erster Abschnitt.
Das Staatsrecht.
Zweiter Abschnitt.
Das Völkerrecht.
Dritter Abschnitt.
Das VVeltbĂĽrgcrrccht.
Einleitung
in die Metaphysik der Sitten.
I.
Von dem Verhältnis der Vermögen des menschlichen
GemĂĽts zu den Sittengesetzen.
Begehrungsvermögen ist das Vermögen, durch seine Vor-
stellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu
sein. Das Vermögen eines Wesens, seinen Vorstellungen gemäß
zu handeln, heiĂźt das Leben.
Mit dem Begehren oder Verabscheuen ist erstlich jederzeit
Lust oder Unlust, deren Empfänglichkeit man Gefühl nennt,
verbunden; aber nicht immer umgekehrt. Denn es kann eine
Lust geben, welche mit gar keinem Begehren des Gegenstandes,
sondern mit der bloĂźen Vorstellung, die man sich von einem
Gegenstande macht (gleichgĂĽltig, ob das Objekt derselben existiere
oder nicht), schon verknĂĽpft ist. Auch geht zweitens nicht
immer die Lust oder Unlust an dem Gegenstande des Begehrens
vor dem Begehren vorher und darf nicht allemal als Ursache,
sondern kann auch als Wirkung desselben angesehen werden.
Man nennt aber die Fähigkeit, Lust oder Unlust bei einer
Vorstellung zu haben, darum GefĂĽhl, weil beides das bloĂź
Subjektive im Verhältnisse unserer Vorstellung und gar keine
Beziehung auf ein Objekt zum möglichen Erkenntnisse desselben')
') Man kann Sinnlichkeit dtxrch das Subjekrive unserer Vorstellungen
überhaupt erklären; denn der Verstand bezieht allererst die Vorstellungen
auf ein Objekt, d. i. er allein denkt sich etwas vermittelst derselben.
Nun kann das Subjektive unserer Vorstellung entweder von der Art
sein, daĂź es auch auf ein Objekt zum Erkenntnis desselben (der Form
oder Materie nach, da es im ersteren Falle reine Anschauung, im
1 2 Einleitung in die Metaphysik der Sitten
nicht einmal dem Erkenntnisse unseres Zustandes) enthält; da sonst
selbst Kmphndungcn außer der Qualität, die ihnen der Beschaffenheit
des Subjekts wegen anhängt (z. B. des Roten, des Süßen u. s. w.),
doch auch aJs ErkenntnisstĂĽcke auf ein Objekt bezogen werden,
die Lust oder Unlust aber (am Roten und SĂĽĂźen) schlechterdings
nichts am Objekte, sondern lediglich Beziehung aufs Subjekt aus-
drückt. Näher können Lust und Unlust für sich und zwar eben
um des angeführten Grundes willen nicht erklärt werden, sondern
man kann allenfalls nur, was sie in gewissen Verhältnissen für
Folgen haben, anfĂĽhren, um sie im Gebrauch kennbar zu machen.
Man kann die Lust, welche mit dem Begehren (des Gegen-
standes, dessen Vorstellung das GefĂĽhl so affiziert) notwendig ver-
bunden ist, praktische Lust nennen: sie mag nun Ursache oder
Wirkung vom Begehren sein. Dagegen wĂĽrde man die Lust, die
mit dem Begehren des Gegenstandes nicht notwendig verbunden
ist, die also im Grunde nicht eine Lust an der Existenz des
C^bjekts der Vorstellung ist, sondern bloĂź an der Vorstellung
allein haftet, bloß kontemplative Lust oder untätiges Wohl-
getallen nennen können. Das Gefühl der letztern Art von Lust
nennen wir Geschmack. Von diesem wird also in einer prak-
tischen Philosophie nicht als von einem einheimischen Begriffe,
sondern allenfalls nur episodisch die Rede sein. Was aber die
praktische Lust betrifft, so wird die Bestimmung des Begehrungs-
vermögens, vor welcher diese Lust als Ursache notwendig vor-
hergehen muß, im engen Verstände Begierde, die habituelle
Begierde aber Neigung heiĂźen, und weil die Verbindung der
Lust mit dem Begehrungsvermögen, sofern diese Verknüpfung
durch den Verstand nach einer allgemeinen Regel (allenfalls auch
nur fĂĽr das Subjekt) gĂĽltig zu sein geurteilt wird, Interesse
heiĂźt, so wird die praktische Lust in diesem Falle ein Interesse
der Neigung, dagegen wenn die Lust nur auf eine vorhergehende
zu'ciren Lmpfindung heiCit) bezogen werden kann; in diesem Fall ist die
Sinniiclikeir, als Empfänglichkeit der gedachten Vorstellung, der Sinn.
Oder das Subjektive der Vorsrellung kann gar kein ErkenntnisstĂĽck
werden: weil es bloĂź die Beziehung derselben aufs Subjekt und nichts
zur Erkenntnis des Objekts Brauchbares enthält; und alsdann heißt diese
Empfänglichkeit der Vorstellung Gefühl, welches die Wirkung der
Vorstellung (diese mag sinnlich oder intellektuell sein) aufs Subjekt
enthalt und zur Sinnlichkeit gehört, obgleich die Vorstellung selbst zum
Versrande oder der Vernunft gehören mag.
Einleitung in die Metaphysik der Sitten ij
Bestimmung des Begehrungsvermögens folgen kann, so wird sie
eine intellektuelle Lust und das Interesse an dem Gegenstande ein
Vernunftinteresse genannt werden müssen; denn wäre das Interesse
sinnlich und nicht bloĂź auf reine Vernunftpirinzipicn gegrĂĽndet,
so mĂĽĂźte Empfindung mit Lust verbunden sein und so das Bc-
gehrungsvermögen bestimmen können. Obgleich, wo ein bloß
reines Vernunftinteresse angenommen werden muĂź, ihm kein
Interesse der Neigung untergeschoben werden kann, so können
wir doch, um dem Sprachgebrauche gefällig zu sein, einer Nei-
gung selbst zu dem, was nur Objekt einer intellektuellen Lust
sein kann, ein habituelles Begehren aus reinem Vernunftintcressc
einräumen, welche alsdann aber nicht die Ursache, sondern die
Wirkung des letztern Interesse sein wĂĽrde, und die wir die sinne n-
freie Neigung (propensio intellectualis) nennen könnten.
Noch ist die Konkupiszenz (das GelĂĽsten) von dem Be-
gehren selbst als Anreiz zur Bestimmung desselben zu unterscheiden.
Sie ist jederzeit eine sinnliche, aber noch zu keinem Akt des
Begehrungsvermögens gediehene Gemütsbestimmung.
Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestim-
mungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem
Objekte angetroffen wird, heißt ein Vermögen nach Belieben
zu tun oder zu lassen. Sofern es mit dem BewuĂźtsein des
Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts ver-
bunden ist, heiĂźt es WillkĂĽr; ist es aber damit nicht verbunden,
so heiĂźt der Aktus desselben ein Wunsch. Das Begehrungs-
vermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das
Belieben in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird, heiĂźt
der Wille. Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht
sowohl (wie die WillkĂĽr) in Beziehung auf die Handlung, als
vielmehr auf den Bestimmungsgrund der WillkĂĽr zur Handlung
betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungs-
grund, sondern ist, sofern sie die WillkĂĽr bestimmen kann, die
praktische Vernunft selbst.
Unter dem Willen kann die WillkĂĽr, aber auch der bloĂźe
Wunsch enthalten sein, sofern die Vernunft das Begehrungs-
vermögen überhaupt bestimmen kann. Die Willkür, die durch
reine Vernunft bestimmt werden kann, heiĂźt die freie WillkĂĽr.
Die, welche nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb, Stimulus)
bestimmbar ist, vnirde tierische WillkĂĽr {arbitrium brutum) sein.
Die menschliche WillkĂĽr ist dagegen eine solche, welche durch
14 Emleitujjg in die Metaphysik der Sitten
Antriebe zwar aFfizicrt, aber nicht bestimmt wird, und ist also
fĂĽr sich (olinc erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht rein,
kann aber doch zu Handhingen aus reinem Willen bestimmt
werden. Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer
Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Be-
grifF derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Ver-
nunft FĂĽr sich selbst praktisch zu sein. Dieses ist aber nicht
anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer
jeden Fiandlung unter die Be\lmgung der Tauglichkeit der erstem
zum allgemeinen Gesetze. Derm als reine Vernunft, auf die Will-
kĂĽr, unangesehen dieser ihres Objekts, angewandt, kann sie als
Vermögen der Prinzipien (und hier praktischer Prinzipien, mithin
als gesetzgebendes Vermögen), da ikr die Materie des Gesetzes
abgeht, nichts mehr als die Form der Tauglichkeit der Maxime
der WillkĂĽr zum allgemeinen Gesetze selbst zum obersten Gesetze
und Bestimmungsgrunde der WillkĂĽr machen, und da die Maximen
des Menschen aus subjektiven Ursachen mit jenen objektiven nicht
von selbst ĂĽbereinstimmen, dieses Gesetz nur schlechthin als Im-
perativ des Verbots oder Gebots vorschreiben.
Diese Gesetze der Freiheit heiĂźen zum Unterschiede von Natur-
gesetzen moralisch. Sofern sie nur auf bloße äußere Fiand-
lungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch;
fordern sie aber auch, daĂź sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungs-
grĂĽnde der Flandlungcn sein sollen, so sind sie ethisch, und als-
dann sagt man: die Ăśbereinstimmung mit den ersteren ist die
Legalität, die mit den zweiten die Moralität der Fiandlung.
Die Freiheit, auf die sich die erstem Gesetze beziehen, kann nur
die Freiheit im äußeren Gebrauche, diejenige aber, auf die sich
die letztere beziehen, die Freiheit sowohl im äußern als innern
Gebrauche der WillkĂĽr sein, sofern sie durch Vernunftgesetze
bestimmt wird. So sagt man in der theoretischen Philosophie: im
Räume sind nur die Gegenstände äußerer Sinne, in der Zeit aber
alle, sowohl die Gegenstände äußerer als des inneren Sinnes: weil
die Vorstellungen beider doch Vorstellungen sind und sofern ins-
gesamt zum inneren Sinne gehören. Ebenso, mag die Freiheit im
äußeren oder inneren Gebrauche der Willkür betrachtet werden,
so mĂĽssen doch ihre Gesetze, als reine praktische Vernunftgesetzc
fĂĽr die freie WillkĂĽr ĂĽberhaupt, zugleich innere Bestimmungs-
grĂĽndc derselben sein: obgleich sie nicht immer in dieser Be-
ziehung betrachtet werden dĂĽrfen.
Einleitung in die Metaphysik der Sitten 15
IL
Von der Idee und der Notwendigkeit einer Metaphysik
der Sitten.
DaĂź man fiir die Naturwissenschaft, welche es mit den Gegen-
ständen äußerer Sinne zu tun hat, Prinzipien a priori haben müsse,
und daß es möghch, ja notwendig sei, ein System dieser Prin-
zipien unter dem Namen einer metaphysischen Naturwissenschaft
vor der auf besondere Erfahrungen angewandten, d. i. der Physik,
voranzuschicken, ist an einem andern Orte bewiesen worden.
Allein die letztere karm (wenigstens wenn es ihr darum zu tun
ist, von ihren Sätzen den Irrtum abzuhalten) manches Prinzip auf
das Zeugnis der Erfahrung als allgemein annehmen, obgleich das
letztere, wenn es in strenger Bedeutung allgemein gelten soll, aus
GrĂĽnden a priori abgeleitet werden mĂĽĂźte, wie NEWTON das
Prinzip der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung im Ein-
flüsse der Körper auf einander als auf Erfahrung gegründet an-
nahm und es gleichwohi ĂĽber die ganze materielle Natur ausdehnte.
Die Chymiker gehen noch weiter und grĂĽnden ihre allgemeinste
Gesetze der Vereinigung und Trennung der Materien durch ihre
eigene Kräfte gänzlich auf Erfahrung und vertrauen gleichwohl
auf ihre Allgemeinheit und Notwendigkeit so, daĂź sie in den
mit ihnen angestellten Versuchen keine Entdeckung eines Irrtums
besorgen.
Allein mit den Sittengesetzen ist es anders bewandt Nur
sofern sie als a priori gegrĂĽndet und notwendig eingesehen
werden können, gelten sie als Gesetze, ja die Begriffe und Urteile
ĂĽber uns selbst und unser Tun und Lassen bedeuten gar nichts
Sittliches, wenn sie das, was sich bloĂź von der Erfahrung lernen
läßt, enthalten, und wenn man sich etwa vcdeiten läßt, etwas aus
der letztern Quelle zum moralischen Grundsätze zu machen, so
gerät man in Gefahr der gröbsten und verderbhchsten Irrtümer.
Wenn die Sittenlehre nichts als Glückseligkeitslehre wäre, so
wĂĽrde es ungereimt sein, zum Behuf derselben sich nach Prinzipien
a priori umzusehen. Denn so scheinbar es immer auch lauten
mag: daß die Vernunft noch vor der Erfahrung einsehen könne,
durch welche Mittel man zum dauerhaften GenuĂź wahrer Freuden
des Lebens gelangen könne, so ist doch aUes, was man darüber
lö Einleitung m die Metaphysik der Sitten
a priori lehrt, entweder tautologisch, oder ganz grundlos angenom-
men. Nur die Erfahrung kann lehren, was uns Freude bringe. Die
natĂĽrlichen Triebe zur Nahrung, zum Geschlecht, zur Ruhe, zur
Bewegung und (bei der Entwickelung unserer Naturanlagen) die
Triebe zur Ehre, zur Erweiterung unserer Erkenntnis u. dgl.,
können allein und einem jeden nur aut seine besondere Art zu
erkennen geben, worin er jene Freuden zu setzen, ebendieselbe
kann ihm auch die Mittel lehren, wodurch er sie zu suchen
habe. Alles scheinbare VernĂĽnfteln a priori ist hier im Grunde
nichts, als durch Induktion zur Allgemeinheit erhobene Erfahrung,
welche Allgemeinheit (secundum prtncipia generalioj non untversaltd)
noch dazu so kĂĽmmerlich ist, daĂź man einem jeden unendlich
viel Ausnahmen erlauben muĂź, um jene Wahl seiner Lebensweise
seiner besondern Neigung und seiner Empfänglichkeit für die
VergnĂĽgen anzupassen und am Ende doch nur durch seinen oder
anderer ihren Schaden klug zu werden.
Allein mit den Lehren der Sittlichkeit ist es anders bewandt.
Sie gebieten fĂĽr jedermann, ohne RĂĽcksicht auf seine Neigungen
zu nehmen: bloĂź weil und sofern er frei ist und praktische Ver-
nunft hat- Die Belehrung in ihren Gesetzen ist nicht aus der
Beobachtung seiner selbst und der Tierheit in ihm, nicht aus der
Wahrnehmung des Weltlaufis geschöpft, von dem, was geschieht
und wie gehandelt wird (obgleich das deutsche Wort Sitten
ebenso wie das lateinische mores nur Manieren und Lebensart
bedeutet), sondern die Vernunft gebietet, wie gehandelt werden
soll, wenngleich noch kein Beispiel davon angetroffen wĂĽrde, auch
nimmt sie keine RĂĽcksicht auf den Vorteil, der uns dadurch
erwachsen kann, und den freilich nur die Erfahrung lehren
könnte. Denn ob sie zwar erlaubt, unsern Vorteil auf alle uns
mögliche Art zu suchen, überdem auch sich, auf Erfahrungs-
zeugnisse fuĂźend, von der Befolgung ihrer Gebote, vornehmlich
wenn Klugheit dazu kommt, im Durchschnitte größere Vorteile,
als von ihrer Ăśbertretung wahrscheinlich versprechen kann, so
beruht darauf- doch nicht die Autorität ihrer Vorschriften als
Gebote, sondern sie bedient sich derselben (als Ratschläge) nur
als eines Gegengewichts wider die Verleitungen zum Gegenteil,
um den Fehler einer parteiischen Wage in der praktischen Be-
urteilung vorher auszugleichen und alsdenn allererst dieser nach
dem Gewicht der GrĂĽnde a priori einer reinen praktischen Ver-
nunft den Ausschlag zu sichern.
Einleitung in die Metaphysik der Sitten 17
Wenn daher ein System der Erkenntnis a priori aus bloĂźen
Begriffen Metaphysik heiĂźt, so wird eine praktische Philosophie,
welche nicht Natur, sondern die Freiheit der WillkĂĽr zum Ob-
jekte hat, eine Metaphysik der Sitten voraussetzen und bedĂĽrfen:
d. i. eine solche zu haben ist selbst Pflicht, und jeder Mensch
hat sie auch, obzwar gemeiniglich nur auf dunkle Art in sich,
denn wie könnte er ohne Prinzipien a priori eine allgemeine Ge-
setzgebung in sich zu haben glauben? So wie es aber in einer
Metaphysik der Natur auch Prinzipien der Anwendung jener allge-
meinen obersten Grundsätze von einer Natur überhaupt auf- Gegen-
stände der Erfahrung geben muß, so wird es auch eine Metaphysik der
Sitten daran nicht können mangeln lassen, und wir werden oft die
besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt
wird, zum Gegenstande nehmen mĂĽssen, um an ihr die Folgerungen
aus den allgemeinen moralischen Prinzipien zu zeigen, ohne daĂź
jedoch dadurch der Reinigkeit der letzteren etwas benommen, noch
ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird. — Das
will so viel sagen als: eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf
Anthropologie gegrĂĽndet, aber doch auf sie angewandt werden.
Das GegenstĂĽck einer Metaphysik der Sitten, als das andere
Glied der Einteilung der praktischen Philosophie ĂĽberhaupt, wĂĽrde
die moralische Anthropologie sein, welche, aber nur die subjektive,
hindernde sowohl als begĂĽnstigende Bedingungen der AustĂĽhrung
der Gesetze der ersteren in der menschlichen Natur, die Erzeugung,
Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze (in der Er-
ziehung der Schul- und Volksbelehrung) und dergleichen andere
sich auf Erfahrung grĂĽndende Lehren und Vorschriften enthalten
wĂĽrde, und die nicht entbehrt werden kann, aber durchaus nicht
vor jener vorausgeschickt, oder mit ihr vermischt werden muĂź:
weil man alsdann Gefahr läuft, falsche oder wenigstens nachsicht-
liche morahsche Gesetze herauszubringen, welche das fĂĽr uner-
reichbar vorspiegeln, was nur eben darum nicht erreicht wird,
weil das Gesetz nicht in seiner Reinigkeit (als worin auch seine
Stärke besteht) eingesehen und vorgetragen worden, oder gar
unechte oder unlautere Triebfedern zu dem, was an sich prticht-
mäßig und gut ist, gebraucht werden, welche keine sichere mo-
ralische Grundsätze übrig lassen, weder zum Leitfaden der Be-
urteĂĽung, noch zur Disziplin des GemĂĽts in der Befolgung der
Pflicht, deren Vorschrift schlechterdings nur durch reine Vernunh
a priori gegeben werden muĂź.
Kants Schriften. Bd. VII. *
i8 Emlcitujjg in die Metaphysik der Sitten
Was aber die Obereinteilung, unter welcher die eben jetzt
erwähnte steht, nämlich die der Philosophie in die theoretische
und praktische, und daĂź diese keine andere als die moralische
VVeltwcisheit sein könne, betrifft, darüber habe ich mich schon
anderwärts (in der Kritik der Urteilskraft) erklärt. Alles Prak-
tische, was nach Naturgesetzen möglich sein soll (die eigenthche
Beschäftigung der Kunst), hängt seiner Vorschrift nach gänzUch
von der Theorie der Natur ab; nur das Praktische nach Freiheits-
gesetzen kann Prinzipien haben, die von keiner Theorie abhängig
sind; denn ĂĽber die Naturbestimmungen hinaus gibt es keine
Theorie. Also kann die Philosophie unter dem praktischen Teile
(neben ihrem theoretischen) keine technisch-, sondern bloĂź
moralisch-praktische Lehre verstehen, und wenn die Fertigkeit
der WillkĂĽr nach Freiheitsgesetzen im Gegensatze der Natur hier
auch Kunst genannt werden sollte, so wĂĽrde darunter eine solche
Kunst verstanden werden mĂĽssen, welche ein System der Freiheit
gleich einem System der Natur möglich macht; fürwahr eine gött-
liche Kunst, wenn wir imstande wären, das, was uns die Vernunft
vorschreibt, vermittelst ihrer auch völlig auszuführen und die Idee
davon ins Werk zu richten.
m.
Von der Einteilung einer Metaphysik der Sitten.')
ZjM aller Gesetzgebung (sie mag nun innere oder äußere
Handlungen und diese entweder a priori durch bloĂźe Vernunft,
oder durch die Willkür eines andern vorschreiben) gehören zwei
') Die Deduktion der Einteilung eines Systems: d.i. der Beweis
ihrer Vollständigkeit sowohl als auch die Stetigkeit, daß nämlich der
Ăśbergang vom eingeteilten Begriffe zum Gliede der Einteilung in der
ganzen Reihe der Unrereinteilungen durch keinen Sprung {div'tsio per
taltum) geschehe, ist eine der am schwersten zu erfĂĽllenden Bedingungen
fĂĽr den Baumeister eines Systems. Auch was der oberste eingeteilte
Begriff" zu der Einteilung Recht oder Unrecht {aut fas auf nefas) sei,
hat seine Bedenklichkeit. Es ist der Akt der freien ^illkĂĽr ĂĽber-
haupt. So wie die Lehrer der Ontologie vom Etwas und Nichts zu
obcrst anfangen, ohne inne zu werden, daß» dieses schon Glieder einer
E^Lntcilung sind, dazu noch der eingeteilte Begriff fehlt, der kein anderer,
als der Begriff von einem Gegenstande ĂĽberhaupt sein kann.
Einleitung in die Metaphysik der Sitten 19
StĂĽcke: erstlich ein Gesetz, welches die Handlung, die ge-
schehen soll, objektiv als notwendig vorstellt, d. i. welches die
Handlung zur Pflicht macht, zweitens eine Triebfeder, welche
den Bestimmungsgrund der WillkĂĽr zu dieser Handlung subjektiv
mit der Vorstellung des Gesetzes verknĂĽpft; mithin ist das zweite
StĂĽck dieses: daĂź das Gesetz die Pflicht zur Triebfeder macht.
Durch das erstere wird die Handlung als Pflicht vorgestellt, welches
ein bloßes theoretisches Erkenntnis der möglichen Bestimmung der
WillkĂĽr, d. i. praktischer Regeln, ist: durch das zweite wird die
Verbindlichkeit so zu handeln mit einem Bestimmungsgrunde der
WillkĂĽr ĂĽberhaupt im Subjekte verbunden.
Alle Gesetzgebung also (sie mag auch in Ansehung der Hand-
lung, die sie zur Pflicht macht, mit einer anderen ĂĽbereinkommen,
z. B. die Handlungen mögen in allen Fällen äußere sein) kann
doch in Ansehung der Triebfedern unterschieden sein. Diejenige,
welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur
Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das letztere
nicht im Gesetze mit einschlieĂźt, mithin auch eine andere Trieb-
feder als die Idee der Pflicht selbst zuläßt, ist juridisch. Man
sieht in Ansehung der letzteren leicht ein, daĂź diese von der
Idee der Pflicht unterschiedene Triebfeder von den pathologi-
schen BestimmungsgrĂĽnden der WillkĂĽr der Neigungen und Ab-
neigungen und unter diesen von denen der letzteren Art her-
genommen sein müsse, weil es eine Gesetzgebung, welche nötigend,
nicht eine Anlockung, die einladend ist, sein soll.
Man nennt die bloĂźe Ăśbereinstimmung oder NichtĂĽberein-
stimmung einer Handlung mit dem Gesetze ohne RĂĽcksicht auf
die Triebfeder derselben die Legalität (Gesetzmäßigkeit), die-
jenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze
zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sitt-
lichkeit) derselben.
Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur
äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß
die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, fĂĽr sich selbst Be-
stimmungsgrund der WillkĂĽr des Handelnden sei, und da sie
doch einer fĂĽr Gesetze schickĂĽchen Triebfeder bedarf, nur
äußere mit dem Gesetze verbinden kann. Die ethische Gesetz-
gebung dagegen macht zwar auch innere Handlungen zu Pflichten^
aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern geht aut
alles, was Pflicht ist, ĂĽberhaupt. Aber eben darum, weĂĽ die
a*
lo Emle'ttung m dte Metaphysik der Sitten
ethische (icsetzgebung Jic innere Triehi-eder der Handlung (die
Idee der Triicht) in ihr Gesetz mit einschlieĂźt, welche Bestimmung
durchaus nicht in die äußere Gesetzgebung einfließen muß, so
kann die ethische Gesetzgebung keine äußere (selbst nicht die
eines göttlichen Willens) sein, ob sie zwar die Pflichten, die auf
einer anderen, nämlich äußeren Gesetzgebung beruhen, als Pflichten,
in ihre Gesetzgebung zu Triebfedern aufnimmt.
Hieraus ist zu ersehen, daĂź alle Pflichten bloĂź darum, weil
sie Pflichten sind, mit zur Ethik gehören; aber ihre Gesetz-
gebung ist darum nicht allemal in der Ethik enthalten, sondern
von vielen derselben auĂźerhalb derselben. So gebietet die Ethik,
daĂź ich eine in einem Vertrage getane Anheischigmachung,
wenn mich der andere Teil gleich nicht dazu zwingen könnte,
doch erfĂĽllen mĂĽsse: allein sie nimmt das Gesetz {fiacta sunt
servanda) und die diesem korrespondierende Pflicht aus der Rechts-
lehre als gegeben an. Also nicht in der Ethik, sondern im Ins
liegt die Gesetzgebung, daĂź angenommene Versprechen gehalten
werden mĂĽssen. Die Ethik lehrt hernach nur, daĂź, wenn die
Triebfeder, welche die juridische Gesetzgebung mit jener Pflicht
verbindet, nämlich der äußere Zwang, auch weggelassen wird, die
Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder hinreichend sei. Denn
wäre das nicht und die Gesetzgebung selber nicht juridisch, mithin
die aus ihr entspringende Pflicht nicht eigentliche Rechtspflicht
(zum Unterschiede von der Tugendpflicht), so w^ĂĽrde man die
Leistung der Treue (gemäß seinem Versprechen in einem Ver-
trage) mit den Handlungen des Wohlwollens und der Verpflichtung
zu ihnen in eine Klasse setzen, welches durchaus nicht geschehen
muĂź. Es ist keine Tugendpflicht, sein Versprechen zu halten,
sondern eine Rechtspflicht, zu deren Leistung man gezwungen
werden kann. Aber es ist doch eine tugendhafte Handlung (Be-
weis der Tugend), es auch da zu tun, wo kein Zwang besorgt
werden darf. Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich
also nicht sowohl durch ihre verschiedene Pflichten, als vielmehr
durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder
die andere Triebleder mit dem Gesetze verbindet.
Die ethische Gesetzgebung (die Pflichten mögen allenfalls auch
äußere sein) ist diejenige, welche nicht äußerlich sein kann; die
juridische ist, welche auch äußerlich sein kann. So ist es eine
äußerliche Pflicht, sein vertragsmäßiges Versprechen zu halten;
aber das Gebot, dieses bloĂź darum zu tun, weil es Pflicht ist.
Einleitung in die Metaphysik der Sitten i \
ohne auf eine andere Triebfeder RĂĽcksicht zu nehmen, ist bloĂź
zur Innern Gesetzgebung gehörig. Also nicht als besondere Art
von Pflicht (eine besondere Art Handlungen, zu denen man ver-
bunden ist) — denn es ist in der Ethik sowohl als im Rechte
eine äußere Pflicht, — sondern weil die Gesetzgebung im an-
geführten Falle eine innere ist und keinen äußeren Gcseagebcr
haben kann, wird die VerbindHchkeit zur Ethik gezählt. Aus
eben dem Grunde werden die Pflichten des V\'ohlwoIlens, ob sie
gleich äußere Pflichten (Verbindlichkeiten zu äußeren Handlungen)
sind, doch zur Ethik gezählt, weil ihre Gesetzgebung nur inner-
lich sein kann. — Die Ethik hat freilich auch ihre besondern
Pflichten (z. B. die gegen sich selbst), aber hat doch auch mit
dem Rechte Pflichten, aber nur nicht die Art der Verpflichtung
gemein. Denn Handlungen bloĂź darum, weil es Pflichten sind,
ausĂĽben und den Grundsatz der Pflicht selbst, woher sie auch
komme, zur hinreichenden Triebfeder der WillkĂĽr zu machen,
ist das EigentĂĽmhche der ethischen Gesetzgebung. So gibt es
also zwar viele direkt-ethische Pflichten, aber die innere Ge-
setzgebung macht auch die ĂĽbrigen alle und insgesamt zu indirekt-
ethischen.
IV.
Vorbegriflfe zur Metaphysik der Sitten.
(Phiiosophia practica universalis.')
Der BegriflF der Freiheit ist ein reiner VernunftbegrifF, der
eben darum fĂĽr die theoretische Philosophie transszcndcnt, d. i.
ein solcher ist, dem kein angemessenes Beispiel in irgend einer
mögüchen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen
Gegenstand einer uns möghchen theoretischen Erkenntnis aus-
macht und schlechterdings nicht fĂĽr ein konstitutives, sondern
lediglich als regulatives und zwar nur bloĂź negatives Prinzip der
spekulativen Vernunft gelten kann, im praktischen Gebrauch der-
selben aber seine Realität durch praktische Grundsätze beweiset,
die als Gesetze einer Kausalität der reinen Vernunft, unabhängig
von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen ĂĽberhaupt;
die WillkĂĽr bestimmen und einen reinen Willen in uns be-
weisen, in welchem die sitthchen Begriffe und Gesetze ihren Ur-
sprung haben.
2 1 Einleitung m die Metaphysik der Sitten
Auf diesem (in praktischer RĂĽcksicht) positiven Begriffe der
Freiheit grĂĽnden sich unbedingte praktische Gesetze, welche mo-
ralisch heiĂźen, die in Ansehung unser, deren WillkĂĽr sinnlich
affizicrt und so dem reinen Willen nicht von selbst angemessen,
sondern oft widerstrebend ist, Imperativen (Gebote oder Ver-
bote) und zwar kategorische (unbedingte) Imperativen sind, wo-
durch sie sich von den technischen (den Kunst-Vorschriften), als
die jederzeit nur bedingt gebieten, unterscheiden, nach denen ge-
wisse Handlungen erlaubt oder unerlaubt, d. i. moralisch mög-
lich oder unmöglich, einige derselben aber, oder ihr Gegenteil
moralisch notwendig, d. i. verbindlich, sind, woraus dann fĂĽr
jene der Begriff einer Pflicht entspringt, deren Befolgung oder
Ăśbertretung zwar auch mit einer Lust oder Unlust von besonderer
Art (der eines moralischen GefĂĽhls) verbunden ist, auf welche
wir aber [weil sie nicht den Grund der praktischen Gesetze,
sondern nur die subjektive Wirkung im GemĂĽt bei der Be-
stimmung unserer WillkĂĽr durch jene betreffen und (ohne jener
ihrer GĂĽltigkeit oder EinflĂĽsse objektiv, d. i. im Urteil der Ver-
nunft, etwas hinzuzutun oder zu benehmen) nach Verschiedenheit
der Subjekte verschieden sein kann] in praktischen Gesetzen der
Vernunft gar nicht RĂĽcksicht nehmen.
Folgende Begriffe sind der Metaphysik der Sitten in ihren
beiden Teilen gemein.
Verbindlichkeit ist die Notwendigkeit einer freien Hand-
lung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.
Der Imperativ ist eine praktische Regel, wodurch die an
sich zufällige Handlung notwendig gemacht wird. Er unter-
scheidet sich darin von einem praktischen Gesetze, daĂź dieses
zwar die Notwendigkeit einer Handlung vorstellig macht,
aber ohne RĂĽcksicht darauf zu nehmen, ob diese an sich
schon dem handelnden Subjekte (etwa einem heiligen Wesen)
innerlich notwendig beiwohne, oder (wie dem Menschen)
zufällig sei; denn wo das erstere ist, da findet kein Imperativ
statt. Also ist der Imperativ eine Regel, deren Vorstellung
die subjektiv-zufällige Handlung notwendig macht, mithin
das Subjekt als ein solches, was zur Ăśbereinstimmung mit
dieser Regel genötigt (nezessitiert) werden muß, vorstellt.
— Der kategorische (unbedingte) Imperativ ist derjenige,
welcher nicht etwa mittelbar, durch die Vorstellung eines
Zwecks, der durch die Handlung erreicht werden könne.
Einleitung in die Metaphysik der Sitten 1 5
sondern der sie durch die bloĂźe Vorstellung dieser Handlung
selbst (ihrer Form), also unmittelbar, als objektiv- notwendig
denkt und notwendig macht; dergleichen Imperativen keine
andere praktische Lehre als allein die, welche Verbindlichkeit
vorschreibt (die der Sitten), zum Beispiele auhtcllcn kann.
Alle andere Imperativen sind technisch und insgesamt be-
dingt. Der Grund der Möglichkeit kategorischer Impera-
tiven liegt aber darin; daĂź sie sich auf- keine andere Be-
stimmung der WillkĂĽr (wodurch ihr eine Absicht untergelegt
werden kann), als lediglich auf die Freiheit derselben be-
ziehen.
Erlaubt ist eine Handlung (Jicitum), die der Verbindlichkeit
nicht entgegen ist; und diese Freiheit, die durch keinen entgegen-
gesetzten Imperativ eingeschränkt wird, heißt die Befugnis {facultas
moralis). Hieraus versteht sich von selbst, was unerlaubt {jUi-
citurn) sei.
Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden
ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann
einerlei Pflicht (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf ver-
schiedene Art dazu verbunden werden können.
Der kategorische Imperativ, indem er eine Verbindlichkeit
in Ansehung gewisser Handlungen aussagt, ist ein moralisch-
praktisches Gesetz. Weil aber Verbindhchkeit nicht bloĂź
praktische Notwendigkeit (dergleichen ein Gesetz ĂĽberhaupt
aussagt), sondern auch Nötigung enthält, so ist der ge-
dachte Imperativ entweder ein Gebot- oder Verbot-Gesetz,
nachdem die Begehung oder Unterlassung als Pflicht vor-
gestellt wird. Eine Handlung, die weder geboten noch ver-
boten ist, ist bloĂź erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar
kein die Freiheit (Befiignis) einschränkendes Gesetz und also
auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heiĂźt sittlich-
gleichgĂĽltig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis). Man
kann fragen: ob es dergleichen gebe, und, wenn es solche
gibt, ob dazu, daĂź es jemanden freistehe, etwas nach semem
Beheben zu tun oder zu lassen, auĂźer dem Gebotgesetze
{lex praeceptiva, lex mandati) und dem Verbotgesetze {lex
prohibitiva, lex veĂĽti) noch ein Erlaubnisgesetz {lex permisstva)
erforderlich sei. Wenn dieses ist, so wĂĽrde die Befugnis
nicht allemal eine gleichgĂĽltige Handlung {adtaphoron) be-
treffen; denn zu einer solchen, wenn man sie nach sitt-
24 Einleitung in die Metaphysik der Sitten
liehen Gesetzen betrachtet, wĂĽrde kein besonderes Gesetz
erfordert werden.
Tat heiĂźt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Ver-
bindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subjekt in derselben
nach der Freiheit seiner WillkĂĽr betrachtet wird. Der Handelnde
wird durch einen solchen Akt als Urheber der Wirkung be-
trachtet, und diese zusamt der Handlung selbst können ihm zu-
gerechnet werden, wenn man vorher das Gesetz kennt, kraft
welches auf ihnen eine Verbindlithkeit ruhet.
Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zu-
rechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also
nichts anders, als die Freiheit eines vernĂĽnftigen Wesens unter
moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen,
sich seiner selbst in den verschiedenen Zuständen der Identität
seines Daseins bewuĂźt zu w^erden), woraus dann folgt, daĂź eine
Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder
allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst gibt,
unterworfen ist.
Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist. Ein
jedes Objekt der freien WillkĂĽr, welches selbst der Freiheit er-
mangelt, heiĂźt daher Sache (res corporalis^.
Recht oder unrecht (rectum aut minus rectum^ ĂĽberhaupt
ist eine Tat, sofern sie pfiiclitmäßig oder pflichtwidrig (factum
licttum aut illicituni) ist; die Pflicht selbst mag ihrem Inhalte oder
ihrem UrsprĂĽnge nach sein, von welcher Art sie wolle. Eine
pflichtwidrige Tat heiĂźt Ăśbertretung (reatus).
Eine unvorsätzliche Übertretung, die gleichwohl zugerechnet
werden kann, heiĂźt bloĂźe Verschuldung (culpa). Eine vor-
sätzliche (d. i. diejenige, welche mit dem Bewußtsein, daß sie
Ăśbertretung sei, verbunden ist) heiĂźt Verbrechen (dolus). Was
nach äußeren Gesetzen recht ist, heißt gerecht (iustum), was es
nicht ist, ungerecht (iniustum).
Ein Widerstreit der Pflichten (coUisio officiorum s. obli-
gationum) würde das Verhältnis derselben sein, durch welches eine
derselben die andere (ganz oder zum Teil) aufhöbe. — Da aber
Pflicht und Verbindlichkeit ĂĽberhaupt Begriffe sind, welche die
objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen aus-
drĂĽcken, und zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich
notwendig sein können, sondern wenn nach einer derselben zu
handeln es Pflicht ist, so ist nach der entgegengesetzten zu handeln
Einleitung in die Metaphysik der Sitten 25
nicht allein keine Pflicht, sondern sogar pflichtwidrig: so ist eine
Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar
(obligationes non coUiduntur). Es können aber gar wohl ^wci
GrĂĽnde der Verbindlichkeit (rationes obligandi)^ deren einer aber
oder der andere zur Verpflichtung nicht zureichend ist (rationes
obligandi non obligantes), in einem Subjekt und der Regel, die es
sich vorschreibt, verbunden sein, da dann der eine nicht Priicht
ist. — Wenn zwei solcher Gründe einander widerstreiten, so sagt
die praktische Philosophie nicht: daß die stärkere Verbindlichkeit
die Oberhand behalte (^fortior obligatio vincit')^ sondern der stärkere
VerpFlichtungsgrund behält den Platz (fortior obligandi ratio
vincit').
Ăśberhaupt heiĂźen die verbindenden Gesetze, fĂĽr die eine
äußere Gesetzgebung möglich ist, äußere Gesetze {lege^ extemae).
Unter diesen sind diejenigen, zu denen die Verbindlichkeit auch
ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt
werden kann, zwar äußere, aber natürliche Gesetze; diejenigen
dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht ver-
binden (also ohne die letztere nicht Gesetze sein wĂĽrden), heiĂźen
positive Gesetze. Es kann also eine äußere Gesetzgebung ge-
dacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte; alsdenn aber
mĂĽĂźte doch ein natĂĽrliches Gesetz vorausgehen, welches die Au-
torität des Gesetzgebers (d. i. die Befugnis, durch seine bloße
V^illkĂĽr andere zu verbinden) begrĂĽndete.
Der Grundsatz, welcher gewisse Handlungen zur Pflicht macht,
ist ein praktisches Gesetz. Die Regel des Handelnden, die er
sich selbst aus subjektiven GrĂĽnden zum Prinzip macht, heiĂźt
seine Maxime; daher bei einerlei Gesetzen doch die Maximen
der Handelnden sehr verschieden sein können.
Der kategorische Imperativ, der ĂĽberhaupt nur aussagt, was
Verbindlichkeit sei, ist: handle nach einer Maxime, welche zu-
gleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann! — Deine Hand-
lungen mußt du also zuerst nach ihrem subjektiven Grundsätze
betrachten: ob aber dieser Grundsatz auch objektiv gĂĽltig sei,
kannst du nur daran erkennen, daĂź, weil deine Vernuntt ihn der
Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich als allgemein
gesetzgebend zu denken, er sich zu einer solchen allgemeinen Ge-
setzgebung qualifiziere. .
Die Einfachheit dieses Gesetzes in Vergleichung mit den
groĂźen und mannigfaltigen Folgerungen, die daraus gezogen werden
2 6 Einleitung in die Metaphysik der Sitten
können, imglcichcn das gebietende Ansehen, ohne daß es doch
sichtbar eine Tricbf-cdcr bei üich führt, muß freihch anfängUch
befremden. Wenn man aber in dieser Verwunderung ĂĽber ein
Vermögen unserer Vernunft, durch die bloße Idee der Quali-
fikation einer Maxime zur Allgemeinheit eines praktischen Ge-
setzes die WillkĂĽr zu bestimmen, belehrt wird: daĂź eben diese
praktischen Gesetze (die moralischen) eine Eigenschaft der WillkĂĽr
zuerst kund machen, auf die keine spekulative Vernunft weder
aus GrĂĽnden a priori, noch durch irgend eine Erfahrung geraten
hätte und wenn sie darauf geriet, ihre Möglichkeit theoretisch
durch nichts dartun könnte, gleichwohl aber jene praktischen
Gesetze diese Eigenschaft, nämlich die Freiheit, unwidersprechlich
dartun: so wird es weniger befremden, diese Gesetze gleich mathe-
matischen Postulaten unerweislich und doch apodiktisch zu
finden, zugleich aber ein ganzes Feld von praktischen Erkenntnissen
vor sich eröffnet zu sehen, wo die Vernunft mit derselben Idee
der Freiheit, ja jeder anderen ihrer Ideen des Ăśbersinnlichen im
Theoretischen alles schlechterdings vor ihr verschlossen finden
muĂź. Die Ăśbereinstimmung einer Handlung mit dem Pflicht-
gesetze ist die Gesetzmäßigkeit (Jegalitai) — die der Maxime
der Handlung mit dem Gesetze die Sittlichkeit (moralitas) der-
selben. Maxime aber ist das subjektive Prinzip zu handeln,
was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich
handeln will). Dagegen ist der Grundsatz der Pflicht das, was
ihm die Vernunft schlechthin, mithin objektiv gebietet (wie es
handeln soll).
Der oberste Grundsatz der Sittenlehre ist also : handle nach
einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. —
Jede Maxime, die sich hiezu nicht qualifiziert, ist der Moral zu-
wider.
Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der WillkĂĽr
die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie
WillkĂĽr; der Wille, der auf nichts anderes, als bloĂź auf
Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden,
weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die
Gesetzgebung fĂĽr die Maxime der Handlungen (also die
praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings
notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist. Nur die
WillkĂĽr also kann frei genannt werden.
Di* Freiheit der WillkĂĽr aber kann nicht durch das Ver-
Einleitung in die Metaphysik der Sitten 27
mögen der Wahl, für oder wider das Gesetz, zu handeln,
(Jibertas indifferenüae) definiert werden — wie es wohl einige
versucht haben, — obzwar die Willkür als Phänomen
davon in der Erfahrung häufige Beispiele gibt. Denn die
Freiheit (so wie sie ims durchs moralische Gesetz allererst
kundbar wird) kennen wir nur als negative Eigenschaft in
uns, nämlich durch keine sinnliche Bestimmungsgründe zum
Handeln genötigt zu werden. Als Noumen aber, d. i.
nach dem Vermögen des Menschen bloß als Intelligenz be-
trachtet, wie sie in Ansehung der sinnlichen Willkür nötigend
ist, mithin ihrer positiven Beschaffenheit nach, können wir
sie theoretisch gar nicht darstellen. Nur das können wir
wohl einsehen: daĂź, obgleich der Mensch als Sinnenwesen
der Erfahrung nach ein Vermögen zeigt, dem Gesetze nicht
allein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen, dadurch
doch nicht seine Freiheit als intelligiblen Wesens de-
finiert werden könne, weil Erscheinungen kein übersinn-
liches Objekt (dergleichen doch die freie WillkĂĽr ist) ver-
ständlich machen können, und daß die Freiheit nimmermehr
darin gesetzt werden kann, daĂź das vernĂĽnftige Subjekt auch
eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl
treffen kann; wenngleich die Erfahrung oft genug beweist,
daß es geschieht (wovon wir doch die Möglichkeit nicht
begreifen können). — Denn ein anderes ist, einen Satz (der
Erfahrung) einräumen, ein anderes, ihn zum Erklärungs-
prinzip (des Begriffs der freien WillkĂĽr) und allgemeinen
Unterscheidimgsmerkmal (vom arhitrio hruto s. servo) machen:
weil das erstere nicht behauptet, daĂź das Merkmal not-
wendig zum BegriflF gehöre, welches doch zum zweiten
erforderhch ist. — Die Freiheit in Beziehung auf die innere
Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich allein ein Vermögen;
die MögUchkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen.
Wie kann nun jenes aus diesem erklärt werden? Es ist eine
Definition, die ĂĽber den praktischen Begriff noch die Aus-
ĂĽbung desselben, wie sie die Erfahrung lehrt, hinzutut, eine
Bastarderklärung (definitio hyhrida), welche den Begriff im
falschen Lichte darstellt.
Gesetz (ein moralisch praktisches) ist ein Satz, der einen
kategorischen Imperativ (Gebot) enthält. Der Gebietende (imperans)
durch ein Gesetz ist der Gesetzgeber (Jegislator) Er ist Ur-
1% Einleituyig m die Mrfaphysik der Sitten
hcbci ^autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht
immer Urheber des Gesetzes. Im letzteren Fall wĂĽrde das Gesetz
positiv (zut'ällig) und willkürlich sein. Das Gesetz, was uns
a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernuni-t verbindet,
kann auch als aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers, d. i.
eines solchen, der lauter Rechte und keine Pflichten hat, (mithin
dem göttlichen Willen) hervorgehend ausgedrückt werden, welches
aber nur die Idee von einem moralischen Wesen bedeutet, dessen
Wille tĂĽr alle Gesetz ist, ohne ihn doch als Urheber desselben
zu denken.
Zurechnung (jwputatio) in moralischer Bedeutung ist das
Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa liberd) einer Hand-
lung, die alsdann Tat (factum) heiĂźt und unter Gesetzen steht,
angeschen wird; welches, wenn es zugleich die rechtlichen Folgen
aus dieser Tat bei sich führt, eine rechtskräftige (jmputatio iudi-
ciaria s. valida), sonst aber nur eine beurteilende Zurechnung
(imputatio diiudicatoria) sein würde. — Diejenige (physische oder
moralische) Person, welche rechtskräftig zuzurechnen die Befugnis
hat, heiĂźt der Richter oder auch der Gerichtshof (iudex s.
jorum).
Was jemand pflichtmäßig mehr tut, als wozu er nach dem
Gesetze gezwungen werden kann, ist verdienstlich (merituTn)\
was er nur gerade dem letzteren angemessen tut, ist Schuldig-
keit (debitum); was er endlich weniger tut, als die letztere
fordert, ist moralische Verschuldung (demeriturfi). Der recht-
liche Effekt einer Verschuldung ist die Strafe (poend)\ der einer
verdienstlichen Tat Belohnung (praemium) (vorausgesetzt daĂź sie,
im Gesetz verheiĂźen, die Bewegursache war); die Angemessenheit
des Verfahrens zur Schuldigkeit hat gar keinen rechtlichen Effekt.
— Die gütige Vergeltung (remuneratto s. repensio beneficd) steht
zur Tat in gar keinem Rechtsverhältnis.
Die guten oder schlimmen Folgen einer schuldigen Hand-
lung — imgleichen die Folgen der Unterlassung einer ver-
dienstlichen — können dem Subjekt nicht zugerechnet werden
(modus imputationis totlens^.
Die guten Folgen einer verdienstlichen — imgleichen die
schlimmen Folgen einer unrechtmäßigen Handlung können
dem Subjekt zugerechnet werden (modus imputationis ponens).
Subjektiv ist der Grad der Zurechnungsfähigkeit
(imputahiiitas) der Handlungen nach der Größe der Hinder-
Etnleitung in die Metaphysik der Sitten 29
nisse zu schätzen, die dabei haben überwunden werden
müssen. — Je größer die Naturhindernisse (der Sinnhchkeit),
je kleiner das morahsche Hindernis (der Pflicht), desto mehr
wird die gute Tat zum Verdienst angerechnet; z. B. wenn
ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträcht-
lichen Aufopferung aus groĂźer Not rette.
Dagegen: je kleiner das Naturhindernis, je größer das
Hindernis aus GrĂĽnden der Pflicht, desto mehr wird die
Übertretung (als Verschuldung) zugerechnet. — Daher der
GemĂĽtszustand, ob das Subjekt die Tat im Affekt, oder mit
ruhiger Ăśberlegung verĂĽbt habe, in der Zurechnung einen
Unterschied macht, der Folgen hat.
Einleitung
in die Rechtslehre.
§ A.
Was die Rechtslehre sei.
Der Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetz-
gebung möglich ist, heißt die Rechtslehre (/«x). Ist eine solche
Gesetzgebung wirklich, so ist sie Lehre des positiven Rechts,
und der Rechtskundige derselben oder Rechtsgelehrte (Juris-
consultus) heißt rechtserfahren (lurhperitus), wenn er die äußern
Gesetze auch äußerHch, d. i. in ihrer Anwendung auf in der Er-
fahrung vorkommende Fälle, kennt, die auch wohl Rechts-
klugheit (lurispruäentia) werden kann, ohne beide zusammen
aber bloĂźe Rechtswissenschaft {lurisscientid) bleibt. Die
letztere Bencrmung kommt der systematischen Kenntnis der
natĂĽrlichen Rechtsichre (Jus naturae) zu, wiewohl der Rechts-
kundige in der letzteren zu aller positiven Gesetzgebung die un-
wandelbaren Prinzipien hergeben muĂź.
§ B.
Was ist Recht?
Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er
nicht in Tautologie verfallen, oder statt einer allgemeinen Auflösung
auf das, was in irgendeinem Lande ĂĽie Gesetze zu irgendeiner
Zeit wollen, verweisen will, ebenso in Verlegenheit setzen, als die
berufene Aufforderung: Was ist Wahrheit? den Logiker. Was
Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem ge-
wissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben,
Einleitung in die Rechtslehre ji
kann er noch wohl angeben: aber ob das, was sie wollten, auch
recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man ĂĽberhaupt
Recht sowohl als Unrecht (justum et iniustuvi) erkennen könne,
bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeitlang jene
empirischen Prinzipien verläßt, die Quellen jener Urteile in der
bloĂźen Vernunft sucht (wiewohl ihm dazu jene Gesetze vortrefF-
Hch zum Leitfaden dienen können), imi zu einer möghchen posi-
tiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten. Eine bloĂź em-
pirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in PHÄDRUS'
Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein
Gehirn hat.
Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm korre-
spondierende Verbindlichkeit bezieht, (d. i, der moralische Begriff
desselben) betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische
Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen
als Fakta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) EinfluĂź haben
können. Aber zweitens bedeutet er nicht das Verhältnis der
WillkĂĽr auf den Wunsch (folglich auch auf das bloĂźe BedĂĽrfnis)
des anderen, wie etwa in den Handlungen der Wohltätigkeit oder
Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die WillkĂĽr des anderen.
Drittens, in diesem wechselseitigen Verhältnis der Willkür kommt
auch gar nicht die Materie der WillkĂĽr, d. i. der Zweck, den
ein jeder mit dem Objekt, was er will, zur Absicht hat, in Be-
trachtung, z. B. es wdrd nicht gefragt, ob jemand bei der Ware,
die er zu seinem eigenen Handel von mir kauft, auch seinen
Vorteil finden möge, oder nicht, sondern nur nach der Form im
Verhältnis der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei
betrachtet wdrd, und ob durch die Handlung eines von beiden
sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze
zusammen vereinigen lasse.
Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen
die WillkĂĽr des einen mit der WillkĂĽr des andern nach einem
allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.
§ C.
Allgemeines Prinzip des Rechts.
„Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime
die Freiheit der WillkĂĽr eines jeden mit jedermanns Freiheit nach
einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann."
p Emleitung in die Rechtslehre
Wenn also meine Handlung, oder ĂĽberhaupt mein Zustand
mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze
zusammen bestehen kann, so tut der mir unrecht, der mich daran
hindert; denn dieses Hindernis (dieser Widerstand) kann mit der
Freiheit nach allgemeinen Gesetzen nicht bestehen.
Hs Folgt hieraus auch: daĂź nicht verlangt werden kann, daĂź
dieses Prinzip aller Maximen selbst wiederum meine Maxime sei,
d. i. daĂź ich es mir zur Maxime meiner Handlung mache;
denn ein jeder kann Frei sein, obgleich seine Freiheit mir gänz-
lich indifferent wäre, oder ich im Herzen derselben gerne Ab-
bruch tun möchte, wenn ich nur durch meine äußere Hand-
lung ihr nicht Eintrag tue. Das Rechthandeln mir zur Maxime
zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut.
Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß
der Freie Gebrauch deiner WillkĂĽr mit der Freiheit von jeder-
mann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne,
zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auFerlegt, aber
ganz und gar nicht erwartet, noch weniger Fordert, daĂź ich ganz
um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auF jene Bedin-
gungen selbst einschränken solle, sondern die VernunFt sagt nur,
daß sie in ihrer Idee darauF eingeschränkt sei und von andern
auch tätlich eingeschränkt werden dürFe; und dieses sagt sie als
ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter Fähig ist. —
Wenn die Absicht nicht ist, Tugend zu lehren, sondern nur, was
recht sei, vorzutragen, so darF und soll man selbst nicht jenes
Rechtsgesetz als TricbFeder der Handlung vorstellig machen.
§ D.
Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden.
Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung entgegen-
gesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit
ihr zusammen. Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hindernis der
Freiheit nach allgemeinen Gesetzen: der Zwang aber ist ein Hin-
dernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich:
wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der
Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der
Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines
Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen
Einleitung in die Rechtslehre 3 5
Gesetzen zusammen stimmend, d. i. recht: mithin ist mit dem
Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu
zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknĂĽpft.
§E.
Das strikte Recht kann auch als die Möghchkeit eines
mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zu-
sammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges
vorgestellt werden.
Dieser Satz will soviel sagen als: das Recht darf nicht als aus
zwei Stücken, nämlich der Verbindlichkeit nach einem Gesetze
und der Befiignis dessen, der durch seine WillkĂĽr den andern
verbindet, diesen dazu zu zwingen, zusammengesetzt gedacht werden,
sondern man kann den Begriff des Rechts in der Möglichkeit
der VerknĂĽpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwanges mit
jedermanns Freiheit unmittelbar setzen. So vvde nämlich das Recht
überhaupt nur das zum Objekte hat, was in Handlungen äußerlich
ist, so ist das strikte Recht, nämlich das, dem nichts Ethisches
beigemischt ist, dasjenige, welches keine andern BestimmungsgrĂĽnde
der Willkür als bloß die äußern fordert; denn alsdenn ist es rein
und mit keinen Tugendvorschriften vermengt. Ein striktes
(enges) Recht kann man also nur das völlig äußere nennen.
Dieses grĂĽndet sich nun zwar auf dem BewuĂźtsein der Verbind-
lichkeit eines jeden nach dem Gesetze; aber die WillkĂĽr darnach
zu bestimmen, darf und kann es, wenn es rein sein soll, sich auf
dieses BewuĂźtsein als Triebfeder nicht berufen, sondern fuĂźet sich
deshalb auf dem Prinzip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges,
der mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen
zusammen bestehen kann. — Wenn also gesagt wird: ein Gläubiger
hat ein Recht von dem Schuldner die Bezahlung seiner Schuld zu
fordern, so bedeutet das nicht, er kann ihm zu GemĂĽte fĂĽhren,
daĂź ihn seine Vernunft selbst zu dieser Leistung verbinde, sondern
ein Zwang, der jedermann nötigt dieses zu tun, kann gar wohl
mit jedermanns Freiheit, also auch mit der seinigen nach einem
allgemeinen äußeren Gesetze zusammen bestehen: Recht und Be-
fugnis zu zwängen bedeuten also einerlei.
Das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit notwendig zu-
sammenstimmenden wechselseitigen Zwanges unter dem Prmzip
Kants Schriften. Bd. VII. 3
54
Emleittmg in die Recht sichre
der allgemeinen Freiheit ist gleichsam die Konstruktion
)cncs Begriffs, d. i. Darstellung desselben in einer reinen
Anschauung a priori, nach der Analogie der Möglichkeit
freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der Gleich-
heit der Wirkung und Ciegen wirkung. So wie wir
nun in der reinen Mathematik die Eigenschatten ihres Ob-
jekts nicht unmittelbar vom Begriffe ableiten, sondern nur
durch die Konstruktion des Begriffs entdecken können, so
ist's nicht sowohl der Begriff des Rechts, als vielmehr der
unter allgemeine Gesetze gebrachte, mit ihm zusammen-
stimmende durchgängig wechselseitige und gleiche Zwang, der
•die Darstellung jenes BegrifiPs möglich macht. Dieweil aber
diesem dynamischen Begriffe noch ein bloĂź formaler in der
reinen Mathematik (z. B. der Geometrie) zum Grunde liegt:
so hat die Vernunft dafĂĽr gesorgt, den Verstand auch mit
Anschauungen a priori zum Behuf der Konstruktion des
Rechtsbegriffs so viel möglich zu versorgen. — Das Rechte
(j-ectum) wird als das Gerade teils dem Krummen, teils
dem Schiefen entgegen gesetzt. Das erste ist die innere
Beschaffenheit einer Linie von der Art, daĂź es zwischen
zweien gegebenen Punkten nur eine einzige, das zweite
aber die Lage zweier einander durchschneidenden oder zu-
sammenstoĂźenden Linien, von deren Art es auch nur eine
einzige (die senkrechte) geben kann, die sich nicht mehr
nach einer Seite als der andern hinneigt, und die den Raum
von beiden Seiten gleich abteilt, nach welcher Analogie auch
die Rechtslehre das Seine einem jeden (mit mathematischer
Genauigkeit) bestimmt wissen will, welches in der Tugend-
Ich rc nicht erwartet werden darf, als welche einen gewissen
Raum zu Ausnahmen (Jatitudinem) nicht verweigern kann. —
Aber ohne ins Gebiet der Ethik einzugreifen, gibt es zwei
Fälle, die auf Rechtsentscheidung Anspruch machen, für die
aber keiner, der sie entscheide, ausgefunden werden kann,
und die gleichsam in EPIKURS intermundia hingehören. —
Diese müssen wir zuvörderst aus der eigentlichen Rcchtslehre,
zu der wir bald schreiten wollen, aussondern, damit ihre
schwankenden Prinzipien nicht auf die festen Grundsätze der
erstem EinfluĂź bekommen.
Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre 35
Anhang
zur Einleitung in die Rechtslehre.
Vom zweideutigen Recht,
(/«j aequivocum.)
Mit jedem Recht in enger Bedeutung (ius stricturn) ist die
Befugnis zu zwingen verbunden. Aber man denkt sich noch ein
Recht im weiteren Sinne (tus latum\ wo die Befugnis zu zwingen
durch kein Gesetz bestimmt werden kann. — Dieser wahren oder
vorgeblichen Rechte sind nun zwei: die Billigkeit und das
Notrecht; von denen die erste ein Recht ohne Zwang, das
zweite einen Zwang ohne Recht annimmt, und man wird leicht
gewahr, diese Doppelsinnigkeit beruhe eigentlich darauf, daĂź es
Fälle eines bezweifelten Rechts gibt, zu deren Entscheidung kein
Richter aufgestellt werden kann.
I.
Die Billigkeit.
{Aequitas^
Die Billigkeit (objektiv betrachtet) ist keincsweges ein Grund
zur Aufforderung bloĂź an die ethische Pflicht anderer (ihr Wohl-
wollen und GĂĽtigkeit), sondern der, welcher aus diesem Grunde
etwas" fordert, fiiĂźt sich auf sein Recht, nur daĂź ihm die fĂĽr
den Richter erforderlichen Bedingungen mangeln, nach welchen
dieser bestimmen könnte, wie viel, oder auf welche Art dem
Ansprüche desselben genug getan werden könne. Der m emer
auf gleiche Vorteile eingegangenen Maskopei dennoch mehr ge-
tan, dabei aber wohl gar durch Unglücksfälle mehr verloren
hat, als die ĂĽbrigen Glieder, kann nach der Billigkeit von der
Gesellschaft mehr fordern, als bloĂź zu gleichen TeUen mit ihnen
3*
^6 Anhang zur Eiyile'itung in die Rechtslehre
zu gehen. Allein nach dem eigentlichen (strikten) Recht, weil,
wenn man sich in seinem Fall einen Richter denkt, dieser keine
bestimmte Angaben (data) hat, um, wie viel nach dem Kontrakt
ihm zukomme, auszumachen, wĂĽrde er mit seiner Forderung abzu-
weisen sein. Der Hausdiener, dem sein bis zu Ende des Jahres
laufender Lohn in einer binnen der Zeit verschlechterten MĂĽnz-
sorte bezahlt wird, womit er das nicht ausrichten kann, was er
bei SchlieĂźung des Kontrakts sich dafĂĽr anschaffen konnte, kann
bei gleichem ZahJwert, aber ungleichem Geldwert sich nicht auf
sein Recht berufen, deshalb schadlos gehalten zu werden, sondern
nur die Billigkeit zum Grunde anrufen (eine stumme Gottheit,
die nicht gehöret werden kann): weil nichts hierüber im Kontrakt
bestimmt war, ein Richter aber nach unbestimmten Bedingungen
nicht sprechen kann.
Hieraus folgt auch, daĂź ein Gerichtshof der Billigkeit (in
einem Streit anderer ĂĽber ihre Rechte) einen Widerspruch in sich
schlieĂźe. Nur da, wo es die eigenen Rechte des Richters betriflFt,
und in dem, worĂĽber er fĂĽr seine Person disponieren kann, darf
und soll er der Billigkeit Gehör geben; z. B. wenn die Krone
den Schaden, den andere in ihrem Dienste erlitten haben, und
den sie zu vergüten angeflehet wird, selber trägt, ob sie gleich
nach dem strengen Rechte diesen Anspruch unter der VorschĂĽtzung,
daĂź sie solchen auf ihre eigene Gefahr ĂĽbernommen haben, ab-
weisen könnte.
Der Sinnspruch (dictum) der Billigkeit ist nun zwar: „Das
strengste Recht ist das größte Unrecht" (sutnmum ius summa in-
iuria); aber diesem Ăśbel ist auf dem Wege Rechtens nicht ab-
zuhelfen, ob es gleich eine Rechtsforderung betrifft, weil diese
für das Gewissensgericht (forum polt) allein gehört, dagegen
jede Frage Rechtens vor das bĂĽrgerliche Recht (forum soli)
gezogen werden muĂź,
n.
Das Notrecht.
(Ius necessitatis.)
Dieses vermeinte Recht soll eine Befugnis sein, im Fall der
Gefahr des Verlusts meines eigenen Lebens einem anderen, der
mir nichts zuleide tat, das Leben zu nehmen. Es fällt in die
Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre 57
Augen, daĂź hierin ein Widerspruch der Rechtslehre mit sich selbst
enthalten sein müsse — denn es ist hier nicht von einem un-
gerechten Angreifer auf mein Leben, dem ich durch Beraubung
des seinen zuvorkomme (Jus inculpatae tutelae), die Rede, wo die
Anempfehlung der Mäßigung (moderamen) nicht einmal zum Recht,
sondern nur zur Ethik gehört, sondern von einer erlaubten Ge-
walttätigkeit gegen den, der keine gegen mich ausübte.
Es ist klar: daĂź diese Behauptung nicht objektiv, nach dem,
was ein Gesetz vorschreiben, sondern bloĂź subjektiv, wie vor
Gericht die Sentenz gefällt werden würde, zu verstehen sei. Es
kann nämlich kein Strafgesetz geben, welches demjenigen den
Tod zuerkennete, der im Schiffbruche, mit einem andern in
gleicher Lebensgefahr schwebend, diesen von dem Brette, woraut
er sich gerettet hat, wegstieĂźe, um sich selbst zu retten. Denn
die durchs Gesetz angedrohete Strafe könnte doch nicht größer
sein, als die des Verlusts des Lebens des ersteren. Nun kann ein
solches Strafgesetz die beabsichtigte Wirkung gar nicht haben;
denn die Bedrohung mit einem Ăśbel, was noch ungewiĂź ist,
(dem Tode durch den richterlichen Ausspruch) kann die Furcht
vor dem Übel, was gewiß ist, (nämlich dem Ersaufen) nicht
überwiegen. Also ist die Tat der gewalttätigen Selbsterhaltung
nicht etwa als unsträflich (inculpabile), sondern nur als un-
strafbar {impunibile) zu beurteilen, und diese subjektive Straf-
losigkeit wird durch eine wunderliche Verwechselung von den
Rechtslehrern für eine objektive (Gesetzmäßigkeit) gehalten.
Der Sinnspruch des Notrechts heißt: „Not hat kein Gebot
(necessitas non habet legemY; und gleichwohl kann es keine Not
geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte.
Man sieht: daĂź in beiden Rechtsbeurteilungen (nach dem
Billigkeits- und dem Notrechte) die Doppelsinnigkeit {aequi-
vocatio) aus der Verwechselung der objektiven mit den subjektiven
GrĂĽnden der RechtsausĂĽbung (vor der Vernunft und vor einem
Gericht) entspringt, da dann, was jemand fĂĽr sich selbst mit gutem
Grunde für recht erkennt, vor einem Gerichtshofe nicht Bestäti-
gung finden und, was er selbst an sich als unrecht beurteilen
muĂź, von eben demselben Nachsicht erlangen kann: weil der
Begriff des Rechts in diesen zwei Fällen nicht in einerlei Be-
deutung ist genommen worden.
j8 Emtfilung der Rechtslehre
Einteilung der Rechtslehre.
A.
Allgemeine Einteilung der Rechtspflichten.
Man kann diese Einteilung sehr wohl nach dem ULPIAN
machen, wenn man seinen Formeln einen Sinn unterlegt, den er
sich dabei zwar nicht deutlich gedacht haben mag, den sie aber
doch verstatten daraus zu entwickeln, oder hinein zu legen. Sie
sind folgende:
i) Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die recht-
liche Ehrbarkeit (honestas iur'tdicd) bestehet darin: im Ver-
hältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu
behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrĂĽckt wird:
„Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei
fĂĽr sie zugleich Zweck." Diese Pflicht wird im folgenden
als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer
eigenen Person erklärt werden (^Lex iusti).
2) Tue niemanden unrecht (neminem laede\ und solltest du
darĂĽber auch aus aller Verbindung mit andern herausgehen
und alle Gesellschaft meiden müssen (Lex iurtäica).
3) Tritt (wenn du das letztere nicht vermeiden kannst) in eine
. Gesellschah mit andern, in welcher jedem das Seine erhalten
werden kann (suum cuique tribue). — Die letztere Formel,
wenn sie so übersetzt würde: „Gib jedem das Seine,"
wĂĽrde eine Ungereimtheit sagen; denn man kann niemanden
etwas geben, was er schon hat. Wenn sie also einen Sinn
haben soll, so müßte sie so lauten: „Tritt in einen Zu-
stand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen
gesichert sein kann (Lex iustitiae).
Also sind obenstehende drei klassische Formeln zugleich Ein-
teilungsprinzipien des Systems der Rechtspflichten in innere,
äußere und in diejenigen, welche die Ableitung der letzteren
vom Prinzip der ersteren durch Subsumrion enthalten.
Einteilung der Rechtslehre 59
B.
Allgemeine Einteilung der Rechte.
i) Der Rechte, als systematischer Lehren in das Naturrecht,
das auf lauter Prinzipien a priori beruht, und das positive
(statutarische) Recht, was aus dem Willen eines Gesetzgebers
hervorgeht.
2) Der Rechte als (moralischer) Vermögen andere zu ver-
pflichten, d. i. als einen gesetzHchen Grund zu den letzteren
(titulum), von denen die Obereinteilung die in das ange-
bt orne und erworbene Recht ist, deren ersteres dasjenige
Recht ist, welches unabhängig von allem rechtlichen Akt
jedermann von Natur zukommt; das zweite das, wozu ein
solcher Akt erfordert wird.
Das angeborne Mein und Dein kann auch das innere (meum
vel tuum tnternum) genannt werden; denn das äußere muß jeder-
zeit erworben werden.
Das angeborne Recht
ist nur ein einziges.
Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Will-
kĂĽr), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen
Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprĂĽnghche,
jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht. —
Die angeborne Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit nicht zu
mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie
wechselseitig auch verbinden kann; mithin die Qualität des Men-
schen sein eigener Herr (sui iuris) zu sein, imgleichen die eines
unbescholtenen Menschen (iusti\ weil er vor allem rechtlichen
Akt keinem unrecht getan bat; endUch auch die Befiignis, das
gegen andere zu tun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert,
wenn sie sich dessen nur nicht annehmen wollen; dergleichen ist
ihnen bloß seine Gedanken mitzuteUen, ihnen etwas zu erzählen
oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig, oder unwahr
und unaufrichtig (yeriloquium aut falsiloquium), weil es bloĂź aulr
40
Eiritcslung der Rechtslehre
ihnen beruht, ob sie ihm glauben wollen oder nicht^); — alle
diese Befugnisse liegen schon im Prinzip der angebornen Freiheit
und sind wirklich von ihr nicht (als Glieder der Einteilung unter
einem höheren Rechtsbegritf) unterschieden.
Die Absicht, weswegen man eine solche Einteilung in das
System des Naturrechts, (sofern es das angeborne angeht) eingefĂĽhrt
hat, geht darauf hinaus, damit, wenn ĂĽber ein erworbenes Recht
ein Streit entsteht und die Frage eintritt, wem die BeweisfĂĽhrung
{onus probandi) obliege, entweder von einer bezweifelten Tat, oder,
wenn diese ausgcmittelt ist, von einem bezweifelten Recht, der-
jenige, welcher diese Verbindlichkeit von sich ablehnt, sich auf
sein angebornes Recht der Freiheit (welches nun nach seinen ver-
schiedenen Verhältnissen spezifiziert wird) methodisch und gleich
als nach verschiedenen Rechtstiteln berufen könne.
Da es nun in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein
und Dein keine Rechte, sondern nur ein Recht gibt, so wird
diese Obereinteilung als aus zwei dem Inhalte nach äußerst un-
gleichen Gliedern bestehend in die Prolegomenen geworfen und
die Einteilung der Rechtslehre bloß auf das äußere Mein und Dein
bezogen werden können.
") Vorsätzlich, wenngleich bloß leichtsinnigerweise, Unwahrheit
7.U sagen, pflegt zwar gewöhnlich Lüge (mendaciuni) genannt zu werden,
weil sie wenigstens sofern auch schaden kann, daĂź der, welcher sie
treuherzig nachsagt, als ein Leichtgläubiger anderen zum Gespötte wird.
Im rechtlichen Sinne aber will man, daĂź nur diejenige Unwahrheit LĂĽge
genannt werde, die einem anderen unmittelbar an seinem Rechte Ab-
bruch tut, z. B. das falsche Vorgeben eines mit jemanden geschlossenen
Vertrags, um ihn um das Seine zu bringen [falsiloquium dolosum), und
dieser Unterschied sehr verwandter Begriffe ist nicht ungegrĂĽndet: weil
es bei der bloßen Erklärung seiner Gedanken immer dem andern frei
bleibt, sie anzunehmen, wofĂĽr er will, obgleich aie gegrĂĽndete Nach-
rede, daĂź dieser em Mensch sei, dessen Reden man nicht glauben
kann, so nahe an den Vorwurf, ihn einen LĂĽgner zu nennen, streift,
daß die Grenzlinie, die hier das, was zum Jus gehört, von dem, was der
Ethik anheimfällt, trennt, nur so eben zu unterscheiden ist.
Einteilung der Metaphysik der Sitten ĂĽberhaupt 41
Einteilung
der Metaphysik der Sitten ĂĽberhaupt.
I.
Alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten (officia iuris),
d. i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist,
oder Tugendpflichten (officia virtuth s. ethica), fĂĽr welche eine
solche nicht möglich ist; — die letztern können aber darum nur
keiner äußeren Gesetzgebung unterworfen werden, weil sie auf
einen Zweck gehen, der (oder welchen zu haben) zugleich Pflicht
ist; sich aber einen Zweck vorzusetzen, das kann durch keine
äußerliche Gesetzgebung bewirket werden (weil es ein innerer
Akt des Gemüts ist); obgleich äußere Handlungen geboten werden
mögen, die dahin führen, ohne doch daß das Subjekt sie sich
zum Zweck macht.
Warum wird aber die Sittenlehre (Moral) gewöhnlich
(namentlich vom CICERO) die Lehre von den Pflichten
und nicht auch von den Rechten betitelt? da doch die
einen sich auf die andern beziehen. — Der Grund ist dieser:
Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralische
Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten aus-
gehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher
ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Ver-
mögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts,
entwickelt werden kann.
II.
Da in der Lehre von den Pflichten der Mensch nach der
Eigenschaft seines Freiheitsvermögens, welches ganz übersmnlich
ist, also auch bloĂź nach seiner Menschheit, als von physischen
Bestimmungen unabhängiger Persönhchkeit (homo noumenon), vor-
gestellt werden kann und soll, zum Unterschiede von eben dem-
selben, aber als mit jenen Bestimmungen behafteten Subjekt, dem
Menschen (homo phaenomenon), so werden Recht und Zweck,
wiederum in dieser zwiefachen Eigenschaft auf die Pflicht bezogen,
folgende Einteilung geben.
Einteilung der Metaphysih der Sitten ĂĽberhaupt
na
Einteilung
ch dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht.
Pflicht gegen sich selbst.
Pflicht
gcg
en andere.
Einteilung der Metaphysik der Sitten ĂĽberhaupt 43
III.
Da die Subjekte, in Ansehung deren ein Verhältnis des Rechts
zur Pflicht (es sei statthaft oder unstatthaft) gedacht wird, vcr-
schiedne Beziehungen zulassen: so wird auch in dieser Absicht
eine Einteilung vorgenommen werden können.
Einteilung
nach dem subjektiven Verhältnis der Verpflich-
tenden und Verpflichteten.
I. ^'
Das rechtliche Verhältnis des Das rechtliche Verhältnis des
Menschen zu Wesen, die weder Menschen zu Wesen^ die sowohl
Recht noch Pflicht haben. Recht als Pflicht haben.
Vacat. Adest.
Denn das sind vernun&lose Denn es ist ein Verhältnis
Wesen, die weder uns verbinden, von Menschen zu Menschen,
noch von welchen wir können
verbunden werden.
^ 4-
Das rechthche Verhältnis des Das rechtliche Verhältnis des
Menschen zu Wesen, die lauter Menschen zu einem Wesen, was
Pflichten und keine Rechte haben, lauter Rechte und keine Pflicht
hat (Gott).
Vacat. Vacat.
Denn das wären Menschen NämHch in der bloßen Philo-
ohne Persönhchkeit (Leibeigene, sophie, weil es kein Gegenstand
Sklaven). möglicher Erfahrung ist.
Also findet sich nur in Nr. i ein reales Verhältnis zwischen
Recht und Pflicht. Der Grund, warum es nicht auch in Nr. 4
angetrofl^en wird, ist: weil es eine transszendente Pflicht sein
würde, d. i. eine solche, der kein äußeres verpflichtendes Subjekt
korrespondierend gegeben werden kann, mithin das Verhältnis
in theoretischer RĂĽcksicht hier nur ideal, d. i. zu einem Ge-
dankendinge ist, was wir uns selbst, aber doch nicht durch seinen
ganz leeren, sondern in Beziehung auf uns selbst und die Maximen
44
Eintftlung der Metaphysik der Sitten ĂĽberhaupt
Jcr inneren Sittlichkeit, mithin in praktischer innerer Absicht
fruchtbaren Begriff machen, worin denn auch unsere ganze im-
manente (ausführbare) Pflicht in diesem bloß gedachter Verh'ält-
nissc allein besteht.
Von der Einteilung der Moral, als eines Systems
der Pflichten ĂĽberhaupt.
Methodenlehre.
Didaktik. Asketik.
Elcmentarlchre.
Rechtspriichten. Tugendpflichten.
Privatrecht. Ă–fl^entliches R.,
und so weiter, alles,
was nicht bloĂź die Materialien, sondern auch die architektonische
Form einer wissenschaftlichen Sittenlehre enthält; wenn dazu die
metaphysischen Anfangsgründe die allgemeinen Prinzipien vollständig
ausgespĂĽrt haben.
Die oberste Einteilung des Naturrechts kann nicht (wie bis-
weilen geschieht) die in das natĂĽrliche und gesellschaftliche,
sondern muĂź die ins natĂĽrliche und bĂĽrgerliche Recht sein:
deren das erstere das Privatrecht, das zweite das öffentliche
Recht genannt wird. Denn dem Naturzustande ist nicht der
gesellschaftliche, sondern der bĂĽrgerliche entgegengesetzt: weil es
in jenem zwar gar wohl Gesellschaft geben kann, aber nur keine
bürgerliche (durch öffentliche Gesetze das Mein und Dein
sichernde), daher das Recht in dem ersteren das Privatrecht heiĂźt.
Der
Rechtslehre
Erster Teil.
Das Privatrecht.
i
Der allgemeinen Rechtslehre
Erster Teil.
Das Privatrecht
vom äußeren Mein und Dein überhaupt.
Erstes HauptstĂĽck.
Von der Art etwas Ă„uĂźeres als das Seine zu haben.
§ I.
Das rechtlich Meine (meum iuris) ist dasjenige, womit ich
so verbunden bin, daĂź der Gebrauch, den ein anderer ohne
meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde.
Die subjektive Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs über-
haupt ist der Besitz.
Etwas Ă„uĂźeres aber wĂĽrde nur dann das Meine sein, wenn
ich annehmen darf, es sei möglich, daß ich durch den Gebrauch,
den ein anderer von einer Sache macht, in deren Besitz ich
doch nicht bin, gleichwohl doch lädiert werden könne. —
Also widerspricht es sich selbst, etwas Ă„uĂźeres als das Seine zu
haben, wenn der Begriff des Besitzes nicht einer verschiedenen
Bedeutung, nämüch des sinnlichen und des intelligiblen Be-
sitzes, fähig wäre, und unter dem einen der physische, unter
dem andern aber ein bloĂź rechtlicher Besitz ebendesselben Gegen-
standes verstanden werden könnte.
Der Ausdruck; ein Gegenstand ist auĂźer mir, kann aber
entweder so viel bedeuten, als: er ist ein nur von mir (dem
Subjekt) unterschiedener, oder auch ein in einer anderen
48 Rech ts Uhr e. i. Teil. Das Privatrecht, i. HauptstĂĽck
Stelle (positus) im Raum oder in der Zeit befindlicher Gegen-
stand. Nur in der crstcren Bedeutung genommen, kann der Be-
sitz als VcrnunFtbesitz gedacht werden; in der zweiten aber wĂĽrde
er ein empirischer heißen müssen. — Ein intelligibler Besitz
(wenn ein solcher möglich ist) ist ein Besitz ohne Inhabung
(^äftcntio).
§ z.
Rechtliches Postulat der praktischen Vernunft.
Es ist möglich, einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür
als das Meine zu haben; d. i.: eine Maxime, nach welcher, werm
sie Gesetz wĂĽrde, ein Gegenstand der WillkĂĽr an sich (objektiv)
herrenlos (res nullius^ werden mĂĽĂźte, ist rechtswidrig.
Denn ein Gegenstand meiner WillkĂĽr ist etwas, was zu ge-
brauchen ich physisch in meiner Macht habe. Sollte es nun
doch rechtlich schlechterdings nicht in meiner Macht stehen,
d. i. mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen
Gesetz nicht zusammen bestehen können (unrecht sein), Gebrauch
von demselben zu machen: so wĂĽrde die Freiheit sich selbst des
Gebrauchs ihrer WillkĂĽr in Ansehung eines Gegenstandes der-
selben berauben, dadurch daß sie brauchbare Gegenstände außer
aller Möglichkeit des Gebrauchs setzte, d. i. diese in praktischer
RĂĽcksicht vernichtete und zur res nullius machte, obgleich die
WillkĂĽr formaliter im Gebrauch der Sachen mit jedermanns
äußeren Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmete. —
Da nun die reine praktische Vernunft keine andere als formale
Gesetze des Gebrauchs der WillkĂĽr zum Grunde legt und also
von der Materie der WillkĂĽr, d. i. der ĂĽbrigen Beschaffenheit
des Objekts, wenn es nur ein Gegenstand der WillkĂĽr ist,
abstrahiert, so kann sie in Ansehung eines solchen Gegenstandes
kein absolutes Verbot seines Gebrauchs enthalten, weil dieses ein
Widerspruch der äuĂźeren Freiheit mit sich selbst sein wĂĽrde. — â–
Ein Gegenstand meiner WillkĂĽr aber ist das, wovon beliebigen
Gebrauch zu machen ich das physische Vermögen habe, dessen
Gebrauch in meiner Macht {potentia) steht; wovon noch unter-
schieden werden muĂź, denselben Gegenstand in meiner Gewalt
{in potestatem meam redactum) zu haben, welches nicht bloĂź ein
Vermögen, sondern auch einen Akt der Willkür voraussetzt.
Von der Art etwas Ă„uĂźeres- als das Seine zu haben 49
Um aber etwas bloĂź als Gegenstand meiner WillkĂĽr zu denken,
ist hinreichend, mir bewuĂźt zu sein, daĂź ich ihn in meiner Macht
habe. — Also ist es eine Voraussetzung a priori der praktischen
Vernunft einen jeden Gegenstand meiner WillkĂĽr als objektiv
mögliches Mein oder Dein anzusehen und zu behandeln.
Man kann dieses Postulat ein Erlaubnisgesetz (lex perm'tssiva)
der praktischen Vernunft nennen, was uns die Befugnis gibt, die
wir aus bloĂźen Begriffen vom Rechte ĂĽberhaupt nicht heraus-
bringen könnten: nämlich allen andern eine Verbindlichkeit auf-
zulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser
Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in
unseren Besitz genommen haben. Die Vernunft will, daĂź dieses
als Grundsatz gelte, und das zwar als praktische Vernunft, die
sich durch dieses ihr Postulat a priori erweitert.
5 3-
Im Besitze eines Gegenstandes muĂź derjenige sein, der eine
Sache als das Seine zu haben behaupten will; denn wäre er nicht
in demselben: so könnte er nicht durch den Gebrauch, den der
andere ohne seine Einwilligung davon macht, lädiert werden:
weil, wenn diesen Gegenstand etwas auĂźer ihm was mit ihm gar
nicht rechtUch verbunden ist, affiziert, ihn selbst (das Subjekt) nicht
affizieren und ihm unrecht tun könnte.
§ 4-
Exposition des Begriffs vom äußeren Mein und Dein.
Der äußeren Gegenstände meiner Willkür können nur drei
sein: i) eine (körperliche) Sache außer mir; 2) die Willkür
eines anderen zu einer bestimmten Tat (praestatio); 3) Der Zu-
stand eines anderen in Verhältnis auf mich; nach den Kategorien
der Substanz, Kausalität und Gemeinschaft zwischen mir und
äußeren Gegenständen nach Freiheitsgesetzen.
a) Ich kann einen Gegenstand im Räume (eine körpediche
Sache) nicht mein nennen, auĂźer wenn, obgleich ich nicht
im physischen Besitz desselben bin, ich dennoch in
Kants Schriften. Bd. VII. 4
so Rechtslchrc. i. Teil. Das Privatrecht, i. Hauptstilck
einem anderen wirklichen (aJso nicht physischen) Besitz des-
selben zu sein behaupten darf. — So werde ich einen Apfel
nicht darum mein nennen, weil ich ihn in meiner Hand
habe (physisch besitze), sondern nur, wenn ich sagen kann:
ich besitze ihn, ob ich ihn gleich aus meiner Hand, wohin
CS auch sei, gelegt habe; imgleichen werde ich von dem
Boden, auf den ich mich gelagert habe, nicht sagen können,
er sei darum mein; sondern nur, wenn ich behaupten darf,
er sei immer noch in meinem Besitz, ob ich gleich diesen
Platz verlassen habe. Denn der, welcher mir im erstem
FaJle (des empirischen Besitzes) den Apfel aus der Hand
w^inden, oder mich von meiner Lagerstätte wegschleppen
wollte, wĂĽrde mich zwar freilich in Ansehung des inneren
Meinen (der Freiheit), aber nicht des äußeren Meinen lä-
dieren, wenn ich nicht auch ohne Inhabung mich im Besitz
des Gegenstandes zu sein behaupten könnte; ich könnte also
diese Gegenstände (den Apfel und das Lager) auch nicht
mein nennen.
b) Ich kann die Leistung von etwas durch die WillkĂĽr des
andern nicht mein nennen, wenn ich bloĂź sagen kann, sie
sei mit seinem Versprechen zugleich (pactum re imtuni) in
meinen Besitz gekommen, sondern nur, wenn ich behaupten
darf, ich bin im Besitz der WillkĂĽr des andern (diesen zur
Leistung zu bestimmen), obgleich die Zeit der Leistung noch
erst kommen soll; das Versprechen des letzteren gehört dem-
nach zur Habe und Gut (obligatio activd)^ und ich kann sie
zu dem Meinen rechnen, aber nicht bloĂź, wenn ich das
Versprochene (wie im ersten Falle) schon in meinem
Besitz habe, sondern auch, ob ich dieses gleich noch nicht
besitze. Also muĂź ich mich, als von dem auf Zeitbedingung
eingeschränkten, mithin vom empirischen Besitze unabhängig,
doch im Besitz dieses Gegenstandes zu sein denken können.
c) Ich kann ein Weib, ein Kind, ein Gesinde und ĂĽber-
haupt eine andere Person nicht darum das Meine nennen,
weil ich sie jetzt als zu meinem Hauswesen gehörig befehlige,
oder im Zwinger und in meiner Gewalt und Besitz habe,
sondern wenn ich, ob sie sich gleich dem Zwange entzogen
haben, und ich sie also nicht (empirisch) besitze, dennoch
sagen kann, ich besitze sie durch meinen bloĂźen Willen, so-
lange sie irgendwo oder irgendwenn existieren mithin bloĂź-
Von der Art etwas Ă„uĂźeres als das Seine zu haben 5 1
rechtlich; sie gehören also zu meiner Habe nur alsdann,
wenn und sofern ich das letztere behaupten kann.
5 5.
Definition des Begriffs des äußeren Mein und Dein.
. Die Namenerklärung, d. i. diejenige, welche bloß zur
Unterscheidung des Objekts von allen andern zureicht und aus
einer vollständigen und bestimmten Exposition des Begriffs her-
vorgeht, würde sein: Das äußere Meine ist dasjenige außer mir,
an dessen mir beliebigen Gebrauch mich zu hindern Läsion (Ab-
bruch an meiner Freiheit, die mit der Freiheit von jedermann
nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann) sein
würde. — Die Sacherklärung dieses Begriffs aber, d. i. die,
welche auch zur Deduktion desselben (der Erkenntnis der Mög-
lichkeit des Gegenstandes) zureicht, lautet nun so: Das äußere
Meine ist dasjenige, in dessen Gebrauch mich zu stören Läsion
sein wĂĽrde, ob ich gleich nicht im Besitz desselben (nicht
Inhaber des Gegenstandes) bin. — In irgend einem Besitz des
äußeren Gegenstandes muß ich sein, wenn der Gegenstand mein
heiĂźen soll; denn sonst wĂĽrde der, welcher diesen Gegenstand
wider meinen Willen affizierte, mich nicht zugleich affizieren,
mithin auch nicht lädieren. Also muß zufolge des § 4 ein in-
telligibler Besitz (^possessio noumenon) als möglich vorausgesetzt
werden, wenn es ein äußeres Mein oder Dein geben soll; der
empirische Besitz (Inhabung) ist alsdenn nur Besitz in der Er-
scheinung (^possessio phaenomenon), obgleich der Gegenstand,
den ich besitze, hier nicht so, wie es in der transszendentalen
Analytik geschieht, selbst als Erscheinung, sondern als Sache an
sich selbst betrachtet wird; denn dort war es der Vernunft um
das theoretische Erkenntnis der Natur der Dinge und, wie weit
sie reichen könne, hier aber ist es ihr um praktische Bestimmung
der WillkĂĽr nach Gesetzen der Freiheit zu tun, der Gegenstand
mag nun durch Sinne, oder auch bloĂź den reinen Verstand
erkennbar sein, und das Recht ist ein solcher reiner praktischer
Vernunftbegriff der WillkĂĽr unter Freiheitsgesetzen.
Eben darum sollte man auch bilhg nicht sagen: ein Recht
auf diesen oder jenen Gegenstand, sondern vielmehr ihn bloĂź
4*
5 1 Rechtsichre, i. Teil. Das Privatrecht, i. HauptstĂĽck
rechtlich besitzen; denn das Recht ist schon ein intellektueller
Besitz eines Gegenstandes, einen Besitz aber zu besitzen, wĂĽrde
ein Ausdruck ohne Sinn sein.
§ 6.
Deduktion des Begriffs des bloĂź rechtlichen Besitzes eines
äußeren Gegenstandes {possessio noumemn).
Die Frage: wie ist ein äußeres Mein und Dein möglich?
löst sich nun in diejenige auf: wie ist ein bloß rechtlicher
(intelligibler) Besitz möglich? und diese wiederum in die dritte:
wie ist ein synthetischer Rechtssatz a priori möglich?
Alle Rechtssätze sind Sätze a priori, denn sie sind Vernunft-
gesetze {dictamina rationis). Der Rechtssatz a priori in Ansehung
des empirischen Besitzes ist analytisch; denn er sagt nichts
mehr, als was nach dem Satz des Widerspruchs aus dem letzteren
Folgt, daß nämlich, wenn ich Inhaber einer Sache (mit ihr also
physisch verbunden) bin, derjenige, der sie wider meine Ein-
willigung aFfiziert (z. B. mir den Apfel aus der Hand reiĂźt), das
innere Meine (meine Freiheit) affiziere und schmälere, mithin in
seiner Maxime mit dem Axiom des Rechts im geraden Wider-
spruch stehe. Der Satz von einem empirischen rechtmäßigen Be-
sitz geht also nicht ĂĽber das Recht einer Person in Ansehung
ihrer selbst hinaus.
Dagegen geht der Satz von der Klöglichkeit des Besitzes einer
Sache auĂźer mir nach Absonderung aller Bedingungen des em-
pirischen Besitzes im Raum und Zeit (mithin die Voraussetzung
der Möglichkeit einer possessio noumenon^ über jene einschränkende
Bedingungen hinaus, und weil er einen Besitz auch ohne Inhabung
als notwendig zum BegritFe des äußeren Mein und Dein statuiert,
so ist er synthetisch, und nun kann es zur AuFgabe FĂĽr die
Vernunft dienen, zu zeigen, wie ein solcher sich ĂĽber den Begriff
des empirischen Besitzes erweiternde Satz a priori möglich sei.
Auf solche Weise ist z. B. die Besitzung eines absonderlichen
Bodens ein Akt der Privatwillkür, ohne doch eigenmächtig zu
sein. Der Besitzer Fundiert sich auF dem angebornen Gemein-
besitze des Erdbodens und dem diesem a priori entsprechenden
allgemeinen Willen eines erlaubten Privatbesitzes auf demselben
J^n der Art etwas Ă„uĂźeres als das Seine zu haben 53
(weil ledige Sachen sonst an sicti und nach einem Gesetze zu
herrenlosen Dingen gemacht werden wĂĽrden) und erwirbt durch
die erste Besitzung ursprĂĽnglich einen bestimmten Boden, indem
er jedem andern mit Recht (Jure) widersteht, der ihn im Privat-
gebrauch desselben hindern wĂĽrde, obzwar als im natĂĽrlichen
Zustande nicht von rechtswegen (^cle iure), weil in demselben noch
kein öffentliches Gesetz existiert.
Wenn auch gleich ein Boden als frei, d. i. zu jedermanns
Gebrauch offen, angesehen oder dafür erklärt würde, so kann
man doch nicht sagen, daĂź er es von Natur und ursprĂĽnglich,
vor allem rechtlichen Akt, frei sei. Denn auch das wäre ein Ver-
hältnis zu Sachen, nämlich dem Boden, der jedermann seinen
Besitz verweigerte, sondern weil diese Freiheit des Bodens ein
Verbot fĂĽr jedermann sein wĂĽrde sich desselben zu bedienen,
wozu ein gemeinsamer Besitz desselben erfordert wird, der ohne
Vertrag nicht stattfinden kann. Ein Boden aber, der nur durch
diesen frei sein kann, muĂź wirklich im Besitze aller derer (zu-
sammen Verbundenen) sein, die sich wechselseitig den Gebrauch
desselben untersagen oder ihn suspendieren.
Diese ursprĂĽngliche Gemeinschaft des Bodens und hie-
mit auch der Sachen auf demselben (communio fundi ori-
ginaria) ist eine Idee, welche objektive (rechtlich praktische)
Realität hat, und ist ganz und gar von der uranfänglichen
(commumo primaeva) unterschieden, welche eine Erdichtung
ist: weil diese eine gestiftete Gemeinschaft hätte sein und
aus einem Vertrage hervorgehen mĂĽssen, durch den alle auf
den Privatbesitz Verzicht getan, und ein jeder durch die Ver-
einigung seiner Besitzung mit der jedes andern jenen in einen
Gesamtbesitz verwandelt habe, und davon mĂĽĂźte uns die
Geschichte einen Beweis geben. Ein solches Verfahren aber
als ursprĂĽngliche Besitznehmung anzusehen, und daĂź darauf
jedes Menschen besonderer Besitz habe gegrĂĽndet werden
können und sollen, ist ein Widerspruch.
Von dem Besitz {possessio) ist noch der Sitz (jedes), und
von der Besitznehmung des Bodens in der Absicht ihn der-
einst zu erwerben ist noch die Niederlassung, Ansiedelung
(jncolatus), unterschieden, welche ein fortdauernder Privat-
besitz eines Platzes ist, der von der Gegenwart des Subjekts
auf demselben abhängt. Von einer Niederlassung als einem
zweiten rechtlichen Akt, der auf die Besitznehmung folgen.
54
Rechtslehre, i. Teil. Das Privatrecht, i. HauptstĂĽck
aber auch ganz unterbleiben kann, ist hier nicht die Rede:
weil sie kein ursprĂĽnglicher, sondern von der Beistimmung
anderer abgeleiteter Besitz sein wĂĽrde.
Der bloĂźe physische Besitz (die Inhabung) des Bodens ist
schon ein Recht in einer Sache, obzwar freilich noch nicht
hinreichend, ihn als das Meine anzusehen. Beziehungsweise
auf andere ist er, als (soviel man weiĂź) erster Besitz, mit
dem Gesetz der äußern Freiheit einstimmig und zugleich in
dem ursprĂĽnglichen Gesamtbesitz enthalten, der a priori den
Grund der Möglichkeit eines Privatbesitzes enthält; mithin
den ersten Inhaber eines Bodens in seinem Gebrauch des-
selben zu stören, eine Läsion. Die erste Besitznehmung hat
also cmen Rechtsgrund Uitulus possessionis) fĂĽr sich, welcher
der ursprĂĽnglich gemeinsame Besitz ist, und der Satz: wohl
dem, der im Besitz ist (Ăźeati possidentes) ! weil niemand ver-
bunden ist, seinen Besitz zu beurkunden, ist ein Grundsatz
des natĂĽrlichen Rechts, der die erste Besitznehmung als einen
rechtlichen Grund zur Erwerbung aufstellt, auf den sich jeder
erste Besitzer fuĂźen kann.
In einem theoretischen Grundsatze a priori müßte näm-
lich (zufolge der Kritik der reinen Vernunft) dem gegebenen
Begriff eine Anschauung a priori untergelegt, mithin etwas
zu dem Begriffe vom Besitz des Gegenstandes hinzugetan
werden; allein m diesem praktischen wird umgekehrt ver-
fahren, und alle Bedingungen der Anschauung, welche den
empirischen Besitz begrĂĽnden, mĂĽssen weggeschafft (von
ihnen abgesehen) werden, um den Begrifl des Besitzes ĂĽber
den empirischen hinaus zu erweitern und sagen zu können:
ein jeder äußere Gegenstand der Willkür kann zu dem
rechtlich Meinen gezählt werden, den ich (und auch nur
sofern ich ihn) in meiner Gewalt habe, ohne im Besitz des-
selben zu sein.
Die Möglichkeit eines solchen Besitzes, mithin die De-
duktion des Begriffs eines nicht-empirischen Besitzes grĂĽndet
sich auf dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft:
„daß es Rechtspflicht sei, gegen andere so zu handeln, daß
das Ă„uĂźere (Brauchbare) auch das Seine von irgend jemanden
werden könne", zugleich mit der Exposition des letzteren
Begriffs, welcher das äußere Seine nur auf einen nicht-
physischen Besitz gründet, verbunden. Die Möglichkeit
Von der Art etwas Ă„uĂźeres als das Seine zu haben 55
des letzteren aber kann keinesweges fĂĽr sich selbst bewiesen
oder eingesehen werden (eben weil es ein VernunftbegrifT
ist, dem keine Anschauung korrespondierend gegeben werden
kann), sondern ist eine unmittelbare Folge aus dem gedachten
Postulat. Denn wenn es notwendig ist, nach jenem Rechts-
grundsatz zu handeln, so muĂź auch die Lntelligibele Bedin-
gung (eines bloß rechtlichen Besitzes) möglich sein. — Es
darf auch niemand befremden, daĂź die theoretischen
Prinzipien des äußeren Mein und Dein sich im Intelligibelen
verlieren und kein erweitertes Erkenntnis vorstellen: weil
der Begriff der Freiheit, auf dem sie beruhen, keiner theo-
retischen Deduktion seiner Möglichkeit fähig ist und
nur aus dem praktischen Gesetze der Vernunft (dem kate-
gorischen Imperativ), als einem Faktum derselben, ge-
schlossen wrerden kann.
§7-
Anwendung des Prinzips der Möglichkeit des äußeren
Mein und Dein auf Gegenstände der Erfahrung.
Der Begriff eines bloĂź rechdichen Besitzes ist kein empirischer
(von Raum- und Zeitbedingungen abhängiger) Begriff, und gleich-
wohl hat er praktische Realität, d. i. er muß auf Gegenstände
der Erfahrung, deren Erkenntnis von jenen Bedingungen abhängig
ist, anwendbar sein. — Das Verfahren mit dem Rechtsbegriffe in
Ansehung der letzteren, als des möghchen äußeren Mein und
Dein, ist folgendes: Der Rechtsbegriff, der bloĂź in der Vernunft
liegt, kann nicht unmittelbar auf Erfahrungsobjekte und auf den
Begriff eines empirischen Besitzes, sondern muß zunächst auf
den reinen Verstandesbegriff eines Besitzes ĂĽberhaupt angewandt
werden, so daĂź statt der Inhabung {detent'to)^ als einer empirischen
Vorstellung des Besitzes, der von allen Raumes- und Zeitbedin-
gungen abstrahierende Begriff des Habens, und nur daĂź der
Gegenstand als in meiner Gewalt (in potestate inea positum esse)
sei, gedacht werde; da dann der Ausdruck des Ă„uĂźeren nicht
das Dasein in einem anderen Orte, als wo ich bin, oder meiner
WillensentschlieĂźung und Annahme als in einer anderen Zeit wie
der des Angebots, sondern nur einen von mir unterschiedenen
5 6 Recht sichre, i. Teil. Das Privatrecht, i. Hauptstikk
Gegenstand bedeutet. Nun will die praktische Vernunft durch
ihr Rechtsgesetz, daĂź ich das Mein und Dein in der Anwendung
auf (icgcnständc nicht nach sinnlichen Bedingungen, sondern ab-
gesehen von denselben, weil es eine Bestimmung der WillkĂĽr
nach Freiheitsgesetzen betrifft, auch den Besitz desselben denke,
indem nur ein Verstandesbegriff unter RechtsbegrifFe subsumiert
werden kann. Also werde ich sagen: ich besitze einen Acker,
ob er zwar ein ganz anderer Platz ist, als worauf ich mich wirk-
lich befinde. Denn die Rede ist hier nur von einem intellek-
tuellen Verhältnis zum Gegenstande, sofern ich ihn in meiner
Gewalt habe (ein von Raumesbestimmungen unabhängiger Ver-
standcsbegriff des Besitzes), und er ist mein, weil mein zu des-
selben beliebigem Gebrauch sich bestimmender Wille dem Gesetz
der äußeren Freiheit nicht widerstreitet. Gerade darin: daß ab-
gesehen vom Besitz in der Erscheinung (der Inhabung) dieses
Gegenstandes meiner WillkĂĽr die praktische Vernunft den Besitz
nach Verstandesbegriffen, nicht nach empirischen, sondern solchen,
die a priori die Bedingungen desselben enthalten können, gedacht
wissen will, liegt der Grund der GĂĽltigkeit eines solchen Begriffs
vom Besitze (^possessio noumenon) als einer allgemeingeltenden Ge-
setzgebung; denn eine solche ist in dem Ausdrucke enthalten;
„Dieser äußere Gegenstand ist mein," weil allen andern dadurch
eine Verbindlichkeit auferlegt wird, die sie sonst nicht hätten,
sich des Gebrauchs desselben zu enthalten.
Die Art also, etwas auĂźer mir als das Meine zu haben, ist
die bloĂź rechtliche Verbindung des Willens des Subjekts mit jenem
Gegenstande, unabhängig von dem Verhältnisse zu demselben im
Raum und in der Zeit, nach dem Begriff eines intelligibelen Be-
sitzes. — Ein Platz auf der Erde ist nicht darum ein äußeres Meine,
weil ich ihn mit meinem Leibe einnehme (denn es betrifft hier
nur meine äußere Freiheit, mithin nur den Besitz meiner selbst,
kein Ding auĂźer mir, und ist also nur ein inneres Recht); son-
dern wenn ich ihn noch besitze, ob ich mich gleich von ihm
weg und an einen andern Ort begeben habe, nur alsdenn betrifft
es mein äußeres Recht, und derjenige, der die fortwährende Be-
setzung dieses Platzes durch meine Person zur Bedingung machen
wollte, ihn als das Meine zu haben, muĂź entweder behaupten,
CS sei gar nicht möglich, etwas Äußeres als das Seine zu haben
(welches dem Postulat $ 2 widerstreitet), oder er verlangt, daĂź,
um dieses zu können, ich in zwei Orten zugleich sei; welches
Von der Art ewtas Ă„uĂźeres als das Seine zu haben 57
denn aber soviel sagt, als: ich solle an einem Orte sein und auch
nicht sein, wodurch er sich selbst widerspricht.
Dieses kann auch auf den Fall angewendet werden, da ich
ein Versprechen acceptiert habe; denn da wird meine Habe und
Besitz an dem Versprochenen dadurch nicht aufgehoben, daĂź der
Versprechende zu einer Zeit sagte: diese Sache soll dein sein, eine
Zeit hernach aber von ebenderselben Sache sagt: ich wall jetzt, die
Sache solle nicht dein sein. Denn es hat mit solchen intellek-
tuellen Verhältnissen die Bewandtnis, als ob jener ohne eine Zeit
zwdschen beiden Deklarationen seines Willens gesagt hätte: sie
soll dein sein, und auch: sie soll nicht dein sein, was sich dann
selbst widerspricht.
Eben dasselbe gilt auch von dem Begriffe des rechtlichen Besitzes
einer Person, als zu der Habe des Subjekts gehörend (sein Weib,
Kind, Knecht): daß nämlich diese häusliche Gemeinschaft und der
wechselseitige Besitz des Zustandes aller Glieder derselben durch
die Befugnis sich örtlich voneinander zu trennen nicht auf-
gehoben wird: weil es ein rechtliches Verhältnis ist, was sie
verknüpft, und das äußere Mein und Dein hier ebenso wie in
vorigen Fällen gänzlich auf der Voraussetzung der Möglichkeit
eines reinen Vernunftbesitzes ohne Inhabung beruht.
Zur Kritik der rechtlich-praktischen Vernunft im Begriffe
des äußeren Mein und Dein wird diese eigentlich durch eine
Antinomie der Sätze über die Möglichkeit eines solchen Be-
sitzes genötigt, d. i. nur durch eine unvermeidliche Dialektik,
in welcher Thesis und Antithesis beide auf die GĂĽltigkeit
zweier einander widerstreitenden Bedingungen gleichen An-
spruch machen, wird die Vernunft auch in ihrem praktischen
(das Recht betreffenden) Gebrauch genötigt, zwischen dem
Besitz als Erscheinung und dem bloĂź durch den Verstand
denkbaren einen Unterschied zu machen.
Der Satz heißt: Es ist möglich, etwas Äußeres als das
Meine zu traben, ob ich gleich nicht im Besitz desselben bin.
Der Gegensatz: Es ist nicht möglich, etwas Äußeres
als das Meine zu haben, wenn ich nicht im Besitz des-
selben bin.
Auflösung: Beide Sätze sind wahr: der erstere, wenn ich
den empirischen Besitz (^possessio phaenomemn)^ der andere,
wenn ich unter diesem Wort den reinen intelligibelen Besitz
{possessio noumenon) verstehe. — Aber die Möglichkeit eines
8 Reckt sichre, i. Teil. Das Privatrecht. /. HauptstĂĽck
intelligibclcn Besitzes, mithin auch des äußeren Mein und
Dein läßt sich nicht einsehen, sondern muß aus dem Postulat
der praktischen Vernunft gefolgert werden, wobei es noch
besonders merkwĂĽrdig ist: daĂź diese ohne Anschauungen,
selbst ohne einer a priori zu bedĂĽrfen, sich durch bloĂźe,
vom Gesetz der Freiheit berechtigte Weglassung empirischer
Bedingungen erweitere und so synthetische Rechtssätze
a priori aufstellen kann, deren Beweis (wie bald gezeigt
werden soll) nachher in praktischer RĂĽcksicht auf analytische
Art gefĂĽhrt werden kann.
§ 8.
Etwas Ă„uĂźeres als das Seine zu haben, ist nur in einem
rechtlichen Zustande, unter einer öffentlich-gesetzgebenden
Gewalt, d. i. im bürgerlichen Zustande, möglich.
Wenn ich (wörtlich oder durch die Tat) erkläre: ich will,
daß etwas Äußeres das Meine sein solle, so erkläre ich jeden
anderen fĂĽr verbindlich, sich des Gegenstandes meiner WillkĂĽr
zu enthalten: eine Verbindlichkeit, die niemand ohne diesen
meinen rechtlichen Akt haben wĂĽrde. In dieser AnmaĂźung
aber liegt zugleich das Bekenntnis: jedem anderen in Ansehung
des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung
verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer
allgemeinen Regel des äußeren rechdichen Verhältnisses hervor.
Ich bin also nicht verbunden, das äußere Seine des anderen un-
angetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder andere dagegen auch
sicher stellt, er werde in Ansehung des Meinigen sich nach eben-
demselben Prinzip verhalten; welche Sicherstellung gar nicht eines
besonderen rechtlichen Akts bedarf, sondern schon im Begriffe
einer äußeren rechtlichen Verpflichtung wegen der Allgemeinheit,
mithin auch der Reziprozität der Verbindlichkeit aus einer all-
gemeinen Regel enthalten ist. — Nun kann der einseitige Wille
in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besitzes nicht zum
Zwangsgesetz fĂĽr jedermann dienen, weil das der Freiheit nach
allgemeinen Gesetzen Abbruch tun wĂĽrde. Also ist nur ein jeden
anderen verbindender, mithin kollektiv allgemeiner (gemeinsamer)
und machthabender Wille derjenige, welcher jedermann jene Sicher-
Von der Art etwas Ă„uĂźeres als das Seine zu haben ^^
heit leisten kann. — Der Zustand aber unter einer allgemeinen
äußeren (d. i. öffentlichen) mit Macht begleiteten Gesetzgebung
ist der bĂĽrgerliche. Also kann es nur im bĂĽrgerhchen Zustande
ein äußeres Mein und Dein geben.
Folgesatz: Wenn es rechtlich möglich sein muß, einen äußeren
Gegenstaxid als das Seine zu haben: so muĂź es auch dem Subjekt
erlaubt sein, jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und
Dein über ein solches Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zu-
sammen in eine bĂĽrgerliche Verfassung zu treten.
§ 5).
Im Naturzustande kann doch ein wirkliches, aber nur
provisorisches äußeres Mein und Dein statthaben.
Das Naturrecht im Zustande einer bĂĽrgerlichen Verfassung
(d. i. dasjenige, was fĂĽr die letztere aus Prinzipien a priori ab-
geleitet werden kann) kann durch die statutarischen Gesetze der
letzteren nicht Abbruch leiden, und so bleibt das rechtliche Prinzip
in Kraft: „Der, welcher nach einer Maxime verfährt, nach der es
unmöglich wird, einen Gegenstand meiner Willkür als das Meine
zu haben, lädiert mich"; denn bürgerliche Verfassung ist allein der
rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert,
eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird. — Alle
Garantie setzt also das Seine von jemanden (dem es gesichert
wird), schon voraus. Mithin muĂź vor der bĂĽrgerlichen Verfassung
(oder von ihr abgesehen) ein äußeres Mein und Dein als mög-
lich angenommen werden und zugleich ein Recht, jedermann, mit
dem wir irgend auf eine Art in Verkehr kommen könnten, zu
nötigen, mit uns in eine Verfassung zusammen zu treten, worin
jenes gesichert werden kann. — Ein Besiti in Erwartung und Vor-
bereitung eines solchen Zustandes der allein auf einem Gesetz des
gemeinsamen Willens gegrĂĽndet werden kann, der also zu der
Möglichkeit des letzteren zusammenstimmt, ist ein provi-
so-risch-rechtlicher Besitz, wogegen derjenige, der in einem
solchen wirklichen Zustande angetroffen wird, ein perem-
torischer Besitz sein würde. — Vor dem Eintritt in diesen Zu-
stand, zu dem das Subjekt bereit ist, widersteht er denen mit
Recht, die dazu sich nicht bequemen und ihn in seinem einst-
6o Rech tsl ehre. i. Teil. Das Friva treckt, i. HauptstĂĽck
welligen Besitz stören wollen: weil der Wille aller anderen außer
ihm selbst, der ihm eine Verbindlichkeit aufzulegen denkt, von
einem gewissen Besitz abzustehen, bloĂź einseitig ist, mithin
ebensowenig gesetzliche Kraft (als die nur im allgemeinen Willen
angctrort'cn wird) zum Widersprechen hat, als jener zum Behaupten,
indessen daĂź der letztere doch dies voraus hat, zur EinfĂĽhrung
und Errichtung eines bürgerlichen Zustandes zusammenzustimmen. —
Mit einem Worte: die Art, etwas Ă„uĂźeres als das Seine im Na-
tur zustande zu haben, ist ein physischer Besitz, der die recht-
liche Präsumtion für sich hat, ihn durch Vereinigung mit dem
Willen aller in einer öffentlichen Gesetzgebung zu einem recht-
lichen zu machen, und gilt in der Erwartung komparativ fĂĽr
einen rechtlichen.
Dieses Prärogativ des Rechts aus dem empirischen Besitz-
stande nach der Formel: wohl dem, der im Besitz ist
(beati possidentes') besteht nicht darin: daß, weil er die Prä-
sumtion eines rechtlichen Mannes hat, er nicht nötig
habe, den Beweis zu führen, er besitze etwas rechtmäßig
(denn das gilt nur im streitigen Rechte), sondern weil nach
dem Postulat der praktischen Vernunft jedermann das Vermögen
zukommt, einen äußeren Gegenstand seiner Willkür als das
Seine zu haben, mithin jede Inhabung ein Zustand ist, dessen
Rechtmäßigkeit sich auf jenem Postulat durch einen Akt des
vorhergehenden Willens grĂĽndet, und der, wenn nicht ein
älterer Besitz eines anderen von ebendemselben Gegenstande
dawider ist, also vorläufig, nach dem Gesetz der äußeren
Freiheit jedermann, der mit mir nicht in den Zustand einer
öffentlich gesetzlichen Freiheit treten will, von aller Anmaßung
des Gebrauchs eines solchen Gegenstandes abzuhalten berechtigt,
um dem Postulat der Vernunft gemäß eine Sache, die sonst
praktisch vernichtet sein wĂĽrde, seinem Gebrauch zu unter-
werfen.
2. HauptstĂĽck. Von der Art etwas Ă„uĂźeres zu erwerben 6 1
Zweites HauptstĂĽck.
Von der Art etwas Ă„uĂźeres zu erwerben.
§ 10.
Allgemeines Prinzip der äußeren Erwerbung.
Ich erwerbe etwas, wenn ich mache (efficio), daĂź etwas mein
werde. — Ursprünglich mein ist dasjenige Äußere, was auch ohne
einen rechtlichen Akt mein ist. Eine Erwerbung aber ist ur-
sprĂĽnglich diejenige, welche nicht von dem Seinen eines anderen
abgeleitet ist.
Nichts Ă„uĂźeres ist ursprĂĽnglich mein; wohl aber kann es
ursprĂĽnghch, d. i. ohne es von dem Seinen irgend eines anderen
abzuleiten, erworben sein. — Der Zustand der Gemeinschaft des
Mein und Dein {communio) kann nie als ursprĂĽnglich gedacht,
sondern muß (durch einen äußeren rechthchen Akt) erworben
werden; obwohl der Besitz eines äußeren Gegenstandes ursprüng-
hch und gemeinsam sein kann. Auch wenn man sich (pro-
blematisch) eine ursprĂĽngliche Gemeinschaft (communio me'i et
tui or'tgtnarid) denkt: so muß sie doch von der uranfänglichen
(communio primaevd) unterschieden werden, welche als in der ersten
Zeit der Rechtsverhältnisse unter Menschen gestiftet angenommen
wird und nicht wie die erstere auf Prinzipien, sondern nur auf
Geschichte gegrĂĽndet werden kann: wobei die letztere doch
immer als erworben und abgeleitet (communio derivativä) gedacht
werden mĂĽĂźte.
Das Prinzip der äußeren Erwerbung ist nun: Was ich (nach
dem Gesetz der äußeren Freiheit) in meine Gewalt bringe, und
wovon als Objekt meiner WillkĂĽr Gebrauch zu machen ich (nach
dem Postulat der praktischen Vernunft) das Vermögen habe: end-
lich, was ich (gemäß der Idee eines mögUchen vereinigten
Willens) will, es solle mein sein, das ist mein.
Die Momente (attendendd) der ursprĂĽnglichen Erwerbung
sind also: i. die Apprehension eines Gegenstandes, der keinem
angehört, widrigenfalls sie der Freiheit anderer nach allgemeinen
6 2 Rechts lehre, i. Teil. Das Frivatrecht. 2. HauptstĂĽck
Gesetzen widerstreiten wĂĽrde. Diese Apprehension ist die Be-
sit/nclunung des Gegenstandes der WillkĂĽr im Raum und der
Zeit; der Besitz als(j, in den ich mich setze, ist possessio phaemmenon.
1. Die Bezeichnung (jleclaratio) des Besitzes dieses Gegenstandes und
des Akts meiner WillkĂĽr jeden anderen davon abzuhalten. 3. Die
Zueignung [appropriatio^ als Akt eines äußerlich allgemein gesetz-
gebenden Willens (\x\ der Idee), durch welchen jedermann zur
Einstimmung mit meiner Willkür verbunden wird. — Die Gültig-
keit des letzteren Moments der Erwerbung, als worauf der SchluĂź-
satz: der äußere Gegenstand ist mein, beruht, d. i. daß der
Besitz als ein bloĂź rechtlicher gĂĽltig {possessio noumenon) sei,
grĂĽndet sich darauf: daĂź, da alle diese Aktus rechtlich sind,
mithin aus der praktischen Vernunft hervorgehen, und also in der
Frage, was Rechtens ist, von den empirischen Bedingungen des
Besitzes abstrahiert werden kann, der Schlußsatz: der äußere Ge-
genstand ist mein, vom sensibelen auf den intelligibelen Besitz
richtig gefĂĽhrt wird.
Die ursprüngliche Erwerbung eines äußeren Gegenstandes der
Willkür heißt Bemächtigung Uccupatio') und kann nicht anders,
als an körperlichen Dingen (Substanzen) stattfinden. Wo nun
eine solche stattfindet, bedarf sie zur Bedingung des empirischen
Besitzes die Priorität der Zeit vor jedem anderen, der sich einer
Sache bemächtigen will (^«z prior tempore potior iure^. Sie ist als
ursprĂĽnglich auch nur die Folge von einseitiger WillkĂĽr; denn
wäre dazu eine doppelseitige erforderlich, so würde sie von dem
Vertrag zweier (oder mehrerer) Personen, folglich von dem Seinen
anderer abgeleitet sein. — Wie ein solcher Akt der Willkür, als
jener ist, das Seine für jemanden begründen könne, ist nicht
leicht einzusehen. — Indessen ist die erste Erwerbung doch darum
sofort nicht die ursprĂĽngliche. Denn die Erwerbung eines
öffentlichen rechtlichen Zustandes durch Vereinigung des Willens
aller zu einer allgemeinen Gesetzgebung wäre eine solche, vor der
keine vorhergehen darf, und doch wäre sie von dem besonderen
Willen eines jeden abgeleitet und allseitig: da eine ursprĂĽngliche
Erwerbung nur aus dem einseitigen Willen hervorgehen kann.
Von der Art etwas Ă„uĂźeres zu erwerben, i. Abschnitt 6 5
Einteilung
der Erwerbung des äußeren Mein und Dein.
I. Der Materie (dem Objekte) nach erwerbe ich entweder
eine körperliche Sache (Substanz) oder die Leistung (Kausahtät)
eines anderen oder diese andere Person selbst, d. i. den Zustand
derselben, sofern ich ein Recht erlange, ĂĽber denselben zu ver-
fugen (das Kommerzium mit derselben).
2. Der Form (Erwerbungsart) nach ist es entweder ein
Sachenrecht (jus reale) oder persönliches Recht (jus perso-
nale) oder ein dinglich-persönliches Recht (/«x realiter per-
sonale) des Besitzes (obzwar nicht des Gebrauchs) einer anderen
Person als einer Sache.
3. Nach dem Rechtsgrunde (titulus) der Erwerbung; welches
eigentlich kein besonderes Glied der Einteilung der Rechte, aber
doch ein Moment der Art ihrer AusĂĽbung ist: entweder durch
den Akt einer einseitigen oder doppelseitigen oder all-
seitigen WillkĂĽr, wodurch etwas Ă„uiĂźeres (Jacto, pacto, lege)
erworben wird.
Erster Abschnitt.
Vom Sachenrecht.
§ 1 1.
Was ist ein Sachenrecht?
Die gewöhnliche Erklärung des Rechts in einer Sache
(jus reale, ius in re), „es sei das Recht gegen jeden Besitzer
derselben", ist eine richtige Nominaldefinition. — Aber was ist
das, was da macht, daß ich mich wegen eines äußeren Gegen-
standes an jeden Inhaber desselben halten und ihn (per vindi-
cationem) nötigen kann, mich wieder in Besitz desselben zu setzen?
Ist dieses äußere rechtliche Verhältnis meiner Willkür etwa ein
unmittelbares Verhältnis zu einem körperhchen Dinge? So
mĂĽĂźte derjenige, welcher sein Recht nicht unmittelbar auf Per-
sonen, sondern auf Sachen bezogen denkt, es sich freilich (ob-
zwar nur auf dunkele Art) vorstellen; nämlich, weil dem Recht
Ă–4 Rechtslehrr. i. Ted. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
aiit" einer Seite eine Ptiicht auf der andern korrespondiert, daĂź
die äußere Sache, ob sie zwar dem ersten Besitzer abhanden ge-
kommen, diesem doch immer verpflichtet bleibe, d. i. sich
jedem anmaĂźhchen anderen Besitzer weigere, weil sie jenem schon
verbindlich ist, und so mein Recht gleich einem die Sache be-
gleitenden und vor allem Fremden Angriffe bewahrenden Genius
den fremden Besitzer immer an mich weise. Es ist also ungereimt,
sich Verbindlichkeit einer Person gegen Sachen und umgekehrt zu
denken, wenn es gleich allenfalls erlaubt werden mag, das recht-
liche Verhältnis durch ein solches Bild zu versinnlichen und sich
so auszudrĂĽcken.
Die RcaldeHnition wĂĽrde daher so lauten mĂĽssen: Das Recht
in einer Sache ist ein Recht des Privatgebrauchs einer Sache,
in deren (ursprĂĽnglichen, oder gestifteten) Gesamtbesitze ich mit
allen andern bin. Denn das letztere ist die einzige Bedingung,
unter der es allein möghch ist, daß ich jeden anderen Besitzer
vom Privatgebrauch der Sache ausschlieĂźe (jus contra quenil'tbet
butus rei possessoreni), weil, ohne einen solchen Gesamtbesitz voraus-
zusetzen, sich gar nicht denken läßt, wie ich, der ich doch nicht
im Besitz der Sache bin, von andern, die es sind, und die sie
brauchen, lädiert werden könne. — Durch einseitige Willkür kann
ich keinen andern verbinden, sich des Gebrauchs einer Sache zu
enthalten, wozu er sonst keine Verbindlichkeit haben wĂĽrde; also
nur durch vereinigte WillkĂĽr aller in einem Gesamtbesitz. Sonst
mĂĽĂźte ich mir ein Recht in einer Sache so denken: als ob die
Sache gegen mich eine Verbindlichkeit hätte, und davon allererst
das Recht gegen jeden Besitzer derselben ableiten; welches eine
ungereimte Vorstellungsart ist.
Unter dem Wort: Sachenrecht (Jus reale) wird ĂĽbrigens nicht
bloĂź das Recht in einer Sache (jus in re\ sondern auch der
Inbegriff aller Gesetze, die das dingliche Mein und Dein be-
trctfcn, verstanden. — Es ist aber klar, daß ein Mensch, der auf:
Erden ganz allein wäre, eigentlich kein äußeres Ding als das Seine
haben oder erwerben könnte: weil zwischen ihm als Person und
allen anderen äußeren Dingen als Sachen es gar kein Verhältnis
der Verbindlichkeit gibt. Es gibt also, eigentlich und buch-
stäblich verstanden auch kein (direktes) Recht in einer Sache,
sondern nur dasjenige wird so genannt, was jemanden gegen eine
Person zukommt, die mit allen anderen (im bĂĽrgerlichen Zustande)
im gemeinsamen Besitz ist.
I. Abschnitt. Vom Sachenrecht 6^
§ 12.
Die erste Erwerbung einer Sache kann keine andere als
die des Bodens sein.
Der Boden (unter welchem alles bewohnbare Land verstanden
wird) ist in Ansehung alles Beweglichen auf demselben als Sub-
stanz, die Existenz des letzteren aber nur als Inh'ärenz zu be-
trachten, und so wie im theoretischen Sinne die Accidenzen nicht
außerhalb der Substanz existieren können, so kann im praktischen
das Bewegliche auf dem Boden nicht das Seine von jemanden
sein, wenn dieser nicht vorher als im rechtlichen Besitz desselben
befindlich (als das Seine desselben) angenommen wird.
Denn setzet, der Boden gehöre niemanden an: so werde ich
jede bewegliche Sache, die sich auf ihm befindet, aus ihrem Platze
stoßen können, um ihn selbst einzunehmen, bis sie sich gänzlich
verliert, ohne daĂź der Freiheit irgend eines anderen, der jetzt
gerade nicht Inhaber desselben ist, dadurch Abbruch geschieht;
alles aber, was zerstört werden kann, ein Baum, Haus u. s. w., ist
(wenigstens der Materie nach) beweglich, und wenn man die
Sache, die ohne Zerstörung ihrer Form nicht bewegt werden
kann, ein Immobile nennt, so wird das Mein und Dein an
jener nicht von der Substanz, sondern dem ihr Anhängenden ver-
standen, welches nicht die Sache selbst ist.
Ein jeder Boden kann ursprĂĽnglich erworben werden,
und der Grund der Möglichkeit dieser Erwerbung ist die
ursprĂĽngliche Gemeinschaft des Bodens ĂĽberhaupt.
Was das erste betrifft, so grĂĽndet sich dieser Satz auf dem
Postulat der praktischen Vernunft (§2); das zweite auf folgenden
Beweis.
Alle Menschen sind ursprĂĽnglich (d, i. vor allem rechtĂśchen
Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d. i. sie
haben ein Recht, da za sein, wohin sie die Natur, oder der
Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat. Dieser Besitz (possessio),
Kants Schriften. Bd. VII. 5
öö Rechts lehre, i. Teil. Das Privatrecht. 2. Haupt stück
der vom Sitz (jedes) als einem willkĂĽrlichen, mithin erworbenen,
dauernden Besitz unterschieden ist, ist ein gemeinsamer Besitz
wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche als Kugelfläche:
weil, wenn sie eine unendliche Ebene wäre, die Menschen sich
darauf so zerstreuen könnten, daß sie in gar keine Gemeinschah
miteinander kämen, diese also nicht eine notwendige Folge von
ihrem Dasein auf Erden wäre. — Der Besitz aller Menschen auf
Erden, der vor allem rechtlichen Akt derselben vorhergeht (von
der Natur selbst konstituiert ist), ist ein ursprĂĽnglicher Ge-
samtbesitz (communio possessionis originaria)^ dessen Begriff nicht
empirisch und von Zeitbedingungen abhängig ist, wie etwa der
gedichtete, aber nie erweisliche eines uranfänglichen Gesamt-
besitzes (communio primaeva), sondern ein praktischer Vcrnunft-
begrifF, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die
Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen
können.
$ 14-
Der rechtliche Akt dieser Erwerbung ist Bemächtigung
(occupatio^.
Die Besitznehmung (apprehensio)^ als der Anfang der In-
habung einer körperlichen Sache im Räume (^possessionis physicae^,
stimmt unter keiner anderen Bedingung mit dem Gesetz der
äußeren Freiheit von jedermann (mithin a priori) zusammen, als
unter der der Priorität in Ansehung der Zeit, d. i. nur als erste
Besitznehmung (^prior apprehensio^, welche ein Akt der WillkĂĽr ist.
Der Wille aber, die Sache (mithin auch ein bestimmter abgeteilter
Platz auf Erden) solle mein sein, d. i. die Zueignung (appropriatio\
kann in einer ursprĂĽnglichen Erwerbung nicht anders als ein-
seitig (yoluntas unilateralis s. proprio) sein. Die Erwerbung eines
äußeren Gegenstandes der Willkür durch einseitigen Willen ist
die Bemächtigung. Also kann die ursprüngliche Erwerbung
desselben, mithin auch eines abgemessenen Bodens nur durch Be-
mächtigung '^occupatio) geschehen. —
Die Möglichkeit auf solche Art zu erwerben, läßt sich auf
keine Weise einsehen, noch durch GrĂĽnde dartun, sondern ist die
unmittelbare Folge aus dem Postulat der praktischen Vernunft.
i. Abschnitt. Vom Sachenrecht 6j
Derselbe Wille aber kann doch eine äußere Erwerbung nicht
anders berechtigen, als nur sofern er in einem a priori vereinigten
(d. i. durch die Vereinigung der WillkĂĽr aller, die in ein prak-
tisches Verhältnis gegen einander kommen können) absolut ge-
bietenden Willen enthalten ist; denn der einseitige Wille (wozu
auch der doppelseitige, aber doch besondere Wille gehört) kann
nicht jedermann eine Verbindlichkeit auflegen, die an sich zu-
fällig ist, sondern dazu wird ein allseitiger, nicht zufälhg,
sondern a priori, mithin notwendig vereinigter und darum allein
gesetzgebender Wille erfordert; denn nur nach dieses seinem
Prinzip ist Ăśbereinstimmung der freien WillkĂĽr eines jeden mit
der Freiheit von jedermann, mithin ein Recht ĂĽberhaupt, und also
auch ein äußeres Mein und Dein möglich.
§ 15.
Nur in einer bĂĽrgerlichen Verfassung kann etwas
peremtorisch, dagegen im Naturzustande zwar auch,
aber nur provisorisch erworben werden.
Die bĂĽrgerĂĽche Verfassung, obzwar ihre Wirklichkeit sub-
jektiv zufällig ist, ist gleichwohl objektiv, d. i. als Pflicht, not-
wendig. Mithin gibt es in Hinsicht auf dieselbe und ihre Stiftung
ein wirkliches Rechtsgesetz der Natur, dem alle äußere Erwerbung
unterworfen ist.
Der empirische Titel der Erwerbung war die auf ursprĂĽng-
hche Gemeinschaft des Bodens gegrĂĽndete physische Besitznehmung
(apprehensio physicd), welchem, weil dem Besitz nach Vernunft-
begriffnen des Rechts nur ein Besitz in der Erscheinung unter-
gelegt werden kann, der einer intellektuellen Besitznehmung (mit
Weglassung aller empirischen Bedingungen in Raum und Zeit)
korrespondieren muß, und die den Satz gründet; „Was ich nach
Gesetzen der äußeren Freiheit in meine Gewalt bringe und will,
es solle mein sein, das wird mein."
Der Vernunfttitel der Erwerbung aber kann nur in der
Idee eines a priori vereinigten (notwendig zu vereinigenden)
Willens aller liegen, welche hier als unumgängliche Bedingung
(conditio sine qua non) stillschweigend vorausgesetzt wird; denn
5*
6 8 Rechtslehre, i. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
durch einseitigen Willen kann anderen eine Verbindlichkeit, die
sie tür sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden. —
Der Zustand aber eines zur Gesetzgebung allgemein wirklich ver-
einigten Willens ist der bĂĽrgerliche Zustand. Also nur in Kon-
formität rrut der Idee eines bürgerhchen Zustandes, d. i. in Hin-
sicht auf ihn und seine Bewirkung, aber vor der Wirklichkeit
desselben (denn sonst wäre die Erwerbung abgeleitet), mithin nur
provisorisch kann etwas Ă„uĂźeres ursprĂĽnglich erworben
werden. — Die peremtorische Erwerbung findet nur im bürger-
lichen Zustande statt.
Gleichwohl ist jene provisorische dennoch eine wahre Er-
werbung; denn nach dem Postulat der rechtlich-praktischen Ver-
nunft ist die Möglichkeit derselben, in welchem Zustande die
Menschen neben einander sein mögen, (also auch im Naturzustande)
ein Prinzip des Privatrechts, nach welchem jeder zu demjenigen
Zwange berechtigt ist, durch welchen es allein möglich wird, aus
jenem Naturzustande heraus zu gehen und in den bĂĽrgerlichen,
der allein alle Erwerbung peremtorisch machen kann, zu treten.
Es ist die Frage: wie weit erstreckt sich die Befugnis der
Besitznehmung eines Bodens? So weit, als das Vermögen
ihn in seiner Gewalt zu haben, d. i. als der, so ihn sich
zueignen will, ihn verteidigen kann; gleich als ob der Boden
spräche: wenn ihr mich nicht beschützen könnt, so könnt
ihr mir auch nicht gebieten. Darnach mĂĽĂźte also auch der
Streit ĂĽber das freie oder verschlossene Meer entschieden
werden; z. B. innerhalb der Weite, wohin die Kanonen
reichen, darf niemand an der KĂĽste eines Landes, das schon
einem gewissen Staat zugehört, fischen, Bernstein aus dem
Grunde der See holen u. dergl. — Ferner: ist die Bearbeitung
des Bodens (Bebauung, Beackerung, Entwässerung u. dergl.)
zur Erwerbung desselben notwendig? Nein! denn da diese
Formen (der Spezifizierung) nur Accidenzen sind, so machen
sie kein Objekt eines unmittelbaren Besitzes aus und können
zu dem des Subjekts nur gehören, sofern die Substanz vorher
als das Seine desselben anerkannt ist. Die Bearbeitimg ist,
wenn es auf die Frage von der ersten Erwerbung ankommt,
nichts weiter als ein äußeres Zeichen der Besitznehmung,
welches man durch viele andere, die weniger MĂĽhe kosten,
ersetzen kann. — Ferner: darf man wohl jemanden in dem
Akt seiner Besitznehmung hindern» so daß keiner von beiden
7. Abschnitt. Vom Sachenrecht Ă–9
des Rechts der Priorität teilhaftig werde, und so der Boden
immer als keinem angehörig frei bleibe? Gänzlich kann
diese Hinderung nicht stattfinden, weil der andere, um dieses
tun zu können, sich doch auch selbst auf irgend einem be-
nachbarten Boden befinden muĂź, wo er also selbst behindert
werden kann zu sein, mithin eine absolute Verhinderung
ein Widerspruch wäre; aber respektiv auf einen gewissen
(zwischenliegenden) Boden, diesen als neutral zur Scheidung
zweier benachbarten unbenutzt liegen zu lassen, wĂĽrde doch
mit dem Rechte der Bemächtigung zusammen bestehen; aber
alsdann gehört wirklich dieser Boden beiden gemeinschafthch
und ist nicht herrenlos {res nullius) eben darum, weil er
von beiden dazu gebraucht wird, um sie von einander zu
scheiden. — Ferner kann man auf einem Boden, davon kein
Teil das Seine von jemanden ist, doch eine Sache als die
seine haben? Ja, wie in der Mongolei jeder sein Gepäckc,
was er hat, liegen lassen, oder sein Pferd, was ihm entlauten
ist, als das Seine in seinen Besitz bringen kann, weil der
ganze Boden dem Volk, der Gebrauch desselben also jedem
einzelnen zusteht; daĂź aber jemand eine bewegliche Sache
auf dem Boden eines anderen als das Seine haben kann, ist
zwar möglich, aber nur durch Vertrag. — EndUch ist die
Frage; können zwei benachbarte Völker (oder Familien) ein-
ander widerstehen, eine gewisse Art des Gebrauchs emes
Bodens anzunehmen, z. B. die Jagdvölker dem Hirtenvolk
oder den Ackerleuten, oder diese den Pflanzern u. dergl.?
Allerdings; denn die Art, wie sie sich auf dem Erdboden
überhaupt ansässig machen wollen, ist, wenn sie sich inner-
halb ihrer Grenzen halten, eine Sache des bloĂźen BeĂĽebens
(res merae facultatis).
Zuletzt kann noch gefragt werden: ob, wenn uns weder
die Natur noch der Zufall, sondern bloĂź unser eigener Wille
in Nachbarschaft mit einem Volk bringt, welches keine Aus-
sicht zu einer bĂĽrgerUchen Verbindung mit ihm verspricht,
wir nicht in der Absicht diese zu stiften und diese Men-
schen (Wilde) in einen rechtlichen Zustand zu versetzen
(wie etwa die amerikanischen Wilden, die Hottentotten, die
Neuholländer) befiigt sein sollten, allenfalls mit Gewalt, oder
(welches nicht viel besser ist) durch betrĂĽgerischen Kauf
Kolonien zu errichten und so EigentĂĽmer ihres Bodens zu
70 Rechts/ehr f. /. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
werden und ohne RĂĽcksicht auf ihren ersten Besitz Gebrauch
von unserer Ăśberlegenheit zu machen; zumal es die Natur selbst
(als die das Leere verabscheuet) so zu fordern scheint, und
groĂźe Landstriche in anderen Weltteilen an gesitteten Ein-
wohnern sonst menschenleer geblieben wären, die jetzt hcrr-
hch bevölkert sind, oder gar auf immer bleiben müßten,
und so der Zweck der Schöpfung vereitelt werden würde.
Allein man sieht durch diesen Schleier der Ungerechtigkeit
(Jesuitism), alle Mittel zu guten Zwecken zu billigen, leicht
durch; diese Art der Erwerbung des Bodens ist also ver-
werflich.
Die Unbestimmtheit in Ansehung der Quantität sowohl
als der Qualität des äußeren erwerblichen Objekts macht diese
Aufgabe (der einzigen ursprünglichen äußeren Erwerbung)
unter allen zur schweresten sie aufzulösen. Irgend eine ursprüng-
liche Erwerbung des Ă„uĂźeren aber muĂź es indessen doch geben;
denn abgeleitet kann nicht alle sein. Daher kann man diese
Aufgabe auch nicht als unauflöslich und als an sich unmög-
lich aufgeben. Aber wenn sie auch durch den ursprĂĽng-
lichen Vertrag aufgelöset wird, so wird, wenn dieser sich
nicht aufs ganze menschliche Geschlecht erstreckt, die Er-
werbung doch immer nur provisorisch bleiben.
§ 16.
Exposition des BegrifTs einer ursprĂĽnglichen Erwerbung
des Bodens.
Alle Menschen sind ursprĂĽnglich in einem Gesamt-Besitz
des Bodens der ganzen Erde (communo fundi originarid^ mit dem
ihnen von Natur zustehenden Willen (eines eden) denselben zu
gebrauchen {lex iusti^, der wegen der natĂĽrlich unvermeidlichen
Entgegensetzung der WillkĂĽr des einen gegen die des anderen
allen Gebrauchs desselben aufheben wĂĽrde, wenn nicht jener zu-
gleich das Gesetz fĂĽr diese enthielte, nach welchem einem jeden
ein besonderer Besitz auf dem gemeinsamen Boden bestimmt
werden kann (Ux iuridicd). Aber das austeilende Gesetz des Mein
und Dein eines« jeden am Boden kann nach dem Axiom der
äußeren Freiheit nicht anders als aus einem ursprünglich und
I. Abschnitt. Vom Sachenrecht 71
a priori vereinigten Willen (der zu dieser Vereinigung keinen
rechtlichen Akt voraussetzt), mithin nur im bĂĽrgerlichen Zustande
hervorgehen Qex iustitiae distributivae)^ der allein, was recht,
was rechtlich und was Rechtens ist, bestimmt. — In diesem
Zustand aber, d. i. vor GrĂĽndung und doch in Absicht auf den-
selben, d. i. provisorisch, nach dem Gesetz der äußeren Er-
werbung zu verfahren, ist Pflicht, folglich auch rechtliches
Vermögen des Willens jedermann zu verbinden, den Akt der Be-
sitznehmung und Zueignung, ob er gleich nur einseitig ist, als
gĂĽltig anzuerkennen; mithin ist eine provisorische Erwerbung des
Bodens mit allen ihren rechtlichen Folgen möglich.
Eine solche Erwerbung aber bedarf doch und hat auch eine
Gunst des Gesetzes (lex permissiva) in Ansehung der Bestimmung
der Grenzen des rechtlich- möglichen Besitzes für sich: weil sie
vor dem rechtHchen Zustande vorhergeht und, als bloĂź dazu ein-
leitend, noch nicht peremtorisch ist, welche Gunst sich aber nicht
weiter erstreckt, als bis zur Einwilligung anderer (Teilnehmender)
zu Errichtvfng des letzteren, bei dem Widerstände derselben aber
in diesen (den bĂĽrgerlichen) zu treten, imd so lange derselbe
währt, allen EflFekt einer rechtmäßigen Erwerbung bei sich führt,
weil dieser Ausgang auf Pflicht gegrĂĽndet ist.
§ 17-
Deduktion des Begriffs der ursprĂĽnglichen Erwerbung.
Wir haben den Titel der Erwerbung in einer ursprĂĽnglichen
Gemeinschaft des Bodens, mithin unter Raums-Bedingungen eines
äußeren Besitzes, die Erwerbungsart aber in den empirischen
Bedingungen der Besitznehmung (apprehensio), verbunden mit dem
Willen, den äußeren Gegenstand als den seinen zu haben, ge-
funden. Nun ist noch nötig die Erwerbung selbst, d. i. das
äußere Mein imd Dein, was aus beiden gegebenen Stücken folgt,
nämlich den intelligibelen Besitz (possessio noumenon) des Gegen-
standes, nach dem, was sein BegriflF enthält, aus den Prinzipien
der reinen rechtlich-praktischen Vernunft zu entwickeln.
Der Rechtsbegriff vom äußeren Mein und Dein, sofern
es Substanz ist, kann, was das Wort auĂźer mir betrifft, nicht
einen anderen Ort, als wo ich bin, bedeuten- denn er ist ein
72 Recht slehrc. i. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
VcrnunftbegrifF; sondern, da unter diesem nur ein reiner Ver-
standcsbcgritf subsumiert werden kann, bloĂź etwas von mir
Unterschiedenes und den eines nicht empirischen Besitzes (der
gleichsam Fortdauernden Apprehension), sondern nur den des in
meiner Gewalt Habens (die VerknĂĽpfung desselben mit mir
als subjektive Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs) des
äußeren Gegenstandes, welcher ein reiner VerstandesbegrifF ist,
bedeuten. Nun ist die Weglassung oder das Absehen (Abstraktion)
von diesen sinnlichen Bedingungen 4^s Besitzes als eines Ver-
hältnisses der Person zu Gegenständen, die keine Verbindlichkeit
haben, nichts anders als das Verhältnis einer Person zu Personen,
diese alle durch den Willen der ersteren, sofern er dem Axiom
der äußeren Freiheit, dem Postulat des Vermögens und der all-
gemeinen Gesetzgebung des a priori als vereinigt gedachten
Willens gemäß ist, in Ansehung des Gebrauchs der Sachen zu
verbinden, welches also der intelligibele Besitz derselben,
d. i. der durchs bloĂźe Recht, ist, obgleich der Gegenstand (die
Sache, die ich besitze) ein Sinnenobjekt ist.
