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DANIEL FRIEDRICH ERNST SCHLEIERMACHER
Nach der Büste von C. Rauch 1825
(In der Aula der Universität Berlin)
Schlefermacher.
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Fr.D.E.Schleiermacher,Werke.
Auswahl in vier Bänden.
Mit einem Bildnis Schleiermachers /und
einem Geleitwort von Prof. D. Dr. Aug.
Dorner/ herausgegeben u. eingeleitet von
Dr. Otto Braun und Prof. D. Joh. Bauer.
Fritz Eckardt Verlag.
Leipzig 1910.
Schleiermachers Werke.
Erster Band.
NOV 18 1914
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Geleitwort von August Dorner / Vor-
wort / Einleitung von Otto Braun /
Kritik der Sittenlehre /Akademieabhand-
lungen / Register / Zur Textbehandlung.
Fritz Eckardt Verlag.
Leipzig 1910.
Inhalt.
Seite
Geleitwort I
Vorwort XXXIII
Allgemeine Einleitung XXXV
Inhaltsanalyse der „Grundlinien" CI
Kritik der Sittenlehre 1
Akademieabhandlungen 347
Register 533
Zur Textbehandlung 545
Geleitwort.
Nachdem die skeptische Hochflut in Deutschland sich zu ver-
laufen begonnen hat, fängt man wieder an, sich zu dem Idealismus
des vorigen Jahrhunderts zurückzuwenden; „Zurück zum Idealis-
mus", „Hinauf zum Idealismus" lautet die Devise. Der „Kampf
um die Weltanschauung" macht sich in der Repristination der
Romantik Luft. Andere wollen Werke von Hegel oder Schelling
in neuen Ausgaben zugänglich machen. Die vorliegende Sammlung
gibt ausgewählte Werke von Schleiermacher und Teile einzelner
Werke. Da ich in der Rückkehr zu dem Studium des deutschen
Idealismus eine durchaus berechtigte Reaktion gegen den seichten
Empirismus sehe, so habe ich gerne die Bitte des Herausgebers
erfüllt, ein Begleitwort zu diesem Unternehmen zu schreiben, in-
dem ich auf diejenigen Momente hinweise, welche für die Gegen-
wart die Lebensarbeit Schleiermachers noch bedeutsam erscheinen
lassen. Denn daß man vergangene Zeiten einfach repristinieren
kann, davon ist natürlich nicht die Rede.
Die Philosophie Schleiermachers ist durch ihre Eigenart be-
fähigt, der Gegenwart noch reiche Ausbeute zu gewähren, weil
bei ihm sehr verschiedene Elemente miteinander kombiniert sind.
Er hat einmal die historische Richtung in der Philosophie in-
auguriert, durch seine Übersetzung des Plato und die mannig-
fachen Abhandlungen in der Akademie der Wissenschaften über
Philosophen des klassischen Altertums, und er hat doch nicht, wie
es nach ihm geschah, diese Untersuchungen als Selbstzweck be-
handelt, sondern in seiner Kritik der bisherigen Sittenlehre das
historische Material nach großen Gesichtspunkten kritisch gesichtet,
um durch diese historische Kritik hindurch sich seinen eigenen
Weg zu bahnen. Hierdurch trägt aber seine Kritik einen ganz
anderen Charakter als die Kants. Denn während Kants Kritik
sich auf die Untersuchung der menschlichen Geistesvermögen
reduziert, hält sich Schleiermachers Kritik an den geschichtlichen
Schleiermacher, Werke. I. I
II Geleitwort.
Zusammenhang. Auf Grund historischer Kritik will er seine An-
sicht aufbauen. Daß er dabei auch philologisch vorgeht, wie er
überhaupt auf die Bedeutung der Sprache für das Erkennen und
auf den verschiedenen Gebrauch der Sprache im rhetorischen,
poetischen, didaktischen Sinne großes Gewicht legt, entspricht
durchaus modernen wissenschaftlichen Tendenzen. Wenn er aber
in seiner Erkenntnistheorie grundsätzlich das Recht der Kritik
geltend macht, ja es als eine ethische Forderung ansieht, daß
der Erkenntnisprozeß stets ein kritisches, ja skeptisches Moment
in sich aufnehmen müsse, so ist er darin von Kantischem Geist
beeinflußt.
Mit dieser kritischen Richtung scheinen nun diejenigen Werke
in Widerspruch zu stehen, die zuerst seinen Namen bekannt ge-
macht haben, die Monologen und die Reden über Religion, die
einen weit mehr dichterischen als kritischen Charakter tragen.
Allein gerade das ist ein charakteristisches Merkmal der Persön-
lichkeit Schleiermachers, daß er mit der kritischen Anlage eine
seltene Tiefe des Gemütes und eine reiche Phantasie ver-
bindet. Die Kritik war imstande sein Gefühlsleben zu zügeln,
wie er in den Monologen die Besonnenheit der Jugend als die
Quelle der Jugend des Alters preist. In seinem Gemütsleben ist
die Mystik begründet, die er in dem Gebiete der Religion ver-
tritt, in der er die Anschauung mit dem Gefühl verbindet; die
Phantasie aber ist es, die ihm den Sinn für das Gebiet der Ästhetik
eröffnet, auf deren Verbindung mit der Geselligkeit und mit der
Religion er nach Andeutungen Kants in der Kritik der Urteilskraft
in origineller Weise zuerst eingehend aufmerksam gemacht hat.
Seine ganze Größe aber zeigt sich erst, wenn man die speku-
lative und dialektische Kraft hinzunimmt, die ihn auszeichnet. Er
geht auf eine einheitliche Weltanschauung aus, ist aber zugleich
so vielseitig interessiert, daß er die größesten Gegensätze in sich
vereinigt. Einmal ist gerade für die Gegenwart die Grundposition
seiner Erkenntnistheorie von hohem Werte. Wie Kant die Empfin-
dung und Anschauung von dem Verstände und dessen apriorischen
Kategorien unterschied, so hat Schleiermacher die empirische und
spekulative Wissenschaft unterschieden. Während die absolute
Philosophie die empirischen Wissenschaften von der Philosophie
nicht zu unterscheiden vermochte und die von der Empirie aus-
gehenden Philosophen für die Philosophie kein besonderes Gebiet
übrig haben, da alles nur Abstraktion aus den Empirie sein soll,
so hat Schleiermacher beide Gebiete anerkannt und für jedes eine
Geleitwort. IH
relative Selbständigkeit beansprucht. Dabei bleibt er nicht bei
dem Kantischen Subjektivismus stehen, für den die Natur nur
Erscheinung, im Grunde von dem Ding an sich abgesehen unser
eigenes Produkt ist, für den die Geisteswissenschaften mit der
Untersuchung der Geisteskräfte und ihrer Betätigung im w^esent-
lichen erledigt sind und der schließlich seiner gesamten Grund-
richtung nach sich mit der Untersuchung des Subjekts begnügt,
wie seine ganze Erkenntnistheorie sich auf die Erforschung der Er-
kenntnisvermögen und seine Ethik sich auf die subjektive Gesinnung
der Hauptsache nach beschränkt. Schleiermacher dagegen ist objektiv
gerichtet. Er erkennt die Gegensätze von Real und Ideal an, die
in der absoluten Identität eins sind, während Kant mehr subjektiv
in einem Wesen mit intellektueller Anschauung den Gegensatz
von Anschauung und Begriff ausgeglichen fand. Weil aber für
Schleiermacher beides. Real und Ideal, in der absoluten Identität
eins ist, so tritt in der Welt der Gegensatz von Real und Ideal
nicht absolut auf, sondern in dem Realen ist das Ideale und im
Idealen das Reale enthalten. Er sagt von vornherein: Wissen und
Sein gibt es für uns nur in Beziehung aufeinander. Das Sein ist
das Gewußte, und das Wissen weiß um das Seiende. So ist
das Wissen von vornherein auf das Sein gerichtet; aber auch
das Sein ist für das Wissen da. Das Ideale, das Wissen, hat
eo ipso Beziehung auf das Reale, das Sein. Das Reale ist eo ipso
auch Gewußtes, das Sein hat Beziehung auf das Wissen. Zwar
muß das höchste Wissen über alle Gegensätze hinaus sein, aber
unser Wissen kann nur ein Ineinander von Gegensätzen umfassen
und ist ein Abbild des höchsten Wissens. Der letzte Gegensatz,
unter dem wir alles Wissen zusammenfassen können, ist der des
Geistigen und Dinglichen, oder des Wissenden und des Gewußten,
oder des das Sein Wissenden und des gewußten Seins. „Das In-
einander aller Gegensätze alles dinglichen und geistigen Seins
als dingliches d. h. gewußtes ist die Natur; und das Ineinander
des Dinglichen und Geistigen als geistiges d. h. wissendes ist
die Vernunft." Die Vernunft also ist Wissen vom Sein und
umfaßt das Ineinander aller Gegensätze wissend; die Natur da-
gegen ist gewußtes Sein, das ebenfalls das Ineinander aller
Gegensätze umfaßt. Für Schleiermacher gibt es also kein
Wissen, das nicht eine Beziehung zu der Realität hat
und kein Sein, kein Ding an sich, das ohne Beziehung
auf das Wissen wäre. Vernunft und Natur sind die beiden
Objekte des Wissens. Denn die Vernunft als wissende kann so-
IV Geleitwort.
wohl sich selbst^) wissen als auch die Natur. So gibt es also
Vernunftwissenschaft und Naturwissenschaft. Ein zweiter Gegen-
satz ist aber der des Allgemeinen und Besonderen, des Wesens
und der Erscheinung. Erscheinung hat aber hier nicht den Kanti-
schen Sinn, sondern die Erscheinung ist die reale Betätigung der
Kraft im besonderen, das „Dasein", wie das Wesen oder die Kraft
immer in der Erscheinung hervortritt. Hiernach ist das Wissen auch
wieder ein doppeltes; es kann überwiegend auf das Wesen gerichtet
sein, dann ist es mehr allgemein, spekulativ, oder auf die Erschei-
nung, dann ist es „beachtend", auf das Konkrete überwiegend
gerichtet, empirisch. Schleiermacher unterscheidet sich hier von
Kant dadurch, daß er die Vernunft keineswegs bloß formal denkt.
Für Kant sind die Kategorien lediglich formal und können ohne
Beziehung auf die Anschauung und Empfindung in keiner Weise
irgendeine Erkenntnis gewähren. Schleiermacher denkt die Ver-
nunft produktiv, da sie auf ihre Weise auch das Sein umfaßt und
so kann es nach ihm eine spekulative Wissenschaft geben, weil
die Vernunft nicht bloß formal ist, sondern auch einen Inhalt hat,
die Prinzipien des Seins, „das Wesen", in sich birgt, wenn auch
als wissende auf ideale Weise. Andererseits ist die Erscheinung
das Einzelne, Besondere für sich zwar dem Begriff nicht völlig
zugänglich und kann deshalb auch nicht a priori konstruiert
werden, aber sie ist doch Erscheinung des Wesens, das sich in
ihr in konkreter individueller Form darstellt. So erkennt Schleier-
macher eine empirische Naturwissenschaft an, unterscheidet aber
von ihr die Naturphilosophie, oder spekulative Physik, die die
leitenden Prinzipien der empirischen Naturwissenschaft umfaßt.
Ebenso gibt es eine spekulative Vernunftwissenschaft, die die
Aktivität der Vernunft auf die Natur ihren Grundbegriffen nach
schildert, die Ethik und eine empirische Vernunftwissenschaft,
die Geschichte. Die Prinzipien zum Verständnis der Geschichte
enthält die Ethik. Schleiermacher will also die empirischen
Wissenschaften zu ihrem selbständigen Recht kommen
lassen, ohne der Spekulation zu nahe zu treten. Beide
1) Im Unterschied von Kant, der die Existenz der theoretischen Ver-
nunft bezweifelt und leugnet, daß man die Existenz des der synthetischen
Tätigkeit zugrunde liegenden Ich erkennen könne, ist für Schleiermacher
auch die Vernunft als wissende nicht aller Realität bar, sondern auch ihr
liegt ein Sein zugrunde, wie es für ihn überhaupt kein Wissen ohne Wollen,
ohne Tätigkeit gibt. Und ebenso ist auch das zu erkennende Objekt nicht
bloß Phänomen, da das Sein selbst intelligibel ist, für das Wissen bestimmt ist.
Geleitwort.
sind nach dem Gesagten in der Dialektik begründet, welche das
Wissen an sich untersucht und die Einheit von Erkenntnistheorie
und Metaphysik darstellt.
Eine Verbindung der empirischen und spekulativen Ver-
nunftwissenschaft, der Geschichte und Ethik hat Schleiermacher
in kritischen und technischen Disziplinen gefunden, welche die
Grundsätze der spekulativen Vernunftwissenschaft auf die empiri-
schen Zustände teils zum Behufe der Kritik anwenden, teils um
technische Anweisungen für die Durchführung dieser Grundsätze
unter empirischen Verhältnissen zu geben.
In der Psychologie ferner ist eine Kombination von Vernunft-
und Naturwissenschaft gegeben. Denn die Seele mit ihrem Orga-
nismus stellt diejenige Vereinigung von Vernunft und Natur dar,
welche die Grundlage für das sittliche Handeln ist. Man kann
nun die Seele mit ihrem Organismus von der Naturseite betrachten,
sofern sie der Gipfel des Naturlebens ist. Man kann sie aber
auch ethisch betrachten, sofern sie mit ihren Vermögen aus der
gattungsmäßigen Tätigkeit der Vernunftwesen hervorgeht. Die
Psychologie ist also ebenso ethisch bestimmt wie physisch, und
da sie es mit der Vereinigung von Vernunft und Natur in einem
Einzelwesen zu tun hat, ist sie auch metaphysisch begründet.
Ethik, Physik, Metaphysik sind an der Psychologie beteiligt. „Im
einzelnen, im höheren Sinne für sich Setzbaren ist das Ineinander
des Dinglichen und Geistigen ausgedrückt im Zusammensein und
Gegensatz von Seele und Leib." Das Werk des Geistigen in der
Natur ist die Gestalt, das Werk des Dinglichen in der Vernunft
ist das Bewußtsein; wo Gestalt, da ist auch entsprechendes Be-
wußtsein. Ohne Gestalt wäre der Leib ohne Geistiges, bloßer
Stoff. Ohne dingliche Affektion wäre die Seele ohne Bewußtsein.
(Psychophysik.) Bewußtsein ist nur, wo Sein, Dingliches gewußt
wird, Bewußtsein ist immer ein Wissen von einem Sein.
Man ist heute vielfach geneigt, die Psychologie zur Grund-
wissenschaft zu machen, da alles psychologisches Phänomen sei.
Schleiermacher geht dieser Einseitigkeit gegenüber davon aus, daß
es für das Erkennen nicht genüge, bloß die subjektiven seelischen Er-
scheinungen zu untersuchen, die ihm vielmehr selbst zugleich objek-
tiv begründet sind. Das Subjekt ist nicht das alleinige Fundament
des Erkennens, dieses ist vielmehr an das reale Objekt gebunden,
wie umgekehrt das letztere der erkennenden Vernunft zugänglich
ist. Das Erkennen ist für ihn nicht bloß eine psychologische Funk-
tion, sondern das Hereinnehmen des Seins, des Realen, der js^atu»'
VI Geleitwort.
in die Vernunft, des Objektiven in das Subjekt. So überwindet
er auf seine Weise die Einseitigkeit des psychologischen Subjek-
tivismus. Und doch hat er auf der anderen Seite sov^ohl den
psychophysischen Zusammenhang als auch die große Bedeutung
der Psychologie für die Geisteswissenschaften erkannt, ja er hat
zuerst die Religion psychologisch untersucht.
Schleiermacher vereinigt die dialektische Kraft mit der Glut
der Mystik und der Schärfe des kritischen Verstandes. Es gibt
vielleicht keine Schrift, die in so virtuoser Weise die Vereinigung
der Dialektik mit der psychologischen Analyse darstellt, wie seine
Glaubenslehre. Obgleich nur als Sammlung von Reflexionen über
Einzelerfahrungen gedacht, ist sie doch mit einer so konzentrierten
Einheitlichkeit, einer so inneren Beziehung der einzelnen Teile
aufeinander, die alle als Teile einer Grunderfahrung aufgefaßt
werden, mit einer so virtuosen dialektischen Kunst aufgebaut, daß
sie in dieser Beziehung nicht übertroffen ist. Dieselbe Verbindung
von dialektischer Kunst mit psychologischer Analyse finden wir
auch in seiner „christlichen Sitte" und würden wir wohl in noch
höherem Maße finden, wenn er sie noch selbst hätte herausgeben
können. Besonders beachtenswert aber ist es, mit welcher Präzision
er sich über die Methode selbst Rechenschaft gibt. Dafür ist ein
glänzendes Beispiel seine Hermeneutik und Kritik, in der er die
Prinzipien der Erkenntnistheorie auf das philologische Verständnis
anwendet und zugleich auch hier die große Bedeutung der Psycho-
logie für das richtige Verstehen und Beurteilen der Schriftsteller
hervorhebt. Kurz, wenn Schleiermacher auch nicht so einseitig
ist, die Psychologie zu der Grundwissenschaft überhaupt zu machen,
so ist es doch bei ihm ein charakteristischer Zug, daß in seiner
Ethik wie in seiner Religionswissenschaft und in der „kritischen
Disziplin" der Ästhetik, wie in der technischen, der Pädagogik,
die Psychologie eine hervorragende Rolle spielt.
Er hat der Religion eine besondere Provinz im Seelenleben
zuweisen wollen und ihr dadurch eine eigentümliche Stellung ge-
geben, die sie von dem Intellektualismus und Moralismus befreien
soll. Neben dem Willen, den er als das ursprüngliche Organ,
und dem Erkennen, das er als das ursprüngliche universale Symbol
der Vernunft ansah, betont er das Gefühl, das unmittelbare Selbst-
bewußtsein, und während das Subjekt in dem Willen aus sich
herausgeht, im Erkennen dagegen das Objekt in sich herein-
nimmt und ihm den Stempel der Vernunft verleiht, stellt das Ge-
fühl, das unmittelbare Selbstbewußtsein die Indifferenz von beiden
Geleitwort. VlI
dar. Eben daher soll auch in dem Gefühl die Gottheit gegenwärtig
sein, welche die gegensatzlose Einheit der Gegensätze ist. Denn da
im Erkennen ein Hereinnehmen des Objektiven, dem Subjekt Äußer-
lichen in die Vernunft und im Wollen ein Heraustreten der Vernunft
in die äußere objektive Welt vor sich geht, ist die Gottheit für das
Erkennen und Wollen die transzendente Voraussetzung, sofern
sie die Vereinbarkeit von Vernunft und Natur als die letzte Einheit
garantiert; und im unmittelbaren Gefühl ist sie als solche Einheit
gegenwärtig. Wenn er in den Reden die Religion als Einswerden
mit dem Unendlichen bezeichnet, so ist eben seine Meinung, daß das
unmittelbare Selbstbewußtsein imstande ist, diese Einheit, die allen
Gegensätzen zugrunde liegt, inne zu werden; und dasselbe tritt
in der Dialektik hervor, wenn er Gott in dem Gefühl als dem
Indifferenzpunkt der Gegensätze sein läßt. Es scheint dem zu
widersprechen, wenn er andererseits in der Ethik das Gefühl doch
wieder nur als das individuelle ursprüngliche Symbol bezeichnet.
Damit scheint er dem Gefühl eine einseitige Stellung zu geben,
nämlich auf der Seite des symbolisierenden Handelns, während
das Gefühl die Indifferenz des Gegensatzes darstellen soll. Aber
einmal wird hierdurch das Gefühl oder das unmittelbare Selbst-
bewußtsein schon eo ipso als Produkt des Handelns der Vernunft
vernünftig, was man für Schleiermachers Religionsbegriff nicht
aus den Augen lassen darf. Sodann aber ist in dem Gefühl doch
eine unmittelbare Einheit von Vernunft und Natur gegeben, ein Be-
wußtsein realster Art, Selbstbewußtsein, individuelles Selbstbewußt-
sein, also eine ganz andere Art von Einheit von real und ideal als
im Erkennen oder Wollen: der Gegensatz von real und ideal ist eben
hier ausgeglichen in dem unmittelbaren Bewußtsein des Selbst
von sich als Realität. Endlich aber ist gerade in diesem Aus-
gleich auch die Einheit der Gegensätze von Vernunft und Natur,
von real und ideal, d. h. die höchste Einheit oder das absolute
Wesen unmittelbar gegenwärtig. Das Selbstbewußtsein in seiner
Unmittelbarkeit ist zugleich Gottesbewußtsein. Beides läßt sich
seiner Meinung nach gar nicht trennen. Als die höchste Einheit
ist die Gottheit in dem unmittelbaren Selbstbewußtsein eo ipso
gegenwärtig.
Wenn Schleiermacher dieses selbe Bewußtsein in seiner Glaubens-
lehre absolutes Abhängigkeitsbewußtsein nennt, so scheint das hier-
mit nicht zu stimmen. Allein das verbindende Glied ist in dem
Einheitsbewußtsein gegeben. Nur in diesem Gottesbewußtsein ist
wirklich das Bewußtsein der Einheit vollzogen, während in den
YH! Geleitwort.
anderen Funktionen einseitige Betätigung ist. Geht man nun von
der Tatsache aus, daß das Subjeiit sich zu der Welt im Gegen-
satz befindet, ihr relativ frei und relativ abhängig gegenübersteht,
so kann die Einheit nur gefunden werden in der absoluten Ab-
hängigkeit, d. h. darin, daß die relative Freiheit wie die relative
Abhängigkeit von der Welt auf das Absolute zurückgeführt wird,
daß das Subjekt sich mit der Welt absolut von Gott abhängig
weiß. Das unmittelbare Selbstbewußtsein kann die Einheit nur voll
darstellen, wenn in ihm auch der Gegensatz von relativer Freiheit
und relativer Abhängigkeit zur Einheit gebracht ist, d. h. wenn
dieses unmittelbare Selbstbewußtsein eo ipso zugleich absolutes
Abhängigkeitsbewußtsein ist. Gott ist in dem unmittelbaren Selbst-
bewußtsein als die alle in ihm vorhandenen Gegensätze aus-
söhnende Einheit, nicht als die alles konkrete Bewußtsein aus-
löschende, das individuelle Bewußtsein vernichtende Einheit. Erst
wenn die Gegensätze klar hervorgetreten sind, kann in dem reli-
giösen Bewußtsein auch die Einheit dieser Gegensätze klar erfaßt
werden. Gott ist in dem Menschen gegenwärtig, indem der A\ensch
sich mit seinen Gegensätzen auf die letzte Einheit bezieht, von
der alle Gegensätze umspannt werden, und das geschieht in seinem
unmittelbaren Selbstbewußtsein, in welchem der Gegensatz von
real und ideal zur Einheit gebracht ist, in welchem der Gegen-
satz von relativer Freiheit und Abhängigkeit in dem schlecht-
hinnigen Abhängigkeitsbewußtsein ausgeglichen ist. Zugleich aber
tritt hier zutage, daß die Seele nicht in der Einheit untergeht.
Indem sie sich mit allen Gegensätzen schlechthin abhängig
weiß, weiß sie sich von Gott unterschieden, mit dem sie sich
eins weiß.
So ist hier das Individuellste unmittelbar auf Gott bezogen
und eben dadurch auch in die göttliche Einheit aufgenommen,
aber nicht für sich allein, sondern mit all den Gegensätzen und
Beziehungen, in denen es steht; eine solche Religion kann nicht
egoistisch sein; sie enthält eo ipso die Unterordnung alles Kon-
kreten unter die Einheit und den Antrieb alle Gegensätze durch
die Einheit auszugleichen. Erkennen wie Handeln sind in einer
so bestimmten Frömmigkeit der Einheit untergeordnet. Diesem
unmittelbaren individuellen Selbstbewußtsein ist die Gottheit auf
die Weise immanent, daß zugleich der gesamte Inhalt des Welt-
und Selbstbewußtseins in das Gottesbewußtsein aufgenommen ist,
so daß Gott als die allumfassende Einheit in dem unmittelbaren
Selbstbewußtsein gewußt wird. Es ist klar, daß seine metaphy-
Geleitwort. IX
sische Position, welche die Einheit der Gegensätze von real und
ideal, von Vernunft und Natur in Gott zusammenfaßt, in seiner
Mystik ihren Höhepunkt erreichen muß, weil das unmittelbare
Selbstbewußtsein die konzentrierteste Einheit der Gegensätze in
der Welt darstellt.
Diese Mystik ist auch interessant, insofern Schleiermacher in
dem unmittelbaren Selbstbewußtsein den Punkt gefunden zu haben
glaubt, der den Menschen direkt mit Gott verbindet. Kant hatte
nur von der praktischen Vernunft aus einen Schluß auf Gott ge-
wagt, während er der theoretischen Vernunft die Gotteserkenntnis
verwehrt hatte. Nur mittels der praktischen Vernunft und des
moralischen Gottesbeweises sollte der Schritt in die transzendente,
die Erfahrung übersteigende Welt gemacht werden. Zwar ist auch
bei Kant das Streben nach einer abschließenden Einheit der Faktor,
der ihn zu der Gottesidee treibt, indem wir theoretisch Gott als
das All der Realität denken, ohne ihn freilich als wirklich existierend
beweisen zu können, und ihn praktisch als den postulieren, der
die Einheit von Sitten- und Naturgesetz garantiert und damit die
Durchführbarkeit des Sittengesetzes in der Natur verbürgt. Aber
diese Einheit ist bei Kant teils Postulat, teils überhaupt nur
theoretische „regulative, nicht konstitutive" Idee. Schleiermacher
dagegen hat in dem unmittelbaren Selbstbewußtsein Gott als Ob-
jekt der Erfahrung. Die Einheit ist hier unmittelbar gegeben,
während sie bei Kant nur erschlossen ist. Gott ist im Gefühl,
sofern hier die unmittelbare Einheit von Vernunft und Natur ge-
geben ist. Wenn dagegen Kant gelegentlich die praktische Ver-
nunft für sich selbst den Gott in uns nennt, so hat er da gänz-
lich übersehen, daß der homo Phaenomenon und die Natur auch
noch da ist, und negiert im Grunde die Natur oder schließt die
ganze phänomenale Welt von der Beziehung zu Gott aus. Schleier-
macher konnte in dem Gottesbewußtsein wirklich den einheit-
lichen Abschluß unseres Bewußtseins finden und so ist das Gottes-
bewußtsein die höchste Erscheinungsform der Vernunft in indivi-
duellen Ichpunkten. Eben damit ist aber die Kantische Trennung
zwischen dem konkreten empirischen Menschen, der nur Erschei-
nung sein soll, und dem abstrakten allgemeinen Vernunftwesen,
das in allen gleich ist, ebenfalls überwunden. Das individuell
bestimmte unmittelbare Selbstbewußtsein ist direkt mit Gott ver-
bunden. Daher ist durch die Beziehung auf Gott die konkrete
Welt nicht ausgeschlossen. Vielmehr hat die Religion zugleich in-
dividuelle Färbung und das ist das psychologische Element in ihr.
X Geleitwort.
Wie er aber so imstande ist, die Mannigfaltigkeit des religiösen
Lebens zu verstehen, so ist auch durch diese Kombination die
Ethik bereichert. Denn in der unmittelbaren Einheit mit Gott, in
dem alle Gegensätze ausgeglichen sind, ist das individuelle Moment
zugleich mit dem universellen verbunden, und u^as Schleiermacher
in seinen Monologen geltend gemacht hatte, daß die Individualität
sich ausleben solle, indem sie sich zum Spiegel der ganzen Welt
macht und sich allseitig betätigt, ist hier religiös sanktioniert,
aber nicht in der Art der Romantiker, die das Recht der Indivi-
dualität einseitig ausbilden. Vielmehr ist das Empirische, Einzelne
immer mit dem Vernünftigen, Idealen verbunden, das universell ist.
Das Individuum weiß sich mit allen anderen Individuen von Gott
abhängig und hierin liegt auch die Anerkennung der anderen Indivi-
duen und der Ausgleich des Gegensatzes von individuell und
universell. Ja man kann sagen, daß die göttliche Einheit, die in
jedem Subjekt ist, der göttliche Geist, dazu dient, die Gemeinschaft
zu fördern, indem die Individuen durch ihre gemeinsame Beziehung
auf die Gottheit zusammengehalten, in ihren individuellen Be-
stimmtheiten einander gegenseitig anschauen und so sich gegen-
seitig bereichern.
Man hat gemeint, Schleiermacher habe durch das Bewußtsein
der absoluten Abhängigkeit die Tätigkeit der Subjekte und ihre
Freiheit lahm gelegt. Allein das ist durchaus nicht der Fall.
Denn Gott ist als aktueller in dem Bewußtsein vorhanden und
nur an dem Gegensatz der relativen Freiheit und relativen Ab-
hängigkeit kommt die absolute Abängigkeit zum Bewußtsein, die
aber gar nicht die Freiheit ausschließt, sondern sie begründet.
Gott ist — objektiv ausgedrückt — nach Schleiermacher Kausa-
lität setzende Kausalität. Indem die Subjekte sich von ihm absolut
abhängig wissen, wissen sie sich auch in ihrer relativen Freiheit
durch Gott bestärkt. Der Gott, von dem sie abhängen, ist aktueller
Gott und wird in der höchsten Form der Religion als die Quelle
der Aktivität gewußt, der Mensch weiß sich von Gott als tätigem
abhängig, der ihn aktiv macht. Die Abhängigkeit von Gott gibt
zur Selbsttätigkeit gegenüber der Welt den Impuls. Der Mensch
weiß Gott in sich wirkend. Während Kant nur eine mit der
Vorstellung von Gott verbundene schlechthin autonome Tätigkeit
kennt, hat Schleiermacher die eigene Tätigkeit zugleich als von
Gott begründete aufgefaßt. Wenn die Vertreter der Prädestination
jede Selbsttätigkeit im Grunde leugnen müßten und Kant Gottes
Aktion zurückstellte, versuchte Schleiermacher eine Verbindung der
Abhängigkeit mit der Freiheit, der Frömmigkeit mit der Sittlich-
Geleitwort. XI
keit herzustellen. Da ist es ganz begreiflich, daß Schleiermacher
durch die Religion nicht das Erkennen oder Handeln lahm legt.
Im Gegenteil ist Gott die Voraussetzung dafür, daß erkannt und
gehandelt werden kann, weil er die Gegensätze von Subjekt und
Objekt, von Vernunft und Natur zur Einheit zusammenhält. Das
Gottesbewußtsein steht also im Gegenteil mit dem Denken und
Handeln im Bunde, weil es Gott als die Voraussetzung, ohne die
beides nicht möglich ist, im unmittelbaren Bewußtsein hat.
Eben hierin ist es auch begründet, daß Schleiermachers Ethik
nicht etwa bloße Gesinnungsethik ist, wie die Kantische Ethik. Er
geht zwar in der religiösen Ethik von der Grundgesinnung aus,
welche in dem Gottesbewußtsein gegeben ist. Aber dieses wird
zum Antrieb, die Einheit der Vernunft und der Natur durch das
Handeln der ersten auf die letztere herzustellen; das entspricht
durchaus der Einheitstendenz, deren man sich in der Frömmig-
keit bewußt wird, führt aber zugleich zu einer konkreten Aus-
gestaltung der Ethik. Daher hat Schleiermacher gegen Kant die
Kulturethik geltend gemacht, ohne die einheitliche Gesinnung
zurückzustellen. Bei Kant ist Dualismus zwischen Vernunft und
Natur; Schleiermacher hat ihm vorgeworfen, daß er nur eine ein-
schränkende aber keine produktive Ethik habe. Man hat gemeint,
daß Schleiermachers Ethik vieles aufgenommen habe, was nicht
der Ethik angehöre; man hat einen Gegensatz zwischen Kultur
oder Zivilisation und Ethik gesetzt und von einer Kulturkomödie
geredet. Schleiermacher hat von seinem Standpunkte aus weder
die theoretische und praktische Vernunft, noch die Sittlichkeit und
Kultur auseinanderreißen können. Vielmehr ist die eine Vernunft
organisierend und symbolisierend tätig; das theoretische Erkennen
ist ebenso sittliche Aufgabe wie die Naturbeherrschung, und selbst
die Religion zieht er in den Kreis des sittlichen Lebens,
Es könnte hier eine bedenkliche Unklarheit vorzuliegen scheinen,
indem einerseits die Religion die Quelle des Sittlichen und anderer-
seits sittliches Produkt sein soll. Allein von der sittlichen Seite
liegt hier kein Widerspruch vor, weil Schleiermacher den allge-
meinen Grundsatz ausspricht, daß das Sittliche Produkt und produ-
zierend zugleich sei, jedes Produkt wieder produzierend wirke. Von
der religiösen Seite aber liegt auch kein Widerspruch vor, weil das
religiöse Bewußtsein zwar absolutes Abhängigkeitsbewußtsein ist,
aber doch als Bewußtsein auch wieder ethisches Produkt ist.
Zwar ist hier die Tätigkeit in dem absoluten Abhängigkeits-
bewußtsein, wie es scheint, aufgehoben; es ist ein Getroffensein
XII Geleitwort.
von dem Unendlichen; aber diese absolute Abhängigkeit kommt
doch nur bei der Entfaltung des Selbst- und Weltbewußtseins
als das diesen Gegensatz aufhebende zum Bewußtsein, also nicht
ohne Tätigkeit des Subjekts und das absolute Abhängigkeits-
bewußtsein läßt sich doch nicht verwirklichen ohne eine be-
stimmte sittliche Tätigkeit, welche erst durch den Gegensatz des
Welt- und Selbstbewußtseins hindurch die Empfänglichkeit für
die höchste Einheit möglich macht.
Man hat in der Gegenwart vielfach eine starke Abneigung
gegen den Intellektualismus, legt auf „Erlebnisse" das größeste
Gewicht und mißtraut dem begrifflichen Erkennen und auch
da, wo an die Stelle des reinen Sensualismus psychologische
Erlebnisse treten, bleibt man doch vielfach im Empirischen
stecken. Andere betonen den Voluntarismus und wollen selbst
das Erkennen inhaltlich von der Zustimmung des Willens ab-
hängig machen. Es soll keine Beweise für eine Weltanschauung
geben; man soll sich mit dem Willen für dieselbe entscheiden.
Nur in dem „theoretischen" Erkennen der Natur soll es eine ge-
wisse Notwendigkeit geben. Man hat Kant und Schleiermacher
als Eideshelfer dieser Ansichten herbeigezogen. Religiöse Wahr-
heiten — so sage Schleiermacher — lassen sich nur erleben und
dann begrifflich ausdrücken, aber nicht andemonstrieren. Ebenso
habe aber auch Kant durch den Unterschied zwischen praktischer
und theoretischer Vernunft darauf hingewiesen, daß die praktische
Erkenntnis eine ganz anders geartete sei als die theoretische.
Diese Meinungen, welche auf einen Dualismus zwischen Praxis
und Theorie hinauslaufen, hat Schleiermacher nicht geteilt. Es
ist wahr, daß er nicht einseitig intellektualistisch gerichtet ist,
daß er die Rechte des Gefühls, der Phantasie, des Willens nicht
gegen die Intelligenz — letztere nur in dem rein theoretischen
Sinne genommen — verkürzt wissen will. Aber ebensowenig ist
er rein voluntaristisch, als ob die Erkenntnis von der Willens-
cntscheidung abhinge. Er setzt vielmehr beide Faktoren ins Gleich-
gewicht. Es kann das praktische Handeln gar nicht stattfinden,
wenn wir nicht Zweckbegriffe bilden. Diese aber bildet unsere
Vernunft mit Notwendigkeit. Die Ethik ist spekulative Vernunft-
wissenschaft. Gegenüber dem Empirismus freilich liegt hierin,
daß sie über die Empirie hinausgehend ein Ideal entwirft, das
zugleich die Prinzipien enthält, um die Geschichte zu verstehen,
und den Maßstab, um sie zu beurteilen. Die Spekulation greift
also über die Empirie hinaus. Sie ist eine notwendige Vernunft-
Geleitwort. XIII
Wissenschaft, die sich aus den letzten dialektischen Gegensätzen
mit Notwendigkeit ergibt. Schleiermacher also ist allerdings nicht
einseitig intellektualistisch, sofern er die Empirie in ihrer Selb-
ständigkeit anerkennt, sofern er die empirische Realität nicht in
Begriffe auflöst; aber er erkennt doch notwendige Vernunftbegriffe
an, die die Aktualität der Vernunft nach ihren verschiedenen
Richtungen darstellen.
Ebenso sagt er allerdings, daß man die Frömmigkeit und
ihren Inhalt nicht andemonstrieren könne; er will der Religion
ihre Selbständigkeit wahren. Aber darum meint Schleiermacher
noch lange nicht, wie heutige Empiristen, daß sie beliebige Ge-
fühlserlebnisse enthalte, über deren Vernünftigkeit man nichts aus-
sagen könne. Man darf vor allem nicht vergessen, daß die Religion
für ihn der einheitliche Abschluß des Bewußtseins ist, daß durch
sie erst die volle Einheit des Bewußtseins erreicht wird, daß in ihr
erst die letzten Gegensätze zur Ruhe kommen. Man darf nicht
vergessen, daß die Religion als Gefühlssache etwas durchaus Ver-
nünftiges ist, weil das Gefühl selbst nur eine Erscheinungsform
der Vernunft ist. Auch hier hat Schleiermacher das Erkennen
und das Gefühl durchaus nicht auseinandergerissen. Wenn er der
Meinung ist, daß der Gefühlsinhalt der Religion Inhalt für ein
reflexives Erkennen werden könne, das mit der Frage nach der
Wahrheit dieses Inhalts nicht zu tun habe, sondern nur zum be-
grifflichen Ausdruck bringe, was der Erfahrungsinhalt des un-
mittelbaren Selbstbewußtseins sei, so sind diese Äußerungen gegen
den Intellektualismus der Orthodoxie und des Supernaturalismus
gerichtet, der in dem Besitz der reinen Lehre das Wesen der
Religion sieht. Religion ist nicht primo loco Erkennen, sondern
Sache des unmittelbaren Selbstbewußtseins. Den Inhalt desselben
wünschte er für sich fixiert und wollte ihn nicht mit Spekulation
vermischt haben, teils weil er völlig klar stellen wollte, daß dieser
Inhalt Sache des unmittelbaren Selbstbewußtseins sei, teils weil
derselbe individuell bestimmt sein sollte. Aber andererseits ist
doch die Religion vernünftig und Schleiermacher hat auch einen
vernünftigen Maßstab an die Religionen angelegt, um sie zu
messen. Denn die Religion wird ihrem Wesen nach in der philo-
sophischen Ethik als eine Art der Vernunfttätigkeit abgeleitet,
soweit sie Produkt der Vernunfttätigkeit ist. Daher hat Schleier-
macher zwar nicht angenommen, daß mit der Einsicht in den
Gehalt der Religion jemand schon religiös sei, weil die Vernunft-
form der Religion eine andere sein sollte, als die des Erkennens,
XIV Geleitwort.
und diesen Sinn hat es, wenn er meint, daß man die Religion
nicht andemonstrieren könne. Aber er hat nicht gemeint, daß
die ReHgion irgendwie mit dem Erkennen in Konflikt kommen
müßte, da sonst ja die Vernunft in ihren verschiedenen Aktionen
sich selbst widersprechen würde. Vielmehr ist Schleiermacher der
Ansicht, daß die erkennende Funktion den religiösen Inhalt nicht
zum vollen Ausdruck bringen könne, weil unsere Begriffe zwar
für die Weltweisheit geeignet sind, bei der Gotteserkenntnis aber
versagen, weil sie nicht über die Gegensätze hinauskommen. Eben
daher will er auch, daß die Begriffe, mit denen wir Gott als
religiös erlebten bezeichnen, nur als der Ausdruck für die be-
stimmte Art unseres Erlebnisses aufgefaßt werden. Unw^ahr brauchen
diese Aussagen deshalb nicht zu sein, aber sie sind nur anthro-
pomorphistische Notbehelfe, um die Beziehung der Gottheit zu
uns auszudrücken, denen gewiß ein wahrer, aber nicht adäquat
auszudrückender Inhalt zugrunde liegt. Wenn man sich der anthro-
pomorphen Unvollkommenheit dieser Aussagen bewußt bleibt, so
widersprechen sie durchaus nicht der Grundidee, daß Gott als
absolute Einheit überall vorauszusetzen sei, wenn man die objektive
Welt erkennen oder auf sie handeln will. Als diese Einheit der
Gegensätze, die aber über allen Gegensätzen stehen soll, wird ja
eben Gott auch erfahren in der Religion. Will man nun die
Beziehungen, in denen diese Einheit für das konkrete Bewußtsein
im religiösen Leben zutage tritt, auch auf Gott zurückführen, so
ist das vollkommen berechtigt. Wollte man aber hiernach gött-
liche Eigenschaften in Gott selbst unterscheiden, so würde man
Gott selbst in die Gegensätze hineinziehen und anthropomorphi-
stisch werden. So wird es vollkommen begreiflich, daß Schleier-
macher einerseits den Inhalt der Glaubenslehre nur als Aussagen
der zeitweiligen Erfahrungen gelten läßt, andererseits aber damit
durchaus nicht mit seiner Grundposition in Streit kommt, nach
der Gott die Voraussetzung ist, unter der allein eine Weltweisheit
und sittliches Handeln möglich ist, weil er die Einheit der Gegen-
sätze verbürgt, verbürgt, daß die Natur der Vernunft zugänglich
sei und die Vernunft der Natur, weil in der realen Natur Ideales
und in der idealen Vernunft Reales enthalten ist, weil die Einheit
von beiden in der Gottheit begründet ist.
Man kann also sagen, daß Schleiermacher beiden Interessen
gerecht zu werden sucht, einmal dem Interesse des Erkennens,
das er durchaus nicht von dem Willen in bezug auf seinen In-
halt abhängig macht, — eine Meinung, die direkt zum Autoritäts-
Geleitwort. XV
prinzip des Katholizismus führen könnte und für eine falsche An-
sicht den Willen verantwortlich macht, der sich nicht für die
rechte Ansicht entscheidet. Aber ebenso will er die Religion nicht
in Erkennen auflösen, sondern ihr ihre eigentümliche Stellung
lassen. Indes sind ihm beide Funktionen, die Frömmigkeit wie
das Erkennen, verschiedene Formen der einen Vernunfttätigkeit und
stimmen deshalb im Grund zusammen. Die Spekulation setzt die
Einheit voraus, die in dem unmittelbaren Selbstbewußtsein er-
fahrenwird, und dieses ist vernünftig; dagegen ist eine konkrete
religiöse Lehre in begrifflicher Form nur der Ausdruck der Be-
ziehungen die das Subjekt erfährt, die keine direkten Aussagen
über Gott selbst sein können. So hoffte er der Scholastik zu
entgehen, welche die religiöse Erkenntnis spekulativ gestalten
wollte. Ob Schleiermacher hier eine endgültige Lösung gefunden
hat, könnte man wohl fragen. Aber jedenfalls hat er die Er-
kenntnis nicht dualistisch von der Religion getrennt, sondern
nur angenommen, daß der konkreten Gotteserkenntnis durch unser
Begriffsvermögen eine Grenze gesteckt sei, die unsere Vernunft
nur in der Form des unmittelbaren Selbstbewußtseins überschreiten
könne. Dagegen hat er die Existenz Gottes, als der letzten gegen-
satzlosen Einheit aller Gegensätze, stets als eine Vernunftwahr-
heit, ja, als die grundlegende Wahrheit anerkannt.
Was aber das Verhältnis des Erkennens zum praktischen Leben
angeht, so ist Schleiermacher weder auf selten eines Utilitarismus,
der das Erkennen nur in den Dienst der Praxis stellen will, noch
auf Seiten eines Intellektualismus, der das Handeln im Erkennen
enden läßt. Vielmehr ist ihm beides gleich wichtig, das Erkennen
wie das Handeln, oder besser ausgedrückt: das, was man gewöhn-
lich Handeln nennt, fällt ihm mit dem organisierenden Handeln zu-
sammen, dem das symbolisierende gleichberechtigt zur Seite steht,
da beide nur verschiedene Seiten des Einen Handelns der Vernunft
auf die Natur sind. Das Erkennen ist ihm sittliche Aufgabe nicht
in dem Sinne, daß der Inhalt des Erkennens von der Willensent-
scheidung abhängt, sondern in dem Sinne, daß das Erkennen eine
sittlich geforderte Tätigkeit sei, einen Teil des sittlichen Lebens
ausmache, und daß man die Bedingungen, unter denen allein Er-
kennen möglich ist, wollen muß, weil man das Erkennen wollen
muß. Ebenso ist die Ethik, mit ihren Zweckbegriffen, durch das
Erkennen bedingt. Aber nicht minder ist auch die Kultur im
engeren Sinne, das gesamte Gebiet des organisierenden Handelns
sittliche Aufgabe und die verschiedenen Güter sind ihm gleich-
XVI Geleitwort.
vvertig, da keines in dem Organismus der sittlichen Güter, der
das höchste Gut ausmacht, fehlen darf. Er betont ebenso das
Recht der Wissenschaft, wie des Staates, in welchem sich das
organisierende Handeln unter nationalem Gesichtspunkt vollzieht.
Ebenso aber sind ihm die Religion und die Kunst, und die Ge-
selligkeit sittliche Güter, welche das Resultat des symbolisierenden
und organisierenden Handelns unter individuellem Typus sind. Wenn
andere bald die Religion, bald die Wissenschaft, bald die Kunst,
bald den Staat für den letzten Zweck erklärt hatten, so setzt
Schleiermacher alle Gebiete ins Gleichgewicht und nimmt an,
daß alle im Grund auf ihre Weise ein Spiegel der sittlichen
Totalität sind. Das ist ihm möglich, weil er das Wesen all
dieser Gebiete darin findet, daß jedes nur einen Faktor im Über-
gewicht repräsentiert, ohne die anderen auszuschließen. Insofern
jedes Gebiet eine Funktion im Übergewicht hat, ist es einseitig,
und so können erst alle zusammen das Ganze des sittlichen Lebens
umspannen. Aber jedes enthält doch alle Funktionen, nur unter
dem Übergewicht einer, und so kann jedes auf seine Weise doch
die Totalität aller Güter abspiegeln.
Man hat der Schleiermacherschen Ansicht entgegengesetzt,
daß nicht die teleologische, sondern die imperative Gesinnungs-
ethik den Kern der Ethik ausmache, daß das Sittliche nicht in
dem Erfolg, auch nicht in dem Produkt liege, sondern in dem
guten Willen. Man legt den Hauptakzent auf die Persönlichkeit!
Allein, es müßte nachgerade klar geworden sein, daß diese Persön-
lichkeit doch einen Inhalt haben muß und daß der rein formale
Wille, das Gesetz zu wollen, noch nicht ethisch befriedigen kann.
Freilich ist ein guter Wille notwendig; aber dieser gute Wille
muß das Vernünftige, und zwar das konkret Vernünftige wollen.
Darum hat Schleiermacher als die Grundtugend der Gesinnung
keineswegs bloß die Liebe, sondern Weisheit und Liebe in ihrer
Vereinigung bezeichnet. Die Weisheit aber hat das Vernünftige
in seinen konkreten Formen als sittliche Aufgabe zu erkennen,
d. h, die produktive Aktion der Vernunft in der Natur.
Es ist für ihn charakteristisch, daß er das Bedürfnis hat, das
Sittliche als eine Totalität zu fassen und so jeder einzelnen Auf-
gabe gleichmäßig gerecht zu werden. Ebenso aber hat er das
Bedürfnis, jede Einzehvissenschaft in den Zusammenhang des
ganzen Wissens zu stellen und dadurch erst zu voller Klarheit
zu bringen. Heutzutage pflegt man z. B. Ethik oder Religions-
philosophie rein für sich zu behandeln; Schleiermacher, der überall
Geleitwort. XVII
auf die Einheit gerichtet ist, kann es nicht über sich gewinnen,
den Zusammenhang einer Wissenschaft mit den übrigen außer
acht zu lassen. So betrachtet er auch die Ethik im Zusammen-
hang des Wissens überhaupt. Ihm würde es zu eng sein, die
Ethik lediglich auf die praktische Vernunft, im Unterschied von
der theoretischen, auf das allgemeine Gesetz der praktischen Ver-
nunft zu gründen. Er sieht, daß die Vernunft eine ist und daß
man Vernunft und Natur nicht auseinanderreißen kann. Daher
ist ihm der Gegenstand der Ethik das Handeln der Vernunft auf
die Natur als symbolisierendes, wozu auch das theoretische Er-
kennen gehört, und als organisierendes. Aber Vernunft wie Natur
sind in den letzten Gegensätzen begründet, die zur Einheit aus-
zugleichen sind. So ist die Ethik als spekulative Vernunft-
wissenschaft, die zugleich die Prinzipien für die Philosophie der
Geschichte enthält, Glied eines großen Systems, und zwar hat
Schleiermacher die Ethik so gestaltet, daß sie einen produktiven
Charakter trägt. Eben daher kann sie gar nicht ohne die Beziehung
zur Natur gedacht werden. Aber als spekulative Wissenschaft
schildert sie das Ideal des Handelns und ist insofern von der Un-
vollkommenheit der Empirie unberührt. So enthält sie, gerade
wie Kants Ethik, ein Ideal, nur nicht das ganz abstrakte Ideal
des guten Willens, sondern das konkrete Ideal der sittlichen Güter,
der Tugend, die als Gesinnung Einheit ist, als Fertigkeit in eine
Vielheit auseinandergeht, und der Pflichten, welche das Gesetz
darstellen, nach welchem dem Ideal gemäß gehandelt wird. Schleier-
macher kommt nicht in die Verlegenheit, der Kant kaum aus-
weichen kann, daß eigentlich alle guten Menschen ihrer Gesinnung
nach identisch sind, weil der Wille nur das Wollen des allgemeinen
Gesetzes ist, und daß die Unterschiede nur in dem homo Phaeno-
menon liegen, der doch eigentlich nur ein Erscheinungswesen ist,
das überall durch das allgemeine Gesetz eingeschränkt werden soll,
soweit es durch die Neigungen bestimmt ist. Natur und Geist
sind nach Schleiermacher nicht einander fremd, vielmehr soll die
Natur durch die Tätigkeit des Geistes gestaltet werden. Durch
ihren Zusammenhang mit der Natur ist eben die Vernunft überall
schon konkret individuell und zugleich universell bestimmt. Denn
die menschlichen Individuen, welche sittlich handeln, sind eben
schon eine Verbindung von Geist und Natur und haben nun ver-
schiedene Arten des Handelns zu vollziehen, die durch die ver-
schiedene Wirkungsart der Vernunft auf die Natur und den Gegen-
satz des Universellen und Individuellen bestimmt sind. So schildert
Schleiermacher, Werke. I. II
XVIII Geleitwort.
die spekulative Vernunftwissenschaft das Ideal des Handelns der
Vernunft auf die Natur, wie die empirische Vernunftwissenschaft
die Geschichte. Die Art und Weise aber, wie auf die empirische
Wirklichkeit das Ideal angewendet werden soll, kommt in den
technischen und kritischen Disziplinen zur Geltung. Eine solche
technische und kritische Disziplin ist für ihn auch die Theologie.
Eben dadurch, daß Schleiermacher den verschiedenen Disziplinen
gerecht wird, daß er für dieselben verschiedene Methoden an-
erkennt, ohne diese Disziplinen zu vereinzeln, indem er sie doch
wieder dem Gesamtsysteme einordnet und so sie durcheinander
erleuchtet, ist er für die Gegenwart von der größesten Be-
deutung.
Es entspricht durchaus seiner Grundanschauung, welche keinen
hiatus zwischen Erkennen und praktischem Handeln zuläßt, daß
er auch die Resultate seiner Erkenntnis praktisch verwertet hat,
und das Bild von ihm wäre nicht vollständig, wenn man sich
nicht daran erinnerte, daß, wie er grundsätzlich vom Theoretiker
verlangt, daß er seine Theorie durch praktische Tätigkeit er-
gänzen müsse, um nicht in Einseitigkeit zu verkommen, so er
selbst auch im religiösen und politischen Gebiet sich auf das
Mannigfaltigste betätigt hat, teils als Prediger, teils als Kirchen-
mann in seiner Wirksamkeit für die Union, für die Verfassung
der Kirche, für die Agende und Gesangbuch, ebenso aber auch
als Patriot zur Zeit der Freiheitskriege gewirkt hat, und nicht
minder auch für die Ausgestaltung des Schulwesens und be-
sonders der Universitäten sich bemüht hat. Daß er selbst neben
seiner wissenschaftlichen Arbeit den Beruf des Lehrers glänzend
ausgeübt hat, ist bekannt; und endlich darf man auch nicht ver-
gessen, wie er im geselligen Gebiet, besonders im Gebiet der
Freundschaft, sich virtuos betätigt hat, das um so weniger, als
eine der glänzendsten Partien seiner Ethik gerade die Ethisierung
des Gebietes der Geselligkeit ist. In der Verbindung der prak-
tischen, besonders der patriotischen Tätigkeit mit der theoretischen,
erinnert er an antike Philosophen. Und doch zeigt er diese Ver-
bindung ganz besonders in einer Form, die nur in der christlichen
Ära vorkommt, insofern er sich vorwiegend als Theologe prak-
tisch betätigt hat.
Er hat aber auch neben der Philosophie das gesamte Gebiet
der wissenschaftlichen Theologie in allen seinen Zweigen virtuos
beherrscht. Er w^eiß die Theologie dem philosophischen Bau so
einzufügen, daß diese zwar in Abhängigkeit von der Philosophie
Geleitwort. XIX
bleibt, insofern sie als eine technische Disziplin erscheint, die wie
die Kirche, auf die sie sich bezieht, ihre letzte Begründung in
der philosophischen Ethik hat; daß er aber auf der anderen Seite
ihr die Unabhängigkeit von der Philosophie durch ihre Beziehung
zu der Empirie zu wahren sucht als historischer, exegetischer,
praktischer Theologie. Ebenso hat er aber seine Philosophie nicht
durch theologische Positionen eingeschränkt und der Philosophie
etwa durch supernaturale Offenbarung Schranken gesetzt, oder die
Philosophie nach theologischer Voreingenommenheit gestaltet, wie
die Scholastiker. Ich will noch kurz das Verhältnis der Theologie
und Philosophie betrachten, wie es Schleiermacher bestimmt hat.
Obgleich die Theologie im Grunde eine kritische und tech-
nische Disziplin mit praktischer Abzweckung ist, will sie Schleier-
macher doch als Wissenschaft deshalb an die Universität an-
geschlossen wissen, weil sie dadurch vor einem engherzigen, bloß
auf die momentanen praktischen Interessen gerichteten Geiste be-
wahrt bleibt, daß sie in den Zusammenhang mit dem gesamten
Wissen gestellt wird. Es ist das genau so, wie mit der juri-
stischen und medizinischen Fakultät, wie er das in seinen „ge-
legentlichen Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn"
ausführt.
Die Stellung der Theologie und ihrer einzelnen Disziplinen
ist bedingt durch seine Einteilung der Geisteswissenschaften: da
ist die spekulative Vernunftwissenschaft die Ethik, die empirische
Vernunftwissenschaft die Geschichte, und die technischen und
kritischen Disziplinen haben die Aufgabe, zwischen der speku-
lativen und empirischen Wissenschaft so zu vermitteln, daß sie die
Prinzipien der spekulativen Wissenschaft auf die Empirie anwenden.
Die Ethik hat die Aufgabe, das Wesen der Religion und der
religiösen Gemeinschaft, der Kirche, deutlich zu machen, und die
verschiedenen möglichen Formen der Religion zu konstruieren. Die
Religionsphilosophie hat dann die einzelnen historisch gegebenen
Religionen in den Maschen dieses Netzes unterzubringen. Sie
ist eine kritische Disziplin, welche die individuellen Differenzen
der einzelnen Religionen und Kirchen — da sich nach ihm die
Religion in kirchlicher Gemeinschaft darstellt — in komparativer
Behandlung fixiert und sie nach den möglichen Erscheinungs-
formen der Idee der Religion bestimmt. Die Apologetik, als ein
Teil der philosophischen Theologie, hat dann das empirische
Christentum seinem eigentümlichen Wesen nach im Verhältnis
zu den anderen Religionen mit Hilfe der aus der Ethik ge-
ll*
XX Qeleitvvort.
wonnenen Gesichtspunkte zu fixieren, und die Polemik hat die
diesem Wesen widersprechenden Seiten der empirischen Ausgestal-
tung des Christentums kritisch zu beleuchten. Schleiermacher ist
also der Meinung, daß das Christentum weder bloß spekulativ,
noch bloß historisch verstanden werden kann. Die apologetische
und polemische Theologie hat vielmehr als philosophische Theo-
logie die Verbindung zwischen dem empirischen Christentum und
der durch die Spekulation festgestellten Idee der Religion und
Kirche herzustellen und auf diese Weise das Wesen des Christen-
tums historisch-spekulativ-kritisch zu fixieren als eine indivi-
duelle Erscheinungsform der von der philosophischen Ethik be-
stimmten Idee der Religion und Kirche. Demgemäß hat denn auch
Schleiermacher in seiner Glaubenslehre die Untersuchung über das
Wesen des Christentums und der Kirche in Lehnsätzen aus der
Ethik, Religionsphilosophie und Apologetik an die Spitze gestellt.
Es handelt sich hier also um die kritische Anwendung der in der
philosophischen Ethik gewonnenen Begriffe der Religion und Kirche
auf das Christentum, das eine empirische Religion ist, aber doch nur
wahrhaft begriffen werden kann aus der Verbindung der Betrachtung
des empirischen Christentums mit dem Begriff der Religion. Hier-
nach hat die Theologie zwar einen positiven Einschlag, weil sie
empirisch ist, und als solche ist sie historische Theologie, aber
sie ist zugleich philosophische Theologie, weil das empirische
historische Christentum nur in Verbindung mit dem spekulativen
Element begriffen werden kann. Erst nach dem Resultat dieser
spekulativ-historischen Untersuchung können nun die technischen
Anweisungen gegeben werden, die für die Kirchenleitung not-
wendig sind und die sich in concreto zugleich nach der eigen-
tümlichen Beschaffenheit einer bestimmten Kirche richten. Die
Theologie hat als technische Disziplin diejenigen wissenschaft-
lichen Kenntnisse und Kunstregeln zu geben, ohne deren An-
wendung ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist. Die
Krone der Theologie ist deshalb die praktische Theologie, die
eben auf Grund dieser Erkenntnisse praktisch -technische An-
weisungen für die Kirchenleitung gibt.
Daß die einzelne Religion und Kirche individuell bestimmt
sei, das ist schon in dem allgemeinen Begriff der Religion ent-
halten; eben daher ist schon im Begriff der Religion selbst ge-
geben, daß sie einen positiven Charakter hat, der sich in empi-
rischen individuellen Typen darstellt. So kann man behaupten,
daß der theologische Positivismus Schleiermachers mit der philo-
Geleitwort. XXI
sophischen Ethik und ihrer Bestimmung der Religion im Grunde
zusammenstimmt. Das ist aber ganz besonders auch deshalb der
Fall, weil Schleiermacher doch nicht bloß individuelle Typen der
Religion kennt, sondern auch ein Ideal der Religion aufstellt.
Denn zweifellos ist nach ihm der Monotheismus die höchste Stufe
der Religion, und in den Monotheismus wieder diejenige Stufe,
welche in den Mittelpunkt des religiösen Bewußtseins die Er-
lösung von der Unkräftigkeit des Gottesbewußtseins mit auf-
nimmt, das doch natürlicherweise als der Abschluß unseres Be-
wußtseins, als die einheitliche Spitze desselben niemals unter-
drückt und zurückgedrängt werden darf. Somit ist die höchste
Religion die, welche dieses monotheistische Bewußtsein zu voller
Kräftigkeit und Dauer erhebt. Ebenso aber ist auch diejenige
Religion vollkommener als die übrigen, welche mit dem ethischen
Bewußtsein Hand in Hand geht und welche zum Impuls für das
Handeln wird, d. h. die teleologische Religion. Da nun das
Christentum teleologische monotheistische Erlösungsreligion ist,
so ist es die der Idee der Religion entsprechende Religion, die
freilich wieder verschiedene Formen annehmen kann. Das positive
Element ist nun dies, daß im Christentum empirisch diese Religions-
form in Christus erschienen ist, der selbst durchaus monotheistisch-
ethisch gerichtet mit seinen vollkommenen Gottesbewußtsein von
der Unkräftigkeit desselben erlösen kann. Wenn aber hierin auch
ein positiv historischer Zug gegeben ist, so entspricht doch Christus
der Idee der Menschheit und realisiert das Ideal der Frömmig-
keit. Er ist in diesem Sinne durchaus rational. Das Christen-
tum ist also eine Religion, die durchaus mit der in der Ethik
bestimmten Religionsidee zusammenstimmt. Die supernaturale
Theologie hat also bei Schleiermacher im Grunde genommen keine
Stütze; nur von dem Standpunkt derer, welche noch nicht von
Christi Geist ergriffen sind, erscheint das Christentum übernatür-
lich. In Wahrheit aber entspricht die christliche Religion der
Idee der Religion, und zwischen der philosophischen Ethik und
der Theologie besteht kein prinzipieller Widerspruch. Wie sehr
Schleiermacher auf diese Punkte das Gewicht legt, kann man
daraus sehen, daß er in seiner Glaubenslehre alle sogenannten
Heilstatsachen, Christi jungfräuliche Geburt, seine Auferstehung,
Höllen- und Himmelfahrt, Sitzen zur Rechten Gottes, Wiederkunft
zum Gericht für irrelevant für den Glauben erklärt und als wesent-
lich nur ansieht, daß uns die Kräftigkeit des Gottesbewußtseins
Christi und die mit ihr verbundene Seligkeit, d. h. der Geist
XXII Geleitwort.
Christi, der schließlich mit dem in der Gemeinde wirksamen
göttlichen Geiste identisch ist, zuteil werde.
Es mag noch an zwei Punkten diese Vereinbarkeit des philo-
sophischen und theologischen Standpunktes aufgezeigt werden,
zunächst an dem Erkenntnisgebiet. Es ist schon oben darauf
hingewiesen worden, daß die philosophische Erkenntnis anders
geartet ist als die theologische. Erstere geht auf Wahrheit aus,
letztere will nur den Erfahrungsinhalt in Begriffe umsetzen, un-
bekümmert darum, ob derselbe an sich als wahr erkannt werden
kann. Allein, soviel scheint doch zweifellos, daß nach seiner
Meinung die Theologie keine Aussagen macht, die der philosophisch
erkannten Wahrheit widersprechen. Schleiermacher hat nur das
Interesse, die erkennende Funktion in der Religion nicht zur Haupt-
sache zu machen. In dem religiösen Gebiete kann man zwar
die religiösen Zustände analysieren und ihren Inhalt beschreiben,
aber man kann damit immer nur sagen, wie der an sich über
alles dialektisch-begriffliche Erkennen hinausgehende Gott unter
den gegebenen Beziehungen dem Frommen erscheint. Denn alle
konkreten Bestimmtheiten Gottes sagen nur aus, wie die Gottheit
dem so oder so bestimmten Selbstbewußtsein erscheint. Aber alle
diese Eigenschaften Gottes, die auf bestimmte Zustände des Subjekts
in der Welt bezogen werden, müssen wieder zueinander in Be-
ziehung gebracht werden, und dann ergibt sich, daß jede Eigen-
schaft Gottes nur in Verbindung mit der anderen gedacht werden
darf, daß sie alle sich also in der letzten Einheit ausgleichen, und
daß jede für sich nur ein unvollkommener Ausdruck des Göttlichen
ist, nur der Ausdruck für eine bestimmte Art, wie das Gottes-
bewußtsein sich mit einem bestimmten Selbstbewußtsein ver-
bindet. So erscheint er z. B. heilig, sofern das (strafende) Ge-
wissen mit dem Gottesbewußtsein verbunden ist. Allein diese Eigen-
schaft Gottes muß sofort zugleich auf das Bewußtsein der Erlösung
bezogen werden, wonach Gott Liebe ist, und beides wieder auf
das allgemeine aller Religion zugrunde liegende Abhängigkeits-
bewußtsein, wonach Gott allmächtig ist. So hat also auch für
das reflexive Erkennen, sofern es Ausdruck der Erfahrung ist,
eine isolierte Eigenschaft Gottes keinen Wert, sondern nur alle
zusammen, die sich schließlich in der Einheit ausgleichen, die
wir nicht mehr begrifflich erfassen können, in der alle Vollkommen-
heit aber aufbewahrt bleiben soll. Denn Gott wird nicht über
die Gegensätze hinausgehoben vorgestellt, weil er leer ist, sondern
weil er über unsere Begriffe hinaus vollkommen ist. So an-
Geleitwort. XXIII
gesehen, besteht aber kein Widerspruch, zwischen dem reUgiösen
Erkennen und dem philosophischen.
Ähnlich aber hat auch die Erkenntnis der Welt und des Selbst
in der Glaubenslehre nur die Bedeutung, auszusagen, wie unter
dem Aspekt der Frömmigkeit Welt und Selbst sich ausnimmt; da-
gegen handelt es sich hier nicht um kosmologische und psycho-
logische Probleme an sich. Hiermit hat Schleiermacher das Ge-
biet des dogmatischen Erkennens abgegrenzt. Aber es besteht
deshalb durchaus kein Widerspruch zwischen der Psychologie und
Kosmologie und diesen Aussagen. Denn da der Zustand des
Frommen ein vernünftiger Zustand ist, so kann er auf der höchsten
Entwicklungsstufe grundsätzlich nicht dem Erkennen wider-
sprechen. Das reflexive Erkennen dient dazu, den Zustand der
Frömmigkeit begrifflich zu fixieren, den Glauben über sich selbst
aufzuklären. Wie das Selbst, die Welt, Gott dem frommen Be-
wußtsein erscheint, das soll zur Darstellung kommen. Aber ein
Widerspruch mit dem sonstigen Erkennen ergibt sich nicht,
wie u. a. auch das durch die Frömmigkeit bestimmte Welt-
bewußtsein beweist, wo er auf den Naturzusammenhang das
größeste Gewicht legt.
Der zweite Punkt, an dem ich das Verhältnis von Theologie
und Philosophie nach Schleiermacher klar machen möchte, be-
trifft die Ethik. Die philosophische Ethik ist die spekulative
Geisteswissenschaft und die Religion selbst, also auch die christ-
liche Religion ist ein ethisches Produkt. Nun ist aber anderer-
seits die Religion selbst wieder zu dem Handeln in Beziehung
zu setzen, und da die Frömmigkeit ein dauernder Zustand des
unmittelbaren Selbstbewußtseins ist, so steht sie auch dauernd zu
dem sittlichen Handeln in Beziehung, und durch das einheitliche
Bewußtsein, das sie ermöglicht, gibt sie dem Handeln auch einen
dauernden Rückhalt, insofern man sich bewußt ist, mit dem Handeln
der Vernunft auf die Natur auch etwas erreichen zu können, weil
Vernunft und Natur nicht in Widerspruch miteinander stehen,
sondern durch die letzte Einheit zusammengehalten sind. Ganz
besonders ist das bei den teleologischen Religionen der Fall,
denn in diesen geht von dem Gottesbewußtsein ein Impuls zum
Handeln aus. Nun kann man aber die Ethik auch unter diesem
Aspekt betrachten und fragen, welchen Einfluß das religiöse Be-
wußtsein auf das sittliche Handeln ausübt, und hier ergibt sich
eine theologische Ethik. Diese wird nicht aus sich heraus alle
Sphären des Handelns konstruieren können. Wohl aber wird sie
XX!Y Geleitwort.
die Frage zu beantworten haben, welche eigentümliche Bestimmt-
heit das Handeln unter diesem Aspekte erfährt. Da wird sich
einmal ergeben, daß die Grundstimmung, aus der heraus gehandelt
wird, eine andere ist, als wenn man von der Religion absieht.
Sodann aber wird diese Grundstimmung, welche den Willen
dauernd beeinflußt, auch auf den Inhalt des Handelns Einfluß
üben und Modifikationen herbeiführen. Nun ist zwar nicht zu
leugnen, daß die empirische Religion ganz bestimmte Modifikationen
des religiösen Bewußtseins hat und daß von diesen aus die Ethik
ganz verschieden beeinflußt wird, so daß, während die philo-
sophische Ethik ein Ideal dieses Handelns begrifflich aufstellen sollte,
hier bei den verschiedenen Religionen die größesten Verschieden-
heiten in diesen Modifikationen sich ergeben. Allein wenn auch
in dieser Hinsicht bei den unvollkommeneren Formen der Religion
ein Konflikt zwischen der religiösbestimmten und der philosophi-
schen Ethik möglich ist, so ist dieser doch ausgeschlossen, wenn
die Religion die höchste Form erreicht hat, weil diese selbst zu-
gleich rational ist, also mit den Forderungen der vernunftgemäßen
Ethik nicht in Widerspruch kommt. Schleiermacher hat die „christ-
liche Sitte" der philosophischen Ethik zur Seite gestellt, und hier, wo
auch das empirische Moment einer konkreten religiösen Erfahrung
in Betracht kommt, findet sich eine wesentliche Ergänzung zu der
philosophischen Ethik schon darin, daß, während diese das Ideal
des Handelns ohne Rücksicht auf etwa eintretende empirische
Hemmungen darstellt, die christliche Sitte ausgeht von dem Be-
wußtsein der empirischen Differenz mit dem Ideal, woraus ein
reinigendes Handeln sich als notwendig ergibt. Denn das Bewußt-
sein der eigenen Unvollkommenheit ist mit dem Bewußtsein
der Erlösung verbunden und wird durch ein Gefühl der Unselig-
keit über die Unvollkommenheit zum Antrieb dafür, durch reinigen-
des Handeln diese Unvollkommenheit zu beseitigen. Ebenso aber
will sich das religiöse Bewußtsein, soweit es sich befriedigt fühlt,
für sich selbst und für die Gemeinschaft darstellen, und so er-
gibt sich das Gebiet des religiös darstellenden Handelns. Endlich
wird das religiöse Bewußtsein überall da zu einem Antrieb für
produktive Tätigkeit, wo Empfänglichkeit für dieselbe vorhanden
ist und das hieraus folgende Handeln nennt Schleiermacher das
verbreitende Handeln. Daß nun hier ein Widerstreit zwischen
der philosophischen und theologischen Ethik sich ergeben würde,
kann man nicht behaupten, weil von dem christlichen Bewußtsein
kein Impuls ausgeht, der inhaltlich der rationalen Ethik wider-
Geleitwort. XXV
streitet, da ja das christliche Prinzip selbst der ethischen Idee der
Religion entspricht. Aber auch überflüssig wird weder die theo-
logische Ethik noch die philosophische. Zwar haben, wenn beide
dem Ideale entsprechen, beide im wesentlichen denselben Inhalt.
Aber dieser Inhalt wird in verschiedener Motivierung betrachtet.
Während, die philosophische Ethik den Inhalt als Handeln der
Vernunft auf die Natur beschreibt, geht die theologische Ethik
von der Person, von ihrem innersten, religiös bestimmten Bewußt-
sein aus, und wenn man sonst wohl der Kantischen Ethik gegenüber
die Schleiermachersche zu unpersönlich fand, so kann man darauf
erwidern, daß gerade die persönliche Gesinnung und ethische
Grundrichtung in der theologischen Ethik zum Ausgangspunkt
genommen wird. In dem religiösen Bewußtsein ist ein Impuls
zu handeln, der die Durchführung der sittlichen Aufgabe be-
deutend erleichtert. Wenn also inhaltlich auch keine wesentliche
Differenz in beiden Ethiken sich findet, so wird doch die Moti-
vierung in der christlich bestimmten Ethik eine andere, und es
werden in jeder von beiden bestimmte Seiten des Handelns ganz
besonders hervorgehoben; so in der theologischen Ethik z. B. das
reinigende Handeln, oder die spezifische Darstellung der Frömmig-
keit im kirchlichen und persönlichen Handeln. Andererseits werden
die Vorschriften der philosophischen Ethik in der theologischen
vorausgesetzt und nur durch die eigentümliche Motivation der
theologischen Ethik noch in ein neues Licht gerückt. Wenn z. B.
die philosophische Ethik nach ihm schon Vergewaltigung tiefer
stehender Rassen verbietet, so fügt die theologische Ethik das
Motiv hinzu, daß sie alle für das Reich Gottes berufen sind, daß
der ethische Universalismus seinen Grund in dem religiösen
Bewußtsein von der Bestimmung aller Menschen für die Ge-
meinschaft des christlichen Gottesbewußtseins, für das Reich
Gottes hat.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß Schleiermacher die Theo-
logie bei aller Abhängigkeit von den prinzipiellen philosophischen
Erörterungen der Ethik als kritische und technische Disziplin doch
wieder selbständig stellen wollte, ja die theologischen Betrach-
tungen in der Ethik als eine Ergänzung der philosophischen Ansicht
ansah, sofern sie durch ihre religiöse Bestimmtheit eine Rückwirkung
auf die philosophische Ethik ausüben, die diese in mancher Hin-
sicht modifiziert, ohne mit ihr in Widerspruch zu kommen. An
diesem Beispiel ist klar, wie Schleiermacher die Konsequenz seiner
Prinzipien ins Konkrete durchzuführen vermag, wie er den ver-
XXVI Geleitwort.
schiedenen Gebieten ihrer Eigenart gemäß gerecht werden will
und doch alle harmonisch zusammenzuhalten sucht, weil er
sie in den letzten Prinzipien zu einem einheitlichen System
verbindet.
Schleiermacher ist vorbildlich darin, daß er alle Einseitigkeiten
vermeidet. Er tritt jeder Enge entgegen, wie er selbst die Enge
des Pietismus überwunden hat. Er erkennt die Rechte echter
Mystik in der Religion an, und ist doch durch die Klarheit seines
Geistes vor Mystizismus bewahrt; er erkennt das Recht des Er-
kennens an wie das der Religion, er will weder das Wissen durch
den Glauben beschränken, noch den Glauben seiner Selbständig-
keit berauben.
Sehen wir noch darauf, wie Schleiermacher sich von den haupt-
sächlichsten Denkern seiner Zeit unterscheidet, so kommen im
wesentlichen neben Plato und Spinoza Kant, Fichte, Hegel, Schelling,
Rousseau, Jakobi-Fries, die Romantik, Herbart, Schiller in Betracht.
Obgleich Schleiermacher von Kant sehr stark beeinflußt ist^), so
betont er doch im Gegensatz zu Kant und Fichte die Zusammen-
gehörigkeit von Natur und Geist, worin er von Schelling beein-
flußt ist, der in der Identität den gemeinsamen Grund für Geist
und Natur fand. Er geht auch in der Anerkennung des objektiven
Seins über Kant und Fichte hinaus; denn für die letzteren ist der
ganze Erkenntnisprozeß von den subjektiven Erkenntnisvermögen
bedingt, während Schleiermacher den subjektiven Erkenntnis-
vermögen das zu erkennende Objekt zur Seite stellt, von
vornherein den Gegensatz von ideal und real konstatiert und
demgemäß zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem
Objekt unterscheidet und sowohl in dem Subjekt reale als auch
in dem Objekt ideale Momente anerkennt, so daß beide zuein-
ander in Beziehung treten können. Er bleibt nicht in der Kanti-
schen Tretmühle stecken, die nur die Erkenntnisvermögen unter-
sucht und so gar nicht zu einem realen Objekt, sondern nur zu
Erscheinungen kommt. Er macht sich klar, daß das Subjekt ebenso
vom Objekt abhängt wie das Objekt vom Subjekt, weil beide ein-
seitig sind und in der Identität den Grund ihrer Harmonie haben.
Der Mensch stellt vermittels seiner gesamten Organisation schon
diejenige Vereinigung von Vernunft und Natur dar, welche das
Subjekt für den erkennenden Prozeß ist. So kann die Vernunft
1) Vgl. meine Abhandlung, Schleiermachers Verhältnis zu Kant: theol.
Studien und Kritiken 1901, S. 1 f.
Geleitwort. XXVII
in der Natur sich darstellen auch in der Sprache, dem „inneren
und äußeren" Sprechen, auf dessen Bedeutung für das Erkennen
er weit mehr geachtet hat als Kant. So kann die Natur von der
Vernunft umgestaltet, vergeistigt w^erden, was neben der organi-
sierenden Tätigkeit, besonders in dem Erkennen geschieht. Hin-
gegen erinnert die Art, wie er die religiöse Mystik mit der Ethik
kombiniert, an Fichtes Anweisung zum seligen Leben.
Man hat den Einfluß Spinozas auf Schleiermacher für sehr be-
deutend gehalten, weil er dessen Ethik in seinen „Grundlinien" sehr
hoch gewertet und in den „Reden" ihn gepriesen hat. Allein, wenn
auch in dem Gottesbegriff eine Ähnlichkeit besteht, so hat doch
Schleiermacher an Stelle des Parallelismus ein Handeln der Ver-
nunft auf die Natur angenommen und später Gott und Welt als
Correlata bezeichnet. Auch hat er die sekundären Kausalitäten
zu größerer Selbständigkeit kommen lassen, hat der Geschichte
weit mehr Interesse zugewendet und der Individualität mehr Be-
deutung gegeben, in welch letzter Hinsicht er mehr an Leibniz
erinnert.
Wir haben gesehen, daß Schleiermacher auch die Differenz
zwischen der spekulativen und empirischen Wissenschaft betont;
hierin unterscheidet er sich von der spekulativen Philosophie
seiner Zeit, die aus der Entwicklung der Idee den ganzen Welt-
prozeß zu verstehen suchte. Da konnten die empirischen Wissen-
schaften von der Spekulation schwer unterschieden werden. Anderer-
seits war freilich der Hegeische Satz, daß die Philosophie nur das
Abbild des realen Prozesses im subjektiven Bewußtsein sei, daß
die Betrachtung erst hintennach komme und den Prozeß über-
schaue, gleichsam nur dem Werden zuschaue, geeignet, dem Epiris-
mus Vorschub zu leisten und den tatsächlichen Prozeß lediglich
als den Prozeß der Idee in der Welt zu registrieren, wie er in
dem Bewußtsein, das beobachtet, sich darstellt. Schleiermacher
hat dagegen die Empirie von der Idee unterschieden und die
Spekulation von den empirischen Wissenschaften, und hat damit
auch die Möglichkeit von der Idee aus den empirischen Prozeß
kritisch zu beleuchten, die Unvollkommenheit der Empirie gegen-
über der Idee anzuerkennen und doch nicht in Pessimismus zu
verfallen, weil das Handeln nach dem Ideal die Unvollkommen-
heiten allmählich beseitigt. Auch von dem späteren Schelling^) ist
1) Vgl. meine Schrift: Zur Erinnerung an den hundertjährigen Geburts-
tag von Schelling, 1875.
XXVIII Geleitwort.
er dadurch different, daß er nicht wie jener die Religionsgeschichte
als einen theogonischen Prozeß auffaßt, sondern den Unterschied
zwischen der idealen Vernunftwissenschaft und der empirischen
Wissenschaft der Geschichte stark hervorhebt, sofern die letztere mit
dem Ideal nicht völlig zusammenstimmt, da gerade der geschicht-
liche Prozeß erst die allmähliche Realisierung desselben aufweist.
Schleiermacher erkennt also die Differenz an, läßt aber der Geistes-
wissenschaft, der Ethik ihre Selbständigkeit, indem sie frei auf
spekulative Weise sich gestaltet. Schleiermacher konstruiert nicht
den empirischen Prozeß, wie es Schelling tut, der auch noch in
seiner positiven Philosophie den realen Prozeß als einen not-
wendigen Prozeß der Potenzen darstellt; er nimmt ihn als gegeben
an und die empirische Wissenschaft hat ihn zu erforschen. Aber
er stellt das Ideal des Prozesses auf und hat an ihm den Maß-
stab für die Beurteilung der Geschichte, während Schelling die
tatsächliche Entwicklung als eine notwendige von Anfang bis zu
Ende zu verstehen sucht. Schleiermacher bleibt seiner Methode
gemäß in der Mitte der Entwicklung stehen und hat es weder
gewagt, den Anfang noch das Ende der Entwicklung ins Auge
zu fassen, wie es bei Schelling der Fall ist. Auf der einen Seite
ist Gott die Identität über allen Gegensätzen, auf der anderen
Seite ist die Welt mit ihren Gegensätzen aber doch von dieser
Identität durchdrungen, die sie als Einheit zusammenhält und
der Weltprozeß geht auf die Ausgleichung der Gegensätze hinaus,
die aber niemals voll erreicht wird. So betrachtet er die Gesetz-
mäßigkeit dieses Ausgleichprozesses, die Wirksamkeit der Vernunft
auf die Natur spekulativ nach ihren typischen Formen, und anderer-
seits fixiert er den empirischen Prozeß selbst, wie er vorliegt, in
der empirischen Wissenschaft und beide Betrachtungen verbindet
er durch kritische und technische Anwendung des Ideals auf die Ge-
schichte. Eben hierdurch ist er aber noch heute, auch gegenüber
denjenigen ethischen Versuchen von der größten Bedeutung, welche
die ethischen Regeln nur aus dem empirischen Verlauf abstrahieren
wollen und die ethischen Begriffe nicht auf eine Vernunftidee,
sondern auf eudämonistische Erfahrungen gründen wollen.
Ganz andersartig sind die Beziehungen Schleiermachers zu
Jakob i, dem er nach der Vorrede zu den Reden über Religion
1821 „so vieles verdankt". Wenn dieser auf das Gefühl das
Hauptgewicht legte und die Gottheit nur mit dem Gefühl erfaßbar
hielt, so hat Schleiermacher ihm darin zugestimmt. Auch die
Meinung, daß die Erkenntnis Gottes nur auf symbolische Dar-
Geleitwort. XXIX
Stellung beschränkt ist und niemals die Gottheit erreicht, daß
deshalb die Religion in anthropomorphen und symbolischen Aus-
drücken sich ergeht, teilt Schleiermacher, Nur differiert Schleier-
macher, insofern als er das religiöse Gefühl konkreter bestimmt und
als eine Form der Betätigung der Vernunft auffaßt, auch zugibt,
daß sich die Reflexion auf die Gemütszustände richten kann,
und als er die Verbindung der konkret bestimmten Religion mit
der Ethik aufrecht erhält. Schleiermacher läßt den Dualismus
zwischen Verstand und Gefühl nicht gelten, durch den sich Jakobi
zu der Bezeichnung des Verstandes als des geborenen Gottes-
leugners hinreißen ließ. Überhaupt ist Schleiermacher viel um-
fassender in seinem Denken und geht überall darauf aus, die
Gegensätze durch die Einheit zusammenzuhalten.
Ähnliches kann man mit Bezug auf Rousseau sagen, der ja
auch die Religion wesentlich im Gefühle fand. Die Kulturfeind-
schaft Rousseaus, der auf die Natur zurückwies, hat Schleier-
macher dadurch überwunden, daß er einerseits selbst die Kultur
auf die Natur aufbaute, andererseits aber sie ethisch als die Durch-
dringung der Natur mit Vernunft betrachtete und die Kultur als
die Ethisierung der Natur auffaßte. Seine Religionsphilosophie,
wie überhaupt seine Weltanschauung unterscheidet sich aber von
der Rousseaus durch die Betonung der Geschichte, sowie dadurch,
daß ihn in der Geschichte der Religion nicht bloß das allen Reli-
gionen Gemeinsame, die natürliche Religion interessierte, sondern
daß er die geschichtlichen, und insbesondere die individuellen
Nuancen des religiösen Lebens beachtete, ohne die in der Ethik
begrifflich konstruierte Idee der Religion fallen zu lassen, die
sich in individuellen Formen darstellt.
Was das Verhältnis Schleiermachers zu Herbart angeht, so
sind sie zwar grundverschieden in ihrer Metaphysik und ihrer
Methode. Aber in den Resultaten und in der Opposition gegen
die absolute Philosophie stimmen sie namentlich in der Ethik
vielfach zusammen. Geradeso wie Schleiermacher in seiner Güter-
lehre von einem Organismus der Güter redet, deren jedes doch
wieder für sich selbständig ist, so redet Herbart von der beseelten
Gesellschaft, in welcher auch wieder verschiedene Systeme sich
relativ selbständig organisieren und wie bei Herbart diese Systeme
auf den fünf einfachen Ideen beruhen, welche zunächst Verhält-
nisse des Individuums zu sich selbst und zu den anderen be-
zeichnen, und wie die ethischen Systeme aus der sozialen Kom-
bination der einfachen Verhältnisse der Personen hervorgehen, so
XXX Geleitwort.
sind auch bei Schleiermacher die Individualitäten die Produzenten
der Güter und beide legen auf die Individualität ein großes Ge-
wicht, nur mit dem Unterschied, daß Schleiermacher geneigt ist,
die Individualität als ein Produkt der Gattung und Durchgangs-
punkt anzusehen, Herbart die Gemeinschaft als Produkt der Indi-
viduen. Aber da Schleiermacher doch die Selbsttätigkeit der
Individuen energisch geltend macht und Herbart doch die Gemein-
schaft als die höchste Form der Einheit der Individuen ansieht,
so gleicht sich in der Praxis dieser Gegensatz nahezu aus. Auch
darin sind beide ähnlich, daß sie auf Grund der Ethik und Psy-
chologie die Pädagogik bearbeiten.
Man hat mit Recht darauf hingewiesen, wie enge sich die
Schleiermachersche christliche Sitte mit der Schillerschen Ethik
berührt, insofern Schleiermacher in der christlichen Sitte auf die
Leichtigkeit und Anmut der sittlichen Persönlichkeit hinweist, die
die volle Harmonie von Vernunft und Natur darstellen soll, so daß
die natürlichen Affekte und Neigungen nicht nur beherrscht werden,
sondern mit voller Leichtigkeit in den Dienst der Vernunft treten.
Dasselbe hat auch Schiller Kant gegenüber gefordert.
Endlich hat man Schleiermacher zu der Romantik in Be-
ziehung gebracht, was besonders in seinen Monologen hervor-
treten soll. Allein was ihn trotz seiner Freundschaft mit Fr. Schlegel,
trotz seiner Betonung der freien individuellen Sittlichkeit von der
Romantik scheidet, ist die Stellung, die er der Individualität als
Glied der Gemeinschaft gibt, ist trotz der Betonung des Gefühls
in der Religion ihre gliedliche Einordnung in das gesamte ethische
Leben, ist trotz seiner reichen Phantasie seine scharfe Dialektik
und seine kritische Besonnenheit gegenüber der phantastischen
Geschichtsbetrachtung besonders des Mittelalters seitens der Ro-
mantik. Seine Betonung der religiösen Gemeinschaft ist nicht die
katholische, da er auf die Erfahrung des Subjekts zurückgeht und
die Kirche als die Gemeinschaft derer ansieht, die den Geist Christi
haben. Er ist sich des Gegensatzes gegen die römische Auf-
fassung klar bewußt gewesen. Weit mehr ist er an dem Rück-
gang auf die Griechen beteiligt, der die Signatur der ganzen
Zeit war. Plato bildet bei ihm ein Gegengewicht gegen den
Einfluß Kants, was sich bei ihm besonders darin zeigt, daß er
den rein formalen Charakter des Kantischen Denkens durch die
Anerkennung eines konkreten Vernunftinhaltes überbietet.
So nimmt Schleiermacher in seiner Umgebung eine sehr eigen-
tümliche Stellung ein. Von verschiedenen Seiten beeinflußt, hat
Geleitwort. XXXI
er doch seine wissenschaftliche Selbständigkeit zu wahren gewußt,
die in seiner Vielseitigkeit ebenso begründet ist, wie in seiner
prinzipiellen Stellung. Nach beiden Seiten ist er auch für die
Gegenwart noch von hoher Bedeutung. Er hat philologische
Untersuchungen in der Geschichte der Philosophie gemacht, die
von Trendelenburg, Zeller, Dilthey u. a. fortgeführt wurden. Er hat
die Geschichte der Philosophie zur kritischen Grundlage für seine
eigene Position gemacht. Er hat als Theologe alle Disziplinen
der Theologie mit seinen Untersuchungen befruchtet und den
Zusammenhang der Theologie mit der Philosophie ebenso gewahrt,
wie die Selbständigkeit der Theologie behauptet. Er hat die
Hauptdisziplinen der Philosophie in Vorlesungen behandelt, die
Dialektik wie die Ethik, die ihm zugleich die Prinzipien der
Philosophie der Geschichte umfaßt. Aber auch die Politik wie
die Pädagogik, die Ästhetik wie die Kritik und Hermeneutik sind
Gegenstand seiner Bearbeitung. Er hat das Verdienst, die Prinzipien
der Geselligkeit ethisch untersucht zu haben, und er hat ebenso
in seinen politischen Untersuchungen die sozialen Fragen ein-
gehend erörtert. Prinzipiell wertvoll aber ist auch heute noch
sein Versuch, das empirische Gebiet und das Gebiet der Ideen,
jedes nach seiner Methode zu behandeln, beiden Seiten gerecht zu
werden und die Selbständigkeit der Spekulation wie der empiri-
schen Wissenschaften, der Naturwissenschaften und der Geschichte
anzuerkennen und sie in der letzten Einheit zu verknüpfen. Ebenso
hat er den Gegensatz des Natürlichen und Geistigen nicht duali-
stisch aufgefaßt, sondern gezeigt, wie Natur und Vernunft auf
einander angewiesen sind und zur Harmonie hinstreben. Ohne
Eudämonist zu sein, hat er in der Ethik eine Güterlehre produziert
und die individuellen und universellen Interessen gleichzeitig be-
rücksichtigt. Wenn man in der Gegenwart ein so großes Gewicht
auf die Psychologie legt, so hat er den Standpunkt, daß es eine
Physik der Seele geben müsse, mit der Ansicht ausgeglichen, daß
zugleich die seelischen Anlagen als ethisches Produkt sich auf-
fassen lassen und hat namentlich im Gebiet der Religion den
psychologischen Standpunkt zur Erklärung der konkreten Religion
herangezogen, ohne den metaphysischen Hintergrund der Religion
in Abrede zu stellen. Er hat auch darin große Bedeutung, daß
er den Wert der antiken klassischen Welt klar erkannt hat, ohne
deshalb die Fortschritte des modernen Erkennens und Lebens zu
unterschätzen, wie sich das ganz besonders bei seiner Tendenz
zeigt, das psychologische mit dem metaphysichen Elemente zu
XXXII Geleitwort.
kombinieren und ebenso in seiner Wertung der empirischen Wissen-
schaften neben der Philosophie, ferner in seiner Schätzung der
mechanischen Tätigkeiten, die das Altertum mißachtete, während
Schleiermacher verlangt, daß alle auch an dem organisierenden
Handeln sich beteiligen sollen, und den Wert der Technik ein-
schärft. Er will nicht, daß jemand bloß der Pflege der Intelligenz
obliege, den praktischen Tätigkeiten aber über der erkennenden
Funktion fern bleibe. Und doch hat er ebenso den selbständigen
Wert der Erkenntnis mit der Antike vertreten. Überall ist er
bemüht, die Vielseitigkeit mit der Beschränkung auf ein Gebiet
als das wesentliche und berufsmäßige zu kombinieren. Ebenso
hat er aber auch selbst seine theoretischen Arbeiten durch eine
rege praktische Tätigkeit ergänzt.
In bezug auf die Auswahl der Werke Schleiermachers, welche
hier geboten werden soll, bemüht sich der Herausgeber, ein einheit-
liches Bild von seinen Leistungen zu geben. Da bei Schleiermacher
das Zentrum die Ethik ist, so beginnt die Ausgabe mit der histo-
risch kritischen Grundlage seiner Ethik in den „Grundlinien einer
Kritik der bisherigen Sittenlehre". Sodann wird die philosophische
Ethik mit den ethischen Abhandlungen aus der Akademie in den
Mittelpunkt gestellt. Zur Erläuterung soll auch die Einleitung in
die „christliche Sitte" zum Abdruck kommen. Da seine philoso-
phische Ethik leider abstrakt geblieben ist, so wird an einzelnen
Beispielen ihre Fruchtbarkeit zur Darstellung gebracht, in Aus-
zügen aus der Pädagogik, Ästhetik, Politik, in den Predigten über
den christlichen Hausstand, in der Schrift über Universitäten in
deutschem Sinne. Seine Religionsphilosophie soll in ihrer reifen
Gestalt in der Einleitung in die Glaubenslehre aufgenommen
werden. Die psychologischen Voraussetzungen sollen in Auszügen
aus der Psychologie, die wissenschaftliche Fundamentierung seines
Systems in Auszügen aus der Dialektik zur Anschauung gebracht
werden. Auf diese Weise hofft der Herausgeber einen Totalein-
druck von Schleiermachers Lebenswerk geben zu können. Möge
seine Arbeit von Erfolg gekrönt sein!
Königsberg i. Pr., Juli 1910.
A. Dorner.
Vorwort.
Daß eine Schleiermacher-Auswahl nichts Unnützes ist, haben mir so
manche Mitteilungen im Laufe meiner Arbeit bestätigt. Da ich als Philo-
soph an Schleiermacher herantrat, konnte es sich für mich nur darum
handeln, die philosophischen Schriften in den Mittelpunkt zu stellen. Um
aber die Auswahl nicht zu subjektiv zu treffen, habe ich mich mit der Bitte
um Rat an die Herren Prof. D. Joh. Bauer, Geheimrat Prof. Dr. Wilh. Dilthey,
Prof. D. Dr. August Dorner, Prof. D. Rade und Dr. J. Halpern gewandt,
die mir auch freundlichst ihre Ansichten mitgeteilt haben. Daß auch
diese Ratschläge stark auseinander gingen, ist selbstverständlich. So blieb
immer noch meinem Urteil genug überlassen. Ich will nur hoffen, einiger-
maßen das Richtige getroffen zu haben. Heute — dem Abschluß eines
Hauptteils der Arbeit nahe — empfinde ich deutlicher als am Anfang,
welch ein Wagnis eine solche Auswahl ist! Ich muß daher mit einer
captatio benevolentiae beginnen; nicht jedem werde ich es recht gemacht
haben, ich bitte, mir das um der Schwierigkeit des Ganzen willen nicht
zu sehr anzurechnen!
Die Ethik ist der Kernpunkt von Schleiermachers Philosophie; alle zur
Ethik gehörenden Schriften bilden daher den Grundstock der Ausgabe.
Dazu kamen — nach den eingeholten Ratschlägen — Auswahlen aus den
Schriften, die die Anwendung der ethischen Prinzipien zeigen (so z. B.
Politik und Pädagogik) und aus denen, welche das Weltbild begründen oder
abschließen (Dialektik, Glaubenslehre). Der Psychologie, Ästhetik und
Hermeneutik wurden Stellen entnommen, die gleichfalls Beziehungen zur
ethischen Anschauung enthalten. Herr Prof. D. Bauer hatte dann die
Güte, seine wertvolle Mitarbeit dem Unternehmen durch Herausgabe und
Analyse der „Predigten über den Hausstand" zu leihen; ich möchte ihm
auch hier dafür meinen aufrichtigsten Dank aussprechen. Für das Ein-
zelne der Textgestaltung verweise ich auf die Bemerkungen in den Vor-
oder Nachworten.
Ich hatte erst beabsichtigt, die bekanntesten Schriften — Reden,
Monologen und Weihnachtsfeier — nicht noch einmal zu drucken, da sie
in billigen und guten Neuausgaben vorliegen. Einem Wunsche des
Verlages folgend, sollen sie aber doch im 4. Bande erscheinen. Mit Aus-
nahme des 2. Bandes ist die Ausgabe keine kritische,
Schleiermacher, Werke. I. IH
XXXIV Vorwort.
Eine ungemein wichtige Unterstützung meiner Arbeit habe ich da-
durch gefunden, daß die BerUner Literaturarchiv-Gesellschaft mir die von
Schleiermacher noch vorhandenen Handschriften zur Ethik gütigst zur Ver-
fügung stellte, wofür ich hier öffentlich den Leitern der Gesellschaft
meinen ergebensten Dank sagen möchte. Dadurch war es mir möglich,
im 2. Bande einen revidierten und ergänzten Text des „Entwurfs eines
Systems der Sittenlehre" anzufertigen.
Herr Prof. D. Dr. Dorner, dem hier ebenfalls herzlich gedankt sei,
nahm sich des Ganzen durch ein Geleitwort an. Mir blieb daher für
die allgemeine Einleitung eine hauptsächlich biographische Aufgabe.
Diese Einleitung schöpft nur aus gedruckten Quellen, es war mir in der
Kürze der Zeit ganz unmöglich, ungedrucktes Material aufzusuchen. Sie
ist auf Wunsch des Verlages geschrieben, um die Ausgabe für weitere
Kreise nutzbar zu gestalten. Am meisten verdankt sie natürlich den Werken
von Dilthey und Schenkel, daneben ist mögUchst alle moderne Literatur
berücksichtigt ^ Daß die Jugend Schleiermachers darin etwas breiter als
das Alter behandelt ist, liegt an dem Sonderzweck der Einleitung, der
sie an die Spitze der ethischen Schriften stellt: in der Jugend werden die
Grundgedanken der Ethik aus Erleben und Studium gewonnen. Herr Prof.
Bauer hat manche wertvolle Winke zur Einleitung gegeben.
Den „Grundlinien" schicke ich eine kurze Inhaltsanalyse voran, um
diese komplizierte Schrift weiteren Kreisen zugänglich zu machen.
Im zweiten Band fand eine Spezialeinleitung über Schleiermachers Ethik
ihre Stelle, die eine wissenschaftliche Behandlung des Themas geben will.
Die Verteilung der Schriften auf die einzelnen Bände konnte leider
keine systematische oder chronologische sein, sondern ist von mehr
praktischen Gesichtspunkten bestimmt: ich habe die Auswahlen mit dem
Nachtrag der bekanntesten Schriften in den 2 letzten Bänden vereinigt,
während die ersten beiden die Hauptschriften zur Ethik geben.
Zum Schluß sage ich nochmals allen denen Dank, die zum Gedeihen
der Ausgabe mitgewirkt, nicht zu wenigst dem verehrlichen Verlage, der
mich durch Abnahme von Revisionen und Registerarbeit besonders unter-
stützte (Herr Fritz Eckardt hat sich selbst der großen Mühe unterzogen,
die Register zu Band 1, 3 und 4 anzufertigen), und — last not least —
meiner Frau, die mir bei den Korrekturen und Textvergleichungen ge-
treulich geholfen hat.
Hamburg, im Herbst 1910. Otto Braun.
1 Da ich mich sehr kurz fassen mußte, habe ich die wichtigste Literatur
zitiert, damit Interessenten sich leicht über jeden Punkt genauer informieren können.
Einleitung.
Schleiermachers Leben und Werke.
Die Jugend.
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde am 21. November 1768 in
Breslau geboren. In ihm erreichte der religiöse Familiengeist seine
Konzentration und seinen Höhepunkt. Der Großvater schon wurde als
Prediger in Elberfeld in die sektiererischen Bewegungen von Elias Eller
und der „Prophetin" Anna v. Buchel hineingezogen, und hatte des-
wegen manche Anfeindungen, ja 1749 eine Anklage wegen Hexerei
zu erdulden, der er sich nur durch rechtzeitige Flucht entziehen konnte.
Unter dem Einfluß dieser aufregenden Vorgänge ist der Vater, Gott-
lieb Schleiermacher, 1727 geboren, aufgewachsen. In ihm finden wir
nicht mehr die ruhige Sicherheit des Kirchenglaubens, und noch nicht
die philosophisch-fundierte Gewißheit des Sohnes. Er gehörte damit
ganz der Generation der Semler und Hippel an, zu der auch Kant
in gewissem Sinne zu rechnen ist: die Wissenschaft hat in diesen
Männern eigentlich schon die Grundsäulen des Glaubens gestürzt, und
doch ist dieser Glaube persönlich in ihnen noch lebendig i. Von der
Aufklärung beeinflußt, war Gottlieb bis 1778 JUoralist, dann näherte er
sich stark den Herrnhutern, um endlich wieder beim Moralismus anzu-
langen. Schleiermachers Vater war reformierter Feldprediger in Schlesien,
als seine Frau, eine geborene Stubenrauch, ihm den ältesten Sohn Friedrich
schenkte. ! Auch die Mutter war aus einer Prediger-Familie, verwandt
mit den Spaldings und Sacks. Da der Vater auf Amtsreisen oft ab-
wesend war, so verdankte Friedrich seine Erziehung fast allein der
Mutter. 2 Diese, eine geistig und religiös sehr begabte Frau, sorgte mit
Hingebung für ihn und seine Geschwister: die Schwester Charlotte
und den Bruder Karl. Eine tiefreligiöse Beanlagung wurde unter
dem Einfluß der Mutter in dem frühreifen Knaben, der bereits mit
1 Dilthey, Leben Schleiermachers. Berlin 1870. I, 7i.
2 Vgl. die Selbstbiographie vom April 1794 in „Aus Schleiermachers Leben
in Briefen" I, 3 ff. (zitiert als Br.).
III*
XXXVI Einleitung.
4 Jahren zu lesen begann, bestärkt und ausgebildet. „Als ich
fünf Jahre alt war, fing ich an, die unter der Direktion des
Herrn Hofpredigers Heinz stehende Friedrichs-Schule zu besuchen, und
durchlief mit ziemlicher Schnelligkeit die unteren Klassen ... Da ich
wegen dieser Fortschritte in den sehr frühen Ruf eines guten Kopfes
kam, ... so fing ich an, stolz und eitel zu werden, und, was so oft V
eine Folge von diesen Eigenschaften ist, ein auffahrendes, heftiges Wesen
anzunehmen, welches in meiner Konstitution nicht gegründet war. Meine
Mutter, welche mich zwar sehr liebte, aber keineswegs blind gegen
meine Fehler war, suchte meinen Stolz durch vernünftige religiöse Vor-
stellungen in Dankbarkeit gegen Gott zu verwandeln . . ."^jDie Mutter
scheint die Erziehung mit klugem Bedacht geleitet zu haben, nicht nur
dem Gefühl, sondern auch der Reflexion folgend. So setzt sie ihrem
Bruder auseinander, „daß man die Kinder nicht mit Strafen zum Lernen
zwingt" 2. Von ihrem Sohn erzählt sie befriedigt: „Wenn Fritz so
fortfährt, wird er es in den Sprachen weit bringen; seine Lehrer sind
sehr mit ihm zufrieden . . ." Fritz selbst kam bald in eine Periode
inneren Zweifels an sich selbst hinein, weil sein scharfer Verstand
viele Lücken in seinen Kenntnissen entdeckte und er stets fürchtete,
andere würden dasselbe bei ihm feststellen. Er hatte — wie manchmal
begabte Menschen — das Gefühl, jeder andere wisse viel mehr als er.
Als er das 10. Jahr erreicht hatte, siedelten die Eltern nach Pleß,
und dann 1779 nach der Emigranten-Kolonie Anhalt in Schlesien über.
2 Jahre verbrachte Friedrich auf dem Lande, was seiner Gesundheit,
die schon damals durch ein Magenleiden angegriffen war, sehr wohl
tat. „Mein Unmut gegen die Kenntnisse, für die ich mir keine Fähig-
keiten zutraute, nahm zu; ich fing an, die Sprachkenntnisse ordentlich
zu verabscheuen, aber ich sammelte unvermerkt durch die Bemühungen
meiner Mutter eine Menge von Sachkenntnissen ein." In den nächsten
beiden Jahren besuchte er die Realschule in Pleß, wo er in Pension
war und nun wieder regelmäßigen Unterricht genoß. Dort wußte sein
Lehrer, ein Schüler Ernestis, wieder sein Interesse auf die alten Sprachen
zu lenken. Dabei quälte ihn nur der merkwürdige Skeptizismus, „daß
alle alten Schriftsteller und mit ihnen die alte Geschichte untergeschoben
wären". Man kann hier vielleicht — wie Schenkel ^ — die Anzeichen
des Wahrheitstriebes sehen, der nicht auf bloße Überlieferung etwas
glauben wollte.
1 Selbstbiographie, a. a. O. ^ ßr. 1, 18.
3 Fr. Schleiermacher, ein Lebens- und Charakterbild. Elberfeld 1868. S. 11.
Einleitung. XXXVII
In der Schule zu Pleß wäre Schleiermacher gewiß gern geblieben,
aber ihr Leiter wurde fortberufen. So standen die Eltern wieder vor der
Frage, wohin sie den Knaben geben sollten. Auf seinen Reisen hatte
der Vater vielfach Berührung mit Mitgliedern der Herrnhutischen Ge-
meinde gehabt und von ihnen einen lebhaften und sympathischen Eindruck
des Treibens dieser Sekte empfangen. So machte er sich denn im Herbst
1782 mit der Mutter auf, um Herrnhut, Gnadenfrei und das Pädagogium zu
Niesky persönlich kennen zu lernen. Sie fanden es „über alle Erwartung in
aller Absicht vortrefflich*' i. Der Vater hörte sich den Unterricht in vielen
Klassen an und war vor allem dadurch beruhigt, „daß die Hauptsache,
worauf es bei dem Menschen ankommt, die Wiedervereinigung mit
Gott, hier, wie in allen Brüdergemeinden, auf den einzig wahren Grund:
das blutige Versöhnungsopfer Christi, gebauet . . . wird".
Nachdem früher die Schleiermacherschen Kinder im Geiste des Mora-
lismus erzogen worden waren, hatte seit 1778/79 schon das neue Herrn-
hutertum ihrer Eltern sie stark beeinflußt. Verstandesmäßige und ge-
fühlsmäßige Religionsauffassung wirkten so schon in der Jugend auf
Schleiermacher — diese Doppelrichtung ist ihm stets eigen geblieben.
Dem Sohne schilderte jetzt der Vater die Gefahren der anderen Schulen
und das religiöse und freundliche Leben in Niesky in lebhaften Farben,
so daß dieser „die Abreise mit Sehnsucht erwartete". Da aber die Auf-
nahme vom Los abhing, mußte er mit den Eltern einige Wochen in
Gnadenfrei bleiben, wohin seine Schwester Charlotte gebracht wurde.
„Hier wurde der Grund zu einer Herrschaft der Phantasie in
Sachen der Religion gelegt, die mich bei etwas weniger Kalt-
blütigkeit wahrscheinlich zu einem Schwärmer gemacht haben würde,
der ich aber in der Tat mancherlei sehr schätzbare Erfahrungen ver-
danke . . ."2 Während er sich schon früher in schlaflosen Nächten
mit der Frage der unendlichen Strafen und Belohnungen abgequält hatte,
regte ihn jetzt die Lehre von dem natürlichen Verderben und den über-
natürlichen Gnadenwirkungen auf. Rings um sich sah und hörte er
nur von den mystischen, innerlichen Gnadenerlebnissen — und er
selbst konnte trotz aller Mühe nur flüchtige Schatten davon erhaschen.
So zweifelte er an der Kraft zur Erlösung durch die eigene Tat,
ohne doch die übernatürliche Hilfe zu erfahren 3. Alles hoffte er von
* Br. I, 22. 2 Br. I, 7.
^ Trotzdem scheint er in Gnadenfrei eine Art pietistischer Erweckung auf
einem Spaziergang erlebt zu haben. (E. R. Meyer: Schleiermachers und Brink-
manns Gang durch die Brüdergemeinde. Leipzig 1905, S. 61.)
XXXVni Einleitung.
dem Eintritt in die Gemeinde, und war entschlossen, im Falle der
Abweisung ein Handwerk dort zu erlernen. Doch sein Wunsch wurde
erfüllt: im Juni 1783 trat er (mit seinem Bruder) in das Pädagogium zu
Niesky ein.
In dürftiger, „eben nicht einnehmender" i, aber freundlicher Um-
gebung liegt Niesky, einige Meilen nördlich von Görlitz. „Wenn man
von Görlitz kam, sah man das kleine, freundliche Dorf in der Ebene
sich hinstrecken, die schmalen Glockentürmchen des Gemeindehauses
hervorragend unter den niedrigen Häusern, links daneben das zwei-
stöckige Brüderhaus, rechts das Knabeninstitut und das Pädagogium . . ."2
Aufgenommen in den friedvollen Geist der ihn umgebenden Menschen
und der ländlichen Natur, wichen bald die krankhaften, unkindlichen
Seelenerregungen und machten einer stilleren Frömmigkeit Platz. Unter
Leitung des alten Zembsch gewann Schleiermacher die Liebe zum
Altertum wieder. Vor allem war es aber der junge Lehrer Hilmer,
der auf ihn wirkte; ihm rühmt er „einen wahrhaft philosophischen
Geist, ein vorzügliches pädagogisches Talent und einen nicht zu er-
müdenden Fleiß zum Besten seiner Schüler" nach. Durch ihn angeregt,
stürzte sich Schleiermacher mit seinem „Orest", dem späteren Bischof
der Brüdergemeinde, J. Baptista v. Albertini, in „kolossalische und
abenteuerliche" literarische Unternehmungen. Sie lasen zusammen Homer,
Hesiod, Theophrast, Sophokles, Euripides, Plato und Pindar — und eine
neue Welt ging ihnen auf. Sie machten Entdeckungen — die nur ihnen
welche waren, die aber ihr ganzes Wesen mit Begeisterung erfüllten.
Nach Okelys, eines älteren Gemeindemitgliedes, Tagebuch erzählt Dilthey:
„Und dann dürfen wir uns die jungen Gelehrten wieder denken, wie Okelys
Tagebuch seine eigenen Erholungen aus diesen Jahren beschreibt. Auf
dem Rasen im Maiblumenwäldchen sitzen sie zusammen, Okely hat
einen französischen Miszellaneenband vor sich, aber er kann nicht um-
hin, mehr auf das halb lustige, halb altkluge Geplauder um sich zu
hören. Da ist von Hilmers vergeblichen Anstrengungen, Suppe aus-
zuteilen, die Rede, und gleich darauf vom Verdienst der jüngeren Ge-
meindearbeiter." 3 Ein Hauch frischer, fröhlicher Jugend weht uns
entgegen, wenn auch alles durch das weihevolle religiöse Wesen der
Umgebung gedämpft wird. So recht eigentlich „jung" ist Schleier-
macher erst später gewesen, als ihn die Wellen der romantischen Be-
wegung ergriffen hatten!
1 Br. 1,29. 2 Dilthey 14. » a. a. O. S. 16.
Einleitung. XXXIX
Die Briefe an die Schwester ^^ zeigen ihn uns in einer liebevollen,
aber doch ein wenig moralisierenden, steifen Überlegenheit. Als Char-
lotte einmal nach Anhalt gereist war, bedauerte sie, ihre Ruhe haben
aufgeben zu müssen. Da weist er sie zurecht: „Pflicht ist Pflicht,
und man muß sich immer freuen, sie zu tun. Ich denke, wenn Du Dich
auch von morgens um 5 bis abends um 10 im Hause und Garten
herumtummelst, so kannst Du eben so selig sein, eben so sehr des
Heilands Nähe fühlen, als in Deiner ruhigen Untätigkeit (wenn Du mir
das Wort erlaubst) ... Sei doch froh, daß Du einmal wieder in Wirt-
schaftsgeschäfte hineinkommst; es ist für ein junges Frauenzimmer un-
umgänglich nötig, etwas davon zu verstehen; Du kannst ja doch nicht
wissen, wo Dich der Heiland noch einmal hinführt, und ob es Deine
Bestimmung ist, immer im Chorhause vor dem Nährahmen zu sitzen.
Sei nicht zu ängstlich, ob Du's auch recht machst, denn das taugt gar
nichts. Mein Grundsatz heißt: Frisch gewagt ist halb gewonnen. Ver-
steht sich, daß das Frisch-Wagen die nötige Behutsamkeit und Über-
legung nicht ausschließt."- Die hier ausgesprochene Mahnung zur Be-
tätigung der Religion im Leben wird aber bei ihm selbst immer durch
die mystische Hingabe an Christus zurückgehalten: „Wären wir ihm
nur ganz zur Freude, ständen wir immer in einem ganz ungestörten Um-
gang mit ihm, könnte uns nichts auch nicht einen Augenblick von ihm ab-
bringen!" 3 Manchmal nur hören wir kindliche Wünsche mitten zwischen
den Heilandsgefühlen: „Du kannst unsern Vater daran erinnern, daß
mein Beutel die Schwindsucht hat, und das vom Obst, es soUts nie-
mand glauben; Papa kann ihn kurieren."*
Ende August 1785 wurde er mit Albertini in das Lehrer- und Prediger-
seminar zu Barby, etwa 60 Kilometer nördlich von Halle an der Elbe
gelegen, aufgenommen, wo er am 22. September mit 17 anderen zu
Wagen eintraf. Die Anstalt stand im guten Rufe — sogar der Hallenser
Professor Stubenrauch wünschte dem Neffen herzlich Glück zu seiner
Aufnahme und warnte ihn nur vor Unduldsamkeit, was Schleiermacher
ziemlich übel genommen zu haben scheint. Tatsächlich aber stand es
schlimm um die dortige theologische Fakultät. Einen Fehler empfand
Schleiermacher selbst schon, ehe er hinkam: „Wir sahen in der Brüder-
gemeinde keine recht sich auf das Leben verbreitende, der Mühe loh-
* Vgl. auch „Neue Briefe Schleiermachers aus der Jugendzeit, Niesky
1784 — 1785", mitgeteilt von J. Bauer. Zeitschrift für Kirchengeschichte. XXXI,
4, 587 ff.
2 Br. 1,31 f. 3 Br. 1,34. * Br. 1,30.
XL Einleitung.
nende Anwendung der Wissenschaften/* Doch bald bemerkten die
Freunde, zu denen sich jetzt Okely gesellt hatte, den innern, unheil-
baren Schaden des ganzen Gemeinwesens. Man war in Barby genötigt,
den neuen Geist der Wissenschaft, der so frisch von dem benachbarten
Halle herüberwehte, fernzuhalten. Man pflegte hier die Wissenschaft nicht
um ihrer selbst willen, stellte sie nicht einmal den Schülern, die doch
so gern etwas davon hören wollten, dar, sondern kritisierte nur einige
Sätze aus ihr vom Standpunkt der Brüder-Religion. Da es nach der
Weltanschauung der Herrnhuter lediglich auf den Gemütsprozeß der
Einigung mit Christus und der übernatürlichen Gnadenwirkung dadurch
ankommt, werden alle anderen idealen Güter der Menschheit eigentlich
entwertet. Daß unter diesen Umständen die Lehrer den jungen Männern
nichts geben konnten, versteht sich von selbst. Die suchenden Geister
schlössen sich um so inniger zusammen (zu einen „philosophischen
Klub") und begannen auf eigene Faust auf ihren Spaziergängen zu
philosophieren, eine „erste Blüte des Geistes" entfaltete sich bei
Schleiermacher. „Ihre innere Welt war der grenzenlose Stoff ihres
Nachdenkens" (Dilthey). Zur Freude Stubenrauchs lasen sie die
damals streng kantische Jenaer Literaturzeitung, sie verschafften sich
auf heimlichen Gängen nach Zerbst, das 2 Meilen entfernt liegt,
Werke der gegenwärtigen Literatur, so Wielands Gedichte und Goethes
Werther. Ihr Empfinden wollten sie von außen nähren, ihr Denken
hatte mit den Gärungen im eigenen Innern genug zu tun. Schleiermachers
„Wasserfahrt" schildert uns den Naturgenuß bei einer Mondschein-
partie des Klubs auf der Elbe,^ man schwärmte für Klopstock, Haller,
Hölty, und gleichzeitig entfaltete die Vernunft ihre autonome Macht.
Natürlich blieb ihr Zustand und ihre dauernde t^bertretung der lasten-
den Hausordnung nicht ganz unbemerkt von den Lehrern; man hielt
sie im Auge. Okely tröstete sich zwar damit, daß die äußere Einschränkung
ihrem Denken, dem alle Gebiete offen ständen, nichts anhaben könne.
Immerhin war es doch ein unerträglicher Zustand: man dachte an
Flucht. Beyer, ein älterer Freund, schied aus der Brüderschaft aus,
Okely wurde ausgestoßen im Winter 1786, und der vereinsamte Schleier-
macher folgte bald.
Schon im Sommer 1786 hatte er versucht, den Vater auf die Ände-
rung seiner Sinnesart vorzubereiten. Er fühlte, wie schweren Stand er
gegen seinen Vater — im Gegensatz zu Okely, der in seiner Familie
wieder freudige Aufnahme gefunden hatte — haben würde, zumal er
1 E. R. Meyer, a. a. O. S. 21 3 f.
Einleitung. XLI
die verstehende Hilfe der vor 3 Jahren verstorbenen Mutter entbehren
mußte. „Ich möchte gern Theologie studieren," schrieb er damals, „und
zwar recht von Grund aus; das werde ich mich aber nicht rühmen
können, wenn ich von hier wegkomme, und daran ist unsere, wie
mich däucht, etwas zu große Eingeschränktheit in der Lektüre Schuld." ^
Der Vater hielt ihm die Weisheit der älteren Generation entgegen,
bei der er sich beruhigt hatte: er solle auf die Lektüre der Neueren
nur ruhig verzichten, denn sie könnten ihm nichts geben. Da er ja
praktischer Prediger werden wolle, sei ihm das alles unnütz. Damit
aber vermochte der Vater ihn nicht zu beruhigen; denn es waren
nicht vorübergehende, subjektive Zweifel in ihm aufgestiegen, sondern
ihn hatte der Geist der neuen Zeit ergriffen, die den Menschen kraft
seiner sittlichen Entscheidung auf sich selbst zu stellen suchte. „Was
bisher seine Seele mit schwärmerischem Entzücken gefüllt, war ihm
jetzt wie ein Wahnbild in nichts zerronnen."- Im Seminar peinigte man
ihn durch Verhöre und durch die Erwartung, daß er sich eines Besseren
besinnen werde. So entschloß er sich endlich am 21. Januar 1787, sich
dem Vater zu offenbaren. Für ihn sei der alte Glaube verloren, erklärt
er offen. An die stellvertretende Versöhnung durch den Kreuzestod
Christi kann er nicht mehr glauben. „Denn Gott kann die Menschen,
die er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben
nach derselben geschaffen hat, unmöglich ewig darum strafen wollen,
weil sie nicht vollkommen geworden sind." Starke Gründe hat er,
auf denen er fest steht; er glaubt nicht, daß der Vater ihn widerlegen
könne. Immer wieder beteuert er, wie schwer es ihm wird, dem Vater
das alles zu schreiben. Mit verhaltener innerer Wärme ist der ganze
Brief geschrieben. Er bringt seine Bitte, nach Halle gehen zu dürfen,
gleich bestimmt vor und bespricht die verschiedenen Studien. Man fühlt,
wie gern er bei diesem Teil des Briefes verweilt — wie sehr er wünscht,
daß alles andere versunken sei. Er stellt dem Vater die Möglichkeit der
Sinnesänderung in Halle als leichter hin als in der Gemeinde, um
ihn für den Plan zu gewinnen. Noch ehe er Antwort hat, am 12. Februar,
schreibt er noch einmal. Er weist auf den Onkel hin, mit dem er alles
wird bereden können; er legt dem Vater eine Kostenaufrechnung vor,
die er sich von einem Freund hat schicken lassen, um ihm die Billig-
keit des Unternehmens zu zeigen — es ist rührend zu lesen, wie er
sich einschränken will. „Frühstück und Abendbrot 48 Fl.; hiervon,
dächte ich, müßte sich, da ich keinen Kaffee trinke, auch abends nicht
1 Br. 1,42. 2 Schenkel S. 19-
XLII Einleitung.
viel esse, wenigstens die Hälfte retranchieren lassen." i So sieht er
sich im Geiste schon in der ersehnten Freiheit.
Und der Vater? Ein Brief voll leidenschaftlicher Liebe und fast
fanatischer Erregung bringt dem Sohne die Erlaubnis, sich nach Halle zu
wenden. „Ach mein Sohn, mein Sohn! wie tief beugst Du mich! welche
Seufzer pressest Du aus meiner Seele!" 2 Er versucht, den Sohn auch
verstandesmäßig von der Verkehrtheit seiner Anschauungen zu über-
zeugen — daß es nicht gelingen konnte, hat er wohl selbst undeutlich
gefühlt. ■ i ! ^{^
Schmerzvoll empfand der Sohn, der mit inniger Liebe an dem Vater
hing, die innere Kluft, die sich zwischen ihm und der älteren Generation
auftat. Zurück konnte er nicht — sein ganzes Wesen drängte nach Be-
freiung. So entgegnete er denn nur zurückhaltend und wehmütig auf
die Vorwürfe und Einwände. Das schlimmste war ihm eins: „Ich habe
Zweifel gegen die Versöhnungslehre und die Gottheit Christi und Sie
sehen mich an als einen Verleugner Gottes I"^ Es war eben kein Ver-
ständnis zwischen Altem und Neuem zu erzielen. So verließ er denn
die Gemeinde, von unangenehmen Eindrücken begleitet, die erst in
späterer Zeit einer objektiven Würdigung Raum gaben, und eilte dem
neuen Leben entgegen. Hin und her gehen noch die Briefe, in denen
die Erregung langsam ausschwingt. Der Onkel schreibt freundlich und
ruhig mahnend. „Wir müssen immer zufrieden sein, der Wahrheit so
nahe zu kommen, als es zu unserm Fortgang im Guten und zu unsrer
Beruhigung erforderlich."* Auf die Bitte des Vaters nimmt er Schleier-
macher in sein Haus auf. „Das für Sie bestimmte Stübchen ist klein,
freilich sehr klein; vielleicht aber gefällt es Ihnen doch in Betracht, daß
Sie so ganz nahe bei Ihren nächsten Verwandten sind."^
Die Universitätszeit.
Wie ein böser Traum versanken nach und nach die Beziehungen
zu Barby hinter dem Abtrünnigen. Die Verbindung mit Albertini löste
sich auch allmählich, Okely fand einen plötzlichen frühen Tod in den
Wellen der Nordsee bei Northampton. Der Vater ermahnte den Sohn
zwar weiter, zum alten Glauben zurückzukehren und die „Lauheit und
Gefahr der bloßen Spekulation" zu meiden. Auf die Hingabe an Christus
1 Br. I, 54. 2 a. a. O. 52. ^ a. a. O. 56. * a. a. O. 59.
5 a. a. O. 64.
Einleitung. XLIII
als die Quelle aller Beruhigung wies er ihn immer wieder hin, aber
nicht mehr mit leidenschaftlichem Eifern. So konnte Schleiermacher,
frei von den alten Fesseln, sich ganz dem Drange seines Sehnens über-
lassen. Er tat die alten dogmatischen Fragen schnell ab und beruhigte
sich dabei, daß Gott den Menschen nicht zur absoluten Vollkommenheit
geschaffen habe. Nur auf unser Streben kommt es an, so doziert der
werdende Schüler Kants. Er hatte strenge Christen und Nichtchristen
getroffen, die sehr gute Menschen waren — damit versanken die unge-
sunden Selbstquälereien der früheren Zeit ins Wesenlose.
Wenn man nun ein Aufblühen und Ausweiten aller Seelenkräfte bei
Schleiermacher erwartet, so wird man ein wenig enttäuscht sein, ihn
so ruhig und gemessen zu finden. Die Ermattung infolge der durch-
lebten Kämpfe wirkte wohl noch nach; vor allem aber war es der
Mangel einer hinreißenden Persönlichkeit unter den Universitätslehrern,
der eine leidenschaftliche Hingabe an das Neue unmöglich machte.
Schleiermachers Entwicklung ist nicht so stürmisch verlaufen wie die
des jungen Schelling. Er war keine so frühreife Natur, trotz seines früh
entwickehen Intellektes. Alles ist bei ihm nach der Lösung von Barby
organisch gewachsen, nichts stoßweise hervorgebrochen. Er war für
seine Beanlagung noch zu jung, als er Ostern 1787 die Universität bezog,
um wie Herder etwa, als er sich aus Rigas drückenden Verhältnissen
losriß, einen beispiellosen Aufschwung seines inneren Wesens zu emp-
finden und in dem Gewinn voller Eigenart zu bekunden.
Die Theologen von Halle gerade konnten ihm bei seiner seelischen
Lage nichts geben. Knapp, Nösselt, Niemeyer hatten keine eigenartige
Bedeutung, Semler war alt — und durch die neue, von Kant ausgehende
Bewegung veraltet. Seine bedeutenden Schüler, Michaelis und Eichhorn,
blieben Halle fern, und so erhielt Schleiermacher nicht ihre eingehende
Kenntnis orientalischer Sprachen und Geschichte vermittelt. „Es blieb
das der in mehrfacher Beziehung verhängnisvolle Mangel in Schleier-
machers theologischer Bildung, daß er in Halle dieser großartigen
theologischen Bewegung, die sich von Göttingen her, ausbreitete, fem
stand und so später für seine kritischen Arbeiten des wahren historischen
Gesichtspunktes und des breiten Fundaments der orientalischen Sprachen
entbehrte, was dann für seine allgemeine Stellung zu dem Fortgang
der Theologie in unserm Jahrhundert entscheidende Folgen hatte"
(Dilthey)i. Halle stand zwar äußerlich auf seiner Höhe mit 1156 Studenten,
darunter 800 Theologen; innerlich aber begann schon damals Jena
1 a. a. O. 31 f.
XLIV Einleitung.
ihm den Rang abzulaufen, denn diese Universität wurde unter Reinhold
zur Hochburg des Kantianismus.
In richtigem Instinkt ließ denn Schleiermacher auch die Theologie
links liegen und wandte sich an die Stelle, wo er noch am ehesten
Zusammenhang mit der neuen Geistesbewegung zu bekommen hoffen
konnte: er besuchte den philosophischen Kursus des Popularphilosophen
J. Aug. Eberhard, des Genossen der Mendelssohn, Nicolai, Basedow,
Abbt, Garve, Feder. Dieser trug in eleganter Form das System seines
Meisters Wolff vor, geschickt es den Interessen des Tages anpassend,
bis der scharfe Wind kritischer Erkenntnis vom Osten Deutschlands
her dies ganze Gebäude seichter Aufklärung umblies.
Ein Gutes hatte Eberhard: er führte in seinem Kolleg die verschie-
densten Meinungen der Philosophen vor und prüfte sie dann kritisch.
So leitete er den jungen Schleiermacher wieder zum Griechentume,
namentlich zu Piaton und Aristoteles. In dieser Richtung bestärkten
ihn auch die Vorlesungen von F. A. Wolff. Wir haben aus seiner
Studentenzeit Übersetzungen des 8. und 9. Buchs der nikomachischen
Ethik mit „Schlüssel" und Anmerkungen. ^ Eberhard hat bei diesen Dingen
Pate gestanden. Eigenes ist kaum zu entdecken. Einen Plan zu einem
Aufsatze über die aristotelische Theorie der Gerechtigkeit hat er auch
noch in Halle entworfen, die Arbeit selbst wurde erst aus Drossen an
Eberhard gesandt. So beginnen hier die engen philosophischen Be-
ziehungen zur Antike, die ihn sein Leben lang begleitet haben.
Aber auch mit den bewegenden Kräften der neuen Zeit brachte
dies Kolleg seine Hörer in Berührung. Eberhard suchte Kant zu be-
kämpfen, 1789 begann schon das „Philosophische Magazin" zu erscheinen,
1792 das „Philosophische Archiv", Zeitschriften, die ganz dem Kampf
gegen den Kritizismus gewidmet waren. So wurde Schleiermacher in
die Bewegung hineingezogen. Er hatte schon in Barby die „Prolegomena"
gelesen 2 und schrieb dem Vater: „Was die Kantische Philosophie
betrifft, so habe ich von je her sehr günstige Meinungen von ihr gehabt,
eben weil sie die Vernunft von den metaphysischen Wüsten zurück in
die Felder, die ihr eigentümlich gehören, zurückweist." Auch Eberhard
hat nicht vermocht, Schleiermacher zur vollständigen Verwerfung Kants
zu bringen. Er hat in Halle offenbar schon sehr genau Kant studiert,
denn aus dem Ende seiner Studienzeit stammt der Anfang zu der Ab-
^ Vgl. Diltheys Anhang: Denkmale der inneren Entwicklung Schleier-
machers.
2 Br. I, 70.
Einleitung. XLV
Handlung „Über das höchste Gut", in der er sich in tief eindringender
Kritik mit Kant auseinandersetzt, i So finden wir hier doch Anfänge aller
Grundtendenzen, die Schleiermachers Schaffen später bestimmt haben.
Einige andere Anfänge von Schleiermachers Schriftstellerei sind uns
teils erhalten, teils verloren, so Briefe über Schwärmerei und Skeptizismus,
Briefe über den Ursprung der Verbindlichkeit in Verträgen, Anfänge zu
„philosophischen Versuchen", so „vom gemeinen Menschenverstand",
Pläne zu „kritischen Briefen" usw. Langsam beginnt sich die Selb-
ständigkeit zu regen. Er selbst bezeichnet es als sein „höchstes Be-
dürfnis" in dieser Zeit, die „Geschichte der menschlichen Meinungen"
kennen zu lernen; 2 ein fertiges System wollte er nicht annehmen, er
hatte von Dogmatik in seiner Jugend gerade genug bekommen. Er
wollte Material aus der Geschichte, an das sich seine eigene Reflexion
anspinnen konnte. Über seine theologischen Studien ist wenig bekannt.
Sein äußeres Leben auf der Universität war bis zur Übertreibung
schlicht und eingeschränkt. Er nennt sich selbst in dieser Zeit noch
einen „echten Herrnhuter".^ Er zog sich von jeder Geselligkeit zurück,
vernachlässigte sich in Kleidung und Auftreten, zeigte sich oft genug
stolz und schroff; von Jugendlichkeit ist nichts zu spüren. Sein Talent
zur Freundschaft begann sich aber schon damals weiter zu entfalten. Der
intimste Freund aus jener Zeit war Gustav v. Brinkmann, ein Schwede
aus vornehmer Familie, der auch in Barby gewesen und schon 1785
nach Halle gewandert war. Brinkmann war der rechte Gegensatz
zu seinem 4 Jahre jüngeren Freund, eine elegante Erscheinung, mit
allen Gaben geselligen Talentes überreich ausgestattet, bewegte er sich
mit Leichtigkeit in den Professorenkreisen und spann mit den Töchtern
seiner Lehrer zarte Verhältnisse an.* Dabei wollte auch er sich dem
geistlichen Berufe widmen, schlug aber nachher die diplomatische Kar-
riere ein. Vorläufig dichtete er schmachtende Verse im Schäferstil, die
sogar unter dem Namen Selmar 1789 erschienen. Oft genug hat Schleier-
macher ihm in hingebender Freundschaft seine Zeit geopfert und ihm
Episteln und ähnliches abgeschrieben — und während er sich so mühte,
ging der vielbeschäftigte Freund nach Passendorf spazieren. Da schilt
der gutmütige Schleiermacher wohl erst: „Es ist der ärgste Mißbrauch
freundschaftlicher Dienstfertigkeit — und ich hätte ihn deiner Delikatesse
^ Vgl. darüber die Einleitung im II. Band.
2 Br. 1, 13-
^ Vgl. auch Realenzyklopädie für pr. Theologie und Kirche. 17, 590.
* Dilthey 34.
XLVI Einleitung.
nicht zugetraut — daß du einem guten Freund an einem so schönen
Tage eine so unangenehme Arbeit zumutest, bloß damit du selbst desto
ungestörter deinem Vergnügen nachgehen kannst." ^ Trotzdem blieb
die Freundschaft ungestört und gern ordnete sich Schleiermacher dem
weltgewandten Freunde unter.
Der Vater beschäftigte sich allmählich in seinen Briefen immer
weniger mit den inneren Angelegenheiten des Sohnes — er fühlte wohl,
daß er gegen die ruhige Selbstsicherheit nicht aufkommen konnte;
desto mehr tritt die Sorge um das äußere Fortkommen hervor. Ihm
fehlten die Mittel, um Friedrich länger unterhalten zu können. Dieser
mußte also daran denken, recht rasch eine Stellung zu finden. So
hält ihn der Vater dringend an, sich im Französischen und Englischen
zu vervollkommnen und Beziehungen mit vornehmen Familien anzu-
knüpfen, damit er eine Stellung als Hauslehrer erhalten könne.
Als aber im Frühjahr 1789 das Ende der Studienzeit da war, da zer-
schlug sich die Aussicht auf eine Schulstelle in Breslau, und in Halle
war bei der Überzahl studierter Leute für ihn keine Möglichkeit, Lebens-
unterhalt zu erwerben. So mußte er bei dem Onkel Stubenrauch, der
Herbst 1788 eine Landpredigerstelle zu Drossen in der Neumark ange-
nommen hatte, eine vorläufige Zuflucht suchen. Mit schmerzlichen Emp-
findungen verließ er Halle.
Drossen.
Am 26. Mai traf er in dem freundlichen Städtchen, 4 Meilen von
Frankfurt a. O., ein, die letzte Strecke zu Fuß zurücklegend, während er
über Berlin nach Frankfurt die Post benutzt hatte. Das stille Bibliothek-
zimmer des Onkels nahm ihn für ein Jahr auf, für ein Jahr, in dem
er innerlich wachsen und sich fortbilden sollte. In dieser Abgeschieden-
heit berührten den jungen Theologen wenig die Folgen des Wöllnerschen
Religionsediktes. Er lebte in der friedlichen Umgebung ruhig seinen
Arbeiten und seinem Freundes-Briefwechsel. Das Städtchen mit seinem
Eichenwald und dem Jägerhaus davor, die alte Stadtmauer, die ganze
engumhegte Gemütlichkeit der kleinen Gassen, die schlichte Geselligkeit
mit den Honoratioren und endlich die norddeutsche Kernigkeit und feste
Überzeugungstreue des Onkels: das alles schuf eine Atmosphäre, wie
sie für die innerliche Gärung und das Ringen nach Klarheit äußerst
geeignet war. Dabei blieb er im Konnex mit der „größeren Welt":
der Onkel hielt die Jenaer Literatur-Zeitung und andere gelehrte Blätter,
1 Br. IV, 5.
Einleitung. XLVII
aus Franlifurt kamen Bücher, aus Halle Eberhards Magazin, so daß
man — wenn auch etwas verspätet — von allen Tagesfragen unterrichtet
war, wenn auch die schöne Literatur kaum dabei Berücksichtigung fand.
Seine theologischen Studien setzte Schleiermacher erst energischer
fort, als die Prüfung in Berlin in bedenkliche Nähe rückte. Dafür ver-
senkte er sich um so eifriger in die Antike und in Kant. Aristoteles,
Piaton, Xenophon, Lucian: das waren die Genossen seiner Stunden,
wenn er einsam hinter seinem Schreibtisch saß. Mit Kant hat er
sich in der 50 Oktavseiten umfassenden Abhandlung „Über das
höchste Gut'' und in dem Gespräch „Über die Freiheit des Menschen"
gründlich auseinandergesetzt. Diese Studien fanden erst in der „Kritik der
Sittenlehre'' ihren Abschluß. Ans Publizieren dachte er dabei kaum
und schrieb am 9. Dezember 1789 an Freund Brinkmann: „Das
Schreiben hab' ich völlig für dieses Leben aufgegeben, weil ich so
gewiß als von meiner eignen leider sehr unnützen Existenz davon über-
zeugt bin, daß in diesem Stück niemals etwas aus mir werden kann." ^
Nicht immer ist seine Stimmung so trübe gewesen, am 23. Dezember
1789 schreibt er an den Vater: „Mit dem Lesen wechselt bei mir das
Schreiben ab; denn ich finde oft bei meinen Materien Gelegenheit
zu einem kleinen Aufsatz, und ich glaube, daß dies eine sehr gute Übung
ist." Dieser Brief enthält überhaupt interessante Berichte über Inneres
und Äußeres, so daß wir ihn zur Kennzeichnung des Lebens in Drossen
zum Teil hier anfügen wollen: „Die Empfindelei, diese Auszehrung des
Geistes, . . . diese ist für meine Seele niemals gefährlich gewesen . . .
Noch weiter aber bin ich immer von der Systemsucht entfernt geblieben . . .
Ich glaube nicht, daß ich es jemals bis zu einem völlig ausgebildeten
System bringen werde, so daß ich alle Fragen, die man aufwerfen kann,
entscheidend und im Zusammenhang mit aller meiner übrigen Erkenntnis
würde beantworten können; aber ich habe von jeher geglaubt, daß
das Prüfen und Untersuchen, das geduldige Abhören aller Zeugen, aller
Parteien, das einzige Mittel sei, endlich zu einem hinlänglichen Gebiet
von Gewißheit, und vor allen Dingen zu einer festen Grenze zwischen
dem zu gelangen, worüber man notwendig Partei nehmen und sich und
einem jeden andern Rede und Antwort muß stehen können, und zwischen
dem, was man ohne Nachteil seiner Ruhe und Glückseligkeit unent-
schieden lassen kann. So sehe ich den Kampfspielen philosophischer
und theologischer Athleten ruhig zu, ohne mich für irgend einen zu
erklären, oder meine Freiheit zum Preis einer Wette für irgend einen
' Br. IV, 42.
XLVIII Einleitung.
zu setzen; aber es kann nicht fehlen, daß ich nicht jedesmal von beiden
etwas lernen sollte Alles, was ich vornehme, geschieht mit einer
gewissen Vehemenz, und ich ruhe nicht eher, bis ich — auf einem
gewissen Punkte wenigstens — damit fertig bin. . . . Diese Art zu
studieren hat vielleicht, wie jede andere, ihre Fehler, aber auch ihre
unleugbaren Vorzüge; man wird nicht so durch die Menge ganz ver-
schiedener Gegenstände zerstreut und verwirrt, und da man immer
durch ein gewisses Bedürfnis, durch irgend eine Lücke, die man in
seinen Kenntnissen gewahr wird, zu seinen Beschäftigungen getrieben
wird, so tut man alles con amore und läuft nicht Gefahr, um der
festgesetzten Ordnung willen einen Teil seiner Zeit auf etwas zu wenden,
was man nicht nötig hat.' ^
Neben dem Umgang mit dem Onkel, dessen gerade und schlichte
Art ihm zeitlebens als das Ideal für einen Prediger vorschwebte,
schuf Schleiermacher sich seine eigene Sphäre in dem Freundesbrief-
wechsel mit Brinkmann, dessen galantes Getändel durch den Kampf
zwischen Eberhard und Reinhold gestört worden war, so daß er in
einiger Verwirrung mit seinem „Freundschaftsarchiv" nach Schweden
reiste. In diesen Briefen zeigen sich schon Anklänge des späteren Freund-
schaftskultes, die weitab liegen von der rationalistischen Stimmung seiner
Umgebung. Dem Freunde schwärmt er von der ersten Frau, die ihn
angezogen, begeistert vor, von der Tochter des Predigers Schumann in
Landsberg a, W., des Schwagers von Onkel Stubenrauch, den er im
Sommer 178Q besuchte. In diesen Briefen entfaltet er seine Pläne zu
„kritischen Briefen" und zur Aristoteles-Übersetzung, entwickelt seine
Auffassung vom Verhältnis der Theologie zur Philosophie, und klagt —
als das Examen näher rückt — über den theologischen Wust. Die Aus-
sichten auf die Prüfung und auf sein ungewisses Schicksal — als
Kandidat konnte er noch 10 Jahre vielleicht unbesoldet herumlaufen —
verbitterten ihm die Gegenwart. Namentlich die Theologie, sein Berufs-
fach, wollte ihm gar nicht innerlich nahe treten: „Ich fürchte, mein
guter Genius wird ominös die Flügel über meinem Haupt schütteln und
davon fliehen, wenn ich von theologischen Subtilitäten Red' und Antwort
geben soll, die ich im Herzen — verlache."- Aber da half nichts — im
April 1790 mußte er nach Berlin, wo er ein unangenehmes halbes Jahr im
Hause seines Vetters, des alten, beinahe blinden Predigers Reinhard zu-
brachte, zwischen Vorbereitungen, Besuchen bei „Gönnern" und Sorgen
rastlos umhergetrieben. Im Mai war die Prüfung überstanden und nach
1 Br. 1,82 ff. 2 Br. IV, 47.
Einleitung. IL
einigen Monaten erhielt er durch Vermittelung des Hofpredigers Sack eine
Informatorstelle beim Grafen Dohna zu Schlobitten (Ostpreußen).
Im Dohnaschen Hause.
Am 22. Oktober traf er, nach einem lebensgefährlichen Über-
gang über die Weichsel, ^ auf dem prächtigen Gute ein, um sich
vorzustellen und dann nach Königsberg zum jungen Grafen Wilhelm
zu eilen, dessen Studien er leiten sollte. Ein Unwohlsein hielt ihn
fest, und da er sich in dem vornehmen Schlosse bei den bedeutenden
Menschen sehr zufrieden fühlte, blieb er dort als Hauslehrer der 3 jüngsten
Grafen Louis, Fabian und Fritz, während die Hofmeisterstelle bei Graf
Wilhelm aufgegeben wurde. Eine sehr glückliche Zeit für Schleier-
macher begann. Eine neue Welt ging ihm in diesem aristokratischen,
dem Königshause nahe stehenden Kreise auf. Der alte Graf, ein knorriger
Charakter mit klugem Geiste, seine Gattin Caroline, von schönem Wuchs,
in der großen Welt aufgewachsen und doch am liebsten im häuslichen
Kreise sich bewegend, die älteste Komtesse Caroline mit feinfühlendem
Herzen und einem leisen Hang zur Schwärmerei, und dann: „Friederike,
zwischen sechzehn und siebzehn Jahren, vereinigt Alles, was ich mir
jemals von Reiz und Grazie des Geistes und Körpers gedacht habe" (an
Catel).2 Ein zartes und reines Gefühl, aus verehrender Liebe und
herzlicher Freundschaft gemischt, entfaltete sich in dem jungen Lehrer
— hier ging ihm der Sinn für die Frauen und damit die Erkenntnis
des menschlichen Wertes zum ersten Male voll auf. Auch einen neuen
Freund gewann er in dem Prediger Wedecke: so hatte er überreiche An-
regung durch seine Umgebung.
Die strenge, theologische Facharbeit kam dabei wieder ein wenig
zu kurz. Viel Zeit für sich allein hatte er nicht: zwischen 5 und 6
stand er früh auf, bis 7 war er sein eigener Herr; ebenso von 11 — 1
und nach 1/2IO Uhr abends. Sonst war er mit dem Unterricht beschäftigt
oder im geselligen Umgange im Kreise der Familie: Schachspiel, Gespräch
und Vorlesen lösten einander ab. Auch das Predigen ward ihm in diesem
Kreise zuerst zu einem ihn innerlich erfüllenden Beruf. Seine Predigten,
die von Onkel und Vater nicht ganz gebilligt wurden und an denen
auch die Gräfin etwas „zu Neues" fand, zeigen hier schon eine Eigenart,
1 Vgl. Br. III, 30 u. R. Baxmann: Fr. Schleiermacher. Elberfeld 1868. S. 36.
2 Br. 111,33.
Schleiermacher, Werke. I. IV
L Einleitung.
die ihnen geblieben ist: „Dem Worte zu geben, was verstehende,
befreundete Gemüter bewegt . . ." (Dilthey.) Am Neujahrstage 1792
sprach er auf der Kanzel über das Glück im Leben, das Problem des
Glückes beschäftigte ihn überhaupt dauernd — am 21. November 1792
begann er mit „Selbstprüfungen'' seine Abhandlung „Über den Wert
des Lebens"^ — seine philosophischen Versuche zum Druck abzuschließen
plante er energisch, vom Onkel und von Sack dazu gedrängt. In Schleier-
macher beginnt eine phantasiemäßige Vorahnung einer Umgestaltung
des Weltbildes, eines neuen Gottesbegriffes ; auch die Stellung von
Staat und Kirche betrachtet er kritisch — nach seinen jetzigen Ansichten
soll der Staat sich überhaupt nicht um die Religion kümmern. So
sehen wir einschneidende Wandelungen vorbereitet.
Äußerlich verlief der Aufenthalt in Schlobitten ziemlich ruhig, nur
durch eine kurze Fahrt nach Königsberg wurde er unterbrochen, auf
der Schleiermacher Kant kennen lernte, ohne gerade einen angenehmen
Eindruck von ihm zu erhalten. Doch so ganz ungetrübt blieben die Be-
ziehungen zwischen der gräflichen Familie und ihm nicht; eine Differenz
mit der Gräfin im Frühjahr 1791 war bald vergessen, doch gab es
gelegentlich Wortwechsel mit dem hitzigen alten Herren über Politik
und pädagogische Prinzipien. Der Graf, bis ins Innerste konservativ,
konnte über leise geäußerte liberale Ansichten aufbrausen — und Schleier-
macher war noch immer etwas steif, etwas stolz, etwas scharf und leicht
verletzbar, so daß ihn der Onkel mahnte, gegen eine allzu große Emp-
findlichkeit auf der Hut zu sein und sich vor beißenden Ausdrücken in
acht zu nehmen. In Erziehungsfragen war auch manchmal der gräfliche
Vater anderer Ansicht als der Lehrer, und darüber kam es am Abend des
6. Mai 1793 zum Bruch. Am nächsten Tage erfolgte in aller Freundschaft
eine Aussprache — aber es war klar, daß ein Bleiben Schleiermachers
nicht angezeigt erschien. Er war sich zu genau bewußt über das, was
er wollte, und war es seinem ethischen Gefühle schuldig, sich zu be-
haupten. Aber unsäglich schwer wurde ihm die Trennung: ihn hielt
mehr, als auch die Freunde wußten, an diesen schönen Fleck ostpreußi-
schen Landes gekettet. Zwei Wochen blieb er noch auf Schlobitten, zwei
weitere in Schlodien bei Wedecke — dann reiste er über Landsberg
zu dem Onkel nach Drossen, wo er am 17. Juni eintraf. Die Zeiten
des naiven Glücksgenusses waren für immer vorüber. Der ganze Ernst
des Daseinskampfes trat wieder an ihn heran.
Dilthey, Anhang 46 ff.
Einleitung. LI
Der junge Prediger.
Im August ging er nach Berlin, um sich dort die Fähigkeit zur
Anstellung zu erwerben. Als vorläufige Versorgung erhielt Schleier-
macher durch Sack eine Stellung an Gedikes Seminar, mit 120 Talern
Gehalt. Das war nun gar nichts für ihn : mit den Berliner Rangen wurde
er nicht gut fertig. Mit seinem Dasein unzufrieden, fand er noch keinen
Eingang in die höhere Geselligkeit.
Aus dieser peinlichen Lage befreite ihn die Aussicht auf eine Adjunkt-
Stelle bei dem alten Schumann in Landsberg — schleunigst ließ er sich pro
ministerio prüfen und ordinieren und trat im April 1794 die Stelle an.
Die hübsch am Abhang von Hügeln gelegene größere Landstadt hat
Über zwei Jahre Schleiermacher als Prediger gehabt. Von literarischen
Dingen ziemlich abgeschnitten, durch die lebhafte Geselligkeit manchmal
in Anspruch genommen, hat Schleiermacher sich hier innerlich und äußer-
lich zum bedeutendsten Kanzelredner entwickelt. Seine Predigten dachte
er bis ins einzelne durch, schrieb sie aber erst auf, nachdem sie ge-
halten waren. Die Predigten aus dieser Zeit stellen einen fein gegliederten
begrifflichen Zusammenhang dar, „von ruhiger Wärme gleichmäßig durch-
drungen, kein Schmuck, keine plötzliche Begeisterung, nichts von den
beliebten Predigtbeispielen . . ." (Dilthey 67.) Seinen Stil bildete er teil-
weise an dem Engländer Blair, dessen Reden er mit Sack zusammen
übersetzte: seine erste gedruckte Arbeit. Sie wurde später (1798) durch
eine Fawcett-Übertragung und einen weiteren Band Blair fortgesetzt (1802).
Von politisch-patriotischen Vorgängen nahm Schleiermacher hier noch
keinen Anlaß, auf der Kanzel zu reden: — in einer Predigt zur fest-
lichen Feier des Baseler Friedens vom April 1795 hat er nichts von
Zeitereignissen erwähnt. Katechisation und Schulvisitation übte er
mit Hingabe an seinen Beruf aus — dem alten Schumann war sein
Eifer sogar oft zu heftig! — Von wissenschaftlichen Arbeiten sei nur
die unvollendete „Kurze Darstellung des spinozistischen Systems" (SW.
III, 41) erwähnt, die wahrscheinlich in dieser Zeit entstand. (Dilthey, An-
hang S. 65.) Goethes „Wilhelm Meister" „entzückte" ihn in Landsberg.
Die Tochter seines gestrengen Vorgesetzten, an den Beamten Benecke
verheiratet, die schon bei dem ersten Besuche aus Drossen sein Herz
berührt hatte, war in dieser Zeit der Gegenstand seiner herzlichen Zu-
neigung und intimen Freundschaft. Sie war — das mußte er bald er-
fahren — ein leidenschaftliches Weib, und er hat es als ihr Berater in
allen Dingen oft nicht leicht gehabt. Mit besonderer Liebe nahm er
sich ihres Töchterchens an und unterrichtete es täglich. Der beschützende,
IV*
LH Einleitung.
väterliche Zug, der später in den Verhältnissen zu Frauen so hervortrat,
ist hier schon deutlich zu erkennen.
Am 2. September 1794 starb der Vater, seine zweite Frau mit einer
kleinen Pension zurücklassend, von der sie leben und die noch kleinen
Kinder erziehen mußte. Schleiermacher hat diesen Schlag unendlich
schmerzlich empfunden und schloß sich seither noch enger an die geliebte
Schwester Charlotte an, mit ihr Erinnerungen an den Verstorbenen aus-
tauschend, wobei ihn der Gedanke an den Zwist von Barby besonders
wehmütig stimmte. ^
Juni 1795 starb auch der alte Schumann. Die Gemeinde bat das
Direktorium, ihr Schleiermacher als ersten Prediger zu lassen; doch
dieser erschien den Herren als zu jung, und so erhielt Onkel Stubenrauch
die Stelle, während Schleiermacher einen kleinen Posten an der Charite in
Berlin übernahm; auf eine zweite Predigerstelle in Brandenburg ver-
zichtete er zugunsten eines älteren Kandidaten, der sich in schlimmer
Lage befand. Über Schlesien, wo er die Schwester besuchte, reiste er
nach Berlin — einer neuen Zeit, dem Höhepunkte seines Lebens entgegen.
Gewinn der neuen Weltanschauung.
Im September 1796 zog Schleiermacher in seine kümmerliche Woh-
nung, im dritten Stock des alten Charite-Gebäudes gelegen, ein; später
wohnte er außerhalb des Oranienburger Tores. Die Charite lag damals
entfernt von der Stadt, in wüster Gegend. Die Zustände — was Rein-
lichkeit, Essen usw. anbetrifft — ließen mehr als alles zu wünschen
übrig, so daß schließlich die höheren Beamten eine Beschwerde ein-
reichten. Der Wirkungskreis für den Prediger war ein recht beschränkter:
es kamen zwar auch Leute aus den nächsten Stadtteilen in die Kapelle,
aber das war ein Publikum, zu dem Schleiermacher ganz anders sprechen
mußte als zu seiner Landsberger Gemeinde. So konnten ihn die äußeren
Verhältnisse seiner Stellung nicht gerade begeistern. Er blieb auch
zunächst ziemlich einsam. „Da kann ich sitzen Stunden lang und mit
dem größten Vergnügen meine Gedanken und Empfindungen ansehn,
wie die indianischen Gymnosophisten ihre Nasenspitze", schrieb er August
1797 noch an die Schwester. Im ersten Winter verkehrte er im Kreise
der Sacks und Spaldings und beschäftigte sich mit kirchenpolitischen
Untersuchungen usw. Im Juni 1797 besuchte er auf 14 Tage den alten
Onkel Stubenrauch in Landsberg und fand ihn abgestumpft, kränklich und
bitter — das war der letzte Eindruck der alten Welt, die ihn bisher umgeben.
» Br. I, I39f-
Einleitung. LIII
Eine neue stieg herauf, Alexander Dohna hatte ihn in das Haus
des Hofrats Marcus Herz eingeführt, des angesehensten jüdischen Arztes,
der sich als junger Mann der Teilnahme Kants zu erfreuen gehabt und
durch Schriftstellern und Vorträge sich einen Namen gemacht hatte.
Er besaß die Gabe geistreichen Gespräches in hohem Maße.
„Welch ein liebender Kreis von weisen Freunden umgab ihn!'
Jeder schätzte den Arzt, Denker und Spötter in ihm.
Gleich den Weisen Athens liebt er die fröhlichen Zirkel.
Seine Sorgen allein bleiben im Herzen versenkt;
Alles opfert er sanft auf dem Altare der Freundschaft,
Seinen Witz und Wein, seine Erfahrungen gern.** Göckingk.
Neben ihm stand seine Gattin Henriette, 17 Jahre jünger als er,
eine von allen angeschwärmte, vielbewunderte Schönheit.^ Ihre Erschei-
nung wird durch keinen aufdringlichen Zug von Emanzipationsgelüsten
gestört, wenn sie selbst auch in der Ehe mit dem etwas nüchternen Ratio-
nalisten keine Erfüllung ihres Wesens fand, zumal ein Kind fehlte. Sie war
nicht geistreich und sprühend, aber sie hatte einen klaren Verstand
(sie beherrschte z. B. zehn Sprachen, darunter Sanskrit und Türkisch)
und vor allem ein unvergleichlich reiches Empfindungsleben und
die Fähigkeit, mit andern tiefen Naturen innig mitzufühlen. 2 Die
ganze Fülle ihrer Natur entfaltete sich in der neuen vergeistigten Ge-
selligkeit, die seit Ende der 80 er Jahre unter dem Einfluß des Goethischen
Lebensideals aufblühte. Das ältere Berlin gegen Ende der Lebenszeit
des großen Friedrich hatte auch schon seine Salons gehabt, so das
berühmte Bauersche Haus. Da gaben die Mendelssohn und Nikolai
den Ton an. Es herrschte die verstandesmäßige Kritik, wie sie
Berlin durchzog, seit man begann, die Sittenlosigkeit und Üppigkeit
der Stadt zu geißeln. Die ehrgeizigen, klugen und reichen jüdischen
Familien verstanden es, die höheren Geister schon damals an sich
zu ziehen. Henriette Herz hatte selbst noch zu Füßen des greisen
Mendelssohn gesessen, der die Juden aus dem bildungsfeindlichen Bann
des Gesetzes befreit hatte; und sie hatte begeistert dann das Goethische
Evangelium von der Ausbildung der Individualität aufgenommen, das
im Wilhelm Meister der Welt gepredigt wurde. Bei der Stifterin des Tugend-
* S. Boisseree verglich Henriette mit den venezianischen Frauenporträts von
Bordone und Tizian. {Vgl H. Rinn : Schleiermacher und seine romantischen Freunde^
Sammlung gemeinverständlicher Vorträge von Virchow und Holtzendorff, N. F. 5-)
2 Schleiermacher und seine Lieben. In Briefen der Henriette Herz. Magde-
burg 1910. S. 5-
LIV Einleitung.
bundes und der Freundschaftsloge vereinigten sich Prinzen, Diplomaten,
Gelehrte, Künstler, Schauspieler zu zwangloser Unterhaltung. Neben den
Häuptern der Romantik sehen wir dort Reichardt, Fr. Gentz, Sophie
Bernhardi und Sophie Mereau. ' „Viel gereist und überall mit den geistig
hervorragenden Kreisen in Verkehr gekommen, lernte sie (Henriette) den
Wert feiner Konversation in der Praxis begreifen" (A. v. Gleichen-Rußwurm).-
In diesem Hause vollendete sich Schleiermachers Wesen zu reiner
Menschlichkeit. Wie oft ist er nach Neue Friedrichstraße 22 gewandert;
vor der Teestunde kam er meist, um Henriette zuerst allein zu treffen. Und
wenn er dann ging, im Knopfloch die kleine Laterne, um auf unge-
pflastertem Wege sein einsames Stübchen zu erreichen, dann nahm
er immer innerliche Eindrücke mit sich. „Denken Sie sich nur, schreibt
Henriette an den Grafen Dohna, 9. Sept. 1797, der Schleiermacher kömmt
fast täglich zu uns und liest mit mir und der Veit das Schlegelbuch
[Griechen und Römer], das sehr schwer ist."^ Das Verhältnis zwischen
Henriette und „Schleier" ist reine Freundschaft gewesen, und hat nichts
mit sinnlicher Liebe zu tun gehabt. Die Geselligkeit als freie Selbst-
darstellung der Persönlichkeiten ist seit jener Zeit ein ethischer Grund-
wert des Philosophen geworden.
In diesem Zirkel wurde ihm auch die wichtigste Begegnung seines
Lebens zuteil, die mit dem jungen, eben berühmt gewordenen Fried-
rich Schlegel. Hier fanden sich zwei Geister, die sich in diesem Punkte
ihres Entwicklungsganges unendlich viel zu sagen hatten. „Schlegel
zuerst eröffnete seinem Freunde den Einblick in die Welt der Kunst
und Poesie. Schlegel zuerst wies ihn nachdrücklich auf die Fichtische
Fassung der Kantischen Lehre hin. Schleiermacher trug jenem eine durch-
gebildete sittliche Anschauung entgegen, und stellte sich selbst als eine
noch durchgebildetere Verkörperung dieser Anschauung, als eine vor-
ragend ethische Persönlichkeit dar." (Rudolf Haym.) * Schleiermacher
war von Schlegel enthusiasmiert, bis zur Urteilslosigkeit begeistert. Er
schwärmte der Schwester vor von dieser alles überragenden, großen
Originalität, von den unbegreiflich ausgebreiteten Kenntnissen. Er sah
in ihm einen großen Philosophen, ja, einen starken sittlichen Charakter!
^ R. A. Lipsius: Schleiermacher und die Romantik 1876, in Glauben und
Wissen. XIII. Berlin 1897.
2 Geselligkeit. Stuttgart 1910. S. 80.
^ Ungedruckte Predigten Schleiermachers, herausgegeben von Joh. Bauer.
1909, S. 108.
* Die romantische Schule. 2. Aufl. 1906. S. 414f.
Einleitung. LV
Unbedingt fast ordnete er sich zuerst ihm unter. Viel richtiger hat Schlegel
den neuen Freund beurteilt. Mit einer Skizze über „Immoralität aller Moral*
erwarb sich der junge Prediger die Achtung des genialen Schriftstellers
„Schleiermacher ist ein Mensch, in dem der Mensch gebildet ist. . .
Er ist nur drei Jahre älter wie ich, aber an moralischem Verstände über
trifft er mich unendlich weit. Jch hoffe noch viel von ihm zu lernen
Sein ganzes Wesen ist moralisch — " (an A. W. Schlegel, November 1797.
vgl. Haym S. 415.) Tiefste, in sich gefaßte Innerlichkeit machte Schleier
machers Wesen aus (Dilthey). Fr. Schlegel brachte ihm nun die alldurch
dringende Universalität nahe, die später so bezeichnend für sein Denken
ist. Mit Schelling und Schleiermacher als „Symphilosophen" wollte er
eine universalgeschichtliche Kulturphilosophie entwerfen, ^ im Lyzeum
und Athenäum sollten die Freunde vereint mit ihm auftreten. Deshalb
trieb er den jungen Prediger und „rupfte beständig" an ihm, er solle
endlich etwas schreiben. ^ Äußerlich und innerlich wurde Schleiermacher
so durch die Begegnung mit einem genialen Menschen in die Bewegung
der neuen, mächtig aufstrebenden Generation hineingezogen. Schlegel
erst gelang es, „diese große, aber ganz beschauliche Natur der geistigen
Bewegung seiner Zeit gegenüber zu einer bestimmten Rückwirkung
zu bringen*' (Dilthey 234).
