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Full text of "Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen [et al.] hrsg. von Ernst Cassirer"

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IMMANUEL  KANTS 
WERKE 


LIBRARY 

718053 

UNIVERSITY  OF  TOROMTO 


IMMANUEL  KANTS 


U{ 


WERKE 


IN  GEMEINSCHAFT 

MIT 


Hl.RMANN  COHEN,  ARTĂśR  ĂźUCHENAU, 

OTTO  BĂśEK,  ALBERT  GĂ–RLAND, 

B.  KELLERMANN,  O.  SCHĂ–NDĂ–RFFER 


HERAUSGEGEBEK  VON 


ERNST  CASSIRER 


BAND  VII 


\  I  RLECrr  BEI  I5RUNO  CASSIRER 

\]  E  R  L  l  N 


DIE  METAPHYSIK 
DER  SITTEN 


DER  STREIT  DER  FAKULTĂ„TEN 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


DR.  BENZION  KELLERiMANN 


VERLEGT  BEI  BRUNO  CASSIRER 
BERLIN    1922 


3.-5.  TAUSKND 


Die 


M  e  t  a  p  ii  y  s  i  k  der  Sitten 


in  zwei  Teilen. 


Di 


Metaphysik   der   Sitten 


in    zwei    Te  i  1  e  n 


AbgefaĂźt 


von 


Immanuel    Kant. 


Königsberg 
bey   Friedrich    Nicolovius 


Metaphysische    Anfangsgrund 


de; 


Rechtslehr 


Von 


Immanuel    Kant. 


Königsberg 
bey    Friedrich    Nicolovius 

^797 


Vo  r  r  e  d  e 

Auf  die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  sollte  das  System,  die 
/jl Metaphysik  der  Sitten,  folgen,  welches  in  metaphysische 
AnfangsgrĂĽnde  der  Rechtslehre  und  in  eben  solche  fĂĽr  die 
Tugendlehre  zerfällt  (als  ein  Gegenstück  der  schon  gelieferten 
metaphysischen  AnfangsgrĂĽnde  der  Naturwissenschaft),  wozu 
die  hier  folgende  Einleitung  die  Form  des  Systems  in  beiden  vor- 
stellig und  zum  Teil  anschaulich  macht. 

Die  Rechtslehre  als  der  erste  Teil  der  Sittenlehre  ist  nun 
das,  wovon  ein  aus  der  Vernunft  hervorgehendes  System  verlangt 
wird,  welches  man  die  Metaphysik  des  Rechts  nennen  könnte. 
Da  aber  der  Begriff  des  Rechts  als  ein  reiner,  jedoch  auf  die 
Praxis  (Anwendung  auf  in  der  Erfahrung  vorkommende  Fälle) 
gestellter  Begriff  ist,  mithin  ein  metaphysisches  System  desselben 
in  seiner  Einteilung  auch  auf  die  empirische  Mannigfaltigkeit  jener 
Fälle  Rücksicht  nehmen  müßte,  um  die  Einteilung  vollständig  zu 
machen  (welches  zur  Errichtung  eines  Systems  der  Vernunft  eine 
unerläßliche  Forderung  ist),  Vollständigkeit  der  Einteilung  des 
Empirischen  aber  unmöglich  ist,  und,  wo  sie  versucht  wird 
(wenigstens  um  ihr  nahe  zu  kommen),  solche  Begriffe  nicht  als 
integrierende  Teile  in  das  System,  sondern  nur  als  Beispiele  in 
die  Anmerkungen  kommen  können:  so  wird  der  für  den  ersten 
Teil  der  Metaphysik  der  Sitten  allein  schickliche  Ausdruck  sein 
metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Rechtslehre:  weil  in 
Rücksicht  auf  jene  Fälle  der  Anwendung  nur  Annäherung  zum 
System,  nicht  dieses  selbst  erwartet  werden  kann.  Es  wird  daher 
hiemit,  so  vne  mit  den  (frĂĽheren)  metaphysischen  AnfangsgrĂĽnden 
der  Naturwissenschaft,  auch  hier  gehalten  werden:  nämlich  das 
Recht,  was  zum  a  priori  entworfenen  System  gehört,  in  den  Text, 
die  Rechte    aber,    welche    auf   besondere  Erfahrungsfälle    bezogen 


6  Vo  r  r  e  d  e 

werden,  in  /um  Teil  wcitläuftigfc  Anmerkungen  zu  bringen:  weil 
sonst  das,  was  hier  Metaphysik  ist,  von  dem,  was  empirische 
Rechtspraxis   ist,  nicht  wohl   unterschieden  werden   könnte. 

Ich  kann  dem  so  oft  gemachten  Vorwurf  der  Dunkelheit,  ja 
wohl  gar  einer  gcHissenen,  den  Schein  tiefer  Einsicht  affektierenden 
Undeutlichkeit  im  philosophischen  Vortrage  nicht  besser  zuvor- 
kommen oder  abhelfen,  als  daĂź  ich,  was  Herr  GARVE,  ein  Philo- 
soph in  der  echten  Bedeutung  des  Worts,  jedem,  vornehmlich 
dem  philosophierenden  Schriftsteller  zur  Pflicht  macht,  bereitwillig 
annehme  und  meinerseits  diesen  Anspruch  bloĂź  auf  die  Bedingung 
einschränke,  ihm  nur  soweit  Folge  zu  leisten,  als  es  die  Natur 
der  Wissenschaft  eriaubt,  die  zu  berichtigen  und  zu  erweitern  ist. 

Der  weise  Mann  fordert  (in  seinem  Werk,  Vermischte  Auf- 
sitze betitelt,  S.  3  5 1  u.  f.)  mit  Recht,  eine  jede  philosophische 
Lehre  mĂĽsse,  wenn  der  Lehrer  nicht  selbst  in  den  Verdacht  der 
Dunkelheit  seiner  Begriffe  kommen  soll  —  zur  Popularität  (einer 
zur  allgemeinen  Mitteilung  hinreichenden  Versinnlichung)  gebracht 
werden  können.  Ich  räume  das  gern  ein,  nur  mit  Ausnahme  des 
Systems  einer  Kritik  des  Vernunftvermögens  selbst  und  alles  dessen, 
was  nur  durch  dieser  ihre  Bestimmung  beurkundet  werden  kann: 
weil  es  zur  Unterscheidung  des  Sinnlichen  in  unserem  Erkenntnis 
vom  Ăśbersinnlichen,  dennoch  aber  der  Vernunft  Zustehenden  ge- 
hört. Dieses  kann  nie  populär  werden,  so  wie  überhaupt  keine 
formelle  Metaphysik;  obgleich  ihre  Resultate  fĂĽr  die  gesunde 
Vernunft  (eines  Metaphysikers,  ohne  es  zu  wissen)  ganz  einleuchtend 
gemacht  werden  können.  Hier  ist  an  keine  Popularität  (Volks- 
sprache) zu  denken,  sondern  es  muĂź  auf  scholastische  PĂĽnkt- 
lichkeit, wenn  sie  auch  Peinlichkeit  gescholten  wĂĽrde,  gedrungen 
werden  (denn  es  ist  Schulsprache):  weil  dadurch  allein  die 
voreilige  Vernunft  dahin  gebracht  werden  kann,  vor  ihren  dog- 
matischen  Behauptungen  sich  erst  selbst  zu  verstehen. 

Wenn  aber  Pedanten  sich  anmaĂźen,  zum  Publikum  (auf 
Kanzeln  und  in  Volksschriften)  mit  Kunstwörtern  zu  reden,  die 
ganz,  fĂĽr  die  Schule  geeignet  sind,  so  kann  das  so  wenig  dem 
kritischen  Philosophen  zur  Last  fallen,  als  dem  Grammatiker  der 
Unverstand  des  Wortklaubers  (Jogodae dolus).  Das  Belachen  kann 
hier   nur   den    Mann,  aber   nicht   die   Wissenschaft   treffen. 

Es  klingt  arrogant,  selbstsĂĽchtig  und  fĂĽr  die,  welche  ihrem 
alten  System  noch  nicht  entsagt  haben,  vcrkleinerlich,  zu  be- 
haupten:   daĂź    vor    dem   Entstehen    der    kritischen   Philosophie    es 


Vo  r  r  e  d  g  7 

noch  gar  keine  gegeben  habe.  —  Um  nun  über  diese  scheinbare 
Anmaßung  absprechen  zu  können,  kommt  es  auf  die  Frage  an: 
ob  es  wohl  mehr  als  eine  Philosophie  geben  könne? 
Verschiedene  Arten  zu  philosophieren  und  zu  den  ersten  Vernunft- 
prinzipien zurĂĽckzugehen,  um  darauf  mit  mehr  oder  weniger  GlĂĽck 
ein  System  zu  grĂĽnden,  hat  es  nicht  allein  gegeben,  sondern  es 
muĂźte  viele  Versuche  dieser  Art,  deren  jeder  auch  um  die  gegen- 
wärtige sein  Verdienst  hat,  geben;  aber  da  es  doch,  objektiv  be- 
trachtet, nur  eine  menschliche  Vernunft  geben  kann:  so  kann  es 
auch  nicht  viel  Philosophien  geben,  d.  i.  es  ist  nur  ein  wahres 
System  derselben  aus  Prinzipien  möglich,  so  mannigfaltig  und  oh 
widerstreitend  man  auch  ĂĽber  einen  und  denselben  Satz  philo- 
sophiert haben  mag.  So  sagt  der  Moralist  mit  Recht:  es  gibt 
nur  Eine  Tugend  und  Lehre  derselben,  d.  i.  ein  einziges  System, 
das  alle  Tugendpflichten  durch  ein  Prinzip  verbindet;  der  Chymist: 
es  gibt  nur  Eine  Chemie  (die  nach  LAVOISIER);  der  Arznei- 
1  ehr  er:  es  gibt  nur  Ein  Prinzip  zum  System  der  Krankheits- 
einteilung (nach  BROWN),  ohne  doch  darum,  weil  das  neue 
System  alle  andere  ausschließt,  das  Verdienst  der  älteren  (Mora- 
hsten,  Chemiker  und  Arzneilehrer)  zu  schmälern:  weil  ohne  dieser 
ihre  Entdeckungen,  oder  auch  miĂźlungene  Versuche  wir  zu  jener 
Einheit  des  wahren  Prinzips  der  ganzen  Philosophie  in  einem 
System  nicht  gelangt  wären.  —  Wenn  also  jemand  ein  System 
der  Philosophie  als  sein  eigenes  Fabrikat  ankĂĽndigt,  so  ist  es  eben 
so  viel,  als  ob  er  sagte:  vor  dieser  Philosophie  sei  gar  keine  andere 
noch  gewesen.  Denn  wollte  er  einräumen,  es  wäre  eine  andere 
(und  wahre)  gewesen,  so  würde  es  über  dieselbe  Gegenstände 
zweierlei  wahre  Philosophien  gegeben  haben,  welches  sich  wider- 
spricht. —  Wenn  also  die  kritische  Philosophie  sich  als  eine 
solche  ankĂĽndigt,  vor  der  es  ĂĽberall  noch  gar  keine  Philosophie 
gegeben  habe,  so  tut  sie  nichts  anders,  als  was  alle  getan  haben, 
tun  werden,  ja  tun  mĂĽssen,  die  eine  Philosophie  nach  ihrem  eigenen 
Plane  entwerfen. 

Von  minderer  Bedeutung,  jedoch  nicht  ganz  ohne  alle  Wich- 
tigkeit wäre  der  Vorwurf:  daß  ein  diese  Philosophie  wesentlich 
unterscheidendes  Stück  doch  nicht  ihr  eigenes  Gewächs,  sondern 
etwa  einer  anderen  Philosophie  (oder  Mathematik)  abgeborgt  sei: 
dergleichen  ist  der  Fund,  den  ein  tĂĽbingscher  Rezensent  gemacht 
haben  will,  und  der  die  Definition  der  Philosophie  ĂĽberhaupt 
angeht,  welche  der  Verfasser  der  Kritik   d.  r.  V.  fĂĽr  sein  eigenes. 


8  Vor  r  e  d  e 

nicht  unerhebliches  Produkt  ausgibt,  und  die  doch  schon  vor 
vielen  Jahren  von  einem  anderen  tast  mit  denselben  AusdrĂĽcken 
gegeben  worden  sei.')  Ich  ĂĽberlasse  es  einem  jeden,  zu  beurteilen, 
ob  die  Worte:  iutellectualis  quaedam  constructio^  den  Gedanken  der 
Darstellung  eines  gegebenen  Begrit^ts  in  einer  Anschau- 
ung a  priori  hätten  hervorbringen  können,  wodurch  auf  einmal 
die  Philosopliie  von  der  Mathematik  ganz  bestimmt  geschieden 
wird.  Ich  bin  gewiĂź:  HAUSEN  selbst  wĂĽrde  sich  geweigert 
haben,  diese  Erklärung  seines  Ausdrucks  anzuerkennen;  denn  die 
Möglichkeit  einer  Anschauung  a  priori,  und  daß  der  Raum  eine 
solche  und  nicht  ein  bloĂź  der  empirischen  Anschauung  (Wahr- 
nehmung) gegebenes  Nebeneinandersein  des  Mannigfaltigen  auĂźer 
einander  sei  (wie  WOLFF  ihn  erklärt),  würde  ihn  schon  aus  dem 
Grunde  abgeschreckt  haben,  weil  er  sich  hiemit  in  weit  hinaus- 
sehende philosophische  Untersuchungen  verwickelt  gefühlt  hätte. 
Die  gleichsam  durch  den  Verstand  gemachte  Darstellung  be- 
deutete dem  scharfsinnigen  Mathematiker  nichts  weiter,  als  die 
einem  Begriffe  korrespondierende  (empirische)  Verzeichnung  einer 
Linie,  bei  der  bloĂź  auf  die  Regel  acht  gegeben,  von  den  in 
der  AusfĂĽhrung  unvermeidlichen  Abweichungen  aber  abstrahiert 
wird;  wie  man  es  in  der  Geometrie  auch  an  der  Konstruktion 
der   Gleichungen  wahrnehmen   kann. 

Von  der  allermindesten  Bedeutung  aber  in  Ansehung  des 
Geistes  dieser  Philosophie  ist  wohl  der  Unfug,  den  einige  Nach- 
älFer  derselben  mit  den  Wörtern  stiften,  die  in  der  Kritik  d.  r.  V. 
selbst  nicht  wohl  durch  andere  gangbare  zu  ersetzen  sind,  sie  auch 
außerhalb  derselben  zum  öffentlichen  Gedankenverkehr  zu  brauchen, 
und  welcher  allerdings  gezĂĽchtigt  zu  werden  verdient,  w^ie  FJr. 
NICOLAI  tut,  wiewohl  er  über  die  gänzliche  Entbehrung  der- 
selben in  ihrem  eigentĂĽmlichen  Felde,  gleich  als  einer  ĂĽberall  bloĂź 
versteckten  Armseligkeit  an  Gedanken,  kein  Urteil  zu  haben  sich 
selbst  bescheiden  wird.  —  Indessen  läßt  sich  über  den  unpopu- 
lären Pedanten  freilich  viel  lustiger  lachen,  als  über  den  un- 
kritischen Ignoranten  (denn  in  der  Tat  kann  der  Metaphysiker, 
welcher    seinem   Systeme    steif    anhängt,    ohne   sich   an   alle   Kritik 


')  Porro  de  actuali  constnicrione  hie  non  quaerirur,  cum  ne  possint 
quidem  scnsibiles  tigurae  ad  rigorcm  dcfinirionum  effingi;  sed  requiritur 
cogniticj  eorum,  quibus  absolvitur  Formario,  quae  inrellectualis  quaedam 
consrructio  est.     C.  A.  Hausen,  Eiern.  Marlies.  Pars  I.  p.  86.  A.  1734. 


Vor  r  e  d  e  9 

zu  kehren,  zur  letzteren  Klasse  gezählt  werden,  ob  er  zwar  nur 
willkĂĽrlich  ignoriert,  was  er  nicht  aufkommen  lassen  will,  weil 
es  zu  seiner  älteren  Schule  nicht  gehört).  Wenn  aber  nach 
SHAFTESBURYS  Behauptung  es  ein  nicht  zu  verachtender  Probier- 
stein fĂĽr  die  Wahrheit  einer  (vornehmlich  praktischen)  Lehre  ist, 
wenn  sie  das  Belachen  aushält,  so  müßte  wohl  an  den  kritischen 
Philosophen  mit  der  Zeit  die  Reihe  kommen  zuletzt  und  so  auch 
am  besten  zu  lachen:  wenn  er  die  papierne  Systeme  derer,  die 
eine  lange  Zeit  das  groĂźe  Wort  fĂĽhrten,  nach  einander  einstĂĽrzen 
und  alle  Anhänger  derselben  sich  verlaufen  sieht:  ein  Schicksal, 
was  jenen  unvermeidlich  bevorsteht. 

Gegen  das  Ende  des  Buchs  habe  ich  einige  Abschnitte  mit 
minderer  AusfĂĽhrlichkeit  bearbeitet,  als  in  Vergleichung  mit  den 
vorhergehenden  erwartet  werden  konnte:  teils  weil  sie  mir  aus 
diesen  leicht  gefolgert  werden  zu  können  schienen,  teils  auch  weil 
die  letzte  (das  öffentliche  Recht  betreffende)  eben  jetzt  so  vielen 
Diskussionen  unterworfen  und  dennoch  so  wichtig  sind,  daĂź  sie 
den  Aufschub  des  entscheidenden  Urteils  auf  einige  Zeit  wohl 
rechtfertigen  können. 

Die  metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 
hoffe  ich  in  kurzem  liefern  zu  können. 


lo  Taffl  der  Einteilung  der  Rechtslehre 

Tafel 
der  Einteilung  der  Rechtslehre. 

Erster   Teil. 

Das    Privatrecht    in    Ansehung    äußerer    Gegenstände    (Inbegrifl- 
derjenigen  Gesetze,  die   keiner  äußeren  Bekanntmachung  bedürfen). 

Erstes   HauptstĂĽck. 
Von   der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  als   das  Seine  zu   haben. 

Zweites   HauptstĂĽck. 

Von  der  Art  etwas   Ă„uĂźeres  zu  erwerben. 

Einteilung   der   äußeren   Erwerbung. 

Erster  Abschnitt. 
Vom  Sachenrecht. 

Zweiter  Abschnitt. 
Vom  persönlichen  Recht. 

Dritter  Abschnitt. 
Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht. 

Episodischer  Abschnitt. 
Von   der  idealen  Erwerbung. 

Drittes   HauptstĂĽck. 
Von  der  subjektiv-bedingten  Erwerbung  vor  einer  Gerichtsbarkeit. 

Zweiter  Teil. 

Das   öffentliche  Recht   (Inbegriff  der  Gesetze,  die  einer  öffent- 
lichen Bekanntmachung  bedĂĽrfen). 

Erster  Abschnitt. 
Das  Staatsrecht. 

Zweiter  Abschnitt. 
Das   Völkerrecht. 

Dritter  Abschnitt. 
Das   VVeltbĂĽrgcrrccht. 


Einleitung 
in  die  Metaphysik  der  Sitten. 

I. 

Von    dem  Verhältnis    der  Vermögen   des   menschlichen 
GemĂĽts  zu  den  Sittengesetzen. 

Begehrungsvermögen  ist  das  Vermögen,  durch  seine  Vor- 
stellungen Ursache  der  Gegenstände  dieser  Vorstellungen  zu 
sein.  Das  Vermögen  eines  Wesens,  seinen  Vorstellungen  gemäß 
zu  handeln,  heiĂźt  das  Leben. 

Mit  dem  Begehren  oder  Verabscheuen  ist  erstlich  jederzeit 
Lust  oder  Unlust,  deren  Empfänglichkeit  man  Gefühl  nennt, 
verbunden;  aber  nicht  immer  umgekehrt.  Denn  es  kann  eine 
Lust  geben,  welche  mit  gar  keinem  Begehren  des  Gegenstandes, 
sondern  mit  der  bloĂźen  Vorstellung,  die  man  sich  von  einem 
Gegenstande  macht  (gleichgĂĽltig,  ob  das  Objekt  derselben  existiere 
oder  nicht),  schon  verknĂĽpft  ist.  Auch  geht  zweitens  nicht 
immer  die  Lust  oder  Unlust  an  dem  Gegenstande  des  Begehrens 
vor  dem  Begehren  vorher  und  darf  nicht  allemal  als  Ursache, 
sondern  kann  auch  als  Wirkung  desselben  angesehen  werden. 

Man  nennt  aber  die  Fähigkeit,  Lust  oder  Unlust  bei  einer 
Vorstellung  zu  haben,  darum  GefĂĽhl,  weil  beides  das  bloĂź 
Subjektive  im  Verhältnisse  unserer  Vorstellung  und  gar  keine 
Beziehung  auf  ein  Objekt  zum  möglichen  Erkenntnisse  desselben') 
')  Man  kann  Sinnlichkeit  dtxrch  das  Subjekrive  unserer  Vorstellungen 
überhaupt  erklären;  denn  der  Verstand  bezieht  allererst  die  Vorstellungen 
auf  ein  Objekt,  d.  i.  er  allein  denkt  sich  etwas  vermittelst  derselben. 
Nun  kann  das  Subjektive  unserer  Vorstellung  entweder  von  der  Art 
sein,  daĂź  es  auch  auf  ein  Objekt  zum  Erkenntnis  desselben  (der  Form 
oder  Materie    nach,    da    es    im    ersteren   Falle   reine   Anschauung,    im 


1 2  Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten 

nicht  einmal  dem  Erkenntnisse  unseres  Zustandes)  enthält;  da  sonst 
selbst  Kmphndungcn  außer  der  Qualität,  die  ihnen  der  Beschaffenheit 
des  Subjekts  wegen  anhängt  (z.  B.  des  Roten,  des  Süßen  u.  s.  w.), 
doch  auch  aJs  ErkenntnisstĂĽcke  auf  ein  Objekt  bezogen  werden, 
die  Lust  oder  Unlust  aber  (am  Roten  und  SĂĽĂźen)  schlechterdings 
nichts  am  Objekte,  sondern  lediglich  Beziehung  aufs  Subjekt  aus- 
drückt. Näher  können  Lust  und  Unlust  für  sich  und  zwar  eben 
um  des  angeführten  Grundes  willen  nicht  erklärt  werden,  sondern 
man  kann  allenfalls  nur,  was  sie  in  gewissen  Verhältnissen  für 
Folgen  haben,  anfĂĽhren,  um  sie  im  Gebrauch  kennbar  zu  machen. 
Man  kann  die  Lust,  welche  mit  dem  Begehren  (des  Gegen- 
standes, dessen  Vorstellung  das  GefĂĽhl  so  affiziert)  notwendig  ver- 
bunden ist,  praktische  Lust  nennen:  sie  mag  nun  Ursache  oder 
Wirkung  vom  Begehren  sein.  Dagegen  wĂĽrde  man  die  Lust,  die 
mit  dem  Begehren  des  Gegenstandes  nicht  notwendig  verbunden 
ist,  die  also  im  Grunde  nicht  eine  Lust  an  der  Existenz  des 
C^bjekts  der  Vorstellung  ist,  sondern  bloĂź  an  der  Vorstellung 
allein  haftet,  bloß  kontemplative  Lust  oder  untätiges  Wohl- 
getallen  nennen  können.  Das  Gefühl  der  letztern  Art  von  Lust 
nennen  wir  Geschmack.  Von  diesem  wird  also  in  einer  prak- 
tischen Philosophie  nicht  als  von  einem  einheimischen  Begriffe, 
sondern  allenfalls  nur  episodisch  die  Rede  sein.  Was  aber  die 
praktische  Lust  betrifft,  so  wird  die  Bestimmung  des  Begehrungs- 
vermögens, vor  welcher  diese  Lust  als  Ursache  notwendig  vor- 
hergehen muß,  im  engen  Verstände  Begierde,  die  habituelle 
Begierde  aber  Neigung  heiĂźen,  und  weil  die  Verbindung  der 
Lust  mit  dem  Begehrungsvermögen,  sofern  diese  Verknüpfung 
durch  den  Verstand  nach  einer  allgemeinen  Regel  (allenfalls  auch 
nur  fĂĽr  das  Subjekt)  gĂĽltig  zu  sein  geurteilt  wird,  Interesse 
heiĂźt,  so  wird  die  praktische  Lust  in  diesem  Falle  ein  Interesse 
der  Neigung,  dagegen  wenn  die  Lust  nur  auf  eine  vorhergehende 

zu'ciren  Lmpfindung  heiCit)  bezogen  werden  kann;  in  diesem  Fall  ist  die 
Sinniiclikeir,  als  Empfänglichkeit  der  gedachten  Vorstellung,  der  Sinn. 
Oder  das  Subjektive  der  Vorsrellung  kann  gar  kein  ErkenntnisstĂĽck 
werden:  weil  es  bloĂź  die  Beziehung  derselben  aufs  Subjekt  und  nichts 
zur  Erkenntnis  des  Objekts  Brauchbares  enthält;  und  alsdann  heißt  diese 
Empfänglichkeit  der  Vorstellung  Gefühl,  welches  die  Wirkung  der 
Vorstellung  (diese  mag  sinnlich  oder  intellektuell  sein)  aufs  Subjekt 
enthalt  und  zur  Sinnlichkeit  gehört,  obgleich  die  Vorstellung  selbst  zum 
Versrande  oder  der  Vernunft  gehören  mag. 


Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten  ij 

Bestimmung  des  Begehrungsvermögens  folgen  kann,  so  wird  sie 
eine  intellektuelle  Lust  und  das  Interesse  an  dem  Gegenstande  ein 
Vernunftinteresse  genannt  werden  müssen;  denn  wäre  das  Interesse 
sinnlich  und  nicht  bloĂź  auf  reine  Vernunftpirinzipicn  gegrĂĽndet, 
so  mĂĽĂźte  Empfindung  mit  Lust  verbunden  sein  und  so  das  Bc- 
gehrungsvermögen  bestimmen  können.  Obgleich,  wo  ein  bloß 
reines  Vernunftinteresse  angenommen  werden  muĂź,  ihm  kein 
Interesse  der  Neigung  untergeschoben  werden  kann,  so  können 
wir  doch,  um  dem  Sprachgebrauche  gefällig  zu  sein,  einer  Nei- 
gung selbst  zu  dem,  was  nur  Objekt  einer  intellektuellen  Lust 
sein  kann,  ein  habituelles  Begehren  aus  reinem  Vernunftintcressc 
einräumen,  welche  alsdann  aber  nicht  die  Ursache,  sondern  die 
Wirkung  des  letztern  Interesse  sein  wĂĽrde,  und  die  wir  die  sinne n- 
freie  Neigung  (propensio  intellectualis)   nennen  könnten. 

Noch  ist  die  Konkupiszenz  (das  GelĂĽsten)  von  dem  Be- 
gehren selbst  als  Anreiz  zur  Bestimmung  desselben  zu  unterscheiden. 
Sie  ist  jederzeit  eine  sinnliche,  aber  noch  zu  keinem  Akt  des 
Begehrungsvermögens  gediehene   Gemütsbestimmung. 

Das  Begehrungsvermögen  nach  Begriffen,  sofern  der  Bestim- 
mungsgrund desselben  zur  Handlung  in  ihm  selbst,  nicht  in  dem 
Objekte  angetroffen  wird,  heißt  ein  Vermögen  nach  Belieben 
zu  tun  oder  zu  lassen.  Sofern  es  mit  dem  BewuĂźtsein  des 
Vermögens  seiner  Handlung  zur  Hervorbringung  des  Objekts  ver- 
bunden ist,  heiĂźt  es  WillkĂĽr;  ist  es  aber  damit  nicht  verbunden, 
so  heiĂźt  der  Aktus  desselben  ein  Wunsch.  Das  Begehrungs- 
vermögen, dessen  innerer  Bestimmungsgrund,  folglich  selbst  das 
Belieben  in  der  Vernunft  des  Subjekts  angetroffen  wird,  heiĂźt 
der  Wille.  Der  Wille  ist  also  das  Begehrungsvermögen,  nicht 
sowohl  (wie  die  WillkĂĽr)  in  Beziehung  auf  die  Handlung,  als 
vielmehr  auf  den  Bestimmungsgrund  der  WillkĂĽr  zur  Handlung 
betrachtet,  und  hat  selber  vor  sich  eigentlich  keinen  Bestimmungs- 
grund, sondern  ist,  sofern  sie  die  WillkĂĽr  bestimmen  kann,  die 
praktische  Vernunft  selbst. 

Unter  dem  Willen  kann  die  WillkĂĽr,  aber  auch  der  bloĂźe 
Wunsch  enthalten  sein,  sofern  die  Vernunft  das  Begehrungs- 
vermögen überhaupt  bestimmen  kann.  Die  Willkür,  die  durch 
reine  Vernunft  bestimmt  werden  kann,  heiĂźt  die  freie  WillkĂĽr. 
Die,  welche  nur  durch  Neigung  (sinnlichen  Antrieb,  Stimulus) 
bestimmbar  ist,  vnirde  tierische  WillkĂĽr  {arbitrium  brutum)  sein. 
Die  menschliche  WillkĂĽr   ist    dagegen  eine  solche,    welche  durch 


14  Emleitujjg  in  die  Metaphysik  der  Sitten 

Antriebe  zwar  aFfizicrt,  aber  nicht  bestimmt  wird,  und  ist  also 
fĂĽr  sich  (olinc  erworbene  Fertigkeit  der  Vernunft)  nicht  rein, 
kann  aber  doch  zu  Handhingen  aus  reinem  Willen  bestimmt 
werden.  Die  Freiheit  der  Willkür  ist  jene  Unabhängigkeit  ihrer 
Bestimmung  durch  sinnliche  Antriebe;  dies  ist  der  negative  Be- 
grifF  derselben.  Der  positive  ist:  das  Vermögen  der  reinen  Ver- 
nunft FĂĽr  sich  selbst  praktisch  zu  sein.  Dieses  ist  aber  nicht 
anders  möglich,  als  durch  die  Unterwerfung  der  Maxime  einer 
jeden  Fiandlung  unter  die  Be\lmgung  der  Tauglichkeit  der  erstem 
zum  allgemeinen  Gesetze.  Derm  als  reine  Vernunft,  auf  die  Will- 
kĂĽr, unangesehen  dieser  ihres  Objekts,  angewandt,  kann  sie  als 
Vermögen  der  Prinzipien  (und  hier  praktischer  Prinzipien,  mithin 
als  gesetzgebendes  Vermögen),  da  ikr  die  Materie  des  Gesetzes 
abgeht,  nichts  mehr  als  die  Form  der  Tauglichkeit  der  Maxime 
der  WillkĂĽr  zum  allgemeinen  Gesetze  selbst  zum  obersten  Gesetze 
und  Bestimmungsgrunde  der  WillkĂĽr  machen,  und  da  die  Maximen 
des  Menschen  aus  subjektiven  Ursachen  mit  jenen  objektiven  nicht 
von  selbst  ĂĽbereinstimmen,  dieses  Gesetz  nur  schlechthin  als  Im- 
perativ des  Verbots  oder  Gebots  vorschreiben. 

Diese  Gesetze  der  Freiheit  heiĂźen  zum  Unterschiede  von  Natur- 
gesetzen moralisch.  Sofern  sie  nur  auf  bloße  äußere  Fiand- 
lungen  und  deren  Gesetzmäßigkeit  gehen,  heißen  sie  juridisch; 
fordern  sie  aber  auch,  daĂź  sie  (die  Gesetze)  selbst  die  Bestimmungs- 
grĂĽnde der  Flandlungcn  sein  sollen,  so  sind  sie  ethisch,  und  als- 
dann sagt  man:  die  Ăśbereinstimmung  mit  den  ersteren  ist  die 
Legalität,  die  mit  den  zweiten  die  Moralität  der  Fiandlung. 
Die  Freiheit,  auf  die  sich  die  erstem  Gesetze  beziehen,  kann  nur 
die  Freiheit  im  äußeren  Gebrauche,  diejenige  aber,  auf  die  sich 
die  letztere  beziehen,  die  Freiheit  sowohl  im  äußern  als  innern 
Gebrauche  der  WillkĂĽr  sein,  sofern  sie  durch  Vernunftgesetze 
bestimmt  wird.  So  sagt  man  in  der  theoretischen  Philosophie:  im 
Räume  sind  nur  die  Gegenstände  äußerer  Sinne,  in  der  Zeit  aber 
alle,  sowohl  die  Gegenstände  äußerer  als  des  inneren  Sinnes:  weil 
die  Vorstellungen  beider  doch  Vorstellungen  sind  und  sofern  ins- 
gesamt zum  inneren  Sinne  gehören.  Ebenso,  mag  die  Freiheit  im 
äußeren  oder  inneren  Gebrauche  der  Willkür  betrachtet  werden, 
so  mĂĽssen  doch  ihre  Gesetze,  als  reine  praktische  Vernunftgesetzc 
fĂĽr  die  freie  WillkĂĽr  ĂĽberhaupt,  zugleich  innere  Bestimmungs- 
grĂĽndc  derselben  sein:  obgleich  sie  nicht  immer  in  dieser  Be- 
ziehung  betrachtet   werden   dĂĽrfen. 


Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten  15 


IL 

Von    der   Idee  und   der  Notwendigkeit  einer  Metaphysik 

der  Sitten. 

DaĂź  man  fiir  die  Naturwissenschaft,  welche  es  mit  den  Gegen- 
ständen äußerer  Sinne  zu  tun  hat,  Prinzipien  a  priori  haben  müsse, 
und  daß  es  möghch,  ja  notwendig  sei,  ein  System  dieser  Prin- 
zipien unter  dem  Namen  einer  metaphysischen  Naturwissenschaft 
vor  der  auf  besondere  Erfahrungen  angewandten,  d.  i.  der  Physik, 
voranzuschicken,  ist  an  einem  andern  Orte  bewiesen  worden. 
Allein  die  letztere  karm  (wenigstens  wenn  es  ihr  darum  zu  tun 
ist,  von  ihren  Sätzen  den  Irrtum  abzuhalten)  manches  Prinzip  auf 
das  Zeugnis  der  Erfahrung  als  allgemein  annehmen,  obgleich  das 
letztere,  wenn  es  in  strenger  Bedeutung  allgemein  gelten  soll,  aus 
GrĂĽnden  a  priori  abgeleitet  werden  mĂĽĂźte,  wie  NEWTON  das 
Prinzip  der  Gleichheit  der  Wirkung  und  Gegenwirkung  im  Ein- 
flüsse der  Körper  auf  einander  als  auf  Erfahrung  gegründet  an- 
nahm und  es  gleichwohi  ĂĽber  die  ganze  materielle  Natur  ausdehnte. 
Die  Chymiker  gehen  noch  weiter  und  grĂĽnden  ihre  allgemeinste 
Gesetze  der  Vereinigung  und  Trennung  der  Materien  durch  ihre 
eigene  Kräfte  gänzlich  auf  Erfahrung  und  vertrauen  gleichwohl 
auf  ihre  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  so,  daĂź  sie  in  den 
mit  ihnen  angestellten  Versuchen  keine  Entdeckung  eines  Irrtums 
besorgen. 

Allein  mit  den  Sittengesetzen  ist  es  anders  bewandt  Nur 
sofern  sie  als  a  priori  gegrĂĽndet  und  notwendig  eingesehen 
werden  können,  gelten  sie  als  Gesetze,  ja  die  Begriffe  und  Urteile 
ĂĽber  uns  selbst  und  unser  Tun  und  Lassen  bedeuten  gar  nichts 
Sittliches,  wenn  sie  das,  was  sich  bloĂź  von  der  Erfahrung  lernen 
läßt,  enthalten,  und  wenn  man  sich  etwa  vcdeiten  läßt,  etwas  aus 
der  letztern  Quelle  zum  moralischen  Grundsätze  zu  machen,  so 
gerät  man  in  Gefahr    der   gröbsten   und  verderbhchsten  Irrtümer. 

Wenn  die  Sittenlehre  nichts  als  Glückseligkeitslehre  wäre,  so 
wĂĽrde  es  ungereimt  sein,  zum  Behuf  derselben  sich  nach  Prinzipien 
a  priori  umzusehen.  Denn  so  scheinbar  es  immer  auch  lauten 
mag:  daß  die  Vernunft  noch  vor  der  Erfahrung  einsehen  könne, 
durch  welche  Mittel  man  zum  dauerhaften  GenuĂź  wahrer  Freuden 
des  Lebens  gelangen  könne,   so  ist  doch  aUes,   was   man  darüber 


lö  Einleitung  m  die  Metaphysik  der  Sitten 

a  priori  lehrt,  entweder  tautologisch,  oder  ganz  grundlos  angenom- 
men. Nur  die  Erfahrung  kann  lehren,  was  uns  Freude  bringe.  Die 
natĂĽrlichen  Triebe  zur  Nahrung,  zum  Geschlecht,  zur  Ruhe,  zur 
Bewegung  und  (bei  der  Entwickelung  unserer  Naturanlagen)  die 
Triebe  zur  Ehre,  zur  Erweiterung  unserer  Erkenntnis  u.  dgl., 
können  allein  und  einem  jeden  nur  aut  seine  besondere  Art  zu 
erkennen  geben,  worin  er  jene  Freuden  zu  setzen,  ebendieselbe 
kann  ihm  auch  die  Mittel  lehren,  wodurch  er  sie  zu  suchen 
habe.  Alles  scheinbare  VernĂĽnfteln  a  priori  ist  hier  im  Grunde 
nichts,  als  durch  Induktion  zur  Allgemeinheit  erhobene  Erfahrung, 
welche  Allgemeinheit  (secundum  prtncipia  generalioj  non  untversaltd) 
noch  dazu  so  kĂĽmmerlich  ist,  daĂź  man  einem  jeden  unendlich 
viel  Ausnahmen  erlauben  muĂź,  um  jene  Wahl  seiner  Lebensweise 
seiner  besondern  Neigung  und  seiner  Empfänglichkeit  für  die 
VergnĂĽgen  anzupassen  und  am  Ende  doch  nur  durch  seinen  oder 
anderer  ihren   Schaden   klug  zu  werden. 

Allein  mit  den  Lehren  der  Sittlichkeit  ist  es  anders  bewandt. 
Sie  gebieten  fĂĽr  jedermann,  ohne  RĂĽcksicht  auf  seine  Neigungen 
zu  nehmen:  bloĂź  weil  und  sofern  er  frei  ist  und  praktische  Ver- 
nunft hat-  Die  Belehrung  in  ihren  Gesetzen  ist  nicht  aus  der 
Beobachtung  seiner  selbst  und  der  Tierheit  in  ihm,  nicht  aus  der 
Wahrnehmung  des  Weltlaufis  geschöpft,  von  dem,  was  geschieht 
und  wie  gehandelt  wird  (obgleich  das  deutsche  Wort  Sitten 
ebenso  wie  das  lateinische  mores  nur  Manieren  und  Lebensart 
bedeutet),  sondern  die  Vernunft  gebietet,  wie  gehandelt  werden 
soll,  wenngleich  noch  kein  Beispiel  davon  angetroffen  wĂĽrde,  auch 
nimmt  sie  keine  RĂĽcksicht  auf  den  Vorteil,  der  uns  dadurch 
erwachsen  kann,  und  den  freilich  nur  die  Erfahrung  lehren 
könnte.  Denn  ob  sie  zwar  erlaubt,  unsern  Vorteil  auf  alle  uns 
mögliche  Art  zu  suchen,  überdem  auch  sich,  auf  Erfahrungs- 
zeugnisse fuĂźend,  von  der  Befolgung  ihrer  Gebote,  vornehmlich 
wenn  Klugheit  dazu  kommt,  im  Durchschnitte  größere  Vorteile, 
als  von  ihrer  Ăśbertretung  wahrscheinlich  versprechen  kann,  so 
beruht  darauf-  doch  nicht  die  Autorität  ihrer  Vorschriften  als 
Gebote,  sondern  sie  bedient  sich  derselben  (als  Ratschläge)  nur 
als  eines  Gegengewichts  wider  die  Verleitungen  zum  Gegenteil, 
um  den  Fehler  einer  parteiischen  Wage  in  der  praktischen  Be- 
urteilung vorher  auszugleichen  und  alsdenn  allererst  dieser  nach 
dem  Gewicht  der  GrĂĽnde  a  priori  einer  reinen  praktischen  Ver- 
nunft  den   Ausschlag   zu   sichern. 


Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten  17 

Wenn  daher  ein  System  der  Erkenntnis  a  priori  aus  bloĂźen 
Begriffen  Metaphysik  heiĂźt,  so  wird  eine  praktische  Philosophie, 
welche  nicht  Natur,  sondern  die  Freiheit  der  WillkĂĽr  zum  Ob- 
jekte hat,  eine  Metaphysik  der  Sitten  voraussetzen  und  bedĂĽrfen: 
d.  i.  eine  solche  zu  haben  ist  selbst  Pflicht,  und  jeder  Mensch 
hat  sie  auch,  obzwar  gemeiniglich  nur  auf  dunkle  Art  in  sich, 
denn  wie  könnte  er  ohne  Prinzipien  a  priori  eine  allgemeine  Ge- 
setzgebung in  sich  zu  haben  glauben?  So  wie  es  aber  in  einer 
Metaphysik  der  Natur  auch  Prinzipien  der  Anwendung  jener  allge- 
meinen obersten  Grundsätze  von  einer  Natur  überhaupt  auf-  Gegen- 
stände der  Erfahrung  geben  muß,  so  wird  es  auch  eine  Metaphysik  der 
Sitten  daran  nicht  können  mangeln  lassen,  und  wir  werden  oft  die 
besondere  Natur  des  Menschen,  die  nur  durch  Erfahrung  erkannt 
wird,  zum  Gegenstande  nehmen  mĂĽssen,  um  an  ihr  die  Folgerungen 
aus  den  allgemeinen  moralischen  Prinzipien  zu  zeigen,  ohne  daĂź 
jedoch  dadurch  der  Reinigkeit  der  letzteren  etwas  benommen,  noch 
ihr  Ursprung  a  priori  dadurch  zweifelhaft  gemacht  wird.  —  Das 
will  so  viel  sagen  als:  eine  Metaphysik  der  Sitten  kann  nicht  auf 
Anthropologie  gegrĂĽndet,  aber  doch  auf  sie  angewandt  werden. 

Das  GegenstĂĽck  einer  Metaphysik  der  Sitten,  als  das  andere 
Glied  der  Einteilung  der  praktischen  Philosophie  ĂĽberhaupt,  wĂĽrde 
die  moralische  Anthropologie  sein,  welche,  aber  nur  die  subjektive, 
hindernde  sowohl  als  begĂĽnstigende  Bedingungen  der  AustĂĽhrung 
der  Gesetze  der  ersteren  in  der  menschlichen  Natur,  die  Erzeugung, 
Ausbreitung  und  Stärkung  moralischer  Grundsätze  (in  der  Er- 
ziehung der  Schul-  und  Volksbelehrung)  und  dergleichen  andere 
sich  auf  Erfahrung  grĂĽndende  Lehren  und  Vorschriften  enthalten 
wĂĽrde,  und  die  nicht  entbehrt  werden  kann,  aber  durchaus  nicht 
vor  jener  vorausgeschickt,  oder  mit  ihr  vermischt  werden  muĂź: 
weil  man  alsdann  Gefahr  läuft,  falsche  oder  wenigstens  nachsicht- 
liche morahsche  Gesetze  herauszubringen,  welche  das  fĂĽr  uner- 
reichbar vorspiegeln,  was  nur  eben  darum  nicht  erreicht  wird, 
weil  das  Gesetz  nicht  in  seiner  Reinigkeit  (als  worin  auch  seine 
Stärke  besteht)  eingesehen  und  vorgetragen  worden,  oder  gar 
unechte  oder  unlautere  Triebfedern  zu  dem,  was  an  sich  prticht- 
mäßig  und  gut  ist,  gebraucht  werden,  welche  keine  sichere  mo- 
ralische Grundsätze  übrig  lassen,  weder  zum  Leitfaden  der  Be- 
urteĂĽung,  noch  zur  Disziplin  des  GemĂĽts  in  der  Befolgung  der 
Pflicht,  deren  Vorschrift  schlechterdings  nur  durch  reine  Vernunh 
a  priori  gegeben  werden  muĂź. 

Kants    Schriften.    Bd.  VII.  * 


i8  Emlcitujjg  in  die  Metaphysik  der  Sitten 

Was  aber  die  Obereinteilung,  unter  welcher  die  eben  jetzt 
erwähnte  steht,  nämlich  die  der  Philosophie  in  die  theoretische 
und  praktische,  und  daĂź  diese  keine  andere  als  die  moralische 
VVeltwcisheit  sein  könne,  betrifft,  darüber  habe  ich  mich  schon 
anderwärts  (in  der  Kritik  der  Urteilskraft)  erklärt.  Alles  Prak- 
tische, was  nach  Naturgesetzen  möglich  sein  soll  (die  eigenthche 
Beschäftigung  der  Kunst),  hängt  seiner  Vorschrift  nach  gänzUch 
von  der  Theorie  der  Natur  ab;  nur  das  Praktische  nach  Freiheits- 
gesetzen kann  Prinzipien  haben,  die  von  keiner  Theorie  abhängig 
sind;  denn  ĂĽber  die  Naturbestimmungen  hinaus  gibt  es  keine 
Theorie.  Also  kann  die  Philosophie  unter  dem  praktischen  Teile 
(neben  ihrem  theoretischen)  keine  technisch-,  sondern  bloĂź 
moralisch-praktische  Lehre  verstehen,  und  wenn  die  Fertigkeit 
der  WillkĂĽr  nach  Freiheitsgesetzen  im  Gegensatze  der  Natur  hier 
auch  Kunst  genannt  werden  sollte,  so  wĂĽrde  darunter  eine  solche 
Kunst  verstanden  werden  mĂĽssen,  welche  ein  System  der  Freiheit 
gleich  einem  System  der  Natur  möglich  macht;  fürwahr  eine  gött- 
liche Kunst,  wenn  wir  imstande  wären,  das,  was  uns  die  Vernunft 
vorschreibt,  vermittelst  ihrer  auch  völlig  auszuführen  und  die  Idee 
davon  ins  Werk  zu  richten. 

m. 

Von  der  Einteilung  einer  Metaphysik  der  Sitten.') 

ZjM  aller  Gesetzgebung  (sie  mag  nun  innere  oder  äußere 
Handlungen  und  diese  entweder  a  priori  durch  bloĂźe  Vernunft, 
oder  durch  die  Willkür  eines  andern  vorschreiben)  gehören  zwei 

')  Die  Deduktion  der  Einteilung  eines  Systems:  d.i.  der  Beweis 
ihrer  Vollständigkeit  sowohl  als  auch  die  Stetigkeit,  daß  nämlich  der 
Ăśbergang  vom  eingeteilten  Begriffe  zum  Gliede  der  Einteilung  in  der 
ganzen  Reihe  der  Unrereinteilungen  durch  keinen  Sprung  {div'tsio  per 
taltum)  geschehe,  ist  eine  der  am  schwersten  zu  erfĂĽllenden  Bedingungen 
fĂĽr  den  Baumeister  eines  Systems.  Auch  was  der  oberste  eingeteilte 
Begriff"  zu  der  Einteilung  Recht  oder  Unrecht  {aut  fas  auf  nefas)  sei, 
hat  seine  Bedenklichkeit.  Es  ist  der  Akt  der  freien  ^illkĂĽr  ĂĽber- 
haupt. So  wie  die  Lehrer  der  Ontologie  vom  Etwas  und  Nichts  zu 
obcrst  anfangen,  ohne  inne  zu  werden,  daß»  dieses  schon  Glieder  einer 
E^Lntcilung  sind,  dazu  noch  der  eingeteilte  Begriff  fehlt,  der  kein  anderer, 
als  der  Begriff  von  einem  Gegenstande  ĂĽberhaupt  sein  kann. 


Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten  19 

StĂĽcke:  erstlich  ein  Gesetz,  welches  die  Handlung,  die  ge- 
schehen soll,  objektiv  als  notwendig  vorstellt,  d.  i.  welches  die 
Handlung  zur  Pflicht  macht,  zweitens  eine  Triebfeder,  welche 
den  Bestimmungsgrund  der  WillkĂĽr  zu  dieser  Handlung  subjektiv 
mit  der  Vorstellung  des  Gesetzes  verknĂĽpft;  mithin  ist  das  zweite 
StĂĽck  dieses:  daĂź  das  Gesetz  die  Pflicht  zur  Triebfeder  macht. 
Durch  das  erstere  wird  die  Handlung  als  Pflicht  vorgestellt,  welches 
ein  bloßes  theoretisches  Erkenntnis  der  möglichen  Bestimmung  der 
WillkĂĽr,  d.  i.  praktischer  Regeln,  ist:  durch  das  zweite  wird  die 
Verbindlichkeit  so  zu  handeln  mit  einem  Bestimmungsgrunde  der 
WillkĂĽr  ĂĽberhaupt  im  Subjekte  verbunden. 

Alle  Gesetzgebung  also  (sie  mag  auch  in  Ansehung  der  Hand- 
lung, die  sie  zur  Pflicht  macht,  mit  einer  anderen  ĂĽbereinkommen, 
z.  B.  die  Handlungen  mögen  in  allen  Fällen  äußere  sein)  kann 
doch  in  Ansehung  der  Triebfedern  unterschieden  sein.  Diejenige, 
welche  eine  Handlung  zur  Pflicht  und  diese  Pflicht  zugleich  zur 
Triebfeder  macht,  ist  ethisch.  Diejenige  aber,  welche  das  letztere 
nicht  im  Gesetze  mit  einschlieĂźt,  mithin  auch  eine  andere  Trieb- 
feder als  die  Idee  der  Pflicht  selbst  zuläßt,  ist  juridisch.  Man 
sieht  in  Ansehung  der  letzteren  leicht  ein,  daĂź  diese  von  der 
Idee  der  Pflicht  unterschiedene  Triebfeder  von  den  pathologi- 
schen BestimmungsgrĂĽnden  der  WillkĂĽr  der  Neigungen  und  Ab- 
neigungen und  unter  diesen  von  denen  der  letzteren  Art  her- 
genommen sein  müsse,  weil  es  eine  Gesetzgebung,  welche  nötigend, 
nicht  eine  Anlockung,  die  einladend  ist,  sein  soll. 

Man  nennt  die  bloĂźe  Ăśbereinstimmung  oder  NichtĂĽberein- 
stimmung einer  Handlung  mit  dem  Gesetze  ohne  RĂĽcksicht  auf 
die  Triebfeder  derselben  die  Legalität  (Gesetzmäßigkeit),  die- 
jenige aber,  in  welcher  die  Idee  der  Pflicht  aus  dem  Gesetze 
zugleich  die  Triebfeder  der  Handlung  ist,  die  Moralität  (Sitt- 
lichkeit) derselben. 

Die  Pflichten  nach  der  rechtlichen  Gesetzgebung  können  nur 
äußere  Pflichten  sein,  weil  diese  Gesetzgebung  nicht  verlangt,  daß 
die  Idee  dieser  Pflicht,  welche  innerlich  ist,  fĂĽr  sich  selbst  Be- 
stimmungsgrund der  WillkĂĽr  des  Handelnden  sei,  und  da  sie 
doch  einer  fĂĽr  Gesetze  schickĂĽchen  Triebfeder  bedarf,  nur 
äußere  mit  dem  Gesetze  verbinden  kann.  Die  ethische  Gesetz- 
gebung dagegen  macht  zwar  auch  innere  Handlungen  zu  Pflichten^ 
aber  nicht  etwa  mit  Ausschließung  der  äußeren,  sondern  geht  aut 
alles,    was   Pflicht    ist,    ĂĽberhaupt.     Aber    eben    darum,    weĂĽ    die 


a* 


lo  Emle'ttung  m  dte  Metaphysik  der  Sitten 

ethische  (icsetzgebung  Jic  innere  Triehi-eder  der  Handlung  (die 
Idee  der  Triicht)  in  ihr  Gesetz  mit  einschlieĂźt,  welche  Bestimmung 
durchaus  nicht  in  die  äußere  Gesetzgebung  einfließen  muß,  so 
kann  die  ethische  Gesetzgebung  keine  äußere  (selbst  nicht  die 
eines  göttlichen  Willens)  sein,  ob  sie  zwar  die  Pflichten,  die  auf 
einer  anderen,  nämlich  äußeren  Gesetzgebung  beruhen,  als  Pflichten, 
in   ihre   Gesetzgebung   zu   Triebfedern   aufnimmt. 

Hieraus  ist  zu  ersehen,  daĂź  alle  Pflichten  bloĂź  darum,  weil 
sie  Pflichten  sind,  mit  zur  Ethik  gehören;  aber  ihre  Gesetz- 
gebung ist  darum  nicht  allemal  in  der  Ethik  enthalten,  sondern 
von  vielen  derselben  auĂźerhalb  derselben.  So  gebietet  die  Ethik, 
daĂź  ich  eine  in  einem  Vertrage  getane  Anheischigmachung, 
wenn  mich  der  andere  Teil  gleich  nicht  dazu  zwingen  könnte, 
doch  erfĂĽllen  mĂĽsse:  allein  sie  nimmt  das  Gesetz  {fiacta  sunt 
servanda)  und  die  diesem  korrespondierende  Pflicht  aus  der  Rechts- 
lehre als  gegeben  an.  Also  nicht  in  der  Ethik,  sondern  im  Ins 
liegt  die  Gesetzgebung,  daĂź  angenommene  Versprechen  gehalten 
werden  mĂĽssen.  Die  Ethik  lehrt  hernach  nur,  daĂź,  wenn  die 
Triebfeder,  welche  die  juridische  Gesetzgebung  mit  jener  Pflicht 
verbindet,  nämlich  der  äußere  Zwang,  auch  weggelassen  wird,  die 
Idee  der  Pflicht  allein  schon  zur  Triebfeder  hinreichend  sei.  Denn 
wäre  das  nicht  und  die  Gesetzgebung  selber  nicht  juridisch,  mithin 
die  aus  ihr  entspringende  Pflicht  nicht  eigentliche  Rechtspflicht 
(zum  Unterschiede  von  der  Tugendpflicht),  so  w^ĂĽrde  man  die 
Leistung  der  Treue  (gemäß  seinem  Versprechen  in  einem  Ver- 
trage) mit  den  Handlungen  des  Wohlwollens  und  der  Verpflichtung 
zu  ihnen  in  eine  Klasse  setzen,  welches  durchaus  nicht  geschehen 
muĂź.  Es  ist  keine  Tugendpflicht,  sein  Versprechen  zu  halten, 
sondern  eine  Rechtspflicht,  zu  deren  Leistung  man  gezwungen 
werden  kann.  Aber  es  ist  doch  eine  tugendhafte  Handlung  (Be- 
weis der  Tugend),  es  auch  da  zu  tun,  wo  kein  Zwang  besorgt 
werden  darf.  Rechtslehre  und  Tugendlehre  unterscheiden  sich 
also  nicht  sowohl  durch  ihre  verschiedene  Pflichten,  als  vielmehr 
durch  die  Verschiedenheit  der  Gesetzgebung,  welche  die  eine  oder 
die   andere   Triebleder   mit   dem   Gesetze   verbindet. 

Die  ethische  Gesetzgebung  (die  Pflichten  mögen  allenfalls  auch 
äußere  sein)  ist  diejenige,  welche  nicht  äußerlich  sein  kann;  die 
juridische  ist,  welche  auch  äußerlich  sein  kann.  So  ist  es  eine 
äußerliche  Pflicht,  sein  vertragsmäßiges  Versprechen  zu  halten; 
aber    das   Gebot,    dieses    bloĂź   darum   zu  tun,    weil    es   Pflicht  ist. 


Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten  i  \ 

ohne  auf  eine  andere  Triebfeder  RĂĽcksicht  zu  nehmen,  ist  bloĂź 
zur  Innern  Gesetzgebung  gehörig.  Also  nicht  als  besondere  Art 
von  Pflicht  (eine  besondere  Art  Handlungen,  zu  denen  man  ver- 
bunden ist)  —  denn  es  ist  in  der  Ethik  sowohl  als  im  Rechte 
eine  äußere  Pflicht,  —  sondern  weil  die  Gesetzgebung  im  an- 
geführten Falle  eine  innere  ist  und  keinen  äußeren  Gcseagebcr 
haben  kann,  wird  die  VerbindHchkeit  zur  Ethik  gezählt.  Aus 
eben  dem  Grunde  werden  die  Pflichten  des  V\'ohlwoIlens,  ob  sie 
gleich  äußere  Pflichten  (Verbindlichkeiten  zu  äußeren  Handlungen) 
sind,  doch  zur  Ethik  gezählt,  weil  ihre  Gesetzgebung  nur  inner- 
lich sein  kann.  —  Die  Ethik  hat  freilich  auch  ihre  besondern 
Pflichten  (z.  B.  die  gegen  sich  selbst),  aber  hat  doch  auch  mit 
dem  Rechte  Pflichten,  aber  nur  nicht  die  Art  der  Verpflichtung 
gemein.  Denn  Handlungen  bloĂź  darum,  weil  es  Pflichten  sind, 
ausĂĽben  und  den  Grundsatz  der  Pflicht  selbst,  woher  sie  auch 
komme,  zur  hinreichenden  Triebfeder  der  WillkĂĽr  zu  machen, 
ist  das  EigentĂĽmhche  der  ethischen  Gesetzgebung.  So  gibt  es 
also  zwar  viele  direkt-ethische  Pflichten,  aber  die  innere  Ge- 
setzgebung macht  auch  die  ĂĽbrigen  alle  und  insgesamt  zu  indirekt- 
ethischen. 

IV. 

Vorbegriflfe  zur  Metaphysik  der  Sitten. 
(Phiiosophia  practica  universalis.') 

Der  BegriflF  der  Freiheit  ist  ein  reiner  VernunftbegrifF,  der 
eben  darum  fĂĽr  die  theoretische  Philosophie  transszcndcnt,  d.  i. 
ein  solcher  ist,  dem  kein  angemessenes  Beispiel  in  irgend  einer 
mögüchen  Erfahrung  gegeben  werden  kann,  welcher  also  keinen 
Gegenstand  einer  uns  möghchen  theoretischen  Erkenntnis  aus- 
macht und  schlechterdings  nicht  fĂĽr  ein  konstitutives,  sondern 
lediglich  als  regulatives  und  zwar  nur  bloĂź  negatives  Prinzip  der 
spekulativen  Vernunft  gelten  kann,  im  praktischen  Gebrauch  der- 
selben aber  seine  Realität  durch  praktische  Grundsätze  beweiset, 
die  als  Gesetze  einer  Kausalität  der  reinen  Vernunft,  unabhängig 
von  allen  empirischen  Bedingungen  (dem  Sinnlichen  ĂĽberhaupt; 
die  WillkĂĽr  bestimmen  und  einen  reinen  Willen  in  uns  be- 
weisen, in  welchem  die  sitthchen  Begriffe  und  Gesetze  ihren  Ur- 
sprung haben. 


2 1  Einleitung  m  die  Metaphysik  der  Sitten 

Auf  diesem  (in  praktischer  RĂĽcksicht)  positiven  Begriffe  der 
Freiheit  grĂĽnden  sich  unbedingte  praktische  Gesetze,  welche  mo- 
ralisch heiĂźen,  die  in  Ansehung  unser,  deren  WillkĂĽr  sinnlich 
affizicrt  und  so  dem  reinen  Willen  nicht  von  selbst  angemessen, 
sondern  oft  widerstrebend  ist,  Imperativen  (Gebote  oder  Ver- 
bote) und  zwar  kategorische  (unbedingte)  Imperativen  sind,  wo- 
durch sie  sich  von  den  technischen  (den  Kunst-Vorschriften),  als 
die  jederzeit  nur  bedingt  gebieten,  unterscheiden,  nach  denen  ge- 
wisse Handlungen  erlaubt  oder  unerlaubt,  d.  i.  moralisch  mög- 
lich oder  unmöglich,  einige  derselben  aber,  oder  ihr  Gegenteil 
moralisch  notwendig,  d.  i.  verbindlich,  sind,  woraus  dann  fĂĽr 
jene  der  Begriff  einer  Pflicht  entspringt,  deren  Befolgung  oder 
Ăśbertretung  zwar  auch  mit  einer  Lust  oder  Unlust  von  besonderer 
Art  (der  eines  moralischen  GefĂĽhls)  verbunden  ist,  auf  welche 
wir  aber  [weil  sie  nicht  den  Grund  der  praktischen  Gesetze, 
sondern  nur  die  subjektive  Wirkung  im  GemĂĽt  bei  der  Be- 
stimmung unserer  WillkĂĽr  durch  jene  betreffen  und  (ohne  jener 
ihrer  GĂĽltigkeit  oder  EinflĂĽsse  objektiv,  d.  i.  im  Urteil  der  Ver- 
nunft, etwas  hinzuzutun  oder  zu  benehmen)  nach  Verschiedenheit 
der  Subjekte  verschieden  sein  kann]  in  praktischen  Gesetzen  der 
Vernunft  gar  nicht  RĂĽcksicht  nehmen. 

Folgende  Begriffe  sind  der  Metaphysik  der  Sitten  in  ihren 
beiden  Teilen  gemein. 

Verbindlichkeit  ist  die  Notwendigkeit  einer  freien  Hand- 
lung unter  einem  kategorischen  Imperativ  der  Vernunft. 

Der  Imperativ  ist  eine  praktische  Regel,  wodurch  die  an 
sich  zufällige  Handlung  notwendig  gemacht  wird.  Er  unter- 
scheidet sich  darin  von  einem  praktischen  Gesetze,  daĂź  dieses 
zwar  die  Notwendigkeit  einer  Handlung  vorstellig  macht, 
aber  ohne  RĂĽcksicht  darauf  zu  nehmen,  ob  diese  an  sich 
schon  dem  handelnden  Subjekte  (etwa  einem  heiligen  Wesen) 
innerlich  notwendig  beiwohne,  oder  (wie  dem  Menschen) 
zufällig  sei;  denn  wo  das  erstere  ist,  da  findet  kein  Imperativ 
statt.  Also  ist  der  Imperativ  eine  Regel,  deren  Vorstellung 
die  subjektiv-zufällige  Handlung  notwendig  macht,  mithin 
das  Subjekt  als  ein  solches,  was  zur  Ăśbereinstimmung  mit 
dieser  Regel  genötigt  (nezessitiert)  werden  muß,  vorstellt. 
—  Der  kategorische  (unbedingte)  Imperativ  ist  derjenige, 
welcher  nicht  etwa  mittelbar,  durch  die  Vorstellung  eines 
Zwecks,    der    durch   die   Handlung    erreicht  werden  könne. 


Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten  1 5 

sondern  der  sie  durch  die  bloĂźe  Vorstellung  dieser  Handlung 
selbst  (ihrer  Form),  also  unmittelbar,  als  objektiv- notwendig 
denkt  und  notwendig  macht;    dergleichen  Imperativen  keine 
andere  praktische  Lehre  als  allein  die,  welche  Verbindlichkeit 
vorschreibt    (die   der  Sitten),    zum  Beispiele    auhtcllcn  kann. 
Alle  andere  Imperativen  sind   technisch  und  insgesamt  be- 
dingt.    Der    Grund    der    Möglichkeit    kategorischer    Impera- 
tiven   liegt   aber    darin;    daĂź   sie    sich   auf-   keine    andere  Be- 
stimmung der  WillkĂĽr  (wodurch  ihr  eine  Absicht  untergelegt 
werden  kann),    als  lediglich  auf  die  Freiheit  derselben  be- 
ziehen. 
Erlaubt  ist  eine  Handlung  (Jicitum),   die  der  Verbindlichkeit 
nicht  entgegen  ist;  und  diese  Freiheit,  die  durch  keinen  entgegen- 
gesetzten Imperativ  eingeschränkt  wird,  heißt  die  Befugnis  {facultas 
moralis).     Hieraus  versteht  sich  von  selbst,  was    unerlaubt  {jUi- 
citurn)  sei. 

Pflicht  ist  diejenige  Handlung,  zu  welcher  jemand  verbunden 
ist.  Sie  ist  also  die  Materie  der  Verbindlichkeit,  und  es  kann 
einerlei  Pflicht  (der  Handlung  nach)  sein,  ob  wir  zwar  auf  ver- 
schiedene Art  dazu  verbunden  werden  können. 

Der  kategorische  Imperativ,  indem  er  eine  Verbindlichkeit 
in  Ansehung  gewisser  Handlungen  aussagt,  ist  ein  moralisch- 
praktisches  Gesetz.  Weil  aber  Verbindhchkeit  nicht  bloĂź 
praktische  Notwendigkeit  (dergleichen  ein  Gesetz  ĂĽberhaupt 
aussagt),  sondern  auch  Nötigung  enthält,  so  ist  der  ge- 
dachte Imperativ  entweder  ein  Gebot-  oder  Verbot-Gesetz, 
nachdem  die  Begehung  oder  Unterlassung  als  Pflicht  vor- 
gestellt wird.  Eine  Handlung,  die  weder  geboten  noch  ver- 
boten ist,  ist  bloĂź  erlaubt,  weil  es  in  Ansehung  ihrer  gar 
kein  die  Freiheit  (Befiignis)  einschränkendes  Gesetz  und  also 
auch  keine  Pflicht  gibt.  Eine  solche  Handlung  heiĂźt  sittlich- 
gleichgĂĽltig (indifferens,  adiaphoron,  res  merae  facultatis).  Man 
kann  fragen:  ob  es  dergleichen  gebe,  und,  wenn  es  solche 
gibt,  ob  dazu,  daĂź  es  jemanden  freistehe,  etwas  nach  semem 
Beheben  zu  tun  oder  zu  lassen,  auĂźer  dem  Gebotgesetze 
{lex  praeceptiva,  lex  mandati)  und  dem  Verbotgesetze  {lex 
prohibitiva,  lex  veĂĽti)  noch  ein  Erlaubnisgesetz  {lex  permisstva) 
erforderlich  sei.  Wenn  dieses  ist,  so  wĂĽrde  die  Befugnis 
nicht  allemal  eine  gleichgĂĽltige  Handlung  {adtaphoron)  be- 
treffen;   denn    zu    einer    solchen,    wenn    man    sie  nach   sitt- 


24  Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten 

liehen    Gesetzen    betrachtet,    wĂĽrde    kein    besonderes    Gesetz 
erfordert  werden. 

Tat  heiĂźt  eine  Handlung,  sofern  sie  unter  Gesetzen  der  Ver- 
bindlichkeit steht,  folglich  auch  sofern  das  Subjekt  in  derselben 
nach  der  Freiheit  seiner  WillkĂĽr  betrachtet  wird.  Der  Handelnde 
wird  durch  einen  solchen  Akt  als  Urheber  der  Wirkung  be- 
trachtet, und  diese  zusamt  der  Handlung  selbst  können  ihm  zu- 
gerechnet werden,  wenn  man  vorher  das  Gesetz  kennt,  kraft 
welches  auf  ihnen  eine  Verbindlithkeit  ruhet. 

Person  ist  dasjenige  Subjekt,  dessen  Handlungen  einer  Zu- 
rechnung fähig  sind.  Die  moralische  Persönlichkeit  ist  also 
nichts  anders,  als  die  Freiheit  eines  vernĂĽnftigen  Wesens  unter 
moralischen  Gesetzen  (die  psychologische  aber  bloß  das  Vermögen, 
sich  seiner  selbst  in  den  verschiedenen  Zuständen  der  Identität 
seines  Daseins  bewuĂźt  zu  w^erden),  woraus  dann  folgt,  daĂź  eine 
Person  keinen  anderen  Gesetzen  als  denen,  die  sie  (entweder 
allein,  oder  wenigstens  zugleich  mit  anderen)  sich  selbst  gibt, 
unterworfen   ist. 

Sache  ist  ein  Ding,  was  keiner  Zurechnung  fähig  ist.  Ein 
jedes  Objekt  der  freien  WillkĂĽr,  welches  selbst  der  Freiheit  er- 
mangelt,  heiĂźt   daher   Sache   (res  corporalis^. 

Recht  oder  unrecht  (rectum  aut  minus  rectum^  ĂĽberhaupt 
ist  eine  Tat,  sofern  sie  pfiiclitmäßig  oder  pflichtwidrig  (factum 
licttum  aut  illicituni)  ist;  die  Pflicht  selbst  mag  ihrem  Inhalte  oder 
ihrem  UrsprĂĽnge  nach  sein,  von  welcher  Art  sie  wolle.  Eine 
pflichtwidrige   Tat  heiĂźt   Ăśbertretung   (reatus). 

Eine  unvorsätzliche  Übertretung,  die  gleichwohl  zugerechnet 
werden  kann,  heiĂźt  bloĂźe  Verschuldung  (culpa).  Eine  vor- 
sätzliche (d.  i.  diejenige,  welche  mit  dem  Bewußtsein,  daß  sie 
Ăśbertretung  sei,  verbunden  ist)  heiĂźt  Verbrechen  (dolus).  Was 
nach  äußeren  Gesetzen  recht  ist,  heißt  gerecht  (iustum),  was  es 
nicht  ist,  ungerecht   (iniustum). 

Ein  Widerstreit  der  Pflichten  (coUisio  officiorum  s.  obli- 
gationum)  würde  das  Verhältnis  derselben  sein,  durch  welches  eine 
derselben  die  andere  (ganz  oder  zum  Teil)  aufhöbe.  —  Da  aber 
Pflicht  und  Verbindlichkeit  ĂĽberhaupt  Begriffe  sind,  welche  die 
objektive  praktische  Notwendigkeit  gewisser  Handlungen  aus- 
drĂĽcken, und  zwei  einander  entgegengesetzte  Regeln  nicht  zugleich 
notwendig  sein  können,  sondern  wenn  nach  einer  derselben  zu 
handeln   es  Pflicht   ist,  so  ist  nach  der  entgegengesetzten  zu  handeln 


Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten  25 

nicht  allein  keine  Pflicht,  sondern  sogar  pflichtwidrig:  so  ist  eine 
Kollision  von  Pflichten  und  Verbindlichkeiten  gar  nicht  denkbar 
(obligationes  non  coUiduntur).  Es  können  aber  gar  wohl  ^wci 
GrĂĽnde  der  Verbindlichkeit  (rationes  obligandi)^  deren  einer  aber 
oder  der  andere  zur  Verpflichtung  nicht  zureichend  ist  (rationes 
obligandi  non  obligantes),  in  einem  Subjekt  und  der  Regel,  die  es 
sich  vorschreibt,  verbunden  sein,  da  dann  der  eine  nicht  Priicht 
ist.  —  Wenn  zwei  solcher  Gründe  einander  widerstreiten,  so  sagt 
die  praktische  Philosophie  nicht:  daß  die  stärkere  Verbindlichkeit 
die  Oberhand  behalte  (^fortior  obligatio  vincit')^  sondern  der  stärkere 
VerpFlichtungsgrund  behält  den  Platz  (fortior  obligandi  ratio 
vincit'). 

Ăśberhaupt  heiĂźen  die  verbindenden  Gesetze,  fĂĽr  die  eine 
äußere  Gesetzgebung  möglich  ist,  äußere  Gesetze  {lege^  extemae). 
Unter  diesen  sind  diejenigen,  zu  denen  die  Verbindlichkeit  auch 
ohne  äußere  Gesetzgebung  a  priori  durch  die  Vernunft  erkannt 
werden  kann,  zwar  äußere,  aber  natürliche  Gesetze;  diejenigen 
dagegen,  die  ohne  wirkliche  äußere  Gesetzgebung  gar  nicht  ver- 
binden (also  ohne  die  letztere  nicht  Gesetze  sein  wĂĽrden),  heiĂźen 
positive  Gesetze.  Es  kann  also  eine  äußere  Gesetzgebung  ge- 
dacht werden,  die  lauter  positive  Gesetze  enthielte;  alsdenn  aber 
mĂĽĂźte  doch  ein  natĂĽrliches  Gesetz  vorausgehen,  welches  die  Au- 
torität des  Gesetzgebers  (d.  i.  die  Befugnis,  durch  seine  bloße 
V^illkĂĽr  andere  zu  verbinden)   begrĂĽndete. 

Der  Grundsatz,  welcher  gewisse  Handlungen  zur  Pflicht  macht, 
ist  ein  praktisches  Gesetz.  Die  Regel  des  Handelnden,  die  er 
sich  selbst  aus  subjektiven  GrĂĽnden  zum  Prinzip  macht,  heiĂźt 
seine  Maxime;  daher  bei  einerlei  Gesetzen  doch  die  Maximen 
der  Handelnden  sehr  verschieden  sein  können. 

Der  kategorische  Imperativ,  der  ĂĽberhaupt  nur  aussagt,  was 
Verbindlichkeit  sei,  ist:  handle  nach  einer  Maxime,  welche  zu- 
gleich als  ein  allgemeines  Gesetz  gelten  kann!  —  Deine  Hand- 
lungen mußt  du  also  zuerst  nach  ihrem  subjektiven  Grundsätze 
betrachten:  ob  aber  dieser  Grundsatz  auch  objektiv  gĂĽltig  sei, 
kannst  du  nur  daran  erkennen,  daĂź,  weil  deine  Vernuntt  ihn  der 
Probe  unterwirft,  durch  denselben  dich  zugleich  als  allgemein 
gesetzgebend  zu  denken,  er  sich  zu  einer  solchen  allgemeinen  Ge- 
setzgebung qualifiziere.  . 

Die  Einfachheit  dieses  Gesetzes  in  Vergleichung  mit  den 
groĂźen  und  mannigfaltigen  Folgerungen,  die  daraus  gezogen  werden 


2  6  Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten 

können,  imglcichcn  das  gebietende  Ansehen,  ohne  daß  es  doch 
sichtbar  eine  Tricbf-cdcr  bei  üich  führt,  muß  freihch  anfängUch 
befremden.  Wenn  man  aber  in  dieser  Verwunderung  ĂĽber  ein 
Vermögen  unserer  Vernunft,  durch  die  bloße  Idee  der  Quali- 
fikation einer  Maxime  zur  Allgemeinheit  eines  praktischen  Ge- 
setzes die  WillkĂĽr  zu  bestimmen,  belehrt  wird:  daĂź  eben  diese 
praktischen  Gesetze  (die  moralischen)  eine  Eigenschaft  der  WillkĂĽr 
zuerst  kund  machen,  auf  die  keine  spekulative  Vernunft  weder 
aus  GrĂĽnden  a  priori,  noch  durch  irgend  eine  Erfahrung  geraten 
hätte  und  wenn  sie  darauf  geriet,  ihre  Möglichkeit  theoretisch 
durch  nichts  dartun  könnte,  gleichwohl  aber  jene  praktischen 
Gesetze  diese  Eigenschaft,  nämlich  die  Freiheit,  unwidersprechlich 
dartun:  so  wird  es  weniger  befremden,  diese  Gesetze  gleich  mathe- 
matischen Postulaten  unerweislich  und  doch  apodiktisch  zu 
finden,  zugleich  aber  ein  ganzes  Feld  von  praktischen  Erkenntnissen 
vor  sich  eröffnet  zu  sehen,  wo  die  Vernunft  mit  derselben  Idee 
der  Freiheit,  ja  jeder  anderen  ihrer  Ideen  des  Ăśbersinnlichen  im 
Theoretischen  alles  schlechterdings  vor  ihr  verschlossen  finden 
muĂź.  Die  Ăśbereinstimmung  einer  Handlung  mit  dem  Pflicht- 
gesetze ist  die  Gesetzmäßigkeit  (Jegalitai)  —  die  der  Maxime 
der  Handlung  mit  dem  Gesetze  die  Sittlichkeit  (moralitas)  der- 
selben. Maxime  aber  ist  das  subjektive  Prinzip  zu  handeln, 
was  sich  das  Subjekt  selbst  zur  Regel  macht  (wie  es  nämlich 
handeln  will).  Dagegen  ist  der  Grundsatz  der  Pflicht  das,  was 
ihm  die  Vernunft  schlechthin,  mithin  objektiv  gebietet  (wie  es 
handeln   soll). 

Der  oberste  Grundsatz  der  Sittenlehre  ist  also :  handle  nach 
einer  Maxime,  die  zugleich  als  allgemeines  Gesetz  gelten  kann.  — 
Jede  Maxime,  die  sich  hiezu  nicht  qualifiziert,  ist  der  Moral  zu- 
wider. 

Von  dem  Willen  gehen  die  Gesetze  aus;  von  der  WillkĂĽr 
die  Maximen.  Die  letztere  ist  im  Menschen  eine  freie 
WillkĂĽr;  der  Wille,  der  auf  nichts  anderes,  als  bloĂź  auf 
Gesetz  geht,  kann  weder  frei  noch  unfrei  genannt  werden, 
weil  er  nicht  auf  Handlungen,  sondern  unmittelbar  auf  die 
Gesetzgebung  fĂĽr  die  Maxime  der  Handlungen  (also  die 
praktische  Vernunft  selbst)  geht,  daher  auch  schlechterdings 
notwendig  und  selbst  keiner  Nötigung  fähig  ist.  Nur  die 
WillkĂĽr   also   kann    frei   genannt  werden. 

Di*   Freiheit  der  WillkĂĽr  aber  kann  nicht  durch  das  Ver- 


Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten  27 

mögen  der  Wahl,  für  oder  wider  das  Gesetz,  zu  handeln, 
(Jibertas  indifferenüae)  definiert  werden  —  wie  es  wohl  einige 
versucht  haben,  —  obzwar  die  Willkür  als  Phänomen 
davon  in  der  Erfahrung  häufige  Beispiele  gibt.  Denn  die 
Freiheit  (so  wie  sie  ims  durchs  moralische  Gesetz  allererst 
kundbar  wird)  kennen  wir  nur  als  negative  Eigenschaft  in 
uns,  nämlich  durch  keine  sinnliche  Bestimmungsgründe  zum 
Handeln  genötigt  zu  werden.  Als  Noumen  aber,  d.  i. 
nach  dem  Vermögen  des  Menschen  bloß  als  Intelligenz  be- 
trachtet, wie  sie  in  Ansehung  der  sinnlichen  Willkür  nötigend 
ist,  mithin  ihrer  positiven  Beschaffenheit  nach,  können  wir 
sie  theoretisch  gar  nicht  darstellen.  Nur  das  können  wir 
wohl  einsehen:  daĂź,  obgleich  der  Mensch  als  Sinnenwesen 
der  Erfahrung  nach  ein  Vermögen  zeigt,  dem  Gesetze  nicht 
allein  gemäß,  sondern  auch  zuwider  zu  wählen,  dadurch 
doch  nicht  seine  Freiheit  als  intelligiblen  Wesens  de- 
finiert werden  könne,  weil  Erscheinungen  kein  übersinn- 
liches Objekt  (dergleichen  doch  die  freie  WillkĂĽr  ist)  ver- 
ständlich machen  können,  und  daß  die  Freiheit  nimmermehr 
darin  gesetzt  werden  kann,  daĂź  das  vernĂĽnftige  Subjekt  auch 
eine  wider  seine  (gesetzgebende)  Vernunft  streitende  Wahl 
treffen  kann;  wenngleich  die  Erfahrung  oft  genug  beweist, 
daß  es  geschieht  (wovon  wir  doch  die  Möglichkeit  nicht 
begreifen  können).  —  Denn  ein  anderes  ist,  einen  Satz  (der 
Erfahrung)  einräumen,  ein  anderes,  ihn  zum  Erklärungs- 
prinzip (des  Begriffs  der  freien  WillkĂĽr)  und  allgemeinen 
Unterscheidimgsmerkmal  (vom  arhitrio  hruto  s.  servo)  machen: 
weil  das  erstere  nicht  behauptet,  daĂź  das  Merkmal  not- 
wendig zum  BegriflF  gehöre,  welches  doch  zum  zweiten 
erforderhch  ist.  —  Die  Freiheit  in  Beziehung  auf  die  innere 
Gesetzgebung  der  Vernunft  ist  eigentlich  allein  ein  Vermögen; 
die  MögUchkeit  von  dieser  abzuweichen  ein  Unvermögen. 
Wie  kann  nun  jenes  aus  diesem  erklärt  werden?  Es  ist  eine 
Definition,  die  ĂĽber  den  praktischen  Begriff  noch  die  Aus- 
ĂĽbung desselben,  wie  sie  die  Erfahrung  lehrt,  hinzutut,  eine 
Bastarderklärung  (definitio  hyhrida),  welche  den  Begriff  im 
falschen  Lichte  darstellt. 
Gesetz  (ein  moralisch  praktisches)  ist  ein  Satz,  der  einen 
kategorischen  Imperativ  (Gebot)  enthält.  Der  Gebietende  (imperans) 
durch    ein  Gesetz    ist    der  Gesetzgeber  (Jegislator)      Er   ist  Ur- 


1%  Einleituyig  m  die  Mrfaphysik  der  Sitten 

hcbci  ^autor)  der  Verbindlichkeit  nach  dem  Gesetze,  aber  nicht 
immer  Urheber  des  Gesetzes.  Im  letzteren  Fall  wĂĽrde  das  Gesetz 
positiv  (zut'ällig)  und  willkürlich  sein.  Das  Gesetz,  was  uns 
a  priori  und  unbedingt  durch  unsere  eigene  Vernuni-t  verbindet, 
kann  auch  als  aus  dem  Willen  eines  höchsten  Gesetzgebers,  d.  i. 
eines  solchen,  der  lauter  Rechte  und  keine  Pflichten  hat,  (mithin 
dem  göttlichen  Willen)  hervorgehend  ausgedrückt  werden,  welches 
aber  nur  die  Idee  von  einem  moralischen  Wesen  bedeutet,  dessen 
Wille  tĂĽr  alle  Gesetz  ist,  ohne  ihn  doch  als  Urheber  desselben 
zu   denken. 

Zurechnung  (jwputatio)  in  moralischer  Bedeutung  ist  das 
Urteil,  wodurch  jemand  als  Urheber  (causa  liberd)  einer  Hand- 
lung, die  alsdann  Tat  (factum)  heiĂźt  und  unter  Gesetzen  steht, 
angeschen  wird;  welches,  wenn  es  zugleich  die  rechtlichen  Folgen 
aus  dieser  Tat  bei  sich  führt,  eine  rechtskräftige  (jmputatio  iudi- 
ciaria  s.  valida),  sonst  aber  nur  eine  beurteilende  Zurechnung 
(imputatio  diiudicatoria)  sein  würde.  —  Diejenige  (physische  oder 
moralische)  Person,  welche  rechtskräftig  zuzurechnen  die  Befugnis 
hat,  heiĂźt  der  Richter  oder  auch  der  Gerichtshof  (iudex  s. 
jorum). 

Was  jemand  pflichtmäßig  mehr  tut,  als  wozu  er  nach  dem 
Gesetze  gezwungen  werden  kann,  ist  verdienstlich  (merituTn)\ 
was  er  nur  gerade  dem  letzteren  angemessen  tut,  ist  Schuldig- 
keit (debitum);  was  er  endlich  weniger  tut,  als  die  letztere 
fordert,  ist  moralische  Verschuldung  (demeriturfi).  Der  recht- 
liche Effekt  einer  Verschuldung  ist  die  Strafe  (poend)\  der  einer 
verdienstlichen  Tat  Belohnung  (praemium)  (vorausgesetzt  daĂź  sie, 
im  Gesetz  verheiĂźen,  die  Bewegursache  war);  die  Angemessenheit 
des  Verfahrens  zur  Schuldigkeit  hat  gar  keinen  rechtlichen  Effekt. 
—  Die  gütige  Vergeltung  (remuneratto  s.  repensio  beneficd)  steht 
zur  Tat  in   gar  keinem  Rechtsverhältnis. 

Die  guten  oder  schlimmen  Folgen  einer  schuldigen  Hand- 
lung —  imgleichen  die  Folgen  der  Unterlassung  einer  ver- 
dienstlichen —  können  dem  Subjekt  nicht  zugerechnet  werden 
(modus  imputationis  totlens^. 

Die   guten   Folgen   einer  verdienstlichen  —  imgleichen   die 

schlimmen    Folgen    einer    unrechtmäßigen    Handlung    können 

dem  Subjekt   zugerechnet  werden    (modus  imputationis  ponens). 

Subjektiv     ist     der    Grad     der    Zurechnungsfähigkeit 

(imputahiiitas)   der   Handlungen   nach   der  Größe   der   Hinder- 


Etnleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten  29 

nisse  zu  schätzen,  die  dabei  haben  überwunden  werden 
müssen.  —  Je  größer  die  Naturhindernisse  (der  Sinnhchkeit), 
je  kleiner  das  morahsche  Hindernis  (der  Pflicht),  desto  mehr 
wird  die  gute  Tat  zum  Verdienst  angerechnet;  z.  B.  wenn 
ich  einen  mir  ganz  fremden  Menschen  mit  meiner  beträcht- 
lichen Aufopferung  aus  groĂźer  Not  rette. 

Dagegen:  je  kleiner  das  Naturhindernis,  je  größer  das 
Hindernis  aus  GrĂĽnden  der  Pflicht,  desto  mehr  wird  die 
Übertretung  (als  Verschuldung)  zugerechnet.  —  Daher  der 
GemĂĽtszustand,  ob  das  Subjekt  die  Tat  im  Affekt,  oder  mit 
ruhiger  Ăśberlegung  verĂĽbt  habe,  in  der  Zurechnung  einen 
Unterschied  macht,  der  Folgen  hat. 


Einleitung 
in  die  Rechtslehre. 

§  A. 
Was  die  Rechtslehre  sei. 

Der  Inbegriff  der  Gesetze,  für  welche  eine  äußere  Gesetz- 
gebung möglich  ist,  heißt  die  Rechtslehre  (/«x).  Ist  eine  solche 
Gesetzgebung  wirklich,  so  ist  sie  Lehre  des  positiven  Rechts, 
und  der  Rechtskundige  derselben  oder  Rechtsgelehrte  (Juris- 
consultus)  heißt  rechtserfahren  (lurhperitus),  wenn  er  die  äußern 
Gesetze  auch  äußerHch,  d.  i.  in  ihrer  Anwendung  auf  in  der  Er- 
fahrung vorkommende  Fälle,  kennt,  die  auch  wohl  Rechts- 
klugheit (lurispruäentia)  werden  kann,  ohne  beide  zusammen 
aber  bloĂźe  Rechtswissenschaft  {lurisscientid)  bleibt.  Die 
letztere  Bencrmung  kommt  der  systematischen  Kenntnis  der 
natĂĽrlichen  Rechtsichre  (Jus  naturae)  zu,  wiewohl  der  Rechts- 
kundige in  der  letzteren  zu  aller  positiven  Gesetzgebung  die  un- 
wandelbaren Prinzipien  hergeben  muĂź. 

§  B. 
Was  ist  Recht? 

Diese  Frage  möchte  wohl  den  Rechtsgelehrten,  wenn  er 
nicht  in  Tautologie  verfallen,  oder  statt  einer  allgemeinen  Auflösung 
auf  das,  was  in  irgendeinem  Lande  ĂĽie  Gesetze  zu  irgendeiner 
Zeit  wollen,  verweisen  will,  ebenso  in  Verlegenheit  setzen,  als  die 
berufene  Aufforderung:  Was  ist  Wahrheit?  den  Logiker.  Was 
Rechtens  sei  (quid  sit  iuris),  d.  i.  was  die  Gesetze  an  einem  ge- 
wissen  Ort   und    zu   einer  gewissen  Zeit  sagen   oder  gesagt   haben, 


Einleitung  in  die  Rechtslehre  ji 

kann  er  noch  wohl  angeben:  aber  ob  das,  was  sie  wollten,  auch 
recht  sei,  und  das  allgemeine  Kriterium,  woran  man  ĂĽberhaupt 
Recht  sowohl  als  Unrecht  (justum  et  iniustuvi)  erkennen  könne, 
bleibt  ihm  wohl  verborgen,  wenn  er  nicht  eine  Zeitlang  jene 
empirischen  Prinzipien  verläßt,  die  Quellen  jener  Urteile  in  der 
bloĂźen  Vernunft  sucht  (wiewohl  ihm  dazu  jene  Gesetze  vortrefF- 
Hch  zum  Leitfaden  dienen  können),  imi  zu  einer  möghchen  posi- 
tiven Gesetzgebung  die  Grundlage  zu  errichten.  Eine  bloĂź  em- 
pirische Rechtslehre  ist  (wie  der  hölzerne  Kopf  in  PHÄDRUS' 
Fabel)  ein  Kopf,  der  schön  sein  mag,  nur  schade!  daß  er  kein 
Gehirn  hat. 

Der  Begriff  des  Rechts,  sofern  er  sich  auf  eine  ihm  korre- 
spondierende Verbindlichkeit  bezieht,  (d.  i,  der  moralische  Begriff 
desselben)  betrifft  erstlich  nur  das  äußere  und  zwar  praktische 
Verhältnis  einer  Person  gegen  eine  andere,  sofern  ihre  Handlungen 
als  Fakta  aufeinander  (unmittelbar  oder  mittelbar)  EinfluĂź  haben 
können.  Aber  zweitens  bedeutet  er  nicht  das  Verhältnis  der 
WillkĂĽr  auf  den  Wunsch  (folglich  auch  auf  das  bloĂźe  BedĂĽrfnis) 
des  anderen,  wie  etwa  in  den  Handlungen  der  Wohltätigkeit  oder 
Hartherzigkeit,  sondern  lediglich  auf  die  WillkĂĽr  des  anderen. 
Drittens,  in  diesem  wechselseitigen  Verhältnis  der  Willkür  kommt 
auch  gar  nicht  die  Materie  der  WillkĂĽr,  d.  i.  der  Zweck,  den 
ein  jeder  mit  dem  Objekt,  was  er  will,  zur  Absicht  hat,  in  Be- 
trachtung, z.  B.  es  wdrd  nicht  gefragt,  ob  jemand  bei  der  Ware, 
die  er  zu  seinem  eigenen  Handel  von  mir  kauft,  auch  seinen 
Vorteil  finden  möge,  oder  nicht,  sondern  nur  nach  der  Form  im 
Verhältnis  der  beiderseitigen  Willkür,  sofern  sie  bloß  als  frei 
betrachtet  wdrd,  und  ob  durch  die  Handlung  eines  von  beiden 
sich  mit  der  Freiheit  des  andern  nach  einem  allgemeinen  Gesetze 
zusammen  vereinigen  lasse. 

Das  Recht  ist  also  der  Inbegriff  der  Bedingungen,  unter  denen 
die  WillkĂĽr  des  einen  mit  der  WillkĂĽr  des  andern  nach  einem 
allgemeinen  Gesetze  der  Freiheit  zusammen  vereinigt  werden  kann. 

§  C. 
Allgemeines  Prinzip  des  Rechts. 

„Eine  jede  Handlung  ist  recht,  die  oder  nach  deren  Maxime 
die  Freiheit  der  WillkĂĽr  eines  jeden  mit  jedermanns  Freiheit  nach 
einem  allgemeinen  Gesetze  zusammen  bestehen  kann." 


p  Emleitung  in  die  Rechtslehre 

Wenn  also  meine  Handlung,  oder  ĂĽberhaupt  mein  Zustand 
mit  der  Freiheit  von  jedermann  nach  einem  allgemeinen  Gesetze 
zusammen  bestehen  kann,  so  tut  der  mir  unrecht,  der  mich  daran 
hindert;  denn  dieses  Hindernis  (dieser  Widerstand)  kann  mit  der 
Freiheit   nach   allgemeinen   Gesetzen   nicht   bestehen. 

Hs  Folgt  hieraus  auch:  daĂź  nicht  verlangt  werden  kann,  daĂź 
dieses  Prinzip  aller  Maximen  selbst  wiederum  meine  Maxime  sei, 
d.  i.  daĂź  ich  es  mir  zur  Maxime  meiner  Handlung  mache; 
denn  ein  jeder  kann  Frei  sein,  obgleich  seine  Freiheit  mir  gänz- 
lich indifferent  wäre,  oder  ich  im  Herzen  derselben  gerne  Ab- 
bruch tun  möchte,  wenn  ich  nur  durch  meine  äußere  Hand- 
lung ihr  nicht  Eintrag  tue.  Das  Rechthandeln  mir  zur  Maxime 
zu    machen,  ist   eine   Forderung,   die   die   Ethik   an   mich   tut. 

Also  ist  das  allgemeine  Rechtsgesetz:  handle  äußerlich  so,  daß 
der  Freie  Gebrauch  deiner  WillkĂĽr  mit  der  Freiheit  von  jeder- 
mann nach  einem  allgemeinen  Gesetze  zusammen  bestehen  könne, 
zwar  ein  Gesetz,  welches  mir  eine  Verbindlichkeit  auFerlegt,  aber 
ganz  und  gar  nicht  erwartet,  noch  weniger  Fordert,  daĂź  ich  ganz 
um  dieser  Verbindlichkeit  willen  meine  Freiheit  auF  jene  Bedin- 
gungen selbst  einschränken  solle,  sondern  die  VernunFt  sagt  nur, 
daß  sie  in  ihrer  Idee  darauF  eingeschränkt  sei  und  von  andern 
auch  tätlich  eingeschränkt  werden  dürFe;  und  dieses  sagt  sie  als 
ein  Postulat,  welches  gar  keines  Beweises  weiter  Fähig  ist.  — 
Wenn  die  Absicht  nicht  ist,  Tugend  zu  lehren,  sondern  nur,  was 
recht  sei,  vorzutragen,  so  darF  und  soll  man  selbst  nicht  jenes 
Rechtsgesetz  als  TricbFeder  der  Handlung  vorstellig  machen. 

§  D. 
Das  Recht  ist  mit  der  Befugnis  zu  zwingen  verbunden. 

Der  Widerstand,  der  dem  Hindernisse  einer  Wirkung  entgegen- 
gesetzt wird,  ist  eine  Beförderung  dieser  Wirkung  und  stimmt  mit 
ihr  zusammen.  Nun  ist  alles,  was  unrecht  ist,  ein  Hindernis  der 
Freiheit  nach  allgemeinen  Gesetzen:  der  Zwang  aber  ist  ein  Hin- 
dernis oder  Widerstand,  der  der  Freiheit  geschieht.  Folglich: 
wenn  ein  gewisser  Gebrauch  der  Freiheit  selbst  ein  Hindernis  der 
Freiheit  nach  allgemeinen  Gesetzen  (d.  i.  unrecht)  ist,  so  ist  der 
Zwang,  der  diesem  entgegengesetzt  wird,  als  Verhinderung  eines 
Hindernisses   der   Freiheit    mit    der  Freiheit  nach    allgemeinen 


Einleitung  in  die  Rechtslehre  3  5 

Gesetzen  zusammen  stimmend,  d.  i.  recht:  mithin  ist  mit  dem 
Rechte  zugleich  eine  Befugnis,  den,  der  ihm  Abbruch  tut,  zu 
zwingen,  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  verknĂĽpft. 

§E. 

Das  strikte  Recht  kann  auch  als  die  Möghchkeit  eines 
mit  jedermanns  Freiheit  nach  allgemeinen  Gesetzen  zu- 
sammenstimmenden durchgängigen  wechselseitigen  Zwanges 

vorgestellt  werden. 

Dieser  Satz  will  soviel  sagen  als:  das  Recht  darf  nicht  als  aus 
zwei  Stücken,  nämlich  der  Verbindlichkeit  nach  einem  Gesetze 
und  der  Befiignis  dessen,  der  durch  seine  WillkĂĽr  den  andern 
verbindet,  diesen  dazu  zu  zwingen,  zusammengesetzt  gedacht  werden, 
sondern  man  kann  den  Begriff  des  Rechts  in  der  Möglichkeit 
der  VerknĂĽpfung  des  allgemeinen  wechselseitigen  Zwanges  mit 
jedermanns  Freiheit  unmittelbar  setzen.  So  vvde  nämlich  das  Recht 
überhaupt  nur  das  zum  Objekte  hat,  was  in  Handlungen  äußerlich 
ist,  so  ist  das  strikte  Recht,  nämlich  das,  dem  nichts  Ethisches 
beigemischt  ist,  dasjenige,  welches  keine  andern  BestimmungsgrĂĽnde 
der  Willkür  als  bloß  die  äußern  fordert;  denn  alsdenn  ist  es  rein 
und  mit  keinen  Tugendvorschriften  vermengt.  Ein  striktes 
(enges)  Recht  kann  man  also  nur  das  völlig  äußere  nennen. 
Dieses  grĂĽndet  sich  nun  zwar  auf  dem  BewuĂźtsein  der  Verbind- 
lichkeit eines  jeden  nach  dem  Gesetze;  aber  die  WillkĂĽr  darnach 
zu  bestimmen,  darf  und  kann  es,  wenn  es  rein  sein  soll,  sich  auf 
dieses  BewuĂźtsein  als  Triebfeder  nicht  berufen,  sondern  fuĂźet  sich 
deshalb  auf  dem  Prinzip  der  Möglichkeit  eines  äußeren  Zwanges, 
der  mit  der  Freiheit  von  jedermann  nach  allgemeinen  Gesetzen 
zusammen  bestehen  kann.  —  Wenn  also  gesagt  wird:  ein  Gläubiger 
hat  ein  Recht  von  dem  Schuldner  die  Bezahlung  seiner  Schuld  zu 
fordern,  so  bedeutet  das  nicht,  er  kann  ihm  zu  GemĂĽte  fĂĽhren, 
daĂź  ihn  seine  Vernunft  selbst  zu  dieser  Leistung  verbinde,  sondern 
ein  Zwang,  der  jedermann  nötigt  dieses  zu  tun,  kann  gar  wohl 
mit  jedermanns  Freiheit,  also  auch  mit  der  seinigen  nach  einem 
allgemeinen  äußeren  Gesetze  zusammen  bestehen:  Recht  und  Be- 
fugnis zu  zwängen  bedeuten  also  einerlei. 

Das    Gesetz     eines    mit    jedermanns    Freiheit    notwendig  zu- 
sammenstimmenden wechselseitigen  Zwanges  unter  dem  Prmzip 

Kants  Schriften.    Bd.  VII.  3 


54 


Emleittmg  in  die  Recht  sichre 

der    allgemeinen   Freiheit    ist    gleichsam    die    Konstruktion 
)cncs    Begriffs,    d.    i.    Darstellung    desselben    in    einer    reinen 
Anschauung    a   priori,    nach    der    Analogie    der    Möglichkeit 
freier  Bewegungen  der  Körper  unter  dem  Gesetze  der  Gleich- 
heit    der   Wirkung    und    Ciegen wirkung.      So    wie    wir 
nun   in    der   reinen   Mathematik    die   Eigenschatten   ihres   Ob- 
jekts   nicht    unmittelbar  vom  Begriffe    ableiten,    sondern  nur 
durch    die   Konstruktion    des  Begriffs  entdecken   können,    so 
ist's  nicht  sowohl   der  Begriff  des  Rechts,  als  vielmehr  der 
unter    allgemeine    Gesetze    gebrachte,    mit    ihm    zusammen- 
stimmende durchgängig  wechselseitige  und  gleiche  Zwang,  der 
•die    Darstellung   jenes   BegrifiPs   möglich   macht.     Dieweil   aber 
diesem  dynamischen  Begriffe   noch  ein  bloĂź  formaler  in   der 
reinen   Mathematik   (z.  B.   der  Geometrie)   zum  Grunde  liegt: 
so   hat  die   Vernunft    dafĂĽr  gesorgt,    den  Verstand  auch  mit 
Anschauungen    a  priori    zum    Behuf    der    Konstruktion    des 
Rechtsbegriffs  so  viel  möglich  zu  versorgen.   —  Das  Rechte 
(j-ectum)  wird    als    das  Gerade    teils    dem  Krummen,    teils 
dem  Schiefen    entgegen  gesetzt.      Das  erste  ist    die  innere 
Beschaffenheit  einer  Linie  von  der  Art,    daĂź  es  zwischen 
zweien   gegebenen  Punkten  nur    eine    einzige,    das  zweite 
aber  die  Lage    zweier  einander  durchschneidenden  oder  zu- 
sammenstoĂźenden Linien,  von  deren  Art  es  auch  nur  eine 
einzige   (die  senkrechte)    geben    kann,    die   sich  nicht  mehr 
nach  einer  Seite   als  der  andern  hinneigt,  und  die  den  Raum 
von  beiden  Seiten  gleich  abteilt,  nach  welcher  Analogie  auch 
die   Rechtslehre   das  Seine  einem  jeden  (mit  mathematischer 
Genauigkeit)   bestimmt  wissen  will,  welches  in  der  Tugend- 
Ich  rc   nicht  erwartet  werden   darf,  als  welche  einen  gewissen 
Raum  zu  Ausnahmen  (Jatitudinem)  nicht  verweigern  kann.  — 
Aber  ohne  ins  Gebiet  der  Ethik  einzugreifen,   gibt    es  zwei 
Fälle,  die  auf  Rechtsentscheidung  Anspruch  machen,  für  die 
aber  keiner,    der   sie    entscheide,    ausgefunden  werden    kann, 
und   die  gleichsam  in  EPIKURS  intermundia  hingehören.  — 
Diese   müssen  wir  zuvörderst  aus  der  eigentlichen  Rcchtslehre, 
zu   der  wir    bald    schreiten    wollen,    aussondern,    damit    ihre 
schwankenden  Prinzipien  nicht  auf  die  festen  Grundsätze  der 
erstem    EinfluĂź   bekommen. 


Anhang  zur  Einleitung  in  die  Rechtslehre  35 

Anhang 
zur  Einleitung  in  die  Rechtslehre. 

Vom  zweideutigen  Recht, 
(/«j  aequivocum.) 

Mit  jedem  Recht  in  enger  Bedeutung  (ius  stricturn)  ist  die 
Befugnis  zu  zwingen  verbunden.  Aber  man  denkt  sich  noch  ein 
Recht  im  weiteren  Sinne  (tus  latum\  wo  die  Befugnis  zu  zwingen 
durch  kein  Gesetz  bestimmt  werden  kann.  —  Dieser  wahren  oder 
vorgeblichen  Rechte  sind  nun  zwei:  die  Billigkeit  und  das 
Notrecht;  von  denen  die  erste  ein  Recht  ohne  Zwang,  das 
zweite  einen  Zwang  ohne  Recht  annimmt,  und  man  wird  leicht 
gewahr,  diese  Doppelsinnigkeit  beruhe  eigentlich  darauf,  daĂź  es 
Fälle  eines  bezweifelten  Rechts  gibt,  zu  deren  Entscheidung  kein 
Richter  aufgestellt  werden  kann. 

I. 

Die  Billigkeit. 
{Aequitas^ 

Die  Billigkeit  (objektiv  betrachtet)  ist  keincsweges  ein  Grund 
zur  Aufforderung  bloĂź  an  die  ethische  Pflicht  anderer  (ihr  Wohl- 
wollen und  GĂĽtigkeit),  sondern  der,  welcher  aus  diesem  Grunde 
etwas"  fordert,  fiiĂźt  sich  auf  sein  Recht,  nur  daĂź  ihm  die  fĂĽr 
den  Richter  erforderlichen  Bedingungen  mangeln,  nach  welchen 
dieser  bestimmen  könnte,  wie  viel,  oder  auf  welche  Art  dem 
Ansprüche  desselben  genug  getan  werden  könne.  Der  m  emer 
auf  gleiche  Vorteile  eingegangenen  Maskopei  dennoch  mehr  ge- 
tan, dabei  aber  wohl  gar  durch  Unglücksfälle  mehr  verloren 
hat,  als  die  ĂĽbrigen  Glieder,  kann  nach  der  Billigkeit  von  der 
Gesellschaft  mehr  fordern,  als  bloĂź  zu  gleichen  TeUen  mit  ihnen 

3* 


^6  Anhang  zur  Eiyile'itung  in  die  Rechtslehre 

zu  gehen.  Allein  nach  dem  eigentlichen  (strikten)  Recht,  weil, 
wenn  man  sich  in  seinem  Fall  einen  Richter  denkt,  dieser  keine 
bestimmte  Angaben  (data)  hat,  um,  wie  viel  nach  dem  Kontrakt 
ihm  zukomme,  auszumachen,  wĂĽrde  er  mit  seiner  Forderung  abzu- 
weisen sein.  Der  Hausdiener,  dem  sein  bis  zu  Ende  des  Jahres 
laufender  Lohn  in  einer  binnen  der  Zeit  verschlechterten  MĂĽnz- 
sorte bezahlt  wird,  womit  er  das  nicht  ausrichten  kann,  was  er 
bei  SchlieĂźung  des  Kontrakts  sich  dafĂĽr  anschaffen  konnte,  kann 
bei  gleichem  ZahJwert,  aber  ungleichem  Geldwert  sich  nicht  auf 
sein  Recht  berufen,  deshalb  schadlos  gehalten  zu  werden,  sondern 
nur  die  Billigkeit  zum  Grunde  anrufen  (eine  stumme  Gottheit, 
die  nicht  gehöret  werden  kann):  weil  nichts  hierüber  im  Kontrakt 
bestimmt  war,  ein  Richter  aber  nach  unbestimmten  Bedingungen 
nicht  sprechen   kann. 

Hieraus  folgt  auch,  daĂź  ein  Gerichtshof  der  Billigkeit  (in 
einem  Streit  anderer  ĂĽber  ihre  Rechte)  einen  Widerspruch  in  sich 
schlieĂźe.  Nur  da,  wo  es  die  eigenen  Rechte  des  Richters  betriflFt, 
und  in  dem,  worĂĽber  er  fĂĽr  seine  Person  disponieren  kann,  darf 
und  soll  er  der  Billigkeit  Gehör  geben;  z.  B.  wenn  die  Krone 
den  Schaden,  den  andere  in  ihrem  Dienste  erlitten  haben,  und 
den  sie  zu  vergüten  angeflehet  wird,  selber  trägt,  ob  sie  gleich 
nach  dem  strengen  Rechte  diesen  Anspruch  unter  der  VorschĂĽtzung, 
daĂź  sie  solchen  auf  ihre  eigene  Gefahr  ĂĽbernommen  haben,  ab- 
weisen  könnte. 

Der  Sinnspruch  (dictum)  der  Billigkeit  ist  nun  zwar:  „Das 
strengste  Recht  ist  das  größte  Unrecht"  (sutnmum  ius  summa  in- 
iuria);  aber  diesem  Ăśbel  ist  auf  dem  Wege  Rechtens  nicht  ab- 
zuhelfen, ob  es  gleich  eine  Rechtsforderung  betrifft,  weil  diese 
für  das  Gewissensgericht  (forum  polt)  allein  gehört,  dagegen 
jede  Frage  Rechtens  vor  das  bĂĽrgerliche  Recht  (forum  soli) 
gezogen    werden    muĂź, 

n. 

Das  Notrecht. 

(Ius  necessitatis.) 

Dieses  vermeinte  Recht  soll  eine  Befugnis  sein,  im  Fall  der 
Gefahr  des  Verlusts  meines  eigenen  Lebens  einem  anderen,  der 
mir   nichts    zuleide    tat,    das   Leben    zu   nehmen.      Es    fällt  in   die 


Anhang  zur  Einleitung  in  die  Rechtslehre  57 

Augen,  daĂź  hierin  ein  Widerspruch  der  Rechtslehre  mit  sich  selbst 
enthalten  sein  müsse  —  denn  es  ist  hier  nicht  von  einem  un- 
gerechten Angreifer  auf  mein  Leben,  dem  ich  durch  Beraubung 
des  seinen  zuvorkomme  (Jus  inculpatae  tutelae),  die  Rede,  wo  die 
Anempfehlung  der  Mäßigung  (moderamen)  nicht  einmal  zum  Recht, 
sondern  nur  zur  Ethik  gehört,  sondern  von  einer  erlaubten  Ge- 
walttätigkeit gegen  den,  der  keine  gegen  mich  ausübte. 

Es  ist  klar:  daĂź  diese  Behauptung  nicht  objektiv,  nach  dem, 
was  ein  Gesetz  vorschreiben,  sondern  bloĂź  subjektiv,  wie  vor 
Gericht  die  Sentenz  gefällt  werden  würde,  zu  verstehen  sei.  Es 
kann  nämlich  kein  Strafgesetz  geben,  welches  demjenigen  den 
Tod  zuerkennete,  der  im  Schiffbruche,  mit  einem  andern  in 
gleicher  Lebensgefahr  schwebend,  diesen  von  dem  Brette,  woraut 
er  sich  gerettet  hat,  wegstieĂźe,  um  sich  selbst  zu  retten.  Denn 
die  durchs  Gesetz  angedrohete  Strafe  könnte  doch  nicht  größer 
sein,  als  die  des  Verlusts  des  Lebens  des  ersteren.  Nun  kann  ein 
solches  Strafgesetz  die  beabsichtigte  Wirkung  gar  nicht  haben; 
denn  die  Bedrohung  mit  einem  Ăśbel,  was  noch  ungewiĂź  ist, 
(dem  Tode  durch  den  richterlichen  Ausspruch)  kann  die  Furcht 
vor  dem  Übel,  was  gewiß  ist,  (nämlich  dem  Ersaufen)  nicht 
überwiegen.  Also  ist  die  Tat  der  gewalttätigen  Selbsterhaltung 
nicht  etwa  als  unsträflich  (inculpabile),  sondern  nur  als  un- 
strafbar  {impunibile)  zu  beurteilen,  und  diese  subjektive  Straf- 
losigkeit wird  durch  eine  wunderliche  Verwechselung  von  den 
Rechtslehrern  für  eine  objektive   (Gesetzmäßigkeit)  gehalten. 

Der  Sinnspruch  des  Notrechts  heißt:  „Not  hat  kein  Gebot 
(necessitas  non  habet  legemY;  und  gleichwohl  kann  es  keine  Not 
geben,  welche,  was  unrecht  ist,  gesetzmäßig  machte. 

Man  sieht:  daĂź  in  beiden  Rechtsbeurteilungen  (nach  dem 
Billigkeits-  und  dem  Notrechte)  die  Doppelsinnigkeit  {aequi- 
vocatio)  aus  der  Verwechselung  der  objektiven  mit  den  subjektiven 
GrĂĽnden  der  RechtsausĂĽbung  (vor  der  Vernunft  und  vor  einem 
Gericht)  entspringt,  da  dann,  was  jemand  fĂĽr  sich  selbst  mit  gutem 
Grunde  für  recht  erkennt,  vor  einem  Gerichtshofe  nicht  Bestäti- 
gung finden  und,  was  er  selbst  an  sich  als  unrecht  beurteilen 
muĂź,  von  eben  demselben  Nachsicht  erlangen  kann:  weil  der 
Begriff  des  Rechts  in  diesen  zwei  Fällen  nicht  in  einerlei  Be- 
deutung ist  genommen  worden. 


j8  Emtfilung  der  Rechtslehre 


Einteilung    der    Rechtslehre. 


A. 

Allgemeine  Einteilung  der  Rechtspflichten. 

Man  kann  diese  Einteilung  sehr  wohl  nach  dem  ULPIAN 
machen,  wenn  man  seinen  Formeln  einen  Sinn  unterlegt,  den  er 
sich  dabei  zwar  nicht  deutlich  gedacht  haben  mag,  den  sie  aber 
doch  verstatten  daraus  zu  entwickeln,  oder  hinein  zu  legen.  Sie 
sind   folgende: 

i)  Sei  ein  rechtlicher  Mensch  (honeste  vive).  Die  recht- 
liche Ehrbarkeit  (honestas  iur'tdicd)  bestehet  darin:  im  Ver- 
hältnis zu  anderen  seinen  Wert  als  den  eines  Menschen  zu 
behaupten,  welche  Pflicht  durch  den  Satz  ausgedrĂĽckt  wird: 
„Mache  dich  anderen  nicht  zum  bloßen  Mittel,  sondern  sei 
fĂĽr  sie  zugleich  Zweck."  Diese  Pflicht  wird  im  folgenden 
als  Verbindlichkeit  aus  dem  Rechte  der  Menschheit  in  unserer 
eigenen  Person   erklärt  werden  (^Lex  iusti). 

2)  Tue  niemanden  unrecht  (neminem  laede\  und  solltest  du 
darĂĽber  auch  aus  aller  Verbindung  mit  andern  herausgehen 
und   alle   Gesellschaft  meiden   müssen   (Lex  iurtäica). 

3)  Tritt  (wenn   du  das  letztere  nicht  vermeiden  kannst)  in  eine 
.  Gesellschah  mit  andern,  in  welcher  jedem   das  Seine  erhalten 

werden    kann   (suum  cuique  tribue).  —  Die    letztere  Formel, 
wenn    sie    so    übersetzt    würde:    „Gib    jedem    das    Seine," 
wĂĽrde  eine  Ungereimtheit  sagen;  denn  man  kann  niemanden 
etwas  geben,  was   er  schon  hat.     Wenn  sie  also  einen  Sinn 
haben    soll,    so    müßte  sie  so    lauten:    „Tritt   in   einen  Zu- 
stand,   worin    jedermann    das    Seine    gegen     jeden    anderen 
gesichert  sein   kann   (Lex  iustitiae). 
Also   sind   obenstehende   drei  klassische  Formeln   zugleich  Ein- 
teilungsprinzipien   des    Systems    der    Rechtspflichten    in    innere, 
äußere    und    in    diejenigen,    welche    die  Ableitung    der   letzteren 
vom   Prinzip   der  ersteren  durch  Subsumrion  enthalten. 


Einteilung  der  Rechtslehre  59 

B. 

Allgemeine  Einteilung  der  Rechte. 

i)  Der  Rechte,  als  systematischer  Lehren    in  das  Naturrecht, 
das  auf  lauter  Prinzipien  a  priori  beruht,   und  das  positive 
(statutarische)  Recht,  was  aus  dem  Willen  eines  Gesetzgebers 
hervorgeht. 
2)  Der  Rechte    als    (moralischer)    Vermögen    andere    zu    ver- 
pflichten, d.  i.  als  einen  gesetzHchen  Grund  zu  den  letzteren 
(titulum),    von    denen    die  Obereinteilung   die  in  das  ange- 
bt orne  und  erworbene  Recht   ist,    deren   ersteres    dasjenige 
Recht    ist,    welches    unabhängig    von    allem   rechtlichen  Akt 
jedermann   von  Natur   zukommt;    das  zweite  das,    wozu  ein 
solcher  Akt  erfordert  wird. 
Das  angeborne  Mein  und  Dein  kann  auch  das  innere  (meum 
vel  tuum  tnternum)  genannt  werden;  denn  das  äußere  muß  jeder- 
zeit erworben  werden. 


Das   angeborne   Recht 
ist  nur  ein  einziges. 

Freiheit  (Unabhängigkeit  von  eines  anderen  nötigender  Will- 
kĂĽr), sofern  sie  mit  jedes  anderen  Freiheit  nach  einem  allgemeinen 
Gesetz  zusammen  bestehen  kann,  ist  dieses  einzige,  ursprĂĽnghche, 
jedem  Menschen  kraft  seiner  Menschheit  zustehende  Recht.  — 
Die  angeborne  Gleichheit,  d.  i.  die  Unabhängigkeit  nicht  zu 
mehrerem  von  anderen  verbunden  zu  werden,  als  wozu  man  sie 
wechselseitig  auch  verbinden  kann;  mithin  die  Qualität  des  Men- 
schen sein  eigener  Herr  (sui  iuris)  zu  sein,  imgleichen  die  eines 
unbescholtenen  Menschen  (iusti\  weil  er  vor  allem  rechtlichen 
Akt  keinem  unrecht  getan  bat;  endUch  auch  die  Befiignis,  das 
gegen  andere  zu  tun,  was  an  sich  ihnen  das  Ihre  nicht  schmälert, 
wenn  sie  sich  dessen  nur  nicht  annehmen  wollen;  dergleichen  ist 
ihnen  bloß  seine  Gedanken  mitzuteUen,  ihnen  etwas  zu  erzählen 
oder  zu  versprechen,  es  sei  wahr  und  aufrichtig,  oder  unwahr 
und   unaufrichtig  (yeriloquium  aut  falsiloquium),   weil  es  bloĂź  aulr 


40 


Eiritcslung  der  Rechtslehre 


ihnen  beruht,  ob  sie  ihm  glauben  wollen  oder  nicht^);  —  alle 
diese  Befugnisse  liegen  schon  im  Prinzip  der  angebornen  Freiheit 
und  sind  wirklich  von  ihr  nicht  (als  Glieder  der  Einteilung  unter 
einem   höheren   Rechtsbegritf)    unterschieden. 

Die  Absicht,  weswegen  man  eine  solche  Einteilung  in  das 
System  des  Naturrechts,  (sofern  es  das  angeborne  angeht)  eingefĂĽhrt 
hat,  geht  darauf  hinaus,  damit,  wenn  ĂĽber  ein  erworbenes  Recht 
ein  Streit  entsteht  und  die  Frage  eintritt,  wem  die  BeweisfĂĽhrung 
{onus  probandi)  obliege,  entweder  von  einer  bezweifelten  Tat,  oder, 
wenn  diese  ausgcmittelt  ist,  von  einem  bezweifelten  Recht,  der- 
jenige, welcher  diese  Verbindlichkeit  von  sich  ablehnt,  sich  auf 
sein  angebornes  Recht  der  Freiheit  (welches  nun  nach  seinen  ver- 
schiedenen Verhältnissen  spezifiziert  wird)  methodisch  und  gleich 
als  nach  verschiedenen   Rechtstiteln   berufen  könne. 

Da  es  nun  in  Ansehung  des  angebornen,  mithin  inneren  Mein 
und  Dein  keine  Rechte,  sondern  nur  ein  Recht  gibt,  so  wird 
diese  Obereinteilung  als  aus  zwei  dem  Inhalte  nach  äußerst  un- 
gleichen Gliedern  bestehend  in  die  Prolegomenen  geworfen  und 
die  Einteilung  der  Rechtslehre  bloß  auf  das  äußere  Mein  und  Dein 
bezogen  werden   können. 


")  Vorsätzlich,  wenngleich  bloß  leichtsinnigerweise,  Unwahrheit 
7.U  sagen,  pflegt  zwar  gewöhnlich  Lüge  (mendaciuni)  genannt  zu  werden, 
weil  sie  wenigstens  sofern  auch  schaden  kann,  daĂź  der,  welcher  sie 
treuherzig  nachsagt,  als  ein  Leichtgläubiger  anderen  zum  Gespötte  wird. 
Im  rechtlichen  Sinne  aber  will  man,  daĂź  nur  diejenige  Unwahrheit  LĂĽge 
genannt  werde,  die  einem  anderen  unmittelbar  an  seinem  Rechte  Ab- 
bruch tut,  z.  B.  das  falsche  Vorgeben  eines  mit  jemanden  geschlossenen 
Vertrags,  um  ihn  um  das  Seine  zu  bringen  [falsiloquium  dolosum),  und 
dieser  Unterschied  sehr  verwandter  Begriffe  ist  nicht  ungegrĂĽndet:  weil 
es  bei  der  bloßen  Erklärung  seiner  Gedanken  immer  dem  andern  frei 
bleibt,  sie  anzunehmen,  wofĂĽr  er  will,  obgleich  aie  gegrĂĽndete  Nach- 
rede, daĂź  dieser  em  Mensch  sei,  dessen  Reden  man  nicht  glauben 
kann,  so  nahe  an  den  Vorwurf,  ihn  einen  LĂĽgner  zu  nennen,  streift, 
daß  die  Grenzlinie,  die  hier  das,  was  zum  Jus  gehört,  von  dem,  was  der 
Ethik  anheimfällt,   trennt,  nur  so  eben  zu  unterscheiden  ist. 


Einteilung  der  Metaphysik  der  Sitten  ĂĽberhaupt        41 

Einteilung 
der  Metaphysik  der  Sitten  ĂĽberhaupt. 

I. 

Alle  Pflichten  sind  entweder  Rechtspflichten  (officia  iuris), 
d.  i.  solche,  für  welche  eine  äußere  Gesetzgebung  möglich  ist, 
oder  Tugendpflichten  (officia  virtuth  s.  ethica),  fĂĽr  welche  eine 
solche  nicht  möglich  ist;  —  die  letztern  können  aber  darum  nur 
keiner  äußeren  Gesetzgebung  unterworfen  werden,  weil  sie  auf 
einen  Zweck  gehen,  der  (oder  welchen  zu  haben)  zugleich  Pflicht 
ist;  sich  aber  einen  Zweck  vorzusetzen,  das  kann  durch  keine 
äußerliche  Gesetzgebung  bewirket  werden  (weil  es  ein  innerer 
Akt  des  Gemüts  ist);  obgleich  äußere  Handlungen  geboten  werden 
mögen,  die  dahin  führen,  ohne  doch  daß  das  Subjekt  sie  sich 
zum  Zweck  macht. 

Warum  wird  aber  die  Sittenlehre  (Moral)  gewöhnlich 
(namentlich  vom  CICERO)  die  Lehre  von  den  Pflichten 
und  nicht  auch  von  den  Rechten  betitelt?  da  doch  die 
einen  sich  auf  die  andern  beziehen.  —  Der  Grund  ist  dieser: 
Wir  kennen  unsere  eigene  Freiheit  (von  der  alle  moralische 
Gesetze,  mithin  auch  alle  Rechte  sowohl  als  Pflichten  aus- 
gehen) nur  durch  den  moralischen  Imperativ,  welcher 
ein  pflichtgebietender  Satz  ist,  aus  welchem  nachher  das  Ver- 
mögen, andere  zu  verpflichten,  d.  i.  der  Begriff  des  Rechts, 
entwickelt  werden  kann. 

II. 

Da  in  der  Lehre  von  den  Pflichten  der  Mensch  nach  der 
Eigenschaft  seines  Freiheitsvermögens,  welches  ganz  übersmnlich 
ist,  also  auch  bloĂź  nach  seiner  Menschheit,  als  von  physischen 
Bestimmungen  unabhängiger  Persönhchkeit  (homo  noumenon),  vor- 
gestellt werden  kann  und  soll,  zum  Unterschiede  von  eben  dem- 
selben, aber  als  mit  jenen  Bestimmungen  behafteten  Subjekt,  dem 
Menschen  (homo  phaenomenon),  so  werden  Recht  und  Zweck, 
wiederum  in  dieser  zwiefachen  Eigenschaft  auf  die  Pflicht  bezogen, 
folgende  Einteilung  geben. 


Einteilung  der  Metaphysih  der  Sitten  ĂĽberhaupt 


na 


Einteilung 

ch  dem  objektiven  Verhältnis  des  Gesetzes  zur  Pflicht. 

Pflicht  gegen  sich  selbst. 


Pflicht 


gcg 


en  andere. 


Einteilung  der  Metaphysik  der  Sitten  ĂĽberhaupt        43 

III. 

Da  die  Subjekte,  in  Ansehung  deren  ein  Verhältnis  des  Rechts 
zur  Pflicht  (es  sei  statthaft  oder  unstatthaft)  gedacht  wird,  vcr- 
schiedne  Beziehungen  zulassen:  so  wird  auch  in  dieser  Absicht 
eine  Einteilung  vorgenommen  werden  können. 

Einteilung 
nach    dem    subjektiven    Verhältnis    der    Verpflich- 
tenden und  Verpflichteten. 

I.  ^' 

Das  rechtliche  Verhältnis  des  Das  rechtliche  Verhältnis  des 

Menschen  zu  Wesen,  die  weder  Menschen  zu  Wesen^  die  sowohl 

Recht  noch  Pflicht  haben.  Recht  als  Pflicht  haben. 

Vacat.  Adest. 

Denn    das    sind    vernun&lose  Denn    es    ist    ein   Verhältnis 

Wesen,  die  weder  uns  verbinden,     von  Menschen  zu  Menschen, 
noch  von  welchen  wir    können 
verbunden  werden. 

^  4- 

Das  rechthche  Verhältnis  des  Das  rechtliche  Verhältnis  des 

Menschen  zu  Wesen,   die  lauter     Menschen  zu  einem  Wesen,  was 
Pflichten  und  keine  Rechte  haben,     lauter  Rechte  und  keine  Pflicht 

hat  (Gott). 

Vacat.  Vacat. 

Denn    das    wären    Menschen  NämHch  in  der  bloßen  Philo- 

ohne  Persönhchkeit  (Leibeigene,  sophie,  weil  es  kein  Gegenstand 

Sklaven).  möglicher  Erfahrung  ist. 

Also  findet  sich  nur  in  Nr.  i  ein  reales  Verhältnis  zwischen 
Recht  und  Pflicht.  Der  Grund,  warum  es  nicht  auch  in  Nr.  4 
angetrofl^en  wird,  ist:  weil  es  eine  transszendente  Pflicht  sein 
würde,  d.  i.  eine  solche,  der  kein  äußeres  verpflichtendes  Subjekt 
korrespondierend  gegeben  werden  kann,  mithin  das  Verhältnis 
in  theoretischer  RĂĽcksicht  hier  nur  ideal,  d.  i.  zu  einem  Ge- 
dankendinge ist,  was  wir  uns  selbst,  aber  doch  nicht  durch  seinen 
ganz  leeren,  sondern  in  Beziehung  auf  uns  selbst  und  die  Maximen 


44 


Eintftlung  der  Metaphysik  der  Sitten  ĂĽberhaupt 


Jcr  inneren  Sittlichkeit,  mithin  in  praktischer  innerer  Absicht 
fruchtbaren  Begriff  machen,  worin  denn  auch  unsere  ganze  im- 
manente (ausführbare)  Pflicht  in  diesem  bloß  gedachter  Verh'ält- 
nissc   allein    besteht. 


Von  der  Einteilung  der  Moral,  als  eines  Systems 
der  Pflichten  ĂĽberhaupt. 


Methodenlehre. 
Didaktik.     Asketik. 


Elcmentarlchre. 

Rechtspriichten.      Tugendpflichten. 

Privatrecht.      Ă–fl^entliches  R., 

und  so  weiter,  alles, 
was  nicht  bloĂź   die  Materialien,  sondern  auch  die  architektonische 
Form  einer  wissenschaftlichen  Sittenlehre   enthält;    wenn  dazu   die 
metaphysischen  Anfangsgründe  die  allgemeinen  Prinzipien  vollständig 
ausgespĂĽrt   haben. 


Die  oberste  Einteilung  des  Naturrechts  kann  nicht  (wie  bis- 
weilen geschieht)  die  in  das  natĂĽrliche  und  gesellschaftliche, 
sondern  muĂź  die  ins  natĂĽrliche  und  bĂĽrgerliche  Recht  sein: 
deren  das  erstere  das  Privatrecht,  das  zweite  das  öffentliche 
Recht  genannt  wird.  Denn  dem  Naturzustande  ist  nicht  der 
gesellschaftliche,  sondern  der  bĂĽrgerliche  entgegengesetzt:  weil  es 
in  jenem  zwar  gar  wohl  Gesellschaft  geben  kann,  aber  nur  keine 
bürgerliche  (durch  öffentliche  Gesetze  das  Mein  und  Dein 
sichernde),  daher  das  Recht  in  dem  ersteren  das  Privatrecht  heiĂźt. 


Der 

Rechtslehre 


Erster   Teil. 


Das     Privatrecht. 


i 


Der  allgemeinen  Rechtslehre 
Erster  Teil. 

Das   Privatrecht 
vom  äußeren  Mein  und  Dein  überhaupt. 

Erstes  HauptstĂĽck. 
Von  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  als  das  Seine  zu  haben. 

§  I. 

Das  rechtlich  Meine  (meum  iuris)  ist  dasjenige,  womit  ich 
so  verbunden  bin,  daĂź  der  Gebrauch,  den  ein  anderer  ohne 
meine  Einwilligung  von  ihm  machen  möchte,  mich  lädieren  würde. 
Die  subjektive  Bedingung  der  Möglichkeit  des  Gebrauchs  über- 
haupt ist  der  Besitz. 

Etwas  Ă„uĂźeres  aber  wĂĽrde  nur  dann  das  Meine  sein,  wenn 
ich  annehmen  darf,  es  sei  möglich,  daß  ich  durch  den  Gebrauch, 
den  ein  anderer  von  einer  Sache  macht,  in  deren  Besitz  ich 
doch  nicht  bin,  gleichwohl  doch  lädiert  werden  könne.  — 
Also  widerspricht  es  sich  selbst,  etwas  Ă„uĂźeres  als  das  Seine  zu 
haben,  wenn  der  Begriff  des  Besitzes  nicht  einer  verschiedenen 
Bedeutung,  nämüch  des  sinnlichen  und  des  intelligiblen  Be- 
sitzes, fähig  wäre,  und  unter  dem  einen  der  physische,  unter 
dem  andern  aber  ein  bloĂź  rechtlicher  Besitz  ebendesselben  Gegen- 
standes verstanden  werden  könnte. 

Der  Ausdruck;  ein  Gegenstand  ist  auĂźer  mir,  kann  aber 
entweder  so  viel  bedeuten,  als:  er  ist  ein  nur  von  mir  (dem 
Subjekt)    unterschiedener,    oder    auch    ein    in    einer    anderen 


48      Rech ts Uhr e.    i.  Teil.  Das  Privatrecht,    i.  HauptstĂĽck 

Stelle  (positus)  im  Raum  oder  in  der  Zeit  befindlicher  Gegen- 
stand. Nur  in  der  crstcren  Bedeutung  genommen,  kann  der  Be- 
sitz als  VcrnunFtbesitz  gedacht  werden;  in  der  zweiten  aber  wĂĽrde 
er  ein  empirischer  heißen  müssen.  —  Ein  intelligibler  Besitz 
(wenn  ein  solcher  möglich  ist)  ist  ein  Besitz  ohne  Inhabung 
(^äftcntio). 

§  z. 
Rechtliches  Postulat  der  praktischen  Vernunft. 

Es  ist  möglich,  einen  jeden  äußern  Gegenstand  meiner  Willkür 
als  das  Meine  zu  haben;  d.  i.:  eine  Maxime,  nach  welcher,  werm 
sie  Gesetz  wĂĽrde,  ein  Gegenstand  der  WillkĂĽr  an  sich  (objektiv) 
herrenlos   (res  nullius^  werden  mĂĽĂźte,  ist  rechtswidrig. 

Denn  ein  Gegenstand  meiner  WillkĂĽr  ist  etwas,  was  zu  ge- 
brauchen ich  physisch  in  meiner  Macht  habe.  Sollte  es  nun 
doch  rechtlich  schlechterdings  nicht  in  meiner  Macht  stehen, 
d.  i.  mit  der  Freiheit  von  jedermann  nach  einem  allgemeinen 
Gesetz  nicht  zusammen  bestehen  können  (unrecht  sein),  Gebrauch 
von  demselben  zu  machen:  so  wĂĽrde  die  Freiheit  sich  selbst  des 
Gebrauchs  ihrer  WillkĂĽr  in  Ansehung  eines  Gegenstandes  der- 
selben berauben,  dadurch  daß  sie  brauchbare  Gegenstände  außer 
aller  Möglichkeit  des  Gebrauchs  setzte,  d.  i.  diese  in  praktischer 
RĂĽcksicht  vernichtete  und  zur  res  nullius  machte,  obgleich  die 
WillkĂĽr  formaliter  im  Gebrauch  der  Sachen  mit  jedermanns 
äußeren  Freiheit  nach  allgemeinen  Gesetzen  zusammenstimmete.  — 
Da  nun  die  reine  praktische  Vernunft  keine  andere  als  formale 
Gesetze  des  Gebrauchs  der  WillkĂĽr  zum  Grunde  legt  und  also 
von  der  Materie  der  WillkĂĽr,  d.  i.  der  ĂĽbrigen  Beschaffenheit 
des  Objekts,  wenn  es  nur  ein  Gegenstand  der  WillkĂĽr  ist, 
abstrahiert,  so  kann  sie  in  Ansehung  eines  solchen  Gegenstandes 
kein  absolutes  Verbot  seines  Gebrauchs  enthalten,  weil  dieses  ein 
Widerspruch  der  äußeren  Freiheit  mit  sich  selbst  sein  würde.  — ■ 
Ein  Gegenstand  meiner  WillkĂĽr  aber  ist  das,  wovon  beliebigen 
Gebrauch  zu  machen  ich  das  physische  Vermögen  habe,  dessen 
Gebrauch  in  meiner  Macht  {potentia)  steht;  wovon  noch  unter- 
schieden werden  muĂź,  denselben  Gegenstand  in  meiner  Gewalt 
{in  potestatem  meam  redactum)  zu  haben,  welches  nicht  bloĂź  ein 
Vermögen,    sondern    auch    einen  Akt    der  Willkür   voraussetzt. 


Von  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres-  als  das  Seine  zu  haben     49 

Um  aber  etwas  bloĂź  als  Gegenstand  meiner  WillkĂĽr  zu  denken, 
ist  hinreichend,  mir  bewuĂźt  zu  sein,  daĂź  ich  ihn  in  meiner  Macht 
habe.  —  Also  ist  es  eine  Voraussetzung  a  priori  der  praktischen 
Vernunft  einen  jeden  Gegenstand  meiner  WillkĂĽr  als  objektiv 
mögliches  Mein  oder  Dein  anzusehen  und  zu  behandeln. 

Man  kann  dieses  Postulat  ein  Erlaubnisgesetz  (lex  perm'tssiva) 
der  praktischen  Vernunft  nennen,  was  uns  die  Befugnis  gibt,  die 
wir  aus  bloĂźen  Begriffen  vom  Rechte  ĂĽberhaupt  nicht  heraus- 
bringen könnten:  nämlich  allen  andern  eine  Verbindlichkeit  auf- 
zulegen, die  sie  sonst  nicht  hätten,  sich  des  Gebrauchs  gewisser 
Gegenstände  unserer  Willkür  zu  enthalten,  weil  wir  zuerst  sie  in 
unseren  Besitz  genommen  haben.  Die  Vernunft  will,  daĂź  dieses 
als  Grundsatz  gelte,  und  das  zwar  als  praktische  Vernunft,  die 
sich  durch  dieses  ihr  Postulat  a  priori  erweitert. 


5  3- 

Im  Besitze  eines  Gegenstandes  muĂź  derjenige  sein,  der  eine 
Sache  als  das  Seine  zu  haben  behaupten  will;  denn  wäre  er  nicht 
in  demselben:  so  könnte  er  nicht  durch  den  Gebrauch,  den  der 
andere  ohne  seine  Einwilligung  davon  macht,  lädiert  werden: 
weil,  wenn  diesen  Gegenstand  etwas  auĂźer  ihm  was  mit  ihm  gar 
nicht  rechtUch  verbunden  ist,  affiziert,  ihn  selbst  (das  Subjekt)  nicht 
affizieren  und  ihm  unrecht  tun  könnte. 


§  4- 

Exposition  des  Begriffs  vom  äußeren  Mein  und  Dein. 

Der  äußeren  Gegenstände  meiner  Willkür  können  nur  drei 
sein:  i)  eine  (körperliche)  Sache  außer  mir;  2)  die  Willkür 
eines  anderen  zu  einer  bestimmten  Tat  (praestatio);  3)  Der  Zu- 
stand eines  anderen  in  Verhältnis  auf  mich;  nach  den  Kategorien 
der  Substanz,  Kausalität  und  Gemeinschaft  zwischen  mir  und 
äußeren  Gegenständen  nach  Freiheitsgesetzen. 

a)  Ich  kann  einen  Gegenstand  im  Räume  (eine  körpediche 
Sache)  nicht  mein  nennen,  auĂźer  wenn,  obgleich  ich  nicht 
im    physischen  Besitz    desselben    bin,    ich    dennoch   in 

Kants   Schriften.  Bd.  VII.  4 


so     Rechtslchrc.    i.  Teil.  Das  Privatrecht,    i.  Hauptstilck 

einem  anderen  wirklichen  (aJso  nicht  physischen)  Besitz  des- 
selben zu  sein  behaupten  darf.  —  So  werde  ich  einen  Apfel 
nicht  darum  mein  nennen,  weil  ich  ihn  in  meiner  Hand 
habe  (physisch  besitze),  sondern  nur,  wenn  ich  sagen  kann: 
ich  besitze  ihn,  ob  ich  ihn  gleich  aus  meiner  Hand,  wohin 
CS  auch  sei,  gelegt  habe;  imgleichen  werde  ich  von  dem 
Boden,  auf  den  ich  mich  gelagert  habe,  nicht  sagen  können, 
er  sei  darum  mein;  sondern  nur,  wenn  ich  behaupten  darf, 
er  sei  immer  noch  in  meinem  Besitz,  ob  ich  gleich  diesen 
Platz  verlassen  habe.  Denn  der,  welcher  mir  im  erstem 
FaJle  (des  empirischen  Besitzes)  den  Apfel  aus  der  Hand 
w^inden,  oder  mich  von  meiner  Lagerstätte  wegschleppen 
wollte,  wĂĽrde  mich  zwar  freilich  in  Ansehung  des  inneren 
Meinen  (der  Freiheit),  aber  nicht  des  äußeren  Meinen  lä- 
dieren, wenn  ich  nicht  auch  ohne  Inhabung  mich  im  Besitz 
des  Gegenstandes  zu  sein  behaupten  könnte;  ich  könnte  also 
diese  Gegenstände  (den  Apfel  und  das  Lager)  auch  nicht 
mein  nennen. 

b)  Ich  kann  die  Leistung  von  etwas  durch  die  WillkĂĽr  des 
andern  nicht  mein  nennen,  wenn  ich  bloĂź  sagen  kann,  sie 
sei  mit  seinem  Versprechen  zugleich  (pactum  re  imtuni)  in 
meinen  Besitz  gekommen,  sondern  nur,  wenn  ich  behaupten 
darf,  ich  bin  im  Besitz  der  WillkĂĽr  des  andern  (diesen  zur 
Leistung  zu  bestimmen),  obgleich  die  Zeit  der  Leistung  noch 
erst  kommen  soll;  das  Versprechen  des  letzteren  gehört  dem- 
nach zur  Habe  und  Gut  (obligatio  activd)^  und  ich  kann  sie 
zu  dem  Meinen  rechnen,  aber  nicht  bloĂź,  wenn  ich  das 
Versprochene  (wie  im  ersten  Falle)  schon  in  meinem 
Besitz  habe,  sondern  auch,  ob  ich  dieses  gleich  noch  nicht 
besitze.  Also  muĂź  ich  mich,  als  von  dem  auf  Zeitbedingung 
eingeschränkten,  mithin  vom  empirischen  Besitze  unabhängig, 
doch  im  Besitz  dieses  Gegenstandes  zu  sein  denken  können. 

c)  Ich  kann  ein  Weib,  ein  Kind,  ein  Gesinde  und  ĂĽber- 
haupt eine  andere  Person  nicht  darum  das  Meine  nennen, 
weil  ich  sie  jetzt  als  zu  meinem  Hauswesen  gehörig  befehlige, 
oder  im  Zwinger  und  in  meiner  Gewalt  und  Besitz  habe, 
sondern  wenn  ich,  ob  sie  sich  gleich  dem  Zwange  entzogen 
haben,  und  ich  sie  also  nicht  (empirisch)  besitze,  dennoch 
sagen  kann,  ich  besitze  sie  durch  meinen  bloĂźen  Willen,  so- 
lange sie  irgendwo  oder  irgendwenn  existieren    mithin  bloĂź- 


Von  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  als  das  Seine  zu  haben     5 1 

rechtlich;    sie    gehören    also    zu    meiner  Habe  nur  alsdann, 
wenn  und  sofern  ich  das  letztere   behaupten  kann. 


5  5. 
Definition  des  Begriffs  des  äußeren  Mein  und  Dein. 

.  Die  Namenerklärung,  d.  i.  diejenige,  welche  bloß  zur 
Unterscheidung  des  Objekts  von  allen  andern  zureicht  und  aus 
einer  vollständigen  und  bestimmten  Exposition  des  Begriffs  her- 
vorgeht, würde  sein:  Das  äußere  Meine  ist  dasjenige  außer  mir, 
an  dessen  mir  beliebigen  Gebrauch  mich  zu  hindern  Läsion  (Ab- 
bruch an  meiner  Freiheit,  die  mit  der  Freiheit  von  jedermann 
nach  einem  allgemeinen  Gesetze  zusammen  bestehen  kann)  sein 
würde.  —  Die  Sacherklärung  dieses  Begriffs  aber,  d.  i.  die, 
welche  auch  zur  Deduktion  desselben  (der  Erkenntnis  der  Mög- 
lichkeit des  Gegenstandes)  zureicht,  lautet  nun  so:  Das  äußere 
Meine  ist  dasjenige,  in  dessen  Gebrauch  mich  zu  stören  Läsion 
sein  wĂĽrde,  ob  ich  gleich  nicht  im  Besitz  desselben  (nicht 
Inhaber  des  Gegenstandes)  bin.  —  In  irgend  einem  Besitz  des 
äußeren  Gegenstandes  muß  ich  sein,  wenn  der  Gegenstand  mein 
heiĂźen  soll;  denn  sonst  wĂĽrde  der,  welcher  diesen  Gegenstand 
wider  meinen  Willen  affizierte,  mich  nicht  zugleich  affizieren, 
mithin  auch  nicht  lädieren.  Also  muß  zufolge  des  §  4  ein  in- 
telligibler  Besitz  (^possessio  noumenon)  als  möglich  vorausgesetzt 
werden,  wenn  es  ein  äußeres  Mein  oder  Dein  geben  soll;  der 
empirische  Besitz  (Inhabung)  ist  alsdenn  nur  Besitz  in  der  Er- 
scheinung (^possessio  phaenomenon),  obgleich  der  Gegenstand, 
den  ich  besitze,  hier  nicht  so,  wie  es  in  der  transszendentalen 
Analytik  geschieht,  selbst  als  Erscheinung,  sondern  als  Sache  an 
sich  selbst  betrachtet  wird;  denn  dort  war  es  der  Vernunft  um 
das  theoretische  Erkenntnis  der  Natur  der  Dinge  und,  wie  weit 
sie  reichen  könne,  hier  aber  ist  es  ihr  um  praktische  Bestimmung 
der  WillkĂĽr  nach  Gesetzen  der  Freiheit  zu  tun,  der  Gegenstand 
mag  nun  durch  Sinne,  oder  auch  bloĂź  den  reinen  Verstand 
erkennbar  sein,  und  das  Recht  ist  ein  solcher  reiner  praktischer 
Vernunftbegriff  der  WillkĂĽr  unter  Freiheitsgesetzen. 

Eben    darum    sollte    man    auch  bilhg  nicht   sagen:    ein  Recht 
auf   diesen    oder    jenen  Gegenstand,    sondern  vielmehr    ihn  bloĂź 

4* 


5 1     Rechtsichre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht,    i.  HauptstĂĽck 

rechtlich  besitzen;  denn  das  Recht  ist  schon  ein  intellektueller 
Besitz  eines  Gegenstandes,  einen  Besitz  aber  zu  besitzen,  wĂĽrde 
ein    Ausdruck   ohne   Sinn   sein. 


§  6. 

Deduktion  des  Begriffs  des  bloĂź  rechtlichen  Besitzes  eines 
äußeren  Gegenstandes  {possessio  noumemn). 

Die  Frage:  wie  ist  ein  äußeres  Mein  und  Dein  möglich? 
löst  sich  nun  in  diejenige  auf:  wie  ist  ein  bloß  rechtlicher 
(intelligibler)  Besitz  möglich?  und  diese  wiederum  in  die  dritte: 
wie  ist  ein   synthetischer   Rechtssatz  a  priori  möglich? 

Alle  Rechtssätze  sind  Sätze  a  priori,  denn  sie  sind  Vernunft- 
gesetze {dictamina  rationis).  Der  Rechtssatz  a  priori  in  Ansehung 
des  empirischen  Besitzes  ist  analytisch;  denn  er  sagt  nichts 
mehr,  als  was  nach  dem  Satz  des  Widerspruchs  aus  dem  letzteren 
Folgt,  daß  nämlich,  wenn  ich  Inhaber  einer  Sache  (mit  ihr  also 
physisch  verbunden)  bin,  derjenige,  der  sie  wider  meine  Ein- 
willigung aFfiziert  (z.  B.  mir  den  Apfel  aus  der  Hand  reiĂźt),  das 
innere  Meine  (meine  Freiheit)  affiziere  und  schmälere,  mithin  in 
seiner  Maxime  mit  dem  Axiom  des  Rechts  im  geraden  Wider- 
spruch stehe.  Der  Satz  von  einem  empirischen  rechtmäßigen  Be- 
sitz geht  also  nicht  ĂĽber  das  Recht  einer  Person  in  Ansehung 
ihrer  selbst  hinaus. 

Dagegen  geht  der  Satz  von  der  Klöglichkeit  des  Besitzes  einer 
Sache  auĂźer  mir  nach  Absonderung  aller  Bedingungen  des  em- 
pirischen Besitzes  im  Raum  und  Zeit  (mithin  die  Voraussetzung 
der  Möglichkeit  einer  possessio  noumenon^  über  jene  einschränkende 
Bedingungen  hinaus,  und  weil  er  einen  Besitz  auch  ohne  Inhabung 
als  notwendig  zum  BegritFe  des  äußeren  Mein  und  Dein  statuiert, 
so  ist  er  synthetisch,  und  nun  kann  es  zur  AuFgabe  FĂĽr  die 
Vernunft  dienen,  zu  zeigen,  wie  ein  solcher  sich  ĂĽber  den  Begriff 
des   empirischen   Besitzes   erweiternde   Satz   a  priori   möglich   sei. 

Auf  solche  Weise  ist  z.  B.  die  Besitzung  eines  absonderlichen 
Bodens  ein  Akt  der  Privatwillkür,  ohne  doch  eigenmächtig  zu 
sein.  Der  Besitzer  Fundiert  sich  auF  dem  angebornen  Gemein- 
besitze des  Erdbodens  und  dem  diesem  a  priori  entsprechenden 
allgemeinen  Willen  eines  erlaubten    Privatbesitzes   auf  demselben 


J^n  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  als  das  Seine  zu  haben     53 

(weil  ledige  Sachen  sonst  an  sicti  und  nach  einem  Gesetze  zu 
herrenlosen  Dingen  gemacht  werden  wĂĽrden)  und  erwirbt  durch 
die  erste  Besitzung  ursprĂĽnglich  einen  bestimmten  Boden,  indem 
er  jedem  andern  mit  Recht  (Jure)  widersteht,  der  ihn  im  Privat- 
gebrauch desselben  hindern  wĂĽrde,  obzwar  als  im  natĂĽrlichen 
Zustande  nicht  von  rechtswegen  (^cle  iure),  weil  in  demselben  noch 
kein  öffentliches  Gesetz  existiert. 

Wenn  auch  gleich  ein  Boden  als  frei,  d.  i.  zu  jedermanns 
Gebrauch  offen,  angesehen  oder  dafür  erklärt  würde,  so  kann 
man  doch  nicht  sagen,  daĂź  er  es  von  Natur  und  ursprĂĽnglich, 
vor  allem  rechtlichen  Akt,  frei  sei.  Denn  auch  das  wäre  ein  Ver- 
hältnis zu  Sachen,  nämlich  dem  Boden,  der  jedermann  seinen 
Besitz  verweigerte,  sondern  weil  diese  Freiheit  des  Bodens  ein 
Verbot  fĂĽr  jedermann  sein  wĂĽrde  sich  desselben  zu  bedienen, 
wozu  ein  gemeinsamer  Besitz  desselben  erfordert  wird,  der  ohne 
Vertrag  nicht  stattfinden  kann.  Ein  Boden  aber,  der  nur  durch 
diesen  frei  sein  kann,  muĂź  wirklich  im  Besitze  aller  derer  (zu- 
sammen Verbundenen)  sein,  die  sich  wechselseitig  den  Gebrauch 
desselben  untersagen  oder  ihn  suspendieren. 

Diese  ursprĂĽngliche  Gemeinschaft  des  Bodens  und  hie- 
mit  auch  der  Sachen  auf  demselben  (communio  fundi  ori- 
ginaria)  ist  eine  Idee,  welche  objektive  (rechtlich  praktische) 
Realität  hat,  und  ist  ganz  und  gar  von  der  uranfänglichen 
(commumo  primaeva)  unterschieden,  welche  eine  Erdichtung 
ist:  weil  diese  eine  gestiftete  Gemeinschaft  hätte  sein  und 
aus  einem  Vertrage  hervorgehen  mĂĽssen,  durch  den  alle  auf 
den  Privatbesitz  Verzicht  getan,  und  ein  jeder  durch  die  Ver- 
einigung seiner  Besitzung  mit  der  jedes  andern  jenen  in  einen 
Gesamtbesitz  verwandelt  habe,  und  davon  mĂĽĂźte  uns  die 
Geschichte  einen  Beweis  geben.  Ein  solches  Verfahren  aber 
als  ursprĂĽngliche  Besitznehmung  anzusehen,  und  daĂź  darauf 
jedes  Menschen  besonderer  Besitz  habe  gegrĂĽndet  werden 
können  und  sollen,  ist  ein  Widerspruch. 

Von  dem  Besitz  {possessio)  ist  noch  der  Sitz  (jedes),  und 
von  der  Besitznehmung  des  Bodens  in  der  Absicht  ihn  der- 
einst zu  erwerben  ist  noch  die  Niederlassung,  Ansiedelung 
(jncolatus),  unterschieden,  welche  ein  fortdauernder  Privat- 
besitz eines  Platzes  ist,  der  von  der  Gegenwart  des  Subjekts 
auf  demselben  abhängt.  Von  einer  Niederlassung  als  einem 
zweiten  rechtlichen  Akt,    der  auf  die  Besitznehmung  folgen. 


54 


Rechtslehre,    i.  Teil.   Das  Privatrecht,    i.  HauptstĂĽck 

aber  auch  ganz  unterbleiben  kann,  ist  hier  nicht  die  Rede: 
weil  sie  kein  ursprĂĽnglicher,  sondern  von  der  Beistimmung 
anderer   abgeleiteter   Besitz  sein  wĂĽrde. 

Der  bloĂźe  physische  Besitz  (die  Inhabung)  des  Bodens  ist 
schon  ein  Recht  in  einer  Sache,  obzwar  freilich  noch  nicht 
hinreichend,  ihn  als  das  Meine  anzusehen.  Beziehungsweise 
auf  andere  ist  er,  als  (soviel  man  weiĂź)  erster  Besitz,  mit 
dem  Gesetz  der  äußern  Freiheit  einstimmig  und  zugleich  in 
dem  ursprĂĽnglichen  Gesamtbesitz  enthalten,  der  a  priori  den 
Grund  der  Möglichkeit  eines  Privatbesitzes  enthält;  mithin 
den  ersten  Inhaber  eines  Bodens  in  seinem  Gebrauch  des- 
selben zu  stören,  eine  Läsion.  Die  erste  Besitznehmung  hat 
also  cmen  Rechtsgrund  Uitulus  possessionis)  fĂĽr  sich,  welcher 
der  ursprĂĽnglich  gemeinsame  Besitz  ist,  und  der  Satz:  wohl 
dem,  der  im  Besitz  ist  (Ăźeati  possidentes) !  weil  niemand  ver- 
bunden ist,  seinen  Besitz  zu  beurkunden,  ist  ein  Grundsatz 
des  natĂĽrlichen  Rechts,  der  die  erste  Besitznehmung  als  einen 
rechtlichen  Grund  zur  Erwerbung  aufstellt,  auf  den  sich  jeder 
erste   Besitzer  fuĂźen  kann. 

In  einem  theoretischen  Grundsatze  a  priori  müßte  näm- 
lich (zufolge  der  Kritik  der  reinen  Vernunft)  dem  gegebenen 
Begriff  eine  Anschauung  a  priori  untergelegt,  mithin  etwas 
zu  dem  Begriffe  vom  Besitz  des  Gegenstandes  hinzugetan 
werden;  allein  m  diesem  praktischen  wird  umgekehrt  ver- 
fahren, und  alle  Bedingungen  der  Anschauung,  welche  den 
empirischen  Besitz  begrĂĽnden,  mĂĽssen  weggeschafft  (von 
ihnen  abgesehen)  werden,  um  den  Begrifl  des  Besitzes  ĂĽber 
den  empirischen  hinaus  zu  erweitern  und  sagen  zu  können: 
ein  jeder  äußere  Gegenstand  der  Willkür  kann  zu  dem 
rechtlich  Meinen  gezählt  werden,  den  ich  (und  auch  nur 
sofern  ich  ihn)  in  meiner  Gewalt  habe,  ohne  im  Besitz  des- 
selben  zu   sein. 

Die  Möglichkeit  eines  solchen  Besitzes,  mithin  die  De- 
duktion des  Begriffs  eines  nicht-empirischen  Besitzes  grĂĽndet 
sich  auf  dem  rechtlichen  Postulat  der  praktischen  Vernunft: 
„daß  es  Rechtspflicht  sei,  gegen  andere  so  zu  handeln,  daß 
das  Ă„uĂźere  (Brauchbare)  auch  das  Seine  von  irgend  jemanden 
werden  könne",  zugleich  mit  der  Exposition  des  letzteren 
Begriffs,  welcher  das  äußere  Seine  nur  auf  einen  nicht- 
physischen   Besitz    gründet,    verbunden.      Die    Möglichkeit 


Von  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  als  das  Seine  zu  haben     55 

des  letzteren  aber  kann  keinesweges  fĂĽr  sich  selbst  bewiesen 
oder  eingesehen  werden  (eben  weil  es  ein  VernunftbegrifT 
ist,  dem  keine  Anschauung  korrespondierend  gegeben  werden 
kann),  sondern  ist  eine  unmittelbare  Folge  aus  dem  gedachten 
Postulat.  Denn  wenn  es  notwendig  ist,  nach  jenem  Rechts- 
grundsatz zu  handeln,  so  muĂź  auch  die  Lntelligibele  Bedin- 
gung (eines  bloß  rechtlichen  Besitzes)  möglich  sein.  —  Es 
darf  auch  niemand  befremden,  daĂź  die  theoretischen 
Prinzipien  des  äußeren  Mein  und  Dein  sich  im  Intelligibelen 
verlieren  und  kein  erweitertes  Erkenntnis  vorstellen:  weil 
der  Begriff  der  Freiheit,  auf  dem  sie  beruhen,  keiner  theo- 
retischen Deduktion  seiner  Möglichkeit  fähig  ist  und 
nur  aus  dem  praktischen  Gesetze  der  Vernunft  (dem  kate- 
gorischen Imperativ),  als  einem  Faktum  derselben,  ge- 
schlossen wrerden  kann. 


§7- 

Anwendung    des   Prinzips    der   Möglichkeit    des    äußeren 
Mein  und  Dein  auf  Gegenstände  der  Erfahrung. 

Der  Begriff  eines  bloĂź  rechdichen  Besitzes  ist  kein  empirischer 
(von  Raum-  und  Zeitbedingungen  abhängiger)  Begriff,  und  gleich- 
wohl hat  er  praktische  Realität,  d.  i.  er  muß  auf  Gegenstände 
der  Erfahrung,  deren  Erkenntnis  von  jenen  Bedingungen  abhängig 
ist,  anwendbar  sein.  —  Das  Verfahren  mit  dem  Rechtsbegriffe  in 
Ansehung  der  letzteren,  als  des  möghchen  äußeren  Mein  und 
Dein,  ist  folgendes:  Der  Rechtsbegriff,  der  bloĂź  in  der  Vernunft 
liegt,  kann  nicht  unmittelbar  auf  Erfahrungsobjekte  und  auf  den 
Begriff  eines  empirischen  Besitzes,  sondern  muß  zunächst  auf 
den  reinen  Verstandesbegriff  eines  Besitzes  ĂĽberhaupt  angewandt 
werden,  so  daĂź  statt  der  Inhabung  {detent'to)^  als  einer  empirischen 
Vorstellung  des  Besitzes,  der  von  allen  Raumes-  und  Zeitbedin- 
gungen abstrahierende  Begriff  des  Habens,  und  nur  daĂź  der 
Gegenstand  als  in  meiner  Gewalt  (in  potestate  inea  positum  esse) 
sei,  gedacht  werde;  da  dann  der  Ausdruck  des  Ă„uĂźeren  nicht 
das  Dasein  in  einem  anderen  Orte,  als  wo  ich  bin,  oder  meiner 
WillensentschlieĂźung  und  Annahme  als  in  einer  anderen  Zeit  wie 
der  des  Angebots,  sondern  nur  einen  von  mir  unterschiedenen 


5  6     Recht  sichre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht,    i.  Hauptstikk 

Gegenstand  bedeutet.  Nun  will  die  praktische  Vernunft  durch 
ihr  Rechtsgesetz,  daĂź  ich  das  Mein  und  Dein  in  der  Anwendung 
auf  (icgcnständc  nicht  nach  sinnlichen  Bedingungen,  sondern  ab- 
gesehen von  denselben,  weil  es  eine  Bestimmung  der  WillkĂĽr 
nach  Freiheitsgesetzen  betrifft,  auch  den  Besitz  desselben  denke, 
indem  nur  ein  Verstandesbegriff  unter  RechtsbegrifFe  subsumiert 
werden  kann.  Also  werde  ich  sagen:  ich  besitze  einen  Acker, 
ob  er  zwar  ein  ganz  anderer  Platz  ist,  als  worauf  ich  mich  wirk- 
lich befinde.  Denn  die  Rede  ist  hier  nur  von  einem  intellek- 
tuellen Verhältnis  zum  Gegenstande,  sofern  ich  ihn  in  meiner 
Gewalt  habe  (ein  von  Raumesbestimmungen  unabhängiger  Ver- 
standcsbegriff  des  Besitzes),  und  er  ist  mein,  weil  mein  zu  des- 
selben beliebigem  Gebrauch  sich  bestimmender  Wille  dem  Gesetz 
der  äußeren  Freiheit  nicht  widerstreitet.  Gerade  darin:  daß  ab- 
gesehen vom  Besitz  in  der  Erscheinung  (der  Inhabung)  dieses 
Gegenstandes  meiner  WillkĂĽr  die  praktische  Vernunft  den  Besitz 
nach  Verstandesbegriffen,  nicht  nach  empirischen,  sondern  solchen, 
die  a  priori  die  Bedingungen  desselben  enthalten  können,  gedacht 
wissen  will,  liegt  der  Grund  der  GĂĽltigkeit  eines  solchen  Begriffs 
vom  Besitze  (^possessio  noumenon)  als  einer  allgemeingeltenden  Ge- 
setzgebung; denn  eine  solche  ist  in  dem  Ausdrucke  enthalten; 
„Dieser  äußere  Gegenstand  ist  mein,"  weil  allen  andern  dadurch 
eine  Verbindlichkeit  auferlegt  wird,  die  sie  sonst  nicht  hätten, 
sich  des  Gebrauchs  desselben  zu  enthalten. 

Die  Art  also,  etwas  auĂźer  mir  als  das  Meine  zu  haben,  ist 
die  bloĂź  rechtliche  Verbindung  des  Willens  des  Subjekts  mit  jenem 
Gegenstande,  unabhängig  von  dem  Verhältnisse  zu  demselben  im 
Raum  und  in  der  Zeit,  nach  dem  Begriff  eines  intelligibelen  Be- 
sitzes. —  Ein  Platz  auf  der  Erde  ist  nicht  darum  ein  äußeres  Meine, 
weil  ich  ihn  mit  meinem  Leibe  einnehme  (denn  es  betrifft  hier 
nur  meine  äußere  Freiheit,  mithin  nur  den  Besitz  meiner  selbst, 
kein  Ding  auĂźer  mir,  und  ist  also  nur  ein  inneres  Recht);  son- 
dern wenn  ich  ihn  noch  besitze,  ob  ich  mich  gleich  von  ihm 
weg  und  an  einen  andern  Ort  begeben  habe,  nur  alsdenn  betrifft 
es  mein  äußeres  Recht,  und  derjenige,  der  die  fortwährende  Be- 
setzung dieses  Platzes  durch  meine  Person  zur  Bedingung  machen 
wollte,  ihn  als  das  Meine  zu  haben,  muĂź  entweder  behaupten, 
CS  sei  gar  nicht  möglich,  etwas  Äußeres  als  das  Seine  zu  haben 
(welches  dem  Postulat  $  2  widerstreitet),  oder  er  verlangt,  daĂź, 
um  dieses  zu   können,    ich    in  zwei   Orten    zugleich    sei;    welches 


Von  der  Art  ewtas  Ă„uĂźeres  als  das  Seine  zu  haben     57 

denn  aber  soviel  sagt,  als:  ich  solle  an  einem  Orte  sein  und  auch 
nicht  sein,  wodurch  er  sich  selbst  widerspricht. 

Dieses  kann  auch  auf  den  Fall  angewendet  werden,  da  ich 
ein  Versprechen  acceptiert  habe;  denn  da  wird  meine  Habe  und 
Besitz  an  dem  Versprochenen  dadurch  nicht  aufgehoben,  daĂź  der 
Versprechende  zu  einer  Zeit  sagte:  diese  Sache  soll  dein  sein,  eine 
Zeit  hernach  aber  von  ebenderselben  Sache  sagt:  ich  wall  jetzt,  die 
Sache  solle  nicht  dein  sein.  Denn  es  hat  mit  solchen  intellek- 
tuellen Verhältnissen  die  Bewandtnis,  als  ob  jener  ohne  eine  Zeit 
zwdschen  beiden  Deklarationen  seines  Willens  gesagt  hätte:  sie 
soll  dein  sein,  und  auch:  sie  soll  nicht  dein  sein,  was  sich  dann 
selbst  widerspricht. 

Eben  dasselbe  gilt  auch  von  dem  Begriffe  des  rechtlichen  Besitzes 
einer  Person,  als  zu  der  Habe  des  Subjekts  gehörend  (sein  Weib, 
Kind,  Knecht):  daß  nämlich  diese  häusliche  Gemeinschaft  und  der 
wechselseitige  Besitz  des  Zustandes  aller  Glieder  derselben  durch 
die  Befugnis  sich  örtlich  voneinander  zu  trennen  nicht  auf- 
gehoben wird:  weil  es  ein  rechtliches  Verhältnis  ist,  was  sie 
verknüpft,  und  das  äußere  Mein  und  Dein  hier  ebenso  wie  in 
vorigen  Fällen  gänzlich  auf  der  Voraussetzung  der  Möglichkeit 
eines  reinen  Vernunftbesitzes  ohne  Inhabung  beruht. 

Zur  Kritik  der  rechtlich-praktischen  Vernunft  im  Begriffe 
des  äußeren  Mein  und  Dein  wird  diese  eigentlich  durch  eine 
Antinomie  der  Sätze  über  die  Möglichkeit  eines  solchen  Be- 
sitzes genötigt,  d.  i.  nur  durch  eine  unvermeidliche  Dialektik, 
in  welcher  Thesis  und  Antithesis  beide  auf  die  GĂĽltigkeit 
zweier  einander  widerstreitenden  Bedingungen  gleichen  An- 
spruch machen,  wird  die  Vernunft  auch  in  ihrem  praktischen 
(das  Recht  betreffenden)  Gebrauch  genötigt,  zwischen  dem 
Besitz  als  Erscheinung  und  dem  bloĂź  durch  den  Verstand 
denkbaren  einen  Unterschied  zu  machen. 

Der  Satz  heißt:  Es  ist  möglich,  etwas  Äußeres  als  das 
Meine  zu  traben,  ob  ich  gleich  nicht  im  Besitz  desselben  bin. 
Der  Gegensatz:  Es  ist  nicht  möglich,    etwas  Äußeres 
als    das    Meine    zu    haben,   wenn    ich    nicht    im   Besitz    des- 
selben bin. 

Auflösung:  Beide  Sätze  sind  wahr:  der  erstere,  wenn  ich 
den  empirischen  Besitz  (^possessio  phaenomemn)^  der  andere, 
wenn  ich  unter  diesem  Wort  den  reinen  intelligibelen  Besitz 
{possessio  noumenon)  verstehe.  —  Aber  die  Möglichkeit  eines 


8     Reckt  sichre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    /.  HauptstĂĽck 

intelligibclcn  Besitzes,  mithin  auch  des  äußeren  Mein  und 
Dein  läßt  sich  nicht  einsehen,  sondern  muß  aus  dem  Postulat 
der  praktischen  Vernunft  gefolgert  werden,  wobei  es  noch 
besonders  merkwĂĽrdig  ist:  daĂź  diese  ohne  Anschauungen, 
selbst  ohne  einer  a  priori  zu  bedĂĽrfen,  sich  durch  bloĂźe, 
vom  Gesetz  der  Freiheit  berechtigte  Weglassung  empirischer 
Bedingungen  erweitere  und  so  synthetische  Rechtssätze 
a  priori  aufstellen  kann,  deren  Beweis  (wie  bald  gezeigt 
werden  soll)  nachher  in  praktischer  RĂĽcksicht  auf  analytische 
Art  gefĂĽhrt  werden   kann. 


§  8. 

Etwas  Ă„uĂźeres   als  das  Seine  zu  haben,  ist  nur  in  einem 

rechtlichen  Zustande,  unter  einer  öffentlich-gesetzgebenden 

Gewalt,  d.  i.  im  bürgerlichen  Zustande,  möglich. 

Wenn  ich  (wörtlich  oder  durch  die  Tat)  erkläre:  ich  will, 
daß  etwas  Äußeres  das  Meine  sein  solle,  so  erkläre  ich  jeden 
anderen  fĂĽr  verbindlich,  sich  des  Gegenstandes  meiner  WillkĂĽr 
zu  enthalten:  eine  Verbindlichkeit,  die  niemand  ohne  diesen 
meinen  rechtlichen  Akt  haben  wĂĽrde.  In  dieser  AnmaĂźung 
aber  liegt  zugleich  das  Bekenntnis:  jedem  anderen  in  Ansehung 
des  äußeren  Seinen  wechselseitig  zu  einer  gleichmäßigen  Enthaltung 
verbunden  zu  sein;  denn  die  Verbindlichkeit  geht  hier  aus  einer 
allgemeinen  Regel  des  äußeren  rechdichen  Verhältnisses  hervor. 
Ich  bin  also  nicht  verbunden,  das  äußere  Seine  des  anderen  un- 
angetastet zu  lassen,  wenn  mich  nicht  jeder  andere  dagegen  auch 
sicher  stellt,  er  werde  in  Ansehung  des  Meinigen  sich  nach  eben- 
demselben Prinzip  verhalten;  welche  Sicherstellung  gar  nicht  eines 
besonderen  rechtlichen  Akts  bedarf,  sondern  schon  im  Begriffe 
einer  äußeren  rechtlichen  Verpflichtung  wegen  der  Allgemeinheit, 
mithin  auch  der  Reziprozität  der  Verbindlichkeit  aus  einer  all- 
gemeinen Regel  enthalten  ist.  —  Nun  kann  der  einseitige  Wille 
in  Ansehung  eines  äußeren,  mithin  zufälligen  Besitzes  nicht  zum 
Zwangsgesetz  fĂĽr  jedermann  dienen,  weil  das  der  Freiheit  nach 
allgemeinen  Gesetzen  Abbruch  tun  wĂĽrde.  Also  ist  nur  ein  jeden 
anderen  verbindender,  mithin  kollektiv  allgemeiner  (gemeinsamer) 
und  machthabender  Wille  derjenige,  welcher  jedermann  jene  Sicher- 


Von  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  als  das  Seine  zu  haben     ^^ 

heit  leisten  kann.  —  Der  Zustand  aber  unter  einer  allgemeinen 
äußeren  (d.  i.  öffentlichen)  mit  Macht  begleiteten  Gesetzgebung 
ist  der  bĂĽrgerliche.  Also  kann  es  nur  im  bĂĽrgerhchen  Zustande 
ein  äußeres  Mein  und  Dein  geben. 

Folgesatz:  Wenn  es  rechtlich  möglich  sein  muß,  einen  äußeren 
Gegenstaxid  als  das  Seine  zu  haben:  so  muĂź  es  auch  dem  Subjekt 
erlaubt  sein,  jeden  anderen,  mit  dem  es  zum  Streit  des  Mein  und 
Dein  über  ein  solches  Objekt  kommt,  zu  nötigen,  mit  ihm  zu- 
sammen in   eine  bĂĽrgerliche  Verfassung  zu  treten. 


§  5). 

Im   Naturzustande   kann    doch    ein   wirkliches,    aber    nur 
provisorisches  äußeres  Mein  und  Dein  statthaben. 

Das  Naturrecht  im  Zustande  einer  bĂĽrgerlichen  Verfassung 
(d.  i.  dasjenige,  was  fĂĽr  die  letztere  aus  Prinzipien  a  priori  ab- 
geleitet werden  kann)  kann  durch  die  statutarischen  Gesetze  der 
letzteren  nicht  Abbruch  leiden,  und  so  bleibt  das  rechtliche  Prinzip 
in  Kraft:  „Der,  welcher  nach  einer  Maxime  verfährt,  nach  der  es 
unmöglich  wird,  einen  Gegenstand  meiner  Willkür  als  das  Meine 
zu  haben,  lädiert  mich";  denn  bürgerliche  Verfassung  ist  allein  der 
rechtliche  Zustand,  durch  welchen  jedem  das  Seine  nur  gesichert, 
eigentlich  aber  nicht  ausgemacht  und  bestimmt  wird.  —  Alle 
Garantie  setzt  also  das  Seine  von  jemanden  (dem  es  gesichert 
wird),  schon  voraus.  Mithin  muĂź  vor  der  bĂĽrgerlichen  Verfassung 
(oder  von  ihr  abgesehen)  ein  äußeres  Mein  und  Dein  als  mög- 
lich angenommen  werden  und  zugleich  ein  Recht,  jedermann,  mit 
dem  wir  irgend  auf  eine  Art  in  Verkehr  kommen  könnten,  zu 
nötigen,  mit  uns  in  eine  Verfassung  zusammen  zu  treten,  worin 
jenes  gesichert  werden  kann.  —  Ein  Besiti  in  Erwartung  und  Vor- 
bereitung eines  solchen  Zustandes  der  allein  auf  einem  Gesetz  des 
gemeinsamen  Willens  gegrĂĽndet  werden  kann,  der  also  zu  der 
Möglichkeit  des  letzteren  zusammenstimmt,  ist  ein  provi- 
so-risch-rechtlicher  Besitz,  wogegen  derjenige,  der  in  einem 
solchen  wirklichen  Zustande  angetroffen  wird,  ein  perem- 
torischer  Besitz  sein  würde.  —  Vor  dem  Eintritt  in  diesen  Zu- 
stand, zu  dem  das  Subjekt  bereit  ist,  widersteht  er  denen  mit 
Recht,    die    dazu  sich    nicht    bequemen  und  ihn  in  seinem  einst- 


6o     Rech tsl ehre.    i.  Teil.  Das  Friva treckt,    i.  HauptstĂĽck 

welligen  Besitz  stören  wollen:  weil  der  Wille  aller  anderen  außer 
ihm  selbst,  der  ihm  eine  Verbindlichkeit  aufzulegen  denkt,  von 
einem  gewissen  Besitz  abzustehen,  bloĂź  einseitig  ist,  mithin 
ebensowenig  gesetzliche  Kraft  (als  die  nur  im  allgemeinen  Willen 
angctrort'cn  wird)  zum  Widersprechen  hat,  als  jener  zum  Behaupten, 
indessen  daĂź  der  letztere  doch  dies  voraus  hat,  zur  EinfĂĽhrung 
und  Errichtung  eines  bürgerlichen  Zustandes  zusammenzustimmen.  — 
Mit  einem  Worte:  die  Art,  etwas  Ă„uĂźeres  als  das  Seine  im  Na- 
tur zustande  zu  haben,  ist  ein  physischer  Besitz,  der  die  recht- 
liche Präsumtion  für  sich  hat,  ihn  durch  Vereinigung  mit  dem 
Willen  aller  in  einer  öffentlichen  Gesetzgebung  zu  einem  recht- 
lichen zu  machen,  und  gilt  in  der  Erwartung  komparativ  fĂĽr 
einen   rechtlichen. 

Dieses  Prärogativ  des  Rechts  aus  dem  empirischen  Besitz- 
stande nach  der  Formel:  wohl  dem,  der  im  Besitz  ist 
(beati  possidentes')  besteht  nicht  darin:  daß,  weil  er  die  Prä- 
sumtion eines  rechtlichen  Mannes  hat,  er  nicht  nötig 
habe,  den  Beweis  zu  führen,  er  besitze  etwas  rechtmäßig 
(denn  das  gilt  nur  im  streitigen  Rechte),  sondern  weil  nach 
dem  Postulat  der  praktischen  Vernunft  jedermann  das  Vermögen 
zukommt,  einen  äußeren  Gegenstand  seiner  Willkür  als  das 
Seine  zu  haben,  mithin  jede  Inhabung  ein  Zustand  ist,  dessen 
Rechtmäßigkeit  sich  auf  jenem  Postulat  durch  einen  Akt  des 
vorhergehenden  Willens  grĂĽndet,  und  der,  wenn  nicht  ein 
älterer  Besitz  eines  anderen  von  ebendemselben  Gegenstande 
dawider  ist,  also  vorläufig,  nach  dem  Gesetz  der  äußeren 
Freiheit  jedermann,  der  mit  mir  nicht  in  den  Zustand  einer 
öffentlich  gesetzlichen  Freiheit  treten  will,  von  aller  Anmaßung 
des  Gebrauchs  eines  solchen  Gegenstandes  abzuhalten  berechtigt, 
um  dem  Postulat  der  Vernunft  gemäß  eine  Sache,  die  sonst 
praktisch  vernichtet  sein  wĂĽrde,  seinem  Gebrauch  zu  unter- 
werfen. 


2.  HauptstĂĽck.     Von  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  zu  erwerben     6 1 

Zweites  HauptstĂĽck. 
Von  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  zu  erwerben. 

§    10. 

Allgemeines  Prinzip  der  äußeren  Erwerbung. 

Ich  erwerbe  etwas,  wenn  ich  mache  (efficio),  daĂź  etwas  mein 
werde.  —  Ursprünglich  mein  ist  dasjenige  Äußere,  was  auch  ohne 
einen  rechtlichen  Akt  mein  ist.  Eine  Erwerbung  aber  ist  ur- 
sprĂĽnglich diejenige,  welche  nicht  von  dem  Seinen  eines  anderen 
abgeleitet  ist. 

Nichts  Ă„uĂźeres  ist  ursprĂĽnglich  mein;  wohl  aber  kann  es 
ursprĂĽnghch,  d.  i.  ohne  es  von  dem  Seinen  irgend  eines  anderen 
abzuleiten,  erworben  sein.  —  Der  Zustand  der  Gemeinschaft  des 
Mein  und  Dein  {communio)  kann  nie  als  ursprĂĽnglich  gedacht, 
sondern  muß  (durch  einen  äußeren  rechthchen  Akt)  erworben 
werden;  obwohl  der  Besitz  eines  äußeren  Gegenstandes  ursprüng- 
hch und  gemeinsam  sein  kann.  Auch  wenn  man  sich  (pro- 
blematisch) eine  ursprĂĽngliche  Gemeinschaft  (communio  me'i  et 
tui  or'tgtnarid)  denkt:  so  muß  sie  doch  von  der  uranfänglichen 
(communio  primaevd)  unterschieden  werden,  welche  als  in  der  ersten 
Zeit  der  Rechtsverhältnisse  unter  Menschen  gestiftet  angenommen 
wird  und  nicht  wie  die  erstere  auf  Prinzipien,  sondern  nur  auf 
Geschichte  gegrĂĽndet  werden  kann:  wobei  die  letztere  doch 
immer  als  erworben  und  abgeleitet  (communio  derivativä)  gedacht 
werden  mĂĽĂźte. 

Das  Prinzip  der  äußeren  Erwerbung  ist  nun:  Was  ich  (nach 
dem  Gesetz  der  äußeren  Freiheit)  in  meine  Gewalt  bringe,  und 
wovon  als  Objekt  meiner  WillkĂĽr  Gebrauch  zu  machen  ich  (nach 
dem  Postulat  der  praktischen  Vernunft)  das  Vermögen  habe:  end- 
lich, was  ich  (gemäß  der  Idee  eines  mögUchen  vereinigten 
Willens)  will,  es  solle  mein  sein,  das  ist  mein. 

Die  Momente  (attendendd)  der  ursprĂĽnglichen  Erwerbung 
sind  also:  i.  die  Apprehension  eines  Gegenstandes,  der  keinem 
angehört,  widrigenfalls   sie  der  Freiheit   anderer  nach  allgemeinen 


6  2     Rechts  lehre,    i.  Teil.  Das  Frivatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

Gesetzen  widerstreiten  wĂĽrde.  Diese  Apprehension  ist  die  Be- 
sit/nclunung  des  Gegenstandes  der  WillkĂĽr  im  Raum  und  der 
Zeit;  der  Besitz  als(j,  in  den  ich  mich  setze,  ist  possessio  phaemmenon. 
1.  Die  Bezeichnung  (jleclaratio)  des  Besitzes  dieses  Gegenstandes  und 
des  Akts  meiner  WillkĂĽr  jeden  anderen  davon  abzuhalten.  3.  Die 
Zueignung  [appropriatio^  als  Akt  eines  äußerlich  allgemein  gesetz- 
gebenden Willens  (\x\  der  Idee),  durch  welchen  jedermann  zur 
Einstimmung  mit  meiner  Willkür  verbunden  wird.  —  Die  Gültig- 
keit des  letzteren  Moments  der  Erwerbung,  als  worauf  der  SchluĂź- 
satz: der  äußere  Gegenstand  ist  mein,  beruht,  d.  i.  daß  der 
Besitz  als  ein  bloĂź  rechtlicher  gĂĽltig  {possessio  noumenon)  sei, 
grĂĽndet  sich  darauf:  daĂź,  da  alle  diese  Aktus  rechtlich  sind, 
mithin  aus  der  praktischen  Vernunft  hervorgehen,  und  also  in  der 
Frage,  was  Rechtens  ist,  von  den  empirischen  Bedingungen  des 
Besitzes  abstrahiert  werden  kann,  der  Schlußsatz:  der  äußere  Ge- 
genstand ist  mein,  vom  sensibelen  auf  den  intelligibelen  Besitz 
richtig  gefĂĽhrt  wird. 

Die  ursprüngliche  Erwerbung  eines  äußeren  Gegenstandes  der 
Willkür  heißt  Bemächtigung  Uccupatio')  und  kann  nicht  anders, 
als  an  körperlichen  Dingen  (Substanzen)  stattfinden.  Wo  nun 
eine  solche  stattfindet,  bedarf  sie  zur  Bedingung  des  empirischen 
Besitzes  die  Priorität  der  Zeit  vor  jedem  anderen,  der  sich  einer 
Sache  bemächtigen  will  (^«z  prior  tempore  potior  iure^.  Sie  ist  als 
ursprĂĽnglich  auch  nur  die  Folge  von  einseitiger  WillkĂĽr;  denn 
wäre  dazu  eine  doppelseitige  erforderlich,  so  würde  sie  von  dem 
Vertrag  zweier  (oder  mehrerer)  Personen,  folglich  von  dem  Seinen 
anderer  abgeleitet  sein.  —  Wie  ein  solcher  Akt  der  Willkür,  als 
jener  ist,  das  Seine  für  jemanden  begründen  könne,  ist  nicht 
leicht  einzusehen.  —  Indessen  ist  die  erste  Erwerbung  doch  darum 
sofort  nicht  die  ursprĂĽngliche.  Denn  die  Erwerbung  eines 
öffentlichen  rechtlichen  Zustandes  durch  Vereinigung  des  Willens 
aller  zu  einer  allgemeinen  Gesetzgebung  wäre  eine  solche,  vor  der 
keine  vorhergehen  darf,  und  doch  wäre  sie  von  dem  besonderen 
Willen  eines  jeden  abgeleitet  und  allseitig:  da  eine  ursprĂĽngliche 
Erwerbung   nur  aus  dem  einseitigen  Willen  hervorgehen   kann. 


Von  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  zu  erwerben,    i.  Abschnitt    6  5 

Einteilung 
der  Erwerbung  des  äußeren  Mein  und  Dein. 

I.  Der  Materie  (dem  Objekte)  nach  erwerbe  ich  entweder 
eine  körperliche  Sache  (Substanz)  oder  die  Leistung  (Kausahtät) 
eines  anderen  oder  diese  andere  Person  selbst,  d.  i.  den  Zustand 
derselben,  sofern  ich  ein  Recht  erlange,  ĂĽber  denselben  zu  ver- 
fugen (das  Kommerzium  mit  derselben). 

2.  Der  Form  (Erwerbungsart)  nach  ist  es  entweder  ein 
Sachenrecht  (jus  reale)  oder  persönliches  Recht  (jus  perso- 
nale) oder  ein  dinglich-persönliches  Recht  (/«x  realiter  per- 
sonale) des  Besitzes  (obzwar  nicht  des  Gebrauchs)  einer  anderen 
Person  als  einer  Sache. 

3.  Nach  dem  Rechtsgrunde  (titulus)  der  Erwerbung;  welches 
eigentlich  kein  besonderes  Glied  der  Einteilung  der  Rechte,  aber 
doch  ein  Moment  der  Art  ihrer  AusĂĽbung  ist:  entweder  durch 
den  Akt  einer  einseitigen  oder  doppelseitigen  oder  all- 
seitigen WillkĂĽr,  wodurch  etwas  Ă„uiĂźeres  (Jacto,  pacto,  lege) 
erworben  wird. 


Erster  Abschnitt. 
Vom  Sachenrecht. 

§  1 1. 
Was  ist  ein  Sachenrecht? 

Die  gewöhnliche  Erklärung  des  Rechts  in  einer  Sache 
(jus  reale,  ius  in  re),  „es  sei  das  Recht  gegen  jeden  Besitzer 
derselben",  ist  eine  richtige  Nominaldefinition.  —  Aber  was  ist 
das,  was  da  macht,  daß  ich  mich  wegen  eines  äußeren  Gegen- 
standes an  jeden  Inhaber  desselben  halten  und  ihn  (per  vindi- 
cationem)  nötigen  kann,  mich  wieder  in  Besitz  desselben  zu  setzen? 
Ist  dieses  äußere  rechtliche  Verhältnis  meiner  Willkür  etwa  ein 
unmittelbares  Verhältnis  zu  einem  körperhchen  Dinge?  So 
mĂĽĂźte  derjenige,  welcher  sein  Recht  nicht  unmittelbar  auf  Per- 
sonen, sondern  auf  Sachen  bezogen  denkt,  es  sich  freilich  (ob- 
zwar nur  auf  dunkele  Art)  vorstellen;   nämlich,   weil    dem  Recht 


Ă–4     Rechtslehrr.     i.  Ted.  Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

aiit"  einer  Seite  eine  Ptiicht  auf  der  andern  korrespondiert,  daĂź 
die  äußere  Sache,  ob  sie  zwar  dem  ersten  Besitzer  abhanden  ge- 
kommen, diesem  doch  immer  verpflichtet  bleibe,  d.  i.  sich 
jedem  anmaĂźhchen  anderen  Besitzer  weigere,  weil  sie  jenem  schon 
verbindlich  ist,  und  so  mein  Recht  gleich  einem  die  Sache  be- 
gleitenden und  vor  allem  Fremden  Angriffe  bewahrenden  Genius 
den  fremden  Besitzer  immer  an  mich  weise.  Es  ist  also  ungereimt, 
sich  Verbindlichkeit  einer  Person  gegen  Sachen  und  umgekehrt  zu 
denken,  wenn  es  gleich  allenfalls  erlaubt  werden  mag,  das  recht- 
liche Verhältnis  durch  ein  solches  Bild  zu  versinnlichen  und  sich 
so   auszudrĂĽcken. 

Die  RcaldeHnition  wĂĽrde  daher  so  lauten  mĂĽssen:  Das  Recht 
in  einer  Sache  ist  ein  Recht  des  Privatgebrauchs  einer  Sache, 
in  deren  (ursprĂĽnglichen,  oder  gestifteten)  Gesamtbesitze  ich  mit 
allen  andern  bin.  Denn  das  letztere  ist  die  einzige  Bedingung, 
unter  der  es  allein  möghch  ist,  daß  ich  jeden  anderen  Besitzer 
vom  Privatgebrauch  der  Sache  ausschlieĂźe  (jus  contra  quenil'tbet 
butus  rei  possessoreni),  weil,  ohne  einen  solchen  Gesamtbesitz  voraus- 
zusetzen, sich  gar  nicht  denken  läßt,  wie  ich,  der  ich  doch  nicht 
im  Besitz  der  Sache  bin,  von  andern,  die  es  sind,  und  die  sie 
brauchen,  lädiert  werden  könne.  —  Durch  einseitige  Willkür  kann 
ich  keinen  andern  verbinden,  sich  des  Gebrauchs  einer  Sache  zu 
enthalten,  wozu  er  sonst  keine  Verbindlichkeit  haben  wĂĽrde;  also 
nur  durch  vereinigte  WillkĂĽr  aller  in  einem  Gesamtbesitz.  Sonst 
mĂĽĂźte  ich  mir  ein  Recht  in  einer  Sache  so  denken:  als  ob  die 
Sache  gegen  mich  eine  Verbindlichkeit  hätte,  und  davon  allererst 
das  Recht  gegen  jeden  Besitzer  derselben  ableiten;  welches  eine 
ungereimte    Vorstellungsart  ist. 

Unter  dem  Wort:  Sachenrecht  (Jus  reale)  wird  ĂĽbrigens  nicht 
bloĂź  das  Recht  in  einer  Sache  (jus  in  re\  sondern  auch  der 
Inbegriff  aller  Gesetze,  die  das  dingliche  Mein  und  Dein  be- 
trctfcn,  verstanden.  —  Es  ist  aber  klar,  daß  ein  Mensch,  der  auf: 
Erden  ganz  allein  wäre,  eigentlich  kein  äußeres  Ding  als  das  Seine 
haben  oder  erwerben  könnte:  weil  zwischen  ihm  als  Person  und 
allen  anderen  äußeren  Dingen  als  Sachen  es  gar  kein  Verhältnis 
der  Verbindlichkeit  gibt.  Es  gibt  also,  eigentlich  und  buch- 
stäblich verstanden  auch  kein  (direktes)  Recht  in  einer  Sache, 
sondern  nur  dasjenige  wird  so  genannt,  was  jemanden  gegen  eine 
Person  zukommt,  die  mit  allen  anderen  (im  bĂĽrgerlichen  Zustande) 
im  gemeinsamen  Besitz  ist. 


I.  Abschnitt.    Vom  Sachenrecht  6^ 

§    12. 

Die  erste  Erwerbung  einer  Sache  kann   keine   andere   als 

die  des  Bodens  sein. 

Der  Boden  (unter  welchem  alles  bewohnbare  Land  verstanden 
wird)  ist  in  Ansehung  alles  Beweglichen  auf  demselben  als  Sub- 
stanz,  die  Existenz  des  letzteren  aber  nur  als  Inh'ärenz  zu  be- 
trachten, und  so  wie  im  theoretischen  Sinne  die  Accidenzen  nicht 
außerhalb  der  Substanz  existieren  können,  so  kann  im  praktischen 
das  Bewegliche  auf  dem  Boden  nicht  das  Seine  von  jemanden 
sein,  wenn  dieser  nicht  vorher  als  im  rechtlichen  Besitz  desselben 
befindlich  (als  das  Seine  desselben)  angenommen  wird. 

Denn  setzet,  der  Boden  gehöre  niemanden  an:  so  werde  ich 
jede  bewegliche  Sache,  die  sich  auf  ihm  befindet,  aus  ihrem  Platze 
stoßen  können,  um  ihn  selbst  einzunehmen,  bis  sie  sich  gänzlich 
verliert,  ohne  daĂź  der  Freiheit  irgend  eines  anderen,  der  jetzt 
gerade  nicht  Inhaber  desselben  ist,  dadurch  Abbruch  geschieht; 
alles  aber,  was  zerstört  werden  kann,  ein  Baum,  Haus  u.  s.  w.,  ist 
(wenigstens  der  Materie  nach)  beweglich,  und  wenn  man  die 
Sache,  die  ohne  Zerstörung  ihrer  Form  nicht  bewegt  werden 
kann,  ein  Immobile  nennt,  so  wird  das  Mein  und  Dein  an 
jener  nicht  von  der  Substanz,  sondern  dem  ihr  Anhängenden  ver- 
standen, welches  nicht  die  Sache  selbst  ist. 