DaĂź die erste Bearbeitung, Begrenzung, oder ĂĽberhaupt
Formgebung eines Bodens keinen Titel der Erwerbung
desselben, d. i. der Besitz des Accidens nicht einen Grund
des rechtlichen Besitzes der Substanz abgeben könne, sondern
vielmehr umgekehrt das Mein und Dein nach der Regel
{accessorium sequitur suum principale^ aus dem Eigentum der
Substanz gefolgert werden mĂĽsse, und daĂź der, welcher an
einen Boden, der nicht schon vorher der seine war, FleiĂź
verwendet, seine MĂĽhe und Arbeit gegen den ersteren ver-
loren hat, ist fĂĽr sich selbst so klar, daĂź man jene so alte
und noch weit und breit herrschende Meinung schwerlich
einer anderen Ursache zuschreiben kann, als der ingeheim
obwaltenden Täuschung, Sachen zu personifizieren und, gleich
als ob jemand sie sich durch an sie verwandte Arbeit ver-
bindlich machen könne, keinem anderen als ihm zu Diensten
zu stehen, unmittelbar gegen sie sich ein Recht zu denken;
denn wahrscheinlicherweise wĂĽrde man auch nicht so leichten
FuĂźes ĂĽber die natĂĽrliche Frage (von der oben schon Er-
wähnung geschehen) weggeglitten sein: „Wie ist ein Recht
in einer Sache möglich?*' Denn das Recht gegen einen
jeden Besitzer einer Sache bedeutet nur die Betugnis der
besonderen WillkĂĽr zum Gebrauch eines Objekts, solern sie
z. Ahschnitt. Vom Sachenrecht 7 3
als im synthetisch-allgemeinen Willen enthalten und mit dem
Gesetz desselben zusammenstimmend gedacht werden kann.
Was die Körper auf einem Boden betrifft, der schon der
meinige ist, so gehören sie, wenn sie sonst keines anderen
sind, mir zu, ohne daĂź ich zu diesem Zweck eines beson-
deren rechtlichen Akts bedĂĽrfte (nicht facto, sondern lege)\
nämlich weil sie als der Substanz inhärierende Accidenzen
betrachtet werden können (jure rei meae\ wozu auch alles
gehört, was mit meiner Sache so verbunden ist, daß ein
anderer sie von dem Meinen nicht trennen kann, ohne dieses
selbst zu verändern (z. B. Vergoldung., Mischung eines mir
zugehörigen StoflFes mit andern Materien, Anspülung oder
auch Veränderung des anstoßenden Strombettes und dadurch
geschehende Erweiterung meines Bodens u. s. w.). Ob aber
der erwerbliche Boden sich noch weiter als das Land, näm-
lich auch auf eine Strecke des Seegrundes hinaus (das Recht,
noch an meinen Ufern zu fischen, oder Bernstein heraus-
zubringen u. dergl.) ausdehnen lasse, muĂź nach ebendenselben
Grundsätzen beurteilt werden. Soweit ich aus meinem Sitze
mechanisches Vermögen habe, meinen Boden gegen den Ein-
griff anderer zu sichern (z. B. so weit die Kanonen vom
Ufer abreichen), gehört er zu meinem Besitz, und das
Meer ist bis dahin geschlossen (mare clausum). Da aber auf
dem weiten Meere selbst kein Sitz möglich ist, so kann der
Besitz auch nicht bis dahin ausgedehnt werden, und offene
See ist frei (mare Itberuni). Das Stranden aber, es sei der
Menschen oder der ihnen zugehörigen Sachen, kann als un-
vorsätzlich von dem Strandeigentümer nicht zum Erwerbrecht
gezählt werden: weil es nicht Läsion (ja überhaupt kein
Faktum) ist, und die Sache, die auf einen Boden geraten ist,
der doch irgend einem angehört, nicht als res nullius be-
handelt werden kann. Ein FluĂź dagegen kann, soweit der
Besitz seines Ufers reicht, so gut wie ein jeder Landboden
unter obbenannten Einschränkungen ursprünglich von dem
erworben werden, der im Besitz beider Ufer ist.
74 Rechtslehre., i. Teil. Das Frivatrecht. 2. Haupt stĂĽck
Der äußere Gegenstand, welcher der Substanz nach das
Seine von jemanden ist, ist dessen Eigentum (dominium)^
welchem alle Rechte in dieser Sache (wie Accidenzen der
Substanz) inhäricren, über welche also der Eigentümer (do-
minus^ nach Belieben verfĂĽgen kann (Jus disponendi de re sud).
Aber hieraus folgt von selbst: daĂź ein solcher Gegenstand
nur eine icörperliche Sache (gegen die man keine Verbind-
üchkeit hat) sein könne, daher ein Mensch sein eigener Herr
(ju'i iuris)., aber nicht EigentĂĽmer von sich selbst (sui
dominus) (über sich nach Belieben disponieren zu können),
geschweige denn von anderen Menschen sein kann, weil er
der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich ist;
wiewohl dieser Punkt, der zum Recht der Menschheit, nicht
dem der Menschen gehört, hier nicht seinen eigentlichen
Platz hat, sondern nur beiläufig zum besseren Verständnis des
kurz vorher Gesagten angeführt wird. — Es kann ferner
zwei volle EigentĂĽmer einer und derselben Sache geben ohne
ein gemeinsames Mein und Dein, sondern nur als gemein-
same Besitzer dessen, was nur einem als das Seine zugehört,
wenn von den sogenannten MiteigentĂĽmern (condomini) einem
nur der ganze Besitz ohne Gebrauch, dem anderen aber aller
Gebrauch der Sache samt dem Besitz zukommt, jener also
(dominus directus) diesen (dominus utilis) nur auf die Be-
dingung einer beharrlichen Leistung restringiert, ohne dabei
seinen Gebrauch zu limitieren.
Zweiter Abschnitt.
Vom persönlichen Recht.
$ 18.
Der Besitz der Willkür eines anderen, als Vermögen sie durch
die meine nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen Tat zu be-
stimmen, (das äußere Mein und Dein in Ansehung der Kausalität
eines anderen) ist ein Recht (dergleichen ich mehrere gegen eben-
dieselbe Person oder gegen andere haben kann): der Inbegriff
(das System) der Gesetze aber, nach welchen ich in diesem Besitz
sein kann, das persönliche Recht, welches nur ein einziges ist.
2. Abschnitt. Vom persönlichen Recht y^
Die Erwerbung eines persönlichen Rechts kann niemals ur-
sprünglich und eigenmächtig sein (denn eine solche würde nicht
dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit meiner WillkĂĽr mit
der Freiheit von jedermann gemäß, mithin unrecht sein). Ebenso
kann ich auch nicht durch rechtswidrige Tat eines anderen
(^facto iniusto alterius) erwerben, denn wenn diese Läsion mir
auch selbst widerfahren wäre, und ich von dem anderen mit
Recht Genugtuung fordern kann, so wird dadurch doch nur das
Meine unvermindert erhalten, aber nichts ĂĽber das, was ich schon
vorher hatte, erworben.
Erwerbung durch die Tat eines anderen, zu der ich diesen
nach Rechtsgesetzen bestimme, ist also jederzeit von dem Seinen
des anderen abgeleitet, und diese Ableitung als rechtlicher Akt
kann nicht durch diesen als einen negativen Akt, nämlich der
Verlassung, oder einer auf das Seine geschehenen Verzicht-,
tuung (^per dereltctionem aut renunciationem) ^ geschehen, denn
dadurch wird nur das Seine eines oder des anderen aufgehoben,
aber nichts erworben, — sondern allein durch Übertragung
(translattd), welche nur durch einen gemeinschaftlichen Willen
möglich ist, vermittelst dessen der Gegenstand immer in die Ge-
walt des einen oder des anderen kommt, alsdann einer seinem
Anteile an dieser Gemeinschaft entsagt, und so das Objekt durch
Annahme desselben (mithin einen positiven Akt der WillkĂĽr) das
Seine wird. — Die Übertragung seines Eigentums an einen
anderen ist die Veräußerung. Der Akt der vereinigten Willkür
zweier Personen, wodurch ĂĽberhaupt das Seine des einen auf den
anderen ĂĽbergeht, ist der Vertrag.
§ ip-
In jedem Vertrage sind zwei vorbereitende und zwei kon-
stituierende rechtliche Akte der WillkĂĽr; die beiden ersteren
(die des Traktierens) sind das Angebot (ohlatio) und die
Billigung (approbatid) desselben; die beiden andern (nämlich des
AbschlieĂźens) sind das Versprechen {promissum) und die An-
nehmung (acceptatid). — Denn ein Anerbieten kann nicht eher
ein Versprechen heiĂźen, als wenn ich vorher urteile, das An-
gebotene (oblaturn) sei etwas, was dem Promissar angenehm sein
könne; welches durch die zwei erstem Deklarationen angezeigt,
durch diese allein aber noch nichts erworben wird.
7Ă– Rechtsichre, i. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
Aber weder durch den besonderen WiJlen des Promittenten,
noch den des Promissars (als Acceptanten) geht da^ Seine des
crstercn zu dem letzteren ĂĽber, sondern nur durch den ver-
einigten Willen beider, mithin sofern beider Wille zugleich
deklariert wird. Nun ist dies aber durch empirische Aktus der
Deklaration, die einander notwendig in der Zeit folgen mĂĽssen
und niemals zugleich sind, unmöglich. Denn wenn ich versprochen
habe und der andere nun acceptieren will, so kann ich während
der Zwischenzeit (so kurz sie auch sein mag) es mich gereuen
lassen, weil ich vor der Acceptation noch frei bin; so wie ander-
seits der Acceptant eben darum an seine auf das Versprechen
folgende Gegenerklärung auch sich nicht für gebunden halten
darf. — Die äußern Förmlichkeiten (^solennia) bei Schließung des
Vertrags [der Handschlag, oder die Zerbrechung eines von beiden
Personen angefaĂźten Strohhalms {stipuld)'\ und alle hin und her
geschehene Bestätigungen seiner vorherigen Erklärung beweisen
vielmehr die Verlegenheit der Paziszenten, wie und auf welche
Art sie die immer nur aufeinander folgenden Erklärungen als
in einem Augenblicke zugleich existierend vorstellig machen
wollen, was ihnen doch nicht gelingt: weil es immer nur
in der Zeit einander folgende Aktus sind, wo, wenn der eine
Akt ist, der andere entweder noch nicht, oder nicht
mehr ist.
Aber die transszendentale Deduktion des Begriffs der Erwerbung
durch Vertrag kann allein alle diese Schwierigkeiten heben. In
einem rechtlichen äußeren Verhältnisse wird meine Besitz-
nehmung der WillkĂĽr eines anderen (und so wechselseitig), als
Bestimmungsgrund desselben zu einer Tat, zwar erst empirisch
durch Erklärung und Gegenerklärung der Willkür eines jeden
von beiden in der Zeit, als sinnlicher Bedingung der Apprehension,
gedacht, wo beide rechtliche Akte immer nur auf einander folgen:
weil jenes Verhältnis (als ein rechtliches) rein intellektuell ist,
durch den Willen als ein gesetzgebendes Vernunftvermögen jener
Besitz als ein intelligibeler (^possessio noumenon) nach Freiheits-
begriffen mit Abstraktion von jenen empirischen Bedingungen als
das Mein oder Dein vorgestellt; wo beide Akte, des Versprechens
und der Annehmung, nicht als aufeinander folgend, sondern (gleich
als pactum re inttuiTi) aus einem einzigen gemeinsamen Willen
hervorgehend (welches durch das Wort zugleich ausgedrĂĽckt
wird) und der Gegenstand (^promissum) durch Weglassung der
\
2, Abschnitt. Vom persönlichen Recht jy
empirischen Bedingungen nach dem Gesetz der reinen praktischen
Vernunft als erworben vorgestellt wird.
Daß dieses die wahre und einzig mögliche Deduktion des
Begriffs der Erwerbung durch Vertrag sei, wird durch die
mĂĽhselige und doch immer vergebliche Bestrebung der Rechts-
forscher (z. B. MOSES MENDELSSOHNS in seinem „Jeru-
salem") zur Beweisführung jener Möglichkeit hinreichend
bestätigt. — Die Frage war; warum soll ich mein Ver-
sprechen halten? Denn daĂź ich es soll, begreift eiil jeder
von selbst. Es ist aber schlechterdings unmöglich, von
diesem kategorischen Imperativ noch einen Beweis zu fuhren;
ebenso wie es fiir den Geometer unmöglich ist, durch Ver-
nunftschlĂĽsse zu beweisen, daĂź ich, um ein Dreieck zu
machen, drei Linien nehmen mĂĽsse (ein analyrischer Satz),
deren zwei aber zusammengenommen größer sein müssen, als
die dritte (ein synthetischer; beide aber a priori). Es ist
ein Postulat der reinen (von allen sinnlichen Bedingungen
des Raumes und der Zeit, was den Rechtsbegriff betrifft,
abstrahierenden) Vernunft, und die Lehre der Möglichkeit
der Abstraktion von jenen Bedingungen, ohne daĂź dadurch
der Besitz desselben aufgehoben wird, ist selbst die Deduktion
des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag; so wie es in dem
vorigen Titel die Lehre von der Erwerbung durch Bemäch-
tigung der äußeren Sache war.
§ 20.
Was ist aber das Ă„uĂźere, das ich durch den Vertrag erwerbe?
Da es nur die Kausalität der Willkür des anderen in Ansehung
einer mir versprochenen Leistung ist, so erwerbe ich dadurch un-
mittelbar nicht eine äußere Sache, sondern eine Tat desselben,
dadurch jene Sache in meine Gewalt gebracht wird, damit ich sie
zu der meinen mache. — Durch den Vertrag also erwerbe ich
das Versprechen eines anderen (nicht das Versprochene), und
doch kommt etwas zu meiner äußeren Habe hinzu; ich bin ver-
mögender Qocuplettor) geworden durch Erwerbung einer aktiven
Obligation auf die Freiheit und das Vermögen des anderen. —
Dieses mein Recht aber ist nur ein persönliches, nämlich
gegen eine bestimmte physische Person, und zwar auf ihre Kau-
78 RechtsUhre. /. Tetl. Das Pnvatrecht. 2. HauptstĂĽck
salität (ihre Willkür) zu wirken, mir etwas zu leisten, nicht ein
Sachenrecht gegen diejenige moralische Person, welche nichts
anders als die Idee der a priori vereinigten WillkĂĽr aller ist,
und wodurch ich allein ein Recht gegen jeden Besitzer der-
selben erwerben kann; als worin alles Recht in einer Sache
besteht.
Die Ăśbertragung des Meinen durch Vertrag geschieht nach
dem Gesetz der Stetigkeit {lex conĂĽnui), d. i. der Besitz des
Gegenstandes ist während diesem Akt keinen Augenblick
unterbrochen, denn sonst wĂĽrde ich in diesem Zustande
einen Gegenstand als etwas, das keinen Besitzer hat (res
vacua), folglich ursprĂĽnghch erwerben; welches dem Begriff
des Vertrages widerspricht. — Diese Stetigkeit aber bringt
es mit sich, daĂź nicht eines von beiden (promittentis et ac-
ceptantii) besonderer, sondern ihr vereinigter Wille derjenige
ist, welcher das Meine auf den anderen überträgt; also nicht
auf die Art: daĂź der Versprechende zuerst seinen Besitz zum
Vorteil des anderen verläßt (derelinqu'tt\ oder seinem Recht
entsagt (renunciai), und der andere sogleich darin eintritt,
oder umgekehrt. Die Translation ist also ein Akt, in wel-
chem der Gegenstand einen Augenblick beiden zusammen
angehört, so wie in der parabolischen Bahn eines geworfenen
Steins dieser im Gipfel derselben einen Augenblick als im
Steigen und Fallen zugleich begriffen betrachtet werden
kann und so allererst von der steigenden Bewegung zum
Fallen ĂĽbergeht.
§ 21.
Kine Sache wird in einem Vertrage nicht durch Annehmung
{tuceptatio) des Versprechens, sondern nur durch Ăśbergabe {tra-
eĂĽt'to) des Versprochenen erworben. Denn alles Versprechen geht
auf eine Leistung, und wenn das Versprochene eine Sache ist,
kann jene nicht anders errichtet werden, als durch einen Akt,
wodurch der Promissar vom Promittenten in den Besitz derselben
gesetzt wird, d. i. durch die Ăśbergabe. Vor dieser also und dem
Empfang ist die Leistung noch nicht geschehen; die Sache ist
von dem einen zu dem anderen noch nicht ĂĽbergegangen, folg-
lich von diesem nicht erworben worden, mithin das Recht aus
2. Ahschnttt. Vom persönlichen Recht -j^
einem Vertrage nur ein persönliches und wird nur durch die
Tradition ein dingliches Recht.
Der Vertrag, auf den unmittelbar die Ăśbergabe folgt
(^pactum re tnitum)^ schlieĂźt alle Zwischenzeit zwischen der
SchlieĂźimg und Vollziehung aus und bedarf keines besonderen
noch zu erwartenden Akts, wodurch das Seine des einen
auf den anderen ĂĽbertragen wird. Aber wenn zwischen
jenen beiden noch eine (bestimmte oder unbestimmte) Zeit
zur Ăśbergabe bewilligt ist, fragt sich: ob die Sache schon
vor dieser durch den Vertrag das Seine des Acceptanten ge-
worden und das Recht des letzteren ein Recht in der Sache
sei, oder ob noch ein besonderer Vertrag, der allein die
Ăśbergabe betriflFt, dazu kommen mĂĽsse, mithin das Recht
durch die bloße Acceptation nur ein persönliches sei und
allererst durch die Ăśbergabe ein Recht in der Sache werde.
— Daß es sich hiemit wirklich so, wie das letztere besagt,
verhalte, erhellet aus nachfolgendem:
VV^enn ich einen Vertrag ĂĽber eine Sache, z. B. ĂĽber ein
Pferd, das ich erwerben will, schlieĂźe und nehme es zugleich
mit in meinen Stall, oder sonst in meinen physischen Besitz,
so ist es mein (vi 'pacti re initf), und mein Recht ist ein
Recht in der Sache; lasse ich es aber in den Händen des
Verkäufers, ohne mit ihm darüber besonders auszumachen,
in wessen physischem Besitz (Inhabung) diese Sache vor
meiner Besitznehmung (apprehensio), mithin vor dem Wechsel
des Besitzes sein solle: so ist dieses Pferd noch nicht mein,
und mein Recht, was ich erwerbe, ist nur ein Recht gegen
eine bestimmte Person, nämlich den Verkäufer, von ihm in
den Besitz gesetzt zu werden (poscendi traditionem\ als
subjektive Bedingung der Möglichkeit alles beliebigen Ge-
brauchs desselben, d. i. mein Recht ist nur ein persönliches
Recht, von jenem die Leistung des Versprechens (^praestatto),
mich in den Besitz der Sache zu setzen, zu fordern. Nun
kann ich, wenn der Vertrag nicht zugleich die Ăśbergabe
(als paaum re inituni) enthält, mithin eine Zeit zwischen
dem AbschluĂź desselben und der Besitznehmimg des Er-
worbenen verläuft, in dieser Zeit nicht anders zum Besitz
gelangen, als dadurch, daĂź ich einen besonderen rechtlichen,
nämlich einen Besitzakt {actum possessorium) ausübe, der
einen besonderen Vertrag ausmacht, und dieser ist: daĂź ich
8o Rechtslehre, i. Teil. Das Privatrecht. 2. Hauptstikk
sage, ich werde die Sache (das Pferd) abholen lassen, wozu
der Verkäufer einwilligt. Denn daß dieser eine Sache zum
Gebrauche eines anderen auf eigene Gefahr in seine Ge-
wahrsamc nehmen werde, versteht sich nicht von selbst,
sondern dazu gehört ein besonderer Vertrag, nach welchem
der Veräußercr seiner Sache innerhalb der bestimmten
Zeit noch immer EigentĂĽmer bleibt (und alle Gefahr, die
die Sache treffen möchte, tragen muß), der Erwerbende aber
nur dann, wann er über diese Zeit zögert, von dem. Ver-
käufer dafür angesehen werden kann, als sei sie ihm über-
liefert. Vor diesem Besitzakt ist also alles durch den Vertrag
Erworbene nur ein persönliches Recht, und der Promissar
kann eine äußere Sache nur durch Tradition erwerben.
Dritter Abschnitt.
Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht.
$ Z2.
Dieses Recht ist das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes
als einer Sache und des Gebrauchs desselben als einer Person.
— Das Mein und Dein nach diesem Recht ist das häusliche,
und das Verhältnis in diesem Zustande ist das der Gemeinschaft
freier Wesen, die durch den wechselseitigen EinfluĂź (der Person
des einen auf das andere) nach dem Prinzip der äußeren Freiheit
(Kausalität) eine Gesellschaft von Gliedern eines Ganzen (in
Gemeinschaft stehender Personen) ausmachen, welches das Haus-
wesen heißt. — Die Erwerbungsart dieses Zustandes und in dem-
selben geschieht weder durch eigenmächtige Tat (^facto), noch
durch bloĂźen Vertrag (^pacto\ sondern durchs Gesetz {iegf\
welches, weil es kein Recht in einer Sache, auch nicht ein bloĂźes
Recht gegen eine Person, sondern auch ein Besitz derselben zu-
gleich ist, ein über alles Sachen- und persönhche hinaus liegendes
Recht, nämlich das Recht der Menschheit in unserer eigenen
Person sein muĂź, welches ein natĂĽrliches Erlaubnisgesetz zur Folge
hat, durch dessen Gunst uns eine solche Erwerbung möglich ist.
^.Abschnitt. Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht 8i
§ 23.
Die Erwerbung nach diesem Gesetz ist dem Gegenstande nach
dreierlei; Der Mann erwirbt ein Weib, das Paar erwirbt
Kinder und die Familie Gesinde. — Alles dieses Erwerbliche
ist zugleich unveräußerlich und das Recht des Besitzers dieser
Gegenstände das allerpersönlichste.
Des Rechts der häuslichen Gesellschaft
erster Titel:
Das Eherecht.
Geschlechtsgemeinschaft (commercium sexuale) ist der
wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Ge-
schlechtsorganen und Vermögen macht (usus membrorum et facul-
tatum sexualium altertus)^ und entweder ein natĂĽrlicher (wo-
durch seinesgleichen erzeugt werden kann), oder unnatĂĽrlicher
Gebrauch und dieser entweder an einer Person ebendesselben Ge-
schlechts, oder einem Tiere von einer anderen als der Menschen-
Gattung, welche Ăśbertretungen der Gesetze, unnatĂĽrliche Laster
(crimina carnis contra naturam)^ die auch unnennbar heiĂźen, als
Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person durch gar keine
Einschränkungen und Ausnahmen wider die gänzliche Verwerfung
gerettet werden können.
Die natĂĽrĂĽche Geschlechtsgemeinschaft ist nun entweder die
nach der bloĂźen tierischen Natur (yaga libido, venus volgivaga,
fornicatio\ oder nach dem Gesetz. — Die letztere ist die Ehe
(matrimonium), d. i. die Verbindung zweier Personen verschiedenen
Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Ge-
schlechtseigenschaften. — Der Zweck, Kinder zu erzeugen und
zu erziehen, mag immer ein Zweck der Natur sein, zu welchem
sie die Neigung der Geschlechter gegeneinander einpflanzte; aber
daĂź der Mensch, der sich verehlicht, diesen Zweck sich vorsetzen
müsse, wird zur Rechtmäßigkeit dieser seiner Verbindung nicht
Kants Schriften. Bd. VII. 6
8 1 Rechtslehre, i. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
crFordert; denn sonst würde, wenn das Kinderzeugen aufhört,
die Ehe sich zugleich von selbst auflösen.
Es ist nämlich, auch unter Voraussetzung der Lust zum wechsel-
seitigen Gebrauch ihrer Geschlcchtseigenschaften, der Ehevertrag
kein beliebiger, sondern durchs Gesetz der Menschheit notwendiger
Vertrag, d. i. wenn Mann und Weib einander ihren Geschlcchts-
eigenschaften nach wechselseitig genieĂźen wollen, so mĂĽssen sie
sich notwendig vcrehlichen, und dieses ist nach Rechtsgesetzen
der reinen Vernunft notwendig.
§ ^5-
Denn der natĂĽrliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den
Geschlechtsorganen des anderen macht, ist ein GenuĂź, zu dem
sich ein Teil dem anderen hingibt. In diesem Akt macht sich ein
Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit an
seiner eigenen Person widerstreitet. Nur unter der einzigen Be-
dingung ist dieses möglich, daß, indem die eine Person von der
anderen gleich als Sache erworben wird, diese gegenseitig
wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst
und stellt ihre Persönlichkeit wieder her. Es ist aber der Erwerb
eines GliedmaĂźes am Menschen zugleich Erwerbung der ganzen
Person, — weil diese eine absolute Einheit ist; — folglich ist
die Hingebung und Annehmung eines Geschlechts zum GenuĂź des
andern nicht allein unter der Bedingung der Ehe zulässig, sondern
auch allein unter derselben möglich. Daß aber dieses persön-
liche Recht es doch zugleich auf dingliche Art sei, grĂĽndet
sich darauf, weil, wenn eines der Eheleute sich verlaufen, oder
sich in eines anderen Besitz gegeben hat, das andere es jederzeit
und unweigerlich gleich als eine Sache in seine Gewalt zurĂĽck-
zubringen berechtigt ist.
§ zö.
Aus denselben Gründen ist das Verhältnis der Verehlichten
ein Verhältnis der Gleichheit des Besitzes, sowohl der Personen,
die einander wechselseitig besitzen (folgUch nur in Monogamie,
denn in einer Polygamie gewinnt die Person, die sich weggibt.
^. Abschnitt. Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht 83
nur einen Teil desjenigen, dem sie ganz anheimfällt, imd macht
sich also zur bloĂźen Sache), als auch der GlĂĽcksgĂĽter, wobei sie
doch die Befugnis haben, sich, obgleich nur durch einen besonderen
Vertrag, des Gebrauchs eines Teils derselben zu begeben.
Daß der Konkubinat keines zu Recht beständigen Kon-
trakts fähig sei, so wenig als die Verdingung einer Person
zum einmaligen GenuĂź (^pactum fornicationis^ fo^gt 3us dem
obigen Grunde. Denn was den letzteren Vertrag betriflft;
so wird jedermann gestehen, daĂź die Person, welche ihn
geschlossen hat, zur ErfĂĽllung ihres Versprechen rechtlich
nicht angehalten werden könnte, wenn es ihr gereuete; und
so fällt auch der erstere, nämlich der des Konkubinats, (als
pactum turpe) weg, weil dieser ein Kontrakt der Verdin-
gung Qocatio-conductio) sein wĂĽrde und zwar eines Ghed-
maĂźes zum Gebrauch eines anderen mithin, wegen der un-
zertrennlichen Einheit der Glieder an einer Person, diese sich
selbst als Sache der WillkĂĽr des anderen hingeben wĂĽrde;
daher jeder Teil den eingegangenen Vertrag mit dem anderen
aufheben "kann, sobald es ihm beliebt, ohne daĂź der andere
über Läsion seines Rechts gegründete Beschwerde führen
kann. — Eben dasselbe gilt auch von der Ehe an der Hnken
Hand, um die Ungleichheit des Standes beider Teile zur
größeren Herrschaft des einen Teils über den anderen zu
benutzen; denn in der Tat ist sie nach dem bloĂźen Natur-
recht vom Konkubinat nicht unterschieden und keine wahre
Ehe. — Wenn daher die Frage ist: ob es auch der Gleichheit
der Verehlichten als solcher widerstreite, wenn das Gesetz
von dem Manne in Verhältnis auf das Weib sagt: er soll
dein Herr (er der befehlende, sie der gehorchende Teil) sein,
so kann dieses nicht als der natĂĽrlichen Gleichheit eines
Menschenpaares widerstreitend angesehen werden, wenn dieser
Herrschaft nur die natürliche Überlegenheit des Vermögens
des Mannes ĂĽber das weibliche in Bewirkung des gemein-
schaftlichen Interesse des Hauswesens und des darauf ge-
grĂĽndeten Rechts zum Befehl zum Grunde liegt, welches
daher selbst aus der Pflicht der Einheit und Gleichheit in
Ansehung des Zwecks abgeleitet werden kann.
6*
84 Rechts lehre, i. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
§ ■I-7-
Der Ehc-Vcrtrag wird nur durch eheliche Beiwohnung
{copula carnalis) vollzogen. Ein Vertrag zweier Personen beiderlei
Geschlechts mit dem geheimen Einverständnis entweder sich der
fleischlichen Gemeinschaft zu enthalten, oder mit dem BewuĂźtsein
eines oder beider Teile, dazu unvermögend zu sein, ist ein simu-
lierter Vertrag und stiftet keine Ehe; kann auch durch jeden
von beiden nach Belieben aufgelöset werden. Tritt aber das Un-
vermögen nur nachher ein, so kann jenes Recht durch diesen
unverschuldeten Zufall nichts einbĂĽĂźen.
Die Erwerbung einer Gattin oder eines Gatten geschieht
also nicht facto (durch die Beiwohnung) ohne vorhergehenden
Vertrag, auch nicht pacto (durch den bloĂźen ehelichen Vertrag
ohne nachft)lgende Beiwohnung), sondern nur lege: d. i. als recht-
liche Folge aus der Verbindlichkeit in eine Geschlechtsverbindung
nicht anders, als vermittelst des wechselseitigen Besitzes der Per-
sonen, als welcher nur durch den gleichfalls wechselseitigen Ge-
brauch ihrer GeschlechtseigentĂĽmlichkeiten seine Wirklichkeit
erhält, zu treten.
Des Rechts der häuslichen Gesellschaft
zweiter Titel:
Das Elternrecht.
§ 28.
Cjrleichwie aus der Pflicht des Menschen gegen sich selbst,
d. i. gegen die Menschheit in seiner eigenen Person, ein Recht
{jus personale) beider Geschlechter entsprang, sich als Personen
wechselseitig einander auf dingliche Art durch Ehe zu erwerben:
so folgt aus der Zeugung in dieser Gemeinschaft eine Pflicht
der Erhaltung und Versorgung in Absicht auf ihr Erzeugnis,
d. i. die Kinder als Personen haben hiemit zugleich ein ursprĂĽng-
lich-angebornes (nicht angeerbtes) Recht auf ihre Versorgung
durch die Eltern, bis sie vermögend sind, sich selbst zu erhalten;
j. Abschnitt. Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht 8 5
und zwar durchs Gesetz {lege) unmittelbar, d. i. ohne daĂź ein
besonderer rechtlicher Akt dazu erforderlich ist.
Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist,
sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch
eine physische Operation einen Begriff zu machen'): so ist es eine
in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige
Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch
wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und
eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche Tat auf
den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in
ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen.
— Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel
(denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein)
und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem Zufall
^) Selbst nidit, wie es möglich ist, daß Gott freie Wesen er-
schaffe; denn da wären, wie es scheint, alle künftige Handlungen
derselben, durch jenen ersten Akt vorherbestimmt, in der Kette der
Naturnotwendigkeit enthalten, mithin nicht frei. DaĂź sie aber (wir
Menschen) doch frei sind, beweiset der kategorische Imperativ in mo-
ralisch-praktischer Absicht, wie durch einen Machtspruch der Vernunft,
ohne daß diese doch die Möglichkeit dieses Verhältnisses einer Ursache
2ur Wirkung in theoretischer begreiflich machen kann, weil beide
übersinnlich sind. — Was man ihr hiebei allein zumuten kann, wäre
bloß: daß sie beweise, es sei in dem Begriffe von einer Schöpfung
freier Wesen kein Widerspruch; und dieses kann dadurch gar wohl
geschehen, daß gezeigt wird: der Widerspruch eräugne sich nur dann,
wenn mit der Kategorie der Kausalität zugleich die Zeitbedingung,
die im Verhältnis zu Sinnenobjekten nicht vermieden werden kann (daß
nämlich der Grund einer Wirkimg vor dieser vorhergehe), auch in das
Verhältnis des Übersinnlichen zueinander hinüber gezogen wird (welches
auch wirklich, wenn jener KausalbegrifF in theoretischer Absicht objek-
tive Realität bekommen soll, geschehen müßte), er — der Widerspruch
— aber verschwinde, wenn in moralisch-praktischer, mithin nicht-sinnlicher
Absicht die reine Kategorie (ohne ein ihr untergelegtes Schema) im
SchöpfungsbegrifFe gebraucht wird.
Der philosophische Rechtslehrer wird diese Nachforschung bis zu
den ersten Elementen der Transszendentalphilosophie in einer Meta-
physik der Sitten nicht für unnötige Grübelei erklären, die sich in
zwecklose Dunkelheit verliert, wenn er die Schwierigkeit der zu lösenden
Aufgabe und doch auch die Notwendigkeit, hierin den Rechtsprinzipien
genug zu tun, in Ăśberlegung zieht.
86 RfchtsUhre. i. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
ĂĽberlassen, weil an ihm nicht bloĂź ein Wejtrwesen, sondern auch
ein WeltbĂĽrger in einen Zustand herĂĽbergezogen, der ihnen nun
auch nach Rcchtsbcgritfen nicht gleichgĂĽltig sein kann.
§ i9-
Aus dieser PHicht entspringt auch notwendig das Recht der
Eltern lur Handhabung und Bildung des Kindes, solange es
des eigenen Gebrauchs seiner GliedmaĂźen, imgleichen des Vcr-
standcsgebrauchs noch nicht mächtig ist, außer der Ernährung und
Pflege CS zu erziehen und sowohl pragmatisch, damit es kĂĽnftig
sich selbst erhalten und fortbringen könne, als auch moralisch,
weil sonst die Schuld ihrer Verwahrlosung auf die Eltern fallen
würde, — es zu bilden; alles bis zur Zeit der Entlassung (eman-
cipatio), da diese sowohl ihrem väterlichen Recht zu befehlen, als
auch allem Anspruch auf Kostenerstattung fĂĽr ihre bisherige Ver-
pflegung und MĂĽhe entsagen, wofĂĽr und nach vollendeter Er-
ziehung sie der Kinder ihre Verbindlichkeit (gegen die Eltern)«
nur als bloße Tugendpflicht, nämlich als Dankbarkeit, in Anschlag
bringen können.
Aus dieser Persönlichkeit der erstem folgt nun auch, daß, da
die Kinder nie als Eigentum der Eltern angesehen werden können,
aber doch zum Mein und Dein derselben gehören (weil sie gleich
den Sachen im Besitz der Eltern sind und aus jedes anderen
Besitz, selbst wider ihren Willen, in diesen zurĂĽckgebracht werden
können), das Recht der ersteren kein bloßes Sachenrecht, mithin
nicht veräußerlich {ius personalissimum ) , aber auch nicht ein
bloß persönliches, sondern ein auf dingliche Art persönliches
Recht ist.
Hiebei fällt also in die Augen, daß der Titel eines auf ding-
liche Art persönlichen Rechts in der Rechtslehre noch über
dem des Sachen- und persönlichen Rechts notwendig hinzukommen
müsse, jene bisherige Einteilung also nicht vollständig gewesen
ist, weil, wenn von dem Recht- der Eltern an den Kindern als
einem StĂĽck ihres Hauses die Rede ist, jene sich nicht bloĂź auf
die Pflicht der Kinder berufen dĂĽrfen, zurĂĽckzukehren, wenn sie
entlaufen sind, sondern sich ihrer als Sachen (verlaufener Haus-
tiere) zu bemächtigen und sie einzufangen bcrechrigt sind.
j. Abschnitt. Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht 8 7
Des Rechts der häuslichen Gesellschaft
dritter Titel:
Das Hausherren-Recht.
§ 30.
Die Kinder des Hauses, die mit den Eltern zusammen eine
Familie ausmachten, werden auch ohne allen Vertrag der Auf-
kündigung ihrer bisherigen Abhängigkeit, durch die bloße Ge-
langung zu dem Vermögen ihrer Selbsterhaltung (so wie es teils
als natürliche Volljährigkeit dem allgemeinen Laufe der Natur
überhaupt, teils ihrer besonderen Naturbeschaffenheit gemäß ein-
tritt), mĂĽndig (maiorennes\ d. i. ihre eigene Herren (sui iuris).,
und erwerben dieses Recht ohne besonderen rechtlichen Akt,
mithin bloß durchs Gesetz (legi) — sind den Eltern für ihre Er-
ziehung nichts schuldig, so wie gegenseitig die letzteren ihrer
Verbindlichkeit gegen diese auf ebendieselbe Art loswerden, hiemit
beide ihre natürliche Freiheit gewinnen oder wieder gewinnen —
die häusliche Gesellschaft aber, welche nach dem Gesetz not-
wendig war, nunmehr aufgelöset wird.
Beide Teile können nun wirklich ebendasselbe Hauswesen,
aber in einer anderen Form der Verpflichtung, nämlich als Ver-
knĂĽpfung des Hausherren mit dem Gesinde (den Dienern oder
Dienerinnen des Hauses), mithin eben diese häusliche Gesellschaft,
aber jetzt als hausherrliche (societas herilis) erhalten, durch einen
Vertrag, durch den der erstere mit den mĂĽndig gewordenen
Kindern, oder, wenn die Familie keine Kinder hat, mit anderen
freien Personen (der Hausgenossenschaft) eine häusUche Gesell-
schaft stiften, welche eine ungleiche Gesellschaft (des Gebietenden
oder der Herrschaft und der Gehorchenden, d. i. der Diener-
schaft (imperantis et suhiecti domestici) sein wĂĽrde.
Das Gesinde gehört nun zu dem Seinen des Hausherrn und
zwar, was die Form (den Besitzstand) betrifft, gleich als nach
einem Sachenrecht; denn der Hausherr kann, wenn es ihm ent-
läuft, es durch einseitige Willkür in seine Gewalt bringen; was
aber die Materie betrifft, d. i. welchen Gebrauch er von diesen
seinen Hausgenossen machen kann, so kann er sich nie als Eigen-
8 8 Rechtslehre, i. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
tĂĽmcr desselben (^dominus servi) betragen: weil er nur durch Ver-
trag unter seine Gewalt gebracht ist, ein Vertrag aber, durch den
ein Teil zum Vorteil des anderen auf seine ganze Freiheit Verzicht
tut, mithin auFhört, eine Person zu sein, folglich auch keine
Pflicht hat, einen Vertrag zu halten, sondern nur Gewalt anerkennt,
in sich selbst widersprechend, d. i. null und nichtig, ist. (Von
dem Eigentumsrecht gegen den, der sich durch ein Verbrechen
seiner Persönlichkeit verlustig gemacht hat, ist hier nicht die
Rede.)
Dieser Vertrag also der Hausherrschaft mit dem Gesinde kann
nicht von solcher Beschaffenheit sein, daĂź der Gebrauch des-
selben ein Verbrauch sein wĂĽrde, worĂĽber das Urteil aber nicht
bloĂź dem Hausherrn, sondern auch der Dienerschaft (die also nie
Leibeigenschaft sein kann) zukommt; kann also nicht auf lebens-
längliche, sondern allenfalls nur auf unbestimmte Zeit, binnen der
ein Teil dem anderen die Verbindung aufkĂĽndigen darf, ge-
schlossen werden. Die Kinder aber (selbst die eines durch sein
Verbrechen zum Sklaven gewordenen) sind jederzeit frei. Denn
frei geboren ist jeder Mensch, weil er noch nichts verbrochen
hat, und die Kosten der Erziehung bis zu seiner Volljährigkeit
können ihm auch nicht als eine Schuld angerechnet werden, die
er zu tilgen habe. Denn der Sklave müßte, wenn er könnte,
seine Kinder auch erziehen, ohne ihnen dafĂĽr Kosten zu ver-
rechnen; der Besitzer des Sklaven tritt also bei dieses seinem Un-
vermögen in die Stelle seiner Verbindlichkeit.
Man sieht also auch hier, wie unter beiden vorigen Titeln,
daß es ein auf dingliche Art persönHches Recht (der Herrschaft
ĂĽber das Gesinde) gebe: weil man sie zurĂĽckholen und als das
äußere Seine von jedem Besitzer abfordern kann, ehe noch die
Gründe, welche sie dazu vermocht haben mögen, und ihr Recht
untersucht werden dĂĽrfen.
j. Abschnitt. Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht 89
Dogmatische Einteilung
aller erwerblichen Rechte aus Verträgen.
§ 31-
Von einer metaphysischen Rechtslehre kann gefordert werden,
daĂź sie a priori die Glieder der Einteilung (divisio logicd) voll-
ständig und bestimmt aufzähle und so ein wahres System der-
selben aufstelle; statt dessen alle empirische Einteilung bloĂź
fragmentarisch (fartttto) ist und es ungewiĂź laĂźt, ob es nicht
noch mehr Glieder gebe, welche zur AusfĂĽllung der ganzen
Sphäre des eingeteilten Begriffs erfordert würden. — Eine Ein-
teilung nach einem Prinzip a priori (im Gegensatz der empirischen)
kann man nun dogmatisch nennen.
Aller Vertrag besteht an sich, d. i. objektiv betrachtet, aus
zwei rechtlichen Akten: dem Versprechen und der Annehmung
desselben; die Erwerbung durch die letztere (wenn es nicht ein
pactum re tnitum ist, welches Ăśbergabe erfordert) ist nicht ein
Teil, sondern die rechtlich notwendige Folge desselben. —
Subjektiv aber erwogen, d. i. als Antwort auf die Frage: ob
jene nach der Vernunft notwendige Folge (welche die Erwer-
bung sein sollte) auch wirklich erfolgen (physische Folge
sein) werde, dafĂĽr habe ich durch die Annehmung des Versprechens
noch keine Sicherheit. Diese ist also, als äußerlich zur Moda-
lität des Vertrages, nämlich der Gewißheit der Erwerbung durch
denselben, gehörend, ein Ergänzungsstück zur Vollständigkeit der
Mittel zur Erreichung der Absicht des Vertrags, nämlich der Er-
werbung. — Es treten zu diesem Behuf drei Personen auf: der
Promittent, der Acceptant und der Cavent; durch welchen
letzteren und seinen besonderen Vertrag mit dem Promittenten
der Acceptant zwar nichts mehr in Ansehung des Objekts, aber
doch der Zwangsmittel gewinnt, zu dem Seinen zu gelangen.
Nach diesen Grundsätzen der logischen (rationalen) Einteilung
gibt es nun eigenthch nur drei einfache und reine Vertragsarten,
der vermischten aber und empirischen, welche zu den Prinzipien
des Mein und Dein nach bloĂźen Vernunftgesetzen noch statutarische
und konventionelle hinzutun, gibt es unzählige, sie liegen aber
5>o Recht sichre, i. Teil. Das Prtvatrecht. 2. Haupt stĂĽck
auĂźerhalb dem Kreise der metaphysischen Rechtslehre, die hier
allein verzeichnet werden soll.
Alle Verträge nämlich haben entweder A. einseitigen
Erwerb (wohltätiger Vertrag), oder B. wechselseitigen
(belästigter Vertrag), oder gar keinen Erwerb, sondern nur
C. Sicherheit des Seinen (der einerseits wohltätig, ander-
seits doch auch zugleich belästigend sein kann) zur Absicht.
A. Der wohltätige Vertrag {pactum gratuitum) ist:
a) Die Aufbewahrung des anvertrauten Guts (depositum),
b) Das Verleihen einer Sache (commodatum\
c) Die Verschenkung (donatio).
B. Der belästigte Vertrag.
I. Der Veräußerungs vertrag (permutatio late sie dicta).
a) Der Tausch (permutatio stricte sie dictd). Ware gegen
Ware.
b) Der Kauf und Verkauf (enttio venditio). Ware gegen
Geld.
c) Die Anleihe {mutuuni): Veräußerung einer Sache unter
der Bedingung, sie nur der Spezies nach wieder zu er-
halten (z. B. Getreide gegen Getreide, oder Geld gegen
Geld).
II. Der Verdingungsvertrag (Jocatio eonduetio).
a. Die Verdingung meiner Sache an einen andern zum
Gebrauch derselben {locatio rei), welche, wenn sie nur in
specie wiedererstattet werden darf, als belästigter Vertrag
auch mit Verzinsung verbunden sein kann (pactum
usurarium).
Ăź. Der Lohnvertrag (locatio operae), d. 1. die Bewilligung
des Gebrauchs meiner Kräfte an einen anderen für einen
bestimmten Preis (merces). Der Arbeiter nach diesem
Vertrage ist der Lohndiener (mercennarius).
y. Der Bevoll m.ächtigungsvertrag (mandatum): Die Ge-
schäftsführung an der Stelle und im Namen eines anderen,
welche, wenn sie bloĂź an des anderen Stelle, nicht zu-
gleich in seinem (des Vertretenen) Namen gefĂĽhrt wird,
Geschäftsführung ohne Auftrag (gestio negotii), wird
sie aber im Namen des anderen verrichtet, Mandat heiĂźt,
das hier als Verdingungsvertrag ein belästigter Vertrag
(mandatum onerosum) ist.
^. Abschnitt. Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht 91
C. Der Zusicherungsvertrag (cautio).
a) Die Verpfändung und Pfandnehmung. zusammen
{pignui).
b) Die Gutsagung fĂĽr das Versprechen eines anderen
(fideiussio).
c) Die persönliche Verbürgung {praestatio obsidls).
In dieser Tafel aller Arten der Ăśbertragung (translatio)
des Seinen auf einen anderen finden sich Begriffe von Ob-
jekten oder Werkzeugen dieser Ăśbertragung vor, welche ganz
empirisch zu sein (scheinen) und selbst ihrer Möglichkeit nach
in einer metaphysischen Rechtslehre eigentlich nicht Platz
haben, in der die Einteilungen nach Prinzipien a priori ge-
macht werden mĂĽssen, mithin von der Materie des Verkehrs
(welche konventionell sein könnte) abstrahiert und bloß auf
die Form gesehen werden muĂź, dergleichen der Begriff des
Geldes im Gegensatz mit aller anderen veräußerlichen Sache,
nämlich der VV^are, im Titel des Kaufs und Verkaufs,
oder der eines Buchs ist. — Allein es wird sich zeigen, daß
jener Begriff des größten und brauchbarsten aller Mittel des
Verkehrs der Menschen mit Sachen, Kauf und Verkauf
(Handel) genannt, imgleichen der eines Buchs, als das des
größten Verkehrs der Gedanken, sich doch in lauter in-
tellektuelle Verhältnisse auflösen lasse und so die Tafel der
reinen Verträge nicht durch empirische Beimischung ver-
unreinigen dĂĽrfe.
I.
Was ist Geld?
Geld ist eine Sache, deren Gebrauch nur dadurch möghch
ist, daß man sie veräußert. Dies ist eine gute Namen-
erklärung desselben (nach ACREN WALL), nämlich hinreichend
zur Unterscheidung dieser Art Gegenstände der Willkür von allen
andern; aber sie gibt uns keinen Aufschluß über die Möglichkeit
einer solchen Sache. Doch sieht man so viel daraus; daĂź erst-
lich diese Veräußerung im Verkehr nicht als Verschenkung,
sondern als zur wechselseitigen Erwerbung (durch ein pactum
onerosum) beabsichtigt ist; zweitens daĂź, da es als ein (in einem
Volke) allgemein beUcbtes bloĂźes Mittel des Handels, was an
sich keinen Wert hat, im Gegensatz einer Sache als Ware (d. i.
9 2 Rechtslehre, i. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
desjenigen, was einen solchen hat und sich auf das besondere
BedĂĽrfnis eines oder des anderen im Volk bezieht) gedacht wird,
es alle Ware repräsentiert.
Ein Scheffel Getreide hat den größten direkten Wert als
Mittel zu menschlichen BedĂĽrfnissen. Man kann damit Tiere
futtern, die uns zur Nahrung, zur Bewegung und zur Arbeit an
unserer Statt (dienen), und dann auch vermittelst desselben also
Menschen vermehren und erhalten, welche nicht allein jene Natur-
produkte immer wieder erzeugen, sondern auch durch Kunstpro-
dukte allen unseren Bedürfnissen zu Hilfe kommen können: zur
Verfertigung unserer Wohnung, Kleidung, ausgesuchtem GenĂĽsse
und aller Gemächlichkeit überhaupt, welche die Güter der Industrie
ausmachen. Der Wert des Geldes ist dagegen nur indirekt. Man
kann es selbst nicht genieĂźen, oder als ein solches irgend wozu
unmittelbar gebrauchen; aber doch ist es ein Mittel, was unter
allen Sachen von der höchsten Brauchbarkeit ist.
Hierauf läßt sich vorläufig eine Realdefinition des Geldes
grĂĽnden: es ist das allgemeine Mittel den FleiĂź der Menschen
gegeneinander zu verkehren, so: daĂź der Nationalreichtum,
insofern er vermittelst des Geldes erworben worden, eigentlich
nur die Summe des FleiĂźes ist, mit dem Menschen sich unter-
einander lohnen, und welcher durch das in dem Volk umlaufende
Geld repräsentiert wird.
Die Sache nun, welche Geld heiĂźen soll, muĂź also selbst so
viel FleiĂź gekostet haben, um sie hervorzubringen, oder auch
anderen Menschen in die Hände zu schaffen, daß dieser dem-
jenigen FleiĂź, durch welchen die Ware (in Natur- oder Kunst-
produkten) hat erworben werden mĂĽssen, und gegen welchen
jener ausgetauscht wird, gleich komme. Denn wäre es leichter
den Stoff, der Geld heißt, als die Ware anzuschaffen, so käme
mehr Geld zu Markte, als Ware feil steht, und weil der Ver
käufer mehr Fleiß auf seine Ware verwenden müßte, als der
Käufer, dem das Geld schneller zuströmt: so würde der Fleiß in
Verfertigung der Ware und so das Gewerbe ĂĽberhaupt mit dem
Erwerbfieiß, der den öffentlichen Reichtum zu Folge hat, zugleich
schwinden und verkürzt werden. — Daher können Banknoten
und Assignaten nicht fĂĽr Geld angesehen werden, ob sie gleich
eine Zeit hindurch die Stelle desselben vertreten: weil es beinahe
gar keine Arbeit kostet, sie zu verfertigen, und ihr Wert sich
bloĂź auf die Meinung der ferneren Fortdauer der bisher ge-
/, Abschnitt. Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht 9 5
lungenen Umsetzung derselben in Barschaft grĂĽndet, welche bei
einer erwanigen Entdeckung, daĂź die letztere nicht in einer zum
leichten und sicheren Verkehr hinreichenden Menge da sei, plötz
lieh verschwindet und den Ausfall der Zahlung unvermeidlich
macht. — So ist der Erwerbfleiß derer, welche die Gold- und
Silberbergwerke in Peru oder Neumexiko anbauen, vornehtnhch
bei den so vielfältig mißlingenden Versuchen eines vergeblich
angewandten Fleißes im Aufsuchen der Erzgänge, wahrscheinlich
noch größer, als der auf Verfertigung der Waren in Europa ver-
wendete und wĂĽrde als unvergolten, mithin von selbst nachlassend,
jene Länder bald in Armut sinken lassen, wenn nicht der Fleiß
Europens dagegen, eben durch diese Materialien gereizt, sich pro-
portionierlich zugleich erweiterte, um bei jenen die Lust zum
Bergbau durch ihnen angebotene Sachen des Luxus beständig
rege zu erhalten: sodaĂź immer FleiĂź gegen FleiĂź in Konkurrenz
kommen.
Wie ist es aber möglich, daß das, was anfänglich Ware war,
endlich Geld ward? Wenn ein groĂźer und machthabender Ver-
tuer einer Materie, die er anfangs bloĂź zum Schmuck und Glanz
seiner Diener (des Hofes) brauchte (z. B. Gold, Silber, Kupfer,
oder eine Art schöner Muschelschalen, Kauris, oder auch wie in
Kongo eine Art Matten, Makuten genannt, oder wie am Senegal
Eisenstangen und auf der GuineakĂĽste selbst Negersklaven), d. i.
werm ein Landesherr die Abgaben von seinen Untertanen in
dieser Materie (als Ware) einfordert und die, deren FleiĂź in An-
schaffung derselben dadurch bev/egt werden soll, mit eben den-
selben nach Verordnungen des Verkehrs unter und mit ihnen
überhaupt (auf einem Markt oder einer Börse) wieder lohnt. —
Dadurch allein hat (meinem BedĂĽnken nach) eine Ware ein gesetz-
liches Mittel des Verkehrs des FleiĂźes der Untertanen unterein-
ander und hiemit auch des Staatsreichtums, d. i. Geld, werden
können.
Der intellektuelle Begriff, dem der empirische vom Gelde unter-
gelegt ist, ist also der von einer Sache, die, im Umlauf des Be-
sitzes begriffen (permutatio publica), den Preis aller anderen Dinge
(Waren) bestimmt, unter welche letztere sogar Wissenschaften, so-
fern sie anderen nicht umsonst gelehrt werden, gehören: dessen
Menge also in einem Volk die BegĂĽterung (opuletttia) desselben
ausmacht. Denn Preis {pretiuni) ist das öffentliche Urteil über
den Wert (yalor') einer Sache in Verhältnis auf die proportionierte
94 Rechtslehre, i. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
Menge desjenigen, was das allgemeine stellvertretende Mittel der
gegenseitigen Vertauschung des Fleißes (des Umlaufs) ist. —
Daher werden, wo der Verkehr groĂź ist, weder Gold noch
Kupfer fĂĽr eigentliches Geld, sondern nur fĂĽr Ware gehalten:
weil von dem ersteren zu wenig, vom anderen zu viel da ist,
um es leicht in Umlauf zu bringen und dennoch in so kleinen
Teilen zu haben, als zum Umsatz gegen Ware, oder eine Menge
derselben im kleinsten Erwerb nötig ist. Silber (weniger oder
mehr mit Kupfer versetzt) wird daher im groĂźen Verkehr der
Welt fĂĽr das eigentliche Material des Geldes und den MaĂźstab
der Berechnung aller Preise genommen; die ĂĽbrigen Metalle (noch
viel mehr also die unmetallischen Materien) können nur in einem
Volk von kleinem Verkehr stattfinden. — Die erstem beiden,
wenn sie nicht bloĂź gewogen, sondern auch gestempelt, d. i. mit
einem Zeichen, fĂĽr wie viel sie gelten sollen, versehen worden,
sind gesetzliches Geld, d. i. MĂĽnze.
„Geld ist also (nach ADAM SMITH) derjenige Körper, dessen
Veräußerung das Mittel und zugleich der Maßstab des Fleißes ist,
mit welchem Menschen und Völker untereinander Verkehr treiben."
— Diese Erklärung führt den empirischen Begriff des Geldes da-
durch auf den intellektuellen hinaus, daĂź sie nur auf die Form
der wechselseitigen Leistungen im belästigten Vertrage sieht (und
von dieser ihrer Materie abstrahiert), und so auf Rechtsbegriff
in der Umsetzung des Mein und Dein (commutatio late sie dictd)
ĂĽberhaupt, um die obige Tafel einer dogmatischen Einteilung
a priori, mithin der Metaphysik des Rechts als eines Systems an-
gemessen vorzustellen.
n.
Was ist ein Buch?
Ein Buch ist eine Schrift (ob mit der Feder oder durch Typen,
auf wenig oder viel Blättern verzeichnet, ist hier gleichgültig),
welche eine Rede vorstellt, die jemand durch sichtbare Sprach-
zeichen an das Publikum hält. — Der, welcher zu diesem in seinem
eigenen Namen spricht, heiĂźt der Schriftsteller (autor). Der,
welcher durch eine Schrift im Namen eines anderen (des Autors)
öffentlich redet, ist der Verleger. Dieser, wenn er es mit jenes
seiner Erlaubnis tut, ist der rechtmäßige; tut er es aber ohne
dieselbe, der unrechtmäßige Verleger, d. i. der Nachdrucker.
S. Abschnitt. Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht 9 5
Die Summe aller Kopeien der Urschrift (Exemplare) ist der
Verlag.
Der BĂĽchernachdruck ist von rechtswegen verboten.
Schrift ist nicht unmittelbar Bezeichnung eines Begriffs (wie
etwa ein Kupferstich, der als Porträt, oder ein Gipsabguß, der
als die BĂĽste eine bestimmte Person vorstellt), sondern eine Rede
ans Publikum, d. i. der Schriftsteller spricht durch den Verleger
öffentlich. — Dieser aber, nämlich der Verleger, spricht (durch
seinen W^erkmeister, operarius, den Drucker) nicht in seinem
eigenen Namen (denn sonst wĂĽrde er sich fĂĽr den Autor aus-
geben); sondern im Namen des Schriftstellers, wozu er also nur
durch eine ihm von dem letzteren erteilte Vollmacht (mandatum)
berechtigt ist. — Nun spricht der Nachdrucker durch seinen eigen-
mächtigen Verlag zwar auch im Namen des Schriftstellers, aber
ohne dazu Vollmacht von demselben zu haben (^gerit se manda-
tarium absque mandat6)\ folglich begeht er an dem von dem Autor
bestellten (mithin einzig rechtmäßigen) Verleger ein Verbrechen
der Entwendung des Vorteils, den der letztere aus dem Gebrauch
seines Rechts ziehen konnte und wollte (^furtum usui)\ also ist
der BĂĽchernachdruck von rechtswegen verboten.
Die Ursache des rechtlichen Anscheins einer gleichwohl beim
ersten Anblick so stark auffallenden Ungerechtigkeit, als der
BĂĽchernachdruck ist, liegt darin: daĂź das Buch einerseits ein
körperliches Kunstprodukt {opus mechanicum) ist, was nach-
gemacht werden kann (von dem, der sich im rechtmäßigen Besitz
eines Exemplars desselben befindet), mithin daran ein Sachen-
recht statthat: andrerseits aber ist das Buch auch bloĂźe Rede
des Verlegers ans Publikum, die dieser, ohne dazu Vollmacht vom
Verfasser zu haben, öffentlich nicht nachsprechen darf {praestatio
operae), ein persönliches Recht, und nun besteht der Irrtum
darin, daĂź beides miteinander verwechselt wird.
Die Verwechselung des persönlichen Rechts mit dem Sachen-
recht ist noch in einem anderen, unter den Verdingungsvertrag
gehörigen Falle (B, ü, a), nämhch dem der Einmietung {ius
incolatus), ein Stoff zu Streitigkeiten. — Es fragt sich nämlich: ist
der EigentĂĽmer, wenn er sein an jemanden vermietetes Haus (oder
90 RechtsUhre. i. Teil. Das Privatrecht. 2. Haupt stĂĽck
seinen Grund) vor Ablauf der Mietszeit an einen anderen verkauft,
verbunden, die Bedingungen der fortdauernden Miete dem Kauf-
kontraktc beizufĂĽgen, oder kann man sagen : Kauf bricht Miete
(doch in einer durch den Gebrauch bestimmten Zeit der Auf-
kündigung)? — Im ersteren Fall hätte das Haus wirklich eine
Belästigung (onus) auf sich liegend, ein Recht in dieser Sache,
das der Mieter sich an derselben (dem Hause) erworben hätte;
welches auch wohl geschehen kann (durch Ingrossation des Miets-
kontrakts auf das Haus), aber alsdenn kein bloĂźer Mietskontrakt
sein wĂĽrde, sondern wozu noch ein anderer Vertrag (dazu sich
nicht viel Vermieter verstehen wĂĽrden) hinzukommen mĂĽĂźte.
Also gilt der Satz: „Kauf bricht Miete", d. i. das volle Recht in
einer Sache (das Eigentum) überwiegt alles persönliche Recht, was
mit ihm nicht zusammen bestehen kann; wobei doch die Klage
aus dem Grunde des letzteren dem Mieter offen bleibt, ihn wegen
des aus der ZerreiĂźung des Kontrakts entspringenden Nachteils
schadenfrei zu halten.
Episodischer Abschnitt.
Von der idealen Erwerbung eines äußeren Gegen-
standes der WillkĂĽr.
§ 3^-
Ich nenne diejenige Erwerbung ideal, die keine Kausalität in
der Zeit enthält, mithin eine bloße Idee der reinen Vernunft zum
Grunde hat. Sie ist nichtsdestoweniger wahre, nicht eingebildete
Erwerbung und heiĂźt nur darum nicht real, weil der Erwerbakt
nicht empirisch ist, indem das Subjekt von einem anderen, der
entweder noch nicht ist (von dem man bloß die Möglichkeit
annimmt, daß er sei), oder, indem dieser eben aufhört zu sein,
oder, wenn er nicht mehr ist, erwirbt, mithin die Gelangung
zum Besitz eine bloße praktische Idee der Vernunft ist. — Es
sind die drei Erwerbungsarten: i) durch Ersitzung, 2) durch
Beerbung, 3) durch unsterbliches Verdienst (meritum im-
mortale), d. i. Anspruch auf den guten Namen nach dem Tode.
Alle drei kömien zwar nur im öffentlichen rechtlichen Zustande
Episodischer Abschnitt. Von der idealen Erwerbung <^j
ihren Effekt haben, grĂĽnden sich aber nicht nur auf der Kon-
stitution desselben und willkĂĽrUchen Statuten, sondern sind auch
a priori im Naturzustande und zwar notwendig zuvor denkbar,
um hernach die Gesetze in der bĂĽrgerlichen Verfassung darnach
einzurichten (^sunt iuris naturae).
I.
Die Erwerbungsart durch Ersitzung.
§ 33-
Ich erwerbe das Eigentum eines anderen bloĂź durch den
langen Besitz (usucapio)\ nicht weil ich dieses seine Einwilli-
gung dazu rechtmäßig voraussetzen darf (^per consensum prae-
sumtum), noch weil ich, da er nicht widerspricht, annehmen
kann, er habe seine Sache aufgegeben (rem derelictam)^ sondern
weil, wenn es auch einen wahren und auf diese Sache als Eigen-
tümer Anspruch Machenden (Prätendenten) gäbe, ich ihn doch
bloĂź durch meinen langen Besitz ausschlieĂźen, sein bisheriges
Dasein ignorieren und gar, als ob er zur Zeit meines Besitzes nur
als Gedankending existierte^ verfahren darf: wenn ich gleich von
seiner Wirklichkeit sowohl, als der seines Anspruchs hinterher
benachrichtigt sein möchte. — Man nennt diese Art der Erwer-
bung nicht ganz richtig die durch Verjährung (per praescrip-
tionern)\ denn die AusschlieĂźung ist nur als die Folge von jener
anzusehen; die Erwerbung muß vorhergegangen sein. — Die Mög-
lichkeit auf diese Art zu erwerben ist nun zu beweisen.
Wer nicht einen beständigen Besitzakt (actus possessorius)
einer äußeren Sache, als der seinen, ausübt, wird mit Recht als
einer, der (als Besitzer) gar nicht existiert, angesehen; denn er
kann nicht über Läsion klagen, solange er sich nicht zum Titel
eines Besitzers berechtigt, und wenn er sich hinten nach, da schon
ein anderer davon Besitz genommen hat, auch dafür erklärte, so
sagt er doch nur, er sei ehedem einmal EigentĂĽmer gewesen, aber
nicht, er sei es noch, und der Besitz sei ohne einen kontinuier-
lichen rechtlichen Akt ununterbrochen geblieben. — Es kann also
nur ein rechtlicher und zwar sich kontinuierlich erhaltender und
Kants Schriften. Bd. VII. 7
98 Rechts lehre. i.Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
dokumentierter Besitzakt sein, durch welchen er bei einem langen
Nichtgebrauch sich das Seine sichert.
Denn setzet: die Versäumung dieses Besitzakts hätte nicht die
Folge, daß ein anderer auf seinen gesetzmäßigen und ehrlichen
Besitz (^possessio bonae fideV) einen zu Recht beständigen (^possessio
trrefragabil'ts) grĂĽnde und die Sache, die in seinem Besitz ist, als
von ihm erworben ansehe, so wĂĽrde gar keine Er\verbung perem-
torisch (gesichert), sondern alle nur provisorisch (einstweilig) sein:
weil die Geschichtskunde ihre Nachforschung bis zum ersten Be-
sitzer und dessen Erwerbakt hinauf zurĂĽckzufĂĽhren' nicht ver-
mögend ist. — Die Präsumtion, auf welcher sich die Ersitzung
{usucap'to) gründet, ist also nicht bloß rechtmäßig (erlaubt, iusta)
als Vermutung, sondern auch rechtlich (^praesumtio iuris et de
iure) als Voraussetzung nach Zwangsgesetzen (suppositio legalis):
wer seinen Besitzakt zu dokumentieren verabsäumt, hat seinen
Anspruch auf den dermaligen Besitzer verloren, wobei die Länge
der Zeit der Verabsäumung (die gar nicht bestimmt werden kann
und darf) nur zum Behuf der GewiĂźheit dieser Unterlassung
angefĂĽhrt wird. DaĂź aber ein bisher unbekannter Besitzer, wenn
jener Besitzakt (es sei auch ohne seine Schuld) unterbrochen
worden, die Sache immer wiedererlangen (vindizieren) könne
(äominia verum incerta facere)^ widerspricht dem obigen Postulat
der rechtlich-praktischen Vernunft.
Nun kann ihm aber, wenn er ein Glied des gemeinen Wesens
ist, d. i. im bĂĽrgerlichen Zustande, der Staat wohl seinen Besitz
(stellvertretend) erhalten, ob dieser gleich als Privatbesitz unter-
brochen war, und der jetzige Besitzer darf seinen Titel der Er-
werbung bis zur ersten nicht beweisen, noch auch sich auf den
der Ersitzung grĂĽnden. Aber im Naturzustande ist der letztere
rechtmäßig, nicht eigentlich eine Sache dadurch zu erwerben,
sondern ohne einen rechtlichen Akt sich im Besitz derselben zu
erhalten: welche Befreiung von AnsprĂĽchen dann auch Erwerbung
genannt zu werden pflegt. — Die Präskription des älteren Besitzers
gehört also zum Naturrecht {est iuris naturae).
Episodischer Abschnitt. Von der idealen Erwerbung 99
IL
Die Beerbung.
(^Ă„cquisitio haereditatisS)
§ 34-
Die Beerbung ist die Ăśbertragung (translatio) der Habe und
des Guts eines Sterbenden auf den Ăśberlebenden durch Zusammen-
stimmung des Willens beider. — Die Erwerbung des Erbnchmers
(haeredis institufi) und die Verlassung des Erblassers (testatoris),
d. i. dieser Wechsel des Mein und Dein, geschieht in einem
Augenblick (articuto mortis), nämlich da der letztere eben aufhört
zu sein, und ist also eigentlich keine Ăśbertragung (translatio) im
empirischen Sinn, welche zwei Aktus nacheinander, nämlich wo
der eine zuerst seinen Besitz verläßt, und darauf der andere darin
eintritt, voraussetzt; sondern eine ideale Erwerbung. — Da die
Beerbung ohne Vermächtnis (dispositio ultimae voluntatis) im
Naturzustande nicht gedacht werden kann, und, ob es ein Erb-
vertrag (jjactum successorium\ oder einseitige Erbescinsetzung
(testamentum) sei, es bei der Frage, ob und wie gerade in dem-
selben Augenblick, da das Subjekt aufhört zu sein, ein Übergang
des Mein und Dein möglich sei, ankommt, so muß die Frage;
wie ist die Erwerbart durch Beerbung möglich? von den mancherlei
möglichen Formen ihrer Ausführung (die nur in einem gemeinen
Wesen stattfinden) unabhängig untersucht werden.
„Es ist möglich, durch Erbeseinsetzung zu erwerben." —
Denn der Erblasser CAJUS verspricht und erklärt in seinem letzten
Willen dem TITIUS, der nichts von jenem Versprechen weiĂź,
seine Habe solle im Sterbefall auf diesen ĂĽbergehen, und bleibt
also, solange er lebt, alleiniger EigentĂĽmer derselben. Nun kann
zwar durch den bloĂźen einseitigen Willen nichts auf den anderen
ĂĽbergehen: sondern es wird ĂĽber dem Versprechen noch An-
nehmung (acceptatio) des anderen Teils dazu erfordert und ein
gleichzeitiger Wille (yoluntas simultanea\ welcher jedoch hier
mangelt; denn solange CAJUS lebt, kann TITIUS nicht aus-
drĂĽcklich acceptieren, um dadurch zu erwerben: weil jener nur
auf den Fall des Todes versprochen hat (denn sonst wäre das
7*
loo Rcchtslehre. i. Teil. Das Privatrecht. 2. HauptstĂĽck
Figentum einen Augenblick gemeinschaftlich, welches nicht der
Wille des Erblassers ist). — Dieser aber erwirbt doch still-
schweigend ein eigentĂĽmliches Recht an der Verlassenschaft als
ein Sachenrecht, nämlich ausschlüßlich sie zu acceptieren (/'«t in
re tacente)^ daher diese in dem gedachten Zeitpunkt haered'ttas
laccns heiĂźt. Da nun jeder Mensch notv/endigerweise (weil er
dadurch wohl gewinnen, nie aber verlieren kann) ein solches
Recht, mithin auch stillschweigend acceptiert und TITIUS nach
dem Tode des CAJUS in diesem Falle ist, so kann er die Erb-
schaft durch Annahme des Versprechens erwerben, und sie ist
nicht etwa mittlerweile ganz herrenlos {res nullius)^ sondern nur
erledigt {res vacud) gewesen: weil er aussctilĂĽĂźlich das Recht
der Wahl hatte, ob er die hinterlassene Habe zu der seinigen
machen wollte oder nicht.
Also sind die Testamente auch nach dem bloĂźen Natur-
recht gĂĽltig {sunt iuris tiaturae)\ welche Behauptung aber so
zu verstehen ist, daß sie fähig und würdig seien im bürger-
lichen Zustande (wenn dieser dereinst eintritt) eingefĂĽhrt
und sanktioniert zu werden. Denn nur dieser (der all-
gemeine Wille in demselben) bewahrt den Besitz der Ver-
lassenschaft während dessen, daß diese zwischen der Annahme
und der Verwerfung schwebt und eigentlich keinem an-
gehört.
III.
Der NachlaĂź eines guten Namens nach dem Tode.
{Botia fama defuiuti?)
§ 35-
DaĂź der Verstorbene nach seinem Tode (wenn er also nicht
mehr ist) noch etwas besitzen könne, wäre eine Ungereimtheit
zu denken, wenn der Nachlaß eine Sache wäre. Nun ist aber
der gute Name ein angebornes äußeres, obzwar bloß ideales
Mein oder Dein, was dem Subjekt als einer Person anhängt, von
deren Natur, ob sie mit dem Tode gänzlich aufhöre zu sein,
oder immer noch als solche ĂĽbrig bleibe, ich abstrahieren kann
und muß. weil ich im rechtlichen Verhältnis auf andere jede
Episodischer Abschnitt. Von der idealen Erwerbung i o i
Person bloĂź nach ihrer Menschheit, mithin als homo noumenon
wirklich betrachte, und so ist jeder Versuch, ihn nach dem Tode
in ĂĽbele falsche Nachrede zu bringen, immer bedenklich; obgleich
eine gegrĂĽndete Anklage desselben gar wohl stattfindet (mithin
der Grundsatz: de mortuis nihil nisi bene, unrichtig ist), weil gegen
den Abwesenden, welcher sich nicht verteidigen kann, VorwĂĽrfe
auszustreuen ohne die größte Gewißheit derselben wenigstens un-
groĂźmĂĽtig ist.
DaĂź durch ein tadelloses Leben und einen dasselbe beschlie-
Ăźenden Tod der Mensch einen (negativ-) guten Namen als das
Seine, welches ihm ĂĽbrig bleibt, erwerbe, wenn er als homo phac-
nomenon nicht mehr existiert, und daĂź die Ăśberlebenden (an-
gehörige, oder fremde) ihn auch vor Recht zu verteidigen befugt
sind (weil unerwiesene Anklage sie insgesamt wegen ähnlicher
Begegnung auf ihren Sterbefall in Gefahr bringt), daĂź er, sage
ich, ein solches Recht erwerben könne, ist eine sonderbare, nichts-
destoweniger unläugbare Erscheinung der a priori gesetzgebenden
Vernunft, die ihr Gebot und Verbot auch ĂĽber die Grenze des
Lebens hinaus erstreckt. — Wienn jemand von einem Verstorbenen
ein Verbrechen verbreitet, das diesen im Leben ehrlos, oder nur
verächtlich gemacht haben würde: so kann ein jeder, welcher
einen Beweis führen kann, daß diese Beschuldigung vorsätzlich
unwahr und gelogen sei, den, welcher jenen in böse Nachrede
bringt, für einen Kalumnianten öffentlich erklären, mithin ihn
selbst ehrlos machen; welches er nicht tun dĂĽrfte, wenn er nicht
mit Recht voraussetzte, daĂź der Verstorbene dadurch beleidigt
wäre, ob er gleich tot ist, und daß diesem durch jene Apologie
Genugtuung widerfahre, ob er gleich nicht mehr existiert.') Die
*) DaĂź man aber hiebei ja nicht auf Vorempfindung eines kĂĽnf-
tigen Lebens und unsichtbare Verhältnisse zu abgeschiedenen Seelen
schwärmerisch schließe, denn es ist hier von nichts weiter, als dem
rein moralischen und rechtlichen Verhältnis, was unter Menschen auch
im Leben statthat, die Rede, worin sie als intelli^bele Wesen stehen,
indem man alles Physische (zu ihrer Existenz in Raum vmd Zeit Ge-.
hörende) logisch davon absondert, d. i. davon abstrahiert, nicht
aber die Menschen diese ihre Natur ausziehen und sie Geister werden
läßt, in welchem Zustande sie die Beleidigung durch ihre Verleumder
fühleten. — Der, welcher nach hundert Jahren mir etwas Böses fälsch-
lich nachsagt, beleidigt mich schon jetzt; denn im reinen Rechtsver-
hältnisse, welches ganz intellektuell ist, wird von allen physischen Be-
1 o 2 Rechtslehre, i. TeiL Das Privarrecht. j. HauptstĂĽck
Befugnis, die Rolle des Apologeten fĂĽr den Verstorbenen zu
spielen, darF dieser auch nicht beweisen; denn jeder Mensch maĂźt
sie sich unvermeidlich an, als nicht bloĂź zur Tugendpflicht (ethisch
betrachtet), sondern sogar zum Recht der Menschheit ĂĽberhaupt
gehörig: und es bedarf hiezu keiner besonderen persönlichen Nach-
teile, die etwa Freunden und Anverwandten aus einem solchen
Schandfleck am Verstorbenen erwachsen dĂĽrften, um jenen zu
einer solchen Rüge zu berechtigen. — Daß also eine solche ideale
Erwerbung und ein Recht des Menschen nach seinem Tode gegen
die Ăśberlebenden gegrĂĽndet sei, ist nicht zu streiten, obschon die
Möglichkeit desselben keiner Deduktion fähig ist.
Drittes HauptstĂĽck.
Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch
den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit.
§ i6.
Wenn unter Naturrecht nur das nicht-statutarische, mithin
lediglich das a priori durch jedes Menschen Vernunft erkennbare
Recht verstanden wird, so wird nicht bloĂź die zwischen Personen
in ihrem wechselseitigen Verkehr untereinander geltende Ge-
rechtigkeit (jitstitia commutiitiva), sondern auch die austeilende
(justitia distributiva)^ so wie sie nach ihrem Gesetze a priori erkannt
werden kann, daß sie ihren Spruch (jententid) fällen müsse, gleich-
falls zum Naturrecht gehören.
Die moralische Person, welche der Gerechtigkeit vorsteht, ist
dingungen (der Zeit) abstrahiert, und der Ehrenräuber (Kalumniant) ist
eben sowohl strafbar, als ob er es in meiner Lebzeit getan hätte : nur
durch kein Kriminalgericht, sondern nur dadurch, daĂź ihrn nach dem
Recht der Wiedervergeltung durch die öffentliche Meinung derselbe
Verlust der Ehre zugefügt wird, die er an einem anderen schmälerte.
— Selbst das Plagiat, welches ein Schriftsteller an Verstorbenen ver-
ĂĽbt, ob es zwar die Ehre des Verstorbenen nicht befleckt, sondern
diesem nur einen Teil derselben entwendet, wird doch mit Recht als
Läsion desselben (Menschenraub) geahndet.
Von der subjektiv bedingten Erwerbung durch Gerichtsbarkeit i o 3
der Gerichtshof (forum) und im Zustande ihrer AmtsfĂĽhrung
das Gericht {iudiciutn): alles nur nach Rechtsbedingungen a priori
gedacht, ohne, \vie eine solche Verfassung wirklich einzurichten
und zu organisieren sei (wozu Statute, also empirische Prinzipien,
gehören), in Betrachtung zu ziehen.
Die Frage ist also hier nicht bloĂź: was ist an sich recht,
wie nämlich hierüber ein jeder Mensch für sich zu urteilen habe,
sondern: was ist vor einem Gerichtshofe recht, d. i. was ist
Rechtens? Und da gibt es vier Fälle, wo beiderlei Urteile ver-
schieden und entgegengesetzt ausfallen und dennoch nebeneinander
bestehen können: weil sie aus zwei verschiedenen, beiderseits
wahren Gesichtspunkten gefället werden, die eine nach dem Pri-
vatrecht, die andere nach der Idee des öffenthchen Rechts; — sie
sind: i) der Schenkungsvertrag (pactum donationis). 2) Der
Leihvertrag {commodatum). 3) Die Wiedererlangung (vindi-
catio). 4) Die Vereidigung (iuramentum).
Es ist ein gewöhnlicher Fehler der Erschleichung (vitium
subreptionis) der Rechtslehrer, dasjenige rechtliche Prinzip,
was ein Gerichtshof zu seinem eigenen Behuf (also in sub-
jektiver Absicht) anzunehmen befugt, ja sogar verbunden ist,
um ĂĽber jedes einem zustehende Recht zu sprechen und zu
richten, auch objektiv fĂĽr das, was an sich selbst recht ist,
zu halten: da das erstere doch von dem letzteren sehr unter-
schieden ist. — Es ist daher von nicht geringer Wichtigkeit,
diese spezifische Verschiedenheit kennbar und darauf auf-
merksam zu machen.
% 37-
Von dem Seh enkungs vertrag.
Dieser Vertrag (donatio^ wodurch ich das Mein, meine Sache
(oder mein Recht), unvergolten (gratis) veräußere, enthält
ein Verhältnis von mir, dem Schenkenden (donans\ zu einem
anderen, dem Beschenkten (donatarius)^ nach dem Privatrecht,
wodurch das Meine auf diesen durch Annehmung des letzteren
(donum) übergeht. — Es ist aber nicht zu präsumieren, daß ich
hiebei gemeinet sei, zu der Haltung meines Versprechens gezwungen
104 Rechtslehre. i.Teil. Das Privatrecht, j. HauptstĂĽck
zu werden und also auch meine Freiheit umsonst wegzugeben
und gleichsam mich selbst wegzuwerfen (nemo suum iactare prae-
sumitur), welches doch nach dem Recht im bĂĽrgerlichen Zustande
geschehen wĂĽrde; denn da kann der zu Beschenkende mich zu
Leistung des Versprechens zwingen. Es mĂĽĂźte also, wenn die
Sache vor Gericht käme, d. i. nach einem öffentlichen Recht,
entweder präsumiert werden, der Verschenkende w^illigte zu diesem
Zwange ein, welches ungereimt ist, oder der Gerichtshof sehe in
seinem Spruch (Sentenz) gar nicht darauf, ob jener die Freiheit,
von seinem Versprechen abzugehen, hat vorbehalten wollen, oder
nicht, sondern auf das, was gewiß ist, nämlich das Versprechen
und die Acceptation des Promissars. Wenn also gleich der Pro-
mittent, wie wofil vermutet werden kann, gedacht hat, daĂź, wenn
es ihn noch vor der ErfĂĽllung gereuet, das Versprechen getan zu
haben, man ihn daran nicht binden könne: so nimmt doch das
Gericht an, daß er sich dieses ausdrücklich hätte vorbehalten
mĂĽssen und, wenn er es nicht getan hat, zu Erflillung des Ver-
sprechens könne gezwungen werden, und dieses Prinzip nimmt
der Gerichtshof darum an, weil ihm sonst das Rechtsprechen un-
endlich erschwert, oder gar unmöglich gemacht werden würde.
B.
§ 3«-
Vom Leihvertrag.
In diesem Vertrage {commodatum), wodurch ich jemanden den
unvergoltenen Gebrauch des Meinigen erlaube, wo, wenn dieses
eine Sache ist, die Paziszenten darin ĂĽbereinkommen, daĂź dieser
mir eben dieselbe Sache wiederum in meine Gewalt bringe,
kann der Empfänger des Geliehenen (commodatarius) nicht zugleich
präsumieren, der Eigentümer desselben (commodans) nehme auch
alle Gefahr (casus^ des möglichen Verlustes der Sache, oder ihrer
ihm nĂĽtzlichen Beschaffenheit ĂĽber sich, der daraus, daĂź er sie in
den Besitz des Empfängers gegeben hat, entspringen könnte. Denn
es versteht sich nicht von selbst, daĂź der EigentĂĽmer auĂźer dem
Gebrauch seiner Sache, den er dem Lehnsempfänger bewilligt,
(dem von demselben unzertrennlichen Abbruche derselben) auch
Von der subjektiv bedingten Erwerbung durch Gerichtsbarkeit i o 5
die Sicherstellung wider allen Schaden, der ihm daraus ent-
springen kann, daĂź er sie aus seiner eigenen Gewahrsame gab, er-
lassen habe; sondern darĂĽber mĂĽĂźte ein besonderer Vertrag ge-
macht werden. Es kann also nur die Frage sein: wem von beiden,
dem Lehnsgeber oder Lehnsempfänger, es obliegt, die Bedingung
der Ăśbernehmung der Gefahr, die der Sache zustoĂźen kann, dem
Leihevertrag ausdrĂĽcklich beizufĂĽgen, oder, wenn das nicht ge-
schieht, von wem man die Einwilligung zur Sicherstellung des
Eigentums des Lehnsgebers (durch die ZurĂĽckgabe derselben oder
ein Äquivalent) präsumieren könne. Von dem Darleiher nicht;
weil man nicht präsumieren kann, er habe mehr umsonst ein-
gewilligt, als den bloßen Gebrauch der Sache (nämlich nicht auch
noch obenein die Sicherheit des Eigentums selber zu ĂĽbernehmen),
aber wohl von dem Lehnsnehmer: weil er da nichts m.ehr leistet,
als gerade im Vertrage enthalten ist.
W^enn ich, z. B. bei einfallendem Regen, in ein Haus ein-
trete und erbitte mir einen Mantel zu leihen, der aber, etwa
durch unvorsichtige Ausgießung abfärbender Materien aus dem
Fenster, auf immer verdorben, oder wenn er, indem ich ihn in
einem anderen Hause, wo ich eintrete, ablege, mir gestohlen wird,
so muĂź doch die Behauptung jedem Menschen als ungereimt auf-
fallen, ich hätte nichts weiter zu tun, als jenen, so wie er ist,
zurĂĽckzuschicken, oder den geschehenen Diebstahl nur zu melden;
allenfalls sei es noch eine Höflichkeit den Eigentümer dieses Ver-
lustes wegen zu beklagen, da er aus seinem Recht nichts fordern
könne. — Ganz anders lautet es, wenn ich bei der P>bittung dieses
Gebrauchs zugleich auf den Fall, daĂź die Sache unter meinen
Händen verunglückte, mir zum voraus erbäte, auch diese Gefahr
zu ĂĽbernehmen, weil ich arm und den Verlust zu ersetzen un-
vermögend wäre. Niemand wird das letztere überflüssig und
lächerlich finden, außer etwa, wenn der Anleihende ein bekannt-
lich vermögender und wohldenkender Mann wäre, weil es alsdann
beinahe Beleidigung sein wĂĽrde, die groĂźmĂĽtige Erlassung meiner
Schuld in diesem Falle nicht zu präsumieren.
Da nun ĂĽber das Mein und Dein aus dem Leihvertrage,
wenn (wie es die Natur dieses Vertrages so mit sich bringt) ĂĽber
die mögliche Verunglückung (casus), die die Sache treflF'en möchte.
io6 Rt'chtslehrc. i.Teil. Das Trivatrecht. 3. HauptstĂĽck
nichts verabredet worden, er also, weil die Einwilligung nur prä-
sumiert worden, ein ungewisser Vertrag {^pactum incertum) ist,
das Urteil darĂĽber, d. i. die Entscheidung, wen das UnglĂĽck
treffen mĂĽsse, nicht aus den Bedingungen des Vertrages an sich
selbst, sondern wie sie allein vor einem Gerichtshofe, der
immer nur auf das Gewisse in jenem sieht (welches hier der Be-
sitz der Sache als Eigentum ist), entschieden werden kann, so
wird das Urteil im Naturzustande, d. i. nach der Sache innerer
Beschaftcnheit, so kuten: der Schade aus der VeninglĂĽckung einer
geliehenen Sache Fällt auf den Beliehenen (casum sentit comtno-
tiatarius); dagegen im bĂĽrgerlichen, also vor einem Gerichts-
höfe, wird die Sentenz so ausfallen: der Schade fällt auf den
Anleiher (casum sentit dominus^, und zwar aus dem Grunde
verschieden von dem Ausspruche der bloĂźen gesunden Vernunft,
weil ein öffentlicher Richter sich nicht auf Präsumtionen von dem,
was der eine oder andere Teil gedacht haben mag, einlassen kann,
sondern der, welcher sich nicht die Freiheit von allem Schaden
an der geliehenen Sache durch einen besonderen angehängten Ver-
trag ausbedungen hat, diesen selbst tragen muß. — Also ist der
Unterschied zwischen dem Urteile, wie es ein Gericht fällen
mĂĽĂźte, und dem, was die Privatvernunft eines jeden fĂĽr sich zu
fällen berechtigt ist, ein durchaus nicht zu übersehender Punkt in
Berichtigung der Rechtsurteile.
C.
Von der Wiedererlangung. (Rückbemächtigung) des
Verlornen
(vindicatio).
§ ?9-
L/aĂź eine fortdauernde Sache, die mein ist, mein bleibe, ob
ich gleich nicht in der fortdauernden Inhabung derselben bin,
und von selbst ohne einen rechtlichen Akt (derelictionis vel alie-
nationis') mein zu sein nicht aufhöre, und daß mir ein Recht in
dieser Sache (ius reale), mithin gegen jeden Inhaber, nicht bloĂź
gegen eine bestimmte Person {ius personale) zusteht, ist aus dem
f^on der subjektiv bedingten Er^verbung durch Gerichtsbarkeit i o 7
cbigen klar. Ob aber dieses Recht auch von jedem anderen
als ein fĂĽr sich fortdauerndes Eigentum mĂĽsse angesehen werden,
wenn ich demselben nur nicht entsagt habe, und die Sache in
dem Besitz eines anderen ist, das ist nun die Frage.
Ist die Sache mir abhanden gelcommen (res amissa) und so
von einem anderen auf ehrliche Art (bona fide), als ein ver-
meinter Fund, oder durch förmliche Veräußerung des Besitzers,
der sich als EigentĂĽmer fĂĽhrt, an mich gekommen, obgleich dieser
nicht Eigentümer ist, so ftägt sich, ob, da ich von einem Nicht-
eigentĂĽmer (<? non domino) eine Saclie nicht erwerben kann, ich
durch jenen von allem Recht in dieser Sache ausgeschlossen werde
und bloß ein persönliches gegen den unrechtmäßigen Besitzer übrig
behalte. — Das letztere ist offenbar der Fall, wenn die Erwerbung
bloĂź nach ihren inneren berechtigenden GrĂĽnden (im Natur-
zustande), nicht nach der Konvenienz eines Gerichtshofes be-
urteilt wird.
Denn alles Veräußerliche muß von irgend jemand können
erworben werden. Die Rechtmäßigkeit der Erwerbung aber beruht
gänzlich auf der Form, nach welcher das, was im Besitz eines
anderen ist, auf mich ĂĽbertragen und von mir angenommen wird,
d. i. auf der Förmlichkeit des rechtlichen Akts des Verkehrs
{commutatio) zwischen dem Besitzer der Sache und dem Erwerbenden,
ohne daĂź ich fragen darf, wie jener dazu gekommen sei: weil
dieses schon Beleidigung sein wĂĽrde {quilibet praesumitur bonus,
donec etc.). Gesetzt nun, es ergäbe sich in der Folge, daß jener
nicht EigentĂĽmer sei, sondern ein anderer, so kann ich nicht
sagen, daß dieser sich geradezu an mich halten könnte (so wie
auch an jeden anderen, der Inhaber der Sache sein möchte).
Denn ich habe ihm nichts entwandt, sondern z. B. das Pferd, was
auf öffentlichem Markte feilgeboten wurde, dem Gesetze gemäß
(titulo emti venditi) erstanden: weil der Titel der Erwerbung
meinerseits unbestritten ist, ich aber (als Käufer) den Titel des
Besitzes des anderen (des Verkäufers) nachzusuchen — da diese
Nachforschung in der aufsteigenden Reihe ins Unendliche gehen
würde — nicht verbunden, ja sogar nicht einmal befugt bin.
Also bin ich durch den gehörig-betitelten Kauf nicht der bloß
putative, sondern der wahre EigentĂĽmer des Pferdes geworden..
Hierwider erheben sich aber folgende RechtsgrĂĽnde: Alle Er-
werbung von einem, der nicht EigentĂĽmer der Sache ist (a mn
domino), ist null und nichtig. Ich kann von dem Seinen eines
io8 Rechtslehre, i. Teil. Das Privatrecht. 3. HauptstĂĽck
anderen nicht mehr auf mich ableiten, als er selbst rechtmäßig
gehabt hat, und ob ich gleich, was die Form der Erwerbung
{niodus acquirendi) betrifft, ganz rechtlich verfahre, wenn ich ein
gestohlen Pferd, was auf dem Markte feil steht, erhandle, so fehlt
doch der Titel der Erwerbung; denn das Pferd war nicht das
Seine des eigentlichen Verkäufers. Ich mag immer ein ehrlicher
Besitzer desselben (possessor honae fidel) sein, so bin ich doch
nur ein sich dĂĽnkender EigentĂĽmer {dominus putativus)^ und der
wahre EigentĂĽmer hat ein Recht der Wiedererlangung (rem
suatfi vindicandi).
Wenn gefragt wird, was (im Naturzustande) unter Menschen
nach Prinzipien der Gerechtigkeit im Verkehr derselben unter-
einander (Justitia commutativd) in Erwerbung äußerer Sachen an
sich Rechtens sei, so muĂź man eingestehen: daĂź, wer dieses zur
Absicht hat, durchaus nötig habe, noch nachzuforschen, ob die
Sache, die er erwerben will, nicht schon einem anderen angehöre;
nämlich, wenn er gleich die formalen Bedingungen der Ableitung
der Sache von dem Seinen des anderen genau beobachtet (das
Pferd auf dem Markte ordentlich erhandelt) hat, er dennoch
höchstens nur ein persönliches Recht in Ansehung einer Sache
{jus ad rem) habe erwerben können, solange es ihm noch unbekannt
ist, ob nicht ein anderer (als der Verkäufer) der wahre Eigen-
tĂĽmer derselben sei; so daĂź, wenn sich einer vorfindet, der sein
vorhergehendes Eigentum daran dokumentieren könnte, dem ver-
meinten neuen EigentĂĽmer nichts ĂĽbrig bliebe, als den Nutzen,
so er als ehrlicher Besitzer bisher daraus gezogen hat, bis auf
diesen Augenblick rechtmäßig genossen zu haben. — Da nun in
der Reihe der voneinander ihr Recht ableitenden sich dĂĽnkenden
EigentĂĽmer den schlechthin ersten (StammeigentĂĽmer) auszufinden
mehrenteils unmöglich ist: so kann kein Verkehr mit äußeren
Sachen, so gut er auch mit den formalen Bedingungen dieser
Art von Gerechtigkeit {iustitia commutativd) ĂĽbereinstimmen
möchte, einen sicheren Erwerb gewähren.
Hier tritt nun wiederum die rechtlich-gesetzgebende Vernunft
mit dem Grundsatz der distributiven Gerechtigkeit ein, die
Rechtmäßigkeit des Besitzes, nicht wie sie an sich in Beziehung
auf den Privatwillen eines jeden (im natĂĽrlichen Zustande), sondern
Von der subjektiv bedingten Erto erbung durch Gerichtsbarkeit i o 9
nur wie sie vor einem Gerichtshofe in einem durch den all-
gemein-vereinigten Willen entstandenen Zustande (in einem bĂĽrger-
lichen) abgeurteilt werden wĂĽrde, zur Richtschnur anzunehmen:
wo alsdann die Ăśbereinstimmung mit den formalen Bedingungen
der Erwerbung, die an sich nur ein persönUches Recht begründen,
zu Ersetzung der materialen GrĂĽnde (welche die Ableitung von
dem Seinen eines vorhergehenden prätendierenden Eigentümers
begrĂĽnden) als hinreichend postuliert wird, und ein an sich per-
sönliches Recht, vor einen Gerichtshof gezogen, als ein
Sachenrecht gilt, z. B. daß das Pferd, was auf öffentlichem, durchs
Polizeigesetz geordneten Markt jedermann feil steht, wenn alle
Regeln des Kaufs und Verkaufs genau beobachtet worden, mein
Eigentum werde (so doch, daĂź dem wahren EigentĂĽmer das Recht
bleibt, den Verkäufer wegen seines altern, unverwirkten Besitzes
in Anspruch zu nehmen), und mein sonst persönliches Recht in
ein Sachenrecht, nach welchem ich das Meine, wo ich es finde,
nehmen (vindizieren) darf, verwandelt wird, ohne mich auf die
Art, wie der Verkäufer dazu gekommen einzulassen.
Es geschieht also nur zum Behuf des Rechtsspruchs vor einem
Gerichtshofe (/'« favorem iustitiae distributivae)^ daß das Recht in
Ansehung einer Sache nicht, wie es an sich ist (als ein per-
sönliches), sondern wie es am leichtesten und sichersten ab-
geurteilt werden kann (als Sachenrecht), doch nach einem reinen
Prinzip a priori angenommen und behandelt werde. — Auf diesem
grĂĽnden sich nun nachher verschiedene statutarische Gesetze (Ver-
ordnungen), die vorzĂĽglich zur Absicht haben, die Bedingungen,
unter denen allein eine Erwerbungsart rechtskräftig sein soll, so
zu stellen, daĂź der Richter das Seine einem jeden am leich-
testen und unbedenklichsten zuerkennen könne: z. B. in dem
Satz: Kauf bricht Miete, wo, was der Natur des Vertrags nach,
d. i. an sich, ein Sachenrecht ist, (die Miete) fĂĽr ein bloĂź per-
sönliches und umgekehrt, wie in dem obigen Fall, was an sich
bloß ein persönliches Recht ist, fiir ein Sachenrecht gilt; wenn
die Frage ist, auf welche Prinzipien ein Gerichtshof im bĂĽrger-
lichen Zustande anzuweisen sei, um in seinen AussprĂĽchen wegen
des einem, jeden zustehenden Rechts am sichersten zu gehen.
1 1 o Rechts lehre, i. Teil. Das Privatrecht, j. HauptstĂĽck
D.
Von Erwerbung der Sicherheit durch Eidesabiegung.
(Cautio ruraforia.)
§ 40.
Man kann keinen anderen Grund angeben, der rechtlich
Menschen verbinden könnte, zu glauben und zu bekennen, daß
CS Götter gebe, als den, damit sie einen Eid schwören und durch
die Furcht vor einer allsehenden obersten Macht, deren Rache sie
feierlich gegen sich aufrufen muĂźten, im Fall daĂź ihre Aussage
falsch wäre, genötigt werden könnten, wahrhaft im Aussagen und
treu im Versprechen zu sein. DaĂź man hiebei nicht auf die
Morahtät dieser beiden Stücke, sondern bloß auf einen Winden
Aberglauben derselben rechnete, ist daraus zu ersehen, daĂź man
sich von ihrer bloĂźen feierlichen Aussage vor Gericht in
Rechtssachen keine Sicherheit versprach, obgleich die Pflicht der
Wahrhaftigkeit in einem Fall, wo es auf das Fleiligste, was unter
Menschen nur sein kann, (aufs Recht der Menschen) ankommt,
jedermann so klar einleuchtet, mithin bloße Märchen den Be-
wegungsgrund ausmachen: wie z. B. das unter den Rejangs,
einem heidnischen Volk auf Sumatra, welche nach MARSDENS
Zeugnis bei den Knochen ihrer verstorbenen Anverwandten
schwören, ob sie gleich gar nicht glauben, daß es noch ein Leben
nach dem Tode gebe, oder der Eid der Guineaschwarzen bei
ihrem Fetisch, etwa einer Vogelfeder, auf die sie sich vermessen,
daĂź sie ihnen den Hals brechen solle u. dergl. Sie glauben, daĂź
eine unsichtbare Macht, sie mag nun Verstand haben oder nicht,
schon ihrer Natur nach diese Zauberkraft habe, die durch einen
solchen Aufruf in Tat versetzt wird. — Ein solcher Glaube, dessen
Name Religion ist, eigentlich aber Superstition heiĂźen sollte, ist
aber fĂĽr die Rechtsverwaltung unentbehrlich, weil, ohne auf ihn
zu rechnen, der Gerichtshof nicht genugsam imstande wäre,
geheim gehaltene Fakta auszumitteln und recht zu sprechen. Ein
Gesetz, das hiezu verbindet, ist also offenbar nur zum Behuf der
richtenden Gewalt gegeben.
Aber nun ist die Frage: worauf grĂĽndet man die Verbind-
lichkeit, die jemand vor Gericht haben soll, eines anderen Eid als
H?t der subjektiv bedingten Erwerbung durch Gerichtsbarkeit
1 1 1
zu Recht gĂĽltigen Beweisgrund der Wahrheit seines Vorgebens
anzunehmen, der allem Hader ein Ende mache, d. i. was ver-
bindet mich rechtlich, zu glauben, daß ein anderer (der Schwö-
rende) ĂĽberhaupt Religion habe, um mein Recht auF seinen Eid
ankommen zu lassen? Imgleichen umgekehrt: kann ich ĂĽberhaupt
verbunden werden, zu schwören? Beides ist an sich unrecht.
Aber in Beziehung auf einen Gerichtshof^ also im bĂĽrgerlichen
Zustande, wenn man annimmt, daĂź es kein anderes Mittel gibt,
in gewissen Fällen hinter die Wahrheit zu kommen, als den Eid,
muĂź von der Religion vorausgesetzt werden, daĂź sie jeder habe,
um sie als ein Notmittel (jn casu necessitatis) zum Behuf des
rechtlichen Verfahrens vor einem Gerichtshofe zu gebrauchen,
welcher diesen Geisteszwang (tortura spiritualis) fĂĽr ein behenderes
und dem abergläubischen Hange der Menschen angemesseneres
Mittel der Aufdeckung des Verborgenen und sich darum fĂĽr be-
rechtigt hält, es zu gebrauchen. — Die gesetzgebende Gewalt
handelt aber im Grunde unrecht, diese Befugnis der richterlichen
zu erteilen: weil selbst im bĂĽrgerlichen Zustande ein Zwang zu
Eidesleistungen der unverlierbaren menschlichen Freiheit zuwider ist.
Wenn die Amtseide, welche gewöhnlich promissorisch
sind, daß man nämlich den ernstlichen Vorsatz habe, sein
Amt pflichtmäßig zu verwalten, in assertorische verwandelt
würden, daß nämlich der Beamte etwa zu Ende eines Jahres
(oder mehrerer) verbunden wäre, die Treue seiner Amts-
führung während desselben zu beschwören: so würde dieses
Teils das Gewissen mehr in Bewegung bringen, als der Ver-
sprechungseid, weicher hinterher noch immer den inneren
Vorwand übrig läßt, man habe bei dem besten Vorsatz die
Beschwerden nicht voraus gesehen, die man nur nachher
während der Amtsverwaltung erfahren habe, und die Pflicht-
ĂĽbertretungen wĂĽrden auch, wenn ihre Summiening durch
Aufmerker bevorstände, mehr Besorgnis der Anklage wegen
erregen, als wenn sie bloĂź eine nach der anderen (ĂĽber
welche die vorigen vergessen sind) gerügt würden. — Was
aber das Beschwören des Glaubens (^de credulitate) betrifft,
so kann dieses gar nicht von einem Gericht verlangt werden.
Denn erstlich enthält es in sich selbst einen Widerspruch:
dieses Mittelding zwischen Meinen und Wissen, weil es so
etwas ist, worauf man wohl zu wetten, keineswegcs aber
darauf zu schwören sich getrauen kann. Zweitens begeht
I 1 2 Rechtslehre, i. Teil. Das Privatrecht. 3. HauptstĂĽck
der Richter, der solchen Glaubenseid dem Parten ansinnete,
um etwas zu seiner Absicht Gehöriges, gesetzt es sei auch
das gemeine Beste, auszumitteln, einen groĂźen VerstoĂź an
der Gewissenhaftigkeit des Eidleistenden, teils durch den
Leichtsinn, zu dem er verleitet und wodurch der Richter
seine eigene Absicht vereitelt, teils durch Gewissensbisse,
die ein Mensch fĂĽhlen muĂź, der heute eine Sache, aus
einem gewissen Gesichtspunkt betrachtet, sehr wahrscheinlich,
morgen aber, aus einem anderen, ganz unwahrscheinlich
finden kann, und lädiert also denjenigen, den er zu einer
solchen Eidesleistung nötigt.
Ăśbergang von dem Mein und Dein im Naturzustande
zu dem im rechtlichen Zustande ĂĽberhaupt.
§ 41.
Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen
untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen
allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann, und das for-
male Prinzip der Möglichkeit desselben, nach der Idee eines all-
gemein gesetzgebenden Willens betrachtet, heißt die öffentliche
Gerechtigkeit, welche in Beziehung entweder auf die Möglichkeit
oder W^irkĂśchkeit oder Notwendigkeit des Besitzes der Gegen-
stände (als der Materie der Willkür) nach Gesetzen in die be-
schĂĽtzende (justitia tutatr'tx)^ die wechselseitig erwerbende
(justttia commutativd) und die austeilende Gerechtigkeit (Justitia
(iistributiva) eingeteilt werden kann. — Das Gesetz sagt hiebei
erstens bloĂź, welches Verhalten innerlich der Form nach recht
ist (Jex iustiy^ zweitens, was als Materie noch auch äußerlich
gesetzfähig, d. i. dessen Besitzstand rechtlich ist Qex iuridica)\
drittens, was und wovon der Ausspruch vor einem Gerichts-
hofe in einem besonderen Falle unter dem gegebenen Gesetze
diesem gemäß, d. i. Rechtens ist (Jex iustitiae\ wo man derm
auch jenen Gerichtshof selbst die Gerechtigkeit eines Landes
nennt, und, ob eine solche sei oder nicht sei, als die wichtigste
unter allen rechtlichen Angelegenheiten gefragt werden kann.
Der nicht-rechtliche Zustand, d. i. derjenige, in welchem
keine austeilende Gerechtigkeit ist, heiĂźt der natĂĽrliche Zustand
Von der subjektiv bedingten Erwerbung durch Gerichtsbarkeit 1 1 3
(Status naturalis). Ihm wird nicht der gesellschaftliche Zustand
(wie ACHENWALL meint), und der ein kĂĽnstlicher (status
artißcialis) heißen könnte, sondern der bürgerliche (jtatus civilis)
einer unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesell-
schaft entgegen gesetzt; denn es kann auch im Naturzustände
rechtmäßige Gesellschaften (z. B. eheliche, väterhche, häusliche
ĂĽberhaupt und andere beĂĽebige mehr) geben, von denen kein
Gesetz a priori gilt: „Du sollst in diesen Zustand treten", wie
CS wohl vom rechtlichen Zustande gesagt werden kann, daĂź
alle Menschen, die miteinander (auch unwillkĂĽrhch) in Rechts-
verhältnisse kommen können, in diesen Zustand treten sollen.
Man kann den erstercn und zweiten Zustand den des Privat-
rechts, den letzteren und dritten aber den des öffentlichen
Rechts nennen. Dieses enthält nicht mehr oder andere Pflichten
der Menschen unter sich, als in jenem gedacht werden können;
die Materie des Privatrechts ist ebendieselbe in beiden. Die
Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres
Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze not-
wendig als öffentliche gedacht werden müssen.
Selbst der bĂĽrgerliche Verein (unio civilis) kann nicht wohl
eine Gesellschaft genannt werden; denn zwischen dem Be-
fehlshaber Qmperans) und dem Untertan {subditus) ist keine
Mitgenossenschaft; sie sind nicht Gesellen, sondern einander unter-
geordnet, nicht beigeordnet, und die sich einander beiordnen,
mĂĽssen sich eben deshalb untereinander als gleich ansehen, so
fern sie unter gemeinsamen Gesetzen stehen. Jener Verein ist
also nicht sowohl als macht vielmehr eine Gesellschaft.
§ 4^'
Aus dem Privatrecht im natĂĽrlichen Zustande geht nun das
Postulat des öffentlichen Rechts hervor; du sollst im Verhältnisse eines
unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen aus jenem
heraus in einen rechtĂśchen Zustand, d. i. den einer austeilenden
Gerechtigkeit, übergehen. — Per Grund davon läßt sich analytisch
aus dem Begriffe des Rechts im äußeren Verhältnis im Gegen-
satz der Gewalt (yiolentia) entwickeln.
Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des
anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch
Kants Schriften. Bd. VII. 8
1 1 4 Rechtslehre, i. Feil. Das Privatrecht, j. HauptstĂĽck
Siciicrhcit gibt, er werde eben dieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn
beobachten. Er darf also nicht abwarten, bis er etwa durch eine
traurige Erfahrung von der entgegengesetzten Gesinnung des letz-
teren belehrt wird; denn was sollte ihn verbinden, allererst durch
Schaden klug zu werden, da er die Neigung der Menschen ĂĽber-
haupt ĂĽber andere den Meister zu spielen (die Ăśberlegenheit des
Rechts anderer nicht zu achten, wenn sie sich der Macht oder
List nach diesen ĂĽberlegen fĂĽhlen) in sich selbst hinreichend
wahrnehmen kann, und es ist nicht nötig, die wirkliche Feind-
seligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt,
der ihm schon seiner Natur nach damit droht. (^Quiiibet prae-
suniitur malus, donec secur'itatem deder'tt oppos'tti?)
Bei dem Vorsatze, in diesem Zustande äußerlich gesetzloser
Freiheit zu sein und zu bleiben, tun sie einander auch gar nicht
unrecht, wenn sie sich untereinander befehden; denn was dem
einen gilt, das gilt auch wechselseitig dem anderen, gleich als
durch eine Ăśbereinkunft {uti partes de iure suo disponunt, ita ius
esty. aber überhaupt tun sie im höchsten Grade daran unrecht')
in einem Zustande sein und bleiben zu wollen, der kein recht-
licher ist, d. i, in dem niemand des Seinen wider Gewalttätigkeit
sicher ist.
* Dieser Unterschied zwischen dem, was bloĂź formaliter, und dem,
was auch materialiter unrecht ist, hat in der Rechtslehre mannigfaltigen
Gebrauch. Der Feind, der, statt seine Kapitulation mit der Besatzung
einer belagerten Festung ehrlich zu vollziehen, sie bei dieser ihrem
Auszuge miĂźhandelt, oder sonst diesen Vertrag bricht, kann nicht ĂĽber
Unrecht klagen, wenn sein Gegner bei Gelegenheit ihm denselben
Streich spielt. Aber sie tun überhaupt im höchsten Grade unrecht, weil
sie dem Begriff des Rechts selber alle GĂĽltigkeit nehmen und alles der
wilden Gewalt gleichsam gesetzmäßig überliefern und so das Recht der
.Menschen ĂĽberhaupt umstĂĽrzen.
Der
Rechtslehre
Zweiter Teil.
Das öffentliche Recht.
Erster Abschnitt.
Das Staatsrecht.
Des
öffentlichen Rechts
Erster Abschnitt.
Das Staatsrecht.
§ 43-
D-
'er InbegrifF der Gesetze, die einer allgemeinen Bekannt-
machung bedĂĽrfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen,
ist das öffentliche Recht. — Dieses ist also em System von
Gesetzen fĂĽr ein Volk, d. i. eine Menge von Menschen, oder fĂĽr
eine Menge von Völkern, die, im wechselseitigen Einflüsse gegen-
einander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie ver-
einigenden Willen, einer Verfassung (constitutio), bedĂĽrfen, um
dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden. — Dieser Zustand
der Einzelnen im Volke in Verhältnis untereinander heißt der
bĂĽrgerliche (status civilis) und das Ganze derselben in Be-
ziehung auf seine eigene GUeder der Staat (civitas), welcher
seiner Form wegen, als verbunden durch das gemeinsame Inter-
esse aller, im rechtlichen Zustande zu sein, das gemeine Wesen
(res publica latius sie dicta) genannt wird, in Verhältnis aber auf
andere Völker eine Macht {potentid) schlechthin heißt (daher
das Wort Potentaten), was sich auch wegen (anmaĂźlich) ange-
erbter Vereinigung ein Stammvolk i^gens) nennt und so unter
dem allgemeinen BegriflFe des öffentlichen Rechts nicht bloß das
Staats-, sondern auch ein Völkerrecht {ius gentium) zu denken
AnlaĂź gibt: welches dann, weil der Erdboden eine nicht grenzen-
lose, sondern sich selbst schließende Fläche ist, beides zusammen
1 1 8 Rechtshhre. 2, Ted. Das öffentliche Recht
zu der Idee eines Völkerstaatsrechts (jus genttutti) oder des
Weltbürgcrrechts (jus cosffiopoliticum) unumgänglich hinleitet:
so daß, wenn unter diesen drei möglichen Formen des recht-
lichen ZuStandes es nur einer an dem die äußere Freiheit durch
Gesetze einschränkenden Prinzip fehlt, das Gebäude alier übrigen
unvermeidlich untergraben werden und endlich einstĂĽrzen muĂź.
§ 44.
Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der
Maxime der Gewalttätigkeit der Menschen belehrt werden und
ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetz-
gebung erscheint, einander zu betehden, also nicht etwa ein
Faktum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang notw^endig
macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend
gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der
Vernunttidee eines solchen (nicht- rechtlichen) Zustandes, daĂź,
bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, ver-
einzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit
gegeneinander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem
eigenen Recht zu tun, was ihm recht und gut dĂĽnkt, und
hierin von der Meinung des anderen nicht abzuhängen; mithin
das erste, was ihm zu beschlieĂźen obliegt, wenn er nicht allen
Rechtsbegriffen entsagen will, der Grundsatz sei: man mĂĽsse aus
dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt,
herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechsel-
wirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen,
sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen,
also in einen Zustand treten, darin jedem das, was fĂĽr das Seine
anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hin-
reichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist)
zuteil wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bĂĽrgerlichen
Zustand treten.
Zwar durfte sein natĂĽrlicher Zustand nicht eben darum ein
Zustand der Ungerechtigkeit (jniustus^ sein, einander nur nach
dem bloĂźen MaĂźe seiner Gewalt zu begegnen; aber es war doch
ein Zustand der Rechtlosigkeit ( Status iustitia vacuus\ wo,
wenn das Recht streitig (ius controversuni) war, sich kein kom-
petenter Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch zu tun, aus
• /. Abschnitt. Das Staatsrecht 1 1 9
welchem nun in einen rechtlichen zu treten ein jeder den anderen
mit Gewalt antreiben darf: weil, obgleich nach jedes seinen
Rechtsbegriffen etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Ver-
trag erworben werden kann, diese Erwerbung doch nur provi-
sorisch ist, solange sie noch nicht die Sanktion eines öffent-
lichen Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche
(distributive) Gerechtigkeit bestimmt und durch keine dies Recht
ausĂĽbende Gewalt gesichert ist.
Wollte man vor Eintretung in den bĂĽrgerlichen Zustand
gar keine Erwerbung, auch nicht einmal provisorisch fĂĽr
rechtlich erkennen, so würde jener selbst unmöglich sein.
Denn der Form nach enthalten die Gesetze ĂĽber das Mein
und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bĂĽrger-
lichen vorschreiben, sofern dieser bloĂź nach reinen Ver-
nunftbegriffen gedacht wird: nur daĂź im letzteren die Be-
dingungen angegeben werden, unter denen jene zur AusĂĽbung
(der distributiven Gerechtigkeit gemäß) gelangen. — Es
wĂĽrde also, wenn es im Naturzustande auch nicht provi-
sorisch ein äußeres Mein und Dein gäbe, auch keine
Rechtspflichten in Ansehung desselben, mithin auch kein
Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen.
5 45
Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Men-
schen unter Rechtsgesetzen. Sofern diese als Gesetze a priori
notwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von
selbst folgend (nicht statutarisch) sind, ist seine Form die Form
eines Staats ĂĽberhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach
reinen Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Ver-
einigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richt-
schnur {iiormd) dient.
Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den all-
gemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica):
die Herrschergew alt (Souveränität) in der des Gesetzgebers,
die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zufolge dem
Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung
des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Rich-
ters {potestas legislatoria, reaoria et tuHiciaria) gleich den drei
120 Rechtslehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß; dem Obersatz, der
das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des
Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Prinzip der Subsumtion
unter denselben, und dem SchluĂźsatz, der den Rechtsspruch
(die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist.
§ ^6.
Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen
des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen
soll, so muĂź sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand un-
recht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen
anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht
tue, nie aber in dem, was er ĂĽber sich selbst beschlieĂźt (derm
volenti non fit itiiuria). Also kann nur der ĂĽbereinstimmende und
vereinigte Wille aller, so fern ein jeder ĂĽber alle und alle ĂĽber
einen jeden ebendasselbe beschlieĂźen, mithin nur der allgemein
vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.
Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen Ge-
sellschaft {societas civilis), d. i. eines Staats, heiĂźen StaatsbĂĽrger
(cives), und die rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) un-
abtrennbaren Attribute derselben sind gesetzliche Freiheit, keinem
anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistim-
mung gegeben hat; — bürgerliche Gleichheit, keinen Oberen im
Volk in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen,
den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen
hat, als dieser ihn verbinden kann; drittens das Attribut der
bürgerlichen Selbständigkeit, seine Existenz und Erhaltung
nicht der WillkĂĽr eines anderen im Volke, sondern seinen eigenen
Rechten und Kräften als Glied des gemeinen Wesens verdanken
zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit, in Rechts-
angelegenheitcn durch keinen anderen vorgestellt werden zu dĂĽrfen.
Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Quali-
fikation zum Staatsbürger aus; jene aber setzt die Selbstän-
digkeit dessen im Volk voraus, der nicht bloĂź Teil des gemeinen
Wesens, sondern auch Glied desselben, d. i. aus eigener Will-
kĂĽr in Gemeinschah mit anderen handelnder Teil desselben sein
will. Die letztere Qualität macht aber die Unterscheidung des
aktiven vom passiven StaatsbĂĽrger notwendig, obgleich
/. Abschnitt. Das Staatsrecht 1 1 1
der Begriff des letzteren mit der Erklärung des Begriffs von
einem StaatsbĂĽrger ĂĽberhaupt im Widerspruch zu stehen
scheint. — Folgende Beispiele können dazu dienen, diese
Schwierigkeit zu heben: Der Geselle bei einem Kaufmann
oder bei einem Handwerker; der Dienstbote (nicht der im
Dienste des Staats steht); der UnmĂĽndige (naturalitcr vel
civiliter)-^ alles Frauenzimmer und ĂĽberhaupt jedermann, der
nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der VerfĂĽgung
anderer (außer der des Staats) genötigt ist, seine Existenz
(Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bĂĽrgerlichen
Persönlichkeit, und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz.
— Der Holzhacker, den ich auf meinem Hofe anstelle, der
Schmied in Indien, der mit seinem Hammer, AmboĂź und
Blasbalg in die Häuser geht, um da in Eisen zu arbeiten,
in Vergleichung mit dem europäischen Tischler oder Schmied,
der die Produkte aus dieser Arbeit als Ware öffentlich feil
stellen kann; der Hauslehrer in Vergleichung mit dem
Schulmann, der Zinsbauer in Vergleichung mit dem Pächter
u. dergl. sind bloĂź Handlanger des gemeinen Wesens, weil
sie von anderen Individuen befehligt oder beschĂĽtzt werden
müssen, mithin keine bürgerliche Selbständigkeit besitzen.
Diese Abhängigkeit von dem Willen anderer und Un-
gleichheit ist gleichwohl keinesweges der Freiheit und Gleich-
heit derselben als Menschen, die zusammen ein Volk aus-
machen, entgegen: vielmehr kann bloĂź den Bedingungen
derselben gemäß dieses Volk ein Staat werden und in eine
bĂĽrgerliche Verfassung eintreten. In dieser Verfassung aber
das Recht der Stimmgebung zu haben, d. i. StaatsbĂĽrger,
nicht bloĂź Staatsgenosse zu sein, dazu qualifizieren sich nicht
alle mit gleichem Recht. Denn daraus, daĂź sie fordern
können, von allen anderen nach Gesetzen der natürlichen
Freiheit und Gleichheit als passive Teile des Staats be-
handelt zu werden, folgt nicht das Recht, auch als aktive
Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu organisieren oder
zu EinfĂĽhrung gewisser Gesetze mitzuwirken: sondern nur
daĂź, welcherlei Art die positiven Gesetze, wozu sie stimmen,
auch sein möchten, sie doch den natürhchen der Freiheit
und der dieser angemessenen Gleichheit aller im Volk, sich
nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem aktiven empor
arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen.
IZ2 Rechtslehre, j. Teil. Das öffentliche Recht
§ 47.
Alle 'enc drei Gewalten im Staate sind WĂĽrden und als
wesentliche aus der Idee eines Staats ĂĽberhaupt zur GrĂĽndung
desselben (Konstitution) notwendig hervorgehend, StaatswĂĽrden.
Sie enthalten das Verhältnis eines allgemeinen Oberhaupts (der,
nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein anderer als das vereinigte
Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als
Untertans, d. i. des Gebietenden {imperans) gegen den Ge-
horsamenden {suhditus). — Der Akt, wodurch sich das Volk
selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee
desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht
werden kann, ist der ursprĂĽngliche Kontrakt, nach welchem
alle {omnes et s'ingult) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben,
um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als
Staat betrachtet {un'tvers't)^ sofort wieder aufzunehmen, und man
kann nicht sagen: der Staat, der Mensch im Staate habe einen
Teil seiner angebornen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert,
sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen,
um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit,
d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden,
weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen
entspringt.
§ 48.
Die drei Gewalten im Staate sind also erstlich einander,
als so viel moralische Personen, beigeordnet (^potestates cooräiuatae'),
d. i. die eine ist das Ergänzungsstück der anderen zur Vollstän-
digkeit {complejnentum ad suffic'ientiant) der Staatsverfassung; aber
zweitens auch einander untergeordnet {subordinatae), so daĂź
eine nicht zugleich die Funktion der anderen, der sie zur I4and
geht, usurpieren kann, sondern ihr eigenes Prinzip hat, d. i. zwar
in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der
Bedingung des Willens einer oberen gebietet; drittens durch
Vereinigung beider jedem Untertanen sein Recht erteilend.
Von diesen Gewalten, in ihrer WĂĽrde betrachtet, w^ird es
heiĂźen: der Wille des Gesetzgebers {legislator'ts^ in Ansehung
dessen, was das äußere Mein und Dein betrifft, ist untadelig
(irreprehensibel), das Ausf-uhrungs-Vermögen des Oberbefehls-
/. Abschnitt. Das Staatsrecht 123
habers {summt rectoris) unwiderstehlich (irrcsistibel) und der
Rechtsspruch des obersten Richters (supremi iudicis) unab-
änderlich (inappellabel}.
§ 49.
Der Regent des Staats (rex^ princeps) ist diejenige (mora-
lische oder phyj-ische) Person, welcher die ausĂĽbende Gewalt
{potestas executor'td) zukommt: der Agent des Staats, der die
Magisträte einsetzt, dem- Volk die Regeln vorschreibt, nach denen
ein jeder in demselben dem Gesetze gemäß (durch Subsumtion
eines Falles unter demselben) etwas erwerben, oder das Seine er-
halten kann. Als moralische Person betrachtet, heiĂźt er das
Direktorium, die Regierung. Seine Befehle an das Volk und
die Magisträte und ihre Obere (Minister), welchen die Staats-
verwaltung {gubernatio) obliegt, sind Verordnungen, Dekrete
(nicht Gesetze); denn sie gehen auf Entscheidung in einem be-
sonderen Fall und werden als abänderlich gegeben. Eine Re-
gierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch
zu nennen sein im Gegensatz mit der patriotischen, unter
welcher aber nicht eine väterliche (regimen patcrnale), als die
am meisten despotische unter allen (BĂĽrger als Kinder zu behan-
deln), sondern vaterländische {regimen civitatis et patriae) ver-
standen wird, wo der Staat selbst {civitas) seine Untertanen zwar
gleichsam als Gheder einer Familie, doch zugleich als StaatsbĂĽrger,
d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbständigkeit, behandelt, jeder
sich selbst besitzt und nicht vom absoluten Willen eines anderen
neben oder über ihm abhängt.
Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht
zugleich der Regent sein, denn dieser steht unter dem Gesetz
und wird durch dasselbe folglich von einem anderen, dem
Souverän, verpflichtet. Jener kann diesem auch seme Gewalt
nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformieren, aber
ihn nicht strafen (und das bedeutet allein der in England ge-
bräuchliche Ausdruck: der König, d. i. die oberste ausübende
Gewalt, kann nicht unrecht tun); denn das wäre wiederum ein
Akt der ausübenden Gewalt, der zu oberst das Vermögen dem
Gesetze gemäß zu zwingen zusteht, die aber doch selbst emem
Zwange unterworfen wäre; welches sich widerspricht.
Endlich kann weder der Staatsherrscher noch der Regierer
IZ4 Rechtslehre, 2. Tetl. Das öfent/ ich e Recht
richten, sondern nur Richter als Magisträte einsetzen. Das Volk
richtet sich selbst durch diejenigen ihrer MitbĂĽrger, welche durch
freie Wahl, als Repräsentanten desselben, und zwar tur jeden Akt
besonders dazu ernannt werden. Denn der Rechtsspruch (die
Sentenz) ist ein einzelner Akt der öflFentlichen Gerechtigkeit
(^iustitiae distributivae') durch einen Staatsvcrwalter (Richter oder
Gerichtshof) auf den Untertan, d. i. einen, der zum Volk gehört,
mithin mit keiner Gewalt bekleidet ist, ihm das Seine zuzuer-
kennen (zu erteilen). Da nun ein jeder im Volk diesem Ver-
hältnisse nach (zur Obrigkeit) bloß passiv ist, so würde eine
jede jener beiden Gewalten in dem, was sie ĂĽber den Untertan
im streitigen Falle des Seinen eines jeden beschlieĂźen, ihm un-
recht tun können: weil es nicht das Volk selbst täte und, ob
schuldig oder nichtschuldig, über seine Mitbürger ausspräche;
auf welche Ausmittelung der Tat in der Klagsache nun der Ge-
richtshof das Gesetz anzuwenden und vermittelst der ausfĂĽhrenden
Gewalt einem jeden das Seine zuteil werden zu lassen die richter-
liche Gewalt hat. Also kann nur das Volk durch seine von ihm
selbst abgeordnete Stellvertreter (die Jury) ĂĽber jeden in dem-
selben, obwohl nur mittelbar, richten. — Es wäre auch unter
der WĂĽrde des Staatsoberhaupts, den Richter zu spielen, d. i. sich
in die Möglichkeit zu versetzen, unrecht zu tun und so in den
Fall der Appellation (a rege male infcrmato ad regem melius infor-
manäum) zu geraten.
Also sind es drei verschiedene Gewalten {potestas legislatoria,
executorioy iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie
hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält. —
In ihrer Vereinigung besteht das Heil des Staats (salus reipublicae
suprema lex est)\ worunter man nicht das Wohl der StaatsbĂĽrger
und ihre GlĂĽckseligkeit verstehen muĂź; denn die kann viel-
leicht (wie auch ROUSSEAU behauptet) im Naturzustande, oder
auch unter einer despotischen Regierung viel behaglicher und er-
wünschter ausfallen: sondern den Zustand der größten Überein-
stimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach
welchem zu streben uns die Vernuntt durch einen katego-
rischen Imperativ verbindlich macht.
z. Abschnitt. Das Staatsrecht. 1 1 j
Allgemeine Anmerkung
von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des
bĂĽrgerlichen Vereins.
A.
Der Ursprung der obersten Gewalt ist fĂĽr das Volk, das
unter derselben steht, in praktischer Absicht uncr forschlich :
d. i. der Untertan soll nicht ĂĽber diesen Ursprung, als ein noch
in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelndes
Recht (jus controversum\ werktätig vernünfteln. Denn da das
Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum
imper'tuin) zu urteilen, schon als unter einem allgemein gesetz-
gebenden V^-'illen vereint angesehen werden muĂź, so kann und
darf es nicht anders urteilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt
{suinmus imperans) es will. — Ob ursprünglich ein wirklicher
Vertrag der Unterwerfung unter denselben {pactum subiectionis
civilis) als ein Faktum vorhergegangen, oder ob die Gewalt vor-
herging, und das Gesetz nur hintennach gekommen sei, oder
auch in dieser Ordnung sich habe folgen sollen: das sind fĂĽr das
Volk, das nun schon imter dem bĂĽrgerlichen Gesetze steht, ganz
zweckleere und doch den Staat mit Gefahr bedrohende VernĂĽnf-
tcleien; denn wollte der Untertan, der den letzteren Ursprung
nun ergrübelt hätte, sich jener jetzt herrschenden Autorität wider-
setzen, so wĂĽrde er nach den Gesetzen derselben, d. i. mit allem
Recht, bestraft, vertilgt, oder (als vogelfrei, exlex) ausgestoĂźen
werden. — Ein Gesetz, das so heilig (unverletzlich) ist, daß es
praktisch auch nur in Zweifel zu ziehen, mithin seinen Effekt
einen Augenblick zu suspendieren schon ein Verbrechen ist, wird
so vorgestellt, als ob es nicht von Menschen, aber doch von
irgend einem höchsten, tadelfreien Gesetzgeber herkommen müsse,
und das ist die Bedeutung des Satzes: „Alle Obrigkeit ist von
Gott," welcher nicht einen Geschichtsgrund der bĂĽrgerlichen
Verfassung, sondern eine Idee als praktisches Vernunftprinzip aus-
sagt: der jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu
sollen, ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle.
Hieraus folgt nun der Satz: der Herrscher im Staat hat gegen
den Untertan lauter Rechte und keine (Zwangs-)Pflichten. —
1 1 6 Rechts/ehre. 2. Teil. Das öjf entliche Recht
Ferner, wenn das Organ des Herrschers, der Regent, auch den
Gesetzen zuwider verfĂĽhre, z. B. mit Auf- lagen, Rekrutierungen
u. dergl, wider das Gesetz der Gleichheit in Verteilung der Staats-
Jastcn, so darf der Untertan dieser Ungerechtigkeit zwar Be-
schwerden (gravitmifia), aber keinen Widerstand entgegensetzen.
Ja es kann auch selbst in der Konstitution kein Artikel ent-
halten sein, der es einer Gewalt im Staat möglich machte, sich
im Fall der Ăśbertretung der Konstitutionalgesctze durch den
obersten Befehlshaber ihm zu widersetzen, mithin ihn einzu-
schränken. Denn der, welcher die Staatsgewalt einschränken soll,
muĂź doch mehr, oder wenigstens gleiche Macht haben, als der-
jenige, welcher eingeschränkt wird, und als ein rechtmäßiger
Gebieter, der den Untertanen befähle, sich zu widersetzen, muß
er sie auch schützen können und in jedem vorkommenden Fall
rechtskräftig urteilen, mithin öffentlich den Widerstand befehligen
können. Alsdann ist aber nicht jener, sondern dieser der oberste
Befehlshaber; welches sich widerspricht. Der Souverän verfährt
alsdann durch seinen Minister zugleich als Regent, mithin despo-
tisch, und das Blendwerk, das Volk durch die Deputierte desselben
die einschränkende Gewalt vorstellen zu lassen (da es eigentlich
nur die gesetzgebende hat), kann die Despotie nicht so verstecken,
daĂź sie aus den Mitteln, deren sich der Minister bedient, nicht
hervorblickte. Das Volk, das durch seine Deputierte (im Parla-
ment) repräsentiert wird, hat an diesen Gewährsmännern seiner
Freiheit und Rechte Leute, die fĂĽr sich und ihre Familien und
dieser ihre vom Minister abhängige Versorgung in Armeen, Flotte
und Zivilämtern lebhaft interessiert sind, und die (statt des Wider-
standes gegen die Anmaßung der Regierung, dessen öff'entliche
AnkĂĽndigung ohnedem eine dazu schon vorbereitete Einhelligkeit
im Volk bedarf, die aber im Frieden nicht erlaubt sein kann)
vielmehr immer bereit sind, sich selbst der Regierung in die
Hände zu spielen. — Also ist die sogenannte gemäßigte Staats-
verfassung, als Konstitution des innern Rechts des Staats, ein
Unding und, anstatt zum Recht zu gehören, nur ein Klugheits-
prinzip, um so viel als möglich dem mächtigen Übertreter der
Volksrechte seine willkĂĽrliche EinflĂĽsse auf die Regierung nicht
zu erschweren, sondern unter dem Schein einer dem Volk ver-
statteten Opposition zu bemänteln.
Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats gibt es also
keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks; denn nur durch
i. Abschnitt. Das Staatsrecht 127
Unterwerfung unter seinen allgemein-gesetzgebenden Willen ist
ein rechtlicher Zustand möglich; also kein Recht des Auf-
standes {sedit'to\ noch weniger des Aufruhrs (rebellioi), am
allerwenigsten gegen ihn als einzelne Person (Monarch) unter
dem Vorwande des MiĂźbrauchs seiner Gewalt {tyrannis) Ver-
greifung an seiner Person, ja an seinem Leben (jnonarcho-
machismus sub specie tyrannkidn'). Der geringste Versuch hiezu
ist Hochverrat (^proditio eminens)^ und der Verräter dieser Art
kann als einer, der sein Vaterland umzubringen versucht
(^parrkiäd)^ nicht minder als mit dem Tode bestraft werden. —
— Der Grund der Pflicht des Volks einen, selbst den für uner-
träglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch
zu ertragen, liegt darin: daß sein Widerstand wider die höchste
Gesetzgebung selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die
ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muĂź.
Derm um zu demselben befugt zu sein, müßte ein öffentliches
Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand des Volks er-
laubte, d. i. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung
in sich, nicht die oberste zu sein und das Volk als Untertan in
einem und demselben Urteile zum Souverän über den zu machen,
dem es untertänig ist; welches sich widerspricht und wovon der
Widerspruch durch die Frage alsbald in die Augen fällt: wer
denn in diesem Streit zwischen Volk und Souverän Richter sein
sollte (denn es sind rechtlich betrachtet doch immer zwei ver-
schiedene moralische Personen); wo sich dann zeigt, daĂź das
erstere es in seiner eigenen Sache sein will.')
') Weil die Entthronung eines Monarchen doch auch als frei-
willige Ablegung der Krone und Niederlegung seiner Gewalt mit Zu-
rĂĽckgebung derselben an das Volk gedacht werden kann, oder auch als
eine ohne Vergreifung an der höchsten Person vorgenommene Ver
lassung derselben, wodurch sie in den Privatstand versetzt werden
wĂĽrde, so hat das Verbrechen des Volks, welches sie erzwang, doch
noch wenigstens den Vorwand des Notrechts (casus necessitatis) fĂĽr
sich, niemals aber das mindeste Recht ihn, das Oberhaupt, wegen der
vorigen Verwaltung zu strafen: weil alles, was er vorher in der Qua-
lität eines Oberhaupts tat, als äußerlich rechtmäßig geschehen angesehen
werden muĂź, und er selbst, als Quell der Gesetze betrachtet, nicht
unrecht tun kann. Unter allen Gräueln einer Staatsumwälzung durch
Aufruhr ist selbst die Ermordung des Monarchen noch nicht das
ärgste; denn noch kann man sich vorstellen, sie geschehe vom Volk
1 2 8 Rechtslehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
Eine Veränderung der (Fehlerhaften) Staatsverfassung, die wohl I
bisweilen nötig sein mag — kann also nur vom Souverän selbst
aus Furcht, er könne, wenn er am Leben bleibt, sich wieder er-
mannen und jenes die verdiente Strafe fĂĽhlen lassen, und solle alsou
nicht eine VerfĂĽgung der Strafgerechtigkeit, sondern bloĂź der Selbst-
erhaltung sein. Die formale Hinrichtung ist es, was die mit Ideen
des Menschenrechts erfĂĽllete Seele mit einem Schaudern ergreift, das
man wiederholentlich fĂĽhlt, so bald und so oft man sich diesen Auf-
tritt denkt, wie das Schicksal Karls I. oder Ludwigs XVL Wie erklärt
man sich aber dieses Gefühl, was hier nicht ästhetisch (ein Mitgefühl,
Wirkung der Einbildungskraft, die sich in die Stelle des Leidenden
versetzt), sondern moralisch, der gänzlichen Umkehrung aller Rechts-
begriffe, ist? Es wird als Verbrechen, was ewig bleibt und nie ausge-
tilgt werden kann, {crimen immortale, inexpiabile) angesehen und scheint
demjenigen ähnlich zu sein, was die Theologen diejenige Sünde nennen,
welche weder in dieser noch in jener Welt vergeben werden kann.
Die Erklärung dieses Phänomens im menschlichen Gemüte scheint aus
folgenden Reflexionen ĂĽber sich selbst, die selbst auf die staatsrecht-
lichen Prinzipien ein Licht werfen, hervorzugehen.
Eine jede Ăśbertretung des Gesetzes kann und muĂź nicht anders
als so erklärt werden, daß sie aus einer Maxime des Verbrechers (sich
eine solche Untat zur Regel zu machen) entspringe; denn wenn man
sie von einem sinnlichen Antrieb ableitete, so wäre sie nicht von ihm,
als einem freien Wesen, begangen und könnte ihm nicht zugerechnet
werden; wie es aber dem Subjekt möglich ist, eine solche Maxime
wider das klare Verbot der gesetzgebenden Vernxinft zu fassen, läßt
sich schlechterdings nicht erklären; denn nur die Begebenheiten nach
dem Mechanism der Natur sind erklärungsfähig. Nun kann der Ver-
brecher seine Untat entweder nach der Maxime einer angenommenen
objektiven Regel (als allgemein geltend), oder nur als Ausnahme von
der Regel (sich davon gelegentlich zu dispensieren) begehen; im letz-
teren Fall weicht er nur (obzwar vorsätzlich) vom Gesetz ab; er
kann seine eigene Ăśbertretung zugleich vei-abscheuen und, ohne dem
Gesetz förmlich den Gehorsam aufzukündigen, es nur umgehen wollen;
im ersteren aber verwirft er die Autorität des Gesetzes selbst, dessen
GĂĽltigkeit er sich doch vor seiner Vernunft nicht ableugnen kann, und
macht es sich zur Regel wider dasselbe zu handeln; seine Maxime ist
also nicht bloĂź ermangelungsweise (negative), sondern sogar ab-
bruchsweise (fowrrar/V) oder, wie man sich ausdrĂĽckt, diametraliter,
als Widerspruch (gleichsam feindselig) dem Gesetz entgegen. So viel
wir einsehen, ist ein dergleichen Verbrechen einer förmlichen (ganz
nutzlosen) Bosheit zu begehen Menschen unmöglich und doch (obzwar
/. Abschnitt. Das Staatsrecht 1 1 9
durch Reform, aber nicht vom Volk, mithin durch Revolution
verrichtet w^erden, und wenn sie geschieht, so kann jene nur die
ausübende Gewalt, nicht die gesetzgebende treffen. — In einer
Staatsverfassung, die so beschaffen ist, daĂź das Volk durch seine
Repräsentanten (im Parlament) jener und dem Repräsentanten
derselben (dem Minister) gesetzlich widerstehen kann — welche
dann eine eingeschränkte Verfassung heißt — , ist gleichwohl kein
aktiver Widerstand, (der willkĂĽrlichen Verbindung des Volks, die
Regierung zu einem gewissen tätigen Verfahren zu zwingen, mit-
hin selbst einen Akt der ausĂĽbenden Gewalt zu begehen), sondern
nur ein negativer Widerstand, d. i. Weigerung des Volks (im
Parlament), erlaubt, jener in den Forderungen, die sie zur Staats-
verwaltung nötig zu haben vorgibt, nicht immer zu willfahren;
vielmehr wenn das letztere geschähe, so wäre es ein sicheres
Zeichen, daß das Volk verderbt, seine Repräsentanten erkäufHch
und das Oberhaupt in der Regierung durch seinen Minister des-
potisch, dieser selber aber ein Verräter des Volks sei.
Ăśbrigens, wenn eine Revolution einmal gelungen und eine
bloße Idee des Äußerst-Bösen) in einem System der Moral nicht zu
ĂĽbergehen.
Der Grund des Schauderhaften bei dem Gedanken von der förm-
lichen Hinrichtung eines Monarchen durch sein Volk ist also der,
daĂź der Mord nur als Ausnahme von der Regel, welche dieses sich
zur Maxime machte, die Hinrichtung aber als eine völlige Um-
kehrung der Prinzipien des Verhältnisses zwischen Souverän und Volk
(dieses, was sein Dasein nur der Gesetzgebung des ersteren zu ver-
danken hat, zum Herrscher ĂĽber jenen zu machen) gedacht werden
muß, und so die Gewalttätigkeit mit dreuster Stirn und nach Grund-
sätzen über das heiligste Recht erhoben wird; welches, wie em alles
ohne Wiederkehr verschlingender Abgrund, als ein vom Staate an ihm
verübter Selbstmord, ein keiner Entsündigung fähiges Verbrechen zu
sein scheint. Man hat also Ursache anzunehmen, daĂź die Zustimmung
zu solchen Hinrichtungen wirklich nicht aus einem vermeint-rechtlichen
Prinzip, sondern aus Furcht vor Rache des vielleicht dereinst wieder
auflebenden Staats am Volk herrührte, und jene Förmlichkeit nur vor-
genommen worden, um jener Tat den Anstrich von Bestrafung, mithin
eines rechtlichen Verfahrens (dergleichen der Mord nicht sein
würde) zu geben, welche Bemäntelung aber verunglückt, weil eme
solche Anmaßung des Volks noch ärger ist, als selbst der Mord, da
diese einen Grundsatz enthält, der selbst die Wiedererzeugung eines
umgestürzten Staats immöglich machen müßte.
Kants Schriften. Bd. VII. 9
I50 Rechtslehre. 2. Teil. Das öjfentliche Recht
neue Verfassung gegründet ist, so kann die Unrechtmäßigkeit des
Beginnens und der VollFĂĽhrung derselben die Untertanen von der
Verbindlichkeit, der neuen Ordnung der Dinge sich als gute
Staatsbürger zu fügen, nicht befreien, und sie können sich nicht
weigern, derjenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die jetzt die
Gewalt hat. Der entthronte Monarch (der jene Umwälzung über-
lebt) kann wegen seiner vorigen Geschäftsführung nicht in An-
spruch genommen, noch weniger aber gestraft werden, wenn er,
in den Stand eines StaatsbĂĽrgers zurĂĽckgetreten, seine und des
Staats Ruhe dem WagstĂĽck vorzieht, sich von diesem zu ent-
fernen, um als Prätendent das Abenteuer der Wiedererlangung
desselben, es sei durch ingeheim angestiftete Gegenrevolution,
oder durch Beistand anderer Mächte, zu bestehen. Wenn er aber
das letztere vorzieht, so bleibt ihm, weil der Aufruhr, der ihn
aus seinem Besitz vertrieb, ungerecht war, sein Recht an dem-
selben unbenommen. Ob aber andere Mächte das Recht haben,
sich diesem verunglĂĽckten Oberhaupt zum besten in ein Staaten-
bĂĽndnis zu vereinigen, bloĂź um jenes vom Volk begangene Ver-
brechen nicht ungeahndet, noch als Skandal fĂĽr alle Staaten be-
stehen zu lassen, mithin eine in jedem anderen Staat durch
Revolution zustande gekommene Verfassung in ihre alte mit
Gewalt zurückzubringen berechtigt und berufen seien, das gehört
zum Völkerrecht.
B.