Gehoben und getragen von den neuen Verbindungen fühlte er
sich, als an seinem 29. Geburtstage Henriette, Dorothea Veit,
Alexander Dohna und Schlegel zu ihm kamen und eine gemüt-
liche Feier mit Schokolade und Kuchen veranstalteten; und Neu-
jahr 1798 zog Friedrich zu dem Freunde in die Wohnung, so daß
sie eine förmliche „Ehe" führten. „Wie neu ist mir das, daß ich nur
die Türe zu öffnen brauche, um mit einer vernünftigen Seele zu reden,
daß ich einen guten Morgen austeilen und empfangen kann, sobald
ich erwache, daß mir jemand gegenübersitzt bei Tische und daß ich
die gute Laune, die ich abends mitzubringen pflege, noch früh jemand
mitteilen kann."^ Eine kleine kritische Bemerkung fügt er an, die
ihn selbst charakterisiert: „Was ich doch vermisse, ist das zarte Gefühl
und der feine Sinn für die lieblichen Kleinigkeiten des Lebens und für
die feinen Äußerungen schöner Gesinnungen, die oft in kleinen Dingen
unwillkürlich das ganze Gemüt enthüllen."
1 Vgl. F. Lederbogen, Fr. Schlegels Geschichtsphilosophie. Leipzig 1908.
- Fr. Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, herausgegeben von
Walzel. Berlin 1890, S. 222.
3 Br. L176.
LVI Einleitung.
Schleiermacher ist das ethische Genie unter unseren Großen. „In
der Feinfühligkeit für sittliche Tatsachen und Bedürfnisse, in der un-
ablässigen Arbeit an sich selber, in dem so entspringenden sittlichen
Verstände ist seit Luther niemand mit ihm zu vergleichen." (Dilthey 239.)
Schriftstellerisch begann Schleiermacher jetzt unter Schlegels Drängen
„ethische Rhapsodien" niederzuschreiben, die in die berühmten Athe-
näum-Fragmente übergegangen sind. An Kant anschließend, hatte er
bereits in seiner früheren Entwicklung die unbedingte Apriorität des
Sittengesetzes begriffen, er hatte einen ethischen Determinismus ausge-
bildet — ganz unabhängig vom Pantheismus Spinozas, den er erst
1794 in Landsberg näher studiert hatte; schließlich hatte er im Begriffe
des höchsten Gutes als der Gesamtheit alles ethisch Geschaffenen die
Grundlage seiner ganzen Ethik gewonnen. Aus eigenstem Erleben bil-
deten diese Gedanken sich jetzt fort und wurden ergänzt durch die
Idee der Individualität als der Eigenbestimmtheit des menschlichen Wesens
und durch ihr Komplement: die freie Gemütsgemeinschaft in gegen-
seitiger Mitteilung. In diesem Kreise innerlicher Gemeinschaft erfüllte
sich nach seinem damaligen Ideal das wahre Leben. „Es scheint mir
die unnachläßliche Pflicht eines jeden Menschen zu sein, andere zu er-
ziehen." i „Eigentlich gibt es doch keinen größeren Gegenstand des
Wirkens, als das Gemüt, ja überhaupt keinen anderen." ^ Unter Beein-
flussung von Leibniz, Jakobi, Goethe u. a. bilden sich seine Gedanken
aus, der Plan von „Selbstanschauungen", den späteren „Monologen",
entsteht, und gleichzeitig kritisiert Schleiermacher die anderen Ethiker r
im Sommer 1798 arbeitet er an einer gegen Kant und Fichte gerichteten
Moralkritik, deren Positives eine Apologie der Humanität sein sollte.
Daneben entstehen Essays „über die gute Lebensart", über Scham
und Treue — ganz herausgewachsen aus der Umgebung.
Durch das Athenäum knüpften sich Beziehungen zu der ganzen
ersten Generation der Romantik an, so zu Novalis, Tieck, A. W. Schlegel.
Nicht zu verwundern ist es, daß Schleiermacher in ästhetischen Fragen
durch die Lehren der neuen Schule beeinflußt ist^ und daß in seiner
„Ästhetik" noch überall sich Anknüpfungen finden. Auch mit dichterischen
Plänen hat er sich jetzt und später getragen, ein Heft Gedichte hat DiHhey
aufgefunden, mit einem Roman-Projekt hat er sich lange beschäftigt.
1 Br. I, 190. - I, 195-
•* Über die Beeinflussung Schleierniachers durch die Romantik nach der
Formseite seiner Schriften; vgl. Bauer: Schleiermacher als patriotischer Prediger.
Gießen 1908. S. 229.
Einleitung. LVII
Ihm fehlte aber zum schaffenden Künstler die Macht der sinnlichen
Anschauung: in Verständnis und Nachempfinden, ja auch in der archi-
tektonisch-künstlerischen Gliederung seiner späteren Werke zeigt sich
ein gut Teil Künstlergeist. Auch die erste geniale Zusammenfassung
der neu gewonnenen Weltanschauung, die Reden über die Religion, sind
wesentlich bedingt in ihrer Gestaltung durch das künstlerische Milieu ! ^
Über die Entstehungsgeschichte der „Redenüberdie Religion,
an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799) wissen wir merk-
würdig wenig — in den Briefen finden sich kaum Andeutungen. Die
ersten Gedankenkeime im Tagebuch sind nicht vor August 1798 auf-
gezeichnet. Im November begann wohl die Niederschrift, Mitte Februar
1799 wurde Schleiermacher dann nach Potsdam geschickt, um den Pre-
diger Bamberger zu ersetzen, und war damals bis gegen Ende der
2. Rede vorgedrungen. Die Trennung von Henriette, die neuen Amts-
geschäfte wirkten hemmend auf die Produktion: der dithyrambische
Schwung im Stil der Reden hält sich nur in den ersten zwei auf gleicher
Höhe, später wurde er etwas maniriert. Auch inhaltlich liegt fast alles
in den Anfangsreden beschlossen. Am 15. April waren die Reden voll-
endet. Die Entwicklung der eigenen Gedanken bei Schleiermacher war
bisher fast ausschließlich auf ethische Probleme gerichtet gewesen, die
„Monologen" erscheinen als ihr folgerechter Abschluß. ^ Bei dem Ringen
um den dort entfalteten Individualitätsgedanken, der ihm gerade in reli-
giöser Beziehung bei den Herrnhutern schon aufgegangen sein mag,
ergab sich für Schleiermacher die Einsicht, daß Individualität ohne Re-
ligion nicht denkbar sei: hier liegt vielleicht der äußere Anlaß zur
Niederschrift der Reden.^
„Daß ich rede ... ist die innere unwiderstehliche Notwendigkeit
meiner Natur, es ist ein göttlicher Beruf, es ist das, was meine Stelle
im Universum bestimmt, und mich zu dem Wesen macht, welches
ich bin." (Reden, 1. Aufl. S. 5.) Aus dem durchaus individuellen Drange
einer genialen Natur wurde hier ein Werk geboren, das so typisch
wie kaum ein anderes den vollen Sieg eines neuen Zeitalters darstellt.
Versunken ist der Rationalismus. Die individuelle Seele mit all ihren
Kräften und Fähigkeiten ist der Ausgangspunkt und Quellpunkt alles
^ Vgl. dazu auch Lamprecht, Deutsche Geschichte X, 58 f.
^ Vgl. G. Wehrung : Der geschichtsphilosophische Standpunkt Schleiermachers
zur Zeit seiner Freundschaft mit den Romantikern. Stuttgart 1907.
^ Samuel Eck: Über die Herkunft des Individualitätsgedankens bei Schleier-
macher. Gießen 1908.
LVIII Einleitung.
Wissens. Und doch wieder ist es bei Schleiermacher nicht das starre
Fichtesche Ich, das weltbeherrschend auftritt. Im Gegenteil: aus einem
gewissen Stimmungsgegensatz gegen den selbstherrlichen Idealismus sind
die Reden entstanden. ^ Schleiermacher ist nie Kantianer in strengstem
Sinne und nie Fichtianer gewesen; er hat von jeher einem transzenden-
talen Realismus zugestrebt, der in vielen Stücken an E. v. Hartmann
erinnert. Als metaphysischen Grundgedanken der Reden müssen wir
geradezu hervorheben: Das Jenseitige ist für uns erkennbar, denn es
hat nur Realität in den Individualisationen der endlichen Welt. 2 So
stellt Schleiermacher den Menschen nicht als isoliertes Ich auf, sondern
er will gerade zeigen, daß er überall umfangen ist von dem Univer-
sellen, Unendlichen, das in seiner Realität dem Individuum unendlich
überlegen ist! Nur auf Grund dieser erkenntnistheoretischen Anschau-
ungen, die später in der „Dialektik" ihre Vollendung fanden, läßt sich
die Definition der Religion in den Reden begreifen.
Die Reden sind eine Kampfschrift — die hervorragende Stellung
der Religion im Geistesleben der Menschheit will Schleiermacher da-
durch neu sichern, daß er ihr wahres Wesen zeigt, und es abgrenzt
gegen Metaphysik und Moral. „Daß sie aus dem Inneren jeder besseren
Seele notwendig von selbst entspringt, daß ihr eine eigne Provinz
im Gemüte angehört . . . das ist es, was ich behaupte." (37.) Alle
dogmatischen Lehrsätze gehören nicht zum Wesen der Religion, sie
beruht vielmehr auf einem andächtigen Anschauen des Universums,
des Unendlichen im Endlichen. Religion ist Sinn und Geschmack fürs
Unendliche. Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes
sich vorstellen, das ist Religion. Die religiöse Anschauung muß alldurch-
dringend sein! Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist freche Feind-
schaft gegen die Götter. Das ist einer der charakteristischen Züge des
ganzen Schleiermacher: er will alles Ideelle ins Reelle hineinbilden, er
will nicht bei Ideen stehen bleiben, sondern sie im Leben betätigen.
Sein lebendiger Sinn für Individualität, der ihm aus der Erfahrung er-
wachsen war, bestärkte ihn darin. Er wollte den Menschen in seiner
ganzen Lebensfülle vergeistigen, nicht alles ins Gedankliche auflösen.
Schleiermacher ist am wenigsten Intellektualist unter allen unsern großen
idealistischen Philosophen. „Hier war die Zartheit des Empfindens und
^ Vgl. R. Ottoin der Einleitung zu seiner Ausgabe derReden. 2. Aufl. 1906. S. XII.
2 Vgl. H. Süßkind, Der Einfluß Schellings auf die Entwicklung von
Schleiemiachers System. Tübingen 1909. S. 24. (Die Auffassung von S. rückt
Schleiermacher etwas zu weit von Kant fort; vgl. Dorner: Theologische Studien
und Kritiken. 1901. Dagegen behält S. Wehrung gegenüber wohl Recht.)
Einleitung. LIX
Verstehens, wie die Romantiker sie besaßen, vereinigt mit der Kraft eines
hochstrebenden ethischen Willens, der vom bloßen Genießen zum Um-
setzen des Empfundenen in Leben und Tat drängte. Und was ebensoviel
bedeutete: Er führte die pantheistischen Gottnaturgedanken der Goe-
thischen Welt . . . aus den Sphären der reinen Geistesbildung hinüber
in die protestantische Religiosität selbst und vereinigte sie mit deren
noch frischen und lebendigen Trieben.*' (F. Meinecke.) ^ Im Sinne
von Herder, Goethe und Schelling, an dessen Naturphilosophie er
Reden S. 172 anknüpfte, nahm er den Menschen als höchste Krone eines
Entwicklungsprozesses (ohne Naturalist zu sein!), nicht mehr als Wesen
höherer Ordnung, als das er noch bei Kant erscheint.
Schleiermacher selbst hat die Reden 1806, 1821 und 1831 nochmals
überarbeitet herausgegeben. Die späteren Fassungen zeigen bei genauer
Untersuchung ziemlich einschneidende Änderungen. In der 2. Auflage
tritt das positive Christentum viel deutlicher hervor und vor allem
hat sich der Religionsbegriff geändert. Seit 1801 nämlich hatte Schelling
— z. T. angeregt durch die Reden, die ihn erst abgestoßen, dann
aber begeistert hatten — „Anschauung des Universums" als Wesen
der Philosophie bezeichnet — und so mußte Schleiermacher, um
die Selbständigkeit für die Religion zu retten, diesen Begriff aufgeben
und den des Gefühls mehr hervorheben ; die Anschauung über-
läßt er dem wissenschaftlichen Erkennen. Die Stellung von Religion
und Wissenschaft zueinander erscheint sogar in der 2. Auflage gerade
umgekehrt, wie in der ersten! Außerdem ist — vermutlich unter dem
Einfluß Piatons — der Individualitätsbegriff aus seiner zentralen Stellung
verdrängt. -
In die Zeit der Abfassung der Reden fallen eine Predigtsammlung,
die 1801 erschien, und die „Briefe bei Gelegenheit der politisch-theo-
logischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter". Beide
hängen mit dem Ideenkreise der Reden z. T. zusammen und können hier
nur genannt werden. Die Wirkung der neuen Ideen war zunächst keine
breite, wohl aber eine bei den geistigen Genossen sehr in die Tiefe
gehende: die Schlegels, Novalis, ^ Schelling und Caroline, alle gewinnen
1 Zeitalter der deutschen Erhebung 1795 — 1815 (Monographien zur Welt-
geschichte XXV). S. 25.
2 Vgl. über diese Unterschiede die sehr gründlichen Untersuchungen von Süß-
kind a. a. O. Seine Erklärung der Änderungen ist natürlich etwas hypothetisch.
® Vgl. z. B. dessen Aufsatz: Die Christenheit oder Europa (1799) Minor II,
40 f. Jena 1907, und zum Ganzen: F. Strich: Die Mythologie in der deutschen
Literatur. II. Halle 191O.
LX Einleitung.
durch sie ein Verhältnis zur Religion und werden in ihren Werken
durch Schleiermacher beeinflußt.
Nach Berlin zurückgekehrt, beschäftigten Schleiermacher zunächst
kleinere Arbeiten, eine (recht ungerechte) Kritik der Anthropologie Kants
und eine Anzeige der Schriften Garves. Persönliche Verhältnisse brachten
ihm tiefe Aufregungen, so namentlich die Entfremdung Fr. Schlegels
von ihm, die Ende Juni 1799 einsetzte. Friedrich stand selbst in sehr
unruhigen Verhältnissen, die Trennung seiner Geliebten, Dorothea Veit,
von ihrem Manne war erfolgt, und dadurch Dorothea in eine sehr
peinliche Lage gekommen; er selbst fand kein Gelingen und keinen
Lebensunterhalt, glaubte in völliger Selbsttäuschung, sich an Fichte an-
schließen zu können usw. Das alles trieb ihn bei seinem Mangel an
ethischer Kraft in einen Gegensatz gegen Schleiermacher hinein, so
daß er mit einem kurzen Lebewohl mit Dorothea nach Jena reiste.
Schleiermacher seinerseits hat Friedrich nicht fallen lassen: seine sittliche
Größe trieb ihn, mehr für den Freund zu tun, als für ihn selber gut war.
Durch den Gegensatz zu dem einst so verehrten Genossen wurde
Schleiermacher erst recht auf seine Eigentümlichkeit geführt und be-
fähigt, sein individuelles Wesen in genialer Selbstdarstellung zu schil-
dern: in kaum 4 Wochen schrieb er, beginnend an seinem 3L Geburts-
tage, die Monologen.
In den ersten Tagen von 1800 erschien diese anonyme „Neujahrsgabe",
fast gleichzeitig mit Fichtes „Bestimmung des Menschen". Beide Schriften
eint ein Streben: der ethische Idealismus will die in Kleinlichkeit und
äußerlichem Glückstreben befangene Zeit aufrütteln zur Besserung, zur
Vergeistigung. Die Wirkung ins Große war auch diesen Schriften nicht
beschieden: erst nach dem äußeren Zusammenbruch begann die sitt-
liche Reform; erst brutale Tatsachen halfen den Gedanken zur Wirkung.
Schleiermachers Schrift, in begeistertem, wenn auch nicht immer aus-
geglichenem Stile geschrieben, hat ihre innerliche Wirkung dafür auch bis
heute bewahrt.
Schleiermacher hatte erst mit pointiertem Witz und beißender Kritik
seine Zeit geißeln wollen: unter der Hand wurde ihm die Schrift zu
einem „lyrischen Extrakt aus einem permanenten Tagebuch". ^ So ist
sie ein Konfessionsbuch geworden — aber eins, das nicht von Schuld
und Verfehlung spricht, sondern das ein Urbild, ein Idealvvesen der
eigenen Seele vorführt, abgelöst von allen Äußerlichkeiten (Br. 1, 392;
II, 138). Der Vorwurf der Selbstverhimmelung — der so ganz
1 Br. IV, 64.
Einleitung. LXI
sinnlos gerade Schleiermacher gegenüber ist — wurde ihm natürlich
nicht erspart.^
Die Monologen heben die Seite der Sittlichkeit heraus, die in
jener Zeit des geselligen Verkehrs mit den Romantikern in Schleier-
macher vor allem lebendig war: die Forderung der Individualität. „Es
ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigene Art die Menschheit
darstellen soll." (1. Aufl. S. 40.) Nur spät gelangt allerdings der Mensch
zum vollen Bewußtsein seiner Eigentümlichkeit; das darf ihn aber
nicht hindern, in stetiger Selbstanschauung sich in das Reich der inneren
Freiheit zu erheben. „Jegliches Tun soll begleiten der Blick in die My-
sterien des Geistes, jeden Augenblick kann der Mensch außer der Zeit
leben, zugleich in der höheren Welt" (26). Die innere Selbstbildung
setzt auch eine volle Ausbildung des Intellektuellen voraus, denn nie
soll der Mensch etwa in mystischer Kontemplation verharren, sondern
aus seiner inneren Freiheit soll er die Kraft gewinnen, seine Ideen
schaffend in die Welt hineinzutragen (148 f.). So zeigt sich Schleiermacher
hier wieder in der Ausübung seines großen Berufes, das Leben selbst
durch die Gedanken zu erhöhen, nicht bloß über das Leben zu
denken. Er kämpft — aus eigner Not — für „Sinn und Wert
des Lebens" (Eucken).
Die Monologen zeigen uns einen ethisch abgeklärten Indi-
vidualismus, der sich nur dem abstrakten Vernunftgesetz (Fichte!) gegen-
überstellt.2 Die Gefahren des schrankenlosen Individualismus zeigten
sich bei all den Naturen, die weniger sittliche Kraft besaßen als Schleier-
macher: an den Schicksalen Fr. Schlegels, Schellings, Carolinens und
Dorotheas. Auch Schleiermachers Verhältnis zu Eleonore Grunow ge-
hört z. T. in diese Verbindung — allerdings zeigt es uns gerade wieder
den gewaltigen Unterschied dieser ethisch reinen Natur gegenüber den
Haltlosigkeiten der ihr Nahestehenden.
Eleonore hatte den Prediger Grunow geheiratet, trotzdem er sich
schon als Bräutigam herzlos und roh gezeigt hatte, weil sie als 12jähriges
Kind ihm ihr Jawort gegeben hatte! Ihre feine Seele litt unsäglich
unter der Ehe, und Schleiermacher wurde von einer innigen, teilnehmen-
den Liebe zu ihr ergriffen. Eleonore zeigt sich in den wenigen Zeilen,
die uns von ihr erhalten sind und in den den ihren nachgebildeten
^ Vgl. auch Schieies Einleitung zu seiner textkritischen Neuausgabe der
Monologen. Dürrs Philosoph. Bibliothek 84.
'^ Vgl. auch Noth: Schleiermachers Monologen (Neue kirchliche Zeitschrift
XII, 1901) und E. Fuchs: Vom Werden dreier Denker. 1904. S. 296.
LXII Einleitung.
Worten der Eleonore in den Lucinde-Briefen Schleiermachers als
eine Frau von starkem Intellekt, von strengem, ethischen Pflicht-
gefühl und einer seltenen Tiefe der Empfindung. Unendliches hat diese
Frau für Schleiermacher bedeutet: „Unter allen Seelen, die mich angeregt
und zu meiner Entwicklung beigetragen haben, ist doch niemand mit
Ihnen, mit Ihrem Einfluß auf mein Gemüt, auf die reinere Darstellung
meines Innern zu vergleichen" (24. Nov. 1802). ^ Seinem Ideal von der
schrankenlosen Pflicht der Individualität sich auszubilden folgend, fühlte
Schleiermacher sich berechtigt, die Trennung der Grunowschen Ehe zu
wünschen, wenn er auch lange Zeit, bis zum Sommer 1801, nur als
Freund Eleonore nahe trat. Von da an hat er immer wieder gehofft, sie zu
gewinnen. Mehrere Male schien Eleonore dicht vor der Trennung von
ihrem Manne zu stehen — der Gedanke an ihre durch das Ehegelöbnis
übernommene Pflicht ließ sie immer wieder davor zurückschrecken, was
Schleiermacher und seinem Kreis als Schwachheit erschien. „Der
Himmel gebe ihr nur mehr Kraft und Entschlossenheit, als sie bis
jetzt gehabt hat," schreibt Henriette am 10. März 1803; aber am
31. März meldet sie Ehrenfried v. Willich, daß Leonore bei ihrem Manne
bliebe und Schleiermacher unendlich elend sei. ^ Am 16. November 1805
teilt Schleiermacher an Gaß den endgültigen Abbruch des Verhält-
nisses mit.
Diese verschiedenen Beziehungen und Kämpfe bilden das Milieu
für Fr. Schlegels Unroman „Lucinde" und für Schleiermachers Ver-
teidigungsschrift „Vertraute Briefe über die Lucinde" (1800), die be-
zeichnenderweise später von Gutzkow und dann in unsern Tagen neu-
gedruckt worden sind. In diesen erreicht von Schleiermachers Seite
die Überspannung des individualistischen Prinzips ihre Höhe — mit
ihnen hat er einen großen Tribut an die romantische Zeitströmung gezahlt.
Seine Ideale ließen ihn in Schlegels ethisch, wie künstlerisch verfehltem
Buche noch viel zu viel Gutes sehen, so daß er sich zur öffentlichen
Verteidigung hergab. Genützt haben die Briefe dem unglücklichen Buche
nichts — sie haben dem allzu hilfsbereiten Verfasser nur geschadet.
„Er schrieb die Vertrauten Briefe, weil er die sittlichen Anschauungen
liebte, die er, vermöge einer optischen Täuschung, in den Roman hinein-
las" (R. Haym2, 529 f.).
Ein anderer Plan war schon vor diesen Abwegen zwischen den
Freunden gereift: der Plan zu einer Übersetzung des ganzen Piaton.
Fr. Schlegel hat ihn 179Q angeregt, offenbar wohl auch um äußerer
* Br. 1, 368. 2 Schleiermacher und seine Lieben. S. 49, 50.
Einleitung. LXIII
Erfolge willen, die ihm aus der chronischen Geldnot helfen sollten.
Er versicherte sich der Hilfe Schleiermachers, wollte aber stets die erste
Rolle spielen, ja, seinen Namen allein in die Ankündigung setzen. Schleier-
macher dagegen gewann sofort innerlichstes Interesse an der Sache,
denn Piaton hatte ihn schon aufs tiefste beeinflußt. „Es gibt gar keinen
Schriftsteller, der so auf mich gewirkt, und mich in das Allerheiligste
nicht nur der Philosophie, sondern des Menschen überhaupt so ein-
geweiht hätte, als dieser göttliche Mann" (9. Juni 1800). ^ So geht er
denn mit Feuereifer an die Arbeit und sucht von der Annahme aus,
daß Piaton seine Philosophie bereits fertig gehabt hätte 2, als er begann,
sie in 3 Abteilungen von Dialogen zu entwickeln, eine Gruppierung der
Schriften und Kriterien ihrer Echtheit zu finden — ein Gesichtspunkt,
für den ihm auch die moderne Forschung verpflichtet ist. Fr. Schlegel
aber versagte vollkommen. Er lieferte die Einleitung nicht, er brachte
keine Übersetzung fertig — seine guten Einfälle mußte der nie ermüdende
Freund immer erst verwerten. Frommann, der mit Interesse den Verlag
übernommen hatte, gab ihn schließlich auf. Schleiermacher aber faßte den
heroischen Entschluß, ganz allein das Riesenwerk zu bewältigen. Georg
Reimer, der mit ihm seit 1802 eng befreundet war, übernahm den
Verlag. Die poetische und historische Seite des Unternehmens hat bei
dieser Ausscheidung Schlegels gewiß gelitten — im übrigen kann man
nicht genug über die gewaltige Leistung staunen, die Schleiermacher
in so bewegter Zeit und neben so vielem anderen fertig gebracht hat!
Persönliche und sachliche Anfeindungen setzten 1800 in so hohem
Maße ein, daß sich der Freundeskreis aufzulösen begann, und Schleier-
macher schließlich Mai 1802 aufs tiefste verstimmt Berlin verließ, um
eine Pfarrstelle in Stolpe (Pommern) anzunehmen.
Niedrigste Satire gegen Schleiermacher füllte damals Pamphlete wie
die „Laterne des Diogenes", „Gigantomachie" usw. Überall — auch
in der Jenaer Literatur-Zeitung — rührten sich die Feinde. Ihr gegenüber
sollte eine neue Zeitschrift gegründet werden, an der neben den Schlegels
und Schleiermacher auch Fichte und Schelling teilnehmen sollten. Auch
daraus wurde nichts. Fichte wollte selbst ein Journal herausgeben, wo
er die Hauptleitung haben konnte und alle andern sich nach ihm hätten
richten müssen, und Schelling zog sich auch zurück. Es waren zwischen
ihm und den Schlegels um Carolinens Willen, die im Juni 1803 Schlegels
Frau wurde, manche Mißhelligkeiten vorgefallen. Am 25. März 1801
1 Br. IV, 72.
^ Dieser Gedanke geht auch auf eine Anregung Fr. Schlegels zurück (Haym 863).
LXIV Einleitung.
starb Novalis — allmählich löste sich der geistige Bund immer mehr.
Zu Fichte, der seit dem Atheismusstreit 1799 in BerUn weilte, konnte
Schleiermacher überhaupt kein Verhältnis gewinnen. „Fichte . . . habe
ich freilich kennen gelernt: er hat mich aber nicht sehr affiziert.
Philosophie und Leben sind bei ihm . . . ganz getrennt, seine natür-
liche Denkart hat nichts Außerordentliches . . ." (4. Jan. 1800 1).
Auch dasVerhältnis zu dem Hof prediger Sack hatte sich unerquicklich gestaltet.
Die Beziehungen zu Eleonore wurden ebenfalls immer aufreibender — und
so kam es, daß Schleiermacher, um seine und ihre Ruhe wiederherzu-
stellen, Berlin mit dem abgelegenen kleinen Orte an der Pommerschen
Küste vertauschte. Nach einem Besuch bei seiner Schwester zog
er sich in die Einsamkeit zurück — die äußerlich reichste Zeit seiner
ersten Lebensepoche war vorüber.
Wissenschaftliche Vertiefung.
Abgeschnitten von geistiger Geselligkeit und literarischen Hilfsmitteln,
verlebte Schleiermacher stille Tage in dem kleinen Städtchen an der
Stolpe, 17 Kilometer von der Küste, in anspruchsloser, hügeliger Um-
gebung. Seine Stimmung schwankte zwischen traurigen Erinnerungen
und mutvollem Vertrauen auf den Wert der eigenen Arbeiten, auf die
er sich immer mehr zurückzog. Neben diesen beschäftigt ihn der Freun-
desbriefwechsel am meisten: Fr. Schlegels Stelle war durch Georg
Reimer und den jungen Prediger Ehrenfried v. Willich reichlich ausge-
füllt worden. Diesen hatte er im Mai 1801 durch Vermittelung von
Henriette in Prenzlau kennen gelernt, und es hatte sich ein sehr inniges
Verhältnis gebildet. „Willich ist mir sehr wert; er hat nicht das
Große, nicht den tiefen, alles umfassenden Geist von Fr. Schlegel,
aber meinem Herzen ist er in vieler Hinsicht näher" (1. Juli 1801 an
Charlotte). ^ Seitdem begann ein reger Briefwechsel, der zu den schönsten
unserer Briefliteratur gehört; er erstreckte sich bald auch auf die Um-
gebung des jungen Stralsunder Regimentspredigers, vor allem auf dessen
15jährige Braut Henriette von Mühlenfels und deren Schwester, Char-
lotte V. Käthen, die Jugendfreundin E. M. Arndts. 3
Für die Weiterentwicklung Schleiermachers in diesem Exil ist aber vor
allem seine Vertiefung in wissenschaftliche Studien wichtig, denen er sich
mit derselben leidenschaftlichen Vehemenz, wie in seiner Jugend, hingab.
1 Br. IV, 53- 2 I, 286.
' Vgl. die schöne Auswahl aus den Briefen in Rades Ausgabe. Jena 1906.
Einleitung. LXV
Vor allem reifte hier sein großes, kritisches Werk, die „Grundlinien
einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" (1803). Der Plan
geht bis auf die Rhapsodien zurück, die er Schiegel vorgelesen, seitdem
hatte er ihn nicht aus den Augen verloren. Am 11. Juni 1801 schrieb er
an Willich, er w^olle „künftiges Jahr eine Kritik aller bisherigen Moral"
schreiben, und zwar, um auf seine eigene systematische Darstellung
vorzubereiten. Am 28. August 1802 erwähnt er es als Programm für die
fleißige und stille Arbeit des Winters, die Kritik der Moral zu schreiben.
Anfang September ist dann schon der Plan zum Ganzen entworfen und
eine systematische Materialsammlung begonnen.^ Das Lesen und Exzer-
pieren ist ihm eine „herkulische Arbeit", so manche Stoßseufzer darüber
sendet er an die Freunde. „Bin ich nicht ein recht erbärmlicher Mensch,
daß mir dergleichen jedesmal so entsetzlich schwer wird? und sollte
ich nicht wie angeschmiedet sitzen, sobald etwas angefangen ist, und
nicht eher davon gehen, bis es fertig ist? aber das kann ich leider auch
nicht. Also kann ich ausgemachter Weise gar nichts. So weit wäre
ich nun mit mir im Reinen." " Der Wechsel zwischen dem Gewinnen
seiner sittlichen Anschauungen im bewegten persönlichen Erlebnis und
der so trockenen gelehrten Durcharbeitung der Prinzipien war ein zu
plötzlicher gewesen: er empfand die wissenschaftliche Sezierung des
ihn so bewegenden Ideals fast als Entweihung. „Wieviel tote Buchstaben
über den heiligsten, lebendigsten Gegenstand." ^ Es war eben etwas
ganz anderes, was jetzt hervortrat, es war eine Ernüchterung nach dem
Jugendrausch der Berliner Zeit — aber es war ein notwendiger und
heilsamer Prozeß. „Ach, das Schreiben ist ein großes Elend, aber gar
ein Buch von dieser Art; in meinem Leben nicht wieder! Ich glaube,
ich habe diese ganze Zeit über nicht einen gescheuten Gedanken gehabt,
lauter kritische Späne. Der einzige Spaß ist, wenn ich mir vorstelle,
wie Fichte sich ärgern, mich noch tiefer verachten wird, und A. W.
Schlegel die Nase rümpfen, daß es nichts weiter ist, als das, und
daß auch gar kein Schellingianismus darin vorkommt, und die alten
Herren sich wundern, wie ich ein so nüchterner und gründlicher Kritiker
geworden und abwarten, ob ich eine solche Verwandlung überleben
werde. Indes sollen sie bald wieder sehen, daß ich noch der alte
Mystiker bin."* Am 2. August 1803 will er „den Beschluß der Kritik zu
Ende schreiben", ^ mit Methode, Komposition und Stil ist er zufrieden,
nur erscheint ihm selbst manches nicht klar genug. Später hat er
selbst dies Buch als einen ostindischen Kaktuswald bezeichnet, durch
1 Br. I, 345. '2 I, 364. ^ I, 372. * I, 380f. & I, 389.
Schleiermacher, Werke. I. V
LXVI Einleitung.
den man nur schwer hindurchkommen kann — und so ganz Unrecht
hat er nicht damit. Durch die drückenden Verhältnisse ist der Schreib-
weise Schleiermachers damals jeder Schwung genommen, das Bemühen,
alles Material in möglichster Kürze hineinzuarbeiten, hat die Ausfüh-
rungen oft zu Andeutungen zusammenschrumpfen lassen. Um das Buch
genießen und beurteilen zu können, muß man — streng genommen —
die ethischen Schriftsteller noch besser kennen, als Schleiermacher!
Daher hat denn dies so bedeutende Werk stets wenig Leser gefunden,
es hatte keine nennenswerte Wirkung bei seinem Erscheinen. Fichte —
las es nicht (1, 404), die Schlegels konnten ihrer ganzen Art nach kein
Verhältnis dazu gewinnen, den anderen Lesern wird es so ergangen sein,
wie Spalding es von sich Schleiermacher schildert: „Ich komme von
Ihren Grundlinien wie von einer Algebra, mit dem wehmütigen Seufzer
Gellerts gegen Kästner: ,Und das verstehen Sie nun so alles?* Durch-
gelesen habe ich sie in ununterbrochener Lesung. Aber wie? Wie
ein schaufelnder Maulwurf. Nichts, durchaus nichts habe ich verstanden
im Zusammenhang . . ." ^ Die allgemeine Anschauung war, daß Schleier-
macher Kant und Fichte zu schlecht behandelt habe: „Ich begreife nicht
recht, wie dies zugeht, da ich mir gar keiner andern Absicht bewußt bin,
als der, ihre Fehler aufzudecken. In dem ursprünglichen Entwurf der
Kritik, der mehr auf den Witz angelegt war, wäre es ganz anders ge-
kommen." 2
Im Laufe von knapp 11 Monaten hatte Schleiermacher wieder eine
enorme Arbeit bewältigt. Und dabei hatte er einen vollen Beruf mit
Predigen, Unterricht usw. zu versehen! Das Predigen wurde ihm wieder
recht lieb jetzt; er bezeichnet es als „das einzige Mittel von persönlicher
Wirkung auf den gemeinschaftlichen Sinn der Menschen in Masse". ^ Dg.
bei schwebte es ihm als höchstes Ziel vor, Prediger und akademischer
Lehrer zugleich zu sein. So bewarb er sich schon im Herbst 1802 auf
Betreiben der Dohnas um eine Predigerstelle an der Burgkirche in Königs-
berg Pr., predigte am 24. und 31. Oktober dort, wurde aber nicht ge-
wählt.* Die Predigten dieser Zeit zeigen eine moralisch-praktische Auf-
fassung der Religion, die noch ohne rechten Ausgleich mit dem Mystizis-
mus der Reden ist.
Auch mit der Reform des Kirchenwesens hat sich Schleiermacher in
Stolp beschäftigt; gleich nach Vollendung der" Kritik schrieb er: „Zwei
^ Br. III, 367. '^ III, 370. » I, 355-
* Vgl. Bauer, Schleiermacliers Bewerbung um eine Predigerstelle in Königs-
berg. Altpreußische Monatsschrift 46, 3.
Einleitung. LXVII
unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens
zunächst in Beziehung auf den preußischen Staat." (S. W. I, 5.) Schleier-
macher vertritt hier, kühn und offen, die Überzeugung, daß die Verschie-
denheiten der reformierten und lutherischen Kirche so gering wären,
daß bei einer Verschmelzung keine etwas verlieren würde. Es sollte
daher unbedingte Abendmahlsgemeinschaft stattfinden, so daß für den
Staat nur eine evangelische Kirche existiere. In einem zweiten Teil
bespricht er die Mittel, um dem Verfall der Religion vorzubeugen. Da
schlägt er innerlich bewegte Religionsübungen vor, deren Muster er den
Herrnhuterischen Gemeinden entlehnt. Wichtiger aber ist seine scharfe
und rücksichtslose Kritik des Predigerstandes: er findet in ihm geradezu
sittliche Verkommenheit und zum mindesten Gleichgültigkeit der Religion
gegenüber.
Von innerlichem Reichtum war die Zeit in Stolp erfüllt — und doch
ist es so verständlich, daß Schleiermacher sich fortsehnte. Klima und
ungesunde Amtswohnung griffen seine an sich schon zarte Gesundheit an:
ein Magenleiden hat ihn oft gequält. Daher erschien es ihm eigentlich als
Erlösung, daß er 1804 auf Betreiben von Paulus einen Ruf als Professor
der Theologie nach Würzburg erhielt. Aber Schleiermacher hatte —
nicht mit Unrecht — einige Bedenken gegen diese Universität und hatte
ein Grauen vor der persönlichen Ranküne der Kollegen. Schließlich
nahm er doch an und erbat seine Entlassung. Da aber zeigte sich, daß
man an oberster Stelle Schleiermacher schätzen gelernt hatte: als schon
der förmliche Ruf nach Würzburg eingetroffen war, verweigerte Friedrich
Wilhelm III. die Entlassung und ließ ihm dann die Stelle eines außer-
ordentlichen Professors und Universitätspredigers mit 800 Talern Gehalt
in Halle anbieten, mit ausdrücklichem Hinweis darauf, daß durch diese
Berufung die Unionsbestrebungen gefördert würden, i Freudig bewegt
über die Anerkennung sagte Schleiermacher zu; im Oktober 1804 trat
er sein Amt in der Stadt seiner Studienzeit an.
Halle.
In Halle herrschte noch immer der Rationalismus; kein Wunder,
daß man den Genossen der Romantiker mit einer gewissen Reserve
aufnahm, zumal er reformiert war. Vor allem Eberhardt entsetzte sich
über seine Berufung. Schleiermacher tröstete sich mit der ihm eröffneten
Aussicht auf eine spätere Stelle in Berlin, wenn dieses ihm auch bei der
^ Vgl. den Brief Friedrich Wilhelms III. an den Minister v. Massow bei
W. Schrader: Geschichte der Universität Halle, Berlin 1894. II, 529.
V*
LXVm Einleitung.
Durchreise nach Halle durch das Schwinden alter Freunde nicht sehr
anziehend erschienen war. In Halle suchte er sich nach Möglichkeit
gemütlich einzurichten; da die meisten Hörer aber kein Kollegiengeld
zahlten, reichte das Gehalt nicht weit. Seine einsame Häuslichkeit wurde
freundlicher, seit Nanny, seine Halbschwester aus der zweiten Ehe
des Vaters, ihm die Wirtschaft führte. Sie ist bei ihm geblieben, bis
sie 1817 die Gattin E. M. Arndts wurde.
Mit dem Predigen wurde es zunächst in Halle nicht viel, da end-
lose Verhandlungen über Zeit und Ort der Predigten die Sache ver-
zögerten. Desto mehr nahmen ihn die akademischen Vorlesungen in
Anspruch, die sich vor allem mit philosophischer Sittenlehre und mit
Exegese beschäftigten. Dabei schlug er ein Verfahren ein, das er stets
beibehalten hat: er notierte nur die Hauptsätze für den Vortrag und
sprach sonst ganz frei. Infolge dieser Methode kamen ihm oft neue
Einfälle auf dem Katheder, so daß er selbst lernte während des Lehrens.
Das wirkte natürlich belebend, wenn auch manchmal Übersichtlichkeit und
Vollständigkeit darunter litten. Für die Ethik versprach er sich großen
Nutzen von seiner Methode. „Von meiner Professur ist wohl das beste,
was ich davon zu sagen weiß, daß ich gewiß viel dabei lernen kann, und
daß nun wohl in ein paar Jahren meine Ethik zustande kommen wird,
mit der es sonst noch weit länger gedauert hätte." (15. Dez. 1804.) ^
An Reimer, der am liebsten gleich etwas gedruckt hätte, schreibt er dann,
er wolle mindestens dreimal erst über Ethik lesen, ehe etwas zum Drucke
kommen könnte. Leider ist nie etwas erschienen — das „Brouillon
von 1805" haben wir noch (vgl. Bd. II), ebenso wie die späteren Auf-
zeichnungen. Aber nichts ist vollendet.
Neben dem Fortgang der Platon-Übersetzung und den mit Eifer
betriebenen theologischen Kollegien blieb ihm — wie stets — Zeit zu
einer reichen Freundeskorrespondenz. Im September 1804 hatte Willich
sich mit Henriette v. Mühlenfels verheiratet, nachdem im Juni Schleier»
macher und Henriette Herz das Brautpaar auf Götemitz in Rügen, dem
Landbesitz Charlotte von Kathens, gesehen und eine schöne Zeit mit
ihm verlebt hatten. ^ Jetzt schreibt er an das Freundespaar: „Glaubt
nur, lieben Menschen, ich schwärme ordentlich über Euch, ich
liebe Eure Ehe gleichsam noch außer Euch selbst, wie ein
eignes Wesen , leidenschaftlich möcht ich sagen, aber zart und
1 Br. IV, 109.
2 Brief Henriettens vom 16. Juli 1804 an Willich („Schleiermacherund seine
Lieben", 73 fj und Br. II, 33-
Einleitung. LXIX
heilig . . ." (17. Okt. 1804.) In diesen Briefen entwickelt er seine Ge-
danken über die Ehe, nach der er selbst sich, wie er oft aussprach,
so herzlich sehnte. „So denke ich mir auch jede Familie als ein
niedliches, trauliches Kabinett in dem großen Palast Gottes, als ein
liebes, sinniges Ruheplätzchen in seinem Garten, von wo aus man
das Ganze übersehen, aber doch auch sich recht vertiefen kann in das Enge,
Beschränkte, Trauliche." (30. Okt= 1804.; Henriette sah zu Schleiermacher,
wie zu einem Vater, mit tiefster Verehrung auf und beide Gatten wetteiferten
im Oktober 1805 miteinander, den durch Eleonorens Wankelmut aufs
schwerste gebeugten Freund mit Trostworten aufzurichten. Innig nimmt
Schleiermacher an den Mutterfreuden seiner „Tochter" teil — und mit hei-
liger Wehmut sucht er Henriette über den so unerwartet frühen Tod ihres
Gatten im März 1807 zu trösten, indem er sie auf die Ewigkeit des
Geistes hinweist.
Zu den alten Freunden gewann Schleiermacher neue. Vor allem
trat ihm der Norweger Steffens nahe, der als Schüler Schellings in
origineller und mehr auf die Erfahrung basierender Arbeit die idealistische
Naturphilosophie fortzubilden suchte. Die Ähnlichkeit des ethischen Cha-
rakters hat die beiden Männer einander nahe gebracht. „Dieser so
unerschöpflich tiefe Geist, der zugleich so ein liebenswürdiges, durch
alles Gute bewegliches kindliches Wesen hat, macht mir fast jedesmal, wenn
ich einige Stunden mit ihm zubringe, neue Freude auch dadurch, daß,
wo mir Natur und Geschichte in ihren Endpunkten sich berühren,
wir immer in unsern Ansichten zusammentreffen." ^ „Es ist auch zwischen
Steffens und mir eine wunderbare Harmonie, die mir große Freude
macht und mir gleichsam eine neue Bürgschaft gibt für mich selbst.
Wenn er im Gespräch sittliche Ideen äußert, so sind es immer die
meinigen, und was ich von der Natur verstehe und von mir gebe,
fällt immer in sein System."- Steffens konnte Schleiermacher für seine
Ethik mehr geben als Schelling. Mit diesem hatte Schleiermacher sich
öffentlich in seiner Rezension von Schellings „Vorlesungen über die
Methode des akademischen Studiums" vom April 1804 wissenschaftlich
auseinandergesetzt. In diesem Werke Schellings hatte er in dem Aufbau
der Wissenschaften die Anknüpfung für seine Ethik gefunden, die er
selbst seit 1802 bereits besaß. Seit 1804 hatte er sich dann auch Schellings
Identitätslehrc angeeignet, die ebenfalls nur das systematisierte, was
er selbst von früh an geahnt. ^ Steffens Fortbildung der Schellingschen
Ideen war ihm aber von noch größerer Wichtigkeit, denn Steffens
Br. II, 17. •'' II, 19. " Vgl. Süßkind a. a. O.
LXX Einleitung.
führte wirklich den Übergang von der Naturentwicklung zum Menschen
und damit zur Ethik aus, den Schelling nur postuliert hatte.
Durch die Freundschaft mit Steffens fühlte sich Schleicrmacher immer
wohler in Halle. „Wir schlössen uns ganz und unbedingt aneinander,
und ich habe es nie auf eine entschiedenere Weise erfahren, daß eine
unbedingte Hingebung die Selbständigkeit fördert, nicht unterdrückt."
(Steffens.) ^ Immer fester zog auch die akademische Tätigkeit Schleier-
macher an sich. Im Wintersemester 1805/06 las er zum zweiten Male die
Ethik vor 50 Hörern und über den Galaterbrief vor 120. Mitten in dieser
bewegten Zeit entstand „durch Inspiration" ein kleines Buch, „Die Weih-
nachtsfeier, ein Gespräch". „Ganz wunderbar kam mir der Gedanke
plötzlich des abends am Ofen, da wir eben aus Dulons Flötenkonzert
kamen." 2 In 2 — 3 Wochen wurde der Plan ausgeführt, am Morgen des
24. Dezember wanderte der Schluß der kleinen Schrift in die Druckerei.
Dieser Dialog ist das einzige rein poetische Werk, das Schleiermacher er-
scheinen ließ; die Beschäftigung mit Piaton legte ihm die Form nahe,
für den Inhalt sind Anregungen von außen nicht festzustellen. 3 Ästhetisch
enthält die Arbeit viel Gelungenes — nur Sofie ist als Kind verzeichnet.
Im übrigen ist die lebendige Schilderung des Beschenkens und der
Freude darüber, sowie der allmähliche Übergang zu den religionsphilo-
sophischen Reden mit feinem Geschmack gestaltet. Die einzelnen Redner
vertreten sämtlich Elemente, die damals für Schleiermachers Theologie
von Wichtigkeit waren. Daß Schleiermacher mit dem Ganzen für die
Toleranz eintrat, ist unverkennbar. Die Freunde begrüßten das Buch
mit freudiger Zustimmung, Schelling aber schrieb eine ziemlich ablehnende
Kritik in der Literatur-Zeitung, in der er vor allem den geistigen Aristo-
kratismus der Weihnachtsgesellschaft angriff.
Im Winter 1805 trat eine Aufforderung, als Prediger nach Bremen
zu gehen, an ihn heran, der zu folgen er nicht ganz abgeneigt
war. Jedenfalls erreichte er durch Hinweis auf diesen Ruf in Berlin,
daß er Stimme in der Fakultät bekam und daß die für ihn bestimmte
Kirche von den dort lagernden — Kornvorräten befreit wurde. Frühjahr
1806 hatte er die Freude, neue Auflagen von den „Reden" und Predigten
herstellen zu können. Pfingsten unternahm er mit Steffens und einigen
Studenten eine Fußtour in den Harz; neu erquickt las er dann zum ersten
1 H. Steffens: Was ich erlebte. V, 143.
2 Br. IV, 122.
' Vgl. die Einleitung zur kritischen Ausgabe von Mulert. Philosoph. Biblio-
thek 117-
Einleitung. LXXI
Male sein Kolleg über christliche Sittenlehre. Für das Vorwort der
Reden schrieb er damals die Herausforderung an Napoleon: „Ich möchte
herausfordern den Mächtigsten der Erde, ob er dieses nicht auch etwa
durchsetzen wolle [nämlich die Ausgleichung von Katholizismus und
Protestantismus] . . .; aber ich weissage ihm, es wird ihm mißlingen,
und er wird mit Schanden bestehen. Denn Deutschland istimmer
noch da, und seine unsichtbare Kraft ist ungeschwächt." —
Die friedlichen Zeiten gingen schnell zu Ende. „Glauben Sie mir,
es steht bevor, früher oder später, ein allgemeiner Kampf, dessen Gegen-
stand unsre Gesinnung, unsre Religion, unsre Geistesbildung nicht weniger
sein werden, als unsre äußere Freiheit und äußeren Güter, ein Kampf,
der gekämpft werden muß, den die Könige mit ihren gedungenen ^leeren
nicht kämpfen können, sondern die Völker mit ihren Königen gemeinsam
kämpfen werden, der Volk und Fürsten auf eine schönere Weise, als
es seit Jahrhunderten der Fall gewesen ist, vereinigen wird, und an
den sich Jeder, Jeder, wie es die gemeine Sache erfordert, anschließen
muß." (20. Juni 1806.) Jetzt trat neben Wissenschaft und Freundschaft
die Vaterlandsidee als Lebensmacht an Schleiermacher heran. Und gerade
jetzt konnte er seinen akademischen Gottesdienst beginnen — am
3. August 1806 sprach er vor 700 Studenten über Römer 1, 16. „Die
Kirche war gepreßt voll, und eine angemessene Stille ehrte den Redner."
(Varnhagen v. Ense, Denkwürdigkeiten I, 383.) Der Staat ist auf die
Macht religiöser Gesinnung gegründet — so verkündete Schleiermacher
von der Kanzel herab „voll Kraft und Salbung." i Noch viermal predigte
Schleiermacher vor den Studenten — dann brach der Krieg aus. Am
24. August sprach er gegen den Weltbürgersinn und stellte den Staat
als den höchsten Gipfel menschlicher Tätigkeit dar. Dabei zeigte er
volles Verständnis für Volksindividualität und Nationalstaat. „Das Beste,
was jeder verrichtet, wird immer das sein, dem dieser gemeinsame Sinn
aufgedrückt, was im eigentümlichsten Geiste seines Volkes gedacht und
getan ist."^ So sehen wir hier bei Schleiermacher, wie der deutsche
Nationalgedanke aus der Sphäre des Individualismus herausgewachsen
ist, und können von dieser Seite die Anschauung F. Meineckes bestä-
tigen, die er in „Weltbürgertum und Nationalstaat" ausspricht: „Es ist
kein Zufall, daß der Ära des modernen Nationalgedankens eine Ära
individualistischer Freiheitsregungen unmittelbar vorhergeht. Die Nation
* Vgl. Joh. Bauer, Schleiermacher als patriotischer Prediger. Gießen
f908. S. 18.
- Predigten I, 2. Sammlung, Nr. 3- Schleiermacher, Werke II, 1, 226.
LXXII Einleitung.
trank gleichsam das Blut der freien Persönlichkeiten, um sich selbst
zur Persönlichkeit zu erheben." (S. 8). Erst mußte das Individuum selbst
befreit werden, um dann die Wirklichkeit gestalten zu können, i Kosmo-
politismus und Nationalgedanke haben lange miteinander gerungen, auch
in dem Denken derselben Persönlichkeiten. W. v. Humboldt mit seinen
„Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates
zu bestimmen" (1792) und Fichte mit den „Beiträgen zur Berichti-
gung der Urteile des Publikums über die französische Revolution" (1793)
zeigen schon reales politisches Interesse; aber erst Arndt in „Ger-
manien und Europa" (1802) fordert — genau wie Schleiermacher: „Nur
wenn wir ein Vaterland, wenn wir die hochmenschlichen und hochpoli-
tischen Ideen eines eigenen, einigen, kräftigen Volkes hätten, würden
wir stehende Sitten, festen Charakter und Kunstgestalt gewinnen, dann
nur könnte das Höchste und Herrlichste der Menschheit aus solchen
irdischen Wurzeln zu schimmernden Sonnenwipfeln erwachsen." Unsere
Frühromantiker Novalis, Fr. Schlegel, Schleiermacher, sind die Vor-
kämpfer einer idealen Staatsauffassung gewesen. -
Anfang Oktober sprach Schleiermacher zum letzten Male vor den
Studenten, und zwar über den Krieg. Am 16. Oktober schon drangen
Franzosen in Halle ein. Steffens mit Frau und Kind und Freund Gaß
fanden in der geschützter liegenden Wohnung von Schleiermacher Auf-
nahme. Plünderung und Einquartierung setzte den Freunden arg
zu, ohne daß Schleiermacher den Mut verloren hätte. Viel
schwerer traf es ihn, daß Napoleon, gereizt durch leichtsinnige
Herausforderungen der Studenten, die Universität Halle am 20. Ok-
tober aufhob. Ohne seinen Wirkungskreis hätte das Leben seinen
Wert für ihn verloren, schrieb er an Charlotte v. Käthen. Trotzdem
nahm er einen erneuten Ruf nach Bremen nicht an, es erschien ihm
„treulos gegen seinen inneren Beruf", jetzt Preußen zu verlassen. „Mehr
als je scheint mir jetzt der Einfluß höchst wichtig, den ein akademischer
Lehrer auf die Gesinnung der Jugend haben kann" (1. Dez. 1806 an
E. v. Willich). So hielt er aus, wenn auch die äußeren Verhältnisse
immer drückender wurden. Er lebte mit Nanny bei Steffens, hatte
Licht und Feuerung gemeinsam mit den Freunden und teilte mit Steffens
das Arbeitszimmer. Trotzdem arbeitete er weiter am Piaton, an einer
neuen Predigtsammlung und an Untersuchungen über den ersten Timo-
1 F. Meinecke, Zeitalter der deutschen Erhebung. 1906. S. 28.
2 Vgl. E. Spranger, Philosophie und Pädagogik der preußischen Reformzeit
(Historische Zeitschrift III, 8, 2, S. 278 ff.).
Einleitung. LXXIII
theus; dazu kamen noch etwa 9 Predigten, die er bis Ostern 1807 hielt.
Dabei suchte er den Glauben an Deutschland seinen Hörern immer
wieder einzuprägen. Er fürchtete nichts so sehr, als einen „faulen
Frieden". Er hoffte auf eine allgemeine Erhebung der protestantischen
Völker gegen Napoleon. Bei dieser Hoffnung auf die positive Kraft
des Protestantismus, die ihn von jeder Romantik entfernt zeigt, mußte
es ihm geradezu als Verrat des Vaterlandes erscheinen, daß Fichte in
seinen „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters*' Christentum und
Reformation wegwerfend behandelte; er sprach seine Entrüstung darüber
in einer sehr scharfen Rezension der Literatur-Zeitung 1807 aus.
Da in Halle an keine erneute Wirksamkeit im patriotischen Sinne
zu denken war, entschloß Schleiermacher sich im Mai 1807, nach Berlin
überzusiedeln; er las dort im Sommer Privatvorlesungen über Geschichte
der Philosophie. Am 7. Juli 1807 wurde Halle zum Königreich West-
falen geschlagen, darauf erging am 4. September eine Kabinettsordre
des Königs aus Memel, die den seit Jahren gehegten Plan, eine Universität
in Berlin zu errichten, realisierte. Eine Professur wurde Schleiermacher
durch Nolte in Beymes Auftrag angeboten; er sagte natürlich zu. So
war er wieder nach Berlin zurückgekehrt, aber unter wie anderen Um-
ständen, als er ersehnt!
Bis zu den Freiheitskriegen.
Am 7. Dezember 1807 siedelte Schleiermacher endgültig in die Stadt
über, deren Geistesleben er neben Hegel am tiefsten beeinflussen sollte.
Er lebte als Privatgelehrter, unterstützt von dem getreuen Reimer, und
tat das Seine, die neue Pflanzstätte deutschen Wissens und deutscher
Gesinnung zu schaffen. Fachkollegen und Berufskollegen feindeten ihn
nach wie vor an — aber der Kreis der preußischen Reformer wußte sein
Genie zu schätzen.
Von allen Seiten arbeitete man mit Denkschriften daran, etwas Neues
entstehen zu lassen; und während Fichte seine „Reden an die deutsche
Nation" hielt, in denen sich Kosmopolitismus und Nationalidee seltsam
verquicken, arbeitete Schleiermacher an „Gelegentlichen Gedanken über
Universitäten in deutschem Sinne, nebst einem Anhang, über eine neu
zu errichtende". ^ Diese Schrift zeigt Schleiermachers eigentümliche Be-
gabung, hohe Ideen ohne utopistische Übertreibungen der Wirklichkeit
dienstbar zu machen. Was er von dem historischen Werden der Fakul-
^ Vgl. die Neuausgabe und Einleitung von Spranger in Dürrs Philosoph.
Bibliothek 120.
LXXIV Einleitung.
täten usw. sagt, ist nicht immer richtig; seine Reformvorschläge zeigen
aber oft praktischen BHck. So wählte ihn denn auch W. v. Humboldt
1810 in die engere Kommission zur Einrichtung der Universität.
Ein idealistischer Grundgedanke — dem Schellings in seinen „Vor-
lesungen über die Methode des akademischen Studiums" verwandt —
trägt die Einzelausführungen der Schrift Schleiermachers: die Wissen-
schaften bilden eine Einheit höchster Erkenntnis, davon muß jeder
Studierende einen lebendigen Begriff bekommen und diese Ideen
der universitas litterarum und des reinen Erkennens sollen zum
leitenden Prinzip werden. Dabei nimmt die Beschäftigung mit Philo-
sophie eine hohe Stufe ein: sie muß jedem einen Ausblick auf Natur
und Geschichte geben, nicht soll sie sich — wie Fichtes Transzentalphilo-
sophie — in leere Spekulation jenseits des Lebens verlieren. Wahres
Erkenntnisstreben erzeugt von selbst edles Tun: so darf die akademische
Freiheit nie beschränkt werden, wenn man nicht uns Deutschen, uns
„geschworenen Verehrern der Freiheit", das Beste nehmen will. Von
der eigentümlichen Selbstentscheidung jedes einzelnen erhoffte Schleier-
macher die nationale Wiedergeburt. Darum verbarg er nicht seine Be-
denken gegen Berlin als Stätte der neuen Universität! Unabhängigkeit
vor allem von selten des Staates mußte ihr gewahrt bleiben. Die Idee
einer deutschen Universität entwickelt Schleiermacher im deut-
lich fühlbarem. Gegensatz zu den in Frankreich durch Napoleon geschaf-
fenen Spezialschulen.! Freiheit soll den Forschenden und den Lernenden
gewahrt sein, sonst wird der wahre Zweck verfehlt. 2 Im Jubiläumsjahre
der Berliner Universität liegt es besonders nahe, auf diese idealen For-
derungen wieder energisch hinzuweisen. Im einzelnen ist in Schleier-
machers Schrift manches Verkehrte und Einseitige — er kannte ja den
Universitätsbetrieb noch kaum. Er polemisiert gegen Fichte, mit W.
v. Humboldt ist er aber im Grundgedanken einig. So hat seine Arbeit
die vielen Eintagsfliegen, die damals herumflatterten, überlebt.
In seinen Predigten wirkte Schleiermacher energisch im patriotischen
Sinne weiter. Am 24. Januar 1808, dem Geburtstage Friedrichs des
Großen, als Fichte seine 6. Rede hielt, sprach Schleiermacher von der
Kanzel „Über die rechte Verehrung gegen das einheimische Große
aus einer früheren Zeit". Einmütige Arbeit an der Reform des preußischen
Staates: war auch hier seine Grundforderung. „Die Predigt ist ihrem
' Vgl. Joh. Bauer, Schleiermacher über die Aufgabe der Universitäten 18OS
(„Deutsch- Evangelisch", 1910, Heft 10).
2 Vgl. Dorner, Die Aufgaben der Universitäten. Leipzig 1904. S. 12.
Einleitung. LXXV
innersten Kern nach eine Apologie der Steinschen Reform
von ethischen Gesichtspunkten aus" (Bauer). Schleiermacher war in
der Forderung, daß Belebung der religiösen Gesinnung vor allem er-
strebt werden müsse, in Einverständnis mit Stein, Hardenberg, und
Altenstein. Einen speziell politischen Charakter erhält die Predigt noch
durch ihre Anknüpfung an das Edikt vom 9. Oktober 1807, das die
Trennung der Stände und die sozialen Privilegien aufheben will. Darüber
hatte es manche Streitigkeiten gegeben, so daß die Mahnung zu ein-
mütigem Zusammenstehen nur zu berechtigt war. Die ganze Predigt
ist ein Ausdruck stärksten preußisch-patriotischen Gefühls, das ihm
als Sohn des fridericianischen Staates angeboren war, während Fichte
immer Weltbürger blieb. Beide Redner haben „den Geist der Stadt
in diesen Jahren völlig umgewandelt" (Dilthey). ^ Schleiermachers Wirken
darf nicht hinter Fichtes zurückgestellt werden; Reinhold Steig be-
zweifelt in seinem Werk über „H. v. Kleists Berliner Kämpfe", daß die
„Reden" überhaupt so gewaltigen Einfluß gehabt haben!
Noch mehrmals hat Schleiermacher gepredigt, bevor er im iVlai
1809 die Stelle an der Dreifaltigkeitskirche antrat. Nur die Predigt vom
Januar 1809 kennen wir, deren eigentliches Thema war: „Über die
Notwendigkeit einer allgemeinen Beteiligung am öffentlichen Leben"
(Bauer, 54). Echte Frömmigkeit ist der Boden der Bürgertugend und
sie muß zum Dienste fürs Vaterland führen!
An den geheimen Verbindungen, die für die Regeneration tätig
waren, hat Schleiermacher wohl nicht direkt teilgenommen. Doch
hat er die engsten Beziehungen zu Scharnhorst und Gneisenau gepflegt
und hat auch manche heimliche Zusammenkunft der Patrioten mitge-
macht. Im Sommer 1808 ging er in patriotischer Mission nach Rügen —
und fand auf dieser Reise im Dienste des Vaterlandes seine Lebens-
gefährtin: er verlobte sich mit der Witwe seines Freundes Ehrenfried,
die eben erst das 21. Lebensjahr erreichte. Er schob die Hochzeit wegen
der Ungewißheit seiner Lage hinaus — mußte er doch gleich für die
2 Kinder Henriettens sorgen! Aber der Liebesbund beseligte ihn, er
wiegte sich in den schönsten Träumen. Auch erfrischte ihn, daß er auf dem
Lande wieder einmal der Arbeit des Menschen an der Natur nahe getreten
war. „Wie der einfache stärkende Geruch der blühenden Kornfelder
und der Wiesen auf die Sinne, so wirkt diese Anschauung immer auf
mein Gemüt" (an Charlotte v. Käthen, 11. August 1808).
^ Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit. Preußische Jahr-
bücher 1862.
LXXVI Einleitung.
Vom 25. August bis zum 30. September befand er sicli in politischer
Mission auf einer Reise, deren Ziel Königsberg war. Dort trat er Stein
persönlich nahe, lernte auch die Königin und die Prinzeß Wilhelm kennen
und verlebte glückliche Tage im Heime seines alten Freundes Wedecke.
— Seine Hoffnung auf eine Volkserhebung, in deren Interesse seine
Reise unternommen war, ging noch nicht in Erfüllung. Traurig darüber
kehrte er nach Berlin zurück. Am 14. Oktober hatte er in Begleitung von
Reimer und Lützow eine Zusammenkunft mit Steffens und Blank in
Dessau, vielleicht um einen Mordplan gegen Napoleon entgegen-
zuwirken, i Dann stürzte er sich wieder eifriger in die wissenschaftliche
Arbeit. Er las im Winter über Glaubenslehre und über Theorie des
Staates. „Letztere als etwas ganz Neues interessiert mich natürlich be-
sonders. Sie ist ein natürlicher Ausfluß meiner Ethik, und ich finde,
daß sich alles in großer Einfachheit und Klarheit gestaltet." (11. Febr.
1809.) 2 In seiner Ruhe störte es ihn weiter nicht, daß er am 27. No-
vember 1808 — drei Tage nach Steins Entlassung — vor den Marschall
Davoust zitiert wurde. Er wußte sich und seine Mitbeschuldigten in
ruhiger Vornehmheit zu rechtfertigen und wurde wieder entlassen.
Seit der Verlobung entspann sich ein innig-zärtlicher Briefwechsel
zwischen Schleiermacher und Henriette, in welchem beide sich mit voller
Offenheit aussprachen. „Es ist nichts in meinem Leben, in allen meinen
Bestrebungen, wovon Du nicht den Geist richtig auffassen könntest;
sonst könntest Du ja auch mich selbst nicht verstehn, nicht mein sein."
Den ganzen, ihm wegen der bis zum Frühjahr verschobenen Hochzeit ewig
erscheinenden Winter hindurch gehen Briefe hin und her, die voll
sind von gegenseitigem Austausch innerster Gefühle und von sinnig aus-
gemaltem Zukunftsglück. Ich kann nur einige Zitate hersetzen, die
gleichzeitig Schleiermachers Tätigkeiten und Anschauungen beleuchten:
„Mein Leben in der Wissenschaft und in der Kirche, und, so Gott
will und Glück gibt, wie mir beinahe ahnet, auch noch im Staat,
soll gar nicht von Deinem Leben ausgeschlossen und Dir fremd sein,
sondern Du sollst und wirst den innigsten Anteil daran nehmen. Ohne
das gibt es keine rechte Ehe. Du brauchst deshalb die Studien und
die Worte nicht alle zu verstehen; aber mein Bestreben und meine
Tat wirst Du immer nicht nur anschauen und verstehen, sondern auch
teilen, daß nichts ohne Dich gelingt, nichts ohne Dich vollbracht wird,
alles mit deine Tat ist, und Du Dich meines Wirkens in der Welt
wie Deines eigenen erfreust." (IV, 152.)
1 Baxmann: Fr. Schleiermacher, S. 103. - Br. IV, 16?.
Einleitung. LXXVII
Henr. v. Willich an Schleiermacher. 21. Nov. 1808: „Es ist ja nichts
in mir, was nicht Dir angehört. Ich kann mir wohl denken, daß Du
unzufrieden mit mir sein könntest, aber dann würdest Du mich liebreich
und väterlich führen, und ich würde mich, dein liebendes Kind, weh-
mütig, aber zärtlich an Dich schmiegen." (170.)
Schleiermacher an Henriette. 4. Dez. 1808: „Was mir aber
auch jetzt schon recht große Freude macht, das sind meine Vor-
lesungen; mit den ersten Stunden bin ich selten zufrieden, war es auch
diesmal nicht, wie ich auch mit dem Eingang in meine Predigten am
wenigsten zufrieden bin. Aber nun komme ich hinein und die Zuhörer
auch. Alles ordnet sich bestimmter, es geht immer klarer hervor, daß
wir die Wahrheit ergriffen haben, der Vortrag wird immer leichter,
und oft überrascht mich selbst mitten im Vortrage etwas Einzelnes,
was von selbst hervorgeht, ohne daß ich daran gedacht hatte, so daß
ich selbst aus jeder einzelnen Stunde fast belehrt herauskomme. Ich
kann Dir gar nicht sagen, was für ein Genuß das ist. Und dabei sind
die Gegenstände so herrlich! Den jungen Männern jetzt das Christentum
klar machen und den Staat, das heißt eigentlich ihnen alles geben,
was sie brauchen, um die Zukunft besser zu machen als die Vergangen-
heit war''. (179.)
Henriette an Schleiermacher. Dez. 1808: „Es ist doch wunderbar,
daß Du nun gerade kein Mädchen lieben konntest. Du sagtest uns
das schon einmal vor vier Jahren in Götemitz im Garten, Du habest immer
die sichere Ahnung gehabt, daß Du würdest eine leidende Frau be-
glücken." (190.)
Schleiermacher an Henriette. 25. Dez. 1808: „Wissenschaft und
Kirche, Staat und Hauswesen, — weiter gibt es nichts für den Menschen
auf der Welt, und ich gehörte unter die wenigen Glücklichen, die alles
genossen hätten . . . Die Menschen, die sich etwas emporheben aus der
gemeinen Masse, machen alle so viel aus der Unsterblichkeit des Namens
in der Geschichte. Ich weiß nicht, ich kann darnach so gar nicht
trachten. Die Art, wie sie den Königen, bloß als solchen, auf ein paar
Jahrhunderte wenigstens sicher ist, hat doch nichts Beneidenswertes.
Die Taten der Menschen im Staat sind doch immer gemeinschaftlich, und
mit Unrecht wird etwas Großes dem Einzelnen auf die Rechnung ge-
schrieben. In der Wissenschaft ist nun gar nicht daran zu denken,
und das künftige Geschlecht müßte aus elenden Kerls bestehn, wenn sie
nicht in fünfzig Jahren Alles weit besser wissen sollten, als auch der
Beste jetzt. Nur der Künstler kann auf diese Art unsterblich sein
und ein solcher bin ich nun einmal nicht." (195.)
LXXVIII Einleitung.
31. Dez. 1808. „Niemals kann ich dahin kommen, am Vaterlande zu
verzweifeln; ich glaube zu fest daran, daß es ein auserwähltes Werkzeug
und Volk Gottes ist." (200.)
Während Frankreich und Österreich gegeneinander ins Feld zogen,
schlössen Schleiermacher und Menriette den Bund fürs Leben, im Mai
1809. Geistig stand die „liebe Jette" ihrem Gatten nicht so gleich, wie
etwa Caroline ihrem Schelling. Sie hat aber erreicht, was Schleiermacher
wünschte: sie konnte mit liebevollem Verständnis seinem Wirken folgen.
Schon im Dezember 1808 hatte Schleiermacher auf Wunsch von
Stein Vorschläge zu einer neuen Kirchenordnung entworfen; seine Hand-
schrift ist aber uns nicht bekannt. ^ Er scheint darin (nach der Ver-
öffentlichung von Richter, Zeitschrift für Kirchenrecht, 1, 326) offen für
eine ziemlich weitgehende Selbständigkeit der Kirche dem Staate gegen-
über, für unbedingte Lehrfreiheit und für absolute Verbindlichkeit der
bürgerlichen Trauung eingetreten zu sein. Er stieß damit auf starken
Widerspruch bei den Räten des Königs. Neben dieser Arbeit geht die am
5. Bande Platon und an der berühmten Abhandlung über Heraklit einher.
In dieser sucht er mit meisterhafter Anwendung der kritischen Methode
ein Bild der Philosophie des Ephesiers aus den Bruchstücken und Zeug-
nissen herauszuarbeiten. Gewiß ist heute vieles zu berichtigen; aber
die scharfsinnige Untersuchung kann auch dem gegenwärtigen Forscher
noch Positives geben.
Im Wintersemester 1809/10 las Schleiermacher christliche Sitten-
lehre und Hermeneutik. Im Anfang des Jahres 1810 wurde er auf W.
V. Humboldts Vorschlagt zum Mitglied der wissenschaftlichen Deputation
und bald zu ihrem Direktor gewählt, und damit war sein Wunsch erfüllt,
auch an der staatlichen Tätigkeit teilnehmen zu können.
Am 5. August predigte er zum Gedächtnis der Königin Luise. Am
10. Oktober wurde die Universität eröffnet, Schleiermacher erhielt ein
Gehalt von 2000 Tlr. Als Mitglied der „Einrichtungskommission" hatte
er großen Einfluß auf Berufungen gehabt. Auch an der Ausarbeitung der
Universitätsgesetze war er beteiligt. In diesem vielbewegten Jahre schrieb
er die Schrift, die der Theologie ganz neue Bahnen weisen sollte:
1 Vgl. Bauer, Schleiermacher als patr. Prediger S. 60, u. E. Foerster:
Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König
Friedrich Wilhelms III. 1905- I, 159 ff-
« E. Spranger, W. v. Humboldt und die Reform des Bildungswesens (Große
Erzieher IV). Berlin 1910. S. 112.
Einleitung. LXXIX
„Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender
Vorlesungen entworfen." (S. W. 1, 1.) In dieser Schrift verteidigt Schleier-
macher vor allem den Wissenschaftscharakter der Theologie und sichert
gleichzeitig ihren Wert für das praktische Religionsleben. Die Theologie
gliedert er in philosophische, historische und praktische. Die historische
Theologie ist ihm der „eigentliche Körper", sie ist — das ist besonders
hervorzuheben — ein Teil der Geschichtskunde, und hat nichts
mit übernatürlichen Dingen zu tun. Auch die dogmatische Theologie ist
ihm lediglich eine historische Disziplin: sie soll das Wissen von der
jetzt herrschenden Lehre sein. Die Regeln für die richtige Führung
des Kirchenregiments leitet die praktische Theologie ab, die Schleier-
macher erst wieder zu Ehren brachte. Die philosophische Theologie
hat das Wesen des Christentums und der christlichen Gemeinschaft
zu erörtern.
So auf der Höhe seiner Tätigkeit stehend, wurde ihm das ersehnte
Glück zuteil, Vater zu werden: am Weihnachtsabend 1810 schenkte Hen-
riette ihm eine Tochter. Mit tiefbewegtem Herzen predigte er am
nächsten Tage und sprach ein Dankgebet von der Kanzel.
Sorge und Ärger machte ihm die Arbeit im Unterrichtsdepartement.
Man fürchtete seinen scharfen Geist und suchte ihn durch gleichgültige
Beschäftigungen unschädlich zu machen. So konnte er hier keine seiner
Neigung und Begabung entsprechende Wirksamkeit entfalten. Doch hat
er stets das Möglichste geleistet und vor allem treu zur Patriotenpartei
gehalten. Stein stellte er sich zur Verfügung, um die gegen diesen gerich-
teten Verleumdungen aufzudecken. Im Herbst 1811 unternahm er wieder
eine Reise im patriotischen Interesse, diesmal nach Schlesien. In diesem
Jahre empfahl ihn der Freiherr v. Stein, um die Verordnungen zu for-
mulieren, die den religiösen Geist des Volkes v^ecken sollten. (Lehmann:
Stein, III, 116.)
Als philosophische Großtat aus dieser Zeit ist die endgültige Fundie-
rung der Dialektik durch eine Vorlesung 1811 zu nennen. Schleier-
macher hatte sich energisch bemüht, seinen Freund Steffens nach Berlin
zu ziehen, und zwar begründete er das mit einem persönlichen Argu-
ment: „Ich wünsche die Wahl dringend für die Vorlesungen über die
ethischen Wissenschaften . . ., für welche ich, da ich selbst allgemeine
Philosophie nie vortragen werde, keine Haltung finde und sie daher
unterlasse."! Steffens erhielt den Ruf nicht; daher mag sich Schleier-
Br. IV, 175-
LXXX Einleitung.
macher entschlossen haben, selbst eine allgemein-philosophische Grund-
lage für seine Ethik zu schaffen. ^ Um der Ethik willen ist die Dia-
lektik ausgearbeitet, ja, die Ethik wurde bis zur ersten Vollendung
dieser Grundwissenschaft liegen gelassen. 1814, ISIS, 1822, 1828,
1831 hat Schleiermacher später die Dialektik nach immer neuen Entwürfen
wiederholt und ausgestaltet. Seine Methode ist hier besonders deutlich
an die Art des platonischen Dialoges angeschlossen; immer weiter
ringt sich der Geist des Hörers und Lehrers von Irrtümern frei und
erreicht endlich, von Gegensatz zu Gegensatz fortschreitend, auf der
Spitze die Wahrheit. ^ Metaphysik und Erkenntnistheorie sind dabei
ineinander verflochten. An diese Vorlesungen schlössen sich im Winter
1811/12 die über Geschichte der Philosophie an, die später ebenfalls
wiederholt wurden.
Im Frühjahr 1812 schien für die Patriotenpartei alles verloren: der
König hatte das Bündnis mit Frankreich gegen Rußland abgeschlossen.
Scharnhorst und Gneisenau verließen Berlin, Schleiermacher kämpfte
von seiner Kanzel herab mutig weiter für die endliche Erhebung. „Mögen
die Feinde des Guten, wie sie auch gestellt sein mögen in der Welt,
fühlen, was wir von ihnen halten. Wir wollen es weder ihnen noch
anderen verbergen, daß nach unserer Überzeugung sie es sind, welche das
Verderben des Volkes bereiten . . ." (Predigt über Luc. 7, 24 — 34.) Die
Feinde der Reform, die v. d. Marwitz und Arnim, werden so — den
Hörern wohl deutlich genug — offen angegriffen. Eine Predigt am
3. Jan. 1813 erregte bei Hardenberg Verdacht, so daß er dem Fürsten
Wittgenstein Auftrag gab, Schleiermacher zu überwachen. ^
Nie hatte Schleiermacher den Mut verloren, trotzdem er in Briefen
an Gaß und den Freiherrn v. Stein die Haltung der Regierung aufs
schärfste tadelte. Er sollte mit seiner Hoffnung recht behalten. Am
3. Februar 1813 erließ der König den Aufruf zur Errichtung des frei-
willigen Jägerkorps, am 27. Februar wurde das Bündnis mit Rußland ge-
schlossen, dem am 17. März der Aufruf „an mein Volk" folgte. „So
trat nun wirklich das preußische „Volk" auf die Bühne der Geschichte"
(Fr. Meinecke).
^ Vgl. Halpern in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Dialektik. Berlin
1903. S. XXVII.
2 Vgl. R. Eucken: Lebensanschauungen der grossen Denker. 7. Aufl. 1907.
S. 465.
^ Max Lenz: Geschichte der königl. Friedrich Wilhelms-Universität zu
Berlin. Halle 1910. I, 488.
Einleitung. LXXXI
Schleiermacher stand hinter seinen Gesinnungsgenossen in rastloser
Arbeit fürs Vaterland nicht zurück. Seine Vorlesungen hielt er weiter
vor nur 7 Zuhörern, predigte außer jeden Sonntag noch bei besonderen
Anlässen, redigierte vom 25. Juni bis zum Ende des 3. Quartals 1813 1 an
Stelle von Niebuhr den „Preußischen Korrespondenten" 2 und übte mit
dem Landsturm. Seine Redaktionstätigkeit blieb nicht unbehelligt. Gegen
einen von ihm verfaßten Artikel vom 14. Juli 1813, in welchem er
offenherzig die eventuellen Friedensabsichten der Regierung tadelte, schritt
die Zensur ein und Schleiermacher mußte eine Verteidigung aufsetzen.
Die Geschichte machte „ein ungeheures Aufsehen". ^ Er rechtfertigte sich
mündlich und schriftlich dem Minister v. Schuckmann gegenüber, erhielt
aber im September nochmals einen Verweis.
Predigten sind uns aus der bewegtesten Zeit leider nur wenige
erhalten, darunter die berühmte Rede vom 28. März bei der Feier des
Kriegsanfanges. Ihm zu Füßen saßen die Freiwilligen, die ihre Gewehre
draußen an die Wand der Kirche gelehnt hatten. Der große Umschwung
— so führte Schleiermacher aus — ist die Folge davon, daß unser
innerer Wert gewachsen ist. Rückkehr zur Wahrheit und Selbstän-
digkeit ist der Beginn der Erhebung. Volk und Heer sollen nicht
mehr getrennt sein, sondern einmütig den Feind bekämpfen. Daraus
entwickelt Schleiermacher Forderungen an alle, die etwas für
den Krieg tun können, direkt oder indirekt. Gewaltig wirkte
diese Predigt, wie K. v. Raumer bekundet. Von einer anderen,
nicht erhaltenen Predigt erzählt Hofprediger Eylert: „Da stand
der körperlich kleine, unscheinbare Mann mit seinem edlen geist-
vollen Angesicht, an heiliger Stätte, in heiliger Stunde, und
seine sonore, reine, durchdringende Stimme drang durch die feier-
liche Stille der überfüllten Kirche. In frommer Begeisterung vom
Herzen redend, drang er in jedes Herz, und der volle, klare Strom
seiner gewaltigen Rede riß alles mit sich fort . . . Und als er zuletzt
noch mit dem Feuer der Begeisterung die zum Kampfe gerüsteten edlen
Jünglinge anredete, dann an deren großenteils anwesende Mütter sich
wandte ... — da durchzuckte es die ganze Versammlung, und in
das laute Weinen und Schluchzen derselben rief Schleiermacher sein
^ H. Dreyhaus: Der Preussische Korrespondent etc. 1909.
^ Zur Mitarbeit forderte er auch Fr. Schlegel auf.
3 Br. IV, 413 ff.
Schleiermacher. Werke. I. VI
LXXXII Einleitung.
versiegelndes Amen." ^ So blieb er stets dem früh erkannten Berufe ge-
treu, Gedanken wirksam für das Leben zu machen, er hat unendlich
viel dafür getan, die errungenen Ideen in die Wirklichkeit überzuführen.
Darin liegt seine höchste Leistung im Gange der Weltgeschichte.
Nach der Niederlage von Großgörschen hielt es Schleiermacher für
das beste, Frau und Kinder nach Schlesien in Sicherheit zu bringen:
er hat es bald sehr bedauert, als sich der Krieg gerade dorthin zog.
In den Berichten an die Frau spiegeln sich die Mühen und Sorgen des
einsamen, von körperlichem Leiden oft gequälten Mannes. Was lastete
auf ihm nicht alles! Die Vorlesungen führte er ziemlich als einziger fort,
da sein Gesuch um eine Feldpredigerstelle unbeantwortet geblieben war.
An einem Tage hatte er z. B. Kirchenrechnungen durchzusehen, von 2 — 5
Übungen des Landsturms, um 6 eine Sitzung, um 8 eine Einsegnungsrede
an ein Bataillon Landwehr. Abends genoß er die Ruhe in seinem
Gartenhäuschen am Schafgraben. Als man das Vorrücken der Franzosen
auf Berlin fürchtete, da beeilte er sich, zu seiner Flinte auch Munition
zu besorgen: er wollte als Mitglied des Landsturms bis zum letzten aus-
harren. Reimer, Arndt, Eichhorn, Savigny, Fichte u. a. m. standen ihm
zur Seite. Sein „politisches Glaubensbekenntnis" hat er in dem letzten
Brief an Fr. Schlegel vom 12. Juni 1813 ausgesprochen; es klingt wie
eine Prophezeiung. „Nach der Befreiung ist mein höchster Wunsch
auf ein wahres deutsches Kaisertum, kräftig und nach außen hin allein
das ganze deutsche Volk und Land repräsentierend, das aber wieder
nach innen an einzelnen Ländern und ihren Fürsten recht viele Freiheit
läßt, sich nach ihrer Eigentümlichkeit auszubilden und zu regieren." 2
Österreich soll ausgeschlossen sein. So hat er hier schon die Idee aus-
gesprochen, für die spätere Zeiten noch gegen den Wahn der Groß-
deutschen so heiß kämpfen mußten.
Für wissenschaftliche Arbeit war wenig Ruhe übrig. „In einem
sehr aufgeregten Zustande kann ich nur reden, schreiben gar nicht."
Und doch verlas er in der Akademie der Wissenschaften, deren Mit-
glied er seit 1810 war, eine Abhandlung „über die verschiedenen Methoden
des Übersetzens" (26. Juli 1823), die seine Meisterschaft zeigt, auch
scheinbar kleine Probleme philosophisch zu vertiefen und mit dem
Höchsten in Verbindung zu bringen. Auch diese Rede hat patriotische
Färbung. — Im Winter 1813/14 waren kaum Studenten der Theologie
1 Vgl. Bauer. S. 97 ff- Lenz nimmt im Gegensatz zu Bauer an, daß diese
Stelle sich doch auf die Predigt vom 28. März bezieht (I, 495).
« Br. III, 429.
Einleitung. LXXXIII
an der Universität; doch las Schleiermacher zum ersten Male über Päda-
gogik. Im Sommer 1814 gönnte er sich die ihm sehr nötige Erholung auf
einer Reise nach Schwalbach und an den Rhein, wobei er mit Daub,
Creuzer und Paulus in Berührung kam. Heimgekehrt, hatte er eine
ernstliche Fehde mit dem Lehrer des Staatsrechts Schmalz, dem ersten
Rektor der neuen Universität, auszufechten. Schmalz hatte es als
Glied der hochkonservativen Partei unternommen, die Mitglieder
der Patriotenpartei als Revolutionäre zu verdächtigen. Schleiermachers
Schrift „An Herrn Geheimrat Schmalz" ist scharf und schneidig und
behandelt mit glänzender Ironie den nichtigen Angriff. Das schadete
ihm in leitenden Kreisen erst recht, und so wurde er 1814 aus dem
Unterrichtsdepartement entlassen, unter dem Vorwande, durch seine —
nur mit Schwierigkeiten bestätigte — Wahl zum Sekretär der Akademie
sei er zu sehr überlastet. So entfernte man diesen klar denkenden Mann
und machte es ihm unmöglich, seine Ideen, die er eben in einer
Abhandlung über den Beruf des Staates zur Erziehung niedergelegt hatte,
zu verwirklichen. Hier fordert er im Grunde den konstitutionellen Staat.
Wie wenig Schleiermacher übrigens in seiner politischen Ansicht links-
liberal war, wie sehr er selbst in seinem Gefühl ein konservatives Element
besaß, mag gleich hier angefügt werden. Er hat in der Akademie
siebenmal am Geburtstage Friedrich des Großen über diesen gesprochen,
im engen Anschluß an die einstige Predigt. Stets hat er dabei betont,
wie wichtig es ist, das Große der alten Zeit in der neuen zu bewahren.
Seine Forderung eines kleindeutschen Reiches barg selbst schon in sich
die Hegemonie eines starken preußischen Königstums, und das ist ledig-
lich eine Fortführung der friderizianischen Tradition. Hier stimmt
Schleiermacher mit v. d. Marwitz voll überein, der in dieser Betonung
des Preußentums sogar noch über Boyen hinausgeht. So lebte der alte
Staat auch in dem Wirken Schleiermachers fort, wie das allgemein
unsere neuesten Historiker anerkannt haben. „Die Bewegungen des
neuen Jahrhunderts, liberale Gedanken, soziale Mächte sind durch die
Reform unabweisbar in das alte Preußen eingeflutet; sie haben dies
Jahrhundert mit ihrer Wirkung durchdrungen; weggeschwemmt haben
sie das Alte nicht" (Erich Marcks).i Die „Erbschaft Friedrich des
Großen" blieb in dem preußischen Machtgefühl lebendig. Auch hier
steht Schleiermacher mit seinem Wirken mitten in dem edelsten Streben
der Nation.
1 Bismarck. 1909. I. Bd., 34.
VI*
LXXXIV Einleitung.
Kirchliche Kämpfe.
Voll bitteren Gefühles beobachtete auch Schleiermacher die geringen
Erfolge des Befreiungskampfes; Unendliches war geopfert und wenig er-
reicht. „Es ist im Buche des Schicksals geschrieben, daß Preußen
große Prüfungen bestehen soll," schrieb Gneisenau an ihn aus Paris. ^
Im Sommer 1815 las Schleiermacher theologische Moral und Ge-
schichte der alten Philosophie, bearbeitete einige Akademieabhandlungen
und eine Neuauflage vom ersten Band seines Piaton, und las „zum Behuf
einer künftigen Rhetorik'' den Dionysius von Halikarnaß. Während um
ihn her sich die Ruhe der halkyonischen Tage, die Erschlaffung nach der
höchsten Erregung, einstellte, sollte er keine Ruhe mehr finden. Körper-
Hch quälte ihn ein Magenleiden und seelisch bedrückte ihn die allge-
meine Lage schmerzlich, dazu wurde er noch in persönliche Kämpfe
verstrickt. „Der ganze faule Sumpf bleibt stehen in Staat und Kirche
unverrückt, und ein Termin nach dem andern verstreicht" (5. Aug. 1816).-
Die Saat, welche die Reform einst mit heißem Bemühen gestreut, trug
wenig Ernte — der große Anlauf war fast umsonst gewesen.
Schleiermacher selbst arbeitete unentwegt an seiner Ethik weiter, neben
den Kollegien, aber er verlor schließlich die Lust zu ihr, da er immer
wieder durch äußere Kämpfe gestört wurde. ^ Die Streitigkeiten über
Liturgie, Kirchenverfassung, Agende, Union durchziehen die letzten Jahr-
zehnte von Schleiermachers Leben fast ununterbrochen. Wir können sie
nur ganz kurz skizzieren.
Am 17. September 1814 hatte der König die „liturgische Kommission"
eingesetzt, zu der weder Schleiermacher noch ein anderer Akademiker
gewählt worden waren. An die Mitglieder richtete Schleiermacher ein
anonymes „Glückwunsschreiben" (S. W. 1, 5), in dem er (mit Bei-
stimmung weiter Kreise) scharf das Vorgehen der Regierung tadelte
und seine eigenen Anschauungen entwickelte. Er kämpfte darin vor
allem für die Freiheit des Gottesdienstes: dieser muß sich umgestalten
und entwickeln können, entsprechend dem Fortschritt des religiösen
Geistes; ihn unter den Buchstaben zu bannen, widerspricht dem Wesen
der Religion. Dafür sei vor allem eine neue lebendige Kirchenverfassung
nötig. Wie er diese sich dachte, hatte er schon im Januar 1813 klar
gelegt. Damals war wenigstens von Nicolovius ein Entwurf von Gaß
auf dessen Bitte an Schleiermacher als Mitglied der Sektion für öffent-
lichen Unterricht gegangen und Schleiermacher hatte den Entwurf einer
1 Br. IV, 211. 2 IV, 212. s IV, 217-
Einleitung. LXXXV
Synodalordnung eingesandt. ^ Am 30. April 1815 wurden die Konsistorien,
die 1808 abgeschafft waren, auf Vorschlag der Kommission wieder ein-
geführt. Damit war aber nichts Neues gewonnen. Durch den Erlaß vom
2. Januar 1817 begann eine Machtverschiebung zugunsten der Superinten-
dentur^: es sollten Kreissynoden aus den Geistlichen jedes Kreises
gebildet werden, denen die Superintendenten präsidierten; aus diesen
setzt sich die Generalsynode zusammen. So wurde — gerade gegen
Schleiermachers Ansicht — die Gemeinde von der Leitung ziemlich
ausgeschlossen. In ihr aber liegt das fortschrittliche, lebensvolle Element
gegenüber dem oft erstarrten Priesterwesen. Die Grundabsicht Schleier-
machers war stets in diesen Kämpfen, die liberalen politischen Tendenzen
der Reformer auch auf die Ordnung der Kirchenverfassung zu über-
tragen. In seiner Schrift „über die für die protestantische Kirche des
preußischen Staates einzurichtende Synodalverfassung" sagte er zunächst
der Regierung Dank für ihren neuen Schritt — aber dieser Dank lief
schließlich wieder in Mißbilligung aus. Doch nahm die Angelegenheit
unvorhergesehen eine günstigere Wendung, als Schleiermacher am 4. Juni
181Q der Provinzialsynode in Berlin beiwohnte: durch sein Eintreten gelang
es, eine Mitwirkung der Gemeinde in der Kirchenleitung zu sichern.
Vor allem wurde beschlossen, neben den Geistlichen dieselbe Zahl
weltlicher Mitglieder in die Synode zu wählen, die Konsistorien sollten
durch freigewählte Ausschüsse aus den Synoden ersetzt werden und
ein Ausschuß aus der Generalsynode sollte die oberste Kirchenleitung
übernehmen. Das war ein schöner Erfolg — leider war auch er um-
sonst: die 1819 einsetzende Reaktion begrub alles in den Akten.
Inzwischen hatte sich die Liturgie-Frage zugespitzt. Die liturgische
Kommission hatte im Juni 1815 eine neue Liturgie und Agende ausgear-
arbeitet, die der König mit Randbemerkungen versah. Im Herbst erschien
vom Könige selbst eine Liturgie. Diese dilettantische, unhistorische Li-
turgie wurde das schwerste Hindernis der Union. ^ Sie wurde zuerst an
den Militärkirchen von Potsdam und Berlin, dann in allen Militärkirchen
durch königliches Dekret eingeführt. Schleiermacher konnte dazu nicht
schweigen — unter seinem Namen erschien die Schrift „über die neue
Liturgie" usw. Er griff darin die Art der Einführung unter Umgehung
1 Dilthey, Artikel „Schleiermacher" in „Allgem. deutsche Biographie".
^ Foerster, a. a. O. 263.
^ Joh. Bauer: Des Staatsministers Grafen A. Dohna Stellung zu Union
und Agende 1817—1827, (Schriften der Synodalkommission für ostpreussische
Kirchengeschichte 8) Königsberg 1910. S. 29.
LXXXVI Einleitung.
der konstitutionellen Kirchenorgane an, ferner die Verdrängung der lebens-
vollen Elemente des Gottesdienstes, der Predigt und des Gemeindege-
sanges, zugunsten starrer Formeln. Was Schleiermacher mit diesen An-
griffen wagte, ist unmittelbar klar: er allein sagte ein offenes Wort,
trotzdem seine Stellung an sich schon exponiert war.
Seine Lage wurde noch gefährlicher, als er durch eine Vorstellung
beim Minister und durch seine Widmung des „kritischen Versuches
über die Schriften des Lukas" an seinen Kollegen de Wette seine offene
Sympathie für diesen, von der Regierung angefeindeten. Gelehrten aus-
sprach, trotzdem er selbst in seinem Rektoratsjahr 1816 mit de Wette
wegen der Berufung Hegels in Streit verwickelt und auch sonst mit
ihm selten in Harmonie gewesen war. Wie gefährlich sein Eintreten
für den bedrängten Kollegen war, geht daraus hervor, daß dieser im
Dezember 1819 verhaftet wurde. „Ich fühle mich in meiner Universitäts-
tätigkeit wirklich wie auf einer Seite gelähmt," schrieb Schleiermacher
bei dieser „greulichsten Geschichte" an Arndt. ^ Mit Hegel geriet er
auf einer Gesellschaft in persönlichen Streit über dieses Ereignis. -
Bei einem anderen kirchlichen Vorgang von größter Bedeutung war
indessen Schleiermacher mit seinen König zum guten Teil einverstanden:
bei der Unionsstiftung. Getreu den Traditionen des Hohenzollernhauses
war es das ehrliche Bemühen Friedrich Wilhelms III., die konfessionelle
Spaltung im Protestantismus zu beseitigen. Da ein Widerstand der
Gemeinden kaum zu befürchten war, erklärte der König am 27. Sep-
tember 1817, daß er gemeinsam mit den Lutheranern das Abendmahl ein-
nehmen wolle. Am 1. Oktober nahm eine Versammlung der Berliner
Geistlichkeit unter Schleiermachers Vorsitz einen Antrag Hansteins, der
nach derselben Seite zielte, an. Am 300-Jahr-Feste der Reformation
versammelten sich 63 Geistliche, alle theologischen Doktoren und Pro-
fessoren und viele Beamte in der Nikolaikirche, um ein gemeinsames
Abendmahl zu feiern; Bruderkuß und Händedruck wurden gewechselt.
Schleiermacher war auch hierbei die eigentliche Seele der Bewegung:
er war mit großer Stimmenmehrheit zum Präsidenten der allgemeinen
Kreissynode gewählt worden, zu seiner eigenen Überraschung. Er verfaßte
auch die „Erklärung" an die lutherischen Gemeinden und an die gesamte
protestantische Kirche und betonte darin wieder, daß dogmatische Unter-
schiede die Kirchengemeinschaft nicht hindern sollten.
1 Notgedrungener Bericht aus meinem Leben. 2. Teil. 1847-
= Lenz II, 1, 97.
Einleitung. LXXXVII
Das Wartburgfest zeitigte schlimme Folgen. Die große, schöne Tat
des Königs wurde durch die weiteren Maßnahmen der Regierung illu-
sorisch gemacht: es herrschte völlige Unklarheit über die Art der Unions-
einführung, später versuchte man, durch Befehl und Zwang die Union
einzuführen, ohne die freie Bestimmung der Gemeinden abzu-
warten. Zwar breitete sich die Union allmählich weiter aus: in
Nassau wurde sie 1817 eingeführt, in Rheinbayern 1818, in Baden
1821, in Reinhessen 1822 ;i doch regte sich scharfer Widerstand,
und zwar zunächst in den 95 Thesen des Archidiakonus Claus Harms
in Kiel. Da heißt es recht drastisch: „Die Vernunft geht rasen in der
lutherischen Kirche: reißt Christum vom Altar, schmeißt Gottes Wort
von der Kanzel, wirft Kot ins Taufwasser, mischt allerlei Leute beim
Gevatterstand, zischt die Priester aus und alles Volk ihnen nach, und hat
das schon so lange getan. Noch bindet man sie nicht? (71.) Als eine
arme Magd möchte man die lutherische Kirche jetzt durch eine Kopu-
lation reich machen. Vollzieht den Akt ja nicht über Luthers Gebein!
Es wird lebendig davon und dann — wehe euch" (75). Diesen übrigens
ehrlich gemeinten Grobheiten beizupflichten, fühlte sich ein Mann be-
rufen, der bisher sich als liberal und unionsfreundlich aufgespielt hatte:
der Oberhofprediger Ammon in Dresden. Gegen ihn und damit auch
zu seinem Bedauern gegen den wackern Harms mußte Schleiermacher
zum Schutze der Union eine Streitschrift verfassen, die wieder ein
Meisterstück in spitziger Kritik ist. Der doppelzüngige Herr Oberhof-
prediger vermochte mit seinen schwächlichen Entgegnungen nichts aus-
zurichten. Doch von allen Seiten rührten sich nun wieder die Reaktionäre,
so daß Schleiermacher im Reformationsalmanach 1819 „über den eigen-
tümlichen Wert und das bindende Ansehen symbolischer Bücher" schreiben
mußte. Hier kämpfte er gegen die neu aufschießende Orthodoxie für
die unbedingte Freiheit der Bibelforschung gegenüber einer dogmatischen
Beschränkung und drang zu einem verinnerlichten Begriff der Kirche
vor. „Gebt unsern Gemeinden eine öffentliche Stimme . . ., daß
die Gesamtheit sich frei äußern möge, wo ihr frommer Sinn befriedigt und
wo er verletzt wird in Wort und Tat." So finden wir Schleiermacher
fortgesetzt im Kampfe: langsam nur ging die Union in Berlin und Um-
gegend vorwärts. Polizeilichen Druck suchte er als Präsident der Synode
fernzuhalten, und machte sich viel Mühe mit der Untersuchung der
Ursachen zur Unionsverweigerung.
1 Kahnis, Der innere Gang des deutschen Protestantismus. 3- Aufl.
Leipzig 1874, und Hering, Geschichte der kirchlichen Unionsversuche. 1836.
LXXXVIII Einleitung.
In solchen von Hoffnung nur wenig durchsonnten Zeiten bedeutete
ihm das Zurückziehen in seine stille HäusHchkeit das einzige Glück.
Drei Mädchen hatte seine Gattin ihm geschenkt, Schwester Nanny hatte
sich 1817 mit Arndt verheiratet. Dazwischen machte Schleiermacher zur
Erholung im Sommer 1816 eine Ttägige Fußtour durch den Thüringer
Wald, im Herbst 1818 reiste er mit Reimer und einem Offizier nach
Tirol und Salzburg und erfreute sich in Bayreuth an einem Besuch bei
Jean Paul.
Politische Verdächtigung.
Die Gründung der Burschenschaften, das Wartburgfest, Jahns Turn-
plätze: das alles hatte schon seit längerer Zeit den Verdacht der Regie-
rungen erweckt. Metternich, der kühle Dämon seiner Zeit, hatte auf dem
Aachener Kongreß dem preußischen Könige alle Verfassungspläne aus-
geredet. Da brachte die wahnsinnige Mordtat Sands den Zündstoff zur
Explosion. Eine nervöse Angst vor Revolutionen bemächtigte sich
weitester Kreise, selbst Männer wie Hegel, Solger und Gneisenau glaubten
an eine bevorstehende europäische Revolution. Der tote Kotzebue „spukt
und tobt ganz gewaltig herum, und wenn sich ein paar Leute zanken,
hat er sie gehetzt", schrieb damals Schleiermacher. Er wunderte sich,
daß er vorläufig noch ungeschoren blieb (Brief vom 30. Sept. 1819
an August Twesten^). Gegen das Turnen ging man zuerst vor —
ohne daß die Jugend sich darüber übermäßig ereiferte. „Es ist mir schon
betrübt zu sehen, mit welcher Leichtigkeit die Knaben den Verlust des
Turnplatzes ertragen. Anfangs zwar wollten Göschens Otto und Ehren-
fried [der Stiefsohn Schleiermachers] den König zur Rede stellen und
waren wirklich schon bis auf die Rampe gekommen, wo die Schildwache
sie zurückwies; nun aber haben sie sich gefunden, als wäre nichts." ^
Mit seiner Sympathie für das Turnwesen setzte sich Schleiermacher in
scharfen Gegensatz zu dem zweiten Freunde aus den romantischen Tagen,
zu Steffens in Breslau. Dieser hatte 1818 in seiner Schrift „Das Turnspiel"
und 1819 in seinen „Karikaturen des Heiligsten" das Turnen scharf
verurteilt. 3 So gingen die Freunde auseinander — Fr. Schlegel war
katholisch geworden, Steffens jetzt ein Reaktionär und Lutheraner.
* D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen von C. F. Heinrici.
Berlin 1889- S. 352.
"^ An Arndt, 17- Mai 1819, Notgedrungener Bericht.
3 Richard Petersen, Henrik Steffens. Gotha 18S4.
Einleitung. LXXXIX
Die Zeiten wurden schlimmer. Bei Reimer und Arndt fanden Haus-
suchungen statt, de Wette, der an Sands Mutter einen Trostbrief ge-
schrieben, wurde entlassen. ^ Der König drohte allen Professoren mit
Absetzung, die für Jahn ein günstiges Zeugnis abgelegt hatten; Schleier-
macher nannte sich selbst in einem Schreiben an den Staatskanzler als
Ratgeber und Autor bei dieser Sache. „Die gute Folge, die ich erwarte,
ist die, daß das Interesse an der Konstitution dadurch weit allgemeiner ver-
breitet werden wird als bei uns bisher der Fall war" (an Twesten).
Unter Metternichs Einfluß wurde seit den Karlsbader Beschlüssen die
preußische Regierung immer reaktionärer, trotzdem neben Hardenberg
W. V. Humbold ins Ministerium berufen wurde. Da dieser aber dem
Staatskanzler feindlich gegenüberstand, wurde dadurch nichts gebessert. 2
Schleiermacher war selbst auf Haussuchungen, gar auf Arrest gefaßt,
bewahrte aber vollständige Ruhe und Entschlossenheit.
Am 21. März 1820 schrieb er an Arndt: „Seit länger als 14 Tagen
ist wieder die ganze Stadt voll davon, daß ich abgesetzt sei oder werden
solle. Das Faktum, das dabei zum Grunde liegt, ist einmal, daß der
Staatskanzler sich die Akten der Fakultät, de Wettes Entlassung betreffend,
hat geben lassen, und dann, daß Schulz sehr darauf inquiriert hat,
was für Gesundheiten ich am 9. Februar, wo die Studenten das Bewaff-
nungsfest feierten, ausgebracht habe." Und am 20. Juni: „Unser
munteres Studentenvolk, welches sich Gott sei Dank durch alle Plackereien
nicht knicken läßt, hat den 18. in Treptow gefeiert, und ich bin auf
die Gefahr, daß wieder ein paar verhaftet und über meine ausgebrachten
Gesundheiten inquiriert werden möchten, mitten unter ihnen gewesen;
denn es tut wohl jetzt mehr als jemals not, sich durch das Leben
mit der Jugend zu erquicken." Unentwegt ging Schleiermacher seine
Bahn fort. Seit 1819 arbeitete er an dem theologischen Hauptwerk,
der Glaubenslehre, daneben an neuen Auflagen von Reden, Monologen
und Predigtsammlung. So wirkte die drohende Gefahr nicht lähmend
auf ihü, sondern spornte ihn zu höchster Anspannung aller Kräfte.
Am 12. April verfügte, geradezu gegen Schleiermacher gemünzt, der
König, daß die Entscheidung über angeklagte Geistliche allein in der
Hand des Ministers liegen solle. Schleiermacher erwartete seinen Namen
obenan auf der Proskriptionsliste zu sehen. Im August bat er um Urlaub
für eine Reise nach Tirol — trotzdem es Ferienzeit war, wurde dieser
verweigert; ja, selbst eine kleinere Reise im Inland ward nicht gestattet.
^ de Wettes Aktensammlung über seine Entlassung. Leipzig 1820.
* Flathe, Zeitalter der Restauration und Revolution. Berlin 1883. S. 66.
XC Einleitung.
Erst nach einem Gesuch beim König und beim Staatskanzler erhielt er
die Erlaubnis zu einer 4wöchigen Reise, wie er glaubte nur, um sich
für die bevorstehenden Leiden kräftigen zu können. Trotz dieser An-
feindungen hielt Schleiermacher am 17. November 1822, dem 22jäh-
rigen Regierungsjubiläum Fr. Wilhelms III., eine Predigt, in der er
mit herzlicher Wärme seine Vaterlandsliebe und Königstreue an den
Tag legte. In sittlicher Größe und Selbständigkeit behauptete sich
diese wahrhaft männliche Natur, trotz „der bitteren Feindschaft aller
derer, die am meisten gelten". Zu diesen Feinden hatte sich auch
Hegel gesellt, der es sich gefallen lassen mußte, als Philosoph der
Reaktion ausgerufen zu werden. Er war in jeder Beziehung der
Gegensatz zu Schleiermacher: — ihm war die Selbstentwicklung
des absoluten Geistes alles, während Schleiermacher von der Persön-
lichkeit ausging, er war Intellektualist, während Schleiermacher das
Gefühl als Lebensmacht hervorhob. Das hätte einen so bedeutenden
Mann aber nicht dazu bewegen dürfen, dem angegriffenen Kollegen in
den Rücken zu fallen, wie er es 1822 in der Vorrede zu Hinrichs
„Religionsphilosophie" tat. „Gründet sich die Religion im Menschen
nur auf ein Gefühl," lesen wir da, „so hat solches richtig keine
weitere Bestimmung, als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu sein, und
so wäre der Hund der beste Christ, denn er trägt dieses am stärksten
in sich und lebt vornehmlich in diesem Gefühle. Auch Erlösungsgefühle
hat der Hund, wenn seinem Hunger durch einen Knochen Befriedigung
wird." Daß auch die hegelisierenden Theologen über Schleiermacher her-
fielen, versteht sich. Später widersetzte sich Hegel auch der Aufnahme
Schleiermachers als Mitarbeiter an den seit 1827 erscheinenden „Jahr-
büchern für wissenschaftliche Kritik". ^ So stand Schleiermacher im Kampf
nach allen Fronten. Die Kirchenverfassungssache ging nicht vom Fleck:
keine Gemeindesynode kam zustande. Man wollte eben keine repräsen-
tative Verfassung, auch nicht auf kirchlichem Gebiete.
Als Krönung all dieser Widerwärtigkeiten schien das Schlimmste
zu drohen: im Januar 1823 wurde Schleiermacher dreimal auf das Polizei-
präsidium geladen, um über Briefe, die man bei Arndt und Reimer ge-
funden, sich zu verantworten. Schleiermacher verteidigte sich ruhig, sachge-
mäß. Er gab nur in einem Punkte eine Schuld zu: er hatte, allerdings
in vertrautesten Briefen nur, nicht immer respektvoll genug von der
Person des Königs gesprochen. Man entließ ihn, und die Untersuchung
wurde durch Altenstein so verzögert, daß es endlich nicht zur Absen-
^ L. Geiger, Berlin. II, 612. Berlin 1895-
Einleitung. XCI
düng des Antrages auf Entlassung Schleiermachers kam.i Als Kamptz
1824 Unterrichtsminister wurde und die Unterdrückung der Universitäten
von Neuem begann, da fürchteten die Freunde wieder für Schleiermacher.
„Kampt/. weiß zu gut, wie Schleiermacher ihn verachtet, und er hat
jetzt die Gewalt in Händen, und ein solches Bewußtsein verzeiht man dem,
der es in uns veranlaßt, gewiß nicht" (Frau Prof. Horkel an Twesten,
1. Juni 1824). 1828 gab es noch einmal einen bösen Zwist mit Altenstein
über das Fernbleiben Schleiermachers von Sitzungen und Prüfungen;
Schleiermacher wollte seine Entlassung nachsuchen. Das Unrecht liegt
hierbei nicht ganz auf Seiten des Ministers: Schleiermacher ging in
seinem Kampfesmut wohl etwas zu weit. ^
Letzte Kämpfe und Jahre.
Weihnachten 1821 war eine neue, vom Könige entworfene Agende
erschienen, man hatte die Absicht, sie bald durch Kabinettsordres in der
ganzen Landeskirche einzuführen. Der kleinste Teil der Geistlichen nur
stimmte der Neuerung zunächst bei, die dahin zielte, die alte lutherische
Messe einzuführen, wie sie der König seit 1820 in der Kirchenordnung
seiner Vorfahren kennen gelernt hatte; aber da die Regierung mit allen
Mitteln für die Annahme wirkte, der König drohte, Prof. Augusti das
Recht des Königs, eine neue Liturgie zu befehlen, verteidigte, ergab
eine erneute Umfrage 1824, daß von 1311 Kirchen der Provinz nur
175 sich zurückhielten. 3 Allgemein war ein Einlenken in die „Recht-
gläubigkeit" zu bemerken. Da hielt Schleiermacher nicht länger zurück,
sondern veröffentlichte die Schrift: „Über das liturgische Recht evan-
gelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sin-
cerus". Es handelte sich für ihn darum, die Freiheit der protestantischen
Kirche gegen ein persönliches Regiment zu schützen. Mit schneidiger
Kritik zeigt Schleiermacher hier, daß das liturgische Recht lediglich der
Kirche gehört; damit trat er nicht nur Eylert, Augusti und den Hof-
theologen entgegen, sondern auch dem Könige selbst. Dieser urteilte
trotzdem (nach Eylerts Mitteilung)* zuerst günstig über die Schrift:
„Ich habe sie mit Vergnügen gelesen," denn er hatte ein ehrliches
Wollen zum Besten der Kirche — aber seine Berater wußten ihm
1 Lenz II, 1, 175- - Lenz a. a. O. 359 f- ^ Foerster, II, 116.
* Charakterzüge III, 1, 362. Foerster bezweifelt diese Notiz ohne nähere
Begründung II, 132.
XCII Einleitung.
dieses Streben nach Freiheit als revolutionär darzustellen — und so
blieb Schleiermachers Schrift ein nur moralischer Sieg.
Hegel fuhr inzwischen fort, in seinem Kolleg über die Unwissenheit
Schleiermachers von Gott zu schimpfen — der Angegriffene nahm kaum
Notiz davon. 1 Dem Meister folgte der Schüler: Marheineke, Schleier-
machers Kollege an der Dreifaltigkeitskirche, griff den Pacificus an,
wohl wissend, wer sich dahinter verbarg. Er verdächtigte Schleier-
machers Tendenzen und verteidigte die absolute Fürstengewalt in Sachen
der Kirche. Ihm trat in einer zweiten Schrift Augusti an die Seite,
dem dann noch Ammon auf königlichen Wunsch beisprang. Als das
Ministerium dann am 4. Juli 1825 befahl, daß alle Gemeinden sich ent-
weder zur neuen Agende bekennen, oder die alte in strenger Form, ohne
jede Abweichung benutzen sollten, da mußte Schleiermacher auch als
Prediger Stellung nehmen, vor allem, da er noch persönlich zur Äuße-
rung aufgefordert worden war. Ihm schlössen sich noch 11 Berliner
Geistliche zu einer „Vorstellung" bei dem Minister Altenstein an, in
der sie gegen die Willkür protestierten. Am 1. März 1826 wurde eine
zweite von Schleiermacher verfaßte Eingabe gemacht, direkt an den König,
der sie sehr ungnädig abwies. Umsonst! Auf weitere Zwangsverfügungen
wagten die 12 eine neue Gegenvorstellung vom 27. Juni (ebenfalls von
Schleiermacher) bei Altenstein. Da erschien noch Schleiermachers letzte
Schrift in diesem unerquicklichen Streit: das „Gespräch zweier selbst-
überlegender Christen über die Schrift: Luther inbezug auf die neue
preußische Agende". Letztere Schrift rührte zum guten Teil von Friedrich
Wilhelm III. selbst her — trotzdem wagte Schleiermacher, ungeachtet
seiner gefährlichen Lage, nochmals ein Wort. Er zeigte kurz und schla-
gend, wie wenig die geübte Wilkür und die rückschrittliche Tendenz
im Sinne Luthers wären. Er forderte hier, wie schon immer: eine Er-
neuerung der Kirche durch die Entwicklung einer freien Kirchenver-
fassung.- Inzwischen sah die Regierung ein, daß es unzweckmäßig sei,
weitere Gewalt gegen die 12 anzuwenden, zumal der Magistrat und
der Kronprinz auf ihrer Seite standen; man lenkte ein. Ein scharfer
Verweis wurde ihnen erteilt, gegen den Schleiermacher protestierte. Dann
gab die Regierung zu (Kabinettsordre 4. 1. 1829), daß für jede Provinz
gewisse Abweichungen gestattet werden sollten, Schleiermacher sicherte
sich noch besondere Freiheit durch eine Erklärung an den Minister —
und dann gaben die 12 ihren Widerstand auf. Schleiermacher hatte
innerlich seine Stellung bewahrt, wenn er auch äußerlich nachgeben
1 Br. IV, 309. ^ Foerster, II, 157-
Einleitung. XCIII
mußte. Er erlebte die Genugtuung, daß die Regierung, auf Wunsch des
Kronprinzen, seine Hilfe erbat, als in Schlesien Scheibel seine Sekte
gründete. Damals erhielt Schleiermacher den roten Adlerorden III. Klasse
(1831) — die erste Auszeichnung seines Lebens. „Es erfolgten Ein-
ladungen von Prinzen, die früher nie daran gedacht hatten, und er
war mit einem Male ein populärer Mann auch in den höchsten Regionen
geworden. (E. v. Willich.) ^
Inzwischen war das Werk erschienen, welches das Grundbuch der
modernen Theologie zu werden bestimmt war: die Glaubenslehre.-
Schleiermacher hatte sie geschrieben, um der Zerfahrenheit der eigenen
Zeit entgegen zu wirken; den meisten Zeitgenossen aber blieb sie
unverständHch. Im Sommer 1822 erschien der 2. Band — Rationalisten
und Supranaturalisten fielen gleich grimmig darüber her. Auch die Führer
der beginnenden neuen Schule, F. Chr. Baur und später D. Fr. Strauß,
ebenso Braniß und Fries mit seiner Schule erklärten sich gegen Schleier-
machers Dogmatik;3 und heute finden wir z. B. bei Pfleiderer eine
starke Kritik der Glaubenslehre. Der Grund für diese Ablehnung ist
wohl in der Schwierigkeit zu suchen, das Problem des Verhältnisses von
Christentum und Wissenschaft klar zu durchschauen, wie es sich bei
Schleiermacher herausgebildet hatte. Strauß hatte schon die richtige
Bemerkung gemacht, daß Schleiermacher in der Glaubenslehre nie aus der
Rolle fällt, sondern wirklich alle Sätze aus dem Abhängigkeitsgefühl
herauspinnt. * Trotzdem hält er das nur für einen nachträglichen Ausputz
der ursprünglich philosophisch gewonnenen Anschauungen, für eine „Kutte
des religiösen Gefühles", die den philosophischen Truppen umgeworfen
wurde. Tatsächlich hat Schleiermacher schon in der Kritik von Schel-
lings Vorlesungen über die Methode sich von einer spekulativen Be-
gründung des Christentums losgesagt. Für ihn begründet lediglich der
Glaube an Christum als den Erlöser die Christlichkeit (§ 14). Damit
weist er Beweise aus dem Buchstaben der Bibel ab, ebenso Spekulation,
^ „Aus Schleiermachers Hause". Jugenderinnerungen seines Stiefsohnes.
Berlin 1909- S. 141.
"^ Vgl. „Die Leitsätze der ersten und zweiten Auflage von Schleiermachers
Glaubenslehre", nebeneinander gestellt von M. Rade. 1904.
^ H. Mulert, Die Aufnahme der Glaubenslehre Schleiermachers. Zeitschr.
f. Theol. u. Kirche 1908.
^ Charakteristiken und Kritiken. 1839- S. I63
XCIV Einleitung.
Geschichtsphilosophie und Scholastik. ^ „Der prinzipielle Verzicht auf
die spekulative Methode ist die grundlegende Tat der Schleiermacher-
schen Theologie" (Scholz). Und doch war die Philosophie für Schleier-
rnacher von unendlichem Wert, sie erst schuf ihm die Vertiefung aller Er-
kenntnis. Mußte deshalb ein Dualismus zwischen Kopf und Herz be-
stehen, wie Jacobi es wollte? Für Schleiermacher persönlich lag darin
kein Problem, denn seine ganze Entwicklung bestand in einem immer
innigeren Verschmelzen von Philosophie und Religion. So hat er denn
auch stets ausgesprochen, daß in demselben Subjekt Glaube und Philo-
sophie geeint sein können.- Er wollte einen ewigen Vertrag zwischen
Wissenschaft und Religion stiften. Die Grundlage und der Mittelpunkt
seines Philosophierens ist ein lebendiger Gottesbegriff; auf ihm basiert
die Dialektik ebenso wie die Ethik. Wissen können wir von Gott
selbst nichts — in der Glaubenslehre wie in der Dialektik tritt seine
Unpersönlichkeit klar hervor. Gott ist das „Woher" des Abhängigkeits-
gefühles 3, er ist die erahnte, von uns unerreichbare Identität von Realem
und Idealem. Jedenfalls ist dieser durch platonische und schellingsche
Gedanken belebte Spinozismus für eine Annäherung an das Christentum
besonders geeignet, wenn man auch nicht — wie Scholz das will —
von einem direkt „christlichen Gepräge seiner Philosophie" reden kann.
Die pantheistische Fassung der Gegenwart Gottes in der Welt bleibt
auch in der Glaubenslehre bestehen. Da nun die Philosophie so viel
Einfluß auf die Grundlagen des religiösen Weltbildes hat, muß natür-
lich vieles, was allgemein noch zum Wesen des Christentums gerechnet
wird, fortfallen. Über alle Äußerlichkeiten erhebt sich Schleiermachers
Religion durch ihren philosophischen Gehalt. Und so gelingt es ihm, die
Religion in streng wissenschaftlicher Form zu begründen, ohne doch
sie durch die Wahrheit der philosophischen Sätze stützen zu wollen. Da in
seiner Persönlichkeit Christentum und Philosophie zur vollsten Harmonie
verschmolzen waren, da sein Hauptstreben dahin ging, werktätig seine
Ideen in das reale Leben einzubilden, konnte es ihm auch gelingen, in der
Theorie eine völlige Verschmelzung von Wissenschaft und Christen-
tum zu erreichen, ohne beide Mächte in ein Kausalverhältnis zu setzen.
Ob diese Verschmelzung über seine Persönlichkeit hinaus Bestand haben
kann, erscheint allerdings zweifelhaft — sie war jedenfalls zu individuell,
1 H. Scholz, Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubens-
lehre. Berlin 1909. S. 14.
* Zweites Sendschreiben an Lücke, S. W. I, 2, 649-
3 E. Zeller, Theologische Jahrbücher 1842, S. 267.
Einleitung. XCV
um die Bildung einer „Schleiermacher-Schuie*' zu ermöglichen. ^ Für
ihn war sie Wesensausdruck und nicht Konstruktion. Vom rein philo-
sophischen Standpunkt angesehen, hat natürlich seine Philosophie durch
die christlichen Interessen nicht gewonnen, es mußte durch diese abseits
liegende Tendenz eine gewisse Trübung in der konsequenten Gedanken-
bildung eintreten. Das harmoniert aber völlig mit Schleiermachers geistiger
Grundanlage, die weniger auf theoretische Gedankenentwicklung, als auf
Erkennen der Vergeistigungsmöglichkeiten der Einzeldinge gerichtet ist —
seine Ethik gipfelt in diesem Sinne in der Lehre vom höchsten Gut.
Die Glaubenslehre ist ein Werk im Geiste des Protestantismus,
der die volle Selbständigkeit der Vernunft auch in Sachen des Glaubens
anerkennt. Unchristlich aber ist sie in demselben Sinne, wie es nach
Schellings Urteil einst die Weihnachtsfeier gewesen war: denn auch
die Glaubenslehre enthält ein Christentum von geistig-aristokratischer
Färbung, sie gibt keine Religion der Armen im Geist. ^ Doch wird dieser
Johanneische Charakter wieder dadurch gemäßigt, daß Schleiermacher den
größten Nachdruck auf die lebendige Betätigung der Religion im Ge-
meindeleben legt. Eine sittlich-soziale Erneuerung der Menschheit durch
den christlichen Gemeingeist ist sein Ziel (Schenkel). Die Gemeinde
muß im Mittelpunkt des kirchlichen Lebens stehen, nicht der Klerus.
Alle Handlungen in der Kirche müssen als Handlungen der Gemeinde
aufgefaßt, nirgends, auch nicht beim Dienst am Wort und bei den
Sakramenten, darf der Klerus selbstherrlich der Gemeinde gegenüber-
treten. Und so werden denn die Schwierigkeiten, die sich aus der
Stellung der Person Jesu in der Glaubenslehre ergeben, aufgewogen durch
das neue Gemeindeprinzip ; der lebendige Christus ist der Geist der Gemeinde.
Schleiermachers Kirchenbegriff berührt sich „in einem Haupt-
punkt mit dem alten echten Kirchenbegriff, in der Anerkennung
der dem Individuum vorgeordneten zeugenden Kraft der Mitteilung,
der die eigene Tätigkeit erst anregenden Gnade, der alles umfassenden
historischen Gesamtmacht. Umgekehrt hat er doch auch Elemente des
Sektenbegriffes, die Lebendigkeit und Mittätigkeit der Individuen, die
Abzielung auf aktive Bewährung an Stelle bloß passiver Hingebung
an die kirchlichen Gnadenmittel*' (Troeltsch). 3
* A. E. Biedermann: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. Berlin 1885- S. 198.
^ Vgl. über den ästhetischen Einschlag der Glaubenslehre: Horst
Stephan: Die Lehre Schleiermachers von der Erlösung. 1901, S. I42ff.
^ Schleiermacher, der Philosoph des Glaubens. Sechs Aufsätze (Moderne
Philosophie, Bd. 6). 191O. S. 31.
XCVI Einleitung.
In seinen beiden Sendschreiben an Dr. Lücke 1829 suchte er bei
Gelegenheit der 2. Auflage der Glaubenslehre die Grundlagen seiner
Dogmatik nochmals klar zu machen, nachdem 1819 eine mit de Wette
gegründete Zeitschrift, die denselben Zweck verfolgte, nach dessen
Entlassung nicht weiter geführt worden war. Gleichzeitig war die Arbeit
der Gesangbuchkommission abgeschlossen, an der Schleiermacher wenig
Freude gehabt hatte. Trotz der Proteste in Hengstenbergs „evangelischer
Kirchenzeitung" und einiger Abneigung des Königs wurde das neue Ge-
sangbuch in fast allen Kirchen Berlins eingeführt. Weitere Kämpfe
brachte ihm noch die Bekenntnisfrage: auch hier wollte man etwas
„Neues" — tatsächlich nur den Rückgang zum Ältesten. In einem Send-
schreiben an die Theologen Colin und Schulz und in seinen Predigten
über die confessio Augustana stritt Schleiermacher für die unbedingte
Freiheit von jedem Buchstabenzwang.
Eine lange Reihe von Jahren haben Schleiermacher diese Streitig-
keiten gekostet — sehr viel wertvolle Zeit ging ihm durch sie für seine
Arbeiten verloren. Manchmal hat er das selbst schmerzlich empfunden,
meist aber wußte er genau, daß seine Mühen nicht verloren wären. „Für
Schleiermacher war immer Leben mehr als Forschen und Denken"
(Dilthey). Den größten Teil seiner wissenschaftlichen Aufzeichnungen
konnte er nicht selbst für den Druck fertig gestalten; dafür hat er für die
Freiheit des Kirchenwesens mit aller Kraft aus reinster Gesinnung gestritten.
Trotz aller Verketzerungen war sein Ansehen als Kanzelredner und
akademischer Lehrer immer nur gestiegen. Seine Predigten wurden
von der geistigen Elite besucht, und trotzdem bezeugten auch einfache
Männer, daß sie Schleiermacher völlig verstehen könnten. Doch war
es sein eigentlicher Beruf, den Gebildeten das Christentum zu
predigen. 1818 schon hatte er seine „Predigten über den christlichen
Hausstand" gehalten, die 1820 zuerst erschienen waren und 1826 neu
aufgelegt werden mußten (vgl. Bauers Einführung in Bd. III dieser
Ausgabe). In vernunftmäßiger Durchdringung wußte er das Eigen-
tümliche des Christentums auch in seinen Predigten festzuhalten;
alles diente ihm nur dazu, das christliche Bewußtsein mitzu-
teilen. „Hinreißend war die Schärfe des Gedankens, hinreißend
vorzüglich sein eignes, inneres Erregtsein, wenn nach ruhiger,
klarer Erklärung des Textes und Entwicklung des Stoffes nun die
rednerische Gewalt des bewegten Gemütes den Hörer nötigte, auf dem
vorher sorgfältig bestimmten Wege nun auch zu wandeln" (Schweizer) i.
^ Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger. Halle 1834. S. 95-
Einleitung. XCVII
Twesten, der Schleiermacher in diesen Jahren nahe stand, erzählt: „Sonn-
tag, den 22. [Juli 1827] machten wir uns früh auf, um in Schleiermachers
Kirche zu ziehen. Er predigte um neun. Als wir in die eine Kirchtüre
traten, war dort nicht durchzukommen. Wir arbeiteten uns durch die
Menschenmassen glücklich hinaus, da klopfte mich jemand auf die Schulter
und es war unser freundlicher Bleek, der uns in eine andere Tür,
Schleiermachers Stuhl näher, glücklich hineinlotste . . . Sein Auftreten,
seine Sprache, die Art, wie er seinen Gegenstand behandelt, ist un-
gemein schön und anziehend." ^ Durch seine Predigertätigkeit gewann
Schleiermacher einen großen Einfluß auf den Berliner Geist, ja, er
repräsentiert ihn geradezu in den 20iger Jahren. So berichtet uns z. B.
Adele Schopenhauer aus dem Juli 1820 von einer Predigt, die einen
inneren Erneuerungsprozeß in ihr angeregt habe. -
Auch als akademischer Lehrer hatte er einen großen Einfluß ! Im
Wintersemester 1824/25 hatte er 140 Zuhörer im ethischen Kolleg. Und
das in den Tagen der Erstarrung. Das tröstete ihn immer wieder,
wenn er sich von seinen Kollegen verlassen sah. Sein persönliches
Leben lief ruhig dahin, von kleinen Erholungsreisen unterbrochen, so
einmal nach Rügen, wo seine Frau Saßnitz als Bad „entdeckte", indem
sie zum ersten Male dort in einem Fischerhause Sommeraufenthalt mit
den Kindern nahm. Das gute Verhältnis zwischen den Gatten wurde
seit 1819 etwa öfters dadurch gestört, daß Henriette unter den Einfluß
der somnambulen Frau Fischer, der Schwester ihres späteren Schwieger-
sohnes, Prof. Lommatzsch, geriet. Diese Frau hatte die größte Macht
auch innerlich über sie, und so ging die alte Einheit mit ihrem Gatten
verloren. Nur dessen grenzenlose Güte hat alle Reibungen immer wieder
überwunden (vgl. E. v. Willichs Erinnerungen, S. 42 ff).
Im Herbst 1828 reiste Schleiermacher nach England und predigte in
London am 21. September. Auch einen schweren Verlust brachten ihm diese
Jahre. Am 2. Februar 1820 war ihm sein einziger Sohn Nathanael geboren
worden, am 29. Oktober 1829 mußte er ihn von sich lassen — aufs schmerz-
lichste bewegt hielt er ihm selbst die Grabrede. Das war eine Wunde, die
nicht mehr heilte (an Bleek, 23. April 1830). Schon 1829 schrieb er an
Twesten: „Mein Gefühl sagt mir, daß ich nur noch eine kleine Anzahl
frischer Jahre vor mir habe, und da scheint es mir pflichtmäßiger, die
noch womöglich zum Schreiben zu verwenden, damit es noch eine
Ernte gebe und nicht mein ganzes Feld bloß als Grünfutter abgeschnitten
^ a. a. O. S. 402 f.
2 Tagebücher. II, 55- Leipzig 1909.
Schleiermacher, Werke. I. VII
XCVIII Einleitung.
werde." Zu furchtbar hatte der Tod des Kindes den Vater getroffen.
„Mir war es nun besonders, seit der Knabe angefangen, das Gymnasium
zu besuchen, ein eigener Beruf, ihn unter meine nähere Leitung zu
nehmen. Zuletzt hatte ich es mir eingerichtet, daß er in meiner Stube
arbeitete, und so kann ich sagen, es war keine Stunde, wo ich nicht
des Knaben gedacht und um ihn Sorge getragen hätte, so daß ich ihn
nun auch in jeder Stunde vermisse. Da ist nun nichts zu tun, als
sich zu fügen und seinen Schmerz zu verarbeiten" (an Gaß, 12. Nov. 1829).
In das Jahr 1830 fällt auch die Einsegnung des jungen Otto v. Bismarck
durch Schleiermacher, der ebenso wie sein Bruder den Konfirmations-
unterricht bei dem großen Prediger besuchte. ^ Schleiermacher wählte
für Bismarck einen Spruch, den dieser nicht vergessen hat, und der
voll und ganz zu seinem Wesen paßte: Alles, was ihr tut, das tut
von Herzen, als dem Herrn und nicht den Menschen, Kol. 3, 23. Von
der kritischen Gebotslehre und dem Gottesbegriff Schleiermachers ist
Bismarck wohl nicht unberührt geblieben; doch faßte er die Religion
rationalistisch auf. „Eine innerliche Macht hat die Wärme und Gemüts-
kraft des Neubegründers unserer Religiosität auf ihn nicht ausgeübt"
(Marcks). Seit dem Herbst 1830 hielt Schleiermacher ein längeres Unwohl-
sein von abendlicher Geselligkeit zurück, der Arzt verbot ihm auch, auf den
Kirchhöfen zu sprechen. 1831 mußte er noch einmal die Feder zur Abwehr
von Verdächtigungen ergreifen: das Journal „Messagen des Chambres"
hatte ihn als Führer der seit der Julirevolution in Berlin entstandenen
demokratischen Partei bezeichnet. Ernst und würdig wies Schleiermacher
das in einer Zuschrift an den „Staatsanzeiger" ab, ebenso wie das
Lob, das ihm die französische Zeitschrift erteilte. Im Herbst 1833
machte er seine letzte Reise; sie führte ihn nach Schweden und Däne-
mark. Er überstand die sehr stürmische Seefahrt und die anderen Stra-
pazen in voller Frische. In Kopenhagen fand ein großes Fest zu
seinen Ehren statt, mehrere Hundert Studenten versammelten sich
beim Scheine von Fackeln, Schleiermacher hielt verschiedene Ansprachen,
ein begeistertes, für ihn gedichtetes Huldigungslied wurde gesungen 2:
er fühlte sich von Verehrung und Liebe getragen, wie es ihm in solchem
Maße in seinem Vaterlande nie geschehen war!
Das war der glänzende Abschluß seiner Lebensbahn. In der Nacht
vom 6. zum 7. Februar 1834 brach eine heftige Lungenentzündung aus,
die am 12. Februar zum Tode führte, der ihm nicht unerwartet kam.
1 E. Marcks, Bismarck. S. 73 f.
2 Br. II, 475.
Einleitung. IC
Seine Gattin, die ihm 1840 ins Grab folgte, hat uns eine genaue Beschrei-
bung der letzten Tage gegeben. ^ „Seine Stimmung war während der
ganzen Krankheit klare, milde Ruhe, pünktlicher Gehorsam gegen jede
Anordnung, nie ein Laut der Klage oder Unzufriedenheit, immer gleich
freundlich und geduldig, wenngleich ernst und nach innen gezogen." Ein
merkwürdiges, symbolisches Wort ist uns erhalten: „Ich bin doch eigent-
lich in einem Zustand, der zwischen Bewußtsein und Bewußtlosigkeit
schwankt, aber in meinem Innern verlebe ich die göttlichsten Momente —
ich muß die tiefsten spekulativen Gedanken denken und die sind mir
völlig eins mit den innigsten religiösen Empfindungen." In voller Klar-
heit teilte er den Seinigen das Abendmahl aus und nahm es selbst, Wasser
statt Wein für sich benutzend. - „Nun kann ich auch nicht mehr hier aus-
halten." Er atmete einige Male auf; das Leben stand still. Unterdessen
waren alle Kinder hereingetreten und umgaben knieend das Bett. Sein
Auge schloß sich allmählich.
Seine Beisetzung hatte den „Charakter einer allgemeinen Volkstrauer".
Ranke erzählt uns davon: 20 — 30 000 Menschen erfüllten die Straßen,
alles ging zu Fuß. „Ich erinnere mich, welch einen Eindruck es auf mich
machte, als wir Schleiermacher begruben, und die ganze lange Straße
hinab an allen Fenstern, an allen Türen geweint ward."^ In der Uni-
versität hielt Steffens die Trauerrede und wies mit innerer Bewegung
auf die „Tiefe des Gemütes und die Reinheit der Gesinnungen" des Ver-
ewigten hin.*
Schleiermacher war ein ethisch-pädagogisches Genie. Tiefer als an-
dere Denker hat er durch seine Reformbestrebungen seine Zeit auf den
verschiedensten Gebieten beeinflußt und sie weitergebracht — er war
Philosoph in dem großen Sinne eines Mannes, der die Welt nicht auf dem
Punkte ruhen läßt, auf dem er sie angetroffen, sondern der in idealem
Streben sie dem selbstgeschaffenen Ideale näher führt. Sein Leben
wurde von Ideen geleitet, von Ideen, die er nicht aus dichtender Speku-
lation gewonnen, sondern die seinem forschenden Auge aus der Fülle
der Welterscheinungen selbst erwachsen waren. Schleiermacher ist kein
1 Br. II, 482 ff.
^ Schleiermachers letzte Predigt. Mit einer Einleitung neu herausgegeben
von Joh. Bauer, 19OS. S. 17.
=5 Sämtliche Werke 53—54. S. 311.
* „Drei Reden am Tage der Bestattung". Berlin 1834.
VII*
C Einleitung.
so konsequenter Theoretiker wie Fichte etwa; aber er ist ihm in dem
feinsinnigen Durchdringen des Erfahrungsinhalts mit dem verstehenden
Gedanken weit überlegen. So wird seine Philosophie auch weiter an-
regend wirken, denn in ihr sind Ideen von bleibendem Werte zur
Formulierung gekommen. Schleiermacher hat selbst unendlich viel dazu
getan, sein Ideal zu verwirkHchen: Idee und Wirklichkeit in
wahrer Humanität harmonisch zu einen. Nicht eine Schule
stiftete er, sondern ein Zeitalter (Begriff des großen Mannes, III, 3,83).
Er ist ein „großer Mann", denn er ist unersetzlich (J. Burckhardt). Aus
seinen Werken und Taten tritt uns seine reine, vollendete Menschlichkeit
strahlend entgegen: gemütv^olle Weichheit war bei ihm mit energischer
Männlichkeit gepaart und beides war zu einem harmonischen Innenleben
verschmolzen, das sich in der selbstlosen Hingabe an die höchsten
Zwecke darstellte. Schleiermachers größtes Werk ist sein eigenes Leben.
Bettina v. Arnim, die in den 30iger Jahren fast täglich in Schleier-
machers Hause verkehrte, urteilte über ihn: „Ob er der größte
Mann seiner Zeit sei, wisse sie nicht, aber der größte Mensch sei
er gewiß." Dieses reinmenschliche Wesen wird uns immer im Innersten
bewegen, wenn wir auch bei seinen Lehren nicht immer stehen bleiben
können.
Inhaltsanalyse
der „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre".
Rudolf Otto hat seine Neuausgabe der „Reden über die Religion"
mit einer Inhaltsanalyse, fortlaufend unter dem Text, versehen; die
„Grundlinien" bedürfen einer solchen Zergliederung in viel höherem
Maße. Ich ziehe es aber vor, sie vorauszuschicken, damit das Auge
nicht bei der Lektüre zu sehr gestört wird; denn gewiß ist diese
Hilfe für sehr viele überflüssig. Ich bitte, diese Analyse nur als eine
Art detaillierteren Inhaltsverzeichnisses anzusehen, nicht als einen zu-
sammenhängenden Aufsatz; nur neben dem Text selbst kann sie be-
nutzt werden, nicht allein!
Vorrede.
S. 5. (der vorliegenden Ausgabe, entsprechend S. 3 der S. W.)
Die Kritik verneint nicht die Möglichkeit der Ethik selbst, sondern
weist auf die Punkte hin, von denen die Verbesserung ausgehen kann.
S. 6 u. 7. Nur für die ist das Buch berechnet, die mit den'
kritisierten Gegenständen vertraut sind.
S. 8. Erklärung des Stiles der Schrift.
Einleitung.
S. 9. Die gewöhnlichen Arten der Kritik sind verfehlt.
S. 10. Hier soll eine Kritik der wissenschaftlichen Form aufgestellt
werden; dazu ist der Besitz eines schon als richtig anerkannten Systems
unnötig. Wohl aber muß die Gestalt dem Gehalt entsprechen.
S. 11 — 16. Dabei können nur solche Ethiker berücksichtigt werden,
deren Ansichten innerlich ein System bilden. Das Vorhandensein be-
stimmter Begriffe (Freiheit) kann nicht ausschlaggebend für den ethischen
oder unethischen Charakter einer Lehre sein.
S. 16 — 18. Die Einteilung der Schrift kann sich nicht an die sog.
„Schulen" halten, denn das sind schwankende Bezeichnungen. Die Kritik
muß inhaltlich gegliedert werden in: Kritik der Prinzipien, der ethischen
Begriffe, der Vollständigkeit der Systeme. Dabei werden die einzelnen
Schulen in verschiedener Reihenfolge besprochen.
Schleiermacher, Werke. I. Vlla
CII Inhaltsanalyse.
Erstes Buch.
Kritik der höchsten Grundsätze der Sittenlehre.
Einleitung.
S. 19. Es erscheint notwendig, daß all unsere Erkenntnisse an ein
höchstes Wissen angeknüpft, aus ihm deduziert werden; so auch die
höchste Idee der Ethik. Die höchste Wissenschaft von den Gründen
und dem Zusammenhange aller Wissenschaften darf nicht wie jede
Einzelwissenschaft auf einem obersten Grundsatz beruhen, sondern muß
als Ganzes in sich selbst ruhen, kann auch nicht bewiesen, sondern
muß angenommen werden. „Wissenschaftslehre".
S. 21. Wir wollen die Entstehungsarten der höchsten Ideen unter-
suchen und erkennen, von welchem Bedürfnis die Bildung einer Ethik
ausgegangen.
S. 22. Bei den Alten ist keine gemeinsame Ableitung für die höchsten
Ideen der logischen, physischen, ethischen Erkenntnisse zu finden. Eben-
sowenig in der neuen Philosophie für die Verbindung von theoretischer
und praktischer Philosophie.
Auch Kant hat wohl noch nicht den Gedanken einer systematischen
Verknüpfung aller menschlichen Erkenntnisse gehabt, trotz seiner „Archi-
tektonik der Vernunft". Er hatte zu viel Vernunft und zu wenig Be-
geisterung.
S. 23. Er begnügt sich mit einer Einteilung des Vorhandenen, ohne
das Fundament zu zeigen. Wenn er die Ethik (System der Freiheit)
zur allgemeinen begründenden Wissenschaft machen will, so ist das
ein Fehler, weil aus ihr nicht die Stellung der übrigen Wissenschaften
begründet werden kann. Auch die Brücke zwischen theoretischem und
praktischem System durch die Ideen von Freiheit, Unsterblichkeit und
Gott ist illusorisch.
S. 24. Die Ethik hat es nur mit dem Inhalt der Vernunftgebote zu
tun, nicht mit den zur Sanktion hinzugefügten Drohungen und Ver-
heißungen. Was nichts miteinander zu tun hat — Sittlichkeit und Glück-
seligkeit — kann nicht notwendig verbunden sein.
Die Idee des höchsten Wesens ist in der theoretischen Philosophie
ein Fehler, in der praktischen überflüssig — das ist aber keine Ver-
bindung! Kant macht auch keine Ableitung aus dieser Idee.
S. 25. Auf den richtigen Weg kommen wir, wenn wir Glückseligkeit,
Unsterblichkeit und Gott als Phantasieprodukte ansehen.
tnhaltsanalyse. CHI
S. 26, 27. Fichte gibt die Anknüpfung seiner Sittenlehre an die
Wissenschaftslehre nicht an, sondern in der Sittenlehre schafft er seine
Wissenschaftslehre um und findet so die Anknüpfung.
S. 28. Bei Fichte kann leicht ein Sprung oder Fehler in der
Ableitung verborgen werden bei den „Ansichten und Umsichten", die
den Gang des Systems unterbrechen.
Auch kann die „übrigens sehr tugendhafte und lobenswerte Ver-
meidung einer all zu eng bestimmten Lehrsprache'* Erleichterungen ver-
schafft haben.
Mit dem bloßen Wollen soll auch zugleich das Sittengesetz ge-
funden sein.
S. 29. Fichte behauptet, daß in dem allgemeinen Bewußtsein des
Wollens die einzelnen bes. Pflichten enthalten sind, läßt aber doch
Selbsttätigkeit auch da zu, wo bei einer Wahl nicht das Bewußtsein des
allgemeinen Gesetzes vorhanden ist. Unmöglich kann mit dem All-
gemeinen das Besondere bestimmt sein, sonst müßte auch die Wissen-
schaftslehre aus der Urhandlung alles einzelne ableiten.
S. 30. Wie äußert sich der Trieb nach Selbsttätigkeit auf das ganze
Ich? Fichte machte Fehler dabei.
S. 31. Er verwechselte das gesetzliche Denken mit dem Denken des
Gesetzes. i ' 1
S. 32. Aus der Forderung einer selbsttätigen Bestimmung wird
ein reiner Trieb abgeleitet, der sich gegen den Naturtrieb richtet. Das
könnte höchstens ein Trieb auf Reflexion sein.
S. 33. Widerspruch zwischen Naturtrieb und reinem Trieb falsch
abgeleitet.
Wie soll sich das Ich seiner Unabhängigkeit annähern, wenn diese
im Unendlichen liegt?
S. 34. Die Verknüpfung der Sittenlehre mit dem ersten Ringe der
menschlichen Erkenntnis ist bei Fichte unhaltbar.
S. 35. Plato und Spinoza stellen als erstes und ursprüngliches Wissen
die Erkenntnis des höchsten Wesens auf, von der alles abzuleiten ist.
S. 36. Spinoza haßte die Zweckbegriffe und verwechselte mit ihnen
das Ideal; so war er fast stets in Feindschaft dem eigentümlich Ethischen
gegenüber. „Man kann daher nicht leugnen, daß die Ethik ihm fast
wider seinen Willen und wohl nur polemisch zustande gekommen ist,
es sei nun, um die gemeinen Begriffe zu bestreiten oder um seine
Theorie vom höchsten Wesen zu rechtfertigen und zu berühren."
S. 37. Plato faßt die Dinge als Gedanken der Gottheit auf und den
Menschen ist es geboten, Gott ähnlich zu werden. Nur da ist die Ver-
VII a*
CIV Inhaltsanalyse.
knüpfung alles Denkens zu finden, wo man von dem Unendlichen als
einzig notwendigen Gegenstande ausgeht.
S. 38. Der Wissenschaft sind stets vorausgegangen: das Bewußtsein
der inneren sittlichen Zunötigung oder einzelne sittHche Begriffe.
„Alles aber nicht mit Bewußtsein noch nach festen Gesetzen Gebildete
ist schwankend und irgendwo unbestimmt; woraus denn die Verschie-
denheit der höchsten Grundsätze sich leicht erklärt, welche die doppelte
Aufgabe zu lösen hatten, das bereits einzeln Gefundene entweder zu
vereinigen oder außer Wert zu setzen, und jene innere Zunötigung auf
eine befriedigende Weise auszusprechen."
Erster Abschnitt.
S. 39 — 40. Schwierigkeit der Einteilung, Unbrauchbarkeit von Kants
Tafel.
S. 41. Jeder einzelne Grundsatz ist mannigfaltig in seinen Eigen-
schaften und Beziehungen; diese müssen aufgesucht werden, um zu sehen,
ob sie auf die wissenschaftliche Tauglichkeit des obersten Grundsatzes
Einfluß haben.
Systeme der Glückseligkeit — Vollkommenheit.
S, 42. Die ersteren sind auf einen Zustand des Bewußtseins gerichtet,
die zweiten auf ein bestimmtes Sein. Beides ist nicht notwendig ver-
bunden. In dem System der Lust ist die Handlung oder das Sein nur
das Mittel, in dem der Tugend ist das Gefühl nur Zugabe.
S. 43. Shaftesbury und seine Schule sind dem Lustsystem ergeben,
trotz des vielen Redens von der Tugend; denn alles endet mit dem Be-
weis, daß nur durch die Tugend Glückseligkeit zu erreichen ist. Es
läuft darauf hinaus, glücklich zu sein, ohne etwas zu tun.
S. 44. Konsequent wäre die höchste Weisheit, die sittliche Lust in
der Einbildung und die organische in der Wirklichkeit zu genießen.
Ähnlich bei Ferguson und Garve.
S. 45. Aristoteles hat ein reines System der Tätigkeit, Lust nur als
Probe auf Vollendung der Handlung.
S. 46. Noch klarer ist das bei Spinoza: um ihrer selbst willen muß
die reine Tätigkeit, das Ethische geliebt werden.
S. 47 — 48. Bei den Stoikern und ähnlich bei Fichte folgt auf eine
vorsittliche Stufe die ethische Tätigkeit der Vernunft.
S. 49 — 50. Kyniker. Den Gegensatz zwischen System der Voll-
kommenheit und Glückseligkeit aufzuheben, ist verkehrt.
S. 51. Kant hat den Unterschied von formaler und materialer Sitt-
Inhaltsanalyse. CV
lichkeit nicht aufrecht erhalten, denn ein vernünftiger Mensch zu werden,
ist ein Inhalt, ebenso sein höchstes Gut.
S. 51 — 53. Neuer Gegensatz: zwiefacher Trieb, natürlich und sittlich,
oder das Ethische nur eine Verbesserung des Natürlichen, Diese Frage
kann dem Dasein der Sittenlehre keinen Eintrag tun, weil man doch
stets zugibt, daß bloße Belehrung nichts hilft.
S. 54. Neuer Gegensatz: Sittlichkeit bloß als etwas Beschränkendes
— oder als selbst etwas Hervorbringendes. Epikur beschränkend: aus
dem rohen Genuß die Ruhe des Weisen bildend. Cyrenaiker bildend:
das Sittliche ist selbst der natürliche Trieb.
S. 55. Bei den Stoikern ist die Ausführung einer sittlichen Handlung
erst von einem Gegebenen abhängig, denn auch nachdem die höhere Natur
zum Bewußtsein gekommen ist, ist das doch noch keine eigene Kraft,
sondern nur eine neue Art, über die Forderungen des Selbsterhaltungs-
triebes zu entscheiden.
S. 56. Ebenso Fichte: das Geschäft des reinen Triebes besteht nur
in der Auswahl des ihm Gemäßen aus den Forderungen des Natur-
triebes. Diese müssen immer gegeben sein, sonst geschieht gar nichts.
S. 57. Ebenso bei Kant: sein Sittengesetz kann nie etwas durch sich
selbst produzieren.
S. 58. Anders Spinoza: das Sittliche ist ein Eigenes, nicht nur
ein Verbessern eines unsittlichen, gebundenen Handelns. Das Fliehen
des Bösen ist gar keine eigene, sittliche Leistung, sonde/n entsteht
nur aus dem Suchen des Guten.
S. 59. Ebenso Plato: Gott ähnlich werden wir nur, wenn die Kraft
des Geistes eine eigene ist.
S. 60. Auch bei Aristoteles ist es so.
S. 61. Neuer Gegensatz: alles Menschliche ist eigentümlich oder all-
gemein. Eine Sittenlehre, die beides vereinigt, ist noch nicht geschrieben.
S. 62. In den Systemen der Lust ist das Allgemeine dem Besonderen
untergeordnet. Bei Epikur undeutlich, bei Aristipp deutlich: alles zu
Erstrebende ist nur für einen bestimmten Menschen erstrebenswert. Bei
den Engländern durch Machtspruch das Wohlwollen als allgemeine Lust
dekretiert.
S. 63. Bei den Systemen der Tätigkeit ist das Eigentümliche fast
gänzlich vernachlässigt. So die Stoiker: der richtige Verstand ist das
Gemeinschaftliche. Ebenso Fichte, bei dem Individualität nur die äußere
Lage bedeutet.
S. 64. Die Vernunft bei ihm ist eine gemeinschaftliche, es gibt nur
eine Norm, jeder muß auf demselben Platze dasselbe tun.
CVI Inhaltsanalyse.
S. 65. Ebenso Kant, dessen Sittenlehre juridisch ist.
S. 66. Seine Ethik ist eine Rechtslehre, auch das Reich der Zwecke
ist ein bürgerliches usw.
S. 67. Die Engländer und Qarve verwerfen das Individuelle.
S. 68 — 69. Bei Plato und Spinoza ist eine Vereinigung von Eigentüm-
lichem und Allgemeinem angestrebt.
Zweiter Abschnitt.
S. 70 — 74. 3 ethische Ideen: der Weise, das höchste Gut, das Gesetz
(entsprechend nachher im System der Ethik: Tugendlehre, Güterlehre,
Pflichtenlehre). Alle drei müssen irgendwie vorhanden sein in jedem
System.
Jeder Grundsatz muß aus sich selbst das ganze sittliche Tun
und Sein ableiten lassen, kann sich aber eines Hilfsbegriffes bedienen.
S. 75—80. Jede sittliche Bestimmung gilt nur in gewissen Grenzen,
die sich auch aus dem System ergeben müssen (aufbauendes Verfahren).
Daneben: prüfendes Verfahren.
Wahres Wollen ist stets mit Handeln verbunden. Zufällige Hand-
lungen, wenn sie nicht irgendwie mit einem Willen zusammenhängen.
Eine Handlung, die Mittel ist, muß stets ohne Rücksicht auf den
höheren Wert gewertet werden, so, als wenn sie Zweck ist.
S. 81. Das höchste Gut darf kein bloßes Aggregat sein, wie bei
Aristoteles und den Systemen der Lust.
S. 82. Der Gesamtgenuß ist etwas Unbestimmtes, es kann bei
jeder Lust gefragt werden, warum nicht eine größere ihre Stelle ein-
genommen. Das Streben nach der einen Lust hebt die andere auf, die
Länge der Lust tut der Stärke Eintrag.
S. 83. Am schlimmsten sind die Engländer daran, die der Lust
bestimmte veränderliche Werte zusprechen, abgesehen von der Quan-
tität. Da das Wohlwollen als höchste Lust erkannt ist, so müßte jeder
nur danach streben, dem andern wohlzutun; so käme man auf ein
Herumdrehen im Kreise.
S. 84. Die Franzosen folgern konsequent, daß die höchste Lust
anderer dadurch am besten befördert wird, wenn ich meine Glück-
seligkeit den anderen zeige.
Aristippos setzt alle Lust gleich. Hier entsteht die neue Schwierig-
keit, daß jeder Genuß Ursache einer Unlust wird und umgekehrt.
S. 85. A. bescheidet sich schließlich dabei, die Existenz des höchsten
Gutes ganz zu leugnen und nur an den kommenden Moment zu denken.
Inhaltsanalyse. CVII
So gibt es in diesem System nicht die Idee eines zusammenhängenden
Lebens, und Hegesias fordert richtig den Tod, wenn es keine Lust mehr
gibt.
S. 86. Die Idee des Weisen bekommt hier eine besondere Bedeutung.
Wie wir schon sahen, herrschte hier das Individuelle. So bedarf es
für jede Gestalt des höchsten Gutes einer best. Verfassung des Gemütes.
Um ein allgemeines Gut zu erreichen, müßte jeder sich Zwang antun,
also Unlust bereiten = unsittlich sein. Also: die größte Vollendung
des Menschen liegt in der Verknöcherung seiner Gewöhnung.
S. 88. Auch Epikur führt zur völligen Untätigkeit.
S. 89. Bei Epikur kann das Unterlassen eines Sittlichen gar nicht
verurteilt werden, weil das ja an dem Fehlen des natürlichen Triebes
liegt.
S. 90. Man kann bei dem System der Lust gar nicht den sittlichen
Wert einer Handlung bestimmen, denn man kennt nicht die Nebenan-
regungen der Lust. Im höchsten Gut ist der nicht-ethische Bestandteil
der Erregung enthalten. In der Abhängigkeit des sittlichen Verfahrens
von dem natürlichen Trieb liegt der Grund der unsicheren Beurteilung, die
allen Eudämonisten zukommt.
S. 91. Übung ist nötig zur Erreichung der Schmerzlosigkeit; diese
braucht Zeit und diese Zeit könnte stets direkt für die Lust verwendet
werden.
S, 92. Die Weisheit endet in einem Wahn, der sich alle Genüsse
vorspiegelt und aller Vernunft entgegengesetzt ist.
S. 93. Bei den Engländern, die Wertabstufungen der Lust annehmen,
ist das Sittliche ein Mittelpunkt zwischen zwei Extremen, die unbekannt
sind: es soll in jedem Augenblick die höchste Lust gewonnen werden, und
man kennt doch gar nicht die Unlust usw. Ein ewiger Übergang von
Zuviel und Zuwenig kommt zustande. Das Sittliche liegt in der Be-
schränkung.
S. 94. Bei den Systemen der „reinen Tätigkeit" ist das höchste Gut
einheitlich. So bei Fichte, Stoa, Piaton, Spinoza.
S. 95. Fichtes höchstes Gut: vollständige Erfüllung des Berufes
in bezug auf alle Bedingungen der Ichheit.
Kant: unbeschränkte Herrschaft der richtigen Maximen.
S. 97. Verknüpfung der einzelnen Wertungen mit dem höchsten Gut.
Stoiker können Unterlassung einer sittlichen Handlung nicht als wider-
sittlich bezeichnen, da ja das gute Handeln nur eine Gestaltung des
natürlichen ist.
S, 98. Ähnlich bei Fichte und Kant.
CVIII Inhaltsanalyse.
S. 99. Wenn man bei Kant eine Pflicht nicht wahrnimmt, so ist
das kein ethisches Manko, da ja gar kein Handeln erfolgt.
S. 100. Bei Kant läßt sich aus allen Formeln überhaupt kein
reales Gesetz oder Pflicht oder Tugend ableiten. Der Grundsalz kann
nur zur Prüfung des Gegebenen dienen.
S. 101. Ebenso die Naturgemäßheit der Stoa: was ist „Natur"? Bei
Fichte ist die Grundlage der ganzen Ethik eine „MögHchkeit" anderer
Individuen.
S. 102. Die Stoiker führen den Verbindungsbegriff der anderen Indi-
viduen offen ein.
S. 103. Kant ist mit den Engländern ganz eng verwandt: Vollkommen-
heit ist Mittel, als höchster Zweck bleibt Glückseligkeit der anderen —
Mannigfaltigkeit des Verbindungsbegriffes, es ist bei Stoa, Kant, Fichte
nicht bestimmt, wie weit wir uns oder andere fördern sollen.
S. 104—105. Auch bei Vollkommenheitsethik keine Bestimmung des
einzelnen.
S. 107. Lust und Vollkommenheit können nur verbunden werden
wie bei Spinoza: eine Lust und eine Vollkommenheit, und nun
auf letztere die Tätigkeit gerichtet.
Vollkommenheitsethik endet in Trägheit, denn das Handeln ist nur
Mittel zum Werden und je mehr der Mensch sich dem Ziele nähert,
desto weniger braucht er zu handeln und am Ziele gar nicht mehr!
Piaton als Retter: höchster Zweck ist Ähnlichkeit mit einem handelnden
Gott.
S. 108. Universeller Charakter der Ethik oder beschränkter? „Mittel-
dinge", wenn die Ethik nicht alles umfaßt.
S. 111. Ist das Sittliche im Allgemeinen oder im Individuellen?
S. 112 — 113. Wenn nur das Allgemeine ethisch ist, so bleibt in jeder
Handlung viel unbestimmt, ja es gibt viele Handlungen, die ihren Grund
nur in der Eigentümlichkeit des A'lenschen haben! (Ehe.)
Zweites Buch.
Kritik der ethischen Begriffe.
S. 121 — 127. Man behauptet, die ethische Idee sei nur durch Ab-
straktion aus der Erfahrung gewonnen. Das ist falsch. Denn wenn
unsere sittlichen Urteile wirklich ethisch sind, bevor wir die höchste
Idee haben, so enthalten sie eben diese Idee unentwickelt und sind
Inhaltsanalyse. CIX
nur durch dieses Enthalten sittlich. Die Einteilung der menschlichen
Handlungen ist nur dann ethisch, wenn sie übereinstimmt mit der Ab-
leitung aus der Idee, allein hat die empirische Einteilung keinen Wert.
Jeder Grundsatz müßte seine eigenen Einzelbegriffe zur Folge haben,
wir sehen aber, daß die Systeme sich in den Bezeichnungen gleichen und
viel, was mit dem Prinzip nicht zusammenstimmt, aufnehmen.
Erster Abschnitt.
S. 128—130. Formale ethische Begriffe: Pflicht, Tugend, Gut, —
Übertretung, Laster, Übel. Bei Stoikern und vielen Neuen werden die
drei nicht klar auseinandergehalten. Verwirrung bei Kant. Jeder dieser
Begriffe muß in seiner Art von Beziehung zum Prinzip das ganze sittliche
Gebiet umschließen. Es ist zu prüfen, ob die Beziehung auf eine
bestimmte Form der obersten Idee festgehalten wird, ob die Begriffs-
teilungen ihrer ersten Bildung entsprechen.
S. 130. Die Pflicht bezeichnet das Sittliche in Beziehung auf das
Prinzip als Gesetz. Das Gesetz bezieht sich wieder auf die Tat
und jede Frage nach der Pflicht ist eine nach dem Sittlichen in jeder Tat.
S. 135 ff. Das „Erlaubte" als fehlerhafter Pflichtbegriff; die PfHcht
umfaßt alles.
„Erlaubt'- ist jede Handlung, bevor sie in bestimmte Verhältnisse
eintritt und sittlich beurteilt ist. „Erlaubt" ist eine noch nicht vollendete
Bezeichnung einer Handlung, dieser Begriff ist eine Aufgabe, aber keine
Bestimmung. Wer erlaubt = ethisch setzt, hat falsche Begriffe von recht
und unrecht.
S. 137. Für den Wert der Erfüllung eines Gesetzes ist es gleich-
gültig, ob die Handlung, an der sich die Befolgung zeigt, groß ist
oder geringfügig. Stoiker. Kant verwechselt rechtlich und sittlich und
will ein Erlaubnisgesetz auf dem Gebiete der Ethik aufstellen.
S. 138. Vollkommene — Unvollkommene Pflichten, die letzteren sollen
sein solche, die durch andere eingeschränkt sind — das sind aber alle!
Denn jede Pflicht ist immer mit bestimmten Beziehungen verbunden,
sie hat Grenzen.
S. 139. Namentlich die Rechtspflichten werden als vollkommen
angefaßt, aber sie bezeichnen nur ein Unsittliches, ja, sie sind nur
Teile einer ihnen unähnlichen Pflicht. (Abneigung gegen „Recht!") Sie
haben nur technischen Wert für die Ausführung eines Ethischen aus
anderer Sphäre. (Beruf und seine Folgen, Eigentum — nicht stehlen.)
CXII Inhaltsanalyse.
S. 163. Tugenden des Verstandes und des Willens: auch falsch,
da das Ethische nur den Willen angeht, der alles umspannt. Wird das
vernachlässigt, so kommt man zu Tugenden, die mit Lastern verbunden
sind: Herzensgüte ohne Verstand usw.
S. 164. „Wenn aber die sittliche Gesinnung den Verstand nicht
treiben kann, wo sie ihn braucht! so muß sie schwach sein "
S. 165. Die Stoiker haben sehr gut gesagt: nur der Weise kann
Meister einer Wissenschaft sein, d. h. jede Leistung auf irgend einem
Gebiete ist nur dann etwas wert, wenn sie aus ethischer Gesinnung
geschieht.