Ein   jeder   Boden    kann    ursprĂĽnglich    erworben    werden, 

und  der  Grund  der  Möglichkeit  dieser  Erwerbung  ist  die 

ursprĂĽngliche  Gemeinschaft  des  Bodens  ĂĽberhaupt. 

Was  das  erste  betrifft,  so  grĂĽndet  sich  dieser  Satz  auf  dem 
Postulat  der  praktischen  Vernunft  (§2);  das  zweite  auf  folgenden 
Beweis. 

Alle  Menschen  sind  ursprĂĽnglich  (d,  i.  vor  allem  rechtĂśchen 
Akt  der  Willkür)  im  rechtmäßigen  Besitz  des  Bodens,  d.  i.  sie 
haben  ein  Recht,  da  za  sein,  wohin  sie  die  Natur,  oder  der 
Zufall  (ohne  ihren  Willen)  gesetzt  hat.     Dieser  Besitz  (possessio), 

Kants  Schriften.  Bd.  VII.  5 


öö      Rechts  lehre,    i.  Teil.   Das  Privatrecht.    2.  Haupt  stück 

der  vom  Sitz  (jedes)  als  einem  willkĂĽrlichen,  mithin  erworbenen, 
dauernden  Besitz  unterschieden  ist,  ist  ein  gemeinsamer  Besitz 
wegen  der  Einheit  aller  Plätze  auf  der  Erdfläche  als  Kugelfläche: 
weil,  wenn  sie  eine  unendliche  Ebene  wäre,  die  Menschen  sich 
darauf  so  zerstreuen  könnten,  daß  sie  in  gar  keine  Gemeinschah 
miteinander  kämen,  diese  also  nicht  eine  notwendige  Folge  von 
ihrem  Dasein  auf  Erden  wäre.  —  Der  Besitz  aller  Menschen  auf 
Erden,  der  vor  allem  rechtlichen  Akt  derselben  vorhergeht  (von 
der  Natur  selbst  konstituiert  ist),  ist  ein  ursprĂĽnglicher  Ge- 
samtbesitz (communio  possessionis  originaria)^  dessen  Begriff  nicht 
empirisch  und  von  Zeitbedingungen  abhängig  ist,  wie  etwa  der 
gedichtete,  aber  nie  erweisliche  eines  uranfänglichen  Gesamt- 
besitzes  (communio  primaeva),  sondern  ein  praktischer  Vcrnunft- 
begrifF,  der  a  priori  das  Prinzip  enthält,  nach  welchem  allein  die 
Menschen  den  Platz  auf  Erden  nach  Rechtsgesetzen  gebrauchen 
können. 


$  14- 

Der  rechtliche  Akt  dieser  Erwerbung  ist  Bemächtigung 

(occupatio^. 

Die  Besitznehmung  (apprehensio)^  als  der  Anfang  der  In- 
habung  einer  körperlichen  Sache  im  Räume  (^possessionis  physicae^, 
stimmt  unter  keiner  anderen  Bedingung  mit  dem  Gesetz  der 
äußeren  Freiheit  von  jedermann  (mithin  a  priori)  zusammen,  als 
unter  der  der  Priorität  in  Ansehung  der  Zeit,  d.  i.  nur  als  erste 
Besitznehmung  (^prior  apprehensio^,  welche  ein  Akt  der  WillkĂĽr  ist. 
Der  Wille  aber,  die  Sache  (mithin  auch  ein  bestimmter  abgeteilter 
Platz  auf  Erden)  solle  mein  sein,  d.  i.  die  Zueignung  (appropriatio\ 
kann  in  einer  ursprĂĽnglichen  Erwerbung  nicht  anders  als  ein- 
seitig (yoluntas  unilateralis  s.  proprio)  sein.  Die  Erwerbung  eines 
äußeren  Gegenstandes  der  Willkür  durch  einseitigen  Willen  ist 
die  Bemächtigung.  Also  kann  die  ursprüngliche  Erwerbung 
desselben,  mithin  auch  eines  abgemessenen  Bodens  nur  durch  Be- 
mächtigung  '^occupatio)   geschehen.  — 

Die  Möglichkeit  auf  solche  Art  zu  erwerben,  läßt  sich  auf 
keine  Weise  einsehen,  noch  durch  GrĂĽnde  dartun,  sondern  ist  die 
unmittelbare    Folge    aus    dem    Postulat    der    praktischen  Vernunft. 


i.  Abschnitt.     Vom  Sachenrecht  6j 

Derselbe  Wille  aber  kann  doch  eine  äußere  Erwerbung  nicht 
anders  berechtigen,  als  nur  sofern  er  in  einem  a  priori  vereinigten 
(d.  i.  durch  die  Vereinigung  der  WillkĂĽr  aller,  die  in  ein  prak- 
tisches Verhältnis  gegen  einander  kommen  können)  absolut  ge- 
bietenden Willen  enthalten  ist;  denn  der  einseitige  Wille  (wozu 
auch  der  doppelseitige,  aber  doch  besondere  Wille  gehört)  kann 
nicht  jedermann  eine  Verbindlichkeit  auflegen,  die  an  sich  zu- 
fällig ist,  sondern  dazu  wird  ein  allseitiger,  nicht  zufälhg, 
sondern  a  priori,  mithin  notwendig  vereinigter  und  darum  allein 
gesetzgebender  Wille  erfordert;  denn  nur  nach  dieses  seinem 
Prinzip  ist  Ăśbereinstimmung  der  freien  WillkĂĽr  eines  jeden  mit 
der  Freiheit  von  jedermann,  mithin  ein  Recht  ĂĽberhaupt,  und  also 
auch  ein  äußeres  Mein  und  Dein  möglich. 


§  15. 

Nur  in  einer  bĂĽrgerlichen  Verfassung  kann  etwas 

peremtorisch,  dagegen  im  Naturzustande  zwar  auch, 

aber  nur  provisorisch  erworben  werden. 

Die  bĂĽrgerĂĽche  Verfassung,  obzwar  ihre  Wirklichkeit  sub- 
jektiv zufällig  ist,  ist  gleichwohl  objektiv,  d.  i.  als  Pflicht,  not- 
wendig. Mithin  gibt  es  in  Hinsicht  auf  dieselbe  und  ihre  Stiftung 
ein  wirkliches  Rechtsgesetz  der  Natur,  dem  alle  äußere  Erwerbung 
unterworfen  ist. 

Der  empirische  Titel  der  Erwerbung  war  die  auf  ursprĂĽng- 
hche  Gemeinschaft  des  Bodens  gegrĂĽndete  physische  Besitznehmung 
(apprehensio  physicd),  welchem,  weil  dem  Besitz  nach  Vernunft- 
begriffnen  des  Rechts  nur  ein  Besitz  in  der  Erscheinung  unter- 
gelegt werden  kann,  der  einer  intellektuellen  Besitznehmung  (mit 
Weglassung  aller  empirischen  Bedingungen  in  Raum  und  Zeit) 
korrespondieren  muß,  und  die  den  Satz  gründet;  „Was  ich  nach 
Gesetzen  der  äußeren  Freiheit  in  meine  Gewalt  bringe  und  will, 
es  solle  mein  sein,  das  wird  mein." 

Der  Vernunfttitel  der  Erwerbung  aber  kann  nur  in  der 
Idee  eines  a  priori  vereinigten  (notwendig  zu  vereinigenden) 
Willens  aller  liegen,  welche  hier  als  unumgängliche  Bedingung 
(conditio  sine  qua  non)    stillschweigend    vorausgesetzt    wird;    denn 

5* 


6  8     Rechtslehre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

durch  einseitigen  Willen  kann  anderen  eine  Verbindlichkeit,  die 
sie  tür  sich  sonst  nicht  haben  würden,  nicht  auferlegt  werden.  — 
Der  Zustand  aber  eines  zur  Gesetzgebung  allgemein  wirklich  ver- 
einigten Willens  ist  der  bĂĽrgerliche  Zustand.  Also  nur  in  Kon- 
formität rrut  der  Idee  eines  bürgerhchen  Zustandes,  d.  i.  in  Hin- 
sicht auf  ihn  und  seine  Bewirkung,  aber  vor  der  Wirklichkeit 
desselben  (denn  sonst  wäre  die  Erwerbung  abgeleitet),  mithin  nur 
provisorisch  kann  etwas  Ă„uĂźeres  ursprĂĽnglich  erworben 
werden.  —  Die  peremtorische  Erwerbung  findet  nur  im  bürger- 
lichen  Zustande  statt. 

Gleichwohl    ist    jene    provisorische    dennoch    eine    wahre    Er- 
werbung;  denn  nach  dem  Postulat  der   rechtlich-praktischen  Ver- 
nunft   ist    die    Möglichkeit    derselben,    in    welchem    Zustande    die 
Menschen  neben  einander  sein  mögen,  (also  auch  im  Naturzustande) 
ein  Prinzip    des  Privatrechts,    nach  welchem    jeder  zu  demjenigen 
Zwange  berechtigt  ist,  durch  welchen  es  allein  möglich  wird,  aus 
jenem  Naturzustande   heraus  zu  gehen    und    in    den    bĂĽrgerlichen, 
der  allein  alle  Erwerbung  peremtorisch    machen  kann,    zu    treten. 
Es  ist  die   Frage:   wie  weit  erstreckt  sich  die  Befugnis  der 
Besitznehmung    eines    Bodens?     So    weit,    als    das  Vermögen 
ihn  in  seiner  Gewalt   zu  haben,    d.   i.  als  der,    so    ihn    sich 
zueignen  will,   ihn   verteidigen  kann;  gleich  als  ob  der  Boden 
spräche:    wenn   ihr  mich  nicht  beschützen    könnt,    so  könnt 
ihr  mir  auch  nicht  gebieten.    Darnach  mĂĽĂźte  also  auch  der 
Streit  ĂĽber  das  freie  oder  verschlossene  Meer  entschieden 
werden;    z.  B.    innerhalb    der   Weite,    wohin    die    Kanonen 
reichen,  darf  niemand  an  der  KĂĽste  eines  Landes,  das  schon 
einem    gewissen   Staat    zugehört,    fischen,    Bernstein    aus  dem 
Grunde   der  See  holen  u.  dergl.  —  Ferner:  ist  die  Bearbeitung 
des  Bodens   (Bebauung,  Beackerung,   Entwässerung  u.   dergl.) 
zur   Erwerbung  desselben  notwendig?     Nein!    denn  da  diese 
Formen  (der  Spezifizierung)  nur  Accidenzen  sind,  so  machen 
sie   kein  Objekt  eines  unmittelbaren  Besitzes  aus  und  können 
zu   dem   des  Subjekts  nur  gehören,  sofern  die  Substanz  vorher 
als    das  Seine   desselben  anerkannt    ist.      Die   Bearbeitimg  ist, 
wenn  es  auf  die  Frage  von   der  ersten  Erwerbung  ankommt, 
nichts    weiter    als    ein    äußeres   Zeichen    der    Besitznehmung, 
welches  man   durch  viele   andere,  die  weniger  MĂĽhe  kosten, 
ersetzen   kann.  —  Ferner:   darf  man  wohl  jemanden   in  dem 
Akt  seiner  Besitznehmung  hindern»  so  daß  keiner  von  beiden 


7.  Abschnitt.    Vom  Sachenrecht  Ă–9 

des  Rechts  der  Priorität  teilhaftig  werde,  und  so  der  Boden 
immer    als    keinem   angehörig   frei  bleibe?     Gänzlich  kann 
diese  Hinderung  nicht  stattfinden,  weil  der  andere,  um  dieses 
tun  zu  können,  sich  doch  auch  selbst  auf  irgend  einem  be- 
nachbarten Boden  befinden  muĂź,  wo  er  also  selbst  behindert 
werden  kann  zu  sein,    mithin   eine  absolute  Verhinderung 
ein  Widerspruch  wäre;    aber  respektiv  auf  einen  gewissen 
(zwischenliegenden)  Boden,  diesen  als  neutral  zur  Scheidung 
zweier  benachbarten  unbenutzt  liegen  zu  lassen,  wĂĽrde  doch 
mit  dem  Rechte  der  Bemächtigung  zusammen  bestehen;  aber 
alsdann  gehört  wirklich  dieser  Boden  beiden  gemeinschafthch 
und  ist  nicht  herrenlos  {res  nullius)  eben   darum,    weil  er 
von  beiden  dazu  gebraucht  wird,  um  sie  von  einander  zu 
scheiden.  —  Ferner  kann  man  auf  einem  Boden,  davon  kein 
Teil  das  Seine  von    jemanden  ist,    doch    eine  Sache    als  die 
seine  haben?     Ja,  wie  in  der  Mongolei  jeder  sein  Gepäckc, 
was  er  hat,  liegen  lassen,  oder  sein  Pferd,  was  ihm  entlauten 
ist,    als    das  Seine    in    seinen  Besitz   bringen  kann,    weil  der 
ganze  Boden  dem  Volk,  der  Gebrauch  desselben  also  jedem 
einzelnen  zusteht;    daĂź    aber    jemand    eine  bewegliche  Sache 
auf  dem  Boden  eines  anderen  als  das  Seine  haben  kann,  ist 
zwar  möglich,  aber  nur  durch  Vertrag.  —  EndUch  ist  die 
Frage;  können  zwei  benachbarte  Völker  (oder  Familien)  ein- 
ander widerstehen,    eine    gewisse    Art    des    Gebrauchs    emes 
Bodens    anzunehmen,    z.  B.    die  Jagdvölker    dem   Hirtenvolk 
oder    den  Ackerleuten,    oder    diese    den  Pflanzern    u.  dergl.? 
Allerdings;    denn  die  Art,    wie   sie  sich  auf  dem  Erdboden 
überhaupt  ansässig  machen  wollen,  ist,  wenn  sie  sich  inner- 
halb ihrer  Grenzen  halten,   eine  Sache  des  bloĂźen  BeĂĽebens 
(res  merae  facultatis). 

Zuletzt  kann  noch  gefragt  werden:  ob,  wenn  uns  weder 
die  Natur  noch  der  Zufall,  sondern  bloĂź  unser  eigener  Wille 
in  Nachbarschaft  mit  einem  Volk  bringt,  welches  keine  Aus- 
sicht zu  einer  bĂĽrgerUchen  Verbindung  mit  ihm  verspricht, 
wir  nicht  in  der  Absicht  diese  zu  stiften  und  diese  Men- 
schen (Wilde)  in  einen  rechtlichen  Zustand  zu  versetzen 
(wie  etwa  die  amerikanischen  Wilden,  die  Hottentotten,  die 
Neuholländer)  befiigt  sein  sollten,  allenfalls  mit  Gewalt,  oder 
(welches  nicht  viel  besser  ist)  durch  betrĂĽgerischen  Kauf 
Kolonien    zu    errichten    und  so  EigentĂĽmer  ihres  Bodens  zu 


70     Rechts/ehr  f.    /.  Teil.   Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

werden  und  ohne  RĂĽcksicht  auf  ihren  ersten  Besitz  Gebrauch 
von  unserer  Ăśberlegenheit  zu  machen;  zumal  es  die  Natur  selbst 
(als  die  das  Leere  verabscheuet)  so  zu  fordern  scheint,  und 
groĂźe  Landstriche  in  anderen  Weltteilen  an  gesitteten  Ein- 
wohnern sonst  menschenleer  geblieben  wären,  die  jetzt  hcrr- 
hch  bevölkert  sind,  oder  gar  auf  immer  bleiben  müßten, 
und  so  der  Zweck  der  Schöpfung  vereitelt  werden  würde. 
Allein  man  sieht  durch  diesen  Schleier  der  Ungerechtigkeit 
(Jesuitism),  alle  Mittel  zu  guten  Zwecken  zu  billigen,  leicht 
durch;  diese  Art  der  Erwerbung  des  Bodens  ist  also  ver- 
werflich. 

Die  Unbestimmtheit  in  Ansehung  der  Quantität  sowohl 
als  der  Qualität  des  äußeren  erwerblichen  Objekts  macht  diese 
Aufgabe  (der  einzigen  ursprünglichen  äußeren  Erwerbung) 
unter  allen  zur  schweresten  sie  aufzulösen.  Irgend  eine  ursprüng- 
liche Erwerbung  des  Ă„uĂźeren  aber  muĂź  es  indessen  doch  geben; 
denn  abgeleitet  kann  nicht  alle  sein.  Daher  kann  man  diese 
Aufgabe  auch  nicht  als  unauflöslich  und  als  an  sich  unmög- 
lich aufgeben.  Aber  wenn  sie  auch  durch  den  ursprĂĽng- 
lichen Vertrag  aufgelöset  wird,  so  wird,  wenn  dieser  sich 
nicht  aufs  ganze  menschliche  Geschlecht  erstreckt,  die  Er- 
werbung doch  immer  nur  provisorisch  bleiben. 


§  16. 

Exposition   des  BegrifTs   einer   ursprĂĽnglichen   Erwerbung 

des  Bodens. 

Alle  Menschen  sind  ursprĂĽnglich  in  einem  Gesamt-Besitz 
des  Bodens  der  ganzen  Erde  (communo  fundi  originarid^  mit  dem 
ihnen  von  Natur  zustehenden  Willen  (eines  eden)  denselben  zu 
gebrauchen  {lex  iusti^,  der  wegen  der  natĂĽrlich  unvermeidlichen 
Entgegensetzung  der  WillkĂĽr  des  einen  gegen  die  des  anderen 
allen  Gebrauchs  desselben  aufheben  wĂĽrde,  wenn  nicht  jener  zu- 
gleich das  Gesetz  fĂĽr  diese  enthielte,  nach  welchem  einem  jeden 
ein  besonderer  Besitz  auf  dem  gemeinsamen  Boden  bestimmt 
werden  kann  (Ux  iuridicd).  Aber  das  austeilende  Gesetz  des  Mein 
und  Dein  eines«  jeden  am  Boden  kann  nach  dem  Axiom  der 
äußeren   Freiheit    nicht    anders  als  aus    einem    ursprünglich  und 


I.  Abschnitt.    Vom  Sachenrecht  71 

a  priori  vereinigten  Willen  (der  zu  dieser  Vereinigung  keinen 
rechtlichen  Akt  voraussetzt),  mithin  nur  im  bĂĽrgerlichen  Zustande 
hervorgehen  Qex  iustitiae  distributivae)^  der  allein,  was  recht, 
was  rechtlich  und  was  Rechtens  ist,  bestimmt.  —  In  diesem 
Zustand  aber,  d.  i.  vor  GrĂĽndung  und  doch  in  Absicht  auf  den- 
selben, d.  i.  provisorisch,  nach  dem  Gesetz  der  äußeren  Er- 
werbung zu  verfahren,  ist  Pflicht,  folglich  auch  rechtliches 
Vermögen  des  Willens  jedermann  zu  verbinden,  den  Akt  der  Be- 
sitznehmung und  Zueignung,  ob  er  gleich  nur  einseitig  ist,  als 
gĂĽltig  anzuerkennen;  mithin  ist  eine  provisorische  Erwerbung  des 
Bodens  mit  allen  ihren  rechtlichen  Folgen  möglich. 

Eine  solche  Erwerbung  aber  bedarf  doch  und  hat  auch  eine 
Gunst  des  Gesetzes  (lex permissiva)  in  Ansehung  der  Bestimmung 
der  Grenzen  des  rechtlich- möglichen  Besitzes  für  sich:  weil  sie 
vor  dem  rechtHchen  Zustande  vorhergeht  und,  als  bloĂź  dazu  ein- 
leitend, noch  nicht  peremtorisch  ist,  welche  Gunst  sich  aber  nicht 
weiter  erstreckt,  als  bis  zur  Einwilligung  anderer  (Teilnehmender) 
zu  Errichtvfng  des  letzteren,  bei  dem  Widerstände  derselben  aber 
in  diesen  (den  bĂĽrgerlichen)  zu  treten,  imd  so  lange  derselbe 
währt,  allen  EflFekt  einer  rechtmäßigen  Erwerbung  bei  sich  führt, 
weil  dieser  Ausgang  auf  Pflicht  gegrĂĽndet  ist. 


§  17- 
Deduktion  des  Begriffs  der  ursprĂĽnglichen  Erwerbung. 

Wir  haben  den  Titel  der  Erwerbung  in  einer  ursprĂĽnglichen 
Gemeinschaft  des  Bodens,  mithin  unter  Raums-Bedingungen  eines 
äußeren  Besitzes,  die  Erwerbungsart  aber  in  den  empirischen 
Bedingungen  der  Besitznehmung  (apprehensio),  verbunden  mit  dem 
Willen,  den  äußeren  Gegenstand  als  den  seinen  zu  haben,  ge- 
funden. Nun  ist  noch  nötig  die  Erwerbung  selbst,  d.  i.  das 
äußere  Mein  imd  Dein,  was  aus  beiden  gegebenen  Stücken  folgt, 
nämlich  den  intelligibelen  Besitz  (possessio  noumenon)  des  Gegen- 
standes, nach  dem,  was  sein  BegriflF  enthält,  aus  den  Prinzipien 
der  reinen  rechtlich-praktischen  Vernunft  zu  entwickeln. 

Der  Rechtsbegriff  vom  äußeren  Mein  und  Dein,  sofern 
es  Substanz  ist,  kann,  was  das  Wort  auĂźer  mir  betrifft,  nicht 
einen  anderen  Ort,   als  wo  ich  bin,  bedeuten-    denn    er    ist    ein 


72     Recht slehrc.    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

VcrnunftbegrifF;  sondern,  da  unter  diesem  nur  ein  reiner  Ver- 
standcsbcgritf  subsumiert  werden  kann,  bloĂź  etwas  von  mir 
Unterschiedenes  und  den  eines  nicht  empirischen  Besitzes  (der 
gleichsam  Fortdauernden  Apprehension),  sondern  nur  den  des  in 
meiner  Gewalt  Habens  (die  VerknĂĽpfung  desselben  mit  mir 
als  subjektive  Bedingung  der  Möglichkeit  des  Gebrauchs)  des 
äußeren  Gegenstandes,  welcher  ein  reiner  VerstandesbegrifF  ist, 
bedeuten.  Nun  ist  die  Weglassung  oder  das  Absehen  (Abstraktion) 
von  diesen  sinnlichen  Bedingungen  4^s  Besitzes  als  eines  Ver- 
hältnisses der  Person  zu  Gegenständen,  die  keine  Verbindlichkeit 
haben,  nichts  anders  als  das  Verhältnis  einer  Person  zu  Personen, 
diese  alle  durch  den  Willen  der  ersteren,  sofern  er  dem  Axiom 
der  äußeren  Freiheit,  dem  Postulat  des  Vermögens  und  der  all- 
gemeinen Gesetzgebung  des  a  priori  als  vereinigt  gedachten 
Willens  gemäß  ist,  in  Ansehung  des  Gebrauchs  der  Sachen  zu 
verbinden,  welches  also  der  intelligibele  Besitz  derselben, 
d.  i.  der  durchs  bloĂźe  Recht,  ist,  obgleich  der  Gegenstand  (die 
Sache,  die  ich  besitze)  ein  Sinnenobjekt  ist. 

DaĂź  die  erste  Bearbeitung,  Begrenzung,  oder  ĂĽberhaupt 
Formgebung  eines  Bodens  keinen  Titel  der  Erwerbung 
desselben,  d.  i.  der  Besitz  des  Accidens  nicht  einen  Grund 
des  rechtlichen  Besitzes  der  Substanz  abgeben  könne,  sondern 
vielmehr  umgekehrt  das  Mein  und  Dein  nach  der  Regel 
{accessorium  sequitur  suum  principale^  aus  dem  Eigentum  der 
Substanz  gefolgert  werden  mĂĽsse,  und  daĂź  der,  welcher  an 
einen  Boden,  der  nicht  schon  vorher  der  seine  war,  FleiĂź 
verwendet,  seine  MĂĽhe  und  Arbeit  gegen  den  ersteren  ver- 
loren hat,  ist  fĂĽr  sich  selbst  so  klar,  daĂź  man  jene  so  alte 
und  noch  weit  und  breit  herrschende  Meinung  schwerlich 
einer  anderen  Ursache  zuschreiben  kann,  als  der  ingeheim 
obwaltenden  Täuschung,  Sachen  zu  personifizieren  und,  gleich 
als  ob  jemand  sie  sich  durch  an  sie  verwandte  Arbeit  ver- 
bindlich machen  könne,  keinem  anderen  als  ihm  zu  Diensten 
zu  stehen,  unmittelbar  gegen  sie  sich  ein  Recht  zu  denken; 
denn  wahrscheinlicherweise  wĂĽrde  man  auch  nicht  so  leichten 
FuĂźes  ĂĽber  die  natĂĽrliche  Frage  (von  der  oben  schon  Er- 
wähnung geschehen)  weggeglitten  sein:  „Wie  ist  ein  Recht 
in  einer  Sache  möglich?*'  Denn  das  Recht  gegen  einen 
jeden  Besitzer  einer  Sache  bedeutet  nur  die  Betugnis  der 
besonderen  WillkĂĽr  zum  Gebrauch  eines  Objekts,  solern  sie 


z.  Ahschnitt.     Vom  Sachenrecht  7  3 

als  im  synthetisch-allgemeinen  Willen  enthalten  und  mit  dem 
Gesetz  desselben  zusammenstimmend  gedacht  werden  kann. 
Was  die  Körper  auf  einem  Boden  betrifft,  der  schon  der 
meinige  ist,  so  gehören  sie,  wenn  sie  sonst  keines  anderen 
sind,  mir  zu,  ohne  daĂź  ich  zu  diesem  Zweck  eines  beson- 
deren rechtlichen  Akts  bedĂĽrfte  (nicht  facto,  sondern  lege)\ 
nämlich  weil  sie  als  der  Substanz  inhärierende  Accidenzen 
betrachtet  werden  können  (jure  rei  meae\  wozu  auch  alles 
gehört,  was  mit  meiner  Sache  so  verbunden  ist,  daß  ein 
anderer  sie  von  dem  Meinen  nicht  trennen  kann,  ohne  dieses 
selbst  zu  verändern  (z.  B.  Vergoldung.,  Mischung  eines  mir 
zugehörigen  StoflFes  mit  andern  Materien,  Anspülung  oder 
auch  Veränderung  des  anstoßenden  Strombettes  und  dadurch 
geschehende  Erweiterung  meines  Bodens  u.  s.  w.).  Ob  aber 
der  erwerbliche  Boden  sich  noch  weiter  als  das  Land,  näm- 
lich auch  auf  eine  Strecke  des  Seegrundes  hinaus  (das  Recht, 
noch  an  meinen  Ufern  zu  fischen,  oder  Bernstein  heraus- 
zubringen u.  dergl.)  ausdehnen  lasse,  muĂź  nach  ebendenselben 
Grundsätzen  beurteilt  werden.  Soweit  ich  aus  meinem  Sitze 
mechanisches  Vermögen  habe,  meinen  Boden  gegen  den  Ein- 
griff anderer  zu  sichern  (z.  B.  so  weit  die  Kanonen  vom 
Ufer  abreichen),  gehört  er  zu  meinem  Besitz,  und  das 
Meer  ist  bis  dahin  geschlossen  (mare  clausum).  Da  aber  auf 
dem  weiten  Meere  selbst  kein  Sitz  möglich  ist,  so  kann  der 
Besitz  auch  nicht  bis  dahin  ausgedehnt  werden,  und  offene 
See  ist  frei  (mare  Itberuni).  Das  Stranden  aber,  es  sei  der 
Menschen  oder  der  ihnen  zugehörigen  Sachen,  kann  als  un- 
vorsätzlich von  dem  Strandeigentümer  nicht  zum  Erwerbrecht 
gezählt  werden:  weil  es  nicht  Läsion  (ja  überhaupt  kein 
Faktum)  ist,  und  die  Sache,  die  auf  einen  Boden  geraten  ist, 
der  doch  irgend  einem  angehört,  nicht  als  res  nullius  be- 
handelt werden  kann.  Ein  FluĂź  dagegen  kann,  soweit  der 
Besitz  seines  Ufers  reicht,  so  gut  wie  ein  jeder  Landboden 
unter  obbenannten  Einschränkungen  ursprünglich  von  dem 
erworben  werden,  der  im  Besitz  beider  Ufer  ist. 


74     Rechtslehre.,   i.  Teil.  Das  Frivatrecht.    2.  Haupt  stĂĽck 

Der  äußere  Gegenstand,  welcher  der  Substanz  nach  das 
Seine  von  jemanden  ist,  ist  dessen  Eigentum  (dominium)^ 
welchem  alle  Rechte  in  dieser  Sache  (wie  Accidenzen  der 
Substanz)  inhäricren,  über  welche  also  der  Eigentümer  (do- 
minus^ nach  Belieben  verfĂĽgen  kann  (Jus  disponendi  de  re  sud). 
Aber  hieraus  folgt  von  selbst:  daĂź  ein  solcher  Gegenstand 
nur  eine  icörperliche  Sache  (gegen  die  man  keine  Verbind- 
üchkeit  hat)  sein  könne,  daher  ein  Mensch  sein  eigener  Herr 
(ju'i  iuris).,  aber  nicht  EigentĂĽmer  von  sich  selbst  (sui 
dominus)  (über  sich  nach  Belieben  disponieren  zu  können), 
geschweige  denn  von  anderen  Menschen  sein  kann,  weil  er 
der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person  verantwortlich  ist; 
wiewohl  dieser  Punkt,  der  zum  Recht  der  Menschheit,  nicht 
dem  der  Menschen  gehört,  hier  nicht  seinen  eigentlichen 
Platz  hat,  sondern  nur  beiläufig  zum  besseren  Verständnis  des 
kurz  vorher  Gesagten  angeführt  wird.  —  Es  kann  ferner 
zwei  volle  EigentĂĽmer  einer  und  derselben  Sache  geben  ohne 
ein  gemeinsames  Mein  und  Dein,  sondern  nur  als  gemein- 
same Besitzer  dessen,  was  nur  einem  als  das  Seine  zugehört, 
wenn  von  den  sogenannten  MiteigentĂĽmern  (condomini)  einem 
nur  der  ganze  Besitz  ohne  Gebrauch,  dem  anderen  aber  aller 
Gebrauch  der  Sache  samt  dem  Besitz  zukommt,  jener  also 
(dominus  directus)  diesen  (dominus  utilis)  nur  auf  die  Be- 
dingung einer  beharrlichen  Leistung  restringiert,  ohne  dabei 
seinen  Gebrauch  zu  limitieren. 


Zweiter   Abschnitt. 

Vom  persönlichen  Recht. 

$  18. 

Der  Besitz  der  Willkür  eines  anderen,  als  Vermögen  sie  durch 
die  meine  nach  Freiheitsgesetzen  zu  einer  gewissen  Tat  zu  be- 
stimmen, (das  äußere  Mein  und  Dein  in  Ansehung  der  Kausalität 
eines  anderen)  ist  ein  Recht  (dergleichen  ich  mehrere  gegen  eben- 
dieselbe Person  oder  gegen  andere  haben  kann):  der  Inbegriff 
(das  System)  der  Gesetze  aber,  nach  welchen  ich  in  diesem  Besitz 
sein  kann,  das  persönliche  Recht,  welches  nur  ein  einziges  ist. 


2.  Abschnitt.     Vom  persönlichen  Recht  y^ 

Die  Erwerbung  eines  persönlichen  Rechts  kann  niemals  ur- 
sprünglich und  eigenmächtig  sein  (denn  eine  solche  würde  nicht 
dem  Prinzip  der  Einstimmung  der  Freiheit  meiner  WillkĂĽr  mit 
der  Freiheit  von  jedermann  gemäß,  mithin  unrecht  sein).  Ebenso 
kann  ich  auch  nicht  durch  rechtswidrige  Tat  eines  anderen 
(^facto  iniusto  alterius)  erwerben,  denn  wenn  diese  Läsion  mir 
auch  selbst  widerfahren  wäre,  und  ich  von  dem  anderen  mit 
Recht  Genugtuung  fordern  kann,  so  wird  dadurch  doch  nur  das 
Meine  unvermindert  erhalten,  aber  nichts  ĂĽber  das,  was  ich  schon 
vorher  hatte,  erworben. 

Erwerbung  durch  die  Tat  eines  anderen,  zu  der  ich  diesen 
nach  Rechtsgesetzen  bestimme,  ist  also  jederzeit  von  dem  Seinen 
des  anderen  abgeleitet,  und  diese  Ableitung  als  rechtlicher  Akt 
kann  nicht  durch  diesen  als  einen  negativen  Akt,  nämlich  der 
Verlassung,  oder  einer  auf  das  Seine  geschehenen  Verzicht-, 
tuung  (^per  dereltctionem  aut  renunciationem) ^  geschehen,  denn 
dadurch  wird  nur  das  Seine  eines  oder  des  anderen  aufgehoben, 
aber  nichts  erworben,  —  sondern  allein  durch  Übertragung 
(translattd),  welche  nur  durch  einen  gemeinschaftlichen  Willen 
möglich  ist,  vermittelst  dessen  der  Gegenstand  immer  in  die  Ge- 
walt des  einen  oder  des  anderen  kommt,  alsdann  einer  seinem 
Anteile  an  dieser  Gemeinschaft  entsagt,  und  so  das  Objekt  durch 
Annahme  desselben  (mithin  einen  positiven  Akt  der  WillkĂĽr)  das 
Seine  wird.  —  Die  Übertragung  seines  Eigentums  an  einen 
anderen  ist  die  Veräußerung.  Der  Akt  der  vereinigten  Willkür 
zweier  Personen,  wodurch  ĂĽberhaupt  das  Seine  des  einen  auf  den 
anderen  ĂĽbergeht,  ist  der  Vertrag. 

§  ip- 

In  jedem  Vertrage  sind  zwei  vorbereitende  und  zwei  kon- 
stituierende rechtliche  Akte  der  WillkĂĽr;  die  beiden  ersteren 
(die  des  Traktierens)  sind  das  Angebot  (ohlatio)  und  die 
Billigung  (approbatid)  desselben;  die  beiden  andern  (nämlich  des 
AbschlieĂźens)  sind  das  Versprechen  {promissum)  und  die  An- 
nehmung (acceptatid).  —  Denn  ein  Anerbieten  kann  nicht  eher 
ein  Versprechen  heiĂźen,  als  wenn  ich  vorher  urteile,  das  An- 
gebotene (oblaturn)  sei  etwas,  was  dem  Promissar  angenehm  sein 
könne;  welches  durch  die  zwei  erstem  Deklarationen  angezeigt, 
durch  diese  allein  aber  noch  nichts  erworben  wird. 


7Ă–     Rechtsichre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

Aber  weder  durch  den  besonderen  WiJlen  des  Promittenten, 
noch  den  des  Promissars  (als  Acceptanten)  geht  da^  Seine  des 
crstercn  zu  dem  letzteren  ĂĽber,  sondern  nur  durch  den  ver- 
einigten Willen  beider,  mithin  sofern  beider  Wille  zugleich 
deklariert  wird.  Nun  ist  dies  aber  durch  empirische  Aktus  der 
Deklaration,  die  einander  notwendig  in  der  Zeit  folgen  mĂĽssen 
und  niemals  zugleich  sind,  unmöglich.  Denn  wenn  ich  versprochen 
habe  und  der  andere  nun  acceptieren  will,  so  kann  ich  während 
der  Zwischenzeit  (so  kurz  sie  auch  sein  mag)  es  mich  gereuen 
lassen,  weil  ich  vor  der  Acceptation  noch  frei  bin;  so  wie  ander- 
seits der  Acceptant  eben  darum  an  seine  auf  das  Versprechen 
folgende  Gegenerklärung  auch  sich  nicht  für  gebunden  halten 
darf.  —  Die  äußern  Förmlichkeiten  (^solennia)  bei  Schließung  des 
Vertrags  [der  Handschlag,  oder  die  Zerbrechung  eines  von  beiden 
Personen  angefaĂźten  Strohhalms  {stipuld)'\  und  alle  hin  und  her 
geschehene  Bestätigungen  seiner  vorherigen  Erklärung  beweisen 
vielmehr  die  Verlegenheit  der  Paziszenten,  wie  und  auf  welche 
Art  sie  die  immer  nur  aufeinander  folgenden  Erklärungen  als 
in  einem  Augenblicke  zugleich  existierend  vorstellig  machen 
wollen,  was  ihnen  doch  nicht  gelingt:  weil  es  immer  nur 
in  der  Zeit  einander  folgende  Aktus  sind,  wo,  wenn  der  eine 
Akt  ist,  der  andere  entweder  noch  nicht,  oder  nicht 
mehr  ist. 

Aber  die  transszendentale  Deduktion  des  Begriffs  der  Erwerbung 
durch  Vertrag  kann  allein  alle  diese  Schwierigkeiten  heben.  In 
einem  rechtlichen  äußeren  Verhältnisse  wird  meine  Besitz- 
nehmung der  WillkĂĽr  eines  anderen  (und  so  wechselseitig),  als 
Bestimmungsgrund  desselben  zu  einer  Tat,  zwar  erst  empirisch 
durch  Erklärung  und  Gegenerklärung  der  Willkür  eines  jeden 
von  beiden  in  der  Zeit,  als  sinnlicher  Bedingung  der  Apprehension, 
gedacht,  wo  beide  rechtliche  Akte  immer  nur  auf  einander  folgen: 
weil  jenes  Verhältnis  (als  ein  rechtliches)  rein  intellektuell  ist, 
durch  den  Willen  als  ein  gesetzgebendes  Vernunftvermögen  jener 
Besitz  als  ein  intelligibeler  (^possessio  noumenon)  nach  Freiheits- 
begriffen mit  Abstraktion  von  jenen  empirischen  Bedingungen  als 
das  Mein  oder  Dein  vorgestellt;  wo  beide  Akte,  des  Versprechens 
und  der  Annehmung,  nicht  als  aufeinander  folgend,  sondern  (gleich 
als  pactum  re  inttuiTi)  aus  einem  einzigen  gemeinsamen  Willen 
hervorgehend  (welches  durch  das  Wort  zugleich  ausgedrĂĽckt 
wird)    und    der    Gegenstand    (^promissum)    durch    Weglassung    der 


\ 


2,  Abschnitt.     Vom  persönlichen  Recht  jy 

empirischen  Bedingungen  nach  dem  Gesetz  der  reinen  praktischen 

Vernunft  als  erworben  vorgestellt  wird. 

Daß  dieses  die  wahre  und  einzig  mögliche  Deduktion  des 
Begriffs  der  Erwerbung  durch  Vertrag  sei,  wird  durch  die 
mĂĽhselige  und  doch  immer  vergebliche  Bestrebung  der  Rechts- 
forscher (z.  B.  MOSES  MENDELSSOHNS  in  seinem  „Jeru- 
salem") zur  Beweisführung  jener  Möglichkeit  hinreichend 
bestätigt.  —  Die  Frage  war;  warum  soll  ich  mein  Ver- 
sprechen halten?  Denn  daĂź  ich  es  soll,  begreift  eiil  jeder 
von  selbst.  Es  ist  aber  schlechterdings  unmöglich,  von 
diesem  kategorischen  Imperativ  noch  einen  Beweis  zu  fuhren; 
ebenso  wie  es  fiir  den  Geometer  unmöglich  ist,  durch  Ver- 
nunftschlĂĽsse zu  beweisen,  daĂź  ich,  um  ein  Dreieck  zu 
machen,  drei  Linien  nehmen  mĂĽsse  (ein  analyrischer  Satz), 
deren  zwei  aber  zusammengenommen  größer  sein  müssen,  als 
die  dritte  (ein  synthetischer;  beide  aber  a  priori).  Es  ist 
ein  Postulat  der  reinen  (von  allen  sinnlichen  Bedingungen 
des  Raumes  und  der  Zeit,  was  den  Rechtsbegriff  betrifft, 
abstrahierenden)  Vernunft,  und  die  Lehre  der  Möglichkeit 
der  Abstraktion  von  jenen  Bedingungen,  ohne  daĂź  dadurch 
der  Besitz  desselben  aufgehoben  wird,  ist  selbst  die  Deduktion 
des  Begriffs  der  Erwerbung  durch  Vertrag;  so  wie  es  in  dem 
vorigen  Titel  die  Lehre  von  der  Erwerbung  durch  Bemäch- 
tigung der  äußeren  Sache  war. 


§  20. 

Was  ist  aber  das  Ă„uĂźere,  das  ich  durch  den  Vertrag  erwerbe? 
Da  es  nur  die  Kausalität  der  Willkür  des  anderen  in  Ansehung 
einer  mir  versprochenen  Leistung  ist,  so  erwerbe  ich  dadurch  un- 
mittelbar nicht  eine  äußere  Sache,  sondern  eine  Tat  desselben, 
dadurch  jene  Sache  in  meine  Gewalt  gebracht  wird,  damit  ich  sie 
zu  der  meinen  mache.  —  Durch  den  Vertrag  also  erwerbe  ich 
das  Versprechen  eines  anderen  (nicht  das  Versprochene),  und 
doch  kommt  etwas  zu  meiner  äußeren  Habe  hinzu;  ich  bin  ver- 
mögender Qocuplettor)  geworden  durch  Erwerbung  einer  aktiven 
Obligation  auf  die  Freiheit  und  das  Vermögen  des  anderen.  — 
Dieses  mein  Recht  aber  ist  nur  ein  persönliches,  nämlich 
gegen  eine  bestimmte  physische  Person,  und  zwar  auf  ihre  Kau- 


78     RechtsUhre.    /.  Tetl.  Das  Pnvatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

salität  (ihre  Willkür)  zu  wirken,  mir  etwas  zu  leisten,  nicht  ein 
Sachenrecht  gegen  diejenige  moralische  Person,  welche  nichts 
anders  als  die  Idee  der  a  priori  vereinigten  WillkĂĽr  aller  ist, 
und  wodurch  ich  allein  ein  Recht  gegen  jeden  Besitzer  der- 
selben erwerben  kann;  als  worin  alles  Recht  in  einer  Sache 
besteht. 

Die  Ăśbertragung  des  Meinen  durch  Vertrag  geschieht  nach 
dem  Gesetz  der  Stetigkeit  {lex  conĂĽnui),  d.  i.  der  Besitz  des 
Gegenstandes  ist  während  diesem  Akt  keinen  Augenblick 
unterbrochen,  denn  sonst  wĂĽrde  ich  in  diesem  Zustande 
einen  Gegenstand  als  etwas,  das  keinen  Besitzer  hat  (res 
vacua),  folglich  ursprĂĽnghch  erwerben;  welches  dem  Begriff 
des  Vertrages  widerspricht.  —  Diese  Stetigkeit  aber  bringt 
es  mit  sich,  daĂź  nicht  eines  von  beiden  (promittentis  et  ac- 
ceptantii)  besonderer,  sondern  ihr  vereinigter  Wille  derjenige 
ist,  welcher  das  Meine  auf  den  anderen  überträgt;  also  nicht 
auf  die  Art:  daĂź  der  Versprechende  zuerst  seinen  Besitz  zum 
Vorteil  des  anderen  verläßt  (derelinqu'tt\  oder  seinem  Recht 
entsagt  (renunciai),  und  der  andere  sogleich  darin  eintritt, 
oder  umgekehrt.  Die  Translation  ist  also  ein  Akt,  in  wel- 
chem der  Gegenstand  einen  Augenblick  beiden  zusammen 
angehört,  so  wie  in  der  parabolischen  Bahn  eines  geworfenen 
Steins  dieser  im  Gipfel  derselben  einen  Augenblick  als  im 
Steigen  und  Fallen  zugleich  begriffen  betrachtet  werden 
kann  und  so  allererst  von  der  steigenden  Bewegung  zum 
Fallen   ĂĽbergeht. 


§  21. 

Kine  Sache  wird  in  einem  Vertrage  nicht  durch  Annehmung 
{tuceptatio)  des  Versprechens,  sondern  nur  durch  Ăśbergabe  {tra- 
eĂĽt'to)  des  Versprochenen  erworben.  Denn  alles  Versprechen  geht 
auf  eine  Leistung,  und  wenn  das  Versprochene  eine  Sache  ist, 
kann  jene  nicht  anders  errichtet  werden,  als  durch  einen  Akt, 
wodurch  der  Promissar  vom  Promittenten  in  den  Besitz  derselben 
gesetzt  wird,  d.  i.  durch  die  Ăśbergabe.  Vor  dieser  also  und  dem 
Empfang  ist  die  Leistung  noch  nicht  geschehen;  die  Sache  ist 
von  dem  einen  zu  dem  anderen  noch  nicht  ĂĽbergegangen,  folg- 
lich von    diesem   nicht  erworben  worden,    mithin    das  Recht    aus 


2.  Ahschnttt.     Vom  persönlichen  Recht  -j^ 

einem  Vertrage    nur    ein    persönliches    und    wird    nur    durch    die 

Tradition  ein  dingliches  Recht. 

Der  Vertrag,  auf  den  unmittelbar  die  Ăśbergabe  folgt 
(^pactum  re  tnitum)^  schlieĂźt  alle  Zwischenzeit  zwischen  der 
SchlieĂźimg  und  Vollziehung  aus  und  bedarf  keines  besonderen 
noch  zu  erwartenden  Akts,  wodurch  das  Seine  des  einen 
auf  den  anderen  ĂĽbertragen  wird.  Aber  wenn  zwischen 
jenen  beiden  noch  eine  (bestimmte  oder  unbestimmte)  Zeit 
zur  Ăśbergabe  bewilligt  ist,  fragt  sich:  ob  die  Sache  schon 
vor  dieser  durch  den  Vertrag  das  Seine  des  Acceptanten  ge- 
worden und  das  Recht  des  letzteren  ein  Recht  in  der  Sache 
sei,  oder  ob  noch  ein  besonderer  Vertrag,  der  allein  die 
Ăśbergabe  betriflFt,  dazu  kommen  mĂĽsse,  mithin  das  Recht 
durch  die  bloße  Acceptation  nur  ein  persönliches  sei  und 
allererst  durch  die  Ăśbergabe  ein  Recht  in  der  Sache  werde. 
—  Daß  es  sich  hiemit  wirklich  so,  wie  das  letztere  besagt, 
verhalte,  erhellet  aus  nachfolgendem: 

VV^enn  ich  einen  Vertrag  ĂĽber  eine  Sache,  z.  B.  ĂĽber  ein 
Pferd,  das  ich  erwerben  will,  schlieĂźe  und  nehme  es  zugleich 
mit  in  meinen  Stall,  oder  sonst  in  meinen  physischen  Besitz, 
so  ist  es  mein  (vi  'pacti  re  initf),  und  mein  Recht  ist  ein 
Recht  in  der  Sache;  lasse  ich  es  aber  in  den  Händen  des 
Verkäufers,  ohne  mit  ihm  darüber  besonders  auszumachen, 
in  wessen  physischem  Besitz  (Inhabung)  diese  Sache  vor 
meiner  Besitznehmung  (apprehensio),  mithin  vor  dem  Wechsel 
des  Besitzes  sein  solle:  so  ist  dieses  Pferd  noch  nicht  mein, 
und  mein  Recht,  was  ich  erwerbe,  ist  nur  ein  Recht  gegen 
eine  bestimmte  Person,  nämlich  den  Verkäufer,  von  ihm  in 
den  Besitz  gesetzt  zu  werden  (poscendi  traditionem\  als 
subjektive  Bedingung  der  Möglichkeit  alles  beliebigen  Ge- 
brauchs desselben,  d.  i.  mein  Recht  ist  nur  ein  persönliches 
Recht,  von  jenem  die  Leistung  des  Versprechens  (^praestatto), 
mich  in  den  Besitz  der  Sache  zu  setzen,  zu  fordern.  Nun 
kann  ich,  wenn  der  Vertrag  nicht  zugleich  die  Ăśbergabe 
(als  paaum  re  inituni)  enthält,  mithin  eine  Zeit  zwischen 
dem  AbschluĂź  desselben  und  der  Besitznehmimg  des  Er- 
worbenen verläuft,  in  dieser  Zeit  nicht  anders  zum  Besitz 
gelangen,  als  dadurch,  daĂź  ich  einen  besonderen  rechtlichen, 
nämlich  einen  Besitzakt  {actum  possessorium)  ausübe,  der 
einen   besonderen  Vertrag  ausmacht,  und  dieser  ist:  daĂź  ich 


8o     Rechtslehre,    i.  Teil.   Das  Privatrecht.    2.  Hauptstikk 

sage,  ich  werde  die  Sache  (das  Pferd)  abholen  lassen,  wozu 
der  Verkäufer  einwilligt.  Denn  daß  dieser  eine  Sache  zum 
Gebrauche  eines  anderen  auf  eigene  Gefahr  in  seine  Ge- 
wahrsamc  nehmen  werde,  versteht  sich  nicht  von  selbst, 
sondern  dazu  gehört  ein  besonderer  Vertrag,  nach  welchem 
der  Veräußercr  seiner  Sache  innerhalb  der  bestimmten 
Zeit  noch  immer  EigentĂĽmer  bleibt  (und  alle  Gefahr,  die 
die  Sache  treffen  möchte,  tragen  muß),  der  Erwerbende  aber 
nur  dann,  wann  er  über  diese  Zeit  zögert,  von  dem.  Ver- 
käufer dafür  angesehen  werden  kann,  als  sei  sie  ihm  über- 
liefert. Vor  diesem  Besitzakt  ist  also  alles  durch  den  Vertrag 
Erworbene  nur  ein  persönliches  Recht,  und  der  Promissar 
kann  eine  äußere   Sache  nur  durch  Tradition  erwerben. 


Dritter  Abschnitt. 
Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht. 

$    Z2. 

Dieses  Recht  ist  das  des  Besitzes  eines  äußeren  Gegenstandes 
als  einer  Sache  und  des  Gebrauchs  desselben  als  einer  Person. 
—  Das  Mein  und  Dein  nach  diesem  Recht  ist  das  häusliche, 
und  das  Verhältnis  in  diesem  Zustande  ist  das  der  Gemeinschaft 
freier  Wesen,  die  durch  den  wechselseitigen  EinfluĂź  (der  Person 
des  einen  auf  das  andere)  nach  dem  Prinzip  der  äußeren  Freiheit 
(Kausalität)  eine  Gesellschaft  von  Gliedern  eines  Ganzen  (in 
Gemeinschaft  stehender  Personen)  ausmachen,  welches  das  Haus- 
wesen heißt.  —  Die  Erwerbungsart  dieses  Zustandes  und  in  dem- 
selben geschieht  weder  durch  eigenmächtige  Tat  (^facto),  noch 
durch  bloĂźen  Vertrag  (^pacto\  sondern  durchs  Gesetz  {iegf\ 
welches,  weil  es  kein  Recht  in  einer  Sache,  auch  nicht  ein  bloĂźes 
Recht  gegen  eine  Person,  sondern  auch  ein  Besitz  derselben  zu- 
gleich ist,  ein  über  alles  Sachen-  und  persönhche  hinaus  liegendes 
Recht,  nämlich  das  Recht  der  Menschheit  in  unserer  eigenen 
Person  sein  muĂź,  welches  ein  natĂĽrliches  Erlaubnisgesetz  zur  Folge 
hat,    durch  dessen   Gunst  uns   eine  solche   Erwerbung  möglich  ist. 


^.Abschnitt.    Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht     8i 

§  23. 

Die  Erwerbung  nach  diesem  Gesetz  ist  dem  Gegenstande  nach 
dreierlei;  Der  Mann  erwirbt  ein  Weib,  das  Paar  erwirbt 
Kinder  und  die  Familie  Gesinde.  —  Alles  dieses  Erwerbliche 
ist  zugleich  unveräußerlich  und  das  Recht  des  Besitzers  dieser 
Gegenstände   das  allerpersönlichste. 


Des  Rechts  der  häuslichen  Gesellschaft 
erster   Titel: 

Das  Eherecht. 

Geschlechtsgemeinschaft  (commercium  sexuale)  ist  der 
wechselseitige  Gebrauch,  den  ein  Mensch  von  eines  anderen  Ge- 
schlechtsorganen und  Vermögen  macht  (usus  membrorum  et  facul- 
tatum  sexualium  altertus)^  und  entweder  ein  natĂĽrlicher  (wo- 
durch seinesgleichen  erzeugt  werden  kann),  oder  unnatĂĽrlicher 
Gebrauch  und  dieser  entweder  an  einer  Person  ebendesselben  Ge- 
schlechts, oder  einem  Tiere  von  einer  anderen  als  der  Menschen- 
Gattung,  welche  Ăśbertretungen  der  Gesetze,  unnatĂĽrliche  Laster 
(crimina  carnis  contra  naturam)^  die  auch  unnennbar  heiĂźen,  als 
Läsion  der  Menschheit  in  unserer  eigenen  Person  durch  gar  keine 
Einschränkungen  und  Ausnahmen  wider  die  gänzliche  Verwerfung 
gerettet  werden  können. 

Die  natĂĽrĂĽche  Geschlechtsgemeinschaft  ist  nun  entweder  die 
nach  der  bloĂźen  tierischen  Natur  (yaga  libido,  venus  volgivaga, 
fornicatio\  oder  nach  dem  Gesetz.  —  Die  letztere  ist  die  Ehe 
(matrimonium),  d.  i.  die  Verbindung  zweier  Personen  verschiedenen 
Geschlechts  zum  lebenswierigen  wechselseitigen  Besitz  ihrer  Ge- 
schlechtseigenschaften. —  Der  Zweck,  Kinder  zu  erzeugen  und 
zu  erziehen,  mag  immer  ein  Zweck  der  Natur  sein,  zu  welchem 
sie  die  Neigung  der  Geschlechter  gegeneinander  einpflanzte;  aber 
daĂź  der  Mensch,  der  sich  verehlicht,  diesen  Zweck  sich  vorsetzen 
müsse,   wird  zur  Rechtmäßigkeit  dieser  seiner  Verbindung  nicht 

Kants  Schriften.    Bd.  VII.  6 


8 1     Rechtslehre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

crFordert;    denn    sonst    würde,    wenn    das    Kinderzeugen    aufhört, 
die   Ehe   sich   zugleich   von   selbst   auflösen. 

Es  ist  nämlich,  auch  unter  Voraussetzung  der  Lust  zum  wechsel- 
seitigen Gebrauch  ihrer  Geschlcchtseigenschaften,  der  Ehevertrag 
kein  beliebiger,  sondern  durchs  Gesetz  der  Menschheit  notwendiger 
Vertrag,  d.  i.  wenn  Mann  und  Weib  einander  ihren  Geschlcchts- 
eigenschaften nach  wechselseitig  genieĂźen  wollen,  so  mĂĽssen  sie 
sich  notwendig  vcrehlichen,  und  dieses  ist  nach  Rechtsgesetzen 
der  reinen  Vernunft  notwendig. 


§  ^5- 

Denn  der  natĂĽrliche  Gebrauch,  den  ein  Geschlecht  von  den 
Geschlechtsorganen  des  anderen  macht,  ist  ein  GenuĂź,  zu  dem 
sich  ein  Teil  dem  anderen  hingibt.  In  diesem  Akt  macht  sich  ein 
Mensch  selbst  zur  Sache,  welches  dem  Rechte  der  Menschheit  an 
seiner  eigenen  Person  widerstreitet.  Nur  unter  der  einzigen  Be- 
dingung ist  dieses  möglich,  daß,  indem  die  eine  Person  von  der 
anderen  gleich  als  Sache  erworben  wird,  diese  gegenseitig 
wiederum  jene  erwerbe;  denn  so  gewinnt  sie  wiederum  sich  selbst 
und  stellt  ihre  Persönlichkeit  wieder  her.  Es  ist  aber  der  Erwerb 
eines  GliedmaĂźes  am  Menschen  zugleich  Erwerbung  der  ganzen 
Person,  —  weil  diese  eine  absolute  Einheit  ist;  —  folglich  ist 
die  Hingebung  und  Annehmung  eines  Geschlechts  zum  GenuĂź  des 
andern  nicht  allein  unter  der  Bedingung  der  Ehe  zulässig,  sondern 
auch  allein  unter  derselben  möglich.  Daß  aber  dieses  persön- 
liche Recht  es  doch  zugleich  auf  dingliche  Art  sei,  grĂĽndet 
sich  darauf,  weil,  wenn  eines  der  Eheleute  sich  verlaufen,  oder 
sich  in  eines  anderen  Besitz  gegeben  hat,  das  andere  es  jederzeit 
und  unweigerlich  gleich  als  eine  Sache  in  seine  Gewalt  zurĂĽck- 
zubringen  berechtigt  ist. 


§  zö. 

Aus  denselben  Gründen  ist  das  Verhältnis  der  Verehlichten 
ein  Verhältnis  der  Gleichheit  des  Besitzes,  sowohl  der  Personen, 
die  einander  wechselseitig  besitzen  (folgUch  nur  in  Monogamie, 
denn   in   einer  Polygamie    gewinnt    die   Person,    die   sich  weggibt. 


^.  Abschnitt.     Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht     83 

nur  einen  Teil  desjenigen,  dem  sie  ganz  anheimfällt,  imd  macht 
sich  also  zur  bloĂźen  Sache),  als  auch  der  GlĂĽcksgĂĽter,  wobei  sie 
doch  die  Befugnis  haben,  sich,  obgleich  nur  durch  einen  besonderen 
Vertrag,  des  Gebrauchs  eines  Teils  derselben  zu  begeben. 

Daß  der  Konkubinat  keines  zu  Recht  beständigen  Kon- 
trakts fähig  sei,  so  wenig  als  die  Verdingung  einer  Person 
zum  einmaligen  GenuĂź  (^pactum  fornicationis^  fo^gt  3us  dem 
obigen  Grunde.  Denn  was  den  letzteren  Vertrag  betriflft; 
so  wird  jedermann  gestehen,  daĂź  die  Person,  welche  ihn 
geschlossen  hat,  zur  ErfĂĽllung  ihres  Versprechen  rechtlich 
nicht  angehalten  werden  könnte,  wenn  es  ihr  gereuete;  und 
so  fällt  auch  der  erstere,  nämlich  der  des  Konkubinats,  (als 
pactum  turpe)  weg,  weil  dieser  ein  Kontrakt  der  Verdin- 
gung Qocatio-conductio)  sein  wĂĽrde  und  zwar  eines  Ghed- 
maĂźes  zum  Gebrauch  eines  anderen  mithin,  wegen  der  un- 
zertrennlichen Einheit  der  Glieder  an  einer  Person,  diese  sich 
selbst  als  Sache  der  WillkĂĽr  des  anderen  hingeben  wĂĽrde; 
daher  jeder  Teil  den  eingegangenen  Vertrag  mit  dem  anderen 
aufheben  "kann,  sobald  es  ihm  beliebt,  ohne  daĂź  der  andere 
über  Läsion  seines  Rechts  gegründete  Beschwerde  führen 
kann.  —  Eben  dasselbe  gilt  auch  von  der  Ehe  an  der  Hnken 
Hand,  um  die  Ungleichheit  des  Standes  beider  Teile  zur 
größeren  Herrschaft  des  einen  Teils  über  den  anderen  zu 
benutzen;  denn  in  der  Tat  ist  sie  nach  dem  bloĂźen  Natur- 
recht  vom  Konkubinat  nicht  unterschieden  und  keine  wahre 
Ehe.  —  Wenn  daher  die  Frage  ist:  ob  es  auch  der  Gleichheit 
der  Verehlichten  als  solcher  widerstreite,  wenn  das  Gesetz 
von  dem  Manne  in  Verhältnis  auf  das  Weib  sagt:  er  soll 
dein  Herr  (er  der  befehlende,  sie  der  gehorchende  Teil)  sein, 
so  kann  dieses  nicht  als  der  natĂĽrlichen  Gleichheit  eines 
Menschenpaares  widerstreitend  angesehen  werden,  wenn  dieser 
Herrschaft  nur  die  natürliche  Überlegenheit  des  Vermögens 
des  Mannes  ĂĽber  das  weibliche  in  Bewirkung  des  gemein- 
schaftlichen Interesse  des  Hauswesens  und  des  darauf  ge- 
grĂĽndeten Rechts  zum  Befehl  zum  Grunde  liegt,  welches 
daher  selbst  aus  der  Pflicht  der  Einheit  und  Gleichheit  in 
Ansehung  des  Zwecks  abgeleitet  werden  kann. 


6* 


84     Rechts  lehre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 


§  ■I-7- 

Der  Ehc-Vcrtrag  wird  nur  durch  eheliche  Beiwohnung 
{copula  carnalis)  vollzogen.  Ein  Vertrag  zweier  Personen  beiderlei 
Geschlechts  mit  dem  geheimen  Einverständnis  entweder  sich  der 
fleischlichen  Gemeinschaft  zu  enthalten,  oder  mit  dem  BewuĂźtsein 
eines  oder  beider  Teile,  dazu  unvermögend  zu  sein,  ist  ein  simu- 
lierter Vertrag  und  stiftet  keine  Ehe;  kann  auch  durch  jeden 
von  beiden  nach  Belieben  aufgelöset  werden.  Tritt  aber  das  Un- 
vermögen nur  nachher  ein,  so  kann  jenes  Recht  durch  diesen 
unverschuldeten  Zufall  nichts  einbĂĽĂźen. 

Die  Erwerbung  einer  Gattin  oder  eines  Gatten  geschieht 
also  nicht  facto  (durch  die  Beiwohnung)  ohne  vorhergehenden 
Vertrag,  auch  nicht  pacto  (durch  den  bloĂźen  ehelichen  Vertrag 
ohne  nachft)lgende  Beiwohnung),  sondern  nur  lege:  d.  i.  als  recht- 
liche Folge  aus  der  Verbindlichkeit  in  eine  Geschlechtsverbindung 
nicht  anders,  als  vermittelst  des  wechselseitigen  Besitzes  der  Per- 
sonen, als  welcher  nur  durch  den  gleichfalls  wechselseitigen  Ge- 
brauch ihrer  GeschlechtseigentĂĽmlichkeiten  seine  Wirklichkeit 
erhält,  zu  treten. 


Des  Rechts  der  häuslichen  Gesellschaft 
zweiter   Titel: 

Das  Elternrecht. 

§  28. 

Cjrleichwie  aus  der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst, 
d.  i.  gegen  die  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person,  ein  Recht 
{jus  personale)  beider  Geschlechter  entsprang,  sich  als  Personen 
wechselseitig  einander  auf  dingliche  Art  durch  Ehe  zu  erwerben: 
so  folgt  aus  der  Zeugung  in  dieser  Gemeinschaft  eine  Pflicht 
der  Erhaltung  und  Versorgung  in  Absicht  auf  ihr  Erzeugnis, 
d.  i.  die  Kinder  als  Personen  haben  hiemit  zugleich  ein  ursprĂĽng- 
lich-angebornes  (nicht  angeerbtes)  Recht  auf  ihre  Versorgung 
durch  die  Eltern,  bis  sie  vermögend  sind,  sich  selbst  zu  erhalten; 


j.  Abschnitt.    Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht     8  5 

und    zwar    durchs   Gesetz  {lege)    unmittelbar,    d.  i.    ohne    daĂź  ein 
besonderer  rechtlicher  Akt  dazu  erforderlich  ist. 

Denn  da  das  Erzeugte  eine  Person  ist,  und  es  unmöglich  ist, 
sich  von  der  Erzeugung  eines  mit  Freiheit  begabten  Wesens  durch 
eine  physische  Operation  einen  Begriff  zu  machen'):  so  ist  es  eine 
in  praktischer  Hinsicht  ganz  richtige  und  auch  notwendige 
Idee,  den  Akt  der  Zeugung  als  einen  solchen  anzusehen,  wodurch 
wir  eine  Person  ohne  ihre  Einwilligung  auf  die  Welt  gesetzt  und 
eigenmächtig  in  sie  herüber  gebracht  haben;  für  welche  Tat  auf 
den  Eltern  nun  auch  eine  Verbindlichkeit  haftet,  sie,  so  viel  in 
ihren  Kräften  ist,  mit  diesem  ihrem  Zustande  zufrieden  zu  machen. 
—  Sie  können  ihr  Kind  nicht  gleichsam  als  ihr  Gemächsel 
(denn  ein  solches  kann  kein  mit  Freiheit  begabtes  Wesen  sein) 
und    als    ihr    Eigentum    zerstören    oder    es    auch   nur  dem  Zufall 

^)  Selbst  nidit,  wie  es  möglich  ist,  daß  Gott  freie  Wesen  er- 
schaffe; denn  da  wären,  wie  es  scheint,  alle  künftige  Handlungen 
derselben,  durch  jenen  ersten  Akt  vorherbestimmt,  in  der  Kette  der 
Naturnotwendigkeit  enthalten,  mithin  nicht  frei.  DaĂź  sie  aber  (wir 
Menschen)  doch  frei  sind,  beweiset  der  kategorische  Imperativ  in  mo- 
ralisch-praktischer Absicht,  wie  durch  einen  Machtspruch  der  Vernunft, 
ohne  daß  diese  doch  die  Möglichkeit  dieses  Verhältnisses  einer  Ursache 
2ur  Wirkung  in  theoretischer  begreiflich  machen  kann,  weil  beide 
übersinnlich  sind.  —  Was  man  ihr  hiebei  allein  zumuten  kann,  wäre 
bloß:  daß  sie  beweise,  es  sei  in  dem  Begriffe  von  einer  Schöpfung 
freier  Wesen  kein  Widerspruch;  und  dieses  kann  dadurch  gar  wohl 
geschehen,  daß  gezeigt  wird:  der  Widerspruch  eräugne  sich  nur  dann, 
wenn  mit  der  Kategorie  der  Kausalität  zugleich  die  Zeitbedingung, 
die  im  Verhältnis  zu  Sinnenobjekten  nicht  vermieden  werden  kann  (daß 
nämlich  der  Grund  einer  Wirkimg  vor  dieser  vorhergehe),  auch  in  das 
Verhältnis  des  Übersinnlichen  zueinander  hinüber  gezogen  wird  (welches 
auch  wirklich,  wenn  jener  KausalbegrifF  in  theoretischer  Absicht  objek- 
tive Realität  bekommen  soll,  geschehen  müßte),  er  —  der  Widerspruch 
—  aber  verschwinde,  wenn  in  moralisch-praktischer,  mithin  nicht-sinnlicher 
Absicht  die  reine  Kategorie  (ohne  ein  ihr  untergelegtes  Schema)  im 
SchöpfungsbegrifFe  gebraucht  wird. 

Der  philosophische  Rechtslehrer  wird  diese  Nachforschung  bis  zu 
den  ersten  Elementen  der  Transszendentalphilosophie  in  einer  Meta- 
physik der  Sitten  nicht  für  unnötige  Grübelei  erklären,  die  sich  in 
zwecklose  Dunkelheit  verliert,  wenn  er  die  Schwierigkeit  der  zu  lösenden 
Aufgabe  und  doch  auch  die  Notwendigkeit,  hierin  den  Rechtsprinzipien 
genug  zu  tun,  in  Ăśberlegung  zieht. 


86      RfchtsUhre.    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

ĂĽberlassen,  weil  an  ihm  nicht  bloĂź  ein  Wejtrwesen,  sondern  auch 
ein  WeltbĂĽrger  in  einen  Zustand  herĂĽbergezogen,  der  ihnen  nun 
auch   nach   Rcchtsbcgritfen   nicht  gleichgĂĽltig  sein   kann. 


§  i9- 

Aus  dieser  PHicht  entspringt  auch  notwendig  das  Recht  der 
Eltern  lur  Handhabung  und  Bildung  des  Kindes,  solange  es 
des  eigenen  Gebrauchs  seiner  GliedmaĂźen,  imgleichen  des  Vcr- 
standcsgebrauchs  noch  nicht  mächtig  ist,  außer  der  Ernährung  und 
Pflege  CS  zu  erziehen  und  sowohl  pragmatisch,  damit  es  kĂĽnftig 
sich  selbst  erhalten  und  fortbringen  könne,  als  auch  moralisch, 
weil  sonst  die  Schuld  ihrer  Verwahrlosung  auf  die  Eltern  fallen 
würde,  —  es  zu  bilden;  alles  bis  zur  Zeit  der  Entlassung  (eman- 
cipatio),  da  diese  sowohl  ihrem  väterlichen  Recht  zu  befehlen,  als 
auch  allem  Anspruch  auf  Kostenerstattung  fĂĽr  ihre  bisherige  Ver- 
pflegung und  MĂĽhe  entsagen,  wofĂĽr  und  nach  vollendeter  Er- 
ziehung sie  der  Kinder  ihre  Verbindlichkeit  (gegen  die  Eltern)« 
nur  als  bloße  Tugendpflicht,  nämlich  als  Dankbarkeit,  in  Anschlag 
bringen   können. 

Aus  dieser  Persönlichkeit  der  erstem  folgt  nun  auch,  daß,  da 
die  Kinder  nie  als  Eigentum  der  Eltern  angesehen  werden  können, 
aber  doch  zum  Mein  und  Dein  derselben  gehören  (weil  sie  gleich 
den  Sachen  im  Besitz  der  Eltern  sind  und  aus  jedes  anderen 
Besitz,  selbst  wider  ihren  Willen,  in  diesen  zurĂĽckgebracht  werden 
können),  das  Recht  der  ersteren  kein  bloßes  Sachenrecht,  mithin 
nicht  veräußerlich  {ius  personalissimum ) ,  aber  auch  nicht  ein 
bloß  persönliches,  sondern  ein  auf  dingliche  Art  persönliches 
Recht  ist. 

Hiebei  fällt  also  in  die  Augen,  daß  der  Titel  eines  auf  ding- 
liche Art  persönlichen  Rechts  in  der  Rechtslehre  noch  über 
dem  des  Sachen-  und  persönlichen  Rechts  notwendig  hinzukommen 
müsse,  jene  bisherige  Einteilung  also  nicht  vollständig  gewesen 
ist,  weil,  wenn  von  dem  Recht-  der  Eltern  an  den  Kindern  als 
einem  StĂĽck  ihres  Hauses  die  Rede  ist,  jene  sich  nicht  bloĂź  auf 
die  Pflicht  der  Kinder  berufen  dĂĽrfen,  zurĂĽckzukehren,  wenn  sie 
entlaufen  sind,  sondern  sich  ihrer  als  Sachen  (verlaufener  Haus- 
tiere)  zu  bemächtigen  und  sie   einzufangen  bcrechrigt  sind. 


j.  Abschnitt.    Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht     8  7 

Des  Rechts  der  häuslichen  Gesellschaft 
dritter  Titel: 

Das  Hausherren-Recht. 

§  30. 

Die  Kinder  des  Hauses,  die  mit  den  Eltern  zusammen  eine 
Familie  ausmachten,  werden  auch  ohne  allen  Vertrag  der  Auf- 
kündigung ihrer  bisherigen  Abhängigkeit,  durch  die  bloße  Ge- 
langung zu  dem  Vermögen  ihrer  Selbsterhaltung  (so  wie  es  teils 
als  natürliche  Volljährigkeit  dem  allgemeinen  Laufe  der  Natur 
überhaupt,  teils  ihrer  besonderen  Naturbeschaffenheit  gemäß  ein- 
tritt), mĂĽndig  (maiorennes\  d.  i.  ihre  eigene  Herren  (sui  iuris)., 
und  erwerben  dieses  Recht  ohne  besonderen  rechtlichen  Akt, 
mithin  bloß  durchs  Gesetz  (legi)  —  sind  den  Eltern  für  ihre  Er- 
ziehung nichts  schuldig,  so  wie  gegenseitig  die  letzteren  ihrer 
Verbindlichkeit  gegen  diese  auf  ebendieselbe  Art  loswerden,  hiemit 
beide  ihre  natürliche  Freiheit  gewinnen  oder  wieder  gewinnen  — 
die  häusliche  Gesellschaft  aber,  welche  nach  dem  Gesetz  not- 
wendig war,  nunmehr  aufgelöset  wird. 

Beide  Teile  können  nun  wirklich  ebendasselbe  Hauswesen, 
aber  in  einer  anderen  Form  der  Verpflichtung,  nämlich  als  Ver- 
knĂĽpfung des  Hausherren  mit  dem  Gesinde  (den  Dienern  oder 
Dienerinnen  des  Hauses),  mithin  eben  diese  häusliche  Gesellschaft, 
aber  jetzt  als  hausherrliche  (societas  herilis)  erhalten,  durch  einen 
Vertrag,  durch  den  der  erstere  mit  den  mĂĽndig  gewordenen 
Kindern,  oder,  wenn  die  Familie  keine  Kinder  hat,  mit  anderen 
freien  Personen  (der  Hausgenossenschaft)  eine  häusUche  Gesell- 
schaft stiften,  welche  eine  ungleiche  Gesellschaft  (des  Gebietenden 
oder  der  Herrschaft  und  der  Gehorchenden,  d.  i.  der  Diener- 
schaft (imperantis  et  suhiecti  domestici)  sein  wĂĽrde. 

Das  Gesinde  gehört  nun  zu  dem  Seinen  des  Hausherrn  und 
zwar,  was  die  Form  (den  Besitzstand)  betrifft,  gleich  als  nach 
einem  Sachenrecht;  denn  der  Hausherr  kann,  wenn  es  ihm  ent- 
läuft, es  durch  einseitige  Willkür  in  seine  Gewalt  bringen;  was 
aber  die  Materie  betrifft,  d.  i.  welchen  Gebrauch  er  von  diesen 
seinen  Hausgenossen  machen  kann,  so   kann  er  sich  nie  als  Eigen- 


8  8     Rechtslehre,    i.  Teil.   Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

tĂĽmcr  desselben  (^dominus  servi)  betragen:  weil  er  nur  durch  Ver- 
trag unter  seine  Gewalt  gebracht  ist,  ein  Vertrag  aber,  durch  den 
ein  Teil  zum  Vorteil  des  anderen  auf  seine  ganze  Freiheit  Verzicht 
tut,  mithin  auFhört,  eine  Person  zu  sein,  folglich  auch  keine 
Pflicht  hat,  einen  Vertrag  zu  halten,  sondern  nur  Gewalt  anerkennt, 
in  sich  selbst  widersprechend,  d.  i.  null  und  nichtig,  ist.  (Von 
dem  Eigentumsrecht  gegen  den,  der  sich  durch  ein  Verbrechen 
seiner  Persönlichkeit  verlustig  gemacht  hat,  ist  hier  nicht  die 
Rede.) 

Dieser  Vertrag  also  der  Hausherrschaft  mit  dem  Gesinde  kann 
nicht  von  solcher  Beschaffenheit  sein,  daĂź  der  Gebrauch  des- 
selben ein  Verbrauch  sein  wĂĽrde,  worĂĽber  das  Urteil  aber  nicht 
bloĂź  dem  Hausherrn,  sondern  auch  der  Dienerschaft  (die  also  nie 
Leibeigenschaft  sein  kann)  zukommt;  kann  also  nicht  auf  lebens- 
längliche, sondern  allenfalls  nur  auf  unbestimmte  Zeit,  binnen  der 
ein  Teil  dem  anderen  die  Verbindung  aufkĂĽndigen  darf,  ge- 
schlossen werden.  Die  Kinder  aber  (selbst  die  eines  durch  sein 
Verbrechen  zum  Sklaven  gewordenen)  sind  jederzeit  frei.  Denn 
frei  geboren  ist  jeder  Mensch,  weil  er  noch  nichts  verbrochen 
hat,  und  die  Kosten  der  Erziehung  bis  zu  seiner  Volljährigkeit 
können  ihm  auch  nicht  als  eine  Schuld  angerechnet  werden,  die 
er  zu  tilgen  habe.  Denn  der  Sklave  müßte,  wenn  er  könnte, 
seine  Kinder  auch  erziehen,  ohne  ihnen  dafĂĽr  Kosten  zu  ver- 
rechnen; der  Besitzer  des  Sklaven  tritt  also  bei  dieses  seinem  Un- 
vermögen in  die  Stelle  seiner  Verbindlichkeit. 


Man  sieht  also  auch  hier,  wie  unter  beiden  vorigen  Titeln, 
daß  es  ein  auf  dingliche  Art  persönHches  Recht  (der  Herrschaft 
ĂĽber  das  Gesinde)  gebe:  weil  man  sie  zurĂĽckholen  und  als  das 
äußere  Seine  von  jedem  Besitzer  abfordern  kann,  ehe  noch  die 
Gründe,  welche  sie  dazu  vermocht  haben  mögen,  und  ihr  Recht 
untersucht  werden  dĂĽrfen. 


j.  Abschnitt.    Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht     89 

Dogmatische  Einteilung 
aller  erwerblichen  Rechte  aus  Verträgen. 


§  31- 

Von  einer  metaphysischen  Rechtslehre  kann  gefordert  werden, 
daĂź  sie  a  priori  die  Glieder  der  Einteilung  (divisio  logicd)  voll- 
ständig und  bestimmt  aufzähle  und  so  ein  wahres  System  der- 
selben aufstelle;  statt  dessen  alle  empirische  Einteilung  bloĂź 
fragmentarisch  (fartttto)  ist  und  es  ungewiĂź  laĂźt,  ob  es  nicht 
noch  mehr  Glieder  gebe,  welche  zur  AusfĂĽllung  der  ganzen 
Sphäre  des  eingeteilten  Begriffs  erfordert  würden.  —  Eine  Ein- 
teilung nach  einem  Prinzip  a  priori  (im  Gegensatz  der  empirischen) 
kann  man  nun  dogmatisch  nennen. 

Aller  Vertrag  besteht  an  sich,  d.  i.  objektiv  betrachtet,  aus 
zwei  rechtlichen  Akten:  dem  Versprechen  und  der  Annehmung 
desselben;  die  Erwerbung  durch  die  letztere  (wenn  es  nicht  ein 
pactum  re  tnitum  ist,  welches  Ăśbergabe  erfordert)  ist  nicht  ein 
Teil,  sondern  die  rechtlich  notwendige  Folge  desselben.  — 
Subjektiv  aber  erwogen,  d.  i.  als  Antwort  auf  die  Frage:  ob 
jene  nach  der  Vernunft  notwendige  Folge  (welche  die  Erwer- 
bung sein  sollte)  auch  wirklich  erfolgen  (physische  Folge 
sein)  werde,  dafĂĽr  habe  ich  durch  die  Annehmung  des  Versprechens 
noch  keine  Sicherheit.  Diese  ist  also,  als  äußerlich  zur  Moda- 
lität des  Vertrages,  nämlich  der  Gewißheit  der  Erwerbung  durch 
denselben,  gehörend,  ein  Ergänzungsstück  zur  Vollständigkeit  der 
Mittel  zur  Erreichung  der  Absicht  des  Vertrags,  nämlich  der  Er- 
werbung. —  Es  treten  zu  diesem  Behuf  drei  Personen  auf:  der 
Promittent,  der  Acceptant  und  der  Cavent;  durch  welchen 
letzteren  und  seinen  besonderen  Vertrag  mit  dem  Promittenten 
der  Acceptant  zwar  nichts  mehr  in  Ansehung  des  Objekts,  aber 
doch  der  Zwangsmittel  gewinnt,  zu  dem  Seinen  zu  gelangen. 

Nach  diesen  Grundsätzen  der  logischen  (rationalen)  Einteilung 
gibt  es  nun  eigenthch  nur  drei  einfache  und  reine  Vertragsarten, 
der  vermischten  aber  und  empirischen,  welche  zu  den  Prinzipien 
des  Mein  und  Dein  nach  bloĂźen  Vernunftgesetzen  noch  statutarische 
und    konventionelle    hinzutun,    gibt    es   unzählige,    sie  liegen  aber 


5>o     Recht  sichre,    i.  Teil.  Das  Prtvatrecht.    2.  Haupt  stĂĽck 

auĂźerhalb    dem  Kreise    der    metaphysischen    Rechtslehre,    die  hier 

allein   verzeichnet   werden   soll. 

Alle  Verträge  nämlich  haben  entweder  A.  einseitigen 
Erwerb  (wohltätiger  Vertrag),  oder  B.  wechselseitigen 
(belästigter  Vertrag),  oder  gar  keinen  Erwerb,  sondern  nur 
C.  Sicherheit  des  Seinen  (der  einerseits  wohltätig,  ander- 
seits doch   auch   zugleich  belästigend  sein  kann)   zur  Absicht. 

A.  Der  wohltätige   Vertrag   {pactum  gratuitum)   ist: 

a)  Die  Aufbewahrung  des   anvertrauten   Guts   (depositum), 

b)  Das  Verleihen  einer  Sache   (commodatum\ 

c)  Die   Verschenkung  (donatio). 

B.  Der  belästigte  Vertrag. 

I.   Der  Veräußerungs vertrag   (permutatio  late  sie  dicta). 

a)  Der  Tausch  (permutatio  stricte  sie  dictd).  Ware  gegen 
Ware. 

b)  Der  Kauf  und  Verkauf  (enttio  venditio).  Ware  gegen 
Geld. 

c)  Die  Anleihe  {mutuuni):  Veräußerung  einer  Sache  unter 
der  Bedingung,  sie  nur  der  Spezies  nach  wieder  zu  er- 
halten (z.  B.  Getreide  gegen  Getreide,  oder  Geld  gegen 
Geld). 

II.    Der  Verdingungsvertrag  (Jocatio   eonduetio). 

a.  Die  Verdingung  meiner  Sache  an  einen  andern  zum 
Gebrauch  derselben  {locatio  rei),  welche,  wenn  sie  nur  in 
specie  wiedererstattet  werden  darf,  als  belästigter  Vertrag 
auch  mit  Verzinsung  verbunden  sein  kann  (pactum 
usurarium). 

Ăź.  Der  Lohnvertrag  (locatio  operae),  d.  1.  die  Bewilligung 
des  Gebrauchs  meiner  Kräfte  an  einen  anderen  für  einen 
bestimmten  Preis  (merces).  Der  Arbeiter  nach  diesem 
Vertrage  ist  der  Lohndiener   (mercennarius). 

y.  Der  Bevoll m.ächtigungsvertrag  (mandatum):  Die  Ge- 
schäftsführung an  der  Stelle  und  im  Namen  eines  anderen, 
welche,  wenn  sie  bloĂź  an  des  anderen  Stelle,  nicht  zu- 
gleich in  seinem  (des  Vertretenen)  Namen  gefĂĽhrt  wird, 
Geschäftsführung  ohne  Auftrag  (gestio  negotii),  wird 
sie  aber  im  Namen  des  anderen  verrichtet,  Mandat  heiĂźt, 
das  hier  als  Verdingungsvertrag  ein  belästigter  Vertrag 
(mandatum  onerosum)   ist. 


^.  Abschnitt.    Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht     91 

C.  Der  Zusicherungsvertrag  (cautio). 

a)  Die     Verpfändung     und     Pfandnehmung.     zusammen 
{pignui). 

b)  Die     Gutsagung    fĂĽr     das    Versprechen     eines     anderen 
(fideiussio). 

c)  Die    persönliche  Verbürgung  {praestatio  obsidls). 

In  dieser  Tafel  aller  Arten  der  Ăśbertragung  (translatio) 
des  Seinen  auf  einen  anderen  finden  sich  Begriffe  von  Ob- 
jekten oder  Werkzeugen  dieser  Ăśbertragung  vor,  welche  ganz 
empirisch  zu  sein  (scheinen)  und  selbst  ihrer  Möglichkeit  nach 
in  einer  metaphysischen  Rechtslehre  eigentlich  nicht  Platz 
haben,  in  der  die  Einteilungen  nach  Prinzipien  a  priori  ge- 
macht werden  mĂĽssen,  mithin  von  der  Materie  des  Verkehrs 
(welche  konventionell  sein  könnte)  abstrahiert  und  bloß  auf 
die  Form  gesehen  werden  muĂź,  dergleichen  der  Begriff  des 
Geldes  im  Gegensatz  mit  aller  anderen  veräußerlichen  Sache, 
nämlich  der  VV^are,  im  Titel  des  Kaufs  und  Verkaufs, 
oder  der  eines  Buchs  ist.  —  Allein  es  wird  sich  zeigen,  daß 
jener  Begriff  des  größten  und  brauchbarsten  aller  Mittel  des 
Verkehrs  der  Menschen  mit  Sachen,  Kauf  und  Verkauf 
(Handel)  genannt,  imgleichen  der  eines  Buchs,  als  das  des 
größten  Verkehrs  der  Gedanken,  sich  doch  in  lauter  in- 
tellektuelle Verhältnisse  auflösen  lasse  und  so  die  Tafel  der 
reinen  Verträge  nicht  durch  empirische  Beimischung  ver- 
unreinigen dĂĽrfe. 

I. 

Was  ist  Geld? 

Geld  ist  eine  Sache,  deren  Gebrauch  nur  dadurch  möghch 
ist,  daß  man  sie  veräußert.  Dies  ist  eine  gute  Namen- 
erklärung  desselben  (nach  ACREN  WALL),  nämlich  hinreichend 
zur  Unterscheidung  dieser  Art  Gegenstände  der  Willkür  von  allen 
andern;  aber  sie  gibt  uns  keinen  Aufschluß  über  die  Möglichkeit 
einer  solchen  Sache.  Doch  sieht  man  so  viel  daraus;  daĂź  erst- 
lich diese  Veräußerung  im  Verkehr  nicht  als  Verschenkung, 
sondern  als  zur  wechselseitigen  Erwerbung  (durch  ein  pactum 
onerosum)  beabsichtigt  ist;  zweitens  daĂź,  da  es  als  ein  (in  einem 
Volke)  allgemein  beUcbtes  bloĂźes  Mittel  des  Handels,  was  an 
sich  keinen  Wert  hat,  im  Gegensatz  einer  Sache  als  Ware  (d.  i. 


9  2     Rechtslehre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

desjenigen,  was  einen  solchen  hat  und  sich  auf  das  besondere 
BedĂĽrfnis  eines  oder  des  anderen  im  Volk  bezieht)  gedacht  wird, 
es   alle  Ware   repräsentiert. 

Ein  Scheffel  Getreide  hat  den  größten  direkten  Wert  als 
Mittel  zu  menschlichen  BedĂĽrfnissen.  Man  kann  damit  Tiere 
futtern,  die  uns  zur  Nahrung,  zur  Bewegung  und  zur  Arbeit  an 
unserer  Statt  (dienen),  und  dann  auch  vermittelst  desselben  also 
Menschen  vermehren  und  erhalten,  welche  nicht  allein  jene  Natur- 
produkte immer  wieder  erzeugen,  sondern  auch  durch  Kunstpro- 
dukte allen  unseren  Bedürfnissen  zu  Hilfe  kommen  können:  zur 
Verfertigung  unserer  Wohnung,  Kleidung,  ausgesuchtem  GenĂĽsse 
und  aller  Gemächlichkeit  überhaupt,  welche  die  Güter  der  Industrie 
ausmachen.  Der  Wert  des  Geldes  ist  dagegen  nur  indirekt.  Man 
kann  es  selbst  nicht  genieĂźen,  oder  als  ein  solches  irgend  wozu 
unmittelbar  gebrauchen;  aber  doch  ist  es  ein  Mittel,  was  unter 
allen   Sachen  von   der  höchsten  Brauchbarkeit  ist. 

Hierauf  läßt  sich  vorläufig  eine  Realdefinition  des  Geldes 
grĂĽnden:  es  ist  das  allgemeine  Mittel  den  FleiĂź  der  Menschen 
gegeneinander  zu  verkehren,  so:  daĂź  der  Nationalreichtum, 
insofern  er  vermittelst  des  Geldes  erworben  worden,  eigentlich 
nur  die  Summe  des  FleiĂźes  ist,  mit  dem  Menschen  sich  unter- 
einander lohnen,  und  welcher  durch  das  in  dem  Volk  umlaufende 
Geld   repräsentiert  wird. 

Die  Sache  nun,  welche  Geld  heiĂźen  soll,  muĂź  also  selbst  so 
viel  FleiĂź  gekostet  haben,  um  sie  hervorzubringen,  oder  auch 
anderen  Menschen  in  die  Hände  zu  schaffen,  daß  dieser  dem- 
jenigen FleiĂź,  durch  welchen  die  Ware  (in  Natur-  oder  Kunst- 
produkten) hat  erworben  werden  mĂĽssen,  und  gegen  welchen 
jener  ausgetauscht  wird,  gleich  komme.  Denn  wäre  es  leichter 
den  Stoff,  der  Geld  heißt,  als  die  Ware  anzuschaffen,  so  käme 
mehr  Geld  zu  Markte,  als  Ware  feil  steht,  und  weil  der  Ver 
käufer  mehr  Fleiß  auf  seine  Ware  verwenden  müßte,  als  der 
Käufer,  dem  das  Geld  schneller  zuströmt:  so  würde  der  Fleiß  in 
Verfertigung  der  Ware  und  so  das  Gewerbe  ĂĽberhaupt  mit  dem 
Erwerbfieiß,  der  den  öffentlichen  Reichtum  zu  Folge  hat,  zugleich 
schwinden  und  verkürzt  werden.  —  Daher  können  Banknoten 
und  Assignaten  nicht  fĂĽr  Geld  angesehen  werden,  ob  sie  gleich 
eine  Zeit  hindurch  die  Stelle  desselben  vertreten:  weil  es  beinahe 
gar  keine  Arbeit  kostet,  sie  zu  verfertigen,  und  ihr  Wert  sich 
bloĂź    auf    die    Meinung    der    ferneren  Fortdauer    der    bisher    ge- 


/,  Abschnitt.    Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht     9  5 

lungenen  Umsetzung  derselben  in  Barschaft  grĂĽndet,  welche  bei 
einer  erwanigen  Entdeckung,  daĂź  die  letztere  nicht  in  einer  zum 
leichten  und  sicheren  Verkehr  hinreichenden  Menge  da  sei,  plötz 
lieh  verschwindet  und  den  Ausfall  der  Zahlung  unvermeidlich 
macht.  —  So  ist  der  Erwerbfleiß  derer,  welche  die  Gold-  und 
Silberbergwerke  in  Peru  oder  Neumexiko  anbauen,  vornehtnhch 
bei  den  so  vielfältig  mißlingenden  Versuchen  eines  vergeblich 
angewandten  Fleißes  im  Aufsuchen  der  Erzgänge,  wahrscheinlich 
noch  größer,  als  der  auf  Verfertigung  der  Waren  in  Europa  ver- 
wendete und  wĂĽrde  als  unvergolten,  mithin  von  selbst  nachlassend, 
jene  Länder  bald  in  Armut  sinken  lassen,  wenn  nicht  der  Fleiß 
Europens  dagegen,  eben  durch  diese  Materialien  gereizt,  sich  pro- 
portionierlich  zugleich  erweiterte,  um  bei  jenen  die  Lust  zum 
Bergbau  durch  ihnen  angebotene  Sachen  des  Luxus  beständig 
rege  zu  erhalten:  sodaĂź  immer  FleiĂź  gegen  FleiĂź  in  Konkurrenz 
kommen. 

Wie  ist  es  aber  möglich,  daß  das,  was  anfänglich  Ware  war, 
endlich  Geld  ward?  Wenn  ein  groĂźer  und  machthabender  Ver- 
tuer einer  Materie,  die  er  anfangs  bloĂź  zum  Schmuck  und  Glanz 
seiner  Diener  (des  Hofes)  brauchte  (z.  B.  Gold,  Silber,  Kupfer, 
oder  eine  Art  schöner  Muschelschalen,  Kauris,  oder  auch  wie  in 
Kongo  eine  Art  Matten,  Makuten  genannt,  oder  wie  am  Senegal 
Eisenstangen  und  auf  der  GuineakĂĽste  selbst  Negersklaven),  d.  i. 
werm  ein  Landesherr  die  Abgaben  von  seinen  Untertanen  in 
dieser  Materie  (als  Ware)  einfordert  und  die,  deren  FleiĂź  in  An- 
schaffung derselben  dadurch  bev/egt  werden  soll,  mit  eben  den- 
selben nach  Verordnungen  des  Verkehrs  unter  und  mit  ihnen 
überhaupt  (auf  einem  Markt  oder  einer  Börse)  wieder  lohnt.  — 
Dadurch  allein  hat  (meinem  BedĂĽnken  nach)  eine  Ware  ein  gesetz- 
liches Mittel  des  Verkehrs  des  FleiĂźes  der  Untertanen  unterein- 
ander und  hiemit  auch  des  Staatsreichtums,  d.  i.  Geld,  werden 
können. 

Der  intellektuelle  Begriff,  dem  der  empirische  vom  Gelde  unter- 
gelegt ist,  ist  also  der  von  einer  Sache,  die,  im  Umlauf  des  Be- 
sitzes begriffen  (permutatio  publica),  den  Preis  aller  anderen  Dinge 
(Waren)  bestimmt,  unter  welche  letztere  sogar  Wissenschaften,  so- 
fern sie  anderen  nicht  umsonst  gelehrt  werden,  gehören:  dessen 
Menge  also  in  einem  Volk  die  BegĂĽterung  (opuletttia)  desselben 
ausmacht.  Denn  Preis  {pretiuni)  ist  das  öffentliche  Urteil  über 
den  Wert  (yalor')   einer  Sache  in  Verhältnis  auf  die  proportionierte 


94     Rechtslehre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

Menge  desjenigen,  was  das  allgemeine  stellvertretende  Mittel  der 
gegenseitigen  Vertauschung  des  Fleißes  (des  Umlaufs)  ist.  — 
Daher  werden,  wo  der  Verkehr  groĂź  ist,  weder  Gold  noch 
Kupfer  fĂĽr  eigentliches  Geld,  sondern  nur  fĂĽr  Ware  gehalten: 
weil  von  dem  ersteren  zu  wenig,  vom  anderen  zu  viel  da  ist, 
um  es  leicht  in  Umlauf  zu  bringen  und  dennoch  in  so  kleinen 
Teilen  zu  haben,  als  zum  Umsatz  gegen  Ware,  oder  eine  Menge 
derselben  im  kleinsten  Erwerb  nötig  ist.  Silber  (weniger  oder 
mehr  mit  Kupfer  versetzt)  wird  daher  im  groĂźen  Verkehr  der 
Welt  fĂĽr  das  eigentliche  Material  des  Geldes  und  den  MaĂźstab 
der  Berechnung  aller  Preise  genommen;  die  ĂĽbrigen  Metalle  (noch 
viel  mehr  also  die  unmetallischen  Materien)  können  nur  in  einem 
Volk  von  kleinem  Verkehr  stattfinden.  —  Die  erstem  beiden, 
wenn  sie  nicht  bloĂź  gewogen,  sondern  auch  gestempelt,  d.  i.  mit 
einem  Zeichen,  fĂĽr  wie  viel  sie  gelten  sollen,  versehen  worden, 
sind  gesetzliches   Geld,  d.  i.  MĂĽnze. 

„Geld  ist  also  (nach  ADAM  SMITH)  derjenige  Körper,  dessen 
Veräußerung  das  Mittel  und  zugleich  der  Maßstab  des  Fleißes  ist, 
mit  welchem  Menschen  und  Völker  untereinander  Verkehr  treiben." 
—  Diese  Erklärung  führt  den  empirischen  Begriff  des  Geldes  da- 
durch auf  den  intellektuellen  hinaus,  daĂź  sie  nur  auf  die  Form 
der  wechselseitigen  Leistungen  im  belästigten  Vertrage  sieht  (und 
von  dieser  ihrer  Materie  abstrahiert),  und  so  auf  Rechtsbegriff 
in  der  Umsetzung  des  Mein  und  Dein  (commutatio  late  sie  dictd) 
ĂĽberhaupt,  um  die  obige  Tafel  einer  dogmatischen  Einteilung 
a  priori,  mithin  der  Metaphysik  des  Rechts  als  eines  Systems  an- 
gemessen vorzustellen. 

n. 

Was    ist    ein  Buch? 

Ein  Buch  ist  eine  Schrift  (ob  mit  der  Feder  oder  durch  Typen, 
auf  wenig  oder  viel  Blättern  verzeichnet,  ist  hier  gleichgültig), 
welche  eine  Rede  vorstellt,  die  jemand  durch  sichtbare  Sprach- 
zeichen an  das  Publikum  hält.  —  Der,  welcher  zu  diesem  in  seinem 
eigenen  Namen  spricht,  heiĂźt  der  Schriftsteller  (autor).  Der, 
welcher  durch  eine  Schrift  im  Namen  eines  anderen  (des  Autors) 
öffentlich  redet,  ist  der  Verleger.  Dieser,  wenn  er  es  mit  jenes 
seiner  Erlaubnis  tut,  ist  der  rechtmäßige;  tut  er  es  aber  ohne 
dieselbe,    der    unrechtmäßige  Verleger,    d.  i.    der    Nachdrucker. 


S.  Abschnitt.    Von  dem  auf  dingliche  Art  persönlichen  Recht     9  5 

Die    Summe    aller    Kopeien    der    Urschrift    (Exemplare)    ist    der 
Verlag. 

Der  BĂĽchernachdruck  ist  von  rechtswegen  verboten. 

Schrift  ist  nicht  unmittelbar  Bezeichnung  eines  Begriffs  (wie 
etwa  ein  Kupferstich,  der  als  Porträt,  oder  ein  Gipsabguß,  der 
als  die  BĂĽste  eine  bestimmte  Person  vorstellt),  sondern  eine  Rede 
ans  Publikum,  d.  i.  der  Schriftsteller  spricht  durch  den  Verleger 
öffentlich.  —  Dieser  aber,  nämlich  der  Verleger,  spricht  (durch 
seinen  W^erkmeister,  operarius,  den  Drucker)  nicht  in  seinem 
eigenen  Namen  (denn  sonst  wĂĽrde  er  sich  fĂĽr  den  Autor  aus- 
geben); sondern  im  Namen  des  Schriftstellers,  wozu  er  also  nur 
durch  eine  ihm  von  dem  letzteren  erteilte  Vollmacht  (mandatum) 
berechtigt  ist.  —  Nun  spricht  der  Nachdrucker  durch  seinen  eigen- 
mächtigen Verlag  zwar  auch  im  Namen  des  Schriftstellers,  aber 
ohne  dazu  Vollmacht  von  demselben  zu  haben  (^gerit  se  manda- 
tarium  absque  mandat6)\  folglich  begeht  er  an  dem  von  dem  Autor 
bestellten  (mithin  einzig  rechtmäßigen)  Verleger  ein  Verbrechen 
der  Entwendung  des  Vorteils,  den  der  letztere  aus  dem  Gebrauch 
seines  Rechts  ziehen  konnte  und  wollte  (^furtum  usui)\  also  ist 
der  BĂĽchernachdruck  von  rechtswegen  verboten. 

Die  Ursache  des  rechtlichen  Anscheins  einer  gleichwohl  beim 
ersten  Anblick  so  stark  auffallenden  Ungerechtigkeit,  als  der 
BĂĽchernachdruck  ist,  liegt  darin:  daĂź  das  Buch  einerseits  ein 
körperliches  Kunstprodukt  {opus  mechanicum)  ist,  was  nach- 
gemacht werden  kann  (von  dem,  der  sich  im  rechtmäßigen  Besitz 
eines  Exemplars  desselben  befindet),  mithin  daran  ein  Sachen- 
recht statthat:  andrerseits  aber  ist  das  Buch  auch  bloĂźe  Rede 
des  Verlegers  ans  Publikum,  die  dieser,  ohne  dazu  Vollmacht  vom 
Verfasser  zu  haben,  öffentlich  nicht  nachsprechen  darf  {praestatio 
operae),  ein  persönliches  Recht,  und  nun  besteht  der  Irrtum 
darin,  daĂź   beides  miteinander  verwechselt  wird. 


Die  Verwechselung  des  persönlichen  Rechts  mit  dem  Sachen- 
recht ist  noch  in  einem  anderen,  unter  den  Verdingungsvertrag 
gehörigen  Falle  (B,  ü,  a),  nämhch  dem  der  Einmietung  {ius 
incolatus),  ein  Stoff  zu  Streitigkeiten.  —  Es  fragt  sich  nämlich:  ist 
der  EigentĂĽmer,  wenn  er  sein  an  jemanden  vermietetes  Haus  (oder 


90     RechtsUhre.    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    2.  Haupt  stĂĽck 

seinen  Grund)  vor  Ablauf  der  Mietszeit  an  einen  anderen  verkauft, 
verbunden,  die  Bedingungen  der  fortdauernden  Miete  dem  Kauf- 
kontraktc  beizufĂĽgen,  oder  kann  man  sagen :  Kauf  bricht  Miete 
(doch  in  einer  durch  den  Gebrauch  bestimmten  Zeit  der  Auf- 
kündigung)? —  Im  ersteren  Fall  hätte  das  Haus  wirklich  eine 
Belästigung  (onus)  auf  sich  liegend,  ein  Recht  in  dieser  Sache, 
das  der  Mieter  sich  an  derselben  (dem  Hause)  erworben  hätte; 
welches  auch  wohl  geschehen  kann  (durch  Ingrossation  des  Miets- 
kontrakts auf  das  Haus),  aber  alsdenn  kein  bloĂźer  Mietskontrakt 
sein  wĂĽrde,  sondern  wozu  noch  ein  anderer  Vertrag  (dazu  sich 
nicht  viel  Vermieter  verstehen  wĂĽrden)  hinzukommen  mĂĽĂźte. 
Also  gilt  der  Satz:  „Kauf  bricht  Miete",  d.  i.  das  volle  Recht  in 
einer  Sache  (das  Eigentum)  überwiegt  alles  persönliche  Recht,  was 
mit  ihm  nicht  zusammen  bestehen  kann;  wobei  doch  die  Klage 
aus  dem  Grunde  des  letzteren  dem  Mieter  offen  bleibt,  ihn  wegen 
des  aus  der  ZerreiĂźung  des  Kontrakts  entspringenden  Nachteils 
schadenfrei   zu  halten. 


Episodischer  Abschnitt. 

Von   der   idealen  Erwerbung  eines  äußeren  Gegen- 
standes der  WillkĂĽr. 


§  3^- 

Ich  nenne  diejenige  Erwerbung  ideal,  die  keine  Kausalität  in 
der  Zeit  enthält,  mithin  eine  bloße  Idee  der  reinen  Vernunft  zum 
Grunde  hat.  Sie  ist  nichtsdestoweniger  wahre,  nicht  eingebildete 
Erwerbung  und  heiĂźt  nur  darum  nicht  real,  weil  der  Erwerbakt 
nicht  empirisch  ist,  indem  das  Subjekt  von  einem  anderen,  der 
entweder  noch  nicht  ist  (von  dem  man  bloß  die  Möglichkeit 
annimmt,  daß  er  sei),  oder,  indem  dieser  eben  aufhört  zu  sein, 
oder,  wenn  er  nicht  mehr  ist,  erwirbt,  mithin  die  Gelangung 
zum  Besitz  eine  bloße  praktische  Idee  der  Vernunft  ist.  —  Es 
sind  die  drei  Erwerbungsarten:  i)  durch  Ersitzung,  2)  durch 
Beerbung,  3)  durch  unsterbliches  Verdienst  (meritum  im- 
mortale),  d.  i.  Anspruch  auf  den  guten  Namen  nach  dem  Tode. 
Alle   drei   kömien  zwar  nur  im  öffentlichen    rechtlichen   Zustande 


Episodischer  Abschnitt.     Von  der  idealen  Erwerbung     <^j 

ihren  Effekt  haben,  grĂĽnden  sich  aber  nicht  nur  auf  der  Kon- 
stitution desselben  und  willkĂĽrUchen  Statuten,  sondern  sind  auch 
a  priori  im  Naturzustande  und  zwar  notwendig  zuvor  denkbar, 
um  hernach  die  Gesetze  in  der  bĂĽrgerlichen  Verfassung  darnach 
einzurichten  (^sunt  iuris  naturae). 


I. 

Die  Erwerbungsart  durch  Ersitzung. 

§  33- 

Ich  erwerbe  das  Eigentum  eines  anderen  bloĂź  durch  den 
langen  Besitz  (usucapio)\  nicht  weil  ich  dieses  seine  Einwilli- 
gung dazu  rechtmäßig  voraussetzen  darf  (^per  consensum  prae- 
sumtum),  noch  weil  ich,  da  er  nicht  widerspricht,  annehmen 
kann,  er  habe  seine  Sache  aufgegeben  (rem  derelictam)^  sondern 
weil,  wenn  es  auch  einen  wahren  und  auf  diese  Sache  als  Eigen- 
tümer Anspruch  Machenden  (Prätendenten)  gäbe,  ich  ihn  doch 
bloĂź  durch  meinen  langen  Besitz  ausschlieĂźen,  sein  bisheriges 
Dasein  ignorieren  und  gar,  als  ob  er  zur  Zeit  meines  Besitzes  nur 
als  Gedankending  existierte^  verfahren  darf:  wenn  ich  gleich  von 
seiner  Wirklichkeit  sowohl,  als  der  seines  Anspruchs  hinterher 
benachrichtigt  sein  möchte.  —  Man  nennt  diese  Art  der  Erwer- 
bung nicht  ganz  richtig  die  durch  Verjährung  (per  praescrip- 
tionern)\  denn  die  AusschlieĂźung  ist  nur  als  die  Folge  von  jener 
anzusehen;  die  Erwerbung  muß  vorhergegangen  sein.  —  Die  Mög- 
lichkeit auf  diese  Art  zu   erwerben  ist  nun  zu  beweisen. 

Wer  nicht  einen  beständigen  Besitzakt  (actus  possessorius) 
einer  äußeren  Sache,  als  der  seinen,  ausübt,  wird  mit  Recht  als 
einer,  der  (als  Besitzer)  gar  nicht  existiert,  angesehen;  denn  er 
kann  nicht  über  Läsion  klagen,  solange  er  sich  nicht  zum  Titel 
eines  Besitzers  berechtigt,  und  wenn  er  sich  hinten  nach,  da  schon 
ein  anderer  davon  Besitz  genommen  hat,  auch  dafür  erklärte,  so 
sagt  er  doch  nur,  er  sei  ehedem  einmal  EigentĂĽmer  gewesen,  aber 
nicht,  er  sei  es  noch,  und  der  Besitz  sei  ohne  einen  kontinuier- 
lichen rechtlichen  Akt  ununterbrochen  geblieben.  —  Es  kann  also 
nur  ein  rechtlicher  und  zwar  sich  kontinuierlich  erhaltender  und 

Kants  Schriften.  Bd.  VII.  7 


98     Rechts  lehre.    i.Teil.  Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

dokumentierter  Besitzakt  sein,  durch  welchen  er  bei  einem  langen 
Nichtgebrauch  sich   das   Seine  sichert. 

Denn  setzet:  die  Versäumung  dieses  Besitzakts  hätte  nicht  die 
Folge,  daß  ein  anderer  auf  seinen  gesetzmäßigen  und  ehrlichen 
Besitz  (^possessio  bonae  fideV)  einen  zu  Recht  beständigen  (^possessio 
trrefragabil'ts)  grĂĽnde  und  die  Sache,  die  in  seinem  Besitz  ist,  als 
von  ihm  erworben  ansehe,  so  wĂĽrde  gar  keine  Er\verbung  perem- 
torisch  (gesichert),  sondern  alle  nur  provisorisch  (einstweilig)  sein: 
weil  die  Geschichtskunde  ihre  Nachforschung  bis  zum  ersten  Be- 
sitzer und  dessen  Erwerbakt  hinauf  zurĂĽckzufĂĽhren'  nicht  ver- 
mögend ist.  —  Die  Präsumtion,  auf  welcher  sich  die  Ersitzung 
{usucap'to)  gründet,  ist  also  nicht  bloß  rechtmäßig  (erlaubt,  iusta) 
als  Vermutung,  sondern  auch  rechtlich  (^praesumtio  iuris  et  de 
iure)  als  Voraussetzung  nach  Zwangsgesetzen  (suppositio  legalis): 
wer  seinen  Besitzakt  zu  dokumentieren  verabsäumt,  hat  seinen 
Anspruch  auf  den  dermaligen  Besitzer  verloren,  wobei  die  Länge 
der  Zeit  der  Verabsäumung  (die  gar  nicht  bestimmt  werden  kann 
und  darf)  nur  zum  Behuf  der  GewiĂźheit  dieser  Unterlassung 
angefĂĽhrt  wird.  DaĂź  aber  ein  bisher  unbekannter  Besitzer,  wenn 
jener  Besitzakt  (es  sei  auch  ohne  seine  Schuld)  unterbrochen 
worden,  die  Sache  immer  wiedererlangen  (vindizieren)  könne 
(äominia  verum  incerta  facere)^  widerspricht  dem  obigen  Postulat 
der  rechtlich-praktischen   Vernunft. 

Nun  kann  ihm  aber,  wenn  er  ein  Glied  des  gemeinen  Wesens 
ist,  d.  i.  im  bĂĽrgerlichen  Zustande,  der  Staat  wohl  seinen  Besitz 
(stellvertretend)  erhalten,  ob  dieser  gleich  als  Privatbesitz  unter- 
brochen war,  und  der  jetzige  Besitzer  darf  seinen  Titel  der  Er- 
werbung bis  zur  ersten  nicht  beweisen,  noch  auch  sich  auf  den 
der  Ersitzung  grĂĽnden.  Aber  im  Naturzustande  ist  der  letztere 
rechtmäßig,  nicht  eigentlich  eine  Sache  dadurch  zu  erwerben, 
sondern  ohne  einen  rechtlichen  Akt  sich  im  Besitz  derselben  zu 
erhalten:  welche  Befreiung  von  AnsprĂĽchen  dann  auch  Erwerbung 
genannt  zu  werden  pflegt.  —  Die  Präskription  des  älteren  Besitzers 
gehört  also   zum  Naturrecht  {est  iuris  naturae). 


Episodischer  Abschnitt.     Von  der  idealen  Erwerbung     99 


IL 

Die  Beerbung. 
(^Ă„cquisitio   haereditatisS) 

§  34- 

Die  Beerbung  ist  die  Ăśbertragung  (translatio)  der  Habe  und 
des  Guts  eines  Sterbenden  auf  den  Ăśberlebenden  durch  Zusammen- 
stimmung des  Willens  beider.  —  Die  Erwerbung  des  Erbnchmers 
(haeredis  institufi)  und  die  Verlassung  des  Erblassers  (testatoris), 
d.  i.  dieser  Wechsel  des  Mein  und  Dein,  geschieht  in  einem 
Augenblick  (articuto  mortis),  nämlich  da  der  letztere  eben  aufhört 
zu  sein,  und  ist  also  eigentlich  keine  Ăśbertragung  (translatio)  im 
empirischen  Sinn,  welche  zwei  Aktus  nacheinander,  nämlich  wo 
der  eine  zuerst  seinen  Besitz  verläßt,  und  darauf  der  andere  darin 
eintritt,  voraussetzt;  sondern  eine  ideale  Erwerbung.  —  Da  die 
Beerbung  ohne  Vermächtnis  (dispositio  ultimae  voluntatis)  im 
Naturzustande  nicht  gedacht  werden  kann,  und,  ob  es  ein  Erb- 
vertrag (jjactum  successorium\  oder  einseitige  Erbescinsetzung 
(testamentum)  sei,  es  bei  der  Frage,  ob  und  wie  gerade  in  dem- 
selben Augenblick,  da  das  Subjekt  aufhört  zu  sein,  ein  Übergang 
des  Mein  und  Dein  möglich  sei,  ankommt,  so  muß  die  Frage; 
wie  ist  die  Erwerbart  durch  Beerbung  möglich?  von  den  mancherlei 
möglichen  Formen  ihrer  Ausführung  (die  nur  in  einem  gemeinen 
Wesen  stattfinden)   unabhängig  untersucht  werden. 

„Es  ist  möglich,  durch  Erbeseinsetzung  zu  erwerben."  — 
Denn  der  Erblasser  CAJUS  verspricht  und  erklärt  in  seinem  letzten 
Willen  dem  TITIUS,  der  nichts  von  jenem  Versprechen  weiĂź, 
seine  Habe  solle  im  Sterbefall  auf  diesen  ĂĽbergehen,  und  bleibt 
also,  solange  er  lebt,  alleiniger  EigentĂĽmer  derselben.  Nun  kann 
zwar  durch  den  bloĂźen  einseitigen  Willen  nichts  auf  den  anderen 
ĂĽbergehen:  sondern  es  wird  ĂĽber  dem  Versprechen  noch  An- 
nehmung (acceptatio)  des  anderen  Teils  dazu  erfordert  und  ein 
gleichzeitiger  Wille  (yoluntas  simultanea\  welcher  jedoch  hier 
mangelt;  denn  solange  CAJUS  lebt,  kann  TITIUS  nicht  aus- 
drĂĽcklich acceptieren,  um  dadurch  zu  erwerben:  weil  jener  nur 
auf  den  Fall    des  Todes    versprochen    hat    (denn   sonst  wäre    das 

7* 


loo     Rcchtslehre.    i.  Teil.   Das  Privatrecht.    2.  HauptstĂĽck 

Figentum  einen  Augenblick  gemeinschaftlich,  welches  nicht  der 
Wille  des  Erblassers  ist).  —  Dieser  aber  erwirbt  doch  still- 
schweigend ein  eigentĂĽmliches  Recht  an  der  Verlassenschaft  als 
ein  Sachenrecht,  nämlich  ausschlüßlich  sie  zu  acceptieren  (/'«t  in 
re  tacente)^  daher  diese  in  dem  gedachten  Zeitpunkt  haered'ttas 
laccns  heiĂźt.  Da  nun  jeder  Mensch  notv/endigerweise  (weil  er 
dadurch  wohl  gewinnen,  nie  aber  verlieren  kann)  ein  solches 
Recht,  mithin  auch  stillschweigend  acceptiert  und  TITIUS  nach 
dem  Tode  des  CAJUS  in  diesem  Falle  ist,  so  kann  er  die  Erb- 
schaft durch  Annahme  des  Versprechens  erwerben,  und  sie  ist 
nicht  etwa  mittlerweile  ganz  herrenlos  {res  nullius)^  sondern  nur 
erledigt  {res  vacud)  gewesen:  weil  er  aussctilĂĽĂźlich  das  Recht 
der  Wahl  hatte,  ob  er  die  hinterlassene  Habe  zu  der  seinigen 
machen  wollte  oder  nicht. 

Also  sind  die  Testamente  auch  nach  dem  bloĂźen  Natur- 
recht gĂĽltig  {sunt  iuris  tiaturae)\  welche  Behauptung  aber  so 
zu  verstehen  ist,  daß  sie  fähig  und  würdig  seien  im  bürger- 
lichen Zustande  (wenn  dieser  dereinst  eintritt)  eingefĂĽhrt 
und  sanktioniert  zu  werden.  Denn  nur  dieser  (der  all- 
gemeine Wille  in  demselben)  bewahrt  den  Besitz  der  Ver- 
lassenschaft während  dessen,  daß  diese  zwischen  der  Annahme 
und  der  Verwerfung  schwebt  und  eigentlich  keinem  an- 
gehört. 

III. 

Der  NachlaĂź  eines  guten  Namens  nach  dem  Tode. 

{Botia  fama  defuiuti?) 

§  35- 

DaĂź  der  Verstorbene  nach  seinem  Tode  (wenn  er  also  nicht 
mehr  ist)  noch  etwas  besitzen  könne,  wäre  eine  Ungereimtheit 
zu  denken,  wenn  der  Nachlaß  eine  Sache  wäre.  Nun  ist  aber 
der  gute  Name  ein  angebornes  äußeres,  obzwar  bloß  ideales 
Mein  oder  Dein,  was  dem  Subjekt  als  einer  Person  anhängt,  von 
deren  Natur,  ob  sie  mit  dem  Tode  gänzlich  aufhöre  zu  sein, 
oder  immer  noch  als  solche  ĂĽbrig  bleibe,  ich  abstrahieren  kann 
und    muß.    weil    ich    im    rechtlichen   Verhältnis    auf   andere    jede 


Episodischer  Abschnitt.     Von  der  idealen  Erwerbung     i  o  i 

Person  bloĂź  nach  ihrer  Menschheit,  mithin  als  homo  noumenon 
wirklich  betrachte,  und  so  ist  jeder  Versuch,  ihn  nach  dem  Tode 
in  ĂĽbele  falsche  Nachrede  zu  bringen,  immer  bedenklich;  obgleich 
eine  gegrĂĽndete  Anklage  desselben  gar  wohl  stattfindet  (mithin 
der  Grundsatz:  de  mortuis  nihil  nisi  bene,  unrichtig  ist),  weil  gegen 
den  Abwesenden,  welcher  sich  nicht  verteidigen  kann,  VorwĂĽrfe 
auszustreuen  ohne  die  größte  Gewißheit  derselben  wenigstens  un- 
groĂźmĂĽtig  ist. 

DaĂź  durch  ein  tadelloses  Leben  und  einen  dasselbe  beschlie- 
Ăźenden Tod  der  Mensch  einen  (negativ-)  guten  Namen  als  das 
Seine,  welches  ihm  ĂĽbrig  bleibt,  erwerbe,  wenn  er  als  homo  phac- 
nomenon  nicht  mehr  existiert,  und  daĂź  die  Ăśberlebenden  (an- 
gehörige,  oder  fremde)  ihn  auch  vor  Recht  zu  verteidigen  befugt 
sind  (weil  unerwiesene  Anklage  sie  insgesamt  wegen  ähnlicher 
Begegnung  auf  ihren  Sterbefall  in  Gefahr  bringt),  daĂź  er,  sage 
ich,  ein  solches  Recht  erwerben  könne,  ist  eine  sonderbare,  nichts- 
destoweniger unläugbare  Erscheinung  der  a  priori  gesetzgebenden 
Vernunft,  die  ihr  Gebot  und  Verbot  auch  ĂĽber  die  Grenze  des 
Lebens  hinaus  erstreckt.  —  Wienn  jemand  von  einem  Verstorbenen 
ein  Verbrechen  verbreitet,  das  diesen  im  Leben  ehrlos,  oder  nur 
verächtlich  gemacht  haben  würde:  so  kann  ein  jeder,  welcher 
einen  Beweis  führen  kann,  daß  diese  Beschuldigung  vorsätzlich 
unwahr  und  gelogen  sei,  den,  welcher  jenen  in  böse  Nachrede 
bringt,  für  einen  Kalumnianten  öffentlich  erklären,  mithin  ihn 
selbst  ehrlos  machen;  welches  er  nicht  tun  dĂĽrfte,  wenn  er  nicht 
mit  Recht  voraussetzte,  daĂź  der  Verstorbene  dadurch  beleidigt 
wäre,  ob  er  gleich  tot  ist,  und  daß  diesem  durch  jene  Apologie 
Genugtuung  widerfahre,  ob  er  gleich  nicht  mehr  existiert.')    Die 


*)  DaĂź  man  aber  hiebei  ja  nicht  auf  Vorempfindung  eines  kĂĽnf- 
tigen Lebens  und  unsichtbare  Verhältnisse  zu  abgeschiedenen  Seelen 
schwärmerisch  schließe,  denn  es  ist  hier  von  nichts  weiter,  als  dem 
rein  moralischen  und  rechtlichen  Verhältnis,  was  unter  Menschen  auch 
im  Leben  statthat,  die  Rede,  worin  sie  als  intelli^bele  Wesen  stehen, 
indem  man  alles  Physische  (zu  ihrer  Existenz  in  Raum  vmd  Zeit  Ge-. 
hörende)  logisch  davon  absondert,  d.  i.  davon  abstrahiert,  nicht 
aber  die  Menschen  diese  ihre  Natur  ausziehen  und  sie  Geister  werden 
läßt,  in  welchem  Zustande  sie  die  Beleidigung  durch  ihre  Verleumder 
fühleten.  —  Der,  welcher  nach  hundert  Jahren  mir  etwas  Böses  fälsch- 
lich nachsagt,  beleidigt  mich  schon  jetzt;  denn  im  reinen  Rechtsver- 
hältnisse, welches  ganz  intellektuell  ist,  wird  von  allen   physischen  Be- 


1  o  2      Rechtslehre,    i.  TeiL  Das  Privarrecht.    j.  HauptstĂĽck 

Befugnis,  die  Rolle  des  Apologeten  fĂĽr  den  Verstorbenen  zu 
spielen,  darF  dieser  auch  nicht  beweisen;  denn  jeder  Mensch  maĂźt 
sie  sich  unvermeidlich  an,  als  nicht  bloĂź  zur  Tugendpflicht  (ethisch 
betrachtet),  sondern  sogar  zum  Recht  der  Menschheit  ĂĽberhaupt 
gehörig:  und  es  bedarf  hiezu  keiner  besonderen  persönlichen  Nach- 
teile, die  etwa  Freunden  und  Anverwandten  aus  einem  solchen 
Schandfleck  am  Verstorbenen  erwachsen  dĂĽrften,  um  jenen  zu 
einer  solchen  Rüge  zu  berechtigen.  —  Daß  also  eine  solche  ideale 
Erwerbung  und  ein  Recht  des  Menschen  nach  seinem  Tode  gegen 
die  Ăśberlebenden  gegrĂĽndet  sei,  ist  nicht  zu  streiten,  obschon  die 
Möglichkeit  desselben   keiner  Deduktion  fähig  ist. 


Drittes   HauptstĂĽck. 

Von   der  subjektiv-bedingten  Erwerbung  durch 
den  Ausspruch  einer  öffentlichen  Gerichtsbarkeit. 


§  i6. 

Wenn  unter  Naturrecht  nur  das  nicht-statutarische,  mithin 
lediglich  das  a  priori  durch  jedes  Menschen  Vernunft  erkennbare 
Recht  verstanden  wird,  so  wird  nicht  bloĂź  die  zwischen  Personen 
in  ihrem  wechselseitigen  Verkehr  untereinander  geltende  Ge- 
rechtigkeit (jitstitia  commutiitiva),  sondern  auch  die  austeilende 
(justitia  distributiva)^  so  wie  sie  nach  ihrem  Gesetze  a  priori  erkannt 
werden  kann,  daß  sie  ihren  Spruch  (jententid)  fällen  müsse,  gleich- 
falls zum  Naturrecht  gehören. 

Die  moralische  Person,  welche  der  Gerechtigkeit  vorsteht,  ist 

dingungen  (der  Zeit)  abstrahiert,  und  der  Ehrenräuber  (Kalumniant)  ist 
eben  sowohl  strafbar,  als  ob  er  es  in  meiner  Lebzeit  getan  hätte :  nur 
durch  kein  Kriminalgericht,  sondern  nur  dadurch,  daĂź  ihrn  nach  dem 
Recht  der  Wiedervergeltung  durch  die  öffentliche  Meinung  derselbe 
Verlust  der  Ehre  zugefügt  wird,  die  er  an  einem  anderen  schmälerte. 
—  Selbst  das  Plagiat,  welches  ein  Schriftsteller  an  Verstorbenen  ver- 
ĂĽbt, ob  es  zwar  die  Ehre  des  Verstorbenen  nicht  befleckt,  sondern 
diesem  nur  einen  Teil  derselben  entwendet,  wird  doch  mit  Recht  als 
Läsion   desselben   (Menschenraub)  geahndet. 


Von  der  subjektiv  bedingten  Erwerbung  durch  Gerichtsbarkeit    i  o  3 

der  Gerichtshof  (forum)  und  im  Zustande  ihrer  AmtsfĂĽhrung 
das  Gericht  {iudiciutn):  alles  nur  nach  Rechtsbedingungen  a  priori 
gedacht,  ohne,  \vie  eine  solche  Verfassung  wirklich  einzurichten 
und  zu  organisieren  sei  (wozu  Statute,  also  empirische  Prinzipien, 
gehören),  in  Betrachtung   zu  ziehen. 

Die  Frage  ist  also  hier  nicht  bloĂź:  was  ist  an  sich  recht, 
wie  nämlich  hierüber  ein  jeder  Mensch  für  sich  zu  urteilen  habe, 
sondern:  was  ist  vor  einem  Gerichtshofe  recht,  d.  i.  was  ist 
Rechtens?  Und  da  gibt  es  vier  Fälle,  wo  beiderlei  Urteile  ver- 
schieden und  entgegengesetzt  ausfallen  und  dennoch  nebeneinander 
bestehen  können:  weil  sie  aus  zwei  verschiedenen,  beiderseits 
wahren  Gesichtspunkten  gefället  werden,  die  eine  nach  dem  Pri- 
vatrecht, die  andere  nach  der  Idee  des  öffenthchen  Rechts;  —  sie 
sind:  i)  der  Schenkungsvertrag  (pactum  donationis).  2)  Der 
Leihvertrag  {commodatum).  3)  Die  Wiedererlangung  (vindi- 
catio).   4)  Die  Vereidigung  (iuramentum). 

Es  ist  ein  gewöhnlicher  Fehler  der  Erschleichung  (vitium 
subreptionis)  der  Rechtslehrer,  dasjenige  rechtliche  Prinzip, 
was  ein  Gerichtshof  zu  seinem  eigenen  Behuf  (also  in  sub- 
jektiver Absicht)  anzunehmen  befugt,  ja  sogar  verbunden  ist, 
um  ĂĽber  jedes  einem  zustehende  Recht  zu  sprechen  und  zu 
richten,  auch  objektiv  fĂĽr  das,  was  an  sich  selbst  recht  ist, 
zu  halten:  da  das  erstere  doch  von  dem  letzteren  sehr  unter- 
schieden ist.  —  Es  ist  daher  von  nicht  geringer  Wichtigkeit, 
diese  spezifische  Verschiedenheit  kennbar  und  darauf  auf- 
merksam zu  machen. 


%  37- 
Von  dem  Seh enkungs vertrag. 

Dieser  Vertrag  (donatio^  wodurch  ich  das  Mein,  meine  Sache 
(oder  mein  Recht),  unvergolten  (gratis)  veräußere,  enthält 
ein  Verhältnis  von  mir,  dem  Schenkenden  (donans\  zu  einem 
anderen,  dem  Beschenkten  (donatarius)^  nach  dem  Privatrecht, 
wodurch  das  Meine  auf  diesen  durch  Annehmung  des  letzteren 
(donum)  übergeht.  —  Es  ist  aber  nicht  zu  präsumieren,  daß  ich 
hiebei  gemeinet  sei,  zu  der  Haltung  meines  Versprechens  gezwungen 


104     Rechtslehre.    i.Teil.  Das  Privatrecht,    j.  HauptstĂĽck 

zu  werden  und  also  auch  meine  Freiheit  umsonst  wegzugeben 
und  gleichsam  mich  selbst  wegzuwerfen  (nemo  suum  iactare  prae- 
sumitur),  welches  doch  nach  dem  Recht  im  bĂĽrgerlichen  Zustande 
geschehen  wĂĽrde;  denn  da  kann  der  zu  Beschenkende  mich  zu 
Leistung  des  Versprechens  zwingen.  Es  mĂĽĂźte  also,  wenn  die 
Sache  vor  Gericht  käme,  d.  i.  nach  einem  öffentlichen  Recht, 
entweder  präsumiert  werden,  der  Verschenkende  w^illigte  zu  diesem 
Zwange  ein,  welches  ungereimt  ist,  oder  der  Gerichtshof  sehe  in 
seinem  Spruch  (Sentenz)  gar  nicht  darauf,  ob  jener  die  Freiheit, 
von  seinem  Versprechen  abzugehen,  hat  vorbehalten  wollen,  oder 
nicht,  sondern  auf  das,  was  gewiß  ist,  nämlich  das  Versprechen 
und  die  Acceptation  des  Promissars.  Wenn  also  gleich  der  Pro- 
mittent,  wie  wofil  vermutet  werden  kann,  gedacht  hat,  daĂź,  wenn 
es  ihn  noch  vor  der  ErfĂĽllung  gereuet,  das  Versprechen  getan  zu 
haben,  man  ihn  daran  nicht  binden  könne:  so  nimmt  doch  das 
Gericht  an,  daß  er  sich  dieses  ausdrücklich  hätte  vorbehalten 
mĂĽssen  und,  wenn  er  es  nicht  getan  hat,  zu  Erflillung  des  Ver- 
sprechens könne  gezwungen  werden,  und  dieses  Prinzip  nimmt 
der  Gerichtshof  darum  an,  weil  ihm  sonst  das  Rechtsprechen  un- 
endlich erschwert,    oder    gar    unmöglich    gemacht  werden  würde. 


B. 

§  3«- 
Vom  Leihvertrag. 

In  diesem  Vertrage  {commodatum),  wodurch  ich  jemanden  den 
unvergoltenen  Gebrauch  des  Meinigen  erlaube,  wo,  wenn  dieses 
eine  Sache  ist,  die  Paziszenten  darin  ĂĽbereinkommen,  daĂź  dieser 
mir  eben  dieselbe  Sache  wiederum  in  meine  Gewalt  bringe, 
kann  der  Empfänger  des  Geliehenen  (commodatarius)  nicht  zugleich 
präsumieren,  der  Eigentümer  desselben  (commodans)  nehme  auch 
alle  Gefahr  (casus^  des  möglichen  Verlustes  der  Sache,  oder  ihrer 
ihm  nĂĽtzlichen  Beschaffenheit  ĂĽber  sich,  der  daraus,  daĂź  er  sie  in 
den  Besitz  des  Empfängers  gegeben  hat,  entspringen  könnte.  Denn 
es  versteht  sich  nicht  von  selbst,  daĂź  der  EigentĂĽmer  auĂźer  dem 
Gebrauch  seiner  Sache,  den  er  dem  Lehnsempfänger  bewilligt, 
(dem   von    demselben    unzertrennlichen  Abbruche   derselben)   auch 


Von  der  subjektiv  bedingten  Erwerbung  durch  Gerichtsbarkeit    i  o  5 

die  Sicherstellung  wider  allen  Schaden,  der  ihm  daraus  ent- 
springen kann,  daĂź  er  sie  aus  seiner  eigenen  Gewahrsame  gab,  er- 
lassen habe;  sondern  darĂĽber  mĂĽĂźte  ein  besonderer  Vertrag  ge- 
macht werden.  Es  kann  also  nur  die  Frage  sein:  wem  von  beiden, 
dem  Lehnsgeber  oder  Lehnsempfänger,  es  obliegt,  die  Bedingung 
der  Ăśbernehmung  der  Gefahr,  die  der  Sache  zustoĂźen  kann,  dem 
Leihevertrag  ausdrĂĽcklich  beizufĂĽgen,  oder,  wenn  das  nicht  ge- 
schieht, von  wem  man  die  Einwilligung  zur  Sicherstellung  des 
Eigentums  des  Lehnsgebers  (durch  die  ZurĂĽckgabe  derselben  oder 
ein  Äquivalent)  präsumieren  könne.  Von  dem  Darleiher  nicht; 
weil  man  nicht  präsumieren  kann,  er  habe  mehr  umsonst  ein- 
gewilligt, als  den  bloßen  Gebrauch  der  Sache  (nämlich  nicht  auch 
noch  obenein  die  Sicherheit  des  Eigentums  selber  zu  ĂĽbernehmen), 
aber  wohl  von  dem  Lehnsnehmer:  weil  er  da  nichts  m.ehr  leistet, 
als  gerade   im  Vertrage   enthalten  ist. 

W^enn  ich,  z.  B.  bei  einfallendem  Regen,  in  ein  Haus  ein- 
trete und  erbitte  mir  einen  Mantel  zu  leihen,  der  aber,  etwa 
durch  unvorsichtige  Ausgießung  abfärbender  Materien  aus  dem 
Fenster,  auf  immer  verdorben,  oder  wenn  er,  indem  ich  ihn  in 
einem  anderen  Hause,  wo  ich  eintrete,  ablege,  mir  gestohlen  wird, 
so  muĂź  doch  die  Behauptung  jedem  Menschen  als  ungereimt  auf- 
fallen, ich  hätte  nichts  weiter  zu  tun,  als  jenen,  so  wie  er  ist, 
zurĂĽckzuschicken,  oder  den  geschehenen  Diebstahl  nur  zu  melden; 
allenfalls  sei  es  noch  eine  Höflichkeit  den  Eigentümer  dieses  Ver- 
lustes wegen  zu  beklagen,  da  er  aus  seinem  Recht  nichts  fordern 
könne.  —  Ganz  anders  lautet  es,  wenn  ich  bei  der  P>bittung  dieses 
Gebrauchs  zugleich  auf  den  Fall,  daĂź  die  Sache  unter  meinen 
Händen  verunglückte,  mir  zum  voraus  erbäte,  auch  diese  Gefahr 
zu  ĂĽbernehmen,  weil  ich  arm  und  den  Verlust  zu  ersetzen  un- 
vermögend wäre.  Niemand  wird  das  letztere  überflüssig  und 
lächerlich  finden,  außer  etwa,  wenn  der  Anleihende  ein  bekannt- 
lich vermögender  und  wohldenkender  Mann  wäre,  weil  es  alsdann 
beinahe  Beleidigung  sein  wĂĽrde,  die  groĂźmĂĽtige  Erlassung  meiner 
Schuld  in   diesem  Falle   nicht  zu   präsumieren. 


Da  nun  ĂĽber  das  Mein  und  Dein  aus  dem  Leihvertrage, 
wenn  (wie  es  die  Natur  dieses  Vertrages  so  mit  sich  bringt)  ĂĽber 
die  mögliche  Verunglückung  (casus),  die  die  Sache  treflF'en  möchte. 


io6     Rt'chtslehrc.    i.Teil.  Das  Trivatrecht.    3.  HauptstĂĽck 

nichts  verabredet  worden,  er  also,  weil  die  Einwilligung  nur  prä- 
sumiert worden,  ein  ungewisser  Vertrag  {^pactum  incertum)  ist, 
das  Urteil  darĂĽber,  d.  i.  die  Entscheidung,  wen  das  UnglĂĽck 
treffen  mĂĽsse,  nicht  aus  den  Bedingungen  des  Vertrages  an  sich 
selbst,  sondern  wie  sie  allein  vor  einem  Gerichtshofe,  der 
immer  nur  auf  das  Gewisse  in  jenem  sieht  (welches  hier  der  Be- 
sitz der  Sache  als  Eigentum  ist),  entschieden  werden  kann,  so 
wird  das  Urteil  im  Naturzustande,  d.  i.  nach  der  Sache  innerer 
Beschaftcnheit,  so  kuten:  der  Schade  aus  der  VeninglĂĽckung  einer 
geliehenen  Sache  Fällt  auf  den  Beliehenen  (casum  sentit  comtno- 
tiatarius);  dagegen  im  bĂĽrgerlichen,  also  vor  einem  Gerichts- 
höfe, wird  die  Sentenz  so  ausfallen:  der  Schade  fällt  auf  den 
Anleiher  (casum  sentit  dominus^,  und  zwar  aus  dem  Grunde 
verschieden  von  dem  Ausspruche  der  bloĂźen  gesunden  Vernunft, 
weil  ein  öffentlicher  Richter  sich  nicht  auf  Präsumtionen  von  dem, 
was  der  eine  oder  andere  Teil  gedacht  haben  mag,  einlassen  kann, 
sondern  der,  welcher  sich  nicht  die  Freiheit  von  allem  Schaden 
an  der  geliehenen  Sache  durch  einen  besonderen  angehängten  Ver- 
trag ausbedungen  hat,  diesen  selbst  tragen  muß.  —  Also  ist  der 
Unterschied  zwischen  dem  Urteile,  wie  es  ein  Gericht  fällen 
mĂĽĂźte,  und  dem,  was  die  Privatvernunft  eines  jeden  fĂĽr  sich  zu 
fällen  berechtigt  ist,  ein  durchaus  nicht  zu  übersehender  Punkt  in 
Berichtigung  der  Rechtsurteile. 


C. 

Von  der  Wiedererlangung.  (Rückbemächtigung)  des 

Verlornen 

(vindicatio). 

§  ?9- 

L/aĂź  eine  fortdauernde  Sache,  die  mein  ist,  mein  bleibe,  ob 
ich  gleich  nicht  in  der  fortdauernden  Inhabung  derselben  bin, 
und  von  selbst  ohne  einen  rechtlichen  Akt  (derelictionis  vel  alie- 
nationis')  mein  zu  sein  nicht  aufhöre,  und  daß  mir  ein  Recht  in 
dieser  Sache  (ius  reale),  mithin  gegen  jeden  Inhaber,  nicht  bloĂź 
gegen   eine   bestimmte   Person   {ius  personale)    zusteht,    ist   aus   dem 


f^on  der  subjektiv  bedingten  Er^verbung  durch  Gerichtsbarkeit    i  o  7 

cbigen  klar.  Ob  aber  dieses  Recht  auch  von  jedem  anderen 
als  ein  fĂĽr  sich  fortdauerndes  Eigentum  mĂĽsse  angesehen  werden, 
wenn  ich  demselben  nur  nicht  entsagt  habe,  und  die  Sache  in 
dem  Besitz  eines  anderen  ist,  das  ist  nun  die  Frage. 

Ist  die  Sache  mir  abhanden  gelcommen  (res  amissa)  und  so 
von  einem  anderen  auf  ehrliche  Art  (bona  fide),  als  ein  ver- 
meinter Fund,  oder  durch  förmliche  Veräußerung  des  Besitzers, 
der  sich  als  EigentĂĽmer  fĂĽhrt,  an  mich  gekommen,  obgleich  dieser 
nicht  Eigentümer  ist,  so  ftägt  sich,  ob,  da  ich  von  einem  Nicht- 
eigentĂĽmer (<?  non  domino)  eine  Saclie  nicht  erwerben  kann,  ich 
durch  jenen  von  allem  Recht  in  dieser  Sache  ausgeschlossen  werde 
und  bloß  ein  persönliches  gegen  den  unrechtmäßigen  Besitzer  übrig 
behalte.  —  Das  letztere  ist  offenbar  der  Fall,  wenn  die  Erwerbung 
bloĂź  nach  ihren  inneren  berechtigenden  GrĂĽnden  (im  Natur- 
zustande), nicht  nach  der  Konvenienz  eines  Gerichtshofes  be- 
urteilt wird. 

Denn  alles  Veräußerliche  muß  von  irgend  jemand  können 
erworben  werden.  Die  Rechtmäßigkeit  der  Erwerbung  aber  beruht 
gänzlich  auf  der  Form,  nach  welcher  das,  was  im  Besitz  eines 
anderen  ist,  auf  mich  ĂĽbertragen  und  von  mir  angenommen  wird, 
d.  i.  auf  der  Förmlichkeit  des  rechtlichen  Akts  des  Verkehrs 
{commutatio)  zwischen  dem  Besitzer  der  Sache  und  dem  Erwerbenden, 
ohne  daĂź  ich  fragen  darf,  wie  jener  dazu  gekommen  sei:  weil 
dieses  schon  Beleidigung  sein  wĂĽrde  {quilibet  praesumitur  bonus, 
donec  etc.).  Gesetzt  nun,  es  ergäbe  sich  in  der  Folge,  daß  jener 
nicht  EigentĂĽmer  sei,  sondern  ein  anderer,  so  kann  ich  nicht 
sagen,  daß  dieser  sich  geradezu  an  mich  halten  könnte  (so  wie 
auch  an  jeden  anderen,  der  Inhaber  der  Sache  sein  möchte). 
Denn  ich  habe  ihm  nichts  entwandt,  sondern  z.  B.  das  Pferd,  was 
auf  öffentlichem  Markte  feilgeboten  wurde,  dem  Gesetze  gemäß 
(titulo  emti  venditi)  erstanden:  weil  der  Titel  der  Erwerbung 
meinerseits  unbestritten  ist,  ich  aber  (als  Käufer)  den  Titel  des 
Besitzes  des  anderen  (des  Verkäufers)  nachzusuchen  —  da  diese 
Nachforschung  in  der  aufsteigenden  Reihe  ins  Unendliche  gehen 
würde  —  nicht  verbunden,  ja  sogar  nicht  einmal  befugt  bin. 
Also  bin  ich  durch  den  gehörig-betitelten  Kauf  nicht  der  bloß 
putative,  sondern  der  wahre  EigentĂĽmer  des  Pferdes  geworden.. 

Hierwider  erheben  sich  aber  folgende  RechtsgrĂĽnde:  Alle  Er- 
werbung von  einem,  der  nicht  EigentĂĽmer  der  Sache  ist  (a  mn 
domino),    ist    null    und   nichtig.     Ich  kann  von   dem  Seinen  eines 


io8     Rechtslehre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    3.  HauptstĂĽck 

anderen  nicht  mehr  auf  mich  ableiten,  als  er  selbst  rechtmäßig 
gehabt  hat,  und  ob  ich  gleich,  was  die  Form  der  Erwerbung 
{niodus  acquirendi)  betrifft,  ganz  rechtlich  verfahre,  wenn  ich  ein 
gestohlen  Pferd,  was  auf  dem  Markte  feil  steht,  erhandle,  so  fehlt 
doch  der  Titel  der  Erwerbung;  denn  das  Pferd  war  nicht  das 
Seine  des  eigentlichen  Verkäufers.  Ich  mag  immer  ein  ehrlicher 
Besitzer  desselben  (possessor  honae  fidel)  sein,  so  bin  ich  doch 
nur  ein  sich  dĂĽnkender  EigentĂĽmer  {dominus  putativus)^  und  der 
wahre  EigentĂĽmer  hat  ein  Recht  der  Wiedererlangung  (rem 
suatfi  vindicandi). 

Wenn  gefragt  wird,  was  (im  Naturzustande)  unter  Menschen 
nach  Prinzipien  der  Gerechtigkeit  im  Verkehr  derselben  unter- 
einander (Justitia  commutativd)  in  Erwerbung  äußerer  Sachen  an 
sich  Rechtens  sei,  so  muĂź  man  eingestehen:  daĂź,  wer  dieses  zur 
Absicht  hat,  durchaus  nötig  habe,  noch  nachzuforschen,  ob  die 
Sache,  die  er  erwerben  will,  nicht  schon  einem  anderen  angehöre; 
nämlich,  wenn  er  gleich  die  formalen  Bedingungen  der  Ableitung 
der  Sache  von  dem  Seinen  des  anderen  genau  beobachtet  (das 
Pferd  auf  dem  Markte  ordentlich  erhandelt)  hat,  er  dennoch 
höchstens  nur  ein  persönliches  Recht  in  Ansehung  einer  Sache 
{jus  ad  rem)  habe  erwerben  können,  solange  es  ihm  noch  unbekannt 
ist,  ob  nicht  ein  anderer  (als  der  Verkäufer)  der  wahre  Eigen- 
tĂĽmer derselben  sei;  so  daĂź,  wenn  sich  einer  vorfindet,  der  sein 
vorhergehendes  Eigentum  daran  dokumentieren  könnte,  dem  ver- 
meinten neuen  EigentĂĽmer  nichts  ĂĽbrig  bliebe,  als  den  Nutzen, 
so  er  als  ehrlicher  Besitzer  bisher  daraus  gezogen  hat,  bis  auf 
diesen  Augenblick  rechtmäßig  genossen  zu  haben.  —  Da  nun  in 
der  Reihe  der  voneinander  ihr  Recht  ableitenden  sich  dĂĽnkenden 
EigentĂĽmer  den  schlechthin  ersten  (StammeigentĂĽmer)  auszufinden 
mehrenteils  unmöglich  ist:  so  kann  kein  Verkehr  mit  äußeren 
Sachen,  so  gut  er  auch  mit  den  formalen  Bedingungen  dieser 
Art  von  Gerechtigkeit  {iustitia  commutativd)  ĂĽbereinstimmen 
möchte,  einen   sicheren  Erwerb  gewähren. 


Hier  tritt  nun  wiederum  die  rechtlich-gesetzgebende  Vernunft 
mit  dem  Grundsatz  der  distributiven  Gerechtigkeit  ein,  die 
Rechtmäßigkeit  des  Besitzes,  nicht  wie  sie  an  sich  in  Beziehung 
auf  den  Privatwillen  eines  jeden  (im  natĂĽrlichen  Zustande),  sondern 


Von  der  subjektiv  bedingten  Erto erbung  durch  Gerichtsbarkeit    i  o  9 

nur  wie  sie  vor  einem  Gerichtshofe  in  einem  durch  den  all- 
gemein-vereinigten Willen  entstandenen  Zustande  (in  einem  bĂĽrger- 
lichen) abgeurteilt  werden  wĂĽrde,  zur  Richtschnur  anzunehmen: 
wo  alsdann  die  Ăśbereinstimmung  mit  den  formalen  Bedingungen 
der  Erwerbung,  die  an  sich  nur  ein  persönUches  Recht  begründen, 
zu  Ersetzung  der  materialen  GrĂĽnde  (welche  die  Ableitung  von 
dem  Seinen  eines  vorhergehenden  prätendierenden  Eigentümers 
begrĂĽnden)  als  hinreichend  postuliert  wird,  und  ein  an  sich  per- 
sönliches Recht,  vor  einen  Gerichtshof  gezogen,  als  ein 
Sachenrecht  gilt,  z.  B.  daß  das  Pferd,  was  auf  öffentlichem,  durchs 
Polizeigesetz  geordneten  Markt  jedermann  feil  steht,  wenn  alle 
Regeln  des  Kaufs  und  Verkaufs  genau  beobachtet  worden,  mein 
Eigentum  werde  (so  doch,  daĂź  dem  wahren  EigentĂĽmer  das  Recht 
bleibt,  den  Verkäufer  wegen  seines  altern,  unverwirkten  Besitzes 
in  Anspruch  zu  nehmen),  und  mein  sonst  persönliches  Recht  in 
ein  Sachenrecht,  nach  welchem  ich  das  Meine,  wo  ich  es  finde, 
nehmen  (vindizieren)  darf,  verwandelt  wird,  ohne  mich  auf  die 
Art,  wie  der  Verkäufer  dazu  gekommen    einzulassen. 

Es  geschieht  also  nur  zum  Behuf  des  Rechtsspruchs  vor  einem 
Gerichtshofe  (/'«  favorem  iustitiae  distributivae)^  daß  das  Recht  in 
Ansehung  einer  Sache  nicht,  wie  es  an  sich  ist  (als  ein  per- 
sönliches), sondern  wie  es  am  leichtesten  und  sichersten  ab- 
geurteilt werden  kann  (als  Sachenrecht),  doch  nach  einem  reinen 
Prinzip  a  priori  angenommen  und  behandelt  werde.  —  Auf  diesem 
grĂĽnden  sich  nun  nachher  verschiedene  statutarische  Gesetze  (Ver- 
ordnungen), die  vorzĂĽglich  zur  Absicht  haben,  die  Bedingungen, 
unter  denen  allein  eine  Erwerbungsart  rechtskräftig  sein  soll,  so 
zu  stellen,  daĂź  der  Richter  das  Seine  einem  jeden  am  leich- 
testen und  unbedenklichsten  zuerkennen  könne:  z.  B.  in  dem 
Satz:  Kauf  bricht  Miete,  wo,  was  der  Natur  des  Vertrags  nach, 
d.  i.  an  sich,  ein  Sachenrecht  ist,  (die  Miete)  fĂĽr  ein  bloĂź  per- 
sönliches und  umgekehrt,  wie  in  dem  obigen  Fall,  was  an  sich 
bloß  ein  persönliches  Recht  ist,  fiir  ein  Sachenrecht  gilt;  wenn 
die  Frage  ist,  auf  welche  Prinzipien  ein  Gerichtshof  im  bĂĽrger- 
lichen Zustande  anzuweisen  sei,  um  in  seinen  AussprĂĽchen  wegen 
des  einem,  jeden  zustehenden  Rechts  am  sichersten  zu  gehen. 


1 1  o     Rechts  lehre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht,    j.  HauptstĂĽck 

D. 
Von  Erwerbung  der  Sicherheit  durch  Eidesabiegung. 

(Cautio  ruraforia.) 

§  40. 

Man  kann  keinen  anderen  Grund  angeben,  der  rechtlich 
Menschen  verbinden  könnte,  zu  glauben  und  zu  bekennen,  daß 
CS  Götter  gebe,  als  den,  damit  sie  einen  Eid  schwören  und  durch 
die  Furcht  vor  einer  allsehenden  obersten  Macht,  deren  Rache  sie 
feierlich  gegen  sich  aufrufen  muĂźten,  im  Fall  daĂź  ihre  Aussage 
falsch  wäre,  genötigt  werden  könnten,  wahrhaft  im  Aussagen  und 
treu  im  Versprechen  zu  sein.  DaĂź  man  hiebei  nicht  auf  die 
Morahtät  dieser  beiden  Stücke,  sondern  bloß  auf  einen  Winden 
Aberglauben  derselben  rechnete,  ist  daraus  zu  ersehen,  daĂź  man 
sich  von  ihrer  bloĂźen  feierlichen  Aussage  vor  Gericht  in 
Rechtssachen  keine  Sicherheit  versprach,  obgleich  die  Pflicht  der 
Wahrhaftigkeit  in  einem  Fall,  wo  es  auf  das  Fleiligste,  was  unter 
Menschen  nur  sein  kann,  (aufs  Recht  der  Menschen)  ankommt, 
jedermann  so  klar  einleuchtet,  mithin  bloße  Märchen  den  Be- 
wegungsgrund ausmachen:  wie  z.  B.  das  unter  den  Rejangs, 
einem  heidnischen  Volk  auf  Sumatra,  welche  nach  MARSDENS 
Zeugnis  bei  den  Knochen  ihrer  verstorbenen  Anverwandten 
schwören,  ob  sie  gleich  gar  nicht  glauben,  daß  es  noch  ein  Leben 
nach  dem  Tode  gebe,  oder  der  Eid  der  Guineaschwarzen  bei 
ihrem  Fetisch,  etwa  einer  Vogelfeder,  auf  die  sie  sich  vermessen, 
daĂź  sie  ihnen  den  Hals  brechen  solle  u.  dergl.  Sie  glauben,  daĂź 
eine  unsichtbare  Macht,  sie  mag  nun  Verstand  haben  oder  nicht, 
schon  ihrer  Natur  nach  diese  Zauberkraft  habe,  die  durch  einen 
solchen  Aufruf  in  Tat  versetzt  wird.  —  Ein  solcher  Glaube,  dessen 
Name  Religion  ist,  eigentlich  aber  Superstition  heiĂźen  sollte,  ist 
aber  fĂĽr  die  Rechtsverwaltung  unentbehrlich,  weil,  ohne  auf  ihn 
zu  rechnen,  der  Gerichtshof  nicht  genugsam  imstande  wäre, 
geheim  gehaltene  Fakta  auszumitteln  und  recht  zu  sprechen.  Ein 
Gesetz,  das  hiezu  verbindet,  ist  also  offenbar  nur  zum  Behuf  der 
richtenden  Gewalt  gegeben. 

Aber  nun  ist  die  Frage:  worauf  grĂĽndet  man  die  Verbind- 
lichkeit, die   jemand  vor  Gericht  haben  soll,   eines  anderen  Eid  als 


H?t  der  subjektiv  bedingten  Erwerbung  durch  Gerichtsbarkeit 


1 1 1 


zu  Recht  gĂĽltigen  Beweisgrund  der  Wahrheit  seines  Vorgebens 
anzunehmen,  der  allem  Hader  ein  Ende  mache,  d.  i.  was  ver- 
bindet mich  rechtlich,  zu  glauben,  daß  ein  anderer  (der  Schwö- 
rende) ĂĽberhaupt  Religion  habe,  um  mein  Recht  auF  seinen  Eid 
ankommen  zu  lassen?  Imgleichen  umgekehrt:  kann  ich  ĂĽberhaupt 
verbunden  werden,  zu  schwören?      Beides  ist  an  sich  unrecht. 

Aber  in  Beziehung  auf  einen  Gerichtshof^  also  im  bĂĽrgerlichen 
Zustande,    wenn  man  annimmt,    daĂź  es  kein  anderes  Mittel  gibt, 
in  gewissen  Fällen  hinter  die  Wahrheit  zu  kommen,  als  den  Eid, 
muĂź  von  der  Religion  vorausgesetzt  werden,  daĂź  sie  jeder  habe, 
um    sie    als    ein    Notmittel    (jn    casu   necessitatis)    zum  Behuf   des 
rechtlichen  Verfahrens  vor    einem  Gerichtshofe   zu  gebrauchen, 
welcher  diesen  Geisteszwang  (tortura  spiritualis)  fĂĽr  ein  behenderes 
und    dem    abergläubischen    Hange    der    Menschen    angemesseneres 
Mittel  der  Aufdeckung  des  Verborgenen  und  sich  darum  fĂĽr  be- 
rechtigt   hält,    es    zu    gebrauchen.  —   Die    gesetzgebende    Gewalt 
handelt  aber  im  Grunde  unrecht,  diese  Befugnis  der  richterlichen 
zu  erteilen:    weil    selbst   im  bĂĽrgerlichen  Zustande  ein  Zwang  zu 
Eidesleistungen  der  unverlierbaren  menschlichen  Freiheit  zuwider  ist. 
Wenn  die  Amtseide,  welche  gewöhnlich  promissorisch 
sind,  daß  man   nämlich   den  ernstlichen  Vorsatz  habe,  sein 
Amt  pflichtmäßig  zu  verwalten,  in  assertorische  verwandelt 
würden,  daß  nämlich  der  Beamte  etwa  zu  Ende  eines  Jahres 
(oder   mehrerer)    verbunden    wäre,    die  Treue    seiner   Amts- 
führung während  desselben  zu  beschwören:  so  würde  dieses 
Teils  das  Gewissen  mehr  in  Bewegung  bringen,  als  der  Ver- 
sprechungseid,  weicher   hinterher    noch    immer    den   inneren 
Vorwand  übrig  läßt,  man  habe  bei  dem  besten  Vorsatz  die 
Beschwerden    nicht    voraus    gesehen,    die    man    nur    nachher 
während  der  Amtsverwaltung  erfahren  habe,  und  die  Pflicht- 
ĂĽbertretungen  wĂĽrden   auch,   wenn   ihre  Summiening    durch 
Aufmerker  bevorstände,  mehr  Besorgnis  der  Anklage   wegen 
erregen,    als    wenn    sie    bloĂź    eine    nach    der   anderen    (ĂĽber 
welche  die  vorigen  vergessen  sind)  gerügt  würden.  —  Was 
aber  das  Beschwören  des  Glaubens   (^de  credulitate)  betrifft, 
so  kann  dieses  gar  nicht  von  einem  Gericht  verlangt  werden. 
Denn   erstlich   enthält   es  in   sich   selbst   einen  Widerspruch: 
dieses  Mittelding  zwischen  Meinen   und  Wissen,   weil  es  so 
etwas   ist,  worauf  man  wohl  zu  wetten,  keineswegcs  aber 
darauf  zu  schwören   sich  getrauen  kann.     Zweitens  begeht 


I  1 2     Rechtslehre,    i.  Teil.  Das  Privatrecht.    3.  HauptstĂĽck 

der  Richter,  der  solchen  Glaubenseid  dem  Parten  ansinnete, 
um  etwas  zu  seiner  Absicht  Gehöriges,  gesetzt  es  sei  auch 
das  gemeine  Beste,  auszumitteln,  einen  groĂźen  VerstoĂź  an 
der  Gewissenhaftigkeit  des  Eidleistenden,  teils  durch  den 
Leichtsinn,  zu  dem  er  verleitet  und  wodurch  der  Richter 
seine  eigene  Absicht  vereitelt,  teils  durch  Gewissensbisse, 
die  ein  Mensch  fĂĽhlen  muĂź,  der  heute  eine  Sache,  aus 
einem  gewissen  Gesichtspunkt  betrachtet,  sehr  wahrscheinlich, 
morgen  aber,  aus  einem  anderen,  ganz  unwahrscheinlich 
finden  kann,  und  lädiert  also  denjenigen,  den  er  zu  einer 
solchen  Eidesleistung  nötigt. 


Ăśbergang  von  dem  Mein  und  Dein  im  Naturzustande 
zu  dem  im  rechtlichen  Zustande  ĂĽberhaupt. 

§  41. 

Der  rechtliche  Zustand  ist  dasjenige  Verhältnis  der  Menschen 
untereinander,  welches  die  Bedingungen  enthält,  unter  denen 
allein  jeder  seines  Rechts  teilhaftig  werden  kann,  und  das  for- 
male Prinzip  der  Möglichkeit  desselben,  nach  der  Idee  eines  all- 
gemein gesetzgebenden  Willens  betrachtet,  heißt  die  öffentliche 
Gerechtigkeit,  welche  in  Beziehung  entweder  auf  die  Möglichkeit 
oder  W^irkĂśchkeit  oder  Notwendigkeit  des  Besitzes  der  Gegen- 
stände (als  der  Materie  der  Willkür)  nach  Gesetzen  in  die  be- 
schĂĽtzende (justitia  tutatr'tx)^  die  wechselseitig  erwerbende 
(justttia  commutativd)  und  die  austeilende  Gerechtigkeit  (Justitia 
(iistributiva)  eingeteilt  werden  kann.  —  Das  Gesetz  sagt  hiebei 
erstens  bloĂź,  welches  Verhalten  innerlich  der  Form  nach  recht 
ist  (Jex  iustiy^  zweitens,  was  als  Materie  noch  auch  äußerlich 
gesetzfähig,  d.  i.  dessen  Besitzstand  rechtlich  ist  Qex  iuridica)\ 
drittens,  was  und  wovon  der  Ausspruch  vor  einem  Gerichts- 
hofe in  einem  besonderen  Falle  unter  dem  gegebenen  Gesetze 
diesem  gemäß,  d.  i.  Rechtens  ist  (Jex  iustitiae\  wo  man  derm 
auch  jenen  Gerichtshof  selbst  die  Gerechtigkeit  eines  Landes 
nennt,  und,  ob  eine  solche  sei  oder  nicht  sei,  als  die  wichtigste 
unter  allen   rechtlichen  Angelegenheiten  gefragt  werden  kann. 

Der  nicht-rechtliche  Zustand,  d.  i.  derjenige,  in  welchem 
keine    austeilende   Gerechtigkeit   ist,    heiĂźt    der  natĂĽrliche   Zustand 


Von  der  subjektiv  bedingten  Erwerbung  durch  Gerichtsbarkeit  1 1 3 

(Status  naturalis).  Ihm  wird  nicht  der  gesellschaftliche  Zustand 
(wie  ACHENWALL  meint),  und  der  ein  kĂĽnstlicher  (status 
artißcialis)  heißen  könnte,  sondern  der  bürgerliche  (jtatus  civilis) 
einer  unter  einer  distributiven  Gerechtigkeit  stehenden  Gesell- 
schaft entgegen  gesetzt;  denn  es  kann  auch  im  Naturzustände 
rechtmäßige  Gesellschaften  (z.  B.  eheliche,  väterhche,  häusliche 
ĂĽberhaupt  und  andere  beĂĽebige  mehr)  geben,  von  denen  kein 
Gesetz  a  priori  gilt:  „Du  sollst  in  diesen  Zustand  treten",  wie 
CS  wohl  vom  rechtlichen  Zustande  gesagt  werden  kann,  daĂź 
alle  Menschen,  die  miteinander  (auch  unwillkĂĽrhch)  in  Rechts- 
verhältnisse  kommen    können,    in    diesen  Zustand   treten   sollen. 

Man  kann  den  erstercn  und  zweiten  Zustand  den  des  Privat- 
rechts, den  letzteren  und  dritten  aber  den  des  öffentlichen 
Rechts  nennen.  Dieses  enthält  nicht  mehr  oder  andere  Pflichten 
der  Menschen  unter  sich,  als  in  jenem  gedacht  werden  können; 
die  Materie  des  Privatrechts  ist  ebendieselbe  in  beiden.  Die 
Gesetze  des  letzteren  betreffen  also  nur  die  rechtliche  Form  ihres 
Beisammenseins  (Verfassung),  in  Ansehung  deren  diese  Gesetze  not- 
wendig als  öffentliche  gedacht  werden  müssen. 

Selbst  der  bĂĽrgerliche  Verein  (unio  civilis)  kann  nicht  wohl 
eine  Gesellschaft  genannt  werden;  denn  zwischen  dem  Be- 
fehlshaber Qmperans)  und  dem  Untertan  {subditus)  ist  keine 
Mitgenossenschaft;  sie  sind  nicht  Gesellen,  sondern  einander  unter- 
geordnet, nicht  beigeordnet,  und  die  sich  einander  beiordnen, 
mĂĽssen  sich  eben  deshalb  untereinander  als  gleich  ansehen,  so 
fern  sie  unter  gemeinsamen  Gesetzen  stehen.  Jener  Verein  ist 
also  nicht  sowohl  als  macht  vielmehr  eine  Gesellschaft. 


§  4^' 

Aus  dem  Privatrecht  im  natĂĽrlichen  Zustande  geht  nun  das 
Postulat  des  öffentlichen  Rechts  hervor;  du  sollst  im  Verhältnisse  eines 
unvermeidlichen  Nebeneinanderseins  mit  allen  anderen  aus  jenem 
heraus  in  einen  rechtĂśchen  Zustand,  d.  i.  den  einer  austeilenden 
Gerechtigkeit,  übergehen.  —  Per  Grund  davon  läßt  sich  analytisch 
aus  dem  Begriffe  des  Rechts  im  äußeren  Verhältnis  im  Gegen- 
satz der  Gewalt  (yiolentia)  entwickeln. 

Niemand   ist   verbunden,   sich   des   Eingriffs   in  den   Besitz    des 
anderen    zu    enthalten,    wenn    dieser  ihm   nicht   gleichmäßig   auch 

Kants  Schriften.  Bd.  VII.  8 


1 1 4     Rechtslehre,    i.  Feil.  Das  Privatrecht,    j.  HauptstĂĽck 

Siciicrhcit  gibt,  er  werde  eben  dieselbe  Enthaltsamkeit  gegen  ihn 
beobachten.  Er  darf  also  nicht  abwarten,  bis  er  etwa  durch  eine 
traurige  Erfahrung  von  der  entgegengesetzten  Gesinnung  des  letz- 
teren belehrt  wird;  denn  was  sollte  ihn  verbinden,  allererst  durch 
Schaden  klug  zu  werden,  da  er  die  Neigung  der  Menschen  ĂĽber- 
haupt ĂĽber  andere  den  Meister  zu  spielen  (die  Ăśberlegenheit  des 
Rechts  anderer  nicht  zu  achten,  wenn  sie  sich  der  Macht  oder 
List  nach  diesen  ĂĽberlegen  fĂĽhlen)  in  sich  selbst  hinreichend 
wahrnehmen  kann,  und  es  ist  nicht  nötig,  die  wirkliche  Feind- 
seligkeit abzuwarten;  er  ist  zu  einem  Zwange  gegen  den  befugt, 
der  ihm  schon  seiner  Natur  nach  damit  droht.  (^Quiiibet  prae- 
suniitur  malus,   donec  secur'itatem  deder'tt  oppos'tti?) 

Bei  dem  Vorsatze,  in  diesem  Zustande  äußerlich  gesetzloser 
Freiheit  zu  sein  und  zu  bleiben,  tun  sie  einander  auch  gar  nicht 
unrecht,  wenn  sie  sich  untereinander  befehden;  denn  was  dem 
einen  gilt,  das  gilt  auch  wechselseitig  dem  anderen,  gleich  als 
durch  eine  Ăśbereinkunft  {uti  partes  de  iure  suo  disponunt,  ita  ius 
esty.  aber  überhaupt  tun  sie  im  höchsten  Grade  daran  unrecht') 
in  einem  Zustande  sein  und  bleiben  zu  wollen,  der  kein  recht- 
licher ist,  d.  i,  in  dem  niemand  des  Seinen  wider  Gewalttätigkeit 
sicher  ist. 


*  Dieser  Unterschied  zwischen  dem,  was  bloĂź  formaliter,  und  dem, 
was  auch  materialiter  unrecht  ist,  hat  in  der  Rechtslehre  mannigfaltigen 
Gebrauch.  Der  Feind,  der,  statt  seine  Kapitulation  mit  der  Besatzung 
einer  belagerten  Festung  ehrlich  zu  vollziehen,  sie  bei  dieser  ihrem 
Auszuge  miĂźhandelt,  oder  sonst  diesen  Vertrag  bricht,  kann  nicht  ĂĽber 
Unrecht  klagen,  wenn  sein  Gegner  bei  Gelegenheit  ihm  denselben 
Streich  spielt.  Aber  sie  tun  überhaupt  im  höchsten  Grade  unrecht,  weil 
sie  dem  Begriff  des  Rechts  selber  alle  GĂĽltigkeit  nehmen  und  alles  der 
wilden  Gewalt  gleichsam  gesetzmäßig  überliefern  und  so  das  Recht  der 
.Menschen   ĂĽberhaupt  umstĂĽrzen. 


Der 

Rechtslehre 
Zweiter  Teil. 
Das  öffentliche  Recht. 

Erster  Abschnitt. 


Das  Staatsrecht. 


Des 

öffentlichen    Rechts 

Erster  Abschnitt. 

Das    Staatsrecht. 
§  43- 


D- 


'er  InbegrifF  der  Gesetze,  die  einer  allgemeinen  Bekannt- 
machung bedĂĽrfen,  um  einen  rechtlichen  Zustand  hervorzubringen, 
ist  das  öffentliche  Recht.  —  Dieses  ist  also  em  System  von 
Gesetzen  fĂĽr  ein  Volk,  d.  i.  eine  Menge  von  Menschen,  oder  fĂĽr 
eine  Menge  von  Völkern,  die,  im  wechselseitigen  Einflüsse  gegen- 
einander stehend,  des  rechtlichen  Zustandes  unter  einem  sie  ver- 
einigenden Willen,  einer  Verfassung  (constitutio),  bedĂĽrfen,  um 
dessen,  was  Rechtens  ist,  teilhaftig  zu  werden.  —  Dieser  Zustand 
der  Einzelnen  im  Volke  in  Verhältnis  untereinander  heißt  der 
bĂĽrgerliche  (status  civilis)  und  das  Ganze  derselben  in  Be- 
ziehung auf  seine  eigene  GUeder  der  Staat  (civitas),  welcher 
seiner  Form  wegen,  als  verbunden  durch  das  gemeinsame  Inter- 
esse aller,  im  rechtlichen  Zustande  zu  sein,  das  gemeine  Wesen 
(res  publica  latius  sie  dicta)  genannt  wird,  in  Verhältnis  aber  auf 
andere  Völker  eine  Macht  {potentid)  schlechthin  heißt  (daher 
das  Wort  Potentaten),  was  sich  auch  wegen  (anmaĂźlich)  ange- 
erbter Vereinigung  ein  Stammvolk  i^gens)  nennt  und  so  unter 
dem  allgemeinen  BegriflFe  des  öffentlichen  Rechts  nicht  bloß  das 
Staats-,  sondern  auch  ein  Völkerrecht  {ius  gentium)  zu  denken 
AnlaĂź  gibt:  welches  dann,  weil  der  Erdboden  eine  nicht  grenzen- 
lose, sondern  sich  selbst  schließende  Fläche  ist,    beides  zusammen 


1 1 8  Rechtshhre.    2,  Ted.  Das  öffentliche  Recht 

zu  der  Idee  eines  Völkerstaatsrechts  (jus  genttutti)  oder  des 
Weltbürgcrrechts  (jus  cosffiopoliticum)  unumgänglich  hinleitet: 
so  daß,  wenn  unter  diesen  drei  möglichen  Formen  des  recht- 
lichen ZuStandes  es  nur  einer  an  dem  die  äußere  Freiheit  durch 
Gesetze  einschränkenden  Prinzip  fehlt,  das  Gebäude  alier  übrigen 
unvermeidlich    untergraben    werden    und    endlich   einstĂĽrzen   muĂź. 


§   44. 

Es  ist  nicht  etwa  die  Erfahrung,  durch  die  wir  von  der 
Maxime  der  Gewalttätigkeit  der  Menschen  belehrt  werden  und 
ihrer  Bösartigkeit,  sich,  ehe  eine  äußere  machthabende  Gesetz- 
gebung erscheint,  einander  zu  betehden,  also  nicht  etwa  ein 
Faktum,  welches  den  öffentlich  gesetzlichen  Zwang  notw^endig 
macht,  sondern,  sie  mögen  auch  so  gutartig  und  rechtliebend 
gedacht  werden,  wie  man  will,  so  liegt  es  doch  a  priori  in  der 
Vernunttidee  eines  solchen  (nicht- rechtlichen)  Zustandes,  daĂź, 
bevor  ein  öffentlich  gesetzlicher  Zustand  errichtet  worden,  ver- 
einzelte Menschen,  Völker  und  Staaten  niemals  vor  Gewalttätigkeit 
gegeneinander  sicher  sein  können,  und  zwar  aus  jedes  seinem 
eigenen  Recht  zu  tun,  was  ihm  recht  und  gut  dĂĽnkt,  und 
hierin  von  der  Meinung  des  anderen  nicht  abzuhängen;  mithin 
das  erste,  was  ihm  zu  beschlieĂźen  obliegt,  wenn  er  nicht  allen 
Rechtsbegriffen  entsagen  will,  der  Grundsatz  sei:  man  mĂĽsse  aus 
dem  Naturzustande,  in  welchem  jeder  seinem  eigenen  Kopfe  folgt, 
herausgehen  und  sich  mit  allen  anderen  (mit  denen  in  Wechsel- 
wirkung zu  geraten  er  nicht  vermeiden  kann)  dahin  vereinigen, 
sich  einem  öffentlich  gesetzlichen  äußeren  Zwange  zu  unterwerfen, 
also  in  einen  Zustand  treten,  darin  jedem  das,  was  fĂĽr  das  Seine 
anerkannt  werden  soll,  gesetzlich  bestimmt  und  durch  hin- 
reichende Macht  (die  nicht  die  seinige,  sondern  eine  äußere  ist) 
zuteil  wird,  d.  i.  er  solle  vor  allen  Dingen  in  einen  bĂĽrgerlichen 
Zustand   treten. 

Zwar  durfte  sein  natĂĽrlicher  Zustand  nicht  eben  darum  ein 
Zustand  der  Ungerechtigkeit  (jniustus^  sein,  einander  nur  nach 
dem  bloĂźen  MaĂźe  seiner  Gewalt  zu  begegnen;  aber  es  war  doch 
ein  Zustand  der  Rechtlosigkeit  ( Status  iustitia  vacuus\  wo, 
wenn  das  Recht  streitig  (ius  controversuni)  war,  sich  kein  kom- 
petenter   Richter    fand,    rechtskräftig    den  Ausspruch    zu   tun,    aus 


•  /.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht  1 1 9 

welchem  nun  in  einen  rechtlichen  zu  treten  ein  jeder  den  anderen 
mit  Gewalt  antreiben  darf:  weil,  obgleich  nach  jedes  seinen 
Rechtsbegriffen  etwas  Äußeres  durch  Bemächtigung  oder  Ver- 
trag erworben  werden  kann,  diese  Erwerbung  doch  nur  provi- 
sorisch ist,  solange  sie  noch  nicht  die  Sanktion  eines  öffent- 
lichen Gesetzes  für  sich  hat,  weil  sie  durch  keine  öffentliche 
(distributive)  Gerechtigkeit  bestimmt  und  durch  keine  dies  Recht 
ausĂĽbende   Gewalt  gesichert  ist. 

Wollte  man  vor  Eintretung  in  den  bĂĽrgerlichen  Zustand 
gar  keine  Erwerbung,  auch  nicht  einmal  provisorisch  fĂĽr 
rechtlich  erkennen,  so  würde  jener  selbst  unmöglich  sein. 
Denn  der  Form  nach  enthalten  die  Gesetze  ĂĽber  das  Mein 
und  Dein  im  Naturzustande  ebendasselbe,  was  die  im  bĂĽrger- 
lichen vorschreiben,  sofern  dieser  bloĂź  nach  reinen  Ver- 
nunftbegriffen gedacht  wird:  nur  daĂź  im  letzteren  die  Be- 
dingungen angegeben  werden,  unter  denen  jene  zur  AusĂĽbung 
(der  distributiven  Gerechtigkeit  gemäß)  gelangen.  —  Es 
wĂĽrde  also,  wenn  es  im  Naturzustande  auch  nicht  provi- 
sorisch ein  äußeres  Mein  und  Dein  gäbe,  auch  keine 
Rechtspflichten  in  Ansehung  desselben,  mithin  auch  kein 
Gebot  geben,  aus  jenem  Zustande  herauszugehen. 


5  45 

Ein  Staat  (civitas)  ist  die  Vereinigung  einer  Menge  von  Men- 
schen unter  Rechtsgesetzen.  Sofern  diese  als  Gesetze  a  priori 
notwendig,  d.  i.  aus  Begriffen  des  äußeren  Rechts  überhaupt  von 
selbst  folgend  (nicht  statutarisch)  sind,  ist  seine  Form  die  Form 
eines  Staats  ĂĽberhaupt,  d.  i.  der  Staat  in  der  Idee,  wie  er  nach 
reinen  Rechtsprinzipien  sein  soll,  welche  jeder  wirklichen  Ver- 
einigung zu  einem  gemeinen  Wesen  (also  im  Inneren)  zur  Richt- 
schnur  {iiormd)   dient. 

Ein  jeder  Staat  enthält  drei  Gewalten  in  sich,  d.  i.  den  all- 
gemein vereinigten  Willen  in  dreifacher  Person  (trias  politica): 
die  Herrschergew  alt  (Souveränität)  in  der  des  Gesetzgebers, 
die  vollziehende  Gewalt  in  der  des  Regierers  (zufolge  dem 
Gesetz)  und  die  rechtsprechende  Gewalt  (als  Zuerkennung 
des  Seinen  eines  jeden  nach  dem  Gesetz)  in  der  Person  des  Rich- 
ters    {potestas    legislatoria,    reaoria    et   tuHiciaria)    gleich    den    drei 


120  Rechtslehre.    2.  Teil.   Das  öffentliche  Recht 

Sätzen  in  einem  praktischen  Vernunftschluß;  dem  Obersatz,  der 
das  Gesetz  jenes  Willens,  dem  Untersatz,  der  das  Gebot  des 
Verfahrens  nach  dem  Gesetz,  d.  i.  das  Prinzip  der  Subsumtion 
unter  denselben,  und  dem  SchluĂźsatz,  der  den  Rechtsspruch 
(die   Sentenz)   enthält,  was  im  vorkommenden  Falle    Rechtens  ist. 


§  ^6. 

Die  gesetzgebende  Gewalt  kann  nur  dem  vereinigten  Willen 
des  Volkes  zukommen.  Denn  da  von  ihr  alles  Recht  ausgehen 
soll,  so  muĂź  sie  durch  ihr  Gesetz  schlechterdings  niemand  un- 
recht tun  können.  Nun  ist  es,  wenn  jemand  etwas  gegen  einen 
anderen  verfügt,  immer  möglich,  daß  er  ihm  dadurch  unrecht 
tue,  nie  aber  in  dem,  was  er  ĂĽber  sich  selbst  beschlieĂźt  (derm 
volenti  non  fit  itiiuria).  Also  kann  nur  der  ĂĽbereinstimmende  und 
vereinigte  Wille  aller,  so  fern  ein  jeder  ĂĽber  alle  und  alle  ĂĽber 
einen  jeden  ebendasselbe  beschlieĂźen,  mithin  nur  der  allgemein 
vereinigte  Volkswille  gesetzgebend  sein. 

Die   zur  Gesetzgebung   vereinigten   Glieder   einer   solchen  Ge- 
sellschaft {societas  civilis),  d.  i.   eines  Staats,  heiĂźen   StaatsbĂĽrger 
(cives),  und   die  rechtlichen,  von  ihrem  Wesen  (als  solchem)   un- 
abtrennbaren Attribute  derselben  sind  gesetzliche  Freiheit,  keinem 
anderen   Gesetz  zu  gehorchen,    als    zu  welchem    er    seine  Beistim- 
mung gegeben  hat;  —  bürgerliche  Gleichheit,  keinen  Oberen  im 
Volk    in  Ansehung    seiner    zu    erkennen,    als  nur    einen  solchen, 
den   er  eben  so  rechtlich  zu  verbinden  das  moralische  Vermögen 
hat,    als    dieser    ihn    verbinden    kann;    drittens     das    Attribut    der 
bürgerlichen    Selbständigkeit,     seine    Existenz     und     Erhaltung 
nicht  der  WillkĂĽr  eines  anderen  im  Volke,  sondern  seinen  eigenen 
Rechten   und  Kräften  als   Glied    des   gemeinen  Wesens    verdanken 
zu    können,    folglich    die    bürgerliche    Persönlichkeit,    in    Rechts- 
angelegenheitcn  durch  keinen  anderen  vorgestellt  werden  zu  dĂĽrfen. 
Nur    die    Fähigkeit    der    Stimmgebung    macht    die    Quali- 
fikation  zum   Staatsbürger   aus;    jene   aber  setzt    die   Selbstän- 
digkeit dessen  im  Volk  voraus,  der  nicht  bloĂź  Teil  des  gemeinen 
Wesens,  sondern  auch  Glied   desselben,  d.  i.  aus  eigener  Will- 
kĂĽr in  Gemeinschah  mit  anderen  handelnder  Teil  desselben  sein 
will.    Die  letztere  Qualität  macht  aber  die  Unterscheidung  des 
aktiven    vom    passiven    StaatsbĂĽrger    notwendig,    obgleich 


/.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht  1 1 1 

der  Begriff  des  letzteren  mit  der  Erklärung  des  Begriffs  von 
einem  StaatsbĂĽrger  ĂĽberhaupt  im  Widerspruch  zu  stehen 
scheint.  —  Folgende  Beispiele  können  dazu  dienen,  diese 
Schwierigkeit  zu  heben:  Der  Geselle  bei  einem  Kaufmann 
oder  bei  einem  Handwerker;  der  Dienstbote  (nicht  der  im 
Dienste  des  Staats  steht);  der  UnmĂĽndige  (naturalitcr  vel 
civiliter)-^  alles  Frauenzimmer  und  ĂĽberhaupt  jedermann,  der 
nicht  nach  eigenem  Betrieb,  sondern  nach  der  VerfĂĽgung 
anderer  (außer  der  des  Staats)  genötigt  ist,  seine  Existenz 
(Nahrung  und  Schutz)  zu  erhalten,  entbehrt  der  bĂĽrgerlichen 
Persönlichkeit,  und  seine  Existenz  ist  gleichsam  nur  Inhärenz. 
—  Der  Holzhacker,  den  ich  auf  meinem  Hofe  anstelle,  der 
Schmied  in  Indien,  der  mit  seinem  Hammer,  AmboĂź  und 
Blasbalg  in  die  Häuser  geht,  um  da  in  Eisen  zu  arbeiten, 
in  Vergleichung  mit  dem  europäischen  Tischler  oder  Schmied, 
der  die  Produkte  aus  dieser  Arbeit  als  Ware  öffentlich  feil 
stellen  kann;  der  Hauslehrer  in  Vergleichung  mit  dem 
Schulmann,  der  Zinsbauer  in  Vergleichung  mit  dem  Pächter 
u.  dergl.  sind  bloĂź  Handlanger  des  gemeinen  Wesens,  weil 
sie  von  anderen  Individuen  befehligt  oder  beschĂĽtzt  werden 
müssen,  mithin  keine  bürgerliche  Selbständigkeit  besitzen. 

Diese  Abhängigkeit  von  dem  Willen  anderer  und  Un- 
gleichheit ist  gleichwohl  keinesweges  der  Freiheit  und  Gleich- 
heit derselben  als  Menschen,  die  zusammen  ein  Volk  aus- 
machen, entgegen:  vielmehr  kann  bloĂź  den  Bedingungen 
derselben  gemäß  dieses  Volk  ein  Staat  werden  und  in  eine 
bĂĽrgerliche  Verfassung  eintreten.  In  dieser  Verfassung  aber 
das  Recht  der  Stimmgebung  zu  haben,  d.  i.  StaatsbĂĽrger, 
nicht  bloĂź  Staatsgenosse  zu  sein,  dazu  qualifizieren  sich  nicht 
alle  mit  gleichem  Recht.  Denn  daraus,  daĂź  sie  fordern 
können,  von  allen  anderen  nach  Gesetzen  der  natürlichen 
Freiheit  und  Gleichheit  als  passive  Teile  des  Staats  be- 
handelt zu  werden,  folgt  nicht  das  Recht,  auch  als  aktive 
Glieder  den  Staat  selbst  zu  behandeln,  zu  organisieren  oder 
zu  EinfĂĽhrung  gewisser  Gesetze  mitzuwirken:  sondern  nur 
daĂź,  welcherlei  Art  die  positiven  Gesetze,  wozu  sie  stimmen, 
auch  sein  möchten,  sie  doch  den  natürhchen  der  Freiheit 
und  der  dieser  angemessenen  Gleichheit  aller  im  Volk,  sich 
nämlich  aus  diesem  passiven  Zustande  zu  dem  aktiven  empor 
arbeiten  zu  können,  nicht  zuwider  sein  müssen. 


IZ2  Rechtslehre,    j.  Teil.   Das  öffentliche  Recht 

§  47. 

Alle  'enc  drei  Gewalten  im  Staate  sind  WĂĽrden  und  als 
wesentliche  aus  der  Idee  eines  Staats  ĂĽberhaupt  zur  GrĂĽndung 
desselben  (Konstitution)  notwendig  hervorgehend,  StaatswĂĽrden. 
Sie  enthalten  das  Verhältnis  eines  allgemeinen  Oberhaupts  (der, 
nach  Freiheitsgesetzen  betrachtet,  kein  anderer  als  das  vereinigte 
Volk  selbst  sein  kann)  zu  der  vereinzelten  Menge  ebendesselben  als 
Untertans,  d.  i.  des  Gebietenden  {imperans)  gegen  den  Ge- 
horsamenden {suhditus).  —  Der  Akt,  wodurch  sich  das  Volk 
selbst  zu  einem  Staat  konstituiert,  eigentlich  aber  nur  die  Idee 
desselben,  nach  der  die  Rechtmäßigkeit  desselben  allein  gedacht 
werden  kann,  ist  der  ursprĂĽngliche  Kontrakt,  nach  welchem 
alle  {omnes  et  s'ingult)  im  Volk  ihre  äußere  Freiheit  aufgeben, 
um  sie  als  Glieder  eines  gemeinen  Wesens,  d.  i.  des  Volks  als 
Staat  betrachtet  {un'tvers't)^  sofort  wieder  aufzunehmen,  und  man 
kann  nicht  sagen:  der  Staat,  der  Mensch  im  Staate  habe  einen 
Teil  seiner  angebornen  äußeren  Freiheit  einem  Zwecke  aufgeopfert, 
sondern  er  hat  die  wilde,  gesetzlose  Freiheit  gänzlich  verlassen, 
um  seine  Freiheit  überhaupt  in  einer  gesetzlichen  Abhängigkeit, 
d.  i.  in  einem  rechtlichen  Zustande,  unvermindert  wieder  zu  finden, 
weil  diese  Abhängigkeit  aus  seinem  eigenen  gesetzgebenden  Willen 
entspringt. 

§   48. 

Die  drei  Gewalten  im  Staate  sind  also  erstlich  einander, 
als  so  viel  moralische  Personen,  beigeordnet  (^potestates  cooräiuatae'), 
d.  i.  die  eine  ist  das  Ergänzungsstück  der  anderen  zur  Vollstän- 
digkeit {complejnentum  ad  suffic'ientiant)  der  Staatsverfassung;  aber 
zweitens  auch  einander  untergeordnet  {subordinatae),  so  daĂź 
eine  nicht  zugleich  die  Funktion  der  anderen,  der  sie  zur  I4and 
geht,  usurpieren  kann,  sondern  ihr  eigenes  Prinzip  hat,  d.  i.  zwar 
in  der  Qualität  einer  besonderen  Person,  aber  doch  unter  der 
Bedingung  des  Willens  einer  oberen  gebietet;  drittens  durch 
Vereinigung   beider  jedem   Untertanen   sein   Recht   erteilend. 

Von  diesen  Gewalten,  in  ihrer  WĂĽrde  betrachtet,  w^ird  es 
heiĂźen:  der  Wille  des  Gesetzgebers  {legislator'ts^  in  Ansehung 
dessen,  was  das  äußere  Mein  und  Dein  betrifft,  ist  untadelig 
(irreprehensibel),    das   Ausf-uhrungs-Vermögen    des   Oberbefehls- 


/.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht  123 

habers  {summt  rectoris)  unwiderstehlich  (irrcsistibel)  und  der 
Rechtsspruch  des  obersten  Richters  (supremi  iudicis)  unab- 
änderlich (inappellabel}. 

§   49. 

Der  Regent  des  Staats  (rex^  princeps)  ist  diejenige  (mora- 
lische oder  phyj-ische)  Person,  welcher  die  ausĂĽbende  Gewalt 
{potestas  executor'td)  zukommt:  der  Agent  des  Staats,  der  die 
Magisträte  einsetzt,  dem- Volk  die  Regeln  vorschreibt,  nach  denen 
ein  jeder  in  demselben  dem  Gesetze  gemäß  (durch  Subsumtion 
eines  Falles  unter  demselben)  etwas  erwerben,  oder  das  Seine  er- 
halten kann.  Als  moralische  Person  betrachtet,  heiĂźt  er  das 
Direktorium,  die  Regierung.  Seine  Befehle  an  das  Volk  und 
die  Magisträte  und  ihre  Obere  (Minister),  welchen  die  Staats- 
verwaltung {gubernatio)  obliegt,  sind  Verordnungen,  Dekrete 
(nicht  Gesetze);  denn  sie  gehen  auf  Entscheidung  in  einem  be- 
sonderen Fall  und  werden  als  abänderlich  gegeben.  Eine  Re- 
gierung, die  zugleich  gesetzgebend  wäre,  würde  despotisch 
zu  nennen  sein  im  Gegensatz  mit  der  patriotischen,  unter 
welcher  aber  nicht  eine  väterliche  (regimen  patcrnale),  als  die 
am  meisten  despotische  unter  allen  (BĂĽrger  als  Kinder  zu  behan- 
deln), sondern  vaterländische  {regimen  civitatis  et  patriae)  ver- 
standen wird,  wo  der  Staat  selbst  {civitas)  seine  Untertanen  zwar 
gleichsam  als  Gheder  einer  Familie,  doch  zugleich  als  StaatsbĂĽrger, 
d.  i.  nach  Gesetzen  ihrer  eigenen  Selbständigkeit,  behandelt,  jeder 
sich  selbst  besitzt  und  nicht  vom  absoluten  Willen  eines  anderen 
neben  oder  über  ihm  abhängt. 

Der  Beherrscher  des  Volks  (der  Gesetzgeber)  kann  also  nicht 
zugleich  der  Regent  sein,  denn  dieser  steht  unter  dem  Gesetz 
und  wird  durch  dasselbe  folglich  von  einem  anderen,  dem 
Souverän,  verpflichtet.  Jener  kann  diesem  auch  seme  Gewalt 
nehmen,  ihn  absetzen,  oder  seine  Verwaltung  reformieren,  aber 
ihn  nicht  strafen  (und  das  bedeutet  allein  der  in  England  ge- 
bräuchliche Ausdruck:  der  König,  d.  i.  die  oberste  ausübende 
Gewalt,  kann  nicht  unrecht  tun);  denn  das  wäre  wiederum  ein 
Akt  der  ausübenden  Gewalt,  der  zu  oberst  das  Vermögen  dem 
Gesetze  gemäß  zu  zwingen  zusteht,  die  aber  doch  selbst  emem 
Zwange  unterworfen  wäre;  welches  sich  widerspricht. 