Kaijn der Beherrscher als ObereigentĂĽmer (des Bodens), oder
muĂź er nur als Oberbefehlshaber in Ansehung des Volks durch
Gesetze betrachtet werden? Da der Boden die oberste Bedingung
ist, unter der allein es möglich ist, äußere Sachen als das Seine
zu haben, deren möglicher Besitz und Gebrauch das erste erwerb-
lichc Recht ausmacht, so wird von dem Souverän, als Landes-
herren, besser als ObereigentĂĽmer (dominum territorii'), alles solche
Recht abgeleitet werden mĂĽssen. Das Volk, als die Menge der
Untertanen gehört ihm auch zu (es ist sein Volk) aber nicht
ihm als EigentĂĽmer (nach dem dinglichen), sondern als Ober-
befehlshaber (nach dem persönlichen Recht). — Dieses Ober-
cigentum ist aber nur eine Idee des bĂĽrgerlichen Vereins, um die
notwendige Vereinigung des Privateigentums aller im Volk unter
/. Abschnitt. Das Staatsrecht i j i
einem öffentlichen allgemeinen Besitzer zu Bestimmung des be-
sonderen Eigentums, nicht nach Grundsätzen der Aggregation
(die von den Teilen zum Ganzen empirisch fortschreitet), sondern
dem notwendigen formalen Prinzip der Einteilung (Division des
Bodens) nach Rechtsbegriffen vorstellig zu machen. Nach diesen
kann der ObereigentĂĽmer kein Privateigentum an irgend einem
Boden haben (denn sonst machte er sich 7u einer Privatperson),
sondern dieses gehört nur dem Volk (und zwar nicht kollektiv,
sondern distributiv genommen) zu; wovon doch ein nomadisch-
beherrschtes Volk auszunehmen ist, als in welchem gar kein
Privateigentum des Bodens stattfindet. — Der Oberbefehlshaber
kann also keine Domänen, d. i. Ländereien zu seiner Privat-
benutzung (zu Unterhaltung des Hofes), haben. Denn weil es
alsdann auf sein eigen Gutbefinden ankäme, wie weit sie ausge-
breitet sein sollten, so wĂĽrde der Staat Gefahr laufen, alles
Eigentum des Bodens in den Händen der Regierung zu sehen
und alle Untertanen als grunduntertänig {glebae adscr'ipt't) und
Besitzer von dem, was immer nur Eigentum eines anderen ist,
folglich aller Freiheit beraubt (servi) anzusehen. — Von einem
Landesherrn kann man sagen: er besitzt nichts (zu eigen),
auĂźer sich selbst; denn wenn er neben einem anderen im Staat
etwas zu eigen hätte, so würde mit diesem ein Streit möglich
sein, zu dessen Schlichtung kein Richter wäre. Aber man kann
auch sagen; er besitzt alles; weil er das Befehlshaberrecht ĂĽber
das Volk hat (jedem das Seine zuteil kommen zu lassen), dem
alle äußere Sachen {div'tsuni) zugehören.
Hieraus folgt: daĂź es auch keine Korporation im Staat, keinen
Stand und Orden geben könne, der als Eigentümer den Boden
zur alleinigen Benutzung den folgenden Generationen (ins Un-
endliche) nach gewissen Statuten überliefern könne. Der Staat
kann sie zu aller Zeit aufheben, nur unter der Bedingung, die
Überlebenden zu entschädigen. Der Ritterorden (als Korporation,
oder auch bloĂź Rang einzelner, VorzĂĽglich beehrter Personen),
der Orden der Geistlichkeit, die Kirche genannt, können nie
durch diese Vorrechte, womit sie begĂĽnstigt worden, ein auf
Nachfolger ĂĽbertragbares Eigentum am Boden, sondern nur die
einstweilige Benutzung desselben erwerben. Die Komtureien auf
einer, die Kirchengüter auf der anderen Seite können, wenn die
öffentliche Meinung wegen der Mittel, durch die Kriegsehre
den Staat wider die Lauigkeit in Verteidigung desselben zu
9'
1 5 2 Rccbtslchre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
schĂĽtzen, oder die Menschen in demselben durch Seelmessen,
Gebete und eine Menge zu bestellender Seelsorger, um sie vor
dem ewigen Feuer zu bewahren, anzutreiben, aufgehört hat, ohne
Bedenken (doch unter der vorgenannten Bedingung) aufgehoben
werden. Die, so hier in die Reform fallen, können nicht klagen,
daĂź ihnen ihr Eigentum, genommen werde; denn der Grund ihres
bisherigen Besitzes lag nur in der Volksmeinung und muĂźte
auch, so lange diese fortwährte, gelten. So bald diese aber er-
losch, und zwar auch nur in dem Urteil derjenigen, welche auf
Leitung desselben durch ihr Verdienst den größten Anspruch
haben, so muĂźte, gleichsam als durch eine Appellation desselben
an den Staat (tf rege male inforrnato ad regem melius informanduni)^
das vermeinte Eigentum aufhören.
Auf diesem ursprĂĽnglich erworbenen Grundeigentum beruht
das Recht des Oberbefehlshabers, als ObereigentĂĽmers (des Landes-
herrn), die PrivateigentĂĽmer des Bodens zu beschatzen, d. i.
Abgaben durch die Landtaxe, Accise und Zölle, oder Dienst-
leistung (dergleichen die Stellung der Mannschaft zum Kriegs-
dienst ist) zu fordern: so doch, daĂź das Volk sich selber be-
schatzt, weil dieses die einzige Art ist, hiebei nach Rechtsgesetzen
zu verfahren, wenn es durch das Korps der Deputierten desselben
geschieht, auch als gezwungene (von dem bisher bestandenen
Gesetz abweichende) Anleihe nach dem Majestätsrechtc, als in
einem Falle, da der Staat in Gefahr seiner Auflösung kommt,
erlaubt ist.
Hierauf beruht auch das Recht der Staatswirtschaft, des Finanz-
wesens und der Polizei, welche letztere die öffentliche Sicher-
heit, Gemächlichkeit und Anständigkeit besorgt (denn daß
das GefĂĽhl fĂĽr diese (jeiisus decort) als negativer Geschmack durch
Bettelei, Lärmen auf Straßen, Gestank, öffentliche Wollust (yenus
volgivaga^, als Verletzungen des moralischen Sinnes, nicht abge-
stumpft werde, erleichtert der Regierung gar sehr ihr Geschäfte,
das Volk durch Gesetze zu lenken.)
Zur Erhaltung des Staats gehört auch noch ein drittes: nämlich
das Recht der Aufsicht (ius inspectionis\ daß ihm nämlich keine
Verbindung, die aufs öffentliche W^ohl der Gesellschaft (/'«/'//V«»;)
EinfluĂź haben kann, (von Staats- oder Religions-Illuminaten) ver-
heimlicht, sondern, wenn es von der Polizei verlangt wird, die
Eröffnung ihrer Verfassung nicht geweigert werde. Die aber der
Untersuchung der Privatbehausung eines jeden ist nur ein Notfall
/. Abschnitt. Das Staatsrecht 1 3 3
der Polizei, wozu sie durch eine höhere Autorität in jedem be-
sonderen Falle berechtigt werden muĂź.
C.
Dem Oberbefehlshaber steht indirekt, d. i. als Ăśbernehmer
der Pflicht des Volks, das Recht zu, dieses mit Abgaben zu seiner
(des Volks) eigenen Erhaltung zu belasten, als da sind: das Ar-
menwesen, die Findelhäuser und das Kirchenwesen, sonst
milde oder fromme Stiftungen genannt.
Der allgemeine Volkswille hat sich nämlich zu einer Gesell-
schaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll, und zu
dem Ende sich der inneren Staatsgewalt unterworfen, um die
Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen, zu er-
halten. Von Staatswegen ist also die Regierung berechtigt, die
Vermögenden zu nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen,
die es selbst den notwendigsten NaturbedĂĽrfnissen nach nicht
sind, herbeizuschaffen: weil ihre Existenz zugleich als Akt der
Unterwerfung unter den Schutz und die zu ihrem Dasein nötige
Vorsorge des gemeinen Wesens ist, wozu sie sich verbindlich ge-
macht haben, auf welche der Staat nun sein Recht grĂĽndet, zur
Erhaltung ihrer MitbĂĽrger das Ihrige beizutragen. Das kann nun
geschehen: durch Belastung des Eigentums der StaatsbĂĽrger, odex
ihres Handelsverkehrs, oder durch errichtete Fonds imd deren
Zinsen; nicht zu Staats- (denn der ist reich), sondern zu Volks-
bedürfnissen, aber nicht bloß durch freiwillige Beiträge (weil
hier nur vom Rechte des Staats gegen das Volk die Rede ist),
worunter einige gewinnsĂĽchtige sind (als Lotterien, die mehr
Arme und dem öffentliche Eigentum gefährliche machen, als sonst
sein wĂĽrden, und die also nicht erlaubt sein sollten), sondern
zwangsmäßig, als Staatslasten. Hier fragt sich nun: ob die Ver-
sorgung der Armen durch laufende Beiträge, so daß jedes
Zeitalter die Seinigen ernährt, oder durch nach und nach gesam-
melte Bestände und überhaupt fromme Stiftungen (dergleichen
W^itwenhäuser, Hospitäler u. dergl. sind) und zwar jenes nicht
durch Bettelei, welche mit der Räuberei nahe verwandt ist, son-
dern durch gesetzliche Auflage ausgerichtet werden soll. — Die
erstere Anordnung muĂź fĂĽr die einzige dem Rechte des Staats
angemessene, der sich niemand entziehen kann, der zu leben hat.
1 3 4 Rechtslehrc. 2. Teil. Das öffentliche Recht
gehalten werden: weil sie nicht (wie von frommen Stiftungen
zu besorgen ist), wenn sie mit der Zahl der Armen anwachsen,
das Armsein zum Erwerbmittci fĂĽr faule Menschen machen und
so eine ungerechte Belästigung des Volks durch die Regierung
sein wĂĽrden.
Was die Erhaltung der aus Not oder Scham ausgesetzten,
oder wohl gar darum ermordeten Kinder betrifft, so hat der
Staat ein Recht, das Volk mit der Pflicht zu belasten, diesen,
obzwar unwillkommenen Zuwachs its Staatsvermögens nicht
wissentlich umkommen zu lassen. Ob dieses aber durch Besteu-
rung der Hagestolzen beiderlei Geschlechts (worunter die ver-
mögende Ledige verstanden werden), als solche, die daran doch
zum Teil schuld sind, vermittelst dazu errichteter Findelhäuser,
oder auf andere Art mit Recht geschehen könne (ein anderes
Mittel es zu verhüten möchte es aber schwerlich geben), ist eine
Aufgabe, deren Lösung, ohne entweder wider das Recht, oder
die Moralität zu verstoßen, bisher noch nicht gelungen ist.
Da auch das Kirchenwesen, welches von der Religion als
innerer Gesinnung, die ganz auĂźer dem Wirkungskreise der bĂĽr-
gerlichen Macht ist, sorgfältig unterschieden werden muß (als
Anstalt zum öffentlichen Gottesdienst für das Volk, aus welchem
dieser auch seinen Ursprung hat, es sei Meinung oder Ăśber-
zeugung), ein wahres StaatsbedĂĽrfnis wird, sich auch als Unter-
tanen einer höchsten unsichtbaren Macht, der sie huldigen
mĂĽssen, und die mit der bĂĽrgerlichen oft in einen sehr ungleichen
Streit kommen kann, zu betrachten: so hat der Staat das Recht,
nicht etwa der inneren Konstitutionalgesetzgebung, das Kirchen-
wesen nach seinem Sinne, wie es ihm vorteilhaft dĂĽnkt, einzu-
richten, den Glauben und gottesdienstiiche Formen (ritus) dem
Volk vorzuschreiben oder zu befehlen (denn dieses muß gänzlich
den Lehrern und Vorstehern, die es sich selbst gewählt hat, über-
lassen bleiben), sondern nur das negative Recht den EinfluĂź der
öffentlichen Lehrer auf das sichtbare, politische gemeine Wesen,
der der öffentlichen Ruhe nachteilig sein möchte, abzuhalten,
mithin bei dem inneren Streit, oder dem der verschiedenen
Kirchen untereinander die bĂĽrgerliche Eintracht nicht in Gefahr
kommen zu lassen, welches also ein Recht der Polizei ist. DaĂź
eine Kirche einen gewissen Glauben und welchen sie haben, oder
daß sie ihn unabänderlich erhalten müsse und sich nicht selbst
reformieren dĂĽrfe, sind Einmischungen der obrigkeitlichen Gewalt,
/. Abschnitt. Das Staatsrecht 1 3 5
die unter ihrer WĂĽrde sind: weil sie sich dabei, als einem
Schulgezänke, auf den Fuß der Gleichheit mit ihren Untertanen
einläßt (der Monarch sich zum Priester macht) die ihr geradezu
sagen können, daß sie hievon nichts verstehe; vornehmlich was
das letztere, nämlich das Verbot innerer Reformen, betrifft; —
denn was das gesamte Volk nicht ĂĽber sich selbst beschlieĂźen
kann, das kann auch der Gesetzgeber nicht ĂĽber das Volk be-
schlieĂźen. Nun kann aber kein Volk beschlieĂźen, in seinen den
Glauben betreffenden Einsichten (der Aufklärung) niemals weiter
fortzuschreiten, mithin auch sich in Ansehung des Kirchenwesens
nie zu reformieren: weil dies der Menschheit in seiner eigenen
Person, mithin dem höchsten Recht desselben entgegen sein würde.
Also kann es auch keine obrigkeitliche Gewalt ĂĽber das Volk
beschließen. — — Was aber die Kosten der Erhaltung des Kir-
chenwesens betrifft, so können diese aus ebenderselben Ursache
nicht dem Staat, sondern mĂĽssen dem Teil des Volks, der sich
zu einem oder dem anderen Glauben bekennt, d. i. nur der Ge-
meine, zu Lasten kommen.
* D.
Das Recht des obersten Befehlshabers im Staat geht auch
I. auf Verteilung der Ă„mter, als mit einer Besoldung verbun-
dener Geschäftsführung; 2. der Würden, die als Standeser-
höhungen ohne Sold, d. i. Rangerteilung der Oberen (der zum
Befehlen) in Ansehung der Niedrigem (die, obzwar als freie und
nur durchs öffentliche Gesetz verbindliche, doch jenen zu gehor-
samen zum voraus bestimmt sind), bloĂź auf Ehre fundiert sind
— und 3. außer diesem (respektiv-wohltätigen) Recht auch aufs
Strafrecht.
Was ein bĂĽrgerliches Amt anlangt, so kommt hier die Frage
vor: hat der Souverän das Recht, einem, dem er ein Amt ge-
geben, es nach seinem Gutbefinden (ohne ein Verbrechen von
selten des letzteren) wieder zu nehmen? Ich sage: nein! Denn
was der vereinigte Wille des Volks ĂĽber seine bĂĽrgerliche Beamte
nie beschlieĂźen wird, das kann auch das Staatsoberhaupt ĂĽber ihn
nicht beschlieĂźen. Nun will das Volk (das die Kosten tragen
soll, welche die Ansetzung eines Beamten ihm machen ward) ohne
allen Zweifel, daß dieser seinem ihm auferlegten Geschäfte völlig
1 3 6 Rechtslehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
gewachsen sei; welches aber nicht anders, als durch eine hin-
Jänghche Zeit hindurch fortgesetzte Vorbereitung und Erlernung
desselben, über der er diejenige versäumt, die er zur Erlernung
eines anderen ihn nährenden Geschäfts hätte verwenden können,
geschehen kann; mithin wĂĽrde in der Regel das Amt mit Leuten
versehen werden, die keine dazu erforderliche Geschicklichkeit
und durch Übung erlangte reife Urteilskraft erworben hätten ;
welches der Absicht des Staats zuwider ist, als zu welcher auch
erforderlich ist, daß jeder vom niedrigeren Amte zu höheren (die
sonst lauter Untauglichen in die Hände fallen würden) steigen,
mithin auch auf lebenswierige Versorgung müsse rechnen können.
Die WĂĽrde betreffend, nicht bloĂź die, welche ein Amt bei
sich fĂĽhren mag, sondern auch die, welche den Besitzer auch
ohne besondere Bedienungen zum Gliede eines höheren Standes
macht, ist der Adel, der, vom bĂĽrgerlichen Stande, in welchem
das Volk ist, unterschieden, den männlichen Nachkommen anerbt,
durch diese auch wohl den weiblichen unadliger Geburt, nur
so, daĂź die adlig Geborne ihrem unadligen Ehemann nicht
umgekehrt diesen Rang mitteilt, sondern selbst in den bloĂź bĂĽr-
gerlichen (des Volks) zurückfällt. — Die Frage ist nun: ob dei>»
Souverän einen Adelstand, als einen erblichen Mittelstand
zwischen ihm und den ĂĽbrigen StaatsbĂĽrgern, zu grĂĽnden be-
rechtigt sei. In dieser Frage kommt es nicht darauf an: ob es
der Klugheit des Souveräns wegen seines oder des Volks Vorteils,
sondern nur, ob es dem Rechte des Volks gemäß sei, einen
Stand von Personen ĂĽber sich zu haben, die zwar selbst Unter-
tanen, aber doch in Ansehung des Volks geborne Befehlshaber
(wenigstens privilegierte) sind. Die Beantwortung derselben
geht nun hier eben so wie vorher aus dem Prinzip hervor: „Was
das Volk (die ganze Masse der Untertanen) nicht ĂĽber sich selbst
und seine Genossen beschlieĂźen kann, das kann auch der Sou-
verän nicht über das Volk beschließen." Nun ist ein angeerbter
Adel ein Rang, der vor dem Verdienst vorher geht und dieses
auch mit keinem Grunde hoffen läßt, ein Gedankending ohne
alle Realität. Denn wenn der Vorfahr Verdienst hatte, so konnte
er dieses doch nicht auf seine Nachkommen vererben, sondern
diese muĂźten es sich immer selbst erwerben, da die Natur es
nicht so fĂĽgt, daĂź das Talent und der Wille, welche Verdienste
um den Staat möglich machen, auch anarten. Weil nun von
keinem Menschen angenommen werden kann, er werde seine
/. Abschnitt. Das Staatsrecht 1 3 7
Freiheit wegwerfen, so ist es unmöglich, daß der allgemeine
Volkswille zu einem solchen grundlosen Prärogativ zusammen-
stimme, mithin kann der Souverän es auch nicht geltend machen.
— — Wenn indessen gleich eine solche Anomalie in das Ma-
schinenwesen einer Regierung von alten Zeiten (des Lehnswesens,
das fast gänzlich auf den Krieg angelegt war) eingeschlichen, von
Untertanen, die mehr als Staatsbürger, nämlich geborne Beamte
(wie etwa ein Erbprofessor), sein wollen, so kann der Staat
diesen von ihm begangenen Fehler eines widerrechtlich erteilten
erbUchen Vorzugs nicht anders, als durch Eingehen und Nicht-
besetzung der Stellen allmählich wiederum gut machen, und so
hat er provisorisch ein Recht, diese WĂĽrde dem Titel nach fort-
dauern zu lassen, bis selbst in der öffentlichen Meinung die Ein-
teilung in Souverän, Adel und Volk der einzigen natürlichen in
Souverän und Volk Platz gemacht haben wird.
Ohne alle WĂĽrde kann nun wohl kein Mensch im Staate
sein, denn er hat wenigstens die des StaatsbĂĽrgers; auĂźer wenn
er sich durch sein eigenes Verbrechen darum gebracht hat, da
er dann zwar im Leben erhalten, aber zum bloĂźen Werkzeuge
der WillkĂĽr eines anderen (entweder des Staats, oder eines an-
deren StaatsbĂĽrgers) gemacht wird. Wer nun das letztere ist
(was er aber nur durch Urteil und Recht werden kann), ist ein
Leibeigener {servus in sensu striao) und gehört zum Eigen-
tum {dominium) eines anderen, der daher nicht bloĂź sein Herr
(herus\ sondern auch sein EigentĂĽmer (dorninus) ist, der ihn
als eine Sache veräußern und nach Belieben (nur nicht zu schand-
baren Zwecken) brauchen und über seine Kräfte, wenngleich
nicht ĂĽber sein Leben und GliedmaĂźen verfĂĽgen (disponieren)
kann. Durch einen Vertrag kann sich niemand zu einer solchen
Abhängigkeit verbinden, dadurch er aufhört, eine Person zu sein;
denn nur als Person karm er einen Vertrag machen. Nun scheint
es zwar, ein Mensch körme sich zu gewissen, der Qualität nach
erlaubten, dem Grad nach aber unbestimmten Diensten gegen
einen andern (fĂĽr Lohn, Kost oder Schutz) verpflichten durch
einen Verdingungsvertrag Qocatio conductio\ und er werde dadurch
bloĂź Untertan (subieaus), nicht Leibeigener (servus); allein das
ist nur ein falscher Schein. Denn wenn sein Herr befugt ist, die
Kräfte seines Untertans nach Beheben zu benutzen, so kann er
sie auch (wie es mit den Negern auf den Zuckerinseln der Fall
ist) erschöpfen bis zum Tode oder der Verzweiflung, und jener
1 3 8 Rechts lehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
hat sich seinem Herrn wirklich als Eigentum weggegeben; wel-
ches unmöglich ist. — Er kann sich also nur zu der Qualität
und dem Grade nach bestimmten Arbeiten verdingen: entweder
als Tagelöhner, oder ansässiger Untertan; im letzteren Fall, daß
er teils tur den Gebrauch des Bodens seines Herrn statt des
Tagelohns Dienste auf demselben Boden, teils fĂĽr die eigene Be-
nutzung desselben bestimmte Abgaben (einen Zins) nach einem
Pachtvertrage leistet, ohne sich dabei zum Gutsuntertan (g/ebae
adscriptus) zu machen, als wodurch er seine Persönlichkeit ein-
bĂĽĂźen wĂĽrde, mithin eine Zeit- oder Erbpacht grĂĽnden kann.
Er mag nun aber auch durch sein Verbrechen ein persönlicher
Untertan geworden sein so kann diese Untertänigkeit ihm doch
nicht an erben, weil er sie sich nur durch seine eigene Schuld
zugezogen hat, und eben so wenig kann der von einem Leib-
eigenen Erzeugte wegen der Erziehungskosten, die er gemacht hat,
in Anspruch genommen werden, weil Erziehung eine absolute
NaturpÄicht der Eltern und, im Falle daß diese Leibeigene waren,
der Herren ist, welche mit dem Besitz ihrer Untertanen auch die
Pflichten derselben ĂĽbernommen haben.
E.
Vom Straf- und Begnadigungsrecht.
L
Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den
UnterwĂĽrfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz
zu belegen. Der Oberste im Staate kann also nicht bestraft
werden, sondern man kann sich nur seiner Herrschaft entziehen.
— Diejenige Übertretung des öffentlichen Gesetzes, die den,
welcher sie begeht, unfähig macht, Staatsbürger zu sein, heißt
Verbrechen schlechthin (^crimen), aber auch ein öffentliches
Verbrechen (crimen publicum)-^ daher das erstere (das Privatver-
brechen) vor die Zivil-, das andere vor die Kriminalgerechtigkeit
gezogen wird. — Veruntreuung, d. i. Unterschlagung der zum
Verkehr anvertrauten Gelder oder Waren, Betrug im Kauf und
Verkauf bei sehenden Augen des anderen sind Privatverbrechen.
Dagegen sind: falsch Geld oder falsche Wechsel zu machen.
I.Abschnitt. Das Staatsrecht 139
Diebstahl und Raub u. dgl. öffentliche Verbrechen, weil das ge-
meine Wesen und nicht bloĂź eine einzelne Person dadurch ge-
fährdet wird. — Sie könnten in die der niederträchtigen Ge-
mütsart (jndol'ts abicctae) und die der gewalttätigen (jndolis
violentae) eingeteilt werden.
Richterliche Strafe (^poena forensis), die von der natĂĽr-
lichen (j>oena naturalis)^ dadurch das Laster sich selbst bestraft
und auf welche der Gesetzgeber gar nicht RĂĽcksicht nimmt, ver-
schieden, kann niemals bloĂź als Mittel ein anderes Gute zu be-
fördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesell-
schaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt
werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie
bloĂź als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und
unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowäder
ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bür-
gerliche einzubĂĽĂźen gar wohl verurteilt werden kann. Er muĂź
vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird,
aus dieser Strafe einigen Nutzen fĂĽr ihn selbst oder seine Mit-
bĂĽrger zu ziehen. Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ,
und wehe dem, welcher die Schlangenwindungen der GlĂĽckselig-
keitslehre durchkriecht, um etwas aufzufinden, was durch den
Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe, oder auch nur
einem Grade derselben entbinde nach dem pharisäischen Wahl-
spruch: „Es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze
Volk verderbe;" denn wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat
es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben. — Was
soll man also von dem Vorschlage halten: einem Verbrecher auf
den Tod das Leben zu erhalten, wenn er sich dazu verstände, an
sich gefährliche Experimente machen zu lassen, und so glücklich
wäre gut durchzukommen; damit die Arzte dadurch eine neue,
dem gemeinen Wesen ersprieĂźliche Belehrung erhielten? Ein Ge-
richtshof wĂĽrde das medizinische Kollegium, das diesen Vorschlag
täte, mit Verachtung abweisen; denn die Gerechtigkeit hört auf
eine zu sein, wenn sie sich fĂĽr irgendeinen Preis weggibt.
Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es,
welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Prinzip und Richt-
maĂźe macht? Kein anderes, als das Prinzip der Gleichheit, (im
Stande des ZĂĽngleins an der Wage der Gerechtigkeit) sich nicht
mehr auf die eine, als auf die andere Seite hinzuneigen. Also:
was fĂĽr unverschuldetes Ăśbel du einem anderen im Volk zufĂĽgst.
140 Recht sichre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
das tust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimptst du
dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst
du ihn, so schlägst du dich selbst; tötest du ihn, so tötest du dich
selbst. Nur das Wiedervergeltungsrecht (jus talionis) aber,
wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in
deinem Privaturteil), kann die QuaHtät und Quantität der Strafe
bestimmt angeben; alle andere sind hin und her schwankend und
können anderer sich einmischenden Rücksichten wegen keine
Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerech-
tigkeit enthalten. — Nun scheint es zwar, daß der Unterschied
der Stände das Prinzip der Wiedervergeltung Gleiches mit Gleichem
nicht verstatte; aber wenn es gleich nicht nach dem Buchstaben
möglich sein kann, so kann es doch der Wirkung nach, respek-
tive auf die Empfindungsart der Vornehmeren immer geltend
bleiben. — So hat z. B. Geldstrafe wegen einer Verbalinjurie gar
kein Verhältnis zur Beleidigung, denn der des Geldes viel hat,
kann diese sich wohl einmal zur Lust erlauben; aber die Krän-
kung der Ehrliebe des einen kann doch dem Wehtun des Hoch-
muts des anderen sehr gleichkommen: wenn dieser nicht allein
öffentlich abzubitten, sondern jenem, ob er zwar niedriger ist,
etwa zugleich die Hand zu kĂĽssen durch Urteil und Recht ge-
nötigt würde. Eben so wenn der gewalttätige Vornehme für die
Schläge, die er dem niederen, aber schuldlosen Staatsbürger zumißt,
auĂźer der Abbitte noch zu einem einsamen und beschwerlichen
Arrest verurteilt würde, weil hiemit, außer der Ungemächlichkeit,
noch die Eitelkeit des Täters schmerzhaft angegriffen und so durch
Beschämung Gleiches mit Gleichem gehörig vergolten würde. —
Was heißt das aber: „Bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich
selbst"? Wer da stiehlt, macht aller anderer Eigentum unsicher;
er beraubt sich also (nach dem Recht der Wiedervergeltung) der
Sicherheit alles möglichen Eigentums; er hat nichts und kann auch
nichts erwerben, will aber doch leben; welches nun nicht anders
möglich ist, als daß ihn andere ernähren. Weil dieses aber der
Staat nicht umsonst tun wird, so muß er diesem seine Krätte zu
ihm beliebigen Arbeiten (Karren- oder Zuchthausarbeit) ĂĽberlassen
und kommt auf gewisse Zeit, oder nach Befinden auch auf- immer
in den Sklavenstand. — Hat er aber "emordet, so muß er sterben.
Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit.
Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummer-
vollen Leben und dem Tode, also auch keine Gleichheit des Ver-
/. Abschnitt. Das Staatsrecht
I4.I
Brechens und der Wiedervergeltung, als durch den am Täter
gerichtlich vollzogenen, doch von aller MiĂźhandlung, welche die
Menschheit in der leidenden Person zum Scheusal machen könnte,
befreieten Tod. — Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft
mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel
bewohnende Volk beschlösse auseinander zu gehen und sich in
alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befind-
liche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das
widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht
auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen
hat: weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der
Gerechtigkeit betrachtet werden kann.
Diese Gleichheit der Strafen, die allein durch die Erkenntnis
des Richters auf den Tod nach dem strengen Wiedervergeltungs-
rechte möglich ist, offenbaret sich daran, daß dadurch allein pro-
portionierlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher das
Todesurteil ĂĽber alle (selbst wenn es nicht einen Mord, sondern
ein anderes nur mit dem Tode zu tilgendes Staatsverbrechen
beträfe) ausgesprochen wird. — Setzet; daß, wie in der letzten
schottischen Rebellion, da verschiedene Teilnehmer an derselben
(wie BALMERINO und andere) durch ihre Empörung nichts als
eine dem Hause STUART schuldige Pflicht auszuĂĽben glaubten,
andere dagegen Privatabsichten hegten, von dem höchsten Gericht
das Urteil so gesprochen worden wäre: ein jeder solle die Frei-
heit der Wahl zwischen dem Tode und der Karrenstrafe haben;
so sage ich: der ehrliche Mann wählt den Tod, der Schelm aber
die Karre; so bringt es die Natur des menschlichen GemĂĽts mit
sich. Denn der erstere kennt etwas, was er noch höher schätzt,
als selbst das Leben: nämlich die Ehre; der andere hält ein mit
Schande bedecktes Leben doch immer noch fĂĽr besser, als gar
nicht zu sein {antmam praeferre pudori. lUVEN.). Der erstere ist
nun ohne Widerrede weniger strafbar als der andere, und so
werden sie durch den über alle gleich verhängten Tod ganz pro-
portionierhch bestraft, jener gelinde nach seiner Empfindungsart
und dieser hart nach der seinigen; da hingegen, wenn durch-
gängig auf die Karrenstrafe erkannt v^rürde, der erstere zu hart,
der andere für seine Niederträchtigkeit gar zu gelinde bestraft
wäre; und so ist auch hier im Ausspruche über eine im Kom-
plott vereinigte Zahl von Verbrechern der beste Ausgleicher vor
der öffentlichen Gerechtigkeit der Tod. — Überdem hat man
1 4 i Rechts/ehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
nie gehört, daß ein wegen Mordes zum Tode Verurteilter sich
beschwert hätte, daß ihm damit zu viel und also unrecht ge-
schehe; jeder wĂĽrde ihm ins Gesicht lachen, wenn er sich
dessen "äußerte. — Man müßte sonst annehmen, daß, wenn dem
Verbrecher gleich nach dem Gesetz nicht unrecht geschieht, doch
die gesetzgebende Gewalt im Staat diese Art von Strafe zu ver-
hängen nicht befugt und, wenn sie es tut, mit sich selbst im
Widerspruch sei.
So viel also der Mörder sind, die den Mord verübt, oder
auch befohlen, oder dazu mitgewirkt haben, so viele mĂĽssen auch
den Tod leiden; so will es die Gerechtigkeit als Idee der richter-
lichen Gewalt nach allgemeinen, a priori begrĂĽndeten Gesetzen,
— Wenn aber doch die Zahl der Komplizen (correi^ zu einer
solchen Tat so groĂź ist, daĂź der Staat, um keine solche Ver-
brecher zu haben, bald dahin kommen könnte, keine Untertanen
mehr zu haben, und sich doch nicht auflösen, d. i. in den noch
viel ärgeren, aller äußeren Gerechtigkeit entbehrenden Natur-
zustand ĂĽbergehen (vornehmlich nicht durch das Spektakel einer
Schlachtbank das GefĂĽhl des Volks abstumpfen) will, so muĂź es
auch der Souverän in seiner Macht haben, in diesem Notfall
(casus necessitatis^ selbst den Richter zu machen (vorzustellen)
und ein Urteil zu sprechen, welches statt der Lebensstrafe eine
andere den Verbrechern zuerkennt, bei der die Volksmenge noch
erhalten wird, dergleichen die Deportation ist; dieses selbst aber
nicht als nach einem öffentlichen Gesetz, sondern durch einen
Machtspruch, d. i. einen Akt des Majestätsrechts, der als Begnadi-
gung nur immer in einzelnen Fällen ausgeübt werden kann.
Hiegegen hat nun der Marchese BECCARIA aus teilnehmender
Empfindelei einer affektierten Humanität (compassibilitas) seine Be-
hauptung der Unrechtmäßigkeit aller Todesstrafe aufgestellt:
weil sie im ursprĂĽnglichen bĂĽrgerlichen Vertrage nicht enthalten
sein könnte; denn da hätte jeder im Volk einwilligen müssen,
sein Leben zu verlieren, wenn er etwa einen anderen (im Volk)
ermordete; diese Einwilligung aber sei unmöglich, weil niemand
über sein Leben disponieren könne. Alles Sophisterei und Rechts-
verdrehung.
Strafe erleidet jemand nicht, weil er sie, sondern weil er
eine strafbare Handlung gewollt hat; denn es ist keine Strafe,
wenn einem geschieht, was er will, und es ist unmöglich, gestraft
werden zu wollen. — Sagen: ich will gestraft werden, wenn
i. Abschnitt. Das Staatsrecht 143
ich jemand ermorde, heiĂźt nichts mehr als: ich unterwerfe mich
samt allen ĂĽbrigen den Gesetzen, welche natĂĽrlicherweise, wenn
es Verbrecher im Volk gibt, auch Strafgesetze sein werden. Ich
als Mitgesetzgeber, der das Strafgesetz diktiert, kann unmöglich
dieselbe Person sein, die als Untertan nach dem Gesetz bestraft
wird; denn als ein solcher, nämlich als Verbrecher, kann ich un-
möglich eine Stimme in der Gesetzgebung haben (der Gesetz-
geber ist heilig). Wenn ich also ein Strafgesetz gegen mich als
einen Verbrecher abfasse, so ist es in mir die reine rechtlich-
gesetzgebende Vernunft (Jjomo noumenon) die mich als einen des
Verbrechens Fähigen, folglich als eine andere Person {homo phae-
nomenon^ samt allen ĂĽbrigen in einem BĂĽrgerverein dem Straf-
gesetze unterwirft. Mit anderen Worten: nicht das Volk (jeder
einzelne in demselben), sondern das Gericht (die öffentliche Ge-
rechtigkeit), mithin ein anderer als der Verbrecher diktiert die
Todesstrafe, und im Sozialkontrakt ist gar nicht das Versprechen
enthalten, sich strafen zu lassen und so ĂĽber sich selbst und sein
Leben zu disponieren. Denn wenn der Befugnis zu strafen ein
Versprechen des Missetäters zum Grunde liegen müßte, sich
strafen lassen zu w^ollen, so mĂĽĂźte es diesem auch ĂĽberlassen
werden, sich straffällig zu finden, und der Verbrecher würde sein
eigener Richter sein. — Der Hauptpunkt des Irrtums (irpiorov
"vj/'ei'cJo?) dieses Sophisms besteht darin: daĂź er das eigene Urteil
des Verbrechers (das man seiner Vernunft notwendig zutrauen
muĂź), des Lebens verlustig werden zu mĂĽssen, fĂĽr einen BeschluĂź
des Willens ansieht, es sich selbst zu nehmen, und so sich die
Rechtsvollziehung mit der Rechtsbeurteilung in einer und derselben
Person vereinigt vorstellt.
Es gibt indessen zwei todeswĂĽrdige Verbrechen, in Ansehung
deren, ob die Gesetzgebung auch die Befugnis habe, sie mit
der Todesstrafe zu belegen, noch zweifelhaft bleibt. Zu beiden
verleitet das EhrgefĂĽhl. Das eine ist das der Geschlechtsehre,
das andere der Kriegsehre, und zwar der wahren Ehre, welche
jeder dieser zwei Menschenklassen als Pflicht obliegt. Das eine
Verbrechen ist der mĂĽtterliche Kindesmord (jnfantkidium ma-
temale) \ das andere der Kriegsgesellenmord {commilitonicidium).
der Duell. — Da die Gesetzgebung die Schmach einer unehe-
lichen Geburt nicht wegnehmen und eben so wenig den Fleck,
welcher aus dem Verdacht der Feigheit, der auf einen unter-
geordneten Kriegsbefehlshaber fällt, welcher einer verächtlichen
1 44 Rechts lehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
Begegnung nicht eine ĂĽber die Todesfurcht erhobene eigene Gewalt
entgegensetzt, wegwischen kann: so scheint es, daĂź Menschen in
diesen Fällen sich im Naturzustande befinden und Tötung (J)omi-
cidiutn)^ die alsdann nicht einmal Mord (homicidium dolosuni)
heiĂźen mĂĽĂźte, in beiden zwar allerdings strafbar sei, von der
obersten Macht aber mit dem Tode nicht könne bestraft werden.
Das uneheliche auf die Welt gekommene Kind ist auĂźer dem Gesetz
(denn das heiĂźt Ehe), mithin auch auĂźer dem Schutz desselben ge-
boren. Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie
verbotene Ware), so daĂź dieses seine Existenz (weil es billig auf
diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Ver-
nichtung ignorieren kann, und die Schande der Mutter, wenn
ihre uneheliche Niederkunft bekannt wird, kann keine Verord-
nung heben. — Der zum Unter-Befehlshaber eingesetzte Krieges-
mann, dem ein Schimpf angetan wird, sieht sich eben sowohl
durch die öffentliche Meinung der Mitgenossen seines Standes ge-
nötigt, sich Genugtuung und, wie im Naturzustande, Bestrafung
des Beleidigers nicht durchs Gesetz, vor einem Gerichtshofe, son-
dern durch den Duell, darin er sich selbst der Lebensgefahr
aussetzt, zu verschaffen, um seinen Kriegsmut zu beweisen, als
worauf die Ehre seines Standes wesentlich beruht, sollte es auch
mit der Tötung seines Gegners verbunden sein, die in diesem
Kampfe, der öffentlich und mit beiderseitiger Einwilligung, doch
auch ungern geschieht, eigentlich nicht Mord (homicidium dolosum)
genannt werden kann. ■— — Was ist nun in beiden (zur Kri-
minalgerechtigkeit gehörigen) Fällen Rechtens? — Hier kommt
die Strafgerechtigkeit gar sehr ins Gedränge: entweder den Ehr-
begriff (der hier kein Wahn ist) durchs Gesetz fĂĽr nichtig zu
erklären und so mit dem Tode zu strafen, oder von dem Ver-
brechen die angemessene Todesstrafe wegzunehmen, und so ent-
weder grausam oder nachsichtig zu sein. Die Auflösung dieses
Knotens ist: daĂź der kategorische Imperativ der Strafgerechtigkeit
(die gesetzwidrige Tötung eines anderen müsse mit dem Tode
bestraft werden) bleibt, die Gesetzgebung selber aber (mithin
auch die bĂĽrgerliche Verfassung), so lange noch als barbarisch
und unausgebildet, daran schuld ist, daĂź die Triebfedern der Ehre
im Volk (subjektiv) nicht mit den MaĂźregeln zusammentreffen
wollen, die (objektiv) ihrer Absicht gemäß sind, so daß die
öffentliche, vom Staat ausgehende Gerechtigkeit in Ansehung der
aus dem Volk eine Ungerechtigkeit wird.
/. Abschnitt. Das Staatsrecht 145
n.
Das Begnadigungsrecht (jus aggratiand'i) fiir den Ver-
brecher, entweder der Milderung oder gänzlichen Erlassung der
Strafe, ist wohl unter allen Rechten des Souveräns das schlüpf-
rigste, um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch
doch im hohen Grade unrecht zu tun. — In Ansehung der Ver-
brechen der Untertanen gegeneinander steht es schlechterdings
ihm nicht zu, es auszuĂĽben; denn hier ist Straflosigkeit (jmpu-
nitas criminii) das größte Unrecht gegen die letztern. Also nur
bei einer Läsion, die ihm selbst widerfährt, {crimen laesae ma'te-
statis) kann er davon Gebrauch machen. Aber auch da nicht
einmal, wenn durch Ungestraftheit dem Volk selbst in Ansehung
seiner Sicherheit Gefahr erwachsen könnte. — Dieses Recht ist
das einzige, was den Namen des Majestätsrechts verdient.
Von dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vater-
lande und zum Auslande.
$ 50-
Das Land {territorium\ dessen Einsassen schon durch die Kon-
stitutioru d. i. ohne einen besonderen rechthchen Akt ausĂĽben zu
dĂĽrfen (mithin durch die Geburt), MitbĂĽrger eines und desselben
gemeinen Wesens sind, heiĂźt das Vaterland; das, worin sie es
ohne diese Bedingung nicht sind, das Ausland, und dieses, werm
es einen Teil der Landesherrschaft ĂĽberhaupt ausmacht, heiĂźt die
Provinz (in der Bedeutung, wie die Römer dieses Wort brauchten),
v/elche, weil sie doch keinen koalisierten Teil des Reichs (imperii)
als Sitz von MitbĂĽrgern, sondern nur eine Besitzung desselben
als eines Untertanes ausmacht, den Boden des herrschenden
Staats als Mutterland (regio domind) verehren muĂź.
i) Der Untertan (auch als BĂĽrger betrachtet) hat das Recht
der Auswanderung; denn der Staat könnte ihn nicht als sein
Eigentum zurĂĽckhalten. Doch kann er nur seine fahrende, nicht
die liegende Habe mit herausnehmen, welches alsdann doch ge-
schehen wĂĽrde, wenn er seinen bisher besessenen Boden zu ver-
kaufen und das Geld dafür mit sich zu nehmen befugt wäre.
Kants Schriften. Bd. VII. lo
1^6 Rechts lehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
2) Der Landesherr hat das Recht der BegĂĽnstigung der
Einwanderung und Ansiedelung Fremder (Kolonisten), obgleich
seine Landeskinder dazu scheel sehen möchten; wenn ihnen nur
nicht das Privateigentum derselben am Boden gekĂĽrzt wird.
3) Ebenderselbe hat auch im Falle eines Verbrechens des
Untertans, welches alle Gemeinschaft der MitbĂĽrger mit ihm fĂĽr
den Staat verderblich macht, das Recht der Verbannung in eine
Provinz im Auslande, wo er keiner Rechte eines BĂĽrgers teilhaftig
wird, d. i. zur Deportation.
4) Auch das der Landesverweisung ĂĽberhaupt (jus exiJ/i),
ihn in die weite Welt, d. i. ins Ausland ĂĽberhaupt (in der alt-
deutschen Sprache Elend genannt), zu schicken; welches, weil
der Landesherr ihm nun allen Schutz entzieht, so viel bedeutet,
als ihn innerhalb seinen Grenzen vogelfrei zu machen.
§ 51-
Die drei Gewalten im Staat, die aus dem Begriff eines ge-
meinen Wesens ĂĽberhaupt (res publica latius dictd) hervorgehen,
sind nur so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Ver-
nunft abstammenden Volkswillens und eine reine Idee von einem
Staatsoberhaupt, welche objektive praktische Realität hat. Dieses
Oberhaupt (der Souverän) aber ist sofern nur ein (das gesamte
Volk vorstellendes) Gedankending, als es noch an einer physi-
schen Person mangelt, welche die höchste Staatsgewalt vorstellt
und dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft. Das
Verhältnis der ersteren zum letzteren ist nun auf dreierlei ver-
schiedene Art denkbar: entweder daĂź einer im Staate ĂĽber alle,
oder daĂź einige, die einander gleich sind, vereinigt, ĂĽber alle
andere, oder daĂź alle zusammen ĂĽber einen jeden, mithin auch
ĂĽber sich selbst gebieten, d. i. die Staatsform ist entweder auto-
kratisch, oder aristokratisch, oder demokratisch. (Der
Ausdruck monarchisch statt autokratisch ist nicht dem Begriffe,
den man hier will, angemessen; denn Monarch ist der, welcher
die höchste, Autokrator aber oder Selbstherrscher der,
welcher alle Gewalt hat; dieser ist der Souverän, jener repräsentiert
ihn bloß). — Man wird leicht gewahr, daß die autokratische
Staatsform die einfachste sei, nämlich von Einem (dem Könige)
zum Volke, mithin wo nur Einer der Gesetzgeber ist. Die aristo-
/. Abschnitt, Das Staatsrecht 147
kratische ist schon aus zwei Verhältnissen zusammengesetzt:
nämlich dem der Vornehmen (aJs Gesetzgeber) zu einander, um
den Souverän zu machen, und dann dem dieses Souveräns zum
Volk; die demokratische aber die allerzusammengesetzteste, nämlich
den Willen aller zuerst zu vereinigen, um daraus ein Volk, dann
den der StaatsbĂĽrger, um ein gemeines Wesen zu bilden, und
dann diesem gemeinen Wesen den Souverän, der dieser vereinigte
Wille selbst ist, vorzusetzen.') Was die Handhabung des Rechts
im Staat betrifft, so ist freilich die einfachste auch zugleich die
beste, aber, was das Recht selbst anlangt, die gefährhchste fürs
Volk in Betracht des Despotismus, zu dem sie so sehr einladet.
Das Simplifizieren ist zwar im Maschinenwerk der Vereinigung
des Volks durch Zwangsgesetze die vernĂĽnftige Maxime: wenn
nämlich alle im Volk passiv sind und Einem, der über sie ist,
gehorchen; aber das gibt keine Untertanen als StaatsbĂĽrger.
Was die Vertröstung, womit sich das Volk befriedigen soll, be-
trifft, daß nämlich die Monarchie (eigentlich hier Autokratie) die
beste Staatsverfassung sei, wenn der Monarch gut ist (d. i.
nicht bloĂź den Willen, sondern auch die Einsicht dazu hat): ge-
hört zu den tautologischen Weisheitssprüchen und sagt nichts mehr
als: die beste Verfassung ist die, durch welche der Staats-
verwalter zum besten Regenten gemacht wird, d. i. diejenige,
welche die beste ist.
§ 5^-
Der Geschichtsurkunde dieses Mechanismus nachzuspĂĽren,
ist vergeblich, d. i. man kann zum Zeitpunkt des Anfangs der
bĂĽrgerlichen Gesellschaft nicht herauslangen (denn die Wilden
errichten kein Instrument ihrer Unterwerfung unter das Gesetz,
und es ist auch schon aus der Natur roher Menschen abzunehmen,
daĂź sie es mit der Gewalt angefangen haben werden). Diese
Nachforschung aber in der Absicht anzustellen, um allenfalls die
jetzt bestehende Verfassung mit Gewalt abzuändern, ist sträflich.
Denn diese Umänderung müßte durchs Volk, welches sich dazu
*) Von der Verfälschung dieser Formen durch sich eindringende
unbefiigte Machthaber (der Oligarchie und Ochlokratie), imgleichen
den sogenannten gemischten Staatsverfassungen erwähne ich hier
nichts, weil es zu weit fuhren wĂĽrde.
10*
148 Rechts! ehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
rottierte, also nicht durch die Gesetzgebung, geschehen; Meuterei
aber in einer schon bestehenden Verfassung ist ein Umsturz aller
bürgerlich-rechtlichen Verhältnisse, mithin alles Rechts, d. i, nicht
Veränderung der bürgerlichen Verfassung, sondern Auflösung der-
selben, und dann der Ăśbergang in die bessere, nicht Metamorphose,
sondern Palingenesie, welche einen neuen gesellschaftlichen Vertrag
erfordert, auf den der vorige (nun autgehobene) keinen EinfluĂź
hat. — Es muß aber dem Souverän doch möglich sein, die be-
stehende Staatsverfassung zu ändern, wenn sie mit der Idee des
ursprĂĽnglichen Vertrags nicht wohl vereinbar ist, und hiebei doch
diejenige Form bestehen zu lassen, die dazu, daĂź das Volk einen
Staat ausmache, wesentlich gehöret. Diese Veränderung kann nun
nicht darin bestehen, daĂź der Staat sich von einer dieser drei
Formen zu einer der beiden anderen selbst konstituiert, z. B. daĂź
die Aristokraten einig werden, sich einer Autokratie zu unter-
werfen, oder in eine Demokratie verschmelzen zu wollen, und so
umgekehrt; gleich als ob es auf der freien Wahl und dem Be-
lieben des Souveräns beruhe, welcher Verfassung er das Volk
unterwerfen wolle. Denn selbst dann, wenn er sich zu einer
Demokratie umzuändern beschlösse, würde er doch dem Volk un-
recht tun können, weil es selbst diese Verfassung verabscheuen
könnte und eine der zwei übrigen für sich zuträglicher fände.
Die Staatsformen sind nur der Buchstabe Qittcra) der ur-
sprĂĽnglichen Gesetzgebung im bĂĽrgerlichen Zustande, und sie
mögen also bleiben, so lange sie, als zum Maschinenwesen der
Staatsverfassung gehörend, durch alte und lange Gewohnheit (also
nur subjektiv) fĂĽr notwendig gehalten werden. Aber der Geist
jenes ursprünglichen Vertrages (anjma pacti originarii) enthält die
Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt, die Regierungsar t
jener Idee angemessen zu machen und so sie, wenn es nicht auf
einmal geschehen kann, allmählich und kontinuierlich dahin zu
verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, näm-
lich der einer reinen Republik, ihrer Wirkung nach zusammen-
stimme, und jene alte empirische (statutarische) Formen, welche
bloß die Untertänigkeit des Volks zu bewirken dienten, sich
in die ursprüngliche (rationale) auflösen, welche allein die Freiheit
zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht, der zu einer
rechtlichen Verfassung im eigentlichen Sinne des Staats erforderlich
ist und dahin auch dem Buchstaben nach endlich führen wird. —
Dies ist die einzige bleibende Staatsverfassung, wo das Gesetz
1. Abschnitt. Das Staatsrecht 149
selbstherrschend ist und an keiner besonderen Person hängt; der
letzte Zweck alles öffentlichen Rechts, der Zustand, in welchem
allein jedem das Seine peremtorisch zugeteilt werden kann;
indessen daĂź, solange jene Staatsformen dem Buchstaben nach
ebenso viel verschiedene mit der obersten Gewalt bekleidete mo-
ralische Personen vorstellen sollen, nur ein provisorisches
inneres Recht und kein absolut-rechtlicher Zustand der bĂĽrger-
lichen Gesellschaft zugestanden werden kann.
Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein,
als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen des-
selben, durch alle StaatsbĂĽrger vereinigt, vermittelst ihrer Ab-
geordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen. Sobald aber
ein Staatsoberhaupt der Person nach (es mag sein König, Adel-
stand, oder die ganze Volkszahl, der demokratische Verein) sich
auch repräsentieren läßt, so repräsentiert das vereinigte Volk
nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst; denn in
ihm (dem Volk) befindet sich ursprĂĽnglich die oberste Gewalt,
von der alle Rechte der einzelnen, als bloĂźer Untertanen (allen-
falls als Staatsbeamten), abgeleitet werden mĂĽssen, und die nun-
mehr errichtete Republik hat nun nicht mehr nötig, die Zügel
der Regierung aus den Händen zu lassen und sie denen wieder
zu ĂĽbergeben, die sie vorher gefĂĽhrt hatten, und die nun alle
neue Anordnungen durch absolute WillkĂĽr wieder vernichten
könnten.
Es war also ein groĂźer Fehltritt der Urteilskraft eines
mächtigen Beherrschers zu unserer Zeit, sich aus der Ver-
legenheit wegen groĂźer Staatsschulden dadurch helfen zu
wollen, daĂź er es dem Volk ĂĽbertrug, diese Last nach dessen
eigenem Gutbefinden selbst zu ĂĽbernehmen und zu verteilen;
da CS denn natĂĽrlicherweise nicht allein die gesetzgebende
Gewalt in Ansehung der Besteurung der Untertanen, sondern
auch in Ansehung der Regierung in die Hände bekam:
nämlich zu verhindern, daß diese nicht durch Verschwendung
oder Krieg neue Schulden machte, mithin die Herrscher-
gewalt des Monarchen gänzlich verschwand (nicht bloß sus-
pendiert wurde) und aufs Volk ĂĽberging, dessen gesetz-
gebenden W^illen nun das Mein und Dein jedes Untertans
unterworfen wurde. Man kann auch nicht sagen: daĂź dabei
ein stillschweigendes, aber doch vertragsmäßiges Versprechen
der Nationalversammlung, sich nicht eben zur Souveränität
1 5 o Rechts/ehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
zu konstituieren, sondern nur dieser ihr Geschäfte zu ad-
ministrieren, nach verrichtetem Geschäfte aber die Zügel des
Regiments dem Monarchen wiederum in seine Hände zu
ĂĽberliefern, angenommen werden mĂĽsse; denn ein solcher
Vertrag ist an sich selbst null und nichtig. Das Recht der
obersten Gesetzgebung im gemeinen Wesen ist kein ver-
äußerliches, sondern das allerpersönlichste Recht. Wer es
hat, kann nur durch den Gesamtwillen des Volks ĂĽber das
Volk, aber nicht ĂĽber den Gesamtwillen selbst, der der Ur-
grund aller öffentlichen Verträge ist, disponieren. Ein Ver-
trag, der das Volk verpflichtete, seine Gewalt wiederum
zurĂĽckzugeben, wĂĽrde demselben nicht als gesetzgebender
Macht zustehen und doch das Volk verbinden, welches nach
dem Satze: Niemand kann zweien Herren dienen, ein Wider-
spruch ist.
Des
öffentlichen Rechts
Zweiter Abschnitt.
Das Völkerrecht.
§ 53-
Die Menschen, welche ein Volk ausmachen, können als Landes-
eingcborne nach der Analogie der Erzeugung von einem gemein-
schaftlichen Eiternstamm {congen'tti^ vorgestellt werden, ob sie
es gleich nicht sind: dennoch aber in intellektueller und recht-
licher Bedeutung, als von einer gemeinschaftlichen Mutter (der
Republik) geboren, gleichsam eine Familie (^gens, tiatio) ausmachen,
deren Glieder (StaatsbĂĽrger) alle ebenbĂĽrtig sind und mit denen,
die neben ihnen im Naturzustande leben möchten, als unedlen
keine Vermischung eingehen, obgleich diese (die Wilden) ihrer-
seits sich wiederum wegen der gesetzlosen Freiheit, die sie gewählt
haben, vornehmer dünken, die gleichfalls Völkerschaften, aber nicht
Staaten ausmachen. Das Recht der Staaten in Verhältnis zu-
einander [welches nicht ganz richtig im Deutschen das Völker-
2. Abschnitt. Das Völkerrecht 1 5 1
recht genannt wird, sondern vielmehr das Staatenrecht (Jus publi-
cum civitatutn) heiĂźen sollte] ist nun dasjenige, was wir unter
dem Namen des Völkerrechts zu betrachten haben: wo ein Staat,
als eine moralische Person, gegen einen anderen im Zustande der
natürlichen Freiheit, folglich auch dem des beständigen Krieges
betrachtet, teils das Recht zum Kriege, teils das im Kriege, teils
das, einander zu nötigen, aus diesem Kriegszustande herauszugehen,
mithin eine den beharrlichen Frieden grĂĽndende Verfassung, d. i.
das Recht nach dem Kriege, zur Aufgabe macht, und fĂĽhrt
nur das Unterscheidende von dem des Naturzustandes einzelner
Menschen oder Familien (im Verhältnis gegeneinander) von dem
der Völker bei sich, daß im Völkerrecht nicht bloß ein Verhältnis
eines Staats gegen den anderen im Ganzen, sondern auch einzelner
Personen des einen gegen einzelne des anderen, imgleichen gegen
den ganzen anderen Staat selbst in Betrachtung kommt; welcher
Unterschied aber vom Recht einzelner im bloßen Naturzustände
nur solcher Bestimmungen bedarf, die sich aus dem Begriffe des
letzteren leicht folgern lassen.
§ 54-
Die Elemente des Völkerrechts sind: i) daß Staaten, im
äußeren Verhältnis gegeneinander betrachtet, (wie gesetzlose Wilde)
von Natur in einem nicht-rechtlichen Zustande sind; 2) daĂź dieser
Zustand ein Zustand des Krieges (des Rechts des Stärkeren),
wenn gleich nicht wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche
Befehdung (Hostilität) ist, welche (indem sie es beide nicht besser
haben wollen), obzwar dadurch keinem von dem anderen unrecht
geschieht, doch an sich selbst im höchsten Grade unrecht ist, und
aus welchem die Staaten, welche einander benachbart sind, aus-
zugehen verbunden sind; 3) daß ein Völkerbund nach der Idee
eines ursprĂĽngHchen gesellschaftlichen Vertrages notwendig ist, sich
zwar einander nicht in die einheimische MiĂźhelligkeiten derselben
zu mischen, aber doch gegen Angriffe der äußeren zu schützen;
4) daß die Verbindung doch keine souveräne Gewalt (wie in
einer bĂĽrgerlichen Verfassung), sondern nur eine Genossenschaft
(Föderalität) enthalten müsse; eine Verbündung, die zu aller Zeit
aufgekĂĽndigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert
werden muß, — ein Recht in subsidium eines anderen und ur-
1 5 2 Recht sichre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
sprĂĽnglichen Rechts, den Verfall in den Zustand des wirklichen
Krieges derselben untereinander von sich abzuwehren (^foeäus
Amphictyonuftj^ .
§ 55-
Bei jenem ursprĂĽnglichen Rechte zum Kriege freier Staaten
gegeneinander im Naturzustande (um etwa einen dem rechtlichen
sich annähernden Zustand zu stiften) erhebt sich zuerst die Frage:
welches Recht hat der Staat gegen seine eigene Untertanen
sie zum Kriege gegen andere Staaten zu brauchen, ihre GĂĽter, ja
ihr Leben dabei aufzuwenden, oder aufs Spiel zu setzen; so daĂź
es nicht von dieser ihrem eigenen Urteil abhängt, ob sie in den
Krieg ziehen wollen oder nicht, sondern der Oberbefehl des
Souveräns sie hineinschicken darf?
Dieses Recht scheint sich leicht dartun zu lassen; nämlich aus
dem Rechte mit dem Seinen (Eigentum) zu tun, was man will.
Was jemand aber der Substanz nach selbst gemacht hat, davon
hat er ein unbestrittenes Eigentum. — Hier ist also die Deduktion,
so wie sie ein bloĂźer Jurist abfassen wĂĽrde.
Es gibt mancherlei Naturprodukte in einem Lande, die
doch, was die Menge derselben von einer gewissen Art betrifft,
zugleich als Gemächsel {arte facta) des Staats angesehen werden
mĂĽssen, weil das Land sie in solcher Menge nicht liefern wĂĽrde,
wenn es nicht einen Staat und eine ordentliche machthabende
Regierung gäbe, sondern die Bewohner im Stande der Natur
wären. — Haushühner (die nützlichste Art des Geflügels), Schafe,
Schweine, das Rindergeschlecht u. a. m. wĂĽrden entweder aus
Mangel an Futter, oder der Raubtiere wegen in dem Lande, wo
ich lebe, entweder gar nicht, oder höchst sparsam anzutreffen sein,
wenn es darin nicht eine Regierung gäbe, welche den Einwohnern
ihren Erwerb und Besitz sicherte. — Eben das gilt auch von der
Menschenzabl, die ebenso wie in den amerikanischen WĂĽsten, ja
selbst dann, wenn man diesen den größten Fleiß (den jene nicht
haben) beilegte, nur gering sein kann. Die Einwohner wĂĽrden nur
sehr dünn gesäet sein, weil keiner derselben sich mitsamt seinem
Gesinde auf einem Boden weit verbreiten könnte, der immer in
Gefahr ist, von Menschen oder Wilden und Raubtieren verwĂĽstet
zu werden; mithin sich fĂĽr eine so groĂźe Menge von Menschen,
als jetzt auf einem Lande leben, kein hinlänglicher Unterhalt finden
2, Abschnitt. Das Völkerrecht 1 5 j
würde. So wie man nun von Gewächsen (z. B. den Kar-
toiFeln) und von Haustieren, weil sie, was die Menge betrifft, ein
Machwerk der Menschen sind, sagen kann, daĂź man sie ge-
brauchen, verbrauchen und verzehren (töten lassen) kann: so,
scheint es, könne man auch von der obersten Gewalt im Staat,
dem Souverän, sagen, er habe das Recht, seine Untertanen, die
dem größten Teil nach sein eigenes Produkt sind, in den Krieg
wie auf eine Jagd und zu einer Feldschlacht wie auf eine Lust-
partie zu fĂĽhren.
Dieser Rechtsgrund aber (der vermutlich den Monarchen auch
dunkel vorschweben mag) gilt zwar freihch in Ansehung der
Tiere, die ein Eigentum des Menschen sein können, will sich
aber doch schlechterdings nicht auf den Menschen, vornehmlich
als StaatsbĂĽrger, anwenden lassen, der im Staat immer als mit-
gesetzgebendes Glied betrachtet werden muĂź (nicht bloĂź als Mittel,
sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst), und der also
zum KriegfĂĽhren nicht alkin ĂĽberhaupt, sondern auch zu jeder
besundern Kriegserklärung vermittelst seiner Repräsentanten seine
freie Beistimmung geben muß, unter welcher einschränkenden Be-
dingung allein der Staat ĂĽber seinen gefahrvollen Dienst dispo-
nieren kann.
Wir werden also wohl dieses Recht von der Pflicht des
Souveräns gegen das Volk (nicht umgekehrt) abzuleiten haben;
wobei dieses dafĂĽr angesehen werden muĂź, daĂź es seine Stimme
dazu gegeben habe, in welcher Qualität es, obzwar passiv (mit
sich machen läßt), doch auch selbsttätig ist und den Souverän
selbst vorstellt.
§ 5Ö.
Im natĂĽrlichen Zustande der Staaten ist das Recht zum
Kriege (zu Hostilitäten) die erlaubte Art, wodurch ein Staat sein
Recht gegen einen anderen Staat verfolgt., nämlich, wenn er von
diesem sich lädiert glaubt, durch eigene Gewalt: weil es durch
einen ProzeĂź (als durch den allein die Zwistigkeiten im recht-
lichen Zustande ausgeglichen werden) in jenem Zustande nicht
geschehen kann. — Außer der tätigen Verletzung (der ersten Ag-
gression, welche von der ersten Hostüität unterschieden ist) ist es
die Bedrohung. Hiezu gehört entweder eine zuerst vorgenommene
ZurĂĽstung, worauf sich das Recht des Zuvorkommens {jus
1 5 4 Rechts/ehre. 2. Teil. Das öjf entliehe Recht
praeventionis) grĂĽndet, oder auch bloĂź die fĂĽrchterlich (durch
Ländererwerbung) anwachsende Macht (^potentia tremendd) eines
anderen Staats. Diese ist eine Läsion des Mindermächtigcn bloß
durch den Zustand vor aller Tat des Übermächtigen, und
im Naturzustände ist dieser Angriff allerdings rechtmäßig. Hierauf
grĂĽndet sich also das Recht des Gleichgewichts aller einander
tätig berührenden Staaten.
Was die tätige Verletzung betrifft, die ein Recht zum
Kriege gibt, so gehört dazu die sclbstgenommene Genugtuung
fĂĽr die Beleidigung des einen Volks durch das Volk des anderen
Staats, die Wieder Vergeltung (retorsio), ohne eine Erstattung
(durch friedliche Wege) bei dem anderen Staate zu suchen, wo-
mit der Förmlichkeit nach der Ausbruch des Krieges ohne vor-
hergehende AufkĂĽndigung des Friedens (KriegsankĂĽndigung)
eine Ă„hnlichkeit hat: weil, wenn man einmal ein Recht im
Kriegszustände finden will, etwas Analogisches mit einem Vertrag
angenommen werden muß, nämlich Annahme der Erklärung des
anderen Teils, daĂź beide ihr Recht auf diese Art suchen wollen.
§ 57-
Das Recht im Kriege ist gerade das im Völkenccht, wobei
die meiste Schwierigkeit ist, um sich auch nur einen Begriff davon
zu machen und ein Gesetz in diesem gesetzlosen Zustande zu
denken (jtiter arma silent leges\ ohne sich selbst zu widersprechen;
es mĂĽĂźte denn dasjenige sein: den Krieg nach solchen Grund-
sätzen zu führen, nach welchen es immer noch möglich bleibt,
aus jenem Naturzustande der Staaten (im äußeren Verhältnis gegen-
einander) herauszugehen und in einen rechtlichen zu treten.
Kein Krieg unabhängiger Staaten gegeneinander kann ein
Straf krieg (bellum punitivum) sein. Denn Strafe findet nur im
Verhältnisse eines Obern {imperantis) gegen den Unterworfenen
{subdituiii) statt, welches Verhältnis nicht das der Staaten gegen-
einander ist: — Aber auch weder ein Ausrottungs- (bellum
interuecinum^ noch Unterjochungskrieg (bellum subiugatorium),
der eine moralische Vertilgung eines Staats (dessen Volk nun mit
dem des Ubcrwinders entweder in eine Masse verschmelzt, oder
in Knechtschaft verfällt) sein würde. Nicht als ob dieses Not-
mittel des Staats zum Friedenszustande zu gelangen an sich dem
2, Abschnitt . Das Völkerrecht 1 5 5
Rechte eines Staats widerspräche, sondern weil die Idee des
Völkerrechts bloß den Begriff eines Antagonismus nach Prinzipien
der äußeren Freiheit bei sich führt, um sich bei dem Seinen zu
erhalten, aber nicht eine Art zu erwerben, als welche durch Ver-
größerung der Macht des einen Staats für den anderen bedrohend
sein kann.
Verteidigungsmittel aller Art sind dem bekriegten Staat erlaubt,
nur nicht solche, deren Gebrauch die Untertanen desselben, Staats-
bürger zu sein, unfähig machen würde; denn alsdann machte er
sich selbst zugleich unfähig im Staatenverhältnisse nach dem Völker-
recht fĂĽr eine Person zu gelten (die gleicher Rechte mit andern
teilhaftig wäre). Darunter gehört: seine eigne Untertanen zu
Spionen, diese, ja auch Auswärtige zu Meuchelmördern, Giftmischern
(in welche Klasse auch wohl die sogenannten ScharfschĂĽtzen,
welche einzelen im Hinterhalte auflauern, gehören möchten), oder
auch nur zur Verbreitung falscher Nachrichten zu gebrauchen;
mit einem Wort, sich solcher heimtĂĽckischen Mittel zu bedienen,
die das Vertrauen, welches zur kĂĽnftigen GrĂĽndung eines dauer-
haften Friedens erforderlich ist, vernichten wĂĽrden.
Im Kriege ist es erlaubt, dem überwältigten Feinde Lieferungen
und Kontribution aufzulegen, aber nicht das Volk zu plĂĽndern,
d. i. einzelnen Personen das Ihrige abzuzwingen (denn das wäre
Raub: weil nicht das ĂĽberwundene Volk, sondern der Staat, unter
dessen Herrschaft es war, durch dasselbe Krieg fĂĽhrete): sondern
durch Ausschreibungen gegen ausgestellte Scheine, um bei
nachfolgendem Frieden die dem Lande oder der Provinz aufgelegte
Last proportionierlich zu verteilen.
§ 58.
Das Recht nach dem Kriege, d. i. im Zeitpunkte des
Friedensvertrags und in Hinsicht auf die Folgen desselben, besteht
darin: der Sieger macht die Bedingungen, ĂĽber die mit dem Be-
siegten ĂĽbereinzukommen und zum FriedensschluĂź zu gelangen
Traktaten gepflogen werden, und zwar nicht gemäß irgendeinem
vorzuschützenden Recht, was ihm wegen der vorgeblichen Läsion
seines Gegners zustehe, sondern, indem er diese Frage auf sich
beruhen läßt, sich stützend auf seine Gewalt. Daher kann der
Ăśberwinder nicht auF Erstattung der Kriegskosten antragen, weil
1 5 6 Rechtslehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
er den Krieg seines Gegners alsdann fĂĽr ungerecht ausgeben mĂĽĂźte:
sondern ob er sich gleich dieses Argument denken mag, so darf
er es doch nicht anfĂĽhren, weil er ihn sonst fĂĽr einen Bestrafungs-
krieg erklären und so wiederum eine Beleidigung ausüben würde.
Hiezu gehört auch die (auf keinen Loskaut zu stellende) Aus-
wechselung der Gefangenen, ohne aut Gleichheit der Zahl zu
sehen.
Der ĂĽberwundene Staat, oder dessen Untertanen verheren durch
die Eroberung des Landes nicht ihre staatsbĂĽrgerliche Freiheit, so
daĂź jener zur Kolonie, diese zu Leibeigenen abgewĂĽrdigt wĂĽrden;
denn sonst wäre es ein Strafkrieg gewesen, der an sich selbst
widersprechend ist. — Eine Kolonie oder Provinz ist ein Volk,
das zwar seine eigene Verfassung, Gesetzgebung, Boden hat, auf
welchem die zu einem anderen Staat Gehörige nur Fremdlinge
sind, der dennoch ĂĽber jenes die oberste ausĂĽbende Gewalt hat.
Der letztere heiĂźt der Mutterstaat. Der Tochterstaat wird von
jenem beherrscht, aber doch von sich selbst (durch sein eigenes
Parlament, allenfalls unter dem Vorsitz eines Vizekönigs) regiert
(civitas hybricid). Dergleichen war Athen in Beziehung auf ver-
schiedene Inseln und ist jetzt GroĂźbritannien in Ansehung Irlands.
Noch weniger kann Leibeigenschaft und ihre Rechtmäßig-
keit von der Überwältigung eines Volkes durch Krieg abgeleitet
werden, weil man hiezu einen Strafkrieg annehmen mĂĽĂźte. Am
allerwenigsten eine erbliche Leibeigenschaft, die ĂĽberhaupt absurd
ist, weil die Schuld aus jemandes Verbrechen nicht anerben kann.
DaĂź mit dem FriedensschlĂĽsse auch die Amnestie verbunden
sei, liegt schon im Begriffe desselben.
Das Recht des Friedens ist i) das im Frieden zu sein,
wenn in der Nachbarschaft Krieg ist, oder das der Neutralität;
z) sich die Fortdauer des geschlossenen Friedens zusichern zu
lassen, d. i. das der Garantie; 3) zu wechselseitiger Ver-
bindung (Bundsgenossenschaft) mehrerer Staaten, sich gegen alle
äußere oder innere etwanige Angriffe gemeinschaftlich zu ver-
teidigen; nicht ein Bund zum Angreifen und innerer Ver-
größerung.
2. Abschnitt. Das Völkerrecht 1 5 7
§ 60.
Das Recht eines Staats gegen einen ungerechten Feind
hat keine Grenzen (wohl zwar der Qualität, aber nicht der Quan-
tität, d. i. dem Grade nach), d. i. der beeinträchtigte Staat darf
sich zwar nicht aller Mittel, aber doch der an sich zulässigen
in dem MaĂźe bedienen, um das Seine zu behaupten, als er dazu
Kräfte hat. — Was ist aber nun nach Begriffen des Völkerrechts,
in welchem wie ĂĽberhaupt im Naturzustande ein jeder Staat in
seiner eigenen Sache Richter ist, ein ungerechter Feind? Es
ist derjenige, dessen öffentlich (es sei wörtlich oder tätlich) ge-
äußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur
allgemeinen Regel gemacht wĂĽrde, kein Friedenszustand unter
Völkern möglich, sondern der Naturzustand verewigt werden
müßte. Dergleichen ist die Verletzung öffentlicher Verträge, von
welcher man voraussetzen kann, daß sie die Sache aller Völker
betrifft, deren Freiheit dadurch bedroht wird, und die dadurch
aufgefordert werden, sich gegen einen solchen Unfug zu vereinigen
und ihm die Macht dazu zu nehmen; — aber doch auch nicht,
um sich in sein Land zu teilen, einen Staat gleichsam auf
der Erde verschwinden zu machen; denn das wäre Ungerechtigkeit
gegen das Volk, welches sein ursprĂĽngliches Recht, sich in ein
gemeines Wesen zu verbinden, nicht verlieren kann, sondern es
eine neue Verfassung annehmen zu lassen, die ihrer Natur nach
der Neigung zum Kriege ungĂĽnstig ist.
Ăśbrigens ist der Ausdruck eines ungerechten Feindes im Natur-
zustande pleonas tisch; denn der Naturzustand ist selbst ein Zu-
stand der Ungerechtigkeit. Ein gerechter Feind wĂĽrde der sein,
welchem meinerseits zu widerstehen ich unrecht tun wĂĽrde; dieser
wĂĽrde aber alsdann auch nicht mein Feind sein.
§: 6\.
Da der Naturzustand der Völker eben so wohl als einzelner
Menschen ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um m
einen gesetzlichen zu treten: so ist vor dieser Ereignis alles Recht
der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare
äußere Mein und Dein der Staaten bloß provisorisch und kann
nur in einem allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem.
1 5 8 Rechts lehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch geltend und ein
wahrer Friedenszustand werden. Weil aber bei gar zu groĂźer
Ausdehnung eines solchen Völkerstaats über weite Landstriche die
Regierung desselben, mithin auch die BeschĂĽtzung eines jeden
Gliedes endlich unmöglich werden muß, eine Menge solcher Kor-
porationen aber wiederum einen Kriegszustand herbeifĂĽhrt: so ist
der ewige Friede (das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts) frei-
lich eine unausführbare Idee. Die politische Grundsätze aber, die
darauf abzwecken, nämlich solche Verbindungen der Staaten ein-
zugehen, als zur kontinuierlichen Annäherung zu demselben
dienen, sind es nicht, sondern, so wie diese eine auf der Pflicht,
mithin auch auf dem Recht der Menschen und Staaten gegrĂĽndete
Aufgabe ist, allerdings ausfĂĽhrbar.
Man kann einen solchen Verein einiger Staaten, um den
Frieden zu erhalten, den permanenten StaatenkongreĂź nennen,
zu welchem sich zu gesellen jedem benachbarten unbenommen
bleibt; dergleichen (wenigstens was die Förmlichkeiten des Völker-
rechts in Absicht auf Erhaltung des Friedens betrifft) in der ersten
Hälfte dieses Jahrhunderts in der Versammlung der Generalstaaten
im Haag noch stattfand; wo die Minister der meisten europäischen
Höfe und selbst der kleinsten Republiken ihre Beschwerden über
die Befehdungen, die einem von dem anderen widerfahren waren,
anbrachten und so sich ganz Europa als einen einzigen föderierten
Staat dachten, den sie in jener ihren öffentlichen Streitigkeiten
gleichsam als Schiedsrichter annahmen, statt dessen späterhin das
Völkerrecht bloß in Büchern übrig geblieben, aus Kabinetten aber
verschwunden oder nach schon verĂĽbter Gewalt in Form der De-
duktionen der Dunkelheit der Archive anvertrauet worden ist.
Unter einem KongreĂź wird hier aber nur eine willkĂĽrliche,
zu aller Zeit ablösliche Zusammentretung verschiedener Staaten,
nicht eine solche Verbindung, welche (so wie die der amerikani-
schen Staaten) auf einer Staatsverfassung gegrĂĽndet und daher un-
auflöslich ist, verstanden; — durch welchen allein die Idee eines
zu errichtenden öffentlichen Rechts der Völker, ihre Streitigkeiten
auf zivile Art, gleichsam durch einen ProzeĂź, nicht auf barbarische
(nach Art der Wilden), nämlich durch Krieg, zu entscheiden,
reahsiert werden kann.
j. Abschnitt. Das Weltbiir gerrecht 1 5 9
Des
öffentlichen Rechts
Dritter Abschnitt.
Das WeltbĂĽrgerrecht.
§ 6i.
Diese Vernunftidee einer friedlichen, wenn gleich noch
nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker
auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen
können, ist nicht etwa philanthropisch (ethisch), sondern ein
rechtliches Prinzip. Die Natur hat sie alle zusammen (ver-
möge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als globus terraqueus) in
bestimmte Grenzen eingeschlossen; und da der Besitz des Bodens,
worauf der Erdenbewohner leben kann, immer nur als Besitz von
â– einem Teil eines bestimmten Ganzen, folglich als ein solcher, auf
den jeder derselben ursprĂĽnglich ein Recht hat, gedacht werden
kann: so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft
des Bodens, nicht aber der rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes
(communio) und hiemit des Gebrauchs, oder des Eigentums an
demselben, sondern der physischen möglichen Wechselwirkung
(commercium), d. i. in einem durchgängigen Verhältnisse eines zu
allen anderen, sich zum Verkehr untereinander anzubieten, und
haben ein Recht, den Versuch mit demselben zu machen, ohne
daß der Auswärtige ihm darum als einem Feind zu begegnen be-
rechtigt wäre. — Dieses Recht, sofern es auf die mögliche Ver-
einigung aller Völker in Absicht auf gevidsse allgemeine Gesetze
ihres möghchen Verkehrs geht, kann das weltbürgerliche (jus
cosmopoliticum) genannt werden.
Meere können Völker aus aller Gemeinschaft miteinander zu
setzen scheinen, und dennoch sind sie vermittelst der Schiffahrt
gerade die glĂĽckhchsten Naturanlagen zu ihrem Verkehr, welcher,
je mehr es einander nahe Küsten gibt (wie die des mittelländi-
schen), nur desto lebhafter sein kann, deren Besuchung gleich-
wohl, noch mehr aber die Niederlassung auf denselben, um
sie mit dem Mutterlande zu verknĂĽpfen, zugleich die Veran-
i6o Rechts lehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
lassung dazu gibt, daß Übel und Gewalttätigkeit an einem Orte
unseres Globs an allen gefühlt wird. Dieser mögliche Mißbrauch
kann aber das Recht des ErdbĂĽrgers nicht aufheben, die Gemein-
schaft mit allen zu versuchen und zu diesem Zweck alle Ge-
genden der Erde zu besuchen, wenn es gleich nicht ein Recht
der Ansiedelung auf dem Boden eines anderen Volks (/«y inco-
latus) ist, als zu welchem ein besonderer Vertrag erfordert wird.
Es fragt sich aber: ob ein Volk in neuentdeckten Ländern
eine Anwohn ung (accolatui) und Besitznehmung in der Nach-
barschaft eines Volks, das in einem solchen Landstriche schon
Platz genommen hat, auch ohne seine Einwilligung unternehmen
dürfe. —
Wenn Anbauung in solcher Entlegenheit vom Sitz des ersteren
geschieht, daĂź keines derselben im Gebrauch seines Bodens dem
anderen Eintrag tut, so ist das Recht dazu nicht zu bezweifeln;
wenn es aber Hirten- oder Jagdvöiker sind (wie die Hottentotten,
Tungusen und die meisten amerikanischen Nationen), deren Unter-
halt von großen öden Landstrecken abhängt, so würde dies nicht
mit Gewalt, sondern nur durch Vertrag, und selbst dieser nicht
mit Benutzung der Unwissenheit jener Einwohner in Ansehung
der Abtretung solcher Ländereien geschehen können; obzwar die
RechtfertigungsgrĂĽnde scheinbar genug sind, daĂź eine solche Ge-
walttätigkeit zum Weltbesten gereiche; teils durch Kultur roher
Völker (wie der Vorwand, durch den selbst BÜSCHING die
blutige Einfuhrung der christlichen Religion in Deutschland ent-
schuldigen will), teils zur Reinigung seines eigenen Landes von
verderbten Menschen und gehoffter Besserung derselben oder ihrer
Nachkommenschaft in einem anderen Weltteile (wie in Neu-
holland); denn alle diese vermeintlich gute Absichten können
doch den Flecken der Ungerechtigkeit in den dazu gebrauchten
Mitteln nicht abwaschen. — Wendet man hiegegen ein: daß bei
solcher Bedenklichkeit, mit der Gewalt den Anfang zu GrĂĽndung
eines gesetzlichen Zustandes zu machen, vielleicht die ganze Erde
noch in gesetzlosem Zustande sein wĂĽrde: so kann das eben so
wenig jene Rechtsbedingung aufheben, als der Vorwand der Staats-
revolutionisten, daĂź es auch, wenn Verfassungen verunartet sind,
dem Volke zustehe, sie mit Gewalt umzuformen und ĂĽberhaupt
einmal fĂĽr allemal ungerecht zu sein, um nachher die Gerechtig-
keit desto sicherer zu grĂĽnden und aufblĂĽhen zu machen.
ß. Abschnitt. Das Weltbürger recht i ö i
BeschluĂź.
Wenn jemand nicht beweisen kann, daĂź ein Ding ist, so mag
er versuchen zu beweisen, daĂź es nicht ist. Will es ihm mit
keinem von beiden gelingen (ein Fall, der oft eintritt), so kann
er noch fragen: ob es ihn interessiere, das eine oder das andere
(durch eine Hypothese) anzunehmen, und dies zwar entweder
in theoretischer, oder in praktischer RĂĽcksicht, d. i. entweder um
sich bloß ein gewisses Phänomen (wie z. B. für den Astronom
das des Rückganges und Stillstandes der Planeten) zu erklären,
oder um einen gewissen Zweck zu erreichen, der nun wiederum
entweder pragmatisch (bloĂźer Kunstzweck) oder moralisch,
d. i. ein solcher Zweck sein kann, den sich zu setzen die Maxime
selbst Pflicht ist. — Es versteht sich von selbst: daß nicht das
Annehmen (suppositio) der AusfĂĽhrbarkeit jenes Zwecks, welches
ein bloĂź theoretisches und dazu noch problematisches Urteil ist,
hier zur Pflicht gemacht werde, denn dazu (etwas zu glauben)
gibts keine Verbindlichkeit; sondern das Handeln nach der Idee
jenes Zwecks, wenn auch nicht die mindeste theoretische Wahr-
scheinlichkeit da ist, daß er ausgeführt werden könne, dennoch
aber seine Unmöglichkeit gleichfalls nicht demonstriert werden
kaim, das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt.
Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr un-
widerstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein; weder der,
welcher zwischen Mir und Dir im Naturzustande, noch zwischen
uns als Staaten, die, obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußer-
lich (in Verhältnis gegeneinander) im gesetzlosen Zustande sind; —
denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll.
Also ist nicht mehr die Frage: ob der ewige Friede ein Ding
oder Unding sei, und ob wir uns nicht in unserem theoretischen
Urteile betrĂĽgen, wenn wir das erstere annehmen, sondern wir
mĂĽssen so handein, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist,
auf BegrĂĽndung desselben und diejenige Konstitution, die uns dazu
die tauglichste scheint (vielleicht den Republikanism aller Staaten
samt und sonders) hinwirken, um ihn herbei zu fĂĽhren und dem
heillosen Kriegfuhren, worauf als den Hauptzweck bisher alle
Staaten ohne Ausnahme ihre innere Anstalten gerichtet haben, ein
Ende zu machen. Und wenn das letztere, was die Vollendung
dieser Absicht betriflft, auch immer ein frommer Wunsch bĂĽebc,
so betrĂĽgen wir uns doch gewiĂź nicht mit der Annahme der
Kants Schriften. Bd. VII. II
IÖ2 Rechtslehre, i,TeÜ. Das öffentliche Recht
Maxime dahin unablässig zu wirlcen; denn diese ist Pflicht; das
moralische Gesetz aber in uns selbst fĂĽr betrĂĽglich anzunehmen,
wĂĽrde den Abscheu erregenden Wunsch hervorbringen, lieber
aller Vernunft zu entbehren und sich seinen Grundsätzen nach
mit den ĂĽbrigen Tierklassen in einen gleichen Mechanism der
Natur geworfen anzusehen.
Man kann sagen, daĂź diese allgemeine und fortdauernde
Friedensstiftung nicht bloĂź einen Teil, sondern den ganzen End-
zweck der Rechtslehre innerhalb den Grenzen der bloĂźen Ver-
nunft ausmache; denn der Friedenszustand ist allein der unter Ge-
setzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge
einander benachbarter Menschen, mithin die in einer Verfassung
zusammen sind, deren Regel aber nicht von der Erfahrung der-
jenigen, die sich bisher am besten dabei befianden haben, als einer
Norm fĂĽr andere, sondern die durch die Vernunft a priori von
dem Ideal einer rechdichen Verbindung der Menschen unter öffent-
lichen Gesetzen ĂĽberhaupt hergenommen werden muĂź, weil alle
Beispiele (als die nur erläutern, aber nichts beweisen können)
trĂĽglich sind, und so allerdings einer Metaphysik bedĂĽrfen, deren
Notwendigkeit diejenigen, die dieser spotten_, doch unvorsichtiger
Weise selbst zugestehen, wenn sie z. B., wie sie es oft tun, sagen;
„Die beste Verfassung ist die, wo nicht die Menschen, sondern
die Gesetze machthabend sind." Denn was kann mehr metaphysisch
sublimiert sein, als eben diese Idee, welche gleichwohl nach jener
ihrer eigenen Behauptung die bewährteste okjektive Realität hat,
die sich auch in vorkommenden Fällen leicht darstellen läßt, und
welche allein, wenn sie nicht revolutionsmäßig, durch einen Sprung,
d. i. durch gewaltsame UmstĂĽrzung einer bisher bestandenen fehler-
haften — (derm da würde sich zwischeninne ein Augenblick der
Vernichtung alles rechtlichen Zustandes ereignen), sondern durch
allmäWichc Reform nach festen Grundsätzen versucht und durch-
geführt wird, in kontinuierlicher Annäherung zum höchsten poli-
tischen Gut, zum ewigen Frieden, hinleiten kann.
S. Ahschnitt. Das Weltbiirgerrecht 1 6 3
Anhang
erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangs-
grĂĽnden der Rechtslehre. *
Die Veranlassung zu denselben nehme ich größtenteils von der
Rezension dieses Buchs in den Götting. Anz. 28. Stück, den
18. Februar 1797; welche, mit Einsicht und Schärfe der Prüfung,
dabei aber doch auch mit Teilnahme und „der Hoffnung, daß
jene AnfangsgrĂĽnde Gewinn fĂĽr die Wissenschaft bleiben werden,"
abgefaĂźt, ich hier zum Leitfaden der Beurteilung, ĂĽber dem auch
einiger Erweiterung dieses Systems gebrauchen will.
Gleich beim Anfange der Einleitung in die Rechtslehre stößt
sich mein scharfprüfender Rezensent an einer Definition. — Was
heißt Begehrungs vermögen? Sie ist, sagt der Text, das Ver-
mögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser
Vorstellungen zu sein. — Dieser Erklärung wird entgegengesetzt:
„daß sie nichts wird, sobald man von äußeren Bedingungen der
Folge des Begehrens abstrahiert. — Das Begehrungsvermögen ist
aber auch dem Idealisten Etwas, obgleich diesem die AuĂźenwelt
nichts ist." Antwort: Gibt es aber nicht auch eine heftige und
doch zugleich mit BewuĂźtsein vergebliche Sehnsucht (z. B. wollte
Gott, jener Mann lebte noch!), die zwar tatleer, aber doch
nicht folgeleer ist und zwar nicht an AuĂźendingen, aber doch
im Innern des Subjekts selbst mächtig wirkt (krank macht). Eine
Begierde als Bestreben (jiisus) vermittelst seiner Vorstellungen
Ursache zu sein, ist, wenn das Subjekt gleich die Unzulänglichkeit
der letzteren zur beabsichtigten Wirkung einsieht, doch immer
Kausahtät, wenigstens im Innern desselben. — Was hier den Miß-
verstand ausmacht, ist: daß, da das Bewußtsein seines Vermögens
ĂĽberhaupt (in dem genannten Falle) zugleich das BewuĂźtsein
seines Unvermögens in Ansehung der Außenwelt ist, die Defi-
nition auf den Idealisten nicht anwendbar ist; indessen daĂź doch,
da hier bloß von dem Verhältnisse einer Ursache (der Vor-
stellung) zur Wirkung (dem GefĂĽhl) ĂĽberhaupt die Rede ist, die
II*
1 64 Rechts Ichfc. 2. Teil. Das öffentliche Recht
Kausalität der Vorstellung (jene mag äußerlich oder innerlich sein)
in Ansehung ihres Gegenstandes im Begriff des Begehrungsver-
vermögens unvermeidlich gedacht werden muß.
I.
Logische Vorbereitung zu einem neuerdings gewagten
Rechtsbegriffe.
Wenn rechtskundige Philosophen sich zu den metaphysischen
AnfangsgrĂĽnden der Rechtslehre erheben oder versteigen wollen
(ohne welche alle ihre Rechtswissenschaft bloĂź statutarisch sein
würde), so können sie über die Sicherung der Vollständigkeit
ihrer Einteilung der Rechtsbegriffe nicht gleichgĂĽltig wegsehen:
weil jene V/issenschaft sonst kein Vernunftsystem, sondern bloĂź
aufgerafftes Aggregat sein würde. — Die Topik der Prinzipien
muß der Form des Systems halber vollständig sein, d. i. es muß
der Platz zu einem Begriff (/öf«/ communis^ angezeigt werden, der
nach der synthetischen Form der Einteilung fĂĽr diesen Begriff offen
ist: man mag nachher auch dartun, daĂź einer oder der andere
Begriff, der in diesen Platz gesetzt wĂĽrde, an sich widersprechend
sei und aus diesem Platze wegfalle.
Die Rechtslehrer haben bisher nun zwei Gemeinplätze besetzt:
den des dinglichen und den des persönlichen Rechts. Es ist
natürlich, zu fragen: ob auch, da noch zw^ei Plätze aus der bloßen
Form der Verbindung beider zu einem Begriffe, als Glieder der
Einteilung a priori, offen stehen, nämlich der eines auf persön-
liche Art dinglichen, imgleichen der eines auf dingliche Art per-
sönlichen Rechts, ob nämlich ein solcher neuhinzukommender
Begriff auch statthaft sei und vor der Hand, obzwar nur proble-
matisch, in der vollständigen Tafel der Einteilung angetroffen
werden mĂĽsse. Das letztere leidet keinen Zw^eifel. Denn die
bloß logische Einteilung (die vom Inhalt der Erkenntnis — dem
Objekt — abstrahiert) ist immer Dichotomie, z. B. ein jedes
Recht ist entweder ein dingliches oder ein nicht-dingliches Recht.
Diejenige aber, von der hier die Rede ist, nämlich die meta-
physische Einteilung, kann auch Tetrachotomie sein: weil auĂźer
den zwei einfachen Gliedern der Einteilung noch zwei Verhält-
nisse, nämlich die der das Recht einschränkenden Bedingungen,
:?. Abschnitt. Das WeltbĂĽrgerrecht 165
hinzukommen, unter denen das eine Recht mit dem anderen in
Verbindung tritt, deren Möglichkeit einer besonderen Untersuchung
bedarf. — Der Begriff eines auf persönliche Art dinglichen
Rechts fällt ohne weitere Umstände weg; denn es läßt sich kein
Recht einer Sache gegen eine Person denken. Nun fragt sich:
ob die Umkehrung dieses Verhältnisses auch eben so undenkbar
sei; oder ob dieser Begriff, nämlich der eines auf dingliche
Art persönlichen Rechts, nicht allein ohne inneren Wider-
spruch, sondern selbst auch ein notwendiger (z priori in der Ver-
nunft gegebener) zum Begriffe des äußeren Mein und Dein ge-
hörender Begriff sei, Personen auf ähnliche Art als Sachen zwar
nicht in allen StĂĽcken zu behandlen, aber sie doch zu be-
sitzen und in vielen Verhältnissen mit ihnen als Sachen zu ver-
fahren.
z.
Rechtferrigung des Begriffs von einem auf dingliche Art
persönlichen Recht.
Die Definition des auf dingliche Art persönlichen Rechts ist
nun kurz und gut diese: „Es ist das Recht des Menschen, eine
Person auĂźer sich als das Seine') zu haben." Ich sage mit
FleiĂź: eine Person; denn einen anderen Menschen, der durch
Verbrechen seine Persönlichkeit eingebüßt hat (zum Leibeigenen
geworden ist), könnte man wohl als das Seine haben; von diesem
Sachenrecht ist aber hier nicht die Rede.
Ob nun jener Begriff „als neues Phänomen am juristischen
Himmel" eine Stella mirab'üis (eine bis zum Stern erster Größe
^) Ich sage hier auch nicht: eine Person als die meinige (mit dem
Adjektiv), sondern: als das Meine (to meum, mit dem Substantiv) zu
haben. Denn ich kann sagen: dieser ist mein Vater, das bezeichnet
nur mein physisches Verhältnis (der Verknüpfting) zu ihm überhaupt.
Z. B.: ich habe einen Vater. Aber ich kann nicht sagen: ich habe
ihn als das Meine. Sage ich aber: mein Weib, so bedeutet dieses
ein besonderes, nämlich rechtliches, Verhältnis des Besitzers zu einem
Gegenstande (wenn es auch eine Person wäre), als Sache. Besitz
(physischer) aber ist die Bedingung der Möglichkeit der Hand-
habung {manipulatid) eines Dinges als einer Sache; wenn dieses gleich
in einer anderen Beziehung zugleich als Person behandelt werden muĂĽ.
i66 Rechtslehre. 2, Teil. Das öffentliche Recht
wachsende, vorher nie gesehene, allmählich aber wieder verschwin-
dende, vielleicht einmal wiederkehrende Erscheinung), oder bloĂź
eine Sternschnuppe sei, das soll jetzt untersucht werden.
Beispiele.
Etwas Ă„uĂźeres als das Seine haben, heiĂźt es rechtlich besitzen;
Besitz aber ist die Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs.
Werm diese Bedingung bloĂź als die physische gedacht wird, so
heißt der Besitz Inhabung. — Rechtmäßige Inhabung reicht nun
zwar allein nicht zu, um deshalb den Gegenstand fĂĽr das Meine
auszugeben, oder es dazu zu machen; wenn ich aber, es sei, aus
welchem Grunde es wolle, befugt bin auf diC Inhabung eines
Gegenstandes zu dringen, der meiner Gewalt entwischt oder ent-
rissen ist, so ist dieser RechtsbegriiF ein Zeichen (wie Wirkung
von ihrer Ursache), daĂź ich mich fĂĽr befugt halte ihn als das
Meine, mich aber auch als im intelligibelen Besitz desselben
befindlich gegen ihn zu verhalten und diesen Gegenstand so zu
gebrauchen.
Das Seine bedeutet zwar hier nicht das des Eigentums an der
Person eines anderen (denn EigentĂĽmer kann ein Mensch nicht
einmal von sich selbst, viel weniger von einer anderen Person
sein), sondern nur das Seine des NieĂźbrauchs (jus utendi fruendi),
unmittelbar von dieser Person gleich als von einer Sache, doch
ohne Abbruch an ihrer Persönlichkeit, als Mittel zu meinem
Zweck Gebrauch zu machen.
Dieser Zweck aber, als Bedingung der Rechtmäßigkeit des
Gebrauchs, muĂź moralisch notwendig sein. Der Mann kann
weder das Weib begehren, um es gleich als Sache zu genieĂźen,
d. i. unmittelbares VergnĂĽgen an der bloĂź tierischen Gemeinschaft
mit demselben zu empfinden, noch das Weib sich ihm dazu hin-
geben, ohne daß beide Teile ihre Persönlichkeit aufgeben (fleisch-
liche oder viehische Beiwohnung), d. i. ohne unter der Bedingung
der Ehe, welche, als wechselseitige Dahingebung seiner Person
selbst in den Besitz der anderen, vorher geschlossen werden
muß: um durch körperlichen Gebrauch, den ein Teil vom anderen
macht, sich nicht zu entmenschen.
I
j. Abschnitt. Das WeltbĂĽrgerrecht 167
Ohne diese Bedingung ist der fleischliche GenuĂź dem Grundsatz
(wenn gleich nicht immer der Wirkung nach) kannibalisch. Ob
mit Maul und Zähnen, der weibliche Teil durch Schwängerung
und daraus vielleicht erfolgende, für ihn tötliche Niederkunft, der
männliche aber durch von öfteren Ansprüchen des Weibes an das
Geschlechtsvermögen des Mannes herrührende Erschöpfiangen auf-
gezehrt wird, ist bloĂź in der Manier zu genieĂźen unterschieden,
und ein Teil ist in Ansehung des anderen bei diesem wechsel-
seitigen Gebrauche der Geschlechtsorganen wirklich eine ver-
brauchbare Sache (res fungibilis\ zu welcher also sich ver-
mittelst eines Vertrags zu machen, es ein gesetzwidriger Vertrag
(^pactum turpe^ sein wĂĽrde.
Eben so kann der Mann mit dem Weibe kein Kind, als ihr
beiderseitiges Machwerk (res artificialis\ zeugen, ohne daĂź beide
Teile sich gegen dieses und gegen einander die Verbindlichkeit
zuziehen es zu erhalten: welches doch auch die Erwerbung eines
Menschen gleich als einer Sache, aber nur der Form nach (einem
bloß auf dingliche Art persönlichen Rechte angemessen) ist. Die
Eltern^) haben ein Recht gegen jeden Besitzer des Kindes, das
aus ihrer Gewalt gebracht worden, (jus in re) und zugleich ein
Recht, es zu allen Leistungen und aller Befolgung ihrer Befehle
zu nötigen, die einer möglichen gesetzlichen Freiheit nicht zu-
wider sind (/«j a^ reni)-. folglich auch ein persönliches Recht
gegen dasselbe.
Endlich, wenn bei eintretender Volljährigkeit die Pflicht der
Eltern zur Erhaltung ihrer Kinder aufhört, so haben jene noch das
Recht, diese als ihren Befehlen unterworfene Hausgenossen zu
Erhaltung des Hauswesens zu brauchen, bis zur Entlassung der-
selben; welches eine Pflicht der Eltern gegen diese ist, die aus
der natürlichen Beschränkung des Rechts der ersteren folgt. Bis
dahin sind sie zwar Hausgenossen und gehören zur Familie,
aber von nun an gehören sie zur Dienerschaft (famulatus') in
derselben, die folglich nicht anders als durch Vertrag zu dem
Seinen des Hausherrn (als seine Domestiken) hinzu kommen können.
— Ebenso kann auch eine Dienerschaft außer der Familie zu
dem Seinen des Hausherren nach einem auf dingliche Art persön-
lichen Rechte gemacht und als Gesinde (^famulatus domesticus)
^) In deutscher Schreibart werden unter dem Wort Ă„lteren Seniores,
unter den Eiteren aber Parerrtes verstanden; welches im Sprachlaut nicht
zu unterscheiden, dem Sinne nach aber sehr unterschieden ist.
1 6 8 Rechtslehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
durch Vertrag erworben werden. Ein solcher Vertrag ist nicht
der einer bloĂźen Verdingung (Jocatio conductio operae), sondern
der Hingebung seiner Person in den Besitz des Hausherrn, Ver-
mietung (Jocatio conductio personae\ welche darin von jener Ver-
dingung unterschieden ist, daĂź das Gesinde sich zu allem Er-
laubten versteht, was das Wohl des Hauswesens betrifft und ihm
nicht als bestellte und spezifisch bestimmte Arbeit aufgetragen
wird; anstatt daĂź der zur bestimmten Arbeit Gedungene (Hand-
werker oder Tagelöhner) sich nicht zu dem Seinen des anderen
hingibt und so auch kein Hausgenosse ist. — Des letzteren, weil
er nicht im rechtlichen Besitz des anderen ist, der ihn zu gewissen
Leistungen verpflichtet, kann der Hausherr, wenn jener auch sein
häuslicher Einwohner (inquilinus) wäre, sich nicht (via facti') als
einer Sache bemächtigen, sondern muß nach dem persönlichen
Recht auf die Leistungen des Versprochenen dringen, welche ihm
durch Rechtsmittel (via iuris) zu Gebote stehen. — — So viel
zur Erläuterung und Verteidigung eines befremdlichen, neu hinzu-
kommenden Rechtstitels in der natĂĽrlichen Gesetzlehre, der doch
stillschweigend immer im Gebrauch gewesen ist.
Ăśber die Verwechselung des dinglichen mit dem
persönlichen Rechte.
Ferner ist mir als Heterodoxie im natĂĽrlichen Privatrechte
auch der Satz: Kauf bricht Miete (Rechtslehre § 31. S. 129)')
zur RĂĽge aufgestellet worden.
DaĂź jemand die Miete seines Hauses vor Ablauf der be-
dungenen Zeit der Einwohnung dem Mieter aufkĂĽndigen und
also gegen diesen, wie es scheint, sein Versprechen brechen könne,
wenn er es nur zur gewöhnlichen Zeit des Verziehens in der dazu
gewohnten bĂĽrgerlich-gesetzlichen Frist tut, scheint freilich beim
ersten Anblick allen Rechten aus einem Vertrage zu widerstreiten.
— Wenn aber bewiesen werden kann, daß der Mieter, da er
seinen Mictskontrakt machte, w^Ăźte oder wissen muĂźte, daĂź das
ihm getane Versprechen des Vermieters als EigentĂĽmers natĂĽr-
») Oben S. 96.
j. Abschnitt. Das WeltbĂĽrgerrecht 169
licherweise (ohne daĂź es im Kontrakt ausdrĂĽcklich gesagt werden
durfte), also stillschweigend, an die Bedingung geknĂĽpft war:
wofern dieser sein Haus binnen dieser Zeit nicht ver-
kaufen sollte (oder es bei einem etwa ĂĽber ihn eintretenden
Konkurs seinen Gläubigern überlassen müßte): so hat dieser sein
schon an sich der Vernunft nach bedingtes Versprechen nicht ge-
brochen, und der Mieter ist durch die ihm vor der Mietszeit
geschehene AufkĂĽndigung an seinem Rechte nicht verkĂĽrzt worden.
Denn das Recht des letzteren aus dem Mietskontrakte ist ein
persönliches Recht auf das, was eine gewisse Person der anderen
zu leisten hat (/'«!• a^ reni)\ nicht gegen jeden Besitzer ^er Sache
{'tus in re\ ein dingliches.
Nun konnte der Mieter sich wohl in seinem Mi etskontrakte
sichern und sich ein dingliches Recht am Hause verschaffen: er
durfte nämHch diesen nur auf das Haus des Vermieters, als am
Grunde haftend, einschreiben (ingrossieren) lassen: alsdann
konnte er durch keine AufkĂĽndigung des EigentĂĽmers, selbst
nicht durch dessen Tod (den natĂĽrlichen oder auch den bĂĽrger-
lichen, den Bankrott) vor Ablauf der abgemachten Zeit aus der
Miete gesetzt werden. Wenn er es nicht tat, weil er etwa frei
sein wollte, anderweitig eine Miete auf bessere Bedingungen zu
schlieĂźen, oder der EigentĂĽmer sein Haus nicht mit einem solchen
onus belegt wissen wollte, so ist daraus zu schlieĂźen: daĂź ein
jeder von beiden in Ansehung der Zeit der AufkĂĽndigung (die
bĂĽrgerlich bestimmte Frist zu derselben ausgenommen) einen still-
schweigend-bedingten Kontrakt gemacht zu haben sich bewuĂźt
war, ihn ihrer Konvenienz nach wieder aufzulösen. Die Bestäti-
gung der Befugnis, durch den Kauf Miete zu brechen, zeigt sich
auch an gewissen rechtlichen Folgerungen aus einem solchen
nackten Mietskontrakte; denn den Erben des Mieters, wenn
dieser verstorben ist, wird doch nicht die Verbindhchkeit zuge-
mutet, die Miete fortzusetzen: weil diese nur die Verbindlichkeit
gegen eine gewisse Person ist, die mit dieser ihrem Tode aufhört
(wobei doch die gesetzUche Zeit der AufkĂĽndigung immer mit
in Anschlag gebracht werden muĂź). Ebensowenig kann auch
das Recht des Mieters, als eines solchen, auch auf seine Erben
ohne einen besonderen Vertrag ĂĽbergehen; so wie er auch beim
Leben beider Teile ohne ausdrĂĽckliche Ăśbereinkunft keinen After-
mieter zu setzen befiigt ist.
I/o Rechtslehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
5-
Zusatz zur Erörterung der Begriffe des Strafrechts.
Die bloĂźe Idee einer Staatsverfassung unter Menschen fĂĽhrt
schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit bei sich, welche der
obersten Gewalt zusteht. Es fragt sich nur, ob die Strafarten dem
Gesetzgeber gleichgĂĽltig sind, wenn sie nur als Mittel dazu taugen,
das Verbrechen (als Verletzung der Staatssicherheit im Besitz des
Seinen eines jeden) zu entfernen, oder ob auch noch auf Achtung
für die Menschheit in der Person des Missetäters (d. i. für die
Gattung} RĂĽcksicht genommen werden mĂĽsse, und zwar aus bloĂźen
RechtsgrĂĽnden, indem ich das ius talionis der Form nach noch
immer fĂĽr die einzige a priori bestimmende (nicht aus der Er-
fahrung, welche Heilmittel zu dieser Absicht die krähigsten wären,
hergenommen) Idee als Prinzip des Strafrechts halte.^) — Wie
wird es aber mit den Strafen gehalten werden, die keine Er-
widerung zulassen, weil diese entweder an sich unmöglich, oder
selbst ein strafbares Verbrechen an der Menschheit ĂĽberhaupt
sein wĂĽrden, wie z. B. das der NotzĂĽchtigung, imgleichen das
der Päderastie, oder Bestialität? Die beiden ersteren durch Kastra-
tion (entweder wie eines weiĂźen oder schwarzen Verschnittenen
im Serail), das letztere durch AusstoĂźung aus der bĂĽrgerlichen
') In jeder Bestrafung liegt etwas das EhrgefĂĽhl des Angeklagten
(mit Recht) Kränkendes, weil sie einen bloßen einseitigen Zwang ent-
hält und so an ihm die Würde eines Staatsbürgers, als eines solchen,
in einem besonderen Falle wenigstens suspendiert ist: da er einer
äußeren Pflicht unterworfen wird, der er seinerseits keinen Widerstand
entgegensetzen darf. Der Vornehme und Reiche, der auf den Beutel
geklopft wird, fĂĽhlt mehr seine Erniedrigung sich unter den Willen
des geringeren Mannes beugen zu mĂĽssen, als den Geldverlust. Die
Sfrafgerechtigkeit {iustitia punitivd), da nämlich das Argument der
Strafbarkeit moralisch ist (quia peccatum est), muĂź hier von der
Strafklugheit, da es bloĂź pragmatisch ist {tte peccetur) und sich
auf Erfahrung von dem gründet, was am stärksten wirkt, Verbrechen
abzuhalten, unterschieden werden und hat in der Topik der Rechts-
begriffe einen ganz anderen Ort, locus tust:, nicht des conducibilis oder
des Zuträglichen in gewisser Absicht, noch auch den des bloßen
hotiesti, dessen Ort in der Ethik aufgesucht werden muĂź.
3. Abschnitt. Das WeltbĂĽrgerrecht 1 7 1
Gesellschaft auf immer, weil er sich selbst der menschlichen un-
würdig gemacht hat. — Per quod quis peccat, per tdem pun'ttur et
idem, — Die gedachten Verbrechen heißen darum unnatürlich,
weil sie an der Menschheit selbst ausgeübt werden. — Willkür-
lich Strafen für sie zu verhängen ist dem Begriff einer Straf-
Gerechtigkeit buchstäblich zuwider. Nur dann kann der Ver-
brecher nicht klagen, daĂź ihm unrecht geschehe, wenn er seine
Ăśbeltat sich selbst ĂĽber den Hals zieht, und ihm, wenn gleich
nicht dem Buchstaben, doch dem Geiste des Strafgesetzes gemäß
das widerfährt, was er an anderen verbrochen hat.
6.
Vom Recht der Ersitzung.
„Das Recht der Ersitzung (Vsucapio) soll nach S. 1 3 1 ff.')
durchs Naturrecht begründet werden. Denn nähme man nicht
an, daĂź durch den ehrĂĽchen Besitz eine ideale Erwerbung,
wie sie hier genannt wird, begründet werde, so wäre gar keine
Erwerbung peremtorisch gesichert. (Aber Hr. K. nimmt ja selbst
im Naturzustande eine nur provisorische Erwerbung an und dringt
deswegen auf die juristische Notwendigkeit der bĂĽrgerlichen Ver-
fassung. Ich behaupte mich als ehrlicher Besitzer aber nur
gegen den, der nicht beweisen kann, daĂź er eher als ich ehr-
licher Besitzer derselben Sache war und mit seinem Willen zu
sein nicht aufgehört hat.)" Davon ist nun hier nicht die
Rede, sondern ob ich mich auch als EigentĂĽmer behaupten
kann, wenn sich gleich ein Prätendent als früherer wahrer
EigentĂĽmer der Sache melden sollte, die Erkundung aber seiner
Existenz als Besitzers und seines Besitzstandes als EigentĂĽmers
schlechterdings unmögUch war; welches letztere alsdann zutrifft,
wenn dieser gar kein öffentlich gültiges Zeichen seines ununter-
brochenen Besitzes (es sei aus eigener Schuld oder auch ohne sie),
z. B. durch Einschreibung in Matrikeln, oder unwidersprochene
Stimmgebung als EigentĂĽmer in bĂĽrgerlichen Versammlungen, von
sich gegeben hat.
Denn die Frage ist hier: wer soll seine rechtmäßige Erwer-
') Oben S. 97fF-
1/2 Rechts lehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
bĂĽng beweisen? Dem Besitzer kann diese Verbindlichkeit (onus
probandi^ nicht aufgebĂĽrdet werden; denn er ist, soweit wie seine
konstatierte Geschichte reicht, im Besitz derselben. Der frĂĽhere
angebliche EigentĂĽmer der Sache ist durch eine Zwischenzeit,
innerhalb deren er keine bĂĽrgerlich gĂĽltige Zeichen seines Eigen-
tums gab, von der Reihe der aufeinander folgenden Besitzer nach
Rechtsprinzipien ganz abgeschnitten. Diese Unterlassung irgend
eines ötFentlichen Besitzakts macht ihn zu einem unbetitelten Prä-
tendenten. (Dagegen heiĂźt es hier wie bei der Theologie: con-
servatio est continua creatio.^ Wenn sich auch ein bisher nicht
manifestierter, obzwar hintennach mit aufgefundenen Dokumenten
versehener Prätendent vorfände, so würde doch wiederum auch
bei diesem der Zweifel vorwalten, ob nicht ein noch älterer
Prätendent dereinst auftreten und seine Ansprüche auf den früheren
Besitz gründen könnte. — Auf die Länge der Zeit des Besitzes
kommt es hiebei gar nicht an, um die Sache endlich zu ersitzen
(acquirere per usucapionem). Denn es ist ungereimt, anzunehmen,
daß ein Unrecht dadurch, daß es lange gewährt hat, nachgerade
ein Recht werde. Der (noch so lange) Gebrauch setzt das
Recht in der Sache voraus: weit gefehlt, daĂź dieses sich auf jenen
grĂĽnden sollte. Also ist die Ersitzung (usucapio) als Erwerbung
durch den langen Gebrauch einer Sache ein sich selbst wider-
sprechender Begriff. Die Verjährung der Ansprüche als Er-
haltungsart (conservatio possessionis meae per praescriptionem) ist
es nicht weniger: indessen doch ein von dem vorigen unter-
schiedener Begriff, was das Argument der Zueignung betrifft. Es
ist nämlich ein negativer Grund, d. i. der gänzliche Nicht-
gebrauch seines Rechts, selbst nicht einmal der, welcher nötig
ist, um sich als Besitzer zu manifestieren, fĂĽr eine Verzieh t-
tuung auf dieselbe (^derelictio)^ welche ein rechtlicher Akt, d. i.
Gebrauch seines Rechts gegen einen anderen, ist, um durch Aus-
schlieĂźung desselben vom AnsprĂĽche (per praescriptioneni) das
Objekt desselben zu erwerben, welches einen Widerspruch enthält.
Ich erwerbe also ohne BeweisfĂĽhrung und ohne allen recht-
lichen Akt: ich brauche nicht zu beweisen, sondern durchs Gesetz
(lege) und was dann? Die öffentliche Befreiung von Ansprüchen,
d. i. die gesetzliche Sicherheit meines Besitzes, dadurch
daĂź ich nicht den Beweis fĂĽhren darf und mich auf einen un-
unterbrochenen Besitz grĂĽnde. DaĂź aber alle Erwerbung im
Naturzustande bloĂź provisorisch ist, das hat keinen EinfluĂź auf
i. Abschnitt. Das WeltbĂĽrgerrecht 1 7 3
die Frage von der Sicherheit des Besitzes des Erworbenen,
welche vor jener vorhergehen muĂź.
Von der Beerbung.
Was das Recht der Beerbung anlangt, so hat den Herrn Re-
zensenten diesesmal sein Scharfblick, den Nerven des Beweises
meiner Behauptung zu treffen, verlassen. — Ich sage ja nicht
S. 135^): daĂź ein jeder Mensch notwendigerweise jede ihm an-
gebotene Sache, durch deren Annehmung er nur gewinnen,
nichts verlieren kann, annehme (denn solche Sachen gibt es gar
nicht), sondern daĂź ein jeder das Recht des Angebots in dem-
selben Augenblick unvermeidlich und stillschweigend, dabei aber
doch gültig, immer wirklich annehme: wenn es nämlich die Natur
der Sache so mit sich bringt, daĂź der Widerruf schlechterdings
unmöglich ist, nämlich im Augenblicke seines Todes; denn da
kann der Promittent nicht \viderrufen, und der Promissar ist,
ohne irgend einen rechtlichen Akt begehen zu dĂĽrfen, in dem-
selben AugenbĂĽck Acceptant, nicht der versprochenen Erbschaft,
sondern des Rechts, sie anzunehmen oder auszuschlagen. In diesem
Augenblicke sieht er sich bei Eröffnung des Testaments, daß er
schon vor der Acceptation der Erbschaft vermögender geworden
ist, als er war; denn er hat ausschließüch die Befugnis zu
acceptieren erworben, welche schon ein Vermögensumstand ist.
— Daß hiebei ein bürgerhcher Zustand vorausgesetzt wird, um
etwas zu dem Seinen eines anderen zu machen, wenn man nicht
mehr da ist, dieser Ăśbergang des Besitztums aus der Totenhand
ändert in Ansehung der Möglichkeit der Erwerbung nach all-
gemeinen Prinzipien des Naturrechts nichts, wenn gleich der An-
wendung derselben auf den vorkommenden Fall eine bĂĽrgerliche
Verfassung zum Grunde gelegt werden muß. — Eine Sache näm-
lich, die ohne Bedingiing anzunehmen oder auszuschlagen in meiner
freien Wahl gestellt wird, heiĂźt res iacetis. Wenn der EigentĂĽmer
einer Sache mir etwas, z. B. ein Möbel des Hauses, aus dem ich
auszuziehen eben im Begriff bin, umsonst anbietet (verspricht, es
*) Oben S. 100.
174 Rechtslehre. 2. Teil. Das öjf entliche Recht
soll mein sein), so habe ich, so lange er nicht widerruft (welches,
wenn er darüber stirbt, unmöglich ist), ausschließlich ein Recht
zur Acceptation des Angebotenen (Jus in re iacente\ d. i. ich
allein kann es annehmen oder ausschlagen, wie es mir beliebt:
und dieses Recht ausschließlich zu wählen erlange ich nicht ver-
mittelst eines besonderen rechtlichen Akts meiner Deklaration, ich
wolle, dieses Recht solle mir zustehen, sondern ohne denselben
(Jfge\ — Ich kann also zwar mich dahin erklären, ich wolle, die
Sache solle mir nicht angehören (weil diese Annahme mir
VerdrieĂźlichkeiten mit anderen zuziehen dĂĽrfte), aber ich kann
nicht wollen, ausschlieĂźlich die Wahl zu haben, ob sie mir an-
gehören solle oder nicht; denn dieses Recht (des Annehmens
oder Ausschiagens) habe ich ohne alle Deklaration meiner Annahme
unmittelbar durchs Angebot: denn wenn ich sogar die Wahl zu
haben ausschlagen könnte, so würde ich wählen nicht zu wählen;
welches ein Widerspruch ist. Dieses Recht zu wählen geht nun
im Augenblicke des Todes des Erblassers auf mich ĂĽber, durch
dessen Vermächtnis (jnstitutio haeredis) ich zwar noch nichts von
der Habe und Gut des Erblassers, aber doch den bloĂź-recht-
lichen (intelligibelen) Besitz dieser Habe oder eines Teils der-
selben erwerbe: deren Annahme ich mich nun zum Vorteil anderer
begeben kann, mithin dieser Besitz keinen Augenblick unterbrochen
ist, sondern die Succession als eine stetige Reihenfolge vom Ster-
benden zum eingesetzten Erben durch seine Acceptation ĂĽbergeht
und so der Satz: tcstamenta sunt iuris naturae wider alle Zweifel
befestigt wird.
8.
Von den Rechten des Staats in Ansehung ewiger
Stiftungen fĂĽr seine Untertanen.
Stiftung {sanctio testamentaria beneficii perpetui) ist die frei-
willige, durch den Staat bestätigte, für gewisse aufeinander folgende
Glieder desselben bis zu ihrem gänzlichen Aussterben errichtete
wohltätige Anstalt. — Sie heißt ewig, wenn die Verordnung zu
Erhaltung derselben mit der Konstitution des Staats selbst vereinigt
ist (denn der Staat muĂź fĂĽr ewig angesehen werden); ihre Wohl-
tätigkeit aber ist entweder für das Volk überhaupt, oder für
einen nach gewissen besonderen Grundsätzen vereinigten Teil des-
selben, einen Stand, oder fĂĽr eine Familie und die ewige Fort-
i. Abschnitt. Das WeltbĂĽrgerrecht 175
dauer ihrer Deszendenten abgezweckt. Ein Beispiel vom ersteren
sind die Hospitäler, vom zvvreiten die Kirchen, vom dritten
die Orden (geistliche und weltliche), vom vierten die Majorate.
Von diesen Korporationen und ihrem Rechte zu succedieren
sagt man nun, sie können nicht aufgehoben werden: weil es durch
Vermächtnis zum Eigentum des eingesetzten Erben geworden
sei, und eine solche Verfassung {corpus mysticutn) aufzuheben so
viel heiĂźe, als jemanden das Seine nehmen.
A.
Die wohltätige Anstalt für Arme, Invalide und Kranke, welche
auf dem Staatsvermögen fundiert worden, (in Stiften und Hospi-
tälern) ist allerdings unablöslich. Wenn aber nicht der Buchstabe,
sondern der Sinn des Willens des Testators den Vorzug haben
soll, so können sich wohl Zeitumstände ereignen, welche die Auf-
hebung einer solchen Stiftung wenigstens ihrer Form nach anrätig
machen. — So hat man gefunden: daß der Arme und Kranke
(den vom Narrenhospital ausgenommen) besser und wohlfeiler
versorgt werde, wenn ihm die BeihĂĽlfe in einer gewissen (dem
BedĂĽrfiiisse der Zeit proportionierten) Geldsumme, wofĂĽr er sich,
wo er will, bei seinen Verwandten oder sonst Bekannten, ein-
mieten kann, gereicht wird, als wenn — wie im Hospital von
Greenwich — prächtige und dennoch die Freiheit sehr be-
schränkende, mit einem kostbaren Personale versehene Anstalten
dazu getroffen werden. — Da kann man nun nicht sagen, der
Staat nehme dem zum GenuĂź dieser Stiftung berechtigten Volke
das Seine, sondern er befördert es vielmehr, indem er weisere
Mittel zur Erhaltung desselben wählt.
B.
Die Geistlichkeit, welche sich fleischlich nicht fortpflanzt, (die
katholische) besitzt mit Begünstigung des Staats Ländereien und
daran haftende Untertanen, die einem geistlichen Staate (Kirche
genannt) angehören, welchem die Weltliche durch Vermächtnis
zum Heil ihrer Seelen sich als ihr Eigentum hingegeben haben,
und so hat der Klerus als ein besonderer Stand einen Besitztum,
der sich von einem Zeitalter zum anderen gesetzmäßig vererben
läßt und durch päpstHche Bullen hinreichend dokumentiert ist. —
Kann man nun wohl annehmen, daß dieses Verhältnis derselben
i/ö Rechtslehr f. 2. Ted. Das öjf entliehe Recht
zu den Laien durch die Machtvollkommenheit des weltlichen
Staats geradezu den ersteren könne genommen werden, und würde
das nicht so viel sein, als jemanden mit Gewalt das Seine nehmen;
wie es doch von Ungläubigen der französischen Republik ver-
sucht wird?
Die Frage ist hier: ob die Kirche dem Staat oder der Staat
der Kirche als das Seine angehören könne; denn zwei oberste
Gewalten können einander ohne Widerspruch nicht untergeordnet
sein. — Daß nur die erstere Verfassung (^politico-hterarchicd)
Bestand an sich haben könne, ist an sich klar; denn alle bürger-
liche Verfassung ist von dieser Welt, weil sie eine irdische
Gewalt (der Menschen) ist, die sich samt ihren Folgen in der
Erfahrung dokumentieren läßt. Die Gläubigen, deren Reich im
Himmel und in jener Welt ist, mĂĽssen, insofern man ihnen
eine sich auf dieses beziehende Verfassung (hierarchico-politica) zu-
gesteht, sich den Leiden dieser Zeit unter der Obergewalt der
Weltmenschen unterwerfen. — Also findet nur die erstere Ver-
fassung statt,
Religion (in der Erscheinung), als Glaube an die Satzungen
der Kirche und die Macht der Priester als Aristokraten einer
solchen Verfassung, oder auch, wenn diese monarchisch (päpstlich)
ist, kann von keiner staatsbĂĽrgerlichen Gewalt dem Volke weder
aufgedrungen, noch genommen werden, noch auch (wie es wohl
in Großbritannien mit der irländischen Nation gehalten wird) der
StaatsbĂĽrger wegen einer von des Hofes seiner unterschiedenen
Religion von den Staatsdiensten und den Vorteilen, die ihm
dadurch erwachsen, ausgeschlossen werden.
Wenn nun gewisse andächtige und gläubige Seelen, um der
Gnade teilhaftig zu werden, welche die Kirche den Gläubigen
auch nach dieser ihrem Tode zu erzeigen verspricht, eine Stiftung
auf ewige Zeiten errichten, durch welche gewisse Ländereien der-
selben nach ihrem Tode ein Eigentum der Kirche werden sollen,
und der Staat an diesem oder jenem Teil oder gar ganz sich
der Kirche lehnspflichtig macht, um durch Gebete, Ablässe und
BĂĽĂźungen, durch welche die dazu bestellten Diener derselben (die
Geistlichen) das Los in der anderen Welt ihnen vorteilhaft zu
machen verheiĂźen; so ist eine solche vermeintlich auf ewige
Zeiten gemachte Stiftung keineswegs auf ewig begrĂĽndet, sondern
der Staat kann diese Last, die ihm von der Kirche aufgelegt
worden, abwerfen, wenn er will. — Denn die Kirche selbst ist
3. AbschfĂĽft. Das WeltbĂĽrgerrecht 177
als ein bloß auf Glauben errichtetes Institut, und wenn die Täu-
schung aus dieser Meinung durch Volksaufklärung verschwunden
ist, so fällt auch die darauf gegründete furchtbare Gewalt des
Klerus weg, und der Staat bemächtigt sich mit vollem Rechte des
angemaßten Eigentums der Kirche: nämlich des durch Vermächt-
nisse an sie verschenkten Bodens; wiewohl die Lehnsträger des
bis dahin bestandenen Instituts fĂĽr ihre Lebenszeit schadenfrei
gehalten zu werden aus ihrem Rechte fordern können.
Selbst Stiftungen zu ewigen Zeiten fĂĽr Arme, oder Schul-
anstalten, sobald sie einen gewissen, von dem Stifter nach seiner
Idee bestimmten entworfenen Zuschnitt haben, können nicht auf
ewige Zeiten fundiert und der Boden damit belästigt werden;
sondern der Staat muĂź die Freiheit haben, sie nach dem BedĂĽrf-
nisse der Zeit einzurichten. — Daß es schwerer hält, diese Idee
allerwärts auszuführen (z. B. die Pauperbursche die Unzulänglich-
keit des wohltätig errichteten Schulfonds durch bettelhaftes
Singen ergänzen zu müssen), darf niemanden woindern; denn der,
welcher gutmĂĽtiger-, aber doch zugleich etwas ehrbegierigerweise
eine Stiftung macht, will, daĂź sie nicht ein anderer nach seinen
BegriflFen umändere, sondern Er darin unsterbÜch sei. Das ändert
aber nicht die Beschaffenheit der Sache selbst und das Recht des
Staats, ja die Pflicht desselben zum Umändern einer jeden Stiftung,
wenn sie der Erhaltung und dem Fortschreiten desselben zum
Besseren entgegen ist; sie kann daher niemals als auf ewdg
begrĂĽndet betrachtet werden.
C.
Der Adel eines Landes, das selbst nicht unter einet aristokra-
tischen, sondern monarchischen Verfassung steht, mag immer ein
für ein gewisses Zeitalter erlaubtes und den Umständen nach
notwendiges Institut sein; aber daß dieser Stand auf ewig könne
begrĂĽndet werden, und ein Staatsoberhaupt nicht soUe die Befugnis
haben, diesen Standesvorzug gänzlich aufzuheben, oder, wenn er
es tut, man sagen könne, er nehme semem (adhgen) Untertan
das Seine, was ihm erblich zukommt, kann keinesweges behauptet
werden. Er ist eine temporäre, vom Staat autorisierte Zunft-
genossenschaft, die sich nach den Zeitumständen bequemen muß
und dem allgemeinen Menschenrechte, das so lange suspendiert
war, nicht Abbruch tun darf. — Denn der Rang des Edelmanns
im Staate ist von der Konstitution selber nicht allein abhängig,
Kants Schriften. Bd. VII. 1»
178 Rechtslehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
sondern ist nur ein Accidcns derselben, was nur durch Inhärenz
in demselben existieren kann (ein Edelmann kann ja als ein solcher
nur im Staate, nicht im Stande der Natur gedacht werden).
Wenn also der Staat seine Konstitution abändert, so kann der.
wecher hicmit jenen Titel und Vorrang einbĂĽĂźt, nicht sagen, es
sei ihm das Seine genommen: weil er es nur unter der Bedingung
der Fortdauer dieser Staatsform das Seine nennen konnte, der
Staat aber diese abzuändern (z. B. in den Republikanism umzu-
formen) das Recht hat. — Die Orden und der Vorzug, gewisse
Zeichen derselben zu tragen, geben also kein ewiges Recht
dieses Besitzes.
D.
Was endlich die Majoratsstiftung betrifft, da ein Guts-
besitzer durch Erbeseinsetzung verordnet: daĂź in der Reihe der
aufeinander folgenden Erben immer der nächste von der Familie
der Gutsherr sein solle (nach der Analogie mit einer monarchisch-
erblichen Verfassung eines Staats, wo der Landesherr es ist), so
kann eine solche Stiftung nicht allein mit Beistimmung aller
Agnaten jederzeit aufgehoben werden und darf nicht auf ewige
Zeiten — gleich als ob das Erbrecht am Boden haftete — immer-
während fortdauern, noch gesagt werden, es sei eine Verletzung
der Stiftung und des Willens des Urahnherrn derselben, des
Stifters, sie eingehen zu lassen: sondern der Staat hat auch hier
ein Recht, ja sogar die Pflicht, bei den allmählich eintretenden
Ursachen seiner eigenen Reform ein solches föderatives System
seiner Untertanen gleich als Unterkönige (nach der Analogie von
Dynasten und Satrapen), wenn es erloschen ist, nicht weiter auf-
kommen zu lassen.
BeschluĂź.
Zuletzt hat der Herr Rezensent von den unter der Rubrik
öffentliches Recht aufgeführten Ideen, von denen, wie er sagt,
der Raum nicht erlaube, sich darüber zu äußern, noch folgendes
angemerkt: „Unseres Wissens hat noch kein Philosoph den para-
doxesten aller paradoxen Sätze anerkannt, den Satz: daß die bloße
Idee der Oberherrschaft mich nötigen soll, jedem, der sich zu
meinem Herrn aufwirft, als meinem Herrn zu gehorchen, ohne zu
fragen, wer ihm das Recht gegeben, mir zu befehlen. DaĂź man
Oberherrschaft und Oberhaupt anerkennen und man diesen oder
jenen, dessen Dasein nicht einmal a priori gegeben ist, a priori
j. Abschnitt. Das WeltbĂĽrgerrecht 179
fiir seinen Herren halten soll, das soll einerlei sein?" — Nun,
hiebei die Paradoxie eingeräumt, hoffe ich, es solle, näher
betrachtet, doch wenigstens der Heterodoxie nicht ĂĽberwiesen
werden können; vielmehr solle es dem einsichtsvollen und mit
Bescheidenheit tadelnden, grĂĽndĂĽchen Rezensenten (der jenes
genommenen Anstoßes ungeachtet „diese metaphysischen Anfangs-
grĂĽnde der Rechtslehre im Ganzen als Gewinn fĂĽr die Wissen-
schaft ansieht") nicht gereuen, sie wenigstens als einen der zweiten
PrĂĽfung nicht unwĂĽrdigen Versuch gegen anderer trotzige und
seichte Absprechungen in Schutz genommen zu haben.
DaĂź dem, welcher sich im Besitz der zu oberst gebietenden
imd gesetzgebenden Gewalt ĂĽber ein Volk befindet, mĂĽsse gehorcht
werden und zwar so juridisch-unbedingt, daĂź auch nur nach dem
Titel dieser seiner Erwerbung öffentlich zu forschen, also ihn
zu bezweifeln, um sich bei etwaniger Ermangelung desselben ihm
zu widersetzen, schon strafbar, daĂź es ein kategorischer Imperativ
sei: Gehorchet der Obrigkeit (in allem, was nicht dem inneren
Morahschen widerstreitet), die Gewalt ĂĽber euch hat, ist der
anstößige Satz, der in Abrede gezogen wird. — Nicht allein aber
dieses Prinzip, welches ein Faktum (die Bemächtigung) als Be-
dingung dem Rechte zum Grunde legt, sondern daĂź selbst die
bloĂźe Idee der Oberherrschaft ĂĽber ein Volk mich, der ich zu
ihm gehöre, nötige, ohne vorhergehende Forschung dem an-
gemaßten Rechte zu gehorchen (Rechtslehre § 49), das scheint die
Vernunft des Rezensenten zu empören.
Ein jedes Faktum (Tatsache) ist Gegenstand in der Erschei-
nung (der Sinne); dagegen das, was nur durch reine Vernunft
vorgestellt werden kann, was zu den Ideen gezählt werden muß,
denen adäquat kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden
kann, dergleichen eine vollkommene rechtliche Verfassung
unter Menschen ist, das ist das Ding an sich selbst.
Wenn dann nun ein Volk, durch Gesetze unter einer Obrig-
keit vereinigt, da ist, so ist es der Idee der Einheit desselben
überhaupt unter einem machthabenden obersten Willen gemäß
als Gegenstand der Erfahrung gegeben; aber freilich nur in der
Erscheinung; d. i. eine rechtliche Verfassung im allgemeinen Sinne
des Worts ist da; und obgleich sie mit großen Mängeln und
groben Fehlem behaftet sein und nach und nach wichtiger Ver-
besserungen bedĂĽrfen mag, so ist es doch schlechterdings unerlaubt
und str&lich, ihr zu widerstehen: weil, wenn das Volk dieser.
IZ*
i8o Rechtslehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht
obgleich noch fehlerhaften Verfassung und der obersten Autorität
Gewalt entgegensetzen zu dĂĽrfen sich berechtigt hielte, es sich
dĂĽnken wĂĽrde, ein Recht zu haben: Gewalt an die Stelle der
alle Rechte zu oberst vorschreibenden Gesetzgebung zu setzen;
welches einen sich selbst zerstörenden obersten Willen abgeben
wĂĽrde.
Die Idee einer Staatsverfassung ĂĽberhaupt, welche zugleich
absolutes Gebot der nach RechtsbegrifFen urteilenden praktischen
Vernunft fĂĽr ein jedes Volk ist, ist heilig und unwiderstehlich;
und wenn gleich die Organisation des Staats durch sich selbst
fehlerhaft wäre, so kann doch keine subalterne Gewalt in dem-
selben dem gesetzgebenden Oberhaupte desselben tätlichen Wider-
stand entgegensetzen, sondern die ihm anhängenden Gebrechen
müssen durch Reformen, die er an sich selbst verrichtet, allmählich
gehoben werden: weil sonst bei einer entgegengesetzten Maxime
des Untertans (nach eigenmächtiger Willkür zu verfahren) eine
gute Verfassung selbst nur durch blinden Zufall zustande kommen
kann. — Das Gebot: „Gehorchet der Obrigkeit, die Gewalt über
euch hat," grĂĽbelt nicht nach, wie sie zu dieser Gewalt gekommen
sei (um sie allenfalls zu untergraben); denn die, welche schon
da ist, unter welcher ihr lebt, ist schon im Besitz der Gesetz-
gebung, über die ihr zwar öffentlich vernünfteln, euch aber selbst
nicht zu widerstrebenden Gesetzgebern aufwerfen könnt.
Unbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der an sich un-
vereinigt, mithin gesetzlos ist) unter einem souveränen (alle
durch Ein Gesetz vereinigenden) Willen ist Tat, die nur durch
Bemächtigung der obersten Gewalt anheben kann und so zuerst
ein öffentliches Recht begründet. — Gegen diese Machtvoll-
kommenheit noch einen Widerstand zu erlauben (der jene oberste
Gewalt einschränkete), heißt sich selbst widersprechen; denn als-
dann wäre jene (welcher widerstanden werden darf) nicht die
gesetzliche oberste Gewalt, die zuerst bestimmt, was öffentlich
recht sein soll oder nicht — und dieses Prinzip liegt schon
a priori in der Idee einer Staatsverfassung ĂĽberhaupt, d. i. in
einem Begriffe der praktischen Vernunft, dem zwar adäquat kein
Beispiel in der Erfahrung untergelegt werden kann, dem aber
auch als Norm keine widersprechen muĂź.
Die
Metaphysik der Sitten.
AbgefaĂźt
von
Immanuel Kant.
Zweiter Te il.
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde
der
Tugendlehre.
Vo r r e d e.
Wenn es ĂĽber irgend einen Gegenstand eine Philosophie
(System der Vernunfterkenntnis aus BegrifFen) gibt, so
muĂź es fĂĽr diese Philosophie auch ein System reiner, von aller
Anschauungsbedingung unabhängiger VernunftbegrifFe, d. i. eine
Metaphysik, geben. — Es fragt sich nur: ob es für jede
praktische Philosophie als Pflichtenlehre, mithin auch fĂĽr die
Tugendlehre (Ethik) auch metaphysischer AnfangsgrĂĽnde
bedĂĽrfe, um sie als wahre Wissenschaft (systematisch), nicht bloĂź
als Aggregat einzeln aufgesuchter Lehren (fragmentarisch) auf-
stellen zu können. — Von der reinen Rechtslehre wird niemand
dies Bedürfnis bezweifeln; denn sie betrifft nur das Förmliche
der nach Freiheitsgesetzen im äußeren Verhältnis einzuschränkenden
WillkĂĽr; abgesehen von allem Zweck (als der Materie derselben).
Die Pflichtenlehre ist also hier eine bloĂźe Wissenslehre (doc-
trina sc'tentiae).^
^) Ein der praktischen Philosophie Kundiger ist darum eben
nicht ein praktischer Philosoph. Der letztere ist derjenige, welcher
sich den Vernunftendzweck zum Grundsatz seiner Handlungen
macht, indem er damit zugleich das dazu nötige Wissen verbindet:
welches, da es aufs Tun abgezweckt ist, nicht eben bis zu den subtilsten
Fäden der Metaphysik ausgesponnen werden darf, wenn es nicht etwan
eine Rechtspflicht betrifft, als bei welcher auf der Wage der Gerechtig-
keit das Mein und Dein nach dem Prinzip der Gleichheit der Wir-
kung vmd Gegenwirkung genau bestimmt werden imd darum der mathe-
matischen Abgemessenheit analog fein muß; — sondern eine bloße
Tugendpflicht angeht. Denn da kommt es nicht bloĂź darauf an, zu
wissen, was zu tun Pflicht ist (welches wegen der Zwecke, die natĂĽr-
licherweise alle Menschen haben, leicht angegeben werden kann):
sondern vornehmlich auf das innere Prinzip des Willens, nämlich daß
184 Vo r r e de
In dieser Philosophie (der Tugendlehre) scheint es nun der
Idee derselben gerade zuwider zu sein, bis zu metaphysischen
AnfangsgrĂĽnden zurĂĽckzugehen, um den Pflichtbegriff, von
allem Empirischen (jedem GeFĂĽhl) gereinigt, doch zur Triebfeder
zu machen. Denn was kann man sich fĂĽr einen Begriff von der
hohen Kraft und herkulischen Stärke machen, die ausreichen sollte,
um die lastergebärende Neigungen zu überwältigen, wenn die
Tugend ihre Waffen aus der RĂĽstkammer der Metaphysik ent-
lehnen soll, welche eine Sache der Spekulation ist, die nur wenig
Menschen zu handhaben wissen? Daher fallen auch alle Tugend-
lehrcn in Hörsälen, von Kanzeln und in Volksbüchern, wenn sie
mit metaphysischen Brocken ausgeschmückt werden, ins Lächer-
liche. — Aber darum ist es doch nicht unnütz, viel weniger
lächerlich, den ersten Gründen der Tugendlehre in einer Meta-
physik nachzuspĂĽren; denn irgendeiner muĂź doch als Philosoph
auf die ersten GrĂĽnde dieses Pflichtbegriffs hinausgehen: weil
sonst weder Sicherheit noch Lauterkeit fĂĽr die Tugendlehre ĂĽber-
haupt zu erwarten wäre. Sich desfalls auf ein gewisses Gefühl,
welches man seiner davon erwarteten Wirkung halber moralisch
nennt, zu verlassen, kann auch wohl dem Volkslehrer gnĂĽgen:
indem dieser zum Probierstein einer Tugendpflicht, ob sie es sei
oder nicht, die Aufgabe zu beherzigen verlangt: „wie, wenn nun
ein jeder in jedem Fall deine Maxime zum allgemeinen Gesetz
machte, wĂĽrde eine solche wohl mit sich selbst zusammenstimmen
können?" Aber wenn es bloß Gefühl wäre, was auch diesen Satz
zum Probierstein zu nehmen uns zur Pflicht machte, so wäre
diese doch alsdann nicht durch die Vernunft diktiert, sondern nur
instinktmäßig, mithin blindlings dafür angenommen.
Allein kein moralisches Prinzip grĂĽndet sich in der Tat, wie
man wohl wähnt, auf irgendeinem Gefühl, sondern ein solches
Prinzip ist wirklich nichts anders, als dunkel gedachte Meta-
physik, die jedem Menschen in seiner Vernunftanlage beiwohnt;
wie der Lehrer es leicht gewahr wird, der seinen Lehrling ĂĽber
den Pflichtimperativ und dessen Anwendung auf moralische Be-
urteilung seiner Handlungen sokratisch zu katechisieren versucht. --
Der Vortrag desselben (die Technik) darf eben nicht allemal
das BewuĂźtsein dieser Pflicht zugleich Triebfeder der Handlungen
sei, um von dem, der mir seinem Wissen dieses Weisheitsprinzip ver-
knĂĽpft, zu sagen: daĂź er ein praktischer Philosoph sei.
Vo r r e d e 185
metaphysisch und die Sprache nicht notwendig scholastisch sein,
wenn jener den Lehrling nicht etwa zum Philosophen bilden
will. Aber der Gedanke muĂź bis auf die Elemente der Meta-
physik zurĂĽckgehen, ohne die keine Sicherheit und Kernigkeit,
ja selbst nicht einmal bewegende Kraft in der Tugendlehre zu er-
warten ist.
Geht man von diesem Grundsatze ab und fängt vom patho-
logischen, oder dem rein-ästhetischen, oder auch dem moralischen
GefĂĽhl (dem subjektiv-praktischen statt des objektiven) d. i. von
der Materie des Willens, dem Zweck, nicht von der Form des-
selben, d. i. dem Gesetz, an, um von da aus die Pflichten zu
bestimmen: so finden treiĂĽch keine metaphysischen Anfangs-
gründe der Tugendlehre statt — denn Gefühl, wodurch es auch
immer erregt werde? mag, ist jederzeit physisch. — Aber die
Tugendlehre wird alsdenn auch in ihrer Quelle, einerlei ob in
Schulen, oder Hörsälen u. s. w. verderbt. Derm es ist nicht
gleichviel, durch welche Triebfedern als Mittel man zu einer
guten Absicht (der Befolgung aller Pflicht) hingeleitet werde.