Einteilung nach Zwecken und Gegenständen.
Kant. Dadurch wird aber die Gesinnung nicht eingeteilt, im Gegen-
teil, sie muß gerade sich als einheitlich zeigen, dem vielen Äußeren
gegenüber.
Einteilung: gesellige — auf sich bezogene Tugenden.
S. 166. Platon vertieft überall die Einheit der Tugenden. Oarve
will den 4 Haupttugenden der Hellenen nachgehen. Auch das ist un-
richtig.
S. 167—168. Güter — Übel.
Ein Gut ist, was im Sinne der sittlichen Idee geschaffen ist. Gut
als Erfolg von Pflicht und Tugend scheint zunächst selbstverständlich
etwas drittes zu sein neben der hervorbringenden Kraft und der Hand-
lung des Hervorbringens.
S. 169. Da aber in der Sittenlehre nichts bloßes Mittel sein darf,
sondern alles durch sich selbst bestehen muß, so muß das Verhältnis
ein anderes sein.
S. 170. Im Eudämonismus erscheint ein richtiger Güterbegriff, denn
hier ist Streben nach Lust auch schon Lust, nicht nur Mittel zum Zweck.
S. 171. Ebenso entspricht in der Ethik des Handelns das Verhältnis
von Pflicht und Gut dem Vernunftnotwendigen.
S. 172. So scheint im allgemeinen in allen Sittenlehren Platz für den
Güterbegriff zu sein.
S. 173. Im Eudäm onismus ist er am meisten bewahrt. Aber hier
zeigt sich wieder die Unzulänglichkeit des Eudämonismus, indem jede
Einteilung von Gütern und Übeln ausgeschlossen ist.
S. 174. In der Ethik des Handelns herrscht die größte Ver-
wirrung. Aristoteles nennt auch das Güter, was seine Existens der
Natur oder dem Zufall verdankt, nicht nur das, was aus Handlungen nach
der sittlichen Idee entsteht. Nun gehören viele Güter nicht zum höchsten
Gut.
Inhaltsanalyse. CXIII
S. 175, Es läßt sich überhaupt kein Vereinigungspunkt für alle
Arten von Gütern finden.
Die Stoiker haben in den rein formalen Begriff des Gutes einen
eudämonistischen Inhalt hineingetragen: Gut ist nur, was sich auf den
persönlichen Zustand des Menschen bezieht. Dabei blieben ihnen die
Tugenden allein übrig.
S. 176 ff. Schließlich geraten sie in die Verwirrung des Aristoteles.
Wenn sie die Einteilung: Güter, die das Sittliche enthalten, Güter,
die es hervorbringen, und Güter, von denen beides gilt, dialektisch ver-
folgt hätten, so wären sie auf den richtigen Begriff des Gutes als der
Darstellung sittlicher Gesinnung gestoßen. Spinoza ist dem Fehler des
Aristoteles und der Stoa entgangen.
S. 178. Am besten ist der Begriff bei Piaton zu finden: Darstellung
des göttlichen Wesens im Inneren und Äußeren.
S. 17Q. Zweiter Abschnitt. Die einzelnen realen ethischen
Begriffe.
Die äußerlichen Güter.
Die Peripatetiker: Reichtum, bürgerliche Gewalt. Sie nennen
fälschlich ein Gut, was dem Zustandekommen der sittlichen Tat dient.
Diesen Gütern fehlt das Merkmal der Allgemeinheit, schon deswegen
sind sie nicht ethisch. Die Eudämonisten nehmen das nicht als Güter
an, eher die Tätigkeitsethiker.
S. 180. Reichtum und bürgerliche Gewalt auf die Gesamtheit der
Menschen bezogen, zeigt sich doch als eine sittliche Tat, also als
ein gemeinschaftliches Gut,
S. 181. Freundschaft. Ist fast für alle ein Gut in richtigem
Sinne.
S. 182. Weniger feste Verbindungen: Gastfreundschaft.
Gastmahl.
S. 183. Bürgerliche und häusliche Gesellschaft. Für die
Ethik der Tat ist der Staat ein Gut. Für Eudämonismus wechselnde Stel-
lung gegen Ehe und Staat.
S. 184. Für Ethik der Tat ist auch wissenschaftliche Gemeinschaft,
Kirche und Freimaurerei ein Gut. Die Frage, ob der Teil eines Ganzen
auch noch ein selbständiges Gut heißen kann, beantwortet jede Ethik,
die nicht auf der Erfahrung sich aufbaut, sondern systematisch erzeugt
und ordnet, von selbst.
Schleiermacher, Werke. I. VIII
CXIV Inhaltsanalyse.
S. 185. Für Eudämonisten und Energisten sind die Werke der Kunst
Güter.
Güter des Leibes sind in diesem Sinne hier alle Güter.
S. 186—190. Tugenden als Güter.
S. 190. Pflichten gegen den Leib. Selbsterhaltung. Absolute
Pflicht kann diese nirgends sein, denn die Ethik hat immer nur mit
einer Art des Lebens zu tun. Es läßt sich außerdem keine allgemeine
Regel aufstellen, wo Lebensgefahr anfängt. Auch zur Erhaltung des
Lebens darf keine Handlung vorkommen, die sonst unsittlich wäre.
S. 197 ff. Mäßigkeit bei Ernährung und Geschlechts-
trieb.
S. 200. Die Befriedigung des Geschlechtstriebes ist eine ganze und
ewige Hingebung, aus welcher eine gänzliche Verschmelzung zweier
Individuen resultiert. Die Sittlichkeit, welche früher aus dem Innersten
des Geistes entsprang, sprießt nun in einer anderen Gestalt aus dem
Geschlechtstriebe hervor.
S. 202—203. Keuschheit — Schamhaftigkeit.
S. 203. Pflichten gegen sich als moralisches Wesen. Nirgends
gibt Kant deren Inhalt bestimmt nach Umfang und Einheit an, sondern
nur mittelbar auf dreifache Art bestimmt. 1. Durch den Zweck der Selbst-
erkenntnis, dieser hängt aber zu lose mit dem Inhalt zusammen, welcher
ist „Wahrhaftigkeit in Mitteilungen und Vollständigkeit des notwendigen
Genusses". 2. Durch Prinzip der Erfüllung. 3. Durch ihre Übertretungen,
die Laster. Diese beiden Mittel, die Pflicht zu erkennen, müssen eigentlich
identisch sein. Denn Prinzip der Erfüllung ist die bestimmte Tugend,
und die Laster müssen auch auf die ihnen entgegengesetzten Tugenden
reduziert werden. Kant gibt aber das Prinzip — als Ehrliebe — zu
weit an, denn alle Laster sind der Ehrliebe entgegengesetzt, nicht nur
die Laster, die auf Übertretung der Pflicht gegen sich als moralisches
Wesen beruhen. Außerdem zeigt sich Ehrliebe als vollkommene PfHcht,
die alle anderen unter sich enthält und die Realität der unvollkommenen
aufhebt.
Ganz sonderbar ist, daß der Genuß des Wohllebens als vollkommene
Pflicht bei Kant erscheint, wenn auch nur, damit der Mensch sich
bewußt wird, daß er nicht am Besitze klebt. Dieses Sichtrennen vom
Besitz, das Freihalten vom Geiz ist aber viel leichter zu erreichen,
wenn man mit dem Gelde andere erfreut, als wenn man genießt.
S. 205. Sparsamkeit als bloßes Versagen des Genusses ohne
besondere Absicht ist nicht ethisch. Wenn man die Absicht hinzufügt,
löst sich der Begriff auf. Nach technischer Regel ist sie nicht ethisch,
Inhaltsanalyse. CXV
als Klugheit des Voraussehens kann auch das Gegenteil der Spar-
samkeit gefordert sein.
S. 206. So ist die Stellung im System, der Umfang und Inhalt ganz
unbekannt. „Unmöglich kann ein fester, ethischer Begriff enthalten sein
in einer Bezeichnung, welche auf einen äußeren Gegenstand gerichtet ist."
Wahrhaftigkeit, bei Kant zusammengesetzt aus innerer Lüge
und Unwahrheit in Aussagen. Die Erklärung als „vorsätzliche Unwahr-
heit" bedeutet bei Kant so viel als absichtliches Abbrechen des Nach-
forschens. Also: nicht handeln wollen nach der Wahrheit.
S. 207. Äußere Wahrhaftigkeit: Aufrichtigkeit in Aussagen
und Treue in Versprechungen ist nicht dasselbe! Der Entschluß ist
im ethischen Sinne die Handlung. Auch bei Fichte Verwirrung.
S. 208. Die Tugend der Treue umfaßt beides, da es auch Versprechen
geben kann, nichts zu sagen, so kollidieren die Pflichten der Treue
und der Aufrichtigkeit. So müssen beide noch eingeschränkt werden.
S. 209. Falsch mischt Kant Wahrhaftigkeit des Umganges und bei
ernsten Angelegenheiten. Fichte setzt Wohltätigkeit und Wahrhaftigkeit
in enge Beziehung, Kant trennt sie.
S. 210. Die Wohltätigkeit erscheint bei ihm unter den Pflichten, die
andere verpflichten, und doch sagt er, es dürfe nie gemerkt werden, daß
der Wohltäter verpflichtet. Also man soll den andern etwas glauben
machen, was nicht ist, Oder man muß sich selbst belügen.
Die Durchsetzung des Anspruchs auf eigenen moralischen
Wert ist eine ungeschickte Pflichtformel.
S. 211. Selbstschätzung ist wieder zu beschränken durch die Aner-
kennung, die anderen zu zollen wäre. So sind beides nur unbestimmte
Handlungsweisen, die erst auf einen gemeinsamen Grund zurückgeführt
werden müssen, um Pflichten zu werden. Das fehlt aber überall!
Das moralische Selbstbewußtsein kann keine besondere Pflicht sein,
sondern enthält alle anderen unter sich.
S. 212. Keine Handlung eines Menschen ist so auszulegen, als
entstände sie aus dem dauernden Verkennen der sittlichen Natur
eines andern — auch nicht Sklavenhalten. Richtet sich die Selbst-
schätzung nur auf die individuelle Sittlichkeit, so kann es für jeden gar
nicht Pflicht sein, sich selbst zu erkennen, da etwas Unsittliches dann
nur auf den Fehler des Verstandes zurückführt. Pflicht kann nur sein
eine Methode der Untersuchung ohne unsittliche Voraussetzungen.
Wenn wir die Pflicht haben, falschen Urteilen über uns und andern
entgegenzutreten, so ist das eine Pflicht der Wahrhaftigkeit.
S. 213. Der Grund der Verwirrung liegt in der Verwechselung
vni*
CXVI Inhaltsanalyse.
von sittlichem und bürgerlichem Wert. Im Eudämonismus hat die Wahr-
heit — innere und äußere — eigentlich gar keinen Wert mehr.
S. 214. Bei Fichte fehlt Pflicht der Selbstschätzung und Selbster-
kenntnis; weil er kein inneres Handeln als Pflicht annimmt. So kann
auch die Pflicht, das Urteil anderer zu berichtigen, nicht hier vor-
kommen. Kant führt die Pflicht der Erhöhung der sittlichen Vollkommen-
heit an, die kollidiert aber mit der Idee, daß jeder Augenblick eine be-
sondere Aufgabe zu erfüllen hat.
S. 215. Fichte bleibt seiner Absicht, das innere Handeln auszu-
schließen, nicht getreu, denn er stellt eine allgemeine Pflicht auf, die
Sittlichkeit im allgemeinen zu befördern. Er sieht aber selbst ein, daß
keine besonderen Handlungen diese Pflicht erfüllen, sondern daß eben
jeder selbst sittlich handeln muß.
S. 215 — 216. Unbestimmtheit in den besonderen Pflichten bei Fichte.
S. 217. Bei den allgemeinen Pflichten gegen andere werden
Pflicht und Tugend fast stets verwechselt. Wohltätigkeit — Dankbarkeit.
Nach Fichte kann auch der Dürftige von der Gesellschaft die Wohltätigkeit
als sein Recht fordern. Dankbarkeit gibts dann nur gegen die Gesellschaft.
Dabei beruht aber die Wohltätigkeit nur auf einem bestimmten Zu-
stande der Gesellschaft, ist also nur eine relative Pflicht.
S, 218. „Dienstfertigkeit" für andere ist Unsinn, denn für jeden
Augenblick ist eben das eigene Tun bestimmt. — Die Wohltätig-
keit bei Kant beruht auf der Voraussetzung, daß jeder sich helfen lassen
will; das ist aber kein unbedingt sittliches Wollen. Die Dankbarkeit
besteht in der Selbstunterwerfung, also in dem fortwährenden Stiften
einer Ungleichheit. Das Wohltun beruht bei Kant nicht einmal auf der
Uesinnung.
S. 219. Das Ganze beruht auf Herabwürdigung eines sittlichen Wertes
wegen eines sinnlichen Zweckes. Dankbarkeit vorausgesetzt, hebt die
Wohltätigkeit auf, ohne die sie doch wieder nicht besteht — also ganz
unzulässig. Die Dankbarkeit, solange sie sich nur auf selbst genossene
Wohltaten bezieht, ist unzulässig.
S. 220. Im Eudämonismus hat die Dankbarkeit entweder den
Sinn, die Verbindung aufzulösen. Oder sie soll ein Reizmittel sein,
zu neuen Wohltaten aufzufordern. Beides unhaltbar.
S. 221. Auch die Fichtesche Fassung ist noch zu unbestimmt.
Bei Stoa gehört vieles unter Staatsverwaltung, als Tugend setzen sie Wohl-
taten unter Gerechtigkeit. Hier tritt die gemütvolle Teilnahme als Pflicht auf.
S. 222. Bei Eudämonismus wird sich Teilnahme als Lust viel
eher an Nachahmungen von Unglück entflammen. Der stoische Satz,
Inhaltsanalyse. CXVH
Mitleid sei vom Übel, da statt eins zwei leiden, ist schon deshalb
falsch, weil nach ihnen Schmerz überhaupt kein Übel ist.
S. 223. Das Gefühl für etwas Unsittliches als Pflicht zu fordern
scheint bedenklich, weil es nicht willkürlich ist. Spinoza will die teil-
nehmende Traurigkeit verbannen, weil auf der Höhe der sittlichen Be-
trachtung der Begriff des Unvollkommenen verschwindet. Das stimmt
nicht mit seiner Identität von Gefühl und Gedanken.
Andere Gefühle. Im Eudämonismus sind Rache oder Rachsucht
je nach den Umständen sittlich oder nicht.
S. 224. In der sympathetischen Ethik müßte Sanftmut eine
merkwürdige Mischung von Unwillen und Sympathie sein. In der prak-
tischen Ethik ist neben der Inhaltsfrage noch die nach der Schick-
lichkeit der Bewegungen aufzustellen. Das Gefühl für das Un-
sittliche muß mit dem für das Sittliche identisch sein. Beim Verhalten
gegen Beleidigungen muß unterschieden werden die Gesinnung gegen
den Täter und dessen Behandlung.
S. 225. Verteidigung und Ersatz — Strafe und Belehrung
treten auseinander. Die Verteidigung aber kann sich nur beziehen auf
die sittliche Wirksamkeit, und es muß festgestellt werden, was eine Be-
hinderung derselben ist. Auch bei Fichte ist das verfehlt, vor allem
ist das Gebot, sich gegen Gerüchte zu verteidigen, zu weit, denn so
könnten die Gegner einen immerfort von der Haupttätigkeit abziehen.
Strafe hebt Kant fälschlich auf, wenn er nur alle Menschen vor Gott
strafwürdig nennt. Strafe und Belehrung sind eins, aber in der Me-
thode verschieden. Die Stoiker wenden zu viel Strafe an.
S. 226. Verschiedene Pflichten ohne rechte Begründung.
S, 227. Tugenden. Aristoteles hat einen ungeordneten Haufen
davon.
S. 228. Die Bestimmung der „Mitte" ist nicht immer gleichmäßig.
Es fehlt an einem Prinzip für die Anwendung der allgemeinen Formel.
Er gibt auch zu, daß nicht jede Mitte einer Neigung ethisch ist, nämlich
wenn sie selbst unsittlich.
S. 229. Die Tugenden laufen ineinander.
Darstellung aller sittlichen Gesinnungen unter 4 Tugenden: Klug-
heit, Mäßigung, Tapferkeit und Gerechtigkeit. Ihr Wesen wird durch
die Stoiker nicht erklärt.
S. 230. Die von ihnen als verschieden angegebenen Tugenden gehen
ineinander über.
S. 231. So ist nicht einmal klar, ob die 4 Kardinaltugenden real oder
formal sind.
CXVIII Inhaltsanalyse.
S. 232. In der eudämonistischen Lehre schleichen sich praktische
Tugenden ein.
Nur Piaton und Spinoza haben sich ganz frei gemacht von den
4 Tugenden.
S. 233. Piaton zeigt, daß sich alle Tugenden unter jeder der 4 Formen
darstellen lassen. Spinoza bezeichnet mit Tapferkeit die ganzen Tugenden.
S. 234. Er hat gar keine Mehrheit von Tugenden.
S. 234 — 246. Anhang. Aus den Verwirrungen in den Tugendbe-
griffen folgt, daß auch das Leben der Menschen noch nie nach einer
ethischen Idee gestaltet gewesen sein kann, sonst müßte sich leichter
eine solche Idee in den Begriffen finden lassen. Bei den Alten war das
Leben politisch, also auch die Tugenden. Bei uns ist es das Gebiet
der Pflichten, das vom Recht beeinflußt ist. Die Ethiker kleiden in
politisches Gewand manches, um es den Pflichten einzuverleiben — so
Reich Gottes. Die Tugenden beziehen sich meistens auf das Privatleben,
da das öffentliche verschwunden ist (1803!) und ihre rechte Bedeutung
ist kaufmännisch. Sie beziehen sich auf die äußere Leistung des Menschen,
auf seinen „Marktpreis". Nur auf diese Weise findet man etwas Ge-
meinsames in all den Tugenden. Sie unterscheiden sich von Lastern
nur durch ihre vielseitige Brauchbarkeit. Die augenscheinliche Über-
zeugung in dieser Hinsicht liefert die Ableitung aller Tugenden aus der
Selbsterhaltung bei Spinoza. Der Einteilungsgrund aller Begriffe hängt
hier von der Seelenlehre ab. Psychologie und Ethik stehen immer in
engem Zusammenhange. Jedoch ist die Psychologie noch so unaus-
gebildet, daß sie kaum der Ethik nützlich sein kann. Sie muß erst
aus einem logischen und poetischen Standpunkt bearbeitet werden
und darauf braucht die Ethik nicht zu warten, denn sie ist nahe daran,
ihre Begriffe aus sich selbst zu finden.
Die Reflexionsbegriffe: Lob — Tadel, Selbstschätzung — Gewissen.
Ein untrügliches Gefühl für das Sittliche kann nicht angenommen werden,
denn das Wesentliche wächst allmählich und das sichere Gefühl hätte
auch den Gedanken fortbilden müssen, was nicht geschehen ist. Mit
einem solchen Gefühl müßten sich auch alle Streitfragen der Ethik
untrüglich lösen lassen. Lob und Tadel sind ethisch ganz unbestimmt
und gehen über das Gewissen hinaus. Fichte bleibt beim Gewissen
stehen. Die Ableitung ist zum großen Teil transzendental, ethisch läßt
sich sagen, daß das Gewissen bei ihm die Schnelligkeit bedeutet, die
notwendige Pflicht des Augenblickes zu finden. Diese Aufgabe kann
aber gelöst werden, ohne daß man ein Gefühl für das Unsittliche hat.
An die Stelle eines untrüglichen Gefühls, daß man jetzt handeln müsse,
Inhaltsanalyse. CXIX
könnte ein ausgeführtes System treten, das jede Pflicht oder Tugend
bezeichnet. Darauf deutet auch die Formel, daß (bei Fichte) wirk-
liches und ursprüngliches Ich übereinstimmen sollen. Das ist nur auf
Grund einer allgemeinen Erkenntnis des Sittlichen möglich. Dadurch
ist aber das Gefühl, Gewissen überflüssig gemacht, auch Fichte selbst
fordert theoretische Regeln für die Urteilskraft. Um des Gewissens
willen eine Hälfte der Wissenschaft frei zu lassen, ist sehr unrecht!
Gefühl und bewußtes Erkennen des Guten halten sich die Wage,
dazu stimmt, daß die Art des gewöhnlichen Menschen, zu tadeln und
zu loben, mit dem übereinstimmt, was Spinoza bezeichnet als aus dem
Affekt der Freude und Traurigkeit entspringend. Für die Mehrzahl
der Meister und Schüler der Sittenlehre ergibt sich, daß sie nicht genügend
Sinn und Verstand besaßen, um sich selbst und andere sittlich zu er-
höhen.
S. 247. Drittes Buch.
Kritik der ethischen Systeme.
Einleitung. Von der Anwendung der Idee eines Systems
auf die Ethik.
S. 248. Reales System. 1. Eine Gesamtheit von Erscheinungen
kann nur in gegenseitigen Beziehungen verstanden werden. 2. Durch
eine Kraft oder sonstiges Allgemeines erzeugte Gesamtheit. Beispiel:
Planetensystem — Weltganzes, Organischer Körper — alle Erscheinungen
des Organismus.
S. 249. Die Darstellung eines solchen in der Wirklichkeit vorhandenen
Systems muß natürlich auch systematisch sein. Was nicht systematisch
ist, kann so auch nicht dargestellt werden. (Geometrie, Logik.)
S. 250. Das Reale, auf das die Ethik sich bezieht, muß von
jedem als systematisch zugegeben werden. So bei den Pflichten:
jede Pflicht ist durch alle andern bestimmt, nicht durch Ableitung aus
einer höheren. Nur die durch alle andern richtig bestimmte Pflicht
fördert die Gesamtheit der sittlichen Zwecke, jede andere stört sie.
S. 251. Auch das beweist den systematischen Charakter der Ethik,
daß aus ihrer Darstellung sich erkennen lassen muß, was nicht sittlich
ist, indem alles einzelne im System seinen notwendigen Platz hat.
S. 252. Die Förderung aller Güter im Leben geschieht nicht einzeln
nacheinander, sondern nebeneinander. Die äußeren Handlungen erscheinen
CXX Inhaltsanalyse.
dabei nicht als System, wohl aber die inneren Entschlüsse — bei einem
sittlichen Menschen.
S. 253. So ist auch beim Eudämonismus die Glückseligkeit ein
System von Handlungen.
S. 254. Von der Prüfung nach dieser Idee.
Das Unsymmetrische muß sich in Gestalt und Inhalt der Sittenlehre
ausdrücken, aber diese beiden brauchen nicht in so festem Verhältnis zu
stehen, daß nur eins von beiden untersucht werden müßte.
S. 255. Aller Inhalt muß wesentlich in das System gehören und
das Merkmal des dem System Allgemeinen an sich tragen. Alles was
hineingehört, muß auch drin sein, so daß jede vernünftige Frage zu
beantworten ist,
S. 256. Die hauptsächliche Aufmerksamkeit ist auf den Inhalt zu
richten. Nun ist unter Vollständigkeit nicht zu verstehen: alles muß
aufgeführt werden, was nach der Idee ethisch möglich ist. Denn die
Bedingungen für das Geistige wandeln sich, eine Ethik der Alten kann
unmöglich so viel wie die heutige enthalten. Aber nichts Ethische?
darf so ganz fehlen, daß ihm nicht der Platz im System angewiesen
werden könnte.
S. 257. Die Mängel (außer der falschen Grundidee und den Fehlera
des einzelnen) im System können herrühren von der mangelnden wissen-
schaftlichen Gestaltungskraft, trotzdem im Leben vielleicht das Sittliche
seinen Platz hat. Ethischer und wissenschaftlicher Sinn müssen eigentlich
Lücken bemerken, tun sie's nicht, so zeigt das, daß die Grundidee
nicht vollständig.
S. 258. Wesentliche Mängel dieser Art sind entscheidend für die
Untauglichkeit eines Systems.
Ähnlich bei der Gestalt, vor allem ist Vollständigkeit der Beziehungen.
zu untersuchen.
S. 259. Erster Abschnitt. Vollständigkeit des Inhalts der
Systeme.
Die bisherigen Darstellungen enthalten kein vollständiges Bild
menschlichen Handelns. Denn sie bestimmen das Äußere einer Pflicht
etwa, aber im Innern kann's ganz verschieden aussehen, trotz gleichea
Erfolges.
Inhaltsanalyse. CXXI
S. 260. So kann jemand begeistert die Pflicht erfüllen, seine Meinung
gegen die anderen zu verteidigen — ein anderer kann es gleichgültig
tun usw. So bei Erfüllung des Berufes. Wenn man sagt, das Wie
werde in einem anderen Teile der Ethik bestimmt, als das Was, so ist
das falsch, und außerdem verschiebt es die Antwort von einem Teil
auf den andern.
S. 261. Außerdem haben die Stoiker recht, daß in jeder Handlung
letzthin alle Tugenden vorhanden sind. Nun ist es nicht die Aufgabe
der Sittenlehre, genau die Art jeder Handlungsweise eindeutig festzu-
legen, sondern es müssen nur Umfang und Bedingungen der verschiedenen
Möglichkeiten beschrieben werden, damit für den einzelnen Fall abge-
leitet werden kann, was sittlich ist und was nicht. Ebenso wie in der
Ästhetik neben den allgemeinen Regeln die Verschiedenheiten der Indi-
vidualitäten verschiedene Behandlungsarten desselben Gegenstandes zu-
lassen, so auch in der Ethik. Es muß aber entschieden werden, welche
Arten sittlich sind, welche nicht.
S. 262, Die Unterschiede in der Ethik beruhen auf dem „Eigen-
tümlichen". Verschiedenheit des Charakters. Nur wenn es um die
äußere Seite der Tat zu tun ist, kann man auf die inneren Unterschiede ver-
zichten. Unter dem Ethischen muß man aber all das verstehen, was
in einem gegebenen Falle im Oemüte vorgegangen ist.
S. 263. Ist das Ideal des Weisen ein einfaches oder vielfaches? Ist
es einfach, so ist Verschiedenheit unsittHch. In den meisten Sittenlehren
ist gar nichts oder jedenfalls nichts Genügendes darüber gesagt.
S. 264. Es hängt das damit zusammen, ob das Sittliche ein Allgemeines
oder ein Eigentümliches ist. Im Eudämonismus ist Glückseligkeit nur
in sehr verschiedener Weise zu erreichen, so müßte hier das Individuelle
stark berücksichtigt sein — das ist aber gar nicht der Fall!
S. 265. Die praktische Etik hat zunächst wenig Grund, auf das
Individuelle zu achten. Die meisten übersehen aber nur das Eigen-
tümliche. Peripatetiker.
S. 266. Das gilt auch für Aristoteles. Von anderen Schulen des
Altertums sollte man die Bevorzugung des Allgemeinen erwarten, da ja
das Politische eine solche Rolle spielt und weil sie oft einen speziellen
Wert für die ganze Ethik halten. (Stoiker — bei ihnen aber findet
sich Aufzählung des Eigentümlichen.) Kyniker umgekehrt.
S. 267. Bei beiden sind Anfänge, die nicht fortgesetzt sind. Ähnlich
bei Kant. Dieser läßt verschiedene Stimmungen beim ethischen Handeln
zu, ohne darüber klar zu werden.
Fichte ist mehr einem allgemeinen Sittlichen treu geblieben. Denn
CXXII Inhaltsanalyse.
bei ihm kommt alles auf die Überlegung an, nur die äußeren Bedingungen
machen die Unterschiede.
S. 268. Doch sieht man näher hin, so muß gerade die individuelle
Art, Gedanken zu verknüpfen, ausschlaggebend für die Pflichterfüllung
sein. Jeder wählt eben nach seiner Art, und Fichte erkennt das an,
indem er jeden an sein „Herz" verweist.
S, 269. Auch der Vollkommenheitsethik geht es so. Alle können
einem indirekten Anerkennen der Verschiedenheit nicht ausweichen.
Piaton und Spinoza wollen das Eigentümliche sittlich machen. Spinoza
hat das aber auch nur an einigen Stellen vorgeschwebt.
S. 270. Nur Pia ton scheidet klar das Allgemeine vom Besonderen,
letzteres auch als ewig auffassend. Auch eine systematische Aufzählung
des Mannigfaltigen ist bei ihm angedeutet.
S. 271. Der Grund aller Unklarheiten ist der: fast alle sehen das
geistige Vermögen als Vernunft an — und da gibt's nur eine! Aber
es ist Phantasie, das Vermögen frei zu verknüpfen und
hervorzubringen. Diese Phantasie ist das Individuelle im mensch-
lichen Geiste, es ist seine Grundkraft, auf die nicht verzichtet werden
kann! (Kant. Fichte.)
S. 272 — 273. Der zweite Fehler ist, daß vieles, was ethisch bestimmt
werden muß, ausgelassen wird. So alle die Gedanken und Gefühle, die
bei Handlungen mitwirken, die zur Gewöhnung geworden sind.
S. 274. Nicht nur die weibliche Sittlichkeit, sondern auch die der
mechanisch arbeitenden Gesellschaftsklassen hängt von dem Beherrschen
der inneren Vorgänge ab. Auf innerer Tätigkeit beruht ein großer Teil
des Sittlichen. In der Art, die Gegenstände zu behandeln, liegt sehr
viel Sittliches. Davon ist nichts in den gewöhnlichen Darstellungen zu
finden. Auch darüber ist nichts zu finden, wie die inneren Vorgänge mit-
geteilt werden sollen.
S. 275. Weder bei den Stoikern noch bei Kant ist etwas Richtiges
über die geselligen Tugenden zu finden. Ähnlich Fichte.
S. 276. Auch im Eudämonismus ist seine Mitteilung vernachlässigt.
Scherz und Witz werden in der praktischen Sittenlehre fast gar
nicht berücksichtigt. Bei vielen ist Scherz = Zwerchfellerschütterung.
S. 277. Aristoteles erkennt den Scherz als Mittel zur Ruhe an. Er
muß aber an sich selbst Zweck und Bedeutung haben.
Auch Liebe und Freundschaft sind nicht untersucht.
S. 278. Für jede Ethik sind die beiden wichtig. Die Freundschaft
ist wenigstens im Eudämonismus untersucht, aber sie ist nicht mit
den höchsten Ideen abgeleitet.
Inhaltsanalyse. CXXIII
S. 279. Auch in der Ethik des Handelns nichts Gutes.
S. 280. Die Liebe als Streben aus der Schönheit entstanden nach
Verbesserung eines andern — wie die Stoiker erklären — ist nicht zu
begreifen.
Kant will alle Liebe nur als Behandlung nach dem Gesetz gelten
lassen. Für die „pathologische'' Liebe findet er dabei keinen Platz.
S. 281. Dem ehelichen und elterlichen Verhältnis fehlt es nun ganz
an einem Entstehungsgrunde. Denn als „Gehorsam gegen die Natur"
ist das unbegreiflich.
Bei Fichte ebenfalls Verwirrung, indem er Freundschaft und Liebe
auf Ehe einschränkt.
S. 282. Fichte fordert zwar das Verschmelzen der Individuen; aber
er hat die Gründe und Grenzen gar nicht bestimmt. Es müßte vor allem
über die geistigen Unterschiede der Geschlechter etwas gesagt werden.
Diese Unterschiede müssen vor der Ehe scharf ausgebildet werden.
Auch muß gesagt werden, was die schuldlos Ehelosen tun sollen.
S. 283. F. kann keinen Bestimmungsgrund der Liebe angeben, so
bleibt sie unfrei. So wird die Lehre vom Gewissen verdorben, denn
dieses kann doch nicht auf etwas Unfreies angewandt werden. Es
hätte ein Trieb aufgestellt werden können, Individuen zu suchen, der
dann auch zu den Kunstwerken geführt hätte.
S. 284. Aber das ist ja bei Fichte nicht möglich, der ja das Erlaub-
nisgesetz begründet, in der Wüste zu bleiben. Bei anderen Modernen ist
erst recht nichts über die Liebe Gutes zu finden.
S. 285 — 286. Auch über Freundschaft wissen Kant, Fichte, Aristoteles
nichts Genügendes zu sagen.
S. 287. Piaton ist allen voran. Er verbindet symbolisierend den
Geschlechtstrieb mit dem Streben nach gemeinsamer Ideenerzeugung,
hinweisend auf die Unvollkommenheit der Individualität und ihre Unzu-
länglichkeit zur Hervorbringung eines höchsten Gutes. Hier erst sind
Freundschaft und Liebe nicht von außen angeklebt, sondern aus dem
Wesen des Systems entwickelt.
Wissenschaft und Kunst: es ist zu untersuchen, welche Art
ihres Betriebes sittlich ist.
S. 288. Wissen, das einem schon anderweit als sittlich Erkannten
dient, kommt nicht in Frage. Wissen um seiner selbst, als Erkenntnis,
muß sittlich sein. Es auf die Nützlichkeit zurückzuführen, ist falsch.
Denn gerade die höchsten Wissenschaften haben keine Beziehung zur
Praxis! Und die andern nicht als wissenschaftliche Form.
CXXIV Inhaltsanalyse.
S. 289. Das Wissen selbst muß ein sittlicher Zweck sein. Die
Eudämonisten verachten das Wissen. Die Tätigkeitsethiker tun so, als
sei es selbstverständlich. Aristoteles trennt es von der Ethik.
S. 290. Das ist ebenso verkehrt, als wenn man das Philosophieren
vom Leben trennt. Fichte: das Forschen muß geschehen um der
Pflicht willen. Diese Pflicht ist aber nicht allgemein, sondern nur damit
Sittlichkeit besteht, muß sie sein; zu einem äußeren Geschäft ist
es gleich, ob alle oder einige die Pflicht erfüllen. Das letztere ist aber
besser, also wissen nur die Gelehrten. Diese verbessern die Ethik,
indem sie sie zum Wissen erheben, und sie haben Wissen, um die
Ethik zu machen — ein Zirkel. Nur Piaton will die ganze Sittlichkeit
auch im Wissen darstellen und bei Spinoza steht die Sittlichkeit in
engstem Verhältnis zu dem Wissen des Ganzen.
S. 291. So ist es möglich bei ihm, das gesamte Wissen und seinen
Erwerb aus seinen Grundsätzen abzuleiten. In Beziehung auf die Kunst
verdient Piaton den Vorzug. Spinoza lehnt die Kunst ab, ohne zu polemi-
sieren, und dagegen hat die (formale) Kritik nichts einzuwenden. Die
andern fordern die Kunst, ohne sie zu begründen. Denn z. B. bei
Fichte hebt die Kunst als Mittel zur Sittlichkeit die Kunst auf.
S. 292. Die Unentbehrlichkeit des Mittels ist nicht mit erwiesen.
Sonstige Unklarheiten. Ebenso Kant. Die Alten haben die Entschuldi-
gung, daß bei ihnen alles dem Staate anheimgestellt ist.
S. 293. Die moderne Ethik hat diese Entschuldigung nicht.
Der Staat ist zu wenig begründet. Denn daß er allgemeine Glück-
seligkeit schaffen soll, ist nur im Eudämonismus möglich.
S. 294. Auch der Staat als Schutz gegen das Unrecht ist unzureichend
im Eudämonismus. Denn hier ist nicht einmal das Recht abgeleitet,
wie viel weniger der Staat. Legt man diesen Gedanken der praktischen
Ethik bei, so ist klar, daß der Staat mit Anfang der Sittlichkeit aufhören
muß. So darf dem Staate nichts zugeschoben werden, was dem Zu-
stande der vollen Sittlichkeit zukommt.
S. 295. Spinoza schließt nichts Sittliches vom Staate aus. Bei
Fichte bleibt als Begründung der Gemeinschaft nur der Ackerbau und
die Verwendung der Erzeugnisse. In Kunst und Ehe erscheinen dann
mystische Zusätze und hier hineingepreßte Erhöhung des Gesichtspunktes
über die Welt usw.
S. 296. Hier ist offenbar zu viel oder zu wenig. Jedenfalls müßte
man heute auch einen Staat als Selbstzweck haben.
Inhaltsanalyse. CXXV
Ungenügende Reduktion der ethischen Sätze auf Prin-
zipien.
Der gegebene Zustand wird zugrunde gelegt ohne Prüfung.
S. 297. So setzen die Griechen Sklaverei für ihren Staat voraus.
So bei vielen anderen.
S. 298. Die Stoiker setzen bei ihren Trostgründen über das Unglück
die damalige Ohnmacht des Menschen voraus. So ist es selbst bei
Fichte. Die Folge dieses Anfangens auf halbem Wege ist, daß nie-
mals das ganz Sittliche dargestellt wird, sondern das Unsittliche fest-
gehalten wird.
S. 299. So etwa wenn Tapferkeit als pflichtmäßiger Kriegsmut
gefaßt wird, ist der Krieg vorausgesetzt, der doch unsittlich ist. Dieses
Anfangen auf halbem Wege ist die Quelle von Kollisionen des einen
Sittlichen jnit dem andern.
S. 300. Die Sittenlehre soll das vollendete Sittliche in seinem Sein
s o darstellen, daß aus den Formeln sein annäherndes Werden für jede
Bedingung zu finden ist.
S. 301. Zweiter Abschnitt. Von der Vollkommenheit ethischer
Systeme in Absicht auf deren Gestalt.
Kasuistik und Asketik erscheinen als Anhängsel an die Systeme. So
bei Kant. Die Asketik scheint nur erfunden, um einen Platz zu füllen.
S. 302. Die Kasuistik ist ganz leer bei Kant. Man muß sie nach
Kant usw. auffassen als Unternehmen, durch Erörterung von Grenzfällen
den Geltungsbereich von ethischen Formeln festzustellen.
S. 303. Das kann aber kein gesonderter Teil der Ethik sein! Auch
dazwischen, wie bei Kant, kann sie nicht auftreten, sondern hat ihren
Grund in der Unbestimmtheit der Formeln.
S. 304. Wenn Güter und Tugenden im Vordergrund stehen, so ist
Kasuistik das Feststellen der Handlung nach diesen Begriffen; denn
die Forderung ist ja noch nirgends erfüllt, daß die ganze Ethik nur
unter anderm Gesichtspunkt in jedem Teil enthalten ist.
Die Asketik soll eine Technik sein, um sittlich zu werden.
S. 305. Es darf aber nichts nur als Mittel gesetzt werden und die
Asketik im obigen Sinne ist die Gesamtheit der inneren Mittel.
Ist der Tugendbegriff im Mittelpunkt, so ist die Asketik alles.
Beim Gutbegriff ist ein Nebeneinander möglich.
S. 306 — 310. Weitere Nachw^se der Unmöglichkeit von Kasuistik
und Asketik.
CXXVI Inhaltsanalyse.
S. 311. Welche Sittenlehre, die nicht alle drei Haupt-
begriffe enthält, ist relativ am vollständigsten? Solange
Pflicht und Tugend nicht richtiger gefaßt sind, ist es unmöglich, die
Sittenlehre durch sie befriedigend darzustellen. Die Behandlung nach
einem einzelnen Begriff ist immer einseitig.
S. 312. Der Güterbegriff ist wenigstens kosmisch, aber er braucht
zur Berufung die beiden andern, so daß diese drei sich auch hier als
notwendig vereint erweisen.
S. 313. Durch bloßes Nebeneinanderstellen der drei Behandlungsarten
ist nichts getan, das würde ja nur die Selbständigkeit der einzelnen Teile
bewähren. Das Wesen der Vereinigung liegt in der Reduktion der Formeln
für das Gesetz (Pflicht) und für den Weisen (Tugend) auf die des
höchsten Gutes.
S. 314. Allenfalls der Güterbegriff gibt auch der einseitigen Ethik
Wert. Pflicht und Tugend weniger gut.
S. 315. Mangelhafte Zusammenfügung der drei Teile bei Stoa und
Fichte.
S. 316. Einteilung in reine — angewandte Ethik. 1. In der „reinen''
soll das Ethische vor der menschlichen Natur, ohne Rücksicht auf sie,
enthalten sein, in der angewandten das, was aus deren Eigentümlichkeit
entspringt. Fichte sagt mit Recht, daß in der ersten nichts Reales
sein kann.
S. 317. In den angewandten Ethiken dann eine Beschränkung des
Allgemeinen — Formalen durch die Natur des Menschen. Das kommt
namentlich bei denen vor, die das Ethische in einer Beschränkung sehen.
(Kant.) 2. Man trennt danach auch den realen ethischen Inhalt: reine
Ethik — allgemeine Vorschriften — angewandte Ethik. — besondere
Vorschriften für einzelne aus der Erfahrung stammende Fälle.
S. 318. Kant nimmt auch das auf, trotzdem bei ihm jeder Unterschied
vom Allgemeinen und Besonderen schwindet. Ist das Wesen des
Menschen spekulativ festgestellt, so muß mit dem Allgemeinen zugleich
der Ort des Besonderen gefunden sein.
S. 319. In jeder Tat der Pflicht ist vereinigt das Allgemeine mit
dem für den besonderen Fall Nötige.
S. 320. Ein wirklich bekannter Zustand eignet sich nicht zur wissen-
schaftlichen Darstellung, sondern die richtige Behandlung desselben ist
die künstlerische und selbstbildende Anwendung, die jeder von seiner
Ethik zu machen hat. Denn die Wissenschaft muß trennen, im Leben
ist nichts getrennt. Über keinen Gegenstand kann die Wissenschaft
etwas aussagen, der nicht seine Einzelheit verloren hat. Die „reine
Inhaltsanalyse. CXXVIi:
Ethik" ist eben nie allgemein genug, jede Ethik aber muß umfassen,
was für alle Zeit gilt.
S. 321. Das Vergangene erhält durch sie seine wahre Stelle und
wird erst eigentUch erkannt. Die Zukunft kann von den Formeln der
Ethik aus berechnet werden, denn die tatsächlichen Verbesserungen
der sittlichen Verhältnisse wären auch aus Berechnung hervorgegangen,
wenn man den sittlichen Tatbestand mit den wahren Formeln der
Ethik vergUchen hätte.
3. Unter „angewandte Ethik" werden einige untergeordnete Wissen-
schaften verstanden, die Zwecke und Grundsätze von ihr entlehnen^
aber ein eignes Gebiet haben.
S. 322. Das Verhältnis ist ganz anders wie das zwischen reiner und
angewandter Mathematik. Allenfalls bei der beschränkenden Ethik ist
Ähnlichkeit.
S. 323. In der Ethik der Selbsttätigkeit muß die Idee jeder Wissen-
schaft vorhanden sein, da sie ja sonst kein Ziel des Strebens wäre. Als
Theorem in Beziehung auf seinen Inhalt gehört nichts von den speku-
lativen Theoriewissenschaften in die Ethik, nur insofern das Streben
danach Tat in der Zeit ist. Alle praktischen Wissenschaften, die Hand-
lungen vorschreiben, sind ganz von der Ethik mit bestimmt.
S. 324. So Erziehungs-, Haushaltungs- und Staatskunst.
S. 325. Die negative Ethik findet die verschiedenen äußeren Zwecke
vor und kann daher eher diese Teile von der Ethik trennen.
Die Form dieser anhängenden Teile ist höchst unvollständig.
S. 326. Z. B. wenn in der Haushaltungslehre (Nationalökonomie)
der Reichtum angesehen wird als Darstellung der bildenden Herrschaft
des JVlenschen über das Leblose, so muß damit gleichzeitig Verbesserung
von Sprache und Kunst verbunden sein. Nie ist das vorhanden, weil
man immer nur beim Allgemeinen stehen bleibt.
So gehört auch in jeder Ethik zur Staatslehre die Theorie der
wissenschaftlichen und religiösen Gemeinschaften.
S. 327. Die Religion wird vergessen, weil man der Phantasie
keinen Raum läßt. Das Übersehen der wissenschaftlichen Vereine hat
seinen Grund darin, daß hier eine erweiternde Vereinigung vorliegt, keine
beschränkende.
Die Hauptsache aber ist, daß bei Vollständigkeit der angewandten
Ethik für die reine nichts außer leeren Formeln übrig bleibt,
S. 328. Die scheinbaren Grundlagen für diese Scheidung sind: man
wollte die ethischen Vorschriften einteilen nach den Gegenständen,
welchen sie dienen. So ist das eigentlich eine mißverstandene Güterlehre^
CXXVIII Inhaltsanalyse.
Das Bestreben, die verschiedenen Potenzen des Daseins hervortreten
zu lassen. Mensch in Familie, Staat.
S. 329. Bei den Alten gehen mehrere davon aus, es bleibt aber bei
Unzulänglichem. Man trennt Naturrecht von Ethik.
S. 330. Kant trennt ganz oberflächlich nur innere und äußere Gesetz-
gebung in dieser Beziehung. Im Grunde erscheint hier wieder die
Ethik als nur limitativ. Derselbe Geist hat sicher Fichte veranlaßt zu
dieser Trennung.
Fichte scheidet wieder zu wenig das Wesentliche vom Zufälligen.
S. 331. Sittengesetz und Gesetz der Konsequenz gehören verschie-
denen Zonen an. Deren Übereinstimmung wird nicht gezeigt, ja, es
fehlt sogar jede Möglichkeit, Harmonie herzustellen.
S. 332. Der Inhalt beider fällt z. T. zusammen, z. T. sind sie
wieder ganz getrennt. Fortgesetzt, wie Fichte es angefangen, wäre
Naturrecht eine Ableitung aller äußerlichen Bedingungen des Selbst-
bewußtseins, also der physische Teil einer idealistischen Philosophie.
Tatsächlich ist das Naturrecht nichts als die Aufgabe, zu dem, was in
Politik willkürlich erscheint, das Notwendige zu finden.
S. 333. Ähnlich Aristoteles. Jedenfalls Naturrecht in dieser Weise
ein Unding.
S. 334 — 340. Vom Stil der bisherigen Sittenlehre.
S. 341—346. Beschluß.
Zu den Anmerkungen unterm Text:
Durch ein Versehen sind die Bemerkungen auf den Seiten 201, 271,
272^, 274 nicht mehr entfernt worden, trotzdem sie nicht für den Druck
bestimmt waren. Br.
Grundlinien
einer
Kritik der bisherigen Sittenlehre,
1803. 1834. 1846.
Schleiermacher, Werke. I.
Inhalt.
Seite
Vorrede 5
Einleitung.
1. Von der Idee dieser Kritik 9
2. Von den Grenzen derselben 11
3. Von ihrer Anordnung und Einteilung 16
Erstes Buch. Kritik der höchsten Grundsätze der Sitten-
lehre.
Einleitung 19
Erster Abschnitt. Von der Verschiedenheit in den bisherigen ethischen
Grundsätzen 38
Zweiter Abschnitt. Von der Tauglichkeit der verschiedenen ethischen
Grundsätze zur Errichtung eines Systems.
1. Bedingungen dieser Tauglichkeit 70
2. Prüfung der Grundsätze nach den aufgestellten Bedingungen . 80
Anhang. Erläuterungen zu dem, was von einigen Schulen gesagt worden. 114
Zweites Buch. Kritik der ethischen Begriffe.
Einleitung. Von der Methode, die ethischen Begriffe zu bilden, und
von der Art, wie die vorhandenen erscheinen 121
Erster Abschnitt. Von den formalen ethischen Begriffen 128
1. Vom Pflichtbegriff 130
2. Vom Tugendbegriff ISO
3. Vom Begriff der Güter und Übel 167
Zweiter Abschnitt. Von den einzelnen realen ethischen Begriffen . 179
Anhang . 234
1*
Inhalt
Drittes Buch. Kritik der ethischen Systeme. S'"*
Einleitung.
1. Von der Anwendung der Idee eines Systems auf die Ethik . . 247
2. Von den Momenten der Prüfung nach dieser Idee 254
Erster Abschnitt. Von der Vollständigkeit der ethischen Systeme in
Absicht auf den Inhalt 259
Zweiter Abschnitt. Von der Vollkommenheit der ethischen Systeme
in Absicht auf deren Gestalt 301
Anhang. Vom Stil der bisherigen Sittenlehre 334
Beschluß 341
(Alle Anmerkungen, Einteilungen am Rande und Sperrungen im Texte
sind in dieser Schrift vom Herausgeber hinzugefügt! Vgl. darüber am Schlüsse
des Bandes „Bemerkungen zur Textbehandlung". A. d. H.)
Vorrede.
Von der Absicht dieses Buches redet die Einleitung; und der
Verfasser verspricht, wie auch das Werk selbst beurteilt werde,
dem Zwecke wenigstens Billigung. Auch hofft er, wiewohl ein
ähnlicher Versuch von ihm auf einem andern Gebiet und in an-
derer Form unglücklich genug von vielen ist ausgelegt worden,
nicht so mißverstanden zu werden, als sei es mit dieser Prüfung
der bisherigen Sittenlehre darauf abgesehn, das ganze Bestreben
für nichtig zu erklären, und sich denjenigen zuzugesellen, welche
die Ethik als besondere philosophische Wissenschaft verneinen. Viel-
mehr glaubt er seinen Glauben an die Möglichkeit dessen, was
noch nicht zur Wirklichkeit gekommen ist, genugsam beurkundet.
Ja es war in diesem Werke, worin von seinen eignen Grund-
sätzen nicht ausdrücklich die Rede sein konnte, eine nie aus den
Augen gesetzte Nebenabsicht, dasjenige, was er sagen mußte, so
darzustellen und so zu verknüpfen, daß dem Leser recht oft und
von allen Seiten die Punkte vor Augen geführt würden, von
welchen nach des Verfassers Überzeugung jede gründliche Ver-
besserung der Ethik ausgehen muß. So daß er hofft, für die-
jenigen, welche in dem philosophischen Calculus nicht ungeübt sind,
und dasjenige vergleichen wollen, was gelegentlich in den Reden
über die Religion, noch mehr aber in den Monologen angedeutet
worden, seine Ideen auch hier schon deutlich genug niedergelegt
zu haben, und sich deshalb leichter beruhigen wird, wenn ihm
das Schicksal die Zeit verweigern sollte, um die Sittenlehre nach
seiner Weise irgend befriedigend darzustellen. Aus diesem Ge-
sichtspunkt also wünschen seine Voraussetzungen sowohl als seine
Resultate nicht als Theoreme und Lösungen, sondern als Aufgaben
vielmehr und heuristische Hypothesen beurteilt zu werden. Viel-
6 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [III, 1, 4]
leicht möchte bei dem gegenwärtigen Zustande der Wissenschaften
und dem immer noch obwaltenden Streit über die ersten Prin-
zipien eine solche Art der Kritik wie diese auch für andere Zweige
der Erkenntnis sich nützlich erweisen, um von einem Punkt aus,
der außerhalb des streitigen Gebietes Hegt, dasselbe zu vermessen.
Wenigstens kann nicht genug erinnert werden, was im Streit
über das Einzelne sich so leicht vergißt, daß zur wissenschaftlichen
Form, in welcher die Erkenntnis und die Kunst sich durchdringen,
alles muß hingeführt werden, was den Namen der Philosophie
verdient. Doch dieses nur beiläufig. Über die Ausführung aber
ist noch folgendes zu erinnern.
1. Zuerst will dieses Buch ausdrücklich nur für diejenigen ge-
schrieben sein, welche mit seinen Gegenständen hinlänglich be-
kannt sind. Schon von irgendeinem einzelnen Werke scheint eine
Kritik, welche zugleich Darlegung des Inhaltes ist, etwas Wunder-
liches imd Vergebliches zu sein. Denn der Urteilende ist nicht
zu derselben Zeit in einem rein auffassenden Gemütszustande,
oder kann wenigstens nicht dafür angenommen werden, und so
sind dem Leser zwei unbekannte Größen gegeben, der Gegen-
stand selbst und die Ansicht des Urteilenden, so daß er sich im
besten Falle mit einer unbestimmten Aufgabe verstrickt sieht, von
welcher die Grenzen, innerhalb deren die Lösung liegt, nur schwer
zu finden sind. Auch ist offenbar, wieviel Unwahrheit durch
diese Art der Behandlung verbreitet wird, und welche Vor-
stellungen diejenigen erhalten, welche nur durch ein solches Mittel
die literarischen Gegenstände betrachten. Wieviel weniger also
könnte Glauben verdienen und Nutzen schaffen eine ähnliche
Kritik einer ganzen Wissenschaft. Wer daher erst aus diesem
Buche die verschiedenen Systeme der Sittenlehre will kennen
lernen, der gehört nicht unter die gewünschten Leser, und
wird, die fragmentarische Darstellung, die das meiste voraussetzt,
nicht verstehend, auch das Urteil nur auf bloßen blinden Glauben
hinnehmen müssen, und gar nicht berechtigt sein, es selbst wieder
[III, 1, 5] Vorrede. ^
zu beurteilen. Diese Beschränlcung des Wirkungskreises hat nun
auch alle einzelnen Anführungen und Belege unnötig gemacht.
Denn die Kundigen, welche in den Quellen zu Hause sind, werden
ohne Zweifel, was jedesmal gemeint ist, herausfinden. Die andern
aber, wenn ja auf sie sollte Rücksicht zu nehmen sein, werden
doch in einer Angelegenheit, wo alles Verstehen nur auf dem
Zusammenhange beruht, durch den Prunk der Zitate um ihren
Glauben nur betrogen. Obgleich fest entschlossen, nicht nachzu-
schlagen, meinen sie, der Schriftsteller werde es doch nicht wagen,
ihnen Stellen aufzuführen, in denen das nicht enthalten sei, weshalb
er sie herbeibringt. Daran aber denken die Guten nicht in ihrer
Unschuld, daß bei der genauesten wörtlichen Übereinstimmung
doch das Angeführte eine andere Bedeutung haben könne im
Zusammenhange. Deshalb wird ihnen auch so zum Bemitleiden
mitgespielt in den Geschichten und Kritiken der Philosophie, ja,
um es nicht so weit zu suchen, in jeder parteigängischen Be-
urteilung auch neuerer Werke von räsonierendem Inhalt. Da-
gegen wäre der Verfasser gern für die Kundigen an mehreren
Orten mehr ins Einzelne gegangen, hätte der Raum es gestattet.
Ebenso blieb mit Recht ausgeschlossen jede polemische Rücksicht
auf abweichende Ansichten und Auslegungen des geschichtlichen
Stoffes. Doch ist, um diese Grenzen festzuhalten, dem Verfasser
sehr willkommen gewesen, daß er nicht eher als nach dem Abdruck
fast des ganzen Buches die letzten Bände gelesen hat von Tenne-
manns * Geschichte der Philosophie. Denn das gründliche Studium
und das freie Urteil, welches sich in diesem Werk offenbart,
hätte ihn leicht verleiten können, an mehreren Stellen teils die
wirkliche Abweichung seiner Ansicht stärker heraus zu heben,
teils über die scheinbaren sich befriedigender zu erklären.
Was zweitens die Schreibart betrifft, so ist leicht voraus- 2.
zusehen, daß sie von vielen, welche sich gern zu Richtern auf-
* W. G. Tennemann: Handbuch der Geschichte der Philosophie, über-
setzt ins Französische von V. Cousin.
8 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [III, 1, 6J
werfen, als abscheulich wird verworfen werden, von andern Wohl-
meinenden bedauernd gemißbilliget, und nur von wenigen Auf-
merksamen einer ernstlichen Prüfung ihrer Gründe und ihrer
Bedeutung gewürdiget. Doch da die ungebundene Rede, nicht
diejenige nämlich, deren jeder sich gebraucht, ohne davon zu
wissen, nur erst entsteht, ja von vielen noch nicht anerkannt ist,
so wird es leicht, sich über jene zu trösten. Die letzteren aber
mögen überlegen, ob es ein unrechter Gedanke gewesen, eine
Schrift, welche sich lediglich mit der Auflösung wissenschaftlicher
Formeln beschäftigt, auch soviel möglich in Absicht auf die Zeichen
selbst und ihre Verknüpfung auf die Strenge und Einfachheit der
mathematischen Analyse zurückzuführen. Hierzu ist auch die Frei-
heit zu rechnen, deren sich die Analysten bedienen, die Zwischen-
glieder, oder auch, wenn der Weg gebahnt ist, das Ende der
Auflösung ihrer Gleichungen nicht selten auszulassen, und nur
beiläufig ohne Abweichung vom Wege darauf hinzuzeigen, wo
eine Formel aufstößt, die in anderer Hinsicht bemerkenswert sein
kann. Wie weit nun diese Idee hier ist erreicht worden, mögen
andere beurteilen; dem Verfasser ist nur soviel gewiß, daß der
Versuch, zum zweitenmal angestellt, ihm besser gelingen würde.
Auch von kleinen Nachlässigkeiten, in deren Vermeidung, die in
der Tat beschwerlicher ist als schwer, einige mit Unrecht den
ganzen Wert eines guten Vortrags setzen, weiß er sich nicht
frei. Aber wenn es auch Gründe geben kann, diese Art der Voll-
endung der früheren Erscheinung eines Werkes, besonders eines
wissenschaftlichen, bisweilen leichter aufzuopfern, so haben sie
doch nur für den Schriftsteller selbst ihr rechtes Gewicht, und
er kann ihrer ohnerachtet nicht umhin, indem er die verfehlten
Stellen der bessernden Sprachliebe der Leser überläßt, sich selbst
dem Tadel preiszugeben, der ihn betrifft.
Stolpe, im August 1803.
Einleitung.
1.
Von der Idee dieser Kritik.
Wie eine bestimmte Darstellung der Ethik von ihren Grund- Kritik
Sätzen aus die übrigen prüft und würdiget, dieses haben wir der gewöhn-
schon öfters gesehen, und fast keiner, der über die allgemeinen Kritik.
Gesetze des menschlichen Handelns auf eine neue Art zu reden
glaubte, hat es unterlassen. Es kann aber, wie bei einer solchen
Vergleichung gewöhnlich verfahren wird, kaum daraus abge-
nommen werden, inwiefern eine von der andern abweicht, wozu
etwas Vollständigeres erfordert würde als diese einzelnen Blicke,
welche jeder von den vorteilhaftesten Stellen seines eignen Weges
auf den des andern hinüberwirft; noch weniger aber, welche
von beiden die richtige ist. Denn oftmals wird die Sache geführt
nur durch eine Berufung auf das Gefühl, welches jeder dem
seinigen gleichartig bei den Unparteiischen voraussetzt; auf
welchem Wege denn für die Wissenschaft gar nichts entschieden
werden kann. Oder, wie die Beispiele zeigen, beruht der Aus-
spruch darauf, daß die eine nicht erweisen und zustande bringen
kann, was die andere, und daß, was sie gebietet, jener zufolge
nicht sollte geboten werden. Soll nun Gründen dieser Art einiges
Gewicht beigelegt werden, so muß dasjenige System der Sitten-
lehre, auf welches die Prüfung sich bezieht, sich bereits als das
richtige erwiesen haben. Dieses aber kann keines vermittelst einer
solchen oder solchen Beschaffenheit seines Inhaltes, wie wenn
eines von sich sagt, aus ihm allein erfolge ein solches Betragen,
wie es in der bürgerlichen Gesellschaft 201 wünschen wäre, oder
10 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [III, 1, 8]
wie es der Gottheit angenehm sein kann, oder wie es den Menschen
überhaupt wahrhaft nützlich ist. Denn jenes beides ist fremdartig
für die Sittenlehre, welche doch als Wissenschaft ein Recht hat,
keinem andern Endzweck untergeordnet, sondern nur für sich be-
urteilt zu werden. Das letztere aber ist ganz töricht, und nichts
Lächerlicheres mag wohl erdacht werden, als was jemand zu sagen
pflegt von dieser ethischen Schule, sie sei der Tugend günstiger
als jene. Sondern dies kann nur geschehen, indem eine solche
Grundsatz Darstellung von sich zeigt, daß sie ihre Aufgabe der Form
der eigenen ^ ^ ' ^
Kritik, nach vollständig und rein gelöst habe; denn alsbald
kann sie eine jede andere mit ihren Ansprüchen so lange ab-
weisen, bis diese den nämlichen Beweis geführt hat. Es gibt
nämlich gar für jede eigentliche Wissenschaft, wie
doch die Ethik sein will und soll, keine andere Kritik,
als die der wissenschaftlichen Form, und eine solche
aufzustellen soll hier versucht werden. Ob aber auch
mit einer solchen für die Sittenlehre viel zu gewinnen sein möchte,
könnte wohl mit Recht einer zweifelnd fragen. Dieser müßte
vorläufig entweder mit der Antwort zufrieden sein, daß der Ver-
such es zeigen werde, oder sich mit seinem Zweifel auf eine zwie-
fache Voraussetzung verweisen lassen. Wenn nämlich mehrere von
den ihrem Inhalt und ihren Grundsätzen nach, wie sie wenigstens
selbst behaupten, so weit voneinander abweichenden Systemen
der Sittenlehre jedes in seiner Art die Aufgabe kunstgerecht ge-
löst hätten: dann würde allerdings auf diesem Wege über die
Vorzüge des einen vor dem des andern nichts zu entscheiden sein.
Wer aber möchte dieses wohl glauben und so gering von der
Wissenschaft denken, daß es ihm möglich schiene, dieselbige Auf-
gabe könne nach ihren Gesetzen zu mehreren und verschiedenen
Lösungen ohne Fehler gelangen? Vielmehr würden wir alsdann
mit Sicherheit folgern, nicht nur daß die Ethik sich nicht eigne,
eine Wissenschaft zu sein, sondern auch daß schon der Gedanke
derselben nur auf einem vielfältig leeren Schema beruhen müsse.
[111,1,9] Einleitung. 11
Kann hingegen jenes Zeugnis der Richtigkeit der Form nur einer
oder gar keiner gegeben werden : dann werden wir sowohl ferner-
hin glauben dürfen, daß die Ethik eine Wissenschaft sei, als auch
hoffen, diese Art der Kritik werde uns zeigen, entweder wo sie
bereits oder warum sie noch nirgends zustande gekommen. Denn
ohne Zweifel muß es wie für die Kunst, so auch für
die Wissenschaft gelten, daß Gestalt und Gehalt ein-
ander gegenseitig zur Bewährung dienen; so nämlich,
daß, was der Gestalt widerstrebt, auch gar nicht ein Bestandteil
irgendeines so gearteten Ganzen darf sein wollen, und wiederum,
welche Gestalt sich nicht einen bestimmten Gehalt aneignet, alles
andere aber aus eigner Kraft ausstößt, diese auch nicht ver-^
langen darf, daß irgend etwas Gutes und Würdiges sich hergebe,
um sie auszufüllen. Auf diesem Grundsatze nun beruht die Mög-
lichkeit, daß eine wie die Ethik so vielfach bearbeitete Wissen-
schaft, wenn nur der Begriff derselben gegeben ist, ganz ohne
weder einen von den bisherigen Versuchen anzuerkennen, noch
auch einen neuen zuvor anzustellen, dennoch der Kritik unter-
worfen werden kann.
2.
Von den Grenzen derselben.
Wenn nun das Geschäft einer solchen Kritik dieses ist, zu
untersuchen, inwiefern die Ethik in ihren bisherigen Gestalten
den Anspruch, eine eigne und echte Wissenschaft sein zu wollen,
gerechtfertigt hat: so folgt also, daß sie nur da es zu verrichten
befugt ist, wo diese Ansprüche mit dem Wort oder der Tat ge-
macht worden sind, das heißt, wo ein zusammenhängendes und
das Gebiet umfassendes System verheißen worden ist, welches das
zufällige menschliche Handeln unter einer Idee betrachtet, nach
der, was darin ihr angemessen ist, ausschließend und ohne Aus-
nahme als gut gesetzt, als böse aber ebenso alles mit ihr Un-
vereinbare verworfen wird. Wobei jedoch einerseits nicht jede
geringfügige Verschiedenheit einer einzelnen Darstellung ihr das
12 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [III, 1, lOJ
Recht gibt, ein besonderes Verweilen der Untersuchung zu for-
dern; denn sonst würde weder das Ende zu finden sein, noch
auch verhindert werden können, daß nicht, was vielleicht ur-
sprünglich nur Mißverstand oder Ungeschicklichkeit war, uns un-
belohnte Mühe verursache. Andererseits aber auch muß nicht
eben was wir suchen mit ausdrücklichen Worten verkündigt
noch auch in einer sich dem ersten Anblick beglaubigenden Ge-
stalt ausgeführt worden sein: sondern auch die stillschwei-
gende Absicht reicht uns hin, und die unvollendete Tat.
So hat gleich Piaton, obschon er unter den ersten und trefflichsten
Arbeitern dieses Feldes hervorragt, keine zu Ende geführte und
vollständige Darlegung seiner Ethik hinterlassen. Welcher aber
verdiente wohl genannt zu werden, wenn dieser ausgeschlossen
sein sollte? Oder wie könnte er es, da doch nicht geleugnet
werden mag, daß er die Ethik als Wissenschaft gedacht und ge-
wollt hat, und so deutlich zwar, daß jeder gestehen muß, wie
alle derart Andeutungen und Aussprüche in seinen Werken nicht
etwa aufs ohngefähr hier so, dort anders hingeworfen, sondern
zusammengehörige und von dem Kundigen leicht zusammen-
zufügende T^ile eines eigenen Ganzen sind. Nur kann er, und
wer sich in gleichem Falle befindet, weder selbst noch auch
seine Idee des Fehlenden wegen getadelt werden, es müßte denn
der letztern erwiesen werden können, daß sie ihrer Natur nach
nicht hingereicht habe, um das Angefangene zu vollenden. Nur
also da, wo wissenschaftliche Ausführung und Absicht entweder
an sich oder doch für uns nicht vorhanden ist, kann auch das
Ethische nicht Gegenstand dieser Kritik sein. Das „für uns" näm-
lich ist zu verstehen von solchen Völkern, deren nicht wie die
unsrige von der hellenischen abstammende Weisheit uns nicht
im Zusammenhange bekannt ist; das „an sich" aber von allen sitt-
lichen Aussprüchen der gemeinen Rede und Meinung, so wie
auch von jeder Ethik, die sich auf empfangene göttliche Gebote
bezieht. Denn ebenso würde eine Kritik der Wissenschaft von
[111,1,11] Einleitung. 13
den Gründen des Daseins weder mit den halben und schiefen
Begriffen des gemeinen Verstandes, noch auch mit den von einer
Offenbarung ausgehenden Lehren sich einlassen dürfen. Ist nun
als Gegenstück der letzteren die Ethik der Gottseligkeit nur Dar-
legung des gebietenden Inhaltes einer Offenbarung: so ist sie
ganz außerhalb der Wissenschaft gelegen. Will sie aber diesen
Inhalt auf irgendeine Art mit der natürlichen Erkenntnis in Ver-
bindung setzen: so fügt sie sich notwendig entweder an die
kunstlosen und unverbundenen Ausdrücke der gemeinen Mei-
nung, oder an die wissenschaftliche Behandlung irgendeiner Schule
an; wie sie denn auch beides zu allen Zeiten mit abwechselndem
Erfolge getan hat. Beides gilt auch von dem Teile ihres Inhaltes,
welchem die Gottheit noch besonders als Gegenstand zum Grunde
liegt, da ja die gemeine Meinung vorzüglich das Sittliche und
Fromme verbindet, aber auch die Ethik der Schule nicht unter-
läßt, von Pflichten oder Gesinnungen gegen die Gottheit auf
irgendeine Weise zu handeln. Erstere aber, die Aussprüche des
gemeinen Verstandes, können für sich gar nicht im Zusammen-
hange betrachtet werden, da nicht einmal eine vorgebliche Ein-
heit der Grundsätze vorhanden ist, sondern vielmehr das eine
hier, das andere dort her genommen zu sein scheint, und was sie
zusammen hält, nur eine der Ethik fremde Beziehung sein kann.
Allerdings indes stehen sie in einer unvermeidlichen Wechsel-
wirkung, teils diese bestimmend, teils durch sie bestimmt, mit
den Versuchen der wissenschaftlichen Ethik, und insofern wird
in einzelnen Fällen auch auf sie Rücksicht zu nehmen sein.
Demnächst aber soll nur jenes System über das zufällige
menschliche Handeln der Gegenstand der Untersuchung sein, und
über nichts darf sie sich verbreiten, was von oben oder unten her
diesem angehängt zu werden pflegt. Deshalb schon ist das mensch-
liche Handeln, wiefern es der Inhalt dieser Wissenschaft ist, ein
zufälliges genannt worden, nicht aber ein freies, um nämlich diesen
Begriff gänzlich zu vermeiden, über welchen schon wegen Un-
14 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [III, 1, 121
gleichheit der Meinungen hier nicht im voraus entschieden werden
kann. Denn einige zwar legen ihn zum Grunde ihrer Ethik
als unentbehrlich; andere aber haben ihn gänzlich verneint, ob-
wohl sie auch eine Ethik aufstellen; und es gibt auch solche,
unter denen Kant ist, die ihn zu diesem Endzweck gänzlich bei-
seite stellen. Wollten wir nun im voraus entscheiden, daß eine
von diesen Verfahrungsarten für die Sittenlehre notwendig sei,
und welche: so würden wir unbefugtermaßen diejenigen, welche
anderer Meinung sind, vom Anfange her ausschließen, und die
ganze Untersuchung auf einen andern Ort stellen als den einmal
in Besitz genommenen. Es liegt nämlich dieser Begriff gar nicht
innerhalb des abgesteckten Gebietes. Denn keiner, er bejahe ihn
nun oder verneine, wird behaupten, daß wenn seine Überzeugung
hiervon sich änderte, er dann anderes für gut und anderes für
böse halten würde als zuvor. Wofern nicht jemand im Eifer
sagen möchte, er würde dann gar keinen Unterschied annehmen
zwischen böse und gut; welches jedoch hieße, die menschhche
Natur weniger dem Ideal unterwerfen als irgendeinen Teil der
körperlichen. Denn von dieser sind wir überzeugt, daß alles in
ihr notwendig erfolgt: wer aber macht nicht, den Begriff des
Ideals anwendend, dennoch einen Unterschied der Vollkommen-
heit und Unvollkommenheit oder Schönheit und Häßlichkeit
zwischen den verschiedenen Naturen sowohl als auch den ein-
zelnen von gleicher Natur? So auch gibt es über die künst-
lerischen Handlungen des Menschen und das Gelingen derselben
ein System der Beurteilung nach dem Ideale, ohne daß jemals
die Frage in Anregung käme, ob auch der Künstler Freiheit ge-
habt, anders und besser zu können. Sondern dieser Begriff liegt
auf der einen Seite höher, auf der andern niedriger, als die
Wissenschaft. Niedriger nämlich Hegt die Anwendung, welche von
demselben gemacht wird, wenn bestimmt werden soll, ob man
'denken und sagen müsse, der Täter habe nicht anders gekonnt,
oder er habe nicht anders gewollt, welches noch genauer so aus-
[111,1, 13] Einleitung. 15
zudrücken wäre, ob er nicht anders können gewollt, oder nicht
anders wollen gekonnt. Denn diese Frage würde gar nicht auf-
geworfen werden, wenn nicht durch die sittliche Beurteilung etwas
von der Tat ausgesagt würde, welches, inwiefern es auch auf den
Täter überzutragen sei, der Gegenstand des Zweifels ist. Höher
aber als die besondere Wissenschaft der Ethik liegt die Frage
selbst von der Freiheit, insofern sie die menschliche Natur in
ihren wesentlichen Beziehungen erst zusammensetzend darstellen,
und die Verhältnisse der Persönlichkeit zu der Eigenschaft des
Menschen, vermöge deren er ein Teil eines Ganzen ist, bestimmen
soll. Denn dies ist offenbar ein Teil desjenigen Geschäfts, welches
der natürlichen Ordnung nach jeder einzelnen Wissenschaft
vorangehen muß, nie aber mit in dieselbe hinabgezogen werden
darf. Womit jedoch noch nicht gesagt ist, daß jene Frage gerade
zu demjenigen Höheren gehöre, wovon die Ethik abgeleitet werden
müßte. Ebensowenig wird aus denselben Gründen die Rede sein
von jeder von den meisten gleichfalls zum Behuf der Sittenlehre
für notwendig erachteten Einteilung des menschlichen Geistes
in was immer für einzelne einander bei- oder untergeordnete
Kräfte und Vermögen. Denn auch hier, ob auf eine und auf
welche die Ethik sich beziehen müsse, entscheiden zu wollen,
würde den Besitz jener Begriffsbildung und Ableitung der mensch-
lichen Natur voraussetzen, und von der Beurteilung der bisherigen
ethischen Versuche unvermeidlich zur selbsteigenen Anstellung
eines neuen hintreiben. Sondern uns wird nur obliegen, aus
dem, was jeder ans Licht gebracht hat, zu zeigen, mit welchem
Erfolg der eine sich dieses Hilfsmittels gänzlich begeben, und
was mit demselben andere ausgerichtet. Denn weder jenes nocK
dieses Verfahren dürfen wir ansehen als unnachlaßliche Be-
dingung der Sittenlehre überhaupt, sondern wir müssen für jeden
einzelnen Fall besonders fragen, ob es nur willkürlich und zu-
fällig sei in diesem System, oder aber durch seines höchsten Grund-
satzes, sei es nun Geist oder Buchstabe, bedingt und begründet.
16 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [III, 1, 14]
3.
Von ihrer Anordnung und Einteilung,
Was aber die Anordnung der vorseienden Untersuchung be-
trifft, so werden vielleicht die meisten, weil es ihnen das Be-
quemste scheint, erwarten, die verschiedenen Behandlungsarten
der Sittenlehre, wie man sie hergebrachterweise als verschiedene
Schulen zu betrachten pflegt, nacheinander und jede in ihrem
eigenen Zusammenhange für sich gewürdiget zu sehen. Allein
es ist dieser Begriff von soundso vielen Schulen, wie man sie
auch stellen und zählen möge, mehr eine zufällige und halb er-
dichtete, als auf etwas Wirkliches und Wesentliches sich beziehende
Vorstellungsart. Nicht freilich so, als ob sie nicht ursprünglich
ihren Sinn gehabt hätte; nur war dieser mehr ein geschichtlicher,
nicht sowohl den Inhalt als die Überlieferung betreffender. Der
gegenwärtige Gebrauch dieses Wortes aber ist ein solcher, wel-
chem zwar die der Sache Kundigen sich ohne Widerrede fügen,
wohl aber wissen, wie wenig Treffendes damit bezeichnet wird.
Es darf nämlich, wie jeder zugeben wird, im wissenschaftlichen
Sinn eine Schule nicht bloß aus dem Erfinder und seinen Nach-
tretern bestehen, sondern die Nachfolger sollen jene Ansicht,
welche der Stifter genommen, weiter ausbilden, und wiewohl
immer seinem Geiste getreu, auch die Mannigfaltigkeit, welche
sie noch zuläßt, weiter ins Licht setzen, indem sie der eine diese,
der andere jene, jeder seiner Natur gemäß auffassen, so auch
der eine dem, ein anderer jenem Teile des Ganzen sich vorzüglich
widmen. Und in diesem Sinne gibt es wohl wenigstens inner-
halb der Ethik noch nichts, was so fest bestehend zur Vollendung
ausgebildet worden wäre, ohne von seiner ursprünglichen Eigen-
tümlichkeit zu verlieren. Denn wenn auch jemand auf den ersten
Anblick glauben möchte, es sei unter den Alten die Schule des
Epikuros und die engländische unter den Neueren diesem Ge-
danken nahe gekommen: so wird sich doch bei längerer Betrach-
[111,1, 15] Einleitung. 17
tung auch dieser Schein wieder verUeren. Doch dies sei nur
im Vorbeigehen angedeutet. Noch weniger aber könnte nach
dieser Ansicht auf eine bequeme Weise die Untersuchung geordnet
werden, sondern nur unzulängUch, und doch nicht ohne mancherlei
Wiederholungen, welche den Lesenden verwirren. Denn es gibt
innerhalb jeder dieser Schulen nicht nur Abweichungen, welche
bedeutender sind, als das, was in anderer Hinsicht eine von der
andern unterscheidet; sondern auch die Eigentümlichkeiten der
mehresten sind ohne ihr Verhältnis zu den andern, welches durch
solche Absonderung nur dem Auge entzogen wird, nicht richtig
zu verstehen. Überdies verschwinden in manchen Teilen der
Wissenschaft die Unterschiede, wo nicht gänzlich, doch weit mehr,
als man nach den Abweichungen im Ausdruck der obersten Idee
und nach den Behauptungen von ihrer großen Ungleichartigkeit
vermuten sollte. Besser also scheint es getan, nach den zur
Lösung der ethischen Aufgabe unumgänglichen Erfordernissen
das Ganze zu ordnen; innerhalb dieser großen Hauptstücke aber
die Ausführung bald so, bald anders zu gestalten, je nachdem
bequeme Übersicht und richtige Vergleichung bald durch diese,
bald durch jene Anordnung am meisten begünstigt werden. Zu-
folge nämlich des schon vorläufig aufgestellten Begriffes ist das
erste Erfordernis einer jeden Ethik die leitende Idee oder der
oberste Grundsatz, welcher diejenige Beschaffenheit des Handelns
aussagt, durch welche jedes einzelne als gut gesetzt wird, und
welche sich überall wiederfinden muß, indem das ganze System
nur eine durchgeführte Aufzeichnung alles desjenigen ist, worin
sie erscheinen kann. Diese Ideen nun, lediglich aus dem Gesichts-
punkte ihrer Tauglichkeit zur Begründung eines solchen Systems,
vergleichend zu würdigen, soll das Geschäft des ersten Buches
sein. Dann besteht das weitere darin, daß für jeden Fall, wo
von einem Zustande der Unbestimmtheit und der Aufforderung
aus ein Gutes und ein Böses möglich ist, die Handlungsweise,
wodurch jenes zustande kommen würde, in Beziehung auf die
Schleiermacher, Werke. I. 2
18 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH, 1, 16]
leitende Idee sowohl, als auch auf ihren besonderen Gegenstand,
bezeichnet werde. Die Beschaffenheit dieser einzelnen sittlichen
Begriffe zii prüfen, ist das zweite Buch bestimmt. Nämlich nicht
etwa, ob das für gut Ausgegebene auch wirklich gut sei; denn
dieses können wir von da aus, wohin wir uns gestellt haben,
nicht an und für sich entscheiden. Sondern nur, ob sie unter
sich und mit ihren obersten Gründen in richtigem Zusammen-
hange stehn, und sich eines wahren Inhaltes und bestimmter
Umrisse zu rühmen haben. Endlich aber entsteht die Frage, ob
auch die Gesamtheit dieser Begriffe die ganze Sphäre des mög-
lichen menschlichen Handelns ausfüllt, so daß nichts, was darin
ethisch gebildet werden könnte, ausgeschlossen, und nichts, was
sich als Gegenstand sittlicher Beurteilung zeigt, unbestimmt ge-
lassen worden; kurz, ob das System auch vollständig und ge-
schlossen ist. Diese Untersuchung muß, die Richtigkeit der im
ersten Buch über die Grundsätze gefällten Urteile bewährend und
so zum Anfange zurückkehrend, im dritten das Ganze beschließen.
Auf diesem Wege stehet zu hoffen, daß eine in Beziehung auf
den genommenen Standort vollständige Übersicht über die bis-
herigen Fortschritte der Ethik als Wissenschaft gewonnen und
so ein jeder instand gesetzt werde, auch über den Wert des so
verarbeiteten Inhaltes sein Urteil zu fällen.
Erstes Buch.
Kritik der höchsten Grundsätze der Sittenlehre.
Einleitung.
Ehe die verschiedenen Ideen, welche bisher der Ethik zu- Ursprung
gründe gelegt wurden, in Absicht auf ihren Wert, nämlich ihre ^^
Tauglichkeit zur Aufführung eines wissenschaftlichen Gebäudes,
beurteilt werden, dringt sich die vorläufige Frage auf nach ihrem
verschiedenen Ursprung. Es kann nämlich die höchste Idee erst
nach den einzelnen Sätzen und vermittelst ihrer gefunden worden
sein, um diese zu vereinigen und so das Bedürfnis der Vernunft Induktion.
nach Vollendung der wissenschaftlichen Form wenigstens im ein-
zelnen zu befriedigen; so wie gewiß in der Größenlehre nicht
die ersten und einfachsten Grundsätze zuerst gefunden, sondern
nur zur Begründung dessen gesucht worden, was sich zunächst im
Gebrauch als unbestreitbar aufdrang. Oder es kann ein besonderes
Bedürfnis auf diese bestimmte Wissenschaft ihres Inhaltes wegen
gerichtet sein, und so der eine sich bei dieser der andere bei
jener Idee beruhigt haben, wie jede die vorliegende Forderung
zu erfüllen schien. Oder endlich, es kann auch die höchste Idee
dieser Wissenschaft noch einen höheren wissenschaftlichen Grund
über sich haben, und entweder als aus ihm durch die reine
herabwärts gehende Forschung ohne irgendein anderes Interesse Deduktion.
entstanden, oder doch als an ihn angeknüpft und auf ihn zurück-
2*
20 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenleiire. [111,1, 18]
geführt vorgestellt werden. Denn so wie die Vernunft des einen
von einem einzelnen in wissenschaftlicher Gestalt erscheinenden
Satze zurückgetrieben wird, um die Aufgabe, wozu dieser und
alle ihm beigeordneten Sätze gehören und die Gründe ihrer Auf-
lösung zu suchen: so erscheint der noch wissenschaftlicheren
Vernunft des andern diese Forderung selbst nur als ein einzelnes,
und ihr Grund als ein selbst noch weiter zu Begründendes. Ein
solches Bestreben aber kann seine Ruhe nirgends anders finden,
als in der Bildung einer — wenn hier nicht ein höherer Name
nötig ist — Wissenschaft von den Gründen und dem Zu-
sammenhange aller Wissenschaften. Diese nun darf selbst
nicht w^iederum wie jene einzelnen Wissenschaften auf einem ober-
sten Grundsatze beruhen; sondern nur als ein Ganzes, in welchem
jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander
bestimmend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so
daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und
Wissen- bewiesen werden kann. Eine solche höchste und allgemeinste Er-
schafts- kenntnis würde mit Recht Wissenschaftslehre genannt, ein Name,
welcher dem der Philosophie unstreitig weit vorzuziehen ist, und
dessen Erfindung vielleicht für ein größeres Verdienst zu halten
ist, als das unter diesem Namen zuerst aufgestellte System. Denn
ob dieses die Sache selbst gefunden habe, ist noch zu bestreiten,
solange es nicht in einer ungetrennten Darstellung bis zu den
Gründen aller wissenschaftlichen Aufgaben und den Methoden
ihrer Auflösung herabgeführt ist. Jener aber hält, wodurch allein
schon zur Erreichung des letzten Endzweckes nicht wenig ge-
wonnen ist, die Aufmerksamkeit immer auf das höchste Ziel des
menschlichen Wissens gerichtet: dahingegen der Name der Philo-
sophie entweder nur den untergeordneten Nutzen hat, einen fal-
schen Dünkel zu demütigen, oder gar einer Zeit geziemt, wo
jenes Ziel noch nicht anerkannt war; indem er nur im allgemeinen
auf eine zu unternehmende Übung und Verbesserung des mensch-
lischen Verstandes hindeutet. Wäre nun jene höchste Erkenntnis
[111,1, 19] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 21
bereits auf eine unbestrittene Art mit dem unmittelbaren Bewußt-
sein allgemeiner Übereinstimmung gefunden: so würde aus un-
serem Standort die Ethik, welche sich in dieser gründete, allen
übrigen vorzuziehen sein. Denn alle ihre Fehler, wenn die Kritik
uns deren zeigte, könnten nur zufällige und leicht zu heilende
sein, dagegen jede andere, wie fest in sich bestehend und wohl
gerundet sie auch zu sein schiene, uns nur die Aufgabe aufdringen
würde, sie entweder auf jene zurückzuführen, oder den Betrug
aufzudecken, durch welchen sie sich einen scheinbaren Wert ver-
schafft habe. Allein jene Erkenntnis ist nicht auf eine solche
Art gefunden, sondern nur einige Versuche gemacht, deren keiner
recht genügen will. Daher kann auch die Meinung nicht sein,
einem System der Sittenlehre deshalb, weil es mit einem von
ihnen zusammenhängt, einen entschiedenen Vorzug einzuräumen;
indem es nicht unser Geschäft ist, jene Versuche zu vergleichen
und zwischen ihnen zu entscheiden. Wohl aber kann, wie überall
so auch hier, Kenntnis von der Entstehungsart der zu unter-
suchenden obersten Ideen zum besseren Verständnis derselben
beitragen, und die Einsicht, von welchem Bedürfnis die Bildung
einer jeden Ethik ausgegangen ist, kann unsern Erwartungen
gleich anfangs die gehörige Richtung geben. Doch nun genug
von diesem Vorläufigen, und zur Sache selbst.
Diejenigen zuerst unter den Alten, welche in einem geschlos- Die Alten,
senen Zusammenhange die sogenannte Philosophie vortrugen,
pflegten sie einzuteilen in die logische, physische und ethische,
ohne den gemeinschaftlichen Keim, aus welchem diese drei Stämme
erwachsen sind, aufzuzeigen, noch auch höhere Grundsätze auf-
zustellen. Denn wenn bei einigen gewissermaßen eine von diesen
Wissenschaften der andern untergeordnet wird, indem die logische
die Kennzeichen der Wahrheit für die beiden andern enthält; die
ethische aber, in welcher gezeigt wurde, daß Beschäftigung mit
jener dem Weisen gebühre, den Grund des Daseins derselben als
menschliches Werk aufzeigt; und die physische dem Gegenstande
22 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,20]
der beiden andern seine Stelle im ganzen bestimmt: so erhellt
daraus nur um so deutlicher, wie alle dreie voneinander unab-
hängig jede auf ihrem eignen Grunde beruhen, ohne daß eine
gemeinschaftliche Ableitung für sie gefunden wäre, und ohne daß
ins Licht gesetzt würde, wie man sich bei ihnen beruhigen müsse,
und wie jede das gesamte Gebiet der Erkenntnis einer gewissen
Art umfaßt. Dieselbe Bewandtnis hat es mit der neueren Ein-
teilung der Philosophie in die theoretische und praktische, welche
auch mit der vorigen, bis auf die Aussonderung der Logik, ganz
übereinkommt. Vielmehr ist hier noch deutlicher herausgehoben,
wie wenig beide miteinander gemein haben. Denn jedem Teile
ist, besonders für die Wissenschaften, in welche er zerfällt, eine
allgemeine Philosophie vorgesetzt, welche die gemeinschaftlichen
Grundbegriffe derselben enthält; eine noch allgemeinere aber, um
beide Teile zu verbinden, wird nicht ebenso gefunden. Demnach
ist die Ethik, was nämlich den Ursprung der Idee derselben und
die Ableitung ihrer Grundsätze betrifft, ebensoweit von der
Theorie der Seele als von der des höchsten Wesens abgeschnitten,
so daß auch nicht einmal der Gedanke an eine systematische
Verknüpfung aller menschlichen Erkenntnisse hier anzutreffen ist.
Kant. Ob aber Kant, welcher mit der Fackel der Kritik in diesem
alten Gebäude umherzuleuchten den Mut faßte, diesen Gedanken
wirklich gehabt hat, könnte auch mit Grund bezweifelt werden.
Denn er redet zwar mit nicht geringem Nachdruck von einer
Architektonik der Vernunft, möchte aber dennoch, sokratisch be-
fragt, mehr ein Begeisterter als ein vernünftig Wissender zu sein
scheinen, und zwar vielleicht aus Mangel an Begeisterung und
Überfluß an Vernunft. Wenigstens kann, was er sagt, nicht dazu
dienen, die Notwendigkeit irgendeiner einzelnen Wissenschaft ins
Licht zu setzen, oder den Kreis, innerhalb dessen sie alle befaßt
sein müssen, aus seinem Mittelpunkte zu zeichnen. Sondern wie
wenn einer, der nach dem Fundament eines Gebäudes gefragt
wird, die Zwischenwände aufzeigt, welche die Gemächer von-
[111,1,21] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 23
einander absondern, begnügt er sich mit einer Einteilung des
Vorhandenen, welche höchstens nur ein dialektisches Bedürfnis
befriedigen kann; und auch dieses nur unzureichend. Denn wer
mag es ertragen, wiewohl von Kants Nachfolgern und Verbesserern
die besten es auch angenommen haben, die reine Ethik von der
reinen Naturlehre, nur als Gesetzgebung der Vernunft für die
Freiheit, von der für die Natur unterschieden zu sehen, da doch
die Art der Gesetzgebung in beiden Wissenschaften bei ihm so
durchaus verschieden ist, daß es eine der ethischen ähnliche für
die Natur, und eine der physischen ähnliche für die Freiheit
gleichfalls geben muß. Dies heißt die Wissenschaften selbst ver-
larven, um zugleich desto leichter ein ungeschicktes Verfahren ver-
hüllen zu können. Wenn er aber, um beide getrennte Systeme zu
vereinigen, die Ethik selbst als die ganze Bestimmung des Men-
schen darlegend zur höchsten Wissenschaft machen will: so ist
dies nur dieselbe beschränkte Ansicht, die sich schon bei den
Alten gezeigt hat. Es mag wohl gesagt werden, daß der Ethiker
die übrigen Vernunftkünstler anstelle : aber aus seiner Wissenschaft
kann, daß jene, und warum gerade so gefunden worden sind,
niemals begründet werden. Zum Behuf dieser vom Praktischen
ausgehenden Einheit aller Vernunftkenntnisse mußte nun freilich
ein Übergang, eine Brücke zwischen den beiden bisher getrennten
Systemen gesucht werden. Es ist aber hiermit gleichfalls nur leerer
Schein, der auf ebensoviel Willkürlichkeit als Mißverstand beruht.
Denn wenn auch deutlich wäre, was doch schwer zu begreifen
sein möchte, wie die Ideen von Freiheit, Unsterblichkeit und
Gott für das höchste Ziel alles Bestrebens der beschauenden
Vernunft zu halten sind, wie mag doch derjenige gerade, welcher
gezeigt hat, wie sie aus ganz natürlichen Mißverständnissen in
dem Geschäfte der Welterklärung entstanden sind, vernünftiger-
weise auf den Versuch geleitet werden, ob sie nicht da, wo Hand-
lungen geboten werden, einen positiven Wert und Gehalt haben
möchten. Dann aber liegt auch dieser Fund ganz außerhalb der
24 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 22]
Ethik, welche nur den Inhalt der Vernunftgebote für das Handeln
aufstellt, mit den zur Sanktion hinzugefügten Drohungen und
Verheißungen aber gar nichts zu schaffen hat. Ferner, wie sollte
irgendeiner Wissenschaft eine solche Voraussetzung geziemen, daß
vermöge des einen, und mit ihm zugleich ein anderes gesetzt
sein könne, was mit jenem gar nichts gemein hat, wie doch von
der Sittlichkeit, der nach Kant nämlich, und der GlückseUgkeit
offenbar ist? Alles dieses aber muß herbeigeführt werden, um
jenen Übergang zu bauen. Hätte nun jemand diese Ideen von
Unsterblichkeit und Gott auf die geforderte Art ursprünglich in
die Sittenlehre hinein verarbeitet: so würde eine gleiche Kritik,
wie sie Kant an der theoretischen Philosophie geübt hat, sehr
leicht zeigen, wie entbehrlich und nur aus Mißverstand hinein-
gedrungen sie dort sind, und umgekehrt mit großem Recht ver-
muten, sie möchten auf spekulativem Boden erzeugt und dort
eigenbehörig sein. Und so verwandelt sich der Bau nur in ein
Kinderspiel mit dem luftigen Baustoff, der von einem Ufer zum
andern hin und wieder geschlagen wird. Denn auf diese Weise,
wenn nämlich die Idee des höchsten Wesens zwar beiden Teilen
der Philosophie gemein, aber in dem einen nur ein durch einen
unvermeidlichen Fehler entstandenes und also hinauszuwerfendes
Erzeugnis, und in dem andern nur ein überflüssiges Triebwerk
ist, welches nichts bewegt und von nichts bewegt wird, kann sie
solche unmöglich beide verbinden. Auch tut Kant sehr wohl, dem-
gemäß keine Ableitung des Inhalts der Ethik von jener Idee zu
gestatten, welche auf diese Art selbst keinen Boden hat und
eigenthch nirgends steht. Hiervon also mag der Zusammenhang
oder vielmehr der Mangel daran genugsam angedeutet sein, daß
sich nicht jemand verleiten lasse zu glauben, jene Physikotheologie
oder transzendentale Theologie, welche doch zuletzt der Schluß-
stein in dem Gewölbe alles Wissens sein soll, sei in diesem
Weltweisen und für ihn wirklich etwas. Sie ist freilich die glück-
liche Stelle, von welcher aus andere das gesehen haben, was auch
[111,1,23] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 25
er sucht, nur daß er auf seinem Wege niemals dorthin gelangen
kann. Merkwürdig aber ist es und nicht ganz zu verschweigen,
wenn es gleich hier nicht ausgeführt werden darf, wie sich in
diesem Lehrgebäude, statt der unerreichbaren Einheit des theoreti-
schen und praktischen Systems, ganz unerwartet eine Unterordnung
beider unter dieselbe Phantasie zeigt, welche überall, wo der Geist
dieser Philosophie sich frei und mit Besonnenheit äußert, so ent-
schieden herabgewürdiget wird. Nämlich daß die Glückseligkeit
nur ein Ideal der Phantasie sei, gesteht der Urheber selbst; ihm
zufolge aber sind die Ideen von Unsterblichkeit und Gott im
Praktischen nur um jener willen gleichsam aufgedrungen ; und da
sie nun im Theoretischen auch nicht vernunftmäßig entstanden
sind: so bleibt nur übrig, daß sie überall einem Handeln der
Phantasie ihr Dasein verdanken. Dieses wäre vielleicht an sich
nicht wunderlich, sehr wunderlich aber bleibt es in diesem System,
und ein starker Beweis, wie schlecht in dem Geiste desselben das
Beabsichtigte durch sie ausgeführt worden. Das Gesagte mag
hinreichen, um zu zeigen, daß auch Kant die Ethik nur vorgefunden,
daß er sonst auch nicht den Gedanken gehabt haben würde, sie
hervorzubringen und von einem Mittelpunkte des menschlichen
Wissens aus zu beschreiben. Dies geht auch schon aus der Art
hervor, wie er überall den Streit führt, daß die Ethik sich nicht
auf einen Begriff der menschlichen Natur gründen dürfe, nämlich
ohne den geringsten Verdacht, daß ein solcher von einem höheren
Punkt aus könnte abgeleitet sein, sondern immer nur auf die
gemeinen und willkürlichen Rücksicht nehmend. Ferner daraus,
daß er selbst gar nicht besorgt ist, dasjenige, was seinem Aus-
drucke des ethischen Gesetzes zugrunde liegt, nämlich die Mehr-
heit und Gemeinschaft vernünftiger Wesen, irgendwoher abzu-
leiten; und doch ist ihm diese Voraussetzung so notwendig, daß
ohne sie sein Gesetz nur ein unverständliches Orakel sein würde.
Auch vieles andere einzelne könnte angeführt werden, wenn es
nötig wäre.
26 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 24]
Doch vielleicht ist schon zu lange gezögert worden, von diesem
Philosophen zu demjenigen überzugehen, welcher von vielen, wie-
Fichte. wohl gegen jenes Willen, für den Vollender seines Systems ge-
halten wird, zu dem Erfinder nämlich der Wissenschaftslehre.
Dieser nun macht teils als solcher, teils und mehr noch wegen
seines Systems der Sittenlehre und der Art, wie es sich überall
auf jene Wissenschaftslehre bezieht, die meisten Ansprüche darauf,
eine Ableitung der Ethik, wie wir sie verlangten, zustande ge-
bracht zu haben. Freilich scheint gleich anfangs die ganze Strenge
dieser Forderung verletzt zu sein. Wenn nämlich die Wissenschafts-
lehre, welche die höchste Erkenntnis wie die Wurzel aller übrigen
sein soll, zu des Erfinders eigner Zufriedenheit soweit wirklich
ausgeführt wäre, daß der Ort sich aufzeigen ließe, wo jeder be-
sonderen philosophischen Wissenschaft Keim ihr eingewachsen ist,
und von wo aus er, sobald ihm Freiheit vergönnt wird, als ein
eigner Stamm in die Höhe steigen muß: dann natürlich würde
das System der Sittenlehre sich lediglich angeschlossen haben an
diesen bestimmten Ort der Wissenschaftslehre, darauf sich berufend,
daß dort die Idee der Ethik als ein notwendiger Gedanke ge-
funden worden, dessen methodische und systematische Entwicklung
nun die besondere Wissenschaft bilden soll. Dem ganz entgegen
vernachlässigt seine Ethik die Berufung auf einen
solchen Ort in der Grundlage der Wissenschaftslehre, und scheint
wie jede andere nur mit der Hinweisung auf die allgemein vor-
handene sittliche Zunötigung zu beginnen. Von dieser aber er-
hellt nicht für sich, daß sie einen transzendentalen Grund haben
müsse: denn auch ein allgemein Gefundenes kann eine Täuschung
sein, die nur einen empirischen Grund hat. Hieraus nun ent-
steht der nachteilige Schein, als ob die Wissenschaft, ohne zu
wissen, daß sie eine solche sein muß, anfinge aufs Geratewohl,
und als ob, wenn sie auch nun an die Wissenschaftslehre an-
knüpft, dieses nur zufällig geschähe an einer zufälligen Stelle,
dergleichen es man weiß nicht wo und wie viele mehr noch
[111,1,25] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 27
geben könne. Auf diese Art aber würde sie nicht erscheinen als
ein notwendiges Glied in einem alles umfassenden System mensch-
licher Erkenntnis. Allein dieser nur scheinbare Vorwurf trifft
die Sache selbst wenig, und löst sich darin auf, daß, es sei
nun aus Unzufriedenheit mit der ersten Darstellung der Wissen-
schaftslehre oder aus welchen anderen Gründen, der Urheber
vorgezogen hat, das hierher gehörige Stück der ursprünglichen
Wissenschaft, welches dort zum Teil fehlte, zum Teil in einer
untauglichen Gestalt vorhanden war, an Ort und Stelle von vorn-
herein aufs neue zu bilden, lieber als sich unzureichend und er-
künstelt auf jenes zu berufen. Denn als Teile der Wissenschafts-
lehre muß auch schon der Unkundige diejenigen Sätze erkennen,
die in der Sittenlehre und dem Naturrecht, zwei voneinander
verschiedenen besonderen Wissenschaften, gemeinschaftlich zu fin-
den sind, welches nur so möglich ist, daß sie eigentlich nicht
diesen, sondern der über ihnen stehenden höheren Wissenschaft
angehören. Der Kundige aber erkennt dafür gleich auf den ersten
Blick die alles begründende Aufgabe, sich selbst bloß als sich
selbst zu denken, oder wie sie hernach näher bestimmt wird, sich
selbst als das Objektive zu finden. Daher wird auch nur der,
welchem die ersten Gründe der Wissenschaftslehre nicht genug
bekannt sind, einen wesentlichen Anstoß daran finden (was frei-
lich im Vortrage mangelhaft ist), daß dieses beides ohne weiteres
gleich gesetzt wird, und das zu Findende, abgesehen vom Denken,
zu finden aufgegeben werden soll. Ein solches umbildendes Er-
gänzen der Wissenschaftslehre nun sehen wir nicht nur im An-
fang der Sittenlehre, sondern in allen Hauptteilen derselben, im
ersten sowohl, welcher nur den leeren Gedanken eines Sitten-
gesetzes zutage fördert, als auch in dem zweiten, worin für diesen
der Gehalt und die Anwendung gefunden wird, und ebenso im
dritten, von welchem hier nicht weiter die Rede sein kann. Dieses
alles soll nicht gesagt sein, als ob etwa ein solches Verfahren
von uns für verdächtig gehalten würde; vielmehr würden wir
28 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 26]
auch dieses rückwärts gehende Anbilden des hier erforderlichen
Teiles der höchsten Wissenschaft, sofern es sich nur als richtig
bewährt, gar sehr zu loben finden. Erinnert aber muß es werden,
damit in Absicht auf den Zusammenhang des Abgeleiteten mit
dem gesamten menschlichen Wissen, oder andern einzelnen Teilen
desselben, ein Unterschied gemacht werde zwischen dem All-
gemeinen und dem rein Ethischen ; ferner damit in beiden Haupt-
teilen der Ort sorgfältig aufgesucht werde wo, und die Art wie
nun eigentlich das Besondere sich ableitend von dem Allgemeinen
ausgeht. Denn hierbei ist die größte Aufmerksamkeit erforder-
lich, wegen der besondern Beschaffenheit der Methode dieses
Weltweisen, welche bei einigen großen und eigentümlichen Vor-
trefflichkeiten, die allein ihrem Erfinder den Ruhm eines der
ersten philosophischen Künstler zusichern, auch durch andere viel-
leicht nicht sowohl absichtlich ersonnene als von selbst sich dar-
bietende, gefährliche und verführerische Hilfsmittel sich auszeichnet.
Besonders kann da, wo gleichsam aus Nachsicht dem strengen
und ermüdenden Gange des Systems Einhalt geschieht unter dem
Schein vorbereitender Ansichten und Umsichten, etwas schon vor-
läufig halb eingeschwärzt werden, dessen mangelhafter Erweis in
der eigentlichen weitern Entwicklung des Systems hernach um
so weniger bemerkt wird. So kann auch leicht bei Vereinigung
der Gegensätze, und sonst wo die Formeln vielfach verschlungen
sind, ein bedeutender Fehler des Rechnens unbeachtet durch-
schlüpfen; oder auch die übrigens sehr tugendhafte und lobens-
werte Vermeidung einer allzu eng bestimmten Lehrsprache einige
nicht ganz rechtliche Erleichterungen begünstigen. Und auf eine
andere als solche Art mag auch wohl jenes Wunderbare nicht
erreicht worden sein, daß nämlich in und mit dem bloßen Wollen
zugleich auch das Sittengesetz soll gefunden worden sein. Wunder-
bar gewiß, daß die Aufgabe, ein bestimmtes notwendiges Be-
wußtsein, wie das Finden seiner selbst, zustande zu bringen,
endlich und vollständig nicht anders kann gelöst werden, als in-
[111,1,27] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 29
dem ein in Hinsicht auf jenes ganz zufälliges Denken gefunden
wird. Und so geht doch ohne Sprung, wie in dem Werke selbst
gerühmt wird, die Ableitung weiter von dem allgemeinen Be-
wußtsein des Wollens zu dem besonderen bestimmter Pflichten,
so daß dieses als bereits in jenem enthalten und nur aus ihm
heraus entwickelt und dargestellt muß betrachtet werden. Denn
daß dieses letztere Bewußtsein, in Beziehung auf jenes erste des
WollenSi überhaupt und der Freiheit, ein besonderes und zufälliges
sei, dies kann Fichte ebensowenig als sonst einer ableugnen,
obschon er sich verwahrt durch die Behauptung, daß gänzlich
von einem solchen Gedanken entblößt keiner ein vernünftiges
Wesen sein könne. Gesteht er doch, dieses nicht achtend, anders-
wo selbst, daß Äußerung der Selbsttätigkeit auch statt habe in
einer Wahl, bei welcher auf keiner Seite jenes Gesetz in Betracht
gezogen wird; schildert auch selbst menschliche Gesinnungen
und zwar die so Gesinnten als Freie, wobei das Bewußtsein der
Selbsttätigkeit das leuchtende und herrschende, das des Gesetzes
aber ganz verdunkelt und aufgehoben ist. Ferner, daß unmöglich
auf solche Weise das Besondere mit dem Allgemeinen zugleich
gefunden und durch denselben Grund wie dieses bedingt und be-
stimmt sein kann, muß jeder wissen. Sonst dürfte auch an die
Wissenschaftslehre die Aufgabe ergehen, aus derselben ursprüng-
lichen Handlung des Ich, aus welcher sie eine Außenwelt ent-
wickelt, auch die Gesetze der Bewegung, Veränderung und Bildung
in derselben abzuleiten; wogegen sie sich immer sehr weislich
und verständig verwahrt hat. Endlich aber, daß die Aufgabe
wirklich nicht eine neue ist, welche zunächst durch den Gedanken
des Sittengesetzes gelöst wird, sondern noch die erste, ist klar
genug. Denn es war nur eben vorher bemerkt, das Ich sei bis
jetzt sich der Selbsttätigkeit nur erst als eines Vermögens bewußt
geworden; wodurch also, und zwar am meisten nach dem rich-
tigen Begriff von Vermögen, den Fichte überall nachdrücklich
aufstellt, noch so viel als nichts geleistet worden. Und daß sie
30 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,28]
sich deren bewußt werden soll als eines Triebes, daraus ergibt
sich hernach unmittelbar der Gedanke des Sittengesetzes. Im
voraus also scheint diese Ableitung nicht die Prüfung bestehen
zu können, welches auch die Betrachtung des Verfahrens selbst
gar sehr bestätigt. Die Aufgabe nämlich lautet, zu finden, wie
sich der Trieb nach Selbsttätigkeit als solcher auf das ganze Ich
äußert. Dieses nun kann, wie bekannt, nach Fichte nicht anders
als teilweise gefunden und dargestellt werden. Sonach wäre dieser
Trieb zu stellen als einzeln beide Seiten des Ich, die subjektive
sowohl als die objektive, bestimmend, und beide Bestimmungen
wären hernach wie gewohnt miteinander zu vereinigen, welches
heißt durcheinander zu bedingen, um jenen Trieb im Bewußt-
sein vorzustellen und zu bezeichnen. Ganz so einfach wie der
Sache angemessen würde auf diesem Wege erhalten, als voll-
ständiges Bewußtsein der Freiheit, wie sie ein Trieb ist, und
als jedes Finden seiner selbst begleitend und vollendend, ein
Gedanke und ein Gefühl; das Gefühl nämlich des Strebens und
der Gedanke der Freiheit, als gleich notwendig, wie durchein-
ander bedingt, so voneinander unzertrennlich. Weit dieser Auf-
lösung vorbei wird hingegen zuerst, weil nämUch nur ein Ge-
danke, und zwar ein ganz anderer, aufgestellt werden soll, vor-
bereitend gezeigt, daß hier nicht ein Gefühl zu erwarten sei, da
doch nur geleugnet werden kann bloß ein Gefühl, ebensowenig
aber sich behaupten läßt bloß ein Gedanke. Ferner wird zu dem-
selben Behuf und um dennoch das ganze Verfahren scheinbar an-
zuwenden, nicht, wie hier angedeutet worden ist, die Rechnung
angelegt, sondern nur das Subjektive durch das Objektive, und erst
das so Verbundene durch jenen Trieb, dann aber wieder das so
Entstandene auch durch das Subjektive bestimmt. Dieses Ver-
fahren aber muß jeder, der auch nur ein tüchtiger Lehrling dieser
Methode geworden ist, als unregelmäßig und, um eine Bestim-
mung des ganzen Ich vorzustellen, durchaus fehlerhaft finden.
Allein sogar von alle diesem abgesehen, ist doch das Resultat nur
[111,1,29] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 31
erschlichen. Denn das gesetzUch notwendige Denken der Selbst-
tätigkeit, welches der gefundene Inhalt des Gedanken eigentlich
ist, kann doch nicht gleich gelten dem Denken oder sich selbst
Geben eines Gesetzes der Selbsttätigkeit, wie hier leider eines
in das andere sich verwandeln muß. Wenn so ein bestimmtes
Zeichen und ein bestimmendes ihr Geschäft miteinander ver-
tauschen, so ist nicht möglich, daß die Formel noch ihren vorigen
Wert behalte und der andern Seite der Gleichung entspreche.
Daß nun solche Fehler und noch manche vorhergehende der
Methode nicht ganz würdige Wendungen vielen unbemerkt ge-
blieben sind, geschieht, anderer kleiner Verfänghchkeiten nicht
zu gedenken, nur weil von Anfang her die sittliche Zunötigung
als Veranlassung der ganzen Aufgabe gezeigt, und also bei allen
Lesenden zum begleitenden Gedanken geworden ist, den sie gern,
sobald es sich tun läßt, der Reihe einschieben. Nicht besser auch
steht es um eine andere kleine wie in der Nußschale eingeschaltete
Ableitung, davon ausgehend, daß die Vernunft sich durch sich
selbst ihr Handeln, die endliche ein endliches, bestimme. Denn
wo das eigentliche Handeln und das in der Vorstellung, sonst das
ideale genannt, nebeneinander gestellt werden, da kann nicht in
demselben Sinn, worin die Bedingungen des Denkens und An-
schauens Gesetz der Vernunft für das letzte sind, das Ethische ihr
Gesetz für das erste sein. Zwar hier wird auf dieses gedeutet,
weil nämlich Bestimmtheit eines reinen Tuns kein Sein gäbe,
sondern ein Sollen: hiervon aber liegt die überredende Kraft nur
in dem „kein Sein". Denn wer dieses herausnimmt, wird nicht
mehr begreifen, wofür ihm die Gleichheit des vieldeutigen Aus-
drucks, Bestimmtheit eines reinen Tuns, mit dem ganz unerklärten
des Sollens so klar geworden sei. So auch ist ein verwechselter
Gebrauch des Seins und Sollens die einzige Begründung einer
andern Aussage vom Sittengesetz, an welche hernach vieles an-
geknüpft wird, daß nämlich das durch dieses Gesetz Geforderte,
weil es eben immer sein solle und nie sei, in der Unendlichkeit
32 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH.l, 30]
liegen müsse, so daß ihm nur in einer Reihe angenähert werden
i<önne. Noch schärfer unterscheidet sich, was die Bündigkeit des
Zusammenhanges betrifft, im zweiten Teile das eigentlich Ethische
von dem Allgemeinen. Denn letzteres stellt nach Vermögen die
äußeren Bedingungen auf, unter welchen allein das Ich praktisch
sein kann, ersteres aber geht in großer Verwirrung und ohne
Leitung umher, ein verlassenes Kind des Überflusses und der
Armut der Methode, ihres zu viel und zu wenig Tuns, um sich
einen Raum zu gewinnen in diesem abgesteckten Gebiet. Hier
nämlich soll der schon oben halb eingeschwärzte Begriff von einer
selbsttätigen Bestimmung, gemäß oder auch zuwider gewissen,
man weiß nicht woher entstehenden Forderungen der Selbsttätig-
keit, und also von einer materiellen Freiheit in und neben der
formellen, ordentlich hervorgebracht werden. Zu dem Ende wird
gefordert ein Trieb auf das Bewußtsein der Freiheit, und so auch
ein Trieb auf die Bedingung desselben, nämlich die Unbestimmt-
heit. Wunderlich indes erscheint es sicher jedem, wie ein Trieb
nach Unbestimmtheit sich hernach entwickeln soll als Trieb auf
etwas so durchaus Bestimmtes, als zumal in dieser Darstellung
das Sittengesetz sein will. Noch auch würde sich jemand hierbei
beruhigen, wenn nicht durch die vorhergegangene Äußerung, die
auch scheinbarer als richtig ist, daß nämlich eine höhere Art von
Freiheitsbewußtsein entstände, wenn die Selbstbestimmung gegen
die Neigung liefe, eine Geneigtheit bewirkt worden wäre, nun
irgendein unveränderliches Gewicht in dieser Wageschale zu er-
warten, nämlich den hier aufgestellten reinen Trieb. Wie kann
aber überhaupt aus jener Forderung, die selbst, wie jeder sieht,
nur schlecht herbeigeführt ist, ein eigner Trieb gefolgert werden?
Es müßte denn, wovor, da ja alles im Ich aus einem Triebe er-
klärt werden soll, das System nicht erschrecken möge, ein Trieb
sein nach der Reflexion. Denn von dieser aus herrscht ja nicht
nur im Ich die Freiheit, sondern auch durch diese, da schon ver-
möge des Innehaltens andere Forderungen des Triebes sich dar-
[111,1, 31] I. Kritik der höchsten Grundsätze, 33
stellen, wird es sich seiner Freiheit bewußt; wie sich denn auch
die Reflexion, wenn der zuerst geprüfte Teil der Ableitung rich-
tiger vollführt worden wäre, als die eigentliche Bedingung des
Freiheitsbewußtseins würde gezeigt haben. Denn daß das Ge-
fühl 'des Strebens notwendig begleitet ist von dem Gedanken der
Freiheit, will eben dieses sagen und nichts anderes. Der auf
eine so mangelhafte Art herbeigeführte reine Trieb wird nun,
damit aus ihm der erwünschte sittliche Trieb erwachsen könne,
in einen Widerspruch gesetzt mit dem als Bedingung des Handelns
überhaupt in dem allgemeinen Teile abgeleiteten Naturtriebe.
Dieser Widerspruch aber entsteht nicht nur bloß aus der voraus-
gesetzten beschränkten Vorstellung des Handelns, daß es näm-
lich immer und überall auf Objekte außer dem Ich gehen müsse,
sondern er wird auch nur sehr unzureichend gelöst. Nämlich um ihn
zu setzen, wird dem reinen Triebe Kausalität abgesprochen, in
der Bedeutung, daß er der Materie nach doch nichts anderes wollen
könne, als was die Natur, wenn dies von ihr gesagt werden
dürfte, auch wollen würde, ausdrücklich also in Beziehung auf
die Materie des Wollens. Gelöst aber wird er dadurch, daß dem
reinen Triebe die Form des Handelns zum Hervorbringen an-
gewiesen wird. So bleibt demnach in dem nämlichen Sinne seine
Kausalität doch aufgehoben und der Widerspruch ungelöst. Diese
Auflösung nun, angeknüpft an jenen nicht minder in der Luft
schwebenden Gedanken von der Reihe der Annäherung, ergibt
es, daß diese Reihe in jener der Forderungen des Naturtriebes
enthalten ist, so daß jedes Glied in jener aus einem Gliede in
dieser herausgehoben ist. Also die Reihe, durch deren Fortsetzung
das Ich unabhängig werden würde, ist ein Teil derjenigen, deren
ebenfalls unendliche Summe das Ganze seiner Abhängigkeit aus-
macht. Wie er nun dieses denken könne, mag jeder zusehen.
Allein auch abgerechnet ein so merkwürdiges Verhältnis, wie mag
wohl durch Fortsetzung irgendeiner Reihe das Ich seiner Unab-
hängigkeit, das heißt, nach dem Sinne des Systems selbst, seinem
Schleiermacher, Werke. I. 3
34 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 32]
Aufhören annähern? Durch das Hinzufügen einer Handlung zur
andern, so daß gedacht werden muß, wenn die unendUche Summe
könnte gezogen werden, würde das Aufhören anfangen? Oder
vielleicht durch das Wachsen der Sittlichkeit dem Grade nach, so
daß etwas Ähnliches hier stattfände, wie bei den Zahl- und
Meßkünstlern der Übergang durch das Unendliche in das Entgegen-
gesetzte? Und soll es an dieser des Übermutes und Stolzes so
oft verklagten Philosophie etwa nur Bescheidenheit sein, daß
nicht nur die Mittel, wie etwa der Staat und die Kirche, sondern
auch die Zwecke, wie das Ich, auf die eigne Zerstörung absicht-
lich und pflichtmäßig ausgehen? Denn des mystischen Wesens ist
sie noch nie beschuldigt worden. Doch dieses verhalte sich, wie
es wolle: offenbar ist immer aus dem vorigen, daß diese in ihrer
Absicht und Entstehung sich widersprechende Reihe, und ihre so
unbegreifliche als unbewiesene Bestimmtheit für jeden von jedes
erstem Punkt aus, die einzige Gestalt ist, in welcher das Sitten-
gesetz und sein Gefordertes, mit dem, was hier der Wissenschafts-
lehre angehört, in Verbindung gebracht worden. Und dieses Ge-
webe, von dem nur die Hauptfäden an der eben geendigten
Beleuchtung haben sichtbar gemacht werden können, wird sonder
Zweifel jedem, der es weiter verfolgt, so lose als verworren er-
scheinen, nicht ungleich dem Faden, welchen die Kinder mit
scheinbarer Künstlichkeit um die Finger verschlingend befestigen,
und welcher sich dann wieder mit einem Zuge lösen läßt, weil
eigentlich nichts befestigt war. Nicht als ob schon geleugnet
werden sollte, das hier aufgestellte Sittengesetz könne nicht ein
echter und brauchbarer Ausdruck der höchsten Idee der Ethik
sein; noch weniger soll schon etwas bestimmt werden über den
Wert der daraus abgeleiteten Sittenlehre; nur ihre Verknüpfung
mit dem ersten Ringe der menschlichen Erkenntnis ist für unhalt-
bar und wie nicht vorhanden anzusehen.
Piaton und Zwei nur sind noch übrig, von denen gerühmt werden kann,
Spinoza, (jaß gje gjj^g Ableitung der Ethik ebenfalls versucht Haben, Piaton
[111,1, 33] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 35
nämlicK unter den Alten, unter den Neueren aber Spinoza. Beide
fast so sehr einander entgegengesetzt, als Meister der höheren
Wissenschaft es nur sein dürfen, haben doch unter manchem andern
auch dieses Unternehmen, ja zum Teil auch die Art der Aus-
führung miteinander gemein. Beide nämlich kommen darin über-
ein, daß ihnen die Erkenntnis des unendlichen und höchsten
Wesens nicht etwa erst Erzeugnis einer andern ist, viel weniger
ein zu andern ersten Gründen noch hinzugeholtes Not- und Hilfs-
mittel, sondern die erste und ursprüngliche, von welcher jede
andere ausgehen muß. Offenbar ist nun, daß auf diese Art eine
Unterordnung aller einzelnen besonderen Wissenschaften unter eine
so weit über sie erhabene nicht schwer kann zu bewerkstelligen
sein, und daß so weder die Aussonderung des Ethischen vom
Physischen Schwierigkeiten erregen, noch aus einer sich darbieten-
den gegenseitigen Unterordnung beider Verwirrung entstehen
kann, wie es bei denen, die vom Endlichen anfangen, unvermeid-
lich zu sein scheint. So demnach stellt Spinoza, der besondern Spinoza.
Wissenschaft, die er darstellen will, die höchste eben wie Fichte
nur als Vorkenntnis mitgebend, das Buch von Gott an die Spitze
seiner Ethik; an welches sich dann natürlich anschließt das von
der Seele des Menschen. Denn der Begriff derselben ist genau
abgeleitet aus dem in der Lehre von Gott aufgestellten Verhältnis
des Unendlichen zum Endlichen und Einzelnen. Und zwar nicht
allein, welches billig Verdacht erregen könnte, sondern so, daß
gleich die Stelle angewiesen ist für ähnliche Darstellungen der
Weltkörper sowohl, als der übrigen organischen Wesen, und bis zu
der sogenannten toten Natur herab aller verschiedenen Verbin-
dungen des Denkenden und Ausgedehnten, in denen das Unend-
liche sich offenbart. In diesem Begriff der menschlichen Seele aber
ist notwendig enthalten der Gegensatz des Tuns und Leidens, der
geteilten und ungeteilten Ursächlichkeit der Veränderung, welcher
in seiner Ethik den Charakter des Guten und Bösen, oder viel-
mehr, weil er die gänzliche Ausschließung des einen nicht etwa
3*
36 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 34]
in der Unendlichkeit fordert, sondern überall als unmöglich ab-
leitet, den des Vollkommenen und Unvollkommenen bestimmt. Nur
zweierlei ist mangelhaft an dieser Verknüpfung. Zuerst nämUch
ist zwar der Begriff aller einzelnen Dinge und so auch des Men-
schen dem Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen ganz gemäß,
aber nicht in ihrer besondern gerade solchen Bestimmtheit daraus
begreiflich gemacht; so daß er gleichsam über die einzelnen
Naturen zwar die Probe machen, nicht aber sie selbst durch
Rechnung hervorbringen kann. Dieses indes wird für die Ethik da-
durch gut gemacht, daß auch die höchste Idee derselben sich nicht
auf den besonderen Begriff des Menschen bezieht, sondern auf
den jedes einzelnen Dinges, dem eine Seele zugeschrieben werden
kann. Darum aber muß zugestanden werden, daß eben diese
Idee ihm nur insofern natürlich ist, als dadurch der Maßstab
für die möglichen Verschiedenheiten angegeben wird, nicht aber
insofern sie den Weg bezeichnen soll zur Bildung aus dem Un-
vollkommenen in das Vollkommene. Denn eine Ethik in diesem
Charakter würde er, wenn er sie nicht vorgefunden hätte, keine
Veranlassung gehabt haben hervorzubringen. Teils vv^eil er, in-
dem er sich mit aller Kraft seiner Eigentümlichkeit hüten vv^ollte,
daß nicht das gefährliche Spiel mit allgemeinen Begriffen seine
auf die reinste und anschaulichste Abspiegelung des Wirklichen an-
gelegte Wissenschaft verdürbe, auf eine ihm eigne Art das Ideal
mit dem allgemeinen Begriff verwechselte. Teils haßte er nicht
ungerechterweise die Zweckbegriffe, und vermischte noch mit
diesen das Ideal. So daß er auf allen Seiten in Feindschaft be-
fangen war gegen dasjenige, worauf der eigentümliche Charakter
der Ethik beruht; was ihm freilich nicht hätte begegnen können,
wenn er nicht, so ganz wie er es war, entblößt gewesen wäre
auch von jeder Vorstellung einer Kunst oder eines Kunstwerkes.
Man kann daher nicht leugnen, daß die Ethik ihm fast wider
seinen Willen und wohl nur polemisch zustande gekommen ist,
es sei nun, um die gemeinen Begriffe zu bestreiten, oder um seine
[111,1, 35] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 37
Theorie vom höchsten Wesen zu rechtfertigen und zu bewähren.
Diese Mängel nun sind es, welche den Gegensatz zwischen ihm
und Piaton am augenscheinlichsten bezeichnen.
Von diesem letzteren muß jeder, der ihn einigermaßen kennt, Piaton.
es wissen, wie er von Anfang an von der Ahndung ausgegangen
ist für die Wissenschaft des Wahren und des Guten, für die
Physik und Ethik, einen gemeinschaftUchen Gmnd zu suchen, und
wie er diesen, ihrem Ursprünge sich je länger je mehr annähernd,
beständig aufgesucht hat. Ja, man kann sagen, daß es keine be-
deutende gibt unter seinen Darstellungen, worin nicht dieses Be-
streben die Stelle wäre, von weicher aus sich Licht über das
Ganze verbreitete. Ihm nun erscheint das unendliche Wesen nicht
nur als seiend und hervorbringend, sondern auch als dichtend,
und die Welt als ein werdendes, aus Kunstwerken ins Unendliche
zusammengesetztes Kunstwerk der Gottheit. Daher auch, weil
alles Einzelne und Wirkliche nur werdend ist, das unendliche
Bildende aber allein seiend, sind auch ihm die allgemeinen Be-
griffe nicht etwa nur v/ie jenem Schein und Wahn der Menschen,
sondern bei dem entgegengesetzten Verfahren werden sie ihm die
lebendigen Gedanken der Gottheit, welche in den Dingen sollen
dargestellt werden, die ewigen Ideale, in welchen und zu welchen
alles ist. Da er nun allen endlichen Dingen einen Anfang setzt
ihres Werdens, und ein Fortschreiten desselben in der Zeit: so
entsteht auch notwendig in allen, denen eine Verwandtschaft mit
dem höchsten Wesen gegeben ist, die Forderung, dem Ideale des-
selben anzunähern, für welche es keinen andern erschöpfenden Aus-
druck geben kann als den, der Gottheit ähnlich zu werden. Daß
also hier eine noch festere Anknüpfung der Ethik an die oberste
Wissenschaft stattfinde als dort, ist offenbar. Ob aber die höchste
Wissenschaft, selbst so logisch als Spinoza sie aufbaut, oder so wie
Piaton sie nur nach einer poetischen Voraussetzung des höchsten
Wesens hinzeichnet, einen festeren Stand habe, dieses zu be-
urteilen ist nicht des gegenwärtigen Orts. Nur dies ist das Ende
38 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH,!, 36]
der Untersuchung, daß unter allen, welche den Gedanken gefaßt
haben, die Ethik aus einer höheren Wissenschaft her zu begründen,
es nur denen bis jetzt vielleicht gelungen ist, welche objektiv
philosophiert haben, das heißt, von dem Unendlichen als dem ein-
zigen notwendigen Gegenstande ausgegangen sind. Auch diese
aber mögen die Idee der Sittenlehre eher gehabt haben als den
Gedanken dieser Verknüpfung; und so kann im allgemeinen an-
genommen werden, daß bis jetzt nur die zuerst angeführten Gründe
wirksam gewesen sind zu deren Entstehung. Denn sowohl das
Bewußtsein der innern sittlichen Zunötigung, es beruhe nun,
worauf es wolle, als auch einzelne ethische Begriffe und Sätze
in äußerer wissenschaftlicher Gestalt, sind den Versuchen der
Wissenschaft selbst Überali vorangegangen. Alles aber nicht mit
Bewußtsein noch nach festen Gesetzen gebildete ist schwankend
und irgendwo unbestimmt; woraus denn die Verschiedenheit der
höchsten Grundsätze sich leicht erklärt, welche die doppelte Auf-
gabe zu lösen hatten, das bereits einzeln Gefundene entweder zu ver-
einigen oder außer Wert zu setzen, und jene innere Zunötigung auf
eine befriedigende Weise auszusprechen. Welche so entstandene
Verschiedenheiten wir nun im Begriff stehen, näher zu beleuchten.
Erster Abschnitt.
Von der Verschiedenheit in den bisherigen ethischen
Grundsätzen.
Mannig- Unzählig sind, wenn man auf jede kleine Abweichung sehen
^ ^ ^' will, die Formeln, welche von jeher als Grundsätze an die Spitze
Grundsätze. ^^^ Sittenlehre gestellt worden; und ein nicht zu beendigendes
Geschäft wäre es, sie einzeln aufzuzählen und zu behandeln. Denn
auch solche, die im ganzen einstimmig w^aren mit andern, hat bald
die Hoffnung, leichter einen Einwurf zu beschwichtigen, bald die
Aussicht durch mehr Allgemeinheit oder durch abgeschnittenere Be-
[111,1, 37] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 39
Stimmung einen festeren Grund zu legen, auf Abänderungen ge-
leitet an dem, was ihnen überliefert war. So auch hat mancher,
wie es zu gehen pflegt, Neues erfunden zu haben geglaubt,
indem er nur aus den Schätzen der Sprache das Alte mit neuen
Worten bekleidete oder dieselbe Gleichung nur anders ordnete und
gestaltete. Dennoch sollten wir keine von diesen übergehen, so-
fern sie der Grund eines eignen Gebäudes wirklich geworden oder
werden gekonnt. Denn es kann auch, was obenhin betrachtet
nur als ein geringer Unterschied erscheint, sich in den Folgerungen
wichtiger zeigen; und jede besondere Wissenschaft, wie sie ver-
bunden ist, den Worten genau zu folgen, muß auch diese überall
geziemend verehren. Erleichtert indes würde die Sichtung, wenn
es möglich wäre, mit Gewißheit die große Anzahl der Ausdrücke
auf eine kleinere der Gedanken zurückzuführen. Denn da für
jedes Gedachte nur ein Ausdruck der angemessenste sein kann : so
würde sich nach dieser Vergleichung dem Vollkommeneren das Un-
vollkommene unterordnen lassen, und es müßten die vielen kleinen
Erscheinungen sich in wenige große und durch kenntliche Züge
zu unterscheidende verwandeln. Wie ganz leicht aber und unbe- Ungenügen
der
deutend wäre das Geschäft, könnten wir jenes von Kant auf- kantischen
gezeichnete Täflein dabei gebrauchen, welches, wie er verheißt, alle Scheidung,
ethischen Grundsätze, die möglichen zu den wirklichen enthalten
soll. Nur leider hat er auch hier nach seiner Weise zu viel ge-
tan und zu wenig. Wer zum Beispiel möchte wohl sagen, daß
der Urheber der Fabel von den Bienen, und der alte gallicanische
Montaigne, jener die bürgerliche Verfassung, dieser die Erziehung
in demselben Sinne zum Bestimmungsgrunde des Willens im
ethischen Gesetz erhoben, wie etwa die alte dialektische oder
stoische Schule den Begriff der Vollkommenheit? Vielmehr wird
jeder gestehen, daß von dem, was zu billigen ist oder zu verwerfen,
Merkmale angeben, und die Form dieser Urteile, selbst ihrem
Wesentlichen nach nur als Tatsachen aus einem natürlichen Grunde
erklären wollen, zwei ganz verschiedene Handlungen sind, welche
40 Grundlinien eine Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 38]
nur gewissermaßen den Gegenstand gemein haben. Und schwer
ist besonders zu begreifen, wie auf eine solche Zusammenstellung
gerade Kant verfallen konnte, welcher überall die unabhängige
Aufbauung eines Systems im Sinne hat, die jene aus dem, was
er ihre Grundsätze nennt, verwerfen, die übrigen aber aus den
ihrigen versuchen wollen. So auch drückt er den ethischen Grund-
satz überall aus unter der Formel des SoUens, welche den ge-
nannten beiden unterlegen zu wollen, nur das Lachen erregen
müßte über den gänzlichen Mißverstand. Denn so würden beide,
die Fahne des ethischen Zweifels verlassend, der eine sich wo-
hin er noch wollte, der andere zu den Schulen des Altertums
flüchten, welche die Ethik der Staatskunst unterordnen. Das Zu-
wenig aber in jenem Täflein aufzuzählen möchte zu viel werden;
denn zu groß und auffallend ist darin die Unkenntnis alter und
neuer Schulen. Wer zum Beispiel mag es dulden, daß Aristipp
über dem Epikur vergessen worden, oder daß die sinnvollere
platonische Formel der Verähnlichung Gottes durch die neuere
und inhaltleere des göttlichen Willens verdrängt ist, oder daß
Aristoteles und Spinoza gänzlich vergessen sind? Es genüge
daher diese allgemeine Andeutung, um Mißtrauen zu erwecken
gegen jene Ansicht, welche uns zwischen allen ethischen Grund-
sätzen keine andere Entgegensetzung übrig läßt, als die, daß wir
den kantischen der allgemeinen Gesetzmäßigkeit oder Selbstherr-
schaft des Willens von allen übrigen, als welche sämtlich auf
eine Untertänigkeit desselben ausgehen, unterscheiden sollen. Denn
indem sich diesem während seiner Prüfung das von ihm soge-
nannte Objektive doch wieder in ein Subjektives, und das Vernunft-
mäßige in ein auf der Erfahrung Beruhendes verw^andelt: so
fließt alles, was nicht das seinige ist, dermaßen zusammen, daß
aller natürliche Unterschied der Farben verschwindet. Ob nun
dieser Gegensatz zwischen dem Formellen und Materiellen wenig-
stens als ein einzelner vorhanden ist, dieses wird die Folge lehren.
Jetzt aber ist zunächst ein anderer Weg aufzuzeigen, um die
[111,1, 39] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 41
Verhältnisse der verschiedenen Grundsätze gegeneinander, ihre
ÄhnHchkeit und Unähnlichkeit, so wie es unser Vorhaben er-
fordert, zu entdecken. Daß wir hiebei nicht an eine systematische
Einteilung derselben denken können, leuchtet von selbst jedem
ein, der den Sinn unseres Vorhabens begriffen hat, und sich des
Ortes erinnert, an welchen wir uns von Anfang an gestellt haben.
Vielmehr haben wir, anstatt nur mehrere unter wenige gemein-
schaftliche Abteilungen zusammenzufassen, von dem Gedanken
auszugehen, daß auch jeder einzelne mannigfaltig ist in
seinen Eigenschaften und Beziehungen. Diese also wer-
den wir aufsuchen und sehen, ob sie auf die wissenschaftliche
Tauglichkeit, welche der Gegenstand unserer Prüfung ist, einen
Einfluß haben; in welchem Falle sich denn ergeben wird, daß
einige von den verschiedenen Grundsätzen in dieser, andere in
einer andern Hinsicht sich gleichen und zusammengehören. Eines
aber ist hiebei als schon getan vorauszusetzen, die Unterordnung
nämlich dessen, was nur im einzelnen abweicht, unter einen Haupt-
gedanken, welches, ob es richtig geschehen, die Sache selbst und
die Zusammenstimmung des Erfolgs am besten beweisen wird.
Der erste Gegensatz nun, der sich uns aufdringt, ist der. Glückselig-
weichen auch Kant anfänglich angenommen, bald aber wieder ver- ^ .., ~~
nichtet hat, nämlich der alte zwischen den Systemen der Lust und heit.
der Tugend und Naturgemäßheit, oder wie die neueren ihn aus-
drücken, zwischen denen der Glückseligkeit und der Vollkommen-
heit. Denn wenngleich die meisten Neueren beides der Tat nach
als unzertrennlich miteinander verbunden darstellen, ja schon die
Späteren unter den Alten ähnliche Meinungen geäußert: so unter-
scheidet sich doch beides dem Gedanken nach so sehr, und ist ur-
sprünglich" für so entgegengesetzt gehalten worden, daß, wie es
damit beschaffen sei, aufs neue muß untersucht werden. Dieses
wird am besten geschehen, wenn wir die Grundsätze in ihrer An-
wendung auf das einzelne verfolgen. Hier nun zeigt sich, daß
die Grundsätze der Naturgemäßheit, der Vollkommenheit, der
42 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 40]
Gottähnlichkeit, und welche noch sonst hierher gehören mögen, alle
diese gerichtet sind auf ein so und nicht anders Sein oder Tun
des Menschen; die aber der Lust und der Schmerzlosigkeit und die
ihnen ähnlichen nicht auf das so Sein oder so Tun selbst, sondern
nur auf eine bestimmte Beschaffenheit der Bewußtseins von einem
Sein oder Tun. Denn ein solches ist die Lust, nicht ein Sein
oder Tun selbst, sondern ein durch das Gefühl gegebenes Wissen
um ein Sein oder Tun. So kann ja einer vollkommen sein in
der körperlichen Stärke, aber er wird, wenn er nicht, es sei nun
ruhend oder handelnd, diese Vollkommenheit betrachtet, die eigen-
tümliche Lust daran nicht genießen. Daß aber auch beides wie
nicht an sich einerlei, so auch nicht für den Willen notwendig
verbunden ist, leuchtet ebenfalls ein. Denn es kann ja, und wird
auch wenigstens dem Vorsatz nach, jeder, dessen Grundsatz dies ist,
wenn er etwas nach der Idee der Naturgemäßheit vollbracht hat,
sogleich fortschreiten zu einer neuen Handlung, ohne auf das der
vorigen nachfolgende Gefühl seine Aufmerksamkeit zu richten; so
daß, wenn sich dieses auch immer einigermaßen aufdrängt, er es
doch nur zufällig besitzt, und was den Willen anbetrifft, es längst
übersprungen hat. Ebenso kann der, welcher nur auf das Ge-
fühl ausgeht, sich dieses in manchen Fällen wenigstens verschaffen,
ohne gehandelt zu haben, durch Erinnerung an eine vergangene
Handlung oder durch das Vorbilden einer künftigen oder durch
die Vorstellung derselben überhaupt, und behauptet so, seinem
Grundsatz nachgekommen zu sein, wo jener glauben würde, noch
gar nichts getan zu haben. Ja, wenn auch ein solcher sich be-
wogen findet, die Handlung selbst zu vollbringen, um nicht das
auf jene Art erzeugte Bewußtsein durch ein entgegengesetztes
leichter aufgehoben zu sehen: so geschieht doch das nur zufällig,
und sein Wille ist nicht darauf gerichtet. Sonach ist soviel gewiß,
daß in dem System der Lust die Handlung oder das Sein nur das
Nichtgewollte ist als Mittel, in dem der Tugend aber das Gefühl,
das Nichtgewollte als Zugabe. Dieses Gegensatzes nun waren die
[111,1, 41] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 43
Alten sich sehr deuthch bewußt. Wie denn von den Epikureern DieGriechea
gesagt wird, sie hätten nicht zugeben mögen, daß in dem Begriff
des höchsten Gutes mit verschlungen werde der der Tätigkeit,
weil nämhch ihr Höchstes nicht ein im Handeln, sondern ein im
Leiden Gegebenes war, nicht ein Selbstwirken, sondern ein gleich-
viel woher Bewirktes. Und die Dialektiker oder Stoiker nannten
deshalb die Lust ein beiläufig und im Gefolge eines andern mit
Erzeugtes, um das Verhältnis derselben zu ihrem Gegenstande
des Wollens zu bezeichnen. Nur die Neueren haben, den Unter-
schied zwischen dem Wesentlichen und Zufälligen übersehend, bei-
des friedliebend verbunden, so daß die Verwirrung groß und kaum
zu lösen ist, indem der eine vielleicht mit der Gesinnung dieses,
in der Darstellung aber jenes, und ein anderer dagegen in um-
gekehrter Ordnung beides ergriffen hat. Wer aber wissenschaft-
lich zu prüfen entschlossen ist, darf sich nicht blenden lassen durch
den Schein der Gesinnung, welche doch nur zweideutig bleibt,
wenn sie nicht genau und bestimmt ausgesprochen wird, sondern
er hat sich lediglich an die Darstellung zu halten. Dieser nun
bei einigen zu folgen, von denen es zweifelhaft sein könnte, wo-
hin sie zu rechnen sind, muß den Gegensatz, von welchem jetzt die
Rede ist, noch deutlicher machen. So erscheint die anghkanische
Schule des Shaftesbury, wieviel auch dort immer von der Tugend Shaftesbury
die Rede ist, dennoch als gänzlich der Lust ergeben. Denn es "• ^•
endigt alles in den Beweis, daß die echte und dauerhafte Glück-
seligkeit nur vermittelst der Tugend zu erwerben sei; und das
Wohlwollen, welches ihr Wesen in dieser Schule ausmacht, er-
hält seine Stelle nur dadurch, daß eine eigene Lust, wie sie sagen,
aus demselben entspringt. Vielleicht würde die unhaltbare Doppel-
seitigkeit ihrer Darstellung eher und besser ans Licht gekommen
sein, wenn schon gleich damals, als unstreitig der Grund dazu
gelegt wurde, jene Empfindsamkeit sichtbar gewesen wäre, welche
es anlegt auf die Fertigkeit, sich, ohne Hand oder Fuß zu regen,
durch das bloße Nachempfinden vermittelst der Einbildung, alle
44 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,42]
Süßigkeiten jenes auf Wohlwollen beruhenden sittlichen Gefühls
zu verschaffen. Denn diesem Genuß müßte Shaftesbury folge-
rechtervveise denselben Wert zuerkannt haben, wie dem aus dem
eigenen Handeln entstandenen, und so würde die Weisheit ihr Ziel
darin gesetzt haben, die sittliche Lust zwar, weil es sich bei ihr
tun läßt, in der Einbildung, die organische aber, bei welcher
dieses nicht gehen will, in der Wirklichkeit zu genießen. Woraus
denn am besten erhellt, wie wenig in diesem System das Han-
deln eigentlich das Gewollte sein kann. Und wenn auch einige,
wie Ferguson, ihrem Gesetz den Namen geben, nicht von der Lust,
sondern von der Selbsterhaltung, so daß es unmittelbar auf ein
Sein zu geben scheint: so erklären sie doch selbst wie unter-
geordnet dieses ist, indem sie äußern, ein Wesen, welches keine
Übel empfände und keine Bedürfnisse hätte, welches ja beides
Beziehungen auf die Lust sind, würde auch keine Bewegungs-
gründe haben zu handeln. Ja, der dieser Schule sich so sehr an-
nähernde Garve hat ihrem Gebäude die Zinne aufgesetzt, die für
jeden das Wahrzeichen sein kann, indem er die Achtung, welche
seit einiger Zeit das Losungswort geworden war für die, welche
eine reine Tätigkeit abgesondert von aller Lust suchen, erklärt
als die Sympathie mit der Glückseligkeit dessen, der gut gehandelt
hat, welches sagen will, der durch das Wohlwollen glückselig ge-
worden ist.
Aufi der andern Seite sind nun aber auch diejenigen zu be-
trachten, w^elche, obgleich der reinen Tätigkeit angehörig, dennoch
von vielen unverschuldeterweise für Anhänger der Lust sind an-
Aristoteles, gesehen worden. Unter diesen ist der erste Aristoteles, an dem
man deutlich sehen kann, wie derjenige, welcher auf reine Tätig-
keit ausgeht, auch die Lust behandeln wird, wenn nicht etwa die
Rücksichten eines Streites ihn anders nötigen. Er nämlich sieht
die Lust zw^ar an als notwendig verbunden mit der Vollendung
einer naturgemäßen Handlung, deshalb aber ist sie keineswegs
^ Absatz nicht im Original.
[111,1, 43] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 45
das, worauf er abzweckt. Denn sonst würde er nicht ohne Hin-
sicht auf etwa schmerzliche Folgen jede Lust ausschließen, welche
auf einem andern Wege als diesem erzeugt wird, jede, welche
übermäßig eine übermäßige Handlung begleitet, oder die aus ver-
wickelten Beziehungen entstehend nicht einer bestimmten Hand-
lungsweise eigentümlich ist. Auch deshalb, weil er zur Erreichung
des höchsten den Besitz äußerer Güter fordert, darf er nicht anders
beurteilt werden. Denn dies hängt bei ihm teils davon ab, daß
er nicht den sittlichen Wert auch in dem ruhenden der Ge-
sinnung zu finden weiß, sondern nur in dem beweglichen des
Handelns, wozu es, da bei der Art, wie er die Sittenlehre ver-
bindet mit der Staatslehre, alles Handeln nur ein bürgerliches
sein kann, eines anständigen Wirkungskreises und äußerer Mittel
bedarf; teils auch davon, daß er diesen Wert nicht festzuhalten
und anzuschauen weiß in einem Moment, sondern nur in dem un-
unterbrochenen Gebrauch einer lang ausgesponnenen Zeit. Daher
ist es ganz in seinem Geiste gesagt, was seine bald ausgeartete
Schule nicht nachgesprochen haben würde, daß diejenigen, welche
den Reichtum für einen Bestandteil an sich der Glückseligkeit
hielten, nicht bedächten, wie diese eine Lebensweise sei, welche
also keine andern unmittelbaren Bestandteile haben könne, als
Handlungen. Auch erklärt er sich oft genug, es gäbe für ihn
kein anderes unmittelbar Gewolltes, als dasjenige, von welchem
man auch nichts begehre als eben die Tätigkeit selbst. Wie ihm
denn auch die Lust, auf welche er einen Wert legt, nicht ein
gleichviel woher Gegebenes ist, sondern nur durch die Tätigkeit
einer naturgemäßen Kraft und Eigenschaft; und er nicht an ihr
schätzt, daß sie stark empfunden wird, sondern nur, daß sie ein
Zeichen der Vollendung ist, indem sie das Bewußtsein des Un-
gehinderten gewährt. Woraus deutlich erhellt, daß er die Lust
eigentlich nur begehrt als Probe und Bewährung einer zur Voll-
kommenheit gediehenen naturgemäßen Handlung; so wie er den
Trieb nach Ehre zuläßt als Trieb, das eigne Urteil durch andere
46 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 44]
zu bestätigen. Ihm ähnlich und ihn erläuternd ist hierin auch
Spinoza. Spinoza. Denn die Verknüpfung des Gefühls mit der Tätigkeit,
welche in jenem doch nur willkürlich und fast zufällig erscheint,
ist bei diesem aufs innigste verwebt in den Gang seiner Gedanken
und das Eigentümliche seiner Weltbetrachtung. Nicht zu trennen
ist ihm, wie von dem Gedanken die Veränderung des Leibes,
so auch der Gedanke von dem Bewußtsein desselben. Seine Lust
ist der Übergang in einen Zustand größerer Kraft und Wirklich-
keit, und der Gedanke daran und das Bewußtsein dieses Ge-
dankens, alles in einem ungetrennt und ungeteilt. Aber dieses
letztere noch zumal für den Willen besonders auszuscheiden, wäre
für ihn das Inhaltleerste gewesen unter allem Denkbaren, die nich-
tige Vorstellung einer bloßen Vorstellung. Daher schließt er auch
von dem ethischen Gebiet alles aus, was nur einen Teil des
Menschen zu größerer Vollkommenheit fördert oder diese anzeigt,
und somit den größten Teil der eigentlich sogenannten und von
den mehresten um ihrer selbst willen gesuchten Lust, von welcher
er sogar sagt, sie könne Mittel oder Art und Weise des Todes
sein. Ja die Art, wie er ohne weiteres aus dem auf die bloße
Selbsterhaltung gerichteten Gesetz aufs natürlichste folgert, daß
das Ethische, nämlich die reine Tätigkeit, um ihrer selbst willen
müsse geliebt werden, diese zeichnet gleichsam die schärfste Grenz-
linie zwischen beiden Systemen, dem der Lust und dem der
Tätigkeit.
Aus^ diesen Beispielen, miteinander verglichen, offenbart sich
deutlich, daß das Handeln und die Beziehung auf dasselbe im
Gefühl selbst da, wo sie in der vorstellenden und erklärenden
Ansicht ungetrennt sind, doch für den Willen niemals eins und
dasselbe sein können, so daß es, wie diejenigen unter den Neueren
behaupten, welche Vollkommenheit und Glückseligkeit zusammen-
schmelzen wollen, gleichgültig sei, ob auf dieses oder jenes der
Wille zunächst gerichtet werde. Sondern es sind vielmehr beide
Hinsichten sittlich durchaus verschieden, so gänzlich, daß jeder
^ Absatz nicht im Original.
[111,1, 45] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 47
ethische Grundsatz sich entweder auf eine von beiden beziehen,
oder auf der einen Seite leer und auf der andern unrein und zu-
sammengesucht erscheinen muß. Welche nun rein auf die Lust
gehen, wobei der Gegenstand, von dem sie hergenommen werden
muß, wenigstens für die gegenwärtige Beurteilung gleichgültig
ist, die sind leicht zu erkennen, wenn man das obige im Auge be-
hält. Dagegen haben die, welche die Tätigkeit zum Ziel genommen, Unterschiede
so sehr in anderer Hinsicht voneinander abweichende Gestalten, _.. ^^^ .
daß auch diese Ähnlichkeit nicht von jedem jederzeit leicht er- Systeme,
kannt wird. Zuerst sondern sich ab diejenigen Grundsätze, in denen
eine Beziehung auf die Gottheit ausgedrückt wird, nämlich die
auch voneinander gleich unabhängigen wie verschiedenen des
Pia ton und des Spinoza, dieser der Erkenntnis Gottes, jener
der Verähnlichung mit ihm. Dann sind wiederum unter denen,
welche bei dem Menschen allein, ihn nur mit sich selbst ver-
gleichend, stehen bleiben, einige zu unterscheiden, welche mehr
vom Platon ausgehend ein zwiefaches im Menschen annehmen.
So behaupten die Stoiker, daß, wenn auch der anfängliche Zu-
stand des Menschen keineswegs widersittlich ist, indem er etwa
auf die Lust ausginge, sondern auch da schon die Tätigkeit sein
Geschäft ist, nämlich die der Selbsterhaltung, doch hernach erst
die Vernunft als ein Neues oder neu im Bewußtsein Gefundenes
hinzu kommen müsse, um ein neues, nämlich das ethische Leben
zu bilden. Mit ihnen stimmt am nächsten überein, nicht etwa
Kant; denn man tut unrecht ihrem Ausdruck, das Sittliche sei
ein übereinstimmendes Leben, wenn auch darin ursprünglich von
der Übereinstimmung mit der Natur keine Erwähnung geschehen,
doch jenen Sinn beizulegen, da er offenbar nur auf die Gleich-
artigkeit alles Ethischen geht, wie genugsam erhellt aus Ver-
gleichung mit der Erklärung, die Gesinnung sei die Quelle der
Lebensführung, aus welcher die einzelnen Handlungen herfließen.
Jedoch aber stimmt mit ihnen sowohl an sich als auch in der
Vielfältigkeit der Formeln auf vielfache Art überein Fichte,
welcher ebenso, ausgenommen, daß er dem natürlichen Menschen
48 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 46]
nur die Lust anweiset, einen gedoppelten Trieb setzt, wovon der
letzte, sittliche, abhängt von dem Gefundenhaben der Freiheit,
oder welches eins ist, der Vernunft. Auch wie jene vergnügt
er sich an einer natürlichen Geschichte des Menschen in der vor-
sittlichen Zeit und seines Überganges aus einem Zustande in den
andern. Die Gleichartigkeit alles Sittlichen aber wird bei ihm
dadurch ausgedrückt, daß es alles als in einer Reihe liegend ge-
setzt wird. Besonders aber läßt sich die Vielseitigkeit der stoi-
schen Formeln nicht besser als durch die seinigen erläutern, und
bei der mangelhaften Kenntnis jener Schule der Zusammenhang
mancher späteren mit den früheren, und wie sich in der einen
mehr der gute, in der andern der böse Geist des Systems offenbart
hat, fast nur aus ihm verstehen. So, wenn man denkt an des
Fichte Erklärung des Gewissens, und an seine Weltordnung: so
überrascht die Formel des Chrysippos, tugendhaft leben heiße
leben in Übereinstimmung mit dem einem jeden einwohnenden
Dämon, gemäß dem Willen des allgemeinen Weltordners. Wie
nun Archidemos einen dem Scheine nach bestimmteren Aus-
druck aufgebracht, nämlich in jedem Falle das Geziemende zu
tun, so auch Fichte, in jedem Augenblick die Bestimmung zu
erfüllen; und wie der stoische Diogenes sich noch gehaltreicher
und in Beziehung auf das vorsittliche Leben so ausdrückt, ver-
nunftmäßig handeln in der Auswahl des von der Natur ange-
strebten: so bezeichnet auch Fichte das Geschäft des sittlichen
Triebes als ein Auswählen aus dem vom Naturtriebe geforderten,
als ein den Endzwecken gemäßes Behandeln der Gegenstände,
sonach die praktische Wissenschaft als eine Einsicht von den End-
zwecken der Dinge, woraus man sieht, besser als sonst, wie diese
spätere stoische Formel sich wieder anschließt an jene frühere des
Chrysippos von dem Leben nach richtiger Schätzung dessen,
was sich natürlich ereignet. Daß nun auch Kant, wenngleich
mehr von weitem, sich diesen anschließt, bedarf kaum einer wei-
teren Ausführung. Denn daß sein Sittliches ein Tun ist, wird
[111,1,47] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 49
keiner leugnen, auch nicht, daß es durch eine neue, durch die Be-
trachtung der Vernunft hinzukommende Kraft, heiße sie nun Trieb
oder Triebfeder oder wie sonst immer, bewirkt wird. Andere,
mehr dem Spinoza gegenüberstehend, der ohne eine solche
Zwiefachheit den sittlichen Trieb unmittelbar als den Erhaltungs-
trieb des Ganzen darstellt, unterscheiden nur das Handeln und
Leiden, das äußere und innere, das eigne und fremde. Dieses
taten die Cyniker, deren wahre Idee wohl nicht eine der Bildung
und Geselligkeit entgegenstehende Natureinfalt gewesen ist, son-
dern eine Selbsterhaltung und ein Leben aus eigner Kraft, wobei
sie, nur auf eine andere Art als andere hernach, übersehen, wie
auch die Geselligkeit und ihre Früchte schon als ein durch die
eigne Kraft des Menschen Entstandenes zu betrachten sind. Denn
ein solcher Gedanke liegt offenbar in ihren ursprünglichen Ent-
gegensetzungen zwischen Glück und Mut, Gesetz und Natur,
Leidenschaft und Vernunft. Eben hierher werden auch diejenigen
unter den Neueren gehören, dafern es anders solche gibt, denen
es rein und unvermischt ein Ernst gewesen wäre um den Grund-
satz der Vervollkommnung. Denn eine eigne Stelle gebührt doch
diesem Grundsatz allerdings, und es scheint in dem gegenwärtigen
Zusammenhange gar nicht leicht zu begreifen, wie Kant es mög-
lich gemacht habe, ihn ebenfalls auf den der Glückseligkeit zurück-
zuführen, und wie er nicht habe verstehen können, daß Voll-
kommenheit in praktischer Bedeutung etwas anderes sein solle als
Tauglichkeit zu allerlei Endzwecken, welche ja ihm selbst zufolge
nur den Namen einer pragmatischen verdienen würde. Hätte er
auch nur darauf geachtet, wie die Cyniker, denen gewisser-
maßen die neueren Stoiker sich wieder näher anschheßen, und
ebenso Spinoza alle ethischen Unterschiede aus dem Handeln
und Leiden, aus der recht oder vergeblich und gar nicht gebrauchten
Kraft entwickelt hatten: so könnte ihm nicht entgangen sein, wie
gar wohl jener Begriff der Vollkommenheit, da unter dem Worte
verstanden wird die Vollständigkeit eines Dinges in seiner Art,
Schleiermacher, Werke. F. 4
50 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 48]
eine anordnende Anwendung finde auf den Menschen, als ein, wie
er doch selbst will, eigentlich handelndes Wesen gedacht. Ja schon
die gemeine Erklärung von Zusammenstimmung des Zufälligen mit
dem Wesentlichen, wiewohl sie dem Buchstaben nach sehr schlecht
ist, und auch die zum Grunde liegende Vorstellung nicht rühm-
lich, da nämlich der Mensch für sich und vor dem Handeln mithin
als ein Ding gedacht für das Wesentliche, alles Handeln aber für
das Zufällige genommen wird, hätte ihn dennoch von seinem
Orte aus an die Bedeutung der echt stoischen Formeln erinnern
müssen, in denen die ununterbrochene Tätigkeit der höheren Kraft
des Menschen so offenbar und allein die Hauptsache ist. Hätte
er aber den Gedanken besser verstanden als die meisten, welche
ihn vorbrachten, und dabei an die Vollkommenheit eines Kunst-
werkes gedacht: so hätte sich ihm ein eigentümlicher und tieferer
Sinn enthüllen müssen, in Beziehung auf welchen dieser Ausdruck
leicht der echteste ethische ist, weil er der Wahrheit nach sich
unmittelbar auf den Gedanken des Ideals bezieht.
Misch- Was^ aber diejenigen betrifft, welche selbst den Gmndsatz
Systeme, ^^j. Vollkommenheit anerkennend, ihn dennoch dem der Glück-
seligkeit für gleichartig oder ganz gleich erklärt haben, weil näm-
lich die echte Farbe und Dauer der Glückseligkeit am Ende doch
wieder von der Vollkommenheit abhinge: so ist offenbar, daß sie
entweder sich selbst sowohl als die andern nicht verstanden, oder
einer ganz unwissenschaftlichen Friedliebe und Einigungssucht
Raum gegeben, welche, das Innere verachtend, sich an einer bloß
äußerlichen Übereinstimmung ergötzt. Zu vergleichen ist die Sache,
als ob etwa einige sich stritten, welches wohl die Bahn der Welt-
körper wäre, Kreis oder Ellipse, und wenn es nicht zum Ende ge-
deihen wollte, dann endlich die letzteren sprächen unter sich und
zu den ersten, daß es gar nicht der Mühe wert wäre den Streit
fortzusetzen, denn der Kreis Heße sich vollkommen als eine Ellipse
betrachten, und so man nur die Brennpunkte zusammenrückte,
^ Absatz nicht im Original.
[111,1, 49] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 51
würden ja alle Ellipsen Kreise. Wenn nun aber jene nichts v/üßten
von den Brennpunkten, auch sich bis zu der Idee einer Funktion
niemals erhoben hätten: so wären doch weder beide Parteien
einig, noch weniger aber die Sache selbst wirkhch auf eine solche
Art dieselbe.
Ob aber Kant, nachdem er diesen Gegensatz mit Unrecht Formalismus
aufgehoben, wenigstens einen andern wahren aufgestellt, indem er — ^^tena-
unter dem Namen des Formalismus seinen Grundsatz nicht nur
von den Subjektiven, sondern auch die Objektiven, wie er sie nennt,
eingeschlossen, von beiden als dem Materialismus der Sittenlehre
abgesondert; dies ist sehr zu bezweifeln. Denn die Beschuldigung,
daß bei jenen allen das Gebotene auf etwas außerhalb bezogen
werde, ist für die letzteren ungerecht, indem bei ihnen dieses
„Außerhalb" nur ein solches ist, wie man von dem Ganzen sagen
kann, daß es außerhalb des Teils liegt. Vielmehr läßt sie sich so
auf Kant besonders zurückwerfen, w^ie sehr er auch davon frei zu
sein glaube; denn er erlangt diesen Schein nur durch die Zwei-
deutigkeit in dem Ausdruck ,,ein vernünftiges Wesen", der sowohl
bedeuten kann ein solches, welches die Vernunft hat als Vermögen,
als auch ein solches, welches von ihr wirklich getrieben und dessen
übriges also von ihr gehabt wird. Kant nun muß voraussetzen,
jedes vernünftige Wesen in dem ersteren Sinne wolle auch eins
in dem letzteren sein, und sein Grundsatz geht aus auf die Voll-
kommenheit eines solchen. Warum also dies nicht ebenfalls ein
Angestrebtes, eine Materie des WoUens zu nennen sei, mögen
andere besser begreifen. Ja es findet sich leider bei Kant noch ein
ärgeres „Außerhalb", indem sein höchstes Gut, als das zuletzt und
im ganzen Gewollte, einen Bestandteil, die wohl ausgeteilte Glück-
seHgkeit in sich faßt, wovon in dem jedesmal und einzeln Gewollten
nicht ein verhältnismäßiger Teil, sondern höchstens in der Würdig-
keit glücklich zu sein, daß ich so sage, der Logarithme davon ent-
halten ist. Doch dieses wäre hier vorweggenommen und kann nicht
weiter ausgeführt werden.