Endlich    kann    weder    der    Staatsherrscher    noch    der   Regierer 


IZ4  Rechtslehre,    2.  Tetl.    Das  öfent/ ich e  Recht 

richten,  sondern  nur  Richter  als  Magisträte  einsetzen.  Das  Volk 
richtet  sich  selbst  durch  diejenigen  ihrer  MitbĂĽrger,  welche  durch 
freie  Wahl,  als  Repräsentanten  desselben,  und  zwar  tur  jeden  Akt 
besonders  dazu  ernannt  werden.  Denn  der  Rechtsspruch  (die 
Sentenz)  ist  ein  einzelner  Akt  der  öflFentlichen  Gerechtigkeit 
(^iustitiae  distributivae')  durch  einen  Staatsvcrwalter  (Richter  oder 
Gerichtshof)  auf  den  Untertan,  d.  i.  einen,  der  zum  Volk  gehört, 
mithin  mit  keiner  Gewalt  bekleidet  ist,  ihm  das  Seine  zuzuer- 
kennen (zu  erteilen).  Da  nun  ein  jeder  im  Volk  diesem  Ver- 
hältnisse nach  (zur  Obrigkeit)  bloß  passiv  ist,  so  würde  eine 
jede  jener  beiden  Gewalten  in  dem,  was  sie  ĂĽber  den  Untertan 
im  streitigen  Falle  des  Seinen  eines  jeden  beschlieĂźen,  ihm  un- 
recht tun  können:  weil  es  nicht  das  Volk  selbst  täte  und,  ob 
schuldig  oder  nichtschuldig,  über  seine  Mitbürger  ausspräche; 
auf  welche  Ausmittelung  der  Tat  in  der  Klagsache  nun  der  Ge- 
richtshof das  Gesetz  anzuwenden  und  vermittelst  der  ausfĂĽhrenden 
Gewalt  einem  jeden  das  Seine  zuteil  werden  zu  lassen  die  richter- 
liche Gewalt  hat.  Also  kann  nur  das  Volk  durch  seine  von  ihm 
selbst  abgeordnete  Stellvertreter  (die  Jury)  ĂĽber  jeden  in  dem- 
selben, obwohl  nur  mittelbar,  richten.  —  Es  wäre  auch  unter 
der  WĂĽrde  des  Staatsoberhaupts,  den  Richter  zu  spielen,  d.  i.  sich 
in  die  Möglichkeit  zu  versetzen,  unrecht  zu  tun  und  so  in  den 
Fall  der  Appellation  (a  rege  male  infcrmato  ad  regem  melius  infor- 
manäum)   zu  geraten. 

Also  sind  es  drei  verschiedene  Gewalten  {potestas  legislatoria, 
executorioy  iudiciaria),  wodurch  der  Staat  (civitas)  seine  Autonomie 
hat,  d.  i.  sich  selbst  nach  Freiheitsgesetzen  bildet  und  erhält.  — 
In  ihrer  Vereinigung  besteht  das  Heil  des  Staats  (salus  reipublicae 
suprema  lex  est)\  worunter  man  nicht  das  Wohl  der  StaatsbĂĽrger 
und  ihre  GlĂĽckseligkeit  verstehen  muĂź;  denn  die  kann  viel- 
leicht (wie  auch  ROUSSEAU  behauptet)  im  Naturzustande,  oder 
auch  unter  einer  despotischen  Regierung  viel  behaglicher  und  er- 
wünschter ausfallen:  sondern  den  Zustand  der  größten  Überein- 
stimmung der  Verfassung  mit  Rechtsprinzipien  versteht,  als  nach 
welchem  zu  streben  uns  die  Vernuntt  durch  einen  katego- 
rischen Imperativ   verbindlich   macht. 


z.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht.  1 1  j 

Allgemeine  Anmerkung 
von  den  rechtlichen  Wirkungen  aus  der  Natur  des 

bĂĽrgerlichen  Vereins. 

A. 

Der  Ursprung  der  obersten  Gewalt  ist  fĂĽr  das  Volk,  das 
unter  derselben  steht,  in  praktischer  Absicht  uncr forschlich : 
d.  i.  der  Untertan  soll  nicht  ĂĽber  diesen  Ursprung,  als  ein  noch 
in  Ansehung  des  ihr  schuldigen  Gehorsams  zu  bezweifelndes 
Recht  (jus  controversum\  werktätig  vernünfteln.  Denn  da  das 
Volk,  um  rechtskräftig  über  die  oberste  Staatsgewalt  (summum 
imper'tuin)  zu  urteilen,  schon  als  unter  einem  allgemein  gesetz- 
gebenden V^-'illen  vereint  angesehen  werden  muĂź,  so  kann  und 
darf  es  nicht  anders  urteilen,  als  das  gegenwärtige  Staatsoberhaupt 
{suinmus  imperans)  es  will.  —  Ob  ursprünglich  ein  wirklicher 
Vertrag  der  Unterwerfung  unter  denselben  {pactum  subiectionis 
civilis)  als  ein  Faktum  vorhergegangen,  oder  ob  die  Gewalt  vor- 
herging, und  das  Gesetz  nur  hintennach  gekommen  sei,  oder 
auch  in  dieser  Ordnung  sich  habe  folgen  sollen:  das  sind  fĂĽr  das 
Volk,  das  nun  schon  imter  dem  bĂĽrgerlichen  Gesetze  steht,  ganz 
zweckleere  und  doch  den  Staat  mit  Gefahr  bedrohende  VernĂĽnf- 
tcleien;  denn  wollte  der  Untertan,  der  den  letzteren  Ursprung 
nun  ergrübelt  hätte,  sich  jener  jetzt  herrschenden  Autorität  wider- 
setzen, so  wĂĽrde  er  nach  den  Gesetzen  derselben,  d.  i.  mit  allem 
Recht,  bestraft,  vertilgt,  oder  (als  vogelfrei,  exlex)  ausgestoĂźen 
werden.  —  Ein  Gesetz,  das  so  heilig  (unverletzlich)  ist,  daß  es 
praktisch  auch  nur  in  Zweifel  zu  ziehen,  mithin  seinen  Effekt 
einen  Augenblick  zu  suspendieren  schon  ein  Verbrechen  ist,  wird 
so  vorgestellt,  als  ob  es  nicht  von  Menschen,  aber  doch  von 
irgend  einem  höchsten,  tadelfreien  Gesetzgeber  herkommen  müsse, 
und  das  ist  die  Bedeutung  des  Satzes:  „Alle  Obrigkeit  ist  von 
Gott,"  welcher  nicht  einen  Geschichtsgrund  der  bĂĽrgerlichen 
Verfassung,  sondern  eine  Idee  als  praktisches  Vernunftprinzip  aus- 
sagt: der  jetzt  bestehenden  gesetzgebenden  Gewalt  gehorchen  zu 
sollen,  ihr  Ursprung  mag  sein,  welcher  er  wolle. 

Hieraus  folgt  nun  der  Satz:  der  Herrscher  im  Staat  hat  gegen 
den    Untertan    lauter    Rechte    und    keine    (Zwangs-)Pflichten.    — 


1 1 6  Rechts/ehre.    2.  Teil.    Das  öjf entliche  Recht 

Ferner,  wenn  das  Organ  des  Herrschers,  der  Regent,  auch  den 
Gesetzen  zuwider  verfĂĽhre,  z.  B.  mit  Auf- lagen,  Rekrutierungen 
u.  dergl,  wider  das  Gesetz  der  Gleichheit  in  Verteilung  der  Staats- 
Jastcn,  so  darf  der  Untertan  dieser  Ungerechtigkeit  zwar  Be- 
schwerden  (gravitmifia),  aber  keinen  Widerstand   entgegensetzen. 

Ja  es  kann  auch  selbst  in  der  Konstitution  kein  Artikel  ent- 
halten sein,  der  es  einer  Gewalt  im  Staat  möglich  machte,  sich 
im  Fall  der  Ăśbertretung  der  Konstitutionalgesctze  durch  den 
obersten  Befehlshaber  ihm  zu  widersetzen,  mithin  ihn  einzu- 
schränken. Denn  der,  welcher  die  Staatsgewalt  einschränken  soll, 
muĂź  doch  mehr,  oder  wenigstens  gleiche  Macht  haben,  als  der- 
jenige, welcher  eingeschränkt  wird,  und  als  ein  rechtmäßiger 
Gebieter,  der  den  Untertanen  befähle,  sich  zu  widersetzen,  muß 
er  sie  auch  schützen  können  und  in  jedem  vorkommenden  Fall 
rechtskräftig  urteilen,  mithin  öffentlich  den  Widerstand  befehligen 
können.  Alsdann  ist  aber  nicht  jener,  sondern  dieser  der  oberste 
Befehlshaber;  welches  sich  widerspricht.  Der  Souverän  verfährt 
alsdann  durch  seinen  Minister  zugleich  als  Regent,  mithin  despo- 
tisch, und  das  Blendwerk,  das  Volk  durch  die  Deputierte  desselben 
die  einschränkende  Gewalt  vorstellen  zu  lassen  (da  es  eigentlich 
nur  die  gesetzgebende  hat),  kann  die  Despotie  nicht  so  verstecken, 
daĂź  sie  aus  den  Mitteln,  deren  sich  der  Minister  bedient,  nicht 
hervorblickte.  Das  Volk,  das  durch  seine  Deputierte  (im  Parla- 
ment) repräsentiert  wird,  hat  an  diesen  Gewährsmännern  seiner 
Freiheit  und  Rechte  Leute,  die  fĂĽr  sich  und  ihre  Familien  und 
dieser  ihre  vom  Minister  abhängige  Versorgung  in  Armeen,  Flotte 
und  Zivilämtern  lebhaft  interessiert  sind,  und  die  (statt  des  Wider- 
standes gegen  die  Anmaßung  der  Regierung,  dessen  öff'entliche 
AnkĂĽndigung  ohnedem  eine  dazu  schon  vorbereitete  Einhelligkeit 
im  Volk  bedarf,  die  aber  im  Frieden  nicht  erlaubt  sein  kann) 
vielmehr  immer  bereit  sind,  sich  selbst  der  Regierung  in  die 
Hände  zu  spielen.  —  Also  ist  die  sogenannte  gemäßigte  Staats- 
verfassung, als  Konstitution  des  innern  Rechts  des  Staats,  ein 
Unding  und,  anstatt  zum  Recht  zu  gehören,  nur  ein  Klugheits- 
prinzip, um  so  viel  als  möglich  dem  mächtigen  Übertreter  der 
Volksrechte  seine  willkĂĽrliche  EinflĂĽsse  auf  die  Regierung  nicht 
zu  erschweren,  sondern  unter  dem  Schein  einer  dem  Volk  ver- 
statteten  Opposition   zu   bemänteln. 

Wider  das  gesetzgebende  Oberhaupt  des  Staats  gibt  es  also 
keinen    rechtmäßigen    Widerstand     des    Volks;     denn    nur    durch 


i.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht  127 

Unterwerfung  unter  seinen  allgemein-gesetzgebenden  Willen  ist 
ein  rechtlicher  Zustand  möglich;  also  kein  Recht  des  Auf- 
standes {sedit'to\  noch  weniger  des  Aufruhrs  (rebellioi),  am 
allerwenigsten  gegen  ihn  als  einzelne  Person  (Monarch)  unter 
dem  Vorwande  des  MiĂźbrauchs  seiner  Gewalt  {tyrannis)  Ver- 
greifung  an  seiner  Person,  ja  an  seinem  Leben  (jnonarcho- 
machismus  sub  specie  tyrannkidn').  Der  geringste  Versuch  hiezu 
ist  Hochverrat  (^proditio  eminens)^  und  der  Verräter  dieser  Art 
kann  als  einer,  der  sein  Vaterland  umzubringen  versucht 
(^parrkiäd)^  nicht  minder  als  mit  dem  Tode  bestraft  werden.  — 
—  Der  Grund  der  Pflicht  des  Volks  einen,  selbst  den  für  uner- 
träglich ausgegebenen  Mißbrauch  der  obersten  Gewalt  dennoch 
zu  ertragen,  liegt  darin:  daß  sein  Widerstand  wider  die  höchste 
Gesetzgebung  selbst  niemals  anders  als  gesetzwidrig,  ja  als  die 
ganze  gesetzliche  Verfassung  zernichtend  gedacht  werden  muĂź. 
Derm  um  zu  demselben  befugt  zu  sein,  müßte  ein  öffentliches 
Gesetz  vorhanden  sein,  welches  diesen  Widerstand  des  Volks  er- 
laubte, d.  i.  die  oberste  Gesetzgebung  enthielte  eine  Bestimmung 
in  sich,  nicht  die  oberste  zu  sein  und  das  Volk  als  Untertan  in 
einem  und  demselben  Urteile  zum  Souverän  über  den  zu  machen, 
dem  es  untertänig  ist;  welches  sich  widerspricht  und  wovon  der 
Widerspruch  durch  die  Frage  alsbald  in  die  Augen  fällt:  wer 
denn  in  diesem  Streit  zwischen  Volk  und  Souverän  Richter  sein 
sollte  (denn  es  sind  rechtlich  betrachtet  doch  immer  zwei  ver- 
schiedene moralische  Personen);  wo  sich  dann  zeigt,  daĂź  das 
erstere  es  in  seiner  eigenen  Sache  sein  will.') 

')  Weil  die  Entthronung  eines  Monarchen  doch  auch  als  frei- 
willige Ablegung  der  Krone  und  Niederlegung  seiner  Gewalt  mit  Zu- 
rĂĽckgebung derselben  an  das  Volk  gedacht  werden  kann,  oder  auch  als 
eine  ohne  Vergreifung  an  der  höchsten  Person  vorgenommene  Ver 
lassung  derselben,  wodurch  sie  in  den  Privatstand  versetzt  werden 
wĂĽrde,  so  hat  das  Verbrechen  des  Volks,  welches  sie  erzwang,  doch 
noch  wenigstens  den  Vorwand  des  Notrechts  (casus  necessitatis)  fĂĽr 
sich,  niemals  aber  das  mindeste  Recht  ihn,  das  Oberhaupt,  wegen  der 
vorigen  Verwaltung  zu  strafen:  weil  alles,  was  er  vorher  in  der  Qua- 
lität eines  Oberhaupts  tat,  als  äußerlich  rechtmäßig  geschehen  angesehen 
werden  muĂź,  und  er  selbst,  als  Quell  der  Gesetze  betrachtet,  nicht 
unrecht  tun  kann.  Unter  allen  Gräueln  einer  Staatsumwälzung  durch 
Aufruhr  ist  selbst  die  Ermordung  des  Monarchen  noch  nicht  das 
ärgste;    denn   noch   kann   man    sich   vorstellen,   sie   geschehe  vom  Volk 


1 2  8  Rechtslehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

Eine  Veränderung  der  (Fehlerhaften)  Staatsverfassung,  die  wohl   I 
bisweilen  nötig  sein   mag  —   kann   also   nur  vom  Souverän  selbst 

aus  Furcht,  er  könne,  wenn  er  am  Leben  bleibt,  sich  wieder  er- 
mannen und  jenes  die  verdiente  Strafe  fĂĽhlen  lassen,  und  solle  alsou 
nicht  eine  VerfĂĽgung  der  Strafgerechtigkeit,  sondern  bloĂź  der  Selbst- 
erhaltung  sein.  Die  formale  Hinrichtung  ist  es,  was  die  mit  Ideen 
des  Menschenrechts  erfĂĽllete  Seele  mit  einem  Schaudern  ergreift,  das 
man  wiederholentlich  fĂĽhlt,  so  bald  und  so  oft  man  sich  diesen  Auf- 
tritt denkt,  wie  das  Schicksal  Karls  I.  oder  Ludwigs  XVL  Wie  erklärt 
man  sich  aber  dieses  Gefühl,  was  hier  nicht  ästhetisch  (ein  Mitgefühl, 
Wirkung  der  Einbildungskraft,  die  sich  in  die  Stelle  des  Leidenden 
versetzt),  sondern  moralisch,  der  gänzlichen  Umkehrung  aller  Rechts- 
begriffe, ist?  Es  wird  als  Verbrechen,  was  ewig  bleibt  und  nie  ausge- 
tilgt werden  kann,  {crimen  immortale,  inexpiabile)  angesehen  und  scheint 
demjenigen  ähnlich  zu  sein,  was  die  Theologen  diejenige  Sünde  nennen, 
welche  weder  in  dieser  noch  in  jener  Welt  vergeben  werden  kann. 
Die  Erklärung  dieses  Phänomens  im  menschlichen  Gemüte  scheint  aus 
folgenden  Reflexionen  ĂĽber  sich  selbst,  die  selbst  auf  die  staatsrecht- 
lichen Prinzipien  ein  Licht  werfen,  hervorzugehen. 

Eine  jede  Ăśbertretung  des  Gesetzes  kann   und   muĂź   nicht  anders 
als  so  erklärt  werden,  daß  sie  aus  einer  Maxime  des  Verbrechers  (sich 
eine  solche  Untat   zur  Regel  zu  machen)  entspringe;    denn  wenn  man 
sie  von  einem  sinnlichen  Antrieb  ableitete,  so  wäre  sie  nicht  von  ihm, 
als  einem  freien  Wesen,  begangen  und  könnte  ihm  nicht  zugerechnet 
werden;    wie   es   aber    dem   Subjekt    möglich   ist,   eine   solche   Maxime 
wider  das   klare  Verbot   der   gesetzgebenden  Vernxinft  zu   fassen,    läßt 
sich  schlechterdings  nicht  erklären;    denn   nur   die  Begebenheiten   nach 
dem   Mechanism   der  Natur    sind   erklärungsfähig.    Nun  kann   der  Ver- 
brecher seine  Untat   entweder   nach  der  Maxime  einer  angenommenen 
objektiven  Regel  (als   allgemein  geltend),   oder   nur  als  Ausnahme   von 
der  Regel  (sich  davon  gelegentlich  zu  dispensieren)  begehen;  im  letz- 
teren  Fall    weicht   er   nur   (obzwar  vorsätzlich)  vom  Gesetz  ab;    er 
kann  seine  eigene  Ăśbertretung   zugleich  vei-abscheuen   und,   ohne   dem 
Gesetz  förmlich  den  Gehorsam  aufzukündigen,   es  nur  umgehen  wollen; 
im  ersteren  aber  verwirft  er  die  Autorität  des  Gesetzes  selbst,  dessen 
GĂĽltigkeit  er  sich  doch  vor  seiner  Vernunft  nicht  ableugnen  kann,  und 
macht  es  sich  zur  Regel  wider  dasselbe   zu  handeln;  seine  Maxime  ist 
also    nicht    bloĂź    ermangelungsweise    (negative),   sondern    sogar   ab- 
bruchsweise (fowrrar/V)  oder,  wie  man  sich  ausdrĂĽckt,  diametraliter, 
als  Widerspruch  (gleichsam    feindselig)    dem  Gesetz    entgegen.     So  viel 
wir   einsehen,    ist    ein    dergleichen  Verbrechen    einer    förmlichen  (ganz 
nutzlosen)  Bosheit  zu  begehen  Menschen  unmöglich  und  doch  (obzwar 


/.  Abschnitt.   Das  Staatsrecht  1 1 9 

durch  Reform,  aber  nicht  vom  Volk,  mithin  durch  Revolution 
verrichtet  w^erden,  und  wenn  sie  geschieht,  so  kann  jene  nur  die 
ausübende  Gewalt,  nicht  die  gesetzgebende  treffen.  —  In  einer 
Staatsverfassung,  die  so  beschaffen  ist,  daĂź  das  Volk  durch  seine 
Repräsentanten  (im  Parlament)  jener  und  dem  Repräsentanten 
derselben  (dem  Minister)  gesetzlich  widerstehen  kann  —  welche 
dann  eine  eingeschränkte  Verfassung  heißt  — ,  ist  gleichwohl  kein 
aktiver  Widerstand,  (der  willkĂĽrlichen  Verbindung  des  Volks,  die 
Regierung  zu  einem  gewissen  tätigen  Verfahren  zu  zwingen,  mit- 
hin selbst  einen  Akt  der  ausĂĽbenden  Gewalt  zu  begehen),  sondern 
nur  ein  negativer  Widerstand,  d.  i.  Weigerung  des  Volks  (im 
Parlament),  erlaubt,  jener  in  den  Forderungen,  die  sie  zur  Staats- 
verwaltung nötig  zu  haben  vorgibt,  nicht  immer  zu  willfahren; 
vielmehr  wenn  das  letztere  geschähe,  so  wäre  es  ein  sicheres 
Zeichen,  daß  das  Volk  verderbt,  seine  Repräsentanten  erkäufHch 
und  das  Oberhaupt  in  der  Regierung  durch  seinen  Minister  des- 
potisch, dieser  selber  aber  ein  Verräter  des  Volks  sei. 

Ăśbrigens,    wenn    eine  Revolution    einmal    gelungen    und  eine 

bloße  Idee  des  Äußerst-Bösen)  in  einem  System  der  Moral  nicht  zu 
ĂĽbergehen. 

Der  Grund  des  Schauderhaften  bei  dem  Gedanken  von  der  förm- 
lichen Hinrichtung  eines  Monarchen  durch  sein  Volk  ist  also  der, 
daĂź  der  Mord  nur  als  Ausnahme  von  der  Regel,  welche  dieses  sich 
zur  Maxime  machte,  die  Hinrichtung  aber  als  eine  völlige  Um- 
kehrung der  Prinzipien  des  Verhältnisses  zwischen  Souverän  und  Volk 
(dieses,  was  sein  Dasein  nur  der  Gesetzgebung  des  ersteren  zu  ver- 
danken hat,  zum  Herrscher  ĂĽber  jenen  zu  machen)  gedacht  werden 
muß,  und  so  die  Gewalttätigkeit  mit  dreuster  Stirn  und  nach  Grund- 
sätzen über  das  heiligste  Recht  erhoben  wird;  welches,  wie  em  alles 
ohne  Wiederkehr  verschlingender  Abgrund,  als  ein  vom  Staate  an  ihm 
verübter  Selbstmord,  ein  keiner  Entsündigung  fähiges  Verbrechen  zu 
sein  scheint.  Man  hat  also  Ursache  anzunehmen,  daĂź  die  Zustimmung 
zu  solchen  Hinrichtungen  wirklich  nicht  aus  einem  vermeint-rechtlichen 
Prinzip,  sondern  aus  Furcht  vor  Rache  des  vielleicht  dereinst  wieder 
auflebenden  Staats  am  Volk  herrührte,  und  jene  Förmlichkeit  nur  vor- 
genommen worden,  um  jener  Tat  den  Anstrich  von  Bestrafung,  mithin 
eines  rechtlichen  Verfahrens  (dergleichen  der  Mord  nicht  sein 
würde)  zu  geben,  welche  Bemäntelung  aber  verunglückt,  weil  eme 
solche  Anmaßung  des  Volks  noch  ärger  ist,  als  selbst  der  Mord,  da 
diese  einen  Grundsatz  enthält,  der  selbst  die  Wiedererzeugung  eines 
umgestürzten  Staats  immöglich  machen  müßte. 

Kants   Schriften.   Bd.  VII.  9 


I50  Rechtslehre.    2.  Teil.    Das  öjfentliche  Recht 

neue  Verfassung  gegründet  ist,  so  kann  die  Unrechtmäßigkeit  des 
Beginnens  und  der  VollFĂĽhrung  derselben  die  Untertanen  von  der 
Verbindlichkeit,  der  neuen  Ordnung  der  Dinge  sich  als  gute 
Staatsbürger  zu  fügen,  nicht  befreien,  und  sie  können  sich  nicht 
weigern,  derjenigen  Obrigkeit  ehrlich  zu  gehorchen,  die  jetzt  die 
Gewalt  hat.  Der  entthronte  Monarch  (der  jene  Umwälzung  über- 
lebt) kann  wegen  seiner  vorigen  Geschäftsführung  nicht  in  An- 
spruch genommen,  noch  weniger  aber  gestraft  werden,  wenn  er, 
in  den  Stand  eines  StaatsbĂĽrgers  zurĂĽckgetreten,  seine  und  des 
Staats  Ruhe  dem  WagstĂĽck  vorzieht,  sich  von  diesem  zu  ent- 
fernen, um  als  Prätendent  das  Abenteuer  der  Wiedererlangung 
desselben,  es  sei  durch  ingeheim  angestiftete  Gegenrevolution, 
oder  durch  Beistand  anderer  Mächte,  zu  bestehen.  Wenn  er  aber 
das  letztere  vorzieht,  so  bleibt  ihm,  weil  der  Aufruhr,  der  ihn 
aus  seinem  Besitz  vertrieb,  ungerecht  war,  sein  Recht  an  dem- 
selben unbenommen.  Ob  aber  andere  Mächte  das  Recht  haben, 
sich  diesem  verunglĂĽckten  Oberhaupt  zum  besten  in  ein  Staaten- 
bĂĽndnis zu  vereinigen,  bloĂź  um  jenes  vom  Volk  begangene  Ver- 
brechen nicht  ungeahndet,  noch  als  Skandal  fĂĽr  alle  Staaten  be- 
stehen zu  lassen,  mithin  eine  in  jedem  anderen  Staat  durch 
Revolution  zustande  gekommene  Verfassung  in  ihre  alte  mit 
Gewalt  zurückzubringen  berechtigt  und  berufen  seien,  das  gehört 
zum  Völkerrecht. 


B. 

Kaijn  der  Beherrscher  als  ObereigentĂĽmer  (des  Bodens),  oder 
muĂź  er  nur  als  Oberbefehlshaber  in  Ansehung  des  Volks  durch 
Gesetze  betrachtet  werden?  Da  der  Boden  die  oberste  Bedingung 
ist,  unter  der  allein  es  möglich  ist,  äußere  Sachen  als  das  Seine 
zu  haben,  deren  möglicher  Besitz  und  Gebrauch  das  erste  erwerb- 
lichc  Recht  ausmacht,  so  wird  von  dem  Souverän,  als  Landes- 
herren, besser  als  ObereigentĂĽmer  (dominum  territorii'),  alles  solche 
Recht  abgeleitet  werden  mĂĽssen.  Das  Volk,  als  die  Menge  der 
Untertanen  gehört  ihm  auch  zu  (es  ist  sein  Volk)  aber  nicht 
ihm  als  EigentĂĽmer  (nach  dem  dinglichen),  sondern  als  Ober- 
befehlshaber (nach  dem  persönlichen  Recht).  —  Dieses  Ober- 
cigentum  ist  aber  nur  eine  Idee  des  bĂĽrgerlichen  Vereins,  um  die 
notwendige  Vereinigung    des  Privateigentums    aller  im  Volk  unter 


/.  Abschnitt.  Das  Staatsrecht  i  j  i 

einem  öffentlichen  allgemeinen  Besitzer  zu  Bestimmung  des  be- 
sonderen Eigentums,  nicht  nach  Grundsätzen  der  Aggregation 
(die  von  den  Teilen  zum  Ganzen  empirisch  fortschreitet),  sondern 
dem  notwendigen  formalen  Prinzip  der  Einteilung  (Division  des 
Bodens)  nach  Rechtsbegriffen  vorstellig  zu  machen.  Nach  diesen 
kann  der  ObereigentĂĽmer  kein  Privateigentum  an  irgend  einem 
Boden  haben  (denn  sonst  machte  er  sich  7u  einer  Privatperson), 
sondern  dieses  gehört  nur  dem  Volk  (und  zwar  nicht  kollektiv, 
sondern  distributiv  genommen)  zu;  wovon  doch  ein  nomadisch- 
beherrschtes  Volk  auszunehmen  ist,  als  in  welchem  gar  kein 
Privateigentum  des  Bodens  stattfindet.  —  Der  Oberbefehlshaber 
kann  also  keine  Domänen,  d.  i.  Ländereien  zu  seiner  Privat- 
benutzung (zu  Unterhaltung  des  Hofes),  haben.  Denn  weil  es 
alsdann  auf  sein  eigen  Gutbefinden  ankäme,  wie  weit  sie  ausge- 
breitet sein  sollten,  so  wĂĽrde  der  Staat  Gefahr  laufen,  alles 
Eigentum  des  Bodens  in  den  Händen  der  Regierung  zu  sehen 
und  alle  Untertanen  als  grunduntertänig  {glebae  adscr'ipt't)  und 
Besitzer  von  dem,  was  immer  nur  Eigentum  eines  anderen  ist, 
folglich  aller  Freiheit  beraubt  (servi)  anzusehen.  —  Von  einem 
Landesherrn  kann  man  sagen:  er  besitzt  nichts  (zu  eigen), 
auĂźer  sich  selbst;  denn  wenn  er  neben  einem  anderen  im  Staat 
etwas  zu  eigen  hätte,  so  würde  mit  diesem  ein  Streit  möglich 
sein,  zu  dessen  Schlichtung  kein  Richter  wäre.  Aber  man  kann 
auch  sagen;  er  besitzt  alles;  weil  er  das  Befehlshaberrecht  ĂĽber 
das  Volk  hat  (jedem  das  Seine  zuteil  kommen  zu  lassen),  dem 
alle  äußere  Sachen  {div'tsuni)  zugehören. 

Hieraus  folgt:  daĂź  es  auch  keine  Korporation  im  Staat,  keinen 
Stand  und  Orden  geben  könne,  der  als  Eigentümer  den  Boden 
zur  alleinigen  Benutzung  den  folgenden  Generationen  (ins  Un- 
endliche) nach  gewissen  Statuten  überliefern  könne.  Der  Staat 
kann  sie  zu  aller  Zeit  aufheben,  nur  unter  der  Bedingung,  die 
Überlebenden  zu  entschädigen.  Der  Ritterorden  (als  Korporation, 
oder  auch  bloĂź  Rang  einzelner,  VorzĂĽglich  beehrter  Personen), 
der  Orden  der  Geistlichkeit,  die  Kirche  genannt,  können  nie 
durch  diese  Vorrechte,  womit  sie  begĂĽnstigt  worden,  ein  auf 
Nachfolger  ĂĽbertragbares  Eigentum  am  Boden,  sondern  nur  die 
einstweilige  Benutzung  desselben  erwerben.  Die  Komtureien  auf 
einer,  die  Kirchengüter  auf  der  anderen  Seite  können,  wenn  die 
öffentliche  Meinung  wegen  der  Mittel,  durch  die  Kriegsehre 
den    Staat    wider     die    Lauigkeit    in    Verteidigung     desselben    zu 

9' 


1 5  2  Rccbtslchre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

schĂĽtzen,  oder  die  Menschen  in  demselben  durch  Seelmessen, 
Gebete  und  eine  Menge  zu  bestellender  Seelsorger,  um  sie  vor 
dem  ewigen  Feuer  zu  bewahren,  anzutreiben,  aufgehört  hat,  ohne 
Bedenken  (doch  unter  der  vorgenannten  Bedingung)  aufgehoben 
werden.  Die,  so  hier  in  die  Reform  fallen,  können  nicht  klagen, 
daĂź  ihnen  ihr  Eigentum,  genommen  werde;  denn  der  Grund  ihres 
bisherigen  Besitzes  lag  nur  in  der  Volksmeinung  und  muĂźte 
auch,  so  lange  diese  fortwährte,  gelten.  So  bald  diese  aber  er- 
losch, und  zwar  auch  nur  in  dem  Urteil  derjenigen,  welche  auf 
Leitung  desselben  durch  ihr  Verdienst  den  größten  Anspruch 
haben,  so  muĂźte,  gleichsam  als  durch  eine  Appellation  desselben 
an  den  Staat  (tf  rege  male  inforrnato  ad  regem  melius  informanduni)^ 
das  vermeinte   Eigentum  aufhören. 

Auf  diesem  ursprĂĽnglich  erworbenen  Grundeigentum  beruht 
das  Recht  des  Oberbefehlshabers,  als  ObereigentĂĽmers  (des  Landes- 
herrn), die  PrivateigentĂĽmer  des  Bodens  zu  beschatzen,  d.  i. 
Abgaben  durch  die  Landtaxe,  Accise  und  Zölle,  oder  Dienst- 
leistung (dergleichen  die  Stellung  der  Mannschaft  zum  Kriegs- 
dienst ist)  zu  fordern:  so  doch,  daĂź  das  Volk  sich  selber  be- 
schatzt,  weil  dieses  die  einzige  Art  ist,  hiebei  nach  Rechtsgesetzen 
zu  verfahren,  wenn  es  durch  das  Korps  der  Deputierten  desselben 
geschieht,  auch  als  gezwungene  (von  dem  bisher  bestandenen 
Gesetz  abweichende)  Anleihe  nach  dem  Majestätsrechtc,  als  in 
einem  Falle,  da  der  Staat  in  Gefahr  seiner  Auflösung  kommt, 
erlaubt  ist. 

Hierauf  beruht  auch  das  Recht  der  Staatswirtschaft,  des  Finanz- 
wesens und  der  Polizei,  welche  letztere  die  öffentliche  Sicher- 
heit, Gemächlichkeit  und  Anständigkeit  besorgt  (denn  daß 
das  GefĂĽhl  fĂĽr  diese  (jeiisus  decort)  als  negativer  Geschmack  durch 
Bettelei,  Lärmen  auf  Straßen,  Gestank,  öffentliche  Wollust  (yenus 
volgivaga^,  als  Verletzungen  des  moralischen  Sinnes,  nicht  abge- 
stumpft werde,  erleichtert  der  Regierung  gar  sehr  ihr  Geschäfte, 
das   Volk   durch   Gesetze   zu  lenken.) 

Zur  Erhaltung  des  Staats  gehört  auch  noch  ein  drittes:  nämlich 
das  Recht  der  Aufsicht  (ius  inspectionis\  daß  ihm  nämlich  keine 
Verbindung,  die  aufs  öffentliche  W^ohl  der  Gesellschaft  (/'«/'//V«»;) 
EinfluĂź  haben  kann,  (von  Staats-  oder  Religions-Illuminaten)  ver- 
heimlicht, sondern,  wenn  es  von  der  Polizei  verlangt  wird,  die 
Eröffnung  ihrer  Verfassung  nicht  geweigert  werde.  Die  aber  der 
Untersuchung  der  Privatbehausung  eines  jeden  ist  nur  ein  Notfall 


/.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht  1 3  3 

der  Polizei,    wozu  sie   durch  eine  höhere  Autorität   in  jedem  be- 
sonderen Falle   berechtigt  werden   muĂź. 


C. 

Dem  Oberbefehlshaber  steht  indirekt,  d.  i.  als  Ăśbernehmer 
der  Pflicht  des  Volks,  das  Recht  zu,  dieses  mit  Abgaben  zu  seiner 
(des  Volks)  eigenen  Erhaltung  zu  belasten,  als  da  sind:  das  Ar- 
menwesen, die  Findelhäuser  und  das  Kirchenwesen,  sonst 
milde  oder  fromme   Stiftungen  genannt. 

Der  allgemeine  Volkswille  hat  sich  nämlich  zu  einer  Gesell- 
schaft vereinigt,  welche  sich  immerwährend  erhalten  soll,  und  zu 
dem  Ende  sich  der  inneren  Staatsgewalt  unterworfen,  um  die 
Glieder  dieser  Gesellschaft,  die  es  selbst  nicht  vermögen,  zu  er- 
halten. Von  Staatswegen  ist  also  die  Regierung  berechtigt,  die 
Vermögenden  zu  nötigen,  die  Mittel  der  Erhaltung  derjenigen, 
die  es  selbst  den  notwendigsten  NaturbedĂĽrfnissen  nach  nicht 
sind,  herbeizuschaffen:  weil  ihre  Existenz  zugleich  als  Akt  der 
Unterwerfung  unter  den  Schutz  und  die  zu  ihrem  Dasein  nötige 
Vorsorge  des  gemeinen  Wesens  ist,  wozu  sie  sich  verbindlich  ge- 
macht haben,  auf  welche  der  Staat  nun  sein  Recht  grĂĽndet,  zur 
Erhaltung  ihrer  MitbĂĽrger  das  Ihrige  beizutragen.  Das  kann  nun 
geschehen:  durch  Belastung  des  Eigentums  der  StaatsbĂĽrger,  odex 
ihres  Handelsverkehrs,  oder  durch  errichtete  Fonds  imd  deren 
Zinsen;  nicht  zu  Staats-  (denn  der  ist  reich),  sondern  zu  Volks- 
bedürfnissen, aber  nicht  bloß  durch  freiwillige  Beiträge  (weil 
hier  nur  vom  Rechte  des  Staats  gegen  das  Volk  die  Rede  ist), 
worunter  einige  gewinnsĂĽchtige  sind  (als  Lotterien,  die  mehr 
Arme  und  dem  öffentliche  Eigentum  gefährliche  machen,  als  sonst 
sein  wĂĽrden,  und  die  also  nicht  erlaubt  sein  sollten),  sondern 
zwangsmäßig,  als  Staatslasten.  Hier  fragt  sich  nun:  ob  die  Ver- 
sorgung der  Armen  durch  laufende  Beiträge,  so  daß  jedes 
Zeitalter  die  Seinigen  ernährt,  oder  durch  nach  und  nach  gesam- 
melte Bestände  und  überhaupt  fromme  Stiftungen  (dergleichen 
W^itwenhäuser,  Hospitäler  u.  dergl.  sind)  und  zwar  jenes  nicht 
durch  Bettelei,  welche  mit  der  Räuberei  nahe  verwandt  ist,  son- 
dern durch  gesetzliche  Auflage  ausgerichtet  werden  soll.  —  Die 
erstere  Anordnung  muĂź  fĂĽr  die  einzige  dem  Rechte  des  Staats 
angemessene,  der  sich  niemand  entziehen  kann,  der  zu  leben  hat. 


1 3  4  Rechtslehrc.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

gehalten  werden:  weil  sie  nicht  (wie  von  frommen  Stiftungen 
zu  besorgen  ist),  wenn  sie  mit  der  Zahl  der  Armen  anwachsen, 
das  Armsein  zum  Erwerbmittci  fĂĽr  faule  Menschen  machen  und 
so  eine  ungerechte  Belästigung  des  Volks  durch  die  Regierung 
sein  wĂĽrden. 

Was  die  Erhaltung  der  aus  Not  oder  Scham  ausgesetzten, 
oder  wohl  gar  darum  ermordeten  Kinder  betrifft,  so  hat  der 
Staat  ein  Recht,  das  Volk  mit  der  Pflicht  zu  belasten,  diesen, 
obzwar  unwillkommenen  Zuwachs  its  Staatsvermögens  nicht 
wissentlich  umkommen  zu  lassen.  Ob  dieses  aber  durch  Besteu- 
rung  der  Hagestolzen  beiderlei  Geschlechts  (worunter  die  ver- 
mögende Ledige  verstanden  werden),  als  solche,  die  daran  doch 
zum  Teil  schuld  sind,  vermittelst  dazu  errichteter  Findelhäuser, 
oder  auf  andere  Art  mit  Recht  geschehen  könne  (ein  anderes 
Mittel  es  zu  verhüten  möchte  es  aber  schwerlich  geben),  ist  eine 
Aufgabe,  deren  Lösung,  ohne  entweder  wider  das  Recht,  oder 
die   Moralität  zu  verstoßen,  bisher  noch  nicht  gelungen  ist. 

Da  auch  das  Kirchenwesen,  welches  von  der  Religion  als 
innerer  Gesinnung,  die  ganz  auĂźer  dem  Wirkungskreise  der  bĂĽr- 
gerlichen Macht  ist,  sorgfältig  unterschieden  werden  muß  (als 
Anstalt  zum  öffentlichen  Gottesdienst  für  das  Volk,  aus  welchem 
dieser  auch  seinen  Ursprung  hat,  es  sei  Meinung  oder  Ăśber- 
zeugung), ein  wahres  StaatsbedĂĽrfnis  wird,  sich  auch  als  Unter- 
tanen einer  höchsten  unsichtbaren  Macht,  der  sie  huldigen 
mĂĽssen,  und  die  mit  der  bĂĽrgerlichen  oft  in  einen  sehr  ungleichen 
Streit  kommen  kann,  zu  betrachten:  so  hat  der  Staat  das  Recht, 
nicht  etwa  der  inneren  Konstitutionalgesetzgebung,  das  Kirchen- 
wesen nach  seinem  Sinne,  wie  es  ihm  vorteilhaft  dĂĽnkt,  einzu- 
richten, den  Glauben  und  gottesdienstiiche  Formen  (ritus)  dem 
Volk  vorzuschreiben  oder  zu  befehlen  (denn  dieses  muß  gänzlich 
den  Lehrern  und  Vorstehern,  die  es  sich  selbst  gewählt  hat,  über- 
lassen bleiben),  sondern  nur  das  negative  Recht  den  EinfluĂź  der 
öffentlichen  Lehrer  auf  das  sichtbare,  politische  gemeine  Wesen, 
der  der  öffentlichen  Ruhe  nachteilig  sein  möchte,  abzuhalten, 
mithin  bei  dem  inneren  Streit,  oder  dem  der  verschiedenen 
Kirchen  untereinander  die  bĂĽrgerliche  Eintracht  nicht  in  Gefahr 
kommen  zu  lassen,  welches  also  ein  Recht  der  Polizei  ist.  DaĂź 
eine  Kirche  einen  gewissen  Glauben  und  welchen  sie  haben,  oder 
daß  sie  ihn  unabänderlich  erhalten  müsse  und  sich  nicht  selbst 
reformieren  dĂĽrfe,  sind  Einmischungen   der  obrigkeitlichen  Gewalt, 


/.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht  1 3  5 

die  unter  ihrer  WĂĽrde  sind:  weil  sie  sich  dabei,  als  einem 
Schulgezänke,  auf  den  Fuß  der  Gleichheit  mit  ihren  Untertanen 
einläßt  (der  Monarch  sich  zum  Priester  macht)  die  ihr  geradezu 
sagen  können,  daß  sie  hievon  nichts  verstehe;  vornehmlich  was 
das  letztere,  nämlich  das  Verbot  innerer  Reformen,  betrifft;  — 
denn  was  das  gesamte  Volk  nicht  ĂĽber  sich  selbst  beschlieĂźen 
kann,  das  kann  auch  der  Gesetzgeber  nicht  ĂĽber  das  Volk  be- 
schlieĂźen. Nun  kann  aber  kein  Volk  beschlieĂźen,  in  seinen  den 
Glauben  betreffenden  Einsichten  (der  Aufklärung)  niemals  weiter 
fortzuschreiten,  mithin  auch  sich  in  Ansehung  des  Kirchenwesens 
nie  zu  reformieren:  weil  dies  der  Menschheit  in  seiner  eigenen 
Person,  mithin  dem  höchsten  Recht  desselben  entgegen  sein  würde. 
Also  kann  es  auch  keine  obrigkeitliche  Gewalt  ĂĽber  das  Volk 
beschließen.  —  —  Was  aber  die  Kosten  der  Erhaltung  des  Kir- 
chenwesens betrifft,  so  können  diese  aus  ebenderselben  Ursache 
nicht  dem  Staat,  sondern  mĂĽssen  dem  Teil  des  Volks,  der  sich 
zu  einem  oder  dem  anderen  Glauben  bekennt,  d.  i.  nur  der  Ge- 
meine, zu  Lasten  kommen. 


*  D. 

Das  Recht  des  obersten  Befehlshabers  im  Staat  geht  auch 
I.  auf  Verteilung  der  Ă„mter,  als  mit  einer  Besoldung  verbun- 
dener Geschäftsführung;  2.  der  Würden,  die  als  Standeser- 
höhungen ohne  Sold,  d.  i.  Rangerteilung  der  Oberen  (der  zum 
Befehlen)  in  Ansehung  der  Niedrigem  (die,  obzwar  als  freie  und 
nur  durchs  öffentliche  Gesetz  verbindliche,  doch  jenen  zu  gehor- 
samen zum  voraus  bestimmt  sind),  bloĂź  auf  Ehre  fundiert  sind 
—  und  3.  außer  diesem  (respektiv-wohltätigen)  Recht  auch  aufs 
Strafrecht. 

Was  ein  bĂĽrgerliches  Amt  anlangt,  so  kommt  hier  die  Frage 
vor:  hat  der  Souverän  das  Recht,  einem,  dem  er  ein  Amt  ge- 
geben, es  nach  seinem  Gutbefinden  (ohne  ein  Verbrechen  von 
selten  des  letzteren)  wieder  zu  nehmen?  Ich  sage:  nein!  Denn 
was  der  vereinigte  Wille  des  Volks  ĂĽber  seine  bĂĽrgerliche  Beamte 
nie  beschlieĂźen  wird,  das  kann  auch  das  Staatsoberhaupt  ĂĽber  ihn 
nicht  beschlieĂźen.  Nun  will  das  Volk  (das  die  Kosten  tragen 
soll,  welche  die  Ansetzung  eines  Beamten  ihm  machen  ward)  ohne 
allen  Zweifel,  daß   dieser  seinem  ihm  auferlegten  Geschäfte  völlig 


1 3  6  Rechtslehre.    2.  Teil.   Das  öffentliche  Recht 

gewachsen  sei;  welches  aber  nicht  anders,  als  durch  eine  hin- 
Jänghche  Zeit  hindurch  fortgesetzte  Vorbereitung  und  Erlernung 
desselben,  über  der  er  diejenige  versäumt,  die  er  zur  Erlernung 
eines  anderen  ihn  nährenden  Geschäfts  hätte  verwenden  können, 
geschehen  kann;  mithin  wĂĽrde  in  der  Regel  das  Amt  mit  Leuten 
versehen  werden,  die  keine  dazu  erforderliche  Geschicklichkeit 
und  durch  Übung  erlangte  reife  Urteilskraft  erworben  hätten ; 
welches  der  Absicht  des  Staats  zuwider  ist,  als  zu  welcher  auch 
erforderlich  ist,  daß  jeder  vom  niedrigeren  Amte  zu  höheren  (die 
sonst  lauter  Untauglichen  in  die  Hände  fallen  würden)  steigen, 
mithin  auch  auf  lebenswierige  Versorgung  müsse  rechnen  können. 
Die  WĂĽrde  betreffend,  nicht  bloĂź  die,  welche  ein  Amt  bei 
sich  fĂĽhren  mag,  sondern  auch  die,  welche  den  Besitzer  auch 
ohne  besondere  Bedienungen  zum  Gliede  eines  höheren  Standes 
macht,  ist  der  Adel,  der,  vom  bĂĽrgerlichen  Stande,  in  welchem 
das  Volk  ist,  unterschieden,  den  männlichen  Nachkommen  anerbt, 
durch  diese  auch  wohl  den  weiblichen  unadliger  Geburt,  nur 
so,  daĂź  die  adlig  Geborne  ihrem  unadligen  Ehemann  nicht 
umgekehrt  diesen  Rang  mitteilt,  sondern  selbst  in  den  bloĂź  bĂĽr- 
gerlichen (des  Volks)  zurückfällt.  —  Die  Frage  ist  nun:  ob  dei>» 
Souverän  einen  Adelstand,  als  einen  erblichen  Mittelstand 
zwischen  ihm  und  den  ĂĽbrigen  StaatsbĂĽrgern,  zu  grĂĽnden  be- 
rechtigt sei.  In  dieser  Frage  kommt  es  nicht  darauf  an:  ob  es 
der  Klugheit  des  Souveräns  wegen  seines  oder  des  Volks  Vorteils, 
sondern  nur,  ob  es  dem  Rechte  des  Volks  gemäß  sei,  einen 
Stand  von  Personen  ĂĽber  sich  zu  haben,  die  zwar  selbst  Unter- 
tanen,  aber  doch    in  Ansehung  des  Volks   geborne  Befehlshaber 

(wenigstens  privilegierte)   sind. Die   Beantwortung  derselben 

geht  nun  hier  eben  so  wie  vorher  aus  dem  Prinzip  hervor:  „Was 
das  Volk  (die  ganze  Masse  der  Untertanen)  nicht  ĂĽber  sich  selbst 
und  seine  Genossen  beschlieĂźen  kann,  das  kann  auch  der  Sou- 
verän nicht  über  das  Volk  beschließen."  Nun  ist  ein  angeerbter 
Adel  ein  Rang,  der  vor  dem  Verdienst  vorher  geht  und  dieses 
auch  mit  keinem  Grunde  hoffen  läßt,  ein  Gedankending  ohne 
alle  Realität.  Denn  wenn  der  Vorfahr  Verdienst  hatte,  so  konnte 
er  dieses  doch  nicht  auf  seine  Nachkommen  vererben,  sondern 
diese  muĂźten  es  sich  immer  selbst  erwerben,  da  die  Natur  es 
nicht  so  fĂĽgt,  daĂź  das  Talent  und  der  Wille,  welche  Verdienste 
um  den  Staat  möglich  machen,  auch  anarten.  Weil  nun  von 
keinem    Menschen    angenommen    werden    kann,    er    werde    seine 


/.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht  1 3  7 

Freiheit  wegwerfen,  so  ist  es  unmöglich,  daß  der  allgemeine 
Volkswille  zu  einem  solchen  grundlosen  Prärogativ  zusammen- 
stimme, mithin  kann  der  Souverän  es  auch  nicht  geltend  machen. 
—  —  Wenn  indessen  gleich  eine  solche  Anomalie  in  das  Ma- 
schinenwesen einer  Regierung  von  alten  Zeiten  (des  Lehnswesens, 
das  fast  gänzlich  auf  den  Krieg  angelegt  war)  eingeschlichen,  von 
Untertanen,  die  mehr  als  Staatsbürger,  nämlich  geborne  Beamte 
(wie  etwa  ein  Erbprofessor),  sein  wollen,  so  kann  der  Staat 
diesen  von  ihm  begangenen  Fehler  eines  widerrechtlich  erteilten 
erbUchen  Vorzugs  nicht  anders,  als  durch  Eingehen  und  Nicht- 
besetzung  der  Stellen  allmählich  wiederum  gut  machen,  und  so 
hat  er  provisorisch  ein  Recht,  diese  WĂĽrde  dem  Titel  nach  fort- 
dauern zu  lassen,  bis  selbst  in  der  öffentlichen  Meinung  die  Ein- 
teilung in  Souverän,  Adel  und  Volk  der  einzigen  natürlichen  in 
Souverän  und  Volk   Platz  gemacht  haben  wird. 

Ohne  alle  WĂĽrde  kann  nun  wohl  kein  Mensch  im  Staate 
sein,  denn  er  hat  wenigstens  die  des  StaatsbĂĽrgers;  auĂźer  wenn 
er  sich  durch  sein  eigenes  Verbrechen  darum  gebracht  hat,  da 
er  dann  zwar  im  Leben  erhalten,  aber  zum  bloĂźen  Werkzeuge 
der  WillkĂĽr  eines  anderen  (entweder  des  Staats,  oder  eines  an- 
deren StaatsbĂĽrgers)  gemacht  wird.  Wer  nun  das  letztere  ist 
(was  er  aber  nur  durch  Urteil  und  Recht  werden  kann),  ist  ein 
Leibeigener  {servus  in  sensu  striao)  und  gehört  zum  Eigen- 
tum {dominium)  eines  anderen,  der  daher  nicht  bloĂź  sein  Herr 
(herus\  sondern  auch  sein  EigentĂĽmer  (dorninus)  ist,  der  ihn 
als  eine  Sache  veräußern  und  nach  Belieben  (nur  nicht  zu  schand- 
baren Zwecken)  brauchen  und  über  seine  Kräfte,  wenngleich 
nicht  ĂĽber  sein  Leben  und  GliedmaĂźen  verfĂĽgen  (disponieren) 
kann.  Durch  einen  Vertrag  kann  sich  niemand  zu  einer  solchen 
Abhängigkeit  verbinden,  dadurch  er  aufhört,  eine  Person  zu  sein; 
denn  nur  als  Person  karm  er  einen  Vertrag  machen.  Nun  scheint 
es  zwar,  ein  Mensch  körme  sich  zu  gewissen,  der  Qualität  nach 
erlaubten,  dem  Grad  nach  aber  unbestimmten  Diensten  gegen 
einen  andern  (fĂĽr  Lohn,  Kost  oder  Schutz)  verpflichten  durch 
einen  Verdingungsvertrag  Qocatio  conductio\  und  er  werde  dadurch 
bloĂź  Untertan  (subieaus),  nicht  Leibeigener  (servus);  allein  das 
ist  nur  ein  falscher  Schein.  Denn  wenn  sein  Herr  befugt  ist,  die 
Kräfte  seines  Untertans  nach  Beheben  zu  benutzen,  so  kann  er 
sie  auch  (wie  es  mit  den  Negern  auf  den  Zuckerinseln  der  Fall 
ist)   erschöpfen  bis  zum  Tode  oder  der  Verzweiflung,    und  jener 


1 3  8  Rechts  lehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

hat  sich  seinem  Herrn  wirklich  als  Eigentum  weggegeben;  wel- 
ches unmöglich  ist.  —  Er  kann  sich  also  nur  zu  der  Qualität 
und  dem  Grade  nach  bestimmten  Arbeiten  verdingen:  entweder 
als  Tagelöhner,  oder  ansässiger  Untertan;  im  letzteren  Fall,  daß 
er  teils  tur  den  Gebrauch  des  Bodens  seines  Herrn  statt  des 
Tagelohns  Dienste  auf  demselben  Boden,  teils  fĂĽr  die  eigene  Be- 
nutzung desselben  bestimmte  Abgaben  (einen  Zins)  nach  einem 
Pachtvertrage  leistet,  ohne  sich  dabei  zum  Gutsuntertan  (g/ebae 
adscriptus)  zu  machen,  als  wodurch  er  seine  Persönlichkeit  ein- 
bĂĽĂźen wĂĽrde,  mithin  eine  Zeit-  oder  Erbpacht  grĂĽnden  kann. 
Er  mag  nun  aber  auch  durch  sein  Verbrechen  ein  persönlicher 
Untertan  geworden  sein  so  kann  diese  Untertänigkeit  ihm  doch 
nicht  an  erben,  weil  er  sie  sich  nur  durch  seine  eigene  Schuld 
zugezogen  hat,  und  eben  so  wenig  kann  der  von  einem  Leib- 
eigenen Erzeugte  wegen  der  Erziehungskosten,  die  er  gemacht  hat, 
in  Anspruch  genommen  werden,  weil  Erziehung  eine  absolute 
NaturpÄicht  der  Eltern  und,  im  Falle  daß  diese  Leibeigene  waren, 
der  Herren  ist,  welche  mit  dem  Besitz  ihrer  Untertanen  auch  die 
Pflichten   derselben  ĂĽbernommen  haben. 


E. 

Vom  Straf-  und  Begnadigungsrecht. 

L 

Das  Strafrecht  ist  das  Recht  des  Befehlshabers  gegen  den 
UnterwĂĽrfigen,  ihn  wegen  seines  Verbrechens  mit  einem  Schmerz 
zu  belegen.  Der  Oberste  im  Staate  kann  also  nicht  bestraft 
werden,  sondern  man  kann  sich  nur  seiner  Herrschaft  entziehen. 
—  Diejenige  Übertretung  des  öffentlichen  Gesetzes,  die  den, 
welcher  sie  begeht,  unfähig  macht,  Staatsbürger  zu  sein,  heißt 
Verbrechen  schlechthin  (^crimen),  aber  auch  ein  öffentliches 
Verbrechen  (crimen  publicum)-^  daher  das  erstere  (das  Privatver- 
brechen) vor  die  Zivil-,  das  andere  vor  die  Kriminalgerechtigkeit 
gezogen  wird.  —  Veruntreuung,  d.  i.  Unterschlagung  der  zum 
Verkehr  anvertrauten  Gelder  oder  Waren,  Betrug  im  Kauf  und 
Verkauf  bei  sehenden  Augen  des  anderen  sind  Privatverbrechen. 
Dagegen    sind:     falsch    Geld     oder    falsche    Wechsel     zu     machen. 


I.Abschnitt.    Das  Staatsrecht  139 

Diebstahl  und  Raub  u.  dgl.  öffentliche  Verbrechen,  weil  das  ge- 
meine Wesen  und  nicht  bloĂź  eine  einzelne  Person  dadurch  ge- 
fährdet wird.  —  Sie  könnten  in  die  der  niederträchtigen  Ge- 
mütsart (jndol'ts  abicctae)  und  die  der  gewalttätigen  (jndolis 
violentae)  eingeteilt  werden. 

Richterliche  Strafe  (^poena  forensis),  die  von  der  natĂĽr- 
lichen (j>oena  naturalis)^  dadurch  das  Laster  sich  selbst  bestraft 
und  auf  welche  der  Gesetzgeber  gar  nicht  RĂĽcksicht  nimmt,  ver- 
schieden, kann  niemals  bloĂź  als  Mittel  ein  anderes  Gute  zu  be- 
fördern für  den  Verbrecher  selbst,  oder  für  die  bürgerliche  Gesell- 
schaft, sondern  muß  jederzeit  nur  darum  wider  ihn  verhängt 
werden,  weil  er  verbrochen  hat;  denn  der  Mensch  kann  nie 
bloĂź  als  Mittel  zu  den  Absichten  eines  anderen  gehandhabt  und 
unter  die  Gegenstände  des  Sachenrechts  gemengt  werden,  wowäder 
ihn  seine  angeborne  Persönlichkeit  schützt,  ob  er  gleich  die  bür- 
gerliche einzubĂĽĂźen  gar  wohl  verurteilt  werden  kann.  Er  muĂź 
vorher  strafbar  befunden  sein,  ehe  noch  daran  gedacht  wird, 
aus  dieser  Strafe  einigen  Nutzen  fĂĽr  ihn  selbst  oder  seine  Mit- 
bĂĽrger zu  ziehen.  Das  Strafgesetz  ist  ein  kategorischer  Imperativ, 
und  wehe  dem,  welcher  die  Schlangenwindungen  der  GlĂĽckselig- 
keitslehre durchkriecht,  um  etwas  aufzufinden,  was  durch  den 
Vorteil,  den  es  verspricht,  ihn  von  der  Strafe,  oder  auch  nur 
einem  Grade  derselben  entbinde  nach  dem  pharisäischen  Wahl- 
spruch: „Es  ist  besser,  daß  ein  Mensch  sterbe,  als  daß  das  ganze 
Volk  verderbe;"  denn  wenn  die  Gerechtigkeit  untergeht,  so  hat 
es  keinen  Wert  mehr,  daß  Menschen  auf  Erden  leben.  —  Was 
soll  man  also  von  dem  Vorschlage  halten:  einem  Verbrecher  auf 
den  Tod  das  Leben  zu  erhalten,  wenn  er  sich  dazu  verstände,  an 
sich  gefährliche  Experimente  machen  zu  lassen,  und  so  glücklich 
wäre  gut  durchzukommen;  damit  die  Arzte  dadurch  eine  neue, 
dem  gemeinen  Wesen  ersprieĂźliche  Belehrung  erhielten?  Ein  Ge- 
richtshof wĂĽrde  das  medizinische  Kollegium,  das  diesen  Vorschlag 
täte,  mit  Verachtung  abweisen;  denn  die  Gerechtigkeit  hört  auf 
eine  zu  sein,  wenn  sie  sich  fĂĽr  irgendeinen  Preis  weggibt. 

Welche  Art  aber  und  welcher  Grad  der  Bestrafung  ist  es, 
welche  die  öffentliche  Gerechtigkeit  sich  zum  Prinzip  und  Richt- 
maĂźe macht?  Kein  anderes,  als  das  Prinzip  der  Gleichheit,  (im 
Stande  des  ZĂĽngleins  an  der  Wage  der  Gerechtigkeit)  sich  nicht 
mehr  auf  die  eine,  als  auf  die  andere  Seite  hinzuneigen.  Also: 
was  fĂĽr  unverschuldetes  Ăśbel  du  einem  anderen  im  Volk  zufĂĽgst. 


140  Recht  sichre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

das  tust  du  dir  selbst  an.  Beschimpfst  du  ihn,  so  beschimptst  du 
dich  selbst;  bestiehlst  du  ihn,  so  bestiehlst  du  dich  selbst;  schlägst 
du  ihn,  so  schlägst  du  dich  selbst;  tötest  du  ihn,  so  tötest  du  dich 
selbst.  Nur  das  Wiedervergeltungsrecht  (jus  talionis)  aber, 
wohl  zu  verstehen,  vor  den  Schranken  des  Gerichts  (nicht  in 
deinem  Privaturteil),  kann  die  QuaHtät  und  Quantität  der  Strafe 
bestimmt  angeben;  alle  andere  sind  hin  und  her  schwankend  und 
können  anderer  sich  einmischenden  Rücksichten  wegen  keine 
Angemessenheit  mit  dem  Spruch  der  reinen  und  strengen  Gerech- 
tigkeit enthalten.  —  Nun  scheint  es  zwar,  daß  der  Unterschied 
der  Stände  das  Prinzip  der  Wiedervergeltung  Gleiches  mit  Gleichem 
nicht  verstatte;  aber  wenn  es  gleich  nicht  nach  dem  Buchstaben 
möglich  sein  kann,  so  kann  es  doch  der  Wirkung  nach,  respek- 
tive auf  die  Empfindungsart  der  Vornehmeren  immer  geltend 
bleiben.  —  So  hat  z.  B.  Geldstrafe  wegen  einer  Verbalinjurie  gar 
kein  Verhältnis  zur  Beleidigung,  denn  der  des  Geldes  viel  hat, 
kann  diese  sich  wohl  einmal  zur  Lust  erlauben;  aber  die  Krän- 
kung der  Ehrliebe  des  einen  kann  doch  dem  Wehtun  des  Hoch- 
muts des  anderen  sehr  gleichkommen:  wenn  dieser  nicht  allein 
öffentlich  abzubitten,  sondern  jenem,  ob  er  zwar  niedriger  ist, 
etwa  zugleich  die  Hand  zu  kĂĽssen  durch  Urteil  und  Recht  ge- 
nötigt würde.  Eben  so  wenn  der  gewalttätige  Vornehme  für  die 
Schläge,  die  er  dem  niederen,  aber  schuldlosen  Staatsbürger  zumißt, 
auĂźer  der  Abbitte  noch  zu  einem  einsamen  und  beschwerlichen 
Arrest  verurteilt  würde,  weil  hiemit,  außer  der  Ungemächlichkeit, 
noch  die  Eitelkeit  des  Täters  schmerzhaft  angegriffen  und  so  durch 
Beschämung  Gleiches  mit  Gleichem  gehörig  vergolten  würde.  — 
Was  heißt  das  aber:  „Bestiehlst  du  ihn,  so  bestiehlst  du  dich 
selbst"?  Wer  da  stiehlt,  macht  aller  anderer  Eigentum  unsicher; 
er  beraubt  sich  also  (nach  dem  Recht  der  Wiedervergeltung)  der 
Sicherheit  alles  möglichen  Eigentums;  er  hat  nichts  und  kann  auch 
nichts  erwerben,  will  aber  doch  leben;  welches  nun  nicht  anders 
möglich  ist,  als  daß  ihn  andere  ernähren.  Weil  dieses  aber  der 
Staat  nicht  umsonst  tun  wird,  so  muß  er  diesem  seine  Krätte  zu 
ihm  beliebigen  Arbeiten  (Karren-  oder  Zuchthausarbeit)  ĂĽberlassen 
und  kommt  auf  gewisse  Zeit,  oder  nach  Befinden  auch  auf-  immer 
in  den  Sklavenstand.  —  Hat  er  aber  "emordet,  so  muß  er  sterben. 
Es  gibt  hier  kein  Surrogat  zur  Befriedigung  der  Gerechtigkeit. 
Es  ist  keine  Gleichartigkeit  zwischen  einem  noch  so  kummer- 
vollen  Leben  und  dem  Tode,  also   auch  keine  Gleichheit  des  Ver- 


/.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht 


I4.I 


Brechens  und  der  Wiedervergeltung,  als  durch  den  am  Täter 
gerichtlich  vollzogenen,  doch  von  aller  MiĂźhandlung,  welche  die 
Menschheit  in  der  leidenden  Person  zum  Scheusal  machen  könnte, 
befreieten  Tod.  —  Selbst  wenn  sich  die  bürgerliche  Gesellschaft 
mit  aller  Glieder  Einstimmung  auflösete  (z.  B.  das  eine  Insel 
bewohnende  Volk  beschlösse  auseinander  zu  gehen  und  sich  in 
alle  Welt  zu  zerstreuen),  müßte  der  letzte  im  Gefängnis  befind- 
liche Mörder  vorher  hingerichtet  werden,  damit  jedermann  das 
widerfahre,  was  seine  Taten  wert  sind,  und  die  Blutschuld  nicht 
auf  dem  Volke  hafte,  das  auf  diese  Bestrafung  nicht  gedrungen 
hat:  weil  es  als  Teilnehmer  an  dieser  öffentlichen  Verletzung  der 
Gerechtigkeit  betrachtet  werden  kann. 

Diese  Gleichheit  der  Strafen,  die  allein  durch  die  Erkenntnis 
des  Richters  auf  den  Tod  nach  dem  strengen  Wiedervergeltungs- 
rechte  möglich  ist,  offenbaret  sich  daran,  daß  dadurch  allein  pro- 
portionierlich  mit  der  inneren  Bösartigkeit  der  Verbrecher  das 
Todesurteil  ĂĽber  alle  (selbst  wenn  es  nicht  einen  Mord,  sondern 
ein  anderes  nur  mit  dem  Tode  zu  tilgendes  Staatsverbrechen 
beträfe)  ausgesprochen  wird.  —  Setzet;  daß,  wie  in  der  letzten 
schottischen  Rebellion,  da  verschiedene  Teilnehmer  an  derselben 
(wie  BALMERINO  und  andere)  durch  ihre  Empörung  nichts  als 
eine  dem  Hause  STUART  schuldige  Pflicht  auszuĂĽben  glaubten, 
andere  dagegen  Privatabsichten  hegten,  von  dem  höchsten  Gericht 
das  Urteil  so  gesprochen  worden  wäre:  ein  jeder  solle  die  Frei- 
heit der  Wahl  zwischen  dem  Tode  und  der  Karrenstrafe  haben; 
so  sage  ich:  der  ehrliche  Mann  wählt  den  Tod,  der  Schelm  aber 
die  Karre;  so  bringt  es  die  Natur  des  menschlichen  GemĂĽts  mit 
sich.  Denn  der  erstere  kennt  etwas,  was  er  noch  höher  schätzt, 
als  selbst  das  Leben:  nämlich  die  Ehre;  der  andere  hält  ein  mit 
Schande  bedecktes  Leben  doch  immer  noch  fĂĽr  besser,  als  gar 
nicht  zu  sein  {antmam  praeferre  pudori.  lUVEN.).  Der  erstere  ist 
nun  ohne  Widerrede  weniger  strafbar  als  der  andere,  und  so 
werden  sie  durch  den  über  alle  gleich  verhängten  Tod  ganz  pro- 
portionierhch  bestraft,  jener  gelinde  nach  seiner  Empfindungsart 
und  dieser  hart  nach  der  seinigen;  da  hingegen,  wenn  durch- 
gängig auf  die  Karrenstrafe  erkannt  v^rürde,  der  erstere  zu  hart, 
der  andere  für  seine  Niederträchtigkeit  gar  zu  gelinde  bestraft 
wäre;  und  so  ist  auch  hier  im  Ausspruche  über  eine  im  Kom- 
plott vereinigte  Zahl  von  Verbrechern  der  beste  Ausgleicher  vor 
der    öffentlichen    Gerechtigkeit    der  Tod.   —    Überdem    hat    man 


1 4  i  Rechts/ehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

nie  gehört,  daß  ein  wegen  Mordes  zum  Tode  Verurteilter  sich 
beschwert  hätte,  daß  ihm  damit  zu  viel  und  also  unrecht  ge- 
schehe; jeder  wĂĽrde  ihm  ins  Gesicht  lachen,  wenn  er  sich 
dessen  "äußerte.  —  Man  müßte  sonst  annehmen,  daß,  wenn  dem 
Verbrecher  gleich  nach  dem  Gesetz  nicht  unrecht  geschieht,  doch 
die  gesetzgebende  Gewalt  im  Staat  diese  Art  von  Strafe  zu  ver- 
hängen nicht  befugt  und,  wenn  sie  es  tut,  mit  sich  selbst  im 
Widerspruch  sei. 

So  viel  also  der  Mörder  sind,  die  den  Mord  verübt,  oder 
auch  befohlen,  oder  dazu  mitgewirkt  haben,  so  viele  mĂĽssen  auch 
den  Tod  leiden;  so  will  es  die  Gerechtigkeit  als  Idee  der  richter- 
lichen Gewalt  nach  allgemeinen,  a  priori  begrĂĽndeten  Gesetzen, 
—  Wenn  aber  doch  die  Zahl  der  Komplizen  (correi^  zu  einer 
solchen  Tat  so  groĂź  ist,  daĂź  der  Staat,  um  keine  solche  Ver- 
brecher zu  haben,  bald  dahin  kommen  könnte,  keine  Untertanen 
mehr  zu  haben,  und  sich  doch  nicht  auflösen,  d.  i.  in  den  noch 
viel  ärgeren,  aller  äußeren  Gerechtigkeit  entbehrenden  Natur- 
zustand ĂĽbergehen  (vornehmlich  nicht  durch  das  Spektakel  einer 
Schlachtbank  das  GefĂĽhl  des  Volks  abstumpfen)  will,  so  muĂź  es 
auch  der  Souverän  in  seiner  Macht  haben,  in  diesem  Notfall 
(casus  necessitatis^  selbst  den  Richter  zu  machen  (vorzustellen) 
und  ein  Urteil  zu  sprechen,  welches  statt  der  Lebensstrafe  eine 
andere  den  Verbrechern  zuerkennt,  bei  der  die  Volksmenge  noch 
erhalten  wird,  dergleichen  die  Deportation  ist;  dieses  selbst  aber 
nicht  als  nach  einem  öffentlichen  Gesetz,  sondern  durch  einen 
Machtspruch,  d.  i.  einen  Akt  des  Majestätsrechts,  der  als  Begnadi- 
gung nur  immer  in  einzelnen  Fällen  ausgeübt  werden  kann. 

Hiegegen  hat  nun  der  Marchese  BECCARIA  aus  teilnehmender 
Empfindelei  einer  affektierten  Humanität  (compassibilitas)  seine  Be- 
hauptung der  Unrechtmäßigkeit  aller  Todesstrafe  aufgestellt: 
weil  sie  im  ursprĂĽnglichen  bĂĽrgerlichen  Vertrage  nicht  enthalten 
sein  könnte;  denn  da  hätte  jeder  im  Volk  einwilligen  müssen, 
sein  Leben  zu  verlieren,  wenn  er  etwa  einen  anderen  (im  Volk) 
ermordete;  diese  Einwilligung  aber  sei  unmöglich,  weil  niemand 
über  sein  Leben  disponieren  könne.  Alles  Sophisterei  und  Rechts- 
verdrehung. 

Strafe  erleidet  jemand  nicht,  weil  er  sie,  sondern  weil  er 
eine  strafbare  Handlung  gewollt  hat;  denn  es  ist  keine  Strafe, 
wenn  einem  geschieht,  was  er  will,  und  es  ist  unmöglich,  gestraft 
werden   zu  wollen.   —   Sagen:    ich   will    gestraft   werden,    wenn 


i.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht  143 

ich  jemand  ermorde,  heiĂźt  nichts  mehr  als:  ich  unterwerfe  mich 
samt  allen  ĂĽbrigen  den  Gesetzen,  welche  natĂĽrlicherweise,  wenn 
es  Verbrecher  im  Volk  gibt,  auch  Strafgesetze  sein  werden.  Ich 
als  Mitgesetzgeber,  der  das  Strafgesetz  diktiert,  kann  unmöglich 
dieselbe  Person  sein,  die  als  Untertan  nach  dem  Gesetz  bestraft 
wird;  denn  als  ein  solcher,  nämlich  als  Verbrecher,  kann  ich  un- 
möglich eine  Stimme  in  der  Gesetzgebung  haben  (der  Gesetz- 
geber ist  heilig).  Wenn  ich  also  ein  Strafgesetz  gegen  mich  als 
einen  Verbrecher  abfasse,  so  ist  es  in  mir  die  reine  rechtlich- 
gesetzgebende  Vernunft  (Jjomo  noumenon)  die  mich  als  einen  des 
Verbrechens  Fähigen,  folglich  als  eine  andere  Person  {homo  phae- 
nomenon^  samt  allen  ĂĽbrigen  in  einem  BĂĽrgerverein  dem  Straf- 
gesetze unterwirft.  Mit  anderen  Worten:  nicht  das  Volk  (jeder 
einzelne  in  demselben),  sondern  das  Gericht  (die  öffentliche  Ge- 
rechtigkeit), mithin  ein  anderer  als  der  Verbrecher  diktiert  die 
Todesstrafe,  und  im  Sozialkontrakt  ist  gar  nicht  das  Versprechen 
enthalten,  sich  strafen  zu  lassen  und  so  ĂĽber  sich  selbst  und  sein 
Leben  zu  disponieren.  Denn  wenn  der  Befugnis  zu  strafen  ein 
Versprechen  des  Missetäters  zum  Grunde  liegen  müßte,  sich 
strafen  lassen  zu  w^ollen,  so  mĂĽĂźte  es  diesem  auch  ĂĽberlassen 
werden,  sich  straffällig  zu  finden,  und  der  Verbrecher  würde  sein 
eigener  Richter  sein.  —  Der  Hauptpunkt  des  Irrtums  (irpiorov 
"vj/'ei'cJo?)  dieses  Sophisms  besteht  darin:  daĂź  er  das  eigene  Urteil 
des  Verbrechers  (das  man  seiner  Vernunft  notwendig  zutrauen 
muĂź),  des  Lebens  verlustig  werden  zu  mĂĽssen,  fĂĽr  einen  BeschluĂź 
des  Willens  ansieht,  es  sich  selbst  zu  nehmen,  und  so  sich  die 
Rechtsvollziehung  mit  der  Rechtsbeurteilung  in  einer  und  derselben 
Person  vereinigt  vorstellt. 

Es  gibt  indessen  zwei  todeswĂĽrdige  Verbrechen,  in  Ansehung 
deren,  ob  die  Gesetzgebung  auch  die  Befugnis  habe,  sie  mit 
der  Todesstrafe  zu  belegen,  noch  zweifelhaft  bleibt.  Zu  beiden 
verleitet  das  EhrgefĂĽhl.  Das  eine  ist  das  der  Geschlechtsehre, 
das  andere  der  Kriegsehre,  und  zwar  der  wahren  Ehre,  welche 
jeder  dieser  zwei  Menschenklassen  als  Pflicht  obliegt.  Das  eine 
Verbrechen  ist  der  mĂĽtterliche  Kindesmord  (jnfantkidium  ma- 
temale) \  das  andere  der  Kriegsgesellenmord  {commilitonicidium). 
der  Duell.  —  Da  die  Gesetzgebung  die  Schmach  einer  unehe- 
lichen Geburt  nicht  wegnehmen  und  eben  so  wenig  den  Fleck, 
welcher  aus  dem  Verdacht  der  Feigheit,  der  auf  einen  unter- 
geordneten   Kriegsbefehlshaber    fällt,    welcher    einer    verächtlichen 


1 44  Rechts  lehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

Begegnung  nicht  eine  ĂĽber  die  Todesfurcht  erhobene  eigene  Gewalt 
entgegensetzt,  wegwischen    kann:  so  scheint  es,  daĂź  Menschen  in 
diesen   Fällen  sich  im  Naturzustande   befinden  und  Tötung  (J)omi- 
cidiutn)^    die    alsdann    nicht    einmal    Mord     (homicidium    dolosuni) 
heiĂźen    mĂĽĂźte,    in    beiden    zwar    allerdings    strafbar   sei,  von   der 
obersten   Macht  aber  mit  dem  Tode  nicht  könne   bestraft  werden. 
Das  uneheliche  auf  die  Welt  gekommene  Kind  ist  auĂźer  dem  Gesetz 
(denn  das  heiĂźt  Ehe),  mithin  auch  auĂźer  dem  Schutz  desselben  ge- 
boren.   Es  ist  in  das  gemeine  Wesen  gleichsam  eingeschlichen  (wie 
verbotene  Ware),  so  daĂź   dieses  seine  Existenz  (weil  es  billig  auf 
diese  Art  nicht    hätte    existieren  sollen),    mithin    auch    seine  Ver- 
nichtung   ignorieren    kann,    und    die    Schande    der  Mutter,    wenn 
ihre    uneheliche    Niederkunft    bekannt  wird,    kann  keine  Verord- 
nung heben.   —   Der  zum  Unter-Befehlshaber  eingesetzte  Krieges- 
mann,   dem    ein    Schimpf   angetan    wird,    sieht  sich  eben  sowohl 
durch  die  öffentliche  Meinung  der  Mitgenossen  seines  Standes  ge- 
nötigt,   sich    Genugtuung    und,  wie  im  Naturzustande,  Bestrafung 
des  Beleidigers  nicht  durchs  Gesetz,  vor  einem  Gerichtshofe,  son- 
dern   durch    den    Duell,    darin    er    sich   selbst    der  Lebensgefahr 
aussetzt,    zu    verschaffen,    um    seinen    Kriegsmut    zu   beweisen,    als 
worauf  die  Ehre  seines  Standes  wesentlich  beruht,   sollte  es  auch 
mit  der  Tötung   seines  Gegners  verbunden    sein,    die    in    diesem 
Kampfe,  der  öffentlich  und  mit  beiderseitiger  Einwilligung,    doch 
auch  ungern  geschieht,  eigentlich  nicht  Mord  (homicidium  dolosum) 
genannt    werden    kann.  ■ —  —  Was  ist  nun   in   beiden   (zur  Kri- 
minalgerechtigkeit   gehörigen)    Fällen    Rechtens?  —  Hier  kommt 
die  Strafgerechtigkeit  gar  sehr  ins  Gedränge:    entweder  den  Ehr- 
begriff  (der    hier    kein  Wahn    ist)    durchs    Gesetz   fĂĽr  nichtig  zu 
erklären  und  so  mit   dem  Tode  zu  strafen,    oder  von    dem  Ver- 
brechen  die  angemessene  Todesstrafe  wegzunehmen,    und   so   ent- 
weder  grausam    oder  nachsichtig    zu  sein.     Die  Auflösung    dieses 
Knotens  ist:   daĂź   der  kategorische  Imperativ  der  Strafgerechtigkeit 
(die    gesetzwidrige  Tötung    eines    anderen    müsse    mit    dem  Tode 
bestraft    werden)    bleibt,    die    Gesetzgebung    selber    aber    (mithin 
auch    die    bĂĽrgerliche  Verfassung),    so  lange    noch    als    barbarisch 
und   unausgebildet,  daran  schuld  ist,  daĂź  die  Triebfedern  der  Ehre 
im  Volk  (subjektiv)    nicht    mit    den    MaĂźregeln    zusammentreffen 
wollen,    die    (objektiv)    ihrer    Absicht    gemäß    sind,    so    daß    die 
öffentliche,  vom  Staat  ausgehende   Gerechtigkeit  in  Ansehung  der 
aus  dem  Volk   eine  Ungerechtigkeit  wird. 


/.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht  145 

n. 

Das  Begnadigungsrecht  (jus  aggratiand'i)  fiir  den  Ver- 
brecher, entweder  der  Milderung  oder  gänzlichen  Erlassung  der 
Strafe,  ist  wohl  unter  allen  Rechten  des  Souveräns  das  schlüpf- 
rigste, um  den  Glanz  seiner  Hoheit  zu  beweisen  und  dadurch 
doch  im  hohen  Grade  unrecht  zu  tun.  —  In  Ansehung  der  Ver- 
brechen der  Untertanen  gegeneinander  steht  es  schlechterdings 
ihm  nicht  zu,  es  auszuĂĽben;  denn  hier  ist  Straflosigkeit  (jmpu- 
nitas  criminii)  das  größte  Unrecht  gegen  die  letztern.  Also  nur 
bei  einer  Läsion,  die  ihm  selbst  widerfährt,  {crimen  laesae  ma'te- 
statis)  kann  er  davon  Gebrauch  machen.  Aber  auch  da  nicht 
einmal,  wenn  durch  Ungestraftheit  dem  Volk  selbst  in  Ansehung 
seiner  Sicherheit  Gefahr  erwachsen  könnte.  —  Dieses  Recht  ist 
das  einzige,  was   den  Namen  des  Majestätsrechts  verdient. 


Von  dem  rechtlichen  Verhältnisse  des  Bürgers  zum  Vater- 
lande und  zum  Auslande. 

$  50- 

Das  Land  {territorium\  dessen  Einsassen  schon  durch  die  Kon- 
stitutioru  d.  i.  ohne  einen  besonderen  rechthchen  Akt  ausĂĽben  zu 
dĂĽrfen  (mithin  durch  die  Geburt),  MitbĂĽrger  eines  und  desselben 
gemeinen  Wesens  sind,  heiĂźt  das  Vaterland;  das,  worin  sie  es 
ohne  diese  Bedingung  nicht  sind,  das  Ausland,  und  dieses,  werm 
es  einen  Teil  der  Landesherrschaft  ĂĽberhaupt  ausmacht,  heiĂźt  die 
Provinz  (in  der  Bedeutung,  wie  die  Römer  dieses  Wort  brauchten), 
v/elche,  weil  sie  doch  keinen  koalisierten  Teil  des  Reichs  (imperii) 
als  Sitz  von  MitbĂĽrgern,  sondern  nur  eine  Besitzung  desselben 
als  eines  Untertanes  ausmacht,  den  Boden  des  herrschenden 
Staats  als  Mutterland  (regio  domind)  verehren  muĂź. 

i)  Der  Untertan  (auch  als  BĂĽrger  betrachtet)  hat  das  Recht 
der  Auswanderung;  denn  der  Staat  könnte  ihn  nicht  als  sein 
Eigentum  zurĂĽckhalten.  Doch  kann  er  nur  seine  fahrende,  nicht 
die  liegende  Habe  mit  herausnehmen,  welches  alsdann  doch  ge- 
schehen wĂĽrde,  wenn  er  seinen  bisher  besessenen  Boden  zu  ver- 
kaufen und  das  Geld  dafür  mit  sich   zu  nehmen  befugt  wäre. 

Kants  Schriften.    Bd.  VII.  lo 


1^6  Rechts  lehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

2)  Der  Landesherr  hat  das  Recht  der  BegĂĽnstigung  der 
Einwanderung  und  Ansiedelung  Fremder  (Kolonisten),  obgleich 
seine  Landeskinder  dazu  scheel  sehen  möchten;  wenn  ihnen  nur 
nicht   das   Privateigentum   derselben   am   Boden   gekĂĽrzt  wird. 

3)  Ebenderselbe  hat  auch  im  Falle  eines  Verbrechens  des 
Untertans,  welches  alle  Gemeinschaft  der  MitbĂĽrger  mit  ihm  fĂĽr 
den  Staat  verderblich  macht,  das  Recht  der  Verbannung  in  eine 
Provinz  im  Auslande,  wo  er  keiner  Rechte  eines  BĂĽrgers  teilhaftig 
wird,  d.   i.   zur   Deportation. 

4)  Auch  das  der  Landesverweisung  ĂĽberhaupt  (jus  exiJ/i), 
ihn  in  die  weite  Welt,  d.  i.  ins  Ausland  ĂĽberhaupt  (in  der  alt- 
deutschen Sprache  Elend  genannt),  zu  schicken;  welches,  weil 
der  Landesherr  ihm  nun  allen  Schutz  entzieht,  so  viel  bedeutet, 
als   ihn   innerhalb   seinen   Grenzen  vogelfrei  zu  machen. 


§  51- 

Die  drei  Gewalten  im  Staat,  die  aus  dem  Begriff  eines  ge- 
meinen Wesens  ĂĽberhaupt  (res  publica  latius  dictd)  hervorgehen, 
sind  nur  so  viel  Verhältnisse  des  vereinigten,  a  priori  aus  der  Ver- 
nunft abstammenden  Volkswillens  und  eine  reine  Idee  von  einem 
Staatsoberhaupt,  welche  objektive  praktische  Realität  hat.  Dieses 
Oberhaupt  (der  Souverän)  aber  ist  sofern  nur  ein  (das  gesamte 
Volk  vorstellendes)  Gedankending,  als  es  noch  an  einer  physi- 
schen Person  mangelt,  welche  die  höchste  Staatsgewalt  vorstellt 
und  dieser  Idee  Wirksamkeit  auf  den  Volkswillen  verschafft.  Das 
Verhältnis  der  ersteren  zum  letzteren  ist  nun  auf  dreierlei  ver- 
schiedene Art  denkbar:  entweder  daĂź  einer  im  Staate  ĂĽber  alle, 
oder  daĂź  einige,  die  einander  gleich  sind,  vereinigt,  ĂĽber  alle 
andere,  oder  daĂź  alle  zusammen  ĂĽber  einen  jeden,  mithin  auch 
ĂĽber  sich  selbst  gebieten,  d.  i.  die  Staatsform  ist  entweder  auto- 
kratisch, oder  aristokratisch,  oder  demokratisch.  (Der 
Ausdruck  monarchisch  statt  autokratisch  ist  nicht  dem  Begriffe, 
den  man  hier  will,  angemessen;  denn  Monarch  ist  der,  welcher 
die  höchste,  Autokrator  aber  oder  Selbstherrscher  der, 
welcher  alle  Gewalt  hat;  dieser  ist  der  Souverän,  jener  repräsentiert 
ihn  bloß).  —  Man  wird  leicht  gewahr,  daß  die  autokratische 
Staatsform  die  einfachste  sei,  nämlich  von  Einem  (dem  Könige) 
zum  Volke,  mithin  wo   nur   Einer   der  Gesetzgeber  ist.    Die  aristo- 


/.  Abschnitt,    Das  Staatsrecht  147 

kratische  ist  schon  aus  zwei  Verhältnissen  zusammengesetzt: 
nämlich  dem  der  Vornehmen  (aJs  Gesetzgeber)  zu  einander,  um 
den  Souverän  zu  machen,  und  dann  dem  dieses  Souveräns  zum 
Volk;  die  demokratische  aber  die  allerzusammengesetzteste,  nämlich 
den  Willen  aller  zuerst  zu  vereinigen,  um  daraus  ein  Volk,  dann 
den  der  StaatsbĂĽrger,  um  ein  gemeines  Wesen  zu  bilden,  und 
dann  diesem  gemeinen  Wesen  den  Souverän,  der  dieser  vereinigte 
Wille  selbst  ist,  vorzusetzen.')  Was  die  Handhabung  des  Rechts 
im  Staat  betrifft,  so  ist  freilich  die  einfachste  auch  zugleich  die 
beste,  aber,  was  das  Recht  selbst  anlangt,  die  gefährhchste  fürs 
Volk  in  Betracht  des  Despotismus,  zu  dem  sie  so  sehr  einladet. 
Das  Simplifizieren  ist  zwar  im  Maschinenwerk  der  Vereinigung 
des  Volks  durch  Zwangsgesetze  die  vernĂĽnftige  Maxime:  wenn 
nämlich  alle  im  Volk  passiv  sind  und  Einem,  der  über  sie  ist, 
gehorchen;  aber  das  gibt  keine  Untertanen  als  StaatsbĂĽrger. 
Was  die  Vertröstung,  womit  sich  das  Volk  befriedigen  soll,  be- 
trifft, daß  nämlich  die  Monarchie  (eigentlich  hier  Autokratie)  die 
beste  Staatsverfassung  sei,  wenn  der  Monarch  gut  ist  (d.  i. 
nicht  bloĂź  den  Willen,  sondern  auch  die  Einsicht  dazu  hat):  ge- 
hört zu  den  tautologischen  Weisheitssprüchen  und  sagt  nichts  mehr 
als:  die  beste  Verfassung  ist  die,  durch  welche  der  Staats- 
verwalter zum  besten  Regenten  gemacht  wird,  d.  i.  diejenige, 
welche  die  beste  ist. 

§  5^- 

Der  Geschichtsurkunde  dieses  Mechanismus  nachzuspĂĽren, 
ist  vergeblich,  d.  i.  man  kann  zum  Zeitpunkt  des  Anfangs  der 
bĂĽrgerlichen  Gesellschaft  nicht  herauslangen  (denn  die  Wilden 
errichten  kein  Instrument  ihrer  Unterwerfung  unter  das  Gesetz, 
und  es  ist  auch  schon  aus  der  Natur  roher  Menschen  abzunehmen, 
daĂź  sie  es  mit  der  Gewalt  angefangen  haben  werden).  Diese 
Nachforschung  aber  in  der  Absicht  anzustellen,  um  allenfalls  die 
jetzt  bestehende  Verfassung  mit  Gewalt  abzuändern,  ist  sträflich. 
Denn  diese  Umänderung    müßte  durchs  Volk,    welches  sich  dazu 


*)  Von  der  Verfälschung  dieser  Formen  durch  sich  eindringende 
unbefiigte  Machthaber  (der  Oligarchie  und  Ochlokratie),  imgleichen 
den  sogenannten  gemischten  Staatsverfassungen  erwähne  ich  hier 
nichts,  weil  es  zu  weit  fuhren  wĂĽrde. 


10* 


148  Rechts! ehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

rottierte,  also  nicht  durch  die  Gesetzgebung,  geschehen;  Meuterei 
aber  in  einer  schon  bestehenden  Verfassung  ist  ein  Umsturz  aller 
bürgerlich-rechtlichen  Verhältnisse,  mithin  alles  Rechts,  d.  i,  nicht 
Veränderung  der  bürgerlichen  Verfassung,  sondern  Auflösung  der- 
selben, und  dann  der  Ăśbergang  in  die  bessere,  nicht  Metamorphose, 
sondern  Palingenesie,  welche  einen  neuen  gesellschaftlichen  Vertrag 
erfordert,  auf  den  der  vorige  (nun  autgehobene)  keinen  EinfluĂź 
hat.  —  Es  muß  aber  dem  Souverän  doch  möglich  sein,  die  be- 
stehende Staatsverfassung  zu  ändern,  wenn  sie  mit  der  Idee  des 
ursprĂĽnglichen  Vertrags  nicht  wohl  vereinbar  ist,  und  hiebei  doch 
diejenige  Form  bestehen  zu  lassen,  die  dazu,  daĂź  das  Volk  einen 
Staat  ausmache,  wesentlich  gehöret.  Diese  Veränderung  kann  nun 
nicht  darin  bestehen,  daĂź  der  Staat  sich  von  einer  dieser  drei 
Formen  zu  einer  der  beiden  anderen  selbst  konstituiert,  z.  B.  daĂź 
die  Aristokraten  einig  werden,  sich  einer  Autokratie  zu  unter- 
werfen, oder  in  eine  Demokratie  verschmelzen  zu  wollen,  und  so 
umgekehrt;  gleich  als  ob  es  auf  der  freien  Wahl  und  dem  Be- 
lieben des  Souveräns  beruhe,  welcher  Verfassung  er  das  Volk 
unterwerfen  wolle.  Denn  selbst  dann,  wenn  er  sich  zu  einer 
Demokratie  umzuändern  beschlösse,  würde  er  doch  dem  Volk  un- 
recht tun  können,  weil  es  selbst  diese  Verfassung  verabscheuen 
könnte  und  eine  der  zwei  übrigen  für  sich  zuträglicher  fände. 
Die  Staatsformen  sind  nur  der  Buchstabe  Qittcra)  der  ur- 
sprĂĽnglichen Gesetzgebung  im  bĂĽrgerlichen  Zustande,  und  sie 
mögen  also  bleiben,  so  lange  sie,  als  zum  Maschinenwesen  der 
Staatsverfassung  gehörend,  durch  alte  und  lange  Gewohnheit  (also 
nur  subjektiv)  fĂĽr  notwendig  gehalten  werden.  Aber  der  Geist 
jenes  ursprünglichen  Vertrages  (anjma  pacti  originarii)  enthält  die 
Verbindlichkeit  der  konstituierenden  Gewalt,  die  Regierungsar t 
jener  Idee  angemessen  zu  machen  und  so  sie,  wenn  es  nicht  auf 
einmal  geschehen  kann,  allmählich  und  kontinuierlich  dahin  zu 
verändern,  daß  sie  mit  der  einzig  rechtmäßigen  Verfassung,  näm- 
lich der  einer  reinen  Republik,  ihrer  Wirkung  nach  zusammen- 
stimme, und  jene  alte  empirische  (statutarische)  Formen,  welche 
bloß  die  Untertänigkeit  des  Volks  zu  bewirken  dienten,  sich 
in  die  ursprüngliche  (rationale)  auflösen,  welche  allein  die  Freiheit 
zum  Prinzip,  ja  zur  Bedingung  alles  Zwanges  macht,  der  zu  einer 
rechtlichen  Verfassung  im  eigentlichen  Sinne  des  Staats  erforderlich 
ist  und  dahin  auch  dem  Buchstaben  nach  endlich  führen  wird.  — 
Dies    ist    die    einzige    bleibende   Staatsverfassung,    wo   das   Gesetz 


1.  Abschnitt.    Das  Staatsrecht  149 

selbstherrschend  ist  und  an  keiner  besonderen  Person  hängt;  der 
letzte  Zweck  alles  öffentlichen  Rechts,  der  Zustand,  in  welchem 
allein  jedem  das  Seine  peremtorisch  zugeteilt  werden  kann; 
indessen  daĂź,  solange  jene  Staatsformen  dem  Buchstaben  nach 
ebenso  viel  verschiedene  mit  der  obersten  Gewalt  bekleidete  mo- 
ralische Personen  vorstellen  sollen,  nur  ein  provisorisches 
inneres  Recht  und  kein  absolut-rechtlicher  Zustand  der  bĂĽrger- 
lichen  Gesellschaft  zugestanden  werden  kann. 

Alle  wahre  Republik  aber  ist  und  kann  nichts  anders  sein, 
als  ein  repräsentatives  System  des  Volks,  um  im  Namen  des- 
selben, durch  alle  StaatsbĂĽrger  vereinigt,  vermittelst  ihrer  Ab- 
geordneten (Deputierten)  ihre  Rechte  zu  besorgen.  Sobald  aber 
ein  Staatsoberhaupt  der  Person  nach  (es  mag  sein  König,  Adel- 
stand, oder  die  ganze  Volkszahl,  der  demokratische  Verein)  sich 
auch  repräsentieren  läßt,  so  repräsentiert  das  vereinigte  Volk 
nicht  bloß  den  Souverän,  sondern  es  ist  dieser  selbst;  denn  in 
ihm  (dem  Volk)  befindet  sich  ursprĂĽnglich  die  oberste  Gewalt, 
von  der  alle  Rechte  der  einzelnen,  als  bloĂźer  Untertanen  (allen- 
falls als  Staatsbeamten),  abgeleitet  werden  mĂĽssen,  und  die  nun- 
mehr errichtete  Republik  hat  nun  nicht  mehr  nötig,  die  Zügel 
der  Regierung  aus  den  Händen  zu  lassen  und  sie  denen  wieder 
zu  ĂĽbergeben,  die  sie  vorher  gefĂĽhrt  hatten,  und  die  nun  alle 
neue    Anordnungen    durch    absolute    WillkĂĽr    wieder    vernichten 

könnten. 

Es  war  also  ein  groĂźer  Fehltritt  der  Urteilskraft  eines 
mächtigen  Beherrschers  zu  unserer  Zeit,  sich  aus  der  Ver- 
legenheit wegen  groĂźer  Staatsschulden  dadurch  helfen  zu 
wollen,  daĂź  er  es  dem  Volk  ĂĽbertrug,  diese  Last  nach  dessen 
eigenem  Gutbefinden  selbst  zu  ĂĽbernehmen  und  zu  verteilen; 
da  CS  denn  natĂĽrlicherweise  nicht  allein  die  gesetzgebende 
Gewalt  in  Ansehung  der  Besteurung  der  Untertanen,  sondern 
auch  in  Ansehung  der  Regierung  in  die  Hände  bekam: 
nämlich  zu  verhindern,  daß  diese  nicht  durch  Verschwendung 
oder  Krieg  neue  Schulden  machte,  mithin  die  Herrscher- 
gewalt des  Monarchen  gänzlich  verschwand  (nicht  bloß  sus- 
pendiert wurde)  und  aufs  Volk  ĂĽberging,  dessen  gesetz- 
gebenden W^illen  nun  das  Mein  und  Dein  jedes  Untertans 
unterworfen  wurde.  Man  kann  auch  nicht  sagen:  daĂź  dabei 
ein  stillschweigendes,  aber  doch  vertragsmäßiges  Versprechen 
der  Nationalversammlung,    sich    nicht   eben   zur  Souveränität 


1 5  o  Rechts/ehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

zu  konstituieren,  sondern  nur  dieser  ihr  Geschäfte  zu  ad- 
ministrieren, nach  verrichtetem  Geschäfte  aber  die  Zügel  des 
Regiments  dem  Monarchen  wiederum  in  seine  Hände  zu 
ĂĽberliefern,  angenommen  werden  mĂĽsse;  denn  ein  solcher 
Vertrag  ist  an  sich  selbst  null  und  nichtig.  Das  Recht  der 
obersten  Gesetzgebung  im  gemeinen  Wesen  ist  kein  ver- 
äußerliches, sondern  das  allerpersönlichste  Recht.  Wer  es 
hat,  kann  nur  durch  den  Gesamtwillen  des  Volks  ĂĽber  das 
Volk,  aber  nicht  ĂĽber  den  Gesamtwillen  selbst,  der  der  Ur- 
grund aller  öffentlichen  Verträge  ist,  disponieren.  Ein  Ver- 
trag, der  das  Volk  verpflichtete,  seine  Gewalt  wiederum 
zurĂĽckzugeben,  wĂĽrde  demselben  nicht  als  gesetzgebender 
Macht  zustehen  und  doch  das  Volk  verbinden,  welches  nach 
dem  Satze:  Niemand  kann  zweien  Herren  dienen,  ein  Wider- 
spruch ist. 


Des 

öffentlichen  Rechts 

Zweiter  Abschnitt. 
Das    Völkerrecht. 

§  53- 

Die  Menschen,  welche  ein  Volk  ausmachen,  können  als  Landes- 
eingcborne  nach  der  Analogie  der  Erzeugung  von  einem  gemein- 
schaftlichen Eiternstamm  {congen'tti^  vorgestellt  werden,  ob  sie 
es  gleich  nicht  sind:  dennoch  aber  in  intellektueller  und  recht- 
licher Bedeutung,  als  von  einer  gemeinschaftlichen  Mutter  (der 
Republik)  geboren,  gleichsam  eine  Familie  (^gens,  tiatio)  ausmachen, 
deren  Glieder  (StaatsbĂĽrger)  alle  ebenbĂĽrtig  sind  und  mit  denen, 
die  neben  ihnen  im  Naturzustande  leben  möchten,  als  unedlen 
keine  Vermischung  eingehen,  obgleich  diese  (die  Wilden)  ihrer- 
seits sich  wiederum  wegen  der  gesetzlosen  Freiheit,  die  sie  gewählt 
haben,  vornehmer  dünken,  die  gleichfalls  Völkerschaften,  aber  nicht 
Staaten  ausmachen.  Das  Recht  der  Staaten  in  Verhältnis  zu- 
einander [welches   nicht  ganz  richtig   im  Deutschen    das  Völker- 


2.  Abschnitt.    Das   Völkerrecht  1 5 1 

recht  genannt  wird,  sondern  vielmehr  das  Staatenrecht  (Jus  publi- 
cum civitatutn)  heiĂźen  sollte]  ist  nun  dasjenige,  was  wir  unter 
dem  Namen  des  Völkerrechts  zu  betrachten  haben:  wo  ein  Staat, 
als  eine  moralische  Person,  gegen  einen  anderen  im  Zustande  der 
natürlichen  Freiheit,  folglich  auch  dem  des  beständigen  Krieges 
betrachtet,  teils  das  Recht  zum  Kriege,  teils  das  im  Kriege,  teils 
das,  einander  zu  nötigen,  aus  diesem  Kriegszustande  herauszugehen, 
mithin  eine  den  beharrlichen  Frieden  grĂĽndende  Verfassung,  d.  i. 
das  Recht  nach  dem  Kriege,  zur  Aufgabe  macht,  und  fĂĽhrt 
nur  das  Unterscheidende  von  dem  des  Naturzustandes  einzelner 
Menschen  oder  Familien  (im  Verhältnis  gegeneinander)  von  dem 
der  Völker  bei  sich,  daß  im  Völkerrecht  nicht  bloß  ein  Verhältnis 
eines  Staats  gegen  den  anderen  im  Ganzen,  sondern  auch  einzelner 
Personen  des  einen  gegen  einzelne  des  anderen,  imgleichen  gegen 
den  ganzen  anderen  Staat  selbst  in  Betrachtung  kommt;  welcher 
Unterschied  aber  vom  Recht  einzelner  im  bloßen  Naturzustände 
nur  solcher  Bestimmungen  bedarf,  die  sich  aus  dem  Begriffe  des 
letzteren  leicht  folgern  lassen. 


§  54- 

Die  Elemente  des  Völkerrechts  sind:  i)  daß  Staaten,  im 
äußeren  Verhältnis  gegeneinander  betrachtet,  (wie  gesetzlose  Wilde) 
von  Natur  in  einem  nicht-rechtlichen  Zustande  sind;  2)  daĂź  dieser 
Zustand  ein  Zustand  des  Krieges  (des  Rechts  des  Stärkeren), 
wenn  gleich  nicht  wirklicher  Krieg  und  immerwährende  wirkliche 
Befehdung  (Hostilität)  ist,  welche  (indem  sie  es  beide  nicht  besser 
haben  wollen),  obzwar  dadurch  keinem  von  dem  anderen  unrecht 
geschieht,  doch  an  sich  selbst  im  höchsten  Grade  unrecht  ist,  und 
aus  welchem  die  Staaten,  welche  einander  benachbart  sind,  aus- 
zugehen verbunden  sind;  3)  daß  ein  Völkerbund  nach  der  Idee 
eines  ursprĂĽngHchen  gesellschaftlichen  Vertrages  notwendig  ist,  sich 
zwar  einander  nicht  in  die  einheimische  MiĂźhelligkeiten  derselben 
zu  mischen,  aber  doch  gegen  Angriffe  der  äußeren  zu  schützen; 
4)  daß  die  Verbindung  doch  keine  souveräne  Gewalt  (wie  in 
einer  bĂĽrgerlichen  Verfassung),  sondern  nur  eine  Genossenschaft 
(Föderalität)  enthalten  müsse;  eine  Verbündung,  die  zu  aller  Zeit 
aufgekĂĽndigt  werden  kann,  mithin  von  Zeit  zu  Zeit  erneuert 
werden    muß,  —  ein  Recht   in  subsidium    eines    anderen   und   ur- 


1 5  2  Recht  sichre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

sprĂĽnglichen  Rechts,  den  Verfall  in  den  Zustand  des  wirklichen 
Krieges  derselben  untereinander  von  sich  abzuwehren  (^foeäus 
Amphictyonuftj^ . 

§  55- 

Bei  jenem  ursprĂĽnglichen  Rechte  zum  Kriege  freier  Staaten 
gegeneinander  im  Naturzustande  (um  etwa  einen  dem  rechtlichen 
sich  annähernden  Zustand  zu  stiften)  erhebt  sich  zuerst  die  Frage: 
welches  Recht  hat  der  Staat  gegen  seine  eigene  Untertanen 
sie  zum  Kriege  gegen  andere  Staaten  zu  brauchen,  ihre  GĂĽter,  ja 
ihr  Leben  dabei  aufzuwenden,  oder  aufs  Spiel  zu  setzen;  so  daĂź 
es  nicht  von  dieser  ihrem  eigenen  Urteil  abhängt,  ob  sie  in  den 
Krieg  ziehen  wollen  oder  nicht,  sondern  der  Oberbefehl  des 
Souveräns  sie  hineinschicken  darf? 

Dieses  Recht  scheint  sich  leicht  dartun  zu  lassen;  nämlich  aus 
dem  Rechte  mit  dem  Seinen  (Eigentum)  zu  tun,  was  man  will. 
Was  jemand  aber  der  Substanz  nach  selbst  gemacht  hat,  davon 
hat  er  ein  unbestrittenes  Eigentum.  —  Hier  ist  also  die  Deduktion, 
so  wie  sie  ein  bloĂźer  Jurist  abfassen  wĂĽrde. 

Es  gibt  mancherlei  Naturprodukte  in  einem  Lande,  die 
doch,  was  die  Menge  derselben  von  einer  gewissen  Art  betrifft, 
zugleich  als  Gemächsel  {arte facta)  des  Staats  angesehen  werden 
mĂĽssen,  weil  das  Land  sie  in  solcher  Menge  nicht  liefern  wĂĽrde, 
wenn  es  nicht  einen  Staat  und  eine  ordentliche  machthabende 
Regierung  gäbe,  sondern  die  Bewohner  im  Stande  der  Natur 
wären.  —  Haushühner  (die  nützlichste  Art  des  Geflügels),  Schafe, 
Schweine,  das  Rindergeschlecht  u.  a.  m.  wĂĽrden  entweder  aus 
Mangel  an  Futter,  oder  der  Raubtiere  wegen  in  dem  Lande,  wo 
ich  lebe,  entweder  gar  nicht,  oder  höchst  sparsam  anzutreffen  sein, 
wenn  es  darin  nicht  eine  Regierung  gäbe,  welche  den  Einwohnern 
ihren  Erwerb  und  Besitz  sicherte.  —  Eben  das  gilt  auch  von  der 
Menschenzabl,  die  ebenso  wie  in  den  amerikanischen  WĂĽsten,  ja 
selbst  dann,  wenn  man  diesen  den  größten  Fleiß  (den  jene  nicht 
haben)  beilegte,  nur  gering  sein  kann.  Die  Einwohner  wĂĽrden  nur 
sehr  dünn  gesäet  sein,  weil  keiner  derselben  sich  mitsamt  seinem 
Gesinde  auf  einem  Boden  weit  verbreiten  könnte,  der  immer  in 
Gefahr  ist,  von  Menschen  oder  Wilden  und  Raubtieren  verwĂĽstet 
zu  werden;  mithin  sich  fĂĽr  eine  so  groĂźe  Menge  von  Menschen, 
als  jetzt  auf  einem  Lande  leben,  kein  hinlänglicher  Unterhalt  finden 


2,  Abschnitt.    Das   Völkerrecht  1 5  j 

würde. So  wie    man  nun  von  Gewächsen  (z.  B.  den  Kar- 

toiFeln)  und  von  Haustieren,  weil  sie,  was  die  Menge  betrifft,  ein 
Machwerk  der  Menschen  sind,  sagen  kann,  daĂź  man  sie  ge- 
brauchen, verbrauchen  und  verzehren  (töten  lassen)  kann:  so, 
scheint  es,  könne  man  auch  von  der  obersten  Gewalt  im  Staat, 
dem  Souverän,  sagen,  er  habe  das  Recht,  seine  Untertanen,  die 
dem  größten  Teil  nach  sein  eigenes  Produkt  sind,  in  den  Krieg 
wie  auf  eine  Jagd  und  zu  einer  Feldschlacht  wie  auf  eine  Lust- 
partie zu  fĂĽhren. 

Dieser  Rechtsgrund  aber  (der  vermutlich  den  Monarchen  auch 
dunkel  vorschweben  mag)  gilt  zwar  freihch  in  Ansehung  der 
Tiere,  die  ein  Eigentum  des  Menschen  sein  können,  will  sich 
aber  doch  schlechterdings  nicht  auf  den  Menschen,  vornehmlich 
als  StaatsbĂĽrger,  anwenden  lassen,  der  im  Staat  immer  als  mit- 
gesetzgebendes Glied  betrachtet  werden  muĂź  (nicht  bloĂź  als  Mittel, 
sondern  auch  zugleich  als  Zweck  an  sich  selbst),  und  der  also 
zum  KriegfĂĽhren  nicht  alkin  ĂĽberhaupt,  sondern  auch  zu  jeder 
besundern  Kriegserklärung  vermittelst  seiner  Repräsentanten  seine 
freie  Beistimmung  geben  muß,  unter  welcher  einschränkenden  Be- 
dingung allein  der  Staat  ĂĽber  seinen  gefahrvollen  Dienst  dispo- 
nieren kann. 

Wir  werden  also  wohl  dieses  Recht  von  der  Pflicht  des 
Souveräns  gegen  das  Volk  (nicht  umgekehrt)  abzuleiten  haben; 
wobei  dieses  dafĂĽr  angesehen  werden  muĂź,  daĂź  es  seine  Stimme 
dazu  gegeben  habe,  in  welcher  Qualität  es,  obzwar  passiv  (mit 
sich  machen  läßt),  doch  auch  selbsttätig  ist  und  den  Souverän 
selbst  vorstellt. 

§  5Ö. 

Im  natĂĽrlichen  Zustande  der  Staaten  ist  das  Recht  zum 
Kriege  (zu  Hostilitäten)  die  erlaubte  Art,  wodurch  ein  Staat  sein 
Recht  gegen  einen  anderen  Staat  verfolgt.,  nämlich,  wenn  er  von 
diesem  sich  lädiert  glaubt,  durch  eigene  Gewalt:  weil  es  durch 
einen  ProzeĂź  (als  durch  den  allein  die  Zwistigkeiten  im  recht- 
lichen Zustande  ausgeglichen  werden)  in  jenem  Zustande  nicht 
geschehen  kann.  —  Außer  der  tätigen  Verletzung  (der  ersten  Ag- 
gression, welche  von  der  ersten  Hostüität  unterschieden  ist)  ist  es 
die  Bedrohung.  Hiezu  gehört  entweder  eine  zuerst  vorgenommene 
ZurĂĽstung,    worauf   sich    das  Recht   des  Zuvorkommens  {jus 


1 5  4  Rechts/ehre.    2.  Teil.    Das  öjf entliehe  Recht 

praeventionis)  grĂĽndet,  oder  auch  bloĂź  die  fĂĽrchterlich  (durch 
Ländererwerbung)  anwachsende  Macht  (^potentia  tremendd)  eines 
anderen  Staats.  Diese  ist  eine  Läsion  des  Mindermächtigcn  bloß 
durch  den  Zustand  vor  aller  Tat  des  Übermächtigen,  und 
im  Naturzustände  ist  dieser  Angriff  allerdings  rechtmäßig.  Hierauf 
grĂĽndet  sich  also  das  Recht  des  Gleichgewichts  aller  einander 
tätig   berührenden   Staaten. 

Was  die  tätige  Verletzung  betrifft,  die  ein  Recht  zum 
Kriege  gibt,  so  gehört  dazu  die  sclbstgenommene  Genugtuung 
fĂĽr  die  Beleidigung  des  einen  Volks  durch  das  Volk  des  anderen 
Staats,  die  Wieder  Vergeltung  (retorsio),  ohne  eine  Erstattung 
(durch  friedliche  Wege)  bei  dem  anderen  Staate  zu  suchen,  wo- 
mit der  Förmlichkeit  nach  der  Ausbruch  des  Krieges  ohne  vor- 
hergehende AufkĂĽndigung  des  Friedens  (KriegsankĂĽndigung) 
eine  Ă„hnlichkeit  hat:  weil,  wenn  man  einmal  ein  Recht  im 
Kriegszustände  finden  will,  etwas  Analogisches  mit  einem  Vertrag 
angenommen  werden  muß,  nämlich  Annahme  der  Erklärung  des 
anderen  Teils,  daĂź   beide  ihr  Recht  auf  diese  Art  suchen  wollen. 


§  57- 

Das  Recht  im  Kriege  ist  gerade  das  im  Völkenccht,  wobei 
die  meiste  Schwierigkeit  ist,  um  sich  auch  nur  einen  Begriff  davon 
zu  machen  und  ein  Gesetz  in  diesem  gesetzlosen  Zustande  zu 
denken  (jtiter  arma  silent  leges\  ohne  sich  selbst  zu  widersprechen; 
es  mĂĽĂźte  denn  dasjenige  sein:  den  Krieg  nach  solchen  Grund- 
sätzen zu  führen,  nach  welchen  es  immer  noch  möglich  bleibt, 
aus  jenem  Naturzustande  der  Staaten  (im  äußeren  Verhältnis  gegen- 
einander)  herauszugehen   und  in  einen  rechtlichen  zu  treten. 

Kein  Krieg  unabhängiger  Staaten  gegeneinander  kann  ein 
Straf  krieg  (bellum  punitivum)  sein.  Denn  Strafe  findet  nur  im 
Verhältnisse  eines  Obern  {imperantis)  gegen  den  Unterworfenen 
{subdituiii)  statt,  welches  Verhältnis  nicht  das  der  Staaten  gegen- 
einander ist:  —  Aber  auch  weder  ein  Ausrottungs-  (bellum 
interuecinum^  noch  Unterjochungskrieg  (bellum  subiugatorium), 
der  eine  moralische  Vertilgung  eines  Staats  (dessen  Volk  nun  mit 
dem  des  Ubcrwinders  entweder  in  eine  Masse  verschmelzt,  oder 
in  Knechtschaft  verfällt)  sein  würde.  Nicht  als  ob  dieses  Not- 
mittel  des   Staats  zum  Friedenszustande    zu    gelangen    an    sich   dem 


2,  Abschnitt .    Das  Völkerrecht  1 5  5 

Rechte  eines  Staats  widerspräche,  sondern  weil  die  Idee  des 
Völkerrechts  bloß  den  Begriff  eines  Antagonismus  nach  Prinzipien 
der  äußeren  Freiheit  bei  sich  führt,  um  sich  bei  dem  Seinen  zu 
erhalten,  aber  nicht  eine  Art  zu  erwerben,  als  welche  durch  Ver- 
größerung der  Macht  des  einen  Staats  für  den  anderen  bedrohend 
sein  kann. 

Verteidigungsmittel  aller  Art  sind  dem  bekriegten  Staat  erlaubt, 
nur  nicht  solche,  deren  Gebrauch  die  Untertanen  desselben,  Staats- 
bürger zu  sein,  unfähig  machen  würde;  denn  alsdann  machte  er 
sich  selbst  zugleich  unfähig  im  Staatenverhältnisse  nach  dem  Völker- 
recht fĂĽr  eine  Person  zu  gelten  (die  gleicher  Rechte  mit  andern 
teilhaftig  wäre).  Darunter  gehört:  seine  eigne  Untertanen  zu 
Spionen,  diese,  ja  auch  Auswärtige  zu  Meuchelmördern,  Giftmischern 
(in  welche  Klasse  auch  wohl  die  sogenannten  ScharfschĂĽtzen, 
welche  einzelen  im  Hinterhalte  auflauern,  gehören  möchten),  oder 
auch  nur  zur  Verbreitung  falscher  Nachrichten  zu  gebrauchen; 
mit  einem  Wort,  sich  solcher  heimtĂĽckischen  Mittel  zu  bedienen, 
die  das  Vertrauen,  welches  zur  kĂĽnftigen  GrĂĽndung  eines  dauer- 
haften Friedens  erforderlich  ist,  vernichten  wĂĽrden. 

Im  Kriege  ist  es  erlaubt,  dem  überwältigten  Feinde  Lieferungen 
und  Kontribution  aufzulegen,  aber  nicht  das  Volk  zu  plĂĽndern, 
d.  i.  einzelnen  Personen  das  Ihrige  abzuzwingen  (denn  das  wäre 
Raub:  weil  nicht  das  ĂĽberwundene  Volk,  sondern  der  Staat,  unter 
dessen  Herrschaft  es  war,  durch  dasselbe  Krieg  fĂĽhrete):  sondern 
durch  Ausschreibungen  gegen  ausgestellte  Scheine,  um  bei 
nachfolgendem  Frieden  die  dem  Lande  oder  der  Provinz  aufgelegte 
Last  proportionierlich  zu  verteilen. 


§  58. 

Das  Recht  nach  dem  Kriege,  d.  i.  im  Zeitpunkte  des 
Friedensvertrags  und  in  Hinsicht  auf  die  Folgen  desselben,  besteht 
darin:  der  Sieger  macht  die  Bedingungen,  ĂĽber  die  mit  dem  Be- 
siegten ĂĽbereinzukommen  und  zum  FriedensschluĂź  zu  gelangen 
Traktaten  gepflogen  werden,  und  zwar  nicht  gemäß  irgendeinem 
vorzuschützenden  Recht,  was  ihm  wegen  der  vorgeblichen  Läsion 
seines  Gegners  zustehe,  sondern,  indem  er  diese  Frage  auf  sich 
beruhen  läßt,  sich  stützend  auf  seine  Gewalt.  Daher  kann  der 
Ăśberwinder  nicht  auF  Erstattung  der  Kriegskosten  antragen,  weil 


1 5  6  Rechtslehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

er  den  Krieg  seines  Gegners  alsdann  fĂĽr  ungerecht  ausgeben  mĂĽĂźte: 
sondern  ob  er  sich  gleich  dieses  Argument  denken  mag,  so  darf 
er  es  doch  nicht  anfĂĽhren,  weil  er  ihn  sonst  fĂĽr  einen  Bestrafungs- 
krieg erklären  und  so  wiederum  eine  Beleidigung  ausüben  würde. 
Hiezu  gehört  auch  die  (auf  keinen  Loskaut  zu  stellende)  Aus- 
wechselung der  Gefangenen,  ohne  aut  Gleichheit  der  Zahl  zu 
sehen. 

Der  ĂĽberwundene  Staat,  oder  dessen  Untertanen  verheren  durch 
die  Eroberung  des  Landes  nicht  ihre  staatsbĂĽrgerliche  Freiheit,  so 
daĂź  jener  zur  Kolonie,  diese  zu  Leibeigenen  abgewĂĽrdigt  wĂĽrden; 
denn  sonst  wäre  es  ein  Strafkrieg  gewesen,  der  an  sich  selbst 
widersprechend  ist.  —  Eine  Kolonie  oder  Provinz  ist  ein  Volk, 
das  zwar  seine  eigene  Verfassung,  Gesetzgebung,  Boden  hat,  auf 
welchem  die  zu  einem  anderen  Staat  Gehörige  nur  Fremdlinge 
sind,  der  dennoch  ĂĽber  jenes  die  oberste  ausĂĽbende  Gewalt  hat. 
Der  letztere  heiĂźt  der  Mutterstaat.  Der  Tochterstaat  wird  von 
jenem  beherrscht,  aber  doch  von  sich  selbst  (durch  sein  eigenes 
Parlament,  allenfalls  unter  dem  Vorsitz  eines  Vizekönigs)  regiert 
(civitas  hybricid).  Dergleichen  war  Athen  in  Beziehung  auf  ver- 
schiedene Inseln  und  ist  jetzt  GroĂźbritannien  in  Ansehung  Irlands. 

Noch  weniger  kann  Leibeigenschaft  und  ihre  Rechtmäßig- 
keit von  der  Überwältigung  eines  Volkes  durch  Krieg  abgeleitet 
werden,  weil  man  hiezu  einen  Strafkrieg  annehmen  mĂĽĂźte.  Am 
allerwenigsten  eine  erbliche  Leibeigenschaft,  die  ĂĽberhaupt  absurd 
ist,  weil  die  Schuld  aus  jemandes  Verbrechen  nicht  anerben  kann. 

DaĂź  mit  dem  FriedensschlĂĽsse  auch  die  Amnestie  verbunden 
sei,  liegt  schon  im  Begriffe   desselben. 


Das  Recht  des  Friedens  ist  i)  das  im  Frieden  zu  sein, 
wenn  in  der  Nachbarschaft  Krieg  ist,  oder  das  der  Neutralität; 
z)  sich  die  Fortdauer  des  geschlossenen  Friedens  zusichern  zu 
lassen,  d.  i.  das  der  Garantie;  3)  zu  wechselseitiger  Ver- 
bindung (Bundsgenossenschaft)  mehrerer  Staaten,  sich  gegen  alle 
äußere  oder  innere  etwanige  Angriffe  gemeinschaftlich  zu  ver- 
teidigen; nicht  ein  Bund  zum  Angreifen  und  innerer  Ver- 
größerung. 


2.  Abschnitt.    Das   Völkerrecht  1 5  7 

§  60. 

Das  Recht  eines  Staats  gegen  einen  ungerechten  Feind 
hat  keine  Grenzen  (wohl  zwar  der  Qualität,  aber  nicht  der  Quan- 
tität, d.  i.  dem  Grade  nach),  d.  i.  der  beeinträchtigte  Staat  darf 
sich  zwar  nicht  aller  Mittel,  aber  doch  der  an  sich  zulässigen 
in  dem  MaĂźe  bedienen,  um  das  Seine  zu  behaupten,  als  er  dazu 
Kräfte  hat.  —  Was  ist  aber  nun  nach  Begriffen  des  Völkerrechts, 
in  welchem  wie  ĂĽberhaupt  im  Naturzustande  ein  jeder  Staat  in 
seiner  eigenen  Sache  Richter  ist,  ein  ungerechter  Feind?  Es 
ist  derjenige,  dessen  öffentlich  (es  sei  wörtlich  oder  tätlich)  ge- 
äußerter Wille  eine  Maxime  verrät,  nach  welcher,  wenn  sie  zur 
allgemeinen  Regel  gemacht  wĂĽrde,  kein  Friedenszustand  unter 
Völkern  möglich,  sondern  der  Naturzustand  verewigt  werden 
müßte.  Dergleichen  ist  die  Verletzung  öffentlicher  Verträge,  von 
welcher  man  voraussetzen  kann,  daß  sie  die  Sache  aller  Völker 
betrifft,  deren  Freiheit  dadurch  bedroht  wird,  und  die  dadurch 
aufgefordert  werden,  sich  gegen  einen  solchen  Unfug  zu  vereinigen 
und  ihm  die  Macht  dazu  zu  nehmen;  —  aber  doch  auch  nicht, 
um  sich  in  sein  Land  zu  teilen,  einen  Staat  gleichsam  auf 
der  Erde  verschwinden  zu  machen;  denn  das  wäre  Ungerechtigkeit 
gegen  das  Volk,  welches  sein  ursprĂĽngliches  Recht,  sich  in  ein 
gemeines  Wesen  zu  verbinden,  nicht  verlieren  kann,  sondern  es 
eine  neue  Verfassung  annehmen  zu  lassen,  die  ihrer  Natur  nach 
der  Neigung  zum  Kriege  ungĂĽnstig  ist. 

Ăśbrigens  ist  der  Ausdruck  eines  ungerechten  Feindes  im  Natur- 
zustande pleonas tisch;  denn  der  Naturzustand  ist  selbst  ein  Zu- 
stand der  Ungerechtigkeit.  Ein  gerechter  Feind  wĂĽrde  der  sein, 
welchem  meinerseits  zu  widerstehen  ich  unrecht  tun  wĂĽrde;  dieser 
wĂĽrde  aber  alsdann  auch  nicht  mein  Feind  sein. 


§:  6\. 

Da  der  Naturzustand  der  Völker  eben  so  wohl  als  einzelner 
Menschen  ein  Zustand  ist,  aus  dem  man  herausgehen  soll,  um  m 
einen  gesetzlichen  zu  treten:  so  ist  vor  dieser  Ereignis  alles  Recht 
der  Völker  und  alles  durch  den  Krieg  erwerbliche  oder  erhaltbare 
äußere  Mein  und  Dein  der  Staaten  bloß  provisorisch  und  kann 
nur    in  einem    allgemeinen  Staatenverein  (analogisch    mit  dem. 


1 5  8  Rechts  lehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

wodurch  ein  Volk  Staat  wird)  peremtorisch  geltend  und  ein 
wahrer  Friedenszustand  werden.  Weil  aber  bei  gar  zu  groĂźer 
Ausdehnung  eines  solchen  Völkerstaats  über  weite  Landstriche  die 
Regierung  desselben,  mithin  auch  die  BeschĂĽtzung  eines  jeden 
Gliedes  endlich  unmöglich  werden  muß,  eine  Menge  solcher  Kor- 
porationen aber  wiederum  einen  Kriegszustand  herbeifĂĽhrt:  so  ist 
der  ewige  Friede  (das  letzte  Ziel  des  ganzen  Völkerrechts)  frei- 
lich eine  unausführbare  Idee.  Die  politische  Grundsätze  aber,  die 
darauf  abzwecken,  nämlich  solche  Verbindungen  der  Staaten  ein- 
zugehen, als  zur  kontinuierlichen  Annäherung  zu  demselben 
dienen,  sind  es  nicht,  sondern,  so  wie  diese  eine  auf  der  Pflicht, 
mithin  auch  auf  dem  Recht  der  Menschen  und  Staaten  gegrĂĽndete 
Aufgabe  ist,  allerdings  ausfĂĽhrbar. 

Man  kann  einen  solchen  Verein  einiger  Staaten,  um  den 
Frieden  zu  erhalten,  den  permanenten  StaatenkongreĂź  nennen, 
zu  welchem  sich  zu  gesellen  jedem  benachbarten  unbenommen 
bleibt;  dergleichen  (wenigstens  was  die  Förmlichkeiten  des  Völker- 
rechts in  Absicht  auf  Erhaltung  des  Friedens  betrifft)  in  der  ersten 
Hälfte  dieses  Jahrhunderts  in  der  Versammlung  der  Generalstaaten 
im  Haag  noch  stattfand;  wo  die  Minister  der  meisten  europäischen 
Höfe  und  selbst  der  kleinsten  Republiken  ihre  Beschwerden  über 
die  Befehdungen,  die  einem  von  dem  anderen  widerfahren  waren, 
anbrachten  und  so  sich  ganz  Europa  als  einen  einzigen  föderierten 
Staat  dachten,  den  sie  in  jener  ihren  öffentlichen  Streitigkeiten 
gleichsam  als  Schiedsrichter  annahmen,  statt  dessen  späterhin  das 
Völkerrecht  bloß  in  Büchern  übrig  geblieben,  aus  Kabinetten  aber 
verschwunden  oder  nach  schon  verĂĽbter  Gewalt  in  Form  der  De- 
duktionen  der  Dunkelheit  der  Archive  anvertrauet  worden  ist. 

Unter  einem  KongreĂź  wird  hier  aber  nur  eine  willkĂĽrliche, 
zu  aller  Zeit  ablösliche  Zusammentretung  verschiedener  Staaten, 
nicht  eine  solche  Verbindung,  welche  (so  wie  die  der  amerikani- 
schen Staaten)  auf  einer  Staatsverfassung  gegrĂĽndet  und  daher  un- 
auflöslich ist,  verstanden;  —  durch  welchen  allein  die  Idee  eines 
zu  errichtenden  öffentlichen  Rechts  der  Völker,  ihre  Streitigkeiten 
auf  zivile  Art,  gleichsam  durch  einen  ProzeĂź,  nicht  auf  barbarische 
(nach  Art  der  Wilden),  nämlich  durch  Krieg,  zu  entscheiden, 
reahsiert  werden  kann. 


j.  Abschnitt.     Das   Weltbiir gerrecht  1 5  9 

Des 

öffentlichen   Rechts 

Dritter   Abschnitt. 

Das    WeltbĂĽrgerrecht. 

§  6i. 

Diese  Vernunftidee  einer  friedlichen,  wenn  gleich  noch 
nicht  freundschaftlichen,  durchgängigen  Gemeinschaft  aller  Völker 
auf  Erden,  die  untereinander  in  wirksame  Verhältnisse  kommen 
können,  ist  nicht  etwa  philanthropisch  (ethisch),  sondern  ein 
rechtliches  Prinzip.  Die  Natur  hat  sie  alle  zusammen  (ver- 
möge der  Kugelgestalt  ihres  Aufenthalts,  als  globus  terraqueus)  in 
bestimmte  Grenzen  eingeschlossen;  und  da  der  Besitz  des  Bodens, 
worauf  der  Erdenbewohner  leben  kann,  immer  nur  als  Besitz  von 
â– einem  Teil  eines  bestimmten  Ganzen,  folglich  als  ein  solcher,  auf 
den  jeder  derselben  ursprĂĽnglich  ein  Recht  hat,  gedacht  werden 
kann:  so  stehen  alle  Völker  ursprünglich  in  einer  Gemeinschaft 
des  Bodens,  nicht  aber  der  rechtlichen  Gemeinschaft  des  Besitzes 
(communio)  und  hiemit  des  Gebrauchs,  oder  des  Eigentums  an 
demselben,  sondern  der  physischen  möglichen  Wechselwirkung 
(commercium),  d.  i.  in  einem  durchgängigen  Verhältnisse  eines  zu 
allen  anderen,  sich  zum  Verkehr  untereinander  anzubieten,  und 
haben  ein  Recht,  den  Versuch  mit  demselben  zu  machen,  ohne 
daß  der  Auswärtige  ihm  darum  als  einem  Feind  zu  begegnen  be- 
rechtigt wäre.  —  Dieses  Recht,  sofern  es  auf  die  mögliche  Ver- 
einigung aller  Völker  in  Absicht  auf  gevidsse  allgemeine  Gesetze 
ihres  möghchen  Verkehrs  geht,  kann  das  weltbürgerliche  (jus 
cosmopoliticum)  genannt  werden. 

Meere  können  Völker  aus  aller  Gemeinschaft  miteinander  zu 
setzen  scheinen,  und  dennoch  sind  sie  vermittelst  der  Schiffahrt 
gerade  die  glĂĽckhchsten  Naturanlagen  zu  ihrem  Verkehr,  welcher, 
je  mehr  es  einander  nahe  Küsten  gibt  (wie  die  des  mittelländi- 
schen), nur  desto  lebhafter  sein  kann,  deren  Besuchung  gleich- 
wohl, noch  mehr  aber  die  Niederlassung  auf  denselben,  um 
sie    mit    dem    Mutterlande    zu    verknĂĽpfen,     zugleich    die   Veran- 


i6o  Rechts  lehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

lassung  dazu  gibt,  daß  Übel  und  Gewalttätigkeit  an  einem  Orte 
unseres  Globs  an  allen  gefühlt  wird.  Dieser  mögliche  Mißbrauch 
kann  aber  das  Recht  des  ErdbĂĽrgers  nicht  aufheben,  die  Gemein- 
schaft mit  allen  zu  versuchen  und  zu  diesem  Zweck  alle  Ge- 
genden der  Erde  zu  besuchen,  wenn  es  gleich  nicht  ein  Recht 
der  Ansiedelung  auf  dem  Boden  eines  anderen  Volks  (/«y  inco- 
latus)   ist,  als   zu  welchem  ein   besonderer  Vertrag  erfordert  wird. 

Es  fragt  sich  aber:  ob  ein  Volk  in  neuentdeckten  Ländern 
eine  Anwohn ung  (accolatui)  und  Besitznehmung  in  der  Nach- 
barschaft eines  Volks,  das  in  einem  solchen  Landstriche  schon 
Platz  genommen  hat,  auch  ohne  seine  Einwilligung  unternehmen 
dürfe.    — 

Wenn  Anbauung  in  solcher  Entlegenheit  vom  Sitz  des  ersteren 
geschieht,  daĂź  keines  derselben  im  Gebrauch  seines  Bodens  dem 
anderen  Eintrag  tut,  so  ist  das  Recht  dazu  nicht  zu  bezweifeln; 
wenn  es  aber  Hirten-  oder  Jagdvöiker  sind  (wie  die  Hottentotten, 
Tungusen  und  die  meisten  amerikanischen  Nationen),  deren  Unter- 
halt von  großen  öden  Landstrecken  abhängt,  so  würde  dies  nicht 
mit  Gewalt,  sondern  nur  durch  Vertrag,  und  selbst  dieser  nicht 
mit  Benutzung  der  Unwissenheit  jener  Einwohner  in  Ansehung 
der  Abtretung  solcher  Ländereien  geschehen  können;  obzwar  die 
RechtfertigungsgrĂĽnde  scheinbar  genug  sind,  daĂź  eine  solche  Ge- 
walttätigkeit zum  Weltbesten  gereiche;  teils  durch  Kultur  roher 
Völker  (wie  der  Vorwand,  durch  den  selbst  BÜSCHING  die 
blutige  Einfuhrung  der  christlichen  Religion  in  Deutschland  ent- 
schuldigen will),  teils  zur  Reinigung  seines  eigenen  Landes  von 
verderbten  Menschen  und  gehoffter  Besserung  derselben  oder  ihrer 
Nachkommenschaft  in  einem  anderen  Weltteile  (wie  in  Neu- 
holland); denn  alle  diese  vermeintlich  gute  Absichten  können 
doch  den  Flecken  der  Ungerechtigkeit  in  den  dazu  gebrauchten 
Mitteln  nicht  abwaschen.  —  Wendet  man  hiegegen  ein:  daß  bei 
solcher  Bedenklichkeit,  mit  der  Gewalt  den  Anfang  zu  GrĂĽndung 
eines  gesetzlichen  Zustandes  zu  machen,  vielleicht  die  ganze  Erde 
noch  in  gesetzlosem  Zustande  sein  wĂĽrde:  so  kann  das  eben  so 
wenig  jene  Rechtsbedingung  aufheben,  als  der  Vorwand  der  Staats- 
revolutionisten,  daĂź  es  auch,  wenn  Verfassungen  verunartet  sind, 
dem  Volke  zustehe,  sie  mit  Gewalt  umzuformen  und  ĂĽberhaupt 
einmal  fĂĽr  allemal  ungerecht  zu  sein,  um  nachher  die  Gerechtig- 
keit desto  sicherer  zu  grĂĽnden  und  aufblĂĽhen  zu  machen. 


ß.  Abschnitt.    Das   Weltbürger  recht  i  ö  i 

BeschluĂź. 

Wenn  jemand  nicht  beweisen  kann,  daĂź  ein  Ding  ist,  so  mag 
er  versuchen  zu  beweisen,  daĂź  es  nicht  ist.  Will  es  ihm  mit 
keinem  von  beiden  gelingen  (ein  Fall,  der  oft  eintritt),  so  kann 
er  noch  fragen:  ob  es  ihn  interessiere,  das  eine  oder  das  andere 
(durch  eine  Hypothese)  anzunehmen,  und  dies  zwar  entweder 
in  theoretischer,  oder  in  praktischer  RĂĽcksicht,  d.  i.  entweder  um 
sich  bloß  ein  gewisses  Phänomen  (wie  z.  B.  für  den  Astronom 
das  des  Rückganges  und  Stillstandes  der  Planeten)  zu  erklären, 
oder  um  einen  gewissen  Zweck  zu  erreichen,  der  nun  wiederum 
entweder  pragmatisch  (bloĂźer  Kunstzweck)  oder  moralisch, 
d.  i.  ein  solcher  Zweck  sein  kann,  den  sich  zu  setzen  die  Maxime 
selbst  Pflicht  ist.  —  Es  versteht  sich  von  selbst:  daß  nicht  das 
Annehmen  (suppositio)  der  AusfĂĽhrbarkeit  jenes  Zwecks,  welches 
ein  bloĂź  theoretisches  und  dazu  noch  problematisches  Urteil  ist, 
hier  zur  Pflicht  gemacht  werde,  denn  dazu  (etwas  zu  glauben) 
gibts  keine  Verbindlichkeit;  sondern  das  Handeln  nach  der  Idee 
jenes  Zwecks,  wenn  auch  nicht  die  mindeste  theoretische  Wahr- 
scheinlichkeit da  ist,  daß  er  ausgeführt  werden  könne,  dennoch 
aber  seine  Unmöglichkeit  gleichfalls  nicht  demonstriert  werden 
kaim,  das  ist  es,  wozu  uns  eine  Pflicht  obliegt. 

Nun  spricht  die  moralisch-praktische  Vernunft  in  uns  ihr  un- 
widerstehliches Veto  aus:  Es  soll  kein  Krieg  sein;  weder  der, 
welcher  zwischen  Mir  und  Dir  im  Naturzustande,  noch  zwischen 
uns  als  Staaten,  die,  obzwar  innerlich  im  gesetzlichen,  doch  äußer- 
lich (in  Verhältnis  gegeneinander)  im  gesetzlosen  Zustande  sind;  — 
denn  das  ist  nicht  die  Art,  wie  jedermann  sein  Recht  suchen  soll. 
Also  ist  nicht  mehr  die  Frage:  ob  der  ewige  Friede  ein  Ding 
oder  Unding  sei,  und  ob  wir  uns  nicht  in  unserem  theoretischen 
Urteile  betrĂĽgen,  wenn  wir  das  erstere  annehmen,  sondern  wir 
mĂĽssen  so  handein,  als  ob  das  Ding  sei,  was  vielleicht  nicht  ist, 
auf  BegrĂĽndung  desselben  und  diejenige  Konstitution,  die  uns  dazu 
die  tauglichste  scheint  (vielleicht  den  Republikanism  aller  Staaten 
samt  und  sonders)  hinwirken,  um  ihn  herbei  zu  fĂĽhren  und  dem 
heillosen  Kriegfuhren,  worauf  als  den  Hauptzweck  bisher  alle 
Staaten  ohne  Ausnahme  ihre  innere  Anstalten  gerichtet  haben,  ein 
Ende  zu  machen.  Und  wenn  das  letztere,  was  die  Vollendung 
dieser  Absicht  betriflft,  auch  immer  ein  frommer  Wunsch  bĂĽebc, 
so  betrĂĽgen  wir    uns    doch    gewiĂź    nicht    mit    der  Annahme    der 

Kants   Schriften.    Bd.  VII.  II 


IÖ2  Rechtslehre,    i,TeÜ.  Das  öffentliche  Recht 

Maxime  dahin  unablässig  zu  wirlcen;  denn  diese  ist  Pflicht;  das 
moralische  Gesetz  aber  in  uns  selbst  fĂĽr  betrĂĽglich  anzunehmen, 
wĂĽrde  den  Abscheu  erregenden  Wunsch  hervorbringen,  lieber 
aller  Vernunft  zu  entbehren  und  sich  seinen  Grundsätzen  nach 
mit  den  ĂĽbrigen  Tierklassen  in  einen  gleichen  Mechanism  der 
Natur  geworfen  anzusehen. 

Man  kann  sagen,  daĂź  diese  allgemeine  und  fortdauernde 
Friedensstiftung  nicht  bloĂź  einen  Teil,  sondern  den  ganzen  End- 
zweck der  Rechtslehre  innerhalb  den  Grenzen  der  bloĂźen  Ver- 
nunft ausmache;  denn  der  Friedenszustand  ist  allein  der  unter  Ge- 
setzen gesicherte  Zustand  des  Mein  und  Dein  in  einer  Menge 
einander  benachbarter  Menschen,  mithin  die  in  einer  Verfassung 
zusammen  sind,  deren  Regel  aber  nicht  von  der  Erfahrung  der- 
jenigen, die  sich  bisher  am  besten  dabei  befianden  haben,  als  einer 
Norm  fĂĽr  andere,  sondern  die  durch  die  Vernunft  a  priori  von 
dem  Ideal  einer  rechdichen  Verbindung  der  Menschen  unter  öffent- 
lichen Gesetzen  ĂĽberhaupt  hergenommen  werden  muĂź,  weil  alle 
Beispiele  (als  die  nur  erläutern,  aber  nichts  beweisen  können) 
trĂĽglich  sind,  und  so  allerdings  einer  Metaphysik  bedĂĽrfen,  deren 
Notwendigkeit  diejenigen,  die  dieser  spotten_,  doch  unvorsichtiger 
Weise  selbst  zugestehen,  wenn  sie  z.  B.,  wie  sie  es  oft  tun,  sagen; 
„Die  beste  Verfassung  ist  die,  wo  nicht  die  Menschen,  sondern 
die  Gesetze  machthabend  sind."  Denn  was  kann  mehr  metaphysisch 
sublimiert  sein,  als  eben  diese  Idee,  welche  gleichwohl  nach  jener 
ihrer  eigenen  Behauptung  die  bewährteste  okjektive  Realität  hat, 
die  sich  auch  in  vorkommenden  Fällen  leicht  darstellen  läßt,  und 
welche  allein,  wenn  sie  nicht  revolutionsmäßig,  durch  einen  Sprung, 
d.  i.  durch  gewaltsame  UmstĂĽrzung  einer  bisher  bestandenen  fehler- 
haften —  (derm  da  würde  sich  zwischeninne  ein  Augenblick  der 
Vernichtung  alles  rechtlichen  Zustandes  ereignen),  sondern  durch 
allmäWichc  Reform  nach  festen  Grundsätzen  versucht  und  durch- 
geführt wird,  in  kontinuierlicher  Annäherung  zum  höchsten  poli- 
tischen  Gut,  zum  ewigen  Frieden,  hinleiten  kann. 


S.  Ahschnitt.    Das   Weltbiirgerrecht  1 6  3 


Anhang 
erläuternder  Bemerkungen  zu  den  metaphysischen  Anfangs- 
grĂĽnden der  Rechtslehre.  * 

Die  Veranlassung  zu  denselben  nehme  ich  größtenteils  von  der 
Rezension  dieses  Buchs  in  den  Götting.  Anz.  28.  Stück,  den 
18.  Februar  1797;  welche,  mit  Einsicht  und  Schärfe  der  Prüfung, 
dabei  aber  doch  auch  mit  Teilnahme  und  „der  Hoffnung,  daß 
jene  AnfangsgrĂĽnde  Gewinn  fĂĽr  die  Wissenschaft  bleiben  werden," 
abgefaĂźt,  ich  hier  zum  Leitfaden  der  Beurteilung,  ĂĽber  dem  auch 
einiger  Erweiterung  dieses  Systems  gebrauchen  will. 


Gleich  beim  Anfange  der  Einleitung  in  die  Rechtslehre  stößt 
sich  mein  scharfprüfender  Rezensent  an  einer  Definition.  —  Was 
heißt  Begehrungs vermögen?  Sie  ist,  sagt  der  Text,  das  Ver- 
mögen, durch  seine  Vorstellungen  Ursache  der  Gegenstände  dieser 
Vorstellungen  zu  sein.  —  Dieser  Erklärung  wird  entgegengesetzt: 
„daß  sie  nichts  wird,  sobald  man  von  äußeren  Bedingungen  der 
Folge  des  Begehrens  abstrahiert.  —  Das  Begehrungsvermögen  ist 
aber  auch  dem  Idealisten  Etwas,  obgleich  diesem  die  AuĂźenwelt 
nichts  ist."  Antwort:  Gibt  es  aber  nicht  auch  eine  heftige  und 
doch  zugleich  mit  BewuĂźtsein  vergebliche  Sehnsucht  (z.  B.  wollte 
Gott,  jener  Mann  lebte  noch!),  die  zwar  tatleer,  aber  doch 
nicht  folgeleer  ist  und  zwar  nicht  an  AuĂźendingen,  aber  doch 
im  Innern  des  Subjekts  selbst  mächtig  wirkt  (krank  macht).  Eine 
Begierde  als  Bestreben  (jiisus)  vermittelst  seiner  Vorstellungen 
Ursache  zu  sein,  ist,  wenn  das  Subjekt  gleich  die  Unzulänglichkeit 
der  letzteren  zur  beabsichtigten  Wirkung  einsieht,  doch  immer 
Kausahtät,  wenigstens  im  Innern  desselben.  —  Was  hier  den  Miß- 
verstand ausmacht,  ist:  daß,  da  das  Bewußtsein  seines  Vermögens 
ĂĽberhaupt  (in  dem  genannten  Falle)  zugleich  das  BewuĂźtsein 
seines  Unvermögens  in  Ansehung  der  Außenwelt  ist,  die  Defi- 
nition auf  den  Idealisten  nicht  anwendbar  ist;  indessen  daĂź  doch, 
da  hier  bloß  von  dem  Verhältnisse  einer  Ursache  (der  Vor- 
stellung) zur  Wirkung  (dem  GefĂĽhl)  ĂĽberhaupt  die  Rede  ist,  die 


II* 


1 64  Rechts Ichfc.     2.  Teil.   Das  öffentliche  Recht 

Kausalität  der  Vorstellung  (jene  mag  äußerlich  oder  innerlich  sein) 
in  Ansehung  ihres  Gegenstandes  im  Begriff  des  Begehrungsver- 
vermögens  unvermeidlich  gedacht  werden   muß. 


I. 

Logische  Vorbereitung  zu  einem  neuerdings  gewagten 

Rechtsbegriffe. 

Wenn  rechtskundige  Philosophen  sich  zu  den  metaphysischen 
AnfangsgrĂĽnden  der  Rechtslehre  erheben  oder  versteigen  wollen 
(ohne  welche  alle  ihre  Rechtswissenschaft  bloĂź  statutarisch  sein 
würde),  so  können  sie  über  die  Sicherung  der  Vollständigkeit 
ihrer  Einteilung  der  Rechtsbegriffe  nicht  gleichgĂĽltig  wegsehen: 
weil  jene  V/issenschaft  sonst  kein  Vernunftsystem,  sondern  bloĂź 
aufgerafftes  Aggregat  sein  würde.  —  Die  Topik  der  Prinzipien 
muß  der  Form  des  Systems  halber  vollständig  sein,  d.  i.  es  muß 
der  Platz  zu  einem  Begriff  (/öf«/  communis^  angezeigt  werden,  der 
nach  der  synthetischen  Form  der  Einteilung  fĂĽr  diesen  Begriff  offen 
ist:  man  mag  nachher  auch  dartun,  daĂź  einer  oder  der  andere 
Begriff,  der  in  diesen  Platz  gesetzt  wĂĽrde,  an  sich  widersprechend 
sei   und  aus   diesem  Platze  wegfalle. 

Die  Rechtslehrer  haben  bisher  nun  zwei  Gemeinplätze  besetzt: 
den  des  dinglichen  und  den  des  persönlichen  Rechts.  Es  ist 
natürlich,  zu  fragen:  ob  auch,  da  noch  zw^ei  Plätze  aus  der  bloßen 
Form  der  Verbindung  beider  zu  einem  Begriffe,  als  Glieder  der 
Einteilung  a  priori,  offen  stehen,  nämlich  der  eines  auf  persön- 
liche Art  dinglichen,  imgleichen  der  eines  auf  dingliche  Art  per- 
sönlichen Rechts,  ob  nämlich  ein  solcher  neuhinzukommender 
Begriff  auch  statthaft  sei  und  vor  der  Hand,  obzwar  nur  proble- 
matisch, in  der  vollständigen  Tafel  der  Einteilung  angetroffen 
werden  mĂĽsse.  Das  letztere  leidet  keinen  Zw^eifel.  Denn  die 
bloß  logische  Einteilung  (die  vom  Inhalt  der  Erkenntnis  —  dem 
Objekt  —  abstrahiert)  ist  immer  Dichotomie,  z.  B.  ein  jedes 
Recht  ist  entweder  ein  dingliches  oder  ein  nicht-dingliches  Recht. 
Diejenige  aber,  von  der  hier  die  Rede  ist,  nämlich  die  meta- 
physische Einteilung,  kann  auch  Tetrachotomie  sein:  weil  auĂźer 
den  zwei  einfachen  Gliedern  der  Einteilung  noch  zwei  Verhält- 
nisse,   nämlich    die    der    das  Recht   einschränkenden  Bedingungen, 


:?.  Abschnitt.    Das   WeltbĂĽrgerrecht  165 

hinzukommen,  unter  denen  das  eine  Recht  mit  dem  anderen  in 
Verbindung  tritt,  deren  Möglichkeit  einer  besonderen  Untersuchung 
bedarf.  —  Der  Begriff  eines  auf  persönliche  Art  dinglichen 
Rechts  fällt  ohne  weitere  Umstände  weg;  denn  es  läßt  sich  kein 
Recht  einer  Sache  gegen  eine  Person  denken.  Nun  fragt  sich: 
ob  die  Umkehrung  dieses  Verhältnisses  auch  eben  so  undenkbar 
sei;  oder  ob  dieser  Begriff,  nämlich  der  eines  auf  dingliche 
Art  persönlichen  Rechts,  nicht  allein  ohne  inneren  Wider- 
spruch, sondern  selbst  auch  ein  notwendiger  (z  priori  in  der  Ver- 
nunft gegebener)  zum  Begriffe  des  äußeren  Mein  und  Dein  ge- 
hörender Begriff  sei,  Personen  auf  ähnliche  Art  als  Sachen  zwar 
nicht  in  allen  StĂĽcken  zu  behandlen,  aber  sie  doch  zu  be- 
sitzen und  in  vielen  Verhältnissen  mit  ihnen  als  Sachen  zu  ver- 
fahren. 


z. 

Rechtferrigung  des  Begriffs  von  einem  auf  dingliche  Art 

persönlichen  Recht. 

Die  Definition  des  auf  dingliche  Art  persönlichen  Rechts  ist 
nun  kurz  und  gut  diese:  „Es  ist  das  Recht  des  Menschen,  eine 
Person  auĂźer  sich  als  das  Seine')  zu  haben."  Ich  sage  mit 
FleiĂź:  eine  Person;  denn  einen  anderen  Menschen,  der  durch 
Verbrechen  seine  Persönlichkeit  eingebüßt  hat  (zum  Leibeigenen 
geworden  ist),  könnte  man  wohl  als  das  Seine  haben;  von  diesem 
Sachenrecht  ist  aber  hier  nicht  die  Rede. 

Ob  nun  jener  Begriff  „als  neues  Phänomen  am  juristischen 
Himmel"    eine  Stella  mirab'üis  (eine    bis    zum  Stern   erster  Größe 

^)  Ich  sage  hier  auch  nicht:  eine  Person  als  die  meinige  (mit  dem 
Adjektiv),  sondern:  als  das  Meine  (to  meum,  mit  dem  Substantiv)  zu 
haben.  Denn  ich  kann  sagen:  dieser  ist  mein  Vater,  das  bezeichnet 
nur  mein  physisches  Verhältnis  (der  Verknüpfting)  zu  ihm  überhaupt. 
Z.  B.:  ich  habe  einen  Vater.  Aber  ich  kann  nicht  sagen:  ich  habe 
ihn  als  das  Meine.  Sage  ich  aber:  mein  Weib,  so  bedeutet  dieses 
ein  besonderes,  nämlich  rechtliches,  Verhältnis  des  Besitzers  zu  einem 
Gegenstande  (wenn  es  auch  eine  Person  wäre),  als  Sache.  Besitz 
(physischer)  aber  ist  die  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Hand- 
habung {manipulatid)  eines  Dinges  als  einer  Sache;  wenn  dieses  gleich 
in  einer  anderen  Beziehung  zugleich  als  Person  behandelt  werden  muĂĽ. 


i66  Rechtslehre.    2,  Teil.   Das  öffentliche  Recht 

wachsende,  vorher  nie  gesehene,  allmählich  aber  wieder  verschwin- 
dende, vielleicht  einmal  wiederkehrende  Erscheinung),  oder  bloĂź 
eine   Sternschnuppe   sei,  das  soll  jetzt  untersucht  werden. 


Beispiele. 

Etwas  Ă„uĂźeres  als  das  Seine  haben,  heiĂźt  es  rechtlich  besitzen; 
Besitz  aber  ist  die  Bedingung  der  Möglichkeit  des  Gebrauchs. 
Werm  diese  Bedingung  bloĂź  als  die  physische  gedacht  wird,  so 
heißt  der  Besitz  Inhabung.  —  Rechtmäßige  Inhabung  reicht  nun 
zwar  allein  nicht  zu,  um  deshalb  den  Gegenstand  fĂĽr  das  Meine 
auszugeben,  oder  es  dazu  zu  machen;  wenn  ich  aber,  es  sei,  aus 
welchem  Grunde  es  wolle,  befugt  bin  auf  diC  Inhabung  eines 
Gegenstandes  zu  dringen,  der  meiner  Gewalt  entwischt  oder  ent- 
rissen ist,  so  ist  dieser  RechtsbegriiF  ein  Zeichen  (wie  Wirkung 
von  ihrer  Ursache),  daĂź  ich  mich  fĂĽr  befugt  halte  ihn  als  das 
Meine,  mich  aber  auch  als  im  intelligibelen  Besitz  desselben 
befindlich  gegen  ihn  zu  verhalten  und  diesen  Gegenstand  so  zu 
gebrauchen. 

Das  Seine  bedeutet  zwar  hier  nicht  das  des  Eigentums  an  der 
Person  eines  anderen  (denn  EigentĂĽmer  kann  ein  Mensch  nicht 
einmal  von  sich  selbst,  viel  weniger  von  einer  anderen  Person 
sein),  sondern  nur  das  Seine  des  NieĂźbrauchs  (jus  utendi  fruendi), 
unmittelbar  von  dieser  Person  gleich  als  von  einer  Sache,  doch 
ohne  Abbruch  an  ihrer  Persönlichkeit,  als  Mittel  zu  meinem 
Zweck  Gebrauch  zu  machen. 

Dieser  Zweck  aber,  als  Bedingung  der  Rechtmäßigkeit  des 
Gebrauchs,  muĂź  moralisch  notwendig  sein.  Der  Mann  kann 
weder  das  Weib  begehren,  um  es  gleich  als  Sache  zu  genieĂźen, 
d.  i.  unmittelbares  VergnĂĽgen  an  der  bloĂź  tierischen  Gemeinschaft 
mit  demselben  zu  empfinden,  noch  das  Weib  sich  ihm  dazu  hin- 
geben, ohne  daß  beide  Teile  ihre  Persönlichkeit  aufgeben  (fleisch- 
liche oder  viehische  Beiwohnung),  d.  i.  ohne  unter  der  Bedingung 
der  Ehe,  welche,  als  wechselseitige  Dahingebung  seiner  Person 
selbst  in  den  Besitz  der  anderen,  vorher  geschlossen  werden 
muß:  um  durch  körperlichen  Gebrauch,  den  ein  Teil  vom  anderen 
macht,  sich  nicht  zu  entmenschen. 


I 


j.  Abschnitt.    Das   WeltbĂĽrgerrecht  167 

Ohne  diese  Bedingung  ist  der  fleischliche  GenuĂź  dem  Grundsatz 
(wenn  gleich  nicht  immer  der  Wirkung  nach)  kannibalisch.  Ob 
mit  Maul  und  Zähnen,  der  weibliche  Teil  durch  Schwängerung 
und  daraus  vielleicht  erfolgende,  für  ihn  tötliche  Niederkunft,  der 
männliche  aber  durch  von  öfteren  Ansprüchen  des  Weibes  an  das 
Geschlechtsvermögen  des  Mannes  herrührende  Erschöpfiangen  auf- 
gezehrt wird,  ist  bloĂź  in  der  Manier  zu  genieĂźen  unterschieden, 
und  ein  Teil  ist  in  Ansehung  des  anderen  bei  diesem  wechsel- 
seitigen Gebrauche  der  Geschlechtsorganen  wirklich  eine  ver- 
brauchbare Sache  (res  fungibilis\  zu  welcher  also  sich  ver- 
mittelst eines  Vertrags  zu  machen,  es  ein  gesetzwidriger  Vertrag 
(^pactum  turpe^  sein  wĂĽrde. 

Eben  so  kann  der  Mann  mit  dem  Weibe  kein  Kind,  als  ihr 
beiderseitiges  Machwerk  (res  artificialis\  zeugen,  ohne  daĂź  beide 
Teile  sich  gegen  dieses  und  gegen  einander  die  Verbindlichkeit 
zuziehen  es  zu  erhalten:  welches  doch  auch  die  Erwerbung  eines 
Menschen  gleich  als  einer  Sache,  aber  nur  der  Form  nach  (einem 
bloß  auf  dingliche  Art  persönlichen  Rechte  angemessen)  ist.  Die 
Eltern^)  haben  ein  Recht  gegen  jeden  Besitzer  des  Kindes,  das 
aus  ihrer  Gewalt  gebracht  worden,  (jus  in  re)  und  zugleich  ein 
Recht,  es  zu  allen  Leistungen  und  aller  Befolgung  ihrer  Befehle 
zu  nötigen,  die  einer  möglichen  gesetzlichen  Freiheit  nicht  zu- 
wider sind  (/«j  a^  reni)-.  folglich  auch  ein  persönliches  Recht 
gegen   dasselbe. 

Endlich,  wenn  bei  eintretender  Volljährigkeit  die  Pflicht  der 
Eltern  zur  Erhaltung  ihrer  Kinder  aufhört,  so  haben  jene  noch  das 
Recht,  diese  als  ihren  Befehlen  unterworfene  Hausgenossen  zu 
Erhaltung  des  Hauswesens  zu  brauchen,  bis  zur  Entlassung  der- 
selben; welches  eine  Pflicht  der  Eltern  gegen  diese  ist,  die  aus 
der  natürlichen  Beschränkung  des  Rechts  der  ersteren  folgt.  Bis 
dahin  sind  sie  zwar  Hausgenossen  und  gehören  zur  Familie, 
aber  von  nun  an  gehören  sie  zur  Dienerschaft  (famulatus')  in 
derselben,  die  folglich  nicht  anders  als  durch  Vertrag  zu  dem 
Seinen  des  Hausherrn  (als  seine  Domestiken)  hinzu  kommen  können. 
—  Ebenso  kann  auch  eine  Dienerschaft  außer  der  Familie  zu 
dem  Seinen  des  Hausherren  nach  einem  auf  dingliche  Art  persön- 
lichen   Rechte    gemacht    und    als    Gesinde    (^famulatus    domesticus) 

^)  In  deutscher  Schreibart  werden  unter  dem  Wort  Ă„lteren  Seniores, 
unter  den  Eiteren  aber  Parerrtes  verstanden;  welches  im  Sprachlaut  nicht 
zu  unterscheiden,  dem  Sinne  nach  aber  sehr  unterschieden  ist. 


1 6  8  Rechtslehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

durch  Vertrag  erworben  werden.  Ein  solcher  Vertrag  ist  nicht 
der  einer  bloĂźen  Verdingung  (Jocatio  conductio  operae),  sondern 
der  Hingebung  seiner  Person  in  den  Besitz  des  Hausherrn,  Ver- 
mietung (Jocatio  conductio  personae\  welche  darin  von  jener  Ver- 
dingung unterschieden  ist,  daĂź  das  Gesinde  sich  zu  allem  Er- 
laubten versteht,  was  das  Wohl  des  Hauswesens  betrifft  und  ihm 
nicht  als  bestellte  und  spezifisch  bestimmte  Arbeit  aufgetragen 
wird;  anstatt  daĂź  der  zur  bestimmten  Arbeit  Gedungene  (Hand- 
werker oder  Tagelöhner)  sich  nicht  zu  dem  Seinen  des  anderen 
hingibt  und  so  auch  kein  Hausgenosse  ist.  —  Des  letzteren,  weil 
er  nicht  im  rechtlichen  Besitz  des  anderen  ist,  der  ihn  zu  gewissen 
Leistungen  verpflichtet,  kann  der  Hausherr,  wenn  jener  auch  sein 
häuslicher  Einwohner  (inquilinus)  wäre,  sich  nicht  (via  facti')  als 
einer  Sache  bemächtigen,  sondern  muß  nach  dem  persönlichen 
Recht  auf  die  Leistungen  des  Versprochenen  dringen,  welche  ihm 
durch  Rechtsmittel  (via  iuris)  zu  Gebote  stehen.  —  —  So  viel 
zur  Erläuterung  und  Verteidigung  eines  befremdlichen,  neu  hinzu- 
kommenden Rechtstitels  in  der  natĂĽrlichen  Gesetzlehre,  der  doch 
stillschweigend  immer  im  Gebrauch  gewesen  ist. 


Ăśber  die  Verwechselung  des  dinglichen  mit  dem 
persönlichen  Rechte. 

Ferner  ist  mir  als  Heterodoxie  im  natĂĽrlichen  Privatrechte 
auch  der  Satz:  Kauf  bricht  Miete  (Rechtslehre  §  31.  S.  129)') 
zur  RĂĽge  aufgestellet  worden. 

DaĂź  jemand  die  Miete  seines  Hauses  vor  Ablauf  der  be- 
dungenen Zeit  der  Einwohnung  dem  Mieter  aufkĂĽndigen  und 
also  gegen  diesen,  wie  es  scheint,  sein  Versprechen  brechen  könne, 
wenn  er  es  nur  zur  gewöhnlichen  Zeit  des  Verziehens  in  der  dazu 
gewohnten  bĂĽrgerlich-gesetzlichen  Frist  tut,  scheint  freilich  beim 
ersten  Anblick  allen  Rechten  aus  einem  Vertrage  zu  widerstreiten. 
—  Wenn  aber  bewiesen  werden  kann,  daß  der  Mieter,  da  er 
seinen  Mictskontrakt  machte,  w^Ăźte  oder  wissen  muĂźte,  daĂź  das 
ihm  getane   Versprechen   des  Vermieters    als  EigentĂĽmers  natĂĽr- 


»)  Oben  S.  96. 


j.  Abschnitt.    Das   WeltbĂĽrgerrecht  169 

licherweise  (ohne  daĂź  es  im  Kontrakt  ausdrĂĽcklich  gesagt  werden 
durfte),  also  stillschweigend,  an  die  Bedingung  geknĂĽpft  war: 
wofern  dieser  sein  Haus  binnen  dieser  Zeit  nicht  ver- 
kaufen sollte  (oder  es  bei  einem  etwa  ĂĽber  ihn  eintretenden 
Konkurs  seinen  Gläubigern  überlassen  müßte):  so  hat  dieser  sein 
schon  an  sich  der  Vernunft  nach  bedingtes  Versprechen  nicht  ge- 
brochen, und  der  Mieter  ist  durch  die  ihm  vor  der  Mietszeit 
geschehene  AufkĂĽndigung  an  seinem  Rechte  nicht  verkĂĽrzt  worden. 

Denn  das  Recht  des  letzteren  aus  dem  Mietskontrakte  ist  ein 
persönliches  Recht  auf  das,  was  eine  gewisse  Person  der  anderen 
zu  leisten  hat  (/'«!•  a^  reni)\  nicht  gegen  jeden  Besitzer  ^er  Sache 
{'tus  in  re\  ein  dingliches. 

Nun  konnte  der  Mieter  sich  wohl  in  seinem  Mi etskontrakte 
sichern  und  sich  ein  dingliches  Recht  am  Hause  verschaffen:  er 
durfte  nämHch  diesen  nur  auf  das  Haus  des  Vermieters,  als  am 
Grunde  haftend,  einschreiben  (ingrossieren)  lassen:  alsdann 
konnte  er  durch  keine  AufkĂĽndigung  des  EigentĂĽmers,  selbst 
nicht  durch  dessen  Tod  (den  natĂĽrlichen  oder  auch  den  bĂĽrger- 
lichen, den  Bankrott)  vor  Ablauf  der  abgemachten  Zeit  aus  der 
Miete  gesetzt  werden.  Wenn  er  es  nicht  tat,  weil  er  etwa  frei 
sein  wollte,  anderweitig  eine  Miete  auf  bessere  Bedingungen  zu 
schlieĂźen,  oder  der  EigentĂĽmer  sein  Haus  nicht  mit  einem  solchen 
onus  belegt  wissen  wollte,  so  ist  daraus  zu  schlieĂźen:  daĂź  ein 
jeder  von  beiden  in  Ansehung  der  Zeit  der  AufkĂĽndigung  (die 
bĂĽrgerlich  bestimmte  Frist  zu  derselben  ausgenommen)  einen  still- 
schweigend-bedingten Kontrakt  gemacht  zu  haben  sich  bewuĂźt 
war,  ihn  ihrer  Konvenienz  nach  wieder  aufzulösen.  Die  Bestäti- 
gung der  Befugnis,  durch  den  Kauf  Miete  zu  brechen,  zeigt  sich 
auch  an  gewissen  rechtlichen  Folgerungen  aus  einem  solchen 
nackten  Mietskontrakte;  denn  den  Erben  des  Mieters,  wenn 
dieser  verstorben  ist,  wird  doch  nicht  die  Verbindhchkeit  zuge- 
mutet, die  Miete  fortzusetzen:  weil  diese  nur  die  Verbindlichkeit 
gegen  eine  gewisse  Person  ist,  die  mit  dieser  ihrem  Tode  aufhört 
(wobei  doch  die  gesetzUche  Zeit  der  AufkĂĽndigung  immer  mit 
in  Anschlag  gebracht  werden  muĂź).  Ebensowenig  kann  auch 
das  Recht  des  Mieters,  als  eines  solchen,  auch  auf  seine  Erben 
ohne  einen  besonderen  Vertrag  ĂĽbergehen;  so  wie  er  auch  beim 
Leben  beider  Teile  ohne  ausdrĂĽckliche  Ăśbereinkunft  keinen  After- 
mieter zu  setzen  befiigt  ist. 


I/o  Rechtslehre.    2.  Teil.  Das  öffentliche  Recht 

5- 
Zusatz  zur  Erörterung  der  Begriffe  des  Strafrechts. 

Die  bloĂźe  Idee  einer  Staatsverfassung  unter  Menschen  fĂĽhrt 
schon  den  Begriff  einer  Strafgerechtigkeit  bei  sich,  welche  der 
obersten  Gewalt  zusteht.  Es  fragt  sich  nur,  ob  die  Strafarten  dem 
Gesetzgeber  gleichgĂĽltig  sind,  wenn  sie  nur  als  Mittel  dazu  taugen, 
das  Verbrechen  (als  Verletzung  der  Staatssicherheit  im  Besitz  des 
Seinen  eines  jeden)  zu  entfernen,  oder  ob  auch  noch  auf  Achtung 
für  die  Menschheit  in  der  Person  des  Missetäters  (d.  i.  für  die 
Gattung}  RĂĽcksicht  genommen  werden  mĂĽsse,  und  zwar  aus  bloĂźen 
RechtsgrĂĽnden,  indem  ich  das  ius  talionis  der  Form  nach  noch 
immer  fĂĽr  die  einzige  a  priori  bestimmende  (nicht  aus  der  Er- 
fahrung, welche  Heilmittel  zu  dieser  Absicht  die  krähigsten  wären, 
hergenommen)  Idee  als  Prinzip  des  Strafrechts  halte.^)  —  Wie 
wird  es  aber  mit  den  Strafen  gehalten  werden,  die  keine  Er- 
widerung zulassen,  weil  diese  entweder  an  sich  unmöglich,  oder 
selbst  ein  strafbares  Verbrechen  an  der  Menschheit  ĂĽberhaupt 
sein  wĂĽrden,  wie  z.  B.  das  der  NotzĂĽchtigung,  imgleichen  das 
der  Päderastie,  oder  Bestialität?  Die  beiden  ersteren  durch  Kastra- 
tion (entweder  wie  eines  weiĂźen  oder  schwarzen  Verschnittenen 
im  Serail),    das    letztere    durch  AusstoĂźung    aus    der  bĂĽrgerlichen 

')  In  jeder  Bestrafung  liegt  etwas  das  EhrgefĂĽhl  des  Angeklagten 
(mit  Recht)  Kränkendes,  weil  sie  einen  bloßen  einseitigen  Zwang  ent- 
hält und  so  an  ihm  die  Würde  eines  Staatsbürgers,  als  eines  solchen, 
in  einem  besonderen  Falle  wenigstens  suspendiert  ist:  da  er  einer 
äußeren  Pflicht  unterworfen  wird,  der  er  seinerseits  keinen  Widerstand 
entgegensetzen  darf.  Der  Vornehme  und  Reiche,  der  auf  den  Beutel 
geklopft  wird,  fĂĽhlt  mehr  seine  Erniedrigung  sich  unter  den  Willen 
des  geringeren  Mannes  beugen  zu  mĂĽssen,  als  den  Geldverlust.  Die 
Sfrafgerechtigkeit  {iustitia  punitivd),  da  nämlich  das  Argument  der 
Strafbarkeit  moralisch  ist  (quia  peccatum  est),  muĂź  hier  von  der 
Strafklugheit,  da  es  bloĂź  pragmatisch  ist  {tte  peccetur)  und  sich 
auf  Erfahrung  von  dem  gründet,  was  am  stärksten  wirkt,  Verbrechen 
abzuhalten,  unterschieden  werden  und  hat  in  der  Topik  der  Rechts- 
begriffe  einen  ganz  anderen  Ort,  locus  tust:,  nicht  des  conducibilis  oder 
des  Zuträglichen  in  gewisser  Absicht,  noch  auch  den  des  bloßen 
hotiesti,   dessen   Ort   in   der  Ethik  aufgesucht  werden  muĂź. 


3.  Abschnitt.    Das   WeltbĂĽrgerrecht  1 7 1 

Gesellschaft  auf  immer,  weil  er  sich  selbst  der  menschlichen  un- 
würdig gemacht  hat.  —  Per  quod  quis  peccat,  per  tdem  pun'ttur  et 
idem,  —  Die  gedachten  Verbrechen  heißen  darum  unnatürlich, 
weil  sie  an  der  Menschheit  selbst  ausgeübt  werden.  —  Willkür- 
lich Strafen  für  sie  zu  verhängen  ist  dem  Begriff  einer  Straf- 
Gerechtigkeit  buchstäblich  zuwider.  Nur  dann  kann  der  Ver- 
brecher nicht  klagen,  daĂź  ihm  unrecht  geschehe,  wenn  er  seine 
Ăśbeltat  sich  selbst  ĂĽber  den  Hals  zieht,  und  ihm,  wenn  gleich 
nicht  dem  Buchstaben,  doch  dem  Geiste  des  Strafgesetzes  gemäß 
das  widerfährt,  was  er  an  anderen  verbrochen  hat. 


6. 

Vom  Recht  der  Ersitzung. 

„Das  Recht  der  Ersitzung  (Vsucapio)  soll  nach  S.  1 3 1  ff.') 
durchs  Naturrecht  begründet  werden.  Denn  nähme  man  nicht 
an,  daĂź  durch  den  ehrĂĽchen  Besitz  eine  ideale  Erwerbung, 
wie  sie  hier  genannt  wird,  begründet  werde,  so  wäre  gar  keine 
Erwerbung  peremtorisch  gesichert.  (Aber  Hr.  K.  nimmt  ja  selbst 
im  Naturzustande  eine  nur  provisorische  Erwerbung  an  und  dringt 
deswegen  auf  die  juristische  Notwendigkeit  der  bĂĽrgerlichen  Ver- 
fassung.   Ich  behaupte  mich  als  ehrlicher  Besitzer  aber  nur 

gegen  den,  der  nicht  beweisen  kann,  daĂź  er  eher  als  ich  ehr- 
licher Besitzer  derselben  Sache  war  und  mit  seinem  Willen  zu 

sein  nicht  aufgehört  hat.)" Davon   ist   nun   hier  nicht  die 

Rede,  sondern  ob  ich  mich  auch  als  EigentĂĽmer  behaupten 
kann,  wenn  sich  gleich  ein  Prätendent  als  früherer  wahrer 
EigentĂĽmer  der  Sache  melden  sollte,  die  Erkundung  aber  seiner 
Existenz  als  Besitzers  und  seines  Besitzstandes  als  EigentĂĽmers 
schlechterdings  unmögUch  war;  welches  letztere  alsdann  zutrifft, 
wenn  dieser  gar  kein  öffentlich  gültiges  Zeichen  seines  ununter- 
brochenen Besitzes  (es  sei  aus  eigener  Schuld  oder  auch  ohne  sie), 
z.  B.  durch  Einschreibung  in  Matrikeln,  oder  unwidersprochene 
Stimmgebung  als  EigentĂĽmer  in  bĂĽrgerlichen  Versammlungen,  von 

sich  gegeben  hat. 

Denn  die  Frage  ist  hier:    wer   soll  seine    rechtmäßige  Erwer- 


')  Oben  S.  97fF- 


1/2  Rechts  lehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

bĂĽng  beweisen?  Dem  Besitzer  kann  diese  Verbindlichkeit  (onus 
probandi^  nicht  aufgebĂĽrdet  werden;  denn  er  ist,  soweit  wie  seine 
konstatierte  Geschichte  reicht,  im  Besitz  derselben.  Der  frĂĽhere 
angebliche  EigentĂĽmer  der  Sache  ist  durch  eine  Zwischenzeit, 
innerhalb  deren  er  keine  bĂĽrgerlich  gĂĽltige  Zeichen  seines  Eigen- 
tums gab,  von  der  Reihe  der  aufeinander  folgenden  Besitzer  nach 
Rechtsprinzipien  ganz  abgeschnitten.  Diese  Unterlassung  irgend 
eines  ötFentlichen  Besitzakts  macht  ihn  zu  einem  unbetitelten  Prä- 
tendenten. (Dagegen  heiĂźt  es  hier  wie  bei  der  Theologie:  con- 
servatio  est  continua  creatio.^  Wenn  sich  auch  ein  bisher  nicht 
manifestierter,  obzwar  hintennach  mit  aufgefundenen  Dokumenten 
versehener  Prätendent  vorfände,  so  würde  doch  wiederum  auch 
bei  diesem  der  Zweifel  vorwalten,  ob  nicht  ein  noch  älterer 
Prätendent  dereinst  auftreten  und  seine  Ansprüche  auf  den  früheren 
Besitz  gründen  könnte.  —  Auf  die  Länge  der  Zeit  des  Besitzes 
kommt  es  hiebei  gar  nicht  an,  um  die  Sache  endlich  zu  ersitzen 
(acquirere  per  usucapionem).  Denn  es  ist  ungereimt,  anzunehmen, 
daß  ein  Unrecht  dadurch,  daß  es  lange  gewährt  hat,  nachgerade 
ein  Recht  werde.  Der  (noch  so  lange)  Gebrauch  setzt  das 
Recht  in  der  Sache  voraus:  weit  gefehlt,  daĂź  dieses  sich  auf  jenen 
grĂĽnden  sollte.  Also  ist  die  Ersitzung  (usucapio)  als  Erwerbung 
durch  den  langen  Gebrauch  einer  Sache  ein  sich  selbst  wider- 
sprechender Begriff.  Die  Verjährung  der  Ansprüche  als  Er- 
haltungsart (conservatio  possessionis  meae  per  praescriptionem)  ist 
es  nicht  weniger:  indessen  doch  ein  von  dem  vorigen  unter- 
schiedener Begriff,  was  das  Argument  der  Zueignung  betrifft.  Es 
ist  nämlich  ein  negativer  Grund,  d.  i.  der  gänzliche  Nicht- 
gebrauch seines  Rechts,  selbst  nicht  einmal  der,  welcher  nötig 
ist,  um  sich  als  Besitzer  zu  manifestieren,  fĂĽr  eine  Verzieh t- 
tuung  auf  dieselbe  (^derelictio)^  welche  ein  rechtlicher  Akt,  d.  i. 
Gebrauch  seines  Rechts  gegen  einen  anderen,  ist,  um  durch  Aus- 
schlieĂźung desselben  vom  AnsprĂĽche  (per  praescriptioneni)  das 
Objekt  desselben  zu  erwerben,  welches  einen  Widerspruch  enthält. 
Ich  erwerbe  also  ohne  BeweisfĂĽhrung  und  ohne  allen  recht- 
lichen Akt:  ich  brauche  nicht  zu  beweisen,  sondern  durchs  Gesetz 
(lege)  und  was  dann?  Die  öffentliche  Befreiung  von  Ansprüchen, 
d.  i.  die  gesetzliche  Sicherheit  meines  Besitzes,  dadurch 
daĂź  ich  nicht  den  Beweis  fĂĽhren  darf  und  mich  auf  einen  un- 
unterbrochenen Besitz  grĂĽnde.  DaĂź  aber  alle  Erwerbung  im 
Naturzustande   bloĂź  provisorisch  ist,    das    hat    keinen  EinfluĂź    auf 


i.  Abschnitt.    Das   WeltbĂĽrgerrecht  1 7  3 

die    Frage    von    der    Sicherheit    des    Besitzes    des    Erworbenen, 
welche  vor  jener  vorhergehen  muĂź. 


Von  der  Beerbung. 

Was  das  Recht  der  Beerbung  anlangt,  so  hat  den  Herrn  Re- 
zensenten diesesmal  sein  Scharfblick,  den  Nerven  des  Beweises 
meiner  Behauptung  zu  treffen,  verlassen.  —  Ich  sage  ja  nicht 
S.  135^):  daĂź  ein  jeder  Mensch  notwendigerweise  jede  ihm  an- 
gebotene Sache,  durch  deren  Annehmung  er  nur  gewinnen, 
nichts  verlieren  kann,  annehme  (denn  solche  Sachen  gibt  es  gar 
nicht),  sondern  daĂź  ein  jeder  das  Recht  des  Angebots  in  dem- 
selben Augenblick  unvermeidlich  und  stillschweigend,  dabei  aber 
doch  gültig,  immer  wirklich  annehme:  wenn  es  nämlich  die  Natur 
der  Sache  so  mit  sich  bringt,  daĂź  der  Widerruf  schlechterdings 
unmöglich  ist,  nämlich  im  Augenblicke  seines  Todes;  denn  da 
kann  der  Promittent  nicht  \viderrufen,  und  der  Promissar  ist, 
ohne  irgend  einen  rechtlichen  Akt  begehen  zu  dĂĽrfen,  in  dem- 
selben AugenbĂĽck  Acceptant,  nicht  der  versprochenen  Erbschaft, 
sondern  des  Rechts,  sie  anzunehmen  oder  auszuschlagen.  In  diesem 
Augenblicke  sieht  er  sich  bei  Eröffnung  des  Testaments,  daß  er 
schon  vor  der  Acceptation  der  Erbschaft  vermögender  geworden 
ist,  als  er  war;  denn  er  hat  ausschließüch  die  Befugnis  zu 
acceptieren  erworben,  welche  schon  ein  Vermögensumstand  ist. 
—  Daß  hiebei  ein  bürgerhcher  Zustand  vorausgesetzt  wird,  um 
etwas  zu  dem  Seinen  eines  anderen  zu  machen,  wenn  man  nicht 
mehr  da  ist,  dieser  Ăśbergang  des  Besitztums  aus  der  Totenhand 
ändert  in  Ansehung  der  Möglichkeit  der  Erwerbung  nach  all- 
gemeinen Prinzipien  des  Naturrechts  nichts,  wenn  gleich  der  An- 
wendung derselben  auf  den  vorkommenden  Fall  eine  bĂĽrgerliche 
Verfassung  zum  Grunde  gelegt  werden  muß.  —  Eine  Sache  näm- 
lich, die  ohne  Bedingiing  anzunehmen  oder  auszuschlagen  in  meiner 
freien  Wahl  gestellt  wird,  heiĂźt  res  iacetis.  Wenn  der  EigentĂĽmer 
einer  Sache  mir  etwas,  z.  B.  ein  Möbel  des  Hauses,  aus  dem  ich 
auszuziehen  eben  im  Begriff  bin,  umsonst  anbietet  (verspricht,   es 


*)   Oben  S.   100. 


174  Rechtslehre.    2.  Teil.    Das  öjf entliche  Recht 

soll  mein  sein),  so  habe  ich,  so  lange  er  nicht  widerruft  (welches, 
wenn  er  darüber  stirbt,  unmöglich  ist),  ausschließlich  ein  Recht 
zur  Acceptation  des  Angebotenen  (Jus  in  re  iacente\  d.  i.  ich 
allein  kann  es  annehmen  oder  ausschlagen,  wie  es  mir  beliebt: 
und  dieses  Recht  ausschließlich  zu  wählen  erlange  ich  nicht  ver- 
mittelst eines  besonderen  rechtlichen  Akts  meiner  Deklaration,  ich 
wolle,  dieses  Recht  solle  mir  zustehen,  sondern  ohne  denselben 
(Jfge\  —  Ich  kann  also  zwar  mich  dahin  erklären,  ich  wolle,  die 
Sache  solle  mir  nicht  angehören  (weil  diese  Annahme  mir 
VerdrieĂźlichkeiten  mit  anderen  zuziehen  dĂĽrfte),  aber  ich  kann 
nicht  wollen,  ausschlieĂźlich  die  Wahl  zu  haben,  ob  sie  mir  an- 
gehören solle  oder  nicht;  denn  dieses  Recht  (des  Annehmens 
oder  Ausschiagens)  habe  ich  ohne  alle  Deklaration  meiner  Annahme 
unmittelbar  durchs  Angebot:  denn  wenn  ich  sogar  die  Wahl  zu 
haben  ausschlagen  könnte,  so  würde  ich  wählen  nicht  zu  wählen; 
welches  ein  Widerspruch  ist.  Dieses  Recht  zu  wählen  geht  nun 
im  Augenblicke  des  Todes  des  Erblassers  auf  mich  ĂĽber,  durch 
dessen  Vermächtnis  (jnstitutio  haeredis)  ich  zwar  noch  nichts  von 
der  Habe  und  Gut  des  Erblassers,  aber  doch  den  bloĂź-recht- 
lichen (intelligibelen)  Besitz  dieser  Habe  oder  eines  Teils  der- 
selben erwerbe:  deren  Annahme  ich  mich  nun  zum  Vorteil  anderer 
begeben  kann,  mithin  dieser  Besitz  keinen  Augenblick  unterbrochen 
ist,  sondern  die  Succession  als  eine  stetige  Reihenfolge  vom  Ster- 
benden zum  eingesetzten  Erben  durch  seine  Acceptation  ĂĽbergeht 
und  so  der  Satz:  tcstamenta  sunt  iuris  naturae  wider  alle  Zweifel 
befestigt  wird. 

8. 

Von  den  Rechten  des  Staats  in  Ansehung  ewiger 
Stiftungen  fĂĽr  seine  Untertanen. 

Stiftung  {sanctio  testamentaria  beneficii  perpetui)  ist  die  frei- 
willige, durch  den  Staat  bestätigte,  für  gewisse  aufeinander  folgende 
Glieder  desselben  bis  zu  ihrem  gänzlichen  Aussterben  errichtete 
wohltätige  Anstalt.  —  Sie  heißt  ewig,  wenn  die  Verordnung  zu 
Erhaltung  derselben  mit  der  Konstitution  des  Staats  selbst  vereinigt 
ist  (denn  der  Staat  muĂź  fĂĽr  ewig  angesehen  werden);  ihre  Wohl- 
tätigkeit aber  ist  entweder  für  das  Volk  überhaupt,  oder  für 
einen  nach  gewissen  besonderen  Grundsätzen  vereinigten  Teil  des- 
selben, einen  Stand,  oder  fĂĽr  eine  Familie  und   die  ewige  Fort- 


i.  Abschnitt.    Das   WeltbĂĽrgerrecht  175 

dauer  ihrer  Deszendenten  abgezweckt.  Ein  Beispiel  vom  ersteren 
sind  die  Hospitäler,  vom  zvvreiten  die  Kirchen,  vom  dritten 
die  Orden  (geistliche  und  weltliche),  vom  vierten  die  Majorate. 
Von  diesen  Korporationen  und  ihrem  Rechte  zu  succedieren 
sagt  man  nun,  sie  können  nicht  aufgehoben  werden:  weil  es  durch 
Vermächtnis  zum  Eigentum  des  eingesetzten  Erben  geworden 
sei,  und  eine  solche  Verfassung  {corpus  mysticutn)  aufzuheben  so 
viel  heiĂźe,  als  jemanden  das  Seine  nehmen. 

A. 

Die  wohltätige  Anstalt  für  Arme,  Invalide  und  Kranke,  welche 
auf  dem  Staatsvermögen  fundiert  worden,  (in  Stiften  und  Hospi- 
tälern) ist  allerdings  unablöslich.  Wenn  aber  nicht  der  Buchstabe, 
sondern  der  Sinn  des  Willens  des  Testators  den  Vorzug  haben 
soll,  so  können  sich  wohl  Zeitumstände  ereignen,  welche  die  Auf- 
hebung einer  solchen  Stiftung  wenigstens  ihrer  Form  nach  anrätig 
machen.  —  So  hat  man  gefunden:  daß  der  Arme  und  Kranke 
(den  vom  Narrenhospital  ausgenommen)  besser  und  wohlfeiler 
versorgt  werde,  wenn  ihm  die  BeihĂĽlfe  in  einer  gewissen  (dem 
BedĂĽrfiiisse  der  Zeit  proportionierten)  Geldsumme,  wofĂĽr  er  sich, 
wo  er  will,  bei  seinen  Verwandten  oder  sonst  Bekannten,  ein- 
mieten kann,  gereicht  wird,  als  wenn  —  wie  im  Hospital  von 
Greenwich  —  prächtige  und  dennoch  die  Freiheit  sehr  be- 
schränkende, mit  einem  kostbaren  Personale  versehene  Anstalten 
dazu  getroffen  werden.  —  Da  kann  man  nun  nicht  sagen,  der 
Staat  nehme  dem  zum  GenuĂź  dieser  Stiftung  berechtigten  Volke 
das  Seine,  sondern  er  befördert  es  vielmehr,  indem  er  weisere 
Mittel  zur  Erhaltung  desselben  wählt. 

B. 

Die  Geistlichkeit,  welche  sich  fleischlich  nicht  fortpflanzt,  (die 
katholische)  besitzt  mit  Begünstigung  des  Staats  Ländereien  und 
daran  haftende  Untertanen,  die  einem  geistlichen  Staate  (Kirche 
genannt)  angehören,  welchem  die  Weltliche  durch  Vermächtnis 
zum  Heil  ihrer  Seelen  sich  als  ihr  Eigentum  hingegeben  haben, 
und  so  hat  der  Klerus  als  ein  besonderer  Stand  einen  Besitztum, 
der  sich  von  einem  Zeitalter  zum  anderen  gesetzmäßig  vererben 
läßt  und  durch  päpstHche  Bullen  hinreichend  dokumentiert  ist.  — 
Kann  man  nun  wohl  annehmen,   daß    dieses  Verhältnis   derselben 


i/ö  Rechtslehr  f.    2.  Ted.    Das  öjf entliehe  Recht 

zu  den  Laien  durch  die  Machtvollkommenheit  des  weltlichen 
Staats  geradezu  den  ersteren  könne  genommen  werden,  und  würde 
das  nicht  so  viel  sein,  als  jemanden  mit  Gewalt  das  Seine  nehmen; 
wie  es  doch  von  Ungläubigen  der  französischen  Republik  ver- 
sucht wird? 

Die  Frage  ist  hier:  ob  die  Kirche  dem  Staat  oder  der  Staat 
der  Kirche  als  das  Seine  angehören  könne;  denn  zwei  oberste 
Gewalten  können  einander  ohne  Widerspruch  nicht  untergeordnet 
sein.  —  Daß  nur  die  erstere  Verfassung  (^politico-hterarchicd) 
Bestand  an  sich  haben  könne,  ist  an  sich  klar;  denn  alle  bürger- 
liche Verfassung  ist  von  dieser  Welt,  weil  sie  eine  irdische 
Gewalt  (der  Menschen)  ist,  die  sich  samt  ihren  Folgen  in  der 
Erfahrung  dokumentieren  läßt.  Die  Gläubigen,  deren  Reich  im 
Himmel  und  in  jener  Welt  ist,  mĂĽssen,  insofern  man  ihnen 
eine  sich  auf  dieses  beziehende  Verfassung  (hierarchico-politica)  zu- 
gesteht, sich  den  Leiden  dieser  Zeit  unter  der  Obergewalt  der 
Weltmenschen  unterwerfen.  —  Also  findet  nur  die  erstere  Ver- 
fassung statt, 

Religion  (in  der  Erscheinung),  als  Glaube  an  die  Satzungen 
der  Kirche  und  die  Macht  der  Priester  als  Aristokraten  einer 
solchen  Verfassung,  oder  auch,  wenn  diese  monarchisch  (päpstlich) 
ist,  kann  von  keiner  staatsbĂĽrgerlichen  Gewalt  dem  Volke  weder 
aufgedrungen,  noch  genommen  werden,  noch  auch  (wie  es  wohl 
in  Großbritannien  mit  der  irländischen  Nation  gehalten  wird)  der 
StaatsbĂĽrger  wegen  einer  von  des  Hofes  seiner  unterschiedenen 
Religion  von  den  Staatsdiensten  und  den  Vorteilen,  die  ihm 
dadurch  erwachsen,  ausgeschlossen  werden. 

Wenn  nun  gewisse  andächtige  und  gläubige  Seelen,  um  der 
Gnade  teilhaftig  zu  werden,  welche  die  Kirche  den  Gläubigen 
auch  nach  dieser  ihrem  Tode  zu  erzeigen  verspricht,  eine  Stiftung 
auf  ewige  Zeiten  errichten,  durch  welche  gewisse  Ländereien  der- 
selben nach  ihrem  Tode  ein  Eigentum  der  Kirche  werden  sollen, 
und  der  Staat  an  diesem  oder  jenem  Teil  oder  gar  ganz  sich 
der  Kirche  lehnspflichtig  macht,  um  durch  Gebete,  Ablässe  und 
BĂĽĂźungen,  durch  welche  die  dazu  bestellten  Diener  derselben  (die 
Geistlichen)  das  Los  in  der  anderen  Welt  ihnen  vorteilhaft  zu 
machen  verheiĂźen;  so  ist  eine  solche  vermeintlich  auf  ewige 
Zeiten  gemachte  Stiftung  keineswegs  auf  ewig  begrĂĽndet,  sondern 
der  Staat  kann  diese  Last,  die  ihm  von  der  Kirche  aufgelegt 
worden,    abwerfen,   wenn   er  will.    —    Denn   die  Kirche  selbst  ist 


3.  AbschfĂĽft.    Das  WeltbĂĽrgerrecht  177 

als  ein  bloß  auf  Glauben  errichtetes  Institut,  und  wenn  die  Täu- 
schung aus  dieser  Meinung  durch  Volksaufklärung  verschwunden 
ist,  so  fällt  auch  die  darauf  gegründete  furchtbare  Gewalt  des 
Klerus  weg,  und  der  Staat  bemächtigt  sich  mit  vollem  Rechte  des 
angemaßten  Eigentums  der  Kirche:  nämlich  des  durch  Vermächt- 
nisse an  sie  verschenkten  Bodens;  wiewohl  die  Lehnsträger  des 
bis  dahin  bestandenen  Instituts  fĂĽr  ihre  Lebenszeit  schadenfrei 
gehalten  zu  werden  aus  ihrem  Rechte  fordern  können. 