Es mag also den orakel- oder auch geniemäßig über Pflichten-
lehre absprechenden vermeinten Weisheitslehrern Metaphysik
noch so sehr anekeln: so ist es doch fĂĽr die, welche sich dazu
aufwerfen, unerläßliche Pflicht, selbst in der Tugendlehre zu jener
ihren Grundsätzen zurückzugehen und auf ihren Bänken vorerst
selbst die Schule zu machen.
Man muĂź sich hiebei billig wundern: wie es nach allen bis-
herigen Läuterungen des Pflichtprinzips, sofern es aus reiner Ver-
nunft abgeleitet wird, noch möglich war, es wiederum auf Glück-
seligkeitslehre zurĂĽckzufĂĽhren: doch so, daĂź eine gewisse
moralische GlĂĽckseligkeit, die nicht auf empirischen Ursachen
beruhete, zu dem Ende angedacht worden, welche ein sich selbst
widersprechendes Unding ist. — Der denkende Mensch nämlich,
wenn er ĂĽber die Anreize zum Laster gesiegt hat und seine oft
sauere Pflicht getan zu haben sich bewuĂźt ist, findet sich in einem
Zustande der Seelenruhe und Zufriedenheit, den man gar wohl
GlĂĽckseligkeit nennen kann, in welchem die Tugend ihr eigener
Lohn ist. — Nun sagt der Eu dämonist: diese Wonne, diese
GlĂĽckseligkeit ist der eigentliche Bewegungsgrund, warum er
i8(5 Vorrede
tugendhaft handelt. Nicht der Begriff der Pflicht bestimme un-
mittelbar seinen Willen, sondern nur vermittelst der im Prospekt
gesehnen Glückseligkeit werde er bewogen seine Pflicht zu tun. —
Nun ist aber klar, daĂź, weil er sich diesen Tugendlohn nur von
dem BewuĂźtsein seine Pflicht getan zu haben versprechen kann,
das letztgenannte doch vorangehen mĂĽsse; d. i. er muĂź sich ver-
bunden rinden, seine Pflicht zu tun, ehe er noch und ohne daĂź
er daran denkt, daĂź GlĂĽckseligkeit die Folge der Pflichtbcobachtung
sein werde. Er dreht sich also mit seiner Ă„tiologie im Zirkel
herum. Er kann nämlich nur hoffen, glücklich (oder innerlich
selig) zu sein, wenn er sich seiner Pflichtbeobachtung bewuĂźt ist;
er kann aber zur Beobachtung seiner Pflicht nur bewogen werden,
wenn er voraussieht, daĂź er sich dadurch glĂĽcklich machen
werde. — Aber es ist in dieser Vernünftelei auch ein Widerspruch.
Denn einerseits soll er seine Pflicht beobachten, ohne erst zu
fragen, welche Wirkung dieses auf seine GlĂĽckseligkeit haben
werde, mithin aus einem moralischen Grunde: andrerseits aber
kann er doch nur etwas fĂĽr seine Pflicht anerkennen, wenn er
auf GlĂĽckseligkeit rechnen kann, die ihm dadurch erwachsen wird,
mithin nach pathologischem Prinzip, welches gerade das Gegen-
teil des vorigen ist.
Ich habe an einem anderen Orte (der Berlinischen Monats-
schrift) den Unterschied der Lust, welche pathologisch ist, von
der moralischen, wie ich glaube, auf die einfachste AusdrĂĽcke
zurück geführt. Die Lust nämlich, welche vor der Befolgung
des Gesetzes hergehen muß, damit diesem gemäß gehandelt werde,
ist pathologisch, und das Verhalten folgt der Natur Ordnung;
diejenige aber, vor welcher das Gesetz hergehen muĂź, damit
sie empfunden werde, ist in der sittlichen Ordnung. Wenn
dieser Unterschied nicht beobachtet wird: wenn Eudämonie
(das GlĂĽckseligkeitsprinzip) statt der Eleutheronomie (des Frei-
heitsprinzips der innern Gesetzgebung) zum Grundsatze aufgestellt
wird, so ist die Folge davon Euthanasie (der sanfte Tod) aller
Moral.
Die Ursache dieser Irrungen ist keine andere als folgende. Der
kategorische Imperativ, aus dem diese Gesetze diktatorisch hervor-
gehen, will denen, die bloß an physiologische Erklärungen gewohnt
sind, nicht in den Kopf; unerachtet sie sich doch durch ihn un-
widerstehlich gedrungen fĂĽhlen. Der Unmut aber, sich das nicht
erklären zu können, was über jenen Kreis gänzlich hinaus hegt
Vorrede 187
(die Freiheit der WillkĂĽr), so seelenerhebend auch eben dieser
Vorzug des Menschen ist, einer solchen Idee fähig zu sein, reizt
durch die stolzen AnsprĂĽche der spekulativen Vernunft, die sonst
ihr Vermögen in andern Feldern so stark fühlt, die für die
Allgewalt der theoretischen Vernunft VerbĂĽndeten gleichsam zum
allgemeinen Aufgebot, sich jener Idee zu widersetzen und so den
moralischen Freiheitsbegriff jetzt und vielleicht noch lange, obzwar
am Ende doch vergeblich, anzufechten und womöghch verdächtig
zu machen.
Einleitung
zur Tugendlehre.
Ethik bedeutete in den alten Zeiten die Sittenlehre (j)hilo~
Sophia nioralis) ĂĽberhaupt, welche man auch die Lehre von
den Pflichten benannte. In der Folge hat man es ratsam
gefunden, diesen Namen auf einen Teil der Sittenlehre, nämlich auf
die Lehre von den Pflichten, die nicht unter äußeren Gesetzen
stehen, allein zu ĂĽbertragen (dem man im Deutschen den Namen
Tugendlehre angemessen gefunden hat): so daĂź jetzt das System
der allgemeinen Pflichtenlehre in das der Rechtslehre (jus'),
welche äußerer Gesetze fähig ist, und der Tugendlehre {Eth'tca)
eingeteilt wird, die deren nicht fähig ist; wobei es denn auch
sein Bewenden haben mag.
L
Erörterung des Begriffs einer Tugendlehre.
Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer
Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser
Zwang mag nun ein äußerer oder ein Selbstzwang sein. Der
moralische Imperativ verkĂĽndigt durch seinen kategorischen
Ausspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang, der also nicht
auf vernĂĽnftige Wesen ĂĽberhaupt (deren es etwa auch heilige
geben könnte), sondern auf Menschen als vernünftige Natur-
wesen geht, die dazu unheilig genug sind, daĂź sie die Lust wohl
anwandeln kann, das moralische Gesetz, ob sie gleich dessen An-
sehen selbst anerkennen, doch zu ĂĽbertreten und, selbst wenn
sie es befolgen, es dennoch ungern (mit Widerstand ihrer Neigung)
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre i8p
zu tun, als worin der Zwang eigentlich besteht.') — Da aber
der Mensch doch ein freies (moralisches) Wesen ist, so kann
der PflichtbegrifF keinen anderen als den Selbstzwang (durch
die Vorstellung des Gesetzes allein) enthalten, wenn es auf die
innere Willensbestimmung (die Triebfeder) angesehen ist, denn
dadurch allein wird es möglich, jene Nötigung (selbst wenn sie
eine äußere wäre) mit der Freiheit der Willkür zu vereinigen,
wobei aber alsdann der PflichtbegrifF ein ethischer sein wird.
Die Antriebe der Natur enthalten also Hindernisse der
Pflichtvollziehung im Gemüt des Menschen und (zum Teil mächtig)
widerstrebende Kräfte, die also zu bekämpfen und durch die
Vernunft nicht erst kĂĽnftig, sondern gleich jetzt (zugleich mit
dem Gedanken) zu besiegen er sich vermögend urteilen muß:
nämlich das zu können, was das Gesetz unbedingt befiehlt, daß
er tun soll.
Nun ist das Vermögen und der überlegte Vorsatz einem
starken aber ungerechten Gegner Widerstand zu tun die Tapferkeit
{^fort'ttudo) und in Ansehung des Gegners der sittlichen Gesinnung
in uns TUGEND (yirtus, fort'itudo moralis). Also ist die all-
gemeine Pflichtenlehre in dem Teil, der nicht die äußere Freiheit,
sondern die innere unter Gesetze bringt, eine Tugendlehre.
Die Rechtslehre hatte es bloĂź mit der formalen Bedingung
der äußeren Freiheit (durch die Zusammenstimmung mit sich selbst,
wenn ihre Maxime zum allgemeinen Gesetz gemacht wurde), d. i.
mit dem RECHT, zu tun. Die Ethik dagegen gibt noch eine Materie
^) Der Mensch aber findet sich doch als moralisches Wesen
zugleich, wenn er sich objektiv, wozu er durch seine reine praktische
Vernunft bestimmt ist, (nach der Menschheit in seiner eigenen Person)
betrachtet, heilig genug, um das innere Gesetz ungern zu ĂĽbertreten;
denn es gibt keinen so verruchten Menschen, der bei dieser Ăśbertretung
in sich nicht einen Widerstand fiihlete und eine Verabscheuung seiner
selbst, bei der er sich selbst Zwang antun muß. — Das Phänomen nun :
daß der Mensch auf diesem Scheidewege (wo die schöne Fabel den
Herkules zwischen Tugend und Wollust hinstellt) mehr Hang zeigt, der
Neigung als dem Gesetz Gehör zu geben, zu erklären ist unmöglich:
weil wir, was geschieht, nur erklären können, indem wir es von einer
Ursache nach Gesetzen der Natur ableiten; wobei wir aber die WillkĂĽr
nicht als frei denken wĂĽrden. - Dieser wechselseitig entgegengesetzte
Selbstzwang aber und die Unvermeidlichkeit desselben gibt doch die
unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit selbst zu erkennen.
ipo Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
(einen Gegenstand der freien WillkĂĽr), einen ZWECK der reinen
Vernunft, der zugleich als objektiv -notwendiger Zweck, d. i. fĂĽr
den Menschen als Pflicht, vorgestellt wird, an die Hand. — Denn
da die sinnlichen Neigungen zu Zwecken (als der Materie der
Willkür) verleiten, die der Pflicht zuwider sein können, so kann
die gesetzgebende Vernunh ihrem EinfluĂź nicht anders wehren,
als wiederum durch einen entgegengesetzten moralischen Zweck,
der also von der Neigung unabhängig a priori gegeben sein muß.
Zweck ist ein Gegenstand der WillkĂĽr (eines vernĂĽnftigen
Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung diesen
Gegenstand hervorzubringen bestimmt wird. — Nun kann ich
zwar zu Handlungen, die als Mittel auf einen Zweck gerichtet
sind, nie aber einen Zweck zu haben von anderen gezwungen
werden, sondern ich kann nur selbst mir etwas zum Zweck
machen. — Daß ich aber auch verbunden bin, mir irgend etw^as,
was in den Begrifl^en der praktischen Vernunh liegt, zum Zwecke
zu machen, mithin auĂźer dem formalen Bestimmungsgrunde der
Willkür (wie das Recht dergleichen enthält) noch einen materialen,
einen Zweck zu haben, der dem Zweck aus sinnlichen Antrieben
entgegengesetzt werden könne: dieses würde der BegriflF von einem
Zweck sein, der an sich selbst Pflicht ist; die Lehre des-
selben aber wĂĽrde nicht zu der des Rechts, sondern zur Ethik
gehören, als welche allein den Selbstzwang nach (moralischen)
Gesetzen in ihrem Begriffne mit sich fuhrt.
Aus diesem Grunde kann die Ethik auch als das System der
Zwecke der reinen praktischen Vernunft definiert werden. —
Zweck und Pflicht unterscheiden die zwei Abteilungen der all-
gemeinen Sittenlehre. DaĂź die Ethik Pflichten enthalte, zu deren
Beobachtung man von andern nicht (physisch) gezwungen werden
kann, ist bloĂź die Folge daraus, daĂź sie eine Lehre der Zwecke
ist, weil dazu (sie zu haben) ein Zwang sich selbst widerspricht.
Daß aber die Ethik eine Tugendlehre {äoctrina ofßciorum virtutis)
sei, folgt aus der obigen Erklärung der Tugend, verglichen mit der
Verpflichtung, deren Eigentümlichkeit soeben gezeiget worden. —
Es gibt nämlich keine andere Bestimmung der Willkür, die durch
ihren Begrifft schon dazu geeignet wäre, von der Willkür anderer
selbst physisch nicht gezwungen werden zu können, als nur die zu
einem Zwecke. Ein anderer kann mich zwar zwingen etwas
zu tun, was nicht mein Zweck (sondern nur Mittel zum Zweck
eines anderen) ist, aber nicht dazu, daĂź ich es mir zum Zweck
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlchre 191
mache, und doch kann ich keinen Zweck haben, ohne ihn mir
zu machen. Das letztere ist ein Widerspruch mit sich selbst:
ein Akt der Freiheit, der doch zugleich nicht frei ist. — Aber
sich selbst einen Zweck zu setzen, der zugleich Pflicht ist, ist
kein Widerspruch: weil ich da mich selbst zwinge, welches mit
der Freiheit gar wohl zusammen besteht.') — Wie ist aber ein
solcher Zweck möglich? das ist jetzt die Frage. Denn die Möglich-
keit des BegrifFs von einer Sache (daĂź er sich nicht widerspricht)
ist noch nicht hinreichend dazu, um die Möglichkeit der Sache
selbst (die objektive Realität des BegrifFs) anzunehmen.
II.
Erörterung des BegrifFs von einem Zwecke, der zugleich
Pflicht ist.
Man kann sich das Verhältnis des Zwecks zur Pflicht auf
zweierlei Art denken: entweder, von dem Zwecke ausgehend,
die Maxime der pflichtmäßigen Handlungen, oder umgekehrt,
von dieser anhebend, den Zweck ausfindig zu machen, der zu-
gleich Pflicht ist. — Die Rechtslehre geht auf dem ersten Wege.
Es wird jedermanns freier WillkĂĽr ĂĽberlassen, welchen Zweck er
sich fĂĽr seine Handlung setzen wolle. Die Maxime derselben
aber ist a priori bestimmt: daß nämlich die Freiheit des Handeln-
den mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz
zusammen bestehen könne.
Die Ethik aber nimmt einen entgegengesetzten Weg. Sie
kann nicht von den Zwecken ausgehen, die der Mensch sich
setzen mag und darnach ĂĽber seine zu nehmende Maximen, d. i.
^) Je weniger der Mensch physisch, je mehr er dagegen moralisch
(durch die bloĂźe Vorstellung der Pflicht) kann gezwungen werden,
desto freier ist er. — Der so z. B. von genugsam fester Entschließung
und starker Seele ist eine Lustbarkeit, die er sich vorgenommen hat,
nicht aufzugeben, man mag ihm noch so viel Schaden vorstellen, den er
sich dadurch zuzieht, aber auf die Vorstellung, daĂź er hiebei eine
Amtspflicht verabsäume, oder einen kranken Vater vernachlässige, von
seinem Vorsatz unbedenklich, obzwar sehr ungern, absteht, beweist
eben damit seine Freiheit im höchsten Grade, daß er der Stimme der
Pflicht nicht widerstehen kann.
ipi Metaphysische A^tfangs grĂĽnde der Tugendlehre
über seine Pflicht, verFügen; denn das wären empirische Gründe
der Maximen, die keinen Pflichtbegritf abgeben, als welcher (das
kategorische Sollen) in der reinen Vernunft allein seine Wurzel
hat; wie denn auch, wenn die Maximen nach jenen Zwecken
(welche alle selbstsĂĽchtig sind) genommen werden sollten, vom
Prtichtbegriff eigentlich gar nicht die Rede sein könnte. — Also
wird in der Ethik der Pflichtbegriff auf- Zwecke leiten und
die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen
sollen, nach moralischen Grundsätzen begründen müssen.
Dahin gestellt: was denn das fĂĽr ein Zweck sei, der an sich
selbst Pflicht ist, und wie ein solcher möglich sei, ist hier nur
noch zu zeigen nötig, daß und warum eine Pflicht dieser Art
den Namen einer Tugendpflicht fĂĽhre.
Aller Pflicht korrespondiert ein Recht, als Befugnis (^facultas
moralis generatim) betrachtet, aber nicht aller Pflicht korrespondieren
Rechte eines anderen (^facultas turidicd) jemand zu zwingen;
sondern diese heißen besonders Rechtspflichten. — Ebenso
korrespondiert aller ethischen Verbindlichkeit der Tugendbe-
griff^, aber nicht alle ethische Pflichten sind darum Tugendpflichten.
Diejenige nämlich sind es nicht, welche nicht sowohl einen ge-
wissen Zweck (Materie, Objekt der WillkĂĽr), als bloĂź das
Förmliche der sittlichen Willensbestimmung (z. B. daß die
pflichmäßige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse) be-
treflFen. Nur ein Zweck, der zugleich Pflicht ist, kann
TUGENDPFLICHT genarmt werden. Daher gibt es mehrere der
letztern (auch verschiedene Tugenden); dagegen von der ersteren
nur eine, aber fĂĽr alle Handlungen gĂĽltige (tugendhafte Gesinnung)
gedacht wird.
Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin
unterschieden: daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich
ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht. — Für
endliche heilige Wesen (die zur Verletzung der Pflicht gar nicht
einmal versucht werden können) gibt es keine Tugendlehre, sondern
bloĂź Sittenlehre, welche letztere eine Autonomie der praktischen
Vernunft ist, indessen daĂź die erstere zugleich eine Autokratie
derselben, d. i. ein, wenngleich nicht unmittelbar wahrgenommenes,
doch aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig geschlossenes
Bewußtsein des Vermögens enthält, über seine dem Gesetz
widerspenstige Neigungen Meister zu werden: so daĂź die mensch-
liche Moralität in ihrer höchsten Stufe doch nichts mehr als
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 15^3
Tugend sein kann; selbst wenn sie ganz rein (vom EinflĂĽsse aller
fremdartigen Triebfeder als der der Pflicht völlig frei) wäre, da
sie dann gemeiniglich als ein Ideal (dem man stets sich annähern
mĂĽsse) unter dem Namen des Weisen dichterisch personifiziert
wird.
Tugend ist aber auch nicht bloĂź als Fertigkeit und (wie
die Preisschrift des Hofpredigers Cochius sich ausdrĂĽckt) fĂĽr eine
lange, durch Ăśbung erworbene Gewohnheit moralisch-guter
Handlungen zu erklären und zu würdigen. Denn wenn diese
nicht eine Wirkung überlegter, fester und immer mehr geläuterter
Grundsätze ist, so ist sie wie ein jeder andere Mechanism aus
technisch-praktischer Vernunft weder auf alle Fälle gerüstet, noch
vor der Veränderung, die neue Anlockungen bewirken können,
hinreichend gesichert.
Anmerkung.
Der Tugend = + a ist die negative Untugend (mora-
lische Schwäche) = 0 als logisches Gegenteil (contradictorie
oppositum), das Laster aber = — a als Widerspiel (contrarie
s. realiter opposituni) entgegengesetzt, und es ist eine nicht
bloß unnötige, sondern auch anstößige Frage: ob zu großen
Verbrechen nicht etwa mehr Stärke der Seele als selbst zu
großen Tugenden gehöre. Denn unter Stärke der Seele
verstehen wir die Stärke des Vorsatzes eines Menschen, als
mit Freiheit begabten Wesens, mithin sofern er seiner selbst
mächtig (bei Sinnen) ist, also im gesunden Zustande des
Menschen. GroĂźe Verbrechen aber sind Paroxysmen, deren
Anblick den an Seele gesunden Menschen schaudern macht.
Die Frage wĂĽrde also etwa dahin auslaufen: ob ein Mensch
im Anfall einer Raserei mehr physische Stärke haben könne,
als wenn er bei Sinnen ist; welches man einräumen kann,
ohne ihm darum mehr Seelenstärke beizulegen, wenn man
unter Seele das Lebensprinzip des Menschen im freien Ge-
brauch seiner Kräfte versteht. Denn weil jene bloß in der
Macht der die Vernunft schwächenden Neigungen ihren
Grund haben, welches keine Seelenstärke beweiset, so würde
diese Frage mit der ziemlich auf einerlei hinauslaufen: ob
ein Mensch im Anfall einer Krankheit mehr Stärke als im
gesunden Zustande beweisen könne, welche geradezu ver-
neinend beantwortet werden kann, weil der Mangel der
Kants Schriften. Bd. VII. 13
194 Metaphysische Anfangsgrihide der Tugendlehre
Gesundheit, die im Gleichgewicht aller körperlichen Kräfte
des Menschen besteht, eine Schwächung im System dieser
KräFte ist, nach welchem man allein die absolute Gesundheit
beurteilen kann.
III.
Von dem Grunde sich einen Zweck, der zugleich Pflicht
ist, zu denken.
Zweck ist ein Gegenstand der freien WillkĂĽr, dessen
Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt, wodurch jener
hervorgebracht wird. Eine jede Handlung hat also ihren Zweck,
und da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegen-
stand seiner WillkĂĽr selbst zum Zweck zu machen, so ist es
ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wir-
kung der Natur irgendeinen Zweck der Handlungen zu haben.
Weil aber dieser Akt, der einen Zweck bestimmt, ein praktisches
Prinzip ist, welches nicht die Mittel (mithin nicht bedingt), sondern
den Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet, so ist es ein
kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft, mithin
ein solcher, der einen Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks ĂĽber-
haupt verbindet.
Es muĂź nun einen solchen Zweck und einen ihm korrespon-
dierenden kategorischen Imperativ geben. Denn da es freie Hand-
lungen gibt, so muĂź es auch Zwecke geben, auf welche als Objekt
jene gerichtet sind. Unter diesen Zwecken aber muĂź es auch
einige geben, die zugleich (d. i. ihrem Begriffe nach) Pflichten
sind. — Denn gäbe es keine dergleichen, so würden, weil doch
keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke fĂĽr die praktische
Vernunft immer nur als Mittel zu andern Zwecken gelten, und
ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich; welches alle
Sittenlehre aufhebt.
Hier ist also nicht von Zwecken, die der Mensch sich nach
sinnlichen Antrieben seiner Natur macht, sondern von Gegen-
ständen der freien Willkür unter ihren Gesetzen die Rede, welche
er sich zum Zweck machen soll. Man kann jene die technische
(subjektive), eigentlich pragmatische, die Regel der Klugheit in
der Wahl seiner Zwecke enthaltende: diese aber muĂź man die
moralische (objektive) Zwecklehre nennen; welche Unterscheidung
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 195
hier doch ĂĽberflĂĽssig ist, weil die Sittenlehre sich schon durch
ihren Begriff von der Naturlehre (hier der Anthropologie) deutlich
absondert, als welche letztere auf empirischen Prinzipien beruhet,
dagegen die moralische Zwecklehre, die von Pflichten handelt,
auf a priori in der reinen praktischen Vernunft gegebenen Prin-
zipien beruht.
IV.
Welche sind die Zwecke, die zugleich Pflichten sind?
Sie sind; Eigene Vollkommenheit — fremde Glückselig-
keit.
Man kann diese nicht gegeneinander umtauschen und eigene
GlĂĽckseligkeit einerseits mit fremder Vollkommenheit anderer-
seits zu Zwecken machen, die an sich selbst Pflichten derselben
Person wären.
Derm eigene GlĂĽckseligkeit ist ein Zweck, den zwar alle
Menschen (vermöge des Antriebes ihrer Natur) haben, nie aber
kann dieser Zweck als Pflicht angesehen werden^ ohne sich selbst
zu widersprechen. Was ein jeder unvermeidlich schon von selbst
will, das gehört nicht unter den Begriff von Pflicht; denn diese
ist eine Nötigung zu einem ungern genommenen Zweck. Es
widerspricht sich also zu sagen: man sei verpflichtet, seine
eigene Glückseligkeit mit allen Kräften zu befördern.
Ebenso ist es ein Widerspruch: eines anderen Vollkommen-
heit mir zum Zweck zu machen und mich zu deren Beförderung
fĂĽr verpflichtet zu halten. Denn darin besteht eben die Voll-
kommenheit eines andern Menschen, als einer Person, daĂź er
selbst vermögend ist, sich seinen Zweck nach seinen eigenen
Begriffen von Pflicht zu setzen, und es widerspricht sich, zu fordern
(mir zur Pflicht zu machen), daĂź ich etwas tun soll, was kein
anderer als er selbst tun kann.
ipö Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre
V.
Erläuterung dieser zwei Begriffe.
Eigene Vollkommenheit.
Das Wort Vollkommenheit ist mancher MiĂźdeutung aus-
gesetzt. Es wird bisweilen als ein zur Transzendentalphilosophie
gehörender Begriff der Allheit des Mannigfaltigen, was zusammen-
genommen ein Ding ausmacht, — dann aber auch, als zur
Teleologie gehörend, so verstanden, daß es die Zusammenstimmung
der Beschaffenheiten eines Dinges zu einem Zwecke bedeutet. Man
könnte die Vollkommenheit in der ersteren Bedeutung die
quantitative (materiale), in der zweiten die qualitative (formale)
Vollkommenheit nennen. Jene kann nur eine sein (denn das All
des einem Dinge Zugehörigen ist Eins). Von dieser aber kann
es in einem Dinge mehrere geben, und von der letzteren wird
hier auch eigentlich gehandelt.
Wenn von der dem Menschen ĂĽberhaupt (eigentlich der
Menschheit) zugehörigen Vollkommenheit gesagt wird: daß, sie
sich zum Zweck zu machen, an sich selbst Pflicht sei, so maĂź
sie in demjenigen gesetzt weiden, was Wirkung von seiner Tat
sein kann, nicht was bloĂź Geschenk ist, das er der Natur verdanken
muß; denn sonst wäre sie nicht Pflicht. Sie kann also nichts
anders sein als Kultur seines Vermögens (oder der Naturanlage),
in welchem der Verstand als Vermögen der Begriffe, mithin auch
deren, die auf Pflicht gehen, das oberste ist, zugleich aber auch
seines Willens (sitthcher Denkungsart) alier Pflicht ĂĽberhaupt
ein GnĂĽge zu tun. i) Es ist ihm Pflicht: sich aus der Rohigkeit
seiner Natur, aus der Tierheit {quoad actuni)^ immer mehr zur
Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen,
empor zu arbeiten: seine Unwissenheit durch Belehrung zu er-
gänzen und seine Irrtümer zu verbessern, und dieses ist ihm nicht
bloĂź die technisch-praktische Vernunft zu seinen anderweitigen
Absichten (der Kunst) anrätig, sondern die moralisch-praktische
gebietet es ihm schlechthin und macht diesen Zweck ihm zur
Pflicht, um der Menschheit, die in ihm wohnt, wĂĽrdig zu sein.
2) Die Kultur seines Willens bis zur reinesten Tugendgesinnung,
da nämlich das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflicht-
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 197
mäßigen Handlungen wird, zu erheben und ihm aus Pflicht zu
gehorchen, welches innere moralisch-praktische Vollkommenheit
ist, die, weil es ein GefĂĽhl der Wirkung ist, welche der in ihm
selbst gesetzgebende Wille auf das Vermögen ausübt darnach zu
handeln, das moralische GefĂĽhl, gleichsam ein besonderer Sinn
{sensus moralis\ ist, der zwar freilich oft schwärmerisch, als ob
er (gleich dem Genius des SOKRATES) vor der Vernunft vor-
hergehe, oder auch ihr Urteil gar entbehren könne, mißbraucht
wird, doch aber eine sittliche Vollkommenheit ist, jeden besonderen
Zweck, der zugleich Pflicht ist, sich zum Gegenstande zu machen.
B.
Fremde GlĂĽckseligkeit.
GlĂĽckseligkeit, d. i. Zufriedenheit mit seinem Zustande, sofern
man der Fortdauer derselben gewiĂź ist, sich zu wĂĽnschen und
zu suchen ist der menschlichen Natur unvermeidlich; eben darum
aber auch nicht ein Zweck, der zugleich Pflicht ist. — Da einige
noch einen Unterschied zwischen einer moralischen und physischen
GlĂĽckseligkeit machen (deren erstere in der Zufriedenheit mit
seiner Person und ihrem eigenen sittlichen Verhalten, also mit
dem, was man tut, die andere mit dem, was die Natur beschert,
mithin was man als fremde Gabe genieĂźt, bestehe): so muĂź
man bemerken, daĂź, ohne den MiĂźbrauch des Worts hier zu
rügen (das schon einen Widerspruch in sich enthält), die erstere
Art zu empfinden allein zum vorigen Titel, nämlich dem der
Vollkommenheit, gehöre. — Denn der, welcher sich im bloßen
BewuĂźtsein seiner RechtschaflTenheit glĂĽcklich fĂĽhlen soll, besitzt
schon diejenige Vollkommenheit, die im vorigen Titel fĂĽr den-
jenigen Zweck erklärt war, der zugleich Pflicht ist.
Wenn es also auf GlĂĽckseligkeit ankommt, worauf als meinen
Zweck hinzuwirken es Pflicht sein soll, so muĂź es die GlĂĽck-
seligkeit anderer Menschen sein, deren (erlaubten) Zweck ich
hiemit auch zu dem meinigen mache. Was diese zu ihrer
Glückseligkeit zählen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurteilen
ĂĽberlassen; nur daĂź mir auch zusteht, manches zu weigern, was
sie dazu rechnen, was ich aber nicht dafĂĽr halte, wenn sie sonst
kein Recht haben, es als das Ihrige von mir zu fordern. Jenem
Zweck aber eine vorgebliche Verbindlichkeit entgegen zu setzen.
1 9 8 Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
meine eigene (physische) GlĂĽcksehgkeit auch besorgen zu mĂĽssen,
und so diesen meinen natĂĽrlichen und bloĂź subjektiven Zweck
zur Pflicht (objektiven Zweck) machen, ist ein scheinbarer, mehr-
mals gebrauchter Einwurf gegen die obige Einteilung der Pflichten
(No. IV) und bedarf einer Zurechtweisung.
Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel sind große Ver-
suchungen zu Übertretung seiner Pflicht. Wohlhabenheit, Stärke,
Gesundheit und Wohlfahrt ĂĽberhaupt, die jenem EinflĂĽsse entgegen
stehen, können also auch, wie tz scheint, als Zwecke angesehen
werden, die zugleich Pflicht sind; nämlich seine eigene Glück-
seligkeit zu befördern und sie nicht bloß auf fremde zu richten. —
Aber alsdenn ist diese nicht der Zweck, sondern die Sittlichkeit
des Subjekts ist es, von welchem die Hindernisse wegzuräumen,
es bloĂź das erlaubte Mittel ist; da niemand anders ein Recht
hat, von mir Aufopferung meiner nicht unmoralischen Zwecke
zu fordern. Wohlhabenheit fĂĽr sich selbst zu suchen ist direkt
nicht Pflicht; aber indirekt kann es eine solche wohl sein: nämlich
Armut, als eine groĂźe Versuchung zu Lastern, abzuwehren. Als-
dann aber ist es nicht meine GlĂĽckseligkeit, sondern meine
Sittlichkeit, deren Integrität zu erhalten mein Zweck und zugleich
meine Pflicht ist.
VI.
Die Ethik gibt nicht Gesetze fĂĽr die Handlungen (denn
das tut das lus\ sondern nur fĂĽr die Maximen der
Handlungen.
Der Pflichtbegriff steht unmittelbar in Beziehung auf ein
Gesetz (wenn ich gleich noch von allem Zweck als der Materie
desselben abstrahiere); wie denn das formale Prinzip der Pflicht im
kategorischen Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deiner
Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne" es schon anzeigt;
nur daĂź in der Ethik dieses als das Gesetz deines eigenen
Willens gedacht wird, nicht des Willens ĂĽberhaupt, der auch
der Wille anderer sein könnte: wo es alsdenn eine Rechtspflicht
abgeben würde, die nicht in das Feld der Ethik gehört. — Die
Maximen werden hier als solche subjektive Grundsätze angesehen,
die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung bloĂź qualifizieren;
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 1 9 9
welches nur ein negatives Prinzip (einem Gesetz ĂĽberhaupt nicht
zu widerstreiten) ist. — Wie kann es aber dann noch ein Ge-
setz fĂĽr die Maxime der Handlungen geben?
Der Begriff eines Zwecks, der zugleich Pflicht ist, welcher
der Ethik eigentümlich zugehört, ist es allein, der ein Gesetz für
die Maximen der Handlungen begrĂĽndet, indem der subjektive
Zweck (den jedermann hat) dem objektiven (den sich jedermann
dazu machen soll) untergeordnet wird. Der Imperativ: „Du sollst
dir dieses oder jenes (z. B. die GlĂĽckseHgkeit anderer) zum Zweck
machen" geht auf die Materie der WillkĂĽr (ein Objekt). Da
nun keine freie Handlung möglich ist, ohne daß der Handelnde
hiebei zugleich einen Zweck (als Materie^ der WillkĂĽr) beabsichtigte,
so muĂź, wenn es einen Zweck gibt, der zugleich Pflicht ist, die
Maxime der Handlungen als Mittel zu Zwecken nur die Bedingung
der Qualifikation zu einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung
enthalten; wogegen der Zweck, der zugleich Pflicht ist, es zu
einem Gesetz machen kann, eine solche Maxime zu haben, indessen
daß für die Maxime selbst die bloße Möglichkeit zu einer ali-
gemeinen Gesetzgebung zusammenzustimmen schon genug ist.
Denn Maximen der Handlungen können willkürlich sein
und stehen nur unter der einschränkenden Bedingung der Habilität
zu einer allgemeinen Gesetzgebung, als formalem Prinzip der
Handlungen. Ein Gesetz aber hebt das WillkĂĽrliche der Hand-
lungen auf und ist darin von aller Anpreisung (da bloĂź die
schicklichsten Mittel zu einem Zwecke zu wissen verlangt werden)
unterschieden.
VIJ.
Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die
Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit.
Dieser Satz ist eine Folge aus dem vorigen ; denn wenn das
Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen
selbst gebieten kann, so ists ein Zeichen, daĂź es der Befolgung
(Observanz) einen Spielraum {latitudo) fĂĽr die freie WillkĂĽr ĂĽber-
lasse, d. i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wieviel durch
die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt
werden solle. — Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht
ZOO Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre*
eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen,
sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaximc durch
die andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Eltern-
liebe) verstanden, wodurch in der Tat das Feld fĂĽr die Tugend-
praxis erweitert wird. — Je weiter die Pflicht, je unvollkommener
also die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung ist, je näher
er gleichwohl die Maxime der Observanz derselben (in seiner
Gesinnung) der engen Pflicht (des Rechts) bringt, desto voll-
kommener ist seine Tugendhandlung.
Die unvollkommenenPflichten sind also alleinTugend pflichten.
Die ErfĂĽllung derselben ist Verdienst {vier'ttuiji) = + a: ihre
Übertretung aber ist nicht sofort Verschuldung {demerituin) = — a,
sondern bloĂź moralischer Unwert = 0, auĂźer wenn es dem
Subjekt Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen.
Die Stärke des Vorsatzes im ersteren heißt eigentlich allein Tugend
(yirtus), die Schwäche in der zweiten nicht sowohl Laster (yitium)
als vielmehr bloß Untugend, Mangel an moralischer Stärke
(defectus moralis). (Wie das Wort Tugend von taugen, so stammt
Untugend von zu nichts taugen.) Eine jede pflichtwidrige Hand-
lung heißt Übertretung {feccatuni). Die vorsätzliche Übertretung
aber, die zum Grundsatz geworden ist, macht eigentlich das aus,
was man Laster (yitium) nennt.
Obzwar die Angemessenheit der Handlungen zum Rechte
(ein rechtlicher Mensch zu sein) nichts Verdienstliches ist, so ist
doch die der Maxime solcher Handlungen, als Pflichten, d. i. die
Ach tun g fĂĽrs Recht, verdienstlich. Denn der Mensch macht
sich dadurch das Recht der Menschheit, oder auch der Menschen
zum Zweck und erweitert dadurch seinen Pflichtbegriff^ ĂĽber den
der Schuldigkeit (officium debin): weil ein anderer aus seinem
Rechte wohl Handlungen nach dem Gesetz, aber nicht daĂź dieses
auch zugleich die Triebfeder zu denselben enthalte, von mir fordern
kann. Eben dieselbe Bewandtnis hat es auch mit dem allgemeinen
ethischen Gebote: „Handle pflichtmäßig aus Pflicht." Diese Ge-
sinnung in sich zu grĂĽnden und zu beleben, ist so wie die vorige
verdienstlich: weil sie ĂĽber das Pflichtgesetz der Handlungen
hinausgeht und das Gesetz an sich zugleich zur Triebfeder
macht.
Aber eben darum mĂĽssen auch diese Pflichten zur weiten
Verbindlichkeit gezählt werden, in Ansehung deren ein subjektives
Prinzip ihrer ethischen Belohnung (und zwar um sie dem Be-
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 201
griffe einer engen Verbindlichkeit so nahe als möglich zu bringen),
d. i. der Empfänglichkeit derselben nach dem Tugendgesetze, statt-
findet, nämlich einer moralischen Lust, die über die bloße Zu-
friedenheit mit sich selbst (die bloĂź negativ sein kann) hinaus-
geht, und von der man rĂĽhmt, daĂź die Tugend in diesem Be-
wuĂźtsein ihr eigener Lohn sei.
Wenn dieses Verdienst ein Verdienst des Menschen um andere
Menschen ist, ihren natĂĽrlichen und von allen Menschen daFĂĽr
anerkannten Zweck zu befördern (ihre Glückseligkeit zu der
seinigen zu machen), so könnte man dies das süße Verdienst
nennen, dessen BewuĂźtsein einen moralischen GenuĂź verschafft,
in welchem Menschen durch Mitfreude zu schwelgen geneigt
sind; indessen daĂź das sauere Verdienst, anderer Menschen
wahres Wohl, auch wenn sie es fĂĽr ein solches nicht erkenneten,
(an Unerkenntlichen, Undankbaren) doch zu befördern, eine solche
RĂĽckwirkung gemeiniglich nicht hat, sondern nur Zufriedenheit
mit sich selbst bewirkt, obzwar es in letzterem Falle noch größer
sein wĂĽrde.
VIIL
Exposition der Tugendpflichten
als weiter Pflichten.
I. Eigene Vollkommenheit als Zweck, der zugleich
Pflicht ist.
a) Physische, d. i. Kultur aller Vermögen überhaupt zu
Beförderung der durch die Vernunft vorgelegten Zwecke. Daß
dieses Pflicht, mithin an sich selbst Zweck sei, und jener Bear-
beitung auch ohne Rücksicht auf den Vorteil, den sie uns gewährt,
nicht ein bedingter (pragmatischer), sondern unbedingter (moralischer)
Imperativ zum Grunde liege, ist hieraus zu ersehen. Das Ver
mögen, sich überhaupt irgendeinen Zweck zu setzen, ist das
Charakteristische der Menschheit (zum Unterschiede von der
Tierheit). Mit dem Zwecke der Menschheit in unserer eigenen
Person ist also auch der Vernunftwille, mithin die Pflicht verbunden.
Z02
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
sich um die Menschheit durch Kultur ĂĽberhaupt verdient zu
machen, sich das Vermögen zu Ausführung allerlei möglichen
Zwecke, sofern dieses in dem Menschen selbst anzutreffen ist,
zu verschaffen, oder es zu fördern, d. i. eine Pflicht zur Kultur
der rohen Anlagen seiner Natur, als wodurch das Tier sich aller-
erst zum Menschen erhebt: mithin Pflicht an sich selbst.
Allein diese Pflicht ist bloĂź ethisch, d. i. von weiter Ver-
bindlichkeit. W'^ie weit man in Bearbeitung (Erweiterung oder
Berichtigung seines Verstandesvermögens, d. i. in Kenntnissen oder
in Kunstfähigkeit) gehen solle, schreibt kein Vernunftprinzip be-
stimmt vor; auch macht die Verschiedenheit der Lagen, worin
Menschen kommen können, die WahJ der Art der Beschäftigung,
dazu er sein Talent anbauen soll, sehr willkürlich. — Es ist also
hier kein Gesetz der Vernunft fĂĽr die Handlungen, sondern bloĂź
für die Maxime der Handlungen, welche so lautet: „Baue deine
Gemüts- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an,
die dir aufstoßen können", ungewiß, welche davon einmal die
deinigen werden könnten.
b) Kultur der Moralität in uns. Die größte moralische
Vollkommenheit des Menschen ist: seine Pflicht zu tun und zwar
aus Pflicht (daĂź das Gesetz nicht bloĂź die Regel, sondern auch
die Triebfeder der Handlungen sei). — Nun scheint dieses zwar
beim ersten Anblick eine enge Verbindlichkeit zu sein und das
Pflichtprinzip zu jeder Handlung nicht bloß die Legalität, sondern
auch die Moralität, d. i. Gesinnung, mit der Pünktlichkeit und
Strenge eines Gesetzes zu gebieten; aber in der Tat gebietet das
Gesetz auch hier nur die Maxime der Handlung, nämlich
den Grund der Verpflichtung nicht in den sinnlichen Antrieben
(Vorteil oder Nachteil), sondern ganz und gar im Gesetz zu
suchen — mithin nicht die Handlung selbst. — — Denn es ist
dem Menschen nicht möglich, so in die Tiefe seines eigenen
Herzens einzuschauen, daĂź er jemals von der Reinigkeit seiner
moralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung auch
nur in einer Handlung völlig gewiß sein könnte; wenn er gleich
über die Legalität derselben gar nicht zweifelhaft ist. Vielmals
wird Schwäche, welche das Wagstück eines Verbrechens abrät,
von demselben Menschen für Tugend (die den Begrifft von Stärke
gibt) gehalten, und wie viele mögen ein langes schuldloses Leben
gefĂĽhrt haben, die nur GlĂĽckliche sind, so vielen Versuchungen
entgangen zu sein; wie viel reiner moralischer Gehalt bei jeder
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre . 203
Tat in der Gesinnung gelegen habe, das bleibt ihnen selbst ver-
borgen.
Also ist auch diese Pflicht, den Wert seiner Handlungen nicht
bloß nach der Legalität, sondern auch der Moralität (Gesinnung)
zu schätzen, nur von weiter Verbindhchkeit, das Gesetz gebietet
nicht diese innere Handlung im menschlichen GemĂĽt selbst,
sondern bloĂź die Maxime der Handlung, darauf nach allem Ver-
mögen auszugehen; daß zu allen pflichtmäßigen Handlungen der
Gedanke der Pflicht fĂĽr sich selbst hinreichende Triebfeder sei.
2. Fremde GlĂĽckseligkeit als Zweck, der zugleich
Pflicht ist.
a) Physische Wohlfahrt. Das Wohlwollen kann unbe-
grenzt sein; denn es darf hiebei nichts getan werden. Aber mit
dem Wohltun, vornehmlich wenn es nicht aus Zuneigung (Liebe)
zu anderen, sondern aus Pflicht, mit Aufopferung und Kränkung
mancher Konkupiszenz geschehen soll, geht es schwieriger zu. —
Daß diese Wohltätigkeit Pflicht sei, ergibt sich daraus: daß, weil
unsere SelbstHebe von dem BedĂĽrfnis, von anderen auch geliebet
zu werden (in Notfällen von ihnen Hülfe zu erhalten), nicht ge-
trennt werden kann, wir also uns zum Zweck fĂĽr andere machen
und diese Maxime niemals anders als bloĂź durch ihre Qualifikation
zu einem allgemeinen Gesetz, folglich durch einen Willen andere
auch fĂĽr uns zu Zwecken zu machen verbinden kann, fremde
GlĂĽckseligkeit ein Zweck sei, der zugleich Pflicht ist.
Allein ich soll mit einem Teil meiner Wohlfahrt ein Opfer
an andere ohne HoflFnung der Wiedervergeltung machen, weil es
Pflicht ist, und nun ist unmöglich, bestimmte Grenzen anzugeben:
wie weit das gehen könne. Es kommt sehr darauf an, was für
jeden nach seiner Empfindungsart wahres BedĂĽrfniĂź sein werde,
welches zu bestimmen jedem selbst ĂĽberlassen bleiben muĂź. Denn
mit Aufopferung seiner eigenen GlĂĽckseligkeit (seiner wahren
Bedürfnisse), anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst
widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Ge-
setz machte. Also ist diese Pflicht nur eine weite; sie hat einen
Spielraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne daĂź sich die
Grenzen davon bestimmt angeben lassen. — Das Gesetz gilt nur
fĂĽr die Maximen, nicht fĂĽr bestimmte Handlungen.
2 04 Metaphysische A'/iJangsgrünäe der Tugendlehre
b) Moralisches Wohlsein anderer {salubr'itas moral'ts) ge-
hört auch zu der Glückseligkeit anderer, die zu befördern für
uns Pflicht, aber nur negative Ptiicht ist. Der Schmerz, den ein
Mensch von Gewissensbissen fĂĽhlt, obzwar sein Ursprung moralisch
ist, ist doch der Wirkung nach physisch, wie der Gram, die
Furcht und jeder andere krankhafte Zustand. Zu verhĂĽten, daĂź
jenen dieser innere Vorwurf nicht verdienterweise treffe, ist nun
zwar eben nicht meine Pflicht, sondern seine Sache; wohl aber
nichts zu tun, was nach der Natur des Menschen Verleitung sein
könnte zu dem, worüber ihn sein Gewissen nachher peinigen
kann, welches man Skandal nennt. — Aber es sind keine be-
stimmte Grenzen, innerhalb welchen sich diese Sorgfalt fĂĽr die
moralische Zufriedenheit anderer halten lieĂźe; daher ruht auf ihr
nur eine weite Verbindlichkeit.
IX.
Was ist Tugendpflicht?
Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung
seiner Pflicht. — Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die
sie überwältigen kann; bei der Tugend aber sind diese die Natur-
neigungen, welche mit dem sittlichen Vorsatz in Streit kommen
können, und da der Mensch es selbst ist, der seinen Maximen
diese Hindernisse in den Weg legt, so ist die Tugend nicht bloĂź
ein Selbstzwang (denn da könnte eine Naturneigung die andere
zu bezwingen trachten), sondern auch ein Zwang nach einem
Prinzip der innern Freiheit, mithin durch die bloĂźe Vorstellung
seiner Pflicht nach dem formalen Gesetz derselben.
Alle Pflichten enthalten einen Begrifft der Nötigung durch
das Gesetz: die ethische eine solche, wozu nur eine innere, die
Rechts pflichten dagegen eine solche Nötigung, wozu auch eine
äußere Gesetzgebung möglich ist, beide also eines Zwanges, er
mag nun Selbstzwang oder Zwang durch einen andern sein: da
dann das moralische Vermögen des ersteren Tugend und die aus
einer solchen Gesinnung (der Achtung fĂĽrs Gesetz) entspringende
Handlung Tugendhandlung (ethisch) genannt werden kann, ob-
gleich das Gesetz eine Rechtspflicht aussagt. Denn es ist die
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 205
Tugendlehre, welche gebietet, das Recht der Menschen heilig
zu halten.
Aber was zu tun Tugend ist, das ist darum noch nicht soFort
eigentliche Tugendpflicht. Jenes kann bloĂź das Formale der
Maximen betreffen, diese aber geht auf die Materie derselben,
nämlich auf einen Zweck, der zugleich als Pflicht gedacht
wird. — Da aber die ethische Verbindlichkeit zu Zwecken, deren
es mehrere geben kann, nur eine weite ist. weil sie da bloĂź
ein Gesetz für die Maxime der Handlungen enthält und der
Zweck die Materie (Objekt) der WillkĂĽr ist, so gibt es viele
nach Verschiedenheit des gesetzlichen Zwecks verschiedene Pflichten,
welche Tugendpflichten (officia bonestatis) genannt werden;
eben darum, weil sie bloĂź dem freien Selbstzwange, nicht dem
anderer Menschen unterworfen sind, und die den Zweck bestimmen,
der zugleich Pflicht ist.
Die Tugend, als die in der festen Gesinnung gegrĂĽndete
Ăśbereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht, ist, wie alles
Formale, bloĂź eine und dieselbe. Aber in Ansehung des Zwecks
der Handlungen, der zugleich Pflicht ist, d. i. desjenigen (des
Materiale), was man sich zum Zwecke machen soll, kann es
mehr Tugenden geben, und die Verbindlichkeit zu der Maxime
desselben heiĂźt Tugendpflicht, deren es also viele gibt.
Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist: handle nach einer
Maxime der Zwecke, die zu haben fĂĽr jedermann ein allgemeines i
Gesetz sein kann. — Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl
sich selbst als andern Zweck, und es ist nicht genug, daĂź er
weder sich selbst noch andere bloĂź als Mittel zu brauchen befugt
ist (dabei' er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern
den Menschen ĂĽberhaupt sich zum Zwecke zu machen, ist an sich
selbst des Menschen Pflicht.
Dieser Grundsatz der Tugendlehre verstattet, als ein kategorischer
Imperativ, keinen Beweis, aber wohl eine Deduktion aus der
reinen praktischen Vernunft. — Was im Verhältnis der Menschen
zu sich selbst und anderen Zweck sein kann, das ist Zweck vor
der reinen praktischen Vernunft; denn sie ist ein Vermögen der
Zwecke ĂĽberhaupt, in Ansehung derselben indifferent sein, d. i.
kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch; weil
sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche
letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine
praktische Vernunft sein wĂĽrde. Die reine Vernunft aber kann
2 0Ă– j\letaphysische AnfangsgrĂĽnde der' Tugendlehre
a priori keine Zwecke gebieten, als nur sofern sie solche zugleich
als Prticht ankĂĽndigt; welche Pflicht alsdann Tugendpflicht heiĂźt.
X.
Das oberste Prinzip der Rechtslehre war analytisch; das
der Tugendlehre ist synthetisch.
Daß der äußere Zwang, sofern dieser ein dem Hindernisse
der nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden äußeren
Freiheit entgegengesetzter Widerstand (ein Hindernis des Hinder-
nisses derselben) ist, mit Zwecken ĂĽberhaupt zusammen bestehen
könne, ist nach dem Satz des Widerspruchs klar, und ich darf
nicht ĂĽber den Begriff der Freiheit hinausgehen, um ihn einzu-
sehen; der Zweck, den ein jeder hat, mag sein, welcher er
wolle. — Also ist das oberste Rechtsprinzip ein analytischer
Satz.
Dagegen geht das Prinzip der Tugendlehre ĂĽber den Begriff
der äußern Freiheit hinaus und verknüpft nach allgemeinen Ge-
setzen mit demselben noch einen Zweck, den es zur Pflicht
macht. Dieses Prinzip ist also synthetisch. — Die Möglichkeit
desselben ist in der Deduktion (§ IX) enthalten.
Diese Erweiterung des Pflichtbegriffs über den der äußeren
Freiheit und der Einschränkung derselben durch das bloße Förmliche
ihrer durchgängigen Zusammenstimmung, w^o die innere Freiheit
statt des Zwanges von außen, das Vermögen des Selbstzwanges
und zwar nicht vermittelst anderer Neigungen, sondern durch
reine praktische Vernunft (welche alle diese Vermittelung verschmäht),
aufgestellt wird, besteht darin und erhebt sich dadurch ĂĽber die
Rechtspflicht: daĂź durch sie Zwecke aufgestellt werden, von
denen überhaupt das Recht abstrahiert. — Im moralischen Imperativ
und der notwendigen Voraussetzung der Freiheit zum Behuf des-
selben machen das Gesetz, das Vermögen (es zu erfüllen) und
der die Maxime bestimmende Wille alle Elemente aus, welche
den Begriff der Rechtspflicht bilden. Aber in demjenigen, welcher
die Tugend p Flicht gebietet, kommt noch ĂĽber den Begriff eines
Selbstzwanges der eines Zwecks dazu, nicht den wir haben, sondern
haben sollen, den also die reine praktische Vernunft in sich hat,
deren höchster, unbedingter Zweck (der aber doch immer noch
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugend lehre 207
Pflicht ist) darin gesetzt wird: daĂź die Tugend ihr eigener Zweck
und bei dem Verdienst, das sie um den Mcnsclien hat, auch ihr
eigener Lohn sei, (wobei sie als Ideal so glänzt, daß sie nach
menschlichem AugenmaĂź die Heiligkeit selbst, die zur Ăśber-
tretung nie versucht wird, zu verdunkeln scheint'); welches gleichwohl
eine Täuschung ist, da, weil wir kein Maß für den Grad einer
Stärke, als die Größe der Hindernisse haben, die da haben über-
wunden werden können (welche in uns die Neigungen sind),
wir die subjektive Bedingungen der Schätzung einer Größe für
die objektive der Größe an sich selbst zu halten verleitet
werden). Aber mit menschlichen Zwecken, die insgesamt
ihre zu bekämpfende Hindernisse haben, verglichen, hat es seine
Richtigkeit, daĂź der Wert der Tugend selbst, als ihres eigenen
Zwecks, den Wert alles Nutzens und aller empirischen Zwecke
und Vorteile weit ĂĽberwiege, die sie zu ihrer Folge immerhin
haben mag.
Man kann auch gär wohl sagen: der Mensch sei zur Tugend
(als einer moralischen Stärke) verbunden. Denn obgleich das
Vermögen (^facultas) der Überwindung aller sinnlich entgegen-
wirkenden Antriebe seiner Freiheit halber schlechthin vorausge-
setzt werden kann und muß: so ist doch dieses Vermögen als
Stärke (robur) etwas, was erworben werden muß, dadurch, daß
die moralische Triebfeder (die Vorstellung des Gesetzes) durch
Betrachtung (contemplatione) der WĂĽrde des reinen Vernunftgesetzes
in uns, zugleich aber auch durch Ăśbung {exerckio) erhoben
wird.
') Der Mensch mit seinen Mängeln
Ist besser als das Heer von willenlosen Engeln.
Haller.
2o8 Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
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Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 209
XII.
Ästhetische VorbegrifFe der Empfänglichkeit des Gemüts
fĂĽr PflichtbegrifFe ĂĽberhaupt.
Es sind solche moralische Beschaffenheiten, die, wenn man
sie nicht besitzt, es auch keine Pflicht geben kann, sich in ihren
Besitz zu setzen. — Sie sind das moralische Gefühl, das Ge-
wissen, die Liebe des Nächsten und die Achtung für sich selbst
(Selbstschätzung), welche zu haben, es keine Verbindlichkeit
gibt: weil sie als subjektive Bedingungen der Empfänglichkeit
fĂĽr den Pflichtbegriff^, nicht als objektive Bedingungen der Mora-
lität zum Grunde liegen. Sie sind insgesamt ästhetisch und
vorhergehende, aber natĂĽrliche GemĂĽtsanlagen, (^praedispositio) durch
Pflichtbegriffe affiziert zu werden; welche Anlagen zu haben nicht
als Pflicht angesehen werden kann, sondern die jeder Mensch hat,
imd kraft deren er verpflichtet werden karm. — Das Bewußtsein
derselben ist nicht empirischen Ursprungs, sondern kann nur auf
das eines morahschen Gesetzes, als Wirkung desselben aufs Ge-
mĂĽt, folgen.
a.
Das moralische GefĂĽhl.
Dieses ist die Empfänghchkeit für Lust oder Unlust bloß aus
dem BewuĂźtsein der Ăśbereinstimmung oder des Widerstreits unserer
Handlung mit dem Pflichtgesetze. Alle Bestimmung der WillkĂĽr
aber geht von der Vorstellung der möghchen Handlung durch
das GefĂĽhl der Lust oder Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein
Interesse zu nehmen, zur Tat; wo der ästhetische Zustand (der
Affizierung des inneren Sirmes) nun entweder ein pathologisches
oder moralisches Gefühl ist. — Das erstere ist dasjenige Ge-
fĂĽhl, welches vor der Vorstellung des Gesetzes vorhergeht, das
letztere das, was nur auf diese folgen kann.
Nun kann es keine Pflicht geben, ein moraĂśsches GefĂĽhl zu
haben, oder sich ein solches zu erwerben; denn alles BewuĂźtsein
der Verbindlichkeit legt dieses GefĂĽhl zum Grunde, um sich der
Nötigung, die im Pflichtbegriffe hegt, bewußt zu werden: "sondern
ein jeder Mensch (als ein moralisches Wesen) hat es ursprĂĽnglich
in sich; die Verbindlichkeit aber kann nur darauf gehen, es zu
kultivieren und selbst durch die Bewunderung seines unerforsch-
Kants Schriften. Bd. VII. I4
Z I o
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
liehen Ursprungs zu verstärken; welches dadurch geschieht, daß
gezeigt wird, wie es abgesondert von allem pathologischen Reize
und in seiner Reinigkeit, durch bloĂźe Vernunftvorstellung, eben
am stärksten erregt wird.
Dieses GeFĂĽhl einen moralischen Sinn zu nennen, ist nicht schick-
lich; denn unter dem Wort Sinn wird gemeinigĂĽch ein theore-
tisches, auF einen Gegenstand bezogenes Wahrnehmungsvermögen
verstanden: dahingegen das moralische GefĂĽhl (wie Lust und Un-
lust ĂĽberhaupt) etwas bloĂź Subjektives ist, was kein Erkenntnis
abgibt. — Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn
bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung wäre er sitt-
lich tot, und wenn (um in der Sprache der Ă„rzte zu reden) die
sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses GeirĂĽhl bewirken
könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach chemischen
Gesetzen) in die bloße Tierheit auflösen und mit der Masse
anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden. — Wir
haben aber für das (Sittlich-)Gute und Böse ebensowenig einen
besonderen Sinn, als wir einen solchen fĂĽr die Wahrheit haben,
ob man sich gleich oft so ausdrückt, sondern Empfänglichkeit
der freien WillkĂĽr fĂĽr die Bewegung derselben durch praktische
reine Vernunft (und ihr Gesetz), und das ist es, was wir das
morahsche GefĂĽhl nennen.
b.
Vom Gewissen.
Ebenso ist das Gewissen nicht etwas Erwerbliches, und es
gibt keine Pflicht, sich eines anzuschaffen; sondern jeder Mensch,
als sittliches Wesen, hat ein solches ursprĂĽnglich in sich. Zum
Gewissen verbunden zu sein, wĂĽrde so viel sagen als: die Pflicht
auf sich haben, Pflichten anzuerkennen. Denn Gewissen ist die
dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Los-
sprechen oder Verurteilen vorhaltende praktische Vernunft. Seine
Beziehung also ist nicht die auf ein Objekt, sondern bloĂź aufs
Subjekt (das moralische GetĂĽhl durch ihren Akt zu affizieren);
also eine unausbleibliche Tatsache, nicht eine Obliegenheit und
Pflicht. Wenn man daher sagt: dieser Mensch hat kein Gewissen,
so meint man damit: er kehrt sich nicht an den Ausspruch des-
selben. Denn hätte er wirklich keines, so würde er sich auch
nichts als pflichtmäßig zurechnen, oder als pflichtwidrig vorwerfen.
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
Z 1 I
mithin auch selbst die Pflicht, ein Gewissen zu haben, sich gar
nicht denken* können.
Die mancherlei Einteilungen des Gewissens gehe ich noch hier
vorbei und bemerke nur, was aus dem eben AngefĂĽhrten folgt:
daß nämlich ein irrendes Gewissen ein Unding sei. Denn in
dem objektiven Urteile, ob etwas Pflicht sei oder nicht, kann
man wohl bisweilen irren; aber im subjektiven, ob ich es mit
meiner praktischen (hier richtenden) Vernunft zum Behuf jenes
Urteils verglichen habe, kann ich nicht irren, weil ich alsdann
praktisch gar nicht geurteilt haben wĂĽrde; in welchem Fall weder
Irrtum noch Wahrheit statt hat. Gewissenlosigkeit ist nicht
Mangel des Gewissens, sondern Hang, sich an dessen Urteil nicht
zu kehren. Wenn aber jemand sich bewuĂźt ist, nach Gewissen
gehandelt zu haben, so kann von ihm, was Schuld oder Unschuld
betriflt, nichts mehr verlangt werden. ÂŁs liegt ihm nur ob, seinen
Verstand über das, was Pflicht ist oder nicht, aufzuklären: wenn
es aber zur Tat kommt oder gekommen ist, so spricht das Ge-
wissen unwillkĂĽrlich und unvermeidlich. Nach Gewissen zu
handeln, kann also selbst nicht Pflicht sein, weil es sonst noch ein
zweites Gewissen geben mĂĽĂźte, um sich des Akts des erstercn
bewuĂźt zu werden.
Die Pflicht ist hier nur, sein Gewissen zu kultivieren, die Auf-
merksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und
alle Mittel anzuwenden (mithin nur indirekte Pflicht), um ihm
Gehör zu verschaffen.
c.
Von der Menschenliebe.
Liebe ist eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens,
und ich kann nicht lieben, weil ich will, noch weniger aber
weil ich soll (zur Liebe genötigt werden); mithin ist eine Pflicht
zu lieben ein Unding. Wohlwollen (amor benevolentiae) aber
kann als ein Tun einem Pflichtgesetz unterworfen sein. Man
nennt aber oftmals ein uneigennĂĽtziges Wohlwollen gegen Men-
schen auch (obzwar sehr uneigentlich) Liebe; ja, wo es nicht um
des andern Glückseligkeit, sondern die" gänzUche und freie Er-
gebung aller seiner Zwecke in die Zwecke eines anderen (selbst
eines ĂĽbermenschhchen) Wesens zu tun ist, spricht man von Liebe,
die zugleich für uns Pflicht sei. Aber alle Pflicht ist Nötigung,
ein Zwang, wenn er auch ein Selbstzwang nach einem Gesetz sein
14*
Z I 2
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
sollte. Was man aber aus Zwang tut, das geschieht nicht aus
Liebe.
Anderen Menschen nach unserem Vermögen wohl zutun ist
Pflicht, man mag sie lieben oder nicht, und diese Pflicht verliert nichts
an ihrem Gewicht, wenn man gleich die traurige Bemerkung
machen mĂĽĂźte, daĂź unsere Gattung, leider! dazu nicht geeignet
ist, daß, wenn man sie näher kennt, sie sonderlich liebenswürdig
befunden werden dürfte. — Menschenhaß aber ist jederzeit
häßlich, wenn er auch ohne tätige Anfeindung bloß in der
gänzlichen Abkehrung von Menschen (der separatistischen Misan-
thropie) bestände. Denn das Wohlwollen bleibt immer Pflicht
selbst gegen den Menschenhasser, den man freilich nicht lieben
aber ihm doch Gutes erweisen kann.
Das Laster aber am Menschen zu hassen ist weder Pflicht noch
pflichtwidrig, sondern ein bloßes Gefühl des Abscheues vor dem»
selben, ohne daĂź der Wille darauf, oder umgekehrt dieses GefĂĽhl
auf den Willen einigen Einfluß hätte. Wohltun ist Pflicht. Wer
diese oft ausübt, und es gelingt ihm mit seiner wohltätigen Ab-
sicht, kommt endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohl
getan hat, wirkUch zu lieben. Wenn es also heiĂźt: du sollst
deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du
sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nach-
her) wohltun, sondern: tue deinem Nebenmenschen wohl, und
dieses Wohltun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung
zum Wohltun ĂĽberhaupt) in dir bewirken!
Die Liebe des Wohlgefallens {avior complacent'tae) wĂĽrde
also allein direkt sein. Zu dieser aber (als einer unmittelbar mit der
Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbundenen Lust)
eine Pflicht zu haben, d. i. zur Lust woran genötigt werden zu
mĂĽssen, ist ein Widerspruch.
Von der Achtung.
Achtung [reverentia) ist eben sowohl etwas bloĂź Subjektives;
ein GefĂĽhl eigener Art, nicht ein Urteil ĂĽber einen Gegenstand,
den zu bewirken oder zu befördern es eine Pflicht gäbe. Denn
sie könnte, als Pflicht betrachtet, nur durch die Achtung, die
wir vor ihr haben, vorgestellt werden. Zu dieser also eine Pflicht
zu haben wĂĽrde so viel sagen, als zur Pflicht verpflichtet werden.
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugend! ehre
^M
— Wenn es demnach heißt: Der Mensch hat eine Pflicht der
Selbstschätzung, so ist das unrichtig gesagt, und es müßte viel-
mehr heiĂźen: das Gesetz in ihm zwingt ihm unvermeidlich Ach-
tung fĂĽr sein eigenes Wesen ab, und dieses GefĂĽhl (welches von
eigner Art ist) ist ein Grund gewisser Pflichten, d. i. gewisser
Handlungen, die mit der Pflicht gegen sich selbst zusammen be-
stehen können, nicht er habe eine Pflicht der Achtung gegen
sich; denn er muĂź Achtung vor dem Gesetz sich in selbst haben,
um sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können.
XIII.
Allgemeine Grundsätze der Metaphysik der Sitten in
Behandlung einer reinen Tugendlehre.
Erstlich: FĂĽr Eine Pflicht kann auch nur ein einziger Grund
der Verpflichtung gefunden werden, und werden zwei oder mehrere
Beweise darĂĽber gefĂĽhrt, so ist es ein sicheres Kennzeichen, daĂź
man entweder noch gar keinen gĂĽltigen Beweis habe, oder es
auch mehrere und verschiedne Pflichten sind, die man fĂĽr Eine
gehalten hat.
Denn alle moralische Beweise können, als pLüluaopliischc, nur
vermittelst einer Vernunfterkenntnis aus Begriffen, nicht, wie
die Mathematik sie gibt, durch die Konstruktion der Begriffe ge-
fĂĽhrt werden; die letzt ern verstatten Mehrheit der Beweise eines
und desselben Satzes; weil in der Anschauung a priori es
mehrere Bestimmungen der Beschaffenheit eines Objekts geben
kann, die alle auf ebendensdlben Grund zurückführen. — Wenn
z. B. fĂĽr die Pflicht der Wahrhaftigkeit ein Beweis ersthch aus
dem Schaden, den die LĂĽge andern Menschen verursacht, dann
aber auch aus der NichtswĂĽrdigkeit eines LĂĽgners und de^
Verletzung der Achtung gegen sich selbst gefĂĽhrt werden will, so
ist im ersteren eine Pflicht des Wohlwollens, nicht eine der
Wahrhaftigkeit, mithin nicht diese, von der man den Beweis ver-
langte, sondern eine andere Pflicht bewiesen worden. — Was
aber die Mehrheit der Beweise fĂĽr einen und denselben Satz be-
trifft, womit man sich tröstet, daß die Menge der Gründe den
Mangel am Gewicht eines jeden einzeln genommen ergänzen
werde, so ist dieses ein sehr unphilosophischer Behelf: weil er
2 1 4 Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
Hinterlist und Unredlichkeit verrät — denn verschiedene unzu-
reichende Gründe, nebeneinander gestellt, ergänzen nicht der
eine den Mangel des anderen zur GewiĂźheit, ja nicht einmal zur
Wahrscheinlichkeit. Sie mĂĽssen als Grund und Folge in einer
Reihe bis zum zureichenden Grunde fortschreiten und können
auch nur auf solche Art beweisend sein. — Und gleichwohl ist
dies der gewöhnliche Handgriff der Überredungskunst.
Zweitens. Der Unterschied der Tugend vom Laster kann
nie in Graden der Befolgung gewisser Maximen, sondern
muß allein in der spezifischen Qualität derselben (dem Verhält-
nis zum Gesetz) gesucht werden; mit andern Worten, der belobte
Grundsatz (des Aristoteles), die Tugend in dem Mittleren
zwischen zwei Lastern zu setzen, ist falsch." Es sei z. B. gute
Wirtschaft, als das Mittlere zwischen zwei Lastern, Verschwen-
dung und Geiz, gegeben: so kann sie als Tugend nicht durch die
allmähliche Verminderung des ersten beider genannten Laster (Er-
sparung), noch durch die Vermehrung der Ausgaben des dem
letzteren Ergebenen als entspringend vorgestellt werden: indem sie
sich gleichsam nach entgegengesetzten Richtungen in der guten
Wirtschaft begegneten; sondern eine jede derselben hat ihre eigene
Maxime, die der andern notwendig widerspricht.
Ebensowenig und aus demselben Grunde kann kein Laster
überhaupt durch eine größere Ausübung gewisser Absichten, als
es zweckmäßig ist (e. g. Prodigalitas est excessus in cousumendis
opibus), oder durch die kleinere Bewirkung derselben, als sich
schickt (<?. g. Avaritia est defectus etc.'), erklärt werden. Denn da
hiedurch der Grad gar nicht bestimmt wird, auf diesen aber, ob
' Die gewöhnlichen, der Sprache nach ethisch-klassische Formeln:
medio tutissimus ihis; omue nimitim vertitur in vitium; est modus in rebus,
etc.; medium tenuere beati; insani sapiens nomen ferat etc. enthalten eine
schale Weisheit, die gar keine bestimmte Prinzipien hat: denn dieses
Mirtlere zwischen zwei äußeren Enden, wer will mir es angeben? Der
Geiz (als Laster) ist von der Sparsamkeit (als Tugend) nicht darin
unterschieden, daĂź diese zu weit getrieben wird, sondern hat ein ganz
anderes Prinzip (Maxime), nämlich den Zweck der Haushaltung nicht
im Genuß seines Vermögens, sondern mit Entsagung auf denselben
bloĂź im Besitz desselben zu setzen: so wie das Laster der Ver-
schwendung nichr im Übermaße des Genusses seines Vermögens,
sondern in der schlechten Maxime zu suchen ist, die den Gebrauch,
ohne auf die Erhaltung desselben zu sehen, zum alleinigen Zweck macht.
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
215
das Betragen pflichtmäßig sei oder nicht, alles ankommt: so kann
es nicht zur Erklärung dienen.
Drittens; die ethischen Pflichten mĂĽssen nicht nach den dem
Menschen beigelegten Vermögen dem Gesetz Gnüge zu leisten,
sondern umgekehrt: das sitthche Vermögen muß nach dem Gesetz
geschätzt werden, welches kategorisch gebietet: also nicht nach
der empirischen Kenntnis, die wir vom Menschen haben, wie sie
sind, sondern nach der rationalen, wie sie der Idee der Mensch-
heit gemäß sein sollen. Diese drei Maximen der wissenschaftlichen
Behandlung einer Tugendlehre sind den älteren Apophthegmen
entgegengesetzt:
i) Es ist nur eine Tugend und nur ein Laster.
2) Tugend ist die Beobachtung der MittelstraĂźe zwischen ent-
gegengesetzten Meinungen.
3) Tugend muĂź (gleich der Klugheit) der Erfahrung abgelernt
w^erden.
Von der Tugend ĂĽberhaupt.
Tugend bedeutet eine moralische Stärke des Willens, Aber
dies erschöpft noch nicht den Begrifft; denn eine solche Stärke
könnte auch einem heiligen (übermenschhchen) Wesen zukommen,
in welchem kein hindernder Antrieb dem Gesetze seines Willens
entgegenwirkt; das also alles dem Gesetz gemäß gerne tut. Tugend
ist also die moralische Stärke des Willens eines Menschen in
Befolgung seiner Pflicht: welche eine moralische Nötigung
durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich
zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst konstituiert. —
Sie ist nicht selbst, oder sie zu besitzen ist nicht Pflicht (denn
sonst wĂĽrde es eine Verpflichtung zur Pflicht geben mĂĽssen), son-
dern sie gebietet und begleitet ihr Gebot durch einen sittHchen
(nach Gesetzen der inneren Freiheit möglichen) Zwang; wozu
aber, weil er unwiderstehlich sein soll, Stärke erforderlich ist,
deren Grad wir nur durch die Größe der Hindernisse, die der
Mensch durch seine Neigungen sich selber schafft, schätzen können.
Die Laster, als die Brut gesetzwidriger Gesinnungen sind die Un-
geheuer, die er nun zu bekämpfen hat: weshalb diese sittliche Stärke
auch, als Tapferkeit (fortltucio moralis), die größte und einzige
wahre Kriegsehre des Menschen ausmacht; auch wird sie die
eigentliche, nämlich praktische, Weisheit genannt: weil sie den
Endzweck des Daseins der Menschen auf Erden zu dem ihrigen
z 1 6 Metaphysische AnfangsgrĂĽjide der Tugendlehre
macht. — In ihrem Besitz ist der Mensch allein frei, gesund,
reich, ein König usw. und kann weder durch Zufall noch Schick-
sal einbĂĽĂźen: weil er sich selbst besitzt, und der Tugendhafte seine
Tugend nicht verlieren kann.
Alle Hochpreisungen, die das Ideal der Menschheit in ihrer
moralischen Vollkommenheit betreffen, können durch die Beispiele
des Widerspiels dessen, was die Menschen jetzt sind, gewesen sind,
oder vermutlich kĂĽnftig sein werden, an ihrer praktischen Reali-
tät nichts verlieren, und die Anthropologie, welche aus bloßen
Erfahrungserkenntnissen hervorgeht, kann der Anthroponomie,
welche von der unbedingt gesetzgebenden Vernunft aufgestellt
wird, keinen Abbruch tun, und wiewohl Tugend (in Beziehung
auf Menschen, nicht aufs Gesetz) auch hin und wieder verdienst-
lich heiĂźen und einer Belohnung wĂĽrdig sein kann, so muĂź sie
doch fĂĽr sich selbst, so wie sie ihr eigener Zweck ist, auch als
ihr eigener Lohn betrachtet werden.
Die Tugend, in ihrer ganzen Vollkommenheit betrachtet, wird
also vorgestellt, nicht wie der Mensch die Tugend^ sondern als
ob die Tugend den Menschen besitze: weil es im ersteren Falle
so aussehen würde, als ob er noch die Wahl gehabt hätte (wozu
er alsdann noch einer andern Tugend bedĂĽrfen wĂĽrde, um die
Tugend vor jeder anderen angebotenen Ware zu erlesen). — Eine
Mehrheit der Tugenden sich zu denken (wie es denn unvermeid-
lich ist) ist nichts anderes, als rieh verschiedne moralische Gegen-
stände denken, auf die der Wille aus dem einigen Prinzip der
Tugead geleitet wird; ebenso ist es mit den entgegenstehenden
Lastern bewandt. Der Ausdruck, der beide verpersönlicht, ist eine
ästhetische Maschinerie, die aber doch auf einen mora'ischen Smn
hinweiset. — Daher ist eine Ästhetik der Sitten zwar nicht ein
Teil, aber doch eine subjektive Darstellung der Metaphysik der-
selben: wo die Gefühle, welche die nötigende Kraft des mora-
lischen Gesetzes begleiten, jener ihre Wirksamkeit empfindbar
machen (z. B. Ekel, Grauen usw., welche den moralischen Wider-
willen versinnlichen), um der bloĂź-sinnlichen Anreizung den
Vorrang abzugewinnen.
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 1 1 7
XIV.
Vom Prinzip der Absonderung der Tugendlehre von der
Rechtslehre.
Diese Absonderung, auf welcher auch die Obereinteilung der
Sittenlehre ĂĽberhaupt beruht, grĂĽndet sich darauf; daĂź der Be-
griff der Freiheit, der jenen beiden gemein ist, die Einteilung
in die Pflichten der äußeren und inneren Freiheit notwendig
macht; von denen die letztern allein ethisch sind. — Daher muß
diese und zwar als Bedingung aller Tugendpflicht (so wie oben
die Lehre vom Gewissen als Bedingung aller Pflicht ĂĽberhaupt)
als vorbereitender Teil (^discursus praehminaris) vorangeschickt
werden.
Anmerkung.
Von der Tugendlehre nach dem Prinzip der inneren
Freiheit.
Fertigkeit (babitus) ist eine Leichtigkeit zu handeln und
eine subjektive Vollkommenheit der Willkür. — Nicht jede
solche Leichtigkeit aber ist eine freie Fertigkeit Qjobitus
Jibertaihy, denn wenn sie Angewohnheit (assiietudo), d. i.
durch öfters wiederholte Handlung zur Notwendigkeit
gewordene Gleichförmigkeit derselben ist, so ist sie keine
aus der Freiheit hervorgehende, mithin auch nicht morahschc
Fertigkeit. Die Tugend kann man also nicht durch die
Fertigkeit in freien gesetzmäßigen Handlungen definieren,
wohl aber, wenn hinzugesetzt würde, „sich durch die Vor-
stellung des Gesetzes im Handeln zu bestimmen'', und da ist
diese Fertigkeit eine Beschaffenheit rieht der WillkĂĽr, son-
dern des Willens, der ein mit der Regel, die er annimmt,
zugleich allgemein - gesetzgebendes Begehrungsvermögen ist,
und eine solche allein kann zur Tugend gezählt werden.
Zur inneren Freiheit aber werden zwei StĂĽcke erfordert:
seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister {anhnus sui
compos) und ĂĽber sich selbst Herr zu sein (jmperium in
semetipsum), d. i. seine Affekten zu zähmen und seine Leiden-
schaften zu beherrschen. — Die Gemütsart (indoles) in
diesen beiden Zuständen ist edel (erecta\ im entgegen-
gesetzten Fall aber unedel (indoles ahiecta, servd).
1 1 8 Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
XV.
Zur Tugend \\'ird zuerst erfordert die Herrschaft ĂĽber
sich selbst.
Affekten und Leidenschaften sind wesenthch voneinander
unterschieden; die erstem gehören zum Gefühl, sofern es, vor
der Überlegung vorhergehend, diese selbst unmöglich oder schwerer
macht. Daher heißt der Affekt jäh oder jach (animus praecepi)^
und die Vernunft sagt durch den Tugend begriff, man solle sich
fassen; doch ist diese Schwäche im Gebrauch seines Verstandes,
verbunden mit der Stärke der Gemütsbewegung, nur eine Un-
tugend und gleichsam etwas Kindisches und Schwaches, was mit
dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen kann und das
einzige Gute noch an sich hat, daß dieser Sturm bald aufhört.
Ein Hang zum Affekt (z. B. Zorn) verschwistert sich daher nicht
so sehr mit dem Laster, als die Leidenschaft. Leidenschaft
dagegen ist die zur bleibenden Neigung gewordene sinnUche Be-
gierde (z. B. der HaĂź im Gegensatz des Zorns). Die Ruhe, mit
der ihr nachgehangen wird, läßt Überlegung zu und verstattet dem
Gemüt sich darüber Grundsätze zu machen und so, wenn die
Neigung auf das Gesetzwidrige fällt, über sie zu brüten, sie tief
zu wurzeln und das Böse dadurch (als vorsätzlich) in seine Maxime
aufzunehmen; welches alsdann ein qualifiziertes Böse, d. i. ein
wahres Laster, ist.
Die Tugend also, sofern sie auf innerer Freiheit gegrĂĽndet ist,
enthält für die Menschen auch ein bejahendes Gebot, nämlich
alle seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft)
Gewalt zu bringen, mithin der Herrschaft ĂĽber sich selbst, welche
über das Verbot, nämlich von seinen Gefühlen und Neigungen
sich nicht beherrschen zu lassen, (die Pflicht der Apathie) hinzu-
kommt: weil, ohne daĂź die Vernunft die ZĂĽgel der Regierung
in ihre Hände nimmt, jene über den Menschen den Meister spielen.
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 219
XVI.
Zur Tugend wird Apathie (als Stärke betrachtet)
notwendig vorausgesetzt.
Dieses Wort ist, gleich als ob es FĂĽhllosigkeit, mithin sub-
jektive Gleichgültigkeit in Ansehung der Gegenstände der Willkür
bedeutete, in übelen Ruf gekommen; man nahm es für Schwäche.
Dieser MiĂźdeutung kann dadurch vorgebeugt werden, daĂź man
diejenige Affekdosigkeit, welche von der Indifferenz zu unter-
scheiden ist, die moralische Apathie nennt: da die GefĂĽhle aus
sinnlichen EindrĂĽcken ihren EinfluĂź auf das moralische nur da-
durch verlieren, daĂź die Achtung fĂĽrs Gesetz ĂĽber sie insgesamt
mdchtiger wird. — Es ist nur die scheinbare Stärke eines Fieber-
kranken, die den lebhaften Anteil selbst am Guten bis zum Affekt
steigen, oder vielmehr darin ausarten läßt. Man nennt den Affekt
dieser Art Enthusiasm, und dahin ist auch die Mäßigung zu
deuten, die man selbst fĂĽr TugendausĂĽbungen zu empfehlen pflegt
(insani sapiens nomen ferat aequus iniqui — ultra quam satis
est virtutem si petat ipsam. Horat.^. Denn sonst ist es unge-
reimt zu wähnen, man könne auch wohl allzu weise, allzu
tugendhaft sein. Der Affekt gehört immer zur Sinnhchkeit; er
mag durch einen Gegenstand erregt werden, welcher es wolle.
Die wahre Stärke der Tugend ist das Gemüt in Ruhe mit
einer ĂĽberlegten und festen EntschlieĂźung ihr Gesetz in AusĂĽbung
zu bringen. Das ist der Zustand der Gesundheit im morahschen
Leben; dagegen der Affekt, selbst wenn er durch die Vorstellung
des Guten aufgeregt wird, eine augenblicklich glänzende Erschei-
nung ist, welche Mattigkeit hinterläßt. — Phantastisch-tugendhaft
aber kann doch der genannt werden, der keine in Ansehung der
Moralität gleichgültige Dinge (adiapbora) einräumt und sich
alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten als mit FuĂźangeln be-
streut und es nicht gleichgĂĽltig findet, ob ich mich mit Fleisch
oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekömmt,
nähre; eine Mikrclogie, welche, wenn man sie in die Lehre der
Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen
wĂĽrde.
Anmerkung.
Die Tugend ist immer im Fortschreiten und hebt doch
auch immer von vorne an. — Das erste folgt daraus, weil
HO Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
sie, objektiv betrachtet, ein Ideal und unerreichbar, gleich-
wolil aber sich ihm beständig zu nähern dennoch Pflicht ist.
Das zweite grĂĽndet sich, subjektiv, auf der mit Neigungen
affizierten Natur des Menschen, unter deren EinfluĂź die
Tugend mit ihren einmal fĂĽr allemal genommenen Maximen
niemals sich in Ruhe und Stillstand setzen kann, sondern,
wenn sie nicht im Steigen ist, unvermeidlich sinkt: weil
sittliche Maximen nicht so wie technische auf Gewohnheit
gegründet werden können (denn dieses gehört zur physischen
Beschaffenheit seiner Willensbestimmung), sondern, selbst
wenn ihre AusĂĽbung zur Gewohnheit wĂĽrde, das Subjekt
damit die Freiheit in Nehmuug seiner Maximen einbĂĽĂźen
wĂĽrde, welche doch der Charakter einer Handlung aus
Pflicht ist.
XVII.
VorbegriflFe zur Einteilung der Tugendlehre.
Dieses Prinzip der Einteilung muĂź erstlich, was das For-
male betrifft, alle Bedingungen enthalten, welche dazu dienen,
einen Teil der allgemeinen Sittenlehre von der Rechtslehre und
zwar der spezifischen Form 'nach zu unterscheiden, und das ge-
schieht dadurch: daĂź i) Tugendpflichten solche sind, fĂĽr welche
keine äußere Gesetzgebung stattfindet: 2) daß, da doch aller
Pflicht ein Gesetz zum Grunde liegen muĂź, dieses ia der Ethik
ein Pflichtgesetz, nicht fĂĽr die Handlungen, sondern bloĂź fĂĽr die
Maximen der Handlungen gegeben, sein kann; 3) daĂź (was wie-
derum aus diesem folgt) die ethische Pflicht als weite, nicht als
enge Pflicht gedacht werden mĂĽsse.
Zweitens: was das Materiale anlangt, muĂź sie nicht bloĂź
als PflichtJehre ĂĽberhaupt, sondern auch als Zwecklehre aufgestellt
werden: so daĂź der Mensch sowohl sich selbst, als auch jeden
anderen Menschen sich als seinen Zweck zu denken verbunden
ist, (die man Pflichten der Selbstliebe und Nächstenliebe zu nennen
pflegt) welche AusdrĂĽcke hier in uneigentlicher Bedeutung ge-
nommen werden, weil es zum Lieben direkt keine Pflicht geben
kann, wohl aber zu Handlungen, durch die der Mensch sich und
andere zum Zweck macht.
\
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
1 1
Drittens: was die Unterscheidung des Materialen vom For-
malen (der Gesetzmäßigkeit von der Zweckmäßigkeit) im Prinzip
der Pflicht betrifft, so ist zu merken: daĂź nicht jede Tugend-
verpflichtung (obligatio ethica) eine Tugendpflicht (officium ethi-
cum j. virtutis) sei; mit anderen Worten: daĂź die Achtung vor
dem Gesetze ĂĽberhaupt noch nicht einen Zweck als Pflicht be-
gründe; denn der letztere allein ist Tugendpflicht. — Daher gibt
es nur Eine Tugendverpflichtung, aber viel Tugendpflichten:
weil es zwar viel Objekte gibt, die fĂĽr uns Zwecke sind, welche
zu haben zugleich Pflicht ist, aber nur eine tugendhafte Gesinnung
als subjektiver Bestimmungsgrund seine Pflicht zu erfĂĽllen, welche
sich auch ĂĽber Rechtspflichten erstreckt, die aber darum nicht
den Namen der Tugendpflichten führen können. — Daher wird
alle Einteilung der Ethik nur auf Tugendpflichten gehen. Die
Wissenschaft von der Art, auch ohne Rücksicht auf mögliche
äußere Gesetzgebung verbindlich zu sein, ist die Ethik selbst, ihrem
formalen Prinzip nach betrachtet.
Anmerkung.
Wie komme ich aber dazu, wird man fragen, die Ein-
teilung der Ethik in Elementarlehre und Methodenlehre
einzufĂĽhren: da ich ihrer doch in der Rechtslehre ĂĽberhoben
sein konnte? — Die Ursache ist: weil jene es mit weiten,
diese aber mit lauter engen Pflichten zu tun hat; weshalb
die letztere, welche ihrer Natur nach strenge (präzis) be-
stimmend sein muĂź, ebenso wenig wie die reine Mathematik
einer allgemeinen Vorschrift (Methode), wie im Urteilen
verfahren werden soll, bedarf, sondern sie durch die Tat
wahr macht. — Die Ethik hingegen führt wegen des Spiel-
raums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet,
unvermeidlich zu Fragen, welche die Urteilskraft auffordern
auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzu-
wenden sei und zwar so: daĂź diese wiederum eine (unter-
geordnete) Maxime an die Hand gebe (wo immer wiederum
nach einem Prinzip der Anwendung dieser auf vorkommende
Fälle gefragt werden kann); und so gerät sie in eine Ka-
suistik, von welcher die Rechtslehre nichts weiĂź.
Die Kasuistik ist also weder eine Wissenschaft, noch
ein Teil derselben; denn das wäre Dogmatik und ist nicht
2 22 Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre
sowohl Lehre, wie etwas gefunden, sondern Ăśbung, wie
die Wahrheit solle gesucht werden; fragmentarisch also,
nicht systematisch (wie die Ethik sein muĂźte) in sie ver-
webt, nur gleich den Schollen zum System hinzugetan.
Dagegen; nicht sowohl die Urteilskraft, als vielmehr die
Vernunft und zwar in der Theorie seiner Pflichten sowohl als in
derPraxis zu üben, das gehört besonders zur Ethik, als Metho-
denlehre der moralisch-praktischen Vernunft; wovon die
crstere Ăśbung darin besteht, dem Lehrling dasjenige von
Priichtbegrifi^en abzufragen, was er schon weiĂź, und die
erotematische Methode genannt werden kann, und dies
zwar entweder weil man es ihm schon gesagt hat, bloĂź aus
seinem Gedächtnis, welche die eigentliche katechetische,
oder, weil man voraussetzt, daĂź es schon in seiner Vernunft
natĂĽrlicherweise enthalten sei und es nur daraus entwickelt
zu werden brauche, die dialogische (Sokratische) Methode
heiĂźt.
Der Katechetik als theoretischer Ăśbung entspricht als
GegenstĂĽck im Praktischen die Asketik, welche derjenige
Teil der Methodenlehre ist, in welchem nicht bloĂź der
TugendbegrifF, sondern auch, wie das Tugendvermögen
sowohl als der Wille dazu in AusĂĽbung gesetzt und kultiviert
werden könne, gelehrt wird.
Nach diesen Grundsätzen werden wir also das System
in zwei Teilen: der ethischen Elementarlehre und der
ethischen Methodenlehre aufstellen. Jeder Teil wird in
seine HauptstĂĽcke, und diese im ersten Teile nach Ver-
schiedenheit der Subjekte, wogegen dem Menschen eine
Verbindlichkeit obliegt, im zweiten nach Verschiedenheit der
Zwecke, welche zu haben ihm die Vernunft auferlegt, und
der Empfänglichkeit für dieselbe in verschiedene Kapitel
zerfället werden.
XVIII.
Die Einteilung, welche die praktische Vernunft zu GrĂĽndung
eines Systems ihrer Begriffe in einer Ethik entwirft (die archi-
tektonische), kann nun nach zweierlei Prinzipien, einzeln oder
zusammen verbunden, gemacht werden; das eine, welches das
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 223
subjektive Verhältnis der Verpflichteten zu dem Verptiichtenden
der Materie nach, das andere, welches das objektive Verhältnis
der ethischen Gesetze zu den Pflichten ĂĽberhaupt in einem System
der Form nach vorstellt. — Die erste Einteilung ist die der
Wesen, in Beziehung auf welche eine ethische Verbindlichkeit
gedacht werden kann; die zweite wäre die der Begriffe der
reinen ethisch-praktischen Vernunft, welche zu jener ihren Pflichten
gehören, die also zur Ethik, nur sofern sie Wissenschaft sein
soll, also zu der methodischen Zusammsetzung aller Sätze, welche
nach der ersteren aufgefunden worden, erforderĂĽch sind.
Erste Einteilung der Ethik
nach dem Unterschiede der Subjekte und ihrer Gesetze.
Sie enthält:
Pflichten
des Menschen gegen des Menschen gegen
den Menschen nicht mensctiliche Wesen
gegen sich gegen andere Untermensch- Ăśbermensch-
selbst Menschen liehe Wesen, liehe Wesen.
Zweite Einteilung der Ethik
nach Prinzipien eines Systems der reinen praktischen
Vernunft.
Ethische
Elementarlehre Methodenlehre
Dogmatik Kasuistik Katechetik Askctik
Die letztere Einteilung muĂź also, weil sie die Form der
Wissenschaft betrifft, vor der ersteren als GrundriĂź des Ganzen
vorhergehen.
Ethische Elementarlehre.
Kants Schriften. Bd. VII.
15
I
Der ethischen Elementarlehre
Erster Teil.
Von den Pflichten gegen sich selbst ĂĽberhaupt.
Einleitung
§ I.
Der Begriff einer Pflicht gegen sich selbst enthält (dem
ersten Anscheine nach) einen Widerspruch.
WENN das verpflichtende Ich mit dem verpflichteten
in einerlei Sinn genommen wird, so ist Pflicht gegen sich
seihst ein sich widersprechender Begrifi^ Denn in dem Begriffne
der Pflicht ist der einer passiven Nötigung enthalten (ich werde
verbunden). Darin aber, daĂź es eine Pflicht gegen mich selbst
ist, stelle ich mich als verbindend, mithin in einer aktiven
Nötigung vor (Ich, eben dasselbe Subjekt, bin der Verbindende);
und der Satz, der eine Pflicht gegen sich selbst ausspricht (ich
soll mich selbst verbinden), wĂĽrde eine Verbindlichkeit ver-
bunden zu sein (passive Obligation, die doch zugleich in demselben
Sinne des Verhältnisses eine aktive wäre), mithin einen Wider-
spruch enthalten. — Man kann diesen W^iderspruch auch dadurch
ins Licht stellen, daĂź man zeigt, der Verbindende (auctor obligatkn'ts)
könne den Verbundenen {jubiectum obligationis) jederzeit von der
Verbindlichkeit (term'inus obligationis) lossprechen; mithin (wenn
beide ein und dasselbe Subjekt sind) er sei an eine Pflicht, die
er sich auferlegt, gar nicht gebunden: welches einen Widerspruch
enthält.
2 28 Ethische Elementarlehre. Erster Teil.
% 2.
Es gibt doch Pflichten des Menschen gegen sich selbst.
Denn setzet: es gäbe keine solche Pflichten, so würde es
überall gar keine, auch keine äußere Pflichten geben. — Denn ich
kann mich gegen andere nicht fĂĽr verbunden erkennen, als nur
sofern ich zugleich mich selbst verbinde: weil das Gesetz, kraft
dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner
eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich ge-
nötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehung
meiner selbst bin.')
AufschluĂź dieser scheinbaren Antinomie.
Der Mensch betrachtet sich in dem BewuĂźtsein einer Pflicht
gegen sich selbst, als Subjekt derselben, in zv/iefacher Qualität:
erstlich als Sinnenwesen, d. i. als Mensch (zu einer der Tierarten
gehörig); dann aber auch als VernunHwesen (nicht bloß ver-
nĂĽnftiges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen
Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen
Wesens sein könnte), welches kein Sinn erreicht, und das sich
nur in moralisch-praktischen Verhältnissen, wo die unbegreifliche
Eigenschaft der Freiheit sich durch den EinfluĂź der Vernunft
auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht, er-
kennen läßt.
Der Mensch nun ais vernĂĽnftiges Naturwesen Q^omo phaenofnenon)
ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen
in der Sinnenwelt, und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlich-
keit noch nicht in Betrachtang. Eben derselbe aber seiner Per-
') So sagt man, wenn es z. B. einen Punkt meiner Ehrenrettung
oder der Selbsterhalrung betrifFr: „Ich bin mir das selbst schuldig".
Selbst wenn es Pflichren von minderer Bedeutung, die nämlich nicht
das Notwendige, sondern nur das Verdienstliche meiner Pflichtbefolgung
betreffen, spreche ich so, z. B.: „Ich bin es mir selbst schuldig meine
Geschicklichkeit fĂĽr den Umgang mit Menschen u. s. w. zu erweitern
(mich zu kultivieren)."
Von den FĂźichten gegen sich selbst ĂĽberhaupt 229
sönlichkeit nach, d. i. als ein mit innerer Freiheit begabtes
Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges
Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner
Person) betrachtet, so: daĂź der Mensch (in zweierlei Bedeutung
betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu geraten (weil der
Begriff von Menschen nicht in einem und demselben Sinn gedacht
wird), eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann.
S 4-
Vom Prinzip der Einteilung der Pflichten gegen
sich selbst.
Die Einteilung kann nur in Ansehung des Objekts der Pflicht,
nicht in Ansehung des sich verpflichtenden Subjekts gemacht werden.
Das verpflichtete sowohl als das verpflichtende Subjekt ist immer nur
der Mensch, und wenn es uns in theoretischer RĂĽcksicht gleich
erlaubt ist, im Menschen Seele und Körper als Naturbeschafi^enheiten
des Menschen von einander zu unterscheiden, so ist es doch nicht
erlaubt, sie als verschiedene den Menschen verpflichtende Substanzen
zu denken, um zur Einteilung in Pflichten gegen den Körper und
gegen die Seele berechtigt zu sein. — Wir sind weder durch
Erfahrung, noch durch SchlĂĽsse der Vernunft hinreichend darĂĽber
belehrt, ob der Mensch eine Seele (als in ihm wohnende, vom
Körper unterschiedene und von diesem unabhängig zu denken
vermögende, d. i. geistige Substanz) enthalte, oder ob nicht viel-
mehr das Leben eine Eigenschaft der Materie sein möge, und
wenn es sich auch auf die erstere Art verhielte, so wĂĽrde doch
keine Pflicht des Menschen gegen einen Körper (als verpflichtendes
Subjekt), ob er gleich der menschliche ist, denkbar sein.
i) Es wird daher nur eine objektive Einteilung der Pflichten
gegen sich selbst in das FORMALE und MATERIALE derselben
stattfinden; wovon die eine einschränkend (negative Pflichten),
die andere erweiternd (positive Pflichten gegen sich selbst) sind:
jene, welche dem Menschen in Ansehung des ZWECKS seiner
Natur verbieten demselben zuwider zu handeln, mithin bloĂź
auf die moralische Selbsterhaltung, diese, welche gebieten
sich einen gewissen Gegenstand der WillkĂĽr zum Zweck zu
machen und auf die Vervollkommnung seiner selbst gehen:
2}o Ethische Elevientarlehre. Erster Teil
von welchen beide zur Tugend entweder als Unterlassungspflichten
{sustine et ahstine) oder als Begehungspflichten (viribus concessis
utere)^ beide aber als Tugendpflichten gehören. Die erstere ge-
hört zur moralischen GESUNDHEIT (ad esse) des Menschen,
sowohl als Gegenstandes seiner äußeren, als seines inneren Sinnes
zu Erhaltung seiner Natur in ihrer Vollkommenheit (als Rezep-
tivität), die andere zur moralischen Wohlhabenheit (aJ melius
esse; opulentia moraUs\ welche in dem Besitz eines zu allen Zwecken
hinreichenden Vermögens besteht, soFern dieses erwerblich ist
und zur Kultur (als tätiger Vollkommenheit) seiner selbst gehört. —
Der erstere Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst liegt in dem
Spruch: lebe der Natur gemäß (naturae convenienter vive), d. i. er-
halte dich in der Vollkommenheit deiner Natur, der zweite in
dem Satz: mache dich vollkommncr, als die bloĂźe Natur
dich schuf (perfice te ut finein-, perfice te ut wediutn).
z) Es wird eine subjektive Einteilung der Pflichten des
Menschen gegen sich selbst, d. i. eine solche, nach der das Subjekt
der Pflicht (der Mensch) sich selbst entweder als ANIMALISCHES
(physisches) und zugleich moralisches, oder BLOS ALS MORALI-
SCHES Wesen betrachtet.
Da sind nun die Antriebe der Natur, was die TIERHEIT des
Menschen betrifft, a) der, durch welchen die Natur die Erhaltung
seiner selbst, b) die Erhaltung der Art, c) die Erhaltung seines
Vermögens zum angenehmen, aber doch nur tierischen Lebens-
genuß beabsichtigt. — Die Laster, welche hier der Pflicht des
Menschen gegen sich selbst widerstreiten, sind: der Selbstmord,
der unnatĂĽrliche Gebrauch, den jemand von der Geschlechts-
neigung macht, und der das Vermögen zum zweckmäßigen
Gebrauch seiner Kräfte schwächende unmäßige Genuß der
Nahrungsmittel.
Was aber die Pflicht des Menschen gegen sich selbst bloĂź
als moralisches Wesen (ohne auf seine Tierheit zu sehen) betriflFt,
so besteht sie im Formalen der Ăśbereinstimmung der Maximen
seines Willens mit der WĂĽrde der Menschheit in seiner Person;
also im Verbot, daĂź er sich selbst des Vorzugs eines moralischen
Wesens, nämlich nach Prinzipien zu handeln, d. i. der inneren
Freiheit, nicht beraube und dadurch zum Spiel bloĂźer Neigungen,
also zur Sache, mache. — Die Laster, welche dieser Pflicht entgegen-
stehen, sind: die LĂśGE, der GEIZ und die FALSCHE DEMUT
(Kriecherei). Diese nehmen sich Grundsätze, welche ihrem Charakter
Von den Pflichten gegen sich selbst ĂĽberhaupt 1 3 i
als moralischer Wesen, d. i. der inneren Freiheit, der angebornen
WĂĽrde des Menschen, geradezu (schon der Form nach) wider-
sprechen, welches so viel sagt: sie machen sich es zum Grundsatz,
keinen Grundsatz und so auch keinen Charakter zu haben, d. i.
sich wegzuwerfen und sich zum Gegenstande der Verachtung zu
machen. — Die Tugend, welche allen diesen Lastern entgegen
steht, könnte die Ehrliebe (J^onestas interna, iustum sui aesttviium\
eine von der Ehrbegierde (ambitio) (welche auch sehr nieder-
trächtig sein kann) himmelweit unterschiedene Denkungsart, ge-
nannt werden, wird aber unter dieser Betitelung in der Folge
besonders vorkommen.
\
Der Tugendlehre
Erster Teil
Ethische Elementarlehre.
Erstes Buch.
Von den vollkommenen Pflichten gegen
sich selbst.
Erstes HauptstĂĽck.
Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, als einem
animalischen Wesen.
§ 5-
Die, wenn gleich nicht vornehmste, doch erste Pflicht des
Menschen gegen sich selbst in der Qualität seiner Tierheit ist die
Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur.
Das Widerspiel derselben ist der willkĂĽrliche physische
Tod, welcher wiederum entweder als total oder bloĂź partial
gedacht werden kann. — Der physische, die Entleibung (^auto-
chiria), kann also auch total (juic'idium) oder partial, Ent-
gliedcrung (VerstĂĽmmelung), sein, welche wiederum in die
materiale, da man sich selbst gewisser integrierenden Teile als
Organe beraubt, d. h. sich verstĂĽmmelt, und die tormale, da
man sich (auf immer oder auf einige Zeit) des Vermögens des
physischen (und hicmit indirekt auch des moralischen) Gebrauchs
seiner Kräfte beraubt.
I. Buch. Von den vollkommenen FĂźichten gegen sich selbst 235
Da in diesem HauptstĂĽcke nur von negativen Pflichten, folg-
lich von Unterlassungen nur die Rede ist, so werden die Pflicht-
artikel wider die Laster gerichtet sein mĂĽssen, welche der Pflicht
gegen sich selbst entgegengesetzt sind.
D e s e r s t e n Ha up t s tu ck s
Erster Artikel.
Von der Selbstentleibung.
§ 6.
Die willkĂĽrliche Entleibung seiner selbst kann nur dann
allererst SELBSTMORD Qmnicidium dolosujn) genannt werden, wenn
bewiesen werden kann, daĂź sie ĂĽberhaupt ein Verbrechen ist,
welches entweder an unserer eigenen Person oder auch durch
diese ihre Selbstentleibung an anderen begangen wird (z. B. wemi
eine schwangere Person sich selbst umbringt).
a) Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord). Dieses
kann nun zwar auch als Ăśbertretung seiner Pflicht gegen andere
Menschen (Eheleute, Eltern gegen Kinder, des Untertans gegen
seine Obrigkeit, oder seine MitbĂĽrger, endlich auch gegen Gott,
dessen uns anvertrauten Posten in der Welt der Mensch verläßt,
ohne davon abgerufen zu sein) betrachtet werden; — aber hier
ist nur die Rede von Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst,
ob nämhch, wenn ich auch alle jene Rücksichten beiseite setzte,
der Mensch doch zur Erhaltung seines Lebens bloĂź durch seine
Qualität als Person verbunden sei und hierin eine (und zwar
strenge) Pflicht gegen sich selbst anerkennen mĂĽsse.
Daß der Mensch sich selbst beleidigen könne, scheint un-
gereimt zu sein [volenti non fit iniuria). Daher sah es der Stoiker
für einen Vorzug seiner (des Weisen) Persönlichkeit an, beliebig
aus dem Leben (als aus einem Zimmer, das raucht), ungedrängt
durch gegenwärtige oder besorgliche Übel, mit ruhiger Seele hinaus
zu gehen: weil er in demselben zu nichts mehr nutzen könne. —
Aber eben dieser Mut, diese Seelenstärkc, den Tod nicht zu
fürchten und etwas zu kennen, was der Mensch noch höher
schätzen kann, als sein Leben, hätte ihm ein um noch so viel
1 3 4 Ethische Elevientarlehre. Erstes Buch
größerer Bewegungsgrund sein müssen, sich, ein Wesen von so
großer, über die stärkste sinnliche Triebfedern gewalthabenden
Übermacht, nicht zu zerstören, mithin sich des Lebens nicht zu
berauben.
Der Persönlichkeit kann der Mensch sich nicht entäußern, so
lange von Pflichten die Rede ist, folglich so lange er lebt, und
es ist ein Widerspruch, die Befugnis zu haben, sich aller Ver-
bindlichkeit zu entziehen, d. i. frei so zu handeln, als ob es zu
dieser Handlung gar keiner Befugnis bedĂĽrfte. Das Subjekt der
Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so
viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm
ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst
ist; mithin ĂĽber sich als bloĂźes Mittel zu einem ihm beliebigen
Zv/eck zu disponieren, heiĂźt die Menschheit in seiner Person
{homo fwutnenon) abwĂĽrdigen, der doch der Mensch (homo phae-
nomenon) zur Erhaltung anvertrauet war.
Sich eines integrierenden Teils als Organs berauben (verstĂĽm-
meln), z. B. einen Zahn zu verschenken oder zu verkaufen, um ihn
in die Kinnlade emes andern zu pflanzen, oder die Kastration mit
sich vornehmen zu lassen, um als Sänger bequemer leben zu können,
u. dgl. gehört zum partialen Selbstmorde; aber ein abgestorbenes
oder die Absterbung drohendes und hiemit dem Leben nachteiliges
Organ durch Amputation, oder, was zwar ein Teil, aber kein
Organ des Körpers ist, z. E. die Haare, sich abnehmen zu lassen,
kann zum Verbrechen an seiner eigenen Person nicht gerechnet
werden; wiewohl der letztere Fall nicht ganz schuldfrei ist, wenn
er zum äußeren Erwerb beabsichtigt wird.
Kasuistische Fragen.
Ist es Selbstmord, sich (wie CURTIUS) in den gewissen Tod
zu stürzen, um das Vaterland zu retten? — oder ist das vorsätz-
liche Märtyrertum, sich für das Heil des Menschengeschlechts
ĂĽberhaupt zum Opfer hinzugeben, auch wie jenes fĂĽr Heldentat
anzusehen?
Ist es erlaubt, dem ungerechten Todesurteile seines Oberen
durch Selbsttötung zuvorzukommen? — selbst wenn dieser es
(wie NERO am SENECA) erlaubte zu tun?
Kann man es einem großen unlängst verstorbenen Monarchen
zum verbrecherischen Vorhaben anrechnen, daĂź er ein behend
f^on den vollkommenen Pflichten gegen sich seihst 235
wirkendes Gift bei sich fĂĽhrte, vermutlich damit, wenn er in dem
Kriege, den er persönlich führte, gefangen würde, er nicht etwa
genötigt sei, Bedingungen der Auslösung einzugehn, die seinem
Staate nachteilig sein könnten; denn diese Absicht kann man ihm
unterlegen, ohne daß man nötig hat, hierunter einen bloßen Stolz
zu vermuten?
Ein Mann empfand schon die Wasserscheu, als Wirkung von
dem BiĂź eines tollen Hundes, und nachdem er sich darĂĽber so
erklärt hatte: er habe noch nie erfahren, daß jemand daran geheilt
worden sei, brachte er sich selbst um, damit, wde er in einer
hinterlassenen Schrift sagte, er nicht in seiner Hundewut (zu
welcher er schon den Anfall fĂĽhlte) andere Menschen auch un-
glĂĽcklich machte; es fragt sich, ob er damit unrecht tat.
Wer sich die Pocken einimpfen zu lassen beschheĂźt, wagt
sein Leben aufs Ungewisse, ob er es zwar tut, um sein Leben
zu erhalten, und ist sofern in einem weit bedenklicheren Fall
des Pflichtgesetzes, als der Seefahrer, welcher doch wenigstens den
Sturm nicht macht, dem er sich anvertraut, statt dessen jener die
Krankheit, die ihn in Todesgefahr bringt, sich selbst zuzieht. Ist
also die Pockeninokulation erlaubt?
Zweiter Artikel.
Von der wollüstigen Selbstschändung.
§7.
So wie die Liebe zum Leben von der Natur zur Erhaltung
der Person, so ist die Liebe zum Geschlecht von ihr zur Er-
haltung der Art bestimmt; d. i. eine jede von beiden ist Natur-
zweck, unter welchem man diejenige VerknĂĽpfung der Ursache
mit einer Wirkung versteht, in welcher jene, auch ohne ihr dazu
einen Verstand beizulegen, diese doch nach der Analogie mit einem
solchen, also gleichsam absichtlich Menschen hervorbringend ge-
dacht wird. Es fragt sich nun, ob der Gebrauch des letzteren
Vermögens in Ansehung der Person selbst, die es ausübt, unter
einem einschränkenden Pflichtgesetz stehe, oder ob diese, auch ohne
jenen Zweck zu beabsichtigen, den Gebrauch ihrer Geschlechts-
cigenschaften der bloĂźen tierischen Lust zu widmen befugt sei.
236 Ethische Eleiuentarlehre. Erstes Buch
ohne damit einer Pflicht gegen sich selbst zuwider zu handeln. —
In der Rechtsichre wird bewiesen, daĂź der Mensch sich einer
anderen Person dieser Lust zu gefallen ohne besondere Ein-
schränkung durch einen rechtlichen Vertrag nicht bedienen könne;
wo dann zwei Personen wechselseitig einander verpflichten. Hier
aber ist die Frage: ob in Ansehung dieses Genusses eine Pflicht
des Menschen gegen sich selbst obwalte, deren Ăśbertretung eine
Schändung (nicht bloß Abwürdigung) der Menschheit in seiner
eigenen Person sei. Der Trieb zu jenem wird Fleischeslust (auch
Wollust schlechthin) genannt. Das Laster, welches dadurch erzeugt
wird, heiĂźt Unkeuschheit, die Tugend aber in Ansehung dieser
sinnlichen Antriebe wird Keuschheit genannt, die nun hier als
Pflicht des Menschen gegen sich selbst vorgestellt werden soll.
L'nnatĂĽrlich heiĂźt eine Wollust, wenn der Mensch dazu nicht
durch den wirklichen Gegenstand, sondern durch die Einbildung
von demselben, also zweckwidrig, ihn sich selbst schafl'end, gereizt
wird. Denn sie bewirkt alsdann eine Begierde wider den Zweck
der Natur und zwar einen noch wichtigern, als selbst der der
Liebe zum Leben ist, weil dieser nur auF Erhältung des Indivi-
duum, jenei aber auf die der ganzen Spezies abzielt. —
DaĂź ein solcher naturwidrige Gebrauch (also MiĂźbrauch)
seiner Geschlechtseigenschaft eine und zwar der Sittlichkeit im
höchsten Grad widerstreitend'e Verletzung der Pflicht wider sich
selbst sei, fällt jedem zugleich mit dem Gedanken von demselben
sofort auf, erregt eine Abkehrung von diesem Gedanken, in der
MaĂźe, daĂź selbst die Nennung emes solchen Lasters bei seinem
eigenen Namen fĂĽr unsittlich gehalten wird, welches bei dem des
Selbstmords nicht geschieht; den man mit allen seinen Greueln
(in einer species facti') der Welt vor Augen zu legen im mindesten
kein Bedenken trägt; gleich als ob der Mensch überhaupt sich
beschämt fühle, einer solchen ihn selbst unter das Vieh herab-
würdigenden Behandlung seiner eigenen Person fähig zu sein: so
daß selbst die erlaubte (an sich freilich bloß tierische) körperliche
Gemeinschaft beider Geschlechter in der Ehe im gesitteten Um-
gange viel Feinheit veranlaĂźt und erfodert, um einen Schleier
darĂĽber zu werfen, wenn davon gesprochen werden soll.
Der Vernunftbeweis aber der Unzulässigkeit jenes unnatürlichen
und selbst auch des bloß unzweckmäßigen Gebrauchs seiner Ge-
schlechtseigenschaften als Verletzung (und zwar, was den ersteren
betrifl't, im höchsten Grade) der Pflicht gegen sich selbst ist nicht
Von den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst 237
so leicht geführt. — Der Beweisgrund Hegt freilich darin, daß
der Mensch seine Persönlichkeit dadurch (wegwerfend) aufgibt,
indem er sich bloĂź zum Mittel der Befriedigung tierischer Triebe
braucht. Aber der hohe Grad der Verletzung der Menschheit in
seiner eigenen Person durch ein solches Laster in seiner UnnatĂĽr-
lichkeit, da es der Form (der Gesinnung) nach selbst das des
Selbstmordes noch zu übergehen scheint, ist dabei nicht erklärt.
Es sei denn, daĂź, da die trotzige Wegwerfung seiner selbst im
letzteren, als einer Lebenslast, wenigstens nicht eine weichliche
Hingebung an tierische Reize ist, sondern Mut erfordert, wo
immer noch Achtung fĂĽr die Menschheit in seiner eigenen Person
Platz findet, jene, welche sich gänzlich der tierischen Neigung
überläßt, den Menschen zu genießbaren, aber hierin doch zugleich
naturwidrigen Sache, d, i. zum ekelhaften Gegenstande, macht
und so aller Achtung fĂĽr sich selbst beraubt.
Kasuistische Fragen.
Der Zweck der Natur ist in der Beiwohnung dti Geschlechter
die Fortpflanzung, d. i. die Erhaltung der Art; jenem Zwecke
darf also wenigstens nicht zuwider gehandelt werden. Ist es aber
erlaubt, auch ohne auf diesen RĂĽcksicht zu nehmen, sich
(selbst werm es in der Ehe geschähe) jenes Gebrauchs anzumaßen?
Ist es z. B. zur Zeit der Schwangerschaft — ist es bei der
Sterilität des Weibes (Alters oder Krankheit wegen), oder wenn
dieses keinen Anreiz dazu bei sich findet, nicht dem Naturzwecke
und hiemit auch der Pflicht gegen sich selbst an einem oder dem
anderen Teil ebenso wie bei der unnatĂĽrlichen Wollust zuwider,
von seinen Geschlechtseigenschaften Gebrauch zu machen; oder
gibt es hier ein Erlaubnisgcsetz der moralisch-praktischen Vernunft,
welches in der Kollision ihrer BestimmungsgrĂĽnde etwas an sich
zwar Unerlaubtes doch zur Verhütung einer noch größeren Uber-
tretvmg (gleichsam nachsichtHch) erlaubt macht? — Von wo an
kann man die Einschränkung einer weiten Verbindlichkeit zum
Purism (einer Pedanterei in Ansehung der Pflichtbeobachtung,
was die Weite derselben betrifft) zählen und den tierischen Nei-
gungen mit Gefahr der Verlassung des Vernunftgesetzes einen
Spielraum verstatten?
Die Geschlechtsneigung wird auch Liebe (in der engsten
Bedeutung des Worts) genannt und ist in der Tat die größte
238 Ethische Elevientarlchre. Erstes Buch
Sinnenliist, die an einem Gegenstande möglich ist; — nicht bloß
sinnliche Lust, wie an Gegenständen, die in der bloßen Reflexion
über sie gefallen (da die Empfänglichkeit für sie Geschmack
hciĂźtX sondern die Lust aus dem GenĂĽsse einer anderen Person,
die also zum Begehrungsvermögen und zwar der höchsten
Stufe desselben, der Leidenschaft, gehört. Sie kann aber weder
zur Liebe des Wohlgefallens, noch der des Wohlwollens gezählt
werden (denn beide halten eher vom fleischlichen GenuĂź ab),
sondern ist eine Lust von besonderer Art {sui generis), und das
BrĂĽnstigsein hat mit der moralischen Liebe eigentlich nichts gemein,
wiewohl sie mit der letzteren, wenn die praktische Vernunft mit
ihren einschränkenden Bedingungen hinzukommt, in enge Ver-
bindung treten kann.
Dritter Artikel.
Von der Selbstbetäubung durch Unmaßigkeit im Gebrauch
der GenieĂź- oder auch Nahrungsmittel.
§ 8.
Das Laster in dieser Art der UnmaĂźigkeit wird hier nicht
aus dem Schaden, oder den körperUchen Schmerzen (solchen
Krankheiten), die der Mensch sich dadurch zuzieht, beurteilt;
denn da wäre es ein Prinzip des Wohlbefindens und der Behaglich-
keit (folglich der GlĂĽckseligkeit), wodurch ihm entgegengearbeitet
werden sollte, welches aber nie eine Pflicht, sondern nur eine
Klugheitsregel begründen kann: wenigstens wäre es kein Prinzip
einer direkten Pflicht.
Die tierische UnmaĂźigkeit im GenuĂź der Nahrung ist der
Mißbrauch der Genießmittel, wodurch das Vermögen des intellek-
tuellen Gebrauchs derselben gehemmt oder erschöpft vnrd. Ver-
soffenheit und Gefräßigkeit sind die Laster, die unter diese
Rubrik gehören. Im Zustande der Betrunkenheit ist der Mensch
nur wie ein Tier, nicht als Mensch zu behandeln; durch die
Ăśberladung mit Speisen und in einem solchen Zustande ist er fĂĽr
Handlungen, wozu Gewandtheit und Ăśberlegung im Gebrauch
seiner Kräfte erfordert wird, auf eine gewisse Zeit gelähmt. —
DaĂź sich in einen solchen Zustand zu versetzen Verletzung einer
Von den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst 1 3 9
Pflicht wider sich selbst sei, fällt von selbst in die Augen. Die
erste dieser Erniedrigungen, selbst unter die tierische Natur, wird
gewöhnlich durch gegorene Getränke, aber auch durch andere
betäubende Mittel, als den Mohnsatt und andere Produkte des
Gewächsreichs, bewirkt und wird dadurch verführerisch, daß
dadurch auf eine Weile geträumte Glückseligkeit und Sorgentreiheit,
ja wohl auch eingebildete Stärke hervorgebracht, Niedergeschlagenheit
aber und Schwäche und, was das Schlimmste ist, Notwendigkeit,
dieses Betäubungsmittel zu wiederholen, ja wohl gar damit zu
steigern, eingeführt wird. Die Gefräßigkeit ist sofern noch unter
jener tierischen Sinnenbelustigung, daĂź sie bloĂź den Sinn als
passive BeschaflFenheit und nicht einmal die Einbildungskraft,
welche doch noch ein tätiges Spiel der Vorstellungen, wie im
vorerwähnten Genuß der Fall ist, beschäftigt; mithin sich dem des
Viehes noch mehr nähert.
Kasuistische Fragen.
Kann man dem Wein, wenngleich nicht als Panegyrist, doch
wenigstens als Apologet einen Gebrauch verstatten, der bis nahe
an die Berauschung reicht: weil er doch die Gesellschaft zur Ge-
sprächigkeit belebt und damit Offenherzigkeit verbindet? — Oder
kann man ihm wohl gar das Verdienst zugestehen, das zu be-
fördern, was HORAZ vom CATO rühmt: virtus eius iucaluit
fnero\ — Der Gebrauch des Opium und Branntweins sind als
Genießmittel der Niederträchtigkeit näher, weil sie bei dem ge-
träumten Wohlbefinden stumm, zurückhaltend und unmitteilbar
machen, daher auch nur als Arzneimittel erlaubt sind. — Wer kann
aber das MaĂź fĂĽr einen bestimmen, der in den Zustand, wo er
zum Messen keine klare Augen mehr hat, ĂĽberzugehen eben in
Bereitschaft ist? Der Mohammedanism, welcher den Wein ganz
verbietet, hat also sehr schlecht gewählt, dafür das Opium zu
erlauben.
Der Schmaus, als förmliche Einladung zur Unmäßigkeit in
beiderlei Art des Genusses, hat doch auĂźer dem bloĂź physischen
Wohlleben noch etwas zum sittlichen Zweck Abzielendes an sich,
nämlich viel Menschen und lange zu wechselseitiger Mitteilung
zusammenzuhalten: gleichwohl aber, da eben die Menge (wenn
sie, wie CHESTERFIELD sagt, ĂĽber die Zahl der Musen geht)
nur eine kleine Mitteilung (mit den nächsten Beisitzern) erlaubt,
z^o
Ethische Elemeyjtarlehre. Erstes Buch
mithin die Veranstaltung jenem Zweck widerspricht, so bleibt sie
immer Verleitung zum Unsittlichen, nämlich der Unmäßigkeit, der
Ăśbertretung der Pflicht gegen sich selbst; auch ohne auf die phy-
sischen Nachteile der Ăśberladung, die vielleicht vom Arzt gehoben
werden können, zu sehen. W^ie weit geht die sittliche Befugnis,
diesen Einladungen zur Unmäßigkeit Gehör zu geben?
Zweites HauptstĂĽck.
Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloĂź als
einem moralischen Wesen.
Sie ist den Lastern: LĂĽge, Geiz und falsche Demut (Krie-
cherei) entgegengesetzt.
L
Von der LĂĽge.
§9.
Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich
selbst, bloĂź als moralisches Wesen betrachtet (die Menschheit in
seiner Person), ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeif die LĂĽge
(aliud lingua promtum. aliud pectore inclusum gerere). DaĂź eine
jede vorsätzliche Unwahrheit in Äußerung seiner Gedanken diesen
harten Namen (den sie in der Rechtslehre nur dann fĂĽhrt, wenn
sie anderer Recht verletzt) in der Ethik, die aus der Unschädlich-
keit kein Befugnis hernimmt, nicht ablehnen könne, ist für sich
selbst klar. Denn Ehrlosigkeit (ein Gegenstand der moralischen
Verachtung zu sein), welche sie begleitet, die begleitet auch den
Lügner wie sein Schatten. Die Lüge kann eine äußere {men-
dacium extcrnum)^ oder auch eine innere sein. — Durch jene macht
er sich in anderer, durch diese aber, was noch mehr ist, in seinen
eigenen Augen zum Gegenstande der Verachtung und verletzt die
WĂĽrde der Menschheit in seiner eigenen Person; wobei der
Schade, der anderen Menschen daraus entspringen kann, nicht das
Eigentümliche des Lasters betrifft (denn da bestände es bloß in
der Verletzung der Pflicht gegen andere), und also hier nicht in
Von den vollkommenen V fliehten gegen sich seihst la^i
Anschlag kommt, ja auch nicht der Schade, den er sich selbst
zuzieht; denn alsdenn wĂĽrde es bloĂź als Klugheitsfehler der prag-
matischen, nicht der moralischen Klaxime widerstreiten und gar
nicht als Pflichtverletzung angesehen werden können. — Die Lüge
ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner MenschenwĂĽrde.
Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem anderen (wenn
es auch eine bloß idealische Person wäre) sagt, hat einen noch
geringeren Wert, als wenn er bloß Sache wäre; denn von dieser
ihrer Eigenschaft etwas zu nutzen, kann ein anderer doch irgend
einen Gebrauch machen, weil sie etwas Wirkliches und Gegebenes
ist; aber die Mitteilung seiner Gedanken an jemanden durch
Worte, die doch das Gegenteil von dem (absichtlich) enthalten,
was der Sprechende dabei denkt, ist ein der natĂĽrlichen Zweck-
mäßigkeit seines Vermögens der Mitteilung seiner Gedanken gerade
entgegengesetzter Zweck, mithin Verzichttuung auf seine Persön-
lichkeit und eine bloß täuschende Erscheinung vom Menschen,
nicht der Mensch selbst. — Die Wahrhaftigkeit in Erklärungen
wird auch Ehrlichkeit und, wenn diese zugleich Versprechen
sind, Redlichkeit, ĂĽberhaupt aber Aufrichtigkeit genarmt.
Die LĂĽge (in der ethischen Bedeutung des Worts), als vor-
setzliche Unwahrheit ĂĽberhaupt, bedarf es auch nicht anderen
schädlich zu sein, um für verwerflich erklärt zu werden; denn
da wäre sie Verletzung der Rechte anderer. Es kann auch bloß
Leichtsinn, oder gar GutmĂĽtigkeit die Ursache davon sein, ja
selbst ein wirklich guter Zweck dadurch beabsichtigt werden, so
ist doch die Art ihm nachzugehen durch die bloĂźe Form ein
Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person und eine
NichtswĂĽrdigkeit, die den Menschen in seinen eigenen Augen
verächtlich machen muß.
Die Wirklichkeit mancher inneren LĂĽge, welche die Men-
schen sich zuschulden kommen lassen, zu beweisen, ist leicht,
aber ihre Möglichkeit zu erklären, scheint doch schwerer zu sein:
weil eine zweite Person dazu erforderlich ist, die man zu hinter-
gehen die Absicht hat, sich selbst aber vorsätzlich zu betrügen
einen Widerspruch in sich zu enthalten scheint.
Der Mensch als moraUsches Wesen {homo noumenon) kann sich
selbst als physisches Wesen (homo phaenomenon) nicht als bloĂźes
Mittel (Sprachmaschine) brauchen, das an den inneren Zweck
(der Gedankenmitteilung) nicht gebunden wäre, sondern ist an die
Bedingung der Übereinstimmung mit der Erklärung (declaratio) des
Kants Schriften. Bd. VII. l6
24:
Ethische Eln?ientarlehrc. Erstes Buch
erstercn gebunden und gegen sich selbst zur Wahrhaftigkeit
vcrpriichtet. — Wenn er z. B. den Glauben an einen künftigen
Wcltrichtcr lĂĽgt, indem er wirklich keinen solchen in sich findet,
aber indem er sich überredet, es könne doch nicht schaden, wohl
aber nutzen, einen solchen in Gedanken einem HerzenskĂĽndiger
zu bekennen, um auf allen Fall seine Gunst zu erheucheln. Oder
wenn er zwar desfalls nicht im Zweifel ist, aber sich doch mit
innerer Verehrung seines Gesetzes schmeichelt, da er doch keine
andere Triebfeder, als die der Furcht vor Strafe bei sich fĂĽhlt.
Unredlichkeit ist bloĂź Ermangelung an Gewissenhaftigkeit,
d. i. an Lauterkeit des Bekenntnisses vor seinem inneren Richter,
der als eine andere Person gedacht wird, wenn diese in ihrer
höchsten Strenge betrachtet wird, wo ein Wunsch (aus Selbstliebe)
fĂĽr die Tat genommen wird, weil er einen an sich guten Zweck
vor sich hat, und die innere LĂĽge, ob sie zwar der Pflicht des
Menschen gegen sich selbst zuwider ist, erhält hier den Namen
einer Schwachheit, so wie der Wunsch eines Liebhabers, lauter
gute Eigenschaften an seiner Geliebten zu finden, ihm ihre äugen
scheinhche Fehler unsichtbar macht. — Indessen verdient diese
Unlauterkeit in Erklärungen, die man gegen sich selbst verübt,
doch die ernstlichste RĂĽge: weil von einer solchen faulen Stelle
(der Falschheit, welche in der menschlichen Natur gewurzelt zu
sein scheint) aus das Ăśbel der Unwahrhaftigkeit sich auch in
Beziehung auf andere Menschen verbreitet, nachdem einmal der
oberste Grundsatz der Wahrhaftigkeit verletzt worden. —
Anmerkung.
Es ist merkwĂĽrdig, daĂź die Bibel das erste Verbrechen,
wodurch das Böse in die Welt gekommen ist, nicht vom
Brudermorde (KAINS), sondern von der ersten LĂĽge
datiert (weil gegen jenen sich doch die Natur empört) und
als den Urheber alles Bösen den Lügner von Anfang und
den Vater der LĂĽgen nennt; wiewohl die Vernunft von
diesem Hange der Menschen zur Gleisnerei (esprit fourbe\
der doch vorhergegangen sein muĂź, keinen Grund weiter
angeben kann: weil ein Akt der Freiheit nicht (gleich einer
physischen Wirkung) nach dem Naturgesetz des Zusammen-
hanges der Wirkung und ihrer Ursache, welche insgesamt
Erscheinungen sind, deduziert und erklärt werden kann.
Von den vollkommenen V fliehten gegen sich selbst 243
Kasuistische Fragen.
Kann eine Unwahrheit aus bloßer Höflichkeit (z. B. das
ganz gehorsamster Diener am Ende eines Briefes) fĂĽr LĂĽge
gehalten werden? Niemand wird ja dadurch betrogen. — Ein
Autor fragt einen seiner Leser: wie gefällt Ihnen mein Werk'
Die Antwort könnte nun zwar illusorisch gegeben werden, da
man über die Verfänglichkeit einer solchen Frage spöttelte; aber
wer hat den Witz immer bei der Hand? Das geringste Zögern
mit der Antwort ist schon Kränkung des Verfassers; darf er diesem
also zum Munde reden?
In wirklichen Geschäften, wo es aufs Mein und Dein ankommt,
wenn ich da eine Unwahrheit sage, muĂź ich alle die Folgen ver-
antworten, die daraus entspringen möchten? Z. B. ein Hausherr
hat befohlen: daĂź, wenn ein gewisser Mensch nach ihm fragen
wĂĽrde, er ihn verleugnen solle. Der Dienstbote tut dieses: ver-
anlaĂźt aber dadurch, daĂź jener entwischt und ein groĂźes Ver-
brechen ausĂĽbt, welches sonst durch die gegen ihn ausgeschickte
Wache wäre verhindert worden. Auf wen fällt hier die Schuld
(nach ethischen Grundsätzen)? Allerdings auch auf den letzteren,
welcher hier eine Pflicht gegen sich selbst durch eine LĂĽge ver-
letzte; deren Folgen ihm nun durch sein eigen Gewissen zu-
gerechnet werden.
II.
Vom Geize.
§ IG.
Ich verstehe hier unter diesem Namen nicht den habsĂĽchti-
gen Geiz (der Erweiterung seines Erwerbs der Mittel zum Wohl-
leben ĂĽber die Schranken des wahren BedĂĽrfnisses): denn dieser
kann auch als bloße Verletzung seiner Pflicht (der Wohltätigkeit)
gegen andere betrachtet werden; auch nicht den kargen Geiz,
welcher, wenn er schimpflich ist, Knickerei oder Knauserei
genannt wird, aber doch bloß Vernachlässigung seiner Liebes-
pflichten gegen andere sein kann; sondern die Verengung seines
eigenen Genusses der Mittel zum Wohlleben unter das MaĂź des
wahren eigenen BedĂĽrfnisses; dieser Geiz ist es eigentlich, der
2 44 Ethische Elenientarlehre. Erstes Buch
hier gemeint ist, welcher der Pflicht gegen sich selbst wider-
streitet.
An der RĂĽge dieses Lasters kann man ein Beispiel von der
Unrichtigkeit aller Erklärung der Tugenden sowohl als Laster
durch den bloĂźen GRAD deutlich machen und zugleich die Un-
brauchharkeit des Aristotelischen Grundsatzes dartun: daĂź die
Tugend in der MittelstraĂźe zwischen zwei Lastern bestehe.
Wenn ich nämlich zwischen Verschwendung und Geiz die
gute Wirtschaft als das Mittlere ansehe, und dieses das Mittlere
des Grades sein soll: so wĂĽrde ein Laster in das (contrarie)
entgegengesetzte Laster nicht anders ĂĽbergehen, als durch die
Tugend, und so wĂĽrde diese nichts anders, als ein vermindertes,
oder vielmehr verschwindendes Laster sein, und die Folge wäre
in dem gegenwärtigen Fall: daß von den Mitteln des Wohllebens
gar keinen Gebrauch zu machen die echte Tugendpflicht sei.
Nicht das MaĂź der AusĂĽbung sittlicher Maximen, sondern
das objektive Prinzip derselben muĂź als verschieden erkannt und
vorgetragen werden, wenn ein Laster von der Tugend unter-
schieden werden soll. — Die Maxime des habsüchtigen Geizes
(als Verschwenders) ist: alle Mittel des Wohllebens in der Ab-
sicht auf den Genuß anzuschaff^en und zu erhalten. — Die des
kargen Geizes ist hingegen der Erwerb sowohl, als die Erhaltung
aller Mittel des Wohllebens, aber ohne Absicht auf den
GenuĂź (d. i. ohne daĂź dieser, sondern nur der Besitz der
Zweck sei).
Also ist das eigentĂĽmliche Merkmal des letzteren Lasters der
Grundsatz des Besitzes der Mittel zu allerlei Zwecken, doch mit
dem Vorbehalt, keines derselben fĂĽr sich brauchen zu wollen und
sich so des angenehmen Lebensgenusses zu berauben: welches der
Pflicht gegen sich selbst in Ansehung des Zwecks gerade entgegen-
gesetzt ist.^) Verschwendung und Kargheit sind also nicht durch
^) Der Satz: man soll keiner Sache zu viel oder zu wenig tun, sagt
so viel als nichts; denn er ist tautologisch. Was heiĂźt zu viel tun?
Anrw. Mehr als gut ist. Was heiĂźt zu wenig tun? Antw. Weniger
tun, als gut ist. Was heiĂźt: ich soll (etwas tun oder unterlassen)?
Antw. Es ist nicht gut (wider die Pflicht) mehr oder auch weniger
zu tun, als gut ist. Wenn das die Weisheit ist, die zu erforschen wir
zu den Alten (dem Aristoteles), gleich als solchen, die der Quelle
naher waren, ^un'ickkehren sollen: virtus consistit in iiteäio, medium tenuere
beati, est tnoJus in rebus, sunt certi deniqnc fines, quos ultra citrnque nequit
Von den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst 245
den Grad, sondern spezifisch durch die entgegengesetzte Maximen
voneinander unterschieden.
Kasuistische Fragen.
Da hier nur von Pflichten gegen sich selbst die Rede ist und
Habsucht (Unersätthchkeit im Erwerb), um zu verschwenden,
ebensowohl als Knauserei (Peinlichkeit im Vertun) Selbstsucht
(jolipsismiti) zum Grunde haben, und beide, die Verschwendung
sowohl als die Kargheit, bloĂź darum verwerflich zu sein scheinen,
weil sie auf Armut hinauslaufen, bei dem einen auf nicht erwartete,
bei dem anderen auf willkürliche (armselig leben zu wollen), - —
so ist die Frage; ob sie, die eine sowohl als die andere, ĂĽber-
haupt Laster und nicht vielmehr beide bloĂźe Unklugheit genannt
werden sollen, mithin nicht ganz und gar auĂźerhalb den Grenzen
consistere rectum, so haben wir schlecht gewählt, uns an ihr Orakel zu
wenden. — Es gibt zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge (als coutraäictorie
oppositis) kein Mittleres: aber wohl zwischen OfFenherzigkeit und Zu-
rĂĽckhalrang (als contrarie oppositis), da an dem, welcher seine Meinung
erklärt, Alles, was er sagt, wahr ist, er aber nicht die ganze Wahr-
heit sagt. Nun ist doch ganz natĂĽrlich von dem Tugendlehrer zu
fordern, daĂź er mir dieses Mittlere anweise. Das kann er aber nicht;
denn beide Tugendpflichten haben einen Spielra'»:m ^^^r Anwendung
{latitudinetJt), und was zu tun sei, kann nur von der Urteilskraft nach
Regeln der Klugheit (den pragmatischen), nicht denen der Sittlichkeit
(den moralischen), d. i. nicht als enge {officium strictuw), sondern nur
als weite Pflicht {officium latuvt) entschieden werden. Daher der,
welcher die Grundsätze der Tugend befolgt, zwar in der Ausübung im
Mehr oder Weniger, als die Klugheit vorschreibt, einen Fehler {pec-
catum) begehn, aber nicht darin, daß er diesen Grundsätzen mit
Strenge anhänglich ist,- ein Laster {vitium) ausüben kann, und Ho-
razens Vers: insani sapiens vomen ferat aequus iniqui, ultra quam satis est
virtutem si petat ipsam, ist, nach dem Buchstaben genommen, grund-
falsch. Sapiens bedeutet hier wohl nur einen gescheuten Mann
{prĂĽdem), der sich nicht phantastisch Tugendvollkommenheit denkt, die
als Ideal zwar die Annäherung zu diesem Zwecke, aber nicht die Voll-
endung fordert, als welche Foderung die menschlichen Kräfte übersteigt
und Unsinn (Phantasterei) in ihr Prinzip hineinbringt. Denn gar zu
tugendhaft, d. L seiner Pflicht gar zu anhänglich, zu sein, würde
ungefähr so viel sagen als: einen Zirkel gar zu rund, oder eine gerade
Linie gar zu gerade machen.
240 Ethische Elementarlchre. Erstes Buch
der Pflicht gegen sich selbst liegen mögen. Die Kargheit aber
ist nicht bloĂź miĂźverstandene Sparsamkeit, sondern sklavische
Unterwerfung seiner selbst unter die GlĂĽcksgĂĽter, ihrer nicht Herr
zu sein, welches Verletzung der Pflicht gegen sich selbst ist. Sie
ist der Liberalität {jiberalitas vioralis) der Denkungsart über-
haupt (nicht der Freigebigkeit {Jiberalitas sumptuosa), welche nur
eine Anwendung derselben auf einen besonderen Fall ist), d. i.
dem Prinzip der Unabhängigkeit von allem anderen außer von
dem Gesetz, entgegengesetzt und Defraudation, die das Subjekt
an sich selbst begeht. Aber was ist das fĂĽr ein Gesetz, dessen
innerer Gesetzgeber selbst nicht weiĂź, wo es anzuwenden ist?
Soll ich meinem Munde abbrechen, oder nur dem äußeren Auf-
wände? im Alter, oder schon in der Jugend? oder ist Sparsamkeit
ĂĽberhaupt eine Tugend?
III.
Von der Kriecherei.
§ 1 1.
Der Mensch im System der Natur (homo phaemtnenon^ animal
rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den
ĂĽbrigen Tieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Wert
(^pretium vulgare). Selbst, daĂź er vor diesen den Verstand voraus
hat und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt ihm doch nur
einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (^pretium usus\ nämlich
eines Menschen vor dem anderen, d. i. ein Preis, als einer Ware,
in dem Verkehr mit diesen Tieren als Sachen, wo er doch noch
einen niedrigem Wert hat, als das allgemeine Tauschmittel, das
Geld, dessen Wert daher ausgezeichnet {pretium eminens) genannt
wird.
Allein der Mensch, als Person betrachtet, d. i. als Subjekt
einer moralisch-praktischen Vernunft, ist ĂĽber allen Preis erhaben;
denn als ein solcher Qwmo noumenon') ist er nicht bloĂź als Mittel
zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als
Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde
(einen absoluten innern Wert), wodurch er allen andern ver-
nünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem
anderen dieser Art messen und auf den FuĂź der Gleichheit
schätzen kann.
Von den vollkommenen ? fliehten gegen sich selbst 247
Die Menschheit in seiner Person ist das Objekt der Achtung,
die er von jedem anderen Menschen fordern kann; deren er aber
auch sich nicht verlustig machen muĂź. Er kann und soll sich
also nach einem kleinen sowohl als großen Maßstabe schätzen,
nachdem er sich als Sinnenwesen (seiner tierischen Natur nach),
oder als intelligibles Wesen (seiner moralischen Anlage nach)
betrachtet. Da er sich aber nicht bloĂź als Person ĂĽberhaupt,
sondern auch als Mensch, d. i. als eine Person, die Pflichten auf
sich hat, die ihm seine eigene Vernunft auferlegt, betrachten muĂź,
so kann seine Geringfähigkeit als Tiermensch dem Bewußtsein
seiner WĂĽrde als Vernunftmensch nicht Abbruch tun, und er
soll die moralische Selbstschätzung in Betracht der letzteren nicht
verleugnen, d. i. er soll sich um seinen Zweck, der an sich selbst
Pflicht ist, nicht kriechend, nicht knechtisch (animo servi/i),
gleich als sich um Gunst bewerbend, bewerben, nicht seine WĂĽrde
verleugnen, sondern immer mit dem BewuĂźtsein der Erhabenheit
seiner moralischen Anlage (welches im Begriff der Tugend schon
enthalten ist), und diese Selbstschätzung ist Pflicht des Men-
schen gegen sich selbst.
Das Bewußtsein und Gefühl der Geringfähigkeit seines mora-
lischen Werts in Vergleichung mit dem GESETZ ist die
Demut (humilitas moralii). Die Überredung von einer Größe
dieses seines Werts, aber nur aus Mangel der Vergleichung mit
dem Gesetz, kann der Tugendstolz (arrogantia moralis) genannt
werden. — Die Entsagung alles Anspruchs auf irgendeinen mora-
lischen Wert seiner selbst in der Ăśberredung, sich eben dadurch
einen geborgten zu erwerben, ist die sittlich-falsche Kriecherei
(humilitas spuriä).
DEMUT in Vergleichung mit anderen Menschen (ja
ĂĽberhaupt mit irgendeinem endlichen Wesen, und wenn es auch
ein Seraph wäre) ist gar keine Pflicht; vielmehr ist die Bestrebung,
in diesem Verhältnisse andern gleichzukommen oder sie zu über-
treffen mit der Ăśberredung sich dadurch auch einen inneren
größeren Wert zu verschaffen Hochmut (ambitio), welcher der
Pflicht gegen andere gerade zuwider ist. Aber die bloĂź als
Mittel zu Erwerbung der Gunst eines anderen (wer es auch sei)
ausgesonnene Herabsetzung seines eigenen moralischen Werts
(Heuchelei und Schmeichelei)' ist falsche (erlogene) Demut und
Heucheln (eigentlich häuchlen) scheint vom ächzenden, die
248 Ethische Elementarlehre. Erstes Buch
als Abwürdigung seiner Persönlichkeit der Pflicht gegen sich selbst
entgegen.