4*
52 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 50]
Einfacher oder Es ist aber nicht unbemerkt vorbeizulassen, wie sich uns oben
T^'h f-^*^ bei Anordnung der verschiedenen Systeme, deren Grundsatz Tätig-
Natürlichkeit ^^^^ ist im Gegensatz gegen die Lust, ein neuer anderer Gegensatz
und von selbst aufgedrungen hat, den wir auch bei den Sittenlehrern
Sittlichkeit, ^gj. j^^g^ wiederfinden, nämlich zwischen denen, welche einen zwie-
fachen Trieb annehmen, so daß sie den sittlichen dem natürlichen
entgegenstellen, und denen, welche das ethische Leben nicht aus
einem besondern erst später erwachenden, sondern nur aus dem
allgemeinen, das ganze Leben umfassenden Triebe entwickeln, so
daß der sittliche Mensch nicht etwas Neues und anderes, sondern
nur auf bessere Art das nämliche zu tun scheint, was auch jeder
andere von selbst tut und seiner Natur gemäß tun muß. Wie
nun von denen, welche auf Tätigkeit ausgehn die meisten,
aber nicht alle, ein zwiefaches setzen: so wird dieses von denen,
welche die Lustzum Ziel haben größtenteils geleugnet. Denn
schon die Alten beriefen sich darauf, daß auf die Lust der all-
gemeine Trieb alles Lebendigen gehe, und auch die galli-
kanische Schule leugnet, daß aus einem andern Bewegungs-
grunde als dem Eigennutz innerhalb der menschlichen Natur ge-
handelt werden könne, so daß sich nur der wohlverstandene
unterscheiden lasse von dem andern. Ja selbst die angli-
kanische, welche eine doppelte Quelle der Lust annimmt, die
idiopathische nämlich und die sympathische, und so daß jene,
sobald sie sich ausschUeßend setzt, das Unsittliche ist, sucht doch
auch öfters beide als der eigentlichen und innersten Natur nach
dasselbe darzustellen. Wesentlich aber ist es doch nicht den
Systemen der Lust, sich ganz auf diese Seite zu begeben. Vielmehr
könnte es und sollte auch wohl herzhaftere Verteidiger derselben
geben, welche den Mut hätten, den entgegengesetzten auf die
Tätigkeit selbst gerichteten Trieb nicht für eine Täuschung und
einen Mißverstand, sondern auch für einen wirklichen Trieb, näm-
lich für den unsittlichen, Lust und Leben vernichtenden, zu erklären,
welches erst die mutige und der gegenwärtigen Zeit würdige
Vollendung dieser Denkungsart sein würde. Dieser Gegensatz
[in,1, 51] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 53
nun, der sich eben dadurch als ein eigner bewährt, daß auf jeder
Seite sich Teilhaber von beiden Seiten des vorigen vereinigen,
scheint auf den ersten AnbHck so beschaffen, daß der eine seiner
beiden Sätze die Ethik ihrer eigentHchen Würde beraubt. Denn
nur da, wo ein zwiefacher Trieb angenommen wird, scheint ein
scharfer und schneidender Unterschied zu sein zwischen dem sitt-
lichen und vvidersitthchen ; die andere Seite hingegen Veranlassung
zu geben, daß das Böse nur verwandelt werde in einen Irrtum,
und das Gute in eine Einsicht, wodurch denn die Ethik von der
Würde einer Wissenschaft herabsinken müßte zu dem niedrigeren
Range einer technischen Anleitung. So haben es manche gemeint,
welche die Tugend eine Wissenschaft genannt haben, und noch
mehrere, welche einen solchen Ausspruch, wo er anders und besser
gemeint war, nur in diesem Sinne zu erklären gewußt. Allein
es dürfte dieses wohl nur ein Schein sein, daß ein innerhalb
einer Wissenschaft gefundener Gegensatz auch über sie hinaus-
gehen könnte. Denn jene Annäherung des Sittlichen und Wider-
sittlichen aneinander und die daraus zu folgernde Aufhebung der
Ethik als wahrer Wissenschaft, dies beides hebt sich immer selbst
wieder auf; indem doch überall zugegeben wird, daß der Irrtum
durch die bloße Belehrung nicht verschwindet, mithin als in-
wohnende Ursache desselben doch eine Handlungsweise oder
Denkungsart angenommen vv^erden muß, an welcher dann das
Sittliche einen ihm ähnlichen reellen Gegensatz erhält. So haben
ja auch die Stoiker, ohnerachtet sie eigenthch ein zwiefaches
Treiben annahmen, dennoch die einzelnen Tugenden als Wissen-
schaft erklärt; wir sehen aber aus den Bedeutungen, in welchen
sie dieses Wort genommen, wie dunkel sie uns auch Johannes
Stobaios aufbehalten hat, das Praktische darin ganz deutlich; wo-
durch denn der Widerspruch zwischen ihrem übrigen System und
ihrem Begriff vom Unsittlichen wegfällt. Daher dieses nur für eine
Verschiedenheit der Ansicht zu halten, welche im Inneren nichts
verändert. So nämlich, daß die Frage über die Einheit des Triebes,
wie sie auch beantwortet werde, dem Dasein der Sittenlehre keinen
54 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH, 1, 52]
Eintrag tun kann, demnach aber jener Unterschied, ob auch an
dem sittlich zu beurteilenden Zustande zwei verschiedene Triebe
als wirksam gedacht werden oder nur einer, wie er sich gefunden,
auf seinem Werte beruhen muß.
Das sittliche Diesem ähnlich, aber doch wohl von ihm zu unterscheiden, ist
I ^h ff" d ^^" anderer Gegensatz, welcher sich bezieht auf das Verhältnis des
oder be- sittlich Bewirkten zu dem im vorsittlichen Zustande Bewirkbaren;
schränkend', ob nämlich das dem ethischen Grundsatz gemäße, es sei nun
Handeln oder Genießen, ein durch ihn ganz und gar eigentümlich
und neu Hervorgebrachtes ist, oder nur eine eigne Bestimmung
und Begrenzung eines anderwärts her und auch ohne ihn vor-
handenen. Vielleicht wird dieser Unterschied deuthch durch Ver-
gleichung mit der verschiedenen Art, wie eine Raumerfüllung in
bestimmter Gestalt kann hervorgebracht vv^erden. Nämlich wenn
eine lebendige und bildende Kraft nach ihrem Gesetz sich aus-
dehnend bewegt und in irgendeinem Zeitteil als festgehalten ge-
dacht wird: so entsteht auf diese Weise dann das Erfüllende und
seine Gestalt zugleich, und ist nur aus demselben Grunde zu er-
klären. Wenn hingegen das, was eine solche Kraft bewirkt hat,
von außen her nach einer bestimmten Vorschrift abgeschnitten und
begrenzt wird: dann ist das Erfüllende und das Einschränkende
jedes ein anderes, und jedes mit einem ihm Fremden in Berührung
gesetzt. Das dem ersten ähnliche würde ein freies oder bildendes
ethisches Prinzip sein; das dem letzteren zu vergleichende aber
ein beherrschendes und beschränkendes. Und von beiderlei Art
finden sich sowohl in den Systemen der Lust als der Tätigkeit,
wie die Beispiele es näher erläutern werden. So ist das Sitt-
liche des Epikuros lediglich beschränkend; denn es bildet aus
dem rohen Stoff, dem Streben oder Fliehen des natürlichen Triebes
nach Genuß, die tugendhafte Schmerzlosigkeit und ruhige Lust
des Weisen, welche, wo jener Trieb sich nicht geäußert hat, auch
nicht her\'orgebracht werden kann, wonach also das Sittliche nicht
selbst erzeugend und bildend ist. Wohl aber hat diese Eigen-
1 Vgl. auch S. 95f-
[111,1, 53] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 55
Schäften das der älteren Cyrenaiker; denn ihr Sittliches ist selbst
jener natürliche Trieb nach Lust, wie er sich nach seinen eigenen
Gesetzen bewegt, und nur das Unsittliche ist beschränkend und
verneinend, nämlich die Trägheit, welche die Lust recht auszubilden
verhindert, und das regellose Dichten der Unklugheit, welche un-
bewußt den künftigen Schmerz als verneinende Größe mit hervor-
bringt. Ebenso ist lediglich beschränkend und an einem andern
sich äußernd die Sittlichkeit der gallikanischen Schule, wie
sie am besten durch den Helvetius vorgestellt wird; denn die als
das SittHche vorgestellte Einstimmung zum gemeinen Nutzen ist
nicht die Quelle eigner Handlungen, sondern nur an demjenigen
äußert sie sich, was der allgemeine Trieb der Selbstliebe gefordert
hat. Selbsttätig hingegen erscheint größtenteils die der angli-
kanischen Schule, weil, wenn auch in vielen Fällen die Hand-
lung, die aber nur das Zufällige und Nichtgewollte ist, durch eine
andere Kraft hervorgebracht werden könnte; doch nicht eben dies
gilt von der eigentümlichen Lust, welche das unmittelbar An-
gestrebte ist, und nur dem Triebe folgt, der durch eine neue, sonst
nicht denkbare Art von Handlungen sich äußert.
Gleicherweise^ findet sich derselbe Unterschied in den auf
die Tätigkeit gehenden Darstellungen. So ist zuerst
ganz beschränkend und also in der Ausführung von einem
Gegebenen abhängig der Grundsatz der Stoiker. Denn auch
nachdem die höhere Natur zum Bewußtsein gekommen, ist
dadurch nicht eine neue unmittelbar selbst handelnde Kraft
gegeben, sondern nur eine neue Art, über die Forderungen
des natürlichen Selbsterhaltungstriebes zu entscheiden, nämlich
so, daß die Erhaltung der Vernunft überall mit eingeschlossen
und vorangestellt wird. Dies müssen schon ihre Gegner unter
den Alten getadelt haben, weil auch Cicero es erfahren hat, und,
wiewohl nicht der Sache angemessen, es rügt, indem er ihnen vor-
wirft, sie nähmen den Antrieb zu handeln anders woher als das
Gesetz. Nämlich das ethische Prinzip kann bei ihnen die Tätig-
^ Absatz nicht im Original.
56 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 54]
keit, welche jedesmal erfordert wird, nicht hervorbringen, wenn
nicht zuvor durch den blinden Naturtrieb erst gesetzt worden, daß
überhaupt etwas geschehen solle; denn aus diesem entsteht immer
jede erste Aufforderung zum Handeln. Worin niemand sich irren
lassen möge durch jene oben schon angeführte Erklärung des Sitt-
lichen als Quelle der Lebensführung; denn diese sagt bloß aus,
daß in allen sittlichen Handlungen das bestimmende Prinzip immer
eins und das gleiche sei. Das nämliche begegnet ferner dem
ihnen unbewußterweise so sehr nachtretenden Fichte durch seine
jenen ganz ähnlich in allen sittlichen Handlungen gesetzte Ver-
knüpfung des höheren Triebes mit dem natürlichen. Denn auch
diese besteht nicht etwa nur in der Gleichheit des äußerlich dar-
gestellten Inhaltes, welche zufällig sein könnte, wie sie Spinoza
darstellt in dem Satz, daß jede Handlung mit jeder Art von Ge-
danken könne verbunden sein. Sondern, wenngleich Fichte auch
davon ausgeht, kein Wollen ohne Handeln, und kein Handeln
ohne ein äußerlich Vorhandenes und Behandeltes: so ist doch jenes
Verhältnis bei ihm ein anderes und innigeres; so nämlich, daß
der höhere Trieb den Stoff jedesmal nehmen muß vom Natur-
triebe, daß er jedesmal ein von diesem gerade jetzt Gefordertes
sein muß, und das Geschäft des reinen Triebes eben wie bei den
Stoikern nur besteht in der Auswahl desjenigen aus der Gesamt-
heit jener Forderungen, was seiner Form angemessen ist. Es
erhellt dies nicht nur aus den Ausdrücken und dem Gang der
Verhandlungen selbst, sondern ganz sonnenklar aus der Hmi-
tativen Beschaffenheit aller seiner Gesetze, besonders aber, doch
nicht ausschließend, derer, welche sich beziehen auf die Behand-
lung des Leibes. Wollte etwa hier jemand sagen, das limitative
Gesetz sei doch nur eines, und schon vorher sei aufgestellt das
positive: so ist zu antworten, es werde eben behauptet, daß dies
gar nicht drei Gesetze wären, sondern nur eines, erst in seinen
entgegengesetzten Bestandteilen dargestellt, und dann aus den-
selben verbunden. Denn wenn der sittliche Trieb hier etwas aus
und für sich selbst hervorzubringen hätte: so würde er selbst auf-
[111,1, 55] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 57
fordern zu Handlungen, welche Beiträge wären zur Bildung des
Leibes als Werkzeug, ohne alle Hinsicht auf Genuß. Und da diese
in systematischer Einheit nach dem Prinzip der Vervollkommnung
könnten fortgesetzt werden: so würden dann die Anforderungen
des Naturtriebes, die auf den Genuß gerichtet sind, wenn sie auch
zugleich auf Bildung könnten hingelenkt werden, dennoch abzu-
weisen sein, als weit unter jenem Ideal und nicht in der syste-
matischen Reihe gelegen, und würden sämtlich im voraus unter
die Klasse von Handlungen fallen, zu welchen die Zeit fehlt, nicht
nur um sie zu vollbringen, sondern selbst um nur über sie zu
beratschlagen. Ein Bewußtsein dieses Mangels leuchtet doch her-
vor, wie denn überhaupt ein höherer Grad von Bewußtsein diesem
Sittenlehrer nicht abzusprechen ist, aus dem Satz, man sei nicht
gehalten, gewisse, nur hätte er sagen sollen: alle, Tugendübungen
aufzusuchen, sondern die Pflicht sei nur sie zu vollbringen, wenn
sie sich darbieten. Dieses Sichdarbieten aber ist nichts anderes,
als ihr Gegebensein durch den Naturtrieb. Nicht minder gilt
auch das nämliche von Kants ethischem Grundsatz, in welchem
diese Eigenschaft auf das genaueste zusammenhängt mit der, für
welche er ihn am meisten lobt, daß er nämlich bloß formell sein
will. Ja, es ist wohl nicht nötig erst zu zeigen, was sich jedem
auf den ersten Anbhck darstellt, daß dieser Grundsatz, werde er
auch als beständig rege Kraft gedacht, nie etwas durch sich selbst
hervorbringen kann. Denn wenn seine Wirkung nur darin besteht,
daß beachtet werde, ob die Maxime einer Handlung die Fähigkeit
habe, ein allgemeines Gesetz zu sein: so muß ja, ehe diese Wir-
kung eintreten kann, die Maxime zuvor gegeben sein; und wie
anders wollte sie dies, wenn nicht als ein Teil des Naturzweckes.
Auch ist es ganz gleich, ob man sich an diesen Ausdruck des
Grundsatzes hält, oder an jenen anderen von Behandlung der
Menschheit als Zweck, und von dem zu denkenden Reich der
Zwecke. Sollte indes jemand noch Zweifel haben, der ist zu
verweisen an die Art, wie Kant selbst seinen Grundsatz anwendet
und durch Beispiele bewährt. So ist unter andern die Frage, was
58 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH,!, 56]
die Vernunft zu tun befiehlt mit niedergelegtem Eigentum. Würde
nun hier der sittliche Trieb durch sich selbst und das Gesetz,
welches er vertritt, auf eine bestimmte Handlungsweise geführt: ,
so müßte dieses dargestellt werden können durch eine Fort-
schreitung vom Allgemeinen zum Besonderen, und der Trieb
würde dann gedacht als von dem Augenblick des Empfangs an
schon in dem Bestreben auf die beschriebene Weise damit zu ver-
fahren. Hier aber kann die Regel nicht gefunden werden als nur
durch Vergleichung der verschiedenen möglichen Fälle mit dem
Gesetz; und so kann auch der sittliche Trieb nur gedacht werden
als ledigHch leidendlich, bis ihm kommt entweder die unmittelbare
Aufforderung zur Wiedergabe oder die Versuchung zum Unter-
schlagen, Daher auch in dem Erweis dieser Regel nicht zugleich
die erwiesen ist, auch alle Fahrlässigkeit mit solchem Eigentum
zu vermeiden, weil nämHch dieses, von selten des Naturtriebes
aus angesehen, eine andere Handlung ist, und also auch für den
sittlichen Grundsatz ein anderer Fall sein muß; welches, wenn
dieser auf die beschriebene Art selbsttätig wäre, sich ganz anders
verhalten müßte. Damit aber niemand glaube, es könne etwa,
wo das Sittliche als Tätigkeit erscheint, der Grundsatz in keinem
andern als diesem Verhältnis vorkommen: so ist zu zeigen, wie
allerdings bei andern das Sittliche sich als selbsttätig und Eignes
bildend darstelle. Und zwar ist dieses am deutlichsten zu sehen
bei Plato und Spinoza, von denen freilich der letztere das
Streben, sein eigentümliches Dasein zu erhalten, als das Wesen aller
beseelten Dinge und als den letzten Grund alles menschlichen Han-
delns aufstellt, wie er denn schon oben unter diejenigen gesetzt ist,
welche von einem zwiefachen Triebe in einer Seele nicht hören
wollen; aber an ihm zeigt sich eben am deutlichsten, wie der
Gegensatz, welchen wir jetzt betrachten, von jenem unterschieden
ist. Denn obschon ein und derselbe Trieb, kann und muß er doch
in jedem Falle in einer von diesen beiden Gestalten erscheinen.
Entweder nämlich das wahrhaft eigentümliche Dasein des Men-
schen, sein im engeren Sinne sogenanntes Handeln, zum Gegen-
[111,1,57] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 59
stände habend, und was so entsteht, ist das SittHche ; oder aber das
gemeinschaftliche, mit andern Dingen verknüpfte und von ihnen
abhängige Dasein, und das nur scheinbare Handeln, wovon die
Ursache zum Teil außerhalb des Menschen zu finden ist, daher es
mit Recht ein Leiden heißt, und das so Entstandene ermangelt
der sittlichen Beschaffenheit. Von diesem nun ist jenes nicht etwa
ein Umbilden und Verbessern des letzten oder ein nur auf das
letzte Erbautes, sondern von vorne her ein Eignes. Daher auch
Spinoza ausdrücklich behauptet, daß das Fliehen des Bösen, das
Vernichten eines etwa schon voran gedachten und angestrebten
Unsitthchen, gar kein eigenes Geschäft sei, sondern nur mittel-
bar und von selbst erfolge, indem das Gute gesucht wird. Hierin
zeigt sich am schärfsten der Unterschied von jenem, als bei wel-
chem das Gute nur dadurch zustande kommt, daß das Böse
ausgeschlossen wird; und so am besten bewährt sich eine Sitten-
lehre als wirkhch ein freies und eigenes Gebiet des Handelns um-
fassend. Das nämliche erhellt von selbst von der Formel des
Piaton, nämlich der VerähnHchung mit Gott. Denn da es der
Gottheit an allem, was Naturtrieb genannt werden mag, ermangelt
und die Tätigkeit der höheren Geisteskraft in ihr eine rein aus
sich selbst hervorgehende, schaffende und bildende ist: so würde
offenbar ein gemeinschaftliches Glied zur Vergleichung nicht zu
finden sein, wenn im Menschen die Vernunft nur beschränkend
auf seinen Naturtrieb handelte, und nur, was jener zuerst hervor-
gebracht, hernach auf ihre Weise gestaltete ; sondern es muß auch
bei uns das Verhältnis zu dem niederen Vermögen nicht das Wesent-
liche des höheren sein, sondern nur die Erscheinung seiner unter-
brochenen ^ Tätigkeit. Von hier aus nun wird auch zu übersehen
sein, inwiefern dem Aristoteles Unrecht geschehen, wenn er zu
denen gerechnet wird, deren Sittlichkeit nur von jener beschrän-
kenden Art ist, weil er nämlich die Tugend erklärt als eine ge-
mäßigte Neigung. Denn es soll vielleicht diese Erklärung eben-
^ In der Ausgabe von 1803 steht hier „ununterbrochenen", die Ausgabe
1846 schreibt richtig „unterbrochenen".
60 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [HI,!, 58)
falls nicht das Wesentliche bezeichnen, sondern nur die Erschei-
nung, und nicht das Sittliche an sich erschöpfen, sondern nur so,
wie es in einzelnen Fällen und schon in Beziehung auf Gegen-
stände sinnlicher Neigungen vorgestellt wird; und er mag wohl
nie geglaubt haben, daß die Zügellosigkeit zum Beispiel hervor-
ginge aus demselben Prinzip, wie die eigentümliche Beschaffenheit
einer begierdelosen wohlgeordneten Seele, nur daß es aufgehalten
wäre im letzteren Falle, Schon ist dieses wohl zu merken, daß er
nicht redet von einzelnen Äußerungen der Tugend, als ob diese ent-
ständen durch Erhöhung des von Natur zu schwachen, oder durch
Mäßigung des zu starken Triebes auf einen Gegenstand, sondern
daß er redet von der Tugend als bleibender einwohnender Eigen-
schaft. Daß er nun nicht deren Wesen und Entstehung durch
jene Erklärung hat bezeichnen wollen, könnte man hinreichend
sehen aus der Beschreibung des Gerechten als des Mittels zwi-
schen Schaden und Gewinn, wo jene Auslegung abgeschmackter
wäre, als daß sie auch einem Einfältigen könnte untergeschoben
werden. Noch deutlicher aber daraus, daß er überall die Tugend
als von der Lust begleitet vorstellt, woraus nach seiner schon
erläuterten Ansicht folgt, daß er sie in der Ausübung als eine
einzige von innen heraus gleichsam in einem Zuge vollendete
Handlung denkt, nicht als eine aus dem Zusammenstoß zweier
Kräfte entstandene und also gleichsam zerbrochene oder unter-
brochene. Denn nur denen, bei welchen die Sittlichkeit lediglich
beschränkend ist, und abhängig in ihren Äußerungen von anderen
Trieben, ziemt es, ihr die Unlust zur Begleitung zu geben. — Wird
nun in Hinsicht auf den vorliegenden Gegensatz auch noch nach
denen gefragt, welche eine handelnde Sittlichkeit unter dem Namen
der Vollkommenheit einführen: so ist über diese, weil sie mehr
im Wort übereinstimmen als im Gedanken, nichts allgemeines
zu sagen. Sondern einige schließen sich dem Piaton an durch
den Begriff der Kunstbildung, andere durch den der freien Tätig-
keit dem Aristoteles, andere den Stoikern durch den der Ver-
nunftherrschaft; wonach denn die einen hier, die andern dorthin
[111,1, 59] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 61
zu ordnen sind. Daß nun dieses ein wahrer Gegensatz ist, und
jeder ethische Grundsatz entweder auf die eine oder die andere
Seite desselben gehört, ist aus dem Gesagten offenbar.
Noch aber ist einer übrig, der vielleicht nicht minder be- Ist das
deutend als einer unter den vorigen, ausgezeichnet aber dadurch Ethische im
ist, daß er sich ohnerachtet der großen Mannigfaltigkeit ethischer ^^^^ jj^
Grundsätze nicht wie die andern nach beiden Seiten verschiedent- Individuellen
lieh ausgebildet schon zeigt, sondern die eine Seite desselben, wie- ^" suchen.? ^
wohl in der Natur ebenso deutlich gezeichnet, in den Systemen
fast überall nur erst angedeutet ist. Es liegt nämlich in dem Begriff
des Menschen als Gattung, daß alle einiges miteinander gemein
haben, dessen Inbegriff die menschUche Natur genannt wird, daß
aber innerhalb derselben es auch anderes gibt, wodurch jeder sich
von den übrigen eigentümlich unterscheidet. Nun kann der ethische
Grundsatz entweder nur eines von beiden zum Gegenstande haben,
und diesem das andere, es sei nun ausdrücklich oder stillschwei-
gend durch Vernachlässigung unbedingt unterordnen; oder aber
er kann beides, das Allgemeine und das Eigentümliche, nach einer
Idee miteinander vereinigen. Das letztere scheint noch nirgends
geschehen zu sein. Denn wiewohl sich nicht einsehen läßt, warum
diese Stelle sollte leer sein müssen, dürfte doch niemand eine
Sittenlehre aufzeigen können, welche dem Eigentümlichen ent-
weder ein besonderes Gebiet anwiese neben dem Allgemeinen,
oder beide durcheinander gesetzmäßig beschränkte und bestimmte;
sondern nur darauf ist für jetzt zu sehen, ob dem Allgemeinen
das Eigentümliche, oder diesem jenes unbedingt untergeordnet
wird. Was nun diejenigen Sittenlehren betrifft, welche die Lust
als das Ziel und Erzeugnis der Sittlichkeit aufstellen: so
ist offenbar und auch von jeher bemerkt worden, daß einige
Quellen der Lust sich auf die gemeine menschHche Natur zurück-
führen lassen, daß aber auch die besondere Beschaffenheit eines
jeden einige hinwegnimmt und neue hinzusetzt. Hier also ist der
Natur der Sache nach, und wenn nicht ein anderes willkürlich be-
'"vgl. S. 111.
62 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,60]
stimmt wird, das Allgemeine dem Eigentümlichen untergeordnet
und von ihm verschlungen. Denn von dem, was innerhalb der
gemeinschaftlichen Natur mögUch ist, erfolgt doch nur dasjenige
wirklich, was die besondere Beschaffenheit zuläßt, und jeder hat
doch lediglich auf das zu sehen, nicht was im Allgemeinen und
Unbestimmten, sondern was in ihm und für ihn möglich ist. In
Epikur. dem System des Epikuros nun zeigt sich diese Unterordnung
weniger auffallend, weil, wenn auch auf der einen Seite das Hin-
wegzunehmende, nämhch der Schmerz und die Begierde, auf der
andern das Überschießende, nämlich die positive kitzelnde Lust,
bei dem einen anders sein mag als bei dem andern, doch das
eigentlich Hervorzubringende, woraus das höchste Gut allein be-
steht, nämlich die Schmerzlosigkeit, überall als dieselbe erscheint,
und die individuellen Verschiedenheiten darin nicht bemerkt wer-
Aristippos. den. Deutlich aber ist die Sache in dem System des Aristippos,
wo alles zu Suchende und zu Wählende dem Inhalt nach sich nur
unter der Gestalt des für diesen und jenen zu Suchenden und zu
Wählenden darstellt, und das allgemeine Gebot nur das Wesen
der Lust ohne alle Beziehung auf ihren Inhalt aussprechen kann.
Engländer. Ganz anders hingegen ist in der anglikanischen Schule die aus
dem wohlwollenden Triebe entspringende Lust ausschließend als
das Sittliche gesetzt durch einen auf keine Weise zu rechtfertigen-
den Machtspruch, indem nämlich im voraus beschlossen wird, es
solle nicht angenommen werden, wenn einer sagte, daß bei ihm
der wohlwollende Trieb zu schwach wäre, um eine merkliche Lust
hervorzubringen. Daß dieses nur ein Machtspruch sei, erhellt von
selbst; denn wenn sie etwa sich, als auf ihren ersten Grundsatz,
darauf berufen wollten, daß eben diese Schwäche die Unsittlich-
keit sei, welche hinweggenommen werden soll: so müßten sie auf-
hören, das Wohlwollen um der Lust willen zu gebieten.
Was^ aber diejenigen ethischen Systeme betrifft, welche das
Sittliche als Tätigkeit setzen: so ist klar, daß der nämliche
1 Absatz nicht im Original.
[111,1, 61] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 63
Unterschied auch bei ihnen stattfinden kann, und daß sie, den nicht
gefundenen Fall einer gesetzmäßigen Vereinigung des Allgemeinen
und Eigentümlichen ausgenommen, in ihrem Grundsatze entweder
ein Bestimmendes setzen können als dasjenige, welchem von allen
nachgestrebt und welches also ohne Hinsicht auf die eigentümliche
Beschaffenheit des Allgemeinen wirklich werden solle mit gänz-
licher Vernichtung des Eigentümlichen, oder daß sie nur ein an
sich Unbestimmtes und nur in Beziehung auf das Eigentümliche
Bestimmtes setzen, nämlich eine solche oder solche Behandlungs-
weise desselben mit Vorbeigehung des Gemeinschaftlichen. Be-
trachtet man nun die hierher gehörigen Darstellungen der Sitten-
lehre: so findet sich fast überall das Eigentümliche gänzlich ver-
nachlässigt, und eben daher nicht besser als unterdrückt und für
unsittlich erklärt. Bei den Stoikern zum Beispiel ist in dem Begriff Stoiker,
der Naturgemäßheit von der besonderen Bestimmbarkeit der Natur
gar nicht die Rede; und es wäre nur ein leerer Schein, wenn
jemand in dem Ausdruck, durch welchen sie gevv^öhnlich das Sitt-
liche bezeichnen, und der, wie unser anständig und geziemend,
etwas Besonderes in sich zu schließen scheint, einen Gedanken
dieser Art finden wollte. Vielmehr ist ihr durch alle sich ver-
breitender richtiger Verstand das allen Gemeinschaftliche, und auch
schon der Weise, wie er als Musterstück aufgestellt wird, deutet
auf ein in gleichen Fällen für alle gleichförmiges Handeln; so daß,
wenn mit Hinsicht auf ihre besondere Eigentümlichkeit zwei in
gleichem Falle verschieden handeln wollten, nur einer oder keiner
der Weise wäre, und einer oder beide das Sittliche verletzten.
Auf ihrer Seite steht auch hierin Fichte, sowohl was jenen Schein Fichte,
als auch was den wahren Befund der Sache betrifft. Denn auch
sein Ausdruck „Beruf" scheint etwas für jeden Eigenes und anderes
anzuzeigen, und also eine gleiche Deutung zu begünstigen, wie
auch die besondere Reihe eines jeden von einem eigenen Punkte
aus. Allein dieses Besondere hängt nicht ab von einer inneren
Eigentümlichkeit des Menschen, sondern nur von dem Punkte,
wo jeder seine Freiheit zuerst findet, und von der Verschiedenheit
64 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. (111,1, 62]
der Umgebungen und äußeren Verhältnisse eines jeden, welche
Beziehung auch dem Schicklichen der Stoiker zum Grunde liegt,
so daß bei beiden das Besondere nur das Räumliche und Zeitliche
sein kann. Dies bestätigt sich deutlicher, wenn man sieht, wie
auch die Individualität, welche Fichte unter den Bedingungen der
Ichheit aufführt, sich nicht weiter erstreckt als auf das Verhältnis
zu einem eigenen Leibe, und auf die Mehrheit der Menschen-
Exemplare überhaupt. Ja noch entscheidender womöglich ist
jene Stelle, wo die Aufgabe eintritt, die Vorherbestimmtheit der
freien Handlungen eines jeden für die übrigen mit der Freiheit
zu vereinigen, und wo die besondere Bestimmtheit eines jeden
im geistigen Sinne ganz aufgehoben und die ganze geistige Masse
völlig gleichartig angenommen wird. Es liegt für die gesamte
Vernunft da ein unendliches Mannigfaltiges von Freiheit und
Wahrnehmung, in welches alle Individuen sich teilen; und es
existieren für jeden nicht mehrere bestimmte Ichs, sondern nur
eine Gesamtheit von Ichs. Jedoch nicht nur dieses, sondern es
besteht auch die sittliche Vollendung eben darin, daß jeder aufhöre
etwas anderes zu sein, als ein gleichartiger Teil dieser Gesamt-
heit. Denn die Vernunft, welche jeden bestimmen soll, ist aus
dem Individuum herausversetzt in die Gemeinschaft, und kann
also auch keine andere sein, als eine allen gemeinschaftliche; so
daß in allen alles Rechte aus demselben sich nur auf das Gemein-
schaftliche beziehenden Grunde hervorgeht, jeder an der Stelle des
andern auch das nämliche hätte verrichten müssen, und jede Ab-
weichung von der einzigen Norm als Verletzung des Gesetzes
erscheint, weil aller Unterschied unter sittlichen Menschen nur auf
Kant, dem Ort beruhen soll, wo sie stehen. Bei dem früheren Kant
aber tritt diese nämliche Ansicht so stark hervor, daß sie zur
heftigsten Polemik ausartet gegen alles, was eine besondere Be-
stimmtheit auch nur von weitem verrät. Von dieser Art ist die
Forderung, daß die Erfüllung des Gesetzes mit Unlust verbunden
sein soll, weil nämlich die Lust ihm zufolge dasjenige ist, was
[III, 1, 63] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 65
vorzüglich die Persönlichkeit vertritt; ferner die Pfhcht, sich' fremde
Glückseligkeit zum Zweck zu machen, um dadurch die Lust, in-
sofern sie doch ein Gegenstand des Handelns sein kann und muß,
von ihrer Verbindung mit der Eigentümlichkeit möglichst zu be-
freien, welche Pflicht aus seinem Grundsatz allein nirgends von
ihm abgeleitet worden ist, auch nicht werden kann, und also nur,
wie alles der Art, aus dem innern Geiste des Systems zu er-
klären ist. Dieser nun, kann man sagen, ist durchaus mehr juridisch
als ethisch, und hat überall das Ansehn und alle Merkmale einer
gesellschaftlichen Gesetzgebung; welches auch mit dem vorigen
genau zusammenhängt. Denn wenn der ethische Grundsatz immer
und allein unter der Gestalt eines Gesetzes erscheint, w^elches
bloß in einem vielen Gemeinschaftlichen gegründet ist: so kann
es nicht anders als ein gesellschaftliches oder im strengen Sinne
betrachtet ein Rechtsgesetz werden. Deshalb hat auch die Fichte-
sche Sittenlehre, wie schon aus dem obigen zu ersehen, eigent-
lich dasselbe Gepräge; nur tritt es bei Kant stärker hervor. Denn
bei diesem ist es auf das genaueste herausgearbeitet, und alles
Wunderbare darin nur in Verbindung mit diesen Zügen zu be-
greifen. Ganz juridisch sind schon seine frühesten ethischen Äuße-
rungen, daß zum Beispiel das Sittliche müsse angesehen werden
können als aus einem obersten Willen entsprungen, der alle Privat-
willkür in oder unter sich begreift; wodurch gleichfalls das Be-
sondere und Eigentümliche vernichtet wird; denn dieses, da es
sich untereinander entgegengesetzt ist, kann jener oberste Wille
nicht mit enthalten. Aus nichts anderem als hieraus ist auch zu
erklären der so ganz ohne Zusammenhang, aber mit der festesten
Zuversicht allgemeiner Billigung hingestellte Gedanke von der
Strafwürdigkeit und der entgegengesetzten Würdigkeit glücklich zu
sein, weil nämlich in dem rechtlichen Verhältnis eines bürger-
lichen Vereins eine solche durchgängige Abhängigkeit des Wohl-
befindens von dem gesetzmäßigen Tun und Leben die höchste,
wiewohl unauflösliche Aufgabe ist; so daß man sagen kann, auch
Schleiermacher, Werke. I. 5
66 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [HI,!, 64]
sein höchstes Gut sei nur ein politisches. Und was anderes sollte
es sein als politisch, die Idee eines Verpflichteten und Verpflich-
tenden aufzustellen, deren Einführung in die Ethik sich aus seinem
höchsten Grundsatz derselben keineswegs erklären läßt? Oder
auch die eines inneren und heimlichen Krieges aller gegen alle,
die er sogar bei der Freundschaft, dem reinsten ethischen Ver-
hältnis, zum Grunde legt; so daß selbst seine sittliche Freundschaft,
die aber eigentlich nur eine dialektische heißen dürfte, nur als ein
verstohlener Genuß eines einzelnen Waffenstillstandes erscheint.
Gleichfalls hat seine Formel, den Menschen als Zweck an sich zu
behandeln, wiewohl sie auf etwas anderes geführt haben könnte,
denselben Charakter; denn von den Menschen, als ob sie auf diesen
nicht zu ruhen vermöchte, eben wegen des Individuellen, wird
sie gleich übergetragen auf eine Menschheit. Auch das Reich der
Zwecke ist ein bürgerliches; jedoch nicht einmal in dem besseren
Sinne, dem das kunstmäßige und wohlberechnete Ineinandergreifen
der verschiedenen Einzelheiten die Hauptsache ist; sondern nur
die schlechteste Vorstellung eines Staates liegt dabei zum Grunde,
wo das Verhältnis des einzelnen zum Ganzen nur negativ ist,
jeder eigentlich etwas anderes will, und vom Gesetz allein in
Schranken gehalten wird. Kant selbst zwar meint, er habe sich
überall bei seinen Gleichungen die eines Naturgesetzes zum Vor-
bilde gewählt; diesen Glauben aber wird er wohl keinem andern
mitteilen. Denn ein Naturgesetz ist nicht zu denken, ohne daß
es zu Zerfällung des Gleichen in Entgegengesetztes den Keim ent-
halte, und mit dem Allgemeinen zugleich Raum und Umfang für
das Besondere setze; weil nur so eine organische Verknüpfung ent-
steht, für welche es allein ein Naturgesetz geben kann. Wer aber
wollte hier eine solche finden, wo lauter Gleichartiges beieinander
steht? Wie wenig auch Kant imstande gewesen wäre, ein Natur-
gesetz sich zum Vorbilde zu nehmen, ersieht jeder aus dem ein-
zigen kleinen Versuch dieser Art, da er meint, unter der Idee
einer Natur angesehen, sei Liebe die anziehende, Achtung aber
die abstoßende Grundkraft; sondern sein Vorbild kann kein an-
[111,1, 65] 1. Kritik der höchsten Grundsätze. 67
äeres sein als das politische Gesetz, Ob nun der Ethik besser
geraten ist, wenn sie in eine Rechts- als wenn sie in eine Glück-
seligkeitslehre verwandelt wird, dieses wird anderswo zu unter-
suchen sein; hier war nur die Absicht, die Sache, wie sie ist, auf-
zudecken. Das nämliche, nur etwas anders gestaltet, zeigt sich in
der anglikanischen Schule, welche, insofern sie den Schein behauptet,
es auf Tätigkeit anzulegen, ihren ethischen Grundsatz mehr als Engländer.
einen natürlichen Trieb darstellt, und daher mehr eine freie als eine
gesetzliche Geselligkeit im Auge hat. Insofern nun eine freie Ge-
selligkeit doch immer strebt gesetzlich zu werden, ist sie den
vorigen gleich; insofern aber das Bilden einer solchen ethischer
zu sein scheint als das mechanische Fortbewegen in einer schon
gebildeten, möchte sie jenen voranzustellen sein. Wie aber auch
diese Schule das Individuelle gänzlich verwirft, kann man ebenso-
gut als an irgendeinem Engländer an dem Deutschen Garve sehen,
welcher, das Schwanken zwischen Lust und Tätigkeit mit ein- Garve.
gerechnet, ganz zu derselben gehört. Entscheidend und anstatt
aller übrigen ist in dieser Beziehung ein Ausspruch desselben über
das allgemeine Musterbild der menschlichen Natur, wo ihm jede
Besonderheit schon als eine Abweichung erscheint, welche durch
das regellose Handeln in der Zeit vor dem Finden des sittlichen
Gesetzes entstanden ist, und daher durch das gesetzmäßige und
gebildete wieder hinweggeschafft werden muß ; so daß offenbar als
höchste Gesamtwirkung der sittlichen Kraft sich ergeben würde
eine völlige innere Gleichheit der Menschen.
Gehen 1 wir nun von diesen Schwankenden zu denen über, Vollkommen-
weiche sich ohne geheimen Verkehr mit der Lust die Vollkommen- l^^'tsethik.
heit zum Ziele setzen: so zeigen sich diese, wie schon sonst so auch
hier, geteilt und uneins, so daß sich, wie es nur durch die Vieldeutig-
keit des Wortes und die Unbestimmtheit des Begriffes geschehen
kann, die verschiedenen möglichen Fälle hier zugleich darstellen.
Denn sie können ebenfalls ein allgemeines Musterbild der mensch-
^ Absatz nicht im Original.
5*
68 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,66]
liehen Natur zum Grunde legen; und werden dann in Verwerfung
des Eigentümlichen den bisher Angeführten nicht nachstehen. Andere
aber können auch ausschließend die besondere Bestimmtheit eines
jeden als ein schlechthin Gegebenes betrachtet zum Grunde legen,
ohne irgendeine Hinsicht auf ein Allgemeines; so daß ihr Sittliches
nur in Beziehung auf die Eigentümlichkeit als Erhaltung, Ent-
wickelung und Darstellung derselben bestimmt ist. Dieses aber
ist in einem wissenschaftlichen Gebäude wenigstens noch von
keinem versucht worden; nur angedeutet hat Fichte etwas Ähn-
liches, natürlich aber er als einen unsittlichen Zustand, dem das
Finden des Gesetzes müsse ein Ende machen. Oft aber kommt
diese Ansicht vor in unwissenschaftlichen Gestalten als Regel eines
wirklichen Lebens oder eines in den Werken der Dichtkunst dar-
gestellten, so daß ihr, bis vielleicht zum Erweis ihrer wissenschaft-
lichen Unmöglichkeit, die ohnedies leere Stelle nicht kann geweigert
werden. Noch andere aber könnten auch, unter der Idee der Voll-
kommenheit beides vereinigend, die Aufgabe fassen, jene Annähe-
rung an das gemeinschaftliche Musterbild mit der Ausbildung und
Darstellung des Eigentümlichen nach gewissen Grundsätzen zu
vereinigen, und beides gegenseitig durcheinander zu bestimmen
und zu begrenzen; wobei freilich eine Regel gefunden werden
müßte, um das Mannigfaltige des Eigentümlichen zu ordnen und zu
erschöpfen, und um dann einzeln zu beurteilen, wohin jedes ge-
höre. Zu dieser Aufgabe führen auch, wiewohl nur von ferne,
Pia on un pj^^^^ ^j^^j Spinoza. Denn auf der einen Seite scheint zwar jener
Spinoza. '
das Ideal auch nur als ein einziges darzustellen, auf der andern aber
ist teils schon durch seine Methode, welche zur Weltbildung
hinaufsteigt, um von der herab alles abzuleiten, das Besondere als
im götthchen Entwurf Hegend gegeben, teils stellt er selbst fest
eine natürliche Verschiedenheit in den Mischungen der verschie-
denen Kräfte und Größen. Wollte aber vielleicht jemand sagen,
dies geschehe nur auf dem Gebiete der Staatskunst; und was da
als gefunden vorkomme, könne dennoch gar wohl in dem Gebiete
[111,1, 67] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 69
der Ethik als umzubildend oder völlig hinwegzunehmend auf-
gegeben sein: so steht diesem zweierlei entgegen. Zuerst setzt er
dieses Verschiedene als durch die Erzeugung entstanden, welches,
wenn man es auch nur mythisch auslegt, dennoch die Idee des
Ursprünglichen und Unabänderlichen in sich schließt. Dann auch
stellt er es hin als ein politisch sorgfältig und auf ewige Zeiten
Aufzubewahrendes; und ein solches kann bei der Verbindung
beider Wissenschaften unmöglich ein ethisch zu Vernichtendes sein.
Das nämliche nun gilt auch von Spinoza, wenngleich er nicht minder
von einem allgemeinen Musterbilde redet. Wenn man aber be-
denkt, wie er diesen in der Ethik überall vorkommenden und in
ihr vielleicht unvermeidlichen Gedanken unmöglich doch für das
einige Notwendige halten konnte; und man versucht daher mit
seinem Ausdruck, daß das Annähern an dieses Urbild das einige
wahrhaft Nützliche sei, den Grundgedanken seiner Lehre in Ver-
bindung zu setzen, daß jedes einzelne Wesen, nicht etwa jede Gat-
tung, die Grundkräfte des Unendlichen auf seine besondere Weise
darstellt: so erkennt jeder es leicht für unmöglich, daß nach seinem
Sinne dieses Eigentümliche als ein Fehlerhaftes und Hinwegzu-
nehmendes solle behandelt werden. Daher ist offenbar genug, daß,
wer eine Ethik nach den Grundzügen des Platon oder des Spinoza
völlig, und so genau als es in andern Systemen geschehen ist, auf-
bauen wollte, jener Aufgabe einer Vereinigung des allen Gemein-
samen und des Eigentümlichen nicht entgehen könnte. Auf wie
mancherlei Art aber und wie eine solche in diesen sowohl als
anderen Systemen zustande zu bringen sei, das gehört nicht hier-
her. Hier vielmehr reicht es hin, gezeigt zu haben, wie auch dieser
Gegensatz überall stattfindet, und wie auch die letzte, wenngleich
noch vernachlässigte Seite desselben fast von allen verschiedenen
Grundsätzen aus wenigstens aufgegeben ist. Und soviel sei gesagt
von den bedeutenden Verschiedenheiten der bisherigen ethischen
Grundsätze. Nun zur Prüfung ihrer Tauglichkeit, was die Er-
richtung eines Systems betrifft.
70 Grundlinien einer Kritilc der bisherigen Sittenlehre. [111,1, öS]
Zweiter Abschnitt.
Von der Tauglichkeit der verschiedenen ethischen Grund-
sätze zur Errichtung eines Systems.
1.
Bedingungen dieser Tauglichkeit.
Die drei Wenn aus einem ethischen Grundsatze ein System von Hand-
ethischen Jungen sich soll entwickeln lassen: so muß auch die Gesamtheit
Weise das "dieser Handlungen oder Zustände, damit auch die gleich ein-
höchste Gut, begriffen werden, welche nicht auf ein eigentliches Handeln gehen,
das Gesetz, gj^, Ganzes und Gleichartiges ausmachen, welches daher auch
unter einem Begriff muß dargestellt werden können. Ferner aber
ist auch in Betrachtung zu ziehen dasjenige, in welchem und
durch welches diese Gesamtheit hervorgebracht wird, nämlich die
von dem sittlichen Grundsatz beherrschte Seele, welche ebenso die
innere und bleibende, wie jenes die äußere und wechselnde Dar-
stellung desselben ist, und als eine und dieselbe Kraft in allen
verschiedenen Äußerungen, nämlich nicht nur physisch, sondern
auch ethisch eine und dieselbe, ebenfalls unter einem Begriff
befaßt werden muß. Hieraus nun entstehen die beiden Ideen des
höchsten Gutes und des Weisen, welche gewöhnlich als Eigen-
tümlichkeiten dieser oder jener Schule angesehen v/erden, der
Wahrheit nach aber allen Schulen auf gleiche Weise angehören
müssen. Denn wird zuerst betrachtet das Verhältnis des eigent-
lich sogenannten ethischen Grundsatzes, der in dieser engeren Be-
deutung, weil er sich auf das einzelne bezieht, das Gesetz zu
nennen ist, gegen die Idee des höchsten Gutes: so zeigt es sich
ganz als dasselbe, wie in der Meßkunst das Verhältnis der Glei-
chung oder Formel zu dem anschaulichen Bilde der Kurve, Vielehe
durch jene bestimmt ist. Hier nämlich kann, wenn die unveränder-
[111,1, 69] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 71
liehe Größe angenommen ist, durch aufeinander folgendes Setzen
der einen Veränderlichen nach dem in der Formel angewiesenen
Verfahren die dazu gehörige andere und mit ihr ein Ort in der
Kurve jedesmal gefunden werden. Ebenso nun wird auch in der
Ethik, wenn die unveränderliche Größe, es sei nun dieses die
menschliche Natur oder wie ein jeder es ausdrücken will, fest-
gestellt ist, so oft dieser oder jener Punkt unter den gesamten
ethischen Beziehungen des Menschen gleichsam auf der Linie der
Abszissen angenommen wird, durch Ausübung des in dem Grund-
satz angezeigten Verfahrens auch jedesmal die Tat gefunden,
welche in jener Gesamtheit des ethischen Lebens das zu diesem
Punkt gehörige Glied darstellt. Nur aber können in dem ethi-
schen sowohl als dem mathematischen Verfahren auf diese Art
bloß einzelne Punkte der Kurve wie einzelne Teile des höchsten
Gutes gefunden werden, mehrere oder wenigere, je nachdem die
bei einem abgerissenen Verfahren unvermeidlichen Zwischenräume
näher oder weiter gerückt vv^erden. Wird dagegen ein Werkzeug
gedacht, welches so genau in Beziehung auf die Formel ein-
gerichtet wäre, daß es durch ein stetiges Fortrücken auf jener Linie
zugleich nicht einzelne Orte sondern die ganze Kurve als ein
stetiges und ununterbrochenes Ganzes verzeichnete: ein solches
wäre dann zu vergleichen dem Weisen, der ebenfalls durch stetige
Fortrückung auf der Linie des Lebens das höchste Gut im Zu-
sammenhang und ohne Abweichung hervorbringt. Und so wie in
jedem Werkzeuge die Formel gleichsam ein mechanisches, sich
selbst darstellendes Leben gewonnen hat, so ist auch der Weise
das lebendige Gesetz und die das höchste Gut erzeugende Kraft.
Hieraus nun erhellt schon hinlänglich, daß jene Ideen, eine ohne
die andere nicht bestehen können. Denn wenn auch die Idee des
Weisen zu Errichtung des ethischen Systems, welches aus ein-
zelnen getrennten Gliedern zusammengefügt werden muß, nicht
unmittelbar gebraucht werden kann, und gleichsam nur das Be-
kenntnis enthält, wie unzulänglich dieses ist, um ein stetiges Ganzes
72 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,70]
darzustellen: so muß sie dennoch in jedem ebenfalls angedeutet
sein. Sonst wenn einem sittlichen Gesetz die ihm entsprechende
Idee des Weisen mangelt, muß mit Recht ein übler Argwohn
entstehen, daß die nach demselben gebildeten Handlungen sich
nicht als ein eigentümliches Inneres aufdringen, und daß nicht eine
gleiche Kraft und Richtung des Menschen der beharrliche Grund
derselben ist, sondern ihre Gleichartigkeit, und also das eigentliche
Wesen des Gesetzes, von irgend etwas Äußerem abhängt. Fehlt
aber gar zu einem Gesetz die Idee des höchsten Gutes: dann läßt
sich schließen, daß die Aufgabe nicht in ihrer unzertrennhchen
Vollständigkeit gedacht worden. So zum Beispiel, wenn das Ge-
setz unmittelbar nicht auf ein eigenes Hervorbringen abzweckt,
sondern nur auf das Zerstören einer anderen Handelsweise, wird
die Einheit in dem durch dasselbe Bewirkten sich leicht verbergen;
und wenn das Gesetz für sich unzureichend wäre, was es selbst
will und soll, hervorzubringen, so würde das als letztes Ziel Ge-
dachte in Absicht auf dasselbe als zufällig erscheinen, und also mit
Recht im System nicht aufgestellt werden. Ebenso darf auch zu
einem höchsten Gut das Gesetz nicht fehlen, noch auch der Weise,
weil sonst der Inbegriff desselben als ein zufällig und äußerlich,
nicht aber innerlich und gesetzmäßig Entstehendes erscheint, und
also weder die Ethik bestehen kann, welche nichts anderes ist als
eine systematische und nach der Einheit des Grundsatzes unter-
nommene Analyse des höchsten Gutes, noch auch die Lebens-
führung, auf welche sich die Wissenschaft beziehen
soll. Denn wie dürfte man jemanden anmuten sich als
das Ganzeseines Bestrebens etwas vorzusetzen, wozu
ihm nicht eine Einheit der Handlungsweise als hin-
reichende Kraft, um es zu erreichen, könnte ange-
wiesen werden?
Ein- Hieraus darf jedoch nicht folgen, daß alle diese drei Ideen
schränkung. -^^ jedem System mit gleicher Klarheit und Bestimmtheit müßten
dargelegt sein und gleich stark hervortreten. Denn noch ist es
mit der Ethik nicht dahin gediehen, daß diejenigen, welche ihrer
[111,1, 71] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 73
pflegen, von ihrem ganzen Zusammenhange und allen ihren Teilen
eine gleich klare Vorstellung hätten; und andererseits bringt auch
die Verschiedenheit in der Abzweckung der Systeme es mit sich,
daß in diesem von der, in jenem von einer andern weniger
Gebrauch gemacht wird, und weniger erleuchtende Strahlen aus-
gehen, welches, ohne ihnen zum unbedingten Vorwurf zu ge-
reichen, nur der Kritik die Pflicht auflegt, dem Mangel der bis-
herigen Darstellung aus ihrer vergleichenden Kenntnis des Inneren
abzuhelfen, und auch den verborgenen Elementen derjenigen Ideen
nachzuspüren, welche dem ersten Anblick nach zu fehlen scheinen,
es sei nun, daß sie wirklich überwachsen oder daß sie nur un-
scheinbar sind und den gehörigen Raum nicht ausfüllen. Denn
es kann gar wohl geschehen, daß, wo in einem System eine von
ihnen ganz zu fehlen oder nur erkünstelterweise und auf eine
mißverstandene Art nachgebildet zu sein scheint, so daß sie den
übrigen nicht entspricht, dennoch die wahre und dem System an-
gemessene ebenfalls, nur nicht an der rechten Stelle und voll-
kommen entwickelt, vorhanden ist. Auch ist nicht möglich im
allgemeinen darüber zu entscheiden, welche von ihnen die erste
ursprüngliche ist. Nämlich keine ist eigentlich abgeleitet von der
andern, und eine Ethik kann ebensogut mit dem Grundsatz an-
fangen, daß alles Handeln ein Teil des so und so bestimmten
höchsten Gutes sein soll, als mit dem, daß in jedem das so und
so ausgedrückte Sittengesetz als der eine Faktor enthalten sein
soll. Denn ebensogut läßt sich aus jenem, dem höchsten Gute,
die Regel des Verfahrens ableiten, wie aus dieser die Idee der
Gesamtheit des Hervorgebrachten; wie denn auch aus Betrach-
tung der Kurve in dem Körper, dem sie angehört, die Funktion
sich entdecken läßt. So hat unstreitig Piaton bei seiner Welt-
anschauung zuerst das höchste Gut des Menschen gefunden, näm-
Uch die Ähnlichkeit mit Gott, und dann erst, nach Anleitung seines
Begriffes von der menschlichen Natur, die Regel des Verfahrens
hierzu; Spinoza hingegen bei der seinigen zuerst das Gesetz,
nämüch die Angemessenheit des jedem Handeln zugehörigen Ge-
7-i Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 72]
dankens, und hieraus erst das höchste Gut, nämUch die in jedem
enthaltene Erkenntnis Gottes. Und so stehen beide Ideen in
durchgängiger Wechselbeziehung, und die frühere Erscheinung
der einen oder andern hängt ledigUch ab von der eigentümhchen
Ansicht dessen, der die Ethik bearbeitet, oder von dem Zusammen-
hang, in welchem diese Wissenschaft gefunden wird, das heißt,
das Früher oder Später ist jetzt noch und für uns durchaus zu-
fälUg. Daß aber, diese Einschränkungen festgehalten, die drei
aufgezeigten ethischen Ideen, da jede eine eigne, keine aber alle
Beziehungen des höchsten Grundsatzes darstellt, und also jede als
eine eigne unentbehrliche Gestalt desselben angesehen werden
muß, gleich notwendig sind, wenn eine von ihnen einem System
der Sittenlehre zum Grunde liegen soll, und dies also eine not-
wendige Bedingung der systematischen und architektonischen Taug-
lichkeit eines sittlichen Grundsatzes ist, dieses muß aus dem Ge-
sagten einem jeden offenbar sein.
Das Verfahren Nächst dieser Mannigfaltigkeit der Gestalten aber gibt es
^^' ein zwiefaches Verfahren, wodurch jeder Grundsatz sein Geschäft
Bestimmung . , , , , , , i • , t • i j • n
des Ethischen verrichtet, und wozu demnach auch jeder geschickt sem muß, um
sich in seiner Eigenschaft zu bewähren. Er muß nämlich so be-
schaffen sein, daß sich vermittelst desselben, so weit es in einer nur
im allgemeinen gehaltenen Darstellung möglich ist, alles sittliche
Tun oder Sein als ein solches aufzeigen lasse. Daß er sich dazu
eines vermittelnden und leitenden Begriffes bedienen dürfe, ist
schon oben gegen einige eingeräumt worden, wie auch, daß
über diesen Begriff auf dem Gebiet unserer Untersuchung im
voraus kein Urteil stattfinde. Denn obgleich er freilich mit dem
Grundsatze selbst in einem und dem nämlichen gemeinschaftlichen
Höheren gegründet sein muß : so ist doch, ob sich dieses in einem
einzelnen Falle also verhalte, eine außerhalb unserer Grenzen
gelegen Frage. Auf dem Gebiete der Ethik selbst aber darf dieser
Begriff unabhängig sein von dem Grundsatze ; weil er, wenn dieser
die Gestalt des Gesetzes hat, das Gebiet seiner Anwendung, hat
[111,1, 73] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 75
er aber die des höchsten Gutes, den Grund seiner Einteilung
enthalten soll. Nur soviel ist von selbst deutlich, daß, da beide
in diesem Verhältnis zusammengehören sollen, auch einer den
andern gänzlich erschöpfen muß ; so daß in dem durch den Hilfs-
begriff gezeichneten Umriß nichts übrig bliebe, was nicht durch
den Grundsatz ethisch bestimmbar wäre, und auch keine An-
wendung des Grundsatzes, innerhalb der menschlichen Welt näm-
lich, gedacht werden könne, die nicht auch durch die Beziehung
des Grundsatzes auf jenen Begriff sollte zu finden sein. Inwiefern
nun, wenn dieses nicht geleistet wird, die Schuld nicht etwa auf
eine verfehlte Wahl des Hilfsbegriffes zu werfen ist, als ob diese
willkürlich wäre, sondern allemal auf den Grundsatz selbst, hier-
über haben wir im allgemeinen nicht zu entscheiden, weil dieses
zur Beurteilung der Vollständigkeit des Systems gehört, welche
nur der letzte Teil unserer Untersuchung sein kann. Sondern
jetzt haben wir nur zuzusehen, ob sich überhaupt an dem Grund-
satz, er werde nun für sich allein betrachtet, wenn er so bestehen
zu können glaubt, oder in Verbindung mit seinem Hilfsbegriff,
eine Tauglichkeit zu diesem Behuf wahrnehmen läßt, oder nicht
vielmehr eine Quelle von Verwirrungen, wo nicht gar eine gänz-
Hche Unfähigkeit. Dieses Verfahren aber scheint selbst wieder ein
zwiefaches zu enthalten. Denn nicht dieselbe ist die Art, wie eine
Stelle im System ausgefüllt wird, und wie ein Zeitteil im wirk-
lichen Leben. Erstere nämlich enthält das Ganze des sittlichen
Verfahrens in Beziehung auf einen bestimmten Gegenstand, wel-
ches Ganze nur in einer Reihe von Momenten kann dargestellt
werden; wird aber gefragt, was in jedem Moment zu tun ist,
so zeigt sich ein Mannigfaltiges von Aufforderungen, welche aus
ganz verschiedenen Gegenden des Systems hergenommen sind, und
entweder vereinigt, oder in Beziehung auf die Zeit einander unter-
geordnet werden müssen. Daher die wirkliche Anwendung des
Grundsatzes in der Ausübung aus zwei Faktoren besteht, von
denen der eine anzeigt, welcher Gegenstand eben jetzt, der andere
76 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 74]
aber wie er überhaupt zu behandeln ist. Allein es ist dies schein-
bar Zwiefache, welches zu dem verkehrten Gedanken von einem
Streit des Sittlichen unter sich die Veranlassung gegeben, dennoch
nur ein Einfaches. Denn jeder sittliche Gegenstand hat auch als
solcher eine bestimmte Größe, über welche hinaus er aufhört
sittlich zu sein, so daß auch das System ihn nicht anders als mit
der Bestimmung seiner Größe zugleich aufstellen kann, und es
hat nur die Bedeutung, daß zur Tauglichkeit des Grundsatzes für
dieses Verfahren notwendig gehöre, daß durch ihn mit jedem
Sittlichen zugleich auch die Art müsse gefunden werden, wie es
durch das übrige begrenzt wird. Diesem aufbauenden Verfahren
nun steht gegenüber ein anderes, welches das prüfende genannt
werden kann und dem ersten zur Bewährung dient. Der Grund-
satz nämlich muß auch so beschaffen sein, daß von jeder gegebenen
Handlung durch Vergleichung mit ihm sogleich bestimmt werden
kann, ob sie, wenn der Grundsatz die Gestalt des höchsten Gutes
hat, ein Teil desselben sein, oder ist er als Gesetz aufgestellt, als
durch ihn konstruiert kann gedacht werden. Eine solche Frage
darf niemals weder unbeantwortet bleiben, noch eine doppelte Ant-
wort zulassen, wenn der Grundsatz wirklich ist, was er sein soll.
Denn das erste würde beweisen, daß der Grundsatz unzulänglich ist,
und nicht sein ganzes Gebiet umfaßt; das andere aber, daß ent-
weder er selbst vieldeutig ist, oder daß der Hilfsbegriff, vermittelst
dessen das einzelne Sittliche bestimmt ist, nicht in Beziehung auf
den ethischen Zweck und nach seinem Verhältnis zu dem Grund-
satz gHedermäßig abgeteilt, sondern gewaltsam von einem fremden
Punkte aus, wo nicht gar willkürlich aufs Ohngefähr hin, zer-
schnitten worden. Beides kann sich bei dem ersten Verfahren
leichtlich verbergen, wo nur dasjenige in Betrachtung kommt,
was eben gebaut wird; daher dieses zweite die notwendige Be-
stätigung des ersten ist, ohne welche über den Grundsatz kein
sicheres Urteil kann gefällt werden. Wobei jedoch bemerkt werden
muß, und aus dem obigen erhellt, daß die Handlung nur dann
[111,1, 75] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 77
bestimmt gegeben ist, wenn auch ihr Verhältnis zu einem Moment
ausgedrückt worden, weil sonst nicht geurteilt werden kann, ob
der dabei angewendete sittHche Begriff auch in seinem wahren
ethischen Umfange ohne eine fremde und scheinbare Vergröße-
rung aufgefaßt ist. Denn die Verabsäumung hiervon hat mancherlei
ungerechte Verleumdungen über einzelne ethische Systeme ge-
bracht. Weiter ist noch zu beobachten, daß auch die Handlung als
eine ganze muß gegeben werden, wenn sie nicht ohne Verschulden
des Grundsatzes entweder als ethisch unbestimmbar erscheinen
oder, je nachdem das Fehlende ergänzt oder das Vielfache gegen-
einander in Verhältnis gesetzt wird, auch so und anders soll be-
urteilt werden können. Hierher nun gehören die Fragen von dem
Willkürlichen und Unwillkürlichen, Absichtlichen und Zufälligen,
und von Verbindung mehrerer Handlungen als vermittelnder zu
einer als ihrem Zweck. Diese haben schon von Anfang der Ethik
an die Untersuchung beschäftigt, und, mit dialektischer Willkür
außer ihrem Zusammenhange behandelt, nicht wenig Schwierig-
keiten verursacht; sie gehören aber alle zu der Frage von der
ethischen Einheit, und so scheinen sie nicht schwer zu beantworten.
In der sittlichen Bedeutung nämlich ist Handeln gleich dem Wollen;
wo ein wirkliches Wollen ist, da ist auch gehandelt, keine Tat aber
ist eine Handlung als nur durch das Wollen. Welche Handlung
nun ihrer Natur nach mit keinem Wollen verbunden sein kann,
die ist auch nicht sittlich; und insofern ist freilich das Willkür-
liche die Grenze des Sittlichen, aber nur das an sich Unwillkür-
liche ist ausgeschlossen. Scheint aber, was an sich willkürlich ist,
nur jetzt und hier mit keinem Wollen verbunden: so ist ja auch
das Nichtdasein eines aufgegebenen Wollens ethisch zu beurteilen.
Denn wenn das Nichtwollen schlechthin zufällig und unwillkür-
lich wäre: so wäre das Wollen, weil es ja in jedem einzelnen
Falle eben auch hätte unterbleiben können, ebenso zufällig und
unwillkürHch, und es hörte alle ethische Beurteilung des Ge-
schehenen auf. Aber es kann auch eine scheinbar unwillkürliche
78 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,76]
Handlung als Teil zusammenhängen mit einer andern, und das
Wollen in dieser auch auf jene müssen bezogen werden. Dieses
findet statt bei allen sowohl absichtlichen Gewöhnungen als un-
absichtlich entstehenden Gewohnheiten ; und so wie man Unrecht
hat die letzteren zu entschuldigen, weil nichts in ihrer Ausübung
gewollt wird, so hat man Unrecht, die ersteren eben deshalb
ihres gebührenden Lobes zu berauben. Denn wer sich absichtlich
gewöhnt, der will in diesem Entschluß auch die folgenden Hand-
lungen mit, zu denen es hernach keines besonderen Willens mehr
bedarf; und diese hängen mit jenem ersten Wollen sämtlich
ebenso zusammen wie jede gleichzeitige Ausführung mit dem
sie verursachenden Willen. Wer aber sich etwas zur Gewohnheit
werden läßt, indem er vielleicht nur ein Anderes will, dem ist
dennoch dieses als mitgewollt anzurechnen, weil es auf eine ihm
bekannte Weise ein natürlicher Teil, nämlich eine Folge seines
Handelns, werden mußte, und er also wenigstens jenes, auf die
Gefahr, daß dieses mit entstehen könnte, gewollt hat. Eben wie
man von dem, welcher durch unbedachten Gebrauch seiner Kräfte
Schaden anrichtet, nicht sagt, er habe diesen Schaden gewollt,
wohl aber habe er seinen Zweck, was er auch gewesen, außerhalb
seiner sittHchen Größe gewollt, weil er mit ihm zugleich eine
verstandlose Anwendung eines physischen Vermögens, welche
offenbar unsittlich ist, gewollt, oder, um es genauer zu sagen, eine
besonnene und den ethischen Zwecken angemessene nicht gewollt
hat. Denn der unmittelbare Gehalt eines Wollens ist immer nur
der Zweckbegriff, der eines Nichtwollens aber das unterlassene
ethische Bestimmen desjenigen, was ethisch bestimmbar gewesen
wäre. Wie also, wenn das äußere Handeln von seinem Wollen
abgetrennt oder dieses nicht bis zu dem Zweckbegriff hinauf-
geführt und nicht mit dem Nichtwollen, welches in demselben ge-
setzt ist, zusammengestellt wird, auch die Handlung zerrissen ist,
und nur ein Bruchstück derselben zur Beurteilung kommt, dieses
muß einleuchten aus dem Gesagten. Die Gefahr aber, anstatt einer
[111,1, 77] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 79
mehrere Handlungen ineinander verwirrt zur Prüfung aufzustellen,
entsteht nicht nur eben aus jener Zerreißung, indem natürlich
die einzelnen Teile zu andern Handlungen hinangezogen werden,
sondern noch weit mehr aus einem Gedanken von einer höheren
Einheit der Handlung, welche nämlich auf der Verbindung von
Mitteln und Zwecken beruht, und alle, wie viele es auch wären,
so verbundene Handlungen zu einer machen soll. Daß dieses,
sobald eine an sich ethisch bedeutende und also auch für sich
nach Maßgabe des Grundsatzes zu bestimmende Handlung nur
als Mittel einer andern gesetzt wird, die Beurteilung notv^endig
verwirren muß, ist nicht schwer einzusehen. Denn jene hat ihrer
Natur nach einen Anspruch für sich und um ihrer selbst willen
verrichtet und also auch so beurteilt zu werden, welches beides
aber nun von der andern verschlungen wird. Wie nun dieses
keine Einheit hervorbringen kann, wenn die Mittelhandlung als
solche anders und vielleicht auf entgegengesetzte Art ist verrichtet
worden, als, für sich selbst sie betrachtet, geschehen sein würde,
leuchtet von selbst ein; denn jeder sieht, wie hier das besondere
Urteil über die Mittelhandlung nicht zu vermeiden ist, wiewohl
die Formel, daß das Böse nicht um des Guten willen geschehen
solle, nur das Gröbste davon ausdrückt. Aber es ist ganz das
nämliche, wenn sie auch gerade so verrichtet worden ist, wie an
und für sich wäre gefordert worden; denn diese Willensbestim-
mung, sie so zu verrichten, ist doch nicht erfolgt, und es muß
sich neben dem Urteil über die Zweckhandlung ein besonderes
bilden über dieses Nichtwollen. Beispiele dieser Verwirrung liegen
nicht fern. So ist es eine schreckliche, wenn, als eine Handlung
gedacht, daß einer seine Talente ausbildet, um Lebensunterhalt zu
erwerben, oder daß einer einem andern wohltut, um eines Dritten
Gunst zu erlangen, diese günstig beurteilt wird, weil doch jenes
ein erlaubtes Mittel gewesen. Und nicht etwa darin liegt das
Bedenkliche, daß hier ein Mensch als Mittel gebraucht ist, welches
eine wunderliche und fast lächerliche Formel zu sein scheint, dort
80 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,78]
aber das Größere geschehen ist um des Kleineren willen, sondern
unabhängig von dieser Messung in der Sache selbst. Denn beides
als Mittel Gedachte hätte sollen für sich gewählt oder verworfen
werden, und das in dieser Wahl liegende sittliche Handeln ist
durch jenes vernichtet. So daß eine Zweckhandlung dieser Art
erscheint wie Kain, der seinen Bruder Abel getötet, und leugnet,
sein Hüter zu sein; aber jenes Blut schreiet doch aus der Erde,
und verkündet, daß zwei sein sollten, wo nur einer ist. Nur
also das ethisch an sich Unbedeutende und Unbestimmbare darf
sein ein Mittel für ein anderes, und nur unter dieser Bedingung
kann der Grundsatz dafür haften, daß er ein einfaches Urteil
stellen wird. Dieses nun sind die Bedingungen der Tauglichkeit,
welche sich für einen ethischen Grundsatz aus seinen wesent-
lichen Verrichtungen ergeben; und nun zur Prüfung derselben
nach diesem Maßstabe.
2.
Prüfung der Grundsätze nach den aufgestellten Be-
dingungen.
Das höchste Was nun zunächst das Zusammenbestehen der drei Gestalten
Gut als (jgg ethischen Grundsatzes betrifft: so ist zuvörderst zu bemerken,
daß das höchste Gut nicht bestimmt ausgebildet und abgeschlossen
sein kann, wo es nur als ein Aggregat, nicht aber als eine Reihe
oder noch besser als eine die Reihe darstellende Gleichung ge-
geben ist. Denn in einer Reihe ist jedes Glied nicht nur durch
seine Natur dem Ganzen gleichartig und angemessen, sondern auch
durch seinen Koeffizienten für seine Stelle ausschließend bestimmt.
Ein Aggregat aber, welches aus dem Zusammenfügen einzelner
unbestimmt verschiedener Größen entsteht, ist vielleicht überhaupt
eher zu schließen, wenn sein Umfang gegeben ist, als eine Reihe;
hingegen kann über jedes Stück desselben Zweifel entstehen, ob
es recht zusammengefügt worden, weil für jedes Glied ein anderes
und größeres hätte gesetzt werden können, um die Summe ent-
Aggregat.
[111,1, 7Q] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 81
weder zu erhöhen oder zu beschleunigen. In den Systemen der
Sittenlehre nun, welche auf Tätigkeit ausgehen, ist ein solches
die Zusammensetzung bestimmendes Prinzip möglich in der Art,
wie es Fichte vielleicht zuerst ausdrücklich gefordert hat. Wie Fichte.
denn schon aus dem oben Gesagten hervorgeht, daß, wenn eine
Handlung, welche im allgemeinen gedacht, sittlich ist, gar wohl an
einer Stelle unsittlich sein kann, auch ebenso alle Handlungen
an einer Stelle, bis auf eine einzige, unsittlich sein mögen; in
welchem Falle denn kein Teil des höchsten Gutes durch eine
andere, wenn auch noch so große Tätigkeit ersetzt werden könnte.
Daher es auch unter diesen ethischen Darstellungen nur eine gibt,
welche an diesem Mangel offenbar leidet, weil es ihr an einem
Bestimmungsgrunde jener Art fehlt, nämlich die des Aristoteles,
der nur die vollkommene Tätigkeit überhaupt im Auge hat, und
dem also das höchste Gut nur als ein Aggregat erscheinen kann.
Daher ihm auch die Bedenklichkeit entsteht, ob alle solche Hand-
lungen oder nur die besten und vortrefflichsten demselben als Teile
angehören. In den Systemen der Lust aber ist diese Unbestimmt- Eudämo-
heit natürlich und wesentlich. Zwar könnte man nach Ähnlich-
keit jener Formel auch annehmen, es wären alle in einem Mo-
ment möglichen Befriedigungen, bis auf eine, sei es nun in Ver-
gleich mit dieser oder durch ihre Folgen, eigentlich Unlust, wo-
durch denn das höchste Gut eines jeden völlig bestimmt sein
würde. Allein ein jeder muß sehen, daß der Unterschied zwischen
Handeln und Genießen ein solcher ist, daß sich diese Formel bei
dem letzteren nicht anwenden läßt; schon deswegen, weil die Lust
ein Veränderliches ist dem Grade nach, und jede solche Steigerung
der einen das Verhältnis gegen alle übrigen ändert; dann aber
auch, weil die Lust nicht wie die Handlung ihr natürliches Ende
hat, wenige ausgenommen, und also selbst dieses willkürlich ist,
wann ein Moment als beendigt angesehen und eine neue Selbst-
bestimmung gefordert werden soll. Auf vielfache Art also wäre
der Exponent einer Reihe eine unendliche und selbst nicht aus-
Schleiermacher, Werke. I. 6
82 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,80]
zumittelnde Größe, und es bleibt nichts übrig, als das höchste Gut
nur als ein Aggregat zustande zu bringen. Bei diesem tritt
nun die obenbemerkte Schwierigkeit ein in Absicht der Zusammen-
setzung eines jeden Teiles; denn der Gesamtgenuß des Men-
schen, aus der Summe der einzelnen und ihrer Intension zusammen-
gesetzt, kann nicht als ein bestimmtes Endliches angesehen werden,
wiewohl auch so die Frage entstände, ob es in gleiche oder un-
gleiche Teile zu zerfallen sei, sondern sowohl wegen Unbestimm-
barkeit des Lebens, als auch der äußeren und inneren hervor-
bringenden Ursachen selbst, als ein unbestimmtes. Sonach kann bei
jeder einzelnen Lust gefragt werden, warum nicht eine andere und
größere ihre Stelle eingenommen. Das Ganze aber ist um so
weniger zu fassen möglich, weil sowohl die verschiedenen Verfah-
rungsarten bei Hervorbringung der Lust als auch ihre verschie-
denen Dimensionen gegeneinander streiten. Die Verfahrungsarten
nämlich, indem immer der Hang zu der einen Art von Lust dem
zu einer andern entgegensteht, und also das Setzen eines Teiles
des höchsten Gutes allemal einen andern, nicht nur der Zeit nach,
sondern auch für die Zukunft, ausschließt; die Dimensionen aber,
indem die Ausdehnung einer Lust in die Länge der Stärke der
Empfindung Eintrag tut, und beide wiederum die Lebhaftigkeit
des Wechsels verhindern. Denn wenn einige Spätlinge aus der
cy renaischen Schule das letztere Moment für das entschei-
dende erklären wollen, indem sie behaupten, nichts sei von Natur
oder an und für sich angenehm oder widrig, sondern es sei nur
das Neue und Fremde auf der einen und die Übersättigung auf
der andern Seite, wodurch Lust und Unlust bestimmt werde: so
dient dieses nur zum deutlicheren Erweise, wie wenig diese oder
eine andere einseitige Behauptung bestehe, und der Streit also
nicht aufgehoben werden könne. Was aber das Paradoxon des
Aristippos selbst betrifft, daß alle Lust gleich ist und ohne Unter-
schied: so kann es unmöglich dem gegenüberstehenden aber bedeu-
tenderen stoischen so ähnlich sein, daß seine Absicht wäre, jeden
[111,1,81] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 83
Unterschied des Grades in der Empfindung aufzuheben. Denn
auf der einen Seite würde dadurch eine Unentschiedenheit in der
Wahl entstehen, welche den Grundsatz ganz untaughch machte,
und auf der andern würde sich Aristippos dadurch zu der Nega-
tivität des Epikuros hinneigen, die ihm so offenbar zuwider ist;
da ja bei einer gänzHchen Gleichheit aller Lust das einzige, was
auf eine bestimmte Weise verrichtet werden muß, nur die Entfer-
nung des Schmerzes sein kann, was aber hernach weiter zu tun
ist, dem Ohngefähr überlassen werden darf. Vielmehr kann jener
Satz nur den entgegengesetzten Sinn haben, den nämlich, daß der
Unterschied des Grades der einzige ist, und von diesem abgesehen
an sich keine Lust einen größeren Wert hat als die andere.
Denn am übelsten sind allerdings bei Feststellung des höchsten
Gutes diejenigen beraten, welche, wie die von der anglikanischen Engländer.
Schule, einen solchen Unterschied des Wertes annehmen, und daher
ein Verhältnis suchen müssen in den verschiedenen Befriedi-
gungen, und ein diesem Unterschied angemessenes Gleichgewicht,
welches noch schwieriger zu finden sein möchte, und noch nichtiger
seinem Wesen nach als das politische. So bedarf es zum Bei-
spiel nur der Frage, warum nicht, wenn einmal die wohlwollen-
den Vergnügungen besser sind als die selbstliebigen, jede Stelle,
die diesen eingeräumt wird, mit jenen besetzt werde, zu denen es
ja an Veranlassung niemals fehlen kann, so daß die Selbsterhal-
tung ohne Lust getrieben würde, nicht als Teil, sondern nur als
Bedingung des höchsten Gutes, wie auch Hutcheson anfänglich
ganz richtig gefunden hatte. Nur springt das Lächerliche in die
Augen, daß doch das Wohlwollen am Ende auf die Erhaltung
und die selbstliebige Lust der andern geht, und also das höchste
Gut nur besteht in der Lust an dem, was geringer ist als das
höchste Gut, und dieses Untergeordnete jeder dem andern mit höf-
lichem Eigennutz darbietet im Kreise herum; aus welchem Kreise
keine andere Erlösung zu sein scheint, als durch eine kecke, aber
natürliche Erweiterung des Grundsatzes, welche höchst friedlich die
6*
84 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 82]
Franzosen, anglikanische Sittenlehre zu der gallikanischen hinüberleitet. Ist
nämlich doch das Wohlwollen das Höchste: warum soll es seine
Befriedigung hernehmen aus der Lust an der unmittelbaren eigen-
liebigen Glückseligkeit anderer, und nicht vielmehr eine höhere
Lust finden an ihrer höheren, nämlich auch wohlwollenden Lust?
Diese nun kann ich nicht anders und sicherer befördern als durch
Bewirkung meiner eignen ihnen zur Anschauung dargebotenen
Glückseligkeit, welche also als Pflicht geboten wird, nicht gegen
sich, sondern gegen andere, so daß die Sittlichkeit eines Menschen
zuletzt besteht aus seiner höheren Freude an anderer Freude über
seine niedere Freude. Auf diese Art würde am sichersten, wenn
es überall möglich ist, der Forderung Genüge geleistet werden,
daß das höchste Gut bestehe in der größten Summe der echtesten
und nach Art alles dort Landes gearbeiteten, auch dauerhaftesten
Naturbefriedigungen, verbunden mit so viel kleineren und ge-
ringeren als nur mit jenen bestehen könnten. Und es leuchtet ein,
welche herrliche Vereinigung aller Neigungen selbst über jene
Formel hinaus entstehen würde, w^enn nur nicht das nämliche
Gesetz der Erweiterung uns wieder höher hinauftriebe; so daß ein
höchstes Gut von diesem Grundsatze aus wohl niemals kann zu-
Aristippos. stände gebracht werden. Aber auch wer mit Aristippos alle Lust
der Art nach an Werte gleich setzt, kommt nicht hinweg über jene
Schwierigkeit. Vermehrt wird dieselbe noch, wenn man, wie es
doch sein soll, auch auf das zugleich Mitbewirkte sieht. Denn hier
ergibt sich zuerst im allgemeinen, daß durch den Genuß über-
haupt verändert wird die Kapazität des Menschen für den Genuß ;
so daß jeder Genuß Ursach wird eines Nichtgenusses, und jeder
Nichtgenuß Beförderung eines erhöhten Genusses, und also das
höchste Gut, in seine Faktoren aufgelöst, jeden einzelnen nur in
der bekannten, aber nie zu realisierenden Formel des Entbehrens
und Genießens darstellen kann. Ferner aber auch im Besonderen
zeigt sich, wie es bei Entgegengesetztem zu sein pflegt, die Unlust
oft als Ursach der Lust und die Lust wiederum als Ursach der
Unlust; also das zu Verwerfende als Bedingung des zu Wählen-
[111,1,83] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 85
den, und dieses als nach sich ziehend jenes, welches notwendig
in der Lehre vom höchsten Oute große Verwirrungen verursachen
muß. Zwar dem Aristippos weniger als allen späteren Lehrern
der Glückseligkeit; denn, wo die Unlust ein Mittel sein soll, die
Lust herbeizuführen, stellte sich ihm als das Folgerechteste dar ent-
weder die Aufgabe, diese Verbindung, als welche nur zufällig sein
kann, zu zerstören, oder die der nur so zu erwerbenden Lust eine
andere unterzuschieben. Da aber, wo die Lust soll Unlust zur
Folge haben, hilft er sich mit der schon der Lust gleichzeitig vor-
handenen Furcht, um jene als unrein und nicht das Merkmal
des wahren Guten an sich tragend zu verwerfen, weshalb eben
er dem Weisen die Furcht übrig läßt, gleichsam als eine Geschick-
lichkeit die echte Lust zu unterscheiden von der falschen. Gleich-
wohl aber bescheidet sich Aristippos mit Recht, das höchste Gut als
ein vollendetes und nicht zu übertreffendes Aggregat von Lust
lieber gänzlich zu leugnen und die Realität ihm abzusprechen;
auch sei, meint er, jenes Aggregat nicht das unmittelbar Gewollte ;
sondern jeder begehre allein die einzelne Lust, und hieraus nur
entstehe jenes, v/ie es eben jedesmal könne. Wenn nun die Idee
eines zusammenhängenden Lebens, wie es scheint, bei diesem
System ganz aufgehoben wird, und es nur dadurch gerettet werden
kann, daß der nächste Moment allein in Betracht gezogen werde:
so sieht man, wie, ohne aus dem System herauszugehen und
ohne entscheidenden Einfluß einer eigentümlichen Sinnesart, Hege- Hegesias.
Sias behaupten durfte, daß der Tod zu wählen sei, wenn der
Augenblick keine Lust mehr gewähren könne. Und hier zuerst
sehen wir dieses System seinen Kreislauf vollenden. Denn wenn
ein ethischer Grundsatz das Leben aufgibt, dieses ist ein sicheres
Zeichen, daß er seine Ohnmacht anerkennt, es zu dem vorgesetzten
Ziele hinzuleiten.
Dasi Nämliche findet sich, wenn wir im Eudämonismus
die Idee des Weisen aufsuchen; welche freilich grar nicht mehr Die Idee
. angeknüpft werden kann, wenn wir nicht auch für jene des weisen.
^ Absatz nicht im Original.
86 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH,!, 84]
höchsten Gutes noch eine Art von Rettung finden. Die des
Weisen aber erhält hier eine ganz eigne Bedeutung, wie folgt.
Oben schon hatten wir den Eudämonismus gefunden, wie er mehr
das Besondere im Auge hat als das Allgemeine; und nur eben
hat sich bestätigt, daß er ein für alle gültiges höchstes Gut nicht
zustande bringen kann. Wohl aber kann der Streit zwischen
den verschiedenen Arten der Zusammensetzung und den verschie-
denen Elementen, welcher dabei entsteht, geschlichtet werden durch
Teilung. So nämlich, daß der eine sich für diese, der andere
sich für jene Unterordnung der Neigungen entscheide, und ebenso
der eine die Wiederholung, der andere den Wechsel, der dritte die
Intension zur herrschenden Regel des Verfahrens mache, wobei
denn auch, beiläufig zu bemerken, das anglikanische System als
ein solches Besonderes für eine besondere Richtung des Gemütes
erscheint, in gleichem Range mit den verschiedenen Zweigen des
gallikanischen, welche sich mehr im Leben ausgedrückt haben als
in Lehrschriften. Ebenso demnach, wenn der Weise dargestellt
werden soll, welcher das höchste Gut wirklich macht, kann dieses
nicht geschehen nur unter einer Gestalt; sondern für jede bestimmte
und eingeschränkte Gestalt des höchsten Gutes bedarf es auch einer
eigenen Richtung und Verfassung des Gemütes. Wollte nun
jemand meinen, es müsse doch eine von diesen besser sein als die
andere, und so auch von jenen, der bedenke, warum dieses im
Eudämonismus nicht kann zugegeben werden. Denn zuerst müßte
doch die beste auch die allgemeine werden ; welches aber mit der
Natur einer jeden streitet, da jede nur eine besondere ist, und
wodurch auch das letzte verloren gehen würde, nämlich, daß wenn
auch von jedem nur stückweise, doch von allen insgesamt ganz
und vollständig das höchste Gut erreicht werde. Ferner müßte
auch dann der Mensch sich bilden zu dieser Gestalt, wie sehr er
ihr sich auch entgegengesetzt fände, zu der Zeit, wo er anfängt
ein nach Grundsätzen geordnetes Leben zu führen. Dieses aber
wäre Anstrengung, die Anstrengung ist Unlust, und so müßte also
[111,1, 85] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 87
ein ethisch Verneintes, nämHch eine Unlust, angesehen werden als
Mittel zu dem ethisch Bejahten; welches, wie oben gezeigt wor-
den, für sich hinreicht, die Untauglichkeit eines Grundsatzes zu be-
urkunden. Sonach besteht die Weisheit darin, daß ein jeder gleich-
förmig dasjenige bleibe, was er ist, um ohne Abweichung des-
jenigen Teiles am höchsten Gute teilhaftig zu werden, welcher
rein und unvermischt das Größere ist, was seine Natur aufnehmen
kann. Und dann ist die größte Vollendung des Menschen die
höchste innere Untätigkeit, die festeste Verknöcherung in der Ge-
wöhnung. Daß dieses wirklich dem System genau entspricht, *
erhellt auch daraus, daß ja überall das Handeln in demselben
nur das reine Mittel, das ethisch Unbestimmbare ist, und es also
mit Recht für keinen besonderen Gegenstand gehalten werden und
für sich keine Zeit ausfüllen darf. Wie in andern Systemen diese
Bewußtlosigkeit das Ziel ist für jedes mechanische Handeln, so in
diesem für jedes überhaupt. Dieses nun ist nicht gesagt, als ob
vorausgesetzt würde, jedermann solle es für unsittlich halten, nicht
zu handeln, sondern sich zu mechanisieren, welche Anmaßung wir
einmal für immer entfernt haben; vielmehr nur deshalb ist es
gesagt, weil durch solche Ansicht der Sache fast der Begriff der
Ethik völlig aufgehoben wird, nichts zu sagen von ihren wissen-
schaftlichen Ansprüchen, welche zur bloßen Naturbeschreibung
herabsinken, und zwar zu einer ins Unbestimmte zerfahrenden
durch keine festen Punkte zusammengehaltenen. Aus dem Ge-
sichtspunkt jener Teilung zeigt sich auch die negative Ansicht des
Epikuros als ein solches Einzelne, welches für eine eigene Be- Epikuros.
schaffenheit des Gemütes einen eigenen Teil des höchsten Gutes
abschneidet. In diesem eigentümlichen Gebiet ist sein Grundsatz
der der Folgsamkeit gegen die natürlichen Begierden, und sein
höchstes Gut der ununterbrochene Kreislauf von deren Erregung
und Befriedigung. Denn seine ruhige Schmerzlosigkeit soll nicht
sein ein gänzlicher Mangel an Empfindung, sondern ein beruhigen-
des Gefühl in Beziehung auf einen vorgebildeten Schmerz. Woraus
88 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [1U,1, 86]
zugleich erhellt, daß, wie bereits gesagt, seine Sittlichkeit ledig-
lich beschränkender Art ist, indem sie nicht aus sich selbst handeln
kann, sondern nur der Tätigkeit des natürlichen Triebes folgen
muß. Was nun der eigentliche Grund ist von der Eigentümlich-
keit seiner Ethik, grade darin findet sie auch ihre Vernichtung,
nämlich in der Übermacht der Furcht. Denn diese allein kann den,
welcher die Lust sucht, dazu bewegen, daß er den bloß beruhigen-
den Genuß dem aufregenden und belebenden vorziehe. Gegen die
Furcht nun hat er als ein Bezauberungsmittel ersonnen jene
Seelenruhe, welche sich gründet auf die bekannten Behauptungen
von der Kürze des heftigen und der Erträglichkeit des langen
Schmerzes. Dieses aber ist ein Trost, welcher offenbar auf die
Unzulänglichkeit des sittlichen Verfahrens gegründet ist; denn
wovor hätte der sich wohl zu fürchten, welcher durch Achtsamkeit
auf die natürlichen Begierden den Schmerz zu vertreiben weiß?
Und dagegen, v/as würde der tun, um den Schmerz zu ver-
treiben, der seine Herrschaft so geringfügig vorstellt? Daher ist es
auch nicht das Sittliche, was ihn antreibt, ihm tätig entgegen zu
arbeiten, sondern nur der tierische Trieb ; das Sittliche aber würde
auch hier zur völligen Untätigkeit hinführen, so daß nun zum
drittenmal die Glückseligkeitslehre sich endigt in ein leidentliches
Erwarten und Gewährenlassen, und also in ihrer eigenen Ver-
nichtung als Ethik betrachtet.
Soll nun nach dem bisherigen noch die Anwendbarkeit der
Grundsätze der Glückseligkeitslehre, es sei nun in dieser oder jener
Gestalt, besonders geprüft werden: so ist darüber nur weniges zu
sagen nötig. Denn was zuerst den Vorwurf betrifft, welchen
Kant als entscheidend gegen sie vorbringt, daß nämlich durch sie
gar nichts spezifisch bestimmt werden könne, indem zwar die Lust
im allgemeinen gefordert sei, was aber für jeden im ganzen oder
in einzelnen Fällen Lust sein werde, durch den Grundsatz gar nicht,
sondern nur empirisch jedesmal beurteilt werden könne: so ist
schon aus dem obigen deutlich, wie dieser Vorwurf müsse be-
[IIIl, 87] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 89
schränkt und näher bestimmt werden. So nämlich, daß freilich
der Grundsatz des Aristippos zum Beispiel, „suche eine gelinde
Bewegung, welche sich als Gefühl zutage legt", nicht für sich
allein bestimmen kann, was in einem gegebenen Falle zu wählen
oder zu fliehen sei. Dieses aber werden auch viele andere mit-
nichten eudämonistische Grundsätze mit ihm gemein haben, und
von einer Seite wenigstens betrachtet der kantische ebenfalls,
wovon weiter unten das Nähere. Allein keineswegs ist unbedingt
und von vorne herein zu leugnen, wenigstens ist dieses nicht,
was Kant gesehen hat, daß auch mit dem leitenden Begriff,
nämlich einen von den vielen Faktoren, in welche die Gesamt-
heit menschlicher Neigungen und Genußweisen zerfällt worden,
in Verbindung gesetzt jener Grundsatz oder andere ähnliche etwas
Genaues und Festes zu bestimmen imstande sei. Hierauf nun,
als auf die einzige Art, wie diese Systeme das ihrige leisten
können, wollen wir achten, sowohl in Beziehung auf das Auf-
finden eines Gesuchten, als auf das Beurteilen eines Gegebenen.
Was nun zuerst das letzte betrifft, so ist offenbar, daß in dem
System des Epikuros das Unterlassen desjenigen, was bei ihm Epikuros.
das SittHche und Gute ist, nicht kann gestraft werden, und also
auch in fortgesetzter Wiederholung dieses Urteils die gänzliche
Leerheit des Lebens, in ethischem Sinne nämlich, nur als ein
Gleichgültiges erscheint, weder zu Lobendes noch zu Tadelndes.
Denn wenn in einem Augenblick keine beruhigende Lust hervor-
gebracht worden: so kann dieses zwar die Folge sein von einer
Kraftlosigkeit des sittlichen Verfahrens; ebenso leicht aber auch
daher entstanden, weil das Natürliche überall keine Begierde auf-
geregt, noch auch Anzeige getan von einem bevorstehenden und
abzuwendenden Schmerz. Das letztere nun liegt ganz außerhalb
der sittlichen Beurteilung, deren Gebiet erst mit und nach der
erfolgten Aufregung anfängt; wonach denn in diesem Falle ein
ethisches Urteil nicht gefällt werden kann, und die Leerheit eines
Augenblicks nur als ein Unfall erscheint. Weiter aber ist schon
90 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,88]
oben gezeigt, wie jedes Tun nur in Vergleich mit dem durch
dasselbe bestimmten Unterlassen, jedes Wollen nur in Verbindung
mit dem ausdrücklich mitgesetzten Nichtwollen kann beurteilt wer-
den, weil nämlich nur nach Maßgabe der begleitenden An-
regungen und wirklich gegebenen Möglichkeiten des Handelns die
sittliche Größe von dem Inhalt des Entschlusses sich abmessen
läßt; so daß in diesem System die Angemessenheit des beurteilen-
den Verfahrens überhaupt sich selbst zerstört. Dieser Fehler zeigt
sich auch schon in der Bestimmung des höchsten Gutes, welches
als ein stetiges Ganzes nicht anders beschrieben werden kann, als
daß es sei ein ununterbrochener Wechsel von Erregung und Be-
friedigung natürlicher Begierden; wo denn ein nicht ethischer
Bestandteil unvermeidlich eingewebt ist, nämlich die Erregung.
So auch kann der Weise nur bezeichnet werden als unerschüttert
am Gemüt und gesund am Leibe; welches letztere nicht etwa
auf die Abwesenheit der körperlichen Schmerzen deutet, als die
ja dem höchsten Gute unbeschadet Epikuros durch die Freuden
der Seele zu vernichten verheißet, sondern auf die Lebendigkeit
der körperlichen Reize und Aufforderungen. Diese Unfähigkeit
nun ist denen um den Epikuros eigentümlich, und ist nicht in der
Lust gegründet, sondern in der Abhängigkeit des sittlichen Ver-
fahrens vom Natürlichen; gemein aber ist ihnen mit allen eudämo-
nistischen Sittenlehren die unvermeidliche Vielfachheit im Urteil
über einzelne Fälle. Bei jenen nämlich entsteht diese aus der
Übung, welche erfordert wird, um zu jener Furchtlosigkeit zu ge-
langen, ohne welche den natürlichen Begierden nicht ungestört
kann gehorcht werden. Denn tätige Übung gehört dazu not-
wendig, indem die Vorschriften nicht anders Bewährung finden
können als in der Erfahrung. Diese Übung aber kann in nichts
anderem bestehen, als in Versuchen mit demselben Schmerz,
welcher dem Grundsatz zufolge soll abgewehrt werden, und in
Hinsicht auf welchen jedes Handeln für sich sittlich bestimmbar
sein muß. Ja, selbst abgesehen von der Übung, wenn alles hiebei
[111,1, 89] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 91
durch Belehrung zu erreichen wäre: so entstände doch in Be-
ziehung auf die Zeit, welche dieser gewidmet werden muß, die
Frage, ob nicht in derselbigen auch etwas den höchsten Zweck
unmittelbar Erfüllendes hätte können geleistet werden; so daß
auf jede Weise der Streit unvermeidlich ist zwischen dem, was als
Mittel geschehen soll, und dem, was der Zweck erfordert. Noch
mehrere Beispiele hiervon aus der Gedankenreihe dieser Schule
herbeizuführen wäre überflüssig. Daß aber dasselbige in allen
denen eudämonistischen Schulen stattfinden muß, welche irgend-
ein Nützliches von dem unmittelbar angenehmen Unterschiedenes
zulassen, dieses ist einleuchtend. Denn zwischen beiden ist der
Krieg immer lebhaft, und seiner Natur nach ein ewiger; und wie
sie höchst gewaltsam und erkünstelt sind, so sind dennoch sehr
unzureichend jene Überredungen, durch welche Aristippos beide
zu versöhnen versuchen will. Betrachten wir demnächst das auf-
bauende und ableitende Verfahren: so offenbart sich hierin ohne
Unterschied bei allen Systemen der Lust die Unzulänglichkeit
des Grundsatzes. Denn einesteils werden in jedem Moment so-
wohl Aufforderungen zu einem Mittelbaren zusammentreffen mit
Unmittelbarem, als auch wird jedem Gegenstande auf diese Art
eine zwiefache Behandlungsweise zukommen; andernteils aber ist
das zufällig Mitbewirkte, auch so, wie es sich selbst andeutet
und in Betrachtung gezogen werden muß, niemals zu berechnen,
und ebenso können auch noch nach dem Entschluß und während
der Erfüllung, auf welcher doch bei diesen alles beruht und
nicht auf dem Entschluß allein, die sittlichen Verhältnisse sich
gänzlich umgestalten, so daß in vollem Maße sich die Andeutung
des Piaton bewährt, daß die Sittenlehre auf diesem Fuß keine
Wissenschaft sein könne noch eine andere feste Erkenntnis, sondern
nur Wahrsagung und Eingebung. Auch gesteht Aristippos dieses
unverhohlen, indem er zugibt, daß nicht jeder Weise, obschon
der Grundsatz in ihm sich immer tätig beweiset, sich jederzeit
v/ohlbefinden, noch auch dem Toren, wiewohl er nie die Lust auf
eine vernünftige Weise hervorbringt, es immer übel ergehen werde.
92 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 90]
Überlegt nun jemand weiter, wie alles dieses zusammenhängt
mit dem Einfluß der äußerlichen Dinge und der demselben unter-
worfenen Ordnung des Bewußtseins: so dringt sich die Überzeu-
gung auf, daß die höchste Wohlberatenheit des Menschen darin
bestehen würde, v/enn der angenehme Fluß seiner Empfindungen
unabhängig wäre von der äußerlichen Welt; welches, da die sinn-
Uchen Genüsse ein unentbehrlicher Bestandteil der Glückselig-
keit sind, nicht anders zu erreichen ist als dadurch, daß sie alle
verwandelt werden in Erinnerungen und Einbildungen, welche
zusammenwachsen müssen in einem festen Wahn, der durch nichts
Äußerliches zu stören ist. Auch so betrachtet, endet demnach diese
Weisheit in das aller Vernunft und Wissenschaft grade Entgegen-
gesetzte, indem ihr zwar nicht willkürlich erreichbares, aber doch
gewünschtes und beneidetes Ziel kein anderes ist als ein froher
und glücklicher Wahnsinn; welcher Satz in der wissenschaftlichen
Belehrung zwar nirgends vorgetragen, wohl aber häufig genug
von folgerechten Anhängern der Glückseligkeit ist anerkannt wor-
den. Alles dieses nun trifft, wenn es auch dem ersten Anblick
Engländer, nicht so erscheint, ebenfalls die anglikanische Schule, insofern sie
nämlich ihrem Grundsatze treu bleibt, und auch für das wohl-
Vv'oUende Handeln, welches sie gebietet, die Lust als den Be-
stimmungsgrund angibt. Denn diese hat, so wie ihre eigenen
Störungen und mit der Befriedigung zugleich bewirkten Wider-
wärtigkeiten, welche der Gegenstand empfindsamer Klagen sind,
so auch ihren eigenen schützenden und heilenden Wahn, indem
einen besseren Namen wohl schwerlich dasjenige verdienen möchte,
was diese gemeinhin Enthusiasmus nennen. Auch ist ihr höchstes
Gut nicht minder ein veränderliches Aggregat, bei dessen einzelnen
Teilen, wenn sie das Mannigfaltige erschöpfen und also unter-
einander ungleich sein sollen, auch die unbequeme Frage nach
dem intensiv Stärkeren nicht zu vermeiden ist. Denn es hat
unter ihnen noch keinen gegeben, welcher dem Aristippos nach
behauptet hätte, daß alle Gefühle von Handlungen, bei denen die
beiden Triebe in dem geforderten Gleichgewicht stehen, einander
[in,l, 91] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 93
gleich wären, weil etwa jenes Gleichgewicht als eine chemische
Sättigung angesehen werden müßte, für die es, anders als bei
den körperlichen Dingen, nur eine Stufe der Verbindung gäbe,
und ein Erzeugnis; oder als ein Verhältnis, in welchem die Größe
der Glieder gleichgültig wäre. Was aber die Ableitung und Be-
stimmung des Einzelnen nach ihrem Grundsatze betrifft: so er-
liegt diese noch unter besonderen Schwierigkeiten. Denn bei
ihnen hat der Wahrheit nach das Sittliche die Eigenschaft, welche
man fälschlich dem des Aristoteles zugeschrieben hat, daß es
nämlich im Übergang liegt von einem Unsittlichen zum andern,
und ein Mittelmaß ist zwischen zwei Äußersten, auch, weil diese
nicht bestimmt werden können, selbst unbestimmbar. Denn jede
Neigung, welche zu schwach ist, um den Gleichgewichtspunkt
zu erreichen, ist unsittlich, und über denselben hinaus verstärkt
wiederum. Will man nun hieraus die angedeutete Folgerung nicht .
einräumen: so muß man behaupten, das Sittliche entstände auch
hier nicht durch das Wachsen derselben Neigung, sondern durch
die Gegenwirkung der andern; wodurch denn offenbar alles Sitt-
liche eine nur beziehungsmäßige Bedeutung erhält, indem jeder
Trieb für den andern der sittliche wird, keiner aber es für sich
selbst ist. Wie aber auf diese Art, indem einem Übel ausgewichen
werden soll, das andere gewählt wird, leuchtet ein; denn es
kann niemanden entgehen, daß der Fehler des Epikuros unver- Epikur.
meidlich ist, sobald das Sittliche nur als Beschränkung erscheint.
Oder wie sollte es unsittlich gefunden werden, wenn einer der
beiden Triebe nicht stark genug gewesen, um von dem andern,
der dann keinen Stoff wahrgenommen, an der rechten Stelle
beschränkt zu werden? Ferner scheint auch hier eine doppelte
Beurteilung zu entstehen, indem jede Veranlassung sowohl auf
die selbstische, als auf die wohlwollende Neigung zunächst kann
bezogen werden. Hier aber ist es das eigentliche Kunststück
jenes Gleichgewichts, daß, von welcher Seite auch jemand aus-
gehe, der Durchschnittspunkt immer der nämhche sein muß. Nur
94 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH,!, 92]
findet es freilich schon die gemeine Beurteilung wunderbar, daß
beides soll für dieselbe Handlung gehalten werden, eine die von
der Selbstliebe und eine die vom Wohlwollen ausgegangen; und
wissenschaftlich betrachtet würde, wie leicht zu zeigen wäre, die
gänzliche Verwerfung einer allen gemeinschaft-
lichen Sittlichkeit daraus folgen. Wie es ihnen aber ergeht,
insofern sie schwankend von der Seite der Lust sich auch an die
der Tätigkeit anschließen wollen, davon zu reden wird bald weiter
unten der Ort sich finden.
Tätigkeits- Gehen wir nun überhaupt zu denen über, deren Sittliches
ethik. reine Tätigkeit ist: so zeigt sich zuerst, daß, was bei jenen der
gemeinschaftliche und größte Fehler war, diesen nicht kann bei-
gelegt werden; denn bei ihnen ist das höchste Gut nicht, würde
auch, hätte er sich recht verstanden, nicht beim Aristoteles gewesen
sein, ein gesetzlos Zusammengefügtes und Veränderliches, indem
ja nicht die bloße Tätigkeit als Element desselben genannt wird,
sondern eine nach einem Gesetz so bestimmte, daß eine Wahl zwi-
, sehen Wechsel und Wiederholung oder zwischen einer stärkeren
und schwächeren Tätigkeit nicht gedacht werden kann, und sonach
als ein Ganzes betrachtet das höchste Gut überall nur eines ist und
ein Bestimmtes. Oder würde es vielleicht nicht jeder für Unsinn
erklären, wenn jemand Bedenken äußern wollte, ob nicht das
höchste Gut ein Größeres und Vollendeteres sein würde, wenn es,
anstatt auch einige tapfere Handlungen zu enthalten, aus lauter
Übungen der Gerechtigkeit oder umgekehrt zusammengefügt wäre ?
Oder wenn, da einige nur auf sich selbst oder eine geringere An-
zahl gerichtet ist, alle Tätigkeit gesellig und bürgerlich wäre?
Auch verfehlen die Schulen dieser Art nicht, einen so wichtigen und
ihnen günstigen Unterschied, diese so, jene anders, zu bezeichnen.
Fichte. So Fichte, gleichsam mit einem Strich, durch die geforderte gänz-
Stoiker. liehe Bestimmtheit eines jeden Punktes in der Reihe; die Stoiker
aber minder vollkommen auf eine doppelte Art, indem sie zuerst
jeden Unterschied der Größe in dem, was sittlich ist, aufheben,
[111,1, 93] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 95
und alle Tugenden einander gleich machen, dann aber, indem
sie leugnen, daß das höchste Gut wachsen könne durch die Länge
der Zeit. Beides nun ist unmittelbar nur gerichtet gegen den
Mißverstand des Aristoteles, welcher unterscheidet zwischen
schönen Handlungen und den schönsten, und keine Eudämonie
anerkennt ohne ein vollständiges Leben. Mithin ist aus dem
letzteren nicht zu folgern, als ob sie wie Aristippos nur das
Element anerkannt, das Ganze aber geleugnet hätten; sondern
was damit in ihrem System gemeint ist, erhellt nur durch Verglei-
chung mit ihren Ausdrücken über das höchste Gut, welches sie
setzten in der ununterbrochenen Tätigkeit dessen, was ihnen die
Quelle des Sittlichen ist, oder, wie sie es nennen, in dem unge-
hinderten Fluß des Lebens, wobei, wie weit es fließe, nicht in
Betrachtung zu ziehen. So daß das höchste Gut einer Hyperbel
zu vergleichen ist, welche gleich sehr eine solche bleibt, wie weit
sie auch zu beiden Seiten des Scheitelpunktes fortgeführt worden.
Daß aber auch eine solche Einheit und Vollständigkeit desselben
in den Systemen der Lust nicht zu erreichen sei, ist genugsam
gezeigt worden. Ebensowenig kann die Ähnlichkeit mit Gott,
welche beim Piaton das höchste Gut ausmacht, als ein Ver- Piaton.
änderliches angesehen werden, da alles, was nur zur Größe des
Maßstabes gehört, in dem Begriff nicht eingeschlossen ist; noch
auch des Spinoza Erkenntnis Gottes in allen Dingen, wobei frei- Spinoza
lieh' die Stelle, an welcher eine jede soll gegeben werden, als
gleichgültig und unbestimmt erscheint, der Inhalt aber im ganzen
für die Welt eines jeden völlig bestimmt ist, weil diese Erkenntnis
als die einzig angemessene und wahre gewiß auch nur eine sein
kann. Daß dieses weniger von dem Begriff der Vollkommenheit
gesagt werden könne, ist nur scheinbar. Denn freilich ist das
Ganze hier ein Unendliches, aber doch nicht in dem Sinne der
Unbestimmbarkeit; sondern wie das Ganze der Form nach völlig
bestimmt ist, so sind es auch alle Teile desselben in Beziehung
auf ihr Ganzes, wenn gleich in Beziehung auf das Wirkliche
96 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 94]
selbst unendlich. Soll aber von dem höchsten Gute der neueren
Stoisierenden, des Kant nämlich und Fichte, die Rede sein: so
muß diesen erst die Kritik zu Hilfe kommen, und aus ihren
Grundsätzen das dazu gehörige höchste Gut bilden und auf-
stellen, weil sie selbst dessen für die Aufführung ihres Systems
nicht zu bedürfen glaubten, und es daher unterlassen haben.
Fichte. Strenger ist von Fichte wenigstens nicht nötig zu urteilen, bei
welchem auch das Unterlassene leichter ist zu ergänzen. Nämlich
dasjenige, was er bisweilen als das Höchste anführt, die gänz-
liche Unabhängigkeit des Ich, dieses zwar ist nicht in dem von
uns aufgestellten Sinne für sein höchstes Gut zu halten. Denn
mit demjenigen Ich, dafern es erlaubt ist, seine Sprache zu reden,
welches der Gegenstand der Ethik ist, steht die gänzliche Unab-
hängigkeit im Widerspruche sogar, und dieser Gedanke ist ein die
Ethik weit übersteigender. Aber es ist leicht zu sehen, daß sein
höchstes Gut kein anderes sein kann als die vollständige Erfül-
lung des Berufs in Beziehung auf alle Bedingungen der Ich-
heit; und es ist von selbst offenbar, daß diese ein unveränderliches
und völlig abgeschlossenes Ganzes ausmacht. Ebenso ergibt sich
Kant, bei näherer Betrachtung des kantischen Grundsatzes für diesen als
das Ganze seiner Wirkung die unbeschränkte Herrschaft aller
Maximen, welche, in die Potenz der allgemeinen Gesetzgebung er-
hoben, eine mögliche Größe darstellen. Dieses nun scheint freilich
nur ein Zusammengefügtes zu sein, weil aus dem Ausdruck selbst
nicht hervorgeht, wie diese Maximen untereinander zusammen-
hängen: wird aber erwogen, daß eine Maxime nichts anders ist
als der Ausdruck eines Vorzuges, welcher einem praktisch Mög-
lichen vor dem andern beigelegt wird, so zeigt sich bald, wie hierin
allerdings ein systematischer Keim verborgen liegt. Nicht so
günstig aber kann man davon urteilen, wie Kant den Begriff des
höchsten Gutes angesehen hat. Denn er läßt ihn nicht etwa wie
Fichte beiseite liegen, sondern stellt unter seinem Namen etwas
auf, was diesem Namen gar nicht entspricht; so daß es das An-
[111,1, 95] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 97
sehen gewinnt, als habe er die wahre Bedeutung desselben auch
bei andern nicht verstanden, welches auch durch die Art, wie er
andere Formeln auslegt und beurteilt, leider noch bestätigt wird.
Hätte er nämlich das höchste Gut vorgestellt als das Ganze,
welches durch das Sittengesetz in seiner Tätigkeit gedacht mög-
lich wird: so hätte er weder vom Epikuros sagen können, sein
höchstes Gut sei die Tugend als Bewußtsein der Glückseligkeit
gedacht, noch von den Stoikern, das ihrige bestehe in der Glück-
seligkeit, sofern sie als Bewußtsein und Gefühl der Tugend vor-
gestellt werde. Denn dieses wären Erzeugnisse, welche, unge-
rechnet daß beide Schulen gar nicht danach streben, aus den von
ihnen aufgestellten Grundsätzen auch nicht hervorgehen können.
Ebenso nun ist jene Vereinigung von Vollkommenheit und Glück-
seligkeit, welche Kant als höchstes Gut des Menschen aufstellt,
durch menschliche Tätigkeit dem Grundsatz gemäß gar nicht zu
erreichen, und insofern ebenfalls eine kosmische und das Gebiet
'der Ethik weit hinter sich lassende Idee. Wie aber gerecht-
fertigt werden kann, daß eine solche unter der Form eines Wun-
sches aufgestellt wird, welches doch ein, wenngleich nur leerer
Wille ist, der also aus Gründen innerhalb der Ethik muß ver-
verteidigt werden können: dieses mag wohl noch niemand, ein-
geschlossen den Urheber selbst, begriffen haben; sondern nur die
Ursache des Irrtums kann verstanden werden, so wie sie oben
ist verständlich gemacht worden.
Sieht man ferner bei diesen Systemen auf die Art, wie aus Verknüpfung
dem Grundsatze das einzelne sowohl im Leben hervorgebracht und des einzelnen
im System gefunden und dargestellt, als auch, wo es gegeben ist, uvuL q +
auf den Grundsatz bezogen werden kann : so ist zu bemerken, daß
die beiden letztgenannten und ihre Vorgänger, die Stoiker, wie Stoiker,
den Grund, daß nämlich die sittliche Tätigkeit bei ihnen von einer
andern vorhergehenden abhängt und diese nur beschränkt und
bestimmt, so auch die Folge miteinander gemein haben, daß sie
nämlich die Unterlassung nicht als widersittlich bezeichnen können,
Schleiermacher, Werke. I. 7
98 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,96]
und waSj wie bereits erwähnt, hiervon weiter abhängt. Denn
bei den Stoikern hat, wenn keine erste Aufregung und Forderung
der Natur ergangen ist, auch die Vernunft nichts zu verbessern
und zu regieren. Nun deuten sie zwar an, daß auch dieses solle
sittlich bestimmt werden, indem sie zum Beispiel sagen, der Weise
mache alles wohl, was er tue sowohl als was er nicht tue;
aber eben dadurch, daß sie nur an die Idee des Weisen dieses
anzuknüpfen wissen, gestehen sie, daß in ihrem System keine Stelle
dafür zu finden ist. Auch muß auf diese Art der Beschreibung
des Weisen, wie auch beim Epikuros geschah, ein Merkmal ein-
verleibt werden, welches in der Beschreibung des sittlichen Grund-
satzes sowohl als des höchsten Gutes nichts Entsprechendes hat.
Fichte. Ebenso findet bei Fichte, wenn das Gewissen nicht gebietend ge-
sprochen hat, weil der Naturtrieb nicht auf dasjenige ging, was
es als der Form des Sittlichen empfänglich hätte billigen können,
hierüber keine ethische Verurteilung statt. Denn jedes Handeln
ohne Ausspruch des Gewissens ist zwar widersittlich und ver-
dammlich; hat aber der Mensch sich des Handelns ohne einen
solchen begeben, und mit Freiheit inne gehalten, damit mehr
Naturtrieb sich entwickeln möge: so ist es lediglich die Sache der
Natur in ihm, und außer dem Gebiete der sittlichen Kraft, ob
sich auch zu jeder Zeit alles entwickelt, worüber das Gewissen
bejahend zu sprechen hätte, oder ob manches unangeregt vorbei-
geht; und weder auf die Verletzung irgendeiner einzelnen be-
stimmten Pflicht, noch auf eines von jenen allgemeinen Grund-
lastern der menschlichen Natur läßt dieser Mangel sich zurück-
führen. Daher auch dem Weisen des Fichte, wenn er nicht nur
ohne Abweichung, sondern auch ohne jemals zu versagen, wie ein
schlechter Griffel tut, die Reihe seines Berufs als ein Stetiges
vollenden soll, außer der sittlichen Kraft noch eine Bestimmung
der Natur muß beigelegt werden, und jene nicht minder hilflos
und unzureichend ist, als sie beim Epikuros sich zeigte. So wird
Kant, auch bei Kant ohne Tadel eine leere Stelle entstehen, so oft die-
[111,1, 97] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 99
jenige Maxime, welche der Form der allgemeinen Gesetzgebung
entsprochen hätte, nicht ist ins Bewußtsein gekommen. Welchen
Einfluß nun dieses auf das wirkliche Tun haben muß, ist eben-
falls schon bei Gelegenheit des Epikuros bemerkt worden; es
zeigt sich aber auf dem Gebiete der Tätigkeit nirgends besser als
an den kantischen Formeln. So ist es, ein Beispiel statt aller, eine
ungesetzmäßige Maxime, daß einer der sinnlichen Vergnügungen
pflege, indes er bei irgendeiner allgemeinen Not zu Aufrecht-
haltung öffentlicher Ordnung und Wohlergehens tätig sein könnte;
wohl aber ist es, so spricht Kant, erlaubt, sich der Glückseligkeit
zu befleißigen als eines Mittels, um den Versuchungen zur Ver-
nachlässigung des öffentlichen Wohls zu entgehen. Wenn nun
jemand jenes Stück seiner Pfhcht nicht wahrgenommen: so ist
dieses Nichtwahrnehmen gar kein Handeln nach einer Maxime,
also kein Gegenstand ethischer Beurteilung, indem der Täter nur
nach der erlaubten Maxime gehandelt hat; und dennoch ist die
Pflicht wirklich versäumt und eine sittliche Lücke entstanden. Die
Nachfrage aber nach der Verschuldung jenes Nichtwahrnehmens
findet weder in Kants Ethik einen Ort, noch auch in Fichtes, wenn,
was in der sittlichen Handlung äußerlich und materiell gewesen
wäre, sich nicht unter den wirklichen Forderungen des Natur-
triebes gefunden hat; sondern es müßte die Antwort genügen,
daß sich ihm jene Tugendübung nicht dargeboten. Wogegen in
einem System, nach welchem die sittliche Kraft nicht erst eine
andere Tätigkeit, um die ihrige zu erwecken, erfordert, sondern
als ursprünglich und selbsthandelnd gesetzt wird, eben dieses
Nichtwahrnehmen als eine Wirkung ihrer Schwäche und unter-
drückten Reizbarkeit wäre getadelt worden. Betrachten wir aber
nächst diesem beurteilenden und prüfenden nun auch das Ver-
fahren der Ableitung und Bestimmung des einzelnen: so ist zuerst
zu bemerken, wie eben diese drei, welche sich immer wieder zu-
sammenfinden, Kant nämlich, die Stoiker und Fichte, auch darin Stoiker, Kant,
übereinstimmen, daß sie aus ihrem Grundsatz allein, weil er bloß Fichte.
7*
100 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 98]
ein Verhältnis ausdrückt, nichts bestimmen und aufbauen können
ohne Dazwischenkunft eines anderen Begriffs, welcher erst diesem
Verhältnis seinen Gehalt gibt. Denn es betrachte jemand von
allen Seiten alle drei kantischen Formeln, von der Schicklichkeit
zur Gesetzgebung, oder von Behandlung der Menschheit als Zweck,
oder auch vom Reich der Zwecke: so wird es sich als unmöglich
zeigen, hieraus allein irgendein reales Gesetz oder eine Tugend
oder Pflicht abzuleiten; sondern für sich, in dieser Gestalt, kann
der Grundsatz nur zur Prüfung eines Gegebenen dienen, wenn
anders auch dieses ihm kann zugestanden werden. Denn überall,
wo er selbst Beispiele anführt, um ihn auch nur in dieser Hinsicht
zu bewähren, zeigen sich merkliche Mängel. Zuerst überall, wo die
Frage so gestellt werden muß, ob wohl jemand wollen könne,
daß diese und jene Maxime ein allgemeines Gesetz werde, und
das heißt nichts Geringeres als bei allem eigentlich Sittlichen im
Gegensatze des Rechtlichen, zeigt sich der Grundsatz als unzu-
reichend, weil jenem prüfenden Willen doch auch ein Bestimmungs-
grund erst müßte untergelegt werden, der also außerhalb des
Grundsatzes liegen würde. Aber auch selbst da, wo ein Wider-
spruch geradezu sich ergibt, können Zweifel entstehen. Beim
niedergelegten Gute zum Beispiel könnte leicht jemand den Wider-
spruch von dem Verfahren auf die Bedingung zurückwerfen und
sagen, es dürfe wohl ein Erlaubnisgesetz sein, ähnlich dem lykurgi-
schen des Stehlens, dasjenige unterzuschlagen, was auf solche
Weise niedergelegt worden, damit nicht die Trägheit, auf ein
trügliches Vertrauen gestützt, sich immer mit einer schlechten
Form begnüge, vielmehr eine bessere desto eher erfunden werde.
So daß auf der einen Seite zwar die kantische Ethik dem Gehalt
und der Größe nach ganz bürgerlich und rechtlich zu sein scheint,
auf der andern aber durch die noch übrigen geringen ethischen
Ansprüche auch des rechtlichen Zustandes gründliche Verbesserung
nur verzögert. Doch dieses, da es mit einem Fehler zusammen-
hängt, von welchem hier nicht die Rede ist, nur im Vorbeigehen.
[llf,l, 99] 1. Kritik der höchsten Grundsätze. 101
Die Unfähigkeit dieses Grundsatzes aber, aus sich allein das ein-
zelne abzuleiten, wird jeder eingestehen, weil auch eine Art, wie
es anzufangen wäre, nicht aufzufinden ist. Ebenso offenbar ist
dies an den Stoikern. Denn die Naturgemäßheit für sich ist ein Stoiker,
reiner Verhältnisbegriff, und kann nichts bestimmen, bevor nicht
die Natur bestimmt worden. Daß aber auch Fichte, v/iewohl er Fichte,
den Anspruch macht, von dem höchsten Begriff der Selbsttätigkeit
aus durch regelmäßiges allmähliches Fortschreiten zu einer reellen
und anwendbaren Sittenlehre zu gelangen, sich dennoch in dem
nämlichen Falle befinde, ist nicht schwer zu sehen. Denn alle jene
verschiedenen Ausdrücke, welche bei ihm wie bei Kant einen
solchen Übergang von dem bloß Formellen zu dem Realen bilden
sollen, vermögen diese Aufgabe nicht zu lösen; auch nicht der
letzte, daß nur dasjenige im Naturtriebe mit den Forderungen des
reinen Triebes übereinstimme, worin ein Behandeln der Objekte
nach ihren Endzwecken enthalten sei. Von hieraus zwar kommt
er unmittelbar auf die ^wesentlichen Bedingungen der Ichheit,
welche ihm wirklich das Mittel werden, den formalen Grundsatz
in reale Gebote umzusetzen. Aber der Schein, als ob er seinen
Endzweck erreicht habe, verschwindet bald, wenn man erwägt,
daß die wesentlichste unter diesen Bedingungen, auf welcher
am Ende die ganze Ethik beruht, gerade diejenige ist, welche nicht
als notwendig, sondern nur als eine bloße Möglichkeit abgeleitet
und eingesehen werden konnte, nämlich die Mehrheit der In-
dividuen. Merkwürdig und wahrhaft magisch, nichts weniger aber
als allmählich und regelmäßig, ist in der Tat die Art, wie die als
notwendig geforderte einmalige Aufforderung des Ich sich ver-
wandelt in die Gemeinheit der Vernunftwesen. Denn, möchte einer
fragen, wäre es nicht hinreichend und wahrlich ein kleineres
Wunder gewesen, wenn, worauf doch als auf ein mögliches Fichte
anderwärts hindeutet, ein höheres Wesen sich des Ichs mitleidig
erbarmt hätte, und ihm ein Geist, nach der Weise seiner Bestim-
mung, erschienen wäre? Und wäre, wenn einmal das Mythische
102 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 100]
unentbehrlich ist, ein solches nicht besser? Oder woher ist denn das
Ich gewiß, daß, was als ein Kunstwerk erscheint, ein solches auch
wirklich ist? Und sollte diese Meinung einen andern Ursprung
haben, als jene Furcht, welche vom verstümmelten Daumen den
Namen führt, weil sie geneigt ist, sich selbst Übles zuzufügen,
wie sie denn auch hier ohne Grund sich die Freiheit verstümmelt?
Denn eine solche Furcht vor dem eignen Schatten tönt auch ge-
waltig laut in dem von Fichte angeführten prächtigen Ausspruch
eines andern, welcher schaudernd still steht, wo es ihm zuruft, hier
ist Menschheit. Ja, könnte wohl selbst das Annehmen eines Geistes
der ganzen Lehre des Fichte so nachteilig sein, als wenn etwa
einer aus allem diesen die Folgerung zöge, das als unentbehrlich
gesuchte Supplement der Vernunft, um die Ichheit zu ergänzen,
sei doch vielleicht am Ende nirgends anders zu finden, als in
jenen aus ihr so nachdrücklich verwiesenen Kräften, in der Liebe
nämlich und der Phantasie? Nun ist freilich wahr, daß Fichte
selbst gesteht, von hier an, nämlich von der Mehrheit der In-
dividuen, werde die Sittenlehre eine bedingte Wissenschaft, die
auf einer Voraussetzung beruht: aber nicht so ausdrücklich gesteht
er, daß dieses von hier an ihr alles ist, sondern gedenkt sich doch
noch etwas zurückzubehalten von dem falschen Ruhme, den er
nun gar nicht hätte verkündigen sollen. Deshalb nun sind die
Fichte und Stoiker vorzuziehen, welche denselben Verbindungsbegriff ganz frei
Stoa. jjj^^j offen als eine willkürlich angenommene Erklärung hinstellen.
Denn daß es bei beiden derselbige ist, kann niemand be-
zweifeln, es müßte einer in des Fichte Bedingungen der Ichheit,
dem Leibe, der Intelligenz und dem Zusammenhange mit mehreren,
die stoischen Merkmale der menschlichen Natur verkennen wollen,
nämlich das Tier, die Vernunft, und die Geselligkeit. Wie aber
Fichte mit den Stoikern zusammenstimmt, so ist wiederum in
Kant, der Art, wie Kant die Vermittlung zwischen dem Grundsatz und
dem einzelnen Ethischen einrichtet, sein natürlicher Hang zur
anglikanischen Schule, wie wenig auch er selbst sich dessen be-
wußt gewesen sei, auf keine Weise zu verkennen; und man kann
[111,1, 101] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 103
sagen, seine Sittenlehre endige in dem Versuche, jenem poUtischen
Eudämonismus eine, wie es eben gehen will, wissenschafthche Ge-
stalt zu geben. Denn was eigentlich hätte sein Verbindungs-
begriff sein sollen, eine reale Bezeichnung der Totalität mensch-
licher Maximen, aus welcher dann die einzelnen hätten hergeleitet
und ihr Verhältnis zu allgemeinen Gesetzgebung bestimmt wer-
den können, das würde zuletzt doch immer nur ein etwas anders
gestaheter Begriff der menschlichen Natur geworden sein, eben
wie bei jenen. Wie anders nun als vom Drange natürlicher
Neigung geleitet kann er dahin gediehen sein, den Umfang aller
Maximen im voraus einzuschränken auf die beiden der eigenen
Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit? Denn was er dar-
über erläuternd und rechtfertigend beibringt, wird niemand für
einen Erweis halten. Daß aber diese Neigung ganz anglikanisch
ist, erhellt daraus, daß auch die Vollkommenheit ihm nur Zweck
ist als Mittel zu andern Zwecken, und daß sonach kein Zweck,
der zugleich Pflicht wäre, übrig bleibt als eben die fremde Glück-
seligkeit, also auch keine sittliche Kraft als das Wohlwollen. Dieses
beiläufig von dem Geist und der Ableitung der Verbindungs-
begriffe in diesen Schulen.
Worauf 1) es aber hier bei Prüfung ihrer Tauglichkeit ankommt,
ist nicht dieses, sondern eine Eigenschaft, welche allen dreien
gemein ist, daß nämlich der Verbindungsbegriff eine unverbundene Mannigfaltig-
Mehrheit von Merkmalen enthält, welches eine sichere Ableitung yg^^lj^j " 5.
unmöglich macht. Denn es läßt sich zwar im System darstellen, begriffes.
was nun sittlich sei in Beziehung auf den Leib oder die Intelli-
genz oder die Gemeinschaft mit den vorhandenen Individuen ; aber
das Verhältnis ist nicht bestimmt, in welchem diese einzelnen
ethischen Realitäten gegeneinander stehen; welche Unbestimmt-
heit denn die Anwendung im Leben gänzlich verhindert. Will
nämlich angenommen werden, es dürften einzelne Handlungen
ausschließend eine auf den Leib und eine andere auf den Geist
oder die Gesellschaft bezogen werden: so ergibt sich für jeden
^ Absatz nicht im Original.
104 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 102]
Moment eine Mehrheit, aus welcher gewählt werden muß, weil
die Ansprüche dieser Gegenstände stetig fortlaufen, und in jedem
Moment für jeden einiges zu tun bleibt, so daß zum Beispiel einer
sich ununterbrochen mit seinem Leibe beschäftigen könnte, ohne
doch etwas anders zu tun, als ihn zum Werkzeuge des
Sittengesetzes möglichst auszubilden. Daß also diese Methode
nicht anzunehmen ist, leuchtet ein. Will man aber sagen, welches
das einzige Übrige wäre, es müßte jede Handlung sich auf alle
diese Gegenstände zugleich beziehen: so fehlt jede Regel des
Verfahrens bei dieser gegenseitigen Bestimmung und Begrenzung,
kann auch aus dem Begriff, in welchem sie selbst nicht gesetzmäßig
verbunden sind, unmöglich hergenommen werden. Am ehesten
wäre dieses zu erwarten gewesen von Fichte, der sich eine solche
Methode der gegenseitigen Bestimmung und Begrenzung eines
Gebietes durch das andere besonders zu eigen gemacht; und es
ist merkwürdig für die Schätzung seiner ethischen Eigentümlich-
keit, daß er sich ihrer grade hier nicht bedient, sondern an dem
unvollständigen Verfahren der früheren Genüge gefunden. So-
lange aber dieses Hilfsmittel nicht gefunden ist, bleibt bei einer
solchen Anlage der Streit einer Pflicht mit der andern nicht nur
hier und da, sondern für jeden Augenblick unvermeidlich.
Dem^ gleichen Tadel ist, so wenigstens wie sie bis jetzt be-
arbeitet worden, diejenige Ethik unterworfen, welche von dem Be-
Vollkommen- griff der Vollkommenheit ausgeht, in welchem nicht nur eine unbe-
heitsethik. stimmte und in diesem Sinne unendliche Größe der Kraft, sondern
auch ein Verhältnis ihrer verschiedenen Äußerungen gesetzt ist.
Denn da dieses zu bestimmen ebenfalls noch kein Gesetz auf-
gestellt ist: so müßte entweder ganz willkürlich jenes schon er-
wähnte allgemeine Musterbild vorgezeichnet, oder eine unbe-
stimmte Mehrheit solcher Verhältnisse angenommen und nur von
jedem einzelnen die Gleicherhaltung irgendeines davon gefordert
werden. Welches von beiden aber auch geschehe, so entsteht
^ Absatz nicht im Original.
[111,1, 103] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 105
immer eine doppelte Aufgabe, teils das angenommene Verhältnis
hervorzubringen, teils in den Bestimmungen desselben die Größe
der einzelnen Faktoren zu erhöhen. Nun kann freilich die letzt-
erwähnte Behandlung, welche einem jeden sein eigenes Ideal an-
weiset, sich der ersten Aufgabe entziehen, und gleichmäßig mit der
dieser Ansicht gegenüberstehenden folgerechten Behandlung der
Glückseligkeitslehre vorschreiben, es solle kein Verhältnis hervor-
gebracht, sondern nur dasjenige festgehalten und ausgebildet wer-
den, in welchem ein jeder zuerst sich selbst findet. Allein aucH
dieses vorausgesetzt, finden wir doch hier den obigen Streit wieder
zwischen den Ansprüchen der einzelnen Faktoren, indem jeder die
seinigen auf jeden Zeitteil ohne Ausnahme richten kann. Daher
wir hier nicht nur einen Streit zwischen zwei Parteien, sondern
einen allgemeinen Aufruhr erblicken unter einer unbestimmten
Menge, je nachdem die natürliche Seelenkunde mehr oder minder
Mannigfaltiges in der menschlichen Natur annimmt; so daß man
sagen kann, hier zeige sich die äußerste Höhe der Verwirrung, die
aus einer solchen unverbundenen Mehrheit entsteht, und werde
also auch hier am lautesten eine Einheit des Begriffs gefordert,
welcher den Umfang alles ethisch Bestimmbaren bezeichnen soll.
Ehe wir aber dies System der Vollkommenheit verlassen, ist das-
selbe noch zu betrachten in Beziehung auf die erste Frage von dem
Zugleichsein und der Übereinstimmung der verschiedenen Aus-
drücke der höchsten ethischen Idee. Hier zeigt sich nun, daß so wie
offenbar dieses System mit der Idee des höchsten Gutes anfängt,
so im Gegenteil das Gesetz nach demselben gar nicht auszudrücken
ist. Denn die Vollkommenheit ist offenbar das Ganze des zu
Bewirkenden, und die Formel: Vervollkommne dich selbst, heißt
nur, dieses höchste Gut soll wirklich gemacht werden, und bezieht
sich keineswegs auf das einzelne, da in keinem Falle aus ihr
unmittelbar das unter gegebenen Umständen zu Tuende kann be-
stimmt werden. Daß aber überall ein solches Gesetz für diese
Idee nicht zu finden ist, erhellt aus dem vorigen. Denn es
106 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. (111,1, 104]
müßte die Regel des Verfahrens für das einzelne aus dem Aus-
druck des höchsten Gutes abgeleitet werden vermöge desjenigen
Begriffes, der den Einteilungsgrund desselben enthält; diese Ein-
teilung aber ist dem obigen zufolge unbestimmt, und eigentlich
ohne Grund. Ferner aber, wie sollte auch, solange jene Ein-
heit noch nicht gefunden ist, eine solche Regel möglich sein, da
die eine Forderung dieses Systems, nämlich die intensive Er-
höhung, mit der andern, wenn auch diese nur die Festhaltung eines
bestimmten Normalverhältnisses, nicht erst die Hervorbringung
desselben, sein sollte, im geraden Widerspruche steht. Denn so-
lange noch das Subjekt der Vervollkommnung als ein Mannig-
faltiges gedacht wird, kann auch die Erhöhung nicht anders als
teilweise geboten werden ; eine jede solche aber verrückt das Ver-
hältnis unvermeidlich. Eben wie wann eine als Aggregat aus-
gedrückte Größe potenziert oder auch nur vervielfacht werden soll,
wo auch bis zur Vollendung jedes Glied, mit welchem die Hand-
lung vorgenommen wird, ein der Form und Absicht des Ganzen
zuwiderlaufendes Übergewicht erhält. So daß man sagen kann,
dieses System endige, wiewohl aus einer andern Ursache als das
Vollkommen- der Glückseligkeit, ebenfalls in Untätigkeit, weil nämlich das Sitt-
heitsethik \[qYiq nicht anders als durch einen ununterbrochenen Wechsel des
endet in
Untätigkeit. Unsittlichen hervorgebracht werden kann. Aufs Höchste gebracht
1. aber wird dieser Widerspruch, wenn noch mit der Vollkommen-
heit in Verbindung gebracht werden soll die Glückseligkeit. Denn
diese, wenn sie wirkliche Lust sein soll, entsteht vorzüglich aus
einer teilweisen Tätigkeit, wie schon der Name zeigt, den jede
von dem Teile erhält, auf v/elchen sie sich bezieht, und wider-
spricht also dem Gleichgewicht, welches zur Vollkommenheit ge-
hört; soll sie aber nur Schmerzlosigkeit sein dürfen, so mag
sie wohl diesem Gleichgewicht entsprechen, würde aber gestört
werden durch die Vervollkommnung, und auch gegenseitig diese
verhindern, indem sie vor der Zeit ein Gefühl von Selbstgenügen
hervorbrächte. Aufs deutlichste also erhellt auch hieraus, wie
[111,1, 105] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 107
keine andere Verbindung von Lust und Tätigkeit möglich ist,
als diejenige, welche Spinoza aufstellt, wo nämlich die Tätig-
keit nur eine ist, und die Lust nur eine, und beide zwar unzer-
trennlich verbunden, doch so, daß der Wille unmittelbar nur auf
jene darf gerichtet werden. Wie denn überhaupt die jetzt ge-
rügten Fehler auf die Notwendigkeit führen, eine solche Einheit
des menschlichen Tuns und Strebens in der Ethik überall zum
Grunde zu legen, wie Fichte sie zwar gefordert, nicht aber ge-
funden hat, und Spinoza sie zwar aufstellt, aber ohne sie durch die
Tat, nämlich die vollständige Ausführung des Systems, erwiesen
zu haben. Allein es endigt noch auf eine andere Weise die
Sittenlehre der Vervollkommnung in Untätigkeit, insofern sie 2.
nämlich ein natürliches Streben ist nach jener Muße, deren sich
die Götter des Epikuros und Aristoteles erfreuen. Denn ganz
das Gegenteil von andern, welche ein Bilden des Menschen an
sich selbst gebieten, als Mittel, um so und so handeln zu können,
wird hier alles Handeln eigentlich nur gefordert als Mittel zum
Werden, und genau genommen jede sogenannte Tugend auf-
gehoben, welche mehr unter als über der bereits erworbenen Fertig-
keit liegt, als welche keine Übung mehr sein kann, und die Zeit
nur vergebens ausfüllt. Je mehr nun die Vollkommenheit wächst,
um desto weniger bleibt über ihr zurück; und wenn sie erreicht
wäre, wäre auch der Grund des Handelns erschöpft, und in einer
beschaulichen Ruhe alles Sittliche geendigt. Vielleicht auch könnte
jemand, einen noch schärferen Gegensatz der Ausführung gegen die
Absicht suchend, noch lieber sagen wollen, ihr Bewirktes sei nur
Roheit, weil sie die allseitige Bildung nur in einem regellosen
Wechsel absichtlicher Einseitigkeit darzustellen wisse. Von dieser
Seite nun führt sie auf die Idee des Piaton, als auf die Ret- Piaton.
tung, deren sie benötigt ist, welcher nämlich einen andern han-
delnden Gott, und die Ähnlichkeit mit diesem als den höchsten
Zweck einführt. Denn so ist einesteils das Handeln in einem
andern Sinne unentbehrlich, nämUch als das Bilden und Dar-
108 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH,!, 106]
stellen, welches eins ist mit dem Sein und Bestehen des Geistes,
und daher der höchsten Vollkommenheit nur am meisten eigen;
andernteils auch ist so der Streit über die Zeit zwischen dem
einzelnen geschlichtet, weil ein göttliches Handeln mit einer ewigen
Ordnung auch eine bestimmte Reihe alles dessen, was erfolgen
soll, seiner Natur nach enthält. Wie also alle Fehler, welche in
den Systemen der Tätigkeit aus der beschränkenden Natur der
Sittlichkeit und aus der ungünstigen Beschaffenheit des die An-
wendung vermittelnden Begriffs entstehen, in den Darstellungen
des Piaton und des Spinoza am besten vermieden werden, dieses
erhellt aus dem bisherigen zur Genüge.
Universeller Zwei Gegensätze von Bestimmungen der höchsten ethischen
Charakter j^jgg gjj^^j -jj^gj. j^q^j^ 2u betrachten übrig, welche, als der Wir-
oder be- l^Ling "''ch zusammengehörig, auch hier nebeneinander sollen ge-
schränkter? stellt werden. Zuerst nämlich kann, auch wenn der sittliche Trieb
nicht als abhängig und bloß beschränkend, sondern als selbsttätig
und unabhängig gesetzt wird, dennoch entweder er allein als
im sittlichen Zustande alles bestimmend und ausschließlich tätig
angenommen werden, oder neben ihm noch ein anderer zugelassen,
wäre es auch nur, um dasjenige zu verrichten, was des ersteren
unwürdig zu sein scheint. Offenbar nun ist, daß nur in dem
ersten Falle alles menschliche Handeln einen bestimmten sittlichen
Wert haben kann, in dem letzten aber dasjenige, was dem sitt-
lichen Triebe zwar nicht widerspricht, aber was auch nicht durch
ihn hervorgebracht worden, als außerhalb seines Gebietes gelegen
und als ethisch gleichgültig erscheinen muß. Dieses nun ist der
wahre Umkreis des Begriffs der sogenannten Mitteldinge. Denn
was einige Neuere noch sonst so nennen, verdient nicht mit hierher
gezogen zu werden, ist auch ethisch betrachtet, nichts Besonderes,
sondern nur die Aussage, daß eine Frage nicht vollständig auf-
geworfen worden ist, auf welche dann auch natürlich keine be-
stimmte Antwort erfolgen kann. Die AHen unterschieden beides
sehr richtig, und bezeichneten das letztere als das nicht an sich",
[in,l, 107] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 109
sondern nur zufällig Gute oder Böse. Dieselbige Folge nun er-
gibt sich auch da, wo der sittliche Trieb nur beschränkend ist,
so daß er jedesmal durch den andern muß aufgeregt werden, und
wo zugleich die Regel fehlt, um alles sittliche Handeln als eine
bestimmte Reihe ausmachend vorzustellen. Denn in diesem Falle
muß alles, was in dem natürlichen Triebe diesseits seines Durch-
schnittspunktes mit dem Sittlichen liegt, als in gleichem Grade
ethisch möglich, das heißt, als gleichgültig und nur erlaubt sich
darstellen. Dagegen, wo eine bestimmte Reihe gesetzt wird, nur
dem Durchschnittspunkt selbst die ethische Möglichkeit, und eben
deshalb mit ihr zugleich die Notwendigkeit zukommt. Daher
auch finden wir in dem System des Fichte, welches jene Be- Fichte.
stimmtheit der Reihe so festzuhalten bestrebt ist, den Begriff
der Mitteldinge nicht unvermeidlich, noch ausdrücklich gebilligt.
Wohl aber tritt er stark hervor bei den Stoikern und beim Epi- Stoa, Epikur.
kuros. Denn die vorzuziehenden Dinge bei jenen, und bei diesem
die positive in der Bewegung sich erweisende Lust, so weit
sie nämlich aus den natürlichen Begierden entsteht, nehmen die
gleiche Stelle ein im System, und stehen sich genau gegenüber,
als dasjenige, was, man bestimme es so oder anders, die Sitt-
lichkeit weder vermehrt noch vermindert, sondern nur die Ober-
fläche ihrer Erscheinung gleichsam färbt und verändert. Bei Kant Kant,
finden sich diese Mitteldinge nicht nur wiegen der mangelhaften
Natur der Sittlichkeit und der Unbestimmtheit der Reihe, son-
dern auch, weil er selbst im sittlichen Zustande neben dem auf
diesen gerichteten Triebe auch den die eigne Lust suchenden noch,
wiewohl nur im Dunkeln, fortwirken läßt, welches wohl keinem
mit seiner Darstellung Bekannten erst erwiesen zu werden braucht.
Jedoch gebraucht auch er zuweilen den Begriff, auch wohin er
nicht gehört, als ein Hilfsmittel der faulen Vernunft. Nicht minder
müßte er in der anglikanischen Schule bei denen angetroffen Engländer,
werden, welche den wohlwollenden Trieb vorzugsweise als den
sittlichen ansehen. Daß nun diese Mitteldinge ein in der wissen-
110 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 108]
schaftlichen Ethik ganz unstatthafter Begriff sind, dieses ist leicht
zu sehen; denn offenbar begrenzt dieser Begriff den Umfang
der sittHchen Bestimmbarkeit auf eine höchst willkürhche Art,
indem er nur einen Schein des Natürlichen hat, wenn man sieht
auf die gegebene Entstehung einer Tat. Betrachtet man dagegen
den Inhalt derselben, so wird man unter allen diesen Mittel-
dingen kein einziges finden, wie klein sie auch oft des Beispiels
wegen ausgeprägt werden, welches nicht auch von dem sittlichen
Triebe aus hätte können entweder gefordert oder auch verworfen
werden. Daher stören sie sowohl die Stetigkeit des sittlichen
Handelns im Leben, als auch den Zusammenhang in der Dar-
stellung, und machen die Wahrheit der ethischen Ideen überhaupt
verdächtig, indem sie hindern, daß diese sich nicht ^ durchgängig
bewähren können. Auf alle Weise also wäre es eine Verbesserung
Ariston gewesen in der Lehre seines Meisters, welche Ariston von Chios
von Chios. einführen wollte, indem er behauptete, es dürfe, wo das Gute
sein solle, auch gar kein Trieb stattfinden und keine Bewegung
des Gemütes auf dasjenige, was zwischen der Tugend liegt und
dem Laster. Denn daß er dieses allein sollte als den höchsten
Zweck und das erschöpfende Merkmal des Sittlichen aufgestellt
haben, ist gev/iß nur ein törichtes Mißverständnis der späteren
Erzähler. Offenbar richtig aber ist der Grundsatz, daß
Ethik als Wissenschaft nicht bestehen kann, wenn
sie nicht das Recht sowohl als die Pflicht hat, das
Ganze des menschlichen Handelns zu umfassen, und
daß in einem als vollständig gedachten sittlichen Leben alles
Tun sich in ein Sittliches und folglich ethisch zu Beurteilen-
des verwandeln, was aber noch auf eine andere Weise ent-
steht, als aufzuhebend und jener Vollständigkeit Abbruch
tuend muß angesehen werden. Nur auf eine solche Art nun
erscheint alles, was aus einem andern Triebe hervorgegangen
Piaton ist, im Piaton sowohl als im Spinoza. Denn jener, wenn er
und Spinoza. ^^^^ ^^^^ Grundsatz selbst nirgends ausdrücklich anerkannt hätte,
^ „nicht" muß fortfallen.
[111,1, 109] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 111
stellt, solange dergleichen vorhanden ist, auch die Sittlichkeit noch
dar als im Streite begriffen, und also unvollkommen. Dieser
aber, wenn er gleich die vollständige Sittlichkeit für unmöglich
der menschlichen Natur erklärt, zeigt nur desto stärker die Rein-
heit seiner wissenschaftlichen Ansicht, wenn selbst die geglaubte
Unvermeidlichkeit ihn nicht '^ewegen kann, für gleichgültig zu er-
klären, was nicht unmittelbar aus der Tätigkeit des reinen, in
seiner Vollständigkeit aufgefaßten Triebes hervorgegangen ist. Was
er aber bisweilen äußert, daß die nicht durch die Vernunft er-
zeugten Handlungen sowohl gut sein könnten als böse, kann
keineswegs als ein Gegenerweis gelten. Denn es ist nur teils
in dem eingeschränkten Sinn zu verstehen, den er selbst von dem
wissenschaftlichen unterscheidet, ja auch in diesem nur zufällig;
teils ist es nur gesagt im Streit gegen die vielgehörte und mit seiner
Voraussetzung unverträgliche Behauptung, daß von dem Bösen aus
auch in ununterbrochener Reihe nur Böses könne angeknüpft werden.
Derselbe Grundsatz der Beurteilung nun entscheidet auch über Liegt das
den letzten Gegensatz, den nämlich, ob nur in dem Gemein- ^^"'^^ ^ *"^
^ ' ' allgemeinen
schaftlichen der menschlichen Natur, oder in dem Eigentümlichen oder im
eines jeden das Sittliche soll anzutreffen sein, und ob eins das Individuellen?
andere ausschUeßen darf, oder beides miteinander zu verknüpfen
ist. Wie nun das Eigentümliche allein, wenn ihm das Gemein-
schaftliche untergeordnet, und also dieses als solches aus-
geschlossen wird, in ein unbestimmtes und unbestimmbares Man-
nigfaltiges notwendig zerfährt, dieses hat sich schon oben an den
eudämonistischen Sittenlehren gezeigt. Und daß auch in den prak-
tischen nichts anderes zu erw^arten ist, kann man ebenfalls aus
jenen ersehen, wenn man denjenigen Teil, welcher dort freilich
fälschlich nur als Mittel, dennoch bildend und tätig ist, betrachtet,
so wie diese mit Verachtung aller Hinsicht auf das Gemeinschaft-
liche geforderte Bildung und Vollendung irgendeiner, gleichviel
welcher Gemütsart, weniger in wissenschaftlichen Vorträgen als
im Leben und dessen Verteidigung, von denen der gallikanischen
Schule ist als höchster Zweck aufgestellt worden. Soll aber das
112 Grundlinien einer Kritilc der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 110]
Sittliche nur in dem Gemeinschaftlichen zu finden sein, alles Eigen-
tümliche aber als aufzuhebend gänzlich ausgeschlossen: so ist offen-
bar, daß wenn auch nicht ganze Gebiete von Handlungen, doch
in allen irgend etwas nicht kann ethisch bestimmt werden ; sondern
überall wird in der Art und Weise, wie etwas kann verrichtet
werden, noch vieles frei bleiben. Bestimmt aber muß doch durch-
gängig sein, was wirklich geschehen soll; und so tritt auf einmal
entweder eine unbedingte Willkür oder irgendein Mechanismus,
es sei nun ein äußerer der Gewohnheiten und Sitten, oder ein
innerer der Neigungen, in das ethische Gebiet ein. Man sehe nur,
wie Kant bisweilen unter dem letzteren seufzt, und sich dafür den
ersteren herwünscht. Ein solcher Mechanismus aber kann nicht
entstehen, wenn nicht die Gesetze desselben schon eine Menge von
Handlungen bestimmt haben, welches nicht ohne Vorübergehung
des sittlichen Gesetzes geschehen konnte, so daß auch hier das Zu-
standekommen des Sittlichen abhängig wird von einem früheren
Unsittlichen. Aber auch ganze Handlungen selbst gibt es, welche
bloß von dem Gemeinschaftlichen aus nicht können bestimmt wer-
den. Woher zum Beispiel sollte ein allgemeiner Bestimmungs-
grund genommen werden, nach welchem der Mensch seinen Stand
und Beruf wählen, oder festsetzen könnte, ob er in eine gewisse
Gesellschaft, die eheliche zum Beispiel, jetzt treten sollte oder
später oder gar nicht. Denn wo, wenn sie nicht in dem Eigentüm-
lichen eines jeden liegen sollen, wären die Momente jener besten
Überzeugung, nach der und nicht nach Neigung wir uns, wie
Fichte denkt, in diesen Dingen entscheiden sollen? Auch ist Fichte
fast der einzige unter den Neueren, welcher diese Gegenstände er-
wähnt. Die Alten aber fühlten die Unmöglichkeit sehr wohl, sie
gut begründet in das System hineinzubringen, und stellen daher
die Frage immer so, ob wohl der Weise dieses oder jenes tun
werde oder nicht, durch deren Beantwortung sie freilich die Sache,
wie ja der Weise ein allgemeines Musterbild sein sollte, auch all-
gemein entschieden, doch aber mit dem Bewußtsein, daß sie dies
[111,1, 111] I. Kritik der höchsten Grundsätze. 113
in der Ordnung und nach der Weise des Systems nicht bewerk-
stelligen könnten. Wie nun die Aufgabe, in welche dieses zu
endigen scheint, die Verbindung nämlich des Allgemeinen mit dem
Eigentümlichen und des einen Bestimmung durch das andere,
noch am ersten gelöst werden kann nach den Ideen des Spinoza
und Piaton, ist auch schon erwähnt. Ja, unmittelbar berührt,
und von einer Seite nicht übel gelöst, kann man sagen, daß sie
schon sei durch die gewiß nicht platonische und der Idee der
Ähnlichkeit mit Gott angemessene Einteilung des ganzen sitt-
lichen Geschäfts in die Entwerfung der Lebensweise und die Füh-
rung des Lebens, Denn in jenem Teile wird das Eigentüm-
liche festgestellt, und nur durch das Gemeinschaftliche begrenzt, in
'diesem aber walten die allgemeinen Gesetze vor, so jedoch, daß
alles durch jenes Eigentümliche bestimmt und darauf bezogen
wird.
Dieses nun sei genug von den bemerkten Verschiedenheiten
'der Grundsätze. Denn es reicht hin, sowohl den wissenschaftlichen
Wert der bisherigen Ethik in dieser Hinsicht zu prüfen, als auch
die Aufgabe zu bezeichnen, welche derjenige sich vorzulegen hat,
der einen genügenden Grundsatz der Sittenlehre aufstellen will.
Und nun zur Prüfung der einzelnen sittlichen Begriffe, welche
wir in den verschiedenen Systemen antreffen werden.
Schleiermacher, Werke. 1.
114 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 112]
Anhang.
Erläuterungen zu dem, was von einigen Schulen gesagt
worden.
I. Daß Aristoteles noch in einem besonderen Sinne vor
andern die Sittenlehre der Staatslehre untergeordnet, und jene vor-
nehmlich als Vorbereitung und Elementarlehre zu dieser bearbeitet
hat, dies erhellt für diejenigen, welche alles mit ausdrücklichen
Worten vernehmen müssen, aus der Einleitung und dem Ende
der nikomachischen Ethik. Diese aber demjenigen, von welchem
sie den Namen trägt, als ihrem Urheber zuzuschreiben, weil doch
nicht einzusehen sei, warum wohl der Sohn nicht sollte dem
Vater gleich haben denken und schreiben gekonnt, dieses, wenn es
nicht etwa eine schielende Ermahnung sein soll an seinen Sohn
Marcus, ist vielleicht das ärgste unter dem Unkritischen, was
Marcus Tullius ausgesprochen. Denn wenn auch jemand, eben
wegen der Mehrheit derselben und dem Grade von Ähnlichkeit,
geneigt sein sollte, die Abfassung aller drei ethischen Werke des
Aristoteles ebensoviel Schülern desselben beizulegen, welche jeder
seine Erinnerungen aus den Vorträgen des Lehrers zusammen-
getragen: so widerspricht doch dieser Meinung in Hinsicht der
nikomachischen eben jenes Ende zu deutlich. Wenn man nämlich
nicht entweder auch demselben auf gleiche Weise die PoHtik ver-
danken wollte, wovon sich aber keine Spur eines Zeugnisses
findet, oder den Sohn für unverständig genug halten, das abge-
sonderte Werk mit einer so ausdrücklichen Hinweisung zu be-
schließen; in welchem Falle jedoch diese Verknüpfung gleichmäßig
auf den Vater müßte zurückgeführt werdend Diejenigen aber,
* Die Nikomachische Ethik ist eine, wahrscheinlich von dem früh ver-
storbenen Sohne Nikomachos etwa unter Theophrasts Beihilfe bearbeitete Aus-
gabe des Vorlesungskursus seines Vaters. Sie ist authentischer als die Eude-
mische Ethik (vgl. Th.'Gomperz, Griechische Denker, III, S. 189 f.).
[111,1,113] Anhang. 115
welche etwas tiefer eindringen, werden aus den Ansichten, von
welchen Aristoteles ausgeht, schon nichts anderes erwarten. Denn
indem er der Ethik nur das Gebiet anweist, die Tugenden des
unvernünftigen Teiles im Menschen zu verzeichnen: so kann sie
schon deshalb ihren Zweck nicht in sich selbst haben, welcher kein
anderer sein könnte, als das rein genießende Leben; sondern muß
demjenigen dienen, was ein Zweck des vernünftigen Teiles ist,
entweder also nach seiner Ansicht dem bloß beschaulichen und
wissenschaftlichen, oder dem geselligen und den Staat bildenden.
Von jenem finden sich mehrere Spuren in der eudemischen Ethik,
in welcher die Verbindung mit der Politik beinahe verwischt ist;
das letztere aber ist die herrschende Beziehung in der nikomachi-
schen sowohl als der großen.
Dem ohnerachtet aber ist Aristoteles, historisch betrachtet, der
Mittelpunkt der alten Sittenlehre, aus welchem auf der einen
Seite die Stoiker sich genährt und gebildet, auf der andern aber
Epikuros, und zwar so, daß jene gleichsam die eine Hälfte seiner
Darstellung mit dem Geist und Leben der Cyniker verbinden,
dieser aber die andere mit dem der Cyrenaiker, und er also, ohne
daß man ihn selbst dieser Eigenschaft beschuldigen könnte, den-
noch die Quelle des negativen und beschränkenden Charakters der
Ethik geworden zu sein scheint, sowohl in dem System der Lust
als in dem der Tätigkeit. Denn die Naturgemäßheit der Stoiker
besagt ganz das nämliche, was seine Formel, daß die Eudämonie
darin bestehe, wenn für einen insbesondere dasjenige gut ist, was
an sich und im allgemeinen muß dafür gehalten werden; und
ihre Herrschaft der Vernunft über den natürlichen Trieb der
Selbsterhaltung ist genau dasselbe mit seinem Gehorsam des un-
vernünftigen Teiles gegen den vernünftigen, so daß jener diesen
nicht beeinträchtige in seinem eigenen Werk und Leben, Ja, auch
ihre dem Streit gegen die Anhänger der Lust zugrunde gelegte
Ansicht von dieser, daß sie nur ein Mit- und Nacherzeugnis der
Handlung sei, ist offenbar genug aus ihm entlehnt. Dagegen
8*
116 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 114]
hat Epikuros gleichfalls von ihm den seine ganze Lehre um-
fassenden Unterschied, wodurch er die des Aristippos zu ver-
bessern glaubte, den nämlich zwischen der beruhigenden Lust und
der reizenden, und den natürlichen und unnatürUchen Begierden.
Wie nun diese beiden miteinander entzweit sind, und also seine
verschiedenen Elemente in Widerstreit gesetzt haben, ist bekannt.
Wollte aber jemand aus dem Zusammenhange seiner Ideen, und
auch ausdrücklich aus dem Schluß der endemischen Ethik, wenn
dieser gerade so von ihm sollte herrühren können, die Folgerung
ziehen, daß, wenn man seine Ethik in Verbindung setze mit dem
beschaulichen Leben, sie in die Lehre und Ansicht des Spinoza
hinüberspiele: so wäre auch dieses allerdings eine fruchtbare Be-
trachtung. Diese Teilbarkeit aber daraus vollständig zu begreifen,
daß es ihm an Sinn gefehlt für den eigentümlichen Weg des
Piaton, wird einem jeden aus dem Bisherigen leicht genug sein.
II. Richtig ist demnach in dieser Hinsicht, was den Stoikern
so oft und schon von alters vorgeworfen worden, daß sie nichts
Neues erfunden ; und den Peripatetikern war nicht zu verargen,
daß sie im Streite der Schulen diese Beschuldigung vorbrachten.
Nicht zu rechtfertigen aber ist die Art, wie jener sonst preis-
würdige Römer 1) sie nachspricht, ohne weder auf das Verhältnis
der Stoiker zu der cynischen Schule die gebührende Rücksicht
zu nehmen, noch auch, wie es von dem zu fordern ist, der über
den Schulen zu stehen sich anmaßt, den Geist des Ganzen von
den historischen Beziehungen des einzelnen zu unterscheiden.
Doch wie wenig er überall von der Pliilosophie der Hellenen ver-
stand, dieses zu beweisen sind gleichsam alle seine Werke dieser
Art im Wettstreit begriffen. Man sehe nur, wie er alle die ver-
schiedenen stoischen Formeln, frühere und spätere, durcheinander
wirft, ohne auch nur eine Ahnung weder von ihrer Verschiedenheit,
noch von der Art, wie sie doch wieder eins sind, sondern als
hätte er etwa mit schlechten Tautologien zu tun oder mit redne-
^ Cicero.
[111,1,115] Anhang. 117
rischen Erklärungen, denen man, weil keine genau ist, mehrere
zusammenstellt. Oder wie er selbst den Epikuros, so stolz er
auch das Gegenteil beteuert, mißverstanden, und wie schlecht
und gegen den Geist des Systems er seinen Torquatus den Ahn-
herrn verteidigen läßt über die Hinrichtung des Sohnes; oder wie
er in der Stoa sowohl als in der Lehre des Piaton und Aristoteles
die ganz ausgearteten Nachfolger mit den ersten Meistern zu-
sammenwirft, und über den Unterschied der Systeme ohne alle
Einsicht in den Geist unbefangen hinredet. So daß jeder andere
Bericht selbst aus den Sammlungen des unverständigen Diogenes,
wenn sie nur mit Verstand gelesen werden, ein sicherer Weg-
v/eiser ist, und daß, wer aus dem Cicero die Ethik der Älteren
wollte kennen lernen, gewiß nicht besser beraten wäre, als wer
irgendein System der Sittenlehre aus der neuesten allgemeinen
und kritischen Geschichte dieser Wissenschaft beurteilen wollte.
III. Ein Gegenstück zu der erwähnten Vieldeutigkeit ^ des
Aristoteles ist die anglikanische Schule mit ihrem Hinüber-
spielen in die verschiedensten Ansichten. Niemand aber wird hof-
fentlich die sehr verschiedene Ursache dieser Erscheinung bei dieser
und bei jenem miteinander verwechseln. Eher könnte es vielleicht
unbillig erscheinen, das, was von so verschiedenen Schriftstellern
herrührt, geflissentlich zusemmenzustellen, und wohl gar erst da-
durch den Schein der Unbestimmtheit und des Widerspruchs hervor-
zubringen. Allein keinem, der sie genau kennt, wird die Gleichheit
entgehen, wenn gleich Shaftesbury sich mehr dem Piaton zu
nähern scheint, Hume dagegen das aristippische Element aufgefaßt
hat, und Ferguson gar von vielen für einen Stoiker ist gehalten
worden. Denn wie im Shaftesbury das Gleichgewicht beider Triebe
die Hauptsache ist, leuchtet für sich ein. Vom Hutcheson aber
kann man sagen, sein sittlicher Sinn sei nur für den Durch-
schnittspunkt beider dasselbe Gefühl, welches bei Fichte das Ge-
wissen ist für die Übereinstimmung des wirklichen Ich mit dem
^ Ausgabe 1803 hat hier „Vielseitigkeit".
118 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 116]
ursprünglichen. Smith hingegen hat mit seinem Grundsatz, welcher
die Sympathie der Menschen zum Kennzeichen des Sittlichen macht,
alles überboten, was oben gesagt worden ist über die Art, wie
das Wohlwollen wieder in die Selbstliebe zurückkehrt; denn gewiß
werden die Beobachtenden nicht sympathisieren mit demjenigen,
dessen selbstliebige Triebe zu schwach sind, weil sonst auch
seine wohlwollenden sich selbst zerstören, und seine Erhaltung
dann ihnen vergeblich zur Last fiele. Ja, auch andere, die gewöhn-
lich von diesen getrennt werden, wie Clarke und Wollaston, ge-
hören nicht minder zu derselbigen Schule. Denn des ersteren an-
gemessene Behandlung der Dinge ist nichts als eine über den
Menschen hinaus erweiterte Sympathie. Wollaston aber setzt bei
den Sätzen, welche er aus den Handlungen zieht, überall das
Wohlwollen voraus, und einer Voraussetzung von der Ansicht,
nach welcher gehandelt worden, bedarf er, weil sonst aus einer
Handlung unzählige Sätze könnten gezogen werden. Und auch
nur in Absicht auf diese Einrichtung und Form des prüfenden Ver-
fahrens kann man sagen, daß er dem Kant vorangegangen. Wie
wenig Wert auch daher das den Engländern Gemeinschaftliche
haben mag, wie denn, wer einigen wissenschaftlichen Sinn in sich
hat, noch die gallikanische Darstellung vorziehen muß: so bleibt
ihnen doch der Ruhm, fast ausschließend unter den Neueren eine
Art von Schule zu bilden, welche sich noch mehr durch die An-
gemessenheit zur ganzen Denkart des Volkes als ein in wissen-
schaftliche Form gebrachtes Erzeugnis ihres gemeinschaftlichen
Verstandes bewährt.