Selbst  Stiftungen  zu  ewigen  Zeiten  fĂĽr  Arme,  oder  Schul- 
anstalten, sobald  sie  einen  gewissen,  von  dem  Stifter  nach  seiner 
Idee  bestimmten  entworfenen  Zuschnitt  haben,  können  nicht  auf 
ewige  Zeiten  fundiert  und  der  Boden  damit  belästigt  werden; 
sondern  der  Staat  muĂź  die  Freiheit  haben,  sie  nach  dem  BedĂĽrf- 
nisse der  Zeit  einzurichten.  —  Daß  es  schwerer  hält,  diese  Idee 
allerwärts  auszuführen  (z.  B.  die  Pauperbursche  die  Unzulänglich- 
keit des  wohltätig  errichteten  Schulfonds  durch  bettelhaftes 
Singen  ergänzen  zu  müssen),  darf  niemanden  woindern;  denn  der, 
welcher  gutmĂĽtiger-,  aber  doch  zugleich  etwas  ehrbegierigerweise 
eine  Stiftung  macht,  will,  daĂź  sie  nicht  ein  anderer  nach  seinen 
BegriflFen  umändere,  sondern  Er  darin  unsterbÜch  sei.  Das  ändert 
aber  nicht  die  Beschaffenheit  der  Sache  selbst  und  das  Recht  des 
Staats,  ja  die  Pflicht  desselben  zum  Umändern  einer  jeden  Stiftung, 
wenn  sie  der  Erhaltung  und  dem  Fortschreiten  desselben  zum 
Besseren  entgegen  ist;  sie  kann  daher  niemals  als  auf  ewdg 
begrĂĽndet  betrachtet  werden. 

C. 

Der  Adel  eines  Landes,  das  selbst  nicht  unter  einet  aristokra- 
tischen, sondern  monarchischen  Verfassung  steht,  mag  immer  ein 
für  ein  gewisses  Zeitalter  erlaubtes  und  den  Umständen  nach 
notwendiges  Institut  sein;  aber  daß  dieser  Stand  auf  ewig  könne 
begrĂĽndet  werden,  und  ein  Staatsoberhaupt  nicht  soUe  die  Befugnis 
haben,  diesen  Standesvorzug  gänzlich  aufzuheben,  oder,  wenn  er 
es  tut,  man  sagen  könne,  er  nehme  semem  (adhgen)  Untertan 
das  Seine,  was  ihm  erblich  zukommt,  kann  keinesweges  behauptet 
werden.  Er  ist  eine  temporäre,  vom  Staat  autorisierte  Zunft- 
genossenschaft, die  sich  nach  den  Zeitumständen  bequemen  muß 
und  dem  allgemeinen  Menschenrechte,  das  so  lange  suspendiert 
war,  nicht  Abbruch  tun  darf.  —  Denn  der  Rang  des  Edelmanns 
im  Staate    ist  von    der  Konstitution   selber   nicht   allein  abhängig, 

Kants   Schriften.   Bd.  VII.  1» 


178  Rechtslehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

sondern  ist  nur  ein  Accidcns  derselben,  was  nur  durch  Inhärenz 
in  demselben  existieren  kann  (ein  Edelmann  kann  ja  als  ein  solcher 
nur  im  Staate,  nicht  im  Stande  der  Natur  gedacht  werden). 
Wenn  also  der  Staat  seine  Konstitution  abändert,  so  kann  der. 
wecher  hicmit  jenen  Titel  und  Vorrang  einbĂĽĂźt,  nicht  sagen,  es 
sei  ihm  das  Seine  genommen:  weil  er  es  nur  unter  der  Bedingung 
der  Fortdauer  dieser  Staatsform  das  Seine  nennen  konnte,  der 
Staat  aber  diese  abzuändern  (z.  B.  in  den  Republikanism  umzu- 
formen) das  Recht  hat.  —  Die  Orden  und  der  Vorzug,  gewisse 
Zeichen  derselben  zu  tragen,  geben  also  kein  ewiges  Recht 
dieses  Besitzes. 

D. 

Was  endlich  die  Majoratsstiftung  betrifft,  da  ein  Guts- 
besitzer durch  Erbeseinsetzung  verordnet:  daĂź  in  der  Reihe  der 
aufeinander  folgenden  Erben  immer  der  nächste  von  der  Familie 
der  Gutsherr  sein  solle  (nach  der  Analogie  mit  einer  monarchisch- 
erblichen Verfassung  eines  Staats,  wo  der  Landesherr  es  ist),  so 
kann  eine  solche  Stiftung  nicht  allein  mit  Beistimmung  aller 
Agnaten  jederzeit  aufgehoben  werden  und  darf  nicht  auf  ewige 
Zeiten  —  gleich  als  ob  das  Erbrecht  am  Boden  haftete  —  immer- 
während fortdauern,  noch  gesagt  werden,  es  sei  eine  Verletzung 
der  Stiftung  und  des  Willens  des  Urahnherrn  derselben,  des 
Stifters,  sie  eingehen  zu  lassen:  sondern  der  Staat  hat  auch  hier 
ein  Recht,  ja  sogar  die  Pflicht,  bei  den  allmählich  eintretenden 
Ursachen  seiner  eigenen  Reform  ein  solches  föderatives  System 
seiner  Untertanen  gleich  als  Unterkönige  (nach  der  Analogie  von 
Dynasten  und  Satrapen),  wenn  es  erloschen  ist,  nicht  weiter  auf- 
kommen zu   lassen. 

BeschluĂź. 

Zuletzt  hat  der  Herr  Rezensent  von  den  unter  der  Rubrik 
öffentliches  Recht  aufgeführten  Ideen,  von  denen,  wie  er  sagt, 
der  Raum  nicht  erlaube,  sich  darüber  zu  äußern,  noch  folgendes 
angemerkt:  „Unseres  Wissens  hat  noch  kein  Philosoph  den  para- 
doxesten aller  paradoxen  Sätze  anerkannt,  den  Satz:  daß  die  bloße 
Idee  der  Oberherrschaft  mich  nötigen  soll,  jedem,  der  sich  zu 
meinem  Herrn  aufwirft,  als  meinem  Herrn  zu  gehorchen,  ohne  zu 
fragen,  wer  ihm  das  Recht  gegeben,  mir  zu  befehlen.  DaĂź  man 
Oberherrschaft  und  Oberhaupt  anerkennen  und  man  diesen  oder 
jenen,   dessen    Dasein    nicht   einmal   a  priori    gegeben   ist,    a  priori 


j.  Abschnitt.    Das  WeltbĂĽrgerrecht  179 

fiir  seinen  Herren  halten  soll,  das  soll  einerlei  sein?"  —  Nun, 
hiebei  die  Paradoxie  eingeräumt,  hoffe  ich,  es  solle,  näher 
betrachtet,  doch  wenigstens  der  Heterodoxie  nicht  ĂĽberwiesen 
werden  können;  vielmehr  solle  es  dem  einsichtsvollen  und  mit 
Bescheidenheit  tadelnden,  grĂĽndĂĽchen  Rezensenten  (der  jenes 
genommenen  Anstoßes  ungeachtet  „diese  metaphysischen  Anfangs- 
grĂĽnde der  Rechtslehre  im  Ganzen  als  Gewinn  fĂĽr  die  Wissen- 
schaft ansieht")  nicht  gereuen,  sie  wenigstens  als  einen  der  zweiten 
PrĂĽfung  nicht  unwĂĽrdigen  Versuch  gegen  anderer  trotzige  und 
seichte   Absprechungen  in  Schutz  genommen  zu  haben. 

DaĂź  dem,  welcher  sich  im  Besitz  der  zu  oberst  gebietenden 
imd  gesetzgebenden  Gewalt  ĂĽber  ein  Volk  befindet,  mĂĽsse  gehorcht 
werden  und  zwar  so  juridisch-unbedingt,  daĂź  auch  nur  nach  dem 
Titel  dieser  seiner  Erwerbung  öffentlich  zu  forschen,  also  ihn 
zu  bezweifeln,  um  sich  bei  etwaniger  Ermangelung  desselben  ihm 
zu  widersetzen,  schon  strafbar,  daĂź  es  ein  kategorischer  Imperativ 
sei:  Gehorchet  der  Obrigkeit  (in  allem,  was  nicht  dem  inneren 
Morahschen  widerstreitet),  die  Gewalt  ĂĽber  euch  hat,  ist  der 
anstößige  Satz,  der  in  Abrede  gezogen  wird.  —  Nicht  allein  aber 
dieses  Prinzip,  welches  ein  Faktum  (die  Bemächtigung)  als  Be- 
dingung dem  Rechte  zum  Grunde  legt,  sondern  daĂź  selbst  die 
bloĂźe  Idee  der  Oberherrschaft  ĂĽber  ein  Volk  mich,  der  ich  zu 
ihm  gehöre,  nötige,  ohne  vorhergehende  Forschung  dem  an- 
gemaßten Rechte  zu  gehorchen  (Rechtslehre  §  49),  das  scheint  die 
Vernunft  des  Rezensenten  zu  empören. 

Ein  jedes  Faktum  (Tatsache)  ist  Gegenstand  in  der  Erschei- 
nung (der  Sinne);  dagegen  das,  was  nur  durch  reine  Vernunft 
vorgestellt  werden  kann,  was  zu  den  Ideen  gezählt  werden  muß, 
denen  adäquat  kein  Gegenstand  in  der  Erfahrung  gegeben  werden 
kann,  dergleichen  eine  vollkommene  rechtliche  Verfassung 
unter  Menschen  ist,  das  ist  das  Ding  an  sich  selbst. 

Wenn  dann  nun  ein  Volk,  durch  Gesetze  unter  einer  Obrig- 
keit vereinigt,  da  ist,  so  ist  es  der  Idee  der  Einheit  desselben 
überhaupt  unter  einem  machthabenden  obersten  Willen  gemäß 
als  Gegenstand  der  Erfahrung  gegeben;  aber  freilich  nur  in  der 
Erscheinung;  d.  i.  eine  rechtliche  Verfassung  im  allgemeinen  Sinne 
des  Worts  ist  da;  und  obgleich  sie  mit  großen  Mängeln  und 
groben  Fehlem  behaftet  sein  und  nach  und  nach  wichtiger  Ver- 
besserungen bedĂĽrfen  mag,  so  ist  es  doch  schlechterdings  unerlaubt 
und    str&lich,    ihr   zu   widerstehen:    weil,    wenn  das  Volk  dieser. 


IZ* 


i8o  Rechtslehre.    2.  Teil.    Das  öffentliche  Recht 

obgleich  noch  fehlerhaften  Verfassung  und  der  obersten  Autorität 
Gewalt  entgegensetzen  zu  dĂĽrfen  sich  berechtigt  hielte,  es  sich 
dĂĽnken  wĂĽrde,  ein  Recht  zu  haben:  Gewalt  an  die  Stelle  der 
alle  Rechte  zu  oberst  vorschreibenden  Gesetzgebung  zu  setzen; 
welches  einen  sich  selbst  zerstörenden  obersten  Willen  abgeben 
wĂĽrde. 

Die  Idee  einer  Staatsverfassung  ĂĽberhaupt,  welche  zugleich 
absolutes  Gebot  der  nach  RechtsbegrifFen  urteilenden  praktischen 
Vernunft  fĂĽr  ein  jedes  Volk  ist,  ist  heilig  und  unwiderstehlich; 
und  wenn  gleich  die  Organisation  des  Staats  durch  sich  selbst 
fehlerhaft  wäre,  so  kann  doch  keine  subalterne  Gewalt  in  dem- 
selben dem  gesetzgebenden  Oberhaupte  desselben  tätlichen  Wider- 
stand entgegensetzen,  sondern  die  ihm  anhängenden  Gebrechen 
müssen  durch  Reformen,  die  er  an  sich  selbst  verrichtet,  allmählich 
gehoben  werden:  weil  sonst  bei  einer  entgegengesetzten  Maxime 
des  Untertans  (nach  eigenmächtiger  Willkür  zu  verfahren)  eine 
gute  Verfassung  selbst  nur  durch  blinden  Zufall  zustande  kommen 
kann.  —  Das  Gebot:  „Gehorchet  der  Obrigkeit,  die  Gewalt  über 
euch  hat,"  grĂĽbelt  nicht  nach,  wie  sie  zu  dieser  Gewalt  gekommen 
sei  (um  sie  allenfalls  zu  untergraben);  denn  die,  welche  schon 
da  ist,  unter  welcher  ihr  lebt,  ist  schon  im  Besitz  der  Gesetz- 
gebung, über  die  ihr  zwar  öffentlich  vernünfteln,  euch  aber  selbst 
nicht  zu  widerstrebenden  Gesetzgebern  aufwerfen  könnt. 

Unbedingte  Unterwerfung  des  Volkswillens  (der  an  sich  un- 
vereinigt, mithin  gesetzlos  ist)  unter  einem  souveränen  (alle 
durch  Ein  Gesetz  vereinigenden)  Willen  ist  Tat,  die  nur  durch 
Bemächtigung  der  obersten  Gewalt  anheben  kann  und  so  zuerst 
ein  öffentliches  Recht  begründet.  —  Gegen  diese  Machtvoll- 
kommenheit noch  einen  Widerstand  zu  erlauben  (der  jene  oberste 
Gewalt  einschränkete),  heißt  sich  selbst  widersprechen;  denn  als- 
dann wäre  jene  (welcher  widerstanden  werden  darf)  nicht  die 
gesetzliche  oberste  Gewalt,  die  zuerst  bestimmt,  was  öffentlich 
recht  sein  soll  oder  nicht  —  und  dieses  Prinzip  liegt  schon 
a  priori  in  der  Idee  einer  Staatsverfassung  ĂĽberhaupt,  d.  i.  in 
einem  Begriffe  der  praktischen  Vernunft,  dem  zwar  adäquat  kein 
Beispiel  in  der  Erfahrung  untergelegt  werden  kann,  dem  aber 
auch  als  Norm  keine  widersprechen   muĂź. 


Die 


Metaphysik  der  Sitten. 


AbgefaĂźt 


von 


Immanuel  Kant. 


Zweiter  Te  il. 

Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde 

der 
Tugendlehre. 


Vo  r  r  e  d  e. 

Wenn  es  ĂĽber  irgend  einen  Gegenstand  eine  Philosophie 
(System  der  Vernunfterkenntnis  aus  BegrifFen)  gibt,  so 
muĂź  es  fĂĽr  diese  Philosophie  auch  ein  System  reiner,  von  aller 
Anschauungsbedingung  unabhängiger  VernunftbegrifFe,  d.  i.  eine 
Metaphysik,  geben.  —  Es  fragt  sich  nur:  ob  es  für  jede 
praktische  Philosophie  als  Pflichtenlehre,  mithin  auch  fĂĽr  die 
Tugendlehre  (Ethik)  auch  metaphysischer  AnfangsgrĂĽnde 
bedĂĽrfe,  um  sie  als  wahre  Wissenschaft  (systematisch),  nicht  bloĂź 
als  Aggregat  einzeln  aufgesuchter  Lehren  (fragmentarisch)  auf- 
stellen zu  können.  —  Von  der  reinen  Rechtslehre  wird  niemand 
dies  Bedürfnis  bezweifeln;  denn  sie  betrifft  nur  das  Förmliche 
der  nach  Freiheitsgesetzen  im  äußeren  Verhältnis  einzuschränkenden 
WillkĂĽr;  abgesehen  von  allem  Zweck  (als  der  Materie  derselben). 
Die  Pflichtenlehre  ist  also  hier  eine  bloĂźe  Wissenslehre  (doc- 
trina  sc'tentiae).^ 

^)  Ein  der  praktischen  Philosophie  Kundiger  ist  darum  eben 
nicht  ein  praktischer  Philosoph.  Der  letztere  ist  derjenige,  welcher 
sich  den  Vernunftendzweck  zum  Grundsatz  seiner  Handlungen 
macht,  indem  er  damit  zugleich  das  dazu  nötige  Wissen  verbindet: 
welches,  da  es  aufs  Tun  abgezweckt  ist,  nicht  eben  bis  zu  den  subtilsten 
Fäden  der  Metaphysik  ausgesponnen  werden  darf,  wenn  es  nicht  etwan 
eine  Rechtspflicht  betrifft,  als  bei  welcher  auf  der  Wage  der  Gerechtig- 
keit das  Mein  und  Dein  nach  dem  Prinzip  der  Gleichheit  der  Wir- 
kung vmd  Gegenwirkung  genau  bestimmt  werden  imd  darum  der  mathe- 
matischen Abgemessenheit  analog  fein  muß;  —  sondern  eine  bloße 
Tugendpflicht  angeht.  Denn  da  kommt  es  nicht  bloĂź  darauf  an,  zu 
wissen,  was  zu  tun  Pflicht  ist  (welches  wegen  der  Zwecke,  die  natĂĽr- 
licherweise alle  Menschen  haben,  leicht  angegeben  werden  kann): 
sondern  vornehmlich   auf  das  innere  Prinzip  des  Willens,    nämlich    daß 


184  Vo  r  r  e  de 

In  dieser  Philosophie  (der  Tugendlehre)  scheint  es  nun  der 
Idee  derselben  gerade  zuwider  zu  sein,  bis  zu  metaphysischen 
AnfangsgrĂĽnden  zurĂĽckzugehen,  um  den  Pflichtbegriff,  von 
allem  Empirischen  (jedem  GeFĂĽhl)  gereinigt,  doch  zur  Triebfeder 
zu  machen.  Denn  was  kann  man  sich  fĂĽr  einen  Begriff  von  der 
hohen  Kraft  und  herkulischen  Stärke  machen,  die  ausreichen  sollte, 
um  die  lastergebärende  Neigungen  zu  überwältigen,  wenn  die 
Tugend  ihre  Waffen  aus  der  RĂĽstkammer  der  Metaphysik  ent- 
lehnen soll,  welche  eine  Sache  der  Spekulation  ist,  die  nur  wenig 
Menschen  zu  handhaben  wissen?  Daher  fallen  auch  alle  Tugend- 
lehrcn  in  Hörsälen,  von  Kanzeln  und  in  Volksbüchern,  wenn  sie 
mit  metaphysischen  Brocken  ausgeschmückt  werden,  ins  Lächer- 
liche. —  Aber  darum  ist  es  doch  nicht  unnütz,  viel  weniger 
lächerlich,  den  ersten  Gründen  der  Tugendlehre  in  einer  Meta- 
physik nachzuspĂĽren;  denn  irgendeiner  muĂź  doch  als  Philosoph 
auf  die  ersten  GrĂĽnde  dieses  Pflichtbegriffs  hinausgehen:  weil 
sonst  weder  Sicherheit  noch  Lauterkeit  fĂĽr  die  Tugendlehre  ĂĽber- 
haupt zu  erwarten  wäre.  Sich  desfalls  auf  ein  gewisses  Gefühl, 
welches  man  seiner  davon  erwarteten  Wirkung  halber  moralisch 
nennt,  zu  verlassen,  kann  auch  wohl  dem  Volkslehrer  gnĂĽgen: 
indem  dieser  zum  Probierstein  einer  Tugendpflicht,  ob  sie  es  sei 
oder  nicht,  die  Aufgabe  zu  beherzigen  verlangt:  „wie,  wenn  nun 
ein  jeder  in  jedem  Fall  deine  Maxime  zum  allgemeinen  Gesetz 
machte,  wĂĽrde  eine  solche  wohl  mit  sich  selbst  zusammenstimmen 
können?"  Aber  wenn  es  bloß  Gefühl  wäre,  was  auch  diesen  Satz 
zum  Probierstein  zu  nehmen  uns  zur  Pflicht  machte,  so  wäre 
diese  doch  alsdann  nicht  durch  die  Vernunft  diktiert,  sondern  nur 
instinktmäßig,  mithin   blindlings  dafür  angenommen. 

Allein  kein  moralisches  Prinzip  grĂĽndet  sich  in  der  Tat,  wie 
man  wohl  wähnt,  auf  irgendeinem  Gefühl,  sondern  ein  solches 
Prinzip  ist  wirklich  nichts  anders,  als  dunkel  gedachte  Meta- 
physik, die  jedem  Menschen  in  seiner  Vernunftanlage  beiwohnt; 
wie  der  Lehrer  es  leicht  gewahr  wird,  der  seinen  Lehrling  ĂĽber 
den  Pflichtimperativ  und  dessen  Anwendung  auf  moralische  Be- 
urteilung seiner  Handlungen  sokratisch  zu  katechisieren  versucht.  -- 
Der   Vortrag    desselben    (die  Technik)    darf   eben    nicht    allemal 


das  BewuĂźtsein  dieser  Pflicht  zugleich  Triebfeder  der  Handlungen 
sei,  um  von  dem,  der  mir  seinem  Wissen  dieses  Weisheitsprinzip  ver- 
knĂĽpft, zu  sagen:  daĂź  er  ein  praktischer  Philosoph  sei. 


Vo  r  r  e  d  e  185 

metaphysisch  und  die  Sprache  nicht  notwendig  scholastisch  sein, 
wenn  jener  den  Lehrling  nicht  etwa  zum  Philosophen  bilden 
will.  Aber  der  Gedanke  muĂź  bis  auf  die  Elemente  der  Meta- 
physik zurĂĽckgehen,  ohne  die  keine  Sicherheit  und  Kernigkeit, 
ja  selbst  nicht  einmal  bewegende  Kraft  in  der  Tugendlehre  zu  er- 
warten ist. 

Geht  man  von  diesem  Grundsatze  ab  und  fängt  vom  patho- 
logischen, oder  dem  rein-ästhetischen,  oder  auch  dem  moralischen 
GefĂĽhl  (dem  subjektiv-praktischen  statt  des  objektiven)  d.  i.  von 
der  Materie  des  Willens,  dem  Zweck,  nicht  von  der  Form  des- 
selben, d.  i.  dem  Gesetz,  an,  um  von  da  aus  die  Pflichten  zu 
bestimmen:  so  finden  treiĂĽch  keine  metaphysischen  Anfangs- 
gründe der  Tugendlehre  statt  —  denn  Gefühl,  wodurch  es  auch 
immer  erregt  werde?  mag,  ist  jederzeit  physisch.  —  Aber  die 
Tugendlehre  wird  alsdenn  auch  in  ihrer  Quelle,  einerlei  ob  in 
Schulen,  oder  Hörsälen  u.  s.  w.  verderbt.  Derm  es  ist  nicht 
gleichviel,    durch    welche    Triebfedern    als    Mittel    man    zu    einer 

guten  Absicht  (der  Befolgung  aller  Pflicht)  hingeleitet  werde. 

Es  mag  also  den  orakel-  oder  auch  geniemäßig  über  Pflichten- 
lehre absprechenden  vermeinten  Weisheitslehrern  Metaphysik 
noch  so  sehr  anekeln:  so  ist  es  doch  fĂĽr  die,  welche  sich  dazu 
aufwerfen,  unerläßliche  Pflicht,  selbst  in  der  Tugendlehre  zu  jener 
ihren  Grundsätzen  zurückzugehen  und  auf  ihren  Bänken  vorerst 
selbst  die   Schule  zu  machen. 


Man  muĂź  sich  hiebei  billig  wundern:  wie  es  nach  allen  bis- 
herigen Läuterungen  des  Pflichtprinzips,  sofern  es  aus  reiner  Ver- 
nunft abgeleitet  wird,  noch  möglich  war,  es  wiederum  auf  Glück- 
seligkeitslehre zurĂĽckzufĂĽhren:  doch  so,  daĂź  eine  gewisse 
moralische  GlĂĽckseligkeit,  die  nicht  auf  empirischen  Ursachen 
beruhete,  zu  dem  Ende  angedacht  worden,  welche  ein  sich  selbst 
widersprechendes  Unding  ist.  —  Der  denkende  Mensch  nämlich, 
wenn  er  ĂĽber  die  Anreize  zum  Laster  gesiegt  hat  und  seine  oft 
sauere  Pflicht  getan  zu  haben  sich  bewuĂźt  ist,  findet  sich  in  einem 
Zustande  der  Seelenruhe  und  Zufriedenheit,  den  man  gar  wohl 
GlĂĽckseligkeit  nennen  kann,  in  welchem  die  Tugend  ihr  eigener 
Lohn  ist.  —  Nun  sagt  der  Eu dämonist:  diese  Wonne,  diese 
GlĂĽckseligkeit    ist    der    eigentliche    Bewegungsgrund,     warum    er 


i8(5  Vorrede 

tugendhaft  handelt.  Nicht  der  Begriff  der  Pflicht  bestimme  un- 
mittelbar seinen  Willen,  sondern  nur  vermittelst  der  im  Prospekt 
gesehnen  Glückseligkeit  werde  er  bewogen  seine  Pflicht  zu  tun.  — 
Nun  ist  aber  klar,  daĂź,  weil  er  sich  diesen  Tugendlohn  nur  von 
dem  BewuĂźtsein  seine  Pflicht  getan  zu  haben  versprechen  kann, 
das  letztgenannte  doch  vorangehen  mĂĽsse;  d.  i.  er  muĂź  sich  ver- 
bunden rinden,  seine  Pflicht  zu  tun,  ehe  er  noch  und  ohne  daĂź 
er  daran  denkt,  daĂź  GlĂĽckseligkeit  die  Folge  der  Pflichtbcobachtung 
sein  werde.  Er  dreht  sich  also  mit  seiner  Ă„tiologie  im  Zirkel 
herum.  Er  kann  nämlich  nur  hoffen,  glücklich  (oder  innerlich 
selig)  zu  sein,  wenn  er  sich  seiner  Pflichtbeobachtung  bewuĂźt  ist; 
er  kann  aber  zur  Beobachtung  seiner  Pflicht  nur  bewogen  werden, 
wenn  er  voraussieht,  daĂź  er  sich  dadurch  glĂĽcklich  machen 
werde.  —  Aber  es  ist  in  dieser  Vernünftelei  auch  ein  Widerspruch. 
Denn  einerseits  soll  er  seine  Pflicht  beobachten,  ohne  erst  zu 
fragen,  welche  Wirkung  dieses  auf  seine  GlĂĽckseligkeit  haben 
werde,  mithin  aus  einem  moralischen  Grunde:  andrerseits  aber 
kann  er  doch  nur  etwas  fĂĽr  seine  Pflicht  anerkennen,  wenn  er 
auf  GlĂĽckseligkeit  rechnen  kann,  die  ihm  dadurch  erwachsen  wird, 
mithin  nach  pathologischem  Prinzip,  welches  gerade  das  Gegen- 
teil des  vorigen  ist. 

Ich  habe  an  einem  anderen  Orte  (der  Berlinischen  Monats- 
schrift) den  Unterschied  der  Lust,  welche  pathologisch  ist,  von 
der  moralischen,  wie  ich  glaube,  auf  die  einfachste  AusdrĂĽcke 
zurück  geführt.  Die  Lust  nämlich,  welche  vor  der  Befolgung 
des  Gesetzes  hergehen  muß,  damit  diesem  gemäß  gehandelt  werde, 
ist  pathologisch,  und  das  Verhalten  folgt  der  Natur  Ordnung; 
diejenige    aber,    vor    welcher    das    Gesetz    hergehen    muĂź,    damit 

sie  empfunden  werde,  ist  in  der  sittlichen  Ordnung. Wenn 

dieser  Unterschied  nicht  beobachtet  wird:  wenn  Eudämonie 
(das  GlĂĽckseligkeitsprinzip)  statt  der  Eleutheronomie  (des  Frei- 
heitsprinzips der  innern  Gesetzgebung)  zum  Grundsatze  aufgestellt 
wird,  so  ist  die  Folge  davon  Euthanasie  (der  sanfte  Tod)  aller 
Moral. 

Die  Ursache  dieser  Irrungen  ist  keine  andere  als  folgende.  Der 
kategorische  Imperativ,  aus  dem  diese  Gesetze  diktatorisch  hervor- 
gehen, will  denen,  die  bloß  an  physiologische  Erklärungen  gewohnt 
sind,  nicht  in  den  Kopf;  unerachtet  sie  sich  doch  durch  ihn  un- 
widerstehlich gedrungen  fĂĽhlen.  Der  Unmut  aber,  sich  das  nicht 
erklären   zu   können,  was  über  jenen   Kreis  gänzlich  hinaus  hegt 


Vorrede  187 

(die  Freiheit  der  WillkĂĽr),  so  seelenerhebend  auch  eben  dieser 
Vorzug  des  Menschen  ist,  einer  solchen  Idee  fähig  zu  sein,  reizt 
durch  die  stolzen  AnsprĂĽche  der  spekulativen  Vernunft,  die  sonst 
ihr  Vermögen  in  andern  Feldern  so  stark  fühlt,  die  für  die 
Allgewalt  der  theoretischen  Vernunft  VerbĂĽndeten  gleichsam  zum 
allgemeinen  Aufgebot,  sich  jener  Idee  zu  widersetzen  und  so  den 
moralischen  Freiheitsbegriff  jetzt  und  vielleicht  noch  lange,  obzwar 
am  Ende  doch  vergeblich,  anzufechten  und  womöghch  verdächtig 
zu  machen. 


Einleitung 
zur   Tugendlehre. 

Ethik  bedeutete  in  den  alten  Zeiten  die  Sittenlehre  (j)hilo~ 
Sophia  nioralis)  ĂĽberhaupt,  welche  man  auch  die  Lehre  von 
den  Pflichten  benannte.  In  der  Folge  hat  man  es  ratsam 
gefunden,  diesen  Namen  auf  einen  Teil  der  Sittenlehre,  nämlich  auf 
die  Lehre  von  den  Pflichten,  die  nicht  unter  äußeren  Gesetzen 
stehen,  allein  zu  ĂĽbertragen  (dem  man  im  Deutschen  den  Namen 
Tugendlehre  angemessen  gefunden  hat):  so  daĂź  jetzt  das  System 
der  allgemeinen  Pflichtenlehre  in  das  der  Rechtslehre  (jus'), 
welche  äußerer  Gesetze  fähig  ist,  und  der  Tugendlehre  {Eth'tca) 
eingeteilt  wird,  die  deren  nicht  fähig  ist;  wobei  es  denn  auch 
sein  Bewenden   haben  mag. 


L 

Erörterung  des   Begriffs  einer  Tugendlehre. 

Der  Pflichtbegriff  ist  an  sich  schon  der  Begriff  von  einer 
Nötigung  (Zwang)  der  freien  Willkür  durchs  Gesetz;  dieser 
Zwang  mag  nun  ein  äußerer  oder  ein  Selbstzwang  sein.  Der 
moralische  Imperativ  verkĂĽndigt  durch  seinen  kategorischen 
Ausspruch  (das  unbedingte  Sollen)  diesen  Zwang,  der  also  nicht 
auf  vernĂĽnftige  Wesen  ĂĽberhaupt  (deren  es  etwa  auch  heilige 
geben  könnte),  sondern  auf  Menschen  als  vernünftige  Natur- 
wesen geht,  die  dazu  unheilig  genug  sind,  daĂź  sie  die  Lust  wohl 
anwandeln  kann,  das  moralische  Gesetz,  ob  sie  gleich  dessen  An- 
sehen selbst  anerkennen,  doch  zu  ĂĽbertreten  und,  selbst  wenn 
sie  es  befolgen,  es  dennoch  ungern  (mit  Widerstand  ihrer  Neigung) 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre        i8p 

zu  tun,  als  worin  der  Zwang  eigentlich  besteht.')  —  Da  aber 
der  Mensch  doch  ein  freies  (moralisches)  Wesen  ist,  so  kann 
der  PflichtbegrifF  keinen  anderen  als  den  Selbstzwang  (durch 
die  Vorstellung  des  Gesetzes  allein)  enthalten,  wenn  es  auf  die 
innere  Willensbestimmung  (die  Triebfeder)  angesehen  ist,  denn 
dadurch  allein  wird  es  möglich,  jene  Nötigung  (selbst  wenn  sie 
eine  äußere  wäre)  mit  der  Freiheit  der  Willkür  zu  vereinigen, 
wobei  aber  alsdann  der  PflichtbegrifF  ein  ethischer  sein  wird. 

Die  Antriebe  der  Natur  enthalten  also  Hindernisse  der 
Pflichtvollziehung  im  Gemüt  des  Menschen  und  (zum  Teil  mächtig) 
widerstrebende  Kräfte,  die  also  zu  bekämpfen  und  durch  die 
Vernunft  nicht  erst  kĂĽnftig,  sondern  gleich  jetzt  (zugleich  mit 
dem  Gedanken)  zu  besiegen  er  sich  vermögend  urteilen  muß: 
nämlich  das  zu  können,  was  das  Gesetz  unbedingt  befiehlt,  daß 
er  tun  soll. 

Nun  ist  das  Vermögen  und  der  überlegte  Vorsatz  einem 
starken  aber  ungerechten  Gegner  Widerstand  zu  tun  die  Tapferkeit 
{^fort'ttudo)  und  in  Ansehung  des  Gegners  der  sittlichen  Gesinnung 
in  uns  TUGEND  (yirtus,  fort'itudo  moralis).  Also  ist  die  all- 
gemeine Pflichtenlehre  in  dem  Teil,  der  nicht  die  äußere  Freiheit, 
sondern  die  innere  unter  Gesetze  bringt,  eine  Tugendlehre. 

Die  Rechtslehre  hatte  es  bloĂź  mit  der  formalen  Bedingung 
der  äußeren  Freiheit  (durch  die  Zusammenstimmung  mit  sich  selbst, 
wenn  ihre  Maxime  zum  allgemeinen  Gesetz  gemacht  wurde),  d.  i. 
mit  dem  RECHT,  zu  tun.  Die  Ethik  dagegen  gibt  noch  eine  Materie 


^)  Der  Mensch  aber  findet  sich  doch  als  moralisches  Wesen 
zugleich,  wenn  er  sich  objektiv,  wozu  er  durch  seine  reine  praktische 
Vernunft  bestimmt  ist,  (nach  der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person) 
betrachtet,  heilig  genug,  um  das  innere  Gesetz  ungern  zu  ĂĽbertreten; 
denn  es  gibt  keinen  so  verruchten  Menschen,  der  bei  dieser  Ăśbertretung 
in  sich  nicht  einen  Widerstand  fiihlete  und  eine  Verabscheuung  seiner 
selbst,  bei  der  er  sich  selbst  Zwang  antun  muß.  —  Das  Phänomen  nun : 
daß  der  Mensch  auf  diesem  Scheidewege  (wo  die  schöne  Fabel  den 
Herkules  zwischen  Tugend  und  Wollust  hinstellt)  mehr  Hang  zeigt,  der 
Neigung  als  dem  Gesetz  Gehör  zu  geben,  zu  erklären  ist  unmöglich: 
weil  wir,  was  geschieht,  nur  erklären  können,  indem  wir  es  von  einer 
Ursache  nach  Gesetzen  der  Natur  ableiten;  wobei  wir  aber  die  WillkĂĽr 
nicht  als  frei  denken  wĂĽrden.  -  Dieser  wechselseitig  entgegengesetzte 
Selbstzwang  aber  und  die  Unvermeidlichkeit  desselben  gibt  doch  die 
unbegreifliche  Eigenschaft  der  Freiheit  selbst  zu  erkennen. 


ipo        Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 

(einen  Gegenstand  der  freien  WillkĂĽr),  einen  ZWECK  der  reinen 
Vernunft,  der  zugleich  als  objektiv -notwendiger  Zweck,  d.  i.  fĂĽr 
den  Menschen  als  Pflicht,  vorgestellt  wird,  an  die  Hand.  —  Denn 
da  die  sinnlichen  Neigungen  zu  Zwecken  (als  der  Materie  der 
Willkür)  verleiten,  die  der  Pflicht  zuwider  sein  können,  so  kann 
die  gesetzgebende  Vernunh  ihrem  EinfluĂź  nicht  anders  wehren, 
als  wiederum  durch  einen  entgegengesetzten  moralischen  Zweck, 
der  also  von   der  Neigung  unabhängig  a  priori  gegeben  sein  muß. 

Zweck  ist  ein  Gegenstand  der  WillkĂĽr  (eines  vernĂĽnftigen 
Wesens),  durch  dessen  Vorstellung  diese  zu  einer  Handlung  diesen 
Gegenstand  hervorzubringen  bestimmt  wird.  —  Nun  kann  ich 
zwar  zu  Handlungen,  die  als  Mittel  auf  einen  Zweck  gerichtet 
sind,  nie  aber  einen  Zweck  zu  haben  von  anderen  gezwungen 
werden,  sondern  ich  kann  nur  selbst  mir  etwas  zum  Zweck 
machen.  —  Daß  ich  aber  auch  verbunden  bin,  mir  irgend  etw^as, 
was  in  den  Begrifl^en  der  praktischen  Vernunh  liegt,  zum  Zwecke 
zu  machen,  mithin  auĂźer  dem  formalen  Bestimmungsgrunde  der 
Willkür  (wie  das  Recht  dergleichen  enthält)  noch  einen  materialen, 
einen  Zweck  zu  haben,  der  dem  Zweck  aus  sinnlichen  Antrieben 
entgegengesetzt  werden  könne:  dieses  würde  der  BegriflF  von  einem 
Zweck  sein,  der  an  sich  selbst  Pflicht  ist;  die  Lehre  des- 
selben aber  wĂĽrde  nicht  zu  der  des  Rechts,  sondern  zur  Ethik 
gehören,  als  welche  allein  den  Selbstzwang  nach  (moralischen) 
Gesetzen  in  ihrem  Begriffne   mit  sich  fuhrt. 

Aus  diesem  Grunde  kann  die  Ethik  auch  als  das  System  der 
Zwecke  der  reinen  praktischen  Vernunft  definiert  werden.  — 
Zweck  und  Pflicht  unterscheiden  die  zwei  Abteilungen  der  all- 
gemeinen Sittenlehre.  DaĂź  die  Ethik  Pflichten  enthalte,  zu  deren 
Beobachtung  man  von  andern  nicht  (physisch)  gezwungen  werden 
kann,  ist  bloĂź  die  Folge  daraus,  daĂź  sie  eine  Lehre  der  Zwecke 
ist,  weil  dazu  (sie  zu   haben)   ein  Zwang  sich  selbst  widerspricht. 

Daß  aber  die  Ethik  eine  Tugendlehre  {äoctrina  ofßciorum  virtutis) 
sei,  folgt  aus  der  obigen  Erklärung  der  Tugend,  verglichen  mit  der 
Verpflichtung,  deren  Eigentümlichkeit  soeben  gezeiget  worden.  — 
Es  gibt  nämlich  keine  andere  Bestimmung  der  Willkür,  die  durch 
ihren  Begrifft  schon  dazu  geeignet  wäre,  von  der  Willkür  anderer 
selbst  physisch  nicht  gezwungen  werden  zu  können,  als  nur  die  zu 
einem  Zwecke.  Ein  anderer  kann  mich  zwar  zwingen  etwas 
zu  tun,  was  nicht  mein  Zweck  (sondern  nur  Mittel  zum  Zweck 
eines  anderen)  ist,  aber  nicht   dazu,   daĂź  ich  es   mir  zum  Zweck 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlchre       191 

mache,  und  doch  kann  ich  keinen  Zweck  haben,  ohne  ihn  mir 
zu  machen.  Das  letztere  ist  ein  Widerspruch  mit  sich  selbst: 
ein  Akt  der  Freiheit,  der  doch  zugleich  nicht  frei  ist.  —  Aber 
sich  selbst  einen  Zweck  zu  setzen,  der  zugleich  Pflicht  ist,  ist 
kein  Widerspruch:  weil  ich  da  mich  selbst  zwinge,  welches  mit 
der  Freiheit  gar  wohl  zusammen  besteht.')  —  Wie  ist  aber  ein 
solcher  Zweck  möglich?  das  ist  jetzt  die  Frage.  Denn  die  Möglich- 
keit des  BegrifFs  von  einer  Sache  (daĂź  er  sich  nicht  widerspricht) 
ist  noch  nicht  hinreichend  dazu,  um  die  Möglichkeit  der  Sache 
selbst  (die   objektive  Realität  des  BegrifFs)   anzunehmen. 


II. 

Erörterung  des  BegrifFs  von  einem  Zwecke,  der  zugleich 

Pflicht  ist. 

Man  kann  sich  das  Verhältnis  des  Zwecks  zur  Pflicht  auf 
zweierlei  Art  denken:  entweder,  von  dem  Zwecke  ausgehend, 
die  Maxime  der  pflichtmäßigen  Handlungen,  oder  umgekehrt, 
von  dieser  anhebend,  den  Zweck  ausfindig  zu  machen,  der  zu- 
gleich Pflicht  ist.  —  Die  Rechtslehre  geht  auf  dem  ersten  Wege. 
Es  wird  jedermanns  freier  WillkĂĽr  ĂĽberlassen,  welchen  Zweck  er 
sich  fĂĽr  seine  Handlung  setzen  wolle.  Die  Maxime  derselben 
aber  ist  a  priori  bestimmt:  daß  nämlich  die  Freiheit  des  Handeln- 
den mit  jedes  anderen  Freiheit  nach  einem  allgemeinen  Gesetz 
zusammen  bestehen  könne. 

Die  Ethik  aber  nimmt  einen  entgegengesetzten  Weg.  Sie 
kann  nicht  von  den  Zwecken  ausgehen,  die  der  Mensch  sich 
setzen  mag  und  darnach  ĂĽber  seine  zu  nehmende  Maximen,  d.   i. 


^)  Je  weniger  der  Mensch  physisch,  je  mehr  er  dagegen  moralisch 
(durch  die  bloĂźe  Vorstellung  der  Pflicht)  kann  gezwungen  werden, 
desto  freier  ist  er.  —  Der  so  z.  B.  von  genugsam  fester  Entschließung 
und  starker  Seele  ist  eine  Lustbarkeit,  die  er  sich  vorgenommen  hat, 
nicht  aufzugeben,  man  mag  ihm  noch  so  viel  Schaden  vorstellen,  den  er 
sich  dadurch  zuzieht,  aber  auf  die  Vorstellung,  daĂź  er  hiebei  eine 
Amtspflicht  verabsäume,  oder  einen  kranken  Vater  vernachlässige,  von 
seinem  Vorsatz  unbedenklich,  obzwar  sehr  ungern,  absteht,  beweist 
eben  damit  seine  Freiheit  im  höchsten  Grade,  daß  er  der  Stimme  der 
Pflicht  nicht  widerstehen  kann. 


ipi       Metaphysische  A^tfangs grĂĽnde  der  Tugendlehre 

über  seine  Pflicht,  verFügen;  denn  das  wären  empirische  Gründe 
der  Maximen,  die  keinen  Pflichtbegritf  abgeben,  als  welcher  (das 
kategorische  Sollen)  in  der  reinen  Vernunft  allein  seine  Wurzel 
hat;  wie  denn  auch,  wenn  die  Maximen  nach  jenen  Zwecken 
(welche  alle  selbstsĂĽchtig  sind)  genommen  werden  sollten,  vom 
Prtichtbegriff  eigentlich  gar  nicht  die  Rede  sein  könnte.  —  Also 
wird  in  der  Ethik  der  Pflichtbegriff  auf-  Zwecke  leiten  und 
die  Maximen  in  Ansehung  der  Zwecke,  die  wir  uns  setzen 
sollen,  nach   moralischen   Grundsätzen   begründen  müssen. 

Dahin  gestellt:  was  denn  das  fĂĽr  ein  Zweck  sei,  der  an  sich 
selbst  Pflicht  ist,  und  wie  ein  solcher  möglich  sei,  ist  hier  nur 
noch  zu  zeigen  nötig,  daß  und  warum  eine  Pflicht  dieser  Art 
den  Namen   einer  Tugendpflicht  fĂĽhre. 

Aller  Pflicht  korrespondiert  ein  Recht,  als  Befugnis  (^facultas 
moralis  generatim)  betrachtet,  aber  nicht  aller  Pflicht  korrespondieren 
Rechte  eines  anderen  (^facultas  turidicd)  jemand  zu  zwingen; 
sondern  diese  heißen  besonders  Rechtspflichten.  —  Ebenso 
korrespondiert  aller  ethischen  Verbindlichkeit  der  Tugendbe- 
griff^,  aber  nicht  alle  ethische  Pflichten  sind  darum  Tugendpflichten. 
Diejenige  nämlich  sind  es  nicht,  welche  nicht  sowohl  einen  ge- 
wissen Zweck  (Materie,  Objekt  der  WillkĂĽr),  als  bloĂź  das 
Förmliche  der  sittlichen  Willensbestimmung  (z.  B.  daß  die 
pflichmäßige  Handlung  auch  aus  Pflicht  geschehen  müsse)  be- 
treflFen.  Nur  ein  Zweck,  der  zugleich  Pflicht  ist,  kann 
TUGENDPFLICHT  genarmt  werden.  Daher  gibt  es  mehrere  der 
letztern  (auch  verschiedene  Tugenden);  dagegen  von  der  ersteren 
nur  eine,  aber  fĂĽr  alle  Handlungen  gĂĽltige  (tugendhafte  Gesinnung) 
gedacht  wird. 

Die  Tugendpflicht  ist  von  der  Rechtspflicht  wesentlich  darin 
unterschieden:  daß  zu  dieser  ein  äußerer  Zwang  moralisch-möglich 
ist,  jene  aber  auf  dem  freien  Selbstzwange  allein  beruht.  —  Für 
endliche  heilige  Wesen  (die  zur  Verletzung  der  Pflicht  gar  nicht 
einmal  versucht  werden  können)  gibt  es  keine  Tugendlehre,  sondern 
bloĂź  Sittenlehre,  welche  letztere  eine  Autonomie  der  praktischen 
Vernunft  ist,  indessen  daĂź  die  erstere  zugleich  eine  Autokratie 
derselben,  d.  i.  ein,  wenngleich  nicht  unmittelbar  wahrgenommenes, 
doch  aus  dem  sittlichen  kategorischen  Imperativ  richtig  geschlossenes 
Bewußtsein  des  Vermögens  enthält,  über  seine  dem  Gesetz 
widerspenstige  Neigungen  Meister  zu  werden:  so  daĂź  die  mensch- 
liche   Moralität    in    ihrer    höchsten    Stufe    doch    nichts    mehr    als 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der   Tugendlehre       15^3 

Tugend  sein  kann;  selbst  wenn  sie  ganz  rein  (vom  EinflĂĽsse  aller 
fremdartigen  Triebfeder  als  der  der  Pflicht  völlig  frei)  wäre,  da 
sie  dann  gemeiniglich  als  ein  Ideal  (dem  man  stets  sich  annähern 
mĂĽsse)  unter  dem  Namen  des  Weisen  dichterisch  personifiziert 
wird. 

Tugend  ist  aber  auch  nicht  bloĂź  als  Fertigkeit  und  (wie 
die  Preisschrift  des  Hofpredigers  Cochius  sich  ausdrĂĽckt)  fĂĽr  eine 
lange,  durch  Ăśbung  erworbene  Gewohnheit  moralisch-guter 
Handlungen  zu  erklären  und  zu  würdigen.  Denn  wenn  diese 
nicht  eine  Wirkung  überlegter,  fester  und  immer  mehr  geläuterter 
Grundsätze  ist,  so  ist  sie  wie  ein  jeder  andere  Mechanism  aus 
technisch-praktischer  Vernunft  weder  auf  alle  Fälle  gerüstet,  noch 
vor  der  Veränderung,  die  neue  Anlockungen  bewirken  können, 
hinreichend  gesichert. 

Anmerkung. 

Der  Tugend  =  +  a  ist  die  negative  Untugend  (mora- 
lische Schwäche)  =  0  als  logisches  Gegenteil  (contradictorie 
oppositum),  das  Laster  aber  =  —  a  als  Widerspiel  (contrarie 
s.  realiter  opposituni)  entgegengesetzt,  und  es  ist  eine  nicht 
bloß  unnötige,  sondern  auch  anstößige  Frage:  ob  zu  großen 
Verbrechen  nicht  etwa  mehr  Stärke  der  Seele  als  selbst  zu 
großen  Tugenden  gehöre.  Denn  unter  Stärke  der  Seele 
verstehen  wir  die  Stärke  des  Vorsatzes  eines  Menschen,  als 
mit  Freiheit  begabten  Wesens,  mithin  sofern  er  seiner  selbst 
mächtig  (bei  Sinnen)  ist,  also  im  gesunden  Zustande  des 
Menschen.  GroĂźe  Verbrechen  aber  sind  Paroxysmen,  deren 
Anblick  den  an  Seele  gesunden  Menschen  schaudern  macht. 
Die  Frage  wĂĽrde  also  etwa  dahin  auslaufen:  ob  ein  Mensch 
im  Anfall  einer  Raserei  mehr  physische  Stärke  haben  könne, 
als  wenn  er  bei  Sinnen  ist;  welches  man  einräumen  kann, 
ohne  ihm  darum  mehr  Seelenstärke  beizulegen,  wenn  man 
unter  Seele  das  Lebensprinzip  des  Menschen  im  freien  Ge- 
brauch seiner  Kräfte  versteht.  Denn  weil  jene  bloß  in  der 
Macht  der  die  Vernunft  schwächenden  Neigungen  ihren 
Grund  haben,  welches  keine  Seelenstärke  beweiset,  so  würde 
diese  Frage  mit  der  ziemlich  auf  einerlei  hinauslaufen:  ob 
ein  Mensch  im  Anfall  einer  Krankheit  mehr  Stärke  als  im 
gesunden  Zustande  beweisen  könne,  welche  geradezu  ver- 
neinend   beantwortet    werden    kann,    weil    der    Mangel    der 

Kants  Schriften.    Bd.  VII.  13 


194       Metaphysische  Anfangsgrihide  der  Tugendlehre 

Gesundheit,  die  im  Gleichgewicht  aller  körperlichen  Kräfte 
des  Menschen  besteht,  eine  Schwächung  im  System  dieser 
KräFte  ist,  nach  welchem  man  allein  die  absolute  Gesundheit 
beurteilen   kann. 

III. 

Von  dem  Grunde  sich  einen  Zweck,  der  zugleich  Pflicht 

ist,  zu  denken. 

Zweck  ist  ein  Gegenstand  der  freien  WillkĂĽr,  dessen 
Vorstellung  diese  zu  einer  Handlung  bestimmt,  wodurch  jener 
hervorgebracht  wird.  Eine  jede  Handlung  hat  also  ihren  Zweck, 
und  da  niemand  einen  Zweck  haben  kann,  ohne  sich  den  Gegen- 
stand seiner  WillkĂĽr  selbst  zum  Zweck  zu  machen,  so  ist  es 
ein  Akt  der  Freiheit  des  handelnden  Subjekts,  nicht  eine  Wir- 
kung der  Natur  irgendeinen  Zweck  der  Handlungen  zu  haben. 
Weil  aber  dieser  Akt,  der  einen  Zweck  bestimmt,  ein  praktisches 
Prinzip  ist,  welches  nicht  die  Mittel  (mithin  nicht  bedingt),  sondern 
den  Zweck  selbst  (folglich  unbedingt)  gebietet,  so  ist  es  ein 
kategorischer  Imperativ  der  reinen  praktischen  Vernunft,  mithin 
ein  solcher,  der  einen  Pflichtbegriff  mit  dem  eines  Zwecks  ĂĽber- 
haupt verbindet. 

Es  muĂź  nun  einen  solchen  Zweck  und  einen  ihm  korrespon- 
dierenden kategorischen  Imperativ  geben.  Denn  da  es  freie  Hand- 
lungen gibt,  so  muĂź  es  auch  Zwecke  geben,  auf  welche  als  Objekt 
jene  gerichtet  sind.  Unter  diesen  Zwecken  aber  muĂź  es  auch 
einige  geben,  die  zugleich  (d.  i.  ihrem  Begriffe  nach)  Pflichten 
sind.  —  Denn  gäbe  es  keine  dergleichen,  so  würden,  weil  doch 
keine  Handlung  zwecklos  sein  kann,  alle  Zwecke  fĂĽr  die  praktische 
Vernunft  immer  nur  als  Mittel  zu  andern  Zwecken  gelten,  und 
ein  kategorischer  Imperativ  wäre  unmöglich;  welches  alle 
Sittenlehre   aufhebt. 

Hier  ist  also  nicht  von  Zwecken,  die  der  Mensch  sich  nach 
sinnlichen  Antrieben  seiner  Natur  macht,  sondern  von  Gegen- 
ständen der  freien  Willkür  unter  ihren  Gesetzen  die  Rede,  welche 
er  sich  zum  Zweck  machen  soll.  Man  kann  jene  die  technische 
(subjektive),  eigentlich  pragmatische,  die  Regel  der  Klugheit  in 
der  Wahl  seiner  Zwecke  enthaltende:  diese  aber  muĂź  man  die 
moralische   (objektive)  Zwecklehre  nennen;  welche  Unterscheidung 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre       195 

hier  doch  ĂĽberflĂĽssig  ist,  weil  die  Sittenlehre  sich  schon  durch 
ihren  Begriff  von  der  Naturlehre  (hier  der  Anthropologie)  deutlich 
absondert,  als  welche  letztere  auf  empirischen  Prinzipien  beruhet, 
dagegen  die  moralische  Zwecklehre,  die  von  Pflichten  handelt, 
auf  a  priori  in  der  reinen  praktischen  Vernunft  gegebenen  Prin- 
zipien  beruht. 


IV. 
Welche  sind  die  Zwecke,   die  zugleich  Pflichten  sind? 

Sie  sind;  Eigene  Vollkommenheit  —  fremde  Glückselig- 
keit. 

Man  kann  diese  nicht  gegeneinander  umtauschen  und  eigene 
GlĂĽckseligkeit  einerseits  mit  fremder  Vollkommenheit  anderer- 
seits zu  Zwecken  machen,  die  an  sich  selbst  Pflichten  derselben 
Person  wären. 

Derm  eigene  GlĂĽckseligkeit  ist  ein  Zweck,  den  zwar  alle 
Menschen  (vermöge  des  Antriebes  ihrer  Natur)  haben,  nie  aber 
kann  dieser  Zweck  als  Pflicht  angesehen  werden^  ohne  sich  selbst 
zu  widersprechen.  Was  ein  jeder  unvermeidlich  schon  von  selbst 
will,  das  gehört  nicht  unter  den  Begriff  von  Pflicht;  denn  diese 
ist  eine  Nötigung  zu  einem  ungern  genommenen  Zweck.  Es 
widerspricht  sich  also  zu  sagen:  man  sei  verpflichtet,  seine 
eigene  Glückseligkeit  mit  allen  Kräften  zu  befördern. 

Ebenso  ist  es  ein  Widerspruch:  eines  anderen  Vollkommen- 
heit mir  zum  Zweck  zu  machen  und  mich  zu  deren  Beförderung 
fĂĽr  verpflichtet  zu  halten.  Denn  darin  besteht  eben  die  Voll- 
kommenheit eines  andern  Menschen,  als  einer  Person,  daĂź  er 
selbst  vermögend  ist,  sich  seinen  Zweck  nach  seinen  eigenen 
Begriffen  von  Pflicht  zu  setzen,  und  es  widerspricht  sich,  zu  fordern 
(mir  zur  Pflicht  zu  machen),  daĂź  ich  etwas  tun  soll,  was  kein 
anderer  als  er  selbst  tun  kann. 


ipö        Metaphysische  Anfangsgründe  der   Tugendlehre 

V. 
Erläuterung   dieser  zwei  Begriffe. 


Eigene    Vollkommenheit. 

Das  Wort  Vollkommenheit  ist  mancher  MiĂźdeutung  aus- 
gesetzt. Es  wird  bisweilen  als  ein  zur  Transzendentalphilosophie 
gehörender  Begriff  der  Allheit  des  Mannigfaltigen,  was  zusammen- 
genommen ein  Ding  ausmacht,  —  dann  aber  auch,  als  zur 
Teleologie  gehörend,  so  verstanden,  daß  es  die  Zusammenstimmung 
der  Beschaffenheiten  eines  Dinges  zu  einem  Zwecke  bedeutet.  Man 
könnte  die  Vollkommenheit  in  der  ersteren  Bedeutung  die 
quantitative  (materiale),  in  der  zweiten  die  qualitative  (formale) 
Vollkommenheit  nennen.  Jene  kann  nur  eine  sein  (denn  das  All 
des  einem  Dinge  Zugehörigen  ist  Eins).  Von  dieser  aber  kann 
es  in  einem  Dinge  mehrere  geben,  und  von  der  letzteren  wird 
hier  auch  eigentlich  gehandelt. 

Wenn  von  der  dem  Menschen  ĂĽberhaupt  (eigentlich  der 
Menschheit)  zugehörigen  Vollkommenheit  gesagt  wird:  daß,  sie 
sich  zum  Zweck  zu  machen,  an  sich  selbst  Pflicht  sei,  so  maĂź 
sie  in  demjenigen  gesetzt  weiden,  was  Wirkung  von  seiner  Tat 
sein  kann,  nicht  was  bloĂź  Geschenk  ist,  das  er  der  Natur  verdanken 
muß;  denn  sonst  wäre  sie  nicht  Pflicht.  Sie  kann  also  nichts 
anders  sein  als  Kultur  seines  Vermögens  (oder  der  Naturanlage), 
in  welchem  der  Verstand  als  Vermögen  der  Begriffe,  mithin  auch 
deren,  die  auf  Pflicht  gehen,  das  oberste  ist,  zugleich  aber  auch 
seines  Willens  (sitthcher  Denkungsart)  alier  Pflicht  ĂĽberhaupt 
ein  GnĂĽge  zu  tun.  i)  Es  ist  ihm  Pflicht:  sich  aus  der  Rohigkeit 
seiner  Natur,  aus  der  Tierheit  {quoad  actuni)^  immer  mehr  zur 
Menschheit,  durch  die  er  allein  fähig  ist,  sich  Zwecke  zu  setzen, 
empor  zu  arbeiten:  seine  Unwissenheit  durch  Belehrung  zu  er- 
gänzen und  seine  Irrtümer  zu  verbessern,  und  dieses  ist  ihm  nicht 
bloĂź  die  technisch-praktische  Vernunft  zu  seinen  anderweitigen 
Absichten  (der  Kunst)  anrätig,  sondern  die  moralisch-praktische 
gebietet  es  ihm  schlechthin  und  macht  diesen  Zweck  ihm  zur 
Pflicht,  um  der  Menschheit,  die  in  ihm  wohnt,  wĂĽrdig  zu  sein. 
2)  Die  Kultur  seines  Willens  bis  zur  reinesten  Tugendgesinnung, 
da    nämlich    das    Gesetz    zugleich    die    Triebfeder    seiner    pflicht- 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre       197 

mäßigen  Handlungen  wird,  zu  erheben  und  ihm  aus  Pflicht  zu 
gehorchen,  welches  innere  moralisch-praktische  Vollkommenheit 
ist,  die,  weil  es  ein  GefĂĽhl  der  Wirkung  ist,  welche  der  in  ihm 
selbst  gesetzgebende  Wille  auf  das  Vermögen  ausübt  darnach  zu 
handeln,  das  moralische  GefĂĽhl,  gleichsam  ein  besonderer  Sinn 
{sensus  moralis\  ist,  der  zwar  freilich  oft  schwärmerisch,  als  ob 
er  (gleich  dem  Genius  des  SOKRATES)  vor  der  Vernunft  vor- 
hergehe, oder  auch  ihr  Urteil  gar  entbehren  könne,  mißbraucht 
wird,  doch  aber  eine  sittliche  Vollkommenheit  ist,  jeden  besonderen 
Zweck,  der  zugleich  Pflicht  ist,  sich  zum  Gegenstande  zu  machen. 

B. 

Fremde    GlĂĽckseligkeit. 

GlĂĽckseligkeit,  d.  i.  Zufriedenheit  mit  seinem  Zustande,  sofern 
man  der  Fortdauer  derselben  gewiĂź  ist,  sich  zu  wĂĽnschen  und 
zu  suchen  ist  der  menschlichen  Natur  unvermeidlich;  eben  darum 
aber  auch  nicht  ein  Zweck,  der  zugleich  Pflicht  ist.  —  Da  einige 
noch  einen  Unterschied  zwischen  einer  moralischen  und  physischen 
GlĂĽckseligkeit  machen  (deren  erstere  in  der  Zufriedenheit  mit 
seiner  Person  und  ihrem  eigenen  sittlichen  Verhalten,  also  mit 
dem,  was  man  tut,  die  andere  mit  dem,  was  die  Natur  beschert, 
mithin  was  man  als  fremde  Gabe  genieĂźt,  bestehe):  so  muĂź 
man  bemerken,  daĂź,  ohne  den  MiĂźbrauch  des  Worts  hier  zu 
rügen  (das  schon  einen  Widerspruch  in  sich  enthält),  die  erstere 
Art  zu  empfinden  allein  zum  vorigen  Titel,  nämlich  dem  der 
Vollkommenheit,  gehöre.  —  Denn  der,  welcher  sich  im  bloßen 
BewuĂźtsein  seiner  RechtschaflTenheit  glĂĽcklich  fĂĽhlen  soll,  besitzt 
schon  diejenige  Vollkommenheit,  die  im  vorigen  Titel  fĂĽr  den- 
jenigen Zweck  erklärt  war,  der  zugleich  Pflicht  ist. 

Wenn  es  also  auf  GlĂĽckseligkeit  ankommt,  worauf  als  meinen 
Zweck  hinzuwirken  es  Pflicht  sein  soll,  so  muĂź  es  die  GlĂĽck- 
seligkeit anderer  Menschen  sein,  deren  (erlaubten)  Zweck  ich 
hiemit  auch  zu  dem  meinigen  mache.  Was  diese  zu  ihrer 
Glückseligkeit  zählen  mögen,  bleibt  ihnen  selbst  zu  beurteilen 
ĂĽberlassen;  nur  daĂź  mir  auch  zusteht,  manches  zu  weigern,  was 
sie  dazu  rechnen,  was  ich  aber  nicht  dafĂĽr  halte,  wenn  sie  sonst 
kein  Recht  haben,  es  als  das  Ihrige  von  mir  zu  fordern.  Jenem 
Zweck  aber  eine  vorgebliche  Verbindlichkeit  entgegen  zu  setzen. 


1 9  8        Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 

meine  eigene  (physische)  GlĂĽcksehgkeit  auch  besorgen  zu  mĂĽssen, 
und  so  diesen  meinen  natĂĽrlichen  und  bloĂź  subjektiven  Zweck 
zur  Pflicht  (objektiven  Zweck)  machen,  ist  ein  scheinbarer,  mehr- 
mals gebrauchter  Einwurf  gegen  die  obige  Einteilung  der  Pflichten 
(No.  IV)  und   bedarf  einer  Zurechtweisung. 

Widerwärtigkeiten,  Schmerz  und  Mangel  sind  große  Ver- 
suchungen zu  Übertretung  seiner  Pflicht.  Wohlhabenheit,  Stärke, 
Gesundheit  und  Wohlfahrt  ĂĽberhaupt,  die  jenem  EinflĂĽsse  entgegen 
stehen,  können  also  auch,  wie  tz  scheint,  als  Zwecke  angesehen 
werden,  die  zugleich  Pflicht  sind;  nämlich  seine  eigene  Glück- 
seligkeit zu  befördern  und  sie  nicht  bloß  auf  fremde  zu  richten.  — 
Aber  alsdenn  ist  diese  nicht  der  Zweck,  sondern  die  Sittlichkeit 
des  Subjekts  ist  es,  von  welchem  die  Hindernisse  wegzuräumen, 
es  bloĂź  das  erlaubte  Mittel  ist;  da  niemand  anders  ein  Recht 
hat,  von  mir  Aufopferung  meiner  nicht  unmoralischen  Zwecke 
zu  fordern.  Wohlhabenheit  fĂĽr  sich  selbst  zu  suchen  ist  direkt 
nicht  Pflicht;  aber  indirekt  kann  es  eine  solche  wohl  sein:  nämlich 
Armut,  als  eine  groĂźe  Versuchung  zu  Lastern,  abzuwehren.  Als- 
dann aber  ist  es  nicht  meine  GlĂĽckseligkeit,  sondern  meine 
Sittlichkeit,  deren  Integrität  zu  erhalten  mein  Zweck  und  zugleich 
meine  Pflicht  ist. 


VI. 

Die  Ethik  gibt  nicht  Gesetze  fĂĽr  die  Handlungen  (denn 
das    tut    das    lus\    sondern    nur    fĂĽr    die   Maximen   der 

Handlungen. 

Der  Pflichtbegriff  steht  unmittelbar  in  Beziehung  auf  ein 
Gesetz  (wenn  ich  gleich  noch  von  allem  Zweck  als  der  Materie 
desselben  abstrahiere);  wie  denn  das  formale  Prinzip  der  Pflicht  im 
kategorischen  Imperativ:  „Handle  so,  daß  die  Maxime  deiner 
Handlung  ein  allgemeines  Gesetz  werden  könne"  es  schon  anzeigt; 
nur  daĂź  in  der  Ethik  dieses  als  das  Gesetz  deines  eigenen 
Willens  gedacht  wird,  nicht  des  Willens  ĂĽberhaupt,  der  auch 
der  Wille  anderer  sein  könnte:  wo  es  alsdenn  eine  Rechtspflicht 
abgeben  würde,  die  nicht  in  das  Feld  der  Ethik  gehört.  —  Die 
Maximen  werden  hier  als  solche  subjektive  Grundsätze  angesehen, 
die  sich  zu  einer  allgemeinen   Gesetzgebung  bloĂź   qualifizieren; 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre       1 9  9 

welches  nur  ein  negatives  Prinzip  (einem  Gesetz  ĂĽberhaupt  nicht 
zu  widerstreiten)  ist.  —  Wie  kann  es  aber  dann  noch  ein  Ge- 
setz fĂĽr  die  Maxime   der  Handlungen  geben? 

Der  Begriff  eines  Zwecks,  der  zugleich  Pflicht  ist,  welcher 
der  Ethik  eigentümlich  zugehört,  ist  es  allein,  der  ein  Gesetz  für 
die  Maximen  der  Handlungen  begrĂĽndet,  indem  der  subjektive 
Zweck  (den  jedermann  hat)  dem  objektiven  (den  sich  jedermann 
dazu  machen  soll)  untergeordnet  wird.  Der  Imperativ:  „Du  sollst 
dir  dieses  oder  jenes  (z.  B.  die  GlĂĽckseHgkeit  anderer)  zum  Zweck 
machen"  geht  auf  die  Materie  der  WillkĂĽr  (ein  Objekt).  Da 
nun  keine  freie  Handlung  möglich  ist,  ohne  daß  der  Handelnde 
hiebei  zugleich  einen  Zweck  (als  Materie^  der  WillkĂĽr)  beabsichtigte, 
so  muĂź,  wenn  es  einen  Zweck  gibt,  der  zugleich  Pflicht  ist,  die 
Maxime  der  Handlungen  als  Mittel  zu  Zwecken  nur  die  Bedingung 
der  Qualifikation  zu  einer  möglichen  allgemeinen  Gesetzgebung 
enthalten;  wogegen  der  Zweck,  der  zugleich  Pflicht  ist,  es  zu 
einem  Gesetz  machen  kann,  eine  solche  Maxime  zu  haben,  indessen 
daß  für  die  Maxime  selbst  die  bloße  Möglichkeit  zu  einer  ali- 
gemeinen   Gesetzgebung   zusammenzustimmen   schon    genug   ist. 

Denn  Maximen  der  Handlungen  können  willkürlich  sein 
und  stehen  nur  unter  der  einschränkenden  Bedingung  der  Habilität 
zu  einer  allgemeinen  Gesetzgebung,  als  formalem  Prinzip  der 
Handlungen.  Ein  Gesetz  aber  hebt  das  WillkĂĽrliche  der  Hand- 
lungen auf  und  ist  darin  von  aller  Anpreisung  (da  bloĂź  die 
schicklichsten  Mittel  zu  einem  Zwecke  zu  wissen  verlangt  werden) 
unterschieden. 


VIJ. 

Die    ethischen   Pflichten    sind   von    weiter,    dagegen    die 
Rechtspflichten  von  enger  Verbindlichkeit. 

Dieser  Satz  ist  eine  Folge  aus  dem  vorigen ;  denn  wenn  das 
Gesetz  nur  die  Maxime  der  Handlungen,  nicht  die  Handlungen 
selbst  gebieten  kann,  so  ists  ein  Zeichen,  daĂź  es  der  Befolgung 
(Observanz)  einen  Spielraum  {latitudo)  fĂĽr  die  freie  WillkĂĽr  ĂĽber- 
lasse, d.  i.  nicht  bestimmt  angeben  könne,  wie  und  wieviel  durch 
die  Handlung  zu  dem  Zweck,  der  zugleich  Pflicht  ist,  gewirkt 
werden    solle.    —   Es    wird    aber  unter    einer  weiten  Pflicht  nicht 


ZOO        Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre* 

eine  Erlaubnis  zu  Ausnahmen  von  der  Maxime  der  Handlungen, 
sondern  nur  die  der  Einschränkung  einer  Pflichtmaximc  durch 
die  andere  (z.  B.  die  allgemeine  Nächstenliebe  durch  die  Eltern- 
liebe) verstanden,  wodurch  in  der  Tat  das  Feld  fĂĽr  die  Tugend- 
praxis erweitert  wird.  —  Je  weiter  die  Pflicht,  je  unvollkommener 
also  die  Verbindlichkeit  des  Menschen  zur  Handlung  ist,  je  näher 
er  gleichwohl  die  Maxime  der  Observanz  derselben  (in  seiner 
Gesinnung)  der  engen  Pflicht  (des  Rechts)  bringt,  desto  voll- 
kommener ist  seine  Tugendhandlung. 

Die  unvollkommenenPflichten  sind  also  alleinTugend pflichten. 
Die  ErfĂĽllung  derselben  ist  Verdienst  {vier'ttuiji)  =  +  a:  ihre 
Übertretung  aber  ist  nicht  sofort  Verschuldung  {demerituin)  =  —  a, 
sondern  bloĂź  moralischer  Unwert  =  0,  auĂźer  wenn  es  dem 
Subjekt  Grundsatz  wäre,  sich  jenen  Pflichten  nicht  zu  fügen. 
Die  Stärke  des  Vorsatzes  im  ersteren  heißt  eigentlich  allein  Tugend 
(yirtus),  die  Schwäche  in  der  zweiten  nicht  sowohl  Laster  (yitium) 
als  vielmehr  bloß  Untugend,  Mangel  an  moralischer  Stärke 
(defectus  moralis).  (Wie  das  Wort  Tugend  von  taugen,  so  stammt 
Untugend  von  zu  nichts  taugen.)  Eine  jede  pflichtwidrige  Hand- 
lung heißt  Übertretung  {feccatuni).  Die  vorsätzliche  Übertretung 
aber,  die  zum  Grundsatz  geworden  ist,  macht  eigentlich  das  aus, 
was  man  Laster  (yitium)  nennt. 

Obzwar  die  Angemessenheit  der  Handlungen  zum  Rechte 
(ein  rechtlicher  Mensch  zu  sein)  nichts  Verdienstliches  ist,  so  ist 
doch  die  der  Maxime  solcher  Handlungen,  als  Pflichten,  d.  i.  die 
Ach  tun  g  fĂĽrs  Recht,  verdienstlich.  Denn  der  Mensch  macht 
sich  dadurch  das  Recht  der  Menschheit,  oder  auch  der  Menschen 
zum  Zweck  und  erweitert  dadurch  seinen  Pflichtbegriff^  ĂĽber  den 
der  Schuldigkeit  (officium  debin):  weil  ein  anderer  aus  seinem 
Rechte  wohl  Handlungen  nach  dem  Gesetz,  aber  nicht  daĂź  dieses 
auch  zugleich  die  Triebfeder  zu  denselben  enthalte,  von  mir  fordern 
kann.  Eben  dieselbe  Bewandtnis  hat  es  auch  mit  dem  allgemeinen 
ethischen  Gebote:  „Handle  pflichtmäßig  aus  Pflicht."  Diese  Ge- 
sinnung in  sich  zu  grĂĽnden  und  zu  beleben,  ist  so  wie  die  vorige 
verdienstlich:  weil  sie  ĂĽber  das  Pflichtgesetz  der  Handlungen 
hinausgeht  und  das  Gesetz  an  sich  zugleich  zur  Triebfeder 
macht. 

Aber  eben  darum  mĂĽssen  auch  diese  Pflichten  zur  weiten 
Verbindlichkeit  gezählt  werden,  in  Ansehung  deren  ein  subjektives 
Prinzip    ihrer    ethischen   Belohnung  (und   zwar  um   sie    dem  Be- 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre       201 

griffe  einer  engen  Verbindlichkeit  so  nahe  als  möglich  zu  bringen), 
d.  i.  der  Empfänglichkeit  derselben  nach  dem  Tugendgesetze,  statt- 
findet, nämlich  einer  moralischen  Lust,  die  über  die  bloße  Zu- 
friedenheit mit  sich  selbst  (die  bloĂź  negativ  sein  kann)  hinaus- 
geht, und  von  der  man  rĂĽhmt,  daĂź  die  Tugend  in  diesem  Be- 
wuĂźtsein ihr  eigener  Lohn  sei. 

Wenn  dieses  Verdienst  ein  Verdienst  des  Menschen  um  andere 
Menschen  ist,  ihren  natĂĽrlichen  und  von  allen  Menschen  daFĂĽr 
anerkannten  Zweck  zu  befördern  (ihre  Glückseligkeit  zu  der 
seinigen  zu  machen),  so  könnte  man  dies  das  süße  Verdienst 
nennen,  dessen  BewuĂźtsein  einen  moralischen  GenuĂź  verschafft, 
in  welchem  Menschen  durch  Mitfreude  zu  schwelgen  geneigt 
sind;  indessen  daĂź  das  sauere  Verdienst,  anderer  Menschen 
wahres  Wohl,  auch  wenn  sie  es  fĂĽr  ein  solches  nicht  erkenneten, 
(an  Unerkenntlichen,  Undankbaren)  doch  zu  befördern,  eine  solche 
RĂĽckwirkung  gemeiniglich  nicht  hat,  sondern  nur  Zufriedenheit 
mit  sich  selbst  bewirkt,  obzwar  es  in  letzterem  Falle  noch  größer 
sein  wĂĽrde. 


VIIL 

Exposition   der  Tugendpflichten 
als    weiter   Pflichten. 

I.    Eigene    Vollkommenheit    als    Zweck,    der    zugleich 

Pflicht    ist. 

a)  Physische,  d.  i.  Kultur  aller  Vermögen  überhaupt  zu 
Beförderung  der  durch  die  Vernunft  vorgelegten  Zwecke.  Daß 
dieses  Pflicht,  mithin  an  sich  selbst  Zweck  sei,  und  jener  Bear- 
beitung auch  ohne  Rücksicht  auf  den  Vorteil,  den  sie  uns  gewährt, 
nicht  ein  bedingter  (pragmatischer),  sondern  unbedingter  (moralischer) 
Imperativ  zum  Grunde  liege,  ist  hieraus  zu  ersehen.  Das  Ver 
mögen,  sich  überhaupt  irgendeinen  Zweck  zu  setzen,  ist  das 
Charakteristische  der  Menschheit  (zum  Unterschiede  von  der 
Tierheit).  Mit  dem  Zwecke  der  Menschheit  in  unserer  eigenen 
Person  ist  also  auch  der  Vernunftwille,  mithin  die  Pflicht  verbunden. 


Z02 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 


sich  um  die  Menschheit  durch  Kultur  ĂĽberhaupt  verdient  zu 
machen,  sich  das  Vermögen  zu  Ausführung  allerlei  möglichen 
Zwecke,  sofern  dieses  in  dem  Menschen  selbst  anzutreffen  ist, 
zu  verschaffen,  oder  es  zu  fördern,  d.  i.  eine  Pflicht  zur  Kultur 
der  rohen  Anlagen  seiner  Natur,  als  wodurch  das  Tier  sich  aller- 
erst zum  Menschen  erhebt:   mithin  Pflicht  an  sich  selbst. 

Allein  diese  Pflicht  ist  bloĂź  ethisch,  d.  i.  von  weiter  Ver- 
bindlichkeit. W'^ie  weit  man  in  Bearbeitung  (Erweiterung  oder 
Berichtigung  seines  Verstandesvermögens,  d.  i.  in  Kenntnissen  oder 
in  Kunstfähigkeit)  gehen  solle,  schreibt  kein  Vernunftprinzip  be- 
stimmt vor;  auch  macht  die  Verschiedenheit  der  Lagen,  worin 
Menschen  kommen  können,  die  WahJ  der  Art  der  Beschäftigung, 
dazu  er  sein  Talent  anbauen  soll,  sehr  willkürlich.  —  Es  ist  also 
hier  kein  Gesetz  der  Vernunft  fĂĽr  die  Handlungen,  sondern  bloĂź 
für  die  Maxime  der  Handlungen,  welche  so  lautet:  „Baue  deine 
Gemüts-  und  Leibeskräfte  zur  Tauglichkeit  für  alle  Zwecke  an, 
die  dir  aufstoßen  können",  ungewiß,  welche  davon  einmal  die 
deinigen  werden  könnten. 

b)  Kultur  der  Moralität  in  uns.  Die  größte  moralische 
Vollkommenheit  des  Menschen  ist:  seine  Pflicht  zu  tun  und  zwar 
aus  Pflicht  (daĂź  das  Gesetz  nicht  bloĂź  die  Regel,  sondern  auch 
die  Triebfeder  der  Handlungen  sei).  —  Nun  scheint  dieses  zwar 
beim  ersten  Anblick  eine  enge  Verbindlichkeit  zu  sein  und  das 
Pflichtprinzip  zu  jeder  Handlung  nicht  bloß  die  Legalität,  sondern 
auch  die  Moralität,  d.  i.  Gesinnung,  mit  der  Pünktlichkeit  und 
Strenge  eines  Gesetzes  zu  gebieten;  aber  in  der  Tat  gebietet  das 
Gesetz  auch  hier  nur  die  Maxime  der  Handlung,  nämlich 
den  Grund  der  Verpflichtung  nicht  in  den  sinnlichen  Antrieben 
(Vorteil  oder  Nachteil),  sondern  ganz  und  gar  im  Gesetz  zu 
suchen  —  mithin  nicht  die  Handlung  selbst.  —  —  Denn  es  ist 
dem  Menschen  nicht  möglich,  so  in  die  Tiefe  seines  eigenen 
Herzens  einzuschauen,  daĂź  er  jemals  von  der  Reinigkeit  seiner 
moralischen  Absicht  und  der  Lauterkeit  seiner  Gesinnung  auch 
nur  in  einer  Handlung  völlig  gewiß  sein  könnte;  wenn  er  gleich 
über  die  Legalität  derselben  gar  nicht  zweifelhaft  ist.  Vielmals 
wird  Schwäche,  welche  das  Wagstück  eines  Verbrechens  abrät, 
von  demselben  Menschen  für  Tugend  (die  den  Begrifft  von  Stärke 
gibt)  gehalten,  und  wie  viele  mögen  ein  langes  schuldloses  Leben 
gefĂĽhrt  haben,  die  nur  GlĂĽckliche  sind,  so  vielen  Versuchungen 
entgangen    zu    sein;    wie    viel    reiner  moralischer   Gehalt  bei  jeder 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre  .    203 

Tat  in  der  Gesinnung  gelegen  habe,    das  bleibt  ihnen  selbst  ver- 
borgen. 

Also  ist  auch  diese  Pflicht,  den  Wert  seiner  Handlungen  nicht 
bloß  nach  der  Legalität,  sondern  auch  der  Moralität  (Gesinnung) 
zu  schätzen,  nur  von  weiter  Verbindhchkeit,  das  Gesetz  gebietet 
nicht  diese  innere  Handlung  im  menschlichen  GemĂĽt  selbst, 
sondern  bloĂź  die  Maxime  der  Handlung,  darauf  nach  allem  Ver- 
mögen auszugehen;  daß  zu  allen  pflichtmäßigen  Handlungen  der 
Gedanke    der   Pflicht   fĂĽr   sich   selbst   hinreichende  Triebfeder   sei. 


2.    Fremde  GlĂĽckseligkeit  als  Zweck,  der  zugleich 

Pflicht  ist. 

a)  Physische  Wohlfahrt.  Das  Wohlwollen  kann  unbe- 
grenzt sein;  denn  es  darf  hiebei  nichts  getan  werden.  Aber  mit 
dem  Wohltun,  vornehmlich  wenn  es  nicht  aus  Zuneigung  (Liebe) 
zu  anderen,  sondern  aus  Pflicht,  mit  Aufopferung  und  Kränkung 
mancher  Konkupiszenz  geschehen  soll,  geht  es  schwieriger  zu.  — 
Daß  diese  Wohltätigkeit  Pflicht  sei,  ergibt  sich  daraus:  daß,  weil 
unsere  SelbstHebe  von  dem  BedĂĽrfnis,  von  anderen  auch  geliebet 
zu  werden  (in  Notfällen  von  ihnen  Hülfe  zu  erhalten),  nicht  ge- 
trennt werden  kann,  wir  also  uns  zum  Zweck  fĂĽr  andere  machen 
und  diese  Maxime  niemals  anders  als  bloĂź  durch  ihre  Qualifikation 
zu  einem  allgemeinen  Gesetz,  folglich  durch  einen  Willen  andere 
auch  fĂĽr  uns  zu  Zwecken  zu  machen  verbinden  kann,  fremde 
GlĂĽckseligkeit  ein  Zweck  sei,  der  zugleich  Pflicht  ist. 

Allein  ich  soll  mit  einem  Teil  meiner  Wohlfahrt  ein  Opfer 
an  andere  ohne  HoflFnung  der  Wiedervergeltung  machen,  weil  es 
Pflicht  ist,  und  nun  ist  unmöglich,  bestimmte  Grenzen  anzugeben: 
wie  weit  das  gehen  könne.  Es  kommt  sehr  darauf  an,  was  für 
jeden  nach  seiner  Empfindungsart  wahres  BedĂĽrfniĂź  sein  werde, 
welches  zu  bestimmen  jedem  selbst  ĂĽberlassen  bleiben  muĂź.  Denn 
mit  Aufopferung  seiner  eigenen  GlĂĽckseligkeit  (seiner  wahren 
Bedürfnisse),  anderer  ihre  zu  befördern,  würde  eine  an  sich  selbst 
widerstreitende  Maxime  sein,  wenn  man  sie  zum  allgemeinen  Ge- 
setz machte.  Also  ist  diese  Pflicht  nur  eine  weite;  sie  hat  einen 
Spielraum,  mehr  oder  weniger  hierin  zu  tun,  ohne  daĂź  sich  die 
Grenzen  davon  bestimmt  angeben  lassen.  —  Das  Gesetz  gilt  nur 
fĂĽr  die  Maximen,  nicht  fĂĽr  bestimmte  Handlungen. 


2  04        Metaphysische  A'/iJangsgrünäe  der  Tugendlehre 

b)  Moralisches  Wohlsein  anderer  {salubr'itas  moral'ts)  ge- 
hört auch  zu  der  Glückseligkeit  anderer,  die  zu  befördern  für 
uns  Pflicht,  aber  nur  negative  Ptiicht  ist.  Der  Schmerz,  den  ein 
Mensch  von  Gewissensbissen  fĂĽhlt,  obzwar  sein  Ursprung  moralisch 
ist,  ist  doch  der  Wirkung  nach  physisch,  wie  der  Gram,  die 
Furcht  und  jeder  andere  krankhafte  Zustand.  Zu  verhĂĽten,  daĂź 
jenen  dieser  innere  Vorwurf  nicht  verdienterweise  treffe,  ist  nun 
zwar  eben  nicht  meine  Pflicht,  sondern  seine  Sache;  wohl  aber 
nichts  zu  tun,  was  nach  der  Natur  des  Menschen  Verleitung  sein 
könnte  zu  dem,  worüber  ihn  sein  Gewissen  nachher  peinigen 
kann,  welches  man  Skandal  nennt.  —  Aber  es  sind  keine  be- 
stimmte Grenzen,  innerhalb  welchen  sich  diese  Sorgfalt  fĂĽr  die 
moralische  Zufriedenheit  anderer  halten  lieĂźe;  daher  ruht  auf  ihr 
nur  eine   weite   Verbindlichkeit. 


IX. 

Was  ist  Tugendpflicht? 

Tugend  ist  die  Stärke  der  Maxime  des  Menschen  in  Befolgung 
seiner  Pflicht.  —  Alle  Stärke  wird  nur  durch  Hindernisse  erkannt,  die 
sie  überwältigen  kann;  bei  der  Tugend  aber  sind  diese  die  Natur- 
neigungen, welche  mit  dem  sittlichen  Vorsatz  in  Streit  kommen 
können,  und  da  der  Mensch  es  selbst  ist,  der  seinen  Maximen 
diese  Hindernisse  in  den  Weg  legt,  so  ist  die  Tugend  nicht  bloĂź 
ein  Selbstzwang  (denn  da  könnte  eine  Naturneigung  die  andere 
zu  bezwingen  trachten),  sondern  auch  ein  Zwang  nach  einem 
Prinzip  der  innern  Freiheit,  mithin  durch  die  bloĂźe  Vorstellung 
seiner  Pflicht  nach  dem  formalen   Gesetz  derselben. 

Alle  Pflichten  enthalten  einen  Begrifft  der  Nötigung  durch 
das  Gesetz:  die  ethische  eine  solche,  wozu  nur  eine  innere,  die 
Rechts  pflichten  dagegen  eine  solche  Nötigung,  wozu  auch  eine 
äußere  Gesetzgebung  möglich  ist,  beide  also  eines  Zwanges,  er 
mag  nun  Selbstzwang  oder  Zwang  durch  einen  andern  sein:  da 
dann  das  moralische  Vermögen  des  ersteren  Tugend  und  die  aus 
einer  solchen  Gesinnung  (der  Achtung  fĂĽrs  Gesetz)  entspringende 
Handlung  Tugendhandlung  (ethisch)  genannt  werden  kann,  ob- 
gleich   das    Gesetz    eine    Rechtspflicht    aussagt.      Denn    es    ist    die 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der   Tugendlehre        205 

Tugendlehre,    welche  gebietet,    das  Recht    der  Menschen  heilig 
zu  halten. 

Aber  was  zu  tun  Tugend  ist,  das  ist  darum  noch  nicht  soFort 
eigentliche  Tugendpflicht.  Jenes  kann  bloĂź  das  Formale  der 
Maximen  betreffen,  diese  aber  geht  auf  die  Materie  derselben, 
nämlich  auf  einen  Zweck,  der  zugleich  als  Pflicht  gedacht 
wird.  —  Da  aber  die  ethische  Verbindlichkeit  zu  Zwecken,  deren 
es  mehrere  geben  kann,  nur  eine  weite  ist.  weil  sie  da  bloĂź 
ein  Gesetz  für  die  Maxime  der  Handlungen  enthält  und  der 
Zweck  die  Materie  (Objekt)  der  WillkĂĽr  ist,  so  gibt  es  viele 
nach  Verschiedenheit  des  gesetzlichen  Zwecks  verschiedene  Pflichten, 
welche  Tugendpflichten  (officia  bonestatis)  genannt  werden; 
eben  darum,  weil  sie  bloĂź  dem  freien  Selbstzwange,  nicht  dem 
anderer  Menschen  unterworfen  sind,  und  die  den  Zweck  bestimmen, 
der  zugleich  Pflicht  ist. 

Die  Tugend,  als  die  in  der  festen  Gesinnung  gegrĂĽndete 
Ăśbereinstimmung  des  Willens  mit  jeder  Pflicht,  ist,  wie  alles 
Formale,  bloĂź  eine  und  dieselbe.  Aber  in  Ansehung  des  Zwecks 
der  Handlungen,  der  zugleich  Pflicht  ist,  d.  i.  desjenigen  (des 
Materiale),  was  man  sich  zum  Zwecke  machen  soll,  kann  es 
mehr  Tugenden  geben,  und  die  Verbindlichkeit  zu  der  Maxime 
desselben  heiĂźt  Tugendpflicht,  deren   es  also  viele  gibt. 

Das  oberste  Prinzip  der  Tugendlehre  ist:  handle  nach  einer 
Maxime  der  Zwecke,  die  zu  haben  fĂĽr  jedermann  ein  allgemeines  i 
Gesetz  sein  kann.  —  Nach  diesem  Prinzip  ist  der  Mensch  sowohl 
sich  selbst  als  andern  Zweck,  und  es  ist  nicht  genug,  daĂź  er 
weder  sich  selbst  noch  andere  bloĂź  als  Mittel  zu  brauchen  befugt 
ist  (dabei'  er  doch  gegen  sie  auch  indifferent  sein  kann),  sondern 
den  Menschen  ĂĽberhaupt  sich  zum  Zwecke  zu  machen,  ist  an  sich 
selbst  des  Menschen  Pflicht. 

Dieser  Grundsatz  der  Tugendlehre  verstattet,  als  ein  kategorischer 
Imperativ,  keinen  Beweis,  aber  wohl  eine  Deduktion  aus  der 
reinen  praktischen  Vernunft.  —  Was  im  Verhältnis  der  Menschen 
zu  sich  selbst  und  anderen  Zweck  sein  kann,  das  ist  Zweck  vor 
der  reinen  praktischen  Vernunft;  denn  sie  ist  ein  Vermögen  der 
Zwecke  ĂĽberhaupt,  in  Ansehung  derselben  indifferent  sein,  d.  i. 
kein  Interesse  daran  zu  nehmen,  ist  also  ein  Widerspruch;  weil 
sie  alsdann  auch  nicht  die  Maximen  zu  Handlungen  (als  welche 
letztere  jederzeit  einen  Zweck  enthalten)  bestimmen,  mithin  keine 
praktische  Vernunft   sein  wĂĽrde.      Die    reine  Vernunft   aber   kann 


2  0Ă–        j\letaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der'   Tugendlehre 

a  priori   keine  Zwecke  gebieten,  als  nur  sofern  sie  solche  zugleich 
als  Prticht  ankĂĽndigt;  welche   Pflicht  alsdann  Tugendpflicht    heiĂźt. 


X. 

Das  oberste  Prinzip  der  Rechtslehre  war  analytisch;  das 
der  Tugendlehre  ist  synthetisch. 

Daß  der  äußere  Zwang,  sofern  dieser  ein  dem  Hindernisse 
der  nach  allgemeinen  Gesetzen  zusammenstimmenden  äußeren 
Freiheit  entgegengesetzter  Widerstand  (ein  Hindernis  des  Hinder- 
nisses derselben)  ist,  mit  Zwecken  ĂĽberhaupt  zusammen  bestehen 
könne,  ist  nach  dem  Satz  des  Widerspruchs  klar,  und  ich  darf 
nicht  ĂĽber  den  Begriff  der  Freiheit  hinausgehen,  um  ihn  einzu- 
sehen; der  Zweck,  den  ein  jeder  hat,  mag  sein,  welcher  er 
wolle.  —  Also  ist  das  oberste  Rechtsprinzip  ein  analytischer 
Satz. 

Dagegen  geht  das  Prinzip  der  Tugendlehre  ĂĽber  den  Begriff 
der  äußern  Freiheit  hinaus  und  verknüpft  nach  allgemeinen  Ge- 
setzen mit  demselben  noch  einen  Zweck,  den  es  zur  Pflicht 
macht.  Dieses  Prinzip  ist  also  synthetisch.  —  Die  Möglichkeit 
desselben  ist  in  der  Deduktion   (§  IX)   enthalten. 

Diese  Erweiterung  des  Pflichtbegriffs  über  den  der  äußeren 
Freiheit  und  der  Einschränkung  derselben  durch  das  bloße  Förmliche 
ihrer  durchgängigen  Zusammenstimmung,  w^o  die  innere  Freiheit 
statt  des  Zwanges  von  außen,  das  Vermögen  des  Selbstzwanges 
und  zwar  nicht  vermittelst  anderer  Neigungen,  sondern  durch 
reine  praktische  Vernunft  (welche  alle  diese  Vermittelung  verschmäht), 
aufgestellt  wird,  besteht  darin  und  erhebt  sich  dadurch  ĂĽber  die 
Rechtspflicht:  daĂź  durch  sie  Zwecke  aufgestellt  werden,  von 
denen  überhaupt  das  Recht  abstrahiert.  —  Im  moralischen  Imperativ 
und  der  notwendigen  Voraussetzung  der  Freiheit  zum  Behuf  des- 
selben machen  das  Gesetz,  das  Vermögen  (es  zu  erfüllen)  und 
der  die  Maxime  bestimmende  Wille  alle  Elemente  aus,  welche 
den  Begriff  der  Rechtspflicht  bilden.  Aber  in  demjenigen,  welcher 
die  Tugend p Flicht  gebietet,  kommt  noch  ĂĽber  den  Begriff  eines 
Selbstzwanges  der  eines  Zwecks  dazu,  nicht  den  wir  haben,  sondern 
haben  sollen,  den  also  die  reine  praktische  Vernunft  in  sich  hat, 
deren    höchster,    unbedingter   Zweck   (der  aber    doch  immer   noch 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugend  lehre       207 

Pflicht  ist)  darin  gesetzt  wird:  daĂź  die  Tugend  ihr  eigener  Zweck 
und  bei  dem  Verdienst,  das  sie  um  den  Mcnsclien  hat,  auch  ihr 
eigener  Lohn  sei,  (wobei  sie  als  Ideal  so  glänzt,  daß  sie  nach 
menschlichem  AugenmaĂź  die  Heiligkeit  selbst,  die  zur  Ăśber- 
tretung nie  versucht  wird,  zu  verdunkeln  scheint');  welches  gleichwohl 
eine  Täuschung  ist,  da,  weil  wir  kein  Maß  für  den  Grad  einer 
Stärke,  als  die  Größe  der  Hindernisse  haben,  die  da  haben  über- 
wunden werden  können  (welche  in  uns  die  Neigungen  sind), 
wir  die  subjektive  Bedingungen  der  Schätzung  einer  Größe  für 
die  objektive  der  Größe  an  sich  selbst  zu  halten  verleitet 
werden).  Aber  mit  menschlichen  Zwecken,  die  insgesamt 
ihre  zu  bekämpfende  Hindernisse  haben,  verglichen,  hat  es  seine 
Richtigkeit,  daĂź  der  Wert  der  Tugend  selbst,  als  ihres  eigenen 
Zwecks,  den  Wert  alles  Nutzens  und  aller  empirischen  Zwecke 
und  Vorteile  weit  ĂĽberwiege,  die  sie  zu  ihrer  Folge  immerhin 
haben  mag. 

Man  kann  auch  gär  wohl  sagen:  der  Mensch  sei  zur  Tugend 
(als  einer  moralischen  Stärke)  verbunden.  Denn  obgleich  das 
Vermögen  (^facultas)  der  Überwindung  aller  sinnlich  entgegen- 
wirkenden Antriebe  seiner  Freiheit  halber  schlechthin  vorausge- 
setzt werden  kann  und  muß:  so  ist  doch  dieses  Vermögen  als 
Stärke  (robur)  etwas,  was  erworben  werden  muß,  dadurch,  daß 
die  moralische  Triebfeder  (die  Vorstellung  des  Gesetzes)  durch 
Betrachtung  (contemplatione)  der  WĂĽrde  des  reinen  Vernunftgesetzes 
in  uns,  zugleich  aber  auch  durch  Ăśbung  {exerckio)  erhoben 
wird. 

')  Der  Mensch  mit  seinen  Mängeln 

Ist  besser  als  das  Heer  von  willenlosen  Engeln. 

Haller. 


2o8        Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 


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Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der   Tugendlehre       209 

XII. 

Ästhetische  VorbegrifFe  der  Empfänglichkeit  des  Gemüts 
fĂĽr  PflichtbegrifFe  ĂĽberhaupt. 

Es  sind  solche  moralische  Beschaffenheiten,  die,  wenn  man 
sie  nicht  besitzt,  es  auch  keine  Pflicht  geben  kann,  sich  in  ihren 
Besitz  zu  setzen.  —  Sie  sind  das  moralische  Gefühl,  das  Ge- 
wissen, die  Liebe  des  Nächsten  und  die  Achtung  für  sich  selbst 
(Selbstschätzung),  welche  zu  haben,  es  keine  Verbindlichkeit 
gibt:  weil  sie  als  subjektive  Bedingungen  der  Empfänglichkeit 
fĂĽr  den  Pflichtbegriff^,  nicht  als  objektive  Bedingungen  der  Mora- 
lität  zum  Grunde  liegen.  Sie  sind  insgesamt  ästhetisch  und 
vorhergehende,  aber  natĂĽrliche  GemĂĽtsanlagen,  (^praedispositio)  durch 
Pflichtbegriffe  affiziert  zu  werden;  welche  Anlagen  zu  haben  nicht 
als  Pflicht  angesehen  werden  kann,  sondern  die  jeder  Mensch  hat, 
imd  kraft  deren  er  verpflichtet  werden  karm.  —  Das  Bewußtsein 
derselben  ist  nicht  empirischen  Ursprungs,  sondern  kann  nur  auf 
das  eines  morahschen  Gesetzes,  als  Wirkung  desselben  aufs  Ge- 
mĂĽt, folgen. 

a. 

Das  moralische  GefĂĽhl. 

Dieses  ist  die  Empfänghchkeit  für  Lust  oder  Unlust  bloß  aus 
dem  BewuĂźtsein  der  Ăśbereinstimmung  oder  des  Widerstreits  unserer 
Handlung  mit  dem  Pflichtgesetze.  Alle  Bestimmung  der  WillkĂĽr 
aber  geht  von  der  Vorstellung  der  möghchen  Handlung  durch 
das  GefĂĽhl  der  Lust  oder  Unlust,  an  ihr  oder  ihrer  Wirkung  ein 
Interesse  zu  nehmen,  zur  Tat;  wo  der  ästhetische  Zustand  (der 
Affizierung  des  inneren  Sirmes)  nun  entweder  ein  pathologisches 
oder  moralisches  Gefühl  ist.  —  Das  erstere  ist  dasjenige  Ge- 
fĂĽhl, welches  vor  der  Vorstellung  des  Gesetzes  vorhergeht,  das 
letztere  das,  was  nur  auf  diese  folgen  kann. 

Nun  kann  es  keine  Pflicht  geben,  ein  moraĂśsches  GefĂĽhl  zu 
haben,  oder  sich  ein  solches  zu  erwerben;  denn  alles  BewuĂźtsein 
der  Verbindlichkeit  legt  dieses  GefĂĽhl  zum  Grunde,  um  sich  der 
Nötigung,  die  im  Pflichtbegriffe  hegt,  bewußt  zu  werden:  "sondern 
ein  jeder  Mensch  (als  ein  moralisches  Wesen)  hat  es  ursprĂĽnglich 
in  sich;  die  Verbindlichkeit  aber  kann  nur  darauf  gehen,  es  zu 
kultivieren  und  selbst  durch  die  Bewunderung  seines  unerforsch- 

Kants  Schriften.    Bd.  VII.  I4 


Z  I  o 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 


liehen  Ursprungs  zu  verstärken;  welches  dadurch  geschieht,  daß 
gezeigt  wird,  wie  es  abgesondert  von  allem  pathologischen  Reize 
und  in  seiner  Reinigkeit,  durch  bloĂźe  Vernunftvorstellung,  eben 
am  stärksten   erregt  wird. 

Dieses  GeFĂĽhl  einen  moralischen  Sinn  zu  nennen,  ist  nicht  schick- 
lich; denn  unter  dem  Wort  Sinn  wird  gemeinigĂĽch  ein  theore- 
tisches, auF  einen  Gegenstand  bezogenes  Wahrnehmungsvermögen 
verstanden:  dahingegen  das  moralische  GefĂĽhl  (wie  Lust  und  Un- 
lust ĂĽberhaupt)  etwas  bloĂź  Subjektives  ist,  was  kein  Erkenntnis 
abgibt.  —  Ohne  alles  moralische  Gefühl  ist  kein  Mensch;  denn 
bei  völliger  Unempfänglichkeit  für  diese  Empfindung  wäre  er  sitt- 
lich tot,  und  wenn  (um  in  der  Sprache  der  Ă„rzte  zu  reden)  die 
sittliche  Lebenskraft  keinen  Reiz  mehr  auf  dieses  GeirĂĽhl  bewirken 
könnte,  so  würde  sich  die  Menschheit  (gleichsam  nach  chemischen 
Gesetzen)  in  die  bloße  Tierheit  auflösen  und  mit  der  Masse 
anderer  Naturwesen  unwiederbringlich  vermischt  werden.  —  Wir 
haben  aber  für  das  (Sittlich-)Gute  und  Böse  ebensowenig  einen 
besonderen  Sinn,  als  wir  einen  solchen  fĂĽr  die  Wahrheit  haben, 
ob  man  sich  gleich  oft  so  ausdrückt,  sondern  Empfänglichkeit 
der  freien  WillkĂĽr  fĂĽr  die  Bewegung  derselben  durch  praktische 
reine  Vernunft  (und  ihr  Gesetz),  und  das  ist  es,  was  wir  das 
morahsche   GefĂĽhl  nennen. 

b. 

Vom  Gewissen. 

Ebenso  ist  das  Gewissen  nicht  etwas  Erwerbliches,  und  es 
gibt  keine  Pflicht,  sich  eines  anzuschaffen;  sondern  jeder  Mensch, 
als  sittliches  Wesen,  hat  ein  solches  ursprĂĽnglich  in  sich.  Zum 
Gewissen  verbunden  zu  sein,  wĂĽrde  so  viel  sagen  als:  die  Pflicht 
auf  sich  haben,  Pflichten  anzuerkennen.  Denn  Gewissen  ist  die 
dem  Menschen  in  jedem  Fall  eines  Gesetzes  seine  Pflicht  zum  Los- 
sprechen oder  Verurteilen  vorhaltende  praktische  Vernunft.  Seine 
Beziehung  also  ist  nicht  die  auf  ein  Objekt,  sondern  bloĂź  aufs 
Subjekt  (das  moralische  GetĂĽhl  durch  ihren  Akt  zu  affizieren); 
also  eine  unausbleibliche  Tatsache,  nicht  eine  Obliegenheit  und 
Pflicht.  Wenn  man  daher  sagt:  dieser  Mensch  hat  kein  Gewissen, 
so  meint  man  damit:  er  kehrt  sich  nicht  an  den  Ausspruch  des- 
selben. Denn  hätte  er  wirklich  keines,  so  würde  er  sich  auch 
nichts   als  pflichtmäßig  zurechnen,  oder  als  pflichtwidrig  vorwerfen. 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 


Z  1  I 


mithin    auch    selbst    die  Pflicht,   ein  Gewissen  zu  haben,   sich  gar 
nicht  denken*  können. 

Die  mancherlei  Einteilungen  des  Gewissens  gehe  ich  noch  hier 
vorbei  und  bemerke  nur,  was  aus  dem  eben  AngefĂĽhrten  folgt: 
daß  nämlich  ein  irrendes  Gewissen  ein  Unding  sei.  Denn  in 
dem  objektiven  Urteile,  ob  etwas  Pflicht  sei  oder  nicht,  kann 
man  wohl  bisweilen  irren;  aber  im  subjektiven,  ob  ich  es  mit 
meiner  praktischen  (hier  richtenden)  Vernunft  zum  Behuf  jenes 
Urteils  verglichen  habe,  kann  ich  nicht  irren,  weil  ich  alsdann 
praktisch  gar  nicht  geurteilt  haben  wĂĽrde;  in  welchem  Fall  weder 
Irrtum  noch  Wahrheit  statt  hat.  Gewissenlosigkeit  ist  nicht 
Mangel  des  Gewissens,  sondern  Hang,  sich  an  dessen  Urteil  nicht 
zu  kehren.  Wenn  aber  jemand  sich  bewuĂźt  ist,  nach  Gewissen 
gehandelt  zu  haben,  so  kann  von  ihm,  was  Schuld  oder  Unschuld 
betriflt,  nichts  mehr  verlangt  werden.  ÂŁs  liegt  ihm  nur  ob,  seinen 
Verstand  über  das,  was  Pflicht  ist  oder  nicht,  aufzuklären:  wenn 
es  aber  zur  Tat  kommt  oder  gekommen  ist,  so  spricht  das  Ge- 
wissen unwillkĂĽrlich  und  unvermeidlich.  Nach  Gewissen  zu 
handeln,  kann  also  selbst  nicht  Pflicht  sein,  weil  es  sonst  noch  ein 
zweites  Gewissen  geben  mĂĽĂźte,  um  sich  des  Akts  des  erstercn 
bewuĂźt  zu  werden. 

Die  Pflicht  ist  hier  nur,  sein  Gewissen  zu  kultivieren,  die  Auf- 
merksamkeit auf  die  Stimme  des  inneren  Richters  zu  schärfen  und 
alle  Mittel  anzuwenden  (mithin  nur  indirekte  Pflicht),  um  ihm 
Gehör  zu  verschaffen. 

c. 

Von  der  Menschenliebe. 

Liebe  ist  eine  Sache  der  Empfindung,  nicht  des  Wollens, 
und  ich  kann  nicht  lieben,  weil  ich  will,  noch  weniger  aber 
weil  ich  soll  (zur  Liebe  genötigt  werden);  mithin  ist  eine  Pflicht 
zu  lieben  ein  Unding.  Wohlwollen  (amor  benevolentiae)  aber 
kann  als  ein  Tun  einem  Pflichtgesetz  unterworfen  sein.  Man 
nennt  aber  oftmals  ein  uneigennĂĽtziges  Wohlwollen  gegen  Men- 
schen auch  (obzwar  sehr  uneigentlich)  Liebe;  ja,  wo  es  nicht  um 
des  andern  Glückseligkeit,  sondern  die"  gänzUche  und  freie  Er- 
gebung aller  seiner  Zwecke  in  die  Zwecke  eines  anderen  (selbst 
eines  ĂĽbermenschhchen)  Wesens  zu  tun  ist,  spricht  man  von  Liebe, 
die  zugleich  für  uns  Pflicht  sei.  Aber  alle  Pflicht  ist  Nötigung, 
ein  Zwang,  wenn  er  auch  ein  Selbstzwang  nach  einem  Gesetz  sein 

14* 


Z  I  2 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 


sollte.      Was    man    aber    aus    Zwang    tut,    das   geschieht   nicht    aus 

Liebe. 

Anderen  Menschen  nach  unserem  Vermögen  wohl  zutun  ist 
Pflicht,  man  mag  sie  lieben  oder  nicht,  und  diese  Pflicht  verliert  nichts 
an  ihrem  Gewicht,  wenn  man  gleich  die  traurige  Bemerkung 
machen  mĂĽĂźte,  daĂź  unsere  Gattung,  leider!  dazu  nicht  geeignet 
ist,  daß,  wenn  man  sie  näher  kennt,  sie  sonderlich  liebenswürdig 
befunden  werden  dürfte.  —  Menschenhaß  aber  ist  jederzeit 
häßlich,  wenn  er  auch  ohne  tätige  Anfeindung  bloß  in  der 
gänzlichen  Abkehrung  von  Menschen  (der  separatistischen  Misan- 
thropie)  bestände.  Denn  das  Wohlwollen  bleibt  immer  Pflicht 
selbst  gegen  den  Menschenhasser,  den  man  freilich  nicht  lieben 
aber  ihm  doch  Gutes   erweisen  kann. 

Das  Laster  aber  am  Menschen  zu  hassen  ist  weder  Pflicht  noch 
pflichtwidrig,  sondern  ein  bloßes  Gefühl  des  Abscheues  vor  dem» 
selben,  ohne  daĂź  der  Wille  darauf,  oder  umgekehrt  dieses  GefĂĽhl 
auf  den  Willen  einigen  Einfluß  hätte.  Wohltun  ist  Pflicht.  Wer 
diese  oft  ausübt,  und  es  gelingt  ihm  mit  seiner  wohltätigen  Ab- 
sicht, kommt  endlich  wohl  gar  dahin,  den,  welchem  er  wohl 
getan  hat,  wirkUch  zu  lieben.  Wenn  es  also  heiĂźt:  du  sollst 
deinen  Nächsten  lieben  als  dich  selbst,  so  heißt  das  nicht:  du 
sollst  unmittelbar  (zuerst)  lieben  und  vermittelst  dieser  Liebe  (nach- 
her) wohltun,  sondern:  tue  deinem  Nebenmenschen  wohl,  und 
dieses  Wohltun  wird  Menschenliebe  (als  Fertigkeit  der  Neigung 
zum  Wohltun  ĂĽberhaupt)  in   dir  bewirken! 

Die  Liebe  des  Wohlgefallens  {avior  complacent'tae)  wĂĽrde 
also  allein  direkt  sein.  Zu  dieser  aber  (als  einer  unmittelbar  mit  der 
Vorstellung  der  Existenz  eines  Gegenstandes  verbundenen  Lust) 
eine  Pflicht  zu  haben,  d.  i.  zur  Lust  woran  genötigt  werden  zu 
mĂĽssen,  ist  ein  Widerspruch. 


Von   der  Achtung. 

Achtung  [reverentia)  ist  eben  sowohl  etwas  bloĂź  Subjektives; 
ein  GefĂĽhl  eigener  Art,  nicht  ein  Urteil  ĂĽber  einen  Gegenstand, 
den  zu  bewirken  oder  zu  befördern  es  eine  Pflicht  gäbe.  Denn 
sie  könnte,  als  Pflicht  betrachtet,  nur  durch  die  Achtung,  die 
wir  vor  ihr  haben,  vorgestellt  werden.  Zu  dieser  also  eine  Pflicht 
zu   haben  wĂĽrde  so   viel   sagen,  als  zur  Pflicht  verpflichtet  werden. 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der   Tugend! ehre 


^M 


—  Wenn  es  demnach  heißt:  Der  Mensch  hat  eine  Pflicht  der 
Selbstschätzung,  so  ist  das  unrichtig  gesagt,  und  es  müßte  viel- 
mehr heiĂźen:  das  Gesetz  in  ihm  zwingt  ihm  unvermeidlich  Ach- 
tung fĂĽr  sein  eigenes  Wesen  ab,  und  dieses  GefĂĽhl  (welches  von 
eigner  Art  ist)  ist  ein  Grund  gewisser  Pflichten,  d.  i.  gewisser 
Handlungen,  die  mit  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  zusammen  be- 
stehen können,  nicht  er  habe  eine  Pflicht  der  Achtung  gegen 
sich;  denn  er  muĂź  Achtung  vor  dem  Gesetz  sich  in  selbst  haben, 
um  sich  nur  eine  Pflicht  überhaupt  denken  zu  können. 


XIII. 

Allgemeine  Grundsätze  der  Metaphysik  der  Sitten  in 
Behandlung  einer  reinen  Tugendlehre. 

Erstlich:  FĂĽr  Eine  Pflicht  kann  auch  nur  ein  einziger  Grund 
der  Verpflichtung  gefunden  werden,  und  werden  zwei  oder  mehrere 
Beweise  darĂĽber  gefĂĽhrt,  so  ist  es  ein  sicheres  Kennzeichen,  daĂź 
man  entweder  noch  gar  keinen  gĂĽltigen  Beweis  habe,  oder  es 
auch  mehrere  und  verschiedne  Pflichten  sind,  die  man  fĂĽr  Eine 
gehalten  hat. 

Denn  alle  moralische  Beweise  können,  als  pLüluaopliischc,  nur 
vermittelst  einer  Vernunfterkenntnis  aus  Begriffen,  nicht,  wie 
die  Mathematik  sie  gibt,  durch  die  Konstruktion  der  Begriffe  ge- 
fĂĽhrt werden;  die  letzt ern  verstatten  Mehrheit  der  Beweise  eines 
und  desselben  Satzes;  weil  in  der  Anschauung  a  priori  es 
mehrere  Bestimmungen  der  Beschaffenheit  eines  Objekts  geben 
kann,  die  alle  auf  ebendensdlben  Grund  zurückführen.  —  Wenn 
z.  B.  fĂĽr  die  Pflicht  der  Wahrhaftigkeit  ein  Beweis  ersthch  aus 
dem  Schaden,  den  die  LĂĽge  andern  Menschen  verursacht,  dann 
aber  auch  aus  der  NichtswĂĽrdigkeit  eines  LĂĽgners  und  de^ 
Verletzung  der  Achtung  gegen  sich  selbst  gefĂĽhrt  werden  will,  so 
ist  im  ersteren  eine  Pflicht  des  Wohlwollens,  nicht  eine  der 
Wahrhaftigkeit,  mithin  nicht  diese,  von  der  man  den  Beweis  ver- 
langte, sondern  eine  andere  Pflicht  bewiesen  worden.  —  Was 
aber  die  Mehrheit  der  Beweise  fĂĽr  einen  und  denselben  Satz  be- 
trifft, womit  man  sich  tröstet,  daß  die  Menge  der  Gründe  den 
Mangel  am  Gewicht  eines  jeden  einzeln  genommen  ergänzen 
werde,    so    ist   dieses    ein    sehr   unphilosophischer  Behelf:    weil  er 


2 1 4        Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 

Hinterlist  und  Unredlichkeit  verrät  —  denn  verschiedene  unzu- 
reichende Gründe,  nebeneinander  gestellt,  ergänzen  nicht  der 
eine  den  Mangel  des  anderen  zur  GewiĂźheit,  ja  nicht  einmal  zur 
Wahrscheinlichkeit.  Sie  mĂĽssen  als  Grund  und  Folge  in  einer 
Reihe  bis  zum  zureichenden  Grunde  fortschreiten  und  können 
auch  nur  auf  solche  Art  beweisend  sein.  —  Und  gleichwohl  ist 
dies  der   gewöhnliche  Handgriff  der  Überredungskunst. 

Zweitens.  Der  Unterschied  der  Tugend  vom  Laster  kann 
nie  in  Graden  der  Befolgung  gewisser  Maximen,  sondern 
muß  allein  in  der  spezifischen  Qualität  derselben  (dem  Verhält- 
nis zum  Gesetz)  gesucht  werden;  mit  andern  Worten,  der  belobte 
Grundsatz  (des  Aristoteles),  die  Tugend  in  dem  Mittleren 
zwischen  zwei  Lastern  zu  setzen,  ist  falsch."  Es  sei  z.  B.  gute 
Wirtschaft,  als  das  Mittlere  zwischen  zwei  Lastern,  Verschwen- 
dung und  Geiz,  gegeben:  so  kann  sie  als  Tugend  nicht  durch  die 
allmähliche  Verminderung  des  ersten  beider  genannten  Laster  (Er- 
sparung), noch  durch  die  Vermehrung  der  Ausgaben  des  dem 
letzteren  Ergebenen  als  entspringend  vorgestellt  werden:  indem  sie 
sich  gleichsam  nach  entgegengesetzten  Richtungen  in  der  guten 
Wirtschaft  begegneten;  sondern  eine  jede  derselben  hat  ihre  eigene 
Maxime,  die   der  andern  notwendig  widerspricht. 

Ebensowenig  und  aus  demselben  Grunde  kann  kein  Laster 
überhaupt  durch  eine  größere  Ausübung  gewisser  Absichten,  als 
es  zweckmäßig  ist  (e.  g.  Prodigalitas  est  excessus  in  cousumendis 
opibus),  oder  durch  die  kleinere  Bewirkung  derselben,  als  sich 
schickt  (<?.  g.  Avaritia  est  defectus  etc.'),  erklärt  werden.  Denn  da 
hiedurch  der  Grad  gar  nicht  bestimmt  wird,  auf  diesen  aber,  ob 


'  Die  gewöhnlichen,  der  Sprache  nach  ethisch-klassische  Formeln: 
medio  tutissimus  ihis;  omue  nimitim  vertitur  in  vitium;  est  modus  in  rebus, 
etc.;  medium  tenuere  beati;  insani  sapiens  nomen  ferat  etc.  enthalten  eine 
schale  Weisheit,  die  gar  keine  bestimmte  Prinzipien  hat:  denn  dieses 
Mirtlere  zwischen  zwei  äußeren  Enden,  wer  will  mir  es  angeben?  Der 
Geiz  (als  Laster)  ist  von  der  Sparsamkeit  (als  Tugend)  nicht  darin 
unterschieden,  daĂź  diese  zu  weit  getrieben  wird,  sondern  hat  ein  ganz 
anderes  Prinzip  (Maxime),  nämlich  den  Zweck  der  Haushaltung  nicht 
im  Genuß  seines  Vermögens,  sondern  mit  Entsagung  auf  denselben 
bloĂź  im  Besitz  desselben  zu  setzen:  so  wie  das  Laster  der  Ver- 
schwendung nichr  im  Übermaße  des  Genusses  seines  Vermögens, 
sondern  in  der  schlechten  Maxime  zu  suchen  ist,  die  den  Gebrauch, 
ohne  auf  die  Erhaltung  desselben  zu  sehen,  zum  alleinigen  Zweck  macht. 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 


215 


das  Betragen  pflichtmäßig  sei  oder  nicht,  alles  ankommt:  so  kann 
es  nicht  zur  Erklärung  dienen. 

Drittens;  die  ethischen  Pflichten  mĂĽssen  nicht  nach  den  dem 
Menschen  beigelegten  Vermögen  dem  Gesetz  Gnüge  zu  leisten, 
sondern  umgekehrt:  das  sitthche  Vermögen  muß  nach  dem  Gesetz 
geschätzt  werden,  welches  kategorisch  gebietet:  also  nicht  nach 
der  empirischen  Kenntnis,  die  wir  vom  Menschen  haben,  wie  sie 
sind,  sondern  nach  der  rationalen,  wie  sie  der  Idee  der  Mensch- 
heit gemäß  sein  sollen.  Diese  drei  Maximen  der  wissenschaftlichen 
Behandlung  einer  Tugendlehre  sind  den  älteren  Apophthegmen 
entgegengesetzt: 

i)  Es  ist  nur  eine  Tugend  und  nur  ein  Laster. 

2)  Tugend  ist  die  Beobachtung  der  MittelstraĂźe  zwischen  ent- 
gegengesetzten Meinungen. 

3)  Tugend  muĂź  (gleich  der  Klugheit)  der  Erfahrung  abgelernt 
w^erden. 

Von  der  Tugend  ĂĽberhaupt. 

Tugend  bedeutet  eine  moralische  Stärke  des  Willens,  Aber 
dies  erschöpft  noch  nicht  den  Begrifft;  denn  eine  solche  Stärke 
könnte  auch  einem  heiligen  (übermenschhchen)  Wesen  zukommen, 
in  welchem  kein  hindernder  Antrieb  dem  Gesetze  seines  Willens 
entgegenwirkt;  das  also  alles  dem  Gesetz  gemäß  gerne  tut.  Tugend 
ist  also  die  moralische  Stärke  des  Willens  eines  Menschen  in 
Befolgung  seiner  Pflicht:  welche  eine  moralische  Nötigung 
durch  seine  eigene  gesetzgebende  Vernunft  ist,  insofern  diese  sich 
zu  einer  das  Gesetz  ausführenden  Gewalt  selbst  konstituiert.  — 
Sie  ist  nicht  selbst,  oder  sie  zu  besitzen  ist  nicht  Pflicht  (denn 
sonst  wĂĽrde  es  eine  Verpflichtung  zur  Pflicht  geben  mĂĽssen),  son- 
dern sie  gebietet  und  begleitet  ihr  Gebot  durch  einen  sittHchen 
(nach  Gesetzen  der  inneren  Freiheit  möglichen)  Zwang;  wozu 
aber,  weil  er  unwiderstehlich  sein  soll,  Stärke  erforderlich  ist, 
deren  Grad  wir  nur  durch  die  Größe  der  Hindernisse,  die  der 
Mensch  durch  seine  Neigungen  sich  selber  schafft,  schätzen  können. 
Die  Laster,  als  die  Brut  gesetzwidriger  Gesinnungen  sind  die  Un- 
geheuer, die  er  nun  zu  bekämpfen  hat:  weshalb  diese  sittliche  Stärke 
auch,  als  Tapferkeit  (fortltucio  moralis),  die  größte  und  einzige 
wahre  Kriegsehre  des  Menschen  ausmacht;  auch  wird  sie  die 
eigentliche,  nämlich  praktische,  Weisheit  genannt:  weil  sie  den 
Endzweck  des  Daseins  der  Menschen  auf  Erden  zu  dem  ihrigen 


z  1 6        Metaphysische  AnfangsgrĂĽjide  der  Tugendlehre 

macht.  —  In  ihrem  Besitz  ist  der  Mensch  allein  frei,  gesund, 
reich,  ein  König  usw.  und  kann  weder  durch  Zufall  noch  Schick- 
sal einbĂĽĂźen:  weil  er  sich  selbst  besitzt,  und  der  Tugendhafte  seine 
Tugend  nicht  verlieren  kann. 

Alle  Hochpreisungen,  die  das  Ideal  der  Menschheit  in  ihrer 
moralischen  Vollkommenheit  betreffen,  können  durch  die  Beispiele 
des  Widerspiels  dessen,  was  die  Menschen  jetzt  sind,  gewesen  sind, 
oder  vermutlich  kĂĽnftig  sein  werden,  an  ihrer  praktischen  Reali- 
tät nichts  verlieren,  und  die  Anthropologie,  welche  aus  bloßen 
Erfahrungserkenntnissen  hervorgeht,  kann  der  Anthroponomie, 
welche  von  der  unbedingt  gesetzgebenden  Vernunft  aufgestellt 
wird,  keinen  Abbruch  tun,  und  wiewohl  Tugend  (in  Beziehung 
auf  Menschen,  nicht  aufs  Gesetz)  auch  hin  und  wieder  verdienst- 
lich heiĂźen  und  einer  Belohnung  wĂĽrdig  sein  kann,  so  muĂź  sie 
doch  fĂĽr  sich  selbst,  so  wie  sie  ihr  eigener  Zweck  ist,  auch  als 
ihr  eigener  Lohn  betrachtet  werden. 

Die  Tugend,  in  ihrer  ganzen  Vollkommenheit  betrachtet,  wird 
also  vorgestellt,  nicht  wie  der  Mensch  die  Tugend^  sondern  als 
ob  die  Tugend  den  Menschen  besitze:  weil  es  im  ersteren  Falle 
so  aussehen  würde,  als  ob  er  noch  die  Wahl  gehabt  hätte  (wozu 
er  alsdann  noch  einer  andern  Tugend  bedĂĽrfen  wĂĽrde,  um  die 
Tugend  vor  jeder  anderen  angebotenen  Ware  zu  erlesen).  —  Eine 
Mehrheit  der  Tugenden  sich  zu  denken  (wie  es  denn  unvermeid- 
lich ist)  ist  nichts  anderes,  als  rieh  verschiedne  moralische  Gegen- 
stände denken,  auf  die  der  Wille  aus  dem  einigen  Prinzip  der 
Tugead  geleitet  wird;  ebenso  ist  es  mit  den  entgegenstehenden 
Lastern  bewandt.  Der  Ausdruck,  der  beide  verpersönlicht,  ist  eine 
ästhetische  Maschinerie,  die  aber  doch  auf  einen  mora'ischen  Smn 
hinweiset.  —  Daher  ist  eine  Ästhetik  der  Sitten  zwar  nicht  ein 
Teil,  aber  doch  eine  subjektive  Darstellung  der  Metaphysik  der- 
selben: wo  die  Gefühle,  welche  die  nötigende  Kraft  des  mora- 
lischen Gesetzes  begleiten,  jener  ihre  Wirksamkeit  empfindbar 
machen  (z.  B.  Ekel,  Grauen  usw.,  welche  den  moralischen  Wider- 
willen versinnlichen),  um  der  bloĂź-sinnlichen  Anreizung  den 
Vorrang  abzugewinnen. 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre       1 1 7 

XIV. 

Vom  Prinzip  der  Absonderung  der  Tugendlehre  von  der 

Rechtslehre. 

Diese  Absonderung,  auf  welcher  auch  die  Obereinteilung  der 
Sittenlehre  ĂĽberhaupt  beruht,  grĂĽndet  sich  darauf;  daĂź  der  Be- 
griff der  Freiheit,  der  jenen  beiden  gemein  ist,  die  Einteilung 
in  die  Pflichten  der  äußeren  und  inneren  Freiheit  notwendig 
macht;  von  denen  die  letztern  allein  ethisch  sind.  —  Daher  muß 
diese  und  zwar  als  Bedingung  aller  Tugendpflicht  (so  wie  oben 
die  Lehre  vom  Gewissen  als  Bedingung  aller  Pflicht  ĂĽberhaupt) 
als  vorbereitender  Teil  (^discursus  praehminaris)  vorangeschickt 
werden. 

Anmerkung. 

Von  der  Tugendlehre  nach  dem  Prinzip  der  inneren 

Freiheit. 

Fertigkeit  (babitus)  ist  eine  Leichtigkeit  zu  handeln  und 
eine  subjektive  Vollkommenheit  der  Willkür.  —  Nicht  jede 
solche  Leichtigkeit  aber  ist  eine  freie  Fertigkeit  Qjobitus 
Jibertaihy,  denn  wenn  sie  Angewohnheit  (assiietudo),  d.  i. 
durch  öfters  wiederholte  Handlung  zur  Notwendigkeit 
gewordene  Gleichförmigkeit  derselben  ist,  so  ist  sie  keine 
aus  der  Freiheit  hervorgehende,  mithin  auch  nicht  morahschc 
Fertigkeit.  Die  Tugend  kann  man  also  nicht  durch  die 
Fertigkeit  in  freien  gesetzmäßigen  Handlungen  definieren, 
wohl  aber,  wenn  hinzugesetzt  würde,  „sich  durch  die  Vor- 
stellung des  Gesetzes  im  Handeln  zu  bestimmen'',  und  da  ist 
diese  Fertigkeit  eine  Beschaffenheit  rieht  der  WillkĂĽr,  son- 
dern des  Willens,  der  ein  mit  der  Regel,  die  er  annimmt, 
zugleich  allgemein  -  gesetzgebendes  Begehrungsvermögen  ist, 
und  eine  solche  allein  kann  zur  Tugend  gezählt  werden. 

Zur  inneren  Freiheit  aber  werden  zwei  StĂĽcke  erfordert: 
seiner  selbst  in  einem  gegebenen  Fall  Meister  {anhnus  sui 
compos)  und  ĂĽber  sich  selbst  Herr  zu  sein  (jmperium  in 
semetipsum),  d.  i.  seine  Affekten  zu  zähmen  und  seine  Leiden- 
schaften zu  beherrschen.  —  Die  Gemütsart  (indoles)  in 
diesen  beiden  Zuständen  ist  edel  (erecta\  im  entgegen- 
gesetzten  Fall   aber  unedel   (indoles  ahiecta,   servd). 


1 1  8        Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 


XV. 

Zur  Tugend  \\'ird  zuerst  erfordert  die  Herrschaft  ĂĽber 

sich  selbst. 

Affekten  und  Leidenschaften  sind  wesenthch  voneinander 
unterschieden;  die  erstem  gehören  zum  Gefühl,  sofern  es,  vor 
der  Überlegung  vorhergehend,  diese  selbst  unmöglich  oder  schwerer 
macht.  Daher  heißt  der  Affekt  jäh  oder  jach  (animus  praecepi)^ 
und  die  Vernunft  sagt  durch  den  Tugend  begriff,  man  solle  sich 
fassen;  doch  ist  diese  Schwäche  im  Gebrauch  seines  Verstandes, 
verbunden  mit  der  Stärke  der  Gemütsbewegung,  nur  eine  Un- 
tugend und  gleichsam  etwas  Kindisches  und  Schwaches,  was  mit 
dem  besten  Willen  gar  wohl  zusammen  bestehen  kann  und  das 
einzige  Gute  noch  an  sich  hat,  daß  dieser  Sturm  bald  aufhört. 
Ein  Hang  zum  Affekt  (z.  B.  Zorn)  verschwistert  sich  daher  nicht 
so  sehr  mit  dem  Laster,  als  die  Leidenschaft.  Leidenschaft 
dagegen  ist  die  zur  bleibenden  Neigung  gewordene  sinnUche  Be- 
gierde (z.  B.  der  HaĂź  im  Gegensatz  des  Zorns).  Die  Ruhe,  mit 
der  ihr  nachgehangen  wird,  läßt  Überlegung  zu  und  verstattet  dem 
Gemüt  sich  darüber  Grundsätze  zu  machen  und  so,  wenn  die 
Neigung  auf  das  Gesetzwidrige  fällt,  über  sie  zu  brüten,  sie  tief 
zu  wurzeln  und  das  Böse  dadurch  (als  vorsätzlich)  in  seine  Maxime 
aufzunehmen;  welches  alsdann  ein  qualifiziertes  Böse,  d.  i.  ein 
wahres  Laster,  ist. 

Die  Tugend  also,  sofern  sie  auf  innerer  Freiheit  gegrĂĽndet  ist, 
enthält  für  die  Menschen  auch  ein  bejahendes  Gebot,  nämlich 
alle  seine  Vermögen  und  Neigungen  unter  seine  (der  Vernunft) 
Gewalt  zu  bringen,  mithin  der  Herrschaft  ĂĽber  sich  selbst,  welche 
über  das  Verbot,  nämlich  von  seinen  Gefühlen  und  Neigungen 
sich  nicht  beherrschen  zu  lassen,  (die  Pflicht  der  Apathie)  hinzu- 
kommt: weil,  ohne  daĂź  die  Vernunft  die  ZĂĽgel  der  Regierung 
in  ihre  Hände  nimmt,  jene  über  den  Menschen  den  Meister  spielen. 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre       219 

XVI. 

Zur  Tugend  wird  Apathie  (als  Stärke  betrachtet) 
notwendig  vorausgesetzt. 

Dieses  Wort  ist,  gleich  als  ob  es  FĂĽhllosigkeit,  mithin  sub- 
jektive Gleichgültigkeit  in  Ansehung  der  Gegenstände  der  Willkür 
bedeutete,  in  übelen  Ruf  gekommen;  man  nahm  es  für  Schwäche. 
Dieser  MiĂźdeutung  kann  dadurch  vorgebeugt  werden,  daĂź  man 
diejenige  Affekdosigkeit,  welche  von  der  Indifferenz  zu  unter- 
scheiden ist,  die  moralische  Apathie  nennt:  da  die  GefĂĽhle  aus 
sinnlichen  EindrĂĽcken  ihren  EinfluĂź  auf  das  moralische  nur  da- 
durch verlieren,  daĂź  die  Achtung  fĂĽrs  Gesetz  ĂĽber  sie  insgesamt 
mdchtiger  wird.  —  Es  ist  nur  die  scheinbare  Stärke  eines  Fieber- 
kranken, die  den  lebhaften  Anteil  selbst  am  Guten  bis  zum  Affekt 
steigen,  oder  vielmehr  darin  ausarten  läßt.  Man  nennt  den  Affekt 
dieser  Art  Enthusiasm,  und  dahin  ist  auch  die  Mäßigung  zu 
deuten,  die  man  selbst  fĂĽr  TugendausĂĽbungen  zu  empfehlen  pflegt 
(insani  sapiens  nomen  ferat  aequus  iniqui  —  ultra  quam  satis 
est  virtutem  si  petat  ipsam.  Horat.^.  Denn  sonst  ist  es  unge- 
reimt zu  wähnen,  man  könne  auch  wohl  allzu  weise,  allzu 
tugendhaft  sein.  Der  Affekt  gehört  immer  zur  Sinnhchkeit;  er 
mag  durch  einen  Gegenstand  erregt  werden,  welcher  es  wolle. 
Die  wahre  Stärke  der  Tugend  ist  das  Gemüt  in  Ruhe  mit 
einer  ĂĽberlegten  und  festen  EntschlieĂźung  ihr  Gesetz  in  AusĂĽbung 
zu  bringen.  Das  ist  der  Zustand  der  Gesundheit  im  morahschen 
Leben;  dagegen  der  Affekt,  selbst  wenn  er  durch  die  Vorstellung 
des  Guten  aufgeregt  wird,  eine  augenblicklich  glänzende  Erschei- 
nung ist,  welche  Mattigkeit  hinterläßt.  —  Phantastisch-tugendhaft 
aber  kann  doch  der  genannt  werden,  der  keine  in  Ansehung  der 
Moralität  gleichgültige  Dinge  (adiapbora)  einräumt  und  sich 
alle  seine  Schritte  und  Tritte  mit  Pflichten  als  mit  FuĂźangeln  be- 
streut und  es  nicht  gleichgĂĽltig  findet,  ob  ich  mich  mit  Fleisch 
oder  Fisch,  mit  Bier  oder  Wein,  wenn  mir  beides  bekömmt, 
nähre;  eine  Mikrclogie,  welche,  wenn  man  sie  in  die  Lehre  der 
Tugend  aufnähme,  die  Herrschaft  derselben  zur  Tyrannei  machen 
wĂĽrde. 

Anmerkung. 
Die  Tugend  ist  immer  im  Fortschreiten  und  hebt  doch 
auch  immer  von  vorne  an.  —  Das  erste  folgt  daraus,  weil 


HO       Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 

sie,  objektiv  betrachtet,  ein  Ideal  und  unerreichbar,  gleich- 
wolil  aber  sich  ihm  beständig  zu  nähern  dennoch  Pflicht  ist. 
Das  zweite  grĂĽndet  sich,  subjektiv,  auf  der  mit  Neigungen 
affizierten  Natur  des  Menschen,  unter  deren  EinfluĂź  die 
Tugend  mit  ihren  einmal  fĂĽr  allemal  genommenen  Maximen 
niemals  sich  in  Ruhe  und  Stillstand  setzen  kann,  sondern, 
wenn  sie  nicht  im  Steigen  ist,  unvermeidlich  sinkt:  weil 
sittliche  Maximen  nicht  so  wie  technische  auf  Gewohnheit 
gegründet  werden  können  (denn  dieses  gehört  zur  physischen 
Beschaffenheit  seiner  Willensbestimmung),  sondern,  selbst 
wenn  ihre  AusĂĽbung  zur  Gewohnheit  wĂĽrde,  das  Subjekt 
damit  die  Freiheit  in  Nehmuug  seiner  Maximen  einbĂĽĂźen 
wĂĽrde,  welche  doch  der  Charakter  einer  Handlung  aus 
Pflicht  ist. 


XVII. 
VorbegriflFe  zur  Einteilung  der  Tugendlehre. 

Dieses  Prinzip  der  Einteilung  muĂź  erstlich,  was  das  For- 
male betrifft,  alle  Bedingungen  enthalten,  welche  dazu  dienen, 
einen  Teil  der  allgemeinen  Sittenlehre  von  der  Rechtslehre  und 
zwar  der  spezifischen  Form  'nach  zu  unterscheiden,  und  das  ge- 
schieht dadurch:  daĂź  i)  Tugendpflichten  solche  sind,  fĂĽr  welche 
keine  äußere  Gesetzgebung  stattfindet:  2)  daß,  da  doch  aller 
Pflicht  ein  Gesetz  zum  Grunde  liegen  muĂź,  dieses  ia  der  Ethik 
ein  Pflichtgesetz,  nicht  fĂĽr  die  Handlungen,  sondern  bloĂź  fĂĽr  die 
Maximen  der  Handlungen  gegeben,  sein  kann;  3)  daĂź  (was  wie- 
derum aus  diesem  folgt)  die  ethische  Pflicht  als  weite,  nicht  als 
enge  Pflicht  gedacht  werden  mĂĽsse. 

Zweitens:  was  das  Materiale  anlangt,  muĂź  sie  nicht  bloĂź 
als  PflichtJehre  ĂĽberhaupt,  sondern  auch  als  Zwecklehre  aufgestellt 
werden:  so  daĂź  der  Mensch  sowohl  sich  selbst,  als  auch  jeden 
anderen  Menschen  sich  als  seinen  Zweck  zu  denken  verbunden 
ist,  (die  man  Pflichten  der  Selbstliebe  und  Nächstenliebe  zu  nennen 
pflegt)  welche  AusdrĂĽcke  hier  in  uneigentlicher  Bedeutung  ge- 
nommen werden,  weil  es  zum  Lieben  direkt  keine  Pflicht  geben 
kann,  wohl  aber  zu  Handlungen,  durch  die  der  Mensch  sich  und 
andere   zum  Zweck   macht. 


\ 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 


1 1 


Drittens:  was  die  Unterscheidung  des  Materialen  vom  For- 
malen (der  Gesetzmäßigkeit  von  der  Zweckmäßigkeit)  im  Prinzip 
der  Pflicht  betrifft,  so  ist  zu  merken:  daĂź  nicht  jede  Tugend- 
verpflichtung (obligatio  ethica)  eine  Tugendpflicht  (officium  ethi- 
cum  j.  virtutis)  sei;  mit  anderen  Worten:  daĂź  die  Achtung  vor 
dem  Gesetze  ĂĽberhaupt  noch  nicht  einen  Zweck  als  Pflicht  be- 
gründe; denn  der  letztere  allein  ist  Tugendpflicht.  —  Daher  gibt 
es  nur  Eine  Tugendverpflichtung,  aber  viel  Tugendpflichten: 
weil  es  zwar  viel  Objekte  gibt,  die  fĂĽr  uns  Zwecke  sind,  welche 
zu  haben  zugleich  Pflicht  ist,  aber  nur  eine  tugendhafte  Gesinnung 
als  subjektiver  Bestimmungsgrund  seine  Pflicht  zu  erfĂĽllen,  welche 
sich  auch  ĂĽber  Rechtspflichten  erstreckt,  die  aber  darum  nicht 
den  Namen  der  Tugendpflichten  führen  können.  —  Daher  wird 
alle  Einteilung  der  Ethik  nur  auf  Tugendpflichten  gehen.  Die 
Wissenschaft  von  der  Art,  auch  ohne  Rücksicht  auf  mögliche 
äußere  Gesetzgebung  verbindlich  zu  sein,  ist  die  Ethik  selbst,  ihrem 
formalen  Prinzip  nach  betrachtet. 

Anmerkung. 

Wie  komme  ich  aber  dazu,  wird  man  fragen,  die  Ein- 
teilung der  Ethik  in  Elementarlehre  und  Methodenlehre 
einzufĂĽhren:  da  ich  ihrer  doch  in  der  Rechtslehre  ĂĽberhoben 
sein  konnte?  —  Die  Ursache  ist:  weil  jene  es  mit  weiten, 
diese  aber  mit  lauter  engen  Pflichten  zu  tun  hat;  weshalb 
die  letztere,  welche  ihrer  Natur  nach  strenge  (präzis)  be- 
stimmend sein  muĂź,  ebenso  wenig  wie  die  reine  Mathematik 
einer  allgemeinen  Vorschrift  (Methode),  wie  im  Urteilen 
verfahren  werden  soll,  bedarf,  sondern  sie  durch  die  Tat 
wahr  macht.  —  Die  Ethik  hingegen  führt  wegen  des  Spiel- 
raums, den  sie  ihren  unvollkommenen  Pflichten  verstattet, 
unvermeidlich  zu  Fragen,  welche  die  Urteilskraft  auffordern 
auszumachen,  wie  eine  Maxime  in  besonderen  Fällen  anzu- 
wenden sei  und  zwar  so:  daĂź  diese  wiederum  eine  (unter- 
geordnete) Maxime  an  die  Hand  gebe  (wo  immer  wiederum 
nach  einem  Prinzip  der  Anwendung  dieser  auf  vorkommende 
Fälle  gefragt  werden  kann);  und  so  gerät  sie  in  eine  Ka- 
suistik,   von  welcher  die  Rechtslehre  nichts  weiĂź. 

Die  Kasuistik  ist  also  weder  eine  Wissenschaft,  noch 
ein  Teil  derselben;    denn  das  wäre  Dogmatik  und  ist  nicht 


2  22        Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Tugendlehre 

sowohl  Lehre,  wie  etwas  gefunden,  sondern  Ăśbung,  wie 
die  Wahrheit  solle  gesucht  werden;  fragmentarisch  also, 
nicht  systematisch  (wie  die  Ethik  sein  muĂźte)  in  sie  ver- 
webt, nur  gleich  den   Schollen  zum  System  hinzugetan. 

Dagegen;  nicht  sowohl  die  Urteilskraft,  als  vielmehr  die 
Vernunft  und  zwar  in  der  Theorie  seiner  Pflichten  sowohl  als  in 
derPraxis  zu  üben,  das  gehört  besonders  zur  Ethik,  als  Metho- 
denlehre  der  moralisch-praktischen  Vernunft;  wovon  die 
crstere  Ăśbung  darin  besteht,  dem  Lehrling  dasjenige  von 
Priichtbegrifi^en  abzufragen,  was  er  schon  weiĂź,  und  die 
erotematische  Methode  genannt  werden  kann,  und  dies 
zwar  entweder  weil  man  es  ihm  schon  gesagt  hat,  bloĂź  aus 
seinem  Gedächtnis,  welche  die  eigentliche  katechetische, 
oder,  weil  man  voraussetzt,  daĂź  es  schon  in  seiner  Vernunft 
natĂĽrlicherweise  enthalten  sei  und  es  nur  daraus  entwickelt 
zu  werden  brauche,  die  dialogische  (Sokratische)  Methode 
heiĂźt. 

Der  Katechetik  als  theoretischer  Ăśbung  entspricht  als 
GegenstĂĽck  im  Praktischen  die  Asketik,  welche  derjenige 
Teil  der  Methodenlehre  ist,  in  welchem  nicht  bloĂź  der 
TugendbegrifF,  sondern  auch,  wie  das  Tugendvermögen 
sowohl  als  der  Wille  dazu  in  AusĂĽbung  gesetzt  und  kultiviert 
werden   könne,  gelehrt  wird. 

Nach  diesen  Grundsätzen  werden  wir  also  das  System 
in  zwei  Teilen:  der  ethischen  Elementarlehre  und  der 
ethischen  Methodenlehre  aufstellen.  Jeder  Teil  wird  in 
seine  HauptstĂĽcke,  und  diese  im  ersten  Teile  nach  Ver- 
schiedenheit der  Subjekte,  wogegen  dem  Menschen  eine 
Verbindlichkeit  obliegt,  im  zweiten  nach  Verschiedenheit  der 
Zwecke,  welche  zu  haben  ihm  die  Vernunft  auferlegt,  und 
der  Empfänglichkeit  für  dieselbe  in  verschiedene  Kapitel 
zerfället  werden. 


XVIII. 

Die  Einteilung,  welche  die  praktische  Vernunft  zu  GrĂĽndung 
eines  Systems  ihrer  Begriffe  in  einer  Ethik  entwirft  (die  archi- 
tektonische), kann  nun  nach  zweierlei  Prinzipien,  einzeln  oder 
zusammen    verbunden,    gemacht    werden;    das    eine,    welches    das 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der   Tugendlehre       223 

subjektive  Verhältnis  der  Verpflichteten  zu  dem  Verptiichtenden 
der  Materie  nach,  das  andere,  welches  das  objektive  Verhältnis 
der  ethischen  Gesetze  zu  den  Pflichten  ĂĽberhaupt  in  einem  System 
der  Form  nach  vorstellt.  —  Die  erste  Einteilung  ist  die  der 
Wesen,  in  Beziehung  auf  welche  eine  ethische  Verbindlichkeit 
gedacht  werden  kann;  die  zweite  wäre  die  der  Begriffe  der 
reinen  ethisch-praktischen  Vernunft,  welche  zu  jener  ihren  Pflichten 
gehören,  die  also  zur  Ethik,  nur  sofern  sie  Wissenschaft  sein 
soll,  also  zu  der  methodischen  Zusammsetzung  aller  Sätze,  welche 
nach  der  ersteren  aufgefunden  worden,  erforderĂĽch  sind. 


Erste  Einteilung   der  Ethik 
nach    dem  Unterschiede    der  Subjekte    und    ihrer  Gesetze. 

Sie    enthält: 
Pflichten 


des  Menschen  gegen  des  Menschen  gegen 

den  Menschen  nicht  mensctiliche  Wesen 


gegen  sich     gegen  andere  Untermensch-     Ăśbermensch- 

selbst Menschen  liehe  Wesen,      liehe  Wesen. 


Zweite  Einteilung  der  Ethik 

nach    Prinzipien    eines    Systems    der    reinen    praktischen 

Vernunft. 

Ethische 


Elementarlehre  Methodenlehre 


Dogmatik  Kasuistik  Katechetik        Askctik 

Die  letztere  Einteilung  muĂź  also,  weil  sie  die  Form  der 
Wissenschaft  betrifft,  vor  der  ersteren  als  GrundriĂź  des  Ganzen 
vorhergehen. 


Ethische  Elementarlehre. 


Kants   Schriften.    Bd.  VII. 


15 


I 


Der   ethischen  Elementarlehre 
Erster  Teil. 

Von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst  ĂĽberhaupt. 

Einleitung 

§  I. 

Der  Begriff   einer  Pflicht  gegen  sich  selbst  enthält  (dem 
ersten  Anscheine  nach)  einen  Widerspruch. 

WENN  das  verpflichtende  Ich  mit  dem  verpflichteten 
in  einerlei  Sinn  genommen  wird,  so  ist  Pflicht  gegen  sich 
seihst  ein  sich  widersprechender  Begrifi^  Denn  in  dem  Begriffne 
der  Pflicht  ist  der  einer  passiven  Nötigung  enthalten  (ich  werde 
verbunden).  Darin  aber,  daĂź  es  eine  Pflicht  gegen  mich  selbst 
ist,  stelle  ich  mich  als  verbindend,  mithin  in  einer  aktiven 
Nötigung  vor  (Ich,  eben  dasselbe  Subjekt,  bin  der  Verbindende); 
und  der  Satz,  der  eine  Pflicht  gegen  sich  selbst  ausspricht  (ich 
soll  mich  selbst  verbinden),  wĂĽrde  eine  Verbindlichkeit  ver- 
bunden zu  sein  (passive  Obligation,  die  doch  zugleich  in  demselben 
Sinne  des  Verhältnisses  eine  aktive  wäre),  mithin  einen  Wider- 
spruch enthalten.  —  Man  kann  diesen  W^iderspruch  auch  dadurch 
ins  Licht  stellen,  daĂź  man  zeigt,  der  Verbindende  (auctor  obligatkn'ts) 
könne  den  Verbundenen  {jubiectum  obligationis)  jederzeit  von  der 
Verbindlichkeit  (term'inus  obligationis)  lossprechen;  mithin  (wenn 
beide  ein  und  dasselbe  Subjekt  sind)  er  sei  an  eine  Pflicht,  die 
er  sich  auferlegt,  gar  nicht  gebunden:  welches  einen  Widerspruch 
enthält. 


2  28  Ethische  Elementarlehre.    Erster  Teil. 

%    2. 

Es    gibt    doch  Pflichten    des  Menschen    gegen   sich  selbst. 

Denn  setzet:  es  gäbe  keine  solche  Pflichten,  so  würde  es 
überall  gar  keine,  auch  keine  äußere  Pflichten  geben.  —  Denn  ich 
kann  mich  gegen  andere  nicht  fĂĽr  verbunden  erkennen,  als  nur 
sofern  ich  zugleich  mich  selbst  verbinde:  weil  das  Gesetz,  kraft 
dessen  ich  mich  für  verbunden  achte,  in  allen  Fällen  aus  meiner 
eigenen  praktischen  Vernunft  hervorgeht,  durch  welche  ich  ge- 
nötigt werde,  indem  ich  zugleich  der  Nötigende  in  Ansehung 
meiner  selbst   bin.') 

AufschluĂź  dieser  scheinbaren  Antinomie. 

Der  Mensch  betrachtet  sich  in  dem  BewuĂźtsein  einer  Pflicht 
gegen  sich  selbst,  als  Subjekt  derselben,  in  zv/iefacher  Qualität: 
erstlich  als  Sinnenwesen,  d.  i.  als  Mensch  (zu  einer  der  Tierarten 
gehörig);  dann  aber  auch  als  VernunHwesen  (nicht  bloß  ver- 
nĂĽnftiges Wesen,  weil  die  Vernunft  nach  ihrem  theoretischen 
Vermögen  wohl  auch  die  Qualität  eines  lebenden  körperlichen 
Wesens  sein  könnte),  welches  kein  Sinn  erreicht,  und  das  sich 
nur  in  moralisch-praktischen  Verhältnissen,  wo  die  unbegreifliche 
Eigenschaft  der  Freiheit  sich  durch  den  EinfluĂź  der  Vernunft 
auf  den  innerlich  gesetzgebenden  Willen  offenbar  macht,  er- 
kennen läßt. 

Der  Mensch  nun  ais  vernĂĽnftiges  Naturwesen  Q^omo phaenofnenon) 
ist  durch  seine  Vernunft,  als  Ursache,  bestimmbar  zu  Handlungen 
in  der  Sinnenwelt,  und  hiebei  kommt  der  Begriff  einer  Verbindlich- 
keit noch  nicht  in  Betrachtang.      Eben  derselbe  aber  seiner  Per- 

')  So  sagt  man,  wenn  es  z.  B.  einen  Punkt  meiner  Ehrenrettung 
oder  der  Selbsterhalrung  betrifFr:  „Ich  bin  mir  das  selbst  schuldig". 
Selbst  wenn  es  Pflichren  von  minderer  Bedeutung,  die  nämlich  nicht 
das  Notwendige,  sondern  nur  das  Verdienstliche  meiner  Pflichtbefolgung 
betreffen,  spreche  ich  so,  z.  B.:  „Ich  bin  es  mir  selbst  schuldig  meine 
Geschicklichkeit  fĂĽr  den  Umgang  mit  Menschen  u.  s.  w.  zu  erweitern 
(mich  zu  kultivieren)." 


Von  den   FĂźichten  gegen  sich  selbst  ĂĽberhaupt        229 

sönlichkeit  nach,  d.  i.  als  ein  mit  innerer  Freiheit  begabtes 
Wesen  (homo  noumenon)  gedacht,  ist  ein  der  Verpflichtung  fähiges 
Wesen  und  zwar  gegen  sich  selbst  (die  Menschheit  in  seiner 
Person)  betrachtet,  so:  daĂź  der  Mensch  (in  zweierlei  Bedeutung 
betrachtet),  ohne  in  Widerspruch  mit  sich  zu  geraten  (weil  der 
Begriff  von  Menschen  nicht  in  einem  und  demselben  Sinn  gedacht 
wird),  eine  Pflicht  gegen  sich  selbst  anerkennen  kann. 


S  4- 

Vom  Prinzip  der  Einteilung  der  Pflichten  gegen 

sich  selbst. 

Die  Einteilung  kann  nur  in  Ansehung  des  Objekts  der  Pflicht, 
nicht  in  Ansehung  des  sich  verpflichtenden  Subjekts  gemacht  werden. 
Das  verpflichtete  sowohl  als  das  verpflichtende  Subjekt  ist  immer  nur 
der  Mensch,  und  wenn  es  uns  in  theoretischer  RĂĽcksicht  gleich 
erlaubt  ist,  im  Menschen  Seele  und  Körper  als  Naturbeschafi^enheiten 
des  Menschen  von  einander  zu  unterscheiden,  so  ist  es  doch  nicht 
erlaubt,  sie  als  verschiedene  den  Menschen  verpflichtende  Substanzen 
zu  denken,  um  zur  Einteilung  in  Pflichten  gegen  den  Körper  und 
gegen  die  Seele  berechtigt  zu  sein.  —  Wir  sind  weder  durch 
Erfahrung,  noch  durch  SchlĂĽsse  der  Vernunft  hinreichend  darĂĽber 
belehrt,  ob  der  Mensch  eine  Seele  (als  in  ihm  wohnende,  vom 
Körper  unterschiedene  und  von  diesem  unabhängig  zu  denken 
vermögende,  d.  i.  geistige  Substanz)  enthalte,  oder  ob  nicht  viel- 
mehr das  Leben  eine  Eigenschaft  der  Materie  sein  möge,  und 
wenn  es  sich  auch  auf  die  erstere  Art  verhielte,  so  wĂĽrde  doch 
keine  Pflicht  des  Menschen  gegen  einen  Körper  (als  verpflichtendes 
Subjekt),  ob   er  gleich   der  menschliche  ist,  denkbar  sein. 

i)  Es  wird  daher  nur  eine  objektive  Einteilung  der  Pflichten 
gegen  sich  selbst  in  das  FORMALE  und  MATERIALE  derselben 
stattfinden;  wovon  die  eine  einschränkend  (negative  Pflichten), 
die  andere  erweiternd  (positive  Pflichten  gegen  sich  selbst)  sind: 
jene,  welche  dem  Menschen  in  Ansehung  des  ZWECKS  seiner 
Natur  verbieten  demselben  zuwider  zu  handeln,  mithin  bloĂź 
auf  die  moralische  Selbsterhaltung,  diese,  welche  gebieten 
sich  einen  gewissen  Gegenstand  der  WillkĂĽr  zum  Zweck  zu 
machen    und    auf   die  Vervollkommnung    seiner    selbst   gehen: 


2}o  Ethische  Elevientarlehre.    Erster  Teil 

von  welchen  beide  zur  Tugend  entweder  als  Unterlassungspflichten 
{sustine  et  ahstine)  oder  als  Begehungspflichten  (viribus  concessis 
utere)^  beide  aber  als  Tugendpflichten  gehören.  Die  erstere  ge- 
hört zur  moralischen  GESUNDHEIT  (ad  esse)  des  Menschen, 
sowohl  als  Gegenstandes  seiner  äußeren,  als  seines  inneren  Sinnes 
zu  Erhaltung  seiner  Natur  in  ihrer  Vollkommenheit  (als  Rezep- 
tivität),  die  andere  zur  moralischen  Wohlhabenheit  (aJ  melius 
esse;  opulentia  moraUs\  welche  in  dem  Besitz  eines  zu  allen  Zwecken 
hinreichenden  Vermögens  besteht,  soFern  dieses  erwerblich  ist 
und  zur  Kultur  (als  tätiger  Vollkommenheit)  seiner  selbst  gehört.  — 
Der  erstere  Grundsatz  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  liegt  in  dem 
Spruch:  lebe  der  Natur  gemäß  (naturae  convenienter  vive),  d.  i.  er- 
halte dich  in  der  Vollkommenheit  deiner  Natur,  der  zweite  in 
dem  Satz:  mache  dich  vollkommncr,  als  die  bloĂźe  Natur 
dich  schuf  (perfice  te  ut  finein-,  perfice  te  ut  wediutn). 

z)  Es  wird  eine  subjektive  Einteilung  der  Pflichten  des 
Menschen  gegen  sich  selbst,  d.  i.  eine  solche,  nach  der  das  Subjekt 
der  Pflicht  (der  Mensch)  sich  selbst  entweder  als  ANIMALISCHES 
(physisches)  und  zugleich  moralisches,  oder  BLOS  ALS  MORALI- 
SCHES Wesen  betrachtet. 

Da  sind  nun  die  Antriebe  der  Natur,  was  die  TIERHEIT  des 
Menschen  betrifft,  a)  der,  durch  welchen  die  Natur  die  Erhaltung 
seiner  selbst,  b)  die  Erhaltung  der  Art,  c)  die  Erhaltung  seines 
Vermögens  zum  angenehmen,  aber  doch  nur  tierischen  Lebens- 
genuß beabsichtigt.  —  Die  Laster,  welche  hier  der  Pflicht  des 
Menschen  gegen  sich  selbst  widerstreiten,  sind:  der  Selbstmord, 
der  unnatĂĽrliche  Gebrauch,  den  jemand  von  der  Geschlechts- 
neigung macht,  und  der  das  Vermögen  zum  zweckmäßigen 
Gebrauch  seiner  Kräfte  schwächende  unmäßige  Genuß  der 
Nahrungsmittel. 

Was  aber  die  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst  bloĂź 
als  moralisches  Wesen  (ohne  auf  seine  Tierheit  zu  sehen)  betriflFt, 
so  besteht  sie  im  Formalen  der  Ăśbereinstimmung  der  Maximen 
seines  Willens  mit  der  WĂĽrde  der  Menschheit  in  seiner  Person; 
also  im  Verbot,  daĂź  er  sich  selbst  des  Vorzugs  eines  moralischen 
Wesens,  nämlich  nach  Prinzipien  zu  handeln,  d.  i.  der  inneren 
Freiheit,  nicht  beraube  und  dadurch  zum  Spiel  bloĂźer  Neigungen, 
also  zur  Sache,  mache.  —  Die  Laster,  welche  dieser  Pflicht  entgegen- 
stehen, sind:  die  LĂśGE,  der  GEIZ  und  die  FALSCHE  DEMUT 
(Kriecherei).  Diese  nehmen  sich  Grundsätze,  welche  ihrem  Charakter 


Von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst  ĂĽberhaupt        1 3  i 

als  moralischer  Wesen,  d.  i.  der  inneren  Freiheit,  der  angebornen 
WĂĽrde  des  Menschen,  geradezu  (schon  der  Form  nach)  wider- 
sprechen, welches  so  viel  sagt:  sie  machen  sich  es  zum  Grundsatz, 
keinen  Grundsatz  und  so  auch  keinen  Charakter  zu  haben,  d.  i. 
sich  wegzuwerfen  und  sich  zum  Gegenstande  der  Verachtung  zu 
machen.  —  Die  Tugend,  welche  allen  diesen  Lastern  entgegen 
steht,  könnte  die  Ehrliebe  (J^onestas  interna,  iustum  sui  aesttviium\ 
eine  von  der  Ehrbegierde  (ambitio)  (welche  auch  sehr  nieder- 
trächtig sein  kann)  himmelweit  unterschiedene  Denkungsart,  ge- 
nannt werden,  wird  aber  unter  dieser  Betitelung  in  der  Folge 
besonders  vorkommen. 


\ 


Der  Tugendlehre 
Erster  Teil 

Ethische  Elementarlehre. 

Erstes  Buch. 

Von  den  vollkommenen  Pflichten  gegen 

sich  selbst. 

Erstes  HauptstĂĽck. 

Die  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst,  als  einem 

animalischen  Wesen. 

§  5- 

Die,  wenn  gleich  nicht  vornehmste,  doch  erste  Pflicht  des 
Menschen  gegen  sich  selbst  in  der  Qualität  seiner  Tierheit  ist  die 
Selbsterhaltung  in  seiner  animalischen   Natur. 

Das  Widerspiel  derselben  ist  der  willkĂĽrliche  physische 
Tod,  welcher  wiederum  entweder  als  total  oder  bloĂź  partial 
gedacht  werden  kann.  —  Der  physische,  die  Entleibung  (^auto- 
chiria),  kann  also  auch  total  (juic'idium)  oder  partial,  Ent- 
gliedcrung  (VerstĂĽmmelung),  sein,  welche  wiederum  in  die 
materiale,  da  man  sich  selbst  gewisser  integrierenden  Teile  als 
Organe  beraubt,  d.  h.  sich  verstĂĽmmelt,  und  die  tormale,  da 
man  sich  (auf  immer  oder  auf  einige  Zeit)  des  Vermögens  des 
physischen  (und  hicmit  indirekt  auch  des  moralischen)  Gebrauchs 
seiner  Kräfte   beraubt. 


I.  Buch.    Von  den  vollkommenen  FĂźichten  gegen  sich  selbst     235 

Da  in  diesem  HauptstĂĽcke  nur  von  negativen  Pflichten,  folg- 
lich von  Unterlassungen  nur  die  Rede  ist,  so  werden  die  Pflicht- 
artikel wider  die  Laster  gerichtet  sein  mĂĽssen,  welche  der  Pflicht 
gegen  sich  selbst  entgegengesetzt  sind. 


D  e  s  e  r  s  t  e  n  Ha  up  t  s  tu  ck  s 

Erster  Artikel. 

Von  der  Selbstentleibung. 

§  6. 

Die  willkĂĽrliche  Entleibung  seiner  selbst  kann  nur  dann 
allererst  SELBSTMORD  Qmnicidium  dolosujn)  genannt  werden,  wenn 
bewiesen  werden  kann,  daĂź  sie  ĂĽberhaupt  ein  Verbrechen  ist, 
welches  entweder  an  unserer  eigenen  Person  oder  auch  durch 
diese  ihre  Selbstentleibung  an  anderen  begangen  wird  (z.  B.  wemi 
eine  schwangere  Person  sich  selbst  umbringt). 

a)  Die  Selbstentleibung  ist  ein  Verbrechen  (Mord).  Dieses 
kann  nun  zwar  auch  als  Ăśbertretung  seiner  Pflicht  gegen  andere 
Menschen  (Eheleute,  Eltern  gegen  Kinder,  des  Untertans  gegen 
seine  Obrigkeit,  oder  seine  MitbĂĽrger,  endlich  auch  gegen  Gott, 
dessen  uns  anvertrauten  Posten  in  der  Welt  der  Mensch  verläßt, 
ohne  davon  abgerufen  zu  sein)  betrachtet  werden;  —  aber  hier 
ist  nur  die  Rede  von  Verletzung  einer  Pflicht  gegen  sich  selbst, 
ob  nämhch,  wenn  ich  auch  alle  jene  Rücksichten  beiseite  setzte, 
der  Mensch  doch  zur  Erhaltung  seines  Lebens  bloĂź  durch  seine 
Qualität  als  Person  verbunden  sei  und  hierin  eine  (und  zwar 
strenge)   Pflicht  gegen  sich  selbst  anerkennen  mĂĽsse. 

Daß  der  Mensch  sich  selbst  beleidigen  könne,  scheint  un- 
gereimt zu  sein  [volenti  non  fit  iniuria).  Daher  sah  es  der  Stoiker 
für  einen  Vorzug  seiner  (des  Weisen)  Persönlichkeit  an,  beliebig 
aus  dem  Leben  (als  aus  einem  Zimmer,  das  raucht),  ungedrängt 
durch  gegenwärtige  oder  besorgliche  Übel,  mit  ruhiger  Seele  hinaus 
zu  gehen:  weil  er  in  demselben  zu  nichts  mehr  nutzen  könne.  — 
Aber  eben  dieser  Mut,  diese  Seelenstärkc,  den  Tod  nicht  zu 
fürchten  und  etwas  zu  kennen,  was  der  Mensch  noch  höher 
schätzen    kann,    als    sein  Leben,    hätte    ihm  ein  um  noch  so  viel 


1 3  4  Ethische  Elevientarlehre.    Erstes  Buch 

größerer  Bewegungsgrund  sein  müssen,  sich,  ein  Wesen  von  so 
großer,  über  die  stärkste  sinnliche  Triebfedern  gewalthabenden 
Übermacht,  nicht  zu  zerstören,  mithin  sich  des  Lebens  nicht  zu 
berauben. 

Der  Persönlichkeit  kann  der  Mensch  sich  nicht  entäußern,  so 
lange  von  Pflichten  die  Rede  ist,  folglich  so  lange  er  lebt,  und 
es  ist  ein  Widerspruch,  die  Befugnis  zu  haben,  sich  aller  Ver- 
bindlichkeit zu  entziehen,  d.  i.  frei  so  zu  handeln,  als  ob  es  zu 
dieser  Handlung  gar  keiner  Befugnis  bedĂĽrfte.  Das  Subjekt  der 
Sittlichkeit  in  seiner  eigenen  Person  zernichten,  ist  eben  so 
viel,  als  die  Sittlichkeit  selbst  ihrer  Existenz  nach,  so  viel  an  ihm 
ist,  aus  der  Welt  vertilgen,  welche  doch  Zweck  an  sich  selbst 
ist;  mithin  ĂĽber  sich  als  bloĂźes  Mittel  zu  einem  ihm  beliebigen 
Zv/eck  zu  disponieren,  heiĂźt  die  Menschheit  in  seiner  Person 
{homo  fwutnenon)  abwĂĽrdigen,  der  doch  der  Mensch  (homo  phae- 
nomenon)   zur  Erhaltung  anvertrauet  war. 

Sich  eines  integrierenden  Teils  als  Organs  berauben  (verstĂĽm- 
meln), z.  B.  einen  Zahn  zu  verschenken  oder  zu  verkaufen,  um  ihn 
in  die  Kinnlade  emes  andern  zu  pflanzen,  oder  die  Kastration  mit 
sich  vornehmen  zu  lassen,  um  als  Sänger  bequemer  leben  zu  können, 
u.  dgl.  gehört  zum  partialen  Selbstmorde;  aber  ein  abgestorbenes 
oder  die  Absterbung  drohendes  und  hiemit  dem  Leben  nachteiliges 
Organ  durch  Amputation,  oder,  was  zwar  ein  Teil,  aber  kein 
Organ  des  Körpers  ist,  z.  E.  die  Haare,  sich  abnehmen  zu  lassen, 
kann  zum  Verbrechen  an  seiner  eigenen  Person  nicht  gerechnet 
werden;  wiewohl  der  letztere  Fall  nicht  ganz  schuldfrei  ist,  wenn 
er  zum  äußeren  Erwerb   beabsichtigt  wird. 

Kasuistische   Fragen. 

Ist  es  Selbstmord,  sich  (wie  CURTIUS)  in  den  gewissen  Tod 
zu  stürzen,  um  das  Vaterland  zu  retten?  —  oder  ist  das  vorsätz- 
liche Märtyrertum,  sich  für  das  Heil  des  Menschengeschlechts 
ĂĽberhaupt  zum  Opfer  hinzugeben,  auch  wie  jenes  fĂĽr  Heldentat 
anzusehen? 

Ist  es  erlaubt,  dem  ungerechten  Todesurteile  seines  Oberen 
durch  Selbsttötung  zuvorzukommen?  —  selbst  wenn  dieser  es 
(wie   NERO   am   SENECA)   erlaubte  zu   tun? 

Kann  man  es  einem  großen  unlängst  verstorbenen  Monarchen 
zum    verbrecherischen   Vorhaben    anrechnen,    daĂź    er    ein    behend 


f^on  den  vollkommenen  Pflichten  gegen  sich  seihst     235 

wirkendes  Gift  bei  sich  fĂĽhrte,  vermutlich  damit,  wenn  er  in  dem 
Kriege,  den  er  persönlich  führte,  gefangen  würde,  er  nicht  etwa 
genötigt  sei,  Bedingungen  der  Auslösung  einzugehn,  die  seinem 
Staate  nachteilig  sein  könnten;  denn  diese  Absicht  kann  man  ihm 
unterlegen,  ohne  daß  man  nötig  hat,  hierunter  einen  bloßen  Stolz 
zu  vermuten? 

Ein  Mann  empfand  schon  die  Wasserscheu,  als  Wirkung  von 
dem  BiĂź  eines  tollen  Hundes,  und  nachdem  er  sich  darĂĽber  so 
erklärt  hatte:  er  habe  noch  nie  erfahren,  daß  jemand  daran  geheilt 
worden  sei,  brachte  er  sich  selbst  um,  damit,  wde  er  in  einer 
hinterlassenen  Schrift  sagte,  er  nicht  in  seiner  Hundewut  (zu 
welcher  er  schon  den  Anfall  fĂĽhlte)  andere  Menschen  auch  un- 
glĂĽcklich machte;  es  fragt  sich,  ob  er  damit  unrecht  tat. 

Wer  sich  die  Pocken  einimpfen  zu  lassen  beschheĂźt,  wagt 
sein  Leben  aufs  Ungewisse,  ob  er  es  zwar  tut,  um  sein  Leben 
zu  erhalten,  und  ist  sofern  in  einem  weit  bedenklicheren  Fall 
des  Pflichtgesetzes,  als  der  Seefahrer,  welcher  doch  wenigstens  den 
Sturm  nicht  macht,  dem  er  sich  anvertraut,  statt  dessen  jener  die 
Krankheit,  die  ihn  in  Todesgefahr  bringt,  sich  selbst  zuzieht.  Ist 
also  die  Pockeninokulation  erlaubt? 


Zweiter  Artikel. 
Von  der  wollüstigen  Selbstschändung. 

§7. 

So  wie  die  Liebe  zum  Leben  von  der  Natur  zur  Erhaltung 
der  Person,  so  ist  die  Liebe  zum  Geschlecht  von  ihr  zur  Er- 
haltung der  Art  bestimmt;  d.  i.  eine  jede  von  beiden  ist  Natur- 
zweck, unter  welchem  man  diejenige  VerknĂĽpfung  der  Ursache 
mit  einer  Wirkung  versteht,  in  welcher  jene,  auch  ohne  ihr  dazu 
einen  Verstand  beizulegen,  diese  doch  nach  der  Analogie  mit  einem 
solchen,  also  gleichsam  absichtlich  Menschen  hervorbringend  ge- 
dacht wird.  Es  fragt  sich  nun,  ob  der  Gebrauch  des  letzteren 
Vermögens  in  Ansehung  der  Person  selbst,  die  es  ausübt,  unter 
einem  einschränkenden  Pflichtgesetz  stehe,  oder  ob  diese,  auch  ohne 
jenen  Zweck  zu  beabsichtigen,  den  Gebrauch  ihrer  Geschlechts- 
cigenschaften    der    bloĂźen   tierischen  Lust   zu  widmen  befugt  sei. 


236  Ethische  Eleiuentarlehre.    Erstes  Buch 

ohne  damit  einer  Pflicht  gegen  sich  selbst  zuwider  zu  handeln.  — 
In  der  Rechtsichre  wird  bewiesen,  daĂź  der  Mensch  sich  einer 
anderen  Person  dieser  Lust  zu  gefallen  ohne  besondere  Ein- 
schränkung durch  einen  rechtlichen  Vertrag  nicht  bedienen  könne; 
wo  dann  zwei  Personen  wechselseitig  einander  verpflichten.  Hier 
aber  ist  die  Frage:  ob  in  Ansehung  dieses  Genusses  eine  Pflicht 
des  Menschen  gegen  sich  selbst  obwalte,  deren  Ăśbertretung  eine 
Schändung  (nicht  bloß  Abwürdigung)  der  Menschheit  in  seiner 
eigenen  Person  sei.  Der  Trieb  zu  jenem  wird  Fleischeslust  (auch 
Wollust  schlechthin)  genannt.  Das  Laster,  welches  dadurch  erzeugt 
wird,  heiĂźt  Unkeuschheit,  die  Tugend  aber  in  Ansehung  dieser 
sinnlichen  Antriebe  wird  Keuschheit  genannt,  die  nun  hier  als 
Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst  vorgestellt  werden  soll. 
L'nnatĂĽrlich  heiĂźt  eine  Wollust,  wenn  der  Mensch  dazu  nicht 
durch  den  wirklichen  Gegenstand,  sondern  durch  die  Einbildung 
von  demselben,  also  zweckwidrig,  ihn  sich  selbst  schafl'end,  gereizt 
wird.  Denn  sie  bewirkt  alsdann  eine  Begierde  wider  den  Zweck 
der  Natur  und  zwar  einen  noch  wichtigern,  als  selbst  der  der 
Liebe  zum  Leben  ist,  weil  dieser  nur  auF  Erhältung  des  Indivi- 
duum, jenei   aber  auf  die   der  ganzen  Spezies  abzielt.   — 

DaĂź  ein  solcher  naturwidrige  Gebrauch  (also  MiĂźbrauch) 
seiner  Geschlechtseigenschaft  eine  und  zwar  der  Sittlichkeit  im 
höchsten  Grad  widerstreitend'e  Verletzung  der  Pflicht  wider  sich 
selbst  sei,  fällt  jedem  zugleich  mit  dem  Gedanken  von  demselben 
sofort  auf,  erregt  eine  Abkehrung  von  diesem  Gedanken,  in  der 
MaĂźe,  daĂź  selbst  die  Nennung  emes  solchen  Lasters  bei  seinem 
eigenen  Namen  fĂĽr  unsittlich  gehalten  wird,  welches  bei  dem  des 
Selbstmords  nicht  geschieht;  den  man  mit  allen  seinen  Greueln 
(in  einer  species  facti')  der  Welt  vor  Augen  zu  legen  im  mindesten 
kein  Bedenken  trägt;  gleich  als  ob  der  Mensch  überhaupt  sich 
beschämt  fühle,  einer  solchen  ihn  selbst  unter  das  Vieh  herab- 
würdigenden Behandlung  seiner  eigenen  Person  fähig  zu  sein:  so 
daß  selbst  die  erlaubte  (an  sich  freilich  bloß  tierische)  körperliche 
Gemeinschaft  beider  Geschlechter  in  der  Ehe  im  gesitteten  Um- 
gange viel  Feinheit  veranlaĂźt  und  erfodert,  um  einen  Schleier 
darĂĽber   zu  werfen,  wenn   davon   gesprochen  werden   soll. 

Der  Vernunftbeweis  aber  der  Unzulässigkeit  jenes  unnatürlichen 
und  selbst  auch  des  bloß  unzweckmäßigen  Gebrauchs  seiner  Ge- 
schlechtseigenschaften als  Verletzung  (und  zwar,  was  den  ersteren 
betrifl't,  im  höchsten  Grade)   der  Pflicht  gegen   sich  selbst  ist  nicht 


Von  den  vollkommenen  Pflichten  gegen  sich  selbst     237 

so  leicht  geführt.  —  Der  Beweisgrund  Hegt  freilich  darin,  daß 
der  Mensch  seine  Persönlichkeit  dadurch  (wegwerfend)  aufgibt, 
indem  er  sich  bloĂź  zum  Mittel  der  Befriedigung  tierischer  Triebe 
braucht.  Aber  der  hohe  Grad  der  Verletzung  der  Menschheit  in 
seiner  eigenen  Person  durch  ein  solches  Laster  in  seiner  UnnatĂĽr- 
lichkeit,  da  es  der  Form  (der  Gesinnung)  nach  selbst  das  des 
Selbstmordes  noch  zu  übergehen  scheint,  ist  dabei  nicht  erklärt. 
Es  sei  denn,  daĂź,  da  die  trotzige  Wegwerfung  seiner  selbst  im 
letzteren,  als  einer  Lebenslast,  wenigstens  nicht  eine  weichliche 
Hingebung  an  tierische  Reize  ist,  sondern  Mut  erfordert,  wo 
immer  noch  Achtung  fĂĽr  die  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person 
Platz  findet,  jene,  welche  sich  gänzlich  der  tierischen  Neigung 
überläßt,  den  Menschen  zu  genießbaren,  aber  hierin  doch  zugleich 
naturwidrigen  Sache,  d,  i.  zum  ekelhaften  Gegenstande,  macht 
und  so  aller  Achtung  fĂĽr  sich  selbst  beraubt. 

Kasuistische  Fragen. 

Der  Zweck  der  Natur  ist  in  der  Beiwohnung  dti  Geschlechter 
die  Fortpflanzung,  d.  i.  die  Erhaltung  der  Art;  jenem  Zwecke 
darf  also  wenigstens  nicht  zuwider  gehandelt  werden.  Ist  es  aber 
erlaubt,  auch  ohne  auf  diesen  RĂĽcksicht  zu  nehmen,  sich 
(selbst  werm  es  in  der  Ehe  geschähe)  jenes  Gebrauchs  anzumaßen? 

Ist  es  z.  B.  zur  Zeit  der  Schwangerschaft  —  ist  es  bei  der 
Sterilität  des  Weibes  (Alters  oder  Krankheit  wegen),  oder  wenn 
dieses  keinen  Anreiz  dazu  bei  sich  findet,  nicht  dem  Naturzwecke 
und  hiemit  auch  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  an  einem  oder  dem 
anderen  Teil  ebenso  wie  bei  der  unnatĂĽrlichen  Wollust  zuwider, 
von  seinen  Geschlechtseigenschaften  Gebrauch  zu  machen;  oder 
gibt  es  hier  ein  Erlaubnisgcsetz  der  moralisch-praktischen  Vernunft, 
welches  in  der  Kollision  ihrer  BestimmungsgrĂĽnde  etwas  an  sich 
zwar  Unerlaubtes  doch  zur  Verhütung  einer  noch  größeren  Uber- 
tretvmg  (gleichsam  nachsichtHch)  erlaubt  macht?  —  Von  wo  an 
kann  man  die  Einschränkung  einer  weiten  Verbindlichkeit  zum 
Purism  (einer  Pedanterei  in  Ansehung  der  Pflichtbeobachtung, 
was  die  Weite  derselben  betrifft)  zählen  und  den  tierischen  Nei- 
gungen mit  Gefahr  der  Verlassung  des  Vernunftgesetzes  einen 
Spielraum  verstatten? 

Die  Geschlechtsneigung  wird  auch  Liebe  (in  der  engsten 
Bedeutung    des  Worts)  genannt    und    ist    in    der  Tat   die   größte 


238  Ethische  Elevientarlchre.    Erstes  Buch 

Sinnenliist,  die  an  einem  Gegenstande  möglich  ist;  —  nicht  bloß 
sinnliche  Lust,  wie  an  Gegenständen,  die  in  der  bloßen  Reflexion 
über  sie  gefallen  (da  die  Empfänglichkeit  für  sie  Geschmack 
hciĂźtX  sondern  die  Lust  aus  dem  GenĂĽsse  einer  anderen  Person, 
die  also  zum  Begehrungsvermögen  und  zwar  der  höchsten 
Stufe  desselben,  der  Leidenschaft,  gehört.  Sie  kann  aber  weder 
zur  Liebe  des  Wohlgefallens,  noch  der  des  Wohlwollens  gezählt 
werden  (denn  beide  halten  eher  vom  fleischlichen  GenuĂź  ab), 
sondern  ist  eine  Lust  von  besonderer  Art  {sui  generis),  und  das 
BrĂĽnstigsein  hat  mit  der  moralischen  Liebe  eigentlich  nichts  gemein, 
wiewohl  sie  mit  der  letzteren,  wenn  die  praktische  Vernunft  mit 
ihren  einschränkenden  Bedingungen  hinzukommt,  in  enge  Ver- 
bindung treten  kann. 

Dritter  Artikel. 

Von  der  Selbstbetäubung  durch  Unmaßigkeit  im  Gebrauch 
der  GenieĂź-  oder  auch  Nahrungsmittel. 

§  8. 

Das  Laster  in  dieser  Art  der  UnmaĂźigkeit  wird  hier  nicht 
aus  dem  Schaden,  oder  den  körperUchen  Schmerzen  (solchen 
Krankheiten),  die  der  Mensch  sich  dadurch  zuzieht,  beurteilt; 
denn  da  wäre  es  ein  Prinzip  des  Wohlbefindens  und  der  Behaglich- 
keit (folglich  der  GlĂĽckseligkeit),  wodurch  ihm  entgegengearbeitet 
werden  sollte,  welches  aber  nie  eine  Pflicht,  sondern  nur  eine 
Klugheitsregel  begründen  kann:  wenigstens  wäre  es  kein  Prinzip 
einer   direkten   Pflicht. 

Die  tierische  UnmaĂźigkeit  im  GenuĂź  der  Nahrung  ist  der 
Mißbrauch  der  Genießmittel,  wodurch  das  Vermögen  des  intellek- 
tuellen Gebrauchs  derselben  gehemmt  oder  erschöpft  vnrd.  Ver- 
soffenheit und  Gefräßigkeit  sind  die  Laster,  die  unter  diese 
Rubrik  gehören.  Im  Zustande  der  Betrunkenheit  ist  der  Mensch 
nur  wie  ein  Tier,  nicht  als  Mensch  zu  behandeln;  durch  die 
Ăśberladung  mit  Speisen  und  in  einem  solchen  Zustande  ist  er  fĂĽr 
Handlungen,  wozu  Gewandtheit  und  Ăśberlegung  im  Gebrauch 
seiner  Kräfte  erfordert  wird,  auf  eine  gewisse  Zeit  gelähmt.  — 
DaĂź  sich  in   einen   solchen   Zustand   zu  versetzen  Verletzung  einer 


Von  den  vollkommenen  Pflichten  gegen  sich  selbst     1 3  9 

Pflicht  wider  sich  selbst  sei,  fällt  von  selbst  in  die  Augen.  Die 
erste  dieser  Erniedrigungen,  selbst  unter  die  tierische  Natur,  wird 
gewöhnlich  durch  gegorene  Getränke,  aber  auch  durch  andere 
betäubende  Mittel,  als  den  Mohnsatt  und  andere  Produkte  des 
Gewächsreichs,  bewirkt  und  wird  dadurch  verführerisch,  daß 
dadurch  auf  eine  Weile  geträumte  Glückseligkeit  und  Sorgentreiheit, 
ja  wohl  auch  eingebildete  Stärke  hervorgebracht,  Niedergeschlagenheit 
aber  und  Schwäche  und,  was  das  Schlimmste  ist,  Notwendigkeit, 
dieses  Betäubungsmittel  zu  wiederholen,  ja  wohl  gar  damit  zu 
steigern,  eingeführt  wird.  Die  Gefräßigkeit  ist  sofern  noch  unter 
jener  tierischen  Sinnenbelustigung,  daĂź  sie  bloĂź  den  Sinn  als 
passive  BeschaflFenheit  und  nicht  einmal  die  Einbildungskraft, 
welche  doch  noch  ein  tätiges  Spiel  der  Vorstellungen,  wie  im 
vorerwähnten  Genuß  der  Fall  ist,  beschäftigt;  mithin  sich  dem  des 
Viehes  noch  mehr  nähert. 


Kasuistische  Fragen. 

Kann  man  dem  Wein,  wenngleich  nicht  als  Panegyrist,  doch 
wenigstens  als  Apologet  einen  Gebrauch  verstatten,  der  bis  nahe 
an  die  Berauschung  reicht:  weil  er  doch  die  Gesellschaft  zur  Ge- 
sprächigkeit belebt  und  damit  Offenherzigkeit  verbindet?  —  Oder 
kann  man  ihm  wohl  gar  das  Verdienst  zugestehen,  das  zu  be- 
fördern, was  HORAZ  vom  CATO  rühmt:  virtus  eius  iucaluit 
fnero\  —  Der  Gebrauch  des  Opium  und  Branntweins  sind  als 
Genießmittel  der  Niederträchtigkeit  näher,  weil  sie  bei  dem  ge- 
träumten Wohlbefinden  stumm,  zurückhaltend  und  unmitteilbar 
machen,  daher  auch  nur  als  Arzneimittel  erlaubt  sind.  —  Wer  kann 
aber  das  MaĂź  fĂĽr  einen  bestimmen,  der  in  den  Zustand,  wo  er 
zum  Messen  keine  klare  Augen  mehr  hat,  ĂĽberzugehen  eben  in 
Bereitschaft  ist?  Der  Mohammedanism,  welcher  den  Wein  ganz 
verbietet,  hat  also  sehr  schlecht  gewählt,  dafür  das  Opium  zu 
erlauben. 

Der  Schmaus,  als  förmliche  Einladung  zur  Unmäßigkeit  in 
beiderlei  Art  des  Genusses,  hat  doch  auĂźer  dem  bloĂź  physischen 
Wohlleben  noch  etwas  zum  sittlichen  Zweck  Abzielendes  an  sich, 
nämlich  viel  Menschen  und  lange  zu  wechselseitiger  Mitteilung 
zusammenzuhalten:  gleichwohl  aber,  da  eben  die  Menge  (wenn 
sie,  wie  CHESTERFIELD  sagt,  ĂĽber  die  Zahl  der  Musen  geht) 
nur  eine  kleine  Mitteilung  (mit  den  nächsten  Beisitzern)   erlaubt, 


z^o 


Ethische  Elemeyjtarlehre.    Erstes  Buch 


mithin  die  Veranstaltung  jenem  Zweck  widerspricht,  so  bleibt  sie 
immer  Verleitung  zum  Unsittlichen,  nämlich  der  Unmäßigkeit,  der 
Ăśbertretung  der  Pflicht  gegen  sich  selbst;  auch  ohne  auf  die  phy- 
sischen Nachteile  der  Ăśberladung,  die  vielleicht  vom  Arzt  gehoben 
werden  können,  zu  sehen.  W^ie  weit  geht  die  sittliche  Befugnis, 
diesen   Einladungen   zur  Unmäßigkeit  Gehör  zu  geben? 


Zweites  HauptstĂĽck. 

Die  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst,  bloĂź  als 
einem  moralischen  Wesen. 

Sie  ist  den   Lastern:   LĂĽge,  Geiz  und  falsche   Demut  (Krie- 
cherei)  entgegengesetzt. 

L 

Von  der  LĂĽge. 

§9. 

Die  größte  Verletzung  der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich 
selbst,  bloĂź  als  moralisches  Wesen  betrachtet  (die  Menschheit  in 
seiner  Person),  ist  das  Widerspiel  der  Wahrhaftigkeif  die  LĂĽge 
(aliud  lingua  promtum.  aliud  pectore  inclusum  gerere).  DaĂź  eine 
jede  vorsätzliche  Unwahrheit  in  Äußerung  seiner  Gedanken  diesen 
harten  Namen  (den  sie  in  der  Rechtslehre  nur  dann  fĂĽhrt,  wenn 
sie  anderer  Recht  verletzt)  in  der  Ethik,  die  aus  der  Unschädlich- 
keit kein  Befugnis  hernimmt,  nicht  ablehnen  könne,  ist  für  sich 
selbst  klar.  Denn  Ehrlosigkeit  (ein  Gegenstand  der  moralischen 
Verachtung  zu  sein),  welche  sie  begleitet,  die  begleitet  auch  den 
Lügner  wie  sein  Schatten.  Die  Lüge  kann  eine  äußere  {men- 
dacium  extcrnum)^  oder  auch  eine  innere  sein.  —  Durch  jene  macht 
er  sich  in  anderer,  durch  diese  aber,  was  noch  mehr  ist,  in  seinen 
eigenen  Augen  zum  Gegenstande  der  Verachtung  und  verletzt  die 
WĂĽrde  der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person;  wobei  der 
Schade,  der  anderen  Menschen  daraus  entspringen  kann,  nicht  das 
Eigentümliche  des  Lasters  betrifft  (denn  da  bestände  es  bloß  in 
der  Verletzung    der  Pflicht    gegen  andere),  und   also  hier  nicht  in 


Von  den  vollkommenen  V fliehten  gegen  sich  seihst     la^i 

Anschlag  kommt,  ja  auch  nicht  der  Schade,  den  er  sich  selbst 
zuzieht;  denn  alsdenn  wĂĽrde  es  bloĂź  als  Klugheitsfehler  der  prag- 
matischen, nicht  der  moralischen  Klaxime  widerstreiten  und  gar 
nicht  als  Pflichtverletzung  angesehen  werden  können.  —  Die  Lüge 
ist  Wegwerfung  und  gleichsam  Vernichtung  seiner  MenschenwĂĽrde. 
Ein  Mensch,  der  selbst  nicht  glaubt,  was  er  einem  anderen  (wenn 
es  auch  eine  bloß  idealische  Person  wäre)  sagt,  hat  einen  noch 
geringeren  Wert,  als  wenn  er  bloß  Sache  wäre;  denn  von  dieser 
ihrer  Eigenschaft  etwas  zu  nutzen,  kann  ein  anderer  doch  irgend 
einen  Gebrauch  machen,  weil  sie  etwas  Wirkliches  und  Gegebenes 
ist;  aber  die  Mitteilung  seiner  Gedanken  an  jemanden  durch 
Worte,  die  doch  das  Gegenteil  von  dem  (absichtlich)  enthalten, 
was  der  Sprechende  dabei  denkt,  ist  ein  der  natĂĽrlichen  Zweck- 
mäßigkeit seines  Vermögens  der  Mitteilung  seiner  Gedanken  gerade 
entgegengesetzter  Zweck,  mithin  Verzichttuung  auf  seine  Persön- 
lichkeit und  eine  bloß  täuschende  Erscheinung  vom  Menschen, 
nicht  der  Mensch  selbst.  —  Die  Wahrhaftigkeit  in  Erklärungen 
wird  auch  Ehrlichkeit  und,  wenn  diese  zugleich  Versprechen 
sind,  Redlichkeit,  ĂĽberhaupt  aber  Aufrichtigkeit  genarmt. 