Aus unserer aufrichtigen und genauen Vergleichung mit dem
morilischen Gesetz (dessen Heiligkeit und Strenge) muĂź unver-
meidlich wahre Demut folgen; aber daraus, daĂź wir einer solchen
inneren Gesetzgebung fähig sind, daß der (physische) Mensch
den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren
sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und die höchste Selbst-
schätzung, als Gefühl seines inneren Werts (valor), nach welchem
er fĂĽr keinen Preis (^pretium) feil ist und eine unverlierbare
Würde (äignitas interna) besitzt, die ihm Achtung (re-üerentiä)
gegen sich selbst einflößt.
§ 12.
Mehr oder weniger kann man diese Pflicht in Beziehung auf
die WĂĽrde der Menschheit in uns, mithin auch gegen uns selbst
in folgenden Beispielen kennbar machen.
Werdet nicht der Menschen Knechte; — laßt euer Recht
nicht ungeahndet von anderen mit Füßen treten. — Macht keine
Schulden, für die ihr nicht volle Sicherheit leistet. — Nehmt
nicht Wohltaten an, die ihr entbehren könnt, und seid nicht
Schmarotzer, oder Schmeichler, oder gar (was freilich nur im
Grad von dem Vorigen unterschieden ist) Bettler. Daher seid
wirtschaftlich, dimit ihr nicht bettelarm werdet. — Das Klagen
und Winseln, selbst das bloße Schreien bei einem körperlichen
Schmerz ist euer schon unwert, am meisten, wenn ilir euch be-
wuĂźt seid ihn selbst verschuldet zu haben : daher die Veredlung
(Abwendung der Schmach) des Todes eines Delinquenten durch
die Standhaftigkeit, mit der er stirbt. — Das Hinknien oder
Hinwerfen zur Erde, selbst um die Verehrung himmlischer Gegen-
stände sich dadurch zu versinnlichen, ist der Menschenwürde zu-
wider, so wie die Anrufung derselben in gegenwärtigen Bildern;
derm ihr demĂĽtigt euch alsdann nicht unter einem Ideal, das
Sprache unterbrechenden Hauch (StoĂźseufzer) abgeleitet zu sein; da-
gegen Schmeichlen vom Schmiegen, welches als Habitus Schmie-
gein und endlich von den Hochdeutschen Schmeicheln genannt
worden ist, abzustammen.
Von den vollkommenen Pflichten gegen sich seihst 24p
euch eure eigene Vernunft vorstellt, sondern unter einem Idol,
was euer eigenes Gemächsel ist.
Kasuistische Fragen.
Ist nicht in dem Menschen das GefĂĽhl der Erhabenheit seiner
Bestimmung, d. i. die GemĂĽtserhebung {elatio an'tmi) als
Schätzung seiner selbst, mit dem Eigendünkel (arrogant'ia),
welcher der wahren Demut (humilitas moralis) gerade entgegen-
gesetzt ist, zu nahe verwandt, als daĂź zu jener aufzumuntern es
ratsam wäre; selbst in Vergleichung mit anderen Menschen, nicht
bloĂź mit dem Gesetz? oder wĂĽrde diese Art von Selbstverleugnung
nicht vielmehr den Ausspruch anderer bis zur Geringschätzung
unserer Person steigern und so der Pflicht (der Achtung) gegen
uns selbst zuwider sein? Das BĂĽcken und Schmiegen vor einem
Menschen scheint in jedem Fall eines Menschen unwĂĽrdig zu sein.
Die vorzĂĽgliche Achtungsbezeigung in Worten und Manieren
selbst gegen einen nicht Gebietenden in der bĂĽrgerlichen Ver-
fassung — die Reverenzen, Verbeugungen (Komplimente), höfische
— den Unterschied der Stände mit sorgfältiger Pünktlichkeit
bezeichnende Phrasen, — welche von der Höflichkeit (die auch
sich gleich Achtenden notwendig ist) ganz unterschieden sind —
das Du, Er, Ihr und Sie, oder Ew. VV'ohledlen, Hochedeln, Koch-
edelgebornen, Wohlgebornen (ohej tarn saus est f) in der Anrede —
als in welcher Pedanterei die Deutschen unter allen Völkern der
Erde (die indische Kasten vielleicht ausgenommen) es am weitesten
gebracht haben, sind das nicht Beweise eines ausgebreiteten
Hanges zur Kriecherei unter Menschen? {Hae nugce in seria
ducunt.) Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht
klagen, daĂź er mit FĂĽĂźen getreten wird.
250 Ethische Elementar lehre. Erstes Buch
Des zweiten HauptstĂĽcks
Erster Abschnitt. 1
Von der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, als
dem angebornen Richter ĂĽber sich selbst. ,
§ 13.
Ein jeder Pflichtbegriff enthält objektive Nötigung durchs
Gesetz (als moralischen, unsere Freiheit einschränkenden Imperativ)
und gehört dem praktischen Verstände zu, der die Regel gibt;
die innere Zurechnung aber einer Tat, als eines unter dem
Gesetz stehenden Falles, (/« merituni aut demer'ituni) gehört zur
Urteilskraft (judic'tuui)^ welche als das subjektive Prinzip der
Zurechnung der Handlung, ob sie als Tat (unter einem Gesetz
stehende Handlung) geschehen sei oder nicht, rechtskräftig urteilt;
worauf denn der SchluĂź der Vernunft (die Sentenz), d. i. die
VerknĂĽpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung (die
Verurteilung oder Lossprechung), folgt: welches alles vor Gericht
(coram iudiciö)^ als einer dem Gesetz Effekt verschaffenden mora-
lischen Person, Gerichtshof (^foruin) genannt, geschiehet. —
Das BewuĂźtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen
(„vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder
entschuldigen") ist das GEWISSEN. '
Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen
inneren Richter beobachtet, bedroht und ĂĽberhaupt im Respekt
(mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese ĂĽber die
Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich
selbst (willkĂĽrlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einver-
leibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen
gedenkt. Er kann sich zwar durch LĂĽste und Zerstreuungen
betäuben oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und
wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er als-
bald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es in
seiner äußersten Verworfenheit allenfalls dahin bringen, sich daran
gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören, kann er doch
nicht vermeiden.
Von den vollkommenen Vflichten gegen sich seihst 1 5 1
Diese ursprĂĽngliche intellektuelle und (weil sie Pflichtvor-
stellung ist) moralische Anlage, Gewissen genannt, hat nun das
Besondere in sich, daß, obzwar dieses sein Geschäfte ein Ge-
schäfte des Menschen mit sich selbst ist, dieser sich doch durch
seine Vernunft genötigt sieht, es als auf den Geheiß einer
anderen Person zu treiben. Denn der Handel ist hier die
FĂĽhrung einer Rechtssache (causa) vor Gericht. DaĂź aber der
durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine
und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte
Vorstellungsart von einem Gerichtshofe: denn da wĂĽrde ja der
Ankläger jederzeit verlieren. — Also wird sich das Gewissen des
Menschen bei allen Pflichten einen anderen (als den Menschen
ĂĽberhaupt, d. i.) als sich selbst, zum Richter seiner Handlungen
denken mĂĽssen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch
stehen soll. Dieser andere mag nun eine wirkliche, oder bloĂź
idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft.*
Eine solche idealische Person (der autorisierte Gewissens-
richter) muĂź ein HerzenskĂĽndiger sein; denn der Gerichtshof ist im
Inneren des Menschen aufgeschlagen — zugleich muß er aber
^ Die zwiefache Persönlichkeit, in welcher der Mensch, der sich
im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken mufb: dieses
doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der
doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu mĂĽssen, anderseits
aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen 7u
haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich
selbst gar in Widerspruch gerate. — Ich, der Kläger und doch auch
Angeklagter, bin eben derselbe Mensch {numero idem), aber als Subjekt
der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden Gesetz-
gebung, wo der Mensch einem Gesetz Untertan ist, das er sich selbst
gibt {homo noumenon), ist er als ein anderer als der mit Vernunft begabte
Sinnenmensch {specie äiversm), aber nur in praktischer Rücksicht zu
betrachten - denn über das Kausal-Verhältnis des Intelligibilen zum
Sensibilen gibt es keine Theorie, - und diese spezifische Verschieden-
heit ist die der Fakultäten des Menschen (der oberen und unteren),
die ihn charakterisieren. Der erstere ist der Ankläger, dem entgegen
ein rechtlicher Beistand des Verklagten (Sachwalter desselben) bewilligt
ist. Nach SchlieI5ung der Akten tut der innere Richter, als macht-
habende Person, den Ausspruch ĂĽber GlĂĽckseligkeit oder Elend, als
moralische Folgen der Tat; in welcher Qualität wir dieser ihre Macht
(als Weltherrschers) durch unsere Vernunft nicht weiter verfolgen,
sondern nur das unbedingte iubeo oder veto verehren können.
2 52 Ethische E/ernen rar lehre. Erstes Buch
auch allvcrpFJichtend, d. i. eine solche Person sein, oder als
eine solche gedacht v/erden, in Verhältnis auf welche alle Pflichten
ĂĽberhaupt auch als ihre Gebote anzusehen sind : weil das Ge-
wissen über alle freie Handlungen der innere Richter ist. — —
Da nun ein solches moralisches Wesen zugleich alle Gewalt (im
Himmel und auf Erden) haben muĂź, weil es sonst nicht (was
doch zum Richteramt notwendig gehört) seinen Gesetzen den
ihnen angemessenen Effekt verschaffen könnte, ein solches über
alles machthabende moralische Wesen aber GOTT heiĂźt: so wird
das Gewissen als subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten
wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden mĂĽssen: ja
es wird der letztere Begriff (wenn gleich nur auf dunkele Art)
in jenem moralischen SelbstbewuĂźtsein jederzeit enthalten sein.
Dieses will nun nicht so viel sagen als: der Mensch, durch
die Idee, zu welcher ihn sein Gewissen unvermeidlich leitet, sei
berechtigt, noch weniger aber: er sei durch dasselbe verbunden,
ein solches höchste Wesen außer sich als wirklich anzunehmen;
denn sie wird ihm nicht objektiv, durch theoretische, sondern
bloĂź subjektiv, durch praktische, sich selbst verpflichtende Ver-
nunft ihr angemessen zu handeln gegeben ; und der Mensch er-
hält vermittelst dieser nur nach der Analogie mit einem Gesetz-
geber aller vernĂĽnftigen Weltwesen eine bloĂźe Leitung, die Ge-
wissenhaftigkeit (welche auch religio genannt wird) als Verant-
wortlichkeit vor einem von uns selbst unterschiedenen, aber uns
doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen (der moralisch-gesetz-
gebenden Vernunft) sich vorzustellen und dessen Willen den
Regeln der Gerechtigkeit zu unterwerfen. Der Begriff von der
Religion überhaupt ist hier dem Menschen bloß „ein Prinzip der
Beurteilung aller seiner Pflichten a 1 s göttlicher Gebote".
i) In einer Gewissenssache (causa conscientiam tangens) denkt
sich der Mensch ein warnendes Gewissen (praemonens) vor der
Entschheßung; wobei die äußerste Bedenklichkeit {scrupulositai)^
wenn es einen Pflichtbegriff (etwas an sich Moralisches) betrifft,
in Fällen, darüber das Gewissen der alleinige Richter ist (casibus
conscientiae\ nicht für Kleinigkeitskrämerei (Mikrologie) und eine
wahre Ăśbertretung nicht fĂĽr Bagatelle (j>eaatillum) beurteilt und
(nach dem Grundsatz minima non curat praetor) einem willkĂĽr-
lich sprechenden Gewissensrat ĂĽberlassen werden kann. Daher
ein weites Gewissen jemanden zuzuschreiben so viel heiĂźt als;
ihn gewissenslos nennen. —
Von den vollkommenen V fliehten gegen sich seihst 253
2) Wenn die Tat beschlossen ist, tritt im Gewissen zuerst
der Ankläger, aber zugleich mit ihm auch ein Anwalt (Advokat)
auf; wobei der Streit nicht gĂĽtlich (j)er amicabilem compositiontnt)
abgemacht, sondern nach der Strenge des Rechts entschieden
werden muĂź; und hierauf folgt
3) der rechtskräftige Spruch des Gewissens über den Men-
schen, ihn loszusprechen oder zu verdammen, der d6n
BeschluĂź macht; wobei zu merken ist, daĂź der erstere nie eine
Belohnung (j)raem\u7n)^ als Gewinn von etwas, was vorher nicht
sein war, beschlieĂźen kann, sondern nur ein Frohsein, der Ge-
fahr, strafbar befunden zu werden, entgangen zu sein, enthalte
und daher die Seligkeit in dem trostreichen Zuspruch seines
Gewissens nicht positiv (als Freude), sondern nur negativ
(Beruhigung nach vorhergegangener Bangigkeit) ist, was der
Tugend, als einem Kampf gegen die Einflüsse des bösen Prinzip
im Menschen, allein beigelegt werden kann.
Zweiter Abschnitt.
Von dem ersten Gebot aller Pflichten
gegen sich selbst.
§ 14-
Dieses ist: Erkenne (^erforsche, ergrĂĽnde^ dich selbst nicht
nach deiner physischen Vollkommenheit (der Tauglichkeit oder
Untauglichkeit zu allerlei dir beliebigen oder auch gebotenen
Zwecke), sondern nach der moralischen in Beziehung auf deine
Pflicht — dein Herz, — ob es gut oder böse sei, ob die Quelle
deiner Handlungen lauter oder unlauter, und was entweder als
ursprünglich zur Substanz des Menschen gehörend, oder als ab-
geleitet (erworben oder zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden
kann und zum moralischen Zustande gehören mag.
Das moralische Selbsterkenntnis, das in die schwerer zu er-
grĂĽndende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist
aller menschlichen Weisheit Anfang. Denn die letztere, welche
in der Zusammenstimmung des Willens eines Wesen zum End-
zweck besteht, bedarf beim Menschen zu allererst die Wegräumung
2 54 Ethische Elementarlehre. Erstes Buch
der inneren Hindernisse (eines bösen in ihm genistelten Willens)
und dann die Entwickelung der nie verlierbaren ursprĂĽnglichen
Anlage eines guten Willens in ihm zu entwickeln (nur die Höllen-
fahrt des Selbsterkenntnisses bahnt den Weg zur Vergötterung).
^ 15.
Dieses moralische Selbsterkenntnis wird erstlich die schwär-
merische Verachtung seiner selbst, als Mensch (seiner ganzen
Gattung) ĂĽberhaupt, verbannen; denn sie widerspricht sich selbst.
— Es kann ja nur durch die herrliche in uns befindliche Anlage
zum Guten, welche den Menschen achtungswĂĽrdig macht, ge-
schehen, daĂź er den Menschen, der dieser zuwiderhandelt, (sich
selbst, aber nicht die Menschheit in sich) verachtungswĂĽrdig
findet. — Dann aber widersteht sie auch der eigenliebigen
Selbstschätzung, bloße Wünsche, wenn sie mit noch so großer
Sehnsucht geschähen, da sie an sich doch tatleer sind und bleiben,
fĂĽr Beweise eines guten Herzens zu halten (Gebet ist auch nur
ein innerlich vor einem HerzenskĂĽndiger deklarierter Wunsch).
Unparteilichkeit in Beurteilung unserer selbst in Vergleichung mit
dem Gesetz und Aufrichtigkeit im Selbstgeständnisse seines inneren
moralischen Werts oder Unwerts sind Pflichten gegen sich selbst,
die aus jenem ersten Gebot der Selbsterkenntnis unmittelbar
folgen.
Episodischer Abschnitt.
Von der Amphibolie der moralischen Reflexions-
begriffe: das, was Pflicht des Menschen gegen sich selbst
ist, fĂĽr Pflicht gegen andere zu halten.
§ 16.
Nach der bloĂźen Vernunft zu urteilen, hat der Mensch sonst
keine Pflicht, als bloĂź gegen den Menschen (sich selbst oder
einen anderen); denn seine Pflicht gegen irgendein Subjekt
ist die moralische Nötigung durch dieses seinen Willen. Das
nötigende (verpflichtende) Subjekt muß also erstlich eine Person
Von den vollkommenen PĂźichten gegen sich selbst 255
sein, zweitens muĂź diese Person als Gegenstand der Erfahrung
gegeben sein: weil der Mensch auf den Zweck ihres Willens
hinwirken soll, welches nur in dem Verhältnisse zweier existieren-
der Wesen zueinander geschehen kann (denn ein bloĂźes Gedanken-
ding kann nicht Ursache von irgendeinem Erfolg nach Zwecken
werden). Nun kennen wir aber mit aller unserer Erfahrung
kein anderes Wesen, was der Verpflichtung (der aktiven oder
passiven) fähig wäre, als bloß den Menschen. Also kann der
Mensch sonst keine Pflicht gegen irgendein Wesen haben, als
bloĂź gegen den Menschen, und stellt er sich gleichwohl eine
solche zu haben vor, so geschieht dieses durch eine Amphibolie
der Reflexionsbegriffe, und seine vermeinte Pflicht gegen
andere Wesen ist wohl Pflicht gegen sich selbst; zu welchem
MiĂźverstande er dadurch verleitet wird, daĂź er seine Pflicht in
Ansehung anderer Wesen fĂĽr Pflicht gegen diese Wesen ver-
wechselt.
Diese vermeinte Pflicht kann nun auf unpersönliche, oder
zwar persönliche, aber schlechterdings unsichtbare (den äußeren
Sinnen nicht darzustellende) Gegenstände bezogen werden. — Die
erstere (außermenschliche) können der bloße Naturstoffe, oder
der zur Fortpflanzung organisierte, aber empfindungslose, oder der
mit Empfindung und WillkĂĽr begabte Teil der Natur (Mineralien,
Pflanzen, Tiere) sein: die zweite (übermenschliche) können
als geistige Wesen (Engel, Gott) gedacht werden. — Ob zwischen
Wesen beider Art und den Menschen ein Pflichtverhältnis und
welches dazwischen stattfinde, wird nun gefragt.
§ 17-
In Ansehung des Schönen, obgleich Leblosen in der Natur
ist ein Hang zum bloßen Zerstören (jpiritus destructionii) der
Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider: weil es dasjenige
Gefühl im Menschen schwächt oder vertilgt, was zwar nicht für
sich allein schon moralisch ist, aber doch diejenige Stimmung
der Sinnlichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens
dazu vorbereitet, nämlich etwas auch ohne Absicht auf Nutzen
zu lieben (z. B. die schöne Kristallisationen, das unbeschreiblich
Schöne des Gewächsreichs).
In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der
1^6 Ethische Elementarlehre. Erstes Buch
Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und
zugleich grausamer Behandlung der Tiere der Pflicht des Men-
schen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt, weil
dadurch das MitgefĂĽhl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft
und dadurch eine der Moralität im Verhältnisse zu anderen Men-
schen sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und
nach ausgetilgt wird; obgleich ihre behende (ohne Qual ver-
richtete) Tötung, oder auch ihre, nur nicht bis über Vermögen
angestrengte Arbeit (dergleichen auch wohl Menschen sich gefallen
lassen müssen) unter die Befugnisse des Menschen gehören; da-
hingegen die martervolle physische Versuche zum bloĂźen Behuf
der Spekulation, wenn auch ohne sie der Zweck erreicht werden
könnte, zu verabscheuen sind. — Selbst Dankbarkeit für lang
geleistete Dienste eines alten Pferdes oder Hundes (gleich als ob
sie Hausgenossen wären) gehört indirekt zur Pflicht des Men-
schen, nämlich in Ansehung dieser Tiere, direkt aber betrachtet
ist sie immer nur Pflicht des Menschen gegen sich selbst.
§ i8.
In Ansehung dessen, was ganz ĂĽber unsere Erfahrungsgrenze
hinausliegt, aber doch seiner Möglichkeit nach in unseren Ideen
angetroffen wird, z. B. der Idee von Gott, haben wir ebenso-
wohl auch eine Pflicht, welche Religionspflicht genannt wird,
die nämlich „der Erkenntnis aller unserer Pflichten als (^instar)
götthcher Gebote". Aber dieses ist nicht das Bewußtsein einer
Pflicht gegen Gott. Denn da diese Idee ganz aus unserer
eigenen Vernunft hervorgeht und von uns, es sei in theoretischer
Absicht, um sich die Zweckmäßigkeit im Weltganzen zu erklären,
oder auch um zur Triebfeder in unserem Verhalten zu dienen,
selbst gemacht wird, so haben wir hiebei nicht ein gegebenes
Wesen vor uns, gegen welches uns Verpflichtung obläge: denn
da mĂĽĂźte dessen Wirklichkeit allererst- durch Erfahrung bewiesen
(geoffenbart) sein ; sondern es ist Pflicht des Menschen gegen
sich selbst, diese unumgänglich der Vernunft sich darbietende
Idee auf das moralische Gesetz in uns, wo es von der größten
sittlichen Fruchtbarkeit ist, anzuwenden. In diesem (praktischen)
Sinn kann es also so lauten : Religion zu haben ist Pflicht des
Menschen gegen sich selbst.
Von den vollkommenen Pflichten des Menschen 257
Der Pflichten gegen gegen sich selbst
Zweites Buch.
Von den unvollkommenen Pflichten des Menschen
gegen sich selbst (in Ansehung seines Zwecks).
Erster Abschnitt.
Von der Pflicht gegen sich selbst in Entwickelung und
Vermehrung seiner Naturvollkommenheit, d. i. in
pragmatischer Absicht.
§ 19.
Der Anbau (culturd) seiner Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und
Leibeskräfte) als Mittel zu allerlei möglichen Zwecken ist Pflicht
des Menschen gegen sich selbst. — Der Mensch ist es sich selbst
(als einem Vernunftwesen) schuldig, die Naturanlage und Ver-
mögen, von denen seine Vernunft dereinst Gebrauch machen
kann, nicht unbenutzt und gleichsam rosten zu lassen, sondern,
gesetzt daß er auch mit dem angebornen Maß seines Vermögens
für die natürlichen Bedürfnisse zufrieden sein könne, so muß
ihm doch seine Vernunft dieses Zufriedensein mit dem geringen
Maß seiner Vermögen erst durch Grundsätze anweisen, weil er
als ein Wesen, das der Zwecke (sich Gegenstände zum Zweck
zu machen) fähig ist, den Gebrauch seiner Kräfte nicht bloß
dem Instinkt der Natur, sondern der Freiheit, mit der er dieses
MaĂź bestimmt, zu verdanken haben muĂź. Es ist also nicht
Rücksicht auf den Vorteil, den die Kultur seines Vermögens
(zu allerlei Zwecken) verschaffen kann; denn dieser wĂĽrde viel-
leicht (nach Rousseauschen Grundsätzen) für die Rohigkeit des
NaturbedĂĽrfnisses vorteilhaft ausfallen: sondern es ist Gebot der
moralisch-praktischen Vernunft und Pflicht des Menschen gegen
sich selbst, seine Vermögen (unter denselben eins mehr als das
andere nach Verschiedenheit seiner Zwecke) anzubauen und in
pragmarischer RĂĽcksicht ein dem Zweck seines Daseins an-
gemessener Mensch zu sein.
Kants Schriften. Bd. VII. 17
258 Ethische Ele7ncntarlehre. Zweites Buch
Geisteskräfte sind diejenigen, deren Ausübung nur durch
die Vernunft möglich ist. Sic sind sofern schöpferisch, als
ihr Gebrauch nicht aus Erfahrung geschöpft, sondern a priori
aus Prinzipien abgeleitet wird. Dergleichen sind Mathematik,
Logik und Metaphysik der Natur, welche zwei letztere auch zur
Philosophie, nämlich der theoretischen, gezählt werden, die zwar
alsdann nicht, wie der Buchstabe lautet, Weisheitslehre, sondern
nur Wissenschaft bedeutet, aber doch der ersteren zu ihrem
Zwecke beförderlich sein kann.
Seeienkräfte sind diejenige, welche dem Verstände und der
Regel, die er zu Befriedigung beliebiger Absichten braucht, zu
Gebote stehen und sofern an dem Leitfaden der Erfahrung gefĂĽhrt
werden. Dergleichen ist das Gedächtnis, die Einbildungskraft
u. dgl., worauf Gelahrtheit, Geschmack (innere und äußere Ver-
schönerung) usw. gegründet werden können, welche zu mannig-
faltiger Absicht die Werkzeuge darbieten.
Endlich ist die Kultur der Leibeskräfte (die eigentliche
Gymnastik) die Besorgung dessen, was das Zeug (die' Materie)
am Menschen ausmacht, ohne welches die Zwecke des Menschen
unausgefĂĽhrt bleiben wĂĽrden; mithin die fortdauernde absichtliche
Belebung des Tieres am Menschen Zweck des Menschen gegen
sich selbst.
§ io.
Welche von diesen physischen Vollkommenheiten vorzĂĽglich,
und in welcher Proportion in Vergleichung gegeneinander sie
sich zum Zweck zu machen es Pflicht des Menschen gegen sich
selbst sei, bleibt ihrer eigenen vernĂĽnftigen Ăśberlegung in An-
sehung der Lust zu einer gewissen Lebensart und zugleich der
Schätzung seiner dazu erforderlichen Kräfte überlassen, um dar-
unter zu wählen (z. B. ob es ein Handwerk, oder der Kaufhandel,
oder die Gelehrsamkeit sein sollte). Denn abgesehen von d^m
BedĂĽrfnis der Selbsterhaltung, welches an sich keine Pflicht be-
grĂĽnden kann, ist es Pflicht des Menschen gegen sich selbst, ein
der Welt nĂĽtzUches Glied zu sein, weil dieses auch zum Wert
der Menschheit in seiner eigenen Person gehört, die er also nicht
abwĂĽrdigen soll.
Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst in Ansehung seiner
physischen Vollkommenheit ist aber nur weite und unvoll-
Von den vollkommenen Pflichten des Menschen 259
kommene Pflicht: weil sie zwar ein Gesetz fĂĽr die Maxime der
Handlungen enthält, in Ansehung der Handlungen selbst aber
ihrer Art und ihrem Grade nach nichts bestimmt, sondern der
freien WillkĂĽr einen Spielraum verstattet.
Zweiter Abschnitt.
Von der Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner
moralischen Vollkommenheit, d. i. in bloĂź sittlicher
Absicht.
§ ZI.
Sie besteht erstlich subjektiv in der Lauterkeit {puritas
moralis) der Pflichtgesinnung: da nämüch auch ohne Beimischung
der von der Sinnlichkeit hergenommenen Absichten das Gesetz
fĂĽr sich allein Triebfeder ist, und die Handlungen nicht bloĂź
pflichtmäßig, sondern auch aus Pflicht geschehen. — „Seid
heilig" ist hier das Gebot. Zweitens objektiv in Ansehung des
ganzen moraUschen Zwecks, der die Vollkommenheit, d, i. seine
ganze Pflicht und die Erreichung der Vollständigkeit des mora-
lischen Zwecks in Ansehung seiner selbst, betrifft, „seid voll-
kommen"; zu welchem Ziele aber hinzustreben beim Menschen
immer nur ein Fortschreiten von einer Vollkommenheit zur
andern ist, „ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem trachtet
nach."
§ zz.
Diese Pflicht gegen sich selbst ist eine der Qualität nach
enge und vollkommene, obgleich dem Grade nach weite und
unvollkommene Pflicht und das wegen der Gebrechlichkeit
(^fragilitas) der menschlichen Natur.
Diejenige Vollkommenheit nämlich, zu welcher zwar das
Streben, aber nicht das Erreichen derselben (in diesem Leben)
Pflicht ist, deren Befolgung also nur in kontinuierlichen Fort-
schritten bestehen kann, ist in Hinsicht auf das Objekt (die
Idee, deren AusfĂĽhrung man sich zum Zweck machen soll) zwar
17*
i6o Ethische Elementarlehre. Ziaeites Buch
enge und vollkommene, in RĂĽcksicht aber auf das Subjekt weite
und nur unvollkommene Pflicht gegen sich selbst.
Die Tiefen des menschlichen Herzens sind unergrĂĽndlich.
Wer kennt sich gnugsam, wenn die Triebfeder zur Pflicht-
beobachtung von ihm gefühlt wird, ob sie gänzlich aus der Vor-
stellung des Gesetzes hervorgehe, oder ob nicht manche andere
sinnliche Antriebe mitwirken, die auf" den Vorteil (oder zur Ver-
hĂĽtung eines Nachteils) angelegt sind und bei anderer Gelegenheit
auch wohl dem Laster zu Diensten stehen könnten? — Was aber
die Vollkommenheit als moralischen Zweck betrifit, so gibts zwar
in der Idee (objektiv) nur eine Tugend (als sittliche Stärke der
Maximen), in der Tat (subjektiv) aber eine Menge derselben von
heterogener Beschaffenheit, worunter es unmöglich sein dürfte,
nicht irgendeine Untugend (ob sie gleich eben jener wegen den
Namen des Lasters nicht zu fĂĽhren pflegen) aufzufinden, wenn
man sie suchen wollte. Eine Summe von Tugenden aber, deren
Vollständigkeit oder Mängel das Selbsterkenntnis uns nie hin-
reichend cinschauen läßt, kann keine andere als unvollkommene
Pflicht vollkommen zu sein begrĂĽnden.
Also sind alle Pflichten gegen sich selbst in Ansehung des
Zwecks der Menschheit in unserer eigenen Person nur unvoll-
kommene Pflichten.
Der ethischen E 1 e m e n t a r 1 e h r e
Zweiter Teil.
Von den Tugendpflichten gegen andere.
Erstes HauptstĂĽck.
Von den Pflichten gegen andere, bloĂź als Menschen.
Erster Abschnitt.
Von der Liebespflicht gegen andere Menschen.
Einteilung.
§ ^3-
JLyie oberste Einteilung kann die sein: in Pflichten gegen
andere, sofern du sie durch Leistung derselben zugleich verbindest,
und in solche, deren Beobachtung die Verbindlichkeit anderer
nicht zur Folge hat. — Die erstere Leistung ist (respektiv gegen
andere) verdienstlich; die der zweiten ist schuldige Pflicht. —
Liebe und Achtung sind die GefĂĽhle, welche die AusĂĽbung
dieser Pflichten begleiten. Sie können abgesondert (jede für sich
allein) erwogen werden und auch so bestehen (Liebe des
Nächsten, ob dieser gleich wenig Achtung verdienen möchte;
imgleichen notwendige Achtung fiir jeden Menschen, unerachtet
er kaum der Liebe wert zu sein beurteilt wĂĽrde). Sie sind aber
im Grunde dem Gesetze nach jederzeit miteinander in einer Pflicht
zusammen verbunden; nur so, daĂź bald die eine Pflicht, bald die
andere das Prinzip im Subjekt ausmacht, an welche die andere
i6i Ethische Elernentarlehre. Zweiter Teil. Erstes HauptstĂĽck
accessorisch geknüpft ist. — So werden wir gegen einen Armen
wohltätig zu sein uns für verpflichtet erkennen; aber weil diese
Gunst doch auch Abhängigkeit seines Wohls von meiner Großmut
enthält, die doch den anderen erniedrigt, so ist es Pflicht, dem
Empfänger durch ein Betragen, welches diese Wohltätigkeit ent-
weder als bloĂźe Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt,
die DemĂĽtigung zu ersparen und ihm seine Achtung fĂĽr sich selbst
zu erhalten.
§ 24.
Wenn von Pflichtgesetzen (nicht von Naturgesetzen) die Rede
ist und zwar im äußeren Verhältnis der Menschen gegeneinander,
so betrachten wir uns in einer moralischen (intelligibelen) Welt,
in welcher nach der Analogie mit der physischen die Verbindung
vernĂĽnftiger Wesen (auf Erden) durch Anziehung und Ab-
stoßung bewirkt wird. Vermöge des Prinzips der WECHSEL-
LIEBE sind sie angewiesen, sich einander beständig zu nähern,
durch das der ACHTUNG, die sie einander schuldig sind, sich im
Abstände von einander zu erhalten; und sollte eine dieser großen
sittlichen Kräfte sinken, „so würde dann das Nichts (der Im-
moralität) mit aufgesperrtem Schlund der (moralischen) Wesen
ganzes Reich wrie einen Tropfen Wasser trinken" (wenn ich mich
hier der Worte HALLERS, nur in einer andern Beziehung, be-
dienen darf-).
§ 15-
Die LIEBE wird hier aber nicht als Gefühl (ästhetisch), d. i.
als Lust an der Vollkommenheit anderer Menschen, nicht als Liebe
des Wohlgefallens, verstanden (denn GefĂĽhle zu haben, dazu
kann es keine Verpflichtung durch andere geben), sondern muĂź
als Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht werden,
welche das Wohltun zur Folge hat.
Eben dasselbe muĂź von der gegen andere zu beweisenden
ACHTUNG gesagt werden: daß nämlich nicht bloß das Gefühl
aus der Vergleichung unseres eigenen Werts mit dem des anderen
(dergleichen ein Kind gegen seine Eltern, ein SchĂĽler gegen seinen
Lehrer, ein Niedriger ĂĽberhaupt gegen seinen Oberen aus bloĂźer
Gewohnheit fühlt), sondern nur eine Maxime der Einschränkung
Von den Pflichten gegen andere^ bloĂź als Menschen 1 6 3
unserer Selbstschätzung durch die Würde der Menschheit in eines
anderen Person, mithin die Achtung im praktischen Sinne {obser-
vantia aliis praestandd) verstanden wird.
Auch wird die Pflicht der freien Achtung gegen andere, weil
sie eigentlich nur negativ ist (sich nicht ĂĽber andere zu erheben)
und so der Rechtspflicht, niemanden das Seine zu schmälern,
analog, obgleich als bloße Tugendpflicht, verhältnisweise gegen
die Liebespflicht fĂĽr enge, die letzere also als weite Pflicht
angesehn.
Die Pflicht der Nächstenliebe kann also auch so ausgedrückt
werden: sie ist die Pflicht anderer ihre Zwecke (sofern diese
nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen; die Pflicht der
Achtung meines Nächsten ist in der Maxime enthalten, keinen
anderen Menschen bloĂź als Mittel zu meinen Zwecken abzuwĂĽrdigen
(nicht zu verlangen, der andere solle sich selbst wegwerfen, um
meinem Zwecke zu frönen).
Dadurch, daĂź ich die erstere Pflicht gegen jemand ausĂĽbe,
verpflichte ich zugleich einen anderen; ich mache mich um ihn
verdient. Durch die Beobachtung der letzteren aber verpflichte
ich bloĂź mich selbst, halte mich in meinen Schranken, um dem anderen
an dem Werte, den er als Mensch in sich selbst zu setzen befugt
ist, nichts zu entziehen.
Von der Liebespflicht insbesondere.
§ 26.
Die Menschenliebe (Philanthropie) muĂź, weil sie hier als
praktisch, mithin nicht als Liebe des Wohlgefallens an Menschen
gedacht wird, im tätigen Wohlwollen gesetzt werden und betrifft
also die Maxime der Handlungen. — Der, welcher am Wohlsein
(salus) der Menschen, sofern er sie bloĂź als solche betrachtet,
VergnĂĽgen findet, dem wohl ist, wenn es jedem anderen wohl-
ergeht, heiĂźt ein Menschenfreund (Philanthrop) ĂĽberhaupt. Der,
welchem nur wohl ist, wenn es anderen ĂĽbel ergeht, heiĂźt
Menschenfeind (Misanthrop in praktischem Sinne). Der, welchem
es gleichgĂĽltig ist, wie es anderen ergehen mag, wenn es ihm
selbst nur wohl geht, ist ein Selbstsüchtiger {solipsistd). —
Derjenige aber, welcher Menschen flieht, weil er kein Wohl-
z 6^ Ethische Elementarlehre. Zweiter Teil. Erstes HauptstĂĽck
gefallen an ihnen finden kann, ob er zwar allen wohl will,
würde menschenscheu (ästhetischer Misanthrop) und seine Ab-
kehrung von Menschen Anthropophobie genannt werden können.
Die Maxime des Wohlwollens (die praktische Menschenliebe)
ist aller Menschen Pflicht gegeneinander, man mag diese nun
liebenswĂĽrdig finden oder nicht, nach dem ethischen Gesetz der
Vollkommenheit: Liebe deinen Nebenmenschen als dich selbst. —
Denn aJles moralisch-praktische Verhältnis gegen Menschen ist ein
Verhältnis derselben in der Vorstellung der reinen Vernunft, d. i.
der freien Handlungen nach Maximen, welche sich zur allgemeinen
Gesetzgebung qualifizieren, die also nicht selbstsĂĽchtig (ex solipsismo
prodeuntes^ sein können. Ich will jedes anderen Wohlwollen
(henevolentiani) gegen mich; ich soll also auch gegen jeden anderen
wohlwollend sein. Da aber alle andere auĂźer mir nicht alle
sein, mithin die Maxime nicht die Allgemeinheit eines Gesetzes
an sich haben wĂĽrde, welche doch zur Verpflichtung notwendig
ist: so wird das Pflichtgesetz des Wohlwollens mich als Objekt
desselben im Gebot der praktischen Vernunft mit begreifen: nicht
als ob ich dadurch verbunden wĂĽrde, mich selbst zu lieben (denn
das geschieht ohne das unvermeidlich, und dazu gibts also keine
Verpflichtung), sondern die gesetzgebende Vernunft, welche in
ihrer Idee der Menschheit ĂĽberhaupt die ganze Gattung (mich
also rriit) einschlieĂźt, nicht der Mensch, schlieĂźt als allgemein-
gesetzgebend mich in der Pflicht des wechselseitigen Wohlwollens
nach dem Prinzip der Gleichheit mit allen anderen neben mir
mit ein und erlaubt es dir, dir selbst wohlzuwollen, unter der
Bedingung, daĂź du auch jedem anderen wohl willst: weil so
allein deine Maxime (des Wohltuns) sich zu einer allgemeinen
Gesetzgebung qualifiziert, als worauf alles Pflichtgesetz gegrĂĽndet ist.
$ 28.
Das Wohlwollen in der allgemeinen Menschenliebe ist nun
zwar dem Umfange nach das größte, dem Grade nach aber
das kleinste, und wenn ich sage: ich nehme an dem Wohl dieses
Von den FĂźkhten gegen andere, bloĂź als Menschen 1 6
5
Menschen nur nach der allgemeinen Menschenliebe Anteil, so ist
das Interesse, was ich hier nehme, das kleinste, was nur sein
kann. Ich bin in Ansehung desselben nur nicht gleichgĂĽltig.
Aber einer ist mir doch näher als der andere, und ich bin
im Wohlwollen mir selbst der Nächste. Wie stimmt das nun mit
der Formel: Liebe deinen Nächsten (deinen Mitmenschen) als
dich selbst? Wenn einer mir näher ist (in der Pflicht des Wohl-
wollens) als der andere, ich also zum größeren Wohlwollen gegen
einen als gegen den anderen verbunden, mir selber aber geständ-
lich naher (selbst der Pflicht nach) bin, als jeder andere, so kann
ich, wie es scheint, ohne mir selbst zu widersprechen, nicht
sagen: ich soll jeden Menschen lieben wie mich selbst: denn der
MaĂźstab der Selbstliebe wĂĽrde keinen Unterschied in Graden zu-
lassen. — Man siehet bald: daß hier nicht bloß das Wohlwollen
des Wunsches, welches eigentlich ein bloĂźes Wohlgefallen am
Wohl jedes anderen ist, ohne selbst dazu etwas beitragen zu
dürfen (ein jeder für sich; Gott für uns alle), sondern ein tätiges,
praktisches Wohlwollen, sich das Wohl und Heil des anderen
zum Zweck zu machen, (das Wohltun) gemeinet sei. Denn im
WĂĽnschen kann ich allen gleich wohlwollen, aber im Tun kann
der Grad nach Verscliiedenheit der Geliebten (deren einer mich
näher angeht als der andere), ohne die Allgemeinheit der Maxime
zu verletzen, doch sehr verschieden sein.
Einteilung der Liebespflichten.
Sie sind: A) Pflichten der Wohltätigkeit, B) der Dank-
barkeit, C) der Teilnehmung.
A.
Von der Pflicht der Wohltätigkeit.
§ 29.
Sich selber gütlich tun, soweit als nötig ist, um nur am Leben
ein VergnĂĽgen zu finden, (seinen Leib, doch nicht bis zur Weich-
lichkeit zu pflegen) gehört zu den Pflichten gegen sich selbst; —
deren Gegenteil ist: sich aus Geiz (sklavisch) des zum frohen
i66 Et}?ische Elejucntarlehrc. Zweiter Teil. Erstes HauptstĂĽck
GenuĂź des Lebens Notwendigen oder aus ĂĽbertriebener Diszi-
plin seiner natürlichen Neigungen (schwärmerisch) sich des Ge-
nusses der Lebensfreuden zu berauben, welches beides der Pflicht
des Menschen gegen sich selbst widerstreitet.
\\'ie kann man aber auĂźer dem Wohlwollen des Wunsches
in Ansehung anderer Menschen (welches uns nichts kostet) noch,
daĂź dieses praktisch sei, d. i. das Wohltun in Ansehung der
Bedürftigen, jedermann, der das Vermögen dazu hat, als Pflicht
ansinnen? — Wohlwollen ist das Vergnügen an der Glückseligkeit
(dem WĂĽhlsein) anderer; Wohltun aber die Maxime, sich das-
selbe zum Zweck zu machen, und Pflicht dazu ist die Nötigung
des Subjekts durch die Vernunft, diese Maxime als allgemeines
Gesetz anzunehmen.
Es fällt nicht von selbst in die Augen: daß ein solches Gesetz
ĂĽberhaupt in der Vernunft liege; vielmehr scheint die Maxime:
„Ein jeder für sich, Gott (das Schicksal) für uns alle," die natür-
lichste zu sein.
§ 30-
W^ohltätig, d. i. anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glück-
seligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen
beförderlich zu sein, ist jedes Menschen Pflicht.
Denn jeder Mensch, der sich in Not beiludet, wĂĽnscht, daĂź
ihm von anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine
Maxime, anderen wiederum in ihrer Not nicht Beistand leisten
zu wollen, laut werden lieĂźe, d. i. sie zum allgemeinen Erlaubnis-
gesetz machte: so wĂĽrde ihm, wenn er selbst in Not ist, jeder-
mann gleichfalls seinen Beistand versagen, oder wenigstens zu
versagen befugt sein. Also widerstreitet sich die eigennĂĽtzige
Maxime selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz gemacht wĂĽrde,
d. i. sie ist pflichtwidrig, folglich die gemeinnĂĽtzige des Wohltuns
gegen BedĂĽrftige allgemeine Pflicht der Menschen und zwar darum:
weil sie als Mitmenschen, d. i. bedĂĽrftige, auf einem Wohnplatz
durch die Natur zur wechselseitigen BeihĂĽlfe vereinigte vernĂĽnftige
Wesen, anzusehen sind.
Von den Vflkhten gegen andere, bloĂź als Menschen i6j
Wohltun ist fĂĽr den, der reich (mit Mitteln zur GlĂĽck-
seligkeit anderer ĂĽberflĂĽssig, d. i. ĂĽber sein eigenes BedĂĽrfnis,
versehen) ist, von dem Wohltäter fast nicht einmal für seine
verdienstliche Pflicht zu halten; ob er zwar dadurch zugleich den
anderen verbindet. Das VergnĂĽgen, was er sich hiemit selbst
macht, welches ihm keine Aufopferung kostet, ist eine Art in
moralischen GefĂĽhlen zu schwelgen. Auch muĂź er allen Schein,
als dächte er den anderen hiemit zu verbinden, sorgfältig ver-
meiden: weil es sonst nicht wahre Wohltat wäre, die er
diesem erzeigte, indem er ihm eine Verbindlichkeit Tdie den
letzteren in seinen eigenen Augen immer erniedrigt) auflegen zu
wollen äußerte. Er muß sich vielmehr, als durch die Annahme
des anderen selbst verbindlich gemacht, oder beehrt, mithin die
Pflicht bloß als seine Schuldigkeit äußeren, wenn er nicht (welches
besser ist) seinen Wohltätigkeitsakt ganz im Verborgenen ausübt. —
Größer ist diese Tugend, wenn das Vermögen zum Wohltun be-
schränkt und der Wohltäter stark gepug ist, die Übel, welche er
anderen erspart, stillschweigend ĂĽber sich zu nehmen, wo er
alsdann wirklich fĂĽr moralisch- reich anzusehen ist.
Kasuistische Fragen.
Wie weit soll man den Aufwand seines Vermögens im Wohl-
tun treiben? Doch wohl nicht bis dahin, daĂź man zuletzt selbst
anderer Wohltätigkeit bedürftig würde. Wie viel ist die Wohl-
tat wert, die man mit kalter Hand (im Abscheiden aus der Welt
durch ein Testament) beweiset? — Kann derjenige, welcher eine
ihm durchs Landesgesetz erlaubte Obergewalt ĂĽber einen ĂĽbt, dem
er die Freiheit raubt, nach seiner eigenen Wahl glĂĽcklich zu sein
(seinem Erbunfertan eines Guts), kann, sage ich, dieser sich als
Wohltäter ansehen, wenn er nach seinen eigenen Begriffen von
Glückseligkeit für ihn gleichsam väterlich sorgt? Oder ist nicht
vielmehr die Ungerechtigkeit, einen seiner Freiheit zu berauben,
etwas der Rechtspflicht ĂĽberhaupt so Widerstreitendes, daĂź unter
dieser Bedingung auf die Wohltätigkeit der Herrschaft rechnend
sich hinzugeben die größte Wegweriring der Menschheit für den
sein würde, der sich dazu freiwilhg verstände, und die größte
Vorsorge der Herrschaft für den letzteren gar keine Wohltätigkeit
1 6 8 Ethische Elementar/ ehre. Zweiter Teil. Erstes HauptstĂĽck
sein wĂĽrde? Oder kann etwa das Verdienst mit der letzteren so
groĂź sein, daĂź es gegen das Menschenrecht aufgewogen werden
könnte? — Ich kann niemand nach meinen Begriffen von Glück-
seHgkcit wohltun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten),
sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu
erweisen denke, indem ich ihm ein Geschenk aufdringe.
Das Vermögen wohlzutun, was von Glücksgütern abhängt, ist
größtenteils ein Erfolg aus der Begünstigung verschiedener Menschen
durch die Ungerechtigkeit der Regierung, welche eine Ungleichheit
des Wohlstandes, die anderer Wohltätigkeit notwendig macht,
einführt. Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den
der Reiche den Notleidenden erweisen mag, wohl ĂĽberhaupt den
Namen der Wohltätigkeit, mit welcher man sich so gern als
Verdienst brĂĽstet?
B.
Von der Pflicht der Dankbarkeit.
Dankbarkeit ist die Verehrung einer Person wegen einer
uns erwiesenen Wohltat. Das GefĂĽhl, was mit dieser Beurteilung
verbunden ist, ist das der Achtung gegen den (ihn verpflichtenden)
Wohltäter, dahingegen dieser gegen den Empfänger nur als im
Verhältnis der Liebe betrachtet wird. — Selbst ein bloßes herz-
liches Wohlwollen des anderen ohne physische Folgen verdient
den Namen einer Tugendpflicht; welches dann den Unterschied
zwischen der tätigen und bloß affektionellen Dankbarkeit
begrĂĽndet.
§ 3^-
Dankbarkeit ist Pflicht, d. i. nicht bloĂź eine Klugheits-
maxime, durch Bezeugung meiner Verbindlichkeit wegen der mir
widerfahrenen Wohltätigkeit den andern zu mehrerem Wohltun
zu bewegen (^gratiarum actio est ad plus dandum invitatio)^ denn
dabei bediene ich mich dieser bloĂź als Mittel zu meinen ander-
weitigen Absichten; sondern sie ist unmittelbare Nötigung durchs
moralische Gesetz, d. i. Pflicht.
Dankbarkeit aber muĂź auch noch besonders als heilige Pflicht,
d. i. als eine solche, deren Verletzung die moralische Triebfeder
Von den Pflichten gegen andere, bloĂź als Menschen 269
zum Wohltun in dem Grundsatze selbst vernichten kann (als
skandalöses Beispiel), angesehen werden. Denn heilig ist derjenige
moralische Gegenstand, in Ansehung dessen die Verbindlichkeit
durch keiften ihr gemäßen Akt völlig getilgt' werden kann (wobei
der Verpflichtete immer noch verpflichtet bleibt). Alle andere ist
gemeine Pflicht. — Man kann aber durch keine Vergeltung einer
empfangenen Wohltat ĂĽber dieselbe quittieren: weil der Emp-
fänger den Vorzug des Verdienstes, den der Geber hat, nämlich
der erste im Wohlwollen gewesen zu sein, diesem nie abgewinnen
kann. — Aber auch ohne einen solchen Akt (des Wohltuns) ist
selbst das bloĂźe herzliche Wohlwollen schon Grund der Verpflichtung
zur Dankbarkeit. — Eine dankbare Gesinnung dieser Art wird
Erkenntlichkeit genannt.
§ 33-
Was die Extension dieser Dankbarkeit betrifft, so geht sie
nicht allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf die Vorfahren,
selbst diejenige, die man nicht mit GewiĂźheit namhaft machen
kann. Das ist auch die Ursache, weswegen es für unanständig
gehalten wird, die Alten, die als unsere Lehrer angesehen werden
können, nicht nach Möglichkeit wider alle Angriffe, Beschuldigungen
und Geringschätzung zu verteidigen; wobei es aber ein törichter
Wahn ist, ihnen um des Altertums willen einen Vorzug in Talenten
und gutem Willen vor den Neueren, gleich als ob die Welt in
kontinuierlicher Abnahme ihrer ursprĂĽnglichen Vollkommenheit
nach Naturgesetzen wäre, anzudichten und alles Neue in Ver-
gleichung damit zu verachten.
Was aber die Intension, d. i. den Grad der Verbindlichkeit
zu dieser Tugend, betrifft, so ist er nach dem Nutzen, den der
Verpflichtete aus der Wohltat gezogen hat, und der UneigennĂĽtzig-
keit, mit der ihm diese erteilt worden, zu schätzen. Der mindeste
Grad ist, gleiche Dienstleistungen dem Wohltäter, der dieser
empfänglich (noch lebend) ist, und, wenn er es nicht ist, anderen
zu erweisen: eine empfangene Wohltat nicht wie eine Last, deren
man gern überhoben sein möchte, (weil der so Begünstigte gegen
seinen Gönner eine Stufe niedriger steht und dies dessen Stolz
kränkt) anzusehen; sondern selbst die Veranlassung dazu als mora-
lische Wohltat aufzunehmen, d. i. als gegebene Gelegenheit, diese
Tugend mit der MenschenĂśebe, welche mit der Innigkeit der
ijo Ethische Eleifientarlchre. Zweiter Teil, Erstes HauptstĂĽck
wohlwollenden Gesinnung zugleich Zärtlichkeit des Wohlwollens
(Auhnerksamkeit auF den kleinsten Grad derselben in der Pflicht-
vorstellung) ist, zu verbinden und so die Menschenliebe zu kul-
tivieren.
C.
Teilnehmende Empfindung ist ĂĽberhaupt PHicht,
§ 34-
Mitfreude und Mitleid (jyjnpathia moral'ii) sind zwar
sinnliche Gefühle einer (darum ästhetisch zu nennenden) Lust
oder Unlust an dem Zustande des VergnĂĽgens sowohl als Schmerzens
anderer (MitgefĂĽhl, teilnehmende Empfindung), wozu schon die
Natur in den Menschen die Empfänglichkeit gelegt hat. Aber
diese als Mittel zu Beförderung des tätigen und vernünftigen
Wohlwollens zu gebrauchen, ist noch eine besondere, obzwar
nur bedingte Pflicht unter dem Namen der Menschlichkeit
{humanitasy. weil hier der Mensch nicht bloĂź als vernĂĽnftiges
Wesen, sondern auch als mit Vernunft begabtes Tier betrachtet
w^ird. Diese kann nun in dem Vermögen und Willen, sich
einander in Ansehung seiner GefĂĽhle mitzuteilen Qmmanitas
practica)^ oder bloß in der Empfänglichkeit für das gemeinsame
GefĂĽhl des VergnĂĽgens oder Schmerzens Qjumanitas aesthetica),
was die Natur selbst gibt, gesetzt werden. Das erstere ist frei
und wird daher teilnehmend genannt {communto sentiendi liberalis)
und grĂĽndet sich auf praktische Vernunft: das zweite ist unfrei
{communto sentiendi Uli heraus, serviJis^ und kann mitteilend (wie
die der Wärme oder ansteckender Krankheiten), auch Mitleidenschaft
heiĂźen: weil sie sich unter nebeneinander lebenden Menschen
natĂĽrlicherweise verbreitet. Nur zu dem ersteren gibts Ver-
bindlichkeit.
Es war eine erhabene Vorstellungsart des Weisen, wie ihn
sich der Stoiker dachte, wenn er ihn sagen lieĂź: ich wĂĽnsche
mir einen Freund, nicht der mir in Armut, Krankheit, in der
Getangenschaft u. s. w. HĂĽlfe leiste, sondern damit ich ihm bei-
stehen und einen Menschen retten könne; und gleichwohl spricht
eben derselbe Weise, wenn sein Freund nicht zu retten ist, zu sich
selbst: was gehts mich an? d. i. er verwarf die Mitleidenschaft.
Von den PĂźichten gegen andere^ bloĂź als Menschen 1 7 i
In der Tat, wenn ein anderer leidet und ich mich durch
seinen Schmerz, dem ich doch nicht abhelfen kann, auch (ver-
mittelst der Einbildungskraft) anstecken lasse, so leiden ihrer zwei;
obzwar das Ăśbel eigentlich (in der Natur) nur einen trifft. Es
kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Weit zu ver-
mehren, mithin auch nicht aus Mitleid wohJzutun; wie dann
dieses auch eine beleidigende Art des Wohltuns sein wĂĽrde, indem
es ein W^ohlwollen ausdrĂĽckt, was sich auf den UnwĂĽrdigen
bezieht und Barmherzigkeit genannt wird, und unter Menschen,
welche mit ihrer WĂĽrdigkeit glĂĽcklich zu sein eben nicht prahlen
dĂĽrfen, respektiv gegeneinander gar nicht vorkommen sollte.
§ 3 5-
Obzwar aber Mitleid (und so auch Mitfreude) mit anderen
zu haben an sich selbst nicht Pflicht ist, so ist es doch tätige
Teilnehmung an ihrem Schicksale und zu dem Ende also indirekte
Pflicht, die mitleidige natürliche (ästhetische) Gefühle in uns zu
kultivieren und sie als so viele Mittel zur Teilnehmung aus mora-
lischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen. —
So ist es Pflicht: nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen
das Notwendigste abgeht, umzugehen, sondern sie aufzusuchen,
nicht die Krankenstuben, oder die Gefängnisse der Schuldener
u. dergl. zu fliehen, um dem schmerzhaften MitgefĂĽhl, dessen man
sich nicht erwehren könne, auszuweichen: weil dieses doch einer
der in uns von der Natur gelegten Antriebe ist, dasjenige zu tun,
was die Pflichtvorstellung fĂĽr sich allein nicht ausrichten wĂĽrde.
Kasuistische Fragen.
WĂĽrde es mit dem Wphl der Welt ĂĽberhaupt nicht besser
stehen, wenn alle Moralität der Menschen nur auf Rechtspflichten,
doch mit der größten Gewissenhaftigkeit eingeschränkt, das Wohl-
wollen aber unter die Adiaphora gezählt würde? Es ist nicht
so leicht zu ĂĽbersehen, welche Folge es auf die GlĂĽckseligkeit
der Menschen haben dĂĽrfte. Aber in diesem Fall wĂĽrde es doch
wenigstens an einer großen moralischen Zierde der Welt, nämhch
der Menschenliebe, fehlen, welche also fĂĽr sich, auch ohne die
Vorteile (der GlĂĽckseligkeit) zu berechnen, die W^elt als em
2 7 2 Ethische Elenientarlehre. Zweiter Teil. Erstes HauptstĂĽck
schönes moralisches Ganze in ihrer ganzen Vollkommenheit darzu-
stellen erfordert wird.
Dankbarkeit ist eigentlich nicht Gegenliebe des Verpflichteten
gegen den Wohltäter, sondern Achtung vor demselben. Denn
der allgemeinen Nächstenliebe kann und muß Gleichheit der
Pflichten zum Grunde gelegt werden; in der Dankbarkeit aber
steht der Verpflichtete um eine Stufe niedriger als sein Wohltäter.
Sollte das nicht die Ursache so mancher Undankbarkeit sein,
nämlich der Stolz, einen über sich zu sehen; der Widerwille,
sich nicht in völlige Gleichheit (was die Pflichtverhältnisse betrifft)
mit ihm setzen zu können?
Von den der Menschenliebe gerade {contrarie) entgegen-
gesetzten Lastern des Menschenhasses.
§ 3<^-
Sie machen die abscheuliche Familie des Neides, der Un-
dankbarkeit und der Schadenfreude aus. — Der Haß ist
aber hier nicht offen und gewalttätig, sondern geheim und ver-
schleiert, welches zu der Pflichtvergessenheit gegen seinen Nächsten
noch Niederträchtigkeit hinzutut und so zugleich die Pflicht gegen
sich selbst verletzt.
a) Der Neid Qivor), als Hang das Wohl anderer mit Schmerz
wahrzunehmen, obzwar dem seinigen dadurch kein Abbruch ge-
schieht, der, wenn er zur Tat (jenes Wohl zu schmälern) ausschlägt,
qualifizierter Neid, sonst aber nur MiĂźgunst (jnvidentia)
heißt, ist doch nur eine indirekt-bösartige Gesinnung, nämlich
ein Unwille, unser eigen Wohl durch das Wohl anderer in Schatten
gestellt zu sehen, weil wir den MaĂźstab desselben nicht in dessen
innerem Wert, sondern nur in der Vergleichung mit dem Wohl
anderer zu schätzen und diese Schätzung zu versinnlichen wissen. —
Daher spricht man auch wohl von einer beneidungswĂĽrdigen
Eintracht und GlĂĽckseligkeit in einer Ehe oder Familie u. s. w.;
gleich als oh es in manchen Fällen erlaubt wäre, jemanden zu
beneiden. Die Regungen des Neides liegen also in der Natur
des Menschen, und nur der Ausbruch derselben macht sie zu dem
scheußlichen Laster einer grämischen, sich selbst folternden und
auf Zerstörung des Glücks anderer wenigstens dem Wunsche nach
Fort den 'Pflichten gegen andere, bloĂź als Menschen 273
gerichteten Leidenschaft, ist mithin der Pflicht des Menschen gegen
sich selbst sowohl, als gegen andere entgegengesetzt.
b) Undankbarkeit gegen seinen Wohltäter, welche, wenn
sie gar so weit geht, seinen Wohltäter zu hassen, quali Fi zierte
Undankbarkeit, sonst aber bloĂź Uner kenntlichkeit heiĂźt, ist
ein zwar im öffentlichen Urteile höchst verabscheutes Laster,
gleichwohl ist der Mensch desselben wegen so berĂĽchtigt, daĂź
man es nicht für unwahrscheinlich hält, man könne sich durch
erzeigte Wohltaten wohl gar einen Feind machen. — Der Grund
der Möglichkeit eines solchen Lasters liegt in der mißverstandenen
Pflicht gegen sich selbst, die Wohltätigkeit anderer, weil sie uns
Verbindlichkeit gegen sie auferlegt, nicht zu bedĂĽrfen und auf-
zufordern, sondern lieber die Beschwerden des Lebens selbst zu
ertragen, als andere damit zu belästigen, mithin dadurch bei ihnen
in Schulden (Verpflichtung) zu kommen: weil wir dadurch auf
die niedere Stufe des BeschĂĽtzten gegen seinen BeschĂĽtzer zu
geraten fürchten; welches der echten Selbstschätzung (auf die
WĂĽrde der Menschheit in seiner eigenen Person stolz zu sein)
zuwider ist. Daher Dankbarkeit gegen die, die uns im Wohltun
unvermeidlich zuvor kommen muĂźten, (gegen Vorfahren im
Angedenken, oder gegen Eltern) freigebig, die aber gegen Zeitgenossen
nur kärglich, ja, um dieses Verhältnis der Ungleichheit unsichtbar
zu machen, wohl gar das Gegenteil derselben bewiesen wird. —
Dieses ist aber alsdann ein die Menschheit empörendes Laster,
nicht bloĂź des Schadens wegen, den ein solches Beispiel Menschen
überhaupt zuziehen muß, von fernerer Wohltätigkeit abzuschrecken
(denn diese können mit echtmoralischer Gesinnung eben in der
Verschmähung alles solchen Lohns ihrem Wohltun nur einen desto
größeren inneren morahschen Wert setzen); sondern weil die
Menschenliebe hier gleichsam auf den Kopf gestellt und der
Mangel der Liebe gar in die Befugnis, den Liebenden zu hassen,
verunedelt wird.
c) Die Schadenfreude, welche das gerade Umgekehrte der
Teilnehmung ist, ist der menschlichen Natur auch nicht fremd ;
wiewohl, wenn sie so weit geht, das Übel oder Böses selbst be-
wirken zu helfen, sie als qualifizierte Schadenfreude den
Menschenhaß sichtbar macht und in ihrer Gräßlichkeit erscheint.
Sein Wohlsein und selbst sein Wohlverhalten stärker zu fühlen,
wenn UnglĂĽck oder Verfall anderer in Skandale gleichsam als die
Folie unserem eigenen Wohlstande untergelegt wird, um diesen
Kants Schriften. Bd. VII l8
2/4 Ethische El eT?ientarlehre. Zweiter Teil. Erstes HauptstĂĽck
in ein desto helleres Licht zu stellen, ist freilich nach Gesetzen
der Einbildungskraft, nämlich des Kontrastes, in der Natur ge-
grĂĽndet. Aber ĂĽber die Existenz solcher das allgemeine Weltbeste
zerstörenden Enormitäten unmittelbar sich zu freuen, mithin
dergleichen Eräugnissc auch wohl zu wünschen, ist ein geheimer
Menschenhaß und das gerade Widerspiel der Nächstenliebe, die
uns als Pflicht obliegt. — Der Übermut anderer bei ununterbrochenem
Wohlergehen und der EigendĂĽnkel im Wohlverhalten (eigentlich
aber nur im Glück, der Verleitung zum öflFentlichen Laster noch
immer entwischt zu sein), welches beides der eigenliebige Mensch
sich zum Verdienst anrechnet, bringen diese feindselige Freude
hervor, die der Pflicht nach dem Prinzip der Teilnehmung (des
ehrlichen CHREMES beim TERENZ): „Ich bin ein Mensch;
alles, was Menschen widerfährt, das trifft auch mich" gerade ent-
gegengesetzt ist.
Von dieser Schadenfreude ist die sĂĽĂźeste und noch dazu mit
dem Schein des größten Rechts, ja wohl gar der Verbindlichkeit
(als Rechtsbegierde), den Schaden anderer auch ohne eigenen
Vorteil sich zum Zweck zu machen, die Rachbegierde.
Eine jede das Recht eines Menschen kränkende Tat verdient Strafe,
wodurch das Verbrechen an dem Täter gerächet (nicht bloß der zu-
gefĂĽgte Schade ersetzt) wird. Nun ist aber Strafe nicht ein Akt der
Privatautorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen
Gerichtshofes, der den Gesetzen eines Oberen ĂĽber alle, die
demselben unterworfen sind, Effekt gibt, und wenn wir die Menschen
(wie es in der Ethik notwendig ist) in einem rechtlichen Zustande,
aber nach bloĂźen Vernunftgesetzen (nicht nach bĂĽrgerlichen)
betrachten, so hat niemand die Befugnis Strafen zu verhängen
und von Menschen erlittene Beleidigung zu rächen, als der, welcher
auch der oDerste moralische Gesetzgeber ist, und dieser allein
(nämlich Gott) kann sagen: „Die Rache ist mein; ich will ver-
gelten." Es ist also Tugendpflicht nicht allein selbst bloĂź aus
Rache die Feindseligkeit anderer nicht mit HaĂź zu erwidern,
sondern selbst nicht einmal den Weltrichter zur Rache aufzufordern;
teils weil der Mensch von eigener Schuld genug auf sich sitzen
hat, um der Verzeihung selbst sehr zu bedĂĽrfen, teils und zwar
vornehmlich, weil keine Strafe, von wem es auch sei, aus HaĂź
verhängt werden darf. — Daher ist Versöhnlichkeit (^placabilitas)
Menschenpflicht; womit doch die sanfte Duldsamkeit der
Beleidigungen (jnitis iniuriarufn pattentiä) nicht verwechselt werden
Von den Pflichten gegen andere, bloĂź als Me?jscben
^75
muĂź, als Entsagung auf harte (rigorosa) Mittel, um der fortge-
setzten Beleidigung anderer vorzubeugen; denn das wäre Weg-
wcH^ung seiner Rechte unter die FĂĽĂźe anderer und Verletzung
der Pflicht des Menschen gegen sich selbst.
Anmerkung.
Alle Laster, welche selbst die menschliche Natur hassens-
wert machen wĂĽrden, wenn man sie (als qualifiziert) in der
Bedeutung von Grundsätzen nehmen wollte, sind inhuman,
objektiv betrachtet, aber doch menschlich, subjektiv er-
wogen: d. i. wie die Erfahrung uns unsere Gattung kennen
lehrt. Ob man also zwar einige derselben in der Hehigkeit
des Abscheues teuflisch nennen möchte, so wie ihr Gegen-
stück Engelstugend genannt werden könnte: so sind beide
Begriffe doch nur Ideen von einem Maximum, als MaĂźstab
zum Behuf der Vergleichung des Grades der Moralität ge-
dacht, indem man dem Menschen seinen Platz im Himmel
oder der Hölle anweiset, ohne aus ihm ein Mittelwesen,
was weder den einen dieser Plätze, noch den anderen ein-
nimmt, zu machen. Ob es HALLER mit seinem „zweideutig
Mittelding von Engeln und von Vieh" besser getroffen habe,
mag hier unausgemacht bleiben. Aber das Halbieren in einer
Zusammenstellung heterogener Dinge fĂĽhrt auf gar keinen
bestimmten Begriff, und zu diesem kann uns in der Ordnung
der Wesen nach ihrem uns unbekannten Klassenunterschiede
nichts hinleiten. Die erstere Gegeneinanderstellung (von
Engelstugend und teuflischem Laster) ist Ăśbertreibung. Die
zweite, obzwar Menschen, leider! auch in viehische Laster
fallen, berechtigt doch nicht eine zu ihrer Spezies gehörige
Anlage dazu ihnen beizulegen, so wenig als die VerkrĂĽppelung
einiger Bäume im Walde ein Grund ist, sie zu einer besonderen
Art von Gewächsen zu machen.
8*
x-j6 Ethische Elementarlehre. Zweiter Teil. Erstes HauptstĂĽck
Zweiter Abschnitt.
Von den Tugendpflichten gegen andere Menschen aus
der ihnen gebĂĽhrenden Achtung.
§ 37-
Mäßigung in Ansprüchen überhaupt, d. i. freiwillige Ein-
schränkung der Selbstliebe eines Menschen durch die Selbstliebe
anderer, heißt Bescheidenheit; der Mangel dieser Mäßigung
(Unbescheidenheit) in Ansehung der WĂĽrdigkeit von anderen geliebt
zu werden, die Eigenliebe (jphilautia). Die Unbescheidenheit
der Forderung aber, von anderen geachtet zu werden, ist der
EigendĂĽnkel (arrogantid). Achtung, die ich fĂĽr andere trage,
oder die ein anderer von mir fordern kann (observantia aliis
praestandd)^ ist also die Anerkennung einer WĂĽrde (dignitai) an
anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein
Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung {aestimli)
ausgetauscht werden könnte. — Die Beurteilung eines Dinges als
eines solchen, das keinen Wert hat, ist die Verachtung.
§ 38.
Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung
von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch
gegen jeden anderen verbunden.
Die Menschheit selbst ist eine WĂĽrde; denn der Mensch
kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von
sich selbst), bloĂź als Mittel, sondern muĂź jederzeit zugleich als
Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine WĂĽrde
(die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen,
die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können,
mithin ĂĽber alle Sachen erhebt. Gleichwie er also sich selbst
fĂĽr keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbst-
schätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben
so notwendigen Selbstschätzung anderer als Menschen entgegen
handeln, d. i. er ist verbunden, die WĂĽrde der Menschheit an jedem
anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf- ihm
Von den PĂźichten gegen andere^ bloĂź als Menschen 277
eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig
zu erzeigende Achtung bezieht.
§ 39-
Andere verachten (contemnere)^ d. i. ihnen die dem Men-
schen überhaupt schuldige Achtung weigern, ist auf alle Fälle
pflichtwidrig; denn es sind Menschen. Sie vergleichungsweise
mit anderen innerlich geringschätzen {despicatu't habere) ist zwar
bisweilen unvermeidlich, aber die äußere Bezeigung der Gering-
schätzung ist doch Beleidigung. — Was gefährlich ist, ist kein
Gegenstand der Verachtung, und so ist es auch nicht der Laster-
hafte; und wenn die Ăśberlegenheit ĂĽber die Angriffe desselben
mich berechtigt zu sagen: ich verachte jenen, so bedeutet das nur
so viel, als; es ist keine Gefahr dabei, wenn ich gleich gar keine
Verteidigimg gegen ihn veranstaltete, weil er sich in seiner Ver-
worfenheit selbst darstellt. Nichtsdestoweniger kann ich selbst
dem Lasterhaften als Menschen nicht alle Achtung versagen, die
ihm wenigstens in der Qualität eines Menschen nicht entzogen
werden kann; ob er zwar durch seine Tat sich derselben unwĂĽrdig
macht. So kann es schimpfliche, die Menschheit «c'Kcf entehrende
Strafen geben (wie das Vierteilen, von Hunden zerreiĂźen lassen,
Nasen und Ohren abschneiden), die nicht bloĂź dem Ehrliebenden
(der auf Achtung anderer Anspruch macht, was ein jeder tun
muĂź) schmerzhafter sind, als der Verlust der GĂĽter und des Lebens,
sondern auch dem Zuschauer Schamröte abjagen, zu einer Gattung
zu gehören, mit der man so verfahren darf.
Anmerkung. Hierauf grĂĽndet sich eine Pflicht der
Achtung fĂĽr den Menschen selbst im logischen Gebrauch
seiner Vernunft: die Fehltritte derselben nicht unter dem
Namen der Ungereimtheit, des abgeschmackten Urteils u. dg.
zu rĂĽgen, sondern vielmehr vorauszusetzen, daĂź in dem-
selben doch etwas Wahres sein mĂĽsse, und dieses heraus zu
suchen; dabei aber auch zugleich den trĂĽglichen Schein (das
Subjektive der BestimmungsgrĂĽnde des Urteils, was durch ein
Versehen fĂĽr objektiv gehalten wurde) aufzudecken und so,
indem man die Möglichkeit zu irren erklärt, ihm noch die
Achtung fĂĽr seinen Verstand zu erhalten. Denn spricht man
seinem Gegner in einem gewissen Urteile durch jene Aus-
278 Ethische Elenicntarlchre. Ziveitcr Teil. Erstes HauptstĂĽck
drĂĽcke allen Verstand ab, wie will man ihn dann darĂĽber
verständigen, daß er geirrt habe? — Ebenso ist es auch mit
dem Vorwurf des Lasters bewandt, welcher nie zur völligen
Verachtung und Absprechung alles moralischen Werts des
Lasterhaften ausschlagen muĂź; weil er nach dieser Hypothese
auch nie gebessert werden könnte; welches mit der Idee
eines Menschen, der als solcher (als moralisches Wesen)
nie alle Anlage zum Guten einbĂĽĂźen kann, unvereinbar ist.
§ 40.
Die Achtung vor dem Gesetze, welche subjektiv als moralisches
GefĂĽhl bezeichnet wird, ist mit dem BewuĂźtsein seiner Pflicht
einerlei. Eben darum ist auch die Bezeigung der Achtung vor
dem Menschen als moralischen (seine Pflicht höchstschätzenden)
Wesen selbst eine Pflicht, die andere gegen ihn haben, und ein
Recht, worauf er den Anspruch nicht aufgeben kann. — Man
nennt diesen Anspruch Ehrliebe, deren Phänomen im äußeren
Betragen Ehrbarkeit Qwnestas externa), der VerstoĂź dawider aber
Skandal heiĂźt: ein Beispiel der Nichtachtung derselben, das
Nachfolge bewirken dürfte, welches zu geben zwar höchst pflicht-
widrig, aber am bloĂź Widersinnischen (^paradoxon), sonst an sich
Guten zu nehmen, ein Wahn (da man das Nichtgebräuchliche
auch für nicht erlaubt hält), ein der Tugend gefährlicher und
verderblicher Fehler ist. — Denn die schuldige Achtung fiür andere
ein Beispiel gebende Menschen kann nicht bis zur blinden Nach-
ahmung (da der Gebrauch, mos, zur WĂĽrde eines Gesetzes erhoben
wird) ausarten; als welche Tyrannei der Volkssitte der Pflicht
des Menschen gegen sich selbst zuwider sein wĂĽrde.
% 41.
Die Unterlassung der bloĂźen Liebespflichten ist Untugend
(^peccatutti). Aber die Unterlassung der Pflicht, die aus der
schuldigen Achtung fĂĽr jeden Menschen ĂĽberhaupt hervorgeht,
ist Laster (vitium). Denn durch die Verabsäumung der ersteren
wird kein Mensch beleidigt; durch die Unterlassung aber der
zweiten geschieht dem Menschen Abbruch in Ansehung seines
!
Von den Pflichten gegen andere^ bloĂź als Menschen 279
gesetzmäßigen Anspruchs. — Die erstere Übertretung ist das
Pflichtwidrige des Widerspiels {contrarie oppcsitum virtutis). Was
aber nicht allein keine moralische Zutat ist, sondern sogar den
Wert derjenigen, die sonst dem Subjekt zugute kommen wĂĽrde,
aufhebt, ist Laster.
Eben darum werden auch die Pflichten gegen den Neben-
menschen aus der ihm gebĂĽhrenden Achtung nur negativ aus-
gedrĂĽckt, d. i. diese Tugendpflicht wird nur indirekt (durch das
Verbot des Widerspiels) ausgedrĂĽckt werden.
Von den die Pflicht der Achtung fĂĽr andere Menschen
verletzenden Lastern.
Diese Laster sind: A) der Hochmut, B) das Afterreden
und C) die Verhöhnung.
A.
Der Hochmut.
Der Hochmut (superbia und, wie dieses Wort es ausdrĂĽckt,
die Neigung immer oben zu schwimmen) ist eine Art von Ehr-
begierde {ambitio)^ nach welcher wir anderen Menschen ansinnen,
sich selbst in Vergleichung mit uns gering zu schätzen, und ist
also ein der Achtung, worauf jeder Mensch gesetzmäßigen An-
spruch machen kann, widerstreitendes Laster.
Er ist vom Stolz (animus elatus) als Eh r liebe, d. i. Sorgfalt
seiner MenschenwĂĽrde in Vergleichung mit anderen nichts
zu vergeben, (der daher auch mit dem Beiwort des edlen belegt
zu werden â– >pflegt) unterschieden; denn der Hochmut verlangt von
andern eine Achtung, die er ihnen doch verweigert. — Aber
dieser Stolz selbst wird doch zum Fehler und Beleidigung, wenn
er auch bloĂź ein Ansinnen an andere ist, sich mit seiner Wich-
tigkeit zu beschäftigen.
DaĂź der Hochmut, welcher gleichsam eine Bewerbung des
Ehrsüchtigen um Nachtreter ist, und denen verächtlich zu begegnen
er sich berechtigt glaubt, ungerecht und der schuldigen Achtung
2 8o Ethische Elejnentarlehre. Zweiter Teil. Erstes HauptstĂĽck
fĂĽr Menschen ĂĽberhaupt widerstreitend sei: daĂź er Torheit,
d. i. Eitelkeit im Gebrauch der Mittel zu etwas, was in einem
gewissen Verhältnisse gar nicht den Wert hat, um Zweck zu sein,
ja daĂź er sogar Narrheit, d. i. ein beleidigender Unverstand sei,
sich solcher Nfittel, die an anderen gerade das Widerspiel seines
Zwecks hervorbringen mĂĽssen, zu bedienen (denn dem Hoch-
mĂĽtigen weigert ein jeder um desto mehr seine Achtung, je be-
strebter er sich darnach bezeigt), — dies alles ist für sich klar.
Weniger möchte doch angemerkt worden sein: daß der Hoch-
mütige jederzeit im Grunde seiner Seele niederträchtig ist.
Denn er wĂĽrde anderen nicht ansinnen, sich selbst in Vergleichung
mit ihm gering zu halten, fände er nicht bei sich, daß, wenn
ihm das GlĂĽck umschlĂĽge, er es gar nicht hart finden wĂĽrde,
nun seinerseits auch zu kriechen und auf alle Achtung anderer
Verzicht zu tun.
B.
Das Afterreden.
§43-
Die ĂĽbele Nachrede (obtrectatio) oder das Afterreden, worunter
ich nicht die Verleumdung {contumelia)^ eine falsche, vor
Recht zu ziehende Nachrede, sondern bloĂź die unmittelbare, auf
keine besondere Absicht angelegte Neigung verstehe, etwas der
Achtung fĂĽr andere Nachteiliges ins GerĂĽcht zu bringen, ist der
schuldigen Achtung gegen die Menschheit ĂĽberhaupt zuwider:
weil jedes gegebene Skandal diese Achtung, auf welcher doch der
Antrieb zum Sittlichguten beruht, schwächt und so viel möglich
gegen sie ungläubisch macht.
Die geflissentliche Verbreitung (j>ropalati6) desjenigen die
Ehre eines andern Schmälernden, was auch nicht zur öfl'entlichen
Gcrichtbarkeit gehört, es mag übrigens auch wahr sein, ist Ver-
ringerung der Achtung fĂĽr die Menschheit ĂĽberhaupt, um endlich
aut unsere Gattung selbst den Schatten der NichtswĂĽrdigkeit zu
werfen und Misanthropie (Menschenscheu) oder Verachtung zur
herrschenden Denkungsart zu machen, oder sein moralisches GefĂĽhl
durch den öfteren Anblick derselben abzustumpfen und sich daran
zu gewöhnen. Es ist also Tugendpflicht, statt einer hämischen
Von den PĂźkhten gegen andere, bloĂź als Menschen z 8 1
Lust an der BloĂźstellung der Fehler anderer, um sich dadurch
die Meinung, gut, wenigstens nicht schlechter als alle andere
Menschen zu sein, zu sicheren, den Schleier der Menschenliebe
nicht bloĂź durch Milderung unserer Urteile, sondern auch durch
Verschweigung derselben ĂĽber die Fehler anderer zu werfen: weil
Beispiele der Achtung, welche uns andere geben, auch die Be-
strebung rege machen können, sie gleichmäßig zu verdienen. —
Um deswillen ist die Ausspähungssucht der Sitten anderer (allotrio-
episcopia) auch fĂĽr sich selbst schon ein beleidigender Vorwitz
der Menschenkunde, welchem jedermann sich mit Recht als Ver-
letzung der ihm schuldigen Achtung widersetzen kann.
C.
Die Verhöhnung.
§ 44-
. Die leichtfertige Tadelsucht und der Hang, andere zum
Gelächter bloßzustellen, die Spottsucht, um die Fehler eines
anderen zum unmittelbaren Gegenstande seiner Belustigung zu
machen, ist Bosheit und von dem Scherz, der Vertraulichkeit
unter Freunden, sie nur zum Schein als Fehler, in der Tat aber
als VorzĂĽge des Muts, bisweilen auch auĂźer der Regel der Mode
zu sein, zu belachen (welches dann kein Hohnlachen ist), gänz-
lich unterschieden. Wirkliche Fehler aber, oder, gleich als ob sie
wirklich wären, angedichtete, welche die Person ihrer verdienten
Achtung zu berauben abgezweckt sind, dem Gelächter bloß zu
stellen, und der Hang dazu, die bittere Spottsucht (jp'trhus
causticus)^ hat etwas von teuflischer Freude an sich und ist darum
eben eine desto härtere Verletzung der Pflicht der Achtung gegen
andere Menschen.
Hievon ist doch die scherzhafte, wenn gleich spottende Ab-
weisung der beleidigenden Angriffe eines Gegners mit Verachtung
(retorsio iocosd) unterschieden, wodurch der Spötter (oder über-
haupt ein schadenfroher, aber kraftloser Gegner) gleichmäßig ver-
spottet wird, und rechtmäßige Verteidigung der Achtung, die er
von jenem fordern kann. Wenn aber der Gegenstand eigentlich
kein Gegenstand fĂĽr den Witz, sondern ein solcher ist, an welchem
282 Ethische Elcjimitarlchrc. Zweiter Teil. Erstes HauptstĂĽck
die Vernunft notwendig ein moralisches Interesse nimmt, so ist
es, der Gegner mag noch so viel Spötterei ausgestoßen, hiebei
aber auch selbst zugleich noch so viel Blößen zum Belachen ge-
geben haben, der WĂĽrde des Gegenstandes und der Achtung fĂĽr
die Menschheit angemessener, dem Angriffe entweder gar keine
oder eine mit WĂĽrde und Ernst gefĂĽhrte Verteidigung entgegen
zu setzen.
Anmerkung. Man wird wahrnehmen, daĂź unter dem
vorhergehenden Titel nicht sowohl Tugenden angepriesen, als
vielmehr die ihnen entgegenstehende Laster getadelt werden;
das liegt aber schon in dem Begriffe der Achtung, so wie
wir sie gegen andere Menschen zu beweisen verbunden sind,
welche nur eine negative Pflicht ist. — Ich bin nicht ver-
bunden andere (bloĂź als Menschen betrachtet) zu verehren,
d. i. ihnen positive Hochachtung zu beweisen. Alle Achtung,
zu der ich von Natur verbunden bin, ist die vor dem Gesetz
ĂĽberhaupt (reverere legem\ und dieses, nicht aber andere
Menschen ĂĽberhaupt zu verehren (reverentia adversus homtnejri)^
oder hierin ihnen etwas zu leisten, ist allgemeine und un-
bedingte Menschenpflicht gegen andere, welche als die ihnen
ursprĂĽnglich schuldige Achtung (obscrvantia debitd) von jedem
gefordert werden kann.
Die verschiedene andern zu beweisende Achtung nach
Verschiedenheit der Beschaffenheit der Menschen, oder ihrer
zufälligen Verhältnisse, nämlich der des Alters, des Geschlechts,
der Abstammung, der Stärke oder Schwäche, oder gar des
Standes und der WĂĽrde, welche zum Teil auf beliebigen
Anordnungen beruhen, darf in metaphysischen Anfangs-
grĂĽnden der Tugendlehre nicht ausfĂĽhrlich dargestellt und
klassifiziert werden, da es hier nur um die reine Vernunft
Prinzipien derselben zu tun ist.
Ethische Elementarlehre. Zweiter Teil. Zweites HauptstĂĽck 1 8 \
Zweites HauptstĂĽck.
Von den ethischen Pflichten der Menschen gegeneinander
in Ansehung ihres Zustandes.
§ 45-
Diese (Tugendpflichten) können zwar in der reinen Ethik
keinen AnlaĂź zu einem besondern HauptstĂĽck im System derselben
geben; denn sie enthalten nicht Prinzipien der Verpflichtung der
Menschen als solcher gegeneinander und können also von den
metaphysischen AnfangsgrĂĽnden der Tugendlehre eigentlich nicht
einen Teil abgeben, sondern sind nur nach Verschiedenheit der
Subjekte der Anwendung des Tugendprinzips (dem Formale nach)
auf in der Erfahrung vorkommende Fälle (das Materiale) modifizierte
Regeln, weshalb sie auch wie alle empirische Einteilungen keine
gesichert -vollständige Klassifikation zulassen. Indessen gleichwie
von der Metaphysik der Natur zur Physik ein Ăśberschritt, der
seine besondern Regeln hat, verlangt wird: so wird der Metaphysik
der Sitten ein Ahnliches mit Recht angesonnen: nämlich durch
Anwendung reiner Pflichtprinzipien auf Fälle der Erfahrung jene
gleichsam zu schematisieren und zum moralisch-praktischen Ge-
brauch fertig darzulegen. — Welches Verhalten also gegen Menschen,
z. B. in der moralischen Reinigkeit ihres Zustandes, oder in ihrer
Verdorbenheit; welches im kultivierten, oder rohen Zustande;
was den Gelehrten oder Ungelehrten und jenen im Gebrauch
ihrer Wissenschaft als umgänglichen (geschliffenen), oder in ihreiji
Fach unumgänglichen Gelehrten (Pedanten), pragmatischen, oder
mehr auf Geist und Geschmack ausgehenden; welches nach Ver-
schiedenheit der Stände, des Alters, des Geschlechts, des Gesund-
heitszustandes, des der Wohlhabenheit oder Armut u. s. w. zukomme:
das gibt nicht so vielerlei Arten der ethischen Verpflichtung
(denn es ist nur eine, nämlich die der Tugend überhaupt),
sondern nur Arten der Anwendung (Porismen) ab; die also
nicht, als Abschnitte der Ethik und Glieder der Einteilung eines
Systems (das a priori aus einem Vernunftbegrifl^e hervorgehen
muß), aufgeführt, sondern nur angehängt werden können. — Aber
eben diese Anwendung gehört zur Vollständigkeit der Darstellung
desselben.
BeschluĂź der Elementarlehre.
Von der innigsten Vereinigung der Liebe mit der Achtung
in der Freundschaft.
§ i6.
Freundschaft (in ihrer Vollkommenheit betrachtet) ist die
Vereinigung zweier Personen durch gleiche wechselseitige Liebe
und Achtung. — Man sieht leicht, daß sie ein Ideal der Teil-
nehmung und Mitteilung an dem Wohl eines jeden dieser durch
den morahsch guten Willen Vereinigten sei, und, wenn es auch
nicht das ganze GlĂĽck des Lebens be>virkt, die Aufnahme desselben
in ihre beiderseitige Gesinnung die WĂĽrdigkeit enthalte glĂĽcklich
zu sein, mithin daĂź Freundschaft unter Menschen Pflicht derselben
ist. — Daß aber Freundschaft eine bloße (aber doch praktisch-
notwendige) Idee, in der AusĂĽbung zwar unerreichbar, aber doch
darnach (als einem Maximum der guten Gesinnung gegeneinander)
zu streben von der Vernunh aufgegebene, nicht et\va gemeine,
sondern ehrenvolle Pflicht sei, ist leicht zu ersehen. Denn wie
ist es für den Menschen in Verhältnis zu seinem Nächsten
möglich, die Gleichheit eines der dazu erforderlichen Stücke
eben derselben Pflicht (z. B. des wechselseitigen Wohlwollens) in
dem einen mit eben derselben Gesinnung im anderen auszumitteln,
noch mehr aber, welches Verhältnis das Gefühl aus der einen
Pflicht zu dem aus der andern (z. B. das aus dem W^ohlwoUen
zu dem aus der Achtung) in derselben Person habe, und ob,
wenn die eine in der Liebe inbrĂĽnstiger ist, sie nicht eben dadurch
in der Achtung des anderen etwas einbĂĽĂźe, so daĂź beiderseitig
Liebe und Hochschätzung subjektiv schwerlich in das Ebenmaß
des Gleichgewichts gebracht werden wird; welches doch zur
Von der innigen Verei?jigung der Liebe mit der Achtung 285
Freundschaft erforderlich ist? — Denn man kann jene als Anziehung,
diese als AbstoĂźung betrachten, so daĂź das Prinzip der erstercn
Annäherung gebietet, das der zweiten sich einander in geziemendem
Abstände zu halten fordert, welche Einschränkung der Vertraulichkeit,
durch die Regel: daĂź auch die besten Freunde sich untereinander
nicht gemein machen sollen, ausgedrückt, eine Maxime enthält,
die nicht bloß dem Höheren gegen den Niedrigen, sondern auch
umgekehrt gilt. Denn der Höhere fühlt, ehe man es sich ver-
sieht, seinen Stolz gekränkt und will die Achtung des Niedrigen
etwa fĂĽr einen Augenblick aufgeschoben, nicht aber aufgehoben
wissen, welche aber, einmal verletzt, innerlich unwiederbringlich
verloren ist; wenngleich die äußere Bezeichnung derselben (das
Zeremoniell) wieder in den alten Gang gebracht wird.
Freundschaft in ihrer Reinigkeit oder Vollständigkeit, als
erreichbar (zwischen ORESTES und PYLADES, THESEUS und
PIRITHOUS) gedacht, ist das Steckenpferd der Romanenschreiber;
wogegen ARISTOTELES sagt: meine lieben Freunde, es gibt
keinen Freund! Folgende Anmerkungen können auf die Schwierig-
keiten derselben aufmerksam machen.
Moralisch erwogen, ist es freilich Pflicht, daĂź ein Freund dem
anderen seine Fehler bemerklich mache; denn das geschieht ja zu
seinem Besten, und es ist also Liebespflicht. Seine andere Hälhe
aber sieht hierin einen Mangel der Achtung, die er von jenem
erwartete, und zwar daĂź er entweder darin schon gefallen sei,
oder, da er von dem anderen beobachtet und ingeheim kritisiert
wird, beständig Gefahr läuft, in den Verlust seiner Achtung zu
fallen: wie dann selbst, daĂź er beobachtet und gemeistert werden
solle, ihm schon fĂĽr sich selbst beleidigend zu sein dĂĽnken wird.
Ein Freund in der Not, wie erwĂĽnscht ist er nicht (wohl zu
verstehen, wenn er ein tätiger, mit eigenem Aufwände hülfreicher
Freund ist)! Aber es ist doch auch eine groĂźe Last, sich an
anderer ihrem Schicksal angekettet und mit fremden BedĂĽrfnis
beladen zu fühlen. — Die Freundschaft kann also nicht eine auf
wechselseitigen Vorteil abgezweckte Verbindung, sondern diese
muĂź rein moralisch sein, und der Beistand, auf den jeder von
beiden von dem anderen im Falle der Not rechnen darf, muĂź
nicht als Zweck und Bestimmungsgrund zu derselben — dadurch würde
er die Achtung des andern Teils verlieren, — sondern kann nur
als äußere Bezeichnung des inneren herzlich gemeinten Wohlwollens,
ohne es doch auf die Probe, als die immer gefährlich ist, ankommen
2 86 Fthischc Elcitjcntarlehre. BeschluĂź der Elementarlehre
zu lassen, gemeint sein, indem ein jeder groĂźmĂĽtig den anderen
dieser Last zu ĂĽberheben, sie fĂĽr sich allein zu tragen, ja ihm sie
gänzlich zu verhehlen bedacht ist, sich aber immer doch damit
schmeicheln kann, daĂź im Falle der Not er auf den Beistand
des andern sicher würde rechnen können. Wenn aber einer von
dem andern eine Wohltat annimmt, so kann er wohl vielleicht
auf Gleichheit in der Liebe, aber nicht in der Achtung rechnen,
denn er sieht sich offenbar eine Stufe niedriger, verbindlich zu
sein und nicht gegenseitig verbinden zu können. — Freundschah
ist bei der SĂĽĂźigkeit der Empfindung des bis zum Zusammen-
schmelzen in eine Person sich annähernden wechselseitigen Besitzes
doch zugleich etwas so Zartes (teneritas amicitiae\ daĂź, wenn
man sie auf Gefühle beruhen läßt und dieser wechselseitigen
Mitteilung und Ergebung nicht Grundsätze oder das Gemeinmachen
verhĂĽtende und die Wechselliebe durch Foderungen der Achtung
einschränkende Regeln unterlegt, sie keinen Augenblick vor Unter-
brechungen sicher ist; dergleichen unter unkultivierten Personen
gewöhnlich sind, ob sie zwar darum eben nicht immer Trennung
bewirken (denn Pöbel schlägt sich und Pöbel verträgt sich); sie
können voneinander nicht lassen, aber sich auch nicht unter-
einander einigen, weil das Zanken selbst ihnen BedĂĽrfnis ist, um die
Süßigkeit der Eintracht in der Versöhnung zu schmecken. —
Auf alle Fälle aber kann die Liebe in der Freundschaft nicht
Affekt sein: weil dieser in der Wahl blind und in der Fort-
setzung verrauchend ist.
§47-
Moralische Freundschaft (zum Unterschiede von der ästheti-
schen) ist das völlige Vertrauen zweier Personen in wechselseitiger
Eröffnung ihrer geheimen Urteile und Empfindungen, so weit sie mit
beiderseitiger Achtung gegeneinander bestehen kann.
Der Mensch ist ein fĂĽr die Gesellschaft bestimmtes (obzwar
doch auch ungeselliges) Wesen, und in der Kultur des gesellschaft-
lichen Zustandes fühlt er mächtig das Bedürfnis sich anderen zu
eröffnen (selbst ohne etwas dabei zu beabsichtigen); andererseits
aber auch cfurch die Furcht vor dem MiĂźbrauch, den andere
von dieser Aufdeckung seiner Gedanken machen dĂĽrften, beengt
und gewarnt, sieht er sich genötigt, einen guten Teil seiner Urteile
(vornehmlich ĂĽber andere Menschen) in sich selbst zu verschlieĂźen.
Von der innigen Vereinigung der Liehe mit der Achtung 287
Er möchte sich gern darüber mit irgend jemand unterhalten, wie
er ĂĽber die Menschen, mit denen er umgeht, wie er ĂĽber die
Regierung, Religion u. s. w. denkt; aber er darf es nicht wagen:
teils weil der andere, der sein Urteil behutsam zurückhält, davon
zu seinem Schaden Gebrauch machen, teils, was die Eröffnung
seiner eigenen Fehler betrifft, der andere die seinigen verhehlen
und er so in der Achtung desselben einbĂĽĂźen wĂĽrde, wenn er
sich ganz offenherzig gegen ihn darstellete.
Findet er also einen, der Verstand hat, bei dem er in An-
sehung jener Gefahr gar nicht besorgt sein darf, sondern dem er
sich mit völligem Vertrauen eröffnen kann, der überdem auch
eine mit der seinigen ĂĽbereinstimmende Art die Dinge zu
beurteilen an sich hat, so kann er seinen Gedanken Luft
machen; er ist mit seinen Gedanken nicht völlig allein,
wie im Gefängnis, und genießt die Freiheit, der er in dem
groĂźen Haufen entbehrt, wo er sich in sich selbst verschlieĂźen
muĂź. Ein jeder Mensch hat Geheimnisse und darf sich nicht
blindlings anderen anvertrauen; teils wegen der unedlen Denkungsart
der meisten, davon einen ihm nachteiligen Gebrauch zu machen,
teils wegen des Unverstandes mancher in der Beurteilung und
Unterscheidung dessen, was sich nachsagen läßt oder nicht (der
Indiskretion), welche Eigenschaften zusammen in einem Subjekt
anzutreffen selten ist (jara avis in terris nigroque simillima cygno)\
zumal da die engeste Freundschaft es verlangt, daß dieser verständige
und vertraute Freund zugleich verbunden ist, ebendasselbe ihm
anvertraute Geheimnis einem anderen, für eben so zuverlässig
gehaltenen ohne des ersteren ausdrĂĽckUche Erlaubnis nicht mit-
zuteilen.
Diese (bloĂź moralische Freundschaft) ist kein Ideal, sondern
(der schwarze Schwan) existiert wirklich hin und wieder in seiner
Vollkommenheit; jene aber mit den Zwecken anderer Menschen
sich, obzwar aus Liebe, belästigende (pragmatische) kann weder
die Lauterkeit, noch die verlangte Vollständigkeit haben, die zu
einer genau bestimmenden Maxime erforderlich ist, und ist ein
Ideal des Wunsches, das im Vernunftbegriffe keine Grenzen kennt,
in der Erfahrung aber doch immer sehr begrenzt werden muĂź.
Ein Menschenfreund ĂĽberhaupt aber (d. i. der ganzen
Gattung) ist der, welcher an dem Wohl aller Menschen ästhetischen
Anteil (der Mitfreude) nimmt und es nie ohne inneres Bedauren
stören wird. Doch ist der Ausdruck eines Freundes der Menschen
2 8 8 Ethische Elementarlehre. BeschluĂź der Elementarlehre
aoch von etwas engerer Bedeutung, als der des bloĂź Menschen-
liebenden 'Philanthrop). Denn in jenem ist auch die Vorstellung
und Beherzigung der Gleichheit unter Menschen, mithin die Idee
dadurch selbst verpflichtet zu werden, indem man andere durch
Wohltun verpflichtet, enthalten; gleichsam als BrĂĽder unter einem
allgemeinen Vater, der aller Glückseligkeit will. — Denn das
Verhältnis des Beschützers als Wohltäters zu dem Beschützten als
Dankpflichtigen ist zwar ein Verhältnis der Wechselliebe, aber
nicht der Freundschaft: weil die schuldige Achtung beider gegen-
einander nicht gleich ist. Die Pflicht als Freund den Menschen
wohl zu wollen (eine notwendige Herablassung) und die Be-
herzigung derselben dient dazu, vor dem Stolz zu verwahren, der
die Glücklichen anzuwandeln pflegt, welche das Vermögen wohl
zu tun besitzen.
Zusatz.
Von den Umgangstugenden.
{vir tut es homileticae)'.
§ 48.
Es ist Pflicht sowohl gegen sich selbst, als auch gegen andere,
mit seinen sittlichen Vollkommenheiten untereinander Verkehr
zu treiben (officium commercii, sociabilitas)^ sich nicht zu isolieren
{separatistam agere)\ zwar sich einen unbeweglichen Mittelpunkt
seiner Grundsätze zu machen, aber diesen um sich gezogenen
Kreis doch auch als einen, der den Teil von einem allbefassenden
der weltbĂĽrgerlichen Gesinnung ausmacht, anzusehen; nicht eben
um das Weltbeste als Zweck zu befördern, sondern nur die
Mittel, die indirekt dahin fĂĽhren, die Annehmlichkeit in derselben,
die Verträglichkeit, die wechselseitige Liebe und Achtung (Leut-
seligkeit und Wohlanständigkeit, huwanitas aesthetica et decorum)
zu kultivieren und so der Tugend die Grazien beizugesellen; welches
zu bewerkstelligen selbst Tugendpflicht ist.
Dies sind zwar nur Außenwerke oder Beiwerke {parergä),
welche einen schönen, tugendähnlichen Schein geben, der auch
nicht betrĂĽgt, weil ein jeder weiĂź, wofĂĽr er ihn annehmen muĂź.
Es ist zwar nur Scheidemünze, befördert aber doch das Tugend-
Zusatz. Von den Vmgangstugcnden 289
gefĂĽhl selbst durch die Bestrebung, diesen Scliein der Wahrheit so
nahe wie möglich zu bringen, in der Zugänglichkeit, der
Gesprächigkeit, der Höflichkeit, Gastfreiheit, Gelindigkeit
(im Widersprechen, ohne zu zanken), insgesamt als bloĂźen
Manieren des Verkehrs mit geäußerten Verbindlichkeiten, dadurch
man zugleich andere verbindet, also doch zur Tugendgesinnung
hinwirken, indem sie die Tugend wenigstens beliebt machen.
Es fragt sich aber hiebei: ob man auch mit Lasterhaften
Umgang pflegen dĂĽrfe. Die Zusammenkunft mit ihnen kann man
nicht vermeiden, man mĂĽĂźte denn sonst aus der Welt gehen;
und selbst unser Urteil über sie ist nicht kompetent. — Wo aber
das Laster ein Skandal, d. i. ein öffentlich gegebenes Beispiel der
Verachtung strenger Pflichtgesetze, ist, mithin Ehrlosigkeit bei sich
fĂĽhrt: da muĂź, wenngleich das Landesgesetz es nicht bestraft, der
Umgang, der bis dahin stattfand, abgebrochen, oder so viel
möglich gemieden werden: weil die fernere Fortsetzung desselben
die Tugend um alle Ehre bringt und sie fĂĽr jeden zu Kauf stellt,
der reich genug ist, um den Schmarotzer durch die VergnĂĽgungen
der Ăśppigkeit zu bestechen.
Kants Schriften. Bd. VII. I9
n
Ethische Methodenlehre.
19»
Der ethischen Methodenlehre
Erster Abschnitt.
Die ethische Didaktik.
§ 49.
DaĂź Tugend erworben werden mĂĽsse (nicht angeboren sei),
liegt, ohne sich deshalb auf anthropologische Kenntnisse aus der
Erfahrung berufen zu dĂĽrfen, schon in dem Begriffe derselben.
Denn das sittliche Vermögen des Menschen wäre nicht Tugend,
wenn es nicht durch die Stärke des Vorsatzes in dem Streit mit
so mächtigen entgegenstehenden Neigungen hervorgebracht wäre.
Sie ist das Produkt aus der reinen praktischen Vernunft, sofern
diese im BewuĂźtsein ihrer Ăśberlegenheit (aus Freiheit) ĂĽber jene
die Obermacht gewinnt.
Daß sie könne und müsse gelehrt werden, folgt schon daraus,
daĂź sie nicht angeboren ist; die Tugendlehre ist also eine Doktrin.
Weil aber durch die bloĂźe Lehre, wie man sich verhalten solle,
um dem Tugendbegriffe angemessen zu sein, die Kraft zur Aus-
ĂĽbung der Regeln noch nicht erworben wird, so meinten die
Stoiker hiemit nur, die Tugend könne nicht durch bloße Vor-
stellungen der Pflicht, durch Ermahnungen (paränetisch). gelehrt,
sondern sie müsse durch Versuche der Bekämpfung des inneren
Feindes im Menschen (asketisch) kultiviert, geĂĽbt werden; denn
man kann nicht alles sofort, was man will, wenn man nicht
vorher seine Kräfte versucht und geübt hat, wozu aber freilich die
Entschließung auf einmal vollständig genommen werden muß:
weil die Gesinnung (aniwus) sonst bei einer Kapitulation mit dem
Laster, um es allmählich zu verlassen, an sich unlauter und selbst
2 94 Ethische Methodenlehre
lastcrhah sein, mithin auch keine Tugend (als die auf einem
einzigen Prinzip beruhet) hervorbringen könnte.
§ 50-
Was nun die doktrinale Methode betrifft (denn methodisch
muß eine jede wissenschahHche Lehre sein; sonst wäre der Vor-
trag tumultuarisch): so kann sie auch nicht fragmentarisch,
sondern muĂź systematisch sein, wenn die Tugendlchre eine
Wissenschaft vorstellen soll. — Der Vortrag aber kann entweder
akroamatisch, da alle andere, welchen er geschieht, bloĂźe Zu-
hörer sind, oder erotematisch sein, wo der Lehrer das, was er
seine JĂĽnger lehren \n\\, ihnen abfragt; und diese erotematische
Methode ist wiederum entweder die, da er es ihrer Vernunft,
die dialogische Lehrart, oder bloß ihrem Gedächtnisse ab-
fragt, die katechetische Lehrart. Denn wenn jemand der
Vernunft des anderen etwas abfragen will, so kann es nicht anders
als dialogisch, d. i. dadurch geschehen: daĂź Lehrer und SchĂĽler
einander wechselseitig fragen und antworten. Der Lehrer
leitet durch Fragen den Gedankengang seines LehrjĂĽngers dadurch,
daĂź er die Anlage zu gewissen Begriffen in demselben durch
vorgelegte Fälle bloß entwickelt (er ist die Hebamme seiner
Gedanken); der Lehrling, welcher hiebei inne wird, daĂź er selbst
zu denken vermöge, veranlaßt durch seine Gegenfragen (über
Dunkelheit oder den eingeräumten Sätzen entgegenstehende Zweifel),
daĂź der Lehrer nach dem docendo discimus selbst lernt, wie er
gut fragen mĂĽsse. [Denn es ist eine an die Logik ergehende,
noch nicht genugsam beherzigte Forderung: daĂź sie auch Regeln
an di« Hand gebe, wie man zweckmäßig suchen solle, d. i. nicht
immer bloß für bestimmende, sondern auch für vorläufige
Urteile {iudicia praevia)^ durch die man auf Gedanken gebracht
wird; eine Lehre, die selbst dem Mathematiker zu Erfindungen
ein Fingerzeig sein kann und die von ihm auch oft angewandt
wird.]
§ 51.
Das erste und notwendigste doktrinale Instrument der
Tugcndlehre für den noch rohen Zögling ist ein morahscher
Erster Abschnitt. Die ethische Didaktik 295
Katechism. Dieser muĂź vor dem Religionskatechism hergehen
und kann nicht bloĂź als Einschiebsel in die Religionsiehre mit
verwebt, sondern muĂź abgesondert, als ein fĂĽr sich bestehendes
Ganze, vorgetragen werden; denn nur durch rein moraUsche Grund-
sätze kann der Überschritt von der Tugendlehre zur Religion getan
werden, weil dieser ihre Bekenntnisse sonst unlauter sein würden. —
Daher haben gerade die würdigsten und größten Theologen An-
stand genommen, fĂĽr die statutarische Rehgionslehrc einen Katechism
abzufassen (und sich zugleich fĂĽr ihn zu verbĂĽrgen); da man doch
glauben sollte, es wäre das Kleinste, was man aus dem großen
Schatz ihrer Gelehrsamkeit zu erwarten berechtigt wäre.
Dagegen hat ein rein moralischer Katechism, als Grundlehre
der Tugendpflichten, keine solche Bedenklichkeit oder Schwierig-
keit, weil er aus der gemeinen Menschenvernunft (seinem Inhalte
nach) entwickelt werden kann und nur den didaktischen Regeln
der ersten Unterweisung (der Form nach) angemessen werden
darf. Das formale Prinzip eines solchen Unterrichts aber verstattet
zu diesem Zweck nicht die sokratisch-dialogische Lehrart: weil
der SchĂĽler nicht einmal weiĂź, wie er fragen soll; der Lehrer ist
also allein der Fragende. Die Antwort aber, die er aus der Vernimft
des Lehrlings methodisch auslockt, muĂź in bestimmten, nicht
leicht zu verändernden Ausdrücken abgefaßt und aufbewahrt, mit-
hin seinem Gedächtnis anvertraut werden: als worin die kate-
chetische Lehrart sich sowohl von der dogmatischen (da der
Lehrer allein spricht), als auch der dialogischen (da beide Teile
einander fragend und antwortend sind) unterscheidet.
§ 5^-
Das experimcntale (technische) Mittel der Bildung zur
Tugend ist das gute Beispiel an dem Lehrer selbst (von exem-
plarischer FĂĽhrung zu sein) und das warnende an andern; denn
Nachahmung ist dem noch ungebildeten Menschen die erste Willens-
bestimmung zu Annehmung von Maximen, die er sich in der
Folge macht. — Die Angewöhnung oder Abgewöhnung ist die
BegrĂĽndung einer beharrlichen Neigung ohne alle Maximen durch
die öftere Befriedigung derselben; und ist ein Mechanism der
Sinnesart statt eines Prinzips der Denkungsart (wobei das Verlernen
in der Folge schwerer wird als das Erlernen). — Was aber die
2p5 Ethische Methodenlehre
KraFt des Exe mp eis (es sei zum Guten oder Bösen) betrifft, was
sich dem Hange zur Nachahmung oder Warnung darbietet'), so
kann das, was uns andere geben, keine Tugendmaxime begrĂĽnden.
Denn diese besteht gerade in der subjektiven Autonomie der
praktischen Vernunft eines jeden Menschen, mithin daĂź nicht
anderer Menschen Verhalten, sondern das Gesetz uns zur Triebfeder
dienen mĂĽsse. Daher wird der Erzieher seinem verunarteten
Lehrling nicht sagen; Nimm ein Exempel an jenem guten (ordent-
lichen, fleiĂźigen) Knaben! denn das wird jenem nur zur Ursache
dienen, diesen zu hassen, weil er durch ihn in ein nachteiliges
Licht gestellt wird. Das gute Exempel (der exemplarische Wandel)
soll nicht als Muster, sondern nur zum Beweise der Tunlichkeit
des Pflichtmäßigen dienen. Also nicht die Vergleichung mit irgend-
einem anderen Menschen (wie er ist), sondern mit der Idee (der
Menschheit), wie er sein soll, also mit dem Gesetz, muĂź dem
Lehrer das nie fehlende RichtmaĂź seiner Erziehung an die Hand
geben.
Anmerkung.
BruchstĂĽck eines moralischen Katechisrn.
Der Lehrer = L. fragt der Vernunft seines SchĂĽlers = S.
dasjenige ab, was er ihn lehren will, und wenn dieser etwa
nicht die Frage zu beantworten wĂĽĂźte = 0, so legt er sie
ihm (seine Vernunft leitend) in den Mund.
I. L. Was ist dein größtes, ja dein ganzes Verlangen im Leben?
S. 0. — L. Daß es dir alles und immer nach Wunsch und
Willen gehe.
z. L. Wie nennt man einen solchen Zustand? S. 0. L. Man
nennt ihn Glückseligkeit (das beständige Wohlergehen,
vergnügtes Leben, völlige Zufriedenheit mit seinem Zustande).
') Beispiel, ein deutsches Wort, was man gemeiniglich fĂĽr
Exempel als ihm gleichgeltend braucht, ist mit diesem nicht von einerlei
Bedeutung. Woran ein Exempel nehmen und zur Verständlichkeit
eines Ausdrucks ein Beispiel anfĂĽhren, sind ganz verschiedene Begriffe.
Das Exempel ist ein besonderer Fall von einer praktischen Regel, so-
fern diese die Tunlichkeit oder Untunlichkeit einer Handlung vorstellt.
Hingegen ein Beispiel ist nur das Besondere {concretuw), als unter dem
Allgemeinen nach Begriffen {abstractum) enthalten vorgestellt, und bloĂź
theoretische Darstellung eines Begriffs.
Erster Abschnitt. Ethische Didaktik i^y
3. L. Wenn du nun alle Glückseligkeit (die in der Welt möglich
ist) in deiner Hand hättest, würdest du sie alle für dich
behalten, oder sie auch deinen Nebenmenschen mitteilen? —
S. Ich wĂĽrde sie mitteilen, andere auch glĂĽcklich und zu-
frieden machen.
4. L. Das beweist nun wohl, daĂź du noch so ziemlich ein
gutes Herz hast; laĂź aber sehen, ob du dabei auch guten
Verstand zeigest. — Würdest du wohl dem Faullenzer weiche
Polster verschaffen, damit er im sĂĽĂźen Nichtstun sein Leben
dahin bringe, oder dem Trunkenbolde es an Wein, und
was sonst zur Berauschung gehört, nicht ermangeln lassen,
dem BetrĂĽger eine einnehmende Gestalt und Manieren geben,
um andere zu überlisten, oder dem Gewalttätigen Kühnheit
und starke Faust, um andere überwältigen zu können? Das
sind ja so viel Mittel, die ein jeder sich wĂĽnscht, um nach
seiner Art glĂĽcklich zu sein. S. Nein, das nicht.
5. L. Du siehst also: daĂź, wenn du auch alle GlĂĽckseligkeit in
deiner Hand und dazu den besten Willen hättest, du jene
doch nicht ohne Bedenken jedem, der zugreift, preisgeben,
sondern erst untersuchen wĂĽrdest, wie fern ein jeder der
Glückseligkeit würdig wäre. — L. Für dich selbst aber
wĂĽrdest du doch wohl kein Bedenken haben, dich mit allem,
was du zu deiner GlĂĽckseligkeit rechnest, zuerst zu ver-
sorgen? S. Ja. L. Aber kommt dir da nicht auch die Frage
in Gedanken, ob du wohl selbst auch der GlĂĽckseligkeit
würdig sein mögest? S. Allerdings. L. Das nun in dir, was
nur nach GlĂĽckseligkeit strebt, ist die Neigung; dasjenige
aber, was deine Neigung auf die Bedingung einschränkt,
dieser GlĂĽckseligkeit zuvor wĂĽrdig zu sein, ist deine Ver-
nunft, und daĂź du durch deine Vernunft deine Neigung
einschränken und überwältigen kannst, das ist die Freiheit
deines Willens.
6. L. Um nun zu wissen, wie du es anfängst, um der Glück-
seligkeit teilhaftig und doch auch nicht unwĂĽrdig zu werden,
dazu liegt die Regel und Anweisung ganz allein in deiner
Vernunft; das heißt so viel als: du hast nicht nötig, diese
Regel deines Verhaltens von der Erfahrung, oder von anderen
durch ihre Unterweisung abzulernen; deine eigene Vernunft
lehrt und gebietet dir geradezu, was du zu tun hast. Zum
Beispiel wenn dir ein Fall vorkömmt, da du durch eine fein
298 Ethische MethuJenlehrc
ausgedachtc LĂĽge dir oder deinen Freunden einen groĂźen
Vorteil verschaffen kannst, ja noch dazu dadurch auch keinem
anderen schadest, was sagt dazu deine Vernunft? S. Ich
soll nicht lĂĽgen; der Vorteil fĂĽr mich und meinen Freund
mag so groĂź sein, wie er immer wolle. LĂĽgen ist nieder-
trächtig und macht den Menschen unwürdig glücklich zu
sein. — Hier ist eine unbedingte Nötigung durch ein Ver-
nunftgebot (oder Verbot), dem ich gehorchen muĂź: wo-
gegen alle meine Neigungen verstummen mĂĽssen. L. Wie
nennt man diese unmittelbar durch die Vernunft dem Menschen
auferlegte Notwendigkeit, einem Gesetze derselben gemäß zu
handeln? S. Sic heiĂźt Pflicht. L. Also ist dem Menschen
die Beobachtung seiner Pflicht die allgemeine und einzige
Bedingung der WĂĽrdigkeit glĂĽckUch zu sein, und diese ist
mit jener ein und dasselbe.
7. L. W^enn wir ans aber auch eines solchen guten und tätigen
Willens, durch den wir uns wĂĽrdig (wenigstens nicht un-
würdig) halten glückhch zu sein, auch bev/ußt sind, können
wir darauf auch die sichere Hoffnung grĂĽnden, dieser GlĂĽck-
seligkeit teilhaftig zu werden? S. Nein! darauf allein nicht;
denn es steht nicht immer in unserem Vermögen, sie uns zu
vcrschafFtn, und der Lauf der Natur richtet sich auch nicht
so von selbst nach dem Verdienst, sondern das GlĂĽck des
Lebens (unsere Wohlfahrt überhaupt) hängt von Umständen
ab, die bei weitem nicht alle in des Menschen Gev/alt sind.
Also bleibt unsere GlĂĽckseligkeit imrxier nur ein Wunsch,
ohne daĂź, v/enn nicht irgend eine andere Macht hinzukommt,
dieser jemals Hoffnung werden kann.
8. L. Hat die Vernunft wohl GrĂĽnde fĂĽr sich, eine solche die
GlĂĽckseligkeit nach Verdienst und Schuld der Menschen aus-
teilende, ĂĽber die ganze Natur gebietende und die Welt mit
höchster Weisheit regierende Macht als wirklich anzunehmen,
das ist an Gott zu glauben? S. Ja; denn wir sehen an den
Werken der Natur, die wir beurteilen können, so ausgebreitete
und tiefe Weisheit, die wir uns nicht anders als durch eine
unaunsprechJich große Kupst eines Weltschöpfers erklären
können, von welchem wir uns denn auch, was die sittliche
Ordnung betrifft, in der doch die höchste Zierde der Welt
besteht, eine nicht minder weise Regierung zu versprechen
Ursache haben: nämlich daß, wenn wir uns nicht selbst der
Erster Abschnitt. Ethische Didaktik 299
GlĂĽckseligkeit unwĂĽrdig machen, welches durch Ăśber-
tretung unserer Pflicht geschieht, wir auch hoffen können,
ihrer teilhaftig zu werden.
In dieser Katechese, welche durch alle Artikel der Tugend
und des Lasters durchgeführt werden muß, ist die größte
Aufmerksamkeit darauf zu richten, daĂź das Pflichtgebot ja
nicht auf die aus dessen Beobachtung fĂĽr den Menschen, den
es verbinden soll, ja selbst auch nicht einmal fĂĽr andere
flieĂźenden Vorteile oder Nachteile, sondern ganz rein auf das
sittliche Prinzip gegrĂĽndet werde, der letzteren aber nur bei-
läufig, als an sich zwar entbehrlicher, aber für den Gaumen
der von Natur Schwachen zu bloĂźen Vehikeln dienender
Zusätze, Erwähnung geschehe. Die Schändlichkeit, nicht
die Schädlichkeit des Lasters (für den Täter selbst) muß
ĂĽberall hervorstechend dargestellt werden. Denn wenn die
WĂĽrde der Tugend in Handlungen nicht ĂĽber alles erhoben
wird, so verschwindet der Pflichtbegriff selbst und zerrinnt
in bloĂźe pragmatische Vorschriften; da dann der Adel des
Menschen in seinem eigenen BewuĂźtsein verschwindet und er
fĂĽr einen Preis feil ist und zu Kauf steht, den ihm ver-
fĂĽhrerische Neigungen anbieten.
Wenn dieses nun weislich und pĂĽnktlich nach Ver-
schiedenheit der Stufen des Alters, des Geschlechts und des
Standes, die der Mensch nach und nach betritt, aus der
eigenen Vernunft des Menschen entwickelt worden, so ist
noch etwas, was den BeschluĂź machen muĂź, was die Seele
inniglich bewegt und den Menschen auf eine Stelle setzt,
wo er sich selbst nicht anders als mit der größten Bewun-
derung der ihm beiwohnenden ursprĂĽnglichen Anlagen be-
trachten kann, und wovon der Eindruck nie erlischt. — Wenn
ihm nämUch beim Schlüsse seiner Unterv/eisung seine Pflichten
in ihrer Ordnung noch einmal summarisch vorerzählt (re-
kapituliert), wenn er bei jeder derselben darauf aufmerksam
gemacht wird, daĂź alle Ăśbel, Drangsale und Leiden des
Lebens, selbst Bedrohung mit dem Tode, die ihn darĂĽber,
daß er seiner Pflicht treu gehorcht, treflPcn mögen, ihm doch
das BewuĂźtsein, ĂĽber sie alle erhoben und Meister zu sem,
nicht rauben können, so liegt ihm nun die Frage ganz nahe:
was ist das in dir, was sich getrauen darf, mit allen Kräften
der Natur in dir und um dich in Kampf zu treten und sie.
^oo Ethische Methodenlehre
wenn sie mit deinen sittlichen Grundsätzen in Streit kommen,
zu besiegen? Wenn diese Frage, deren Autlösung das Ver-
mögen der spekulativen Vernunk gänzlich übersteigt und
die sich dennoch von selbst einstellt, ans Herz gelegt wird,
so muĂź seihst die UnbegrciFlichkeit in diesem Selbsterkenntnisse
der Seele eine Erhebung geben, die sie zum Heilighalten
ihrer Pflicht nur desto stärker belebt, je mehr sie angefochten
wird.
In dieser katechetischen Moralunterweisung wĂĽrde es
zur sittlichen Bildung von groĂźem Nutzen sein, bei jeder
Piiichtzergliederung einige kasuistische Fragen aufzuwerfen
und die versammelten Kinder ihren Verstand versuchen zu
lassen, wie ein jeder von ihnen die ihm vorgelegte verfängliche
Aufgabe aufzulösen meinete. — Nicht allein daß dieses
eine der Fähigkeit des Ungebildeten am meisten angemessene
Kultur der Vernunft ist (weil diese in Fragen, die, was
Pflicht ist, betreffen, weit leichter entscheiden kann, als in
Ansehung der spekulativen) und so den Verstand der Jugend
überhaupt zu schärfen die schicklichste Art ist: sondern
vornehmlich deswegen, weil es in der Natur des Menschen
liegt, das zu lieben, worin und in dessen Bearbeitung er
es bis zu einer Wissenschaft (mit der er nun Bescheid weiĂź)
gebracht hat, und so der Lehrling durch dergleichen Ăśbungen
unvermerkt in das Interesse der Sittlichkeit gezogen wird.
Von der größten Wichtigkeit aber in der Erziehung ist
es, den moralischen Katechism nicht mit dem Religions-
katechism vermischt vorzutragen (zu amalgamicren), noch
weniger ihn auf den letzteren folgen zu lassen; sondern
jederzeit den ersteren und zwar mit dem größten Fleiße
und AusfĂĽhrlichkeit zur klarsten Einsicht zu bringen. Denn
ohne dieses wird nachher aus der Religion nichts als Heuchelei,
sich aus Furcht zu Pflichten zu bekennen und eine Teilnahme
an derselben, die nicht im Herzen ist, zu lĂĽgen.
Zweiter Abschnitt. Ethische Aszetik 301
Zweiter Abschnitt.
Die ethische Asketik.
§ 53-
Die Regeln der Ăśbung in der Tugend (exercitiorum virtutis)
gehen auf die zwei GemĂĽtsstimmungen liinaus, wackeren und
fröhlichen Gemüts (animus strenuus et hilarii) m Befolgung
ihrer Pflichten zu sein. Denn sie hat mit Hindernissen zu kämpfen,
zu deren Überwältigung sie ihre Kräfte zusammen nehmen muß,
und zugleich manche Lebensfreuden zu opfern, deren Verlust das
GemĂĽt wohl bisweilen finster und mĂĽrrisch machen kann; was
man aber nicht mit Lust, sondern bloĂź als Frondienst tut, das
hat fĂĽr den, der hierin seiner Pflicht gehorcht, keinen inneren
Wert und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer
Ausübung so viel möglich geflohen.
Die Kultur der Tugend, d. i. die moralische Asketik, hat in
Ansehung des Prinzips der rĂĽstigen, mutigen und wackeren Tugend-
übung den Wahlspruch der Stoiker: gewöhne dich die zufälligen
Lebensübel zu ertragen und die ebenso überflüssigen Ergötzlich-
keiten zu entbehren (assuesce incommodis et desuesce commoditatibus
vitae). Es ist eine Art von Diätetik für den Menschen, sich
moralisch gesund zu erhalten. Gesundheit ist aber nur ein
negatives Wohlbefinden, sie selber kann nicht gefĂĽhlt werden.
Es muĂź etwas dazu kommen, was einen angenehmen LebensgenuĂź
gewährt und doch bloß moralisch ist. Das ist das jederzeit
fröhliche Herz in der Idee des tugendhaften EPIKURS,, Denn wer
sollte wohl mehr Ursache haben, frohen Muts zu sein und nicht
darin selbst eine Pflicht finden, sich in eine fröhliche Gemütsstimmung
zu versetzen und sie sich habituell zu machen, als der, welcher sich
keiner vorsätzlichen Übertretung bewußt und wegen des Verfalls
in eine solche gesichert ist (Jjic murus aheneus esto etc. HORAT.). —
Die Mönchsasketik hingegen, welche aus abergläubischer Furcht,
oder geheucheltem Abscheu an sich selbst mit Selbstpeinigung und
Fleischeskreuzigung zu Werke geht, zweckt auch nicht auf Tugend,
sondern auf schwärmerische Entsündigung ab, sich selbst Strafe
aufzulegen und, anstatt sie moralisch (d. i. in Absicht auf die
3 02 Ethische Methoden/ehre. BeschluĂź
Besserung) zu bereuen, sie bĂĽĂźen zu wollen, welches bei einer
sclbstgcwählten und an sich vollstreckten Strafe (denn die muß
immer ein anderer auflegen) ein Widerspruch ist, und kann auch
den Frohsinn, der die Tugend begleitet, nicht bewirken, vielmehr
nicht ohne geheimen Haß gegen das Tugendgebot stattfinden. —
Die ethische Gymnastik besteht also nur in der Bekämpfung der
Naturtriebe, die das MaĂź erreicht, ĂĽber sie bei vorkommenden,
der Moralität Gefahr drohenden Fallen Meister werden zu können;
mithin die wacker und im BewuĂźtsein seiner wiedererworbenen
Freiheit fröhlich macht. Etwas bereuen (welches bei der Rück-
erinnerung ehemaliger Ăśbertretungen unvermeidlich, ja wobei
diese Erinnerung nicht schwinden zu lassen, es sogar Pflicht ist)
und sich eine Pönitenz auferlegen (z. B. das Fasten), nicht in
diätetischer, sondern frommer Rücksicht, sind zwei sehr verschiedene,
moralisch gemeinte Vorkehrungen, von denen die letztere, welche
freudenlos, finster und mĂĽrrisch ist, die Tugend selbst verhaĂźt
macht und ihre Anhänger verjagt. Die Zucht (Disziplin), die
der Mensch an sich selbst verĂĽbt, kann daher nur durch den
Frohsinn, der sie begleitet, verdienstlich und exemplarisch werden.
BeschluĂź.
Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott
liege auĂźerhalb den Grenzen der reinen Moralphilosophie.
PrOTAGORAS von Abdera fing sein Buch mit den Worten an:
,,Ob Götter sind, oder nicht sind, davon weiß ich nichts
zu sagen"'). Er wurde deshalb von den Atheniensern aus der
Stadt und von seinem Landbesitz verjagt und seine BĂĽcher vor
der öffentlichen Versammlung verbrannt (^(Juwctiliani Inst. Orot,
lib. j. Cap. /). — Hierin taten ihm die Richter von Athen als
Menschen zwar sehr unrecht; aber als Staatsbeamte und
Richter verfuhren sie ganz rechtlich und konsequent; denn wie
hätte man einen Eid schwören können, wenn es nicht öffentlich
und gesetzlich von hoher Obrigkeit wegen {^de par le Senat')
befohlen wäre: daß es Götter gebe'').
') ,,De Diis, neque ut sint, neque ut non sint, habeo dicere."
') Zwar hat späterhin ein grolier moralisch-geserzi^tbender Weise
das Schwören als ungereimr und zugleich beinahe an Blasphemie grenzend
Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott 303
Diesen Glauben aber zugestanden und, daĂź Religionslehre
ein integrierender Teil der allgemeinen Pflichtenlehrc sei, ein-
geräumt, ist jetzt nun die Frage von der Grenzbestimmung der
Wissenschaft, zu der sie gehört: ob sie als ein Teil der Ethik
(denn vom Recht der Menschen gegeneinander kann hier nicht die
Rede sein) angesehen, oder ganz auĂźerhalb den Grenzen einer
rein-philosophischen Moral liegend mĂĽsse betrachtet werden.
Das Formale aller Religion, wenn man sie so erklärt: sie sei
„der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote", ge-
hört zur philosophischen Moral, indem dadurch nur die Beziehung
der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht,
ausgedrĂĽckt wird, und eine Religionspflicht wird alsdann noch
nicht zur Pflicht gegen (ergo) Gott als ein auĂźer unserer Idee
existierendes Wesen gemacht, indem wir hiebei von der Existenz
desselben noch abstrahieren. — Daß alle Menschenpflichten diesem
Formalen (der Beziehung derselben auf einen göttlichen, a priori
gegebenen Willen) gemlĂĽS gedacht werden sollen, davon ist der
Grund nur subjektiv-logisch. Wir können uns nämlich Verpflichtung
(moralische Nötigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne
einen anderen und dessen Willen (von dem die allgemein gesetz-
gebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu
denken. Allein diese Pflicht in Ansehung Gottes (eigentlich
der Idee, welche wir uns von einem solchen Wesen machen) ist
ganz und gar verboten; allein in politischer RĂĽcksicht glaubt man noch
fminer dieses mechanischen, zur Verwaltung der öffentlichen Gerechtigkeit
dienlichen Mittels schlechterdings nicht entbehren zu können und hat
milde Auslegungen ausgedacht, um jenem ^ erbot auszuweichen. — Da
es eine Ungereimtheit wäre, im Ernst zu schwören, daI5 ein Gott sei
(weil man '^ diesen schon postuliert haben mul5, um ĂĽberhaupt nur
schwören zu können), so bleibt noch die Frage: ob nicht ein Eid
möglich und geltend sei, da man nur auf den Fall, daß ein Gott sei
(ohne vne Protagoras darüber etwas auszumachen), schwöre. — In der
Tat mögen wohl alle redlich und zujdeich mit Besonnenheit abgelegten
Eide in keinem anderen Sinne getan worden sein. - Denn dal5 einer
sich erböte schlechthin zu beschwören, daß ein Gott sei: scheint zwar
kein bedenkliches Anerbieten zu sein, er mag ihn glauben oder nicht.
Ist einer (wird der BetrĂĽger sagen), so habe ichs getrofFen; ist kemer,
so zieht mich auch keiner zur Verantwortung, und ich bringe mich
durch solchen Eid in keine Gefahr. - Ist denn aber keine Gefahr dabei,
wenn ein solcher ist, auf einer vorsätzlichen und, selbst om Gott
zu täuschen, angelegten Lüge betroffen zu werden?
304 Ethische Methodenlchre. BeschluĂź
Pflicht des Menschen gegen sich selbst, d. i. nicht objektive die
Verbindlichkeit zur Leistung gewisser Dienste an einen anderen,
sondern nur subjektive zur Stärkung der moralischen Triebfeder
in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft.
Was aber das Materiale der Religion, den Inbegriff der
Pflichten gegen (ergo) Gott, d. i. den ihm zu leistenden Dienst
(ad praestandum), anlangt, so w^ĂĽrde sie besondere, von der all-
gemein-gesetzgebenden Vernunft allein nicht ausgehende, von uns
also nicht a priori, sondern nur empirisch erkennbare, mithin nur
zur gcofienbarten Religion gehörende Pflichten als göttliche Ge-
bote enthalten können; die also auch das Dasein dieses Wesens,
nicht bloĂź die Idee von demselben in praktischer Absicht, nicht v^dll-
kĂĽrlich voraussetzen, sondern als unmittelbar (oder mittelbar) in
der Erfahrung gegeben darlegen mĂĽĂźte. Eine solche Religion
aber würde, so gegründet sie sonst auch sein möchte, doch
keinen Teil der reinen philosophischen Moral ausmachen.
Religion also, als Lehre der Pflichten gegen Gott, liegt
jenseit aller Grenzen der rein-philosophischen Ethik hinaus, und
das dient zur Rechtfertigung des Verfassers des Gegenwärtigen,
daß er zur Vollständigkeit derselben nicht, wie es sonst wohl
gewöhnlich war, die Religion, in jenem Sinne gedacht, in die
Ethik mit hineingezogen hat.
Es kann zwar von einer „Religion innerhalb den Grenzen
der bloĂźen Vernunft," die aber nicht aus bloĂźer Vernunft ab-
geleitet, sonder zugleich auf Geschieht«- und Offen barungslehren
gegrĂĽndet ist und die nur die Ăśbereinstimmung der reinen
praktischen Vernunft mit denselben (daĂź sie jener nicht widerstreite)
enthält, die Rede sein. Aber alsdann ist sie auch nicht reine,
sondern auf vorliegende Geschichte angewandte Religionslehre,
fĂĽr welche in einer Ethik, als reiner praktischen Philosophie,
kein Platz ist.
SchluĂźanmerkung.
Alle moralische Verhältnisse vernünftiger Wesen, welche
ein Prinzip der Ăśbereinstimmung des Willens des einen mit
dem des anderen enthalten, lassen sich auf Liebe und
Achtung zurĂĽckfĂĽhren und, sofern dies Prinzip praktisch
ist, der Bestimmungsgrund des Willens in Ansehung der
crsteren auf den Zweck, in Ansehung des zweiten auf das
Recht des anderen. — Ist eines dieser Wesen ein solches,
Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott 305
was lauter Rechte und keine Pflichten gegen das andere hat
(Gott), hat mithin das andere gegen das erstcrc lauter
Pflichten und keine Rechte, so ist das Prinzip des moralischen
Verhältnisses zwischen ihnen transszendent (dagegen das
der Menschen gegen Menschen, deren Wille gegeneinander
wechselseitig einschränkend ist, ein immanentes Prinzip
hat).
Den göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen
Geschlechts (dessen Schöpfung und Leitung) kann man sich
nicht anders denken, als nur aus Liebe, d. i. daĂź er die
GlĂĽckseligkeit der Menschen sei. Das Prinzip des Willens
Gottes aber in Ansehung der schuldigen Achtung (Ehrfurcht),
welche die Wirkungen der ersteren einschränkt, d. i. des gött-
lichen Rechts, kann kein anderes sein als das der Gerechtig-
keit. Man könnte sich (nach Menschenart) auch so aus-
drĂĽcken: Gott hat vernĂĽnftige Wesen erschaffen, gleichsam
aus dem BedĂĽrfnisse etwas auĂźer sich zu haben, was er
lieben könne, oder auch von dem er geliebt werde.
Aber nicht allein ebenso groß, sondern noch größer
(weil das Prinzip einschränkend ist) ist der Anspruch, den
die göttliche Gerechtigkeit im. Urteile unserer eigenen
Vernunft und zwar als strafende an uns macht. — Denn
Belohnung {praemium, remuneratio gratuita) bezieht sich
gar nicht auf Gerechtigkeit gegen Wesen, die lauter Pflichten
und keine Rechte gegen das Andere haben, sondern bloĂź
auf Liebe und Wohltätigkeit (benignitas); — noch weniger
kann ein Anspruch auf Lohn (merces) bei einem solchen
Wesen stattfinden, und eine belohnende Gerechtigkeit
(iustitia brabeutica) ist im Verhältnis Gottes gegen Menschen
ein Widerspruch.
Es ist aber doch in der Idee einer Gerechtigkeitsaus-
ĂĽbung eines W^esens, was ĂĽber allen Abbruch an seinen
Zwecken erhaben ist, etwas, was sich mit dem Verhältnis
des Menschen zu Gott nicht wohl vereinigen läßt: nämlich
der Begriff einer Läsion, welche an dem unumschränkten
und unerreichbaren Weltherrscher begangen werden könne;
denn hier ist nicht von den Rechtsverletzungen, die Menschen
gegeneinander verĂĽben und worĂĽber Gott als strafender
Richter entscheide, sondern von der Verletzung, die Gott
selber und seinem Recht widerfahren solle, die Rede, wovon
Kants Schriften. Bd. VII. lo
jo6 Ethische Methoden lehre. BeschluĂź
der Begriff transszcndent ist, d. i. ĂĽber den Begriff aller
Strafgerechtigkeit, wovon wir irgendein Beispiel aufstellen
können, (d. i. der unter Menschen), ganz hinaus liegt und
überschwengliche Prinzipien enthält, die mit denen, welche
wir in Ertahrungsfällen gebrauchen würden, gar nicht in
Zusammenstimmung gebracht werden können, folglich für
unsere praktische Vernunft gänzlich leer sind.
Die Idee einer göttlichen Strafgerechtigkeit wird hier
personifiziert; es ist nicht ein besonderes richtendes Wesen,
was sie ausĂĽbt (denn da wĂĽrden WidersprĂĽche desselben
mit Rechtsprinzipien vorkommen), sondern die Gerechtigkeit
gleich als Substanz (sonst die ewige Gerechtigkeit genannt),
die wie das Fatum (Verhängnis) der alten philosophierenden
Dichter noch ĂĽber dem Jupiter ist, spricht das Recht nach
der eisernen, unablenkbaren Notwendigkeit aus, die fĂĽr uns
weiter unerforschlich ist. — Hievon jetzt einige Beispiele.
Die Strafe läßt (nach dem HORAZ) den vor ihr stolz
schreitenden Verbrecher nicht aus den Augen, sondern hinkt
ihm unablässig nach, bis sie ihn ertappt. — Das unschuldig
vergossene Blut schreit um Rache. — Das Verbrechen kann
nicht ungerächt bleiben; trifft die Strafe nicht den Verbrecher,
so werden es seine Nachkommen entgelten mĂĽssen; oder
geschiehts nicht bei seinem Leben, so muĂź es in einem
Leben nach dem Tode^) geschehen, welches ausdrĂĽcklich
darum auch angenommen und gern geglaubt wird, damit der
Anspruch der ewigen Gerechtigkeit ausgeglichen werde. —
Ich will keine Blutschuld auf mein Land kommen lassen,
dadurch daĂź ich einen boshaft mordenden Duellanten, fĂĽr
') Die Hypothese von einem kĂĽnfrigen Leben darf hier nicht ein-
mal eingemischt werden, um jene drohende Strafe als vollständig in
der Vollziehung vorzustellen. Denn der Mensch, seiner Moralitat nach
betrachtet, u-ird als ĂĽbersinnlicher Gegenstand vor einem ĂĽbersinnlichen
Richter nicht nach Zeitbedingungen beurteilt; es ist nur von seiner
Existenz die Rede. Sein Erdenleben, es sei kurz oder lang, oder gar
eu'ig, ist nur das Dasein desselben in der Erscheinung, und der Begriff
der Gerechtigkeit bedarf keiner näheren Bestimmung; wie denn auch
der Glaube an ein kĂĽnftiges Leben eigentlich nicht vorausgeht, um die
Strafgerechtigkeit an ihm ihre Wirkung sehen zu lassen, sondern viel-
mehr umgekehrt aus der Notwendigkeit der Bestrafung auf ein kĂĽnftiges
Leben die Folgerung gezogen wird.
Die Religionslehre als Lehre der PĂźichten gegen Gott 307
den ihr FĂĽrbitte tut, begnadige, sagte einmal ein wohldenkender
Landesherr. — Die Sündenschuld muß bezahlt werden,
und sollte sich auch ein völlig Unschuldiger zum Sühnopter
hingeben (wo dann freilich die von ihm ĂĽbernommene Leiden
eigentlich nicht Strafe — denn er hat selbst nichts ver-
brochen — heißen könnten); aus welchen allen zu ersehen
ist, daĂź es nicht eine die Gerechtigkeit verwaltende Person
ist, der man diesen Verurteilungsspruch beilegt (denn die
würde nicht so sprechen können, ohne anderen imrecht zu
tun), sondern daĂź die bloĂźe Gerechtigkeit, als ĂĽberschwengliches,
einem ĂĽbersinnlichen Subjekt angedachtes Prinzip, das Recht
dieses Wesens bestimme; welches zwar dem Formalen dieses
Prinzips gemäß ist,demMat erialen desselben aber, dem Zweck,
welcher immer die GlĂĽckseligkeit der Menschen ist,
widerstreitet. — Denn bei der etwanigen großen Menge der
Verbrecher, die ihr Schuldenregister immer so fortlaufen
lassen, vnirde die Strafgerechtigkeit den Zweck der Schöpfung
nicht in der Liebe des Welturhebers (wie man sich doch
denken muĂź), sondern in der strengen Befolgung des Rechts
setzen (das Recht selbst zum Zweck machen, der in der
Ehre Gottes gesetzt wird); welches, da das letztere (die
Gerechtigkeit) nur die einschränkende Bedingung des ersteren
(der GĂĽtigkeit) ist, den Prinzipien der praktischen Vernunft
zu widersprechen scheint, nach welchen eine Weltschöpfiing
hätte unterbleiben müssen, die ein der Absicht ihres Urhebers,
die nur Liebe zum Grunde haben kann, so widerstreitendes
Produkt geliefert haben v/ĂĽrde.
Man sieht hieraus: daĂź in der Ethik, als reiner praktischer
Philosophie der inneren Gesetzgebung, nur die moralischen
Verhältnisse des Menschen gegen den Menschen für uns
begreiflich sind: was aber zwischen Gott und dem Menschen
hierüber für ein Verhältnis obwalte, die Grenzen derselben
gänzlich übersteigt und uns schlechterdings unbegreiflich ist;
wodurch dann bestätigt wird, was oben behauptet ward:
daĂź die Ethik sich nicht ĂĽber die Grenzen der wechselseitigen
Menschenpflichten erweitern könne.
20
3o8 Tafel der Einteilung der Ethik
Tafel
der Einteilung der Ethik.
I. Ethische Elementarlehre.
Erster Teil.
Von den Pflichten des Menschen gegen sich selbst.
Erstes Buch.
Von den vollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst.
Erstes HauptstĂĽck.
Von den Pflichten des Menschen gegen sich selbst als animalischen
Wesen.
Zweites HauptstĂĽck.
Von den Pflichten des Menschen gegen sich selbst bloĂź als
moralischen Wesen.
Erster Abschnitt.
Von den Pflichten des Menschen gegen sich selbst als angebornen
Richter ĂĽber sich selbst.
Zweiter Abschnitt.
Vom ersten Gebot aller Pflichten gegen sich selbst.
Episodischer Abschnitt.
Von der Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe in
Ansehung der Pflichten gegen sich selbst.
Zweites Buch.
Von den unvoUkommmenen Pflichten des Menschen gegen sich
selbst in Ansehung seines Zwecks.
Erster Abschnitt.
Von der Pflicht gegen sich selbst in Entwicklung und Vermehrung
seiner Naturvollkommenheit.
Zweiter Abschnitt.
Von der Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner moralischen
Vollkommenheit.
Tafel der Einteilung der Ethik 309
Der ethischen Elementarlehre
Z \v e i t e r T e i 1.
Von den ethischen Pflichten gegen andere.
Erstes HauptstĂĽck.
Von den Pflichten gegen andere bloĂź als Menschen.
Erster Abschnitt.
Von der Liebespflicht gegen andere Menschen.
Zweiter Abschnitt.
Von der Pflicht der Achtung fĂĽr andere.
Zweites HauptstĂĽck.
Von der Pflicht gegen andere nach Verschiedenheit ihres
ZuStandes.