IV. Um aber im Zusammenhange zu übersehen, wie jene
drei verschiedenen Gestalten der obersten ethischen Idee auch von
den Alten sind wahrgenommen und unterschieden worden, ist
folgendes zu bemerken. Zuerst nämlich, daß das Wort, welches
wir durch Glückseligkeit zu übertragen pflegen, wie es auch schon
in der gewöhnlichen Rede, aus der es herübergenommen ist, halb
gemein war und halb mystisch, so auch im Gebrauch der Schule
[111,1,117] Anhang. 119
leicht von jedem sich konnte angeeignet werden. Daher keines-
wegs derselbe Inhalt überall unterzulegen ist, sondern das Gleich-
förmige ist nur die Stelle des Begriffs im System. Wie denn offen-
bar der schwerscheinende Satz der Stoiker und des Epikuros,
von der Eudämonie des Weisen auch unter allen Martern, zwar
der Form nach bei beiden dasselbe bedeutet, dem Inhalt nach
aber etwas ganz Verschiedenes. Weshalb auch Epikuros zwar
dieses behaupten konnte, Aristippos aber es mit Aristoteles leugnen
mußte. Hier nun sind die meisten und unter ihnen auch Kant
durch das Wort getäuscht worden, und haben die Stoiker beschul-
digt, als hätten sie eine Summe von angenehmen Empfindungen
in ihrem höchsten Gut. Dann erdichteten sie sich weiter, wohl
der Zusammenstimmung wegen, einen noch weniger veranlaßten
Vorwurf gegen den Epikuros, als habe auch er eine Tugend, in
praktischem Sinne nämlich, in dem seinigen. Ferner, was die
Alten den Zweck nannten, auf den alles bezogen und um des-
willen alles gewählt wird, dieser Ausdruck wird nur bisweilen
uneigentlich für das höchste Gut gebraucht, und soll eigentlich
dasjenige bezeichnen, was für alle Handlungen gemeinschaftlich
der nächste Bestimmungsgrund ist bei der Wahl. Also dasselbe,
was in unserer Sprache das Gesetz genannt wird; nur daß die
Alten selten den Inhalt dieser Formel unabhängig darstellen, son-
dern zurückgeführt auf den Begriff der Güter oder der Tugend.
Hieraus sind mehrere teils schwer zu vereinigende Äußerungen,
teils offenbare Mißverständnisse späterer Berichterstatter am besten
zu verstehen. Wer aber aus der Übertragung des Marcus Cicero
dieses widerlegen wollte, der erinnere sich an mehrere solche
Unschicklichkeiten, wie er zum Beispiel das, was die Stoiker die
mittlere Pflicht nennen im Gegensatz der vollendeten, ganz ohne
Sinn als die angefangene dolmetscht. Endlich, indem die Alten
die Frage aufwerfen und beantworten, was denn um seiner selbst
und was um eines anderen willen gewählt werde, so übersehen
sie den großen Unterschied zwischen dem Zusammenhange des
120 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 118]
Teils mit dem Ganzen, und dem des Mittels mit dem Zweck,
und sagen auch von dem Teil in Beziehung auf sein Ganzes, er
werde um eines andern willen gewählt, ohne zu bedenken, daß
bei einer solchen Fortschreitung kein Übergang des Willens statt-
finde von einem Gegenstand zum andern, sondern vielmehr ein
standhaftes Verharren bei einem und demselbigen. Daher so
manche Sätze, die uns wunderlich erscheinen, zum Beispiel, daß
die Tugend um ihrer selbst, aber auch um des höchsten Gutes
willen gewählt werde. Daß sie aber die Idee des Weisen ganz
so gebrauchen, wie es der obigen Ableitung gemäß ist, dies er-
hellt fast aus allen Sprüchen, die in allen Systemen von ihm vor-
kommen, und wäre unnötig ausführlicher zu beweisen.
Zweites Buch.
Kritik der ethischen' Begriffe.
Einleitung.
Von der Methode, die ethischen Begriffe zu bilden, und
von der Art, wie die vorhandenen erscheinen.
Die untergeordneten Begriffe, wie verschieden sie auch sein
mögen, sowohl dem Umfange nach als in der Gestalt, können in
ihrer Beziehung auf das System nicht anders gedacht werden, als
daß sie durch Ableitung hervorgegangen sind aus der höchsten
Idee. Deshalb auch war es notwendig, die Prüfung von dieser
anzufangen, und dann erst zu den Begriffen, als dem niedrigeren,
herabzusteigen. Da es jedoch eine Dialektik gibt, welche für alle
Wissenschaften und so auch für die Ethik das Gegenteil behaupten
möchte: so ist diese zuvor mit wenigem zurecht zu weisen. Die
Behauptung nämlich geht in Beziehung auf unsem Gegenstand
dahin, daß die sittliche Idee selbst nur auf dem Wege der Ab-
sonderung gefunden worden, nachdem man an verschiedenen Arten
der Handlungen den Gegensatz zwischen dem einige derselben
begleitenden Beifall und dem den andern nachfolgenden Miß-
fallen beobachtet. Dieses aber selbst vorausgesetzt, da es eines-
teils eine lediglich geschichtliche Frage ist und als solche in
unsern Zweck nicht eingreift, in einem andern Sinne aber ge-
nommen höher liegt als die jetzige Untersuchung: so ergibt sich
doch daraus keineswegs das Gefolgerte. Denn wenn auch die
^ Ausgabe 1803 „sittlichen".
122 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre- [111,1, 120]
ethische Idee erst so hätte müssen gefunden werden, so entsteht
daraus ein Schein freilich, als ob jene Begriffe müßten früher
vorhanden sein, welcher jedoch selbst die Sache so weit erleuchtet,
daß jeder sieht, sie sind nicht ethische Begriffe gewesen, und
ethische Begriffe vor der Idee müssen auch bei dieser Ansicht für
Unsinn gehalten werden. Was nämlich jene Begriffe des Beifalls
und der Mißbilligung anbetrifft, so können sie freilich, insofern
sie zur Entwicklung der ethischen Idee hingeführt, ebenfalls
ethische gev^esen sein: allein eben insofern können sie auch nur
angesehen werden als Anwendungen dieser Idee, und als, wenn-
gleich unentwickelt, sie in sich enthaltend und auf sich beziehend.
Was aber die Arten und Abteilungen menschlicher Handlungen
betrifft, welche vor Beobachtung jener Merkmale gemacht worden:
so können diese nicht ethische gewesen sein, und es müssen viel-
mehr in ihnen sittliche und unsittliche Handlungen miteinander
vermischt gefunden werden. Wenn man zum Beispiel abgeteilt
hatte nach den Kräften, in Handlungen des Verstandes und Willens,
oder nach der Anschaulichkeit, in innere und äußere, oder nach
der Wirkung, in solche, die nur den Handelnden selbst, und solche,
die auch andere angehn, oder wie irgend sonst vor Auffindung der
sittlichen Begriffe : so ist weder einzusehn, wie diese Begriffe eher
in jenen kleineren Haufen hätten gefunden werden können als in
der großen gesamten Masse, und wie also in Beziehung auf sie
die Abteilungen anders als ganz zufällig sein können, noch auch
demgemäß, wie bei dieser Zufälligkeit solche Abteilungen über-
tragen werden können in das System der Ethik, so daß es richtig
wäre, in dieser zu unterscheiden zwischen beifälligen und miß-
fälligen Handlungen des Verstandes und Willens, oder gegen
sich selbst und andere. Vielmehr wäre von vornherein das Gegen-
teil zu vermuten, daß nämlich auf solche Art die sittliche Idee
nicht gliedermäßig, wie sie gewachsen ist, zerlegt, sondern wider-
natürlich müßte zerhackt und zerbrochen sein; indem ja das dia-
lektische Verfahren mit Bewußtsein gar nicht von ihr, sondern
[111,1, 121] II. Kritik der ethischen Begriffe. 123
von einem fremden Gebiet ausgegangen ist. Sollte es sich aber
dem ohnerachtet entgegengesetzt verhalten: so könnte doch dies
nicht anders bewährt und anerkannt u^erden, als indem das Ver-
hältnis dieser Begriffe zur höchsten Idee der Ethik dargelegt, und
sie dadurch aufs neue und regelmäßig gebildet w^ürden. Und nur
dann wäre ihre Stelle im System keiner Anfechtung ausgesetzt,
wenn sich hieraus ergäbe, daß sie durch reine Ableitung eben-
falls hätten können gefunden werden.
Welchen 1 etwa dieses noch zweifelhaft sein sollte, die mögen
bedenken, wie es selbst mit den natürlichen und sichtbaren Gegen-
ständen sich nicht anders verhält. So möchte jemand behaupten, man
habe lange zuvor, ehe die naturwissenschaftliche Idee eines tierischen
Körperbaues vorhanden gewesen, schon einzelne darunter gehörige
Begriffe gefunden, und unter mancherlei Abteilungen die lebenden
Wesen geordnet und zusammengestellt. Zweierlei aber wird den-
noch müssen zugegeben werden. Einmal, daß auch die roheren Ver-
suche dieser Art nicht im Geist einer echten Naturbeschreibung
gewesen; wie denn viele derselben, so wie die Behandlung sich
näher an jene Idee angeschlossen hat, wieder haben zerstört werden
müssen, und das gleiche Schicksal noch mehreren bevorsteht, je
genauer in Zukunft die Naturkenntnis alles für die höhere Wissen-
schaft bearbeiten wird. Andernteils aber, daß anderen, obgleich
in vollendeter Gestalt, jene Idee zum Grunde gelegen, und sie nur,
indem dieses vollkommener dargestellt worden, in der Wissen-
schaft mit Recht ihren Platz eingenommen haben. Ebenso nun
werden auch in der Ethik die Begriffe ihre wissenschaftlichen
Ansprüche nur behaupten können, wenn sie als aus der Idee
abgeleitet und ihr entsprechend anzusehen sind; und
dieses also ist der Maßstab, nach welchem sie in unserer Unter-
suchung müssen geprüft werden. Wenn nun bei Betrachtung der
verschiedenen Systeme eine Mehrheit von Begriffen sich darstellt:
so werden diese entweder alle gegeneinander sich verhalten wie
^ Absatz nicht im Original.
124 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 122]
obere und untere und gleichen untergeordnete; oder es werden
einige zu andern in diesem Verhältnis nicht stehen, so daß nicht
nur von Begriffen, sondern auch von Reihen eine Mehrheit zu
entdecken ist. Was zuerst diejenigen betrifft, welche unterein-
ander eine Reihe bilden, so ist zuvörderst der Einteilungsgrund
zu betrachten, welcher Gehalt und Umfang eines jeden bestimmt,
ob er aus der ethischen Idee oder dem mit ihr zugleich gegebenen
Gebiet ihrer Anwendung hergenommen ist. Ferner aber ist zu
bemerken, daß es in jeder Reihe zwei Arten von Begriffen geben
muß, wenn sie als geschlossen soll angesehen werden, von welchen
die einen möchten formale zu nennen sein, die anderen aber
reale. Jene nämlich sagen bloß eine Beziehung aus auf die sitt-
liche Idee, es sei nun allgemein oder mit Bezeichnung eines be-
schränkten Umfangs, und tragen eben in Hinsicht auf diesen Um-
fang das Merkmal der weiteren Teilbarkeit an sich. Soll nun
diese nicht ins Unendliche fortgehen: so muß zuletzt der Raum
dieser Begriffe ausgefüllt werden durch reale, solche nämlich, welche
nicht weiter als teilbar gedacht werden und ein Prinzip der Ein-
heit in sich selbst haben. Und dieses eben müßte bei ihnen be-
sonders noch geprüft werden, ob es ein sittliches ist oder ein
fremdartiges. So zum Beispiel wäre der Begriff der Tugend im
allgemeinen sowohl als auch besonders der geselHgen Tugend, ein
formaler und in Absicht auf seinen Umfang noch weiterhin teil-
bar. Als ein realer hingegen und unteilbar wird gedacht der
Begriff der Wohltätigkeit oder jeder andern bestimmten Tugend.
Geteilt freilich kann auch dieser werden, wie man sich denn
denken kann, eine Wohltätigkeit durch Mitteilung und eine durch
Handlung, und eine, welche sich auf das Äußere, und eine andere,
welche sicli auf das Innere bezieht. Indem er aber aufgestellt
ward als ein realer Begriff: so wird behauptet, daß jede solche
Teilung, wie nützlich sie auch sein möge zu irgendeinem Behuf,
dennoch den Vorbehalt mit sich führe, daß das eigentlich Sittliche
durch sie nicht weiter geteilt werde. Denn es wird vorausgesetzt,
daß, wer diese Tugend besitzt, sie aucK ganz besitze, und daß nicht
[111,1, 123] II. Kritik der ethischen Begriffe. 125
wieder Teile von ihr gedacht werden können, die als Tugenden
in der Wirklichkeit können abgesondert erscheinen; welches zum
Beispiel in dem obigen Begriff der geselligen Tugend, als einem
formalen, nicht war gedacht worden. Demnächst aber ist offenbar,
daß in einem System der Ethik mehrere Reihen von Begriffen
können und vielleicht sollen gefunden werden, indem aus jeder
von den verschiedenen Gestalten, unter denen die oberste Idee an-
getroffen wird, auch eine eigene Reihe von Begriffen muß abzu-
leiten sein. Weshalb auch darauf zu merken ist, auf welche von
diesen Gestalten eine jede Reihe sich bezieht, und ob alles, was
unter derselben enthalten ist, auch dieser Beziehung treu bleibt,
ohne zu verwildern und durch Vermischung auszuarten.
Wird! nun dieses angev/endet auf die verschiedenen Systeme,
welche vorhanden sind : so ergibt sich zuerst, daß die formalen Be-
griffe selbst, um so mehr, je weiter sie hinabsteigen, in einem jeden
verschieden sein müssen von denen in allen übrigen, und so auch
noch mehr die realen. Denn wie wäre es, was die letzten betrifft,
möglich, daß aus Ideen, die im Inhalt ganz verschieden sind, das
einzelne sollte gleich und ähnlich können entwickelt werden? Was
aber die ersten anbelangt, so ist ebenfalls klar genug, daß der ver-
schiedene Inhalt der Idee auch einen ganz verschiedenen Ein-
teilungsgrund geben muß, und daß in verschiedenen Systemen nur
etwa die allgemeinen Ausdrücke des sittlichen Bejahens und Ver-
neinens können dieselbigen sein. Vielleicht möchte jemand hier-
gegen einwenden, daß nicht die Idee selbst dürfte geteilt werden,
sondern vielmehr das ihr angewiesene Gebiet, und dieses könnte
ja in mehreren das nämliche sein, wie denn für dasselbe mehrere
den allgemeinen Ausdruck menschliche Natur miteinander gemein
haben. Aber auch diese wird ja, wenn die Idee anders ist, nach
einem anderen Grunde müssen geteilt werden; und gewiß wird,
dafern es folgerecht sein will, ein System, welches auf die bloße
Empfindung ausgeht, eine andere Teilung vornehmen, als das-
jenige, welches die Tätigkeit selbst sich zum Ziel setzt. Noch
* Absatz nicht im Original.
126 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 124]
weniger etwa würde der Einwurf besagen, es könne ja der all-
gemeine Begriff der Angemessenheit zur sittlichen Idee, ohne
Hinsicht auf den Gehalt von dieser, geteilt werden nach einem
logischen Prinzip, so wie etwa Kant uns aufstellt das Verzeichnis
der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten
und Bösen, woraus denn offenbar formale Begriffe entstehen,
welche in allen Systemen ohne Unterschied des Gehaltes ihrer
Forderungen müßten zu brauchen sein. Denn die Tafel selbst
zeigt genugsam das Gegenteil, indem darin bald unter einer Ab-
teilung vereinigt ist, was stattfinden kann in der Ethik, und was
nicht; bald Teilungen gemacht sind, welche ethisch gar keine Be-
deutung haben, bald durcheinander geworfen, was getrennt sein
sollte; so daß nicht Not ist, in Beziehung auf sie viel gegen die-
jenigen zu sagen, welche meinen, das Heil müsse überall zu
finden sein bei einem solchen Verfahren. Ja, Kant selbst erklärt
wörtlich" sowohl als durch die Tat, daß seine Absicht damit mehr
auf eine Annäherung der ethischen Begriffe von außen her ge-
gangen, als auf derselben Erfindung und Anordnung. Femer aber,
was die voneinander unabhängigen Begriffe betrifft, welche die
verschiedenen Reihen anfangen : so wäre zu untersuchen, wie voll-
ständig eine jede ausgeführt worden, noch mehr aber, ob auch
wirklich eine richtige Beziehung auf die entsprechende Gestalt der
höchsten Idee zugrunde gelegen. Demzufolge also müßte jedes
System seinen eigenen geschlossenen Kreis ethischer Begriffe
haben, durch welche der gesamte Umfang des sittlichen Gebietes
anders als bei andern geteilt, und durch andere reale Einheiten
ausgefüllt würde. Ja, in der vollständigen Ausführung müßte
dieser Kreis ein dreifacher sein, und wenigstens müßte die Prü-
fung das Unvollständige ergänzen, entweder darstellend oder nur
divinierend, indem von dem Geist und Wert einzelner Bruch-
stücke einer unvollendeten Reihe auf das übrige geschlossen würde.
Daß aber dieses ausführliche und mühsame Verfahren mit
dem Werte dessen, was bisher in diesem Teil der Sittenlehre
[111,1, 125] 11. Kritik der ethischen Begriffe. 127
geleistet worden ist, in keinem Verhältnis stehen würde, muß
teils schon aus den Schlußsätzen, welche das erste Buch ange-
deutet, erhellen, teils wird jede auch nur flüchtige Betrachtung
der eingeführten Begriffe selbst in ihrer Verbindung ohne Zweifel
darauf hinführen. Denn jenes muß gezeigt haben, um wieviel
weniger, als gewöhnlich gedacht wird, die ethischen Systeme in
ihren Grundideen sich voneinander scheiden, und wie fast keines
ohne ein tadelnswertes Hinschielen auf die andern zu finden ist;
welcher Vorwurf noch zum Überfluß gerade die ausgeführtesten
auch am schärfsten zeichnet. Wer aber diese ^ anstellen will, dem
kann es nicht entgehen, wie in der Tat die Verwirrung noch
größer ist, als sie im voraus sich erwarten ließ. Überall bis zum
Widerwillen zeigen sich dieselben Einteilungen und Begriffe ; auch
die Darstellungen, welche am meisten voneinander abweichen
sollten, borgen eine von der andern; und anstatt Eigenes zu ent-
wickeln, ist das systematische Bestreben so träge, daß es sich nur
begnügt, gegen einiges von dem Vorhandenen zu streiten, indem
es das übrige sich aneignet. Kurz, alles ist allen so gemein, daß,
wenn die historischen Spuren verwischt werden, niemand mehr
einen Grund haben kann, einiges mehr diesem, anderes mehr einem
andern System zuzuschreiben, und daß ganz von selbst der Ver-
dacht entsteht, daß allen diesen Ansichten und Begriffen ein
anderer als ethischer Ursprung zukommen möge. Da nun die Ver-
wirrung weiter herabwärts immer zunimmt, und in den für real
gehaltenen Begriffe so groß ist, daß nicht selten derselbe unter
mehrere ganz verschiedene formale gezogen wird: so scheint die
sicherste Art der Behandlung diese, daß beide Klassen gänzlich
voneinander gesondert, und zuerst die formalen Begriffe geprüft,
dann aber mit dem Licht, welches von hier aus auf sie fallen
muß, auch die realen beleuchtet werden.
* So schreibt Ausgabe 1846; es muß offenbar heißen: „dieses", wie auch
Ausgabe 1803 angibt
128 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 12Ö]
Erster Abschnitt.
Von den formalen ethischen Begriffen.
Pflichten, Gehen wir nun über zur Prüfung der formalen Begriffe der
Tugenden und 5;^j^j|^^ SO treten deren drei heraus vor allen übrigen, jeder eine
Reihe von andern unter sich, keiner aber dem andern unter-
geordnet; die Begriffe nämHch der Pflichten, der Tugenden und
der Güter, mit ihren Gegensätzen von Übertretungen, Lastern und
Übeln, und den sich auf sie und ihre Verhältnisse beziehenden
Nebenbegriffen. So nämlich, wie angedeutet ist, erscheinen sie im
ganzen; denn im einzelnen fehlt es auch hier nicht an Abwei-
chungen und an Verworrenheit. Wie zum Beispiel die Stoiker
zwar im allgemeinen Tugenden und Güter unterscheiden, und als
getrennte Abschnitte der Sittenlehre behandeln; dann aber doch
auch die Güter einteilen in Tugenden, und in solche, die es nicht
sind; so daß zu schließen ist, das nämliche Merkmal, wodurch
etwas als Tugend gedacht wird, nötige auch es zu denken als ein
Gut. Oder v/ie die Neueren mit den ihnen geläufigeren Begriffen
der Tugend und der Pflicht verfahren, welche sie zwar unter-
scheiden in allgemeinen Erklärungen sowohl als in der Art, wie
sie ganz anders jeden zu teilen pflegen; geht man aber weiter
ins einzelne hinab, so findet man nicht selten ganz das nämliche
als Pflicht und auch als Tugend aufgeführt. Sonach schiene es
wieviel Pflichten zu geben, soviel auch Tugenden, in beiden Be-
griffen gleiches zusammengefaßt, und durch beide das Sittliche
auf gleiche und genau entsprechende Weise geteilt. Ja höchst
seltsam und verworren werden oft beide durcheinander geworfen,
wenn zum Beispiel Garve, nachdem er gelehrt, die Klugheit sei
eine Tugend, dann zu vernehmen gibt, es sei die erste Pflicht des
klugen Mannes, daß er zugleich tapfer sei und besonnen, welches
doch selbst wieder andere Tugenden sind; so daß auf solche
[111,1, 127] II. Kritik der ethischen Begriffe. 129
Art beide Begriffe ganz ineinander geschoben werden. Doch
diese Verwirrung zeigt sich erst in den realen Begriffen, und
könnte also leicht nur ein Fehler der Ableitung sein, welche zur
Ungebühr genähert hätte, was entfernt bleiben sollte. Allgemeiner
aber und höher hinauf findet man dieses Ineinanderschieben bei
Kant, welcher die Frage aufstellt, inwiefern einer dieser Begriffe Kant,
vom andern könne ausgesagt werden, und sich darin mannig-
faltig und höchst undialektisch verwickelt. So hat er Pflichten,
welche Tugendpflichten sind, und solche, die es nicht sind, doch
aber ethische, dann auch allerlei, was zu tun Tugend sei, aber
nicht TugendpfHcht; und bald meint er, man könne sagen, der
Mensch sei zur Tugend verpfHchtet, bald wiederum, man könne
nicht sagen, es sei Pflicht die Tugend zu besitzen. Indes wird
weder diese Verwirrung noch die oben angeführte der Stoiker
jemanden bewegen, es müßte denn aus Trägheit zur Untersuchung
geschehen, zu glauben, weder daß beide Begriffe gleich oder einer
dem andern untergeordnet wären, noch auch daß einer oder beide,
wie sie denn freilich aus dem gemeinen Redegebrauch herüber-
genommen sind, etwas gar nicht in die Wissenschaft Gehöriges
bezeichneten. Vielmehr wird jeder überall, er gehe nun der Mehr-
heit der Andeutungen nach oder dem eigenen Gefühl, von dem
wesentlichen Unterschied sowohl als der gleichen Unentbehrlich-
keit beider überzeugt bleiben, und den Fehler nur in einer sich
selbst mißverstehenden Dialektik suchen, welche eben prüfend soll
zurechtgewiesen werden. Ferner erhellt, daß keiner von ihnen dem
andern untergeordnet ist, auch schon daraus, weil es Darstellungen
der Sittenlehre gibt, in denen einer von beiden gänzlich fehlt, indem
es undenkbar und der Natur zuwider ist, daß eine Wissenschaft
mitten in der Reihe der ihr zugehörigen Begriffe sollte anfangen
oder aufhören können. Ihren wesentlichen Unterschied nun und
ihre gleiche Ursprünglichkeit vorausgesetzt, entsteht um so mehr,
da sich kein vierter Begriff findet, welcher den gleichen Rang be-
haupten wollte, der Gedanke, daß jeder von ihnen einer andern
Schleiermacher, Werke. I. 9
130 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, [111,1, 128]
Form der ethischen Idee entspricht, und als oberster seiner Art
das Sittliche überhaupt bezeichnet, insofern es auf jene Form sich
bezieht. Demnach müßte in allen ethischen Systemen ihr Ver-
hältnis gegeneinander dieses sein, daß keiner dem andern mit
Recht untergeordnet wäre, noch auch so beigeordnet, daß sie unter
sich den Umfang des sittlichen Gebietes teihen und auf diese
Weise einer den andern ergänzte. Denn in diesem Falle müßten
sie sämtlich einem andern nur nicht ausgesprochenen als seine
Teile untergeordnet sein. Sondern so vielmehr, daß jeder das
Sittliche überhaupt und im allgemeinen bezeichnet, und es in
seinen Unterabteilungen ganz aber nach einem andern Prinzip so
teilt, daß, wie weit auch die Teilung fortgesetzt werde, die Teile
des einen nie zusammenfallen mit denen des andern. Wie etwa
der Geometer eine Kreisfläche teilen kann, wenn er auf die Teil-
barkeit des Halbmessers sieht, in konzentrische Ringe, sieht er
aber auf die Teilbarkeit der bildenden Bewegung, in Ausschnitte;
und bei keiner von diesen Teilungen können jemals durch Kon-
struktion nach ihrem Gesetz dieselben Teile herauskommen, als
bei der andern. Ob nun jene Beziehung auf eine bestimmte Form
der obersten Idee festgehalten worden, ob ferner dieses Verhält-
nis nicht verletzt ist, und ob die weiteren Teilungen der Begriffe
ihrer ursprünglichen Bildung entsprechen, dieses sind die Gegen-
stände der mit ihnen vorzunehmenden Prüfung.
1.
Vom Pflichtbegriff.
Von dem Begriffe der Pflicht zuerst ergibt sich aus allen
Erklärungen, welche einigen Bestand haben, daß er das Sittliche
bezeichnet in Beziehung auf das Gesetz. Das Gesetz bezieht sich
unmittelbar auf die Tat, und jede Frage nach der Pflicht ist eine
Frage nach dem Sittlichen in einer bestimmten Tat. Was also
in diesem Sinn irgenwo vorkommt, das ist unter diesen Begriff
gehörig und hier mit in Untersuchung zu ziehen. So erklärt
[111,1, 129] II. Kritik der ethischen Begrifife. 131
Kant die Pflicht als die durch das Gesetz bestimmte Notwendig-
keit einer Handlung. So auch wird Pflicht sein, was die Stoiker
sehr verständlich erklären als dasjenige, was, wie es im Zusammen-
hange des Lebens gehandelt wird, eine vernunftmäßige Verteidi-
gung zuläßt. Das Vernunftmäßige nämlich ist, was durch Be-
ziehung auf das Gesetz gefunden wird ; das erstere Merkmal aber
deutet sehr vortrefflich die Art an, wie überall allein die Pflicht
kann ans Licht gebracht und bestimmt werden. Ebenso ist es
eine Frage nach der Pflicht, wenn gefragt wird, ob in der Schlacht
den Freund zu verlassen schön sei oder schändlich, wie die
Alten sagten, recht aber oder unrecht, wie wir sagen würden,
denn auch dieses Wort drückt in unserm Gebrauch nicht eine
rechtliche Beziehung aus, sondern eine sittliche. Daß nun dieser
Begriff ein rein formaler ist, und seinen Inhalt erst erwartet, auf
der einen Seite von dem Inhalte des Gesetzes, auf der andern
aber von dem Inhalte des Gebietes der Handlungen, worauf es
soll angewendet werden, dieses ist deutlich. Und wenn Kant
nur das für heilig hält, was dem Gesetz wie es von ihm aufgestellt
und erkannt worden, entspricht: so hat er nicht Ursache, also
begeistert, wie er tut, den Namen der heihgen Pflicht anzurufen.
Denn wenn gleich in den Darstellungen der auf die Empfindung
und den Genuß ausgehenden Sittenlehre wenig die Rede ist von
der Pflicht: so hat dennoch dieser Begriff auch dort seine Stelle,
weil ja der Gegenstand des Triebes auf eine auch der Idee
jener Ethik angemessene oder widerstreitende Art kann behandelt
und jeder Augenblick auf diese oder jene Art ausgefüllt werden.
Weiter aber als diese möchte wohl keine Sittenlehre von dem
Begriff der Pflicht entfernt sein, so daß hieraus seine allgemeine
Gültigkeit hinlänglich erhellt. Was aber das Verhältnis desselben
zum Begriff der Tugend betrifft, dieses bezeichnen die Stoiker
sehr bestimmt, indem sie sagen, daß in jeder pflichtmäßigen
Handlung alle Tugenden müssen vereinigt sein, woraus auch
umgekehrt folgt, daß dieselbe Tugend bei sehr verschiedenen
Q*
132 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 130]
Pflichten geschäftig ist; welches beides zusammen die Verschieden-
heit der Beziehung und des Inhalts beider Begriffe in dem hell-
sten Lichte darstellt. Unter den Neueren hingegen pflegt dieser
Unterschied dadurch bezeichnet zu werden, daß dem Sittlichen, in-
sofern es auf die Pflicht bezogen wird, Gesetzmäßigkeit, insofern
es aber der Tugend angehört, Sittlichkeit zugeschrieben wird in
einem engeren Sinne. Welches bei weitem nicht so deutlich ist,
sondern vielmehr eine verderbliche Mißdeutung zuläßt. Denn nicht
wenige verstehen dieses so, als könnte eine Handlung gesetz-
mäßig sein in ethischem Sinne, also entsprechend dem Begriff der
Pflicht, dennoch aber nicht hervorgegangen aus der sittlichen Ge-
sinnung; woraus folgen müßte, daß dem Pflichtbegriff noch ein
außerhalb des Sittlichen gelegenes Gebiet unterworfen wäre, und
er also kein ethischer sein könnte. Vielmehr könnte eine solche
Handlung nur durch einen falschen Schein mit dem Gesetz zu-
sammentreffend gefunden werden, welcher sogleich verschwinden
müßte, wenn sie wirklich ethisch bezeichnet würde, nämlich nach
den Maximen, welche dabei in Vergleichung gekommen. Setzet
etwa, um eines von jenen abgetragenen Beispielen zu wählen,
es habe einer ein anvertrautes Gut, so er ohne Gefahr hätte zu-
rückbehalten mögen, dennoch erstattet, um hernach durch Dar-
legung dessen, was in seiner Gewalt gestanden, sich im Besitz des
Vertrauens zu befestigen: so ist diese Handlung ethisch nicht
anders auszudrücken, als er habe den größeren, wenngleich ent-
fernteren Vorteil dem geringeren vorgezogen. Wo nun, wie in
manchen eudämonistischen Sittenlehren, der Vorteil das Gesetz
ist, und die Enthaltsamkeit eine sittliche Gesinnung, da ist sie
sowohl gesetzmäßig, als auch sittlich; wo aber wie in den rein-
tätigen Sittenlehren der Vorteil kein ethischer Zweck ist, da wird
sie auch nicht mehr gesetzmäßig sein, als sie tugendhaft ist, denn
es ist nach einer Regel gehandelt, welche gar keine Stelle ein-
nimmt, und der scheinbar ethische Ausgang beruht nur auf einem
veränderlichen Verhältnis. Daher ist offenbar, daß, wenn dem
[111,1, 131] II. Kritik der ethischen Begriffe. 133
Pflichtbegriff die Gesetzmäßigkeit, dem Tugendbegriff aber die
Sittlichkeit im engeren Sinne zur Seite gestellt wird, dieses kein
Gegensatz sein soll, als ob beide in der Wirklichkeit könnten ge-
trennt sein, sondern nur ein Hinwegsehen in der Betrachtung.
Denn bei gleicher Beziehung auf das Gesetz, welche nur sein kann
Bejahung oder Verneinung, findet statt eine verschiedene Be-
ziehung auf die Kraft, welche kann größer gewesen sein oder
geringer, um die entgegenstehenden Antriebe zu überwinden. Auch
dieses bezeichneten die Stoiker, ohnerachtet sie keine Grade der
sittlichen Kraft annehmen wollen, wie denn oftmals ihre Dialektik
besser ist als ihre Grundsätze. Nämlich dieselbe Handlung, welche
sie in Beziehung auf das Gesetz Pflicht nennen, nennen sie in
Beziehung auf die Kraft und Gesinnung, je nachdem der Weise
sie verrichtet hat oder der andere, in jenem Falle eine richtige
oder vollendete Tat, in diesem ein Schickliches im niedrigen oder
zweideutigen Sinne. Daß dies der Sinn ist von den beiden hier
gemeinten und oft mißverstandenen Ausdrücken, muß jedem ein-
leuchten; wiewohl der letztere von einigen noch in einer andern
verwandten Bedeutung gebraucht worden, um nämlich Bestim-
mungen anzudeuten, welche gefaßt worden in Beziehung auf die-
jenigen Dinge, von denen die vollkommene sittliche Gesinnung
ihrer Behauptung nach nicht soll bewegt werden. Wenn aber
Garve hiermit die ehemaligen Tugenden der Heiden vergleicht, so
ist ihm dieses zu verzeihen, da er dem Marcus Cicero folgt, welcher
hier alles verwirrt hat, weil er, zur unglücklichen Stunde wie
immer, vom Panaitios absitzend sein eignes ungelerntes Roß
bestiegen hat. Kant indes hat offenbar von dem richtigen Wege
weit abweichend und, wie es ihm leicht und oft begegnet, das
Juridische mit dem Ethischen verwechselnd, die Gesetzmäßigkeit
und die Sittlichkeit als Gegensatz genommen, und sich dadurch,
wovon auch die Spuren sich überall offenbaren, den ganzen Pflicht-
begriff, den einzigen mit dem er noch umzugehen weiß, ebenfalls
verdorben. So zum Beispiel wird es ihm nun zu einer besondern
134 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 132]
Pflicht, daß alles aus Pflicht geschehen müsse, und noch zu einer
anderen besonderen, daß man sich auch die Erfüllung aller Pflichten
zum Zweck mache, und zwar, um die Verwirrung recht groß zu
machen und die juridische Beschaffenheit seiner Ethik ganz auf-
zudecken, beide zu solchen, bei denen wir nur zur Maxime ver-
bunden sind, jede wirkliche Ausübung aber verdienstlich ist, wel-
ches heißt, über die Nötigung des Gesetzes hinausgeht. Wie
nun dieses, wenn anders die ethische Gesetzmäßigkeit entsprechen
muß der ethischen Gesetzgebung, mit seinem Begriff von der
letzteren zu vereinigen ist, daß sie nämlich die sei, welche die
Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, das mag er selbst recht-
fertigen. Andern aber muß hieraus klar sein, wie der Begriff der
Pfhcht bei ihm ein solcher ist, welcher der Sittenlehre vorangeht,
herüber genommen nämlich aus der ganz unbefugt abgesonderten
Theorie des Rechtes. Ebenso unnatürhch sondert Fichte beides
ab, und scheint auf dem gleichen Irrwege zu sein, indem er sagt, es
könne bei der freien, nämlich nicht nur formal, sondern auch
material freien Handlung gefragt werden nach dem Was und
nach dem Wie, oder nach der Form und nach der Materie, wel-
ches wechselnd ins Unendliche spielen zu wollen scheint. Unnatür-
lich aber ist es bei ihm ; denn was nicht auf die rechte Art ge-
handelt worden ist, das liegt auch nicht in seiner Reihe der sitt-
lichen Annäherung, und es kann nicht auf die rechte Art sein ge-
handelt worden, wenn nicht nach ihr gefragt worden ist. Eigent-
lich also ist, wie es auch sein muß, das Was und das Wie un-
zertrennlich verbunden, so daß, wenn nur das erste richtig be-
zeichnet ist, über das letzte keine Frage mehr stattfindet, und auch
aus dem Wie, wenn nur die Momente der Handlung bekannt sind,
das Was sich von selbst ergeben muß. Wie aber überhaupt bei
Fichte der juridische Charakter nicht so stark und kenntlich aus-
geprägt und überall auf der Oberfläche verbreitet ist: so hat auch
dieser falsche Zug bei ihm nicht so viel verwirrende Folgen.
Wenn nun der Pflichtbesriff ferner seine Stelle als erster
Erlaubten.
1.
[111,1, 133] II. Kritik der ethischen Begriffe. 135
seiner Art und als allgemeine Bezeichnung des Sittlichen würdig Universalität
behaupten soll: so muß er es auch ganz umfassen und auf jede ^^^ Pflicht.
Handlung seine Anwendung finden. Denn daß diese Allgemein-
heit gewiß der Idee zukommen muß und ihr bald nichts übrig
bleibt, wenn erst einiges ihr entzogen ist, dieses ist schon oben
mit Wenigem erwähnt; hier aber muß davon mit Beziehung auf
den Begriff auf andere Weise gehandelt werden, indem der Fall
sich denken läßt, daß der Grundsatz selbst in seinem Inhalt eine
solche Beschränkung nicht bei sich führe, und sie ihm nur bei der
Anwendung aus Schuld der Begriffe aufgelegt werde. Derjenige
Begriff nun, welcher überall, wo er als ein wirklicher und posi-
tiver in die Ethik eingeführt wird, eine solche fehlerhafte Be-
schaffenheit des Pflichtbegriffs anzeigt, ist der Begriff des Er- Begriff des
laubten. Daß dieser, so gedacht wie jetzt bestimmt worden, ein
widersprechender sei, ist nicht schwer einzusehen. Denn er geht
in Absicht auf seinen Inhalt doch immer auf dasjenige, was inner-
halb des sittlichen Gebietes liegt; — oder würde es etwa nicht
lächerlich und als eine falsche Anwendung des Begriffs erscheinen,
wenn jemand zum Beispiel fragen wollte, ob es erlaubt sei, zu
verdauen? — von diesem aber sagt er aus, daß es sittlich nicht
bestimmbar sei, so daß offenbar die Bestimmung und das Be-
stimmte darin einander aufheben. Wie er nun dennoch in die
meisten Darstellungen der Sittenlehre Eingang gefunden, dieses
ist auf eine zwiefache Art zu erklären. Zuerst daraus, daß er
allerdings in der Anwendung der Ethik im Leben seine Bedeutung
hat; aber nicht als ein positiver, sondern nur als ein negativer
Begriff. So nämhch, daß er besagt, eine Handlung sei noch nicht
so in ihrem Umfang und mit ihren Grenzen vollständig auf-
gefaßt, daß ihr sitthcher Wert könne bestimmt werden. Denn
zufolge des oben schon Gesagten steht die ethische Idee, gleich-
viel, welchen Gehalt man ihr unterlege, mit einer Handlung, in-
sofern diese nur entweder eine Bewegung des Gemütes oder eine
Veränderung in der Sinnenwelt ist, unmittelbar in gar keinem
136 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 134]
Verhältnis; und von jeder Handlung, solange sie nur so aus-
gedrückt ist, muß gesagt werden, daß sie erlaubt ist, das heißt,
daß es Bestimmungen geben könne, unter welchen sie dem Gesetz
gemäß, und andere, unter denen sie demselben zuwider sein wird.
Ja, dieses gilt von dem Vernichten eines menschlichen Lebens
nicht minder als von dem Essen einer Auster. Denn daß im ge-
meinen Leben auch solche noch nicht geschlossene Formeln bald
erlaubt, bald unerlaubt genannt werden, je nachdem sich dem
Gemüt mehrere verneinende oder bejahende Bestimmungen dar-
bieten, dieses hat auf den wissenschaftlichen Wert des Begriffs
keinen Einfluß. Wogegen zum Beispiel in der Formel, der Lust
nachgehn mit Verabsäumung des Berufs, eine für die praktische
Ethik wenigstens hinreichende Bestimmung liegt, oder in der
ganz einfach scheinenden des Stehlens schon enthalten ist die Ver-
nichtung der vorhergegangenen Anerkennung des Eigentums, und
hier also ist der Begriff des Erlaubten nicht mehr anwendbar.
Woraus sich ergibt, daß er in wissenschaftlichem Sinn nur besagt,
die Bezeichnung einer Handlung sei, zum Behuf nämlich ihrer
sittlichen Schätzung, noch nicht vollendet und stehe also auf
einem Punkt, auf welchem sie nicht könne stehenbleiben; so daß
dieser Begriff keineswegs eine Bestimmung enthält, sondern nur
eine Aufgabe. Wird er aber so verkannt, daß beides verwechselt,
und geglaubt wird, er könne wirklich etwas ethisch bestimmen:
so ist zu vermuten, daß die Begriffe des Rechten und Unrechten,
denen er fälschlich beigeordnet und zwischengeschoben wird, eben
so verkannt sind, und daß sich in den Formeln, welche das Pflicht-
mäßige angeben sollen, Vernachlässigung der sittlichen Grenz-
und Größenbestimmung finden, welche es rechtfertigen, daß neben
diesem Begriff der ganz leere des Erlaubten hingestellt werde.
Wer zum Beispiel nicht nur wie jeder behauptet, es sei erlaubt,
Austern zu essen, sondern auch sich einbildet, hiermit ethisch etwas
bestimmt zu haben, so daß nun über die Frage nichts mehr zu
sagen wäre, von dem ist zu glauben, daß auch seine Formeln zu
111,1, 135] II. Kritik der ethischen Begriffe. 137
Bezeichnung des Pflichtmäßigen in der Ernährung des Körpers
und im Gebrauch der Naturdinge müssen unzureichend sein. Denn
wären sie bestimmt, so könnte ihm nicht entgehn, daß jene Hand-
lung in jedem einzelnen Fall unter eine von diesen Bestimmungen
fallen müsse, bald unter die bejahende, dann unter die verneinende,
und daß sie demnach müsse weiter konstruiert werden. Wollte
aber jemand sagen, der Begriff des Erlaubten sei einzuschränken
auf diejenigen Gegenstände, welche zu geringfügig wären, um
jedesmal diese weitere Bestimmung vorzunehmen: so wäre dieses
ja offenbar sehr unwissenschaftlich, weil vor dieser Bestimmung
niemand über die sittliche Größe und Bedeutsamkeit der Hand-
lung etwas behaupten kann. Dieses haben besonders die Stoiker,
deren gleichgültige Dinge nicht an diesen Ort gehören, vortreff-
lich eingesehen, und jedes Mittel zwischen Pflicht und Über-
tretung verworfen. Ja, indem sie denselben Ausdruck, durch wel-
chen sie vollkommenste sittliche Handlung bezeichnen, auch mit
den unbedeutendsten Erfolgen zusammengesellen, und ein voll-
kommen sittliches Spazierengehen oder Fragen und Antworten
und mehr solches annehmen: so bezeugen sie vortrefflich, daß die
Anwendung des Gesetzes auf eine Handlung mit der scheinbaren
Größe derselben in keiner Verbindung stehe. Denn wenn doch
auch sie sagen, es gebe Handlungen, die weder Pflichten wären
noch Übertretungen: so haben sie nur dialektisch die leere Stelle
bezeichnen gewollt. Wie sie denn auch selbst sagen, daß sie sie
nur mit dem Unbestimmten ausfüllen; denn das einzelne, welches
sie hinsetzen, ist dasselbe, worin sie auch ein vollkommen Sitt-
liches annehmen, das Fragen nämlich, das Antworten und der-
gleichen. Daß also die erste Entstehung des mißverstandenen Be-
griffs des Erlaubten von übler Vorbedeutung sei für den Pflicht-
begriff überhaupt, ist deutlich aus dem Gesagten. Die zweite aber 2.
ist die schon als verderblich anerkannte Verwechslung des Sitt-
lichen mit dem Rechtlichen. Denn dieses letztere nimmt sich nicht
heraus, eine Sphäre des menschlichen Handelns auszufüllen, son-
138 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 136]
dem vielmehr nur einiges aus derselben auszuschließen; und so
muß natürlich dort, eben weil der Begriff der Pflicht ein negativer
ist, der des Erlaubten ein positiver sein. Wird nun dieses letztere
auf das Sittliche übergetragen, so wird auch das erste müssen mit-
genommen werden; und wer, wie Kant unstreitig abermals aus
Schuld dieser Verwechslung, sogar ein Erlaubnisgesetz auf dem
Gebiet der Ethik aufstellen will, von dem ist zu besorgen, daß er
auch den Begriff der Pflicht seines wahren Gehaltes berauben,
und ihn in einen beschränkenden und negativen verwandeln werde.
Doch dieses schließt sich an die Art, den Pflichtbegriff einzuteilen,
welche jetzt soll untersucht werden.
Einteilung Zuerst fällt in Beziehung auf die geahndeten Mängel in die
der Pflichten, ^^gg^ ^jig j3gj ^jgj^ Neueren fast allgemeine Einteilung der Pflicht
vollkommene ° o ^
— unvoll- in die vollkommene und unvollkommene; welcher, wiewohl sie von
kommene. Verschiedenen verschieden erklärt, doch überall derselbe Begriff
zum Grunde liegt, und dieselben Verfälschungen des Pflichtbe-
griffes nachfolgen. Denn einerseits wird die unvollkommene Pflicht
erklärt als diejenige, welche sich durch andere einschränken läßt,
die vollkommene aber als die, welche dies nicht erleidet; womit
jene andere Erklärung in Verbindung zu setzen ist, die unvoll-
kommene Pflicht sei die, in Ansehung deren ein jeder, nicht wie
bei der vollkommenen unmittelbar zur Handlung, sondern nur die
Maxime zu haben verbunden sei, offenbar jener möglichen Be-
schränkung wegen. Hier nun ist zuförderst die Nichtigkeit der Ein-
teilung leicht zu erkennen, wie auch das damit verbundene Miß-
verständnis des Pflichtbegriffs. Denn aus dem bisher Gesagten
muß jedem deutlich sein, daß jede Pflichtformel mit einem
Handeln auch zugleich seine Grenzbestimmung aus-
drücken muß. Pflicht nämlich ist Bezeichnung des
Sittlichen in einer Tat; in dieser aber ist es nicht unmittelbar,
sondern nur durch Beziehung auf die Gesinnung zu erkennen;
welche Beziehung wiederum nur erscheinen kann in der Beschrän-
kung und Bedingung, die daraus entsteht, daß nicht das Tun selbst.
[111,1, 137] II. Kritik der ethischen Begriffe. 139
sondern das Sittliche in demselben angestrebt ward. Wesentlich
also ist jeder Pflichtbegriff Konstruktion des Sittlichen durch Orenz-
bestimmung des Handelns; und eine Formel, die ein bloßes Han-
deln ausdrückt ohne solche Grenzbestimmung, ist keine Formel für
eine Pflicht. Eine solche zum Beispiel ist die, wenn gesagt wird, es
sei Pflicht, das Leben zu erhalten; denn unter diese Formel läßt
sich, wenn nicht das Wie, Wodurch und Wenn bestimmt ist, viel
Unsittliches unterbringen. Hiergegen freilich erhebt sich ein Schein
aus den Rechtspflichten, bei denen dieses nicht stattfindet, und
welche überall mehr als sonst irgend etwas die Abteilung der voll-
kommenen Pflichten ausfüllen. Diese aber im ethischen Sinne be-
sonders zu betrachten und ihnen den Namen eigener Pflichten zu-
zugestehen, möchte sehr bedenklich sein, da nichts Sittliches durch
sie gesetzt und bestimmt, sondern nur ein Unsittliches bezeichnet
wird. Ja sie sind ethisch angesehen gar nichts für sich Bestehendes,
sondern nur Teile der Analyse irgendeiner ihnen in Hinsicht auf
diesen Charakter unähnlichen Pflicht; so daß man sagen kann, sie
haben nur den Wert von technischen Regeln für die richtige Aus-
fühmng eines anderweitig Beschlossenen. So wenn die Pflicht er-
wiesen und anerkannt ist, ein Eigentum zu stiften, ist es nur eine
technische Bemerkung für den Unverständigen und Unbedacht-
samen, daß er nicht durch einzelne Handlungen, ohne zu merken,
daß sie jener Pflicht angehören, die Einrichtung verletze, und das
pflichtmäßig Gehandelte wiederum aufhebe. Auf ähnliche Art nun
weisen sie alle hin auf eine andere Pflicht, und zwar größtenteils
auf die, einen Rechtszustand hervorzubringen, oder, welches gleich-
viel ist, durch fortgesetzte Hervorbringung zu erhalten. Deshalb
wird auch bei den Alten dieser Pflichten in der Ethik so gut als
gar nicht erwähnt, weil bei ihrer mehr öffentlichen und tätig
bürgerlichen Lebensweise das Bev/ußtsein von der fortgesetzten
Hervorbringung des gesellschaftlichen Zustandes zu lebhaft war,
um solcher Vorsichtsregeln zu bedürfen. Diese Pflicht aber, den
Rechtszustand wirklich zu machen, ist ebenfalls eine solche, die
140 Grundlinien einer Kritiic der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 138]
nur durch Grenzbestimmung als Pflicht auszudrücken ist, indem
es auch in Beziehung auf sie ein Wenn gibt, und Wie und mit
Wem. Und nach eben der Regel müßte eine große Menge anderer
Handlungen abgesondert werden, welche Aristoteles zusammen-
faßt unter dem Titel solcher, über welche nicht mehr beratschlagt
wird, weil sie nicht ein neues und frei beginnendes Tun sind,
sondern nur ein notwendiges Fortsetzen eines andern, in welchem
die Seele noch begriffen ist. So, sagt er, wird keiner, der sich'
einmal als Arzt gesetzt hat, noch darüber beratschlagen, ob er
einen Kranken heilen solle; denn dieses ist mitgesetzt in jener Tat.
Auch haben hierauf einige Alte, wie der peripatetische Eudoros,
eine Einteilung gegründet in zusammengesetzte und nicht zu-
Einfache — sammengesetzte Pflichten, und den ganzen Ort vom Beruf und der
besetzte Lebensweise unter die ersten gebracht. Diese Einteilung nun ist
Pflichten, freilich folgerechter als die der Neueren: dennoch aber ist es
ethisch genommen kein wesentlicher Unterschied, ob die Voll-
bringung einer Handlung in einem ungeteilten Moment geschieht
oder nicht, und ob sie sich in gleiche Teile zerfallen läßt oder nicht,
sondern nur ein willkürlich angenommener zwischen Anfang und
Fortsetzung. Wenn also, was von der Einschränkung gesagt wird,
welche die unvollkommenen Pflichten erleiden, sich hierauf be-
ziehen soll, und andeuten, daß es ihnen, wie sie im System auf-
gestellt sind, an dieser Grenzbestimmung fehle, welche erst für
jeden einzelnen Fall besonders müsse gefunden und hinzugetan
werden, gleichsam wie ein flüchtiger Bestandteil, welcher einer
Zusammensetzung besser erst im Augenblick des Gebrauches bei-
gemischt wird: so ist nach dem Obigen gerade dieser Bestandteil
der eigentlich ethische, und Formeln, denen er fehlt, sind gar keine
Pflichtformeln. Ja, da sich nun auch die sogenannten vollkom-
menen lassen auf jene zurückführen, so würde durch die so ver-
standene und erklärte Einteilung am Ende gesagt, daß gar keine
Pflichtformel könne aufgestellt werden. Ist es damit aber anders
und buchstäblich so gemeint, daß eine Pflicht durch die andere soll
[111,1, 139] II. Kritik der ethischen Begriffe. 141
eingeschränkt werden : so ist ja klar, daß die Formel, welche die
Einschränkung erleidet, keine Pflichtformel kann gewesen sein.
Denn es wird der abgestoßene und ausgesonderte Teil ihres
Gebietes gesetzt als der einschränkenden Pflicht entgegen, und also
als pflichtwidrig, und die Formel enthält demnach Sittliches und
Unsittliches vermischt. Noch auffallender auf eine andere Art ist
der Widerspruch, wenn Kant behauptet, daß dennoch nur die un-
vollkommenen Pflichten den eigentlichen Inhalt der Ethik aus-
machen. Denn sollen nun die einschränkenden Pflichten Rechts-
pflichten sein: so gerät er auf eine im Kreise herumgehende Unter-
ordnung der Ethik unter eine andere Disziplin, wogegen jene sich
immer sträubt; sollen sie aber auch unvollkommene sein: so ent-
steht ein Unbestimmtes, welches bestimmt werden soll durch ein
anderes in gleicher Hinsicht Unbestimmtes, auf welche Weise denn
nichts möchte bestimmt werden. Es wäre auch dieses Beschränkt-
sein einer Pflicht durch die andere nichts anderes als ein Wider-
streit der Pflichten gegeneinander; wie denn auch fast ausschließend
diejenigen, welche eine Einteilung in vollkommene und unvoll-
kommene Pflichten zulassen, einen solchen einführen in die Sitten-
lehre, andere aber nicht. Ein Widerstreit der Pflichten aber vv^äre
widersinnig, und nur zu denken, wenn die Pflichtformeln auf jene
Art unbestimmt ihrem Begriff nicht Genüge leisten. Denn es
können zwar die rohen Stoffe des Sittlichen, die Zwecke nämlich
und Verhältnisse, in Streit geraten, welche auch deshalb als ethisch
veränderlich und bildsam gesetzt werden; die Pflicht aber als
die Formel der Anwendung einer und derselben Regel des Ver-
änderns und Bildens kann auch nur eine sein und dieselbige.
Wird nun dieses Beschränken der PfHchten hinweggenommen: so
kann es auch nicht ferner Pflichten geben, in Ansehung deren
jeder nur zur Maxime verbunden wäre, nicht aber zu irgendeiner
bestimmten Tat. Denn eben dieses wird alsdann das Merkmal
der PfHcht, daß die Handlung an ihrer Stelle nicht kann über-
gangen werden, ohne zugleich die Maxime aufzugeben. Auch
142 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, [111,1, 140]
wäre eine solche Behauptung ein Beispiel, an welchem sich zeigen
ließe, wie in der Ethik ein Hauptbegriff dem andern und der
Behandlung nach demselben kann zum Prüfstein dienen. Denn
setzet eine solche beschränkbare PfHcht und suchet die Gesinnung,
welche das Bewußtsein der Verbindlichkeit dazu enthält. Diese,
wenn sie der Maxime entspricht, wird nicht sittlich sein, weil sie
mit derselben auch auf das jenseits der Schranken gelegene Un-
sittliche gehen würde; wenn sie aber in den Schranken notwendig
festgehalten wird: so bezieht sie sich auch eigentlich auf das
Prinzip der Beschränkung, mit welchem ja sie anfängt und auf-
hört, auf die Maxime aber nur zufällig und nicht unbedingt. Und
so muß allemal ein unrichtiger Pflichtbegriff auch den Tugend-
begriff verderben, ein richtiger Tugendbegriff aber auch den Pflicht-
begriff erretten und verbessern. Andererseits wird von vielen der
Unterschied zwischen den vollkommenen und unvollkommenen
Pflichten darin gesetzt, daß bei den ersteren ein jeder die Ver-
bindlichkeit zu beurteilen imstande sei, bei den letzteren aber nur
der Handelnde selbst. Hierbei nun haben offenbar als voll-
kommene Pflichten ebenfalls die Rechtspflichten vorgeschwebt,
bei welchen freilich einem jeden die Handlung vor Augen liegt,
welche widersprochen und aufgehoben wird durch deren Ver-
letzung. Bei den unvollkommenen aber ebenfalls die Unbestimmt-
heit der Formeln. Denn wenn einer dem andern nur eine solche
vorlegt, die Angaben aber, welche sich auf den vorliegenden Fall
beziehen, zurückhält: so ist dieser nicht imstande, die Beschrän-
kung nach dem ethischen Prinzip wirklich zu vollziehen. Wogegen,
wenn diese mit vorgelegt werden, ein jeder ebensogut als der
Handelnde selbst muß entscheiden können, wenn nicht etwa, wie
Kant bisweilen zu wollen scheint, ein Erlaubnisgesetz angenommen
wird, welchem zufolge auch andern der ethischen Idee fremden
Beweggründen ein Spielraum vergönnt wird. Woraus aber nur
erheilt, wie wenig dieser Sittenlehrer sich auf dem von ihm selbst
als ethisch abgesteckten Gebiet, dem rein praktischen nämlich, zu
[111,1, 141] II. Kritik der ethischen Begriffe. 143
behaupten weiß, sondern sich fast nur abwechselnd bald auf dem
mechanischen des bloßen Rechts, bald auf dem in seinem Sinne
nur pragmatischen der Glückseligkeit und Klugheit befindet. G a rve
aber, welcher logischen Sinn genug hatte, um sich da, wo überall
nichts Bestimmtes und Gesundes kann gesagt werden, wenigstens
nicht mit einem Merkmal zu begnügen, und so eben durch das
Anhäufen die Verwirrung kund tut, dieser fügt dem angeführten
Merkmal noch ein anderes als unterscheidend bei, nämlich die
Nützlichkeit der Maxime für die Gesellschaft. Wie nun dieses im
Kreise herumgehe, und den Einteilungsgrund auf eine einzelne
Pflicht zurückführe, ist nicht Not zu erwähnen. Überdies aber
verwandelt sich auf diese Art der Unterschied nur in einen des
Grades, so daß es willkürlich sein muß, welche Pflichten voll-
kommene sein sollen und welche nicht, wodurch gleichfalls der
wissenschaftliche Wert der Einteilung gänzlich aufgehoben wird.
Denn das Willkürliche darf in der Wissenschaft keinen Raum
finden. Daß also diese Einteilung sich mit dem richtig auf-
gefaßten Pflichtbegriff nicht vereinigen läßt, und teils auf einer
nicht ethischen Ansicht des Rechtlichen, teils auf einer gänzlichen
Unbestimmtheit des Sittlichen beruht, muß aus dem Gesagten
genugsam erhellen.
Ob es nun besser beschaffen sei mit einer andern unter den Pflichten
Neueren nicht minder allgemeinen Einteilung der Pflichten, näm- ^e&en sich —
, , . gegen andere.
lieh in solche gegen sich selbst und m solche gegen andere, dieses
wäre demnächst zu untersuchen. Um aber diese recht zu verstehen,
muß auch das ehemalige, jetzt fast nicht mehr genannte dritte Glied
derselben, nämlich die Pflicht gegen Gott, mit in Betrachtung ge- Pflicht
zogen werden. Diese nämlich ist neuerlich ihres Ranges beraubt ^^^^" °
worden, zuerst aus andern Gründen von anderen, von Kant aber,
weil der Wille Gottes, auf welchem doch die Pflichten gegen ihn
beruhen müßten, nicht könne in der Erfahrung gegeben werden.
Dieser Grund nun konnte die Älteren von Einführung eines sol-
chen Abschnittes nicht zurückhalten, weil sie allerdings vermeinten,
144 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 142]
der Wille Gottes sei als ein Wahrnehmbares gegeben, und er
vor allen als verpflichtende Person sich offenbarend und erkenn-
bar. Es führt aber dieses auf die Frage, was es denn heiße,
eine Pflicht gegen jemand? Von welcher nicht leicht verständ-
lichen Redensart die strengste Bedeutung unstreitig die ist, es sei
diejenige, welche zur Pflicht werde vermittelst einer Nötigung
durch den Willen eines andern, nämlich des Verpflichtenden. Wird
nun diese Bedeutung angenommen, so ist von denen, welche
Pflichten gegen Gott zulassen, offenbar, daß, da der göttliche Wille
notwendig auf alles gerichtet ist, was die Menschen sich selbst
sowohl als andern Lobenswürdiges leisten können, und da er das
Sittliche vollkommen erschöpft, sie unrecht handeln und dem Meere
noch den Eimer voll zu gießen, wenn sie neben dem höchsten und
unendlichen Willen noch einen andern, sei es nun der eigene oder
fremde, als nötigend annehmen. Sonach würde die Pflicht gegen
Gott in diesem Sinne die beiden andern Abteilungen der Pflichten
gegen sich und gegen andere verschlingen, so daß nichts geteilt
wäre. Diejenigen aber, welche Pflichten gegen Gott in einem
solchen Sinne leugnen, werden auch nicht leicht dahin gelangen,
die Pflichten gegen andere sich zu erhalten. Denn tun sie jenes,
weil Gott als verpflichtende Person nicht kann gegeben werden:
so begehren sie als Grund der Verpflichtung nicht einen Willen,
wie er in der Idee konstruiert wird, sondern einen wirklich ge-
gebenen; wonach, wenn dies auf die Menschen angewendet wird,
auch von den Pflichten gegen andere nichts übrig bleiben dürfte,
als die wirklich geforderten des geschriebenen Rechtes. Leugnen
sie aber die Pflichten gegen Gott, weil es unnötig wäre und
den Gesetzen der Sparsamkeit zuwider, einen entfernteren Willen
herbeizuholen, um durch dessen Nötigung zu bewirken, was aucK
ein näherer schon ausrichtet, indem dem Inhalt nach die Pflichten
gegen Gott nichts anderes wären als die gegen sich selbst und
die anderen: dann würde dasselbe auch von dem Willen der
anderen gelten im Vergleich mit dem eigenen. Denn welcher
1 111,1, 143] II. Kritik der ethischen Begriflfe. 145
ethischen Idee auch jemand folge, er kann nichts aufnehmen als
Pflicht gegen andere, wozu nicht schon der eigene Wille ihn
nötige, es sei nun unter der Form der Vernunftmäßigkeit oder
der Glückseligkeit, oder welcher sonst. Woraus denn zuletzt sich
ergibt, daß der Begriff dieser Nötigung durch einen fremden
Willen nichts ist als eine leere Erscheinung. Und woher käme wohl
auch dem Willen eines andern die verpflichtende Kraft, wenn sie
ihm nicht eingeräumt wird zufolge einer Idee, deren Anwendung
und Herrschaft immer wiederum von dem eigenen Willen abhängt?
Kant jedoch hat eine schlaue Erfindung gemacht, um darzutun,
wie diese verpflichtende Kraft sich erwerben lasse, nämlich durcH
Ausübung solcher Pflichten, welche den andern verpflichten; bei
welcher Verwirrung von Verpflichtungen man in Versuchung
wäre, in einem ganz andern als er, nämlich dem altrömischen
Sinne, die PfHcht als einen heiligen Namen zu verrufen. So
könnte gefragt werden, ob diese verpflichtenden Pflichten auch
PfHchten gegen andere wären, und derjenige hart beschuldigt, der
zuerst das bedenkliche Spiel angefangen, durch seine Pflichterfül-
lung andere zu verpflichten zu Pflichten, durch w^elche er wieder
verpflichtet wird. Ja, man könnte darin einen tiefen Grund finden
zu der Höflichkeit des gemeinen Lebens, welche, wenn sie dem
andern eine Dienstleistung erweisen will, denn Dienstleistungen
sind doch die verpfHchtenden Pflichten, erst die Erlaubnis dazu
nachsucht. Doch es ist zu wunderlich und leer, um mehr darüber
zu sagen. Sonach müßte, dieses abgemacht, den Pflichten gegen
andere die gelindere Bedeutung beigelegt werden, daß sie sind
Pflichten in Ansehung anderer. In diesem Sinne nun will auch
Kant Pflichten gegen Gott zulassen, findet aber als solche bloß
die Pflicht, die sittlichen Gebote als göttliche anzuerkennen. In-
sofern zwar ist der Versuch mit diesen Pflichten verunglückt: denn
es kann keine Pflicht geben, etwas einzusehen, weil dieses, so für
sich betrachtet, weder etwas Sittliches ist noch der Willkür unter-
worfen. Notwendig aber ist er immer: denn wenn Pflichten
Schleiermacher, Werke. I- 10
146 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 144]
abgeteilt werden sollen nach dem, was dabei der Gegenstand ist,
so kann nichts davon ausgeschlossen sein, weil ja alles ein Gegen-
stand des sittlichen Handelns sein soll. Eben deshalb aber möchte
es unmöglich sein, den Gegenstand zu bestimmen, weil dieser
jedesmal mannigfaltig könnte angegeben werden. Und zwar am
wenigsten möchten zu unterscheiden sein Pflichten gegen sich
selbst und gegen andere. Denn sind aus der Idee der Glück-
seligkeit diese Pflichten abgeleitet: so ist ja offenbar, wie der
Handelnde selbst der Gegenstand ist. Steht ihnen aber die der
Naturgemäßheit voran: so ist es ja ebenfalls des Handelnden
Natur, welche würde verletzt werden. Nicht weniger auch ließe
sich zeigen, wie die Pflichten gegen sich selbst zugleich erscheinen
müssen als Pflichten gegen andere, in jedem System der Sitten-
lehre in der Bedeutung, worin es solche PfHchten zuläßt, welches
weiter auszuführen eines jeden Belieben überlassen bleibt. So-
viel aber wird jedem angemutet aus dem Vorigen einzugestehen,
daß nichts Wesentliches im Pflichtbegriff dieser Einteilung zum
Grunde liegt, und daß auch für sie, wie für die vorige, keine
bessere Entstehung nachzuweisen ist, als aus dem falschen Schein,
welchen die Rechtspflichten verbreiten.
Von solchem allgemeinen Urteil ist jedoch einigermaßen aus-
zunehmen die Art, wie dieselbe Einteilung erscheint in der Sitten-
lehre von Fichte, wo sie ebenfalls, nicht zwar den Worten, wohl
aber der Tat nach, vorhanden ist, und versteckt unter einer andern,
welche, da sie als eine neue Behandlung sich ankündigt, ohne-
dies näher geprüft werden muß. Hierbei nun zeigt sich zuerst,
daß von der doppelten sich durchschneidenden Einteilung, welche
in diesem System die Pflichtenlehre umfaßt, die eine, nämlich die
Allgemeine in allgemeine Pflichten und besondere, als eine Haupteinteilung
und besondere nicht bestehen kann, da der Einteilungsgrund, nämlich die Not-
wendigkeit, alle menschliche Tätigkeit in mehrere und immer klei-
nere Teile eigentümlich abzuschneiden, nur aus der Pflicht, in
Gemeinschaft die Natur zu beherrschen, kann begriffen werden,
welche Pflicht hier zwar dem Bedürfnis gemäß offenbar aber
[111,1, 145] II. Kritik der ethischen Begriffe. 147
widernatürlich aus der Reihe einzelner Pflichten herausgerückt
worden. Und auch nicht einmal aus dem Wesen von dieser geht
die Einteilung hervor, sondern nur aus einer zu deren besseren
Erfüllung genommenen, wer weiß, ob unter allen Umständen zu
lobenden, Maßregel. Unmöglich aber kann eine allgemeine Ein-
teilung der Pflichten die richtige sein, welche sich auf einen nicht
allgemeinen und durch den einzelnen nicht bewirkbaren Zustand
bezieht. Daher auch auf der einen Seite die Willkürlichkeit in
den Einteilungen des Berufs, auf der andern die unnatürliche
Art, wie zu diesem Zufälhgen und Veränderlichen das Wesent-
liche und Unveränderliche, nämlich die natürlichen Stände des
Menschen, hingestellt ist als ein gleichartiges Glied, die Unrichtig-
keit hinlänglich bezeugt. Die andere Einteilung aber, nämlich die
in bedingte und unbedingte Pflichten, ist unter einem andern
Namen dem Inhalt nach ganz dieselbe mit jener alten in Pflichten Bedingte und
gegen sich und andere. Denn auf diese Weise scheidet sich unter "" .^.'"^
^ ^ Pfhchten.
beide Teile alles, vi^as sonst dasselbe sein würde. Nun aber erhellt
die UnStatthaftigkeit dieser Einteilung mehr als irgendwo her aus
dem Grundsatz, welchen Fichte bekennt, und zwar nicht voran-
stellt, wie es sich gebührt hätte, sondern fast beiläufig nachschickt,
daß nämlich der eigentliche Gegenstand des Vernunftzweckes
und Gebotes immer die Gemeinheit der vernünftigen Wesen sein
muß. Denn so kann es keinen wesentlichen und das Ganze
teilenden Unterschied machen, ob ich diesen an mir oder an
andern erfülle; sondern höchstens nur kann dadurch ein für diese
beiden Fälle verschiedenes Maß gesetzt werden desjenigen, was
im Gebiete einer jeden Pflicht von jedem wird zu leisten sein.
Demzufolge erscheint auch, aus dem Gesichtspunkt jenes Grund-
satzes betrachtet, je eine bedingte und unbedingte Pflicht immer
als dieselbe, wie jeder gleich sehen wird, der die Vergleichung
ausführlich anstellen will; denn wo eine Verschiedenheit der Grenz-
bestimmung sich zeigt, ist auch sicher eine Hälfte aus der andern
zu berichtigen, und einzelne Versetzungen, welche erst einzurichten
sind, werden jedem in die Augen fallen. Der Vorzug aber, wel-
10*
148 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 146]
eher diesem Sittenlehrer in Betracht jener Einteilung zuzuschreiben
ist, besteht eben darin, daß bei ihm ihre Nichtigkeit so deuthch
aus dem Gebrauch selbst ans Licht kommt, und die Gebrechen
unbefangen aufgezeigt werden.
Daher findet sich auch, wie schon hieraus allein konnte ver-
mutet werden, bei ihm der Keim einer andern und bessern Ein-
teilung. Denn wer genauer auf das einzelne sieht, der findet
unter jeder Abteilung Pflichten, welche sich beziehen die eine auf
diese, die andere auf jene von seinen subjektiven Bedingungen der
Ichheit; so daß alle seine allgemeinen sowohl als besondern, be-
dingten und unbedingten Pflichten sich beziehen teils auf den
Leib, teils auf die Intelligenz, teils auf das Bewußtsein der In-
Pflichten dividualität, welches heißt, auf die Anerkennung einer Mehrheit
gegen Leib, fj-gjgj. Wesen. Die letztere Abteilung ist freilich teils vernachlässigt,
Intelligenz ^ *= '
und Mehrheit ^^^^^ unnatürlich zerstückt; welches aber lediglich daher rührt,
freier Wesen, weil ein Teil derselben als Grund jener höchsten Einteilung ist
herausgerissen worden. Fallen nun jene oberen Einteilungen als
unstatthaft hinweg: so erhebt sich diese von selbst zu der höchsten.
Und dieses möchte die einzige Spur des Richtigen
sein, welche in den bisherigen Einteilungen der
Pflicht anzutreffen ist. Denn hier wird doch dasjenige
selbst, worin das Gesetz sich äußern soll, geteilt nach den, gleich-
viel für uns woher, gefundenen wesentlichen Merkmalen desselben.
Diese folglich hat einen wesentlichen Grund, und kann nicht nur
den Begriff der Pflicht auf keine Weise vernichten oder verstüm-
meln, sondern, vorausgesetzt, daß das Gefundene richtig gefunden
ist, auch dereinst durch den Zusammenhang der Ethik mit der
höchsten Wissenschaft bewährt werden. Merkwürdig aber ist, wie
auch hier die ÄhnHchkeit mit der alten stoischen Schule die Fich-
tesche Ethik nicht verläßt. Dürfen wir nämlich aus dem von dem
Römeri uns ziemlich entstellt vviedergegebenen Panaitios auf
^ Cicero.
[111,1, 147] II. Kritik der ethischen Begriffe. 149
die Schule überhaupt schheßen, wenigstens in allem, was mit dem
Unterschiede zwischen den früheren und späteren Stoikern nicht
in Verbindung steht: so findet sich auch bei ihnen der gleiche
bessere Keim unter dem gleichen Fehler versteckt. Denn wie es
scheint, teilten sie die Pflicht zunächst ein nach den vier Haupt-
tugenden, in Pflichten der Klugheit und der Mäßigung, der Tapfer-
keit und der Gerechtigkeit; eine unstreitig bösartige und schon
oben bei einer andern Gelegenheit getadelte Verwirrung, Hinter
dieser Einteilung aber findet sich bald eine andere, v/elche sich
auf die drei Stücke bezieht, in denen, wie Cicero, die Verv/irrung
vermehrend, sagt, alle Tugend, er hätte aber sagen sollen: alle
Pflicht und Naturgemäßheit, besteht, nämlich die Ausbildung der
Erkenntnis, die Unterwerfung des Leibes und der Naturtriebe unter
die Vernunft und die Aufrechthaltung der Gemeinschaft. Daß
dieses nun, sowohl was den Inhalt als was das Verhältnis zum
Pflichtbegriff anbetrifft, ganz dasselbe ist, wie das eben bei Fichte
Gefundene, darf aus dem früher schon Gesagten nicht erst wieder-
holt werden. Ist nun dieser Standort einmal genommen: so kann
endlich, wer gutmütig und nachsichtig prüft, auch bei Kant eine
ähnliche Spur finden der Form nach, jedoch in jeder Hinsicht
weit unter jenen beiden. Denn ihm, da er die menschliche Natur
auf keine Weise will in Betrachtung ziehen, bleibt, wie schon
gezeigt ist, als das, was dem Sittlichen zur Bearbeitung vorliegt,
nichts übrig als die Gesamtheit aller Maximen, und diese natür-
lich nicht als wirklicher Inhalt, der nur dürfte geteilt werden,
sondern vielmehr als roher Stoff, von welchem einiges ausgewählt,
anderes aber hinweggeworfen wird. Die Gesamtheit der Ma-
ximen aber weiß er nicht anders zu teilen, als nach den beiden
Zwecken, welche er, sofern sie die Sittlichkeit ausdrücken sollen,
verwirft, zu Bezeichnung des rohen Stoffes derselben aber ganz
tauglich findet, nach Glückseligkeit nämlich und Vollkommenheit.
Jedoch ist freilich nichts darin zu loben, als die Spur eines rich-
tigen Gedanken. Wie willkürlich aber und unrichtig nun die
150 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 148]
eigene Glückseligkeit und die fremde Vollkommenheit ausgeschie-
den werden, muß jedem von selbst deutlich sein. Denn wenn
man aus dem Element das Ganze konstruiert, so erscheint doch
die gesamte Glückseligkeit als Vernunftzweck und Gebot; und
wendet man so die Fichtesche Vorschrift von Teilung der Ge-
schäfte an, so möchte nichts Vorteilhafteres gefunden werden, als
ein Tausch, der alles in die alte vorkantische Ordnung zurück-
versetzte. Ebenso ließe sich, zumal für Kant in seiner abspringen-
den Weise und mit Hilfe seiner eigenen Ansicht von der mensch-
lichen Natur, in Absicht der Vollkommenheit das Umgekehrte er-
weisen. Auch zeigt sich in seinen Unterabteilungen genug, sowohl
der schielende Begriff der Vollkommenheit, als der Widerstreit
zwischen Zuneigung und Abneigung gegen die Glückseligkeit;
welches alles in Verbindung mit dem bisher Gesagten zu offenbar
ist, um mehr als angedeutet zu werden.
Dieses nun sind die bisherigen Einteilungen des Pflichtbegriffs,
aus denen ein jeder, wie weit dieser Begriff bisher verstanden
worden sei, beurteilen möge. Jetzt aber ist ebenso der Tugend-
begriff, was er sei, und ob ihm ein besseres Schicksal zuteil
w.orden, zu betrachten.
2.
Vom Tugendbegriff.
Daß dieser Begriff dem Begriff der Pflicht dem Range nach
gleichzustellen ist und auch in allen Darstellungen der Sitten-
lehre so erscheint, wird wohl niemand leugnen. Denn in einigen
Systemen ist er offenbar der gemeinschaftliche Ursprung mehrerer
untergeordneter einzelner Begriffe; in allen aber erscheint er als
unabhängig und ursprünglich, keinen neben sich habend, mit wel-
chem er etwa zu gleichen Teilen die Sphäre eines andern höheren
ausfüllte. Daß aber die Stoiker ihn als ein Einzelnes, darunter
Befaßtes, dem Begriff des Gutes unterordnen, welches wohl die
einzige Ausnahme dieser Art sein mag, wird sich bei näherer
[111,1, 149] II. Kritik der ethischen Begriffe. 151
Betrachtung als wohl verträglich mit dieser Behauptung zeigen.
Alle Erklärungen der Tugend nun stimmen zuerst darin überein, Wesen
daß das Wort etwas ganz Innerliches bedeutet, eine Beschaffen- ^^^ Tugend,
heit der Seele, eine Bestimmtheit der Gesinnung. Ferner auch
darin, daß diese Bestimmtheit die sittliche ist, von jedem auf das-
jenige bezogen, was ihm den Inhalt der ethischen Idee ausmacht;
wobei vorläufig mehr auf das Allgemeine zu sehen ist, als auf
das Besondere. Denn dieser Begriff war allgemein im Umlauf,
die besondere Form aber, welcher er zunächst angehört, nicht
überall gleich anerkannt und geläufig. So ergibt sich dieselbe
Bedeutung, wenn nur im allgemeinen gesagt wird, die Tugend
sei die beste Beschaffenheit der Seele; oder wenn es bestimmter
heißt, diejenige, durch welche alle Pflichten erfüllt werden; oder
aber, diejenige, welche das höchste Gut ihrer Natur nach hervor-
bringt. Denn deshalb gehört der Tugendbegriff im eigentlichsten
Verstände weder zu der ersten noch zu der letzten besonderen
Gestalt der ethischen Idee. Wie man ebenso auch den Pflicht-
begriff auf das Ideal des Weisen oder des höchsten Gutes, und
den Begriff eines Gutes auf jenes und auf das Gesetz beziehen
könnte, ohne daß deshalb die näheren Beziehungen, wie sie auf-
gestellt worden sind, wieder aufgelöst würden. Bezeichnet nun
der Tugendbegriff die Kraft und Gesinnung, und zwar ganz,
durch welche die richtigen Taten oder Werke hervorgebracht
werden: so ist er also der allgemeinste sittliche Begriff, ent-
sprechend dem Ideal des Weisen. Denn der Weise ist derjenige, in
welchen die sittliche Kraft und Gesinnung ununterbrochen und aus-
schließend wirksam ist, und welcher alles hervorbringt, was durch
sie kann gewirkt werden, anderes aber nichts. Daß aber auf der
andern Seite die Tugend auch ein Gut genannt wird, kann mit
Recht nicht anders geschehen, als insofern sie zugleich ein Hervor-
gebrachtes ist, gestärkt und befestiget durch die Tätigkeit selbst,
und ein Anschauliches, welches sich durch Taten oder Werke als
durch Zeichen offenbart. Wovon jedoch erst bei dem Begriff der
152 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 150]
Güter und Übel weiter kann gehandelt werden. Sonach verhält
sich die Tugend zur Pflicht, oder die Gesinnung zur Tat, wie
die Idee des Weisen zu der des Gesetzes, das heißt, wie die Kraft
zu der Formel, durch welche ihre Äußerungen müssen bezeichnet
werden. Wie nun oben, um die Pflicht von der Tugend zu unter-
scheiden, für das, was unter jenen Begriff gehört, das Merkmal
der Gesetzmäßigkeit aufgestellt wurde, für diesen aber das der
Sittlichkeit, und gezeigt, wie meistenteils die wahre Bedeutung
überschritten, und auch das getrennt werde, was vereinigt bleiben
sollte; ebenso ist auch hier ein ähnhches Mißverständnis auf-
zulösen. Viele nämhch haben, um die Innerlichkeit des Begriffs
am stärksten anzudeuten, ihn der Äußerung ganz entgegengesetzt,
und diese nicht nur für das Denken davon abgesondert, sondern
auch beide als in der Wirklichkeit trennbar vorgestellt; als ob
die Äußerung nur ein Zufälliges wäre für die Gesinnung und
ein Gleichgültiges, da doch beide unzertrennlich sind in der Wirk-
lichkeit. Denn um die Gesinnung als ein Inneres von der Tat
als einem Äußeren zu unterscheiden, kann zwar von jeder be-
stimmten Wirkung hinweggesehen und gesagt werden, die Ge-
sinnung würde doch die nämliche gewesen sein und von gleichem
Werte, wenn auch der Fall nicht vorgekommen wäre, wo sie eine
solche Tat hätte verrichten können. Niemals aber läßt sich von
jeder Wirkung überhaupt hinwegsehen, und annehmen, die Ge-
sinnung könne wohl innerlich vorhanden sein, doch aber, ohn-
erachtet sie wollte und strebte, nicht vermögend, etwas zu wirken
und her\'orzubringen. Denn dieses behaupten, heißt den Begriff
nicht etwa unterscheiden und auszeichnen, sondern vielmehr ver-
nichten, indem ja eine Tätigkeit, welche nichts tut, auch gar nicht
vorhanden ist. Wenigstens gerade in diesem Falle und von der
sittlichen Gesinnung überhaupt kann dies mit Zuversicht gesagt
werden. Denn sie soll ja nicht von einem bestimmten Gegenstande
abhängen, welchem allein obläge sie aufzufordern; sondern auf
die Idee soll sie sich beziehen, für welche alles ein
[111,1, 151] II. Kritik der ethischen Begriffe. 153
Gegenstand ist. Ja nicht nur von der sittlichen Gesinnung
als einer im ganzen betrachtet, sondern auch von jeder einzelnen
muß es gelten und sogar das Zeichen sein, ob der Begriff richtig
gebildet und ein wahrer Teil des Ganzen dadurch bezeichnet wird
oder nicht, daß jede Tugend in jedem Augenbhck etwas bewirken
muß. Daher bewährt sich auch von diesem Orte aus als richtige
Bezeichnung des Unterschiedes sowohl als der Verbindung zwi-
schen Pflicht und Tugend jener Spruch der Stoiker, daß in jeder
vollkommenen Handlung alle Tugenden wirksam sind. Denn was
von dem Weisen in jedem Augenblick getan sowohl als nicht getan
und ausgeschlossen wird, das allein ist die Pflicht und die voll-
kommene Handlung dieses Augenblicks. Es gibt also für jeden
Augenblick eine solche, und also kann auch immer und muß jede
Tugend wirksam sein und hat nicht nötig, aus Mangel an Gegen-
stand und Gelegenheit sich untätig zu verbergen und gleichsam
zu verschwinden. Ferner, wenn der Begriff der Tugend das Sitt-
liche allgemein bezeichnen soll: so muß auch, wie in Beziehung
auf die Pflicht jede wirkliche Tat ihr gemäß war oder zuwider,
so auch hier jede Kraft und Gesinnung, aus welcher eine Tat
hervorgeht, entweder gut sein oder böse, welches heißt, der
Tugend entweder gemäß oder zuwider. Denn wie kein wirkliches
Handeln, wenn nicht die Ethik als Wissenschaft soll zerstört wer-
den, außerhalb des sittlichen Gebietes darf angenommen werden:
so auch keine Quelle des Handelns. Hiegegen aber wird von
den meisten zwiefach gefehlt, indem sie zuerst innere und han-
delnde Kräfte annehmen, welche doch weder gut sein sollen noch
böse, weil sie nämlich in keiner Beziehung ständen mit dem Sitt-
lichen; dann aber auch setzen sie Sittliches und auf das Sitthche
sich Beziehendes in der Seele, welches doch weder Tugend sein
soll noch Laster, weil es nämlich keine Kraft wäre und keine
Gesinnung. Was nun das erste betrifft, so behaupten viele, es
könne geben Lust und Liebe, Neigung oder Abneigung, welche
Bewegungen des Gemütes doch allerdings und überall auf den
154 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 152]
Willen bezogen werden, die deshalb nicht sittlich sein könnten,
weil ihre Gegenstände zu unbedeutend wären. Wie aber oben
bei der Pflicht gesagt wurde, daß kein unmittelbares Verhältnis
stattfindet zwischen der sittlichen Idee und einer äußeren Tat:
so auch nicht zwischen ihr und einem äußeren Gegenstande; son-
dern nur vermittelst eines inneren, worauf dieser bezogen wird.
Daher überall von der Größe des Gegenstandes nicht kann die
Rede sein; sondern die sittHche Bedeutsamkeit der Neigung zu
ihm oder Abneigung von ihm hängt ab von dem Inneren, worauf
er bezogen wird, welches Innere immer nur kann gedacht werden
entweder in Einstimmung oder in Abweichung von der ethischen
Idee. Andere aber wollen handelnde Kräfte von der sittlichen
Beurteilung ausschließen, weil sie nicht Kräfte des Willens wären,
sondern des Verstandes oder eines anderen Vermögens. Dieses
nun ist ein Mißverstand, welcher die Frage über das Sittliche
wiederum hinüberzuspielen scheint in die von unserer Unter-
suchung ausgeschlossene Frage von der Freiheit; indem nämlich
der Grund darin vorzüglich gesetzt wird, daß diese Kräfte an-
geborene wären oder Naturgaben, und wie es sonst ausgedrückt
wird, kurz unabhängig vom Willen. Es ist aber sehr leicht, ihn
aufzulösen und jenem verschlossenen Gebiet auszuweichen, wenn
nur erwogen wird, daß der Ursprung des größeren oder ge-
ringeren Umfangs und der so oder anders bestimmten Richtung
eines Vermögens hier unmittelbar gar nicht in Betrachtung kommt.
Denn es ist hier gar nicht vom Vermögen die Rede, sondern von
der tätigen Kraft. Diese aber ist der Wille allein. Denn jedes
Vermögen wird nur in Übung und Tätigkeit gesetzt durch den
Willen; und der Art, wie dieses geschieht, liegt zum Grunde eine
Richtung und Bestimmung des Willens. Auf diese nur wird ge-
sehen, ob sie mit der ethischen Idee übereinstimmt oder nicht;
denn nur die Richtung des Willens ist das ethische
Realie. Denn der Umfang des ausführenden Vermögens bestimmt
nur den Erfolg, nach welchem zunächst nicht gefragt wird: die
[111,1, 153] II. Kritik der ethischen Begriffe. 155
Richtung aber desselben ist nichts für sich, sondern nur abhängig
von der des Willens. Was etwa hiegegen noch zu sagen wäre,
widerlegt sich durch die Rückweisung auf das, was im vorigen
Buche gesagt ist von den Gewöhnungen und Gewohnheiten, wie
auch von dem an sich und von dem nur beziehungsweise Unwill-
kürlichen; woraus die einfachen, hieher gehörigen Folgerungen
ein jeder selbst ziehen möge. Dieselbe Bewandtnis nun hat es,
nur daß sie noch deutlicher hervortritt, mit der zweiten Ansicht,
daß nämlich einiges unmittelbar auf das Sittliche sich beziehend
sein könne im Gemüt, ohne doch Tugend zu sein oder Untugend.
Denn hieher gehört, v^^as Kant wunderbar genug die ästhetischen
Vorbegriffe der Sittlichkeit nennt, und was, auf ein Gemeinschaft-
liches zurückgeführt, nichts anderes ist als die größere oder ge-
ringere Übung des Verstandes, das Sittliche zum Gegenstande zu
machen, und ebenso die Lebhaftigkeit oder Stumpfheit des Ge-
fühls im Unterscheiden desselben und im Bewegtwerden davon.
Hiezu nun muß ein Vermögen überhaupt jedem zugeschrieben
werden, welcher der sittlichen Beurteilung soll unterworfen sein.
Denn kein Sittliches kann zustande kommen, weder ein inneres
noch äußeres, wenn nicht Verstand und Gefühl dabei geschäftig
sind und darauf gerichtet; welche Meinung eben zum Grunde
liegt, wenn gesagt wird, die Tugend sei eine Erkenntnis. Ist
aber von einem Grade, das heißt einer Kraft, die Rede und von
einer Tätigkeit: so ist ja deutlich, wie diese, es sei nun zunächst
und unmittelbar, oder zufolge des Vorigen mittelbar und im ganzen,
von der Richtung des Willens abhängt. Denn wenn gesagt wird,
daß der Wille einer Idee entspreche: was ist damit anders gesagt,
als daß diese die immer gegenwärtige und vorwaltende sei, und
die, auf welche alles bezogen wird? Und wenn eine Idee diese
Gewalt ausübt: so heißt eben dieses, der Wille entspricht ihr
und ist auf sie gerichtet. Sonach ist deutlich, daß, ob Verstand
und Gefühl in demjenigen, was der Wahrnehmung gegeben wird,
das Sittliche vornehmlich aufsuchen und genau unterscheiden oder
156 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH, 1, 154]
nicht, keineswegs abhängt von einer eigentümlichen Beschaffen-
heit dieser Vermögen, sondern lediglich von dem Verhältnis des
Willens zur ethischen Idee, und von der Gewalt, welche diese
über ihn ausübt. Und dieses ist der gegenüberstehende und
entsprechende Fall, in welchem gesagt werden kann, die Er-
kenntnis des Sittlichen, nämlich gleichviel, ob durch den Verstand
oder durch das Gefühl, sei selbst Tugend.
Dieses also sind die Bestimmungen, unter welchen der Begriff
der Tugend muß gedacht werden, wenn er die Stelle in der
Sittenlehre einnehmen soll, welche für ihn allein die schickliche
ist. Daß er aber nur, unter diesen Bestimmungen gedacht, immer
noch ein formaler bleibt und seinen Inhalt erst erwartet von
dem Inhalt der ethischen Idee, dies bedarf keines Beweises. Wie
denn auch deshalb alles Bisherige nur in nackten Worten hat
können ausgeführt werden, ohne Beispiele. Da nun auf keinen
Inhalt bis jetzt ist Beziehung genommen worden: so folgt, daß
jede Ethik, der ihrige sei, welcher er wolle, etwas muß als
Tugend aufstellen können. Denn daran hängt ihre Wahrheit und
Anwendbarkeit, daß ein Wille kann gedacht werden als allein
und durchaus der obersten Idee derselben entsprechend. Und
dieser Idee wird in jedem System etwas anderes unter der Formel
des bloßen Naturtriebes entgegengesetzt, auf welchen also, es
sei nun auf einfache oder vielfache Art, ein anderer als der sitt-
liche Wille sich beziehen kann. So wird dem Epikuros zufolge
jeder Wille unsittlich sein, welcher die positive Lust anstrebt, und
nur derjenige sittlich, welcher ausschließend auf die beruhigende
gerichtet ist. Nach dem Aristippos aber unsittlich jeder, welcher
fähig wäre, sich auch für die bloße Tätigkeit zu bestimmen, oder
irgendeiner Idee zuliebe sich zu bewegen, ohne auf die leise
Bewegung zu achten oder auf die rückkehrende Empfindung;
sittlich aber jeder, der nur die wahre Lust und diese immer und
überall zu bilden und zu besitzen strebt. Offenbar aber ist ohne
weitere Erinnerung, daß in den wenigsten Darstellungen der Ethik
[111,1, 155] II. Kritik der ethischen Begriffe. 157
auf diese Art der Begriff der Tugend der eigentümlichen Idee
angebildet ist, und so das Sittliche einzeln ausführlich verzeichnet.
Wie denn gleich die angeführten eudämonistischen Systeme sich
damit begnügen, daß sie, anstatt die eigene Tugend vorzuzeigen,
nur die fremden nach ihren Grundsätzen sichten. Dieses aber heißt
den Begriff gar nicht aufstellen. Denn was so von anderwärts
her aufgenommen wird, kann nur zufällig mit dem Eigenen über-
einstimmen; und nicht als ein Vielfaches, zufällig Zusammen-
gerafftes, sondern als ein e und ein Wesentliches soll die Gesinnung
sich zeigen. Was nun die einfache und reine Darstellung des Ari-
stippos betrifft: so liegt hievon die Schuld nicht an dem eigen-
tümhchen Inhalt seiner Idee, sondern nur an einem fast für ihn
selbst lasterhaften Überrest unwissenschaftlicher Scham, welche
sich weigerte, das so gefundene Sittliche in Widerspruch zu setzen
mit dem allgemein geltenden Rechtlichen; wiewohl hierin schon
vor ihm nicht wenig geschehen vv^ar, und auch er im einzelnen
deutlich genug seine Meinung offenbart hat. Epikuros aber hat
nur die eine mittelbare Darstellung mit der andern verwechselt.
Denn, wie schon erwähnt, gehört er zu denjenigen, deren Sittlich-
keit nur beschränkender Art ist, und in diesen freilich ist es schwer,
den Begriff der Tugend unabhängig für sich darzustellen. Denn
wenn die ethische Idee selbst nicht rein aus sich auf eigene Weise
das Leben bildet, sondern nur einen negativen Charakter hat: so
kann auch die ihr angemessene Gesinnung nicht für sich dar-
gestellt werden als selbsttätig, sondern nur vermittelst desjenigen,
was sie zurückhalten und beherrschen soll. Daher auch jeder so
beschaffenen Sittenlehre die Behandlung nach dem Tugendbegriff
fremd und vornehmlich nur die nach dem Pflichtbegriffe natür-
lich ist; welches deutlich gefühlt und streng beobachtet zu haben
von Fichte allein als ein großer Vorzug kann gerühmt werden.
Kant hingegen hat seine Darstellung zur Ungebühr Tugendlehre
genannt, da alles Reale darin nur Pflichtbegriffe sind, und er von
der Tugend nur den Gegensatz, nämlich das Laster, hat gebrauchen
158 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH,1, 156]
können : welches zwar den Pflichten gegenüberstehend sich wunder-
lich ausnimmt, doch aber, indem überall viele einer oder eines
vielen entspricht, Gelegenheit gibt, die Ungleichartigkeit der Be-
griffe zu bemerken. Mit der Tugend selbst aber befindet er sich
überall im Gedränge, und sie ist bei ihm und bei allen dieser
Art im Kampf in jedem Sinne. Nicht nur so nämlich, daß dadurch'
eine UnvoUkommenheit der sittlichen Gesinnung ausgedrückt wird,
oder das Vorhandensein anderer neben ihr, welche sie überwinden
muß: sondern es ist ihr etwas Wesentliches, daß sie gar nicht
gedacht werden kann ohne andere Antriebe, welche teils ganz,
teils zum Teil zu zerstören ihr einziges Geschäft ausmacht. Daß
aber die Stoiker, welche sich doch, wie oben gezeigt worden,
in demselben Falle befinden, fast am ausführlichsten unter allen
Alten den Tugendbegriff abgehandelt haben, ist mehr ihrem philo-
logischen und dialektischen Sinn zuzuschreiben, als der Natur
ihrer Sittenlehre. Welches auch hinlänglich dadurch sich bestätigt,
daß alles Wahre und Richtige, was bei ihnen gefunden wird,
mehr in demjenigen liegt, was sie andere bestreitend, als in dem,
was sie selbst aufbauend vortragen. Schon wenn sie die der
Tugend entgegengesetzte Gesinnung beschreiben als ein nicht
im Gehorsam der Vernunft stehendes Begehren, die Tugend
selbst aber als ein Erkennen, muß ohnerachtet dessen, was oben
hierüber gesagt worden, jeder einsehen, daß ihnen der eigent-
liche Gegensatz zwischen beiden Gesinnungen entgangen ist, und
sie nur um ein und dasselbe Begehren wissen, bald mit, bald
ohne Kenntnis, praktische freihch, der Regeln, welche die Ver-
nunft darüber aufstellt. Daher auch sehr wohl zu unterscheiden
ist die Bedeutung, in welcher sie die Tugend Erkenntnis nennen,
von der, in welcher Pia ton das nämliche behauptet. Denn dieser
hat nach seiner mittelbaren Lehrweise dadurch nur anzeigen
wollen, daß die sittliche Gesinnung auf eine Idee geht, und also
von dem Bewußtsein derselben unzertrennlich ist, es sei nun
unentwickelt als richtige Meinung, oder entwickelt als wirkliche
[111,1, 157] II. Kritik der ethischen Begriflfe. 159
Erkenntnis; jene aber wollen andeuten, daß die Gesinnung, um
sich zu äußern, eines vorher gegebenen und ihr fremden Be-
gehrens bedarf, welches sie einer Regel gemäß behandelt. Daher
auch ihre Erklärungen der Tugend teils auf das zu Wählende
oder das Gute sich zurückbeziehen, welches wiederum die Tugend
ist oder doch nicht ohne sie, und also im Kreise herumgehen, teils
aber ganz formal sind, und nur einen polemischen Wert haben,
wie die von der Übereinstimmung im ganzen Leben, oder die
gegen die Aristoteles gerichtete, die sittliche Gesinnung sei eine
solche, welche ihrer Natur nach kein Übermaß zuläßt. Denn
die von diesem gegebene Erklärung, wenn sie auch nicht in dem
Grade wie Kant es getan hat, und aus seinen Gründen zu ver-
werfen ist, kann doch nicht gelobt werden, weil sie ebenfalls
nur eine mittelbare ist, auf die äußere Erscheinung gegründet.
Nämlich jede Handlung, welche aus der sittlichen Gesinnung her-
vorgeht, hat einen Gegenstand, welcher zugleich auch Gegenstand
ist irgendeiner Neigung. Daher muß jene Gesinnung dem äußeren
Erfolge nach zusammenstimmen mit dem, was ein bestimmter
Grad von dieser Neigung würde hervorgebracht haben; und daß
dieser Grad immer in der Mitte liegen wird zwischen dem, was
zu beiden Seiten als das Äußerste der Neigung ins Auge fällt,
dies zu bemerken und für etwas zu achten, war eines Empirikers,
wie Aristoteles, ganz würdig. Dasselbige besagt seine andere
Erklärung von Übereinstimmung der Vernunft und des unver-
nünftigen Triebes, welche ebenfalls das, was er in sich wohl
als Einheit erkannte, so darstellt, wie es in der Erscheinung als
ein Zwiefaches zerfällt. Welche Folgen nun diese ganz unwissen-
schaftliche Erklärung und Konstruktion des Begriffes für die ein-
zelnen Begriffe und ihre Bestimmtheit haben muß, dieses wird
sich unten zeigen ; denn formal geteilt hat A r i s t o t e 1 e s die Tugend
nicht, wenigstens nicht nach diesem Prinzip. Hier ist nur zu
zeigen, wie er sich, wiewohl kaum zu denen gehörig, welchen die
Sittlichkeit überhaupt ein Negatives ist, ihnen dennoch in seiner
160 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 158]
Erklärung der sittlichen Gesinnung annähert, weil nämlich das
innere Wesen derselben ihm immer eine unbekannte Größe ge-
wesen ist, worüber auch, wer ihn aufmerksam verfolgt, viel un-
schuldige Winke antreffen wird, ja deutliche Geständnisse. So-
nach scheinen unter den Vorhandenen nur diejenigen eines reinen
und reellen Begriffs der Tugend fähig zu sein, weichen, gleich-
viel ob Lust oder Tätigkeit, das Sittliche ein einfaches Reales und
für sich selbst Begreifliches vorstellt; welche, da den gewöhn-
lichen neuen Bekennern der Vollkommenheit das Einfache nicht
zuzugestehen ist, sich auch hier auf Aristippos, Platon und
Spinoza werden zurückführen lassen.
Einteilung Was nun bisher von der Art, den Begriff der Tugend zu
derTugenden.jjgstimmen, gesagt worden, dem fehlt noch die Bestätigung durch
nähere Ansicht der Art, wie er von Verschiedenen pflegt eingeteilt
zu w^erden. Sehen wir hiebei zuerst auf diejenigen, bei denen die
Tugend sich auf ein anderes und vorher gegebenes Begehren
bezieht: so ist deutlich, daß ihnen kaum etwas anderes übrig bleibt
zur Regel, um die untergeordneten und einzelnen Begriffe zu
bilden, als die Betrachtung desjenigen, worauf die Tugend sich
bezieht; und sie müßte sonach geteilt werden wie die rohen
Begehrungen, welche erst durch das Hinzukommen der Tugend
können sittlich werden, oder unsittlich auch erst werden durch
ihr Ausbleiben. Auch hier zwar kann schon nicht gesagt werden,
daß auf solche Weise die Tugend eingeteilt ist; denn nur das
Beschränkte wäre so als ein Vielfaches dargestellt, nicht aber das
Beschränkende, und es kann nicht gezeigt werden, daß irgendeine
Art oder auch ein Teil der Tugend dasselbe verrichtet in diesem,
eine andere Art aber dasselbe in einem anderen Falle. Allein von
dieser Einteilung finden sich wenig Spuren bei denen, welchen
sie angemessen wäre, sondern mehr bei anderen, bei denen diese
erträglichere Bestimmung nicht einmal angewendet werden kann,
sondern es ganz das Ansehen gewinnt, als sollte die sittliche Ge-
sinnung geteilt werden gemäß der unsittlichen, die ihr entgegen-
[111,1, 159] II. Kritik der ethischen Begriffe. 161
gesetzt wird, sei es nun unter dem Namen der Begierde oder des
Affektes oder der Leidenschaft. Welches nur bei dem Verfahren
des Aristoteles nicht ganz widersinnig ist, jedoch auch dieses
genugsam in seiner Blöße darstellt. Werden nun jene Neigungen
selbst nicht geteilt nach der verschiedenen Art, wie überhaupt das
Begehren oder Verabscheuen auf einen Gegenstand kann bezogen
werden, wozu Spinoza, weit mehr noch und regelmäßiger als die
Stoiker, wiewohl ihnen ähnlich, einen lobenswerten Versuch ge-
macht hat, sondern nach bestimmten Gegenständen, wie zum Bei-
spiel die drei bekannten und gemeinen, Vergnügen, Reichtum
und Ehre: so sind diese schon für die Neigungen selbst nicht jedes
eins und ein Bestimmtes; und das, wodurch sie sich unterscheiden,
steht gar nicht in Verbindung mit dem Begehren und Verab-
scheuen. Nicht anders als ob jemand, nachdem ein prismatischer
Körper erklärt worden als durch gleichmäßige Bewegung einer
Fläche längs einer Linie entstanden, nun diese Körper einteilen
wollte, je nachdem die Fläche ein Dreieck wäre oder Viereck,
oder sonst eine Gestalt hätte, welches für die Eigenschaften des
Entstandenen in der wissenschaftlichen Betrachtung auch nicht im
mindesten wesentlich wäre; ebenso würden auch hier Verschieden-
heiten aufgestellt, die schon für eine wissenschaftliche Betrachtung
der natürlichen Neigungen nicht wesentliche wären, sondern nur
zufällige; wieviel mehr noch zufällig für die Betrachtung der
Tugend. Denn selbst wenn die Neigungen auf eine vernünftigere
Art geteilt würden, könnte doch nicht die Tugend ihnen gemäß
auch geteilt werden. Nämlich betrachtet man sie zunächst als
die Abwesenheit der Neigungen, welche auf etwas anderes als
die sittliche Idee gerichtet sind: so kann sie insofern unmöglich
geteilt werden nach dem Mannigfaltigen und Eigentümlichen,
worauf diese gerichtet sind. Oder möchte es Beifall finden, die
Finsternis, sofern sie eine Abwesenheit des Lichtes ist, deshalb,
weil das Licht in der Erscheinung nicht dasselbige ist, einzuteilen
in Beraubung des roten Lichtes oder des blauen und wie sonst die
Schleiermacher, Werke. I. 11
162 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 160]
prismatischen Strahlen geschieden werden? Betrachtet man aber
die Tugend als im Kampf mit den entgegenstehenden Neigungen:
so ist teils auch dieses nicht ihr Wesen, sondern vielmehr ein
vorübergehender Zustand, denn in ihrer Vollkommenheit im
Weisen gedacht, muß sie vorgestellt werden ohne Kampf; teils
aber sind auch so die verschiedenen Neigungen für sie nicht der
Art nach verschieden, sondern nur der Größe nach. Denn daß in
dem einen Gemüt die sittliche Gesinnung leichter und stärker
diese Neigung überwindet, in einem andern aber jene, dieses ist
nicht daher abzuleiten, weil etwa jenes diejenige Art oder Gestalt
der Tugend besäße, welche dem Streit mit der andern entspräche,
sondern nur daher, weil in jenem die eine, in diesem die andere
die schwächere ist. Dieses ist so deutlich, daß es verschwenderisch
wäre, es daraus zu erweisen, weil sonst nicht nur jeder Neigung,
sondern auch jedem Gegenstande derselben eine eigene Art der
Tugend entsprechen müßte, so daß nicht nur eine gemeinschaft-
liche Tugend entgegengesetzt wäre der Neigung zum Wohlge-
schmack, sondern jedem Reizenden, Genießbaren eine besondere,
und so in allen übrigen. Wird dieses immer weiter fortgesetzt, so
ergibt sich gewiß ein Punkt, wo es jedem ungereimt erscheint;
und willigt er dann in die Vernichtung des Verfahrens, so wird
durch denselben Ausspruch auch jedes vorige Glied vernichtet, bis
die Tugend nur als eine dasteht im Verhältnis gegen alle Nei-
gungen, wie mannigfaltig diese auch sein mögen. Auch ergibt sich
im Großen betrachtet die Unstatthaftigkeit dieser Einteilung daraus,
daß, ohnerachtet sie keineswegs auf irgendeinem besonderen In-
halt der ethischen Idee beruht, sie dennoch, von jedem entgegen-
gesetzten System aus betrachtet, ungereimt erscheint für das andere.
Denn setzet, es sei im Eudämonismus die Konsequenz des Ari-
stippos auf die mehrmals erwähnte Weise vollendet: so ist dann
in diesem System und dem rein tätigen Sittliches und Unsittliches
mit vertauschter Überschrift ganz dasselbe. Soll nun die Tugend
nicht anders können eingeteilt werden, als nach der Art, wie die
Untugend sich von selbst einteilt: so muß in dem einen die tätige
[111,1, 161] 11 Kritik der ethischen Begriffe. 163
Gesinnung ihre Einteilung borgen von der Lust, in dem andern
aber gegenseitig die Lust von der tätigen Gesinnung. So daß
entweder keine von beiden geteilt werden kann durch die andere,
oder, wenn dieses, auch jede muß fähig sein, sich selbst nach
einem inneren Grunde zu teilen. Kein Ethiker aber ist wegen
der Reinheit von diesem Fehler so sehr zu loben als Spinoza,
welcher, wiewohl er die sittliche Kraft und die andere nur als
Vollkommenheit und Unvollkommenheit unterscheidet und besser
als irgendein anderer die unsittlichen Neigungen geteilt hatte,
dennoch sich verständig enthielt, dieselbe Teilung auch auf das
Sittliche zu verpflanzen, und so Sittliches und Unsittliches einzeln
gegenüberzustellen.
Sehen* wir ferner auf diejenigen Einteilungen, welchen ein
vorausgesetzter Inhalt des Sittlichen zum Grunde liegt, und zwar,
weil die anderen nichts eigentümlich und vollständig ausgeführt
haben, auf die, welche das Sittliche in das Handeln und Sein
setzen im Gegensatz des Habens und Genießens: so zeigt sich
weit verbreitet bei allen, welche die Vollkommenheit zu ihrer
Formel gewählt haben, eine Einteilung der Tugend nach der Art,
wie überhaupt die geistige Kraft eingeteilt wird, in Tugenden Tugenden des
des Verstandes und des Willens, oder des Vorstellungs- und ^^^ Willens.
Begehrungsvermögens, oder wie sonst in der Lehre von der
Seele dieser Unterschied pflegt angedeutet zu werden. Was nun
diese betrifft, so ist Beziehung zu nehmen auf das bereits Gesagte
von dem Verhältnis des Willens zu allem übrigen in der Seele,
was von ihm unterschieden wird, und wie in der Ethik alles nur
kann auf den Willen bezogen werden und als dessen Tugend
erscheinen. Daher haben auch mit Recht Aristoteles und andere
Alte den besseren oder schlechteren Zustand des Erkenntnis-
vermögens, sofern er sich abgesondert vom Willen betrachten ließ,
außerhalb der Sittenlehre gestellt. Wenn nun, dem obigen gemäß,
die Gesinnung es ist, die sittliche oder unsittliche, welche, was
wir Vermögen der Seele nennen, in Tätigkeit setzt, und ihnen
^ Absatz nicht im Original.
11*
164 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 162]
Umfang und Richtung bestimmt: so wäre nicht nur zuerst der
Name der Einteilung widersinnig gewählt, sondern auch der Grund
derselben wäre nichtig, als ob jemand das Licht einteilen wollte
nach den leitenden Stoffen, durch welche es sich bewegt, oder
eine Kunst nach den Werkzeugen, deren sie sich bedient. Wird
aber jene Zurückführung alles andern auf die Einheit des Willens
verabsäumt, und auf die Gesinnung nicht gesehen, welche irgend-
ein Vermögen des Geistes so bestimmt hat, wie es bestimmt ist:
so entstehen dann Tugenden, welche mit Lastern zusammen-
hängen und aus einem Grunde mit ihnen herrühren, welches, wenn
die Sittlichkeit und ihr Gegenstand überall etwas sein soll, wo-
möglich noch ärger ist als der oben gerügte Widerstreit der
Pflichten, und auf jede Weise ein Zeichen einer tiefgehenden
Verwirrung der Begriffe. So hört man bisweilen reden von einem
vollkommenen Verstände, der sich mit boshaften Gesinnungen
verträgt, und von einer Güte des Herzens, welche mit Schwachheit
des Verstandes verbunden ist. Wenn aber die sittliche Gesinnung
den Verstand nicht treiben kann, wo sie ihn braucht: so muß
sie schwach sein und sich auch so zeigen in der sogenannten
Güte des Herzens, welche sich also nicht als sittlich bewähren
wird. Und wenn im unmittelbaren Handeln die unsittliche Ge-
sinnung sich herrschend zeigt: so wird sie auch diejenige Reihe
von Wollungen beherrscht haben, welche der Übung und Tätig-
keit des Verstandes zum Grunde lag, so daß die sogenannte Voll-
kommenheit ethisch betrachtet nichts anderes ist als eine Stärke
und Vollkommenheit der unsittlichen Gesinnung. Und es ist nichts
gesagt, wenn jemand einwendet, derselbe Verstand werde doch
auch um so besser das Sittliche vollbringen und der Tugend dienen
können; denn er vollbringt ja nichts als durch den Willen und
für den Willen, durch welchen und für welchen er ist. Ja, es
ließe sich als ein schwerscheinender Satz behaupten, daß, an-
genommen, die Gesinnung könne sich umkehren, dann auch eine
neue Übung und Gestaltung des Erkenntnisvermögens voran-
gehen müsse, ehe es der neuen Gesinnung mit gleichem Geschick
[111,1, 163] II. Kritik der ethischen Begriffe. 165
werde dienen können, welches jedoch nicht hieher gehört. Die
Sache selbst aber haben die Stoiker, wiewohl selbst von dem
Fehler nicht frei, sehr gut ausgedrückt durch die Behauptung, daß
nur der Weise in Wahrheit Freund und Meister sein könne irgend-
einer Kunst oder Wissenschaft; welches sagen will, daß
diese Vollkommenheiten ethisch betrachtet nur in-
sofern des Namens genießen, als sie durch die sitt-
liche Gesinnung in ihrem wahren Umfange aufge-
geben und hervorgebracht und also auch innerhalb
derselben beschlossen sind.
Weiter! auch wird in denselben Darstellungen die Tugend Einteilung
eingeteilt, wie die Pflicht, sowohl nach den Zwecken als nach"^'^ . ^^^ ^"
^ ' ' und Gegen-
den Gegenständen. Das erste behauptet, ohne es jedoch genau ständen.
auszuführen, Kant mit einer Verwirrung, in der jede Spur seines
dialektischen Verstandes verschwindet, indem er sagt, es sei zwar
nur eine Tugend, man könne aber mehrere Tugenden unter-
scheiden nach Maßgabe der Zwecke, welche die Vernunft vor-
schreibt. Denn soviel fehlt, daß jedem Zvv^eck eine andere und
eigene Gesinnung müßte untergelegt werden, daß vielmehr nur
durch die Mehrheit der Zwecke, indem vielem Äußeren dasselbe
Innere als zum Grunde liegend sich offenbart, die Gesinnung kann
erkannt werden. Nicht besser aber ist es mit dem zweiten, wenn Altruistische
die Tugenden, wie vorher die Pflichten, eingeteilt werden in "" ,
^ j o egoistische
gesellige und in auf sich selbst bedachte. Denn im sympatheti- Tugenden.
sehen System ist weder der wohlwollende Trieb für sich sittlich
noch der selbstische, sondern nur das Gleichgewicht, und also
die Gesinnung nur insofern sittlich, als dieser Unterschied auf-
gehoben wird; im praktischen aber ist jede Person nur insofern
Gegenstand des Sittlichen, als sie ein Mitglied ist von der Gemein-
heit der Vernunftwesen, also die Gesinnung nur insofern sittlich,
als der Unterschied gar nicht gemacht wird. In beiden wäre
daher diese Teilung nur der des Aristoteles ähnlich nach dem
^ Absatz nicht im Original.
166 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenleiire. (111,1, 164)
Schein, oder der andern nach dem Gegensatz; denn von Nei-
gungen, welche selbstisch sind und gesellig, werden wohl beide
reden. Auch könnte jemand fragen, wie wohl der Mensch dazu
gelange, die Mehrheit von Menschen zu finden und anzuerkennen,
wenn nicht durch einen Trieb, welcher sie sucht, und ob es also
eine gesellige Tugend gebe vor den Gegenständen der Gesellig-
keit, wodurch ebenfalls beide sich wieder in eine und dieselbe
verwandeln würden. Daß aber auch Spinoza diesen Unterschied
auffaßt und seine Tugend einteilt in Starkmütigkeit und Edel-
mütigkeit, geschieht wenigstens mit deutlichem Bewußtsein, daß
die Einteilung nur eine äußere ist, und daß die Tugend nicht auf
diese Weise in zwei an sich unterschiedene Gesinnungen zerfällt,
so daß man von ihm nicht sagen kann, er werde durch einen
Mangel an ethischem Sinn dazu getrieben, sondern nur durch eine
rhetorische Absicht. Diese jedoch würde er nicht nötig gehabt
haben zu verfolgen, wenn er die zuletzt aufgeworfene Frage
beantwortet und der Wurzel der ethischen Gesinnung bis dahin
nachgegraben hätte, wo auch der Trieb gleiche Wesen zu suchen
in sie eingewachsen ist, wozu sein System einen gar nicht be-
schwerlichen Weg deutlich anzeigte. Pia ton hingegen hat überall
so stark als möglich gegen diese Unterscheidung sich erklärt,
indem er sogar in der Gerechtigkeit, welche doch immer an die
Spitze der geselligen Tugenden gestellt wird, die gleiche auf den
Handelnden selbst sich beziehende Gesinnung aufsucht. Zu wel-
chem Versuch, um die Unteilbarkeit der Tugend auf diesem Wege
anschauHch genug zu zeigen, noch die andere Hälfte mangelt,
nämlich, auch die am meisten auf den Handelnden selbst sich
beziehende Gesinnung zu einer geselligen, und zwar in der größten
Allgemeinheit zu erweitern. Endlich noch haben einige, an den
neueren Einteilungen verzweifelnd, denjenigen Teilungsgrund zu
erforschen gesucht, auf welchem die vier Haupttugenden der
gemeinen hellenischen Sittenlehre beruhten, welches doch nur dann
von Nutzen für die Wissenschaft sein könnte, wenn zuvor die Bc-
[111,1, 165] II. Kritik der ethischen Begriffe. 167
deutung dieser Tugenden selbst genauer als bisher wäre geprüft
worden. So meint Garve zuerst, es habe dabei die Wahrnehmung
der vier natürlichen Gemütsarten zum Grunde gelegen, welches
denn auf die bereits betrachtete Einteilung der Tugend nach den
rohen Begehrungen und Antrieben zurückwiese. Dann wieder, sie
bezögen sich auf die verschiedenen Stufen des Daseins, welche
der Mensch als die höchste Potenz in sich vereinigte, welches
zwar gar nicht hellenisch, in gewisser Hinsicht aber spinozistischer
ist, als man von diesem vermuten sollte. Ethisch indessen ist es
wohl gar nicht. Denn unmöglich könnten diejenigen Gesinnungen,
welche den niedrigeren Stufen des Daseins entsprächen, als für
sich allein tätig gedacht, den Charakter der Vollkommenheit an
sich tragen; und wer jemals nur einer solchen gemäß handelte,
könnte nicht der Weise sein. So daß alle übrigen nicht für sich
Tugenden sein würden, sondern nur entweder Teile der höchsten
Tugend wären, oder dieser untergeordnete und an sich gar nicht
sittliche Eigenschaften.
Was also den Begriff der Tugend anbetrifft, so ergibt sich
aus dem Gesagten, daß auch dieser meistenteils weder gehörig
entwickelt, noch auch immer auf die rechte Weise gebraucht ist;
besonders aber, daß er sich bis jetzt jeder Einteilung zu ver-
weigern scheint, welches im voraus von den vielen überall vor-
kommenden einzelnen und besonderen Tugenden keine günstige
Meinung erregt.
3.
Vom Begriff der Güter und Übel.
Am schwierigsten aber unter allen ethischen Begriffen ist für
die Untersuchung der Begriff der Güter und Übel, weil nicht
nur die neuere Sittenlehre ihn gänzlich vernachlässigt und kaum
hie und da, gleichsam nur weil er doch einmal vorhanden ist,
seiner Erwähnung tut, sondern auch in der alten die Klarheit,
worin er sich darstellt, gar nicht in Verhältnis steht zu den vielen
^68 Grundlinien einer Kritiic der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 166]
Versuchen, welche damit sind gemacht worden. So viel indes
ist für sich deutlich, daß, wenn er weder ein leerer Name sein
soll für dasselbe, was unter den vorigen Begriffen zusammen-
gefaßt wurde, noch auch außerhalb der Ethik Gelegenes bedeuten,
nämlich dasjenige, was nur ein Mittel ist, um das Sittliche als
seinen Zweck hervorzubringen oder zu erhalten; sondern wenn
er in der Wissenschaft selbst seinen Ort, wie er ihm vor alters
angewiesen worden, behaupten soll, muß er sich, wie bei uns
auch schon der Name andeutet, auf die noch übrige dritte Gestalt
der ethischen Idee, nämlich das höchste Gut beziehn, und zwar
ebenso wie die beiden vorigen auf die ihrige, wie das Element
auf das Ganze, oder wie das einzelne auf die Totalität, unter
welcher es befaßt ist. Das höchste Gut aber hatte sich gezeigt
als Gesamtheit dessen, was durch die ethische Idee kann hen'or-
gebracht werden; welches Hervorbringen freiUch nur eine all-
gemeine Bezeichnung ist, und der näheren Bestimmung nach in
jedem System verschieden sein kann, in dem einen sich verhaltend
zum Hervorbringenden, wie die Welt zur Gottheit, in dem an-
dern, wie die Sprache zum Gedanken oder wie die Frucht zur
Pflanze. Was also ein Gut sein soll, muß sich wie ein einzelnes
auf jene Art Hervorgebrachtes verhalten, und wiederum eine
andere ethische Einheit sein, als die Pflicht war oder die Tugend.
Und daß in diesem Sinn der Begriff der Güter gemeint war, ist
nicht schwer zu sehen. Denn jener Fall, wo auch die Tugend
ein Gut genannt wird, ist oben schon vorläufig erörtert, und
der andere Begriff der Pflicht ist niemals mit diesem verwechselt
worden. Wie aber nun zu jenen beiden diese neue Einheit sich
verhalten soll, und ob noch eine dritte zu den vorigen statt-
haben kann, dies muß jetzt näher betrachtet werden. Denn an
sich zwar scheint überall das Hervorgebrachte ein drittes zu sein
zu der hervorbringenden Kraft und der Handlung des Hervor-
bringens; und so wie einer Kraft viele Handlungen gehören, so
auch können viele Handlungen erfordert werden, damit ein Her-
[111,1, 167] II. Kritik der ethischen Begriffe. 169
vorgebrachtes entstehe. Oder auch, wie eine Handlung kann
zurückgeführt werden müssen auf viele Kräfte, als zugleich und
im Verein wirkend: so auch kann jede Handlung zu erklären
sein aus einer zusammengesetzten Abzweckung auf mehreres
Hervorzubringende. In Beziehung aber auf das Sittliche scheint
dieses eigenen Schwierigkeiten unterworfen zu sein und uns plötz-
lich wieder zurückzuwerfen in den alten Streit über die Form
des SittHchen und seine Materie. Um nun sogleich diesen Schein
zu entfernen, ist zuerst im allgemeinen zu erinnern, daß keines-
wegs das Verhältnis der Pflicht zum Gut so gedacht werden solle,
daß die Tat nur Mittel sei, das Werk aber oder das Hervor-
gebrachte der Endzweck; welches ja schon oben als nicht ver-
träghch ist erklärt worden mit der Natur der Sittenlehre, als in
der alles unmittelbar und um sein selbst willen bestehen muß.
Vielmehr ist dieses ein sicheres Merkmal, daß eine Ethik nicht
frei ist von Widersprüchen, wenn sie nicht auf eine andere eigene
Weise diese beiden Begriffe aufeinander zu beziehen vermag;
oder vermag sie es zwar, hat es aber nicht geleistet, so geht
hervor, daß sie sich selbst nicht gehörig verstanden und aus-
gebildet habe. Welchergestalt also auch die formalistische Sitten-
lehre, wenigstens von diesem Punkt aus, den Begriff nicht be-
streiten kann. Ebensowenig aber darf die Pflicht gedacht werden
als unzureichend, um das Gut hervorzubringen, wie gerade die
formalistische Sittenlehre hat behaupten wollen; denn durch ein
solches Verhältnis würde ebensosehr als durch jenes einer von
beiden Begriffen aufhören, ethisch zu sein. Dieses nun sei im all-
gemeinen verwahrend vorausgesetzt; die wahre Beschaffenheit
dieses Verhältnisses aber und der Sinn des zu betrachtenden Be-
griffs läßt sich nur genauer betrachten in Beziehung auf die ein-
zelnen voneinander abweichenden Darstellungen der Sittenlehre.
Was nun zuerst die eudämonistische Ethik betrifft, so ist Ethik des
schon im vorigen Buche gezeigt worden, daß sie eines vorbereiten- ^nusses.
den und bloß vermittelnden Handelns kaum entbehren kann, und
170 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 168]
was für nicht zu hebende Nachteile ihr hieraus entstehen. Ferner
auch ist noch erinnerhch, wie für sie das höchste Gut nichts sein
kann als nur ein Aggregat, so daß keineswegs nach dieser An-
sicht die einzelnen Güter für jene Idee so organische Elemente
sind, wie etwa für die Idee des Gesetzes die Pfhchten, und daß
sie auch nicht vollständig, sondern nur durch Annäherung der
Idee entsprechen, deren Möglichkeit daher auch in diesem Sinne
von den besten eudämonistischen Schulen ist geleugnet worden.
Hievon aber müssen wir eben deshalb hinwegsehen, wenn die
Frage nur die ist, ob der Begriff der Güter in seinem wahren
Sinne ist aufgestellt worden; denn seine Beziehung auf die Idee
wird durch deren beschränkte Beschaffenheit nicht hinweg-
genommen. Wenn man nun nur dasjenige Handeln betrachtet,
welches nicht erst Vorbereitungen trifft und Mittel herbeischafft,
sondern unmittelbar mit dem Hervorbringen der Lust beschäftigt
ist: so zeigt sich dieses, wie nahe es auch an seiner Vollendung
beobachtet wird, immer unterscheidbar von der Lust selbst, als
dem Hervorgebrachten. Niemals aber erscheint es doch gegen sie
als ein ganz Fremdes, oder nur als Mittel; sondern es zeigt sich
überall so mit ihr verbunden, daß eins ohne das andere nicht
kann gedacht werden. Denn nicht nur wird die Lust hervor-
gebracht in einer Zeitfolge, durch ein in gleicher Zeitfolge fort-
laufendes Handeln; sondern das Handeln selbst enthält schon
seiner Natur nach die Lust im Vorbilde, welches, mit dem Fort-
gange von jenem sich steigernd, fast stetig in die Wirklichkeit
übergeht. So daß das Handeln und das als ein Leiden gedachte
Entstehen der Lust zwei in umgekehrter Ordnung, eine wachsend,
die andere abnehmend, verbundenen Reihen zu vergleichen sind.
Womit auch die Verschiedenheit der Einheiten nicht streitet, son-
dern gar wohl einer Lust ein mannigfaltiges Handeln entsprechen
und ein und dasselbe Handeln auf ein Vielfaches der Lust kann ge-
richtet sein; denn nach einem andern Grunde wird das Handeln,
nach einem andern das Genießen geteilt und zusammengefaßt.
[111,1, 169] II. Kritik der ethischen Begriffe. 171
Sehen 1 wir weiter auf die praktische Ethik, so entspricht hier Ethik des
noch weit offenbarer jedem Handeln, als seine eigentUche Voll- ^"^^'"s.
endung, ein Werk. Denn jedes sittliche Handeln ist das Hervor-
bringen, oder, welches gleichviel gilt, das Erhalten eines Verhält-
nisses, entweder der Teile des Menschen untereinander, oder des
einen zu den andern, welches ^ ein Gut müßte genannt werden.
Und zwar ist es seiner Natur nach allezeit ein solches, welches
nur im Handeln und aus Handlungen besteht, indem ja von dem
Standpunkt dieser Ethik nichts anderes gesehen wird, als Handeln.
Sonach erscheint das Handeln nicht als Mittel zu dem Werk als
Zweck, sondern es ist selbst ein Teil desselben ; und wiederum ist
in dem Werke nichts anderes als solches Handeln enthalten, so
daß offenbar das pflichtmäßige Handeln zureichend sein muß zum
Hervorbringen des Werkes, und also genau dasjenige Verhältnis
entsteht zwischen Pflicht und Gut, welches die Natur der Begriffe
und ihr Ursprung erfordern. Weil nämlich demnach die Hand-
lung nicht bloß als Teil dem Werk untergeordnet ist, sondern
auch wieder das Werk der Handlung. Denn von dem Handeln
für sich ist der Entschluß das Wesen; und bei diesem ist nicht
nur auf dasjenige Werk allein gesehen, welches unmittelbar durch
die Tat gefördert wird, sondern auch auf alle übrigen, die als
Güter und als Teile des höchsten Gutes aufgegeben sind; wie
dieses schon oben gezeigt worden. Vielleicht aber möchte jemand
gegen die behauptete Zulänglichkeit der Tat zur Vollbringung
des Werkes einwenden, daß doch in beiden, sowohl der eudämo-
nistischen Ethik, als der praktischen, das Werk nicht rein aus
der Tat hervorgehe, sondern in der ersteren auch abhänge von
der Natur, in der letzteren aber meistenteils von den Handlungen
anderer, welche doch in Beziehung auf jeden einzelnen Fall eben-
falls Natur sind oder Zufall. Hier nun ist eine andere in Be-
^ Absatz nicht im Original.
- In Ausgabe 1803 folgen jetzt die Worte: „Verhältnis dann für sich be-
trachtet das Werk ist, welches".
172 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 170]
trachtung zu ziehen von den Verschiedenheiten der Grundsätze,
ob nämlich nur das Gemeinschaftliche der menschlichen Natur
gedacht ist als Gegenstand der Sittlichkeit, oder auch das Be-
sondere und Eigentümliche 1; denn von diesen Fällen führt jeder
seine eigene Antwort herbei. Wird nämlich, wie in den Systemen
der Tätigkeit fast durchgängig geschieht, der erste gesetzt: so sind
für diese Ansicht, bei welcher die Persönlichkeit nicht in Betracht
kommt, die verschiedenen Handlungen des einzelnen nicht besser
verbunden und minder zufällig eine für die andere, als die ein-
zelnen Handlungen Verschiedener. Und sonach würde entweder
auch durch diese, oder auch nicht einmal durch jene, ein Werk
können so hervorgebracht werden, daß man sagen dürfte, es sei
das sittliche Handeln ohne Zufall dazu hinreichend gewesen. Wer
nun das letzte behaupten wollte, der müßte, wie mit den ein-
zelnen Handlungen, so auch mit den Bruchstücken des Werkes
sich genügen lassen, welche er dann rein sittlich finden würde, wie
in der Lust, so auch in der Tätigkeit. Wird aber, wie in der
Sittenlehre des Genusses am allgemeinsten und auch am richtig-
sten geschieht, das Besondere und Eigentümliche als Gegenstand
der Sittlichkeit gesetzt: so verschwindet, sie gehe nun auf Tätig-
keit oder auf Lust, mit dem Gemeinschaftlichen der Kraft oder
des Stoffes auch der allgemeingültige Maßstab für die Vollendung
des Werkes, sowohl dem Begriff als dem Grade nach, und auch
das v/ird müssen für ein Werk gelten, was ohne Beihilfe der
Natur aus eigener Kraft ist vollbracht worden, wenn es gleich
äußerhch nur als ein Bruchstück erscheint, oder als ein Teil,
oder auch als eine Verminderung eines Entgegengesetzten.
Auf diese Art also scheint dem Begriff seine Stelle in allen
Darstellungen der Sittenlehre gesichert und seine Bedeutung für
das Ganze außer Streit gesetzt. Worauf nun zu untersuchen ist,
ob er auch diesem Sinne gemäß und an der rechten Stelle ist
aufgestellt worden; welches hier, wie auch bei den vorigen ge-
schehen, ohne durch Beispiele des einzelnen und Realen dem
1 Vgl. auch S. 61, 111, 261.
[111,1, 171] II. Kritik der ethischen Begriffe. 173
folgenden Abschnitt vorzugreifen, vermittelst der dem Begriff an-
hangenden, gleichfalls formalen Nebenbegriffe sowohl, als auch
der Art, ihn zu teilen, muß geprüft werden.
Und hier ist zuerst von der Ethik, welche sich die Lust zum Weitere
Ziel gesetzt hat, zu bemerken, daß sie sich diesen Begriff, ohn- ^ 1!^^
^ ' ' ö ' Begriffes von
erachtet der erwähnten Schwierigkeiten, möglichst rein hat zu er- qu^u^^ Übel,
halten gewußt. Denn Aristippos wenigstens schließt davon alles 1. Eudämo-
dasjenige aus, was nur ein Erzeugnis des vermittelnden und vor- "ismus.
bereitenden Handelns ist und nur erst durch den Gebrauch seinen
bestimmten Wert erhält. Auch kommt der Mittelbegriff zwischen
Gut und Übel bei ihm nicht vor als etwas Wirkliches und sitt-
lich Hervorgebrachtes, sondern nur als eine leere Stelle. Denn
ein Zustand, welcher weder Lust noch Schmerz in sich enthält,
ist entweder gar nicht möglich, oder nur dadurch, daß das Selbst-
bewußtsein aufgehoben ist, welches, wenn nicht ein Teil der
Handlung für die ganze genommen wird, durch ein sittlich zu
beurteilendes, das heißt willkürliches Handeln diesem System zu-
folge unmöglich geschehen kann. Diese verhältnismäßig größte
Reinheit nun scheint zu beweisen, daß dieser Begriff mehr als
einer von den vorigen geeignet ist, das Gerüst einer solchen
Sittenlehre zu bilden. Zugleich aber offenbart sich doch auch in
ihm die chaotische Natur derselben. Denn sie kann nicht füglich
anders als jede Einteilung dieses Begriffs verwerfen, weil ent-
weder Güter und Übel, das Sittliche und Unsittliche, auf gleiche
Weise müßten geteilt werden, welches bisher allezeit falsch ist
befunden worden, wenn nämlich die Teilung sich gründete auf
die Merkmale, welche im Begriffe der Empfindung verbunden
sind. Oder wenn nach den Gegenständen geteilt würde, deren
Berührung und Behandlung die Lust hervorbringt, so bezöge sich
die Teilung auf nichts Wesentliches, welches Wert und Art des
Eingeteilten verschieden bestimmte. Denn die Ursachen der Lust
sind bei dieser Ansicht ganz gleichgültig, wie auch Aristippos
ausdrücklich behauptet; und sie erkennt, genau zu reden, keinen
andern Unterschied zwischen einem Gut und dem andern, als
den des Grades, wenigstens muß sie diesem alle andern unter-
174 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 172]
ordnen. Da nun aus diesem keine wissenschaftliche, sondern nur
eine höchst willkürliche Einteilung hervorgehen kann, so ver-
schwindet zu jener jede Möglichkeit; so daß das einzelne Reale,
welches dem Begriff des Gutes angehört, nur ebenso grob em-
pirisch und regellos kann aneinander gereiht werden, wie hier
die Idee des höchsten Gutes selbst nur als ein solches Zusammen-
gereihtes gedacht wird.
II. Ethik Was aber zweitens die Sittenlehre des Handelns betrifft, so
des Handelns. j^g^ ^q^. Begriff von Gütern, wenngleich nirgends häufiger ge-
braucht, doch nirgends in größerer Verwirrung gelegen, und zwar
größtenteils deswegen, weil sie das Formale desselben nicht rein
aufgefaßt, sondern, was in der Sittenlehre der Lust seinen Inhalt
bezeichnet, mit darin aufgenommen haben. Von Aristoteles
zwar kann man das letztere weniger sagen und muß davon, daß er
diesen Begriff gänzlich verdorben, den Grund vielmehr suchen
in der eigentümhchen Art, wie er der Lust eine Stelle einräumt
neben dem Handeln. Denn er begleitete die eigentümliche Lust
nicht durch das allmähliche Fortschreiten einer jeden Handlung,
sondern erblickte sie nur am Ende und bezog sie auf das Wohl-
geraten, auf die gänzliche Erreichung des äußerHchen Endzweckes
der Tat. Hiezu nun fand er mit Recht, um es jedesmal zu be-
wirken, die sittliche Kraft nicht hinreichend, sondern bedurfte
ebenfalls eines vorbereitenden und vermittelnden Handelns nicht
nur, sondern auch einer unmittelbaren Hilfe und Beistimmung
der Natur und des Zufalls; und hievon die Erzeugnisse Güter
zu nennen, dieser Täuschung, gegen welche Aristippos sich zu
verwahren gewußt, hat er untergelegen. Denn nun beziehen sich
ein Teil seiner Güter nicht auf die Idee des höchsten Gutes,
und er gesteht selbst, es gebe einige Güter, die kein Bestandteil
von dieser sein könnten; weil er nämlich, auf die Tätigkeit aus-
gehend, nur die Lebensweise, als ein Innerliches betrachtet, für
dasjenige erkannte, was rein sittlich kann hervorgebracht werden.
Auch fehlt es an einem Vereinigungspunkt für seine verschie-
denen Arten von Gütern, wie er sie dem Pia ton oder vielmehr
[111,1, 173] II. Kritik der ethischen Begriife. 175
einer alten und gemeinen Vorstellung nachsprechend einteilt; und
fes möchte schwer sein, den allgemeinen Begriff, unter welchem
sie sollen befaßt sein, als einen ethischen aufzustellen und zu
bestimmen. Denn einige, nämlich alle äußerliche und auch von
den körperHchen und geistigen ein Teil, sind nur Ergänzungen
und Erleichterungen des Handelns, andere aber, nämlich von den
beiden letzteren Arten die übrigen, sind ordentlich ein Bewirktes
durch das Handeln; beide also scheinen ethisch gänzlich von-
einander getrennt zu sein und die Einheit des Begriffes dem-
nach außer den Grenzen dieser Wissenschaft zu liegen. Noch
eigentlicher aber läßt sich das oben Gesagte, daß nämlich eudämo-
nistische Bestandteile auch die bloß formale Ansicht des Begriffes
verdorben, von den Stoikern behaupten. In der Sittenlehre der
Lust nämlich kann natürlich nur das ein Gut sein, was sich
auf den persönlichen Zustand eines Menschen bezieht; und der
Begriff des Besitzes ist mit dem Begriff des Gutes unzertrennlich
verbunden. Dieses materiale Merkmal nun nahmen die Stoiker
mit auf in den formalen Begriff, und weil sie mit Recht gegen
die Eudämonisten sowohl als gegen den Aristoteles die Hin-
länglichkeit der sittlichen Kraft zur Hervorbringung eines jeden
Gutes behaupten wollten, welches der Sinn ist von jener Formel,
daß nur das ein Gut sein könne, was von uns abhängt: so blieb
ihnen, als zum persönlichen Zustande gehörig und als sittlicher
Besitz, nichts übrig, als die Tugenden. Daher kann man sagen,
daß der Begriff von ihnen nur polemisch aufgenommen und
angewendet ist und nur so einen Wert hat. Denn sehr gut
haben sie gegen die Peripatetiker geleugnet, daß äußerliche
Begünstigungen zur Vollendung der Tugend notwendig wären, oder
daß irgend etwas ein Gut sein könne, was nicht als Bestandteil
zum höchsten Gut gehöre. Für sie selbst ist aber der Begriff
ursprüngHch ganz leer geblieben, und hat nur aus Furcht vor
dieser Leere hernach, anstatt das System zu vollenden, zum Ver-
derben desselben gereicht. Denn wegen jenes aufgenommenen
Merkmals mußte ihnen der Begriff der Darstellung des Sitt-
176 .Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 174]
liehen, als das unterscheidende Merkmal der Güter, entgehen,
und mit diesem auch die verschiedene Beziehung der Tugend,
insofern sie einen unabhängigen und ursprünglichen Begriff bildet,
und wiederum insofern sie dem der Güter als ein Reales unter-
geordnet ist. Da sie aber dennoch, durch ihre dialektische Neigung
getrieben, beides unterscheiden wollten: so sind sie in jene dem
Aristoteles ähnliche Verwirrung hineingeraten. Daß nun dieses
wirklich die Geschichte des Begriffs der Güter in ihrem Lehr-
gebäude gewesen ist, muß die ganze Behandlung desselben einem
jeden beweisen. Denn zuerst offenbart sich die Beziehung auf
den persönlichen Zustand und den Besitz in dem Verfahren mit
dem Begriff der gleichgültigen Dinge, der ganz darauf beruht,
daß es etwas gibt, dessen Besitz aus sittlichen Gründen weder
gesucht werden darf noch vermieden; keineswegs aber darauf,
daß einiges überall kein Werk ist, und also weder die sitt-
liche Gesinnung darstellt noch die entgegengesetzte. Wie denn
auch die große Ausdehnung des Begriffs der Güter überhaupt
und die Einteilung alles dessen, was ist, in Güter und Übel
und keines von beiden nur ein dialektisches Wagestück sein mag,
aus der Verlegenheit den ihnen fremden Begriff irgendwo an-
zuknüpfen entstanden; die Aufgabe aber, welche für denjenigen,
darin liegt, der die Güter als Darstellungen ansieht und als
Werke, ist von ihnen gar nicht gedacht worden. Ferner erhellt
das nämliche aus allen ihren Einteilungen, welche genau be-
trachtet keine andern sind als die des Aristoteles, in ihrer mehr
dialektischen Sprache ausgedrückt. Nur daß in der einen, in Güter
in der Seele und außer der Seele und keines von beiden, den
Widersinn der Dreiteilung abgerechnet, der Gedanke des Be-
sitzes mehr hervorsticht: in der andern aber, in Güter, welche
das Sittliche in sich haben, und in solche, welche es hervorbringen,
und solche, von denen beides gilt, die gänzliche Unbestimmtheit
der sittUchen Beziehung. Nicht leicht aber zeigt sich irgendwo
.deutlicher als hier die Vortrefflichkeit der Dialektik, welche sie,
[111,1, 175] II. Kritik der ethischen Begriffe. 177
wenn sie ihr treu geblieben wären, notwendig auf das Richtige
hätte führen müssen. Denn was weder in der Seele ist noch
außer ihr, welchen Sinn könnte diese Formel haben, wenn nicht
dasjenige ihr entsprechen soll, was überall nicht in Beziehung
auf einen und als Besitz kann gedacht werden; und wenn nur
irgend Güter sollen außer diese Abteilungen ^ gehören, müssen
auch die vorigen hierauf zurückgeführt werden, und auch die in
der Seele nur Güter sein, weil sie nicht außer ihr, und die außer
ihr, weil sie nicht in ihr sind. Ebenso müßte sich aus der ersten
Abteilung ergeben, daß, wenn es Güter gibt, die auf so ver-
schiedene Weise sich auf das Sittliche beziehen, das Wesentliche
des Begriffs nicht liegen kann in dem, wodurch diese Beziehungen
einander entgegengesetzt sind, sondern in einem Gemeinschaft-
lichen, welches aber auch nicht bloße Unbestimmtheit sein darf,
sondern ein Bestimmtes. Dieses aber ist nichts anderes als der
Begriff des Werkes und der Darstellung, welche aus der Ge-
sinnung hervorgegangen auch wieder die Gesinnung erweckt,
indem sie sie verkündigt, und welche sittlich hervorgebracht auch
wieder die Kraft hat, in einer anderen Reihe sittlicher Tätigkeit
mitzuwirken. Ferner hätte sich, wenn sie den Unterschied nicht
vernachlässigt hätten, daß sich im Eudämonismus alles auf die
Einzelheit, bei ihnen aber alles auf die gemeinschaftliche Natur
bezieht, auch der Gedanke des Besitzes erweitern müssen zu dem
eines Gemeinbesitzes, welcher in seiner größten Ausdehnung ge-
dacht nichts übrig läßt, als dasjenige, was da ist für die An-
schauung. Von selbst hätte sich dann nach derjenigen Regel
erweitert die Formel der Zulänglichkeit der sittlichen Kraft, näm-
lich es müsse zureichen diejenige sittliche Kraft und Größe, für
welche auch das Gut ein Gut ist, nämlich die gesamte. Und auch
hier zeichnet sich wiederum aus Spinoza, welcher, obgleich er
ebenfalls nicht viel Gebrauch macht von dem Begriff der Güter,
doch bei gleichen ja stärkeren Veranlassungen, als die des Aristo-
Schleiermacher, Werke. I. 12
178 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 176]
teles und der Stoiker, dieselben Fehler vermeidet und den Fehler
des Nichtgebrauchs nicht vermehrt durch den Mißbrauch. Denn
bei der Art, wie er den Menschen abhängig macht von der Natur,
wäre es keinem verzeihlicher gewesen als ihm, die Begünsti-
gungen derselben als etwas Sittliches unter dem Namen der Güter
aufzunehmen. Hievon aber entfernt er sich gänzlich durch die
Erklärung, daß alle wahren Güter der Wirklichkeit nach allen
Weisen, der Natur nach aber allen Menschen müßten gemein
sein; welches zugleich auch in der andern Hinsicht der Aufschluß
ist und die Vermittlung für die den andern gemeinsamen Irr-
tümer. Am reinsten aber nicht nur von Fehlern, sondern auch
am vollständigsten findet sich dieser Begriff, wenngleich auch
nur unentwickelt, in der Sittenlehre des Piaton. Denn so dachte
er sich die Gottähnlichkeit des Menschen als das höchste Gut,
daß, so wie alles Seiende ein Abbild ist und eine Darstellung des
göttlichen Wesens, so auch der Mensch zuerst zwar innerlich sich
selbst, dann aber auch äußerlich was von der Welt seiner Gewalt
übergeben ist, den Ideen gemäß gestalten solle, und so überall
das Sittliche darstellen. Hier also tritt das unterscheidende
Merkmal des Begriffs deutlich heraus, und die Beziehung des-
selben sondert sich ab von der Tat sowohl als der Gesinnung.
Und wer kann beurteilen, wie weit dieses ist ausgeführt gewesen
in seinen Gedanken, und wieviel wir davon erblicken würden,
wenn wir jenes große Werk ganz vor uns hätten, welches das
göttliche Wesen, wiewohl des Neides unfähig, entweder ihm aus-
zuführen oder uns zu besitzen nicht erlaubt hat^.
1 Piatons großes Werk „Die Gesetze" sind Fragment.
[111,1, 177] II. Kritik der ethischen Begriffe. 179
Zweiter Abschnitt.
Von den einzelnen realen ethischen Begriffen.
Da nun von der Absonderung der einzelnen realen Begriffe
von den allgemeinen formalen, unter welche sie dennoch gehören,
die Ursache keine andere war als die Notwendigkeit, letztere so
genau zu unterscheiden als möglich, worin die öfters zweifelhafte
Beziehung eines realen Begriffes bald auf diesen bald auf jenen
formalen ein sehr erschwerendes Hindernis würde gewesen sein:
so ist nun auch natürlich bei den realen der Anfang der Unter-
suchung von demjenigen Gebiete zu machen, welches am meisten
abgesondert und in jene Grenzstreitigkeiten nicht verwickelt ist.
Dieses aber ist das der Güter, teils aus andern Ursachen, teils Die Güter,
schon wegen des weniger ausgebreiteten Gebrauches, der davon
ist gemacht worden. Um nun nach einer von den gegebenen Ab-
teilungen, ohne daß sie jedoch dadurch für richtig sollte aner-
kannt werden, die Übersicht zu ordnen, so mögen zuerst zur Be-
trachtimg kommen die äußerlichen Güter, wie sie am zahlreichsten
erscheinen in den Darstellungen der Nachfolger des Aristoteles;
denn den größten Teil von ihnen haben sowohl die Cyrenaiker
verw^orfen als auch die Stoiker. So haben die Peripatetiker den
Reichtum und die bürgerliche Gewalt, ja sogar den fortdauernd a) Reichtum
günstigen Zufall als Güter aufgeführt; im Verfolg nämhch jener Qg^^*]^ ^^^^
unrichtigen Ansicht, dasjenige was den glückhchen Erfolg der
sittlichen Tat begünstigt, nicht aber das, was das natürliche
und notwendige Werk derselben ist, ein Gut zu nennen, und
zwar jedes nur für denjenigen, welchem es dient. Daher auch
offenbar ist, daß diesen Gütern das Merkmal der Allgemeinheit
abgeht, welches allem Ethischen beiwohnen muß: denn solcher-
gestalt auf den Besitzer bezogen, haben sie auch für diesen einen
Wert nur in dem Maße, in welchem andere ihrer entbehren.
Diejenigen nun, welche sich die Lust zum Endzweck machten,
12*
180 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH, 1, 178]
haben sehr richtig diese Güter nicht als solche anerkennen ge-
wollt, weil nämlich keineswegs in ihnen nur Sittliches, nämlich
Lust gedacht wird, sondern vielmehr, wenn die Lust an ihnen,
sofern sie Mittel sind, als nicht sittlich mit Recht ist ausgeschlossen
worden, unmittelbar gar keine Lust in ihnen enthalten ist. Weniger
aber haben diejenigen, deren Sittliches Tätigkeit ist, ein
Recht, diese Gegenstände aus dem Verzeichnis der Güter zu löschen.
Denn wiewohl dieses von den meisten mit allgemeinem Beifall
ist behauptet worden, so ist doch dies nur eine unüberlegte Nach-
ahmung der Stoiker, welche wie erwähnt nicht aus der Idee
einer praktischen Ethik den Begriff der Güter gebildet, sondern
ihn nur aus der genießenden, mit Merkmalen, welche ihm dort
eigen sind, aufgenommen haben, und also immer auf einen ein-
zelnen Besitzer und eines solchen Zulänglichkeit zum Hervor-
bringen zurücksehen. Sie hätten aber, wie doch ihre Sittenlehre
ganz auf Gemeinschaft und gemeinschaftliche Natur gerichtet ist,
auch diese Güter betrachten sollen in Beziehung auf ein Gesamtes
von Menschen, für welche sie gemeinschafthch und ausschheßend
ihren Wert haben. Und dann wäre allerdings der Reichtum,
zuerst zwar der unmittelbare, nämlich die Menge der Erzeugnisse
und Verarbeitungen, dann aber auch mittelbar der bezeichnende,
ein Gut, ein sittlich Hervorgebrachtes und Darstellung eines Sitt-
lichen, nämlich der bildenden Herrschaft des Menschen über die
Erde. Nicht aber in Beziehung auf den Besitzer, denn der Besitz
wäre hiebei nur ein Zufälliges und Vorübergehendes, sondern auf
alle, soweit sich die Teilnahme daran ausdehnen läßt in der
Idee. Ebenso auch die bürgerliche Gewalt ist ein Hervorgebrachtes
durch alle die offenbar sittlichen Handlungen, aus welchen Er-
haltung nicht minder als Stiftung der größten und zureichenden
menschlichen Gesellschaft besteht, und eine Darstellung dieser
Gemeinschaft selbst. Also ein Gut, nämlich, wie es sich gebührt,
ein gemeinschaftliches für alle, durch deren Handeln es hervor-
gebracht worden. Denn da die bürgerliche Gewalt ein gemein-
f 111,1, 179] n. Kritik der ethischen Begriffe. 181
samer und durch das Gemeinsame bestimmter Wille sein soll: so
hat sie nach der Idee dieser Sittenlehre auf denjenigen, der sie
verwaltet, keine nähere und andere Beziehung als auf alle anderen.
Ja, man kann sagen, daß in der praktischen Ethik selbst der
günstige Zufall als ein Ideal gedacht unter den Gütern müßte
aufgeführt werden, insofern aus der natürlichen Übereinstimmung
aller sittlichen Zwecke von selbst erfolgt, ohne Absicht oder Mit-
wissenschaft, eine Tauglichkeit und Angemessenheit der Hand-
lungen des einen für die Endzwecke des andern, welche Überein-
stimmung darstellend dieses Zusammentreffen in seiner Regel-
mäßigkeit ein Gut ist. Dieses alles nun ist ohne Zweifel von
den Peripatetikern nicht in solchem Sinne gemeint gewesen, son-
dern nur als Mittel zum Handeln, und deshalb im Streit gegen
sie von den Stoikern mit Recht verworfen worden, welche nur
ihre Dialektik nicht weit genug geführt hat, um den Begriffen
die Beziehung auf ihre eigene Idee abzugewinnen, und der Ver-
nichtung des Falschen die Erfindung des für sie wenigstens Rich-
tigen beizufügen. Anders aber und leichter ist es mit der Freund- b) Freund-
schäf t
Schaft bewandt, welche auch die Stoiker mit Recht unter die
Güter aufgenommen, indem anschaulicher in ihr jene Merkmale
dessen zusammentreffen, was in der handelnden Sittenlehre ein
Gut sein soll. Denn daß sie nur im Handeln und durch Handeln
besteht, ist von allen anerkannt, so daß das bloße Wohlwollen
den Namen der Freundschaft nicht erhielt. Und daß nur ein sitt-
liches Handeln die Freundschaft erzeugen könne, für die Unsitt-
lichen sie aber gar nicht vorhanden wäre, war ein gemeiner Satz
der alten Sittenlehre. Einige zwar von denen der Lust Zuge-
tanen "haben die Freundschaft verworfen; aber nur sofern sie ein
Mittel sein soll, um Lust hervorzubringen. Denn in diesem Sinne
gilt, was sie sagen, daß der Weise sich selbst müsse genug sein,
um das Sittliche herbeizuschaffen. Sonst aber ist auch für sie die
Freundschaft ein Gut, insofern sie selbst unmittelbar Lust ist,
und zwar ein Zustand fortdauernder und sich von selbst immer
182 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 180]
wieder erzeugender Lust, in welchem, wenn er nur für sich be-
trachtet wird, nichts anders gedacht werden kann als Lust. Denn
so muß und kann auch in jeder genießenden Sittenlehre nach
Maßgabe des Umfanges, welchen sie sich gesteckt hat, die Freund-
schaft gebildet werden. In dem nämlichen Sinne nun können
auch andere Gegenstände, welche von andern zum Reichtum ge-
rechnet werden, in der eudämonistischen Ethik Güter sein, insofern
sie nämlich ein festes, auf die besonderen Bestimmungen des
einzelnen berechnetes Verhältnis ausdrücken, in welchem eben
deshalb gleichfalls an sich nur Lust kann enthalten sein. Welches
auch leicht die Ursache sein mag, warum in der gemeinen Rede
das reale und der Voraussetzung nach dem Besitzer besonders
angeeignete und angebildete Besitztum sein Gut genannt wird, das
andere aber nur sein Vermögen. Steigen wir nun von der
Freundschaft, der engsten und festesten Verbindung einzelner Men-
schen als solcher, herab zu Ähnlichem, wenngleich Geringerem : so
c) Weniger müssen auch losere und weniger umfassende Verbindungen Güter
feste Verbin- g^j^^ Pl^ij. ^^j^ q[^q^ als Erzeugnisse eines gemeinschaftlichen und
zwar sittlichen Handelns, in denen sich ein Sittliches vollendet
darstellt und fortdauernd erzeugt. Für die andern aber insofern
irgendeine der Verbindung eigentümliche Lust in dem gestifteten
Verhältnis gleichsam festgehalten und zur wechselseitigen Er-
neuerung voraus bestimmt ist. Selbst die Gastfreundschaft nahmen
so die Stoiker unter die Güter auf, in welcher wir jetzt nur die
unvollkommenste Stufe eines Gutes erblicken, nämlich die teil-
weise Linderung eines von der Hinwegschaffung noch entfernten
Übels. Ebenso, wenn sie sagen, der Weise allein verstehe sich
im Gastmahl recht zu verhalten, geben sie zu erkennen, daß auch
dieses, um seinem Begriff zu entsprechen, müsse aus sittlichen
Handlungen gemeinschaftlich hervorgegangen sein und also auch
das Sittliche darstellen und den Namen eines Gutes verdienen.
Welches freilich eine ganz andere Ansicht gewährt, als die Kant
zu nehmen, niemand weiß wodurch, gezwungen v/urde, v/elcher
düngen.
[111,1, 181] II. Kritik der ethischen Begriffe. 183
den Schmaus als eine förmliche Einladung zur Unmäßigkeit unter
den streitigen Gegenständen in seinen kasuistischen Fragen auf-
stellt und wie mit lüsternem Zweifel über dessen Zulässigkeit be-
ratschlagt. Wie nun auch dieses, wenngleich dem Anscheine
nach eine Kleinigkeit, den Geist jeder Sittenlehre unterscheidend
bezeichnet, sei als hieher nicht gehörig einem jeden zu unter-
suchen anheimgestellt. Aufwärts steigend aber zu denjenigen Ver- d) Bürgerliche
bindungen, welche die Menschen nicht mehr als Einzelne zu- ""'^ n^"?« ^
sammenfassen, sondern sie gleichsam von der Einzelheit hinweg-
sehend in Teile eines gemeinschaftlichen Ganzen verwandeln: so
wurden die bürgerliche sowohl als die häusliche Gesellschaft von
allen, welche eine tätige Sittenlehre bearbeiteten, unter die
Güter gezählt. Denn die Frage, ob der Weise den Staat würde ver-
walten helfen, kann dieses nicht widerlegen, sondern vielmehr nur
beweisen, wenn man hinzunimmt, daß jede hieher gehörige Schule,
wie wir selbst von der des Antisthenes wissen, das Ideal eines
Staates aufzustellen pflegte. Woraus hinlänglich erhellt, daß jene
Frage den Staat nur betraf, insofern er vielleicht nur ein Not-
staat, wie es ein Neuerer genannt, oder wohl gar ganz unsittlich
entstanden und gebildet den Sittlichen zum Widerstreit gegen sich
selbst und seine Ideen nötigte. Denselben Unterschied haben die
Stoiker in Beziehung auf die häusliche Gesellschaft auf die ent-
gegengesetzte Weise ausgedrückt, indem sie sagen, nur der Weise
liebe die Seinigen, nämlich nur er mit derjenigen Gesinnung,
welche ein Hauswesen als ein Sittliches oder ein Gut stiften könne
und erhalten. Wie nun auch' in einer eudämonistischen Ethik
die Ehe ein Gut sein kann oder nicht, je nachdem darin den geselligen
Empfindungen Raum gelassen wird, der Staat aber wohl immer
nur als ein notwendiges Übel erscheinen wird; imgleichen auf
welche Seite sich demzufolge jede Behauptung neige, von der
Art, daß der Staat streben müsse, sich selbst entbehrlich zu machen,
dies mag ein jeder für sich entscheiden. Für die tätige Sitten-
lehre aber müßte nach dem Beispiel des Staates und der häus-
184 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre- [111,1, 182 J
liehen Gesellschaft auch die wissenschaftliche, wie sie damals
bestand in Gestalt einer Schule, und wie wir sie jetzt kennen
in andern Gestalten, ein Gut sein; ja auch die Kirche, wie Fichte
sie in seiner Sittenlehre ableitet, und, möchte vielleicht einer
hinzusetzen, die Freimaurerei, wie sie ihm immer gleichsam auf
der Zunge schwebt, ohne ganz hervorzutreten, würden nach seinen
Vorstellungen hieher gehören, schwerlich aber die Zünfte und
geschlossenen Stände des von ihm vorgezeichneten Staates.
Welches als Beispiel hier stehen mag von der noch nicht beant-
worteten, ja wohl nicht aufgeworfenen Frage, wie überhaupt
die Einheit jedes ein Gut bezeichnenden Begriffes zu bestimmen
ist. Denn nicht nur für dasjenige unter dem Angeführten, was
der neueren Sittenlehre angehört, dringt sie sich auf, sondern auch
schon für das Alte. So ist es eine gemeine Erklärung der Alten,
daß der Staat nicht eine Verbindung von einzelnen sei, sondern
von Hauswesen, welche also eigentlich dessen Teile sind, und
so ist zu fragen, ob, was Teil eines Ganzen ist, neben diesem
auch als ein eigenes Gut könne angesehen werden. Ebenso er-
klären sie den Staat für die zur Hervorbringung des höchsten
Gutes hinreichende Verbindung, welche also in ihrer Vollkommen-
heit gedacht alle Güter müßte in sich schließen, wonach zu unter-
suchen wäre, ob auch die Freundschaft, die eigentlich ethische und
die wissenschaftliche, anzusehen wären als Teile des Staates, in
ihm und durch ihn hervorgebracht. Daß die Beantwortung dieser
Fragen sich von selbst ergeben müßte in jeder Sittenlehre, welche
ihre Vorstellungen von einzelnen Gütern nicht aus der Er-
fahrung herbeizöge, sondern systematisch erzeugte
und ordnete, wie auch, daß sie einen großen Einfluß haben
müßte auf die wichtigsten und bestrittensten Gegenstände der
Ethik, dies leuchtet ein. Dieses wird noch deutlicher, wenn man
erwägt, daß nach Maßgabe des bisherigen ebenso auch jedes
e) Werke der Wgrk wenigstens der schönen und bildenden Kunst muß ein Gut
*^'^"^*' sein. Auch für die Sittenlehre der Lust, als ein sich erneuernder
[111,1, 183] II. Kritik der ethischen Begriffe. 185
Wechsel von Befriedigung und Erregung eines bestimmten Triebes,
nicht nur im Anschauen, sondern auch in der Verfertigung, welche
zu denken ist als annäherndes Herbeischaffen des Gegenstandes
der vorgebildeten Lust. Noch mehr aber für die Sittenlehre der
Tätigkeit, indem es auch entstanden ist aus sittlichen, nämlich
eine Idee darstellenden Handlungen, und selbst den Geist der-
selben, nämlich die Regel und das Urbild, im Sinnlichen darstellt.