Die  LĂĽge  (in  der  ethischen  Bedeutung  des  Worts),  als  vor- 
setzliche  Unwahrheit  ĂĽberhaupt,  bedarf  es  auch  nicht  anderen 
schädlich  zu  sein,  um  für  verwerflich  erklärt  zu  werden;  denn 
da  wäre  sie  Verletzung  der  Rechte  anderer.  Es  kann  auch  bloß 
Leichtsinn,  oder  gar  GutmĂĽtigkeit  die  Ursache  davon  sein,  ja 
selbst  ein  wirklich  guter  Zweck  dadurch  beabsichtigt  werden,  so 
ist  doch  die  Art  ihm  nachzugehen  durch  die  bloĂźe  Form  ein 
Verbrechen  des  Menschen  an  seiner  eigenen  Person  und  eine 
NichtswĂĽrdigkeit,  die  den  Menschen  in  seinen  eigenen  Augen 
verächtlich  machen  muß. 

Die  Wirklichkeit  mancher  inneren  LĂĽge,  welche  die  Men- 
schen sich  zuschulden  kommen  lassen,  zu  beweisen,  ist  leicht, 
aber  ihre  Möglichkeit  zu  erklären,  scheint  doch  schwerer  zu  sein: 
weil  eine  zweite  Person  dazu  erforderlich  ist,  die  man  zu  hinter- 
gehen die  Absicht  hat,  sich  selbst  aber  vorsätzlich  zu  betrügen 
einen  Widerspruch  in  sich  zu  enthalten  scheint. 

Der  Mensch  als  moraUsches  Wesen  {homo  noumenon)  kann  sich 
selbst  als  physisches  Wesen  (homo  phaenomenon)  nicht  als  bloĂźes 
Mittel  (Sprachmaschine)  brauchen,  das  an  den  inneren  Zweck 
(der  Gedankenmitteilung)  nicht  gebunden  wäre,  sondern  ist  an  die 
Bedingung  der  Übereinstimmung  mit  der  Erklärung  (declaratio)  des 

Kants  Schriften.  Bd.  VII.  l6 


24: 


Ethische  Eln?ientarlehrc.    Erstes  Buch 


erstercn  gebunden  und  gegen  sich  selbst  zur  Wahrhaftigkeit 
vcrpriichtet.  —  Wenn  er  z.  B.  den  Glauben  an  einen  künftigen 
Wcltrichtcr  lĂĽgt,  indem  er  wirklich  keinen  solchen  in  sich  findet, 
aber  indem  er  sich  überredet,  es  könne  doch  nicht  schaden,  wohl 
aber  nutzen,  einen  solchen  in  Gedanken  einem  HerzenskĂĽndiger 
zu  bekennen,  um  auf  allen  Fall  seine  Gunst  zu  erheucheln.  Oder 
wenn  er  zwar  desfalls  nicht  im  Zweifel  ist,  aber  sich  doch  mit 
innerer  Verehrung  seines  Gesetzes  schmeichelt,  da  er  doch  keine 
andere  Triebfeder,  als  die  der  Furcht  vor  Strafe  bei  sich  fĂĽhlt. 
Unredlichkeit  ist  bloĂź  Ermangelung  an  Gewissenhaftigkeit, 
d.  i.  an  Lauterkeit  des  Bekenntnisses  vor  seinem  inneren  Richter, 
der  als  eine  andere  Person  gedacht  wird,  wenn  diese  in  ihrer 
höchsten  Strenge  betrachtet  wird,  wo  ein  Wunsch  (aus  Selbstliebe) 
fĂĽr  die  Tat  genommen  wird,  weil  er  einen  an  sich  guten  Zweck 
vor  sich  hat,  und  die  innere  LĂĽge,  ob  sie  zwar  der  Pflicht  des 
Menschen  gegen  sich  selbst  zuwider  ist,  erhält  hier  den  Namen 
einer  Schwachheit,  so  wie  der  Wunsch  eines  Liebhabers,  lauter 
gute  Eigenschaften  an  seiner  Geliebten  zu  finden,  ihm  ihre  äugen 
scheinhche  Fehler  unsichtbar  macht.  —  Indessen  verdient  diese 
Unlauterkeit  in  Erklärungen,  die  man  gegen  sich  selbst  verübt, 
doch  die  ernstlichste  RĂĽge:  weil  von  einer  solchen  faulen  Stelle 
(der  Falschheit,  welche  in  der  menschlichen  Natur  gewurzelt  zu 
sein  scheint)  aus  das  Ăśbel  der  Unwahrhaftigkeit  sich  auch  in 
Beziehung  auf  andere  Menschen  verbreitet,  nachdem  einmal  der 
oberste   Grundsatz  der  Wahrhaftigkeit  verletzt  worden.  — 

Anmerkung. 

Es  ist  merkwĂĽrdig,  daĂź  die  Bibel  das  erste  Verbrechen, 
wodurch  das  Böse  in  die  Welt  gekommen  ist,  nicht  vom 
Brudermorde  (KAINS),  sondern  von  der  ersten  LĂĽge 
datiert  (weil  gegen  jenen  sich  doch  die  Natur  empört)  und 
als  den  Urheber  alles  Bösen  den  Lügner  von  Anfang  und 
den  Vater  der  LĂĽgen  nennt;  wiewohl  die  Vernunft  von 
diesem  Hange  der  Menschen  zur  Gleisnerei  (esprit  fourbe\ 
der  doch  vorhergegangen  sein  muĂź,  keinen  Grund  weiter 
angeben  kann:  weil  ein  Akt  der  Freiheit  nicht  (gleich  einer 
physischen  Wirkung)  nach  dem  Naturgesetz  des  Zusammen- 
hanges der  Wirkung  und  ihrer  Ursache,  welche  insgesamt 
Erscheinungen   sind,  deduziert  und   erklärt  werden   kann. 


Von  den  vollkommenen  V fliehten  gegen  sich  selbst     243 

Kasuistische  Fragen. 

Kann  eine  Unwahrheit  aus  bloßer  Höflichkeit  (z.  B.  das 
ganz  gehorsamster  Diener  am  Ende  eines  Briefes)  fĂĽr  LĂĽge 
gehalten  werden?  Niemand  wird  ja  dadurch  betrogen.  —  Ein 
Autor  fragt  einen  seiner  Leser:  wie  gefällt  Ihnen  mein  Werk' 
Die  Antwort  könnte  nun  zwar  illusorisch  gegeben  werden,  da 
man  über  die  Verfänglichkeit  einer  solchen  Frage  spöttelte;  aber 
wer  hat  den  Witz  immer  bei  der  Hand?  Das  geringste  Zögern 
mit  der  Antwort  ist  schon  Kränkung  des  Verfassers;  darf  er  diesem 
also  zum  Munde  reden? 

In  wirklichen  Geschäften,  wo  es  aufs  Mein  und  Dein  ankommt, 
wenn  ich  da  eine  Unwahrheit  sage,  muĂź  ich  alle  die  Folgen  ver- 
antworten, die  daraus  entspringen  möchten?  Z.  B.  ein  Hausherr 
hat  befohlen:  daĂź,  wenn  ein  gewisser  Mensch  nach  ihm  fragen 
wĂĽrde,  er  ihn  verleugnen  solle.  Der  Dienstbote  tut  dieses:  ver- 
anlaĂźt aber  dadurch,  daĂź  jener  entwischt  und  ein  groĂźes  Ver- 
brechen ausĂĽbt,  welches  sonst  durch  die  gegen  ihn  ausgeschickte 
Wache  wäre  verhindert  worden.  Auf  wen  fällt  hier  die  Schuld 
(nach  ethischen  Grundsätzen)?  Allerdings  auch  auf  den  letzteren, 
welcher  hier  eine  Pflicht  gegen  sich  selbst  durch  eine  LĂĽge  ver- 
letzte; deren  Folgen  ihm  nun  durch  sein  eigen  Gewissen  zu- 
gerechnet werden. 

II. 
Vom  Geize. 

§    IG. 

Ich  verstehe  hier  unter  diesem  Namen  nicht  den  habsĂĽchti- 
gen Geiz  (der  Erweiterung  seines  Erwerbs  der  Mittel  zum  Wohl- 
leben ĂĽber  die  Schranken  des  wahren  BedĂĽrfnisses):  denn  dieser 
kann  auch  als  bloße  Verletzung  seiner  Pflicht  (der  Wohltätigkeit) 
gegen  andere  betrachtet  werden;  auch  nicht  den  kargen  Geiz, 
welcher,  wenn  er  schimpflich  ist,  Knickerei  oder  Knauserei 
genannt  wird,  aber  doch  bloß  Vernachlässigung  seiner  Liebes- 
pflichten gegen  andere  sein  kann;  sondern  die  Verengung  seines 
eigenen  Genusses  der  Mittel  zum  Wohlleben  unter  das  MaĂź  des 
wahren    eigenen    BedĂĽrfnisses;    dieser  Geiz    ist   es    eigentlich,    der 


2  44  Ethische  Elenientarlehre.    Erstes  Buch 

hier  gemeint   ist,   welcher  der  Pflicht    gegen   sich  selbst  wider- 
streitet. 

An  der  RĂĽge  dieses  Lasters  kann  man  ein  Beispiel  von  der 
Unrichtigkeit  aller  Erklärung  der  Tugenden  sowohl  als  Laster 
durch  den  bloĂźen  GRAD  deutlich  machen  und  zugleich  die  Un- 
brauchharkeit  des  Aristotelischen  Grundsatzes  dartun:  daĂź  die 
Tugend   in  der  MittelstraĂźe  zwischen  zwei  Lastern   bestehe. 

Wenn  ich  nämlich  zwischen  Verschwendung  und  Geiz  die 
gute  Wirtschaft  als  das  Mittlere  ansehe,  und  dieses  das  Mittlere 
des  Grades  sein  soll:  so  wĂĽrde  ein  Laster  in  das  (contrarie) 
entgegengesetzte  Laster  nicht  anders  ĂĽbergehen,  als  durch  die 
Tugend,  und  so  wĂĽrde  diese  nichts  anders,  als  ein  vermindertes, 
oder  vielmehr  verschwindendes  Laster  sein,  und  die  Folge  wäre 
in  dem  gegenwärtigen  Fall:  daß  von  den  Mitteln  des  Wohllebens 
gar  keinen   Gebrauch  zu  machen  die   echte  Tugendpflicht  sei. 

Nicht  das  MaĂź  der  AusĂĽbung  sittlicher  Maximen,  sondern 
das  objektive  Prinzip  derselben  muĂź  als  verschieden  erkannt  und 
vorgetragen  werden,  wenn  ein  Laster  von  der  Tugend  unter- 
schieden werden  soll.  —  Die  Maxime  des  habsüchtigen  Geizes 
(als  Verschwenders)  ist:  alle  Mittel  des  Wohllebens  in  der  Ab- 
sicht auf  den  Genuß  anzuschaff^en  und  zu  erhalten.  —  Die  des 
kargen  Geizes  ist  hingegen  der  Erwerb  sowohl,  als  die  Erhaltung 
aller  Mittel  des  Wohllebens,  aber  ohne  Absicht  auf  den 
GenuĂź  (d.  i.  ohne  daĂź  dieser,  sondern  nur  der  Besitz  der 
Zweck  sei). 

Also  ist  das  eigentĂĽmliche  Merkmal  des  letzteren  Lasters  der 
Grundsatz  des  Besitzes  der  Mittel  zu  allerlei  Zwecken,  doch  mit 
dem  Vorbehalt,  keines  derselben  fĂĽr  sich  brauchen  zu  wollen  und 
sich  so  des  angenehmen  Lebensgenusses  zu  berauben:  welches  der 
Pflicht  gegen  sich  selbst  in  Ansehung  des  Zwecks  gerade  entgegen- 
gesetzt ist.^)    Verschwendung    und  Kargheit  sind  also  nicht  durch 

^)  Der  Satz:  man  soll  keiner  Sache  zu  viel  oder  zu  wenig  tun,  sagt 
so  viel  als  nichts;  denn  er  ist  tautologisch.  Was  heiĂźt  zu  viel  tun? 
Anrw.  Mehr  als  gut  ist.  Was  heiĂźt  zu  wenig  tun?  Antw.  Weniger 
tun,  als  gut  ist.  Was  heiĂźt:  ich  soll  (etwas  tun  oder  unterlassen)? 
Antw.  Es  ist  nicht  gut  (wider  die  Pflicht)  mehr  oder  auch  weniger 
zu  tun,  als  gut  ist.  Wenn  das  die  Weisheit  ist,  die  zu  erforschen  wir 
zu  den  Alten  (dem  Aristoteles),  gleich  als  solchen,  die  der  Quelle 
naher  waren,  ^un'ickkehren  sollen:  virtus  consistit  in  iiteäio,  medium  tenuere 
beati,   est  tnoJus  in   rebus,   sunt  certi  deniqnc  fines,   quos  ultra  citrnque  nequit 


Von  den  vollkommenen  Pflichten  gegen  sich  selbst     245 

den  Grad,  sondern  spezifisch  durch  die  entgegengesetzte  Maximen 
voneinander  unterschieden. 


Kasuistische  Fragen. 

Da  hier  nur  von  Pflichten  gegen  sich  selbst  die  Rede  ist  und 
Habsucht  (Unersätthchkeit  im  Erwerb),  um  zu  verschwenden, 
ebensowohl  als  Knauserei  (Peinlichkeit  im  Vertun)  Selbstsucht 
(jolipsismiti)  zum  Grunde  haben,  und  beide,  die  Verschwendung 
sowohl  als  die  Kargheit,  bloĂź  darum  verwerflich  zu  sein  scheinen, 
weil  sie  auf  Armut  hinauslaufen,  bei  dem  einen  auf  nicht  erwartete, 
bei  dem  anderen  auf  willkürliche  (armselig  leben  zu  wollen),  - — 
so  ist  die  Frage;  ob  sie,  die  eine  sowohl  als  die  andere,  ĂĽber- 
haupt Laster  und  nicht  vielmehr  beide  bloĂźe  Unklugheit  genannt 
werden  sollen,  mithin  nicht  ganz  und  gar  auĂźerhalb  den  Grenzen 

consistere  rectum,    so   haben  wir   schlecht  gewählt,    uns  an  ihr  Orakel  zu 
wenden.  —  Es  gibt  zwischen  Wahrhaftigkeit  und  Lüge  (als  coutraäictorie 
oppositis)  kein  Mittleres:    aber  wohl   zwischen  OfFenherzigkeit   und  Zu- 
rĂĽckhalrang  (als  contrarie  oppositis),  da  an  dem,    welcher  seine  Meinung 
erklärt,  Alles,  was  er  sagt,  wahr  ist,  er  aber  nicht  die  ganze  Wahr- 
heit sagt.     Nun    ist    doch    ganz    natĂĽrlich   von    dem  Tugendlehrer    zu 
fordern,   daĂź  er  mir  dieses  Mittlere  anweise.    Das  kann  er  aber  nicht; 
denn    beide    Tugendpflichten    haben    einen    Spielra'»:m    ^^^r  Anwendung 
{latitudinetJt),   und  was  zu  tun  sei,    kann  nur  von  der  Urteilskraft  nach 
Regeln  der  Klugheit    (den  pragmatischen),    nicht  denen  der  Sittlichkeit 
(den  moralischen),  d.  i.  nicht  als  enge  {officium  strictuw),   sondern  nur 
als    weite    Pflicht    {officium   latuvt)    entschieden    werden.     Daher    der, 
welcher  die  Grundsätze   der  Tugend  befolgt,  zwar  in  der  Ausübung  im 
Mehr  oder  Weniger,    als    die  Klugheit  vorschreibt,    einen  Fehler  {pec- 
catum)    begehn,    aber    nicht    darin,    daß    er    diesen  Grundsätzen  mit 
Strenge    anhänglich    ist,-   ein    Laster   {vitium)   ausüben    kann,    und  Ho- 
razens  Vers:  insani  sapiens  vomen  ferat  aequus  iniqui,   ultra  quam  satis  est 
virtutem  si  petat  ipsam,    ist,    nach    dem  Buchstaben    genommen,    grund- 
falsch.     Sapiens     bedeutet    hier    wohl    nur     einen    gescheuten    Mann 
{prĂĽdem),  der  sich  nicht  phantastisch  Tugendvollkommenheit  denkt,  die 
als  Ideal  zwar  die  Annäherung  zu  diesem  Zwecke,  aber  nicht  die  Voll- 
endung fordert,  als  welche  Foderung  die  menschlichen  Kräfte  übersteigt 
und  Unsinn   (Phantasterei)   in   ihr  Prinzip   hineinbringt.     Denn   gar   zu 
tugendhaft,    d.  L    seiner  Pflicht    gar    zu  anhänglich,   zu   sein,   würde 
ungefähr  so  viel  sagen  als:   einen  Zirkel   gar  zu  rund,  oder  eine  gerade 
Linie   gar  zu  gerade  machen. 


240  Ethische  Elementarlchre.    Erstes  Buch 

der  Pflicht  gegen  sich  selbst  liegen  mögen.  Die  Kargheit  aber 
ist  nicht  bloĂź  miĂźverstandene  Sparsamkeit,  sondern  sklavische 
Unterwerfung  seiner  selbst  unter  die  GlĂĽcksgĂĽter,  ihrer  nicht  Herr 
zu  sein,  welches  Verletzung  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  ist.  Sie 
ist  der  Liberalität  {jiberalitas  vioralis)  der  Denkungsart  über- 
haupt (nicht  der  Freigebigkeit  {Jiberalitas  sumptuosa),  welche  nur 
eine  Anwendung  derselben  auf  einen  besonderen  Fall  ist),  d.  i. 
dem  Prinzip  der  Unabhängigkeit  von  allem  anderen  außer  von 
dem  Gesetz,  entgegengesetzt  und  Defraudation,  die  das  Subjekt 
an  sich  selbst  begeht.  Aber  was  ist  das  fĂĽr  ein  Gesetz,  dessen 
innerer  Gesetzgeber  selbst  nicht  weiĂź,  wo  es  anzuwenden  ist? 
Soll  ich  meinem  Munde  abbrechen,  oder  nur  dem  äußeren  Auf- 
wände? im  Alter,  oder  schon  in  der  Jugend?  oder  ist  Sparsamkeit 
ĂĽberhaupt  eine  Tugend? 

III. 
Von  der  Kriecherei. 

§  1 1. 

Der  Mensch  im  System  der  Natur  (homo  phaemtnenon^  animal 
rationale)  ist  ein  Wesen  von  geringer  Bedeutung  und  hat  mit  den 
ĂĽbrigen  Tieren,  als  Erzeugnissen  des  Bodens,  einen  gemeinen  Wert 
(^pretium  vulgare).  Selbst,  daĂź  er  vor  diesen  den  Verstand  voraus 
hat  und  sich  selbst  Zwecke  setzen  kann,  das  gibt  ihm  doch  nur 
einen  äußeren  Wert  seiner  Brauchbarkeit  (^pretium  usus\  nämlich 
eines  Menschen  vor  dem  anderen,  d.  i.  ein  Preis,  als  einer  Ware, 
in  dem  Verkehr  mit  diesen  Tieren  als  Sachen,  wo  er  doch  noch 
einen  niedrigem  Wert  hat,  als  das  allgemeine  Tauschmittel,  das 
Geld,  dessen  Wert  daher  ausgezeichnet  {pretium  eminens)  genannt 
wird. 

Allein  der  Mensch,  als  Person  betrachtet,  d.  i.  als  Subjekt 
einer  moralisch-praktischen  Vernunft,  ist  ĂĽber  allen  Preis  erhaben; 
denn  als  ein  solcher  Qwmo  noumenon')  ist  er  nicht  bloĂź  als  Mittel 
zu  anderer  ihren,  ja  selbst  seinen  eigenen  Zwecken,  sondern  als 
Zweck  an  sich  selbst  zu  schätzen,  d.  i.  er  besitzt  eine  Würde 
(einen  absoluten  innern  Wert),  wodurch  er  allen  andern  ver- 
nünftigen Weltwesen  Achtung  für  ihn  abnötigt,  sich  mit  jedem 
anderen  dieser  Art  messen  und  auf  den  FuĂź  der  Gleichheit 
schätzen   kann. 


Von  den  vollkommenen  ? fliehten  gegen  sich  selbst     247 

Die  Menschheit  in  seiner  Person  ist  das  Objekt  der  Achtung, 
die  er  von  jedem  anderen  Menschen  fordern  kann;  deren  er  aber 
auch  sich  nicht  verlustig  machen  muĂź.  Er  kann  und  soll  sich 
also  nach  einem  kleinen  sowohl  als  großen  Maßstabe  schätzen, 
nachdem  er  sich  als  Sinnenwesen  (seiner  tierischen  Natur  nach), 
oder  als  intelligibles  Wesen  (seiner  moralischen  Anlage  nach) 
betrachtet.  Da  er  sich  aber  nicht  bloĂź  als  Person  ĂĽberhaupt, 
sondern  auch  als  Mensch,  d.  i.  als  eine  Person,  die  Pflichten  auf 
sich  hat,  die  ihm  seine  eigene  Vernunft  auferlegt,  betrachten  muĂź, 
so  kann  seine  Geringfähigkeit  als  Tiermensch  dem  Bewußtsein 
seiner  WĂĽrde  als  Vernunftmensch  nicht  Abbruch  tun,  und  er 
soll  die  moralische  Selbstschätzung  in  Betracht  der  letzteren  nicht 
verleugnen,  d.  i.  er  soll  sich  um  seinen  Zweck,  der  an  sich  selbst 
Pflicht  ist,  nicht  kriechend,  nicht  knechtisch  (animo  servi/i), 
gleich  als  sich  um  Gunst  bewerbend,  bewerben,  nicht  seine  WĂĽrde 
verleugnen,  sondern  immer  mit  dem  BewuĂźtsein  der  Erhabenheit 
seiner  moralischen  Anlage  (welches  im  Begriff  der  Tugend  schon 
enthalten  ist),  und  diese  Selbstschätzung  ist  Pflicht  des  Men- 
schen gegen  sich  selbst. 

Das  Bewußtsein  und  Gefühl  der  Geringfähigkeit  seines  mora- 
lischen Werts  in  Vergleichung  mit  dem  GESETZ  ist  die 
Demut  (humilitas  moralii).  Die  Überredung  von  einer  Größe 
dieses  seines  Werts,  aber  nur  aus  Mangel  der  Vergleichung  mit 
dem  Gesetz,  kann  der  Tugendstolz  (arrogantia  moralis)  genannt 
werden.  —  Die  Entsagung  alles  Anspruchs  auf  irgendeinen  mora- 
lischen Wert  seiner  selbst  in  der  Ăśberredung,  sich  eben  dadurch 
einen  geborgten  zu  erwerben,  ist  die  sittlich-falsche  Kriecherei 
(humilitas  spuriä). 

DEMUT  in  Vergleichung  mit  anderen  Menschen  (ja 
ĂĽberhaupt  mit  irgendeinem  endlichen  Wesen,  und  wenn  es  auch 
ein  Seraph  wäre)  ist  gar  keine  Pflicht;  vielmehr  ist  die  Bestrebung, 
in  diesem  Verhältnisse  andern  gleichzukommen  oder  sie  zu  über- 
treffen mit  der  Ăśberredung  sich  dadurch  auch  einen  inneren 
größeren  Wert  zu  verschaffen  Hochmut  (ambitio),  welcher  der 
Pflicht  gegen  andere  gerade  zuwider  ist.  Aber  die  bloĂź  als 
Mittel  zu  Erwerbung  der  Gunst  eines  anderen  (wer  es  auch  sei) 
ausgesonnene  Herabsetzung  seines  eigenen  moralischen  Werts 
(Heuchelei  und  Schmeichelei)'  ist   falsche  (erlogene)   Demut   und 


Heucheln    (eigentlich    häuchlen)    scheint    vom   ächzenden,    die 


248  Ethische  Elementarlehre.    Erstes  Buch 

als  Abwürdigung  seiner  Persönlichkeit  der  Pflicht  gegen  sich  selbst 
entgegen. 

Aus  unserer  aufrichtigen  und  genauen  Vergleichung  mit  dem 
morilischen  Gesetz  (dessen  Heiligkeit  und  Strenge)  muĂź  unver- 
meidlich wahre  Demut  folgen;  aber  daraus,  daĂź  wir  einer  solchen 
inneren  Gesetzgebung  fähig  sind,  daß  der  (physische)  Mensch 
den  (moralischen)  Menschen  in  seiner  eigenen  Person  zu  verehren 
sich  gedrungen  fühlt,  zugleich  Erhebung  und  die  höchste  Selbst- 
schätzung, als  Gefühl  seines  inneren  Werts  (valor),  nach  welchem 
er  fĂĽr  keinen  Preis  (^pretium)  feil  ist  und  eine  unverlierbare 
Würde  (äignitas  interna)  besitzt,  die  ihm  Achtung  (re-üerentiä) 
gegen  sich  selbst  einflößt. 


§    12. 

Mehr  oder  weniger  kann  man  diese  Pflicht  in  Beziehung  auf 
die  WĂĽrde  der  Menschheit  in  uns,  mithin  auch  gegen  uns  selbst 
in   folgenden  Beispielen  kennbar  machen. 

Werdet  nicht  der  Menschen  Knechte;  —  laßt  euer  Recht 
nicht  ungeahndet  von  anderen  mit  Füßen  treten.  —  Macht  keine 
Schulden,  für  die  ihr  nicht  volle  Sicherheit  leistet.  —  Nehmt 
nicht  Wohltaten  an,  die  ihr  entbehren  könnt,  und  seid  nicht 
Schmarotzer,  oder  Schmeichler,  oder  gar  (was  freilich  nur  im 
Grad  von  dem  Vorigen  unterschieden  ist)  Bettler.  Daher  seid 
wirtschaftlich,  dimit  ihr  nicht  bettelarm  werdet.  —  Das  Klagen 
und  Winseln,  selbst  das  bloße  Schreien  bei  einem  körperlichen 
Schmerz  ist  euer  schon  unwert,  am  meisten,  wenn  ilir  euch  be- 
wuĂźt seid  ihn  selbst  verschuldet  zu  haben :  daher  die  Veredlung 
(Abwendung  der  Schmach)  des  Todes  eines  Delinquenten  durch 
die  Standhaftigkeit,  mit  der  er  stirbt.  —  Das  Hinknien  oder 
Hinwerfen  zur  Erde,  selbst  um  die  Verehrung  himmlischer  Gegen- 
stände sich  dadurch  zu  versinnlichen,  ist  der  Menschenwürde  zu- 
wider, so  wie  die  Anrufung  derselben  in  gegenwärtigen  Bildern; 
derm    ihr    demĂĽtigt    euch    alsdann    nicht  unter  einem  Ideal,    das 

Sprache  unterbrechenden  Hauch  (StoĂźseufzer)  abgeleitet  zu  sein;  da- 
gegen Schmeichlen  vom  Schmiegen,  welches  als  Habitus  Schmie- 
gein und  endlich  von  den  Hochdeutschen  Schmeicheln  genannt 
worden   ist,   abzustammen. 


Von  den  vollkommenen  Pflichten  gegen  sich  seihst     24p 

euch  eure  eigene  Vernunft  vorstellt,    sondern    unter    einem  Idol, 
was  euer  eigenes  Gemächsel  ist. 


Kasuistische  Fragen. 

Ist  nicht  in  dem  Menschen  das  GefĂĽhl  der  Erhabenheit  seiner 
Bestimmung,  d.  i.  die  GemĂĽtserhebung  {elatio  an'tmi)  als 
Schätzung  seiner  selbst,  mit  dem  Eigendünkel  (arrogant'ia), 
welcher  der  wahren  Demut  (humilitas  moralis)  gerade  entgegen- 
gesetzt ist,  zu  nahe  verwandt,  als  daĂź  zu  jener  aufzumuntern  es 
ratsam  wäre;  selbst  in  Vergleichung  mit  anderen  Menschen,  nicht 
bloĂź  mit  dem  Gesetz?  oder  wĂĽrde  diese  Art  von  Selbstverleugnung 
nicht  vielmehr  den  Ausspruch  anderer  bis  zur  Geringschätzung 
unserer  Person  steigern  und  so  der  Pflicht  (der  Achtung)  gegen 
uns  selbst  zuwider  sein?  Das  BĂĽcken  und  Schmiegen  vor  einem 
Menschen  scheint  in  jedem  Fall  eines  Menschen  unwĂĽrdig  zu  sein. 

Die  vorzĂĽgliche  Achtungsbezeigung  in  Worten  und  Manieren 
selbst  gegen  einen  nicht  Gebietenden  in  der  bĂĽrgerlichen  Ver- 
fassung —  die  Reverenzen,  Verbeugungen  (Komplimente),  höfische 
—  den  Unterschied  der  Stände  mit  sorgfältiger  Pünktlichkeit 
bezeichnende  Phrasen,  —  welche  von  der  Höflichkeit  (die  auch 
sich  gleich  Achtenden  notwendig  ist)  ganz  unterschieden  sind  — 
das  Du,  Er,  Ihr  und  Sie,  oder  Ew.  VV'ohledlen,  Hochedeln,  Koch- 
edelgebornen,  Wohlgebornen  (ohej  tarn  saus  est  f)  in  der  Anrede  — 
als  in  welcher  Pedanterei  die  Deutschen  unter  allen  Völkern  der 
Erde  (die  indische  Kasten  vielleicht  ausgenommen)  es  am  weitesten 
gebracht  haben,  sind  das  nicht  Beweise  eines  ausgebreiteten 
Hanges  zur  Kriecherei  unter  Menschen?  {Hae  nugce  in  seria 
ducunt.)  Wer  sich  aber  zum  Wurm  macht,  kann  nachher  nicht 
klagen,  daĂź  er  mit  FĂĽĂźen  getreten  wird. 


250  Ethische  Elementar  lehre.    Erstes  Buch 

Des    zweiten    HauptstĂĽcks 

Erster  Abschnitt.  1 

Von  der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst,  als 

dem  angebornen  Richter  ĂĽber  sich  selbst.  , 

§   13. 

Ein  jeder  Pflichtbegriff  enthält  objektive  Nötigung  durchs 
Gesetz  (als  moralischen,  unsere  Freiheit  einschränkenden  Imperativ) 
und  gehört  dem  praktischen  Verstände  zu,  der  die  Regel  gibt; 
die  innere  Zurechnung  aber  einer  Tat,  als  eines  unter  dem 
Gesetz  stehenden  Falles,  (/«  merituni  aut  demer'ituni)  gehört  zur 
Urteilskraft  (judic'tuui)^  welche  als  das  subjektive  Prinzip  der 
Zurechnung  der  Handlung,  ob  sie  als  Tat  (unter  einem  Gesetz 
stehende  Handlung)  geschehen  sei  oder  nicht,  rechtskräftig  urteilt; 
worauf  denn  der  SchluĂź  der  Vernunft  (die  Sentenz),  d.  i.  die 
VerknĂĽpfung  der  rechtlichen  Wirkung  mit  der  Handlung  (die 
Verurteilung  oder  Lossprechung),  folgt:  welches  alles  vor  Gericht 
(coram  iudiciö)^  als  einer  dem  Gesetz  Effekt  verschaffenden  mora- 
lischen Person,  Gerichtshof  (^foruin)  genannt,  geschiehet.  — 
Das  BewuĂźtsein  eines  inneren  Gerichtshofes  im  Menschen 
(„vor  welchem  sich  seine  Gedanken  einander  verklagen  oder 
entschuldigen")  ist  das  GEWISSEN.    ' 

Jeder  Mensch  hat  Gewissen  und  findet  sich  durch  einen 
inneren  Richter  beobachtet,  bedroht  und  ĂĽberhaupt  im  Respekt 
(mit  Furcht  verbundener  Achtung)  gehalten,  und  diese  ĂĽber  die 
Gesetze  in  ihm  wachende  Gewalt  ist  nicht  etwas,  was  er  sich 
selbst  (willkĂĽrlich)  macht,  sondern  es  ist  seinem  Wesen  einver- 
leibt. Es  folgt  ihm  wie  sein  Schatten,  wenn  er  zu  entfliehen 
gedenkt.  Er  kann  sich  zwar  durch  LĂĽste  und  Zerstreuungen 
betäuben  oder  in  Schlaf  bringen,  aber  nicht  vermeiden,  dann  und 
wann  zu  sich  selbst  zu  kommen  oder  zu  erwachen,  wo  er  als- 
bald die  furchtbare  Stimme  desselben  vernimmt.  Er  kann  es  in 
seiner  äußersten  Verworfenheit  allenfalls  dahin  bringen,  sich  daran 
gar  nicht  mehr  zu  kehren,  aber  sie  zu  hören,  kann  er  doch 
nicht  vermeiden. 


Von  den  vollkommenen   Vflichten  gegen  sich  seihst     1 5 1 

Diese  ursprĂĽngliche  intellektuelle  und  (weil  sie  Pflichtvor- 
stellung ist)  moralische  Anlage,  Gewissen  genannt,  hat  nun  das 
Besondere  in  sich,  daß,  obzwar  dieses  sein  Geschäfte  ein  Ge- 
schäfte des  Menschen  mit  sich  selbst  ist,  dieser  sich  doch  durch 
seine  Vernunft  genötigt  sieht,  es  als  auf  den  Geheiß  einer 
anderen  Person  zu  treiben.  Denn  der  Handel  ist  hier  die 
FĂĽhrung  einer  Rechtssache  (causa)  vor  Gericht.  DaĂź  aber  der 
durch  sein  Gewissen  Angeklagte  mit  dem  Richter  als  eine 
und  dieselbe  Person  vorgestellt  werde,  ist  eine  ungereimte 
Vorstellungsart  von  einem  Gerichtshofe:  denn  da  wĂĽrde  ja  der 
Ankläger  jederzeit  verlieren.  —  Also  wird  sich  das  Gewissen  des 
Menschen  bei  allen  Pflichten  einen  anderen  (als  den  Menschen 
ĂĽberhaupt,  d.  i.)  als  sich  selbst,  zum  Richter  seiner  Handlungen 
denken  mĂĽssen,  wenn  es  nicht  mit  sich  selbst  im  Widerspruch 
stehen  soll.  Dieser  andere  mag  nun  eine  wirkliche,  oder  bloĂź 
idealische  Person  sein,  welche  die  Vernunft  sich  selbst  schafft.* 

Eine  solche  idealische  Person  (der  autorisierte  Gewissens- 
richter) muĂź  ein  HerzenskĂĽndiger  sein;  denn  der  Gerichtshof  ist  im 
Inneren  des  Menschen  aufgeschlagen    —    zugleich   muß  er  aber 

^  Die  zwiefache  Persönlichkeit,  in  welcher  der  Mensch,  der  sich 
im  Gewissen  anklagt  und  richtet,  sich  selbst  denken  mufb:  dieses 
doppelte  Selbst,  einerseits  vor  den  Schranken  eines  Gerichtshofes,  der 
doch  ihm  selbst  anvertraut  ist,  zitternd  stehen  zu  mĂĽssen,  anderseits 
aber  das  Richteramt  aus  angeborener  Autorität  selbst  in  Händen  7u 
haben,  bedarf  einer  Erläuterung,  damit  nicht  die  Vernunft  mit  sich 
selbst  gar  in  Widerspruch  gerate.  —  Ich,  der  Kläger  und  doch  auch 
Angeklagter,  bin  eben  derselbe  Mensch  {numero  idem),  aber  als  Subjekt 
der  moralischen,  von  dem  Begriffe  der  Freiheit  ausgehenden  Gesetz- 
gebung, wo  der  Mensch  einem  Gesetz  Untertan  ist,  das  er  sich  selbst 
gibt  {homo  noumenon),  ist  er  als  ein  anderer  als  der  mit  Vernunft  begabte 
Sinnenmensch  {specie  äiversm),  aber  nur  in  praktischer  Rücksicht  zu 
betrachten  -  denn  über  das  Kausal-Verhältnis  des  Intelligibilen  zum 
Sensibilen  gibt  es  keine  Theorie,  -  und  diese  spezifische  Verschieden- 
heit ist  die  der  Fakultäten  des  Menschen  (der  oberen  und  unteren), 
die  ihn  charakterisieren.  Der  erstere  ist  der  Ankläger,  dem  entgegen 
ein  rechtlicher  Beistand  des  Verklagten  (Sachwalter  desselben)  bewilligt 
ist.  Nach  SchlieI5ung  der  Akten  tut  der  innere  Richter,  als  macht- 
habende Person,  den  Ausspruch  ĂĽber  GlĂĽckseligkeit  oder  Elend,  als 
moralische  Folgen  der  Tat;  in  welcher  Qualität  wir  dieser  ihre  Macht 
(als  Weltherrschers)  durch  unsere  Vernunft  nicht  weiter  verfolgen, 
sondern  nur  das  unbedingte  iubeo  oder  veto  verehren  können. 


2  52  Ethische  E/ernen  rar  lehre.    Erstes  Buch 

auch  allvcrpFJichtend,  d.  i.  eine  solche  Person  sein,  oder  als 
eine  solche  gedacht  v/erden,  in  Verhältnis  auf  welche  alle  Pflichten 
ĂĽberhaupt  auch  als  ihre  Gebote  anzusehen  sind :  weil  das  Ge- 
wissen über  alle  freie  Handlungen  der  innere  Richter  ist.  —  — 
Da  nun  ein  solches  moralisches  Wesen  zugleich  alle  Gewalt  (im 
Himmel  und  auf  Erden)  haben  muĂź,  weil  es  sonst  nicht  (was 
doch  zum  Richteramt  notwendig  gehört)  seinen  Gesetzen  den 
ihnen  angemessenen  Effekt  verschaffen  könnte,  ein  solches  über 
alles  machthabende  moralische  Wesen  aber  GOTT  heiĂźt:  so  wird 
das  Gewissen  als  subjektives  Prinzip  einer  vor  Gott  seiner  Taten 
wegen  zu  leistenden  Verantwortung  gedacht  werden  mĂĽssen:  ja 
es  wird  der  letztere  Begriff  (wenn  gleich  nur  auf  dunkele  Art) 
in  jenem  moralischen  SelbstbewuĂźtsein  jederzeit  enthalten  sein. 

Dieses  will  nun  nicht  so  viel  sagen  als:  der  Mensch,  durch 
die  Idee,  zu  welcher  ihn  sein  Gewissen  unvermeidlich  leitet,  sei 
berechtigt,  noch  weniger  aber:  er  sei  durch  dasselbe  verbunden, 
ein  solches  höchste  Wesen  außer  sich  als  wirklich  anzunehmen; 
denn  sie  wird  ihm  nicht  objektiv,  durch  theoretische,  sondern 
bloĂź  subjektiv,  durch  praktische,  sich  selbst  verpflichtende  Ver- 
nunft ihr  angemessen  zu  handeln  gegeben ;  und  der  Mensch  er- 
hält vermittelst  dieser  nur  nach  der  Analogie  mit  einem  Gesetz- 
geber aller  vernĂĽnftigen  Weltwesen  eine  bloĂźe  Leitung,  die  Ge- 
wissenhaftigkeit (welche  auch  religio  genannt  wird)  als  Verant- 
wortlichkeit vor  einem  von  uns  selbst  unterschiedenen,  aber  uns 
doch  innigst  gegenwärtigen  heiligen  Wesen  (der  moralisch-gesetz- 
gebenden Vernunft)  sich  vorzustellen  und  dessen  Willen  den 
Regeln  der  Gerechtigkeit  zu  unterwerfen.  Der  Begriff  von  der 
Religion  überhaupt  ist  hier  dem  Menschen  bloß  „ein  Prinzip  der 
Beurteilung  aller  seiner  Pflichten   a  1  s  göttlicher  Gebote". 

i)  In  einer  Gewissenssache  (causa  conscientiam  tangens)  denkt 
sich  der  Mensch  ein  warnendes  Gewissen  (praemonens)  vor  der 
Entschheßung;  wobei  die  äußerste  Bedenklichkeit  {scrupulositai)^ 
wenn  es  einen  Pflichtbegriff  (etwas  an  sich  Moralisches)  betrifft, 
in  Fällen,  darüber  das  Gewissen  der  alleinige  Richter  ist  (casibus 
conscientiae\  nicht  für  Kleinigkeitskrämerei  (Mikrologie)  und  eine 
wahre  Ăśbertretung  nicht  fĂĽr  Bagatelle  (j>eaatillum)  beurteilt  und 
(nach  dem  Grundsatz  minima  non  curat  praetor)  einem  willkĂĽr- 
lich sprechenden  Gewissensrat  ĂĽberlassen  werden  kann.  Daher 
ein  weites  Gewissen  jemanden  zuzuschreiben  so  viel  heiĂźt  als; 
ihn   gewissenslos  nennen.    — 


Von  den  vollkommenen  V fliehten  gegen  sich  seihst     253 

2)  Wenn  die  Tat  beschlossen  ist,  tritt  im  Gewissen  zuerst 
der  Ankläger,  aber  zugleich  mit  ihm  auch  ein  Anwalt  (Advokat) 
auf;  wobei  der  Streit  nicht  gĂĽtlich  (j)er  amicabilem  compositiontnt) 
abgemacht,  sondern  nach  der  Strenge  des  Rechts  entschieden 
werden  muĂź;   und   hierauf  folgt 

3)  der  rechtskräftige  Spruch  des  Gewissens  über  den  Men- 
schen, ihn  loszusprechen  oder  zu  verdammen,  der  d6n 
BeschluĂź  macht;  wobei  zu  merken  ist,  daĂź  der  erstere  nie  eine 
Belohnung  (j)raem\u7n)^  als  Gewinn  von  etwas,  was  vorher  nicht 
sein  war,  beschlieĂźen  kann,  sondern  nur  ein  Frohsein,  der  Ge- 
fahr, strafbar  befunden  zu  werden,  entgangen  zu  sein,  enthalte 
und  daher  die  Seligkeit  in  dem  trostreichen  Zuspruch  seines 
Gewissens  nicht  positiv  (als  Freude),  sondern  nur  negativ 
(Beruhigung  nach  vorhergegangener  Bangigkeit)  ist,  was  der 
Tugend,  als  einem  Kampf  gegen  die  Einflüsse  des  bösen  Prinzip 
im  Menschen,  allein  beigelegt  werden  kann. 


Zweiter  Abschnitt. 

Von   dem   ersten   Gebot   aller   Pflichten 
gegen   sich   selbst. 

§   14- 

Dieses  ist:  Erkenne  (^erforsche,  ergrĂĽnde^  dich  selbst  nicht 
nach  deiner  physischen  Vollkommenheit  (der  Tauglichkeit  oder 
Untauglichkeit  zu  allerlei  dir  beliebigen  oder  auch  gebotenen 
Zwecke),  sondern  nach  der  moralischen  in  Beziehung  auf  deine 
Pflicht  —  dein  Herz,  —  ob  es  gut  oder  böse  sei,  ob  die  Quelle 
deiner  Handlungen  lauter  oder  unlauter,  und  was  entweder  als 
ursprünglich  zur  Substanz  des  Menschen  gehörend,  oder  als  ab- 
geleitet (erworben  oder  zugezogen)  ihm  selbst  zugerechnet  werden 
kann  und  zum  moralischen  Zustande  gehören  mag. 

Das  moralische  Selbsterkenntnis,  das  in  die  schwerer  zu  er- 
grĂĽndende Tiefen  (Abgrund)  des  Herzens  zu  dringen  verlangt,  ist 
aller  menschlichen  Weisheit  Anfang.  Denn  die  letztere,  welche 
in  der  Zusammenstimmung  des  Willens  eines  Wesen  zum  End- 
zweck besteht,  bedarf  beim  Menschen  zu  allererst  die  Wegräumung 


2  54  Ethische  Elementarlehre.    Erstes  Buch 

der  inneren  Hindernisse  (eines  bösen  in  ihm  genistelten  Willens) 
und  dann  die  Entwickelung  der  nie  verlierbaren  ursprĂĽnglichen 
Anlage  eines  guten  Willens  in  ihm  zu  entwickeln  (nur  die  Höllen- 
fahrt  des  Selbsterkenntnisses   bahnt   den  Weg  zur  Vergötterung). 


^    15. 

Dieses  moralische  Selbsterkenntnis  wird  erstlich  die  schwär- 
merische Verachtung  seiner  selbst,  als  Mensch  (seiner  ganzen 
Gattung)  ĂĽberhaupt,  verbannen;  denn  sie  widerspricht  sich  selbst. 
—  Es  kann  ja  nur  durch  die  herrliche  in  uns  befindliche  Anlage 
zum  Guten,  welche  den  Menschen  achtungswĂĽrdig  macht,  ge- 
schehen, daĂź  er  den  Menschen,  der  dieser  zuwiderhandelt,  (sich 
selbst,  aber  nicht  die  Menschheit  in  sich)  verachtungswĂĽrdig 
findet.  —  Dann  aber  widersteht  sie  auch  der  eigenliebigen 
Selbstschätzung,  bloße  Wünsche,  wenn  sie  mit  noch  so  großer 
Sehnsucht  geschähen,  da  sie  an  sich  doch  tatleer  sind  und  bleiben, 
fĂĽr  Beweise  eines  guten  Herzens  zu  halten  (Gebet  ist  auch  nur 
ein  innerlich  vor  einem  HerzenskĂĽndiger  deklarierter  Wunsch). 
Unparteilichkeit  in  Beurteilung  unserer  selbst  in  Vergleichung  mit 
dem  Gesetz  und  Aufrichtigkeit  im  Selbstgeständnisse  seines  inneren 
moralischen  Werts  oder  Unwerts  sind  Pflichten  gegen  sich  selbst, 
die  aus  jenem  ersten  Gebot  der  Selbsterkenntnis  unmittelbar 
folgen. 


Episodischer   Abschnitt. 

Von    der    Amphibolie    der    moralischen    Reflexions- 
begriffe: das,  was  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst 
ist,  fĂĽr  Pflicht  gegen  andere  zu  halten. 

§   16. 

Nach  der  bloĂźen  Vernunft  zu  urteilen,  hat  der  Mensch  sonst 
keine  Pflicht,  als  bloĂź  gegen  den  Menschen  (sich  selbst  oder 
einen  anderen);  denn  seine  Pflicht  gegen  irgendein  Subjekt 
ist  die  moralische  Nötigung  durch  dieses  seinen  Willen.  Das 
nötigende  (verpflichtende)  Subjekt  muß  also  erstlich  eine  Person 


Von  den  vollkommenen  PĂźichten  gegen  sich  selbst     255 

sein,  zweitens  muĂź  diese  Person  als  Gegenstand  der  Erfahrung 
gegeben  sein:  weil  der  Mensch  auf  den  Zweck  ihres  Willens 
hinwirken  soll,  welches  nur  in  dem  Verhältnisse  zweier  existieren- 
der Wesen  zueinander  geschehen  kann  (denn  ein  bloĂźes  Gedanken- 
ding kann  nicht  Ursache  von  irgendeinem  Erfolg  nach  Zwecken 
werden).  Nun  kennen  wir  aber  mit  aller  unserer  Erfahrung 
kein  anderes  Wesen,  was  der  Verpflichtung  (der  aktiven  oder 
passiven)  fähig  wäre,  als  bloß  den  Menschen.  Also  kann  der 
Mensch  sonst  keine  Pflicht  gegen  irgendein  Wesen  haben,  als 
bloĂź  gegen  den  Menschen,  und  stellt  er  sich  gleichwohl  eine 
solche  zu  haben  vor,  so  geschieht  dieses  durch  eine  Amphibolie 
der  Reflexionsbegriffe,  und  seine  vermeinte  Pflicht  gegen 
andere  Wesen  ist  wohl  Pflicht  gegen  sich  selbst;  zu  welchem 
MiĂźverstande  er  dadurch  verleitet  wird,  daĂź  er  seine  Pflicht  in 
Ansehung  anderer  Wesen  fĂĽr  Pflicht  gegen  diese  Wesen  ver- 
wechselt. 

Diese  vermeinte  Pflicht  kann  nun  auf  unpersönliche,  oder 
zwar  persönliche,  aber  schlechterdings  unsichtbare  (den  äußeren 
Sinnen  nicht  darzustellende)  Gegenstände  bezogen  werden.  —  Die 
erstere  (außermenschliche)  können  der  bloße  Naturstoffe,  oder 
der  zur  Fortpflanzung  organisierte,  aber  empfindungslose,  oder  der 
mit  Empfindung  und  WillkĂĽr  begabte  Teil  der  Natur  (Mineralien, 
Pflanzen,  Tiere)  sein:  die  zweite  (übermenschliche)  können 
als  geistige  Wesen  (Engel,  Gott)  gedacht  werden.  —  Ob  zwischen 
Wesen  beider  Art  und  den  Menschen  ein  Pflichtverhältnis  und 
welches  dazwischen  stattfinde,  wird  nun  gefragt. 


§    17- 

In  Ansehung  des  Schönen,  obgleich  Leblosen  in  der  Natur 
ist  ein  Hang  zum  bloßen  Zerstören  (jpiritus  destructionii)  der 
Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst  zuwider:  weil  es  dasjenige 
Gefühl  im  Menschen  schwächt  oder  vertilgt,  was  zwar  nicht  für 
sich  allein  schon  moralisch  ist,  aber  doch  diejenige  Stimmung 
der  Sinnlichkeit,  welche  die  Moralität  sehr  befördert,  wenigstens 
dazu  vorbereitet,  nämlich  etwas  auch  ohne  Absicht  auf  Nutzen 
zu  lieben  (z.  B.  die  schöne  Kristallisationen,  das  unbeschreiblich 
Schöne  des   Gewächsreichs). 

In  Ansehung    des   lebenden,    obgleich  vernunftlosen  Teils   der 


1^6  Ethische  Elementarlehre.    Erstes  Buch 

Geschöpfe  ist  die  Pflicht  der  Enthaltung  von  gewaltsamer  und 
zugleich  grausamer  Behandlung  der  Tiere  der  Pflicht  des  Men- 
schen gegen  sich  selbst  weit  inniglicher  entgegengesetzt,  weil 
dadurch  das  MitgefĂĽhl  an  ihrem  Leiden  im  Menschen  abgestumpft 
und  dadurch  eine  der  Moralität  im  Verhältnisse  zu  anderen  Men- 
schen sehr  diensame  natürliche  Anlage  geschwächt  und  nach  und 
nach  ausgetilgt  wird;  obgleich  ihre  behende  (ohne  Qual  ver- 
richtete) Tötung,  oder  auch  ihre,  nur  nicht  bis  über  Vermögen 
angestrengte  Arbeit  (dergleichen  auch  wohl  Menschen  sich  gefallen 
lassen  müssen)  unter  die  Befugnisse  des  Menschen  gehören;  da- 
hingegen die  martervolle  physische  Versuche  zum  bloĂźen  Behuf 
der  Spekulation,  wenn  auch  ohne  sie  der  Zweck  erreicht  werden 
könnte,  zu  verabscheuen  sind.  —  Selbst  Dankbarkeit  für  lang 
geleistete  Dienste  eines  alten  Pferdes  oder  Hundes  (gleich  als  ob 
sie  Hausgenossen  wären)  gehört  indirekt  zur  Pflicht  des  Men- 
schen, nämlich  in  Ansehung  dieser  Tiere,  direkt  aber  betrachtet 
ist  sie  immer  nur  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst. 


§    i8. 

In  Ansehung  dessen,  was  ganz  ĂĽber  unsere  Erfahrungsgrenze 
hinausliegt,  aber  doch  seiner  Möglichkeit  nach  in  unseren  Ideen 
angetroffen  wird,  z.  B.  der  Idee  von  Gott,  haben  wir  ebenso- 
wohl auch  eine  Pflicht,  welche  Religionspflicht  genannt  wird, 
die  nämlich  „der  Erkenntnis  aller  unserer  Pflichten  als  (^instar) 
götthcher  Gebote".  Aber  dieses  ist  nicht  das  Bewußtsein  einer 
Pflicht  gegen  Gott.  Denn  da  diese  Idee  ganz  aus  unserer 
eigenen  Vernunft  hervorgeht  und  von  uns,  es  sei  in  theoretischer 
Absicht,  um  sich  die  Zweckmäßigkeit  im  Weltganzen  zu  erklären, 
oder  auch  um  zur  Triebfeder  in  unserem  Verhalten  zu  dienen, 
selbst  gemacht  wird,  so  haben  wir  hiebei  nicht  ein  gegebenes 
Wesen  vor  uns,  gegen  welches  uns  Verpflichtung  obläge:  denn 
da  mĂĽĂźte  dessen  Wirklichkeit  allererst-  durch  Erfahrung  bewiesen 
(geoffenbart)  sein ;  sondern  es  ist  Pflicht  des  Menschen  gegen 
sich  selbst,  diese  unumgänglich  der  Vernunft  sich  darbietende 
Idee  auf  das  moralische  Gesetz  in  uns,  wo  es  von  der  größten 
sittlichen  Fruchtbarkeit  ist,  anzuwenden.  In  diesem  (praktischen) 
Sinn  kann  es  also  so  lauten :  Religion  zu  haben  ist  Pflicht  des 
Menschen   gegen   sich  selbst. 


Von  den  vollkommenen  Pflichten  des  Menschen        257 

Der   Pflichten   gegen   gegen   sich    selbst 

Zweites   Buch. 

Von  den  unvollkommenen  Pflichten  des  Menschen 
gegen  sich  selbst  (in  Ansehung  seines  Zwecks). 

Erster   Abschnitt. 

Von   der  Pflicht    gegen  sich  selbst  in  Entwickelung   und 
Vermehrung    seiner    Naturvollkommenheit,    d.    i.    in 

pragmatischer  Absicht. 

§   19. 

Der  Anbau  (culturd)  seiner  Naturkräfte  (Geistes-,  Seelen-  und 
Leibeskräfte)  als  Mittel  zu  allerlei  möglichen  Zwecken  ist  Pflicht 
des  Menschen  gegen  sich  selbst.  —  Der  Mensch  ist  es  sich  selbst 
(als  einem  Vernunftwesen)  schuldig,  die  Naturanlage  und  Ver- 
mögen, von  denen  seine  Vernunft  dereinst  Gebrauch  machen 
kann,  nicht  unbenutzt  und  gleichsam  rosten  zu  lassen,  sondern, 
gesetzt  daß  er  auch  mit  dem  angebornen  Maß  seines  Vermögens 
für  die  natürlichen  Bedürfnisse  zufrieden  sein  könne,  so  muß 
ihm  doch  seine  Vernunft  dieses  Zufriedensein  mit  dem  geringen 
Maß  seiner  Vermögen  erst  durch  Grundsätze  anweisen,  weil  er 
als  ein  Wesen,  das  der  Zwecke  (sich  Gegenstände  zum  Zweck 
zu  machen)  fähig  ist,  den  Gebrauch  seiner  Kräfte  nicht  bloß 
dem  Instinkt  der  Natur,  sondern  der  Freiheit,  mit  der  er  dieses 
MaĂź  bestimmt,  zu  verdanken  haben  muĂź.  Es  ist  also  nicht 
Rücksicht  auf  den  Vorteil,  den  die  Kultur  seines  Vermögens 
(zu  allerlei  Zwecken)  verschaffen  kann;  denn  dieser  wĂĽrde  viel- 
leicht (nach  Rousseauschen  Grundsätzen)  für  die  Rohigkeit  des 
NaturbedĂĽrfnisses  vorteilhaft  ausfallen:  sondern  es  ist  Gebot  der 
moralisch-praktischen  Vernunft  und  Pflicht  des  Menschen  gegen 
sich  selbst,  seine  Vermögen  (unter  denselben  eins  mehr  als  das 
andere  nach  Verschiedenheit  seiner  Zwecke)  anzubauen  und  in 
pragmarischer  RĂĽcksicht  ein  dem  Zweck  seines  Daseins  an- 
gemessener Mensch  zu  sein. 

Kants  Schriften.  Bd.  VII.  17 


258  Ethische  Ele7ncntarlehre.    Zweites  Buch 

Geisteskräfte  sind  diejenigen,  deren  Ausübung  nur  durch 
die  Vernunft  möglich  ist.  Sic  sind  sofern  schöpferisch,  als 
ihr  Gebrauch  nicht  aus  Erfahrung  geschöpft,  sondern  a  priori 
aus  Prinzipien  abgeleitet  wird.  Dergleichen  sind  Mathematik, 
Logik  und  Metaphysik  der  Natur,  welche  zwei  letztere  auch  zur 
Philosophie,  nämlich  der  theoretischen,  gezählt  werden,  die  zwar 
alsdann  nicht,  wie  der  Buchstabe  lautet,  Weisheitslehre,  sondern 
nur  Wissenschaft  bedeutet,  aber  doch  der  ersteren  zu  ihrem 
Zwecke   beförderlich  sein   kann. 

Seeienkräfte  sind  diejenige,  welche  dem  Verstände  und  der 
Regel,  die  er  zu  Befriedigung  beliebiger  Absichten  braucht,  zu 
Gebote  stehen  und  sofern  an  dem  Leitfaden  der  Erfahrung  gefĂĽhrt 
werden.  Dergleichen  ist  das  Gedächtnis,  die  Einbildungskraft 
u.  dgl.,  worauf  Gelahrtheit,  Geschmack  (innere  und  äußere  Ver- 
schönerung) usw.  gegründet  werden  können,  welche  zu  mannig- 
faltiger Absicht  die  Werkzeuge   darbieten. 

Endlich  ist  die  Kultur  der  Leibeskräfte  (die  eigentliche 
Gymnastik)  die  Besorgung  dessen,  was  das  Zeug  (die'  Materie) 
am  Menschen  ausmacht,  ohne  welches  die  Zwecke  des  Menschen 
unausgefĂĽhrt  bleiben  wĂĽrden;  mithin  die  fortdauernde  absichtliche 
Belebung  des  Tieres  am  Menschen  Zweck  des  Menschen  gegen 
sich  selbst. 

§    io. 

Welche  von  diesen  physischen  Vollkommenheiten  vorzĂĽglich, 
und  in  welcher  Proportion  in  Vergleichung  gegeneinander  sie 
sich  zum  Zweck  zu  machen  es  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich 
selbst  sei,  bleibt  ihrer  eigenen  vernĂĽnftigen  Ăśberlegung  in  An- 
sehung der  Lust  zu  einer  gewissen  Lebensart  und  zugleich  der 
Schätzung  seiner  dazu  erforderlichen  Kräfte  überlassen,  um  dar- 
unter zu  wählen  (z.  B.  ob  es  ein  Handwerk,  oder  der  Kaufhandel, 
oder  die  Gelehrsamkeit  sein  sollte).  Denn  abgesehen  von  d^m 
BedĂĽrfnis  der  Selbsterhaltung,  welches  an  sich  keine  Pflicht  be- 
grĂĽnden kann,  ist  es  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst,  ein 
der  Welt  nĂĽtzUches  Glied  zu  sein,  weil  dieses  auch  zum  Wert 
der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person  gehört,  die  er  also  nicht 
abwĂĽrdigen   soll. 

Die  Pflicht  des  Menschen   gegen  sich  selbst  in  Ansehung  seiner 
physischen   Vollkommenheit    ist    aber    nur    weite    und    unvoll- 


Von  den  vollkommenen  Pflichten  des  Menschen        259 

kommene  Pflicht:  weil  sie  zwar  ein  Gesetz  fĂĽr  die  Maxime  der 
Handlungen  enthält,  in  Ansehung  der  Handlungen  selbst  aber 
ihrer  Art  und  ihrem  Grade  nach  nichts  bestimmt,  sondern  der 
freien  WillkĂĽr  einen   Spielraum  verstattet. 


Zweiter   Abschnitt. 

Von  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  in  Erhöhung  seiner 
moralischen  Vollkommenheit,  d.  i.  in  bloĂź  sittlicher 

Absicht. 

§     ZI. 

Sie  besteht  erstlich  subjektiv  in  der  Lauterkeit  {puritas 
moralis)  der  Pflichtgesinnung:  da  nämüch  auch  ohne  Beimischung 
der  von  der  Sinnlichkeit  hergenommenen  Absichten  das  Gesetz 
fĂĽr  sich  allein  Triebfeder  ist,  und  die  Handlungen  nicht  bloĂź 
pflichtmäßig,  sondern  auch  aus  Pflicht  geschehen.  —  „Seid 
heilig"  ist  hier  das  Gebot.  Zweitens  objektiv  in  Ansehung  des 
ganzen  moraUschen  Zwecks,  der  die  Vollkommenheit,  d,  i.  seine 
ganze  Pflicht  und  die  Erreichung  der  Vollständigkeit  des  mora- 
lischen Zwecks  in  Ansehung  seiner  selbst,  betrifft,  „seid  voll- 
kommen"; zu  welchem  Ziele  aber  hinzustreben  beim  Menschen 
immer  nur  ein  Fortschreiten  von  einer  Vollkommenheit  zur 
andern  ist,  „ist  etwa  eine  Tugend,  ist  etwa  ein  Lob,  dem  trachtet 
nach." 

§    zz. 

Diese  Pflicht  gegen  sich  selbst  ist  eine  der  Qualität  nach 
enge  und  vollkommene,  obgleich  dem  Grade  nach  weite  und 
unvollkommene  Pflicht  und  das  wegen  der  Gebrechlichkeit 
(^fragilitas)   der  menschlichen  Natur. 

Diejenige  Vollkommenheit  nämlich,  zu  welcher  zwar  das 
Streben,  aber  nicht  das  Erreichen  derselben  (in  diesem  Leben) 
Pflicht  ist,  deren  Befolgung  also  nur  in  kontinuierlichen  Fort- 
schritten bestehen  kann,  ist  in  Hinsicht  auf  das  Objekt  (die 
Idee,  deren  AusfĂĽhrung  man  sich  zum  Zweck  machen  soll)   zwar 

17* 


i6o  Ethische  Elementarlehre.    Ziaeites  Buch 

enge   und  vollkommene,   in  RĂĽcksicht  aber  auf  das  Subjekt  weite 
und   nur  unvollkommene  Pflicht  gegen  sich  selbst. 

Die  Tiefen  des  menschlichen  Herzens  sind  unergrĂĽndlich. 
Wer  kennt  sich  gnugsam,  wenn  die  Triebfeder  zur  Pflicht- 
beobachtung von  ihm  gefühlt  wird,  ob  sie  gänzlich  aus  der  Vor- 
stellung des  Gesetzes  hervorgehe,  oder  ob  nicht  manche  andere 
sinnliche  Antriebe  mitwirken,  die  auf"  den  Vorteil  (oder  zur  Ver- 
hĂĽtung eines  Nachteils)  angelegt  sind  und  bei  anderer  Gelegenheit 
auch  wohl  dem  Laster  zu  Diensten  stehen  könnten?  —  Was  aber 
die  Vollkommenheit  als  moralischen  Zweck  betrifit,  so  gibts  zwar 
in  der  Idee  (objektiv)  nur  eine  Tugend  (als  sittliche  Stärke  der 
Maximen),  in  der  Tat  (subjektiv)  aber  eine  Menge  derselben  von 
heterogener  Beschaffenheit,  worunter  es  unmöglich  sein  dürfte, 
nicht  irgendeine  Untugend  (ob  sie  gleich  eben  jener  wegen  den 
Namen  des  Lasters  nicht  zu  fĂĽhren  pflegen)  aufzufinden,  wenn 
man  sie  suchen  wollte.  Eine  Summe  von  Tugenden  aber,  deren 
Vollständigkeit  oder  Mängel  das  Selbsterkenntnis  uns  nie  hin- 
reichend cinschauen  läßt,  kann  keine  andere  als  unvollkommene 
Pflicht  vollkommen  zu  sein  begrĂĽnden. 


Also  sind  alle  Pflichten  gegen  sich  selbst  in  Ansehung  des 
Zwecks  der  Menschheit  in  unserer  eigenen  Person  nur  unvoll- 
kommene Pflichten. 


Der   ethischen   E  1  e  m  e  n  t  a  r  1  e  h  r  e 

Zweiter  Teil. 
Von  den  Tugendpflichten  gegen  andere. 

Erstes  HauptstĂĽck. 
Von  den  Pflichten  gegen   andere,   bloĂź  als  Menschen. 

Erster  Abschnitt. 
Von  der  Liebespflicht  gegen  andere  Menschen. 

Einteilung. 

§  ^3- 

JLyie  oberste  Einteilung  kann  die  sein:  in  Pflichten  gegen 
andere,  sofern  du  sie  durch  Leistung  derselben  zugleich  verbindest, 
und  in  solche,  deren  Beobachtung  die  Verbindlichkeit  anderer 
nicht  zur  Folge  hat.  —  Die  erstere  Leistung  ist  (respektiv  gegen 
andere)  verdienstlich;  die  der  zweiten  ist  schuldige  Pflicht.  — 
Liebe  und  Achtung  sind  die  GefĂĽhle,  welche  die  AusĂĽbung 
dieser  Pflichten  begleiten.  Sie  können  abgesondert  (jede  für  sich 
allein)  erwogen  werden  und  auch  so  bestehen  (Liebe  des 
Nächsten,  ob  dieser  gleich  wenig  Achtung  verdienen  möchte; 
imgleichen  notwendige  Achtung  fiir  jeden  Menschen,  unerachtet 
er  kaum  der  Liebe  wert  zu  sein  beurteilt  wĂĽrde).  Sie  sind  aber 
im  Grunde  dem  Gesetze  nach  jederzeit  miteinander  in  einer  Pflicht 
zusammen  verbunden;  nur  so,  daĂź  bald  die  eine  Pflicht,  bald  die 
andere    das  Prinzip    im  Subjekt    ausmacht,    an  welche    die  andere 


i6i     Ethische  Elernentarlehre.  Zweiter  Teil.  Erstes  HauptstĂĽck 

accessorisch  geknüpft  ist.  —  So  werden  wir  gegen  einen  Armen 
wohltätig  zu  sein  uns  für  verpflichtet  erkennen;  aber  weil  diese 
Gunst  doch  auch  Abhängigkeit  seines  Wohls  von  meiner  Großmut 
enthält,  die  doch  den  anderen  erniedrigt,  so  ist  es  Pflicht,  dem 
Empfänger  durch  ein  Betragen,  welches  diese  Wohltätigkeit  ent- 
weder als  bloĂźe  Schuldigkeit  oder  geringen  Liebesdienst  vorstellt, 
die  DemĂĽtigung  zu  ersparen  und  ihm  seine  Achtung  fĂĽr  sich  selbst 
zu  erhalten. 

§  24. 

Wenn  von  Pflichtgesetzen  (nicht  von  Naturgesetzen)  die  Rede 
ist  und  zwar  im  äußeren  Verhältnis  der  Menschen  gegeneinander, 
so  betrachten  wir  uns  in  einer  moralischen  (intelligibelen)  Welt, 
in  welcher  nach  der  Analogie  mit  der  physischen  die  Verbindung 
vernĂĽnftiger  Wesen  (auf  Erden)  durch  Anziehung  und  Ab- 
stoßung  bewirkt  wird.  Vermöge  des  Prinzips  der  WECHSEL- 
LIEBE sind  sie  angewiesen,  sich  einander  beständig  zu  nähern, 
durch  das  der  ACHTUNG,  die  sie  einander  schuldig  sind,  sich  im 
Abstände  von  einander  zu  erhalten;  und  sollte  eine  dieser  großen 
sittlichen  Kräfte  sinken,  „so  würde  dann  das  Nichts  (der  Im- 
moralität)  mit  aufgesperrtem  Schlund  der  (moralischen)  Wesen 
ganzes  Reich  wrie  einen  Tropfen  Wasser  trinken"  (wenn  ich  mich 
hier  der  Worte  HALLERS,  nur  in  einer  andern  Beziehung,  be- 
dienen  darf-). 

§  15- 

Die  LIEBE  wird  hier  aber  nicht  als  Gefühl  (ästhetisch),  d.  i. 
als  Lust  an  der  Vollkommenheit  anderer  Menschen,  nicht  als  Liebe 
des  Wohlgefallens,  verstanden  (denn  GefĂĽhle  zu  haben,  dazu 
kann  es  keine  Verpflichtung  durch  andere  geben),  sondern  muĂź 
als  Maxime  des  Wohlwollens  (als  praktisch)  gedacht  werden, 
welche   das  Wohltun  zur  Folge  hat. 

Eben  dasselbe  muĂź  von  der  gegen  andere  zu  beweisenden 
ACHTUNG  gesagt  werden:  daß  nämlich  nicht  bloß  das  Gefühl 
aus  der  Vergleichung  unseres  eigenen  Werts  mit  dem  des  anderen 
(dergleichen  ein  Kind  gegen  seine  Eltern,  ein  SchĂĽler  gegen  seinen 
Lehrer,  ein  Niedriger  ĂĽberhaupt  gegen  seinen  Oberen  aus  bloĂźer 
Gewohnheit  fühlt),  sondern   nur  eine  Maxime  der  Einschränkung 


Von  den  Pflichten  gegen  andere^  bloĂź  als  Menschen     1 6  3 

unserer  Selbstschätzung  durch  die  Würde  der  Menschheit  in  eines 
anderen  Person,  mithin  die  Achtung  im  praktischen  Sinne  {obser- 
vantia  aliis  praestandd)   verstanden  wird. 

Auch  wird  die  Pflicht  der  freien  Achtung  gegen  andere,  weil 
sie  eigentlich  nur  negativ  ist  (sich  nicht  ĂĽber  andere  zu  erheben) 
und  so  der  Rechtspflicht,  niemanden  das  Seine  zu  schmälern, 
analog,  obgleich  als  bloße  Tugendpflicht,  verhältnisweise  gegen 
die  Liebespflicht  fĂĽr  enge,  die  letzere  also  als  weite  Pflicht 
angesehn. 

Die  Pflicht  der  Nächstenliebe  kann  also  auch  so  ausgedrückt 
werden:  sie  ist  die  Pflicht  anderer  ihre  Zwecke  (sofern  diese 
nur  nicht  unsittlich  sind)  zu  den  meinen  zu  machen;  die  Pflicht  der 
Achtung  meines  Nächsten  ist  in  der  Maxime  enthalten,  keinen 
anderen  Menschen  bloĂź  als  Mittel  zu  meinen  Zwecken  abzuwĂĽrdigen 
(nicht  zu  verlangen,  der  andere  solle  sich  selbst  wegwerfen,  um 
meinem  Zwecke   zu   frönen). 

Dadurch,  daĂź  ich  die  erstere  Pflicht  gegen  jemand  ausĂĽbe, 
verpflichte  ich  zugleich  einen  anderen;  ich  mache  mich  um  ihn 
verdient.  Durch  die  Beobachtung  der  letzteren  aber  verpflichte 
ich  bloĂź  mich  selbst,  halte  mich  in  meinen  Schranken,  um  dem  anderen 
an  dem  Werte,  den  er  als  Mensch  in  sich  selbst  zu  setzen  befugt 
ist,  nichts   zu  entziehen. 


Von  der  Liebespflicht  insbesondere. 

§  26. 

Die  Menschenliebe  (Philanthropie)  muĂź,  weil  sie  hier  als 
praktisch,  mithin  nicht  als  Liebe  des  Wohlgefallens  an  Menschen 
gedacht  wird,  im  tätigen  Wohlwollen  gesetzt  werden  und  betrifft 
also  die  Maxime  der  Handlungen.  —  Der,  welcher  am  Wohlsein 
(salus)  der  Menschen,  sofern  er  sie  bloĂź  als  solche  betrachtet, 
VergnĂĽgen  findet,  dem  wohl  ist,  wenn  es  jedem  anderen  wohl- 
ergeht, heiĂźt  ein  Menschenfreund  (Philanthrop)  ĂĽberhaupt.  Der, 
welchem  nur  wohl  ist,  wenn  es  anderen  ĂĽbel  ergeht,  heiĂźt 
Menschenfeind  (Misanthrop  in  praktischem  Sinne).  Der,  welchem 
es  gleichgĂĽltig  ist,  wie  es  anderen  ergehen  mag,  wenn  es  ihm 
selbst  nur  wohl  geht,  ist  ein  Selbstsüchtiger  {solipsistd).  — 
Derjenige    aber,    welcher    Menschen    flieht,    weil   er  kein   Wohl- 


z  6^     Ethische  Elementarlehre.  Zweiter  Teil.  Erstes  HauptstĂĽck 

gefallen  an  ihnen  finden  kann,  ob  er  zwar  allen  wohl  will, 
würde  menschenscheu  (ästhetischer  Misanthrop)  und  seine  Ab- 
kehrung von  Menschen  Anthropophobie  genannt  werden  können. 


Die  Maxime  des  Wohlwollens  (die  praktische  Menschenliebe) 
ist  aller  Menschen  Pflicht  gegeneinander,  man  mag  diese  nun 
liebenswĂĽrdig  finden  oder  nicht,  nach  dem  ethischen  Gesetz  der 
Vollkommenheit:  Liebe  deinen  Nebenmenschen  als  dich  selbst.  — 
Denn  aJles  moralisch-praktische  Verhältnis  gegen  Menschen  ist  ein 
Verhältnis  derselben  in  der  Vorstellung  der  reinen  Vernunft,  d.  i. 
der  freien  Handlungen  nach  Maximen,  welche  sich  zur  allgemeinen 
Gesetzgebung  qualifizieren,  die  also  nicht  selbstsĂĽchtig  (ex  solipsismo 
prodeuntes^  sein  können.  Ich  will  jedes  anderen  Wohlwollen 
(henevolentiani)  gegen  mich;  ich  soll  also  auch  gegen  jeden  anderen 
wohlwollend  sein.  Da  aber  alle  andere  auĂźer  mir  nicht  alle 
sein,  mithin  die  Maxime  nicht  die  Allgemeinheit  eines  Gesetzes 
an  sich  haben  wĂĽrde,  welche  doch  zur  Verpflichtung  notwendig 
ist:  so  wird  das  Pflichtgesetz  des  Wohlwollens  mich  als  Objekt 
desselben  im  Gebot  der  praktischen  Vernunft  mit  begreifen:  nicht 
als  ob  ich  dadurch  verbunden  wĂĽrde,  mich  selbst  zu  lieben  (denn 
das  geschieht  ohne  das  unvermeidlich,  und  dazu  gibts  also  keine 
Verpflichtung),  sondern  die  gesetzgebende  Vernunft,  welche  in 
ihrer  Idee  der  Menschheit  ĂĽberhaupt  die  ganze  Gattung  (mich 
also  rriit)  einschlieĂźt,  nicht  der  Mensch,  schlieĂźt  als  allgemein- 
gesetzgebend mich  in  der  Pflicht  des  wechselseitigen  Wohlwollens 
nach  dem  Prinzip  der  Gleichheit  mit  allen  anderen  neben  mir 
mit  ein  und  erlaubt  es  dir,  dir  selbst  wohlzuwollen,  unter  der 
Bedingung,  daĂź  du  auch  jedem  anderen  wohl  willst:  weil  so 
allein  deine  Maxime  (des  Wohltuns)  sich  zu  einer  allgemeinen 
Gesetzgebung  qualifiziert,  als  worauf  alles  Pflichtgesetz  gegrĂĽndet  ist. 


$  28. 

Das  Wohlwollen  in  der  allgemeinen  Menschenliebe  ist  nun 
zwar  dem  Umfange  nach  das  größte,  dem  Grade  nach  aber 
das   kleinste,  und  wenn  ich  sage:   ich  nehme  an  dem  Wohl  dieses 


Von  den  FĂźkhten  gegen  andere,  bloĂź  als  Menschen     1 6 


5 


Menschen  nur  nach  der  allgemeinen  Menschenliebe  Anteil,  so  ist 
das  Interesse,  was  ich  hier  nehme,  das  kleinste,  was  nur  sein 
kann.      Ich  bin  in  Ansehung  desselben   nur  nicht  gleichgĂĽltig. 

Aber  einer  ist  mir  doch  näher  als  der  andere,  und  ich  bin 
im  Wohlwollen  mir  selbst  der  Nächste.  Wie  stimmt  das  nun  mit 
der  Formel:  Liebe  deinen  Nächsten  (deinen  Mitmenschen)  als 
dich  selbst?  Wenn  einer  mir  näher  ist  (in  der  Pflicht  des  Wohl- 
wollens) als  der  andere,  ich  also  zum  größeren  Wohlwollen  gegen 
einen  als  gegen  den  anderen  verbunden,  mir  selber  aber  geständ- 
lich  naher  (selbst  der  Pflicht  nach)  bin,  als  jeder  andere,  so  kann 
ich,  wie  es  scheint,  ohne  mir  selbst  zu  widersprechen,  nicht 
sagen:  ich  soll  jeden  Menschen  lieben  wie  mich  selbst:  denn  der 
MaĂźstab  der  Selbstliebe  wĂĽrde  keinen  Unterschied  in  Graden  zu- 
lassen. —  Man  siehet  bald:  daß  hier  nicht  bloß  das  Wohlwollen 
des  Wunsches,  welches  eigentlich  ein  bloĂźes  Wohlgefallen  am 
Wohl  jedes  anderen  ist,  ohne  selbst  dazu  etwas  beitragen  zu 
dürfen  (ein  jeder  für  sich;  Gott  für  uns  alle),  sondern  ein  tätiges, 
praktisches  Wohlwollen,  sich  das  Wohl  und  Heil  des  anderen 
zum  Zweck  zu  machen,  (das  Wohltun)  gemeinet  sei.  Denn  im 
WĂĽnschen  kann  ich  allen  gleich  wohlwollen,  aber  im  Tun  kann 
der  Grad  nach  Verscliiedenheit  der  Geliebten  (deren  einer  mich 
näher  angeht  als  der  andere),  ohne  die  Allgemeinheit  der  Maxime 
zu  verletzen,  doch  sehr  verschieden  sein. 


Einteilung  der  Liebespflichten. 

Sie  sind:  A)  Pflichten  der  Wohltätigkeit,  B)  der  Dank- 
barkeit, C)   der  Teilnehmung. 

A. 
Von  der  Pflicht  der  Wohltätigkeit. 

§  29. 

Sich  selber  gütlich  tun,  soweit  als  nötig  ist,  um  nur  am  Leben 
ein  VergnĂĽgen  zu  finden,  (seinen  Leib,  doch  nicht  bis  zur  Weich- 
lichkeit zu  pflegen)  gehört  zu  den  Pflichten  gegen  sich  selbst;  — 
deren  Gegenteil    ist:    sich    aus   Geiz    (sklavisch)    des    zum  frohen 


i66     Et}?ische  Elejucntarlehrc.  Zweiter  Teil.  Erstes  HauptstĂĽck 

GenuĂź  des  Lebens  Notwendigen  oder  aus  ĂĽbertriebener  Diszi- 
plin seiner  natürlichen  Neigungen  (schwärmerisch)  sich  des  Ge- 
nusses der  Lebensfreuden  zu  berauben,  welches  beides  der  Pflicht 
des   Menschen   gegen   sich   selbst  widerstreitet. 

\\'ie  kann  man  aber  auĂźer  dem  Wohlwollen  des  Wunsches 
in  Ansehung  anderer  Menschen  (welches  uns  nichts  kostet)  noch, 
daĂź  dieses  praktisch  sei,  d.  i.  das  Wohltun  in  Ansehung  der 
Bedürftigen,  jedermann,  der  das  Vermögen  dazu  hat,  als  Pflicht 
ansinnen?  —  Wohlwollen  ist  das  Vergnügen  an  der  Glückseligkeit 
(dem  WĂĽhlsein)  anderer;  Wohltun  aber  die  Maxime,  sich  das- 
selbe zum  Zweck  zu  machen,  und  Pflicht  dazu  ist  die  Nötigung 
des  Subjekts  durch  die  Vernunft,  diese  Maxime  als  allgemeines 
Gesetz  anzunehmen. 

Es  fällt  nicht  von  selbst  in  die  Augen:  daß  ein  solches  Gesetz 
ĂĽberhaupt  in  der  Vernunft  liege;  vielmehr  scheint  die  Maxime: 
„Ein  jeder  für  sich,  Gott  (das  Schicksal)  für  uns  alle,"  die  natür- 
lichste  zu   sein. 

§  30- 

W^ohltätig,  d.  i.  anderen  Menschen  in  Nöten  zu  ihrer  Glück- 
seligkeit, ohne  dafür  etwas  zu  hoffen,  nach  seinem  Vermögen 
beförderlich   zu   sein,  ist  jedes  Menschen  Pflicht. 

Denn  jeder  Mensch,  der  sich  in  Not  beiludet,  wĂĽnscht,  daĂź 
ihm  von  anderen  Menschen  geholfen  werde.  Wenn  er  aber  seine 
Maxime,  anderen  wiederum  in  ihrer  Not  nicht  Beistand  leisten 
zu  wollen,  laut  werden  lieĂźe,  d.  i.  sie  zum  allgemeinen  Erlaubnis- 
gesetz machte:  so  wĂĽrde  ihm,  wenn  er  selbst  in  Not  ist,  jeder- 
mann gleichfalls  seinen  Beistand  versagen,  oder  wenigstens  zu 
versagen  befugt  sein.  Also  widerstreitet  sich  die  eigennĂĽtzige 
Maxime  selbst,  wenn  sie  zum  allgemeinen  Gesetz  gemacht  wĂĽrde, 
d.  i.  sie  ist  pflichtwidrig,  folglich  die  gemeinnĂĽtzige  des  Wohltuns 
gegen  BedĂĽrftige  allgemeine  Pflicht  der  Menschen  und  zwar  darum: 
weil  sie  als  Mitmenschen,  d.  i.  bedĂĽrftige,  auf  einem  Wohnplatz 
durch  die  Natur  zur  wechselseitigen  BeihĂĽlfe  vereinigte  vernĂĽnftige 
Wesen,  anzusehen   sind. 


Von  den  Vflkhten  gegen  andere,  bloĂź  als  Menschen     i6j 

Wohltun  ist  fĂĽr  den,  der  reich  (mit  Mitteln  zur  GlĂĽck- 
seligkeit anderer  ĂĽberflĂĽssig,  d.  i.  ĂĽber  sein  eigenes  BedĂĽrfnis, 
versehen)  ist,  von  dem  Wohltäter  fast  nicht  einmal  für  seine 
verdienstliche  Pflicht  zu  halten;  ob  er  zwar  dadurch  zugleich  den 
anderen  verbindet.  Das  VergnĂĽgen,  was  er  sich  hiemit  selbst 
macht,  welches  ihm  keine  Aufopferung  kostet,  ist  eine  Art  in 
moralischen  GefĂĽhlen  zu  schwelgen.  Auch  muĂź  er  allen  Schein, 
als  dächte  er  den  anderen  hiemit  zu  verbinden,  sorgfältig  ver- 
meiden: weil  es  sonst  nicht  wahre  Wohltat  wäre,  die  er 
diesem  erzeigte,  indem  er  ihm  eine  Verbindlichkeit  Tdie  den 
letzteren  in  seinen  eigenen  Augen  immer  erniedrigt)  auflegen  zu 
wollen  äußerte.  Er  muß  sich  vielmehr,  als  durch  die  Annahme 
des  anderen  selbst  verbindlich  gemacht,  oder  beehrt,  mithin  die 
Pflicht  bloß  als  seine  Schuldigkeit  äußeren,  wenn  er  nicht  (welches 
besser  ist)  seinen  Wohltätigkeitsakt  ganz  im  Verborgenen  ausübt.  — 
Größer  ist  diese  Tugend,  wenn  das  Vermögen  zum  Wohltun  be- 
schränkt und  der  Wohltäter  stark  gepug  ist,  die  Übel,  welche  er 
anderen  erspart,  stillschweigend  ĂĽber  sich  zu  nehmen,  wo  er 
alsdann  wirklich  fĂĽr  moralisch- reich  anzusehen  ist. 


Kasuistische    Fragen. 

Wie  weit  soll  man  den  Aufwand  seines  Vermögens  im  Wohl- 
tun treiben?  Doch  wohl  nicht  bis  dahin,  daĂź  man  zuletzt  selbst 
anderer  Wohltätigkeit  bedürftig  würde.  Wie  viel  ist  die  Wohl- 
tat wert,  die  man  mit  kalter  Hand  (im  Abscheiden  aus  der  Welt 
durch  ein  Testament)  beweiset?  —  Kann  derjenige,  welcher  eine 
ihm  durchs  Landesgesetz  erlaubte  Obergewalt  ĂĽber  einen  ĂĽbt,  dem 
er  die  Freiheit  raubt,  nach  seiner  eigenen  Wahl  glĂĽcklich  zu  sein 
(seinem  Erbunfertan  eines  Guts),  kann,  sage  ich,  dieser  sich  als 
Wohltäter  ansehen,  wenn  er  nach  seinen  eigenen  Begriffen  von 
Glückseligkeit  für  ihn  gleichsam  väterlich  sorgt?  Oder  ist  nicht 
vielmehr  die  Ungerechtigkeit,  einen  seiner  Freiheit  zu  berauben, 
etwas  der  Rechtspflicht  ĂĽberhaupt  so  Widerstreitendes,  daĂź  unter 
dieser  Bedingung  auf  die  Wohltätigkeit  der  Herrschaft  rechnend 
sich  hinzugeben  die  größte  Wegweriring  der  Menschheit  für  den 
sein  würde,  der  sich  dazu  freiwilhg  verstände,  und  die  größte 
Vorsorge  der  Herrschaft  für  den  letzteren  gar  keine  Wohltätigkeit 


1 6  8     Ethische  Elementar/ ehre.  Zweiter  Teil.  Erstes  HauptstĂĽck 

sein  wĂĽrde?  Oder  kann  etwa  das  Verdienst  mit  der  letzteren  so 
groĂź  sein,  daĂź  es  gegen  das  Menschenrecht  aufgewogen  werden 
könnte?  —  Ich  kann  niemand  nach  meinen  Begriffen  von  Glück- 
seHgkcit  wohltun  (außer  unmündigen  Kindern  oder  Gestörten), 
sondern  nach  jenes  seinen  Begriffen,  dem  ich  eine  Wohltat  zu 
erweisen   denke,  indem  ich  ihm  ein  Geschenk  aufdringe. 

Das  Vermögen  wohlzutun,  was  von  Glücksgütern  abhängt,  ist 
größtenteils  ein  Erfolg  aus  der  Begünstigung  verschiedener  Menschen 
durch  die  Ungerechtigkeit  der  Regierung,  welche  eine  Ungleichheit 
des  Wohlstandes,  die  anderer  Wohltätigkeit  notwendig  macht, 
einführt.  Verdient  unter  solchen  Umständen  der  Beistand,  den 
der  Reiche  den  Notleidenden  erweisen  mag,  wohl  ĂĽberhaupt  den 
Namen  der  Wohltätigkeit,  mit  welcher  man  sich  so  gern  als 
Verdienst  brĂĽstet? 

B. 

Von    der   Pflicht    der    Dankbarkeit. 

Dankbarkeit  ist  die  Verehrung  einer  Person  wegen  einer 
uns  erwiesenen  Wohltat.  Das  GefĂĽhl,  was  mit  dieser  Beurteilung 
verbunden  ist,  ist  das  der  Achtung  gegen  den  (ihn  verpflichtenden) 
Wohltäter,  dahingegen  dieser  gegen  den  Empfänger  nur  als  im 
Verhältnis  der  Liebe  betrachtet  wird.  —  Selbst  ein  bloßes  herz- 
liches Wohlwollen  des  anderen  ohne  physische  Folgen  verdient 
den  Namen  einer  Tugendpflicht;  welches  dann  den  Unterschied 
zwischen  der  tätigen  und  bloß  affektionellen  Dankbarkeit 
begrĂĽndet. 

§  3^- 

Dankbarkeit  ist  Pflicht,  d.  i.  nicht  bloĂź  eine  Klugheits- 
maxime, durch  Bezeugung  meiner  Verbindlichkeit  wegen  der  mir 
widerfahrenen  Wohltätigkeit  den  andern  zu  mehrerem  Wohltun 
zu  bewegen  (^gratiarum  actio  est  ad  plus  dandum  invitatio)^  denn 
dabei  bediene  ich  mich  dieser  bloĂź  als  Mittel  zu  meinen  ander- 
weitigen Absichten;  sondern  sie  ist  unmittelbare  Nötigung  durchs 
moralische   Gesetz,  d.  i.   Pflicht. 

Dankbarkeit  aber  muĂź  auch  noch  besonders  als  heilige  Pflicht, 
d.  i.  als    eine  solche,    deren   Verletzung    die    moralische  Triebfeder 


Von  den  Pflichten  gegen  andere,  bloĂź  als  Menschen     269 

zum  Wohltun  in  dem  Grundsatze  selbst  vernichten  kann  (als 
skandalöses  Beispiel),  angesehen  werden.  Denn  heilig  ist  derjenige 
moralische  Gegenstand,  in  Ansehung  dessen  die  Verbindlichkeit 
durch  keiften  ihr  gemäßen  Akt  völlig  getilgt'  werden  kann  (wobei 
der  Verpflichtete  immer  noch  verpflichtet  bleibt).  Alle  andere  ist 
gemeine  Pflicht.  —  Man  kann  aber  durch  keine  Vergeltung  einer 
empfangenen  Wohltat  ĂĽber  dieselbe  quittieren:  weil  der  Emp- 
fänger den  Vorzug  des  Verdienstes,  den  der  Geber  hat,  nämlich 
der  erste  im  Wohlwollen  gewesen  zu  sein,  diesem  nie  abgewinnen 
kann.  —  Aber  auch  ohne  einen  solchen  Akt  (des  Wohltuns)  ist 
selbst  das  bloĂźe  herzliche  Wohlwollen  schon  Grund  der  Verpflichtung 
zur  Dankbarkeit.  —  Eine  dankbare  Gesinnung  dieser  Art  wird 
Erkenntlichkeit  genannt. 

§  33- 

Was  die  Extension  dieser  Dankbarkeit  betrifft,  so  geht  sie 
nicht  allein  auf  Zeitgenossen,  sondern  auch  auf  die  Vorfahren, 
selbst  diejenige,  die  man  nicht  mit  GewiĂźheit  namhaft  machen 
kann.  Das  ist  auch  die  Ursache,  weswegen  es  für  unanständig 
gehalten  wird,  die  Alten,  die  als  unsere  Lehrer  angesehen  werden 
können,  nicht  nach  Möglichkeit  wider  alle  Angriffe,  Beschuldigungen 
und  Geringschätzung  zu  verteidigen;  wobei  es  aber  ein  törichter 
Wahn  ist,  ihnen  um  des  Altertums  willen  einen  Vorzug  in  Talenten 
und  gutem  Willen  vor  den  Neueren,  gleich  als  ob  die  Welt  in 
kontinuierlicher  Abnahme  ihrer  ursprĂĽnglichen  Vollkommenheit 
nach  Naturgesetzen  wäre,  anzudichten  und  alles  Neue  in  Ver- 
gleichung  damit  zu  verachten. 

Was  aber  die  Intension,  d.  i.  den  Grad  der  Verbindlichkeit 
zu  dieser  Tugend,  betrifft,  so  ist  er  nach  dem  Nutzen,  den  der 
Verpflichtete  aus  der  Wohltat  gezogen  hat,  und  der  UneigennĂĽtzig- 
keit,  mit  der  ihm  diese  erteilt  worden,  zu  schätzen.  Der  mindeste 
Grad  ist,  gleiche  Dienstleistungen  dem  Wohltäter,  der  dieser 
empfänglich  (noch  lebend)  ist,  und,  wenn  er  es  nicht  ist,  anderen 
zu  erweisen:  eine  empfangene  Wohltat  nicht  wie  eine  Last,  deren 
man  gern  überhoben  sein  möchte,  (weil  der  so  Begünstigte  gegen 
seinen  Gönner  eine  Stufe  niedriger  steht  und  dies  dessen  Stolz 
kränkt)  anzusehen;  sondern  selbst  die  Veranlassung  dazu  als  mora- 
lische Wohltat  aufzunehmen,  d.  i.  als  gegebene  Gelegenheit,  diese 
Tugend    mit    der  MenschenĂśebe,   welche  mit   der  Innigkeit  der 


ijo     Ethische  Eleifientarlchre.  Zweiter  Teil,  Erstes  HauptstĂĽck 

wohlwollenden  Gesinnung  zugleich  Zärtlichkeit  des  Wohlwollens 
(Auhnerksamkeit  auF  den  kleinsten  Grad  derselben  in  der  Pflicht- 
vorstellung) ist,  zu  verbinden  und  so  die  Menschenliebe  zu  kul- 
tivieren. 

C. 

Teilnehmende   Empfindung  ist  ĂĽberhaupt  PHicht, 

§  34- 

Mitfreude  und  Mitleid  (jyjnpathia  moral'ii)  sind  zwar 
sinnliche  Gefühle  einer  (darum  ästhetisch  zu  nennenden)  Lust 
oder  Unlust  an  dem  Zustande  des  VergnĂĽgens  sowohl  als  Schmerzens 
anderer  (MitgefĂĽhl,  teilnehmende  Empfindung),  wozu  schon  die 
Natur  in  den  Menschen  die  Empfänglichkeit  gelegt  hat.  Aber 
diese  als  Mittel  zu  Beförderung  des  tätigen  und  vernünftigen 
Wohlwollens  zu  gebrauchen,  ist  noch  eine  besondere,  obzwar 
nur  bedingte  Pflicht  unter  dem  Namen  der  Menschlichkeit 
{humanitasy.  weil  hier  der  Mensch  nicht  bloĂź  als  vernĂĽnftiges 
Wesen,  sondern  auch  als  mit  Vernunft  begabtes  Tier  betrachtet 
w^ird.  Diese  kann  nun  in  dem  Vermögen  und  Willen,  sich 
einander  in  Ansehung  seiner  GefĂĽhle  mitzuteilen  Qmmanitas 
practica)^  oder  bloß  in  der  Empfänglichkeit  für  das  gemeinsame 
GefĂĽhl  des  VergnĂĽgens  oder  Schmerzens  Qjumanitas  aesthetica), 
was  die  Natur  selbst  gibt,  gesetzt  werden.  Das  erstere  ist  frei 
und  wird  daher  teilnehmend  genannt  {communto  sentiendi  liberalis) 
und  grĂĽndet  sich  auf  praktische  Vernunft:  das  zweite  ist  unfrei 
{communto  sentiendi  Uli  heraus,  serviJis^  und  kann  mitteilend  (wie 
die  der  Wärme  oder  ansteckender  Krankheiten),  auch  Mitleidenschaft 
heiĂźen:  weil  sie  sich  unter  nebeneinander  lebenden  Menschen 
natĂĽrlicherweise  verbreitet.  Nur  zu  dem  ersteren  gibts  Ver- 
bindlichkeit. 

Es  war  eine  erhabene  Vorstellungsart  des  Weisen,  wie  ihn 
sich  der  Stoiker  dachte,  wenn  er  ihn  sagen  lieĂź:  ich  wĂĽnsche 
mir  einen  Freund,  nicht  der  mir  in  Armut,  Krankheit,  in  der 
Getangenschaft  u.  s.  w.  HĂĽlfe  leiste,  sondern  damit  ich  ihm  bei- 
stehen und  einen  Menschen  retten  könne;  und  gleichwohl  spricht 
eben  derselbe  Weise,  wenn  sein  Freund  nicht  zu  retten  ist,  zu  sich 
selbst:    was  gehts   mich  an?  d.   i.   er   verwarf   die  Mitleidenschaft. 


Von  den   PĂźichten  gegen  andere^  bloĂź  als  Menschen     1 7  i 

In  der  Tat,  wenn  ein  anderer  leidet  und  ich  mich  durch 
seinen  Schmerz,  dem  ich  doch  nicht  abhelfen  kann,  auch  (ver- 
mittelst der  Einbildungskraft)  anstecken  lasse,  so  leiden  ihrer  zwei; 
obzwar  das  Ăśbel  eigentlich  (in  der  Natur)  nur  einen  trifft.  Es 
kann  aber  unmöglich  Pflicht  sein,  die  Übel  in  der  Weit  zu  ver- 
mehren, mithin  auch  nicht  aus  Mitleid  wohJzutun;  wie  dann 
dieses  auch  eine  beleidigende  Art  des  Wohltuns  sein  wĂĽrde,  indem 
es  ein  W^ohlwollen  ausdrĂĽckt,  was  sich  auf  den  UnwĂĽrdigen 
bezieht  und  Barmherzigkeit  genannt  wird,  und  unter  Menschen, 
welche  mit  ihrer  WĂĽrdigkeit  glĂĽcklich  zu  sein  eben  nicht  prahlen 
dĂĽrfen,   respektiv  gegeneinander  gar  nicht  vorkommen   sollte. 


§  3  5- 

Obzwar  aber  Mitleid  (und  so  auch  Mitfreude)  mit  anderen 
zu  haben  an  sich  selbst  nicht  Pflicht  ist,  so  ist  es  doch  tätige 
Teilnehmung  an  ihrem  Schicksale  und  zu  dem  Ende  also  indirekte 
Pflicht,  die  mitleidige  natürliche  (ästhetische)  Gefühle  in  uns  zu 
kultivieren  und  sie  als  so  viele  Mittel  zur  Teilnehmung  aus  mora- 
lischen Grundsätzen  und  dem  ihnen  gemäßen  Gefühl  zu  benutzen.  — 
So  ist  es  Pflicht:  nicht  die  Stellen,  wo  sich  Arme  befinden,  denen 
das  Notwendigste  abgeht,  umzugehen,  sondern  sie  aufzusuchen, 
nicht  die  Krankenstuben,  oder  die  Gefängnisse  der  Schuldener 
u.  dergl.  zu  fliehen,  um  dem  schmerzhaften  MitgefĂĽhl,  dessen  man 
sich  nicht  erwehren  könne,  auszuweichen:  weil  dieses  doch  einer 
der  in  uns  von  der  Natur  gelegten  Antriebe  ist,  dasjenige  zu  tun, 
was    die  Pflichtvorstellung   fĂĽr  sich  allein  nicht  ausrichten  wĂĽrde. 

Kasuistische   Fragen. 

WĂĽrde  es  mit  dem  Wphl  der  Welt  ĂĽberhaupt  nicht  besser 
stehen,  wenn  alle  Moralität  der  Menschen  nur  auf  Rechtspflichten, 
doch  mit  der  größten  Gewissenhaftigkeit  eingeschränkt,  das  Wohl- 
wollen aber  unter  die  Adiaphora  gezählt  würde?  Es  ist  nicht 
so  leicht  zu  ĂĽbersehen,  welche  Folge  es  auf  die  GlĂĽckseligkeit 
der  Menschen  haben  dĂĽrfte.  Aber  in  diesem  Fall  wĂĽrde  es  doch 
wenigstens  an  einer  großen  moralischen  Zierde  der  Welt,  nämhch 
der  Menschenliebe,  fehlen,  welche  also  fĂĽr  sich,  auch  ohne  die 
Vorteile    (der    GlĂĽckseligkeit)    zu    berechnen,    die    W^elt    als    em 


2  7  2     Ethische  Elenientarlehre.  Zweiter  Teil.  Erstes  HauptstĂĽck 

schönes  moralisches  Ganze  in  ihrer  ganzen  Vollkommenheit  darzu- 
stellen  erfordert  wird. 

Dankbarkeit  ist  eigentlich  nicht  Gegenliebe  des  Verpflichteten 
gegen  den  Wohltäter,  sondern  Achtung  vor  demselben.  Denn 
der  allgemeinen  Nächstenliebe  kann  und  muß  Gleichheit  der 
Pflichten  zum  Grunde  gelegt  werden;  in  der  Dankbarkeit  aber 
steht  der  Verpflichtete  um  eine  Stufe  niedriger  als  sein  Wohltäter. 
Sollte  das  nicht  die  Ursache  so  mancher  Undankbarkeit  sein, 
nämlich  der  Stolz,  einen  über  sich  zu  sehen;  der  Widerwille, 
sich  nicht  in  völlige  Gleichheit  (was  die  Pflichtverhältnisse  betrifft) 
mit  ihm  setzen  zu  können? 

Von  den   der  Menschenliebe   gerade  {contrarie)  entgegen- 
gesetzten Lastern  des  Menschenhasses. 

§  3<^- 

Sie  machen  die  abscheuliche  Familie  des  Neides,  der  Un- 
dankbarkeit und  der  Schadenfreude  aus.  —  Der  Haß  ist 
aber  hier  nicht  offen  und  gewalttätig,  sondern  geheim  und  ver- 
schleiert, welches  zu  der  Pflichtvergessenheit  gegen  seinen  Nächsten 
noch  Niederträchtigkeit  hinzutut  und  so  zugleich  die  Pflicht  gegen 
sich  selbst  verletzt. 

a)  Der  Neid  Qivor),  als  Hang  das  Wohl  anderer  mit  Schmerz 
wahrzunehmen,  obzwar  dem  seinigen  dadurch  kein  Abbruch  ge- 
schieht, der,  wenn  er  zur  Tat  (jenes  Wohl  zu  schmälern)  ausschlägt, 
qualifizierter  Neid,  sonst  aber  nur  MiĂźgunst  (jnvidentia) 
heißt,  ist  doch  nur  eine  indirekt-bösartige  Gesinnung,  nämlich 
ein  Unwille,  unser  eigen  Wohl  durch  das  Wohl  anderer  in  Schatten 
gestellt  zu  sehen,  weil  wir  den  MaĂźstab  desselben  nicht  in  dessen 
innerem  Wert,  sondern  nur  in  der  Vergleichung  mit  dem  Wohl 
anderer  zu  schätzen  und  diese  Schätzung  zu  versinnlichen  wissen.  — 
Daher  spricht  man  auch  wohl  von  einer  beneidungswĂĽrdigen 
Eintracht  und  GlĂĽckseligkeit  in  einer  Ehe  oder  Familie  u.  s.  w.; 
gleich  als  oh  es  in  manchen  Fällen  erlaubt  wäre,  jemanden  zu 
beneiden.  Die  Regungen  des  Neides  liegen  also  in  der  Natur 
des  Menschen,  und  nur  der  Ausbruch  derselben  macht  sie  zu  dem 
scheußlichen  Laster  einer  grämischen,  sich  selbst  folternden  und 
auf  Zerstörung   des  Glücks   anderer  wenigstens   dem  Wunsche  nach 


Fort  den    'Pflichten  gegen  andere,  bloĂź  als  Menschen     273 

gerichteten  Leidenschaft,  ist  mithin  der  Pflicht  des  Menschen  gegen 
sich  selbst  sowohl,  als  gegen  andere  entgegengesetzt. 

b)  Undankbarkeit  gegen  seinen  Wohltäter,  welche,  wenn 
sie  gar  so  weit  geht,  seinen  Wohltäter  zu  hassen,  quali  Fi  zierte 
Undankbarkeit,  sonst  aber  bloĂź  Uner  kenntlichkeit  heiĂźt,  ist 
ein  zwar  im  öffentlichen  Urteile  höchst  verabscheutes  Laster, 
gleichwohl  ist  der  Mensch  desselben  wegen  so  berĂĽchtigt,  daĂź 
man  es  nicht  für  unwahrscheinlich  hält,  man  könne  sich  durch 
erzeigte  Wohltaten  wohl  gar  einen  Feind  machen.  —  Der  Grund 
der  Möglichkeit  eines  solchen  Lasters  liegt  in  der  mißverstandenen 
Pflicht  gegen  sich  selbst,  die  Wohltätigkeit  anderer,  weil  sie  uns 
Verbindlichkeit  gegen  sie  auferlegt,  nicht  zu  bedĂĽrfen  und  auf- 
zufordern, sondern  lieber  die  Beschwerden  des  Lebens  selbst  zu 
ertragen,  als  andere  damit  zu  belästigen,  mithin  dadurch  bei  ihnen 
in  Schulden  (Verpflichtung)  zu  kommen:  weil  wir  dadurch  auf 
die  niedere  Stufe  des  BeschĂĽtzten  gegen  seinen  BeschĂĽtzer  zu 
geraten  fürchten;  welches  der  echten  Selbstschätzung  (auf  die 
WĂĽrde  der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person  stolz  zu  sein) 
zuwider  ist.  Daher  Dankbarkeit  gegen  die,  die  uns  im  Wohltun 
unvermeidlich  zuvor  kommen  muĂźten,  (gegen  Vorfahren  im 
Angedenken,  oder  gegen  Eltern)  freigebig,  die  aber  gegen  Zeitgenossen 
nur  kärglich,  ja,  um  dieses  Verhältnis  der  Ungleichheit  unsichtbar 
zu  machen,  wohl  gar  das  Gegenteil  derselben  bewiesen  wird.  — 
Dieses  ist  aber  alsdann  ein  die  Menschheit  empörendes  Laster, 
nicht  bloĂź  des  Schadens  wegen,  den  ein  solches  Beispiel  Menschen 
überhaupt  zuziehen  muß,  von  fernerer  Wohltätigkeit  abzuschrecken 
(denn  diese  können  mit  echtmoralischer  Gesinnung  eben  in  der 
Verschmähung  alles  solchen  Lohns  ihrem  Wohltun  nur  einen  desto 
größeren  inneren  morahschen  Wert  setzen);  sondern  weil  die 
Menschenliebe  hier  gleichsam  auf  den  Kopf  gestellt  und  der 
Mangel  der  Liebe  gar  in  die  Befugnis,  den  Liebenden  zu  hassen, 
verunedelt  wird. 

c)  Die  Schadenfreude,  welche  das  gerade  Umgekehrte  der 
Teilnehmung  ist,  ist  der  menschlichen  Natur  auch  nicht  fremd ; 
wiewohl,  wenn  sie  so  weit  geht,  das  Übel  oder  Böses  selbst  be- 
wirken zu  helfen,  sie  als  qualifizierte  Schadenfreude  den 
Menschenhaß  sichtbar  macht  und  in  ihrer  Gräßlichkeit  erscheint. 
Sein  Wohlsein  und  selbst  sein  Wohlverhalten  stärker  zu  fühlen, 
wenn  UnglĂĽck  oder  Verfall  anderer  in  Skandale  gleichsam  als  die 
Folie    unserem    eigenen  Wohlstande    untergelegt  wird,    um  diesen 

Kants   Schriften.   Bd.  VII  l8 


2/4     Ethische  El eT?ientarlehre.  Zweiter  Teil.  Erstes  HauptstĂĽck 

in  ein  desto  helleres  Licht  zu  stellen,  ist  freilich  nach  Gesetzen 
der  Einbildungskraft,  nämlich  des  Kontrastes,  in  der  Natur  ge- 
grĂĽndet. Aber  ĂĽber  die  Existenz  solcher  das  allgemeine  Weltbeste 
zerstörenden  Enormitäten  unmittelbar  sich  zu  freuen,  mithin 
dergleichen  Eräugnissc  auch  wohl  zu  wünschen,  ist  ein  geheimer 
Menschenhaß  und  das  gerade  Widerspiel  der  Nächstenliebe,  die 
uns  als  Pflicht  obliegt.  —  Der  Übermut  anderer  bei  ununterbrochenem 
Wohlergehen  und  der  EigendĂĽnkel  im  Wohlverhalten  (eigentlich 
aber  nur  im  Glück,  der  Verleitung  zum  öflFentlichen  Laster  noch 
immer  entwischt  zu  sein),  welches  beides  der  eigenliebige  Mensch 
sich  zum  Verdienst  anrechnet,  bringen  diese  feindselige  Freude 
hervor,  die  der  Pflicht  nach  dem  Prinzip  der  Teilnehmung  (des 
ehrlichen  CHREMES  beim  TERENZ):  „Ich  bin  ein  Mensch; 
alles,  was  Menschen  widerfährt,  das  trifft  auch  mich"  gerade  ent- 
gegengesetzt ist. 

Von  dieser  Schadenfreude  ist  die  sĂĽĂźeste  und  noch  dazu  mit 
dem  Schein  des  größten  Rechts,  ja  wohl  gar  der  Verbindlichkeit 
(als  Rechtsbegierde),  den  Schaden  anderer  auch  ohne  eigenen 
Vorteil  sich  zum  Zweck  zu  machen,  die  Rachbegierde. 

Eine  jede  das  Recht  eines  Menschen  kränkende  Tat  verdient  Strafe, 
wodurch  das  Verbrechen  an  dem  Täter  gerächet  (nicht  bloß  der  zu- 
gefĂĽgte Schade  ersetzt)  wird.  Nun  ist  aber  Strafe  nicht  ein  Akt  der 
Privatautorität  des  Beleidigten,  sondern  eines  von  ihm  unterschiedenen 
Gerichtshofes,  der  den  Gesetzen  eines  Oberen  ĂĽber  alle,  die 
demselben  unterworfen  sind,  Effekt  gibt,  und  wenn  wir  die  Menschen 
(wie  es  in  der  Ethik  notwendig  ist)  in  einem  rechtlichen  Zustande, 
aber  nach  bloĂźen  Vernunftgesetzen  (nicht  nach  bĂĽrgerlichen) 
betrachten,  so  hat  niemand  die  Befugnis  Strafen  zu  verhängen 
und  von  Menschen  erlittene  Beleidigung  zu  rächen,  als  der,  welcher 
auch  der  oDerste  moralische  Gesetzgeber  ist,  und  dieser  allein 
(nämlich  Gott)  kann  sagen:  „Die  Rache  ist  mein;  ich  will  ver- 
gelten." Es  ist  also  Tugendpflicht  nicht  allein  selbst  bloĂź  aus 
Rache  die  Feindseligkeit  anderer  nicht  mit  HaĂź  zu  erwidern, 
sondern  selbst  nicht  einmal  den  Weltrichter  zur  Rache  aufzufordern; 
teils  weil  der  Mensch  von  eigener  Schuld  genug  auf  sich  sitzen 
hat,  um  der  Verzeihung  selbst  sehr  zu  bedĂĽrfen,  teils  und  zwar 
vornehmlich,  weil  keine  Strafe,  von  wem  es  auch  sei,  aus  HaĂź 
verhängt  werden  darf.  —  Daher  ist  Versöhnlichkeit  (^placabilitas) 
Menschenpflicht;  womit  doch  die  sanfte  Duldsamkeit  der 
Beleidigungen   (jnitis  iniuriarufn  pattentiä)  nicht  verwechselt  werden 


Von  den  Pflichten  gegen  andere,  bloĂź  als  Me?jscben 


^75 


muĂź,  als  Entsagung  auf  harte  (rigorosa)  Mittel,  um  der  fortge- 
setzten Beleidigung  anderer  vorzubeugen;  denn  das  wäre  Weg- 
wcH^ung  seiner  Rechte  unter  die  FĂĽĂźe  anderer  und  Verletzung 
der  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst. 

Anmerkung. 

Alle  Laster,  welche  selbst  die  menschliche  Natur  hassens- 
wert  machen  wĂĽrden,  wenn  man  sie  (als  qualifiziert)  in  der 
Bedeutung  von  Grundsätzen  nehmen  wollte,  sind  inhuman, 
objektiv  betrachtet,  aber  doch  menschlich,  subjektiv  er- 
wogen: d.  i.  wie  die  Erfahrung  uns  unsere  Gattung  kennen 
lehrt.  Ob  man  also  zwar  einige  derselben  in  der  Hehigkeit 
des  Abscheues  teuflisch  nennen  möchte,  so  wie  ihr  Gegen- 
stück Engelstugend  genannt  werden  könnte:  so  sind  beide 
Begriffe  doch  nur  Ideen  von  einem  Maximum,  als  MaĂźstab 
zum  Behuf  der  Vergleichung  des  Grades  der  Moralität  ge- 
dacht, indem  man  dem  Menschen  seinen  Platz  im  Himmel 
oder  der  Hölle  anweiset,  ohne  aus  ihm  ein  Mittelwesen, 
was  weder  den  einen  dieser  Plätze,  noch  den  anderen  ein- 
nimmt, zu  machen.  Ob  es  HALLER  mit  seinem  „zweideutig 
Mittelding  von  Engeln  und  von  Vieh"  besser  getroffen  habe, 
mag  hier  unausgemacht  bleiben.  Aber  das  Halbieren  in  einer 
Zusammenstellung  heterogener  Dinge  fĂĽhrt  auf  gar  keinen 
bestimmten  Begriff,  und  zu  diesem  kann  uns  in  der  Ordnung 
der  Wesen  nach  ihrem  uns  unbekannten  Klassenunterschiede 
nichts  hinleiten.  Die  erstere  Gegeneinanderstellung  (von 
Engelstugend  und  teuflischem  Laster)  ist  Ăśbertreibung.  Die 
zweite,  obzwar  Menschen,  leider!  auch  in  viehische  Laster 
fallen,  berechtigt  doch  nicht  eine  zu  ihrer  Spezies  gehörige 
Anlage  dazu  ihnen  beizulegen,  so  wenig  als  die  VerkrĂĽppelung 
einiger  Bäume  im  Walde  ein  Grund  ist,  sie  zu  einer  besonderen 
Art  von  Gewächsen  zu  machen. 


8* 


x-j6     Ethische  Elementarlehre.  Zweiter  Teil.  Erstes  HauptstĂĽck 


Zweiter   Abschnitt. 

Von  den  Tugendpflichten  gegen  andere  Menschen  aus 
der  ihnen  gebĂĽhrenden  Achtung. 

§  37- 

Mäßigung  in  Ansprüchen  überhaupt,  d.  i.  freiwillige  Ein- 
schränkung der  Selbstliebe  eines  Menschen  durch  die  Selbstliebe 
anderer,  heißt  Bescheidenheit;  der  Mangel  dieser  Mäßigung 
(Unbescheidenheit)  in  Ansehung  der  WĂĽrdigkeit  von  anderen  geliebt 
zu  werden,  die  Eigenliebe  (jphilautia).  Die  Unbescheidenheit 
der  Forderung  aber,  von  anderen  geachtet  zu  werden,  ist  der 
EigendĂĽnkel  (arrogantid).  Achtung,  die  ich  fĂĽr  andere  trage, 
oder  die  ein  anderer  von  mir  fordern  kann  (observantia  aliis 
praestandd)^  ist  also  die  Anerkennung  einer  WĂĽrde  (dignitai)  an 
anderen  Menschen,  d.  i.  eines  Werts,  der  keinen  Preis  hat,  kein 
Äquivalent,  wogegen  das  Objekt  der  Wertschätzung  {aestimli) 
ausgetauscht  werden  könnte.  —  Die  Beurteilung  eines  Dinges  als 
eines  solchen,  das  keinen  Wert  hat,  ist  die  Verachtung. 


§  38. 

Ein  jeder  Mensch  hat  rechtmäßigen  Anspruch  auf  Achtung 
von  seinen  Nebenmenschen,  und  wechselseitig  ist  er  dazu  auch 
gegen  jeden  anderen  verbunden. 

Die  Menschheit  selbst  ist  eine  WĂĽrde;  denn  der  Mensch 
kann  von  keinem  Menschen  (weder  von  anderen  noch  sogar  von 
sich  selbst),  bloĂź  als  Mittel,  sondern  muĂź  jederzeit  zugleich  als 
Zweck  gebraucht  werden,  und  darin  besteht  eben  seine  WĂĽrde 
(die  Persönlichkeit),  dadurch  er  sich  über  alle  andere  Weltwesen, 
die  nicht  Menschen  sind  und  doch  gebraucht  werden  können, 
mithin  ĂĽber  alle  Sachen  erhebt.  Gleichwie  er  also  sich  selbst 
fĂĽr  keinen  Preis  weggeben  kann  (welches  der  Pflicht  der  Selbst- 
schätzung widerstreiten  würde),  so  kann  er  auch  nicht  der  eben 
so  notwendigen  Selbstschätzung  anderer  als  Menschen  entgegen 
handeln,  d.  i.  er  ist  verbunden,  die  WĂĽrde  der  Menschheit  an  jedem 
anderen    Menschen    praktisch    anzuerkennen,    mithin    ruht  auf-  ihm 


Von  den  PĂźichten  gegen  andere^  bloĂź  als  Menschen     277 

eine  Pflicht,  die  sich  auf  die  jedem  anderen  Menschen  notwendig 
zu  erzeigende  Achtung  bezieht. 


§  39- 

Andere  verachten  (contemnere)^  d.  i.  ihnen  die  dem  Men- 
schen überhaupt  schuldige  Achtung  weigern,  ist  auf  alle  Fälle 
pflichtwidrig;  denn  es  sind  Menschen.  Sie  vergleichungsweise 
mit  anderen  innerlich  geringschätzen  {despicatu't  habere)  ist  zwar 
bisweilen  unvermeidlich,  aber  die  äußere  Bezeigung  der  Gering- 
schätzung ist  doch  Beleidigung.  —  Was  gefährlich  ist,  ist  kein 
Gegenstand  der  Verachtung,  und  so  ist  es  auch  nicht  der  Laster- 
hafte; und  wenn  die  Ăśberlegenheit  ĂĽber  die  Angriffe  desselben 
mich  berechtigt  zu  sagen:  ich  verachte  jenen,  so  bedeutet  das  nur 
so  viel,  als;  es  ist  keine  Gefahr  dabei,  wenn  ich  gleich  gar  keine 
Verteidigimg  gegen  ihn  veranstaltete,  weil  er  sich  in  seiner  Ver- 
worfenheit selbst  darstellt.  Nichtsdestoweniger  kann  ich  selbst 
dem  Lasterhaften  als  Menschen  nicht  alle  Achtung  versagen,  die 
ihm  wenigstens  in  der  Qualität  eines  Menschen  nicht  entzogen 
werden  kann;  ob  er  zwar  durch  seine  Tat  sich  derselben  unwĂĽrdig 
macht.  So  kann  es  schimpfliche,  die  Menschheit  «c'Kcf  entehrende 
Strafen  geben  (wie  das  Vierteilen,  von  Hunden  zerreiĂźen  lassen, 
Nasen  und  Ohren  abschneiden),  die  nicht  bloĂź  dem  Ehrliebenden 
(der  auf  Achtung  anderer  Anspruch  macht,  was  ein  jeder  tun 
muĂź)  schmerzhafter  sind,  als  der  Verlust  der  GĂĽter  und  des  Lebens, 
sondern  auch  dem  Zuschauer  Schamröte  abjagen,  zu  einer  Gattung 
zu  gehören,  mit  der  man  so  verfahren  darf. 

Anmerkung.  Hierauf  grĂĽndet  sich  eine  Pflicht  der 
Achtung  fĂĽr  den  Menschen  selbst  im  logischen  Gebrauch 
seiner  Vernunft:  die  Fehltritte  derselben  nicht  unter  dem 
Namen  der  Ungereimtheit,  des  abgeschmackten  Urteils  u.  dg. 
zu  rĂĽgen,  sondern  vielmehr  vorauszusetzen,  daĂź  in  dem- 
selben doch  etwas  Wahres  sein  mĂĽsse,  und  dieses  heraus  zu 
suchen;  dabei  aber  auch  zugleich  den  trĂĽglichen  Schein  (das 
Subjektive  der  BestimmungsgrĂĽnde  des  Urteils,  was  durch  ein 
Versehen  fĂĽr  objektiv  gehalten  wurde)  aufzudecken  und  so, 
indem  man  die  Möglichkeit  zu  irren  erklärt,  ihm  noch  die 
Achtung  fĂĽr  seinen  Verstand  zu  erhalten.  Denn  spricht  man 
seinem  Gegner  in    einem  gewissen  Urteile    durch    jene  Aus- 


278     Ethische  Elenicntarlchre.  Ziveitcr  Teil.  Erstes  HauptstĂĽck 

drĂĽcke  allen  Verstand  ab,  wie  will  man  ihn  dann  darĂĽber 
verständigen,  daß  er  geirrt  habe?  —  Ebenso  ist  es  auch  mit 
dem  Vorwurf  des  Lasters  bewandt,  welcher  nie  zur  völligen 
Verachtung  und  Absprechung  alles  moralischen  Werts  des 
Lasterhaften  ausschlagen  muĂź;  weil  er  nach  dieser  Hypothese 
auch  nie  gebessert  werden  könnte;  welches  mit  der  Idee 
eines  Menschen,  der  als  solcher  (als  moralisches  Wesen) 
nie   alle  Anlage   zum  Guten   einbĂĽĂźen  kann,  unvereinbar  ist. 


§  40. 

Die  Achtung  vor  dem  Gesetze,  welche  subjektiv  als  moralisches 
GefĂĽhl  bezeichnet  wird,  ist  mit  dem  BewuĂźtsein  seiner  Pflicht 
einerlei.  Eben  darum  ist  auch  die  Bezeigung  der  Achtung  vor 
dem  Menschen  als  moralischen  (seine  Pflicht  höchstschätzenden) 
Wesen  selbst  eine  Pflicht,  die  andere  gegen  ihn  haben,  und  ein 
Recht,  worauf  er  den  Anspruch  nicht  aufgeben  kann.  —  Man 
nennt  diesen  Anspruch  Ehrliebe,  deren  Phänomen  im  äußeren 
Betragen  Ehrbarkeit  Qwnestas  externa),  der  VerstoĂź  dawider  aber 
Skandal  heiĂźt:  ein  Beispiel  der  Nichtachtung  derselben,  das 
Nachfolge  bewirken  dürfte,  welches  zu  geben  zwar  höchst  pflicht- 
widrig, aber  am  bloĂź  Widersinnischen  (^paradoxon),  sonst  an  sich 
Guten  zu  nehmen,  ein  Wahn  (da  man  das  Nichtgebräuchliche 
auch  für  nicht  erlaubt  hält),  ein  der  Tugend  gefährlicher  und 
verderblicher  Fehler  ist.  —  Denn  die  schuldige  Achtung  fiür  andere 
ein  Beispiel  gebende  Menschen  kann  nicht  bis  zur  blinden  Nach- 
ahmung (da  der  Gebrauch,  mos,  zur  WĂĽrde  eines  Gesetzes  erhoben 
wird)  ausarten;  als  welche  Tyrannei  der  Volkssitte  der  Pflicht 
des  Menschen  gegen   sich  selbst  zuwider  sein  wĂĽrde. 


%  41. 

Die  Unterlassung  der  bloĂźen  Liebespflichten  ist  Untugend 
(^peccatutti).  Aber  die  Unterlassung  der  Pflicht,  die  aus  der 
schuldigen  Achtung  fĂĽr  jeden  Menschen  ĂĽberhaupt  hervorgeht, 
ist  Laster  (vitium).  Denn  durch  die  Verabsäumung  der  ersteren 
wird  kein  Mensch  beleidigt;  durch  die  Unterlassung  aber  der 
zweiten    geschieht    dem    Menschen   Abbruch    in    Ansehung    seines 


! 


Von  den  Pflichten  gegen  andere^  bloĂź  als  Menschen     279 

gesetzmäßigen  Anspruchs.  —  Die  erstere  Übertretung  ist  das 
Pflichtwidrige  des  Widerspiels  {contrarie  oppcsitum  virtutis).  Was 
aber  nicht  allein  keine  moralische  Zutat  ist,  sondern  sogar  den 
Wert  derjenigen,  die  sonst  dem  Subjekt  zugute  kommen  wĂĽrde, 
aufhebt,  ist  Laster. 

Eben  darum  werden  auch  die  Pflichten  gegen  den  Neben- 
menschen aus  der  ihm  gebĂĽhrenden  Achtung  nur  negativ  aus- 
gedrĂĽckt, d.  i.  diese  Tugendpflicht  wird  nur  indirekt  (durch  das 
Verbot  des  Widerspiels)  ausgedrĂĽckt  werden. 


Von  den  die  Pflicht  der  Achtung  fĂĽr  andere  Menschen 

verletzenden  Lastern. 

Diese  Laster  sind:  A)  der  Hochmut,  B)  das  Afterreden 
und  C)   die  Verhöhnung. 

A. 

Der  Hochmut. 

Der  Hochmut  (superbia  und,  wie  dieses  Wort  es  ausdrĂĽckt, 
die  Neigung  immer  oben  zu  schwimmen)  ist  eine  Art  von  Ehr- 
begierde {ambitio)^  nach  welcher  wir  anderen  Menschen  ansinnen, 
sich  selbst  in  Vergleichung  mit  uns  gering  zu  schätzen,  und  ist 
also  ein  der  Achtung,  worauf  jeder  Mensch  gesetzmäßigen  An- 
spruch machen  kann,  widerstreitendes  Laster. 

Er  ist  vom  Stolz  (animus  elatus)  als  Eh r liebe,  d.  i.  Sorgfalt 
seiner  MenschenwĂĽrde  in  Vergleichung  mit  anderen  nichts 
zu  vergeben,  (der  daher  auch  mit  dem  Beiwort  des  edlen  belegt 
zu  werden  â– >pflegt)  unterschieden;  denn  der  Hochmut  verlangt  von 
andern  eine  Achtung,  die  er  ihnen  doch  verweigert.  —  Aber 
dieser  Stolz  selbst  wird  doch  zum  Fehler  und  Beleidigung,  wenn 
er  auch  bloĂź  ein  Ansinnen  an  andere  ist,  sich  mit  seiner  Wich- 
tigkeit zu  beschäftigen. 

DaĂź  der  Hochmut,  welcher  gleichsam  eine  Bewerbung  des 
Ehrsüchtigen  um  Nachtreter  ist,  und  denen  verächtlich  zu  begegnen 
er  sich  berechtigt  glaubt,  ungerecht  und  der  schuldigen  Achtung 


2  8o     Ethische  Elejnentarlehre.  Zweiter  Teil.  Erstes  HauptstĂĽck 

fĂĽr  Menschen  ĂĽberhaupt  widerstreitend  sei:  daĂź  er  Torheit, 
d.  i.  Eitelkeit  im  Gebrauch  der  Mittel  zu  etwas,  was  in  einem 
gewissen  Verhältnisse  gar  nicht  den  Wert  hat,  um  Zweck  zu  sein, 
ja  daĂź  er  sogar  Narrheit,  d.  i.  ein  beleidigender  Unverstand  sei, 
sich  solcher  Nfittel,  die  an  anderen  gerade  das  Widerspiel  seines 
Zwecks  hervorbringen  mĂĽssen,  zu  bedienen  (denn  dem  Hoch- 
mĂĽtigen weigert  ein  jeder  um  desto  mehr  seine  Achtung,  je  be- 
strebter er  sich  darnach  bezeigt),  —  dies  alles  ist  für  sich  klar. 
Weniger  möchte  doch  angemerkt  worden  sein:  daß  der  Hoch- 
mütige jederzeit  im  Grunde  seiner  Seele  niederträchtig  ist. 
Denn  er  wĂĽrde  anderen  nicht  ansinnen,  sich  selbst  in  Vergleichung 
mit  ihm  gering  zu  halten,  fände  er  nicht  bei  sich,  daß,  wenn 
ihm  das  GlĂĽck  umschlĂĽge,  er  es  gar  nicht  hart  finden  wĂĽrde, 
nun  seinerseits  auch  zu  kriechen  und  auf  alle  Achtung  anderer 
Verzicht  zu   tun. 

B. 

Das  Afterreden. 

§43- 

Die  ĂĽbele  Nachrede  (obtrectatio)  oder  das  Afterreden,  worunter 
ich  nicht  die  Verleumdung  {contumelia)^  eine  falsche,  vor 
Recht  zu  ziehende  Nachrede,  sondern  bloĂź  die  unmittelbare,  auf 
keine  besondere  Absicht  angelegte  Neigung  verstehe,  etwas  der 
Achtung  fĂĽr  andere  Nachteiliges  ins  GerĂĽcht  zu  bringen,  ist  der 
schuldigen  Achtung  gegen  die  Menschheit  ĂĽberhaupt  zuwider: 
weil  jedes  gegebene  Skandal  diese  Achtung,  auf  welcher  doch  der 
Antrieb  zum  Sittlichguten  beruht,  schwächt  und  so  viel  möglich 
gegen   sie   ungläubisch  macht. 

Die  geflissentliche  Verbreitung  (j>ropalati6)  desjenigen  die 
Ehre  eines  andern  Schmälernden,  was  auch  nicht  zur  öfl'entlichen 
Gcrichtbarkeit  gehört,  es  mag  übrigens  auch  wahr  sein,  ist  Ver- 
ringerung der  Achtung  fĂĽr  die  Menschheit  ĂĽberhaupt,  um  endlich 
aut  unsere  Gattung  selbst  den  Schatten  der  NichtswĂĽrdigkeit  zu 
werfen  und  Misanthropie  (Menschenscheu)  oder  Verachtung  zur 
herrschenden  Denkungsart  zu  machen,  oder  sein  moralisches  GefĂĽhl 
durch  den  öfteren  Anblick  derselben  abzustumpfen  und  sich  daran 
zu   gewöhnen.      Es    ist    also  Tugendpflicht,    statt    einer  hämischen 


Von  den  PĂźkhten  gegen  andere,  bloĂź  als  Menschen     z  8 1 

Lust  an  der  BloĂźstellung  der  Fehler  anderer,  um  sich  dadurch 
die  Meinung,  gut,  wenigstens  nicht  schlechter  als  alle  andere 
Menschen  zu  sein,  zu  sicheren,  den  Schleier  der  Menschenliebe 
nicht  bloĂź  durch  Milderung  unserer  Urteile,  sondern  auch  durch 
Verschweigung  derselben  ĂĽber  die  Fehler  anderer  zu  werfen:  weil 
Beispiele  der  Achtung,  welche  uns  andere  geben,  auch  die  Be- 
strebung rege  machen  können,  sie  gleichmäßig  zu  verdienen.  — 
Um  deswillen  ist  die  Ausspähungssucht  der  Sitten  anderer  (allotrio- 
episcopia)  auch  fĂĽr  sich  selbst  schon  ein  beleidigender  Vorwitz 
der  Menschenkunde,  welchem  jedermann  sich  mit  Recht  als  Ver- 
letzung der  ihm  schuldigen  Achtung  widersetzen  kann. 


C. 

Die  Verhöhnung. 

§  44- 

.  Die  leichtfertige  Tadelsucht  und  der  Hang,  andere  zum 
Gelächter  bloßzustellen,  die  Spottsucht,  um  die  Fehler  eines 
anderen  zum  unmittelbaren  Gegenstande  seiner  Belustigung  zu 
machen,  ist  Bosheit  und  von  dem  Scherz,  der  Vertraulichkeit 
unter  Freunden,  sie  nur  zum  Schein  als  Fehler,  in  der  Tat  aber 
als  VorzĂĽge  des  Muts,  bisweilen  auch  auĂźer  der  Regel  der  Mode 
zu  sein,  zu  belachen  (welches  dann  kein  Hohnlachen  ist),  gänz- 
lich unterschieden.  Wirkliche  Fehler  aber,  oder,  gleich  als  ob  sie 
wirklich  wären,  angedichtete,  welche  die  Person  ihrer  verdienten 
Achtung  zu  berauben  abgezweckt  sind,  dem  Gelächter  bloß  zu 
stellen,  und  der  Hang  dazu,  die  bittere  Spottsucht  (jp'trhus 
causticus)^  hat  etwas  von  teuflischer  Freude  an  sich  und  ist  darum 
eben  eine  desto  härtere  Verletzung  der  Pflicht  der  Achtung  gegen 
andere  Menschen. 

Hievon  ist  doch  die  scherzhafte,  wenn  gleich  spottende  Ab- 
weisung der  beleidigenden  Angriffe  eines  Gegners  mit  Verachtung 
(retorsio  iocosd)  unterschieden,  wodurch  der  Spötter  (oder  über- 
haupt ein  schadenfroher,  aber  kraftloser  Gegner)  gleichmäßig  ver- 
spottet wird,  und  rechtmäßige  Verteidigung  der  Achtung,  die  er 
von  jenem  fordern  kann.  Wenn  aber  der  Gegenstand  eigentlich 
kein  Gegenstand  fĂĽr  den  Witz,  sondern  ein  solcher  ist,  an  welchem 


282     Ethische  Elcjimitarlchrc.  Zweiter  Teil.  Erstes  HauptstĂĽck 

die  Vernunft  notwendig  ein  moralisches  Interesse  nimmt,  so  ist 
es,  der  Gegner  mag  noch  so  viel  Spötterei  ausgestoßen,  hiebei 
aber  auch  selbst  zugleich  noch  so  viel  Blößen  zum  Belachen  ge- 
geben haben,  der  WĂĽrde  des  Gegenstandes  und  der  Achtung  fĂĽr 
die  Menschheit  angemessener,  dem  Angriffe  entweder  gar  keine 
oder  eine  mit  WĂĽrde  und  Ernst  gefĂĽhrte  Verteidigung  entgegen 
zu  setzen. 

Anmerkung.  Man  wird  wahrnehmen,  daĂź  unter  dem 
vorhergehenden  Titel  nicht  sowohl  Tugenden  angepriesen,  als 
vielmehr  die  ihnen  entgegenstehende  Laster  getadelt  werden; 
das  liegt  aber  schon  in  dem  Begriffe  der  Achtung,  so  wie 
wir  sie  gegen  andere  Menschen  zu  beweisen  verbunden  sind, 
welche  nur  eine  negative  Pflicht  ist.  —  Ich  bin  nicht  ver- 
bunden andere  (bloĂź  als  Menschen  betrachtet)  zu  verehren, 
d.  i.  ihnen  positive  Hochachtung  zu  beweisen.  Alle  Achtung, 
zu  der  ich  von  Natur  verbunden  bin,  ist  die  vor  dem  Gesetz 
ĂĽberhaupt  (reverere  legem\  und  dieses,  nicht  aber  andere 
Menschen  ĂĽberhaupt  zu  verehren  (reverentia  adversus  homtnejri)^ 
oder  hierin  ihnen  etwas  zu  leisten,  ist  allgemeine  und  un- 
bedingte Menschenpflicht  gegen  andere,  welche  als  die  ihnen 
ursprĂĽnglich  schuldige  Achtung  (obscrvantia  debitd)  von  jedem 
gefordert  werden  kann. 

Die  verschiedene  andern  zu  beweisende  Achtung  nach 
Verschiedenheit  der  Beschaffenheit  der  Menschen,  oder  ihrer 
zufälligen  Verhältnisse,  nämlich  der  des  Alters,  des  Geschlechts, 
der  Abstammung,  der  Stärke  oder  Schwäche,  oder  gar  des 
Standes  und  der  WĂĽrde,  welche  zum  Teil  auf  beliebigen 
Anordnungen  beruhen,  darf  in  metaphysischen  Anfangs- 
grĂĽnden der  Tugendlehre  nicht  ausfĂĽhrlich  dargestellt  und 
klassifiziert  werden,  da  es  hier  nur  um  die  reine  Vernunft 
Prinzipien   derselben  zu   tun  ist. 


Ethische  Elementarlehre.  Zweiter  Teil.  Zweites  HauptstĂĽck    1 8  \ 

Zweites  HauptstĂĽck. 

Von  den  ethischen  Pflichten  der  Menschen  gegeneinander 
in  Ansehung  ihres  Zustandes. 

§  45- 

Diese  (Tugendpflichten)  können  zwar  in  der  reinen  Ethik 
keinen  AnlaĂź  zu  einem  besondern  HauptstĂĽck  im  System  derselben 
geben;  denn  sie  enthalten  nicht  Prinzipien  der  Verpflichtung  der 
Menschen  als  solcher  gegeneinander  und  können  also  von  den 
metaphysischen  AnfangsgrĂĽnden  der  Tugendlehre  eigentlich  nicht 
einen  Teil  abgeben,  sondern  sind  nur  nach  Verschiedenheit  der 
Subjekte  der  Anwendung  des  Tugendprinzips  (dem  Formale  nach) 
auf  in  der  Erfahrung  vorkommende  Fälle  (das  Materiale)  modifizierte 
Regeln,  weshalb  sie  auch  wie  alle  empirische  Einteilungen  keine 
gesichert -vollständige  Klassifikation  zulassen.  Indessen  gleichwie 
von  der  Metaphysik  der  Natur  zur  Physik  ein  Ăśberschritt,  der 
seine  besondern  Regeln  hat,  verlangt  wird:  so  wird  der  Metaphysik 
der  Sitten  ein  Ahnliches  mit  Recht  angesonnen:  nämlich  durch 
Anwendung  reiner  Pflichtprinzipien  auf  Fälle  der  Erfahrung  jene 
gleichsam  zu  schematisieren  und  zum  moralisch-praktischen  Ge- 
brauch fertig  darzulegen.  —  Welches  Verhalten  also  gegen  Menschen, 
z.  B.  in  der  moralischen  Reinigkeit  ihres  Zustandes,  oder  in  ihrer 
Verdorbenheit;  welches  im  kultivierten,  oder  rohen  Zustande; 
was  den  Gelehrten  oder  Ungelehrten  und  jenen  im  Gebrauch 
ihrer  Wissenschaft  als  umgänglichen  (geschliffenen),  oder  in  ihreiji 
Fach  unumgänglichen  Gelehrten  (Pedanten),  pragmatischen,  oder 
mehr  auf  Geist  und  Geschmack  ausgehenden;  welches  nach  Ver- 
schiedenheit der  Stände,  des  Alters,  des  Geschlechts,  des  Gesund- 
heitszustandes, des  der  Wohlhabenheit  oder  Armut  u.  s.  w.  zukomme: 
das  gibt  nicht  so  vielerlei  Arten  der  ethischen  Verpflichtung 
(denn  es  ist  nur  eine,  nämlich  die  der  Tugend  überhaupt), 
sondern  nur  Arten  der  Anwendung  (Porismen)  ab;  die  also 
nicht,  als  Abschnitte  der  Ethik  und  Glieder  der  Einteilung  eines 
Systems  (das  a  priori  aus  einem  Vernunftbegrifl^e  hervorgehen 
muß),  aufgeführt,  sondern  nur  angehängt  werden  können.  —  Aber 
eben  diese  Anwendung  gehört  zur  Vollständigkeit  der  Darstellung 
desselben. 


BeschluĂź  der  Elementarlehre. 

Von  der  innigsten  Vereinigung  der  Liebe  mit  der  Achtung 

in  der  Freundschaft. 

§  i6. 

Freundschaft  (in  ihrer  Vollkommenheit  betrachtet)  ist  die 
Vereinigung  zweier  Personen  durch  gleiche  wechselseitige  Liebe 
und  Achtung.  —  Man  sieht  leicht,  daß  sie  ein  Ideal  der  Teil- 
nehmung und  Mitteilung  an  dem  Wohl  eines  jeden  dieser  durch 
den  morahsch  guten  Willen  Vereinigten  sei,  und,  wenn  es  auch 
nicht  das  ganze  GlĂĽck  des  Lebens  be>virkt,  die  Aufnahme  desselben 
in  ihre  beiderseitige  Gesinnung  die  WĂĽrdigkeit  enthalte  glĂĽcklich 
zu  sein,  mithin  daĂź  Freundschaft  unter  Menschen  Pflicht  derselben 
ist.  —  Daß  aber  Freundschaft  eine  bloße  (aber  doch  praktisch- 
notwendige) Idee,  in  der  AusĂĽbung  zwar  unerreichbar,  aber  doch 
darnach  (als  einem  Maximum  der  guten  Gesinnung  gegeneinander) 
zu  streben  von  der  Vernunh  aufgegebene,  nicht  et\va  gemeine, 
sondern  ehrenvolle  Pflicht  sei,  ist  leicht  zu  ersehen.  Denn  wie 
ist  es  für  den  Menschen  in  Verhältnis  zu  seinem  Nächsten 
möglich,  die  Gleichheit  eines  der  dazu  erforderlichen  Stücke 
eben  derselben  Pflicht  (z.  B.  des  wechselseitigen  Wohlwollens)  in 
dem  einen  mit  eben  derselben  Gesinnung  im  anderen  auszumitteln, 
noch  mehr  aber,  welches  Verhältnis  das  Gefühl  aus  der  einen 
Pflicht  zu  dem  aus  der  andern  (z.  B.  das  aus  dem  W^ohlwoUen 
zu  dem  aus  der  Achtung)  in  derselben  Person  habe,  und  ob, 
wenn  die  eine  in  der  Liebe  inbrĂĽnstiger  ist,  sie  nicht  eben  dadurch 
in  der  Achtung  des  anderen  etwas  einbĂĽĂźe,  so  daĂź  beiderseitig 
Liebe  und  Hochschätzung  subjektiv  schwerlich  in  das  Ebenmaß 
des    Gleichgewichts    gebracht    werden    wird;    welches    doch    zur 


Von  der  innigen  Verei?jigung  der  Liebe  mit  der  Achtung    285 

Freundschaft  erforderlich  ist?  —  Denn  man  kann  jene  als  Anziehung, 
diese  als  AbstoĂźung  betrachten,  so  daĂź  das  Prinzip  der  erstercn 
Annäherung  gebietet,  das  der  zweiten  sich  einander  in  geziemendem 
Abstände  zu  halten  fordert,  welche  Einschränkung  der  Vertraulichkeit, 
durch  die  Regel:  daĂź  auch  die  besten  Freunde  sich  untereinander 
nicht  gemein  machen  sollen,  ausgedrückt,  eine  Maxime  enthält, 
die  nicht  bloß  dem  Höheren  gegen  den  Niedrigen,  sondern  auch 
umgekehrt  gilt.  Denn  der  Höhere  fühlt,  ehe  man  es  sich  ver- 
sieht, seinen  Stolz  gekränkt  und  will  die  Achtung  des  Niedrigen 
etwa  fĂĽr  einen  Augenblick  aufgeschoben,  nicht  aber  aufgehoben 
wissen,  welche  aber,  einmal  verletzt,  innerlich  unwiederbringlich 
verloren  ist;  wenngleich  die  äußere  Bezeichnung  derselben  (das 
Zeremoniell)    wieder  in  den  alten  Gang  gebracht  wird. 

Freundschaft  in  ihrer  Reinigkeit  oder  Vollständigkeit,  als 
erreichbar  (zwischen  ORESTES  und  PYLADES,  THESEUS  und 
PIRITHOUS)  gedacht,  ist  das  Steckenpferd  der  Romanenschreiber; 
wogegen  ARISTOTELES  sagt:  meine  lieben  Freunde,  es  gibt 
keinen  Freund!  Folgende  Anmerkungen  können  auf  die  Schwierig- 
keiten derselben  aufmerksam  machen. 

Moralisch  erwogen,  ist  es  freilich  Pflicht,  daĂź  ein  Freund  dem 
anderen  seine  Fehler  bemerklich  mache;  denn  das  geschieht  ja  zu 
seinem  Besten,  und  es  ist  also  Liebespflicht.  Seine  andere  Hälhe 
aber  sieht  hierin  einen  Mangel  der  Achtung,  die  er  von  jenem 
erwartete,  und  zwar  daĂź  er  entweder  darin  schon  gefallen  sei, 
oder,  da  er  von  dem  anderen  beobachtet  und  ingeheim  kritisiert 
wird,  beständig  Gefahr  läuft,  in  den  Verlust  seiner  Achtung  zu 
fallen:  wie  dann  selbst,  daĂź  er  beobachtet  und  gemeistert  werden 
solle,  ihm  schon  fĂĽr  sich  selbst  beleidigend  zu  sein  dĂĽnken  wird. 

Ein  Freund  in  der  Not,  wie  erwĂĽnscht  ist  er  nicht  (wohl  zu 
verstehen,  wenn  er  ein  tätiger,  mit  eigenem  Aufwände  hülfreicher 
Freund  ist)!  Aber  es  ist  doch  auch  eine  groĂźe  Last,  sich  an 
anderer  ihrem  Schicksal  angekettet  und  mit  fremden  BedĂĽrfnis 
beladen  zu  fühlen.  —  Die  Freundschaft  kann  also  nicht  eine  auf 
wechselseitigen  Vorteil  abgezweckte  Verbindung,  sondern  diese 
muĂź  rein  moralisch  sein,  und  der  Beistand,  auf  den  jeder  von 
beiden  von  dem  anderen  im  Falle  der  Not  rechnen  darf,  muĂź 
nicht  als  Zweck  und  Bestimmungsgrund  zu  derselben  —  dadurch  würde 
er  die  Achtung  des  andern  Teils  verlieren,  —  sondern  kann  nur 
als  äußere  Bezeichnung  des  inneren  herzlich  gemeinten  Wohlwollens, 
ohne  es  doch  auf  die  Probe,  als  die  immer  gefährlich  ist,  ankommen 


2  86    Fthischc  Elcitjcntarlehre.    BeschluĂź  der  Elementarlehre 

zu  lassen,  gemeint  sein,  indem  ein  jeder  groĂźmĂĽtig  den  anderen 
dieser  Last  zu  ĂĽberheben,  sie  fĂĽr  sich  allein  zu  tragen,  ja  ihm  sie 
gänzlich  zu  verhehlen  bedacht  ist,  sich  aber  immer  doch  damit 
schmeicheln  kann,  daĂź  im  Falle  der  Not  er  auf  den  Beistand 
des  andern  sicher  würde  rechnen  können.  Wenn  aber  einer  von 
dem  andern  eine  Wohltat  annimmt,  so  kann  er  wohl  vielleicht 
auf  Gleichheit  in  der  Liebe,  aber  nicht  in  der  Achtung  rechnen, 
denn  er  sieht  sich  offenbar  eine  Stufe  niedriger,  verbindlich  zu 
sein  und  nicht  gegenseitig  verbinden  zu  können.  —  Freundschah 
ist  bei  der  SĂĽĂźigkeit  der  Empfindung  des  bis  zum  Zusammen- 
schmelzen in  eine  Person  sich  annähernden  wechselseitigen  Besitzes 
doch  zugleich  etwas  so  Zartes  (teneritas  amicitiae\  daĂź,  wenn 
man  sie  auf  Gefühle  beruhen  läßt  und  dieser  wechselseitigen 
Mitteilung  und  Ergebung  nicht  Grundsätze  oder  das  Gemeinmachen 
verhĂĽtende  und  die  Wechselliebe  durch  Foderungen  der  Achtung 
einschränkende  Regeln  unterlegt,  sie  keinen  Augenblick  vor  Unter- 
brechungen sicher  ist;  dergleichen  unter  unkultivierten  Personen 
gewöhnlich  sind,  ob  sie  zwar  darum  eben  nicht  immer  Trennung 
bewirken  (denn  Pöbel  schlägt  sich  und  Pöbel  verträgt  sich);  sie 
können  voneinander  nicht  lassen,  aber  sich  auch  nicht  unter- 
einander einigen,  weil  das  Zanken  selbst  ihnen  BedĂĽrfnis  ist,  um  die 
Süßigkeit  der  Eintracht  in  der  Versöhnung  zu  schmecken.  — 
Auf  alle  Fälle  aber  kann  die  Liebe  in  der  Freundschaft  nicht 
Affekt  sein:  weil  dieser  in  der  Wahl  blind  und  in  der  Fort- 
setzung verrauchend  ist. 

§47- 

Moralische  Freundschaft  (zum  Unterschiede  von  der  ästheti- 
schen) ist  das  völlige  Vertrauen  zweier  Personen  in  wechselseitiger 
Eröffnung  ihrer  geheimen  Urteile  und  Empfindungen,  so  weit  sie  mit 
beiderseitiger  Achtung  gegeneinander  bestehen  kann. 

Der  Mensch  ist  ein  fĂĽr  die  Gesellschaft  bestimmtes  (obzwar 
doch  auch  ungeselliges)  Wesen,  und  in  der  Kultur  des  gesellschaft- 
lichen Zustandes  fühlt  er  mächtig  das  Bedürfnis  sich  anderen  zu 
eröffnen  (selbst  ohne  etwas  dabei  zu  beabsichtigen);  andererseits 
aber  auch  cfurch  die  Furcht  vor  dem  MiĂźbrauch,  den  andere 
von  dieser  Aufdeckung  seiner  Gedanken  machen  dĂĽrften,  beengt 
und  gewarnt,  sieht  er  sich  genötigt,  einen  guten  Teil  seiner  Urteile 
(vornehmlich  ĂĽber  andere  Menschen)  in  sich  selbst  zu  verschlieĂźen. 


Von  der  innigen  Vereinigung  der  Liehe  mit  der  Achtung     287 

Er  möchte  sich  gern  darüber  mit  irgend  jemand  unterhalten,  wie 
er  ĂĽber  die  Menschen,  mit  denen  er  umgeht,  wie  er  ĂĽber  die 
Regierung,  Religion  u.  s.  w.  denkt;  aber  er  darf  es  nicht  wagen: 
teils  weil  der  andere,  der  sein  Urteil  behutsam  zurückhält,  davon 
zu  seinem  Schaden  Gebrauch  machen,  teils,  was  die  Eröffnung 
seiner  eigenen  Fehler  betrifft,  der  andere  die  seinigen  verhehlen 
und  er  so  in  der  Achtung  desselben  einbĂĽĂźen  wĂĽrde,  wenn  er 
sich  ganz  offenherzig  gegen  ihn  darstellete. 

Findet  er  also  einen,  der  Verstand  hat,  bei  dem  er  in  An- 
sehung jener  Gefahr  gar  nicht  besorgt  sein  darf,  sondern  dem  er 
sich  mit  völligem  Vertrauen  eröffnen  kann,  der  überdem  auch 
eine  mit  der  seinigen  ĂĽbereinstimmende  Art  die  Dinge  zu 
beurteilen  an  sich  hat,  so  kann  er  seinen  Gedanken  Luft 
machen;  er  ist  mit  seinen  Gedanken  nicht  völlig  allein, 
wie  im  Gefängnis,  und  genießt  die  Freiheit,  der  er  in  dem 
groĂźen  Haufen  entbehrt,  wo  er  sich  in  sich  selbst  verschlieĂźen 
muĂź.  Ein  jeder  Mensch  hat  Geheimnisse  und  darf  sich  nicht 
blindlings  anderen  anvertrauen;  teils  wegen  der  unedlen  Denkungsart 
der  meisten,  davon  einen  ihm  nachteiligen  Gebrauch  zu  machen, 
teils  wegen  des  Unverstandes  mancher  in  der  Beurteilung  und 
Unterscheidung  dessen,  was  sich  nachsagen  läßt  oder  nicht  (der 
Indiskretion),  welche  Eigenschaften  zusammen  in  einem  Subjekt 
anzutreffen  selten  ist  (jara  avis  in  terris  nigroque  simillima  cygno)\ 
zumal  da  die  engeste  Freundschaft  es  verlangt,  daß  dieser  verständige 
und  vertraute  Freund  zugleich  verbunden  ist,  ebendasselbe  ihm 
anvertraute  Geheimnis  einem  anderen,  für  eben  so  zuverlässig 
gehaltenen  ohne  des  ersteren  ausdrĂĽckUche  Erlaubnis  nicht  mit- 
zuteilen. 

Diese  (bloĂź  moralische  Freundschaft)  ist  kein  Ideal,  sondern 
(der  schwarze  Schwan)  existiert  wirklich  hin  und  wieder  in  seiner 
Vollkommenheit;  jene  aber  mit  den  Zwecken  anderer  Menschen 
sich,  obzwar  aus  Liebe,  belästigende  (pragmatische)  kann  weder 
die  Lauterkeit,  noch  die  verlangte  Vollständigkeit  haben,  die  zu 
einer  genau  bestimmenden  Maxime  erforderlich  ist,  und  ist  ein 
Ideal  des  Wunsches,  das  im  Vernunftbegriffe  keine  Grenzen  kennt, 
in    der  Erfahrung   aber   doch   immer   sehr    begrenzt   werden  muĂź. 

Ein  Menschenfreund  ĂĽberhaupt  aber  (d.  i.  der  ganzen 
Gattung)  ist  der,  welcher  an  dem  Wohl  aller  Menschen  ästhetischen 
Anteil  (der  Mitfreude)  nimmt  und  es  nie  ohne  inneres  Bedauren 
stören  wird.    Doch  ist  der  Ausdruck  eines  Freundes  der  Menschen 


2  8  8     Ethische  Elementarlehre.    BeschluĂź  der  Elementarlehre 

aoch  von  etwas  engerer  Bedeutung,  als  der  des  bloĂź  Menschen- 
liebenden 'Philanthrop).  Denn  in  jenem  ist  auch  die  Vorstellung 
und  Beherzigung  der  Gleichheit  unter  Menschen,  mithin  die  Idee 
dadurch  selbst  verpflichtet  zu  werden,  indem  man  andere  durch 
Wohltun  verpflichtet,  enthalten;  gleichsam  als  BrĂĽder  unter  einem 
allgemeinen  Vater,  der  aller  Glückseligkeit  will.  —  Denn  das 
Verhältnis  des  Beschützers  als  Wohltäters  zu  dem  Beschützten  als 
Dankpflichtigen  ist  zwar  ein  Verhältnis  der  Wechselliebe,  aber 
nicht  der  Freundschaft:  weil  die  schuldige  Achtung  beider  gegen- 
einander nicht  gleich  ist.  Die  Pflicht  als  Freund  den  Menschen 
wohl  zu  wollen  (eine  notwendige  Herablassung)  und  die  Be- 
herzigung derselben  dient  dazu,  vor  dem  Stolz  zu  verwahren,  der 
die  Glücklichen  anzuwandeln  pflegt,  welche  das  Vermögen  wohl 
zu  tun  besitzen. 

Zusatz. 

Von  den  Umgangstugenden. 
{vir tut  es  homileticae)'. 

§  48. 

Es  ist  Pflicht  sowohl  gegen  sich  selbst,  als  auch  gegen  andere, 
mit  seinen  sittlichen  Vollkommenheiten  untereinander  Verkehr 
zu  treiben  (officium  commercii,  sociabilitas)^  sich  nicht  zu  isolieren 
{separatistam  agere)\  zwar  sich  einen  unbeweglichen  Mittelpunkt 
seiner  Grundsätze  zu  machen,  aber  diesen  um  sich  gezogenen 
Kreis  doch  auch  als  einen,  der  den  Teil  von  einem  allbefassenden 
der  weltbĂĽrgerlichen  Gesinnung  ausmacht,  anzusehen;  nicht  eben 
um  das  Weltbeste  als  Zweck  zu  befördern,  sondern  nur  die 
Mittel,  die  indirekt  dahin  fĂĽhren,  die  Annehmlichkeit  in  derselben, 
die  Verträglichkeit,  die  wechselseitige  Liebe  und  Achtung  (Leut- 
seligkeit und  Wohlanständigkeit,  huwanitas  aesthetica  et  decorum) 
zu  kultivieren  und  so  der  Tugend  die  Grazien  beizugesellen;  welches 
zu  bewerkstelligen  selbst  Tugendpflicht  ist. 

Dies  sind  zwar  nur  Außenwerke  oder  Beiwerke  {parergä), 
welche  einen  schönen,  tugendähnlichen  Schein  geben,  der  auch 
nicht  betrĂĽgt,  weil  ein  jeder  weiĂź,  wofĂĽr  er  ihn  annehmen  muĂź. 
Es  ist  zwar  nur   Scheidemünze,    befördert  aber  doch   das  Tugend- 


Zusatz.     Von  den   Vmgangstugcnden  289 

gefĂĽhl  selbst  durch  die  Bestrebung,  diesen  Scliein  der  Wahrheit  so 
nahe  wie  möglich  zu  bringen,  in  der  Zugänglichkeit,  der 
Gesprächigkeit,  der  Höflichkeit,  Gastfreiheit,  Gelindigkeit 
(im  Widersprechen,  ohne  zu  zanken),  insgesamt  als  bloĂźen 
Manieren  des  Verkehrs  mit  geäußerten  Verbindlichkeiten,  dadurch 
man  zugleich  andere  verbindet,  also  doch  zur  Tugendgesinnung 
hinwirken,  indem  sie  die  Tugend  wenigstens  beliebt  machen. 
Es  fragt  sich  aber  hiebei:  ob  man  auch  mit  Lasterhaften 
Umgang  pflegen  dĂĽrfe.  Die  Zusammenkunft  mit  ihnen  kann  man 
nicht  vermeiden,  man  mĂĽĂźte  denn  sonst  aus  der  Welt  gehen; 
und  selbst  unser  Urteil  über  sie  ist  nicht  kompetent.  —  Wo  aber 
das  Laster  ein  Skandal,  d.  i.  ein  öffentlich  gegebenes  Beispiel  der 
Verachtung  strenger  Pflichtgesetze,  ist,  mithin  Ehrlosigkeit  bei  sich 
fĂĽhrt:  da  muĂź,  wenngleich  das  Landesgesetz  es  nicht  bestraft,  der 
Umgang,  der  bis  dahin  stattfand,  abgebrochen,  oder  so  viel 
möglich  gemieden  werden:  weil  die  fernere  Fortsetzung  desselben 
die  Tugend  um  alle  Ehre  bringt  und  sie  fĂĽr  jeden  zu  Kauf  stellt, 
der  reich  genug  ist,  um  den  Schmarotzer  durch  die  VergnĂĽgungen 
der  Ăśppigkeit  zu  bestechen. 


Kants   Schriften.   Bd.  VII.  I9 


n 


Ethische    Methodenlehre. 


19» 


Der  ethischen  Methodenlehre 

Erster  Abschnitt. 

Die  ethische  Didaktik. 

§  49. 

DaĂź  Tugend  erworben  werden  mĂĽsse  (nicht  angeboren  sei), 
liegt,  ohne  sich  deshalb  auf  anthropologische  Kenntnisse  aus  der 
Erfahrung  berufen  zu  dĂĽrfen,  schon  in  dem  Begriffe  derselben. 
Denn  das  sittliche  Vermögen  des  Menschen  wäre  nicht  Tugend, 
wenn  es  nicht  durch  die  Stärke  des  Vorsatzes  in  dem  Streit  mit 
so  mächtigen  entgegenstehenden  Neigungen  hervorgebracht  wäre. 
Sie  ist  das  Produkt  aus  der  reinen  praktischen  Vernunft,  sofern 
diese  im  BewuĂźtsein  ihrer  Ăśberlegenheit  (aus  Freiheit)  ĂĽber  jene 
die  Obermacht  gewinnt. 

Daß  sie  könne  und  müsse  gelehrt  werden,  folgt  schon  daraus, 
daĂź  sie  nicht  angeboren  ist;  die  Tugendlehre  ist  also  eine  Doktrin. 
Weil  aber  durch  die  bloĂźe  Lehre,  wie  man  sich  verhalten  solle, 
um  dem  Tugendbegriffe  angemessen  zu  sein,  die  Kraft  zur  Aus- 
ĂĽbung der  Regeln  noch  nicht  erworben  wird,  so  meinten  die 
Stoiker  hiemit  nur,  die  Tugend  könne  nicht  durch  bloße  Vor- 
stellungen der  Pflicht,  durch  Ermahnungen  (paränetisch).  gelehrt, 
sondern  sie  müsse  durch  Versuche  der  Bekämpfung  des  inneren 
Feindes  im  Menschen  (asketisch)  kultiviert,  geĂĽbt  werden;  denn 
man  kann  nicht  alles  sofort,  was  man  will,  wenn  man  nicht 
vorher  seine  Kräfte  versucht  und  geübt  hat,  wozu  aber  freilich  die 
Entschließung  auf  einmal  vollständig  genommen  werden  muß: 
weil  die  Gesinnung  (aniwus)  sonst  bei  einer  Kapitulation  mit  dem 
Laster,  um  es  allmählich  zu  verlassen,  an  sich  unlauter  und  selbst 


2  94  Ethische  Methodenlehre 

lastcrhah    sein,    mithin    auch    keine    Tugend    (als    die    auf   einem 
einzigen   Prinzip   beruhet)   hervorbringen  könnte. 


§  50- 

Was  nun  die   doktrinale  Methode   betrifft  (denn  methodisch 
muß   eine  jede  wissenschahHche  Lehre  sein;  sonst  wäre    der  Vor- 
trag tumultuarisch):   so  kann  sie  auch   nicht  fragmentarisch, 
sondern    muĂź    systematisch    sein,    wenn    die    Tugendlchre    eine 
Wissenschaft  vorstellen  soll.  —  Der  Vortrag  aber  kann  entweder 
akroamatisch,  da  alle  andere,  welchen  er   geschieht,    bloĂźe   Zu- 
hörer sind,   oder  erotematisch  sein,  wo   der  Lehrer  das,  was   er 
seine  JĂĽnger   lehren  \n\\,   ihnen    abfragt;  und    diese  erotematische 
Methode    ist   wiederum  entweder    die,  da  er  es  ihrer  Vernunft, 
die   dialogische  Lehrart,    oder  bloß  ihrem   Gedächtnisse  ab- 
fragt,   die    katechetische  Lehrart.      Denn    wenn    jemand    der 
Vernunft  des  anderen   etwas  abfragen  will,  so   kann  es  nicht  anders 
als    dialogisch,  d.  i.   dadurch    geschehen:    daĂź  Lehrer  und   SchĂĽler 
einander    wechselseitig     fragen     und    antworten.      Der    Lehrer 
leitet  durch  Fragen   den  Gedankengang  seines  LehrjĂĽngers  dadurch, 
daĂź    er    die    Anlage    zu    gewissen    Begriffen    in    demselben    durch 
vorgelegte    Fälle    bloß    entwickelt    (er    ist    die    Hebamme    seiner 
Gedanken);   der  Lehrling,  welcher  hiebei  inne  wird,  daĂź   er  selbst 
zu    denken    vermöge,    veranlaßt    durch    seine    Gegenfragen     (über 
Dunkelheit  oder  den  eingeräumten  Sätzen  entgegenstehende  Zweifel), 
daĂź   der  Lehrer    nach  dem  docendo  discimus  selbst  lernt,  wie   er 
gut   fragen  mĂĽsse.      [Denn  es    ist    eine    an    die   Logik    ergehende, 
noch  nicht  genugsam  beherzigte  Forderung:   daĂź  sie  auch  Regeln 
an   di«  Hand  gebe,  wie  man  zweckmäßig  suchen  solle,  d.  i.  nicht 
immer    bloß    für    bestimmende,  sondern  auch    für    vorläufige 
Urteile    {iudicia  praevia)^  durch    die    man    auf  Gedanken   gebracht 
wird;    eine    Lehre,    die    selbst    dem  Mathematiker   zu    Erfindungen 
ein   Fingerzeig  sein    kann  und    die    von  ihm    auch  oft  angewandt 
wird.] 

§  51. 

Das     erste     und     notwendigste     doktrinale     Instrument     der 
Tugcndlehre    für    den    noch    rohen    Zögling    ist    ein    morahscher 


Erster  Abschnitt.    Die  ethische  Didaktik  295 

Katechism.  Dieser  muĂź  vor  dem  Religionskatechism  hergehen 
und  kann  nicht  bloĂź  als  Einschiebsel  in  die  Religionsiehre  mit 
verwebt,  sondern  muĂź  abgesondert,  als  ein  fĂĽr  sich  bestehendes 
Ganze,  vorgetragen  werden;  denn  nur  durch  rein  moraUsche  Grund- 
sätze kann  der  Überschritt  von  der  Tugendlehre  zur  Religion  getan 
werden,  weil  dieser  ihre  Bekenntnisse  sonst  unlauter  sein  würden.  — 
Daher  haben  gerade  die  würdigsten  und  größten  Theologen  An- 
stand genommen,  fĂĽr  die  statutarische  Rehgionslehrc  einen  Katechism 
abzufassen  (und  sich  zugleich  fĂĽr  ihn  zu  verbĂĽrgen);  da  man  doch 
glauben  sollte,  es  wäre  das  Kleinste,  was  man  aus  dem  großen 
Schatz  ihrer  Gelehrsamkeit  zu  erwarten  berechtigt  wäre. 

Dagegen  hat  ein  rein  moralischer  Katechism,  als  Grundlehre 
der  Tugendpflichten,  keine  solche  Bedenklichkeit  oder  Schwierig- 
keit, weil  er  aus  der  gemeinen  Menschenvernunft  (seinem  Inhalte 
nach)  entwickelt  werden  kann  und  nur  den  didaktischen  Regeln 
der  ersten  Unterweisung  (der  Form  nach)  angemessen  werden 
darf.  Das  formale  Prinzip  eines  solchen  Unterrichts  aber  verstattet 
zu  diesem  Zweck  nicht  die  sokratisch-dialogische  Lehrart:  weil 
der  SchĂĽler  nicht  einmal  weiĂź,  wie  er  fragen  soll;  der  Lehrer  ist 
also  allein  der  Fragende.  Die  Antwort  aber,  die  er  aus  der  Vernimft 
des  Lehrlings  methodisch  auslockt,  muĂź  in  bestimmten,  nicht 
leicht  zu  verändernden  Ausdrücken  abgefaßt  und  aufbewahrt,  mit- 
hin seinem  Gedächtnis  anvertraut  werden:  als  worin  die  kate- 
chetische Lehrart  sich  sowohl  von  der  dogmatischen  (da  der 
Lehrer  allein  spricht),  als  auch  der  dialogischen  (da  beide  Teile 
einander  fragend  und  antwortend  sind)  unterscheidet. 


§  5^- 

Das  experimcntale  (technische)  Mittel  der  Bildung  zur 
Tugend  ist  das  gute  Beispiel  an  dem  Lehrer  selbst  (von  exem- 
plarischer FĂĽhrung  zu  sein)  und  das  warnende  an  andern;  denn 
Nachahmung  ist  dem  noch  ungebildeten  Menschen  die  erste  Willens- 
bestimmung zu  Annehmung  von  Maximen,  die  er  sich  in  der 
Folge  macht.  —  Die  Angewöhnung  oder  Abgewöhnung  ist  die 
BegrĂĽndung  einer  beharrlichen  Neigung  ohne  alle  Maximen  durch 
die  öftere  Befriedigung  derselben;  und  ist  ein  Mechanism  der 
Sinnesart  statt  eines  Prinzips  der  Denkungsart  (wobei  das  Verlernen 
in  der  Folge  schwerer  wird  als  das  Erlernen).  —  Was  aber  die 


2p5  Ethische  Methodenlehre 

KraFt  des  Exe mp eis  (es  sei  zum  Guten  oder  Bösen)  betrifft,  was 
sich  dem  Hange  zur  Nachahmung  oder  Warnung  darbietet'),  so 
kann  das,  was  uns  andere  geben,  keine  Tugendmaxime  begrĂĽnden. 
Denn  diese  besteht  gerade  in  der  subjektiven  Autonomie  der 
praktischen  Vernunft  eines  jeden  Menschen,  mithin  daĂź  nicht 
anderer  Menschen  Verhalten,  sondern  das  Gesetz  uns  zur  Triebfeder 
dienen  mĂĽsse.  Daher  wird  der  Erzieher  seinem  verunarteten 
Lehrling  nicht  sagen;  Nimm  ein  Exempel  an  jenem  guten  (ordent- 
lichen, fleiĂźigen)  Knaben!  denn  das  wird  jenem  nur  zur  Ursache 
dienen,  diesen  zu  hassen,  weil  er  durch  ihn  in  ein  nachteiliges 
Licht  gestellt  wird.  Das  gute  Exempel  (der  exemplarische  Wandel) 
soll  nicht  als  Muster,  sondern  nur  zum  Beweise  der  Tunlichkeit 
des  Pflichtmäßigen  dienen.  Also  nicht  die  Vergleichung  mit  irgend- 
einem anderen  Menschen  (wie  er  ist),  sondern  mit  der  Idee  (der 
Menschheit),  wie  er  sein  soll,  also  mit  dem  Gesetz,  muĂź  dem 
Lehrer  das  nie  fehlende  RichtmaĂź  seiner  Erziehung  an  die  Hand 
geben. 

Anmerkung. 

BruchstĂĽck    eines   moralischen  Katechisrn. 

Der  Lehrer  =  L.  fragt  der  Vernunft  seines  SchĂĽlers  =  S. 
dasjenige  ab,  was  er  ihn  lehren  will,  und  wenn  dieser  etwa 
nicht  die  Frage  zu  beantworten  wĂĽĂźte  =  0,  so  legt  er  sie 
ihm  (seine  Vernunft  leitend)  in  den  Mund. 

I.  L.  Was  ist  dein  größtes,  ja  dein  ganzes  Verlangen  im  Leben? 
S.  0.  —  L.  Daß  es  dir  alles  und  immer  nach  Wunsch  und 
Willen  gehe. 

z.  L.  Wie  nennt  man  einen  solchen  Zustand?  S.  0.  L.  Man 
nennt  ihn  Glückseligkeit  (das  beständige  Wohlergehen, 
vergnügtes  Leben,  völlige  Zufriedenheit  mit  seinem  Zustande). 

')  Beispiel,  ein  deutsches  Wort,  was  man  gemeiniglich  fĂĽr 
Exempel  als  ihm  gleichgeltend  braucht,  ist  mit  diesem  nicht  von  einerlei 
Bedeutung.  Woran  ein  Exempel  nehmen  und  zur  Verständlichkeit 
eines  Ausdrucks  ein  Beispiel  anfĂĽhren,  sind  ganz  verschiedene  Begriffe. 
Das  Exempel  ist  ein  besonderer  Fall  von  einer  praktischen  Regel,  so- 
fern diese  die  Tunlichkeit  oder  Untunlichkeit  einer  Handlung  vorstellt. 
Hingegen  ein  Beispiel  ist  nur  das  Besondere  {concretuw),  als  unter  dem 
Allgemeinen  nach  Begriffen  {abstractum)  enthalten  vorgestellt,  und  bloĂź 
theoretische  Darstellung  eines  Begriffs. 


Erster  Abschnitt.    Ethische  Didaktik  i^y 

3.  L.  Wenn  du  nun  alle  Glückseligkeit  (die  in  der  Welt  möglich 
ist)  in  deiner  Hand  hättest,  würdest  du  sie  alle  für  dich 
behalten,  oder  sie  auch  deinen  Nebenmenschen  mitteilen?  — 
S.  Ich  wĂĽrde  sie  mitteilen,  andere  auch  glĂĽcklich  und  zu- 
frieden machen. 

4.  L.  Das  beweist  nun  wohl,  daĂź  du  noch  so  ziemlich  ein 
gutes  Herz  hast;  laĂź  aber  sehen,  ob  du  dabei  auch  guten 
Verstand  zeigest.  —  Würdest  du  wohl  dem  Faullenzer  weiche 
Polster  verschaffen,  damit  er  im  sĂĽĂźen  Nichtstun  sein  Leben 
dahin  bringe,  oder  dem  Trunkenbolde  es  an  Wein,  und 
was  sonst  zur  Berauschung  gehört,  nicht  ermangeln  lassen, 
dem  BetrĂĽger  eine  einnehmende  Gestalt  und  Manieren  geben, 
um  andere  zu  überlisten,  oder  dem  Gewalttätigen  Kühnheit 
und  starke  Faust,  um  andere  überwältigen  zu  können?  Das 
sind  ja  so  viel  Mittel,  die  ein  jeder  sich  wĂĽnscht,  um  nach 
seiner  Art  glĂĽcklich  zu  sein.     S.  Nein,  das  nicht. 

5.  L.  Du  siehst  also:  daĂź,  wenn  du  auch  alle  GlĂĽckseligkeit  in 
deiner  Hand  und  dazu  den  besten  Willen  hättest,  du  jene 
doch  nicht  ohne  Bedenken  jedem,  der  zugreift,  preisgeben, 
sondern  erst  untersuchen  wĂĽrdest,  wie  fern  ein  jeder  der 
Glückseligkeit  würdig  wäre.  —  L.  Für  dich  selbst  aber 
wĂĽrdest  du  doch  wohl  kein  Bedenken  haben,  dich  mit  allem, 
was  du  zu  deiner  GlĂĽckseligkeit  rechnest,  zuerst  zu  ver- 
sorgen? S.  Ja.  L.  Aber  kommt  dir  da  nicht  auch  die  Frage 
in  Gedanken,  ob  du  wohl  selbst  auch  der  GlĂĽckseligkeit 
würdig  sein  mögest?  S.  Allerdings.  L.  Das  nun  in  dir,  was 
nur  nach  GlĂĽckseligkeit  strebt,  ist  die  Neigung;  dasjenige 
aber,  was  deine  Neigung  auf  die  Bedingung  einschränkt, 
dieser  GlĂĽckseligkeit  zuvor  wĂĽrdig  zu  sein,  ist  deine  Ver- 
nunft, und  daĂź  du  durch  deine  Vernunft  deine  Neigung 
einschränken  und  überwältigen  kannst,  das  ist  die  Freiheit 
deines  Willens. 

6.  L.  Um  nun  zu  wissen,  wie  du  es  anfängst,  um  der  Glück- 
seligkeit teilhaftig  und  doch  auch  nicht  unwĂĽrdig  zu  werden, 
dazu  liegt  die  Regel  und  Anweisung  ganz  allein  in  deiner 
Vernunft;  das  heißt  so  viel  als:  du  hast  nicht  nötig,  diese 
Regel  deines  Verhaltens  von  der  Erfahrung,  oder  von  anderen 
durch  ihre  Unterweisung  abzulernen;  deine  eigene  Vernunft 
lehrt  und  gebietet  dir  geradezu,  was  du  zu  tun  hast.  Zum 
Beispiel  wenn  dir  ein  Fall  vorkömmt,  da  du  durch  eine  fein 


298  Ethische  MethuJenlehrc 

ausgedachtc  LĂĽge  dir  oder  deinen  Freunden  einen  groĂźen 
Vorteil  verschaffen  kannst,  ja  noch  dazu  dadurch  auch  keinem 
anderen  schadest,  was  sagt  dazu  deine  Vernunft?  S.  Ich 
soll  nicht  lĂĽgen;  der  Vorteil  fĂĽr  mich  und  meinen  Freund 
mag  so  groĂź  sein,  wie  er  immer  wolle.  LĂĽgen  ist  nieder- 
trächtig und  macht  den  Menschen  unwürdig  glücklich  zu 
sein.  —  Hier  ist  eine  unbedingte  Nötigung  durch  ein  Ver- 
nunftgebot (oder  Verbot),  dem  ich  gehorchen  muĂź:  wo- 
gegen alle  meine  Neigungen  verstummen  mĂĽssen.  L.  Wie 
nennt  man  diese  unmittelbar  durch  die  Vernunft  dem  Menschen 
auferlegte  Notwendigkeit,  einem  Gesetze  derselben  gemäß  zu 
handeln?  S.  Sic  heiĂźt  Pflicht.  L.  Also  ist  dem  Menschen 
die  Beobachtung  seiner  Pflicht  die  allgemeine  und  einzige 
Bedingung  der  WĂĽrdigkeit  glĂĽckUch  zu  sein,  und  diese  ist 
mit  jener  ein  und   dasselbe. 

7.  L.  W^enn  wir  ans  aber  auch  eines  solchen  guten  und  tätigen 
Willens,  durch  den  wir  uns  wĂĽrdig  (wenigstens  nicht  un- 
würdig) halten  glückhch  zu  sein,  auch  bev/ußt  sind,  können 
wir  darauf  auch  die  sichere  Hoffnung  grĂĽnden,  dieser  GlĂĽck- 
seligkeit teilhaftig  zu  werden?  S.  Nein!  darauf  allein  nicht; 
denn  es  steht  nicht  immer  in  unserem  Vermögen,  sie  uns  zu 
vcrschafFtn,  und  der  Lauf  der  Natur  richtet  sich  auch  nicht 
so  von  selbst  nach  dem  Verdienst,  sondern  das  GlĂĽck  des 
Lebens  (unsere  Wohlfahrt  überhaupt)  hängt  von  Umständen 
ab,  die  bei  weitem  nicht  alle  in  des  Menschen  Gev/alt  sind. 
Also  bleibt  unsere  GlĂĽckseligkeit  imrxier  nur  ein  Wunsch, 
ohne  daĂź,  v/enn  nicht  irgend  eine  andere  Macht  hinzukommt, 
dieser  jemals  Hoffnung  werden  kann. 

8.  L.  Hat  die  Vernunft  wohl  GrĂĽnde  fĂĽr  sich,  eine  solche  die 
GlĂĽckseligkeit  nach  Verdienst  und  Schuld  der  Menschen  aus- 
teilende, ĂĽber  die  ganze  Natur  gebietende  und  die  Welt  mit 
höchster  Weisheit  regierende  Macht  als  wirklich  anzunehmen, 
das  ist  an  Gott  zu  glauben?  S.  Ja;  denn  wir  sehen  an  den 
Werken  der  Natur,  die  wir  beurteilen  können,  so  ausgebreitete 
und  tiefe  Weisheit,  die  wir  uns  nicht  anders  als  durch  eine 
unaunsprechJich  große  Kupst  eines  Weltschöpfers  erklären 
können,  von  welchem  wir  uns  denn  auch,  was  die  sittliche 
Ordnung  betrifft,  in  der  doch  die  höchste  Zierde  der  Welt 
besteht,  eine  nicht  minder  weise  Regierung  zu  versprechen 
Ursache   haben:   nämlich  daß,  wenn  wir  uns  nicht  selbst  der 


Erster  Abschnitt.   Ethische  Didaktik  299 

GlĂĽckseligkeit  unwĂĽrdig  machen,  welches  durch  Ăśber- 
tretung unserer  Pflicht  geschieht,  wir  auch  hoffen  können, 
ihrer  teilhaftig  zu  werden. 

In  dieser  Katechese,  welche  durch  alle  Artikel  der  Tugend 
und  des  Lasters  durchgeführt  werden  muß,  ist  die  größte 
Aufmerksamkeit  darauf  zu  richten,  daĂź  das  Pflichtgebot  ja 
nicht  auf  die  aus  dessen  Beobachtung  fĂĽr  den  Menschen,  den 
es  verbinden  soll,  ja  selbst  auch  nicht  einmal  fĂĽr  andere 
flieĂźenden  Vorteile  oder  Nachteile,  sondern  ganz  rein  auf  das 
sittliche  Prinzip  gegrĂĽndet  werde,  der  letzteren  aber  nur  bei- 
läufig, als  an  sich  zwar  entbehrlicher,  aber  für  den  Gaumen 
der  von  Natur  Schwachen  zu  bloĂźen  Vehikeln  dienender 
Zusätze,  Erwähnung  geschehe.  Die  Schändlichkeit,  nicht 
die  Schädlichkeit  des  Lasters  (für  den  Täter  selbst)  muß 
ĂĽberall  hervorstechend  dargestellt  werden.  Denn  wenn  die 
WĂĽrde  der  Tugend  in  Handlungen  nicht  ĂĽber  alles  erhoben 
wird,  so  verschwindet  der  Pflichtbegriff  selbst  und  zerrinnt 
in  bloĂźe  pragmatische  Vorschriften;  da  dann  der  Adel  des 
Menschen  in  seinem  eigenen  BewuĂźtsein  verschwindet  und  er 
fĂĽr  einen  Preis  feil  ist  und  zu  Kauf  steht,  den  ihm  ver- 
fĂĽhrerische Neigungen  anbieten. 

Wenn  dieses  nun  weislich  und  pĂĽnktlich  nach  Ver- 
schiedenheit der  Stufen  des  Alters,  des  Geschlechts  und  des 
Standes,  die  der  Mensch  nach  und  nach  betritt,  aus  der 
eigenen  Vernunft  des  Menschen  entwickelt  worden,  so  ist 
noch  etwas,  was  den  BeschluĂź  machen  muĂź,  was  die  Seele 
inniglich  bewegt  und  den  Menschen  auf  eine  Stelle  setzt, 
wo  er  sich  selbst  nicht  anders  als  mit  der  größten  Bewun- 
derung der  ihm  beiwohnenden  ursprĂĽnglichen  Anlagen  be- 
trachten kann,  und  wovon  der  Eindruck  nie  erlischt.  —  Wenn 
ihm  nämUch  beim  Schlüsse  seiner  Unterv/eisung  seine  Pflichten 
in  ihrer  Ordnung  noch  einmal  summarisch  vorerzählt  (re- 
kapituliert), wenn  er  bei  jeder  derselben  darauf  aufmerksam 
gemacht  wird,  daĂź  alle  Ăśbel,  Drangsale  und  Leiden  des 
Lebens,  selbst  Bedrohung  mit  dem  Tode,  die  ihn  darĂĽber, 
daß  er  seiner  Pflicht  treu  gehorcht,  treflPcn  mögen,  ihm  doch 
das  BewuĂźtsein,  ĂĽber  sie  alle  erhoben  und  Meister  zu  sem, 
nicht  rauben  können,  so  liegt  ihm  nun  die  Frage  ganz  nahe: 
was  ist  das  in  dir,  was  sich  getrauen  darf,  mit  allen  Kräften 
der  Natur  in  dir  und  um  dich  in  Kampf  zu  treten  und  sie. 


^oo  Ethische  Methodenlehre 

wenn  sie  mit  deinen  sittlichen  Grundsätzen  in  Streit  kommen, 
zu  besiegen?  Wenn  diese  Frage,  deren  Autlösung  das  Ver- 
mögen der  spekulativen  Vernunk  gänzlich  übersteigt  und 
die  sich  dennoch  von  selbst  einstellt,  ans  Herz  gelegt  wird, 
so  muĂź  seihst  die  UnbegrciFlichkeit  in  diesem  Selbsterkenntnisse 
der  Seele  eine  Erhebung  geben,  die  sie  zum  Heilighalten 
ihrer  Pflicht  nur  desto  stärker  belebt,  je  mehr  sie  angefochten 
wird. 

In  dieser  katechetischen  Moralunterweisung  wĂĽrde  es 
zur  sittlichen  Bildung  von  groĂźem  Nutzen  sein,  bei  jeder 
Piiichtzergliederung  einige  kasuistische  Fragen  aufzuwerfen 
und  die  versammelten  Kinder  ihren  Verstand  versuchen  zu 
lassen,  wie  ein  jeder  von  ihnen  die  ihm  vorgelegte  verfängliche 
Aufgabe  aufzulösen  meinete.  —  Nicht  allein  daß  dieses 
eine  der  Fähigkeit  des  Ungebildeten  am  meisten  angemessene 
Kultur  der  Vernunft  ist  (weil  diese  in  Fragen,  die,  was 
Pflicht  ist,  betreffen,  weit  leichter  entscheiden  kann,  als  in 
Ansehung  der  spekulativen)  und  so  den  Verstand  der  Jugend 
überhaupt  zu  schärfen  die  schicklichste  Art  ist:  sondern 
vornehmlich  deswegen,  weil  es  in  der  Natur  des  Menschen 
liegt,  das  zu  lieben,  worin  und  in  dessen  Bearbeitung  er 
es  bis  zu  einer  Wissenschaft  (mit  der  er  nun  Bescheid  weiĂź) 
gebracht  hat,  und  so  der  Lehrling  durch  dergleichen  Ăśbungen 
unvermerkt  in  das  Interesse  der  Sittlichkeit  gezogen  wird. 

Von  der  größten  Wichtigkeit  aber  in  der  Erziehung  ist 
es,  den  moralischen  Katechism  nicht  mit  dem  Religions- 
katechism  vermischt  vorzutragen  (zu  amalgamicren),  noch 
weniger  ihn  auf  den  letzteren  folgen  zu  lassen;  sondern 
jederzeit  den  ersteren  und  zwar  mit  dem  größten  Fleiße 
und  AusfĂĽhrlichkeit  zur  klarsten  Einsicht  zu  bringen.  Denn 
ohne  dieses  wird  nachher  aus  der  Religion  nichts  als  Heuchelei, 
sich  aus  Furcht  zu  Pflichten  zu  bekennen  und  eine  Teilnahme 
an  derselben,  die   nicht  im   Herzen  ist,  zu  lĂĽgen. 


Zweiter  Abschnitt.   Ethische  Aszetik  301 

Zweiter  Abschnitt. 
Die  ethische  Asketik. 

§  53- 

Die  Regeln  der  Ăśbung  in  der  Tugend  (exercitiorum  virtutis) 
gehen  auf  die  zwei  GemĂĽtsstimmungen  liinaus,  wackeren  und 
fröhlichen  Gemüts  (animus  strenuus  et  hilarii)  m  Befolgung 
ihrer  Pflichten  zu  sein.  Denn  sie  hat  mit  Hindernissen  zu  kämpfen, 
zu  deren  Überwältigung  sie  ihre  Kräfte  zusammen  nehmen  muß, 
und  zugleich  manche  Lebensfreuden  zu  opfern,  deren  Verlust  das 
GemĂĽt  wohl  bisweilen  finster  und  mĂĽrrisch  machen  kann;  was 
man  aber  nicht  mit  Lust,  sondern  bloĂź  als  Frondienst  tut,  das 
hat  fĂĽr  den,  der  hierin  seiner  Pflicht  gehorcht,  keinen  inneren 
Wert  und  wird  nicht  geliebt,  sondern  die  Gelegenheit  ihrer 
Ausübung  so  viel  möglich  geflohen. 

Die  Kultur  der  Tugend,  d.  i.  die  moralische  Asketik,  hat  in 
Ansehung  des  Prinzips  der  rĂĽstigen,  mutigen  und  wackeren  Tugend- 
übung den  Wahlspruch  der  Stoiker:  gewöhne   dich  die  zufälligen 
Lebensübel  zu  ertragen  und  die  ebenso  überflüssigen  Ergötzlich- 
keiten zu  entbehren  (assuesce  incommodis  et  desuesce  commoditatibus 
vitae).     Es    ist    eine  Art    von  Diätetik    für    den  Menschen,    sich 
moralisch    gesund    zu    erhalten.      Gesundheit    ist    aber    nur    ein 
negatives    Wohlbefinden,    sie    selber    kann    nicht    gefĂĽhlt    werden. 
Es   muĂź  etwas  dazu  kommen,  was  einen  angenehmen  LebensgenuĂź 
gewährt    und    doch     bloß    moralisch    ist.      Das    ist    das    jederzeit 
fröhliche  Herz  in  der  Idee   des  tugendhaften  EPIKURS,,   Denn  wer 
sollte  wohl  mehr  Ursache  haben,  frohen  Muts  zu  sein  und  nicht 
darin  selbst  eine  Pflicht  finden,  sich  in  eine  fröhliche  Gemütsstimmung 
zu  versetzen  und  sie  sich  habituell  zu  machen,  als  der,  welcher  sich 
keiner  vorsätzlichen  Übertretung    bewußt  und  wegen  des  Verfalls 
in  eine  solche  gesichert  ist  (Jjic  murus  aheneus  esto  etc.  HORAT.).  — 
Die  Mönchsasketik  hingegen,    welche    aus  abergläubischer    Furcht, 
oder  geheucheltem  Abscheu  an  sich  selbst  mit  Selbstpeinigung  und 
Fleischeskreuzigung  zu  Werke  geht,  zweckt  auch  nicht  auf  Tugend, 
sondern    auf   schwärmerische  Entsündigung    ab,    sich   selbst  Strafe 
aufzulegen    und,    anstatt    sie    moralisch    (d.  i.  in  Absicht    auf    die 


3  02  Ethische  Methoden/ehre.    BeschluĂź 

Besserung)  zu  bereuen,  sie  bĂĽĂźen  zu  wollen,  welches  bei  einer 
sclbstgcwählten  und  an  sich  vollstreckten  Strafe  (denn  die  muß 
immer  ein  anderer  auflegen)  ein  Widerspruch  ist,  und  kann  auch 
den  Frohsinn,  der  die  Tugend  begleitet,  nicht  bewirken,  vielmehr 
nicht  ohne  geheimen  Haß  gegen  das  Tugendgebot  stattfinden.  — 
Die  ethische  Gymnastik  besteht  also  nur  in  der  Bekämpfung  der 
Naturtriebe,  die  das  MaĂź  erreicht,  ĂĽber  sie  bei  vorkommenden, 
der  Moralität  Gefahr  drohenden  Fallen  Meister  werden  zu  können; 
mithin  die  wacker  und  im  BewuĂźtsein  seiner  wiedererworbenen 
Freiheit  fröhlich  macht.  Etwas  bereuen  (welches  bei  der  Rück- 
erinnerung ehemaliger  Ăśbertretungen  unvermeidlich,  ja  wobei 
diese  Erinnerung  nicht  schwinden  zu  lassen,  es  sogar  Pflicht  ist) 
und  sich  eine  Pönitenz  auferlegen  (z.  B.  das  Fasten),  nicht  in 
diätetischer,  sondern  frommer  Rücksicht,  sind  zwei  sehr  verschiedene, 
moralisch  gemeinte  Vorkehrungen,  von  denen  die  letztere,  welche 
freudenlos,  finster  und  mĂĽrrisch  ist,  die  Tugend  selbst  verhaĂźt 
macht  und  ihre  Anhänger  verjagt.  Die  Zucht  (Disziplin),  die 
der  Mensch  an  sich  selbst  verĂĽbt,  kann  daher  nur  durch  den 
Frohsinn,   der  sie   begleitet,  verdienstlich  und  exemplarisch  werden. 


BeschluĂź. 

Die    Religionslehre    als   Lehre    der   Pflichten   gegen    Gott 
liege  auĂźerhalb  den  Grenzen  der  reinen  Moralphilosophie. 