BeschluĂź der Elementar lehre.
Von der inniglichen Vereinigung der Liebe mit der Achtung in der
Freundschatt.
II. Ethische Methodenlehre.
Erster Abschnitt.
Ethische Didaktik.
Zweiter Abschnitt.
Ethische Asketik.
BeschluĂź der ganzen Ethik.
Der Streit
der
Fakultäten
in drei Abschnitten
von
Immanuel Kant.
1798.
Dem Herrn
Karl Friedrich Stäudlin,
Doktor und Professor,
in Göttingen
zugeeignet
von dem Verfasser.
Vo r r e d e
Gegenwärtige Blätter, denen eine aufgeklärte, den menschlichen
Geist seiner Fesseln entschlagende und eben durch diese
Freiheit im Denken desto bereitwilligem Gehorsam zu bewirken
geeignete Regierung jetzt den Ausflug verstattet, — mögen auch
zugleich die Freiheit verantworten, die der Verfasser sich nimmt,
von dem, was bei diesem Wechsel der Dinge ihn selbst angeht,
eine kurze Geschichtserzählung voranzuschicken.
König Friedrich Wilhelm IL, ein tapferer, redlicher,
menschenliebender und — von gewissen Temperamentseigenschaften
abgesehen — durchaus vortreflFlicher Herr, der auch mich persön-
lich kannte und von Zeit zu Zeit Ă„uĂźerungen seiner Gnade an
mich gelangen lieĂź, hatte auf Anregung eines Geistlichen, nach-
mals zum Minister im geistlichen Departement erhobenen Mannes,
dem man billigerweise auch keine andere, als auf seine innere
Ăśberzeugung sich grĂĽndende gut gemeinte Absichten unterzulegen
Ursache hat, — im Jahr 1788 ein Religionsedikt, bald nach-
her ein die Schriftstellerei überhaupt sehr ehischränkendes, mithin
auch jenes mit schärfendes Zensuredikt ergehen lassen. Man kann
nicht in Abrede ziehen: daĂź gewisse Vorzeichen, die der Explosion,
welche nachher erfolgte, vorhergingen, der Regierung die Not-
wendigkeit einer Reform in jenem Fache anrätig machen mußten;
welches auf dem stillen Wege des akademischen Unterrichts kĂĽnfti-
ger öffentlicher Volkslehrer zu erreichen war; denn diese hatten
als j Jnge Geistliche ihren Kanzelvortrag auf solchen Ton gestimmt,
daĂź, wer Scherz versteht, sich durch solche Lehrer eben nicht
wird bekehren lassen.
Indessen daĂź nun das Pveligionsedikt auf einheimische sowohl
als auswärtige Schriftsteller lebhaften Einfluß hatte, kam auch
meine Abhandlung unter dem Titel; „Religion innerhalb den
5 1 6 Der Streit der Fakultäten
Grenzen der bloĂźen VernunFt" heraus,') und da ich, um keiner
Schleichwege beschuldigt zu werden, allen meinen Schriften meinen
Namen vorsetze, so erging an mich im Jahr 1794 folgendes
Königl. Reskript, von welchem es merkwürdig ist, daß es, da ich
nur meinem vertrautesten Freunde die Existenz desselben bekannt
machte, es auch nicht eher als jetzt öffentlich bekannt wurde.
Von Gottes Gnaden Friedrich Wilhelm, König von
PreuĂźen etc. etc.
Unsern gnädigen Gruß zuvor. Würdiger und Hochgelahrter,
lieber Getreuer! Unsere höchste Person hat schon seit geraumer
Zeit mit groĂźem MiĂźfallen ersehen: wie Ihr Eure Philosophie zu
Entstellung und HerabwĂĽrdigung mancher Haupt- und Grundlehren
der heiligen Schrift und des Christentums miĂźbraucht; wie Ihr
dieses namentlich in Eurem Buch: „Religion innerhalb der Grenzen
der bloĂźen Vernunft," desgleichen in anderen kleineren Abhand-
lungen getan habt. Wir haben Uns zu Euch eines Besseren ver-
sehen, da Ihr selbst einsehen mĂĽsset, wie unverantwortlich Ihr
dadurch gegen Eure Pflicht als Lehrer der Jugend und gegen
Unsere Euch sehr wohl bekannte landesväterliche Absichten handelt.
Wir verlangen des ehsten Eure gewissenhafteste Verantwortung
und gewärtigen Uns von Euch bei Vermeidung Unserer höchsten
Ungnade, daĂź Ihr Euch kĂĽnftighin Nichts dergleichen werdet zu-
schulden kommen lassen, sondern vielmehr Eurer Pflicht gemäß
Euer Ansehen und Eure Talente dazu anwenden, daĂź Unsere
landesväterliche Intention je mehr und mehr erreicht werde;
widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unan-
genehmer Verfügungen zu gewärtigen habt.
Sind Euch mit Gnade gewogen.
Berlin den i. Oktober 1794.
Auf Seiner Königl. Majestät
allergnädigsten Spezialbefehl.
Woellner.
ah extra — Dem würdigen und hochgelahrten. Unserem Professor,
auch lieben, getreuen Kant
zu
Königsberg
in PreuĂźen.
praesentat, d. 12. Okt. 1794.
') Diese Bctirelung war absichtlich so gestellt, damit man jene Ab-
Vo r r e d e 517
Worauf meinerseits folgende alleruntertänigste Antwort abgestattet
wurde.
Allergnädigster etc. etc.
Ew. Königl. Maj. allerhöchster den i sten Oktober c. an mich
ergangener und den i z ten eiusd. mir gewordener Befehl legt es
mir zur devotesten Pflicht auf: Erstlich „wegen des Mißbrauchs
meiner Philosophie in Entstellung und HerabwĂĽrdigung mancher
Haupt- und Grundlehren der heil. Schrift und des Christentums,
namentlich in meinem Buch: „Religion innerhalb den Grenzen der
bloĂźen Vernunft," desgleichen in anderen kleineren Abhandlungen
und der hiedurch auf mich fallenden Schuld der Ăśbertretung
meiner Pflicht als Lehrer der Jugend und gegen die höchste, mir
sehr wohl bekannte landesväterliche Absichten eine gewissenhafte
Verantwortung beizubringen." Zweitens auch, „nichts dergleichen
künftighin mir zuschulden kommen zu lassen." — In Ansehung
beider Stücke ermangle nicht den Beweis meines alleruntertänigsten
Gehorsams Ew. Königl. Maj. in folgender Erklärung zu Füßen zu
legen:
Was das Erste, nämlich die gegen mich erhobene Anklage,
betrifft, so ist meine gewissenhafte Verantwortung folgende:
DaĂź ich als Lehrer der Jugend, d. i., wie ich es verstehe,
in akademischen Vorlesungen, niemals Beurteilung der heil. Schrift
und des Christentums eingemischt habe, noch habe einmischen
können, würden schon die von mir zum Grunde gelegte Hand-
bĂĽcher BAUMGARTENS, als welche allein einige Beziehung auf
einen solchen Vortrag haben dĂĽrften, beweisen: weil in diesen
nicht einmal ein Titel von Bibel und Christentum enthalten ist
und als bloĂźer Philosophie auch nicht enthalten sein kann; der
Fehler aber, ĂĽber die Grenzen einer vorhabenden Wissenschaft
auszuschweifen, oder sie ineinander laufen zu lassen, mir, der ich
ihn jederzeit gerĂĽgt und dawider gewarnt habe, am wenigsten
wird, vorgeworfen werden können.
Handlung nicht dahin deutete: als sollte sie die Religion aus bloĂźer
Vernunft (ohne OfFenbarung) bedeuten; denn das wäre zu viel An-
maĂźung geu-esen: weil es doch sein konnte, daĂź die Leliren derselben
von übernatürlich inspirierten Männern herrührten; sondern daß ich
nur dasjenige, was im Text der fĂĽr geoffenbart geglaubten Religion,
der Bibel, auch durch bloĂźe Vernunft erkannt werden kann, hier
in einem Zusammenhange vorstellig machen wollte.
5 1 8 Der Streit der Fakultäten
5
DaĂź ich auch nicht etwa als Volkslehrer, in Schriften
namentlich nicht im Buche: .,Religion innerhalb den Grenzen usw
mich gegen die allerhöchüte, mir bekannte landesväterliche
Absichten vergangen, d. i. der öffentlichen Landesreiigion Ab-
bruch getan habe; welches schon daraus erhellet, daĂź jenes Buch
dazu gar nicht geeignet, vielmehr fĂĽr das Publikum ein unver-
ständliches, verschlossenes Buch und nur eine Verhandlung zwischen
Fakultätsgelehrten vorstellt, wovon das Volk keine Notiz nimmt;
in Ansehung deren aber die Fakultäten selbst frei bleiben, nach
ihrem besten Wissen und Gewissen öfFentlich zu urteilen, und
nur die eingesetzte Volkslehrer (in Schulen und auf Kanzeln) an
dasjenige Resultat jener Verhandlungen, was die Landesherrschaft
zum öiFentlichen Vortrage für diese sanktioniert, gebunden werden,
und zwar darum, weil die letztere sich ihren eigenen Religions-
glauben auch nicht selbst ausgedacht, sondern ihn nur auf dem-
selben Wege, nämlich der Prüfung und Berichtigung durch dazu
sich qualifizierende Fakultäten (die theologische und philosophische),
hat überkommen können, mithin die Landesherrschaft diese nicht
allein zuzulassen, sondern auch von ihnen zu fordern berechtigt ist,
alles, was sie einer öffentlichen Landesreligion zuträglich finden,
durch ihre Schriften zur Kenntnis der Regierung gelangen zu
lassen.
DaĂź ich in dem genannten Buche, weil es gar keine WĂĽrdi-
gung des Christentums enthält, mir auch keine Abwürdigung
desselben habe zuschulden kommen lassen: denn eigentlich enthält
es nur die WĂĽrdigung der natĂĽrlichen Religion. Die AnfĂĽhrung
einiger biblischer Schriftstellen zur Bestätigung gev%^isser remer
Vernunftlehren der Religion kann allein zu diesem MiĂźverstande
Veranlassung gegeben haben. Aber der sei. MICHAELIS, der in
seiner philosophischen Moral eben so verfuhr, erklärte sich schon
hierĂĽber dahin, daĂź er dadurch weder etwas Biblisches in die
Philosophie hinein-, noch etwas Philosophisches aus der Bibel
herauszubringen gemeint sei, sondern nur seinen Vernunftsätzen
durch wahre oder vermeinte Einstimmung mit anderer (vielleicht
Dichter und Redner) Urteile Licht und Bestätigung gäbe. — Wenn
aber die Vernunft hiebci so spricht, als ob sie fĂĽr sich selbst
hinlänglich, die Offenbarungslehre also überflüssig -wäre (welches,
wenn es objektiv so verstanden werden sollte, wirklich fĂĽr Ab-
wĂĽrdigung des Christentums gehalten werden mĂĽĂźte), so ist
dieses wohl nichts, als der Ausdruck der WĂĽrdigung ihrer selbst;
Vorrede 319
nicht nach ihrem Vermögen, nach dem, was sie als zu tun vor-
schreibt, sofern aus ihr allein Allgemeinheit, Einheit und Not-
wendigkeit der Glaubenslehren hervorgeht, die das Wesentliche
einer Religion ĂĽberhaupt ausmachen, welches im Moralisch-Prakti-
schen (dem, was wir tun sollen) besteht, wogegen das, was wir
auf historische BeweisgrĂĽnde zu glauben Ursache haben (denn
hiebei gilt kein Sollen), d. i. die Offenbarung als an sich zu-
fällige Glaubenslehre, für außerwesentlich, darum aber doch nicht
für imnötig und überflüssig angesehen wird; weil sie den theo-
retischen Mangel des reinen Vernunftglaubens, den dieser nicht
ableugnet, z. B. in den Fragen über den Ursprung des Bösen, den
Ăśbergang von diesem zum Guten, die GewiĂźheit des Menschen
im letzteren Zustande zu sein u. dgl., zu ergänzen dienlich und
als Befriedigung eines VernunftbedĂĽrfnisses dazu nach Verschieden-
heit der Zeitumstände und der Personen mehr oder weniger bei-
zutragen behĂĽlflich ist.
DaĂź ich ferner meine groĂźe Hochachtung fĂĽr die biblische
Glaubenslehre im Christentum unter anderen auch durch die Er-
klärung in demselben obbenannten Buche bewiesen habe, daß die
Bibel, als das beste vorhandene, zur GrĂĽndung und Erhaltung einer
wahrhaftig seelenbessernden Landesreligion auf unabsehliche Zeiten
taugliche Leitmittel der öffentlichen Religionsunterweisung darin
von mir angepriesen und daher auch die Unbescheidenheit gegen
die theoretische, Geheimnis enthaltende Lehren derselben in Schulen
oder auf Kanzeln, oder in Volksschriften (denn in Fakultäten
muĂź es er'aubt sein), EinwĂĽrfe und Zweifel dagegen zu erregen
von mir getadelt und für Unfug erklärt worden; welches aber
noch nicht die größte Achtungsbezeigung fi'ir das Christentum ist.
Denn die hier aufgefiährtc Zusammenstimmung desselben mit dem
reinsten moralischen Vernunitgiauben ist die beste und dauer-
hafteste Lobrede desselben: weil eben dadurch, nicht durch histo-
rische Gelehrsamkeit das so oft entartete Christentum immer
wieder hergestellt worden ist und ferner bei ähnlichen Schicksalen,
die auch kĂĽnftig nicht ausbleiben werden, allein v/iederum her-
gestellt werden kann.
DaĂź ich endlich, so wie ich anderen Glaubensbckennern jeder-
zeit und vorzĂĽglich gewissenhafte Aufrichtigkeit, nicht mehr davon
vorzugeben und anderen als Glaubensartikel aufzudringen, als sie
selbst davon gewiĂź sind, empfohlen, ich auch diesen Richter in
mir selbst bei Abfassung meiner Schriften jederzeit als mir zur
5 20 Der Streit der Fakultäten
Seite stehend vorgestellt habe, um mich von jedem nicht allein
scclcnverdcrblichcn Irrtum, sondern selbst jeder AnstoĂź erregenden
Unbchutsamkeit im Ausdruck entfernt zu halten; v^eshalb ich
auch jetzt in meinem 7 i sten Lebensjahre, wo der Gedanke leicht
aufsteigt, es könne w^ohl sein, daß ich für alles dieses in kurzem
einem Weltrichter als HerzenskĂĽndiger Rechenschaft geben mĂĽsse,
die gegenwärtige mir wegen meiner Lehre abgeforderte Verant-
wortung als mit völliger Gewissenhaftigkeit abgefaßt freimütig
einreichen kann.
Was den zweiten Punkt betrifft, mir keine dergleichen
(angeschuldigte) Entstellung und HerabwĂĽrdigung des Christentums
kĂĽnftighin zuschulden kommen zu lassen: so halte ich, um auch
dem mindesten Verdachte darĂĽber vorzubeugen, fĂĽr das Sicherste,
hiemit, als Ew. Königl, Maj. getreuester Untertan,*) feier-
lichst zu erklären: daß ich mich fernerhin aller öffentlichen Vor-
träge die Religion betreffend, es sei die natürliche oder geoffen-
barte, sowohl in Vorlesungen als in Schriften gänzlich enthalten
werde.
In tiefster Devotion ersterbe ich usw.
Die weitere Geschichte des fortwährenden Treibens zu einem
sich immer mehr von der Vernunft entfernenden Glauben ist
bekannt.
Die PrĂĽfung der Kandidaten zu geistlichen Ă„mtern ward nun
einer Glaubenskommission anvertraut, der ein Schema exami-
nation'ts nach pietistischem Zuschnitte zum Grunde lag, welche ge-
wissenhafte Kandidaten der Theologie zu Scharen von geistlichen
Ämtern verscheuchte und die Juristenfakultät übervölkerte; eine
Art von Auswanderung, die zufälHgerweise nebenbei auch ihren
Nutzen gehabt haben mag. — Um einen kleinen Begriff vom Geiste
dieser Kommission zu geben; so ward nach der Forderung einer
vor der Begnadigung notwendig vorhergehenden Zerknirschung
noch ein tiefer reuiger Gram (ntaeror atwfii^ erfordert und von
diesem nun gefragt, ob ihn der Mensch sich auch selbst geben
könne. f)uoä negandurn ac pernegandum^ war die Antwort; der
reuevolle SĂĽnder muĂź sich diese Reue besonders vom Himmel
erbitten. — Nun fällt ja in die Augen: daß den. welcher um
') Auch diesen Ausdruck u-ählte ich vorsichtig, damit ich nicht der
Freiheit meines Urteils in diesem ReligionsprozeĂź auf immer, sondern
nur solange Sr. Maj. am Leben wäre, entsagte.
Vorrede 321
Reue (ĂĽber seine Ăśbertretung) noch bitten muĂź, seine Tat wirk-
lich nicht reuet; welches eben so widersprechend aussieht, als
wenn es vom Gebet heißt: es müsse, wenn es erhörlich sein
soll, im Glauben geschehen. Denn wenn der Beter den Glauben
hat, so braucht er nicht darum zu bitten: hat er ihn aber nicht,
so kann er nicht erhörlich bitten.
Diesem Unwesen ist nunmehro gesteuret. Denn nicht allein
zum bĂĽrgerlichen Wohl des gemeinen Wesens ĂĽberhaupt, dem
Religion ein höchstwichtiges Staatsbedürfnis ist, sondern besonders
zum Vorteil der Wissenschaften vermittelst eines diesen zu befördern
eingesetzten Oberschulkollegiums — hat sich neuerdings das glück-
liche Eräugnis zugetragen, daß die Wahl einer weisen Landes-
regierung einen erleuchteten Staatsmann getroffen hat, welcher
nicht durch einseitige Vorliebe fĂĽr ein besonderes Fach derselben
(die Theologie), sondern in Hinsicht auf das ausgebreitete Interesse
des ganzen Lehrstandes zur Beförderung desselben Beruf, Talent
und Willen hat und so das Fortschreiten der Kultur im Felde der
Wissenschaften wider alle neue Eingriff^e der Obskuranten sichern
wird.
Unter dem allgemeinen Titel: „der Streit der Fakultäten"
erscheinen hier drei in verschiedener Absicht, auch zu verschiedenen
Zeiten von mir abgefaĂźte, gleichwohl aber doch zur systematischen
Einheit ihrer Verbindung in einem Werk geeignete Abhandlungen,
von denen ich nur späterhin inne ward, daß sie als der Streit
der unteren mit den drei oberen (um der Zerstreuung vorzu-
beugen) schicklich in einem Bande sich zusammen finden können.
Kants Schriften. Bd. VlI. 2 1
5ZZ Der Streit der Fakultäten
Inhalt.
Erster Abschnitt.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen.
Einleitung.
Einteilung der Fakultäten überhaupt.
I.
Vom Verhältnisse der Fakultäten.
Erster Abschnitt. Begriff und Einteilung der oberen Fakultäten.
Eigentümlichkeit der theologischen Fakultät.
Eigentümlichkeit der Juristenfakultät.
Eigentümlichkeit der medizinischen Fakultät.
Zweiter Abschnitt. Begriff und Einteilung der unteren Fa-
kultät.
Dritter Abschnitt. Vom gesetzwidrigen Streit der oberen Fa-
kultäten mit der unteren.
Vierter Abschnitt. Vom gesetzmäßigen Streit der oberen Fa-
kultäten mit der unteren.
Resultat.
U.
Anhang einer Erläuterung des Streits der Fakultäten durch das
Beispiel desjenigen zwischen der theologischen und philosophischen.
I.
Materie des Streits.
II.
Philosophische Grundsätze der Schriftauslegung zur Beilegung des
Streits.
Inhalt j2 j
lU.
Einwürfe und Beantwortung derselben, die Grundsätze der Schrift-
auslegung betreffend.
Allgemeine Anmerkung. Von Religionssekten.
Friedens-Abschluß und Beilegung des Streits der Fakultäten.
Anhang biblisch-historischer Fragen ĂĽber die praktische Be-
nutzung und mutmaĂźliche Zeit der Fortdauer dieses heiligen
Buchs.
Anhang von einer reinen Mystik in der Religion.
Zweiter Abschnitt.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen.
Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen
Fortschreiten zum Besseren sei.
BeschluĂź.
Dritter Abschnitt.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der medi-
zinischen.
Von der Macht dts GemĂĽts durch den bloĂźen Vorsatz seiner
krankhaften Gefühle Meister zu sein. — Ein Antwort-
schreiben an Hrn. Hofr. und Prof. Hufeland.
Grundsätze der Diätetik.
BeschluĂź.
Nachschrift.
I*
Erster Abschnitt.
Der Streit der philosophischen Fakultät
mit der theologischen.
Einleitung.
Es war kein ĂĽbeler EinfaJl desjenigen, der zuer^ den Ge-
danken faßte und ihn zur öffentlichen Ausführung vorschlug, den
ganzen Inbegriff der Gelehrsamkeit (eigentlich die derselben gtr
widmeten Köpfe) gleichsam fabrikenmäßig, durch Verteilung
der Arbeiten, zu behandeln, wo, so viel es Fächer der Wissen-
schaften gibt, so viel öffentliche Lehrer, Professoren, als Depo-
siteure derselben angestellt wĂĽrden, die zusammen eine Art von
gelehrtem gemeinen Wesen, Universität (auch hohe Schule)
genannt, ausmachten, die ihre Autonomie hätte (denn über Gelehrte
als solche können nur Gelehrte urteilen); die daher vermittelst
ihrer Fakultäten^) (kleiner, nach Verschiedenheit der Flauptfächer
der Gelehrsamkeit, in welche sich die Universitätsgelehrte teilen,
verschiedener Gesellschaften) teils die aus niedern Schulen zu ihr
aufstrebende Lehrlinge aufzunehmen, teils auch freie (keine GHeder
derselben ausmachende) Lehrer, Doktoren genannt, nach vorher-
gehender PrĂĽfung aus eigner Macht mit einem von jedermann
anerkannten Rang zu versehen (ihnen einen Grad zu erteilen),
d. i. sie zu kreiren, berechtigt wäre.
AuĂźer diesen zĂĽnftigen kann es noch zunftfreie Gelehrte
^) Deren jede ihren Dekan als Regenten der Fakultät hat. Dieser
au« der Astrologie entlehnte Titel, der ursprünglich einen der 3 Astral-
geister bedeutete, welche einem Zeichen des Tierkreises (von 3 o")» vor-
stehen, deren jeder i o Grade anfĂĽhrt, ist von den Gestirnen zuerst
auf die Feldlager (ab astris ad castra. vid. Salmasius de annis clitnacterĂĽs
pag. 561) und zuletzt gar auf die Universitäten gezogen worden; ohne
doch hiebei eben auf die Zahl 1 o (der Professoren) zu sehen. Man
wird es den Gelehrten nicht verdenken, daĂĽ sie, von denen fast alle
Ehrentitel, mit denen sich jetzt Staatsleute ausschmĂĽcken, zuerst aus-
gedacht sind, sich selbst nicht vergessen haben.
3 2 8 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
geben, die nicht zur Universität gehören, sondern, indem sie
bloĂź einen Teil des groĂźen Inbegriffs der Gelehrsamkeit bearbeiten,
entweder gewisse freie Korporationen (Akademien, auch Sozie-
täten der Wissenschaften genannt) als so viel Werkstätten
ausmachen, oder gleichsam im Naturzustande der Gelehrsamkeit
leben und jeder für sich ohne öffentliche Vorschrift und Regel
sich mit Erweiterung oder Verbreitung derselben als Liebhaber
beschäftigen.
Von den eigentlichen Gelehrten sind noch die Literaten
(Studierte) zu unterscheiden, die als Instrumente der Regierung,
von dieser zu ihrem eigenen Zweck (nicht eben zum Besten der
Wissenschaften) mit einem Amte bekleidet, zwar auf der Uni-
versität ihre Schule gemacht haben müssen, allenfalls aber vieles
davon (was die Theorie betrifR) auch können vergessen haben,
wenn sie nur so viel, als zu FĂĽhrung eines bĂĽrgerlichen Amts,
das seinen Grundlehren nach nur von Gelehrten ausgehen kann,
erforderlich ist, nämlich empirische Kenntnis der Statuten ihres
Amts (was also die Praxis angeht), ĂĽbrig behalten haben; die
man also Geschäftsleute oder Werkkundige der Gelehrsamkeit
nennen kann. Diese, weil sie als Werkzeuge der Regierung
(Geistliche, Justizbeamte und Ă„rzte) aufs Publikum gesetzlichen
EinfluĂź haben und eine besondere Klasse von Literaten aus-
machen, die nicht frei sind, aus eigener Weisheit, sondern nur
unter der Zensur der Fakultäten von der Gelehrsamkeit öffent-
lichen Gebrauch zu machen, mĂĽssen, weil sie sich unmittelbar ans
Volk wenden, welches aus Idioten besteht (wie etwa der Klerus
an die Laiker), in ihrem Fache aber zwar nicht die gesetzgebende,
doch zum Teil die ausĂĽbende Gewalt haben, von der Regierung
sehr in Ordnung gehalten werden, damit sie sich nicht ĂĽber die
richtende, welche den Fakultäten zukommt, wegsetzen.
Einteilung der Fakultäten überhaupt.
Nach dem eingeflihrten Brauch werden sie in zwei Klassen,
die der drei obern Fakultäten und die einer untern, eingeteilt.
Man sieht wohl, daĂź bei dieser Einteilung und Benennung nicht
der Gelehrtenstand, sondern die Regierung befragt worden ist.
Denn zu den obern werden nur diejenigen gezählt, deren Lehren,
ob sie so oder anders beschaffen sein, oder öffentlich vorgetragen
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 1 9
werden sollen, es die Regierung selbst interessiert; da hingegen
diejenige, welche nur das Interesse der Wissenschaft zu besorgen
hat, die untere genannt wird, weil diese es mit ihren Sätzen
halten mag, wie sie es gut findet. Die Regierung aber interessiert
das am allermeisten, wodurch sie sich den stärksten und daurendsten
EinfluĂź aufs Volk verschafft, und dergleichen sind die Gegen-
stände der oberen Fakultäten. Daher behält sie sich das Recht
vor, die Lehren der oberen selbst zu sanktionieren; die der
untern überläßt sie der eigenen Vernunft des gelehrten Volks. —
Wenn sie aber gleich Lehren sanktioniert, so lehrt sie (die Re-
gierung) doch nicht selbst; sondern will nur, daĂź gewisse Lehren
von den respektiven Fakultäten in ihren öffentlichen Vortrag
aufgenommen und die ihnen entgegengesetzte davon ausgeschlossen
werden sollen. Denn sie lehrt nicht, sondern befehligt nur die,
welche lehren (mit der Wahrheit mag es bewandt sein, wie es
wolle), weil sie sich bei Antretung ihres Amts") durch einen
Vertrag mit der Regierung dazu verstanden haben. — Eine Re-
gierung, die sich mit den Lehren, also auch mit der Erweiterung
oder Verbesserung der Wissenschaften befaĂźte, mithin selbst in
höchster Person den Gelehrten spielen wollte, würde sich durch
diese Pedanterei nur um die ihr schuldige Achtung bringen, und
es ist unter ihrer WĂĽrde, sich mit dem Volk (dem Gelehrten-
standc desselben) gemein zu machen, welches keinen Scherz ver-
steht und alle, die sich mit Wissenschaften bemengen, ĂĽber einen
Kamm schiert.
Es muĂź zum gelehrten gemeinen Wesen durchaus auf der
Universität noch eine Fakultät geben, die, in Ansehung ihrer
^) Man muĂź es gestehen, daĂź der Grundsatz des groĂźbritannischen
Parlaments: die Rede ihres Königes vom Thron sei als ein Werk seines
Ministers anzusehen (da es der WĂĽrde eines Monarchen zuwider sein
wĂĽrde, sich Irrtum, Unwissenheit oder Unwahrheit vorrĂĽcken zu lassen,
gleichwohl aber das Haus ĂĽber ihren Inhalt zu urteĂĽen, ihn zu prĂĽfen
und anzufechten berechtige sein muĂź), daĂź, sage ich, dieser Grundsatz
sehr fein und richtig ausgedacht sei. Ebenso muĂź auch die Auswahl
gewisser Lehren, welche die Regierung zum öffentlichen Vortrage aus-
schUeĂźlich sanktioniert, der PrĂĽfung der Gelehrten ausgesetzt bleiben,
weil sie nicht als das Produkt des Monarchen, sondern eines dazu be-
fehligten Staatsbeamten, von dem man annimmt, er könne auch wohl
den WĂĽlen seines Herrn nicht recht verstanden oder auch verdreht
haben, angesehen werden mĂĽsse.
3^o Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
Lehren vom Befehle der Regierung unabhängig'), keine Befehle
zu geben, aber doch alle zu beurteilen die Freiheit habe, die mit
dem wissenschaftlichen Interesse, d. i. mit dem der Wahrheit, zu
tun hat, wo die Vernunft öffentlich zu sprechen berechtigt sein
muĂź: weil ohne eine solche die Wahrheit (zum Schaden der Re-
gierung selbst) nicht an den Tag kommen wĂĽrde, die Vernunft
aber ihrer Natur nach frei ist und keine Befehle etwas fĂĽr wahr
zu halten (kein crede^ sondern nur ein freies credo) annimmt. —
Daß aber eine solche Fakultät unerachtct dieses großen Vorzugs
(der Freiheit) dennoch die untere genannt wird, davon ist die
Ursache in der Natur des Menschen anzutreffen: daß nämlich der,
welcher befehlen kann, ob er gleich ein demĂĽtiger Diener eines
andern ist, sich doch vornehmer dĂĽnkt als ein anderer, der zwar
frei ist. aber niemanden zu befehlen hat.
I.
Vom Verhältnisse der Fakultäten.
Erster Abschnitt.
Begriff und Einteilung der oberen Fakultäten.
iVlan kann annehmen, daĂź alle kĂĽnsdiche Einrichtungen,
welche eine Vernunftidee (wie die von einer Regierung ist) zum
Grunde haben, die sich an einem Gegenstände der Erfahrung
(dergleichen das ganze gegenwärtige Feld der Gelehrsamkeit) prak-
tisch beweisen soll, nicht durch bloß zufällige Aufsammlung und
') Ein französischer Alinister berief einige der angesehensten Kauf-
leute zu sich und verlangte von ihnen Vorschläge, wie dem Handel
aufzuhelfen sei: gleich als ob er darunter die beste zu wählen verstände.
Nachdem einer dies, der andere das in Vorschlag gebracht hatte, sagte
ein alter Kaufmann, der so lange geschwiegen hatte: Schafft gute Wege,
schlagt gut Geld, gebt ein promptes Wechselrecht u. dgl. , ĂĽbrigens
aber ,,laC>t uns machen"! Dies wäre ungefähr die Antwort, welche
die philosophische Fakultät zu geben hätte, wenn die Regierung sie um
die Lehren befrĂĽge, die sie den Gelehrten ĂĽberhaupt vorzuschreiben
habe: den Fortschritt der Einsichten und Wissenschaften nur nicht 7.u
hindern.
De7' Streit der philosophischen Fakultät ??jit der theologischen ^ 3 1
willkürliche Zusammenstellung vorkommender Fälle, sondern nach
irgend einem in der Vernunh, wenn gleich nur dunkel, liegenden
Prinzip und darauf gegrĂĽndetem Plan versucht worden sind, der
eine gewisse Art der Einteilung notwendig macht.
Aus diesem Grunde kann man annehmen, daĂź die Organisation
einer Universität in Ansehung ihrer Klassen und Fakultäten nicht
so ganz vom Zufall abgehangen habe, sondern daĂź die Regierung,
ohne deshalb eben ihr frĂĽhe Weisheit und Gelehrsamkeit anzu-
dichten, schon durch ihr eignes gefĂĽhltes BedĂĽrfnis (vermittelst
gewisser Lehren aufs Volk zu wirken) a priori auf ein Prinzip
der Einteilung, was sonst empirischen Ursprungs zu sein scheint,
habe kommen können, das mit dem jetzt angenommenen glück-
lich zusammentrifft; wiewohl ich ihr darum, als ob sie fehlerfrei
sei, nicht das Wort reden will.
Nach der Vernunft (d. h. objektiv) wĂĽrden die Triebfedern,
welche die Regierung zu ihrem Zweck (auf das Volk EinfluĂź zu
haben) benutzen kann, in folgender Ordnung stehen: zuerst eines
jeden ewiges Wohl, dann das bĂĽrgerliche als Glied der Ge-
sellschaft, endlich das Leibeswohl (lange leben und gesund sein).
Durch die öffentlichen Lehren in Ansehung des ersten kann die
Regierung selbst auf das Innere der Gedanken und die ver-
schlossensten Willensmeinungen der Untertanen, jene zu entdecken,
diese zu lenken, den größten Einfluß haben; durch die, so sich
aufs zweite beziehen, ihr äußeres Verhalten unter dem Zügel
öflnsntlicher Gesetze halten; durch die dritte sich die Existenz
eines starken und zahlreichen Volks sichern, welches sie zu ihren
Absichten brauchbar findet. — — Nach der Vernunft würde
also wohl die gewöhnlich angenommene Rangordnung unter den
oberen Fakultäten stattfinden; nämlich zuerst die theologische,
darauf die der Juristen und zuletzt die medizinische Fakultät.
Nach dem Naturinstinkt hingegen wĂĽrde dem Menschen der
Arzt der wichtigste Mann sein, weil dieser ihm sein Leben fristet,
darauf allererst der Rechtserfahrne, der ihm das zufällige Seine
zu erhalten verspricht, und nur zuletzt (fast nur, wenn es zum
Sterben kommt), ob es zwar um die Seligkeit zu tun ist, der
Geistliche gesucht werden: weil auch dieser selbst, so sehr er
auch die GlĂĽckseligkeit der kĂĽnftigen Welt preiset, doch, da
er nichts von ihr vor sich sieht, sehnlich wĂĽnscht, von dem
Arzt in diesem Jammertal immer noch einige Zeit erhalten zu
werden.
3 3 i Der Streit der Fahultatnu Erster Ahschnttt
Alle drei obere Fakultäten gründen die ihnen von der Re-
gierung anvertraute Lehren aut Schritt, welches im Zustande
eines durch Gelehrsamkeit geleiteten Volks auch nicht anders sein
kann, weil ohne diese es keine beständige, für jedermann zugäng-
liche Norm, darnach es sich richten könnte, geben würde. Daß
eine solche Schritt (oder Buch) Statute, d, i. von der WillkĂĽr
eines Obern ausgehende (fĂĽr sich selbst nicht aus der Vernunft
entspringende) Lehren, enthalten mĂĽsse, versteht sich von selbst,
weil diese sonst nicht als von der Regierung sanktioniert schlechthin
Gehorsam fordern könnte,, und dieses gilt auch von dem Gesetz-
buchc selbst in Ansehung derjenigen öffentlich vorzutragenden
Lehren, die zugleich aus der Vernunft abgeleitet werden könnten,
auf deren Ansehen aber jenes keine RĂĽcksicht nimmt, sondern
den Befehl eines äußeren Gesetzgebers zum Grunde legt. — Von
dem Gesetzbuch, als dem Kanon, sind diejenigen BĂĽcher, welche
als (vermeintlich) vollständiger Auszug des Geistes des Gesetzbuchs
zum faĂźlichem Begriff und sicherern Gebrauch des gemeinen
Wesens (der Gelehrten und Ungelehrten) von den Fakultäten ab-
gefaßt werden, wie etwa die symbolischen Bücher, gänzlich
unterschieden. Sie können nur verlangen als Organ on, um den
Zugang zu jenem zu erleichtern, angesehen zu werden und haben
gar keine Auctorität; selbst dadurch nicht, daß sich etwa die vor-
nehmsten Gelehrten von einem gewissen Fache darĂĽber geeinigt
haben, ein solches Buch statt Norm für ihre Fakultät gelten zu
lassen, wozu sie gar nicht befugt sind, sondern sie einstweilen als
Lehrmethode einzuführen, die aber nach Zeitumständen veränderlich
bleibt und ĂĽberhaupt auch nur das Formale des Vortrags betreffen
kann, im Materialen der Gesetzgebung aber schlechterdings nichts
ausmacht.
Daher schöpft der biblische Theolog (als zur obcrn Fakultät
gehörig) seine Lehren nicht aus der Vernunft, sondern aus der
Bibel, der Rechtslehrer nicht aus dem Naturrecht, sondern aus
dem Landrecht, der Arzneigelehrte seine ins Publikum
gehende Heilmethode nicht aus der Physik des menschlichen
Körpers, sondern aus der Medizinalordnung. — Sobald eine
dieser Fakultäten etwas als aus der Vernunft Entlehntes einzu-
mischen wagt: so verletzt sie die Auctorität der durch sie gebieten-
den Regierung und kommt ins Gehege der philosophischen, die
ihr alle glänzende von jener geborgte Federn ohne Verschonen
abzieht und mit ihr nach dem FuĂź der Gleichheit und Freiheit
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 5 3
verfährt. — Daher müssen die obern Fakultäten am meisten dar-
auf bedacht sein, sich mit der unteren ja nicht in MiĂźheirat ein-
zulassen, sondern sie fein weit in ehrerbietiger Entfernung von
sich abzuhalten, damit das Ansehen ihrer Statute nicht durch die
freien VernĂĽnfteleien der letzteren Abbruch leide.
A.
Eigentümlichkeit der theologischen Fakultät.
DaĂź ein Gott sei, beweiset der biblische Theolog daraus, daĂź
er in der Bibel geredet hat, worin diese auch von seiner Natur
(selbst bis dahin, wo die Vernunft mit der Schrift nicht Schritt
halten kann, z. B. vom unerreichbaren Geheimnis seiner dreifachen
Persönlichkeit) spricht. Daß aber Gott selbst durch die Bibel
geredet habe, kann und darf, weil es eine Geschichtssache ist,
der biblische Theolog als ein solcher nicht beweisen; denn das
gehört zur philosophischen Fakultät. Er wird es also als Glaubens-
sache auf ein gewisses (freilich nicht erweisliches oder erklär-
liches) Gefühl der Göttlichkeit derselben selbst für den Gelehrten
gründen, die Frage aber wegen dieser Göttlichkeit (im buchstäb-
lichen Sinne genommen) des Ursprungs derselben im öffentlichen
Vortrage ans Volk gar nicht aufwerfen mĂĽssen: weil dieses sich
darauf als eine Sache der Gelehrsamkeit doch gar nicht versteht
und hiedurch nur in vorwitzige GrĂĽbeleien und Zweifel verwickelt
werden wĂĽrde; da man hingegen hierin weit sicherer auf das
Zutrauen rechnen kann, was das Volk in seine Lehrer setzt. —
Den SprĂĽchen der Schrift emen mit dem Ausdruck nicht genau
zusammentreffenden, sondern etwa moralischen Sinn unterzulegen,
kann er auch nicht befugt sein, und da es keinen von Gott
autorisierten menschlichen Schriftausleger gibt, muĂź der biblische
Theolog eher auf übernatürliche Eröffnung des Verständnisses
durch einen in alle Wahrheit leitenden Geist rechnen, als zugeben,
daß die Vernunft sich darin menge und ihre (aller höheren Auto-
rität ermangelnde) Auslegung geltend mache. — Endlich was die
Vollziehung der göttlichen Gebote an unserem Willen betrifft, so
muĂź der biblische Theolog ja nicht auf die Natur, d. i. das eigne
moralische Vermögen des Menschen (die Tugend), sondern auf
die Gnade (eine ĂĽbernatĂĽrliche, dennoch zugleich morahsche Ein-
5 ] 4 ^^''' ^^^^^^ ^^^'' Faktätäten. Erster Abschnitt
Wirkung) rechnen, deren aber der Mensch auch nicht anders, als
vermittelst eines inniglich das Herz umwandelnden Glaubens teil-
hattig werden, diesen Glauben selbst aber doch wiederum von der
Gnade erwarten kann. — Bemengt der biblische Theolog sich in
Ansehung irgendeines dieser Sätze mit der Vernunft, gesetzt daß
Jiesc auch mit der größten Aufrichtigkeit und dem größten Ernst
auf dasselbe Ziel hinstrebete, so ĂĽberspringt er (wie der Bruder
des ROMULUS) die Mauer des allein seligmachenden Kirchenglau-
bens und verläuft sich in das offene, freie Feld der eigenen Be-
urteilung und Philosophie, wo er, der geistlichen Regierung ent-
laufen, allen Gefahren der Anarchie ausgesetzt ist. — Man muß
aber wohl merken, daĂź ich hier vom reinen (puruSj putus) bibli-
schen Theologen rede, der von dem verschrieenen Freiheitsgeist
der Vernunft und Philosophie noch nicht angesteckt ist. Denn
sobald wir zwei Geschäfte von verschiedener Art vermengen und
ineinanderlaufen lassen, können wir uns von der Eigentümlichkeit
jedes einzelnen derselben keinen bestimmten Begriff machen.
B.
Eigentümlichkeit der Juristenfakultät.
Der schriftgelehrtc Jurist sucht die Gesetze der Sicherung
des Mein und Dein (wenn er, wie er soll, als Beamter der Re-
gierung verfährt) nicht in seiner Vernunft, sondern im öffentlich
gegebenen und höchsten Orts sanktionierten Gesetzbuch. Den
Beweis der Wahrheit und Rechtmäßigkeit derselben, ingleichen
die Verteidigung wider die dagegen gemachte Einwendung der
Vernunft kann man billigerweise von ihm nicht fordern. Denn
die Verordnungen machen allererst, daĂź etwas recht ist, und nun
nachzufragen, ob auch die Verordnungen selbst recht sein mögen,
muĂź von den Juristen als ungereimt geradezu abgewiesen werden.
Es wäre lächerlich, sich dem Gehorsam gegen einen äußern und
obersten Wil'en darum, weil dieser angeblich nicht mit der Ver-
nunft ĂĽbereinstimmt, entziehen zu wollen. Denn darin besteht
eben das Ansehen der Regierung, daĂź sie den Untertanen nicht
die Freiheit läßt, nach ihren eigenen Begriffen, sondern nach
Vorschrift der gesetzgebenden Gewalt ĂĽber Recht und Unrecht
zu urteilen.
Der Streit der philosophischen Fakultät 7Jiit der theologischen 3 3 5
In einem Stücke aber ist es mit der Juristenfakultät für die
Praxis doch besser bestellt als mit der theologischen: daß näm-
lich jene einen sichtbaren Ausleger der Gesetze hat, nämlich ent-
weder an einem Richter, oder in der Appellation von ihm an
einer Gesetzkommission und (in der höchsten) am Gesetzgeber
selbst, welches in Ansehung der auszulegenden SprĂĽche eines
heiligen Buchs der theologischen Fakultät nicht so gut wird.
Doch wird dieser Vorzug andererseits durch einen nicht geringeren
Nachteil aufgewogen, nämlich daß die weltlichen Gesetzbücher
der Veränderung unterworfen bleiben müssen, nachdem die Er-
fahrung mehr oder bessere Einsichten gewährt, dahingegen das
heilige Buch keine Veränderung (Verminderung oder Vermehrung)
statuiert und fĂĽr immer geschlossen zu sein behauptet. Auch
findet die Klage der Juristen, daĂź es beinah vergeblich sei, eine
genau bestimmte Norm der Rechtspflege (/«j certum) zu hoffen,
beim biblischen Theologen nicht statt. Denn dieser läßt sich
den Anspruch nicht nehmen, daĂź seine Dogmatik nicht eine
solche klare und auf alle Fälle bestimmte Norm enthalte. Wenn
ĂĽberdem die juristischen Praktiker (Advokaten oder Justizkom-
missarien), die dem Klienten schlecht geraten und ihn dadurch
in Schaden versetzt habeh, darĂĽber doch nicht verantwortĂĽch
sein wollen (ob consilium nemo tenetur), so nehmen es doch die
theologischen Geschäftsmänner (Prediger und Seelsorger) ohne
Bedenken auf sich und stehen dafür, nämlich dem Tone nach,
daĂź alles so auch in der kĂĽnftigen W^elt werde abgeurteilt wer-
den, als sie es in dieser abgeschlossen haben; obgleich, wenn sie
aufgefordert würden, sich förmlich zu erklären, ob sie für die
Wahrheit alles dessen, was sie auf biblische Autorität geglaubet
wissen wollen, mit ihrer Seele Gewähr zu leisten sich getraueten,
sie wahrscheirilicherweise sich entschuldigen wĂĽrden. Gleichwohl
liegt es doch in der Natur der Grundsätze dieser Volksichrer, die
Richtigkeit ihrer Versicherung keinesweges bezweifeln zu lassen,
welches sie freiüch um desto sicherer tun können, weil sie in
diesem Leben keine Widerlegung derselben durch Erfahrung be-
fĂĽrchten dĂĽrfen.
3 3 ^ Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
C.
EigentüraJichkeit der medizinischen Fakultät.
Der Arzt ist ein KĂĽnstler, der doch, weil seine Kunst von
der Natur unmittelbar entlehnt und um deswillen von einer
Wissenschaft der Natur abgeleitet werden muĂź, als Gelehrter
irgendeiner Fakultät untergeordnet ist, bei der er seine Schule
gemacht haben und deren Beurteilung er unterworfen bleiben
muß. — Weil aber die Regierung an der Art, wie er die Ge-
sundheit des Volks behandelt, notwendig groĂźes Interesse nimmt:
so ist sie berechtigt, durch eine Versammlung ausgewählter Ge-
schäftsleute dieser Fakultät (praktischer Arzte) über das öffent-
liche Verfahren der Ärzte durch ein Obersanitätskollegium
und Medizinalverordnungen Aufsicht zu haben. Die letzteren aber
bestehen wegen der besondern Beschaffenheit dieser Fakultät, daß
sie nämlich ihre Verhaltungsregeln nicht, wie die vorigen zwei
obern, von Befehlen eines Oberen, sondern aus der Natur der
Dinge selbst hernehmen muß — weshalb ihre Lehren auch ur-
sprünglich der philosophischen Fakultät, im weitesten Verstände
genommen, angehören müßten — , nicht sowohl in dem, was
die Arzte tun, als was sie unterlassen sollen: nämlich erstlich,
daĂź es fĂĽrs Publikum ĂĽberhaupt Arzte, zweitens, daĂź es keine
Afterärzte gebe (kein ius impune occidendi nach dem Grundsatz:
jiat experimentum in corpore vili). Da nun die Regierung nach
dem ersten Prinzip für die öffentliche Bequemlichkeit, nach
dem zweiten für die öffentliche Sicherheit (in der Gesund-
heitsangelegenheit des Volks) sorgt, diese zwei StĂĽcke aber eine
Polizei ausmachen, so wird alle Medizinalordnung eigendich nur
die medizinische Polizei betreffen.
Diese Fakultät ist also viel freier als die beiden ersten unter
den obern und der philosophischen sehr nahe verwandt; ja was
die Lehren derselben betrifft, wodurch Arzte gebildet werden,
gänzlich frei, weil es für sie keine durch höchste Autorität sank-
tionierte, sondern nur aus der Natur geschöpfte Bücher geben
kann, auch keine eigentlichen Gesetze (wenn man darunter den
unveränderlichen Willen des Gesetzgebers versteht), sondern nur
Verordnungen (Edikte), welche zu kennen nicht Gelehrsamkeit
ist, als zu der ein systematischer Inbegriff von Lehren erfordert
wird, den zwar die Fakultät besitzt, welchen aber (als in keinem
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 1 3 7
G-esetzbuch enthalten) die Regierung zu sanktionieren nicht Be-
fugnis hat, sondern jener ĂĽberlassen muĂź, indessen sie durch
Dispensatorien und Lazarettanstalten den Geschäftsleuten derselben
ihre Praxis im öffentlichen Gebrauch nur zu befördern bedacht
ist. — Diese Geschäftsmänner (die Arzte) aber bleiben in Fällen,
welche, als die medizinische Polizei betreffend, die Regierung inter-
essieren, dem Urteile ihrer Fakultät unterworfen.
Zweiter Abschnitt.
Begriff und Einteilung der untern Fakultät.
Man kann die untere Fakultät diejenige Klasse der Universität
nennen, die oder sofern sie sich nur mit Lehren beschäftigt,
welche nicht auf den Befehl eines Oberen zur Richtschnur an-
genommen werden. Nun kann es zwar geschehen, daĂź man eine
praktische Lehre aus Gehorsam befolgt; sie aber darum, weil es
befohlen ist (de par le Roi), fĂĽr wahr anzunehmen, ist nicht allein
objektiv (als ein Urteil, das nicht sein sollte), sondern auch sub-
jektiv (als ein solches, welches kein Mensch fällen kann) schlech-
terdings unmöglich. Denn der irren will, wie er sagt, irrt wirk-
lich nicht und nimmt das falsche Urteil nicht in der Tat fĂĽr
wahr an, sondern gibt nur ein Fürwahrhalten fälschlich vor, das
in ihm doch nicht anzutreffen ist. — Wenn also von der Wahr-
heit gewisser Lehren, die in öffentlichen Vortrag gebracht werden
sollen, die Rede ist, so kann sich der Lehrer desfalls nicht auf
höchsten Befehl berufen, noch der Lehrling vorgeben, sie auf Be-
fehl geglaubt zu haben, sondern nur, wenn vom Tun geredet
wird. Alsdenn aber muĂź er doch, daĂź ein solcher Befehl wirk-
lich ergangen, imgleichen daĂź er ihm zu gehorchen verpflichtet
oder wenigstens befugt sei, durch ein freies Urteil erkennen,
widrigenfalls seine Annahme ein leeres Vorgeben und Lüge ist. —
Nun nennt man das Vermögen, nach der Autonomie, d. 1. frei
(Prinzipien des Denkens überhaupt gemäß), zu urteilen, die Ver-
nunft. Also wird die philosophische Fakultät darum, weil sie für
die Wahrheit der Lehren, die sie aufnehmen oder auch nur em-
räumcn soll, stehen muß, insofern als frei und nur unter der
Gesetzgebung der Vernunft, nicht der der Regierung stehend ge-
dacht werden mĂĽssen.
Kants Schriften. Bd. VII. --'
3 3 8 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
Auf einer Universität muß aber auch ein solches Departement
gestiftet, d. i. es muß eine philosophische Fakultät sein. In An-
sehung der drei obern dient sie dazu, sie zu kontrollieren und
ihnen eben dadurch nĂĽtzlich zu werden, weil auf Wahrheit (der
wesentlichen und ersten Bedingung der Gelehrsamkeit ĂĽberhaupt)
alles ankommt; die NĂĽtzlichkeit aber, welche die oberen Fakul-
täten zum Behuf der Regierung versprechen, nur ein Moment
vom zweiten Range ist. — Auch kann man allenfalls der theo-
logischen Fakultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische
ihre Magd sei, einräumen (wobei doch noch immer die Frage
bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder
die Schleppe nachträgt), wenn man sie nur nicht verjagt oder
ihr den Mund zubindet; denn eben diese Anspruchlosigkeit, bloĂź
frei zu sein, aber auch frei zu lassen, bloĂź die Wahrheit zum
Vorteil jeder Wissenschaft auszumitteln und sie zum beliebigen
Gebrauch der oberen Fakultäten hinzustellen, muß sie der Regie-
rung selbst als unverdächtig, ja als unentbehrlich empfehlen.
Die philosophische Fakultät enthält nun zwei Departemente,
das eine der historischen Erkenntnis (wozu Geschichte, Erd-
beschreibung, gelehrte Sprachkenntnis, Flumanistik mit allem ge-
hört, was die Naturkunde von empirischem Erkenntnis darbietet),
das andere der reinen Vernunfterkenntnisse (reinen Mathe-
matik und der reinen Philosophie, Metaphysik der Natur und der
Sitten) und beide Teile der Gelehrsamkeit in ihrer wechselseitigen
Beziehung aufeinander. Sie erstreckt sich eben darum auf alle
Teile des menschlichen Wissens (mithin auch historisch ĂĽber die
obern Fakultäten), nur daß sie nicht alle (nämlich die eigentüm-
lichen Lehren oder Gebote der obern) zum Inhalte, sondern zum
Gegenstande ihrer PrĂĽfung und Kritik in Absicht auf den Vorteil
der Wissenschaften macht.
Die philosophische Fakultät kann also alle Lehren in Anspruch
nehmen, um ihre Wahrheit der PrĂĽfung zu unterwerfen. Sie kann
von der Regierung, ohne daĂź diese ihrer eigentlichen, wesent-
lichen Absicht zuwider handle, nicht mit einem Interdikt belegt
werden, und die obern Fakultäten müssen sich ihre Einwürfe und
Zweifel, die sie öffentlich vorbringt, gefallen lassen, welches jene
zwar allerdings lästig finden dürften, weil sie ohne solche Kritiker
in ihrem, unter welchem Titel es auch sei, einmal innehabenden
Besitz ungestört ruhen und dabei noch despotisch hätten befehlen
können. — Nur den Geschäftsieuten jener oberen Fakultäten (den
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 5 5 9
Geistlichen, Rechtsbeamten und Ă„rzten) kann es allerdings ver-
wehrt werden, daĂź sie den ihnen in FĂĽhrung ihres respektiven
Amts von der Regierung zum Vortrage anvertrauten Lehren nicht
öffentlich widersprechen und den Philosophen zu spielen sich er-
kühnen; denn das kann nur den Fakultäten, nicht den von der
Regierung bestellten Beamten erlaubt sein: weil diese ihr Wissen
nur von jenen her haben. Die letztern nämlich, z. B. Prediger
und Rechtsbeamte, wenn sie ihre Einwendungen und Zweifel
gegen die geistliche oder weltliche Gesetzgebung ans Volk zu
richten sich gelĂĽsten lieĂźen, woirden es dadurch gegen die Re-
gierung aufwiegeln; dagegen die Fakultäten sie nur gegeneinander,
als Gelehrte, richten, wovon das Volk praktischerweise keine Notiz
nimmt, selbst wenn sie auch zu seiner Kenntnis gelangen, weil
es sich selbst bescheidet, daĂź VernĂĽnfteln nicht seine Sache sei,
und sich daher verbunden fĂĽhlt, sich nur an dem zu halten, was
ihm durch die dazu bestellte Beamte der Regierung verkĂĽndigt
wird. — Diese Freiheit aber, die der untern Fakultät nicht ge-
schmälert werden darf, hat den Erfolg, daß die obern Fakultäten
(selbst besser belehrt) die Beamte immer mehr in das Gleis
der Wahrheit bringen, welche dann ihrerseits, auch ĂĽber ihre
Pflicht besser aufgeklärt, in der Abänderung des Vortrags keinen
Anstoß finden werden; da er nur ein besseres Verständnis der
Mittel zu ebendemselben Zweck ist, welches ohne polemische und
nur Unruhe erregende Angriffe auf bisher bestandene Lehrweisen
mit völliger Beibehaltung des Matcrialen derselben gar wohl ge-
schehen kann.
Dritter Abschnitt.
Vom gesetzwidrigen Streit der oberen Fakultäten
mit der unteren.
Gesetzwidrig ist ein öffentUcher Streit der Meinungen, mit-
hin ein gelehrter Streit entweder der Materie wegen, wenn es
gar nicht erlaubt wäre, über einen öffentlichen Satz zu streiten,
weil es gar nicht erlaubt ist, ĂĽber ihn und seinen Gegensatz
öffentlich zu urteilen; oder bloß der Form wegen, wenn die
Art, wie er gefĂĽhrt wird, nicht in objektiven GrĂĽnden, die auf-
die Vernunft des Gegners gerichtet sind, sondern in subjektiven.
340 Der Streit der Fakultatetj, Erster Abschnitt
sein Urteil durch Neigung bestimmenden Bewegursachen besteht,
um ihn durch List, (wozu auch Bestechung gehört) oder Gewalt
(Drohung) zur Einwilligung zu bringen.
Nun wird der Streit der Fakultäten um den Einfluß aufs
Volk geführt, und diesen Einfluß können sie nur bekommen,
sofern jede derselben das Volk glauben machen kann, daĂź sie
das Heil desselben am besten zu befördern verstehe, dabei aber
doch in der Art, wie sie dieses auszurichten gedenken, einander
gerade entgegengesetzt sind.
Das Volk aber setzt sein Heil zu oberst nicht in der Frei-
heit, sondern in seinen natĂĽrlichen Zwecken, also in diesen drei
StĂĽcken: nach dem Tode selig, im Leben unter andern Mit-
menschen ^ts Seinen durch öffentliche Gesetze gesichert, endlich
des physischen Genusses des Lebens an sich selbst (d. i. der
Gesundheit und langen Lebens) gewärtig zu sein.
Die philosophische Fakultät aber, die sich auf alle diese Wünsche
nur durch Vorschriften, die sie aus der Vernunft entlehnt, ein-
lassen kann, mithin dem Prinzip der Freiheit anhänglich ist, hält
sich nur an das, was der Mensch selbst hinzutun kann und soll:
rechtschaffen zu leben, keinem Unrecht zu tun, sich mäßig
im GenĂĽsse und duldend in Krankheiten und dabei vornehmlich
auf die SelbsthĂĽlfe der Natur rechnend zu verhalten; zu welchem
allem es freilich nicht eben groĂźer Gelehrsamkeit bedarf, wobei
man dieser aber auch größtenteils entbehren kann, wenn man nur
seine Neigungen bändigen und seiner Vernunft das Regiment an-
vertrauen wollte, was aber als SelbstbemĂĽhung dem Volk gar nicht
gelegen ist.
Die drei obern Fakultäten werden nun vom Volk (das in
obigen Lehren fĂĽr seine Neigung zu genieĂźen und Abneigung
sich darum zu bearbeiten schlechten Ernst findet) aufgefordert,
ihrerseits Propositionen zu tun, die annehmlicher sind: und da
lauten die AnsprĂĽche an die Gelehrten, wie folgt: Was ihr Philo-
sophen da schwatzet, wußte ich längst von selbst; ich will aber
von euch als Gelehrten wissen: wie, wenn ich auch ruchlos ge-
lebt hätte, ich dennoch kurz vor dem Torschlüsse mir ein
EinlaĂźbillett ins Himmelreich verschafl'en, wie, wenn ich auch
unrecht habe, ich doch meinen ProzeĂź gewinnen, und wie,
wenn ich auch meine körperlichen Kräfte nach Herzenslust benutzt
und mißbraucht hätte, ich doch gesund bleiben und lange leben
könne. Dafür habt ihr ja studiert, daß ihr mehr wissen müßt
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 4 1
als unsereiner (von euch Idioten genannt), der auf nichts weiter
als auf gesunden Verstand Anspruch macht. — Es ist aber hier,
als ob das Volk zu dem Gelehrten wie zum Wahrsager und Zau-
berer ginge, der mit ĂĽbernatĂĽrlichen Dingen Bescheid weiĂź; denn
der Ungelehrte macht sich von einem Gelehrten, dem er etwas
zun^utet, gern ĂĽbergroĂźe Begriffe. Daher ist es natĂĽrlicherweise
vorauszusehen, daĂź, wenn sich jemand fĂĽr einen solchen Wunder-
mann auszugeben nur dreust genug ist, ihm das Volk zufallen
und die Seite der philosophischen Fakultät mit Verachtung ver-
lassen werde.
Die Geschäftsleute der drei oberen Fakultäten sind aber jeder-
zeit solche Wundermänner, wenn der philosophischen nicht erlaubt
wird, ihnen öffentlich entgegenzuarbeiten, nicht um ihre Lehren
zu stĂĽrzen, sondern nur der magischen Kraft, die ihnen und den
damit verbundenen Observanzen das Publikum abergläubisch bei-
legt, zu widersprechen, als wenn sie bei einer passiven Ăśbergebung
an solche kunstreiche FĂĽhrer sich alles Selbsttuns ĂĽberhoben und mit
großer Gemächlichkeit durch sie zu Erreichung jener angelegenen
Zwecke schon werde geleitet werden.
Wenn die obern Fakultäten solche Grundsätze annehmen
(welches freilich ihre Bestimmung nicht ist), so sind und bleiben
sie ewig im Streit mit der unteren; dieser Streit aber ist auch
gesetzwidrig, weil sie die Ăśbertretung der Gesetze nicht allein
als kein Fiindernis, sondern wohl gar als erwĂĽnschte Veranlassung
ansehen, ihre groĂźe Kunst und GeschickĂĽchkeit zu zeigen, alles
wieder gut, ja noch besser zu machen, als es ohne dieselbe ge-
schehen wĂĽrde.
Das Volk will geleitet, d. i. (in der Sprache der Demagogen)
es will betrogen sein. Es will aber nicht von den Fakultäts-
gelehrten (denn deren Weisheit ist ihm zu hoch), sondern von
den Geschäftsmännern derselben, die das Machwerk {javoir fa'tre)
verstehen, von den Geistlichen, Justizbeamten, Ă„rzten, geleitet sein,
die als Praktiker die vorteilhafteste Vermutung fĂĽr sich haben;
dadurch dann die Regierung, die nur durch sie aufs Volk wirken
kann, selbst verleitet wird, den Fakultäten eine Theorie auf-
zudringen, die nicht aus der reinen Einsicht der Gelehrten der-
selben entsprungen, sondern auf den EinfluĂź berechnet ist, den ihre
Geschäftsmänner dadurch aufs Volk haben können, weil dieses
natürlicherweise dem am meisten anhängt, wobei es am wenigsten
nötig hat, sich selbst zu bemühen und sich seiner eigenen Vernunft
3 4 1 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
zu bedienen, und wo am besten die Pflichten mit den Neigungen
in Verträglichkeit gebracht werden können; z. B. im theologischen
Fache, daß buchstäblich „Glauben", ohne zu untersuchen (selbst
ohne einmal recht zu verstehen), was geglaubt werden soll, fĂĽr
sich heilbringend sei, und daĂź durch Begehung gewisser vorschrift-
mäßigen Formalien unmittelbar Verbrechen können abgewaschen
werden; oder im juristischen, daĂź die Befolgung des Gesetzes nach
den Buchstaben der Untersuchung des Sinnes des Gesetzgebers
ĂĽberhebe.
Hier ist nun ein wesentlicher, nie beizulegender gesetzwidriger
Streit zwischen den obcrn und der untern Fakultät, weil das Prinzip
der Gesetzgebung fĂĽr die erstere, welches man der Regierung
unterlegt, eine von ihr autorisierte Gesetzlosigkeit selbst sein würde. —
Denn da Neigung und ĂĽberhaupt das, was jemand seiner Privat-
absicht zuträglich findet, sich schlechterdings nicht zu einem Ge-
setze qualifiziert, mithin auch nicht als ein solches von den obern
Fakultäten vorgetragen werden kann, so würde eine Regierung,
welche dergleichen sanktionierte, indem sie wider die Vernunk
selbst verstößt, jene obere Fakultäten mit der philosophischen in
einen Streit versetzen, der gar nicht geduldet werden kann, indem
er diese gänzlich vernichtet, welches freilich das kürzeste, aber auch
(nach dem Ausdruck der Ă„rzte) ein in Todesgefahr bringendes
heroisches Mittel ist, einen Streit zu Ende zu bringen.
Vierter Abschnitt.
Vom gesetzmäßigen Streit der oberen Fakultäten mit der
unteren.
Welcherlei Inhalts auch die Lehren immer sein mögen, deren
öffentlichen Vortrag die Regierung durch ihre Sanktion den obern
Fakultäten aufzulegen befugt sein mag, so können sie doch nur
als Statute, die von ihrer WillkĂĽr ausgehen, und als menschliche
Weisheit, die nicht unfehlbar ist, angenommen und verehrt werden.
Weil indessen die Wahrheit derselben ihr durchaus nicht gleich-
gĂĽltig sein darf, in Ansehung welcher sie der Vernunft (deren
Interesse die philosophische Fakultät zu besorgen hat) unterworfen
bleiben müssen, dieses aber nur durch Verstattung völliger Freiheit
einer öflentlichcn Prüfung derselben möglich ist, so wird, weil
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 4 3
willkürliche, obzwar höchsten Orts sanktionierte, Satzungen mit
den durch die Vernunft als notwendig behaupteten Lehren nicht
so von selbst immer zusammenstimmen dĂĽrften, erstlich zwischen den
obern Fakultäten und der untern der Streit unvermeidlich, zweitens
aber auch gesetzmäßig sein, und dieses nicht bloß als Betugnis,
sondern auch als Pflicht der letzteren, wenngleich nicht die ganze
Wahrheit öffentlich zu sagen, doch darauf bedacht zu sein, daß
alles, was, so gesagt, als Grundsatz aufgestellt wird, wahr sei.
Wenn die Quelle gewisser sanktionierter Lehren historisch ist,
so mögen diese auch noch so sehr als heilig dem unbedenklichen
Gehorsam des Glaubens anempfohlen werden; die philosophische
Fakultät ist berechtigt, ja verbunden, diesem Ursprünge mit kritischer
Bedenklichkeit nachzuspĂĽren. Ist sie rational, ob sie gleich im
Tone einer historischen Erkenntnis (als Offenbarung) aufgestellt
worden, so kann ihr (der untern Fakultät) nicht gewehrt werden,
die VernimftgrĂĽnde der Gesetzgebung aus dem historischen Vor-
trage herauszusuchen und ĂĽberdem, ob sie technisch- oder moralisch-
praktisch sind, zu würdigen. Wäre endlich der Quell der sich als
Gesetz ankündigenden Lehre gar nur ästhetisch, d. i. auf ein
mit einer Lehre verbundenes GefĂĽhl gegrĂĽndet (welches, da es
kein objektives Prinzip abgibt, nur als subjektiv gĂĽltig, ein all-
gemeines Gesetz daraus zu machen untauglich, etwa frommes Ge-
fĂĽhl eines ĂĽbernatĂĽrlichen Einflusses sein wĂĽrde), so muĂź es der
philosophischen Fakultät frei stehen, den Ursprung und Gehalt eines
solchen angeblichen Belehrungsgrundes mit kalter Vernunft öffent-
lich zu prĂĽfen und zu wĂĽrdigen, ungeschreckt durch die Heiligkeit
des Gegenstandes, den man zu fĂĽhlen vorgibt und entschlossen,
dieses vermeinte Gefühl auf BegriflF zu bringen. — Folgendes ent-
hält die formale Grundsätze der Führung eines solchen Streits und
die sich daraus ergebende Folgen.
i) Dieser Streit kann und soll nicht durch friedliche Ăśber-
einkunft (amicabilis compositid) beigelegt werden, sondern bedarf
(als Prozeß) einer Sentenz, d. i. des rechtskräftigen Spruchs eines
Richters (der Vernunft); denn es könnte nur durch Unlauterkeit,
Verheimhchung der Ursachen des Zwistes und Beredung geschehen,
daĂź er beigelegt wĂĽrde, dergleichen Maxime aber dem Geiste einer
philosophischen Fakultät, als der auf öflfentliche Darstellung der
Wahrheit geht, ganz zuwider ist.
2) Er kann nie aufhören, und die philosophische Fakultät ist
diejenige, die dazu jederzeit gerĂĽstet sein muĂź. Denn statutarische
344 I^^^ Streit der Fakultäten. Fr st er Ah schnitt
Vorschrihcn der Regierung in Ansehung der öffentlich vorzu-
tragenden Lehren werden immer sein müssen, weil die unbeschränkte
Freiheit, alle seine Kleinungen ins Publikum zu schreien, teils der
Regierung, teils aber auch diesem Publikum selbst gefährlich werden
mĂĽĂźte. Alle Satzungen der Regierung aber, weil sie von Men-
schen ausgehen, wenigstens von diesen sanktioniert werden, bleiben
jederzeit der Gefahr des Irrtums oder der Zweckwidrigkeit unter-
worfen; mithin sind sie es auch in Ansehung der Sanktionen der
Regierung, womit diese die obere Fakultäten versieht. Folglich
kann die philosophische Fakultät ihre Rüstung gegen die Gefahr,
womit die Wahrheit, deren Schutz ihr aufgetragen ist, bedrohet
wird, nie ablegen, weil die obere Fakultäten ihre Begierde zu
herrschen nie abfegen werden.
3) Dieser Streit kann dem Ansehen der Regierung nie Abbruch
tun. Denn er ist nicht ein Streit der Fakultäten mit der Regie-
rung, sondern einer Fakultät mit der andern, dem die Regierung ruhig
zusehen kann; weil, ob sie zwar gewisse Sätze der obern in ihren
besondern Schutz genommen hat, sofern sie solche der letzteren
ihren Geschäftsleuten zum öffentlichen Vortrage vorschreibt, so hat
sie doch nicht die Fakultäten, als gelehrte Gesellschaften, wegen
der Wahrheit dieser ihrer öffentlich vorzutragenden Lehren, Mei-
nungen und Behauptungen, sondern nur wegen ihres (der Regie-
rung) eigenen Vorteils in Schutz genommen, weil es ihrer WĂĽrde
nicht gemäl3 sein würde, über den Innern Wahrheitsgehalt der-
selben zu entscheiden und so selbst den Gelehrten zu spielen. —
Die obere Fakultäten sind nämlich der Regierung für nichts weiter
verantworthch, als fĂĽr die Instruktion und Belehrung, die sie
ihren Geschäftsleuten zum öffentlichen Vortrage geben; denn
die laufen ins Publikum als bĂĽrgerliches gem.eines Wesen und
sind daher, weil sie dem EinfluĂź der Regierung auf dieses Ab-
bruch tun könnten, dieser ihrer Sanktion unterworfen. Dagegen
gehen die Lehren und Meinungen, welche die Fakultäten unter
dem Namen der Theoretiker untereinander abzumachen haben, in
eine andere Art von Publikum, nämlich in das eines gelehrten
gemeinen Wesens, welches sich mit Wissenschaften beschäftigt;
wovon das Volk sich selbst bescheidet, daĂź es nichts davon ver-
steht, die Regierung aber mit gelehrten Händeln sich zu befassen
für sich nicht anständig findet'). Die Klasse der obern Fakultäten
'; Dagegen, wenn der Streit vor dem bĂĽrgerlichen gemeinen Wesen
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 4 5
(als die rechte Seite des Parlaments der Gelahrtheit) verteidigt die
Statute der Regierung, indessen daĂź es in einer so freien Verfassung,
als die sein muĂź, wo es um Wahrheit zu tun ist, auch eine
Oppositionspartei (die linke Seite) geben muĂź, welche die Bank
der philosophischen Fakult'ät ist, weil ohne deren strenge Prüfung
und EinwĂĽrfe die Regierung von dem, was ihr selbst ersprieĂźlich
oder nachteilig sein dĂĽrfte, nicht hinreichend belehrt werden
würde. — Wenn aber die Geschäftsleute der Fakultäten in An-
sehung der für den öffentlichen Vortrag gegebenen Verordnung
fĂĽr ihren Kopf Ă„nderungen machen wollten, so kann die Aufsicht
der Regierung diese als Neuerer, welche ihr gefährlich werden
könnten, in Anspruch nehm.en und doch gleichwohl über sie nicht
unmittelbar, sondern nur nach dem von der obern Fakultät ein-
gezogenen alleruntertänigsten Gutachten absprechen, weil diese Ge-
schäftsleute nur durch die Fakultät von der Regierung zu dem
Vortrage gewisser Lehren haben angewiesen werden können.
4) Dieser Streit kann sehr wohl mit der Eintracht des gelehrten
und bĂĽrgerlichen gemeinen Wesens in Maximen zusammen bestehen,
deren Befolgung einen beständigen Fortschritt beider Klassen von
Fakultäten zu größerer Vollkommenheit bewirken muß und endlich
(öffentlich, z. B. auf Kanzeln) geführt würde, wie es die Geschäftsleute
(unter dem Namen der Ptaktiker) gern versuchen, so wird er unbefugter-
weise fĂĽr den Richterstuhl des Volks (dem in Sachen der Gelehrsam-
keit gar kein Urteil zusteht) gezogen und hört auf, ein gelehrter Streit
zu sein; da dann jener Zustand des gesetzwidrigen Streits, wovon oben
Erwähnung geschehen, eintritt, wo Lehren den Neigungen des Volks
angemessen vorgetragen werden und der Same des Aufruhrs und der
Faktionen ausgestreut, die Regierung aber dadurch in Gefahr gebracht
wird. Diese eigenmächtig sich selbst dazu aufwerfende Volkstribunen
treten sofern aus dem Gelehrtenstande, greifen in die Rechte der
bürgerlichen Verfassung (Welthändel) ein und sind eigentlich die Neo-
logen, deren mit Recht verhaĂźter Name aber sehr miĂźverstanden
wird, wenn er jede Urheber einer Neuigkeit in Lehren und Lehrformen
trifft. (Denn warum sollte das Alte eben immer das Bessere sein?)
Dagegen diejenige eigentlich damit gebrandmarkt zu werden verdienen,
welche eine ganz andere Regierungsform, oder vielmehr eine Regierungs-
losigkeit (Anarchie) einfĂĽhren, indem sie das, was eine Sache der Ge-
lehrsamkeit ist, der Stimme des Volks zur Entscheidung ĂĽbergeben, dessen
Urteil sie durch EinfluĂź auf seine Gewohnheiten, GefĂĽhle und Nei-
gungen nach Belieben lenken und so einer gesetzmäßigen Regierung
den Einfluß abgewinnen können.
34<$ I^^r Streit der Fakultäten. Erster Abschfiitt
zur Entlassung von allen Einschränkungen der Freiheit des öffent-
lichen Urteils durch die WillkĂĽr der Regierung vorbereitet.
Auf diese Weise könnte es wohl dereinst dahin kommen, daß
die Letzten die Ersten (die untere Fakultät die obere) v^^ürden,
zwar nicht in der Machthabung, aber doch in Beratung des Macht-
habenden (der Regierung), als welche in der Freiheit der philo-
sophischen Fakultät und der ihr daraus erwachsenden Einsicht
besser als in ihrer eigenen absoluten Autorität Mittel zu Erreichung
ihrer Zwecke antrefi"en wĂĽrde.
Resultat.
Dieser Antagonism, d. i. Streit zweier miteinander zu einem
gemeinschaftlichen Endzweck vereinigten Parteien, (jcoticordia discors,
(iiscordia Concors) ist also kein Krieg, d. i. keine Zwietracht aus
der Entgegensetzung der Endabsichten in Ansehung des gelehrten
Mein und Dein, welches so wie das politische aus Freiheit
und Eigentum besteht, wo jene als Bedingung notwendig vor
diesem vorhergehen muß; folglich den oberen Fakultäten kein Recht
verstattet werden kann, ohne daĂź es der unteren zugleich erlaubt
bleibe, ihre Bedenkiichkeit ĂĽber dasselbe an das gelehrte Publikum
zu bringen.
Anhang
einer Erläuterung des Streits der Fakultäten durch das
Beispiel desjenigen zwischen der theologischen und philo-
sophischen.
I.
Materie des Streits.
Der biblische Theolog ist eigentlich der Schriftgelehrte fĂĽr
den Kirchenglauben, der auF Statuten, d. i. auf Gesetzen beruht,
die aus der WillkĂĽr eines andern ausflieĂźen; dagegen ist der ratio-
nale der Vernunt"tgelehr te fĂĽr den Religionsglauben, folglich
denjenigen, der auf- inneren Gesetzen beruht, die sich aus jedes
Menschen eigener Vernunft entwickeln lassen. DaĂź dieses so
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 4 7
sei, d. i. daĂź Religion nie auf Satzungen (so hohen Ursprungs
sie immer sein mögen) gegründet werden könne, erhellet selbst
aus dem Begriffe der Religion. Nicht der Inbegriff gewisser
Lehren als göttlicher Offenbarungen (denn der heißt Theologie),
sondern der aller unserer Pflichten überhaupt als göttlicher Gebote
(und subjektiv der Maxime sie als solche zu befolgen) ist Religion.
Religion unterscheidet sich nicht der Materie, d. i. dem Objekt
nach in irgendeinem StĂĽcke von der Moral, denn sie geht auf
Pflichten ĂĽberhaupt, sondern ihr Unterschied von dieser ist bloĂź
formal, d. i. eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral durch
die aus dieser selbst erzeugte Idee von Gott auf den menschlichen
Willen zu ErfĂĽllung aller seiner Pflichten EinfluĂź zu geben.
Darum ist sie aber auch nur eine einzige, und es gibt nicht ver-
schiedene Religionen, aber wohl verschiedene Glaubensarten an
göttliche Offenbarung und deren statutarische Lehren, die nicht
aus der Vernunft entspringen können, d. i. verschiedene Formen
der sinnlichen Vorstellungsart des göttlichen Willens, um ihm Ein-
fluĂź auf die GemĂĽter zu verschaffen, unter denen das Christentum,
soviel wir wissen, die schicklichste Form ist. Dies findet sich
nun in der Bibel aus zwei ungleichartigen StĂĽcken zusammengesetzt,
dem einen, welches den Kanon, dem andern, was das Organon
oder Vehikel der Religionen enthält, wovon der erste der reine
Religionsglaube (ohne Statuten auf bloĂźer Vernunft gegrĂĽndet),
der andere der Kirchenglaube, der ganz auf Statuten beruht,
genannt w^erden kann, die einer Offenbarung bedurften, wenn sie
für heilige Lehre und Lebensvorschriften gelten sollten. — Da
aber auch dieses Leitzeug zu jenem Zweck zu gebrauchen Pflicht
ist, wenn es für göttliche Offenbarung angenommen werden darf,
so läßt sich daraus erklären, warum der sich auf Schrift gründende
Kirchenglaube bei Nennung des Religionsglaubens gemeiniglich mit
verstanden wird.
Der biblische Theolog sagt: suchet in der Schrift, wo ihr meinet
das ewige Leben zu finden. Dieses aber, weil die Bedingung des-
selben keine andere als die moralische Besserung des Menschen
ist, kann kein Mensch in irgendeiner Schrift finden, als wenn er
sie hineinlegt, weil die dazu erforderlichen Begriffe und Grund-
sätze eigentlich nicht von irgendeinem andern gelernt, sondern nur
bei Veranlassung eines Vortrages aus der eigenen Vernunft des
Lehrers entwickelt werden müssen. Die Schrift aber enthält noch
mehr, als was an sich selbst zum ewigen Leben erforderlich ist.
3^8 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
was nämlich zum Gcschichtsglauben gehört und in Ansehung des
Rcligionsglaubcns als bloĂźes sinnliches Vehikel zwar (fĂĽr diese
oder jene Person, für dieses oder jenes Zeitalter) zuträglich sein
kann, aber nicht notwendig dazu gehöret. Die biblisch-theologische
Fakultät dringt nun darauf als göttliche Offenbarung in gleichem
^laße, als wenn der Glaube desselben zur Religion gehörte. Die
philosophische aber widerstreitet jener in Ansehung dieser Vermen-
gung und dessen, was jene ĂĽber die eigentliche Religion Wahres
in sich enthält.
Zu diesem Vehikel (d. i. dem, was ĂĽber die Religionslehrc
noch hinzukommt) gehört auch noch die Lehrmethode, die man
als den Aposteln selbst überlassen und nicht als göttliche Offen-
barung betrachten darf, sondern beziehungsweise auf die Denkungs-
art der damaligen Zeiten (y.ax dvöpcoTrov) und nicht als Lehrstücke
an sich selbst (xax' aXr^öe lav) geltend annehmen kann, und zwar
entweder negativ als bloĂźe Zulassung gewisser damals herrschender,
an sich irriger Meinungen, um nicht gegen einen herrschenden,
doch im Wesentlichen gegen die Religion nicht streitenden da-
maligen Wahn zu verstoĂźen (z. B. das von den Besessenen), oder
auch positiv, um sich der Vorliebe eines Volks fĂĽr ihren alten
Kirchenglauben, der jetzt ein Ende haben sollte, zu bedienen, um
den neuen zu introduzieren. (Z. B. die Deutung der Geschichte
des alten Bundes als Vorbilder von dem, was im neuen geschah,
welche als Judaism, wenn sie irrigerweise in die Glaubenslehre
als ein StĂĽck derselben aufgenommen wird, uns wohl den Seufzer
ablocken kann: nunc istae reliquiae nos exercent. CICERO.)
Um deswillen ist eine Schriftgelehrsamkeit des Christentums
manchen Schwierigkeiten der Auslegungskunst unterworfen, ĂĽber
die und deren Prinzip die obere Fakultät (der biblische Theolog)
mit der unteren in Streit geraten muĂź, indem die erstere, als fĂĽr
die theoretische biblische Erkenntnis vorzĂĽglich besorgt, die letztere
in Verdacht zieht, alle Lehren, die als eigentliche Offenbarungs-
lehren und also buchstäblich angenommen werden müßten, weg-
zuphilosophieren und ihnen einen beliebigen Sinn unterzuschieben,
diese aber als mehr aufs Praktische, d. i. mehr auf Religion als
auf Kirchenglauben sehend, umgekehrt jene beschuldigt, durch solche
Mittel den Endzweck, der als innere Religion moralisch sein muĂź
und auf der Vernunft beruht, ganz aus den Augen zu bringen.
Daher die letztere, welche die Wahrheit zum Zweck hat, mithin
die Philosophie im Falle des Streits ĂĽber den Sinn einer Schrift-
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 49
stelle sich das Vorrecht anmaĂźt, ihn zu bestimmen. Folgendes sind
die philosophischen Grundsätze der Schriftauslegerei, wodurch nicht
verstanden werden will, daĂź die Auslegung philosophisch (zur
Erweiterung der Philosophie abzielt), sondern daĂź bloĂź die
Grundsätze der Auslegung so beschaffen sein müssen: weil alle
Grundsätze, sie mögen nun eine historisch- oder grammatisch-
kritische Auslegung betreffen, jederzeit, hier aber besonders, weil,
was aus Schriftstellen fĂĽr die Religion (die bloĂź ein Gegenstand
der Vernunft sein kann) auszumitteln sei, auch von der Vernuntt
diktiert werden mĂĽssen.
II.
Philosophische Grundsätze der Schriftauslegung zu Bei-
legung des Streits.
I. Schriftstellen, welche gewisse theoretische, fĂĽr heihg an-
gekĂĽndigte, aber allen (selbst den moralischen) Vernunftbegriff
ĂĽbersteigende Lehren enthalten, dĂĽrfen, diejenige aber, welche
der praktischen Vernunft widersprechende Sätze enthalten, müssen
zum Vorteil der letzteren ausgelegt werden. — Folgendes enthält
hiezu einige Beispiele.
a) Aus der Dreieinigkeitslehre, nach den Buchstaben genommen,
läßt sich schlechterdings nichts fürs Praktische machen, wenn
man sie gleich zu verstehen glaubte, noch weniger aber wenn
man inne wird, daß sie gar alle unsere Begriffe übersteigt. — Ob
wir in der Gottheit drei oder zehn Personen zu verehren haben, wird
der Lehrling mit gleicher Leichtigkeit aufs Wort annehmen, weil
er von einem Gott in mehreren Personen (Hypostasen) gar keinen
Begriff hat, noch mehr aber weil er aus dieser Verschiedenheit
fĂĽr seinen Lebenswandel gar keine verschiedene Regeln ziehen
kann. Dagegen wenn man in Glaubenssätzen einen moralischen
Sinn hereinträgt (wie ich es: Religion innerhalb den Grenzen
usw. versucht habe), er nicht einen folgeleeren, sondern auf- un-
sere moralische Bestimmung bezogenen verständlichen Glauben ent-
halten wĂĽrde. Ebenso ist es mit der Lehre der Menschwerdung
einer Person der Gottheit bewandt. Denn wenn dieser Gottmensch
nicht als die in Gott von Ewigkeit her liegende Idee der Mensch-
heit in ihrer ganzen ihm wohlgefälligen moralischen Vollkommen-
3 5° Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
heit') (ebendaselbst S. 73 f.)*)' sondern als die in einem wirklichen
Menschen „leibhaftig wohnende" und als zweite Natur in ihm
wirkende Gottheit vorgestellt wird: so ist aus diesem Geheimnisse
gar nichts Praktisches fĂĽr uns zu machen, weil wir doch von uns
nicht verlangen können, daß wir es einem Gotte gleichtun sollen,
er also insofern kein Beispiel fĂĽr uns werden kann, ohne noch
die Schwierigkeit in Anregung zu bringen, warum, wenn solche
Vereinigung einmal möglich ist, die Gottheit nicht alle Menschen
derselben hat teilhaftig werden lassen, welche alsdenn unausbleiblich
ihm alle wohlgefällig geworden wären. — Ein Ähnliches kann
von der Auferstehungs- und Himmelfahrtsgcschichte ebendesselben
gesagt werden.
Ob wir kĂĽnftig bloĂź der Seele nach leben, oder ob dieselbe
Materie, daraus unser Körper hier bestand, zur Identität unserer
Person in der andern Welt erforderlich, die Seele also keine be-
sondere Substanz sei, unser Körper selbst müsse auferweckt werden,
das kann uns in praktischer Absicht ganz gleichgĂĽltig sein; denn
wem ist wohl sein Körper so lieb, daß er ihn gern in Ewigkeit
mit sich schleppen möchte, wenn er seiner entübrigt sein kann?
Des Apostels Schluß also: „Ist Christus nicht auferstanden (dem
Körper nach lebendig geworden), so werden wir auch nicht auf-
erstehen (nach dem Tode gar nicht mehr leben)" ist nicht bĂĽndig.
Er mag es aber auch nicht sein (denn dem Argumentieren wird
*) Die Schwärmerei des Postellus in Venedig über diesen Punkt
im löten Jahrhunderc ist von so originaler Art und dient so gut 2um
Beispiel, in welche Verirrungen, und zwar mit Vernunft zu rasen,
man geraten kann, wenn man die Versinnlichung einer reinen Vernunft-
idee in die Vorstellung eines Gegenstandes der Sinne verwandelt.
Denn wenn unter jener Idee nicht das Abstrakrum der Menschheit,
sondern ein Mensch verstanden wird, so muĂź dieser von irgendeinem
Geschlecht sein. Ist dieser von Gott Gezeugte männlichen Geschlechts
(ein Sohn), hat die Schwachheit der Menschen getragen und ihre Schuld
auf sich genommen, so sind die Schwachheiten sowohl als die Ăśber-
tretungen des anderen Geschlechts doch von denen des männlichen
spezifisch unterschieden, und man wird nicht ohne Grund versucht an-
zunehmen, daĂź dieses auch seine besondere Stellvertreterin (gleichsam
eine göttliche Tochter) als Versöhnerin werde bekommen haben; und
diese glaubte Post eil in der Person einer frommen Jungfrau in Venedig
gefunden zu haben.
♦) VI. 203 ff.
Der Streit der phi/osophischen Fakultät mit der theologischen 3 5 1
man doch nicht auch eine Inspiration zum Grunde legen), so hat
er doch hiemit nur sagen wollen, daĂź wir Ursache haben zu
glauben, Christus lebe noch, und unser Glaube sei eitel, wenn
selbst ein so vollkommner Mensch nicht nach dem (leiblichen)
Tode leben sollte, welcher Glaube, den ihm (wie allen Menschen)
die Vernunft eingab, ihn zum historischen Glauben an eine ötient-
liche Sache bewog, die er treuherzig fĂĽr wahr annahm und sie
zum Beweisgrunde eines moralischen Glaubens des kĂĽnftigen Lebens
brauchte, ohne inne zu werden, daĂź er selbst dieser Sage ohne
den letzteren schwerlich wĂĽrde Glauben beigemessen haben. Die
moralische Absicht wurde hiebei erreicht, wenngleich die Vor-
stellungsart das Merkmal der Schulbegriffe an sich trug, in denen
er war erzogen worden. — Übrigens stehen jener Sache wichtige
EinwĂĽrfe entgegen: die Einsetzung des Abendmahls (einer trau-
rigen Unterhaltung) zum Andenken an ihn sieht einem förmlichen
Abschied (nicht bloß aufs baldige Wiedersehen) ähnlich. Die
klagende Worte am Kreuz drĂĽcken eine fehlgeschlagene Absicht
aus (die Juden noch bei seinem Leben zur wahren ReĂĽgion zu
bringen), da doch eher das Frohsein ĂĽber eine voUzogne Absicht
hätte erwartet werden sollen. Endlich der Ausdruck der Jünger
bei dem Lucas; „Wir dachten, er solle Israel erlösen" läßt auch
nicht abnehmen, daĂź sie auf ein in drei Tagen erwartetes Wieder-
sehen vorbereitet waren, noch weniger, daĂź ihnen von seiner
Auferstehung etwas zu Ohren gekommen sei. — Aber warum
sollten wir wegen einer Geschichtserzählung, die wir immer an
ihren Ort (unter die Adiaphora) gestellt sein lassen sollen, uns
in so viel gelehrte Untersuchungen und Streitigkeiten verflechten,
wenn es um Religion zu tun ist, zu welcher der Glaube m prak-
tischer Beziehung, den die Vernunft uns einflößt, schon für sich
hinreichend ist.
b) In der Auslegung der Schriftstellcn, in welchen der Aus-
druck unserm Vernunftbegriff von der göttlichen Natur und seinem
Willen widerstreitet, haben biblische Theologen sich längst zur
Regel gemacht, daß, was menschlicherweise (dvöpu>7ro7:aöcü;) aus-
gedrĂĽckt ist, nach einem gottwĂĽrdigen Sinne (deoitpeTZio;) mĂĽsse
ausgelegt werden; wodurch sie dann ganz deutlich das Bekenntnis
ablegten, die Vernunft sei in Religionssachen die oberste Ausiegerm
der Schrift. — Daß aber selbst, wenn man dem heil. Schriftsteller
keinen andern Sinn, den er wirkUch mit seinen AusdrĂĽcken ver-
band, unterlegen kann, als einen solchen, der mit unserer Ver-
}52 De)- Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
nunFt gar in Widerspruche steht, die Vernunh sich doch berechtigt
Fühle, seine SchriFtstelle so auszulegen, wie sie es ihren Grundsätzen
gemäiS findet, und nicht dem Buchstaben nach auslegen solle,
wenn sie jenen nicht gar eines Irrtums beschuldigen will, das
scheint ganz und gar wider die oberste Regeln der Interpretation
zu verstoĂźen, und gleichwohl ist es noch immer mit Beifall von
den belobtesten Gottesgelehrten geschehen. — So ist es mit St.
Paulus' Lehre von der Gnadenwahl gegangen, aus welcher aufs
deutlichste erhellet, daß seine Privatmeinung die Prädestination im
strengsten Sinne des Worts gewesen sein muĂź, welche darum
auch von einer groĂźen protestantischen Kirche in ihren Glauben
autgenommen worden, in der Folge aber von einem groĂźen Teil
derselben wieder verlassen, oder, so gut wie man konnte, anders
gedeutet worden ist, weil die Vernunft sie mit der Lehre von
der Freiheit, der Zurechnung der Handlungen und so mit der
ganzen Moral unvereinbar findet. — Auch wo der Schriftglaube
in keinen Verstoß «gewisser Lehren wider sittliche Grundsätze,
sondern nur wider die Vernunftmaxime in Beurteilung physischer
Erscheinungen gerät, haben Schriftausleger mit fast allgemeinem Bei-
fall manche biblische Geschichtserzählungen, z. B. von den Be-
sessenen (dämonischen Leuten), ob sie zwar in demselben historischen
Tone -wie die ĂĽbrige heil. Geschichte in der Schrift vorgetragen
worden und fast nicht zu zweifeln ist, daĂź ihre Schriftsteller sie
buchstäblich für wahr gehalten haben, doch so ausgelegt, daß die
Vernunft dabei bestehen könnte (um nicht allem Aberglauben
und Betrug freien Eingang zu verschaffen), ohne daĂź man ihnen
diese Befugnis bestritten hat.
II. Der Glaube an Schriftlehren, die eigentlich haben offen-
bart werden mĂĽssen, wenn sie haben gekannt werden sollen, hat
an sich kein Verdienst, und der Mangel desselben, ja sogar der
ihm entgegenstehende Zweifel ist an sich keine Verschuldung,
sondern alles kommt in der Religion aufs Tun an, und diese
Endabsicht, mithin auch ein dieser gemäßer Sinn muß allen
biblischen Glaubenslehren untergelegt werden.
Unter Glaubenssätzen versteht man nicht, was geglaubt werden
soll (denn das Glauben verstattet keinen Imperativ), sondern das,
was in praktischer (moralischer) Absicht anzunehmen möglich
und zweckmäßig, obgleich nicht eben erweislich ist, mithin nur
geglaubt werden kann. Nehme ich das Glauben ohne diese mo-
ralische RĂĽcksicht bloĂź in der Bedeutung eines theoretischen
Der Streit der phi/ßsophischen Fakultät mit der theologischen 3 5 3
FĂĽrwahrhaltens, z. B. dessen, was sich auf dem Zeugnis anderer
geschichtmäßig gründet, oder auch, weil ich mir gewisse gegebene
Erscheinungen nicht anders als unter dieser oder jener Voraus-
setzung erklären kann, zu einem Prinzip an, so ist ein solcher
Glaube, weil er weder einen besseren Menschen macht noch
einen solchen beweiset, gar kein StĂĽck der Religion; ward er
aber nur als durch Furcht und Hoffnung aufgedrungen in der
Seele erkĂĽnstelt, so ist er der Aufrichtigkeit, mithin auch der
Religion zuwider. — Lauten also Spruchstellen so, als ob sie das
Glauben einer OfFenbarungslehre nicht allein als an sich verdienstlich
ansähen, sondern wohl gar über moralisch-gute Werke erhöben,
so mĂĽssen sie so ausgelegt werden, als ob nur der moralische,
die Seele durch Vernunft bessernde und erhebende Glaube dadurch
gemeint sei; gesetzt auch, der buchstäbliche Sinn, z. B. wer da
glaubet und getaufet wird, wird selig usw., lautete dieser Auslegung
zuwider. Der Zweifel ĂĽber jene statutarische Dogmen und ihre
Authentizität kann also eine moralische, wohlgesinnte Seele nicht
beunruhigen. — Eben dieselben Sätze können gleichwohl als
wesentliche Erfordernisse zum Vortrag eines gewissen Kirchen-
glaubens angesehen werden, der aber, weil er nur Vehikel des
Religionsglaubens, mithin an sich veränderlich ist und einer all-
mählichen Reinigung bis zur Kongruenz mit dem letzteren fähig
bleiben muĂź, nicht zum Glaubensartikel selbst gemacht, obzwar
doch auch in Kirchen nicht öffentlich angegriffen oder auch mit
trockenem FuĂź ĂĽbergangen werden darf, weil er unter der Ge-
wahrsame der Regierung steht, die für öffentliche Eintracht und
Frieden Sorge trägt, indessen daß es des Lehrers Sache ist, davor
zu warnen, ihm nicht eine fĂĽr sich bestehende Heiligkeit beizu-
legen, sondern ohne Verzug zu dem dadurch eingeleiteten Religions-
glauben ĂĽberzugehen.
IIL Das Tun muĂź als aus des Menschen eigenem Gebrauch
seiner moralischen Kräfte entspringend und nicht als Wirkung vom
Einfluß einer äußeren höheren wirkenden Ursache, in Ansehung
deren der Mensch sich leidend verhielte, vorgestellt werden; die
Auslegung der Schriftstellen, welche buchstäblich das letztere zu
enthalten scheinen, muĂź also auf die Ăśbereinstimmung mit dem
ersteren Grundsatze absichtlich gerichtet werden.
Wenn unter Natur das im Menschen herrschende Prinzip der
Beförderung seiner Glückseligkeit, unter Gnade aber die in
uns liegende unbegreifliche moralische Anlage, d. i. das Prmzip
Kants Schriften. Bd. VIF. ^3
3 54 ^^^ Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
der reinen Sittlichkeit, verstanden wird, so sind Natur und
Gnade nicht allein voneinander unterschieden, sondern auch oft
gegeneinander in Widerstreit. Wird aber unter Natur (in prak-
tischer Bedeutung) das Vermögen aus eigenen Kräften überhaupt
gewisse Zwecke auszurichten verstanden, so ist Gnade nichts anders
als Natur des Menschen, sofern er durch sein eigenes innneres,
aber ĂĽbersinnliches Prinzip (die Vorstellung seiner Pflicht) zu
Handlungen bestimmt wird, welches, weil wir uns es erklären
wollen, gleichwohl aber weiter keinen Grund davon wissen, von
uns als von der Gottheit in uns gewirkter Antrieb zum Guten,
dazu wir die Anlage in uns nicht selbst gegrĂĽndet haben, mithin
als Gnade vorgestellt wird. — Die Sünde nämlich (die Bösartigkeit
in der menschlichen Natur) hat das Strafgesetz (gleich als fĂĽr Knechte)
notwendig gemacht, die Gnade aber (d. i. die durch den Glauben
an die ursprĂĽngliche Anlage zum Guten in uns und die durch
das Beispiel der Gott wohlgefälligen Menschheit an dem Sohne
Gottes lebendig werdende Hoffriung der Entwicklung dieses Guten)
kann und soll in -uns (als Freien) noch mächtiger werden, wenn
wir sie nur in uns wirken, d. h. die Gesinnungen eines jenem
heil. Beispiel ähnlichen Lebenswandels tätig werden lassen. — Die
Schriltstellen also, die eine bloß passive Ergebung an eine äußere
in uns Heiligkeit wirkende Macht zu enthalten scheinen, mĂĽssen
so ausgelegt werden, daĂź daraus erhelle, wir mĂĽssen an der Ent-
wickelung jener moralischen Anlage in uns selbst arbeiten, ob
sie zwar selber eine Göttlichkeit eines Ursprungs beweiset, der
höher ist als alle Vernunft (in der theoretischen Nachforschung
der Ursache) und daher, sie besitzen, nicht Verdienst, sondern
Gnade ist.
IV. Wo des eigene Tun zur Rechtfertigung des Menschen
vor seinem eigenen (strenge richtenden) Gewissen nicht zulangt,
da ist die Vernunh befugt, allenfalls eine übernatürliche Ergänzung
seiner mangelhaften Gerechtigkeit (auch ohne daĂź sie bestimmen
darf, worin sie bestehe) gläubig anzunehmen.
Diese Befugnis ist fĂĽr sich selbst klar; denn was der Mensch
nach seiner Bestimmung sein soll (nämlich dem heil. Gesetz an-
gemessen), das muß er auch werden können, und ist es nicht
durch eigene Kräfte natürlicherweise möglich, so darf er hoffen,
daß es durch äußere göttliche Mitwirkung (auf welche Art es
auch sei) geschehen w^erde. — Man kann noch hinzusetzen, daß
der Glaube an diese Ergänzung seligmachend sei, weil er dadurch
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 5 5
allein zum gottwohlgefälligen Lebenswandel (als der einzigen Be-
dingung der Hoffnung der Seligkeit) Mut und feste Gesinnung
fassen kann, daĂź er am Gelingen seiner Endabsicht (Gott wohl-
gefällig zu werden) nicht verzweifelt. — Daß er aber wissen
und bestimmt müsse angeben können, worin das Mittel dieses
Ersatzes (v/elches am Ende doch ĂĽberschwenglich und bei allem,
was uns Gott darüber selbst sagen möchte, für uns unbegreiflich
ist) bestehe, das ist eben nicht notwendig, ja, auf diese Kenntnis
auch nur Anspruch zu machen. Vermessenheit. — Die Schriftstellen
also, die eine solche spezifische Offenbarung zu enthalten scheinen,
mĂĽssen so ausgelegt werden, daĂź sie nur das Vehikel jenes mo-
ralischen Glaubens fĂĽr ein Volk nach dessen bisher bei ihm im
Schwang gewesenen Glaubenslehren betreffen und nicht Religions-
glauben (fĂĽr alle Menschen), mithin bloĂź den Kirchenglauben
(z. B. fĂĽr Judenchristen) angehen, welcher historischer Beweise
bedarf, deren nicht jedermann teilhaftig werden kann; statt dessen
ReĂĽgion (als auf moralische Begriffe gegrĂĽndet) fĂĽr sich voll-
ständig und zweifelsfrei sein muß.
Aber selbst wider die Idee einer philosophischen Schriftauslegiing
höre ich die vereinigte Stimme der biblischen Theologen sich
erheben: sie hat, sagt man, erstlich eine naturalistische ReHgion
und nicht Christentum zur Absicht. Antwort: das Christentum
ist die Idee von der Rchgion, die ĂĽberhaupt auf Vernunft ge-
gründet und sofern natürüch sein muß. Es enthält aber ein
Mittel der EinfĂĽhrung derselben unter Menschen, die Bibel, deren
Ursprung fĂĽr ĂĽbernatĂĽrlich gehalten wird, die (ihr Ursprung mag
sein, welcher er wolle), sofern sie den moraHschen Vorschriften
der Vernunft in Ansehung ihrer öffentlichen Ausbreitung und
innighcher Belebung beförderlich ist, als Vehikel zur Religion
gezählt werden kann und als ein solches auch für übernatürliche
Offenbarung angenommen werden mag. Nun kann man eine
Religion nur naturalistisch nennen, wenn sie es zum Grundsatze
macht, keine solche Offenbarung einzuräumen. Also ist das
Christentum darum nicht eine naturalistische Religion, obgleich
es bloĂź eine natĂĽrliche ist, weil es nicht in Abrede ist, daĂź die
Bibel nicht ein ĂĽbernatĂĽrliches Mittel der Introduktion der letzteren
23*
1^6 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
und der Stiftung einer sie öffentlich lehrenden und bekennenden
Kirche sein möge, sondern nur auf diesen Ursprung, wenn es auf
Rcligionslehre ankommt, nicht RĂĽcksicht nimmt.
III.
Einwürfe und Beantwortung derselben, die Grundsätze
der Schriftauslegung betreffend.
Wider diese Auslegungsregdn höre ich ausrufen; erstlich:
das sind ja insgesamt Urteile der philosophischen Fakultät, welche
sich also in das Geschäft des biblischen Theologen Eingriffe er-
laubt. — Antwort: zum Kirchenglauben wird historische Ge-
lehrsamkeit, zum Reiigionsglauben bloĂź Vernunft erfordert. Jenen
als Vehikel des letzteren auszulegen, ist freilich eine Forderung
der Vernunft, aber wo ist eine solche rechtmäßiger, als wo etwas
nur als Mittel zu etwas anderem als Endzweck (dergleichen die
Religion ist) einen Wert hat, und gibt es überall wohl ein höheres
Prinzip der Entscheidung, wenn ĂĽber Wahrheit gestritten wird,
als die Vernunft? Es tut auch der theologischen Fakultät keines-
weges Abbruch, wenn die philosophische sich der Statuten der-
selben bedient, ihre eigene Lehre durch Einstimmung mit derselben
zu bestärken; man sollte vielmehr denken, daß jener dadurch eine
Ehre widerfahre. Soll aber doch, was die Schriftauslegung betrifft,
durchaus Streit zwischen beiden sein, so weiĂź ich keinen andern
Vergleich als diesen: wenn der biblische Theolog aufhören
wird, sich der Vernunft zu seinem Behuf zu bedienen, so
wird der philosophische auch aufhören, zu Bestätigung
seiner Sätze die Bibel zu gebrauchen. Ich zweifle aber sehr,
daß der erstere sich auf diesen Vertrag einlassen dürfte. —
Zweitens: jene Auslegungen sind allegorisch- mystisch, mithin
weder bibhsch noch philosophisch. Antwort: Es ist gerade das
Gegenteil, nämlich daß, wenn der biblische Theolog die Hülle
der Religion fĂĽr die Religion selbst nimmt, er z. B. das ganze
alte Testament fĂĽr eine fortgehende Allegorie (von Vorbildern
und symbolischen Vorstellungen) des noch kommenden Religions-
zustandes erklären muß, wenn er nicht annehmen will, das wäre
damals schon wahre Religion gewesen, wodurch dann das neue
(die doch nicht noch wahrer als wahr sein kann) entbehrlich
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 5 7
gemacht wĂĽrde. Was aber die vorgebliche Mystik, der Vernunft-
auslegungen betrifft, wenn die Piiilosophic in SchriftstcUen einen
moralischen Sinn aufgespähet, ja gar ihn dem Texte aufdringt, so
ist diese gerade das einzige Mittel, die Mystik (z. B. eines
Swedenborgs) abzuhalten. Denn die Phantasie verläuft sich bei
Religionsdingen unvermeidlich ins Ăśberschwengliche, wenn sie das
Ăśbersinnliche (was in allem, was Religion heiĂźt, gedacht werden
muĂź") nicht an bestimmte Begriffe der Vernunft, dergleichen die
moralische sind, knĂĽpft, und fĂĽhrt zu einem Illuminatism innerer
Offenbarungen, deren ein jeder alsdenn seine eigene hat und kein
öffentlicher Probierstein der Wahrheit mehr stattfindet.
Es gibt aber noch EinwĂĽrfe, die die Vernunft ihr selbst gegen
die Vernunftauslegung der Bibel macht, die wir nach der Reihe
oben angefĂĽhrter Auslegungsregeln kĂĽrzlich bemerken und zu
heben suchen wollen, a) Einwurf: Als Offenbarung muĂź die
Bibel aus sich selbst und nicht durch die Vernunft gedeutet wer-
den; denn der Erkenntnisqueli selbst liegt anderswo als in der Vernunft.
Antwort: Eben darum, weil jenes Buch als göttliche Offenbarung
angenommen wird, muß sie nicht bloß nach Grundsätzen der
Geschichtslehren (mit sich selbst zusammenzustimmen) theoretisch,
sondern nach Vernunftbegriffen praktisch ausgelegt werden; denn
daß eine Offenbarung göttlich sei, kann nie durch Kennzeichen,
welche die Erfahrung an die Hand gibt, eingesehen werden. Ihr
Charakter (wenigstens als conditio sine qua nofi) ist immer die
Übereinstimmung mit dem, was die Vernunft für Gott anständig
erklärt. — b) Einwurf: Vor allem Praktischen muß doch immer
eine Theorie vorhergehen, und da diese als Offenbarungslehre
vielleicht Absichten des Willens Gottes, die wir nicht durch-
dringen können, für uns aber verbindend sein dürften, sie zu
befördern, enthalten könnten, so scheint das Glauben an der-
gleichen theoretische Sätze für sich selbst eine Verbindlichkeit,
mithin das Bezweifeln derselben eine Schuld zu enthalten. Ant-
wort: Man kann dieses einräumen, wenn vom Kirchenglauben
die Rede ist, bei dem es auf keine andere Praxis als die der an-
geordneten Gebräuche angesehen ist, wo die, so sich zu einer
Kirche bekennen, zum FĂĽrvvahrnehmen nichts mehr, als daĂź die
Lehre nicht unmöglich sei, bedürfen; dagegen zum Religionsglauben
Ăśberzeugung von der Wahrheit erforderlich ist, welche aber
durch Statute (daß sie göttliche Sprüche sind) nicht beurkundigt
werden kann, weil, daĂź sie es sind, nur immer wiederum durch
3 5 ^ Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
Geschichte bewiesen werden müßte, die sich selbst für göttliche
Ortenbarung auszugeben nicht beFugt ist. Daher bei diesem, der
g'änzlich auf Moralität des Lebenswandels, aufs Tun, gerichtet ist,
das FĂĽrwahrhaltcn historischer, obschon biblischer Lehren an sich
keinen moralischen Wert oder Unwert hat und unter die Adia-
phora gehört. — c) Einwurf: Wie kann man einem Geistlich-
toten das „Stehe auf und wandle!" zurufen, wenn diesen Zuruf
nicht zugleich eine ĂĽbernatĂĽrliche Macht begleitet, die Leben in
ihn hineinbringt? Antwort: Der Zuruf geschieht an den Men-
schen durch seine eigene Vernunft, sofern sie das ĂĽbersinnliche
Prinzip des moralischen Lebens in sich selbst hat. Durch dieses
kann der Mensch zwar vielleicht nicht sofort zum Leben und um
von selbst aufzustehen, aber doch sich zu regen und zur Bestre-
bung eines guten Lebenswandels erweckt werden (wie einer, bei
dem die Kräfte nur schlafen, aber darum nicht erloschen sind),
und das ist schon ein Tun, welches keines äußeren Einflusses be-
darf und, fortgesetzt, den beabsichtigten Wandel bewirken kann. —
d) Einwurf: Der Glaube an eine uns unbekannte Ergänzungsart
des Mangels unserer eigenen Gerechtigkeit, mithin als Wohltat
eines anderen ist eine umsonst angenommene Ursache {petitio
principVi) zu Befriedigung des uns gefĂĽhlten BedĂĽrfnisses. Denn
was wir von der Gnade eines Oberen erwarten, davon können
wir nicht, als ob es sich von selbst verstĂĽnde, annehmen, daĂź es
uns zuteil werden mĂĽsse, sondern nur, wenn es uns wirklich
versprochen worden, und daher nur durch Acceptation eines
uns geschehenen bestimmten Versprechens, wie durch einen förm-
lichen Vertrag. Also können wir, wie es scheint, jene Ergänzung
nur, sofern sie durch göttliche Offenbarung wirklich zugesagt
worden, und nicht auf gut GlĂĽck liin hoffen und voraussetzen.
Antwort: Eine unmittelbare göttliche Offenbarung in dem tröstenden
Ausspruch: „Dir sind deine Sünden vergeben," wäre eine über-
sinnliche Erfahrung, welche unmöglich ist. Aber diese ist auch
in Ansehung dessen, was (wie die Religion) auf moralischen Ver-
nunftgrĂĽnden beruht uud dadurch a priori, wenigstens in praktischer
Absicht, gewiß ist, nicht nötig. Von einem heiligen und gütigen
Gesetzgeber kann man sich die Dekrete in Ansehung gebrecUicher,
aber alles, was sie fĂĽr Pflicht erkennen, nach ihrem ganzen Ver-
mögen zu befolgen strebender Geschöpfe nicht anders denken,
und selbst der Vernunftglaube und das Vertrauen auf eine solche
Ergänzung, ohne daß eine bestimmte empirisch erteilte Zusage
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 5 9
dazu kommen darf, beweiset mehr die echte moralische Gesinnung
und hiemit die EmpfängHchkeit für jene gehofFte Gnadenbezeigung,
als CS ein empirischer Glaube tun kann.
Auf solche Weise mĂĽssen alle Schriftauslegungen, sofern sie
die Religion betreffen, nach dem Prinzip der in der Offen-
barung abgezweckten Sittlichkeit gemacht werden und sind ohne
das entweder praktisch leer oder gar Hindernisse des Guten. —
Auch sind sie alsdann nur eigentlich authentisch, d. i. der Gott
in uns ist selbst der Ausleger, weil wir niemand verstehen als
den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Ver-
nunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen
Lehre also durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft, so-
ferne sie rein-moralisch und hiemit untrĂĽglich sind, erkannt wer-
den kann.
Allgemeine Anmerkung.
Von Religionssekten.
In dem, was eigentlich Religion genannt zu werden verdient,
kann es keine Sektenverschiedenheit geben (denn sie ist einig,
allgemein und notwendig, mithin unveränderlich), wohl aber in
dem, was den Kirchenglauben betrilft, er mag nun bloĂź auf die
Bibel, oder auch auf Tradition gegrĂĽndet sein: sofern der Glaube
an das, was bloĂź Vehikel der Religion ist, fĂĽr Artikel derselben
gehalten wird.
Es wäre Herkulische und dabei undankbare Arbeit, nur bloß
die Sekten des Christentums, wenn man unter ihm den mes-
sianischen Glauben versteht, alle aufzuzählen; denn da ist jenes
bloĂź eine Sekte') des letztern, so daĂź es dem Judentum in
*) Es ist eine Sonderbarkeit des deutschen Sprachgebrauchs (oder
Mißbrauchs), daß sich die Anhänger unserer Religion Christen nennen:
gleich als ob es mehr als einen Christus gebe und jeder Gläubige ein
Christus wäre. Sie müßten sich Christianer nennen. — Aber dieser
Name wĂĽrde sofort wie ein Sektenname angesehen werden von Leuten,
360 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
engerer Bedeutung (in dem letzten Zeitpunkt seiner ungeteilten
Herrschaft ĂĽber das Volk) entgegengesetzt wird, wo die Frage ist;
„Bist du CS, der da kommen soll, oder sollen wir eines anderen
warten?"'^ wofür es auch anfänglich die Römer nahmen. In dieser
Bedeutung aber wĂĽrde das Christentum ein gewisser auf Satzungen
und Schrift gegrĂĽndeter Volksglaube sein, von dem man nicht
wissen könnte, ob er gerade für alle Menschen gültig oder der
letzte OlFenbarungsglaube sein dĂĽrfte, bei dem es forthin bleiben
müßte, oder ob nicht künftig andere göttliche Statuten, die dem
Zweck noch näher träten, zu erwarten wären.
Um also ein bestimmtes Schema der Einteilung einer Glaubens-
lehre in Sekten zu haben, können wir nicht von empirischen
Datis, sondern wir mĂĽssen von Verschiedenheiten anfangen, die
sich a priori durch die Vernunft denken lassen, um in der Stufen-
reihe der Unterschiede der Denkungsart in Glaubenssachen die
Stufe auszumachen, in der die Verschiedenheit zuerst einen Sekten-
unterschied begrĂĽnden wĂĽrde.
In Glaubenssachen ist das Prinzip der Einteilung nach der
angenommenen Denkungsart entweder Religion oder Super-
stition oder Heidentum (die einander wie A und non A ent-
gegen sind). Die Bekenner der ersteren werden gewöhnlich
Gläubige, die des zweiten Ungläubige genannt. Religion ist
derjenige Glaube, der das Wesentliche aller Verehrung Gottes
in der Moralität des Menschen setzt; Heidentum, der es nicht
darin setzt; entweder weil es ihm gar an dem Begriffe eines ĂĽber-
natĂĽrlichen und moralischen Wesens mangelt (^Etbnicismus brutus),
oder weil er etwas anderes als die Gesinnung eines sittlich wohl-
gefĂĽhrten Lebenswandels, also das Nichtwesentliche der Religion,
zum ReligionsstĂĽck macht (^Ethnicisnius speciosus).
Glaubenssätze, welche zugleich als göttliche Gebote gedacht
werden sollen, sind nun entweder bloĂź statutarisch, mithin fĂĽr
uns zufällig und OfFenbarungslehren, oder moralisch, mitliin mit
dem BewuĂźtsein ihrer Notwendigkeit verbunden und a priori
denen man (wie im Peregrinus Proteus geschieht) viel Ăśbels nachsagen
kann, welches in Ansehung des Christen nicht stattfindet. — So ver-
langte ein Rezensent in der „Hallischen gel. Zeitung", daß der Name
Jehovah durch Jahwoh ausgesprochen werden sollte. Aber diese Ver-
änderung würde eine bloße Nationalgottheit, nicht den Herrn der Welt
zu bezeichnen scheinen.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 6 1
erkennbar, d. i. Vernunftlehren des Glaubens. Der Inbegriff
der ersteren Lehren macht den Kirchen-, der anderen aber den
reinen Religionsglauben aus').
Allgemeinheit fĂĽr einen Kirchenglauben zu fordern (catho-
licismus bierarchicus) ist ein Widerspruch, weil unbedingte All-
gemeinheit Notwendigkeit voraussetzt, die nur da stattfindet, wo
die Vernunft selbst die Glaubenssätze hinreichend begründet, mithin
diese nicht bloĂźe Statute sind. Dagegen hat der reine Religions-
glaube rechtmäßigen Anspruch auf Allgemeingültigkeit (catbo/icismus
rationalis). Die Sektiererei in Glaubenssachen wird also bei dem
letztern nie stattfinden, und wo sie angetroffen wird, da entspringt
sie immer aus einem Fehler des Kirchenglaubens: seine Statute
(selbst göttliche Offenbarungen) für wesentliche Stücke der Religion
zu halten, mithin den Empirism in Giaubenssachen dem Rationalism
unterzuschieben und so das bloß Zufällige für an sich notwendig
auszugeben. Da nun in zufälUgen Lehren es vielerlei einander
widerstreitende, teils Satzungen, teils Auslegung von Satzungen
geben kann: so ist leicht einzusehen, daĂź der bloĂźe Kirchenglaube,
ohne durch den reinen Religionsglauben geläutert zu sein, eine
reiche Quelle unendlich vieler Sekten in Glaubenssachen sein
werde.
Um diese Läuterung, worin sie bestehe, bestimmt anzugeben,
scheint mir der zum Gebrauch schickHchste Probierstein der Satz
zu sein: ein jeder Kirchenglaube, sofern er bloĂź statutarische
Glaubenslehren fĂĽr wesentUche ReĂśgionslehren ausgibt, hat eine
gewisse Beimischung von Heidentum; denn dieses besteht darin,
das Ă„uĂźerliche (AuĂźerwesentliche) der ReHgion fĂĽr wesentĂĽch
auszugeben. Diese Beimischung kann gradweise so weit gehen,
daĂź die ganze Rehgion darĂĽber in einen bloĂźen Kirchengiauben,
Gebräuche für Gesetze auszugeben, übergeht und alsdann bares
Heidentum wird,^) wider welchen Schimpfnamen es nichts ver-
^) Diese Einteilung, welche ich nicht für prätis und dem gewöhnlichen
Redegebrauch angemessen ausgebe, mag einstweilen hier gelten.
*) Heidentum {Paganisvius) ist der Worterklärung nach der religiöse
Aberglaube des Volks in Wäldern (Heiden), d. i. einer Menge, deren
Religionsglaube noch ohne alle kirchliche Verfassung, mithin ohne öffent-
liches Gesetz ist, Juden aber, Mohammedaner und Indier halten das
für kein Gesetz, was nicht das ihrige ist, und benennen andere Völker,
die nicht eben dieselbe kirchliche Observanzen haben, mit dem Titel
der Verwerfung (Goj, Dschaur usw.), nämlich der Ungläubigen.
JÖ2 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
schlägt zu sagen, daß jene Lehren doch göttliche Offenbarungen
seien; denn nicht jene statutarische Lehren und Kirchenpflichten
selbst, sondern der unbedingte, ihnen beigelegte Wert (nicht etwa
bloĂź Vehikel, sondern selbst ReligionsstĂĽcke zu sein, ob sie zwar
keinen inneren moralischen Gehalt bei sich fĂĽhren, also nicht die
Materie der Ofl'enbarung, sondern die Form ihrer Aufnahme in
seine praktische Gesinnung) ist das, was auf eine solche Glaubens-
weise den Namen des Heidentums mit Recht fallen läßt. Die
kirchliche Autorität, nach einem solchen Glauben selig zu sprechen
oder zu verdammen, wĂĽrde das Pfaffentum genannt werden, von
welchem Ehrennamen sich so nennende Protestanten nicht aus-
zuschUcĂźen sind, wenn sie das Wesentliche ihrer Glaubenslehre in
Glauben an Sätze und Observanzen, von denen ihnen die Vernunft
nichts sagt, und welche zu bekennen und zu beobachten der
schlechteste, nichtswĂĽrdigste Mensch in eben demselben Grade
taugUch ist als der beste, zu setzen bedacht sind: sie mögen auch
einen noch so groĂźen Nachtrab von Tugenden, als die aus der
wundervollen Kraft der ersteren entsprängen (mithin ihre eigene
Wurzel nicht haben), anhängen, als sie immer wollen.
Von dem Punkte also, wo der Kirchenglaube anfängt, für sich
selbst mit Autorität zu sprechen, ohne auf seine Rektifikation
durch den reinen Religionsglauben zu achten, hebt auch die
Sektiererei an; denn da dieser (als praktischer Vernunftglaube)
seinen EinfluĂź auf die menschliche Seele nicht verlieren karm,
der mit dem BewuĂźtsein der Freiheit verbunden ist, indessen daĂź
der Kirchenglaube ĂĽber die Gewissen Gewalt ausĂĽbt: so sucht
ein jeder etwas fĂĽr seine eigene Meinung in den Kirchenglauben
hinein- oder aus ihm herauszubringen.
Diese Gewalt veranlaĂźt entweder bloĂźe Absonderung von der
Kirche (Separatism), d. i. Enthaltung von der öfl?enthchen Gemein-
schaft mit ihr, oder öffentliche Spaltung der in Ansehung der
kirchlichen Form Andersdenkenden, ob sie zwar der Materie nach
sich zu eben derselben bekennen (Schismatiker), oder Zusammen-
tretung der Dissidenten in Ansehung gewisser Glaubenslehren in
besondere, nicht immer geheime, aber doch vom Staat nicht sank-
tionierte Gesellschaften (Sektirer), deren einige noch besondere,
nicht fürs große Publikum gehörende, geheime Lehren aus eben
demselben Schatz herholen (gleichsam Klubbisten der Frömmigkeit^,
endlich auch falsche Friedensstifter, die durch die Zusammenschmel-
zung verschiedener Glaubensarten allen genug zu tun meinen (Syn-
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 6 3
kretisten); die dann noch schlimmer sind als Sektierer, weil Gleich-
gĂĽltigkeit in Ansehung der Religion ĂĽberhaupt zum Grunde liegt,
und weil einmal doch ein Kirchenglaube im Volk sein mĂĽsse,
einer so gut wie der andere sei, wenn er sich nur durch die
Regierung zu ihren Zwecken gut handhaben läßt; ein Grundsatz,
der im Munde des Regenten, als eines solchen, zwar ganz richtig,
auch sogar weise ist, im Urteile des Untertanen selbst aber, der
diese Sache aus seinem eigenen und zwar moralischen Interesse
zu erwägen hat, die äußerste Geringschätzung der Religion ver-
raten wĂĽrde; indem, wie selbst das Vehikel der Religion beschaffen
sei, was jemand in seinen Kirchenglauben aufnimmt, fĂĽr die Re-
ligion keine gleichgĂĽltige Sache ist.
In Ansehung der Sektiererei (welche auch wohl ihr Haupt
bis zur Vermannigfaltigung der Kirchen erhebt, wie es bei den
Protestanten geschehen ist) pflegt man zwar zu sagen: es ist gut,
daĂź es vielerlei Religionen (eigentlich kirchliche Glaubensarten)
in einem Staate gibt, und sofern ist dieses auch richtig, als es
ein gutes Zeichen ist: nämlich, daß Glaubensfreiheit dem Volke
gelassen worden; aber das ist eigentlich nur ein Lob fĂĽr die
Regierung. An sich aber ist ein solcher öffentlicher Religions-
zustand doch nicht gut, dessen Prinzip so beschaffen ist, daĂź es
nicht, wie es doch der Begriff einer Religion erfordert, Allgemein-
heit und Einheit der wesentlichen Glaubensmaximen bei sich fĂĽhrt
und den Streit, der von dem AuĂźerwesentlichen herrĂĽhrt, nicht
von jenem unterscheidet. Der Unterschied der Meinungen in An-
sehung der größeren oder minderen Schicklichkcit oder Unschick-
lichkeit des Vehikels der Religion zu dieser als Endabsicht selbst
(nämlich die Menschen moralisch zu bessern) mag also allenfalls
Verschiedenheit der Kirchensekten, darf aber daruni nicht Ver-
schiedenheit der ReĂĽgionssekten bev\drken, welche der Einheit und
Allgemeinheit der Religion (also der unsichtbaren Kirche) gerade
zuwider ist. Aufgeklärte Katholiken und Protestanten werden also
einander als Glaubensbrüder ansehen können, ohne sich doch zu
vermengen, beide in der Erwartung (und Bearbeitung zu diesem
Zweck): daĂź die Zeit unter BegĂĽnstigung der Regierung nach
und nach die Förmlichkeiten des Glaubens (der freilich alsdann
nicht ein Glaube sein muĂź, Gott sich durch etwas anders als
durch reine moralische Gesinnung gĂĽnstig zu machen oder zu
versöhnen) der Würde ihres Zwecks, nämlich der Religion selbst,
näher bringen werde. — Selbst in Ansehung der Juden ist dieses
3Ö4 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
ohne die Träumerei einer allgemeinen Judenbekehrung') (zum
Christentum als einem messianischen Glauben) möglich, wenn
unter ihnen, wie jetzt geschieht, geläuterte ReligionsbegrifFe er-
wachen und das Kleid des nunmehro zu nichts dienenden, vielmehr
alJe wahre Religionsgesinnung verdrängenden alten Kultus abwerfen.
Da sie nun so lange das Kleid ohne Mann (Kirche ohne Re-
ligion) gehabt haben, gleichwohl aber der Mann ohne Kleid
(Religion ohne Kirche) auch nicht gut verwahrt ist, sie also ge-
wisse Förmlichkeiten einer Kirche, die dem Endzweck in ihrer
jetzigen Lage am angemessensten wäre, bedürfen: so kann man
den Gedanken eines sehr guten Kopfs dieser Nation, BENDAVIDS
die Rehgion Jesu (vermutlich mit ihrem Vehikel, dem Evange-
lium) öffentlich anzunehmen, nicht allein für sehr glücklich,
sondern auch fĂĽr den einzigen Vorschlag halten, dessen AusfĂĽhrung
dieses Volk, auch ohne sich mit andern in Glaubenssachen zu
vermischen, bald als ein gelehrtes, wohlgesittetes und aller Rechte
des bürgerlichen Zustandes fähiges Volk, dessen Glaube auch von
der Regierung sanktioniert werden könnte, bemerklich machen
wĂĽrde; wobei freilich ihr die Schriftauslegung (der Thora und
des Evangeliums) frei gelassen werden mĂĽĂźte, um die Art, wie
Jesus als Jude zu Juden, von der Art, wie er als moralischer
Lehrer zu Menschen überhaupt redete, zu unterscheiden. — Die
Euthanasie des Judentums ist die reine moralische Religion mit
Verlassung aller alten Satzungslehren, deren einige doch im Christen-
tum (als messianischen Glauben) noch zurĂĽck behalten bleiben
mĂĽssen; welcher Sektenunterschied endlich doch auch verschwinden
muĂź, und so das, was man als den BeschluĂź des groĂźen Drama
des Religionswechsels auf Erden nennt, (die Wiederbringung aller
') Moses Mendelssohn wies dieses Ansinnen auf eine Art ab, die
seiner Klugheit Ehre macht (durch eine arguvtentatio ad homiuem). So
lange (sagt er) als nicht Gott vom Berge Sinai ebenso feierlich unser
Gesetz aufhebt, als er es (unter Donner und Blitz) gegeben, d. i. bis
zum Nimmertag, sind wir daran gebunden; womit er wahrscheinlicher-
weise sagen wollte: Christen, schafft ihr erst das Judentum aus eurem
eigenen Glauben weg: so werden wir auch das unsrige verlassen. —
DaĂĽ er aber seinen eignen Glaubensgenossen durch diese harte For-
derung die Hoffnung zur mindesten Erleichterung der sie drĂĽckenden
Lasten abschnitt, ob er zwar wahrscheinlich die wenigsten derselben
für wesentlich seinem Glauben angehörig hielt, ob das seinem guten
Willen Ehre mache, mögen diese selbst entscheiden.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 6
5
Dinge) wenigstens im Geiste herbeifĂĽhrt, da nur ein Hirt und
eine Herde stattfindet.
Wenn aber gefragt wird: nicht bloĂź was Christentum sei,
sondern wie es der Lehrer desselben anzufangen habe, damit ein
solches in den Herzen der Menschen wirklich angetroffen werde
(welches mit der Aufgabe einerlei ist: was ist zu tun, damit der
Religionsglaube zugleich bessere Menschen mache?), so ist der Zweck
zwar einerlei und kann keinen Sektenunterschied veranlassen, aber
die Wahl des Mittels zu demselben kann diesen doch herbeifĂĽhren,
weil zu einer und derselben Wirkung sich mehr wie eine Ursache
denken läßt und sofern also Verschiedenheit und Streit der Mei-
nungen, ob das eine oder das andere demselben angemessen und
göttlich sei, mithin eine Trennung in Prinzipien bewirken kann,
die selbst das Wesentliche (in subjektiver Bedeutung) der Religion
ĂĽberhaupt angehen.
Da die Mittel zu diesem Zwecke nicht empirisch sein können —
weil diese allenfalls wohl auf die Tat, aber nicht auf die Ge-
sinnung hinwirken — ■, so muß für den, der alles Übersinnliche
zugleich für übernatürlich hält, die obige Aufgabe sich in die
Frage verwandeln: wie ist die Wiedergeburt (als die Folge der
Bekehrung, wodurch jemand ein anderer, neuer Mensch wird)
durch göttlichen unmittelbaren Einfluß möglich, und was hat der
Mensch zu tun, um diesen herbeizuziehen? Ich behaupte, daĂź,
ohne die Geschichte zu Rate zu ziehen (als welche zwar Meinungen,
aber nicht die Notwendigkeit derselben vorstellig machen kann),
man a priori emen unausbleiblichen Sektenunterschied, den bloĂź
diese Aufgabe bei denen bewirkt, welchen es eine Kleinigkeit ist,
zu einer natĂĽrlichen Wirkung ĂĽbernatĂĽrliche Ursachen herbeizu-
rufen, vorher sagen kann, ja daĂź diese Spaltung auch die einzige
sei, welche zur Benennung zweier verschiedener Religionssekten
berechtigt; denn die anderen, welche man fälschlich so benennt,
sind nur Kirchensekten und gehen das Innere der Religion nicht
an. — Ein jedes Problem aber besteht erstlich aus der Quästion
der Aufgabe, zweitens der Auflösung und drittens dem Beweis,
daĂź das Verlangte durch die letztere geleistet werde. Also:
i) Die Aufgabe (die der wackere SPENER mit Eifer allen
l66 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
Lehrern der Kirche zurief) ist; der Rcligionsvortrag muĂź zum
Zweck haben, aus uns andere, nicht bloĂź bessere Menschen
(gleich als ob wir so schon gute, aber nur dem Grade nach
vernachlässigte wären) zu machen. Dieser Satz ward den Ortho-
doxisten (ein nicht ĂĽbel ausgedachter Name) in den Weg ge-
worfen, welche in dem Glauben an die reine Offenbarungsichre
und den von der Kirche vorgeschriebenen Observanzen (dem Beten,
dem Kirchengehen und den Sakramenten) neben dem ehrbaren
(zwar mit Ăśbertretungen untermengten, durch jene aber immer
wieder gut zu machenden) Lebenswandel die Art setzten, Gott
wohlgefällig zu werden. — Die Aufgabe ist also ganz in der
Vernunft gegrĂĽndet.
2) Die Auflösung aber ist völlig mystisch ausgefallen; so
wie man es vom Supernaturalism in Prinzipien der Religion er-
warten konnte, der, weil der Mensch von Natur in SĂĽnden tot
sei, keine Besserung aus eigenen Kräften hoffen lasse, selbst nicht
aus der ursprünglichen unverfäJschbaren moralischen Anlage in seiner
Natur, die, ob sie gleich ĂĽbersinnlich ist, dermoch Fleisch genannt
wird, darum, weil ihre Wirkung nicht zugleich ĂĽbernatĂĽrlich
ist, als in welchem Falle die unmittelbare Ursache derselben allein
der Geist (Gottes) sein würde. — Die mystische Auflösung jener
Aufgabe teilt nun die Gläubigen in zwei Sekten des Gefühls
ĂĽbernatĂĽrlicher EinflĂĽsse: die eine, wo das GefĂĽhl als von herz-
zermalmender (zerknirschender), die andere, wo es von herz-
zerschmelzender (in die selige Gemeinschaft mit Gott sich auf-
lösender) Art sein müsse, so daß die Auflösung des Problems
(aus bösen Menschen gute zu machen) von zwei entgegengesetzten
Standpunkten ausgeht („wo das Wollen zwar gut ist, aber das
Vollbringen mangelt"). In der einen Sekte kommt es nämlich
nur darauf an, von der Herrschaft des Bösen in sich loszu-
kommen, worauf dann das gute Prinzip sich von selbst einfinden
wĂĽrde: in der andern, das gute Prinzip in seine Gesinnung auf-
zunehmen, worauf vermittelst eines ĂĽbernatĂĽrlichen Einflusses das
Böse für sich keinen Platz mehr finde und das Gute allein herr-
schend sein wĂĽrde.
Die Idee von einer moralischen, aber nur durch ĂĽbernatĂĽrlichen
Einfluß möglichen Metamorphose des Menschen mag wohl schon
längst in den Köpfen der Gläubigen rumort haben: sie ist aber
in neueren Zeiten allererst recht zur Sprache gekommen und hat
den Spener-Franckischen und den Mährisch-Zinzendorfschen
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 67
Sektenunterschied (den Pietism und Moravianism) in der Be-
kehrungslehre hei-vorgebracht.
Nach der ersteren Hypothese geschieht die Scheidung des
Guten vom Bösen (womit die menschliche Natur amalgamiert ist)
durch eine ĂĽbernatĂĽrliche Operation, die Zerknirschung und Zer-
malmung ^ts Herzens in der BuĂźe, als einen nahe an Verzweillung
grenzenden, aber doch auch nur durch den EinfluĂź eines himm-
lischen Geistes in seinem nötigen Grade erreichbaren Gram
(rnaeror animi), um welchen der Mensch selbst bitten mĂĽsse, in-
dem er sich selbst darüber grämt, daß er sich nicht genug gräme,
mithin das Leidsein ihm doch nicht so ganz von Herzen gehen
kann. Diese „Höllenfahrt deS' Selbsterkenntnisses bahnt nun, wie
der sei. Hamann sagt, den Weg zur Vergötterung". Nämlich
nachdem diese Glut der Buße ihre größte Höhe erreicht hat,
geschehe der Durchbruch, und der Regulus des Wiedergebornen
glänze unter den Schlacken, die ihn zwar umgeben, aber nicht
verunreinigen, tüchtig zu dem Gott wohlgefälligen Gebrauch in
einem guten Lebenswandel. — Diese radikale Veränderung fängt
also mit einem Wunder an und endigt mit d?m, was man sonst
als natĂĽrlich anzusehen pflegt, v/eil es die Vernunft vorschreibt,
nämlich mit dem moralisch-guten Lebenswandel. Weil man aber
selbst beim höchsten Fluge einer mystisch-gestimmten Einbildungs-
kraft den Menschen doch nicht von allem Selbsttun lossprechen
kann, ohne ihn gänzlich zur Maschine zu machen, so ist das an-
haltende inbrĂĽnstige Gebet das, was ihm noch zu tun obliegt,
(wofern man es überhaupt für ein Tun wäll gelten las?en^ und
wovon er sich jene ĂĽbernatĂĽrliche Wirkung allein versprechen
kann; wobei doch auch der Skrupel eintritt: daĂź, da das Gebet,
wie es heißt, nur sofern erhörlich ist, als es im Glauben geschieht,
dieser selbst aber eine Gnadenwirkung ist, d. i. etwas, wozu der
Mensch aus eigenen Kräften nicht gelangen kann, er mit seinen
Gnadenmitteln im Zirkel gefĂĽhrt wird und am Ende eigentlich
nicht weiĂź, vsde er das Ding angreifen solle.
Nach der zweiten Sekte Meinung geschieht der erste Schritt,
den der sich seiner sĂĽndigen Beschaffenheit bewuĂźt werdende
Mensch zum Besseren tut, ganz natĂĽrlich, durch die Vernunft,
die, indem sie ihm im moralischen Gesetz den Spiegel vorhält,
worin er seine Verwerflichkeit erblickt, die moralische Anlage
zum Guten benutzt, um ihn zur EntschlieĂźung zu bringen, es
fortmehro zu seiner Maxime zu machen: aber die AusfĂĽhrung
368 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
dieses Vorsatzes ist ein Wunder. Er wendet sich nämlich von
der Fahne des bösen Geistes ab und begibt sich unter die des
guten, weiches eine leichte Sache ist. Aber nun bei dieser zu
beharren, nicht wieder ins Böse zurück zu fallen, vielmehr im
Guten immer mehr Fortzuschreiten, das ist die Sache, wozu er
natürlicherweise unvermögend sei, vielmehr nichts Geringeres als
GefĂĽhl einer ĂĽbernatĂĽrlichen Gemeinschaft und sogar das Be-
wuĂźtsein eines kontinuierlichen Umganges mit einem himmlischen
Geiste erfordert werde; wobei es zwischen ihm und dem letzteren
zwar auf einer Seite nicht an Verweisen, auf der andern nicht
an Abbitten fehlen kann: doch ohne daĂź eine Entzweiung oder
RĂĽckfall (aus der Gnade) zu besorgen ist; wenn er nur darauf
Bedacht nimmt, diesen Umgang, der selbst ein kontinuierliches
Gebet ist, ununterbrochen zu kultivieren.
Hier ist nun eine zwiefache mystische GefĂĽhlstheorie zum
SchlĂĽssel der Aufgabe: ein neuer Mensch zu werden, vorgelegt,
wo es nicht um das Objekt und den Zweck aller Religion (den
Gott gefälligen Lebenswandel, denn darüber stimmen beide Teile
ĂĽberein), sondern um die subjektive Bedingungen zu tun ist,
unter denen wir allein Kraft dazu bekommen, jene Theorie in
uns zur AusfĂĽhrung zu bringen; wobei dann von Tugend (die
ein leerer Name sei) nicht die Rede sein kann, sondern nur von
der Gnade, weil beide Parteien darĂĽber einig sind, daĂź es hie-
mit nicht n.-'.türlich zugehen könne, sich aber wieder darin von-
einander trennen, daĂź der eine Teil den fĂĽrchterlichen Kampf
mit dem bösen Geiste, um von dessen Gewalt loszukommen,
bestehen muß, der andere aber dieses gar nicht nötig, ja als
Werkheiligkeit verwerflich findet, sondern geradezu mit dem guten
Geiste Allianz schließt, weil die vorige mit dem bösen (als pactum
turpe) gar keinen Einspruch dagegen verursachen kann; da dann
die Wiedergeburt als einmal fĂĽr allemal vorgehende ĂĽbernatĂĽrliche
und .radikale Revolution im Seelenzustande auch wohl äußerlich
einen Sektenunterschied aus so sehr gegen einander abstechenden
GefĂĽhlen beider Parteien kennbar machen dĂĽrfte.^)
') Welche Narionalphysiognomie möchte wohl ein ganzes Volk,
welches (wenn dergleichen möglich wäre) in einer dieser Sekten erzogen
wäre, haben ? Denn daß ein solcher sich zeigen würde, ist wohl nicht
zu zweifeln: weil oft wiederholte, vornehmlich widernatĂĽrliche EindrĂĽcke
aufs Gemüt sich in Gebärdung und Ton der Sprache äußeren, und
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 69
3) Der Beweis; daĂź, wenn, was Nr. 2 verlangt worden,
geschehen, die Aufgabe Nr. i dadurch auFgelöset sein werde. —
Dieser Beweis ist unmöglich. Denn der Mensch müßte beweisen,
daĂź in ihm eine ĂĽbernatĂĽrliche Erfahrung, die an sich selbst ein
Widerspruch ist, vorgegangen sei. Es könnte allenfalls eingeräumt
werden, daĂź der Mensch in sich eine Erfahrung (z. B. von neuen
und besseren Willensbestimmungen) gemacht hätte, von einer
Veränderung, die er sich nicht anders als durch ein Wunder zu
erklären weiß, also von etwas Übernatürlichem. Aber eine Er-
fahrung, von der er sich sogar nicht einmal, daĂź sie in der Tat
Erfahrung sei, ĂĽberfĂĽhren kann, weil sie (als ĂĽbernatĂĽrlich) auf
keine Regel der Natur unseres Verstandes zurĂĽckgefĂĽhrt und da-
durch bewährt werden kann, ist eine Ausdeutung gewisser Emp-
findungen, von denen man nicht weiĂź, was man aus ihnen machen
soll, ob sie als zum Erkenntnis gehörig einen wirklichen Gegen-
stand haben, oder bloße Träumereien sein mögen. Den unmittel-
baren EinfluĂź der Gottheit als einer solchen fĂĽhlen wollen, ist,
weil die Idee von dieser bloĂź in der Vernunft liegt, eine sich
selbst widersprechende Anmaßung. — Also ist hier eine Aufgabe
samt ihrer Auflösung ohne irgend einen möglichen Beweis;
woraus denn auch nie etwas VernĂĽnftiges gemacht werden wird.
Es kommt nun noch darauf an, nachzusuchen, ob die Bibel
nicht noch ein anderes Prinzip der Auflösung jenes Spenerischen
Problems, als die zwei angeführte sektenmäßige enthalte, welches
die Unfruchtbarkeit des kirchlichen Grundsatzes der bloĂźen Ortho-
doxie ersetzen könne. In der Tat ist nicht allein in die Augen
fallend, daĂź ein solches in der Bibel anzutreffen sei, sondern auch
ĂĽberzeugend gewiĂź, daĂź nur durch dasselbe und das in diesem
Prinzip enthaltene Christentum dieses Buch seinen so weit aus-
Mienen endlich stehende GesichtszĂĽge werden. Beate, oder wie sie
Hr. Nicolai nennt, gebenedeiete Gesichter wĂĽrden es von anderen
gesitteten und aufgeweckten Völkern (eben nicht zu ihrem Vorteil)
unterscheiden; denn es ist Zeichnung der Frömmigkeit in Karikatur.