So daß zwischen diesen Werken und jenen aus reinem Handeln
bestehenden kein anderer Unterschied obwaltet als der zwischen
dem bloßen Handeln und dem Hervorbringen, welches doch auch
ethisch angesehen immer ein Handeln ist. Wer nun überlegt,
wie wunderlich in neueren nur nach dem Pflichtbegriff die Sitten-
lehre abhandelnden Darstellungen die meisten der hier als Güter
aufgeführten sittlichen Gegenstände und Verhältnisse erscheinen,
besonders aber der Staat samt dem, was ihm anhängt, und die
Kunst mit ihren Werken, als um welche sich alles bewegt, ohne
doch daß sie selbst ihren Platz beurkunden und mit dem wissen-
schaftlichen Kleide angetan sind, der wird geneigt sein zu ver-
muten, daß nur unter dem Begriff von Gütern alle diese recht
können dargestellt werden. Was ferner die sogenannten Güter f) Güter des
des Leibes anbetrifft, deren die Alten vornehmlich vier zählen, ^' "'
Gesund, Schönheit, Stärke und Wohlgebautheit: so ist leicht zu
sehen, daß auch sie ursprünglich zwar nur als Mittel und Be-
dingungen, wenn auch nicht sowohl der Lust als der vollbringenden
Tätigkeit, also immer mit Unrecht, diesen Namen erhalten haben,
dennoch aber in anderer Bedeutung, ebenso wie die vorigen,
wirklich Güter sind. Für die Eudämonisten nämlich, insofern
sie nichts anders sind für den Menschen als ein im Körper
gleichsam befestigtes angenehmes Bewußtsein, welches sich zu
jeder andern vorübergehenden Lust als ein erhöhender Faktor hin-
zugesellt. Für die tätige Sittenlehre aber, insofern sie gedacht
werden nicht als Naturerzeugnisse vom Zufall gegeben oder ver-
sagt, sondern als hervorgebracht durch das gemeinschaftliche natur-
186 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 184]
gemäße Leben, und darstellend die fortgesetzte allseitige Sittlichkeit
der Geschlechter und Völker, welchen sie einwohnen. Denn daß
in einer auf Handeln und Bilden ausgehenden Sittenlehre auch
die Schönheit und Wohlgebautheit, als auf diesem Wege erlangt,
unter der Idee des höchsten Gutes mit begriffen sind, wird wohl
keiner bezweifeln. Nur aber möchte die Art sehr willkürlich sein,
wie diese Güter vereinzelt sind. Denn wenn auch die Schönheit
sich, worauf man auch sehe, von den übrigen leicht absondert:
so möchten doch diese untereinander so genau zusammenhängen,
daß nichts für die Sittenlehre Wesentliches zu unterscheiden ist,
weder wenn sie als Lust oder Unlust, noch wenn sie als Werk
und Darstellung des Sittlichen betrachtet werden. Dagegen haben
die Neueren, vielleicht vom Gefühl ihrer Mängel dazu getrieben,
oder vom Neide gegen die besser begabten Stämme der Bar-
baren, richtiger von der Gesundheit abgesondert die Schärfe und
Feinheit der Sinne, und dürften immer, bis sie dahin wieder
gelangen, die Linderungen dieser Übel, nämlich alle künstliche
äußere Vorrichtungen und Werkzeuge, welche ethisch betrachtet
als erweiternde Fortsetzungen der Sinnglieder anzusehen sind, im-
gleichen die künstliche Stärke der Waffen und was dem ähnlich
ist, den Gütern dieser Art beigesellen. Es scheint aber jene vier-
fache Zahl nur gesucht zu sein, damit den vier Tugenden, als
Hauptgütern der Seele, auch ebenso viele Vollkommenheiten und
Güter des Leibes entsprächen.
Tugenden Daß nun jene vier Haupttugenden die erste Stelle einnehmen
als Guter, unter den Gütern der Seele bei den Peripatetikern sowohl als
Stoikern und so die Begriffe von Tugenden und Gütern im ein-
zelnen scheinen untereinander geworfen zu sein, davon ist schon
oben Erwähnung geschehen. Die Ursache aber hievon ist eine
zwiefache Ansicht desselben Gegenstandes, welche nicht deutlich
genug unterschieden wurde. Daß nämlich die Gesinnung an sich
zwar als das Wirksame und Hervorbringende betrachtet Tugend
ist und unter die Idee des Weisen gehört; wird sie aber als
[111,1, 185] II. Kritik der ethischen Begriffe. 187
eine bestimmte Größe gedacht, hervorgegangen aus dem Handeln
und durch die Übung und wiederum sich offenbarend und der
Anschauung hingebend durch Handeln und Ausübung, so er-
scheint sie auf der andern Seite als ein Werk, als die Darstel-
lung des vorhergegangenen, sie hervorbringenden Handelns, und
also für die praktische Ethik als ein Teil dessen, was bewirkt
werden soll, nämlich des höchsten Gutes. Und auch hier wiederum
erfreuen sich die Stoiker einer richtigen, wenngleich nicht vöUig
verstandenen Ahndung. Denn die Peripatetiker verwischen
diesen Unterschied gänzlich, und Schönheit und Stärke der Seele
sind ihnen nur verschiedene Namen für Tapferkeit und Gerechtig-
keit, sowie für Klugheit und Mäßigung, wie diese hellenischen
Tugenden unrichtig genug übersetzt werden, der Seele Gesund-
heit und Wohlgebautheit; da doch die letzten Namen offenbar
einen bestehenden und anschaulichen Zustand der Seele, die ersten
hingegen auf eine bestimmte Weise hervorbringende Kraft anzu-
deuten sich eignen. So aber unterscheiden die Stoiker zwischen
Tugenden, welche Künste sind, also jede ihr bestimmtes Werk zu
vollbringen streben, unter welcher Abteilung die vier bekannten
Namen aufgestellt zu werden pflegen, und zwischen solchen, die
gleichsam von selbst und nebenbei durch die Übung entstehen, wie
von jeder Gesinnung, als bestimmte Größe betrachtet, kann ge-
sagt werden; daher auch hier die Gesinnungen unter jenen Namen
vorkommen, welche Zustände und Beschaffenheiten der Seele an-
zeigen. Dieser richtigen Spur jedoch sind sie nicht bis zu Ende
gefolgt, sondern haben auch die Tugenden in jener Hinsicht
unter die Güter gerechnet. Ob aber die Gesinnungen, sofern sie
Güter sind, ebenso müßten geordnet und geteilt werden, wie
jeder sie als Tugenden aufstellt, schon dies könnte im allge-
meinen bezweifelt werden, noch mehr aber ob jenen vier Tugenden
überhaupt die genannten Eigenschaften der Seele entsprechen und
wieviel von ihnen als wirklich verschieden und nach Gründen
voneinander getrennt möchten übrig bleiben. Allein es verlohnt
188 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 186]
nicht, hierüber ein mehreres zu sagen, da solche bildhche Bezeich-
nungen des Geistigen durch das Körperhche der Wissenschaft
überall nicht wohl anstehn, und diese durchaus nur schlecht und
mangelhaft sind erklärt worden. Offenbar aber ist, und auch von
den Stoikern anerkannt und bezeugt worden, daß nach derselben
Regel nicht nur jene vier Tugenden und andere eigentlich so
genannte für Güter zu halten sind, sondern jede andere ethisch
bestimmte Vollkommenheit des Geistes, sowohl die des Verstandes,
welche ihm zu Wissenschaft und Einsicht werden, als auch die
der andern Seelenkräfte, welche zu Fertigkeiten in bildenden oder
geselligen Künsten gedeihen. Alle nämhch, insofern sie das Werk
sittlicher Tätigkeit sind, und nur, wie schon oben erwähnt, in
und mit diesen Schranken gedacht werden; denn diese alle sind,
so wie ihre Werke eine äußere, so sie selbst eine innere Darstel-
lung eines bestimmten Sittlichen. Vorzüglich aber sind hieher zu
rechnen jene Eigenschaften, welche von vielen zwar als sittlicher
Natur anerkannt, doch aber nicht unter die Reihe der Tugenden
zugelassen werden, wie zum Beispiel die Stärke und Feinheit des
sittlichen Gefühles und was dem ähnlich ist. Denn diese sind
ebenfalls als Anlagen überhaupt zwar von Natur vorhanden, be-
stimmt aber nach ihrer Stärke und Richtung sind sie ein Er-
zeugnis teils des einzelnen sittlichen Willens, teils des gesamten
in Gemeinschaft und Wechselwirkung stehenden menschlichen
Handelns, und also in ihren Fortschritten und Veränderungen
ein gemeinsames und gemeinsam hervorgebrachtes Gut. Ja, wenn
Kant meint, die teilnehmenden Empfindungen und ihre Werke
wären nicht sowohl für pflichtmäßig zu achten, als nur für Zier-
den der Welt und des Menschen, um erstere als ein schönes sitt-
liches Ganzes darzustellen: so hat er nur entgegengesetzt, was
füglich nebeneinander bestehen kann. In dieselbe Stelle würden
auch dann noch gehören die Werke der von ihm sogenannten
Pflichten gegen oder in Ansehung der leblosen Natur und zur
Erhaltung des Schönen überhaupt. Wie denn im ganzen bei ihm
[111,1, 187] II. Kritik der ethischen Begriffe. 18Q
jene Formel, die Welt als ein sittliches Ganzes darzustellen, einer
ihres Namens würdigen Idee des höchsten Gutes noch am nächsten
zu kommen scheint. Außer den Tugenden aber wird auch noch
gesagt, daß jeder Tugendhafte und Weise, als solcher an sich
betrachtet, ein Gut ist, worin auch Spinoza mit den Stoikern
zusammenstimmt. Zu leugnen nun ist dieses nach den allgemeinen
Merkmalen des Begriffes für jede praktische Ethik freilich nicht.
Denn der Weise ist aus dem natürlichen Menschen hervorgegangen
durch Handeln, und stellt der Voraussetzung nach durch sein
Dasein und Handeln das Sittliche und sonst nichts, dieses aber
im ganzen Umfange dar. Wie aber auch hier die Einheiten
zu bestimmen und auseinander zu halten wären, da doch die
einzelnen Gesinnungen sich im Weisen befinden und gleichsam
seine Teile sind, dies würde eine eigene Untersuchung erfordern
und aus dem Vorhandenen durch Vergleichung nicht können an-
gegeben werden. Nächst dem Weisen endlich und seinen Gesin-
nungen wird auch noch sein den Stoikern zufolge dreifaches sitt-
liches Wohlbefinden zu den Gütern gerechnet. Nicht als Lust
natürlich, sondern als ein durch sittliche Gesinnung und Hand-
lung entstandenes inneres Verhältnis, in welchem sein Ursprung
sich darstellt, und welches sich wiederum äußert nicht sowohl durch
ein bestimmtes Tun als durch die Weise des Denkens und den
Ton des Handelns überhaupt. Nur die Scheu freilich oder das
besonnene Umsehn nach möglichen bevorstehenden Übeln müßte
ausgestrichen werden, welches auch Spinoza eingesehen und sie
deshalb nicht mit aufgenommen hat, weil sie ja doch in Be-
ziehung auf den Weisen nur ein Übel sein kann. Denn dieser Zu-
stand kann nur aus der Erinnerung eines unsittlichen Handelns
entstehen, aus dem Bewußtsein des Sittlichen aber muß Sicherheit
hervorgehn. Wie aber beide Systeme, das der Tätigkeit und
das der Lust, natürlich da am meisten sich nähern, wo das zurück-
sehende Bewußtsein mit in Rechnung zu bringen ist: so ist
auch dieses das einzige unter den Gütern der Seele, welches mit
190 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 188]
der tätigen auch die genießende Sittenlehre gemein hat. Wie-
wohl, was den Inhalt betrifft, ihrer Idee gemäß anders bestimmt,
und auch in der entgegengesetzten Beziehung, als Lust nämHch,
welche mit dem Vergangenen das Künftige im Selbstbewußtsein
weissagend zusammenknüpft. Dieses nämlich ist jene Uner-
schrockenheit oder Furchtlosigkeit, insofern sie nicht als wirkende
Kraft, sondern als Zustand und Gefühl betrachtet ein Gut kann
genannt werden. Was aber sonst noch in Sittenlehren dieser Art
als Tugend zu denken ist, kann nicht zugleich auch ein Gut sein.
Denn die sittliche Kraft stellt für sich allein noch nicht das Sitt-
liche dar, sondern muß in Wechselwirkung gedacht werden mit den
Aufforderungen von außen; und nichts, was neuere Eudämonisten
hiegegen Scheinbares vorgetragen haben, möchte eine strenge
Prüfung bestehen. Doch dieses sei genug von einzelnen Gütern
zur Bewährung dessen, was über den Wert und Gebrauch dieses
Begriffes oben ist gesagt worden.
Pflichten. Von den Pflichten aber werde ebenfalls, um noch länger
1. gegen den (] je Verwirrung zurückzuhalten, der Anfang mit denen gemacht,
welche noch am wenigsten der Verwechselung mit Tugenden aus-
gesetzt sind, vielmehr schon durch die Art der Benennung sich
entschieden zu jenem Begriff bekennen; und zuerst zwar mit der,
welche vielen als die vornehmste erscheint, von allen aber als die
a) Selbst- erste aufgeführt wird, nämlich der Pflicht der Selbsterhaltung.
erhaltung. f)aß ^^^1 diese schlechthin in keinem ethischen Systeme Pflicht
sein könne, sondern überall durch irgend etwas müsse bedingt sein,
leuchtet ein. Denn die Ethik beschreibt nur eine Weise des Lebens,
und so kann in ihr keine Art vorkommen es zu erhalten außer
jener Weise, weil dieses ein Hinausgehn wäre aus ihrem Inhalt.
Noch auch ist es überhaupt möglich, eine bestimmte Weise des
Lebens im Handeln festzuhalten, wenn das Leben selbst um
jeden Preis soll geschont werden, weil keine allgemeine Regel
bestimmen könnte, wo nun die Gefahr anginge. So daß offenbar
auch zur Erhaltung des Lebens keine Handlung vorkommen darf.
[111,1, 189] II. Kritik der ethischen Begriffe. 191
welche nicht den sittlichen Charakter, wie er eben in jedem
System ist, an sich trüge, und der entgegenstehende Satz, daß
etwas Unsittliches dürfe getan werden, um das Leben zu er-
halten, jede Ethik umstürzen muß. Dennoch sind die meisten
Neuern in diesen Widerspruch geraten. Und zwar einige ganz
grob, indem sie mit klaren Worten auch das Verbotenste frei-
stellen zu diesem Endzweck. Kant aber stillschweigend, indem er
sie zu einer vollkommenen Pflicht erhebt, welche also jedesmal zur
Handlung selbst verbindet und nicht wegen irgendeiner unvoll-
kommenen darf verletzt werden. Ebenso auch Fichte auf eine
verstecktere Art, indem er doch das Leben überhaupt von dem
sittlichen Leben trennt, und dann nur wieder auf eine künstliche
Art das erste dem letzteren unterwirft. Denn wenn das sittliche
Bestreben, das Leben zu erhalten, von Anfang an nur auf das
sittliche Leben ist gerichtet gewesen, so gibt es nichts zu vergessen
und von nichts hinwegzusehen. Ist aber jenes pflichtmäßige Be-
streben ursprünglich auf das Leben an sich gerichtet gewesen, so
ist ja die Pflicht unbedingt, und hat ihre Grenzen nicht in sich
selbst, sondern muß sie erst im Streit mit andern Pflichten er-
halten, so daß jenes Vergessen und Hinwegsehen nur ein schlecht
geführter Krieg ist, der mit der Flucht anfängt, ein Krieg aber
doch auf alle Weise. Welches aber nun der eigentliche reale In-
halt der Pflicht der Selbsterhaltung sei, und die mit demselben
zugleich gegebenen Grenzen, das haben selbst von denen, welche
Grenzen derselben auf irgendeine Art anerkennen, die meisten
geradezu zu bestimmen unterlassen, und nur mittelbar muß es
daraus geschlossen werden, inwiefern sie eingestehen, daß irgend
etwas getan werden dürfe, um das Leben zu endigen, so daß
das Sterbenwollen die eigentliche Formel der Handlung wäre.
Dergleichen nun bestimmt nicht nur ein Zweig der cyrenaischen
Schule, sondern auch die stoische; ja selbst Spinoza, wiewohl
Selbsterhaltung bei ihm die allgemeine Formel des Sittlichen ist,
scheint einen Fall anzunehmen, in welchem es natürlich wäre das
192 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 190]
Leben zu enden. Was also die ersten betrifft, so scheint ihre
Formel eigentlich die zu sein, daß es recht ist, das Leben zu
endigen, wenn nicht anders als mit demselben zugleich die Unlust
kann hinweggeschafft werden. Wonach also dieses das Unbedingte
sein würde, das Leben selbst aber bedingt durch seinen sittlichen
Gehalt, nämlich die Lust; denn ein Mittleres wollen sie nicht
anerkennen als ein beharrlich Reales, sondern nur als einen Über-
gang. So bestimmt aber und richtig dieses zu sein scheint, so
sehr ist es doch unbestimmt und unzureichend. Denn muß die
Unlust, welche allein auf Kosten des Lebens darf hinweggeschafft
werden, eine absolute sein, so daß kein Element von Lust zugleich
mit aufgehoben und zerstört würde, und der Fall nur bei einer
gänzlichen Beraubung aller Güter des Lebens einträte: so wür-
den hier Lust und Unlust in einer andern Bedeutung genommen
als im Gesetz, und in einer solchen, aus welcher die übrigen
Pflichten und Tugenden nicht könnten hergeleitet werden. Soll
aber im Gegenteil auch die relative Unlust gemeint sein, die nur
im Übergewicht besteht, und also jeder Moment des heftigen
Schmerzes gerechte Ursache geben zur Selbsttötung: so ist jede
Hinsicht auf die Güter aufgehoben, und der Begriff verliert seine
Bedeutung. So daß hier ein ungelöster Widerspruch obwaltet
zwischen dem, was aus dem Begriff der Güter und dem, was
aus dem Begriff der Pflicht hervorgeht. Bei den Stoikern hin-
gegen scheint jeder ethisch reale Grund zu fehlen zur Selbst-
tötung, und diese Erlaubnis nur die dialektische Spitze zu sein
zu dem polemischen Satz, daß das höchste Gut nicht durch die
Länge der Zeit wächst und gewinnt. Denn es ist gar nicht die
Unmöglichkeit eines Sittlichen oder die Unvermeidlichkeit eines
Unsittlichen, was dabei den Bestimmungsgrund ausmacht. So daß
hienach zu urteilen es gar keine Pflicht der Selbsterhaltung bei
ihnen geben würde, wie sie denn auch das Leben und den Tod
unter die gleichgültigen Dinge zählen, welches jedoch teils mit
andern Äußerungen der nämlichen Schule streitet, teils auch sonst
[111,1, 191] 11. Kritik der ethischen Begriffe. 193
schwer möchte durchzuführen sein. Fichte aber, welcher nicht
durch einen solchen Grenzpunkt, jenseits dessen das Gegenteil
Pflicht würde, welches er vielmehr leugnet, sondern geradezu den
Inhalt dieser Pflicht bestimmt, ist dabei auf seine eigene Art in
Widersprüche geraten. Auf der einen Seite nämlich geht seine
Absicht dahin, sie real zu bestimmen, so daß das Bestreben, das
Leben zu erhalten, nicht etwa anders woher soll entstanden sein
und nur sittlich begrenzt, wie andere voraussetzen, sondern un-
mittelbar ein sittliches sein, auf einem sittlichen Grunde beruhend;
so aber bringt er sie nicht zustande. Denn da er jede bedingte
Pflicht den unbedingten unterordnet, welche das einzige Not-
wendige enthalten: so kann der Mensch, solange noch eine un-
bedingte Pflicht zu erfüllen übrig ist, auf rein sittlichem Wege
niemals dazu kommen, irgend etwas ausdrücklicJi zu tun, um
der bedingten Pflicht der Selbsterhaltung Genüge zu leisten, wie
sehr leicht ein jeder ganz nach der Methode dieses Systems
finden wird, indem, selbst wenn die physischen Kräfte schon zu
sehr geschwächt wären, um die eine zu erfüllen, sie doch noch hin-
reichen w^ürden zu einer andern oder zu einem immer unvollkomm-
neren Grade von jeder, bis durch ein unendlich Kleines der Pflicht-
erfüllung und der Existenz das natürliche und das sittliche Leben
zugleich in Null überginge, wenn nicht vorher das Herz, oder
wie es genannt wird, was in jedem Augenblick aus den Forde-
rungen des Naturtriebes das Sittliche ausw^ählt, einem rein natür-
lichen Triebe Raum gäbe, um das Leben zu erhalten. Auf der
andern Seite aber will Fichte diese Pflicht auch ethisch bedingen,
und sie gerät ihm dennoch in der Tat unbedingt, und ist also
zugleich nichts und alles. Denn wenn, da der eigentliche letzte
Zweck im Unendlichen liegt, jedes Handeln den seinigen nur in
dem nächsten Handeln als Annäherung suchen muß: so darf ja
wiederum das Herz oder die Einsicht oder wie vielfach dasjenige
heißt, was in Ermangelung eines festen Prinzips und einer allge-
meinen bestimmten Formel den Beruf jedes Moments bestimmt,
Schleiermacher , Werke. I. 13
194 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 192]
unmöglich aus den verschiedenen an sich sittlichen gerade das-
jenige auswählen, welches als Leben zerstörend schon den nächsten
Zweck unmöglich macht. Sondern anstatt mit Gefahr des eigenen
Lebens etwa ein fremdes zu retten, würde es ohne Zweifel sitt-
licher sein, eiligst etwas zu produzieren oder zu verarbeiten oder
zu erforschen oder was sonst die besondere und unbedingte
Pflicht dem Herzen ans Herz legte. Aus welchem Widerspruch
nach diesem System wohl schwerlich eine andere Erlösung möchte
zu finden sein, als bis jedes mögliche Handeln, auf daß irgend-
einer keine Entschuldigung habe, in Beruf verwandelt, das Herz
aber überall in Ruhestand versetzt wird. In dieser Hinsicht nun
ist dem Widerspruch und der Unbestimmtheit niemand besser aus-
gewichen als Spinoza. Denn dieser trennt auf der einen Seite
das Leben gar nicht von seiner ethischen Bedeutung, und es ist
ihm als Gegenstand der Erhaltung nichts anders, als teils das
fortgesetzte wahre Handeln, wiewohl der Reinheit desselben nur
kann angenähert werden, teils aber die Identität des Seins, welche
absolut ist. Könnte nun diese nicht erhalten werden, so wäre
das Leben in ethischer Bedeutung schon geendigt, und es findet
keine Frage mehr statt über das, was im Zusammenhange mit
dem vorigen zu tun ist. Auf der andern Seite können bei seiner
Ansicht des Lebens sowohl als der Sittlichkeit die spitzigen Fragen,
welche sich auf den Gegensatz eines Moments mit den übrigen
beziehen, gar nicht stattfinden. Was aber die Einheit des Be-
griffs der Selbsterhaltung betrifft, insofern nämlich alles, was dazu
gehört, nur eine einzige Pflicht ausmacht und also ethisch als
ein gleichartiges Handeln erscheinen soll: so löst auch sie sich
in eine unbestimmte Vielheit auf. Denn wird sie nur auf das
physische Leben bezogen: so hat dieses zwar seinen Sitz im
Leibe, der Leib selbst aber ist ein Teilbares von der Art, daß seine
verschiedenen Teile auch eine verschiedene Beziehung haben auf
das Leben; weshalb denn nicht alles Handeln zu diesem Zweck
seinem ethischen Werte nach gleich ist, sondern eins den andern
[111,1, 193] II. Kritik der ethischen Begriffe. 195
untergeordnet, welches denn der Einheit der Pflicht widerstreitet.
In diesem physischen und materiellen Sinne hat Kant den Be-
griff am weitesten verfolgt, und was gegen die Erhaltung einzelner,
das Leben nicht unmittelbar enthaltender Teile geschehen könnte
als partiellen Selbstmord aufgestellt. Daß aber diese Pflicht einen
ganz andern Rang hat als jene, und also unter dem gemein-
schaftlichen Namen zwei ganz verschiedene Dinge zusammengefaßt
sind, ist offenbar. Denn bei dem partiellen Selbstmorde unter-
scheidet er sowohl das ganz Pflichtmäßige, als von dem Ab-
weichenden die verschiedenen Grade der Verschuldung nach Maß-
gabe der Absicht, so daß hier die Pflicht der Erhaltung bedingt
ist durch irgendeine Beziehung, die unmittelbare und gänzliche
Erhaltung aber ist unbedingt. Ebenso ließe sich eine andere
Einteilung denken, nicht nach den Teilen und Bedingungen des
Lebens, sondern nach der Art und dem Grade der Gefahr, aus
welcher sich ganz dasselbige ergeben würde. Nun aber ist weder
der bedingende Grund aufgestellt, welcher die eine Pflicht von
der andern trennt, noch der beide vereinigende Grund bestimmt,
so daß sie weder ganz eins sind, noch ganz geschieden, und
auch die erste in die Unbestimmtheit der letzteren mit hinein-
gezogen wird. Dieses erhellt nicht nur aus den von Kant auf-
gestellten kasuistischen Fragen, welche fast immer der Beweis von
der Unklarheit und Unzulänglichkeit seiner Bestimmungen sind,
sondern die gleiche Verwirrung hat auch die Stoiker getrieben,
vorzüglich selbst die unbedeutendste Verletzung des Körpers zur
Ursache des Selbstmordes zu machen, als ob das Leben und die
Glieder gleich wären, oder wenigstens der Unterschied zwischen
beiden nicht zu bestimmen. Wird aber im Gegenteil die Selbst-
erhaltung auf das ganze empirische Selbst bezogen, und auf dessen
Qualität als Werkzeug des Sittengesetzes: so gehört, was sehr
ethisch zu sein scheint, das Entwickeln aller Kräfte und Natur-
vollkommenheiten, welches bei Kant zum Beispiel eine besondere
Pflicht ausmacht, und zwar eine unvollkommene, der Nährung
13*
1*56 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. (111,1, 1Q4]
des Leibes als einer vollkommenen weit nachstehend, dieses ge-
hört dann hier als das eigentlich Positive und Reale der Selbst-
erhaltung zu. Allein indem doch das Positive vom Negativen
unterschieden wird, bleiben es zwei Elemente, die miteinander
können in Widerstreit geraten, ohne daß zu entscheiden wäre,
wie weit alsdann das bloß körperlich erhaltende und ersetzende
Verfahren dürfe hintangesetzt werden zum besten des geistig ent-
wickelnden, oder umgekehrt, so daß der Langschläfer und der
Langwacher, oder was sonst für größere Gegensätze hier vor-
kommen mögen, lediglich ihrem Herzen überlassen sind. Ja, es
gilt nun, was oben von der Unmöglichkeit gesagt worden, nach
Fichte etwas besonderes zur Erhaltung zu tun, natürlich nicht
minder von der mit darunter begriffenen Entwicklung des Leibes
sowohl als des Geistes, indem beide wohl immer zu unbedingten
Pflichten werden zu gebrauchen sein. Ferner auch stößt sich diese
Pflicht mit jener andern bedingten besonderen, daß jeder solle
seinen Stand wählen. Denn dieses nach Einsicht zu vollbringende
Geschäft setzt Entwickelung und Ausbildung voraus, und es ist
nicht zu sehen, wie weit diese schon müssen gediehen sein, ehe
jene kann eintreten. Welches vielleicht Fichte geahnt zu haben
scheint, wenn es anders mit Bewußtsein geschieht, daß er Aus-
bildung und Entv/ickelung vornehmlich in demjenigen setzt, was
an Kindern zu geschehen pflegt, und dasjenige verbietet, was diese
öfters erleiden müssen. Überdies aber ist bei Fichte sowohl das
Negative des geistigen Teils der Selbsterhaltung, als auch das
gesamte Positive dieser Pflicht, gleichsam wie ein verächtlicher
abgelegener Ort, ein unordentliches Behältnis alles dessen, was
zwar sittlich zu sein schien, die folgenden Stellen des Systems
aber hätte verunzieren mögen. Denn sie enthält ein höchst un-
bestimmtes Mannigfaltiges von Vorschriften ohne Gesetz und Ord-
nung, und die, was noch ärger ist, ein fast ins Unendliche sich
zerspaltendes mittelbares Verfahren bilden, welches, wie oben zur
Genüge erwiesen worden, in der Ethik ganz unzulässig ist. So
[111,1, 195] II. Kritik der ethischen Begriffe. 197
wird, um den Leib zu nähren, Sparsamkeit und Ordnung ge-
boten, und um den Geist zu entwickeln werden die schönen Künste
empfohlen, jede offenbare und geheime Untätigkeit aber, wie die
leere Beschäftigung mit Zeichen und das leidentliche Aufnehmen
fremder Gedanken wird verboten. Hier nun wird wohl jedem
unbegreiflich sein, teils warum dieses irgendwo ein Ende nimmt,
und warum nicht auch Fichte, wie Spinoza, alle Pflichten und
Tugenden aus der Selbsterhaltung ableitet. Wobei der Unter-
schied immer würde geblieben sein, daß sie bei Spinoza neben-
einander aus ihrem gemeinschaftlichen Grunde hervorgehen, wie
es sich in der Ethik geziemt, bei Fichte aber gar nicht ethisch
eine immer zum Behuf der andern als Mittel zu ihrem Zweck
würden erfunden werden. Teils auch, je unbestimmter alle diese
Vorschriften hier sind, und, ihre Gegenstände aus der Erfahrung
vorausgesetzt, ohne jede Spur von Ableitung, desto lebhafter
wird sich jedem aufdringen, daß sie entweder gar kein Ansehen
haben in der Sittenlehre, oder daß sie auf andern Gründen be-
ruhen müssen, und nur an einer andern Stelle ihre Gültigkeit
erlangen können. Teilen wir daher das so wunderlich verbundene
Mannigfaltige, so ist zuerst in Betracht zu ziehen, wie als Teil
oder Mittel der Selbsterhaltung geboten wird die Mäßigkeit im
assimilierenden und ausleerenden Genuß, oder wie könnte jemandb) Mäßigkeit
anders den Ernährungs- und Geschlechtstrieb in Beziehung auf ma mng
die Selbsterhaltung zusammenfassen und sondern? Dieses findet ceschlechts-
sich bei Fichte und bei Kant, zwar bei dem letzteren nicht unter trieb.
der Selbsterhaltung, sondern neben ihr als eine andere Pflicht
des Menschen gegen sich selbst in der Eigenschaft als animalisches
Wesen, welche Absonderung aber seinen eigenen Begriffen gemäß
grundlos sein möchte. Daß nun die Mäßigkeit im Gebrauch der
Nahrungsmittel als eine eigene Pflicht aufgeführt wird, ist in
einer Hinsicht dem älteren dieser beiden noch eher zu verzeihen,
weil er was zur Selbstliebe gehört, es sei nun in Beziehung auf
Erhaltung oder Genuß, nicht sittlich hervorzubringen begehrt,
198 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 196]
sondern sich nur begnügt, es sittlich zu beschränken, und also,
was ihm als ein eigener Trieb erscheint, auch eine eigene PfHcht
erfordert. Gar nicht aber auch in dieser Hinsicht dem jüngeren.
Denn nach diesem soll, wie es auch recht wäre, was für die Selbst-
erhaltung getan wird, nicht nur durch seine Begrenzung, sondern
auch an sich ein Sittliches sein. Wenn nun also nur um das
Leben zu erhalten die Nahrungsmittel genommen werden: so ist
ja mit dem Zwecke zugleich die Grenze der Handlung gesetzt;
und so wie jenes als Gebot gegeben ist, bedarf es nicht mehr
eines Verbots, daß nicht mehr geschehen solle, welches vielmehr
einen andern unsittlichen Antrieb zur Handlung voraussetzt, bei
welchem auch das nicht zu viele schon unsittlich wäre. Dieses
in seiner ganzen Ausdehnung gedacht gibt den Schluß, daß die
Mäßigkeit als sittliche Bestimmung der Grenzen einer solchen
Handlung, welche bis zu diesen Grenzen hin aus einem anderen
Prinzip gelangt ist, gar kein Begriff einer einzelnen Tugend sein
kann. Denn in einer realen und positiven Sittenlehre wäre auch
das innerhalb dieser Grenzen Beschlossene entweder nicht sittlich,
oder die Grenzbestimmung beruhte auf einem Streite der Pflichten,
oder hätte höchstens Einheit und Gültigkeit als Pflicht, nicht aber
als Tugend. In einer negativen und beschränkenden aber ist
dieses die ganze Tugend, und es gibt keine andere. Daher auch
geht hieraus zugleich die Unmöglichkeit hervor, wie bei Fichte,
denn Kant wird von diesem Vorwurf nicht getroffen, ein bestimmtes
Verhalten in Ansehung des Ernährungstriebes und ein ähnliches
in Ansehung des Geschlechtstriebes aus dem Grunde der Selbst-
erhaltung kann geboten werden. Denn soll um ihretwillen nur,
was anderwärts her gegeben ist, eingeschränkt werden: so hat
das Gebot den Charakter verloren, unter welchem es aufgestellt
ist. Soll es aber nur dasjenige begrenzen, was es auch selbst
hervorgebracht hat, so kann vom Geschlechtstriebe an dieser Stelle
gar nicht die Rede sein; abgerechnet noch, daß es ganz unwissen-
schaftlich wäre, zumal in der Ethik, daß die Grenze für eine
[111,1, 197] II. Kritik der ethischen Begriffe. 199
Realität eher sollte gegeben werden als die Realität selbst. Wir
wollen indes den Ort nicht achten, da von der Behandlung dieses
Triebes unter den unbedingten Pflichten beim ehelichen Stande
wieder die Rede ist, sondern aus allem zusammengenommen
untersuchen, was in Absicht desselben Pflicht oder Tugend sein
mag. Vorausgesetzt nun, er habe dort diesen Trieb in einen
sittlichen verwandelt oder mit einem sittlichen verbunden, so daß
Handlungen, durch welche der natürliche Geschlechtstrieb be-
friedigt wird, nicht sowohl aus demselben, als vielmehr sittlich
aus der gemeinschaftlichen Kraft hervorgehen, welche die Quelle
aller sittlichen Handlungen ist: so ist gewiß, daß eben dort mit
dem Grunde des Handelns auch die Grenze desselben müßte ge-
geben sein, weil sonst in der Tat keine Pflicht aufgestellt wäre.
Dann aber müßte ferner alles innerhalb dieser Grenze Gelegene
als Pflicht geboten sein, und zwar dem Orte gemäß als unbe-
dingte. So daß, wenn es etwa [als] Pflicht erfunden würde, alles
was der Natur nach zur Fortpflanzung des Geschlechtes zu tun
möglich ist, es sei nun in dem engeren Umfang der einweibigen
oder in dem weiteren der vielweibigen Ehe, sich zum Zweck zu
machen, alsdann auch bei der Erfüllung dieser Pflicht auf die
Selbsterhaltung gar keine Rücksicht dürfte genommen werden.
Allein es ist auch dort keineswegs bewerkstelligt worden, diesen
Trieb ebenso zu ethisieren, wie bei der Selbsterhaltung mit dem
der Ernährung geschieht. Denn es wird zwar den Frauen zuerst
und unmittelbar der Vorzug eingeräumt, diesen Trieb nur als
einen sittlichen zu haben, so daß er fleischlich noch vor der Ge-
burt, denn er darf nie zum Bewußtsein kommen, getötet wird,
und geistig als Liebe wieder aufersteht, ja sogar bei dem Manne
verwandelt sich durch des Weibes Ergebung dieser Trieb in
Gegenliebe, wobei er zur billigen Entschädigung für diese ab-
geleitete Sittlichkeit das Recht erhält, sich ihn auch vor dem und
außer dem wohl gestehen dürfen. Was für ein loses und nichtiges
Spiel aber dieses alles ist, vornehmlich nach den Grundsätzen des
200 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 198]
Systems, wird jeder einsehen. Denn höchstens wäre diese Ab-
leitung eines Engländers würdig, da sie genau betrachtet nichts
anderes leistet, als zuerst den selbstischen Trieb des Weibes in
einen sympathetischen zu verwandeln mit dem selbstischen des
Mannes, und dann auch den selbstischen des Mannes in einen
sympathetischen sowohl mit dem selbstischen der Frau als auch
mit ihrem auf seinen selbstischen gerichteten sympathetischen.
Aus welchem allen, ohnerachtet es der Gipfel dieser sympatheti-
schen Ethik ist, und daher auch bei ihren Anhängern diese Tugend
die symbolische und die Beglaubigung für alle übrigen, doch
nichts Sittliches im Sinne des Fichte entstehen kann. Alles übrige
ganz Unwissenschaftliche und mehr als Verworrene, wie nämlich
die Einwilligung der Frau, die für sich, aus allem Ange-
führten nämlich, nichts anders sein würde als eine Handlung der
Gefälligkeit, eine wohltätige Befriedigung eines fremden Bedürf-
nisses, vielmehr eine ganze und ewige Hingebung ist,
aus welcher erfolgt eine gänzliche Verschmelzung
zweier Individuen, und zwar solcher, welche nun eine ganz
verschiedene Quelle ihrer Sittlichkeit haben, ferner wie dann doch
auch die Sittlichkeit des Mannes gleichsam durchdrungen und
gesättiget wird mit dem Wasser dieser fremden Quelle, und die
Sittlichkeit überhaupt, welche vorher aus dem Innersten der In-
telligenz hervorging, nun am Ende in einer andern, vielleicht
noch schöneren Gestalt aus dem Geschlechtstriebe hervorsprießt,
dieses alles ist zu sehr hervorspringend, um mehr als angedeutet
zu werden.
Daßi also bei Fichte der Geschlechtstrieb noch keineswegs
ethisiert ist, mag aus dem Gesagten erhellen. Noch viel weniger
aber ist er es anderswo. Denn Kant hat die Ehe nur in der
Rechtslehre als einen rechtmäßig erlaubten, und wenn überhaupt
der Geschlechtstrieb soll befriedigt werden, notwendigen Vertrag
aufgeführt, jenes Sollen selbst aber in der Ethik nirgends erwiesen.
Fast alle anderen aber, die Alten aus den praktischen Schulen
^ Absatz nicht im Original.
|III,1, 199] II. Kritik der ethischen Begriffe. 201
an der Spitze, ethisieren diesen Trieb nur insofern, daß der Mensch
den Endzweck der Natur bei demselben, nämlich die Fortpflanzung,
adoptieren soll; woraus aber weder ein Maß dieser Verpflichtung
hervorgeht, noch auch die Ehe einen andern als untergeordneten
Wert hat, indem jeder Ehegatte dem andern nur Nebensache
ist und Mittel, die Kinder aber der Zweck und die Hauptsache i.
Soll nun die Keuschheit als die auf diesen Gegenstand sich be-
ziehende Tugend etwas von der Mäßigkeit Unterschiedenes sein,
und nicht nur in einem Maße der Befriedigungen sich äußern,
sondern in einem eigenen Charakter derselben und einer Maxime,
die ihnen zum Grunde liegt : so würde sie bei Fichte darin bestehen,
daß die Befriedigungen allemal hervorgingen aus der Liebe und
der Gegenliebe; dann aber müßten diese auch das Maß derselben
sein, und es könnte von einer Mäßigkeit darin außer der Keusch-
heit nicht geredet werden. Daß aber dasjenige, worauf sie nach
dieser Erklärung beruht, in demselben System noch nicht als ein
ethischer Begriff vorhanden ist, geht hervor aus dem vorigen.
Bei den Alten hingegen, und denen die ihnen folgen, würde sie
darin bestehen, daß ihnen immer die Absicht zum Grunde läge, den
Naturzweck zu erreichen. Warum aber nun diese Absicht den
ganzen Trieb einnehmen soll, der mit dem Naturzweck nicht von
Natur gleichlaufend ist, zumal da das Überschießende desselben
als ein störender Reiz animalisch wirkt, dieses würde eines eigenen
Erweises bedürfen. Daher auch viele von den Alten, ohnerachtet
sie auf dem Naturzweck die Ehe erbauen, teils diese nicht als
einen sittlichen notwendigen Zustand, oder wenigstens als ein
solches Bestreben setzen, wie Fichte tut, teils auch außer der-
selben der zwecklosen und unnatürlichen Lust einen Raum lassen
als dem leichtesten Mittel, den physischen Reiz zu beseitigen-.
Ja, so scheint selbst im allgemeinen die Befriedigung des Triebes
angesehen zu werden von denen, welche wie Epiktetos lehren,
sie müsse nur im Vorbeigehen geschehen, gleichsam ohne wo-
möglich eine eigene Zeit auszufüllen und das Gemüt besonders
^ So ist die Ehe auch von E. v. Hartmann jBfefaßt.
202 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,200]
zu beschäftigen. Das Unsittliche aber in dem vom Naturzweck
Abweichenden darin zu suchen, daß statt des belebten Gegen-
standes nur ein Bild das Gemüt beschäftigt, dieses hängt an gar
nichts und ist völlig unverständlich. Wie gänzlich also dieser für
die Ethik höchst wichtige Gegenstand in den praktischen Systemen
noch in der Verwirrung liegt und den ersten klaren Begriff er-
wartet, dies muß jedem einleuchten. Denn in der genießenden
Sittenlehre ist er sehr leicht aufs Reine gebracht. Für die näm-
lich, welche auf die beruhigende Lust ausgeht, besteht die Keuschheit
darin, daß jede Befriedigung wirklich nur beruhigend sei, das
heißt, der ungereizten Aufforderung der Natur folge ; welche Regel
von selbst auf dasjenige Maß führt, bei dem der Trieb selbst immer
erhalten wird. Auch ist es ganz der Sache angemessen, daß die so,
wie jetzt geschehen, bestimmte Keuschheit für dies System ebenso
die symbolische Tugend ist, wie die sympathetische Keuschheit für
das anglikanische. Im reinen Eudämonismus aber würde
die Keuschheit zu erklären sein durch die Bedingung, daß jede
Befriedigung auch wirklich Genuß sein müsse und um des Ge-
nusses willen unternommen, und so ebenfalls ihren Charakter haben
und ihr Maß. Auch kommt in der Sittenlehre der Lust nirgends
vor der Begriff der der Keuschheit untergeordneten und auf sie
sich beziehenden Tugend der Schamhaftigkeit, welche sonst in der
neueren rein praktischen sowohl als vermischten Sittenlehre sich
eine Stelle mit Hilfe der Scham, wie es scheint, erworben hat.
Daß er aber leer und schwankend ist, ist leicht zu zeigen. Denn
sein Gehalt soll sein das Nichtäußern gewisser auf jenen Trieb
sich beziehender Gedanken und Empfindungen. Sind nun diese
unsittHch, so ist nicht zu sehen, wie eine Tugend sich gründen
soll geradezu auf das Unsittliche, ohne daß, welches hier offenbar
nicht mit gedacht wird, dessen Hinwegschaffung ihr Geschäft
wäre. Sollen sie aber an sich nicht unsittlich sein, so ist überhaupt
nicht einzusehen, daß eine solche Gemütsbewegung, wie dennoch
Kant vom Neide behauptet, dadurch nur könne unsittlich werden,
daß sie ausbricht, am wenigsten aber hier, wo das Ausbrechen die
[111,1,201] II. Kritik der ethischen Begriffe. 203
bloße Mitteilung ist, durch welche in dem Hörenden nichts an-
deres könnte hervorgebracht werden, als was in dem Mitteilenden
selbst zuvor gewesen ist, nämlich das nicht Unsittliche. Was aber
nicht die Mitteilung der Gedanken betrifft, sondern das kund-
bare Verrichten der Handlungen des Triebes, so müßte sich, nach
der Analogie des Ernährungstriebes zu urteilen, auch von diesem
die Verwerflichkeit auf eine andere Ansicht gründen, als auf die
des Naturtriebes, also auf eine, wenn dem bisherigen zu glauben
ist, ethisch noch nicht vorhandene. Aus welchem Gesichtspunkt
betrachtet daher auch die freilich etwas rohe Polemik der Cyniker
und älteren Stoiker gegen diesen Begriff sich möchte dem Wesen
und der Absicht nach verteidigen lassen.
Soviel 1 von diesen Pfhchten und Tugenden und ihrem Orte. 2. pflichten
So wie nun die Selbsterhaltung und das ihr Beigeordnete nach S^gensic as
° ° morahsches
Kant die Pflicht war des Menschen gegen sich selbst als animali- Wesen.
sches Wesen: so steht dieser gegenüber eine andere auch voll-
kommene gegen sich selbst als moralisches Wesen. Von dieser
aber wird nirgends der Inhalt nach seinem ganzen Umfang und
seiner Einheit bestimmt angegeben, sondern nur mittelbar be-
zeichnet auf eine dreifache Art. Zuerst nämlich durch den Zweck,
auf welchen sie gerichtet ist, welcher sein soll, daß der Mensch
sich selbst erkenne. Dieser aber hängt mit dem größten Teile des
Inhaltes, nämlich mit der Wahrhaftigkeit in Mitteilungen und der
Vollständigkeit des notwendigen Genusses, nicht sichtbar zusam-
men, wenigstens nicht genauer, als man von jedem Unsittlichen
sagen kann, daß es im Mangel der Erkenntnis seinen Grund habe.
Zweitens aber durch das Prinzip ihrer Erfüllung, so wie drittens
durch die Laster, welche der Übertretung derselben zum Grunde
liegen. Diese beiden Erkenntnismittel nun sollten eigenthch nicht
verschieden sein, sondern nur eins und dasselbe. Denn das Prinzip
der Erfüllung einer Pflicht besonders betrachtet, kann kein anderes
sein, als die Tugend, welche dabei vorzugsweise wirksam ist; die
Laster aber, welche die Erfüllung hindern, können für die Pflicht
^ Absatz nicht im Original.
204 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 202]
nicht anders ein Erkenntnismittel werden, als durch die Zurück-
führung auf die ihnen entgegengesetzten Tugenden. Hier^ indes
ist das Prinzip viel zu weit angegeben, um die einzelne Pflicht
Ehrliebe, daraus zu erkennen. Denn der Ehrliebe sind alle Laster gleich
sehr entgegengesetzt, wie die drei hier angeführten, und niemand
wird einsehen, warum nicht die Trägheit zum Beispiel den Men-
schen ebenso verächtlich mache, als die Falschheit oder die Selbst-
verachtung und das Selbstpeinigen. Ja, wenn die Ehrliebe darauf
beruht, daß der Mensch sich des Vorzugs nach Prinzipien zu
handeln nicht begeben dürfe, und wenn dieses die höchste und
gemeinschaftliche Formel für die hier behandelte Pflicht sein soll:
so ist hier wieder eine vollkommene Pflicht, welche alle anderen
in sich begreift, und namentlich den Begriff der unvollkommenen
Pflichten seiner Realität gänzlich beraubt. Denn es stehen auf diese
Art alle Handlungen unter der Maxime, daß sie nach Prinzipien
müssen bestimmt werden, also auch diejenigen, welche in den
freien Spielraum der unvollkommenen Pflichtmaximen fallen wür-
den, welches in die Widersinnigkeit dieser Einteilung und ihrer
Gründe eine neue Aussicht eröffnet. Lassen wir aber die Einheit,
und sehen auf die einzelnen sehr verschiedenen Bestandteile dieser
Pflicht, so wird sich gewiß zuerst jeder wundern, in diesem anti-
Genießen. eudämonistischen System den Genuß des Wohllebens, wenngleich
innerhalb des Maßes des Bedürfnisses, als eine vollkommene
Pflicht von dem moralischen Wesen gefordert zu finden, und zwar
abgesondert von der Erhaltung. Denn als ein reizendes Mittel
möchte der Gebrauch der Lust auch nach Fichte nicht zu ver-
weigern sein. Nun wird sie freilich nicht um des Genusses willen
gefordert, sondern um sich mit Sicherheit der liberalen Denkungs-
art bewußt zu werden, nämlich der Freiheit von der Anhänglich-
keit an den bloßen Besitz. Dieses aber wäre dem Grundsatz und
Geist des Systems weit angemessener zu erreichen durch Ver-
wendung für die fremde Glückseligkeit. So daß der besondere
Grund dieser Pflicht nicht zu ersehen ist, und wenn sich sonst schon
' Bei Kant!
[111,1, 203] II. Kritik der ethischen Begriffe. 205
öfters eine Pflicht gegen sich selbst gezeigt hat als einerlei mit
einer gegen andere: so scheint hier eine von der ersten Art sich
vielmehr ganz verwandeln zu m.üssen in eine von der letzten. Als
Gegensatz aber von dieser Pflicht und um sie zu begrenzen, stellt Sparsunkoit.
Kant, wenngleich problematisch, eine andere auf, nämlich die
Pflicht oder Tugend der Sparsamkeit. So unbestimmt nun, wie
dieser Begriff aus seinen Händen kommt, ohne Beziehung auf
das Gesetz, als bloßes Versagen des Genusses ohne Beisatz einer
Absicht, kann er kein ethischer sein. Ergänzt man aber diese Ab-
sicht, welches denn nur identisch geschehen kann, daß nämlich
der Genuß solle versagt werden, insofern er nur an sich selbst als
Genuß gefordert wird: so ist er zwar ethisch, stimmt aber nicht
mehr mit seiner Bezeichnung überein, welche ausschließend das
Eigentum zu seinem Gegenstande macht. Späterhin aber kommt
dieser Begriff noch einmal vor als eine Maßregel der Klugheit,
um sich die zur Erhaltung der Innern Würde nötige Unabhängig-
keit zu sichern, also als eine technische Regel, nicht aber un-
mittelbar als Pflicht. Ebenso wird sie auch von andern zur Klug-
heit gerechnet. Allein soll diese gedacht werden als ein Voraus-
sehen des Bestimmten: so kann sie ebensowohl das Gegenteil
der Sparsamkeit gebieten, als diese selbst, welche also wiederum
nur sittHch wäre, insofern ihr Gegenteil es auch ist. Soll aber
die Klugheit nur bestehen in dem Bewußtsein des Nichtvoraus-
sehens: so würde die Sittlichkeit der Sparsamkeit beruhen auf
der Frage, wie weit man einen gegebenen Zweck aufopfern dürfe
einem noch nicht bekannten, welche dann verneinend beantwortet
wird durch denjenigen Teil der Klugheit, den die Alten erklären
als die Fertigkeit einen Ausweg zu finden, und der als wesent-
lich auch von den praktischen Systemen anerkannt ist, im cy renai-
schen aber fast den ganzen Inhalt dieser Haupttugend ausmacht.
Auch unter den Pflichten gegen andere oder den unbedingten
allgemeinen kommt die Sparsamkeit bei Fichte vor als Mittel,
das Eigentum allgemein zu machen, und würde in dieser Hin-
sicht als Tugend zur Gerechtigkeit gehören. Aus welcher Un-
206 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 204]
bestimmtheit des Verpflichtungsgrades sowohl und des Ortes im
System als des Umfangs hinlänglich erhellt, daß, wenn man die
Bezeichnung des Begriffes festhält, die Sparsamkeit nichts ist
als eine gewisse Weise, etwas zu verrichten, deren ethischer Wert
ganz unbestimmt ist, und die also auch nicht ethisch dem Begriffe
nach entstanden ist, dessen Einheit vielmehr auf einem andern
Gebiete liegen muß. Wenn man aber das Ethische aufsucht, an
welches sie sich anschließen könnte: so muß man über die Be-
zeichnung hinausgehen, und die Einheit des Begriffs verschwindet.
So daß es kaum noch eines andern Beispiels bedürfte, um zu
erweisen, daß unmöglich ein fester ethischer Begriff enthalten
sein kann in einer Bezeichnung, welche auf einen äußeren Gegen-
stand gerichtet ist. Der zweite Teil aber jener vollkommenen
Wahrhaftig- Pflicht gegen sich selbst ist die Wahrhaftigkeit, unter welchem
^ .^' Namen aber Kant von allen andern abweichend, vielleicht durch
a) innere. '
das Bedürfnis des Raums verführt, gewiß aber dem Systeme
nicht nur, sondern auch der Sprache Gewalt antuend, zwei ganz
verschiedene Begriffe zusammengefaßt hat. Oder wer könnte wohl,
was er die innere Lüge nennt, für einerlei halten mit der Un-
wahrheit in Aussagen? oder sie überhaupt erklären für eine vor-
sätzliche Unwahrheit, welche jemand sich selbst sagt? Denn hiezu
gehört notwendig das Wissentliche; und wie kann einer das eine
zwar wissen, das Gegenteil aber glauben oder glauben wollen?
Vielmehr muß entweder das Wissen kein Wissen sein, oder das
Glauben kein Glauben, oder beides. Und die letzteren beiden Fälle
sind unstreitig dasjenige, was Kant gemeint hat. Denn der Mangel
des Wissens mit einem wirklichen Glauben verbunden, wäre wenig-
stens ein redlicher Besitz einer unvollkommenen oder unrichtigen
Erkenntnis, und gar nicht mit dem Namen der Unwahrheit zu
brandmarken, sondern der Fehler nur ein nicht genug fortgesetztes
Forschen, der Grund desselben aber in der Gesinnung ein zu
schwaches Wollen der Selbsterkenntnis. Was Kant aber andeutet,
ist ein unredlicher Besitz, so daß, wenn auch das Wissen mangel-
haft ist, es angesehen werden muß als ein absichtlich abgebrochenes
[111,1,205] 11. Kritik der ethischen Begriffe. 207
Nachforschen, um nicht handeln zu dürfen demgemäß, was sich
als Wahrheit ergeben würde. Die sittHchei Gesinnung also wäre,
wie es auch um das Wissen stehe, das Nicht-Handeln-Wollen
nach der Wahrheit, sie sei nun gesehen oder nur vorausgesehen.
Und dieses ist eine, und zwar wie Kant sie nennen sollte qualifi-
zierte, Unlust, die moralische Vollkommenheit zu erhöhen, gegen
welche das Gebot unter der so überschriebenen Pflicht hätte
müssen vorkommen. Was aber nun die äußere Wahrhaftigkeit b) äußere.
betrifft: so ist zu fragen, zuerst ob wohl die Aufrichtigkeit in
Aussagen und die Treue in Versprechungen wirklich eins sind.
Denn das Ausführen der Verträge ist, wie bereits oben ausgeführt
worden, keine eigene Handlung, weil es dazu keines neuen Ent-
schlusses bedarf, sondern dieser schon begriffen ist in demjenigen,
welcher die Gemeinschaft des Rechtes und der Sprache gestiftet
hat. Denn durch die erstere wird einmal für immer die Willens-
handlung an ihre Ausführung gebunden, durch die letztere aber
die Rede unter bestimmten Formen und Bedingungen in eine
Willenshandlung verwandelt. Der Entschluß ist ethisch be-
trachtet die Handlung, und indem ich diesen einem andern
übergebe mit seinem und meinem Wissen, habe ich ihm die Hand-
lung übergeben, von welcher ich nun das Äußere, was noch fehlt,
nicht mehr trennen darf. Dieses nicht deutlich genug auffassend
verdirbt sich auch Fichte gegen seine sonstige Tugend die Klarheit
dieses Begriffs, und muß einen unbestimmten Unterschied ein-
führen zwischen dem, Vv'as der Sittlichkeit absolut widerspricht, und
dem, was ihr zwar auch, aber nicht absolut widerspricht, indem
ich dieses zwar, nicht aber jenes, um seinetwillen tun müsse.
So gründet sich nun freilich die Treue in Verträgen auf die Ge-
meinschaft der Sprache, nicht aber gilt dies von der Aufrichtig-
keit in Aussagen. Denn wer sich hiebei hinter die Vieldeutigkeit
der Worte verbirgt, will nur seinem Unrecht eine andere Gestalt
geben, das eigentliche Unrecht aber ist allemal die Absicht, den
^ Muß offenbar heißen: „unsittliche".
208 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 206]
andern glauben zu machen, was nicht ist. Dieses aber kann von
der Untreue in Versprechungen nur in dem besonderen Falle
gesagt werden, wenn schon anfänglich der Wille nicht da ist, sie
zu halten, nicht aber, wenn der Wille als wirklich vorausgesetzt
wird. Da nun die Pflicht oder Tugend der Treue beide Fälle
umfaßt: so muß der Grund derselben ein anderer und gemein-
schaftlicher sein. Ferner erhellt dasselbe daraus, weil Wahrheit
in Aussagen und Treue in Versprechungen können in Widerstreit
geraten, da es ja Versprechungen gibt und geben kann, etwas
nicht auszusagen, welche oft, wenn gefragt v.'ird, auch durch das
bloße Nichtaussagen schon würden verletzt werden. Hieraus aber
folgt von selbst, daß eine oder beide noch müssen bedingt werden,
es müßte denn das Nichtaussagen als eine absolute Unsittlichkeit
angesehen werden, so daß ein Vertrag darüber unsittlich wäre;
was aber noch schwieriger sein möchte, indem jenes sich noch von
andern Seiten als der Bedingung bedürftig einem jeden darstellen
muß. Denn wie Fichte diese Pflicht bedingt hat, daß sie nur auf
dasjenige gehe, was für den andern unmittelbar praktisch ist,
ist die Bedingung weder bestimmt, weil die Regel der Beurteilung
erst seine Eröffnung voraussetzt über etwas, was für mich auch
nicht unmittelbar praktisch wäre; noch ist sie vollständig, weil
Fichte dabei nur einen besonderen Fall, nicht aber den hier an-
geführten und andere im Auge gehabt hat.
Dann^ auch wäre zu fragen, ob die Wahrhaftigkeit, nachdem
so auch die Treue in Versprechungen von ihr abgesondert worden,
als Pflicht eins ist oder als Tugend. Denn als letztere scheint sie
auf der einen Seite nur eine natürliche, und zwar die niedrigste
Äußerung des Wohlwollens zu sein, indem allemal eine besondere
eigene Absicht dazu gehört, um von der Wahrheit abzuweichen,
oder doch, wo dieses eine für sich bestehende Handlungsweise
wäre, wir sie immer auf das Übelwollen zurückführen würden,
und auf die Absicht den, wenngleich unbekannten Zweck des
* Absatz nicht im Original
(Ili.l, 207] IL Kritik der ethischen Begriffe. 209
andern zu vernichten. Auf der andern Seite wird aber doch, wer
um seines Vorteils willen die Wahrheit in Aussagen verletzt, ganz
anders beurteilt, als ein eigennütziger. Wäre sie hingegen das
erstere, so müßte das Gebot, welches der Ausdruck derselben sein
sollte, einen Zweck entweder ausdrücklich oder durch Voraus-
setzung angeben, und nach demselben sich ihre Grenzen be-
stimmen, welche der Pflicht notwendige Form sie bis jetzt noch
nirgends zu haben scheint. Überdies vermischt Kant auf eine
wunderliche Art mit der Wahrhaftigkeit in Geschäften und ernst-
haften Angelegenheiten die im Umgange, und kann die Frage
pedantisch aufwerfen, ob dieser Tugend nicht zuwider wäre der
Gebrauch solcher Redensarten, welche in der geselligen Sprache
eine andere Bedeutung haben als in den Wörterbüchern, da doch
jene Bedeutung gemeinschaftlich ist und keinen Irrtum veranlaßt.
Daher auch keineswegs der Gebrauch dieser Sitten aus dem Grunde
der Wahrhaftigkeit zu tadeln ist; eher vielleicht ihre Erfindung
aus andern Gründen als ein vergebüches und sich selbst aufheben-
des Unternehmen. Gewiß aber hat wegen dieser entschiedenen Un-
gleichheit der Beziehungen Aristoteles besser getan, die Wahr-
haftigkeit des Umganges, wiewohl er sie in einem größeren Um-
fange verstand, ganz abzusondern von der Wahrhaftigkeit der
Geschälte. Bei Fichte findet sich für diese Absonderung freilich
kein Grund, aber auch überall keine Veranlassung, die Wahrhaftig-
keit auch auf das bloß erheiternde Gespräch auszudehnen. Denn
er gründet die Verpflichtung dazu nicht wie Kant auf ein Verhältnis
des Menschen gegen sich selbst, sondern auf die Beförderung des
Freiheitsgebrauches anderer. Welche Verschiedenheit des Ver-
pflichtungsgrundes bei Systemen gleicher Art nicht geringen Ver-
dacht erregt. Wenn aber Fichte die Wahrhaftigkeit auf denselben Wohltäti?-
Grund baut wie die Wohltätigkeit, und also als Gesinnung beide
für eins erklärt: so hat dagegen Kant, als Pflicht betrachtet, die
Wahrhaftigkeit in Streit gesetzt mit der Wohltätigkeit, wie er
diese in ihrem eigentlich sittUchen Charakter beschreibt. Denn
Schleiermacher, Werke. I. 14
210 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 208]
nachdem er die Pflichten gegen andere eingeteilt hat in solche,
wodurch der Ausübende andere verpflichtet, und solche, wo dies
nicht geschieht, die Wohltätigkeit aber unter die ersteren
versetzt, so will er doch, daß der Schein, als dächte der Wohltäter
den andern dadurch zu verpflichten, sorgfältig solle vermieden
werden, welches doch offenbar heißt, den andern glaubend machen,
was nicht ist. Oder es müßte der Wohltäter sich selbst, ohnerachtet
er die Wahrheit jener Einteilung eingesehen, dasselbe überreden
wollen, und um die äußere zu vermeiden, zur innern Lüge seine
Zuflucht nehmen.
Diesel auch anderwärts gerühmte und beHebte Tugend oder
Pflicht, den Wert sittlicher Handlungen, es sei nun nur äußerlich
gegen andere oder auch im eigenen Bewußtsein, sofern dieses
möglich ist, zu verringern, hängt auch zusammen mit dem dritten
Teile der in Prüfung seienden kantischen Pfhcht, welcher nämlicK
Anspruch auf verbietet dem Anspruch auf eigenen moralischen Wert zu entsagen.
eigenen mora- {^^^jj^ fügt diesem noch den Bewegungsgrund hinzu, es solle näm-
lischen Wert. . & & & >
lieh nicht geschehen in der Meinung, eben durch diese Entsagung
einen andern Wert zu erwerben; als ob dieses eine eigene Pflicht
wäre, eine andere aber wieder, das nämliche nicht zu tun, um
jemandes Gunst zu erwerben. Dieses nun ist schon in der Form
falsch, denn die Festhaltung des moralischen Wertes ist schon eine
sittliche Realität, und so ist es immer nur dieselbe Pflicht, diese
festzuhalten gegen jeden unsittlichen Antrieb; die Verschiedenheit
des Unsittlichen aber kann nicht ein Grund sein zur Teilung des
Sittlichen. Überdies aber ist jener Bewegungsgrund eine schlechte
Formel. Denn ist der vermeinte Wert als ein nicht sittlicher
gemeint, so schließt sie ja alle übrigen in sich, und der Unter-
schied ist auch von dieser Seite betrachtet nichts; ist er aber ge-
meint als ein sittlicher, so würde sie sich auflösen in die, nicht
etwas Nicht-Sittliches zu halten für ein Sittliches, welches, wenn
es ebenso für jeden besonderen Fall als eine eigene Pflicht auf-
geführt würde, neben der eigentlichen Reihe der Pflichten noch
^ Absatz nicht im Original.
[111,1, 209] II. Kritik der ethischen Begriffe. 211
eine andere gleichlaufende hervorbringen müßte, welche nur aus-
sagte, den Irrtum zu vermeiden über die Pflicht. Was aber die
Sache selbst betrifft, so findet noch der Doppelsinn statt, ob der
sittliche Wert des Subjekts, welcher auf seinen wirklichen Ge-
sinnungen und Taten beruht, der Gegenstand der Schätzung sein
soll, oder der allgemeine Wert der Menschheit in seiner Person,
oder ob beides nicht zu unterscheiden ist. Wie dem aber auch
sei, so ergibt sich im folgenden eine andere Pflicht, diese Selbst-
schätzung zu beschränken durch die Redlichkeit, andere zu schätzen;
so daß beide Pfhchten einander aufzuheben trachten, und also,
den aufgestellten Grundsätzen gemäß, noch keineswegs als Pflich-
ten gesetzt sind, sondern nur als sittlich unbestimmte Handlungs-
weisen, welche, um Pflichten zu werden, auf ein gemeinschaftliches
Prinzip müßten bezogen und durch dasselbe entweder jede in sich
selbst mit Aufhebung alles Streites gegen die andere begrenzt
und bestimmt, oder vielleicht mit Aufhebung der Rücksicht auf
das Eigene und Fremde beide nur als eine und dieselbe dargestellt
werden. Dieses aber fehlt nicht nur bei Kant, sondern überall;
denn überall liegt die Bescheidenheit mit der Selbstschätzung im
Streit, indem bald jener so viel eingeräumt wird, daß für diese
kein Raum bleibt, bald diese so weit ausgedehnt, daß jene keine
Anwendung behält, und so einigen die Bescheidenheit als Krie-
cherei, anderen aber die Selbstschätzung als Hochmut erscheint.
Und noch mehr ist der Inhalt ganz schwankend und verschwindet
bei der genaueren Betrachtung. Denn das eigene Anerkennen der
sittHchen Natur kann keine besondere Pflicht sein, weil es über-
haupt der Unterwerfung unter alle Pflichten zum Grunde liegt, und
es würde in dieser Hinsicht nicht besser sein, als jene besondere
Pflicht, sich die Pflicht zur Triebfeder zu machen. Daß aber andere
diese Natur anerkannten, ist vorauszusetzen in Beziehung auf jeden,
mit welchem sie in Gemeinschaft treten oder verharren, und was
sie auch jener Voraussetzung dem Anschein nach Widerstreitendes
tun könnten, kann niemals diese bleibende Bürgschaft überwiegen.
Daher auch schwerlich irgendeine Äußerung oder Tat eines Alen-
14*
2*2 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 210]
sehen gegen den andern so auszulegen ist, als entstände sie aus
einem bleibenden Verkennen seiner sittlichen Natur. Denn was
gewöhnhch als ein solches angeführt wird, wenn nämlich einer
den andern als Sklaven hat oder als bloßes Werkzeug des Scherzes,
welches zur Belustigung des andern jede beliebige Kraft des
Gemütes bewegen muß, auch diese Zustände sind doch weder
von der Art, daß jede Spur von Gemeinschaft dabei verschwände,
noch auch läßt sich leugnen, daß sie von andern, welche jeder
als zulässig anerkennt, nur dem Grade nach verschieden sind.
Soll aber die Schätzung nicht auf die gemeinschaftliche Natur
gehen, sondern auf die besondere Sittlichkeit eines jeden, so kann,
diese richtig zu erkennen und zu würdigen, nicht einmal für jeden
selbst Pflicht sein, weil die unrichtige Angabe, wenn sie bloß aus
einem Rechnungsfehler während der Geschäftigkeit des prüfenden
Verstandes hervorgegangen ist, nicht kann als unsittlich angesehen
werden. Sondern PfHcht könnte bloß sein, die Untersuchung nach
einer solchen Methode anzustellen, welcher keine unsittliche Vor-
aussetzung zum Grunde Hegt; welches aber von keinem ist als
die Hauptsache angesehen worden, und auch nur mit Unrecht eine
PfHcht der Selbstschätzung konnte genannt werden. Daß es nun
gar eine eigene Pflicht geben sollte, andere zu richtiger Anerken-
nung unserer eigentHchen Sittlichkeit zu bewegen, dieses ist, wenn
nämlich die Freundschaft so ganz verkannt wird, wie Fichte, oder
so enge eingeschränkt, wie Kant es tut, kaum zu denken. Denn
eine Pflicht, uns Handlungen zu widersetzen, die auf einem un-
richtigen Urteile zu beruhen scheinen, könnte sich dennoch auf
diesen Bewegungsgrund nicht beziehen, sondern müßte in der
Beschaffenheit jener Handlungen ihren Grund haben; für den
Wunsch aber, ihre Erkenntnis zu berichtigen, müßte ihr Urteil über
andere ebensowohl ein Gegenstand sein, als das über uns. So
daß dieser Teil der vermeinten Pflicht zur erweiternden Wahr-
heitsliebe gehören würde, für jenen aber, wenn er anders etwas
Reales sein soll, ein anderer Ort müßte gesucht werden. Es
[111,1,211] II. Kritik der ethischen Begriffe. 213
scheint aber die Ursache der Verwirrung die zu sein, daß der
sittliche Wert und dessen Anerkennung verwechselt worden ist
mit dem bürgerlichen; welches auch überall auf die Behandlung
des guten Rufes von nachteiligem Einfluß gewesen ist.
Dieses ^ nun bezog sich auf die praktische Sittenlehre. In
der eudämonistischen aber ist die Wahrheit gar nichts an sich,
und nur die Wahrheit des Natürlichen und Zufälligen, sofern ihm
noch ein Einfluß bevorsteht auf das Hervorbringen der Lust und
Unlust, hat einen bestimmten Wert. Nach der Wahrheit des Gegen-
wärtigen aber kann keine Frage entstehen und noch weniger die
des Vergangenen einen Wert haben. Vielmehr muß die sittliche
Selbstschätzung an Sittlichkeit, nämlich an Lust gewinnen durch
die natürliche Täuschung des Urteils, welche oft als hervorgebracht
angibt, was nur zufällig erreicht war, und durch die Falschheit
der Erinnerung, welche aus der Vergangenheit allemal mehr die
Lust herausholet als den Schmerz, so daß es sogar zur Aufgabe
würde, diese Täuschung hervorzubringen und zur Gewohnheit
zu machen. Noch weniger aber kann die Wahrheit in andern
einen Wert haben, sondern oft ist aus ihrer nachteiligen Meinung
mehr Lust hervorzubringen, als aus der richtigeren und günstigen.
Daher es auch von den wahren Meistern dieser Lebensweise für
eine Tugend, das heißt eine Maßregel der Klugheit gehalten wird,
selbst wenn man der Wahrheit und der Ehre eine eigentümliche
Lust zuschreiben wollte, dieser doch ihrer Wandelbarkeit wegen
keinen unbedingten Wert beizulegen. Dasselbe aber würde auch
gelten von der sympathetischen Ethik, für welche unter andern
jene Verringerung des Wertes eigener Handlungen zur Schonung
des fremden Gefühls eine natürliche Grenze der Wahrhaftigkeit
wäre, und von welcher alle Vorstellungen von wohltätigen Täu-
schungen, glücklichen Irrtümern und dergleichen ausgegangen sind.
Diese nun nach ihrer Sittlichkeit zu beurteilen, ist nicht dieses
Ortes; daß aber die Wahrheit dabei gänzlich verschwindet, ist
^ Absatz nicht im Original.
214 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,2121
klar; und wenn einige unter diesen Sittcnlehrern ihren Haß gegen
die Gerechtigkeit so offenbar bekannt haben, so ist zu verwundern,
warum sie nicht auch sagen, die Wahrheit anzuzeigen sei mehr
die Eigenschaft einer Uhr als eines Menschen. Auch die Regel,
um die Selbstschätzung und die Bescheidenheit zu vereinigen,
welches allerdings in diesem System gefordert wird, kann nicht
die Wahrheit sein, sondern das Abwägen der gegenseitigen Lust
und Unlust, deren VeränderHchkeit dann auch jenen Begriffen
keine Sicherheit ihres Inhaltes zurückläßt. Aus einem andern
Grunde aber fehlt bei Fichte die Pflicht der Selbstschätzung so-
wohl als der Selbsterkenntnis, weil er nämlich es sich zum Gesetz
scheint gemacht zu haben, keinem bloß innern Handeln eine
Stelle einzuräumen in der eigentlichen Pflichtlehre. Daher auch
die Berichtigung des Urteils anderer über unsere Sittlichkeit keine
eigene Pfhcht sein kann: denn unmittelbar erfolgt sie aus Liebe
zu ihrer Freiheit in jedem Falle, wo ihr Urteil unmittelbar prak-
tisch für sie sein würde; mittelbar aber kann nichts dazu ge-
schehen, als daß jeder seine Sittlichkeit handelnd darstellt, wo
denn die Beziehung auf jenen Zweck nur ein begleitendes Bewußt-
sein wäre,
^ndere Ebenso ^ ergeht es ferner der von Kant aufgeführten besondern
Pflicht der Erhöhung der sittlichen Vollkommenheit. Denn so
wie diese Maxime als höchste ethische Idee vorgestellt, welches
schon im ersten Buche erwähnt worden, jeder bloß ausübenden
PfHcht widerstreitet: so widerstreitet sie als einzelne Pflicht ge-
dacht der Idee von einem für jeden Augenbhck bestimmten Beruf.
Nach dieser nämlich ist das eigentlich sittliche Bestreben nur dieses,
die Pflicht in jedem Augenblick ganz zu vollbringen, v/elches, wenn
es gelingt, keiner weiteren Forderung einer Vervollkommnung
Raum läßt. Daß aber dieses in Beziehung auf das Vergangene
jedesmal besser gelinge, setzt teils die Selbsterkenntnis voraus,
welche ebenfalls aufgelöst ist und unnötig gemacht durch die
Pflichterkenntnis, teils kann es sich doch nicht in eigenen Hand-
'■ Absatz nicht im Original.
Pflichten.
[111,1, 213] II. Kritik der ethischen Begriffe. 215
lungen äußern, sondern bleibt ebenfalls nur ein inneres, ein die
bestimmte Pflichterfüllung begleitendes, reflektierendes Bewußt-
sein. Nur ist auf der andern Seite auch Fichte jenem Gesetz, das
bloß innere Handeln gänzlich auszuschließen, nicht treu geblieben.
Denn er stellt doch auf, eine Pflicht die Sittlichkeit im allgemeinen
zu befördern, von welcher er ebenfalls einsieht, daß sie keine
eigenen Handlungen veranlassen kann, sondern erfüllt wird, indem
jeder das ihm obliegende Gute vollbringt, welche Pflicht also ent-
weder garnichts ist, oder auch ein diese Vollbringung begleitendes
Bewußtsein jener Absicht. Worin also ein Irrtum liegt, welcher
Bedenken erregen muß auch über die formale Richtigkeit jener
Auslassungen und überhaupt über seine Ansicht von dieser Sphäre
der Pflichten. Nicht mindere Unbestimmtheit und Verwirrung
findet sich auch in seinen unbedingten besonderen Pflichten, wenn
man sie vergleicht mit den gleichen bedingten. Zuerst nämlich
entsteht Zweifel, ob und wie die allgemeine Regel, seinen Stand
nicht nach Neigung, sondern nach Einsicht zu wählen, sich auch
erstrecke auf die natürlichen Stände, in welchen doch auch die
Wahl nicht ganz kann ausgeschlossen werden. Denn wenn auch
die Liebe nicht von der Freiheit abhängt, insofern ihr ein Natur-
trieb beigemischt ist: so zeigt doch eben diese Erklärung, daß es
noch etwas anderes in ihr gibt, welches allerdings von der Frei-
heit abhängt. Sonach ist ganz unentschieden, ob dieses andere
in Beziehung auf eine bestimmte Person mit dem Naturtriebe zu
verbinden, oder nicht, eine Sache der Wahl sei; und ob bei dieser
Wahl die Einsicht entscheiden dürfe, oder was sonst. Ebenso,
wenn auch die Handlung, welche den Trieb befriedigt und die
Fortpflanzung bewirkt, allemal aus dem Triebe hervorgehen muß:
so ist doch nicht gesagt, daß sie jedesmal geschehen müsse, wenn
der Trieb sie fordert, und sonach unentschieden, ob die Beurteilung,
welche dabei stattfindet, sich auch beziehen dürfe auf eine freie
Wahl in Absicht der Vervielfältigung des elterlichen Verhältnisses.
In welcher Hinsicht denn die alten Sittenlehrer weit bestimmter
sind, welche, indem sie die Ehe bloß um der Kinder willen setzen,
216 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 214]
für die Gattin die Gründe der Wahl, für die Anzahl der Kinder aber
ein zuträgliches Maß anzugeben nicht unterlassen; und vieles war
bei ihnen schändlich in dieser Hinsicht, was bei uns überall nicht
pflegt zur sittlichen Beurteilung gezogen zu werden. Eine solche
Bestimmtheit aber muß für die Wissenschaft gefordert werden, und
kann weder durch die Selbständigkeit der Ehe noch durch die
Vermischung des Freuen und Unfreien unmöglich gemacht sein.
Ferner auch scheint die Bestimmung und Einteilung des Berufs
teils nicht nach Grundsätzen, sondern nach Maßgabe des Vor-
handenen gemacht zu sein, und zwar so einseitig, daß kaum
irgendwo von Verbindung der verschiedenen Einheiten in einer
Person die Rede ist. Teils auch scheint sich jener Regel von der
freien Wahl des Berufs nach besserer Einsicht zu widerstreiten.
Denn die verschiedenen Arten sind hier so konstruiert, daß eine der
andern in ethischem, nicht etwa nur in bürgerlichem Verstände
sich untergeordnet zeigt; zur Wahl nach Einsicht aber gehört vor-
nehmlich die Kenntnis des wesentlichen Unterschiedes, woraus
denn hervorgeht, daß einer freiwillig seinem Anspruch, zu den
höher gebildeten Menschen zu gehören, entsagen muß, welches,
wenn nicht ein natürlicher und angeborener Unterschied an Geistes-
kräften sogar der Art nach angenommen wird, für jeden Fall
eine unsittHche Handlungsweise entweder des Wählenden selbst
voraussetzt, oder derer, welche ihn vorläufig zur Wahl nach Ein-
sicht bilden sollten, oder endlich der Gemeinheit, welcher beide
angehören; so daß, welcher auch gelten möge, die Möglichkeit
einer solchen Einteilung unter der Voraussetzung jener Regel auf
dem Unsittlichen beruht. Deshalb auch hier über die einzelnen
Begriffe, über die Art, wie sie gefaßt sind, und wie ihnen durch
die erteilten Vorschriften Genüge geschieht, nichts weiter zu
sagen ist.
Allgemeine Gehen wir nun zu den gewöhnlich sogenannten allgemeinen
Pflichten Pflichten gegen andere: so ist es eben hier, wo die Verwechse-
lung des Pflicht- und Tugendbegriffes nicht mehr in einzelnen
[111,1, 215J II. Kritik der ethischen Begriffe. 217
Fällen, sondern fast allgemein vorkommt. So daß diese Verwir-
rung der Form nicht mehr einzeln wird angemerkt werden, son-
dern nur hier wird noch einmal für alle zurückgewiesen auf
dasjenige, was vom Verhältnis dieser Begriffe ist gesagt worden,
und wie eine Formel, welche als für die Pflicht berechnet unzu-
länglich und unbestimmt noch weniger eine Tugend bezeichnen
kann, und umgekehrt. Nach dieser Erklärung nun knüpfe sich
zunächst an das vorige an ein Verhältnis, in welchem gemeinhin
ebenfalls eine freiwillige ethische Selbstunterwerfung gedacht wird,
nämlich das der Wohltätigkeit und Dankbarkeit. Bei Fichte zwar Wohltätig-
ist die Wohltätigkeit am folgerechtesten für jede praktische Ethik pj^n^barkeit.
gar nicht auf das Wohlbefinden des Bedürftigen bezogen, sondern
lediglich auf dasjenige, was für alle als die gemeinschaftliche
Bedingung der Freiheit und des sittlichen Handelns in der Sinnen-
welt aufgestellt ist. So daß auch der Dürftige wenigstens von
allen gemeinschaftlich, wenn auch nicht von jedem einzelnen, die
Ausübung der Wohltätigkeit fordern kann als sein Recht, und
daher die Dankbarkeit, wenn nicht ganz verschwindet, doch ihren
Sitz verändert, und nicht mehr eine Pflicht wäre des Bedürftigen
gegen den Wohltäter, sondern vielmehr der Gemeinheit gegen
den Einzelnen, welcher als ein sich selbst dazu aufwerfender
Bevollmächtigter ihre Pflicht hat erfüllen wollen. Hiebei aber
ist zu bemerken, einesteils, daß auf diese Art auch die Wohl-
tätigkeit keine reine Pflicht sein kann, sondern nur auf einem
Zustande beruht und mit ihm selbst in einer besseren Zeit ver-
schwinden muß, dessen Aufhebung als sittlich notwendig angezeigt
ist. Auf welche Weise denn gerade in der Hinsicht, in welcher
Kant sie zu wünschen scheint, die Verwandlung der Liebespflicht
in Rechtspflicht eintreten würde, ohne doch die Darstellung der
Welt als eines sittlich schönen Ganzen zu behindern. Andernteils
aber, daß die Wohltätigkeit, wie Fichte sie angibt, den gewöhn-
lichen Begriff nicht ausfüllt, sondern in diesem auch mit enthalten
ist seine Dienstfertigkeit. Und in diesen abgesonderten Begriff
218 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 216]
scheint sich bei ihm jene Unstatthaftigkeit zurückgezogen zu
haben, welche sonst dem Ganzen einwohnt. Denn sobald ein
Beruf gesetzt ist, hat auch jeder in jedem Augenblicke für einen
eigenen Zweck, welcher gewiß sittlich ist, etwas zu verrichten,
und jeder Versuch, die Zwecke anderer zu befördern, wäre einer-
seits ein verbotenes abenteuerliches Aufsuchen einer Tugendübung,
weil er nämlich ein Hinwegsehen ist von der aufgegebenen be-
stimmten und ununterbrochen fortgehenden Pflicht, andererseits
aber eine Klügelei, oder die Anmaßung, etwas, das ich nicht weiß,
demjenigen vorzuziehen, was ich weiß. Weichergestalt denn von
der Dienstfertigkeit nichts übrigbleiben würde, als das natürliche
Ineinandergreifen der verschiedenen Berufsarten, in dessen Be-
wußtsein und der daraus entstehenden Verehrung der niedern
Stände gegen die höheren auch die Dankbarkeit ganz im kanti-
schen Sinne als Verehrung des Wohltäters und Bestreben nach
Gegendiensten verborgen liegt und auch ganz auf einem ein-
geschlichenen Unsittlichen beruht. Dieses aber ist bei Kant selbst
noch weit offenbarer der Fall mit der Dankbarkeit und Wohl-
tätigkeit, so wie beide zusammengehören, und überall, wo auf
dem Grunde einer praktischen Idee eine auf Glückseligkeit, gleich-
viel ob eigene oder fremde, sich beziehende Pflicht gebaut wird.
Bei Kant besonders beruht die Wohltätigkeit auf der Voraus-
setzung, daß jeder wolle, ihm solle aus der Not geholfen werden.
Dieser Wille aber ist so unbedingt kein sittliches Wollen in der
praktischen Ethik. Sondern, da auch in der Not noch Tugend-
übungen und PfHchterfüllungen möglich sind, und dieser Zustand
das sittliche Dasein nicht schlechthin aufhebt: so wird der Wille,
ihn zu verändern, sittUch oder unsittlich, je nachdem der Preis es
ist, welcher gegeben werden soll. Ohnstreitig aber ist der Preis
einer solchen Seibstunterwerfung, wie sie in der Dankbarkeit ge-
setzt ist, durch welche eine immerwährende sittliche Ungleichheit
gestiftet wird, welche noch überdies nur auf dem Zufall beruht,
nämlich auf der Gelegenheit wohlzutun, und nicht auf der Ge-
[111,1,217] II. Kritik der ethischen Begriffe. 219
sinnung, in Hinsicht auf welche gar wohl der Bedürftige dem
Wohltäter gleich sein kann und überlegen; ein solcher Preis ist
auf jeden Fall unsittlich, und das Verhältnis eine Herabwürdigung
des sittlichen Wertes wegen eines sinnlichen Zweckes. Ja, schon
indem dem Wohltäter Ansprüche auf wenigstens gleiche, eigent-
lich aber auf unendliche Gegendienste zugestanden werden, müßte
mit der Möglichkeit der Wohltaten auch die Möglichkeit einer
sittlichen Sklaverei ethisch gesetzt werden, und die Erlösung aus
der Not wäre der Preis, um welchen die Freiheit gesetzmäßig
dürfte verkauft werden. So daß, die Dankbarkeit vorausgesetzt,
der Verpflichtungsgrund zur Wohltätigkeit unmöglich wird, auf
welcher doch wiederum die Dankbarkeit beruht, und das System
von Pflichten in seiner Wechselbeziehung als ganz unzulässig er-
scheint. Wenn aber auch die Wohltätigkeit auf einem andern
Grunde beruhte und also für sich bestehen könnte: so bliebe doch
die Dankbarkeit, wie man auch den Begriff einschränke, sobald
sie sich nur auf selbstgenossene Wohltaten beziehen sollte, für die
praktische Ethik ganz unzulässig. Denn wenn auch über die
SittHchkeit in den Beweggründen einer genossenen Wohltat die
größte Gewißheit zu erlangen wäre, so könnte doch aus dieser
persönlichen Beziehung keine Verehrung entstehen, sondern diese
müßte sich ausdehnen auf alle auch gegen andere ausgeübte
Wohltaten, wie sie als sittlich einem jeden bekannt werden, ja
auch auf die Gesinnung, welche nur durch äußere Umstände in den
tätigen Erweisen ist gehindert worden. Die Verpflichtung aber
zu gleichen Diensten würde noch außerdem entweder auf dem
Verpflichtungsgrunde zur Wohltätigkeit überhaupt beruhen müssen,
und also der vorhergegangenen empfangenen Wohltat nicht be-
dürfen, oder mit dieser im Streit sein, und also noch eine neue
und andere Bestimmung beider Begriffe notwendig machen. Im
Eudämonismus wiederum kann die Dankbarkeit keinen andern
Sinn haben, als entweder, sofern sie Vergeltung ist, die Verbin-
dung aufzulösen ; welches voraussetzt, daß diese Unlust macht, daß
220 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 218]
also der Wohltäter entweder gar nicht in Beziehung auf den
Empfänger gehandelt hat, welches ohnedies nicht gedacht werden
kann, sondern nur dessen vorausgesehene Unlust als Mittel ge-
braucht, um für sich die Lust zu gewinnen, die ihm aus der Ver-
geltung entsteht; oder daß er, wenn sein Zweck auf eine an-
genommene eigentümliche Lust des Wohltuns gerichtet war, diesen
überschritten hat, wofür er eine Gegenlust gewiß nicht verdient.
Oder es soll die Dankbarkeit ein Reizmittel sein, um zu neuen
Wohltaten aufzumuntern ; dann aber verliert sie teils die Be-
ziehung auf eine empfangene Wohltat, und müßte aus gleichem
Grunde gegen alle bewiesen werden, welche in dem Fall, wohl-
tun zu können, eines solchen Reizmittels empfänglich und be-
dürftig sind; in welcher Hinsicht sie dann ganz identisch wäre
mit jener Wohltätigkeit, und das wesentliche Merkmal des Be-
griffs, inwiefern er sittlich sein soll, anderwärts müßte aufgesucht
werden; teils ließe sich doch kein sittlicher Grund aufstellen für
die Erwartung, daß die Lust den Empfänger bewegen würde,
dem Urheber wieder Lust zu machen, außer wenn eine damit ver-
bundene Unlust vorausgesehen wird, welche abgeschüttelt werden
muß; in welchem Falle dann zwischen Wohltat und Beleidigung,
sowie zwischen Dankbarkeit und Rache oder Schadenersatzforde-
rung eine wimderbare und höchst verwirrte Identität entstehen
müßte. Überdies aber müßten doch beide Begriffe so begrenzt
werden, daß nur das auf einen andern verwendet würde, was
dem Besitzer selbst in Beziehung auf die eigentümlich damit
verbundene Lust wieder brauchbar ist; wodurch beide Begriffe in
den eines liberalen Tausches übergehen und gar kein eigentüm-
liches Verhältnis übrig bleibt. Wie aber in der sympathetischen
Ethik etwas ganz Ähnliches erfolgt, darf wohl kaum noch aus-
geführt werden. Ebenso wird jeder einsehen, daß auch die Wohl-
tätigkeit, für sich betrachtet, in der praktischen Ethik noch genauerer
Bestimmungen bedürfte, um als Pfücht aufgestellt zu werden oder
als Tugend, wie selbst nach der Fichteschen Erklärung, welche
doch die bestimmteste und begründetste ist, aus den unbestimmten
[111,1,219] II. Kritik der ethischen Begriffe. 221
Vorschriften erhellt, daß einerseits auch zur Wohltätigkeit die Ver-
anlassung sich darbieten müsse, andrerseits aber jeder solle ihrent-
wegen haushälterisch sein und sparsam, und was sonst noch zu
lesen ist. Was aber über diesen Gegenstand die Alten und vor-
nehmlich die Stoiker in dem Abschnitte von den Pflichten genauer
bestimmt gehabt, davon ist wenig übriggeblieben, welches, teils
mehr in das Gebiet der Staatsverwaltung hinübergezogen als
das sittliche Leben überhaupt umfassend, teils auch seiner Natur
nach nicht besser als das bisher Erwähnte nur dasjenige berührt,
was auch Kant unter seinen Gewissensfragen aufgeworfen, die
Grenzen nämlich zwischen der Wohltätigkeit und der Selbstliebe.
So daß auch hier, trotz dem Grundsatz von der Unmöglichkeit
eines Übermaßes im wahrhaft Sittlichen, nur ein unbestimmter
Begriff geherrscht hat. Als Tugend betrachtet aber haben sie eben-
falls die Wohltätigkeit unter die Gerechtigkeit gesetzt und als eine
Äußerung derselben aufgestellt; so jedoch, daß in allen Abteilungen
der Gerechtigkeit, in der Widersetzung gegen das Unrecht, in
dem Bestreben, jedem gleiche Vorteile aus der Gemeinschaft zu-
zusichern, in dem Wohlverhalten bei Verträgen, überall das Recht-
liche mit dem über die strenge Rechtspflicht Hinausgehenden so
vermischt ist, daß weder eine Absonderung sich zeigt, noch auch"
zu sehen ist, was wohl als der Inhalt der eigentlich sogenannten
Gütigkeit zurückbleibe.
Außer 1 der tätigen Hilfeleistung aber ist auch fast überall Teilnahme.
geredet worden von einer Pflicht, durch die Empfindung teilzu-
nehmen an dem, was andern begegnet. Welche Forderung wohl
auf dem gewöhnlichen Wege der praktischen Sittenlehre nicht ist
wahrgenommen worden, sondern nur in der eudämonistischen
Ethik teils, noch mehr aber in der sympathetischen scheint ein-
heimisch zu sein. In der letzteren nun müßte die Teilnehmung
als sittlich auch ein selbstisches Gefühl enthalten, und nirgends
ist bestimmt, ob dieses sein sollte die Unlust, welche aus der
Gleichheit der Individuen entsteht, und der Erwartung des ähn-
^ Absatz nicht im Original.
222 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,220]
liehen, oder die Lust aus ihrem Gegensatz und aus der gegen-
wärtigen Befreiung. Im reinen Eudämonismus aber könnte
sie nur sittlich sein entweder als unvermischte Lust, also ohne allen
Charakter der Teilnehmung als Freude über das eigene verglichene
Wohlergehen, oder als eigentümliche überwiegende Lust, woher
auch immer die Rede gewesen ist von dem besonderen Reiz der
vermischten Empfindungen. So betrachtet indes würde aus der
Aufgabe, diesen Genuß teils mehr in die Gewalt der Willkür
zu bringen, teils von allem, was über ihn hinausgeht und ihn
verunreiniget, zu befreien, die Vorschrift entstehen, seine Befriedi-
gung nicht sowohl aus der Wirklichkeit zu schöpfen, als vielmehr
aus den Werken der nachahmenden Darstellung; wonach denn
die Realität der Teilnehmung wieder verschwindet. Wird aber
die Sache, dieses alles abgesondert, aus dem Standpunkt der
praktischen Sittenlehre betrachtet, so erscheint fast noch größere
Ungewißheit und Verwirrung. Denn was zuerst den stoischen
Satz betrifft, daß das Mitgefühl müsse vermieden werden, damit
nicht zweie leiden mögen statt eines, dieser ist schlecht begründet,
weil eben, wenn der Schmerz kein Übel ist, auch seine Ver-
breitung nicht dafür kann gehalten werden. Wiewohl auf der
andern Seite aus dieser Voraussetzung auch keine Ursach entsteht,
Schmerz zu haben über den Schmerz, vielmehr, wenn ja dieses
Mitgefühl seinen Grund haben sollte in der geselligen Natur des
Menschen, es doch ein sittlich Unbestimmtes wäre, und nicht aus
allgemeinen Gründen, sondern aus der Sache Fremden in jedem
Fall zu suchen wäre oder zu vermeiden. Wird ferner auf das oben
Ausgeführte Bezug genommen, daß doch alles Leiden im allge-
meinen betrachtet ein Übel ist: so wird zwar ein Gefühl desselben
entstehen, dieses aber wird keine Teilnehmung sein, weil in dieser
Beziehung das fremde Leiden und das eigene auf ganz gleiche
Weise müßte betrachtet und behandelt werden. Wollte endlich
jemand dies alles beiseite setzen und für die praktische Ethik bloß
die Frage übrig lassen, ob nicht Schmerz müsse empfunden werden
über die Unsittlichkeit anderer als über ihr wahrstes und eigenstes
[111,1, 221] II. Kritik der ethischen Begrifife. 223
Übel: so scheint es zwar unsittlich, das Unsitthche nicht zu emp-
finden, bedenklich doch aber auch das Gefühl, als ob es vvill-
kürhch könne hervorgebracht werden, als eine Pflicht zu fordern.
Den Spinoza aber, nach dessen Ansicht aus dem reinsittlichen
Zustande mit jeder andern auch die teilnehmende Traurigkeit
verbannt wird, weil die sittliche Betrachtung auf einer solchen
Höhe steht, wo der Begriff des Unvollkommenen und Bösen über-
haupt verschwindet, diesen möchte man fragen, wie denn bei
seiner Identität des Gedankens und Gefühls von dem nachbilden-
den Gedanken an fremde Verschlimmerung sich trennen lasse ein
nachbildendes Gefühl, und ob nicht die Aufgabe entstände, ein
solches anzunehmen nicht nur, sondern auch mit der dem System
unentbehrlichen durchgängigen Freude des Frommen zu vereini-
gen. Aristoteles endlich, wie er nichts weiß von der Wohltätig-
keit insbesondere (denn seine Freigebigkeit bezieht sich nicht auf
eine bestimmte Beschaffenheit der Zwecke, sondern nur auf eine
Art, sie auszuführen) : ebensowenig auch weiß er von Teilnehmung,
sondern dem Neide und der Schadenfreude setzt er entgegen die
Nemesis, welche nur auf die Einstimmung des Ergehens mit der
SittHchkeit sich bezieht, und sonst führt er kein Gefühl an, weder
für jene noch für diese allein. Wie unrichtig aber diese Nemesis
gezeichnet ist, indem ja Neid und Schadenfreude einander nicht
entgegengesetzt sind, sondern eins und dasselbe, leuchtet ein.
Dieses 1 von der Wohltätigkeit und Teilnehmung, Nun auch Andere
von der Übeltätigkeit, wiefern sie sittlich sein kann, und von dem
nicht schmerzhaften, sondern unwilligen Gefühl über andere, beides
nämlich in Beziehung auf unsittliche Taten und Beleidigungen,
ob vielleicht hierüber etwas Gewisseres irgendwo zu finden ist.
In der Sittenlehre der Lust nun ist offenbar weder die Rache
an sich sittlich oder unsittlich, noch auch die Nachsicht; und
ebenso beides weder der Zorn noch auch die Sanftmut; sondern
wie jeder glaubt in jedem Falle am besten den Gegner unschäd-
lich zu machen, sich selbst aber den Stachel aus der Wunde zu
^ Absatz fehlt im Original.
Gefühle.
224 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 222]
ziehen, so ist es ihm sittHch und recht. In der sympathetischen
Ethik aber müßte die Sanftmut eine Vermischung sein aus dem
eigenen Unwillen und aus der Sympathie mit dem Beleidiger.
Dieser nun hat in dem Augenblick der Beleidigung kein anderes
Gefühl als ein selbstisches, also einen Mangel an Sympathie;
mit welchem sonach zu sympathisieren eine Aufgabe wäre, welche
das Prinzip mit sich selbst in Streit bringt. Soll aber nur sym-
pathisiert werden mit dem vorausgesehenen Zustande der Reue:
so wäre diese Regel teils ohne Grund, teils würde sie in ihrer
weiteren Anwendung unausbleiblich die Teilnehmung aufheben.
Die praktische Ethik endlich hat hierin dieselben Schwierig-
keiten zu überwinden, wie oben bei der Teilnehmung. Und wie auch
die Frage dem Inhalt nach möchte entschieden werden, so müßte
hernach noch die besondere Prüfung angestellt werden, da die
Gemütsbewegnugen an sich und ohne Beziehung auf ihre Ur-
sachen oder Folgen einer Regel unterworfen sind, ob auch das
auf jene Art Gefundene übereinstimmte mit dem allgemeinen
Gesetz der Schicklichkeit in den Bewegungen, welches auch mit
Recht der einzige Ort ist, unter welchem dieses alles bei den
Stoikern angetroffen wird. Wie denn überhaupt die Vorschrift
über das Gefühl für das Unsittliche nicht nur ohne Unterschied
das eigene und fremde betreffen muß, sondern auch dem Ver-
pflichtungsgrunde nach eine und dieselbe sein muß, welche auch
das Gefühl für das positiv Sittliche bestimmt; worauf aber keiner
gesehen hat.
Abwehr Was^ aber das Verfahren betrifft gegen Beleidigungen, so
von Beleidi- y^i^d von einigen Sittenlehrern dieser Art die Nachsicht und die
gungen.
Versöhnlichkeit gelobt, von andern aber verworfen, und die Be-
wandtnis wird ganz dieselbe sein, wie oben bei der Dankbarkeit
in Beziehung auf die Wohltaten. Denn auch hier müßte unter-
schieden werden die Gesinnung gegen den Täter, und dann
dessen Behandlung, und in der letzten wiederum, was unmittelbar
^ Absatz nicht im Original.
[111,1, 223] II. Kritik der ethischen Begriffe. 225
in Beziehung auf ihn geschieht, von dem, was die Tat demjenigen,
gegen welchen sie ausgeübt worden, in Beziehung auf sich selbst
zur PfUcht machte; wovon letzteres auf Verteidigung und Ersatz
abzweckt, ersteres aber auf Strafe und Belehrung. Die Verteidi- Verteidigung,
gung nun kann sich nur beziehen auf die sittliche Wirksamkeit;
und der Begriff ist unbestimmt, wenn nicht erklärt ist, welches
denn eine wirkhche Behinderung derselben ist oder nur eine
scheinbare. Eben dieses aber wird von den meisten ganz vernach-
lässigt, von andern aber, wie von Fichte, verfehlt. Denn daß die
Gefahr des Lebens, die Verletzung des Eigentums und die Krän-
kung des guten Rufes, wie er ihn erklärt, den ganzen Umfang
des zu Verteidigenden erschöpften, möchte keiner glauben, der das
Sittliche von dem Rechtlichen unterscheidet, und auf der andern
Seite möchte eine Verpflichtung, den guten Ruf gegen falsche
Gerüchte zu verteidigen, zu groß sein, welches schon daraus
erhellt, weil sonst die Unsittlichen es in ihrer Gewalt haben
würden, den Sitthchen immer auf dem Wege seines eigentlichen
Berufes aufzuhalten und zu einem Handeln auf sie zu zwingen.
Was aber die Strafe betrifft, so ist nicht nötig, die verworrenen Strafe.
Vorstellungen zu widerlegen, welche sich darüber zum Beispiel
bei Kant vorfinden, welcher auf die Strafwürdigkeit des Men-
schen vor Gott das Verbot gründet, daß keiner dürfe Strafe ver-
hängen über den andern. Sondern als zugestanden wird voraus-
gesetzt, daß, ethisch betrachtet, Strafe und Belehrung eins und
dasselbige sind und nur der Methode nach unterschieden, und die
Aufgabe wäre nur zu bestimmen die Anwendbarkeit einer jeden.
Denn die Strafe überall auszuschließen, die Belehrung aber ins
Unendliche zu fordern, würde den Unsittlichen eben wie das
Gerügte eine unbedingte Übermacht geben; welches also mit der
Verteidigung der eigenen nicht nur, sondern auch der gemein-
schaftlichen Wirksamkeit stritte. Auf der andern Seite aber die
Strafe überall zu handhaben wie die Stoiker, welche dem Weisen
die Nachsicht verbieten, dieses wird entweder die Sache in den
Schleiermacher, Werke. I. 15
226 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,224]
engeren Umkreis des bloß Rechtlichen zurückweisen, oder un-
bedingt dem, welcher Unrechtes getan hat, die Empfänglichkeit für
die Belehrung absprechen. Daß also beides muß vereiniget wer-
den, ist ebenso offenbar, als daß noch nirgends dieser Punkt auf-
gezeigt ist, sondern die VersöhnHchkeit und Gelindigkeit sowohl,
als die Strenge und Härte sämtlich ethisch betrachtet ganz un-
bestimmte Begriffe sind, die zu der genaueren Bestimmung, welche
gefordert wird, auch nicht die Elemente enthalten. An die Pflicht
Andere aber, die gemeinschaftliche Wirksamkeit der guten zu verteidigen,
Pflichten, schließt sich an die Frage von der PfHchtmäßigkeit oder Pflicht-
widrigkeit der Bekanntmachung des Unsittlichen, deren Entschei-
dung, wo nicht abgeleitet, doch in wesentliche Übereinstimmung
gebracht sein muß mit der Pflicht der Vermehrung fremder Er-
kenntnis, welches jedoch mit der von Fichte angegebenen Grenz-
bestimmung nach dem unmittelbar Praktischen sehr zweifelhaft sein
möchte. Bei Kant aber findet sich gar anstatt der Übereinstim-
mung ein Widerspruch, indem es nicht schwer sein möchte, von
seiner Antwort zu zeigen, daß sie auf eine Lüge hinauslaufe.
Eben derselbige deutet außer den sich auf Liebe und auf Achtung
gründenden Pflichten noch auf besondere Pflichten oder Tugen-
den des Umgangs, jedoch nur unter dem verdächtigen Namen von
Außenwerken, welche unmittelbar nur einen tugendhaften Schein
hervorbringen. Wie nun dieses der ganzen Form der Ethik zu-
widerlaufe, muß jedem einleuchten. Denn welches Verhältnis einen
tugendhaften Schein anzunehmen vermag, das ist notwendig auch
der Tugend selbst fähig. Daher auch die Stoiker diese Voll-
kommenheiten als Tugenden betrachtet dem Weisen allein zu-
schreiben, und sie als einen Teil derjenigen ansehen, welche über-
haupt die sittliche Richtung des Gefühls bezeichnet. Wie aber,
was hieher gehört, als Pflicht von den andern ganz könne ab-
gesondert werden, ist schwer zu begreifen. Denn einesteils ist
klar, daß die Behandlung aller freien geselligen Verhältnisse sich
ebenfalls auf Liebe gründen müsse und auf Achtung; wo also,
[111,1,225] II. Kritik der ethischen Begriffe. 227
was aus diesen Gesinnungen folgt, vollständig aufgezeichnet ist,
da müssen die Vorschriften für jene mit darin enthalten sein ;
teils auch ist jedes Geschäft zugleich Umgang und Gespräch, und
jedes auch ernste und bestimmte Verhältnis zugleich ein freies
geselliges und steht unter den Gesetzen von diesen, wenn nicht
der vollständigen Sittlichkeit etwas in der Ausführung soll ver-
geben werden.
Wie nun überall die einzelnen Pflichtbegriffe entweder un-
bestimmt sind und das Betragen nicht gehörig ordnen können,
oder mit andern, mit denen sie zusammentreffen sollten, im Wider-
spruch, ferner von den bloß formalen Abteilungsbegriffen nicht
gehörig geschieden, daß oft zweifelhaft bleibt, wo verschiedene
Pflichten oder nur einzelne Anwendungen derselben Pflicht auf-
geführt werden; endhch auch, weil sie bald als Pflichten auf die
Zwecke und hervorzubringenden Güter bezogen werden, bald
wieder als Tugenden einer andern Einheit unterworfen, zerstückt,
und dann übel zusammenfügbar an verschiedenen Stellen des
Systems angetroffen werden, dieses mag aus den durchgeführten
Beispielen zur Genüge erhellen. Jetzt aber wäre noch zu sehen,
ob ein besseres Schicksal die Tugendbegriffe, sofern sie der Ver- Tugenden,
wechselung mit den Pflichten weniger unterworfen sind, getroffen
habe; welches vornehmlich an den Darstellungen der Alten zu
untersuchen ist, wo sie am meisten in ihrer formellen Reinheit
sich erhalten haben. Unter ihnen nun sei der erste Aristoteles mit
seinen Haufen, denn anders verdienen sie nicht genannt zu werden,
von Tugenden, weder nach irgendeiner Regel geordnet, noch
sonst eine Vermutung für sich habend, als ob sie das Ganze der
sitthchen Gesinnung umfaßten, eben deshalb aber jedem, der die
wissenschaftliche Genauigkeit sucht, auch im einzelnen schon ver-
dächtig. Daher auch, was eben zur Verteidigung seiner Art, die
Tugenden zu beschreiben, ist gesagt worden, hier zwar wieder
anerkannt wird, daß er nicht etwa die Tugenden in einem mittleren
Grade sinnlicher, also in jedem andern unsittlicher Neigungen
15*
228 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 22^)]
gesetzt habe, sondern hiedurch nur die Erscheinung habe be-
zeichnen wollen, wie es seiner Weise, die natürlichen Dinge zu
betrachten, gemäß ist: dennoch aber nicht soll geleugnet werden,
daß er hiebei seines Endzweckes, wenn dieser auf etwas besseres
gestellt war, als auf eine dunkle Vorstellung, notwendig verfehlen
mußte. Denn einesteils, wie bereits gelegentlich angeführt wor-
den, ist die Bezeichnungsart nicht immer dieselbe, sondern die
Tugend bald in die Mitte gesetzt zwischen dem Übermaß und
der Abwesenheit einer Neigung, bald ebenso in Beziehung auf
zwei verschiedene Neigungen, bald wiederum in die Mitte zwi-
schen zwei Erfolgen ohne allen Bezug auf Neigung. Wie zum
Beispiel das Gerechte die Mitte zwischen Schaden und Gewinn,
welches auch nicht zutreffen wird, wenn nicht wieder im Kreise
Schaden und Gewinn nach dem Begriff des Gerechten bestimmt
werden. Oder die Freigebigkeit das Mittel zwischen zu viel und
zu wenig Geben und Nehmen; wonach sich nicht einsehen läßt,
warum sie nicht das nämliche sein sollte mit der Gerechtigkeit.
So daß es an einem Prinzip für die Anwendung der allgemeinen
Formel gänzlich fehlt, und somit auch an jeder gegründeten
Zuversicht, daß irgendwo das Rechte getroffen sei. Ferner gesteht
er selbst, daß nicht jede Mitte einer Neigung die Erscheinung
einer Tugend gebe, wenn nämlich die Neigung schon an sich selbst
das Unsittliche enthalte, welches also, um es zu bestimmen, eine
andere und tiefer gehende Erklärung voraussetzt. Auch hat nicht
mit Unrecht Garve ihm vorgeworfen, er selbst habe hier nicht
Vorsicht genug gebraucht, und die Furcht zum Beispiel, in deren
Mittelmaß die Tapferkeit sich zeigen solle, könne an sich schon
als etwas Unsittliches betrachtet werden ; welches sich gewiß von
mehreren Fällen behaupten ließe, wenn dies nicht besser jedem
selbst überlassen würde, indem die anerkannte Untauglichkeit für
die Wissenschaft und der beschränkte Zweck der Formel hier keine
genauere Betrachtung verdient. Ferner sind auch zu diesem be-
schränkten Zweck die gegebenen Erklärungen nicht selten un-
brauchbar, wie zum Beispiel bei der Tapferkeit selbst erhellt.
[111,1, 227] II. Kritik der ethischen Begriffe. 229
Denn wird eine solche Äußerung derselben gesetzt, wo sie als
Furcht erscheint, so ist nicht zu erkennen, ob dies in dem, wie es
sich gebührt und wovon es sich gebührt, seinen Grund habe, oder
in der Neigung, welcher dieses Maß fremd ist, und ebenso, wenn
sie als Zuversicht erscheint. Auch laufen vielfältig die Tugenden
ineinander, wenn man jener rechtfertigenden Voraussetzung zu-
folge nicht annimmt, daß die Neigungen oder die Gegenstände
den wesentlichen Unterschied bilden sollen. Denn wie sollte die
Nemesis oder die Freude an der Gerechtigkeit des Glücks, und
die Seelengröße, welche nach allem strebt, was sie wert ist, etwas
anderes sein als Gerechtigkeit; ja selbst die Freundschaft, wenn
anders das Wohlwollen als ein Gut angesehen wird, bei wel-
chem Gewinn und Verlust stattfindet, fiele zusammen mit der
Gerechtigkeit, und was für andere Beispiele noch könnten an-
geführt werden. So daß hier auf bestimmte und richtige Begriffe
gar nicht zu hoffen ist.
Nächstdemi aber ist zu sehen auf die von den meisten
alten Sittenlehrern angenommene Darstellung aller sittlichen
Gesinnungen unter den vier Tugenden der Klugheit, der
Mäßigung, der Tapferkeit und der Gerechtigkeit.
Wenn nur, was der Inhalt und das Wesen einer jeden unter
ihnen eigentlich sein soll, bestimmt zu ersehen wäre; welches
leider die allgemeinen Erklärungen der Stoiker nicht leisten, von
welcher Schule unter allen, die nach dieser Anlage die Sittenlehre
behandelt haben, nicht nur uns das meiste und am meisten Zu-
sammenhängende übriggeblieben ist, sondern auch überhaupt die
größte dialektische Genauigkeit zu erwarten wäre. Ihnen zufolge
nun ist zuerst weder die Mäßigung, welche sich auf das Wählen,
noch die Gerechtigkeit, welche sich auf das Austeilen bezieht,
vorausgesetzt nämlich, daß der Ausdruck Erkenntnis bei allen die
gleiche Bedeutung habe, zu unterscheiden von der Klugheit als
der Erkenntnis dessen, was zu tun ist. Denn das Wählen ist
ja das eigentliche Handeln, und jedes Austeilen wiederum ist
1 Absatz nicht im Original.
230 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,228]
ein Wählen. Wollte man aber die Klugheit nur auf das mittel-
bare Handeln beziehen, wodurch das Gewählte zustande kommt
und das im Entschluß Ausgeteilte wirklich eingehändigt wird: so
widerstreitet dem nicht nur im allgemeinen der gleiche, ja höhere
Rang dieser Tugend, sondern auch die Beschreibung einzelner
Teile derselben, wo sie offenbar auf die Pflicht bezogen wird.
Ebenso ist die Tapferkeit, als Erkenntnis dessen, was zu erdulden
ist, teils nur halb und einseitig beschrieben, teils aber auch nicht
als eigene Tugend dargestellt, sondern nur als die hinreichende
Stärke einer jeden andern. Denn zu erdulden gibt es im V/ählen
sowohl als im Handeln und Vierteilen; und es würde gleichgültig
sein, wenn nicht zur Wirklichkeit gelangt, was eine jede be-
schlossen hat, dieses dem Mangel der Tapferkeit zuzuschreiben,
oder auch dem Mangel an Stärke der jedesmal aufgeforderten
Tugend. Welches also ein gänzliches Zusammenschmelzen in eine
Tugend ankündigt, so daß die verschieden benannten nicht nur
in der Wirklichkeit nicht gänzlich getrennt sein können, weiches
allerdings nicht die richtige Forderung wäre, sondern daß sie
auch nicht einmal in Gedanken abzusondern sind.
Dasselbe 1 ergibt sich auch, wenn man die bei den Stoikern
ihnen untergeordneten Tugenden betrachtet. Denn die Getrostheit,
welche zur Tapferkeit gehört, als die Erkenntnis, daß wir in kein Übel
geraten werden, was ist sie anders als das Bewußtsein der zur Klug-
heit gehörigen Gewandtheit, der Erkenntnis nämlich, welche in allen
Handlungen einen Ausgang findet. Ebenso die Wohlgemutheit,
das Bewußtsein von der Unüberwindlichkeit der Seele, und die
Mühsamkeit, welche das Vorliegende verrichtet, ohne sich von
den Beschwerden hindern zu lassen, sind nichts anderes als die
zur sogenannten Mäßigung gehörige Beharrlichkeit oder Wissen-
schaft, bei dem zu bleiben, was einmal richtig geurteilt ist, und
Mäßigkeit, welche das, was der Vernunft gemäß "ist, nicht über-
schreitet. Ferner die rechte Anordnung des Handelns, wann ein
jedes zu verrichten ist, welche zu eben der Mäßigung gehört,
* Absatz nicht im Original.
[111,1,229] II. Kritik der ethischen Begriffe. 231
wie sollte sie zu unterscheiden sein von der zur Klugheit ge-
rechneten Wohlberatenheit, welche einsieht, wie jedes muß getan
werden, um nützlich zu sein. Aber diese untergeordneten Tugen-
den erregen überdies den Zweifel, ob jene vier Haupttugenden
reale Begriffe sind, oder nur formale, und demgemäß, ob die unter-
geordneten real verschieden sind, oder nur als Anwendungen der-
selben Gesinnung und Fertigkeit auf verschiedene Fälle. Denn
einiges begünstigt die eine Meinung, anderes die andere. So
kann die Getrostheit von der Großherzigkeit, welche über das
erhebt, was dem Guten sowohl als dem Bösen begegnet, gar wohl
getrennt gedacht werden als Fertigkeit, keineswegs aber die Müh-
samkeit von der Geschicklichkeit, welche den jedesmal vorgesetzten
Endzweck wirklich zu erreichen weiß. Und dergleichen wider-
sprechende Anzeigen wird jeder noch mehrere finden, der das
Verzeichnis der stoischen Tugenden zur Hand nimmt, besonders
wenn noch damit verglichen werden diejenigen Gesinnungen und
Vollkommenheiten, welche sie, weil sie in das Verzeichnis der
Tugenden sich nicht fügen wollten, noch als einzelne Eigenschaften
des Weisen aufführen. Diese Ungewißheit aber, ob dies und jenes
eine einzelne Tugend sei, das heißt, demselben Menschen auch
unzertrennt ihrem ganzen Umfange nach als Fertigkeit in gleichem
Grade und als wirklich eine beiwohnen muß, oder umgekehrt,
muß auf die Anwendung der Sittenlehre von entschiedenem Einfluß
sein. Wenn nun dieselben Tugenden auch in der eudämonisti-
schen Sittenlehre aufgeführt werden, so ist wohl zu unterschei-
den, ob sie dem Inhalt nach dieselben sind, oder nur dem Namen
nach. Denn die Namen sind ihrer Natur nach nur formal, welches
die Stoiker selbst anerkennen, und überall den Beisatz „gemäß
der Natur eines vernünftigen und geselligen Wesens" wollen ver-
standen haben, als welcher erst den ihrem System eigentümlichen
Inhalt hervorbringt. Nun sollte freilich auch schon die Einteilung
des gesamten Begriffs der Gesinnung für jede andere oberste
ethische Idee anders ausfallen, und auch die niederen und ab-
geleiteten formalen Begriffe nicht zweien Systemen gemein sein;
232 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,230]
welcher Vorwurf aber hier zwischen beiden schwanivt, da auch jene
sich die Einteilung nicht durch Verbindung mit ihrer höchsten
Idee ausschließend angeeignet haben. Wenn aber nicht nur dem
Namen, sondern auch dem Inhalt nach praktische Tugenden sich
einschleichen in eine Lehre der Glückseligkeit, so ist die innere
ünhaltbarkeit sogleich einleuchtend und entschieden. Daher eben
der besondere Widerwille dieser Sittenlehrer gegen die Gerechtig-
keit, welche ihnen überall zu viel sein muß und zu wenig, weil sie
am wenigsten als echte Tugend mit einem eudämonistischen Ge-
halt kann dargestellt werden. Denn die Ordnung, in welcher ein
jeder wegen des Nebeneinanderstehens der Menschen seine Glück-
seUgkeit suchen darf, ist immer nur ein notwendiges Übel, auch
die hervorbringende Eigenschaft derselben nicht eine eigene
Tugend, sondern nur eine Anwendung der Klugheit. Worin, ob
der Eudämonismus folgerecht sei, sich am besten zeigen muß in
der Bestimmung der Billigkeit als des einem jeden innerhalb seines
Gebietes überlassenen Teils dieser Hervorbringung, Denn diese
kann, ganz dem Praktischen entgegengesetzt, nichts anderes sein
als die geschickte Übertretung des gemeinschaftlich Festgestellten.
Ebenso darf zur Tapferkeit nur gehören der Widerstand gegen
die Hindernisse der Lust, nicht aber unmittelbar gegen die des
Handelns. Wo es aber anders ist, und es findet sich gewöhnlich
anders, wie denn leicht Aristippos fast der einzige in dieser Hin-
sicht Folgerechte unter denen seiner Art bleiben möchte, da sind
die Eudämonisten in Absicht der Tugenden in denselben Fehler
geraten, wie die Stoiker gegen sie in Absicht der Güter, und zwar
eben auch im Verwerfen sowohl als im Übertragen.
GänzHch aber haben sich von diesen vier Formen unter allen,
welche die Sittenlehre nach dem Begriff der Tugend behandelt
haben, nur zweie losgemacht, P 1 a t o n nämlich und Spinoza, jeder
auf seine eigene Art. Und zwar der erste, indem er wiederholt
den Versuch macht zu zeigen, daß sich die ganze Tugend unter
jeder dieser Formen darstellen lasse; welches ihm auch ohne
andere Hilfsmittel als die dialektische Kunstfertigkeit und ganz
[111,1, 231] II. Kritik der ethischen Begriffe. 233
abgesondert von der kosmischen und mystischen Abzvveckung
seiner Sittenlehre so vollkommen gelingt, daß diejenige Tugend,
welche sich am meisten auf die Verhältnisse gegen andere zu be-
ziehen scheint, sich als diejenige zeigt, welche der Mensch am
meisten in und gegen sich selbst zu üben hat, und welche allein ihn
in sich selbst zu erhalten vermag. Ebenso die Mäßigung, welche
für die innerlichste gehalten wird, als die, welche das ganze äußere
Leben durchdringt nicht nur, sondern auch hervorbringt. Endlich
auch die Tapferkeit, welche sich auf den ersten Blick am ent-
schiedensten von den andern absondert und in ein einzelnes be-
schränktes Gebiet zurückzieht, als eine allgemeine jedem Verhält-
nis und jeder Tat unentbehrhche. Daher das Berufen auf diese
Darstellungen aller weitern Prüfung über den wissenschaftlichen
Wert der vier Begriffe überhebt. Denn was bisher zu ihrer näheren
Bestimmung getan worden, widersteht dieser so lange schon vor-
handenen Polemik nicht; andere Unterschiede aber aufsuchen, oder
die innere Veranlassung dieser Absonderung und das Wahre, was
derselben bewußt ^ zum Grunde liegt, darlegen, hieße die Grenzen
einer Prüfung des Vorhandenen überschreiten. Spinoza hingegen
bewirkt das nämliche dadurch, daß er mit dem Namen einer ein-
zigen von diesen, nämlich der Tapferkeit, die ganze Tugend be-
zeichnet; welches auch mit seinen Grundideen aufs genaueste zu-
sammenhängt. Denn da die Tugend das mögHchst reine Handeln
ist, so läßt sich ihr unterscheidendes Wesen nicht besser bezeichnen
als durch die Kraft des Widerstandes, welche den äußeren Ein-
fluß zurücktreibend beherrscht und so das Leiden abhält. Die
einzige Einteilung aber, welche er zuläßt, ist mit jener vierfachen
nicht zu vergleichen; denn jede von diesen würde bald so, bald
anders unter jede von den seinigen fallen. Auch ist sie über-
haupt nicht als eine solche zu betrachten, welche zwei verschiedene
Tugenden festsetzen sollte, welche auch nur dem Grade nach in
der Wirklichkeit voneinander könnten verschieden sein. Vielmehr
Ausgabe I803 schreibt hier richtig: „unbewußt".
234 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 232]
gibt es bei ihm keine andere Trennung, als weiche auf der
Macht undeutlicher Vorstellungen beruht, deren keine aus-
schließend an eine von diesen Äußerungen der Tugend gebunden
ist; sondern dieselbe Ursach, welche jetzt den Edelsinn in seiner
Wirksamkeit schwächt, wird in einem andern auch der Beherztheit
im Wege stehen. Vielmehr ist es nur eine verdeutlichende und
verteidigende Maßregel, um desto auffallender zu zeigen, wie auch
nach seinem System der Geist aus der Sphäre der Beschauung,
welche ihn allein festzuhalten scheinen könnte, in die einer ge-
meinsamen bestimmten Tätigkeit heraustritt. Die Tugend selbst
aber ist bei ihm nur eine und unteilbar nicht nur der Wirklichkeit
nach, sondern auch für den Gedanken und die Untersuchung, und
kann als ein Mannigfaltiges nicht anders beschrieben werden als
im Gegensatz gegen die Mißverständnisse und Torheiten, aus
denen das seiner Natur nach unbestimmte und mannigfaltige
Leiden der Menschen besteht, auf deren Verzeichnis daher auch mit
Recht ein seltener Fleiß von ihm ist verwendet worden. Von
einer Mehrheit einzelner Tugenden also ist in Beziehung auf ihn
nichts weiter zu sagen.
Anhang.
Ursprung I. Was beispielswegen nur von wenigen in den verschie-
^^R^*^-?^^" denen Systemen der Ethik aufgenommenen Tugenden ist gezeigt
worden, dasselbe wäre leicht gewesen, von allen zu erweisen,
sowohl welche überall, als welche nur irgendwo gelten, daß sie
nämlich ethisch betrachtet teils ganz unbestimmte Bezeichnungen
sind, teils von keinem Grundsatze aus, sobald man sie unter-
einander vergleicht, eine mit der andern bestehen können, sondern
vielm.ehr jede irgendeiner andern ihre Stelle als ergänzender und
unentbehrlicher Teil des Systems bestreitet. Hieraus nun ergibt
[111,1,233] Anhang. 235
sich als unvermeidliche Folgerung, wenn nämlich alle diese Fehler
nicht überall bloß dialektisch sind, und auf unvollkommenen Er-
klärungen beruhen, an welche Übereinstimmung und Vollständig-
keit des Irrtums wohl niemand glauben wird, daß jene Begriffe,
so wie sie nicht durch die Ethik und in ihr entstanden, sondern
nur aus dem Gebrauch des gemeinen Lebens in die Wissen-
schaft herübergenommen worden, so auch gewiß nicht kraft einer
unentwickelten, nur dunkel gedachten ethischen Idee sind gebildet
worden, sondern in anderer Hinsicht und in einem andern Geiste.
Denn wäre jenes, so müßten sie auch leichter irgendeiner deut-
lich gedachten ethischen Idee unterzuordnen sein, und die dialek-
tische Ausbildung, welche dieser zuteil geworden, auch leichter
auf die einzelnen Begriffe übergehen. Liegt nun den im Geiste
des gemeinen Lebens gedachten und gebildeten Begriffen auch
nicht unentwickelt eine ethische Idee zum Grunde : so folgt weiter,
daß auch der Geist des gemeinen Lebens noch nirgends ein
sittlicher gewesen, und zwar eudämonistisch so wenig als praktisch,
weil sonst doch wenigstens in jene Darstellungen der Sittenlehre
die insgemein dafür gehaltenen Tugenden sich fügen würden.
Offenbar aber war bei den Alten der Geist des Lebens zum
größten Teile politisch, indem selbst die freieren, auf den Genuß
des Daseins unmittelbar berechneten gesellschaftlichen Verhältnisse
jenem Größeren untergeordnet waren, welches daher auch als
hinreichend, um das höchste Gut hervorzubringen, von den meisten
gedacht wurde. Ja selbst Aristippos, welcher mehr als irgend-
einer die hergebrachten Vorstellungen der Einstimmigkeit des
Systems aufzuopfern geneigt war, konnte, vom herrschenden Geiste
hingerissen, behaupten, daß auch nach dem Untergang aller Ge-
setze und Verfassungen die Philosophen doch immerfort leben
würden, als wären sie noch vorhanden. Dasselbe also wird auch
bei ihnen der ursprünghche Gehalt der für ethisch geltenden
Begriffe sein müssen. Welches auch zunächst aus den vom Aristo-
teles aufgezählten Tugenden erhellt, in denen bis auf wenige, die
236 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,234]
sich auf die kleineren geselligen Verhältnisse beziehen, die politische
Bedeutung nicht zu verkennen ist. Ja dieser, dem es auch am
meisten ziemt, dem Gemeingeltenden zu dienen, hat einige bloß
bürgerliche Eigenschaften, welche sittlich gedacht und bestimmt
mit andern zusammengefallen wären, oder in weiterem Umfange
gezeichnet worden, geradezu und ohne irgend einiges daran zu
ändern und zu bessern in die Reihe der Tugenden aufgenommen.
Ebensowenig aber ist auch dasselbe zu verkennen an den vier hel-
lenischen Haupttugenden, sowohl wie sie von den meisten dar-
gestellt werden, als wie die Stoiker sie in ihre untergeordneten
Teile genauer zerlegen. Wobei, wie man auch aus dem sieht, was
von der gemeinen Bedeutung in der dialektischen Untersuchung
des Piaton vorkommt, alles, was sich auf die kleineren Verhält-
nisse des Lebens bezieht, nur einen kleinen Teil von derjenigen
ausmacht, welche von den Neueren gewöhnlich durch Mäßigung
übersetzt wird, und deren wahre Einheit auch nur aus diesem
Gesichtspunkt möchte zu finden sein. Endlich kann auch keinem
entgehen, wie in der neustoischen Behandlung der Pflichten,
nach dem zu urteilen, was wir durch Cicero erhalten haben, das
PoHtische vorleuchtet. Schwerlich aber möchte diese ganze Neigung
nur dem Dolmetscher zuzuschreiben sein, dessen Unfähigkeit, so
vieles zu verwischen sowohl als hinzuzufügen, niemand bezweifeln
wird. Bei den Neueren nun hat dieser politische Geist sich ganz
aus dem Tugendbegriff herausgezogen und in den Pflichtbegriff ge-
flüchtet. Offenbar nämlich, weil jener zu sehr das selbsttätige
Hervorbringen bezeichnet, das Politische aber unter uns von der
Selbsttätigkeit wenig Spuren trägt i, daher auch auf die Tugend,
welche ausschließend und geradezu diesem Verhältnis gewidmet
ist, der Name der Gerechtigkeit nicht mehr allgemein sich schickt,
sondern nur für die Gesetzgeber, Richter oder für die herrschenden
Teile in ungleichen Verbindungen, im allgemeinen aber der leident-
lichere Name der Rechtlichkeit eine richtigere Bezeichnung ge-
währt. Sehr gut hingegen ist der Pflichtbegriff, der auch an ein
* Diese Ansicht änderte Schleiermacher sehr bald!
[111,1,235] Anhang. 237
Aufgegebenes erinnert, jedem leidentlichen Nachbilden angemessen,
und vielleicht daraus vornehmlich der Vorzug zu erklären, der ihm
überall vor den Begriffen der Tugenden und Güter in den neueren
Darstellungen der Sittenlehre gegeben wird. Daher auch, teils
was im gemeinen Leben als Pflicht dargestellt wird, über das
Gebiet des Rechtes wenig hinausgeht, und nur mit dem Vor-
behalt alles mit darunter zu begreifen, worüber vernünftigerweise
Gesetze könnten gegeben werden, oder was schon irgendwo mit
in das Gebiet derselben gezogen ist, wie etwa die Kindererziehung
oder die Wohltätigkeit, welchen Umfang schon Aristoteles der
Gerechtigkeit angev/iesen hat; teils suchen ja die Sittenlehrer
selbst, was dem politischen Verhältnis zu fremde ist, wenigstens
in die Gestalt desselben zu kleiden, als ob es sonst in die Ver-
sammlung der Pflichten nicht dürfte eingelassen werden. Denn
dieses ist unstreitig der Grund, warum die Idee eines göttlichen
Reiches, die doch als religiös und christlich dem Geiste des
Zeitalters ganz fremd ist, so viel Eingang finden konnte in der
Sittenlehre. Wie denn auch einzelnes noch vieles anzuführen
wäre, um diese Ansicht zu bestätigen, w^enn nicht schon das All-
gemeine jeden überzeugen müßte. Die sogenannten Tugenden
aber beziehen sich bei den Neueren eigentlich und fast allgemein
auf die verschiedenen Gewerbe und Beschäftigungen in dem Leben
eines jeden für sich, welche anstatt des fast verschwundenen öffent-
lichen Lebens 1 zu Ehren gekommen, und ihre Bedeutung ist, um
das rechte Wort zu sagen, kaufmännisch oder haushälterisch ; hin-
deutend nämlich auf die verschiedene Brauchbarkeit der Menschen
zu verschiedenen Endzwecken, auf den Kraftaufwand, durch den
sie zu gewissen Tätigkeiten zu bewegen sind, und die Art, wie
gewisse Eindrücke auf sie erregend oder beruhigend zu wirken
pflegen, kurz und überhaupt auf das, was Kant nicht unschicklich
den Marktpreis der Menschen genannt hat 2. Nur so wird jeder
^ Deutschlands Zustand 1803!
'2 Bekanntlich erhebt heute Eucken dieselben Vorwürfe gegen unsere
„Leistungskultur".
238 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,236]
in den Begriffen von Woiiltätigkeit, Dankbari<eit, Bescheidenheit,
Großmut, Gutmütigkeit und den meisten andern die Einheit finden,
die aus dem ethischen Standpunkt gar nicht zu entdecken ist.
Daher auch so wie Garve die vollkommenen Pflichten und die
unvollkommenen unterscheidet nach dem Grade der Nützlichkeit
der Maxime, so kann man sagen, daß bei der innern ethischen
Gleichheit aller dieser Begriffe die Tugenden sich von den Lastern
nur unterscheiden durch die sichere und vielseitige Brauchbarkeit
der Eigenschaft, und daß auf der einen Seite nur diese Täuschung
von der Einstimmigkeit zu eigenem und fremdem Wohl den
ethischen Schein hervorbringt, auf der andern aber auch der
Gegensatz zwischen Tugenden und Lastern ebenso unsicher ist,
als jener zwischen Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit. Wem
aber dieses alles noch nicht genügen wollte, der würde vielleicht
die augenscheinlichste Überzeugung finden in den Erklärungen,
welche Spinoza von den Affekten gegeben. Denn indem er alles
aus der Selbsterhaltung in dem sinnlichen, gemeinen Sinne her-
leitet, und von dem Bestreben, sich mit Gegenständen zu umgeben,
welche das Gefühl des Daseins beleben, so findet er auf diesem
Wege teils in dem, was unmittelbar zur Begierde gehört, teils
in dem, was sich auf Freude und Traurigkeit bezieht, wenn
man es auf bleibende Tätigkeiten oder Eigenschaften zurück-
führt, alles Wohlwollen in seinen verschiedenen Stufen und Um-
kreisen, ohne es jedoch, wie diegallikanischen Sittenlehrer taten,
zu verunstalten oder gänzlich zu zerstören. Denn hier findet jeder
die unentwickelten Ideen, v.elche allen diesen Eigenschaften zum
Grunde liegen, und sieht sich gezwungen zu gestehen, daß es
nicht sittliche sind. Von denjenigen Begriffen aber, welche die
Neueren als Vollkommenheiten gewisser Teile oder Kräfte der
Seele von den Tugenden abgesondert, welche Absonderung nach
dem Sinn des neuen Begriffs von Tugend ebenso folgerecht ist
als zufolge des alten Begriffs die Vereinigung beider, von diesen
könnte der Ursprung gleichgültiger sein, weil jene Einteilung
[111,1,237] Anhang. 239
der Seele in verschiedene Kräfte aus dem sittliciien Standpunkt
schon im allgemeinen ist verworfen und alles auf die eine Kraft
des Willens zurückgeführt worden. Auch hängt die Bildungs-
regel und der Einteilungsgrund dieser Begriffe von keinem Inter-
esse ab, sondern gehört der Seelenlehre an, in Vv^elcher zuerst
die Einteilung in Denken und Handeln höchst wunderbar ist,
und nur etwa im ersten Unterricht für Kinder könnte entschuldigt
werden, dann aber auch die weitere Einteilung in oberes und
unteres Vermögen, oder nach den logischen Potenzen der Vor-
stellung, noch wenig Tüchtiges hat zutage fördern lassen. Es
hat aber von jeher die Seelenlehre in einem Zusammenhange mit
der Sittenlehre gestanden, über welchen an sich sowohl, als in Ab-
sicht auf die richtige Unterordnung beider hier nichts kann ent-
schieden werden, indem die Frage davon abhängt, wie jeder beide
Wissenschaften von der gemeinschaftlichen höchsten Erkenntnis
ableitet. Jedoch muß soviel hier beiläufig zu äußern vergönnt sein,
daß die Seelenlehre für sich betrachtet sich noch gar nicht in einem
solchen Zustande befindet, der Sittenlehre nützlich sein zu können.
Daher auch gewiß diejenige Ethik die beste ist, welche entv.eder
so wenig als möglich aus ihr entlehnt, worin unstreitig Fichte
bis jetzt alle andern übertroffen hat, oder welche sich ihre eigene
Art, die Erscheinungen des Gemüts zu betrachten, nach ihren
eigenen Grundsätzen erschafft, wovon Spinoza ein vortreffliches
Beispiel gegeben. Denn zuerst muß die Ärmlichkeit jeder bis-
herigen Seelenlehre jedem einleuchten, die große Mangelhaftigkit
und Gemeinheit ihres Fachwerkes, welche, was nur irgend über das
Mechanische hinausgeht, weder begreifen noch konstruieren kann.
Dann aber erhellt auch die Unnatürlichkeit ihrer Begriffe daraus,
daß sie, weit entfernt bis zur verwickelten Konstruktion der Cha-
raktere fortzuschreiten, nicht imstande ist, ein Individuum zu be-
greifen, sondern gemeinhin in demselben Eigenschaften verknüpft
findet, welche nach ihrer Konstruktion einander widerstreiten.
Liegt nun, wie zu vermuten, das Prinzip ihrer Natürlichkeit in
240 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 238]
demjenigen Begriff, mit welchem sie sich an die höchste Wissen-
schaft anknüpft, so icönnte vorderhand das Richtige in ihr nur
zufällig gefunden werden, und nur nachdem sie weit vielseitiger
als bisher nicht nur aus einem logischen Gesichtspunkt, sondern
auch aus einem spekulativen und einem praktischen, aus einem
physischen und einem poetischen bearbeitet würde. Welches abzu-
warten, um dann einiges immer noch Fremde und Unsichere zu
entlehnen, für die Ethik gewiß ein allzuweiter Weg wäre, da sie
nahe genug daran ist, ihre Begriffe aus ihrem eigenen Innern zu
vervollkommnen.
II. Von den ethischen Reflexionsbegriffen aber, denn so wären
wohl Lob und Tadel, Selbstschätzung und Gewissen und was
ihnen ähnlich ist, am besten zu nennen, von diesen konnte in dem
vorigen Abschnitt selbst nicht die Rede sein, weil sie nicht unent-
behrliche Teile des Systems der Sittenlehre sind, sondern eigent-
lich außerhalb desselben liegen. Hier indes muß ihrer erwähnt
werden in Beziehung auf das eben Gesagte. Denn um dieses in
seinem ganzen Zusammenhange zu verstehen, und entweder zu be-
Gibt es ein stätigen oder zu widerlegen, entsteht die Frage, worauf eigentlich
untrügliches diese Begriffe in der gewöhnlichen Anwendung bezogen werden,
.*^^c"!ll-^?'^. und ob die Urteile und Gefühle, welche sie bezeichnen sollen,
das Sittliche? . ' '
das wirklich Sittliche anzeigen, oder nur dasjenige, wie man es
auch nennen möge, was den Gehalt der für ethisch geltenden Be-
griffe ausmacht. Das erste nun zu behaupten wäre wunderlich
von jedem, welcher der oben aufgestellten Erklärung dieser Be-
griffe seine Zustimmung gegeben. Denn wenn diese so wenig
Sittliches und auch das wenige nur zufällig enthalten: so müßte
entweder niemals und nur durch Irrtum Lob ausgeteilt werden,
gewöhnlich aber, und dann auch besonders über das falsche Lob,
nur Tadel, und das sittliche Gefühl also immer in einem widrig
erregten Zustande sich befinden, oder es müßte von allen, die
jene Begriffe noch anerkennen, gar nicht empfunden werden,
welches heißen würde, in ihnen gar nicht vorhanden sein. Denn
[111,1,239] Anhang. 241
daß es bloß auf die Erscheinung seines wirklichen Gegenstandes
warten, durch sein Gegenteil aber gar nicht erregt werden sollte,
dieses widerspricht der Natur der Sache und der Ähnlichkeit mit
allem, was der Mensch bildend hervorbringt. Auch erhellt es, ohne
auf einiges andere zu sehen, aus der deutlichen Beziehung und
häufigen Anwendung verwerfender Urteile und Gefühle. Soll
aber, um es beschränkend zu rechtfertigen, diese Erkenntnis des
Sittlichen und Unsittlichen eine solche sein, welche Spinoza die
Erkenntnis der zweiten Art nennt: so ist zu bemerken, daß in
diesen Dingen, wo die Elemente sich vom Zusammengesetzten
nicht so schneidend unterscheiden als etwa in der Größenlehre, auch
das Einfache und Leichte, worauf eine solche Erkenntnis sich mit
Untrüglichkeit bezieht, nur relativ ist. Bedenkt man nun teils über-
haupt die sittlichen Verhältnisse, teils den Pflichtbegriff insbe-
sondere, auf welchen unmittelbar die reflektierenden Begriffe am
meisten angewendet werden, und der dem obigen zufolge immer
ein Zusammengesetztes ist: so möchte mit Recht bezweifelt werden
können, ob überhaupt in der Wirklichkeit ein Einfaches und
Leichtes sich dem Urteil darbietet. Auch müßte gewiß von den-
jenigen, die das Sittliche zum Gegenstand einer Erkenntnis der
dritten Art zu erheben suchen, das eigentliche Wesen jener Be-
griffe und Gefühle in wissenschaftlichen Formeln längst zutage
gefördert und daraus die realen Begriffe berichtiget sein, wodurch
denn auch das Gefühl selbst sich erweitern, und die Erkenntnis der
zweiten Art zu mehrerer Vollkommenheit hätte gelangen müssen.
So daß offenbar die bisher entwickelte Vorstellung von dem Zu-
stande der Ethik als Wissenschaft, wie auch jeder sonst und im
allgemeinen vom Verhältnis der Theorie zur Praxis denken möge,
mit der Annahme echt ethischer reflektierender Begriffe und eines
durch dieselben dargestellten untrüglichen Gefühls des Sittlichen
nicht bestehen kann. An sich aber und ohne Bezug auf die bis-
herigen Ergebnisse unserer Prüfung betrachtet, sind zuerst die ins-
Q^emein angeführten Gründe einer solchen Annahme zu verwerfen.
Schleiermacher, Werke. I. 16
242 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 240]
Denn weit entfernt, daß die Würde der Sittlichkeit Gefahr Hefe,
wenn ein solches untrügHches Gefühl als wirklich und allgemein
vorhanden geleugnet würde, als ob nämlich alsdann dieselbe als
etwas in der Natur nicht Gegründetes, sondern willkürlich Aus-
gedachtes erscheinen könnte: so sind ja alle darüber einig, daß
auch das Natürliche und Wesentliche, wie es auch nach dem Be-
griff einer selbsttätigen Natur nich*; anders sein kann, sich nur
allmählich entwickelt, und so daß Gedanke und Gefühl einander
wechselseitig ausbilden und erregen, nicht aber so, daß ein ein-
faches und untrügliches Gefühl für das Vollkommene vorhanden
ist, indem noch der Gedanke teils offenbar falsch ist, teils überall
dem Streit unterworfen. Vielmehr würde es der menschlichen
Natur zur Unehre gereichen, wenn ein solches Gefühl den Ge-
danken noch nicht weiter gebracht, und auch seinen Gegenstand
nicht so vielfach und kenntlich hervorgebracht hätte, um ab-
weichende und widerstreitende Ansichten davon unmöglich zu
machen. Und warum sollte auch das sittliche Gefühl ursprünglich
vollkommener sein als das logische oder mathematische? Doch von
diesen fremdartigen Gründen hinweggesehen, müßte andernteils,
wenn ein solches Gefühl angenommen wird, durch ein verständiges
versuchendes Verfahren mit demselben allein der Streit über die
ethischen Grundsätze geschlichtet und die vollkommene Tonleiter
gefunden werden können, in welche sich alle übrigen auflösen
müssen. Welches unter den wissenschaftlichen Behandlern der
Ethik auch die losesten und dem Gefühl am meisten einräumen-
den aus der anglikanischen Schule selbst nicht einräumen, noch
weniger aber durch ihr Beispiel andere locken werden, denselben
Weg einzuschlagen.
Ferner 1 entstehen noch andere Zweifel über die Echt-
heit dieser Begriffe als ethischer aus der Betrachtung ihres
Verhältnisses gegeneinander. Denn Lob und Tadel verbreiten sich
ungleich weiter als das Gewissen auf Gegenstände, über welche
dem letzteren weder Vorwürfe zugemutet werden noch Billigung,
* Absatz nicht im Original.
[111,1,241] Anhang. 243
wovon erst Beispiele anzuführen nur überflüssig wäre; wogegen
aber dem Lobe und Tadel dieselbe Untrüglichkeit nicht bei-
gemessen wird als dem Gewissen. Vergleicht man nun dieses mit
dem, was oben gesagt worden teils von der Befugnis, auch das
fremde Sittliche zu beurteilen, teils von der sittlichen Natur alles
Handelns überhaupt, so ergibt sich für jeden zuerst, wie wenig das
ein ethischer Begriff sein kann, und also auch nicht das Gefühl,
welches er bezeichnet, ein rein sittliches, der auf gleiche Weise ein
ethisches Urteil und ein anderes ausdrückt, so daß er mehr nur
auf das Bejahen und Verneinen sich zu beziehen scheint, als auf
die Grundsätze, nach denen es erfolgt. Dann auch noch, wie un-
zulässig ein so unbestimmter Übergang sein muß aus dem Ge-
wissen in das Ungewisse, und aus dem Sittlichen in das Nicht-
Sittliche; welches die Stoiker richtig beurteilend das Lob und
das sittlich Gute zu unzertrennlichen Wechselbegriffen zu machen
suchten. Wollte man aber Lob und Tadel und das übrige fahren
lassend nur bei dem Gewissen stehenbleiben, wie es noch neuer-
lich Fichte als notwendig und untrüglich will abgeleitet haben:
so kann über diese mit dem gewohnten Scharfsinn ausgeführte
Ableitung hier keine vollständige und gründliche Erörterung
Raum finden, weil sie größtenteils außerhalb des ethischen Ge-
bietes auf dem transzendentalen liegt, indem das Abgeleitete auf
eine Übereinstimmung des wirklichen Ichs mit dem ursprüng-
lichen hinausläuft. Was jedoch von dem ethischen Standpunkt
aus hieher Gehöriges darüber kann gesagt werden, ist folgendes.
Zuerst ist bei Fichte das Gewissen, inwiefern er ihm jene beiden
Eigenschaften beilegt, keineswegs das Gefühl oder Bewußtsein
des Sittlichen und seines Gegenstandes überhaupt, sondern nur
ein Teil desjenigen, was die Stoiker die sittliche Geistesgegen-
wart oder Schnelligkeit nannten, des Vermögens nämlich, die
Pflicht in jedem Augenblick zu finden. Auf diese Weise nun
müßte erst bestimmt werden, was es heiße, nach der Pflicht fragen,
wenn nicht zur Vereinigung dieser Untrüglichkeit mit jener Falsch-
heit der geltenden Begriffe der Ausweg offen bleiben soll, zu
16*
244 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,242]
sagen, daß alle jene nach der Pflicht nicht gefragt haben. Auf
jeden Fall aber, wenn es etwa lächerlich scheinen sollte, daß der-
jenige nicht nach der Pflicht gefragt habe, der ein System von
ethischen Begriffen aufstellen will, erhellt schon aus der Natur
des Pflichtbegriffs, daß mit einem die Pflicht untrüglich für jeden
bestimmten Moment anzeigenden Gefühl gar wohl ein im ganzen
sehr unvollkommenes Bewußtsein der Sittlichkeit könne verbunden
sein. Denn die Pflicht zu erkennen ist jedesmal eine bestimmte
und durch die vorhandenen Umstände und die gegebenen Mög-
lichkeiten des Handelns bedingte Aufgabe, welche richtig gelöst
werden kann, ohne daß dennoch die Unsittlichkeit oder unvoll-
kommene Sittlichkeit wahrgenommen und gefühlt werde, welche
schon in den Bedingungen liegt. Welches Nichtwahrnehmen den-
noch nicht minder eine Unvollkommenheit und Fehlbarkeit des
sitthchen Gefühls überhaupt anzeigt. Ferner könnte sich der Forde-
rung eines solchen untrüglichen Gefühls als eines notwendigen
Zeichens, daß nun die Überlegung geschlossen sei und das Han-
deln angehen solle, an die Stelle setzen lassen die Forderung eines
vollendeten Systems, es sei nun der Pflicht oder der Tugend, in
welcher jeder jeden ihm gegebenen Fall leicht auffinden könnte,
ohne dazu eines andern Gefühls zu bedürfen, als des Gefühls der-
jenigen Gewißheit, welche unter allen am leichtesten zu erlangen
ist und fast nur auf der Identität des Bewußtseins beruht, näm-
lich von der Gleichheit oder Verschiedenheit zweier Formeln. Daß
nun demjenigen, der ein System der Pflichten aufstellen will,
diese Forderung besser anstehe als jene, darüber kann kein Streit
sein. Aber auch die Art der Ableitung selbst deutet mehr auf
diese als jene. Denn die Übereinstimmung des wirklichen Ichs
mit dem ursprünglichen ist wohl nicht als ein Vorübergehendes
und einzelnes zu denken, sondern als ein Bleibendes und Ganzes.
Als ein solches aber müßte sie entstehen nicht aus der Erkenntnis
des in einem bestimmten Augenblick Geforderten, sondern des ge-
samten Sittlichen, und das aus jener entstehende Gefühl könnte
[III,.l, 243] Anhang. 245
nur dann Sicherheit und Wahrheit haben, wenn es zugleich aus-
sagte, daß jene sich auf diese gründe. So daß die zweite Forde-
rung vorausgesetzt wird, welche doch, sobald sie erfüllt ist, die erste
überflüssig machte. Daß es auch an Fichte nicht zu loben ist, daß
er dem Gewissen einen ansehnlichen Teil von dem Geschäft der
Wissenschaft überläßt, und diese im einzelnen überall von jenem
soll vertreten werden, dies kann man ihm aus ihm selbst erweisen.
Denn er gesteht ja, daß es für die Urteilskraft theoretische Regeln
geben muß, wie sie suchen soll, und diese muß ja, wer an ein
untrügliches Gewissen glaubt, nur um so leichter finden und in
ihrer ganzen Vollständigkeit aufstellen können, um so, wie es
sich geziemt, vermittels seines Gewissens gesetzgebend zu werden
für andere. Nicht aber durfte ein solcher mit Berufung auf das
Gewissen die ganze Hälfte der Wissenschaft leer lassen, so daß
auch entweder das übrige, weil es doch für sich nicht kann an-
gewendet werden, nicht einmal praktisch gemeint zu sein scheint,
oder die Prinzipien, um das Ganze zu Ende zu führen, nicht
zugereicht haben.
III. Wenn also die Notwendigkeit eines in allen Menschen Folgerungen,
gleichen und in jedem untrüglichen sittlichen Gefühls nicht kann
erwiesen werden, so ist es recht, zu dem zurückzukehren, was die
Natur der Sache andeutet, daß nämlich das Gefühl und die Ein-
sicht eines jeden sich untereinander bestimmen und in ihrer Fort-
schreitung sich gegenseitig zum Maß dienen können. Hieraus
nun würde für die unwissenschaftlichen Menschen zwar folgen,
daß auch ihre Selbstschätzung und ihr Gew^issen nur auf das-
jenige können gerichtet sein, was den Gehalt ihrer für sittlich
angenommenen Vorstellungen ausmacht, nämlich auf der einen
Seite nur in den engen Kreis des Rechtlichen beschränkt, auf der
andern aber über das Sittliche hinaus auf das Kaufmännische und
Haushälterische. Welches sich auch dadurch hinlänglich bestätigt,
daß ihre Art zu billigen sowohl als zu tadeln und zu bereuen
ebenso genau mit dem übereinstimmt, was Spinoza als aus dem
246 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH,!, 244]
Affekt der Freude und Traurigkeit hervorgehend bezeichnet, wie
gleichfalls ihre Tugenden mit dem zusammentrafen, was bei ihm
in jeder Art dem Affekt der Begierde zugehört. Was aber soll
daraus geschlossen werden für die wissenschaftlichen Schüler so-
wohl als Meister der Sittenlehre, deren sittlichem Gefühl noch das
dialektische sollte zu Hilfe gekommen sein, und ihnen den Mangel
innerer Wahrheit und Übereinstimmung in ihren Begriffen an-
gezeigt haben? Was aber anders, als daß, da beides zusammen
nicht hingereicht hat, sie über das Gemeine zu erheben, in dem
Maß nämlich, in welchem sich dieses so verhält, auch ihr ethischer
Sinn und Verstand nicht genugsam hervorrage, um eine höhere
Stufe selbst zu ersteigen, und dann auch die andern zu sich
heraufzuheben; sondern sie mehr den Merkzeichen gleichen, welche
nur den Stand der Wasserfläche anzeigen, als den künstlichen
Vorrichtungen, welche ihn erhöhen. Wovon wiederum, was die
einzelnen Begriffe betrifft, nur Piaton und Spinoza durch ihre
kräftige und durchgeführte Polemik gegen die eingeführte ethische
Sprache sich als preiswürdige Ausnahmen sogleich ankündigen.
Dem Fichte hingegen kann auf diesem Gebiet nur das indirekte
Verdienst zugeschrieben werden, dadurch, daß er sich streng
an den Pflichtbegriff gehalten hat, zur Verminderung der bis-
herigen Verworrenheit eine Anleitung gegeben zu haben. Was
aber das Ganze betrifft, so geht aus dem obigen hervor, welchen
Mängeln er selbst bei einer vollkommenen Richtigkeit des Pflicht-
gefühls dennoch unterworfen sein kann, wenn auf der einen Seite
nur dieses das Maß seiner Sittlichkeit ist, und auf der andern
nicht die Dialektik ihm besser, als bisher sich gelegentlich gezeig,
hat, zu Hilfe kommt. Wieviel nun von ihm sowohl als den andern
in Absicht auf die Vollständigkeit des Systems ist geleiölpt
worden, dieses ist, was dem folgenden Buche noch übrig bleibt zu
untersuchen.
Drittes Buch.
Kritik der ethischen Systeme.
Einleitung.
1.
Von der Anwendung der Idee eines Systems auf die Ethik.
Die Idee eines Systems, vielleicht überdies noch in Absicht auf
ihren Inhalt streitig, ist in jedem Falle eine solche, die zwar als
Forderung der Vernunft im allgemeinen von jedem, welcher über
die Natur der menschlichen Erkenntnis nachdenkt, muß zugegeben
werden, deren Anwendbarkeit für einen einzelnen Fall aber gegen
die Einwendungen des Skeptikers nur entweder durch ihre un-
mittelbare wirkliche Ausführung kann sicher gestellt vverden oder
mittelbar durch Beziehung auf eine ähnliche bereits gegebene und
als richtig anerkannte Anwendung. Daher freilich, wenn die Ethik
als System vorhanden wäre, die Frage nur lächerlich sein würde,
ob sie als ein solches existieren solle; dasselbige aber, da wir jenes
müssen unentschieden lassen, nicht kann gesagt werden, vielmehr
uns allerdings obliegt, die Forderung zu rechtfertigen. Wäre nun
auch nur das Ganze der menschlichen Erkenntnis, sollte es gleich
bloß im Umriß sein, als System gegeben, und dabei zugestanden,
daß die Ethik einen wesentlichen Teil jenes Ganzen ausmache:
so würde dann leicht sein zu zeigen, daß auch sie schon deshalb
248 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 246]
systematisch müsse gebildet werden, jetzt hingegen wird dieses
von einigen, jenes von anderen geleugnet, und auch wenn eine
der Ethik ähnliche Erkenntnis als System vorgezeigt würde, möchte
Streit entstehen über den Grund der Ähnlichkeit, indem man dabei
entweder ausgehen müßte von irgendeiner einzelnen, also be-
strittenen Vorstellung der Ethik, oder von jener eigentlich noch
gar nicht vorhandenen Idee eines Systems der ganzen Erkennt-
nis, worin denn freilich einzelne Teile andern entsprechen müßten.
Weshalb die ganze Forderung nicht hinlänglichen Grund zu haben
schiene, und vielmehr aufgegeben werden müßte, wenn sich nicht
der Gedanke aufdränge, daß sie nicht unmittelbar das Ideale der
Ethik betrifft, sondern vielmehr ihr Reales, oder um es anders
zu sagen, nicht die Erkenntnis, sondern den Gegenstand. In
zweierlei Fällen nämlich pflegt ein Reales, es sei nun gegeben
oder erst hervorzubringen, ein System genannt zu werden; zuerst
insofern es betrachtet wird als ein in sich beschlossenes Ganzes,
dessen Teile nur aus dem Ganzen und durch dasselbe können
verstanden werden, dann auch insofern es betrachtet wird als
die Gesamtheit, es sei nun der Äußerungen einer Kraft, die sich
nur in einer Mannigfaltigkeit des einzelnen offenbart, oder sonst
eines Allgemeinen, welches sich vereinzelnd darstellt. So wird
in dem ersten Sinne das Ganze von Weltkörpern, welchem unsere
Erde zunächst angehört, ein System genannt, mit dem Vorbehalt
"jedoch, es noch aus einem andern Gesichtspunkt zu betrachten,
auf welchem es selbst wiederum als Teil eines andern erscheint;
und wiederum in dem andern Sinne heißt das Weltganze ein
System als Gesamtheit der Äußerungen eben jener physisch archi-
tektonischen Kraft, welche sich durch solche einzelne offenbart,
die in ihrer Verschiedenheit den ganzen Umfang derselben er-
schöpfen, jedoch ebenfalls mit dem Eingeständnis, daß wir die
Regel, nach welcher die Gesamtheit des einzelnen das Ganze er-
schöpft, noch nicht gefunden haben. Ebenso nennen wir in der
ersten Bedeutung jeden organischen Körper ein System, in der
[111,1, 247] III. Kritik der ethischen Systeme. 249
andern aber auch zusammengenommen die gesamten Erschei-
nungen des Organismus, wiewohl ebenfalls unter jenem Vorbehalt.
Woraus zugleich am besten erhellt, wie der Unterschied zwischen
einem schon vorhandenen und einem erst hervorzubringenden
Ganzen hier nicht in Betrachtung kommt. Denn niemand wird
sich auch weigern zu gestehen, daß ein Kunstwerk ein System ist
in dem ersten Sinne; und ebenso auch, daß alle Künste und ihre
Produktion, insofern jede von der andern wesentlich verschieden
ist, ein System bilden sollen. Von einem solchen systematischen
Realen muß nun unfehlbar auch die ideale Darstellung systematisch
ausfallen, wenn sie anders getreu sein und die Idee nicht ver-
lassen will, unter welcher das Reale, worauf sie sich bezieht,
wenngleich nur problematisch, ist angeschaut worden. Ob aber
überall eine Wissenschaft oder Erkenntnis noch aus einem andern
Grunde, als weil sie eines solchen Darstellung ist, als ein System
müsse betrachtet werden, und den Forderungen, welche daraus
entspringen, genügen, dies ist eine Frage, welche wohl bezweifelt
werden dürfte, ja vielleicht gar bis auf weiteres im voraus verneint,
wenn einer auf das Beispiel der Größenlehre sehen will, oder
der sogenannten Vernunftlehre. Denn diese beiden sind in dem
ältesten und anerkanntesten Besitz des Namens der Wissenschaft;
niemand aber hat eine von ihnen je ein System genannt oder
Forderungen der Art an sie gemacht. Weil nämlich die erste
außerhalb sich immer mehr erweitert, und neue Zweige derselben
erfunden werden, ohne daß in den früheren und ihrem Zusammen-
hange irgendeine Lücke wahrgenommen würde; die andere aber,
wenngleich sie keine Fortschritte der Art machen kann, dennoch"
weder Anfang und Ende noch irgendeine sichere Grenze auf-
zeigt, und der eigentlichen realen Wissenschaftslehre zwar zum
Grunde liegend dennoch auf allen Seiten von ihr abhängig ist.
Ja auch eine falsche Annäherung an die systematische Gestalt
erlangen beide Wissenschaften alsdann nur, wenn sie auf ihr
ungemessenes ideales Gebiet Verzicht leistend, den Schein an-
250 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH,1, 248]
nehmen, sich nur auf ein bestimmtes reales zu beziehen. So etwa,
wenn die Größenlehre die Sätze irgendeines ihrer wesentlichen
Zweige nur aufstellt als Bedingungen zur Auflösung einer ein-
zelnen Aufgabe; oder die Vernunftlehre sich bescheidet, nichts
anderes sein zu wollen, als die Analyse des Syllogismus, der als
ein ideales Kunstwerk kann betrachtet werden. Doch wie es sich
auch mit dieser nur im Vorbeigehen aufgeworfenen Frage ver-
halten möge, die Forderung, welche an die Sittenlehre gemacht
wird, daß sie ein System sein solle, ist von ihr nicht abhängig,
sondern lediglich davon, daß schon das Reale, auf welches die
Ethik sich bezieht, von jedem als ein System muß vorgestellt
werden.
Denn man gehe zuerst aus von dem Gesichtspunkt der prak-
tischen Ethik und betrachte das Reale, was den Inhalt der-
selben ausmacht, so wie es in der gewöhnlichen Behandlung nach
dem Pflichtbegriff vorkommt. Hier nun wird aus allem über diesen
Begriff Gesagten, besonders in Hinsicht dessen, daß die Pflicht
immer nur durch Begrenzung kann gefunden werden, offenbar
sein, daß, wie es einem System gebührt, das einzelne jedesmal
nur kann aus dem Ganzen verstanden werden. Denn wenn das
Pflichtmäßige in jedem Entschluß nur kann beurteilt werden, in-
dem das Gewollte zusammengenommen wird mit dem Nicht-
gewollten, nämlich nicht etwa dem Unsittlichen, sondern nur das
unmittelbar angestrebte SittHche mit dem nicht unmittelbar Be-
förderten, vielmehr in seinen Ansprüchen Zurückgesetzten : so ist
ja deutlich, daß das einzelne nicht abgeleitet wird als ein Niederes
von einem höheren Allgemeinen, oder von einem andern ein-
zelnen, sondern nur aus dem Ganzen und der Gesamtheit alles
einzelnen. Nämlich in jedem Moment, oder auch so viel sich
davon sagen läßt im allgemeinen, ist etwas nur pflichtmäßig,
weil nur nach dieser Formel die Gesamtheit der sittlichen Zwecke
kann befördert werden, durch jede andere aber ein Teil den andern
stören, und also das Gehandelte nur ein zum Teil Unsittliches
[Iil,l, 249] III. Kritik der ethischen Systeme. 251
unter dem Schein eines Sittlichen sein könnte. Wird nun hiebei
noch dieses in Betrachtung gezogen, daß nach einer allgemein
anerkannten Forderung die Darstellung der Ethik nach dem Pflicht-
begriff auch so muß eingerichtet sein, daß nach derselben jede
wenn nur vollständig gegebene Handlung muß können geprüft
werden, ob sie für die angegebene Stelle sei eine sittliche ge-
wesen, oder nicht: so sieht man, es wird gefordert, daß aus
derselben Idee des Ganzen, durch welche jedes einzelne bestimmt
wird, auch solle folgen können die Erkenntnis dessen, was nicht
ein solches einzelne ist, und nicht in der Annäherung zum Voll-
bringen der gesamten Aufgabe des Handelns liegen kann. Ein
Ganzes von dieser Art aber muß offenbar ein vollkommen in sich
selbst Beschlossenes sein, in welchem für gar kein Zufälliges ein
Raum übrig bleibt. Dieses nun kann die Größenlehre zum Bei-
spiel, welche kein System ist in dem angegebenen Sinne, eben
deshalb auch nicht leisten; sondern es können Fragen dieser Art
aufgeworfen werden, für welche die Antwort noch gar nicht vor-
handen ist, und erst durch Vergleichung mit mehreren einzelnen
Gegebenen muß gesucht werden. Denn solche Fragen zum Bei-
spiel, wie die nach einem gleichseitigen Vieleck im Kreise mit un-
gleichen Winkeln, sind freilich schon beantwortet, aber nur weil
das Gefragte an sich unmöglich ist und den ersten notwendigen
Sätzen widerstreitet, zu vergleichen etwa in der Sittenlehre dem,
was die sogenannten vollkommenen Pflichten verletzt, worüber
auch keine Frage aufzustellen ist. Solche Fragen aber, die an sich
eine bedingte Möglichkeit enthalten, wie zum Beispiel, unter wel-
chen Bedingungen auch ein durch ungleiche Flächen begrenzter
Körper von einer Kugel könne umspannt werden, finden sich nicht
durch notwendige Sätze der Wissenschaft beantwortet, sondern
müssen jede durch Vergleichung mehreres einzelnen besonders
untersucht werden. Betrachtet man demnächst das Reale der prak-
tischen Ethik, wie es in der Behandlung nach dem Begriff der
Güter vorkommt, so soll, wie alle verlangen, der Inbegriff der-
252 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 250]
selben oder das höchste Gut nicht so wirklich gemacht werden,
daß nacheinander jedes einzelne Gut, wie sie eben nach jedem
System auf verschiedene Weise zerfallen, vollendet werde, sondern
vielmehr durch allmähliche Annäherung, so daß an allen zugleich'
gearbeitet wird. Denn nur so kann diese Behandlung mit der
nach dem Pflichtbegriff in Übereinstimmung sein. Indem nun
jenes vereinzelnde Verfahren für ethisch unmöglich erklärt wird,
so ist zugleich gesagt, daß jedes dieser Güter die übrigen bedingt,
folglich auch, daß sie untereinander ein Ganzes ausmachen, und
zwar so, daß in dem Bestreben nach ihnen sowohl, als in der
Aufzeichnung derselben keines fehlen darf, weil sonst auch die
übrigen nicht könnten richtig zustande gebracht und dargestellt
werden. Sonach muß auch von dieser Seite betrachtet die Ethik
als ein System erscheinen. Daß aber die Handlungen eines Men-
schen, auch wenn sie alle als sittlich gedacht werden, weder
in der natürlichen Ordnung der Zeit, noch auch nach der Ordnung
der Zwecke betrachtet ein Ganzes ausmachen, sondern ihrer Folge
nach zufällig erscheinen und ihrer Wirkung nach fragmentarisch,
dies kann demjenigen, der das obige im Sinne hat, keinen Einwand
abgeben. Denn das eigentlich Reale der Handlung ist nur
der Entschluß, die verschiedenen Entschlüsse aber bilden aller-
dings untereinander ein Ganzes, so gewiß als die Pflichtenlehre
eins bildet, in welche sie sich ja fügen. In Absicht auf die Wir-
kung aber muß den aufgestellten Begriffen von Gütern gemäß,
wie sie ihrer Natur nach gemeinschaftliche Werke sind in der
Ethik, auch die Gesamtheit dessen, was der einzelne hervor-
bringt, als Element betrachtet werden, in welchem jedoch eben-
falls, wenn es integriert wird, der systematische Zusammenhang
der Güter nicht wird können verkannt werden.