PrOTAGORAS  von  Abdera  fing  sein  Buch  mit  den  Worten  an: 
,,Ob  Götter  sind,  oder  nicht  sind,  davon  weiß  ich  nichts 
zu  sagen"').  Er  wurde  deshalb  von  den  Atheniensern  aus  der 
Stadt  und  von  seinem  Landbesitz  verjagt  und  seine  BĂĽcher  vor 
der  öffentlichen  Versammlung  verbrannt  (^(Juwctiliani  Inst.  Orot, 
lib.  j.  Cap.  /).  —  Hierin  taten  ihm  die  Richter  von  Athen  als 
Menschen  zwar  sehr  unrecht;  aber  als  Staatsbeamte  und 
Richter  verfuhren  sie  ganz  rechtlich  und  konsequent;  denn  wie 
hätte  man  einen  Eid  schwören  können,  wenn  es  nicht  öffentlich 
und  gesetzlich  von  hoher  Obrigkeit  wegen  {^de  par  le  Senat') 
befohlen   wäre:   daß  es   Götter  gebe''). 

')  ,,De  Diis,  neque  ut  sint,  neque  ut  non  sint,  habeo  dicere." 
')   Zwar  hat  späterhin  ein    grolier   moralisch-geserzi^tbender  Weise 
das  Schwören  als  ungereimr  und  zugleich  beinahe  an  Blasphemie  grenzend 


Die  Religionslehre  als  Lehre  der  Pflichten  gegen  Gott       303 

Diesen  Glauben  aber  zugestanden  und,  daĂź  Religionslehre 
ein  integrierender  Teil  der  allgemeinen  Pflichtenlehrc  sei,  ein- 
geräumt, ist  jetzt  nun  die  Frage  von  der  Grenzbestimmung  der 
Wissenschaft,  zu  der  sie  gehört:  ob  sie  als  ein  Teil  der  Ethik 
(denn  vom  Recht  der  Menschen  gegeneinander  kann  hier  nicht  die 
Rede  sein)  angesehen,  oder  ganz  auĂźerhalb  den  Grenzen  einer 
rein-philosophischen  Moral  liegend  mĂĽsse  betrachtet  werden. 

Das  Formale  aller  Religion,  wenn  man  sie  so  erklärt:  sie  sei 
„der  Inbegriff  aller  Pflichten  als  (instar)  göttlicher  Gebote",  ge- 
hört zur  philosophischen  Moral,  indem  dadurch  nur  die  Beziehung 
der  Vernunft  auf  die  Idee  von  Gott,  welche  sie  sich  selber  macht, 
ausgedrĂĽckt  wird,  und  eine  Religionspflicht  wird  alsdann  noch 
nicht  zur  Pflicht  gegen  (ergo)  Gott  als  ein  auĂźer  unserer  Idee 
existierendes  Wesen  gemacht,  indem  wir  hiebei  von  der  Existenz 
desselben  noch  abstrahieren.  —  Daß  alle  Menschenpflichten  diesem 
Formalen  (der  Beziehung  derselben  auf  einen  göttlichen,  a  priori 
gegebenen  Willen)  gemlĂĽS  gedacht  werden  sollen,  davon  ist  der 
Grund  nur  subjektiv-logisch.  Wir  können  uns  nämlich  Verpflichtung 
(moralische  Nötigung)  nicht  wohl  anschaulich  machen,  ohne 
einen  anderen  und  dessen  Willen  (von  dem  die  allgemein  gesetz- 
gebende Vernunft   nur    der  Sprecher  ist),  nämlich  Gott,   dabei  zu 

denken. Allein  diese  Pflicht  in  Ansehung  Gottes  (eigentlich 

der  Idee,  welche  wir  uns  von  einem  solchen  Wesen  machen)  ist 

ganz  und  gar  verboten;  allein  in  politischer  RĂĽcksicht  glaubt  man  noch 
fminer  dieses  mechanischen,  zur  Verwaltung  der  öffentlichen  Gerechtigkeit 
dienlichen  Mittels  schlechterdings  nicht  entbehren  zu  können  und  hat 
milde  Auslegungen  ausgedacht,  um  jenem  ^  erbot  auszuweichen.  —  Da 
es  eine  Ungereimtheit  wäre,  im  Ernst  zu  schwören,  daI5  ein  Gott  sei 
(weil  man '^ diesen  schon  postuliert  haben  mul5,  um  ĂĽberhaupt  nur 
schwören  zu  können),  so  bleibt  noch  die  Frage:  ob  nicht  ein  Eid 
möglich  und  geltend  sei,  da  man  nur  auf  den  Fall,  daß  ein  Gott  sei 
(ohne  vne  Protagoras  darüber  etwas  auszumachen),  schwöre.  —  In  der 
Tat  mögen  wohl  alle  redlich  und  zujdeich  mit  Besonnenheit  abgelegten 
Eide  in  keinem  anderen  Sinne  getan  worden  sein.  -  Denn  dal5  einer 
sich  erböte  schlechthin  zu  beschwören,  daß  ein  Gott  sei:  scheint  zwar 
kein  bedenkliches  Anerbieten  zu  sein,  er  mag  ihn  glauben  oder  nicht. 
Ist  einer  (wird  der  BetrĂĽger  sagen),  so  habe  ichs  getrofFen;  ist  kemer, 
so  zieht  mich  auch  keiner  zur  Verantwortung,  und  ich  bringe  mich 
durch  solchen  Eid  in  keine  Gefahr.  -  Ist  denn  aber  keine  Gefahr  dabei, 
wenn  ein  solcher  ist,  auf  einer  vorsätzlichen  und,  selbst  om  Gott 
zu  täuschen,  angelegten  Lüge  betroffen  zu  werden? 


304  Ethische  Methodenlchre.     BeschluĂź 

Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst,  d.  i.  nicht  objektive  die 
Verbindlichkeit  zur  Leistung  gewisser  Dienste  an  einen  anderen, 
sondern  nur  subjektive  zur  Stärkung  der  moralischen  Triebfeder 
in   unserer  eigenen  gesetzgebenden  Vernunft. 

Was  aber  das  Materiale  der  Religion,  den  Inbegriff  der 
Pflichten  gegen  (ergo)  Gott,  d.  i.  den  ihm  zu  leistenden  Dienst 
(ad  praestandum),  anlangt,  so  w^ĂĽrde  sie  besondere,  von  der  all- 
gemein-gesetzgebenden Vernunft  allein  nicht  ausgehende,  von  uns 
also  nicht  a  priori,  sondern  nur  empirisch  erkennbare,  mithin  nur 
zur  gcofienbarten  Religion  gehörende  Pflichten  als  göttliche  Ge- 
bote enthalten  können;  die  also  auch  das  Dasein  dieses  Wesens, 
nicht  bloĂź  die  Idee  von  demselben  in  praktischer  Absicht,  nicht  v^dll- 
kĂĽrlich  voraussetzen,  sondern  als  unmittelbar  (oder  mittelbar)  in 
der  Erfahrung  gegeben  darlegen  mĂĽĂźte.  Eine  solche  Religion 
aber  würde,  so  gegründet  sie  sonst  auch  sein  möchte,  doch 
keinen  Teil    der    reinen    philosophischen    Moral    ausmachen. 

Religion  also,  als  Lehre  der  Pflichten  gegen  Gott,  liegt 
jenseit  aller  Grenzen  der  rein-philosophischen  Ethik  hinaus,  und 
das  dient  zur  Rechtfertigung  des  Verfassers  des  Gegenwärtigen, 
daß  er  zur  Vollständigkeit  derselben  nicht,  wie  es  sonst  wohl 
gewöhnlich  war,  die  Religion,  in  jenem  Sinne  gedacht,  in  die 
Ethik  mit  hineingezogen  hat. 

Es  kann  zwar  von  einer  „Religion  innerhalb  den  Grenzen 
der  bloĂźen  Vernunft,"  die  aber  nicht  aus  bloĂźer  Vernunft  ab- 
geleitet, sonder  zugleich  auf  Geschieht«-  und  Offen barungslehren 
gegrĂĽndet  ist  und  die  nur  die  Ăśbereinstimmung  der  reinen 
praktischen  Vernunft  mit  denselben  (daĂź  sie  jener  nicht  widerstreite) 
enthält,  die  Rede  sein.  Aber  alsdann  ist  sie  auch  nicht  reine, 
sondern  auf  vorliegende  Geschichte  angewandte  Religionslehre, 
fĂĽr  welche  in  einer  Ethik,  als  reiner  praktischen  Philosophie, 
kein  Platz  ist. 

SchluĂźanmerkung. 

Alle  moralische  Verhältnisse  vernünftiger  Wesen,  welche 
ein  Prinzip  der  Ăśbereinstimmung  des  Willens  des  einen  mit 
dem  des  anderen  enthalten,  lassen  sich  auf  Liebe  und 
Achtung  zurĂĽckfĂĽhren  und,  sofern  dies  Prinzip  praktisch 
ist,  der  Bestimmungsgrund  des  Willens  in  Ansehung  der 
crsteren  auf  den  Zweck,  in  Ansehung  des  zweiten  auf  das 
Recht    des    anderen.  —  Ist  eines    dieser  Wesen  ein  solches, 


Die  Religionslehre  als  Lehre  der  Pflichten  gegen  Gott       305 

was  lauter  Rechte  und  keine  Pflichten  gegen  das  andere  hat 
(Gott),  hat  mithin  das  andere  gegen  das  erstcrc  lauter 
Pflichten  und  keine  Rechte,  so  ist  das  Prinzip  des  moralischen 
Verhältnisses  zwischen  ihnen  transszendent  (dagegen  das 
der  Menschen  gegen  Menschen,  deren  Wille  gegeneinander 
wechselseitig    einschränkend    ist,    ein    immanentes    Prinzip 

hat). 

Den  göttlichen  Zweck  in  Ansehung  des  menschlichen 
Geschlechts  (dessen  Schöpfung  und  Leitung)  kann  man  sich 
nicht  anders  denken,  als  nur  aus  Liebe,  d.  i.  daĂź  er  die 
GlĂĽckseligkeit  der  Menschen  sei.  Das  Prinzip  des  Willens 
Gottes  aber  in  Ansehung  der  schuldigen  Achtung  (Ehrfurcht), 
welche  die  Wirkungen  der  ersteren  einschränkt,  d.  i.  des  gött- 
lichen Rechts,  kann  kein  anderes  sein  als  das  der  Gerechtig- 
keit. Man  könnte  sich  (nach  Menschenart)  auch  so  aus- 
drĂĽcken: Gott  hat  vernĂĽnftige  Wesen  erschaffen,  gleichsam 
aus  dem  BedĂĽrfnisse  etwas  auĂźer  sich  zu  haben,  was  er 
lieben  könne,  oder  auch  von  dem  er  geliebt  werde. 

Aber  nicht  allein  ebenso  groß,  sondern  noch  größer 
(weil  das  Prinzip  einschränkend  ist)  ist  der  Anspruch,  den 
die  göttliche  Gerechtigkeit  im.  Urteile  unserer  eigenen 
Vernunft  und  zwar  als  strafende  an  uns  macht.  —  Denn 
Belohnung  {praemium,  remuneratio  gratuita)  bezieht  sich 
gar  nicht  auf  Gerechtigkeit  gegen  Wesen,  die  lauter  Pflichten 
und  keine  Rechte  gegen  das  Andere  haben,  sondern  bloĂź 
auf  Liebe  und  Wohltätigkeit  (benignitas);  —  noch  weniger 
kann  ein  Anspruch  auf  Lohn  (merces)  bei  einem  solchen 
Wesen  stattfinden,  und  eine  belohnende  Gerechtigkeit 
(iustitia  brabeutica)  ist  im  Verhältnis  Gottes  gegen  Menschen 
ein  Widerspruch. 

Es  ist  aber  doch  in  der  Idee  einer  Gerechtigkeitsaus- 
ĂĽbung eines  W^esens,  was  ĂĽber  allen  Abbruch  an  seinen 
Zwecken  erhaben  ist,  etwas,  was  sich  mit  dem  Verhältnis 
des  Menschen  zu  Gott  nicht  wohl  vereinigen  läßt:  nämlich 
der  Begriff  einer  Läsion,  welche  an  dem  unumschränkten 
und  unerreichbaren  Weltherrscher  begangen  werden  könne; 
denn  hier  ist  nicht  von  den  Rechtsverletzungen,  die  Menschen 
gegeneinander  verĂĽben  und  worĂĽber  Gott  als  strafender 
Richter  entscheide,  sondern  von  der  Verletzung,  die  Gott 
selber  und  seinem  Recht  widerfahren  solle,  die  Rede,  wovon 

Kants  Schriften.  Bd.  VII.  lo 


jo6  Ethische  Methoden  lehre.    BeschluĂź 

der  Begriff  transszcndent  ist,  d.  i.  ĂĽber  den  Begriff  aller 
Strafgerechtigkeit,  wovon  wir  irgendein  Beispiel  aufstellen 
können,  (d.  i.  der  unter  Menschen),  ganz  hinaus  liegt  und 
überschwengliche  Prinzipien  enthält,  die  mit  denen,  welche 
wir  in  Ertahrungsfällen  gebrauchen  würden,  gar  nicht  in 
Zusammenstimmung  gebracht  werden  können,  folglich  für 
unsere  praktische   Vernunft  gänzlich  leer  sind. 

Die  Idee  einer  göttlichen  Strafgerechtigkeit  wird  hier 
personifiziert;  es  ist  nicht  ein  besonderes  richtendes  Wesen, 
was  sie  ausĂĽbt  (denn  da  wĂĽrden  WidersprĂĽche  desselben 
mit  Rechtsprinzipien  vorkommen),  sondern  die  Gerechtigkeit 
gleich  als  Substanz  (sonst  die  ewige  Gerechtigkeit  genannt), 
die  wie  das  Fatum  (Verhängnis)  der  alten  philosophierenden 
Dichter  noch  ĂĽber  dem  Jupiter  ist,  spricht  das  Recht  nach 
der  eisernen,  unablenkbaren  Notwendigkeit  aus,  die  fĂĽr  uns 
weiter    unerforschlich    ist.  —  Hievon    jetzt   einige  Beispiele. 

Die  Strafe  läßt  (nach  dem  HORAZ)  den  vor  ihr  stolz 
schreitenden  Verbrecher  nicht  aus  den  Augen,  sondern  hinkt 
ihm  unablässig  nach,  bis  sie  ihn  ertappt.  —  Das  unschuldig 
vergossene  Blut  schreit  um  Rache.  —  Das  Verbrechen  kann 
nicht  ungerächt  bleiben;  trifft  die  Strafe  nicht  den  Verbrecher, 
so  werden  es  seine  Nachkommen  entgelten  mĂĽssen;  oder 
geschiehts  nicht  bei  seinem  Leben,  so  muĂź  es  in  einem 
Leben  nach  dem  Tode^)  geschehen,  welches  ausdrĂĽcklich 
darum  auch  angenommen  und  gern  geglaubt  wird,  damit  der 
Anspruch  der  ewigen  Gerechtigkeit  ausgeglichen  werde.  — 
Ich  will  keine  Blutschuld  auf  mein  Land  kommen  lassen, 
dadurch    daĂź    ich   einen    boshaft    mordenden    Duellanten,    fĂĽr 

')  Die  Hypothese  von  einem  kĂĽnfrigen  Leben  darf  hier  nicht  ein- 
mal eingemischt  werden,  um  jene  drohende  Strafe  als  vollständig  in 
der  Vollziehung  vorzustellen.  Denn  der  Mensch,  seiner  Moralitat  nach 
betrachtet,  u-ird  als  ĂĽbersinnlicher  Gegenstand  vor  einem  ĂĽbersinnlichen 
Richter  nicht  nach  Zeitbedingungen  beurteilt;  es  ist  nur  von  seiner 
Existenz  die  Rede.  Sein  Erdenleben,  es  sei  kurz  oder  lang,  oder  gar 
eu'ig,  ist  nur  das  Dasein  desselben  in  der  Erscheinung,  und  der  Begriff 
der  Gerechtigkeit  bedarf  keiner  näheren  Bestimmung;  wie  denn  auch 
der  Glaube  an  ein  kĂĽnftiges  Leben  eigentlich  nicht  vorausgeht,  um  die 
Strafgerechtigkeit  an  ihm  ihre  Wirkung  sehen  zu  lassen,  sondern  viel- 
mehr umgekehrt  aus  der  Notwendigkeit  der  Bestrafung  auf  ein  kĂĽnftiges 
Leben  die  Folgerung  gezogen  wird. 


Die  Religionslehre  als  Lehre  der  PĂźichten  gegen  Gott       307 

den  ihr  FĂĽrbitte  tut,  begnadige,  sagte  einmal  ein  wohldenkender 
Landesherr.  —  Die  Sündenschuld  muß  bezahlt  werden, 
und  sollte  sich  auch  ein  völlig  Unschuldiger  zum  Sühnopter 
hingeben  (wo  dann  freilich  die  von  ihm  ĂĽbernommene  Leiden 
eigentlich  nicht  Strafe  —  denn  er  hat  selbst  nichts  ver- 
brochen —  heißen  könnten);  aus  welchen  allen  zu  ersehen 
ist,  daĂź  es  nicht  eine  die  Gerechtigkeit  verwaltende  Person 
ist,  der  man  diesen  Verurteilungsspruch  beilegt  (denn  die 
würde  nicht  so  sprechen  können,  ohne  anderen  imrecht  zu 
tun),  sondern  daĂź  die  bloĂźe  Gerechtigkeit,  als  ĂĽberschwengliches, 
einem  ĂĽbersinnlichen  Subjekt  angedachtes  Prinzip,  das  Recht 
dieses  Wesens  bestimme;  welches  zwar  dem  Formalen  dieses 
Prinzips  gemäß  ist,demMat  erialen  desselben  aber,  dem  Zweck, 
welcher  immer  die  GlĂĽckseligkeit  der  Menschen  ist, 
widerstreitet.  —  Denn  bei  der  etwanigen  großen  Menge  der 
Verbrecher,  die  ihr  Schuldenregister  immer  so  fortlaufen 
lassen,  vnirde  die  Strafgerechtigkeit  den  Zweck  der  Schöpfung 
nicht  in  der  Liebe  des  Welturhebers  (wie  man  sich  doch 
denken  muĂź),  sondern  in  der  strengen  Befolgung  des  Rechts 
setzen  (das  Recht  selbst  zum  Zweck  machen,  der  in  der 
Ehre  Gottes  gesetzt  wird);  welches,  da  das  letztere  (die 
Gerechtigkeit)  nur  die  einschränkende  Bedingung  des  ersteren 
(der  GĂĽtigkeit)  ist,  den  Prinzipien  der  praktischen  Vernunft 
zu  widersprechen  scheint,  nach  welchen  eine  Weltschöpfiing 
hätte  unterbleiben  müssen,  die  ein  der  Absicht  ihres  Urhebers, 
die  nur  Liebe  zum  Grunde  haben  kann,  so  widerstreitendes 
Produkt  geliefert  haben  v/ĂĽrde. 

Man  sieht  hieraus:  daĂź  in  der  Ethik,  als  reiner  praktischer 
Philosophie  der  inneren  Gesetzgebung,  nur  die  moralischen 
Verhältnisse  des  Menschen  gegen  den  Menschen  für  uns 
begreiflich  sind:  was  aber  zwischen  Gott  und  dem  Menschen 
hierüber  für  ein  Verhältnis  obwalte,  die  Grenzen  derselben 
gänzlich  übersteigt  und  uns  schlechterdings  unbegreiflich  ist; 
wodurch  dann  bestätigt  wird,  was  oben  behauptet  ward: 
daĂź  die  Ethik  sich  nicht  ĂĽber  die  Grenzen  der  wechselseitigen 
Menschenpflichten  erweitern  könne. 


20 


3o8  Tafel  der  Einteilung  der  Ethik 

Tafel 
der  Einteilung  der  Ethik. 

I.    Ethische   Elementarlehre. 

Erster   Teil. 
Von  den  Pflichten  des  Menschen  gegen  sich  selbst. 

Erstes   Buch. 
Von  den  vollkommenen  Pflichten  des  Menschen  gegen  sich  selbst. 

Erstes   HauptstĂĽck. 

Von  den  Pflichten  des  Menschen  gegen  sich  selbst  als  animalischen 

Wesen. 

Zweites   HauptstĂĽck. 

Von  den  Pflichten  des  Menschen  gegen  sich  selbst  bloĂź  als 

moralischen  Wesen. 

Erster  Abschnitt. 
Von  den  Pflichten  des  Menschen  gegen  sich  selbst  als  angebornen 

Richter  ĂĽber  sich  selbst. 

Zweiter  Abschnitt. 
Vom  ersten  Gebot  aller  Pflichten  gegen  sich  selbst. 

Episodischer  Abschnitt. 

Von  der  Amphibolie  der  moralischen  Reflexionsbegriffe  in 

Ansehung  der  Pflichten  gegen  sich  selbst. 

Zweites    Buch. 

Von  den  unvoUkommmenen  Pflichten  des  Menschen  gegen  sich 
selbst  in  Ansehung  seines  Zwecks. 

Erster  Abschnitt. 
Von  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  in  Entwicklung  und  Vermehrung 

seiner  Naturvollkommenheit. 

Zweiter  Abschnitt. 
Von  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  in  Erhöhung  seiner  moralischen 

Vollkommenheit. 


Tafel  der  Einteilung  der  Ethik  309 

Der    ethischen   Elementarlehre 

Z  \v  e  i  t  e  r  T  e  i  1. 
Von  den  ethischen  Pflichten  gegen  andere. 

Erstes  HauptstĂĽck. 

Von  den  Pflichten  gegen  andere  bloĂź  als  Menschen. 

Erster  Abschnitt. 
Von  der  Liebespflicht  gegen  andere  Menschen. 

Zweiter  Abschnitt. 
Von  der  Pflicht  der  Achtung  fĂĽr  andere. 

Zweites   HauptstĂĽck. 

Von  der  Pflicht  gegen  andere  nach  Verschiedenheit  ihres 

ZuStandes. 

BeschluĂź    der   Elementar  lehre. 

Von  der  inniglichen  Vereinigung  der  Liebe  mit  der  Achtung  in  der 

Freundschatt. 


II.    Ethische   Methodenlehre. 

Erster  Abschnitt. 
Ethische  Didaktik. 

Zweiter  Abschnitt. 
Ethische  Asketik. 

BeschluĂź    der    ganzen    Ethik. 


Der  Streit 


der 


Fakultäten 


in  drei  Abschnitten 


von 


Immanuel    Kant. 


1798. 


Dem  Herrn 


Karl  Friedrich  Stäudlin, 


Doktor  und  Professor, 


in  Göttingen 


zugeeignet 
von  dem  Verfasser. 


Vo  r  r  e  d  e 


Gegenwärtige  Blätter,  denen  eine  aufgeklärte,  den  menschlichen 
Geist  seiner  Fesseln  entschlagende  und  eben  durch  diese 
Freiheit  im  Denken  desto  bereitwilligem  Gehorsam  zu  bewirken 
geeignete  Regierung  jetzt  den  Ausflug  verstattet,  —  mögen  auch 
zugleich  die  Freiheit  verantworten,  die  der  Verfasser  sich  nimmt, 
von  dem,  was  bei  diesem  Wechsel  der  Dinge  ihn  selbst  angeht, 
eine  kurze  Geschichtserzählung  voranzuschicken. 

König  Friedrich  Wilhelm  IL,  ein  tapferer,  redlicher, 
menschenliebender  und  —  von  gewissen  Temperamentseigenschaften 
abgesehen  —  durchaus  vortreflFlicher  Herr,  der  auch  mich  persön- 
lich kannte  und  von  Zeit  zu  Zeit  Ă„uĂźerungen  seiner  Gnade  an 
mich  gelangen  lieĂź,  hatte  auf  Anregung  eines  Geistlichen,  nach- 
mals zum  Minister  im  geistlichen  Departement  erhobenen  Mannes, 
dem  man  billigerweise  auch  keine  andere,  als  auf  seine  innere 
Ăśberzeugung  sich  grĂĽndende  gut  gemeinte  Absichten  unterzulegen 
Ursache  hat,  —  im  Jahr  1788  ein  Religionsedikt,  bald  nach- 
her ein  die  Schriftstellerei  überhaupt  sehr  ehischränkendes,  mithin 
auch  jenes  mit  schärfendes  Zensuredikt  ergehen  lassen.  Man  kann 
nicht  in  Abrede  ziehen:  daĂź  gewisse  Vorzeichen,  die  der  Explosion, 
welche  nachher  erfolgte,  vorhergingen,  der  Regierung  die  Not- 
wendigkeit einer  Reform  in  jenem  Fache  anrätig  machen  mußten; 
welches  auf  dem  stillen  Wege  des  akademischen  Unterrichts  kĂĽnfti- 
ger öffentlicher  Volkslehrer  zu  erreichen  war;  denn  diese  hatten 
als  j  Jnge  Geistliche  ihren  Kanzelvortrag  auf  solchen  Ton  gestimmt, 
daĂź,  wer  Scherz  versteht,  sich  durch  solche  Lehrer  eben  nicht 
wird  bekehren  lassen. 

Indessen  daĂź  nun  das  Pveligionsedikt  auf  einheimische  sowohl 
als  auswärtige  Schriftsteller  lebhaften  Einfluß  hatte,  kam  auch 
meine    Abhandlung    unter    dem    Titel;    „Religion    innerhalb    den 


5 1 6  Der  Streit  der  Fakultäten 

Grenzen  der  bloĂźen  VernunFt"  heraus,')  und  da  ich,  um  keiner 
Schleichwege  beschuldigt  zu  werden,  allen  meinen  Schriften  meinen 
Namen  vorsetze,  so  erging  an  mich  im  Jahr  1794  folgendes 
Königl.  Reskript,  von  welchem  es  merkwürdig  ist,  daß  es,  da  ich 
nur  meinem  vertrautesten  Freunde  die  Existenz  desselben  bekannt 
machte,  es  auch   nicht  eher  als  jetzt  öffentlich   bekannt  wurde. 

Von     Gottes    Gnaden     Friedrich    Wilhelm,     König     von 
PreuĂźen   etc.   etc. 

Unsern  gnädigen  Gruß  zuvor.  Würdiger  und  Hochgelahrter, 
lieber  Getreuer!  Unsere  höchste  Person  hat  schon  seit  geraumer 
Zeit  mit  groĂźem  MiĂźfallen  ersehen:  wie  Ihr  Eure  Philosophie  zu 
Entstellung  und  HerabwĂĽrdigung  mancher  Haupt-  und  Grundlehren 
der  heiligen  Schrift  und  des  Christentums  miĂźbraucht;  wie  Ihr 
dieses  namentlich  in  Eurem  Buch:  „Religion  innerhalb  der  Grenzen 
der  bloĂźen  Vernunft,"  desgleichen  in  anderen  kleineren  Abhand- 
lungen getan  habt.  Wir  haben  Uns  zu  Euch  eines  Besseren  ver- 
sehen, da  Ihr  selbst  einsehen  mĂĽsset,  wie  unverantwortlich  Ihr 
dadurch  gegen  Eure  Pflicht  als  Lehrer  der  Jugend  und  gegen 
Unsere  Euch  sehr  wohl  bekannte  landesväterliche  Absichten  handelt. 
Wir  verlangen  des  ehsten  Eure  gewissenhafteste  Verantwortung 
und  gewärtigen  Uns  von  Euch  bei  Vermeidung  Unserer  höchsten 
Ungnade,  daĂź  Ihr  Euch  kĂĽnftighin  Nichts  dergleichen  werdet  zu- 
schulden kommen  lassen,  sondern  vielmehr  Eurer  Pflicht  gemäß 
Euer  Ansehen  und  Eure  Talente  dazu  anwenden,  daĂź  Unsere 
landesväterliche  Intention  je  mehr  und  mehr  erreicht  werde; 
widrigenfalls  Ihr  Euch  bei  fortgesetzter  Renitenz  unfehlbar  unan- 
genehmer Verfügungen  zu  gewärtigen  habt. 
Sind   Euch  mit   Gnade  gewogen. 

Berlin   den    i.   Oktober    1794. 
Auf  Seiner  Königl.  Majestät 
allergnädigsten  Spezialbefehl. 
Woellner. 
ah  extra  —  Dem  würdigen  und  hochgelahrten.  Unserem  Professor, 
auch   lieben,   getreuen   Kant 

zu 
Königsberg 
in   PreuĂźen. 
praesentat,   d.    12.   Okt.    1794. 


')  Diese  Bctirelung  war  absichtlich  so  gestellt,  damit  man  jene  Ab- 


Vo  r  r  e  d  e  517 

Worauf  meinerseits  folgende  alleruntertänigste  Antwort  abgestattet 
wurde. 

Allergnädigster  etc.  etc. 

Ew.  Königl.  Maj.  allerhöchster  den  i  sten  Oktober  c.  an  mich 
ergangener  und  den  i  z  ten  eiusd.  mir  gewordener  Befehl  legt  es 
mir  zur  devotesten  Pflicht  auf:  Erstlich  „wegen  des  Mißbrauchs 
meiner  Philosophie  in  Entstellung  und  HerabwĂĽrdigung  mancher 
Haupt-  und  Grundlehren  der  heil.  Schrift  und  des  Christentums, 
namentlich  in  meinem  Buch:  „Religion  innerhalb  den  Grenzen  der 
bloĂźen  Vernunft,"  desgleichen  in  anderen  kleineren  Abhandlungen 
und  der  hiedurch  auf  mich  fallenden  Schuld  der  Ăśbertretung 
meiner  Pflicht  als  Lehrer  der  Jugend  und  gegen  die  höchste,  mir 
sehr  wohl  bekannte  landesväterliche  Absichten  eine  gewissenhafte 
Verantwortung  beizubringen."  Zweitens  auch,  „nichts  dergleichen 
künftighin  mir  zuschulden  kommen  zu  lassen."  —  In  Ansehung 
beider  Stücke  ermangle  nicht  den  Beweis  meines  alleruntertänigsten 
Gehorsams  Ew.  Königl.  Maj.  in  folgender  Erklärung  zu  Füßen  zu 
legen: 

Was  das  Erste,  nämlich  die  gegen  mich  erhobene  Anklage, 
betrifft,  so  ist  meine  gewissenhafte  Verantwortung  folgende: 

DaĂź  ich  als  Lehrer  der  Jugend,  d.  i.,  wie  ich  es  verstehe, 
in  akademischen  Vorlesungen,  niemals  Beurteilung  der  heil.  Schrift 
und  des  Christentums  eingemischt  habe,  noch  habe  einmischen 
können,  würden  schon  die  von  mir  zum  Grunde  gelegte  Hand- 
bĂĽcher BAUMGARTENS,  als  welche  allein  einige  Beziehung  auf 
einen  solchen  Vortrag  haben  dĂĽrften,  beweisen:  weil  in  diesen 
nicht  einmal  ein  Titel  von  Bibel  und  Christentum  enthalten  ist 
und  als  bloĂźer  Philosophie  auch  nicht  enthalten  sein  kann;  der 
Fehler  aber,  ĂĽber  die  Grenzen  einer  vorhabenden  Wissenschaft 
auszuschweifen,  oder  sie  ineinander  laufen  zu  lassen,  mir,  der  ich 
ihn  jederzeit  gerĂĽgt  und  dawider  gewarnt  habe,  am  wenigsten 
wird,  vorgeworfen  werden  können. 


Handlung  nicht  dahin  deutete:  als  sollte  sie  die  Religion  aus  bloĂźer 
Vernunft  (ohne  OfFenbarung)  bedeuten;  denn  das  wäre  zu  viel  An- 
maĂźung geu-esen:  weil  es  doch  sein  konnte,  daĂź  die  Leliren  derselben 
von  übernatürlich  inspirierten  Männern  herrührten;  sondern  daß  ich 
nur  dasjenige,  was  im  Text  der  fĂĽr  geoffenbart  geglaubten  Religion, 
der  Bibel,  auch  durch  bloĂźe  Vernunft  erkannt  werden  kann,  hier 
in  einem  Zusammenhange  vorstellig  machen  wollte. 


5 1  8  Der  Streit  der  Fakultäten 


5 


DaĂź  ich  auch  nicht  etwa  als  Volkslehrer,  in  Schriften 
namentlich  nicht  im  Buche:  .,Religion  innerhalb  den  Grenzen  usw 
mich  gegen  die  allerhöchüte,  mir  bekannte  landesväterliche 
Absichten  vergangen,  d.  i.  der  öffentlichen  Landesreiigion  Ab- 
bruch getan  habe;  welches  schon  daraus  erhellet,  daĂź  jenes  Buch 
dazu  gar  nicht  geeignet,  vielmehr  fĂĽr  das  Publikum  ein  unver- 
ständliches, verschlossenes  Buch  und  nur  eine  Verhandlung  zwischen 
Fakultätsgelehrten  vorstellt,  wovon  das  Volk  keine  Notiz  nimmt; 
in  Ansehung  deren  aber  die  Fakultäten  selbst  frei  bleiben,  nach 
ihrem  besten  Wissen  und  Gewissen  öfFentlich  zu  urteilen,  und 
nur  die  eingesetzte  Volkslehrer  (in  Schulen  und  auf  Kanzeln)  an 
dasjenige  Resultat  jener  Verhandlungen,  was  die  Landesherrschaft 
zum  öiFentlichen  Vortrage  für  diese  sanktioniert,  gebunden  werden, 
und  zwar  darum,  weil  die  letztere  sich  ihren  eigenen  Religions- 
glauben auch  nicht  selbst  ausgedacht,  sondern  ihn  nur  auf  dem- 
selben Wege,  nämlich  der  Prüfung  und  Berichtigung  durch  dazu 
sich  qualifizierende  Fakultäten  (die  theologische  und  philosophische), 
hat  überkommen  können,  mithin  die  Landesherrschaft  diese  nicht 
allein  zuzulassen,  sondern  auch  von  ihnen  zu  fordern  berechtigt  ist, 
alles,  was  sie  einer  öffentlichen  Landesreligion  zuträglich  finden, 
durch  ihre  Schriften  zur  Kenntnis  der  Regierung  gelangen  zu 
lassen. 

DaĂź  ich  in  dem  genannten  Buche,  weil  es  gar  keine  WĂĽrdi- 
gung des  Christentums  enthält,  mir  auch  keine  Abwürdigung 
desselben  habe  zuschulden  kommen  lassen:  denn  eigentlich  enthält 
es  nur  die  WĂĽrdigung  der  natĂĽrlichen  Religion.  Die  AnfĂĽhrung 
einiger  biblischer  Schriftstellen  zur  Bestätigung  gev%^isser  remer 
Vernunftlehren  der  Religion  kann  allein  zu  diesem  MiĂźverstande 
Veranlassung  gegeben  haben.  Aber  der  sei.  MICHAELIS,  der  in 
seiner  philosophischen  Moral  eben  so  verfuhr,  erklärte  sich  schon 
hierĂĽber  dahin,  daĂź  er  dadurch  weder  etwas  Biblisches  in  die 
Philosophie  hinein-,  noch  etwas  Philosophisches  aus  der  Bibel 
herauszubringen  gemeint  sei,  sondern  nur  seinen  Vernunftsätzen 
durch  wahre  oder  vermeinte  Einstimmung  mit  anderer  (vielleicht 
Dichter  und  Redner)  Urteile  Licht  und  Bestätigung  gäbe.  —  Wenn 
aber  die  Vernunft  hiebci  so  spricht,  als  ob  sie  fĂĽr  sich  selbst 
hinlänglich,  die  Offenbarungslehre  also  überflüssig  -wäre  (welches, 
wenn  es  objektiv  so  verstanden  werden  sollte,  wirklich  fĂĽr  Ab- 
wĂĽrdigung des  Christentums  gehalten  werden  mĂĽĂźte),  so  ist 
dieses  wohl   nichts,  als  der  Ausdruck   der  WĂĽrdigung  ihrer  selbst; 


Vorrede  319 

nicht  nach  ihrem  Vermögen,  nach  dem,  was  sie  als  zu  tun  vor- 
schreibt, sofern  aus  ihr  allein  Allgemeinheit,  Einheit  und  Not- 
wendigkeit der  Glaubenslehren  hervorgeht,  die  das  Wesentliche 
einer  Religion  ĂĽberhaupt  ausmachen,  welches  im  Moralisch-Prakti- 
schen (dem,  was  wir  tun  sollen)  besteht,  wogegen  das,  was  wir 
auf  historische  BeweisgrĂĽnde  zu  glauben  Ursache  haben  (denn 
hiebei  gilt  kein  Sollen),  d.  i.  die  Offenbarung  als  an  sich  zu- 
fällige Glaubenslehre,  für  außerwesentlich,  darum  aber  doch  nicht 
für  imnötig  und  überflüssig  angesehen  wird;  weil  sie  den  theo- 
retischen Mangel  des  reinen  Vernunftglaubens,  den  dieser  nicht 
ableugnet,  z.  B.  in  den  Fragen  über  den  Ursprung  des  Bösen,  den 
Ăśbergang  von  diesem  zum  Guten,  die  GewiĂźheit  des  Menschen 
im  letzteren  Zustande  zu  sein  u.  dgl.,  zu  ergänzen  dienlich  und 
als  Befriedigung  eines  VernunftbedĂĽrfnisses  dazu  nach  Verschieden- 
heit der  Zeitumstände  und  der  Personen  mehr  oder  weniger  bei- 
zutragen behĂĽlflich  ist. 

DaĂź  ich  ferner  meine  groĂźe  Hochachtung  fĂĽr  die  biblische 
Glaubenslehre  im  Christentum  unter  anderen  auch  durch  die  Er- 
klärung in  demselben  obbenannten  Buche  bewiesen  habe,  daß  die 
Bibel,  als  das  beste  vorhandene,  zur  GrĂĽndung  und  Erhaltung  einer 
wahrhaftig  seelenbessernden  Landesreligion  auf  unabsehliche  Zeiten 
taugliche  Leitmittel  der  öffentlichen  Religionsunterweisung  darin 
von  mir  angepriesen  und  daher  auch  die  Unbescheidenheit  gegen 
die  theoretische,  Geheimnis  enthaltende  Lehren  derselben  in  Schulen 
oder  auf  Kanzeln,  oder  in  Volksschriften  (denn  in  Fakultäten 
muĂź  es  er'aubt  sein),  EinwĂĽrfe  und  Zweifel  dagegen  zu  erregen 
von  mir  getadelt  und  für  Unfug  erklärt  worden;  welches  aber 
noch  nicht  die  größte  Achtungsbezeigung  fi'ir  das  Christentum  ist. 
Denn  die  hier  aufgefiährtc  Zusammenstimmung  desselben  mit  dem 
reinsten  moralischen  Vernunitgiauben  ist  die  beste  und  dauer- 
hafteste Lobrede  desselben:  weil  eben  dadurch,  nicht  durch  histo- 
rische Gelehrsamkeit  das  so  oft  entartete  Christentum  immer 
wieder  hergestellt  worden  ist  und  ferner  bei  ähnlichen  Schicksalen, 
die  auch  kĂĽnftig  nicht  ausbleiben  werden,  allein  v/iederum  her- 
gestellt  werden  kann. 

DaĂź  ich  endlich,  so  wie  ich  anderen  Glaubensbckennern  jeder- 
zeit und  vorzĂĽglich  gewissenhafte  Aufrichtigkeit,  nicht  mehr  davon 
vorzugeben  und  anderen  als  Glaubensartikel  aufzudringen,  als  sie 
selbst  davon  gewiĂź  sind,  empfohlen,  ich  auch  diesen  Richter  in 
mir  selbst  bei  Abfassung    meiner  Schriften    jederzeit    als    mir   zur 


5  20  Der  Streit  der  Fakultäten 

Seite  stehend  vorgestellt  habe,  um  mich  von  jedem  nicht  allein 
scclcnverdcrblichcn  Irrtum,  sondern  selbst  jeder  AnstoĂź  erregenden 
Unbchutsamkeit  im  Ausdruck  entfernt  zu  halten;  v^eshalb  ich 
auch  jetzt  in  meinem  7  i  sten  Lebensjahre,  wo  der  Gedanke  leicht 
aufsteigt,  es  könne  w^ohl  sein,  daß  ich  für  alles  dieses  in  kurzem 
einem  Weltrichter  als  HerzenskĂĽndiger  Rechenschaft  geben  mĂĽsse, 
die  gegenwärtige  mir  wegen  meiner  Lehre  abgeforderte  Verant- 
wortung als  mit  völliger  Gewissenhaftigkeit  abgefaßt  freimütig 
einreichen   kann. 

Was  den  zweiten  Punkt  betrifft,  mir  keine  dergleichen 
(angeschuldigte)  Entstellung  und  HerabwĂĽrdigung  des  Christentums 
kĂĽnftighin  zuschulden  kommen  zu  lassen:  so  halte  ich,  um  auch 
dem  mindesten  Verdachte  darĂĽber  vorzubeugen,  fĂĽr  das  Sicherste, 
hiemit,  als  Ew.  Königl,  Maj.  getreuester  Untertan,*)  feier- 
lichst zu  erklären:  daß  ich  mich  fernerhin  aller  öffentlichen  Vor- 
träge die  Religion  betreffend,  es  sei  die  natürliche  oder  geoffen- 
barte, sowohl  in  Vorlesungen  als  in  Schriften  gänzlich  enthalten 
werde. 

In  tiefster  Devotion  ersterbe  ich  usw. 

Die  weitere  Geschichte  des  fortwährenden  Treibens  zu  einem 
sich  immer  mehr  von  der  Vernunft  entfernenden  Glauben  ist 
bekannt. 

Die  PrĂĽfung  der  Kandidaten  zu  geistlichen  Ă„mtern  ward  nun 
einer  Glaubenskommission  anvertraut,  der  ein  Schema  exami- 
nation'ts  nach  pietistischem  Zuschnitte  zum  Grunde  lag,  welche  ge- 
wissenhafte Kandidaten  der  Theologie  zu  Scharen  von  geistlichen 
Ämtern  verscheuchte  und  die  Juristenfakultät  übervölkerte;  eine 
Art  von  Auswanderung,  die  zufälHgerweise  nebenbei  auch  ihren 
Nutzen  gehabt  haben  mag.  —  Um  einen  kleinen  Begriff  vom  Geiste 
dieser  Kommission  zu  geben;  so  ward  nach  der  Forderung  einer 
vor  der  Begnadigung  notwendig  vorhergehenden  Zerknirschung 
noch  ein  tiefer  reuiger  Gram  (ntaeror  atwfii^  erfordert  und  von 
diesem  nun  gefragt,  ob  ihn  der  Mensch  sich  auch  selbst  geben 
könne.  f)uoä  negandurn  ac  pernegandum^  war  die  Antwort;  der 
reuevolle  SĂĽnder  muĂź  sich  diese  Reue  besonders  vom  Himmel 
erbitten.    —   Nun    fällt  ja   in  die   Augen:    daß    den.    welcher  um 


')  Auch  diesen  Ausdruck  u-ählte  ich  vorsichtig,  damit  ich  nicht  der 
Freiheit  meines  Urteils  in  diesem  ReligionsprozeĂź  auf  immer,  sondern 
nur  solange  Sr.   Maj.  am  Leben  wäre,  entsagte. 


Vorrede  321 

Reue  (ĂĽber  seine  Ăśbertretung)  noch  bitten  muĂź,  seine  Tat  wirk- 
lich nicht  reuet;  welches  eben  so  widersprechend  aussieht,  als 
wenn  es  vom  Gebet  heißt:  es  müsse,  wenn  es  erhörlich  sein 
soll,  im  Glauben  geschehen.  Denn  wenn  der  Beter  den  Glauben 
hat,  so  braucht  er  nicht  darum  zu  bitten:  hat  er  ihn  aber  nicht, 
so  kann  er  nicht  erhörlich  bitten. 


Diesem  Unwesen  ist  nunmehro  gesteuret.  Denn  nicht  allein 
zum  bĂĽrgerlichen  Wohl  des  gemeinen  Wesens  ĂĽberhaupt,  dem 
Religion  ein  höchstwichtiges  Staatsbedürfnis  ist,  sondern  besonders 
zum  Vorteil  der  Wissenschaften  vermittelst  eines  diesen  zu  befördern 
eingesetzten  Oberschulkollegiums  —  hat  sich  neuerdings  das  glück- 
liche Eräugnis  zugetragen,  daß  die  Wahl  einer  weisen  Landes- 
regierung einen  erleuchteten  Staatsmann  getroffen  hat,  welcher 
nicht  durch  einseitige  Vorliebe  fĂĽr  ein  besonderes  Fach  derselben 
(die  Theologie),  sondern  in  Hinsicht  auf  das  ausgebreitete  Interesse 
des  ganzen  Lehrstandes  zur  Beförderung  desselben  Beruf,  Talent 
und  Willen  hat  und  so  das  Fortschreiten  der  Kultur  im  Felde  der 
Wissenschaften  wider  alle  neue  Eingriff^e  der  Obskuranten  sichern 
wird. 


Unter  dem  allgemeinen  Titel:  „der  Streit  der  Fakultäten" 
erscheinen  hier  drei  in  verschiedener  Absicht,  auch  zu  verschiedenen 
Zeiten  von  mir  abgefaĂźte,  gleichwohl  aber  doch  zur  systematischen 
Einheit  ihrer  Verbindung  in  einem  Werk  geeignete  Abhandlungen, 
von  denen  ich  nur  späterhin  inne  ward,  daß  sie  als  der  Streit 
der  unteren  mit  den  drei  oberen  (um  der  Zerstreuung  vorzu- 
beugen) schicklich  in  einem  Bande  sich  zusammen  finden  können. 


Kants  Schriften.  Bd.  VlI.  2  1 


5ZZ  Der  Streit  der  Fakultäten 


Inhalt. 

Erster  Abschnitt. 

Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen. 

Einleitung. 

Einteilung  der  Fakultäten  überhaupt. 

I. 

Vom  Verhältnisse   der  Fakultäten. 

Erster  Abschnitt.     Begriff  und  Einteilung  der  oberen  Fakultäten. 
Eigentümlichkeit  der  theologischen  Fakultät. 
Eigentümlichkeit  der  Juristenfakultät. 
Eigentümlichkeit  der  medizinischen  Fakultät. 
Zweiter  Abschnitt.     Begriff  und    Einteilung    der    unteren    Fa- 
kultät. 
Dritter  Abschnitt.     Vom  gesetzwidrigen  Streit  der  oberen  Fa- 
kultäten mit  der  unteren. 
Vierter  Abschnitt.     Vom   gesetzmäßigen  Streit   der  oberen  Fa- 
kultäten mit  der  unteren. 
Resultat. 


U. 

Anhang    einer  Erläuterung    des  Streits    der  Fakultäten    durch    das 
Beispiel  desjenigen  zwischen  der  theologischen  und  philosophischen. 

I. 

Materie  des   Streits. 

II. 

Philosophische  Grundsätze   der  Schriftauslegung  zur  Beilegung  des 

Streits. 


Inhalt  j2  j 

lU. 

Einwürfe  und  Beantwortung  derselben,  die  Grundsätze  der  Schrift- 
auslegung betreffend. 

Allgemeine  Anmerkung.     Von  Religionssekten. 

Friedens-Abschluß  und  Beilegung  des  Streits  der  Fakultäten. 

Anhang  biblisch-historischer  Fragen  ĂĽber  die  praktische  Be- 
nutzung und  mutmaĂźliche  Zeit  der  Fortdauer  dieses  heiligen 
Buchs. 

Anhang  von  einer  reinen  Mystik  in  der  Religion. 


Zweiter  Abschnitt. 

Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  juristischen. 

Erneuerte  Frage:  Ob  das  menschliche  Geschlecht  im  beständigen 

Fortschreiten  zum  Besseren  sei. 
BeschluĂź. 

Dritter  Abschnitt. 

Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  medi- 
zinischen. 

Von  der  Macht  dts  GemĂĽts  durch  den  bloĂźen  Vorsatz  seiner 
krankhaften  Gefühle  Meister  zu  sein.  —  Ein  Antwort- 
schreiben an  Hrn.  Hofr.  und  Prof.  Hufeland. 

Grundsätze  der  Diätetik. 

BeschluĂź. 

Nachschrift. 


I* 


Erster  Abschnitt. 

Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät 
mit  der  theologischen. 


Einleitung. 

Es  war  kein  ĂĽbeler  EinfaJl  desjenigen,  der  zuer^  den  Ge- 
danken faßte  und  ihn  zur  öffentlichen  Ausführung  vorschlug,  den 
ganzen  Inbegriff  der  Gelehrsamkeit  (eigentlich  die  derselben  gtr 
widmeten  Köpfe)  gleichsam  fabrikenmäßig,  durch  Verteilung 
der  Arbeiten,  zu  behandeln,  wo,  so  viel  es  Fächer  der  Wissen- 
schaften gibt,  so  viel  öffentliche  Lehrer,  Professoren,  als  Depo- 
siteure derselben  angestellt  wĂĽrden,  die  zusammen  eine  Art  von 
gelehrtem  gemeinen  Wesen,  Universität  (auch  hohe  Schule) 
genannt,  ausmachten,  die  ihre  Autonomie  hätte  (denn  über  Gelehrte 
als  solche  können  nur  Gelehrte  urteilen);  die  daher  vermittelst 
ihrer  Fakultäten^)  (kleiner,  nach  Verschiedenheit  der  Flauptfächer 
der  Gelehrsamkeit,  in  welche  sich  die  Universitätsgelehrte  teilen, 
verschiedener  Gesellschaften)  teils  die  aus  niedern  Schulen  zu  ihr 
aufstrebende  Lehrlinge  aufzunehmen,  teils  auch  freie  (keine  GHeder 
derselben  ausmachende)  Lehrer,  Doktoren  genannt,  nach  vorher- 
gehender PrĂĽfung  aus  eigner  Macht  mit  einem  von  jedermann 
anerkannten  Rang  zu  versehen  (ihnen  einen  Grad  zu  erteilen), 
d.  i.  sie  zu  kreiren,  berechtigt  wäre. 

AuĂźer  diesen  zĂĽnftigen    kann  es   noch  zunftfreie  Gelehrte 


^)  Deren  jede  ihren  Dekan  als  Regenten  der  Fakultät  hat.  Dieser 
au«  der  Astrologie  entlehnte  Titel,  der  ursprünglich  einen  der  3  Astral- 
geister bedeutete,  welche  einem  Zeichen  des  Tierkreises  (von  3  o")»  vor- 
stehen, deren  jeder  i  o  Grade  anfĂĽhrt,  ist  von  den  Gestirnen  zuerst 
auf  die  Feldlager  (ab  astris  ad  castra.  vid.  Salmasius  de  annis  clitnacterĂĽs 
pag.  561)  und  zuletzt  gar  auf  die  Universitäten  gezogen  worden;  ohne 
doch  hiebei  eben  auf  die  Zahl  1  o  (der  Professoren)  zu  sehen.  Man 
wird  es  den  Gelehrten  nicht  verdenken,  daĂĽ  sie,  von  denen  fast  alle 
Ehrentitel,  mit  denen  sich  jetzt  Staatsleute  ausschmĂĽcken,  zuerst  aus- 
gedacht sind,  sich  selbst  nicht  vergessen  haben. 


3  2  8         Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

geben,  die  nicht  zur  Universität  gehören,  sondern,  indem  sie 
bloĂź  einen  Teil  des  groĂźen  Inbegriffs  der  Gelehrsamkeit  bearbeiten, 
entweder  gewisse  freie  Korporationen  (Akademien,  auch  Sozie- 
täten der  Wissenschaften  genannt)  als  so  viel  Werkstätten 
ausmachen,  oder  gleichsam  im  Naturzustande  der  Gelehrsamkeit 
leben  und  jeder  für  sich  ohne  öffentliche  Vorschrift  und  Regel 
sich  mit  Erweiterung  oder  Verbreitung  derselben  als  Liebhaber 
beschäftigen. 

Von  den  eigentlichen  Gelehrten  sind  noch  die  Literaten 
(Studierte)  zu  unterscheiden,  die  als  Instrumente  der  Regierung, 
von  dieser  zu  ihrem  eigenen  Zweck  (nicht  eben  zum  Besten  der 
Wissenschaften)  mit  einem  Amte  bekleidet,  zwar  auf  der  Uni- 
versität ihre  Schule  gemacht  haben  müssen,  allenfalls  aber  vieles 
davon  (was  die  Theorie  betrifR)  auch  können  vergessen  haben, 
wenn  sie  nur  so  viel,  als  zu  FĂĽhrung  eines  bĂĽrgerlichen  Amts, 
das  seinen  Grundlehren  nach  nur  von  Gelehrten  ausgehen  kann, 
erforderlich  ist,  nämlich  empirische  Kenntnis  der  Statuten  ihres 
Amts  (was  also  die  Praxis  angeht),  ĂĽbrig  behalten  haben;  die 
man  also  Geschäftsleute  oder  Werkkundige  der  Gelehrsamkeit 
nennen  kann.  Diese,  weil  sie  als  Werkzeuge  der  Regierung 
(Geistliche,  Justizbeamte  und  Ă„rzte)  aufs  Publikum  gesetzlichen 
EinfluĂź  haben  und  eine  besondere  Klasse  von  Literaten  aus- 
machen, die  nicht  frei  sind,  aus  eigener  Weisheit,  sondern  nur 
unter  der  Zensur  der  Fakultäten  von  der  Gelehrsamkeit  öffent- 
lichen Gebrauch  zu  machen,  mĂĽssen,  weil  sie  sich  unmittelbar  ans 
Volk  wenden,  welches  aus  Idioten  besteht  (wie  etwa  der  Klerus 
an  die  Laiker),  in  ihrem  Fache  aber  zwar  nicht  die  gesetzgebende, 
doch  zum  Teil  die  ausĂĽbende  Gewalt  haben,  von  der  Regierung 
sehr  in  Ordnung  gehalten  werden,  damit  sie  sich  nicht  ĂĽber  die 
richtende,  welche   den   Fakultäten  zukommt,  wegsetzen. 


Einteilung  der  Fakultäten  überhaupt. 

Nach  dem  eingeflihrten  Brauch  werden  sie  in  zwei  Klassen, 
die  der  drei  obern  Fakultäten  und  die  einer  untern,  eingeteilt. 
Man  sieht  wohl,  daĂź  bei  dieser  Einteilung  und  Benennung  nicht 
der  Gelehrtenstand,  sondern  die  Regierung  befragt  worden  ist. 
Denn  zu  den  obern  werden  nur  diejenigen  gezählt,  deren  Lehren, 
ob   sie   so   oder  anders  beschaffen  sein,  oder  öffentlich  vorgetragen 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   3 1 9 

werden  sollen,  es  die  Regierung  selbst  interessiert;  da  hingegen 
diejenige,  welche  nur  das  Interesse  der  Wissenschaft  zu  besorgen 
hat,  die  untere  genannt  wird,  weil  diese  es  mit  ihren  Sätzen 
halten  mag,  wie  sie  es  gut  findet.  Die  Regierung  aber  interessiert 
das  am  allermeisten,  wodurch  sie  sich  den  stärksten  und  daurendsten 
EinfluĂź  aufs  Volk  verschafft,  und  dergleichen  sind  die  Gegen- 
stände der  oberen  Fakultäten.  Daher  behält  sie  sich  das  Recht 
vor,  die  Lehren  der  oberen  selbst  zu  sanktionieren;  die  der 
untern  überläßt  sie  der  eigenen  Vernunft  des  gelehrten  Volks.  — 
Wenn  sie  aber  gleich  Lehren  sanktioniert,  so  lehrt  sie  (die  Re- 
gierung) doch  nicht  selbst;  sondern  will  nur,  daĂź  gewisse  Lehren 
von  den  respektiven  Fakultäten  in  ihren  öffentlichen  Vortrag 
aufgenommen  und  die  ihnen  entgegengesetzte  davon  ausgeschlossen 
werden  sollen.  Denn  sie  lehrt  nicht,  sondern  befehligt  nur  die, 
welche  lehren  (mit  der  Wahrheit  mag  es  bewandt  sein,  wie  es 
wolle),  weil  sie  sich  bei  Antretung  ihres  Amts")  durch  einen 
Vertrag  mit  der  Regierung  dazu  verstanden  haben.  —  Eine  Re- 
gierung, die  sich  mit  den  Lehren,  also  auch  mit  der  Erweiterung 
oder  Verbesserung  der  Wissenschaften  befaĂźte,  mithin  selbst  in 
höchster  Person  den  Gelehrten  spielen  wollte,  würde  sich  durch 
diese  Pedanterei  nur  um  die  ihr  schuldige  Achtung  bringen,  und 
es  ist  unter  ihrer  WĂĽrde,  sich  mit  dem  Volk  (dem  Gelehrten- 
standc  desselben)  gemein  zu  machen,  welches  keinen  Scherz  ver- 
steht und  alle,  die  sich  mit  Wissenschaften  bemengen,  ĂĽber  einen 
Kamm  schiert. 

Es    muĂź    zum    gelehrten    gemeinen  Wesen    durchaus  auf   der 
Universität    noch    eine    Fakultät    geben,    die,    in   Ansehung    ihrer 

^)  Man  muĂź  es  gestehen,  daĂź  der  Grundsatz  des  groĂźbritannischen 
Parlaments:  die  Rede  ihres  Königes  vom  Thron  sei  als  ein  Werk  seines 
Ministers  anzusehen  (da  es  der  WĂĽrde  eines  Monarchen  zuwider  sein 
wĂĽrde,  sich  Irrtum,  Unwissenheit  oder  Unwahrheit  vorrĂĽcken  zu  lassen, 
gleichwohl  aber  das  Haus  ĂĽber  ihren  Inhalt  zu  urteĂĽen,  ihn  zu  prĂĽfen 
und  anzufechten  berechtige  sein  muĂź),  daĂź,  sage  ich,  dieser  Grundsatz 
sehr  fein  und  richtig  ausgedacht  sei.  Ebenso  muĂź  auch  die  Auswahl 
gewisser  Lehren,  welche  die  Regierung  zum  öffentlichen  Vortrage  aus- 
schUeĂźlich  sanktioniert,  der  PrĂĽfung  der  Gelehrten  ausgesetzt  bleiben, 
weil  sie  nicht  als  das  Produkt  des  Monarchen,  sondern  eines  dazu  be- 
fehligten Staatsbeamten,  von  dem  man  annimmt,  er  könne  auch  wohl 
den  WĂĽlen  seines  Herrn  nicht  recht  verstanden  oder  auch  verdreht 
haben,  angesehen  werden  mĂĽsse. 


3^o         Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

Lehren  vom  Befehle  der  Regierung  unabhängig'),  keine  Befehle 
zu  geben,  aber  doch  alle  zu  beurteilen  die  Freiheit  habe,  die  mit 
dem  wissenschaftlichen  Interesse,  d.  i.  mit  dem  der  Wahrheit,  zu 
tun  hat,  wo  die  Vernunft  öffentlich  zu  sprechen  berechtigt  sein 
muĂź:  weil  ohne  eine  solche  die  Wahrheit  (zum  Schaden  der  Re- 
gierung selbst)  nicht  an  den  Tag  kommen  wĂĽrde,  die  Vernunft 
aber  ihrer  Natur  nach  frei  ist  und  keine  Befehle  etwas  fĂĽr  wahr 
zu  halten  (kein  crede^  sondern  nur  ein  freies  credo)  annimmt.  — 
Daß  aber  eine  solche  Fakultät  unerachtct  dieses  großen  Vorzugs 
(der  Freiheit)  dennoch  die  untere  genannt  wird,  davon  ist  die 
Ursache  in  der  Natur  des  Menschen  anzutreffen:  daß  nämlich  der, 
welcher  befehlen  kann,  ob  er  gleich  ein  demĂĽtiger  Diener  eines 
andern  ist,  sich  doch  vornehmer  dĂĽnkt  als  ein  anderer,  der  zwar 
frei  ist.  aber  niemanden  zu  befehlen  hat. 


I. 

Vom  Verhältnisse  der  Fakultäten. 

Erster  Abschnitt. 
Begriff  und  Einteilung  der  oberen  Fakultäten. 

iVlan  kann  annehmen,  daĂź  alle  kĂĽnsdiche  Einrichtungen, 
welche  eine  Vernunftidee  (wie  die  von  einer  Regierung  ist)  zum 
Grunde  haben,  die  sich  an  einem  Gegenstände  der  Erfahrung 
(dergleichen  das  ganze  gegenwärtige  Feld  der  Gelehrsamkeit)  prak- 
tisch beweisen  soll,  nicht  durch  bloß  zufällige  Aufsammlung  und 

')  Ein  französischer  Alinister  berief  einige  der  angesehensten  Kauf- 
leute zu  sich  und  verlangte  von  ihnen  Vorschläge,  wie  dem  Handel 
aufzuhelfen  sei:  gleich  als  ob  er  darunter  die  beste  zu  wählen  verstände. 
Nachdem  einer  dies,  der  andere  das  in  Vorschlag  gebracht  hatte,  sagte 
ein  alter  Kaufmann,  der  so  lange  geschwiegen  hatte:  Schafft  gute  Wege, 
schlagt  gut  Geld,  gebt  ein  promptes  Wechselrecht  u.  dgl. ,  ĂĽbrigens 
aber  ,,laC>t  uns  machen"!  Dies  wäre  ungefähr  die  Antwort,  welche 
die  philosophische  Fakultät  zu  geben  hätte,  wenn  die  Regierung  sie  um 
die  Lehren  befrĂĽge,  die  sie  den  Gelehrten  ĂĽberhaupt  vorzuschreiben 
habe:  den  Fortschritt  der  Einsichten  und  Wissenschaften  nur  nicht  7.u 
hindern. 


De7'  Streit  der  philosophischen  Fakultät  ??jit  der  theologischen  ^  3 1 

willkürliche  Zusammenstellung  vorkommender  Fälle,  sondern  nach 
irgend  einem  in  der  Vernunh,  wenn  gleich  nur  dunkel,  liegenden 
Prinzip  und  darauf  gegrĂĽndetem  Plan  versucht  worden  sind,  der 
eine  gewisse  Art  der  Einteilung  notwendig  macht. 

Aus  diesem  Grunde  kann  man  annehmen,  daĂź  die  Organisation 
einer  Universität  in  Ansehung  ihrer  Klassen  und  Fakultäten  nicht 
so  ganz  vom  Zufall  abgehangen  habe,  sondern  daĂź  die  Regierung, 
ohne  deshalb  eben  ihr  frĂĽhe  Weisheit  und  Gelehrsamkeit  anzu- 
dichten, schon  durch  ihr  eignes  gefĂĽhltes  BedĂĽrfnis  (vermittelst 
gewisser  Lehren  aufs  Volk  zu  wirken)  a  priori  auf  ein  Prinzip 
der  Einteilung,  was  sonst  empirischen  Ursprungs  zu  sein  scheint, 
habe  kommen  können,  das  mit  dem  jetzt  angenommenen  glück- 
lich zusammentrifft;  wiewohl  ich  ihr  darum,  als  ob  sie  fehlerfrei 
sei,  nicht  das  Wort  reden  will. 

Nach  der  Vernunft  (d.  h.  objektiv)  wĂĽrden  die  Triebfedern, 
welche  die  Regierung  zu  ihrem  Zweck  (auf  das  Volk  EinfluĂź  zu 
haben)  benutzen  kann,  in  folgender  Ordnung  stehen:  zuerst  eines 
jeden  ewiges  Wohl,  dann  das  bĂĽrgerliche  als  Glied  der  Ge- 
sellschaft, endlich  das  Leibeswohl  (lange  leben  und  gesund  sein). 
Durch  die  öffentlichen  Lehren  in  Ansehung  des  ersten  kann  die 
Regierung  selbst  auf  das  Innere  der  Gedanken  und  die  ver- 
schlossensten Willensmeinungen  der  Untertanen,  jene  zu  entdecken, 
diese  zu  lenken,  den  größten  Einfluß  haben;  durch  die,  so  sich 
aufs  zweite  beziehen,  ihr  äußeres  Verhalten  unter  dem  Zügel 
öflnsntlicher  Gesetze  halten;  durch  die  dritte  sich  die  Existenz 
eines  starken  und  zahlreichen  Volks  sichern,  welches  sie  zu  ihren 
Absichten  brauchbar  findet.  —  —  Nach  der  Vernunft  würde 
also  wohl  die  gewöhnlich  angenommene  Rangordnung  unter  den 
oberen  Fakultäten  stattfinden;  nämlich  zuerst  die  theologische, 
darauf  die  der  Juristen  und  zuletzt  die  medizinische  Fakultät. 
Nach  dem  Naturinstinkt  hingegen  wĂĽrde  dem  Menschen  der 
Arzt  der  wichtigste  Mann  sein,  weil  dieser  ihm  sein  Leben  fristet, 
darauf  allererst  der  Rechtserfahrne,  der  ihm  das  zufällige  Seine 
zu  erhalten  verspricht,  und  nur  zuletzt  (fast  nur,  wenn  es  zum 
Sterben  kommt),  ob  es  zwar  um  die  Seligkeit  zu  tun  ist,  der 
Geistliche  gesucht  werden:  weil  auch  dieser  selbst,  so  sehr  er 
auch  die  GlĂĽckseligkeit  der  kĂĽnftigen  Welt  preiset,  doch,  da 
er  nichts  von  ihr  vor  sich  sieht,  sehnlich  wĂĽnscht,  von  dem 
Arzt  in  diesem  Jammertal  immer  noch  einige  Zeit  erhalten  zu 
werden. 


3  3  i  Der   Streit  der  Fahultatnu    Erster  Ahschnttt 

Alle    drei    obere   Fakultäten    gründen    die    ihnen    von    der  Re- 
gierung   anvertraute    Lehren    aut    Schritt,    welches    im    Zustande 
eines  durch  Gelehrsamkeit  geleiteten  Volks   auch  nicht  anders  sein 
kann,  weil   ohne   diese   es  keine  beständige,  für  jedermann  zugäng- 
liche  Norm,  darnach   es  sich  richten   könnte,  geben  würde.     Daß 
eine   solche   Schritt  (oder  Buch)   Statute,    d,   i.  von   der  WillkĂĽr 
eines   Obern    ausgehende    (fĂĽr    sich    selbst   nicht  aus   der  Vernunft 
entspringende)   Lehren,    enthalten   mĂĽsse,   versteht   sich  von   selbst, 
weil  diese  sonst  nicht  als  von  der  Regierung  sanktioniert  schlechthin 
Gehorsam  fordern  könnte,,  und   dieses  gilt  auch  von  dem  Gesetz- 
buchc    selbst    in    Ansehung    derjenigen    öffentlich    vorzutragenden 
Lehren,  die   zugleich  aus  der  Vernunft  abgeleitet  werden  könnten, 
auf    deren  Ansehen   aber    jenes    keine   RĂĽcksicht   nimmt,    sondern 
den   Befehl   eines  äußeren  Gesetzgebers  zum   Grunde   legt.  —  Von 
dem   Gesetzbuch,  als  dem  Kanon,   sind  diejenigen  BĂĽcher,  welche 
als  (vermeintlich)   vollständiger  Auszug  des  Geistes  des  Gesetzbuchs 
zum    faĂźlichem    Begriff    und     sicherern    Gebrauch    des    gemeinen 
Wesens   (der   Gelehrten   und  Ungelehrten)   von   den  Fakultäten  ab- 
gefaßt werden,   wie  etwa    die    symbolischen  Bücher,    gänzlich 
unterschieden.     Sie   können  nur  verlangen  als  Organ on,  um  den 
Zugang  zu  jenem  zu  erleichtern,  angesehen  zu  werden  und  haben 
gar  keine  Auctorität;  selbst  dadurch  nicht,   daß  sich  etwa  die  vor- 
nehmsten  Gelehrten   von    einem   gewissen   Fache    darĂĽber   geeinigt 
haben,  ein   solches  Buch    statt  Norm    für   ihre  Fakultät   gelten    zu 
lassen,  wozu  sie  gar  nicht  befugt  sind,  sondern  sie  einstweilen  als 
Lehrmethode  einzuführen,  die  aber  nach  Zeitumständen  veränderlich 
bleibt  und   ĂĽberhaupt  auch  nur  das  Formale  des  Vortrags  betreffen 
kann,  im  Materialen   der  Gesetzgebung  aber  schlechterdings  nichts 
ausmacht. 

Daher  schöpft  der  biblische  Theolog  (als  zur  obcrn  Fakultät 
gehörig)  seine  Lehren  nicht  aus  der  Vernunft,  sondern  aus  der 
Bibel,  der  Rechtslehrer  nicht  aus  dem  Naturrecht,  sondern  aus 
dem  Landrecht,  der  Arzneigelehrte  seine  ins  Publikum 
gehende  Heilmethode  nicht  aus  der  Physik  des  menschlichen 
Körpers,  sondern  aus  der  Medizinalordnung.  —  Sobald  eine 
dieser  Fakultäten  etwas  als  aus  der  Vernunft  Entlehntes  einzu- 
mischen wagt:  so  verletzt  sie  die  Auctorität  der  durch  sie  gebieten- 
den Regierung  und  kommt  ins  Gehege  der  philosophischen,  die 
ihr  alle  glänzende  von  jener  geborgte  Federn  ohne  Verschonen 
abzieht    und    mit   ihr  nach  dem  FuĂź   der   Gleichheit  und  Freiheit 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  5  3 

verfährt.  —  Daher  müssen  die  obern  Fakultäten  am  meisten  dar- 
auf bedacht  sein,  sich  mit  der  unteren  ja  nicht  in  MiĂźheirat  ein- 
zulassen, sondern  sie  fein  weit  in  ehrerbietiger  Entfernung  von 
sich  abzuhalten,  damit  das  Ansehen  ihrer  Statute  nicht  durch  die 
freien  VernĂĽnfteleien  der  letzteren  Abbruch  leide. 


A. 

Eigentümlichkeit  der  theologischen  Fakultät. 

DaĂź  ein  Gott  sei,  beweiset  der  biblische  Theolog  daraus,  daĂź 
er  in  der  Bibel  geredet  hat,  worin  diese  auch  von  seiner  Natur 
(selbst  bis  dahin,  wo  die  Vernunft  mit  der  Schrift  nicht  Schritt 
halten  kann,  z.  B.  vom  unerreichbaren  Geheimnis  seiner  dreifachen 
Persönlichkeit)  spricht.  Daß  aber  Gott  selbst  durch  die  Bibel 
geredet  habe,  kann  und  darf,  weil  es  eine  Geschichtssache  ist, 
der  biblische  Theolog  als  ein  solcher  nicht  beweisen;  denn  das 
gehört  zur  philosophischen  Fakultät.  Er  wird  es  also  als  Glaubens- 
sache auf  ein  gewisses  (freilich  nicht  erweisliches  oder  erklär- 
liches) Gefühl  der  Göttlichkeit  derselben  selbst  für  den  Gelehrten 
gründen,  die  Frage  aber  wegen  dieser  Göttlichkeit  (im  buchstäb- 
lichen Sinne  genommen)  des  Ursprungs  derselben  im  öffentlichen 
Vortrage  ans  Volk  gar  nicht  aufwerfen  mĂĽssen:  weil  dieses  sich 
darauf  als  eine  Sache  der  Gelehrsamkeit  doch  gar  nicht  versteht 
und  hiedurch  nur  in  vorwitzige  GrĂĽbeleien  und  Zweifel  verwickelt 
werden  wĂĽrde;  da  man  hingegen  hierin  weit  sicherer  auf  das 
Zutrauen  rechnen  kann,  was  das  Volk  in  seine  Lehrer  setzt.  — 
Den  SprĂĽchen  der  Schrift  emen  mit  dem  Ausdruck  nicht  genau 
zusammentreffenden,  sondern  etwa  moralischen  Sinn  unterzulegen, 
kann  er  auch  nicht  befugt  sein,  und  da  es  keinen  von  Gott 
autorisierten  menschlichen  Schriftausleger  gibt,  muĂź  der  biblische 
Theolog  eher  auf  übernatürliche  Eröffnung  des  Verständnisses 
durch  einen  in  alle  Wahrheit  leitenden  Geist  rechnen,  als  zugeben, 
daß  die  Vernunft  sich  darin  menge  und  ihre  (aller  höheren  Auto- 
rität ermangelnde)  Auslegung  geltend  mache.  —  Endlich  was  die 
Vollziehung  der  göttlichen  Gebote  an  unserem  Willen  betrifft,  so 
muĂź  der  biblische  Theolog  ja  nicht  auf  die  Natur,  d.  i.  das  eigne 
moralische  Vermögen  des  Menschen  (die  Tugend),  sondern  auf 
die  Gnade   (eine  ĂĽbernatĂĽrliche,  dennoch  zugleich  morahsche  Ein- 


5  ]  4  ^^'''  ^^^^^^  ^^^''  Faktätäten.    Erster  Abschnitt 

Wirkung)  rechnen,  deren  aber  der  Mensch  auch  nicht  anders,  als 
vermittelst  eines  inniglich  das  Herz  umwandelnden  Glaubens  teil- 
hattig  werden,  diesen  Glauben  selbst  aber  doch  wiederum  von  der 
Gnade  erwarten  kann.  —  Bemengt  der  biblische  Theolog  sich  in 
Ansehung  irgendeines  dieser  Sätze  mit  der  Vernunft,  gesetzt  daß 
Jiesc  auch  mit  der  größten  Aufrichtigkeit  und  dem  größten  Ernst 
auf  dasselbe  Ziel  hinstrebete,  so  ĂĽberspringt  er  (wie  der  Bruder 
des  ROMULUS)  die  Mauer  des  allein  seligmachenden  Kirchenglau- 
bens und  verläuft  sich  in  das  offene,  freie  Feld  der  eigenen  Be- 
urteilung und  Philosophie,  wo  er,  der  geistlichen  Regierung  ent- 
laufen, allen  Gefahren  der  Anarchie  ausgesetzt  ist.  —  Man  muß 
aber  wohl  merken,  daĂź  ich  hier  vom  reinen  (puruSj  putus)  bibli- 
schen Theologen  rede,  der  von  dem  verschrieenen  Freiheitsgeist 
der  Vernunft  und  Philosophie  noch  nicht  angesteckt  ist.  Denn 
sobald  wir  zwei  Geschäfte  von  verschiedener  Art  vermengen  und 
ineinanderlaufen  lassen,  können  wir  uns  von  der  Eigentümlichkeit 
jedes  einzelnen  derselben  keinen  bestimmten  Begriff  machen. 


B. 

Eigentümlichkeit  der  Juristenfakultät. 

Der  schriftgelehrtc  Jurist  sucht  die  Gesetze  der  Sicherung 
des  Mein  und  Dein  (wenn  er,  wie  er  soll,  als  Beamter  der  Re- 
gierung verfährt)  nicht  in  seiner  Vernunft,  sondern  im  öffentlich 
gegebenen  und  höchsten  Orts  sanktionierten  Gesetzbuch.  Den 
Beweis  der  Wahrheit  und  Rechtmäßigkeit  derselben,  ingleichen 
die  Verteidigung  wider  die  dagegen  gemachte  Einwendung  der 
Vernunft  kann  man  billigerweise  von  ihm  nicht  fordern.  Denn 
die  Verordnungen  machen  allererst,  daĂź  etwas  recht  ist,  und  nun 
nachzufragen,  ob  auch  die  Verordnungen  selbst  recht  sein  mögen, 
muĂź  von  den  Juristen  als  ungereimt  geradezu  abgewiesen  werden. 
Es  wäre  lächerlich,  sich  dem  Gehorsam  gegen  einen  äußern  und 
obersten  Wil'en  darum,  weil  dieser  angeblich  nicht  mit  der  Ver- 
nunft ĂĽbereinstimmt,  entziehen  zu  wollen.  Denn  darin  besteht 
eben  das  Ansehen  der  Regierung,  daĂź  sie  den  Untertanen  nicht 
die  Freiheit  läßt,  nach  ihren  eigenen  Begriffen,  sondern  nach 
Vorschrift  der  gesetzgebenden  Gewalt  ĂĽber  Recht  und  Unrecht 
zu   urteilen. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  7Jiit  der  theologischen  3  3  5 

In    einem  Stücke  aber    ist  es  mit  der  Juristenfakultät  für  die 
Praxis    doch    besser   bestellt    als  mit  der  theologischen:   daß  näm- 
lich jene  einen  sichtbaren  Ausleger  der  Gesetze  hat,  nämlich  ent- 
weder   an    einem    Richter,    oder    in  der  Appellation  von  ihm  an 
einer  Gesetzkommission   und    (in    der   höchsten)    am  Gesetzgeber 
selbst,    welches    in    Ansehung    der    auszulegenden    SprĂĽche    eines 
heiligen    Buchs    der    theologischen    Fakultät    nicht    so    gut  wird. 
Doch  wird  dieser  Vorzug  andererseits  durch  einen  nicht  geringeren 
Nachteil    aufgewogen,    nämlich    daß    die  weltlichen   Gesetzbücher 
der  Veränderung    unterworfen  bleiben    müssen,    nachdem  die  Er- 
fahrung   mehr    oder    bessere  Einsichten    gewährt,    dahingegen  das 
heilige  Buch  keine  Veränderung  (Verminderung  oder  Vermehrung) 
statuiert    und    fĂĽr    immer    geschlossen    zu    sein   behauptet.     Auch 
findet  die  Klage  der  Juristen,    daĂź  es  beinah  vergeblich  sei,   eine 
genau  bestimmte  Norm    der  Rechtspflege  (/«j  certum)  zu  hoffen, 
beim    biblischen    Theologen    nicht    statt.     Denn    dieser    läßt    sich 
den    Anspruch    nicht    nehmen,    daĂź    seine    Dogmatik    nicht    eine 
solche    klare  und  auf  alle  Fälle  bestimmte  Norm  enthalte.  Wenn 
ĂĽberdem    die    juristischen    Praktiker    (Advokaten   oder  Justizkom- 
missarien),   die    dem    Klienten    schlecht  geraten  und  ihn  dadurch 
in    Schaden    versetzt    habeh,    darĂĽber    doch    nicht    verantwortĂĽch 
sein  wollen  (ob  consilium  nemo  tenetur),    so    nehmen    es  doch  die 
theologischen    Geschäftsmänner    (Prediger    und    Seelsorger)    ohne 
Bedenken    auf   sich    und    stehen  dafür,    nämlich  dem  Tone  nach, 
daĂź  alles  so  auch  in  der  kĂĽnftigen  W^elt  werde  abgeurteilt  wer- 
den, als  sie  es  in  dieser  abgeschlossen  haben;  obgleich,  wenn  sie 
aufgefordert    würden,    sich    förmlich   zu  erklären,    ob  sie  für  die 
Wahrheit    alles   dessen,    was  sie  auf  biblische  Autorität  geglaubet 
wissen  wollen,  mit  ihrer  Seele  Gewähr  zu  leisten  sich  getraueten, 
sie  wahrscheirilicherweise  sich  entschuldigen  wĂĽrden.    Gleichwohl 
liegt  es  doch  in  der  Natur  der  Grundsätze  dieser  Volksichrer,  die 
Richtigkeit    ihrer  Versicherung    keinesweges  bezweifeln  zu  lassen, 
welches    sie    freiüch    um  desto  sicherer    tun  können,    weil  sie  in 
diesem  Leben    keine  Widerlegung  derselben  durch  Erfahrung  be- 
fĂĽrchten dĂĽrfen. 


3  3  ^         Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

C. 
EigentüraJichkeit  der  medizinischen  Fakultät. 

Der  Arzt  ist  ein  KĂĽnstler,  der  doch,  weil  seine  Kunst  von 
der  Natur  unmittelbar  entlehnt  und  um  deswillen  von  einer 
Wissenschaft  der  Natur  abgeleitet  werden  muĂź,  als  Gelehrter 
irgendeiner  Fakultät  untergeordnet  ist,  bei  der  er  seine  Schule 
gemacht  haben  und  deren  Beurteilung  er  unterworfen  bleiben 
muß.  —  Weil  aber  die  Regierung  an  der  Art,  wie  er  die  Ge- 
sundheit des  Volks  behandelt,  notwendig  groĂźes  Interesse  nimmt: 
so  ist  sie  berechtigt,  durch  eine  Versammlung  ausgewählter  Ge- 
schäftsleute dieser  Fakultät  (praktischer  Arzte)  über  das  öffent- 
liche Verfahren  der  Ärzte  durch  ein  Obersanitätskollegium 
und  Medizinalverordnungen  Aufsicht  zu  haben.  Die  letzteren  aber 
bestehen  wegen  der  besondern  Beschaffenheit  dieser  Fakultät,  daß 
sie  nämlich  ihre  Verhaltungsregeln  nicht,  wie  die  vorigen  zwei 
obern,  von  Befehlen  eines  Oberen,  sondern  aus  der  Natur  der 
Dinge  selbst  hernehmen  muß  —  weshalb  ihre  Lehren  auch  ur- 
sprünglich der  philosophischen  Fakultät,  im  weitesten  Verstände 
genommen,  angehören  müßten  — ,  nicht  sowohl  in  dem,  was 
die  Arzte  tun,  als  was  sie  unterlassen  sollen:  nämlich  erstlich, 
daĂź  es  fĂĽrs  Publikum  ĂĽberhaupt  Arzte,  zweitens,  daĂź  es  keine 
Afterärzte  gebe  (kein  ius  impune  occidendi  nach  dem  Grundsatz: 
jiat  experimentum  in  corpore  vili).  Da  nun  die  Regierung  nach 
dem  ersten  Prinzip  für  die  öffentliche  Bequemlichkeit,  nach 
dem  zweiten  für  die  öffentliche  Sicherheit  (in  der  Gesund- 
heitsangelegenheit des  Volks)  sorgt,  diese  zwei  StĂĽcke  aber  eine 
Polizei  ausmachen,  so  wird  alle  Medizinalordnung  eigendich  nur 
die  medizinische  Polizei  betreffen. 

Diese  Fakultät  ist  also  viel  freier  als  die  beiden  ersten  unter 
den  obern  und  der  philosophischen  sehr  nahe  verwandt;  ja  was 
die  Lehren  derselben  betrifft,  wodurch  Arzte  gebildet  werden, 
gänzlich  frei,  weil  es  für  sie  keine  durch  höchste  Autorität  sank- 
tionierte, sondern  nur  aus  der  Natur  geschöpfte  Bücher  geben 
kann,  auch  keine  eigentlichen  Gesetze  (wenn  man  darunter  den 
unveränderlichen  Willen  des  Gesetzgebers  versteht),  sondern  nur 
Verordnungen  (Edikte),  welche  zu  kennen  nicht  Gelehrsamkeit 
ist,  als  zu  der  ein  systematischer  Inbegriff  von  Lehren  erfordert 
wird,  den   zwar  die  Fakultät  besitzt,  welchen  aber  (als  in  keinem 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  1 3  7 

G-esetzbuch  enthalten)  die  Regierung  zu  sanktionieren  nicht  Be- 
fugnis hat,  sondern  jener  ĂĽberlassen  muĂź,  indessen  sie  durch 
Dispensatorien  und  Lazarettanstalten  den  Geschäftsleuten  derselben 
ihre  Praxis  im  öffentlichen  Gebrauch  nur  zu  befördern  bedacht 
ist.  —  Diese  Geschäftsmänner  (die  Arzte)  aber  bleiben  in  Fällen, 
welche,  als  die  medizinische  Polizei  betreffend,  die  Regierung  inter- 
essieren, dem  Urteile  ihrer  Fakultät  unterworfen. 


Zweiter  Abschnitt. 

Begriff  und  Einteilung  der  untern  Fakultät. 

Man  kann  die  untere  Fakultät  diejenige  Klasse  der  Universität 
nennen,    die    oder    sofern    sie    sich    nur    mit    Lehren    beschäftigt, 
welche    nicht    auf   den   Befehl   eines  Oberen  zur  Richtschnur  an- 
genommen werden.    Nun  kann  es  zwar  geschehen,  daĂź  man  eine 
praktische  Lehre  aus  Gehorsam  befolgt;   sie  aber  darum,  weil  es 
befohlen  ist  (de  par  le  Roi),  fĂĽr  wahr  anzunehmen,  ist  nicht  allein 
objektiv  (als  ein  Urteil,  das  nicht  sein  sollte),  sondern  auch  sub- 
jektiv (als  ein  solches,  welches  kein  Mensch  fällen  kann)  schlech- 
terdings unmöglich.    Denn  der  irren  will,  wie  er  sagt,  irrt  wirk- 
lich   nicht    und    nimmt    das    falsche  Urteil    nicht   in  der  Tat  fĂĽr 
wahr  an,  sondern  gibt  nur  ein  Fürwahrhalten  fälschlich  vor,  das 
in  ihm  doch  nicht  anzutreffen  ist.  —  Wenn  also  von  der  Wahr- 
heit gewisser  Lehren,  die  in  öffentlichen  Vortrag  gebracht  werden 
sollen,    die  Rede  ist,    so  kann   sich  der  Lehrer  desfalls  nicht  auf 
höchsten  Befehl  berufen,  noch  der  Lehrling  vorgeben,  sie  auf  Be- 
fehl   geglaubt    zu    haben,    sondern  nur,    wenn  vom  Tun  geredet 
wird.    Alsdenn  aber  muĂź  er  doch,  daĂź  ein  solcher  Befehl   wirk- 
lich   ergangen,    imgleichen    daĂź  er  ihm  zu  gehorchen  verpflichtet 
oder    wenigstens    befugt    sei,    durch    ein    freies  Urteil   erkennen, 
widrigenfalls  seine  Annahme  ein  leeres  Vorgeben  und  Lüge  ist.  — 
Nun    nennt  man  das  Vermögen,    nach  der  Autonomie,  d.  1.   frei 
(Prinzipien  des  Denkens  überhaupt  gemäß),  zu  urteilen,  die  Ver- 
nunft.   Also  wird  die  philosophische  Fakultät  darum,  weil  sie  für 
die  Wahrheit  der  Lehren,  die  sie  aufnehmen  oder  auch  nur  em- 
räumcn    soll,    stehen    muß,    insofern    als    frei    und  nur  unter  der 
Gesetzgebung  der  Vernunft,  nicht  der  der  Regierung  stehend  ge- 
dacht werden  mĂĽssen. 

Kants  Schriften.    Bd.  VII.  --' 


3  3  8  Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

Auf  einer  Universität  muß  aber  auch  ein  solches  Departement 
gestiftet,  d.  i.  es  muß  eine  philosophische  Fakultät  sein.  In  An- 
sehung der  drei  obern  dient  sie  dazu,  sie  zu  kontrollieren  und 
ihnen  eben  dadurch  nĂĽtzlich  zu  werden,  weil  auf  Wahrheit  (der 
wesentlichen  und  ersten  Bedingung  der  Gelehrsamkeit  ĂĽberhaupt) 
alles  ankommt;  die  NĂĽtzlichkeit  aber,  welche  die  oberen  Fakul- 
täten zum  Behuf  der  Regierung  versprechen,  nur  ein  Moment 
vom  zweiten  Range  ist.  —  Auch  kann  man  allenfalls  der  theo- 
logischen Fakultät  den  stolzen  Anspruch,  daß  die  philosophische 
ihre  Magd  sei,  einräumen  (wobei  doch  noch  immer  die  Frage 
bleibt:  ob  diese  ihrer  gnädigen  Frau  die  Fackel  vorträgt  oder 
die  Schleppe  nachträgt),  wenn  man  sie  nur  nicht  verjagt  oder 
ihr  den  Mund  zubindet;  denn  eben  diese  Anspruchlosigkeit,  bloĂź 
frei  zu  sein,  aber  auch  frei  zu  lassen,  bloĂź  die  Wahrheit  zum 
Vorteil  jeder  Wissenschaft  auszumitteln  und  sie  zum  beliebigen 
Gebrauch  der  oberen  Fakultäten  hinzustellen,  muß  sie  der  Regie- 
rung selbst  als  unverdächtig,   ja  als  unentbehrlich  empfehlen. 

Die  philosophische  Fakultät  enthält  nun  zwei  Departemente, 
das  eine  der  historischen  Erkenntnis  (wozu  Geschichte,  Erd- 
beschreibung, gelehrte  Sprachkenntnis,  Flumanistik  mit  allem  ge- 
hört, was  die  Naturkunde  von  empirischem  Erkenntnis  darbietet), 
das  andere  der  reinen  Vernunfterkenntnisse  (reinen  Mathe- 
matik und  der  reinen  Philosophie,  Metaphysik  der  Natur  und  der 
Sitten)  und  beide  Teile  der  Gelehrsamkeit  in  ihrer  wechselseitigen 
Beziehung  aufeinander.  Sie  erstreckt  sich  eben  darum  auf  alle 
Teile  des  menschlichen  Wissens  (mithin  auch  historisch  ĂĽber  die 
obern  Fakultäten),  nur  daß  sie  nicht  alle  (nämlich  die  eigentüm- 
lichen Lehren  oder  Gebote  der  obern)  zum  Inhalte,  sondern  zum 
Gegenstande  ihrer  PrĂĽfung  und  Kritik  in  Absicht  auf  den  Vorteil 
der  Wissenschaften  macht. 

Die  philosophische  Fakultät  kann  also  alle  Lehren  in  Anspruch 
nehmen,  um  ihre  Wahrheit  der  PrĂĽfung  zu  unterwerfen.  Sie  kann 
von  der  Regierung,  ohne  daĂź  diese  ihrer  eigentlichen,  wesent- 
lichen Absicht  zuwider  handle,  nicht  mit  einem  Interdikt  belegt 
werden,  und  die  obern  Fakultäten  müssen  sich  ihre  Einwürfe  und 
Zweifel,  die  sie  öffentlich  vorbringt,  gefallen  lassen,  welches  jene 
zwar  allerdings  lästig  finden  dürften,  weil  sie  ohne  solche  Kritiker 
in  ihrem,  unter  welchem  Titel  es  auch  sei,  einmal  innehabenden 
Besitz  ungestört  ruhen  und  dabei  noch  despotisch  hätten  befehlen 
können.  —  Nur  den  Geschäftsieuten  jener  oberen  Fakultäten   (den 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   5  5  9 

Geistlichen,  Rechtsbeamten  und  Ă„rzten)  kann  es  allerdings  ver- 
wehrt werden,  daĂź  sie  den  ihnen  in  FĂĽhrung  ihres  respektiven 
Amts  von  der  Regierung  zum  Vortrage  anvertrauten  Lehren  nicht 
öffentlich  widersprechen  und  den  Philosophen  zu  spielen  sich  er- 
kühnen; denn  das  kann  nur  den  Fakultäten,  nicht  den  von  der 
Regierung  bestellten  Beamten  erlaubt  sein:  weil  diese  ihr  Wissen 
nur  von  jenen  her  haben.  Die  letztern  nämlich,  z.  B.  Prediger 
und  Rechtsbeamte,  wenn  sie  ihre  Einwendungen  und  Zweifel 
gegen  die  geistliche  oder  weltliche  Gesetzgebung  ans  Volk  zu 
richten  sich  gelĂĽsten  lieĂźen,  woirden  es  dadurch  gegen  die  Re- 
gierung aufwiegeln;  dagegen  die  Fakultäten  sie  nur  gegeneinander, 
als  Gelehrte,  richten,  wovon  das  Volk  praktischerweise  keine  Notiz 
nimmt,  selbst  wenn  sie  auch  zu  seiner  Kenntnis  gelangen,  weil 
es  sich  selbst  bescheidet,  daĂź  VernĂĽnfteln  nicht  seine  Sache  sei, 
und  sich  daher  verbunden  fĂĽhlt,  sich  nur  an  dem  zu  halten,  was 
ihm  durch  die  dazu  bestellte  Beamte  der  Regierung  verkĂĽndigt 
wird.  —  Diese  Freiheit  aber,  die  der  untern  Fakultät  nicht  ge- 
schmälert werden  darf,  hat  den  Erfolg,  daß  die  obern  Fakultäten 
(selbst  besser  belehrt)  die  Beamte  immer  mehr  in  das  Gleis 
der  Wahrheit  bringen,  welche  dann  ihrerseits,  auch  ĂĽber  ihre 
Pflicht  besser  aufgeklärt,  in  der  Abänderung  des  Vortrags  keinen 
Anstoß  finden  werden;  da  er  nur  ein  besseres  Verständnis  der 
Mittel  zu  ebendemselben  Zweck  ist,  welches  ohne  polemische  und 
nur  Unruhe  erregende  Angriffe  auf  bisher  bestandene  Lehrweisen 
mit  völliger  Beibehaltung  des  Matcrialen  derselben  gar  wohl  ge- 
schehen kann. 


Dritter   Abschnitt. 

Vom  gesetzwidrigen  Streit  der  oberen  Fakultäten 

mit  der  unteren. 

Gesetzwidrig  ist  ein  öffentUcher  Streit  der  Meinungen,  mit- 
hin ein  gelehrter  Streit  entweder  der  Materie  wegen,  wenn  es 
gar  nicht  erlaubt  wäre,  über  einen  öffentlichen  Satz  zu  streiten, 
weil  es  gar  nicht  erlaubt  ist,  ĂĽber  ihn  und  seinen  Gegensatz 
öffentlich  zu  urteilen;  oder  bloß  der  Form  wegen,  wenn  die 
Art,  wie  er  gefĂĽhrt  wird,  nicht  in  objektiven  GrĂĽnden,  die  auf- 
die  Vernunft  des   Gegners  gerichtet  sind,   sondern  in  subjektiven. 


340         Der  Streit  der  Fakultatetj,    Erster  Abschnitt 

sein  Urteil  durch  Neigung  bestimmenden  Bewegursachen  besteht, 
um  ihn  durch  List,  (wozu  auch  Bestechung  gehört)  oder  Gewalt 
(Drohung)   zur   Einwilligung  zu   bringen. 

Nun  wird  der  Streit  der  Fakultäten  um  den  Einfluß  aufs 
Volk  geführt,  und  diesen  Einfluß  können  sie  nur  bekommen, 
sofern  jede  derselben  das  Volk  glauben  machen  kann,  daĂź  sie 
das  Heil  desselben  am  besten  zu  befördern  verstehe,  dabei  aber 
doch  in  der  Art,  wie  sie  dieses  auszurichten  gedenken,  einander 
gerade   entgegengesetzt  sind. 

Das  Volk  aber  setzt  sein  Heil  zu  oberst  nicht  in  der  Frei- 
heit, sondern  in  seinen  natĂĽrlichen  Zwecken,  also  in  diesen  drei 
StĂĽcken:  nach  dem  Tode  selig,  im  Leben  unter  andern  Mit- 
menschen ^ts  Seinen  durch  öffentliche  Gesetze  gesichert,  endlich 
des  physischen  Genusses  des  Lebens  an  sich  selbst  (d.  i.  der 
Gesundheit  und  langen  Lebens)  gewärtig  zu  sein. 

Die  philosophische  Fakultät  aber,  die  sich  auf  alle  diese  Wünsche 
nur  durch  Vorschriften,  die  sie  aus  der  Vernunft  entlehnt,  ein- 
lassen kann,  mithin  dem  Prinzip  der  Freiheit  anhänglich  ist,  hält 
sich  nur  an  das,  was  der  Mensch  selbst  hinzutun  kann  und  soll: 
rechtschaffen  zu  leben,  keinem  Unrecht  zu  tun,  sich  mäßig 
im  GenĂĽsse  und  duldend  in  Krankheiten  und  dabei  vornehmlich 
auf  die  SelbsthĂĽlfe  der  Natur  rechnend  zu  verhalten;  zu  welchem 
allem  es  freilich  nicht  eben  groĂźer  Gelehrsamkeit  bedarf,  wobei 
man  dieser  aber  auch  größtenteils  entbehren  kann,  wenn  man  nur 
seine  Neigungen  bändigen  und  seiner  Vernunft  das  Regiment  an- 
vertrauen wollte,  was  aber  als  SelbstbemĂĽhung  dem  Volk  gar  nicht 
gelegen  ist. 

Die  drei  obern  Fakultäten  werden  nun  vom  Volk  (das  in 
obigen  Lehren  fĂĽr  seine  Neigung  zu  genieĂźen  und  Abneigung 
sich  darum  zu  bearbeiten  schlechten  Ernst  findet)  aufgefordert, 
ihrerseits  Propositionen  zu  tun,  die  annehmlicher  sind:  und  da 
lauten  die  AnsprĂĽche  an  die  Gelehrten,  wie  folgt:  Was  ihr  Philo- 
sophen da  schwatzet,  wußte  ich  längst  von  selbst;  ich  will  aber 
von  euch  als  Gelehrten  wissen:  wie,  wenn  ich  auch  ruchlos  ge- 
lebt hätte,  ich  dennoch  kurz  vor  dem  Torschlüsse  mir  ein 
EinlaĂźbillett  ins  Himmelreich  verschafl'en,  wie,  wenn  ich  auch 
unrecht  habe,  ich  doch  meinen  ProzeĂź  gewinnen,  und  wie, 
wenn  ich  auch  meine  körperlichen  Kräfte  nach  Herzenslust  benutzt 
und  mißbraucht  hätte,  ich  doch  gesund  bleiben  und  lange  leben 
könne.      Dafür    habt    ihr  ja  studiert,    daß   ihr  mehr  wissen  müßt 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  4 1 

als  unsereiner  (von  euch  Idioten  genannt),  der  auf  nichts  weiter 
als  auf  gesunden  Verstand  Anspruch  macht.  —  Es  ist  aber  hier, 
als  ob  das  Volk  zu  dem  Gelehrten  wie  zum  Wahrsager  und  Zau- 
berer ginge,  der  mit  ĂĽbernatĂĽrlichen  Dingen  Bescheid  weiĂź;  denn 
der  Ungelehrte  macht  sich  von  einem  Gelehrten,  dem  er  etwas 
zun^utet,  gern  ĂĽbergroĂźe  Begriffe.  Daher  ist  es  natĂĽrlicherweise 
vorauszusehen,  daĂź,  wenn  sich  jemand  fĂĽr  einen  solchen  Wunder- 
mann auszugeben  nur  dreust  genug  ist,  ihm  das  Volk  zufallen 
und  die  Seite  der  philosophischen  Fakultät  mit  Verachtung  ver- 
lassen werde. 

Die  Geschäftsleute  der  drei  oberen  Fakultäten  sind  aber  jeder- 
zeit solche  Wundermänner,  wenn  der  philosophischen  nicht  erlaubt 
wird,  ihnen  öffentlich  entgegenzuarbeiten,  nicht  um  ihre  Lehren 
zu  stĂĽrzen,  sondern  nur  der  magischen  Kraft,  die  ihnen  und  den 
damit  verbundenen  Observanzen  das  Publikum  abergläubisch  bei- 
legt, zu  widersprechen,  als  wenn  sie  bei  einer  passiven  Ăśbergebung 
an  solche  kunstreiche  FĂĽhrer  sich  alles  Selbsttuns  ĂĽberhoben  und  mit 
großer  Gemächlichkeit  durch  sie  zu  Erreichung  jener  angelegenen 
Zwecke  schon  werde  geleitet  werden. 

Wenn  die  obern  Fakultäten  solche  Grundsätze  annehmen 
(welches  freilich  ihre  Bestimmung  nicht  ist),  so  sind  und  bleiben 
sie  ewig  im  Streit  mit  der  unteren;  dieser  Streit  aber  ist  auch 
gesetzwidrig,  weil  sie  die  Ăśbertretung  der  Gesetze  nicht  allein 
als  kein  Fiindernis,  sondern  wohl  gar  als  erwĂĽnschte  Veranlassung 
ansehen,  ihre  groĂźe  Kunst  und  GeschickĂĽchkeit  zu  zeigen,  alles 
wieder  gut,  ja  noch  besser  zu  machen,  als  es  ohne  dieselbe  ge- 
schehen wĂĽrde. 

Das  Volk  will  geleitet,  d.  i.  (in  der  Sprache  der  Demagogen) 
es  will  betrogen  sein.  Es  will  aber  nicht  von  den  Fakultäts- 
gelehrten (denn  deren  Weisheit  ist  ihm  zu  hoch),  sondern  von 
den  Geschäftsmännern  derselben,  die  das  Machwerk  {javoir fa'tre) 
verstehen,  von  den  Geistlichen,  Justizbeamten,  Ă„rzten,  geleitet  sein, 
die  als  Praktiker  die  vorteilhafteste  Vermutung  fĂĽr  sich  haben; 
dadurch  dann  die  Regierung,  die  nur  durch  sie  aufs  Volk  wirken 
kann,  selbst  verleitet  wird,  den  Fakultäten  eine  Theorie  auf- 
zudringen, die  nicht  aus  der  reinen  Einsicht  der  Gelehrten  der- 
selben entsprungen,  sondern  auf  den  EinfluĂź  berechnet  ist,  den  ihre 
Geschäftsmänner  dadurch  aufs  Volk  haben  können,  weil  dieses 
natürlicherweise  dem  am  meisten  anhängt,  wobei  es  am  wenigsten 
nötig  hat,  sich  selbst  zu  bemühen  und  sich  seiner  eigenen  Vernunft 


3  4 1  Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

zu  bedienen,  und  wo  am  besten  die  Pflichten  mit  den  Neigungen 
in  Verträglichkeit  gebracht  werden  können;  z.  B.  im  theologischen 
Fache,  daß  buchstäblich  „Glauben",  ohne  zu  untersuchen  (selbst 
ohne  einmal  recht  zu  verstehen),  was  geglaubt  werden  soll,  fĂĽr 
sich  heilbringend  sei,  und  daĂź  durch  Begehung  gewisser  vorschrift- 
mäßigen Formalien  unmittelbar  Verbrechen  können  abgewaschen 
werden;  oder  im  juristischen,  daĂź  die  Befolgung  des  Gesetzes  nach 
den  Buchstaben  der  Untersuchung  des  Sinnes  des  Gesetzgebers 
ĂĽberhebe. 

Hier  ist  nun  ein  wesentlicher,  nie  beizulegender  gesetzwidriger 
Streit  zwischen  den  obcrn  und  der  untern  Fakultät,  weil  das  Prinzip 
der  Gesetzgebung  fĂĽr  die  erstere,  welches  man  der  Regierung 
unterlegt,  eine  von  ihr  autorisierte  Gesetzlosigkeit  selbst  sein  würde.  — 
Denn  da  Neigung  und  ĂĽberhaupt  das,  was  jemand  seiner  Privat- 
absicht zuträglich  findet,  sich  schlechterdings  nicht  zu  einem  Ge- 
setze qualifiziert,  mithin  auch  nicht  als  ein  solches  von  den  obern 
Fakultäten  vorgetragen  werden  kann,  so  würde  eine  Regierung, 
welche  dergleichen  sanktionierte,  indem  sie  wider  die  Vernunk 
selbst  verstößt,  jene  obere  Fakultäten  mit  der  philosophischen  in 
einen  Streit  versetzen,  der  gar  nicht  geduldet  werden  kann,  indem 
er  diese  gänzlich  vernichtet,  welches  freilich  das  kürzeste,  aber  auch 
(nach  dem  Ausdruck  der  Ă„rzte)  ein  in  Todesgefahr  bringendes 
heroisches  Mittel  ist,  einen  Streit  zu  Ende  zu  bringen. 


Vierter    Abschnitt. 

Vom  gesetzmäßigen  Streit  der  oberen  Fakultäten  mit  der 

unteren. 

Welcherlei  Inhalts  auch  die  Lehren  immer  sein  mögen,  deren 
öffentlichen  Vortrag  die  Regierung  durch  ihre  Sanktion  den  obern 
Fakultäten  aufzulegen  befugt  sein  mag,  so  können  sie  doch  nur 
als  Statute,  die  von  ihrer  WillkĂĽr  ausgehen,  und  als  menschliche 
Weisheit,  die  nicht  unfehlbar  ist,  angenommen  und  verehrt  werden. 
Weil  indessen  die  Wahrheit  derselben  ihr  durchaus  nicht  gleich- 
gĂĽltig sein  darf,  in  Ansehung  welcher  sie  der  Vernunft  (deren 
Interesse  die  philosophische  Fakultät  zu  besorgen  hat)  unterworfen 
bleiben  müssen,  dieses  aber  nur  durch  Verstattung  völliger  Freiheit 
einer    öflentlichcn    Prüfung    derselben    möglich    ist,  so   wird,   weil 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  4  3 

willkürliche,  obzwar  höchsten  Orts  sanktionierte,  Satzungen  mit 
den  durch  die  Vernunft  als  notwendig  behaupteten  Lehren  nicht 
so  von  selbst  immer  zusammenstimmen  dĂĽrften,  erstlich  zwischen  den 
obern  Fakultäten  und  der  untern  der  Streit  unvermeidlich,  zweitens 
aber  auch  gesetzmäßig  sein,  und  dieses  nicht  bloß  als  Betugnis, 
sondern  auch  als  Pflicht  der  letzteren,  wenngleich  nicht  die  ganze 
Wahrheit  öffentlich  zu  sagen,  doch  darauf  bedacht  zu  sein,  daß 
alles,  was,  so  gesagt,  als  Grundsatz  aufgestellt  wird,  wahr  sei. 

Wenn  die  Quelle  gewisser  sanktionierter  Lehren  historisch  ist, 
so  mögen  diese  auch  noch  so  sehr  als  heilig  dem  unbedenklichen 
Gehorsam  des  Glaubens  anempfohlen  werden;  die  philosophische 
Fakultät  ist  berechtigt,  ja  verbunden,  diesem  Ursprünge  mit  kritischer 
Bedenklichkeit  nachzuspĂĽren.  Ist  sie  rational,  ob  sie  gleich  im 
Tone  einer  historischen  Erkenntnis  (als  Offenbarung)  aufgestellt 
worden,  so  kann  ihr  (der  untern  Fakultät)  nicht  gewehrt  werden, 
die  VernimftgrĂĽnde  der  Gesetzgebung  aus  dem  historischen  Vor- 
trage herauszusuchen  und  ĂĽberdem,  ob  sie  technisch-  oder  moralisch- 
praktisch sind,  zu  würdigen.  Wäre  endlich  der  Quell  der  sich  als 
Gesetz  ankündigenden  Lehre  gar  nur  ästhetisch,  d.  i.  auf  ein 
mit  einer  Lehre  verbundenes  GefĂĽhl  gegrĂĽndet  (welches,  da  es 
kein  objektives  Prinzip  abgibt,  nur  als  subjektiv  gĂĽltig,  ein  all- 
gemeines Gesetz  daraus  zu  machen  untauglich,  etwa  frommes  Ge- 
fĂĽhl eines  ĂĽbernatĂĽrlichen  Einflusses  sein  wĂĽrde),  so  muĂź  es  der 
philosophischen  Fakultät  frei  stehen,  den  Ursprung  und  Gehalt  eines 
solchen  angeblichen  Belehrungsgrundes  mit  kalter  Vernunft  öffent- 
lich zu  prĂĽfen  und  zu  wĂĽrdigen,  ungeschreckt  durch  die  Heiligkeit 
des  Gegenstandes,  den  man  zu  fĂĽhlen  vorgibt  und  entschlossen, 
dieses  vermeinte  Gefühl  auf  BegriflF  zu  bringen.  —  Folgendes  ent- 
hält die  formale  Grundsätze  der  Führung  eines  solchen  Streits  und 
die  sich  daraus  ergebende  Folgen. 

i)  Dieser  Streit  kann  und  soll  nicht  durch  friedliche  Ăśber- 
einkunft (amicabilis  compositid)  beigelegt  werden,  sondern  bedarf 
(als  Prozeß)  einer  Sentenz,  d.  i.  des  rechtskräftigen  Spruchs  eines 
Richters  (der  Vernunft);  denn  es  könnte  nur  durch  Unlauterkeit, 
Verheimhchung  der  Ursachen  des  Zwistes  und  Beredung  geschehen, 
daĂź  er  beigelegt  wĂĽrde,  dergleichen  Maxime  aber  dem  Geiste  einer 
philosophischen  Fakultät,  als  der  auf  öflfentliche  Darstellung  der 
Wahrheit  geht,  ganz  zuwider  ist. 

2)  Er  kann  nie  aufhören,  und  die  philosophische  Fakultät  ist 
diejenige,  die  dazu  jederzeit  gerĂĽstet  sein  muĂź.     Denn  statutarische 


344         I^^^  Streit  der  Fakultäten.    Fr  st  er  Ah  schnitt 

Vorschrihcn  der  Regierung  in  Ansehung  der  öffentlich  vorzu- 
tragenden Lehren  werden  immer  sein  müssen,  weil  die  unbeschränkte 
Freiheit,  alle  seine  Kleinungen  ins  Publikum  zu  schreien,  teils  der 
Regierung,  teils  aber  auch  diesem  Publikum  selbst  gefährlich  werden 
mĂĽĂźte.  Alle  Satzungen  der  Regierung  aber,  weil  sie  von  Men- 
schen ausgehen,  wenigstens  von  diesen  sanktioniert  werden,  bleiben 
jederzeit  der  Gefahr  des  Irrtums  oder  der  Zweckwidrigkeit  unter- 
worfen; mithin  sind  sie  es  auch  in  Ansehung  der  Sanktionen  der 
Regierung,  womit  diese  die  obere  Fakultäten  versieht.  Folglich 
kann  die  philosophische  Fakultät  ihre  Rüstung  gegen  die  Gefahr, 
womit  die  Wahrheit,  deren  Schutz  ihr  aufgetragen  ist,  bedrohet 
wird,  nie  ablegen,  weil  die  obere  Fakultäten  ihre  Begierde  zu 
herrschen  nie  abfegen  werden. 

3)  Dieser  Streit  kann  dem  Ansehen  der  Regierung  nie  Abbruch 
tun.  Denn  er  ist  nicht  ein  Streit  der  Fakultäten  mit  der  Regie- 
rung, sondern  einer  Fakultät  mit  der  andern,  dem  die  Regierung  ruhig 
zusehen  kann;  weil,  ob  sie  zwar  gewisse  Sätze  der  obern  in  ihren 
besondern  Schutz  genommen  hat,  sofern  sie  solche  der  letzteren 
ihren  Geschäftsleuten  zum  öffentlichen  Vortrage  vorschreibt,  so  hat 
sie  doch  nicht  die  Fakultäten,  als  gelehrte  Gesellschaften,  wegen 
der  Wahrheit  dieser  ihrer  öffentlich  vorzutragenden  Lehren,  Mei- 
nungen und  Behauptungen,  sondern  nur  wegen  ihres  (der  Regie- 
rung) eigenen  Vorteils  in  Schutz  genommen,  weil  es  ihrer  WĂĽrde 
nicht  gemäl3  sein  würde,  über  den  Innern  Wahrheitsgehalt  der- 
selben zu  entscheiden  und  so  selbst  den  Gelehrten  zu  spielen.  — 
Die  obere  Fakultäten  sind  nämlich  der  Regierung  für  nichts  weiter 
verantworthch,  als  fĂĽr  die  Instruktion  und  Belehrung,  die  sie 
ihren  Geschäftsleuten  zum  öffentlichen  Vortrage  geben;  denn 
die  laufen  ins  Publikum  als  bĂĽrgerliches  gem.eines  Wesen  und 
sind  daher,  weil  sie  dem  EinfluĂź  der  Regierung  auf  dieses  Ab- 
bruch tun  könnten,  dieser  ihrer  Sanktion  unterworfen.  Dagegen 
gehen  die  Lehren  und  Meinungen,  welche  die  Fakultäten  unter 
dem  Namen  der  Theoretiker  untereinander  abzumachen  haben,  in 
eine  andere  Art  von  Publikum,  nämlich  in  das  eines  gelehrten 
gemeinen  Wesens,  welches  sich  mit  Wissenschaften  beschäftigt; 
wovon  das  Volk  sich  selbst  bescheidet,  daĂź  es  nichts  davon  ver- 
steht, die  Regierung  aber  mit  gelehrten  Händeln  sich  zu  befassen 
für  sich  nicht  anständig  findet').     Die  Klasse  der  obern  Fakultäten 


';    Dagegen,   wenn   der  Streit  vor  dem  bĂĽrgerlichen  gemeinen  Wesen 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  4  5 

(als  die  rechte  Seite  des  Parlaments  der  Gelahrtheit)  verteidigt  die 
Statute  der  Regierung,  indessen  daĂź  es  in  einer  so  freien  Verfassung, 
als  die  sein  muĂź,  wo  es  um  Wahrheit  zu  tun  ist,  auch  eine 
Oppositionspartei  (die  linke  Seite)  geben  muĂź,  welche  die  Bank 
der  philosophischen  Fakult'ät  ist,  weil  ohne  deren  strenge  Prüfung 
und  EinwĂĽrfe  die  Regierung  von  dem,  was  ihr  selbst  ersprieĂźlich 
oder  nachteilig  sein  dĂĽrfte,  nicht  hinreichend  belehrt  werden 
würde.  —  Wenn  aber  die  Geschäftsleute  der  Fakultäten  in  An- 
sehung der  für  den  öffentlichen  Vortrag  gegebenen  Verordnung 
fĂĽr  ihren  Kopf  Ă„nderungen  machen  wollten,  so  kann  die  Aufsicht 
der  Regierung  diese  als  Neuerer,  welche  ihr  gefährlich  werden 
könnten,  in  Anspruch  nehm.en  und  doch  gleichwohl  über  sie  nicht 
unmittelbar,  sondern  nur  nach  dem  von  der  obern  Fakultät  ein- 
gezogenen alleruntertänigsten  Gutachten  absprechen,  weil  diese  Ge- 
schäftsleute nur  durch  die  Fakultät  von  der  Regierung  zu  dem 
Vortrage  gewisser  Lehren  haben  angewiesen  werden  können. 

4)  Dieser  Streit  kann  sehr  wohl  mit  der  Eintracht  des  gelehrten 
und  bĂĽrgerlichen  gemeinen  Wesens  in  Maximen  zusammen  bestehen, 
deren  Befolgung  einen  beständigen  Fortschritt  beider  Klassen  von 
Fakultäten  zu  größerer  Vollkommenheit  bewirken  muß  und  endlich 

(öffentlich,  z.  B.  auf  Kanzeln)  geführt  würde,  wie  es  die  Geschäftsleute 
(unter  dem  Namen  der  Ptaktiker)  gern  versuchen,  so  wird  er  unbefugter- 
weise fĂĽr  den  Richterstuhl  des  Volks  (dem  in  Sachen  der  Gelehrsam- 
keit gar  kein  Urteil  zusteht)  gezogen  und  hört  auf,  ein  gelehrter  Streit 
zu  sein;  da  dann  jener  Zustand  des  gesetzwidrigen  Streits,  wovon  oben 
Erwähnung  geschehen,  eintritt,  wo  Lehren  den  Neigungen  des  Volks 
angemessen  vorgetragen  werden  und  der  Same  des  Aufruhrs  und  der 
Faktionen  ausgestreut,  die  Regierung  aber  dadurch  in  Gefahr  gebracht 
wird.  Diese  eigenmächtig  sich  selbst  dazu  aufwerfende  Volkstribunen 
treten  sofern  aus  dem  Gelehrtenstande,  greifen  in  die  Rechte  der 
bürgerlichen  Verfassung  (Welthändel)  ein  und  sind  eigentlich  die  Neo- 
logen,  deren  mit  Recht  verhaĂźter  Name  aber  sehr  miĂźverstanden 
wird,  wenn  er  jede  Urheber  einer  Neuigkeit  in  Lehren  und  Lehrformen 
trifft.  (Denn  warum  sollte  das  Alte  eben  immer  das  Bessere  sein?) 
Dagegen  diejenige  eigentlich  damit  gebrandmarkt  zu  werden  verdienen, 
welche  eine  ganz  andere  Regierungsform,  oder  vielmehr  eine  Regierungs- 
losigkeit (Anarchie)  einfĂĽhren,  indem  sie  das,  was  eine  Sache  der  Ge- 
lehrsamkeit ist,  der  Stimme  des  Volks  zur  Entscheidung  ĂĽbergeben,  dessen 
Urteil  sie  durch  EinfluĂź  auf  seine  Gewohnheiten,  GefĂĽhle  und  Nei- 
gungen nach  Belieben  lenken  und  so  einer  gesetzmäßigen  Regierung 
den  Einfluß  abgewinnen  können. 


34<$  I^^r  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschfiitt 

zur  Entlassung  von  allen  Einschränkungen   der  Freiheit  des   öffent- 
lichen  Urteils   durch  die  WillkĂĽr  der  Regierung  vorbereitet. 

Auf  diese  Weise  könnte  es  wohl  dereinst  dahin  kommen,  daß 
die  Letzten  die  Ersten  (die  untere  Fakultät  die  obere)  v^^ürden, 
zwar  nicht  in  der  Machthabung,  aber  doch  in  Beratung  des  Macht- 
habenden (der  Regierung),  als  welche  in  der  Freiheit  der  philo- 
sophischen Fakultät  und  der  ihr  daraus  erwachsenden  Einsicht 
besser  als  in  ihrer  eigenen  absoluten  Autorität  Mittel  zu  Erreichung 
ihrer  Zwecke   antrefi"en  wĂĽrde. 


Resultat. 

Dieser  Antagonism,  d.  i.  Streit  zweier  miteinander  zu  einem 
gemeinschaftlichen  Endzweck  vereinigten  Parteien,  (jcoticordia  discors, 
(iiscordia  Concors)  ist  also  kein  Krieg,  d.  i.  keine  Zwietracht  aus 
der  Entgegensetzung  der  Endabsichten  in  Ansehung  des  gelehrten 
Mein  und  Dein,  welches  so  wie  das  politische  aus  Freiheit 
und  Eigentum  besteht,  wo  jene  als  Bedingung  notwendig  vor 
diesem  vorhergehen  muß;  folglich  den  oberen  Fakultäten  kein  Recht 
verstattet  werden  kann,  ohne  daĂź  es  der  unteren  zugleich  erlaubt 
bleibe,  ihre  Bedenkiichkeit  ĂĽber  dasselbe  an  das  gelehrte  Publikum 
zu   bringen. 


Anhang 

einer    Erläuterung    des    Streits    der   Fakultäten   durch   das 
Beispiel  desjenigen  zwischen  der  theologischen  und  philo- 
sophischen. 

I. 

Materie  des  Streits. 

Der  biblische  Theolog  ist  eigentlich  der  Schriftgelehrte  fĂĽr 
den  Kirchenglauben,  der  auF  Statuten,  d.  i.  auf  Gesetzen  beruht, 
die  aus  der  WillkĂĽr  eines  andern  ausflieĂźen;  dagegen  ist  der  ratio- 
nale der  Vernunt"tgelehr te  fĂĽr  den  Religionsglauben,  folglich 
denjenigen,  der  auf-  inneren  Gesetzen  beruht,  die  sich  aus  jedes 
Menschen    eigener    Vernunft    entwickeln    lassen.      DaĂź    dieses    so 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  4  7 

sei,  d.  i.  daĂź  Religion  nie  auf  Satzungen  (so  hohen  Ursprungs 
sie  immer  sein  mögen)  gegründet  werden  könne,  erhellet  selbst 
aus  dem  Begriffe  der  Religion.  Nicht  der  Inbegriff  gewisser 
Lehren  als  göttlicher  Offenbarungen  (denn  der  heißt  Theologie), 
sondern  der  aller  unserer  Pflichten  überhaupt  als  göttlicher  Gebote 
(und  subjektiv  der  Maxime  sie  als  solche  zu  befolgen)  ist  Religion. 
Religion  unterscheidet  sich  nicht  der  Materie,  d.  i.  dem  Objekt 
nach  in  irgendeinem  StĂĽcke  von  der  Moral,  denn  sie  geht  auf 
Pflichten  ĂĽberhaupt,  sondern  ihr  Unterschied  von  dieser  ist  bloĂź 
formal,  d.  i.  eine  Gesetzgebung  der  Vernunft,  um  der  Moral  durch 
die  aus  dieser  selbst  erzeugte  Idee  von  Gott  auf  den  menschlichen 
Willen  zu  ErfĂĽllung  aller  seiner  Pflichten  EinfluĂź  zu  geben. 
Darum  ist  sie  aber  auch  nur  eine  einzige,  und  es  gibt  nicht  ver- 
schiedene Religionen,  aber  wohl  verschiedene  Glaubensarten  an 
göttliche  Offenbarung  und  deren  statutarische  Lehren,  die  nicht 
aus  der  Vernunft  entspringen  können,  d.  i.  verschiedene  Formen 
der  sinnlichen  Vorstellungsart  des  göttlichen  Willens,  um  ihm  Ein- 
fluĂź auf  die  GemĂĽter  zu  verschaffen,  unter  denen  das  Christentum, 
soviel  wir  wissen,  die  schicklichste  Form  ist.  Dies  findet  sich 
nun  in  der  Bibel  aus  zwei  ungleichartigen  StĂĽcken  zusammengesetzt, 
dem  einen,  welches  den  Kanon,  dem  andern,  was  das  Organon 
oder  Vehikel  der  Religionen  enthält,  wovon  der  erste  der  reine 
Religionsglaube  (ohne  Statuten  auf  bloĂźer  Vernunft  gegrĂĽndet), 
der  andere  der  Kirchenglaube,  der  ganz  auf  Statuten  beruht, 
genannt  w^erden  kann,  die  einer  Offenbarung  bedurften,  wenn  sie 
für  heilige  Lehre  und  Lebensvorschriften  gelten  sollten.  —  Da 
aber  auch  dieses  Leitzeug  zu  jenem  Zweck  zu  gebrauchen  Pflicht 
ist,  wenn  es  für  göttliche  Offenbarung  angenommen  werden  darf, 
so  läßt  sich  daraus  erklären,  warum  der  sich  auf  Schrift  gründende 
Kirchenglaube  bei  Nennung  des  Religionsglaubens  gemeiniglich  mit 
verstanden  wird. 

Der  biblische  Theolog  sagt:  suchet  in  der  Schrift,  wo  ihr  meinet 
das  ewige  Leben  zu  finden.  Dieses  aber,  weil  die  Bedingung  des- 
selben keine  andere  als  die  moralische  Besserung  des  Menschen 
ist,  kann  kein  Mensch  in  irgendeiner  Schrift  finden,  als  wenn  er 
sie  hineinlegt,  weil  die  dazu  erforderlichen  Begriffe  und  Grund- 
sätze eigentlich  nicht  von  irgendeinem  andern  gelernt,  sondern  nur 
bei  Veranlassung  eines  Vortrages  aus  der  eigenen  Vernunft  des 
Lehrers  entwickelt  werden  müssen.  Die  Schrift  aber  enthält  noch 
mehr,    als  was  an  sich  selbst  zum  ewigen  Leben  erforderlich  ist. 


3^8  Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

was  nämlich  zum  Gcschichtsglauben  gehört  und  in  Ansehung  des 
Rcligionsglaubcns  als  bloĂźes  sinnliches  Vehikel  zwar  (fĂĽr  diese 
oder  jene  Person,  für  dieses  oder  jenes  Zeitalter)  zuträglich  sein 
kann,  aber  nicht  notwendig  dazu  gehöret.  Die  biblisch-theologische 
Fakultät  dringt  nun  darauf  als  göttliche  Offenbarung  in  gleichem 
^laße,  als  wenn  der  Glaube  desselben  zur  Religion  gehörte.  Die 
philosophische  aber  widerstreitet  jener  in  Ansehung  dieser  Vermen- 
gung und  dessen,  was  jene  ĂĽber  die  eigentliche  Religion  Wahres 
in  sich  enthält. 

Zu  diesem  Vehikel  (d.  i.  dem,  was  ĂĽber  die  Religionslehrc 
noch  hinzukommt)  gehört  auch  noch  die  Lehrmethode,  die  man 
als  den  Aposteln  selbst  überlassen  und  nicht  als  göttliche  Offen- 
barung betrachten  darf,  sondern  beziehungsweise  auf  die  Denkungs- 
art  der  damaligen  Zeiten  (y.ax  dvöpcoTrov)  und  nicht  als  Lehrstücke 
an  sich  selbst  (xax'  aXr^öe lav)  geltend  annehmen  kann,  und  zwar 
entweder  negativ  als  bloĂźe  Zulassung  gewisser  damals  herrschender, 
an  sich  irriger  Meinungen,  um  nicht  gegen  einen  herrschenden, 
doch  im  Wesentlichen  gegen  die  Religion  nicht  streitenden  da- 
maligen Wahn  zu  verstoĂźen  (z.  B.  das  von  den  Besessenen),  oder 
auch  positiv,  um  sich  der  Vorliebe  eines  Volks  fĂĽr  ihren  alten 
Kirchenglauben,  der  jetzt  ein  Ende  haben  sollte,  zu  bedienen,  um 
den  neuen  zu  introduzieren.  (Z.  B.  die  Deutung  der  Geschichte 
des  alten  Bundes  als  Vorbilder  von  dem,  was  im  neuen  geschah, 
welche  als  Judaism,  wenn  sie  irrigerweise  in  die  Glaubenslehre 
als  ein  StĂĽck  derselben  aufgenommen  wird,  uns  wohl  den  Seufzer 
ablocken   kann:   nunc  istae  reliquiae  nos  exercent.    CICERO.) 

Um  deswillen  ist  eine  Schriftgelehrsamkeit  des  Christentums 
manchen  Schwierigkeiten  der  Auslegungskunst  unterworfen,  ĂĽber 
die  und  deren  Prinzip  die  obere  Fakultät  (der  biblische  Theolog) 
mit  der  unteren  in  Streit  geraten  muĂź,  indem  die  erstere,  als  fĂĽr 
die  theoretische  biblische  Erkenntnis  vorzĂĽglich  besorgt,  die  letztere 
in  Verdacht  zieht,  alle  Lehren,  die  als  eigentliche  Offenbarungs- 
lehren und  also  buchstäblich  angenommen  werden  müßten,  weg- 
zuphilosophieren  und  ihnen  einen  beliebigen  Sinn  unterzuschieben, 
diese  aber  als  mehr  aufs  Praktische,  d.  i.  mehr  auf  Religion  als 
auf  Kirchenglauben  sehend,  umgekehrt  jene  beschuldigt,  durch  solche 
Mittel  den  Endzweck,  der  als  innere  Religion  moralisch  sein  muĂź 
und  auf  der  Vernunft  beruht,  ganz  aus  den  Augen  zu  bringen. 
Daher  die  letztere,  welche  die  Wahrheit  zum  Zweck  hat,  mithin 
die  Philosophie  im  Falle  des  Streits  ĂĽber  den  Sinn  einer  Schrift- 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  49 

stelle  sich  das  Vorrecht  anmaĂźt,  ihn  zu  bestimmen.  Folgendes  sind 
die  philosophischen  Grundsätze  der  Schriftauslegerei,  wodurch  nicht 
verstanden  werden  will,  daĂź  die  Auslegung  philosophisch  (zur 
Erweiterung  der  Philosophie  abzielt),  sondern  daĂź  bloĂź  die 
Grundsätze  der  Auslegung  so  beschaffen  sein  müssen:  weil  alle 
Grundsätze,  sie  mögen  nun  eine  historisch-  oder  grammatisch- 
kritische Auslegung  betreffen,  jederzeit,  hier  aber  besonders,  weil, 
was  aus  Schriftstellen  fĂĽr  die  Religion  (die  bloĂź  ein  Gegenstand 
der  Vernunft  sein  kann)  auszumitteln  sei,  auch  von  der  Vernuntt 
diktiert  werden  mĂĽssen. 


II. 

Philosophische    Grundsätze   der   Schriftauslegung   zu   Bei- 
legung des  Streits. 

I.  Schriftstellen,  welche  gewisse  theoretische,  fĂĽr  heihg  an- 
gekĂĽndigte, aber  allen  (selbst  den  moralischen)  Vernunftbegriff 
ĂĽbersteigende  Lehren  enthalten,  dĂĽrfen,  diejenige  aber,  welche 
der  praktischen  Vernunft  widersprechende  Sätze  enthalten,  müssen 
zum  Vorteil  der  letzteren  ausgelegt  werden.  —  Folgendes  enthält 
hiezu  einige  Beispiele. 

a)  Aus  der  Dreieinigkeitslehre,  nach  den  Buchstaben  genommen, 
läßt  sich  schlechterdings  nichts  fürs  Praktische  machen,  wenn 
man  sie  gleich  zu  verstehen  glaubte,  noch  weniger  aber  wenn 
man  inne  wird,  daß  sie  gar  alle  unsere  Begriffe  übersteigt.  —  Ob 
wir  in  der  Gottheit  drei  oder  zehn  Personen  zu  verehren  haben,  wird 
der  Lehrling  mit  gleicher  Leichtigkeit  aufs  Wort  annehmen,  weil 
er  von  einem  Gott  in  mehreren  Personen  (Hypostasen)  gar  keinen 
Begriff  hat,  noch  mehr  aber  weil  er  aus  dieser  Verschiedenheit 
fĂĽr  seinen  Lebenswandel  gar  keine  verschiedene  Regeln  ziehen 
kann.  Dagegen  wenn  man  in  Glaubenssätzen  einen  moralischen 
Sinn  hereinträgt  (wie  ich  es:  Religion  innerhalb  den  Grenzen 
usw.  versucht  habe),  er  nicht  einen  folgeleeren,  sondern  auf-  un- 
sere moralische  Bestimmung  bezogenen  verständlichen  Glauben  ent- 
halten wĂĽrde.  Ebenso  ist  es  mit  der  Lehre  der  Menschwerdung 
einer  Person  der  Gottheit  bewandt.  Denn  wenn  dieser  Gottmensch 
nicht  als  die  in  Gott  von  Ewigkeit  her  liegende  Idee  der  Mensch- 
heit in  ihrer  ganzen  ihm  wohlgefälligen  moralischen  Vollkommen- 


3  5°         Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

heit')  (ebendaselbst  S.  73  f.)*)'  sondern  als  die  in  einem  wirklichen 
Menschen  „leibhaftig  wohnende"  und  als  zweite  Natur  in  ihm 
wirkende  Gottheit  vorgestellt  wird:  so  ist  aus  diesem  Geheimnisse 
gar  nichts  Praktisches  fĂĽr  uns  zu  machen,  weil  wir  doch  von  uns 
nicht  verlangen  können,  daß  wir  es  einem  Gotte  gleichtun  sollen, 
er  also  insofern  kein  Beispiel  fĂĽr  uns  werden  kann,  ohne  noch 
die  Schwierigkeit  in  Anregung  zu  bringen,  warum,  wenn  solche 
Vereinigung  einmal  möglich  ist,  die  Gottheit  nicht  alle  Menschen 
derselben  hat  teilhaftig  werden  lassen,  welche  alsdenn  unausbleiblich 
ihm  alle  wohlgefällig  geworden  wären.  —  Ein  Ähnliches  kann 
von  der  Auferstehungs-  und  Himmelfahrtsgcschichte  ebendesselben 
gesagt  werden. 

Ob  wir  kĂĽnftig  bloĂź  der  Seele  nach  leben,  oder  ob  dieselbe 
Materie,  daraus  unser  Körper  hier  bestand,  zur  Identität  unserer 
Person  in  der  andern  Welt  erforderlich,  die  Seele  also  keine  be- 
sondere Substanz  sei,  unser  Körper  selbst  müsse  auferweckt  werden, 
das  kann  uns  in  praktischer  Absicht  ganz  gleichgĂĽltig  sein;  denn 
wem  ist  wohl  sein  Körper  so  lieb,  daß  er  ihn  gern  in  Ewigkeit 
mit  sich  schleppen  möchte,  wenn  er  seiner  entübrigt  sein  kann? 
Des  Apostels  Schluß  also:  „Ist  Christus  nicht  auferstanden  (dem 
Körper  nach  lebendig  geworden),  so  werden  wir  auch  nicht  auf- 
erstehen (nach  dem  Tode  gar  nicht  mehr  leben)"  ist  nicht  bĂĽndig. 
Er  mag  es  aber  auch  nicht  sein    (denn   dem  Argumentieren  wird 

*)  Die  Schwärmerei  des  Postellus  in  Venedig  über  diesen  Punkt 
im  löten  Jahrhunderc  ist  von  so  originaler  Art  und  dient  so  gut  2um 
Beispiel,  in  welche  Verirrungen,  und  zwar  mit  Vernunft  zu  rasen, 
man  geraten  kann,  wenn  man  die  Versinnlichung  einer  reinen  Vernunft- 
idee in  die  Vorstellung  eines  Gegenstandes  der  Sinne  verwandelt. 
Denn  wenn  unter  jener  Idee  nicht  das  Abstrakrum  der  Menschheit, 
sondern  ein  Mensch  verstanden  wird,  so  muĂź  dieser  von  irgendeinem 
Geschlecht  sein.  Ist  dieser  von  Gott  Gezeugte  männlichen  Geschlechts 
(ein  Sohn),  hat  die  Schwachheit  der  Menschen  getragen  und  ihre  Schuld 
auf  sich  genommen,  so  sind  die  Schwachheiten  sowohl  als  die  Ăśber- 
tretungen des  anderen  Geschlechts  doch  von  denen  des  männlichen 
spezifisch  unterschieden,  und  man  wird  nicht  ohne  Grund  versucht  an- 
zunehmen, daĂź  dieses  auch  seine  besondere  Stellvertreterin  (gleichsam 
eine  göttliche  Tochter)  als  Versöhnerin  werde  bekommen  haben;  und 
diese  glaubte  Post  eil  in  der  Person  einer  frommen  Jungfrau  in  Venedig 
gefunden  zu  haben. 
♦)  VI.  203  ff. 


Der  Streit  der  phi/osophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   3  5 1 

man  doch  nicht  auch  eine  Inspiration  zum  Grunde  legen),  so  hat 
er  doch  hiemit  nur  sagen  wollen,  daĂź  wir  Ursache  haben  zu 
glauben,  Christus  lebe  noch,  und  unser  Glaube  sei  eitel,  wenn 
selbst  ein  so  vollkommner  Mensch  nicht  nach  dem  (leiblichen) 
Tode  leben  sollte,  welcher  Glaube,  den  ihm  (wie  allen  Menschen) 
die  Vernunft  eingab,  ihn  zum  historischen  Glauben  an  eine  ötient- 
liche  Sache  bewog,  die  er  treuherzig  fĂĽr  wahr  annahm  und  sie 
zum  Beweisgrunde  eines  moralischen  Glaubens  des  kĂĽnftigen  Lebens 
brauchte,  ohne  inne  zu  werden,  daĂź  er  selbst  dieser  Sage  ohne 
den  letzteren  schwerlich  wĂĽrde  Glauben  beigemessen  haben.  Die 
moralische  Absicht  wurde  hiebei  erreicht,  wenngleich  die  Vor- 
stellungsart das  Merkmal  der  Schulbegriffe  an  sich  trug,  in  denen 
er  war  erzogen  worden.  —  Übrigens  stehen  jener  Sache  wichtige 
EinwĂĽrfe  entgegen:  die  Einsetzung  des  Abendmahls  (einer  trau- 
rigen Unterhaltung)  zum  Andenken  an  ihn  sieht  einem  förmlichen 
Abschied  (nicht  bloß  aufs  baldige  Wiedersehen)  ähnlich.  Die 
klagende  Worte  am  Kreuz  drĂĽcken  eine  fehlgeschlagene  Absicht 
aus  (die  Juden  noch  bei  seinem  Leben  zur  wahren  ReĂĽgion  zu 
bringen),  da  doch  eher  das  Frohsein  ĂĽber  eine  voUzogne  Absicht 
hätte  erwartet  werden  sollen.  Endlich  der  Ausdruck  der  Jünger 
bei  dem  Lucas;  „Wir  dachten,  er  solle  Israel  erlösen"  läßt  auch 
nicht  abnehmen,  daĂź  sie  auf  ein  in  drei  Tagen  erwartetes  Wieder- 
sehen vorbereitet  waren,  noch  weniger,  daĂź  ihnen  von  seiner 
Auferstehung  etwas  zu  Ohren  gekommen  sei.  —  Aber  warum 
sollten  wir  wegen  einer  Geschichtserzählung,  die  wir  immer  an 
ihren  Ort  (unter  die  Adiaphora)  gestellt  sein  lassen  sollen,  uns 
in  so  viel  gelehrte  Untersuchungen  und  Streitigkeiten  verflechten, 
wenn  es  um  Religion  zu  tun  ist,  zu  welcher  der  Glaube  m  prak- 
tischer Beziehung,  den  die  Vernunft  uns  einflößt,  schon  für  sich 
hinreichend  ist. 

b)  In  der  Auslegung  der  Schriftstellcn,  in  welchen  der  Aus- 
druck unserm  Vernunftbegriff  von  der  göttlichen  Natur  und  seinem 
Willen  widerstreitet,  haben  biblische  Theologen  sich  längst  zur 
Regel  gemacht,  daß,  was  menschlicherweise  (dvöpu>7ro7:aöcü;)  aus- 
gedrĂĽckt ist,  nach  einem  gottwĂĽrdigen  Sinne  (deoitpeTZio;)  mĂĽsse 
ausgelegt  werden;  wodurch  sie  dann  ganz  deutlich  das  Bekenntnis 
ablegten,  die  Vernunft  sei  in  Religionssachen  die  oberste  Ausiegerm 
der  Schrift.  —  Daß  aber  selbst,  wenn  man  dem  heil.  Schriftsteller 
keinen  andern  Sinn,  den  er  wirkUch  mit  seinen  AusdrĂĽcken  ver- 
band,  unterlegen   kann,   als   einen  solchen,   der  mit  unserer  Ver- 


}52  De)-  Streit  der  Fakultäten.   Erster  Abschnitt 

nunFt  gar  in  Widerspruche  steht,  die  Vernunh  sich  doch  berechtigt 
Fühle,  seine  SchriFtstelle  so  auszulegen,  wie  sie  es  ihren  Grundsätzen 
gemäiS  findet,  und  nicht  dem  Buchstaben  nach  auslegen  solle, 
wenn  sie  jenen  nicht  gar  eines  Irrtums  beschuldigen  will,  das 
scheint  ganz  und  gar  wider  die  oberste  Regeln  der  Interpretation 
zu  verstoĂźen,  und  gleichwohl  ist  es  noch  immer  mit  Beifall  von 
den  belobtesten  Gottesgelehrten  geschehen.  —  So  ist  es  mit  St. 
Paulus'  Lehre  von  der  Gnadenwahl  gegangen,  aus  welcher  aufs 
deutlichste  erhellet,  daß  seine  Privatmeinung  die  Prädestination  im 
strengsten  Sinne  des  Worts  gewesen  sein  muĂź,  welche  darum 
auch  von  einer  groĂźen  protestantischen  Kirche  in  ihren  Glauben 
autgenommen  worden,  in  der  Folge  aber  von  einem  groĂźen  Teil 
derselben  wieder  verlassen,  oder,  so  gut  wie  man  konnte,  anders 
gedeutet  worden  ist,  weil  die  Vernunft  sie  mit  der  Lehre  von 
der  Freiheit,  der  Zurechnung  der  Handlungen  und  so  mit  der 
ganzen  Moral  unvereinbar  findet.  —  Auch  wo  der  Schriftglaube 
in  keinen  Verstoß  «gewisser  Lehren  wider  sittliche  Grundsätze, 
sondern  nur  wider  die  Vernunftmaxime  in  Beurteilung  physischer 
Erscheinungen  gerät,  haben  Schriftausleger  mit  fast  allgemeinem  Bei- 
fall manche  biblische  Geschichtserzählungen,  z.  B.  von  den  Be- 
sessenen (dämonischen  Leuten),  ob  sie  zwar  in  demselben  historischen 
Tone  -wie  die  ĂĽbrige  heil.  Geschichte  in  der  Schrift  vorgetragen 
worden  und  fast  nicht  zu  zweifeln  ist,  daĂź  ihre  Schriftsteller  sie 
buchstäblich  für  wahr  gehalten  haben,  doch  so  ausgelegt,  daß  die 
Vernunft  dabei  bestehen  könnte  (um  nicht  allem  Aberglauben 
und  Betrug  freien  Eingang  zu  verschaffen),  ohne  daĂź  man  ihnen 
diese  Befugnis  bestritten  hat. 

II.  Der  Glaube  an  Schriftlehren,  die  eigentlich  haben  offen- 
bart werden  mĂĽssen,  wenn  sie  haben  gekannt  werden  sollen,  hat 
an  sich  kein  Verdienst,  und  der  Mangel  desselben,  ja  sogar  der 
ihm  entgegenstehende  Zweifel  ist  an  sich  keine  Verschuldung, 
sondern  alles  kommt  in  der  Religion  aufs  Tun  an,  und  diese 
Endabsicht,  mithin  auch  ein  dieser  gemäßer  Sinn  muß  allen 
biblischen   Glaubenslehren  untergelegt  werden. 

Unter  Glaubenssätzen  versteht  man  nicht,  was  geglaubt  werden 
soll  (denn  das  Glauben  verstattet  keinen  Imperativ),  sondern  das, 
was  in  praktischer  (moralischer)  Absicht  anzunehmen  möglich 
und  zweckmäßig,  obgleich  nicht  eben  erweislich  ist,  mithin  nur 
geglaubt  werden  kann.  Nehme  ich  das  Glauben  ohne  diese  mo- 
ralische    RĂĽcksicht     bloĂź     in    der    Bedeutung    eines    theoretischen 


Der  Streit  der  phi/ßsophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   3  5  3 

FĂĽrwahrhaltens,    z.   B.   dessen,   was    sich   auf  dem  Zeugnis  anderer 
geschichtmäßig  gründet,  oder  auch,  weil  ich  mir  gewisse  gegebene 
Erscheinungen    nicht   anders    als   unter    dieser   oder   jener   Voraus- 
setzung  erklären   kann,    zu    einem    Prinzip    an,    so   ist  ein  solcher 
Glaube,    weil    er    weder    einen    besseren    Menschen    macht    noch 
einen   solchen    beweiset,   gar    kein  StĂĽck  der  Religion;   ward  er 
aber    nur    als    durch    Furcht   und    Hoffnung   aufgedrungen   in   der 
Seele    erkĂĽnstelt,    so    ist    er   der   Aufrichtigkeit,    mithin   auch    der 
Religion   zuwider.  —   Lauten  also   Spruchstellen  so,  als  ob  sie  das 
Glauben  einer  OfFenbarungslehre  nicht  allein  als  an  sich  verdienstlich 
ansähen,    sondern   wohl    gar  über  moralisch-gute  Werke  erhöben, 
so    mĂĽssen    sie   so    ausgelegt   werden,    als   ob    nur  der  moralische, 
die  Seele   durch  Vernunft  bessernde  und  erhebende  Glaube  dadurch 
gemeint   sei;   gesetzt    auch,   der  buchstäbliche  Sinn,    z.  B.  wer  da 
glaubet  und  getaufet  wird,  wird  selig  usw.,  lautete  dieser  Auslegung 
zuwider.      Der    Zweifel  ĂĽber  jene  statutarische   Dogmen  und  ihre 
Authentizität  kann  also   eine  moralische,  wohlgesinnte  Seele  nicht 
beunruhigen.    —    Eben    dieselben    Sätze    können    gleichwohl    als 
wesentliche   Erfordernisse  zum  Vortrag  eines  gewissen  Kirchen- 
glaubens angesehen  werden,    der  aber,  weil  er  nur  Vehikel   des 
Religionsglaubens,    mithin   an    sich  veränderlich  ist  und   einer  all- 
mählichen   Reinigung    bis  zur  Kongruenz  mit  dem  letzteren  fähig 
bleiben  muĂź,   nicht    zum    Glaubensartikel    selbst  gemacht,   obzwar 
doch  auch  in  Kirchen  nicht  öffentlich   angegriffen  oder  auch  mit 
trockenem    FuĂź    ĂĽbergangen  werden   darf,   weil  er  unter  der   Ge- 
wahrsame  der  Regierung  steht,  die   für  öffentliche  Eintracht  und 
Frieden  Sorge  trägt,    indessen  daß  es  des  Lehrers  Sache  ist,  davor 
zu  warnen,  ihm  nicht  eine  fĂĽr  sich  bestehende   Heiligkeit  beizu- 
legen, sondern  ohne  Verzug  zu  dem  dadurch  eingeleiteten  Religions- 
glauben ĂĽberzugehen. 

IIL  Das  Tun  muĂź  als  aus  des  Menschen  eigenem  Gebrauch 
seiner  moralischen  Kräfte  entspringend  und  nicht  als  Wirkung  vom 
Einfluß  einer  äußeren  höheren  wirkenden  Ursache,  in  Ansehung 
deren  der  Mensch  sich  leidend  verhielte,  vorgestellt  werden;  die 
Auslegung  der  Schriftstellen,  welche  buchstäblich  das  letztere  zu 
enthalten  scheinen,  muĂź  also  auf  die  Ăśbereinstimmung  mit  dem 
ersteren  Grundsatze  absichtlich  gerichtet  werden. 

Wenn  unter  Natur  das  im  Menschen  herrschende  Prinzip  der 
Beförderung  seiner  Glückseligkeit,  unter  Gnade  aber  die  in 
uns    liegende   unbegreifliche  moralische  Anlage,  d.    i.    das  Prmzip 

Kants  Schriften.  Bd.  VIF.  ^3 


3  54         ^^^  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

der  reinen  Sittlichkeit,  verstanden  wird,  so  sind  Natur  und 
Gnade  nicht  allein  voneinander  unterschieden,  sondern  auch  oft 
gegeneinander  in  Widerstreit.  Wird  aber  unter  Natur  (in  prak- 
tischer Bedeutung)  das  Vermögen  aus  eigenen  Kräften  überhaupt 
gewisse  Zwecke  auszurichten  verstanden,  so  ist  Gnade  nichts  anders 
als  Natur  des  Menschen,  sofern  er  durch  sein  eigenes  innneres, 
aber  ĂĽbersinnliches  Prinzip  (die  Vorstellung  seiner  Pflicht)  zu 
Handlungen  bestimmt  wird,  welches,  weil  wir  uns  es  erklären 
wollen,  gleichwohl  aber  weiter  keinen  Grund  davon  wissen,  von 
uns  als  von  der  Gottheit  in  uns  gewirkter  Antrieb  zum  Guten, 
dazu  wir  die  Anlage  in  uns  nicht  selbst  gegrĂĽndet  haben,  mithin 
als  Gnade  vorgestellt  wird.  —  Die  Sünde  nämlich  (die  Bösartigkeit 
in  der  menschlichen  Natur)  hat  das  Strafgesetz  (gleich  als  fĂĽr  Knechte) 
notwendig  gemacht,  die  Gnade  aber  (d.  i.  die  durch  den  Glauben 
an  die  ursprĂĽngliche  Anlage  zum  Guten  in  uns  und  die  durch 
das  Beispiel  der  Gott  wohlgefälligen  Menschheit  an  dem  Sohne 
Gottes  lebendig  werdende  Hoffriung  der  Entwicklung  dieses  Guten) 
kann  und  soll  in  -uns  (als  Freien)  noch  mächtiger  werden,  wenn 
wir  sie  nur  in  uns  wirken,  d.  h.  die  Gesinnungen  eines  jenem 
heil.  Beispiel  ähnlichen  Lebenswandels  tätig  werden  lassen.  —  Die 
Schriltstellen  also,  die  eine  bloß  passive  Ergebung  an  eine  äußere 
in  uns  Heiligkeit  wirkende  Macht  zu  enthalten  scheinen,  mĂĽssen 
so  ausgelegt  werden,  daĂź  daraus  erhelle,  wir  mĂĽssen  an  der  Ent- 
wickelung  jener  moralischen  Anlage  in  uns  selbst  arbeiten,  ob 
sie  zwar  selber  eine  Göttlichkeit  eines  Ursprungs  beweiset,  der 
höher  ist  als  alle  Vernunft  (in  der  theoretischen  Nachforschung 
der  Ursache)  und  daher,  sie  besitzen,  nicht  Verdienst,  sondern 
Gnade  ist. 

IV.  Wo  des  eigene  Tun  zur  Rechtfertigung  des  Menschen 
vor  seinem  eigenen  (strenge  richtenden)  Gewissen  nicht  zulangt, 
da  ist  die  Vernunh  befugt,  allenfalls  eine  übernatürliche  Ergänzung 
seiner  mangelhaften  Gerechtigkeit  (auch  ohne  daĂź  sie  bestimmen 
darf,  worin   sie   bestehe)  gläubig  anzunehmen. 

Diese  Befugnis  ist  fĂĽr  sich  selbst  klar;  denn  was  der  Mensch 
nach  seiner  Bestimmung  sein  soll  (nämlich  dem  heil.  Gesetz  an- 
gemessen), das  muß  er  auch  werden  können,  und  ist  es  nicht 
durch  eigene  Kräfte  natürlicherweise  möglich,  so  darf  er  hoffen, 
daß  es  durch  äußere  göttliche  Mitwirkung  (auf  welche  Art  es 
auch  sei)  geschehen  w^erde.  —  Man  kann  noch  hinzusetzen,  daß 
der  Glaube   an   diese  Ergänzung  seligmachend   sei,  weil   er  dadurch 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  5  5 

allein  zum  gottwohlgefälligen  Lebenswandel  (als  der  einzigen  Be- 
dingung der  Hoffnung  der  Seligkeit)  Mut  und  feste  Gesinnung 
fassen  kann,  daĂź  er  am  Gelingen  seiner  Endabsicht  (Gott  wohl- 
gefällig zu  werden)  nicht  verzweifelt.  —  Daß  er  aber  wissen 
und  bestimmt  müsse  angeben  können,  worin  das  Mittel  dieses 
Ersatzes  (v/elches  am  Ende  doch  ĂĽberschwenglich  und  bei  allem, 
was  uns  Gott  darüber  selbst  sagen  möchte,  für  uns  unbegreiflich 
ist)  bestehe,  das  ist  eben  nicht  notwendig,  ja,  auf  diese  Kenntnis 
auch  nur  Anspruch  zu  machen.  Vermessenheit.  —  Die  Schriftstellen 
also,  die  eine  solche  spezifische  Offenbarung  zu  enthalten  scheinen, 
mĂĽssen  so  ausgelegt  werden,  daĂź  sie  nur  das  Vehikel  jenes  mo- 
ralischen Glaubens  fĂĽr  ein  Volk  nach  dessen  bisher  bei  ihm  im 
Schwang  gewesenen  Glaubenslehren  betreffen  und  nicht  Religions- 
glauben (fĂĽr  alle  Menschen),  mithin  bloĂź  den  Kirchenglauben 
(z.  B.  fĂĽr  Judenchristen)  angehen,  welcher  historischer  Beweise 
bedarf,  deren  nicht  jedermann  teilhaftig  werden  kann;  statt  dessen 
ReĂĽgion  (als  auf  moralische  Begriffe  gegrĂĽndet)  fĂĽr  sich  voll- 
ständig und  zweifelsfrei  sein  muß. 


Aber  selbst  wider  die  Idee  einer  philosophischen  Schriftauslegiing 
höre  ich  die  vereinigte  Stimme  der  biblischen  Theologen  sich 
erheben:  sie  hat,  sagt  man,  erstlich  eine  naturalistische  ReHgion 
und  nicht  Christentum  zur  Absicht.  Antwort:  das  Christentum 
ist  die  Idee  von  der  Rchgion,  die  ĂĽberhaupt  auf  Vernunft  ge- 
gründet und  sofern  natürüch  sein  muß.  Es  enthält  aber  ein 
Mittel  der  EinfĂĽhrung  derselben  unter  Menschen,  die  Bibel,  deren 
Ursprung  fĂĽr  ĂĽbernatĂĽrlich  gehalten  wird,  die  (ihr  Ursprung  mag 
sein,  welcher  er  wolle),  sofern  sie  den  moraHschen  Vorschriften 
der  Vernunft  in  Ansehung  ihrer  öffentlichen  Ausbreitung  und 
innighcher  Belebung  beförderlich  ist,  als  Vehikel  zur  Religion 
gezählt  werden  kann  und  als  ein  solches  auch  für  übernatürliche 
Offenbarung  angenommen  werden  mag.  Nun  kann  man  eine 
Religion  nur  naturalistisch  nennen,  wenn  sie  es  zum  Grundsatze 
macht,  keine  solche  Offenbarung  einzuräumen.  Also  ist  das 
Christentum  darum  nicht  eine  naturalistische  Religion,  obgleich 
es  bloĂź  eine  natĂĽrliche  ist,  weil  es  nicht  in  Abrede  ist,  daĂź  die 
Bibel  nicht  ein  ĂĽbernatĂĽrliches  Mittel  der  Introduktion  der  letzteren 

23* 


1^6         Der  Streit  der  Fakultäten.   Erster  Abschnitt 

und  der  Stiftung  einer  sie  öffentlich  lehrenden  und  bekennenden 
Kirche  sein  möge,  sondern  nur  auf  diesen  Ursprung,  wenn  es  auf 
Rcligionslehre  ankommt,  nicht  RĂĽcksicht  nimmt. 


III. 

Einwürfe    und   Beantwortung   derselben,    die    Grundsätze 
der  Schriftauslegung  betreffend. 

Wider  diese  Auslegungsregdn  höre  ich  ausrufen;  erstlich: 
das  sind  ja  insgesamt  Urteile  der  philosophischen  Fakultät,  welche 
sich  also  in  das  Geschäft  des  biblischen  Theologen  Eingriffe  er- 
laubt. —  Antwort:  zum  Kirchenglauben  wird  historische  Ge- 
lehrsamkeit, zum  Reiigionsglauben  bloĂź  Vernunft  erfordert.  Jenen 
als  Vehikel  des  letzteren  auszulegen,  ist  freilich  eine  Forderung 
der  Vernunft,  aber  wo  ist  eine  solche  rechtmäßiger,  als  wo  etwas 
nur  als  Mittel  zu  etwas  anderem  als  Endzweck  (dergleichen  die 
Religion  ist)  einen  Wert  hat,  und  gibt  es  überall  wohl  ein  höheres 
Prinzip  der  Entscheidung,  wenn  ĂĽber  Wahrheit  gestritten  wird, 
als  die  Vernunft?  Es  tut  auch  der  theologischen  Fakultät  keines- 
weges  Abbruch,  wenn  die  philosophische  sich  der  Statuten  der- 
selben bedient,  ihre  eigene  Lehre  durch  Einstimmung  mit  derselben 
zu  bestärken;  man  sollte  vielmehr  denken,  daß  jener  dadurch  eine 
Ehre  widerfahre.  Soll  aber  doch,  was  die  Schriftauslegung  betrifft, 
durchaus  Streit  zwischen  beiden  sein,  so  weiĂź  ich  keinen  andern 
Vergleich  als  diesen:  wenn  der  biblische  Theolog  aufhören 
wird,  sich  der  Vernunft  zu  seinem  Behuf  zu  bedienen,  so 
wird  der  philosophische  auch  aufhören,  zu  Bestätigung 
seiner  Sätze  die  Bibel  zu  gebrauchen.  Ich  zweifle  aber  sehr, 
daß  der  erstere  sich  auf  diesen  Vertrag  einlassen  dürfte.  — 
Zweitens:  jene  Auslegungen  sind  allegorisch- mystisch,  mithin 
weder  bibhsch  noch  philosophisch.  Antwort:  Es  ist  gerade  das 
Gegenteil,  nämlich  daß,  wenn  der  biblische  Theolog  die  Hülle 
der  Religion  fĂĽr  die  Religion  selbst  nimmt,  er  z.  B.  das  ganze 
alte  Testament  fĂĽr  eine  fortgehende  Allegorie  (von  Vorbildern 
und  symbolischen  Vorstellungen)  des  noch  kommenden  Religions- 
zustandes erklären  muß,  wenn  er  nicht  annehmen  will,  das  wäre 
damals  schon  wahre  Religion  gewesen,  wodurch  dann  das  neue 
(die    doch    nicht    noch    wahrer    als    wahr    sein  kann)    entbehrlich 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  5  7 

gemacht  wĂĽrde.  Was  aber  die  vorgebliche  Mystik,  der  Vernunft- 
auslegungen betrifft,  wenn  die  Piiilosophic  in  SchriftstcUen  einen 
moralischen  Sinn  aufgespähet,  ja  gar  ihn  dem  Texte  aufdringt,  so 
ist  diese  gerade  das  einzige  Mittel,  die  Mystik  (z.  B.  eines 
Swedenborgs)  abzuhalten.  Denn  die  Phantasie  verläuft  sich  bei 
Religionsdingen  unvermeidlich  ins  Ăśberschwengliche,  wenn  sie  das 
Ăśbersinnliche  (was  in  allem,  was  Religion  heiĂźt,  gedacht  werden 
muĂź")  nicht  an  bestimmte  Begriffe  der  Vernunft,  dergleichen  die 
moralische  sind,  knĂĽpft,  und  fĂĽhrt  zu  einem  Illuminatism  innerer 
Offenbarungen,  deren  ein  jeder  alsdenn  seine  eigene  hat  und  kein 
öffentlicher  Probierstein   der  Wahrheit  mehr  stattfindet. 

Es  gibt  aber  noch  EinwĂĽrfe,  die  die  Vernunft  ihr  selbst  gegen 
die  Vernunftauslegung  der  Bibel  macht,  die  wir  nach  der  Reihe 
oben  angefĂĽhrter  Auslegungsregeln  kĂĽrzlich  bemerken  und  zu 
heben  suchen  wollen,  a)  Einwurf:  Als  Offenbarung  muĂź  die 
Bibel  aus  sich  selbst  und  nicht  durch  die  Vernunft  gedeutet  wer- 
den; denn  der  Erkenntnisqueli  selbst  liegt  anderswo  als  in  der  Vernunft. 
Antwort:  Eben  darum,  weil  jenes  Buch  als  göttliche  Offenbarung 
angenommen  wird,  muß  sie  nicht  bloß  nach  Grundsätzen  der 
Geschichtslehren  (mit  sich  selbst  zusammenzustimmen)  theoretisch, 
sondern  nach  Vernunftbegriffen  praktisch  ausgelegt  werden;  denn 
daß  eine  Offenbarung  göttlich  sei,  kann  nie  durch  Kennzeichen, 
welche  die  Erfahrung  an  die  Hand  gibt,  eingesehen  werden.  Ihr 
Charakter  (wenigstens  als  conditio  sine  qua  nofi)  ist  immer  die 
Übereinstimmung  mit  dem,  was  die  Vernunft  für  Gott  anständig 
erklärt.  —  b)  Einwurf:  Vor  allem  Praktischen  muß  doch  immer 
eine  Theorie  vorhergehen,  und  da  diese  als  Offenbarungslehre 
vielleicht  Absichten  des  Willens  Gottes,  die  wir  nicht  durch- 
dringen können,  für  uns  aber  verbindend  sein  dürften,  sie  zu 
befördern,  enthalten  könnten,  so  scheint  das  Glauben  an  der- 
gleichen theoretische  Sätze  für  sich  selbst  eine  Verbindlichkeit, 
mithin  das  Bezweifeln  derselben  eine  Schuld  zu  enthalten.  Ant- 
wort: Man  kann  dieses  einräumen,  wenn  vom  Kirchenglauben 
die  Rede  ist,  bei  dem  es  auf  keine  andere  Praxis  als  die  der  an- 
geordneten Gebräuche  angesehen  ist,  wo  die,  so  sich  zu  einer 
Kirche  bekennen,  zum  FĂĽrvvahrnehmen  nichts  mehr,  als  daĂź  die 
Lehre  nicht  unmöglich  sei,  bedürfen;  dagegen  zum  Religionsglauben 
Ăśberzeugung  von  der  Wahrheit  erforderlich  ist,  welche  aber 
durch  Statute  (daß  sie  göttliche  Sprüche  sind)  nicht  beurkundigt 
werden  kann,  weil,  daĂź   sie   es  sind,  nur  immer  wiederum  durch 


3  5  ^  Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

Geschichte  bewiesen  werden  müßte,  die  sich  selbst  für  göttliche 
Ortenbarung  auszugeben  nicht  beFugt  ist.  Daher  bei  diesem,  der 
g'änzlich  auf  Moralität  des  Lebenswandels,  aufs  Tun,  gerichtet  ist, 
das  FĂĽrwahrhaltcn  historischer,  obschon  biblischer  Lehren  an  sich 
keinen  moralischen  Wert  oder  Unwert  hat  und  unter  die  Adia- 
phora  gehört.  —  c)  Einwurf:  Wie  kann  man  einem  Geistlich- 
toten das  „Stehe  auf  und  wandle!"  zurufen,  wenn  diesen  Zuruf 
nicht  zugleich  eine  ĂĽbernatĂĽrliche  Macht  begleitet,  die  Leben  in 
ihn  hineinbringt?  Antwort:  Der  Zuruf  geschieht  an  den  Men- 
schen durch  seine  eigene  Vernunft,  sofern  sie  das  ĂĽbersinnliche 
Prinzip  des  moralischen  Lebens  in  sich  selbst  hat.  Durch  dieses 
kann  der  Mensch  zwar  vielleicht  nicht  sofort  zum  Leben  und  um 
von  selbst  aufzustehen,  aber  doch  sich  zu  regen  und  zur  Bestre- 
bung eines  guten  Lebenswandels  erweckt  werden  (wie  einer,  bei 
dem  die  Kräfte  nur  schlafen,  aber  darum  nicht  erloschen  sind), 
und  das  ist  schon  ein  Tun,  welches  keines  äußeren  Einflusses  be- 
darf und,  fortgesetzt,  den  beabsichtigten  Wandel  bewirken  kann.  — 
d)  Einwurf:  Der  Glaube  an  eine  uns  unbekannte  Ergänzungsart 
des  Mangels  unserer  eigenen  Gerechtigkeit,  mithin  als  Wohltat 
eines  anderen  ist  eine  umsonst  angenommene  Ursache  {petitio 
principVi)  zu  Befriedigung  des  uns  gefĂĽhlten  BedĂĽrfnisses.  Denn 
was  wir  von  der  Gnade  eines  Oberen  erwarten,  davon  können 
wir  nicht,  als  ob  es  sich  von  selbst  verstĂĽnde,  annehmen,  daĂź  es 
uns  zuteil  werden  mĂĽsse,  sondern  nur,  wenn  es  uns  wirklich 
versprochen  worden,  und  daher  nur  durch  Acceptation  eines 
uns  geschehenen  bestimmten  Versprechens,  wie  durch  einen  förm- 
lichen Vertrag.  Also  können  wir,  wie  es  scheint,  jene  Ergänzung 
nur,  sofern  sie  durch  göttliche  Offenbarung  wirklich  zugesagt 
worden,  und  nicht  auf  gut  GlĂĽck  liin  hoffen  und  voraussetzen. 
Antwort:  Eine  unmittelbare  göttliche  Offenbarung  in  dem  tröstenden 
Ausspruch:  „Dir  sind  deine  Sünden  vergeben,"  wäre  eine  über- 
sinnliche Erfahrung,  welche  unmöglich  ist.  Aber  diese  ist  auch 
in  Ansehung  dessen,  was  (wie  die  Religion)  auf  moralischen  Ver- 
nunftgrĂĽnden beruht  uud  dadurch  a  priori,  wenigstens  in  praktischer 
Absicht,  gewiß  ist,  nicht  nötig.  Von  einem  heiligen  und  gütigen 
Gesetzgeber  kann  man  sich  die  Dekrete  in  Ansehung  gebrecUicher, 
aber  alles,  was  sie  fĂĽr  Pflicht  erkennen,  nach  ihrem  ganzen  Ver- 
mögen zu  befolgen  strebender  Geschöpfe  nicht  anders  denken, 
und  selbst  der  Vernunftglaube  und  das  Vertrauen  auf  eine  solche 
Ergänzung,    ohne    daß    eine    bestimmte    empirisch    erteilte    Zusage 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   3  5  9 

dazu  kommen  darf,  beweiset  mehr  die  echte  moralische  Gesinnung 
und  hiemit  die  EmpfängHchkeit  für  jene  gehofFte  Gnadenbezeigung, 
als  CS  ein  empirischer  Glaube  tun  kann. 


Auf  solche  Weise  mĂĽssen  alle  Schriftauslegungen,  sofern  sie 
die  Religion  betreffen,  nach  dem  Prinzip  der  in  der  Offen- 
barung abgezweckten  Sittlichkeit  gemacht  werden  und  sind  ohne 
das  entweder  praktisch  leer  oder  gar  Hindernisse  des  Guten.  — 
Auch  sind  sie  alsdann  nur  eigentlich  authentisch,  d.  i.  der  Gott 
in  uns  ist  selbst  der  Ausleger,  weil  wir  niemand  verstehen  als 
den,  der  durch  unsern  eigenen  Verstand  und  unsere  eigene  Ver- 
nunft mit  uns  redet,  die  Göttlichkeit  einer  an  uns  ergangenen 
Lehre  also  durch  nichts,  als  durch  Begriffe  unserer  Vernunft,  so- 
ferne  sie  rein-moralisch  und  hiemit  untrĂĽglich  sind,  erkannt  wer- 
den kann. 


Allgemeine    Anmerkung. 

Von  Religionssekten. 

In  dem,  was  eigentlich  Religion  genannt  zu  werden  verdient, 
kann  es  keine  Sektenverschiedenheit  geben  (denn  sie  ist  einig, 
allgemein  und  notwendig,  mithin  unveränderlich),  wohl  aber  in 
dem,  was  den  Kirchenglauben  betrilft,  er  mag  nun  bloĂź  auf  die 
Bibel,  oder  auch  auf  Tradition  gegrĂĽndet  sein:  sofern  der  Glaube 
an  das,  was  bloĂź  Vehikel  der  Religion  ist,  fĂĽr  Artikel  derselben 
gehalten  wird. 

Es  wäre  Herkulische  und  dabei  undankbare  Arbeit,  nur  bloß 
die  Sekten  des  Christentums,  wenn  man  unter  ihm  den  mes- 
sianischen  Glauben  versteht,  alle  aufzuzählen;  denn  da  ist  jenes 
bloĂź    eine    Sekte')    des    letztern,    so    daĂź   es    dem  Judentum  in 

*)  Es  ist  eine  Sonderbarkeit  des  deutschen  Sprachgebrauchs  (oder 
Mißbrauchs),  daß  sich  die  Anhänger  unserer  Religion  Christen  nennen: 
gleich  als  ob  es  mehr  als  einen  Christus  gebe  und  jeder  Gläubige  ein 
Christus  wäre.  Sie  müßten  sich  Christianer  nennen.  —  Aber  dieser 
Name  wĂĽrde  sofort  wie  ein  Sektenname  angesehen  werden  von  Leuten, 


360         Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

engerer  Bedeutung  (in  dem  letzten  Zeitpunkt  seiner  ungeteilten 
Herrschaft  ĂĽber  das  Volk)  entgegengesetzt  wird,  wo  die  Frage  ist; 
„Bist  du  CS,  der  da  kommen  soll,  oder  sollen  wir  eines  anderen 
warten?"'^  wofür  es  auch  anfänglich  die  Römer  nahmen.  In  dieser 
Bedeutung  aber  wĂĽrde  das  Christentum  ein  gewisser  auf  Satzungen 
und  Schrift  gegrĂĽndeter  Volksglaube  sein,  von  dem  man  nicht 
wissen  könnte,  ob  er  gerade  für  alle  Menschen  gültig  oder  der 
letzte  OlFenbarungsglaube  sein  dĂĽrfte,  bei  dem  es  forthin  bleiben 
müßte,  oder  ob  nicht  künftig  andere  göttliche  Statuten,  die  dem 
Zweck  noch  näher  träten,  zu   erwarten  wären. 

Um  also  ein  bestimmtes  Schema  der  Einteilung  einer  Glaubens- 
lehre in  Sekten  zu  haben,  können  wir  nicht  von  empirischen 
Datis,  sondern  wir  mĂĽssen  von  Verschiedenheiten  anfangen,  die 
sich  a  priori  durch  die  Vernunft  denken  lassen,  um  in  der  Stufen- 
reihe der  Unterschiede  der  Denkungsart  in  Glaubenssachen  die 
Stufe  auszumachen,  in  der  die  Verschiedenheit  zuerst  einen  Sekten- 
unterschied  begrĂĽnden  wĂĽrde. 

In  Glaubenssachen  ist  das  Prinzip  der  Einteilung  nach  der 
angenommenen  Denkungsart  entweder  Religion  oder  Super- 
stition oder  Heidentum  (die  einander  wie  A  und  non  A  ent- 
gegen sind).  Die  Bekenner  der  ersteren  werden  gewöhnlich 
Gläubige,  die  des  zweiten  Ungläubige  genannt.  Religion  ist 
derjenige  Glaube,  der  das  Wesentliche  aller  Verehrung  Gottes 
in  der  Moralität  des  Menschen  setzt;  Heidentum,  der  es  nicht 
darin  setzt;  entweder  weil  es  ihm  gar  an  dem  Begriffe  eines  ĂĽber- 
natĂĽrlichen und  moralischen  Wesens  mangelt  (^Etbnicismus  brutus), 
oder  weil  er  etwas  anderes  als  die  Gesinnung  eines  sittlich  wohl- 
gefĂĽhrten Lebenswandels,  also  das  Nichtwesentliche  der  Religion, 
zum  ReligionsstĂĽck  macht  (^Ethnicisnius  speciosus). 

Glaubenssätze,  welche  zugleich  als  göttliche  Gebote  gedacht 
werden  sollen,  sind  nun  entweder  bloĂź  statutarisch,  mithin  fĂĽr 
uns  zufällig  und  OfFenbarungslehren,  oder  moralisch,  mitliin  mit 
dem    BewuĂźtsein    ihrer    Notwendigkeit    verbunden    und    a    priori 


denen  man  (wie  im  Peregrinus  Proteus  geschieht)  viel  Ăśbels  nachsagen 
kann,  welches  in  Ansehung  des  Christen  nicht  stattfindet.  —  So  ver- 
langte ein  Rezensent  in  der  „Hallischen  gel.  Zeitung",  daß  der  Name 
Jehovah  durch  Jahwoh  ausgesprochen  werden  sollte.  Aber  diese  Ver- 
änderung würde  eine  bloße  Nationalgottheit,  nicht  den  Herrn  der  Welt 
zu  bezeichnen  scheinen. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  6 1 

erkennbar,  d.  i.  Vernunftlehren  des  Glaubens.  Der  Inbegriff 
der  ersteren  Lehren  macht  den  Kirchen-,  der  anderen  aber  den 
reinen  Religionsglauben  aus'). 

Allgemeinheit  fĂĽr  einen  Kirchenglauben  zu  fordern  (catho- 
licismus  bierarchicus)  ist  ein  Widerspruch,  weil  unbedingte  All- 
gemeinheit Notwendigkeit  voraussetzt,  die  nur  da  stattfindet,  wo 
die  Vernunft  selbst  die  Glaubenssätze  hinreichend  begründet,  mithin 
diese  nicht  bloĂźe  Statute  sind.  Dagegen  hat  der  reine  Religions- 
glaube rechtmäßigen  Anspruch  auf  Allgemeingültigkeit  (catbo/icismus 
rationalis).  Die  Sektiererei  in  Glaubenssachen  wird  also  bei  dem 
letztern  nie  stattfinden,  und  wo  sie  angetroffen  wird,  da  entspringt 
sie  immer  aus  einem  Fehler  des  Kirchenglaubens:  seine  Statute 
(selbst  göttliche  Offenbarungen)  für  wesentliche  Stücke  der  Religion 
zu  halten,  mithin  den  Empirism  in  Giaubenssachen  dem  Rationalism 
unterzuschieben  und  so  das  bloß  Zufällige  für  an  sich  notwendig 
auszugeben.  Da  nun  in  zufälUgen  Lehren  es  vielerlei  einander 
widerstreitende,  teils  Satzungen,  teils  Auslegung  von  Satzungen 
geben  kann:  so  ist  leicht  einzusehen,  daĂź  der  bloĂźe  Kirchenglaube, 
ohne  durch  den  reinen  Religionsglauben  geläutert  zu  sein,  eine 
reiche  Quelle  unendlich  vieler  Sekten  in  Glaubenssachen  sein 
werde. 

Um  diese  Läuterung,  worin  sie  bestehe,  bestimmt  anzugeben, 
scheint  mir  der  zum  Gebrauch  schickHchste  Probierstein  der  Satz 
zu  sein:  ein  jeder  Kirchenglaube,  sofern  er  bloĂź  statutarische 
Glaubenslehren  fĂĽr  wesentUche  ReĂśgionslehren  ausgibt,  hat  eine 
gewisse  Beimischung  von  Heidentum;  denn  dieses  besteht  darin, 
das  Ă„uĂźerliche  (AuĂźerwesentliche)  der  ReHgion  fĂĽr  wesentĂĽch 
auszugeben.  Diese  Beimischung  kann  gradweise  so  weit  gehen, 
daĂź  die  ganze  Rehgion  darĂĽber  in  einen  bloĂźen  Kirchengiauben, 
Gebräuche  für  Gesetze  auszugeben,  übergeht  und  alsdann  bares 
Heidentum   wird,^)    wider    welchen    Schimpfnamen    es  nichts  ver- 

^)  Diese  Einteilung,  welche  ich  nicht  für  prätis  und  dem  gewöhnlichen 
Redegebrauch  angemessen  ausgebe,  mag  einstweilen  hier  gelten. 

*)  Heidentum  {Paganisvius)  ist  der  Worterklärung  nach  der  religiöse 
Aberglaube  des  Volks  in  Wäldern  (Heiden),  d.  i.  einer  Menge,  deren 
Religionsglaube  noch  ohne  alle  kirchliche  Verfassung,  mithin  ohne  öffent- 
liches Gesetz  ist,  Juden  aber,  Mohammedaner  und  Indier  halten  das 
für  kein  Gesetz,  was  nicht  das  ihrige  ist,  und  benennen  andere  Völker, 
die  nicht  eben  dieselbe  kirchliche  Observanzen  haben,  mit  dem  Titel 
der  Verwerfung  (Goj,  Dschaur  usw.),  nämlich  der  Ungläubigen. 


JÖ2  Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

schlägt  zu  sagen,  daß  jene  Lehren  doch  göttliche  Offenbarungen 
seien;  denn  nicht  jene  statutarische  Lehren  und  Kirchenpflichten 
selbst,  sondern  der  unbedingte,  ihnen  beigelegte  Wert  (nicht  etwa 
bloĂź  Vehikel,  sondern  selbst  ReligionsstĂĽcke  zu  sein,  ob  sie  zwar 
keinen  inneren  moralischen  Gehalt  bei  sich  fĂĽhren,  also  nicht  die 
Materie  der  Ofl'enbarung,  sondern  die  Form  ihrer  Aufnahme  in 
seine  praktische  Gesinnung)  ist  das,  was  auf  eine  solche  Glaubens- 
weise den  Namen  des  Heidentums  mit  Recht  fallen  läßt.  Die 
kirchliche  Autorität,  nach  einem  solchen  Glauben  selig  zu  sprechen 
oder  zu  verdammen,  wĂĽrde  das  Pfaffentum  genannt  werden,  von 
welchem  Ehrennamen  sich  so  nennende  Protestanten  nicht  aus- 
zuschUcĂźen  sind,  wenn  sie  das  Wesentliche  ihrer  Glaubenslehre  in 
Glauben  an  Sätze  und  Observanzen,  von  denen  ihnen  die  Vernunft 
nichts  sagt,  und  welche  zu  bekennen  und  zu  beobachten  der 
schlechteste,  nichtswĂĽrdigste  Mensch  in  eben  demselben  Grade 
taugUch  ist  als  der  beste,  zu  setzen  bedacht  sind:  sie  mögen  auch 
einen  noch  so  groĂźen  Nachtrab  von  Tugenden,  als  die  aus  der 
wundervollen  Kraft  der  ersteren  entsprängen  (mithin  ihre  eigene 
Wurzel  nicht  haben),  anhängen,  als  sie  immer  wollen. 

Von  dem  Punkte  also,  wo  der  Kirchenglaube  anfängt,  für  sich 
selbst  mit  Autorität  zu  sprechen,  ohne  auf  seine  Rektifikation 
durch  den  reinen  Religionsglauben  zu  achten,  hebt  auch  die 
Sektiererei  an;  denn  da  dieser  (als  praktischer  Vernunftglaube) 
seinen  EinfluĂź  auf  die  menschliche  Seele  nicht  verlieren  karm, 
der  mit  dem  BewuĂźtsein  der  Freiheit  verbunden  ist,  indessen  daĂź 
der  Kirchenglaube  ĂĽber  die  Gewissen  Gewalt  ausĂĽbt:  so  sucht 
ein  jeder  etwas  fĂĽr  seine  eigene  Meinung  in  den  Kirchenglauben 
hinein-  oder  aus  ihm  herauszubringen. 

Diese  Gewalt  veranlaĂźt  entweder  bloĂźe  Absonderung  von  der 
Kirche  (Separatism),  d.  i.  Enthaltung  von  der  öfl?enthchen  Gemein- 
schaft mit  ihr,  oder  öffentliche  Spaltung  der  in  Ansehung  der 
kirchlichen  Form  Andersdenkenden,  ob  sie  zwar  der  Materie  nach 
sich  zu  eben  derselben  bekennen  (Schismatiker),  oder  Zusammen- 
tretung der  Dissidenten  in  Ansehung  gewisser  Glaubenslehren  in 
besondere,  nicht  immer  geheime,  aber  doch  vom  Staat  nicht  sank- 
tionierte Gesellschaften  (Sektirer),  deren  einige  noch  besondere, 
nicht  fürs  große  Publikum  gehörende,  geheime  Lehren  aus  eben 
demselben  Schatz  herholen  (gleichsam  Klubbisten  der  Frömmigkeit^, 
endlich  auch  falsche  Friedensstifter,  die  durch  die  Zusammenschmel- 
zung  verschiedener   Glaubensarten  allen  genug  zu  tun  meinen  (Syn- 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  6  3 

kretisten);  die  dann  noch  schlimmer  sind  als  Sektierer,  weil  Gleich- 
gĂĽltigkeit in  Ansehung  der  Religion  ĂĽberhaupt  zum  Grunde  liegt, 
und  weil  einmal  doch  ein  Kirchenglaube  im  Volk  sein  mĂĽsse, 
einer  so  gut  wie  der  andere  sei,  wenn  er  sich  nur  durch  die 
Regierung  zu  ihren  Zwecken  gut  handhaben  läßt;  ein  Grundsatz, 
der  im  Munde  des  Regenten,  als  eines  solchen,  zwar  ganz  richtig, 
auch  sogar  weise  ist,  im  Urteile  des  Untertanen  selbst  aber,  der 
diese  Sache  aus  seinem  eigenen  und  zwar  moralischen  Interesse 
zu  erwägen  hat,  die  äußerste  Geringschätzung  der  Religion  ver- 
raten wĂĽrde;  indem,  wie  selbst  das  Vehikel  der  Religion  beschaffen 
sei,  was  jemand  in  seinen  Kirchenglauben  aufnimmt,  fĂĽr  die  Re- 
ligion keine  gleichgĂĽltige  Sache  ist. 

In  Ansehung  der  Sektiererei  (welche  auch  wohl  ihr  Haupt 
bis  zur  Vermannigfaltigung  der  Kirchen  erhebt,  wie  es  bei  den 
Protestanten  geschehen  ist)  pflegt  man  zwar  zu  sagen:  es  ist  gut, 
daĂź  es  vielerlei  Religionen  (eigentlich  kirchliche  Glaubensarten) 
in  einem  Staate  gibt,  und  sofern  ist  dieses  auch  richtig,  als  es 
ein  gutes  Zeichen  ist:  nämlich,  daß  Glaubensfreiheit  dem  Volke 
gelassen  worden;  aber  das  ist  eigentlich  nur  ein  Lob  fĂĽr  die 
Regierung.  An  sich  aber  ist  ein  solcher  öffentlicher  Religions- 
zustand doch  nicht  gut,  dessen  Prinzip  so  beschaffen  ist,  daĂź  es 
nicht,  wie  es  doch  der  Begriff  einer  Religion  erfordert,  Allgemein- 
heit und  Einheit  der  wesentlichen  Glaubensmaximen  bei  sich  fĂĽhrt 
und  den  Streit,  der  von  dem  AuĂźerwesentlichen  herrĂĽhrt,  nicht 
von  jenem  unterscheidet.  Der  Unterschied  der  Meinungen  in  An- 
sehung der  größeren  oder  minderen  Schicklichkcit  oder  Unschick- 
lichkeit des  Vehikels  der  Religion  zu  dieser  als  Endabsicht  selbst 
(nämlich  die  Menschen  moralisch  zu  bessern)  mag  also  allenfalls 
Verschiedenheit  der  Kirchensekten,  darf  aber  daruni  nicht  Ver- 
schiedenheit der  ReĂĽgionssekten  bev\drken,  welche  der  Einheit  und 
Allgemeinheit  der  Religion  (also  der  unsichtbaren  Kirche)  gerade 
zuwider  ist.  Aufgeklärte  Katholiken  und  Protestanten  werden  also 
einander  als  Glaubensbrüder  ansehen  können,  ohne  sich  doch  zu 
vermengen,  beide  in  der  Erwartung  (und  Bearbeitung  zu  diesem 
Zweck):  daĂź  die  Zeit  unter  BegĂĽnstigung  der  Regierung  nach 
und  nach  die  Förmlichkeiten  des  Glaubens  (der  freilich  alsdann 
nicht  ein  Glaube  sein  muĂź,  Gott  sich  durch  etwas  anders  als 
durch  reine  moralische  Gesinnung  gĂĽnstig  zu  machen  oder  zu 
versöhnen)  der  Würde  ihres  Zwecks,  nämlich  der  Religion  selbst, 
näher  bringen  werde.  —  Selbst  in  Ansehung  der  Juden  ist  dieses 


3Ö4         Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

ohne  die  Träumerei  einer  allgemeinen  Judenbekehrung')  (zum 
Christentum  als  einem  messianischen  Glauben)  möglich,  wenn 
unter  ihnen,  wie  jetzt  geschieht,  geläuterte  ReligionsbegrifFe  er- 
wachen und  das  Kleid  des  nunmehro  zu  nichts  dienenden,  vielmehr 
alJe  wahre  Religionsgesinnung  verdrängenden  alten  Kultus  abwerfen. 
Da  sie  nun  so  lange  das  Kleid  ohne  Mann  (Kirche  ohne  Re- 
ligion) gehabt  haben,  gleichwohl  aber  der  Mann  ohne  Kleid 
(Religion  ohne  Kirche)  auch  nicht  gut  verwahrt  ist,  sie  also  ge- 
wisse Förmlichkeiten  einer  Kirche,  die  dem  Endzweck  in  ihrer 
jetzigen  Lage  am  angemessensten  wäre,  bedürfen:  so  kann  man 
den  Gedanken  eines  sehr  guten  Kopfs  dieser  Nation,  BENDAVIDS 
die  Rehgion  Jesu  (vermutlich  mit  ihrem  Vehikel,  dem  Evange- 
lium) öffentlich  anzunehmen,  nicht  allein  für  sehr  glücklich, 
sondern  auch  fĂĽr  den  einzigen  Vorschlag  halten,  dessen  AusfĂĽhrung 
dieses  Volk,  auch  ohne  sich  mit  andern  in  Glaubenssachen  zu 
vermischen,  bald  als  ein  gelehrtes,  wohlgesittetes  und  aller  Rechte 
des  bürgerlichen  Zustandes  fähiges  Volk,  dessen  Glaube  auch  von 
der  Regierung  sanktioniert  werden  könnte,  bemerklich  machen 
wĂĽrde;  wobei  freilich  ihr  die  Schriftauslegung  (der  Thora  und 
des  Evangeliums)  frei  gelassen  werden  mĂĽĂźte,  um  die  Art,  wie 
Jesus  als  Jude  zu  Juden,  von  der  Art,  wie  er  als  moralischer 
Lehrer  zu  Menschen  überhaupt  redete,  zu  unterscheiden.  —  Die 
Euthanasie  des  Judentums  ist  die  reine  moralische  Religion  mit 
Verlassung  aller  alten  Satzungslehren,  deren  einige  doch  im  Christen- 
tum (als  messianischen  Glauben)  noch  zurĂĽck  behalten  bleiben 
mĂĽssen;  welcher  Sektenunterschied  endlich  doch  auch  verschwinden 
muĂź,  und  so  das,  was  man  als  den  BeschluĂź  des  groĂźen  Drama 
des  Religionswechsels  auf  Erden  nennt,  (die  Wiederbringung  aller 

')  Moses  Mendelssohn  wies  dieses  Ansinnen  auf  eine  Art  ab,  die 
seiner  Klugheit  Ehre  macht  (durch  eine  arguvtentatio  ad  homiuem).  So 
lange  (sagt  er)  als  nicht  Gott  vom  Berge  Sinai  ebenso  feierlich  unser 
Gesetz  aufhebt,  als  er  es  (unter  Donner  und  Blitz)  gegeben,  d.  i.  bis 
zum  Nimmertag,  sind  wir  daran  gebunden;  womit  er  wahrscheinlicher- 
weise sagen  wollte:  Christen,  schafft  ihr  erst  das  Judentum  aus  eurem 
eigenen  Glauben  weg:  so  werden  wir  auch  das  unsrige  verlassen.  — 
DaĂĽ  er  aber  seinen  eignen  Glaubensgenossen  durch  diese  harte  For- 
derung die  Hoffnung  zur  mindesten  Erleichterung  der  sie  drĂĽckenden 
Lasten  abschnitt,  ob  er  zwar  wahrscheinlich  die  wenigsten  derselben 
für  wesentlich  seinem  Glauben  angehörig  hielt,  ob  das  seinem  guten 
Willen  Ehre  mache,  mögen  diese  selbst  entscheiden. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  6 


5 


Dinge)    wenigstens  im    Geiste    herbeifĂĽhrt,   da   nur   ein   Hirt  und 
eine  Herde  stattfindet. 


Wenn  aber  gefragt  wird:  nicht  bloĂź  was  Christentum  sei, 
sondern  wie  es  der  Lehrer  desselben  anzufangen  habe,  damit  ein 
solches  in  den  Herzen  der  Menschen  wirklich  angetroffen  werde 
(welches  mit  der  Aufgabe  einerlei  ist:  was  ist  zu  tun,  damit  der 
Religionsglaube  zugleich  bessere  Menschen  mache?),  so  ist  der  Zweck 
zwar  einerlei  und  kann  keinen  Sektenunterschied  veranlassen,  aber 
die  Wahl  des  Mittels  zu  demselben  kann  diesen  doch  herbeifĂĽhren, 
weil  zu  einer  und  derselben  Wirkung  sich  mehr  wie  eine  Ursache 
denken  läßt  und  sofern  also  Verschiedenheit  und  Streit  der  Mei- 
nungen, ob  das  eine  oder  das  andere  demselben  angemessen  und 
göttlich  sei,  mithin  eine  Trennung  in  Prinzipien  bewirken  kann, 
die  selbst  das  Wesentliche  (in  subjektiver  Bedeutung)  der  Religion 
ĂĽberhaupt  angehen. 