Aber nicht die Verachtung der Frömmigkeit ist es, was den Namen
der Pietisten zum Sektennamen gemacht hat (mit dem immer eine
gewisse Verachtung verbunden ist), sondern die phantastische und bei
allem Schein der Demut stolze AnmaĂźung sich als ĂĽbernatĂĽrlich-be-
gĂĽnstigte Kinder des Himmels auszuzeichnen, wenngleich ihr Wandel,
so viel man sehen kann, vor dem der von ihnen so benannten Welt-
kinder in der Moralität nicht den mindesten Vorzug zeigt.
Kants Schriften. Bd. VII. 24
Ijo Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
gebreiteten Wirkungskreis und dauernden EinfluĂź auf die Welt
hat erwerben können, eine Wirkung, die keine OfFenbarungslehre
(als solche), kein Glaube an Wunder, keine vereinigte Stimme
vieler Bekcnner je hervorgebracht hätte, weil sie nicht aus der
Seele des Menschen selbst geschöpft gewesen wäre und ihm also
immer hätte fremd bleiben müssen.
Es ist nämlich etwas in uns, was zu bewundern wir niemals
aufhören können, wenn wir es einmal ins Auge gefaßt haben,
und dieses ist zugleich dasjenige, was die Menschheit in der
Idee zu einer WĂĽrde erhebt, die man am Menschen als Gegen-
stande der Erfahrung nicht vermuten sollte. DaĂź wir den mo-
ralischen Gesetzen unterworfene und zu deren Beobachtung selbst
mit Aufopferung aller ihnen widerstreitenden Lebensannehmlich-
keiten durch unsere Vernunft bestimmte Wesen sind, darĂĽber
wundert man sich nicht, weil es objektiv in der natĂĽrlichen
Ordnung der Dinge als Objekte der reinen Vernunft liegt, jenen
Gesetzen zu gehorchen: ohne daĂź es dem gemeinen und ge-
sunden Verstände nur einmal einfällt zu fragen, woher uns jene
Gesetze kommen mögen, um vielleicht, bis wir ihren Ursprung
wissen, die Befolgung derselben aufzuschieben, oder wohl gar
ihre Wahrheit zu bezweifeln. — Aber daß wir auch das Ver-
mögen dazu haben, der Moral mit unserer sinnlichen Natur so
große Opfer zu bringen, daß wir das auch können, wovon wir
ganz leicht und klar begreifen, daĂź wir es sollen, diese Ăśber-
legenheit des ĂĽbersinnlichen Menschen in uns ĂĽber den sinn-
lichen, desjenigen, gegen den der letztere (wenn es zum Wider-
streit kommt) nichts ist, ob dieser zwar 'in seinen eigenen Augen
alles ist, diese moralische, von der Menschheit unzertrennliche
Anlage in uns ist ein Gegenstand der höchsten Bewunderung,
die, je länger man dieses wahre (nicht erdachte) Ideal ansieht,
nur immer desto höher steigt: so daß diejenigen wohl zu ent-
schuldigen sind, welche, durch die Unbegreiflichkeit desselben
verleitet, dieses Ăśbersinnliche in uns, weil es doch praktisch
ist, fĂĽr ĂĽbernatĂĽrlich, d. i. fĂĽr etwas, was gar nicht in unserer
Macht steht und uns als eigen zugehört, sondern vielmehr für
den Einfluß von einem andern und höhern Geiste halten; worin
sie aber sehr fehlen: weil die Wirkung dieses Vermögens alsdann
nicht unsere Tat sein, mithin uns auch nicht zugerechnet werden
könnte, das Vermögen dazu also nicht das unsrige sein würde. —
Die Benutzung der Idee dieses uns unbegreiflicherweise bei-
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 7 1
wohnenden Vermögens und die Ansherzlegung derselben von der
frühesten Jugend an und fernerhin im öffentlichen Vortrage ent-
hält nun die echte Auflösung jenes Problems (vom neuen Men-
schen), und selbst die Bibel scheint nichts anders vor Augen ge-
habt zu haben, nämlich nicht auf übernatürliche Erfahrungen und
schwärmerische Gefühle hinzuweisen, die statt der Vernunft diese
Revolution bewirken sollten: sondern auf den Geist Christi, um
ihn, so wie er ihn in Lehre und Beispiel bewies, zu dem unsrigen
zu machen, oder vielmehr, da er mit dtr ursprĂĽnglirhen moralischen
Anlage schon in uns liegt, ihm nur Raum zu verschaffen. Und
so ist zwischen dem seelenlosen Orthodoxism und dem ver-
nunfttötenden Mystizism die biblische Glaubenslehre, so wie sie
vermittelst der Vernunft aus uns selbst entwickelt werden kann,
die mit göttlicher Kraft auf aller Menschen Herzen zur gründlichen
Besserung hinwirkende und sie in einer allgemeinen (obzwar un-
sichtbaren) Kirche vereinigende, auf dem Kritizism der praktischen
Vernunft gegrĂĽndete wahre Religionslehre.
Das aber, worauf es in dieser Anmerkung eigentlich ankommt,
ist die Beantwortung der Frage: ob die Regierung wohl einer
Sekte des Gefühlglaubens die Sanktion einer Kirche könne an-
gedeihen lassen; oder ob sie eine solche zwar dulden und schĂĽtzen,
mit jenem Prärogativ aber nicht beehren könne, ohne ihrer eigenen
Absicht zuwider zu handeln.
Wenn man annehmen darf (wie man es denn mit Grunde
tun kann), daĂź es der Regierung Sache gar nicht sei, fĂĽr die
kĂĽnftige Seligkeit der Untertanen Sorge zu tragen und ihnen den
Weg dazu anzuweisen (denfi das muĂź sie wohl diesen selbst ĂĽber-
lassen, wie denn auch der Regent selbst seine eigene Religion
gewöhnlicherweise vom Volk und dessen Lehrern her hat): so
kann ihre Absicht nur sein, auch durch dieses Mittel (den Kirchen-
glauben) lenksame und moralisch-gute Untertanen zu haben.
Zu dem Ende wird sie erstlich keinen Naturalism (Kirchen-
glauben ohne Bibel) sanktionieren, weil es bei dem gar keine dem
EinfluĂź der Regierung unterworfene kirchliche Form geben wĂĽrde,
welches der Voraussetzung widerspricht. — Die biblische Ortho-
doxie würde also das sein, woran sie die öffentliche Volkslehrer
bände, in Ansehung deren diese wiederum unter der Beurteilung
der Fakultäten stehen würden, die es angeht, weil sonst ein
24*
3 72 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
PfafFcntum, d. i. eine Herrschaft der Werkleute des Kirchen-
glaubens, entstehen wĂĽrde, das Volk nach ihren Absichten zu be-
herrschen. Aber den Orthodoxism, d. i. die Meinung von der
Hinlänglichkcit des Kirchenglaubens zur Religion, würde sie durch
ihre Autorität nicht bestätigen; weil diese die natürliche Grund-
sätze der Sittlichkeit zur Nebensache macht, da sie vielmehr die
Hauptstütze ist, worauf die Regierung muß rechnen können,
wenn sie in ihr Volk Vertrauen setzen soll.') Endlich kann sie
am wenigsten den Mystizism als Meinung des Volks, ĂĽbernatĂĽr-
licher Inspiration selbst teilhaftig werden zu können, zum Rang
eines örfentlichen Kirchenglaubens erheben, weil er gar nichts
Ortentiiches ist und sich also dem Einfluß der Regierung gänzlich
entzieht.
Friedens-Abschluß und Beilegung des Streits der Fakultäten.
In Streitigkeiten, welche bloĂź die reine, aber praktische Ver-
nunft angehen, hat die philosophische Fakultät ohne Widerrede
das Vorrecht, den Vortrag zu tun und, was das Formale betrifft,
') Was den Staat in Religionsdingen allein interessieren darf, ist:
wozu die Lehrer derselben anzuhalten sind, damit er nĂĽtzliche BĂĽrger^
gute Soldaten und ĂĽberhaupt getreue Untertanen habe. Wenn er nun
dazu die Einschiirfung der Rechtgläubigkeit in statutarischen Glaubens-
lehren und eben solcher Gnadenmittel wählt, so kann er hiebei sehr
ĂĽbel fahren. Denn da das Annehmen dieser Statute eine leichte und
dem schlechtdenkendsten Menschen weit leichtere Sache ist als dem
Guten, dagegen die moralische Besserung der Gesinnung viel und lange
Mühe macht, er aber von der ersteren hauptsächlich seine Seligkeit zu
hoffen gelehrt worden ist, so darf er sich eben kein groĂź Bedenken
machen, seine Pflicht (doch behutsam) zu ĂĽbertreten, weil er ein un-
fehlbares Mittel bei der Hand hat, der göttlichen Strafgerechtigkeit
(nur daß er sich nicht verspäten muß) durch seinen rechten Glauben
an alle Geheimnisse und inständige Benutzung der Gnadenmittel zu
entgehen; dagegen, wenn jene Lehre der Kirche geradezu auf die
Moralität gerichtet sein würde, das Urteil seines Gewissens ganz anders
lauten würde: nämlich daß, so viel er von dem Bösen, was er tat,
nicht ersetzen kann, dafĂĽr mĂĽsse er einem kĂĽnftigen Richter antworten,
und dieses Schicksal abzuwenden, vermöge kein kirchliches Mittel, kein
durch Angst herausgedrängter Glaube, noch ein solches Gebet {desine
fata dctan ßecti sperare precaiido). — Bei welchem Glauben ist nun der
Staat sicherer?
Der Streit der philosoj)hische7J Fakultät mit der theologischen iJi
den ProzeĂź zu instruieren; was aber das Materiale anlangt, so
ist die theologische im Besitz, den Lehnstuhl, der den Vorrang
bezeichnet, einzunehmen, nicht weil sie etwa in Sachen der Ver-
nunft auf mehr Einsicht Anspruch machen kann als die ĂĽbrigen,
sondern weil es die wichtigste menschliche Angelegenheit betrifit,
und führt daher den Titel der obersten Fakultät (doch nur als
prima inter pares). — Sie spricht aber nicht nach Gesetzen der
reinen und a priori erkennbaren Vernunftreligion (denn da wĂĽrde
sie sich erniedrigen und auf die philosophische Bank herabsetzen),
sondern nach statutarischen, in einem Buche, vorzugsweise Bibel
genannt, enthaltenen Glaubensvorschriften, d. i. in einem Codex
der Offenbarung eines vor viel hundert Jahren geschlossenen alten
und neuen Bundes der Menschen mit Gott, dessen Authentizität
als eines Geschichtsglaubens (nicht eben des moralischen; denn
der würde auch aus der Philosophie gezogen werden können)
doch mehr von der Wirkung, welche die Lesung der Bibel auf
das Herz der Menschen tun mag, als von mit kritischer PrĂĽfung
der darin enthaltenen Lehren und Erzählungen aufgestellten Beweisen
erwartet werden darf, dessen Auslegung auch nicht der natĂĽr-
lichen Vernunft der Laien, sondern nur der Scharfsinnigkeit der
Schriftgelehrten ĂĽberlassen wird.')
Der biblische Glaube ist ein messianischer il-reschichtsglaube,
dem ein Buch des Bundes Gottes mit Abraham zum Grunde liegt,
und besteht aus einem mosaisch-messianischen und einem evan-
gelisch-messianischen Kirchenglauben, der den Ursprung und die
') Im römisch-katholischen System des Kirchenglaubens ist diesen
Punkt (das Bibellesen) betreffend mehr Konsequenz als im protestan-
tischen. — Der reformierte Prediger La Coste sagt zu seinen Glaubens-
genossen: „Schöpft das göttliche Wort aus der Quelle (der Bibel)
selbst, wo ihr es dann lauter und unverfälscht einnehmen könnt; aber
ihr müßt ja nichts anders in der Bibel finden, als was wir darin finden. —
Nun, lieben Freunde, sagt uns lieber, was ihr in der Bibel findet, damit
wir nicht unnötigerweise darin selbst suchen und am Ende, was wir
darin gefunden zu haben vermeinten, von euch fĂĽr unrichtige Auslegung
derselben erklärt werde." — Auch spricht die katholische Kirche in
dem Satze: „Außer der Kirche (der katholischen) ist kein Heil",
konsequenter als die protestantische, wenn diese sagt: daĂź man auch
als Katholik selig werden könne. Denn wenn das ist (sagt Bossuer),
so wählt man ja am sichersten, sich zur ersteren zu schlagen. Denn
noch seliger als selig kann doch kein Mensch zu werden verlangen.
3 74 D^f Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
Schicksale des Volks Gottes so vollständig erzählt, daß er von
dem, was in der Weltgeschichte ĂĽberhaupt das oberste ist, und
wobei kein Jvlensch zugegen war, nämlich dem Weltantang (in
der Genesis), anhebend, sie bis zum Ende aller Dinge (in der
Apokalypsis) verfolgt, — welches freihch von keinem andern
als einem göttlich-inspirierten Verfasser erwartet werden darf-; —
wobei sich doch eine bedenkliche Zahlen-Kabbala in Ansehung
der wichtigsten Epochen der heiligen Chronologie darbietet,
welche den Glauben an die Authentizität dieser biblischen Ge-
schichtserzählung etwas schwächen dürfte.')
') 70 apokalyptische Monate (deren es in diesem Zyklus 4 gibt),
jeden zu 297^ Jahren, geben 2065 Jahr. Davon jedes 49ste Jahr als
das groĂźe Ruhejahr, (deren in diesem Zeitlaufe 42 sind) abgezogen:
bleiben gerade 2023, als das Jahr, da Abraham aus dem Lande Kanaan,
das ihm Gott geschenkt hatte, nach Ägypten ging. — Von da an bis zur
Einnahme jenes Landes durch die Kinder Israel 70 apokalyptische Wochen
(= 490 Jahr) — und so 4 mal solcher Jahrwochen zusammengezählt
(= i960) und mit 2023 addiert, geben nach P. Petaus Rechnung
das Jahr der Geburt Christi (= 3983) so genau, daĂź auch nicht ein
Jahr daran fehlt. — Siebzig Jahr hernach die Zerstörung Jerusalems
(auch eine mystische Epoche). — — Aber Bengel, in ordine teniporum
pag. p. it. p. 21S seqq., bringt 3939 als die Zahl der Geburt Christi her-
aus? Aber das ändert nichts an der Heiligkeit des Numerus septenarius.
Denn die Zahl der Jahre vom Rufe Gottes an Abraham bis zur Geburt
Christi ist i960, welches 4 apokalyptische Perioden austrägt, jeden zu
490, oder auch, 40 apok. Perioden, jeden zu 7 mal 7 = 49 Jahr.
Zieht man nun von jedem neunundvierzigsten das groĂźe Ruhejahr
und von jedem größten Ruhejahr, welches das 49oste ist, eines ab
(zusammen 44), so bleibt gerade 3939. — Also sind die Jahrzahlen
5983 und 3939 als das verschieden angegebene Jahr der Geburt Christi,
nur darin unterschieden: daĂź die letztere entspringt, wenn in der Zeit
der ersteren das, was zur Zeit der 4 großen Epochen gehört, um die
Zahl der Ruhejahre vermindert wird. Nach Bengeln wĂĽrde die Tafel
der heil. Geschichte so aussehen:
2023: VerheiĂźung an Abraham, das Land Kanaan zu besitzen;
2502: Besitzerlangung desselben;
2981 : Einweihung des ersten Tempels;
3460: Gegebener Befehl zur Erbauung des zweiten Tempels;
3939: Geburt Christi.
Auch das Jahr der Siindflut läßt sich so a priori ausrechnen. Nämlich
4 Epochen zu 490 (= 70 x 7) Jahr machen i960. Davon jedes 7te
(= 280) abgezogen, bleiben 1680. Von diesen 1680 jedes darin enr-
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen j 7 5
Ein Gesetzbuch des nicht aus der menschlichen Vernunft ge-
zogenen, aber doch mit ihr, als morahsch-praktischer Vernunft,
dem Endzwecke nach vollkommen einstimmigen statutarischen
(mithin aus einer Offenbarung hervorgehenden) göttlichen Willens,
die Bibel, würde nun das kräftigste Organ der Leitung des Men-
schen und des BĂĽrgers zum zeitlichen und ewigen Wohl sein,
wenn sie nur als Gottes Wort beglaubigt und ihre Authentizität
dokumentiert werden könnte. — Diesem Umstände aber stehen
viele Schwierigkeiten entgegen.
Denn wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann
dieser doch niemals wissen, daĂź es Gott sei, der zu ihm spricht.
Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine
Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden
und ihn woran kennen solle. — Daß es aber nicht Gott sein
könne, dessen Stimme er zu hören glaubt, davon kann er sich
wohl in einigen Fällen überzeugen; denn wenn das, was ihm
durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so
mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch und die ganze
Natur überschreitend dünken: er muß sie doch für Täuschung
halten.')
Die Beglaubigung der Bibel nun, als eines in Lehre und Bei-
spiel zur Norm dienenden evangelisch-messianischen Glaubens,
kann nicht aus der Gottesgelahrtheit ihrer Verfasser (denn der
war immer ein dem möglichen Irrtum ausgesetzter Mensch), sondern
muß aus der Wirkung ihres Inhalts auf die Moralität des Volks
von Lehrern aus diesem Volk selbst, als Idioten (im Wissenschaft-
haltene 7oste Jahr abgezogen (= 24), bleiben i<5y<5 als das Jahr der
Sündflut. — Auch von dieser bis zum R. G. an Abraham sind 366 volle
Jahre, davon eines ein Schaltjahr ist.
Was soll man nun hiezu sagen? Haben die heilige Zahlen etwa
den Weltlauf bestimmt? — Frank' s Cyclus iobilaeus dreht sich ebenfalls
um diesen Mittelpunkt der mystischen Chronologie herum.
^) Zum Beispiel kann die Mythe von dem Opfer dienen, das Abra-
ham auf göttlichen Befehl durch Abschlachtung und Verbrennung
seines einzigen Sohnes — (das arme Kind trug unwissend noch das
Holz hinzu) — bringen wollte. Abraham hätte auf diese vermeinte
göttliche Stimme antworten müssen: „Daß ich meinen guten Sohn
nicht töten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst,
Gott sei, davon bin ich nicht gewiĂź und kann es auch nicht werden,
wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete."
3 7<^ Oer Streit der Faktiltaten. Erster Ahschn'ttt
liehen), an sich, mithin als aus dem reinen Quell der allgemeinen,
jedem gemeinen Menschen beiwohnenden Vernunftreligion ge-
schöpft betrachtet werden, die eben durch diese Einfalt auf die
Herzen desselben den ausgebreitetsten und kräftigsten Einfluß haben
mußte. — Die Bibel war das Vehikel derselben vermittelst gewisser
statutarischer Vorschriften, welche der AusĂĽbung der Religion in
der bĂĽrgerlichen Gesellschaft eine Form als einer Regierung gab,
und die Authentizität dieses Gesetzbuchs als eines göttlichen (des
Inbegriffs aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote) beglaubigt
also und dokumentiert sich selbst, was den Geist desselben (das
Moralische) betrifft; was aber den Buchstaben (das Statutarische)
desselben anlangt, so bedĂĽrfen die Satzungen in diesem Buche
keiner Beglaubigung, weil sie nicht zum Wesentlichen (^principale),
sondern nur zum Beigcselleten (accessoriuni) desselben gehören.
Den Ursprung aber dieses Buchs auf Inspiration seiner Verfasser
(^deus ex mach'iud) zu grĂĽnden, um auch die unwesentliche Statute
desselben zu heiligen, muĂź eher das Zutrauen zu seinem moralischen
Wert schwächen als es stärken.
Die Beurkundung einer solchen Schrift als einer göttlichen,
kann von keiner Geschichtserzählung, sondern nur von der er-
probten Kraft derselben, Religion in menschlichen Herzen zu
grĂĽnden und, wenn sie durch mancherlei falte oder neue) Satzungen
verunartet wäre, sie durch ihre Einfalt selbst wieder in ihre
Reinigkeit herzustellen, abgeleitet werden, welches Werk darum
nicht auHiört, Wirkung der Natur und Erfolg der fortschreitenden
moralischen Kultur in dem allgemeinen Gange der Vorsehung
zu sein, und als eine solche erklärt zu werden bedarf, damit die
Existenz dieses Buchs nicht ungläubisch dem bloßen Zufall, oder
abergläubisch einem Wunder zugeschrieben werde, und die
Vcrnunf-t in beiden Fällen auf den Strand gerate.
Der SchluĂź hieraus ist nun dieser:
Die Bibel enthält in sich selbst einen in praktischer Absicht
hinreichenden Beglaubigungsgrund ihrer (moralischen) Göttlichkeit
durch den EinfluĂź, den sie als Text einer systematischen Glaubens-
lehre von jeher sowohl in katechetischem als homiletischem Vor-
trage aut das Herz der Menschen ausgeĂĽbt hat, um sie als Organ
nicht allein der allgemeinen und inneren Vernunftreligion, sondern
auch als Vermächtnis (Neues Testament) einer statutarischen, auf
unabschliche Zeiten zum Leitfaden dienenden Glaubenslehre auf-
zubehalten: es mag ihr auch in theoretischer RĂĽcksicht tĂĽr Ge-
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 7 7
lehrte, die ihren Ursprung theoretisch und historisch nachsuchen,
und fĂĽr die kritische Behandlung ihrer Geschichte an BeweistĂĽmern
viel oder wenig abgehen. — Die Göttlichkeit ihres morahschen
Inhalts entschädigt die Vernunft hinreichend wegen der Mensch-
lichkeit der Geschichtserzählung, die gleich einem alten Pergamente
hin und wieder unleserlich, durch Akkommodationen und Konjek-
turen im Zusammenhange mit dem Ganzen muß verständlich ge-
macht werden, und berechtigt dabei doch zu dem Satz: daĂź die
Bibel, gleich als ob sie eine göttliche Offenbarung wäre,
aufbewahrt, moralisch benutzt und der Religion als ihr Leitmitiel
untergelegt zu werden verdiene.
Die Keckheit der Kraftgenies, weiche diesem Leitbande des
Kirchenglaubens sich jetzt schon entwachsen zu sein wähnen, sie
mögen nun als Theophilanthropen in öffentlichen dazu errichteten
Kirchen, oder als Mystiker bei der Lampe innerer Offenbarungen
schwärmen, würde die Regierung bald ihre Nachsicht bedauren
machen, jenes groĂźe Stiftungs- und Leitungsmittel der bĂĽrgcrhchen
Ordnung und Ruhe vernachlässigt und leichtsinnigen Händen über-
lassen zu haben. — Auch ist nicht zu erwarten, daß, wenn die
Bibel, die wir haben, auĂźer Kredit kommen sollte, eine andere
an ihrer Steile emporkommen würde; denn öffentliche Wunder
machen sich nicht zum zweitenmale in derselben Sache: weil das
Fehlschlagen des vorigen in Absicht auf die Dauer dem folgenden
allen Glauben benimmt; — wiewohl doch auch andererseits aur
das Geschrei der Alarmisten (das Pveich ist in Gefahr) nicht
zu achten ist, Vv^enn in gewissen Statuten der Bibel, welche mehr
die Förmlichkeiten als den inneren Giaubensgehalt der Schrift be-
treffen, selbst an den Verfassern derselben einiges gerĂĽgt werden
sollte: weil das Verbot der PrĂĽfung einer Lehre der Glaubens-
freiheit zuwider ist. — Daß aber ein Geschichtsglaube Pflicht sei
und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube.*)
^) Aberglaube ist der Hang in das, was als nicht natĂĽrlicher
Weise zugehend vermeint wird, ein größeres Vertrauen tu setzen, als
was sich nach Naturgesetzen erklären läßt — es sei im Physischen oder
Moralischen. — Man kann also die Fra^e aufwerfen: ob der Bibelglaube
(als empirischer), oder ob umgekehrt die Moral (als reiner Vernunft-
und Religionsglaube) dem Lehrer zum Leitfaden dienen solle; mit an-
deren Worten: ist die Lehre von Gott, weil sie in der Bibel steht,
oder steht sie in der Bibel, weil sie von Gott ist? — Der erstere Satz
ist augenscheinlich inkonsequent: weil das göttliche Ansehen des Buchs
378 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
Von der biblischen Auslegungskunst (Jiernieneutica sacra)^
da sie nicht den Laien ĂĽberlassen werden kann (denn sie betrifft
ein wissenschaftliches System), darf nun lediglich in Ansehung
dessen, was in der Religion statutarisch ist, verlangt werden: daĂź
der Ausleger sich erkläre, ob sein Ausspruch als authentisch,
oder als doktrinal verstanden werden solle. — Im ersteren falle
muß die Auslegung dem Sinne des Verfassers buchstäblich (philo-
logisch) angemessen sein; im zweiten aber hat der Schriftsteller
die Freiheit, der Schriftstelle (philosophisch) denjenigen Sinn unter-
zulegen, den sie in moralisch-praktischer Absicht (zur Erbauung
des Lehrlings) in der Exegese annimmt; denn der Glaube an
einen bloßen Geschichtssatz ist tot an ihm selber. — Nun mag
wohl die erstere fĂĽr den Schriftgelehrten und indirekt auch fĂĽr
das Volk in gewisser pragmatischen Absicht wichtig genug sein, aber
der eigentliche Zweck der Religionslehre, moralisch bessere Menschen
zu bilden, kann auch dabei nicht allein verfehlt, sondern wohl
gar verhindert werden. — Denn die heilige Schriftsteller können
hier vorausgesetzt werden muß, um die Göttlichkeit der Lehre desselben
zu beweisen. Also kann nur der zweite Satz stattfinden, der aber
schlechterdings keines Beweises fähig ist (ßupernaturalium uon datur
scientta). — — Hievon ein Beispiel. — Die Jünger des mosaisch-mes-
sianischen Glaubens sahen ihre Hoffnung aus dem Bunde Gottes mit
Abraham nach Jesu Tode ganz sinken (wir hofften, er wĂĽrde Israel er-
lösen); denn nur den Kindern Abrahams war in ihrer Bibel das Heil
verheiĂźen. Nun trug es sich zu, daĂź, da am Pfingstfeste die JĂĽnger
versammelt waren, einer derselben auf den glĂĽcklichen, der subtilen
jĂĽdischen Auslegungskunst angemessenen Einfall geriet, daĂź auch die
Heiden (Griechen und Römer) als in diesen Bund aufgenommen be-
trachtet werden könnten: wenn sie an das Opfer, welches Abraham
Gotte mit seinem einzigen Sohne bringen wollte (als dem Sinnbilde des
einigen Opfers des Weltheilandes) glaubeten; denn da wären sie Kin-
der Abrahams im Glauben (zuerst unter, dann aber auch ohne die Be-
schneidung). — Es ist kein Wunder, daß diese Enrdeckung, die in einer
großen Volksversammlung eine so unermeßliche Aussicht eröffnete, mit
dem grö^Jten Jubel, und als ob sie unmittelbare Wirkung des heil,
Geistes gewesen wäre, aufgenommen und für ein Wunder gehalten
wurde und als ein solches in biblische (Apostel-) Geschichte kam, bei
der es aber gar nicht zur Religion gehört, sie als Faktum zu glauben
und diesen Glauben der natĂĽrlichen Menschenvernunft, aufzudringen.
Der durch Furcht abgenötigte Gehorsam in Ansehung eines solchen
Kirchenglaubens, als zur Seligkeit erforderlich, ist also Aberglaube.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen \-j^
als Menschen auch geirret haben (wenn man nicht ein durch die
Bibel beständig fortlautendes Wunder annimmt), wie z. B. der
h. PAUL mit seiner Gnadenwahl, welche er aus der mosaisch-
messianischen Schriftlehre in die evangelische treuherzig überträgt,
ob er zwar ĂĽber die Unbegreiflichkeit der Verwerfung gewisser
Menschen, ehe sie noch geboren waren, sich in groĂźer Verlegen-
heit befindet und so, wenn man die Hermeneutik der Schrift-
gelehrten als kontinuierlich dem Ausleger zuteil gewordene Often-
barung annimmt, der Göttlichkeit der Religion beständig Abbruch
tun muß. — Also ist nur die doktrinale Auslegung, welche
nicht (empirisch) zu wissen verlangt, was der heilige Verfasser
mit seinen Worten fĂĽr einen Sinn verbunden haben mag, sondern
was die Vernunft (a priori) in moraĂĽscher RĂĽcksicht bei Veran-
lassung einer Spruchstelle als Text der Bibel fĂĽr eine Lehre unter-
legen kann, die einzige evangelisch-biblische Methode der Belehrung
des Volks in der wahren inneren und allgemeinen Religion, die
von dem partikulären Kirchenglauben als Geschichtsglauben —
unterschieden ist; wobei dann alles mit Ehrlichkeit und Offenheit,
ohne Täuschung zugeht, da hingegen das Volk, mit einem Ge-
schichtsglauben, den keiner desselben sich zu beweisen vermag,
statt des moralischen (allein seligmachenden), den ein jeder faĂźt,
in seiner Absicht (die es haben muß) getäuscht, seinen Lehrer
anklagen kann.
In Absicht auf die Religion eines Volks, das eine heilige
Schrift zu verehren gelehrt worden ist, ist nun die doktrinale
Auslegung derselben, welche sich auf sein (des Volks) moralisches
Interesse — der Erbauung, sittUchen Besserung und so der Selig-
werdung — bezieht, zugleich die authentische: d. i. so will Gott
seinen in der Bibel geoffenbarten Willen verstanden wissen. Denn
es ist hier nicht von einer bĂĽrgerlichen, das Volk unter Disziplin
haltenden (politischen), sondern einer auf das Innere der morali-
schen Gesinnung abzweckenden (mithin göttüchen) Regierung die
Rede. Der Gott, der durch unsere eigene (moralisch-praktische)
Vernunft spricht, ist ein untrügücher, allgemein verständlicher
Ausleger dieses seines Worts, und es kann auch schlechterdings
keinen anderen (etwa auf historische Art) beglaubigten Ausleger
seines Worts geben: weil Religion eine reine Vernunftsache ist.
380 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
Und so haben die Theologen der Fakultät die Pflicht aut sich,
mithin auch die Befugnis, den Bibelglauben aufrecht zu erhalten:
doch unbeschadet der Freiheit der Philosophen, ihn jederzeit der
Kritik der Vernunft zu unterwerfen, welche im Falle einer Dik-
tatur (des Religionscdikts), die jener oberen etwa auf kurze Zeit
eingeräumt werden dürfte, sich durch die solenne Formel bestens
verwahren: Provideant cotisules, ne quid respublica detrimenti capiat.
Anhang biblisch-historischer Fragen
ĂĽber die praktische Benutzung und mutmaĂźliche Zeit der
Fortdauer dieses heihgen Buchs.
DaĂź es bei allem Wechsel der Meinungen noch lange Zeit
im Ansehen bleiben werde, dafĂĽr bĂĽrgt die Weisheit der Regie-
rung, als deren Interesse in Ansehung der Eintracht und Ruhe
des Volks in einem Staat hiemit in enger Verbindung steht. Aber
ihm die Ewigkeit zu verbĂĽrgen, oder auch es chiliastisch in ein
neues Reich Gottes auf Erden ĂĽbergehen zu lassen, das ĂĽbersteigt
unser ganzes Vermögen der Wahrsagung. — Was würde also ge-
schehen, wenn der Kirchenglaube dieses groĂźe Mittel der Volks-
leitung einmal entbehren mĂĽĂźte?
Wer ist der Redakteur der biblischen BĂĽcher (Alten und
Neuen Testaments), und zu welcher Zeit ist der Kanon zustande
gekommen?
Werden philologisch-antiquarische Kenntnisse immer zur Er-
haltung der einmal angenommenen Glaubensnorm nötig sein, oder
wird die Vernunft den Gebrauch derselben zur Religion dereinst
von selbst und mit allgemeiner Einstimmung anzuordnen im-
stande sein?
Hat man hinreichende Dokumente der Authentizität der Bibel
nach den sogenannten 70 Dolmetschern, und von welcher Zeit
kann man sie mit Sicherheit datieren? u. s. w.
Die praktische, vornehmlich ötFenthche Benutzung dieses Buchs
in Predigten ist ohne Zweifel diejenige, welche zur Besserung der
Menschen und Belebung ihrer moralischen Triebfedern (zur Er-
bauung) beiträgt. Alle andere Absicht muß ihr nachstehen, wenn
sie hiemit in Kollision kommt. — Man muß sich daher wundern:
daß diese Maxime noch hat bezweifelt werden können, und eine
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen j 8 i
paraphrastische Behandlung eines Texts der paränetischcn,
wenngleich nicht vorgezogen, doch durch die erstere wenigstens
hat in Schatten gestellt werden sollen. — Nicht die Schrift-
gelahrtheit, und was man vermittelst ihrer aus der Bibel durch
philologische Kenntnisse, die oft nur verunglĂĽckte Konjekturen
sind, herauszieht, sondern was man mit moralischer Denkungsart
(also nach dem Geiste Gottes) in sie hineinträgt, und Lehren,
die nie trügen, auch nie ohne heilsame Wirkung sein können,
das muß diesem Vortrage ans Volk die Leitung geben: nämlich
den Text nur (wenigstens hauptsächlich) als Veranlassung zu
allem Sittenbessernden, was sich dabei denken läßt, zu behandeln,
ohne was die heil. Schriftsteller dabei selbst im Sinne gehabt
haben möchten, nachforschen zu dürfen. — Eine auf Erbauung
als Endzweck gerichtete Predigt (wie denn das eine jede sein soll)
muß die Belehrung aus den Herzen der Zuhörer, nämlich der
natĂĽrlichen moralischen Anlage, selbst des unbelehrtesten Men-
schen, entwickeln, wenn die dadurch zu bewirkende Gesinnung
lauter sein soll. Die damit verbundene Zeugnisse der Schrift
sollen auch nicht die Wahrheit dieser Lehren bestätigende
historische Beweisgründe sein (denn deren bedarf die sittlich-tätige
Vernunft hiebei nicht: und das empirische Erkenntnis vermag es
auch nicht), sondern bloĂź Beispiele der Anwendung der prakti-
schen Vernunftprinzipien auf Fakta der h. Geschichte, um ihre
Wahrheit anschaulicher zu machen; welches aber auch ein sehr
schätzbarer Vorteil für Volk und Staat auf der ganzen Erde ist.
Anhang
Von einer reinen Mystik in der Religion.')
Ich habe aus der Kritik der reinen Vernunft gelernet, daĂź
Philosophie nicht etwa eine Wissenschaft der Vorstellungen, Be-
griffe und Ideen, oder eine Wissenschaft aller Wissenschaften, oder
') In einem seiner Dissertation: De similitudiite inter Mysticismum
purum et Kantianavi religionis doctrinam. Auetore Carol. Arnold. W Ulm ans,
Bielefelda-Guestphalo, Malis Saxottum 1797 beigefĂĽgten Briefe, welchen
ich mit seiner Erlaubnis und mit Weglassung der Einleitungs- und
Schlußhöflichkeitsstellen hiemit liefere, und welcher diesen jetzt der
)
82 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
sonst etwas Ă„hnliches sei; sondern eine Wissenschaft des Men-
schen, seines Vorsteiiens, Denkens und Handelns; — sie soll den
Menschen nach allen seinen Bestandteilen darstellen, wie er ist
und sein soll, d. h. sowohl nach seinen Naturbestimmungen, als
auch nach seinem Moralitäts- und Freiheitsverhältnis. Hier wies
nun die alte Philosophie dem Menschen einen ganz unrichtigen
Standpunkt in der Welt an, indem sie ihn in dieser zu einer
Maschine machte, die als solche gänzlich von der Welt oder von
den Außendingen und Umständen abhängig sein mußte; sie machte
also den Menschen zu einem beinahe bloĂź passiven Teile der
Welt. — Jetzt erschien die Kritik der Vernunft und bestimmte
dem Menschen in der Welt eine durchaus aktive Existenz. Der
Mensch selbst ist ursprünglich Schöpfer aller seiner Vorstellungen
und Begriffe und soll einziger Urheber aller seiner Handlungen
sein. Jenes „ist" und dieses ,.soll" führt auf zwei ganz ver-
schiedene Bestimmungen am Menschen. Wir bemerken daher
auch im Menschen zweierlei ganz verschiedenartige Teile, nämlich
auf der einen Seite Sinnlichkeit und Verstand und auf der andern
Vernunft und freien Willen, die sich sehr. wesentlich voneinander
unterscheiden. In der Natur ist alles; es ist von keinem Soll
in ihr die Rede; Sinnlichkeit und Verstand gehen aber nur immer
darauf aus, zu bestimmen, was und wie es ist; sie mĂĽssen also
fĂĽr die Natur, fĂĽr diese Erdenwelt, bestimmt sein und mithin zu
ihr gehören. Die Vernunft will beständig ins Übersinnliche, wie
es wohl über die sinnliche Natur hinaus beschaffen sein möchte:
sie scheint also, obzwar ein theoretisches Vermögen, dennoch gar
nicht fĂĽr diese Sinnlichkeit bestimmt zu sein; der freie Wille aber
besteht ja in einer Unabhängigkeit von den Außendingen; diese
sollen nicht Triebfedern des Handlens fĂĽr den Menschen sein;
er kann also noch weniger zur Natur gehören. Aber wohin
denn? Der Mensch muĂź fĂĽr zwei ganz verschiedene Welten be-
stimmt sein, einmal fĂĽr das Reich der Sinne und des Verstandes,
also fĂĽr diese Erdenwelt: dann aber auch noch fĂĽr eine andere
Welt, die wir nicht kennen, fiir ein Reich der Sitten.
Was den Verstand betrifft, so ist dieser schon fĂĽr sich durch
Ary.neiwissenschaft sich widmenden jungen Mann als einen solchen be-
zeichnet, von dem sich auch in anderen Fachern der Wissenschaft viel
erwarten laut. Wobei ich gleichwohl jene Ă„hnlichkeit meiner Vor-
srellungsart mit der seinigen unbedingt einzugestehen nicht gemeint bin.
Der Streit der philosophischen Fakultät r/iit der theologische?! 3 8 j
seine Form auf diese Erdenwelt eingescliränkt; denn er besteht
bloĂź aus Kategorien, d. h. Ă„uĂźerungsarten, die bloĂź auF sinnliche
Dinge sich beziehen können. Seine Grenzen sind ihm also scharf
gesteckt. Wo die Kategorien aufhören, da hört auch der Ver-
stand auf; weil sie ihn erst bilden und zusammensetzen. [Ein
Beweis fĂĽr die bloĂź irdische oder Naturbestimmung des Verstandes
scheint mir auch dieses zu sein, daĂź wir in RĂĽcksicht der Ver-
standeskräfte eine Stufenleiter in der Natur finden, vom klügsten
Menschen bis zum dĂĽmmsten Tiere (indem wir doch den Instinkt
auch als eine Art von Verstand ansehen können, insofern zum
bloßen Verstände der freie Wille nicht gehört)]. Aber nicht so
in Rücksicht der Moralität, die da aufhört, wo die Menschheit
aufhört, und die in allen Menschen ursprünglich dasselbe Ding
ist. Der Verstand muß also bloß zur Natur gehören, und wenn
der Mensch bloß Verstand hätte ohne Vernunft und freien Willen,
oder ohne Moralität, so würde er sich in nichts von den Tieren
unterscheiden und vielleicht bloĂź an der Spitze ihrer Stufenleiter
stehen, da er hingegen jetzt, im Besitz der Moralität, als freies
Wesen, durchaus und wesentlich von den Tieren verschieden ist,
auch von dem klĂĽgsten (dessen Instinkt oft deutlicher und be-
stimmter wirkt, als der Verstand der Menschen). — Dieser Ver-
stand aber ist ein gänzlich aktives Vermögen des Menschen; alle
seine Vorstellungen und Begriffe sind bloß seine Geschöpfe, der
Mensch denkt mit seinem Verstände ursprünglich, und er schafft
sich also seine Welt. Die AuĂźendinge sind nur Gelegenheits-
ursachen der Wirkung des Verstandes, sie reizen ihn zur Aktion,
und das Produkt dieser Aktion sind Vorstellungen und Begriffe.
Die Dinge also, worauf sich diese Vofstellungen und Begriffe be-
ziehen, können nicht das sein, was unser Verstand vorstellt; denn
der Verstand kann nur Vorstellungen und seine Gegenstände,
nicht aber wirkliche Dinge schaffen, d. h. die Dinge können un-
möglich durch diese Vorstellungen und Begriffe vom Verstände
als solche, wie sie an sich sein mögen, erkannt werden; die Dinge,
die unsere Sinne und unser Verstand darstellen, sind vielmehr
an sich nur Erscheinungen, d. i. Gegenstände unserer Sinne und
unseres Verstandes, die das Produkt aus dem Zusammentreffen der
Gelegenheitsursachen und der Wirkung des Verstandes sind, die
aber deswegen doch nicht Schein sind, sondern die wir im prak-
tischen Leben für uns als wirkliche Dinge und Gegenstände
unserer Vorstellungen ansehen können; eben weil wir die wirklichen
384 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
Dinge als jene Gelegenheitsursachen supponieren mĂĽssen. Ein
Beispiel gibt die Naturwissenschaft. AuĂźendinge wirken auf: einen
aktionstähigen Körper und reizen diesen dadurch zur Aktion; das
Produkt hievon ist Leben. — Was ist aber Leben? Physisches
Anerkennen seiner Existenz in der Welt und seines Verhältnisses
zu den Außendingen; der Körper lebt dadurch, daß er auf die
AuĂźendinge reagiert, sie als seine Welt ansieht und sie zu seinem
Zweck gebraucht, ohne sich weiter um ihr Wesen zu bekĂĽmmern.
Ohne Außendinge wäre dieser Körper kein lebender Körper, und
ohne Aktionsfähigkeit des Körpers wären die Außendinge nicht
seine W'elt. Ebenso mit dem Verstände. Erst durch sein Zu-
sammentreffen mit den AuĂźendingen entsteht diese seine V/elt;
ohne Außendinge wäre er tot, — ohne Verstand aber wären keine
Vorstellungen, ohne Vorstellungen keine Gegenstände und ohne
diese nicht diese seine Welt; so wie mit einem anderen Verstände
auch eine andere Welt da sein wĂĽrde, welches durch das Beispiel
von Wahnsinnigen klar wird. Also der Verstand ist Schöpfer
seiner Gegenstände und der Welt, die aus ihnen besteht; aber so,
daĂź wirkliche Dinge die Gelegenheitsursachen seiner Aktion und
also der Vorstellungen sind.
Dadurch unterscheiden sich nun diese Naturkräfte des Men-
schen wesentlich von der Vernunft und dem freien Willen. Beide
machen zwar auch aktive Vermögen aus, aber die Gelegenheits-
ursachen ihrer Aktion sollen nicht aus dieser Sinnenwclt genommen
sein. Die Vernunft als theoretisches Vermögen kann also hier
gar keine Gegenstände haben, ihre Wirkungen können nur Ideen
sein, d. h. Vorstellungen der Vernunft, denen keine Gegenstände
entsprechen, weil nicht wirkliche Dinge, sondern etwa nur Spiele
des Verstandes die Gelegenheitsursachen ihrer Aktion sind. Also
kann die Vernunft als theoretisches, spekulatives Vermögen hier
in dieser Sinnenwelt gar nicht gebraucht werden (und muĂź folg-
lich, weil sie doch einmal als solches da ist, fĂĽr eine andere
Welt bestimmt sein), sondern nur als praktisches Vermögen zum
Behuf des freien Willens. Dieser nun ist bloĂź und allein prak-
tisch; das Wesentliche desselben besteht darin, daĂź seine Aktion
nicht Reaktion, sondern eine reine objektive Handlung sein soll,
oder daß die Triebfedern seiner Aktion nicht mit den Gegenständen
derselben zusammenfallen sollen; daß er also unabhängig von den
Vorstellungen des Verstandes, weil dieses eine verkehrte und ver-
derbte Wirkungsart derselben veranlassen wĂĽrde, als auch unab-
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen 3 8
5
hängig von den Ideen der spekulativen Vernunft handeln soll,
weil diese, da ihnen nichts Wirkliches entspricht, leicht eine falsche
und grundlose Willensbestimmung verursachen könnten. Also
muĂź die Triebfeder der Aktion des freien Willens etwas sein,
was im innern Wesen des Menschen selbst gegrĂĽndet und von
der Freiheit des Willens selbst unzertrennlich ist. Dieses ist nun
das moralische Gesetz, welches uns durchaus so aus der Natur
herausreiĂźt und ĂĽber sie erhebt, daĂź wir als moralische Wesen
die Naturdinge weder zu Ursachen und Triebfedern der Aktion
des Willens bedürfen, noch sie als Gegenstände unseres Wollens
ansehen können, in deren Stelle vielmehr nur die moralische
Person der Menschheit tritt. Jenes Gesetz sichert uns also eine
bloĂź dem Menschen eigentĂĽmliche und ihn von allen ĂĽbrigen
Naturteilen unterscheidende Eigenschaft, die Moralität, vermöge
welcher wir unabhängige und freie Wesen sind, und die selbst
wieder durch diese Freiheit begründet ist. — Diese Moralität und
nicht der Verstand ist es also, was den Menschen erst zum Men-
schen macht. So sehr auch der Verstand ein völlig aktives und
insofern selbständiges Vermögen ist, so bedarf er doc^h zu seiner
Aktion def Außendinge und ist auch zugleich auf sie eingeschränkt;
da hingegen der freie Wille völlig unabhängig ist und einzig
durch das innere Gesetz bestimmet werden soll: d. h, der Mensch
bloĂź durch sich selbst, sofern er sich nur zu seiner ursprĂĽnglichen
Würde und Unabhängigkeit von allem, was nicht das Gesetz ist,
erhoben hat. Wenn also dieser unser Verstand ohne diese seine
AuĂźendinge nichts, wenigstens nicht dieser Verstand sein w^ĂĽrde,
so bleiben Vernunft und freier Wille dieselben, ihr Wirkungskreis
sei, welcher er wolle. (Sollte hier der freilich hyperphysische
SchluĂź wohl mit einiger Wahrscheinlichkeit gemacht werden
können: „daß mit dem Tode des Menschenkörpers auch dieser
sein Verstand stirbt und verloren geht mit allen seinen irdischen
Vorstellungen, Begriffen und Kenntnissen: weil doch dieser Ver-
stand immer nur fĂĽr irdische, sinnliche Dinge brauchbar ist, und,
sobald der Mensch ins Ăśbersinnliche sich versteigen will, hier so-
gleich aller Verstandesgebrauch aufhört, und der Vernunftgebrauch
dagegen eintritt"? Es ist dieses eine Idee, die ich nachher auch
bei den Mystikern, aber nur dunkel gedacht, nicht behauptet, ge-
funden habe, und die gewiĂź zur Beruhigung und vielleicht auch
moralischen Verbesserung vieler Menschen beitragen wĂĽrde. Der
Verstand hängt so wenig wäe der Körper vom Menschen selbst
Kants Schriften. Bd. VII, 25
3 86 Der Streit der Fakultäten. Erster Abschnitt
ab. Bei einem tehlerhahcn Körperbau beruhigt man sich, weil
man weiß, er ist nichts Wesentliches — ein gutgebaueter Körper
hat nur hier auf^ der Erde seine VorzĂĽge. Gesetzt, die Idee wĂĽrde
allgemein, daß es mit dem Verstände ebenso wäre, sollte das nicht
für die Moralität der Menschen ersprießlich sein? Die neuere
Naturlehre des Menschen harmoniert sehr mit dieser Idee, indem
sie den Verstand bloß als etwas vom Körper Abhängiges und als
ein Produkt der Gehirnwirkung ansieht. S. REILS physiologische
Schriften. Auch die altern Meinungen von der Materialität der
Seele ließen sich hierdurch auf etwas Reales zurückbringen.) —
Der fernere Verlauf der kritischen Untersuchung der mensch-
lichen Seelenvermögen stellte die natürliche Frage auf: hat die
unvermeidliche und nicht zu unterdrĂĽckende Idee der Vernunft
von einem Urheber des Weltalls und also unserer selbst und des
moralischen Gesetzes auch wohl einen gĂĽltigen Grund, da jeder
theoretische Grund seiner Natur nach untauglich zur Befestigung
und Sicherstellung jener Idee ist? Hieraus entstand der so schöne
moralische Beweis fĂĽr das Dasein Gottes, der jedem, auch wenn
er nicht wollte, doch insgeheim auch deutlich und hinlänglich
beweisend sein muĂź. Aus der durch ihn nun begrĂĽndeten Idee
von einem Weltschöpfer aber ging endlich die praktische Idee
hervor von einem allgemeinen moralischen Gesetzgeber fĂĽr alle
unsere Pflichten, als Urheber Ats uns inwohnenden moralischen
Gesetzes. Diese Idee bietet dem Menschen eine ganz neue Welt
dar. Er fĂĽhlt sich fĂĽr ein anderes Reich geschaffen, als fĂĽr das
Reich der Sinne und des Verstandes, — nämlich für ein morali-
sches Reich, fĂĽr ein Reich Gottes. Er erkennt nun seine Pflichten
zugleich als göttliche Gebote, und es entsteht in ihm ein neues
Erkenntnis, ein neues Gefühl, nämlich Religion. — So weit, ehr-
wĂĽrdiger Vater, war ich in dem Studio Ihrer Schriften gekommen,
als ich eine Klasse von Menschen kennen lernte, die man Sepa-
ratisten nennt, die aber sich selbst Mystiker nennen, bei welchen
ich fast buchstäblich Ihre Lehre in Ausübung gebracht fand. Es
hielt Ireilich anfangs schwer, diese in der mystischen Sprache
dieser Leute wieder zu finden; aber es gelang mir nach anhalten-
dem Suchen. Es fiel mir auf, daĂź diese Menschen ganz ohne
Gottesdienst lebten; alles verwarfen, was Gottesdienst heiĂźt und
nicht in ErfĂĽllung seiner Pflichten besteht; daĂź sie sich fĂĽr reli-
giöse Menschen, ja für Christen hielten und doch die Bibel nicht
als ihr Gesetzbuch ansahen, sondern nur von einem inneren, von
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen \ 8 7
Ewigkeit her in uns einwohnenden Christentum sprachen. — Ich
forschte nach dem Lebenswandel dieser Leute und fand (räudige
Schafe ausgenommen, die man in jeder Herde ihres Eigennutzes
w^egen findet) bei ihnen reine morahsche Gesinnungen und eine
beinahe stoische Konsequenz in ihren Handlungen. Ich unter-
suchte ihre Lehre und ihre Grundsätze und fand im wesentlichen
ganz Ihre Moral und Religionslehre wieder, jedoch immer mit
dem Unterschiede, daĂź sie das innere Gesetz, wie sie es nennen,
fĂĽr eine innere Offenbarung und also bestimmt Gott fĂĽr den Ur-
heber desselben halten. Es ist wahr, sie halten die Bibel fĂĽr ein
Buch, welches auf irgendeine Art, worauf sie sich nicht weiter
einlassen, göttlichen Ursprungs ist; aber wenn man genauer forscht,
so findet man, daĂź sie diesen Ursprung der Bibel erst aus der
Ăśbereinstimmung der Bibel, der in ihr enthaltenen Lehren, mit
ihrem inneren Gesetze schlieĂźen: denn wenn man sie z. B. fragt:
warum? so ist ihre Antwort: sie legitimiert sich in meinem In-
neren, und ihr werdet es ebenso finden, wenn ihr der Weisung
eures inneren Gesetzes oder den Lehren der Bibel Folge leistet.
Eben deswegen halten sie sie auch nicht fĂĽr ihr Gesetzbuch,
sondern nur für eine historische Bestätigung, worin sie das, was
in ihnen selbst ursprĂĽnglich gegrĂĽndet ist, wiederfinden. Mit
einem Worte, diese Leute wĂĽrden (verzeihen Sie mir den Aus-
druck!) wahre Kantianer sein, wenn sie Philosophen v/ären. Aber
sie sind größtenteils aus der Klasse der Kaufleute, Handwerker
und Landbauern; doch habe ich hin und wieder auch in höheren
Ständen und unter den Gelehrten einige gefunden; aber nie einen
Theologen, denen diese Leute ein wahrer Dorn im Auge sind, weil
sie ihren Gottesdienst nicht von ihnen unterstĂĽtzt sehen und ihnen
doch wegen ihres exemplarischen Lebenswandels und Unterwerfung
in jede bürgerliche Ordnung durchaus nichts anhaben können.
Von den Quäkern unterscheiden sich diese Separatisten nicht in
ihren Religionsgrundsätzen, aber wohl in der Anwendung der-
selben aufs gemeine Leben. Deim sie kleiden sich z. B., wie es
gerade Sitte ist, und bezahlen alle sowohl Staats- als kirchliche
Abgaben. Bei dem gebildeten Teile derselben habe ich nie
Schwärmerei gefunden, sondern freies, vorurteilloses Räsonnement
und Urteil über religiöse Gegenstände.
ar
Zweiter Abschnitt.
Der Streit der philosophischen Fakultät
mit der juristischen.
Erneuerte Frage :
Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fort-
schreiten zum Besseren sei?
I.
Was will man hier wissen?
Man verlangt ein StĂĽck von der Menschengeschichte und
zwar nicht das von der vergangenen, sondern der kĂĽnftigen Zeit,
mithin eine vorhersagende, welche, wenn sie nicht nach be-
kannten Naturgesetzen (wie Sonnen- und Mondfinsternisse) ge-
fĂĽhrt wird, wahrsagend und doch natĂĽrlich, kann sie aber nicht
anders, als durch ĂĽbernatĂĽrliche Mitteilung und Erweiterung der
Aussicht in die kĂĽnftige Zeit erworben werden, weissagend
(prophetisch) genannt wird.') — Übrigens ist es hier auch nicht
um die Naturgeschichte des Menschen (ob etwa kĂĽnftig neue
Rassen derselben entstehen möchten), sondern um die Sitten-
geschichte und zwar nicht nach dem Gattungsbegriff (W«^k-
loruTfi), sondern dem Ganzen der gesellschaftlich auf Erden ver-
einigten, in Völkerschaften verteilten Menschen (un'iversorwn) zu
tun, wenn gefragt wird: ob das menschliche Geschlecht (im
Großen) zum Besseren beständig fortschreite.
») Wer ins Wahrsagen pfuschert (es ohne Kenntnis oder Ehrlichkeit
tut), von dem heiĂźt es: er wahrsagert, von der Pythia an bis zur
Zigeunerin.
3 92 Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt
Wie kann man es wissen?
Als wahrsagende Geschichtserzählung des Bevorstehenden in
der künftigen Zeit: mithin als eine a priori mögliche Darstellung
der Begebenheiten, die da kommen sollen. — Wie ist aber eine
Geschichte a priori möglich? — Antwort: wenn der Wahrsager
die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum
voraus verkĂĽndigt.
JĂĽdische Propheten hatten gut weissagen, daĂź ĂĽber kurz oder
lang nicht bloß Verfall, sondern gänzliche Auflösung ihrem Staat
bevorstehe; denn sie waren selbst die Urheber dieses ihres Schick-
sals. — Sie hatten als Volksleiter ihre Verfassung mit so viel
kirchlichen und daraus abflieĂźenden bĂĽrgerlichen Lasten beschwert,
daß ihr Staat völlig untauglich wurde, für sich selbst, vornehm-
lich mit benachbarten Völkern zusammen zu bestehen, und die
Jeremiaden ihrer Priester muĂźten daher natĂĽrlicherweise vergeb-
lich in der Luft verhallen: weil diese hartnäckig auf ihrem
Vorsatz einer unhaltbaren, von ihnen selbst gemachten Verfassung
beharreten, und so von ihnen selbst der Ausgang mit Unfehlbar-
barkeit vorausgesehen werden konnte.
Unsere Politiker machen, soweit ihr EinfluĂź reicht, es ebenso
und sind auch im Wahrsagen ebenso glücklich. — Man muß,
sagen sie, die Menschen nehmen, wie sie sind, nicht wie der
Welt unkundige Pedanten oder gutmütige Phantasten träumen, daß
sie sein sollten. Das wie sie sind aber sollte heiĂźen: wozu wir
sie durch ungerechten Zwang, durch verräterische, der Regierung
an die Hand gegebene Anschläge gemacht haben, nämlich hals-
starrig und zur Empörung geneigt; wo dann freihch, wenn sie
ihre Zügel ein wenig sinken läßt, sich traurige Folgen eräugnen,
welche die Prophezeiung jener vermeintlich-klugen Staatsmänner
wahrmachen.
Auch Geistliche weissagen gelegentlich den gänzlichen Verfall
der Religion und die nahe Erscheinung des Antichrists, während
dessen sie gerade das tun, was erforderlich ist, ihn einzutĂĽhren:
indem sie nämlich ihrer Gemeine nicht sittliche Grundsätze ans
Herz zu legen bedacht sind, die geradezu auts Bessern fĂĽhren,
sondern Observanzen und historischen Glauben zur wesentlichen
Pflicht machen, die es indirekt bewirken sollen, woraus zwar
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen 3 9 5
mechanische Einhelligkeit als in einer bĂĽrgerlichen Verfassung,
aber keine in der moralischen Gesinnung erwachsen kann; als-
denn aber über Irreligiosität klagen, welche sie selber gemacht
haben, die sie also auch ohne besondere Wahrsagergabe vorher-
verkĂĽndigen konnten.
3-
Einteilung des Begriffs von dem, was man fĂĽr die Zukunft
vorher wissen will.
Der Fälle, die eine Vorhersagung enthalten können, sind drei.
Das menschliche Geschlecht ist entweder im kontinuierlichen
Rückgange zum Ärgeren, oder im beständigen Fortgange zum
Besseren in SQiner moralischen Bestimmung oder im ewigen Still-
stande auf der jetzigen Stute seines sittlichen Werts unter den
Gliedern der Schöpfung (mit welchem die ewige Umdrehung im
Kreise um denselben Punkt einerlei ist).
Die erste Behauptung kann man den moralischen Terro-
rismus, die zweite den Eudämonismus (der, das Ziel des
Fortschreitens im weiten Prospekt gesehen, auch Chiliasmus ge-
nannt werden wĂĽrde), die dritte aber den Abderitismus nennen:
weil, da ein wahrer Stillstand im Moralischen nicht möglich ist,
ein beständig wechselndes Steigen und ebenso öfteres und tiefes
ZurĂĽckfallen (gleichsam ein ewiges Schwanken) nichts mehr aus-
trägt, als ob das Subjekt auf derselben Stelle und im Stillstande
geblieben wäre.
a.
Von der terroristischen Vorstellungsart der Menschen-
geschichte.
Der Verfall ins Ă„rgere kann im menschlichen Geschlechte
nicht beständig fortwährend sein; denn bei einem gewissen Grade
desselben wĂĽrde es sich selbst aufreiben. Daher beim Anwachs
groĂźer, wie Berge sich auftĂĽrmenden Greueltaten und ihnen an-
gemessenen Übel gesagt wird: nun kann es nicht mehr ärger
werden; der jĂĽngste Tag ist vor der TĂĽr, und der fromme
394 -C)tv Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt
Schwärmer träumt nun schon von der Wiederbringung aller
Dinge und einer erneuerten Welt, nachdem diese im Feuer unter-
gegangen ist.
b.
Von der eudämonistischcn VorstcUungsart der Mcn-
schengeschichte.
DaĂź die Masse des unserer Natur angearteten Guten und
Bösen in der Anlage immer dieselbe bleibe und in demselben In-
dividuum weder vermehrt noch vermindert werden könne, mag
immer eingeräumt werden; — und wie sollte sich auch dieses
Quantum des Guten in der Anlage vermehren lassen, da es durch
die Freiheit des Subjekts geschehen mĂĽĂźte, wozu dieses aber
wiederum eines größeren Fonds des Guten bedürfen würde, als
es einmal hat? — Die Wirkungen können das Vermögen der
wirkenden Ursache nicht ĂĽbersteigen; und so kann das Quantum
des mit dem Bösen im Menschen vermischten Guten ein gewisses
MaĂź des letzteren nicht ĂĽberschreiten, ĂĽber welches er sich empor-
arbeiten und so auch immer zum noch Besseren fortschreiten
könnte. Der Eudämonism mit seinen sanguinischen Hoffnungen
scheint also unhaltbar zu sein und zugunsten einer weissagenden
Menschengeschichte in Ansehung des immerwährenden- weitern
Fortschreitens auf der Bahn des Guten wenig zu versprechen.
c.
Von der Hypothese des Abderitisms des Menschen-
geschlechts zur Vorherbestimmung seiner Geschichte.
Diese Meinung möchte wohl die Mehrheit der Stimmen auf
ihrer Seite haben. Geschäftige Torheit ist der Charakter unserer
Gattung; in die Bahn des Guten schnell einzutreten, aber darauf
nicht zu beharren, sondern, um ja nicht an einen einzigen Zweck
gebunden zu sein, werm es auch nur der Abwechselung wegen ge-
schähe, den Plan des Fortschritts umzukehren, zu bauen, um nieder-
reißen zu können, und sich selbst die hoffnungslose Bemühung
aufzulegen, den Stein des SISYPHUS bergan zu wälzen, um ihn
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen 395
wieder zurückrollen zu lassen. — Das Prinzip des Bösen in der
Naturanlage des menschlichen Geschlechts scheint also hier mit
dem des Guten nicht sowohl amalgamiert (verschmolzen), als viel-
mehr eines durchs andere neutralisiert zu sein, welches Tatlosig-
keit zu Folge haben wĂĽrde (die hier der Stillstand heiĂźt): eine
leere Geschäftigkeit, das Gute mit dem Bösen durch Vorwärts-
und Rückwärtsgehen so abwechseln zu lassen, daß das ganze
Spiel des Verkehrs unserer Gattung mit sich selbst auf diesem
Glob als ein bloĂźes Possenspiel angesehen werden mĂĽĂźte, was ihr
keinen größeren Wert in den Augen der Vernunft verschaffen
kann, als den die andere Tiergeschlechter haben, die dieses Spiel
mit weniger Kosten und ohne Verstandesaufwand treiben.
Durch Erfahrung unmittelbar ist die Aufgabe des Fort-
schreitens nicht aufzulösen.
Wenn das menschliche Geschlecht, im Ganzen betrachtet, eine
noch so lange Zeit vorwärts gehend und im Fortschreiten begriffen
gewesen zu sein befunden wĂĽrde, so kann doch niemand dafĂĽr
stehen, daß nun nicht gerade jetzt vermöge der physischen An-
lage unserer Gattung die Epoche seines RĂĽckganges eintrete; und
umgekehrt, wenn es rĂĽcklings und mit beschleunigten Falle zum
Ă„rgeren geht, so darf man nicht verzagen, daĂź nicht eben da der
Umwendungspunkt (punctum flexus contrarii) anzutreffen wäre,
wo vermöge der moralischen Anlage in unserem Geschlecht der
Gang desselben sich wiederum zum Besseren wendete. Denn wir
haben es mit freihandelnden Wesen zu tun, denen sich zwar vor-
her diktieren läßt, was sie tun sollen, aber nicht vorhersagen
läßt, was sie tun werden, und die aus dem Gefühl der Übel,
die sie sich selbst zufügten, wenn es recht böse wird, eine ver-
stärkte Triebfeder zu nehmen wissen, es nun doch besser zu
machen, als es vor jenem Zustande war. — Aber „arme Sterbliche
(sagt der Abt COYER), unter euch ist nichts beständig als die
Unbeständigkeit !"
Vielleicht liegt es auch an unserer unrecht genommenen Wahl
des Standpunkts, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge an-
sehen, daĂź dieser uns so widersinnisch scheint. Die Planeten, von
3 96 Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt
der Erde aus gesehen, sind bald rückgängig, bald stillstehend,
bald tortgängig. Den Standpunkt aber von der Sonne aus ge-
nommen, welches nur die Vernunft tun kann, gehen sie nach der
Kopcrnikanischen Hypothese beständig ihren regelmäßigen Gang
fort. Es gefällt aber einigen sonst nicht Unweisen, steif auf ihrer
Erklärungsart der Erscheinungen und dem Standpunkte zu beharren,
den sie einmal genommen haben: sollten sie sich darĂĽber auch
in Tychonische Zyklen und Epizyklen bis zur Ungereimtheit ver-
wackeln. — Aber das ist eben das Unglück, daß wir uns in
diesen Standpunkt, wenn es die Vorhersagung freier Handlungen
angeht, zu versetzen nicht vermögend sind. Denn das wäre der
Standpunkt der Vorsehung, der ĂĽber alle menschliche Weisheit
hinausliegt, welche sich auch auf freie Handlungen des Menschen
erstreckt, die von diesem zwar gesehen, aber mit GewiĂźheit
nicht vorhergesehen werden können (für das göttliche Auge
ist hier kein Unterschied), weil er zu dem letzteren den Zusammen-
hang nach Naturgesetzen bedarf, in Ansehung der kĂĽnftigen
freien Handlungen aber dieser Leitung oder Hinweisung entbehren
muĂź.
Wenn man dem Menschen einen angebornen und unveränderlich-
guten, obzwar eingeschränkten Willen beilegen dürfte, so würde
er dieses Fortschreiten seiner Gattung zum Besseren mit Sicherheit
vorhersagen können; weil es eine Begebenheit träfe, die er selbst
machen kann. Bei der Mischung des Bösen aber mit dem Guten
in der Anlage, deren MaĂź er nicht kennt, weiĂź er selbst nicht,
welcher Wirkung er sich davon gewärtigen könne.
An irgend eine Erfahrung muĂź doch die wahrsagende
Geschichte des Menschengeschlechts angeknĂĽpft werden.
Es muĂź irgendeine Erfahrung im Menschengeschlechte vor-
kommen, die als Begebenheit auf eine Beschaffenheit und ein Ver-
mögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben
zum Besseren und (da dieses die Tat eines mit Freiheit begabten
Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein; aus einer gegebenen
Ursache aber läßt sich eine Begebenheit als Wirkung vorhersagen,
w^enn sich die Umstände eräugnen, welche dazu mitwirkend sind.
Der Streit der philosophischen Fakultät i7jit der jurif tischen 397
Daß diese letztere sich aber irgend einmal eräugnen müssen, kann
wie beim KalkĂĽl der Wahrscheinlichkeit im Spiel wohl im all-
gemeinen vorhergesagt, aber nicht bestimmt werden, ob es sich
in meinem Leben zutragen und ich die Erfahrung davon haben
werde, die jene Vorhersagung bestätigte. — Also muß eine Be-
gebenheit nachgesucht werden, welche auf das Dasein einer solchen
Ursache und auch auf den Akt ihrer Kausalität im Menschcn-
geschlechte unbestimmt in Ansehung der Zeit hinweise, und die
auf das Fortschreiten zum Besseren als unausbleibliche Folge
schlieĂźen lieĂźe, welcher SchluĂź dann auch auf die Geschichte der
vergangenen Zeit (daĂź es immer im Fortschritt gewesen sei) aus-
gedehnt v/erden könnte, doch so, daß jene Begebenheit nicht
selbst als Ursache des letzteren, sondern nur als hindeutend, als
Geschichtszeichen (jignum rememorattvmn, demonstrativ um, pro-
gnosticon)^ angesehen werden mĂĽsse und so die Tendenz des
menschlichen Geschlechts im Ganzen, d. i. nicht nach den In-
dividuen betrachtet (denn das wĂĽrde eine nicht zu beendigende
Aufzählung und Berechnung abgeben}, sondern wie es in Völker-
schaften und Staaten geteilt auf Erden angetroffen wird, beweisen
könnte.
6.
Von einer Begebenheit unserer Zeit, welche diese mo-
ralische Tendenz des Menschengeschlechts beweiset.
Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Men-
schen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch, was groĂź war,
unter Menschen klein, oder was klein war, groĂź gemacht wird,
und wie gleich als durch Zauberei alte, glänzende Staatsgebäude
verschwinden, und andere an deren Statt wie aus den Tiefen der
Erde hervorkommen. Nein: nichts von allem dem. Es ist bloĂź
die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele
großer Umwandlungen öffentlich verrät und eine so allgemeine
und doch uneigennĂĽtzige Teilnehmung der Spielenden auf einer
Seite gegen die auf der andern, selbst mit Gefahr, diese Parteilich-
keit könne ihnen sehr nachteilig werden, dennoch laut werden
läßt, so aber (der Allgemeinheit wegen) einen Charakter des
Menschengeschlechts im Ganzen und zugleich (der UneigennĂĽtzig-
keit wegen) einen moralischen Charakter desselben wenigstens in
398 Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt
der Anlage beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren nicht
allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solches ist, so weit
das Vermögen desselben für jetzt zureicht.
Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren
Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern;
sie mag mit Elend und Greueltaten dermaĂźen angefĂĽllt sein, daĂź
ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale
unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das
Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, —
diese Revolution, sage ich, findet doch in den GemĂĽtern aller
Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind)
eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm
grenzt, und deren Ă„uĂźerung selbst mit Gefahr verbunden war,
die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschen-
geschlecht zur Ursache haben kann.
Diese moralische einflieĂźende Ursache ist zwiefach: erstens die
des Rechts, daß ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert
werden mĂĽsse, sich eine bĂĽrgerliche Verfassung zu geben, wie sie
ihm selbst gut zu sein dĂĽnkt; zweitens die des Zwecks (der zu-
gleich Pfiicht ist), daĂź diejenige Verfassung eines Volks allein an
sich rechtlich und moralisch-gut sei, welche ihrer Natur nach
so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden,
welche keine andere als die republikanische Verfassung, wenigstens
der Idee nach, sein kann,') mithin in die Bedingung einzutreten,
wodurch der Krieg (der Quell aller Ăśbel und Verderbnis der
*) Es ist aber hiemic nicht gemeint, daĂź ein Volk, welches eine
monarchische Konstitution hat, sich damit das Recht anmalte, ja auch
nur in sich geheim den Wunsch hege, sie abgeändert zu wissen; denn
seine vielleicht sehr verbreitete Lage in Europa kann ihm jene Ver-
fassung als die einzige anempfehlen, bei der es sich zwischen mächtigen
Nachbaren erhalten kann. Auch ist das Murren der Untertanen nicht
des Innern der Regierung halber, sondern wegen des Benehmens der-
selben gegen Auswärtige, wenn sie diese etwa am Republikanisieren
hinderte, gar kein Beweis der Unzufriedenheit des Volks mir seiner
eigenen Verfassung, sondern vielmehr der Liebe fĂĽr dieselbe, weil es
wider eigene Gefahr desto mehr gesichert ist, je mehr sich andere
Völker republikanisieren. — Dennoch haben verleumderische Sykophanten,
um sich wichtig zu machen, diese unschuldige KannegieĂźerei fĂĽr Neue-
rungssucht, Jakobinerei und Rottierung, die dem Staat Gefahr drohe,
auszugeben gesucht: indessen daĂź auch nicht der mindeste Grund zu
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen ^99
Sitten) abgehalten und so dem Menschengeschlechte bei aller seiner
Gebrechlichkeit der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird,
im Fortschreiten wenigstens nicht gestört zu werden.
Dies also und die Teilnehmung am Guten mit Affekt, der
Enthusiasm, ob er zwar, weil aller Affekt als ein solcher Tadel
verdient, nicht ganz zu bilhgen ist, gibt doch vermittelst dieser
Geschichte zu der fĂĽr die Anthropologie wichtigen Bemerkung
AnlaĂź: daĂź wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und
zwar rein Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und
nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann. Durch Geld-
belohnungen konnten die Gegner der Revolutionierenden zu dem
Eifer und der Seelengröße nicht gespannt werden, den der bloße
Rechtsbegriff in ihnen hervorbrachte, und selbst der Ehrbegriff
des alten kriegerischen Adels (ein Analogon des Enthusiasm) ver-
schwand vor den Waffen derer, welche das Recht des Volks,
wozu sie gehörten, ins Auge gefaßt hatten') und sich als Be-
schützer desselben dachten; mit welcher Exaltation das äußere,
zuschauende Publikum dann ohne die mindeste Absicht der Mit-
wirkung sympathisierte.
diesem Vorgeben da war, vornehmlich nicht in einem Land, was vom
Schauplatz der Revolution mehr als hundert Meilen entfernt war.
^) Von einem solchen Enthusiasm der Rechtsbehauptung fĂĽr das
menschliche Geschlecht kann man sagen: postquam ad arma VuUania
ventum est — mortalis mucro glacies ceu futilis ictu äissiluit, — Warum
hat es noch nie ein Herrscher gewagt, frei herauszusagen, daĂź er gar
kein Recht des Volks gegen ihn anerkenne; daĂź dieses seine GlĂĽck-
seligkeit bloß der Wohltätigkeit einer Regierung, die diese ihm an-
gedeihen läßt, verdanke, und alle Anmaßung des Untertans zu einem
Recht gegen dieselbe (weil dieses den Begriff eines erlaubten Wider-
stands in sich enthält) ungereimt, ja gar strafbar sei? — Die Ursache
ist: weil eine solche öffentliche Erklärung alle Untertanen gegen ihn
empören würde, ob sie gleich, wie folgsame Schafe von einem gütigen
imd verständigen Herren geleitet, wohlgefüttert und kräftig beschützt,
über nichts, was ihrer Wohlfahrt abginge, zu klagen hätten. — Denn
mit Freiheit begabten Wesen gnĂĽgt nicht der GenuĂź der Lebens-
annehmlichkeit, die ihm auch von anderen (und hier von der Regierung)
zuteil werden kann; sondern auf das Prinzip kommt es an, nach
welchem es sich solche verschafft. Wohlfahrt aber hat kein Prinzip,
weder für den, der sie empfängt, noch der sie austeilt (der eine setzt
sie hierin, der andere darin): weil es dabei auf das Materiale des
Willens ankommt, welches empirisch und so der Allgemeinheit einer
400 Der Streit der Fu hui taten. Ziceiter Abschnitt
W^ahrsacendc Geschichte der Menschheit.
Es muĂź etwas Moralisches im Grundsatze sein, welches die
VernunFt als rein, zugleich aber auch wegen des groĂźen und
Epoche machenden Einflusses als etwas, das die dazu anerkannte
Priicht der Seele des Menschen vor Augen stellt, und das mensch-
liche Geschlecht im Ganzen seiner Vereinigung (jmn singulorum,
sed tiniversoruni) angeht, dessen verhofFtem Gelingen und den Ver-
suchen zu demselben es mit so allgemeiner und uneigennĂĽtziger
Teilnehmung zujauchzt. - Diese Begebenheit ist das Phänomen
nicht einer Revolution, sondern (wie es Hr. ERHARD ausdrĂĽckt)
der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, die zwar
nur unter wilden Kämpfen noch nicht selbst errungen wird —
indem der Krieg von innen und auĂźen alle bisher bestandene
statutarische zerstört — , die aber doch dahin führt, zu einer
Verfassung hinzustreben, welche nicht kriegssĂĽchtig sein kann,
nämlich der republikanischen; die es entweder selbst der Staats-
form nach sein mag, oder auch nur nach der Regierungsart,
bei der Einheit des Oberhaupts (des Monarchen) den Gesetzen
analogiscb, die sich ein Volk selbst nach allgemeinen Rechtsprin-
zipien geben wĂĽrde, den Staat verwalten zu lassen.
Nun behaupte ich dem Menschcngeschlechte nach den Aspekten
Regel anfähig ist. Ein mit Freiheit begabtes Wesen kann und soll
also im BewuĂźtsein dieses seines Vorzuges vor dem vernunftlosen Tier
nach dem formalen Prinzip seiner WillkĂĽr keine andere Regierung
für das Volk, wozu es gehört, verlangen, als eine solche, in welcher
dieses mit gesetzgebend ist: d. i. das Recht der Menschen, welche ge-
horchen sollen, muĂź notwendig vor aller RĂĽcksicht auf Wohlbefinden
vorhergehen, und dieses ist ein Heiligtum, das ĂĽber allen Preis (der
Nützlichkeit) erhaben ist, und welches keine Regierung, so wohltätig
sie auch immer sein mag, antasten darf. — Aber dieses Recht ist doch
immer nur eine Idee, deren AusfĂĽhrung auf die Bedingung der Zu-
sammenstimmnng ihrer Mittel mit der Moralität eingeschränkt ist,
welche das Volk nicht ĂĽberschreiten darf; welches nicht durch Revolu-
tion, die jederzeit ungerecht ist, geschehen darf. - Autokratisch
herrschen und dabei doch republikanisch, d. h. im Geiste des Re-
publikanism und nach einer Analogie mit demselben, regieren, ist das,
was ein \'^olk mit seiner Verfassung zufrieden macht.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der Jinistische?! 401
und Vorzeichen unserer Tage die Erreichung dieses Zwecks und
hiemit zugleich das von da an nicht mehr gänzHch rückgängig
werdende Fortschreiten desselben zum Besseren auch ohne Scher-
geist vorhersagen zu können. Denn ein solches Phänomen in der
Menschengeschichte vergiĂźt sich nicht mehr, weil es eine
Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren
aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen
Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur
und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte
vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Be-
gebenheit aus Zufall verheiĂźen konnte.
Aber wenn der bei dieser Begebenheit beabsichtigte Zweck
auch jetzt nicht erreicht wĂĽrde, wenn die Revolution oder Reform
der Verfassung eines Volks gegen das Ende doch fehlschlĂĽge,
oder, nachdem diese einige Zeit gewähret hätte, doch wiederum
alles ins vorige Gleis zurĂĽckgebracht wĂĽrde (wie Politiker jetzt
Wahrsagern), so verliert jene philosophische Vorhersagung doch
nichts von ihrer Kraft. — Denn jene Begebenheit ist zu groß,
zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt und ihrem
EinflĂĽsse nach auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet,
als daß sie nicht den Völkern bei irgend einer Veranlassung
günstiger Umstände in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung
neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte; da dann bei
einer fĂĽr das Menschengeschlecht so wichtigen Angelegenheit end-
lich doch zu irgend einer Zeit die beabsichtigte Verfassung die-
jenige Festigkeit erreichen muß, welche die Belehrung durch öftere
Erfahrung in den GemĂĽtern aller zu bewirken nicht ermangeln
wĂĽrde.
Es ist also ein nicht bloĂź gutgemeinter und in praktischer
Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum
Trotz auch fĂĽr die strengste Theorie haltbarer Satz: daĂź das
menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer ge-
wesen sei und so fernerhin fortgehen werde, welches, wenn man
nicht bloĂź auf das sieht, was in irgend einem Volk geschehen
kann, sondern auch auf die Verbreitung über alle Völker der
Erde, die nach und nach daran teilnehmen dĂĽrften, die Aussicht
in eine unabsehliche Zeit eröffnet; wofern nicht etwa auf die erste
Epoche einer Naturrevolution, die (nach CAMPER und BLUMEN-
BACH) bloĂź das Tier- und Pflanzenreich, ehe noch Menschen waren,
vergrub, noch eine zweite folgt, welche auch dem Menschen-
Kants Schriften. Bd. VII. 26
401 Der Streit der Fahtltaten. Zweiter Abschnitt
gcschlechte ebenso mitspielt, um andere Geschöpfe auf diese Bühne
treten zu lassen, u. s. w. Denn fĂĽr die Aligewalt dei Natur,
oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache ist der
Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit. DaĂź ihn aber auch die
Herrscher von seiner eigenen Gattung dafĂĽr nehmen und als eine
solche behandeln, indem sie ihn teils tierisch, als bloĂźes Werk-
zeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegen-
einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, — das ist keine
Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung
selbst.
8.
Von der Schwierigkeit der auf das Fortschreiten zum
Weltbesten angelegten Maximen in Ansehung ihrer
Publizität.
Volksauf klärung ist die öfFentHche Belehrung des Volks
von seinen Pflichten und Rechten in Ansehung des Staats, dem
CS angehöret. Weil es hier nur natürliche und aus dem gemeinen
Menschenverstände hervorgehende Rechte betrifft, so sind die na-
tĂĽrlichen VerkĂĽndiger und Ausleger derselben im Volk nicht die
vom Staat bestellete amtsmäßige, sondern freie Rechtslehrer, d. i.
die Philosophen, welche eben um dieser Freiheit willen, die sie
sich erlauben, dem Staate, der immer nur herrschen will, anstößig
sind, und werden unter dem Namen Aufklärer als für den Staat
gefährliche Leute verschrien; obzwar ihre Stimme nicht vertrau-
lich ans Volk (als welches davon und von ihren Schriften wenig
oder gar keine Notiz nimmt), sondern ehrerbietig an den Staat
gerichtet und dieser jenes sein rechtliches BedĂĽrfnis zu beherzigen
angeflehet wird; welches durch keinen andern Weg als den der
Publizität geschehen kann, wenn ein ganzes Volk seine Beschwerde
(gravamen) vortragen will. So verhindert das Verbot der Pu-
blizität den Fortschritt eines Volks zum Besseren, selbst in dem,
was das Mindeste seiner Forderung, nämlich bloß sein natürliches
Recht, angeht.
Eine andere, obzwar leicht durchzuschauende, aber doch gesetz-
mäßig einem Volke befohlene Verheimlichung ist die von der
wahren Beschaffenheit seiner Konstitution. Es wäre Verletzung
der Majestät des großbritannischen Volks, von ihm zu sagen, es
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juris tisch eti 40 j
sei eine unbeschränkte Monarchie; sondern man will, es soll
eine durch die zwei Häuser des Parlaments, als Volksrepriscntanten,
den Willen des Monarchen einschränkende Verfassung sein,
und doch weiĂź ein jeder sehr gut, daĂź der EinfluĂź desselben auF
diese Repräsentanten so groß und so unfehlbar ist, daß von gedachten
Häusern nichts anderes beschlossen wird, als was Er will und
duich seinen Minister anträgt; der dann auch wohl einmal auf
Beschlüsse anträgt, bei denen er weiß und es auch macht, daß
ihm werde widersprochen werden (z. B. wegen des Negerhandels),
um von der Freiheit des Parlaments einen scheinbaren Beweis zu
geben. — Diese Vorstellung der Beschaffenheit der Sache hat das
TrügHche an sich, daß die wahre, zu Recht beständige Verfassung
gar nicht mehr gesucht wird: weil man sie in einem schon vor-
handenen Beispiel gefunden zu haben vermeint, und eine lĂĽgen-
hafte Publizität das Volk mit Vorspiegelung einer durch das von
ihm ausgehende Gesetz eingeschränkten Monarchie^) täuscht,
indessen daĂź seine Stellvertreter, durch Bestechung gewonnen, es
ingeheim einem absoluten Monarchen unterwarfen.
Die Idee einer mit dem natĂĽrlichen Rechte der Menschen
zusammenstimmenden Konstitution: daß nämlich die dem Gesetz
Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen,
') Eine Ursache, deren BeschafFenheit man nicht unmittelbar ein-
sieht, entdeckt sich durch die Wirkung, die ihr unausbleiblich anhängt. —
Was ist ein absoluter Monarch? Es ist derjenige, auf dessen Befehl,
werm er sagt: es soll Krieg sein, sofort Krieg ist. — Was ist dagegen
ein eingeschränkter Monarch? Der, welcher vorher das Volk be-
fragen muĂź, ob Krieg sein solle oder nicht, und sagt das Volk: es soll
nicht Krieg sein, so ist kein Krieg. — Denn Krieg ist ein Zustand, in
welchem dem Staatsoberhaupte alle Staatskräfte zu Gebot stehen müssen.
Nun hat der groĂźbritannische ^Monarch recht viel Kriege gefĂĽhrt, ohne
dazu jene Einwilligung zu suchen. Also ist dieser König ein absoluter
Monarch, der er zwar der Konstitution nach nicht sein sollte; die er
aber immer vorbeigehen kann, weil er eben durch jene Staatskräfre,
nämlich daß er alle Ämter und Würden zu vergeben in seiner Macht
hat, sich der Beistimmung der Volksrepräsentanten versichert halten kann.
Dieses Bestechungssystem muß aber freilich nicht Publizität haben, um
zu gelingen. Es bleibt daher unter dem sehr durchsichrigen Schleier
des Geheimnisses.
a6*
404 Der Streit der Fakultäten. Zweiter Absclmitt
liegt bei allen Staatsformen zum Grunde, und das gemeine Wesen,
welches, ihr gemäß durch reine Vernunftbegriife gedacht, ein
platonisches Ideal heiĂźt {respublica tJoumenoti\ ist nicht ein leeres
Hirngespinst, sondern die ewige Norm fĂĽr alle bĂĽrgerliche Ver-
fassung überhaupt und entfernet allen Krieg. Eine dieser gemäß
organisierte bĂĽrgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben
nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung (respu-
blica phaenomenoii) und kann nur nach mannigfaltigen Befehdungen
und Kriegen mĂĽhsam erworben werden; ihre Verfassung aber,
wenn sie im groĂźen einmal errungen worden, qualifiziert sich
zur besten unter allen, um den Krieg, den Zerstörer alles Guten,
entfernt zu halten ; mithin ist es Pflicht in eine solche einzutreten,
vorläufig aber (weil jenes nicht so bald zustande kommt), Pflicht
der Monarchen, ob sie gleich autokratisch herrschen, dennoch
republikanisch (nicht demokratisch} zu regieren, d. i. das Volk
nach Prinzipien zu behandeln, die dem Geist der Freiheitsgesetze
(wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben
würde) gemäß sind, wenn gleich dem Buchstaben nach es um
seine Einwilligung nicht befragt wĂĽrde.
Welchen Ertrag wird der Fortschritt zum Besseren dem
Menschengeschlecht abwerfen?
Nicht ein immer wachsendes Quantum der Moralität in der
Gesinnung, sondern Vermehrung der Produkte ihrer Legalität in
pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch ver-
anlaßt sein mögen; d. i. in den guten Taten der Menschen, die
immer zahlreicher und besser ausfallen werden, also in den Phä-
nomenen der sittlichen Beschaffenheit des Menschengeschlechts,
wird der Ertrag (das Resultat) der Bearbeitung desselben zum
Besseren allein gesetzt werden können. — Denn wir haben nur
empirische Data (Erfahrungen), worauf wir diese Vorhersagung
gründen: nämlich auf die physische Ursache unserer Handlungen,
in sofern sie geschehen, die also selbst Erscheinungen sind, nicht
die moralische, welche den Pflichtbegriff von dem enthält, was
geschehen sollte, und der allein rein, a priori, aufgestellt werden
kann.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen 405
Allmählich wird der Gewalttätigkeit von sciten der Mächtigen
weniger, der Folgsamkeit in Ansehung der Gesetze mehr werden.
Es wird etwa mehr Wohltätigkeit, weniger Zank in Prozessen,
mehr Zuverlässigkeit im Worthalten u. s. w. teils aus Ehrliche,
teils aus wohlverstandenem eigenen Vorteil im gemeinen Wesen
entspringen und sich endlich dies auch auf die Völker im äußeren
Verhältnis gegeneinander bis zur weltbürgerlichen Gesellschah
erstrecken, ohne daĂź dabei die moralische Grundlage im Menschen-
geschlechte im mindesten vergrößert werden darf; als wozu auch
eine Art von neuer Schöpfung (übernatürlicher Einfluß} erforder-
lich sein würde. — Denn wir müssen uns von Menschen in ihren
Fortschritten zum Besseren auch nicht zu viel versprechen, um
nicht in den Spott des Politikers mit Grunde zu vertallen, der
die Hoffnung des ersteren gerne für Träumerei eines überspannten
Kopfs halten möchte.^)
IG.
In welcher Ordnung allein kann der Fortschritt zum
Besseren erwartet werden?
Die Antwort ist: nicht durch den Gang der Dinge von
unten hinauf, sondern den von oben herab. — Zu erwarten,
daß durch Bildung der Jugend in häushcher Unterweisung und
weiterhin in Schulen, von den niedrigen an bis zu den höchsten,
^) Es ist doch sĂĽĂź, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den
Forderungen der Vernunft (vornehmlich in rechtlicher Absicht) ent-
sprechen: aber vermessen, sie vorzuschlagen, und strafbar, das Volk
zur Abschaffung der jetzt bestehenden aufzuwiegeln.
Piatos Atlnntica, Morus' Vtopia, Harringtons Oceana nnd Allais'
Severambia sind nach und nach auf die BĂĽhne gebracht, aber nie (Crom-
wells verunglĂĽckte MiĂźgeburt einer despotischen Republik ausgenommen)
auch nur versucht worden. — Es ist mit diesen Staatsschöpfungen wie mit
der Weltschöpfung zugegangen: kein Mensch war dabei zugegen, noch
konnte er bei einer solchen gegenwärtig sein, weil er sonst sein eigener
Schöpfer hätte sein müssen. Ein Staatsprodukt, wie man es hier denkt,
als dereinst, so spät es auch sei, als vollendet zu hoffen, ist ein süßer
Traum; aber sich ihm immer zu näheren, nicht allein denkbar, sondern,
so weit es mit dem moralischen Gesetze .zusammen bestehen kann.
Pflicht, nicht der StaatsbĂĽrger, sondern des Staatsoberhauptes.
4c6 Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt
in Geistes- und moralischer, durch Religionslehrc verstärkter Kultur
es endlich dahin kommen werde, nicht bloĂź gute StaatsbĂĽrger,
sondern zum Guten, was immer weiter fortschreiten und sich
erhalten kann, zu erziehen, ist ein Plan, der den erwĂĽnschten
Erfolg schwerlich hoffen läßt. Denn nicht allein daß das Volk
dafür hält, daß die Kosten der Erziehung seiner Jugend nicht
ihm, sondern dem Staate zu Lasten kommen mĂĽssen, der Staat
aber dagegen seinerseits zu Besoldung tĂĽchtiger und mit Lust ihrem
Amte obliegender Lehrer kein Geld ĂĽbrig hat (wie BĂśSCHING
klagt), weil er alles zum Kriege braucht: sondern das ganze Ma-
schinenwesen dieser Bildung hat keinen Zusammenhang, wenn es
nicht nach einem ĂĽberlegten Plane der obersten Staatsmacht und
nach dieser ihrer Absicht entworfen, ins Spiel gesetzt und darin
auch immer gleichförmig erhalten wird; wozu wohl gehören
möchte, daß der Staat sich von Zeit zu Zeit auch selbst reformiere
und, statt Revolution Evolution versuchend, zum Besseren beständig
fortschreite. Da es aber doch auch Menschen sind, welche diese
Erziehung bewirken sollen, mithin solche, die dazu selbst haben
gezogen werden mĂĽssen: so ist bei dieser Gebrechlichkeit der
menschlichen Natur unter der Zufälligkeit der Umstände, die einen
solchen Effekt begĂĽnstigen, die Hoffnung ihres Fortschreitens nur
in einer Weisheit von oben herab (welche, wenn sie uns un-
sichtbar ist, Vorsehung heiĂźt) als positiver Bedingung, fĂĽr das aber,
was hierin von Menschen erwartet und gefordert werden kann,
bloß negative Weisheit zur Beförderung dieses Zwecks zu erwarten,
nämlich daß sie das größte Hindernis des Moralischen, nämlich
den Krieg, der diesen immer zurückgängig macht, erstlich nach
und nach menschlicher, darauf seltener, endlich als Angriffskrieg
ganz schwinden zu lassen sich genötigt sehen werden, um eine
Verfassung einzuschlagen, die ihrer Natur nach, ohne ^ich zu
schwächen, auf echte Rechtsprinzipien gegründet, beharrlich zum
Bessern fortschreiten kann.
BeschluĂź.
Ein Arzt, der seinen Patienten von Tag zu Tag auf baldige
Genesung vertröstete: den einen, daß der Puls besser schlüge; den
anderen, daĂź der AusvN'urf, den dritten, daĂź der SchweiĂź Besserung
verspräche, u. s. w., bekam einen Besuch von einem seiner Freunde.
Per Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen 407
Wie gehts, Freund, mit eurer Krankheit? war die erste Frage.
Wie wirds gehen? Ich sterbe für lauter Besserung! — Ich
verdenke es keinem, wenn er in Ansehung der StaatsĂĽbcl an dem
Heil des Menschengeschlechts und dem Fortschreiten desselben
zum Besseren zu verzagen anhebt; allein ich verlasse mich auf das
heroische Arzneimittel, welches HUME anfĂĽhrt und eine schnelle
Kur bewirken dürfte. — „Wenn ich jetzt (sagt er) die Nationen
im Kriege gegeneinander begriffen sehe, so ist es, als ob ich zwei
besoffene Kerle sähe, die sich in einem Porzellanladen mit Prügeln
herumschlagen. Denn nicht genug, daĂź sie an den Beulen, die
sie sich wechselseitig geben, lange zu heilen haben, so mĂĽssen sie
hinterher noch allen den Schaden bezahlen, den sie anrichteten."
Sero sapiunt Phryges. Die Nachwehen 6.ts gegenwärtigen Krieges
aber körmen dem politischen Wahrsager das Geständnis einer
nahe bevorstehenden Wendung des menschlichen Geschlechts zum
Besseren abnötigen, das schon [etzt im Prospekt ist.
/
Dritter Abschnitt.
Der Streit der philosophischen Fakultät
mit der medizinischen.
Von der Macht des GemĂĽts
durch den bloĂźen Vorsatz seiner krankhaften GefĂĽhle
Meister zu sein.
Ein Antwortschreiben an Herrn Hofrat und Professor
Hufeland.
DaĂź meine Danksagung fĂĽr das den 1 2 ten Dec. 1796 an
mich bestellte Geschenk Ihres lehrreichen und angenehmen Buchs
„von der Kunst, das menschliche Leben zu verlängern"
selbst auf ein langes Leben berechnet gewesen sein dürfte, möchten
Sie vielleicht aus dem Datum dieser meiner Antwort vom Januar
dieses Jahres zu schlieĂźen Ursache haben, wenn das Altgeworden-
sein nicht schon die öftere Vertagung {procrastinatio) wichtiger
BeschlĂĽsse bei sich fĂĽhrete, dergleichen doch wohl der des Todes
ist, welcher sich immer zu frĂĽh fĂĽr uns anmeldet, und den man
warten zu lassen an Ausreden unerschöpflich ist.
Sie verlangen von mir „ein Urteil über Ihr Bestreben, das
Physische im Menschen moralisch zu behandeln; den ganzen, auch
physischen Menschen als ein auf Moralität berechnetes Wesen
darzustellen und die moralische Kultur als unentbehrlich zur phy-
sischen Vollendung der ĂĽberall nur in der Anlage vorhandenen
Menschennatur zu zeigen", und setzen hinzu: „wenigstens kann
ich versichern, daĂź es keine vorgefaĂźte Meinungen waren, sondern
ich durch die Arbeit und Untersuchung selbst unwiderstehlich in
diese Behandlungsart hineingezogen wurde." — — Eine solche
Ansicht der Sache verrät den Philosophen, nicht den bloßen
VernunftkĂĽnstler; einen Mann, der nicht allein gleich einem der
Direktoren des französischen Konvents die von der Vernunft ver-
I l
De?- Streit der Fakult'iitcn. Dritter Ahschn'ttt
ordneten Mittel der AusfĂĽhrung (technisch), wie sie die Er-
fahrung darbietet, zu seiner Heilkunde mit Geschicklichkeit, sondern
als gesetzgebendes Glied im Korps der Arzte aus der reinen
Vernunft hernimmt, welche zu dem, was hilft, mit Ge-
schicklichkeit auch das, was zugleich an sich Pflicht ist, mit
Weisheit zu verordnen weiĂź: so daĂź moralisch-praktische Philo-
sophie zugleich eine Universalmedizin abgibt, die zwar nicht allen
fĂĽr alles hilft, aber doch in keinem Rezepte mangeln kann.
Dieses Universalmittel betrifft aber nur die Diätetik, d. i. es
wirkt nur negativ, als Kunst, Krankheiten abzuhalten. Der-
gleichen Kunst aber setzt ein Vermögen voraus, das nur Philosophie,
oder der Geist derselben, den man schlechthin voraussetzen muĂź,
geben kann. Auf diesen bezieht sich die oberste diätetische Auf-
gabe, welche in dem Thema enthalten ist:
Von. der Macht des GemĂĽts des Menschen ĂĽber seine
krankhafte GefĂĽhle durch den bloĂźen festen Vorsatz
Meister zu sein.
Die die Möglichkeit dieses Ausspruchs bestätigenden Beispiele
kann ich nicht von der Erfahrung anderer hernehmen, sondern
zuerst nur von der an mir selbst angestellten, weil sie aus dem
SelbstbewuĂźtsein hervorgeht und sich nachher allererst andere
fragen läßt: ob es nicht auch sie ebenso in sich wahrnehmen. —
Ich sehe mich also genötigt, mein Ich laut werden zu lassen,
was im dogmatischen Vortrage') Unbescheidenheit verrät, aber
Verzeihung verdient, wenn es nicht gemeine Erfahrung, sondern
ein inneres Experiment oder Beobachtung betrifft, welche ich zu-
erst an mir selbst angestellt haben muĂź, um etwas, was nicht
jedermann von selbst, und ohne darauf geführt zu sein, beifällt,
zu seiner Beurteilung vorzulegen. — Es würde tadelhafte An-
maĂźung sein, andere mit der inneren Geschichte meines Ge-
dankenspiels unterhalten zu wollen, welche zwar subjektive Wich-
tigkeit (fĂĽr mich), aber keine objektive (fĂĽr jedermann geltende)
enthielten. Wenn aber dieses Aufmerken auf sich selbst und die
') Im dogmatisch-praktischen Vortrage, z- B. derjenigen Beobachtung
seiner selbst, die auf Pflichten abzweckt, die jedermann angehen, spricht
der Kanzelredner nicht durch Ich, sondern Wir. In dem erzählenden
aber, der Privatemptindung (der Beichte, welche der Patient seinem
Arzte ablegt), oder eigener Erfahrung an sich selbst muĂź er durch Ich
reden.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der rtiedizinischen 4 1 3
daraus hervorgehende Wahrnehmung nicht so gemein ist, sondern,
daĂź jeder dazu aufgefordert werde, eine Sache ist, die es bedarf
und verdient, so kann dieser Ăśbelstand mit seinen Privatempfin-
dungen andere zu unterhalten, wenigstens verziehen werden.
Ehe ich nun mit dem Resultat meiner in Absicht auf Diätetik
angestellten Selbstbeobachtung aufzutreten wage, muĂź ich noch
etwas ĂĽber die Art bemerken, wie Herr HUFELAND die Auf-
gabe der Diätetik, d. i. der Kunst stellt, Krankheiten vorzu-
beugen, im Gegensatz mit der Therapeutika sie zu heilen.
Sie heißt ihm „die Kunst das menschliche Leben zu ver-
längern."
Er nimmt seine Benennung von demjenigen her, was die
Menschen am sehnsĂĽchtigsten wĂĽnschen, ob es gleich vielleicht
weniger wünschenswert sein dürfte. Sie möchten zwar gern zwei
Wünsche zugleich tun: nämlich lange zu leben und dabei ge-
sund zu sein; aber der erstcre Wunsch hat den letzteren nicht
zur notwendigen Bedingung: sondern er ist unbedingt. LaĂźt den
Hospitalkranken Jahre lang auf seinem Lager leiden und darben
und ihn ok wünschen hören, daß ihn der Tod je eher je lieber
von dieser Plage erlösen möge; glaubt ihm nicht, es ist nicht sein
Ernst. Seine Vernunft sagt es ihm zwar vor, aber der Natur-
instinkt will es anders. Wenn er dem Tode als seinem Befreier
(^Jovi liberatori) winkt, so verlangt er doch immer noch eine
kleine Frist und hat immer irgend einen Vorwand zur Vertagung
(j>rocrastinat'io) seines peremtorischen Dekrets. Der in wilder Ent-
rüstung gefaßte Entschluß des Selbstmörders, seinem Leben ein
Ende zu machen, macht hievon keine Ausnahme: denn er ist die
Wirkung eines bis zum Wahnsinn exaltierten Affekts. — Unter
den zwei Verheißungen für die Befolgung der Kindespflicht („auf
daß dir es wohlgehe, und du lange lebest auf Erden") enthält
die letztere die stärkere Triebfeder, selbst im Urteile der Ver-
nunft, nämlich als Pflicht, deren Beobachtung zugleich verdienst-
lich ist.
Die Pflicht, das Alter zu ehren, gründet sich nämlich eigent-
lich nicht auf die billige Schonung, die man den JĂĽngeren gegen
die Schwachheit der Alten zumutet: denn die ist kein Grund zu
einer ihnen schuldigen Achtung. Das Alter will also noch fĂĽr
etwas Verdienstliches angesehen werden, weil ihm eine Ver-
ehrung zugestanden wird. Also nicht etwa weil Nestorjahre
zugleich durch viele und lange Erfahrung erworbene Weisheit
414 Der Streit der Fahultäten. Dritter Abschnitt
zu Leitung der jĂĽngeren Welt bei sich fĂĽhren, sondern bloĂź weil,
wenn nur keine Schande dasselbe befleckt hat, der Mann, welcher
sich so lange erhalten hat, d. i. der Sterblichkeit als dem demĂĽti-
gendsten Ausspruch, der über ein vernünftiges Wesen nur gefällt
werden kann („du bist Erde und sollst zur Erde werden*'), so
lange hat ausweichen und gleichsam der Unsterblichkeit hat ab-
gewinnen können, weil, sage ich, ein solcher Mann sich so lange
lebend erhalten und zum Beispiel aufgestellt hat.
Mit der Gesundheit, als dem zweiten natĂĽrlichen Wunsche, ist
es dagegen nur miĂźlich bewandt. Man kann sich gesund fĂĽhlen
(aus dem behaglichen GefĂĽhl seines Lebens urteilen), nie aber
wissen, daß man gesund sei. — Jede Ursache des natürlichen
Todes ist Krankheit: man mag sie fühlen oder nicht. — Es gibt
viele, von denen, ohne sie eben verspotten zu wollen, man sagt,
daß sie für immer kränkeln, nie krank werden können; deren
Diät ein immer wechselndes Abschweifen und wieder Einbeugen
ihrer Lebensweise ist, und die es im Leben, wenn gleich nicht
den Kraftäußerungen, doch der Länge nach weit bringen. Wie
viel aber meiner Freunde oder Bekannten habe ich nicht ĂĽberlebt,
die sich bei einer einmal angenommenen ordentlichen Lebensart
einer völligen Gesundheit rühmten: indessen daß der Keim des
Todes (die Krankheit), der Entwickelung nahe, unbemerkt in ihnen
lag, und der, welcher sich gesund fĂĽhlte, nicht wuĂźte, daĂź er
krank war; denn die Ursache eines natĂĽrlichen Todes kann man
doch nicht anders als Krankheit nennen. Die Kausalität aber
kann man nicht fühlen, dazu gehört Verstand, dessen Urteil irrig
sein kann, indessen daĂź das GefĂĽhl untrĂĽglich ist, aber nur dann,
wenn man sich krankhaft fĂĽhlt, diesen Namen fĂĽhrt; fĂĽhlt man
sich aber so auch nicht, doch gleichwohl in dem Menschen ver-
borgenerweise und zur baldigen Entwickelung bereit liegen kann;
daher der Mangel dieses GefĂĽhls keinen andern Ausdruck des
Menschen fĂĽr sein Wohlbefinden verstattet, als daĂź er schein-
bar lieh gesund sei. Das lange Leben also, wenn man dahin
zurĂĽcksieht, kann nur die genossene Gesundheit bezeugen, und
die Diätetik wird vor allem in der Kunst das Leben zu ver-
längern (nicht es zu genießen) ihre Geschicklichkeit oder
Wissenschaft zu beweisen haben: wie es auch Herr HUFELAND
so ausgedrĂĽckt haben will.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen 4 1 5
Grundsatz der Diätetik.
Auf Gem'ächlichkeit muß die Diätetik nicht berechnet
werden; denn diese Schonung seiner Kräfte und Gefühle ist Ver-
zärtelung, d. i. sie hat Schwäche und Kraftlosigkeit zur Folge und
ein allmähliches Erlöschen der Lebenskraft aus Mangel der Übung;
sowie eine Erschöpfung derselben durch zu häufigen und starken
Gebrauch derselben. Der Stoizism als Prinzip der Diätetik
(sustinc et abstine) gehört also nicht bloß zur praktischen Philo-
sophie als Tugendlehre, sondern auch zu ihr als Heilkunde.
— Diese ist alsdann philosophisch, wenn bloß die Macht der
Vernunft im Menschen, ĂĽber seine sirmliche GefĂĽhle durch einen
sich selbst gegebenen Grundsatz Meister zu sein, die Lebensweise
bestimmt. Dagegen, wenn sie diese Empfindungen zu erregen
oder abzuwehren die Hülfe außer sich in körperlichen Mitteln
(der Apotheke, oder der Chirurgie) sucht, sie bloĂź empirisch und
mechanisch ist.
Die Wärme, der Schlaf, die sorgfältige Pflege des nicht
Kranken sind solche Verwöhnungen der Gemächlichkeit.
i) Ich kann der Erfahrung an mir selbst gemäß der Vor-
schrift nicht beistimmen: man soll Konf und FĂĽĂźe warm halten.
Ich finde es dagegen geratener, beide kalt zu halten (wozu die
Russen auch die Brust zählen), gerade der Sorgfalt wegen, um
mich nicht zu verkälten. — Es ist freilich gemächlicher im
laulichen Wasser sich die FĂĽĂźe zu waschen, als es zur Winterszeit
mit beinahe eiskaltem zu tun; dafĂĽr aber entgeht man dem Ăśbel
der Erschlaffung der Blutgefäße in so weit vom Herzen entlegenen
Teilen, welches im Alter oft eine nicht mehr zu hebende Krankheit
der Füße nach sich zieht. — Den Bauch, vornehmlich bei kalter
Witterung, warm zu halten, möchte eher zur diätetischen Vor-
schrift statt der Gemächlichkeit gehören; weil er Gedärme in sich
schlieĂźt, die einen langen Gang hindurch einen nicht-flĂĽssigen
Stoff forttreiben sollen; wozu der sogenannte Schmachtriemen (ein
breites den Unterleib haltendes und die Muskeln desselben unter-
stützendes Band) bei Alten, aber eigentlich nicht der Wärme wegen
gehört.
2) Lange oder (wiederholentlich, durch Mittagsruhe) viel
schlafen ist freilich eben so viel Ersparnis am ĂĽngemache, was
ĂĽberhaupt das Leben im Wachen unvermeidlich bei sich fĂĽhrt,
und es ist wunderlich genug, sich ein langes Leben zu wĂĽnschen.
416 De?' Streit der Fakultäten. Dritter Abschnitt
um CS größtenteils zu verschlafen. Aber das, worauf es hier
eigentlich ankömmt, dieses vermeinte Mittel des langen Lebens,
die Gemächlichkeit, widerspricht sich in seiner Absicht selbst.
Denn das wechselnde Erwachen und wieder Einschlummern in
langen Winternächten ist für das ganze Nervensystem lähmend,
zermalmend und in täuschender Ruhe krafterschöpfend: mithin
die Gemächlichkeit hier eine Ursache der Verkürzung des Lebens.
— Das Bett ist das Nest einer Menge von Krankheiten.
3) Im Alter sich zu pflegen oder pflegen zu lassen, bloĂź
um seine Kräfte durch die Vermeidung der Ungemächlichkeit (z.
B. des Ausgehens in schlimmen W^etter) oder ĂĽberhaupt die Ăśber-
tragung der Arbeit an andere, die man selbst verrichten könnte,
zu schonen, so aber das Leben zu verlängern, diese Sorgfalt be-
wirkt gerade das V^^iderspiel, nämlich das frühe Altwerden und
Verkürzung des Lebens. — — Auch daß sehr alt gewordene
mehrenteils verehelichte Personen gewesen wären, möchte
schwer zu beweisen sein. — In einigen Familien ist das Alt-
werden erblich, und die Paarung in einer solchen kann wohl
einen Familienschlag dieser Art begrĂĽnden. Es ist auch kein ĂĽbles
politisches Prinzip, zu Beförderung der Ehen das gepaarte Leben
als ein langes Leben anzupreisen; obgleich die Erfahrung immer
verhältnisweise nur wenig Beispiele davon an die Hand gibt von
solchen, die nebeneinander vorzĂĽglich alt geworden sind; aber die
Frage ist hier nur vom physiologischen Grunde des Altwerdens —
wie es die Natur verfugt, nicht vom politischen, wie die Kon-
venienz des Staats die öffentliche Meinung seiner Absicht gemäß
gestimmt zu sein verlangt. — Übrigens ist das Philosophieren,
ohne darum eben Philosoph zu sein, auch ein Mittel der Ab-
wehrung mancher unangenehmer GefĂĽhle und doch zugleich Agi-
tation des Gemüts, welches in seine Beschäftigung ein Interesse
bringt, das von äußern Zufälligkeiten unabhängig und eben darum,
obgleich nur als Spiel, dennoch kräftig und inniglich ist und die
Lebenskraft nicht stocken läßt. Dagegen Philosophie, die ihr
Interesse am Ganzen des Endzwecks der Vernunft (der eine ab-
solute Einheit ist) hat, ein GefĂĽhl der Kraft bei sich fĂĽhrt, wel-
ches die körperliche Schwächen des Alters in gewissem Maße
durch vernünftige Schätzung des Werts des Lebens wohl vergüten
kann. — Aber neu sich eröffnende Aussichten zu Erweiterung
seiner Erkenntnisse, wenn sie auch gerade nicht zur Philosophie
gehörten, leisten doch auch eben dasselbe, oder etwas dem Ahn
Der Streit der philosophischen Fakultät 7?jit der medizinischen 4 1 7
liches; und sofern der Mathematiker hieran ein unmittelbares
Interesse (nicht als an einem Werkzeuge zu anderer Absicht)
nimmt, so ist er insofern auch Philosoph und genieĂźt die Wohl-
tätigkeit einer solchen Erregungsart seiner Kräfte in einem ver-
jüngten und ohne Erschöpfung verlängerten Leben.
Aber auch bloße Tändeleien in einem sorgenfreien Zustande
leisten, als Surrogate, bei eingeschränkten Köpfen fast eben das-
selbe, und die mit Nichtstun immer vollauf zu tun haben, w^erden
gemeiniglich auch alt. — Ein sehr bejahrter Mann fand dabei ein
groĂźes Interesse, daĂź die vielen Stutzuhren in seinem Zimmer
immer nach einander, keine mit der andern .zugleich schlagen
muĂźten; welches ihn und den Uhrmacher den Tag ĂĽber genug
beschäftigte und dem letztern zu verdienen gab. Ein anderer
fand in der Abfütterung und Kur seiner Sangvögel hinreichende
Beschäftigung, um die Zeit zwischen seiner eigenen Abfütterung
und dem Schlaf auszufĂĽllen. Eine alte begĂĽterte Frau fand diese
AusfĂĽllung am Spinnrade unter dabei eingemischten unbedeutenden
Gesprächen und klagte daher in ihrem sehr hohen Alter, gleich
als ĂĽber den Verlust einer guten Gesellschaft, daĂź, da sie nun-
mehr den Faden zwischen den Fingern nicht mehr fühlen könnte,
sie fĂĽr langer Weile zu sterben Gefahr liefe.
Doch damit mein Diskurs ĂĽber das lange Leben Ihnen nicht
auch lange Weile mache und eben dadurch gefährlich werde,
will ich der Sprachseligkeit, die man als einen Fehler des Alters
zu belächlen, wenngleich nicht zu schelten pflegt, hiemit Grenzen
setzen.
I.
Von der Hypochondrie.
Die Schwäche, sich seinen krankhaften Gefühlen überhaupt,
ohne ein bestimmtes Objekt, mudos zu ĂĽberlassen (mithin ohne
den Versuch zu machen, ĂĽber sie durch die Vernunft Meister zu
werden), — die Grillenkrankheit (hypochondria vagd),^) welche
gar keinen bestimmten Sitz im Körper hat und ein Geschöpf der
Einbildungskraft ist und daher auch die dichtende heißen könnte,
— wo der Patient alle Krankheiten, von denen er in Büchern
^) Zum Unterschiede von der topischen {hypochondria intestinalis).
Kants Schriften. Bd. VII. 27
41 8 Der Streit der Fakulfnten. Dritter Abschnitt
liest, an sich zu bemerken glaubt, ist das gerade Widerspiel jenes
Vermögens des Gemüts über seine krankhafte Gefühle Meister zu
sein, nämlich Verzagtheit, über Übel, welche Menschen zustoßen
könnten, zu brüten, ohne, wenn sie kämen, ihnen widerstehen
zu können; eine Art von W^ahnsinn, welchem freilich wohl irgend
ein Krankheitsstoff (Blähung oder Verstopfung) zum Grunde liegen
mag, der aber nicht unmittelbar, wie er den Sinn affiziert, gefĂĽhlt,
sondern als bevorstehendes Ăśbel von der dichtenden Einbildungs-
kraft vorgespiegelt wird; wo dann der Selbstquäler (heautontimo-
rumenos\ statt sich selbst zu ermannen, vergeblich die HĂĽlfe des
Arztes aufruft: weil nur er selbst durch die Diätetik seines Ge-
dankenspiels belästigende Vorstellungen, die sich unwillkürlich ein-
finden, und zwar von Ăśbeln, wider die sich doch nichts veran-
stalten ließe, wenn sie sich wirkhch einstellten, aufheben kann. —
Von dem, der mit dieser Krankheit behaftet, und so lange er es
ist, kann man nicht verlangen, er solle seiner krankhaften GefĂĽhle
durch den bloĂźen Vorsatz Meister werden. Denn wenn er dieses
könnte, so wäre er nicht hypochondrisch. Ein vernünftiger
Mensch statuiert keine solche Hypochondrie: sondfern wenn
ihm Beängstigungen anwandeln, die in Grillen, d. i. selbst aus-
gedachte Ăśbel, ausschlagen wollen, so fragt er sich, ob ein Objekt
derselben da sei. Findet er keines, welches gegrĂĽndete Ursache
zu dieser Beängstigung abgeben kann, oder sieht er ein, daß, wenn
auch gleich ein solches wirklich wäre, doch dabei nichts zu tun
möglich sei, um seine Wirkung abzuwenden, so geht er mit diesem
Ansprüche seines inneren Gefühls zur Tagesordnung, d. i. er läßt
seine Beklommenheit (welche alsdann bloĂź topisch ist) an ihrer
Stelle liegen (als ob sie ihm nichts anginge) und richtet seine
Aufmerksamkeit auf die Geschäfte, mit denen er zu tun hat.
Ich hebe wegen meiner flachen und engen Brust, die fĂĽr die
Bewegung des Herzens und der Lunge wenig Spielraum läßt, eine
natĂĽrliche Anlage zur Hypochondrie, welche in frĂĽheren Jahren
bis an den ĂśberdruĂź des Lebens grenzte. Aber die Ăśberlegung,
daĂź die Ursache dieser Herzbeklemmung vielleicht bloĂź mechanisch
und nicht zu heben sei, brachte es bald dahin, daĂź ich mich an
sie gar nicht kehrte, und während dessen, daß ich mich in der
Brust beklommen fĂĽhlte, im Kopf doch Ruhe und Heiterkeit
herrschte, die sich auch in der Gesellschaft nicht nach abwechseln-
den Launen (wie Hypochondrische pflegen), sondern absichtlich
und natĂĽrlich mitzuteilen nicht ermangelte. Und da man des
Der Streit des philosophischen Fakultät mit der ?nedizimschen 4 1 9
Lebens mehr froh wird durch das, was man im freien Gebrauch
desselben tut, als was man genießt, so können Geistesarbeiten
eine andere Art von befördertem Lebensgefühj den Hemmungen
entgegensetzen, welche bloß den Körper angehen. Die Beklem-
mung ist mir gebheben; denn ihre Ursache liegt in meinem
körperlichen Bau. Aber über ihren Einfluß auf meine Gedanken
und Handlungen bin ich Meister geworden durch Abkehrung
der Aufmerksamkeit von diesem GefĂĽhle, als ob es mich gar
nicht anginge.
2.
Vom Schlafe.
Was die Türken nach ihren Grundsätzen der Prädestination
über die Mäßigkeit sagen: daß nämhch im Anfange der Welt
jedem Menschen die Portion zugemessen worden, wie viel er im
Leben zu essen haben werde, und, wenn er seinen beschiedenen
Teil in groĂźen Portionen verzehrt, er auf eine desto kĂĽrzere Zeit
zu essen, mithin zu sein sich Rechnung machen könne: das
kann in einer Diätetik als Kinderlehre (denn im Genießen
müssen auch Männer von Ärzten oft als Kinder behandelt werden)
auch zur Regel dienen: nämlich daß jedem Menschen von An-
beginn her vom Verhängnisse seine Portion Schlaf zugemessen
worden, und der, welcher von seiner Lebenszeit in Mannsjahren
zu viel (über das Dritteil) dem Schlafen eingeräumt hat, sich nicht
eine lange Zeit zu schlafen, d. i. zu leben und alt zu werden,
versprechen darf. — Wer dem Schlaf als süßen Genuß im
Schlummern (der Siesta der Spanier) oder als ZeitkĂĽrzung (in
langen Winternächten) viel mehr als ein Dritteil seiner Lebenszeit
einräumt, oder ihn sich auch teilweise (mit Absätzen), nicht in
einem StĂĽck fĂĽr jeden Tag zumiĂźt, verrechnet sich sehr in An-
sehung seines Lebensquantum teils dem Grade, teils der Länge
nach. — Da nun schwerlich ein Mensch wünschen wird, daß der
Schlaf überhaupt gar nicht Bedürfnis für ihn wäre (woraus doch
wohl erhellet, daĂź er das lange Leben als eine lange Plage fĂĽhlt,
von dem, so viel er verschlafen, eben so viel MĂĽhsehgkeit zu
tragen er sich ersparet hat), so ist es geratener fĂĽrs GefĂĽhl so-
wohl als fĂĽr die Vernunft, dieses genuĂź- und tatleere Drittel ganz
auf eine Seite zu bringen und es der unentbehrlichen Natur-
lO
Der Streit der Fahttltaten. Dritter Abschnitt
restauration zu ĂĽberlassen: doch mit einer genauen Abgemessenheit
der Zeit, von wo an und wie lange sie dauern soll.
Es gehört unter die krankhaften Gefühle zu der bestimmten
und gewohnten Zeit nicht schlafen, oder auch sich nicht wach
halten zu können; vornehmlich aber das erstere, in dieser Absicht
sich zu Bette zu legen und doch schlaflos zu liegen. — Sich alle
Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, ist zwar der gewöhnliche
Rat, den der Arzt gibt: aber sie oder andere an ihre Stelle kom-
men wieder und erhalten wach. Es ist kein anderer diätetischer
Rat, als beim inneren Wahrnehmen oder BewuĂźtwerden irgend
eines sich regenden Gedanken die Aufmerksamkeit davon sotort
abzuwenden (gleich als ob man mit geschlossenen Augen diese
auf eine andere Seite kehrte): wo dann durch das Abbrechen
jedes Gedanken, den man inne wird, allmählich eine Verwirrung
der Vorstellungen entspringt, dadurch das Bewußtsein seiner körper-
Uchen (äußeren) Lage aufgehoben wird, und eine ganz verschiedene
Ordnung, nämlich ein unwillkürliches Spiel der Einbildungskrai-t
(das im gesunden Zustande der Traum ist), eintritt, in welchem
durch ein bewundernswĂĽrdiges KunststĂĽck der tierischen Or
ganisation der Körper für die animalischen Bewegungen ab-
gespannt, fĂĽr die Vitalbewegung aber innigst agitiert wird und
zwar durch Träume, die, wenn wir uns gleich derselben im Er
wachen nicht erinnern, gleichwohl nicht haben ausbleiben können:
weil sonst bei gänzlicher Ermangelung derselben, wenn die Nerven
kraft, die vom Gehirn, dem Sitze der Vorstellungen, ausgeht,
nicht mit der Muskelkraft der Eingeweide vereinigt wirkte, das
Leben sich nicht einen Augenblick erhalten könnte. Daher träu-
men vermutlich alle Tiere, wenn sie schlafen.
Jedermann aber, der sich zu Bette und in Bereitschaft zu
schlafen gelegt hat, wird bisweilen bei aller obgedachten Ab-
lenkung seiner Gedanken doch nicht zum Einschlafen kommen
können. In diesem Falle wird er im Gehirn etwas Spastisches
(Kramptartiges) fĂĽhlen, welches auch mit der Beobachtung gut
zusammenhängt: daß ein Mensch gleich nach dem Er\vachen etwa
7j Zoll länger sei, als wenn er sogar im Bette geblieben und
dabei nur gewacht hätte. — Da Schlaflosigkeit ein Fehler des
schwächlichen Alters und die linke Seite überhaupt genommen die
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der ?nedizmischcn 4 2 1
schwäcxhere ist/) so tuhJte ich seit etwa einem Jahre diese
krampfigte Anwandejungen und sehr empfindliche Reize dieser Art
(obzwar nicht wirkliche und sichtbare Bewegungen der darauF
affizierten Gliedmaßen als Krämpfe), die ich nach der Beschreibung
anderer für gichtische Zufälle halten und dafür einen Arzt
suchen muĂźte. Nun aber, aus Ungeduld, am Schlafen mich gc-
liindert zu fĂĽhlen, griff ich bald zu meinem stoischen Mittel,
meinen Gedanken mit Anstrengung auf irgendein von mir ge-
wähltes gleichgültiges Objekt, was es auch sei, (z. B. auf den viel
Nebenvorstellungen enthaltenden Namen CICERO) zu heften: mit-
hin die Aufmerksamkeit von jener Empfindung abzulenken; dadurch
diese dann und zwar schleunig stumpf wurde, und so die Schläf-
rigkeit sie ĂĽberwog, und dieses kann ich jederzeit bei wieder-
kommenden Anfällen dieser Art in den kleinen Unterbrechungen
des Nachtschlafs mit gleich gutem Erfolg wiederholen. DaĂź aber
dieses nicht etwa bloĂź eingebildete Schmerzen waren, davon konnte
mich die des andern Morgens früh sich zeigende glühende Röte der
Zehen des linken Fußes überzeugen. — Ich bin gewiß, daß viele
gichtische Zufälle, wenn nur die Diät des Genusses nicht gar zu
sehr dawider ist, ja Krämpfe und selbst epileptische Zufälle
(nur nicht bei Weibern und Kindern, als die dergleichen Kraft
^) Es ist ein ganz unrichtiges Vorgeben, daß, was die Stärke im
Gebrauch seiner äußern Gliedmaßen betrifft, es bloß auf die Übung,
und wie man frühe gewöhnt worden, ankomme, welche von beiden
Seiten des Körpers die stärkere oder schwächere sein solle; ob im Ge-
fechte mit dem rechten oder linken Arm der Säbel geführt, ob sich
der Reiter, im SteigbĂĽgel stehend, von der Rechten zur Linken oder
umgekehrt aufs Pferd schwinge, u. dgl. Die Erfahrung lehrt aber,
daß, wer sich am linken Fuße Maß für seine Schuhe nehmen läßt,
wenn der Schuh dem linken genau anpaĂźt, er fĂĽr den rechten zu enge
sei, ohne daĂź man die Schuld davon den Eltern geben kann, die ihre
Kinder nicht besser belehrt hätten; so wie der Vorzug der rechten
Seite vor der linken auch daran zu sehen ist, daĂź der, welcher ĂĽber
einen etwas tiefen Graben schreiten will, den linken FuĂź ansetzt und
mit dem rechten ĂĽberschreitet; widrigenfalls er in den Graben zu fallen
Gefahr läuft. Daß der preußische Infanterist geübt wird, mit dem
linken Fuße anzutreten, widerlegt jenen Satz nicht, sondern bestätigt
ihn vielmehr; denn er setzt diesen voran, gleich als auf ein Hypo-
mochlium, um mit der rechten Seite den Schwung des Angriffs zu
machen, welchen er mit der rechten gegen die linke verrichtet.
42 2 Der Streit der Fakultäten. Dritter Abschnitt
des Vorsatzes nicht haben), auch wohl das fĂĽr unheilbar ver-
schriene Podagra bei jeder neuen Anwandlung desselben durch
diese Festigkeit des Vorsatzes i^seine Aut-merksamkeit von einem
solchen Leiden abzuwenden) abgehalten und nach und nach gar
gehoben werden könnte.
3-
Vom Essen und Trinken.
Im gesunden Zustande und der Jugend ist es das Geratenste
in Ansehung des Genusses, der Zeit und Menge nach, bloĂź den
Appetit (Hunger und Durst) zu befragen; aber bei den mit dem
Alter sich einfindenden Schwächen ist eine gewisse Angewohn-
heit einer geprüften und heilsam gebundenen Lebensart, nämlich
wie man es einen Tag gehalten hat, es ebenso alle Tage zu
halten, ein diätetischer Grundsatz, welcher dem langen Leben am
gĂĽnstigsten ist; doch unter der Bedingung, daĂź diese AbfĂĽtterung
für den sich weigernden Appetit die gehörige Ausnahmen mache.
— Dieser nämlich weigert im Alter die Quantität des Flüssigen
(Suppen oder viel Wasser zu trinken) vornehmlich dem männ-
lichen Geschlecht: verlangt dagegen derbere Kost und an reizenderes
Getränke (z. B. Vl^ein), sowohl um die wurmförmige Bewegung
der Gedärme (die unter allen Eingeweiden am meisten von der
vita propria zu haben scheinen, weil sie, wenn sie noch warm
aus dem Tier gerissen und zerhauen werden, als W'ĂĽrmer kriechen,
deren Arbeit man nicht bloß fühlen, sondern sogar hören kann)
zu befördern und zugleich solche Teile in den Blutumlaut zu
bringen, die durch ihren Reiz das Gerader zur Blutbewegung im
Umlauf zu erhalten beförderlich sind.
Das Wasser braucht aber bei alten Leuten längere Zeit, um,
ins Blut aufgenommen, den langen Gang seiner Absonderung von
der Blutmasse durch die Nieren zur Fiarnblase zu machen, wenn
es nicht dem Blute assimilierte Teile (dergleichen der Wein ist),
und die einen Reiz der Blutgefäße zum FortschatFen bei sich
führen, in sich enthält; welcher letztere aber alsdann als Medizin
gebraucht wird, dessen kĂĽnstlicher Gebrauch eben darum eigent-
lich nicht zur Diätetik gehört. Der Anwandelung des Appetits
zum Wassertrinken (dem Durst), welche groĂźenteils nur An-
gewohnheit istj nicht sofort nachzugeben, und ein hierĂĽber ge-
Der Streit der philosophischen FahiltĂĽ t mit der medizinischen 4
3
nommener fester Vorsatz bringt diesen Reiz in das MaĂź des
natĂĽrlichen BedĂĽrfnisses des den Festen Speisen beizugebenden
FlĂĽssigen, dessen GenuĂź in Menge im Alter selbst durch den Natur-
instinkt geweigert wird. Man schläft auch nicht gut, wenigstens
nicht tief- bei dieser Wasserschwelgerei, weil die Blutwärme da-
durch vermindert wird.
Es ist oft gefragt worden: ob, gleich wie in 24 Stunden
nur ein Schlaf, so auch in ebenso viel Stunden nur eine Mahlzeit
nach diätetischer Regel verwilligt werden könne, oder ob es nicht
besser (gesunder) sei, dem Appetit am Mittagstische etwas ab-
zubrechen, um dafür auch zu Nacht essen zu können. Zeitkür-
zender ist i-reilich das letztere. — Das letztere halte ich auch in
den sogenannten besten Lebensjahren (dem Mittelalter) tĂĽr zu-
träglicher; das erstere aber im späteren Alter. Denn da das
Stadium für die Operation der Gedärme zum Behuf der Verdauung
im Alter ohne Zweifel langsamer abläuh, als in jüngeren Jahren,
so kann man glauben, daĂź ein neues Pensum (in einer Abend-
mahlzeit) der Natur aufzugeben, indessen daĂź das erstere Stadium
der Verdauung noch nicht abgelaufen ist, der Gesundheit nach-
teilig werden müsse. — Auf solche Weise kann man den Anreiz
zum Abendessen nach einer hinreichenden Sättigung des Mittags
fĂĽr ein krankhaftes GefĂĽhl halten, dessen man durch einen
festen Vorsatz so Meister werden kann, daĂź auch die Anwande-
lung desselben nachgerade nicht mehr verspĂĽrt wird.
4-
Von dem krankhaften GefĂĽhl aus der Unzeit im Denken.
Einem Gelehrten ist das Denken ein Nahrungsmittel, ohne
welches, wenn er wach und allein ist, er nicht leben kann;
jenes mag nun im Lernen (BĂĽcherlesen) oder im Ausdenken
(Nachsinnen und Erfinden) bestehen. Aber beim Essen ode
Gehen sich zugleich angestrengt mit einem bestimmten Gedanken
beschäftigen, Kopf und Magen oder Kopf und Füße mit zwei
Arbeiten zugleich belästigen, davon bringt das eine Hypochondrie,
das andere Schwindel hervor. Um also dieses krankhaften Zu-
standes durch Diätetik Meister zu sein, wird nichts weiter ertordert,
als die mechanische Beschäftigung des Magens oder der Füße mit
424 ^^^ Streit der Fakultäten. Dritter Abschnitt
der geistigen des Denkens wechseln zu lassen und während dieser
(der Restauration gewidmeten) Zeit das absichtliche Denken zu
hemmen und dem (dem mechanischen ähnlichen) freien Spiele der
Einbildungskraft den Lauf zu lassen; wozu aber bei einem Stu-
dierenden ein allgemein gefaßter und fester Vorsatz der Diät im
Denken erfordert wird.
Es finden sich krankhafte GefĂĽhle ein, wenn man in einer
Mahlzeit ohne Gesellschaft sich zugleich mit BĂĽcherlesen oder
Nachdenken beschäftigt, weil die Lebenskraft durch Kopfarbeit
von dem Magen, den man belästigt, abgeleitet wird. Ebenso,
wenn dieses Nachdenken mit der krafterschöpfenden Arbeit der
FĂĽĂźe (im Promenieren)^) verbunden wird. (Man kann das Lu-
kubricren noch hinzufügen, wenn es ungewöhnlich ist.) In-
dessen sind die krankhaften GefĂĽhle aus diesen unzeitig (jnvita
Minerva) vorgenommenen Geistesarbeiten doch nicht von der Art,
daĂź sie sich immittelbar durch den bloĂźen Vorsatz augenblicklich,
sondern allein durch Entwöhnung vermöge eines entgegengesetzten
Prinzips nach und nach heben lassen, und von den ersteren soll
hier nur geredet werden.
#
Von der Hebung und Verhütung krankhafter Zufälle durch
den Vorsatz im Atemziehen.
Ich war vor wenigen Jahren noch dann und wann vom
Schnupfen und Husten heimgesucht, welche beide Zufälle mir
desto ungelegener waren, als sie sich bisweilen beim Schlafengehen
zutrugen. Gleichsam entrüstet über diese Störung des Nachtschlafs
*) Studierende können es schwerlich unterlassen, in einsamen Spazier-
gängen sich mit Nachdenken selbst und allein zu unterhalten. Ich habe
es aber an mir gefunden und auch von andern, die ich darum befrug,
gehört: daß das angestrengte Denken im Gehen geschwinde matt
macht; dagegen, wenn man sich dem freien Spiel der Einbildungskraft
ĂĽberlaĂźt, die Motion restaurierend ist. Noch mehr geschieht dieses,
wenn bei dieser mit Nachdenken verbundenen Bewegung zugleich Unter-
redung mit einem andern gehalten wird, sodaß man sich bald genötigt
sieht, das Spiel seiner Gedanken sitzend fortzusetzen. — Das Spazieren
im Freien hat gerade die Absicht, durch den Wechsel der Gegenstände
seine Aufmerksamkeit auf jeden einzelnen abzuspannen.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen 4 2 5
entschloĂź ich mich, was den ersteren Zufall betrifft, mit fest ge-
schlossenen Lippen durchaus die Luft durch die Nase zu ziehen;
welches mir anfangs nur mit einem schwachen Pfeifen und, da
ich nicht absetzte oder nachließ, immer mit stärkeren, zuletzt mit
vollen und freien Luftzuge gelang, es durch die Nase zustande
zu bringen, darüber ich dann sofort einschhef. — Was dies gleich-
sam konvulsivische und mit dazwischen vorfallenden Einatmen
(nicht wie beim Lachen ein kontinuiertes stoĂźweise erschallendes)
Ausatmen, den Husten, betrifft, vornehmlich den, welchen der
gemeine Mann in England den Altmannshusten (im Bette liegend)
nennt, so war er mir um so mehr ungelegen, da er sich bisweilen
bald nach der Erwärmung im Bette einstellte und das Einschlafen
verzögerte. Dieses Husten, welches durch den Reiz der mit offenen
Munde eingeatmeten Luft auf den Luftröhrenkopf erregt wird,')
*) Sollte auch nicht die atmosphärische Luft, wenn sie durch die
Eustachische Röhre (also bei geschlossenen Lippen) zirkuliert, dadurch,
daĂź sie auf diesem dem Gehirn naheliegenden Umwege Sauerstoff ab-
setzt, das erquickende Gefühl gestärkter Lebensorgane bewirken, welches
dem ähnlich ist, als ob man Luft trinke; wobei diese, ob sie zwar
keinen Geruch hat, doch die Geruchsnerven und die denselben nahe
liegende einsaugende Gefäße stärkt? - Bei manchem Wetter findet sich
dieses Erquickliche des Genusses der Luft nicht: bei anderem ist es
eine wahre Annehmlichkeit, sie auf seiner Wanderung mit langen
ZĂĽgen zu trinken: welches das Einatmen mit offenem Munde nicht
gewährt. — — Das ist aber von der größten diätetischen Wichtigkeit,
den Atemzug durch die Nase bei geschlossenen Lippen sich so zur
Gewohnheit zu machen, daĂź er selbst im tiefsten Schlaf nicht anders
verrichtet wird, und man sogleich aufwacht, sobald er mit offenem
Munde geschieht, und dadurch gleichsam aufgeschreckt wird; wie ich
das anfänglich, ehe es mir zur Gewohnheit wurde, auf solche Weise
zu atmen, bisweilen erfuhr. — Wenn man genötigt ist, stark oder
bergan zu schreiten, so gehört gröliere Stärke des Vorsatzes dazu, von
jener Regel nicht abzuweichen und eher seine Schritte zu mäßigen,
als von ihr eine Ausnahme zu machen; ingleichen, wenn es um starke
Motion zu tun ist, die etwa ein Erzieher seinen Zöglingen geben will,
daß dieser sie ihre Bewegung lieber stumm, als mit öfterer Einatmung
durch den Mund machen lasse. Meine jungen Freunde (ehemalige Zu-
hörer) haben diese diätetische Maxime als probat und heilsam gepriesen
und sie nicht unter die Kleinigkeiten gezählt, weil sie bloßes Haus-
mittel ist, das den Arzt entbehrlich macht. — Merkwürdig ist noch:
daĂź, da es scheint, beim lange fortgesetzten Sprechen geschehe das
42<$ Der Streit der Fakultäten. Dritter Abschnitt
nun zu hemmen, bedurfte es einer nicht mechanischen (phar-ma-
zeutischen), sondern nur unmittelbaren Gemütsoperation: nämlich die
Autmerksamlccit auf diesen Reiz dadurch ganz abzulenken, daĂź sie
mit Anstrengung auf irgend ein Objekt (wie oben bei krampf-
haften Zufällen) gerichtet und dadurch das Ausstoßen der Luft
gehemmet wurde, welches mir, wie ich es deutlich tĂĽhlete, das
Blut ins Gesicht trieb, wobei aber der durch denselben Reiz
erregte tiüssige Speichel (sa/iva) die Wirkung dieses Reizes, näm-
lich die AusstoĂźung der Luft, verhinderte und ein Herunter-
schlucken dieser Feuchtigkeit bewirkte. Eine GemĂĽtsoperation,
zu der ein recht groĂźer Grad des festen Vorsatzes erforderlich,
der aber darum auch desto wohltätiger ist.
Von den Folgen dieser Angewohnheit des Atemziehens
mit geschlossenen Lippen.
Die unmittelbare Folge davon ist, daĂź sie auch im Schlafe
fortwährt, und ich sogleich aus dem Schlafe aufgeschreckt werde,
Einatmen auch durch den so oft geöfFneten Mund, mithin jene Regel
werde da doch ohne Schaden ĂĽberschritten, es sich wirklich nicht so
verhält. Denn es geschieht doch auch durch die Nase. Denn wäre
diese zu der Zeit verstopft, so wĂĽrde man von dem Redner sagen, er
spreche durch die Nase (ein sehr widriger Laut), indem er wirklich
nicht durch die Nase spräche, und umgekehrt, er spreche nicht durch
die Nase, indem er wirklich durch die Nase spricht: wie es Hr. Hofir.
Lichtenberg launigt und richtig bemerkt. — Das ist auch der Grund,
warum der, welcher lange und laut spricht (Vorleser oder Prediger),
es ohne Rauhigkeit der Kehle eine Stunde lang wohl aushalten kann:
weil nämlich sein Atemziehen eigentlich durch die Nase, nicht durch
den Mund geschieht, als durch welchen nur das Ausatmen verrichtet
wird. — Ein Nebenvorteil dieser Angewohnheit des Atemzuges mit be-
ständig geschlossenen Lippen, wenn man für sich allein wenigstens
nicht im Diskurs begriffen ist, ist der: daĂź die sich immer absondernde
und den Schlund befeuchtende Saliva hiebei zugleich als Verdauungs-
mittel {stomachale), vielleicht auch (verschluckt) als AbfĂĽhrungsmittel wirkt,
wenn man fest genug entschlossen ist, sie nicht durch ĂĽble Angewohn-
heit zu verschwenden.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen
4^7
wenn ich zufälligerweise die Lippen öffne und ein Atemzug durch
den Mund geschieht; woraus man sieht, daĂź der Schlaf und mit
ihm der Traum nicht eine so gänzliche Abwesenheit von dem
Zustande des Wachenden ist, daĂź sich nicht auch eine Aufmerk-
samkeit auf seine Lage in jenem Zustande mit einmische: wie
man denn dieses auch daraus abnehmen kann, daĂź die, welche sich
des Abends vorher vorgenommen. haben, früher als gewöhnlich (etwa
zu einer Spazierfahrt) aufzustehen, auch frĂĽher erwachcp; indem
sie vermutlich durch die Stadtuhren aufgeweckt worden, die sie
also auch mitten im Schlaf haben hören und darauf Acht geben
müssen. — Die mittelbare Folge dieser löblichen Angewöhnung
ist: daß das unwillkürliche abgenötigte Husten (nicht das Auf-
husten eines Schleims als beabsichtigter Auswurf) in beiderlei
Zustande verhĂĽtet und so durch die bloĂźe Macht des Vorsatzes
eine Krankheit verhütet wird. — — Ich habe sogar gefunden,
daß, da mich nach ausgelöschtem Licht (und eben zu Bette ge-
legt) auf einmal ein starker Durst anwandelte, den mit Wasser-
trinken zu löschen ich im Finstern hätte in eine andere Stube
gehen und durch Herumtappen das Wassergeschirr suchen mĂĽssen,
ich darauf fiel, verschiedene und starke AtemzĂĽge mit Erhebung
der Brust zu tun und gleichsam Luft durch die Nase zu trinken;
wodurch der Durst in wenig Sekunden völlig gelöscht war. Es
war ein krankhafter Reiz, der durch einen Gegenreiz gehoben
ward.
BeschluĂź.
Krankhafte Zufälle, in Ansehung deren das Gemüt das Ver-
mögen besitzt, des Gefühls derselben durch den bloßen standhaften
Willen des Menschen, als einer Obermacht des vernĂĽnftigen Tieres,
Meister werden zu können, sind alle von der spastischen (krampf-
haften) Art: man kann aber nicht umgekehrt sagen, daĂź alle von
dieser Art durch den bloĂźen festen Vorsatz gehemmet oder gehoben
werden können. — Denn einige derselben sind von der Be-
schaffenheit, daĂź die Versuche, sie der Kraft des Vorsatzes zu
unterwerfen, das krampfhafte Leiden vielmehr noch verstärken;
wie es der Fall mit mir selber ist, da diejenige Krankheit, welche
vor etwa einem Jahr in der Kopenhagener Zeitung als „epidemi-
scher, mit KopfbedrĂĽckung verbundener Katarrh" beschrieben
428 Der Streit der Fakultäten. Dritter Abschnitt
wurde,') (bei mir aber wohl ein Jahr älter, aber doch von ähn-
licher Empfindung ist) mich fĂĽr eigene Kopfarbeiten gleichsam
desorganisiert, wenigstens geschwächt und stumpf gemacht hat
und, da sich diese Bedrückung auf die natürliche Schwäche des
Alters geworfen hat, wohl nicht anders als mit dem Leben zu-
gleich auf hören wird.