Geht man aber zv/citens aus von dem Gesichtspunkt der
genießenden Ethik, so ist oben hinlänglich gezeigt, daß aucK
die Glückseligkeit zu denken ist als ein Ganzes, wenngleich als ein
solches, das niemals in seiner Vollständigkeit als eines erscheint,
[111,1, 251] III. Kritik der ethischen Systeme. 253
sondern nur in einer Mehrheit einzelner Gestalten sich ganz offen-
bart. Wie denn auch dieses alle ihre Verteidiger mehr oder
minder deutlich eingesehen. Denn keiner glaubt, daß irgend je-
mand die ganze Glückseligkeit haben könne. Und nicht etwa nur
der unvermeidlichen Unlust wegen, die in jedem Leben angetroffen
wird, oder weil es zu jeder Art der Lust einigen an Gelegenheit
fehlt; sondern weil es mehrere unvereinbare Arten gibt, dieselbe
Lust zu genießen, und dasselbe Verhältnis zu einem verschiedenen
Element der Glückseligkeit zu verarbeiten. Sind nun diese ver-
schiedenen Gestalten, in denen zusammengenommen die Glück-
seligkeit enthalten ist, nur willkürlich bestimmt: so ist für keinen
ein Weg zu zeichnen zu seiner Glückseligkeit, und keiner weiß
nach einer Regel, was er suchen soll, und wessen sich enthalten.
Wodurch offenbar die ganze Ethik aufgehoben würde. Sind sie
aber wesentlich und der Natur nach voneinander abgesondert, so
daß es bestimmte Gründe gibt, warum jedes Element nur der
einen und nicht irgendeiner andern eigen sein kann, unter wel-
cher Bedingung allein diese Ethik besteht: dann müssen auch teils
alle untereinander ein System der zweiten Art ausmachen, indem
sie ein Inbegriff sind der Erscheinungen, unter denen sich ein
allgemeines offenbart. Teils auch muß in jeder einzelnen das
für sie mögliche durch ein gemeinschaftliches Merkmal verknüpft
und unter einer Formel befaßt sein, welche es erschöpft, so
daß wiederum jede auch ein System der ersten Art ausmacht.
Da nun jede Sittenlehre zu einer von diesen Abteilungen gehört,
der tätigen oder genießenden, so ist offenbar, daß jede als System
muß betrachtet und geprüft werden. Dasselbe hätte auch können
gezeigt werden aus jeder andern von den oben bemerkten Ver-
schiedenheiten der ethischen Grundideen; es reicht aber hin, daß
es durch eine ist entwickelt worden, zumal durch die leichteste
und verständlichste.
254 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,252]
2.
Von den Momenten der Prüfung nach dieser Idee.
Soll nun ferner untersucht werden, wie denn zu entscheiden
ist, ob eine Darstellung der zu prüfenden Wissenschaft dieser Idee
angemessen ist, oder nicht, so kann dieses ersehen werden teils
aus dem Gehalte derselben, teils auch aus ihrer Gestalt. Denn
beide stehen in einem so genauen Zusammenhange,
daß die Vollkommenheit der Gestalt allemal Bürg-
schaft leistet für die Gleichartigkeit und Vollstän-
digkeit des Inhaltes, und wiederum diese nicht vorhanden
sein kann, ohne sich von selbst in eine schöne und genügende
Gestalt zu ordnen; welches besonders zu erweisen überflüssig
sein würde. Es ist aber dieser Zusammenhang nicht von der
Art, daß, wo UnvoUkommenheit stattfindet, jedem Mangel des
Inhaltes auch ein gleicher und ähnlicher der Gestalt, es sei nun
als Ursach oder als Wirkung, entspreche und umgekehrt; in
welchem Falle, der sich aber mit der Verschiedenheit beider
Gegenstände nicht verträgt, es genug sein würde, nur einen und
gleichviel welchen, prüfend zu betrachten. Vielmehr können als
Wirkungen einer gemeinschaftlichen Ursach, nämlich eines Fehlers
in der zum Grunde liegenden Idee, beide sich auf mannigfaltige
Weise aufeinander beziehen, und, was im Gehalt als ein ein-
zelner Mangel erscheint, die ganze Gestalt verderben oder um-
gekehrt. So wie auch im menschlichen Körper die Mißgestalt eines
Gefäßes mehrere ganz verschiedene Säfte verderben, und die
schlechte Beschaffenheit oder der Mangel einer Flüssigkeit eine
Verunstaltung des ganzen Gebildes verursachen kann. Und eben
deshalb ist es notwendig, beides, Gestaltung und Inhalt, abgesondert
zu betrachten, um teils desto sicherer an dem einen zu entdecken,
was bei Betrachtung des andern vielleicht der Aufmerksamkeit ent-
geht, teils auch das Auffinden der Ursachen einem jeden zu erleich-
tern, soweit es die Grenzen des gegenwärtigen Geschäftes gestatten.
[111,1, 253] III. Kritik der ethischen Systeme. 255
Was nun zuvörderst den Inhalt einer Ethik betrifft, so ent- Inhalt
steht aus der Idee eines Systems an denselben die doppelte Forde- Ethik.
rung, daß alles einzelne, was darin aufgeführt ist, auch wesent-
lich hineingehöre, und das Merkmal an sich trage, wodurch da?
Ganze verbunden ist. Dann auch ferner, daß alles, was dem
Ganzen angehört, wirklich darin zu finden sein muß, und jede
Frage dieser Art aus demselben muß können entschieden werden,
wenn sie nur mit Verstand und auf die rechte Weise ist auf-
geworfen worden. Über die erste dieser Forderungen aber ent- 1.
halten schon die Ergebnisse des zweiten Buches eine ungünstige
Entscheidung. Denn wenn, wie dort gezeigt worden, in fast jeder
Darstellung der Ethik die Elemente in solche Begriffe zusammen-
gefaßt sind, welche nach keiner Idee sich als reinsittlich bewähren,
sondern Sittliches und Unsittliches vermischt enthalten, und wenn
ferner in den verschiedensten Darstellungen, deren Grundideen
gänzlich voneinander abweichen, dennoch dieselben Begriffe an-
getroffen werden: so ist offenbar genug, daß nirgends alles im
System Aufgeführte demselben angehört, sondern Fremdartiges
überall eingemischt ist. Und was hieraus folgt für den gegenwärti-
gen Zustand der Wissenschaft überhaupt, und für die ethische wie
auch systematische Fähigkeit derjenigen, welche diese Darstel-
lungen aufgeführt haben und durch sie befriediget werden, dies
ist ebenfalls dort hinreichend angedeutet. Es trifft aber dieser
Vorwurf nur die Darstellungen der Sittenlehre, wie sie gegenwärtig
sind, nicht aber kann hiedurch entschieden werden, daß sie besser
sein könnten, und daß es unmöglich wäre auf demselben Grund,
auf welchem sie aufgeführt sind, bessere und tadellose Grenzen
zu erbauen. Denn um dieses zu erweisen, müßte gezeigt werden,
daß auch mit dem richtigsten sittlichen und wissenschaftlichen Sinn
wegen Verkehrtheit der ersten fdee in Übereinstimmung derselben
richtige und in sich bestehende Begriffe nicht könnten gebildet
werden. Eine solche Behauptung aber kann nur von einer polemi-
schen Absicht aus entstehen, und auch schwerlich mit bloß kriti-
256 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 254]
sehen Hilfsmitteln durchgeführt werden. Vielmehr muß die Kritik,
welche sich durch keine vorgefaßte Meinung verunreinigen darf,
sich hinneigen zu Versuchen, solche zufällige Fehler zu verbessern,
und muß ein Urteil über das Ganze, sofern es auf diesen Grün-
den beruhen soll, verschieben, bis jedes auf die möglich beste Art
ist vollendet worden. Deshalb nun ist die Aufmerksamkeit vor-
züglich zu lenken auf die zweite Forderung, nämlich auf des In-
haltes Vollständigkeit. Diese aber ist nicht so zu verstehen, als
ob in jeder Darstellung alles ihrer Idee zufolge ethisch Mögliche
auch ausdrücklich müßte aufgeführt sein. Vielmehr muß in dieser
Hinsicht jede Darstellung eines Systems unvollkommen sein, schon
weil das Reale für das Geschäft der Absonderung immer ein
Unendliches darbietet, und also einzelnes kann herausgegriffen
werden, welches in einer gegebenen Darstellung nur unter einem
andern befaßt ist. Noch mehr aber, wenn das Reale wie hier
unmittelbar ein Geistiges ist, für welches ja durch alles, was
erfolgt, allmählich die Bedingungen sich ändern, und folglich mit
ihnen auch die Gestalt des Bedingten. So muß besonders in
Absicht auf den PfUchtbegriff einleuchtend sein, wie unmöglich
eine Vollständigkeit wäre, welche alles genau enthielte, was irgend-
einer aus dem ihm Vorliegenden sich als Pflicht berechnet. Über-
haupt aber muß es bei dem Fortschritt und der weiteren Bildung
und Realisierung des Sittlichen unmöglich erscheinen, daß eine
Sittenlehre aus der alten Zeit alles ausdrücklich enthalten könnte,
was von den Genossen der jetzigen zu fordern ist, und ebenso-
wenig in einer jetzigen für eine ferne Zukunft. Sondern es ist
nur gemeint, daß nichts Sittliches so ganz fehlen
darf, daß nicht der Ort aufzuzeigen wäre, an wel-
chem es unter einem andern ausdrücklich Benannten
mit enthalten wäre; und ebenso, daß für jedes geforderte
Urteil die Gründe in einem wirklich aufgestellten müssen zu finden
sein. Auch in dieser Bedeutung nun sind bereits oben einige
Mängel angeführt worden, welche aus der besondern Beschaffen-
(111,1, 255] III. Kritik der ethischen Systeme. 257
heit dieser oder jener ethischen Idee notwendig zu folgen scheinen.
Wenn nun hier nicht nur aus Betrachtung des Vorhandenen diese
bestätigt, sondern ebenso mehrere Neue hinzugefügt werden, viel-
leicht ohne eine notwendige Ursach davon in irgendeinem Merk-
mal der zum Grunde Hegenden Idee aufzuzeigen: so könnte es
scheinen, als ob die letzteren ebenfalls nur den zufälligen ver-
änderlichen Zustand eines jeden Systems anzeigten, nicht aber
ein Urteil über seine wesentliche Beschränktheit und Untauglich-
keit begründen könnten. Es verhält sich aber hiemit anders als
mit dem, was an der Richtigkeit des einzelnen auszustellen war,
und zwar aus diesen Gründen. Zuerst nämlich kann der wesent-
liche Grund solcher Mängel, wenn er nicht in der Hauptidee des
Systems zu finden ist, in demjenigen Begriff der menschlichen
Natur liegen, welcher dabei als Bezeichnung des Umfanges und
als Grund der Einteilung angenommen ist; und daß zwischen
beiden wiederum ein notwendiger Zusammenhang stattfindet, ist
bereits anfänglich erinnert. Dann aber ist auch ein anderes: selbst
erfinden und aufbauen, ein anderes: nur das Vorhandene ver-
gleichend bemerken und anreihen. Jenes nämlich kann auch bei
einer richtigen Idee mißlingen, wenn der sittliche Sinn von dem
wissenschaftlichen nicht gehörig geleitet wird, da denn die Dar-
stellung zwar unrichtig sein wird, im Handeln aber vielleicht das
Gefühl berichtigt, was die Begriffe verworren haben, ohne daß
dieses auch sogleich auf die Darstellung vorteilhaft zurückwirkt.
Wenn aber ein im System gar nicht berührter und unstreitig
ethischer Gegenstand in der Erfahrung w^irklich vorkommt, gleich-
viel ob auf eine richtige oder unrichtige Art behandelt: so muß
doch notwendig der sittliche Sinn, wo er vorhanden ist, die in
der Tatsache liegende Aufgabe wahrnehmen, und der Idee an-
gemessen, was recht ist, über den Gegenstand bestimmen. Ja
auch, wenn jener schwiege, müßte doch der wissenschaftliche
Sinn bemerken, daß ihm ein Ort entgangen ist, und ausfüllend
auf die erste Quelle des Mangels zurückgehen. Je weniger aber
Schleiermacher, Werke. I. 17
258 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,256]
bei einer solchen Aufforderung die Lücke wahrgenommen wird,
um desto sicherer fehlt es auch der Idee an irgendeiner nötigen
■Eigenschaft, um das Ganze aus ihr abzuleiten. Ja überhaupt, wenn
mangelhaft ist die sittliche sowohl, als die wissenschaftliche Fähig-
keit derer, welche eine Idee hervorgebracht und angenommen
haben, was für ein Grund bleibt noch übrig, um sie für die richtige
zu halten? Darum nun sind wesentliche Mängel dieser Art jeder-
zeit entscheidend für die Untauglichkeit eines Systems.
Was aber auf der andern Seite die Gestalt des Ganzen be-
trifft: so ist hier ebenfalls die erste Forderung die der durch-
gängigen Richtigkeit und Übereinstimmung des inneren Glieder-
baues. Über diese jedoch ist ebenfalls zu dem im zweiten Buche
bereits Abgehandelten nichts hinzuzusetzen. Denn die unstatthafte
Einteilung der formalen Begriffe, welche sich fast durchgängig
offenbarte, und der Mißverstand in ihren ersten Verhältnissen zu-
einander gibt genugsam zu erkennen, daß an eine richtige Gliede-
rung noch nirgends, am wenigsten aber in den am weitesten aus-
geführten Systemen zu denken ist, sondern sie meistenteils wider-
natürlich, teils Fremdartiges verknüpfen, .teils das Zusammen-
gehörige auseinanderwerfen. Dennoch aber könnte durch ge-
schickte Auseinanderlegung vielleicht auch ein so verunstaltetes in
ein wohlgeordnetes und richtiges System sich verwandeln lassen.
So daß auch hier entscheidender ist die zweite Forderung, die der
Vollständigkeit. Welche jedoch auch nicht so zu verstehen ist, daß
alle verschiedenen Beziehungen der einzelnen Teile oder der Be-
handlungsarten aufeinander müßten aufgezeichnet sein. Vielmehr
ist natürlich, daß eben das wahrste und schönste Ganze hierin am
unerschöpflichsten ist, und also in der Darstellung das meiste dem
Betrachter selbst aufzusuchen überlassen muß; nur daß mit den
wichtigsten dieser Beziehungen auch die Regeln um die übrigen
aufzufinden müssen gegeben sein. Die Vollständigkeit aber, welche
in einem strengeren Sinne gefordert wird, ist auf der einen Seite
das Ebenmaß der äußeren Umrisse, auf der andern aber die Be-
[111,1, 257] III. Kritik der ethischen Systeme. 259
stimmtheit und Verständlichkeit der Grenzen der Wissenschaft
gegen die übrigen nahegelegenen und verwandten, ohne welche
die ursprüngliche Idee unmöglich eine richtige sein kann. Dies
also ist es, was in Hinsicht auf den Inhalt und die Gestalt der
bisher aufgestellten ethischen Systeme wird zu prüfen sein.
Erster Abschnitt.
Von der Vollständigkeit der ethischen Systeme in Absicht
auf den Inhalt.
I. Das „Wie" des Handelns.^
Das erste nun, was in Beziehung auf diese Frage unter-
sucht wird, sei dieses, ob dasjenige, was in den bisherigen Dar-
stellungen der Sittenlehre wirklich aufgeführt wird, auch so durch-
gängig bestimmt ist, daß es mit Recht als das treffende Bild
eines der angenommenen Idee gemäßen menschlichen Handelns
kann angesehen werden. Und hier wird jeder sogleich gestehen
müssen, daß von allem fast, wovon das Was ist bestimmt worden,
das Wie wenigstens fast überall hat unbestimmt bleiben müssen.
Alle sittlichen Vorschriften nämlich sind so weit, daß ohne ihnen
zuwiderzulaufen dieselbe Pflicht auf sehr verschiedene Arten kann
ausgeübt werden, und zwar so, daß die Ähnlichkeit der Hand-
lungen in ihrem Innern Wesen ganz verschwindet, und nur die
äußere des Bewirkten übrig bleibt oder die allgemeine des End-
zwecks. So zum Beispiel können mehrere dieselbe Pflicht der
vergeltenden Gerechtigkeit ausüben nach gleichen Grundsätzen,
mit gleicher Hinsicht auf das gemeine Wohl oder das persönliche
Verdienst und gleichen Vorstellungen von dem zu beobachtenden
Maß, dennoch aber mit so verschiedenen Abstufungen des be-
gleitenden Gefühls von der entschiedensten Kälte an bis zur be-
wegtesten Teilnehmung, daß die äußersten Enden mehr entgegen-
^ Hinzugefügte Überschrift.
17*
260 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,258]
gesetzt erscheinen durch diese Verschiedenheit als gleich durch
jene Übereinstimmung mit der gleichen Vorschrift. Ebenso können
mehrere die Verbindlichkeit erfüllen, ihre Überzeugung mitzuteilen
gegen eine ihr zuwiderlaufende; der eine aber mit begeistertem
Eifer, der andere mit bedachtsamer Gelassenheit, und der eine
nur sich verteidigend, und nicht mehr, als unmittelbar zum Zweck
gehörig ist, ausführend, der andere aber tiefer in den Zusammen-
hang eindringend, und mehr im großen, um Bahn zu machen der
künftigen Erörterung ähnlicher Verschiedenheiten. Andere Un-
gleichheiten gäbe es in der Art den Beruf auszuüben und zu ver-
vollkommnen, und dabei das Nachdenken mit der Ausübung zu
verbinden. Denn wie bei einem einzelnen Werk andere nach
anderer Ordnung verfahren, der eine nämlich erst einen Teil
vollendet, der andere gleichmäßig alle bearbeitet: so kann auch
das ganze geschäftige oder bildende Leben verschieden eingerichtet
sein. Und viele andere Beispiele könnten von allen Seiten an
diese angeknüpft werden ; es können aber auch die angeführten
schon hinreichen, um jedem bemerklich zu machen, wie diese Un-
bestimmtheit über das ganze Gebiet der Pflicht sich verbreitet.
Vielleicht nun könnte jemand hierauf verteidigend anwenden, was
Kant irgendwo sagt, daß in jeder Handlung mehrere Pflichten
zusammenkommen, und daß also der Aufschluß über das Wie
unter einem andern Abschnitt könne zu finden sein, als jener über
das Was. Allein dieses ist zuvörderst zufolge desjenigen, was
oben im Zusammenhange zur Erörterung des Pflichtbegriffs ist
durchgeführt worden, eine gänzliche Verdrehung desselben, und
auf solche Weise ließen sich die Mängel des Systems der Reihe
nach einem Teile nach dem andern zuschieben, ohne irgendwo
wirklich erlediget zu werden. Denn das Wesen des Pflichtbegriffs
besteht eben darin, zu bestimmen, was das ganze Sittliche ist für
ein gegebenes Handeln oder einen gegebenen Moment, und diese
Bestimmung also muß vermittelst desselben an einer Stelle ganz
und ungeteilt können gefunden werden. Wie es mit dieser Ent-
schuldigung beschaffen ist, erhellt aber auch daraus, wenn man
[111,1,259] III. Kritik der ethischen Systeme. 261
nur auf den Gedanken achtend und die unrichtige Bezeichnung
übersehend, die richtigere stoische an die Stelle setzt von der
Gegenwart mehrerer oder aller Tugenden in einer Handlung. Denn
alle jene Besonderheiten der Art und Weise kann man, wenn sie
das Maß nicht überschreiten, unter den Namen einer Tugend
bringen. Nun aber kann es unmöglich gleichgültig sein, ob nur
auf eine Weise oder auf verschiedene die verschiedenen Tugenden
in jedem Falle dürfen verknüpft sein. Also wird die Forderung
anerkannt nicht nur, sondern auch notwendig auf den Pflicht-
begriff zurückgeworfen. Und ebenso würde sie auf ihn zurück-
kommen, wenn man die Frage ursprünglich aus dem Gesichts-
punkt der Güter betrachten wollte. Es ist aber wohl zu merken,
daß, was die Kritik fordert, um dem Mangel abzuhelfen, nicht Bedeutung
dieses ist, daß für jeden Fall eine einzig mögliche Handlungs- Individualität
weise als sittlich aufgestellt werde : denn sie kann im voraus nicht für die Ethik,
entscheiden, ob es nur eine gibt oder viele. Sondern nur, daß
eben diese durch die Erfahrung aufgegebene Frage wissenschaftlich
beantwortet, und im letzten Falle Umfang und Bedingungen der
angenommenen Mehrheit bestimmt werde, damit jeder das Sitt-
liche unterscheiden könne von dem Unsittlichen. Denn dieses in
der Ethik vorüberzugehen, ist nicht leichter zu entschuldigen, als
wenn eine Anweisung zur bildenden Kunst mit allgemeinen Vor-
schriften sich begnügend, den Umstand gar nicht wahrnehmen
wollte, daß es, und zwar für jeden Gegenstand sehr verschiedene
Arten gibt, ihn zu behandeln in der Darstellung, welche doch alle
jenen allgemeinen Vorschriften nicht widerstreiten. So wie nun
die Kunstlehre sich darüber entscheiden muß, ob alle diese bis auf
eine jedesmal nur können fehlerhafte Manieren sein, oder welche
und welche nicht; so auch die Sittenlehre ^ Wollte aber jemand
sagen, es seien diese Verschiedenheiten weniger bedeutend als
auf dem Gebiete der Kunst auf dem der Sittenlehre, wo sie daher
willig und billig vernachlässigt würden, der hat die Ähnlichkeit
1 Vgl. S. m.
2ö2 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,260]
des Beispiels nicht verstanden, nocii bedenkt er, wie weit diese
Abweichungen sich erstrecken, und in welcher Gestalt sie im
großen betrachtet erscheinen. Denn sie beruhen am Ende auf der
besondern Art, wie die Gedanken sich aneinanderreihen, und wie
die Gefühle sich untereinander und gegen jene verhalten, worin
fast jeder seine eigene Weise hat, durch alle Teile des Lebens hin-
durchgehend, und in allen Handlungen wiederzuerkennen. Welche
natürliche Beständigkeit auch die Ursach sein mag, warum teils
bei einzelnen Vorschriften hierüber nichts bestimmt ist, teils auch
im ganzen dieses Eigentümliche^ einer, wenngleich nur stillschwei-
genden und eben darum unwissenschaftlichen. Unverletzlichkeit
genießt. Denn das gemeine Urteil wenigstens erkennt diese an,
indem es die Handlung, welche dem einen als aus seiner fest-
stehenden Regel hervorgegangen ungetadelt hingeht, einem an-
deren in gleichem Falle als mit der seinigen nicht übereinstimmend
zum Vorwurf rechnet. Im großen betrachtet also, wo sich doch
über den Wert eines jeden Sittlichen am besten urteilen läßt,
ist dieses der wichtige und schwierige Ort von der Verschiedenheit
der Gemütsstimmung, oder um es für den Fall, daß diese Ver-
schiedenheit sittlich möglich ist, mit dem würdigsten Namen zu
nennen, von der Verschiedenheit des Charakters. Welcher gewiß
für die Sittenlehre nicht unbedeutender sein kann, als der von
der Mannigfaltigkeit des Stils für die Kunstlehre; ihn aber den-
noch dafür aufzugeben, wäre das Unverständigste, und der deut-
lichste Beweis, daß das eigentHche Wesen der Sittlichkeit ganz
ist verkannt worden. Denn nur derjenige, welchem es lediglich
um die äußere Tat zu tun wäre, dürfte von dieser Mannig-
faltigkeit keine Kenntnis nehmen; wer aber unter dem Sittlichen
versteht den ganzen Inbegriff dessen, was in einem gegebenen
Falle im Gemüt vorgegangen ist, von dem muß sie wohl be-
trachtet und eine Entscheidung darüber gefaßt werden. Um nun
das Ganze in wenige Worte zu vereinigen, so ist die Frage diese,
ob das Ideal des Weisen ein Einfaches ist oder ein Vielfaches,
' Eigentümlichkeit ^^ Individualität und Persönlichkeit bei Schleiermacher.
1111,1,261] lil. Kritik der etliischen Systeme. 263
und gefordert wird, daß jede Ethik diese Frage, auf welche Weise
es auch sei, entscheiden solle. Denn bei der Unbestimmtheit der
sittlichen Vorschriften in allen Systemen können mehrere Men-
schen denselben fortschreitend in gleichem Maße Genüge leisten,
und werden also angesehen werden als dem Ideal des Weisen
gleichmäßig annähernd; dennoch aber können sie in ihrem Han-
deln und Sein sich wesentlich verschieden zeigen. Soll daher die
Ethik ihren Gegenstand bestimmen, so muß sie auch entscheiden,
ob mehrere solche, ohne diesen Unterschied aufzuheben, das Ideal
erreichen könnten, in welchem Falle es für jeden in gewisser Hin-
sicht ein anderes sein würde, oder ob es schlechthin für alle
durchaus dasselbe ist, und also der Unterschied bei allen entweder
allmählich verschwinden, oder einer in die Weise des andern
übergehen müsse. Es ist aber auch der Ausweg abgeschnitten,
daß dieses zusammenhange mit einer unerklärlichen und jenseit
des Gebietes der Ethik gelegenen natürlichen und angeborenen
Verschiedenheit der Menschen. Denn nichts, was das wirkliche
menschliche Handeln betrifft, liegt jenseit des Gebietes der Ethik,
weil alles angesehen wird als, wenn auch nicht der Anlage, wenig-
stens der Kraft nach, durch die Übung und das zufällige will-
kürliche Handeln selbst entstanden, und also auch sittlich zu
beurteilen. Ist also jene Verschiedenheit anzusehen als der einen
und unteilbaren Gestalt des Guten zuwider, so wird sie auch ge-
setzt als sittlich zu vernichten, und dies muß eine Aufgabe der
Ethik sein. Wo aber nicht: so muß sie anerkannt werden als
ein sittlich Hervorzubringendes oder Auszubildendes, und also auf
jeden Fall ihren Platz finden in der Ethik, weil der Begriff des
Gleichgültigen für diese Wissenschaft gänzlich aufgehoben ist.
Dieses nun ist es, worüber in den meisten Sittenlehren gar nichts
und in keiner etwas Genügendes bestimmt wird. Denn wo das
Ideal des Weisen nicht ausdrücklich als eins gesetzt wird, da
wird doch auch die Mannigfaltigkeit des Sittlichen nicht gehörig
anerkannt und bestimmt; noch, wo jenes geschieht, die Einförmig-
keit ausdrücklich festgesetzt und deutlich vorgezeichnet. Soviel abc^r
264 Grundlinien einer Kritilc der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 262}
wird jeder sehen, daß die Entscheidung der Frage selbst zunächst
abhängt von jener bereits erwähnten Verschiedenheit der Ansicht,
ob nämlich das Sittliche nur ein allen Gemeinschaftliches sein soll
oder auch ein Besonderes und Eigentümliches; und es scheint aus
diesem Erfolg, als ob jener Unterschied nicht wäre deutlich genug
ins Bewußtsein gekommen. Wird nun auf dasjenige zurückge-
sehen, was oben schon hierüber beigebracht worden, daß nämHch,
Eudämo- was zuerst die Sittenlehre des Genusses anbetrifft, diese um sich
msmus. selbst zu erhalten notwendig ein Eigentümliches der Sittlichkeit
annehmen muß, weil die Glückseligkeit nicht anders als in viel-
fachen Gestalten ganz und wirklich vorhanden sein, und nur
geteilt, beides in Beziehung auf die Gegenstände sowohl, als auf
die Art sie zu behandeln, von Verschiedenen auf verschiedene Weise
kann hervorgebracht werden: so ist von diesen Systemen die aus-
gebreitetste Behandlung des Besonderen und Vielfachen in der
Sittlichkeit und Aufzeichnung der verschiedenen Arten, wie die
Menschen können weise werden, mit Recht zu erwarten. Dem ganz
entgegen findet sich das Wenige, was der Eudämonismus von
dieser Art aufzuweisen hat, und was keinem anders als fragmen-
tarisch und unzureichend erscheinen wird, fast nur in den nicht
wissenschaftlichen Darstellungen zerstreut; die zusammenhängen-
den aber halten sich alle vornehmlich nur an das Gemeinschaft-
liche, welches, da es kein Allgemeines sein kann, ein Unbestimmtes
sein muß. Schon dieses nun kann unmöglich ein vorteilhaftes An-
zeichen sein für ein System, wenn das Richtige und Notwendige
mehr in anderer Gestalt vorhanden ist als in der wissenschaft-
lichen; weil nämlich mit Recht die Vermutung entsteht, daß der
Inhalt der wissenschaftlichen Gestalt widerspricht, und eins das
andere zerstört. Wie denn auch die Ursachen dieses Mangels
darin vornehmhch möchten zu finden sein, daß seinem Geiste treu
bleibend das System das Gemeinschaftliche ganz müßte vernach-
lässigen, so daß es nicht einmal dem Besonderen zur beschränken-
den Bedingung dienen könnte, und dieses also gar nicht zu bändi-
gen und zusammenzuhalten wäre, sondern ins Unbestimmte und
[111,1, 263] III. Kritik der ethischen Systeme. 265
Unendliche zerfahren müßte. Daher denn die furchtsame Unvoll-
ständigkeit und UngründHchkeit, welche jedem in jeder Sittenlehre
dieser Art auffallen muß. Was aber zweitens die Sittenlehre Tätigkeits-
der Tätigkeit anbetrifft, so folgt aus dem gemeinschaftlichen Geiste "
derselben keineswegs eine solche vorzügliche Hinneigung zum
Anerkennen und Darstellen eines besonderen und eigentümlichen
Sittlichen. Denn wenngleich oben gesagt worden, daß auch in
diesen Systemen, recht verstanden, das höchste Gut ebenfalls
nicht von jedem ganz, sondern nur von allen gemeinschaftlich kann
hervorgebracht werden: so bezieht sich doch diese Teilung nur
auf das Bewirkte, nicht aber auf das innere Handeln, welches,
wenn kein anderer Bestimmungsgrund eintritt, in allen das näm-
Uche sein kann. Nirgends also liegt in dem, was allen Systemen
dieser Art gemein ist, eine Notwendigkeit, daß die der Weisheit
sich annähernden nicht nur der Lage nach, sondern auch an sich
müßten verschieden sein. Daher zu erwarten wäre, daß andere
Verschiedenheiten der Ansicht eine Mannigfaltigkeit der Denkart
über diesen Gegenstand sollten hervorgebracht, und einige auf
diese, andere auf jene Seite sollten hingeneigt haben, bestimmt
aber müßte ein jeder sein. Allein fast gänzlich ist von allen das
Eigentümliche nicht sowohl verworfen als übersehen worden, und
die Unvollkommenheiten sind vielfach, welche man in dem Ganzen
erblickt, wenn dieser Gesichtspunkt einmal gefaßt ist. Zuerst als
Einwurf möchten manchem hier einfallen als ein Versuch die Schil-
derungen, welche die Peripatetikerzu machen pflegten, welche
aber nicht hieher gehören, da sie nur auf die äußeren Erschei-
nungen einzelner vornehmlich zu tadelnder Eigenschaften sich er-
strecken. Dagegen ist der Mangel um so offenbarer, daß derselbe
Beobachtungsgeist sie nicht auch auf jene größeren Eigentümlich-
keiten geführt hat, um so mehr, da nach ihren Grundsätzen
jede Abweichung von einem gemeinschaftlichen Urbilde ihnen
ebenfalls als verwerflich hätte erscheinen müssen. Denn da die Un-
bestimmtheit des einzelnen Sittlichen und der gänzliche Mangel der
Idee eines Berufs den Aristoteles veranlassen konnte, auch das
266 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 264]
unbestreitbar Sittliche in Vergleich miteinander zu setzen und die
schönsten Handlungen den schönen vorzuziehen, wieviel mehr hätte
ihm auch eine bestimmte Gemütsverfassung als die schönste, alle
übrigen aber als Unvollkommenheiten erscheinen müssen. Von
andern Schulen des Altertums wäre aus andern Gründen die
Annahme eines gleichförmig bestimmten Sittlichen zu erwarten.
Teils nämlich, weil der größere Wert, den sie auf das politische
Ganze legen, von dem der einzelne nur ein Teil ist, sie mehr
auf die Ausbildung des Gemeinschaftlichen als des Besonderen
führen mußte. Teils auch, weil sie selbst schon von einem Be-
sonderen ausgehend, und eigentlich nur Teile und Zweige eines
größeren Systems, sich fälschlich für das Ganze hielten. Denn
dieses, wie es oben von den beiden eudämonistischen Systemen ge-
sagt ist, könnte ebenso auch von dem stoischen und cynischen
in Vergleich mit dem platonischen gesagt werden. Bei den
Stoikern muß dieser Mißverstand, einen besonderen Charakter
für die ganze Sittlichkeit zu nehmen, jedem einleuchten, da hingegen
den Cynikern vielleicht das Zeugnis gebührt, ihn weniger gemacht
zu haben. Demnach aber hätten die letzteren die Mannigfaltigkeit
durchführen und der ihrigen beigeordnete Gestalten aufzeigen
sollen, wovon jedoch keine Spur sich findet. Ebenso hätten die
Stoiker nichts fester halten sollen, als das eine Urbild des Weisen
und die auf alle inneren Verhältnisse sich erstreckende Einheit
einer vollkommenen Handlung für jeden Fall. Dagegen finden sich
imPanaitioSjSo wie im Epiktet und andern ähnlichen, Spuren
genug von einer beim Handeln zu nehmenden Rücksicht auf die
Eigentümlichkeit des Handelnden, und solche, daß es schwer ist,
dabei nur an die äußere Verschiedenheit der Lage zu denken.
Ja, wenn auch diese als spätere und unreine sollten zurückgewiesen
werden, so ist schon genug an dem bekannten Spruch der Stoiker
über die Cyniker. Denn wenn es einen abgekürzten und doch
nicht allen gebotenen Weg zur Weisheit gibt, und zwar einen
solchen, für oder gegen welchen äußere Veranlassungen und
[111,1, 263] III. Kritik der ethischen Systeme. 267
Beruf nicht entscheiden können, so gibt es wohl schwerHch hiezu
einen andern Grund, obgleich er ein besonderer sein soll, als
einen inneren. Unleugbar also und deutlich sind hier Spuren
und Anfänge, welche nicht fortgesetzt sind, und daher Unbe-
stimmtheit des Ganzen, welche, wie nirgends, so auch hier nicht
ohne Widersprüche besteht. Unter den neueren stoisierenden
schwankt Kant auf ähnliche Art. Denn er redet zwar ausdrück-
lich von einer bestimmten Gemütsstimmung, nämlich der wackern
und fröhlichen, als von einem nicht etwa beliebigen, sondern
notwendigen Mittel zur Sitthchkeit: allein eben daraus, daß sie
nur ein Mittel, ja das eine Element gar nur die Bedingung eines
anderen Mittels ist, scheint hervorzugehen, daß sie dem bei-
zugesellen ist, was bei vollendeter Sittlichkeit wieder kann auf-
gegeben werden, und also der Sittlichkeit nicht als Bestandteil
notwendig angehört. Dies bestärkt sich noch, wenn man erwägt,
wie Kant anderwärts als von einer natüriichen und gar nicht
zu tadelnden Ansicht und Stimmung von der redet, die Menschen
unUebenswürdig und widrig zu finden, welches doch weder wacker
noch fröhlich lautet. Kann nun diese Stimmung, die ihrem Inhalt
nach doch offenbar etwas Sittliches ist, vorhanden sein, ohne
der Tugendübung zu schaden: so kann auch andern, als der schwer-
mütigen und elegischen, und was für welche sich aus andern
Gesichtspunkten darstellen möchten, das gleiche Recht nicht ent-
gehen. Weder aber sind diese angedeutet und konstruiert, noch
in Absicht auf ihren Einfluß gewürdigt. Mehr scheint Fichte der
Idee eines ganz gleichförmig bestimmten Sittlichen treu gebUeben
zu sein. Denn vi^enn man acht gibt, wie bei ihm die sittlichen
Handlungen zustande kommen, so ist alles der Überlegung ein-
geräumt, und es zeigt sich auf den ersten Anblick keine Ver-
schiedenheit, als die der Angaben, nach denen die Rechnung an-
gelegt wird, und höchstens unter die, also unter das nach einer
und derselben Regel für alle zu Modifizierende, könnte die Stim-
mung mitgerechnet werden. Allein auch er ist ein Beweis, daß
268 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 266]
diese Gleichförmigkeit sich leichter mit Worten aussprechen, als
wirklich in ihrer Gestalt zeichnen und darstellen läßt. Denn steigt
man etwas weiter hinauf zu der Art, wie die Überzeugung oder
das jedesmalige Pflichtgefühl zustande kommt, mit Zuziehung
dessen, was oben von der Handlungsweise des Gewissens gesagt
worden: so wird man finden, daß, wenn dieses nicht ein ganz
blindes ahndendes Vermögen sein soll, alsdann gerade das, was
der Grund des sittlich unbestimmt gelassenen Mannigfaltigen ist,
nämlich die besondere Art, Gedanken und Gefühle aneinander zu
reihen und zu beziehen, den entschiedensten Einfluß haben muß
zur Bestimmung dessen, was in jedem Falle als Pflicht gefunden
wird. Nämlich nicht nur, da keiner wohl das Gebiet des mög-
lichen Handelns dem Umfang und Inhalt nach vollkommen über-
sieht, wird natürlich jeder nach Maßgabe seiner Eigentümlichkeit
hierin auch einen andern Teil beachten und vernachlässigen, wel-
ches freilich allen für eine aufzuhebende Unvollkommenheit müßte
angerechnet werden: sondern auch unter Voraussetzung voll-
ständiger Übersicht hat gewiß jeder seine eigene Art, im einzelnen
eines dem andern der Zeit sowohl als dem Werte nach unter-
zuordnen, von welcher Verschiedenheit denn nicht dasselbe mit
Zuversicht im allgemeinen kann gesagt werden. Auch findet sich
bei Fichte ein Wort, welches unter dem Scheine gemeingeltender
Verständlichkeit diese ganze Unbestimmtheit verbirgt, wenn er
nämlich einen jeden an sein Herz verweiset. Offenbar ist dieses
Herz der Sitz des gerügten Übels, und es hätte, um folgerecht zu
sein, entweder ganz müssen ausgerissen werden in einer Sitten-
lehre, die den größten Teil seiner Funktionen ohnedies aufhebt,
so daß nur die Urteilskraft und das gleich unbegreifliche Gewissen
übriggebUeben wäre; oder es hätte müssen selbst v/eiter bestimmt
werden, damit nicht mit dem Herzen überhaupt auch allerlei böse
Herzen gesetzt würden, oder solche die der sittlichen Urteilskraft
das Gebiet verletzten. So aber wie jetzt verfahren worden, ist
mit dem Herzen unstreitig ein Unbestimmtes, ohne Prinzip der
[111,1, 267] III. Kritik der ethischen Systeme. 269
Bestimmbarkeit durch das ganze Gebiet des sittlichen Handelns
Hindurchgehendes gesetzt.
Aufi eine andere Weise verfehlen femer ihres Zwecks einige Voükommen-
Lehrer der Vollkommenheit, welche auch einen einzig möglichen '
sittlichen Charakter behauptend sich mehr als andere bemühen, ihn
genau zu verzeichnen. Ihr Verfahren dabei besteht aber darin, daß
sie etwas unfein die Verschiedenheiten nur da bemerken, wo sie
durch Übermaß sich von der sittlichen Regel entfernen, und daß
sie nun glauben, sie durch Mäßigung gänzlich aufzuheben, wo-
durch sie ja vielmehr erst sittlich konstituiert werden. Denn die
Gleichförmigkeit ist auf diese Art nur die äußere der Erscheinung,
das innere Prinzip aber bleibt immer verschieden, und wer zum
Beispiel in einem sanftmütigen Geiste handelt, welcher sittlich
ist, und eben daher gemäßigt erscheint, weil sich nie eine still-
schweigende Billigung des Unrechts oder etwas dem ÄhnHches
darin zeigt, der hat doch anders gehandelt als der, welcher in
einem eifrigen und auf dieselbe Art sittlichen Geiste handelte,
sollten auch äußerlich beide nicht zu unterscheiden sein.
So^ ergehet es also denen, welche ihrem Grundsatz nach von
der Gleichförmigkeit alles Sittlichen ausgehen, daß sie nämlich
dennoch in der Ausführung dem indirekten Anerkennen einer
Verschiedenheit nicht ausweichen, und so zwischen Entgegen-
gesetztem schwankend, ebensowenig die Gleichförmigkeit wirklich
zu behaupten vermögen, als die Verschiedenheit zu bestimmen.
Derer aber, welche von einer Ausbildung des Eigentümlichen zur
Sittlichkeit, und also von einem besonderen und vielgestalteten
Sittlichen ausgegangen sind, gibt es, abgesehen von den Eudämo-
nisten, deren schon erwähnt worden, nur wenige, und zu nennen
sind nur die beiden, Piaton nämlich und Spinoza. Von dem Piaton
letzten ist schon oben gesagt, wie ihm die Annahme eines solchen
Besonderen natürlich sein mußte, er befindet sich aber in dem-
selben Falle, sich dessen nicht recht deutlich bewußt geworden zu
sein, und nur der aufmerksame Leser desselben wird wenige
^ Absatz nicht im Original.
2~0 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,268]
Stellen finden, wo ihm so etwas vorgeschwebt hat. Wie denn
auch nur, sofern der Mensch ein Gegenstand der Betrachtung und
Behandlung ist nach seinen Grundsätzen, ein solches Eigentüm-
liches als notwendig erscheint; von der Seite des Handelns aber
angesehen, möchte auch wohl sein Ideal des Weisen nur ein ein-
faches sein, weil die durchgängige Erkenntnis Gottes in allen
Dingen als reine Wissenschaft nur eine und durchaus dieselbe sein
kann, und auch der daraus hervorgehende Affekt der Liebe zu
Gott nur einer ist. So daß leicht dieses eine von den Stellen sein
möchte, wo auch er weniger mit sich selbst übereinstimmt. Nur
Piaton ist offenbar und überall auf dieser Seite. Denn er unter-
scheidet sehr sorgfältig das Gebiet des Gemeinschaftlichen von dem
des Besonderen, und setzt auch das letzte auf die Art, wie er bei
allem zu tun pflegt, was über das Gebiet dialektischer Erweise
hinausgeht, nämlich durch mythische und mystische Behandlung,
als ein Ursprüngliches und Ewiges. Ja dem Aufmerksamen wird
auch das Bestreben einer kosmischen und also gewiß systemati-
schen Zusammenstellung dieses Mannigfaltigen nicht entgehen.
Woraus genugsam erhellt, wie weit er auch in Beziehung auf
diesen Gegenstand an sicherer und übereinstimmender Anschauung
allen denen vorangeht, welche, obschon zugleich von dem Bedürf-
nis, ein Ganzes der Form nach darzustellen, getrieben, dennoch
den Ausweg aus dem Unbestimmten nicht zu finden gewußt, in
welches sie sich verwickelt hatten. Die Zusammenstellung dieser
beiden aber wird auch demjenigen, der ihre Eigentümlichkeiten
kennt, am besten den entscheidenden Wink geben, welches eigent-
lich die Ursach ist von dieser ganzen Verwirrung, daß einige
das Besondere im Sittlichen in ihrer ausdrücklichen Lehre laut
verneinen, und es dann doch stillschweigend und versteckt wieder
annehmen, andere aber es 2:war dialektisch auf ihrem Wege finden, es
aberdoch weder gründlich verstehen, noch gehörig herauszubringen
vermögen. Denn wenn Pia ton sich eines Vorzuges rühmt, und
denselben Spinoza entbehren muß: so ist die Ursach leicht zu
linden, und vielleicht nirgends so deutlich als hier bestätigt sie sich
[111,1, 269] III. Kritik der ethischen Systeme. 271
durch Vergleichung der übrigen, von denen zu reden der Mühe
verlohnt. Doch v^as so sehr an den Grenzen der Untersuchung
liegt, weil es so genau mit der physischen Theorie der Ethiker
zusammenhängt, kann für die, welche es noch nicht verstanden
haben, nur mit wenigen Worten angedeutet werden. Dieses
nämlich scheint der Qrund des Übels zu sein, daß
alle fast das geistige Vermögen des Menschen nur
ansehen als Vernunft, die andere Ansicht dieser
Grundkraft aber als freies Verknüpf ungs- und Her-
vorbringungsvermögen, oder als Phantasie, ganz
vernachlässigen, welches doch die eigentlich ethi-
sche Ansicht sein müßte, und sich eben deshalb auch
in der Ausführung nicht ganz übersehen läßt^ Denn
die Vernunft freilich ist in allen dieselbe und das durchaus Ge-
meinschaftliche und Gleichförmige, so daß es eigentlich sinnlos
ist, von einer individuellen Vernunft zu reden, wenn nämlich dieses
mehr bedeuten soll, als die bloße numerische Verschiedenheit
der Organisation und der äußeren Bedingungen von Raum und
Zeit. Die Phantasie aber ist das eigentlich Individuelle und Be-
sondere eines jeden, und zu ihr offenbar gehört auch, was sich
oben als das gemeinschaftliche Merkmal des unbestimmt Ge-
lassenen gezeigt hat. Und wie würde sich Kant zum Beispiel,
welcher so gern gesteht, seine Sittenlehre sei nur für diejenigen,
gültig, welche vernünftig sein wollen, wie würde er sich ver-
wundern und gar nicht vernehmen, was gesagt wäre, wenn einer
noch den zweiten Teil der Sittenlehre forderte für diejenigen,
welche Vernunft freilich, aber nicht nur sie haben wollten, sondern
auch Phantasie, indem sie sonst glauben möchten nichts weder
zu sein noch zu haben. Denn jener begreift nicht, daß er durch
dieselbe Kraft, welcher er nur verstatten möchte, aus dem
umherziehenden Rauch Bilder zu dichten, auch alles andere
bilden und gestalten muß, und daß eben diese nicht
nur alle künftigen Handlungen vorbildet, welche die
^ Hier scheidet sich der deutsche Idealismus von Aufklärung und Rationalismus.
272 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,270]
Vernunft bestätigt oder verwirft, sondern auch die
gewählten erst belebend ausbilden mußi. Nicht anders
ja ist es auch bei Fichte, welchem nur folgerechter als jenem auch
das Wenige noch verschwindet, und alle Funktionen der Phantasie,
ausgenommen, wenn sie wieder rückwärts von der Vernunft ge-
fordert werden, in die nicht genug zu beachtende Rubrik der Dinge
gehören, zu denen die Zeit nicht vorhanden ist. Wie er denn
auch außerdem ganz richtig in die Gemeinheit aus dem Individuo
heraus versetzten Sittengesetz nichts anerkennt als Verstand und
Leib, welche Werkzeuge des Sittengesetzes sein sollen, alles übrige
aber ihm zu dem Äußeren gehören muß, durch welches der
Punkt bestimmt wird, auf dem der Mensch sich findet, unter wel-
chem Zufälligen dann auch die Phantasie schläft zu großer Über-
einstimmung mit seiner Lehre vom Dasein, Indes zeiget auch
hier das Gleichnis vom Werkzeuge hinkend und verräterisch' auf
die Wahrheit und auf den Zusammenhang jenes Fehlers mit
einem andern schon erwähnten, nämlich der Unbestimmtheit in
der Methode, den Stand und Beruf zu erwählen. Denn die eigen-
tümliche Art, Gedanken und Gefühle hervorzubringen, muß ent-
weder von dem Augenblick an, wo der Mensch sich findet,
ganz unter eine gleichförmige und allgemein geltende Vorschrift
gebracht werden, wozu jede Anweisung fehlt, oder sie muß als
ein Bleibendes notwendigen Einfluß haben auf die Art, wie jeder
Werkzeug ist, und auf die Regeln, nach welchen er die Gegen-
stände seiner Bearbeitung wählt, welche Regeln nicht nur gleich-
falls fehlen, sondern auch im Widerspruch stehen würden mit
dem der Gesellschaft eingeräumten Rechte des Verbotes.
IL Fehlen von ethisch Bestimmtem.^
Ob aus demselben Grunde entstehend, das bleibe eines jeden
Beurteilung anheimgestellt, offenbar aber im genauen Zusammen-
^ Heute betont Eucken oft den großen Wert der Phantasie für Wissen-
schaft und Leben.
2 Hinzugefügte Überschrift.
[in,l, 271] III. Kritik der ethischen Systeme. 273
hange mit dem bisher Gerügten steht der zweite Fehler, daß
nämlich vieles, was ethisch bestimmt sein müßte, so gut als ganz
übergangen ist in den Darstellungen der Sittenlehre. Und zuerst
zwar zeigt sich dieses natürlich in demjenigen Teile des mensch-
lichen Lebens, wo das bisher als eigentümliche Art und Weise
in pflichtmäßigen Handlungen Beschriebene zugleich den eigent-
lichen Gehalt der Handlungen ausmacht. Daß es aber einen solchen
gibt, und daß er von großer Wichtigkeit ist für das Ganze, wird
wohl niemand leugnen. Denn offenbar beschäftiget einerseits bei
den meisten Menschen ihr eigentliches Handeln gar nicht die ganze
Kraft des Gemütes, sondern wo die mechanische Ausführung
angeht, da macht Übung und Gewöhnung selbst einen hohen
Grad von Vollkommenheit möglich, ohne die Aufmerksamkeit
mehr als in einzelnen Augenblicken für den Gegenstand zu binden.
Und eine solche Reihe von Gedanken und Gefühlen, welche mit 1- Innere
der Handlung gar nicht anders als durch die Identität der Zeit ^^•^'g'^^'*^-
verbunden sind, wird mit Recht als ein eigener Gegenstand der
sittlichen Bestimmung und Beurteilung angesehen. Daß aber hier
alle Verschiedenheit beruht nicht etwa auf den äußern veranlassen-
den und auffordernden Gegenständen, sondern auf der eigen-
tümlichen Art, die Gedanken anzuknüpfen und zu verbinden,
dieses muß einleuchten, da ja bei Gelegenheit der nämlichen
Gegenstände ganz verschiedene Betrachtungen entstehen können.
und umgekehrt. So daß ein jeder gestehen muß, es gebe schon
innerhalb dieses Gebietes eine große Masse inneren und idealen
Handelns der angezeigten Art. Gewiß auch möchte es nicht an-
gehen, dieses etwa unter dem Vorwande des Unwillkürlichen oder
Geringfügigen auszuschließen aus dem Gebiete der Sittlichkeit.
Denn über beides ist schon oben, und so auch über seine An-
wendung auf das sogenannte ideale Handeln das Nötige gesagt:
hier aber besonders ist nicht zu leugnen, daß es einesteils den-
jenigen sittlichen Zustand, mit welchem es als Zeichen und Aus-
druck zusammenhängt, auch als Übung und Gewöhnung befestigt,
Schleiermacher, Werke. I. 18
274 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 272]
und daß es andemteils bei einiger absichtlichen Leitung auch
durch Prüfung und Betrachtung des Gegenwärtigen vorbereitend
und bessernd auf das Künftige zu wirken vermag. Wie denn auch
offenbar nicht nur die Sittlichkeit des weiblichen Geschlechtes
vorzüglich von diesem Teile ihres Lebens abhängt, sondern auch
die mannigfaltigen besonderen sittlichen Erscheinungen unter der
mechanisch arbeitenden Abteilung der Gesellschaft hieraus zu er-
klären sind. Ja der traurigste und am meisten zu verbannende Zu-
stand der menschlichen Seele, der Wahnsinn nämlich, kann un-
möglich anders anfangen, als durch unbeherrschte Verkehrtheit
dieses Innern Spieles der Vorstellungen. Andererseits aber müssen
ebenso gewiß diejenigen, deren Handeln wenig oder nichts Mecha-
nisches beigemischt ist, einen abgesonderten Zustand der freien
und inneren Tätigkeit haben, nicht etwa nur aus Bedürfnis, von
welchem ja erst müßte untersucht werden, ob es zu befriedigen ist
oder abzuweisen, sondern schon weil alles vorhanden sein soll im
menschlichen Leben, was darin gegeben ist, nur auf die rechte
Art, und noch mehr, weil ein großer Teil der wesentlichsten
sittlichen Endzwecke nicht etwa nach einem, sondern nach allen
verschiedenen Systemen gar nicht anders kann erreicht werden als
durch freie und innere Tätigkeit. Auch fühlt jeder wohl, wie
durch dieser Tätigkeit Gehalt, Beschränkung und Ausdehnung,
Sittlichkeit oder Unsittlichkeit sich ausdrückt und entsteht, und
wie sowohl in den Gegenständen derselben, als in der Art sie zu
behandeln. Schickliches und UnschickUches liegt für andere auf
andere Weise; Anweisungen aber hierüber wird keiner in irgend-
einer Darstellung der Sittenlehre aufzuzeigen haben, oder nur
solche könnten es sein, über deren Leerheit und Dürftigkeit nicht
erst nötig ist, etwas zu erinnern. Weiter verbreitet sich ferner
2. Freie dieser Fehler sehr natürlich über die Art, eben dieses im Innern
' /ah"^ Vorgehende auch anderen mitzuteilen i, worüber gleichfalls sittliche
gemeines. Vorstellungen von einiger Bedeutung an den meisten Orten ver-
^ Im folgenden spricht Schleiermacher als Künstler des geselligen Umgangs.
[111,1, 273] III. Kritik der ethisciien Systeme. 275
geblich möchten gesucht werden. Denn die Gesetze des Um-
ganges überhaupt sind fast überall nur negativ in Beziehung auf
irgendeine entweder angenommene oder, wenn es hoch kommt,
selbst konstruierte äußere Wohlanständigkeit. Sogar verbreitet
sich nicht weiter die scheinbare, aber nur aus dem dialektischen
Interesse entstandene Vollständigkeit der Stoiker, welche mehr
den leeren Titel einer sich hierauf beziehenden Tugend aufstellt,
als ihn wirklich ausfüllt, wozu auch in dem Geiste des Systems
keine Veranlassung war. An die Benutzung der freien Mitteilung
zur Beförderung wesentlicher ethischer Zwecke ist bei ihnen eben-
sowenig als bei andern zu denken, und die Tugenden der freien
Geselligkeit, welche sie aufstellen, weisen auf nichts zurück in dem
Verzeichnis ihrer Güter. Und was vielleicht jemand sagen möchte,
die Handlungsweise müsse in dieser Hinsicht beurteilt werden
nach den allgemeinen Vorschriften der Menschenliebe, wie sie eben
in jedem System ist, und der Wahrhaftigkeit, dies heißt nur den
Streitpunkt verschieben, und höchstens diesen Fehler in einen der
vorigen Art verwandeln. Denn jene Vorschriften sind ja auch über-
all nur allgemein, in der freien Mitteilung aber beruht das meiste,
wo nicht alles, nicht nur dem Inhalt, sondern auch der Weise
nach gleichfalls auf dem Eigentümlichen, so daß gewiß das Prinzip
der Beurteilung fehlte, wenn auch der Ort dazu da wäre, wie-
wohl auch das letzte nur mit großer Einschränkung könnte zu-
gestanden werden. Und wie wenig namentlich den neueren prak-
tischen Ethikern der Gedanke gekommen ist, etwas über diese
Gegenstände bestimmen und die Mitteilung dieser Art eigentlich
sittlich konstruieren zu wollen, dies sieht jeder. Denn wie lässig
ohne eigentlichen Ort und Zusammenhang steht bei Kant die
Maxime, daß der Mensch sich nicht vereinzeln solle mit seinen
Kenntnissen und Gedanken, und wie wenig kann sie auch zu
sagen haben bei dem Grundsatz, daß der Sittlichkeit nicht zu-
gehöre, fremde Vollkommenheit zu befördern. Diesen nun hat
Fichte zwar nicht in derselben Art aufgestellt, allein bei ihm bezieht
sich jede Mitteilung, welche nicht streng wissenschaftlich ist, oder
276 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 274]
zum Geschäft des Berufs gehört, nur auf eine Aufforderung, und
Sittliches gibt es nur in Hinsicht derselben, wenn diese Aufforde-
rung etwas unmittelbar Praktisches zum Gegenstande hat. Ver-
gleicht man nun hiemit gar jene denkwürdige Äußerung, daß es
dem Menschen gar nicht obliege, Gesellschaft zu stiften, sondern
er gar wohl in der Wüste bleiben dürfte, wenn er sich da fände:
so sieht man, wie wenig auch er bedacht sein konnte, diesen
Teil des Lebens, wie es sein müßte, ethisch zu konstruieren. Be-
sonders offenbart sich auch bei ihm, eben weil er folgerechter und
genauer ist, auch noch deutlicher als bei Kant, dieser Mangel an
Bestimmtheit über die freie sittliche Einwirkung durch die schroffe
und harte Art, wie die Erziehung sich absondern und begrenzen
soll, ohne daß das Problem, den rechten Punkt zu finden, wirk-
lich konnte gelöst werden. Doch dieses sei nur beiläufig an-
gedeutet. Es gilt aber dieser Vorwurf, daß vernachlässiget wird,
die freie Mitteilung als ein sittlich Gefordertes aufzustellen und
auszubilden, nicht nur die praktischen Sittenlehren, sondern nicht
minder auch die auf Lust und Genuß ausgehenden, für welche
doch eben dieses, wofern sie sich nur einigermaßen über das
Organische ausdehnen wollen, das Wichtigste und der Sitz der
größten Güter sein müßte. So daß zu verwundern ist, wie so viele
sich dennoch länger bei der Gerechtigkeit verweilen, die ihnen
doch eigentlich ein Übel dünken muß, und lieber einen Staat auf-
bauen, als ein Gastmahl, oder sonst einen gemeinsamen Genuß
löblicher und edlerer Vergnügungen. Vorzüglich nun wäre für sie
b) Scherz wichtig, den Scherz und den Witz abzuleiten und zu bestimmen ;
und Witz, gjjgj. ^^^Yi für die praktischen Sittenlehrer ist es vieler Beziehungen
wegen offenbar eine bedeutende Aufgabe, Umfang und eigentüm-
liche Grenzen des Sittlichen dieser Art zu finden. Wie wenig aber
hievon die Rede ist, weiß jeder. Denn selbst denen, welche sonst
wohl zu scherzen wissen, geht der Scherz in der Sittenlehre ganz
aus, und ist ihnen so fremd, daß er gar nicht zur Erinnerung
kommt. Bei andern wird er zunächst nur als Erschütterungs-
mittel auf das Zwerchfell bezogen, oder als Reiz auf die Nerven,
[in,l, 275) III. Kritik der ethischen Systeme. 277
und gehört dem Körper an, so daß er eigentlich vom Arzt muß
verordnet werden. Auch die Stoiker, wissen sie gleich dieses
eine, daß der Weise sich nicht betrinken werde, noch bestimmter als
Kant, führen doch von seinem Verhalten in dieser Hinsicht gar
wenig aus. Aristoteles möchte fast der einzige sein, der dem
Scherz ganz ernsthaft einen ebenso breiten Platz einräumt, als
jedem andern ethischen Element; wiewohl auch nur aus Bedürf-
nis, der Ruhe wegen, also als Mittel. Davon aber, daß er, wenn
er überhaupt sein soll, da er die Zeit ausfüllt, auch an sich
selbst Zweck und Bedeutung haben muß, und von der beson-
deren Ansicht der Welt, wovon er gleichsam die Wurzel ist,
davon ist nirgends die Rede, obgleich die Kunst nicht weniger
als das Leben sich bestrebt hat, es zur Anschauung zu bringen.
Und hier tritt freilich noch hinzu eine natürliche Wirkung von
der beschränkenden Natur der meisten Sittenlehren, denen es gar
nicht in den Sinn kommen kann, den Scherz zum Beispiel ur-
sprünglich auf sittlichem Wege erzeugen zu wollen ; sondern ihnen
genügt, daß sie ihn annehmen, wie er gegeben ist, als eine natür-
liche unschuldige Neigung, und ihn nur durch irgendeine fremd-
artige sittliche Vorschrift begrenzen und im Zaum halten. Woraus
freilich nichts Festes und Bestimmtes entstehen kann, so daß
schon diese fast allgemeine Beschaffenheit die Notwendigkeit von
Mängeln dieser sowohl als der vorigen Art verbürget. Ferner
ist auch ebensowenig bestimmt über die ernsteren und wich- c) Liebe und
tigeren menschlichen Verhältnisse, von denen Gemeinschaft des "^^"^ ^'^ ^
Innern wo nicht das eigentliche Wesen, doch eine unentbehrliche
Bedingung ist. Denn wenn wir von diesen das Beste zusammen-
fassen unter den beiden Namen der Liebe, im engeren Sinne des
Wortes nämlich, und der Freundschaft, so wird gleich jeder wissen,
wie unbestimmt beide überall gelassen werden. So sehr nämlich,
daß sie auch noch nicht die Spur einer wissenschaftlichen Be-
arbeitung tragen, und daß, weil fast nirgends auszumitteln ist,
ob und wie beide genau unterschieden werden, gar nicht würde
davon zu reden sein, wenn es nicht erlaubt wäre, sie nur pro-
278 Grundlinien einer Kritik der hislierigen Sittenlehre. [111,1, 276]
blematisch dem gemeinen Gebrauch nach zu trennen, und darauf
zu verweisen, daß die Sache selbst zeigen werde, sie sei noch
nicht weiter gediehen. Daß nun diese beiden Verhältnisse für
jede Ethik unter die wichtigsten Gegenstände gehören, ist offen-
bar. Denn für die Glückseligkeit zuerst verursachen sie eine gänz-
liche Veränderung, indem sie die Lust sowohl als den Schmerz
vervielfachen, und zu einer höheren Potenz gleichsam erheben,
überdies auch, sobald sie gesetzt werden, eine ganz andere Unter-
ordnung und Abwägung der Dinge entsteht, als sonst müßte
statthaben. Ferner auch für die praktische Sittenlehre sind
die Aufgaben selbst seltsam und merkwürdig, und nicht minder groß
ihr Einfluß auf das übrige. In beiden aber sind Liebe und Freund-
schaft immer der Sitz eines blendenden und verführerischen
Scheines gewesen, indem unter ihrem Vorwande gegen die
mehrere Glückseligkeit sowohl, als gegen das richtige Handeln von
jeher vielfach ist gefehlt worden. So daß auf alle Weise für
beide notwendig ist, diese Verhältnisse zuerst in ihrem notwen-
digen Zusammenhange, wenn es einen gibt, mit den wesentlichen
sittüchen Zwecken aufzustellen, dann aber hieraus genau ihren
Umfang und ihre Grenzen zu bestimmen. Hierin nun scheinen
im ganzen die Sittenlehrer der Glückseligkeit den Vorzug wenig-
stens des Bestrebens zu haben. Denn zu allen Zeiten haben sie
sich bemüht, durch genaue Bestimmung des Begriffs und Aus-
sonderung alles desjenigen, was offenbar ihren Grundsätzen wider-
spricht, die Freundschaft als ein auch nach ihren Ideen sittliches
Verhältnis darzustellen. Näher betrachtet aber ist deutlich genug,
daß die Selbstverteidigung gegen die praktischen Sittenlehrer,
v/elche behaupten wollten, alles Wohlwollen werde aufgehoben
durch das alles beherrschende Streben nach Lust, hieran den
meisten Anteil gehabt, und daß auch sie den Begriff mehr als
einen schon vorhandenen mit ihrem System zu vereinigen gesucht,
als daß sie ihn aus den innersten Grundsätzen selbst erzeugt hätten.
Wie denn auch an eine nur einigermaßen durchgeführte Lehre von
der Freundschaft in keiner eudämonistischen Ethik zu denken ist.
[111,1, 277] in. Kritik der ethischen Systeme. 279
Sondern es wollen die einen immer zu viel beweisen, indem sie
die Freundschaft auch zum Grunde der größeren bürgerlichen
Vereinigung machen wollen, welches dem in dieser Ethik unver-
meidlichen Vorrange des Besonderen vor dem Gemeinschaftlichen
zuwiderläuft; die andern aber zu wenig, indem sie die Freundschaft
nicht aufrichten als ein festes und selbständiges Verhältnis, sondern
nur als ein zufälliges Zusammentreffen des eigenen Bestrebens
und Gelingens mit dem fremden. Was nun gar die Liebe an-
betrifft, so ist weder von denen, welche die Geschlechtslust allein
für eines der größten Güter annehmen, die Absonderung der-
selben von jeder auf etwas anderes gerichteten Freundschaft als das
Bessere erwiesen, und die Art bezeichnet worden, wie jener Gegen-
stand in solcher Absonderung zu behandeln sei; noch auch von
den unter den Neueren nicht seltenen Verteidigern einer höheren
Liebe der Grund zu der Vereinigung zwei so verschiedener Ele-
mente aufgezeigt und sie in ihrem Wesen und ihren Wirkungen
dargestellt worden. Gewiß aber nicht besser stimmen die Sitten-
lehrer des Handelns mit sich selbst überein, oder lösen bis zur
Vollendung die Aufgabe. Wobei für die Älteren noch dieses den
Vorwurf erschwert, daß sie sich der Fähigkeit, Freundschaft her-
vorzubringen, gegen die Eudämonisten so besonders gerühmt, und
diesen Ort als die Haupt- und Prachtstelle ihres Gebäudes also
auch vorzüglich hätten beleuchten und verzieren gesollt. Den
Neueren aber, welche mehr aus historischen als systematischen
Gründen diesen Streitpunkt aufgegeben, ist dagegen nachzusagen,
daß sie in der Sache selbst noch schlechter erfunden werden als
jene. Denn was zuerst die Liebe betrifft als ein besonderes, und
zwar das allergenaueste auf Gemeinschaft des Inneren angelegte
Verhältnis, so wären die Alten bei dem angenommenen und auch
äußerlich dargestellten Verhältnis sittlicher Ungleichheit zwischen
beiden Geschlechtern sehr zu entschuldigen, wenn dieses gänzlich
bei ihnen übergegangen wäre. Viel mehr also wird man sich be-
gnügen müssen, wenn das, was dem ähnlich in dem Ort von
der edleren Knabenliebe vorkommt, auch unvollständig dargestellt
280 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,278]
und, wie die Verkehrtheit der Sache selbst nicht anders erwarten
läßt, sehr mangelhaft abgeleitet ist. Wie denn auch das Ver-
hältnis, wie zum Beispiel die Stoiker es erklären, als das aus
der Schönheit eines anderen entstandene Bestreben nach seiner
Verbesserung, sich nicht gehörig begreifen läßt. Denn da ihnen
die Idee des Symbolischen gänzlich fehlt, sind sie auch nicht im-
stande, einen Zusammenhang zwischen dem Physischen und Ethi-
schen anzugeben, und der Vorzug, welcher der Schönheit erteilt
wird, erscheint rein willkürlich und unsittlich. Auf der andern
Seite aber ist die ethische Aufgabe, selbst so beschränkt aufgefaßt,
wenigstens klar und verständhch. Bei den Neueren aber ist fast
alles in diesem Gegenstande dunkel und unbestimmt, und sie
scheinen nicht zu wissen, wie sie dieses Erzeugnis ihres Zustandes
und ihrer Denkart verarbeiten sollen. Denn es ganz abzuleugnen
hat fast Kaht allein den Mut, welcher keine andere sittliche Liebe
anerkennt, als die, welche er die praktische nennt, nämlich die
Behandlung nach dem Gesetz, welche sich jedoch weniger auf das
behandelte Subjekt bezieht, als auf das Gesetz, und also den
Namen der Liebe kaum verdient. Etwas Besonderes aber und
Höheres dieser Art anzuerkennen ist er so weit entfernt, daß er
auch das eheliche und elterliche Verhältnis ganz ohne die Spur
eines solchen behandelt. Wenn nun dieses als folgerecht und in
sich zusammenhängend zu loben wäre aus unserm kritischen
Standpunkte, so ist dagegen aus demselben zweierlei sehr zu
tadeln. Einmal ist ihm doch, was er die pathologische Liebe nennt,
als ein Wirkliches von großem Einfluß auf das gesellige Verhalten
gegeben; will er sie also nicht als ein Sittliches anerkennen, so
muß er sie als ein Unsittliches verwerfen. Dieses nun dürfte
freilich jeder andere nur stillschweigend tun, indem ja alles ver-
worfen ist, was nicht mit aufgebaut wird; nur ihm gerade kann
diese Hilfe nicht zustatten kommen, da er den entgegengesetzten
Weg einschlägt, und die Tugenden am meisten durch die ihnen
entgegenstehenden Laster beschreibt. Denn so müßte auch die
pathologische Liebe als ein besonderes einer Tugend entgegen-
{1!I,1, 279] III. Kritik der ethischen Systeme. 281
stehendes Laster erscheinen; nun aber sieht man vielmehr, wie
ganz mit Unrecht, durch eigene Feigherzigkeit geschlagen, er sich
quält mit der Ungewißheit, ob sie anzunehmen sei oder zu ver-
werfen. Hätte sich ihm aber aus diesen Zweifeln verraten, daß sich
unter jenem Namen noch etwas anderes, nicht so wie die eigent-
lich pathologische Liebe unbedenkhch zu Verwerfendes mit ver-
birgt, weil er eben weder Ort noch Namen dafür weiß : so hätte er
weiter schließend auf die Vermutung kommen können, daß diese
sich auf ein wenigen Gemeinschaftliches, nicht aber als Neigung
Unsittliches, sondern als reine Eigentümlichkeit Sittliches gründen,
und daß es also ein solches geben müsse. Zweitens fehlt es nun,
die Liebe hinweggenommen, dem ehelichen und elterlichen Ver-
hältnis ganz an einem Entstehungsgrunde und an einem festhalten-
den Bande. Denn der Gehorsam gegen die Natur, durch den
er sie nun allein erklären muß, gibt weder einen Grund der
Wahl, noch eine längere Dauer und weitere Ausbildung, als bis
die Absicht der Natur erreicht ist, und man kann sagen, daß diese
Verhältnisse nun nicht sowohl ein besonderes und geschlossenes
Ganze bilden, sondern nur eine Reihe zufällig verknüpfter gleich-
artiger Anwendungen des Gesetzes, und daß die ethische Aufgabe
vielmehr dahin gehen müsse, ihren Einfluß auf die übrigen Teile
des Lebens, wie von allem, was bloß die Natur auflegt, möglichst
einzuschränken. Worin sich denn mehr als irgendwo die Härte
und der Unzusammenhang dieser bloß das Rechtliche abzirkeln-
den Sittenlehre offenbart.
Beil Fichte hingegen fängt zum deutlichen Beweise, wie
wenig die bessere Tendenz, die er im einzelnen verrät, in dem
Inneren des Systems gegründet ist, der Unzusammenhang noch
früher an. Denn er setzt zwar eine höhere und sittliche Liebe
als notwendig; zuerst aber ist schon nicht klar, wie er sie unter-
scheidet von der Freundschaft, welche er eben wie jene auf die
Ehe einschränkt, und ob nicht eine von beiden nur ein leeres Wort
ist, oder was eigentlich jeder zukommt in dem durch beide be
^ Absatz nicht im Original.
282 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 280]
stimmten Verhältnis. Ferner, insofern nun die Liebe dasjenige
Gefühl ist, welches das Wesentliche in dem Zustande der Ehe,
nämlich die gänzliche Hingebung bezeichnet: so ist die Hohe
Aufgabe, welche er ihr anweiset, nämlich das Verschmelzen der
Individuen, auch nicht im geringsten als wünschenswert oder
notw^endig erwiesen, und ebensowenig in ihren Grenzen be-
stimmt: so daß es scheint, als habe er über der Freude des ersten
Findens zur klaren Einsicht nicht gelangen können. Denn wie aus
dem körperlichen Hingeben, welches die Befriedigung des Ge-
schlechtstriebes bezeichnet, ein so gänzliches Geistiges erfolge,
und gerade diesem Teile des organischen Systems eine so viel
größere Bedeutung zukomme als jedem andern, dies ist aus dem,
was gesagt wird, ethisch gar nicht zu begreifen, und nicht zu
sehen, wie der cynischen Gleichgültigkeit gegen dieses Geschäft
zu entkommen ist; da ja der Untüchtigkeit des einen Grundes
durch Hinzufügung eines andern abhelfen zu wollen, welcher sich
mit jenem nicht vereinigt, und für sich das Ganze doch auch' nicht
erklärt, ebenfalls ein ganz unwissenschaftliches und unbefriedigen-
des Verfahren sein würde. Was aber am meisten zu tadeln ist,
besteht hierin. Erstlich, wenn, wie Fichte annimmt, der körper-
lichen Verschiedenheit der Geschlechter auch eine geistige ähn-
liche entspricht: so liegt ja die Aufgabe da, etwas über diese zu
bestimmen, welche aber, als gehöre sie der Ethik nicht an, gänz-
lich vorbeigelassen ist. Denn teils mußte gesagt werden, wie
sie vor der Ehe recht scharf ausgebildet werden müßte, damit die
Ehe selbst das Geschäft der Vereinigung auch recht vollkommen
vollbringen könne. Andernteils auch, wie diejenigen damit zu
verfahren hätten, denen nun ohne Schuld die Verschmelzung un-
möglich gemacht worden ist. Und so müßte eine Grenze gezogen
sein zwischen dem gemein Menschlichen und dem geschlechtlich
Eigentümlichen. Welche anerkannte Eigentümlichkeit dann offen-
bar mehrere Arten und Stufen derselben nach sich ziehen müßte;
so daß entweder jene Anerkennung etwas Fremdartiges und Un-
gehöriges sein muß, oder diese Ethik hat sich bis auf eine kleine
[111,1, 281 J III. Kritik der ethischen Systeme. 283
Spur um die ganze Hälfte fast ihres Stammes verkrüppelt. Zwei-
tens, indem er auch den Bestimmungsgrund der Liebe nicht an-
geben oder nicht erweisen kann, und also etwas Unfreies in
derselben anerkennt, so verdirbt er sich den innersten Grund seiner
Sittenlehre, nämlich die Lehre vom Gewissen. Denn ohne dessen
Genehmigung darf doch nicht die Liebe, nachdem sie unwissend
wie entstanden ist, handelnd weiter verfolgt, und die Ehe als
die größte und sittlichste Angelegenheit des Lebens gestiftet wer-
den: wie aber kann das Gewissen sprechen über das Unfreie,
und zwischen Unfreien, nämhch einer richtigen und einer doch
auch möglichen falschen Wahl, entscheiden, wohin doch die sitt-
liche Urteilskraft es nicht geführt hat? Auch erscheinen, wenn man
auf diesem Punkt stehen bleibt, alle Maximen, nach welchen sonst
in diesem System das Sittliche in schwierigen Fällen konstruiert
oder vielmehr tumultuarisch ergriffen wird, das Nicht-Zeit-Haben,
die scharfe und einzige Linie des Berufs, und was dem ähnlich
ist, gleichsam auf den Kopf gestellt, und die Unfähigkeit der Idee,
ein wirkliches System zu begründen, dem allgemeinen Anblick bloß
gegeben. Dasselbe zeigt sich auch, wenn man verbessernd unter-
suchen wollte, wie wohl Fichte auf richtigem Wege von seiner
Idee aus sowohl zu derjenigen Liebe, welche sich auf die Ge-
schlechtsverschiedenheit und die Ehe bezieht, als auch zu jeder an-
dern genaueren und geistigen Verbindung hätte gelangen können.
Nämlich davon ausgehend, daß die Individualität unter die wesent-
lichen Bedingungen der Ichheit gehört, wäre es der synthetischen
Methode leicht, ja sogar angemessen gewesen, einen Trieb aufzu-
stellen, welcher darauf gerichtet wäre, Individuen zu suchen. Dieser
würde nicht nur, durch des reinen Triebes Durchdringung zu einem
sittlichen gemacht, zu mannigfaltiger Freundschaft hingeführt
haben, sondern hätte auch allein das notwendige und jetzt so
wunderbare Auffinden der Kunstwerke erklären können. Ja es
läßt sich denken, daß dies würde bis zu den Sternen, jenem
größten Gegenstande des kritischen Enthusiasmus, hingewiesen
haben. Indes sieht ein jeder, daß, um auch auf diesem Wege zum
284 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 2S2]
vorgesteckten Zwecke zu gelangen, jenes Prinzip nicht müßte in
Fichte gewesen sein, welches das Erlaubnisgesetz begründet, ge-
gebenenfalls in der Wüste zu bleiben, und daß auch Individualität
ihm etwas mehr bedeuten mußte, als nur Persönlichkeit ^ und
numerische Verschiedenheit des Leibes nebst dem bloß materialen
Unterschied des Geistigen, der daraus folgt. So daß demnach
ohne eine gänzliche Umwandlung des Inneren dieses Systems
dasjenige nicht zu vollbringen möglich ist, welches anzufangen und
einzuführen doch ein unüberwindlicher Trieb vorhanden war. Bei
noch mehreren Neueren aber zu fragen, was ihnen die Liebe sei,
scheint überflüssig. Denn wer auch nur den Hauptknoten der
Aufgabe suchen will, nämlich die Verbindung des natürlichen
Geschlechtstriebes mit einem besonderen geistigen Bedürfnis, oder
wo diese geleugnet wird, die Nachweisung es sei nun eines an-
deren Unterschiedes zwischen Freundschaft und Liebe, oder eines
anderen Grundes, das aus dem Naturtriebe entstehende Verhältnis
zugleich zu einem intellektuellen zu machen, der wird überall
diesen Knoten noch ungelöst, ja auch die Versuche dazu schwächer
finden, und von selbst schließen, daß also in noch seichteren und
unfähigeren Systemen auch die Unbestimm.theit noch häßlicher,
und die Verwirrung der schlechteren Anlage des Ganzen gemäß
noch schreiender sein muß.
Was 2 daher, um weiter fortzugehen, die eigentliche Freund-
schaft anbetrifft, so mag von ihr besonders in der Kürze nur
noch dieses hinzugefügt werden. Zuerst nämlich setzt schon der
gemeine Begriff mehrere Arten derselben, worunter nicht etwa
die alten Abteilungen um des Nützlichen, des Angenehmen und
des Guten willen sollen verstanden werden, welches nur eine
Bestimmung des Begriffs angemessen dem Geist eines jeden
Systems wäre, sondern wie jede dieser Ideen ihre verschiedenen
Teile hat, von denen bald der, bald jener der Gegenstand der
^ Heute brauchen wir die Begriflfe Individualität und Persönlichkeit gerade
umgekehrt.
- Absatz nicht im Original.
[111,1, 283] III. Kritik der ethischen Systeme. 285
Verbindung und das gemeinschaftliche Streben ihrer Genossen
sein kann. In den Darstellungen der Sittenlehre aber scheint
weder das gemeinschaftliche Wesen, noch die Verschiedenheit der
Arten der Freundschaft gehörig bemerkt zu sein. Denn wenn
Kant hieran auch nur gedacht hätte: so würde er gefunden haben,
daß die dialektische Freundschaft, welches doch wohl der an-
gemessenste Name sein möchte für das, was er von der Freund-
schaft übrig läßt, nur eine einzelne und untergeordnete Art sein
könne. Oder wenn Fichte sich die Freundschaft auf die rechte
Art geteilt hätte: so würde er nicht nötig gehabt haben, indem
er die ganze Freundschaft nur in der Ehe sucht, die teilweisen
Verbindungen stillschweigend ganz zu verwerfen, sondern den
Ort wohl gefunden haben, wo auch er bei seiner lückenhaften Dar-
stellung menschlicher Verhältnisse die eine oder andere Art gar
wohl hätte gebrauchen können, wie zum Beispiel bei der unbegreif-
lich vorausgesetzten Überzeugung des Biedermannes von dem
übereinstimmenden Willen der Gemeine, den Notstaat umzustoßen.
Was aber gegen die ganze und so gar nicht erwiesene Freundschaft
in der Ehe zu sagen wäre, welche doch gewiß bei der Aus-
schließung des andern Geschlechts von so manchen Zweigen
menschlicher Tätigkeit eines festen Grundes bedurft hätte, das mag
als für sich einleuchtend übergangen werden. Ja auch vom Aristo-
teles, welcher diese Sache genauer nimmt als die meisten, und
Fragen aufwirft und beantwortet, die andern auch nicht in den
Sinn gekommen, kann man sagen, daß aus Überfluß seine Theorie
mangelhaft geworden. Denn da er Freundschaft als den stiften-
den Grund aller Verbindungen setzt, ja in allen häuslichen, ganz
das Gegenstück von Kant, gar kein Recht, sondern nur Liebe
sehen will: so ist ihm über dem Unterschiede, den er auf diese
Art zwischen der häuslichen und der bürgerlichen Gesellschaft fest-
stellt, der vielleicht größere zwischen der Freundschaft, welche von
jener den Grund ausmacht, und der eigentlich sogenannten fast
entgangen, so daß man, was er darüber noch sagt, kaum auf
etwas anderes als die politischen Freundschr.ftcii beziehen kann.
286 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,234]
Noch weiter zurück aber kann man behaupten, daß auch die
Freundschaft wie die Liebe noch nirgends aus den Grundsätzen
eines Systems als notwendig herfließend ist abgeleitet worden,
daher sie auch wohl unter dem Verzeichnis der Güter steht, in
welches noch niemand einen notwendigen Zusammenhang ge-
bracht hat, von einer Pflicht aber, Freunde zu haben, nirgends die
Rede ist. Sondern sie steht immer nur als aus einem fremden,
niemand weiß, welchem Gebiet aufgenommen da, und muß eben
deshalb von den Ansprüchen, mit welchen sie ursprünglich auf-
tritt, vieles zurücknehmen, und sich auf mancherlei Weise ein-
zwängen lassen, um in die Ordnung des Systems eingekleidet
zu werden. Dergleichen aber in der Ethik zu dulden, streitet gegen
die ersten Grundsätze, und beweiset deutlich die Unfähigkeit des
Systems, den so behandelten Gegenstand sich anzueignen. So
erscheint aber die Sache der Freundschaft gerade da am deut-
lichsten, wo am meisten von ihr die Rede ist. Denn worauf anders
läuft es hinaus, wenn sie als ursprünglich im Streit mit andern
Pflichten und Verhältnissen aufgeführt, und beratschlagt wird,
wieviel jeder Teil nachlassen müsse? Wie denn Marcus Tullius
meint, einiges dürfe um der Freundschaft willen schon vom strengen
Rechte abgewichen werden, nur zu arg dürfe die Zumutung nicht
sein. Oder wenn sie im Aristoteles als sterblich vorgestellt, und
Maßregeln für den Fall vorgeschlagen werden; da doch nichts
aus ethischen Prinzipien Entstandenes sich auflösen kann. Oder
wenn die Stoiker, bei denen doch nichts wahrhaft Sittliches sich
auf die bloße Empfindung beziehen kann, fragen, ob zum Mit-
leiden oder zum Mitgenuß der Freund herbeizurufen sei, und
durch ihre Entscheidung die schlecht herbeigerufene Freundschaft
ebenso schlecht wieder entfernen. Denn wollte man auch sagen,
zu diesem Mißgriff hätte sie nur die Polemik ihrer Gegner ver-
leitet, welche sie, von der Selbstgenügsamkeit des Weisen aus-
gehend, in das Geständnis hineinzwangen, daß er zu seinen wesent-
lichen Zwecken des Freundes nicht bedürfe: so ist doch gewiß, daß
sie durch diesen Schein nicht hätten können geblendet werden,
[111,1, 285] III. Kritik der ethischen Systeme. 287
wenn die Freundschaft in ihrem System wirkHch wäre gegründet
gewesen. In allen diesen Beispielen also erscheint sie als etwas
ursprünglich nicht Sittliches, das erst durch Begrenzung sittlich soll
gemacht werden, und so ist es natürlich, daß sie kein Ganzes aus-
machen, noch bestimmt in ihrem sittlichen Wert und Einfluß kann
dargestellt werden. Weit allen andern voraus ist also auch hier
wieder Pia ton, welcher von Freundschaft und Liebe, ob überall
richtig und in jeder Hinsicht genügend, dies kann hier nicht er-
örtert werden, gewiß aber so zusammenhängend redet, daß es
leicht wäre, aus allem, was zerstreut darüber vorkommt, in dia-
lektischer und mythischer Form ein Ganzes zu machen. Es darf
nur erinnert werden, wie er symbolisierend den Geschlechtstrieb
mit dem Bestreben nach gemeinsamer Ideenerzeugung verbindet,
und auf die Unvollkommenheit des persönHchen Daseins und seine
Unzulänglichkeit zur Hervorbringung eines höchsten Gutes diese
Aufgaben gründet: so muß jeder einsehen, daß hier, wenn auch
nur durch leise Andeutungen, Fragen beantwortet sind, an die
andere nicht dachten, und daß hier Freundschaft und Liebe nicht
von außen angeknüpft oder aufgeklebt, sondern durch die eigenen
Kräfte seiner ethischen Grundideen aus dem Inneren seines Systems
hervorgetrieben sind.
Noch 1 ein dritter ethischer Stoff aber, der überall fast ganz- d) Wissen-
lich vernachlässigt wird, ist Wissenschaft und Kunst. Denn da schaft und
beide nur durch willkürliche Handlungen entstehen können, welche
der sittlichen Beurteilung unterworfen sind: so muß auch über
diese Handlungen und ihr Hervorgebrachtes, dessen vorgefaßt;
Idee der Grund des Handelns war, die Ethik entscheiden, und
aus dem Grunde, welcher diese Handlungen löblich macht oder
verwerflich, muß sich ergeben der Geist, in welchem Wissenschaft
und Kunst allein können sittlich geübt werden, auch ob und
vv^elche Grenzen derselben es gibt. Was nun zuerst die Wissen-
schaft betrifft, so muß, um die hier gemachte Forderung zu ver-
stehen, der Unterschied wohl betrachtet werden zwischen de
^ Absatz nicht im Original.
288 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 286]
Erkenntnis, welche Teil oder Bedingung irgendeines andern, ethisch
schon aufgegebenen Handelns ist, und derjenigen, welche für sich
selbst und nicht in und mit einem andern Handeln gesucht und
hervorgebracht wird. Denn jene bedarf natürlich keiner besondern
Rechtfertigung und Ableitung, sobald das Handeln gerechtfertigt
ist, dem sie angehört. So daß zum Beispiel das Erlernen der
Sprache oder der natürlichen Mechanik körperlicher Bewegungen
gerechtfertiget ist, sofern es immer zugleich Teil eines andern
unmittelbaren Handelns ist, und an demselben erfolgt; ebenso
auch jedes nach der Wahl eines selbst gerechtfertigten Berufs
erfolgende und auf ihn sich beziehende Lernen und Sammeln
von Erkenntnissen. Das eigentliche Wissen aber, welches nur
das Haben der Erkenntnis ist, und mit demselben sein Ziel er-
reicht hat, also ein besonderes Handeln für sich ausmacht, bedarf
auch wie jedes andere seiner eigenen Ableitung, und wo diese
fehlt, müßte man glauben, es sei in einem solchen System der
Ethik stillschweigend ausgeschlossen aus dem Zusammenhange des
sittlichen Lebens und verworfen. Welches demgemäß fast in allen
Sittenlehren müßte der Fall sein, weil eine ethische Konstruktion
des Wissens oder des wissenschaftlichen Bestrebens fast nirgends
gefunden wird. Denn die Erkenntnis der zweiten Art oder die
Wissenschaft, auf jene der ersten zurückzuführen, damit würde
dem Übel nicht abgeholfen sein. Einesteils nämlich gibt es ganze
Wissenschaften, und zwar diejenigen am meisten, welche als soche
den höchsten Rang einnehmen, denen gar kein Einfluß als Mittel
auf das unmittelbare und eigentlich sogenannte Handeln zuzu-
schreiben ist, worunter derjenige, welcher den Satz bestreiten
möchte, zunächst nur unentbehrliche Mittel denken mag, welches
bei einer ethischen Frage hinreicht, es ließe sich aber gewiß noch
mehr erweisen. Andernteils aber gehört von denjenigen Wissen-
schaften, denen ein solcher Einfluß kann beigelegt werden, wenig-
stens die wissenschaftliche Form nicht dazu, sondern nur die
einzelnen, am meisten auch der Geschichte nach im Gebraucli
[111,1, 287] III. Kritik der ethischen Systeme. 289
selbst gefundenen Sätze. Ferner auch, wenn auf diesem Zusammen-
hange die Sittlichkeit des Wissens beruhen sollte, so würde jeder,
der sich einer wenngleich nützlichen Wissenschaft als Wissen-
schaft widmet, es werde nun dieses im Großen als gewählter
Beruf oder auch nur als einzelne Tat betrachtet, unsittlich handeln,
weil er offenbar und selbstgeständig seine Handlung nicht auf
diese Zwecke bezieht. Sonach ist deutlich, daß die Frage von der
Nützlichkeit der Wissenschaften, wenn sie auch in das Gebiet der
Ethik gezogen würde, den bezeichneten Punkt nicht trifft, sondern
es muß das Wissen selbst als ein sittlicher Zweck oder als ein
Gut aufgestellt werden, um hernach auch als Pflicht betrachtet
gehörig bestimmt und begrenzt werden zu können. Wie viele
einzelne Aufgaben nun hieraus besonders für die letzte Behand-
lung entspringen, sieht jeder, wie auch, daß sie nirgends be-
rührt sind.
So^ wird auch jedem leicht sein, die Verkehrtheit wahrzu-
nehmen, welche in beiden entgegengesetzten Stämmen der ethi-
schen Systeme in dieser Hinsicht obwaltet. Denn die eudämoni-
stischen neigen sich zu einer Verachtung des Wissens, da es
ihnen doch am leichtesten wäre, nicht nur das Haben der Erkennt-
nis, sondern auch schon das Hervorbringen derselben als einen Zu-
stand eigentümlicher Lust aufzustellen, so daß sie nicht einmal
das letztere auf eine unwürdige Art bloß als Mittel durchschleichen
dürften. Die praktischen hingegen, denen dies wegen der ihnen
fast allen gemeinen so sehr beschränkten Ansicht des Handelns
schwer sein müßte, lieben vielmehr das Wissen und stellen sich
an, als verstände es sich von selbst. Dieses unverständige Sich-
Von-Selbst-Verstehen, wobei immer nur etwa von den Pflichten
dessen die Rede ist, der da weiß oder wissen will, verbinde man
mit dem Gegenstück, das Aristoteles dazu hergibt, welcher, bis
auf einen gewissen Punkt hin klarer in der Verwirrung, das ge-
samte Wissen mit allem, was dazu gehört, als ein eigenes Gebiet
^ Absatz nicht im Original.
Schleiermacher, Werke. I. IQ
2Q0 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 288)
von dem Sittlichen gänzlich trennt, und so in einem umfassenderen
Sinn und folgerechter freilich der Vorläufer derer ist, welche das
Philosophieren ebenso vom Leben absondern: so ergibt sich der
ganze Umfang der Unbestimmtheit, welche nicht auf einem Ver-
kennen der Aufgabe beruht, sondern auf der Unfähigkeit, sie zu
lösen. Das beste Beispiel, wie in dieser Verlegenheit bald alles
vorausgesetzt, bald alles hinweggenommen wird, gibt Fichte,
welcher zuerst das Forschen als eine nur durch die Form zu be-
dingende Pflicht setzt, nämlich nur, daß es müsse geschehen um der
Pflicht willen. Dann aber wird diese Pflicht eine übertragbare, so
daß also nicht jedem obliegt, wissend zu sein, wie sittlich zu sein,
sondern daß nur im allgemeinen, damit das Sittengesetz herrsche,
gewußt werden muß, gleichviel, wie bei jedem äußeren Geschäft,
ob jeder es für sich selbst vollbringe, oder wenige für alle. Und
da nun das letzte nach einer allgemeinen Maxime das Bessere ist,
so wissen nun nur die Gelehrten. Was sie aber wissen, ist teils
das Sinnliche zum Behuf der Naturbearbeitung, wozu nach dem
obigen das strenge Wissen keineswegs gehört; teils aber das
Übersinnliche, um das Meinen der Gemeine zum Behuf der An-
erkennung des Sittengesetzes zu verbessern und um die Ethik als
Wissenschaft hervorzubringen. Welcher Kreislauf auf das zier-
lichste vollendet wird, wenn man fragt, warum die Ethik müsse
gewußt werden, da doch dieses zur Herrschaft des Gesetzes gar
nicht erfordert wird. Denn so ist die Ethik da für das Wissen
und das Wissen für die Ethik, beide aber zu nichts, also zum
Spiel, welches aber auch verboten ist, weil die Sittlichkeit beide,
die Ethik und das Wissen verschmäht. So daß auch hier wieder
nur Piaton und Spinoza mit einigen richtigen Andeutungen
übrigbleiben. Der erste, indem er bei dem Bestreben in jeder ein-
zelnen wahren Vollkommenheit die ganze Sittlichkeit darzustellen,
sie auch darstellt im Wissen ; der letzte aber, indem bei ihm die
Sittlichkeit überall im genauesten Verhältnis steht mit dem wahren
Wissen, und zwar nicht etwa irgendeines einzelnen unmittelbar
Praktischen, sondern mit dem Wissen des Ganzen. Daher es mög-
[111,1, 289] III. Kritik der ethischen Systeme. 291
lieh sein muß, wiewohl er selbst es vernachlässiget hat, das ge-
samte Wissen sowohl als auch die rechte Art seiner Erwerbung
und Gemeinschaft aus seinen Grundsätzen abzuleiten, und er
hier nocH den Vorzug vor Pia ton verdient. Wogegen in Ab-
sicht der Kunst das Verhältnis zwischen beiden ganz anders ist.
Denn Piaton ist fast der einzige, der die Kirnst ohnerachtet des
Hasses, dessen er im einzelnen gegen sie beschuldiget wird, im
ganzen ordentlich ableitet und als ein Glied in sein ethisches
System verwebt, wenngleich die Art und Weise etwas unförm-
lich ist und nicht so hell und bündig, als seine ersten Grundsätze
es wohl zuließen. Beim Spinoza hingegen ist das vollkommenste
Stillschweigen hierüber, und schwerlich möchte, wenn man ihn
ergänzen wollte, die Kunst unter einer besseren Aufschrift geltend
zu machen sein, als der eines doch nur zufälligen und unsichern
Beförderungsmittels der Weisheit bei andern. So daß man sagen
muß, sie werde von ihm herzhaft und im ganzen verworfen, und
daß selbst das Leben des Spinoza als eine symbolische Andeu-
tung erscheint, wie er den geringsten Dienst irgendeiner Wissen-
schaft für wichtiger und sittlicher gehalten. Gegen eine solche Ver-
werfung nun, der nichts weder mittelbar noch geradehin wider-
spricht, hat auch die Kritik nichts einzuwenden, und muß selbst
den Mangel aller Polemik gegen das Verworfene nur als höhere
Vollkommenheit achten. So aber ist es keineswegs bei den übrigen,
welche im Gegenteil die Kunst fordern, jeder auf seine Art, alle
aber ohne genügende Darlegung der Gründe, wodurch die Forde-
rung bestimmt wird, und der Handlungen, welche sie selbst
wiederum bestimmt. Der unstreitig am meisten dafür getan hat,
ist Fichte, und doch ist auch bei ihm nur Verwirrung zu suchen
in dem vielerlei Angefangenen und wieder Aufgegebenen. Näm-
lich zunächst ist sie ihm ethisch betrachtet auch nur ein Mittel,
um der Sittlichkeit den Boden zu bereiten, selbst also kein Teil
derselben. Woraus, wenn weiter gefolgert wird, einesteils sich
ergibt, daß sie aufhören muß, sobald auch nur die Empfänglich-
keit für das eigentlich Sittliche fest gegründet ist, und daß sie also
19*
292 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 290]
in einer Ethik als Darstellung des wahrhaft Sittlichen in seinem
ganzen Umfange keinen Raum findet; andernteils auch Zweifel
entstehen könnten, zumal Unentbehrlichkeit des Mittels nicht mit
erwiesen ist, über dessen Zweckmäßigkeit und Zulässigkeit, indem
sich gar nicht abwägen läßt das Verhältnis des Erreichten zu
dem großen und der Sittlichkeit unmittelbar entzogenen Aufwand
menschlicher Kräfte. Was aber Fichte weiter sagt von der Kunst,
gleichsam um jenem Mangel abzuhelfen, davon möchte einiges
wunderlich scheinen. Denn was bedeutet wohl der Verband zwi-
schen dem Verstand und dem Willen, und wie ist es mit dem
ästhetischen Sinn, der zwar von selbst kommen muß, von dem
aber nicht gesagt ist, daß er von selbst kommt? Oder wenn er
ein eigentümliches Vermögen des Geistes ist, und zwar von
solcher Wichtigkeit, wie mag doch die Ausbildung desselben zur
Vollkommenheit ein übertragbares Geschäft sein? Oder wenn der
Genuß der Kunstwerke eine ebenso vollkommene Ausbildung des-
selben ist, als deren Verfertigung, weshalb soll diese einen be-
sondern Beruf bilden? Das andere aber, daß sie nämlich den
transzendentalen Gesichtspunkt gemein mache, schwebt in einer
solchen Dunkelheit, daß nun der Künstler entgegengesetzt scheint
dem Weisheitslehrer, und daß der, welcher keines von beiden ist,
schwanken muß zwischen ihnen ohne ein Gesetz, das ihn entweder
ganz zu einem von beiden hintriebe oder ihre Forderungen be-
stimmte. So daß hier alles unbestimmt ist und ohne Haltung.
Von Kant aber, der nur wie von ungefähr an der Kunst vorbei-
streift, oder gar von andern zu reden, wäre unbelohnend, indem
die Unbestimmtheit der Folgerungen die nämliche ist, die Flach-
heit und Dunkelheit der Gründe aber noch ärger. Die Alten nun
haben hier eine leidliche Entschuldigung, welche den Fehler mildert
und zurückwirft. Denn die nähere Bestimmung alles Wissens
und Bildens, worauf es gehen und wie verteilt sein soll, ist bei
ihnen anheimgestellt dem Staate. Daß aber und wie das Wissen
und die Kunst mit des Staates, der bei ihnen alles in allem war.
[111,1, 291] in. Kritik der ethischen Systeme. 293
Endzwecken zusammenhängt, dieses besonders abzuleiten unter-
ließen sie als von selbst einleuchtend, indem die Verbindung der
Staatskunst mit dem Wissen und der Kunst mit der Ehrfurcht
vor den Göttern von keinem System bestritten wurde. Welcher
Mangel freilich auch bei ihnen unwissenschaftlich bleibt, doch
aber mehr die Schuld der Ausführung sein kann, als der herrschen-
den Ideen. Die Neueren hingegen können dergleichen nichts
sagen ; denn teils hängt die Kunst bei ihnen mit nichts Besonderem
besonders zusammen, und sie hätte nur können durch ihren all-
gemeinen Zusammenhang mit allem gerechtfertigt werden; teils
kann bei ihnen der Staat weder solche Befugnis haben, noch
solche Dienste leisten wegen seiner in den meisten Darstellungen
der Sittenlehre so höchst beschränkten Zwecke.
Doch 1 dieses ist ein neuer Gegenstand für die jetzige Anklage, e) Der Staat.
welcher für sich verdient betrachtet zu werden. Denn wunder-
licheres gibt es nicht als die lose Art, wie die bürgerliche Ver-
bindung gekittet und gehalten wird, zumal in den neueren Dar-
stellungen der Sittenlehre. Bedenken wir nämlich nur die beiden
Gründe, auf einem von welchen sie fast überall ruht, so sieht man
leicht, daß die allgemeine Glückseligkeit, welche der Staat be-
schaffen soll, nur in einer Sittenlehre des Genusses stattfinden
kann. Oder wie könnte die entgegengesetzte einem für sie gar
nicht ethischen Zweck eine Stelle einräumen, und zwar eine solche,
auf welche bei jedem sittlichen Handeln fast muß hingesehen
werden? Aber auch in der genießenden Ethik hat, wie hinlänglich
gezeigt ist, das Besondere den Vorrang vor dem allgemeinen, und
es fehlt ganz an einer Rechtfertigung dieser Idee einer allgemeinen
Glückseligkeit, welche die besondere eines jeden überall zu be-
schränken und die besten Hilfsmittel ihr zu entziehen scheint. Ja
bei einer so künsthchen und verwickelten Aufgabe würde sie sich
vergeblich der Forderung entziehen, entweder ein bestimmtes
Ideal der Verfassung zu zeichnen, oder den wohlbegründeten Ent-
^ Absatz nicht im Original.
294 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 292]
vvurf einer möglichen Mehrheit. Die gewöhnliche Ausflucht aber,
als liege der Unterschied nur in der Verwaltung, mag wohl hin-
reichen denjenigen abzuweisen, der keine andere Verschiedenheit
sieht, als in der Zusammensetzung der Gewaltzweige, muß aber
dem nichtig erscheinen, der eben aus dem ethischen Standpunkt
ganz andere wahrnimmt. Eben das läßt sich sagen, wenn etwa
auch Sittenlehren dieser Art wollten den andern Grund des bürger-
lichen Vereins geltend machen, nämlich den Schutz gegen das
Unrecht. Oder gibt es etwa schon eine Ableitung des Rechts nach
eudämonistischen Grundsätzen, und weiß nicht vielmehr jeder, wie
sich die Lehrer der Glückseligkeit von einer dieser Ideen in die
andere zurückziehen? Wieviel weniger also würden sie imstande
sein, vollständig und zusammenhängend zu bestimmen, was nun
aus dem Gebot, den Staat zu stiften, in dem ganzen Umfang der
Sittlichkeit folgen muß, und wie nun die eigene Glückseligkeit
durch die Idee der allgemeinen oder des Rechtes genauer bestimmt
oder anders gewendet wird? Daher auch bei fast allen die ganz
fremdartige Behandlung dieser Gegenstände. Legt man im Gegen-
teil diese Idee, der Staat sei da zu Abwehrung des Unrechts, der
praktischen Sittenlehre bei: so ist offenbar, daß, da das Unrecht
ein Unsittliches ist, der Staat mit dem Anfang der allgemeinen
Sittlichkeit aufhören müsse. Welches aucK vielen Neueren nicht
entgangen ist; wie der merkwürdige Ausspruch bezeugt, ein guter
Staat sei daran zu erkennen, daß er sich neige und strebe, sich
selbst entbehrlich zu machen. Weniger aber ist die natürliche Folge
bemerkt worden, daß auf diese Weise auch dem Staat nichts dürfe
zugeschoben werden, was auch im Zustande der allgemeinen Sitt-
lichkeit muß gedacht werden. Denn sofern die Sittenlehre eigent-
lich diesen seinem ganzen Umfang nach darstellen soll, ist schon
der Staat ausgeschlossen, und es darf mit ihm nicht das Mittel
fehlen zur Konstruktion irgendeines wesentlichen Teiles jener Dar-
stellung. So ist es auch zum Beispiel beim Spinoza, welcher
den Staat ebenfalls nur als ein Verwahrungs- und Verbesserungs-
mittel aufstellt, dagegen aber auch, wenn man einzelne leicht zu
[111,1, 29j>] III. Kritik der ethischen Systeme. 295
bessernde Irrungen nicht rechnen will, nichts wahrhaft und voll-
kommen Sittliches von ihm ausschließend ableitet. Beurteilt man
hingegen nach demselben Maßstabe, um die andern mit Still-
schweigen zu übergehen, den vorzüglichsten der heutigen Sitten-
lehrer i, und fügt hinzu, wie seine Kirche und seine gelehrte Ge-
meinschaft nicht minder hinfällig sind: so ist zu verwundem, wie
sehr er hiegegen gefehlt hat. Und von hieraus ist es am leichtesten,
über den Umfang der Ethik nach diesem System eine Musterung
anzustellen. Denn wenn nun der Staat wegfällt als gesetzgebende
Macht, so bleibt allerdings die freie Einsicht in die Art, wie jeder
will behandelt sein, und die freie Enthaltung aller dem zuwider-
laufenden Handlungen. Ebenso, wenn die Kirche wegfällt, bleibt
dennoch die Übereinstimmung in Hinsicht der auf das Über-
sinnHche gegründeten sittlichen Überzeugung. Aber fragt man
nun weiter, was denn, nachdem alles, was bloß Zurüstung war,
hinweggenommen worden, als der eigentliche und letzte Gegen-
stand dieser einstimmigen Überzeugung und jener frei gesetzlichen
Behandlung übrig bleibt: dann möchte schwerlich etwas anderes
aufzuzeigen sein, als die Beherrschung der Erde und die Ver-
arbeitung ihrer Erzeugnisse. So daß eine gleichsam physio-
kratische Sittenlehre herauskommt, in welcher der Ackerbau das
eins und alles ist dem Inhalt nach, die Form aber nicht besser
beschrieben werden kann, als die freilich möglichst strenge und
ausgedehnte Rechtlichkeit in Form der Formlosigkeit. Nur nicht
zu vergessen, daß sich wiewohl sehr schlecht hinzufügen zwei
mystische Anhänge, die Kunst nämlich und die Ehe, in welchen
beiden alles zusammengepreßt ist, was sich außer jenem großen
Gegenstande und unmittelbarer auf den Menschen selbst bezieht,
dergleichen Kleinigkeiten nämlich, wie die Erhöhung seines Ge-
sichtspunktes für das Ganze der Welt, die Ausbildung der liebens-
würdigsten Eigenschaften seiner Natur, die endliche Verknüpfung
seines Verstandes und Willens, und was sonst an diesen Orten
zu lesen ist, auch wohl selbst bezeichnet wird als das höhere der
1 Fichte.
296 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 294]
Sittlichkeit. Welch ein schlechtes Ganzes nun dieses bildet, von
jeder Seite angesehen, zu viel entweder oder zu wenig, das ist
klar, und es deutet hin auf die Notwendigkeit, die propädeutische
Ethik, die es nur mit den Vorübungen zur Sittlichkeit zu tun hat,
entweder ganz aufzugeben, wie denn die Alten nichts davon
wissen, oder ganz abzusondern, wie Spinoza getan, oder auf
eine andere Weise mit der wahren Ethik zu verbinden, und den Ein-
richtungen der ersten einen solchen Grund unterzulegen und
solche Gestalt zu geben, daß sie auch dem wahren und vollendeten
Sittlichen zu dienen vermögen. Und wie die Alten die ganze Stärke
ihrer Ethik setzten in den Staat allein, in einen solchen aber, der
nicht etwa, wenn alle sittlich wären, zu Ende ginge, sondern dann
erst seine ganze Vortrefflichkeit anfinge zu entwickeln und den
Endzweck der größten gemeinschaftlichen Tätigkeit zu erreichen,
in diesem Sinne sollten auch die Neueren einen Staat nicht nur
haben, sondern eine Kirche, und was sonst noch dieser Art sich'
darbietet. Denn ob die verschiedenen Güter, welche hievon der
Zweck sind, auch durch eine und dieselbe Verbindung zu erreichen
wären, diese erfordert eine eigene nicht hierher gehörige Unter-
suchung, daher sie besser problematisch als Mehrheit zu denken sind.
ni. Ungenügende Reduktion der ethischen Sätze auf
Prinzipien.^
Einen dritten Fehler endlich hätte aus allem bisher einzeln
Angeführten jeder von selbst entdecken können, und er darf des-
halb nur mit kurzem berührt werden. Es ist der nämlich, daß auch
mit demjenigen, was sie bestimmen, die Sittenlehrer nicht weit
genug zurückgehen, sondern von solchen Bedingungen anfangen,
welche doch kein Anfang sind, weil sie selbst nur können ethisch
entstanden sein, so daß auch von ihnen erst muß gefragt werden,
ob sie sittHch sind oder nicht. Oder um den nächsten und ge-
meinsten Fall zu bezeichnen, daß sie jedesmal den ihnen gegebenen
Zustand der Dinge zum Grunde legen, ohne ihn selbst der Prü-
* Überschrift nicht im Original.
[111,1,295] 111. Kritik der ethischen Systeme. 2Q7
fung zu unterwerfen. Beispiele sind aus allen Teilen des ethi-
schen Gebietes nicht schwer zu finden. So dürfen wir nur bei
dem stehenbleiben, wovon zuletzt geredet worden, der Verfassung
des Staates. Denn mehr oder minder geht jeder aus von den
Formen, welche er kennt, ohne sie selbst ethisch' entstehen zu
lassen, oder zu fragen, ob nicht ganz andere ebenso auf diesem
Wege möglich sind. So beziehen sich die Ideale der Griechen
überall auf ein kleines Gebiet, auf die Voraussetzung der Sklaverei,
und auch der Einfluß ihrer beschränkten Begriffe von Völker-
verwandtschaft und ihres Gegensatzes von Hellenen und Barbaren
ist überall dem Kundigen leicht zu spüren. Wäre eine Ethik vor-
handen von einem Volke, bei welchem die Erblichkeit der Geschäfte
und Zünfte eingeführt gewesen, so würde auch diese gewiß darin
vorausgesetzt sein, und die Frage von der Wahl des Berufs keinen
Raum haben. Ebenso ist bei den Alten allgemein die Voraus-
setzung eines untergeordneten und zurückgezogenen Zustandes
für das weibliche Geschlecht, bei den Neueren hingegen die der
Einheit und Unzertrennlichkeit der Ehe, ohne auch nur zu denken,
es könne jemand einen Beweis davon verlangen, daß jede andere
Gestaltung dieses Verhältnisses müßte unsittlich sein. Nicht anders
aber würde der Morgenländer von der Vielweiberei ausgehen,
und der nairische Sittenlehrer die Natürlichkeit und Sicherheit
seiner Einrichtungen anpreisen. Denn wenn auch bisweilen die
Fragen aufgeworfen wurden, ob wohl der Weise dürfe den Staat
verwalten, oder Kinder erzeugen und ehelich werden, so hatten diese
gar nicht den Sinn, ob solche Verhältnisse überhaupt dürften vor-
handen sein, sondern sie bezogen sich nur auf diejenige Form der-
selben, von welcher allein konnte die Rede sein. Ferner, wenn
von den Pflichten der verschiedenen Stände gehandelt wird, bringen
die Neueren jedesmal die eben vorhandene Einrichtung derselben
mit. Und in dem Abschnitte von der sittlichen Ansicht der äußeren
Güter wird fast immer vorausgesetzt, daß sie dem Zufall unter-
worfen sind, ohnerachtet doch dieser Zufall beruht teils auf den
willkürlichen Handlungen der Menschen, teils auf der Art, wie sie
298 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. 1 111,1, 296]
gemeinschaftlich die Natur beherrschen, und also ebenfalls ethisch
müßte gebildet und berichtiget werden. Auch die S t o i k e r in ihren
Trostgründen bei Unfällen und in ihren Vorschriften, um sich
über das Unglück zu erheben, setzen immer die damalige Ohn-
macht des Menschen voraus, und denken an nichts anderes. Ja
auch in der Fichteschen Sittenlehre, welche weiter als andere
zurückgeht in ihren Ableitungen, sieht nicht jeder an dem Unzu-
sammenhange der Folgerungen, daß sie das dem gegenwärtigen
Ähnliche nicht gefunden, sondern sich mit Gewalt einen Weg dahin
gebahnt hat, weil sie eben nirgends anders anzukommen gewußt?
Denn wie gewaltsam und durch welche Mißdeutungen ist nicht
der Begriff des Symbols in das System gezogen, um die Kirche auf-
zurichten? Und das Prinzip der Teilung der Stände hätte es nicht
ebenso leicht auf eine Erblichkeit aller Geschäfte führen können,
als auf jene Einrichtung, aus welcher dennoch kein vollständiger
Bestimmungsgrund hervorgeht? Selbst von dem ersten Punkt
an, wo die Ableitung der Ehe angeht, hätte gar leicht statt ihrer
der Weg gefunden werden können zu einer vollkommenen Ge-
meinschaft der Weiber, Dieses jedoch mag jeder selbst heraus-
finden, dem Nachrechnungen solcher Art geläufig sind; so wie auch
jedem überlassen bleibt, von hieher gehörigen Fehlern aller Systeme
noch eine größere Anzahl aufzusuchen in allen Teilen des ethi-
schen Gebietes, welches besonders in den bis jetzt vorhandenen
eudämonistischen Sittenlehren ein schwer zu beendigendes Ge-
schäft sein würde. Die Folge aber von diesem Anfangen auf
halbem Wege ist die, daß niemals das vollkommene Sittliche dar-
gestellt wird, welches der Grundidee eines jeden Systems an-
gemessen wäre, sondern daß vielmehr das Unsittliche festgehalten
wird. Denn wenn ein Zustand, der den Keim desselben enthält,
unbedingt gesetzt wird als ein Moment, welches bei Bestimmung
des Sittlichen muß in Anschlag gebracht werden : so muß ja
alles auf diese Art Bestimmte noch unsittlich sein, und kann nur
sittlich werden, wenn zugleich die Aufgabe, jenes zu berichtigen, ein
anderes Moment ist in derselben Berechnung. Setzet zum Beispiel
[111,1,297] III. Kritik der ethischen Systeme. 29Q
die Tapferkeit, wie sie von vielen eingeschränkt wird, bloß als
den pflichtmäßigen Kriegesmut: so ist sie eine Tugend, welche
lediglich auf der Voraussetzung eines Unsittlichen beruht; denn
niemand wird leugnen, daß ein Krieg nur beginnen kann durch
eine unsittliche Handlung. Wird ihr nun nicht beigelegt das Be-
wußtsein dieser Bedingtheit, sondern vielmehr ein solches Be-
streben, sich immerfort tätig zu erweisen, wie es in jeder wahren
Tugend muß gedacht werden, so ist sie offenbar unsittlich. Kommt
nun etwa anderwärts zum Ersatz eine Gesinnung vor, welche den
Ausbruch der Gewalt hindern soll: so entsteht zwischen beiden,
es sei nun offenbar oder versteckt, unfehlbar eine Art von Wider-
streit. Dasselbe wird sich auch ergeben bei solchen Mängeln,
welche allgemeiner durch das Handeln eines jeden können und
sollen hinweggenommen werden; wie wenn die Rede ist vom
Verhalten gegen Vorurteile, oder von dem Werte, welcher zu legen
ist auf eine herrschende, aber ungegründete öffentHche Meinung.
So daß überall dieses Anfangen auf halbem Wege und bei dem
schon Verdorbenen eine neue und reichHche Quelle sein muß von
sogenannten Kollisionen eines Sittlichen mit dem anderen; und so
lange noch irgend etwas selbst von menschlichem Handeln Ab-
hängiges als unbewegliche Bedingung des Sittlichen gesetzt wird,
fehlt es in der Sittenlehre an Zuversicht des Inhaltes und an voll-
ständiger Haltung. Ja, wo ein offenbarer Widerspruch in einem
ethischen System angetroffen wird, da ist gewiß auch in Ver-
bindung damit ein Mangel dieser Art anzutreffen. Was zum Bei-
spiel ist widersprechender, als daß Kant eine Pfhcht annimmt für
seine Glückseligkeit zu sorgen ? Hätte er aber nur den Grundsatz
festgehalten, daß auf dem Gebiet der Ethik nichts gegeben ist,
sondern alles erst muß gemacht werden, welcher aber freilich dem-
jenigen schwerlich recht klar sein kann, für den die Sittlichkeit
nur eine beschränkende Natur hat: so würde er anstatt jener
widersinnigen Pflicht nur die Aufgabe gefunden haben, die gesetz-
liche Geselligkeit so zu gestalten, daß das zur fortgesetzten Tätig-
keit nötige Wohlbefinden aus der vorigen Tätigkeit regelmäßig
300 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 298]
erfolgt; welche Aufgabe, wenn sie vollständig gelöst wird, keine
Notwendigkeit mehr übrig läßt, auf diesem Gebiet etwas Eigenes
und Besonderes zu tun der Glückseligkeit wegen. Auch von dem
Selbstmorde der Stoiker möchte der Grund größtenteils in einem
Mangel dieser Art zu suchen sein. Unter den Neueren zwar hat
Fichte in einer Stelle sehr deutUch gesagt, daß es für die Sittlich-
keit nicht genug sei, den vorhandenen Bedingungen zu genügen,
sondern daß es auch darauf ankomme, sie zu verbessern. Allein
teils ist dieses bei ihm nur eine leere Formel, indem nichts in
seinem System danach wirklich ausgeführt ist, vielmehr an den
wenigen Stellen, wo er wirklich auf Verbesserung des Vorhandenen
ausgeht, wie zum Beispiel bei der Umstürzung des Notstaates
durch erstweichen Biedermann, und bei der Veränderung des Sym-
bols erlaubt er sich ein höchst tumultuarisches Verfahren, und an
andern Stellen, wo die Verbesserung ebenso dringend wäre, wie
bei der Einteilung der Stände, übersieht er sie gänzlich. Teils
auch, wenn er diese Maxime überall richtig befolgt hätte, ist sie
doch viel zu beschränkt, um der Ethik die Vollständigkeit ihres
Inhaltes von dieser Seite zu sichern. Denn jeder sieht, daß die
Sittenlehre, wenn sie bei ihren Bestimmungen von vorhandenen
Bedingungen ausgeht, entweder ihre Anwendbarkeit beschränkt,
sofern sie über den besonderen Fall das Allgemeine verabsäumt,
oder daß sie sich eine unendliche Aufgabe setzt, wenn sie durch die
Aufzählung alles Besonderen das Allgemeine herbeischaffen will.
Sondern, indem sie das vollendet Sittliche darstellen will in seinem
Sein, muß es in solchen Formeln geschehen, daß darin auch,
wie sein annäherndes Werden für jede angenommene Bedingung
zu konstruieren sei, muß können gefunden werden. Doch dieses
hängt so genau zusammen mit dem, was den Gegenstand des
zweiten Abschnittes ausmacht, daß es hier mag zur Seite gelegt
werden, um es dort unter einer andern Gestalt wieder aufzu-
nehmen.
[111,1,299] III. Kritik der ethischen Systeme. 301
Zweiter Abschnitt.
Von der Vollkommenheit der ethischen Systeme in Absicht
auf deren Gestalt.
Der Anfang dieses letzten Teiles unserer Untersuchung möge Kasuistik und
gemacht werden von einer Mißgestaltung, welche sich dem ersten Asketik.
Anblick nicht als ein Mangel ankündigt, sondern als ein Über-
fluß, nämlich von dem Ansetzen einer Kasuistik und Asketik an
die eigentliche und unmittelbare systematische Abhandlung der
Ethik. Nicht mit Unrecht freilich könnte es manchem vielleicht
scheinen, als ob zu wenige Sittenlehrer diese Fächer angebaut
hätten, um ihrer zu erwähnen bei einer nur das Große betreffen-
den Untersuchung. Denn unter den rein philosophischen Sitten-
lehrern, von welchen doch mit Ausschluß der religiösen hier allein
geredet wird, möchte leicht Kant der einzige sein von Bedeutung,
der beides ausdrücklich aufführt. Und auch, könnte einer hinzu-
fügen, sein Beispiel hinreichend, um die Sache in ihrer Nichtigkeit
darzustellen. Denn die ganze Einteilung in Elementarlehre und
Methodenlehre, durch welche allein der Platz ausgemittelt wird
für die Asketik, ist ja der Sittenlehre gar nicht angemessen,
und scheint nur aus Anhänglichkeit entstanden zu sein an die
längstgewohnte Gestalt seiner kritischen Werke. So daß man
sagen möchte, die Asketik sei mehr hingestellt, um den Platz aus-
zufüllen, als der Platz ersonnen ihres Inhaltes wegen. Zumal
auch diese Asketik eigentlich leer gelassen ist, weil ja nirgends
Mittel und Wege aufgezeigt sind, um die wackere und fröhliche
Gemütsstimmung zu erwerben, noch auch erwiesen, daß etwa
jeder sie von selbst haben müsse, und sich nur erhalten dürfe.
Nicht besser ist es mit der Didaktik bestellt, welche teils nur
ein Abschnitt ist aus der Erziehungskunst, die doch, wenn sie
zugegeben wird, eine besondere Wissenschaft sein müßte, wenn-
gleich von der Ethik abgeleitet, teils aber bei Kant eigentlich
302 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. (111,1, 300]
gar nicht in Betracht kommen darf, dessen erster Grundsatz ja die
Beförderung fremder Vollkommenheit leugnet. Seine Asketik ist
also schon ihrer Nachbarschaft und ihres Ortes wegen verdächtig;
seine Kasuistik aber, welche keinen eigenen Ort hat und keine
Nachbarschaft, teilt wenigstens mit jener den Vorwurf der Leer-
heit, da sie sich fast ausschließend mit müßigen und kindischen
Fragen beschäftiget, oder mit solchen, welche des Urhebers Ab-
neigung beurkunden gegen sein eigenes Werk. Allein es mag Kant
uns hier nur gelten als irgendein gleichviel welches Beispiel, nur
vorzüglich wegen der Ausführlichkeit, womit er diese Gegenstände
vor Augen stellt, um, ohne auf sein Eigentümliches dabei zu sehen,
durch genauer Betrachtung der Sache selbst zu zeigen, daß aucK
andere, wenngleich weniger ausgeführt und noch gestaltloser,
dasselbe mit ihm gemein haben. Denn wenn wir fragen, was
die Kasuistik eigentlich sei, so ist es nicht etwa, wie auf den
ersten Anblick scheinen möchte, eine Anweisung, schwierige ein-
zelne Fälle unter die ethischen Vorschriften oder die in der Ethik
angegebenen Begriffe richtig zu befassen. Sondern vielmehr aus
dem Gesichtspunkt muß man sie ansehen, daß sie durch Ver-
gleichung mit solchen Fällen, welche gleichsam an der Grenze
Hegen, erst den Sinn und Umfang der Formeln genauer festzu-
setzen sucht. Denn die aufgeworfenen Fragen sind immer darauf
gestellt, als Versuche die Grenzen der ethischen Formeln zu be-
stimmen, es sei nun einer an sich oder mehrerer gegeneinander;
wie zum Beispiel bei Kant, inwieweit man müsse sich selbst ab-
brechen, um wohltätig zu sein, oder die Frage, wo nun im Ge-
brauch der Sprachzeichen die Unwahrheit angehe, ob bei dem buch-
stäblichen Sinn, oder bei der durch stillschweigende Übereinkunft
festgesetzten Bedeutung; oder was eigentlich seine größte kasu-
istische Frage ist, ob nicht etwa das Wohlwollen solle unter die
gleichgültigen Dinge gezählt werden. Das nämliche würden alle
Beispiele aus der religiösen Sittenlehre ausweisen, wo es auch
immer darauf angelegt ist, den Umfang der Heiligkeit eines Gegen-
standes zu bestimmen oder die Grenzen eines göttlichen Gebotes.
[111,1, 301] III. Kritik der ethischen Systeme. 303
Auch die Vergleichung, wie Marcus Cicero sie anstellt, zwischen
einem Pflichtmäßigen und dem andern, welches das Größere sei,
ist in gleichem Sinne eine Kasuistik, nur daß sie sich vor andern
dem ersten Anblick dadurch empfiehlt, daß sie nur das Verhältnis
mehrerer Formeln gegeneinander bestimmen soll. Welcher Vor-
zug jedoch nur ein Schein ist. Denn wenn nicht jedes kleinere
Pflichtmäßige gänzlich verschwinden soll gegen jedes größere: so
entsteht hier die Frage, wo doch die Vergleichung anhebe, nämlich
wie klein in jedem einzelnen Falle das Wichtigere sein dürfe, um
dem größeren Unwichtigen voranzugehen ; welches doch immer die
Frage ist über den Sinn und die Grenzen jeder Formel für sich.
Daß aber diese Bestimmung kein besonderer Teil der Wissen-
schaft sein könne, leuchtet ein. Denn wie sollte wohl ein Teil das
Setzen der Formeln in sich enthalten, ein anderer aber die Be-
stimmung ihrer Grenzen, da ja ohne diese auch im ersten nichts
gesetzt ist, und keine Ordnung kann gewesen sein, nach welcher
dabei zu Werke gegangen worden. Allein auch, wie Kant getan
hat, sie gleich hier und dort oder auch überall dem Hauptteil einzu-
streuen, kann nicht für besser gelten: denn so wird doch die Grenze
einer jeden nur nach einer Seite hin bestimmt in Beziehung auf das
bereits Festgestellte, jedes folgende aber muß auch wieder neue
kasuistische Fragen veranlassen im Gebiete des vorigen. Auch ist
Kants rechtfertigende Ableitung der Kasuistik der offenherzigste
Fingerzeig über ihren eigentlichen Ursprung. Denn es erhellt
daraus ganz deutlich, daß die Unbestimmtheit der Formeln das
Bedürfnis derselben veranlaßt, dieselbe, welche oben von uns ist
getadelt worden bei Übersicht der gewöhnlichen Behandlung des
Pflichtbegriffs. Daher auch bei jeder Behandlung der Ethik nach
dem Pflichtbegriff bis jetzt die Kasuistik ist am deutlichsten ans
Licht getreten. Wiewohl wenn man bedenkt, wie im einzelnen
Tugend und Pflicht fast überall verwechselt werden, und wie
schlecht auch alle Einteilungen des Tugendbegriffs uns erschienen
sind, man nicht zweifeln kann, daß auch in einer solchen Be-
handlung dieser Auswuchs nicht fehlen werde. Am wenigsten
304 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,302]
scheint demselben ausgesetzt zu sein diejenige Ethik, welche dem
Begriff der Güter nachginge, bei welchem die Unbestimmtheit sich
so groß und vielfach nicht gezeigt hat. Jedoch mag auch dieses
leicht nur der sparsamen Bearbeitung nach dieser Methode zu
zu verdanken sein; und der mangelhafte systematische sowohl als
ethische Sinn würde auch wohl den klarsten und leichtesten Be-
griff, wenn er sich dessen bemächtiget hätte, verdunkelt und ver-
dorben haben. Indes geben die Begriffe der Güter und der Tugend
noch eine andere entschuldigende Vorstellung von der Möglichkeit
eines solchen Mißgriffs. Nämlich wenn nach diesen Begriffen
und ihren abgeleiteten Formeln die Tat für einen gegebenen Fall
soll bestimmt werden: so kann es, weil jene Begriffe diesem Ge-
schäft nicht angemessen sind, nicht anders geschehen als vermittelst
eines solchen Versuchmachens, wie es die Kasuistik uns darstellt.
Denn wie man auch die Frage löse, so wird immer scheinen nur
ein Gut befördert zu sein, und eine Tugend geübt, die andere
aber zurückgesetzt, versteht sich, insofern die Sittlichkeit eines
Systems jenen fast überall gefundenen Charakter des Negativen
an sich trägt, bei welchem sich an dem Einzelnen, durch eine
Beschränkung gebildeten die Fülle unmöglich wahrnehmen läßt,
welche auch der Forderung von Verbindung aller Güter und
aller Tugenden Genüge leistet. So daß unter jener Voraussetzung
die Kasuistik allen Systemen der Ethik natürlich ist, insofern
darin entweder aus den Begriffen der Güter und Tugenden die
einzelne Tat soll gefunden, oder die nach der Pflichtformel ge-
fundene mit den Forderungen jener Begriffe verglichen werden.
Einei ähnliche Bewandtnis nun hat es mit der Asketik. Diese
nämlich soll vorstellen eine Technik der Sittenlehre, eine Methode
gleichsam, um sich sittlich zu machen oder sittlicher, oder um sich
im einzelnen die Ausübung des Pflichtmäßigen zu erleichtern.
So daß auch sie zunächst nur in Beziehung auf den Pflicht- und
Tugendbegriff stattfindet, der Begriff der Güter aber weniger
1 Absatz nicht im Original.
[111,1,303] III. Kritik der ethischen Systeme. 305
auf sie hinführt. Daß nun eine solche Übung, sofern sie aus
einer eigenen Reihe bestimmter Handlungen bestehen soll, in der
Ethik nicht kann gefordert und aufgestellt werden, davon sind
schon oben die Gründe auseinandergesetzt worden, da nämlich,
wo gezeigt wurde, wie unstatthaft es wäre in der Ethik, etwas
als Mittel zu setzen. Denn bei einer Behandlung der Ethik nach
dem Pflichtbegriff kann die Asketik nur angesehen werden als der
Inbegriff aller inneren Mittel. Da nun dem obigen zufolge in
jedem Augenblick die schon erworbene Tugend soll in Tätigkeit
gesetzt werden, um die Pflichten des Berufes zu üben, ebenso
aber in jedem Augenblick etwas zu tun wäre zu Erhöhung der
Tugend, so würden diese Reihen in der Ausübung einander wider-
streiten, und selbst wenn das Geforderte jedesmal zusammenträfe,
wäre ohne die Überzeugung von der Notwendigkeit dieses Zu-
sammentreffens doch eine von beiden Forderungen in der Absicht
des Handelnden unerfüllt geblieben. Wird aber die Ethik nach
dem Tugendbegriff behandelt, so daß die Tugend als eine wach-
sende Fertigkeit dargestellt wird, welches das Eigentümliche aus-
macht in dem System der Vervollkommnung: so entsteht der
nämliche Gegensatz, nur umgekehrt. Hier nämlich wird die Asketik
alles, und dagegen wird die eigentliche Ethik mit ihren Forde-
rungen nur zufällig befriedigt. Nur aus dem Begriff der Güter
angesehen können beide in dieser Hinsicht nebeneinander bestehen,
indem die Tugend, als Fertigkeit angesehen, selbst ein Gut ist,
und ihr Hervorbringen also ein Teil der allgemeinen Forderung.
Doch dieses betrifft das Reale der Sache, und sei nur beiläufig
gesagt, da hier ja zimächst die Rede ist von dem Formalen. Über
dieses aber ist folgendes zu bemerken. Zuerst nämlich wenn man
den letztgedachten Fall annimmt: so ist freilich nicht zu sehen, wie
die Anweisung, dieses Gut hervorzubringen, mehr im Streit sein
sollte mit dem Ganzen der Ethik, als die über irgendein anderes;
ebensowenig aber, warum sie einen eigenen Teil oder Anhang
der Wissenschaft ausmachen sollte mehr als irgendeine, und nicht
Schleiermacher, Werke. I. 20
306 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 304]
zum Beispiel die Kunst, den Reichtum ethisch zu vermehren,
oder die Ökonomik und tausend andere ebenso müßten behandelt
werden. Dann aber auch könnte unter allen diesen keine uns
Vorschriften geben zu irgendeinem bestimmten Handeln, weil
ja in jedem alle Güter müssen befördert werden, so daß sie
ebensowenig als die Kasuistik die rechte Verbindung sein kann
zwischen der Behandlung der Ethik nach einem andern und der
nach dem Pflichtbegriff. Ferner aber, wenn man von dieser letzten
Behandlung ausgeht, und zwar so unvollkommen wie da, wo
sie auch eine Kasuistik hervorbringt, und wenn man sich die
Asketik neben dieser Kasuistik denkt, so verflechten sich beide
wunderbarlich ineinander. Nämlich die Kasuistik in der Aus-
übung als Fertigkeit gedacht müßte ebensogut ihre besondere
Asketik haben als die Ethik selbst, und so auch die Asketik auf
jene unvollständigen und unbestimmten Begriffe von Pflichten
und Tugenden bezogen ihre Kasuistik. So daß beide als ein
künstliches Netz die so gestaltete Ethik ohne Ausweg bestricken
und ihren verbotenen Umgang mit dem Unverstände offenbaren
zur belachenswerten Schau. Allein außerdem, wie sollte wohl die
Asketik irgendeine wissenschaftliche Gestalt haben können? Denn
zweierlei läßt sich nur tun, um sie zu teilen und zu gliedern.
Entweder die Tugend wird geteilt, und es wird gesetzt, es fehle
dem an diesem, jenem an einem andern. Dann aber kann Stär-
kungsmittel für den schwachen Teil nur sein entweder ein anderer;
wodurch die Teilung wieder aufgehoben würde, indem was als
Wirkung und Ursach verbunden ist, nicht zugleich kann gedacht
werden in der Verbindung, welche stattfindet zwischen Teilen
desselbigen Ganzen. Oder für alle dasselbe, nämlich Übung durch'
Handeln und Vorübung durch Denken. Dann aber bestände die
Asketik aus zwei ganz ungleichartigen Teilen, deren jeder schon
anderswohin gehört, nämlich die Teilung des Tugendbegriffs in
die Behandlung der Ethik nach demselben, der allgemeine Satz
aber, daß sie nur gestärkt wird durch sitthches Handeln und
[111,1,305] III. Kritik der ethischen Systeme. 307
Denken, dahin, wo jeder die Übereinstimmung jedes ersten Be-
griffs mit den übrigen und dem Ganzen auseinanderzusetzen ge-
denkt. Woraus genugsam erhellt, daß sie der Wahrheit nach
nichts anderes ist als ein einzelnes Beispiel jener Übereinstimmung,
welches nur fragmentarisch und unwissenschaftlich zu einem
eigenen ausgedehnten Ganzen kann verarbeitet werden. Daher
bewährt sich sehr verständig die Einteilung der Alten in die
wissenschaftliche Sittenlehre und die paränetische als eine auf die
Ethik gemachte Anwendung von jener allgemeinen aller Erkennt'
nis in die esoterische und exoterische. Denn hierin liegt ja deut-
lich das Eingeständnis, daß nicht im Gegenstande etwas soll unter-
schieden werden, sondern nur in der Behandlung, also der Gegen-
stand ganz derselbe sein muß. Wenn nun gewiß keiner bezweifeln
kann, daß die paränetische Ethik ganz gleich ist der Asketik,
und daß auch diese nichts anderes ist als die Ethik selbst, nur,
wie es sich fürs Volk geziemt, vom einzelnen ausgehend und
durch dargestellte Übereinstimmung des einzelnen sich erst als
Ganzes bewährend : so hätte ja jene Einteilung billig zur Warnungs-
tafel dienen müssen für jeden späteren wissenschaftlichen Be-
arbeiter, nicht wie Kant gerade der wissenschaftlichsten Form
der Sittenlehre jene nicht etwa als Anhang beizufügen, sondern
als einen wesentlichen Teil einzuverleiben. Auch von dieser Ver-
irrung also ist ein subjektiver Grund aufzusuchen in dem Geist
der verschiedenen Systeme, und wird gewiß gefunden werden in
eben jener schon gerügten Vorstellung der Sittlichkeit als eines
nur Beschränkenden und nicht Ursprünglichen. Und zwar in den
praktischen besonders, sofern diese überall nur die Rechtlichkeit
hervortreten lassen, und daher immer den Stachel des Bewußt-
seins fühlen, daß kein einzelnes der ganzen ethischen Forderung
entspreche. In den eudämonistischen aber, insofern das zu Be-
schränkende gleichartig ist dem Sittlichen und nur dem Maße
nach verschieden, so daß durch dieses immer auch jenes mit
genährt wird, wogegen ein besonderes Hilfsmittel außer dem
jedesmaligen sittlichen scheint erfordert zu werden.
20*
308 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,306]
Diese ^ Vorstellungen von dem Sinne der Kasuistik und Asketik
und ihren Ursachen festhaltend, werden wir beide auch unange-
kündigt überall finden, wo jene Veranlassungen vorhanden sind.
Aristoteles zum Beispiel ist die Kasuistik nur ein Ausbruch der
Dialektik wegen der Unbestimmtheit der einzelnen Begriffe, die
bei der Beschaffenheit seines Begriffes von Tugend unvermeidüch
war, und er entschuldigt sie sich leicht nach seiner vorklagenden
Überzeugung von der Unwissenschaftlichkeit der Ethik. Doch" be-
ziehen sich seine zerstreuten Fragen dieser Art weniger auf die
rohe Unbestimmtheit der realen Begriffe, wodurch sie bei Kant
hauptsächlich bewirkt werden, sondern mehr teils auf die Un-
bestimmtheit der metaphysischen Vorbegriffe, teils auf den Wider-
streit des rein Sittlichen mit den nicht selbst auch ethisch kon-
struierten Bedingungen, unter denen es soll wirklich gemacht
werden. Epikorus bedarf einer ausgeführten Kasuistik, um die
Begriffe von der Lust der Beruhigung und der Lust des Reizes zu
sondern, und sie würde ausführlicher sein müssen als jemals eine
ist vorgetragen worden, wenn es nicht im Geiste des Eudämonis-
mus überflüssig, ja fast lächerlich wäre, die gebietende Darstellung
des Sittlichen zu derjenigen Schärfe zu treiben, welche doch die
Wissenschaft fordert. Ebenso bedarf er einer Asketik, um den
Schmerz und die Furcht zu verhüten, unter welchen letzteren Titel,
weil er den Trieb nach Erkenntnis als eine natürliche Aufforderung
nicht genug in Anschlag bringt, bei ihm fast alles gehört, was sich
auf die Reinigung und Verbesserung des Verstandes bezieht.
Und eben dieses ist eine sonderbare Mißbildung seiner Ethik,
welche fast mit allem Fehlerhaften derselben zusammenhängt, daß
der Schmerz zwar, sofern er ein Erzeugnis des willkürlichen
Handelns sein kann oder doch unter dessen Einfluß steht, durch das
Sittliche selbst ohne fif mde Veranstaltung aufgehoben wird, die
Furcht aber, welche immer aus der Tätigkeit der geistigen Kraft
hervorgeht, einer anderen an und für sich nicht sittlichen Hilfe
* Absatz nicht im Original.
[111,1,307] III. Kritik der ethischen Systeme. 309
bedarf, und also einer Asketik mit einem eigenen der Ethik frem-
den Inhalte. Hiezu nun bildet Spinoza den vollkommensten Ge-
gensatz. Denn man kann freilich sagen, daß auch bei ihm alles, was
zur Verbesserung des Verstandes angeraten wird, asketisch sei:
allein wie bei ihm die Tugend eigentümlich erscheint als ein
lebendiges Wissen, und als solches vollendet dargestellt wird in
der Ethik, so ist auch jene Asketik nichts anderes als dasselbige
Wissen in seinem Werden dargestellt, als Lösung der Aufgabe des
Verstandes. Daher sie auch keineswegs ein Anhang der Ethik ist
und in dieser nichts von jener vermißt wird; außer wenn jemand
das in des Spinoza anschaulicher Darstellung Verbundene erst
trennen, und die sittliche Gesinnung oder das sittliche Handeln in
Beziehung auf einzelne Fälle einseitig betrachten wollte, und so,
daß er das, was sich nicht unmittelbar auf den vorhandenen
Gegenstand bezieht, nicht abgesondert dächte, sondern vernichtet,
welches eben die Quelle so vieler Fehler ist bei den andern. Ebenso
aber müßte auch bei denen, welche die Tugend als ein Handeln
und Wirken darstellen, einleuchtend gemacht werden, wie sie
durch sich selbst sich erweitert und vervollkommnet, und wie die
Methode, sie hervorzubringen, nichts anderes enthalten könne als
was auch die Darstellung ihres Wesens enthält. Diesem Urbilde
aber möchte unter allen, die es anerkennen müßten, nur Piaton
entsprechen, für den es leicht wäre, eine solche Probe anzu-
fertigen; wie denn bei ihm selbst von einer besonderen Asketik
mit einem eigenen Inhalt auch nicht die leisesten Spuren sicH
zeigen, nicht einmal, wo es am ehesten zu erwarten wäre, in seiner
Politik und Erziehungslehre. Bei dem besten hingegen unter den
Neueren, bei Fichte, zeigen sich zerstreut gleichfalls Kasuistik
sowohl als Asketik, sich ankündigend durch formlosen Trotz und
Verzagtheit. Aber nur zerstreut; und keiner bilde sich ein, daß
etwa seine mittelbaren Pflichten ein asketisches System bildeten
neben der Ethik, weil er nämlich sagt, sie bezögen sich auf die
Zurüstung des Menschen zum Werkzeuge des Gesetzes, welches
310 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 308]
bei ihm, der sich so streng an den Pflichtbegriff hält, dasselbe sei,
wie bei andern die Vorübung zur Tugend. Denn diese gehen un-
mittelbar nicht darauf aus, die Tüchtigkeit des Menschen zu er-
höhen, und was von dieser Art vorkommt, ist entweder nicht sitt-
lich, nämlich die bloße Übung, oder es beruht auf einem anderen
nicht hieher gehörigen auch sonst schon gerügten Mißverstand.
Sondern sie stellen nur dar die Besitznehmung und Erhaltung
eines eigenen Raumes für sein bestimmtes Handeln, und ihre Ab-
sonderung ist nur jene schon gerügte, gar nicht ethische Tren-
nung des Anfangs der Handlung von ihrem natürlichen Fort-
schreiten. Vielmehr in der andern Abteilung wird der Suchende
finden vieles, was nicht für sich als sittlich aufgestellt ist, dennoch
gefordert als Mittel, um die Ausübung eines Sittlichen zu er-
leichtern, und er wird eine ganze asketische Reihe entdecken, vom
kleineren zum größeren fortschreitend, von einzelnen Vorschriften,
wie die der Sparsamkeit, unbestimmt wie sie ist als Mittel zur
gleichfalls unbestimmten Wohltätigkeit, bis zu großen und zu-
sammengesetzten Anstalten wie die Kirche und das gelehrte
Publikum, denn beide gehören doch bei ihm fast nur zum asketi-
schen Getriebe. Kasuistisch aber sind offenbar alle jene formalen
Maximen vom Nicht-Zeit-Haben zu dem und jenem, vom Warten
auf das Darbieten der Pflicht und Tugend, von dem Einfluß des
ersten Punktes, auf welchem der Mensch sich findet. Denn was
ist anders ihr Geschäft, als die Verwandlung der für sich unbe-
stimmten realen Vorschriften in bestimmte anzuordnen und zu be-
wirken? So daß auch hier in dem Fehlerhaften dennoch Fichte sich
auszeichnet vor den andern durch eine höhere wissenschaftliche
Würde, indem er nicht einzelne Fragen aufwirft und beantwortet,
sondern Regeln gibt, um alle gleichartigen im allgemeinen zu ent-
scheiden. Wie es aber diesen Regeln selbst an fester Begründung
mangelt, wie sie keinen festen Ort haben, noch auch haben können,
wo ihre Rechte eingetragen wären, und wie sie ebenfalls mit jenen
Fehlern zusammenhängen, aus denen auch anderwärts die Kasu-
[111,1,309] III. Kritik der ethischen Systeme. 311
istik entspringt, dieses kann nun aus vielen bereits gegebenen
Andeutungen jeder sich selbst wiederholend zusammenfügen. Welche
Ferner indem in beiden jetzt gerügten Fehlern sich das Be- ^j^ ^^^-^it al'le
dürfnis offenbart, einer Darstellung der Ethik nach einem der drei Haupt-
drei Hauptbegriffe etwas hinzuzufügen, das einer andern angehört: b^S'"'^^ ^"t-
80 entsteht die Frage, ob ein solches verdächtiges Bedürfnis jeder ^^ y^jj,
nicht alle jene Begriffe umfassenden Darstellung natürlich ist, ständigsten?
oder welcher von ihnen der Vorzug gebührt, sich hierin selbst-
genügsamer zu beweisen. Diese nun zuerst in Beziehung auf das
Vorhandene beantwortet, so ist leicht zu entscheiden, daß, so-
lange die Begriffe von Pflicht und Tugend nicht richtiger ins Auge
gefaßt und fester gehalten werden, als dem obigen zufolge bisher
geschehen ist, es unmöglich sein muß, die Sittenlehre durch sie
irgend befriedigend darzustellen. Denn wenn der Pflichtbegriff
nur eine nie zu beendigende Teilbarkeit zeigt, und nichts Reales
für ihn sich darbietet, und der Tugendbegriff im Gegenteil nicht
auseinander will und trotz aller Bemühungen eine Einfachheit
bewährt, die jeder Analyse trotzt, wie sollten sie zu irgendeiner
wissenschaftlichen Darstellung gedeihen ? Und wie sollte nicht das
unvermeidliche Gefühl des Leeren und Verfehlten jeden Schutz er-
greifen, um sich dahinter zu verbergen? Welchen Schutz jeder
von diesen Begriffen in dem Gebiete des andern suchen wird
oder des nur dunkel geahnten Dritten. Auf die Sache selbst aber
gesehen und die möghche bessere Behandlung dieser Begriffe, so
ist nicht minder einleuchtend, daß jeder für sich die Ethik nur
einseitig darstellen kann, und nur so, wie sie durch eine zufällige
Wahrnehmung gefunden oder durch ein besonderes Bedürfnis
aufgegeben erscheint. Denn wer sich der Ethik nur nach' An-
leitung des Pflichtbegriffes bemächtiget hat, wird noch nicht im-
stande sein, im einzelnen das Sittliche in die Formel der Gesin-
nungen umzusetzen, und ebenso umgekehrt; und da beides so
genau zusammenhängt, so wird jeder auf irgendeine Art aus der
andern Quelle ergänzen, was eine für sich nicht gewähren will.
312 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 310]
Ja schon die Bedürfnisse, sowohl das, ein gültiges Gesetz der Ent-
scheidung zu finden im Streite menschlicher Neigungen, als auch'
jenes, das sittliche Gefühl als ein Gegebenes zu erklären und die
Denkungsart genau zu unterscheiden, welcher es folgt, sind von
der Art, daß in einer wissenschaftlichen Gestalt aufgelöst diese dem
Gegenstande zu groß zu sein scheint, und niemand weiß, wohin
sie eigentlich gehört. Denn jenes Gefühl als ein wahres und not-
wendiges im voraus anzunehmen, ist schon voreilig und unwissen-
schaftlich. Hat sich aber die wissenschaftliche Erkenntnis der
menschlichen Natur so weit entwickelt, daß es sich als ein solches
bewährt, so ist die Analyse desselben nur ein kleiner Teil von
der Erkenntnis des Menschen als eines besonderen Naturwesens,
und ein Vorwand muß gesucht werden, ihr eine höhere Stelle
anzuweisen. Welcher Vorwurf beide Behandlungen der Ethik
trifft, die von der Pflicht ausgehende und die von der Tugend.
Hier nun zeigt sich keine andere Rettung, wo sie auch gesucht
würde, als in dem Begriff der Güter, der allein kosmisch ist und
von einer Aufgabe ausgeht, welcher, wenn sie auch nicht aus der
Idee eines Systems menschlicher Erkenntnis ausgegangen ist, doch
ihre Stelle in derselben niemand bestreiten wird. Denn wenn die
Lösung jener ganz subjektiven Aufgabe zusammentrifft mit der
einer so durchaus objektiven, was nämlich der Mensch bil-
den und darstellen soll in sich wie außer sich, nur dann
ist ein Ruhepunkt gefunden, und eine Rechtfertigung des wissen-
schaftlichen Bestrebens. Der Begriff der Güter aber und die
Aufgabe, auf welche er sich zunächst bezieht, bedürfen selbst
wieder jener beiden zur Bewährung ihrer Realität. Denn es muß
aufgezeigt werden für das, was dargestellt werden soll, das Ver-
mögen in der menschlichen Natur und die Regel für das dabei
zu beobachtende Verfahren. Sonach scheint mit Beiseitsetzung der
höheren Ansprüche, welcher wir uns gleich anfänglich begaben,
der wissenschaftlichen Gestalt der Ethik so notwendig zu sein eine
Vereinigung jener drei Begriffe, daß sie, wenn nicht auf dem
111,1,311] III. Kritik der ethischen Systeme. 313
richtigen Wege gefunden, wenigstens auf einem falschen von
jedem muß gesucht werden. Offenbar aber kann diese Vereinigung
nicht bestehen in dem bloßen Zusammenstellen jener drei Behand-
lungen der Ethik. Denn da allem obigen zufolge das Sittliche im
einzelnen jedesmal in einer andern Gestalt erscheint, je nachdem
es unter einen andern von jenen drei Begriffen gebracht wird,
und durch eine solche Zusammenstellung gerade nur das einzelne
ins Licht gesetzt würde: so könne, anstatt ihre Übereinstimmung
anschaulich zu machen, auf diesem Wege nur der Schein ihrer
Unabhängigkeit und Verschiedenheit noch verführerischer gemacht
werden. Sondern das Wesen dieser Vereinigung liegt in der Re-
duktion jener verschiedenen Gestalten des Sittlichen, welche, wenn
sie überzeugend sein soll und allgemein, nicht vom einzelnen darf
aufs einzelne gehen, was auch schon die Natur der Sache ver-
bietet, noch auch vom Ganzen aufs einzelne, sondern nur vom
Ganzen aufs Ganze. So daß alles ankommt auf die Re-
duktion der Formeln, durch welche das Gesetz be-
zeichnet wird, oder der Weise, auf die des höchsten
Gutes. Hiernach nun entsteht allerdings jeder Ethik ein formaler
Teil, welcher unentbehrlich alle jene Formeln enthält, und ihre
Übereinstimmung dartut, dann ein realer, welcher freilich nur
dann ganz vollständig sein wird, wenn er das Sittliche nach allen
drei Begriffen der Pflichten, der Tugenden und der Güter darstellt.
Ist jedoch auch nur eine dieser Darstellungen richtig geleistet,
so wird durch jenen formalen Teil unnötig jeder verunstaltete Zu-
satz, indem, die Reduktion im ganzen vorausgeschickt, ihre An-
wendung auf das einzelne nur ein Versuch ist, durch den jeder
die Richtigkeit sich anschaulich machen kann, der aber in die Be-
handlung der Wissenschaft nicht mehr gehört. Über den Vorzug
jener vollständigen Darstellung vor diesen einzelnen ist nicht
nötig, etwas zu erwähnen; und wenn die Ethik erst als ein Glied
eines allgemeinen Systems menschlicher Erkenntnis wird bearbeitet
314 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 312]
werden, möchte schwerlich eine andere als solche zu dulden sein.
Wird aber gefragt nach etwanigen Vorzügen irgendeiner von den
einzelnen Darstellungsarten vor den übrigen, so ergibt sich hierüber
aus dem obigen das Gegenteil von der Meinung, welche fast all-
gemein angetroffen wird. Denn zu dem großen Vorzug, welchen
die Neueren dem Pflichtbegriff eingeräumt haben, entdeckt sich
keine Ursach; vielmehr ist er nach allem obigen für jetzt noch
weiter entfernt eine taugliche Ethik zu gewähren, als der Begriff
der Güter, wenn sich jemand dessen bedienen wollte. So daß eine
Täuschung scheint hiebei zum Grunde zu liegen, daß er nämlich
nur verglichen worden ist mit dem Begriff der Tugend, und zwar
weniger in Hinsicht auf das Hervorbringen der Wissenschaft, als
auf deren Anwendung im Leben. Denn weil unter dem Pflicht-
begriff das Sittliche als Teil erscheint: so scheint nach demselben
leichter, das, was in jedem Augenblick geschehen soll, zu finden.
Sieht man aber auf das oben Gesagte, daß nämlich auch die
Pflichtformeln, wenn sie genügen sollen und in Übereinstimmung
stehen mit den andern, so müssen eingerichtet sein, daß nur unter
Voraussetzung der sittlichen Gesinnung und durch diese ihre An-
wendung im einzelnen kann gefunden werden: so ist nicht zu
sehen, warum nicht selbst die Tugendformeln das nämliche leisten
sollten, und es scheint nur eine Erleichterung geträumt zu sein
zum Auffinden der fälschlich sogenannten Legalität, bei welcher
nämlich die Gesinnung fehlt. Ebenso ist zwar der Tugendbegriff
für jetzt noch nicht so bearbeitet, daß eine Ethik daraus könnte
erbaut werden; seine Unzulänglichkeit aber besteht doch auch
nur in der schwierigeren Anwendung, und eine auf ihn sich be-
ziehende vollständige Darstellung des Sittlichen kann an sich nicht
für unmöglich gehalten werden. Eines wesentlichen Vorzuges
also möchte sich nur der Begriff der Güter rühmen können, und
unter Voraussetzung jenes formalen Teiles möchte auch er einer
sichern Anwendung fähig sein, bei welcher, wenn anders die
Gesinnung vorhanden ist, auch dem Irrtum am wenigsten Spiel-
raum bliebe.
[111,1,313] III. Kritik der ethischen Systeme. 315
Doch! diese Vergleichung nur beiläufig, da von Seiten der
Form bei richtiger Behandlung wohl kein Unterschied möchte zu
finden sein. Von hieraus aber, nämlich von der eingesehenen Not-
w^endigkeit die Übereinstimmung der Formeln darzulegen, und
erst auf diese das Reale zu gründen, eröffnet sich die Ansicht
auf viele Unförmlichkeiten der bisherigen Sittenlehren, auf große
und allgemeine sowohl als auf einzelne, weiche jedoch hieher
gehören, sofern sie eben aus dem Mangel an richtiger Form des
Ganzen entstanden sind und denselben verdecken sollen. So ist
zuerst verwirrt und unförmlich die Art, wie die Stoiker alle drei
Behandlungen der Ethik zusammenfügen, ohne sie zu vereinigen. Mangelhafte
Oder wie könnte eine irgend klare Einsicht in die Natur und den ^usammen-
'^ fugung der
Zusammenhang dieser Begriffe ein so ganz schlechtes Ganze her- jew^,
vorgebracht haben, als ihre bekannten Abschnitte oder Örter uns
darbieten? Die unwahrscheinlichen Sätze nun vom Weisen, welche,
wenn auch von den Cynikern entlehnt, doch in das System auf-
genommen eigentlich keinen Ort haben in allen diesen Örtem,
können formal nicht anders verstanden werden, als daß sie ein
Behelf sein sollen, um die verabsäumte Reduktion der ethischen
Ideen zu ergänzen. Nämlich sie laufen lediglich darauf hinaus,
im einzelnen zu zeigen, daß die unter der Idee des Weisen dar-
gestellte sittliche Gesinnung hinreiche, um das Sittliche, wie es
im Abschnitte von den Gütern dargestellt ist, vollkommen hervor-
zubringen. Denn umgedeutet wenigstens aus dem peripatetischen
Sinn in den cynischen ist auch den Stoikern alles ein Gut, was
jene Sätze dem Weisen nachrühmen, der Reichtum und das König-
tum mit allem übrigen. Ferner bei Fichte muß es jedem als eine
große Unförmlichkeit auffallen, daß zuerst die Frage nach der
Pflicht abgeteilt wird in die zwei Fragen, was geschehen solle,
und wie es geschehen solle, dann aber diese letztere auf eine
von der ersten so ganz unterschiedene, dem Pflichtbegriff nicht
angemessene Art behandelt, und dabei zurückgegangen wird, bis in
eine Gegend, welche ebenso hoch oder höher liegt als der Pflicht-
^ Absatz nicht im Original.
316 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 314]
begriff selbst, von welchem doch ist ausgegangen worden. Dies
nun erklärt sich ebenfalls aus dem hier angeregten Bedürfnis.
Es ist nämlich dieser Teil der Untersuchung gar nicht ein Teil
der Behandlung des Pflichtbegriffs, sondern eine Behandlung des
Tugendbegriffs und Anknüpfung desselben an die dieser Philo-
sophie ersten Glieder der Erkenntnis. Die Art aber, wie sie gestellt
ist, soll die durch die Natur der Sache geforderte Verknüpfung
beider Begriffe scheinbar ergänzen. Ebenso wenn Fichte und
andere der Abhandlung des Pflichtbegriffes eine Übersicht hinzu-
fügen von dem, was nun durch Erfüllung dieser PfHchten in der
Welt geleistet wird und hervorgebracht: so ist auch dieses nichts
anderes, als eine unförmliche und tumultuarische Stellvertretung
für die verabsäumte Reduktion des Pflichtbegriffes auf den Be-
griff der Güter.
Reine — an- Anstatt jener hier geforderten Einteilung nun in die ver-
«^++lt"a>,L einigende Auseinandersetzung des Formalen und die fortschreitende
Darstellung des Realen findet sich in manchen Sittenlehren der
Neueren teils wirklich ausgeführt, teils wenigstens vorausgesetzt
und angedeutet eine andere Einteilung, welche anders als jene
und nicht bei allen auf gleiche Weise das Reale absondert vom
Formalen, die Einteilung nämlich in eine reine Sittenlehre und
eine angewendete. Zwischen welchen beiden einige die Grenze
so ziehen, daß die erste dasjenige enthalte, was gleichsam vor der
menschhchen Natur und ohne Hinsicht auf ihre besondere Be-
schaffenheit kann ethisch gesetzt werden, die andere aber alles,
was sich nach erlangter Erkenntnis der besonderen Verhältnisse
der menschlichen Natur genauer bestimmen läßt. Auf diese Weise
aber kann jene nicht nur, wie Fichte ihr mit Recht vorwirft,
nichts Reales enthalten, sondern auch nicht einmal das Formale
umfassen. Denn sollen die Formeln des Gesetzes oder des Weisen
oder des höchsten Gutes etwas so weit Bestimmtes enthalten, daß
sich dadurch ein System der Ethik von den andern unterscheiden
läßt, und anders mögen sie doch ihre Stelle nicht erfüllen, so
Sittenlehre.