Da  die  Mittel  zu  diesem  Zwecke  nicht  empirisch  sein  können  — 
weil  diese  allenfalls  wohl  auf  die  Tat,  aber  nicht  auf  die  Ge- 
sinnung hinwirken  — ■,  so  muß  für  den,  der  alles  Übersinnliche 
zugleich  für  übernatürlich  hält,  die  obige  Aufgabe  sich  in  die 
Frage  verwandeln:  wie  ist  die  Wiedergeburt  (als  die  Folge  der 
Bekehrung,  wodurch  jemand  ein  anderer,  neuer  Mensch  wird) 
durch  göttlichen  unmittelbaren  Einfluß  möglich,  und  was  hat  der 
Mensch  zu  tun,  um  diesen  herbeizuziehen?  Ich  behaupte,  daĂź, 
ohne  die  Geschichte  zu  Rate  zu  ziehen  (als  welche  zwar  Meinungen, 
aber  nicht  die  Notwendigkeit  derselben  vorstellig  machen  kann), 
man  a  priori  emen  unausbleiblichen  Sektenunterschied,  den  bloĂź 
diese  Aufgabe  bei  denen  bewirkt,  welchen  es  eine  Kleinigkeit  ist, 
zu  einer  natĂĽrlichen  Wirkung  ĂĽbernatĂĽrliche  Ursachen  herbeizu- 
rufen, vorher  sagen  kann,  ja  daĂź  diese  Spaltung  auch  die  einzige 
sei,  welche  zur  Benennung  zweier  verschiedener  Religionssekten 
berechtigt;  denn  die  anderen,  welche  man  fälschlich  so  benennt, 
sind  nur  Kirchensekten  und  gehen  das  Innere  der  Religion  nicht 
an.  —  Ein  jedes  Problem  aber  besteht  erstlich  aus  der  Quästion 
der  Aufgabe,  zweitens  der  Auflösung  und  drittens  dem  Beweis, 
daĂź   das  Verlangte   durch  die  letztere  geleistet  werde.      Also: 

i)  Die  Aufgabe    (die    der  wackere  SPENER   mit   Eifer   allen 


l66         Der  Streit  der  Fakultäten.   Erster  Abschnitt 

Lehrern  der  Kirche  zurief)  ist;  der  Rcligionsvortrag  muĂź  zum 
Zweck  haben,  aus  uns  andere,  nicht  bloĂź  bessere  Menschen 
(gleich  als  ob  wir  so  schon  gute,  aber  nur  dem  Grade  nach 
vernachlässigte  wären)  zu  machen.  Dieser  Satz  ward  den  Ortho- 
doxisten  (ein  nicht  ĂĽbel  ausgedachter  Name)  in  den  Weg  ge- 
worfen, welche  in  dem  Glauben  an  die  reine  Offenbarungsichre 
und  den  von  der  Kirche  vorgeschriebenen  Observanzen  (dem  Beten, 
dem  Kirchengehen  und  den  Sakramenten)  neben  dem  ehrbaren 
(zwar  mit  Ăśbertretungen  untermengten,  durch  jene  aber  immer 
wieder  gut  zu  machenden)  Lebenswandel  die  Art  setzten,  Gott 
wohlgefällig  zu  werden.  —  Die  Aufgabe  ist  also  ganz  in  der 
Vernunft  gegrĂĽndet. 

2)  Die  Auflösung  aber  ist  völlig  mystisch  ausgefallen;  so 
wie  man  es  vom  Supernaturalism  in  Prinzipien  der  Religion  er- 
warten konnte,  der,  weil  der  Mensch  von  Natur  in  SĂĽnden  tot 
sei,  keine  Besserung  aus  eigenen  Kräften  hoffen  lasse,  selbst  nicht 
aus  der  ursprünglichen  unverfäJschbaren  moralischen  Anlage  in  seiner 
Natur,  die,  ob  sie  gleich  ĂĽbersinnlich  ist,  dermoch  Fleisch  genannt 
wird,  darum,  weil  ihre  Wirkung  nicht  zugleich  ĂĽbernatĂĽrlich 
ist,  als  in  welchem  Falle  die  unmittelbare  Ursache  derselben  allein 
der  Geist  (Gottes)  sein  würde.  —  Die  mystische  Auflösung  jener 
Aufgabe  teilt  nun  die  Gläubigen  in  zwei  Sekten  des  Gefühls 
ĂĽbernatĂĽrlicher  EinflĂĽsse:  die  eine,  wo  das  GefĂĽhl  als  von  herz- 
zermalmender (zerknirschender),  die  andere,  wo  es  von  herz- 
zerschmelzender (in  die  selige  Gemeinschaft  mit  Gott  sich  auf- 
lösender) Art  sein  müsse,  so  daß  die  Auflösung  des  Problems 
(aus  bösen  Menschen  gute  zu  machen)  von  zwei  entgegengesetzten 
Standpunkten  ausgeht  („wo  das  Wollen  zwar  gut  ist,  aber  das 
Vollbringen  mangelt").  In  der  einen  Sekte  kommt  es  nämlich 
nur  darauf  an,  von  der  Herrschaft  des  Bösen  in  sich  loszu- 
kommen, worauf  dann  das  gute  Prinzip  sich  von  selbst  einfinden 
wĂĽrde:  in  der  andern,  das  gute  Prinzip  in  seine  Gesinnung  auf- 
zunehmen, worauf  vermittelst  eines  ĂĽbernatĂĽrlichen  Einflusses  das 
Böse  für  sich  keinen  Platz  mehr  finde  und  das  Gute  allein  herr- 
schend sein  wĂĽrde. 

Die  Idee  von  einer  moralischen,  aber  nur  durch  ĂĽbernatĂĽrlichen 
Einfluß  möglichen  Metamorphose  des  Menschen  mag  wohl  schon 
längst  in  den  Köpfen  der  Gläubigen  rumort  haben:  sie  ist  aber 
in  neueren  Zeiten  allererst  recht  zur  Sprache  gekommen  und  hat 
den  Spener-Franckischen  und  den  Mährisch-Zinzendorfschen 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  67 

Sektenunterschied  (den  Pietism  und  Moravianism)  in  der  Be- 
kehrungslehre hei-vorgebracht. 

Nach  der  ersteren  Hypothese  geschieht  die  Scheidung  des 
Guten  vom  Bösen  (womit  die  menschliche  Natur  amalgamiert  ist) 
durch  eine  ĂĽbernatĂĽrliche  Operation,  die  Zerknirschung  und  Zer- 
malmung ^ts  Herzens  in  der  BuĂźe,  als  einen  nahe  an  Verzweillung 
grenzenden,  aber  doch  auch  nur  durch  den  EinfluĂź  eines  himm- 
lischen Geistes  in  seinem  nötigen  Grade  erreichbaren  Gram 
(rnaeror  animi),  um  welchen  der  Mensch  selbst  bitten  mĂĽsse,  in- 
dem er  sich  selbst  darüber  grämt,  daß  er  sich  nicht  genug  gräme, 
mithin  das  Leidsein  ihm  doch  nicht  so  ganz  von  Herzen  gehen 
kann.  Diese  „Höllenfahrt  deS'  Selbsterkenntnisses  bahnt  nun,  wie 
der  sei.  Hamann  sagt,  den  Weg  zur  Vergötterung".  Nämlich 
nachdem  diese  Glut  der  Buße  ihre  größte  Höhe  erreicht  hat, 
geschehe  der  Durchbruch,  und  der  Regulus  des  Wiedergebornen 
glänze  unter  den  Schlacken,  die  ihn  zwar  umgeben,  aber  nicht 
verunreinigen,  tüchtig  zu  dem  Gott  wohlgefälligen  Gebrauch  in 
einem  guten  Lebenswandel.  —  Diese  radikale  Veränderung  fängt 
also  mit  einem  Wunder  an  und  endigt  mit  d?m,  was  man  sonst 
als  natĂĽrlich  anzusehen  pflegt,  v/eil  es  die  Vernunft  vorschreibt, 
nämlich  mit  dem  moralisch-guten  Lebenswandel.  Weil  man  aber 
selbst  beim  höchsten  Fluge  einer  mystisch-gestimmten  Einbildungs- 
kraft den  Menschen  doch  nicht  von  allem  Selbsttun  lossprechen 
kann,  ohne  ihn  gänzlich  zur  Maschine  zu  machen,  so  ist  das  an- 
haltende inbrĂĽnstige  Gebet  das,  was  ihm  noch  zu  tun  obliegt, 
(wofern  man  es  überhaupt  für  ein  Tun  wäll  gelten  las?en^  und 
wovon  er  sich  jene  ĂĽbernatĂĽrliche  Wirkung  allein  versprechen 
kann;  wobei  doch  auch  der  Skrupel  eintritt:  daĂź,  da  das  Gebet, 
wie  es  heißt,  nur  sofern  erhörlich  ist,  als  es  im  Glauben  geschieht, 
dieser  selbst  aber  eine  Gnadenwirkung  ist,  d.  i.  etwas,  wozu  der 
Mensch  aus  eigenen  Kräften  nicht  gelangen  kann,  er  mit  seinen 
Gnadenmitteln  im  Zirkel  gefĂĽhrt  wird  und  am  Ende  eigentlich 
nicht  weiĂź,  vsde  er  das  Ding  angreifen  solle. 

Nach  der  zweiten  Sekte  Meinung  geschieht  der  erste  Schritt, 
den  der  sich  seiner  sĂĽndigen  Beschaffenheit  bewuĂźt  werdende 
Mensch  zum  Besseren  tut,  ganz  natĂĽrlich,  durch  die  Vernunft, 
die,  indem  sie  ihm  im  moralischen  Gesetz  den  Spiegel  vorhält, 
worin  er  seine  Verwerflichkeit  erblickt,  die  moralische  Anlage 
zum  Guten  benutzt,  um  ihn  zur  EntschlieĂźung  zu  bringen,  es 
fortmehro    zu    seiner    Maxime    zu    machen:    aber    die    AusfĂĽhrung 


368         Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

dieses  Vorsatzes  ist  ein  Wunder.  Er  wendet  sich  nämlich  von 
der  Fahne  des  bösen  Geistes  ab  und  begibt  sich  unter  die  des 
guten,  weiches  eine  leichte  Sache  ist.  Aber  nun  bei  dieser  zu 
beharren,  nicht  wieder  ins  Böse  zurück  zu  fallen,  vielmehr  im 
Guten  immer  mehr  Fortzuschreiten,  das  ist  die  Sache,  wozu  er 
natürlicherweise  unvermögend  sei,  vielmehr  nichts  Geringeres  als 
GefĂĽhl  einer  ĂĽbernatĂĽrlichen  Gemeinschaft  und  sogar  das  Be- 
wuĂźtsein eines  kontinuierlichen  Umganges  mit  einem  himmlischen 
Geiste  erfordert  werde;  wobei  es  zwischen  ihm  und  dem  letzteren 
zwar  auf  einer  Seite  nicht  an  Verweisen,  auf  der  andern  nicht 
an  Abbitten  fehlen  kann:  doch  ohne  daĂź  eine  Entzweiung  oder 
RĂĽckfall  (aus  der  Gnade)  zu  besorgen  ist;  wenn  er  nur  darauf 
Bedacht  nimmt,  diesen  Umgang,  der  selbst  ein  kontinuierliches 
Gebet  ist,  ununterbrochen  zu  kultivieren. 

Hier  ist  nun  eine  zwiefache  mystische  GefĂĽhlstheorie  zum 
SchlĂĽssel  der  Aufgabe:  ein  neuer  Mensch  zu  werden,  vorgelegt, 
wo  es  nicht  um  das  Objekt  und  den  Zweck  aller  Religion  (den 
Gott  gefälligen  Lebenswandel,  denn  darüber  stimmen  beide  Teile 
ĂĽberein),  sondern  um  die  subjektive  Bedingungen  zu  tun  ist, 
unter  denen  wir  allein  Kraft  dazu  bekommen,  jene  Theorie  in 
uns  zur  AusfĂĽhrung  zu  bringen;  wobei  dann  von  Tugend  (die 
ein  leerer  Name  sei)  nicht  die  Rede  sein  kann,  sondern  nur  von 
der  Gnade,  weil  beide  Parteien  darĂĽber  einig  sind,  daĂź  es  hie- 
mit  nicht  n.-'.türlich  zugehen  könne,  sich  aber  wieder  darin  von- 
einander trennen,  daĂź  der  eine  Teil  den  fĂĽrchterlichen  Kampf 
mit  dem  bösen  Geiste,  um  von  dessen  Gewalt  loszukommen, 
bestehen  muß,  der  andere  aber  dieses  gar  nicht  nötig,  ja  als 
Werkheiligkeit  verwerflich  findet,  sondern  geradezu  mit  dem  guten 
Geiste  Allianz  schließt,  weil  die  vorige  mit  dem  bösen  (als  pactum 
turpe)  gar  keinen  Einspruch  dagegen  verursachen  kann;  da  dann 
die  Wiedergeburt  als  einmal  fĂĽr  allemal  vorgehende  ĂĽbernatĂĽrliche 
und  .radikale  Revolution  im  Seelenzustande  auch  wohl  äußerlich 
einen  Sektenunterschied  aus  so  sehr  gegen  einander  abstechenden 
GefĂĽhlen   beider  Parteien  kennbar  machen  dĂĽrfte.^) 

')  Welche  Narionalphysiognomie  möchte  wohl  ein  ganzes  Volk, 
welches  (wenn  dergleichen  möglich  wäre)  in  einer  dieser  Sekten  erzogen 
wäre,  haben  ?  Denn  daß  ein  solcher  sich  zeigen  würde,  ist  wohl  nicht 
zu  zweifeln:  weil  oft  wiederholte,  vornehmlich  widernatĂĽrliche  EindrĂĽcke 
aufs    Gemüt    sich    in  Gebärdung    und   Ton   der   Sprache    äußeren,    und 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   3  69 

3)   Der    Beweis;    daĂź,    wenn,    was    Nr.    2    verlangt    worden, 
geschehen,   die  Aufgabe  Nr.  i    dadurch  auFgelöset  sein  werde.  — 
Dieser  Beweis  ist  unmöglich.    Denn   der  Mensch   müßte   beweisen, 
daĂź  in  ihm  eine   ĂĽbernatĂĽrliche  Erfahrung,  die  an  sich  selbst  ein 
Widerspruch  ist,  vorgegangen  sei.    Es  könnte  allenfalls  eingeräumt 
werden,  daĂź   der  Mensch  in  sich  eine  Erfahrung  (z.  B.   von  neuen 
und    besseren    Willensbestimmungen)    gemacht    hätte,    von    einer 
Veränderung,    die    er  sich  nicht  anders  als   durch  ein  Wunder  zu 
erklären   weiß,  also  von   etwas   Übernatürlichem.     Aber  eine  Er- 
fahrung, von  der  er  sich  sogar  nicht  einmal,  daĂź  sie  in  der  Tat 
Erfahrung  sei,    ĂĽberfĂĽhren  kann,   weil  sie   (als  ĂĽbernatĂĽrlich)   auf 
keine  Regel   der  Natur  unseres  Verstandes  zurĂĽckgefĂĽhrt  und  da- 
durch bewährt  werden  kann,  ist  eine  Ausdeutung  gewisser  Emp- 
findungen, von  denen  man  nicht  weiĂź,  was  man  aus  ihnen  machen 
soll,  ob  sie  als  zum  Erkenntnis  gehörig  einen  wirklichen  Gegen- 
stand haben,  oder  bloße  Träumereien  sein  mögen.     Den  unmittel- 
baren EinfluĂź   der  Gottheit  als  einer  solchen  fĂĽhlen   wollen,    ist, 
weil    die    Idee    von    dieser    bloĂź   in   der  Vernunft  liegt,    eine   sich 
selbst  widersprechende  Anmaßung.  —  Also  ist  hier  eine  Aufgabe 
samt    ihrer    Auflösung     ohne     irgend    einen     möglichen    Beweis; 
woraus  denn  auch  nie  etwas  VernĂĽnftiges  gemacht  werden  wird. 
Es  kommt  nun  noch  darauf  an,   nachzusuchen,    ob    die  Bibel 
nicht   noch  ein  anderes  Prinzip  der  Auflösung  jenes  Spenerischen 
Problems,  als  die  zwei  angeführte  sektenmäßige  enthalte,  welches 
die  Unfruchtbarkeit  des  kirchlichen  Grundsatzes  der  bloĂźen  Ortho- 
doxie ersetzen  könne.      In    der  Tat  ist  nicht  allein  in  die  Augen 
fallend,  daĂź  ein  solches  in   der  Bibel  anzutreffen  sei,  sondern  auch 
ĂĽberzeugend  gewiĂź,    daĂź  nur  durch    dasselbe    und    das    in  diesem 
Prinzip    enthaltene    Christentum   dieses    Buch   seinen   so   weit   aus- 
Mienen  endlich   stehende   GesichtszĂĽge  werden.     Beate,  oder  wie  sie 
Hr.  Nicolai  nennt,   gebenedeiete  Gesichter  wĂĽrden  es  von  anderen 
gesitteten    und    aufgeweckten  Völkern    (eben    nicht    zu    ihrem    Vorteil) 
unterscheiden;    denn    es   ist   Zeichnung   der   Frömmigkeit   in    Karikatur. 
Aber    nicht   die   Verachtung    der   Frömmigkeit   ist  es,    was  den  Namen 
der    Pietisten    zum    Sektennamen    gemacht    hat    (mit    dem    immer  eine 
gewisse  Verachtung  verbunden  ist),    sondern  die  phantastische  und  bei 
allem    Schein   der   Demut   stolze    AnmaĂźung   sich   als    ĂĽbernatĂĽrlich-be- 
gĂĽnstigte  Kinder  des  Himmels  auszuzeichnen,    wenngleich    ihr  Wandel, 
so    viel   man  sehen   kann,  vor  dem  der  von  ihnen  so  benannten  Welt- 
kinder in  der  Moralität  nicht  den  mindesten  Vorzug  zeigt. 

Kants   Schriften.  Bd.  VII.  24 


Ijo         Der  Streit  der  Fakultäten.   Erster  Abschnitt 

gebreiteten  Wirkungskreis  und  dauernden  EinfluĂź  auf  die  Welt 
hat  erwerben  können,  eine  Wirkung,  die  keine  OfFenbarungslehre 
(als  solche),  kein  Glaube  an  Wunder,  keine  vereinigte  Stimme 
vieler  Bekcnner  je  hervorgebracht  hätte,  weil  sie  nicht  aus  der 
Seele  des  Menschen  selbst  geschöpft  gewesen  wäre  und  ihm  also 
immer  hätte   fremd   bleiben   müssen. 

Es  ist  nämlich  etwas  in   uns,  was  zu   bewundern  wir  niemals 
aufhören    können,   wenn    wir   es    einmal    ins    Auge    gefaßt  haben, 
und    dieses    ist    zugleich    dasjenige,    was    die    Menschheit   in    der 
Idee   zu   einer  WĂĽrde   erhebt,   die  man   am  Menschen  als  Gegen- 
stande   der    Erfahrung    nicht  vermuten   sollte.      DaĂź  wir  den  mo- 
ralischen Gesetzen   unterworfene  und  zu   deren  Beobachtung  selbst 
mit   Aufopferung    aller   ihnen    widerstreitenden  Lebensannehmlich- 
keiten   durch    unsere    Vernunft    bestimmte    Wesen    sind,    darĂĽber 
wundert    man    sich    nicht,    weil    es    objektiv    in    der    natĂĽrlichen 
Ordnung  der  Dinge  als   Objekte  der  reinen  Vernunft  liegt,  jenen 
Gesetzen    zu    gehorchen:    ohne    daĂź    es    dem    gemeinen    und    ge- 
sunden Verstände  nur  einmal  einfällt    zu  fragen,   woher  uns  jene 
Gesetze    kommen    mögen,    um  vielleicht,    bis    wir  ihren  Ursprung 
wissen,     die    Befolgung    derselben    aufzuschieben,     oder   wohl    gar 
ihre    Wahrheit   zu    bezweifeln.   —  Aber    daß   wir  auch  das  Ver- 
mögen   dazu  haben,    der  Moral  mit  unserer  sinnlichen  Natur  so 
große  Opfer  zu  bringen,  daß  wir  das  auch  können,  wovon  wir 
ganz    leicht  und  klar  begreifen,    daĂź  wir  es    sollen,  diese  Ăśber- 
legenheit des  ĂĽbersinnlichen   Menschen  in  uns  ĂĽber  den  sinn- 
lichen, desjenigen,  gegen  den  der  letztere   (wenn  es  zum  Wider- 
streit kommt)   nichts  ist,  ob   dieser  zwar 'in  seinen  eigenen  Augen 
alles    ist,    diese    moralische,   von    der   Menschheit  unzertrennliche 
Anlage    in    uns   ist  ein   Gegenstand  der  höchsten  Bewunderung, 
die,    je    länger    man    dieses   wahre    (nicht    erdachte)    Ideal  ansieht, 
nur   immer    desto    höher    steigt:    so    daß    diejenigen  wohl  zu  ent- 
schuldigen   sind,    welche,    durch    die    Unbegreiflichkeit    desselben 
verleitet,    dieses   Ăśbersinnliche   in    uns,    weil   es   doch  praktisch 
ist,  fĂĽr  ĂĽbernatĂĽrlich,  d.  i.   fĂĽr  etwas,  was  gar  nicht  in  unserer 
Macht    steht    und    uns    als    eigen    zugehört,    sondern    vielmehr   für 
den  Einfluß  von  einem  andern  und  höhern  Geiste  halten;   worin 
sie   aber  sehr  fehlen:  weil   die  Wirkung  dieses  Vermögens  alsdann 
nicht  unsere  Tat  sein,  mithin  uns  auch  nicht  zugerechnet  werden 
könnte,  das  Vermögen   dazu   also   nicht  das  unsrige  sein  würde.  — 
Die     Benutzung    der    Idee    dieses    uns    unbegreiflicherweise    bei- 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   3  7 1 

wohnenden  Vermögens  und  die  Ansherzlegung  derselben  von  der 
frühesten  Jugend  an  und  fernerhin  im  öffentlichen  Vortrage  ent- 
hält nun  die  echte  Auflösung  jenes  Problems  (vom  neuen  Men- 
schen), und  selbst  die  Bibel  scheint  nichts  anders  vor  Augen  ge- 
habt zu  haben,  nämlich  nicht  auf  übernatürliche  Erfahrungen  und 
schwärmerische  Gefühle  hinzuweisen,  die  statt  der  Vernunft  diese 
Revolution  bewirken  sollten:  sondern  auf  den  Geist  Christi,  um 
ihn,  so  wie  er  ihn  in  Lehre  und  Beispiel  bewies,  zu  dem  unsrigen 
zu  machen,  oder  vielmehr,  da  er  mit  dtr  ursprĂĽnglirhen  moralischen 
Anlage  schon  in  uns  liegt,  ihm  nur  Raum  zu  verschaffen.  Und 
so  ist  zwischen  dem  seelenlosen  Orthodoxism  und  dem  ver- 
nunfttötenden Mystizism  die  biblische  Glaubenslehre,  so  wie  sie 
vermittelst  der  Vernunft  aus  uns  selbst  entwickelt  werden  kann, 
die  mit  göttlicher  Kraft  auf  aller  Menschen  Herzen  zur  gründlichen 
Besserung  hinwirkende  und  sie  in  einer  allgemeinen  (obzwar  un- 
sichtbaren) Kirche  vereinigende,  auf  dem  Kritizism  der  praktischen 
Vernunft  gegrĂĽndete  wahre  Religionslehre. 


Das  aber,  worauf  es  in  dieser  Anmerkung  eigentlich  ankommt, 
ist  die  Beantwortung  der  Frage:  ob  die  Regierung  wohl  einer 
Sekte  des  Gefühlglaubens  die  Sanktion  einer  Kirche  könne  an- 
gedeihen  lassen;  oder  ob  sie  eine  solche  zwar  dulden  und  schĂĽtzen, 
mit  jenem  Prärogativ  aber  nicht  beehren  könne,  ohne  ihrer  eigenen 
Absicht  zuwider  zu  handeln. 

Wenn  man  annehmen  darf  (wie  man  es  denn  mit  Grunde 
tun  kann),  daĂź  es  der  Regierung  Sache  gar  nicht  sei,  fĂĽr  die 
kĂĽnftige  Seligkeit  der  Untertanen  Sorge  zu  tragen  und  ihnen  den 
Weg  dazu  anzuweisen  (denfi  das  muĂź  sie  wohl  diesen  selbst  ĂĽber- 
lassen, wie  denn  auch  der  Regent  selbst  seine  eigene  Religion 
gewöhnlicherweise  vom  Volk  und  dessen  Lehrern  her  hat):  so 
kann  ihre  Absicht  nur  sein,  auch  durch  dieses  Mittel  (den  Kirchen- 
glauben) lenksame  und  moralisch-gute  Untertanen  zu  haben. 

Zu  dem  Ende  wird  sie  erstlich  keinen  Naturalism  (Kirchen- 
glauben ohne  Bibel)  sanktionieren,  weil  es  bei  dem  gar  keine  dem 
EinfluĂź  der  Regierung  unterworfene  kirchliche  Form  geben  wĂĽrde, 
welches  der  Voraussetzung  widerspricht.  —  Die  biblische  Ortho- 
doxie würde  also  das  sein,  woran  sie  die  öffentliche  Volkslehrer 
bände,  in  Ansehung  deren  diese  wiederum  unter  der  Beurteilung 
der    Fakultäten    stehen    würden,    die    es    angeht,    weil    sonst    ein 

24* 


3  72  Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

PfafFcntum,  d.  i.  eine  Herrschaft  der  Werkleute  des  Kirchen- 
glaubens, entstehen  wĂĽrde,  das  Volk  nach  ihren  Absichten  zu  be- 
herrschen. Aber  den  Orthodoxism,  d.  i.  die  Meinung  von  der 
Hinlänglichkcit  des  Kirchenglaubens  zur  Religion,  würde  sie  durch 
ihre  Autorität  nicht  bestätigen;  weil  diese  die  natürliche  Grund- 
sätze der  Sittlichkeit  zur  Nebensache  macht,  da  sie  vielmehr  die 
Hauptstütze  ist,  worauf  die  Regierung  muß  rechnen  können, 
wenn  sie  in  ihr  Volk  Vertrauen  setzen  soll.')  Endlich  kann  sie 
am  wenigsten  den  Mystizism  als  Meinung  des  Volks,  ĂĽbernatĂĽr- 
licher Inspiration  selbst  teilhaftig  werden  zu  können,  zum  Rang 
eines  örfentlichen  Kirchenglaubens  erheben,  weil  er  gar  nichts 
Ortentiiches  ist  und  sich  also  dem  Einfluß  der  Regierung  gänzlich 
entzieht. 


Friedens-Abschluß  und  Beilegung  des  Streits  der  Fakultäten. 

In  Streitigkeiten,  welche  bloĂź  die  reine,  aber  praktische  Ver- 
nunft angehen,  hat  die  philosophische  Fakultät  ohne  Widerrede 
das  Vorrecht,    den  Vortrag  zu  tun   und,  was  das  Formale   betrifft, 

')  Was   den  Staat  in  Religionsdingen  allein  interessieren  darf,   ist: 
wozu  die  Lehrer  derselben  anzuhalten  sind,   damit  er  nĂĽtzliche  BĂĽrger^ 
gute  Soldaten  und  ĂĽberhaupt  getreue  Untertanen  habe.     Wenn  er  nun 
dazu   die  Einschiirfung  der  Rechtgläubigkeit  in  statutarischen  Glaubens- 
lehren   und  eben    solcher    Gnadenmittel   wählt,    so   kann  er  hiebei  sehr 
ĂĽbel   fahren.      Denn    da   das   Annehmen  dieser  Statute  eine  leichte  und 
dem    schlechtdenkendsten   Menschen  weit   leichtere  Sache    ist    als    dem 
Guten,   dagegen  die  moralische  Besserung  der  Gesinnung  viel  und  lange 
Mühe   macht,   er  aber  von  der  ersteren  hauptsächlich   seine  Seligkeit  zu 
hoffen    gelehrt    worden   ist,    so    darf  er    sich    eben  kein  groĂź  Bedenken 
machen,   seine   Pflicht    (doch  behutsam)    zu  ĂĽbertreten,    weil  er  ein  un- 
fehlbares   Mittel    bei    der    Hand    hat,    der   göttlichen    Strafgerechtigkeit 
(nur    daß   er   sich  nicht  verspäten  muß)    durch  seinen  rechten  Glauben 
an    alle    Geheimnisse    und    inständige    Benutzung     der   Gnadenmittel    zu 
entgehen;    dagegen,    wenn    jene    Lehre    der    Kirche    geradezu    auf   die 
Moralität  gerichtet  sein  würde,  das  Urteil   seines  Gewissens  ganz  anders 
lauten    würde:    nämlich    daß,   so    viel    er   von    dem   Bösen,    was    er  tat, 
nicht  ersetzen   kann,   dafĂĽr  mĂĽsse  er  einem  kĂĽnftigen  Richter  antworten, 
und   dieses  Schicksal   abzuwenden,   vermöge  kein  kirchliches  Mittel,  kein 
durch    Angst    herausgedrängter    Glaube,    noch    ein    solches  Gebet  {desine 
fata   dctan  ßecti  sperare  precaiido).   —  Bei  welchem  Glauben   ist  nun   der 
Staat  sicherer? 


Der  Streit  der  philosoj)hische7J  Fakultät  mit  der  theologischen  iJi 

den  ProzeĂź  zu  instruieren;  was  aber  das  Materiale  anlangt,  so 
ist  die  theologische  im  Besitz,  den  Lehnstuhl,  der  den  Vorrang 
bezeichnet,  einzunehmen,  nicht  weil  sie  etwa  in  Sachen  der  Ver- 
nunft auf  mehr  Einsicht  Anspruch  machen  kann  als  die  ĂĽbrigen, 
sondern  weil  es  die  wichtigste  menschliche  Angelegenheit  betrifit, 
und  führt  daher  den  Titel  der  obersten  Fakultät  (doch  nur  als 
prima  inter  pares).  —  Sie  spricht  aber  nicht  nach  Gesetzen  der 
reinen  und  a  priori  erkennbaren  Vernunftreligion  (denn  da  wĂĽrde 
sie  sich  erniedrigen  und  auf  die  philosophische  Bank  herabsetzen), 
sondern  nach  statutarischen,  in  einem  Buche,  vorzugsweise  Bibel 
genannt,  enthaltenen  Glaubensvorschriften,  d.  i.  in  einem  Codex 
der  Offenbarung  eines  vor  viel  hundert  Jahren  geschlossenen  alten 
und  neuen  Bundes  der  Menschen  mit  Gott,  dessen  Authentizität 
als  eines  Geschichtsglaubens  (nicht  eben  des  moralischen;  denn 
der  würde  auch  aus  der  Philosophie  gezogen  werden  können) 
doch  mehr  von  der  Wirkung,  welche  die  Lesung  der  Bibel  auf 
das  Herz  der  Menschen  tun  mag,  als  von  mit  kritischer  PrĂĽfung 
der  darin  enthaltenen  Lehren  und  Erzählungen  aufgestellten  Beweisen 
erwartet  werden  darf,  dessen  Auslegung  auch  nicht  der  natĂĽr- 
lichen Vernunft  der  Laien,  sondern  nur  der  Scharfsinnigkeit  der 
Schriftgelehrten   ĂĽberlassen  wird.') 

Der  biblische  Glaube  ist  ein  messianischer  il-reschichtsglaube, 
dem  ein  Buch  des  Bundes  Gottes  mit  Abraham  zum  Grunde  liegt, 
und  besteht  aus  einem  mosaisch-messianischen  und  einem  evan- 
gelisch-messianischen  Kirchenglauben,  der  den  Ursprung  und  die 


')  Im  römisch-katholischen  System  des  Kirchenglaubens  ist  diesen 
Punkt  (das  Bibellesen)  betreffend  mehr  Konsequenz  als  im  protestan- 
tischen. —  Der  reformierte  Prediger  La  Coste  sagt  zu  seinen  Glaubens- 
genossen: „Schöpft  das  göttliche  Wort  aus  der  Quelle  (der  Bibel) 
selbst,  wo  ihr  es  dann  lauter  und  unverfälscht  einnehmen  könnt;  aber 
ihr  müßt  ja  nichts  anders  in  der  Bibel  finden,  als  was  wir  darin  finden.  — 
Nun,  lieben  Freunde,  sagt  uns  lieber,  was  ihr  in  der  Bibel  findet,  damit 
wir  nicht  unnötigerweise  darin  selbst  suchen  und  am  Ende,  was  wir 
darin  gefunden  zu  haben  vermeinten,  von  euch  fĂĽr  unrichtige  Auslegung 
derselben  erklärt  werde."  —  Auch  spricht  die  katholische  Kirche  in 
dem  Satze:  „Außer  der  Kirche  (der  katholischen)  ist  kein  Heil", 
konsequenter  als  die  protestantische,  wenn  diese  sagt:  daĂź  man  auch 
als  Katholik  selig  werden  könne.  Denn  wenn  das  ist  (sagt  Bossuer), 
so  wählt  man  ja  am  sichersten,  sich  zur  ersteren  zu  schlagen.  Denn 
noch  seliger  als  selig  kann  doch  kein  Mensch  zu  werden  verlangen. 


3  74  D^f  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

Schicksale  des  Volks  Gottes  so  vollständig  erzählt,  daß  er  von 
dem,  was  in  der  Weltgeschichte  ĂĽberhaupt  das  oberste  ist,  und 
wobei  kein  Jvlensch  zugegen  war,  nämlich  dem  Weltantang  (in 
der  Genesis),  anhebend,  sie  bis  zum  Ende  aller  Dinge  (in  der 
Apokalypsis)  verfolgt,  —  welches  freihch  von  keinem  andern 
als  einem  göttlich-inspirierten  Verfasser  erwartet  werden  darf-;  — 
wobei  sich  doch  eine  bedenkliche  Zahlen-Kabbala  in  Ansehung 
der  wichtigsten  Epochen  der  heiligen  Chronologie  darbietet, 
welche  den  Glauben  an  die  Authentizität  dieser  biblischen  Ge- 
schichtserzählung etwas  schwächen  dürfte.') 

')  70  apokalyptische  Monate  (deren  es  in  diesem  Zyklus  4  gibt), 
jeden  zu  297^  Jahren,  geben  2065  Jahr.  Davon  jedes  49ste  Jahr  als 
das  groĂźe  Ruhejahr,  (deren  in  diesem  Zeitlaufe  42  sind)  abgezogen: 
bleiben  gerade  2023,  als  das  Jahr,  da  Abraham  aus  dem  Lande  Kanaan, 
das  ihm  Gott  geschenkt  hatte,  nach  Ägypten  ging.  —  Von  da  an  bis  zur 
Einnahme  jenes  Landes  durch  die  Kinder  Israel  70  apokalyptische  Wochen 
(=  490  Jahr)  —  und  so  4  mal  solcher  Jahrwochen  zusammengezählt 
(=  i960)  und  mit  2023  addiert,  geben  nach  P.  Petaus  Rechnung 
das  Jahr  der  Geburt  Christi  (=  3983)  so  genau,  daĂź  auch  nicht  ein 
Jahr  daran  fehlt.  —  Siebzig  Jahr  hernach  die  Zerstörung  Jerusalems 
(auch  eine  mystische  Epoche).  —  —  Aber  Bengel,  in  ordine  teniporum 
pag.  p.  it.  p.  21S  seqq.,  bringt  3939  als  die  Zahl  der  Geburt  Christi  her- 
aus? Aber  das  ändert  nichts  an  der  Heiligkeit  des  Numerus  septenarius. 
Denn  die  Zahl  der  Jahre  vom  Rufe  Gottes  an  Abraham  bis  zur  Geburt 
Christi  ist  i960,  welches  4  apokalyptische  Perioden  austrägt,  jeden  zu 
490,  oder  auch,  40  apok.  Perioden,  jeden  zu  7  mal  7  =  49  Jahr. 
Zieht  man  nun  von  jedem  neunundvierzigsten  das  groĂźe  Ruhejahr 
und  von  jedem  größten  Ruhejahr,  welches  das  49oste  ist,  eines  ab 
(zusammen  44),  so  bleibt  gerade  3939.  —  Also  sind  die  Jahrzahlen 
5983  und  3939  als  das  verschieden  angegebene  Jahr  der  Geburt  Christi, 
nur  darin  unterschieden:  daĂź  die  letztere  entspringt,  wenn  in  der  Zeit 
der  ersteren  das,  was  zur  Zeit  der  4  großen  Epochen  gehört,  um  die 
Zahl  der  Ruhejahre  vermindert  wird.  Nach  Bengeln  wĂĽrde  die  Tafel 
der  heil.   Geschichte   so  aussehen: 

2023:   VerheiĂźung  an  Abraham,   das  Land  Kanaan  zu  besitzen; 

2502:   Besitzerlangung  desselben; 

2981  :  Einweihung  des  ersten  Tempels; 

3460:   Gegebener  Befehl  zur  Erbauung  des  zweiten  Tempels; 

3939:  Geburt   Christi. 
Auch   das  Jahr  der  Siindflut  läßt  sich  so  a  priori  ausrechnen.     Nämlich 

4  Epochen  zu  490  (=  70  x  7)  Jahr  machen  i960.  Davon  jedes  7te 
(=    280)  abgezogen,  bleiben    1680.     Von  diesen   1680  jedes  darin  enr- 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   j  7  5 

Ein  Gesetzbuch  des  nicht  aus  der  menschlichen  Vernunft  ge- 
zogenen, aber  doch  mit  ihr,  als  morahsch-praktischer  Vernunft, 
dem  Endzwecke  nach  vollkommen  einstimmigen  statutarischen 
(mithin  aus  einer  Offenbarung  hervorgehenden)  göttlichen  Willens, 
die  Bibel,  würde  nun  das  kräftigste  Organ  der  Leitung  des  Men- 
schen und  des  BĂĽrgers  zum  zeitlichen  und  ewigen  Wohl  sein, 
wenn  sie  nur  als  Gottes  Wort  beglaubigt  und  ihre  Authentizität 
dokumentiert  werden  könnte.  —  Diesem  Umstände  aber  stehen 
viele  Schwierigkeiten  entgegen. 

Denn  wenn  Gott  zum  Menschen  wirklich  spräche,  so  kann 
dieser  doch  niemals  wissen,  daĂź  es  Gott  sei,  der  zu  ihm  spricht. 
Es  ist  schlechterdings  unmöglich,  daß  der  Mensch  durch  seine 
Sinne  den  Unendlichen  fassen,  ihn  von  Sinnenwesen  unterscheiden 
und  ihn  woran  kennen  solle.  —  Daß  es  aber  nicht  Gott  sein 
könne,  dessen  Stimme  er  zu  hören  glaubt,  davon  kann  er  sich 
wohl  in  einigen  Fällen  überzeugen;  denn  wenn  das,  was  ihm 
durch  sie  geboten  wird,  dem  moralischen  Gesetz  zuwider  ist,  so 
mag  die  Erscheinung  ihm  noch  so  majestätisch  und  die  ganze 
Natur  überschreitend  dünken:  er  muß  sie  doch  für  Täuschung 
halten.') 

Die  Beglaubigung  der  Bibel  nun,  als  eines  in  Lehre  und  Bei- 
spiel zur  Norm  dienenden  evangelisch-messianischen  Glaubens, 
kann  nicht  aus  der  Gottesgelahrtheit  ihrer  Verfasser  (denn  der 
war  immer  ein  dem  möglichen  Irrtum  ausgesetzter  Mensch),  sondern 
muß  aus  der  Wirkung  ihres  Inhalts  auf  die  Moralität  des  Volks 
von  Lehrern  aus  diesem  Volk  selbst,  als  Idioten  (im  Wissenschaft- 


haltene  7oste  Jahr  abgezogen  (=  24),  bleiben  i<5y<5  als  das  Jahr  der 
Sündflut.  —  Auch  von  dieser  bis  zum  R.  G.  an  Abraham  sind  366  volle 
Jahre,  davon  eines  ein  Schaltjahr  ist. 

Was  soll  man  nun  hiezu  sagen?  Haben  die  heilige  Zahlen  etwa 
den  Weltlauf  bestimmt?  —  Frank' s  Cyclus  iobilaeus  dreht  sich  ebenfalls 
um  diesen  Mittelpunkt  der  mystischen  Chronologie  herum. 

^)  Zum  Beispiel  kann  die  Mythe  von  dem  Opfer  dienen,  das  Abra- 
ham auf  göttlichen  Befehl  durch  Abschlachtung  und  Verbrennung 
seines  einzigen  Sohnes  —  (das  arme  Kind  trug  unwissend  noch  das 
Holz  hinzu)  —  bringen  wollte.  Abraham  hätte  auf  diese  vermeinte 
göttliche  Stimme  antworten  müssen:  „Daß  ich  meinen  guten  Sohn 
nicht  töten  solle,  ist  ganz  gewiß;  daß  aber  du,  der  du  mir  erscheinst, 
Gott  sei,  davon  bin  ich  nicht  gewiĂź  und  kann  es  auch  nicht  werden, 
wenn  sie  auch  vom  (sichtbaren)  Himmel  herabschallete." 


3  7<^         Oer  Streit  der  Faktiltaten.    Erster  Ahschn'ttt 

liehen),  an  sich,  mithin  als  aus  dem  reinen  Quell  der  allgemeinen, 
jedem  gemeinen  Menschen  beiwohnenden  Vernunftreligion  ge- 
schöpft betrachtet  werden,  die  eben  durch  diese  Einfalt  auf  die 
Herzen  desselben  den  ausgebreitetsten  und  kräftigsten  Einfluß  haben 
mußte.  —  Die  Bibel  war  das  Vehikel  derselben  vermittelst  gewisser 
statutarischer  Vorschriften,  welche  der  AusĂĽbung  der  Religion  in 
der  bĂĽrgerlichen  Gesellschaft  eine  Form  als  einer  Regierung  gab, 
und  die  Authentizität  dieses  Gesetzbuchs  als  eines  göttlichen  (des 
Inbegriffs  aller  unserer  Pflichten  als  göttlicher  Gebote)  beglaubigt 
also  und  dokumentiert  sich  selbst,  was  den  Geist  desselben  (das 
Moralische)  betrifft;  was  aber  den  Buchstaben  (das  Statutarische) 
desselben  anlangt,  so  bedĂĽrfen  die  Satzungen  in  diesem  Buche 
keiner  Beglaubigung,  weil   sie  nicht  zum  Wesentlichen  (^principale), 

sondern  nur  zum  Beigcselleten  (accessoriuni)  desselben  gehören. 

Den  Ursprung  aber  dieses  Buchs  auf  Inspiration  seiner  Verfasser 
(^deus  ex  mach'iud)  zu  grĂĽnden,  um  auch  die  unwesentliche  Statute 
desselben  zu  heiligen,  muĂź  eher  das  Zutrauen  zu  seinem  moralischen 
Wert  schwächen   als   es  stärken. 

Die  Beurkundung  einer  solchen  Schrift  als  einer  göttlichen, 
kann  von  keiner  Geschichtserzählung,  sondern  nur  von  der  er- 
probten Kraft  derselben,  Religion  in  menschlichen  Herzen  zu 
grĂĽnden  und,  wenn  sie  durch  mancherlei  falte  oder  neue)  Satzungen 
verunartet  wäre,  sie  durch  ihre  Einfalt  selbst  wieder  in  ihre 
Reinigkeit  herzustellen,  abgeleitet  werden,  welches  Werk  darum 
nicht  auHiört,  Wirkung  der  Natur  und  Erfolg  der  fortschreitenden 
moralischen  Kultur  in  dem  allgemeinen  Gange  der  Vorsehung 
zu  sein,  und  als  eine  solche  erklärt  zu  werden  bedarf,  damit  die 
Existenz  dieses  Buchs  nicht  ungläubisch  dem  bloßen  Zufall,  oder 
abergläubisch  einem  Wunder  zugeschrieben  werde,  und  die 
Vcrnunf-t  in   beiden   Fällen  auf  den   Strand   gerate. 

Der  SchluĂź   hieraus  ist  nun  dieser: 

Die  Bibel  enthält  in  sich  selbst  einen  in  praktischer  Absicht 
hinreichenden  Beglaubigungsgrund  ihrer  (moralischen)  Göttlichkeit 
durch  den  EinfluĂź,  den  sie  als  Text  einer  systematischen  Glaubens- 
lehre von  jeher  sowohl  in  katechetischem  als  homiletischem  Vor- 
trage aut  das  Herz  der  Menschen  ausgeĂĽbt  hat,  um  sie  als  Organ 
nicht  allein  der  allgemeinen  und  inneren  Vernunftreligion,  sondern 
auch  als  Vermächtnis  (Neues  Testament)  einer  statutarischen,  auf 
unabschliche  Zeiten  zum  Leitfaden  dienenden  Glaubenslehre  auf- 
zubehalten:   es    mag    ihr  auch   in   theoretischer  RĂĽcksicht  tĂĽr  Ge- 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  3  7  7 

lehrte,  die  ihren  Ursprung  theoretisch  und  historisch  nachsuchen, 
und  fĂĽr  die  kritische  Behandlung  ihrer  Geschichte  an  BeweistĂĽmern 
viel  oder  wenig  abgehen.  —  Die  Göttlichkeit  ihres  morahschen 
Inhalts  entschädigt  die  Vernunft  hinreichend  wegen  der  Mensch- 
lichkeit der  Geschichtserzählung,  die  gleich  einem  alten  Pergamente 
hin  und  wieder  unleserlich,  durch  Akkommodationen  und  Konjek- 
turen im  Zusammenhange  mit  dem  Ganzen  muß  verständlich  ge- 
macht werden,  und  berechtigt  dabei  doch  zu  dem  Satz:  daĂź  die 
Bibel,  gleich  als  ob  sie  eine  göttliche  Offenbarung  wäre, 
aufbewahrt,  moralisch  benutzt  und  der  Religion  als  ihr  Leitmitiel 
untergelegt  zu  werden  verdiene. 

Die  Keckheit  der  Kraftgenies,  weiche  diesem  Leitbande  des 
Kirchenglaubens  sich  jetzt  schon  entwachsen  zu  sein  wähnen,  sie 
mögen  nun  als  Theophilanthropen  in  öffentlichen  dazu  errichteten 
Kirchen,  oder  als  Mystiker  bei  der  Lampe  innerer  Offenbarungen 
schwärmen,  würde  die  Regierung  bald  ihre  Nachsicht  bedauren 
machen,  jenes  groĂźe  Stiftungs-  und  Leitungsmittel  der  bĂĽrgcrhchen 
Ordnung  und  Ruhe  vernachlässigt  und  leichtsinnigen  Händen  über- 
lassen zu  haben.  —  Auch  ist  nicht  zu  erwarten,  daß,  wenn  die 
Bibel,  die  wir  haben,  auĂźer  Kredit  kommen  sollte,  eine  andere 
an  ihrer  Steile  emporkommen  würde;  denn  öffentliche  Wunder 
machen  sich  nicht  zum  zweitenmale  in  derselben  Sache:  weil  das 
Fehlschlagen  des  vorigen  in  Absicht  auf  die  Dauer  dem  folgenden 
allen  Glauben  benimmt;  —  wiewohl  doch  auch  andererseits  aur 
das  Geschrei  der  Alarmisten  (das  Pveich  ist  in  Gefahr)  nicht 
zu  achten  ist,  Vv^enn  in  gewissen  Statuten  der  Bibel,  welche  mehr 
die  Förmlichkeiten  als  den  inneren  Giaubensgehalt  der  Schrift  be- 
treffen, selbst  an  den  Verfassern  derselben  einiges  gerĂĽgt  werden 
sollte:  weil  das  Verbot  der  PrĂĽfung  einer  Lehre  der  Glaubens- 
freiheit zuwider  ist.  —  Daß  aber  ein  Geschichtsglaube  Pflicht  sei 
und  zur  Seligkeit  gehöre,  ist  Aberglaube.*) 

^)  Aberglaube  ist  der  Hang  in  das,  was  als  nicht  natĂĽrlicher 
Weise  zugehend  vermeint  wird,  ein  größeres  Vertrauen  tu  setzen,  als 
was  sich  nach  Naturgesetzen  erklären  läßt  —  es  sei  im  Physischen  oder 
Moralischen.  —  Man  kann  also  die  Fra^e  aufwerfen:  ob  der  Bibelglaube 
(als  empirischer),  oder  ob  umgekehrt  die  Moral  (als  reiner  Vernunft- 
und  Religionsglaube)  dem  Lehrer  zum  Leitfaden  dienen  solle;  mit  an- 
deren Worten:  ist  die  Lehre  von  Gott,  weil  sie  in  der  Bibel  steht, 
oder  steht  sie  in  der  Bibel,  weil  sie  von  Gott  ist?  —  Der  erstere  Satz 
ist  augenscheinlich  inkonsequent:   weil  das  göttliche  Ansehen  des  Buchs 


378  Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

Von  der  biblischen  Auslegungskunst  (Jiernieneutica  sacra)^ 
da  sie  nicht  den  Laien  ĂĽberlassen  werden  kann  (denn  sie  betrifft 
ein  wissenschaftliches  System),  darf  nun  lediglich  in  Ansehung 
dessen,  was  in  der  Religion  statutarisch  ist,  verlangt  werden:  daĂź 
der  Ausleger  sich  erkläre,  ob  sein  Ausspruch  als  authentisch, 
oder  als  doktrinal  verstanden  werden  solle.  —  Im  ersteren  falle 
muß  die  Auslegung  dem  Sinne  des  Verfassers  buchstäblich  (philo- 
logisch) angemessen  sein;  im  zweiten  aber  hat  der  Schriftsteller 
die  Freiheit,  der  Schriftstelle  (philosophisch)  denjenigen  Sinn  unter- 
zulegen, den  sie  in  moralisch-praktischer  Absicht  (zur  Erbauung 
des  Lehrlings)  in  der  Exegese  annimmt;  denn  der  Glaube  an 
einen  bloßen  Geschichtssatz  ist  tot  an  ihm  selber.  —  Nun  mag 
wohl  die  erstere  fĂĽr  den  Schriftgelehrten  und  indirekt  auch  fĂĽr 
das  Volk  in  gewisser  pragmatischen  Absicht  wichtig  genug  sein,  aber 
der  eigentliche  Zweck  der  Religionslehre,  moralisch  bessere  Menschen 
zu  bilden,  kann  auch  dabei  nicht  allein  verfehlt,  sondern  wohl 
gar  verhindert  werden.  —   Denn  die    heilige  Schriftsteller  können 


hier  vorausgesetzt  werden  muß,  um  die  Göttlichkeit  der  Lehre  desselben 
zu  beweisen.  Also  kann  nur  der  zweite  Satz  stattfinden,  der  aber 
schlechterdings  keines  Beweises  fähig  ist  (ßupernaturalium  uon  datur 
scientta).  —  —  Hievon  ein  Beispiel.  —  Die  Jünger  des  mosaisch-mes- 
sianischen  Glaubens  sahen  ihre  Hoffnung  aus  dem  Bunde  Gottes  mit 
Abraham  nach  Jesu  Tode  ganz  sinken  (wir  hofften,  er  wĂĽrde  Israel  er- 
lösen); denn  nur  den  Kindern  Abrahams  war  in  ihrer  Bibel  das  Heil 
verheiĂźen.  Nun  trug  es  sich  zu,  daĂź,  da  am  Pfingstfeste  die  JĂĽnger 
versammelt  waren,  einer  derselben  auf  den  glĂĽcklichen,  der  subtilen 
jĂĽdischen  Auslegungskunst  angemessenen  Einfall  geriet,  daĂź  auch  die 
Heiden  (Griechen  und  Römer)  als  in  diesen  Bund  aufgenommen  be- 
trachtet werden  könnten:  wenn  sie  an  das  Opfer,  welches  Abraham 
Gotte  mit  seinem  einzigen  Sohne  bringen  wollte  (als  dem  Sinnbilde  des 
einigen  Opfers  des  Weltheilandes)  glaubeten;  denn  da  wären  sie  Kin- 
der Abrahams  im  Glauben  (zuerst  unter,  dann  aber  auch  ohne  die  Be- 
schneidung). —  Es  ist  kein  Wunder,  daß  diese  Enrdeckung,  die  in  einer 
großen  Volksversammlung  eine  so  unermeßliche  Aussicht  eröffnete,  mit 
dem  grö^Jten  Jubel,  und  als  ob  sie  unmittelbare  Wirkung  des  heil, 
Geistes  gewesen  wäre,  aufgenommen  und  für  ein  Wunder  gehalten 
wurde  und  als  ein  solches  in  biblische  (Apostel-)  Geschichte  kam,  bei 
der  es  aber  gar  nicht  zur  Religion  gehört,  sie  als  Faktum  zu  glauben 
und  diesen  Glauben  der  natĂĽrlichen  Menschenvernunft,  aufzudringen. 
Der  durch  Furcht  abgenötigte  Gehorsam  in  Ansehung  eines  solchen 
Kirchenglaubens,  als  zur  Seligkeit  erforderlich,  ist  also  Aberglaube. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen  \-j^ 

als  Menschen  auch  geirret  haben  (wenn  man  nicht  ein  durch  die 
Bibel  beständig  fortlautendes  Wunder  annimmt),  wie  z.  B.  der 
h.  PAUL  mit  seiner  Gnadenwahl,  welche  er  aus  der  mosaisch- 
messianischen  Schriftlehre  in  die  evangelische  treuherzig  überträgt, 
ob  er  zwar  ĂĽber  die  Unbegreiflichkeit  der  Verwerfung  gewisser 
Menschen,  ehe  sie  noch  geboren  waren,  sich  in  groĂźer  Verlegen- 
heit befindet  und  so,  wenn  man  die  Hermeneutik  der  Schrift- 
gelehrten als  kontinuierlich  dem  Ausleger  zuteil  gewordene  Often- 
barung  annimmt,  der  Göttlichkeit  der  Religion  beständig  Abbruch 
tun  muß.  —  Also  ist  nur  die  doktrinale  Auslegung,  welche 
nicht  (empirisch)  zu  wissen  verlangt,  was  der  heilige  Verfasser 
mit  seinen  Worten  fĂĽr  einen  Sinn  verbunden  haben  mag,  sondern 
was  die  Vernunft  (a  priori)  in  moraĂĽscher  RĂĽcksicht  bei  Veran- 
lassung einer  Spruchstelle  als  Text  der  Bibel  fĂĽr  eine  Lehre  unter- 
legen kann,  die  einzige  evangelisch-biblische  Methode  der  Belehrung 
des  Volks  in  der  wahren  inneren  und  allgemeinen  Religion,  die 
von  dem  partikulären  Kirchenglauben  als  Geschichtsglauben  — 
unterschieden  ist;  wobei  dann  alles  mit  Ehrlichkeit  und  Offenheit, 
ohne  Täuschung  zugeht,  da  hingegen  das  Volk,  mit  einem  Ge- 
schichtsglauben, den  keiner  desselben  sich  zu  beweisen  vermag, 
statt  des  moralischen  (allein  seligmachenden),  den  ein  jeder  faĂźt, 
in  seiner  Absicht  (die  es  haben  muß)  getäuscht,  seinen  Lehrer 
anklagen  kann. 

In  Absicht  auf  die  Religion  eines  Volks,  das  eine  heilige 
Schrift  zu  verehren  gelehrt  worden  ist,  ist  nun  die  doktrinale 
Auslegung  derselben,  welche  sich  auf  sein  (des  Volks)  moralisches 
Interesse  —  der  Erbauung,  sittUchen  Besserung  und  so  der  Selig- 
werdung  —  bezieht,  zugleich  die  authentische:  d.  i.  so  will  Gott 
seinen  in  der  Bibel  geoffenbarten  Willen  verstanden  wissen.  Denn 
es  ist  hier  nicht  von  einer  bĂĽrgerlichen,  das  Volk  unter  Disziplin 
haltenden  (politischen),  sondern  einer  auf  das  Innere  der  morali- 
schen Gesinnung  abzweckenden  (mithin  göttüchen)  Regierung  die 
Rede.  Der  Gott,  der  durch  unsere  eigene  (moralisch-praktische) 
Vernunft  spricht,  ist  ein  untrügücher,  allgemein  verständlicher 
Ausleger  dieses  seines  Worts,  und  es  kann  auch  schlechterdings 
keinen  anderen  (etwa  auf  historische  Art)  beglaubigten  Ausleger 
seines  Worts    geben:    weil  Religion   eine   reine  Vernunftsache  ist. 


380         Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

Und  so  haben  die  Theologen  der  Fakultät  die  Pflicht  aut  sich, 
mithin  auch  die  Befugnis,  den  Bibelglauben  aufrecht  zu  erhalten: 
doch  unbeschadet  der  Freiheit  der  Philosophen,  ihn  jederzeit  der 
Kritik  der  Vernunft  zu  unterwerfen,  welche  im  Falle  einer  Dik- 
tatur (des  Religionscdikts),  die  jener  oberen  etwa  auf  kurze  Zeit 
eingeräumt  werden  dürfte,  sich  durch  die  solenne  Formel  bestens 
verwahren:    Provideant  cotisules,  ne  quid  respublica  detrimenti  capiat. 


Anhang    biblisch-historischer    Fragen 

ĂĽber  die  praktische  Benutzung  und  mutmaĂźliche  Zeit  der 

Fortdauer  dieses  heihgen  Buchs. 

DaĂź  es  bei  allem  Wechsel  der  Meinungen  noch  lange  Zeit 
im  Ansehen  bleiben  werde,  dafĂĽr  bĂĽrgt  die  Weisheit  der  Regie- 
rung, als  deren  Interesse  in  Ansehung  der  Eintracht  und  Ruhe 
des  Volks  in  einem  Staat  hiemit  in  enger  Verbindung  steht.  Aber 
ihm  die  Ewigkeit  zu  verbĂĽrgen,  oder  auch  es  chiliastisch  in  ein 
neues  Reich  Gottes  auf  Erden  ĂĽbergehen  zu  lassen,  das  ĂĽbersteigt 
unser  ganzes  Vermögen  der  Wahrsagung.  —  Was  würde  also  ge- 
schehen, wenn  der  Kirchenglaube  dieses  groĂźe  Mittel  der  Volks- 
leitung einmal   entbehren  mĂĽĂźte? 

Wer  ist  der  Redakteur  der  biblischen  BĂĽcher  (Alten  und 
Neuen  Testaments),  und  zu  welcher  Zeit  ist  der  Kanon  zustande 
gekommen? 

Werden  philologisch-antiquarische  Kenntnisse  immer  zur  Er- 
haltung der  einmal  angenommenen  Glaubensnorm  nötig  sein,  oder 
wird  die  Vernunft  den  Gebrauch  derselben  zur  Religion  dereinst 
von  selbst  und  mit  allgemeiner  Einstimmung  anzuordnen  im- 
stande sein? 

Hat  man  hinreichende  Dokumente  der  Authentizität  der  Bibel 
nach  den  sogenannten  70  Dolmetschern,  und  von  welcher  Zeit 
kann   man  sie  mit  Sicherheit  datieren?  u.   s.  w. 

Die  praktische,  vornehmlich  ötFenthche  Benutzung  dieses  Buchs 
in  Predigten  ist  ohne  Zweifel  diejenige,  welche  zur  Besserung  der 
Menschen  und  Belebung  ihrer  moralischen  Triebfedern  (zur  Er- 
bauung) beiträgt.  Alle  andere  Absicht  muß  ihr  nachstehen,  wenn 
sie  hiemit  in  Kollision  kommt.  —  Man  muß  sich  daher  wundern: 
daß   diese  Maxime   noch  hat   bezweifelt  werden   können,  und   eine 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   j  8  i 

paraphrastische  Behandlung  eines  Texts  der  paränetischcn, 
wenngleich  nicht  vorgezogen,  doch  durch  die  erstere  wenigstens 
hat  in  Schatten  gestellt  werden  sollen.  —  Nicht  die  Schrift- 
gelahrtheit,  und  was  man  vermittelst  ihrer  aus  der  Bibel  durch 
philologische  Kenntnisse,  die  oft  nur  verunglĂĽckte  Konjekturen 
sind,  herauszieht,  sondern  was  man  mit  moralischer  Denkungsart 
(also  nach  dem  Geiste  Gottes)  in  sie  hineinträgt,  und  Lehren, 
die  nie  trügen,  auch  nie  ohne  heilsame  Wirkung  sein  können, 
das  muß  diesem  Vortrage  ans  Volk  die  Leitung  geben:  nämlich 
den  Text  nur  (wenigstens  hauptsächlich)  als  Veranlassung  zu 
allem  Sittenbessernden,  was  sich  dabei  denken  läßt,  zu  behandeln, 
ohne  was  die  heil.  Schriftsteller  dabei  selbst  im  Sinne  gehabt 
haben  möchten,  nachforschen  zu  dürfen.  —  Eine  auf  Erbauung 
als  Endzweck  gerichtete  Predigt  (wie  denn  das  eine  jede  sein  soll) 
muß  die  Belehrung  aus  den  Herzen  der  Zuhörer,  nämlich  der 
natĂĽrlichen  moralischen  Anlage,  selbst  des  unbelehrtesten  Men- 
schen, entwickeln,  wenn  die  dadurch  zu  bewirkende  Gesinnung 
lauter  sein  soll.  Die  damit  verbundene  Zeugnisse  der  Schrift 
sollen  auch  nicht  die  Wahrheit  dieser  Lehren  bestätigende 
historische  Beweisgründe  sein  (denn  deren  bedarf  die  sittlich-tätige 
Vernunft  hiebei  nicht:  und  das  empirische  Erkenntnis  vermag  es 
auch  nicht),  sondern  bloĂź  Beispiele  der  Anwendung  der  prakti- 
schen Vernunftprinzipien  auf  Fakta  der  h.  Geschichte,  um  ihre 
Wahrheit  anschaulicher  zu  machen;  welches  aber  auch  ein  sehr 
schätzbarer  Vorteil  für  Volk   und  Staat    auf  der   ganzen  Erde  ist. 


Anhang 

Von  einer  reinen  Mystik  in  der  Religion.') 

Ich  habe  aus  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  gelernet,  daĂź 
Philosophie  nicht  etwa  eine  Wissenschaft  der  Vorstellungen,  Be- 
griffe und  Ideen,  oder  eine  Wissenschaft  aller  Wissenschaften,  oder 


')  In  einem  seiner  Dissertation:  De  similitudiite  inter  Mysticismum 
purum  et  Kantianavi  religionis  doctrinam.  Auetore  Carol.  Arnold.  W  Ulm  ans, 
Bielefelda-Guestphalo,  Malis  Saxottum  1797  beigefĂĽgten  Briefe,  welchen 
ich  mit  seiner  Erlaubnis  und  mit  Weglassung  der  Einleitungs-  und 
Schlußhöflichkeitsstellen   hiemit   liefere,   und   welcher   diesen   jetzt  der 


) 


82  Der  Streit  der  Fakultäten.   Erster  Abschnitt 


sonst  etwas  Ă„hnliches  sei;  sondern  eine  Wissenschaft  des  Men- 
schen, seines  Vorsteiiens,  Denkens  und  Handelns;  —  sie  soll  den 
Menschen  nach  allen  seinen  Bestandteilen  darstellen,  wie  er  ist 
und  sein  soll,  d.  h.  sowohl  nach  seinen  Naturbestimmungen,  als 
auch  nach  seinem  Moralitäts-  und  Freiheitsverhältnis.  Hier  wies 
nun  die  alte  Philosophie  dem  Menschen  einen  ganz  unrichtigen 
Standpunkt  in  der  Welt  an,  indem  sie  ihn  in  dieser  zu  einer 
Maschine  machte,  die  als  solche  gänzlich  von  der  Welt  oder  von 
den  Außendingen  und  Umständen  abhängig  sein  mußte;  sie  machte 
also  den  Menschen  zu  einem  beinahe  bloĂź  passiven  Teile  der 
Welt.  —  Jetzt  erschien  die  Kritik  der  Vernunft  und  bestimmte 
dem  Menschen  in  der  Welt  eine  durchaus  aktive  Existenz.  Der 
Mensch  selbst  ist  ursprünglich  Schöpfer  aller  seiner  Vorstellungen 
und  Begriffe  und  soll  einziger  Urheber  aller  seiner  Handlungen 
sein.  Jenes  „ist"  und  dieses  ,.soll"  führt  auf  zwei  ganz  ver- 
schiedene Bestimmungen  am  Menschen.  Wir  bemerken  daher 
auch  im  Menschen  zweierlei  ganz  verschiedenartige  Teile,  nämlich 
auf  der  einen  Seite  Sinnlichkeit  und  Verstand  und  auf  der  andern 
Vernunft  und  freien  Willen,  die  sich  sehr. wesentlich  voneinander 
unterscheiden.  In  der  Natur  ist  alles;  es  ist  von  keinem  Soll 
in  ihr  die  Rede;  Sinnlichkeit  und  Verstand  gehen  aber  nur  immer 
darauf  aus,  zu  bestimmen,  was  und  wie  es  ist;  sie  mĂĽssen  also 
fĂĽr  die  Natur,  fĂĽr  diese  Erdenwelt,  bestimmt  sein  und  mithin  zu 
ihr  gehören.  Die  Vernunft  will  beständig  ins  Übersinnliche,  wie 
es  wohl  über  die  sinnliche  Natur  hinaus  beschaffen  sein  möchte: 
sie  scheint  also,  obzwar  ein  theoretisches  Vermögen,  dennoch  gar 
nicht  fĂĽr  diese  Sinnlichkeit  bestimmt  zu  sein;  der  freie  Wille  aber 
besteht  ja  in  einer  Unabhängigkeit  von  den  Außendingen;  diese 
sollen  nicht  Triebfedern  des  Handlens  fĂĽr  den  Menschen  sein; 
er  kann  also  noch  weniger  zur  Natur  gehören.  Aber  wohin 
denn?  Der  Mensch  muĂź  fĂĽr  zwei  ganz  verschiedene  Welten  be- 
stimmt sein,  einmal  fĂĽr  das  Reich  der  Sinne  und  des  Verstandes, 
also  fĂĽr  diese  Erdenwelt:  dann  aber  auch  noch  fĂĽr  eine  andere 
Welt,  die  wir  nicht  kennen,  fiir  ein  Reich  der  Sitten. 

Was  den  Verstand   betrifft,  so  ist  dieser  schon  fĂĽr  sich  durch 


Ary.neiwissenschaft  sich  widmenden  jungen  Mann  als  einen  solchen  be- 
zeichnet, von  dem  sich  auch  in  anderen  Fachern  der  Wissenschaft  viel 
erwarten  laut.  Wobei  ich  gleichwohl  jene  Ă„hnlichkeit  meiner  Vor- 
srellungsart  mit  der  seinigen  unbedingt  einzugestehen  nicht  gemeint  bin. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  r/iit  der  theologische?!  3  8  j 

seine  Form  auf  diese  Erdenwelt  eingescliränkt;  denn  er  besteht 
bloĂź  aus  Kategorien,  d.  h.  Ă„uĂźerungsarten,  die  bloĂź  auF  sinnliche 
Dinge  sich  beziehen  können.  Seine  Grenzen  sind  ihm  also  scharf 
gesteckt.  Wo  die  Kategorien  aufhören,  da  hört  auch  der  Ver- 
stand auf;  weil  sie  ihn  erst  bilden  und  zusammensetzen.  [Ein 
Beweis  fĂĽr  die  bloĂź  irdische  oder  Naturbestimmung  des  Verstandes 
scheint  mir  auch  dieses  zu  sein,  daĂź  wir  in  RĂĽcksicht  der  Ver- 
standeskräfte  eine  Stufenleiter  in  der  Natur  finden,  vom  klügsten 
Menschen  bis  zum  dĂĽmmsten  Tiere  (indem  wir  doch  den  Instinkt 
auch  als  eine  Art  von  Verstand  ansehen  können,  insofern  zum 
bloßen  Verstände  der  freie  Wille  nicht  gehört)].  Aber  nicht  so 
in  Rücksicht  der  Moralität,  die  da  aufhört,  wo  die  Menschheit 
aufhört,  und  die  in  allen  Menschen  ursprünglich  dasselbe  Ding 
ist.  Der  Verstand  muß  also  bloß  zur  Natur  gehören,  und  wenn 
der  Mensch  bloß  Verstand  hätte  ohne  Vernunft  und  freien  Willen, 
oder  ohne  Moralität,  so  würde  er  sich  in  nichts  von  den  Tieren 
unterscheiden  und  vielleicht  bloĂź  an  der  Spitze  ihrer  Stufenleiter 
stehen,  da  er  hingegen  jetzt,  im  Besitz  der  Moralität,  als  freies 
Wesen,  durchaus  und  wesentlich  von  den  Tieren  verschieden  ist, 
auch  von  dem  klĂĽgsten  (dessen  Instinkt  oft  deutlicher  und  be- 
stimmter wirkt,  als  der  Verstand  der  Menschen).  —  Dieser  Ver- 
stand aber  ist  ein  gänzlich  aktives  Vermögen  des  Menschen;  alle 
seine  Vorstellungen  und  Begriffe  sind  bloß  seine  Geschöpfe,  der 
Mensch  denkt  mit  seinem  Verstände  ursprünglich,  und  er  schafft 
sich  also  seine  Welt.  Die  AuĂźendinge  sind  nur  Gelegenheits- 
ursachen der  Wirkung  des  Verstandes,  sie  reizen  ihn  zur  Aktion, 
und  das  Produkt  dieser  Aktion  sind  Vorstellungen  und  Begriffe. 
Die  Dinge  also,  worauf  sich  diese  Vofstellungen  und  Begriffe  be- 
ziehen, können  nicht  das  sein,  was  unser  Verstand  vorstellt;  denn 
der  Verstand  kann  nur  Vorstellungen  und  seine  Gegenstände, 
nicht  aber  wirkliche  Dinge  schaffen,  d.  h.  die  Dinge  können  un- 
möglich durch  diese  Vorstellungen  und  Begriffe  vom  Verstände 
als  solche,  wie  sie  an  sich  sein  mögen,  erkannt  werden;  die  Dinge, 
die  unsere  Sinne  und  unser  Verstand  darstellen,  sind  vielmehr 
an  sich  nur  Erscheinungen,  d.  i.  Gegenstände  unserer  Sinne  und 
unseres  Verstandes,  die  das  Produkt  aus  dem  Zusammentreffen  der 
Gelegenheitsursachen  und  der  Wirkung  des  Verstandes  sind,  die 
aber  deswegen  doch  nicht  Schein  sind,  sondern  die  wir  im  prak- 
tischen Leben  für  uns  als  wirkliche  Dinge  und  Gegenstände 
unserer  Vorstellungen  ansehen  können;  eben  weil  wir  die  wirklichen 


384         Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

Dinge  als  jene  Gelegenheitsursachen  supponieren  mĂĽssen.  Ein 
Beispiel  gibt  die  Naturwissenschaft.  AuĂźendinge  wirken  auf:  einen 
aktionstähigen  Körper  und  reizen  diesen  dadurch  zur  Aktion;  das 
Produkt  hievon  ist  Leben.  —  Was  ist  aber  Leben?  Physisches 
Anerkennen  seiner  Existenz  in  der  Welt  und  seines  Verhältnisses 
zu  den  Außendingen;  der  Körper  lebt  dadurch,  daß  er  auf  die 
AuĂźendinge  reagiert,  sie  als  seine  Welt  ansieht  und  sie  zu  seinem 
Zweck  gebraucht,  ohne  sich  weiter  um  ihr  Wesen  zu  bekĂĽmmern. 
Ohne  Außendinge  wäre  dieser  Körper  kein  lebender  Körper,  und 
ohne  Aktionsfähigkeit  des  Körpers  wären  die  Außendinge  nicht 
seine  W'elt.  Ebenso  mit  dem  Verstände.  Erst  durch  sein  Zu- 
sammentreffen mit  den  AuĂźendingen  entsteht  diese  seine  V/elt; 
ohne  Außendinge  wäre  er  tot,  —  ohne  Verstand  aber  wären  keine 
Vorstellungen,  ohne  Vorstellungen  keine  Gegenstände  und  ohne 
diese  nicht  diese  seine  Welt;  so  wie  mit  einem  anderen  Verstände 
auch  eine  andere  Welt  da  sein  wĂĽrde,  welches  durch  das  Beispiel 
von  Wahnsinnigen  klar  wird.  Also  der  Verstand  ist  Schöpfer 
seiner  Gegenstände  und  der  Welt,  die  aus  ihnen  besteht;  aber  so, 
daĂź  wirkliche  Dinge  die  Gelegenheitsursachen  seiner  Aktion  und 
also   der  Vorstellungen  sind. 

Dadurch  unterscheiden  sich  nun  diese  Naturkräfte  des  Men- 
schen wesentlich  von  der  Vernunft  und  dem  freien  Willen.  Beide 
machen  zwar  auch  aktive  Vermögen  aus,  aber  die  Gelegenheits- 
ursachen ihrer  Aktion  sollen  nicht  aus  dieser  Sinnenwclt  genommen 
sein.  Die  Vernunft  als  theoretisches  Vermögen  kann  also  hier 
gar  keine  Gegenstände  haben,  ihre  Wirkungen  können  nur  Ideen 
sein,  d.  h.  Vorstellungen  der  Vernunft,  denen  keine  Gegenstände 
entsprechen,  weil  nicht  wirkliche  Dinge,  sondern  etwa  nur  Spiele 
des  Verstandes  die  Gelegenheitsursachen  ihrer  Aktion  sind.  Also 
kann  die  Vernunft  als  theoretisches,  spekulatives  Vermögen  hier 
in  dieser  Sinnenwelt  gar  nicht  gebraucht  werden  (und  muĂź  folg- 
lich, weil  sie  doch  einmal  als  solches  da  ist,  fĂĽr  eine  andere 
Welt  bestimmt  sein),  sondern  nur  als  praktisches  Vermögen  zum 
Behuf  des  freien  Willens.  Dieser  nun  ist  bloĂź  und  allein  prak- 
tisch; das  Wesentliche  desselben  besteht  darin,  daĂź  seine  Aktion 
nicht  Reaktion,  sondern  eine  reine  objektive  Handlung  sein  soll, 
oder  daß  die  Triebfedern  seiner  Aktion  nicht  mit  den  Gegenständen 
derselben  zusammenfallen  sollen;  daß  er  also  unabhängig  von  den 
Vorstellungen  des  Verstandes,  weil  dieses  eine  verkehrte  und  ver- 
derbte Wirkungsart    derselben  veranlassen  wĂĽrde,    als   auch  unab- 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   3  8 


5 


hängig  von  den  Ideen  der  spekulativen  Vernunft  handeln  soll, 
weil  diese,  da  ihnen  nichts  Wirkliches  entspricht,  leicht  eine  falsche 
und  grundlose  Willensbestimmung  verursachen  könnten.  Also 
muĂź  die  Triebfeder  der  Aktion  des  freien  Willens  etwas  sein, 
was  im  innern  Wesen  des  Menschen  selbst  gegrĂĽndet  und  von 
der  Freiheit  des  Willens  selbst  unzertrennlich  ist.  Dieses  ist  nun 
das  moralische  Gesetz,  welches  uns  durchaus  so  aus  der  Natur 
herausreiĂźt  und  ĂĽber  sie  erhebt,  daĂź  wir  als  moralische  Wesen 
die  Naturdinge  weder  zu  Ursachen  und  Triebfedern  der  Aktion 
des  Willens  bedürfen,  noch  sie  als  Gegenstände  unseres  Wollens 
ansehen  können,  in  deren  Stelle  vielmehr  nur  die  moralische 
Person  der  Menschheit  tritt.  Jenes  Gesetz  sichert  uns  also  eine 
bloĂź  dem  Menschen  eigentĂĽmliche  und  ihn  von  allen  ĂĽbrigen 
Naturteilen  unterscheidende  Eigenschaft,  die  Moralität,  vermöge 
welcher  wir  unabhängige  und  freie  Wesen  sind,  und  die  selbst 
wieder  durch  diese  Freiheit  begründet  ist.  —  Diese  Moralität  und 
nicht  der  Verstand  ist  es  also,  was  den  Menschen  erst  zum  Men- 
schen macht.  So  sehr  auch  der  Verstand  ein  völlig  aktives  und 
insofern  selbständiges  Vermögen  ist,  so  bedarf  er  doc^h  zu  seiner 
Aktion  def  Außendinge  und  ist  auch  zugleich  auf  sie  eingeschränkt; 
da  hingegen  der  freie  Wille  völlig  unabhängig  ist  und  einzig 
durch  das  innere  Gesetz  bestimmet  werden  soll:  d.  h,  der  Mensch 
bloĂź  durch  sich  selbst,  sofern  er  sich  nur  zu  seiner  ursprĂĽnglichen 
Würde  und  Unabhängigkeit  von  allem,  was  nicht  das  Gesetz  ist, 
erhoben  hat.  Wenn  also  dieser  unser  Verstand  ohne  diese  seine 
AuĂźendinge  nichts,  wenigstens  nicht  dieser  Verstand  sein  w^ĂĽrde, 
so  bleiben  Vernunft  und  freier  Wille  dieselben,  ihr  Wirkungskreis 
sei,  welcher  er  wolle.  (Sollte  hier  der  freilich  hyperphysische 
SchluĂź  wohl  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  gemacht  werden 
können:  „daß  mit  dem  Tode  des  Menschenkörpers  auch  dieser 
sein  Verstand  stirbt  und  verloren  geht  mit  allen  seinen  irdischen 
Vorstellungen,  Begriffen  und  Kenntnissen:  weil  doch  dieser  Ver- 
stand immer  nur  fĂĽr  irdische,  sinnliche  Dinge  brauchbar  ist,  und, 
sobald  der  Mensch  ins  Ăśbersinnliche  sich  versteigen  will,  hier  so- 
gleich aller  Verstandesgebrauch  aufhört,  und  der  Vernunftgebrauch 
dagegen  eintritt"?  Es  ist  dieses  eine  Idee,  die  ich  nachher  auch 
bei  den  Mystikern,  aber  nur  dunkel  gedacht,  nicht  behauptet,  ge- 
funden habe,  und  die  gewiĂź  zur  Beruhigung  und  vielleicht  auch 
moralischen  Verbesserung  vieler  Menschen  beitragen  wĂĽrde.  Der 
Verstand    hängt    so  wenig  wäe    der  Körper  vom  Menschen  selbst 

Kants  Schriften.    Bd.  VII,  25 


3  86         Der  Streit  der  Fakultäten.    Erster  Abschnitt 

ab.  Bei  einem  tehlerhahcn  Körperbau  beruhigt  man  sich,  weil 
man  weiß,  er  ist  nichts  Wesentliches  —  ein  gutgebaueter  Körper 
hat  nur  hier  auf^  der  Erde  seine  VorzĂĽge.  Gesetzt,  die  Idee  wĂĽrde 
allgemein,  daß  es  mit  dem  Verstände  ebenso  wäre,  sollte  das  nicht 
für  die  Moralität  der  Menschen  ersprießlich  sein?  Die  neuere 
Naturlehre  des  Menschen  harmoniert  sehr  mit  dieser  Idee,  indem 
sie  den  Verstand  bloß  als  etwas  vom  Körper  Abhängiges  und  als 
ein  Produkt  der  Gehirnwirkung  ansieht.  S.  REILS  physiologische 
Schriften.  Auch  die  altern  Meinungen  von  der  Materialität  der 
Seele  ließen  sich  hierdurch  auf  etwas  Reales  zurückbringen.)  — 
Der  fernere  Verlauf  der  kritischen  Untersuchung  der  mensch- 
lichen Seelenvermögen  stellte  die  natürliche  Frage  auf:  hat  die 
unvermeidliche  und  nicht  zu  unterdrĂĽckende  Idee  der  Vernunft 
von  einem  Urheber  des  Weltalls  und  also  unserer  selbst  und  des 
moralischen  Gesetzes  auch  wohl  einen  gĂĽltigen  Grund,  da  jeder 
theoretische  Grund  seiner  Natur  nach  untauglich  zur  Befestigung 
und  Sicherstellung  jener  Idee  ist?  Hieraus  entstand  der  so  schöne 
moralische  Beweis  fĂĽr  das  Dasein  Gottes,  der  jedem,  auch  wenn 
er  nicht  wollte,  doch  insgeheim  auch  deutlich  und  hinlänglich 
beweisend  sein  muĂź.  Aus  der  durch  ihn  nun  begrĂĽndeten  Idee 
von  einem  Weltschöpfer  aber  ging  endlich  die  praktische  Idee 
hervor  von  einem  allgemeinen  moralischen  Gesetzgeber  fĂĽr  alle 
unsere  Pflichten,  als  Urheber  Ats  uns  inwohnenden  moralischen 
Gesetzes.  Diese  Idee  bietet  dem  Menschen  eine  ganz  neue  Welt 
dar.  Er  fĂĽhlt  sich  fĂĽr  ein  anderes  Reich  geschaffen,  als  fĂĽr  das 
Reich  der  Sinne  und  des  Verstandes,  —  nämlich  für  ein  morali- 
sches Reich,  fĂĽr  ein  Reich  Gottes.  Er  erkennt  nun  seine  Pflichten 
zugleich  als  göttliche  Gebote,  und  es  entsteht  in  ihm  ein  neues 
Erkenntnis,  ein  neues  Gefühl,  nämlich  Religion.  —  So  weit,  ehr- 
wĂĽrdiger Vater,  war  ich  in  dem  Studio  Ihrer  Schriften  gekommen, 
als  ich  eine  Klasse  von  Menschen  kennen  lernte,  die  man  Sepa- 
ratisten nennt,  die  aber  sich  selbst  Mystiker  nennen,  bei  welchen 
ich  fast  buchstäblich  Ihre  Lehre  in  Ausübung  gebracht  fand.  Es 
hielt  Ireilich  anfangs  schwer,  diese  in  der  mystischen  Sprache 
dieser  Leute  wieder  zu  finden;  aber  es  gelang  mir  nach  anhalten- 
dem Suchen.  Es  fiel  mir  auf,  daĂź  diese  Menschen  ganz  ohne 
Gottesdienst  lebten;  alles  verwarfen,  was  Gottesdienst  heiĂźt  und 
nicht  in  ErfĂĽllung  seiner  Pflichten  besteht;  daĂź  sie  sich  fĂĽr  reli- 
giöse Menschen,  ja  für  Christen  hielten  und  doch  die  Bibel  nicht 
als  ihr  Gesetzbuch  ansahen,  sondern  nur  von  einem  inneren,  von 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  theologischen   \  8  7 

Ewigkeit  her  in  uns  einwohnenden  Christentum  sprachen.  —  Ich 
forschte  nach  dem  Lebenswandel  dieser  Leute  und  fand  (räudige 
Schafe  ausgenommen,  die  man  in  jeder  Herde  ihres  Eigennutzes 
w^egen  findet)  bei  ihnen  reine  morahsche  Gesinnungen  und  eine 
beinahe  stoische  Konsequenz  in  ihren  Handlungen.  Ich  unter- 
suchte ihre  Lehre  und  ihre  Grundsätze  und  fand  im  wesentlichen 
ganz  Ihre  Moral  und  Religionslehre  wieder,  jedoch  immer  mit 
dem  Unterschiede,  daĂź  sie  das  innere  Gesetz,  wie  sie  es  nennen, 
fĂĽr  eine  innere  Offenbarung  und  also  bestimmt  Gott  fĂĽr  den  Ur- 
heber desselben  halten.  Es  ist  wahr,  sie  halten  die  Bibel  fĂĽr  ein 
Buch,  welches  auf  irgendeine  Art,  worauf  sie  sich  nicht  weiter 
einlassen,  göttlichen  Ursprungs  ist;  aber  wenn  man  genauer  forscht, 
so  findet  man,  daĂź  sie  diesen  Ursprung  der  Bibel  erst  aus  der 
Ăśbereinstimmung  der  Bibel,  der  in  ihr  enthaltenen  Lehren,  mit 
ihrem  inneren  Gesetze  schlieĂźen:  denn  wenn  man  sie  z.  B.  fragt: 
warum?  so  ist  ihre  Antwort:  sie  legitimiert  sich  in  meinem  In- 
neren, und  ihr  werdet  es  ebenso  finden,  wenn  ihr  der  Weisung 
eures  inneren  Gesetzes  oder  den  Lehren  der  Bibel  Folge  leistet. 
Eben  deswegen  halten  sie  sie  auch  nicht  fĂĽr  ihr  Gesetzbuch, 
sondern  nur  für  eine  historische  Bestätigung,  worin  sie  das,  was 
in  ihnen  selbst  ursprĂĽnglich  gegrĂĽndet  ist,  wiederfinden.  Mit 
einem  Worte,  diese  Leute  wĂĽrden  (verzeihen  Sie  mir  den  Aus- 
druck!) wahre  Kantianer  sein,  wenn  sie  Philosophen  v/ären.  Aber 
sie  sind  größtenteils  aus  der  Klasse  der  Kaufleute,  Handwerker 
und  Landbauern;  doch  habe  ich  hin  und  wieder  auch  in  höheren 
Ständen  und  unter  den  Gelehrten  einige  gefunden;  aber  nie  einen 
Theologen,  denen  diese  Leute  ein  wahrer  Dorn  im  Auge  sind,  weil 
sie  ihren  Gottesdienst  nicht  von  ihnen  unterstĂĽtzt  sehen  und  ihnen 
doch  wegen  ihres  exemplarischen  Lebenswandels  und  Unterwerfung 
in  jede  bürgerliche  Ordnung  durchaus  nichts  anhaben  können. 
Von  den  Quäkern  unterscheiden  sich  diese  Separatisten  nicht  in 
ihren  Religionsgrundsätzen,  aber  wohl  in  der  Anwendung  der- 
selben aufs  gemeine  Leben.  Deim  sie  kleiden  sich  z.  B.,  wie  es 
gerade  Sitte  ist,  und  bezahlen  alle  sowohl  Staats-  als  kirchliche 
Abgaben.  Bei  dem  gebildeten  Teile  derselben  habe  ich  nie 
Schwärmerei  gefunden,  sondern  freies,  vorurteilloses  Räsonnement 
und  Urteil  über  religiöse  Gegenstände. 


ar 


Zweiter   Abschnitt. 

Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät 
mit  der  juristischen. 


Erneuerte  Frage : 

Ob  das  menschliche  Geschlecht  im  beständigen  Fort- 
schreiten zum  Besseren  sei? 


I. 

Was  will  man  hier  wissen? 

Man  verlangt  ein  StĂĽck  von  der  Menschengeschichte  und 
zwar  nicht  das  von  der  vergangenen,  sondern  der  kĂĽnftigen  Zeit, 
mithin  eine  vorhersagende,  welche,  wenn  sie  nicht  nach  be- 
kannten Naturgesetzen  (wie  Sonnen-  und  Mondfinsternisse)  ge- 
fĂĽhrt wird,  wahrsagend  und  doch  natĂĽrlich,  kann  sie  aber  nicht 
anders,  als  durch  ĂĽbernatĂĽrliche  Mitteilung  und  Erweiterung  der 
Aussicht  in  die  kĂĽnftige  Zeit  erworben  werden,  weissagend 
(prophetisch)  genannt  wird.')  —  Übrigens  ist  es  hier  auch  nicht 
um  die  Naturgeschichte  des  Menschen  (ob  etwa  kĂĽnftig  neue 
Rassen  derselben  entstehen  möchten),  sondern  um  die  Sitten- 
geschichte und  zwar  nicht  nach  dem  Gattungsbegriff  (W«^k- 
loruTfi),  sondern  dem  Ganzen  der  gesellschaftlich  auf  Erden  ver- 
einigten, in  Völkerschaften  verteilten  Menschen  (un'iversorwn)  zu 
tun,  wenn  gefragt  wird:  ob  das  menschliche  Geschlecht  (im 
Großen)  zum  Besseren  beständig  fortschreite. 


»)  Wer  ins  Wahrsagen  pfuschert  (es  ohne  Kenntnis  oder  Ehrlichkeit 
tut),   von   dem  heiĂźt   es:   er   wahrsagert,    von  der  Pythia  an  bis  zur 


Zigeunerin. 


3  92        Der  Streit  der  Fakultäten.    Zweiter  Abschnitt 


Wie  kann  man  es  wissen? 

Als  wahrsagende  Geschichtserzählung  des  Bevorstehenden  in 
der  künftigen  Zeit:  mithin  als  eine  a  priori  mögliche  Darstellung 
der  Begebenheiten,  die  da  kommen  sollen.  —  Wie  ist  aber  eine 
Geschichte  a  priori  möglich?  —  Antwort:  wenn  der  Wahrsager 
die  Begebenheiten  selber  macht  und  veranstaltet,  die  er  zum 
voraus  verkĂĽndigt. 

JĂĽdische  Propheten  hatten  gut  weissagen,  daĂź  ĂĽber  kurz  oder 
lang  nicht  bloß  Verfall,  sondern  gänzliche  Auflösung  ihrem  Staat 
bevorstehe;  denn  sie  waren  selbst  die  Urheber  dieses  ihres  Schick- 
sals. —  Sie  hatten  als  Volksleiter  ihre  Verfassung  mit  so  viel 
kirchlichen  und  daraus  abflieĂźenden  bĂĽrgerlichen  Lasten  beschwert, 
daß  ihr  Staat  völlig  untauglich  wurde,  für  sich  selbst,  vornehm- 
lich mit  benachbarten  Völkern  zusammen  zu  bestehen,  und  die 
Jeremiaden  ihrer  Priester  muĂźten  daher  natĂĽrlicherweise  vergeb- 
lich in  der  Luft  verhallen:  weil  diese  hartnäckig  auf  ihrem 
Vorsatz  einer  unhaltbaren,  von  ihnen  selbst  gemachten  Verfassung 
beharreten,  und  so  von  ihnen  selbst  der  Ausgang  mit  Unfehlbar- 
barkeit  vorausgesehen  werden  konnte. 

Unsere  Politiker  machen,  soweit  ihr  EinfluĂź  reicht,  es  ebenso 
und  sind  auch  im  Wahrsagen  ebenso  glücklich.  —  Man  muß, 
sagen  sie,  die  Menschen  nehmen,  wie  sie  sind,  nicht  wie  der 
Welt  unkundige  Pedanten  oder  gutmütige  Phantasten  träumen,  daß 
sie  sein  sollten.  Das  wie  sie  sind  aber  sollte  heiĂźen:  wozu  wir 
sie  durch  ungerechten  Zwang,  durch  verräterische,  der  Regierung 
an  die  Hand  gegebene  Anschläge  gemacht  haben,  nämlich  hals- 
starrig und  zur  Empörung  geneigt;  wo  dann  freihch,  wenn  sie 
ihre  Zügel  ein  wenig  sinken  läßt,  sich  traurige  Folgen  eräugnen, 
welche  die  Prophezeiung  jener  vermeintlich-klugen  Staatsmänner 
wahrmachen. 

Auch  Geistliche  weissagen  gelegentlich  den  gänzlichen  Verfall 
der  Religion  und  die  nahe  Erscheinung  des  Antichrists,  während 
dessen  sie  gerade  das  tun,  was  erforderlich  ist,  ihn  einzutĂĽhren: 
indem  sie  nämlich  ihrer  Gemeine  nicht  sittliche  Grundsätze  ans 
Herz  zu  legen  bedacht  sind,  die  geradezu  auts  Bessern  fĂĽhren, 
sondern  Observanzen  und  historischen  Glauben  zur  wesentlichen 
Pflicht    machen,    die    es    indirekt    bewirken    sollen,    woraus    zwar 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  juristischen   3  9  5 

mechanische  Einhelligkeit  als  in  einer  bĂĽrgerlichen  Verfassung, 
aber  keine  in  der  moralischen  Gesinnung  erwachsen  kann;  als- 
denn  aber  über  Irreligiosität  klagen,  welche  sie  selber  gemacht 
haben,  die  sie  also  auch  ohne  besondere  Wahrsagergabe  vorher- 
verkĂĽndigen konnten. 


3- 

Einteilung  des  Begriffs  von  dem,  was  man  fĂĽr  die  Zukunft 

vorher  wissen  will. 

Der  Fälle,  die  eine  Vorhersagung  enthalten  können,  sind  drei. 
Das  menschliche  Geschlecht  ist  entweder  im  kontinuierlichen 
Rückgange  zum  Ärgeren,  oder  im  beständigen  Fortgange  zum 
Besseren  in  SQiner  moralischen  Bestimmung  oder  im  ewigen  Still- 
stande auf  der  jetzigen  Stute  seines  sittlichen  Werts  unter  den 
Gliedern  der  Schöpfung  (mit  welchem  die  ewige  Umdrehung  im 
Kreise  um  denselben  Punkt  einerlei  ist). 

Die  erste  Behauptung  kann  man  den  moralischen  Terro- 
rismus, die  zweite  den  Eudämonismus  (der,  das  Ziel  des 
Fortschreitens  im  weiten  Prospekt  gesehen,  auch  Chiliasmus  ge- 
nannt werden  wĂĽrde),  die  dritte  aber  den  Abderitismus  nennen: 
weil,  da  ein  wahrer  Stillstand  im  Moralischen  nicht  möglich  ist, 
ein  beständig  wechselndes  Steigen  und  ebenso  öfteres  und  tiefes 
ZurĂĽckfallen  (gleichsam  ein  ewiges  Schwanken)  nichts  mehr  aus- 
trägt, als  ob  das  Subjekt  auf  derselben  Stelle  und  im  Stillstande 
geblieben  wäre. 

a. 

Von  der  terroristischen  Vorstellungsart  der  Menschen- 
geschichte. 

Der  Verfall  ins  Ă„rgere  kann  im  menschlichen  Geschlechte 
nicht  beständig  fortwährend  sein;  denn  bei  einem  gewissen  Grade 
desselben  wĂĽrde  es  sich  selbst  aufreiben.  Daher  beim  Anwachs 
groĂźer,  wie  Berge  sich  auftĂĽrmenden  Greueltaten  und  ihnen  an- 
gemessenen Übel  gesagt  wird:  nun  kann  es  nicht  mehr  ärger 
werden;    der    jĂĽngste    Tag    ist    vor    der    TĂĽr,    und    der    fromme 


394        -C)tv  Streit  der  Fakultäten.    Zweiter  Abschnitt 

Schwärmer  träumt  nun  schon  von  der  Wiederbringung  aller 
Dinge  und  einer  erneuerten  Welt,  nachdem  diese  im  Feuer  unter- 
gegangen  ist. 

b. 

Von  der  eudämonistischcn  VorstcUungsart  der  Mcn- 

schengeschichte. 

DaĂź  die  Masse  des  unserer  Natur  angearteten  Guten  und 
Bösen  in  der  Anlage  immer  dieselbe  bleibe  und  in  demselben  In- 
dividuum weder  vermehrt  noch  vermindert  werden  könne,  mag 
immer  eingeräumt  werden;  —  und  wie  sollte  sich  auch  dieses 
Quantum  des  Guten  in  der  Anlage  vermehren  lassen,  da  es  durch 
die  Freiheit  des  Subjekts  geschehen  mĂĽĂźte,  wozu  dieses  aber 
wiederum  eines  größeren  Fonds  des  Guten  bedürfen  würde,  als 
es  einmal  hat?  —  Die  Wirkungen  können  das  Vermögen  der 
wirkenden  Ursache  nicht  ĂĽbersteigen;  und  so  kann  das  Quantum 
des  mit  dem  Bösen  im  Menschen  vermischten  Guten  ein  gewisses 
MaĂź  des  letzteren  nicht  ĂĽberschreiten,  ĂĽber  welches  er  sich  empor- 
arbeiten und  so  auch  immer  zum  noch  Besseren  fortschreiten 
könnte.  Der  Eudämonism  mit  seinen  sanguinischen  Hoffnungen 
scheint  also  unhaltbar  zu  sein  und  zugunsten  einer  weissagenden 
Menschengeschichte  in  Ansehung  des  immerwährenden-  weitern 
Fortschreitens  auf  der  Bahn  des   Guten  wenig  zu  versprechen. 


c. 

Von  der  Hypothese  des  Abderitisms  des  Menschen- 
geschlechts zur  Vorherbestimmung  seiner  Geschichte. 

Diese  Meinung  möchte  wohl  die  Mehrheit  der  Stimmen  auf 
ihrer  Seite  haben.  Geschäftige  Torheit  ist  der  Charakter  unserer 
Gattung;  in  die  Bahn  des  Guten  schnell  einzutreten,  aber  darauf 
nicht  zu  beharren,  sondern,  um  ja  nicht  an  einen  einzigen  Zweck 
gebunden  zu  sein,  werm  es  auch  nur  der  Abwechselung  wegen  ge- 
schähe, den  Plan  des  Fortschritts  umzukehren,  zu  bauen,  um  nieder- 
reißen zu  können,  und  sich  selbst  die  hoffnungslose  Bemühung 
aufzulegen,    den   Stein    des   SISYPHUS    bergan  zu  wälzen,    um  ihn 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  juristischen  395 

wieder  zurückrollen  zu  lassen.  —  Das  Prinzip  des  Bösen  in  der 
Naturanlage  des  menschlichen  Geschlechts  scheint  also  hier  mit 
dem  des  Guten  nicht  sowohl  amalgamiert  (verschmolzen),  als  viel- 
mehr eines  durchs  andere  neutralisiert  zu  sein,  welches  Tatlosig- 
keit  zu  Folge  haben  wĂĽrde  (die  hier  der  Stillstand  heiĂźt):  eine 
leere  Geschäftigkeit,  das  Gute  mit  dem  Bösen  durch  Vorwärts- 
und  Rückwärtsgehen  so  abwechseln  zu  lassen,  daß  das  ganze 
Spiel  des  Verkehrs  unserer  Gattung  mit  sich  selbst  auf  diesem 
Glob  als  ein  bloĂźes  Possenspiel  angesehen  werden  mĂĽĂźte,  was  ihr 
keinen  größeren  Wert  in  den  Augen  der  Vernunft  verschaffen 
kann,  als  den  die  andere  Tiergeschlechter  haben,  die  dieses  Spiel 
mit  weniger  Kosten  und  ohne  Verstandesaufwand  treiben. 


Durch   Erfahrung   unmittelbar   ist   die  Aufgabe  des  Fort- 
schreitens nicht  aufzulösen. 

Wenn  das  menschliche  Geschlecht,  im  Ganzen  betrachtet,  eine 
noch  so  lange  Zeit  vorwärts  gehend  und  im  Fortschreiten  begriffen 
gewesen  zu  sein  befunden  wĂĽrde,  so  kann  doch  niemand  dafĂĽr 
stehen,  daß  nun  nicht  gerade  jetzt  vermöge  der  physischen  An- 
lage unserer  Gattung  die  Epoche  seines  RĂĽckganges  eintrete;  und 
umgekehrt,  wenn  es  rĂĽcklings  und  mit  beschleunigten  Falle  zum 
Ă„rgeren  geht,  so  darf  man  nicht  verzagen,  daĂź  nicht  eben  da  der 
Umwendungspunkt  (punctum  flexus  contrarii)  anzutreffen  wäre, 
wo  vermöge  der  moralischen  Anlage  in  unserem  Geschlecht  der 
Gang  desselben  sich  wiederum  zum  Besseren  wendete.  Denn  wir 
haben  es  mit  freihandelnden  Wesen  zu  tun,  denen  sich  zwar  vor- 
her diktieren  läßt,  was  sie  tun  sollen,  aber  nicht  vorhersagen 
läßt,  was  sie  tun  werden,  und  die  aus  dem  Gefühl  der  Übel, 
die  sie  sich  selbst  zufügten,  wenn  es  recht  böse  wird,  eine  ver- 
stärkte Triebfeder  zu  nehmen  wissen,  es  nun  doch  besser  zu 
machen,  als  es  vor  jenem  Zustande  war.  —  Aber  „arme  Sterbliche 
(sagt  der  Abt  COYER),  unter  euch  ist  nichts  beständig  als  die 
Unbeständigkeit !" 

Vielleicht  liegt  es  auch  an  unserer  unrecht  genommenen  Wahl 
des  Standpunkts,  aus  dem  wir  den  Lauf  menschlicher  Dinge  an- 
sehen, daĂź  dieser  uns  so  widersinnisch  scheint.    Die  Planeten,  von 


3  96        Der  Streit  der  Fakultäten.    Zweiter  Abschnitt 

der  Erde  aus  gesehen,  sind  bald  rückgängig,  bald  stillstehend, 
bald  tortgängig.  Den  Standpunkt  aber  von  der  Sonne  aus  ge- 
nommen, welches  nur  die  Vernunft  tun  kann,  gehen  sie  nach  der 
Kopcrnikanischen  Hypothese  beständig  ihren  regelmäßigen  Gang 
fort.  Es  gefällt  aber  einigen  sonst  nicht  Unweisen,  steif  auf  ihrer 
Erklärungsart  der  Erscheinungen  und  dem  Standpunkte  zu  beharren, 
den  sie  einmal  genommen  haben:  sollten  sie  sich  darĂĽber  auch 
in  Tychonische  Zyklen  und  Epizyklen  bis  zur  Ungereimtheit  ver- 
wackeln. —  Aber  das  ist  eben  das  Unglück,  daß  wir  uns  in 
diesen  Standpunkt,  wenn  es  die  Vorhersagung  freier  Handlungen 
angeht,  zu  versetzen  nicht  vermögend  sind.  Denn  das  wäre  der 
Standpunkt  der  Vorsehung,  der  ĂĽber  alle  menschliche  Weisheit 
hinausliegt,  welche  sich  auch  auf  freie  Handlungen  des  Menschen 
erstreckt,  die  von  diesem  zwar  gesehen,  aber  mit  GewiĂźheit 
nicht  vorhergesehen  werden  können  (für  das  göttliche  Auge 
ist  hier  kein  Unterschied),  weil  er  zu  dem  letzteren  den  Zusammen- 
hang nach  Naturgesetzen  bedarf,  in  Ansehung  der  kĂĽnftigen 
freien  Handlungen  aber  dieser  Leitung  oder  Hinweisung  entbehren 
muĂź. 

Wenn  man  dem  Menschen  einen  angebornen  und  unveränderlich- 
guten, obzwar  eingeschränkten  Willen  beilegen  dürfte,  so  würde 
er  dieses  Fortschreiten  seiner  Gattung  zum  Besseren  mit  Sicherheit 
vorhersagen  können;  weil  es  eine  Begebenheit  träfe,  die  er  selbst 
machen  kann.  Bei  der  Mischung  des  Bösen  aber  mit  dem  Guten 
in  der  Anlage,  deren  MaĂź  er  nicht  kennt,  weiĂź  er  selbst  nicht, 
welcher  Wirkung  er  sich  davon  gewärtigen  könne. 


An    irgend    eine    Erfahrung   muĂź   doch   die   wahrsagende 
Geschichte   des  Menschengeschlechts  angeknĂĽpft  werden. 

Es  muĂź  irgendeine  Erfahrung  im  Menschengeschlechte  vor- 
kommen, die  als  Begebenheit  auf  eine  Beschaffenheit  und  ein  Ver- 
mögen desselben  hinweiset,  Ursache  von  dem  Fortrücken  desselben 
zum  Besseren  und  (da  dieses  die  Tat  eines  mit  Freiheit  begabten 
Wesens  sein  soll)  Urheber  desselben  zu  sein;  aus  einer  gegebenen 
Ursache  aber  läßt  sich  eine  Begebenheit  als  Wirkung  vorhersagen, 
w^enn   sich   die  Umstände   eräugnen,  welche   dazu  mitwirkend  sind. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  i7jit  der  jurif tischen   397 

Daß  diese  letztere  sich  aber  irgend  einmal  eräugnen  müssen,  kann 
wie  beim  KalkĂĽl  der  Wahrscheinlichkeit  im  Spiel  wohl  im  all- 
gemeinen vorhergesagt,  aber  nicht  bestimmt  werden,  ob  es  sich 
in  meinem  Leben  zutragen  und  ich  die  Erfahrung  davon  haben 
werde,  die  jene  Vorhersagung  bestätigte.  —  Also  muß  eine  Be- 
gebenheit nachgesucht  werden,  welche  auf  das  Dasein  einer  solchen 
Ursache  und  auch  auf  den  Akt  ihrer  Kausalität  im  Menschcn- 
geschlechte  unbestimmt  in  Ansehung  der  Zeit  hinweise,  und  die 
auf  das  Fortschreiten  zum  Besseren  als  unausbleibliche  Folge 
schlieĂźen  lieĂźe,  welcher  SchluĂź  dann  auch  auf  die  Geschichte  der 
vergangenen  Zeit  (daĂź  es  immer  im  Fortschritt  gewesen  sei)  aus- 
gedehnt v/erden  könnte,  doch  so,  daß  jene  Begebenheit  nicht 
selbst  als  Ursache  des  letzteren,  sondern  nur  als  hindeutend,  als 
Geschichtszeichen  (jignum  rememorattvmn,  demonstrativ  um,  pro- 
gnosticon)^  angesehen  werden  mĂĽsse  und  so  die  Tendenz  des 
menschlichen  Geschlechts  im  Ganzen,  d.  i.  nicht  nach  den  In- 
dividuen betrachtet  (denn  das  wĂĽrde  eine  nicht  zu  beendigende 
Aufzählung  und  Berechnung  abgeben},  sondern  wie  es  in  Völker- 
schaften und  Staaten  geteilt  auf  Erden  angetroffen  wird,  beweisen 
könnte. 

6. 

Von   einer   Begebenheit   unserer   Zeit,  welche  diese  mo- 
ralische Tendenz  des  Menschengeschlechts  beweiset. 

Diese  Begebenheit  besteht  nicht  etwa  in  wichtigen,  von  Men- 
schen verrichteten  Taten  oder  Untaten,  wodurch,  was  groĂź  war, 
unter  Menschen  klein,  oder  was  klein  war,  groĂź  gemacht  wird, 
und  wie  gleich  als  durch  Zauberei  alte,  glänzende  Staatsgebäude 
verschwinden,  und  andere  an  deren  Statt  wie  aus  den  Tiefen  der 
Erde  hervorkommen.  Nein:  nichts  von  allem  dem.  Es  ist  bloĂź 
die  Denkungsart  der  Zuschauer,  welche  sich  bei  diesem  Spiele 
großer  Umwandlungen  öffentlich  verrät  und  eine  so  allgemeine 
und  doch  uneigennĂĽtzige  Teilnehmung  der  Spielenden  auf  einer 
Seite  gegen  die  auf  der  andern,  selbst  mit  Gefahr,  diese  Parteilich- 
keit könne  ihnen  sehr  nachteilig  werden,  dennoch  laut  werden 
läßt,  so  aber  (der  Allgemeinheit  wegen)  einen  Charakter  des 
Menschengeschlechts  im  Ganzen  und  zugleich  (der  UneigennĂĽtzig- 
keit  wegen)   einen  moralischen  Charakter  desselben  wenigstens  in 


398         Der  Streit  der  Fakultäten.    Zweiter  Abschnitt 

der  Anlage  beweiset,  der  das  Fortschreiten  zum  Besseren  nicht 
allein  hoffen  läßt,  sondern  selbst  schon  ein  solches  ist,  so  weit 
das  Vermögen   desselben   für  jetzt  zureicht. 

Die  Revolution  eines  geistreichen  Volks,  die  wir  in  unseren 
Tagen  haben  vor  sich  gehen  sehen,  mag  gelingen  oder  scheitern; 
sie  mag  mit  Elend  und  Greueltaten  dermaĂźen  angefĂĽllt  sein,  daĂź 
ein  wohldenkender  Mensch  sie,  wenn  er  sie  zum  zweitenmale 
unternehmend  glücklich  auszuführen  hoffen  könnte,  doch  das 
Experiment  auf  solche  Kosten  zu  machen  nie  beschließen  würde,  — 
diese  Revolution,  sage  ich,  findet  doch  in  den  GemĂĽtern  aller 
Zuschauer  (die  nicht  selbst  in  diesem  Spiele  mit  verwickelt  sind) 
eine  Teilnehmung  dem  Wunsche  nach,  die  nahe  an  Enthusiasm 
grenzt,  und  deren  Ă„uĂźerung  selbst  mit  Gefahr  verbunden  war, 
die  also  keine  andere  als  eine  moralische  Anlage  im  Menschen- 
geschlecht zur  Ursache  haben  kann. 

Diese  moralische  einflieĂźende  Ursache  ist  zwiefach:  erstens  die 
des  Rechts,  daß  ein  Volk  von  anderen  Mächten  nicht  gehindert 
werden  mĂĽsse,  sich  eine  bĂĽrgerliche  Verfassung  zu  geben,  wie  sie 
ihm  selbst  gut  zu  sein  dĂĽnkt;  zweitens  die  des  Zwecks  (der  zu- 
gleich Pfiicht  ist),  daĂź  diejenige  Verfassung  eines  Volks  allein  an 
sich  rechtlich  und  moralisch-gut  sei,  welche  ihrer  Natur  nach 
so  beschaffen  ist,  den  Angriffskrieg  nach  Grundsätzen  zu  meiden, 
welche  keine  andere  als  die  republikanische  Verfassung,  wenigstens 
der  Idee  nach,  sein  kann,')  mithin  in  die  Bedingung  einzutreten, 
wodurch    der    Krieg    (der    Quell    aller   Ăśbel    und    Verderbnis    der 

*)  Es  ist  aber  hiemic  nicht  gemeint,  daĂź  ein  Volk,  welches  eine 
monarchische  Konstitution  hat,  sich  damit  das  Recht  anmalte,  ja  auch 
nur  in  sich  geheim  den  Wunsch  hege,  sie  abgeändert  zu  wissen;  denn 
seine  vielleicht  sehr  verbreitete  Lage  in  Europa  kann  ihm  jene  Ver- 
fassung als  die  einzige  anempfehlen,  bei  der  es  sich  zwischen  mächtigen 
Nachbaren  erhalten  kann.  Auch  ist  das  Murren  der  Untertanen  nicht 
des  Innern  der  Regierung  halber,  sondern  wegen  des  Benehmens  der- 
selben gegen  Auswärtige,  wenn  sie  diese  etwa  am  Republikanisieren 
hinderte,  gar  kein  Beweis  der  Unzufriedenheit  des  Volks  mir  seiner 
eigenen  Verfassung,  sondern  vielmehr  der  Liebe  fĂĽr  dieselbe,  weil  es 
wider  eigene  Gefahr  desto  mehr  gesichert  ist,  je  mehr  sich  andere 
Völker  republikanisieren.  —  Dennoch  haben  verleumderische  Sykophanten, 
um  sich  wichtig  zu  machen,  diese  unschuldige  KannegieĂźerei  fĂĽr  Neue- 
rungssucht, Jakobinerei  und  Rottierung,  die  dem  Staat  Gefahr  drohe, 
auszugeben    gesucht:    indessen    daĂź   auch   nicht  der  mindeste  Grund  zu 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  juristischen  ^99 

Sitten)  abgehalten  und  so  dem  Menschengeschlechte  bei  aller  seiner 
Gebrechlichkeit  der  Fortschritt  zum  Besseren  negativ  gesichert  wird, 
im  Fortschreiten  wenigstens  nicht  gestört  zu  werden. 

Dies  also  und  die  Teilnehmung  am  Guten  mit  Affekt,  der 
Enthusiasm,  ob  er  zwar,  weil  aller  Affekt  als  ein  solcher  Tadel 
verdient,  nicht  ganz  zu  bilhgen  ist,  gibt  doch  vermittelst  dieser 
Geschichte  zu  der  fĂĽr  die  Anthropologie  wichtigen  Bemerkung 
AnlaĂź:  daĂź  wahrer  Enthusiasm  nur  immer  aufs  Idealische  und 
zwar  rein  Moralische  geht,  dergleichen  der  Rechtsbegriff  ist,  und 
nicht  auf  den  Eigennutz  gepfropft  werden  kann.  Durch  Geld- 
belohnungen konnten  die  Gegner  der  Revolutionierenden  zu  dem 
Eifer  und  der  Seelengröße  nicht  gespannt  werden,  den  der  bloße 
Rechtsbegriff  in  ihnen  hervorbrachte,  und  selbst  der  Ehrbegriff 
des  alten  kriegerischen  Adels  (ein  Analogon  des  Enthusiasm)  ver- 
schwand vor  den  Waffen  derer,  welche  das  Recht  des  Volks, 
wozu  sie  gehörten,  ins  Auge  gefaßt  hatten')  und  sich  als  Be- 
schützer desselben  dachten;  mit  welcher  Exaltation  das  äußere, 
zuschauende  Publikum  dann  ohne  die  mindeste  Absicht  der  Mit- 
wirkung sympathisierte. 

diesem  Vorgeben  da  war,   vornehmlich  nicht  in  einem  Land,  was  vom 
Schauplatz  der  Revolution  mehr  als  hundert  Meilen  entfernt  war. 

^)  Von  einem  solchen  Enthusiasm  der  Rechtsbehauptung  fĂĽr  das 
menschliche  Geschlecht  kann  man  sagen:  postquam  ad  arma  VuUania 
ventum  est  —  mortalis  mucro  glacies  ceu  futilis  ictu  äissiluit,  —  Warum 
hat  es  noch  nie  ein  Herrscher  gewagt,  frei  herauszusagen,  daĂź  er  gar 
kein  Recht  des  Volks  gegen  ihn  anerkenne;  daĂź  dieses  seine  GlĂĽck- 
seligkeit bloß  der  Wohltätigkeit  einer  Regierung,  die  diese  ihm  an- 
gedeihen  läßt,  verdanke,  und  alle  Anmaßung  des  Untertans  zu  einem 
Recht  gegen  dieselbe  (weil  dieses  den  Begriff  eines  erlaubten  Wider- 
stands in  sich  enthält)  ungereimt,  ja  gar  strafbar  sei?  —  Die  Ursache 
ist:  weil  eine  solche  öffentliche  Erklärung  alle  Untertanen  gegen  ihn 
empören  würde,  ob  sie  gleich,  wie  folgsame  Schafe  von  einem  gütigen 
imd  verständigen  Herren  geleitet,  wohlgefüttert  und  kräftig  beschützt, 
über  nichts,  was  ihrer  Wohlfahrt  abginge,  zu  klagen  hätten.  —  Denn 
mit  Freiheit  begabten  Wesen  gnĂĽgt  nicht  der  GenuĂź  der  Lebens- 
annehmlichkeit, die  ihm  auch  von  anderen  (und  hier  von  der  Regierung) 
zuteil  werden  kann;  sondern  auf  das  Prinzip  kommt  es  an,  nach 
welchem  es  sich  solche  verschafft.  Wohlfahrt  aber  hat  kein  Prinzip, 
weder  für  den,  der  sie  empfängt,  noch  der  sie  austeilt  (der  eine  setzt 
sie  hierin,  der  andere  darin):  weil  es  dabei  auf  das  Materiale  des 
Willens  ankommt,   welches   empirisch   und    so  der  Allgemeinheit  einer 


400        Der  Streit  der  Fu  hui  taten.    Ziceiter  Abschnitt 


W^ahrsacendc  Geschichte  der  Menschheit. 

Es  muĂź  etwas  Moralisches  im  Grundsatze  sein,  welches  die 
VernunFt  als  rein,  zugleich  aber  auch  wegen  des  groĂźen  und 
Epoche  machenden  Einflusses  als  etwas,  das  die  dazu  anerkannte 
Priicht  der  Seele  des  Menschen  vor  Augen  stellt,  und  das  mensch- 
liche Geschlecht  im  Ganzen  seiner  Vereinigung  (jmn  singulorum, 
sed  tiniversoruni)  angeht,  dessen  verhofFtem  Gelingen  und  den  Ver- 
suchen zu  demselben  es  mit  so  allgemeiner  und  uneigennĂĽtziger 
Teilnehmung  zujauchzt.  -  Diese  Begebenheit  ist  das  Phänomen 
nicht  einer  Revolution,  sondern  (wie  es  Hr.  ERHARD  ausdrĂĽckt) 
der  Evolution  einer  naturrechtlichen  Verfassung,  die  zwar 
nur  unter  wilden  Kämpfen  noch  nicht  selbst  errungen  wird  — 
indem  der  Krieg  von  innen  und  auĂźen  alle  bisher  bestandene 
statutarische  zerstört  — ,  die  aber  doch  dahin  führt,  zu  einer 
Verfassung  hinzustreben,  welche  nicht  kriegssĂĽchtig  sein  kann, 
nämlich  der  republikanischen;  die  es  entweder  selbst  der  Staats- 
form nach  sein  mag,  oder  auch  nur  nach  der  Regierungsart, 
bei  der  Einheit  des  Oberhaupts  (des  Monarchen)  den  Gesetzen 
analogiscb,  die  sich  ein  Volk  selbst  nach  allgemeinen  Rechtsprin- 
zipien geben  wĂĽrde,  den  Staat  verwalten  zu  lassen. 

Nun  behaupte  ich  dem  Menschcngeschlechte  nach  den  Aspekten 


Regel  anfähig  ist.  Ein  mit  Freiheit  begabtes  Wesen  kann  und  soll 
also  im  BewuĂźtsein  dieses  seines  Vorzuges  vor  dem  vernunftlosen  Tier 
nach  dem  formalen  Prinzip  seiner  WillkĂĽr  keine  andere  Regierung 
für  das  Volk,  wozu  es  gehört,  verlangen,  als  eine  solche,  in  welcher 
dieses  mit  gesetzgebend  ist:  d.  i.  das  Recht  der  Menschen,  welche  ge- 
horchen sollen,  muĂź  notwendig  vor  aller  RĂĽcksicht  auf  Wohlbefinden 
vorhergehen,  und  dieses  ist  ein  Heiligtum,  das  ĂĽber  allen  Preis  (der 
Nützlichkeit)  erhaben  ist,  und  welches  keine  Regierung,  so  wohltätig 
sie  auch  immer  sein  mag,  antasten  darf.  —  Aber  dieses  Recht  ist  doch 
immer  nur  eine  Idee,  deren  AusfĂĽhrung  auf  die  Bedingung  der  Zu- 
sammenstimmnng  ihrer  Mittel  mit  der  Moralität  eingeschränkt  ist, 
welche  das  Volk  nicht  ĂĽberschreiten  darf;  welches  nicht  durch  Revolu- 
tion, die  jederzeit  ungerecht  ist,  geschehen  darf.  -  Autokratisch 
herrschen  und  dabei  doch  republikanisch,  d.  h.  im  Geiste  des  Re- 
publikanism  und  nach  einer  Analogie  mit  demselben,  regieren,  ist  das, 
was  ein  \'^olk  mit  seiner  Verfassung  zufrieden  macht. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  Jinistische?!  401 

und  Vorzeichen  unserer  Tage  die  Erreichung  dieses  Zwecks  und 
hiemit  zugleich  das  von  da  an  nicht  mehr  gänzHch  rückgängig 
werdende  Fortschreiten  desselben  zum  Besseren  auch  ohne  Scher- 
geist vorhersagen  zu  können.  Denn  ein  solches  Phänomen  in  der 
Menschengeschichte  vergiĂźt  sich  nicht  mehr,  weil  es  eine 
Anlage  und  ein  Vermögen  in  der  menschlichen  Natur  zum  Besseren 
aufgedeckt  hat,  dergleichen  kein  Politiker  aus  dem  bisherigen 
Laufe  der  Dinge  herausgeklügelt  hätte,  und  welches  allein  Natur 
und  Freiheit,  nach  inneren  Rechtsprinzipien  im  Menschengeschlechte 
vereinigt,  aber,  was  die  Zeit  betrifft,  nur  als  unbestimmt  und  Be- 
gebenheit aus  Zufall  verheiĂźen  konnte. 

Aber  wenn  der  bei  dieser  Begebenheit  beabsichtigte  Zweck 
auch  jetzt  nicht  erreicht  wĂĽrde,  wenn  die  Revolution  oder  Reform 
der  Verfassung  eines  Volks  gegen  das  Ende  doch  fehlschlĂĽge, 
oder,  nachdem  diese  einige  Zeit  gewähret  hätte,  doch  wiederum 
alles  ins  vorige  Gleis  zurĂĽckgebracht  wĂĽrde  (wie  Politiker  jetzt 
Wahrsagern),  so  verliert  jene  philosophische  Vorhersagung  doch 
nichts  von  ihrer  Kraft.  —  Denn  jene  Begebenheit  ist  zu  groß, 
zu  sehr  mit  dem  Interesse  der  Menschheit  verwebt  und  ihrem 
EinflĂĽsse  nach  auf  die  Welt  in  allen  ihren  Teilen  zu  ausgebreitet, 
als  daß  sie  nicht  den  Völkern  bei  irgend  einer  Veranlassung 
günstiger  Umstände  in  Erinnerung  gebracht  und  zu  Wiederholung 
neuer  Versuche  dieser  Art  erweckt  werden  sollte;  da  dann  bei 
einer  fĂĽr  das  Menschengeschlecht  so  wichtigen  Angelegenheit  end- 
lich doch  zu  irgend  einer  Zeit  die  beabsichtigte  Verfassung  die- 
jenige Festigkeit  erreichen  muß,  welche  die  Belehrung  durch  öftere 
Erfahrung  in  den  GemĂĽtern  aller  zu  bewirken  nicht  ermangeln 
wĂĽrde. 

Es  ist  also  ein  nicht  bloĂź  gutgemeinter  und  in  praktischer 
Absicht  empfehlungswürdiger,  sondern  allen  Ungläubigen  zum 
Trotz  auch  fĂĽr  die  strengste  Theorie  haltbarer  Satz:  daĂź  das 
menschliche  Geschlecht  im  Fortschreiten  zum  Besseren  immer  ge- 
wesen sei  und  so  fernerhin  fortgehen  werde,  welches,  wenn  man 
nicht  bloĂź  auf  das  sieht,  was  in  irgend  einem  Volk  geschehen 
kann,  sondern  auch  auf  die  Verbreitung  über  alle  Völker  der 
Erde,  die  nach  und  nach  daran  teilnehmen  dĂĽrften,  die  Aussicht 
in  eine  unabsehliche  Zeit  eröffnet;  wofern  nicht  etwa  auf  die  erste 
Epoche  einer  Naturrevolution,  die  (nach  CAMPER  und  BLUMEN- 
BACH) bloĂź  das  Tier-  und  Pflanzenreich,  ehe  noch  Menschen  waren, 
vergrub,  noch  eine  zweite  folgt,  welche  auch  dem  Menschen- 
Kants  Schriften.  Bd.  VII.  26 


401        Der  Streit  der  Fahtltaten.    Zweiter  Abschnitt 

gcschlechte  ebenso  mitspielt,  um  andere  Geschöpfe  auf  diese  Bühne 
treten  zu  lassen,  u.  s.  w.  Denn  fĂĽr  die  Aligewalt  dei  Natur, 
oder  vielmehr  ihrer  uns  unerreichbaren  obersten  Ursache  ist  der 
Mensch  wiederum  nur  eine  Kleinigkeit.  DaĂź  ihn  aber  auch  die 
Herrscher  von  seiner  eigenen  Gattung  dafĂĽr  nehmen  und  als  eine 
solche  behandeln,  indem  sie  ihn  teils  tierisch,  als  bloĂźes  Werk- 
zeug ihrer  Absichten,  belasten,  teils  in  ihren  Streitigkeiten  gegen- 
einander aufstellen,  um  sie  schlachten  zu  lassen,  —  das  ist  keine 
Kleinigkeit,  sondern  Umkehrung  des  Endzwecks  der  Schöpfung 
selbst. 

8. 

Von  der  Schwierigkeit   der  auf  das  Fortschreiten   zum 
Weltbesten  angelegten  Maximen   in  Ansehung  ihrer 

Publizität. 

Volksauf klärung    ist    die    öfFentHche  Belehrung    des  Volks 
von   seinen  Pflichten   und  Rechten   in  Ansehung    des  Staats,    dem 
CS  angehöret.    Weil  es  hier  nur  natürliche  und  aus  dem  gemeinen 
Menschenverstände  hervorgehende  Rechte  betrifft,  so   sind   die  na- 
tĂĽrlichen VerkĂĽndiger  und  Ausleger  derselben  im  Volk  nicht  die 
vom  Staat  bestellete  amtsmäßige,  sondern  freie  Rechtslehrer,  d.  i. 
die  Philosophen,  welche    eben  um    dieser  Freiheit  willen,    die  sie 
sich  erlauben,  dem  Staate,  der  immer  nur  herrschen  will,  anstößig 
sind,  und  werden   unter  dem  Namen  Aufklärer  als  für  den  Staat 
gefährliche  Leute  verschrien;   obzwar  ihre  Stimme  nicht  vertrau- 
lich ans  Volk  (als  welches  davon  und  von  ihren  Schriften  wenig 
oder  gar  keine  Notiz  nimmt),  sondern   ehrerbietig  an  den  Staat 
gerichtet  und   dieser  jenes  sein  rechtliches  BedĂĽrfnis  zu  beherzigen 
angeflehet  wird;   welches    durch   keinen  andern  Weg  als   den  der 
Publizität  geschehen  kann,  wenn  ein  ganzes  Volk  seine  Beschwerde 
(gravamen)    vortragen  will.      So  verhindert    das  Verbot  der  Pu- 
blizität den   Fortschritt  eines  Volks  zum  Besseren,   selbst   in    dem, 
was  das  Mindeste  seiner  Forderung,  nämlich  bloß  sein  natürliches 
Recht,  angeht. 

Eine  andere,  obzwar  leicht  durchzuschauende,  aber  doch  gesetz- 
mäßig einem  Volke  befohlene  Verheimlichung  ist  die  von  der 
wahren  Beschaffenheit  seiner  Konstitution.  Es  wäre  Verletzung 
der  Majestät  des  großbritannischen  Volks,    von    ihm  zu  sagen,    es 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  juris  tisch  eti  40  j 

sei  eine  unbeschränkte  Monarchie;  sondern  man  will,  es  soll 
eine  durch  die  zwei  Häuser  des  Parlaments,  als  Volksrepriscntanten, 
den  Willen  des  Monarchen  einschränkende  Verfassung  sein, 
und  doch  weiĂź  ein  jeder  sehr  gut,  daĂź  der  EinfluĂź  desselben  auF 
diese  Repräsentanten  so  groß  und  so  unfehlbar  ist,  daß  von  gedachten 
Häusern  nichts  anderes  beschlossen  wird,  als  was  Er  will  und 
duich  seinen  Minister  anträgt;  der  dann  auch  wohl  einmal  auf 
Beschlüsse  anträgt,  bei  denen  er  weiß  und  es  auch  macht,  daß 
ihm  werde  widersprochen  werden  (z.  B.  wegen  des  Negerhandels), 
um  von  der  Freiheit  des  Parlaments  einen  scheinbaren  Beweis  zu 
geben.  —  Diese  Vorstellung  der  Beschaffenheit  der  Sache  hat  das 
TrügHche  an  sich,  daß  die  wahre,  zu  Recht  beständige  Verfassung 
gar  nicht  mehr  gesucht  wird:  weil  man  sie  in  einem  schon  vor- 
handenen Beispiel  gefunden  zu  haben  vermeint,  und  eine  lĂĽgen- 
hafte Publizität  das  Volk  mit  Vorspiegelung  einer  durch  das  von 
ihm  ausgehende  Gesetz  eingeschränkten  Monarchie^)  täuscht, 
indessen  daĂź  seine  Stellvertreter,  durch  Bestechung  gewonnen,  es 
ingeheim  einem  absoluten  Monarchen  unterwarfen. 


Die  Idee  einer  mit  dem  natĂĽrlichen  Rechte  der  Menschen 
zusammenstimmenden  Konstitution:  daß  nämlich  die  dem  Gesetz 
Gehorchenden   auch    zugleich,    vereinigt,    gesetzgebend  sein  sollen, 

')  Eine  Ursache,  deren  BeschafFenheit  man  nicht  unmittelbar  ein- 
sieht, entdeckt  sich  durch  die  Wirkung,  die  ihr  unausbleiblich  anhängt.  — 
Was  ist  ein  absoluter  Monarch?  Es  ist  derjenige,  auf  dessen  Befehl, 
werm  er  sagt:  es  soll  Krieg  sein,  sofort  Krieg  ist.  —  Was  ist  dagegen 
ein  eingeschränkter  Monarch?  Der,  welcher  vorher  das  Volk  be- 
fragen muĂź,  ob  Krieg  sein  solle  oder  nicht,  und  sagt  das  Volk:  es  soll 
nicht  Krieg  sein,  so  ist  kein  Krieg.  —  Denn  Krieg  ist  ein  Zustand,  in 
welchem  dem  Staatsoberhaupte  alle  Staatskräfte  zu  Gebot  stehen  müssen. 
Nun  hat  der  groĂźbritannische  ^Monarch  recht  viel  Kriege  gefĂĽhrt,  ohne 
dazu  jene  Einwilligung  zu  suchen.  Also  ist  dieser  König  ein  absoluter 
Monarch,  der  er  zwar  der  Konstitution  nach  nicht  sein  sollte;  die  er 
aber  immer  vorbeigehen  kann,  weil  er  eben  durch  jene  Staatskräfre, 
nämlich  daß  er  alle  Ämter  und  Würden  zu  vergeben  in  seiner  Macht 
hat,  sich  der  Beistimmung  der  Volksrepräsentanten  versichert  halten  kann. 
Dieses  Bestechungssystem  muß  aber  freilich  nicht  Publizität  haben,  um 
zu   gelingen.     Es   bleibt   daher  unter   dem   sehr  durchsichrigen  Schleier 

des  Geheimnisses. 

a6* 


404        Der  Streit  der  Fakultäten.    Zweiter  Absclmitt 

liegt  bei  allen  Staatsformen  zum  Grunde,  und  das  gemeine  Wesen, 
welches,  ihr  gemäß  durch  reine  Vernunftbegriife  gedacht,  ein 
platonisches  Ideal  heiĂźt  {respublica  tJoumenoti\  ist  nicht  ein  leeres 
Hirngespinst,  sondern  die  ewige  Norm  fĂĽr  alle  bĂĽrgerliche  Ver- 
fassung überhaupt  und  entfernet  allen  Krieg.  Eine  dieser  gemäß 
organisierte  bĂĽrgerliche  Gesellschaft  ist  die  Darstellung  derselben 
nach  Freiheitsgesetzen  durch  ein  Beispiel  in  der  Erfahrung  (respu- 
blica phaenomenoii)  und  kann  nur  nach  mannigfaltigen  Befehdungen 
und  Kriegen  mĂĽhsam  erworben  werden;  ihre  Verfassung  aber, 
wenn  sie  im  groĂźen  einmal  errungen  worden,  qualifiziert  sich 
zur  besten  unter  allen,  um  den  Krieg,  den  Zerstörer  alles  Guten, 
entfernt  zu  halten ;  mithin  ist  es  Pflicht  in  eine  solche  einzutreten, 
vorläufig  aber  (weil  jenes  nicht  so  bald  zustande  kommt),  Pflicht 
der  Monarchen,  ob  sie  gleich  autokratisch  herrschen,  dennoch 
republikanisch  (nicht  demokratisch}  zu  regieren,  d.  i.  das  Volk 
nach  Prinzipien  zu  behandeln,  die  dem  Geist  der  Freiheitsgesetze 
(wie  ein  Volk  mit  reifer  Vernunft  sie  sich  selbst  vorschreiben 
würde)  gemäß  sind,  wenn  gleich  dem  Buchstaben  nach  es  um 
seine   Einwilligung  nicht   befragt  wĂĽrde. 


Welchen  Ertrag  wird   der  Fortschritt  zum  Besseren  dem 
Menschengeschlecht  abwerfen? 

Nicht  ein  immer  wachsendes  Quantum  der  Moralität  in  der 
Gesinnung,  sondern  Vermehrung  der  Produkte  ihrer  Legalität  in 
pflichtmäßigen  Handlungen,  durch  welche  Triebfeder  sie  auch  ver- 
anlaßt sein  mögen;  d.  i.  in  den  guten  Taten  der  Menschen,  die 
immer  zahlreicher  und  besser  ausfallen  werden,  also  in  den  Phä- 
nomenen der  sittlichen  Beschaffenheit  des  Menschengeschlechts, 
wird  der  Ertrag  (das  Resultat)  der  Bearbeitung  desselben  zum 
Besseren  allein  gesetzt  werden  können.  —  Denn  wir  haben  nur 
empirische  Data  (Erfahrungen),  worauf  wir  diese  Vorhersagung 
gründen:  nämlich  auf  die  physische  Ursache  unserer  Handlungen, 
in  sofern  sie  geschehen,  die  also  selbst  Erscheinungen  sind,  nicht 
die  moralische,  welche  den  Pflichtbegriff  von  dem  enthält,  was 
geschehen  sollte,  und  der  allein  rein,  a  priori,  aufgestellt  werden 
kann. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  juristischen  405 

Allmählich  wird  der  Gewalttätigkeit  von  sciten  der  Mächtigen 
weniger,  der  Folgsamkeit  in  Ansehung  der  Gesetze  mehr  werden. 
Es  wird  etwa  mehr  Wohltätigkeit,  weniger  Zank  in  Prozessen, 
mehr  Zuverlässigkeit  im  Worthalten  u.  s.  w.  teils  aus  Ehrliche, 
teils  aus  wohlverstandenem  eigenen  Vorteil  im  gemeinen  Wesen 
entspringen  und  sich  endlich  dies  auch  auf  die  Völker  im  äußeren 
Verhältnis  gegeneinander  bis  zur  weltbürgerlichen  Gesellschah 
erstrecken,  ohne  daĂź  dabei  die  moralische  Grundlage  im  Menschen- 
geschlechte  im  mindesten  vergrößert  werden  darf;  als  wozu  auch 
eine  Art  von  neuer  Schöpfung  (übernatürlicher  Einfluß}  erforder- 
lich sein  würde.  —  Denn  wir  müssen  uns  von  Menschen  in  ihren 
Fortschritten  zum  Besseren  auch  nicht  zu  viel  versprechen,  um 
nicht  in  den  Spott  des  Politikers  mit  Grunde  zu  vertallen,  der 
die  Hoffnung  des  ersteren  gerne  für  Träumerei  eines  überspannten 
Kopfs  halten  möchte.^) 


IG. 

In   welcher  Ordnung   allein   kann   der  Fortschritt   zum 
Besseren  erwartet  werden? 

Die  Antwort  ist:  nicht  durch  den  Gang  der  Dinge  von 
unten  hinauf,  sondern  den  von  oben  herab.  —  Zu  erwarten, 
daß  durch  Bildung  der  Jugend  in  häushcher  Unterweisung  und 
weiterhin  in  Schulen,  von  den  niedrigen  an  bis  zu  den  höchsten, 

^)  Es  ist  doch  sĂĽĂź,  sich  Staatsverfassungen  auszudenken,  die  den 
Forderungen  der  Vernunft  (vornehmlich  in  rechtlicher  Absicht)  ent- 
sprechen: aber  vermessen,  sie  vorzuschlagen,  und  strafbar,  das  Volk 
zur  Abschaffung  der  jetzt  bestehenden  aufzuwiegeln. 

Piatos  Atlnntica,  Morus'  Vtopia,  Harringtons  Oceana  nnd  Allais' 
Severambia  sind  nach  und  nach  auf  die  BĂĽhne  gebracht,  aber  nie  (Crom- 
wells  verunglĂĽckte  MiĂźgeburt  einer  despotischen  Republik  ausgenommen) 
auch  nur  versucht  worden.  —  Es  ist  mit  diesen  Staatsschöpfungen  wie  mit 
der  Weltschöpfung  zugegangen:  kein  Mensch  war  dabei  zugegen,  noch 
konnte  er  bei  einer  solchen  gegenwärtig  sein,  weil  er  sonst  sein  eigener 
Schöpfer  hätte  sein  müssen.  Ein  Staatsprodukt,  wie  man  es  hier  denkt, 
als  dereinst,  so  spät  es  auch  sei,  als  vollendet  zu  hoffen,  ist  ein  süßer 
Traum;  aber  sich  ihm  immer  zu  näheren,  nicht  allein  denkbar,  sondern, 
so  weit  es  mit  dem  moralischen  Gesetze  .zusammen  bestehen  kann. 
Pflicht,  nicht  der  StaatsbĂĽrger,   sondern  des  Staatsoberhauptes. 


4c6        Der  Streit  der  Fakultäten.    Zweiter  Abschnitt 

in  Geistes-  und  moralischer,  durch  Religionslehrc  verstärkter  Kultur 
es  endlich  dahin  kommen  werde,  nicht  bloĂź  gute  StaatsbĂĽrger, 
sondern  zum  Guten,  was  immer  weiter  fortschreiten  und  sich 
erhalten  kann,  zu  erziehen,  ist  ein  Plan,  der  den  erwĂĽnschten 
Erfolg  schwerlich  hoffen  läßt.  Denn  nicht  allein  daß  das  Volk 
dafür  hält,  daß  die  Kosten  der  Erziehung  seiner  Jugend  nicht 
ihm,  sondern  dem  Staate  zu  Lasten  kommen  mĂĽssen,  der  Staat 
aber  dagegen  seinerseits  zu  Besoldung  tĂĽchtiger  und  mit  Lust  ihrem 
Amte  obliegender  Lehrer  kein  Geld  ĂĽbrig  hat  (wie  BĂśSCHING 
klagt),  weil  er  alles  zum  Kriege  braucht:  sondern  das  ganze  Ma- 
schinenwesen dieser  Bildung  hat  keinen  Zusammenhang,  wenn  es 
nicht  nach  einem  ĂĽberlegten  Plane  der  obersten  Staatsmacht  und 
nach  dieser  ihrer  Absicht  entworfen,  ins  Spiel  gesetzt  und  darin 
auch  immer  gleichförmig  erhalten  wird;  wozu  wohl  gehören 
möchte,  daß  der  Staat  sich  von  Zeit  zu  Zeit  auch  selbst  reformiere 
und,  statt  Revolution  Evolution  versuchend,  zum  Besseren  beständig 
fortschreite.  Da  es  aber  doch  auch  Menschen  sind,  welche  diese 
Erziehung  bewirken  sollen,  mithin  solche,  die  dazu  selbst  haben 
gezogen  werden  mĂĽssen:  so  ist  bei  dieser  Gebrechlichkeit  der 
menschlichen  Natur  unter  der  Zufälligkeit  der  Umstände,  die  einen 
solchen  Effekt  begĂĽnstigen,  die  Hoffnung  ihres  Fortschreitens  nur 
in  einer  Weisheit  von  oben  herab  (welche,  wenn  sie  uns  un- 
sichtbar ist,  Vorsehung  heiĂźt)  als  positiver  Bedingung,  fĂĽr  das  aber, 
was  hierin  von  Menschen  erwartet  und  gefordert  werden  kann, 
bloß  negative  Weisheit  zur  Beförderung  dieses  Zwecks  zu  erwarten, 
nämlich  daß  sie  das  größte  Hindernis  des  Moralischen,  nämlich 
den  Krieg,  der  diesen  immer  zurückgängig  macht,  erstlich  nach 
und  nach  menschlicher,  darauf  seltener,  endlich  als  Angriffskrieg 
ganz  schwinden  zu  lassen  sich  genötigt  sehen  werden,  um  eine 
Verfassung  einzuschlagen,  die  ihrer  Natur  nach,  ohne  ^ich  zu 
schwächen,  auf  echte  Rechtsprinzipien  gegründet,  beharrlich  zum 
Bessern   fortschreiten  kann. 


BeschluĂź. 

Ein  Arzt,  der  seinen  Patienten  von  Tag  zu  Tag  auf  baldige 
Genesung  vertröstete:  den  einen,  daß  der  Puls  besser  schlüge;  den 
anderen,  daĂź  der  AusvN'urf,  den  dritten,  daĂź  der  SchweiĂź  Besserung 
verspräche,  u.  s.  w.,  bekam  einen  Besuch  von  einem  seiner  Freunde. 


Per  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  juristischen  407 

Wie  gehts,  Freund,  mit  eurer  Krankheit?  war  die  erste  Frage. 
Wie  wirds  gehen?  Ich  sterbe  für  lauter  Besserung!  —  Ich 
verdenke  es  keinem,  wenn  er  in  Ansehung  der  StaatsĂĽbcl  an  dem 
Heil  des  Menschengeschlechts  und  dem  Fortschreiten  desselben 
zum  Besseren  zu  verzagen  anhebt;  allein  ich  verlasse  mich  auf  das 
heroische  Arzneimittel,  welches  HUME  anfĂĽhrt  und  eine  schnelle 
Kur  bewirken  dürfte.  —  „Wenn  ich  jetzt  (sagt  er)  die  Nationen 
im  Kriege  gegeneinander  begriffen  sehe,  so  ist  es,  als  ob  ich  zwei 
besoffene  Kerle  sähe,  die  sich  in  einem  Porzellanladen  mit  Prügeln 
herumschlagen.  Denn  nicht  genug,  daĂź  sie  an  den  Beulen,  die 
sie  sich  wechselseitig  geben,  lange  zu  heilen  haben,  so  mĂĽssen  sie 
hinterher  noch  allen  den  Schaden  bezahlen,  den  sie  anrichteten." 
Sero  sapiunt  Phryges.  Die  Nachwehen  6.ts  gegenwärtigen  Krieges 
aber  körmen  dem  politischen  Wahrsager  das  Geständnis  einer 
nahe  bevorstehenden  Wendung  des  menschlichen  Geschlechts  zum 
Besseren  abnötigen,  das  schon  [etzt  im  Prospekt  ist. 


/ 


Dritter  Abschnitt. 

Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät 
mit  der  medizinischen. 


Von  der  Macht  des  GemĂĽts 
durch  den  bloĂźen  Vorsatz  seiner  krankhaften  GefĂĽhle 

Meister  zu  sein. 


Ein  Antwortschreiben  an  Herrn  Hofrat  und  Professor 

Hufeland. 

DaĂź  meine  Danksagung  fĂĽr  das  den  1 2  ten  Dec.  1796  an 
mich  bestellte  Geschenk  Ihres  lehrreichen  und  angenehmen  Buchs 
„von  der  Kunst,  das  menschliche  Leben  zu  verlängern" 
selbst  auf  ein  langes  Leben  berechnet  gewesen  sein  dürfte,  möchten 
Sie  vielleicht  aus  dem  Datum  dieser  meiner  Antwort  vom  Januar 
dieses  Jahres  zu  schlieĂźen  Ursache  haben,  wenn  das  Altgeworden- 
sein nicht  schon  die  öftere  Vertagung  {procrastinatio)  wichtiger 
BeschlĂĽsse  bei  sich  fĂĽhrete,  dergleichen  doch  wohl  der  des  Todes 
ist,  welcher  sich  immer  zu  frĂĽh  fĂĽr  uns  anmeldet,  und  den  man 
warten  zu  lassen  an  Ausreden  unerschöpflich  ist. 

Sie  verlangen  von  mir  „ein  Urteil  über  Ihr  Bestreben,  das 
Physische  im  Menschen  moralisch  zu  behandeln;  den  ganzen,  auch 
physischen  Menschen  als  ein  auf  Moralität  berechnetes  Wesen 
darzustellen  und  die  moralische  Kultur  als  unentbehrlich  zur  phy- 
sischen Vollendung  der  ĂĽberall  nur  in  der  Anlage  vorhandenen 
Menschennatur  zu  zeigen",  und  setzen  hinzu:  „wenigstens  kann 
ich  versichern,  daĂź  es  keine  vorgefaĂźte  Meinungen  waren,  sondern 
ich  durch  die  Arbeit  und  Untersuchung  selbst  unwiderstehlich  in 
diese  Behandlungsart  hineingezogen  wurde."  —  —  Eine  solche 
Ansicht  der  Sache  verrät  den  Philosophen,  nicht  den  bloßen 
VernunftkĂĽnstler;  einen  Mann,  der  nicht  allein  gleich  einem  der 
Direktoren  des  französischen  Konvents  die  von   der  Vernunft  ver- 


I  l 


De?-  Streit  der  Fakult'iitcn.     Dritter  Ahschn'ttt 


ordneten  Mittel  der  AusfĂĽhrung  (technisch),  wie  sie  die  Er- 
fahrung darbietet,  zu  seiner  Heilkunde  mit  Geschicklichkeit,  sondern 
als  gesetzgebendes  Glied  im  Korps  der  Arzte  aus  der  reinen 
Vernunft  hernimmt,  welche  zu  dem,  was  hilft,  mit  Ge- 
schicklichkeit auch  das,  was  zugleich  an  sich  Pflicht  ist,  mit 
Weisheit  zu  verordnen  weiĂź:  so  daĂź  moralisch-praktische  Philo- 
sophie zugleich  eine  Universalmedizin  abgibt,  die  zwar  nicht  allen 
fĂĽr  alles  hilft,  aber  doch  in   keinem  Rezepte   mangeln   kann. 

Dieses  Universalmittel  betrifft  aber  nur  die  Diätetik,  d.  i.  es 
wirkt  nur  negativ,  als  Kunst,  Krankheiten  abzuhalten.  Der- 
gleichen Kunst  aber  setzt  ein  Vermögen  voraus,  das  nur  Philosophie, 
oder  der  Geist  derselben,  den  man  schlechthin  voraussetzen  muĂź, 
geben  kann.  Auf  diesen  bezieht  sich  die  oberste  diätetische  Auf- 
gabe, welche  in  dem  Thema   enthalten  ist: 

Von.  der  Macht  des  GemĂĽts  des  Menschen  ĂĽber  seine 
krankhafte  GefĂĽhle  durch  den  bloĂźen  festen  Vorsatz 
Meister  zu  sein. 

Die  die  Möglichkeit  dieses  Ausspruchs  bestätigenden  Beispiele 
kann  ich  nicht  von  der  Erfahrung  anderer  hernehmen,  sondern 
zuerst  nur  von  der  an  mir  selbst  angestellten,  weil  sie  aus  dem 
SelbstbewuĂźtsein  hervorgeht  und  sich  nachher  allererst  andere 
fragen  läßt:  ob  es  nicht  auch  sie  ebenso  in  sich  wahrnehmen.  — 
Ich  sehe  mich  also  genötigt,  mein  Ich  laut  werden  zu  lassen, 
was  im  dogmatischen  Vortrage')  Unbescheidenheit  verrät,  aber 
Verzeihung  verdient,  wenn  es  nicht  gemeine  Erfahrung,  sondern 
ein  inneres  Experiment  oder  Beobachtung  betrifft,  welche  ich  zu- 
erst an  mir  selbst  angestellt  haben  muĂź,  um  etwas,  was  nicht 
jedermann  von  selbst,  und  ohne  darauf  geführt  zu  sein,  beifällt, 
zu  seiner  Beurteilung  vorzulegen.  —  Es  würde  tadelhafte  An- 
maĂźung sein,  andere  mit  der  inneren  Geschichte  meines  Ge- 
dankenspiels unterhalten  zu  wollen,  welche  zwar  subjektive  Wich- 
tigkeit (fĂĽr  mich),  aber  keine  objektive  (fĂĽr  jedermann  geltende) 
enthielten.     Wenn  aber  dieses  Aufmerken  auf  sich  selbst  und  die 


')  Im  dogmatisch-praktischen  Vortrage,  z-  B.  derjenigen  Beobachtung 
seiner  selbst,  die  auf  Pflichten  abzweckt,  die  jedermann  angehen,  spricht 
der  Kanzelredner  nicht  durch  Ich,  sondern  Wir.  In  dem  erzählenden 
aber,  der  Privatemptindung  (der  Beichte,  welche  der  Patient  seinem 
Arzte  ablegt),  oder  eigener  Erfahrung  an  sich  selbst  muĂź  er  durch  Ich 
reden. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  rtiedizinischen  4 1 3 

daraus  hervorgehende  Wahrnehmung  nicht  so  gemein  ist,  sondern, 
daĂź  jeder  dazu  aufgefordert  werde,  eine  Sache  ist,  die  es  bedarf 
und  verdient,  so  kann  dieser  Ăśbelstand  mit  seinen  Privatempfin- 
dungen andere  zu  unterhalten,  wenigstens  verziehen  werden. 

Ehe  ich  nun  mit  dem  Resultat  meiner  in  Absicht  auf  Diätetik 
angestellten  Selbstbeobachtung  aufzutreten  wage,  muĂź  ich  noch 
etwas  ĂĽber  die  Art  bemerken,  wie  Herr  HUFELAND  die  Auf- 
gabe der  Diätetik,  d.  i.  der  Kunst  stellt,  Krankheiten  vorzu- 
beugen, im  Gegensatz  mit  der  Therapeutika  sie  zu  heilen. 

Sie  heißt  ihm  „die  Kunst  das  menschliche  Leben  zu  ver- 
längern." 

Er  nimmt  seine  Benennung  von  demjenigen  her,  was  die 
Menschen  am  sehnsĂĽchtigsten  wĂĽnschen,  ob  es  gleich  vielleicht 
weniger  wünschenswert  sein  dürfte.  Sie  möchten  zwar  gern  zwei 
Wünsche  zugleich  tun:  nämlich  lange  zu  leben  und  dabei  ge- 
sund zu  sein;  aber  der  erstcre  Wunsch  hat  den  letzteren  nicht 
zur  notwendigen  Bedingung:  sondern  er  ist  unbedingt.  LaĂźt  den 
Hospitalkranken  Jahre  lang  auf  seinem  Lager  leiden  und  darben 
und  ihn  ok  wünschen  hören,  daß  ihn  der  Tod  je  eher  je  lieber 
von  dieser  Plage  erlösen  möge;  glaubt  ihm  nicht,  es  ist  nicht  sein 
Ernst.  Seine  Vernunft  sagt  es  ihm  zwar  vor,  aber  der  Natur- 
instinkt will  es  anders.  Wenn  er  dem  Tode  als  seinem  Befreier 
(^Jovi  liberatori)  winkt,  so  verlangt  er  doch  immer  noch  eine 
kleine  Frist  und  hat  immer  irgend  einen  Vorwand  zur  Vertagung 
(j>rocrastinat'io)  seines  peremtorischen  Dekrets.  Der  in  wilder  Ent- 
rüstung gefaßte  Entschluß  des  Selbstmörders,  seinem  Leben  ein 
Ende  zu  machen,  macht  hievon  keine  Ausnahme:  denn  er  ist  die 
Wirkung  eines  bis  zum  Wahnsinn  exaltierten  Affekts.  —  Unter 
den  zwei  Verheißungen  für  die  Befolgung  der  Kindespflicht  („auf 
daß  dir  es  wohlgehe,  und  du  lange  lebest  auf  Erden")  enthält 
die  letztere  die  stärkere  Triebfeder,  selbst  im  Urteile  der  Ver- 
nunft, nämlich  als  Pflicht,  deren  Beobachtung  zugleich  verdienst- 
lich ist. 

Die  Pflicht,  das  Alter  zu  ehren,  gründet  sich  nämlich  eigent- 
lich nicht  auf  die  billige  Schonung,  die  man  den  JĂĽngeren  gegen 
die  Schwachheit  der  Alten  zumutet:  denn  die  ist  kein  Grund  zu 
einer  ihnen  schuldigen  Achtung.  Das  Alter  will  also  noch  fĂĽr 
etwas  Verdienstliches  angesehen  werden,  weil  ihm  eine  Ver- 
ehrung zugestanden  wird.  Also  nicht  etwa  weil  Nestorjahre 
zugleich    durch  viele    und    lange  Erfahrung   erworbene  Weisheit 


414        Der  Streit  der  Fahultäten.    Dritter  Abschnitt 

zu  Leitung  der  jĂĽngeren  Welt  bei  sich  fĂĽhren,  sondern  bloĂź  weil, 
wenn  nur  keine  Schande  dasselbe  befleckt  hat,  der  Mann,  welcher 
sich  so  lange  erhalten  hat,  d.  i.  der  Sterblichkeit  als  dem  demĂĽti- 
gendsten Ausspruch,  der  über  ein  vernünftiges  Wesen  nur  gefällt 
werden  kann  („du  bist  Erde  und  sollst  zur  Erde  werden*'),  so 
lange  hat  ausweichen  und  gleichsam  der  Unsterblichkeit  hat  ab- 
gewinnen können,  weil,  sage  ich,  ein  solcher  Mann  sich  so  lange 
lebend   erhalten   und   zum  Beispiel  aufgestellt  hat. 

Mit   der  Gesundheit,  als  dem  zweiten  natĂĽrlichen  Wunsche,  ist 
es   dagegen   nur  miĂźlich   bewandt.    Man   kann  sich  gesund  fĂĽhlen 
(aus    dem    behaglichen    GefĂĽhl    seines  Lebens    urteilen),    nie    aber 
wissen,    daß  man    gesund  sei.    —   Jede  Ursache    des    natürlichen 
Todes  ist  Krankheit:   man   mag  sie  fühlen   oder  nicht.  —  Es  gibt 
viele,  von   denen,  ohne  sie   eben  verspotten   zu  wollen,  man  sagt, 
daß   sie  für  immer  kränkeln,  nie  krank  werden  können;   deren 
Diät  ein  immer  wechselndes  Abschweifen    und  wieder  Einbeugen 
ihrer  Lebensweise    ist,    und    die   es  im  Leben,    wenn  gleich  nicht 
den   Kraftäußerungen,    doch    der  Länge  nach  weit  bringen.      Wie 
viel   aber  meiner  Freunde   oder  Bekannten  habe  ich  nicht  ĂĽberlebt, 
die    sich    bei  einer  einmal   angenommenen   ordentlichen  Lebensart 
einer  völligen  Gesundheit    rühmten:    indessen    daß    der  Keim  des 
Todes  (die  Krankheit),  der  Entwickelung  nahe,  unbemerkt  in  ihnen 
lag,  und  der,  welcher  sich  gesund  fĂĽhlte,  nicht  wuĂźte,  daĂź  er 
krank  war;  denn   die  Ursache  eines  natĂĽrlichen  Todes  kann  man 
doch   nicht    anders    als  Krankheit   nennen.      Die  Kausalität  aber 
kann  man  nicht  fühlen,  dazu  gehört  Verstand,  dessen  Urteil  irrig 
sein   kann,  indessen  daĂź   das  GefĂĽhl  untrĂĽglich  ist,  aber  nur  dann, 
wenn  man  sich  krankhaft  fĂĽhlt,  diesen  Namen  fĂĽhrt;  fĂĽhlt  man 
sich  aber  so   auch  nicht,  doch  gleichwohl  in  dem  Menschen  ver- 
borgenerweise und   zur  baldigen  Entwickelung  bereit  liegen  kann; 
daher    der  Mangel    dieses    GefĂĽhls    keinen    andern    Ausdruck    des 
Menschen   fĂĽr  sein  Wohlbefinden    verstattet,    als    daĂź    er  schein- 
bar lieh    gesund    sei.      Das    lange   Leben    also,    wenn    man   dahin 
zurĂĽcksieht,   kann   nur  die  genossene   Gesundheit    bezeugen,  und 
die    Diätetik    wird    vor    allem    in    der    Kunst    das    Leben   zu   ver- 
längern    (nicht    es    zu    genießen)     ihre    Geschicklichkeit    oder 
Wissenschaft  zu   beweisen  haben:  wie  es  auch  Herr  HUFELAND 
so  ausgedrĂĽckt  haben  will. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  medizinischen  4 1 5 

Grundsatz  der  Diätetik. 

Auf  Gem'ächlichkeit  muß  die  Diätetik  nicht  berechnet 
werden;  denn  diese  Schonung  seiner  Kräfte  und  Gefühle  ist  Ver- 
zärtelung, d.  i.  sie  hat  Schwäche  und  Kraftlosigkeit  zur  Folge  und 
ein  allmähliches  Erlöschen  der  Lebenskraft  aus  Mangel  der  Übung; 
sowie  eine  Erschöpfung  derselben  durch  zu  häufigen  und  starken 
Gebrauch  derselben.  Der  Stoizism  als  Prinzip  der  Diätetik 
(sustinc  et  abstine)  gehört  also  nicht  bloß  zur  praktischen  Philo- 
sophie als  Tugendlehre,  sondern  auch  zu  ihr  als  Heilkunde. 
—  Diese  ist  alsdann  philosophisch,  wenn  bloß  die  Macht  der 
Vernunft  im  Menschen,  ĂĽber  seine  sirmliche  GefĂĽhle  durch  einen 
sich  selbst  gegebenen  Grundsatz  Meister  zu  sein,  die  Lebensweise 
bestimmt.  Dagegen,  wenn  sie  diese  Empfindungen  zu  erregen 
oder  abzuwehren  die  Hülfe  außer  sich  in  körperlichen  Mitteln 
(der  Apotheke,  oder  der  Chirurgie)  sucht,  sie  bloĂź  empirisch  und 
mechanisch  ist. 

Die  Wärme,    der  Schlaf,    die    sorgfältige  Pflege  des  nicht 
Kranken   sind  solche  Verwöhnungen  der  Gemächlichkeit. 

i)  Ich  kann  der  Erfahrung  an  mir  selbst  gemäß  der  Vor- 
schrift nicht  beistimmen:  man  soll  Konf  und  FĂĽĂźe  warm  halten. 
Ich  finde  es  dagegen  geratener,  beide  kalt  zu  halten  (wozu  die 
Russen  auch  die  Brust  zählen),  gerade  der  Sorgfalt  wegen,  um 
mich  nicht  zu  verkälten.  —  Es  ist  freilich  gemächlicher  im 
laulichen  Wasser  sich  die  FĂĽĂźe  zu  waschen,  als  es  zur  Winterszeit 
mit  beinahe  eiskaltem  zu  tun;  dafĂĽr  aber  entgeht  man  dem  Ăśbel 
der  Erschlaffung  der  Blutgefäße  in  so  weit  vom  Herzen  entlegenen 
Teilen,  welches  im  Alter  oft  eine  nicht  mehr  zu  hebende  Krankheit 
der  Füße  nach  sich  zieht.  —  Den  Bauch,  vornehmlich  bei  kalter 
Witterung,  warm  zu  halten,  möchte  eher  zur  diätetischen  Vor- 
schrift statt  der  Gemächlichkeit  gehören;  weil  er  Gedärme  in  sich 
schlieĂźt,  die  einen  langen  Gang  hindurch  einen  nicht-flĂĽssigen 
Stoff  forttreiben  sollen;  wozu  der  sogenannte  Schmachtriemen  (ein 
breites  den  Unterleib  haltendes  und  die  Muskeln  desselben  unter- 
stützendes Band)  bei  Alten,  aber  eigentlich  nicht  der  Wärme  wegen 
gehört. 

2)  Lange  oder  (wiederholentlich,  durch  Mittagsruhe)  viel 
schlafen  ist  freilich  eben  so  viel  Ersparnis  am  ĂĽngemache,  was 
ĂĽberhaupt  das  Leben  im  Wachen  unvermeidlich  bei  sich  fĂĽhrt, 
und  es  ist  wunderlich  genug,  sich  ein  langes  Leben  zu  wĂĽnschen. 


416        De?'  Streit  der  Fakultäten.     Dritter  Abschnitt 

um  CS  größtenteils  zu  verschlafen.  Aber  das,  worauf  es  hier 
eigentlich  ankömmt,  dieses  vermeinte  Mittel  des  langen  Lebens, 
die  Gemächlichkeit,  widerspricht  sich  in  seiner  Absicht  selbst. 
Denn  das  wechselnde  Erwachen  und  wieder  Einschlummern  in 
langen  Winternächten  ist  für  das  ganze  Nervensystem  lähmend, 
zermalmend  und  in  täuschender  Ruhe  krafterschöpfend:  mithin 
die  Gemächlichkeit  hier  eine  Ursache  der  Verkürzung  des  Lebens. 
—  Das  Bett  ist  das  Nest  einer  Menge  von  Krankheiten. 

3)  Im  Alter  sich  zu  pflegen  oder  pflegen  zu  lassen,  bloĂź 
um  seine  Kräfte  durch  die  Vermeidung  der  Ungemächlichkeit  (z. 
B.  des  Ausgehens  in  schlimmen  W^etter)  oder  ĂĽberhaupt  die  Ăśber- 
tragung der  Arbeit  an  andere,  die  man  selbst  verrichten  könnte, 
zu  schonen,  so  aber  das  Leben  zu  verlängern,  diese  Sorgfalt  be- 
wirkt gerade  das  V^^iderspiel,  nämlich  das  frühe  Altwerden  und 
Verkürzung  des  Lebens.  —  —  Auch  daß  sehr  alt  gewordene 
mehrenteils  verehelichte  Personen  gewesen  wären,  möchte 
schwer  zu  beweisen  sein.  —  In  einigen  Familien  ist  das  Alt- 
werden erblich,  und  die  Paarung  in  einer  solchen  kann  wohl 
einen  Familienschlag  dieser  Art  begrĂĽnden.  Es  ist  auch  kein  ĂĽbles 
politisches  Prinzip,  zu  Beförderung  der  Ehen  das  gepaarte  Leben 
als  ein  langes  Leben  anzupreisen;  obgleich  die  Erfahrung  immer 
verhältnisweise  nur  wenig  Beispiele  davon  an  die  Hand  gibt  von 
solchen,  die  nebeneinander  vorzĂĽglich  alt  geworden  sind;  aber  die 
Frage  ist  hier  nur  vom  physiologischen  Grunde  des  Altwerdens  — 
wie  es  die  Natur  verfugt,  nicht  vom  politischen,  wie  die  Kon- 
venienz  des  Staats  die  öffentliche  Meinung  seiner  Absicht  gemäß 
gestimmt  zu  sein  verlangt.  —  Übrigens  ist  das  Philosophieren, 
ohne  darum  eben  Philosoph  zu  sein,  auch  ein  Mittel  der  Ab- 
wehrung mancher  unangenehmer  GefĂĽhle  und  doch  zugleich  Agi- 
tation des  Gemüts,  welches  in  seine  Beschäftigung  ein  Interesse 
bringt,  das  von  äußern  Zufälligkeiten  unabhängig  und  eben  darum, 
obgleich  nur  als  Spiel,  dennoch  kräftig  und  inniglich  ist  und  die 
Lebenskraft  nicht  stocken  läßt.  Dagegen  Philosophie,  die  ihr 
Interesse  am  Ganzen  des  Endzwecks  der  Vernunft  (der  eine  ab- 
solute Einheit  ist)  hat,  ein  GefĂĽhl  der  Kraft  bei  sich  fĂĽhrt,  wel- 
ches die  körperliche  Schwächen  des  Alters  in  gewissem  Maße 
durch  vernünftige  Schätzung  des  Werts  des  Lebens  wohl  vergüten 
kann.  —  Aber  neu  sich  eröffnende  Aussichten  zu  Erweiterung 
seiner  Erkenntnisse,  wenn  sie  auch  gerade  nicht  zur  Philosophie 
gehörten,  leisten   doch  auch   eben   dasselbe,  oder  etwas   dem  Ahn 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  7?jit  der  medizinischen  4 1 7 

liches;  und  sofern  der  Mathematiker  hieran  ein  unmittelbares 
Interesse  (nicht  als  an  einem  Werkzeuge  zu  anderer  Absicht) 
nimmt,  so  ist  er  insofern  auch  Philosoph  und  genieĂźt  die  Wohl- 
tätigkeit einer  solchen  Erregungsart  seiner  Kräfte  in  einem  ver- 
jüngten und  ohne  Erschöpfung  verlängerten   Leben. 

Aber  auch  bloße  Tändeleien  in  einem  sorgenfreien  Zustande 
leisten,  als  Surrogate,  bei  eingeschränkten  Köpfen  fast  eben  das- 
selbe, und  die  mit  Nichtstun  immer  vollauf  zu  tun  haben,  w^erden 
gemeiniglich  auch  alt.  —  Ein  sehr  bejahrter  Mann  fand  dabei  ein 
groĂźes  Interesse,  daĂź  die  vielen  Stutzuhren  in  seinem  Zimmer 
immer  nach  einander,  keine  mit  der  andern  .zugleich  schlagen 
muĂźten;  welches  ihn  und  den  Uhrmacher  den  Tag  ĂĽber  genug 
beschäftigte  und  dem  letztern  zu  verdienen  gab.  Ein  anderer 
fand  in  der  Abfütterung  und  Kur  seiner  Sangvögel  hinreichende 
Beschäftigung,  um  die  Zeit  zwischen  seiner  eigenen  Abfütterung 
und  dem  Schlaf  auszufĂĽllen.  Eine  alte  begĂĽterte  Frau  fand  diese 
AusfĂĽllung  am  Spinnrade  unter  dabei  eingemischten  unbedeutenden 
Gesprächen  und  klagte  daher  in  ihrem  sehr  hohen  Alter,  gleich 
als  ĂĽber  den  Verlust  einer  guten  Gesellschaft,  daĂź,  da  sie  nun- 
mehr den  Faden  zwischen  den  Fingern  nicht  mehr  fühlen  könnte, 
sie  fĂĽr  langer  Weile  zu  sterben   Gefahr  liefe. 

Doch  damit  mein  Diskurs  ĂĽber  das  lange  Leben  Ihnen  nicht 
auch  lange  Weile  mache  und  eben  dadurch  gefährlich  werde, 
will  ich  der  Sprachseligkeit,  die  man  als  einen  Fehler  des  Alters 
zu  belächlen,  wenngleich  nicht  zu  schelten  pflegt,  hiemit  Grenzen 
setzen. 


I. 

Von  der  Hypochondrie. 

Die  Schwäche,  sich  seinen  krankhaften  Gefühlen  überhaupt, 
ohne  ein  bestimmtes  Objekt,  mudos  zu  ĂĽberlassen  (mithin  ohne 
den  Versuch  zu  machen,  ĂĽber  sie  durch  die  Vernunft  Meister  zu 
werden),  —  die  Grillenkrankheit  (hypochondria  vagd),^)  welche 
gar  keinen  bestimmten  Sitz  im  Körper  hat  und  ein  Geschöpf  der 
Einbildungskraft  ist  und  daher  auch  die  dichtende  heißen  könnte, 
—   wo  der  Patient   alle  Krankheiten,    von    denen    er    in  Büchern 

^)  Zum  Unterschiede  von  der  topischen  {hypochondria  intestinalis). 

Kants   Schriften.    Bd.  VII.  27 


41 8        Der  Streit  der  Fakulfnten.     Dritter  Abschnitt 

liest,  an  sich  zu  bemerken  glaubt,  ist  das  gerade  Widerspiel  jenes 
Vermögens  des  Gemüts  über  seine  krankhafte  Gefühle  Meister  zu 
sein,  nämlich  Verzagtheit,  über  Übel,  welche  Menschen  zustoßen 
könnten,  zu  brüten,  ohne,  wenn  sie  kämen,  ihnen  widerstehen 
zu  können;  eine  Art  von  W^ahnsinn,  welchem  freilich  wohl  irgend 
ein  Krankheitsstoff  (Blähung  oder  Verstopfung)  zum  Grunde  liegen 
mag,  der  aber  nicht  unmittelbar,  wie  er  den  Sinn  affiziert,  gefĂĽhlt, 
sondern  als  bevorstehendes  Ăśbel  von  der  dichtenden  Einbildungs- 
kraft vorgespiegelt  wird;  wo  dann  der  Selbstquäler  (heautontimo- 
rumenos\  statt  sich  selbst  zu  ermannen,  vergeblich  die  HĂĽlfe  des 
Arztes  aufruft:  weil  nur  er  selbst  durch  die  Diätetik  seines  Ge- 
dankenspiels belästigende  Vorstellungen,  die  sich  unwillkürlich  ein- 
finden, und  zwar  von  Ăśbeln,  wider  die  sich  doch  nichts  veran- 
stalten ließe,  wenn  sie  sich  wirkhch  einstellten,  aufheben  kann.  — 
Von  dem,  der  mit  dieser  Krankheit  behaftet,  und  so  lange  er  es 
ist,  kann  man  nicht  verlangen,  er  solle  seiner  krankhaften  GefĂĽhle 
durch  den  bloĂźen  Vorsatz  Meister  werden.  Denn  wenn  er  dieses 
könnte,  so  wäre  er  nicht  hypochondrisch.  Ein  vernünftiger 
Mensch  statuiert  keine  solche  Hypochondrie:  sondfern  wenn 
ihm  Beängstigungen  anwandeln,  die  in  Grillen,  d.  i.  selbst  aus- 
gedachte Ăśbel,  ausschlagen  wollen,  so  fragt  er  sich,  ob  ein  Objekt 
derselben  da  sei.  Findet  er  keines,  welches  gegrĂĽndete  Ursache 
zu  dieser  Beängstigung  abgeben  kann,  oder  sieht  er  ein,  daß,  wenn 
auch  gleich  ein  solches  wirklich  wäre,  doch  dabei  nichts  zu  tun 
möglich  sei,  um  seine  Wirkung  abzuwenden,  so  geht  er  mit  diesem 
Ansprüche  seines  inneren  Gefühls  zur  Tagesordnung,  d.  i.  er  läßt 
seine  Beklommenheit  (welche  alsdann  bloĂź  topisch  ist)  an  ihrer 
Stelle  liegen  (als  ob  sie  ihm  nichts  anginge)  und  richtet  seine 
Aufmerksamkeit  auf  die   Geschäfte,  mit  denen  er  zu  tun  hat. 

Ich  hebe  wegen  meiner  flachen  und  engen  Brust,  die  fĂĽr  die 
Bewegung  des  Herzens  und  der  Lunge  wenig  Spielraum  läßt,  eine 
natĂĽrliche  Anlage  zur  Hypochondrie,  welche  in  frĂĽheren  Jahren 
bis  an  den  ĂśberdruĂź  des  Lebens  grenzte.  Aber  die  Ăśberlegung, 
daĂź  die  Ursache  dieser  Herzbeklemmung  vielleicht  bloĂź  mechanisch 
und  nicht  zu  heben  sei,  brachte  es  bald  dahin,  daĂź  ich  mich  an 
sie  gar  nicht  kehrte,  und  während  dessen,  daß  ich  mich  in  der 
Brust  beklommen  fĂĽhlte,  im  Kopf  doch  Ruhe  und  Heiterkeit 
herrschte,  die  sich  auch  in  der  Gesellschaft  nicht  nach  abwechseln- 
den Launen  (wie  Hypochondrische  pflegen),  sondern  absichtlich 
und    natĂĽrlich    mitzuteilen    nicht    ermangelte.      Und    da    man    des 


Der  Streit  des  philosophischen  Fakultät  mit  der  ?nedizimschen  4 1  9 

Lebens  mehr  froh  wird  durch  das,  was  man  im  freien  Gebrauch 
desselben  tut,  als  was  man  genießt,  so  können  Geistesarbeiten 
eine  andere  Art  von  befördertem  Lebensgefühj  den  Hemmungen 
entgegensetzen,  welche  bloß  den  Körper  angehen.  Die  Beklem- 
mung ist  mir  gebheben;  denn  ihre  Ursache  liegt  in  meinem 
körperlichen  Bau.  Aber  über  ihren  Einfluß  auf  meine  Gedanken 
und  Handlungen  bin  ich  Meister  geworden  durch  Abkehrung 
der  Aufmerksamkeit  von  diesem  GefĂĽhle,  als  ob  es  mich  gar 
nicht  anginge. 

2. 

Vom  Schlafe. 

Was  die  Türken  nach  ihren  Grundsätzen  der  Prädestination 
über  die  Mäßigkeit  sagen:  daß  nämhch  im  Anfange  der  Welt 
jedem  Menschen  die  Portion  zugemessen  worden,  wie  viel  er  im 
Leben  zu  essen  haben  werde,  und,  wenn  er  seinen  beschiedenen 
Teil  in  groĂźen  Portionen  verzehrt,  er  auf  eine  desto  kĂĽrzere  Zeit 
zu  essen,  mithin  zu  sein  sich  Rechnung  machen  könne:  das 
kann  in  einer  Diätetik  als  Kinderlehre  (denn  im  Genießen 
müssen  auch  Männer  von  Ärzten  oft  als  Kinder  behandelt  werden) 
auch  zur  Regel  dienen:  nämlich  daß  jedem  Menschen  von  An- 
beginn her  vom  Verhängnisse  seine  Portion  Schlaf  zugemessen 
worden,  und  der,  welcher  von  seiner  Lebenszeit  in  Mannsjahren 
zu  viel  (über  das  Dritteil)  dem  Schlafen  eingeräumt  hat,  sich  nicht 
eine  lange  Zeit  zu  schlafen,  d.  i.  zu  leben  und  alt  zu  werden, 
versprechen  darf.  —  Wer  dem  Schlaf  als  süßen  Genuß  im 
Schlummern  (der  Siesta  der  Spanier)  oder  als  ZeitkĂĽrzung  (in 
langen  Winternächten)  viel  mehr  als  ein  Dritteil  seiner  Lebenszeit 
einräumt,  oder  ihn  sich  auch  teilweise  (mit  Absätzen),  nicht  in 
einem  StĂĽck  fĂĽr  jeden  Tag  zumiĂźt,  verrechnet  sich  sehr  in  An- 
sehung seines  Lebensquantum  teils  dem  Grade,  teils  der  Länge 
nach.  —  Da  nun  schwerlich  ein  Mensch  wünschen  wird,  daß  der 
Schlaf  überhaupt  gar  nicht  Bedürfnis  für  ihn  wäre  (woraus  doch 
wohl  erhellet,  daĂź  er  das  lange  Leben  als  eine  lange  Plage  fĂĽhlt, 
von  dem,  so  viel  er  verschlafen,  eben  so  viel  MĂĽhsehgkeit  zu 
tragen  er  sich  ersparet  hat),  so  ist  es  geratener  fĂĽrs  GefĂĽhl  so- 
wohl als  fĂĽr  die  Vernunft,  dieses  genuĂź-  und  tatleere  Drittel  ganz 
auf   eine    Seite    zu    bringen    und    es    der    unentbehrlichen  Natur- 


lO 


Der  Streit  der  Fahttltaten.     Dritter  Abschnitt 


restauration   zu  ĂĽberlassen:   doch  mit  einer  genauen  Abgemessenheit 
der   Zeit,  von  wo   an  und  wie   lange  sie   dauern  soll. 


Es   gehört  unter  die   krankhaften   Gefühle    zu  der    bestimmten 
und   gewohnten   Zeit  nicht    schlafen,    oder    auch    sich  nicht  wach 
halten   zu   können;  vornehmlich  aber  das  erstere,  in  dieser  Absicht 
sich  zu  Bette   zu   legen  und  doch   schlaflos  zu  liegen.  —  Sich  alle 
Gedanken  aus  dem  Kopf  zu  schlagen,  ist  zwar  der  gewöhnliche 
Rat,  den   der  Arzt  gibt:   aber  sie   oder  andere  an   ihre  Stelle  kom- 
men wieder  und   erhalten  wach.      Es  ist  kein  anderer  diätetischer 
Rat,    als    beim    inneren  Wahrnehmen    oder  BewuĂźtwerden  irgend 
eines  sich  regenden  Gedanken    die  Aufmerksamkeit    davon    sotort 
abzuwenden    (gleich    als    ob    man    mit  geschlossenen  Augen   diese 
auf   eine    andere   Seite    kehrte):    wo    dann    durch    das  Abbrechen 
jedes   Gedanken,  den  man  inne  wird,  allmählich  eine   Verwirrung 
der  Vorstellungen  entspringt,  dadurch  das  Bewußtsein  seiner  körper- 
Uchen  (äußeren)  Lage  aufgehoben  wird,  und  eine  ganz  verschiedene 
Ordnung,    nämlich  ein   unwillkürliches   Spiel    der  Einbildungskrai-t 
(das  im  gesunden  Zustande   der  Traum  ist),  eintritt,  in  welchem 
durch    ein     bewundernswĂĽrdiges    KunststĂĽck     der     tierischen    Or 
ganisation    der    Körper    für    die    animalischen    Bewegungen    ab- 
gespannt, fĂĽr  die  Vitalbewegung  aber  innigst  agitiert  wird  und 
zwar  durch  Träume,  die,  wenn  wir  uns  gleich  derselben   im  Er 
wachen   nicht  erinnern,  gleichwohl  nicht  haben  ausbleiben  können: 
weil  sonst  bei  gänzlicher  Ermangelung  derselben,  wenn  die  Nerven 
kraft,    die    vom    Gehirn,    dem    Sitze    der  Vorstellungen,    ausgeht, 
nicht   mit  der  Muskelkraft    der  Eingeweide    vereinigt  wirkte,    das 
Leben   sich   nicht  einen  Augenblick  erhalten  könnte.      Daher  träu- 
men vermutlich  alle  Tiere,  wenn  sie  schlafen. 

Jedermann  aber,  der  sich  zu  Bette  und  in  Bereitschaft  zu 
schlafen  gelegt  hat,  wird  bisweilen  bei  aller  obgedachten  Ab- 
lenkung seiner  Gedanken  doch  nicht  zum  Einschlafen  kommen 
können.  In  diesem  Falle  wird  er  im  Gehirn  etwas  Spastisches 
(Kramptartiges)  fĂĽhlen,  welches  auch  mit  der  Beobachtung  gut 
zusammenhängt:  daß  ein  Mensch  gleich  nach  dem  Er\vachen  etwa 
7j  Zoll  länger  sei,  als  wenn  er  sogar  im  Bette  geblieben  und 
dabei  nur  gewacht  hätte.  —  Da  Schlaflosigkeit  ein  Fehler  des 
schwächlichen  Alters  und   die   linke  Seite  überhaupt  genommen  die 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  ?nedizmischcn  4  2 1 

schwäcxhere  ist/)  so  tuhJte  ich  seit  etwa  einem  Jahre  diese 
krampfigte  Anwandejungen  und  sehr  empfindliche  Reize  dieser  Art 
(obzwar  nicht  wirkliche  und  sichtbare  Bewegungen  der  darauF 
affizierten  Gliedmaßen  als  Krämpfe),  die  ich  nach  der  Beschreibung 
anderer  für  gichtische  Zufälle  halten  und  dafür  einen  Arzt 
suchen  muĂźte.  Nun  aber,  aus  Ungeduld,  am  Schlafen  mich  gc- 
liindert  zu  fĂĽhlen,  griff  ich  bald  zu  meinem  stoischen  Mittel, 
meinen  Gedanken  mit  Anstrengung  auf  irgendein  von  mir  ge- 
wähltes gleichgültiges  Objekt,  was  es  auch  sei,  (z.  B.  auf  den  viel 
Nebenvorstellungen  enthaltenden  Namen  CICERO)  zu  heften:  mit- 
hin die  Aufmerksamkeit  von  jener  Empfindung  abzulenken;  dadurch 
diese  dann  und  zwar  schleunig  stumpf  wurde,  und  so  die  Schläf- 
rigkeit sie  ĂĽberwog,  und  dieses  kann  ich  jederzeit  bei  wieder- 
kommenden Anfällen  dieser  Art  in  den  kleinen  Unterbrechungen 
des  Nachtschlafs  mit  gleich  gutem  Erfolg  wiederholen.  DaĂź  aber 
dieses  nicht  etwa  bloĂź  eingebildete  Schmerzen  waren,  davon  konnte 
mich  die  des  andern  Morgens  früh  sich  zeigende  glühende  Röte  der 
Zehen  des  linken  Fußes  überzeugen.  —  Ich  bin  gewiß,  daß  viele 
gichtische  Zufälle,  wenn  nur  die  Diät  des  Genusses  nicht  gar  zu 
sehr  dawider  ist,  ja  Krämpfe  und  selbst  epileptische  Zufälle 
(nur  nicht  bei  Weibern    und  Kindern,   als    die  dergleichen  Kraft 


^)  Es  ist  ein  ganz  unrichtiges  Vorgeben,  daß,  was  die  Stärke  im 
Gebrauch  seiner  äußern  Gliedmaßen  betrifft,  es  bloß  auf  die  Übung, 
und  wie  man  frühe  gewöhnt  worden,  ankomme,  welche  von  beiden 
Seiten  des  Körpers  die  stärkere  oder  schwächere  sein  solle;  ob  im  Ge- 
fechte mit  dem  rechten  oder  linken  Arm  der  Säbel  geführt,  ob  sich 
der  Reiter,  im  SteigbĂĽgel  stehend,  von  der  Rechten  zur  Linken  oder 
umgekehrt  aufs  Pferd  schwinge,  u.  dgl.  Die  Erfahrung  lehrt  aber, 
daß,  wer  sich  am  linken  Fuße  Maß  für  seine  Schuhe  nehmen  läßt, 
wenn  der  Schuh  dem  linken  genau  anpaĂźt,  er  fĂĽr  den  rechten  zu  enge 
sei,  ohne  daĂź  man  die  Schuld  davon  den  Eltern  geben  kann,  die  ihre 
Kinder  nicht  besser  belehrt  hätten;  so  wie  der  Vorzug  der  rechten 
Seite  vor  der  linken  auch  daran  zu  sehen  ist,  daĂź  der,  welcher  ĂĽber 
einen  etwas  tiefen  Graben  schreiten  will,  den  linken  FuĂź  ansetzt  und 
mit  dem  rechten  ĂĽberschreitet;  widrigenfalls  er  in  den  Graben  zu  fallen 
Gefahr  läuft.  Daß  der  preußische  Infanterist  geübt  wird,  mit  dem 
linken  Fuße  anzutreten,  widerlegt  jenen  Satz  nicht,  sondern  bestätigt 
ihn  vielmehr;  denn  er  setzt  diesen  voran,  gleich  als  auf  ein  Hypo- 
mochlium,  um  mit  der  rechten  Seite  den  Schwung  des  Angriffs  zu 
machen,  welchen  er  mit  der  rechten   gegen   die  linke  verrichtet. 


42  2        Der  Streit  der  Fakultäten.     Dritter  Abschnitt 

des  Vorsatzes  nicht  haben),  auch  wohl  das  fĂĽr  unheilbar  ver- 
schriene Podagra  bei  jeder  neuen  Anwandlung  desselben  durch 
diese  Festigkeit  des  Vorsatzes  i^seine  Aut-merksamkeit  von  einem 
solchen  Leiden  abzuwenden)  abgehalten  und  nach  und  nach  gar 
gehoben  werden    könnte. 

3- 
Vom  Essen  und  Trinken. 

Im  gesunden  Zustande  und  der  Jugend  ist  es  das  Geratenste 
in  Ansehung  des  Genusses,  der  Zeit  und  Menge  nach,  bloĂź  den 
Appetit  (Hunger  und  Durst)  zu  befragen;  aber  bei  den  mit  dem 
Alter  sich  einfindenden  Schwächen  ist  eine  gewisse  Angewohn- 
heit einer  geprüften  und  heilsam  gebundenen  Lebensart,  nämlich 
wie  man  es  einen  Tag  gehalten  hat,  es  ebenso  alle  Tage  zu 
halten,  ein  diätetischer  Grundsatz,  welcher  dem  langen  Leben  am 
gĂĽnstigsten  ist;  doch  unter  der  Bedingung,  daĂź  diese  AbfĂĽtterung 
für  den  sich  weigernden  Appetit  die  gehörige  Ausnahmen  mache. 
—  Dieser  nämlich  weigert  im  Alter  die  Quantität  des  Flüssigen 
(Suppen  oder  viel  Wasser  zu  trinken)  vornehmlich  dem  männ- 
lichen Geschlecht:  verlangt  dagegen  derbere  Kost  und  an  reizenderes 
Getränke  (z.  B.  Vl^ein),  sowohl  um  die  wurmförmige  Bewegung 
der  Gedärme  (die  unter  allen  Eingeweiden  am  meisten  von  der 
vita  propria  zu  haben  scheinen,  weil  sie,  wenn  sie  noch  warm 
aus  dem  Tier  gerissen  und  zerhauen  werden,  als  W'ĂĽrmer  kriechen, 
deren  Arbeit  man  nicht  bloß  fühlen,  sondern  sogar  hören  kann) 
zu  befördern  und  zugleich  solche  Teile  in  den  Blutumlaut  zu 
bringen,  die  durch  ihren  Reiz  das  Gerader  zur  Blutbewegung  im 
Umlauf  zu   erhalten   beförderlich  sind. 

Das  Wasser  braucht  aber  bei  alten  Leuten  längere  Zeit,  um, 
ins  Blut  aufgenommen,  den  langen  Gang  seiner  Absonderung  von 
der  Blutmasse  durch  die  Nieren  zur  Fiarnblase  zu  machen,  wenn 
es  nicht  dem  Blute  assimilierte  Teile  (dergleichen  der  Wein  ist), 
und  die  einen  Reiz  der  Blutgefäße  zum  FortschatFen  bei  sich 
führen,  in  sich  enthält;  welcher  letztere  aber  alsdann  als  Medizin 
gebraucht  wird,  dessen  kĂĽnstlicher  Gebrauch  eben  darum  eigent- 
lich nicht  zur  Diätetik  gehört.  Der  Anwandelung  des  Appetits 
zum  Wassertrinken  (dem  Durst),  welche  groĂźenteils  nur  An- 
gewohnheit   istj    nicht   sofort    nachzugeben,   und    ein   hierĂĽber  ge- 


Der  Streit  der  philosophischen  FahiltĂĽ  t  mit  der  medizinischen  4 


3 


nommener  fester  Vorsatz  bringt  diesen  Reiz  in  das  MaĂź  des 
natĂĽrlichen  BedĂĽrfnisses  des  den  Festen  Speisen  beizugebenden 
FlĂĽssigen,  dessen  GenuĂź  in  Menge  im  Alter  selbst  durch  den  Natur- 
instinkt geweigert  wird.  Man  schläft  auch  nicht  gut,  wenigstens 
nicht  tief-  bei  dieser  Wasserschwelgerei,  weil  die  Blutwärme  da- 
durch vermindert  wird. 

Es  ist  oft  gefragt  worden:  ob,  gleich  wie  in  24  Stunden 
nur  ein  Schlaf,  so  auch  in  ebenso  viel  Stunden  nur  eine  Mahlzeit 
nach  diätetischer  Regel  verwilligt  werden  könne,  oder  ob  es  nicht 
besser  (gesunder)  sei,  dem  Appetit  am  Mittagstische  etwas  ab- 
zubrechen, um  dafür  auch  zu  Nacht  essen  zu  können.  Zeitkür- 
zender ist  i-reilich  das  letztere.  —  Das  letztere  halte  ich  auch  in 
den  sogenannten  besten  Lebensjahren  (dem  Mittelalter)  tĂĽr  zu- 
träglicher; das  erstere  aber  im  späteren  Alter.  Denn  da  das 
Stadium  für  die  Operation  der  Gedärme  zum  Behuf  der  Verdauung 
im  Alter  ohne  Zweifel  langsamer  abläuh,  als  in  jüngeren  Jahren, 
so  kann  man  glauben,  daĂź  ein  neues  Pensum  (in  einer  Abend- 
mahlzeit) der  Natur  aufzugeben,  indessen  daĂź  das  erstere  Stadium 
der  Verdauung  noch  nicht  abgelaufen  ist,  der  Gesundheit  nach- 
teilig werden  müsse.  —  Auf  solche  Weise  kann  man  den  Anreiz 
zum  Abendessen  nach  einer  hinreichenden  Sättigung  des  Mittags 
fĂĽr  ein  krankhaftes  GefĂĽhl  halten,  dessen  man  durch  einen 
festen  Vorsatz  so  Meister  werden  kann,  daĂź  auch  die  Anwande- 
lung  desselben  nachgerade  nicht  mehr  verspĂĽrt  wird. 


4- 
Von  dem  krankhaften  GefĂĽhl  aus  der  Unzeit  im  Denken. 

Einem  Gelehrten  ist  das  Denken  ein  Nahrungsmittel,  ohne 
welches,  wenn  er  wach  und  allein  ist,  er  nicht  leben  kann; 
jenes  mag  nun  im  Lernen  (BĂĽcherlesen)  oder  im  Ausdenken 
(Nachsinnen  und  Erfinden)  bestehen.  Aber  beim  Essen  ode 
Gehen  sich  zugleich  angestrengt  mit  einem  bestimmten  Gedanken 
beschäftigen,  Kopf  und  Magen  oder  Kopf  und  Füße  mit  zwei 
Arbeiten  zugleich  belästigen,  davon  bringt  das  eine  Hypochondrie, 
das  andere  Schwindel  hervor.  Um  also  dieses  krankhaften  Zu- 
standes  durch  Diätetik  Meister  zu  sein,  wird  nichts  weiter  ertordert, 
als   die   mechanische  Beschäftigung  des  Magens   oder  der  Füße  mit 


424         ^^^  Streit  der  Fakultäten.    Dritter  Abschnitt 

der  geistigen  des  Denkens  wechseln  zu  lassen  und  während  dieser 
(der  Restauration  gewidmeten)  Zeit  das  absichtliche  Denken  zu 
hemmen  und  dem  (dem  mechanischen  ähnlichen)  freien  Spiele  der 
Einbildungskraft  den  Lauf  zu  lassen;  wozu  aber  bei  einem  Stu- 
dierenden ein  allgemein  gefaßter  und  fester  Vorsatz  der  Diät  im 
Denken   erfordert  wird. 

Es  finden  sich  krankhafte  GefĂĽhle  ein,  wenn  man  in  einer 
Mahlzeit  ohne  Gesellschaft  sich  zugleich  mit  BĂĽcherlesen  oder 
Nachdenken  beschäftigt,  weil  die  Lebenskraft  durch  Kopfarbeit 
von  dem  Magen,  den  man  belästigt,  abgeleitet  wird.  Ebenso, 
wenn  dieses  Nachdenken  mit  der  krafterschöpfenden  Arbeit  der 
FĂĽĂźe  (im  Promenieren)^)  verbunden  wird.  (Man  kann  das  Lu- 
kubricren  noch  hinzufügen,  wenn  es  ungewöhnlich  ist.)  In- 
dessen sind  die  krankhaften  GefĂĽhle  aus  diesen  unzeitig  (jnvita 
Minerva)  vorgenommenen  Geistesarbeiten  doch  nicht  von  der  Art, 
daĂź  sie  sich  immittelbar  durch  den  bloĂźen  Vorsatz  augenblicklich, 
sondern  allein  durch  Entwöhnung  vermöge  eines  entgegengesetzten 
Prinzips  nach  und  nach  heben  lassen,  und  von  den  ersteren  soll 
hier  nur  geredet  werden. 