Die krankhafte Beschaffenheit des Patienten, die das Denken,
insofern es ein Festhalten eines Begriffs (der Einheit des BewuĂźt-
seins verbundener Vorstellungen) ist, begleitet und erschwert,
bringt das GefĂĽhl eines spastischen Zustandes des Organs des
Denkens (des Gehirns) als eines Drucks hervor, der zwar das
Denken und Nachdenken selbst, ingleichen das Gedächtnis in An-
sehung des ehedem Gedachten eigentlich nicht schwächt, aber im
Vortrage (dem mĂĽndlichen oder schriftlichen) das feste Zusammen-
halten der Vorstellungen in ihrer Zeitfolge wider Zerstreuung
sicheren soll, bewirkt selbst einen unwillkĂĽrlichen spastischen Zu-
stand des Gehirns, als ein Unvermögen, bei dem Wechsel der
aufeinander folgenden Vorstellungen die Einheit des BewuĂźtseins
derselben zu erhalten. Daher begegnet es mir: daĂź, wenn ich,
wie es in jeder Rede jederzeit geschieht, zuerst zu dem, was ich
sagen will, (den Hörer oder Leser) vorbereite, ihm den Gegen-
stand, wohin ich gehen will, in der Aussicht, dann ihn auch auf das,
wovon ich ausgegangen bin, zurĂĽckgewiesen habe (ohne welche
zwei Hinweisungen kein Zusammenhang der Rede stattfindet) und
ich nun das letztere mit dem ersteren verknĂĽpfen soll, ich auf
einmal meinen Zuhörer (oder stillschweigend mich selbst) fragen
muĂź: Wo war ich doch? Wovon ging ich aus? welcher Fehler
nicht sowohl ein Fehler des Geistes, auch nicht des Gedächtnisses
allein, sondern der Geistesgegenwart (im VerknĂĽpfen), d. i.
unwillkĂĽrliche Zerstreuung und ein sehr peinigender Fehler ist,
dem man zwar in Schriften (zumal den philosophischen: weil
man da nicht immer so leicht zurĂĽcksehen kann, von wo man
ausging) mühsam vorbeugen, obzwar mit aller Mühe nie völlig
verhĂĽten kann.
Mit dem Mathematiker, der seine Begriffe oder die Stellver-
treter derselben (Größen- und Zahlenzeichen) in der Anschauung
vor sich hinstellen, und daĂź, so weit er gegangen ist, alles richtig
') Ich hake sie fĂĽr eine Gichr, die sich zum Teil aufs Gehirn ge-
worfen hat.
Der Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen 4 2 9
sei, versichert sein kann, ist es anders bewandt, als mit dem Ar-
beiter im Fache der vornehmlich reinen Philosophie (Logik und
Metaphysik), der seinen Gegenstand in der Luft vor sich schwebend
erhalten muĂź und ihn nicht bloĂź teilweise, sondern jederzeit zu-
gleich in einem Ganzen des Systems (d. r. V.) sich darstellen und
prĂĽfen muĂź. Daher es eben nicht zu verwundern ist, wenn ein
Metaphysiker eher invalid wird, als der Studierende in einem
anderen Fache, ingleichen als Geschäftsphilosophen; indessen daß
es doch einige derer geben muĂź, die sich jenem ganz widmen,
weil ohne Metaphysik ĂĽberhaupt es gar keine Philosophie geben
könnte.
Hieraus ist auch zu erklären, wie jemand für sein Alter
gesund zu sein sich rĂĽhmen kann, ob er zwar in Ansehung gewisser
ihm obliegenden Geschäfte sich in die Krankenliste mußte ein-
schreiben lassen. Denn weil das Unvermögen zugleich den
Gebrauch und mit diesem auch den Verbrauch und die Erschöpfung
der Lebenskraft abhält, und er gleichsam nur in einer niedrigeren
Stufe (als vegetierendes Wesen) zu leben gesteht, nämlich essen,
gehen und schlafen zu können, was für eine animalische Existenz
gesund, für die bürgerliche (zu öffentlichen Geschäften verpflichtete)
Existenz aber krank, d. i. invalid, heiĂźt: so widerspricht sich dieser
Kandidat des Todes hiemit gar nicht.
Dahin führt die Kunst das menschliche Leben zu verlängern:
daĂź man endhch unter den Lebenden nur so geduldet wird,
welches eben nicht die ergötzlichste Lage ist.
Hieran aber habe ich selber Schuld, Denn warum will ich
auch der hinanstrebenden jĂĽngeren Welt nicht Platz machen und
um zu leben, mir den gewöhnten Genuß des Lebens schmälern:
warum ein schwächliches Leben durch Entsagungen in ungewöhn-
liche Länge ziehen, die Sterbelisten, in denen doch auf den Zu-
schnitt der von Natur Schwächeren und ihre mutmaßliche Lebens-
dauer mit gerechnet ist, durch mein Beispiel in Verwirrung bringen
und das alles, was man sonst Schicksal nannte (dem man sich
demütig und andächtig unterwarf), dem eigenen festen Vorsatze
unterwerfen; welcher doch schwerlich zur allgemeinen diätetischen
Regel, nach welcher die Vernunft unmittelbar Heilkraft ausĂĽbt,
aufgenommen werden und die therapeutische Formeln der Offizin
jemals verdrängen wird?
430 Der Streit der Fakultäten. Dritter Abschnitt
Nachschrift.
Den Verfasser der Kunst das menschliche (auch besonders das
literarische) Leben zu verlängern darf ich also dazu wohl auf-
fordern, daĂź er wohlwollend auch darauf bedacht sei, die Augen
der Leser (vornehmlich der jetzt groĂźen Zahl der Leserinnen, die
den Ü beistand der Brille noch härter fühlen dürften) in Schutz
zu nehmen, auf welche jetzt aus elender Ziererei der Buchdrucker
(denn Buchstaben haben doch als Malerei schlechterdings nichts
Schönes an sich) von allen Seiten Jagd gemacht wird; damit nicht,
so wie in Marokko durch weiße Übertünchung aller Häuser ein
groĂźer Teil der Einwohner der Stadt blind ist, dieses Ăśbel aus
ähnlicher Ursache auch bei uns einreiße, vielmehr die Buchdrucker
desfalls unter Polizeigesetze gebracht werden. — Die jetzige Mode
will es dagegen anders; nämlich:
i) Nicht mit schwarzer, sondern grauer Tinte (weil es sanfter
und lieblicher auf schönem weißen Papier absteche) zu drucken.
2) Mit DIDOTSCHEN Lettern von schmalen FĂĽĂźen, nicht
mit BREITKOPFSCHEN, die ihrem Namen Buchstaben (gleich-
sam büeherner Stäbe zum Feststehen) besser entsprechen würden.
3) Mit lateinischer (wohl gar Kursiv^)Schrift ein Werk
deutschen Inhalts, von welcher BREITKOPF mit Grunde sagt;
daĂź niemand das Lesen derselben fĂĽr seine Augen so lange aus-
halte, als mit der deutschen.
4) Mit so kleiner Schrift, als nur möglich, damit für die
unten etwa beizufĂĽgende Noten noch kleinere (dem Auge noch
knapper angemessene) leserlich bleibe.
Diesem Unwesen zu steuren, schlage ich vor: den Druck der
Berliner Monatsschrift (nach Text und Noten) zum Muster zu
nehmen; denn man mag, welches StĂĽck man will, in die Hand
nehmen, so wird man die durch obige Leserei angegriffene Augen
durch Ansicht des letzteren merklich gestärkt fühlen.').
') Unter den krankhaften Zufallen der Augen (nicht eigent-
lichen Augenkrankheiten) habe ich die Erfahrung von einem, der mir
zuerst in meinen Vierzigerjahren einmal, späterhin mit Zwischenräumen
von einigen Jahren dann und wann, jetzt aber in einem Jahre etliche-
mal begegnet ist, gemacht; wo das Phänomen darin besteht: daß auf
dem Blatt, welches ich lese, uuf einmal alle Buchstaben verwirrt und
durch eine gewisse ĂĽber dasselbe verbreitete Helligkeit vermischt und
Der Streit derphilosopkischen Fakultät mit der ?/iedizinischen 4 5 1
ganz unleserlich werden: ein Zustand, der nicht ĂĽber 6 Minuten dauert,
der einem Prediger, welcher seine Predigt vom Blatte zu lesen gewohnt
ist, sehr gefährlich sein dürfte, von mir aber in meinem Auditorium
der Logik oder Metaphysik, wo nach gehöriger Vorbereitung im freien
Vortrage (aus dem Kopfe) geredet werden kann, nichts als die Besorgnis
entsprang, es möchte dieser Zufall der Vorbote vom Erblinden sein;
worĂĽber ich gleichwohl jetzt beruhigt bin: da ich bei diesem jetzt
öfterer als sonst sich ereignenden Zufalle an meinem einen gesunden
Auge (denn das linke hat das Sehen seit etwa $ Jahren verloren) nicht
den mindesten Abgang an Klarheit verspüre. — Zufälligerweise kam
ich darauf, wenn sich jenes Phänomen ereignete, meine Augen zu
schließen, ja um noch besser das äußere Licht abzuhalten, meine Hand
darüber zu legen, und dann sähe ich eine hellweiße, wie mit Phosphor
im Finstern auf einem Elatt verzeichnete Figur, ähnlich der, wie das
letzte Viertel im Kalender vorgestellt wird, doch mit einem auf der
konvexen Seite ausgezackten Rande, welche allmählich an Helligkeit
verlor und in obbenannter Zeit verschwand. — Ich möchte wohl wissen:
ob diese Beobachtung auch von andern gemacht, und wie diese Er-
scheinung, die wohl eigentlich nicht in den Augen — als bei deren
Bewegung dies Bild nicht zugleich mit bewegt, sondern immer an der-
selben Stelle gesehen wird — , sondern im Sensorium commune ihren Sitz
haben dürfte, zu erklären sei. Zugleich ist es seltsam, daß man ein
Auge (innerhalb einer Zeit, die ich etwa auf 3 Jahre schätze) einbüßen
kann, ohne es zu vermissen.
L KANT.
Lesarten.
I. Die Metaphysik der Sitten.
a) Handschriften.
Dem Bande ist ein Faksimile mit Ăśbertragung der in Band V, S. 587 ff.
erwähnten Handschrift (RH) beigegeben, die Randbemerkungen Kanrs
zu der Abschrift einer Rezension der Metaphysischen Anfangs-
gründe der Rechtslehre aus den Göttingischen Anzeigen enthält.
Buek gibt a. a. O. der Vermutung Raum, daĂź sie vielleicht den ur-
sprünglichen „Entwurf des Anhangs erläuternder Bemerkungen zu den
metaphysischen AnfangsgrĂĽnden der Rechtslehre (vgl. Akademieausgabe
VI, S. 3j6fF.)" darstellt.
Eine genaue Prüfung der Handschrift läßt dies jedoch als zweifel-
haft erscheinen, da die ĂźerĂĽhrungsstellen mit dem in der zweiten Auflage
abgedruckten Anhange erläuternder Bemerkungen etc." (oben S. 163 ff.)
ziemlich spärlich sind. Jedenfalls könnte die Handschrift nur als Vor-
lage für die Seiten 163 — 168 in Frage kommen. Aber für diese Stellen
ist die Handschrift auch viel ausfĂĽhrlicher und instruktiver als der
gedruckte Anhang. Ăśbrigens wurde in der Ăśljertragung des Faksimiles
am Rande auf die Seiten des Anhangs hingewiesen, denen die Hand-
schrift als Vorlage gedient haben mag.
Was die Herkunft der Handschrift anbelangt, so ist das Nähere
bereits im V. Bande a. a. O. gesagt. Sie befindet sich gleich der
Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft in Rostock.
Schon ein oberflächlicher Blick wird bestätigen, daß ihr Inhalt
interessant genug ist, eine Veröffentlichung zu rechtfertigen.
Als Verfasser der Rezension wird in einem Briefe Fichte s an
Kant vom i. Januar 1798 (vgl. Fichtes Leben ^nd literarischer Brief-
wechsel, herausgegeben von J. H. Fichte, Bd. II, S. i?9ff) Bouter-
wek bezeichnet. Natorp weist in der Akademieausgabe Bd. 6,8.524
daraufhin, daß diese Behauptung durch Bouterweks„Abriß seiner
akademischen Vorlesungen zum Gebrauche seiner Zuhörer"
(1799) bestätigt wird.
Kants Schriften. Bd. VII *8
^34 Lesarten
b) Drucke.
1. Die Meraphysik der Sitten in zwei Theilen. AbgefaĂźt von
Immanuel Kant. Koenigsberg, bei Friedrich Nicolovius. 1797- (Ai)
2. Dasselbe. Zweite mit einem Anhang erläuternder Bemerkungen
und Zusätze vermehrte Auflage. 179^- (^z)-
3. Dasselbe. In der Gesamtausgäbe von Hartenstein. Leipzig
1838. Bd. V, S. 1-335- (Hx).
4. Dasselbe. In der Gesamtausgabe von Hartenstein. Leipzig
1868. Bd. 7, S. 1 — 305. (H2). Beide Ausgaben (H).
5. Dasselbe. In „Kants sämmtliche Werke". Herausgegeben von
Karl Rosenkranz und Friedr. Wilh. Schubert. Leipzig 1838. Bd. 9,
S. 5 ff- (Seh)
6. Dasselbe. In der Akademie-Ausgabe. Herausgeber Paul Natorp.
Bd. VI, S. 205-493- (Ak)
7. Erläuternde Anmerkungen zu den metaphys. Anfangsgründen
der Rechtslehre von I. Kant. Königsberg, bey Friedrich Nicolovius.
1798- 31 S. (B)
Im Text der Lesarten sind ferner berĂĽcksichtigt:
1. Mellin, Marginalien und Register zu Kants Metaphysischen
AnfangsgrĂĽnden der Rechtslehre. Jena und Leipzig 1800. (Druck-
fehlerverzeichnis.)
2. Göttingische Anzeigen, 1797, i> -8- Stück, 18. Febr. (Re-
zension).
3. Achenwall, ius naturae in usum auditorum. Göttingen 1767-
4. Tieftrunk, Philos. Untersuchungen über das Privat- und öffent-
liche Recht. I. Teil. Göttingen 1797—98-
5. V. Kirchmann, Erläuterungen zu Kants Metaphysik der Sitten (Ki).
c) Literargeschichtliche Bemerkungen.
Das Autorverhältnis Kants zur II. Auflage war bisher noch un-
entschieden. Während Hartenstein und Schubert fast durchweg die
II. Auflage ihren Ausgaben zugrunde legen, da Kant als Urheber dieser
Auflage angesehen werden mĂĽsse, bestreitet Natorp jede Mitwirkung Kants
an dieser Auflage, nur die Erklärung zum Worte „Läsion" (IL Aufl.,
>^' 5, S. 61, in uns. Ausg. S. 5 i , 9 ff.) stamme von ihm (Ak., S. 5 1 8 ff.,
vgl. Hartenstein, Einleitung). Indessen gewinnt durch die BerĂĽcksich-
tigung der oben erwähnten Handschrift die Vermutung einer weiter-
gehenden Mitarbeit Kants an der IL Auflage eine neue StĂĽtze. Der
Text des Titelblattes nämlich, das der Hdschr. vorgesetzt ist, hat in
seiner SchluĂĽfassung folgenden Wortlaut:
Lesarten
435
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Rechtslehre
von
Immanuel Kant
Zweyte
mit einem Anhange erläuternder Bemerkungen und Zusätze vermehrte
Auflage.
Da der Text von Kant selbst geschrieben ist (vgl. Buek a. a. O.),
so scheint auch Kant als Redaktor der II. Auflage in Frage zu kommen.
Schwierig bleibt aber dann das auch von Natorp u. A. als störend emp-
fundene Wort „Zusätze", da, von einigen Änderungen abgesehen, sich
nirgends ,, Zusätze" erkennen lassen. Außerdem bedeutet eine ganze
Reihe von Lesarten der II. Auflage eine Verschlechterung gegenĂĽber
denen der I. (vgl. Hartenstein und Schubert, Einleitung), weshalb auch
in unserer Ausgabe wiederholt auf die Lesarten der I. Auflage zurĂĽck-
gegriffen werden muĂźte.
Auch fĂĽr die Stellung des ,, Anhangs" gibt das Titelblatt neue
Orientierung (vgl. Buek a. a. O). Es enthält nämlich folgende An-
weisung :
An den Setzer. Der Anhang erläuternder Bemerkungen wird S. 159
als noch zum ersten Theil der R. L. gehörend eingerückt, wo dann
ĂĽber die Seiten laufenden Ăśberschriften lauten werden, Rechtslehre
I Th. Anhang, die Paginas aber bis zu Ende Werks in einem fort-
gehen.
Danach kann trotz biographischer und sachlicher Bedenken nicht
mehr bezweifelt werden, daß Kant selbst — entgegen Natorps Annahme —
die Stellung des Anhangs bestimmt hat. Gleichwohl hielten wir es fĂĽr
richtig, den Anhang an das Ende des IL Teiles zu setzen, da uns ebenso
wie bei der Würdigung der Lesarten das sachliche Interesse höher
steht als das der Authentizität. Der Anhang nimmt nämlich nicht nur auf
den I. Teil, das Privatrecht, Bezug, sondern auch auf den IL Teil, das
öffentliche Recht. Deshalb muß aber auch der Anhang da stehen,
wohin er als Anhang für beide Teile gehört. Übrigens scheint
dies Kant selbst ursprĂĽnglich beabsichtigt zu haben; wenigstens deutet
der Wortlaut seines Schreibens an Nicolovius vom 9. Mai 1798 darauf
hin. Wenn er jedoch diese Absicht nicht ausfĂĽhrte, so hatte er wahr-
scheinlich ĂĽbersehen, daĂź die letzten Seiten des Anhangs (S. 178 ff-)
dem öffentlichen Rechte gelten (vgl. auch seine Bezugnahme auf § 49
— nicht, wie bei (A,; B) ^ 44 — des öffentlichen Rechts, vgl. 179,
17 V. u.). — Für die Ausgestaltung des Textes ist es freilich einerlei,
ob der Anhang am Ende des I. oder des IL Teiles steht.
In Bezug auf den literargeschichtlichen Werdegang der Tugend-
lehre gilt für uns das in Ak. Gesagte, während freilich IL u. Seh.
auch hier den tätigen Anteil Kants behaupten. Wo Natorp die Mit-
28*
4^0 Lesarten
arbeit seiner Freunde verzeichnet (Görland, Nolte, Stammler, Vor-
lander), haben wir, soweit uns deren Ă„uĂźerungen als einleuchtend oder
doch als diskutabel erschienen, die Mitarbeiter namentlich angefĂĽhrt.
5, 12 als (A)] nach unserem Sprachgebrauch wäre „als" mit Rück-
sicht auf 5, 13 zu streichen; vgl. auch Natorp. Da aber Vorländer
Parallelkonstruktionen bei Kant nachgewiesen hat, so scheint es sich hier
um einen Kantischen Sprachgebrauch zu handeln; vgl. die von Vorländer
zitierten Stellen 55,5 V. u.; 133, 16; 177, i. 6, 5 gar (Aj)] fehlt bei
(Aj; H). 6,20 dieser ihre Bestimmung (A)] Kantischer Sprachgebrauch.
Vgl. auch 7, 20 — 21. 7,7—8 gegenwärtige (A)] sc. Philosophie, mit
RĂĽcksicht auf ,, viele Philosophien". 7,8 sein (A,)] ein (Aj). 7,25
sagte (A,)] sage (A^,). 7, 14 v.u. dieselbe (Aj)] dieselben (A^). 8,13
ihn (A,)] ihm (AJ. 8,21 es (A,)] fehlt bei (A, u. H). 8, 8 v. u.
läßt sich (Ai)] läßt es sich (A^). 9,8 papierne (Ai)] papiernen (A,).
9, 13 mit den (AJ] mit dem (Aj); „mit den" mit Rücksicht auf
„diesen" 9, 15; auch in der zweiten Auflage. 9, 20—21 Die —
können (A,)] fehlt (Aj). lo, 20 vor einer Gerichtsbarkeit (Ak)]
vor einer Gerichtbarkeit (Ai); dagegen Ai S. I02, 13 — 14 wie zweite Auf-
lage: durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit (A^).
Natorp macht jedoch darauf aufmerksam, daß man aus der späteren
Stelle keine Schlüsse ziehen könne, da auch die Überschrift des Episodi-
schen Abschnitts Z. 18 nicht mit 96, 19—20 übereinstimme; ebenso seien
die Zusätze in Klammern Z. 4 u. 5, 22 u. 23 nur dieser Tafel eigentüm-
lich. 10, 20 Die II. Aufi. hat zwischen dem III. HauptstĂĽck und
dem II. Teil noch die Fassung: Anhang erläuternder Bemerkungen zu
den Metaphysischen AnfangsgrĂĽnden der Rechrslehre. 12, 10 Ge-
brauch (A,)] Gebrauche (A^). 12, 8—7 v. u. Sinn. Oder (Meilin)]
der Sinn: aber (A); Sinn. Oder aber (Nolte). Natorp zu Nolte:
vielleicht richtig. 13,25 Aktus desselben (Ak)] derselben (A) ; des-
selben sc. des Vermögens zur Handlung. ,,Zur Handlung" bildet also
eine attributive Bestimmung zu Vermögen; es ist aber sehr häufig
Kantischer Sprachgebrauch, das Beziehungswort auf die attributive Be-
stimmung und nicht auf das Subjekt dieser Bestimmung zu beziehen,
dann könnte man das ,, derselben" der Auflagen rechtfertigen. Vielleicht
bezieht es sich aber direkt auf „Handlung". 13,9 v.u. sie (A)] sie sc.
Vernunft wie Ak, vgl. auch Z. 6v.u. 14,4 ihrer (A)] von ihrer (Vorl.);
vgl. Natorp. 14, 12 v. u. letztere (A,)] letzteren (A,). 14,6 v.u.
Ebenso, mag (Ak)] Ebenso mag (A). 15,8—9 vor — voranzuschicken
(A)] ,, vor" wohl Kantischer Sprachgebrauch. 15,18 allgemeinste (Aj)]
allgemeinsten (Aj). 15,4V. u. immer auch (A,)] auch immer (Aj). 16,7
zu setzen, ebendieselbe (A,) zu setzen; ebendieselbe (A^)]. Das Semikolon
ist richtiger, weil dadurch der Satz dem vorausgegangenen Satz: „nur
Lesarten ^57
die Erfahrung kann lehren" 16, 2 koordiniert wird, wodurch es selbstver-
ständlich ist, daß „ebendieselbe" nur auf „Erfahrung" be2ogcn werden
kann. Vgl. Natorp zur Stelle. 17, 15 v. u. Erziehung der (A)] Er-
ziehung, der (Seh, Ak). 19, i welches (A,, H, Seh, Ak)] welche (A,).
19, 17 V. u. müsse] müssen (A). Kant hat vielleicht „müssen" ge-
schrieben, weil die auf pathologische BestimmungsgrĂĽnde zurĂĽckgehende
Triebfeder eo ipso eine Pluralität darstellt, dann wäre es wiederum eine
constr. xaTct juveaiv; andrerseits konnte er vorher noch nicht den Plural
„Triebfedern" setzen, weil dann der Unterschied zwischen der mora-
lischen und pathologischen Triebfeder bereits gegeben wäre und jede Be-
grĂĽndung ĂĽberflĂĽssig machte. 20, 15 v.u. den (Seh, Ak)] denen (A, H).
20, 7—6 V. u. Verschiedenheit — Triebfeder (A)] Verschiedenheit der
Triebfeder, welche die eine oder die andere Gesetzgebung (Mellin).
20, 3 V. u. ist, welche (A)] ist = (sc. diejenige) welche . . . nach
Natorp Kantischer Sprachgebrauch. 21, 10 doch (Druckfehlerverz.
in Ai ; Aj)] fehlt bei Aj im Text. 21, 15 — 16 ausüben — zu machen
(A)] nach Natorp will Görland „ausüben" mit ,, machen" verbinden,
offenbar um die Setzung des „zu" bei „machen" zu erklaren; die
BegrĂĽndung scheint nicht ausreichend ; denn auch bei einer Ab-
hängigkeit von „ausüben" ist das „zu" entbehrlich. 21, 3 v. u.
bestimmen und (A)] zu bestimmen, und (H, Ak). Wir halten die
Setzung von „zu" für überflüssig, da der Satz: „eine Kausalität der
reinen Vernunft . . . die WillkĂĽr bestimmen" einen guten Sinn gibt.
Vgl. 22, 3, 23, 9. 22, 17 betreffen (A)] die Lesart ist richtig mit
RĂĽcksicht auf ,,kann" Z. 20. 22, 14 v. u. gemacht (nicht gesperrt
gedruckt Seh)] Sperrdruck: (A). Der Sperrdruck ist auffällig, da es sich
hier doch um den Gegensatz zwischen ,, zufällig" und ,, notwendig"
handelt; es müßte also weit eher „notwendig" gesperrt werden,
wenn auch „zufällig" gesperrt wäre; infolgedessen kann weder „not-
wendig" noch „gemacht" gesperrt werden. Der Gegensatz zwischen
„notwendig denken und machen" 23, 3 kommt noch nicht in Betracht.
23, 2 (ihrer Form) (A)] Natorp hält „ihrer Form nach" für richtiger;
dem können wir nicht beistimmen; „ihrer Form" ist einfach Apposition
zu „bloße V^orstellung einer Handlung", wobei, wie dies bei Kant ge-
wöhnlich geschieht, der Kasus der Apposition nicht dem regierenden,
sondern dem regierten Beziehungswort angeglichen wird. 24, 14—15 sich
seiner selbst in den verschiedenen Zuständen der Identität seines Daseins
bewußt zu werden (A^)] Zuständen, der Identität (Druckfehlerverz. A,);
„der Identität" fehlt im Text (AJ ; sich der Identität seiner selbst . . . (Ak).
Die Schwierigkeit der Wortstellung ist sofort beseitigt, wenn wir sagen :
„sich seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines identischen
Daseins". Natorp schreibt: „Es darf wohl als sicher angenommen wer-
den, daß das versehentlich ausgefallene „der Identität" in der Druck-
fehlerverbesserung nur irrtĂĽmlich an die unrichtige Stelle geraten ist." â–
4?
8 Lesarten
Diese Konjektur hat manches fĂĽr sich, doch halten wir sie nicht fĂĽr
unbedingt notwendig. 24, 22 unrecht (Ak)] Unrecht (A). Wären
„recht und unrecht" Substantive, so wäre ein logischer Sinn ausge-
schlossen; denn weder ist das Recht eine Tat noch ist die Tat ein
Recht; wir schlielJ)cn uns deshalb Natorp an, der die lateinische Wieder-
gabe als Beweis fĂĽr die adjektivische Auffassung anspricht. Siehe auch
32, 13 V. u. 24,13-12 v.u. vorsätzliche (Ak)] vorsätzliche (A).
24,9 V. u. ungerecht (A^ , H)] ungerecht (A,). 25, 20 v. u. positive
(Kirchmann, Erl.6>-, AJi)] natĂĽrliche (A), Tieftrunk (S.72). Wir schlieĂźen
uns Natorp an, weil sonst das folgende: „alsdann müßte doch . . ."
sinnlos wäre. Anderenfalls müßte ja für ein vorausgehendes natürliches
Gesetz ein weiteres natĂĽrliches Gesetz zu fordern sein, und so ad inf.
25, 6 v. u. weil (A)]. Natorp: wohl in der alten temporalen Bedeu-
tung (während, indem). 25, i v. u. Folgerungen (AJ] Forde-
rungen (Aj, H, Seh). 26, 10 hätte (A)] Vorländer und Görland nach
Natorp: geraten wäre. 26,8— 7 v.u. auf Gesetz (A)] Vgl. Kritik der
praktischen Vernunft „auf Gefühl" 83, 16. 26, 5 v. u. also (Druck-
fehlerverz. A, ; A,)] als (A^ im Text). 27, 8 Handeln (A,)] han-
deln (A,). 27, -16 als intelligiblen Wesens (A)] sc. die eines . . .
28, II v. u. gütige (Aj)] gültige (A,); „gütige" ist mit Rücksicht
auf den lateinischen Text und den inneren Sinn zweifellos richtig.
31, 14 desselben (Ak nach Vorländer)] derselben (A). 31, 11
V. u. durch (A)]; dadurch (H; Seh). Auf alle Fälle ist „dadurch"
besser als ,, durch"; am besten wäre, „durch" überhaupt zu streichen.
31,1 V. u. kann." (Mellin)] kann etc. (A). 32, 18 ganz (A)] in
der Bedeutung von „nur". 32, 7 v. u. unrecht (Ak)] Unrecht (A).
Mit RĂĽcksicht auf 24, 22, 32, 13 v. u., 32. 3 v. u. , 33, i schlieĂźen
wir uns Natorp an. 32, 6—5 v. u. Hindernis oder Widerstand (A)]
Mellin will „Hindernis oder" streichen. 33, 15 v. u. Gesetze;
aber (H , Ak)] Gesetze aber (A). 34, 12—17 Dieweil — versorgen
(A)] Natorp nimmt an den Worten: ,,ein bloĂź formaler in der reinen
Mathematik" AnstoĂź, weil der dynamische Begriff auch bloĂź formal
ist. Die Schwierigkeit ist aber nur scheinbar, denn Kant spielt hier
offenbar auf die reine Form der Anschauung gegenĂĽber dem dyna-
mischen Begriff der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung an,
der sich aus reinem Denken und reiner Anschauung zusammensetzt.
36, II anrufen (A^ , H, Seh)] aufrufen (A, Ak). 36, 16 v. u. An-
spruch (Ak)] Ausspruch (A). 36, 15 v. u. solchen] solche (A).
Dazu Natorp : solche = nämlich Dienste. 36, 8 v. u. soli (H)]
poli (A); soli sc. civile (Seh); forum soli (Ki). 37, 5 v. u. recht
(Ak;] Recht (A), mit RĂĽcksicht auf das parallele: als unrecht be-
urteilt 37, 4 V. u. 38, 4 V. u. obenstehende (A^)] obstehende (Aj).
39, 8 den letzteren (A)] Die Konstruktion ist derartig verfehlt, daĂź
eine Korrektur mit Rücksicht auf das Satzgefüge unmöglich ist.
Lesarten ^^^
39, lo V, u. mehrerem (A,)] mehreren (A,). 40, i v. u. anheimfallr.
trennt] „trennt" fehlt in (A); Natorp vermutet: sondert. 41,3-2
v.u. Zweck, wiederum (Ak, Seh)] Zweck wiederum (A). 43,11-12
die weder Recht noch Pflicht haben (A,)], in (A,) Schwabacher Lettern.
43, 2 V. u. aber doch nicht durch seinen (A)] durch seinen aber doch
nicht (Görland nach Natorp); aber doch nicht durch einen (Vorlander
n. Nat.). 47,5V. u. aber (A^)] fehlt (AJ. 48, 13 v. u. formale (A,)]
formelle (AJ; siehe 48, 15 v. u. 49, 13 v. u. ihn {A)\ es ihn (Ak).
50,21 seinem (H)] meinem (A) ; , .seinem" mit RĂĽcksicht auf 50,25.
51,9-11 (Abbruch - kann) (A,)] Unrecht (A,); „Abbruch" richtig, da
„Unrecht" zweifellos den zu definierenden Gegenstand als dehniert voraus-
setzt; diese Auffassung teilt auch Natorp mit RĂĽcksicht auf die Fraye
des Göttinger Rezensenten: „Aber was heißt lädieren? Setzt der Begriff
der juristischen Läsion nicht den Begriff des Mein und Dein voraus:"
51, 16 im Besitz (A)] im empirischen (oder physischen) Besitz (Meilin).
53, 10 er es (A)] er (H). 53, 13 Das Semikolon, welches H und Ak
verwenden, verwirrt mehr als es aufklärt; der Sinn ist folgender: aus
der Freiheitserklärung des Bodens ergibt sich nicht die ursprüngliche
Freiheit, sondern er muĂź ausdrĂĽcklich durch einen Vertrag fĂĽr frei
erklärt werden (vgl. auch Natorp). Die Freiheit bezieht sich nicht
auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft, 54, i aber (A,)]
oder (Druckfehlerverz. A^; Aj). 54, 17—18 die erste Besitznehmung
als einen rechtlichen Grund (Ai)] die rechtliche Besitznehmung als einen
Grund (Aj). Mit Rücksicht auf 54, 12 „die erste Besitznehmung".
(A2) schon inhaltlich falsch, weil Aj einen Grundsatz des historischen
Rechts darstellt. 54,20 In einem (AJ] Einem (A,). 54, 2 v.u. welcher
(A)] welche? (Natorp: so auch Stammler); „welcher" sc. nach der Ex-
position; nur (A.)] fehlt (A,). 55, i aber (A^)) fehlt A,). 55, 3
korrespondierend (Ai)] fehlt fAj. 55, 10 vorstellen (A^)] verstellen
(Aj). 55, 20 Raum- und Zeitbedingungen (Vorländer nach Natorp)]
Raum und Zeitbedingungen (A). 55, 22 abhängig (A,)] unabhängig
(Aj). 55, 7 V. u. Vorstellung (Druckfehlerverz. A^; AJ] Verstellung
(Ai im Text). 55,6— sv.u. als — sei (A)] „als" sc. gelegen sei, vgl.
Natorp zu 205, II. 56, 1—7 Nun — kann (A)] Nat. sieht hier eine
unauflösbare Konstruktion, die jedoch nicht vorhanden ist; man hat
nur bei „Besitz" in 56, 5 „als Verstandesbegriff" nach 55, 9 v. u. zu
ergänzen. 56, 4 denselben (A,)] demselben (Aj. 56, 12 v. u.
ein äußeres Meine (A)] mit Rücksicht auf das Meine 58, 16, 56,
4 v. u. 57, 10 hätte (Aj] hatte (AJ. 58, 7 erweitere (A)] er-
weitern (H). Natorp hält die Korrektur von (H) nicht für unberech-
tigt; jedoch mit RĂĽcksicht auf den Begriff des Postulats 58, 2 muĂź es
zweifellos „erweitere" heißen; denn das Postulat spricht immer
von einer Forderung, aber nicht von einer Möglichkeit. 58, 16
jeden (A,)] jedem (A,). 59, 19 mich"; (Ak)] mich; (A). 59,
44© Lesarten
2—1 V. u. er — ihn (A)] starr „es ihn", Kanrischer Sprachgebrauch,
s. auch Narorp. 60,19 weil (A)] daß? (Vorl. n. Nat.); zu ergänzen:
daß er deshalb etwas rechrmäßig besirze. 6l,6 mein ist (AJ] ist mein
(Aj). 61, 15 — 16 ursprünglich und gemeinsam (A)] ursprünglich nur ge-
meinsam (Natorp, Görland, Stammler). Offenbar eine ev oii ouoiv-Kon-
struktion; darum ist eine Ersetzung des ,,und" durch ,,nur" ĂĽberflĂĽssig.
61,16 Auch (Druckfehlerverz. A,; A^)] doch (A, im Text). 62,3 Der
Besitz also, in den ich mich setze, ist possessio phaenomenon] der Besitz
also, in den ich mich setze, ist (possessio phaenomenon) (A). Natorp
vermutet, daĂź der entsprechende deutsche Ausdruck versehentlich aus-
gefallen ist. Die Klammer rechtfertigt sich aber bei Streichung des
Komma und des „ist". 64, 17 v. u. aller (Aj)] fehlt (A^). 64,
16 v.u. so (Ai)] fehlt (Aj). 65, 4 v. u. rechtlichen (H)] rechtlichem
(A). 65,1V. u. Dieser (AJj Der (Aj). 66, 13 v. u. der der (AJ]
der (Aj). 67,10 nach dieses seinem (A)] vgl. 6, 20; 7, 20— 21; 88, 24.
71, 9—10 ist, als gültig (A,)] fehlt (A^) H. nimmt aus (Aj) nur „ist"
hinzu. 71, 18 des (A,)] der (A^). 71, 3 v. u. — 72, 8 Der
Rechtsbegriff — bedeuten (A)], vgl. dagegen Mellin, dazu Na-
torp. 72, 21 einen (H; Ak)] ein (A). 73, 15—18 sich — aus-
dehnen (Ak)] sich — sich ausdehnen (A). 73, 22 gehört er (H)] ge-
hört (A). 74, I v. u. das persönliche Recht (A)] richtiger wäre wohl:
das persönliche Recht. Vgl. auch 75, i. 75, 2 v. u. erstem (Aj)]
ersten (Aj). 78, 6 v. u. errichtet (A)] entrichtet (Ak). 79, 5 v. u.
dem (Ai)] den (A^). 80, 6—5 v, u. in einer Sache, auch nicht ein
bloĂźes Recht (A,)] fehlt (A,). 83, 8 den (A,)] denn (A,). 83, 10
Versprechen (Aj)] Versprechens (A^). 83, 16 diese (Aj)] die (A^);
mithin,... Person, diese; dadurch ist die Lesart „diese" verständlich.
<^3? 4~3 V. u. des darauf gegrĂĽndeten Rechts (A)] das gegrĂĽndete
Recht (Mellin). Diese Konjektur scheint richtig zu sein, da man
nicht, wie Natorp meint, „des darauf . . ." von „natürliche Überlegen-
heit" 83, 6 V. u. abhängig machen kann ; denn ein darauf gegründetes
Recht bedeutet keine natĂĽrliche Ăśberlegenheit. 84, i v. u. die (A,)]
fehlt (Aj). 85, 19 in (A,)] im (A^). 85, 22 in theoretischer (A)]
in theoretischer Hinsicht (H). 85,3 V. u. er die (A,)] er in die (Aj).
86, 1—2 weil an ihm . . , herübergezogen (Ak)] weil an ihm . . .
herĂĽber zogen (A,); weil an ihm . . . herĂĽberzogen (Aj) weil sie an
ihm . . . herĂĽberzogen (H u. Seh). 87, 16 v. u. Form der (Aj)J
fehlt (AJ. 87, 12 V. u. erstere (A,)] erste (Aj). 87. 12—9 v. u.
durch den — Gesellschaft stiften (Ak)] den — Gesellschaft stiften (A);
den — schließt . . . Gesellschaft stiften (H; Seh). 88, 15 unbe-
stimmte (A,)] bestimmte (A,). 88, 6 v. u. also (A,)] fehlt (A,).
89, 10 eingeteilten (AJ] eigentlichen (AJ. Vgl. 88, 5 u. 10. 89, 16
re (A,)] in re (Aj. 89, 2 v. u. statutarische (H; Ak)] statua-
rische (A). 90, 12 Der belästigte Vertrag (Nach Mellin zu er-
Lesarten
441
ganzen: pactum onerosum). 90, 22 Verdingungsvertrag (A,)]
Verbindungsvertrag (Aj). 91, 10 — 12 zu sein (scheinen) und
— haben (H)] zu sein und — haben (A; Ak). 9I> 3 v. u. ein
(Ai)] fehle (A2). 92, 7 Statt (dienen) (H)] statt (A; Ak). 92,
10—9 V. u. Verkäufer (H)] Käufer (A; Ak). 92, 6 v. u. zu (A,)]
zur (A,). 93,4 und (A^)] fehlt (A^). 93,9 auf (A,)] auf der (A^).
93, 15 v.u. denselben (A)] derselben (Meilin). Richtig: „denselben" sc.
Materien; vgl. 94, 12, siehe auch Natorp. 94, 16 v. u. auf Rechts-
begritf (A)] auf den RechtsbegrifF (H). 95,10—7 v. u. andrerseits —
Recht (A)] Natorp sieht in der Konstruktion eine besondere Schwierig-
keit; die Schwierigkeit aber besteht nicht, da „ein persönliches Recht"
offenbar nur eine Folge der 2. Definition ist. 96, 2 Bedingungen (Aj]
Bedingung (Ai). 96, 2 v. u. Anspruch (A^)] der Anspruch (A,). Die
Streichung des Artikels rechtfertigt sich dadurch, daĂź es sonst heiĂźen
müßte: „den Anspruch". 97, 10 dieses (A,)] diese (Aj) „dieses seine"
bedeutet im Kantischen Sprachgebrauch „dessen"; daher ist die Lesart
von (A, H) „diese" nicht unbedingt erforderlich. 97, 2 v. u. un-
unterbrochen (Ai)] unterbrochen (A^) „unterbrochen" ist falsch, da
es sonst ,, unterbrochen worden" heiĂźen mĂĽĂźte. 99, 16 v. u. an-
kommt (A)] Mit Recht hält Natorp „nicht ankommt" für die bessere
Lesart. 99, 10 v.u. Titius (H; Ak)J Titus (A). 99, 9 v. u. seine (Ajj
sein (A,). 99,3v.u. Titius (A,)] Titus (A,). lOO, 8 Titius (A,)J
Titus (A,). 101,5 ist), weil (A)] ist): weil..., ein Vorschlag Vorländers,
den Natorp als die vielleicht bessere Lesart bezeichnet; dieser Anschauung
stimmen wirnicht bei, da „weil" abhängig von „stattfindet" 101,4 sein
kann. lOI,7— 8 ungroßmütig (Druckfehlerverz. A^; A,)] ungroßmächtig
(A, im Text). 102, 10 ist nicht (DruckfeWerverz. A, ; A,)] ist also nicht
(A, im Text). 103, 12—13 die eine — die andere (A)] Meliin bemerkt:
„statt die einen — die anderen". 103, 15 Leihvertrag (A,)] Leihe-
vertrag (A,); vgL 104, 13 V. u., 105, 3 V. u. 105, 3 V. U.-IO6, 7 Da
nun — kann (A)] Natorp sieht hier eine unmögliche Periode. Die
Richtigkeit dieser Anschauung kann nicht eingesehen werden; der Sinn
ist folgender: Da nun ĂĽber das Mein und Dein aus dem Leihverrrage,
nämlich das Urteil darüber d. i. die Entscheidung . . . nicht . . . ent-
schieden werden kann. ic6,i nichts (A,)] nicht (Aj. 106,4 v.u.
von selbst (A,)] selbst (A,). 107, 1 dieses Recht auch (A.)] auch dieses
Recht (A,). 107, 16 v.u. donec (A,)] fehlt (A,). 108,4 v. u. wieder-
um (A,)] wieder (A,). 109,9 einen (A;j] einem (A,). 109,12 v.u.
statutarische (A,)] statuarische (A,). III, i Beweisgrund (H; AkjJ
Beweisgrunde (A). in, 19 unverlierbaren (A,)] unverleihbaren (A,).
112, 5-6 und - vereitelt (A,)] fehlt (A,). 112, 10 v. u. als Materie
noch (A)] Natorp vermutet nicht mit Unrecht: der Materie nach. II 3,
lo-ii Rechtsverhältnisse (A,)] Rechtverhältnisse (A,). II3. '3 und
dritten (DruckfeWerverz. A, ; A, ; Ak)] fehlt (A, im Text). 1 14, 8 v. u.
44 i Lesarten
Kapirulation (A,)] Capitulationen (A,t. 118,2 cosmopoliticum (Druck-
telilerverz. A, ; Aj)] cosmopolitum (A, im Text). 118,5 ĂĽbrigen (AJ]
übrigen durch Gesetze (A^). Natorp bemerkt mit Recht, daß „durch
Gesetze" aus Z.4 -5 herunrergerückt ist. 118,7 § 44 (AJ] § 3J (A^)
120,2 jenes (A,)J eines (A^). I20,6 (Js 46 (Aj)] ^ 30 (A^). 120,9—10
unrecht (A,)] Unrecht (A^). I20, 15 v. u. nur (A,)] fehlt (A^);
Volk (A,)] Volk (Aj). 122, 4 hervorgehend (A)] hervorgehende (H),
eine Korrektur, die Natorp mit Recht als nicht notwendig bezeichnet.
122,5 Ăśberhaupts (der) (A)] constr. xata juveaiv, vgl. 19, 17 v. u. 122,8
Untertans (Druckfehlerverz. A, ; A^)] Unterhaus (Ai im Text). 122, 16
der Staat (A)] von H. gestrichen. Natorp schreibt hierzu: „von H.
wohl richtig gestrichen"; wenn man aber berĂĽcksichtigt, daĂź Kant
122, 14 — 15 Staat rnit Volk identifiziert, dann ist eine Streichung nicht
erforderlich. 122, 5 v. u. erteilend (H; Seh)] erteilend sein (A).
Natorp meint, daß das ganze „drittens'- nicht zu verstehen sei. Er
schreibt: ,,Es scheint eher eine Bestimmung, die die 3. Gewalt allein
betrifft als eine 3. Bestimmung, die sich auf alle 3 und ihr gegen-
seitiges \'erhaltnis bezöge. Ich komme daher auf den \'erdacht, daß
ein größeres Stück Text ausgefallen ist. Vielleicht kam zweimal ein
erstens — zweitens — drittens und wurde versehentlich beim Satz vom
erstens drittens aufs zweite ĂĽbergesprungen". Indessen hat doch die
Anschauung Natorps wenig fĂĽr sich, vielmehr stehen diese drei Be-
stimmungen zu einander in einem parallelen Verhältnis; die i. drückt die
Koordination aus, die 2. die Subordination, die 3. die SuperOrdination
gegenĂĽber den Untertanen. Es soll freilich nicht bestritten wetden,
daĂź die Worte ,, erteilend sein" auf fehlenden Tejit hinweisen. 124,2
ihrer (A) wieder constr. xara cĂĽvsaiv. ^ 124, 10 v. u. selbst (A,)]
fehlt (Aj). 126,15 V. u. abhangige (Ak)| abhängigen (A). 126,10
V. u. der (A,)] die (Aj). 128, 12 moralisch, der (A)] moralisch, das
der (Seh). 129, 11 — 12 (im Parlament), erlaubt, jener in (Ak nach
\'orl.)] (im Parlament) und erlaubt jener, in (A). Schwierig bleibt immer-
hin die Konstruktion, vielleicht lieĂźe sich die Schwierigkeit heben, wenn
nach ,, erlaubt" statt eines Kommas ein Doppelpunkt gesetzt wĂĽrde.
130,5-6 die Gewalt (A,)J Gewalt (Aj). 130,9 zurĂĽckgetreten (Aj)]
zurücktretend (A^). 130,12 desselben (A)] Natorp: „seil, des Throns
(aus ,, entthronte" Z. 5)?" ; besser wohl: sc. des Staats. 131, 20 er be-
sitzt nichts (Aj)] bei A^ fehlt Sperrdruck. 132,10 desselben (A)] dazu
Natorp: ,, nämlich des Volks (aus V^olksmeinung Z. 2)". 132,9 v.u.
werde, erleichtert — zu lenken (Ak)J werde), erleichtert — zu lenken
(A). 132, 2 V. u. Die aber (A)J (sc. Aufsicht), „der Untersuchung" ist
dann Genitiv epexegeticus. Natorp will hier ev. „Befugnis" er-
gänzen, doch läßt er die Möglichkeit unserer Interpretation offen.
133» 16 — 18 als — ist (A)] Kantischer Sprachgebrauch. So auch Natorp.
t33>i9-20 sein Recht grĂĽndet, zur Erhaltung - beizutragen (A)] Kant
Lesarten 4^3
hat offenbar : sein Recht gründet, daß diese (sc. die Vermögenden) rur
Erhaltung ... in einen Infinitiv-Satz verwandelt. 133, 7 v. u. nach
und nach gesammelte (A,)] fehlt (A^). 134, 1—5 weil - würden
(A)] Natorp bezieht den Plural auf „laufende Beitrage" 133, 8 v.u.;
doch könnte mit Rücksicht auf „fromme Stiftungen" die I'luralkonsrr.
Kant irrtĂĽmlich unterlaufen sein. 134, 18-17 v. u. Untertanen (A,)]
Untertan (Aj). 134,9— 8v.u. der öffentlichen Lehrer (A,)] fehlt (AJ.
134, 4— 3 v.u. Daß eine Kirche einen gewissen Glauben (A,)] offenbar
Kantischer Sprachgebrauch. 135, 15 v. u. der Oberen (A^)] des
Oberen (A^). „^^t" mit Rücksicht auf das folgende ,,der". 135,
14 V. u. Niedrigem (Aj)] Niederen (A^). Lezteres mit RĂĽcksicht auf
„Oberen" besser. 135, 8 v. u. einem (Aj)] einen (AJ, wahrschein-
lich Druckfehler. I36>7 v.u. liiĂźt, ein Gedankending ... (A,)] appo-
sitionelle Bestimmung zum \'orhergehenden. Natorp schlagt vor: Adel,
ein Rang. 137, 10 erblichen (Aj)] fehlt (A^). 137, 13 v. u. ver-
fĂĽgen, (disponieren) kann (Aj)] verfĂĽgen (disponieren) kann (Aj).
138, II auch (Ai)] fehlt (Aj). 138,6 V. u, daher das erstere ... (A,)]
Natorp fragt mit Recht, worauf sich „das erstere" bezieht; er meint,
daĂź wohl ein Satz ausgefallen sei; vielleicht liiĂźt sich damit das ,,aber
auch" Z. 7 V. u. erklären. Möglicherweise liißt sich noch eine andere
Lösung rechtfertigen, wenn nämlich ,, daher das erstere" erst nach „ge-
fährdet wird" 139,3 gestellt wird. 139,20 v.u. aufzufinden (A,)] aus-
zufinden (A^). 139, 18 v.u. einem (A,)] in einem (AJ. 139, 6 v.u.
der (Aj)] des (A^) offenbar Druckf. 141,21 nichts (AJ] nicht (AJ.
I4l,Sv.u. erstere (AJ] erste (AJ. 143,18V. u. daß er] „er" ■sc.
der Irrtum; daĂź (A) ; daĂź man (Ak); daĂź es (HJ. I44> '9 der Duell
(A)] das Duell (Ak). 144, 12 v.u. strafen (AJ] bestrafen (AJ. 145,
Z v.u. Untertans (Mellin)] Vgl. 149,4 v.u., da „Unterhauses" sinnlos ist.
Unterhauses (A). Vgl. 122, 8. 146, 13 ihm (A,)] ihn (AJ. 146,
16—17 gemeinen Wesens (Aj)] gemeinen Wesens (A^) 146,
18 V. u. Staatsoberhaupt (Aj)] Staatoberhaupte (AJ. 146, 6 v. u. ist
der (AJ] fehlt (AJ. 146, 4 v. u. alle (Ak)| alle (A). 147, 3
dem (HJ] das (A). 147,10 Recht (Ak)] Recht (A). 147, nv.u.
herauslangen (A)] herauflangen (H). 148, 5 bessere, nicht (AJ]
bessere nicht (Aj; offenbar hat das Komma in A, den Zweck, „Meta-
morphose" und „Palingenesie"' einander gegenüber zu stellen. 148,
14 V. u. Geist (Ak)] Geist (A). 149, 21 v. u. nun (AJJ fehlt (A,).
149, 4 v. u. Untertans (A,)] Unterhaus (AJ. Vgl. 145, 8 v. u. i 50,
14 v. u. 5 53 (AJ] § 43 (A,). 150, II V. u. Elternstamm (AJ] Elter-
stamm (AJ. 150, 3 v. u. vornehmer (H)] sich vornehmer (A).
151,6 das Recht (AJ] fehlt (A,). 151, n von dem (AjJ zu streichen
mit Rücksicht auf 151, 10. Natorp hält „von dem der Völker" für
überflüssig. 151,6V. u. äußeren (A)] Natorp vermutet „äußeren
Feinde?" 151, 3 v. u. Verbündung (AJ] Verbindung (AJ. „Ver-
444 Lesarten
bündung" emptiehlr sich mir Rücksicht auf das voraufgehende „Genossen-
schaft". 152,7 annähernden {A,)J annährenden (A^). 152,3 V. u.
Wilden (A)] wilden (HJ; vgl. 158,2 v.u. 153, 12 Eigentum (A,)]
Eigentum (A,). 153, 17 zu (A)] in (Hj). 153.-8 v. u. gegen
einen andern Staat (A,)] fehlt (A,). 153,8— 7V.u. von diesem sich (A,)]
sich von diesem (A^). 153,6—5 v.u. im rechtlichen Zustande (Aj)]
fehlt (Aj). 154,18V. u. im Kriege (A)] Natorp: „besser im Kriege"
nach Vorländer. I55,i7v.u. Kontribution (A,)] Contributionen (A^).
155, 12 v. u. nachfolgendem (Ai)J nachfolgenden (AJ. 156, 2 v. u.
ein (A,)] einen (A^). 157, 4 v.u. dieser (A)] diesem (Ak). 158,8
politische (Aj)] politischen (A^). 158, 20 v. u. Erhaltung (A,)} die
Erhaltung (A^). 158,8 v.u. ablösliche (A)] auflösliche (Mellin, Ak).
159, 16 v.u. demselben (Ak)] denselben (A) Kantischer Sprachgebrauch.
159, 12 V. u. einem (Ak)] einen (A) Kantischer Sprachgebrauch.
159, 5 V. u. welcher (Ak)] welches (A) 160, 4 diesem (AJ] diesen
(AJ. 161,6 entweder (A)] fehlt (H). 161, 14 v.u. in Verhältnis (Aj)]
im Verhältnis (A,); s. 83,10V. u. Kantischer Sprachgebrauch. 162,15
sondern die (A)] ,, sondern" wĂĽrde wohl, wie Natorp annimmt, aus-
reichen. 162, 17—19 weil — bedürfen (A)] Natorp meint, daß „be-
darf" mit Rücksicht auf ,, deren Regel" Z. 13 richtiger wäre; auf alle
Fälle, glaubt er, könne „bedürfen" nicht von ,, Beispiele" Z. 18 abhängig
sein. Diese Annahme ist nicht zwingend, da man ganz gut sagen
karm: da alle Beispiele noch einer Metaphysik bedĂĽrfen, die sie dann
nicht als singulare Fälle, sondern als notwendig und allgemein begründet.
163.13 Sie (A)] nämlich die Begehrung (Natorp). 163, 16 nichts (A)] zu
nichts (Rezension, S. z6G). 164,11 v. u. nämlich (A)] Vorländer streicht
„nämlich" als Wiederholung aus Z. 10; ,, nämlich" scheint überflüssig.
1.65, 9V.U. mein Vater (AJ] mein Vater (B). 165,2 v.u. als (A^)]
als (B). 167,3 der (A^; B)] oder der (Ak; Vorl.; Stammler); auch ohne
„oder" ist der Sinn richtig. 168, 12 Leistungen] Leistung (A2;B). Plural
mit RĂĽcksicht auf ,, stehen". 168, 12 v. u. ^31 S. 129 (Ak)] ^ 30
S. ia9(Aa); $ 30S.29 (Ăź). i68,iov.u. DaĂź(B)] Das (A,). 169,11-12
nicht gegen jeden Besitzer der Sache (ius in re), ein dingliches (A,; B)];
„ein dingliches" ist dann Apposition zu Recht und gibt einen guten
Sinn, vielleicht noch korrekter als die von Natorp vorgeschlagene
Lesart: nicht ein dingliches gegen jeden Besitzer der Sache ius in re;
zum mindesten würde man dann nach „dingliches" ein Komma er-
warten, vgl. RH, S. XXL 169, 19 abgemachten (A,)] gemachten (B).
170.14 hergenommen (A,; B)J hergenommene (H). Die Verbesserung:
„hergenommene" erübrigt sich mit Rücksicht darauf, daß der ganze Satz
in Klammer steht. 170,15 Strafen (A^ ; B)] Verbrechen (H); Strafen
fĂĽr Verbrechen (Vorl.). Die Verbesserung erĂĽbrigt sich, da der Sinn kein
andrerer sein kann. 171,17 gesichert. (Ak)] gesichert." (A^; B), weil,
wie Natorp richtig bemerkt, in der Rezension hier die AnfĂĽhrung aus der
Lesarten ^^^
Rechtslehre schlieĂźt. 171,18 eine nur (A,)] nur eine (Rezension, S. : 74).
171, 16 v.u. Verfassung. (Ak)] Verfassung". (A, ; B). Natorp bemerkt auch
hier mit Recht, daĂź die AnfĂĽhrung aus der Rezension u-eitergehr. 171,
14— 13 v.u. zu sein nicht aufgehört (A,; ß)] nie zu sein aufgehört (Rezen-
siona.a.O.). 172, 19 Der (B)] Der (A,). 172, 15-11 v.u. Es ist (de-
relictio), (A^ ; B)] Natorp schreibt, es fehle ein Partizip wie „genommen"
oder „mißverstanden". Dieser Anschauung können wir uns nicht an-
schließen, da der Sinn vollständig klar ist: Es ist nämlich sc. der gänz-
liche Nichtgebrauch . . . ein negativer Grund fĂĽr eine Verzichrtuung auf
dieselbe (sc. Zueignung.). 172, 5 v.u. (lege) und (A,; B)] (lege);
und (Ak). 173, 20 er sich (A^; B)] möglicherweise schwebte Kanr
die Satzstellung vor: sieht er sich vermögender geworden. 174, 19
der Habe und Gut (A^; B)], wohl Kantischer Sprachgebrauch. 174,
4 V. u. ewig (B)] ewig (AJ. 174, 3 v. u. Volk (Aj] Volk (B).
174, I V. u. Familie (Ak)] Familie (A^; B). 175, 15 v. u. ver-
sehene (Ak)] versehenen (A,; B). I75> i v. 'u. derselben (A, ;
B)] sc. der Geistlichen (ebenso Natorp). 176, 14—13 v. u. Wenn
— verheißen (A)] Die Konstruktion ist unhaltbar, vgl. Natorp z. St.
176, I V. u.— 177, I ist als ein (A^; B)] ist ein (H). 177, 11 be-
stimmten entworfenen (Aj ; B)] Natorp schreibt : Umstellung läge
nahe. 177,17 zu mĂĽssen (A,; B)] mĂĽssen (H). 1 77,6V. u. keines-
weges (Aj)] keineswegs (B). 178, 10 derselben] desselben (A,; B)
Natorp schreibt: (nämlich des Ordens). 179,1 Herren (Aj)] Herrn (B).
179, 17 V. u. (Rechtslehre $-49) (Ak)] (R. L f 44) (A,; B). 179. 8 v.u.
so ist es der (H)] so ist der (A,; B). 183, 8 auch (A,)] fehlt (A,).
183,14 (als der Materie derselben) (Aj)] die Klammer fehlt (AJ. 183,
I V. u. auf das innere Prinzip (A^)] auf dem inneren Prinzip (A,).
184,4 (jedem Gefühl) (Ai)] (von jedem Gefühl) (A^). 184,5—6 von
der hohen Kraft uhd herkulischen Stärke machen, die ausreichen sollte,
um... (Aj)] von einer Kraft und herkulischer Stärke machen, um (A,).
Es liegt keine Veranlassung vor, eine Korrektur, die ev. von Kant selbst
stammen könnte, zu ignorieren. 184, n v.u. Allein kein moralisches
Prinzip grĂĽndet sich in der Tat (A,)] Allein in der Tat grĂĽndet sich
kein moralisches Prinzip (A^). 184, 10 v. u. irgendeinem (A,)]
irgend ein (A^). 184, 10—9 sondern ein solches Prinzip ist (A,)] son-
dern ist (Ax). 184, I V. u. zu sagen (A,)] sagen zu können (A,).
185,1 nicht notwendig (A^)] fehlt (A,). 185,19 orakel-(A,)] orakel-
mäßig (A^). 185,8 V. u. angedacht (AJ] ausgedacht (A,). 186,9
also (A,)] fehlt (A»). 186, 19 v. u. (der Berlinischen Monatsschrift)
(A,)] der Berl. M. S. (AJ. 186, -^z v. u. Der Unmut aber, sich (A,)]
Sich aber (A^). 187, 2-6 reizt durch — fühlt, die für die Allgewalt
der theoretischen Vernunft VerbĂĽndeten gleichsam zum allgemeinen Aut-
gebot (A3)] wird durch — fühlt, gleichsam zum allgemeinen Aufgebot
der fĂĽr die Allgewalt der theoretischen \'ernunft VerbĂĽndeten gereizt
^^6 Lesarten
(Ai). Nach der Vorrede hat A^ ein Inhaltsverzeichnis (Inhalt der
Tugendlehre) an Stelle der Tafel der Einteilung der Ethik in
Ai, das einige Abweichungen enthält, die am Schluß angegeben, wer-
den. l88,io jus (Ai)] (Jurisprudentia) (A,). 189,10 Die Klammer
vor „zum" und nach „mächtig" fehlt (A,). 189, 14—12 v. u. die
Klammer (A,) vor „wenn" und nach „betrachtet" fehlt bei (A^).
190,6 ihrem (A,; H)] ihren (A,). 190, 15 DaĂź (A,)] Wenn (A,)
190, 20 — 21 dieses würde der Begriff von einem Zweck sein (A,)] so
gibt dieses den Begriff von einem Zweck (A^). 190, 22 wĂĽrde (Aj)]
kann (A,). 190,22 sondern zur (A,)] sondern muĂź zur (A.). 190,23
(moralischen) (A^)] Klammer fehlt (A,). 190, 14 v. u. Pflicht (Aj]
Zwangspflicht {A^,. 190, 10 v. u. dazu (sie zu haben) ein Zwang
(A,)] ein Zwang, dergleichen zu haben oder sich vorzusetzen (A^)
191,2 letztere (A^)] letzte (A,). 191,3 ist (AJj wäre (A,). 192,2-3
als welcher (das kategorische Sollen) (A^)] indem dieser, das kategorische
Sollen (Aj). 192,15 aller Pflicht (A^)] allen Pflichten (A^). 192,17
diese heiĂźen besonders (A,)] sondern nur den besonders sogenannten
(A2). 192, 14 V. u. gĂĽltige (tugendhafte (Aj)] gĂĽltige Pflicht (nur
eine tugendhafte (A^). 192, 6 v. u. erstere (A,)J erste (AJ.
193, 1 aller (A,)] einer der Pflicht (A2). 193, 2 als der der Pflicht
(Ai)J fehlt (A2). 193, 15—14 V. u. des Menschen (A,)] der Seele
sich befindet (A^). 193, 13 v. u. an Seele (Ai)] an der Seele (A,).
193» 3 V. u. Krankheit (Druckfehlerverz. Ai; A^)] Raserei (A, im Te.xt).
197, 3 es (A,)] sie (Aj). 197, 5 das moralische GefĂĽhl, gleich-
sam ein besonderer Sinn ist (AJ] der moralische Sinn heiĂźt gleich-
sam . . , (Aj). 197, 10 zum Gegenstande (Aj)] zu dem seinigen
(A2). 197, 15 das (A,)] der (A^). 197, 15 v. u. erstere (A^)]
erste (A2). I97, 11 v. u. schon (Druckfehlerverz. A^ ; A^)] fehlt
(Aj im Text). 198, 11 und sie (A)] sc. GlĂĽckseligkeit, vgl. 199, 9:
die GlĂĽckseligkeit anderer; dennoch sind die Vermutungen Natorps und
Görlands zu berücksichtigen. 198, 13 v. u. das lus (Aj)] die Rechts-
lehre (A,;). 200, 3 die allgemeine (A)] Kantischer Sprachgebrauch.
200, 18—19 (Wie das Wort Tugend von taugen, so stammt Untugend
von . . .) (Ai)] taugen herkömmt, so bedeutet Untugend der Etymo-
logie nach so viel als ... (Aj). 200, 20 vorsätzliche Übertretung
(Aj)] \'orsetzliche (A,); vorsetzliche (Ak). 200, 10 v. u. von mir
(Druckfehlerverz. A,; A^)] fehlt (A^ im Text). 200, i v. u.— 201, i
die Klammer bei (und — bringen) fehlt In (A^). 201, 17 in letzterem
Falle (A,)] im letzten Falle (A^). 202, 11 worin (AJJ worein (A^).
202, 17 können" (Aj)] die Anführungsstriche fehlen in (A,). 202,
5 V. u. welche (A,)] welche einem Menschen (A^). 202,4 v.u. Men-
schen (A,)] fehlt (Aj). 203, 12 Physische Wohlfahrt (Ak, mit
Hinweis auf 201, 10 v. u., 202, 19, 204, i)] Physische Wohlfahrt (A).
203, 18—19 geliebet zu werden, (in Notfällen von ihnen Hülfe zu er-
Lesarten i^47
halten) (A^)] geliebt (in Notfällen geholfen) zu werden (A,). 203,6 v.u.
eine (A2)] fehlt (Aj. 203,7— 6 v.u. (seiner wahren Bedürfnisse) (A,)J
Klammer fehlt (A^). 204,1 salubricas (A,)] salus (A,). 204,11 wclclics
man Skandal nennt (AJ] das heiĂźt, ihm kein Skandal zu geben (A,).
204, 12 welchen (A,)] welcher (A^). 204,8V. u. die ethische (A,)] und
zwar enthalten die ethischen (AJ. 204,7v.u. Rechtspflichten
(A2)] Rechtspflichten (A,). 204, 6 v.u. ist, beide also eines Zwanges
(Aj)] ist. In beiden liegt also der Begriff eines Zwanges (A^). Rich-
tiger wäre wohl: beide also den Begriff eines Zwanges s. 204, 9 v. u.
205,13—14 dem anderer (Ak)] dem, anderer (A); demZwange anderer(Aj.
205, 14 die den (A,)] den (A,). 205,20 Materiale (A,)] Materialen (Aj).
205,21 und die (Ai)] und da die (A2). 205,22 heiĂźt Tugcndpflichr,
deren es also viele gibt (A,)] Tugendpflichc heiĂźt, so folgt, daĂź
es auch der Tugendpflichten mehrere gebe. (AJ. 205, 5 v. u. sein
(A,)] zu sein (A,). 207,3—11 die Klammer (wobei werden)
fehlt (AJ. 207, 13 ihres (Druckfehlerverz. A^ ; A,)] ihren (A, im
Text). 207, 3 V. u. Der Mensch (A,)] So daĂź man zwei bekannte
Verse von Haller also variieren könnte: Der Mensch (A^). 207,
I v.u. Haller (A^l fehlt (A,). Besser wäre wohl, vor „Haller" die
Präposition „nach" zu setzen. 209, 13 welche Anlagen (Aj] An-
lagen, welche (A,). 209, 10 v. u. moralisches (H; Ak)] morali-
sches (A). 209, lov. u. erstere (AJ] erste (A,). 209,8 v.u. letztere
(A,)] letzte (A,). 210,8 v.u. (und ihr Gesetz) (A,)] die Klammer
fehlt (A2). 212, 18 und es gelingt ihm mit seiner wohltätigen Ab-
sicht (Ai)] und die Absicht seines Wohltuns gelingen sieht (AJ.
2T3, 7 können, nicht er habe (A,)] können, nicht aber kann man sagen,
er habe (A,); können; nicht: er habe (Ak). 213, 7 v. u. erstcren
(A,)] ersten (A,). 213, 5-3 v. u. Was aber die Mehrheit - Satz be-
trifft, womit man sich tröstet (A,)] Wenn man sich aber bei der Mehr-
heit — Satz damit tröstet (A,). 214,15 sie als Tugend nicht durch
(Aj)] ihr Ursprung als einer Tugend weder durch (A^). 214, 18
letzteren (A,)] letzten (A,). 214, 18 als entspringend vorgestellt
werden, indem sie (A,)] erklärt; auch können diese Laster nicht so
angesehn werden, als ob sie (A,). 214, 20 eine jede (A,)] ein jedes
(A3). 214,20 ihre (A,)] seine (A,). 214,22 Ebensowenig und (A,)]
fehlt (A,). 214,23 Absichten (A,)] Handlungen (A,). 2.1 4, n
v.u. insani sapiens nomen ferat etc.] insani sapiens nomcn habeat etc.
(Aj; Ak) virtus est medium vitiorum et utrinque reductum (A,);
vgl. 219, 17 und 245, 10 V. u., worauf auch Natorp verweist. 215, 14
Meinungen (A,)] Lastern (A,). Natorp vermutet wohl richtig: „Nei-
gungen". 214, 17 Von der Tugend ĂĽberhaupt (A,)] Xl\ . \nn
der Tugend ĂĽberhaupt (A,). Hartenstein bemerkt hierzu: Die
Zahl XIV fehlt in der L A.; daher iii ihr die Zahlen der folgenden
Abschnitte der Einleitung um eine Einheit niedriger suid. 21Ă–, 14
^48 Lesarten
V. u. angeborenen (A,)] ihm angebotenen (AJ. 2l6, 3—2 v. u. (z.B.
Ekel, Grauen - versinnlichen) (A,)] Klammer fehlt (A,). 218, 18
ihr nachgehangen wird (A,)] man ihr nachhängt (AJ. 2l8, n v. u.
zu wurzeln (AJ] einwurzeln zu lassen (A^). 21 8, 5 v. u. mit-
hin der (A,) mithin das Gebot der (A,). 2l8, 3 v. u. die (AJ]
der (A,). Natorp meint: „man erwartet .die', aber Dativ nach ,über'
ist an sich möglich, daher nicht zu ändern"; da aber Kant sonst ,über*
mit Akkusativ konstruiert, kann man nicht annehmen, daĂź er hier
plötzlich in die Dativ-Konstruktion verfällt. 219, 17 ferat (A^)]
habeat (A,). 219, 19-18 v. u. er mag durch einen Gegenstand erregt
werden, welcher es wolle (A,)] durch was fĂĽr einen Gegenstand er
auch erregt werden möge (A^). 219,8 v.u. ich mich (A,)] man sich
(A,). 2l9,7v.u. mir (A^)] einem (A,). 220,12 in Nehmung (A,)]
in dar Wahl (AJ. 220, 5 v. u. die (A^)] was (A^). 221, 9 v. u.
zu Fragen (A,)] dahin, zu Fragen (Aj). 222,2 fragmentarisch
also, ,(A,)] Sie ist also fragmentarisch (A^). 222,3 Ethik (A,)]
erstere (Ai). 222,8— 11 Vernunft; wovon — und dies (AJ] Vernunft.
Die Methodik der ersten Ăśbung (in der Theorie der Pflichten) heiĂźt
Didaktik und hier ist die Lehrart entweder akroamatisch oder
erotematisch; die letzte ist die Kunst, dem Lehrling dasjenige von
PflichtbegrifFen abzufragen, was er schon weiĂź, und dies (A^); (vgl.
§ foff.). 222, 18 Katechetik als (A,)] Didaktik als der Methode (A^)
(ebenso 223, 4 v. u.). 222, 11 v.u. und diese (A^)] welche (Aj); wo-
gegen (Ai)] gegen welche (Aj). 222, 7v.u. verschiedene Kapitel (A,)]
verschiedenen Kapiteln (A^). 223, 17 — 18 gegen andere Menschen
(A,)] gegen andere Wesen (Ai). 227, 2 Erster Teil (A,)] Erstes
Buch (Aj). 227,9v.u, passive (Aj)] eine passive (A^). 227,4— 3 v.u.
mithin (wenn — sind) er sei (A,)] mithin sei, wenn — sind, der Ver-
bindende (Aj). 229, I als ein mit innerer Freiheit (A^)] als mit
innerer Freiheit (A,). 229,2—3 fähiges Wesen und zwar (A,)] und
insonderheit der Verpflichtung (A^). 229,4 betrachtet, (A,)] fähiges
Wesen (A,). 229, 6 von (A)] vom (Ak). 229, 14 uns in theore-
tischer Rücksicht gleich (A,)] uns gleich in .. . (Aj). 229, 15— 14V. u.
und — geistige (Druckfehlerverz. A, ; A^)] fehlt (Ai im Text). 229,
7—6 v. u. die eine — selbst (Aj)] die einen einschränkende (oder
negative) Pflichten, die andern erweiternde (positive) Pflichten gegen
sich selbst (A^). 230, 3 erstere (A,)] ersten (Aj). 23O, 3 gehört
(A,)] gehören (A^). 230,16 Es wird (Aj)] Es gibt aber (AJ. Zu er-
gänzen nach ,, selbst" 230, 17 „stattfinden". 230, 19 v. u. betrifft (Ai)] be-
trifft, dreifach nämlich (A^). 230,19 v.u. a) der (A,)] a) der Trieb (A^).
230, 19 v.u. die (Ai)] zur (AJ. 230, 18 v, u. b) die Erhaltung (A,)]
b) der, durch welchen sie die Erhaltung (A^) ; c) die Erhaltung (AJ]
c) der Trieb, wodurch sie die Erhaltung (A2), 230, 17 v- "• ^um
angenehmen (AJ] zum zweckmäßigen Gebrauche seiner Kräfte und
Lesarten ^^p
zum angenehmen (Aj). Es wäre allerdings sonderbar, wenn ein Dritter
einen derartigen Zusatz aus eigener Initiative hinzugefügt hätte.
230, 4 V. u. beraube (A,)] beraubt (A,). 230, i v. u. Diese (A)] sc.
die mit diesen Lastern behafteten Menschen. 230, i v. u.— 231, 1
ihrem Charakter als moralischer Wesen (Ak)] Ai hat ein Komma nach
„Charakter"; dem Charakter des Menschen, als eines moralischen
Wesens (A^). 231, 4 v.u. Ehrbegierde (A,)] Ehrsucht (A,). 232,
1—3 Der Tugendlehre Erster Teil. Ethische Elementarlehre (A,)]
Diese Ăśberschrift fehlt (AJ. 232, 4 Erstes Buch (A,)] Erste Ab-
teilung (Aj). 232, 8—9 als einem animalischen (A,)] als ein anima-
lisches (A,); vgl. 233, 17 (Aj) gegen dem andern; 240,9; 250,3-4.
232, 10—9 V. u. der — wiederum (A,)] die willkürliche oder vorsätz-
liche Zerstörung seiner animalischen Natur, welche (Aj). 232,
8— 6 v. u. Der physische — welche (A,)] die totale heißt die Selbst-
entleibung (autochiria, suicidium) die partiale läßt sich (AJ. 232,
6 V. u. in (Ai)] einteilen in (Aj). 232, 4 v. u. d. i. sich verstĂĽmmelt
(Ai)] Entgliederung oder VerstĂĽmmelung (Aj). 232, 4 v. u.
und die (A,)] und in die (A^). 232,1 v.u. beraubt; (A,)] beraubt;
Selbstbetäubung (A^). 233, 2 von Unterlassungen nur (A,)] nur
von Unterlassung (Aj). 233, 12 an (A,)] bloĂź an (Aj). 233, 13
diese ihre Selbstentleibung (Aj)] dieses zugleich (A^); dieser ihre (Ak).
233, 17 (Eheleute, Eltern (A,)] (als eines der Ehegatten gegen dem
andern, der Altern (A^). 233, 18 Gott (Ak)] Gott betrachtet wer-
den (A). 233, 21 die Rede von Verletzung einer (Ai)] davon die
Rede, ob die vorsätzliche Selbstentleibung eine Verletzung der (Aj).
233, 22 ob nämlich, wenn ich (Aj)] sei, und ob wenn man (A,).
234, 7 die Befugnis zu haben (A,)] daĂź er die Befugnis haben solle
(A2). 234, 13 einem ihm (A )] ihm (Aj) möglicherweise ist „einem"
ausgelassen; doch könnte es auch Kantischer Sprachgebrauch sein.
234, 18 v.u. aber ein] aber nicht (A). Natorp schlägt auch vor, ein ,, nicht"
zu streichen. 234, 16—13 ^' u- Amputation, oder was zwar ein Teil,
aber kein Organ des Körpers ist z. E. die Haare sich abnehmen zu
lassen, kann zum Verbrechen an seiner eigenen Person nicht gerechnet
werden (A,)] Amputation abnehmen zu lassen. Auch kann es nicht
zum Verbrechen an seiner eigenen Person gerechnet werden, sich
etwas, das zwar ein Teil, aber kein Organ des Körpers ist, z. B. die
Haare abzuschneiden (A^). 234, 13 v. u. letztere (A,)] letzte (Aj).
234, 8 V. u. Märtyrertum (A,)] Märterturti (A,). 235, 9 daran (A)]
Natorp schreibt dazu: wohl richtig. 235, 8 v. u. jene (Aj)] jene
Ursach (A^). 235, 7 v. u. diese (A,)] fehlt (A^). 235, 6 v. u.
also gleichsam absichtlich Menschen hervorbringend (A,)] gleichsam, als
brächte sie absichtlich die Wirkung hervor (A^). 235, 5—4 v. u.
letzteren Vermögens (A^)] Vermögens zur Erhaltung der Art, oder zur
Fortpflanzung des Geschlechts (A,). 236,9 Fleischeslust (A,)] Flei-
Kants Schriften. Bd. VII 29
^jo Lesarten
scheslust (A,). 236, 11 Unkeuschheit (AJ] Unkeuschheit (A,).
236,12 Keuschheit (A,)] Keuschheit (A,). 236,18 wichtigern (A^)]
wichtigern Zweck (A^). 236, 19—20 Individuum (A,)] Individuums
(A,). 237,9 letzteren (A,)] letzten (A,). 237,12 jene (A,)] jene hin-
gegen (Aj). 238,17— 16 v.u. (solchen Krankheiten) (AJ] selbst Krank-
heiten (A,). 238,6 v.u. Betrunkenheit (A,)] Trunkenheit (A,). 239,5
dadurch (A,)] dabei (AJ. 239,5 getraumte (A,)] eine geträumte (A,).
239, 7 hervorgebracht, Niedergeschlagenheit aber (A,)] hervorgebracht;
schädlich aber dadurch, daß nachher Niedergeschlagenheit (A^). 239, 9
dieses (A,)] diese (A,). 239,10 sofern (Aj)] insofern (A^). 239,13
welche (A,)] wobei (A^).; Vorstellungen (A,)] Vorstellungen stattfindet
(Aj). 239, 14-15 des Viehes (AJ] viehischen GenĂĽsse (Aj). 239,
17 V. u. Horaz (Aj)] Seneca (AJ. 239, 14 v. u. unmitteilbar (A)] un-
mitteilsam (Ak). 239, 16—10 v. u. der Gebrauch — erlaubt sind. —
Wer kann — Bereitschaft ist? (A,)] A, hat die Sätze umgestellt. Natorp
bemerkt dazu: wohl richtig, 239,13 v.u. daher auch (A,)] sie auch (A^).
240, 2 Unmäßigkeit, der (A,)] Unmäßigkeit, und zur (A^). 24O, 9 als
einem moralischen Wesen (Aj)] als moralisches Wesen betrachtet (A^);
als ein moralisches Wesen (Ak); vgl. 240, 17 v. u. 240, 10 Lastern:
LĂĽge, Geiz und falsche (Ai)] Lastern der LĂĽge, des Geizes und
der falschen (A,). 24O, 12 L (A,)] Erster Artikel (A,). 240,
17 V. u. (die Menschheit . . .) (Ai)] (gegen die Menschheit . . .)
(A,). 240, 16 V. u. Wahrhaftigkeit: die LĂĽge (Ai)] Wahrhaftig-
keit, oder die LĂĽge (A^). 240, 6 v. u. er sich (A,)] sich der
Mensch (A,). 240, 4 v. u. Person; wobei (A,)] Person. Hiebei
kömmt weder (AJ. 240,3v.u. nicht (AJ] da er nicht (AJ. 240,
2 V. u. betrifft (AJ] trifft (A,). 240, 2 v. u. (denn da bestände
es) (Ax)] (das alsdann (A^). 240, i v. u. andere) — auch nicht (A^)]
Andere (bestände) in Anschlag, noch auch (A^). 241, t er (Ai)]
der LĂĽgner (A,). 241, n aber (Druckfehlerverz. A,; Aj)] fehlt
(A, im Text). 241, 15—16 Persönlichkeit und eine (AJ] Persönlich-
keit, wobei der LĂĽgner sich als eine (A^). 241,17 nicht der Mensch
selbst. (Ai)] nicht als wahren Menschen zeigt. (A,). 241,16— 15 v.u.
werden, so ist doch (Aj)] werden; dennoch ist (Aj). 241, 2 v. u.
(der Gedankenmitteilung) (Aj)] die Klammer fehlt (A^). 242, 3 in-
dem (Druckfehlerverz. A,; aJ] obgleich (Ai im Text). 242, 10 Un-
redlichkeit (Aj)] Unlauterkeit (A,). 242, 12 wird, wenn — für (A,)]
wird. Z. B. nach der größten Strenge betrachtet, ist es schon Unlauter-
keit, wenn ein Wunsch aus Selbstliebe fĂĽr (A^). 242, 18 v, u. Stelle
(A,)] Stelle aus (A,). Das Druckfehlerverzeichnis A, verlangt zu ,,aus"
ein Komma. 243, 11 In (Aj)] MuĂź ich, wenn ich in (A,). 243,12
wenn ich da (A,)] fehlt (A^); muĂź ich (A,)] fehlt (A^). 243, 17 v.u.
(nach ethischen Grundsätzen)? (AJ] die Klammer fehlt (Aj); letzteren
(A,)] letzten (A,). 243, 15 v. u. eigen (AJ] eignes (A,). 243,
Lesarten 4ji
13 V. u. II. (AO] Zweiter Artikel (A,). 243, 9 v. u. (der Erweite-
rung (A)] (den Hang zur Erweiterung (AJ. 243, 6 v. u. auch
nicht (Ai)] sondern (A,). 243,4 V. u. aber doch bloli (A,)j und
zwar nicht insofern er in (A,). 243, 3 v. u. sein kann; (A,;] be-
steht; (Aj); sondern die. (AJ] sondern insofern als die (A,). 243,
I V. u. eigenen Bedürfnisses; dieser — welcher der (Ak)] A, setzt ein
Komma nach „Bedürfnisses"; Bedürfnisses der (A,). 243,1 v.u. dieser
Geiz ist es eigentlich, der hier gemeint ist, welcher (A,)] fehlt (A,).
244,11 entgegengesetzte Laster (Druckfehlerverz.A,)] Entgegengesetzte,
die Tugend (Ai im Text); entgegengesetzte Laster, die Tugend (A,).
244, 19 des habsĂĽchtigen Geizes (als Verschwenders) (A,)] der ver-
schwenderischen Habsucht (AJ. 244,20 in (A,)] lediglich in (A,).
244,21 und zu erhalten (A,)] fehlt (A^). 244,23—25 aber ohne Absicht
— Zweck sei) (Aj] wobei man sich bloß den Besitz zum Zwecke macht,
und sich des Genusses entäußert. (AJ. 244,7 v.u. Weniger (Druck-
fehlerverz.A,; AJ] Nicht weniger (A, im Text). 244, 2 v. u.— 245, 14
virtus — rectum, (A,)] fehlt (Aj). 245, 10 armselig (A,)] (auf den
Vorsatz armselig (A^). 245, 12 — 11 v. u. begehn, — ausüben kann]
begehn, — ausüben (A,); begehn kann — ausübt (A,). 245, 10 v.u.
ferat (A^)] habeat (A,); vgl. 214, 11 v.u.; 219,17. 245,8v.u. bedeutet
(Aj)] bedeutet aber (Aj). 245, 7 v. u. phantastisch Tugendvollkom-
menheit (Aj)] eine Tugendvollkommenheit (A^). 246, 15 III. (A,)]
Dritter Artikel (A^). 246, 14 v.u. ein (A,)] einen (Aj); nach Natorp ist
,,ein" mit Rücksicht auf V, 129,9 na^ch ,,d.i," möglich. 246, 7 v.u. solcher
(Druckfehlerverz. A,; A,)] solches (A, im Text). 247, 10 Gering-
fähigkeit (Aj)] Geringfügigkeit (AJ ; vgl. Z. 20. 247, 16 mit dem
(A,)] das (A3). 247, 17—18 (welches — ist), (A,)] in sich aufrecht
erhalten; (A,). 247, 20 Geringfähigkeit (A,)] Geringfügigkeit (Aj).
247, 22 Demut (A,)] moralische Demut (AJ. 247, 23 seines (Aj]
seinen (A,). 247, 13—12 v. u. sittlich- falsche Kriecherei (humilitas
spuria) (Aj)] falsche moralische Demut (humilitas moralis spuriaj
oder geistliche Kriecherei (A,). 247, 11 v. u. Demut (A,)]
Demut als Geringschätzung seiner selbst (A^). 247, 8 v.u. in diesem
Verhältnisse (A,)] in solcher Demut (AJ. 248, 16 in folgenden Bei-
spielen (AJ] durch folgende Vorschriften (AJ. 250, i Des zweiten
HauptstĂĽcks (AJ] Drittes HauptstĂĽck (AJ. 250, 3-4 als dem an-
gebornen Richter (A,)] als den gebornen Richter (AJ; als den an-
gebornen Richter (Ak); 232, 8—9; 240, 9. Es ist kein Grund dafür
einzusehen, daß Natorp hier eine Korrektur vornimmt, während er es
bei den angefĂĽhrten Stellen nicht tut. 250, 10 in meritum (Druck-
fehlerverz. A,; A,)] inmeritum (A, im Text). 251, 3 in sich (Aj]
an sich (Aj. 251,5 den (AJ] das (AJ. 251, 12-13 (als den
Menschen ĂĽberhaupt, d. i.) (Ak)] (als den Menschen ĂĽberhaupt) d. i.
(AJ; fehlt (AJ. 251, 14 im (AJ] in (Aj. 251, 10-9 v. u.
4^2 Lesarten
Intelligibilen zum Sensibilen (A,)] Intelligiblen zum Sensiblen (A^).
252, 12 letztem (A,)] letzte (A,). 252,17 solches höchste (A,)]
höchstes (A,). 252, 15—14 V. u. den Regeln (A^] sich als Regel
(A,). 252, 1 V. u. gewissenslos (A)] gewissenlos (Ak). 253, 6
den (Druckfehlerverz. A,; A,)] die (A, im Text). 253,8 erstere
(A,)] erste Spruch (A,). 253,11 enthalte (A,)] enthält (A,). 253,14
ist, was (A,)] ist; eine Seligkeit, die (A,). 253, 15 Prinzip (A,)]
Prinzips (A,). 253, n v. u. Zwecke (A,)] Zwecken (AJ. 253,
10 V. u. dein Herz (A,)] prĂĽfe dein Herz (A,). 253,6 v. u. kann
(A,)] könne (A,). 253, 6 v. u. mag. (A,)] möge. (A,). 253, 5 v.u.
Das moralische Selbsterkenntnis, das (A,)] diese SelbstprĂĽfung, die (A,).
253, 4 V. u. Tiefen (Abgrund) (A,)] Tiefen oder den Abgrund (A,);
verlangt, ist (A,)] verlangt, und die dadurch zu erhaltende Selbst-
erkenntnis ist (A,). 253, 3 V. u. letztere (A,)] letzte (A,). 253,
I V. u. die (Aj)] der (A^). 254, 2-3 die Entwickelung — in ihm zu
entwickeln (Ai)] der Bestrebung, die nie verlierbare ursprĂĽngliche An-
lage eines guten Willens in sich zu entwickeln. (AJ. Besser wäre,
wie auch Natorp bemerkt, „zu entwickeln" zu streichen oder durch
ein anderes Wort, vielleicht „zu fördern" zu ersetzen. 254, 3 (nur
die (A,)] Nur die (AJ. 254, 4 des Selbsterkenntnisses (A,)] der
Selbsterkenntnis (A,). 254,4 Vergötterung) (A^)] Klammer fehlt (A^).
254, 6 Dieses (A,)] Diese (A,). 254, 7-8 Mensch (seiner ganzen
Gattung) (A,)] eines Menschen, oder des ganzen Menschengeschlechts
(A,). 254, 8 sie (A,)] diese (A,). 254, 11-13 (sich selbst -
findet. — (A,)] und in einem solchen Falle auch sich selbst der Ver-
achtung wĂĽrdig findet, einer Verachtung, die denn immer nur diesen
oder jenen Menschen, nicht die Menschheit überhaupt treffen kann. — (Aj).
254, 16—17 halten (Gebet-Wunsch). (AJ] halten. Gebet-Wunsch. (A^).
254, 8 v. u. sich selbst (A,)] sich oder andere Menschen (AJ.
254, 7 V. u. andere (A^)] Andere Wasen (A^). 255, 4—6 kann (denn
— werden). (A,)] Klammer fehlt (A,). 255, 15 für Pflicht (AJ] mit
einer Pflicht (A,). 255,20 erstere (auĂźermenschliche) (A,)] ersten
(auĂźermenschlichen) (AJ. 255,23 zweite (ĂĽbermenschliche)
(A,)] zweiten (übermenschlichen) (A,). 255, 6-5 v. u. diejenige —
Moralität (A,)] eine der Moralität günstige Stimmung der Sinnlichkeit
(Aj). 255,4 V. u. nämlich (A,)] nämlich die Lust (A^). 255,
3—2 V. u. lieben (z. B. — Gewächsreichs) (Ai)] lieben und z. B. an den
schönen Kristallisationen, an der unbeschreiblichen Schönheit des Ge-
wächsreichs ein uninteressiertes Wohlgefallen zu finden. (AJ. 256,
1—2 Pflicht — grausamer (A,)] gewaltsame und zugleich grausame (AJ.
256, 4 dadurch (A,)] folglich (A,). 256, 19 v. u. dessen (A,)] eines
Wesens (Aj. 256, 17 v. u. z. B. der Idee von Gott (A,)] nämlich
der Gottheit (A,). 256,i4v.u. Gebote." (A,)] Gebete." (A,). 256,
9 v.u. selbst (Aj] von uns selbst (A,). 256, 6 v. u. (geoffenbart)
Le s a r t en ^5^
(A,)] (oder geofFenbart) (A,). 257,2 Zweites Buch (A,)]
Zweite Abteilung (A,). 257, 13 Naturanlage (A.)] Naruranlagen
(A,). 257, 13 V. u. der Zwecke (sich Gegenstande zum Zweck
2u machen) (Aj)] Zwecke zu haben, oder sich — zu machen) (A,).
258, 5 letztere (A,)] letztern (A,). 258, 18 v. u. Zweck (A*)]
Pflicht (A,). 258, 15 V. u. Welche (A,)] Auf welche (A.). 258,
13 V. u. es (A,)] fehlt (A,). 258, 12 v. u. ihrer (A,)] seiner (A,).
258,3 V u. abwürdigen (A,)] herabwürdigen (A,). 259, 14 v.u. zu —
hinzustreben (AJ] die Bestrebung nach diesem Ziele ist (Aj. 259,
12 V. u. ist (A,)] fehlt (AJ. 259,3— 2 v.u. in kontinuierlichen Fort-
schritten (A,)] im kontinuierlichen Fortschritten (A,); im kontinuier-
lichen Fortschreiten (Ak). 260, 7—8 Vorteil (oder — Nachteils (A,)] Die
Klammer fehlt (A,). 260, 9 könnten? — (A^)] könnten. - (A,). 260, 9
v.u. jener (A,)] jener Tugenden (Aj). 260, 8 v.u. aufzufinden (A,)]
bei sich aufzufinden (AJ. 260, 6 v. u. das (A,)] die (Aj). 261, 2
Zweiter Teil (A,)] Zweites Buch (A^). 261, 13 erstere (A,)] erste
(Aj). 261, 5 verdienstlich (A,)] verdienstliche (Aj). 262,
15 v.u. der (A,)] die (A^). 262,10V. u. verstanden (A,)] genommen
(Aj). 262, 5 V. u._daĂź (A,)] da (A^). 262, i v. u. nur (A,)] fehlt
(A,). 263, 8 letztere (Ai)] letzte (Aj). 263, 13 meines Nächsten
(A2)] meines Nächstens (Ai). 263, 14 abzuwürdigen (AJ] herabzu-
würdigen (Aj). 263, 15 — 16 (nicht — frönen) (AJ] die Klammer fehlt
(Aj). 263,17 erstere (A,)] erste (A,). 263,19 letzteren (A,)] letzten
(Aj). 264, 2 menschenscheu (Aj)] Menschenscheu (AJ. 264, 12
solipsismo (H)] solipsimo (A). 264, 11 v. u. nicht der Mensch (A,)]
fehlt (Aj). 264, 9 V, u. mit allen anderen (AJ] alle andere (A,) wie
alle andere (Ak). 265, i v. u.— 266, i des zum — Notwendigen (A,)]
fehlt (Aj). 266, 2 Neigungen (schwärmerisch) (A^)] Klammer fehlt (A,).
266, 6 noch (A,)] auch noch (A^). 266, 7 sei (Ai)] werde (AJ; d. i. das
(Ai)] d. i. wie kann man das (Aj). 266, 5 v, u. die gemeinnĂĽtzige
(Ai)] ist die gemeinnĂĽtzige Maxime (Aj). 266, 3 v. u. d.i. bedĂĽrftige
(A,)] d. i. als bedĂĽrftige (A,). 267, 2 fĂĽr den, der reich (A,)] im
Fall, daß jemand reich (A^). 267, 4 Wohltäter (A,)] Wohltäter
selbst (Aj). 267, 5 seine (AJ] eine (A,). 267, 12 letzteren
(Ai)] letzten (A^). 267, 16 seinen Wohltätigkeitsakt (A,)] seine
Wohltätigkeit (A,). 267, i v. u. Vorsorge (A,)] Fürsorge (Aj;
letzteren (A,)] letzten (A,). 268, 4 Gestörten (A,)] Blödsinnigen
und VerrĂĽckten (A^). 268, 6 denke, indem (AJ] denke; dem ich
aber wirklich keine Wohltat erweise, indem (AJ. " 268, i v. u. Ver-
letzung (AJ] Verletzung (als skandalöses Beispiel) (AJ. 269, 1—2
(als skandalöses Beispiel) (AJ] fehlt (A^). 269, 11-12 schon — Dank-
barkeit (AJ] gegen den Wohltäter schon eine Art von Dankbarkeit.
(AJ. 269,12 v.u. Grad (Druckfehlerverz. A^; Aj] Grund (A, im Text).
269, 8 V. u. der (AJ] deren (AJ. 269, i v. u. mit der Menschen-
454 Lesarten
liebe] der Menschenliebe (A,)] fehlt (A^). 270, 3 ist, zu verbinden
(Aj)] Verbinder, auszuĂĽben (Aj). 27O, 15 v. u, erstere (A,)] erste
(AJ. 270, 14 V. u. liberalis (A,)] libera (A^). 27O, 12 v. u. illibe-
ralis, servilis (A,)] necessaria (Aj). 270,9 v.u. ersteren (AJ] ersten
(A ). 271,7 dieses (Ai)] fehlt (A^). 271,7—8 sein würde, indem
es (A,)] Barmherzigkeit genannt, die (Aj). 271, 9 und unter
(Ak nach Vorländer)] unter (A). 271, 11 respektiv (AJ] und respektiv
(A,). Natorp bemerkt dazu, dall) dieses „und" wahrscheinlich an die
falsche Stelle gerückt sei und eigentlich zu Z. 9 gehöre. 271, 14
es (A,)] fehlt (AJ. 271, 15 Schicksale (A,)] Schicksale Pflicht (AJ.
271,15—16 indirekte Pflicht (A,)] fehlt (AJ. 271,18 benutzen (Aj]
benutzen, wenigstens indirekte Pflicht (A^). 271,20 umzugehen (AJ]
zu umgehen (AJ. 271, 21 nicht (AJ] fehlt (AJ. 272, 5 all-
gemeinen (Druckfehlerverz. A, ; AJ] fehlt (A^ im Text). 272,8 das
(A,)] also (Aj. 272, 8—9 sein, nämlich der Stolz, (AJ] der Stolz
sein, (Aj). 272, 9 ĂĽber sich zu sehen; (AJ] nicht ĂĽber sich sehen
zu wollen; (AJ. 272. 11 v. u, eigen (AJ] eignes (Aj). 273, 7
desselben wegen (AJ] dessentwegen (AJ. 273, 9 erzeigte (AJ]
erzeugte (Aj). 273,20 V. u. Eltern (AJ] Aeltern (AJ. 273, 6 v. u.
Böses (Ai)] Böse (AJ. 274, 5 Eräugnisse (A,)] Ereignisse (AJ.
274, 12—13 Teilnehmung (des — Terenz) (AJ] Teilnehmung, der Maxime
des — Terenz (AJ. 274, 2 v. u. sanfte (AJ] schlaffe (AJ.
274, I V. u. mitis (AJ] ignave (AJ. 275, i Entsagung (AJ] Ver-
zichtleistung (AJ. 275, 2 das (Aj] diese (AJ. 275, 7 v. u.
erstere (A,)] erste (AJ. 276, 8 (Unbescheidenheit) (AJ] oder die
Unbescheidenheit (AJ. 276 , 8 WĂĽrdigkeit (A JJ Foderung
(AJ. 276, 9 werden, die (A)] werden, ist die (H). 2y6, 10 der
Forderung "ber (Aj)] aber in der Forderung (A,). 276, i v. u. ihm
(AJ] ihn (AJ. 277, 17 v. u. Ehrliebenden (AJ] Bestraften (AJ.
277, 16 v. u. auf (AJ] noch auf (AJ. 277, 15 v. u. schmerzhafter
(AJ] durch diese Entehrung schmerzhafter (AJ. 277, 10 v. u. der-
selben (A)] Görland schlägt „desselben" vor. „derselben" ist richtig,
weil es sich auf ,, Menschen" als Phänomen bezieht, während das voraus-
gehende „dem Menschen" im noumenalen Sinne aufgefaßt wird. 278,4
und — Werts (Aj)] fehlt (AJ. 278, 5 ausschlagen (A J] ausschlagen,
nie ihm allen moralischen Wert absprechen (A^). 278, 13 als (AJ]
als einen (AJ. 278, 13 höchstschätzenden (AJ] hochschätzenden (Aj.
278, 16 V. u. zwar (AJ] fehlt (AJ. 278, 15 — 14 v. u. aber — Guten
(AJ] hingegen an derri was bloĂź als Abweichung von der gemeinen
Meinung auffallend (paradoxon), sonst aber an sich gut ist, solches (Aj.
278, 14 v.u. nehmen (AJ] nehmen (AJ; siehe: geben Z. 16. 278,
14 V. u. ein (AJ] und ein (AJ. 279, i erstere (AJ] erste (AJ.
279, 2 Widerspiels (AJ] Gegenteils (AJ. 280, 10 v. u. ungläubisch
(AJ] ungläubig (Aj. 280,9-8 v.u. desjenigen die — Schmälernden,
Lesarten ^^^
was (A,)] desjenigen, was die — schmälert, wenn es (A.,). 280, 7 v. u.
es mag — sein (A,)] gesetzt, daß es - wäre (A^). 281, 6 uns andere
(A,)] wir andern (A^). 281, 17 v. u, sie (Aj)] gewisse Sonderbar-
keiten (Aa). 28l,iov,u. causticus (Druckfehlerverz.A,; Aj)] casticus
(Ax im Text). 282, 15 v. u. dieses (A,)] dieses, auch in Beziehung
auf andere Menschen zu befolgen (A^). 282, 2 v. u. reine (AJJ
reinen (A^). 283, 5 Diese (Tugendpflichten) (A,)] Diese Tugend-
pflichten (A;,). 283, 15 V. u. Zustande; was den (A,)| Zustande zu
beobachten sei; welches Verhalten dem (A^). 283, 14 v.u. und jenen
(A,)] gezieme und welches den (A^). 283, 13 v. u. ihrer (A,)]
seiner (A^). 283, 13 v. u. ihrem (AJ] seinem (A,). 283, 12 v, u.
pragmatischen (A,)J der pragmatischen (A^). 283, 11 v.u. ausgehen-
den; (Aj)] ausgehenden Gelehrten charakterisiere; (A,). 283, 9 v. u.
zukomme: (AJ] zu beobachten sei; (A^). 284, 2 innigsten (A)]
inniglichen (A, in der Tafel der Einteilung 309, 8 v. u.), ebenso
(A2 im Inhaltsverzeichnis). 284, 12 Menschen (A,)] Menschen zu
suchen (A2). 284, 13 DaĂź) aber Freundschaft (Aj)] DaĂź aber, obwohl
nach Freundschaft als einem Maximum der guten Gesinnung gegen-
einander zu streben eine von der Vernunft aufgegebene, nicht etwa
gemeine, sondern ehrenvolle Pflicht ist, dennoch eine vollkommene
Freundschaft (Aj). 284, 13—14 (aber doch praktisch-notwendige) (A,)]
die Klammer fehlt (A^). 284, 14 in der AusĂĽbung zwar (A,)| in
jeder Ausübung (A^). 284, 14—17 aber — Pflicht (A,)] fehlt (A,).
284, 14 unerreichbar (Ai)] unerreichbar sei (A^). 284, 7 v. u. noch
mehr aber (A,)] oder, was noch mehr ist zu erforschen (A^). 284,
3 V. u. einbüße, so daß beiderseitig (Ai)] einbüße? Wie läßt sich also
erwarten, daĂź von beiden Seiten (A^). 284, 2 v. u. schwerlich (A,)]
fehlt (AJ. 284, iv.u. wird; (A,)] solle; (A^). 285,2 so daĂź (A,)]
und wenn (A^) (ohne Nachsatz) ; die Lesart von A^ lieĂźe sich halten, wenn
„und" gestrichen würde. 285, 4—5 welche — durch (A,)] eine —
welche, durch (A^). 285, 14 Freundschaft in (A,)] Freundschaft
also in (AJ. 2S5, 16 Pirithous (AJ] Pyrithous (A,). 285, 18
Folgende Anmerkungen können (AJ] Auch können noch folgende An-
merkungen (AJ. 285, 24 und zwar daĂź er (AJ] und glaubt (AJ;
gefallen sei, oder (AJ] gesunken zu sein, oder fĂĽrchtet wenigstens (A J.
285,25 ingeheim (AJ] insgeheim (AJ. 285,26—27 beständig — fallen
(AJ] immer die Gefahr seine Achtung zu verlieren (AJ. 285, 29—31
(wohl — ist) (AJ] Klammer fehlt (AJ. 286, 9 können. — (AJ]
können, — (AJ. 286, 13 Gefühle (AJ] Gefühlen (AJ. 286, 14
oder das (A J] oder feste, 'das (AJ. 286, 20 aber sich (Druckfehler-
verz.A,;Aj] aber (A, im Text). 286, 5 v.u. (selbst — beabsichtigen)
(AJ] Klammer fehlt (AJ. 286,4 v.u. aber (AJ] aber wird er (AJ.
286, 2 V. u. sieht er sich (AJ] und sieht er sich daher (AJ. 286,
I V.u. (vornehmlich — Menschen) (AJ] Klammer fehlt (AJ. 287, 4
45Ă– Lesarten
teils weil der andere, der sein — zurückhält (A,)] weil andere, indem
sie ihr — zurückhalten (A^,). 287, 5—6 machen — betrifft (A,)]
machen könnten. Er möchte auch wohl andern seine Mängel oder
Fehler eröffnen; aber er muß fürchten, daß (A^). 287, 7 würde
(A,)] möchte (A,)- 287, 9—13 einen — an sich hat (A,)] einen
Menschen, der gute Gesinnung und Verstand hat, so daĂź er ihm,
ohne jene Gefahr besorgen zu dürfen, sein Herz mit völligem Ver-
trauen aufschlieĂźen kann, und der ĂĽberdem in der Art die Dinge zu
beurteilen, mit ihm ĂĽbereinstimmt (A^). 287,14 allein (A,)] allein
(A,). 287, 20—19 V. u. oder — welche (Aj)] oder nichp; oder der
Indiskretion. Nun ist es aber äußerst selten jene (Aj). 287, 18 v.u.
selten ist (A,)] fehlt (Aj); nigroque (A^)] et nigro (Ai). 287, 16— 15 v.u.
zugleich — anvertraute (A,)] sich verbunden achte, ein ihm anvertrautes
(Aj), 2S7, 14 V. u, ersteren (Aj)] ersteren, der es ihm anvertraute
(A,). 287, 12 V. u. Diese — ist (Ai)] Indeß ist doch die bloß mora-
lische Freundschaft (A^). 287, n v. u. (der schwarze Schwan) (Aj)]
Klammer fehlt (Aj). 287, 9 v. u. (pragmatische) A,)] (pragmatische)
Freundschaft (Aj). 287, 4 v. u. (d. i. der (Aj)] (d. i. ein Freund
der (A2). 288, 1—2 des bloß Menschenliebenden (Philanthrop) (A,)]
des Philanthropen, die Menschen bloĂź liebenden Menschen. (A2).
288, 5 gleichsam (Aj)] wobei man alle Menschen (A^). 288, 6 will.
(A,)] will, sich vorstellt. (A2). 288, 12— 11 v. u. einen, der — anzu-
sehen; (Ai)] einen Teil eines allbefassenden Kreises, der weltbĂĽrger-
lichen Gesinnung anzusehen; (A^). 288,10— 9 v.u. die Mittel (A^)] die
wechselseitige (A,), das Beziehungswort fehlt. 288,9 v.u. fĂĽhren (A^)]
führt (Ai); derselben (Aj)] Gesellschaft (A^), die Korrektur ist unnötig,
da sich „derselben", wie Natorp vermutet, auf „Welt" beziehen kann.
288, I V. u. Es ist zwar nur (Ai)] Sie gelten nur als (AJ; befördert
(Ai)] befördern (AJ. 289,3 Gastfreiheit, Gelindigkeit (AJ]
der Gastfreiheit, der Gelindigkeit (AJ. 289.4 insgesamt (AJ]
welche insgesamt (AJ. 289, 4 bloĂźen (AJ] bloĂźe (AJ. 289, 5
mit geäußerten (AJ] durch geäußerte (AJ. 289, 5—6 dadurch man
(AJ] fehlt (A,). 289, 6 verbindet (AJ] verbinden (AJ. 289, 6
also (A)] die also (Ak). 291, i II (AJ] Zweiter Teil (AJ.
293, 12 (aus Freiheit) (AJ] Klammer fehlt (AJ. 293, 13 die Ober-
macht (AJ] Obermacht (AJ. 293, 9 v. u. hiemit (AJ] fehlt (AJ.
294, 1 sein (A J] sein wĂĽrde (A J. 294, 9 welchen er geschieht (A J]
an welche er gerichtet wird (AJ. 295,4 Ganze (AJ] Ganzes (AJ.
295, 9 (und — verbürgen) (AJ] Klammer fehlt (AJ. 295, 14 v. u.
dogmatischen (AJ] akroamatischen (AJ. 295, 9 v. u. Beispiel
(AJ ]Exemper (AJ. 295,5 v.u. oder Abgewöhnung (AJ] fehlt (AJ.
296, 2 darbietet*) (AJ] darbietet (AJ. 296,i9v.u. = L (AJ] fehlt
(Aj; =S (AJ] fehlt (AJ. 296, 17 v.u. =0 (Druckfehlerverz. AJ]
= 0 (Ai im Text); fehlt (AJ. 296, 15 v.u. i. L. (AJ] Der
Lesarten acj
Lehrer (A,). Die Numerierung fehlt in (A.) durchweg. 296 14-13
V. u. S. 0 (Ak)] S = O. - = O (A.)l Der SchĂĽler (schweigt)'. (A,).
Aj hat auch im folgenden stets statt S. Der SchĂĽler und statt ĂĽ (schweigt).
296, 14 V. u. alles (A,)] in allem (A,). 296, 12 v. u. 2. L (A )i
fehlt (AJ. 297, I 3. L. (A,)] fehlt (A,). 297, 17 v. u. 4. L.
(Ak)] fehlt (A,) der Lehrer (A,). 297,20 v. u. 5. L. (A,)] fehlt
(A,). 297, 15 V. u. mögest? (A,)] mögest. (A.). 297, 8 v. u.
6. L. (Ai)] fehlt (A,). 297, i v. u. vorkömmt (A,)] vorkommt (A,).
298,3 schadest (A^)] schadetest (A,). 298,16 7- L. (A,)] fehlt (AJ.
299, II— IG v.u. Wenn ihm nämlich (Druckfehlerver2. A,; A,)] Wenn
ihm nun nämlich (A^ im Text). 301,9 zu opfern (A,)] aufzuopfern
(A^). 301, 17— 16 v.u. (assuesce - vitae) (A,)] (sustine et abstine)
(A^)- 302, 7 das MaĂź erreicht (A,)] es dahin bringt (A,). 303, 6
ganz auĂźerhalb den (A^)] als ganz auĂźerhalb der (AJ. 304, i ob-
jektive die (A)] objektive, die (Ak). 304, 14 darlegen mĂĽĂźte (A,)]
dargelegt werden könnte (AJ. 304, 21 v. u. des Gegenwärtigen (A,)|
der gegenwärtigen (A^). 304, 3 v. u. der Bestimmungsgrund (a/)J
geht der Bestimmungsgrund (A,). 305, 4-7 (dagegen — hat) (A,)l
Klammer fehlt (A,). 305, 10 aus (A,)] als Zweck der (A,).
305, 19 Aber (Aj) in einem neuen Absatz] in A^ an das Vorher-
gehende anschließend. 305, 18 v. u. bezieht sich (A,)] läßt sich
von Seiten des- höchsten Wesens (A^). 305, 17 v. u. auf (A,)] aus
(A2). 305, 16 v.u. das andere (A^)] jenes (AJ. 305,i5v.u. auf (AJ]
aus (A2); (benignitas) ; — (AJ] (benignitas) ableiten; — (A^). 306,3
(d. i. der unter Menschen,) (A,)] (d. i, wie sie unter Menschen vorkömmt)
(A2). 307, 6 welchen allen (Aj)] welchem allen (AJ; welchem
allem (Ak). Natorps Korrektur erübrigt sich. 307,2—1 v.u. wechsel-
seitigen Menschenpflichten (A,)] Menschenpflichten gegen sich selbst
und andere Menschen (A2). 308— 309 Natorp bemerkt: „Diese Tafel
fehlt Aj, wo sich dafĂĽr nach der Vorrede ein Inhaltsverzeichnis unter
dem Titel Inhalt der Tugendlehre findet. Dieses gibt die Ăśber-
schriften durchweg nach den Ă„nderungen der zweiten Auflage, nur
teilweise gekĂĽrzt. Im Abdruck der Tafel aus (AJ ist die dort wenig
konsequente Sperrung nach Möglichkeit verbessert. (A, hat nicht ge-
sperrt: 308,5 gegen sich selbst; — Z. 20 Reflexionsbegriffe ; — Z.Sv.u.
unvollkommenen Pflichten; — 309, 3 Pflichten gegen andere.)" Wir
schlössen uns Ak an; dagegen lesen wir 308, 9 animalischen (AJ] ani-
malisches (Ak) ; 308, 13 moralischen (A,)] moralisches (Ak).
458 Lesarten
1798.
II. Der Streit der Fakultäten.
a) Handschriften.
Handschriftliches Fragment eines Abschreibers (Hs) (vgl. Kehr-
bach und Vorländer in der Akademie-Ausgabe). Zur kritischen Wür-
digung dieser Handschrift vgl. unsere AusfĂĽhrungen in den Lesarten;
doch kann schon jetzt bemerkt werden, daĂź wir der Hdschr. geringe
Bedeutung beimessen.
b) Drucke:
1. Der Streit der Facultäten in drei Abschnitten von Immanuel
Kant. Königsberg, bei Friedrich Nicolovius, 1798. (A)
2. Dasselbe. In I. Kants vermischten Schriften. Band III. Achte
und vollständige Ausgabe (ed. I. H. Tieftrunk). Halle, in der Renger-
schen Buchhandlung, 1799, S. 389— 4J6 und S. 506— 574, in vom Ori-
ginal abweichender Reihenfolge. (T)
3. Dasselbe. In der Gesamtausgabe von Hartenstein, Bd. I, Nr. X.
Leipzig 1838. S. 199—319. (Hl)
4. Dasselbe. In der Gesamtausgabe von Hartenstein. Bd. VII, Nr. V.
Leipzig 1868. S. 321 — 428. (Hj)
5. Dasselbe. In „Immanuel Kants sämmtliche Werke". Teil X, Nr. 2.
Herausgegeben von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert.
Leipzig 1838. S. 249—387. (R)
6. Dasselbe. Philosophische Bibliothek oder Sammlung der Haupt-
werke der Philosophie von J. H. von Kirchmann. Bd. XXXIII, Abt. II. (Ki)
7. Dasselbe. In Reclams Universal-Bibliothek. Herausgegeben von
Karl Kehrbach. (Kb)
8. Dasselbe. Bd. VII der Akademie- Ausgabe. Herausgeber: Karl
Vorländer. S. 1 — 116. (Ak)
9) Journal der praktischen Arzneykunde und Wundarznovkunst,
herausgegeben von C. W Hufeland. V. Band. 4. StĂĽck. Jena 1797-
Neue unveränderte Auflage von 1805, Berlin. In Comm. bei Wittich.
(S. 3-4J).
10) Von der Macht des GemĂĽts . . . Jena, in der academischen
Buchhandlung 1798. (I)
11) I. Kant, Von der Macht des GemĂĽts . . . herausgegeben und
mit Anmerkungen versehen von C. W. Hufeland. 2. verb. und ver-
mehrte Auflage. Leipzig 1824 bei Wilhelm LaufFer.
12) Immanuel Kant, Von der Macht des GemĂĽts . . . herausgeg.
u. mit Anm. vers. von C. W. Hufeland. Leipzig. Reklam.
Lesarten ^^^
316, 6 es auch (A)] auch (Ak). Vgl. auch die dreimalige Setzung
des „ich" 3 19, 5 v.u. 316,14 der Grenzen (A, Kb, Ak)] den Grenzen
(Hl, 2, Ki, T). 317,5 Uten (A)] 22ten (T), mit RĂĽcksicht auf 316,
2 V. u. bei (T) offenbar ein Druckfehler. 317, 11 v.u. vorhabenden (A)]
vorhandenen (Kb), nicht bei Hartenstein, wie (Ak) irrtĂĽmlich vermerkt.
319, 13 v. u. Achtungsbezeigung (A)] Achtungshezeugung (T). 319.
5 v.u. ich (A)] fehlt (T). 320,1 v.u. Sr (A)] Se. (H,,,). Vgl. hierzu
Anm. t bei (H,, ,; Ki; Kb). 328, 15 sie (T)] ihnen (A). 329,
I V. u. mĂĽsse (A)] muĂź (Ak). Die Korrektur ist ansprechend. 330,
9 V. u. die beste (A)] den besten (H,, ,; T). 330,4 v. u. zu geben
hätte (Zusatz Rosenkranz)]. 332, 5 es sich richten könnte (A)] Der
von Vorländer erwähnte Vorschlag Menzers: „er" — bezieht „es" jeden-
falls auf „jedermann", während es sich auf „Volk" bezieht. 336,
19 V. u. erstlich (A,)] erstens (Kb). 337, 14 sich (A)] fehlt (T).
337, 2 V. u. der der (A)] der (T). 338, 4— J (der wesentlichen und
ersten Bedingung) (A)] (die wesentliche und erste Bedingung) (Ak).
338, I V. u. jener oberen Fakultäten (T)] jener oberen Fakultät (A);
jeder oberen Fakultät (Kb). 341, 16 sie (A)] es (Ak) mit Rücksicht
auf „Publikum", doch kommt eine derartige Konstruktion bei Kant
häufig vor; damit hängt auch bei (Ak) die Weglassung des „sich" Z. 17
zusammen. 341, 17 sich alles (A)] alles (Ak). 342, 13 sein wĂĽrde
(A)] wĂĽrde (T). 343, 10 noch so sehr (T)] noch sehr (A). 343,
13 v.u. Begriff (A)] Begriffe (Ak). 344,1 öffentlich (H)] öffentlichen
(A); vgl. auch Z. 21. r 344,5 der Regierung (A)] fehlt (T). 344,8
Sanktionen (A)] Sanktion (Ak). 344, 21 dieser ihrer (A)] dieser ihr
(Kb). 344,6v,u. gelehrten (A)] gelehrten (Ak). 345,i9v.u. fĂĽr
den RichterstĂĽhl (A)] vor den Richterstuhl (Kb). 347, i d. i. (A)]
fehlt (Kb); daĂź Religion (A)] daĂź die Religion (Kb). 347, 11 er-
zeugte (H)] erzeugten (A, T). 349, 5—7 weil alle Grundsätze (A)]
Die Konstruktion ist unverständlich; wahrscheinlich wollte Kant sagen:
,,weLl alle Grundsätze jederzeit auch von der Vernunft diktiert
werden mĂĽssen . . . was aus Schriftstellen fĂĽr die R.eligion
auch von der Vernunft diktiert werden mĂĽsse. Statt 'dieser beiden
Sätze hat Kant nur einen einzigen Satz gebildet. Vgl. auch Vorl. zur
Stelle. 349, 17 v.u. den (Aj] dem (Ak). 350, i (ebendaselbst
S. 73f.) (Kb., Ak)] (Ebendasselbe S.) (A). 351,5 (wie allen Men-
schen) (A)] SchluĂźklammer fehlt (T). 351, M entgegen (T)] fehlt
(A). 351, 19 v.u. auf (R)] an (A, T). 353. 16-15 v. u. Gewahr-
same (A)] Gewahrsam (T). 355, 17 sich (A)] sie (T). 355,8 v.u. innig-
licher (A)] inniger (T). 356, 14—15 (dergleichen ....) (A)] Klammer
fehlt (T). 356, 17 Vernunft? (T)] Vernunft (A). 356, 2-1 v. u.
wodurch dann das neue (die doch nicht noch wahrer als wahr sein
kann) (A)] H. liest: das doch nicht wahrer als wahr sein kann. Ak
setzt „wodurch dann das neue" hinter das in Klammer Stehende.
^6o Lesarten
357,3 aufgespähet (A)] aufspahet (T). 357, 5 v. u. bekennen (H)]
zu bekennen (A). 358, 21 uns (A)] von uns (Ak). 358, 5 v. u.
gebrechlicher (A)] gebrauchlicher (Hs). 359, 12-13 soferne (A)]
sofern (Hs). 359, 2 Gnadenbezeigung (A)] Gnadenbezeichnung (Hs).
359, 15 Allgemeine (A)] fehle (Hs). 359, 16-15 v. u. eigentlich Re-
ligion — Sektenverschiedenheit (A)] in Hs gesperrt. 359, 4 v. u.
Christen nennen (Ak)] vgl. 359, 2 v. u.; Christen nennen (A, Hs).
360, 18 der Einteilung nach (A)] fehlt (H). 360, 19-20 Religion
oder Superstition oder Heidentum — entgegen sind. (A)] Religion oder
Heidentum (Hs). Bei Ak im Anschluß an Hs „Superstition" gestrichen,
offenbar mit RĂĽcksicht auf das in Klammern Stehende: (die einander
wie A und non A widersprechen). Zunächst scheint es formal bedenk-
lich, die Handschrift so zu benutzen, daĂź man einen Teil herausgreift
und den anderen stehen läßt, und ferner bilden Superstition und
Heidentum einen Begriff, wodurch der Gegensatz „von A und non A"
gerechtfertigt ist. 360, 9 v. u. nun (A)] fehlt (Hs). 360, 8 v. u.
zufällig (A)] in Hs gesperrt. 360, 7 v.u. Notwendigkeit (A)] in (Hs)
gesperrt; a priori (A)] in (Hs) gesperrt. 361, i erkennbar (A)] er-
denkbar (Hs). 361, I Vernunftlehren (A)] in (Hs) nicht gesperrt.
361, 16 V. u. fĂĽr (A)] als (Hs). 361, 14 v. u. Ă„uĂźerliche (AuĂźer-
wesentliche) (A)] Außerwesentliche (Hs). 361, 11 v. u. Gebräuche
fĂĽr Gesetze auszugeben (A)] fehlt (Hs). 361, 10 v. u. nichts (A)]
nicht (Hs). 361, 9—8 V. u. Die Anmerkung fehlt in (Hs). 361,
7—1 V. u. Die Anmerkung ' fehlt in (Hs). 362, 2 nicht (A)] fehlt
(Hs). 362, 3—7 (nicht — Gesinnung) (A)] Klammer fehlt in (Hs).
362, 10 werden (A)] fehlt in (Hs). 362,11—12 auszuschließen (A)]
ausgeschlossen (Hs). 362,12 in (A)] im (Hs); in den (Kb). 362,17
einen (A)] wenn (Hs). 362, 18 entsprängen (A)] entspringen (Hs).
362, 18 V. u. als praktischer Vernunftglaube (A)] praktischer (als Ver-
nunftglaube) (Hs). 362, II V. u. (Separatism) (A)] Separaristen (Hs).
363, 3 einmal doch (A)] doch einmal (T). 363, 9 Religion (A)]
Religion selbst (Hs). 363, 16—17 (eigentlich kirchliche Glaubensarten)
in einem Staate (T)] in (A) ist die Klammer nach Staate geschlossen.
364, 15 Glaubenssachen (A)] Glauben (Hs). 364, 18—19 bemerklich
machen wĂĽrde (Hs) bemerklich machen (A). 364,12 V. u. Moses Men-
delssohn (A)] Moses Mendels Sohn (Hs). 365, lov.u. diese (A)] die (Hs).
365, 8 V. u. vorher sagen kann (T)] vorher zu sagen (A). 366, 3
so schon (A)] schon so (Hs). 366, 3 aber (A)] fehlt (Hs). 366, 4
ward (A)] wird (Hs). 366,7 den (H, Ak)] der (A); fehlt (Hs).
366, IG wieder (A)] fehlt (Hs). 366, 11 v. u. nur (A)] fehlt (Hs);
von (Ak)] um von (A). 366, 10 v. u. gute Prinzip (A)] Gute (Hs).
366, IG V. u. einfinden (A)] finden (Hs). 366, 7 v. u. finde (A)]
finden (Ak). 367, 9 maeror animi (Ak)] moeror animi (A). 367,
10 — 12 gräme, mithin — kann.] grämen, mithin — kann. (A); gräme
Le s a rten
46 1
(mithin - kann. (Hs); grämen (mithin — gehen) kann (T); grame
(mithin — kann) (Ak). 367, 12 Höllenfahrt (A)] (Höllenfurcht (Hs).
367,18 radikale (A)] die Handschrift unleserlich. 368,3 nun (Aj) Hs
möglicherweise „um". 368,19 überein) (Aj| in (Hs) Klammer nach
„Lebenswandel" Z. 18. 368, 18 v. u. sei (A)] ist (Hs). 368, 7 v. u.
abstechenden (A)] abstehenden (Hs). 368, 4 v. u. einer (T)] einem
(A). 369, 14 von denen — man aus ihnen machen (A)] aus denen
— man machen (Hs). 369, 16 haben (A)] habe (Hs). 369, 19 v.u.
Bibel (A)] (Hs) hat sinnlos ,, Biber"; schon daraus läßt sich ein Schluß
auf die geistige Verfassung des Abschreibers ziehen. 369, 18 v. u.
Spenerischen (A)] Spenerschen (Hs). 369, 12 v. u. enthaltene (T,
Ak)] enthaltende (A). 369, 9 v. u. ihrem (A)] seinem (Ak); „seinem"
dem Sinne nach richtig. 369, 5 v. u. gewisse (A)] fehlt (Hs). 370,2
OfFenbarungslehre (Hs)] Offenbarungslehren (A). 370, 6 hätte (A)J
fehlt (Hs). 370,16 Objekte (Hs)] Objekt (A). 370,20—21 oder —
bezweifeln. — (A)] fehlt (Hs). 370, 21 ihre (Ak)] seine (A), 370,
16 V. u. des ĂĽ-bersinnlichen (A)] der ĂĽbersinnlichen (Hs). 371,
10 V. u. Lehrern (A)] Lehren (T). 371, 3 v. u. Volkslehrer (A)]
Volkslehre (Hs). 372, 4 Hinlänglichkeit (A)] Hinlencklichkeit (Hs);
s. Z. 3 V. u. Hs: herausgedrenckter. 372, 5 nicht (A)] fehlt (Hs).
372, 21 V. u. er (A)] der (Hs). 372, 11 v. u. bei der Hand (A)]
bei Hand (Hs). 372, 9 v. u. inständige (von „durch" abhängig)
(Ak)] inständiger (A). 374, 18 P. Petau's Rechnung (Ak)] F. Petau
Rechnung (A). 376, 7 eine Form als einer Regierung (A)] eine
Form der Regierung (T). 377, 7 muĂź (Ak)] mĂĽssen (A). 378,
5 V. u. biblische Geschichte (A)] Zusatz (Ak): die 383,1 diese
Erdenwelt (A)] die Erdenwelt (Kb). 383, 7 v. u. unser Verstand
(H)] unsern Verstand (A) 385, 19 selbständiges (A)] ein selb-
ständig (T). 389 Bei (T) folgt hier die Inhaltsangabe, die in (A)
vor dem I.Abschnitt steht. 392, 2 kann (Ak)] kann (A) ; bei (Ak)
gesperrt mit Rücksicht auf „will" 391, 5- 393'3-2v.u. auftürmenden
— angemessenen (A)] auftürmender — angemessener (T). 395, 5 zu
Folge (A)] zur Folge (T). 395,i6v.u. beschleunigten (A)] beschleu-
nigtem (T, Ak). 396, 4 beständig (A)] fehlt (T). 396, 17 v. u.
dem (T)] den (A, Ak). 396, 4 v. u. Besseren (T)] Bessern (A); vgl.
398, I. 39S, 2 solches (H)] solcher (A). 400, 3—8 Der Satz ist
unverständlich; das kommt daher, weil Kant zweifellos das Prädikat
„vor Augen stellt" Z. 6 auch als Prädikat für den übergeordneten
Hauptsatz verwendet; es müßte „vor Augen stellt" nach „rein" Z. 4
stehen; eine ähnliche Konstruktion ist uns schon begegnet, vgl. 349,7— 9;
vgl. auch Vorl. z. St 402, 8 sie (A)] Es ist nicht nötig, „ihn" zu setzen,
wie Vorl. vorschlägt, da sehr häufig ein Kollektivbegriff von Kant pluralisch
behandelt wird. 403, 16 eingeschränkten (A)] eingeschränkte
(T). 403, 13 V. u. eingeschränkter (H, Ak)] eingeschränkter (A)
i{6i Lesarten
405, 5 wohlverstandenem (T)] wohlverstandenen (A). 405, 4 v. u.
als vollendet (A)] vollendet (Ak). Die Wiederholung derartiger Be-
ziehungswörter ist bei Kant häufig. 406, 4 v. u. seinen (A)] seine
(Ak). 407,2 fĂĽr (A)] vor (T). 4H, 4-5 (T) und (I) haben
hier eine Anmerkung Hufelands, die bei (T) mit H . . ., bei (I) mit
d. H. unterzeichnet ist; vgl. auch die j folgenden Anmerkungen.
412, I (technisch) (A)] Klammer fehlt (T). 412, 17 v. u. laut
(A)] laut (T). 412, 7 V. u. enthielten (A)] enthielte (Kb). 412,
4 V. u. Wir (T)] Wir (A). 414, 12— 11 v.u. indessen — führt (A)J
Die Konstruktion ist unklar; sie wird verständlich, wenn man vor
„doch" „sie" setzt, sc. Kausalität. 416, 11 schlimmen (A)] schlimmem
(Hj. 416, !6 verehelichte (A)] bei (T) und (I) eine Anmerkung.
416, 17 sein. — (A) bei (T) und (I) eine Anmerkung. 416, 9 v. u.
inniglich (A)J innig (T). 416,3 v.u. zu (A)] in (T). 417,7
bei (A)] den (T). 417, 16 v. u. fĂĽr (A)] vor (T); vgl. 407, 2.
419, I was (A)] fehlt (T). 419, 15 seinen beschiedenen (A)]
sein beschieden (T; I). 420, 11 Gedanken (A)] Gedankens (T).
421, 7 V. u. will (A)] will (T, I, Ak). 421, 12 wurde (A)] wurden
(T; I). 421, 20 V. u. (nur nicht ) (A)] (nicht nur ) (T).
422, 20—23 sowohl . . . (A)] für das Wort „sowohl" fehlt das ent-
sprechende „als auch", wenn man nicht mit Vorl. das „und" Z. 13 v. u.
als das entsprechende „als auch" betrachten will. 423, 11— 12 Zeit-
kürzender ist freilich das letztere (A)] fehlt (T). 423, 12—14 Das
letztere - das erstere (Ak nach Menzer)], offenbar mit RĂĽcksicht auf
423, 16—17; Das erstere — das letztere (A). 425, 7 vorfallenden
(A)] vorfallendem (H, Kb; Ak). 425, 7-8 vorfallenden - er-
schallendes (A)] Ak setzt nach Frey die Klammer vor „stoßweise";
nach unserem Sprachgebrauch erforderlich, ob auch nach Kantischem,
scheint zweifelhaft. 425, 13 offenen (A)] offenem (T, Ak). 425,
17 V. u. gewährt (Kb)] bewährt (A; T). 426,8 flüssige (A)] fehlt (T).
428, 18—17 V. u. in der Aussicht — zurückgewiesen haben (A)] Sinn
und Konstruktion nicht ganz klar; auch durch die von Vorl. vorgeschlagene
Änderung wird der Sinn nicht völlig klar. 428, 12 v. u. auch
nicht (T)] noch nicht (A); besser wäre „noch des Gedächtnisses al-
lem"; „nicht" ist offenbar nur auf einen Setzerfehler zurückzuführen.
429, 19 v. u. verpflichtete (A; Kb)] verpflichteten (H. T. I.). 429,
14 v. u. (T; I) haben hier eine besondere Anmerkung. 430, 18 ihrem
(T, I)] ihren (A). 430, 21 sagt (T)] sagte (A). 430, 13 v. u.
bei (T; I.) eine Anmerkung. 430, 3 v. u. gemacht (A)] fehlt (T).
431, 4 V. u. bei (T; I) eine Anmerkung.
InhaltsĂĽbersicht des siebenten Bandes.
Seite
Die Metaphysik der Sitten in zwei Teilen. (1797) • »
Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Rechtslehre J
Vorrede 5
Tafel der Einteilung der Rechtslehre lo
Einleitung in die Metaphysik der Sitten.
I. Von dem Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts
zu den Sittengesetzen i l
IL Von der Idee und der Notwendigkeit einer Metaphysik der
Sitten ^5
III. Von der Einteilung einer Metaphysik der Sitten . . . . 18
IV. Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten {Philosophia practica
universalis) * ^
Einleitung in die Rechtslehre.
§ A. Was die Rechtslehre sei 3°
§ ß. Was ist Recht? l^
§ C. Allgemeines Prinzip des Rechts 3 I
§ D. Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden 31
§ E. Das strikte Recht kann auch als die xMöglichkeit eines
mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen
zusammenstimmenden durchgängigen wechselseiligen
Zwanges vorgestellt werden H
Anhang zur Einleitvmg in die Rechtslehre.
Vom zweideutigen Recht {lus aequivoctun) }5
I. Die Billigkeit (Aequitas) 3 5
II. Das Notrecht (lus necessitatis) 3
Einteilung der Rechtslehre.
A. Allgememe Eint^Uung der Rechtspflichten 3^
B. Allgemeine EinteUung der Rechte 3 9
Das angeborne Recht ist nur ein einziges 39
4 (54 InhaltsĂĽbersicht des siebenten Bandes
Seite
Einteilung der Metaphysik der Sitten ĂĽberhaupt 1 41
II. Einteilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes
zur Pflicht 4i
III. Einteilung nach dem subjektiven Verhältnis der Verpflich-
tenden und Verpflichteten 43
Von der Einteilung der Moral, als eines Systems der Pflichten
ĂĽberhaupt 44
Der allgemeinen Rechtslehre Erster Teil. Das Privatrecht vom
äußeren Mein und Dein überhaupt 47
Erstes HauptstĂĽck. Von der Art etwas Ă„uĂźeres als das Seine
zu haben 47
Zweites HauptsĂĽck. Von der Art etwas Ă„uĂźeres zu erwerben 6 i
Einteilung der Erwerbung des äußeren Mein und Dein , 63
Erster Abschnitt. Vom Sachenrecht 65
Zweiter Abschnitt. Vom persönlichen Recht .... 74
Dritter Abschnitt. Von dem auf dingliche Art persön-
lichen Recht 80
Episodischer Abschnitt. Von der idealen Erwerbung
eines äußeren Gegenstandes der Willkür .... ^6
Drittes HauptstĂĽck. Von der subjektiv-bedingten Erwerbung
durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit 102
Der allgemeinen Rechtslehre Zweiter Teil. Das öffentliche Recht 115
Erster Abschnitt. Das Staatsrecht II7
Zweiter ,, Das Völkerrecht 150
Dritter „ Das Weltbürgerrecht '159
Anhang erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen An-
fangsgrĂĽnden der Rechtslehre 163
Die Metaphysik der Sitten.
Zweiter Teil. Metaphysische AnfangsgrĂĽnde der Tugendlehre 181
Vorrede 183
Einleitung zur Tugendlehre 108
I. Erörterung des Begriffs einer Tugendlehre 188
II. Erörterung des Begriffs von einem Zwecke, der zugleich
Pflicht ist 191
III. Von dem Grunde sich einen Zweck, der zugleich Pflicht
ist, zu denken 1 94
IV. Welche sind die Zwecke, die zugleich Pflichten sind? . 195
V. Erläuterung dieser zwei Begriffe.
A. Eigene Vollkommenheit 19*^
B. Fremde GlĂĽckseligkeit I97
InhaltsĂĽbersicht des siebenten Bandes 465
Seite
VI, Die Ethik gibt nicht Gesetze fĂĽr die Handlungen (denn
das tut das lus), sondern nur fĂĽr die Maximen der
Handlungen ipg
VII. Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die
Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit . . -199
VIII. Exposition der Tugendpflichten als weiter Pflichten . .201
IX. Was ist Tugendpflicht? 2O4
X. Das oberste Prinzip der Rechtslehre war analytisch;
das der Tugendlehre ist synthetisch 206
XI. Das Schema der Tugendpflichten 208
Xir. Ästhetische VorbegrifFe der Empfänglichkeit des Gemüts
fĂĽr Pflichtbegriffe ĂĽberhaupt Z09
XIII. Allgemeine Grundsätze der Metaphysik der Sitten in
Behandlung einer reinen Tugendlehre 213
XIV. Vom Prinzip der Absonderung der Tugendlehre von der
Rechtslehre 217
XV. Zur Tugend wird zuerst erfordert die Herrschaft
ĂĽber sich selbst 218
XVI. Zur Tugend wird Apathie notwendig vorausgesetzt . 219
XVII. VorbegriflFe zur Einteilung der Tugendlehre . . . .220
XVIII. Einteilung der Ethik 225
I. Ethische Elementarlehre 225
Erster Teil, Von den Pflichten gegen sich selbst ĂĽber-
haupt. Einleitung 227
Erstes Buch. Von den vollkommenen Pflichten gegen sich
selbst.
Erstes HauptstĂĽck. Die Pflicht des Menschen gegen sich
selbst als einem animalischen Wesen 232
Zweites HauptstĂĽck. Die Pflicht des Menschen gegen
sich selbst, bloĂź als einem moralischen Wesen . .240
Erster Abschnitt. Von der Pflicht des Menschen gegen
sich selbst, als dem angebornen Richter ĂĽber sich
selbst 250
Zweiter Abschnitt. Von dem ersten Gebot aller
Pflichten gegen sich selbst 255
Episodischer Abschnitt. Von der Amphibolie der
moralischen Reflexionsbegriffe 2^4
Zweites Buch. Von den unvollkommenen Pflichten des
Menschen gegen sich selbst ...* 257
Kants Schriften. Bd. VII. 3°
^66 InhaltsĂĽbersicht des siebenten Bandes
Seite
Erster Ahschnirt. Von der Pflicht gegen sich selbst in
Entwicklung und Vermehrung seiner Naturvol Ikom-
menheit, d. i. in pragmatischer Absicht 157
Zu-eiter Abschnitt. Von der Pflicht gegen sich selbst
in Erhöhuna seiner moralischen Vollkommenheit,
d. i. in bloK) sittlicher Absicht 259
Zweiter Teil. Von den Tugendpflichten gegen andere.
Erstes HauptstĂĽck. Von den Pflichten gegen andere blol^
als Menschen.
Erster Abschnitt. Von der Liebespflicht gegen andere
Menschen. Einteilung 261
Zweiter Abschnitt. Von den Tugendpflichten gegen
andere Menschen aus der ihnen gebĂĽhrenden Achtung 176
Zweites HauptstĂĽck. Von den ethischen Pflichten der Men-
schen gegeneinander in Ansehung ihres Zustand es . 285
BeschluĂź der Elementarlehre. Von der innigsten Vereinigung
der Liebe mit der Achtung in der Freundschaft . . .284
IL Ethische Methodenlehre 291
Erster Abschnitt. Die ethische Didaktik 293
Zweiter Abschnitt. Die ethische Asketik 301
BeschluĂź). Die Religionslelu-e als Lehre der Pflichten gegen
(iott liegt auĂźerhalb den Grenzen der reinen Moralphilo-
sophie 3"^^
Tafel der Einteilung der Ethik • ■• ?o8
Der Streit der Fakultäten in drei Abschnitten. (1798) 311
Vorrede 315
Inhalt 322
Erster Abschnitt. Der Streit der philosophischen
Fakultät mit der theologischen 325
Einleitung 327
Einteilung der Fakultäten überhaupt .328
I. V^om Verhältnisse der Fakultäten.
Erster Abschnitt. Begriff und Einteilung der oberen
Fakultäten 3J0
A. Eigentümlichkeit der theologischen Fakultät . . »333
B. Eigentümlichkeit der Juristenfakultät 334
C. Eigentümlichkeit der medizinischen Fakultät . . -336
Zweiter Abschnitt. Begriff und Einteilung der untern
Fakultät 337
Inhaltsübersicht des siebenten Bandes ±6
4V
Seite
3^9
Dritter Abschnitt. Vom gesetzwidrigen Streit der oberen
Fakultäten mit den unteren
Vierter Abschnitt. Vom gesetzmäßigen Streit der oberen
Fakultäten mit der unteren i ,
Resultat
H<^
Anhang einer Erläuterung des Streits der Fakultäten durch das
Beispiel desjenigen /.wischen der theologischen und philo-
sophischen.
I. Materie des Streits ^ .<$
II. Philosophische Grundsatze der Schrifrauslegung zur Bei-
legung des Streits -x An
III. EinwĂĽrfe und Beantwortung derselben, die (irunds.ir/c
der Schriftauslegung betreffend 756
Allgemeine Anmerkung, Von Rcligionssekten . . . • ^SQ
Friedens- Abschluß und Beilegung des Streits der Fakultäten . 172
Anhang biblisch-historischer Fragen ĂĽber die praktische
Benutzung und mutmaĂźliche Zeit der Fortdauer dieses heiligen
Buchs ^80
Anhang. Von einer reinen Mystik in der Religion . . . ^81
Zweiter Abschnitt. Der Streit der philosophischen
Fakultät mit der juristischen :;89
Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im be-
ständigen Fortschreiten zum Besseren sei?
I. Was will man hier wissen? 391
:. Wie kann man es wissen? ;p2
3. Einteilung des Begriffs von dem, was man fĂĽr die Zu-
kunft vorherwissen will ^93
4. Durch Erfahrung unmittelbar ist die Aufgabe des Fort-
schreitens nicht aufzulösen 395
5. An irgend eine Erfahrung muĂź doch die wahr-
sagende Geschichte des Menschengeschlechts angeknĂĽpft
werden ^')6
6. Von einer Begebenheit unserer Zeit, welche diese mora-
lische Tendenz des Menschengeschlechtes beweiset. . 397
7. Wahrsagende Geschichte der Menschheit 400
8. Von der Schwierigkeit der auf das Fortschreiten /um
Weltbesten angelegten Maximen in Ansehung ihrer Publi-
zität 4°^
9. Welchen Ertrag wird der Fortschritt zum Besseren dem
Menschengeschlechte abwerfen? 404
4<^8 InhaltsĂĽbersicht des siebenten Bandes
Seite
lo. In welcher Ordnung allein kann der Fortschritt /um
Besseren erw^artet wertlen? aqc
BeschluĂź Ă„Q^
Drifter Abschnitt. Der Streit der philosophischen
Fakultät mit der medizinischen 400
Von der Macht des GemĂĽts durch den bloĂźen Vorsatz
seiner krankhaften (lefĂĽhle Meister zu sein 4II
Ein Antwortschreiben an Herrn Hofrat und Professor
Fiufeland ^ j j
Grundsatz der Diiitetik .415
1. Von der Hypochondrie 417
2. Vom Schlafe 410
3. Vom Essen und Trinken 422
4. Von dem krankhaften GefĂĽhl aus der Unzeit im
Denken 42-'
5. Von der Hebung und VerhĂĽtung krankhafter Zufalle
durch den Vorsatz im Atem ziehen 424
6. Von den Folgen dieser Angewohnheit des Atem-
ziehens mit geschlossenen Lippen. , . . . . . ±16
BeschluĂź 427
Nachschrift 41Q
Lesarten 4^1
Faksimile der handschriftlichen Antwort Kants auf die Rezension in
den Götfingischen Anzeigen.
Übertragung des Faksimile I— XXIX
F. Ullmann G. m. b H , Zwickau Sa.
,^f
&
45
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