# 

Von  der  Hebung  und  Verhütung  krankhafter  Zufälle  durch 
den  Vorsatz  im  Atemziehen. 

Ich  war  vor  wenigen  Jahren  noch  dann  und  wann  vom 
Schnupfen  und  Husten  heimgesucht,  welche  beide  Zufälle  mir 
desto  ungelegener  waren,  als  sie  sich  bisweilen  beim  Schlafengehen 
zutrugen.    Gleichsam  entrüstet  über  diese  Störung  des  Nachtschlafs 

*)  Studierende  können  es  schwerlich  unterlassen,  in  einsamen  Spazier- 
gängen sich  mit  Nachdenken  selbst  und  allein  zu  unterhalten.  Ich  habe 
es  aber  an  mir  gefunden  und  auch  von  andern,  die  ich  darum  befrug, 
gehört:  daß  das  angestrengte  Denken  im  Gehen  geschwinde  matt 
macht;  dagegen,  wenn  man  sich  dem  freien  Spiel  der  Einbildungskraft 
ĂĽberlaĂźt,  die  Motion  restaurierend  ist.  Noch  mehr  geschieht  dieses, 
wenn  bei  dieser  mit  Nachdenken  verbundenen  Bewegung  zugleich  Unter- 
redung mit  einem  andern  gehalten  wird,  sodaß  man  sich  bald  genötigt 
sieht,  das  Spiel  seiner  Gedanken  sitzend  fortzusetzen.  —  Das  Spazieren 
im  Freien  hat  gerade  die  Absicht,  durch  den  Wechsel  der  Gegenstände 
seine   Aufmerksamkeit  auf  jeden   einzelnen  abzuspannen. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  medizinischen  4  2  5 

entschloĂź  ich  mich,  was  den  ersteren  Zufall  betrifft,  mit  fest  ge- 
schlossenen Lippen  durchaus  die  Luft  durch  die  Nase  zu  ziehen; 
welches  mir  anfangs  nur  mit  einem  schwachen  Pfeifen  und,  da 
ich  nicht  absetzte  oder  nachließ,  immer  mit  stärkeren,  zuletzt  mit 
vollen  und  freien  Luftzuge  gelang,  es  durch  die  Nase  zustande 
zu  bringen,  darüber  ich  dann  sofort  einschhef.  —  Was  dies  gleich- 
sam konvulsivische  und  mit  dazwischen  vorfallenden  Einatmen 
(nicht  wie  beim  Lachen  ein  kontinuiertes  stoĂźweise  erschallendes) 
Ausatmen,  den  Husten,  betrifft,  vornehmlich  den,  welchen  der 
gemeine  Mann  in  England  den  Altmannshusten  (im  Bette  liegend) 
nennt,  so  war  er  mir  um  so  mehr  ungelegen,  da  er  sich  bisweilen 
bald  nach  der  Erwärmung  im  Bette  einstellte  und  das  Einschlafen 
verzögerte.  Dieses  Husten,  welches  durch  den  Reiz  der  mit  offenen 
Munde   eingeatmeten  Luft  auf  den  Luftröhrenkopf  erregt  wird,') 

*)  Sollte  auch  nicht  die  atmosphärische  Luft,  wenn  sie  durch  die 
Eustachische  Röhre  (also  bei  geschlossenen  Lippen)  zirkuliert,  dadurch, 
daĂź  sie  auf  diesem  dem  Gehirn  naheliegenden  Umwege  Sauerstoff  ab- 
setzt, das  erquickende  Gefühl  gestärkter  Lebensorgane  bewirken,  welches 
dem  ähnlich  ist,  als  ob  man  Luft  trinke;  wobei  diese,  ob  sie  zwar 
keinen  Geruch  hat,  doch  die  Geruchsnerven  und  die  denselben  nahe 
liegende  einsaugende  Gefäße  stärkt?  -  Bei  manchem  Wetter  findet  sich 
dieses  Erquickliche  des  Genusses  der  Luft  nicht:  bei  anderem  ist  es 
eine  wahre  Annehmlichkeit,  sie  auf  seiner  Wanderung  mit  langen 
ZĂĽgen  zu  trinken:  welches  das  Einatmen  mit  offenem  Munde  nicht 
gewährt.  —  —  Das  ist  aber  von  der  größten  diätetischen  Wichtigkeit, 
den  Atemzug  durch  die  Nase  bei  geschlossenen  Lippen  sich  so  zur 
Gewohnheit  zu  machen,  daĂź  er  selbst  im  tiefsten  Schlaf  nicht  anders 
verrichtet  wird,  und  man  sogleich  aufwacht,  sobald  er  mit  offenem 
Munde  geschieht,  und  dadurch  gleichsam  aufgeschreckt  wird;  wie  ich 
das  anfänglich,  ehe  es  mir  zur  Gewohnheit  wurde,  auf  solche  Weise 
zu  atmen,  bisweilen  erfuhr.  —  Wenn  man  genötigt  ist,  stark  oder 
bergan  zu  schreiten,  so  gehört  gröliere  Stärke  des  Vorsatzes  dazu,  von 
jener  Regel  nicht  abzuweichen  und  eher  seine  Schritte  zu  mäßigen, 
als  von  ihr  eine  Ausnahme  zu  machen;  ingleichen,  wenn  es  um  starke 
Motion  zu  tun  ist,  die  etwa  ein  Erzieher  seinen  Zöglingen  geben  will, 
daß  dieser  sie  ihre  Bewegung  lieber  stumm,  als  mit  öfterer  Einatmung 
durch  den  Mund  machen  lasse.  Meine  jungen  Freunde  (ehemalige  Zu- 
hörer) haben  diese  diätetische  Maxime  als  probat  und  heilsam  gepriesen 
und  sie  nicht  unter  die  Kleinigkeiten  gezählt,  weil  sie  bloßes  Haus- 
mittel ist,  das  den  Arzt  entbehrlich  macht.  —  Merkwürdig  ist  noch: 
daĂź,    da  es  scheint,    beim  lange  fortgesetzten  Sprechen  geschehe  das 


42<$        Der  Streit  der  Fakultäten.    Dritter  Abschnitt 

nun  zu  hemmen,  bedurfte  es  einer  nicht  mechanischen  (phar-ma- 
zeutischen),  sondern  nur  unmittelbaren  Gemütsoperation:  nämlich  die 
Autmerksamlccit  auf  diesen  Reiz  dadurch  ganz  abzulenken,  daĂź  sie 
mit  Anstrengung  auf  irgend  ein  Objekt  (wie  oben  bei  krampf- 
haften Zufällen)  gerichtet  und  dadurch  das  Ausstoßen  der  Luft 
gehemmet  wurde,  welches  mir,  wie  ich  es  deutlich  tĂĽhlete,  das 
Blut  ins  Gesicht  trieb,  wobei  aber  der  durch  denselben  Reiz 
erregte  tiüssige  Speichel  (sa/iva)  die  Wirkung  dieses  Reizes,  näm- 
lich die  AusstoĂźung  der  Luft,  verhinderte  und  ein  Herunter- 
schlucken dieser  Feuchtigkeit  bewirkte. Eine  GemĂĽtsoperation, 

zu  der  ein  recht  groĂźer  Grad  des  festen  Vorsatzes  erforderlich, 
der  aber  darum  auch  desto   wohltätiger  ist. 


Von  den  Folgen  dieser  Angewohnheit  des  Atemziehens 

mit  geschlossenen  Lippen. 

Die  unmittelbare  Folge   davon  ist,  daĂź  sie   auch  im  Schlafe 
fortwährt,  und  ich  sogleich  aus  dem  Schlafe  aufgeschreckt  werde, 

Einatmen  auch  durch  den  so  oft  geöfFneten  Mund,  mithin  jene  Regel 
werde  da  doch  ohne  Schaden  ĂĽberschritten,  es  sich  wirklich  nicht  so 
verhält.  Denn  es  geschieht  doch  auch  durch  die  Nase.  Denn  wäre 
diese  zu  der  Zeit  verstopft,  so  wĂĽrde  man  von  dem  Redner  sagen,  er 
spreche  durch  die  Nase  (ein  sehr  widriger  Laut),  indem  er  wirklich 
nicht  durch  die  Nase  spräche,  und  umgekehrt,  er  spreche  nicht  durch 
die  Nase,  indem  er  wirklich  durch  die  Nase  spricht:  wie  es  Hr.  Hofir. 
Lichtenberg  launigt  und  richtig  bemerkt.  —  Das  ist  auch  der  Grund, 
warum  der,  welcher  lange  und  laut  spricht  (Vorleser  oder  Prediger), 
es  ohne  Rauhigkeit  der  Kehle  eine  Stunde  lang  wohl  aushalten  kann: 
weil  nämlich  sein  Atemziehen  eigentlich  durch  die  Nase,  nicht  durch 
den  Mund  geschieht,  als  durch  welchen  nur  das  Ausatmen  verrichtet 
wird.  —  Ein  Nebenvorteil  dieser  Angewohnheit  des  Atemzuges  mit  be- 
ständig geschlossenen  Lippen,  wenn  man  für  sich  allein  wenigstens 
nicht  im  Diskurs  begriffen  ist,  ist  der:  daĂź  die  sich  immer  absondernde 
und  den  Schlund  befeuchtende  Saliva  hiebei  zugleich  als  Verdauungs- 
mittel {stomachale),  vielleicht  auch  (verschluckt)  als  AbfĂĽhrungsmittel  wirkt, 
wenn  man  fest  genug  entschlossen  ist,  sie  nicht  durch  ĂĽble  Angewohn- 
heit zu  verschwenden. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  medizinischen 


4^7 


wenn  ich  zufälligerweise  die  Lippen  öffne  und  ein  Atemzug  durch 
den  Mund  geschieht;  woraus  man  sieht,  daĂź  der  Schlaf  und  mit 
ihm  der  Traum  nicht  eine  so  gänzliche  Abwesenheit  von  dem 
Zustande  des  Wachenden  ist,  daĂź  sich  nicht  auch  eine  Aufmerk- 
samkeit auf  seine  Lage  in  jenem  Zustande  mit  einmische:  wie 
man  denn  dieses  auch  daraus  abnehmen  kann,  daĂź  die,  welche  sich 
des  Abends  vorher  vorgenommen. haben,  früher  als  gewöhnlich  (etwa 
zu  einer  Spazierfahrt)  aufzustehen,  auch  frĂĽher  erwachcp;  indem 
sie  vermutlich  durch  die  Stadtuhren  aufgeweckt  worden,  die  sie 
also  auch  mitten  im  Schlaf  haben  hören  und  darauf  Acht  geben 
müssen.  —  Die  mittelbare  Folge  dieser  löblichen  Angewöhnung 
ist:  daß  das  unwillkürliche  abgenötigte  Husten  (nicht  das  Auf- 
husten eines  Schleims  als  beabsichtigter  Auswurf)  in  beiderlei 
Zustande  verhĂĽtet  und  so  durch  die  bloĂźe  Macht  des  Vorsatzes 
eine  Krankheit  verhütet  wird.  —  —  Ich  habe  sogar  gefunden, 
daß,  da  mich  nach  ausgelöschtem  Licht  (und  eben  zu  Bette  ge- 
legt) auf  einmal  ein  starker  Durst  anwandelte,  den  mit  Wasser- 
trinken zu  löschen  ich  im  Finstern  hätte  in  eine  andere  Stube 
gehen  und  durch  Herumtappen  das  Wassergeschirr  suchen  mĂĽssen, 
ich  darauf  fiel,  verschiedene  und  starke  AtemzĂĽge  mit  Erhebung 
der  Brust  zu  tun  und  gleichsam  Luft  durch  die  Nase  zu  trinken; 
wodurch  der  Durst  in  wenig  Sekunden  völlig  gelöscht  war.  Es 
war  ein  krankhafter  Reiz,  der  durch  einen  Gegenreiz  gehoben 
ward. 


BeschluĂź. 

Krankhafte  Zufälle,  in  Ansehung  deren  das  Gemüt  das  Ver- 
mögen besitzt,  des  Gefühls  derselben  durch  den  bloßen  standhaften 
Willen  des  Menschen,  als  einer  Obermacht  des  vernĂĽnftigen  Tieres, 
Meister  werden  zu  können,  sind  alle  von  der  spastischen  (krampf- 
haften) Art:  man  kann  aber  nicht  umgekehrt  sagen,  daĂź  alle  von 
dieser  Art  durch  den  bloĂźen  festen  Vorsatz  gehemmet  oder  gehoben 
werden  können.  —  Denn  einige  derselben  sind  von  der  Be- 
schaffenheit, daĂź  die  Versuche,  sie  der  Kraft  des  Vorsatzes  zu 
unterwerfen,  das  krampfhafte  Leiden  vielmehr  noch  verstärken; 
wie  es  der  Fall  mit  mir  selber  ist,  da  diejenige  Krankheit,  welche 
vor  etwa  einem  Jahr  in  der  Kopenhagener  Zeitung  als  „epidemi- 
scher,   mit  KopfbedrĂĽckung   verbundener   Katarrh"   beschrieben 


428         Der  Streit  der  Fakultäten.    Dritter  Abschnitt 

wurde,')  (bei  mir  aber  wohl  ein  Jahr  älter,  aber  doch  von  ähn- 
licher Empfindung  ist)  mich  fĂĽr  eigene  Kopfarbeiten  gleichsam 
desorganisiert,  wenigstens  geschwächt  und  stumpf  gemacht  hat 
und,  da  sich  diese  Bedrückung  auf  die  natürliche  Schwäche  des 
Alters  geworfen  hat,  wohl  nicht  anders  als  mit  dem  Leben  zu- 
gleich  auf  hören   wird. 

Die  krankhafte  Beschaffenheit  des  Patienten,  die  das  Denken, 
insofern  es  ein  Festhalten  eines  Begriffs  (der  Einheit  des  BewuĂźt- 
seins verbundener  Vorstellungen)  ist,  begleitet  und  erschwert, 
bringt  das  GefĂĽhl  eines  spastischen  Zustandes  des  Organs  des 
Denkens  (des  Gehirns)  als  eines  Drucks  hervor,  der  zwar  das 
Denken  und  Nachdenken  selbst,  ingleichen  das  Gedächtnis  in  An- 
sehung des  ehedem  Gedachten  eigentlich  nicht  schwächt,  aber  im 
Vortrage  (dem  mĂĽndlichen  oder  schriftlichen)  das  feste  Zusammen- 
halten der  Vorstellungen  in  ihrer  Zeitfolge  wider  Zerstreuung 
sicheren  soll,  bewirkt  selbst  einen  unwillkĂĽrlichen  spastischen  Zu- 
stand des  Gehirns,  als  ein  Unvermögen,  bei  dem  Wechsel  der 
aufeinander  folgenden  Vorstellungen  die  Einheit  des  BewuĂźtseins 
derselben  zu  erhalten.  Daher  begegnet  es  mir:  daĂź,  wenn  ich, 
wie  es  in  jeder  Rede  jederzeit  geschieht,  zuerst  zu  dem,  was  ich 
sagen  will,  (den  Hörer  oder  Leser)  vorbereite,  ihm  den  Gegen- 
stand, wohin  ich  gehen  will,  in  der  Aussicht,  dann  ihn  auch  auf  das, 
wovon  ich  ausgegangen  bin,  zurĂĽckgewiesen  habe  (ohne  welche 
zwei  Hinweisungen  kein  Zusammenhang  der  Rede  stattfindet)  und 
ich  nun  das  letztere  mit  dem  ersteren  verknĂĽpfen  soll,  ich  auf 
einmal  meinen  Zuhörer  (oder  stillschweigend  mich  selbst)  fragen 
muĂź:  Wo  war  ich  doch?  Wovon  ging  ich  aus?  welcher  Fehler 
nicht  sowohl  ein  Fehler  des  Geistes,  auch  nicht  des  Gedächtnisses 
allein,  sondern  der  Geistesgegenwart  (im  VerknĂĽpfen),  d.  i. 
unwillkĂĽrliche  Zerstreuung  und  ein  sehr  peinigender  Fehler  ist, 
dem  man  zwar  in  Schriften  (zumal  den  philosophischen:  weil 
man  da  nicht  immer  so  leicht  zurĂĽcksehen  kann,  von  wo  man 
ausging)  mühsam  vorbeugen,  obzwar  mit  aller  Mühe  nie  völlig 
verhĂĽten   kann. 

Mit  dem  Mathematiker,  der  seine  Begriffe  oder  die  Stellver- 
treter derselben  (Größen-  und  Zahlenzeichen)  in  der  Anschauung 
vor  sich  hinstellen,  und  daĂź,  so  weit  er  gegangen  ist,  alles  richtig 


')  Ich  hake  sie  fĂĽr  eine  Gichr,  die  sich  zum  Teil  aufs  Gehirn  ge- 
worfen hat. 


Der  Streit  der  philosophischen  Fakultät  mit  der  medizinischen  4  2  9 

sei,  versichert  sein  kann,  ist  es  anders  bewandt,  als  mit  dem  Ar- 
beiter im  Fache  der  vornehmlich  reinen  Philosophie  (Logik  und 
Metaphysik),  der  seinen  Gegenstand  in  der  Luft  vor  sich  schwebend 
erhalten  muĂź  und  ihn  nicht  bloĂź  teilweise,  sondern  jederzeit  zu- 
gleich in  einem  Ganzen  des  Systems  (d.  r.  V.)  sich  darstellen  und 
prĂĽfen  muĂź.  Daher  es  eben  nicht  zu  verwundern  ist,  wenn  ein 
Metaphysiker  eher  invalid  wird,  als  der  Studierende  in  einem 
anderen  Fache,  ingleichen  als  Geschäftsphilosophen;  indessen  daß 
es  doch  einige  derer  geben  muĂź,  die  sich  jenem  ganz  widmen, 
weil  ohne  Metaphysik  ĂĽberhaupt  es  gar  keine  Philosophie  geben 
könnte. 

Hieraus  ist  auch  zu  erklären,  wie  jemand  für  sein  Alter 
gesund  zu  sein  sich  rĂĽhmen  kann,  ob  er  zwar  in  Ansehung  gewisser 
ihm  obliegenden  Geschäfte  sich  in  die  Krankenliste  mußte  ein- 
schreiben lassen.  Denn  weil  das  Unvermögen  zugleich  den 
Gebrauch  und  mit  diesem  auch  den  Verbrauch  und  die  Erschöpfung 
der  Lebenskraft  abhält,  und  er  gleichsam  nur  in  einer  niedrigeren 
Stufe  (als  vegetierendes  Wesen)  zu  leben  gesteht,  nämlich  essen, 
gehen  und  schlafen  zu  können,  was  für  eine  animalische  Existenz 
gesund,  für  die  bürgerliche  (zu  öffentlichen  Geschäften  verpflichtete) 
Existenz  aber  krank,  d.  i.  invalid,  heiĂźt:  so  widerspricht  sich  dieser 
Kandidat  des  Todes  hiemit  gar  nicht. 

Dahin  führt  die  Kunst  das  menschliche  Leben  zu  verlängern: 
daĂź  man  endhch  unter  den  Lebenden  nur  so  geduldet  wird, 
welches  eben  nicht  die  ergötzlichste  Lage  ist. 

Hieran  aber  habe  ich  selber  Schuld,  Denn  warum  will  ich 
auch  der  hinanstrebenden  jĂĽngeren  Welt  nicht  Platz  machen  und 
um  zu  leben,  mir  den  gewöhnten  Genuß  des  Lebens  schmälern: 
warum  ein  schwächliches  Leben  durch  Entsagungen  in  ungewöhn- 
liche Länge  ziehen,  die  Sterbelisten,  in  denen  doch  auf  den  Zu- 
schnitt der  von  Natur  Schwächeren  und  ihre  mutmaßliche  Lebens- 
dauer mit  gerechnet  ist,  durch  mein  Beispiel  in  Verwirrung  bringen 
und  das  alles,  was  man  sonst  Schicksal  nannte  (dem  man  sich 
demütig  und  andächtig  unterwarf),  dem  eigenen  festen  Vorsatze 
unterwerfen;  welcher  doch  schwerlich  zur  allgemeinen  diätetischen 
Regel,  nach  welcher  die  Vernunft  unmittelbar  Heilkraft  ausĂĽbt, 
aufgenommen  werden  und  die  therapeutische  Formeln  der  Offizin 
jemals  verdrängen  wird? 


430         Der  Streit  der  Fakultäten.     Dritter  Abschnitt 

Nachschrift. 

Den  Verfasser  der  Kunst  das  menschliche  (auch  besonders  das 
literarische)  Leben  zu  verlängern  darf  ich  also  dazu  wohl  auf- 
fordern, daĂź  er  wohlwollend  auch  darauf  bedacht  sei,  die  Augen 
der  Leser  (vornehmlich  der  jetzt  groĂźen  Zahl  der  Leserinnen,  die 
den  Ü beistand  der  Brille  noch  härter  fühlen  dürften)  in  Schutz 
zu  nehmen,  auf  welche  jetzt  aus  elender  Ziererei  der  Buchdrucker 
(denn  Buchstaben  haben  doch  als  Malerei  schlechterdings  nichts 
Schönes  an  sich)  von  allen  Seiten  Jagd  gemacht  wird;  damit  nicht, 
so  wie  in  Marokko  durch  weiße  Übertünchung  aller  Häuser  ein 
groĂźer  Teil  der  Einwohner  der  Stadt  blind  ist,  dieses  Ăśbel  aus 
ähnlicher  Ursache  auch  bei  uns  einreiße,  vielmehr  die  Buchdrucker 
desfalls  unter  Polizeigesetze  gebracht  werden.  —  Die  jetzige  Mode 
will   es  dagegen  anders;  nämlich: 

i)  Nicht  mit  schwarzer,  sondern  grauer  Tinte  (weil  es  sanfter 
und  lieblicher  auf  schönem  weißen  Papier  absteche)   zu   drucken. 

2)  Mit  DIDOTSCHEN  Lettern  von  schmalen  FĂĽĂźen,  nicht 
mit  BREITKOPFSCHEN,  die  ihrem  Namen  Buchstaben  (gleich- 
sam büeherner  Stäbe  zum  Feststehen)    besser    entsprechen  würden. 

3)  Mit  lateinischer  (wohl  gar  Kursiv^)Schrift  ein  Werk 
deutschen  Inhalts,  von  welcher  BREITKOPF  mit  Grunde  sagt; 
daĂź  niemand  das  Lesen  derselben  fĂĽr  seine  Augen  so  lange  aus- 
halte, als  mit  der  deutschen. 

4)  Mit  so  kleiner  Schrift,  als  nur  möglich,  damit  für  die 
unten  etwa  beizufĂĽgende  Noten  noch  kleinere  (dem  Auge  noch 
knapper  angemessene)  leserlich   bleibe. 

Diesem  Unwesen  zu  steuren,  schlage  ich  vor:  den  Druck  der 
Berliner  Monatsschrift  (nach  Text  und  Noten)  zum  Muster  zu 
nehmen;  denn  man  mag,  welches  StĂĽck  man  will,  in  die  Hand 
nehmen,  so  wird  man  die  durch  obige  Leserei  angegriffene  Augen 
durch  Ansicht  des  letzteren  merklich  gestärkt  fühlen.'). 


')  Unter  den  krankhaften  Zufallen  der  Augen  (nicht  eigent- 
lichen Augenkrankheiten)  habe  ich  die  Erfahrung  von  einem,  der  mir 
zuerst  in  meinen  Vierzigerjahren  einmal,  späterhin  mit  Zwischenräumen 
von  einigen  Jahren  dann  und  wann,  jetzt  aber  in  einem  Jahre  etliche- 
mal begegnet  ist,  gemacht;  wo  das  Phänomen  darin  besteht:  daß  auf 
dem  Blatt,  welches  ich  lese,  uuf  einmal  alle  Buchstaben  verwirrt  und 
durch    eine  gewisse  ĂĽber  dasselbe  verbreitete  Helligkeit  vermischt  und 


Der  Streit  derphilosopkischen  Fakultät  mit  der  ?/iedizinischen  4  5 1 

ganz  unleserlich  werden:  ein  Zustand,  der  nicht  ĂĽber  6  Minuten  dauert, 
der  einem  Prediger,  welcher  seine  Predigt  vom  Blatte  zu  lesen  gewohnt 
ist,  sehr  gefährlich  sein  dürfte,  von  mir  aber  in  meinem  Auditorium 
der  Logik  oder  Metaphysik,  wo  nach  gehöriger  Vorbereitung  im  freien 
Vortrage  (aus  dem  Kopfe)  geredet  werden  kann,  nichts  als  die  Besorgnis 
entsprang,  es  möchte  dieser  Zufall  der  Vorbote  vom  Erblinden  sein; 
worĂĽber  ich  gleichwohl  jetzt  beruhigt  bin:  da  ich  bei  diesem  jetzt 
öfterer  als  sonst  sich  ereignenden  Zufalle  an  meinem  einen  gesunden 
Auge  (denn  das  linke  hat  das  Sehen  seit  etwa  $  Jahren  verloren)  nicht 
den  mindesten  Abgang  an  Klarheit  verspüre.  —  Zufälligerweise  kam 
ich  darauf,  wenn  sich  jenes  Phänomen  ereignete,  meine  Augen  zu 
schließen,  ja  um  noch  besser  das  äußere  Licht  abzuhalten,  meine  Hand 
darüber  zu  legen,  und  dann  sähe  ich  eine  hellweiße,  wie  mit  Phosphor 
im  Finstern  auf  einem  Elatt  verzeichnete  Figur,  ähnlich  der,  wie  das 
letzte  Viertel  im  Kalender  vorgestellt  wird,  doch  mit  einem  auf  der 
konvexen  Seite  ausgezackten  Rande,  welche  allmählich  an  Helligkeit 
verlor  und  in  obbenannter  Zeit  verschwand.  —  Ich  möchte  wohl  wissen: 
ob  diese  Beobachtung  auch  von  andern  gemacht,  und  wie  diese  Er- 
scheinung, die  wohl  eigentlich  nicht  in  den  Augen  —  als  bei  deren 
Bewegung  dies  Bild  nicht  zugleich  mit  bewegt,  sondern  immer  an  der- 
selben Stelle  gesehen  wird  — ,  sondern  im  Sensorium  commune  ihren  Sitz 
haben  dürfte,  zu  erklären  sei.  Zugleich  ist  es  seltsam,  daß  man  ein 
Auge  (innerhalb  einer  Zeit,  die  ich  etwa  auf  3  Jahre  schätze)  einbüßen 
kann,  ohne  es  zu   vermissen. 

L  KANT. 


Lesarten. 

I.  Die  Metaphysik  der  Sitten. 

a)  Handschriften. 

Dem  Bande  ist  ein  Faksimile  mit  Ăśbertragung  der  in  Band  V,  S.  587  ff. 
erwähnten  Handschrift  (RH)  beigegeben,  die  Randbemerkungen  Kanrs 
zu  der  Abschrift  einer  Rezension  der  Metaphysischen  Anfangs- 
gründe der  Rechtslehre  aus  den  Göttingischen  Anzeigen  enthält. 
Buek  gibt  a.  a.  O.  der  Vermutung  Raum,  daĂź  sie  vielleicht  den  ur- 
sprünglichen „Entwurf  des  Anhangs  erläuternder  Bemerkungen  zu  den 
metaphysischen  AnfangsgrĂĽnden  der  Rechtslehre  (vgl.  Akademieausgabe 
VI,  S.  3j6fF.)"  darstellt. 

Eine  genaue  Prüfung  der  Handschrift  läßt  dies  jedoch  als  zweifel- 
haft erscheinen,  da  die  ĂźerĂĽhrungsstellen  mit  dem  in  der  zweiten  Auflage 
abgedruckten  Anhange  erläuternder  Bemerkungen  etc."  (oben  S.  163  ff.) 
ziemlich  spärlich  sind.  Jedenfalls  könnte  die  Handschrift  nur  als  Vor- 
lage für  die  Seiten  163  —  168  in  Frage  kommen.  Aber  für  diese  Stellen 
ist  die  Handschrift  auch  viel  ausfĂĽhrlicher  und  instruktiver  als  der 
gedruckte  Anhang.  Ăśbrigens  wurde  in  der  Ăśljertragung  des  Faksimiles 
am  Rande  auf  die  Seiten  des  Anhangs  hingewiesen,  denen  die  Hand- 
schrift als  Vorlage  gedient  haben  mag. 

Was  die  Herkunft  der  Handschrift  anbelangt,  so  ist  das  Nähere 
bereits  im  V.  Bande  a.  a.  O.  gesagt.  Sie  befindet  sich  gleich  der 
Ersten  Einleitung  in  die  Kritik  der  Urteilskraft  in  Rostock. 

Schon  ein  oberflächlicher  Blick  wird  bestätigen,  daß  ihr  Inhalt 
interessant  genug  ist,  eine  Veröffentlichung  zu  rechtfertigen. 

Als  Verfasser  der  Rezension  wird  in  einem  Briefe  Fichte s  an 
Kant  vom  i. Januar  1798  (vgl.  Fichtes  Leben  ^nd  literarischer  Brief- 
wechsel, herausgegeben  von  J.  H.  Fichte,  Bd.  II,  S.  i?9ff)  Bouter- 
wek  bezeichnet.  Natorp  weist  in  der  Akademieausgabe  Bd.  6,8.524 
daraufhin,  daß  diese  Behauptung  durch  Bouterweks„Abriß  seiner 
akademischen  Vorlesungen  zum  Gebrauche  seiner  Zuhörer" 
(1799)  bestätigt  wird. 

Kants  Schriften.    Bd.  VII  *8 


^34  Lesarten 

b)  Drucke. 

1.  Die  Meraphysik  der  Sitten  in  zwei  Theilen.  AbgefaĂźt  von 
Immanuel  Kant.      Koenigsberg,  bei  Friedrich  Nicolovius.      1797-      (Ai) 

2.  Dasselbe.  Zweite  mit  einem  Anhang  erläuternder  Bemerkungen 
und  Zusätze  vermehrte   Auflage.      179^-      (^z)- 

3.  Dasselbe.  In  der  Gesamtausgäbe  von  Hartenstein.  Leipzig 
1838.     Bd.  V,  S.  1-335-     (Hx). 

4.  Dasselbe.  In  der  Gesamtausgabe  von  Hartenstein.  Leipzig 
1868.     Bd.  7,  S.  1  —  305.     (H2).    Beide  Ausgaben  (H). 

5.  Dasselbe.  In  „Kants  sämmtliche  Werke".  Herausgegeben  von 
Karl  Rosenkranz  und  Friedr.  Wilh.  Schubert.  Leipzig  1838.  Bd.  9, 
S.  5  ff-     (Seh) 

6.  Dasselbe.  In  der  Akademie-Ausgabe.  Herausgeber  Paul  Natorp. 
Bd.  VI,  S.  205-493-     (Ak) 

7.  Erläuternde  Anmerkungen  zu  den  metaphys.  Anfangsgründen 
der  Rechtslehre  von  I.  Kant.  Königsberg,  bey  Friedrich  Nicolovius. 
1798-      31    S.      (B)  

Im  Text  der  Lesarten  sind  ferner  berĂĽcksichtigt: 

1.  Mellin,  Marginalien  und  Register  zu  Kants  Metaphysischen 
AnfangsgrĂĽnden  der  Rechtslehre.  Jena  und  Leipzig  1800.  (Druck- 
fehlerverzeichnis.) 

2.  Göttingische  Anzeigen,  1797,  i>  -8-  Stück,  18.  Febr.  (Re- 
zension). 

3.  Achenwall,    ius    naturae    in  usum  auditorum.     Göttingen   1767- 

4.  Tieftrunk,  Philos.  Untersuchungen  über  das  Privat-  und  öffent- 
liche Recht.     I.  Teil.     Göttingen   1797—98- 

5.  V.  Kirchmann,  Erläuterungen  zu  Kants  Metaphysik  der  Sitten  (Ki). 

c)  Literargeschichtliche  Bemerkungen. 

Das  Autorverhältnis  Kants  zur  II.  Auflage  war  bisher  noch  un- 
entschieden. Während  Hartenstein  und  Schubert  fast  durchweg  die 
II.  Auflage  ihren  Ausgaben  zugrunde  legen,  da  Kant  als  Urheber  dieser 
Auflage  angesehen  werden  mĂĽsse,  bestreitet  Natorp  jede  Mitwirkung  Kants 
an  dieser  Auflage,  nur  die  Erklärung  zum  Worte  „Läsion"  (IL  Aufl., 
>^'  5,  S.  61,  in  uns.  Ausg.  S.  5  i ,  9  ff.)  stamme  von  ihm  (Ak.,  S.  5  1 8  ff., 
vgl.  Hartenstein,  Einleitung).  Indessen  gewinnt  durch  die  BerĂĽcksich- 
tigung der  oben  erwähnten  Handschrift  die  Vermutung  einer  weiter- 
gehenden Mitarbeit  Kants  an  der  IL  Auflage  eine  neue  StĂĽtze.  Der 
Text  des  Titelblattes  nämlich,  das  der  Hdschr.  vorgesetzt  ist,  hat  in 
seiner  SchluĂĽfassung  folgenden  Wortlaut: 


Lesarten 


435 


Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Rechtslehre 

von 

Immanuel  Kant 

Zweyte 

mit  einem  Anhange  erläuternder  Bemerkungen  und  Zusätze  vermehrte 

Auflage. 

Da  der  Text  von  Kant  selbst  geschrieben  ist  (vgl.  Buek  a.  a.  O.), 
so  scheint  auch  Kant  als  Redaktor  der  II.  Auflage  in  Frage  zu  kommen. 
Schwierig  bleibt  aber  dann  das  auch  von  Natorp  u.  A.  als  störend  emp- 
fundene Wort  „Zusätze",  da,  von  einigen  Änderungen  abgesehen,  sich 
nirgends  ,, Zusätze"  erkennen  lassen.  Außerdem  bedeutet  eine  ganze 
Reihe  von  Lesarten  der  II.  Auflage  eine  Verschlechterung  gegenĂĽber 
denen  der  I.  (vgl.  Hartenstein  und  Schubert,  Einleitung),  weshalb  auch 
in  unserer  Ausgabe  wiederholt  auf  die  Lesarten  der  I.  Auflage  zurĂĽck- 
gegriffen werden  muĂźte. 

Auch  fĂĽr  die  Stellung  des  ,, Anhangs"  gibt  das  Titelblatt  neue 
Orientierung  (vgl.  Buek  a.  a.  O).  Es  enthält  nämlich  folgende  An- 
weisung : 

An  den  Setzer.  Der  Anhang  erläuternder  Bemerkungen  wird  S.  159 
als  noch  zum  ersten  Theil  der  R.  L.  gehörend  eingerückt,  wo  dann 
ĂĽber  die  Seiten  laufenden  Ăśberschriften  lauten  werden,  Rechtslehre 
I  Th.  Anhang,  die  Paginas  aber  bis  zu  Ende  Werks  in  einem  fort- 
gehen. 

Danach  kann  trotz  biographischer  und  sachlicher  Bedenken  nicht 
mehr  bezweifelt  werden,  daß  Kant  selbst  —  entgegen  Natorps  Annahme  — 
die  Stellung  des  Anhangs  bestimmt  hat.  Gleichwohl  hielten  wir  es  fĂĽr 
richtig,  den  Anhang  an  das  Ende  des  IL  Teiles  zu  setzen,  da  uns  ebenso 
wie  bei  der  Würdigung  der  Lesarten  das  sachliche  Interesse  höher 
steht  als  das  der  Authentizität.  Der  Anhang  nimmt  nämlich  nicht  nur  auf 
den  I.  Teil,  das  Privatrecht,  Bezug,  sondern  auch  auf  den  IL  Teil,  das 
öffentliche  Recht.  Deshalb  muß  aber  auch  der  Anhang  da  stehen, 
wohin  er  als  Anhang  für  beide  Teile  gehört.  Übrigens  scheint 
dies  Kant  selbst  ursprĂĽnglich  beabsichtigt  zu  haben;  wenigstens  deutet 
der  Wortlaut  seines  Schreibens  an  Nicolovius  vom  9.  Mai  1798  darauf 
hin.  Wenn  er  jedoch  diese  Absicht  nicht  ausfĂĽhrte,  so  hatte  er  wahr- 
scheinlich ĂĽbersehen,  daĂź  die  letzten  Seiten  des  Anhangs  (S.  178  ff-) 
dem  öffentlichen  Rechte  gelten  (vgl.  auch  seine  Bezugnahme  auf  §  49 
—  nicht,  wie  bei  (A,;  B)  ^  44  —  des  öffentlichen  Rechts,  vgl.  179, 
17  V.  u.).  —  Für  die  Ausgestaltung  des  Textes  ist  es  freilich  einerlei, 
ob   der  Anhang  am  Ende  des  I.  oder  des  IL  Teiles  steht. 

In  Bezug  auf  den  literargeschichtlichen  Werdegang  der  Tugend- 
lehre gilt  für  uns  das  in  Ak.  Gesagte,  während  freilich  IL  u.  Seh. 
auch    hier    den  tätigen  Anteil  Kants  behaupten.     Wo  Natorp  die  Mit- 

28* 


4^0  Lesarten 

arbeit  seiner  Freunde  verzeichnet  (Görland,  Nolte,  Stammler,  Vor- 
lander), haben  wir,  soweit  uns  deren  Ă„uĂźerungen  als  einleuchtend  oder 
doch  als   diskutabel  erschienen,  die  Mitarbeiter  namentlich  angefĂĽhrt. 


5,  12  als  (A)]  nach  unserem  Sprachgebrauch  wäre  „als"  mit  Rück- 
sicht auf  5,  13  zu  streichen;  vgl.  auch  Natorp.  Da  aber  Vorländer 
Parallelkonstruktionen  bei  Kant  nachgewiesen  hat,  so  scheint  es  sich  hier 
um  einen  Kantischen  Sprachgebrauch  zu  handeln;  vgl.  die  von  Vorländer 
zitierten  Stellen  55,5  V.  u.;  133,  16;  177,  i.  6,  5  gar  (Aj)]  fehlt  bei 
(Aj;  H).  6,20  dieser  ihre  Bestimmung  (A)]  Kantischer  Sprachgebrauch. 
Vgl.  auch  7,  20  —  21.  7,7—8  gegenwärtige  (A)]  sc.  Philosophie,  mit 

RĂĽcksicht  auf  ,, viele  Philosophien".  7,8  sein  (A,)]  ein  (Aj).  7,25 
sagte  (A,)]  sage  (A^,).  7, 14 v.u.  dieselbe  (Aj)]  dieselben  (A^).  8,13 
ihn  (A,)]  ihm  (AJ.  8,21  es  (A,)]  fehlt  bei  (A,  u.  H).  8,  8  v.  u. 
läßt  sich  (Ai)]  läßt  es  sich  (A^).  9,8  papierne  (Ai)]   papiernen  (A,). 

9,  13  mit  den  (AJ]  mit  dem  (Aj);  „mit  den"  mit  Rücksicht  auf 
„diesen"    9,  15;     auch    in     der    zweiten    Auflage.  9,  20—21    Die  — 

können    (A,)]    fehlt  (Aj).  lo,  20    vor  einer  Gerichtsbarkeit    (Ak)] 

vor  einer  Gerichtbarkeit  (Ai);  dagegen  Ai  S.  I02,  13  —  14  wie  zweite  Auf- 
lage: durch  den  Ausspruch  einer  öffentlichen  Gerichtsbarkeit  (A^). 
Natorp  macht  jedoch  darauf  aufmerksam,  daß  man  aus  der  späteren 
Stelle  keine  Schlüsse  ziehen  könne,  da  auch  die  Überschrift  des  Episodi- 
schen Abschnitts  Z.  18  nicht  mit  96,  19—20  übereinstimme;  ebenso  seien 
die  Zusätze  in  Klammern  Z.  4  u.  5,  22  u.  23  nur  dieser  Tafel  eigentüm- 
lich. 10,  20  Die  II.  Aufi.  hat  zwischen  dem  III.  HauptstĂĽck  und 
dem  II.  Teil  noch  die  Fassung:  Anhang  erläuternder  Bemerkungen  zu 
den  Metaphysischen  AnfangsgrĂĽnden  der  Rechrslehre.  12,  10  Ge- 
brauch (A,)]  Gebrauche  (A^).  12,  8—7  v.  u.  Sinn.  Oder  (Meilin)] 
der  Sinn:  aber  (A);  Sinn.  Oder  aber  (Nolte).  Natorp  zu  Nolte: 
vielleicht  richtig.  13,25  Aktus  desselben  (Ak)]  derselben  (A) ;  des- 
selben sc.  des  Vermögens  zur  Handlung.  ,,Zur  Handlung"  bildet  also 
eine  attributive  Bestimmung  zu  Vermögen;  es  ist  aber  sehr  häufig 
Kantischer  Sprachgebrauch,  das  Beziehungswort  auf  die  attributive  Be- 
stimmung und  nicht  auf  das  Subjekt  dieser  Bestimmung  zu  beziehen, 
dann  könnte  man  das  ,, derselben"  der  Auflagen  rechtfertigen.  Vielleicht 
bezieht  es  sich  aber  direkt  auf  „Handlung".  13,9  v.u.  sie  (A)]  sie  sc. 
Vernunft  wie  Ak,  vgl.  auch  Z.  6v.u.  14,4  ihrer  (A)]  von  ihrer  (Vorl.); 
vgl.  Natorp.  14,  12  v.  u.  letztere  (A,)]  letzteren  (A,).  14,6 v.u. 
Ebenso,  mag  (Ak)]  Ebenso  mag  (A).  15,8—9  vor  —  voranzuschicken 
(A)]  ,, vor"  wohl  Kantischer  Sprachgebrauch.  15,18  allgemeinste  (Aj)] 
allgemeinsten  (Aj).  15,4V.  u.  immer  auch  (A,)]  auch  immer  (Aj).  16,7 
zu  setzen,  ebendieselbe  (A,)  zu  setzen;  ebendieselbe  (A^)].  Das  Semikolon 
ist  richtiger,   weil  dadurch  der  Satz  dem  vorausgegangenen  Satz:    „nur 


Lesarten  ^57 

die  Erfahrung  kann  lehren"  16,  2  koordiniert  wird,  wodurch  es  selbstver- 
ständlich ist,  daß  „ebendieselbe"  nur  auf  „Erfahrung"  be2ogcn  werden 
kann.     Vgl.  Natorp  zur  Stelle.  17,  15  v.  u.   Erziehung  der  (A)]   Er- 

ziehung, der  (Seh,  Ak).         19,  i  welches  (A,,  H,  Seh,  Ak)]  welche  (A,). 

19,  17  V.  u.  müsse]  müssen  (A).  Kant  hat  vielleicht  „müssen"  ge- 
schrieben, weil  die  auf  pathologische  BestimmungsgrĂĽnde  zurĂĽckgehende 
Triebfeder  eo  ipso  eine  Pluralität  darstellt,  dann  wäre  es  wiederum  eine 
constr.  xaTct  juveaiv;  andrerseits  konnte  er  vorher  noch  nicht  den  Plural 
„Triebfedern"  setzen,  weil  dann  der  Unterschied  zwischen  der  mora- 
lischen und  pathologischen  Triebfeder  bereits  gegeben  wäre  und  jede  Be- 
grĂĽndung ĂĽberflĂĽssig  machte.  20, 15 v.u.  den  (Seh,  Ak)]  denen  (A,  H). 

20,  7—6  V.  u.  Verschiedenheit  —  Triebfeder  (A)]  Verschiedenheit  der 
Triebfeder,  welche  die  eine  oder  die  andere  Gesetzgebung  (Mellin). 
20,  3  V.  u.  ist,  welche  (A)]  ist  =  (sc.  diejenige)  welche  .  .  .  nach 
Natorp  Kantischer  Sprachgebrauch.  21,  10  doch  (Druckfehlerverz. 
in  Ai  ;  Aj)]  fehlt  bei  Aj  im  Text.  21,  15  —  16  ausüben  —  zu  machen 
(A)]  nach  Natorp  will  Görland  „ausüben"  mit  ,, machen"  verbinden, 
offenbar  um  die  Setzung  des  „zu"  bei  „machen"  zu  erklaren;  die 
BegrĂĽndung  scheint  nicht  ausreichend ;  denn  auch  bei  einer  Ab- 
hängigkeit von  „ausüben"  ist  das  „zu"  entbehrlich.  21,  3  v.  u. 
bestimmen  und  (A)]  zu  bestimmen,  und  (H,  Ak).  Wir  halten  die 
Setzung  von  „zu"  für  überflüssig,  da  der  Satz:  „eine  Kausalität  der 
reinen  Vernunft  .  .  .  die  WillkĂĽr  bestimmen"  einen  guten  Sinn  gibt. 
Vgl.  22,  3,  23,  9.  22,  17  betreffen  (A)]  die  Lesart  ist  richtig  mit 
RĂĽcksicht  auf  ,,kann"  Z.  20.  22,  14  v.  u.  gemacht  (nicht  gesperrt 
gedruckt  Seh)]  Sperrdruck:  (A).  Der  Sperrdruck  ist  auffällig,  da  es  sich 
hier  doch  um  den  Gegensatz  zwischen  ,, zufällig"  und  ,, notwendig" 
handelt;  es  müßte  also  weit  eher  „notwendig"  gesperrt  werden, 
wenn  auch  „zufällig"  gesperrt  wäre;  infolgedessen  kann  weder  „not- 
wendig" noch  „gemacht"  gesperrt  werden.  Der  Gegensatz  zwischen 
„notwendig  denken  und  machen"  23,  3  kommt  noch  nicht  in  Betracht. 
23,  2  (ihrer  Form)  (A)]  Natorp  hält  „ihrer  Form  nach"  für  richtiger; 
dem  können  wir  nicht  beistimmen;  „ihrer  Form"  ist  einfach  Apposition 
zu  „bloße  V^orstellung  einer  Handlung",  wobei,  wie  dies  bei  Kant  ge- 
wöhnlich geschieht,  der  Kasus  der  Apposition  nicht  dem  regierenden, 
sondern  dem  regierten  Beziehungswort  angeglichen  wird.  24, 14—15  sich 
seiner  selbst  in  den  verschiedenen  Zuständen  der  Identität  seines  Daseins 
bewußt  zu  werden  (A^)]  Zuständen,  der  Identität  (Druckfehlerverz.  A,); 
„der  Identität"  fehlt  im  Text  (AJ ;  sich  der  Identität  seiner  selbst  . . .  (Ak). 
Die  Schwierigkeit  der  Wortstellung  ist  sofort  beseitigt,  wenn  wir  sagen : 
„sich  seiner  selbst  in  den  verschiedenen  Zuständen  seines  identischen 
Daseins".  Natorp  schreibt:  „Es  darf  wohl  als  sicher  angenommen  wer- 
den, daß  das  versehentlich  ausgefallene  „der  Identität"  in  der  Druck- 
fehlerverbesserung nur  irrtĂĽmlich  an  die  unrichtige  Stelle  geraten  ist."  â–  


4? 


8  Lesarten 


Diese  Konjektur  hat  manches  fĂĽr  sich,  doch  halten  wir  sie  nicht  fĂĽr 
unbedingt  notwendig.  24,  22  unrecht  (Ak)]    Unrecht  (A).     Wären 

„recht  und  unrecht"  Substantive,  so  wäre  ein  logischer  Sinn  ausge- 
schlossen; denn  weder  ist  das  Recht  eine  Tat  noch  ist  die  Tat  ein 
Recht;  wir  schlielJ)cn  uns  deshalb  Natorp  an,  der  die  lateinische  Wieder- 
gabe als  Beweis  fĂĽr  die  adjektivische  Auffassung  anspricht.  Siehe  auch 
32,  13  V.  u.  24,13-12   v.u.    vorsätzliche    (Ak)]     vorsätzliche   (A). 

24,9  V.  u.  ungerecht  (A^ ,  H)]  ungerecht  (A,).  25,  20  v.  u.  positive 
(Kirchmann,  Erl.6>-,  AJi)]  natĂĽrliche  (A),  Tieftrunk  (S.72).  Wir  schlieĂźen 
uns  Natorp  an,  weil  sonst  das  folgende:  „alsdann  müßte  doch  .  .  ." 
sinnlos  wäre.  Anderenfalls  müßte  ja  für  ein  vorausgehendes  natürliches 
Gesetz  ein  weiteres  natĂĽrliches  Gesetz  zu  fordern  sein,  und  so  ad  inf. 
25,  6  v.  u.  weil  (A)].  Natorp:  wohl  in  der  alten  temporalen  Bedeu- 
tung (während,  indem).  25,  i  v.  u.  Folgerungen  (AJ]  Forde- 
rungen (Aj,  H,  Seh).  26,  10  hätte  (A)]  Vorländer  und  Görland  nach 
Natorp:  geraten  wäre.  26,8— 7  v.u.  auf  Gesetz  (A)]  Vgl.  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  „auf  Gefühl"  83,  16.  26,  5  v.  u.  also  (Druck- 
fehlerverz.  A, ;  A,)]  als  (A^  im  Text).  27,  8  Handeln  (A,)]  han- 
deln (A,).  27,  -16  als  intelligiblen  Wesens  (A)]  sc.  die  eines  .  .  . 
28,  II  v.  u.  gütige  (Aj)]  gültige  (A,);  „gütige"  ist  mit  Rücksicht 
auf  den  lateinischen  Text  und  den  inneren  Sinn  zweifellos  richtig. 
31,  14  desselben  (Ak  nach  Vorländer)]  derselben  (A).  31,  11 
V.  u.  durch  (A)];  dadurch  (H;  Seh).  Auf  alle  Fälle  ist  „dadurch" 
besser  als  ,, durch";  am  besten  wäre,  „durch"  überhaupt  zu  streichen. 
31,1  V.  u.  kann."  (Mellin)]  kann  etc.  (A).  32,  18  ganz  (A)]  in 
der  Bedeutung  von  „nur".  32,  7  v.  u.  unrecht  (Ak)]  Unrecht  (A). 
Mit  RĂĽcksicht  auf  24,  22,  32,  13  v.  u.,  32.  3  v.  u. ,  33,  i  schlieĂźen 
wir  uns  Natorp  an.  32,  6—5  v.  u.  Hindernis  oder  Widerstand  (A)] 
Mellin  will  „Hindernis  oder"  streichen.  33,  15  v.  u.  Gesetze; 
aber  (H ,  Ak)]  Gesetze  aber  (A).  34,  12—17  Dieweil  —  versorgen 
(A)]  Natorp  nimmt  an  den  Worten:  ,,ein  bloĂź  formaler  in  der  reinen 
Mathematik"  AnstoĂź,  weil  der  dynamische  Begriff  auch  bloĂź  formal 
ist.  Die  Schwierigkeit  ist  aber  nur  scheinbar,  denn  Kant  spielt  hier 
offenbar  auf  die  reine  Form  der  Anschauung  gegenĂĽber  dem  dyna- 
mischen Begriff  der  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegenwirkung  an, 
der  sich  aus  reinem  Denken  und  reiner  Anschauung  zusammensetzt. 
36,  II  anrufen  (A^ ,  H,  Seh)]  aufrufen  (A,  Ak).  36,  16  v.  u.  An- 
spruch (Ak)]  Ausspruch  (A).  36,  15  v.  u.  solchen]  solche  (A). 
Dazu  Natorp :  solche  =  nämlich  Dienste.  36,  8  v.  u.  soli  (H)] 
poli  (A);  soli  sc.  civile  (Seh);  forum  soli  (Ki).  37,  5  v.  u.  recht 
(Ak;]  Recht  (A),  mit  RĂĽcksicht  auf  das  parallele:  als  unrecht  be- 
urteilt 37,  4  V.  u.  38,  4  V.  u.  obenstehende  (A^)]  obstehende  (Aj). 
39,  8  den  letzteren  (A)]  Die  Konstruktion  ist  derartig  verfehlt,  daĂź 
eine     Korrektur     mit     Rücksicht    auf    das     Satzgefüge     unmöglich     ist. 


Lesarten  ^^^ 

39,  lo  V,  u.  mehrerem   (A,)]   mehreren  (A,).  40,  i  v.  u.  anheimfallr. 

trennt]  „trennt"   fehlt  in  (A);     Natorp   vermutet:  sondert.  41,3-2 

v.u.  Zweck,  wiederum  (Ak,  Seh)]  Zweck  wiederum  (A).  43,11-12 

die  weder  Recht  noch  Pflicht  haben  (A,)],  in  (A,)  Schwabacher  Lettern. 
43,  2  V.  u.  aber  doch  nicht  durch  seinen  (A)]  durch  seinen  aber  doch 
nicht  (Görland  nach  Natorp);  aber  doch  nicht  durch  einen  (Vorlander 
n.  Nat.).  47,5V. u.  aber  (A^)]  fehlt  (AJ.  48, 13  v.  u.  formale  (A,)] 
formelle  (AJ;  siehe  48,  15  v.  u.  49,  13  v.  u.  ihn  {A)\  es  ihn  (Ak). 

50,21  seinem  (H)]  meinem  (A) ;  , .seinem"  mit  RĂĽcksicht  auf  50,25. 
51,9-11  (Abbruch  -  kann)  (A,)]  Unrecht  (A,);  „Abbruch"  richtig,  da 
„Unrecht"  zweifellos  den  zu  definierenden  Gegenstand  als  dehniert  voraus- 
setzt; diese  Auffassung  teilt  auch  Natorp  mit  RĂĽcksicht  auf  die  Fraye 
des  Göttinger  Rezensenten:  „Aber  was  heißt  lädieren?  Setzt  der  Begriff 
der  juristischen  Läsion  nicht  den  Begriff  des  Mein  und  Dein  voraus:" 
51,  16  im  Besitz  (A)]  im  empirischen  (oder  physischen)  Besitz  (Meilin). 
53,  10  er  es  (A)]   er  (H).  53,  13  Das  Semikolon,  welches  H  und  Ak 

verwenden,  verwirrt  mehr  als  es  aufklärt;  der  Sinn  ist  folgender:  aus 
der  Freiheitserklärung  des  Bodens  ergibt  sich  nicht  die  ursprüngliche 
Freiheit,  sondern  er  muĂź  ausdrĂĽcklich  durch  einen  Vertrag  fĂĽr  frei 
erklärt  werden  (vgl.  auch  Natorp).  Die  Freiheit  bezieht  sich  nicht 
auf  die  Vergangenheit,    sondern  auf  die  Zukunft,  54,  i   aber  (A,)] 

oder  (Druckfehlerverz.  A^;  Aj).  54,  17—18  die  erste  Besitznehmung 

als  einen  rechtlichen  Grund  (Ai)]  die  rechtliche  Besitznehmung  als  einen 
Grund  (Aj).  Mit  Rücksicht  auf  54,  12  „die  erste  Besitznehmung". 
(A2)  schon  inhaltlich  falsch,  weil  Aj  einen  Grundsatz  des  historischen 
Rechts  darstellt.  54,20  In  einem  (AJ]  Einem  (A,).  54,  2 v.u.  welcher 
(A)]  welche?  (Natorp:  so  auch  Stammler);  „welcher"  sc.  nach  der  Ex- 
position; nur  (A.)]  fehlt  (A,).  55,  i  aber  (A^))  fehlt  A,).  55,  3 
korrespondierend  (Ai)]  fehlt  fAj.  55,  10  vorstellen  (A^)]  verstellen 
(Aj).  55,  20  Raum-  und  Zeitbedingungen  (Vorländer  nach  Natorp)] 
Raum  und  Zeitbedingungen  (A).  55,  22  abhängig  (A,)]  unabhängig 
(Aj).  55,  7  V.  u.  Vorstellung  (Druckfehlerverz.  A^;  AJ]  Verstellung 
(Ai  im  Text).  55,6— sv.u.  als  —  sei  (A)]  „als"  sc.  gelegen  sei,  vgl. 
Natorp  zu  205,  II.  56,  1—7  Nun  —  kann  (A)]  Nat.  sieht  hier  eine 
unauflösbare  Konstruktion,  die  jedoch  nicht  vorhanden  ist;  man  hat 
nur  bei  „Besitz"  in  56,  5  „als  Verstandesbegriff"  nach  55,  9  v.  u.  zu 
ergänzen.  56,  4  denselben  (A,)]  demselben  (Aj.  56,  12  v.  u. 
ein  äußeres  Meine  (A)]  mit  Rücksicht  auf  das  Meine  58,  16,  56, 
4  v.  u.  57,  10  hätte  (Aj]  hatte  (AJ.  58,  7  erweitere  (A)]  er- 
weitern (H).  Natorp  hält  die  Korrektur  von  (H)  nicht  für  unberech- 
tigt; jedoch  mit  RĂĽcksicht  auf  den  Begriff  des  Postulats  58,  2  muĂź  es 
zweifellos  „erweitere"  heißen;  denn  das  Postulat  spricht  immer 
von  einer  Forderung,  aber  nicht  von  einer  Möglichkeit.  58,  16 
jeden  (A,)]  jedem  (A,).              59,  19  mich";  (Ak)]    mich;  (A).  59, 


44©  Lesarten 

2—1  V.  u.  er  —  ihn  (A)]  starr  „es  ihn",  Kanrischer  Sprachgebrauch, 
s.  auch  Narorp.  60,19  weil   (A)]  daß?  (Vorl.  n.  Nat.);  zu  ergänzen: 

daß  er  deshalb  etwas  rechrmäßig  besirze.  6l,6  mein  ist  (AJ]  ist  mein 
(Aj).  61,  15  —  16  ursprünglich  und  gemeinsam  (A)]  ursprünglich  nur  ge- 
meinsam (Natorp,  Görland,  Stammler).  Offenbar  eine  ev  oii  ouoiv-Kon- 
struktion;  darum  ist  eine  Ersetzung  des  ,,und"  durch  ,,nur"  ĂĽberflĂĽssig. 
61,16  Auch  (Druckfehlerverz.  A,;  A^)]  doch  (A,  im  Text).  62,3  Der 
Besitz  also,  in  den  ich  mich  setze,  ist  possessio  phaenomenon]  der  Besitz 
also,  in  den  ich  mich  setze,  ist  (possessio  phaenomenon)  (A).  Natorp 
vermutet,  daĂź  der  entsprechende  deutsche  Ausdruck  versehentlich  aus- 
gefallen ist.  Die  Klammer  rechtfertigt  sich  aber  bei  Streichung  des 
Komma  und   des  „ist".  64,  17  v.  u.   aller  (Aj)]   fehlt  (A^).  64, 

16  v.u.   so  (Ai)]   fehlt  (Aj).  65,  4  v.  u.   rechtlichen  (H)]   rechtlichem 

(A).  65,1V.  u.  Dieser  (AJj  Der  (Aj).         66,  13  v.  u.  der  der  (AJ] 

der  (Aj).  67,10  nach  dieses  seinem  (A)]  vgl.  6,  20;  7,  20— 21;  88,  24. 
71,  9—10  ist,  als  gültig  (A,)]  fehlt  (A^)  H.  nimmt  aus  (Aj)  nur  „ist" 
hinzu.  71,  18    des    (A,)]    der    (A^).  71,  3  v.  u.  — 72,  8   Der 

Rechtsbegriff  —  bedeuten  (A)],  vgl.  dagegen  Mellin,  dazu  Na- 
torp. 72,  21  einen  (H;  Ak)]  ein  (A).  73,  15—18  sich  —  aus- 
dehnen (Ak)]  sich  —  sich  ausdehnen  (A).  73,  22  gehört  er  (H)]  ge- 
hört (A).  74,  I  v.  u.  das  persönliche  Recht  (A)]  richtiger  wäre  wohl: 
das  persönliche  Recht.  Vgl.  auch  75,  i.  75,  2  v.  u.  erstem  (Aj)] 
ersten  (Aj).  78,  6  v.  u.  errichtet  (A)]  entrichtet  (Ak).  79,  5  v.  u. 
dem  (Ai)]  den  (A^).  80,  6—5  v,  u.  in  einer  Sache,  auch  nicht  ein 
bloĂźes  Recht  (A,)]  fehlt  (A,).  83,  8  den  (A,)]  denn  (A,).  83,  10 
Versprechen  (Aj)]  Versprechens  (A^).  83,  16  diese  (Aj)]  die  (A^); 
mithin,...  Person,  diese;  dadurch  ist  die  Lesart  „diese"  verständlich. 
<^3?  4~3  V.  u.  des  darauf  gegrĂĽndeten  Rechts  (A)]  das  gegrĂĽndete 
Recht  (Mellin).  Diese  Konjektur  scheint  richtig  zu  sein,  da  man 
nicht,  wie  Natorp  meint,  „des  darauf  . .  ."  von  „natürliche  Überlegen- 
heit" 83,  6  V.  u.  abhängig  machen  kann  ;  denn  ein  darauf  gegründetes 
Recht  bedeutet  keine  natĂĽrliche  Ăśberlegenheit.  84,  i  v.  u.  die  (A,)] 
fehlt  (Aj).  85,  19  in  (A,)]  im  (A^).  85,  22  in  theoretischer  (A)] 
in  theoretischer  Hinsicht  (H).  85,3  V.  u.  er  die  (A,)]  er  in  die  (Aj). 
86,  1—2  weil  an  ihm  .  .  ,  herübergezogen  (Ak)]  weil  an  ihm  .  .  . 
herĂĽber  zogen  (A,);  weil  an  ihm  .  .  .  herĂĽberzogen  (Aj)  weil  sie  an 
ihm  .  .  .  herĂĽberzogen  (H  u.  Seh).  87,  16  v.  u.  Form  der  (Aj)J 
fehlt  (AJ.  87,  12  V.  u.  erstere  (A,)]  erste  (Aj).  87.  12—9  v.  u. 
durch  den  —  Gesellschaft  stiften  (Ak)]  den  —  Gesellschaft  stiften  (A); 
den  —  schließt  .  .  .  Gesellschaft  stiften  (H;  Seh).  88,  15  unbe- 
stimmte (A,)]  bestimmte  (A,).  88,  6  v.  u.  also  (A,)]  fehlt  (A,). 
89,  10  eingeteilten  (AJ]  eigentlichen  (AJ.  Vgl.  88,  5  u.  10.  89,  16 
re  (A,)]  in  re  (Aj.  89,  2  v.  u.  statutarische  (H;  Ak)]  statua- 
rische (A).             90,  12    Der  belästigte  Vertrag   (Nach  Mellin   zu  er- 


Lesarten 


441 


ganzen:    pactum    onerosum).  90,  22  Verdingungsvertrag   (A,)] 

Verbindungsvertrag    (Aj).  91,  10 — 12    zu    sein    (scheinen)    und 

—   haben    (H)]    zu    sein    und    —    haben  (A;   Ak).  9I>  3  v.  u.   ein 

(Ai)]   fehle  (A2).  92,  7    Statt    (dienen)   (H)]   statt   (A;    Ak).  92, 

10—9  V.  u.   Verkäufer   (H)]   Käufer  (A;    Ak).  92,  6   v.  u.    zu   (A,)] 

zur  (A,).  93,4  und  (A^)]  fehlt  (A^).  93,9  auf  (A,)]  auf  der  (A^). 
93,  15  v.u.  denselben  (A)]  derselben  (Meilin).  Richtig:  „denselben"  sc. 
Materien;  vgl.  94,  12,  siehe  auch  Natorp.  94,  16  v.  u.  auf  Rechts- 

begritf  (A)]  auf  den  RechtsbegrifF  (H).  95,10—7  v.  u.  andrerseits  — 

Recht  (A)]  Natorp  sieht  in  der  Konstruktion  eine  besondere  Schwierig- 
keit; die  Schwierigkeit  aber  besteht  nicht,  da  „ein  persönliches  Recht" 
offenbar  nur  eine  Folge  der  2.  Definition  ist.  96,  2  Bedingungen  (Aj] 

Bedingung  (Ai).  96,  2  v.  u.  Anspruch   (A^)]  der  Anspruch  (A,).    Die 

Streichung  des  Artikels  rechtfertigt  sich  dadurch,  daĂź  es  sonst  heiĂźen 
müßte:  „den  Anspruch".  97, 10  dieses  (A,)]  diese  (Aj)  „dieses  seine" 
bedeutet  im  Kantischen  Sprachgebrauch  „dessen";  daher  ist  die  Lesart 
von   (A,  H)   „diese"  nicht  unbedingt  erforderlich.  97,  2  v.  u.  un- 

unterbrochen (Ai)]  unterbrochen  (A^)  „unterbrochen"  ist  falsch,  da 
es  sonst  ,, unterbrochen  worden"  heiĂźen  mĂĽĂźte.  99,  16  v.  u.  an- 

kommt (A)]  Mit  Recht  hält  Natorp  „nicht  ankommt"  für  die  bessere 
Lesart.  99,  10  v.u.  Titius  (H;  Ak)J  Titus  (A).  99,  9  v.  u.  seine  (Ajj 
sein  (A,).         99,3v.u.  Titius  (A,)]  Titus  (A,).  lOO,  8  Titius  (A,)J 

Titus  (A,).  101,5  ist),  weil  (A)]  ist):  weil...,  ein  Vorschlag  Vorländers, 
den  Natorp  als  die  vielleicht  bessere  Lesart  bezeichnet;  dieser  Anschauung 
stimmen  wirnicht  bei,  da  „weil"  abhängig  von  „stattfindet"  101,4  sein 
kann.  lOI,7— 8  ungroßmütig  (Druckfehlerverz.  A^;  A,)]  ungroßmächtig 
(A,  im  Text).  102, 10  ist  nicht  (DruckfeWerverz.  A, ;  A,)]  ist  also  nicht 
(A,  im  Text).  103,  12—13  die  eine  —  die  andere  (A)]  Meliin  bemerkt: 

„statt  die  einen  —  die  anderen".  103,  15  Leihvertrag  (A,)]  Leihe- 
vertrag (A,);  vgL  104,  13  V.  u.,  105,  3  V.  u.  105,  3  V.  U.-IO6,  7  Da 
nun  —  kann  (A)]  Natorp  sieht  hier  eine  unmögliche  Periode.  Die 
Richtigkeit  dieser  Anschauung  kann  nicht  eingesehen  werden;  der  Sinn 
ist  folgender:  Da  nun  ĂĽber  das  Mein  und  Dein  aus  dem  Leihverrrage, 
nämlich  das  Urteil  darüber  d.  i.  die  Entscheidung  .  .  .  nicht  .  .  .  ent- 
schieden werden  kann.  ic6,i  nichts  (A,)]  nicht  (Aj.  106,4  v.u. 
von  selbst  (A,)]  selbst  (A,).  107, 1  dieses  Recht  auch  (A.)]  auch  dieses 
Recht  (A,).  107,  16  v.u.  donec  (A,)]  fehlt  (A,).  108,4  v.  u.  wieder- 
um (A,)]  wieder  (A,).  109,9  einen  (A;j]  einem  (A,).  109,12  v.u. 
statutarische  (A,)]  statuarische  (A,).  III,  i  Beweisgrund  (H;  AkjJ 
Beweisgrunde  (A).  in,  19  unverlierbaren  (A,)]  unverleihbaren  (A,). 
112,  5-6  und  -  vereitelt  (A,)]  fehlt  (A,).  112,  10  v.  u.  als  Materie 
noch  (A)]  Natorp  vermutet  nicht  mit  Unrecht:  der  Materie  nach.  II 3, 
lo-ii  Rechtsverhältnisse  (A,)]  Rechtverhältnisse  (A,).  II3. '3  und 
dritten  (DruckfeWerverz.  A, ;  A, ;  Ak)]  fehlt  (A,  im  Text).        1 14,  8  v.  u. 


44  i  Lesarten 

Kapirulation  (A,)]  Capitulationen  (A,t.  118,2  cosmopoliticum  (Druck- 
telilerverz.  A, ;  Aj)]  cosmopolitum  (A,  im  Text).  118,5  ĂĽbrigen  (AJ] 
übrigen  durch  Gesetze  (A^).  Natorp  bemerkt  mit  Recht,  daß  „durch 
Gesetze"  aus  Z.4  -5  herunrergerückt  ist.  118,7  §  44  (AJ]  §  3J  (A^) 
120,2  jenes  (A,)J  eines  (A^).  I20,6  (Js  46  (Aj)]  ^  30  (A^).  120,9—10 
unrecht    (A,)]    Unrecht   (A^).  I20,  15   v.  u.    nur   (A,)]    fehlt   (A^); 

Volk  (A,)]  Volk  (Aj).  122,  4  hervorgehend  (A)]  hervorgehende  (H), 
eine  Korrektur,  die  Natorp  mit  Recht  als  nicht  notwendig  bezeichnet. 
122,5  Ăśberhaupts  (der)  (A)]  constr.  xata  juveaiv,  vgl.  19, 17  v.  u.  122,8 
Untertans  (Druckfehlerverz.  A, ;  A^)]  Unterhaus  (Ai  im  Text).  122,  16 

der  Staat  (A)]  von  H.  gestrichen.  Natorp  schreibt  hierzu:  „von  H. 
wohl  richtig  gestrichen";  wenn  man  aber  berĂĽcksichtigt,  daĂź  Kant 
122,  14  —  15  Staat  rnit  Volk  identifiziert,  dann  ist  eine  Streichung  nicht 
erforderlich.  122,  5  v.  u.   erteilend    (H;  Seh)]     erteilend  sein  (A). 

Natorp  meint,  daß  das  ganze  „drittens'-  nicht  zu  verstehen  sei.  Er 
schreibt:  ,,Es  scheint  eher  eine  Bestimmung,  die  die  3.  Gewalt  allein 
betrifft  als  eine  3.  Bestimmung,  die  sich  auf  alle  3  und  ihr  gegen- 
seitiges \'erhaltnis  bezöge.  Ich  komme  daher  auf  den  \'erdacht,  daß 
ein  größeres  Stück  Text  ausgefallen  ist.  Vielleicht  kam  zweimal  ein 
erstens  —  zweitens  —  drittens  und  wurde  versehentlich  beim  Satz  vom 
erstens  drittens  aufs  zweite  ĂĽbergesprungen".  Indessen  hat  doch  die 
Anschauung  Natorps  wenig  fĂĽr  sich,  vielmehr  stehen  diese  drei  Be- 
stimmungen zu  einander  in  einem  parallelen  Verhältnis;  die  i.  drückt  die 
Koordination  aus,  die  2.  die  Subordination,  die  3.  die  SuperOrdination 
gegenĂĽber  den  Untertanen.  Es  soll  freilich  nicht  bestritten  wetden, 
daĂź  die  Worte   ,, erteilend  sein"  auf  fehlenden  Tejit  hinweisen.  124,2 

ihrer  (A)    wieder    constr.   xara  cĂĽvsaiv.  ^     124,  10   v.  u.    selbst  (A,)] 

fehlt  (Aj).  126,15  V.  u.  abhangige  (Ak)|  abhängigen  (A).  126,10 

V.  u.    der  (A,)]  die  (Aj).  128,  12  moralisch,   der  (A)]  moralisch,  das 

der  (Seh).  129,  11  — 12   (im  Parlament),  erlaubt,   jener  in   (Ak  nach 

\'orl.)]  (im  Parlament)  und  erlaubt  jener,  in  (A).  Schwierig  bleibt  immer- 
hin die  Konstruktion,  vielleicht  lieĂźe  sich  die  Schwierigkeit  heben,  wenn 
nach  ,, erlaubt"  statt  eines  Kommas  ein  Doppelpunkt  gesetzt  wĂĽrde. 
130,5-6  die  Gewalt  (A,)J  Gewalt  (Aj).  130,9  zurĂĽckgetreten  (Aj)] 

zurücktretend  (A^).  130,12   desselben  (A)]  Natorp:   „seil,  des  Throns 

(aus  ,, entthronte"  Z.  5)?"  ;   besser  wohl:  sc.  des  Staats.  131,  20  er  be- 

sitzt nichts  (Aj)]  bei  A^  fehlt  Sperrdruck.  132,10  desselben  (A)]  dazu 
Natorp:  ,, nämlich  des  Volks  (aus  V^olksmeinung  Z.  2)".  132,9  v.u. 
werde,  erleichtert  —  zu  lenken  (Ak)J  werde),  erleichtert  —  zu  lenken 
(A).  132,  2  V.  u.  Die  aber  (A)J  (sc.  Aufsicht),  „der  Untersuchung"  ist 
dann  Genitiv  epexegeticus.  Natorp  will  hier  ev.  „Befugnis"  er- 
gänzen, doch  läßt  er  die  Möglichkeit  unserer  Interpretation  offen. 
133»  16  —  18  als  —  ist  (A)]  Kantischer  Sprachgebrauch.  So  auch  Natorp. 
t33>i9-20  sein   Recht  grĂĽndet,   zur  Erhaltung  -  beizutragen  (A)]  Kant 


Lesarten  4^3 

hat  offenbar :  sein  Recht  gründet,  daß  diese  (sc.  die  Vermögenden)  rur 
Erhaltung  ...  in  einen  Infinitiv-Satz  verwandelt.  133,  7  v.  u.  nach 

und  nach  gesammelte   (A,)]   fehlt  (A^).  134,  1—5   weil    -   würden 

(A)]  Natorp  bezieht  den  Plural  auf  „laufende  Beitrage"  133,  8  v.u.; 
doch  könnte  mit  Rücksicht  auf  „fromme  Stiftungen"  die  I'luralkonsrr. 
Kant  irrtĂĽmlich  unterlaufen  sein.  134,  18-17  v.  u.  Untertanen  (A,)] 

Untertan  (Aj).  134,9— 8v.u.  der  öffentlichen  Lehrer  (A,)]  fehlt  (AJ. 
134,  4— 3  v.u.  Daß  eine  Kirche  einen  gewissen  Glauben  (A,)]  offenbar 
Kantischer    Sprachgebrauch.  135,  15  v.  u.    der   Oberen    (A^)]     des 

Oberen  (A^).     „^^t"   mit  Rücksicht  auf  das  folgende   ,,der".  135, 

14  V.  u.  Niedrigem  (Aj)]  Niederen  (A^).  Lezteres  mit  RĂĽcksicht  auf 
„Oberen"  besser.  135,  8  v.  u.   einem  (Aj)]  einen  (AJ,  wahrschein- 

lich Druckfehler.  I36>7  v.u.  liiĂźt,   ein  Gedankending  ...  (A,)]  appo- 

sitionelle  Bestimmung  zum  \'orhergehenden.  Natorp  schlagt  vor:  Adel, 
ein  Rang.  137,  10  erblichen  (Aj)]   fehlt  (A^).  137,  13  v.  u.   ver- 

fĂĽgen, (disponieren)  kann  (Aj)]  verfĂĽgen  (disponieren)  kann  (Aj). 
138,  II   auch  (Ai)]   fehlt  (Aj).  138,6  V.  u,  daher  das  erstere  ...  (A,)] 

Natorp  fragt  mit  Recht,  worauf  sich  „das  erstere"  bezieht;  er  meint, 
daĂź  wohl  ein  Satz  ausgefallen  sei;  vielleicht  liiĂźt  sich  damit  das  ,,aber 
auch"  Z.  7  V.  u.  erklären.  Möglicherweise  liißt  sich  noch  eine  andere 
Lösung  rechtfertigen,  wenn  nämlich  ,, daher  das  erstere"  erst  nach  „ge- 
fährdet wird"  139,3  gestellt  wird.  139,20  v.u.  aufzufinden  (A,)]  aus- 
zufinden  (A^).         139, 18  v.u.  einem  (A,)]  in  einem  (AJ.  139, 6 v.u. 

der  (Aj)]  des  (A^)  offenbar  Druckf.  141,21  nichts  (AJ]  nicht  (AJ. 
I4l,Sv.u.   erstere   (AJ]  erste  (AJ.  143,18V. u.   daß  er]   „er"   ■      sc. 

der  Irrtum;  daĂź  (A) ;  daĂź  man  (Ak);  daĂź  es  (HJ.  I44> '9  der  Duell 
(A)]  das  Duell  (Ak).  144, 12 v.u.  strafen  (AJ]  bestrafen  (AJ.  145, 
Z  v.u.  Untertans  (Mellin)]  Vgl.  149,4  v.u.,  da  „Unterhauses"  sinnlos  ist. 
Unterhauses   (A).     Vgl.  122,  8.  146,  13  ihm  (A,)]  ihn  (AJ.  146, 

16—17  gemeinen  Wesens  (Aj)]  gemeinen  Wesens  (A^)  146, 

18  V.  u.  Staatsoberhaupt  (Aj)]  Staatoberhaupte  (AJ.  146,  6  v.  u.  ist 

der  (AJ]  fehlt  (AJ.  146,  4  v.  u.  alle  (Ak)|  alle  (A).  147,  3 

dem  (HJ]  das  (A).  147,10  Recht  (Ak)]  Recht  (A).  147,  nv.u. 

herauslangen  (A)]     herauflangen  (H).  148,  5  bessere,  nicht  (AJ] 

bessere  nicht  (Aj;  offenbar  hat  das  Komma  in  A,  den  Zweck,  „Meta- 
morphose" und  „Palingenesie"'  einander  gegenüber  zu  stellen.  148, 
14  V.  u.  Geist  (Ak)]  Geist  (A).  149,  21  v.  u.  nun  (AJJ  fehlt  (A,). 
149,  4  v.  u.  Untertans  (A,)]  Unterhaus  (AJ.  Vgl.  145,  8  v.  u.  i  50, 
14  v.  u.  5  53  (AJ]  §  43  (A,).  150,  II  V.  u.  Elternstamm  (AJ]  Elter- 
stamm  (AJ.  150,  3  v.  u.  vornehmer  (H)]  sich  vornehmer  (A). 
151,6  das  Recht  (AJ]  fehlt  (A,).  151,  n  von  dem  (AjJ  zu  streichen 
mit  Rücksicht  auf  151,  10.  Natorp  hält  „von  dem  der  Völker"  für 
überflüssig.  151,6V.  u.  äußeren  (A)]  Natorp  vermutet  „äußeren 
Feinde?"            151,  3  v.  u.  Verbündung  (AJ]    Verbindung  (AJ.     „Ver- 


444  Lesarten 

bündung"  emptiehlr  sich  mir  Rücksicht  auf  das  voraufgehende  „Genossen- 
schaft". 152,7  annähernden  {A,)J  annährenden  (A^).  152,3  V.  u. 
Wilden  (A)]  wilden  (HJ;  vgl.  158,2  v.u.  153,  12  Eigentum  (A,)] 
Eigentum  (A,).  153,  17  zu  (A)]  in  (Hj).  153.-8  v.  u.  gegen 
einen  andern  Staat  (A,)]  fehlt  (A,).  153,8— 7V.u.  von  diesem  sich  (A,)] 
sich  von  diesem  (A^).  153,6—5  v.u.  im  rechtlichen  Zustande  (Aj)] 
fehlt  (Aj).  154,18V. u.  im  Kriege  (A)]  Natorp:  „besser  im  Kriege" 
nach  Vorländer.  I55,i7v.u.  Kontribution  (A,)]  Contributionen  (A^). 
155,  12  v.  u.  nachfolgendem  (Ai)J  nachfolgenden  (AJ.  156,  2  v.  u. 
ein  (A,)]  einen  (A^).  157,  4  v.u.  dieser  (A)]  diesem  (Ak).  158,8 
politische  (Aj)]  politischen  (A^).  158,  20  v.  u.  Erhaltung  (A,)}  die 
Erhaltung  (A^).  158,8  v.u.  ablösliche  (A)]  auflösliche  (Mellin,  Ak). 
159,  16  v.u.  demselben  (Ak)]  denselben  (A)  Kantischer  Sprachgebrauch. 
159,  12  V.  u.  einem  (Ak)]  einen  (A)  Kantischer  Sprachgebrauch. 
159,  5  V.  u.  welcher  (Ak)]  welches  (A)  160,  4  diesem  (AJ]  diesen 
(AJ.  161,6  entweder  (A)]  fehlt  (H).  161, 14  v.u.  in  Verhältnis  (Aj)] 
im  Verhältnis  (A,);  s.  83,10V.  u.  Kantischer  Sprachgebrauch.  162,15 
sondern  die  (A)]  ,, sondern"  wĂĽrde  wohl,  wie  Natorp  annimmt,  aus- 
reichen. 162,  17—19  weil  —  bedürfen  (A)]  Natorp  meint,  daß  „be- 
darf" mit  Rücksicht  auf  ,, deren  Regel"  Z.  13  richtiger  wäre;  auf  alle 
Fälle,  glaubt  er,  könne  „bedürfen"  nicht  von  ,, Beispiele"  Z.  18  abhängig 
sein.  Diese  Annahme  ist  nicht  zwingend,  da  man  ganz  gut  sagen 
karm:  da  alle  Beispiele  noch  einer  Metaphysik  bedĂĽrfen,  die  sie  dann 
nicht  als  singulare  Fälle,  sondern  als  notwendig  und  allgemein  begründet. 

163.13  Sie  (A)]  nämlich  die  Begehrung  (Natorp).  163,  16  nichts  (A)]  zu 
nichts  (Rezension,  S.  z6G).  164,11  v.  u.  nämlich  (A)]  Vorländer  streicht 
„nämlich"  als  Wiederholung  aus  Z.  10;  ,, nämlich"  scheint  überflüssig. 
1.65, 9V.U.  mein  Vater  (AJ]  mein  Vater  (B).  165,2  v.u.  als  (A^)] 
als  (B).  167,3  der  (A^;  B)]  oder  der  (Ak;  Vorl.;  Stammler);  auch  ohne 
„oder"  ist  der  Sinn  richtig.  168,  12  Leistungen]  Leistung  (A2;B).  Plural 
mit  RĂĽcksicht  auf  ,, stehen".  168,  12  v.  u.  ^31  S.  129  (Ak)]  ^  30 
S.  ia9(Aa);  $  30S.29  (Ăź).  i68,iov.u.  DaĂź(B)]  Das  (A,).  169,11-12 
nicht  gegen  jeden  Besitzer  der  Sache  (ius  in  re),  ein  dingliches  (A,;  B)]; 
„ein  dingliches"  ist  dann  Apposition  zu  Recht  und  gibt  einen  guten 
Sinn,  vielleicht  noch  korrekter  als  die  von  Natorp  vorgeschlagene 
Lesart:  nicht  ein  dingliches  gegen  jeden  Besitzer  der  Sache  ius  in  re; 
zum  mindesten  würde  man  dann  nach  „dingliches"  ein  Komma  er- 
warten, vgl.  RH,  S.  XXL          169,  19  abgemachten  (A,)]  gemachten  (B). 

170.14  hergenommen  (A,;  B)J  hergenommene  (H).  Die  Verbesserung: 
„hergenommene"  erübrigt  sich  mit  Rücksicht  darauf,  daß  der  ganze  Satz 
in  Klammer  steht.  170,15  Strafen  (A^ ;  B)]  Verbrechen  (H);  Strafen 
fĂĽr  Verbrechen  (Vorl.).  Die  Verbesserung  erĂĽbrigt  sich,  da  der  Sinn  kein 
andrerer  sein  kann.  171,17  gesichert.  (Ak)]  gesichert."  (A^;  B),  weil, 
wie  Natorp  richtig  bemerkt,  in  der  Rezension  hier  die  AnfĂĽhrung  aus  der 


Lesarten  ^^^ 

Rechtslehre  schlieĂźt.  171,18  eine  nur  (A,)]  nur  eine  (Rezension,  S.  :  74). 
171, 16 v.u.  Verfassung.  (Ak)]  Verfassung".  (A, ;  B).  Natorp  bemerkt  auch 
hier  mit  Recht,  daĂź  die  AnfĂĽhrung  aus  der  Rezension  u-eitergehr.  171, 
14— 13 v.u.  zu  sein  nicht  aufgehört  (A,;  ß)]  nie  zu  sein  aufgehört  (Rezen- 
siona.a.O.).  172, 19  Der  (B)]  Der  (A,).  172, 15-11  v.u.  Es  ist  (de- 
relictio),  (A^ ;  B)]  Natorp  schreibt,  es  fehle  ein  Partizip  wie  „genommen" 
oder  „mißverstanden".  Dieser  Anschauung  können  wir  uns  nicht  an- 
schließen, da  der  Sinn  vollständig  klar  ist:  Es  ist  nämlich  sc.  der  gänz- 
liche Nichtgebrauch  .  .  .  ein  negativer  Grund  fĂĽr  eine  Verzichrtuung  auf 
dieselbe  (sc.   Zueignung.).  172,  5  v.u.   (lege)  und  (A,;  B)]   (lege); 

und  (Ak).  173,  20  er  sich  (A^;  B)]  möglicherweise  schwebte  Kanr 

die  Satzstellung  vor:   sieht  er  sich  vermögender  geworden.  174,  19 

der  Habe  und  Gut  (A^;  B)],  wohl  Kantischer  Sprachgebrauch.  174, 

4  V.  u.   ewig  (B)]   ewig  (AJ.  174,  3  v.  u.   Volk  (Aj]  Volk  (B). 

174,  I  V.  u.  Familie   (Ak)]    Familie   (A^;   B).  175,  15  v.  u.    ver- 

sehene   (Ak)]    versehenen    (A,;  B).  I75>  i   v. 'u.    derselben    (A, ; 

B)]  sc.   der  Geistlichen  (ebenso  Natorp).  176,  14—13   v.  u.  Wenn 

—  verheißen  (A)]  Die  Konstruktion  ist  unhaltbar,  vgl.  Natorp  z.  St. 
176,  I   V.  u.— 177,  I    ist   als   ein  (A^;   B)]   ist   ein  (H).  177,  11   be- 

stimmten entworfenen  (Aj  ;  B)]  Natorp  schreibt :  Umstellung  läge 
nahe.  177,17  zu  mĂĽssen  (A,;  B)]  mĂĽssen  (H).  1 77,6V. u.  keines- 
weges  (Aj)]   keineswegs  (B).  178,  10  derselben]  desselben  (A,;   B) 

Natorp  schreibt:  (nämlich  des  Ordens).  179,1  Herren  (Aj)]  Herrn  (B). 
179,  17  V.  u.  (Rechtslehre  $-49)  (Ak)]  (R.  L  f  44)  (A,;  B).  179. 8  v.u. 
so  ist  es  der  (H)]  so  ist  der  (A,;  B).  183,  8  auch  (A,)]  fehlt  (A,). 
183,14  (als  der  Materie  derselben)  (Aj)]  die  Klammer  fehlt  (AJ.  183, 
I  V.  u.  auf  das  innere  Prinzip  (A^)]  auf  dem  inneren  Prinzip  (A,). 
184,4  (jedem  Gefühl)  (Ai)]  (von  jedem  Gefühl)  (A^).  184,5—6  von 

der  hohen  Kraft  uhd  herkulischen  Stärke  machen,  die  ausreichen  sollte, 
um...  (Aj)]  von  einer  Kraft  und  herkulischer  Stärke  machen,  um  (A,). 
Es  liegt  keine  Veranlassung  vor,  eine  Korrektur,  die  ev.  von  Kant  selbst 
stammen  könnte,  zu  ignorieren.  184,  n  v.u.  Allein  kein  moralisches 

Prinzip  grĂĽndet  sich  in  der  Tat  (A,)]  Allein  in  der  Tat  grĂĽndet  sich 
kein    moralisches    Prinzip   (A^).  184,  10  v.  u.    irgendeinem    (A,)] 

irgend  ein  (A^).  184,  10—9  sondern  ein  solches  Prinzip  ist  (A,)]  son- 

dern ist    (Ax).  184,  I  V.  u.   zu  sagen    (A,)]    sagen  zu  können    (A,). 

185,1  nicht  notwendig  (A^)]  fehlt  (A,).  185,19  orakel-(A,)]  orakel- 
mäßig (A^).  185,8  V.  u.  angedacht  (AJ]  ausgedacht  (A,).  186,9 
also  (A,)]  fehlt  (A»).  186,  19  v.  u.  (der  Berlinischen  Monatsschrift) 
(A,)]  der  Berl.  M.  S.  (AJ.  186, -^z  v.  u.  Der  Unmut  aber,  sich  (A,)] 
Sich  aber  (A^).  187,  2-6  reizt  durch  —  fühlt,  die  für  die  Allgewalt 
der  theoretischen  Vernunft  VerbĂĽndeten  gleichsam  zum  allgemeinen  Aut- 
gebot (A3)]  wird  durch  —  fühlt,  gleichsam  zum  allgemeinen  Aufgebot 
der  fĂĽr   die  Allgewalt  der  theoretischen  \'ernunft  VerbĂĽndeten  gereizt 


^^6  Lesarten 

(Ai).  Nach    der  Vorrede    hat  A^   ein  Inhaltsverzeichnis    (Inhalt  der 

Tugendlehre)  an  Stelle  der  Tafel  der  Einteilung  der  Ethik  in 
Ai,  das  einige  Abweichungen  enthält,  die  am  Schluß  angegeben,  wer- 
den. l88,io  jus  (Ai)]  (Jurisprudentia)  (A,).  189,10  Die  Klammer 
vor  „zum"  und  nach  „mächtig"  fehlt  (A,).  189,  14—12  v.  u.  die 
Klammer  (A,)  vor  „wenn"  und  nach  „betrachtet"  fehlt  bei  (A^). 
190,6  ihrem  (A,;  H)]  ihren  (A,).  190,  15  DaĂź  (A,)]  Wenn  (A,) 
190,  20  —  21  dieses  würde  der  Begriff  von  einem  Zweck  sein  (A,)]  so 
gibt  dieses  den  Begriff  von  einem  Zweck  (A^).  190,  22  wĂĽrde  (Aj)] 
kann  (A,).  190,22  sondern  zur  (A,)]  sondern  muĂź  zur  (A.).  190,23 
(moralischen)  (A^)]  Klammer  fehlt  (A,).  190,  14  v.  u.  Pflicht  (Aj] 
Zwangspflicht  {A^,.  190,  10  v.  u.  dazu  (sie  zu  haben)  ein  Zwang 
(A,)]  ein  Zwang,  dergleichen  zu  haben  oder  sich  vorzusetzen  (A^) 
191,2  letztere  (A^)]  letzte  (A,).  191,3  ist  (AJj  wäre  (A,).  192,2-3 
als  welcher  (das  kategorische  Sollen)  (A^)]  indem  dieser,  das  kategorische 
Sollen  (Aj).  192,15  aller  Pflicht  (A^)]  allen  Pflichten  (A^).  192,17 
diese  heiĂźen  besonders  (A,)]  sondern  nur  den  besonders  sogenannten 
(A2).  192,  14  V.  u.  gĂĽltige  (tugendhafte  (Aj)]  gĂĽltige  Pflicht  (nur 
eine  tugendhafte  (A^).  192,  6  v.  u.  erstere  (A,)J  erste  (AJ. 
193,  1  aller  (A,)]  einer  der  Pflicht  (A2).  193,  2  als  der  der  Pflicht 
(Ai)J  fehlt  (A2).  193,  15—14  V.  u.  des  Menschen  (A,)]  der  Seele 
sich  befindet  (A^).  193,  13  v.  u.  an  Seele  (Ai)]  an  der  Seele  (A,). 
193»  3  V.  u.  Krankheit  (Druckfehlerverz.  Ai;  A^)]  Raserei  (A,  im  Te.xt). 
197,  3  es  (A,)]  sie  (Aj).  197,  5  das  moralische  GefĂĽhl,  gleich- 
sam ein  besonderer  Sinn  ist  (AJ]  der  moralische  Sinn  heiĂźt  gleich- 
sam .  .  ,  (Aj).  197,  10  zum  Gegenstande  (Aj)]  zu  dem  seinigen 
(A2).  197,  15  das  (A,)]  der  (A^).  197,  15  v.  u.  erstere  (A^)] 
erste  (A2).  I97,  11  v.  u.  schon  (Druckfehlerverz.  A^ ;  A^)]  fehlt 
(Aj  im  Text).  198,  11  und  sie  (A)]  sc.  GlĂĽckseligkeit,  vgl.  199,  9: 
die  GlĂĽckseligkeit  anderer;  dennoch  sind  die  Vermutungen  Natorps  und 
Görlands  zu  berücksichtigen.  198,  13  v.  u.  das  lus  (Aj)]  die  Rechts- 
lehre (A,;).  200,  3  die  allgemeine  (A)]  Kantischer  Sprachgebrauch. 
200,  18—19  (Wie  das  Wort  Tugend  von  taugen,  so  stammt  Untugend 
von  .  .  .)  (Ai)]  taugen  herkömmt,  so  bedeutet  Untugend  der  Etymo- 
logie nach  so  viel  als  ...  (Aj).  200,  20  vorsätzliche  Übertretung 
(Aj)]  \'orsetzliche  (A,);  vorsetzliche  (Ak).  200,  10  v.  u.  von  mir 
(Druckfehlerverz.  A,;  A^)]  fehlt  (A^  im  Text).  200,  i  v.  u.— 201,  i 
die  Klammer  bei  (und  —  bringen)  fehlt  In  (A^).  201,  17  in  letzterem 
Falle  (A,)]  im  letzten  Falle  (A^).          202,  11   worin  (AJJ  worein  (A^). 

202,  17  können"  (Aj)]  die  Anführungsstriche  fehlen  in  (A,).  202, 
5  V.  u.  welche  (A,)]  welche  einem  Menschen  (A^).  202,4  v.u.  Men- 
schen (A,)]  fehlt  (Aj).  203,  12  Physische  Wohlfahrt  (Ak,  mit 
Hinweis    auf   201,  10  v.  u.,  202,  19,  204,  i)]    Physische  Wohlfahrt    (A). 

203,  18—19  geliebet  zu  werden,  (in  Notfällen  von  ihnen  Hülfe  zu  er- 


Lesarten  i^47 

halten)  (A^)]  geliebt  (in  Notfällen  geholfen)  zu  werden  (A,).  203,6  v.u. 
eine  (A2)]   fehlt  (Aj.  203,7— 6  v.u.  (seiner  wahren  Bedürfnisse)  (A,)J 

Klammer  fehlt  (A^).  204,1  salubricas  (A,)]  salus  (A,).  204,11  wclclics 
man  Skandal  nennt  (AJ]   das  heiĂźt,  ihm  kein  Skandal  zu  geben   (A,). 

204,  12  welchen  (A,)]  welcher  (A^).  204,8V. u.  die  ethische  (A,)]  und 
zwar  enthalten  die  ethischen  (AJ.  204,7v.u.  Rechtspflichten 
(A2)]  Rechtspflichten  (A,).  204,  6  v.u.  ist,  beide  also  eines  Zwanges 
(Aj)]  ist.  In  beiden  liegt  also  der  Begriff  eines  Zwanges  (A^).  Rich- 
tiger wäre  wohl:  beide  also  den  Begriff  eines  Zwanges  s.  204,  9  v.  u. 
205,13—14  dem  anderer  (Ak)]  dem,  anderer  (A);  demZwange  anderer(Aj. 

205,  14  die  den  (A,)]  den  (A,).       205,20  Materiale  (A,)]  Materialen  (Aj). 
205,21  und  die  (Ai)]  und  da  die  (A2).  205,22  heiĂźt  Tugcndpflichr, 
deren    es    also    viele    gibt    (A,)]     Tugendpflichc    heiĂźt,    so    folgt,     daĂź 
es  auch  der  Tugendpflichten  mehrere   gebe.    (AJ.  205,  5  v.  u.   sein 
(A,)]     zu  sein     (A,).               207,3—11    die   Klammer  (wobei         werden) 
fehlt   (AJ.            207,  13  ihres  (Druckfehlerverz.  A^ ;  A,)]    ihren  (A,  im 
Text).             207,  3  V.  u.  Der  Mensch  (A,)]  So  daĂź  man  zwei  bekannte 
Verse   von  Haller  also  variieren  könnte:  Der  Mensch  (A^).  207, 
I  v.u.  Haller  (A^l   fehlt  (A,).     Besser    wäre  wohl,  vor  „Haller"   die 
Präposition  „nach"    zu  setzen.             209,  13  welche  Anlagen  (Aj]   An- 
lagen, welche   (A,).               209,  10  v.  u.   moralisches  (H;   Ak)]  morali- 
sches (A).          209, lov. u.  erstere  (AJ]  erste  (A,).         209,8 v.u.  letztere 
(A,)]    letzte  (A,).          210,8  v.u.  (und  ihr  Gesetz)  (A,)]    die  Klammer 
fehlt   (A2).            212,  18  und  es  gelingt  ihm  mit  seiner  wohltätigen  Ab- 
sicht    (Ai)]     und    die    Absicht    seines    Wohltuns    gelingen    sieht    (AJ. 
2T3,  7  können,  nicht  er  habe   (A,)]  können,  nicht  aber  kann  man  sagen, 
er  habe   (A,);  können;   nicht:   er  habe   (Ak).            213,  7  v.  u.  erstcren 
(A,)]   ersten  (A,).          213,  5-3  v.  u.   Was  aber  die  Mehrheit  -  Satz  be- 
trifft, womit  man  sich  tröstet  (A,)]  Wenn  man  sich  aber  bei  der  Mehr- 
heit —  Satz  damit  tröstet  (A,).          214,15   sie  als  Tugend  nicht  durch 
(Aj)]     ihr  Ursprung  als  einer  Tugend  weder  durch  (A^).              214,  18 
letzteren  (A,)]     letzten  (A,).               214,  18  als  entspringend  vorgestellt 
werden,    indem    sie    (A,)]     erklärt;    auch  können  diese  Laster  nicht  so 
angesehn  werden,  als  ob  sie  (A,).          214,  20  eine  jede  (A,)]   ein  jedes 
(A3).        214,20  ihre   (A,)]   seine  (A,).        214,22  Ebensowenig  und  (A,)] 
fehlt  (A,).           214,23  Absichten  (A,)]  Handlungen  (A,).              2.1 4,  n 
v.u.  insani  sapiens  nomen  ferat  etc.]  insani  sapiens  nomcn  habeat  etc. 
(Aj;     Ak)    virtus    est   medium    vitiorum    et    utrinque    reductum    (A,); 
vgl.   219,  17  und  245,  10  V.  u.,  worauf  auch  Natorp  verweist.         215,  14 
Meinungen  (A,)]   Lastern  (A,).     Natorp  vermutet   wohl    richtig:    „Nei- 
gungen".          214,  17  Von  der  Tugend  ĂĽberhaupt  (A,)]   Xl\  .   \nn 
der    Tugend    ĂĽberhaupt    (A,).      Hartenstein    bemerkt    hierzu:     Die 
Zahl  XIV  fehlt   in  der   L  A.;     daher  iii   ihr   die  Zahlen  der   folgenden 
Abschnitte   der  Einleitung  um   eine  Einheit  niedriger  suid.          21Ă–,  14 


^48  Lesarten 

V.  u.  angeborenen  (A,)]    ihm  angebotenen  (AJ.  2l6,  3—2  v.  u.   (z.B. 

Ekel,   Grauen   -  versinnlichen)  (A,)]    Klammer  fehlt  (A,).  218,  18 

ihr  nachgehangen  wird  (A,)]   man  ihr  nachhängt  (AJ.  2l8,  n  v.  u. 

zu  wurzeln   (AJ]     einwurzeln  zu  lassen  (A^).  21 8,  5   v.  u.    mit- 

hin der  (A,)    mithin    das  Gebot    der  (A,).  2l8,  3   v.  u.    die    (AJ] 

der  (A,).  Natorp  meint:  „man  erwartet  .die',  aber  Dativ  nach  ,über' 
ist  an  sich  möglich,  daher  nicht  zu  ändern";  da  aber  Kant  sonst  ,über* 
mit  Akkusativ  konstruiert,  kann  man  nicht  annehmen,  daĂź  er  hier 
plötzlich    in    die    Dativ-Konstruktion    verfällt.  219,  17   ferat  (A^)] 

habeat  (A,).  219,  19-18  v.  u.  er  mag  durch  einen  Gegenstand  erregt 

werden,  welcher  es  wolle  (A,)]  durch  was  fĂĽr  einen  Gegenstand  er 
auch  erregt  werden  möge  (A^).  219,8  v.u.   ich  mich  (A,)]   man  sich 

(A,).  2l9,7v.u.  mir  (A^)]  einem  (A,).  220,12  in  Nehmung  (A,)] 
in  dar  Wahl  (AJ.  220,  5  v.  u.  die  (A^)]  was  (A^).  221,  9  v.  u. 

zu  Fragen  (A,)]  dahin,  zu  Fragen  (Aj).  222,2  fragmentarisch 

also,  ,(A,)]  Sie  ist  also   fragmentarisch   (A^).  222,3  Ethik  (A,)] 

erstere  (Ai).  222,8— 11  Vernunft;  wovon  —  und  dies  (AJ]  Vernunft. 

Die  Methodik  der  ersten  Ăśbung  (in  der  Theorie  der  Pflichten)  heiĂźt 
Didaktik  und  hier  ist  die  Lehrart  entweder  akroamatisch  oder 
erotematisch;  die  letzte  ist  die  Kunst,  dem  Lehrling  dasjenige  von 
PflichtbegrifFen  abzufragen,  was  er  schon  weiĂź,  und  dies  (A^);  (vgl. 
§  foff.).  222,  18  Katechetik  als  (A,)]  Didaktik  als  der  Methode  (A^) 

(ebenso  223,  4  v.  u.).  222,  11  v.u.  und  diese  (A^)]  welche  (Aj);  wo- 
gegen (Ai)]  gegen  welche  (Aj).  222, 7v.u.  verschiedene  Kapitel  (A,)] 
verschiedenen  Kapiteln  (A^).  223,  17  —  18  gegen  andere    Menschen 

(A,)]     gegen  andere  Wesen  (Ai).  227,  2  Erster  Teil  (A,)]    Erstes 

Buch  (Aj).  227,9v.u,  passive  (Aj)]  eine  passive  (A^).  227,4— 3  v.u. 
mithin  (wenn  —  sind)  er  sei  (A,)]  mithin  sei,  wenn  —  sind,  der  Ver- 
bindende (Aj).  229,  I  als  ein  mit  innerer  Freiheit  (A^)]  als  mit 
innerer  Freiheit  (A,).  229,2—3  fähiges  Wesen  und  zwar  (A,)]  und 
insonderheit  der  Verpflichtung  (A^).  229,4  betrachtet,  (A,)]  fähiges 
Wesen  (A,).  229,  6  von  (A)]  vom  (Ak).  229,  14  uns  in  theore- 
tischer Rücksicht  gleich  (A,)]  uns  gleich  in  .. .  (Aj).  229, 15— 14V. u. 
und  —  geistige  (Druckfehlerverz.  A, ;  A^)]  fehlt  (Ai  im  Text).  229, 
7—6  v.  u.  die  eine  —  selbst  (Aj)]  die  einen  einschränkende  (oder 
negative)  Pflichten,  die  andern  erweiternde  (positive)  Pflichten  gegen 
sich  selbst  (A^).  230,  3  erstere  (A,)]  ersten  (Aj).  23O,  3  gehört 
(A,)]  gehören  (A^).  230,16  Es  wird  (Aj)]  Es  gibt  aber  (AJ.  Zu  er- 
gänzen nach  ,, selbst"  230, 17  „stattfinden".  230, 19 v.  u.  betrifft  (Ai)]  be- 
trifft, dreifach  nämlich  (A^).  230,19 v.u.  a)  der  (A,)]  a)  der  Trieb  (A^). 
230,  19  v.u.   die   (Ai)]   zur  (AJ.          230,  18  v,  u.   b)   die  Erhaltung  (A,)] 

b)  der,  durch  welchen  sie   die  Erhaltung  (A^) ;     c)   die  Erhaltung  (AJ] 

c)  der  Trieb,  wodurch  sie  die  Erhaltung  (A2),  230,  17  v-  "•  ^um 
angenehmen    (AJ]     zum    zweckmäßigen  Gebrauche    seiner  Kräfte    und 


Lesarten  ^^p 

zum  angenehmen  (Aj).  Es  wäre  allerdings  sonderbar,  wenn  ein  Dritter 
einen  derartigen  Zusatz  aus  eigener  Initiative  hinzugefügt  hätte. 
230,  4  V.  u.  beraube  (A,)]  beraubt  (A,).  230,  i  v.  u.  Diese  (A)]  sc. 
die  mit  diesen  Lastern  behafteten  Menschen.  230,  i  v.  u.— 231,  1 

ihrem  Charakter  als  moralischer  Wesen  (Ak)]  Ai  hat  ein  Komma  nach 
„Charakter";  dem  Charakter  des  Menschen,  als  eines  moralischen 
Wesens  (A^).  231, 4 v.u.  Ehrbegierde  (A,)]  Ehrsucht  (A,).  232, 

1—3  Der  Tugendlehre  Erster  Teil.  Ethische  Elementarlehre  (A,)] 
Diese  Ăśberschrift  fehlt  (AJ.  232,  4  Erstes  Buch  (A,)]  Erste  Ab- 

teilung (Aj).  232,  8—9  als  einem  animalischen  (A,)]   als  ein  anima- 

lisches  (A,);     vgl.  233,  17  (Aj)    gegen  dem  andern;    240,9;    250,3-4. 

232,  10—9  V.  u.  der  —  wiederum  (A,)]  die  willkürliche  oder  vorsätz- 
liche Zerstörung  seiner  animalischen  Natur,  welche  (Aj).  232, 
8— 6  v.  u.  Der  physische  —  welche  (A,)]  die  totale  heißt  die  Selbst- 
entleibung (autochiria,  suicidium)  die  partiale  läßt  sich  (AJ.  232, 
6  V.  u.  in  (Ai)]  einteilen  in  (Aj).  232,  4  v.  u.  d.  i.  sich  verstĂĽmmelt 
(Ai)]  Entgliederung  oder  VerstĂĽmmelung  (Aj).  232,  4  v.  u. 
und  die  (A,)]  und  in  die  (A^).  232,1  v.u.  beraubt;  (A,)]  beraubt; 
Selbstbetäubung  (A^).  233,  2  von  Unterlassungen  nur  (A,)]  nur 
von  Unterlassung  (Aj).  233,  12  an  (A,)]  bloĂź  an  (Aj).  233,  13 
diese  ihre  Selbstentleibung  (Aj)]   dieses  zugleich  (A^);   dieser  ihre  (Ak). 

233,  17  (Eheleute,  Eltern  (A,)]  (als  eines  der  Ehegatten  gegen  dem 
andern,  der  Altern  (A^).  233,  18  Gott  (Ak)]  Gott  betrachtet  wer- 
den (A).  233,  21  die  Rede  von  Verletzung  einer  (Ai)]  davon  die 
Rede,    ob   die    vorsätzliche  Selbstentleibung  eine  Verletzung  der    (Aj). 

233,  22    ob   nämlich,    wenn    ich    (Aj)]     sei,    und    ob  wenn    man    (A,). 

234,  7  die  Befugnis  zu  haben  (A,)]  daĂź  er  die  Befugnis  haben  solle 
(A2).  234,  13  einem  ihm  (A  )]  ihm  (Aj)  möglicherweise  ist  „einem" 
ausgelassen;  doch  könnte  es  auch  Kantischer  Sprachgebrauch  sein. 
234, 18  v.u.  aber  ein]  aber  nicht  (A).  Natorp  schlägt  auch  vor,  ein  ,, nicht" 
zu  streichen.  234,  16—13  ^'  u-  Amputation,  oder  was  zwar  ein  Teil, 
aber  kein  Organ  des  Körpers  ist  z.  E.  die  Haare  sich  abnehmen  zu 
lassen,  kann  zum  Verbrechen  an  seiner  eigenen  Person  nicht  gerechnet 
werden  (A,)]  Amputation  abnehmen  zu  lassen.  Auch  kann  es  nicht 
zum  Verbrechen  an  seiner  eigenen  Person  gerechnet  werden,  sich 
etwas,  das  zwar  ein  Teil,  aber  kein  Organ  des  Körpers  ist,  z.  B.  die 
Haare  abzuschneiden  (A^).  234,  13  v.  u.  letztere  (A,)]  letzte  (Aj). 
234,  8  V.  u.  Märtyrertum  (A,)]  Märterturti  (A,).  235,  9  daran  (A)] 
Natorp  schreibt  dazu:  wohl  richtig.  235,  8  v.  u.  jene  (Aj)]  jene 
Ursach  (A^).  235,  7  v.  u.  diese  (A,)]  fehlt  (A^).  235,  6  v.  u. 
also  gleichsam  absichtlich  Menschen  hervorbringend  (A,)]  gleichsam,  als 
brächte  sie  absichtlich  die  Wirkung  hervor  (A^).  235,  5—4  v.  u. 
letzteren  Vermögens  (A^)]  Vermögens  zur  Erhaltung  der  Art,  oder  zur 
Fortpflanzung  des  Geschlechts  (A,).         236,9  Fleischeslust  (A,)]  Flei- 

Kants  Schriften.    Bd.  VII  29 


^jo  Lesarten 

scheslust  (A,).  236,  11   Unkeuschheit  (AJ]  Unkeuschheit  (A,). 

236,12  Keuschheit  (A,)]  Keuschheit  (A,).  236,18  wichtigern  (A^)] 

wichtigern  Zweck  (A^).  236,  19—20  Individuum  (A,)]   Individuums 

(A,).  237,9  letzteren  (A,)]  letzten  (A,).  237,12  jene  (A,)]  jene  hin- 
gegen (Aj).  238,17— 16 v.u.  (solchen  Krankheiten)  (AJ]  selbst  Krank- 
heiten (A,).  238,6  v.u.  Betrunkenheit  (A,)]  Trunkenheit  (A,).  239,5 
dadurch  (A,)]  dabei  (AJ.         239,5  getraumte  (A,)]  eine  geträumte  (A,). 

239,  7  hervorgebracht,  Niedergeschlagenheit  aber  (A,)]  hervorgebracht; 
schädlich  aber  dadurch,  daß  nachher  Niedergeschlagenheit  (A^).  239, 9 
dieses  (A,)]  diese  (A,).  239,10  sofern  (Aj)]  insofern  (A^).  239,13 
welche  (A,)]  wobei  (A^).;  Vorstellungen  (A,)]  Vorstellungen  stattfindet 
(Aj).  239,  14-15  des  Viehes  (AJ]  viehischen  GenĂĽsse  (Aj).  239, 
17  V.  u.  Horaz  (Aj)]  Seneca  (AJ.  239,  14  v.  u.  unmitteilbar  (A)]  un- 
mitteilsam (Ak).  239,  16—10  v.  u.  der  Gebrauch  —  erlaubt  sind.  — 
Wer  kann  —  Bereitschaft  ist?  (A,)]  A,  hat  die  Sätze  umgestellt.  Natorp 
bemerkt  dazu:  wohl  richtig,       239,13  v.u.  daher  auch  (A,)]  sie  auch  (A^). 

240,  2  Unmäßigkeit,  der  (A,)]  Unmäßigkeit,  und  zur  (A^).  24O,  9  als 
einem  moralischen  Wesen  (Aj)]  als  moralisches  Wesen  betrachtet  (A^); 
als  ein  moralisches  Wesen  (Ak);  vgl.  240,  17  v.  u.          240,  10  Lastern: 
LĂĽge,  Geiz  und  falsche  (Ai)]  Lastern  der  LĂĽge,  des  Geizes  und 
der  falschen  (A,).         24O,  12    L  (A,)]    Erster  Artikel  (A,).  240, 
17  V.  u.     (die    Menschheit    .  .  .)    (Ai)]     (gegen    die    Menschheit    .  .  .) 
(A,).            240,  16  V.  u.  Wahrhaftigkeit:    die   LĂĽge    (Ai)]    Wahrhaftig- 
keit,   oder    die    LĂĽge     (A^).            240,  6  v.  u.    er   sich    (A,)]     sich  der 
Mensch    (A,).              240,  4  v.  u.    Person;  wobei    (A,)]    Person.     Hiebei 
kömmt  weder  (AJ.          240,3v.u.  nicht  (AJ]  da  er  nicht  (AJ.  240, 
2  V.  u.    betrifft    (AJ]    trifft  (A,).              240,  2  v.  u.    (denn  da  bestände 
es)  (Ax)]  (das  alsdann  (A^).          240,  i  v.  u.  andere)  —  auch  nicht  (A^)] 
Andere  (bestände)  in  Anschlag,    noch  auch  (A^).              241,  t   er  (Ai)] 
der  LĂĽgner  (A,).              241,  n   aber    (Druckfehlerverz.  A,;  Aj)]     fehlt 
(A,  im  Text).          241,  15—16  Persönlichkeit  und  eine  (AJ]  Persönlich- 
keit, wobei  der  LĂĽgner  sich  als  eine  (A^).          241,17  nicht  der  Mensch 
selbst.  (Ai)]  nicht  als  wahren  Menschen  zeigt.   (A,).          241,16— 15  v.u. 
werden,  so  ist  doch  (Aj)]  werden;  dennoch  ist  (Aj).              241,  2  v.  u. 
(der  Gedankenmitteilung)   (Aj)]   die  Klammer  fehlt  (A^).           242,  3  in- 
dem (Druckfehlerverz.  A,;  aJ]  obgleich  (Ai  im  Text).          242,  10  Un- 
redlichkeit (Aj)]  Unlauterkeit  (A,).         242, 12  wird,  wenn  —  für  (A,)] 
wird.    Z.  B.  nach  der  größten  Strenge  betrachtet,  ist  es  schon  Unlauter- 
keit, wenn  ein  Wunsch  aus  Selbstliebe  fĂĽr  (A^).          242,  18  v,  u.  Stelle 
(A,)]  Stelle  aus  (A,).     Das  Druckfehlerverzeichnis  A,  verlangt  zu  ,,aus" 
ein  Komma.          243,  11  In  (Aj)]  MuĂź  ich,  wenn  ich  in  (A,).         243,12 
wenn  ich  da  (A,)]  fehlt  (A^);    muĂź  ich  (A,)]  fehlt  (A^).          243, 17 v.u. 
(nach  ethischen  Grundsätzen)?  (AJ]  die  Klammer  fehlt  (Aj);  letzteren 
(A,)]  letzten  (A,).            243,  15  v.  u.  eigen  (AJ]  eignes  (A,).  243, 


Lesarten  4ji 

13  V.  u.    II.   (AO]    Zweiter  Artikel  (A,).  243,  9  v.  u.   (der  Erweite- 

rung (A)]     (den  Hang   zur  Erweiterung  (AJ.  243,  6   v.  u.  auch 

nicht  (Ai)]    sondern  (A,).  243,4  V.  u.  aber  doch  bloli  (A,)j    und 

zwar  nicht  insofern  er  in  (A,).  243,  3  v.  u.   sein  kann;  (A,;]   be- 

steht; (Aj);    sondern  die.  (AJ]   sondern  insofern  als   die  (A,).  243, 

I  V.  u.  eigenen  Bedürfnisses;  dieser  —  welcher  der  (Ak)]  A,  setzt  ein 
Komma  nach  „Bedürfnisses";  Bedürfnisses  der  (A,).  243,1  v.u.  dieser 
Geiz  ist  es  eigentlich,  der  hier  gemeint  ist,  welcher  (A,)]  fehlt  (A,). 
244,11  entgegengesetzte  Laster  (Druckfehlerverz.A,)]  Entgegengesetzte, 
die  Tugend  (Ai  im  Text);  entgegengesetzte  Laster,  die  Tugend  (A,). 
244,  19  des  habsĂĽchtigen  Geizes  (als  Verschwenders)  (A,)]  der  ver- 
schwenderischen Habsucht  (AJ.  244,20  in  (A,)]  lediglich  in  (A,). 
244,21  und  zu  erhalten  (A,)]  fehlt  (A^).  244,23—25  aber  ohne  Absicht 
—  Zweck  sei)  (Aj]  wobei  man  sich  bloß  den  Besitz  zum  Zwecke  macht, 
und  sich  des  Genusses  entäußert.  (AJ.  244,7  v.u.  Weniger  (Druck- 
fehlerverz.A,;  AJ]  Nicht  weniger  (A,  im  Text).  244,  2  v.  u.— 245, 14 
virtus  —  rectum,  (A,)]  fehlt  (Aj).  245,  10  armselig  (A,)]  (auf  den 
Vorsatz  armselig  (A^).  245,  12 — 11  v.  u.  begehn,  —  ausüben  kann] 
begehn,  —  ausüben  (A,);  begehn  kann  —  ausübt  (A,).  245,  10  v.u. 
ferat  (A^)]  habeat  (A,);  vgl.  214, 11  v.u.;  219,17.  245,8v.u.  bedeutet 
(Aj)]  bedeutet  aber  (Aj).  245,  7  v.  u.  phantastisch  Tugendvollkom- 
menheit (Aj)]  eine  Tugendvollkommenheit  (A^).  246,  15  III.  (A,)] 
Dritter  Artikel  (A^).  246, 14 v.u.  ein  (A,)]  einen  (Aj);  nach  Natorp  ist 
,,ein"  mit  Rücksicht  auf  V,  129,9  na^ch  ,,d.i,"  möglich.  246, 7 v.u.  solcher 
(Druckfehlerverz.  A,;  A,)]  solches  (A,  im  Text).  247,  10  Gering- 
fähigkeit (Aj)]  Geringfügigkeit  (AJ  ;  vgl.  Z.  20.  247,  16  mit  dem 
(A,)]  das  (A3).  247,  17—18  (welches  —  ist),  (A,)]  in  sich  aufrecht 
erhalten;  (A,).  247,  20  Geringfähigkeit  (A,)]  Geringfügigkeit  (Aj). 
247,  22  Demut  (A,)]  moralische  Demut  (AJ.  247,  23  seines  (Aj] 
seinen  (A,).  247,  13—12  v.  u.  sittlich- falsche  Kriecherei  (humilitas 
spuria)  (Aj)]  falsche  moralische  Demut  (humilitas  moralis  spuriaj 
oder  geistliche  Kriecherei  (A,).  247,  11  v.  u.  Demut  (A,)] 
Demut  als  Geringschätzung  seiner  selbst  (A^).  247, 8 v.u.  in  diesem 
Verhältnisse  (A,)]  in  solcher  Demut  (AJ.  248,  16  in  folgenden  Bei- 
spielen (AJ]  durch  folgende  Vorschriften  (AJ.  250,  i  Des  zweiten 
HauptstĂĽcks  (AJ]  Drittes  HauptstĂĽck  (AJ.  250,  3-4  als  dem  an- 
gebornen  Richter  (A,)]  als  den  gebornen  Richter  (AJ;  als  den  an- 
gebornen  Richter  (Ak);  232,  8—9;  240,  9.  Es  ist  kein  Grund  dafür 
einzusehen,  daß  Natorp  hier  eine  Korrektur  vornimmt,  während  er  es 
bei  den  angefĂĽhrten  Stellen  nicht  tut.  250,  10  in  meritum  (Druck- 
fehlerverz. A,;  A,)]  inmeritum  (A,  im  Text).  251,  3  in  sich  (Aj] 
an  sich  (Aj.  251,5  den  (AJ]  das  (AJ.  251,  12-13  (als  den 
Menschen  ĂĽberhaupt,  d.  i.)  (Ak)]  (als  den  Menschen  ĂĽberhaupt)  d.  i. 
(AJ;    fehlt  (AJ.            251,  14  im  (AJ]    in  (Aj.  251,  10-9  v.  u. 


4^2  Lesarten 

Intelligibilen    zum    Sensibilen    (A,)]     Intelligiblen   zum  Sensiblen    (A^). 
252, 12  letztem  (A,)]    letzte  (A,).  252,17    solches    höchste    (A,)] 

höchstes    (A,).  252,  15—14  V.  u.    den  Regeln    (A^]    sich  als  Regel 

(A,).  252,  1  V.  u.  gewissenslos  (A)]    gewissenlos  (Ak).  253,  6 

den  (Druckfehlerverz.  A,;  A,)]  die  (A,  im  Text).  253,8  erstere 

(A,)]  erste  Spruch  (A,).  253,11  enthalte  (A,)]  enthält  (A,).  253,14 
ist,  was  (A,)]    ist;  eine  Seligkeit,  die  (A,).  253,  15  Prinzip  (A,)] 

Prinzips  (A,).  253,  n  v.  u.  Zwecke  (A,)]  Zwecken  (AJ.  253, 

10  V.  u.   dein  Herz  (A,)]  prĂĽfe  dein  Herz  (A,).  253,6  v.  u.  kann 

(A,)]  könne  (A,).  253,  6  v.  u.  mag.  (A,)]  möge.  (A,).  253,  5  v.u. 
Das  moralische  Selbsterkenntnis,  das  (A,)]  diese  SelbstprĂĽfung,  die  (A,). 

253,  4  V.  u.  Tiefen  (Abgrund)  (A,)]  Tiefen  oder  den  Abgrund  (A,); 
verlangt,  ist  (A,)]  verlangt,  und  die  dadurch  zu  erhaltende  Selbst- 
erkenntnis ist  (A,).  253,  3  V.  u.  letztere  (A,)]  letzte  (A,).  253, 
I  V.  u.  die  (Aj)]  der  (A^).  254,  2-3  die  Entwickelung  —  in  ihm  zu 
entwickeln  (Ai)]  der  Bestrebung,  die  nie  verlierbare  ursprĂĽngliche  An- 
lage eines  guten  Willens  in  sich  zu  entwickeln.  (AJ.  Besser  wäre, 
wie  auch  Natorp  bemerkt,  „zu  entwickeln"  zu  streichen  oder  durch 
ein  anderes  Wort,  vielleicht  „zu  fördern"  zu  ersetzen.  254,  3  (nur 
die  (A,)]  Nur  die  (AJ.  254,  4  des  Selbsterkenntnisses  (A,)]  der 
Selbsterkenntnis  (A,).         254,4  Vergötterung)  (A^)]  Klammer  fehlt  (A^). 

254,  6  Dieses  (A,)]    Diese  (A,).  254,  7-8  Mensch  (seiner  ganzen 
Gattung)  (A,)]    eines  Menschen,  oder  des  ganzen  Menschengeschlechts 
(A,).            254,  8  sie    (A,)]     diese  (A,).  254,  11-13  (sich  selbst  - 
findet.  —  (A,)]    und  in  einem  solchen  Falle  auch  sich  selbst  der  Ver- 
achtung wĂĽrdig  findet,    einer  Verachtung,    die  denn  immer  nur  diesen 
oder  jenen  Menschen,  nicht  die  Menschheit  überhaupt  treffen  kann.  —  (Aj). 
254, 16—17  halten  (Gebet-Wunsch).  (AJ]  halten.    Gebet-Wunsch.  (A^). 
254,  8  v.  u.  sich  selbst  (A,)]    sich   oder   andere   Menschen    (AJ. 
254,  7  V.  u.  andere  (A^)]  Andere  Wasen  (A^).         255,  4—6  kann  (denn 
—  werden).  (A,)]  Klammer  fehlt  (A,).          255,  15   für  Pflicht  (AJ]  mit 
einer  Pflicht  (A,).         255,20  erstere  (auĂźermenschliche)  (A,)]  ersten 
(auĂźermenschlichen)   (AJ.         255,23  zweite  (ĂĽbermenschliche) 
(A,)]  zweiten  (übermenschlichen)  (A,).         255,  6-5  v.  u.  diejenige  — 
Moralität  (A,)]    eine   der  Moralität  günstige  Stimmung  der  Sinnlichkeit 
(Aj).            255,4  V.  u.  nämlich  (A,)]    nämlich  die  Lust   (A^).  255, 
3—2  V.  u.  lieben  (z.  B.  —  Gewächsreichs)  (Ai)]  lieben  und  z.  B.  an  den 
schönen  Kristallisationen,    an    der   unbeschreiblichen  Schönheit    des   Ge- 
wächsreichs  ein  uninteressiertes  Wohlgefallen  zu  finden.   (AJ.  256, 
1—2  Pflicht  —  grausamer  (A,)]  gewaltsame  und  zugleich  grausame  (AJ. 
256,  4  dadurch  (A,)]   folglich  (A,).           256,  19  v.  u.   dessen  (A,)]   eines 
Wesens  (Aj.           256,  17  v.  u.  z.  B.   der  Idee   von  Gott  (A,)]     nämlich 
der  Gottheit  (A,).       256,i4v.u.  Gebote."  (A,)]  Gebete."  (A,).        256, 
9 v.u.    selbst    (Aj]    von    uns    selbst    (A,).          256,  6  v.  u.  (geoffenbart) 


Le s a  r t en  ^5^ 

(A,)]    (oder    geofFenbart)     (A,).  257,2    Zweites    Buch     (A,)] 

Zweite  Abteilung  (A,).  257,  13  Naturanlage  (A.)]  Naruranlagen 

(A,).  257,  13  V.  u.    der    Zwecke    (sich    Gegenstande    zum    Zweck 

2u  machen)  (Aj)]  Zwecke  zu  haben,  oder  sich  —  zu  machen)  (A,). 
258,  5    letztere    (A,)]    letztern    (A,).  258,  18  v.  u.    Zweck    (A*)] 

Pflicht  (A,).  258,  15  V.  u.  Welche  (A,)]  Auf  welche  (A.).  258, 
13  V.  u.  es   (A,)]    fehlt  (A,).  258,  12  v.  u.  ihrer    (A,)]    seiner  (A,). 

258,3  V  u.   abwürdigen  (A,)]  herabwürdigen  (A,).  259, 14  v.u.   zu — 

hinzustreben  (AJ]   die  Bestrebung  nach  diesem  Ziele  ist  (Aj.  259, 

12  V.  u.  ist  (A,)]  fehlt  (AJ.  259,3— 2  v.u.  in  kontinuierlichen  Fort- 

schritten (A,)]  im  kontinuierlichen  Fortschritten  (A,);  im  kontinuier- 
lichen Fortschreiten  (Ak).  260, 7—8  Vorteil  (oder  —  Nachteils  (A,)]  Die 
Klammer  fehlt  (A,).  260,  9  könnten?  —  (A^)]  könnten.  -  (A,).  260,  9 
v.u.  jener  (A,)]  jener  Tugenden  (Aj).  260,  8  v.u.  aufzufinden  (A,)] 

bei  sich  aufzufinden  (AJ.  260,  6  v.  u.  das  (A,)]  die  (Aj).  261,  2 
Zweiter  Teil  (A,)]  Zweites  Buch  (A^).  261,  13  erstere  (A,)]  erste 
(Aj).  261,  5  verdienstlich  (A,)]   verdienstliche  (Aj).  262, 

15  v.u.   der  (A,)]   die   (A^).  262,10V. u.  verstanden  (A,)]  genommen 

(Aj).  262,  5  V.  u._daĂź  (A,)]   da   (A^).  262,  i  v.  u.  nur  (A,)]   fehlt 

(A,).  263,  8  letztere  (Ai)]  letzte  (Aj).         263,  13  meines  Nächsten 

(A2)]  meines  Nächstens  (Ai).  263,  14  abzuwürdigen  (AJ]  herabzu- 

würdigen (Aj).  263,  15  —  16  (nicht  —  frönen)   (AJ]   die  Klammer  fehlt 

(Aj).  263,17  erstere  (A,)]  erste  (A,).  263,19  letzteren  (A,)]  letzten 
(Aj).  264,  2  menschenscheu  (Aj)]  Menschenscheu  (AJ.  264,  12 

solipsismo  (H)]   solipsimo  (A).  264,  11  v.  u.  nicht  der  Mensch  (A,)] 

fehlt  (Aj).  264,  9  V,  u.  mit  allen  anderen  (AJ]  alle  andere  (A,)  wie 

alle  andere  (Ak).  265,  i  v.  u.— 266,  i  des  zum  —  Notwendigen  (A,)] 

fehlt  (Aj).  266, 2  Neigungen  (schwärmerisch)  (A^)]  Klammer  fehlt  (A,). 
266,  6  noch  (A,)]  auch  noch  (A^).  266,  7  sei  (Ai)]  werde  (AJ;  d.  i.  das 
(Ai)]   d.  i.  wie  kann  man  das  (Aj).  266,  5  v,  u.  die  gemeinnĂĽtzige 

(Ai)]  ist  die  gemeinnĂĽtzige  Maxime  (Aj).  266,  3  v.  u.   d.i.  bedĂĽrftige 

(A,)]  d.  i.  als  bedĂĽrftige  (A,).  267,  2    fĂĽr  den,  der  reich  (A,)]   im 

Fall,    daß    jemand    reich    (A^).  267,  4  Wohltäter  (A,)]    Wohltäter 

selbst  (Aj).  267,  5  seine  (AJ]  eine  (A,).  267,  12  letzteren 

(Ai)]    letzten  (A^).  267,  16    seinen  Wohltätigkeitsakt   (A,)]  seine 

Wohltätigkeit  (A,).  267,  i  v.  u.    Vorsorge    (A,)]     Fürsorge    (Aj; 

letzteren  (A,)]  letzten  (A,).  268,  4  Gestörten  (A,)]    Blödsinnigen 

und  VerrĂĽckten  (A^).  268,  6  denke,  indem  (AJ]   denke;  dem  ich 

aber  wirklich  keine  Wohltat  erweise,  indem  (AJ.  "  268,  i  v.  u.  Ver- 
letzung (AJ]  Verletzung  (als  skandalöses  Beispiel)  (AJ.  269,  1—2 
(als  skandalöses  Beispiel)  (AJ]  fehlt  (A^).  269,  11-12  schon  —  Dank- 
barkeit (AJ]  gegen  den  Wohltäter  schon  eine  Art  von  Dankbarkeit. 
(AJ.  269,12  v.u.  Grad  (Druckfehlerverz.  A^;  Aj]  Grund  (A,  im  Text). 
269,  8  V.  u.  der  (AJ]  deren  (AJ.            269,  i  v.  u.  mit  der  Menschen- 


454  Lesarten 

liebe]   der  Menschenliebe   (A,)]   fehlt  (A^).  270,  3  ist,  zu  verbinden 

(Aj)]    Verbinder,   auszuĂĽben  (Aj).  27O,  15  v.  u,   erstere  (A,)]    erste 

(AJ.  270,  14  V.  u.   liberalis  (A,)]  libera  (A^).  27O,  12  v.  u.  illibe- 

ralis,   servilis  (A,)]   necessaria  (Aj).  270,9  v.u.   ersteren  (AJ]   ersten 

(A  ).  271,7   dieses   (Ai)]   fehlt  (A^).  271,7—8  sein  würde,  indem 

es  (A,)]    Barmherzigkeit  genannt,   die   (Aj).  271,  9  und  unter 

(Ak  nach  Vorländer)]   unter  (A).  271, 11  respektiv  (AJ]  und  respektiv 

(A,).  Natorp  bemerkt  dazu,  dall)  dieses  „und"  wahrscheinlich  an  die 
falsche  Stelle  gerückt  sei  und  eigentlich  zu  Z.  9  gehöre.  271,  14 

es  (A,)]  fehlt  (AJ.  271,  15  Schicksale  (A,)]  Schicksale  Pflicht  (AJ. 

271,15—16  indirekte  Pflicht  (A,)]  fehlt  (AJ.  271,18  benutzen  (Aj] 

benutzen,  wenigstens  indirekte  Pflicht  (A^).  271,20  umzugehen  (AJ] 
zu  umgehen  (AJ.  271,  21  nicht  (AJ]   fehlt  (AJ.  272,  5  all- 

gemeinen (Druckfehlerverz.  A, ;  AJ]  fehlt  (A^  im  Text).  272,8  das 
(A,)]  also  (Aj.  272,  8—9  sein,  nämlich  der  Stolz,  (AJ]    der  Stolz 

sein,  (Aj).  272,  9  ĂĽber  sich  zu  sehen;  (AJ]    nicht  ĂĽber  sich  sehen 

zu  wollen;  (AJ.  272.  11  v.  u,   eigen  (AJ]  eignes  (Aj).  273,  7 

desselben  wegen  (AJ]  dessentwegen  (AJ.  273,  9  erzeigte  (AJ] 

erzeugte  (Aj).  273,20  V.  u.  Eltern  (AJ]  Aeltern  (AJ.         273,  6  v.  u. 

Böses  (Ai)]  Böse  (AJ.  274,  5  Eräugnisse  (A,)]     Ereignisse  (AJ. 

274,  12—13  Teilnehmung  (des  —  Terenz)  (AJ]  Teilnehmung,  der  Maxime 
des  —  Terenz    (AJ.  274,  2  v.  u.  sanfte    (AJ]    schlaffe   (AJ. 

274,  I  V.  u.  mitis  (AJ]   ignave  (AJ.  275,  i  Entsagung  (AJ]  Ver- 

zichtleistung (AJ.  275,  2  das  (Aj]     diese  (AJ.  275,  7  v.  u. 

erstere  (A,)]  erste  (AJ.  276,  8  (Unbescheidenheit)  (AJ]    oder  die 

Unbescheidenheit     (AJ.  276 ,  8    WĂĽrdigkeit    (A JJ    Foderung 

(AJ.  276,  9  werden,  die  (A)]  werden,  ist  die   (H).  2y6,  10  der 

Forderung  "ber  (Aj)]  aber  in   der  Forderung  (A,).  276,  i  v.  u.  ihm 

(AJ]  ihn  (AJ.  277,  17  v.  u.  Ehrliebenden  (AJ]  Bestraften  (AJ. 

277,  16  v.  u.  auf  (AJ]  noch  auf  (AJ.  277,  15  v.  u.  schmerzhafter 
(AJ]  durch  diese  Entehrung  schmerzhafter  (AJ.  277,  10  v.  u.  der- 
selben (A)]  Görland  schlägt  „desselben"  vor.  „derselben"  ist  richtig, 
weil  es  sich  auf ,, Menschen"  als  Phänomen  bezieht,  während  das  voraus- 
gehende „dem  Menschen"  im  noumenalen  Sinne  aufgefaßt  wird.  278,4 
und  —  Werts  (Aj)]  fehlt  (AJ.  278,  5  ausschlagen  (A J]  ausschlagen, 
nie  ihm  allen  moralischen  Wert  absprechen  (A^).  278,  13  als  (AJ] 
als  einen  (AJ.          278,  13  höchstschätzenden  (AJ]  hochschätzenden  (Aj. 

278,  16  V.  u.  zwar  (AJ]  fehlt  (AJ.  278,  15  —  14  v.  u.  aber  —  Guten 
(AJ]  hingegen  an  derri  was  bloĂź  als  Abweichung  von  der  gemeinen 
Meinung  auffallend  (paradoxon),  sonst  aber  an  sich  gut  ist,  solches  (Aj. 

278,  14  v.u.  nehmen  (AJ]  nehmen  (AJ;  siehe:  geben  Z.  16.  278, 
14  V.  u.   ein  (AJ]     und   ein   (AJ.             279,  i    erstere  (AJ]     erste  (AJ. 

279,  2  Widerspiels  (AJ]  Gegenteils  (AJ.  280,  10  v.  u.  ungläubisch 
(AJ]  ungläubig  (Aj.          280,9-8  v.u.   desjenigen  die  —  Schmälernden, 


Lesarten  ^^^ 

was  (A,)]  desjenigen,  was  die  —  schmälert,  wenn  es  (A.,).  280,  7  v.  u. 
es  mag  —  sein  (A,)]  gesetzt,  daß  es  -  wäre  (A^).  281,  6  uns  andere 

(A,)]    wir  andern  (A^).  281,  17  v.  u,  sie  (Aj)]   gewisse  Sonderbar- 

keiten (Aa).  28l,iov,u.   causticus  (Druckfehlerverz.A,;  Aj)]  casticus 

(Ax   im  Text).  282,  15  v.  u.   dieses  (A,)]    dieses,  auch  in  Beziehung 

auf  andere  Menschen  zu  befolgen  (A^).  282,  2  v.  u.    reine    (AJJ 

reinen  (A^).  283,  5  Diese  (Tugendpflichten)  (A,)]    Diese  Tugend- 

pflichten (A;,).  283,  15  V.  u.  Zustande;  was   den  (A,)|  Zustande  zu 

beobachten  sei;  welches  Verhalten  dem  (A^).  283,  14  v.u.  und  jenen 

(A,)]     gezieme  und  welches  den    (A^).  283,  13  v.  u.    ihrer   (A,)] 

seiner  (A^).  283,  13  v.  u.  ihrem  (AJ]  seinem  (A,).         283,  12  v,  u. 

pragmatischen  (A,)J  der  pragmatischen  (A^).  283,  11  v.u.  ausgehen- 

den;  (Aj)]  ausgehenden  Gelehrten  charakterisiere;  (A,).  283,  9  v.  u. 

zukomme:  (AJ]  zu  beobachten  sei;  (A^).  284,  2  innigsten  (A)] 

inniglichen  (A,  in  der  Tafel  der  Einteilung  309,  8  v.  u.),  ebenso 
(A2  im  Inhaltsverzeichnis).  284,  12   Menschen    (A,)]    Menschen  zu 

suchen   (A2).  284, 13  DaĂź)  aber  Freundschaft  (Aj)]  DaĂź  aber,  obwohl 

nach  Freundschaft  als  einem  Maximum  der  guten  Gesinnung  gegen- 
einander zu  streben  eine  von  der  Vernunft  aufgegebene,  nicht  etwa 
gemeine,  sondern  ehrenvolle  Pflicht  ist,  dennoch  eine  vollkommene 
Freundschaft  (Aj).  284,  13—14  (aber  doch  praktisch-notwendige)  (A,)] 

die  Klammer  fehlt  (A^).  284,  14  in  der  AusĂĽbung  zwar  (A,)|    in 

jeder  Ausübung  (A^).  284,  14—17  aber  —  Pflicht   (A,)]     fehlt  (A,). 

284,  14  unerreichbar  (Ai)]  unerreichbar  sei  (A^).  284,  7  v.  u.  noch 

mehr  aber  (A,)]  oder,  was  noch  mehr  ist  zu  erforschen  (A^).  284, 
3  V.  u.  einbüße,  so  daß  beiderseitig  (Ai)]  einbüße?  Wie  läßt  sich  also 
erwarten,   daĂź  von  beiden  Seiten    (A^).  284,  2  v.  u.   schwerlich   (A,)] 

fehlt  (AJ.  284,  iv.u.  wird;  (A,)]  solle;  (A^).  285,2  so  daĂź  (A,)] 
und  wenn  (A^)  (ohne  Nachsatz) ;  die  Lesart  von  A^  lieĂźe  sich  halten,  wenn 
„und"  gestrichen  würde.  285,  4—5  welche  —  durch  (A,)]    eine  — 

welche,    durch    (A^).  285,  14    Freundschaft  in   (A,)]     Freundschaft 

also  in  (AJ.  2S5,  16  Pirithous  (AJ]    Pyrithous    (A,).  285,  18 

Folgende  Anmerkungen  können  (AJ]  Auch  können  noch  folgende  An- 
merkungen (AJ.  285,  24  und  zwar  daĂź  er  (AJ]  und  glaubt  (AJ; 
gefallen  sei,  oder  (AJ]  gesunken  zu  sein,  oder  fĂĽrchtet  wenigstens  (A J. 
285,25  ingeheim  (AJ]  insgeheim  (AJ.  285,26—27  beständig  —  fallen 
(AJ]  immer  die  Gefahr  seine  Achtung  zu  verlieren  (AJ.  285,  29—31 
(wohl  —  ist)  (AJ]  Klammer  fehlt  (AJ.  286,  9  können.  —  (AJ] 
können,  —  (AJ.  286,  13  Gefühle  (AJ]  Gefühlen  (AJ.  286,  14 
oder  das  (A J]  oder  feste,  'das  (AJ.  286,  20  aber  sich  (Druckfehler- 
verz.A,;Aj]  aber  (A,  im  Text).  286, 5  v.u.  (selbst  —  beabsichtigen) 
(AJ]  Klammer  fehlt  (AJ.  286,4 v.u.  aber  (AJ]  aber  wird  er  (AJ. 
286,  2  V.  u.  sieht  er  sich  (AJ]  und  sieht  er  sich  daher  (AJ.  286, 
I  V.u.  (vornehmlich  —  Menschen)  (AJ]    Klammer  fehlt  (AJ.  287,  4 


45Ă–  Lesarten 

teils  weil  der  andere,  der  sein  —  zurückhält  (A,)]  weil  andere,  indem 
sie    ihr  —  zurückhalten    (A^,).  287,  5—6    machen   —  betrifft    (A,)] 

machen  könnten.  Er  möchte  auch  wohl  andern  seine  Mängel  oder 
Fehler  eröffnen;  aber  er  muß   fürchten,  daß     (A^).  287,  7   würde 

(A,)]     möchte    (A,)-  287,  9—13  einen  —  an  sich  hat  (A,)]    einen 

Menschen,  der  gute  Gesinnung  und  Verstand  hat,  so  daĂź  er  ihm, 
ohne  jene  Gefahr  besorgen  zu  dürfen,  sein  Herz  mit  völligem  Ver- 
trauen aufschlieĂźen  kann,  und  der  ĂĽberdem  in  der  Art  die  Dinge  zu 
beurteilen,  mit  ihm  ĂĽbereinstimmt  (A^).  287,14  allein  (A,)]  allein 

(A,).  287,  20—19  V.  u.    oder  —  welche  (Aj)]     oder  nichp;    oder  der 

Indiskretion.     Nun  ist  es  aber  äußerst  selten  jene  (Aj).  287, 18  v.u. 

selten  ist  (A,)]  fehlt  (Aj);  nigroque  (A^)]  et  nigro  (Ai).  287, 16— 15  v.u. 

zugleich  —  anvertraute  (A,)]  sich  verbunden  achte,  ein  ihm  anvertrautes 
(Aj),  2S7,  14  V.  u,  ersteren  (Aj)]  ersteren,  der  es  ihm  anvertraute 

(A,).  287,  12  V.  u.  Diese  —  ist  (Ai)]  Indeß  ist  doch  die  bloß  mora- 

lische Freundschaft  (A^).  287,  n  v.  u.   (der  schwarze  Schwan)   (Aj)] 

Klammer  fehlt  (Aj).  287,  9  v.  u.   (pragmatische)  A,)]  (pragmatische) 

Freundschaft  (Aj).  287,  4  v.  u.   (d.  i.   der  (Aj)]    (d.  i.   ein  Freund 

der  (A2).  288,  1—2  des  bloß  Menschenliebenden  (Philanthrop)   (A,)] 

des  Philanthropen,  die  Menschen  bloĂź  liebenden  Menschen.  (A2). 
288,  5  gleichsam  (Aj)]  wobei  man  alle  Menschen  (A^).  288,  6  will. 

(A,)]  will,  sich  vorstellt.  (A2).  288,  12— 11  v.  u.   einen,   der  —  anzu- 

sehen; (Ai)]  einen  Teil  eines  allbefassenden  Kreises,  der  weltbĂĽrger- 
lichen Gesinnung  anzusehen;  (A^).  288,10— 9 v.u.  die  Mittel  (A^)]  die 
wechselseitige  (A,),  das  Beziehungswort  fehlt.  288,9  v.u.  fĂĽhren  (A^)] 
führt  (Ai);  derselben  (Aj)]  Gesellschaft  (A^),  die  Korrektur  ist  unnötig, 
da  sich  „derselben",  wie  Natorp  vermutet,  auf  „Welt"  beziehen  kann. 
288,  I  V.  u.  Es  ist  zwar  nur  (Ai)]  Sie  gelten  nur  als  (AJ;  befördert 
(Ai)]  befördern  (AJ.  289,3  Gastfreiheit,  Gelindigkeit  (AJ] 
der  Gastfreiheit,  der  Gelindigkeit  (AJ.  289.4  insgesamt  (AJ] 
welche  insgesamt  (AJ.  289,  4  bloĂźen  (AJ]  bloĂźe  (AJ.  289,  5 
mit  geäußerten  (AJ]  durch  geäußerte  (AJ.  289,  5—6  dadurch  man 
(AJ]  fehlt  (A,).  289,  6  verbindet  (AJ]  verbinden  (AJ.  289,  6 
also  (A)]  die  also  (Ak).  291,  i  II  (AJ]  Zweiter  Teil  (AJ. 
293,  12  (aus  Freiheit)  (AJ]  Klammer  fehlt  (AJ.  293, 13  die  Ober- 
macht (AJ]  Obermacht  (AJ.  293,  9  v.  u.  hiemit  (AJ]  fehlt  (AJ. 
294, 1  sein  (A  J]  sein  wĂĽrde  (A  J.  294,  9  welchen  er  geschieht  (A  J] 
an  welche  er  gerichtet  wird  (AJ.          295,4  Ganze  (AJ]   Ganzes  (AJ. 

295,  9  (und  —  verbürgen)  (AJ]  Klammer  fehlt  (AJ.  295,  14  v.  u. 
dogmatischen  (AJ]  akroamatischen  (AJ.  295,  9  v.  u.  Beispiel 
(AJ  ]Exemper  (AJ.           295,5  v.u.  oder  Abgewöhnung  (AJ]   fehlt  (AJ. 

296,  2  darbietet*)  (AJ]  darbietet  (AJ.  296,i9v.u.  =  L  (AJ]  fehlt 
(Aj;  =S  (AJ]  fehlt  (AJ.  296, 17 v.u.  =0  (Druckfehlerverz.  AJ] 
=  0  (Ai  im  Text);    fehlt  (AJ.              296,  15  v.u.     i.  L.    (AJ]     Der 


Lesarten  acj 

Lehrer  (A,).    Die  Numerierung  fehlt  in  (A.)  durchweg.  296  14-13 

V.  u.  S.  0  (Ak)]  S  =  O.  -  =  O  (A.)l  Der  SchĂĽler  (schweigt)'.  (A,). 
Aj  hat  auch  im  folgenden  stets  statt  S.  Der  SchĂĽler  und  statt  ĂĽ  (schweigt). 
296,  14  V.  u.  alles  (A,)]  in  allem  (A,).  296,   12  v.  u.    2.  L     (A  )i 

fehlt  (AJ.  297,  I    3.  L.  (A,)]    fehlt  (A,).  297,  17  v.  u.  4.  L. 

(Ak)]     fehlt  (A,)     der  Lehrer  (A,).  297,20   v.  u.   5.  L.  (A,)]    fehlt 

(A,).  297,  15  V.  u.  mögest?  (A,)]  mögest.  (A.).  297,  8  v.  u. 

6.  L.  (Ai)]  fehlt  (A,).  297,  i  v.  u.  vorkömmt  (A,)]  vorkommt  (A,). 
298,3  schadest  (A^)]  schadetest  (A,).  298,16  7-  L.  (A,)]  fehlt  (AJ. 

299,  II— IG  v.u.  Wenn  ihm  nämlich  (Druckfehlerver2.  A,;  A,)]  Wenn 
ihm  nun  nämlich  (A^  im  Text).  301,9  zu  opfern  (A,)]  aufzuopfern 

(A^).  301,  17— 16  v.u.  (assuesce  -  vitae)  (A,)]  (sustine  et  abstine) 

(A^)-  302,  7  das  MaĂź  erreicht  (A,)]  es  dahin  bringt  (A,).  303,  6 

ganz  auĂźerhalb  den  (A^)]    als  ganz  auĂźerhalb  der  (AJ.  304,  i   ob- 

jektive die  (A)]  objektive,  die  (Ak).  304,  14  darlegen  mĂĽĂźte  (A,)] 

dargelegt  werden  könnte   (AJ.  304,  21  v.  u.  des  Gegenwärtigen  (A,)| 

der  gegenwärtigen  (A^).  304,  3  v.  u.  der  Bestimmungsgrund  (a/)J 

geht  der  Bestimmungsgrund  (A,).  305,  4-7   (dagegen  —  hat)   (A,)l 

Klammer     fehlt    (A,).  305,  10    aus    (A,)]    als    Zweck    der    (A,). 

305,  19  Aber  (Aj)  in  einem  neuen  Absatz]  in  A^  an  das  Vorher- 
gehende anschließend.  305,  18  v.  u.  bezieht  sich  (A,)]  läßt  sich 
von  Seiten  des-  höchsten  Wesens  (A^).  305,  17  v.  u.  auf  (A,)]  aus 
(A2).  305, 16  v.u.  das  andere  (A^)]  jenes  (AJ.  305,i5v.u.  auf  (AJ] 
aus  (A2);  (benignitas) ;  —  (AJ]  (benignitas)  ableiten;  —  (A^).  306,3 
(d.  i.  der  unter  Menschen,)  (A,)]  (d.  i,  wie  sie  unter  Menschen  vorkömmt) 
(A2).  307,  6  welchen  allen  (Aj)]  welchem  allen  (AJ;  welchem 
allem  (Ak).  Natorps  Korrektur  erübrigt  sich.  307,2—1  v.u.  wechsel- 
seitigen Menschenpflichten  (A,)]  Menschenpflichten  gegen  sich  selbst 
und  andere  Menschen  (A2).  308— 309  Natorp  bemerkt:  „Diese  Tafel 
fehlt  Aj,  wo  sich  dafĂĽr  nach  der  Vorrede  ein  Inhaltsverzeichnis  unter 
dem  Titel  Inhalt  der  Tugendlehre  findet.  Dieses  gibt  die  Ăśber- 
schriften durchweg  nach  den  Ă„nderungen  der  zweiten  Auflage,  nur 
teilweise  gekĂĽrzt.  Im  Abdruck  der  Tafel  aus  (AJ  ist  die  dort  wenig 
konsequente  Sperrung  nach  Möglichkeit  verbessert.  (A,  hat  nicht  ge- 
sperrt: 308,5  gegen  sich  selbst;  —  Z.  20  Reflexionsbegriffe ;  —  Z.Sv.u. 
unvollkommenen  Pflichten;  —  309,  3  Pflichten  gegen  andere.)"  Wir 
schlössen  uns  Ak  an;  dagegen  lesen  wir  308,  9  animalischen  (AJ]  ani- 
malisches  (Ak)  ;     308,  13  moralischen  (A,)]  moralisches  (Ak). 


458  Lesarten 

1798. 

II.  Der  Streit  der  Fakultäten. 

a)  Handschriften. 

Handschriftliches  Fragment  eines  Abschreibers  (Hs)  (vgl.  Kehr- 
bach und  Vorländer  in  der  Akademie-Ausgabe).  Zur  kritischen  Wür- 
digung dieser  Handschrift  vgl.  unsere  AusfĂĽhrungen  in  den  Lesarten; 
doch  kann  schon  jetzt  bemerkt  werden,  daĂź  wir  der  Hdschr.  geringe 
Bedeutung  beimessen. 

b)  Drucke: 

1.  Der  Streit  der  Facultäten  in  drei  Abschnitten  von  Immanuel 
Kant.     Königsberg,  bei   Friedrich  Nicolovius,    1798.      (A) 

2.  Dasselbe.  In  I.  Kants  vermischten  Schriften.  Band  III.  Achte 
und  vollständige  Ausgabe  (ed.  I.  H.  Tieftrunk).  Halle,  in  der  Renger- 
schen  Buchhandlung,  1799,  S.  389— 4J6  und  S.  506— 574,  in  vom  Ori- 
ginal abweichender  Reihenfolge.      (T) 

3.  Dasselbe.  In  der  Gesamtausgabe  von  Hartenstein,  Bd.  I,  Nr.  X. 
Leipzig   1838.     S.  199—319.     (Hl) 

4.  Dasselbe.  In  der  Gesamtausgabe  von  Hartenstein. Bd.  VII,  Nr.  V. 
Leipzig   1868.     S.  321 — 428.     (Hj) 

5.  Dasselbe.  In  „Immanuel  Kants  sämmtliche  Werke".  Teil  X,  Nr.  2. 
Herausgegeben  von  Karl  Rosenkranz  und  Friedrich  Wilhelm  Schubert. 
Leipzig   1838.     S.   249—387.     (R) 

6.  Dasselbe.  Philosophische  Bibliothek  oder  Sammlung  der  Haupt- 
werke der  Philosophie  von  J.  H.  von  Kirchmann.    Bd.  XXXIII,  Abt.  II.    (Ki) 

7.  Dasselbe.  In  Reclams  Universal-Bibliothek.  Herausgegeben  von 
Karl  Kehrbach.      (Kb) 

8.  Dasselbe.  Bd.  VII  der  Akademie- Ausgabe.  Herausgeber:  Karl 
Vorländer.    S.   1  — 116.     (Ak) 

9)  Journal  der  praktischen  Arzneykunde  und  Wundarznovkunst, 
herausgegeben  von  C.  W  Hufeland.  V.  Band.  4.  StĂĽck.  Jena  1797- 
Neue  unveränderte  Auflage  von   1805,  Berlin.    In  Comm.  bei  Wittich. 

(S.    3-4J). 

10)  Von  der  Macht  des  GemĂĽts  .  .  .  Jena,  in  der  academischen 
Buchhandlung   1798.      (I) 

11)  I.  Kant,  Von  der  Macht  des  GemĂĽts  .  .  .  herausgegeben  und 
mit  Anmerkungen  versehen  von  C.  W.  Hufeland.  2.  verb.  und  ver- 
mehrte Auflage.      Leipzig    1824  bei  Wilhelm  LaufFer. 

12)  Immanuel  Kant,  Von  der  Macht  des  GemĂĽts  .  .  .  herausgeg. 
u.   mit  Anm.   vers.   von  C.  W.  Hufeland.      Leipzig.    Reklam. 


Lesarten  ^^^ 

316,  6  es  auch  (A)]  auch   (Ak).    Vgl.   auch  die   dreimalige  Setzung 
des  „ich"  3 19, 5 v.u.  316,14  der  Grenzen  (A,  Kb,  Ak)]   den  Grenzen 

(Hl,  2,  Ki,  T).  317,5  Uten  (A)]  22ten  (T),  mit  RĂĽcksicht  auf  316, 
2  V.  u.  bei  (T)  offenbar  ein  Druckfehler.  317, 11  v.u.  vorhabenden  (A)] 
vorhandenen  (Kb),  nicht  bei  Hartenstein,  wie  (Ak)  irrtĂĽmlich  vermerkt. 
319,  13  v.  u.  Achtungsbezeigung  (A)]  Achtungshezeugung  (T).  319. 

5  v.u.  ich  (A)]  fehlt  (T).  320,1  v.u.  Sr  (A)]  Se.  (H,,,).  Vgl.  hierzu 
Anm.  t  bei  (H,,  ,;  Ki;  Kb).  328,  15  sie  (T)]  ihnen  (A).  329, 

I  V.  u.  mĂĽsse   (A)]  muĂź  (Ak).    Die  Korrektur  ist  ansprechend.  330, 

9  V.  u.  die  beste  (A)]  den  besten  (H,,  ,;  T).  330,4  v.  u.  zu  geben 
hätte  (Zusatz  Rosenkranz)].  332,  5  es  sich  richten  könnte  (A)]  Der 
von  Vorländer  erwähnte  Vorschlag  Menzers:  „er"  —  bezieht  „es"  jeden- 
falls auf  „jedermann",  während  es  sich  auf  „Volk"  bezieht.  336, 
19  V.  u.   erstlich  (A,)]  erstens  (Kb).                337,  14  sich  (A)]   fehlt  (T). 

337,  2  V.  u.  der  der  (A)]  der  (T).  338,  4— J  (der  wesentlichen  und 
ersten    Bedingung)    (A)]    (die  wesentliche  und  erste  Bedingung)    (Ak). 

338,  I  V.  u.  jener  oberen  Fakultäten  (T)]  jener  oberen  Fakultät  (A); 
jeder  oberen  Fakultät  (Kb).  341,  16  sie  (A)]  es  (Ak)  mit  Rücksicht 
auf  „Publikum",  doch  kommt  eine  derartige  Konstruktion  bei  Kant 
häufig  vor;  damit  hängt  auch  bei  (Ak)  die  Weglassung  des  „sich"  Z.  17 
zusammen.  341,  17  sich  alles  (A)]  alles  (Ak).  342,  13  sein  wĂĽrde 
(A)]  wĂĽrde  (T).  343,  10  noch  so  sehr  (T)]  noch  sehr  (A).  343, 
13 v.u.  Begriff  (A)]  Begriffe  (Ak).  344,1  öffentlich  (H)]  öffentlichen 
(A);  vgl.  auch  Z.  21.  r  344,5  der  Regierung  (A)]  fehlt  (T).  344,8 
Sanktionen  (A)]  Sanktion  (Ak).  344,  21  dieser  ihrer  (A)]  dieser  ihr 
(Kb).  344,6v,u.  gelehrten  (A)]  gelehrten  (Ak).  345,i9v.u.  fĂĽr 
den  RichterstĂĽhl  (A)]  vor  den  Richterstuhl  (Kb).  347,  i  d.  i.  (A)] 
fehlt  (Kb);  daĂź  Religion  (A)]  daĂź  die  Religion  (Kb).  347,  11  er- 
zeugte (H)]  erzeugten  (A,  T).  349,  5—7  weil  alle  Grundsätze  (A)] 
Die  Konstruktion  ist  unverständlich;  wahrscheinlich  wollte  Kant  sagen: 
,,weLl     alle     Grundsätze    jederzeit     auch     von     der     Vernunft     diktiert 

werden    mĂĽssen    .  .  .    was    aus    Schriftstellen    fĂĽr    die    R.eligion 

auch  von  der  Vernunft  diktiert  werden  mĂĽsse.  Statt  'dieser  beiden 
Sätze  hat  Kant  nur  einen  einzigen  Satz  gebildet.  Vgl.  auch  Vorl.  zur 
Stelle.  349, 17 v.u.  den   (Aj]  dem  (Ak).  350,  i   (ebendaselbst 

S.  73f.)   (Kb.,  Ak)]  (Ebendasselbe  S.)  (A).  351,5     (wie    allen  Men- 

schen)  (A)]  SchluĂźklammer  fehlt   (T).  351,  M  entgegen   (T)]   fehlt 

(A).  351,  19  v.u.  auf  (R)]  an  (A,  T).  353.  16-15  v.  u.  Gewahr- 

same (A)]  Gewahrsam  (T).  355,  17  sich  (A)]  sie  (T).  355,8  v.u.  innig- 
licher (A)]  inniger  (T).  356,  14—15  (dergleichen  ....)  (A)]  Klammer 
fehlt  (T).  356,  17  Vernunft?  (T)]  Vernunft  (A).  356,  2-1  v.  u. 
wodurch  dann  das  neue  (die  doch  nicht  noch  wahrer  als  wahr  sein 
kann)  (A)]  H.  liest:  das  doch  nicht  wahrer  als  wahr  sein  kann.  Ak 
setzt    „wodurch    dann    das    neue"    hinter    das    in    Klammer    Stehende. 


^6o  Lesarten 

357,3  aufgespähet  (A)]  aufspahet    (T).  357,  5  v.  u.  bekennen  (H)] 

zu  bekennen   (A).  358,  21   uns  (A)]   von  uns  (Ak).  358,  5  v.  u. 

gebrechlicher  (A)]   gebrauchlicher  (Hs).  359,  12-13  soferne   (A)] 

sofern  (Hs).  359,  2  Gnadenbezeigung  (A)]    Gnadenbezeichnung  (Hs). 

359,  15  Allgemeine  (A)]  fehle  (Hs).  359,  16-15  v.  u.  eigentlich  Re- 
ligion —  Sektenverschiedenheit  (A)]  in  Hs  gesperrt.  359,  4  v.  u. 
Christen    nennen    (Ak)]    vgl.  359,  2  v.  u.;    Christen  nennen    (A,  Hs). 

360,  18  der  Einteilung  nach  (A)]  fehlt  (H).  360,  19-20  Religion 
oder  Superstition  oder  Heidentum  —  entgegen  sind.  (A)]  Religion  oder 
Heidentum  (Hs).  Bei  Ak  im  Anschluß  an  Hs  „Superstition"  gestrichen, 
offenbar  mit  RĂĽcksicht  auf  das  in  Klammern  Stehende:  (die  einander 
wie  A  und  non  A  widersprechen).  Zunächst  scheint  es  formal  bedenk- 
lich, die  Handschrift  so  zu  benutzen,  daĂź  man  einen  Teil  herausgreift 
und  den  anderen  stehen  läßt,  und  ferner  bilden  Superstition  und 
Heidentum  einen  Begriff,  wodurch  der  Gegensatz  „von  A  und  non  A" 
gerechtfertigt  ist.  360,  9  v.  u.  nun  (A)]  fehlt  (Hs).  360,  8  v.  u. 
zufällig  (A)]  in  Hs  gesperrt.  360, 7 v.u.  Notwendigkeit  (A)]  in  (Hs) 
gesperrt;  a  priori  (A)]  in  (Hs)  gesperrt.  361,  i  erkennbar  (A)]  er- 
denkbar (Hs).          361,  I   Vernunftlehren  (A)]  in  (Hs)  nicht  gesperrt. 

361,  16  V.  u.  fĂĽr  (A)]  als  (Hs).  361,  14  v.  u.  Ă„uĂźerliche  (AuĂźer- 
wesentliche) (A)]  Außerwesentliche  (Hs).  361,  11  v.  u.  Gebräuche 
fĂĽr  Gesetze  auszugeben  (A)]  fehlt  (Hs).  361,  10  v.  u.  nichts  (A)] 
nicht  (Hs).  361,  9—8  V.  u.  Die  Anmerkung  fehlt  in  (Hs).  361, 
7—1  V.  u.  Die  Anmerkung  '  fehlt  in  (Hs).  362,  2  nicht  (A)]  fehlt 
(Hs).             362,  3—7  (nicht  —  Gesinnung)  (A)]  Klammer  fehlt  in  (Hs). 

362,  10  werden  (A)]  fehlt  in  (Hs).  362,11—12  auszuschließen  (A)] 
ausgeschlossen  (Hs).  362,12  in  (A)]  im  (Hs);  in  den  (Kb).  362,17 
einen  (A)]  wenn  (Hs).            362,  18  entsprängen  (A)]  entspringen  (Hs). 

362,  18  V.  u.  als  praktischer  Vernunftglaube  (A)]  praktischer  (als  Ver- 
nunftglaube) (Hs).         362,  II  V.  u.   (Separatism)   (A)]  Separaristen  (Hs). 

363,  3  einmal  doch  (A)]  doch  einmal  (T).  363,  9  Religion  (A)] 
Religion  selbst  (Hs).  363, 16—17  (eigentlich  kirchliche  Glaubensarten) 
in  einem  Staate   (T)]  in  (A)  ist  die  Klammer  nach  Staate    geschlossen. 

364,  15  Glaubenssachen  (A)]  Glauben  (Hs).  364,  18—19  bemerklich 
machen  wĂĽrde  (Hs)  bemerklich  machen  (A).  364,12  V.  u.  Moses  Men- 
delssohn (A)]  Moses  Mendels  Sohn  (Hs).        365,  lov.u.  diese  (A)]  die  (Hs). 

365,  8  V.  u.  vorher  sagen  kann  (T)]  vorher  zu  sagen  (A).  366,  3 
so  schon  (A)]  schon  so  (Hs).  366,  3  aber  (A)]  fehlt  (Hs).  366,  4 
ward  (A)]  wird  (Hs).              366,7  den  (H,  Ak)]     der  (A);     fehlt  (Hs). 

366,  IG  wieder  (A)]  fehlt  (Hs).  366,  11  v.  u.  nur  (A)]  fehlt  (Hs); 
von  (Ak)]  um  von  (A).  366,  10  v.  u.  gute  Prinzip  (A)]  Gute  (Hs). 
366,  IG  V.  u.  einfinden  (A)]  finden  (Hs).  366,  7  v.  u.  finde  (A)] 
finden  (Ak).  367,  9  maeror  animi  (Ak)]  moeror  animi  (A).  367, 
10 — 12  gräme,  mithin  —  kann.]      grämen,  mithin   —   kann.    (A);      gräme 


Le  s  a rten 


46 1 


(mithin  -  kann.  (Hs);  grämen  (mithin  —  gehen)  kann  (T);  grame 
(mithin  —  kann)   (Ak).  367,  12   Höllenfahrt  (A)]   (Höllenfurcht  (Hs). 

367,18  radikale  (A)]  die  Handschrift  unleserlich.  368,3  nun  (Aj)   Hs 

möglicherweise   „um".  368,19  überein)   (Aj|  in  (Hs)  Klammer  nach 

„Lebenswandel"  Z.  18.  368,  18  v.  u.  sei  (A)]  ist  (Hs).  368,  7  v.  u. 
abstechenden  (A)]  abstehenden  (Hs).  368,  4  v.  u.  einer  (T)]  einem 

(A).  369,  14  von  denen  —  man  aus  ihnen   machen  (A)]  aus  denen 

—  man  machen  (Hs).  369,  16  haben  (A)]  habe  (Hs).  369, 19 v.u. 
Bibel  (A)]  (Hs)  hat  sinnlos  ,, Biber";  schon  daraus  läßt  sich  ein  Schluß 
auf  die  geistige  Verfassung  des  Abschreibers  ziehen.  369,  18  v.  u. 
Spenerischen  (A)]  Spenerschen  (Hs).  369,  12  v.  u.  enthaltene  (T, 
Ak)]  enthaltende  (A).  369,  9  v.  u.  ihrem  (A)]  seinem  (Ak);  „seinem" 
dem  Sinne  nach  richtig.  369,  5  v.  u.  gewisse  (A)]  fehlt  (Hs).  370,2 
OfFenbarungslehre  (Hs)]  Offenbarungslehren  (A).  370,  6  hätte  (A)J 
fehlt  (Hs).  370,16  Objekte  (Hs)]  Objekt  (A).  370,20—21  oder — 
bezweifeln.  —  (A)]  fehlt  (Hs).  370,  21  ihre  (Ak)]  seine  (A),  370, 
16  V.  u.  des  ĂĽ-bersinnlichen  (A)]  der  ĂĽbersinnlichen  (Hs).  371, 
10  V.  u.  Lehrern  (A)]  Lehren  (T).  371,  3  v.  u.  Volkslehrer  (A)] 
Volkslehre  (Hs).  372,  4  Hinlänglichkeit  (A)]  Hinlencklichkeit  (Hs); 
s.  Z.  3  V.  u.  Hs:  herausgedrenckter.  372,  5  nicht  (A)]  fehlt  (Hs). 
372,  21  V.  u.  er  (A)]  der  (Hs).  372,  11  v.  u.  bei  der  Hand  (A)] 
bei  Hand  (Hs).  372,  9  v.  u.  inständige  (von  „durch"  abhängig) 
(Ak)]  inständiger  (A).  374,  18  P.  Petau's  Rechnung  (Ak)]  F.  Petau 
Rechnung  (A).  376,  7  eine  Form  als  einer  Regierung  (A)]  eine 
Form  der  Regierung  (T).  377,  7  muĂź  (Ak)]  mĂĽssen  (A).  378, 
5  V.  u.  biblische  Geschichte  (A)]  Zusatz  (Ak):  die  383,1  diese 
Erdenwelt  (A)]  die  Erdenwelt  (Kb).  383,  7  v.  u.  unser  Verstand 
(H)]  unsern  Verstand  (A)  385,  19  selbständiges  (A)]  ein  selb- 
ständig (T).  389  Bei  (T)  folgt  hier  die  Inhaltsangabe,  die  in  (A) 
vor  dem  I.Abschnitt  steht.  392,  2  kann  (Ak)]  kann  (A) ;  bei  (Ak) 
gesperrt  mit  Rücksicht  auf  „will"  391,  5-        393'3-2v.u.  auftürmenden 

—  angemessenen  (A)]  auftürmender  —  angemessener  (T).  395,  5  zu 
Folge  (A)]  zur  Folge  (T).  395,i6v.u.  beschleunigten  (A)]  beschleu- 
nigtem (T,  Ak).  396,  4  beständig  (A)]  fehlt  (T).  396,  17  v.  u. 
dem  (T)]  den  (A,  Ak).  396,  4  v.  u.  Besseren  (T)]  Bessern  (A);  vgl. 
398,  I.  39S,  2  solches  (H)]  solcher  (A).  400,  3—8  Der  Satz  ist 
unverständlich;  das  kommt  daher,  weil  Kant  zweifellos  das  Prädikat 
„vor  Augen  stellt"  Z.  6  auch  als  Prädikat  für  den  übergeordneten 
Hauptsatz  verwendet;  es  müßte  „vor  Augen  stellt"  nach  „rein"  Z.  4 
stehen;  eine  ähnliche  Konstruktion  ist  uns  schon  begegnet,  vgl. 349,7— 9; 
vgl.  auch  Vorl.  z.  St  402,  8  sie  (A)]  Es  ist  nicht  nötig,  „ihn"  zu  setzen, 
wie  Vorl.  vorschlägt,  da  sehr  häufig  ein  Kollektivbegriff  von  Kant  pluralisch 
behandelt  wird.  403,  16  eingeschränkten  (A)]  eingeschränkte 
(T).         403,  13  V.  u.   eingeschränkter  (H,  Ak)]     eingeschränkter  (A) 


i{6i  Lesarten 

405,  5  wohlverstandenem   (T)]   wohlverstandenen  (A).  405,  4  v.  u. 

als  vollendet  (A)]  vollendet  (Ak).  Die  Wiederholung  derartiger  Be- 
ziehungswörter ist  bei  Kant  häufig.  406,  4  v.  u.  seinen  (A)]  seine 
(Ak).  407,2  fĂĽr  (A)]  vor  (T).  4H,  4-5  (T)  und  (I)  haben 
hier  eine  Anmerkung  Hufelands,  die  bei  (T)  mit  H  .  .  .,  bei  (I)  mit 
d.  H.  unterzeichnet  ist;  vgl.  auch  die  j  folgenden  Anmerkungen. 
412,  I  (technisch)  (A)]  Klammer  fehlt  (T).  412,  17  v.  u.  laut 
(A)]  laut  (T).  412,  7  V.  u.  enthielten  (A)]  enthielte  (Kb).  412, 
4  V.  u.  Wir  (T)]  Wir  (A).  414,  12— 11  v.u.  indessen  —  führt  (A)J 
Die  Konstruktion  ist  unklar;  sie  wird  verständlich,  wenn  man  vor 
„doch"  „sie"  setzt,  sc.  Kausalität.  416, 11  schlimmen  (A)]  schlimmem 
(Hj.  416,  !6  verehelichte  (A)]  bei  (T)  und  (I)  eine  Anmerkung. 
416,  17  sein.  —  (A)  bei  (T)  und  (I)  eine  Anmerkung.  416,  9  v.  u. 
inniglich  (A)J  innig  (T).  416,3  v.u.  zu  (A)]  in  (T).  417,7 
bei  (A)]  den  (T).  417,  16  v.  u.  fĂĽr  (A)]  vor  (T);  vgl.  407,  2. 
419,  I  was  (A)]  fehlt  (T).  419,  15  seinen  beschiedenen  (A)] 
sein  beschieden    (T;  I).             420,  11    Gedanken  (A)]    Gedankens  (T). 

421,  7  V.  u.  will  (A)]  will  (T,  I,  Ak).  421,  12  wurde  (A)]  wurden 
(T;  I).  421,  20  V.  u.  (nur  nicht )  (A)]     (nicht  nur    )    (T). 

422,  20—23  sowohl  .  .  .  (A)]  für  das  Wort  „sowohl"  fehlt  das  ent- 
sprechende „als  auch",  wenn  man  nicht  mit  Vorl.  das  „und"  Z.  13  v.  u. 
als  das  entsprechende  „als  auch"  betrachten  will.  423,  11— 12  Zeit- 
kürzender ist  freilich  das  letztere  (A)]  fehlt  (T).  423,  12—14  Das 
letztere  -  das  erstere  (Ak  nach  Menzer)],  offenbar  mit  RĂĽcksicht  auf 

423,  16—17;  Das  erstere  —  das  letztere  (A).  425,  7  vorfallenden 
(A)]  vorfallendem  (H,  Kb;  Ak).  425,  7-8  vorfallenden  -  er- 
schallendes (A)]  Ak  setzt  nach  Frey  die  Klammer  vor  „stoßweise"; 
nach  unserem  Sprachgebrauch  erforderlich,  ob  auch  nach  Kantischem, 
scheint  zweifelhaft.  425,  13  offenen  (A)]  offenem  (T,  Ak).  425, 
17  V.  u.  gewährt  (Kb)]  bewährt  (A;  T).        426,8  flüssige  (A)]  fehlt  (T). 

428,  18—17  V.  u.  in  der  Aussicht  —  zurückgewiesen  haben  (A)]  Sinn 
und  Konstruktion  nicht  ganz  klar;  auch  durch  die  von  Vorl.  vorgeschlagene 
Änderung  wird  der  Sinn  nicht  völlig  klar.  428,  12  v.  u.  auch 
nicht  (T)]  noch  nicht  (A);  besser  wäre  „noch  des  Gedächtnisses  al- 
lem";   „nicht"  ist  offenbar  nur  auf  einen  Setzerfehler  zurückzuführen. 

429,  19  v.  u.  verpflichtete  (A;  Kb)]  verpflichteten  (H.  T.  I.).  429, 
14  v.  u.  (T;  I)  haben  hier  eine  besondere  Anmerkung.  430,  18  ihrem 
(T,  I)]  ihren  (A).  430,  21  sagt  (T)]  sagte  (A).  430,  13  v.  u. 
bei  (T;  I.)  eine  Anmerkung.  430,  3  v.  u.  gemacht  (A)]  fehlt  (T). 
431,  4   V.  u.   bei  (T;   I)   eine  Anmerkung. 


InhaltsĂĽbersicht  des  siebenten  Bandes. 


Seite 

Die  Metaphysik  der  Sitten  in  zwei  Teilen.    (1797)      •     » 

Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde  der  Rechtslehre J 

Vorrede 5 

Tafel  der  Einteilung  der  Rechtslehre lo 

Einleitung  in  die  Metaphysik  der  Sitten. 

I.  Von  dem  Verhältnis  der  Vermögen  des  menschlichen  Gemüts 

zu  den  Sittengesetzen i  l 

IL  Von  der  Idee  und  der  Notwendigkeit  einer  Metaphysik  der 
Sitten ^5 

III.  Von  der  Einteilung  einer  Metaphysik  der  Sitten   .     .     .     .    18 

IV.  Vorbegriffe   zur  Metaphysik   der  Sitten   {Philosophia  practica 

universalis) *  ^ 

Einleitung  in  die  Rechtslehre. 

§  A.  Was  die  Rechtslehre  sei 3° 

§    ß.  Was  ist  Recht? l^ 

§   C.  Allgemeines  Prinzip  des  Rechts 3  I 

§  D.  Das  Recht   ist  mit  der  Befugnis  zu  zwingen  verbunden    31 
§    E.  Das  strikte  Recht  kann  auch  als  die  xMöglichkeit  eines 
mit    jedermanns    Freiheit     nach    allgemeinen    Gesetzen 
zusammenstimmenden       durchgängigen      wechselseiligen 

Zwanges  vorgestellt  werden H 

Anhang  zur  Einleitvmg  in   die  Rechtslehre. 

Vom  zweideutigen  Recht  {lus  aequivoctun) }5 

I.  Die  Billigkeit  (Aequitas) 3  5 

II.  Das  Notrecht  (lus  necessitatis) 3 

Einteilung  der  Rechtslehre. 

A.  Allgememe  Eint^Uung  der  Rechtspflichten 3^ 

B.  Allgemeine  EinteUung  der  Rechte 3  9 

Das  angeborne  Recht  ist  nur  ein  einziges 39 


4  (54  InhaltsĂĽbersicht  des  siebenten  Bandes 

Seite 

Einteilung  der  Metaphysik  der  Sitten  ĂĽberhaupt     1 41 

II.  Einteilung   nach    dem   objektiven  Verhältnis  des  Gesetzes 

zur  Pflicht 4i 

III.  Einteilung  nach  dem  subjektiven  Verhältnis  der  Verpflich- 
tenden und   Verpflichteten 43 

Von  der  Einteilung  der  Moral,  als  eines  Systems  der  Pflichten 

ĂĽberhaupt 44 

Der  allgemeinen  Rechtslehre  Erster  Teil.   Das  Privatrecht  vom 

äußeren  Mein  und  Dein  überhaupt 47 

Erstes  HauptstĂĽck.    Von  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  als  das  Seine 

zu  haben 47 

Zweites  HauptsĂĽck.     Von  der  Art  etwas  Ă„uĂźeres  zu  erwerben  6  i 

Einteilung  der  Erwerbung  des   äußeren  Mein  und  Dein     ,  63 

Erster  Abschnitt.     Vom  Sachenrecht 65 

Zweiter  Abschnitt.     Vom  persönlichen  Recht  ....  74 
Dritter  Abschnitt.     Von  dem  auf  dingliche  Art  persön- 
lichen Recht 80 

Episodischer  Abschnitt.     Von  der  idealen  Erwerbung 

eines  äußeren  Gegenstandes  der  Willkür       ....  ^6 
Drittes  HauptstĂĽck.    Von  der  subjektiv-bedingten  Erwerbung 

durch  den  Ausspruch  einer  öffentlichen  Gerichtsbarkeit  102 

Der  allgemeinen  Rechtslehre  Zweiter  Teil.  Das  öffentliche  Recht  115 

Erster  Abschnitt.     Das  Staatsrecht II7 

Zweiter        ,,             Das  Völkerrecht 150 

Dritter  „  Das  Weltbürgerrecht '159 

Anhang  erläuternder  Bemerkungen  zu  den  metaphysischen  An- 
fangsgrĂĽnden der  Rechtslehre 163 

Die  Metaphysik  der  Sitten. 

Zweiter  Teil.     Metaphysische  AnfangsgrĂĽnde    der  Tugendlehre  181 

Vorrede 183 

Einleitung  zur  Tugendlehre 108 

I.  Erörterung  des  Begriffs  einer  Tugendlehre 188 

II.  Erörterung   des  Begriffs  von  einem  Zwecke,    der   zugleich 

Pflicht  ist 191 

III.  Von  dem  Grunde  sich  einen  Zweck,    der  zugleich  Pflicht 

ist,  zu  denken 1 94 

IV.  Welche  sind  die  Zwecke,  die  zugleich  Pflichten  sind?       .  195 
V.  Erläuterung  dieser  zwei  Begriffe. 

A.  Eigene  Vollkommenheit 19*^ 

B.  Fremde  GlĂĽckseligkeit I97 


InhaltsĂĽbersicht  des  siebenten  Bandes  465 


Seite 


VI,  Die  Ethik  gibt  nicht  Gesetze  fĂĽr  die  Handlungen  (denn 
das    tut    das    lus),    sondern   nur  fĂĽr  die  Maximen   der 

Handlungen ipg 

VII.   Die  ethischen  Pflichten  sind  von  weiter,    dagegen  die 

Rechtspflichten  von  enger  Verbindlichkeit       .     .  -199 

VIII.  Exposition  der  Tugendpflichten  als  weiter  Pflichten  .     .201 

IX.  Was  ist  Tugendpflicht? 2O4 

X.  Das   oberste    Prinzip    der   Rechtslehre    war   analytisch; 

das  der  Tugendlehre  ist  synthetisch 206 

XI.  Das  Schema  der  Tugendpflichten 208 

Xir.   Ästhetische  VorbegrifFe  der  Empfänglichkeit  des  Gemüts 

fĂĽr  Pflichtbegriffe  ĂĽberhaupt Z09 

XIII.  Allgemeine    Grundsätze    der    Metaphysik  der  Sitten    in 
Behandlung  einer  reinen  Tugendlehre 213 

XIV.  Vom  Prinzip  der  Absonderung  der  Tugendlehre  von  der 
Rechtslehre 217 

XV.  Zur  Tugend    wird    zuerst    erfordert    die    Herrschaft 
ĂĽber  sich  selbst 218 

XVI.  Zur  Tugend  wird  Apathie  notwendig  vorausgesetzt    .    219 
XVII.  VorbegriflFe  zur  Einteilung  der  Tugendlehre     .     .     .     .220 

XVIII.  Einteilung  der  Ethik 225 

I.  Ethische  Elementarlehre 225 

Erster  Teil,      Von     den    Pflichten    gegen    sich    selbst    ĂĽber- 
haupt.    Einleitung 227 

Erstes  Buch.    Von  den  vollkommenen  Pflichten  gegen  sich 
selbst. 
Erstes  HauptstĂĽck.    Die  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich 

selbst  als  einem  animalischen  Wesen 232 

Zweites  HauptstĂĽck.     Die   Pflicht   des  Menschen    gegen 

sich  selbst,  bloĂź  als  einem  moralischen  Wesen       .     .240 
Erster  Abschnitt.    Von  der  Pflicht  des  Menschen  gegen 
sich  selbst,    als   dem   angebornen  Richter   ĂĽber    sich 

selbst 250 

Zweiter    Abschnitt.     Von     dem    ersten    Gebot    aller 

Pflichten  gegen  sich  selbst 255 

Episodischer    Abschnitt.      Von     der    Amphibolie     der 

moralischen  Reflexionsbegriffe 2^4 

Zweites    Buch.     Von    den    unvollkommenen  Pflichten    des 
Menschen   gegen  sich  selbst  ...* 257 

Kants   Schriften.    Bd.  VII.  3° 


^66  InhaltsĂĽbersicht  des  siebenten  Bandes 

Seite 
Erster   Ahschnirt.      Von    der  Pflicht    gegen  sich   selbst   in 
Entwicklung  und  Vermehrung  seiner  Naturvol  Ikom- 

menheit,   d.  i.   in   pragmatischer  Absicht 157 

Zu-eiter  Abschnitt.     Von    der    Pflicht    gegen  sich  selbst 
in    Erhöhuna    seiner    moralischen    Vollkommenheit, 

d.  i.   in  bloK)  sittlicher  Absicht 259 

Zweiter  Teil.      Von   den   Tugendpflichten  gegen   andere. 
Erstes   HauptstĂĽck.     Von   den   Pflichten   gegen  andere  blol^ 
als  Menschen. 
Erster  Abschnitt.     Von   der   Liebespflicht    gegen  andere 

Menschen.     Einteilung 261 

Zweiter    Abschnitt.     Von     den     Tugendpflichten     gegen 

andere  Menschen  aus  der  ihnen  gebĂĽhrenden  Achtung    176 
Zweites  HauptstĂĽck.   Von  den  ethischen  Pflichten  der  Men- 
schen gegeneinander  in  Ansehung  ihres  Zustand  es      .    285 
BeschluĂź  der  Elementarlehre.  Von  der  innigsten  Vereinigung 
der  Liebe  mit  der  Achtung  in  der  Freundschaft       .     .     .284 

IL  Ethische  Methodenlehre 291 

Erster  Abschnitt.     Die  ethische  Didaktik 293 

Zweiter  Abschnitt.     Die  ethische  Asketik 301 

BeschluĂź).  Die  Religionslelu-e  als  Lehre  der  Pflichten  gegen 
(iott  liegt  auĂźerhalb  den  Grenzen  der  reinen  Moralphilo- 
sophie   3"^^ 

Tafel  der  Einteilung  der  Ethik     •     ■     • ?o8 


Der  Streit  der  Fakultäten  in  drei  Abschnitten.  (1798)   311 

Vorrede 315 

Inhalt 322 

Erster    Abschnitt.      Der    Streit     der     philosophischen 

Fakultät  mit  der  theologischen 325 

Einleitung 327 

Einteilung  der  Fakultäten  überhaupt .328 

I.   V^om  Verhältnisse  der  Fakultäten. 

Erster  Abschnitt.    Begriff   und    Einteilung    der    oberen 

Fakultäten 3J0 

A.  Eigentümlichkeit  der  theologischen  Fakultät     .      .     »333 

B.  Eigentümlichkeit  der  Juristenfakultät 334 

C.  Eigentümlichkeit  der  medizinischen  Fakultät    .     .     -336 
Zweiter  Abschnitt.     Begriff  und  Einteilung  der  untern 

Fakultät 337 


Inhaltsübersicht  des  siebenten  Bandes  ±6 


4V 

Seite 

3^9 


Dritter  Abschnitt.  Vom  gesetzwidrigen  Streit  der  oberen 
Fakultäten  mit  den  unteren 

Vierter  Abschnitt.  Vom  gesetzmäßigen  Streit  der  oberen 
Fakultäten  mit  der  unteren i  , 

Resultat 


H<^ 

Anhang  einer  Erläuterung  des  Streits  der  Fakultäten   durch   das 

Beispiel    desjenigen    /.wischen     der    theologischen    und    philo- 
sophischen. 

I.  Materie  des  Streits ^  .<$ 

II.   Philosophische   Grundsatze   der  Schrifrauslegung  zur  Bei- 
legung des  Streits -x  An 

III.   EinwĂĽrfe  und  Beantwortung  derselben,    die  (irunds.ir/c 

der  Schriftauslegung  betreffend 756 

Allgemeine  Anmerkung,     Von  Rcligionssekten       .      .     .      •    ^SQ 
Friedens- Abschluß  und  Beilegung   des  Streits  der  Fakultäten     .    172 
Anhang  biblisch-historischer  Fragen  ĂĽber  die   praktische 
Benutzung  und  mutmaĂźliche  Zeit  der  Fortdauer  dieses  heiligen 

Buchs ^80 

Anhang.     Von  einer  reinen  Mystik  in   der  Religion       .      .      .    ^81 
Zweiter  Abschnitt.     Der    Streit     der     philosophischen 

Fakultät  mit  der  juristischen :;89 

Erneuerte  Frage:    Ob  das  menschliche  Geschlecht  im  be- 
ständigen Fortschreiten  zum  Besseren  sei? 

I.  Was  will  man  hier  wissen? 391 

:.   Wie  kann  man  es  wissen? ;p2 

3.  Einteilung  des  Begriffs  von  dem,  was  man  fĂĽr  die  Zu- 
kunft vorherwissen  will ^93 

4.  Durch  Erfahrung  unmittelbar  ist  die  Aufgabe  des  Fort- 
schreitens nicht  aufzulösen 395 

5.  An  irgend  eine  Erfahrung  muĂź  doch  die  wahr- 
sagende Geschichte  des  Menschengeschlechts  angeknĂĽpft 
werden ^')6 

6.  Von  einer  Begebenheit  unserer  Zeit,  welche  diese  mora- 
lische Tendenz  des  Menschengeschlechtes  beweiset.     .    397 

7.  Wahrsagende  Geschichte  der  Menschheit 400 

8.  Von  der  Schwierigkeit  der  auf  das  Fortschreiten  /um 
Weltbesten  angelegten  Maximen  in  Ansehung  ihrer  Publi- 
zität       4°^ 

9.  Welchen  Ertrag  wird  der  Fortschritt  zum  Besseren  dem 
Menschengeschlechte  abwerfen? 404 


4<^8  InhaltsĂĽbersicht  des  siebenten  Bandes 

Seite 

lo.   In    welcher  Ordnung    allein    kann    der  Fortschritt    /um 

Besseren  erw^artet  wertlen? aqc 

BeschluĂź Ă„Q^ 

Drifter     Abschnitt.      Der    Streit     der     philosophischen 

Fakultät  mit  der  medizinischen 400 

Von   der  Macht  des  GemĂĽts    durch    den    bloĂźen   Vorsatz 

seiner  krankhaften  (lefĂĽhle   Meister  zu  sein 4II 

Ein     Antwortschreiben     an      Herrn     Hofrat     und     Professor 

Fiufeland ^  j  j 

Grundsatz   der  Diiitetik .415 

1.  Von   der  Hypochondrie 417 

2.  Vom  Schlafe 410 

3.  Vom  Essen  und  Trinken 422 

4.  Von     dem    krankhaften    GefĂĽhl    aus    der    Unzeit    im 
Denken 42-' 

5.  Von  der  Hebung  und  VerhĂĽtung  krankhafter  Zufalle 
durch  den  Vorsatz  im   Atem  ziehen 424 

6.  Von   den  Folgen   dieser  Angewohnheit   des  Atem- 
ziehens mit  geschlossenen  Lippen.     ,     .     .     .     .     .   ±16 

BeschluĂź 427 

Nachschrift 41Q 


Lesarten 4^1 


Faksimile    der    handschriftlichen  Antwort  Kants    auf   die   Rezension    in 

den  Götfingischen  Anzeigen. 
Übertragung  des  Faksimile I— XXIX 


F.  Ullmann   G.  m.  b    H  ,  Zwickau   Sa. 


,^f 


& 


45 


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