[111,1,315] III. Kritik der ethischen Systeme. 317
muß irgend etwas gesetzt sein, worauf sich jedes System auf eigene
Weise beziehen kann. Absolut aber vor der menschHchen Natur
kann nichts gesetzt sein, als die durch das bloße Denken ge-
forderten und gegebenen Gesetze desselben. Wonach in diesen
Grenzen jenen Formeln kein Inhalt kann zugewiesen werden, son-
dern nur ihre Form ausgesprochen, nämlich die Allgemeinheit der
Maximen, das Wechselverhältnis der Tugenden, die Kompossibili-
tät der Güter. Offenbar also muß in der angewendeten Sittenlehre
ihr Inhalt erst anderswoher begründet oder eingeschlichen werden,
und auf dieses positive und reale Prinzip, welches es auch sei,
kann dann jene formale Bedingung nicht anders angewendet
werden als prüfend und beschränkend. Hieraus nun erhellt genug-
sam, daß diese Einteilung in solchem Sinne nur da stattfinden
wird, wo der Charakter der Sittlichkeit darin besteht, die Natur
zu beschränken. Welche Ansicht sich auch hier durch die schlechte
Form, welche sie hervorbringt, als dem Erbauen der Wissenschaft
ungünstig verrät. Denn solche Einteilung muß jeden systemati-
schen Sinn beleidigen, weil sie nicht etwa das Fremde vom
Realen trennt, sondern jenes selbst in zwei Elemente zerfällt,
und diese ganz voneinander reißt, das Negative noch dazu als
das Höchste obenan stellend. In diesem Sinne wäre bei Kant
das eigentlich Ethische in seiner Kritik der praktischen Vernunft
und seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die reine
Ethik, diese Metaphysik selbst aber die angewendete; und es
bedarf schwerlich noch eines andern Beispieles, um den erhobenen
Tadel zu beurkunden, so deutlich zeigt sich hier die Trennung
dessen, was vereinigt sein sollte, und die schlecht verkittete und
übertünchte Verknüpfung dessen, was gesondert sein müßte.
Andere im Gegenteil sondern durch eine gleichnamige Einteilung
das Reale der Ethik in zwei verschiedene Teile, indem sie der
reinen Sittenlehre diejenigen Vorschriften zuweisen, welche all-
gemeiner Art sind und aus der Natur des Menschen selbst, oder
was sonst zum Objekte der Pflicht gemacht wird, zu verstehen.
318 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,316]
Die angewendete aber enthält solche, die sich auf ein Besonderes
beziehen, welches nur erkannt werden kann in der Erfahrung,
auf bestimmte Zustände nämlich und Verhältnisse. Eine solche
Einteilung setzt auch Kant voraus in seiner Tugendlehre, viel-
leicht um einiges daraus verbannen zu können, weil sie in diesem
Sinn genommen die reine Sittenlehre sein soll. Wiewohl er am
wenigsten berechtiget gewesen wäre, das Schwankende dieses
Verfahrens nicht wahrzunehmen. Denn wenn wie bei ihm die
menschliche Natur nicht irgendwoher abgeleitet, sondern auch nur
aufgefaßt ist: so verschwindet jeder bestimmte Unterschied zwi-
schen dem Allgemeinen und Besonderen. Daher ist nicht einzu-
sehen, warum zum Beispiel das, was sich auf den Unterschied der
Geschlechter bezieht, mehr der reinen Ethik angehören soll, als
was von der Mannigfaltigkeit der Gemütsarten ausgeht; oder
warum auf den Unterschied der Erwachsenen und der Kinder ein
ganzer Abschnitt der Ethik sich gründet, dessen aber zwischen den
Kräftigen und den Abgelebten auch gar nicht gedacht wird. Auf
der andern Seite aber hat er sehr Unrecht getan, die Ausführung
dieser angewendeten Ethik als eine Nebensache zu vernachlässigen,
da er nicht imstande war, in der reinen die Gründe befriedigend
aufzustellen zu den ethischen Bestimmungen, welche sicK auf
jenes Besondere beziehen. Woraus zugleich erhellt, daß seine an-
gewendete Ethik, ausgeführt, keineswegs nur Anwendungen ent-
halten dürfte, sondern auch für sich von vorn anfangen müßte;
welches teils eine Folge ist von der Unstatthaftigkeit der Ein-
teilung, teils von der unrichtigen und verworrenen Art, den Pfiicht-
begriff zu behandeln. Ist aber im Gegenteil die menschliche
Natur, wie es auch sei, abgeleitet und konstruiert: so muß mit dem
Allgemeinen zugleich auch der Ort gefunden sein für das Be-
sondere, und eben deshalb auch die reine Ethik schon die Gründe
enthalten zu den ethischen Bestimmungen aller Gestalten, in denen
es vorkommen kann. Und da überdies das Besondere seiner
Natur nach unendlich ist und unerschöpflich, so fehlt es wiederum
am Entscheidungsgrunde, welches nun den Vorzug erhalten soll.
[111,1, 317] III. Kritik der ethischen Systeme. 319
wiederum als das Allgemeine des Besondern dargestellt zu werden.
Und so scheint die wissenschaftliche Behandlung, wie sie aus
jenem Grunde nicht notwendig ist, aus diesem auch nicht mög-
lich zu sein.
Ferner, 1 wird überlegt, daß das Besondere und Zufällige,
womit die angewendete Ethik sich beschäftigen soll, nicht etwa
ein solches ist, das durch Naturnotwendigkeit so und nicht
anders gegeben ist, sondern immer durch willkürHches Handeln
hervorgegangen, gleichviel, ob durch eigenes oder gemeinschaft-
liches: so sieht man leicht, wie diese Einteilung zusammenhängt
mit jenem Fehler, irgend etwas als absolut gegeben anzusehen in
der Ethik, welcher sich schon als ein solcher erwiesen hat, der
die ersten Bedingungen ihrer Wissenschaftlichkeit aufhebt. Daher
natürlich auch diese Form, welche er veranlaßt, nicht bestehen
kann. Denn ist nach gewöhnlicher Weise die Ethik aus dem Pflicht-
begriff dargestellt, und es wollte zur Beschützung jener Einteilung
gesagt werden, es sei doch in Hinsicht auf einen unvollkommenen
ethischen Zustand zweierlei erforderlich, einmal freilich" ihn zu
verbessern, dann aber auch ihm, wie er ist. Genüge zu leisten:
so weiset gerade jene Behandlung dieses Vorworts zurück, weil
in der pflichtmäßigen Tat beides jedesmal muß vereiniget sein.
Ist aber die Ethik unter dem Begriff der Güter dargestellt, so
enthält die Beschreibung eines jeden die Formel, in welcher die
ganze Reihe der Veränderungen irgendeines ethischen Zustandes
eingewickelt enthalten ist von seiner ersten Bearbeitung an bis
zu seiner Vollendung. Wie sollte es also zugestanden werden,
aus diesen Reihen einzelne Momente in einem besondern Teile
der Ethik besonders zu entwickeln? Ja, selbst wenn diese Ent-
wicklung als Gegenstück einer im ganzen nach dem Begriff der
Güter behandelten Ethik sollte dem Pflichtbegriff unterworfen
werden, eben um jene häufig angedeutete, aber nirgends ausge-
führte Verknüpfung des Behandeins und Verbesserns endlich dar-
zustellen, welches gewiß die verständigste Ansicht wäre : so eignet
^ Absatz nicht im Original.
320 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [IH,!, 318]
sich doch ein wirklicher bestimmter Zustand nicht zu einer solchen
wissenschaftlichen Darstellung, sondern die richtige Behandlung
desselben ist vielmehr die künstlerische und selbstbildende An-
wendung, welche ein jeder zu machen hat von der ihm als Richt-
maß geltenden Ethik. Denn die Wissenschaft kann nur vereinzelt
darstellen erst dieses Verhältnis, dann jenes; in einem wirklichen
Zustande aber läßt sich nichts vereinzeln, sondern ein jedes Ver-
hältnis hängt zusammen mit der Art, wie auch die übrigen be-
stimmt sind, ohne daß jedoch irgend die sämthchen Bedingungen
eines wirklichen gegebenen Momentes ein Ganzes ausmachen,
welches durch bestimmte Formeln darzustellen wäre. Über keinen
Gegenstand also würde etwas können ausgesagt werden, bis er
seine Einzelheit verloren, und sich gleichsam unter den Händen
verwandelt hätte in ein Ganzes mit mehreren; und anstatt Regeln
auf viele ähnliche Fälle anwendbar an die Hand zu geben, könnte
dieser Teil der Ethik mit Recht nur Entscheidungen enthalten
über einzelne ganz bestimmte Fälle. Das scheinbare Bedürfnis
aber nach einer solchen angewendeten Ethik ist unstreitig daher
entstanden, weil durch Einwirkung eben jenes Fehlers auch das,
was als reine Ethik gegeben wurde, größtenteils nicht allgemein-
gültig war und das Ganze umfassend, sondern von Voraus-
setzungen ausgehend, welche nur eine bedingte Gültigkeit übrig
ließen, und also nur einer gewissen Zeit angemessen, wovon oben
Beispiele genug angegeben wurden. Denn dieses unzulängliche
Verfahren einmal mit der Wirklichkeit befangen, konnte eher bei
dem herrschenden Geist zu dem noch bestimmteren herabgeführt
werden, als zu dem höheren und unbedingten hinauf. Die wahre
Darstellung der Ethik aber darf sich, wie bereits gesagt, auf
keine, weder eine ganz bestimmte noch eine längere und unbe-
stimmte Zeit beschränken, sondern muß ganz allgemein sein;
nicht so nämHch, daß sie von dem Inhalt irgendeiner Zeit hinweg-
sieht, sondern so, daß sie den von einer jeden umfaßt. Ja in
demselben Maße, als die Gegenwart sich durch sie bestimmen
[111,1, 319] III. Kritik der ethischen Systeme. 321
läßt, muß sie auch historisch die Vergangenheit und prophetisch
die Zukunft bestimmen. Denn nur indem ihm seine Stelle
bestimmt vvirdinderReihederethischen Fortschritte,
wird das Vergangene eigentlich erkannt und gewür-
digt; und was die Zukunft betrifft, so ist ebenso alles
Erfinden, insofern es nicht etwa nur ein Entdecken
ist wie in der Naturwissenschaft, eigentlich ethisch,
und in der Ethik liegen die Prinzipien der von vielen
gesuchten Erfindungslehre. Hievon werden sich Beispiele
einem jeden aufdrängen. Oder erscheint nicht vieles von dem, was
jetzt Besseres anzutreffen ist in unsern geselligen und andern Ver-
hältnissen, als Auflösung der Widersprüche, an welchen diese Ver-
hältnisse sonst litten? Und kann man zweifeln, daß eben dieses
auch durch Rechnung hätte können gefunden werden, wenn jemand
den sittlichen Zustand verglichen hätte mit den ethischen Forde-
rungen? Ebenso, wie manches ist schon ehedem dagewesen, was
unserer Überlegung besser erscheint als das jetzige, und jeder wird
einsehen, daß es schwerlich hätte verschwinden können, wenn es
in seinem sittlichen Wert wäre erkannt und auch so aufgefaßt
worden. Denn nur was zufällig da ist in menschlichen
Dingen ist vergänglich. Nicht anders aber muß auch aus
dem, was jetzt noch ein Gegenstand ähnlicher Klagen ist, sich
berechnen lassen, was die Zukunft wird erfinden müssen, um ihnen
abzuhelfen. Nur daß die Ethik selbst nichts weiter als die Formeln
enthält, nach denen diese Berechnungen anzulegen sind, ihre An-
wendungen selbst aber liegen außerhalb ihres Gebietes.
Endlich haben noch andere sich desselben Namens bedient, 3.
um einen andern Unterschied zu bezeichnen, nämlich zwischen der
Ethik selbst und einigen untergeordneten Wissenschaften, welche
ihr auf eine besondere Art angehören, indem sie Zweck und
Grundsätze von ihr entlehnen, doch aber auch jede ein eigenes
Ganzes für sich ausmachen, kurz auf eine Art, welche genau zu
bestimmen nicht wenig schwer fällt. Jedoch auch ohne den Namen
Schleiermacher, Werke. I. 21
322 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 320)
findet sich dieselbe Verbindung solcher Wissenschaften mit der
Ethik auch anderwärts, so daß die Prüfung dieser Form um so
weniger kann übergangen werden, da sie die Ethik durch den
glänzenden Schein vergrößert, als werde in ihr wirklich ein ganzer
wissenschaftlicher Cyklus dargestellt. Auf den ersten Anblick nun
könnte man Ähnlichkeit finden zwischen diesem Verhältnis und
dem der reinen Qrößenlehre zu der angewendeten; der näheren
Betrachtung aber muß die gänzliche Verschiedenheit bald ein-
leuchten. Denn die Gegenstände, auf welche sich die Wissen-
schaften der angewendeten Größenlehre beziehen, sind keineswegs
durch die reine gefunden oder in ihr abgeleitet, sondern sie
müssen anderwärts her gesetzt werden, ja im Gegenteil ihre Wahr-
nehmung muß gewissermaßen vorausgesetzt werden, damit nur die
Aufgabe entstehe, die reine Größenlehre zu suchen. So daß die
Anwendung der Wahrheiten dieser letztern auf jene nur ist teils
ein Zurücksehen auf dasjenige, wovon vorher ist hinweggesehen
worden, teils ein Hinsehen auf ein fremdes, und nicht etwa
untergeordnetes, sondern höheres Gebiet, nämlich das der physi-
schen Kräfte. Ganz das Gegenteil aber findet statt in Hinsicht
der Ethik und der ihr untergeordneten Wissenschaften. Denn
die Staatskunst zum Beispiel, die Erziehungslehre, die Haus-
haltungskunst, als welche vorzüglich in diesem Sinne die an-
gewendete Sittenlehre ausmachen, alle diese können in der Wissen-
schaft nur existieren in der Voraussetzung einer ethischen Aufgabe,
und können auf die Ethik nur bezogen werden, nicht inwiefern sie
durch ein besonderes, von ihr unabhängiges Bedürfnis aufgegeben
sind, indem sie so angesehen vielmehr im Widerspruch mit ihr
stehen müßten, sondern lediglich inwiefern ihre Idee ist in der
Ethik gefunden worden. Welches jedoch nur gilt von derjenigen
Ethik, welche als ursprünglich und selbst hervorbringend gedacht
wird; dagegen jene Ähnlichkeit mit der Größenlehre allerdings
besteht für diejenige Ansicht, welcher das Sittliche nur beschrän-
kend ist, der Stoff zur Beschränkung aber ihm überall muß von
außen gegeben sein, indem denn auch jene Aufgaben aus dem
[111.1,321] III. Kritik der ethischen Systeme. 323
sinnlichen Bedürfnis entspringen, und nur verlangt wird, ihre Be-
handlung übereinstimmend zu machen mit den Forderungen der
Ethik. Und dieses gibt allerdings, wenn sonst keine Ursach sollte
zu finden sein, eine Andeutung über den Ursprung einer sonst
unerklärlichen Mißgestaltung.
Doch 1 nur beiläufig von dieser Vergleichung und mehr als ^\ Einzelne
ö o Grunde gegen
genug, da die Sache an sich selbst betrachtet das eben Gefundene ^jjgjg
so sehr bestätiget. Denn von dem Gesichtspunkt der selbst- Scheidung.
tätigen Sittlichkeit aus muß die Idee jeder Wissenschaft in
der Ethik gefunden und ihre Ausführung aufgegeben sein, weil
sonst das Streben danach keine Zeit ausfüllen und gar nicht
dürfte vorhanden sein. Hiernach also wären alle Wissenschaften
einander gleich, und keine entweder oder alle müßten der an-
gewandten Ethik zugehören. Der Unterschied aber, welcher sich
eröffnet, ist dieser, daß bei allen eigentlichen spekulativen Wissen-
schaften das Einzelne keiner ethischen Beurteilung weiter unter-
worfen ist, außer als Tat in der Zeit, nicht aber als Theorem
in Beziehung auf seinen Inhalt, sondern so ist es nur den Ge-
setzen der Erkenntnis unterworfen. Wodurch also die Behandlung
dieser Wissenschaften als ein Fremdartiges aus der Ethik gänzlich
entfernt wird, und sie von der Ethik aus nur erscheint als die
anderweitig zu bestimmende Technik des aufgegebenen Zweckes.
So wird, um nicht ganz kahl zu reden, in der Ethik auch ge-
fordert die Sternkunde, und als Tat ist allerdings auch ethisch
zu beurteilen, ob gerade dieser sich damit beschäftigen solle oder
nicht, und ob gerade jetzt oder nicht: ob aber nach dieser oder
einer andern Voraussetzung die Bahn eines Gestirns zu suchen
ist, und ob es richtig sei, die Nebelflecke als Milchstraßen zu be-
trachten oder nicht: dieses, wie alles, was den Inhalt betrifft, hat
keine Berührung mehr mit der Sittenlehre. Praktische Wissen-
schaften dagegen, deren Inhalt aus Vorschriften besteht zu einem
eigentlich sogenannten Handeln, welches auch einzeln und für sich
Absatz nicht im Original.
21*
324 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 322)
mit den ethischen Zwecken zusammenhängt, sind nicht nur durch
die Ethik aufgegeben, sondern auch alles einzelne in ihnen ist
selbst wieder ethisch zu beurteilen. So zum Beispiel von der
Erziehungskunst ist nicht nur die allgemeine Aufgabe, auf die
Belebung der geistigen Kräfte der Jugend richtig zu wirken, in
der Ethik gegründet; sondern auch jede Vorschrift, welche dazu
erteilt wird, ob zum Beispiel durch willkürliche Verknüpfung
mit fremdartigen angenehmen Folgen die Tätigkeit der geistigen
Kraft dürfe unterstützt und gelenkt werden, darf nicht technisch
allein nach der Taughchkeit zum Zweck beurteilt werden, son-
dern muß auch der ethischen Prüfung nach der Zusammenstim-
mung aller Zwecke gewachsen sein. Soll aber der allgemeine
Zweck gleich in dieser Beziehung so ausgedrückt werden, daß
jeder ethische Fehler auch ein technischer würde, so wird alsdann
gewiß auch alles Technische ethisch, und die Ursach geht ganz ver-
loren, diese Theorie als eine besondere aus der Behandlung der
Sittenlehre abzuscheiden. Nicht anders die Kunst des Haushaltes,
oder um der dürftigen und mißverstandenen Benennung zu ent-
fliehen, die Lehre von Vermehrung des Reichtums; denn sie ist
ebenfalls nicht nur durch die Ethik aufgegeben, sondern auch
jeder einzelne Fortschritt zum Zwecke kann an und für sich nichts
anderes sein als eine sittHche Handlung, die allen Gesetzen der
Ethik gemäß sein muß; so daß also bei Verfolgung dieser Auf-
gabe der ethische Standpunkt ununterbrochen der herrschende
bleibt, ja der einzige. Das nämliche gilt auch von der Staatskunst,
wie jedem von selbst einleuchten muß. Wie also können diese
von dem angenommenen Standpunkte aus eigene und abgeson-
derte wissenschaftliche Ganze bilden, da doch ihre Teile unter-
einander nicht genauer oder nach einem andern Gesetz zusammen-
hängen, als jeder einzelne und alle zusammen mit dem größeren
Ganzen, von welchem sie sollen getrennt werden? Auch läßt sich
leicht weissagen, daß, wenn ein solcher, dem eine reale und selbst-
hervorbringende Ethik vorschwebt, eine von diesen abgeleiteten
[111,1,323] III. Kritik der ethischen Systeme. 325
Wissenschaften einzeln bearbeiten wollte, wie jetzt Schwarz ^ an-
gefangen hat mit der Erziehungslehre, er entweder von selbst,
wenngleich ohne deutlich zu wissen warum, nicht eine streng
wissenschaftliche Form wählen wird, oder diese nicht wird fest-
halten können, sondern sich genötigt sehen, bei jedem einzelnen
Gegenstand und vielleicht öfter in die Ethik zurückzugehen und
diese selbst zerstückelt mit hervorzubringen. Füglicher aber, und
vielleicht ausschÜeßend, läßt sich eine solche Trennung denken aus
dem Standpunkte der negativen Ethik, welche nicht alle jene
Zwecke selbst aussinnt, sondern sie bereits findet, aufgegeben durch
irgendein anderes Bedürfnis. Daher sie nicht mit Unrecht diese
Lehren der Ethik anhängt in der Gestalt, welche diese ihnen ge-
geben hat durch äußere Begrenzung sowohl, als durch innere Be-
arbeitung. Denn hier ist offenbar, teils daß sie nicht eins aus-
machen können mit der Ethik, teils auch, daß das Ganze mit dieser
auf eine sehr verschiedene Art zusammenhängt von der, welche
die Teile desselben untereinander verbindet und die Einheit der
Wissenschaft bestimmt. Jedoch kann vor der Kritik dieser Ur-
sprung, auch wenn er befriedigend erwiesen ist, die Sache nicht
verdammen; sondern es muß gefragt werden, ob sie überhaupt
bestehen kann oder nicht, und hier springt folgendes in die Augen.
Zuerst ist diese Form überall nur höchst unvollständig ausgeführt,
und so, daß jedes wirklich vorhandene Glied aus dem rechten
Gesichtspunkt betrachtet auf dies Bedürfnis von andern würde
hingeführt haben. So zum Beispiel, wenn die Erziehungslehre
ein eigenes Ganze sein soll von der oben beschriebenen Aufgabe
ausgehend, so erscheint sie entweder nur als ein willkürlich ab-
gesondertes Stück einer allgemeinen Theorie des Umganges und
der geistigen Einwirkung der Menschen aufeinander; oder wenn
das Einseitige darin ein unterscheidendes Merkmal ausmacht, so
müßten wenigstens alle andern intellektual ungleichen Verhältnisse
der Menschen mit diesem zu gleichen Rechten behandelt sein.
^ Karl Schwarz, stark von Schleiermacher beeinflußt.
326 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 324]
Und warum sollten nicht diesen zusammen die gegenseitigen Ein-
wirkungen und die gleichen Verhältnisse mit denselben An-
sprüchen gegenüberstehen? Ferner in der Haushaltungskunst kann
der Reichtum angesehen werden entweder als Mittel zur Dar-
stellung sittlicher Ideen überhaupt, welches jedoch dem obigen
zufolge weniger ethisch sein würde, oder auch selbst als Dar-
stellung einer solchen Idee, nämlich derbildenden Herrschaft
des Menschen über das Leblose. Weder aber ist das Ma-
teriale im ersten Falle das einzige Darstellungsmittel überhaupt,
noch auch in dem andern zeigt sich die Herrschaft des Menschen
allein in der Vermehrung der beweglichen realen oder symboli-
schen Erzeugnisse: sondern es ist auch sowohl das Formale ein
Darstellungsmittel überhaupt, als auch die Vermehrung und Ver-
besserung der Formen ein Produkt der bildenden Gewalt des
Menschen. Daher müßte mit der Theorie des Reichtums entweder
als eins verbunden sein oder ihr als entsprechend gegenüberstehen
die Theorie zur Erweiterung und Verbesserung der Sprache und
der Kunst, sie mögen nun angesehen werden von seiten der Dar-
stellung oder von seiten des Genusses. Beide Vernachlässigungen
nun, die erste sowohl als die letzte, scheinen ihren Grund nirgends
anders zu haben, als in der Vernachlässigung des Besonderen und
dem Begnügen im Allgemeinen. Denn wenn es mit der Erziehung
auf nichts abgesehen ist, als auf das Hervorbringen der Recht-
lichkeit und der gemeinnützigen Kultur, so braucht ihr allerdings
nichts anderes gegenüberzustehen als der Staat, in dessen Ein-
richtungen sich ja der Idee nach alle Mittel vereinigen sollen, das-
selbe hervorzubringen in allen, die bereits in seinen Wirkungs-
kreis eingetreten sind. Ebenso, wenn nur dasjenige soll dargestellt
werden, das zum Allgemeinen gehört, so reicht allerdings das
Materiale hin, und die Kultur des Formalen wird übersehen, indem
sich dieses nur zur Darstellung des Besonderen eignet. Ebenso
endlich müßte der Theorie des Staates in der praktischen Ethik
sowohl, wo er einen unmittelbaren Wert hat, als auch in der
genießenden, die ihn nur als Notmittel gebraucht, gegenüber-
[111,1, 325] III. Kritik der ethischen Systeme. 327
stehen die Theorie der wissenschaftHchen und der religiösen Ge-
meinschaft. Beide aber sind nirgends weder als eigene Wissen-
schaften noch als Veranstaltungen des Staates gehörig behandelt.
Von der Religion nun ist nichts zu sagen, wenn man sich des ethi-
schen Druckes erinnert, unter welchem das freie Kombinations-
vermögen existiert: denn so wird sie natürlich dem einen nur ein
Werkzeug des ethischen Wissens, dem andern aber ein untergeord-
netes und zufälliges, nur unter gewissen Umständen anwendbares
Mittel. Das Übersehen der wissenschaftlichen Verbindung aber
gründet sich offenbar in der Negativität der Sittenlehre. Denn
hier wäre die Vereinigung nicht beschränkend, wie beim Staat
und zum Teil auch bei der Kirche, sondern erweiternd, und diese
also durch die Sittenlehre zu fordern würde voraussetzen, daß die
Aufgabe des Wissens aus der ethischen unmittelbar hervorgegangen
wäre. Ganz anders freilich ist es zu beurteilen, wenn bei den
Alten die Staatskunst allein gleichsam die ganze angewendete
Sittenlehre in dieser Hinsicht ausmacht. Denn weil alles Bürger-
liche bei ihnen so sehr als irgend etwas selbsttätig war, der Um-
fang der Religion mit dem des Staates von selbst zusammenfiel,
und das Wissen noch viel zu wenig ausgebreitet und organisiert
war, so fanden sie keine Ursach zu diesen für uns so einleuchten-
den Absonderungen.
Doch! über das einzelne, wie es wirklich' dasteht, genug, um
die Widersprüche der Form anzudeuten, durch welche das Gebäude
ganz das Ansehen des Zufälligen erhält. Denn die letzte Ent-b) Allgemeiner
Scheidung gibt nur das zweite, was in die Augen fällt. Dieses Emwurf.
nämlich, daß, wenn eine vollständige Behandlung solcher an-
gewendeten Ethik die den gegebenen entsprechenden Teile überall
hinzufügte, alsdann bald alle reale Vorschriften unter diesen Teil
sich stellen würden, der reinen Ethik aber nichts übrig bleiben,
als das Formale in seiner gewöhnlichen Dürftigkeit. Sonach aber
würde auch die vollständigste Behandlung des Realen immer
jenen Anschein des Zufälligen behalten, weil ohne Ableitung aus
^ Absatz nicht im Original.
328 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 326]
dem rein Ethischen kein Grund da sein kann sich von der Voll-
ständigkeit zu überzeugen,
c) Welches Will i man nun fragen, ob vielleicht auch diesen mißlungenen
sind die pormen, wie jenen zuerst erwähnten, etwas Wahres den Beifall
scheinbaren . , r , ,
Grundla<Ten erschlichen hat, dessen sie sich erfreuen, so kann es folgendes
für diese sein. Zuvörderst das Bedürfnis, die ethischen Vorschriften auch nach
Scheidung." ]viaßgabe der Gegenstände, welche durch sie hervorgebracht wor-
den, zusammen zu ordnen. Welches bei der gemeinen Behand-
lung nach dem Ptlichtbegriff nicht möglich ist. Denn da müssen
zum Beispiel die Vorschriften, welche die Theorie des Reichtums
bilden, zusammengesucht werden unter mancherlei vollkommenen
und unvollkommenen Pflichten gegen sich und andere; ebenso
die der Erziehung teils unter den Pflichten, die Moralität un-
mittelbar zu befördern, teils unter denen in Ansehung der Freiheit
anderer, und wo nicht sonst noch. Aus welchem Gesichtspunkt
betrachtet diese verunglückte Form eigentlich nichts anderes wäre,
als die natürliche Tendenz einer Darstellung der Sittenlehre unter
dem Begriff der Güter, welche jedoch, weil es an dem deut-
lichen Bewußtsein des Begriffs fehlt, nicht anders ausfallen konnte
als fragmentarisch und unvollkommen. Femer aber kann auch
dabei zum Grunde liegen ein Bestreben, die verschiedenen Po-
tenzen des Daseins bestimmter ins Auge zu fassen, als bei der
gewöhnlichen Behandlung der Ethik nach dem Pflichtbegriff mög-
lich ist, und diese Beziehung kann leicht den Schein der Voll-
ständigkeit heiA'orgebracht haben. Denn wenn sicK der Mensch
außer der ersten Stufe seines Daseins als Person und Individuum
noch betrachtet als Glied einer Familie, eines aus den natürlich
ungleichartigen Teilen der Menschheit bestehenden Ganzen, und
dann noch als Glied eines Staates, aus gleichartig Ungleichen
zusammengesetzt, so scheint der Umfang seiner Bestimmung aus-
gefüllt. So beziehen sich aber auf der Familie äußeres und inneres
Dasein, Erziehungskunst und Hauswirtschaft, Staatswirtschaft aber
und Politik auf das des Staates. Von hier scheinen unter den
^ Absatz nicht im Original.
[111,1,327] III. Kritik der ethischen Systeme. 329
Alten mehrere ausgegangen zu sein bei ihrer Gestaltung der
praktischen Philosophie. Nur daß sie sich bei der mittleren Potenz
weniger aufhielten, und die Familie ganz als Element des Staates
behandelten. Auch das gehört zu dieser Ansicht, daß, weil im
Staate zugleich der Mann in seiner ganzen Eigenheit könnte tätig
sein, zuletzt einigen von ihnen die Staatskunst alles wurde, die
Ethik aber nur als formale Elementarlehre erschien, aber freilich
der Idee nach in einem weit vollständigeren Sinne, als wo die
Neueren bis zu einer solchen Teilung gelangen, und vielmehr so,
daß es eine große Annäherung ist zu der oben beiläufig ge-
zeichneten richtigen Gestalt der Wissenschaft. Indes geht schon
aus den obigen Andeutungen hervor, daß jene Einteilung auch
diesem Gesichtspunkt nicht genügt. Denn die Staatswirtschaft
kann nicht anders gedacht werden als abhängig von der Politik;
die Hauswirtschaft aber und die Erziehungskunst, wie ihre Grenzen
gewöhnlich gesetzt werden, erschöpfen noch bei weitem nicht die
ethische Theorie der Familie. Noch mehr aber möchte es daran
fehlen, daß in der formalen Ethik der Grund aufgezeigt worden,
warum nun in diesen beiden Ganzen alle möglichen Konstruk-
tionen eines Zusammengesetzten erschöpft wären, vielmehr finden
sich Andeutungen genug zum Gegenteil. Negativ nämlich das
Bedingte und Zufällige, dem die Familie unterworfen ist in ihrer
Bildung sowohl als Zerstörung; positiv aber die fast überall an-
erkannte Aufgabe der Freundschaft, mit der es von den mehrsten
doch auch angesehen ist auf ein geschlossenes Ganze. So daß
Zufälliges und Unbewußtes in der Form auch hier aus der un-
gründlichen Auffassung des Inhaltes von selbst hervorgeht.
Ganz entgegengesetzt dem bis jetzt betrachteten Verhältnis
der Staatskunst zur Sittenlehre ist jetzt noch, wenngleich nur von
einigen Neueren aufgestellt, das Naturrecht in Erwägung zu ziehen,
welches die Ethik gewissermaßen von außen zu begrenzen sucht,
sich als eine eigene beigeordnete Wissenschaft neben sie hin-
stellend. Hiebei aber ist nicht nötig, auf einen andern Rück-
sicht zu nehmen, als nur auf Fichte. Denn zu tumultuarisch
330 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 328]
und oberflächlich ist die Art, wie Kant diese Beiordnung be-
gründet, indem er die Gesetzgebung der Vernunft einteilt in die-
jenige, die nur eine innere ist, und diejenige, welche auch eine
äußere sein kann. Schon durch die Formlosigkeit des Ausdrucks
„Sein*' und „Seinkönnen*' wird sie verdammt. Noch mehr aber
durch die Überlegung, daß der Umfang der äußeren Gesetzgebung
höchst veränderlich ist, und wenn man dabei auf das Seinkönnen
sieht, auf das, was durch Verträge und willkürliche Einrichtungen
hereingezogen werden kann, der Ethik wenig übrigbleiben würde.
Erwägt man ferner das „Auch", welches feststellt, daß die äußere
vorher schon eine innere sein muß: so sieht man, daß Kant nicht
weniger als die Früheren ungewiß ist über das Verhältnis der
Sittenlehre zum Naturrecht, und über des letzteren Ableitung. Ja
man weiß nicht, soll es enthalten eine Grenzbestimmung der Politik
für die Ethik, oder soll es eine solche voraussetzend nur den In-
halt des politisch Möglichen analysieren. In beiden Fällen aber
leuchtet ein, daß nichts Reales durch diese Begründung ausge-
drückt worden, als jenes Alte, daß nämlich das menschliche Han-
deln eine andere Quelle und ein anderes Ziel haben soll für sich,
die Ethik aber nur die Grenzen desselben bestimmen. So daß
auch das Naturrecht keinen andern Ursprung zu haben scheint,
als die Negativität des Begriffs von der Sittlichkeit. Wie denn
schon der Frage nach einem absoluten Dürfen außerhalb des
Sollens kaum ein anderer Sinn kann untergelegt werden. Daher
auch kaum zu bezweifeln ist, daß derselbe Geist auch Fichte be-
wogen, im voraus anzunehmen, das Naturrecht solle doch wohl
eine besondere Wissenschaft sein, welches ja allerdings einer Unter-
suchung bedurft hätte. Doch da hievon auch die Tat den Beweis
führen kann, so ist zu prüfen, wie er es denn als eine solche
abgeleitet und hervorgebracht hat. Es ist aber hier dässelbige
zu tadeln, was schon der Sittenlehre ist vorgeworfen worden,
nämlich daß das Wesentliche und das in Hinsicht desselben nur
Zufällige in gleichen Rang gestellt wird, als wäre es von dem
[111,1,329] III. Kritik der ethischen Systeme. 331
gleichen Grunde auch gleich unmittelbar abgeleitet. Denn die
Notwendigkeit, sich selbst als Individuum, oder, welches gleich
ist, eine teilbare Welt und andere neben sich zu setzen, ist eine
ganz andere, als die Notwendigkeit, die Welt wirklich zu teilen,
und die Freiheit durch fortdauernde Anerkennung zu beschränken.
So wie der jener ersten zum Grunde liegende Charakter der Ver-
nünftigkeit, daß nämlich das Handelnde und das Behandelte eins
sei, ein anderer und höherer ist als das Gesetz der Konsequenz,
auf welchem diese letzte beruht. Auch muß es jedem einleuchten,
daß unmöglich aus demselben Grunde wie die Sinnenwelt oder
der Leib und also zugleich mit diesem auch der Rechtsbegriff und
der Gedanke eines Staats, ja einer bestimmten einzig möglichen
Verfassung derselben könne gesetzt und beides auf gleiche Weise
des Selbstbewußtseins Bedingung sein. Wovon den ersten Fehler
in der Rechnung genauer aufzusuchen hier nicht hergehört, und
je leichter es ist, um so eher einem jeden selbst kann überlassen
werden. Genau nun hat weder im Naturrecht noch in der Sitten-
lehre Fichte dargestellt, wie beide sich gegeneinander verhalten
sollen; im allgemeinen aber läßt sich zeigen, daß bei seiner
Begründung und Ausführung ein unabhängiges Verhältnis nicht
kann statthaben. Denn sobald es zwei Gesetze des Handelns
gibt, wie hier das Sittengesetz und das der Konsequenz: so muß
zwischen beiden, wenn es eine Wissenschaft des Handelns geben
soll, aufgezeigt werden ein bestimmtes Verhältnis der Überein-
stimmung; indem es nicht genug ist, zu zeigen, wie freilich Fichte
tut, daß der Rechtsbegriff niemals dem Sittengesetz widerstreiten
könne wegen der jedem Recht beiwohnenden Klausel der Frei-
heit des Nichtgebrauchs. Er müßte denn, wie er nicht tut, zeigen
können, daß, einmal angenommen jenes Gesetz der Konsequenz,
dennoch nichts anderes sich je daraus ableiten lasse, als eben der
Rechtsbegriff. Nun aber versperrt Fichte jeden Weg, um die ge-
forderte Übereinstimmung zu finden. Denn nicht nur soll keines
abhängig sein vom andern, sondern es bleibt auch nicht übrig,
332 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 330]
beide als Teile oder Folgerungen eines höheren anzusehen. Teils
nämlich würde dieses den Rang beider Wissenschaften, wie er
ihn festgestellt hat, schmälern, teils auch müßte dann jedes von
beiden seine eigene Sphäre haben, ausschließend alles, was das
andere enthält. Wogegen bei ihm der Inhalt zum Teil zusammen-
fällt, indem die Ehe, das Eigentum, der Staat und sonst einiges
notwendig ist aus Gründen der Sittenlehre sowohl als des Natur-
rechts. Welches jedoch auch sonst kein günstiger Umstand ist
für den, welcher behauptet, für alles wissenschaftlich Notwendige
könne es nur einen Grund geben und einen Beweis. Zum
Teil aber sind auch beide in Hinsicht dessen, was sie beide um-
fassen, gänzlich getrennt. Denn die Sittenlehre kann es durch
die Gründe, aus welchen sie eine Ehe fordert und einen Staat,
nicht zu einer solchen Konstitution beider bringen, wie das Natur-
recht zu bilden vermag, sondern jene setzt, dieses gänzlich ver-
leugnend, einen Notstaat voraus, der doch gar nicht möglich wäre,
wenn das Konsequenzgesetz, aus dem der rechte Staat von selbst
erfolgt, jene dem Setzen der Individualität gleiche Notwendigkeit
hätte, und die Sittenlehre um dieses Gesetz wüßte. So daß nicht
einmal eingetreten ist, was Fichte vermutete, es könne nämlich
wohl die Sittenlehre eine neue Sanktion herbeiführen für den
Rechtsbegriff und was aus ihm folgt. Sehen wir nun noch einmal
auf die Zusammensetzung dieses sogenannten Naturrechts: so
zeigt sich, daß es aus den ungleichartigsten Dingen besteht. So
nämlich fortgesetzt, wie Fichte es angefangen, wäre es gewesen
eine Ableitung alles KörperUchen und Äußerlichen, auch der Ver-
nunftwesen in ihrer körperlichen Darstellung als Bedingung des
Selbstbewußtseins, also allerdings eine Hälfte der idealistischen
Philosophie, nämlich die physische, und wohl wären wir beraten,
hätte Fichte dies festgehalten, und uns nun weiter geschenkt die
Ableitung der Verschiedenheit äußerer Objekte und ihrer natür-
lichen Klassifikation. So aber angefangen, wie er es fortsetzt,
und wie andere es anfangen, ist es nichts anderes als die nur
f III, 1,331] III. Kritik der ethischen Systeme. 333
durch ein ethisches Bedürfnis, nämHch das der Übereinstimmung,
entstehende Aufgabe zu dem, was in der Staatsi<unst als ein Will-
kürliches und Positives erscheint, das Natürliche und Notwendige
zu finden. Auf diese Art auch bezeichnet mit andern sich ähnlich
ausdrückenden Alten Aristoteles diesen Teil von dem Inhalt
des neueren Naturrechts als das, was in dem gesetzlichen Rechte
natürlich ist; aber wiewohl er das Hinzukommende, wodurch es
sich in verschiedenen Gestalten offenbart, für ungöttlich und un-
vollkommen hielt, hatte er doch keinen Drang, jenes Reine als
ein eigenes Ganze darzustellen, weil er nämlich überzeugt war von
dessen ethischem Ursprung und Wesen. Was nun jenes Gesetz
der Konsequenz in Beziehung auf das Handeln bedeutet, und wo
es in der Ethik zu stehen kommt, dieses berechne sich jeder aus
dem, was oben gesagt ist von der vollkommenen und unvoll-
kommenen PfHcht. Denn das Recht, wie aus Fichte selbst her-
vorgeht, insofern es ein Handeln bestimmt, ist nichts Ursprüng-
liches und für sich Bestehendes, sondern hängt ab von der voll-
kommenen Pflicht als eine andere Ansicht derselben, und erwartet,
wie auch diese tut, seine Realität erst von der unvollkommenen.
So viel aber ist ohne weiteres offenbar, daß ein so geartetes und
gebautes Ganze sich nicht eignet, neben der Ethik zu stehen, ihr
die Alleinherrschaft des Handelns beschränkend, und daß jener
nicht weit entfernt gewesen ist von der Wahrheit, der es für
nicht mehreres gelten ließ als für ein groteskes Spiel des wissen-
schaftlichen Strebens. Daß also eine rechte Ethik auch diese Un-
form zerstören, und das Wesen und Praktische daraus in sich selbst
aufnehmen muß, jede aber, die hiezu unfähig ist und jene Disziplin
anerkennt im Systematischen oder Sittlichen, oder wie es zu-
sammenzuhängen pflegt in beidem, muß vernachlässiget sein,
dieses folgt unmittelbar.
334 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre- [111,1, 332]
Anhang.
Vom Stil der bisherigen Sittenlehre,
So wie nun die Wissenschaft selbst in den verschiedenen
Formen erscheint, welche bis jetzt sind in Erwägung gezogen wor-
den, so gibt es auch noch besondere Unterschiede in der Form oder
dem Stil der einzelnen Werke, welche sich als Darstellungen der
Ethik ankündigen. Diese freilich sind nicht mit jenen von gleicher
Wichtigkeit für die geführte Untersuchung selbst, und daher auch
aus dem eigentlichen Umkreise derselben mit Recht ausgeschlossen,
dennoch aber einer beiläufigen Betrachtung nicht unwert. Denn
so wie es freilich ein leeres Geschäft wäre hiebei ins einzelne
zu gehen, und auch bei denjenigen nach der Form und Eigentüm-
lichkeit ihrer Darstellung und nach deren Gründen zu fragen, wel-
chen von der Kunst der Zusammensetzung jeder Begriff mangelt:
so muß doch auf der andern Seite jeder mit dieser Einsicht Be-
gabte wohl wissen, daß bei denen, welche auf den Namen der
Künstler in der Wissenschaft dürfen Anspruch machen, nichts ganz
Zufälliges stattfindet, sondern jede Bestimmung auch der Form
ihren Grund hat, es sei nun bewußt in einer Absicht, oder un-
bewußt in einer nicht verkannten Beschaffenheit des Gegenstandes
oder des Darstellenden. Aus diesem Gesichtspunkt nun sind be-
sonders merkwürdig drei Verschiedenheiten des Stils in Darstel-
lungen der Sittenlehre, welche sich bei Verschiedenen nicht nur
zu verschiedenen Zeiten wiederfinden, sondern auch unabhängig
von der Beschaffenheit der Grundidee und dem Inhalt des Systems.
So daß sie uns bei Erforschung ihrer Ursachen über die unmittel-
baren Gegenstände unserer Untersuchung hinaus und wahrschein-
lich zu demjenigen hinführen, worauf wir nur bei der Einleitung
des ersten Buches vorbeigehend hingesehen haben, indem sie näm-
lich abzuhängen scheinen von der Art, wie jeder die Ethik ge-
[111,1,333] Anhang. 335
funden hat, und wie er sie anknüpft; welches, ob es sich so
verhalte, ein jeder aus folgendem ersehen mag.
Zuerst nun gibt es in der Ethik ein rhapsodisches und
tumultuarisches Verfahren, welches sich begnügt, unter
der großen Masse alles dessen, was unter das Gebiet der Wissen-
schaft gehört, gleichsam herumzuwühlen, ohne gesunde Dialektik
das einzelne vergleichend und unterordnend, ohne systematisches
Verfahren seine Abschnitte wählend oder vielmehr ergreifend nach
hergebrachter ungeprüfter Weise des gemeinen Lebens oder aufs
Geratewohl. So daß von einer so unvoUkmmenen Behandlung hier
gar nicht Erwähnung geschehen könnte, wenn nicht ein Künstler,
dessen Werke anderer Art, es seien nun physische oder technische
und kritische, dem allgemeinen Urteil nach einen weit höheren
Charakter an sich tragen, Aristoteles nämlich, es in der Sitten-
lehre nicht weiter hätte bringen können, als bis hieher. Der Grund
aber der Verdammnis scheint der zu sein, daß er die Wissenschaft
nicht an sich gewollt hat, wie er denn ausdrücklich sagt, er sehe
nicht die Möglichkeit, sie zustande zu bringen ; sondern er hat ge-
klebt an einem materiellen Endzweck. Er wollte nämlich nicht als
Resultat der Wissenschaft oder als höchstes Kunstwerk, sondern
wie es eben sein könnte als ein wirkliches Ding in der wirklichen
Welt, ein gemeines Wesen. Daß dieses die ganze subjektive Ten-
denz seiner Ethik ist, und er auch mit dem Staat nicht etwa höher
hinaus will, wie Piaton, sondern nur diesen Standpunkt hat, dar-
über wird gewiß kein Zweifel erhoben werden von denen, welche
seine Sittenlehre kennen. Dieses vorausgesetzt nun wird ein Blick
auf diejenigen, die ihm hierin ähnlich sind, hinreichen, um den
Charakter solcher ethischen Darstellungen noch fester und vollstän-
diger ins Auge zu fassen. Der nächste sei ihm der unter den
Deutschen sonst vielgeachtete Garve, welcher mit seinen ethi-
schen Bemühungen nie etwas anderes gewollt hat, als die Ord-
nung der guten Gesellschaft; ferner hängen sich hier an der große
Haufe der anglikanischen und gallikanischen Sitten-
336 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 334]
lehrer, von denen es den ersten zu tun ist um den Gemeingeist,
den andern aber um die Ungebundenheit unter der Vormundschaft
der Konvenienz. Bei einer solchen Beschränkung nun auf einen
ganz willkürlichen pragmatischen Zweck ist ganz unvermeidlich
jenes rhapsodische Verfahren, Nicht anders als diejenigen es zu
machen pflegen, welche in Beziehung auf irgendein Gewerbe die
Kenntnis der natürlichen Dinge und ihrer Kräfte betreiben, ohne
jedoch diesen Zweck sich selbst oder öffentlich zu bekennen; da
denn natürlich eine dunkle Ahndung der Zweckmäßigkeit oder ein
blindes Umhertappen danach die Stelle des Wissenschaftlichen ver-
tritt sowohl in der Anordnung des Ganzen, als in der Bestimmung
und Behandlung des einzelnen. In derselben Richtung auf ein
materielles Bedürfnis hat ferner seinen Grund jenes allen Sitten-
lehrern dieser Art anklebende ironische Bestreben, welches
allen Streit über die Prinzipien zu vermeiden sucht und am liebsten
behauptet, er beruhe immer nur auf Mißverstand, ^wohlverstanden
aber sei alles einig. Wozu noch gefügt werden kann ein eigentüm-
liches Unvermögen, diejenigen zu vernehmen, welche von einem
höheren Standpunkt ausgegangen sind, und ein oft glückliches
Bestreben auf die redlichste Weise und ohne irgendeine Absicht
der Täuschung dem Mißverstande den Schein des Verstehens zu
geben, weil nämlich das Äußere sich leicht in jene Sphäre der
Betrachtung hinabziehen läßt. Dieses nun sind die Hauptzüge der
ersten und unvollkommensten Weise der ethischen Darstellung.
Die zweite nun könnte am besten mit Verwarnung vor allen
Mißdeutungen eines bedenklichen Wortes die dogmatische ge-
nannt werden, weil sie von einem festen Punkt ausgehend die
Wissenschaft will und nichts anderes. Woraus im Gegensatz gegen
die vorige ein gemessener Fortschritt entsteht, und eine eigen-
tümliche, nach bestimmten Regeln jenem Anfangspunkt gemäß
verfahrende Teilung und Verknüpfung der Begriffe. Auch ebenso
offenbar anstatt jenes ironischen Bestrebens vielmehr eine po-
lemische Richtung, sie äußere sich nun geradezu oder nur mittel-
[111,1,335] Anhang. 337
bar. Denn wer so von einem festen Punkt auf wissenschaftliche
Art ausgeht, der muß notwendig einiges absolut verwerfen; da-
gegen wer nur, wie jene, einen materiellen Zweck im Auge hat,
auch fast nur zu relativen Entscheidungen gelangt, und weniger
das Entgegensetzen der Begriffe betreibt, als nur das Vergleichen
derselben. Damit aber gleich der ganze Umfang dessen erhelle,
was zu dieser Gattung zu gehören scheint, ist es am besten die
entgegengesetzten Pole derselben zu bezeichnen, hier nämUch die
Methode der Stoiker, dort aber die des Spinoza. Denn daß
beide übereinkommen in den angeführten Gegensätzen gegen die
vorigen, ist offenbar. Die Verschiedenheit aber zwischen beiden,
welche in die Augen fällt, beruht darauf, wie jener Anfangspunkt
beschaffen gewesen, und zwar nicht etwa seinem Inhalt nach, son-
dern in Beziehung auf seinen Wert für das Bewußtsein. Die
Stoiker nämlich gingen aus von einem in seinen Grenzen schwan-
kenden Gedanken, den sie, unfähig, ihn durch höheres Hinauf-
steigen und Bestimmen seiner Elemente ganz für die Wissenschaft
zu reinigen, nur durch den Erfolg beweisen konnten, nämlich
durch vollständige und gelungene Ausführung des darauf gegrün-
deten Gebäudes. Daher also ihr fast ins Unendliche gehendes
Bestreben nach dialektischer Vollständigkeit; daher aber auch, daß
die Polemik sie oft verleitete in das Gebiet der Sophisterei, indem
sie auch negativ ihre Grundsätze durchgängig bewähren wollten.
Wogegen Spinoza ausging von einer klaren und ganz bestimm-
ten Anschauung, für welche nichts mehr rückwärts zu tun übrig
blieb. Daher denn die Polemik zuerst niemals ihm selbst Bedürf-
nis war für sich, sondern nur Erläuterung für andere, und deshalb
auch mehr abgesondert gleichsam den Rahmen ausmacht, der das
Ganze und seine einzelnen Teile umgibt, als innig in die Darstel-
lung des Systems selbst verwebt ist, wie bei den Stoikern wohl
größtenteils der Fall war. Ferner auch ist ihm fremd jene klein-
Hche niederländische Vollendung, an welcher die Stoiker sich er-
götzen; sondern er begnügt sich, in wenigen großen und starken
Schleiermacher, Werke. I. 22
338 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1,336]
Zügen Umriß und Gehalt seines Systems vors Auge zu stellen.
Was aber die geometrische Methode betrifft, so hat er vielleicht
besser gewußt, was damit gemeint war, als diejenigen, die hin
und wieder nach wunderlichen Ansichten über diese Sache geredet
haben. Vielleicht auch hat er nichts gewußt, wie es den Künstlern
bisweilen ergeht. Die Hauptsache aber ist wohl nicht in den
Überschriften zu suchen, durch welche die verschiedenen Sätze
bezeichnet werden, sondern teils in dem öfteren und unmittel-
baren genetischen Zurückweisen auf die ursprüngliche Anschau-
ung, teils in dem Wechsel des fortschreitenden synthetischen Kon-
struierens und des analysierenden Vergleichens eines anderswoher
Gegebenen oder willkürlich Angenommenen mit dem Ursprüng-
lichen oder dem bereits Gefundenen. Von dem ersten dieser
Elemente nun kann mit Recht gesagt werden, daß es nicht nur
im Spinoza, sondern auch in andern Philosophen, welche das
Äußere jener Methode nicht nachgeahmt, reiner und richtiger
durchgeführt worden, als von den Größenlehrern selbst; woraus
schon zu schließen, daß es der Philosophie nicht minder muß an-
gehörig sein als der Mathematik. Das andere aber ist, wie es
in der Geometrie sich nur dadurch rechtfertigt, daß sie kein System
sein kann, in der Ethik gewiß nur da anwendbar, wo sie sich
in Polemik ergießt, und nur nach diesem Maßstabe ist Spinoza
in Hinsicht auf diesen Teil seiner Methode zu beurteilen. Wen
nun und wie viele von den Sittenlehrern jeder in dieses Gebiet
des dogmatischen Stils zu setzen würdigen will, bleibe jedem
unbenommen, damit nicht übertriebene Strenge sich scheine auf-
zudringen.
Die dritte Methode aber ist die heuristische, und Pia ton
der einzige Meister, der sie in ihrer Vollkommenheit aufgestellt
hat. Ihr Wesen nun besteht darin, daß sie nicht von einem festen
Punkt anhebend nach einer Richtung fortschreitet, sondern bei der
Bestimmung jedes einzelnen von einer skeptischen Aufstellung an-
hebend durch vermfttelnde Punkte jedesmal die Prinzipien und
[111,1,337] Anhang. 339
das einzelne zugleich darstellt, und wie durch einen elektrischen
Schlag vereinigt. Wenn nun schon die vorerwähnte geometrische
Methode dahin vorzüglich abzweckt, zu verhindern, daß nicht die
Frage nach dem Prinzip durch die zunehmende Entfernung des
einzelnen von demselben als eine alte und abgetane Sache er-
schiene, und sein eigentümliches Wesen durch die lange Ab-
leitung geschwächt in dem einzelnen oft dem Übersehen und Ver-
kanntwerden ausgesetzt wäre: so wird diese Absicht durch den heu-
ristischen Stil ungleich vollkommener erreicht, und der Wissen-
schaft in allen ihren Teilen der höchste Grad des Lebens gesichert.
Denn die innere Kraft derselben wird auf diese Art allgegenwärtig
gefühlt, und erscheint immer jung und neu in jedem Teile der
Darstellung. Sollte es auf diese Art aber scheinen, als ob dafür
die Übersicht des Ganzen erschwert würde durch die dazwischen
sich drängenden Zurüstungen, so ist wohl dieses nur den Un-
gewohnten treffende Hindernis nicht in die Wage zu legen gegen
die tätige Teilnahme an dem Entstehen des Ganzen, wozu diese
Darstellung einen jeden gleichsam nötigt. Der wesentlichste Vor-
zug aber ist die völlige Gewalt des Künstlers über die Schnellig-
keit und Langsamkeit der Bewegung, und daß er in jedem Augen-
blick innehalten und nach allen Seiten umschauen kann. Hieran
aber ist nur demjenigen gelegen, der nicht nur die einzelne
Wissenschaft als ein organisches Ganze hervorbringen will, in
welchem alle Teile sich gleichzeitig und verhältnismäßig bilden,
sondern auch der jede einzelne Wissenschaft nur als einen Teil
des Ganzen betrachtet, welcher ebenfalls den übrigen voreilen
weder darf noch kann. Welcher allgemeine Zusammenhang nun
auf diese Art im einzelnen bisweilen sich erreichen, und wo nicht,
sich wenigstens andeuten läßt. Inwiefern aber alle Eigentümlich-
keiten des platonischen Stils der Gattung selbst angehören, oder
ihm, dieses ist hier nicht zu untersuchen. Nur soviel, daß der
dialogische Vortrag nur in einem sehr weiten Sinne kann für not-
wendig gehalten werden. In demjenigen nämlich, in welchem
22*
340 Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. [111,1, 338]
auch der antithetische Vortrag des Fichte dialogisch wäre; denn
dieser gehört allerdings hieher. Ja, die Vergleichung, wie Piaton
auch in seinen größten ethischen Konstruktionen jener Methode
getreu bleibt, Fichte aber in der eigentlichen Ethik in den rein
dogmatischen Stil ausweicht, und wieviel weniger was in diesem
letzten hervorgebracht ist, die Prühing aushält, diese kann am
besten einen jeden leiten in dem Urteil, welches er zu fällen hat.
Beschluß.
Nachdem die Untersuchung in den zuvor abgesteckten Grenzen
abgeschlossen worden, und einem jeden, der sie aufmerksam be-
gleitet hat, die Hauptzüge vorschweben müssen, welche die Ethik
zeihen, dasjenige noch fast gänzlich zu verfehlen, was sie sein soll:
so entsteht die Frage, ob etwa auf die Wissenschaft besser als auf
den Menschen jener befremdliche Satz der Stoiker anzuwenden
ist, daß jeder entweder ein Weiser sei oder gänzHch ein Tor; ob also
der Ethik gar kein Sinn kann zugeschrieben werden als Wissen-
schaft bis sie vollkommen ist, oder ob man wenigstens sagen könne,
sie werde als eine solche, und unter welchen Bedingungen. Hier-
über möge noch beschließend hinzugefügt werden soviel davon
sich aus dem Standort dieser Kritik erblicken läßt. Zu welchem
Ende eigentlich nur darf erinnert werden an zweierlei, welches
hieher gehörig schon oben beiläufig ist aufgeführt worden. Zuerst
nämlich im allgemeinen, daß keine Wissenschaft kann im streng-
342 Beschluß. [111,1, 340J
sten Sinne vollendet sein für sich allein, sondern nur in Vereini-
gung mit allen andern unter einer höchsten, welche für alle den
gemeinschaftlichen Grund des Daseins enthält, und eine jede be-
stätigt durch den Zusammenhang mit allen übrigen. Woraus
schon von selbst hervorgeht, daß entweder diese auch die erste sein
muß der Zeit nach und jene erzeugen, welches niemand gefunden
zu haben behaupten wird, oder daß die untergeordneten sich zu-
gleich und nach gleichen Regeln in Gestalt und Inhalt der Voll-
endung nähern, und eben hiedurch auch jene Idee sich allmäh-
lich entwickelt. Nur freilich erstreckt sich dieser Zusammenhang
nicht auch auf solche Hilfswissenschaften, wie etwa die Größen-
lehre und die Vernunftlehre, sondern nur auf die eigentlichen dem
Inhalt und der Bedeutung nach selbständigen; von diesen aber
wird gewiß der wissenschaftliche Sinn eines jeden ohne weitere
Erörterung das Gesagte einräumen. Zweitens aber in Beziehung
auf die Ethik besonders ist angedeutet worden, daß sie als Dar-
stellung eines Realen sich nicht anders als mit diesem zugleich
vollkommen entwickeln könne. Welches von der Naturwissen-
schaft von selbst gilt, insofern ihr Reales von ihr selbst voll-
ständig gegeben ist, von der Geschichte aber auch, insofern von
ihr vielleicht gilt, was die Stoiker vom höchsten Gute behaupten,
daß sie nicht wächst durch die Länge der Zeit. Soll nun der
Ethik irgendwann mehr als einer unbestimmten und wieder ver-
schwindenden Erscheinung ein wohlbegründetes bleibendes Da-
sein zukommen: so muß ein notwendiger Zusammenhang statt-
finden zwischen ihren angeführten beiden Bedingungen. So daß
entweder das Fortschreiten auch der andern Wissenschaften nebst
dem Auffinden und Entwickeln der höchsten Erkenntnis gleich-
falls abhängt von der Entwicklung des Sittlichen im Menschen,
oder umgekehrt dieses von jenem, oder auch beides gemeinschaft-
lich in einem dritten gegründet ist. Dieses zwar, wie es sich
verhalte, zu untersuchen ist nicht unseres Ortes ; die Erscheinungen
[111,1,341] Beschluß. 343
aber, welche wir hier können in Erwägung ziehen, müssen in
allen Fällen, ist nur überhaupt die Voraussetzung gegründet, einen
Parallelismus darstellen, welcher auch in allem bisher Geschehenen
sich nicht verkennen läßt. Denn nicht nur die ersten fragmentari-
schen Elemente der Ethik, jene Denksprüche der Weisheit nämlich,
welche bald mehr, bald minder den Mittelpunkt des Lebens trafen
oder nur berührten, und doch schon sowohl die Ahndung ent-
halten von dem letzten Ziele der Wissenschaft, als auch die Keime
jener verschiedenen Gestalten, in welche sie sich hernach spaltete,
diese nicht nur sind gefunden worden in gleichem Zeitraum mit
den Elementen der Naturwissenschaft und der Historie, und gleich-
sam in demselben Anlauf geistiger Anstrengung, sondern auch
das Bestreben, die gebührende Form für sie zu finden, hat fast
in Hinsicht auf alle gleichen Schritt gehalten. Ja, was noch mehr
beweisende Kraft hat, zwischen den verschiedenen Ideen, nach
denen im Verlauf besonders die Naturwissenschaft ist bearbeitet
worden, und denen, welche der Ethik zum Grunde lagen, findet
sich eine Ähnlichkeit der Verhältnisse und ein durchgängig herr-
schender Zusammenhang des gleichartigen in beiden, welcher
dem Satz, daß die praktische Philosophie eines jeden, wie sie
selbst durch die Sittlichkeit in ihm bestimmt werde, auch wieder
seine theoretische bestimme, eine frühere Anerkennung schon
längst hätte zusichern müssen. Oder hat jemals, seitdem es ver-
schiedene Schulen und Charaktere der Philosophie gab, eine Ver-
bindung stattgefunden in einem und demselben zwischen der Ethik
der Stoiker und der atomistischen Naturlehre des Epikuros?
Oder etwa wäre es einem möglich gewesen, dessen Naturwissen-
schaft nur von dem ewigen Fluß der Dinge wöißte, ein Platoniker zu
sein in der Sittenlehre? Offenbar so wenig, daß nur der alle
Verbindung aufhebende Skeptizismus sich schwankend bald hier-,
bald dorthin neigen konnte, im Theoretischen auf diese, im Prak-
tischen auf jene Seite. Wer nun diese Verschiedenheiten betrachtet,
344 Beschluß. [111,1,342]
wie sie von jeher nebeneinander bestanden haben, der möchte
bezweifeln, ob auch nur innerUch solchen Versuchen die beson-
deren Erkenntnisse zustande zu bringen, die Idee einer höchsten
und allgemeinen zum Grunde gelegen habe. Denn je höher der
Standpunkt genommen wird, desto weniger sollte wohl Vielartig-
keit der Ansicht und der Ausführung möglich sein. Wenigstens
war es nicht eine und dieselbe: denn unter der Herrschaft einer
solchen Idee kann auch jede Wissenschaft nur auf eine Art der
Form und dem Inhalt nach ausgeführt werden. Wollte aber
jemand als ein Zeichen, daß jetzt nur eine solche anerkannt werde
von allen, und als die Wirkung der darin liegenden Wahrheit
anführen, die dem Anschein nach nun vollendete Reinigung des
wissenschaftlichen Gebietes von dem Eudämonismus in der Ethik,
und dem Atomismus, sei er nun chemisch oder mechanisch, in der
Naturwissenschaft: so hat freilich von jenem die Kritik nichts an-
deres finden können, als daß er eine Wissenschaft zu bilden un-
fähig sei, und muß den Zusammenhang des letzteren mit ihm,
und was daraus folge, dahingestellt sein lassen. Allein sie gibt
zu erwägen, daß doch dieses nur einen von den Gegensätzen
betrifft, welche sie auf dem Gebiete der Sittenlehre gefunden hat,
und daß der siegreiche dynamische Idealismus, wie er sich bis
jetzt gezeigt hat, wohl schwerlich die Ahnenprobe seiner Ab-
stammung von einer Idee der höchsten Erkenntnis bestehen möchte,
welche doch erforderlich ist, wenn ihm soll der Preis gereicht wer-
den. Denn von den beiden Darstellungen desselben, welche eben-
falls in einem wichtigen und bedenklichen Streit begriffen sind,
hat die eine zwar eine Ethik aufgebaut, dagegen aber die Mög-
lichkeit einer Naturwissenschaft bald trotziger, bald verzagter ab-
geleugnet, und die andere dagegen die Naturwissenschaft zwar
hingestellt, für die Ethik aber keinen Platz finden können auf dem
Gesamtgebiete der Wissenschaften. Sollte man daher von der
Sittenlehre der ersteren, welche sehr mangelhaft ist befunden wor-
[111,1,343] Beschluß. 345
den, den Schluß machen dürfen auf die ebenso einseitig ver-
neinende Naturwissenschaft der anderen: so dürfte, was sie beide
zusammen Reales besitzen, nur einen mäßigen Wert haben; was
sie dagegen beide zusammen leugnen, zumal wenn man die Ab-
neigung der einen wenigstens gegen die Geschichte dazunimmt,
möchte ziemlich alle reale und mehr als elementarische Wissen-
schaft ausmachen.! Wie nun der Charakter der einzelnen Wissen-
schaften, wie jeder sie darstellt, abhängig ist von der Beschaffenheit
des sittlichen Bewußtseins in ihm, so auch im allgemeinen die
wahre Idee eines Systems der menschlichen Erkenntnis, ohne
welche keine Wissenschaft vollkommen sein kann und durchaus
wahr, von der vollkommenen SittHchkeit in der Idee wenigstens,
oder welches dasselbe ist, von dem vollständigen Bewußtsein der
höchsten Gesetze und des wahren Charakters der Menschheit. Wo
demnach dieses Bewußtsein vorhanden war, da war auch in dem-
selben Maße der Keim der wahren Ethik; und von welcher Zeit
an es unaustilgbar, wenngleich nur von wenigen anerkannt, fort-
gepflanzt wird, von der fängt sich an das Werden der wahren
Sittenlehre. Denn werdend kann sie immer nur sein, bis wenig-
stens von allen, welche die Bildung des Geschlechts repräsentieren,
jenes Bewußtsein anerkannt ist, weil vorher im Kampf die An-
sicht von dem ganzen Gebiet des Sittlichen, welches sie dar-
stellen soll, zu sehr beschränkt ist und getrübt, als daß es tadellos
könnte in Formeln gefaßt werden, welche den ganzen Fortschritt
der notwendigen Entwicklung in sich begreifen. Wo aber und
solange jenes Bewußtsein noch nicht vorhanden ist, ist auch noch
nicht die Ethik werdend als Wissenschaft, sondern nur ihre Idee.
Dieses letztere Werden aber kann auch nicht gleichmäßig sein,
sondern muß den Schein des Zufälligen darbieten, indem bald
das eine, bald das andere Element der Annäherung den übrigen
vorangeht, bald der Sinn für das Ideale bloß von den Gesetzen
1 Gegen Fichte und Schelling gerichtet. A. d. H.
346 Beschluß. [111,1,344]
der Form aus das bessere Reale ahndet und die Wirklichkeit
hinter sich läßt, bald aber das Reale in der Wirklichkeit dem-
jenigen zuvoreilt, welches in der Wissenschaft dargestellt ist, ohne
sich dessen Anerkennung zu gewinnen. Und so erscheint bald
vorwärtsgehend, bald rückläufig die Bewegung demjenigen, wel-
chem ihr Mittelpunkt nicht gegeben ist und ihr Gesetz: denn nur
in der vollkommenen Wahrheit und im klaren Selbstbewußtsein
verkündiget sich unverkennbar das Maß und die Ordnung.
Abhandlungen
gelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften
über die wissenschaftliche Behandlung des
Tugendbegriffes.
Vorgelesen den 4. März 1819.
In meinen Grundzügen einer Kritik der bisherigen Sittenlehre
habe ich durch eine vergleichende Zusammenstellung zu zeigen
versucht, wie w^enig bis dahin noch die Sittenlehre als Wissen-
schaft fortgeschritten gewesen. Eine Fortsetzung solcher Kritik in
Beziehung auf das, was seit jener Zeit auf dem Gebiete der
Sittenlehre erschienen ist, würde ich, auch wenn dessen mehr wäre
und Lohnenderes, wenigstens für jetzt nicht beabsichtigen. Viel-
mehr hatte ich darauf gerechnet, schon früher der bekannten Auf-
forderung nach Vermögen Folge zu leisten, daß, wer zerstöre, auch
wieder aufbauen müsse, obgleich ich sie aus dem auch auf dem
wissenschaftlichen Gebiete ganz zweckmäßigen Grundsatz der Tei-
lung der Arbeit zurückweisen könnte. Allein wiewohl ich schon
seit langer Zeit in der Ausarbeitung eines eignen Entwurfs der
Sittenlehre begriffen bin, bei welchem es dann darauf ankom-
men müßte, ob und mit welchem Erfolg ich an ihm selbst eine
ähnliche Kritik geübt, wie dort an meinen Vorgängern: so ver-
zögert sich doch die Vollendung dieser Arbeit so sehr über die
Gebühr, daß es mir wenigstens angemessen scheint, endlich ein-
350 Tugendbegriff. [111,2,351]
mal, wenn auch nur so weit es sich in einer Abhandlung von
diesem Umfange tun läßt, an einem einzelnen Punkte eine Probe
mitzuteilen von dem Verfahren, welches ich einzuschlagen ge-
denke, ob es wohl geeignet sein mag, dem mannigfaltigen Tadel
auszuweichen, den jene Kritik über die bisherigen Systeme aus-
gesprochen hat. Es ist der Begriff der Tugend, welchen ich
hierzu gewählt habe.
Das unerfreuliche Ergebnis jener Untersuchung war näm-
lich, daß in der bisherigen Behandlung der Sittenlehre die Begriffe
weder gehörig voneinander gesondert, noch gehörig unterein-
ander verbunden wären. Wollen wir nun von dieser Überzeugung
aus eine neue Darstellung versuchen: so ist wohl die erste vor-
läufige Maßregel die, daß wir uns von der vergleichenden Be-
trachtung der Begriffe selbst zur Beurteilung des Verfahrens
wenden, welches bei Bearbeitung des Gegenstandes ist beobachtet
worden, und daß wir uns die Frage vorlegen, welche Fehler die
Sittenlehrer wohl begangen haben mögen, aus denen jener un-
günstige Zustand der Wissenschaft hervorgegangen ist. Diese
Frage ist natürlich sehr schwierig, und, weil der Abweichungen
vom rechten Wege so viele sein können, kaum durch eine Antwort
im ganzen zu erledigen. Was sich aber darüber in bezug auf
den jetzt vorhegenden Teil des Ganzen im allgemeinen sagen
läßt, scheint mir folgendes zu sein. Zwei Umstände haben zu-
sammengewirkt, um die Darstellung des Sittlichen unter dem Be-
griffe der Tugend zu verwirren. Der eine ist eine allgemeine,
auch in andern Teilen dieser und verwandter Wissenschaften
sichtbare Einseitigkeit der Betrachtungsweise. Überall nämlich,
wo, um einen Gegenstand zur Anschauung zu bringen, ein Sy-
stem von Begriffen aufgestellt wird, ist der Gegensatz. von Ein-
heit und Vielheit die herrschende Form, sei es nun, daß das Ver-
fahren mehr so erscheine, daß die Vielheit unter eine Einheit
gebracht, oder so, daß die Einheit in eine Vielheit zerspalten
wird. Ist ein Gegenstand nur als einer vorgelegt: so ist unter
[111,2, 352] Tugendbegriff. 351
der Form des Begriffes nichts von ihm zu sagen, als daß seine
Erklärung aufgestellt wird; wie sehr aber, und auf welche Weise
das unter die Erklärung Gehörige unter sich verschieden, also
vieles, sein kann, das wird nicht ausgemittelt. Sieht man da-
gegen nur die Vielheit, so kann man zwar mit den Einzelheiten,
aus welchen sie besteht, dasselbe tun wie dort; aber wie diese
unter sich zusammen gehören und von andern getrennt, also
eines sind, das kann nicht erhellen. Die wissenschaftliche Dar-
stellung unter dieser Form beruht also ganz auf der Gabe, Ein-
heit und Vielheit zusammen zu schauen und ineinander zu ver-
wandeln. Es gibt aber im Gegensatz zu dieser Richtung zwei
Einseitigkeiten der Betrachtung, die eine, welche nur Einheit
überall sieht und die Vielheit für bloßen Schein erklärt oder für
Verworrenes und der Betrachtung Unwertes; die andere, welche
nur Vielheit sieht, und die Einheit für Schein erklärt oder für
willkürHches Zusammenwerfen. Beide finden wir schon im Alter-
tume, oder, genauer zu reden, nur im Altertume in jener voll-
ständigen Ausbildung, wegen der man die eine die panthei-
stische, die andere die atomistische nennen kann. Im einzelnen
aber finden wir sie häufig auch in solchen philosophischen Dar-
stellungen, welche, ohnerachtet einer vielleicht unleugbaren Ver-
wandtschaft der Grundansicht, dennoch mit keinem von jenen bei-
den Namen belegt zu werden pflegen. Und so haben sich beide
Einseitigkeiten auch zu allen Zeiten auf unsern Gegenstand ge-
worfen. Die Frage, welche im Altertume schon so oft behan-
delt wurde, ob die Tugend eine sei oder viele, ist nichts an-
deres als das natürliche Ergebnis aus dem Streite jener unvoll-
ständigen Betrachtungsweisen. Denn die natürliche Voraussetzung
für jeden, der den Tugendbegriff zu einer wissenschaftlichen Dar-
stellung brauchen wollte, könnte doch nur die sein, die Tugend
müsse eines und vieles sein in verschiedener Hinsicht. Aber hat
der eine vermöge der einen Einseitigkeit gesagt, die Tugend ist
nur eine, und folglich ist sie überall entweder ganz oder gar
352 Tugendbegriff. [111,2,353]
nicht; der andere vermöge der anderen, die verschiedenen Tugen-
den haben gar nichts miteinander zu schaffen, sondern der eine
besitzt diese von ihnen, der andere jene, jeder nur vermöge seiner
besonderen Einrichtung, und die höchste Kunst besteht nur darin,
die Menschen so zusammenwirken zu lassen, daß ihre verschiede-
nenen Tugenden einander ergänzen: dann entsteht freiUch zunächst
die Frage, welcher von beiden recht habe, und ist ein neues Zei-
chen, daß die beiderlei Ansichten vereinigende Gabe, das Viele in
seiner natürlichen Zusammengehörigkeit und das Eine in seiner
natürlichen Geteiltheit zu sehen, in der Untersuchung nicht walte.
Eine geringere Wirkung derselben Einseitigkeiten ist diese, wenn
zwar Zusammengehöriges verknüpft, und das in verschiedene
Gestalten Verschiebbare geteilt wird, aber auf eine solche Art,
daß die Erklärungen der größeren Einheit und der untergeord-
neten Einzelheiten nicht so miteinander zusammenstimmen, daß
eines aus dem andern verstanden, und also in unserm Falle be-
griffen werden könne, wie die aufgestellten einzelnen Tugenden
den allgemeinen Begriff der Tugend erschöpfen, und wie der
aufgestellte allgemeine Begriff dasjenige ausdrücke, was die ein-
zelnen Tugenden Gemeinsames haben. Und dieses eben wird
man weder beim Aristoteles, noch bei den Stoikern, noch bei einem
von den Neueren, so viele deren noch mit dem Tugendbegriffe
verkehrt haben, auf eine befriedigende Weise finden. Wer also
eine neue Darstellung versuchen will, der muß zuerst diese Ein-
seitigkeit zu vermeiden suchen, und nicht den allgemeinen Begriff
der Tugend für sich und die Erklärungen der einzelnen Tugenden
wieder für sich zustande bringen, sondern beide nur in Bezie-
hung aufeinander, so daß er mit keinem allgemeinen Begriff
der Tugend zufrieden ist, es sei denn ein solcher, in welchem er
schon die Teilungsgründe erblickt, nach denen sich die einzelnen
Tugenden ableiten und ordnen lassen, und so auch mit keiner
Erklärung einer einzelnen Tugend, es sei denn, daß er darin das-
jenige nachweisen könne, was nur von einer beschränkenden Be-
[111,2,354] Tugendbegriff. 353
stimmtheit befreit werden darf, um in dem allgemeinen Begriffe
der Tugend gefunden zu werden.
Der andere Umstand aber, welcher der Behandlung des Tu-
gendbegriffes nachteilig geworden, scheint dieser zu sein. Es fin-
den sich in der Sprache eine große Menge Bezeichnungen lobens-
würdiger oder beliebter menschlicher Eigenschaften, in bezug auf
welche es scheint, als könne der Sittenlehrer zu einem von bei-
den angehalten werden, entweder ihnen sämtlich einen Platz an-
zuweisen in dem System von Tugenden, welches er aufstellt,
oder seine Gründe anzugeben, warum er einige ausschließt. Je
mehr nun in jenen Bezeichnungen das öffentliche Urteil sich aus-
spricht, und gerade am meisten in Beziehung auf das öffentliche
und gesellige Leben die Sittenlehre bearbeitet wurde; oder, wenn
wir auf die neueren Zeiten sehen, je mehr man die unbedingte
Richtigkeit des sittlichen Gefühls voraussetzte, und je mehr die
philosophische Behandlung der Sittenlehre nichts anderes sein zu
dürfen glaubte, als nur eine genauere Verständigung über das-
jenige, was im sittlichen Gefühle enthalten sei: um desto weni-
ger wagte man es, von den geltenden Begriffen löblicher Eigen-
schaften einige aus dem Verzeichnis der Tugenden auszuschheßen,
sondern hielt sich streng verpflichtet, einem jeden seinen Platz an-
zuweisen. Daher denn die untergeordneten Haufen von Tugenden
schon bei Aristoteles, und die ganz willkürlich gebildeten Stel-
len derselben bei den Stoikern, und eben so bei den Neueren.
Denn wenn z. B. Aristoteles und die Stoiker nicht ganz dieselben
Tugenden aufstellen, ohnerachtet beide demselben Volk ange-
hören, und die ältere stoische Schule auch im wesentlichen noch
demselben Zeitalter: so muß man dieses mehr grammatisch an-
sehen, daß nämlich, wie denn die im gemeinen Leben erzeugten
Ausdrücke immer schwankend sind, die eine Schule eine andere
Synonymie angenommen als die andere. Nun ist aber offenbar,
daß gerade im öffentlichen Leben die Eigenschaften der handeln-
den Personen nach ganz anderen Gesichtspunkten aufgefaßt wer-
Schleiermacher, Werke. I. 23
354 Tugendbegriff. [111,2,355]
den als nach dem, auf welchen die wissenschaftliche Sittenlehre
sich stellen muß; und ebenso liegt zutage, daß das sittliche Ge-
fühl nicht immer und überall sich auf dieselbe Weise äußert, so
wie daß auch im geselligen Leben über die sich dort bildenden
Urteile öfters Zweifel entstehen können, ob es auch das sittliche
Gefühl gewesen, welches sich geäußert, oder ein anderes. Alle
Begriffe aber über einen Gegenstand, die von einem andern In-
teresse aus, als dem, daß er rein und vollständig soll erkannt
werden, sind gebildet worden, haben keinen Anspruch darauf, in
eine wissenschaftliche Darstellung aufgenommen zu werden. Sie
gehören einer andern Reihe an, in welcher sie wahr und richtig
sein mögen, aber auf dem wissenschaftlichen Gebiet muß ihre Ein-
mischung notwendig Verwirrung anrichten. Daher ich auch in
bezug auf jene Begriffe nicht einmal die zweite Forderung gel-
ten lassen kann, daß der Sittenlehrer verpflichtet sei, einzeln nach-
zuweisen, warum er diese im gemeinen Leben gültigen Begriffe
in das System der seinigen nicht aufnehme. Vielmehr ist ja offen-
bar, solche Begriffe zu würdigen, erst ein weit späteres Geschäft,
und kann nur gelingen, nachdem die wissenschaftlich begründeten
Begriffe aufgestellt sind; denn jenes ist zugleich die Würdigung
des sittlichen Zustandes desjenigen Volkes und Zeitalters, in wel-
chem solche Begriffe ihre Geltung erlangt haben; und hiezu
müssen eben die wissenschaftlichen Begriffe den
Maßstab enthaltend Wer aber beide Geschäfte nicht trennt,
sondern seinen allgemein aufgestellten Tugendbegriff durch An-
wendung auf alle jene oft politische, oft ökonomische oder
sonst lebenskünstlerische Begriffe rechtfertigen will, der wird
sich sein Geschäft ohnfehlbar verderben; ja was er irgend an
sich hat von einer jener beiden Einseitigkeiten, das wird dadurch
begünstigt. Ist er geneigt, nur die Einheit genau und richtig zu
sehen, so wird er durch jenes verworrene Gemenge nur um
so sicherer überredet, es gebe außer der Einheit keine bestimmte
* Von mir gesperrt. (Br.)
[111,2, 356] Tugendbegriff. 355
Vielheit, sondern nur die unbestimmt ineinander sich verlaufende
Unendlichkeit der einzelnen Erscheinungen, und ebenso um-
gekehrt. Deshalb aber ist keineswegs meine Meinung, daß die
Begriffe einzelner Tugenden, welche der Sittenlehrer unabhängig
von jenen im gemeinen Leben üblichen auf seinem eigenen Wege
findet, müßten mit neuen und unerhörten Namen bezeichnet wer-
den, welches allerdings auf seine Tugenden den Verdacht wer-
fen würde, als wären sie ganz und gar ersonnen. Sondern dieses
nur meine ich, daß allerdings, wenn er seine Begriffe gebildet
hat, er die Zeichen dazu aufsuchen soll in dem vorhandenen
Schatz der Sprache, und sich fragen, ob er nicht eben dieses,
was er jetzt gedacht, oft so und so genannt habe; und wie
sonst der platonische Sokrates getan, soll er auch andere, entweder
unmittelbar oder indem er an ihren Reden und Schriften anklopft,
fragen, ob sie nicht auch etwas so nennen, und ob es nicht
dasselbe sei, was auch er sonst so genannt; und wie dann er
selbst und andere das Gefundene am meisten und sichersten
genannt haben anderwärts, so soll er nun dasselbe auch in
seinem System nennen, und das Wort zum Zeichen dieses Be-
griffs stempeln; wodurch er zugleich zu erkennen gibt, daß es
noch andere Gebrauchsweisen des Wortes geben könne, mag nun
dabei dasselbe gedacht, aber falsch angewendet worden, oder auch
wohl ganz andres gedacht und nur einer falschen Ähnlichkeit zu-
liebe dasselbe Zeichen gebraucht worden sein, und daß er diese
samt und sonders gar nicht zu vertreten gesonnen sei. Hält er
nun aber mit seiner Begriffsbildung inne, und es bleiben ihm
dann auch noch so viele Wörter übrig, deren er sich zwar er-
innern muß, wenn er sich fragt, was für vortreffliche Tugenden
unter den Menschen seiner Zeit und seines Volkes im Umlauf
seien, die er aber doch in seinem Umkreise von Begriffsbildung
nicht anzubringen weiß : so soll er sich um diese weder so viel
kümmern, daß er deshalb Furcht bekäme, er hätte wohl die rechte
Tugend nicht gefunden, noch auch so wenig, daß er sie gehen
23*
356 Tugendbegriff. [111,2, 357]
ließe, wohin sie wollten; sondern er soll ihnen auflauern, um zu
sehen, ob sie etwa bei einer noch weiteren Vereinzelung der Be-
griffe, die er noch nicht unternommen hat, ihren Platz finden
wollen, oder ob sie einem andern Teil der sittlichen Darstellung
angehören, oder wohl gar einem ganz andern Gebiete. Hat er
sie nun lange genug beobachtet, so wird ihm dieses gewiß nicht
entgehen, und er wird sein zweites Geschäft an ihnen vollbringen
können, nämlich die Reinigung und Sichtung der Sprache, wel-
ches allerdings seinem ersten nicht wenig zu Hilfe kommt. —
Von der Anwendung dieser beiden Regeln nun will ich versuchen
das Beispiel zu geben, so gut es sich außerhalb des geschlossenen
Zusammenhanges, das heißt, ohne streng genommen von vorn
anzufangen, tun läßt, und natürlich indem ich, um nicht die
Grenzen einer Abhandlung zu überschreiten, nur bei der ersten
Abstufung der Begriffe stehen bleibe.
Dieses nun muß ich mir, weil ich nicht von vorn anfan-
gen kann, gleich vorausnehmen, und kann mich nur darauf be-
rufen, daß es teils aus dem angeführten Buche so deutlich her-
vorgeht, als ich es irgend darzustellen imstande bin, teils auch
jeder für sich es finden und also leicht ohne weiteres zugeben
wird, daß nämlich die drei gepaarten Begriffe, Gutes und Übel,
Tugend und Laster, pflichtmäßiges und pflichtwidriges Handeln,
sich so gegeneinander verhalten, daß jedes Paar für sich allein
in seiner Vollständigkeit gedacht, das Sittliche ganz setzt und
ganz aufhebt, so daß auch die übrigen Paare notwendig mit
gesetzt sind; auf die Weise, daß, sind alle Güter gesetzt, die in
sittlichem Sinne so können genannt werden, dann notwendig,
so wie alle Übel in demselben Sinne ausgeschlossen sind, so hin-
gegen alle Tugenden als vorhanden gedacht werden müssen, und
alle pflichtmäßigen Handlungen; Laster aber und pflichtwidrige
Handlungen gar nicht, oder sonst könnten auch die Güter nicht
da sein, sondern es müßten Übel entstehen. Ebenso wenn man
zuerst alle Tugenden in allen denkt, oder nichts als pflichtmäßige
[111,2,358] Tugendbegriff. 357
Handlungen auf allen Punkten und in allen Augenblicken, als-
dann ebenso wie oben das übrige alles mit gesetzt, das Gegen-
teil aber ausgeschlossen sein muß. Denn das wird wohl nie-
mand glauben, daß, wenn alle Tugenden in allen Menschen wirk-
sam wären, daraus Übel in der Welt entstehen könnten, oder
pflichtwidrige Handlungen, noch dieses, daß das Gute ebensowohl
aus pflichtwidrigen Handlungen entstehen und dabei bestehen
könne als aus und bei pflichtmäßigen, und was nun weiter folgt.
Das zweite muß ich mir ebenso geben lassen, daß nämhch, dem-
ohnerachtet Gut, Tugend und Pflicht nicht an und für sich das-
selbe sei, sondern jeder, wenn er das eine nennt, etwas anderes
meine, als wenn das andere. Woraus von selbst folgt, daß auch
nicht eine einzelne Tugend einzelne bestimmte pflichtmäßige Hand-
lungen oder Güter notwendig bedinge; sondern das obige, daß,
wenn alle Tugenden in allen gesetzt sind, auch alle und lauter
pflichtmäßige Handlungen gesetzt sein müssen, entsteht vielmehr
daher, weil in jeder pflichtmäßigen Handlung alle Tugenden des
Handelnden sind, und jede Tugend auch an allen pflichtmäßigen
Handlungen ihres Besitzers Anteil hat, und ebenso mit den
Gütern. Wenn nun hieraus hervorgeht, daß, weil jeder dieser
Begriffe das Sittliche ganz darstellt und dennoch etwas anderes
bedeutet, jeder es in einer andern Beziehung darstellen muß : so
ist nun die nächste Frage die, in welcher Beziehung denn der
Tugendbegriff das Sittliche darstelle. Und auch hier nehme ich
mir, weil ich nicht von vorn anfangend zeigen kann, ob und
warum diese drei Begriffe und nur diese von gleicher Geltung
bestehen, ganz unbesorgt dieses zum voraus, daß im Tugend-
begriff das Sittliche dargestellt werde als Kraft, welche in dem
einzelnen Leben ihren Sitz hat. Denn so reden wir alle von der
Tugend als von etwas im Menschen, und zwar woraus seine
Handlungen hervorgehen nicht nur, sondern auch woraus Hand-
lungen gewisser Art notwendig hervorgehen müssen, indem eine
untätige Tugend niemand denken kann; und möchte wohl nie-
358 Tugendbegriff. [111,2, 359]
mand viel einwenden, wenn wir die Erklärung des Zenon von
rjd^og, es sei die Quelle des Lebens, woraus die einzelnen Hand-
lungen hervorgehn, auf den allgemeinsten Begriff der Tugend
anwendeten, denn diese ist eben die sittliche Lebensquelle*). Re-
den wir aber auch von Tugenden eines Volkes, so betrachten wir
alsdann gewiß dieses ebenfalls als ein einzelnes Leben, aus des-
sen Kraft sowohl die einzelnen Menschen solche werden, als die
gemeinsamen Handlungen hervorgehen, welche das Gepräge jener
Tugenden tragen.
Dieses nun vorausgesetzt, entsteht uns die Aufgabe. Wenn
die Tugend im allgemeinen überall und in allen dieselbe, und
also nur eine ist; soll aber das Sittliche in seiner ganzen Fülle
aus der Vollständigkeit aller Tugenden beschrieben werden, zu-
gleich ein mannigfaltiges sein muß, und zwar nicht nur dem
Orte nach, sofern dieselbe Tugend in verschiedenen Menschen ist,
sondern auch in jedem einzelnen, in eine Mannigfaltigkeit ge-
teilt: so muß bestimmt werden, wie sie dann geteilt werden
soll, um zugleich eines und vieles zu sein. Die Lösung dieser
Aufgabe muß angefangen werden mit einem Satz, wovon ich
mich hier, da ich ihn nicht, ohne noch viel weiter zurückzugehen,
aus der Quelle ableiten kann, nur auf die allgemeine Zusammen-
stimmung berufen muß, daß nämlich alle, welche überhaupt von
Tugend reden, es nur tun in Voraussetzung eines Zwiefältigen
im Menschen, eines Höheren und Niederen, Vernünftigen und Un-
vernünftigen, Geistigen und Sinnlichen, oder himmlischen und
) Stob. II. cp. VII. ol de xaTO. Zrjvcova rgojxixwg' rjd'ög iarc nrjyr] ßlov
dcp j]g ai xaia fiigo; jigä^sig gsovai. Man könnte freilich sagen, das Wort
^&og entspreche mehr unserm Wort Gesinnung, und dieses bedeute mehr die
individuelle Art, die Pflicht zu konstruieren: allein dieses gilt nur, sofern das
Wort als ein mannigfaltiges gebraucht wird, sofern man von einer Gesinnung
redet, oder gar von einer guten und schlechten. Die sittliche Gesinnung aber
ganz im allgemeinen und die Tugend ganz im allgemeinen können hier einander
unbedenklich substituiert werden.
[111,2, 360] Tugendbegriff. 359
Irdischen, oder wie andere es anders benennend doch immer im
wesentlichen dasselbe dabei meinen, \X^er aber eine solche Zwie-
fältigkeit im Menschen nicht annähme, der könnte zwar wohl,
wenn er einen Menschen mit dem andern oder einen Augenblick
mit dem andern vergleicht, Stärke und Schwäche unterscheiden,
oder Vollkommenheit und Unvollkommenheit, oder sonstwie Bes-
seres und Geringeres; von Tugend und Untugend aber im Sinn
unserer Sprache und Sitte könnte er eigentlich nicht reden. Eben-
so auch, wer beides zwar unterschiede im Gedanken, meinte aber,
daß beides schon von Natur immer, und zwar entweder in allen
auf gleiche Weise vorhanden und vereinigt wäre, oder wenigstens,
daß die Verschiedenheit des Verhältnisses nur von äußeren Um-
ständen abhinge und gar nichts Innerliches sei, auch der könnte
nicht von Tugend reden. Sondern der Begriff der Tugend setzt
notwendig voraus, nicht zwar, daß ein Mensch sein könne weder
durch das Höhere allein ohne das Niedere, noch durch das Nie-
dere allein ohne das Höhere, aber doch, daß großer Raum sei für
Verschiedenheit in dem Zusammensein beider. Und nur dasjenige
Zusammensein beider ist die Tugend, worin das Höhere gebietet
und das Niedere gehorcht, das umgekehrte aber ist das Gegenteil.
Ist nun dieses, so müssen wir jedes Zusammensein beider ansehen
als zusammengesetzt einmal aus ihrer Zusammengehörigkeit, und
aus ihrer Verschiedenheit, welche in bezug auf das Gebieten der
einen und Gehorchen der andern als ein Widerstand aufgefaßt
werden muß. Dieses nun gibt uns den einen Teilungsgrund, und
die Tugend wird uns zuvörderst eine zwiefältige, inwiefern sich
in der Herrschaft des Höheren über das Niedere ausdrückt die
Zusammengehörigkeit, und inwiefern sich darin ausdrückt der
Widerstand. Ich möchte die erste nennen die belebende Tugend,
welche ohne diese nicht gesetzt wäre, die andere aber die bekämp-
fende Tugend, indem durch diese der Widerstand bezwungen
wird, weil sonst ja keine Herrschaft des Höheren über das Nie-
dere sich zeigen könnte im Widerstände des letzteren. Niemand
360 Tugendbegriff. [111,2,361]
wird diese Verschiedenheit leugnen können; denn es ist eine an-
dere Tätigkeit, wodurch unmittelbar die Zusammengehörigkeit
sich offenbart, wenngleich auch mittelbar dadurch der Widerstand
gedämpft wird, und eine andere, wodurch unmittelbar der Wider-
stand sich verringert, wenngleich auch in ihr sich mittelbar die Zu-
sammengehörigkeit offenbart. Aber die Einheit wird nicht aufge-
hoben durch diese Verschiedenheit, denn in beiden ist das Herr-
schen des Höheren, und auch in einem und demselben einzelnen
Leben werden beide nicht können getrennt sein, indem die bele-
bende Tugend nicht ans Licht kommen könnte, ohne die bekämp-
fende zu üben, und diese wiederum nicht geübt werden, ohne die
belebende ans Licht zu bringen. Denn setzten wir das Höhere im
Menschen tätig, so muß, wenn der Widerstand überwunden ist, die
Angehörigkeit des Niederen in der Erscheinung frei werden, sonst
wäre nicht nur das Element des Widerstandes im Niederen, son-
dern das Niedere selbst vernichtet. Doch dieses kann erst zur An-
schaulichkeit gebracht werden, wenn wir noch den andern Tei-
lungsgrund der Tugend hinzunehmen. Nämlich wenn wir davon
ausgehen, daß sie die sittliche Kraft sei im einzelnen Leben: so
müssen wir auch sehen, was das einzelne Leben ist. Dieses nun
steht, indem es immer nur beziehungsweise vereinzelt ist und nie
vollkommen, mit dem Ganzen in einem beziehungsweisen Gegen-
satz, der sich in einer stets erneuerten Wechselwirkung offenbart,
in welcher einmal auf das einzelne eingewirkt wird von außen
und es also leidend ist, aber als Lebendes nicht ohne Gegenwir-
kung, was wir die Empfänglichkeit nennen, das anderemal das
einzelne von innen etwas nach außen wirkt, was wir die Selbst-
tätigkeit nennen, aber weil beschränkt und einzeln auch nicht ohne
Gegenwirkung zu erfahren, welche dann dasselbe Spiel wieder
von neuem, beginnt. In dem Menschen nun, wie auch schon das
Niedere in ihm das Gepräge an sich trägt, ist das einzelne Leben
als ein bewußtes und sich bewußt werdendes gegeben und er-
scheint demzufolge wesentlich in zwei Gestalten; die eine ist
[111,2, 362] Tugendbegriff. 361
das bewußte Insicheinbilden, worin die Empfänglichkeit, die an-
dere das bewußte aus sich heraus in die Welt Hinüberbilden,
worin die Selbsttätigkeit vorherrscht. Das erste von beiden nen-
nen wir auch das Erkennen oder Vorstellen, denn auf die Unter-
schiede dieser Ausdrücke kommt es hier nicht an, das andere aber
das Handeln, sei es nun mehr wirksam oder darstellend. Ist nun
diese Zwiefältigkeit die allgemeine Form aller Lebenstätigkeit: so
folgt, daß auch das Geistige und Vernünftige im Menschen nicht
kann das Niedere beherrschen als nur in eben dieser Form. Und
dieses gibt daher eine zweite Einteilung der Tugend, nämlich
in eine vorstellende und darstellende. Die Verschiedenheit beider
wird niemand leugnen können, jeder aber auch zugeben, daß die
Einheit dadurch nicht aufgehoben wird; denn die Herrschaft des
Höheren über das Niedere ist in beiden, jedoch eine andere in
jedem. Und auch in demselben einzelnen Leben werden beide nie-
mals getrennt sein. Denn die vorstellende oder erkennende Tu-
gend wäre nichts als ein träumerisches, sich in sich verzehrendes
Grübeln, wenn sie nicht in Darstellung überginge; und die dar-
stellende wäre nichts Menschliches, geschweige Sittliches, wenn sie
nicht auf dem Erkennen beruhte. Jedoch können in jedem Ein-
zelnen beide in einem andern Verhältnis stehen, so daß, weil ein
größtes im Erkennen verbunden sein kann mit einem kleinsten im
Handeln und umgekehrt, nicht jede auch an und für sich das
Maß der anderen ist. Wollte aber jemand die Verschiedenheit
ganz leugnen und sagen z. B., Denken könne nicht sein ohne
Reden, aber dieses sei schon ein Aussichherausbilden, und kein
Handeln könne, am wenigsten sittlich, gedacht werden, welches
nicht beständig auch selbst im Denken oder Empfinden sein müßte:
so werde ich auch das noch annehmen können und nur erwädern,
daß doch in umgekehrter Ordnung in dem einen erfüllten Augen-
blick dieses und in dem andern das andere Geschäft das Haupt-
werk sei und die Zugabe; welches zuzugeben niemanden zu viel
dünken wird, mir aber genug ist. Denn nun können wir das
362 Tugendbegriff. [111,2, 363]
Netz' zuziehen und sagen, daß diese beiden Teilungsgründe sich
kreuzen, und daß die belebende Tugend, sofern sie vorzüglich er-
kennend ist, die Weisheit heiße, sofern aber aus sich heraus-
bildend, heiße sie die Liebe, die bekämpfende Tugend hingegen
im Insichhineinbilden sei die Besonnenheit, im Handeln aber die
Beharrlichkeit. Außer diesem Netz von Tugenden, wollen wir
sagen, sei keine weiter gesetzt, sondern jede andere müsse bei einer
weiteren Teilung in einer unter diesen ihren Ort finden. Über
diese vier aber und die ihnen zugeteilten Benennungen will ich,
in bezug auf das obige, noch einige Bemerkungen hinzufügen.
Zuerst also von der belebenden erkennenden Tugend, welche
ich die Weisheit genannt. Der gewöhnliche Begriff, den wir mit
diesem Worte verbinden, ist der, daß es sei die Richtigkeit in der
Bestimmung der Zwecke. Diese Erklärung findet sich freilich
größtenteils in Beziehung gesetzt mit einer verwandten Erklä-
rung der Klugheit, daß diese nämlich sei die Richtigkeit in der
Bestimmung der Mittel, und sofern sie gemacht ist, nur um die
Unterscheidung dieses Begriffs von einem anderen durch einen
Gegensatz zu befestigen, könnte sie schwerlich auf große Berück-
sichtigung Anspruch machen. Indes ist sie sehr verwandt mit den
Erklärungen, welche in dem stoischen System der Tugenden vor-
kommen, (pQovrjoig imor^jfxf] cov noiriTEOv xal ov xal ovde-
regojv, besonders wenn man noch dazu nimmt rrjv fxh (pQÖvrj-
oiv tieqI to. xa&}']xovra yiyveo^ai*). Eben dahin führen andere
Erklärungen, welche geradezu sagen, die q^QÖvijoig sei die
Wissenschaft des Guten. So, daß der Frage doch nicht auszu-
weichen ist, wie sich doch der Begriff, den wir durch das Wort
bezeichnen wollen, zu dem gewöhnlichen Gebrauch desselben ver-
halte? Offenbar erscheint der gewöhnliche weit beschränkter, in-
dem man Zweckbegriffe nur auf im engeren Sinne sogenannte
Handlungen zu beziehen pflegt, in unserm Begriff aber alles lie-
^) Stob. Lib. II. ecp. VII. p. 102 und 104 Ed. Har.
[111,2, 364] Tugendbegriff. 363
gen muß, wodurch sich im Bewußtsein das Belebtsein des nie-
deren Vermögens im Menschen durch das höhere beweiset. Ver-
gleichen wir zum Beispiel denjenigen Zustand des erfüllten
menschlichen Bewußtseins, in welchem es dem tierischen am näch-
sten kommt, wie wir ihn nicht etwa nur bei noch unentwickelten
Organen in der Kindheit, sondern auch bei rohen Menschen im
Zustand der organischen Reife finden, mit demjenigen in welchem,
mehr oder weniger entwickelt, die Anlage zur Wissenschaft sich
offenbart: so werden wir sagen müssen, dieses sei aus der bele-
benden Tätigkeit des Höheren entstanden und jenes aus dessen
Untätigkeit; kurz, wo und in welchem Maß wir in der vor-
stellenden Tätigkeit den Vernunftgehalt finden, da, sagen wir,
walte das, was wir Gewißheit nennen, wogegen jene Erklärun-
gen vorzüglich vorkommen in Verbindung mit einer Unterschei-
dung zwischen sogenannten Verstandestugenden und eigentlich
sittlichen, so daß wenigstens der Umfang des Begriffes ein ganz
anderer zu sein scheint. Allein wenn wir die vorstellende Tätig-
keit nicht als einen bloß leidendlichen Zustand denken wollen, was
sie doch gewiß, wenigstens überall wo Forschung und Unter-
suchung ist, nicht sein kann, so müssen wir doch gestehen, daß in
diesen erstgenannten Fällen wenigstens, ihr wie ein Wollen so auch
ein Zweck zum Grunde liegt: und daß, zumal auch Forschen und
Untersuchen muß als Pflicht eingesehen werden, und auch kein
anderer sittlicher Zweck ohne Forschen und Untersuchung richtig
kann bestimmt werden, kein Grund abzusehen ist, warum die Be-
stimmung dieser Zwecke nicht im Gebiet derselbigen Weisheit lie-
gen solle; und es liegt also unserer Bezeichnung in der Tat
auch derselbe Sprachgebrauch zum Grunde, nur allerdings in einem
weiteren Umfange, bei welchem aber auch allein sowohl eine
vollständigere Zusammenstellung, als auch eine gesundere Tei-
lung möglich wird. Dieser Umfang unseres Begriffs scheint sich
aber noch mehr zu erweitern, wenn wir bedenken, daß erstlich,
was der Wissenschaft recht ist, auch der Kunst billig sein muß,
364 Tugendbegriff. 1111,2,365]
und also auch das Entwerfen aller wahren und echten Kunst-
werke ebensogut als das der eigentlichen Handlungen in das
Gebiet der Weisheit fällt; zweitens aber auch das Gefühlsver-
mögen dem Bewußtsein angehört, und auch hier jene zwiefachen
Erscheinungen stattfinden, welche die Belebung des Niederen
durch das Höhere aussprechen und welche sie verbergen, und so
würde auch hier auf Seiten des Gefühls ebenso wie auf selten
des Verstandes die Weisheit walten. Auch dieses leugne ich
nicht ab, daß sich die "Weisheit auch hierher erstrecken müsse; nur
scheint mir auch dies ebenfalls dem gewöhnlichen Sprachgebrauch,
wenn er sich selbst recht versteht, vollkommen angemessen. Denn
wer sagt nicht, es sei gerade der weise Mann, dem es nicht ge-
zieme, sich von einem sinnlichen Schmerz überwältigen zu lassen.
Dies ist ja die gemeine Rede aller von dem ältesten Philosophen
an bis zu dem neuesten Weltmanne, so Gott will. Wenn ich
aber weiter frage, ist denn das der weise Mann, welcher das
sinnliche Gefühl erst gewaltig werden läßt und es dann mäßigt?
so wird wohl auch die allgemeine Antwort sein, daß, wiefern ein
solcher zu loben sei, er wohl wegen einer andern Tugend, etwa
der Mäßigung, gelobt werden möge, der Weise aber sei er nicht.
Und so wird wohl der Weise nur der sein können, in welchem
das Gefühl von Anfang herein nicht etwa gemäßigt erscheint,
sondern ganz anders konstruiert ist, so nämlich, daß das Sinn-
liche gleich in seinem Entstehen von einem Höheren belebt, ein
Sittliches werde, und was sich im Leben als ein voller Moment,
als die Einheit des geistigen Pulsschlages absondern läßt, nie-
mals durch ein Sinnliches allein erfüllt sei. Wie nun die Abweichung
des gewöhnlichen Sprachgebrauchs darin gegründet ist, daß er
das sittliche Gebiet überhaupt zu eng auffaßt, dies wird sich am
besten von selbst zeigen, wenn wir ähnliches auch in den andern
Tugenden finden. Wie aber die Teilung des so erweiterten Be-
griffs anzugeben sei, um die verschiedenen Unterarten oder Ge-
staltungen der Weisheit zusammenhängend und vollständig dar-
[111,2, 366] Tugendbegriff. 365
zustellen, dies liegt jenseits der Grenzen unserer Untersuchung.
Ich wende daher um, in der Absicht, nachdem so der Umfang des
Begriffs der Weisheit, soweit es sich durch Hervorhebung weni-
ger Punkte tun ließ, ins Licht gesetzt ist, auch das Verhältnis
desselben zu dem verwandten Gebiet der Besonnenheit zu bestim-
men. — Hier aber muß ich zuerst einem Mißverständnisse, wel-
ches leicht entstehen könnte, vorbeugen. Man mag nämlich auf
die Art sehen, wie die Weisheit sich in dem eigentlich sogenann-
ten sittlichen Handeln äußert, oder auf ihre Äußerung im Ge-
fühl oder im Vorstellen: so erscheint sie nach dem obigen sowohl
im einzelnen Menschen, als in den größeren Teilen des mensch-
hchen Geschlechtes, als ein wachsendes und allmählich sich aus-
bildendes; und es könnte also leicht einer sagen, in diesem Wach-
sen muß sie einen Widerstand überwunden haben, sonst würde
sie ja ursprünglich oder plötzlich gewesen sein, was sie erst gewor-
den ist und noch wird, und also erscheint sie selbst überall, wo
sie ist, als eine bekämpfende Tugend, und der aufgestellte Unter-
schied zwischen dieser und der belebenden, also der Weisheit und
Besonnenheit, ist nichtig. Allein hierauf erwidere ich, daß ich
das Wort gern schenken will, wenn jemand behauptet, alles
Werden und Wachsen, wenn man es auf eine Kraft zurückführe,
setze eine Hemmung derselben und also einen Widerstand vor-
aus; denn der Streit, der hierüber zu führen wäre, liegt wenig-
stens nicht auf unserm Gebiet, sondern einem weit höheren. Aber
dieser Widerstand, welcher die Form alles Werdens ist, wenn er
so heißen soll, ist wenigstens nicht derselbe, auf welchen sich die
bekämpfende Tugend in ihrem Gegensatz gegen die belebende be-
zieht. Denn nicht nur das niedere Vermögen des Menschen ist
ein werdendes und wachsendes, sondern der ganze Mensch, und
so auch das ganze Volk, und was man sonst will, entwickelt sich
aus der Bewußtlosigkeit, als gleichsam dem relativen Nichts, in
das Bewußtsein, und das Zunehmen der Weisheit beruht nur
auf dieser Entwicklung der höheren belebenden Kraft selbst, nicht
366 Tugendbegriff. [111,2, 367]
aber auf einem überwundenen Widerstände der schon entwickelten
niederen. Wie denn aucii in der Umgestaltung aller sittlichen
Verhältnisse durch vollkommnere Zweckbegriffe das spätere Wei-
sere sich zu dem früheren nicht sowohl als Zerstörung desselben
verhält, als vielmehr als Entfaltung, Entdeckung der vorher ver-
kannten oder verborgenen tiefern Bedeutung. Und so bleibt von
dieser Seite die Weisheit in ihrer Trennung von der Besonnen-
heit wohl unangefochten stehen. Allein von einer andern Seite
erscheint es schwieriger, beide getrennt zu erhalten. Wenn wir
nämlich davon ausgehen, daß in allem, was Einbilden in das
Bewußtsein ist, die Entwerfung der Zweckbegriffe, oder wo sich
dieses Wort nicht in seinem eigentlichen Sinne brauchen läßt,
die Typen des Handelns der Weisheit zukommen: so kann auf
demselben Gebiet die Besonnenheit nirgend anders sein als in
der Ausführung, und man könnte auch beide unterscheiden als
die entwerfende Tugend und die ausführende, und es ist auch
ganz natürlich, daß der Kampf, durch welchen die andere Tu-
gend bezeichnet ist, auf diesem Gebiete überall sein müsse in der
Ausführung, in welcher sich teils andere Vorstellungen zwischen
eindringen können, teils die Trägheit und Unbeholfenheit des
vorstellenden Organs kann zu bekämpfen sein. Aber um Ent-
wurf und Ausführung zu scheiden, komme alles darauf an, wie
man die Einheit der Handlung bestimme, was man als Teil
und was als Ganzes ansehe, welches auf die verschiedenste Weise
geschehen könne, so daß dadurch die aufgestellte Unterscheidung
der belebenden und bekämpfenden Tugend unmöglich wird. Diese
Schwierigkeit ist nicht abzuleugnen; aber sie trifft ebensogut
den gewöhnlichen Unterschied zwischen Weisheit und Klugheit,
wie er sich auf Zweck und Mittel bezieht, und ist überhaupt wohl
überall, wo Tugenden getrennt werden sollen, erst zu überwin-
den. Wenn z. B. auch alle übereinstimmen, daß es die Weis-
heit sei, vyelche den Entwurf zu einem Feldzuge hervorbringt;
es tritt aber hernach irgendein Umstand ein, der eine Bewegung
[111,2, 368] Tugendbegriff. 367
erfordert, welche in der ursprünglichen Idee nicht lag, und der
Feldherr hat nun oder hat nicht die Geistesgegenwart diese Be-
wegung zu erfinden, gehört dieses zur Weisheit oder zu einer
andern Tugend, mag man nun sagen zur Klugheit, wenn man
die Bewegung als Mittel ansieht, jenen Umstand unschädlich zu
machen, oder zur Besonnenheit, wenn man sie als einen Teil
der Ausführung ansieht. Offenbar kann man das letzte sagen,
aber ebenso auch das erste, und diese Geistesgegenwart der Weis-
heit zuschreiben, wie auch die Alten ihre äy^ivoia unter ihre
qpQovyjoig stellten, wenn man nämlich diese Bewegung als eine
eigene im Zusammenhang mit dem Ganzen entworfene Handlung
ansieht, deren Begriff ja wieder von ihrer Ausführung verschie-
den ist, und vor derselben hergeht. Aber ebenso könnte man
auch rückwärts gehend sagen, die Entwerfung des Feldzuges selbst
sei schon zur Ausführung gehörig, und die Weisheit sei hier nur
in dem Herrscher, der den Krieg im Zusammenhange mit einer
reinen und richtigen Idee von dem Wohl des Ganzen beschließt.
Ja noch mehr, auch schon den Beschluß des Krieges, wie er
denn wirklich besonnener oder unbesonnener auch schon dem ge-
meinen Sprachgebrauch nach kann gefaßt werden, könnte man
nur zur Ausführung rechnen, und nur die bestimmte und alles
beherrschende Vorstellung von der Stufe der Selbständigkeit,
welche der Staat unter seinesgleichen einnehmen muß, als das
Werk der größeren oder geringeren Weisheit ansehen. Und eben
dasselbe ließe sich mit leichter Mühe auch auf jedem andern Ge-
biet nachweisen. Soweit nun hat dieses seine Richtigkeit, daß
jede hierher gehörige Handlung der Weisheit sowohl zugeschrie-
ben werden kann als der Besonnenheit, dieser sofern noch eine
größere Handlung über der bezeichneten ist, als deren Teil sie an-
gesehen werden kann, jenes sofern noch kleinere unter ihr stehen.
Aber ebenso gewiß ist auch, daß nicht dieselbe Ansicht der Sache
zum Grunde Hegt, wenn man das eine und wenn man das andere
tut. Denn die eine läuft darauf hinaus, daß durch eine einzige
3Ö8 Tugendbegriff. [111,2, 369]
Tat, in welcher sich gleichsam das höhere erkennende Vermögen
seines niederen Organs bemächtiget, auch das ganze Bewußtsein
des Menschen von seiner Stellung in der Welt, mithin sein gan-
zes Leben, in der Idee völlig bestimmt sei, und es nur noch auf
diejenige Tätigkeit ankomme, welche wir der kämpfenden Tu-
gend beigelegt haben. Die andere Ansicht geht darauf hinaus,
daß es keine Unterordnung von Teilen in den sittlichen Tätig-
keiten gebe, sondern jeder einzelne Moment auf einem gleich ur-
sprünglichen Impuls des höheren Vermögens beruhe. Wer nun
behauptet, Weisheit und Besonnenheit sei nicht zweierlei, sondern
eins, der sagt eigentlich, daß diese beiden Ansichten gleiche Wahr-
heit hätten, und man eine der andern substituieren könne. Allein
dieses möchte wohl nur wahr sein, wenn wir uns den Weisen
nach Art der Alten denken, der es eigentlich auch nicht geworden
sein kann, sondern immer gewesen sein muß; von diesem möchte
kein Grund sein, mehr das eine zu behaupten als das andere,
, sondern wir möchten ebensogut sagen können, sein ganzes Leben
j sei aus dem einen Guß einer transzendenten Tat, und auch, es
sei die in jedem Moment sich erneuende ursprüngliche Durchdrin-
gung, vermöge deren nichts in dem geistigen Organismus Erschei-
nendes genauer unter sich zusammenhänge, als jedes von einem
besonderen Impuls abhängt. Dem erscheinenden Menschen aber
ist nur gegeben, sich dieser Formel anzunähern, und also muß
auch in der Tugend unterschieden werden, was wir die Weisheit
und was wir die Besonnenheit genannt haben, nur daß von
jeder einzelnen Tatsache streng genommen kein anderer als der,
dessen innerem Bewußtsein sie vorliegt, entscheiden kann, ob sie
aus der Idee der Weisheit oder der Besonnenheit zu beurteilen
sei. Niemand wird zum Beispiel leugnen, daß das Wissenwollen
ein Erzeugnis der Wahrheit sei; wenn wir aber nun in einzel-
nen auf diese Richtung Bezug habenden Handlungen eines Men-
schen eine Verworrenheit bemerken, die in dem Streben nach Wis-
sen nicht aufgeht, so wird nur das eigene Gewissen des Han-
[111,2, 370] Tugendbegriff. 369
delnden, wenn er über seiner einzelnen Handlung steht, entschei-
den können, ob er zwar die Idee seines Verfahrens unrichtig
aufgefaßt, diese aber hernach mit aller Besonnenheit und Beharr-
lichkeit verwirklicht habe, oder ob er vielmehr nach einem rich-
tigen Begriffe zwar verfahren sei, aber hernach in der Ausfüh-
rung nicht die gehörige Gewalt gehabt habe über zerstreuende
Vorstellungen.
Unter der Besonnenheit also verstehen wir die den Wider-
stand des niedern Vermögens überwindende Verwirklichung und
vollkommene Einbildung alles dessen in das Bewußtsein, wozu
der lebendige Keim in der belebenden Tätigkeit des höheren lag.
Auch durch diese Erklärung wird dem Worte ein weiteres Ge-
biet beigelegt als der hellenischen oaxpgoovv)], welche ich jedoch
selbst immer durch Besonnenheit übertragen habe. Allein die Man-
nigfaltigkeit der hellenischen Erklärungen, und wenn man in dem
stoischen System die der ococpQoovvr] untergeordneten Tugenden
betrachtet, wie die erste evia^ia noch zur Weisheit zu gehören
scheint, und die letzte syKQfkeia kaum mehr von den zur Tapfer-
keit gehörigen unterschieden werden kann, wenn man nämlich
mehr auf die Erklärung als auf den Namen sieht, ja schon die
Verlegenheit, in der man sich befindet, wenn man eine ejiiarijjur]
aloeröjv xai (pevxTcov von einer Eniorrj f^ir] lov jioirjTEOv xal ov
auf der einen Seite unterscheiden, und auf der andern eine
EmoTYjfxr] Ton> deivwv xal ov nicht darunter subsumieren soll,
dies zusammen zeigt deutlich genug, daß dieser Begriff zu denen
gehört, welche dort am wenigsten sind bestimmt worden. Blei-
ben wir aber bei dem gewöhnlichen Gebrauch unseres Wortes
stehen: so wird der Besonnenheit am meisten entgegengesetzt die
Zerstreuung auf der einen Seite und die Übereilung auf der
andern, woraus man wohl sieht, es soll alles abgehalten werden,
was den zur Ausführung einer Handlung nötigen Zusammen-
hang des Bewußtseins stört; und inwiefern sich Fremdes, diesen
Zusammenhang Störendes eindrängen will, ist dies allerdings die
Schleiermacher, Werke. I. 24
370 Tugendbegriff. [111,2,371]
kämpfende Tugend im Bewußtsein. Aber auch dem schreiben wir
einen Mangel an Besonnenheit zu, welchem das zur Vollbrin-
gung einer Handlung Nötige nicht einfällt, dann, wann es ihm
einfallen sollte. Oder wenigstens wird wohl jeder zugeben, daß
die Geistesgegenwart nach unserm Sprachgebrauch der Besonnen-
heit gar sehr verwandt sei, und daß, wenn man sie in das Sy-
stem der Tugenden einschalten soll, und der Begriff der Beson-
nenheit schon gegeben ist, man ihr weder Aeben dieser einen be-
sonderen Platz würde anweisen, noch weniger aber sie einer an-
dern Tugend unterordnen wollen. Sollen wir nun auch die
Geistesgegenwart unter den Begriff der kämpfenden Tugend brin-
gen, so w erden wir sagen müssen, sie sei der Sieg über die Träg-
heit und Ungeübtheit des Organismus der Vorstellungen, und
wir sind ja schon überall gewohnt, auch die Trägheit als Wider-
stand anzusehen. Indem wir aber der Besonnenheit auch die
Übereilung entgegensetzen, die doch größtenteils aus einem über-
strömenden Gefühle entspringt: so sehen wir, wie leicht sich der
Sprachgebrauch dem ganzen Umfange hergibt, in welchem wir
den Begriff nehmen müssen, indem ja allerdings jede Erregung
des Gefühls auch ein Insichhineinbilden ist, wie die Konstruktion
des Gedankens, und wie also auch die Besonnenheit auf ihre Weise
zugleich über das Gefühl gebieten muß, wie die Weisheit auf
die ihrige. Aber je mehr uns der Begriff auf diese Weise fest
geworden scheint, um so schwieriger will es auch uns werden,
ihn von dem verwandten der Beharrlichkeit zu trennen, schon
gleich, wenn wir mit der Bemerkung anfangen, daß ja doch die
Furcht, welche am meisten die Beharrlichkeit zu hindern pflegt,
auch ein Gefühl sei, und also dessen Besiegung der Besonnenheit
anheim falle; und es will mit den beiden Gliedern der kämpfen-
den Tugend ebenso gehen, wie mit denen der erkennenden. Denn
auch hier kann einer sagen, das Wesen eurer kämpfenden Tu-
gend ist doch immer nur die Stärke des Willens; was ihr aber
darin unterscheiden wollt, ob sie sich zeige in dem Insichhinein-
[111,2,372] Tugendbegriff. 371
bilden durch das Bewußtsein, oder in dem Aussichherausbilden
durch die Tat und das Werk, so daß, wenn das erste ohne Stö-
rung vollendet ist, ihr dies der Besonnenheit, wenn aber das letzte,
ihr es der Beharrlichkeit zuschreiben wollt, das ist kein Unter-
schied in der Sache. Sondern alles in dem Menschen, jede Lebens-
äußerung, auch was in seinem Bewußtsein vorgeht, ist doch
immer Tat, ist Heraustreten seines inneren verborgenen Lebens
in das Gebiet der Erscheinung und der gemeinsamen Welt, und
ebenso ist alles Aussichherausbilden in Wort und Tat doch
nichts anders als Bewußtsein, Insichhineinbilden der äußerlich
dargestellten Idee selbst. Denn jeder Zweckbegriff ist an sich noch
unbestimmt und dunkel, und die zur Ausführung begeisternde
Kraft desselben ist nichts anders als das Streben, jene Unbe-
stimmtheit und Dunkelheit zur Klarheit und Vollendung zu brin-
gen. Aber auch hier werden wir dieselbe Antwort haben wie oben,
daß dem vollkommenen Weisen zwar alles immer gleich geraten
werde, und es eben wegen der überall gleichmäßigen Vollkom-
menheit keinen Unterschied mache, ob man alles als Beharrlich-
keit oder alles als Besonnenheit ansehe, aber nur deshalb, weil
dieser vollkommene Weise eben gegen keine von beiden je fehlen
wird, jeder andere aber wisse gar wohl, daß seine Besonnenheit
nicht das Maß seiner Beharrlichkeit sei und umgekehrt, und daß
daher auch beide nicht dasselbe sein könnten. Denn, um es da
zu betrachten, wo es, weil auf dasselbe sich beziehend, am besten
verglichen werden kann, es kann mancher stark darin sein, jeden
Gedanken eines Werkes oder einer Tat durch Besonnenheit wohl
auszutragen in seiner Seele und zu nähren, aber schwach darin,
daß er das Werk im Stich läßt, wenn es nicht unangefochten
und ungehindert zu Ende gehen will, und umgekehrt. Und so
unterscheidet auch jeder, dem sich sein Bewußtsein verwirrt
in der Entwicklung, ob dieses geschieht aus vorbildender Furcht
oder ersterbender Teilnahme an dem Gegenstande, und was
sonst der Beharrlichkeit feind ist, oder ob es geschieht aus
372 Tugendbegriff. [111,2, 373]
Unvermögen oder Ungehorsam der vorstellenden Verrichtung
selbst.
Nach diesem nun, glaube ich, wird nicht nötig sein, von der
Beharrlichkeit, sofern sie als das andere Glied der kämpfenden
Tugend mit der Besonnenheit zusammenhängt, noch besonders zu
handeln. Denn es wird von selbst deutlich sein, wie sie die grie-
chische dvÖQia in sich schließt, und auch hier bei den vielen sehr
sinnverwandten Wörtern, deren wir in unsrer Sprache uns be-
dienen, wird sich von selbst rechtfertigen, daß gerade dieses Wort,
Beharrlichkeit lieber als Tapferkeit, zur allgemeinen wissenschaft-
lichen Bezeichnung gebraucht wird. Nur über die kämpfende Tu-
gend überhaupt möchten wir die alte Frage nicht ganz vorbei-
gehen können, ob die Besonnenheit und Beharrlichkeit der Bösen
denn auch könne Tugend genannt werden. Auf diese alte Frage
kann aber immer nur die alte Antwort wiederholt werden, daß
kein Böser als solcher weder tapfer noch besonnen sein, noch
irgendeine andere einzelne Tugend haben könne. Sondern Be-
sonnenheit und Beharrlichkeit sind nur, was sie sind, in ihrem
Zusammenhange mit der Weisheit und mit der Liebe; und wird
ein Böser gut, so brächte er keineswegs das, was man fälschlich
seine Besonnenheit oder Beharrlichkeit nannte, in den Dienst der
Liebe und Weisheit mit, sondern diese Geschicklichkeiten und Fer-
tigkeiten, die er im Bösen gehabt, würden ihn sogleich im Stich
lassen, und er müßte auf dem Gebiete des Guten als ein Neu-
ling und also als ein leicht Verwirrbarer und Schwachmütiger
von vorn anfangen, und sich unsere Besonnenheit und Beharr-
lichkeit erst erwerben.
Wie aber die Beharrlichkeit, als das kämpfende Glied der
bildenden Tugend, sich verhalte zu der Liebe, als dem belebenden
Gliede derselben, das wird am besten erhellen, wenn wir nur erst
deutlich machen, weshalb wir denn die ganze bildende Seite der
belebenden Tugend am besten glauben Liebe zu nennen. Hierbei
mag wohl das erste, was jedem auffällt, dieses sein, daß unsere
[111,2, 374 J Tugendbegriff. 373
andern drei Glieder ziemlich schienen mit den andern drei helle-
nischen Haupttugenden zusammen zu treffen, hier aber an die
Stelle der dixatoovvr] etwas ganz anderes tritt, die Gerechtig-
keit dagegen ganz zu verschwinden scheint. Verschwinden nun
soll sie nicht, sondern was wir Gerechtigkeit nennen, das soll in
dem Umfange der Liebe eine untergeordnete Stelle einnehmen,
als diejenige besondere Äußerung der Liebe, welche ein schon be-
stehendes Bildungsgesetz in jedem vorkommenden Fall im einzel-
nen darstellt. Ist nun dieses die richtige Erklärung unseres Wor-
tes, wie es gewöhnlich bei uns gebraucht wird: so sieht man,
es kann, wird nur auf einen höheren Gesichtspunkt zurückgegan-
gen, alle Gerechtigkeit auch unter die Beharrlichkeit gebracht wer-
den. Die dixaioovvY} der Griechen ist aber mehr als was wir
Gerechtigkeit zu nennen befugt sind, weil sie diejenige Tugend ist,
durch welche das Bildungsgesetz selbst, welches hier das Recht
heißt, festgestellt wird. Wenn wir aber uns fragen, wie nennen
denn wir die Kraft, welche überall das Recht hervorbringt: so
werden wir nicht sagen dürfen, die Gerechtigkeit, weil alles erst
gerecht wird unter Voraussetzung eines Rechtes, sondern wir wer-
den sagen müssen, daß überall die Liebe das Recht hervorbringt,
so wie überall, wo die Liebe aufhört, auch das Recht verloren
geht, und in demselben Maß ein Zustand der Rechtlosigkeit ein-
tritt. Dabei aber will ich nicht sagen, daß, was ich Liebe nenne,
dasselbe sei mit der dixaioovvr] der Hellenen. Der Unterschied
beruht aber darauf, daß bei den Hellenen das bürgerüche Leben
alles war. Auch das häusliche Leben wurde ausschließend in
Beziehung auf dasselbe gedacht und behandelt, und die bürger-
liche Liebe ist freilich nichts anders als die wohlverstandene
dixaioovvr] der Hellenen. Bei uns aber ist der Staat nicht mehr
das alles in sich Begreifende, und kann uns nicht ebenso wie
ihnen der Typus aller Gemeinschaft auf so ausschließende Weise
sein, daß wir, wie sie es tun, selbst die Ehrfurcht gegen das
höchste Wesen die Gerechtigkeit gegen dasselbe nennen möchten.
374 Tugendbegriff. [111,2, 375]
Eine allgemeinere Bezeichnung aber haben wir nicht für das Be-
streben, Gemeinschaft hervorzubringen als Liebe. Alle Gemein-
schaft aber, welche von dem höheren geistigen Vermögen des Men-
schen ausgeht, ist Darstellung und Bildung, und deshalb ist Liebe
die rechte Bezeichnung für alle darstellende und bildende Tugend,
sofern nicht vorzüglich das Meßbare derselben in der Ausübung,
welches eben die Beharrlichkeit ist, sondern vielmehr ihr inneres
Wesen ausgedrückt werden soll. Denn das höhere Geistige des
Menschen kann nur in Gemeinschaft treten entweder erstlich mit
sich selbst in andern — welches aber nur möglich ist durch Selbst-
darstellung und Offenbarung, so wie diese keinen andern Zweck
haben kann, als jene Gemeinschaft — oder zweitens mit dem nie-
deren menschlichen Vermögen in sich selbst und andern; aber diese
Gemeinschaft kann nichts anders sein, als Anbildung, und dies ist
eben die erziehende Liebe; oder endlich drittens kann auch das
höhere und geistige Vermögen des Menschen mittelst des niederen
in Gemeinschaft treten mit der äußeren Welt; und dieses ist eben-
falls beides sowohl Offenbarung des Geistes in der Gestaltung der
Welt, als auch Erziehung der Welt zur Einheit des Daseins mit
dem Menschen. Und dieses reicht für den gegenwärtigen Zweck
hin zu zeigen, daß ohne die Gleichheit des Einteilungsgrundes
zu verletzen, diese Stelle anders als bei den Hellenen mußte aus-
gefüllt werden, und daß dieses durch den Ausdruck Liebe sowohl
der Sache am würdigsten als auch am übereinstimmendsten mit
dem wohlverstandenen Gebrauch unserer Sprache geschehe, wenn
doch auch ihr die Liebe (pdia nur ist die Gemeinschaft des Gu-
ten mit sich selbst oder mit dem weder Gut noch Bösen, um es
gut zu machen. So wie auch die Hellenen nach ihrer Ansicht
Recht hatten diese Stelle der dixaioovrt] einzuräumen, welche
ihnen höher erscheinen mußte als die (fdia, indem sie war die
Gemeinschaft der Guten unter sich, um durch Gemeinschaft mit
dem weder Gut noch Bösen dieses gut zu machen. Das Gute
selbst aber ist nichts anders als das Sein und Leben jenes Höhe-
[111,2, 376] Tugendbegriff. 375
ren, mögen wir es nun Qeist nennen oder Vernunft oder wie
immer, in allem andern. Wie nun die Liebe sich zur Beharr-
lichkeit ebenso verhalten muß wie die Weisheit zur Besonnen-
heit, das erhellt von selbst; auch wie dieselben scheinbaren Schwie-
rigkeiten entstehen, daß Beharrlichkeit Treue ist, und Treue und
Liebe eins, und daß man alles müsse auf die Liebe zurückführen
können und auf die Beharrlichkeit, und wie diese Schwierigkeiten
sich hier ebenso lösen wie dort, scheint keiner ausdrücklichen Wie-
derholung zu bedürfen, sondern kann der Kürze aufgeopfert wer-
den. Nur das ist nicht gleichermaßen zu übergehen, daß auch
Liebe und Weisheit scheinen können ineinander überzugehen, wenn
doch die Weisheit vorzüglich die Zweckbegriffe hervorbringt. Denn
was können diese anders sein als die Keime und Urbilder der
Liebe im Bewußtsein; und alle Taten und Werke der bildenden
Liebe, was können sie anders sein, als was die Weisheit auch
ist, nämlich der Geist der, sich selbst offenbarend, das belebt, was
nicht er selbst ist. Was ist die Liebe als das schöpferische Wollen
der Weisheit? und was die Weisheit als das stille Sinnen und
Insichselbstsein der Liebe? Und dieses Hinüberschillern beider in
einander entsteht ganz natürlich daraus, weil der Mensch weder
ganz getrennt ist von der übrigen Welt, noch ganz eins in sich
selbst. Denn wenn wir uns jemals denken, die Welt ganz durch-
gebildet durch den Menschen, und den Menschen ganz eins ge-
worden in sich, dann ist auch in der Tat jede Lebensäußerung
ebensosehr ein Insichhinein- als ein Aussichherausbilden. Aber
die Tugend selbst ist nicht in dieser vollen Einheit, sondern nur
in der Annäherung zu ihr, und darum sind auch Weisheit und
Liebe nicht dasselbe, indem der eine Liebe genug haben kann, um
andere damit zu übertragen, seine Weisheit aber selbst ergänzen
lassen muß von andern, und umgekehrt.
NatürUch aber erinnert eben dieses, daß die Liebe die Stelle
der Gerechtigkeit einnimmt, wie überhaupt an den Unterschied der
alten Welt und der neuen, so auch besonders an die christliche
376 Tugendbegriff. [111,2,377]
Trias der Tugenden, mit welcher die hier aufgestellte Eintei-
lung ein einzelnes Glied gemein hat und kein anderes. Und es
scheint schwierig, dieses Rätsel zu lösen, wenn man nicht anneh-
men will, auch die Gemeinschaft dieses einen Gliedes sei nur
scheinbar, welches doch niemand und ich am wenigsten behaupten
möchte. Wenn man aber bedenkt, wie der Glaube doch das In-
nerste des Bewußtseins ist und die lebendige Quelle der guten
Werke: so kann man wohl nicht zweifeln, daß der Glaube der reli-
giöse Ausdruck ist für dasselbe, was wir in der Wissenschaft, mit
unserm guten Recht zwar, mit einem Ausdrucke jedoch, welcher
der religiösen Sprache zu anmaßend ist, Weisheit nennen; und
dann bleibt nur zu sagen, daß der Unterschied zwischen der Be-
sonnenheit und Weisheit von dieser Ansicht aus nicht konnte auf-
gefaßt werden, die Beharrlichkeit aber als Hoffnung bezeichnet ist,
als das im Auge behalten des Erfolges und der Vollendung.
Und dieses führt mich auf noch eine ähnliche letzte Betrach-
tung. Wie nämlich nicht nur der christlichen Sittenlehre Grund-
satz ist Ähnlichkeit mit Gott, sondern auch die Alten schon ge-
sagt, das Ziel des Menschen sei Verähnlichung mit Gott nach
Vermögen: so muß, wenn unsere aufgestellten Tugenden der In-
begriff der menschlichen Vollkommenheit sind, jener Satz sich
auch dadurch bewähren, daß in dieser die Ähnlichkeit mit Gott muß
dargestellt sein. Und dies findet sich auch, wenn man nur das
nach Vermögen nicht versäumt, vollkommen. Denn Weisheit
und Liebe werden überall als die wesentlichsten Eigenschaften
Gottes aufgestellt, ja die Liebe als der Ausdruck seines ganzen
Wesens, welches auch insofern vollkommen richtig ist, als ein
Unterschied zwischen Weisheit und Liebe in Gott nicht kann ge-
dacht werden, indem der Gedanke selbst unmittelbar das Hervor-
bringende ist. Nun könnte freilich, dieses vorausgesetzt, ebenso-
gut gesagt werden, Gott ist die Weisheit als Gott ist die Liebe;
aber jeder wird auch einsehen, daß jenes mehr der philosophische
Ausdruck wäre, dieses aber der religiöse sein muß. Nur freilich
[111,2, 378] Tugendbegriff. 377
von Besonnenheit und Beharrlichkeit kann nicht die Rede sein,
wo kein Widerstand kann gedacht werden; sondern um ihre Stelle
zu bezeichnen, setzen wir die absolute Macht, welche aber wieder-
um nicht etwas Besonderes für sich ist, sondern nur die Unend-
lichkeit jener Identität von Weisheit und Liebe. In uns aber ist
auch Besonnenheit und Beharrlichkeit die Macht des in Weis-
heit und Liebe, Insichhinein- und Aussichherausgehen, gespal-
tenen Geistes. So daß in dem Ineinandersein dieser Tugenden
allerdings die Verähnlichung mit Gott nach Vermögen ist, und
sich zugleich zeigt, daß das Bestreben eine Vorstellung des
höchsten Wesens nach Vermögen zu bilden das höchste Erzeug-
nis ist unsers Bewußtseins von unserem eigenen Ziel.
Versuch über die wissenschaftliche Behandlung
des Pflichtbegriffs.
Gelesen am 12. August 1824.
Indem ich damit anfange, zu erklären, daß diese Abhandlung
als ein Gegenstück zu betrachten ist, zu der früher vorgelesenen
über die Behandlung des Tugendbegriffs: so gilt nun, was dort
vorgeredet ist, gemeinsam für diesen Aufsatz ebensogut wie für
jenen; und ich kann ohne weiteres zur Sache schreitend auch hier
wie dort die Behauptung zum Grunde legen, daß die drei Be-
griffe, Gut, Tugend und Pflicht jeder für sich in seiner Ganz-
heit auch das ganze sittliche Gebiet darstellen, jeder aber dieses
tut auf eine eigentümliche Weise, ohne daß, was durch den
einen gesagt wird, in der Wirklichkeit jemals könnte getrennt
sein von dem durch den andern gesagten. Wenn daher in dem
ganzen menschlichen Geschlecht, von welchem hier nur die Rede
ist, alle Güter vorhanden sind, so müssen auch alle Tugenden
in allen wirksam sein; und umgekehrt, sofern alle Tugenden in
allen sind, müssen auch alle Güter vorhanden sein, indem diese
auf keine andere Weise weder durch Zufall noch als ein göttliches
Geschenk, sondern nur als die Tätigkeit aus der notwendig zu-
[111,2, 380] Pflichtbegriff. 379
sammenstimmenden Wirksamkeit aller Tugenden entstehen kön-
nen. Ebenso nun, denn Pflicht ist der dritte zu jenen gehörige Be-
griff, können nicht jene beiden irgendwo gefunden werden, ohne
daß ebenda auch alle Pflichten wären erfüllt worden, so wie
unmöglich alle Pflichten von allen können erfüllt werden, als
nur sofern auch alle Tugenden in ihnen gesetzt sind, und nicht,
ohne daß zugleich dadurch auch der menschlichen Gesellschaft alle
Güter müßten erworben werden. Die Verschiedenheit dieser Be-
griffe aber zeigt sich darin, daß kein einzelnes Gut etwa entsteht
durch Erfüllung einer und derselben, sondern verschiedener, ja ge-
nau genommen, aller Pflichten, und daß keine Pflicht erfüllt wer-
den kann durch die Tätigkeit einer, sondern nur aller Tugenden,
wie auch jede Pflichterfüllung, sofern die Tugend als Fertigkeit
ein Werdendes ist, nicht zum Wachstum nur einer Tugend, son-
dern aller als Übung beiträgt, und nicht nur auf die Entstehung
und Erhaltung eines Gutes hinwirkt, sondern aller.
Hieraus nun geht auch schon hervor, auf welche Weise der
Pflichtbegriff das Sittliche darstellt. Denn wenn es in dem Tugend-
begriff dargestellt wird als die eine, sich aber mannigfaltig ver-
zweigende, dem Menschen als Handelndem einwohnende Kraft,
in dem Begriff des Gutes aber als dasjenige, was durch die ge-
samte Wirksamkeit jener Kraft wird und werden muß : so kann
es in dem Pflichtbegriff nur dargestellt sein als das, was zwi-
schen jenen beiden Hegt, d. h. als die sittliche Handlung selbst.
Die Entwicklung des Pflichtbegriffs muß also ein System von
Handlungsweisen enthalten, welche nur aus der sittlichen Kraft
und der Richtung auf die gesamte sittliche Aufgabe begriffen
werden können; eine Entwicklung dieses Begriffs kann es aber
wiederum nur geben, sofern in den sittHchen Handlungen die
Beziehung auf die Gesamtheit der sittlichen Aufgabe und auf das
Begründetsein in der Gesamtheit der Tugenden sich als eine
verschiedene zeigt. Indem nun eine jede Pflicht eine solche Be-
stimmtheit der Handlungsweise ist: so kann sie nicht anders aus-
380 Pflichtbegriff. [111,2, 381]
gedrückt werden, als durch das, was Kant eine Maxime nennt,
welches Wort wir aber, weil es in dem allgemeinen Sprach-
gebrauch zu deutlich den Stempel der Subjektivität an sich trägt,
mit dem Worte Formel vertauschen wollen.
Ehe ich aber dazu schreite, ein genügendes Prinzip zur Ent-
wicklung der Pflicht-Formeln womöglich aufzustellen, muß ich
noch einige Bemerkungen voranschicken. Zuerst, wenn der Be-
griff einer Pflicht die vollkommne sittliche Richtigkeit einer Hand-
lung ausdrückt: so kommt hier der Unterschied, den man bisweilen
zwischen der Gesetzlichkeit und Sittlichkeit einer Handlung ge-
macht hat, in gar keinen Betracht, weder so, als ob die Pflicht-
mäßigkeit die bloße Gesetzlichkeit sei, die Sittlichkeit also etwas
höheres als die Pflicht, noch auch so, als ob die Pflichtmäßig-
keit zwar die Sittlichkeit sei, diese aber auch wohl ungesetzlich sein
könne. Denn das Gesetz selbst ist, da ja in diesem Zusammen-
hang nur von einem äußeren Gesetz die Rede sein kann, selbst
nur durch menschliche und ihrer Natur nach sittliche Handlungen
geworden, und könnte also, ob es richtig, das heißt durch pflicht-
mäßige Handlungen zustande gekommen ist oder nicht, nie-
mals beurteilt werden, hätte also gar keine erkennbare Sittlich-
keit, wenn Pflichtmäßigkeit selbst immer nur Gesetzmäßigkeit
wäre, und also der Pflicht allemal ein Gesetz schon vorausgehen
müßte. Ebenso aber ist auch das Gesetz als ein sittlich Gewordnes
und selbst wieder auf dem sittlichen Gebiete Wirksames, notwen-
dig ein Gut; und wenn jede pflichtmäßige Handlung auf die ge-
samte sittliche Aufgabe, also auf alle Güter Bezug nehmen muß:
so muß auch jede auf das Gesetz Bezug nehmen, und keine kann
demnach ungesetzlich sein *). — Zweitens, wenn der Pflichtbegriff
*) Auch für das Gebiet der bürgerlichen Gesellschaft, für welches er eigent-
lich gemacht ist, hat dieser Unterschied weit weniger Bedeutung als man ge-
wöhnlich glaubt. Denn auch dem Gesetzgeber kann an der bloßen Gesetzlich-
keit wenig gelegen sein ; indem, wenn das Gesetz nicht in den Bürgern lebendig
und also je länger je mehr ihre eigene Sittlichkeit wird, es auch in jedem Falle,
[111,2, 382] Pflichtbegriff. 381
auf die angegebene Art seine Stellung hat zwischen dem Tugend-
begriff und dem Begriff der Güter: so sollte man denken, die
allgemeine Pflichtformel sei schon gegeben in dem Ausdruck:
Handle in jedem Augenblick so, daß alle Tugenden in dir tätig
sind in bezug auf alle Güter. Allein einesteils ist diese Formel
an und für sich zur unmittelbaren Anwendung nicht geschickt,
weder um für irgendeinen Augenblick ein bestimmtes Handeln
zu entwerfen, noch um ein schon entworfenes danach zu prüfen.
Letzteres, weil das Verhältnis einer Handlung zu dieser Formel
nicht unmittelbar erkannt werden kann. Denn wenn ein ent-
worfenes Handeln noch so klar vor Augen liegt: so kann weder
bestimmt behauptet werden, daß es alle Güter fördern müsse,
noch auch mit rechtem Grunde geleugnet, daß es dieses nicht lei-
sten könne. Und ebenso mit den Tugenden. Vielmehr wenn
mir die Vorstellung einer bestimmten Handlung vorliegt, die sich
nicht schon gleich als unsittlich zu erkennen gibt: so kann es mir
nur als ein Zufälliges erscheinen, ob sie in beiden Stücken unserer
Aufgabe entsprechen wird oder nicht. Noch weniger kann durch
diese Formel allein ein Handeln bestimmt werden; sondern es
lassen sich von derselben Voraussetzung gar mancherlei Hand-
lungen entwerfen, denen mit gleichem Rechte die Möglichkeit zu-
käme, ihr zu entsprechen. Es ist aber ganz vorzüglich die An-
wendbarkeit in dem Leben selbst, sowohl wo die Konstruktion der
Zweckbegriffe schwankt oder stockt, als auch für die Beurteilung
des Geschehenen, welche der Pflichtenlehre, dieser den Alten fast
unbekannten Behandlung der Ethik, in der neueren Zeit eine so
ganz vorzügliche Gunst geschafft hat. Andernteils wenn man
wo es mit etwas in ihnen Lebendigem in Streit kommt, immer wird übertreten
werden, sodaß es seinen Zweck nicht erreichen kann. Nur für den Richter ist
der Unterschied ein Kanon, daß nämlich die Funktion der vergeltenden Gerechtig-
keit nur da beginnt, wo das Gesetz ist verletzt worden, indem Belohnung und
Bestrafung mit der Sittlichkeit in gar keiner Beziehung stehn.
382 Pflichtbegriff. [111,2,383]
auch diese allgemeine Formel weiter entwickeln wollte, um ein
System der einzelnen Formeln daraus zu bilden: so scheint sich
unmittelbar kein anderer Einteilungsgrund in derselben darzubie-
ten, als entweder nach den Tugenden, welche tätig sind, oder
nach den Gütern, welche angestrebt werden; dann aber wäre diese
Behandlung keine selbständige Darstellung der Sittlichkeit, son-
dern ganz abhängig von der Lehre vom höchsten Gut und von
der Tugendlehre, und somit verlöre die Pflichtenlehre alles, was
sie der Wissenschaft empfehlen kann. Denn für diese bleibt im-
mer die objektivste Darstellung, also die aus dem Begriff der Güt-
ter, die erste und für sich hinreichende; die beiden andern dienen
jener nur gleichsam als Rechnungsprobe, welches sie aber nur in
dem Maß leisten können, als sie nicht unmittelbar aus ihr ent-
lehnen. Wie wir also die Tugendlehre gesucht haben zu gestalten,
ohne von einer der beiden andern Formen unmittelbaren Gebrauch
dafür zu machen: so darf auch für die Gestaltung der Pflichten-
lehre von den anderweitig festgestellten Begriffen von Tugenden
und Gütern kein Gebrauch gemacht werden.
Demohnerachtet können wir nicht leugnen, jener Ausdruck:
Handle in jedem Augenblick mit der ganzen zusammengefaßten
sittlichen Kraft und die ganze ungeteilte sittliche Aufgabe an-
strebend, stellt den einen das ganze sittliche Leben bedingenden
Entschluß dar, unter welchem alle einzelne pflichtmäßige Hand-
lungen schon so begriffen sind, daß kein neuer Entschluß gefaßt
zu werden braucht, wenn immer das Rechte geschehen soll, daß
aber durch jede pflichtwidrige Handlung dieser gewiß gebrochen
wird. Daher bleiben wir doch an diesen Ausdruck gewiesen, und
es kommt nur darauf an, daß wir ihn anderswie als nach An-
leitung der Begriffe von Tugenden und Gütern spaltend auf das
einzelne anzuwenden wissen.
Von diesem allgemeinen Entschlüsse aus läßt sich aber das
ganze sittliche Leben betrachten nach der Analogie zusammenge-
setzter Handlungen, welche auf einem Entschluß ruhend dennoch
[111,2,384] Pflichtbegriff. 383
aus einer Reihe von Momenten bestehen, so daß für diese auch
noch untergeordnete Entschlüsse aber freiUch in sehr verschie-
denem Verhältnis zu dem zum Grunde liegenden allgemeinen Ent-
schluß gefaßt v^erden. Wer sich niedersetzt zum Schreiben, wenn
sein Entschluß nur nicht etwa noch ein unbestimmter ist, sondern
er schon seine volle Bestimmtheit hat, dessen Handlung besteht
zwar aus einer Reihe von Momenten, aber ohne daß eine neue
Beratung oder Wahl entstände; beim Federeintauchen, beim
Blattumwenden sind wir uns kaum einer Volition bewußt, son-
dern alles geht aus dem einen Entschluß hervor, der allein das
Bewußtsein beherrscht. Hier also verschwinden die untergeord-
neten Entschlüsse fast ganz sowohl ihrer Form nach ins Bewußt-
lose als auch ihrem Inhalte nach, indem sie sich nur auf die un-
bedeutendsten Kleinigkeiten beziehen. Wer sich hingegen zu einer
bestimmten Lebensweise entschließt, für den entsteht aus diesem
allgemeinen Entschluß auch eine Reihe von Handlungen, welche
zusammengenommen die Ausführung desselben bilden und also
eines sind; aber wiewohl eines, gehört doch hier zu jeder einzelnen
noch ein besonderer Entschluß; die einzelne Wollung tritt stark
hervor, so daß der allgemeine Entschluß, wiewohl die fortwirkende
Ursache dieser einzelnen, doch in den Hintergrund zurücktritt, und
also hier das umgekehrte Verhältnis eintritt wie dort. Der Künst-
ler endlich, welcher das Urbild seines Gemäldes vollkommen in
sich trägt, gleicht im ganzen während der Ausführung jenem
Schreibenden; allein bei welchem Teile er anfängt und in welcher
Ordnung und Folge er fortarbeitet, das ist in dem allgemeinen
Entschluß nicht mit gesetzt, und sofern diese Ordnung auch durch
die technischen Regeln — auf welche wir hier ohnedies nicht Rück-
sicht nehmen dürfen — nicht vollständig und nicht für alle auf
gleiche Weise bestimmt ist, so geht der Fortschreitung allerdings
jedesmal eine einzelne Wollung voraus, die aber nicht eigentUch
einen Gegenstand bestimmt, sondern nur die Priorität eines schon
bestimmten Gegenstandes, deren Wert also vorzüglich darauf bc-
384 Pflichtbegriff. [111,2, 385]
ruht, daß sie ohne Verdunkelung wie ohne fremde Einmischung
als die vollkommenste Fortwirkung des ersten Entschlusses er-
scheint. Aus der Zusammenstellung dieser drei Fälle, welche
gleichsam als Typen dienen können, erhellt demnach, daß die Ver-
einzelung der Momente, aus denen eine zusammengesetzte Hand-
lung besteht, etwas durchaus Relatives ist, und es ist leicht zu
schließen, daß eine einfache und allgemein gültige Regel für die
Richtigkeit der Handlung nur in dem Maß gegeben werden könne,
als der einzelne Moment mit Notwendigkeit aus dem ursprüng-
lichen Entschluß hervorgeht, das heißt, als man einer besonderen
Regel nicht bedarf. Sofern wir also das ganze sittliche Leben
ansehen können als die Ausführung eines allgemeinen Entschlus-
ses, also als eine, wenngleich zusammengesetzte Tat: so wird
dasselbe auch hier gelten, und es scheint, daß wir mit dem Ge-
ständnis anfangen müssen, daß Pflichtformeln nur da recht voll-
kommen und befriedigend sein können, wo der Handelnde selbst
ihrer nicht bedarf, und daß demnach der Nutzen der vollkommen-
sten sich am meisten auf die bloße Beurteilung beschränkt. Wenn
hier also eine vorzügliche Sicherheit allen denen Momenten bei-
gelegt wird, in welchen der besondere Entschluß am meisten schon
mit dem allgemeinen gegeben ist, so schadet dies wenigstens der
Freiheit, welche wir für die sittlichen Handlungen postulieren,
keinesweges; denn diese besteht am wenigsten in einer vor der
Entscheidung hergehenden und mehr oder weniger willkürlich,
das heißt durch subjektiven Zufall abgebrochenen Unentschieden-
heit, sondern nur in der Selbsttätigkeit, welche dem Entschluß
in seinem ersten Hervortreten sowohl als in seiner Fortwirkung
einwohnt.
Um nun zu bestimmen, wie weit wir es mit der Behand-
lung des Pflichtbegriffes bringen können, und wie wir sie dem-
gemäß einzuleiten haben, muß unsere nächste Frage die sein, wel-
cher von den drei aufgestellten Fällen uns die genaueste Analo-
gie darbietet mit dem sittlichen Leben als einer wahren aber in
[111,2, 386] Pflichtbegriff. 385
eine Reihe von sich relativ aussondernden Momenten zerfällten
Einheit, Es wird unschädlich sein die Beantwortung dieser Frage
mit einer Fiktion anzufangen. Wenn wir uns einen einzelnen
Menschen denken für sich allein die gesamte sittliche Aufgabe
des ganzen Menschengeschlechtes auf ihn gelegt oder wenigstens
ein kleineres vollkommen abgeschlossenes Gebiet ihm hingegeben,
innerhalb dessen er sie lösen soll: so würde dieser sich unstreitig
in dem mittleren Falle des Künstlers befinden. Nämlich Neues
entstände ihm nichts, was nicht in seinem ursprünglichen Ent-
schluß, welchen wir uns die ganze sittliche Aufgabe umfassend zu
denken haben, schon liegt, wie auch die ganze Ausführung schon
in dem Urbilde des Künstlers liegt; aber er könnte in jedem Mo-
ment nur einen Teil seiner Aufgabe lösen, ohne daß jedoch die
Ordnung, in welcher er zu verfahren hat, ihm mit aufgegeben
wäre. Denn denken wir uns das Ganze in verschiedene Regionen
geteilt, so wird es an sich gleichgültig sein, und dies wäre doch
der stärkste Gegensatz, der sich darbietet, ob er erst eine Region
ganz zur Vollendung bringt, und dann zu einer andern übergeht,
oder ob er nacheinander alle zu bearbeiten beginnt, und sie
nach und nach ebenso weiter fördert; sofern er nur in dem
letzten Falle stark genug ist, daß er nicht etwa über der gleich-
mäßigen Steigerung den ursprünglich mitgedachten Grad der
Vollkommenheit, gleichend der Stärke der Färbung in dem Ur-
bilde des Künstlers, vergißt, und in dem ersten, daß ihm nicht
über der beharrlichen Beschäftigung mit dem einen Teile das
Bild der übrigen Teile allmählich erlischt und sich hernach an-
ders reproduziert. Sind nun diese beiden Methoden an sich gleich
gut: so wird auch unter denselben Bedingungen jeder Wechsel
zwischen beiden, wie er nur immer gedacht werden kann, gleich
gut sein; und also wird, sobald irgendeine Handlung, die, mit
welchem Rechte darf uns hier nicht kümmern, als ein diskreter
Teil des Ganzen gesetzt war, vollendet ist, und ein neuer Mo-
ment beginnen soll, auch eine Wahl eintreten, wenngleich nur
Schleier m acher, Werke. I. 25
386 Pflichtbegriff. [111,2, 387]
Über Ordnung und Folge. Wenn nun diese durch den ursprüng-
lichen Entschluß nicht bestimmt sind, wodurch können sie jedes-
mal bestimmt werden? Offenbar nur entweder durch eine über-
wiegende, aber für den ursprünglichen Entschluß gleichgültige
Hinneigung des Handelnden zu einem Teile der Aufgabe vor
dem andern, oder durch eine äußere Mahnung und Aufforderung,
welche von einem Teile aus stärker an den Handelnden ergeht
als von den übrigen. Und jede dieser Bestimmungsweisen für
sich abgesehen von der andern ist untadelhaft. Denn jene innere
Hinneigung ist zwar für den sittlichen Willen zufällig; aber wäre
sie auch das allerzufälligste Innere, was wir Laune nennen, da
sie einen Teil der Aufgabe realisiert in einem Moment, wo sonst
aus Mangel eines anderen Bestimmungsgrundes keiner wäre rea-
lisiert worden, so ist sie eine richtige Bestimmung, und wir könn-
ten hierüber folgende Formel aufstellen: Tue in jedem Augen-
blick dasjenige sittliche Gute, wozu du dich lebendig aufgeregt
fühlst. Und da die Hinneigung dem sittlichen Willen doch fremd
ist: so kann es auch gleich gelten, ob sie eine ursprünglich ein-
fache ist, oder ob zwei verschiedene innere Aufregungen vorhanden
waren, aus deren Streite nur ein Überschuß der einen über die
andere zurückgeblieben ist. Denn die Bestimmung kann doch
erst eintreten, nachdem dieser Streit, für den in dem ursprüng-
lichen sittlichen Entschluß kein Entscheidungsgrund liegt, irgend
anderswie entschieden und die Kollision der Neigungen geschlich-
tet ist. Ebenso und aus demselben Gründe ist die äußere Auf-
forderung an und für sich ein richtiger Bestimmungsgrund, und
es wäre die Formel aufzustellen: Tue jedesmal das, wozu du
dich bestimmt von außen aufgefordert findest. Nur daß hier nicht
gleich gilt, ob die Aufforderung eine einfache ist oder nicht. Denn
die äußeren Aufforderungen reduzieren sich nicht wie die inneren
Erregungen von selbst auf einen Überschuß; sondern ein Streit
zwischen ihnen könnte nur durch ein Urteil des Handelnden ge-
schlichtet werden, welches anderweitig erst mit Rücksicht auf den
[111,2,388] Pflichtbegriff. 387
allgemeinen Entschluß müßte begründet, und demnach eine andere
Formel, um die Dringlichkeit der Aufforderungen zu messen, ge-
sucht werden. Beide Formeln aber sind nur wahre Entscheidun-
gen, die eine, wenn keine auf einen andern Teil der Gesamt-
aufgabe gerichtete äußere Aufforderung sich einer innern Hinnei-
gung entgegenstellt, und die andere umgekehrt. Sobald aber bei-
des gleichzeitig differiert, entsteht auch dem so allein Handelnden
ein Zwiespalt, den wir eine Kollision nennen, die aber nun keine
Kollision der Neigungen mehr ist, sondern eine Kollision der Ma-
ximen. In solchem Falle heben sich beide Formeln auf, und es
muß das Verlangen entstehen nach einem dritten, welches die
Entscheidung bewirke. Da nun die Möglichkeit dieses Streites
zwischen der innern Neigung und der äußeren Aufforderung,
wenn beide nicht dasselbe sittliche Handeln fördern wollen, immer
gegeben ist: so sind auch eigentlich die beiden aufgestellten For-
meln niemals wahre Pflichtformeln, sondern nur diejenigen sind
solche, welche die Lösung dieses Streites in sich enthalten. Denn
Pflichtformeln selbst dürfen nicht miteinander im Streite sein.
Doch wird der einzelne die» Lösung in sich selbst finden, und
immer sagen können, er habe pflichtmäßig gehandelt, wenn er
weder die Neigung der Aufforderung, noch umgekehrt, aufopfert,
sondern sie in dem beiden Gemeinschaftlichen verbindet. Denn
der Neigung soll man folgen, weil das am besten gerät, was mit
Lust geschieht; und der Aufforderung, weil das am besten gerät,
was im günstigen Augenblick geschieht. Vergleicht er also beide
nur in dieser Hinsicht: so hat er nach einem Kanon gehandelt,
der über jenen beiden stehend so lautet: Tue unter allem Sitt-
lichguten jedesmal das, was sich in der gleichen Zeit durch dich
am meisten fördern läßt. Nur gibt es hier keine objektive all-
gemeingültige Entscheidung, sondern nur die subjektive der unge-
teilten Zustimmung. Bei dieser werden wir uns also auch be-
gnügen müssen in dem gegenwärtigen Zustand für dasjenige Han-
deln des einzelnen, und zwar gleichviel, ob von einer natürlichen
26*
388 Pflichtbegriff. [111,2,389]
oder einer moralischen Person die Rede ist, welches ebenfalls, so
weit menschliche Einsicht reicht, als ein ihm ganz eignes abge-
schlossenes Gebiet erscheint. Nicht also, als ob es auf diesem
Gebiet, wie es häufig nicht nur im Leben sondern auch wissen-
schaftlich angenommen wird, gar keine Pflicht und nichts Pflicht-
mäßiges, sondern nur Erlaubtes gäbe; sondern nur, daß die
Pflichtmäßigkeit einzig auf des Handelnden subjektiver Überzeu-
gung von der größten Zuträglichkeit der Handlung für das ganze
sittliche Gebiet beruht.
Allein der größte Teil des sittlichen Lebens wird dieser Regel
entzogen und muß unter eine andere gestellt werden, deshalb
weil es nur eine Fiktion ist, daß der einzelne Mensch allein die
ganze sittliche Aufgabe oder auch nur einen Teil derselben wirk-
lich abgeschlossen für sich allein vor sich habe. Vielmehr ist die
Aufgabe eine gemeinschaftliche des menschlichen Geschlechts.
Jeder einzelne findet sich, sobald die Möglichkeit eines sittlichen
Handelns in ihm entsteht, ja immer schon viel früher, nämlich
am Anfange seines Lebens in dieser Gemeinschaft, und wird von
derselben so festgehalten, daß keiner in bezug auf irgendeinen
Teil seines sittlichen Handelns sich so vollkommen isolieren kann,
daß er nicht immer durch diese Gemeinschaft mit bestimmt wäre.
Hierdurch nun wird das sittliche Handeln der Botmäßigkeit der
bisher zum Grunde gelegten, für sich selbst nicht weiter teilbaren
Formel entzogen, und es entsteht eine andere Notwendigkeit als
nur die bisher bemerkte, welche war, innere Neigung und äußere
Aufforderung gegeneinander auszugleichen, nämlich die einer ge-
genseitigen Verständigung über die Teilung der Aufgabe und
das Zusammenwirken zu ihrer Lösung. Da nun aber außer die-
ser keine andere dem sittlichen Handeln des einzelnen voran-
gehende und es schon zum voraus bestimmende Naturvoraus-
setzung vorhanden ist: so müssen außer jener dem einzelnen
Menschen für sich zum Grunde liegenden alle andern Pflicht-
formeln sich auf diese Voraussetzung beziehen, und die Not-
[111,2,390] Pflichtbegriff. 389
wendigkeit, ein System derselben aufzustellen, kann nur in die-
sem Gemeinschaftszustand gegründet sein, wie denn auch aus
jener ersten Formel keine eigentümliche Teilung hervorgehen will.
Auf der andern Seite aber, da wir jeden einzelnen sittlichen
Willensakt nur ansehen können als einen Ausfluß aus jenem all-
gemeinen, der das ganze sittliche Leben konstituiert und auf eine
wahre Totalität ausgeht: so muß zugleich eben dieses, daß jeder
einzelne den Gemeinschaftszustand sittlich anerkennt, auf jene ur-
sprüngliche Pflichtformel zurückgeführt und als ein Akt abso-
luter Identität der Innern Neigung und der äußeren Aufforderung
gesetzt werden; welches auch schlechthin postuliert werden kann,
und nichts anderes aussagt als die Ethisierung der geselligen
Natur des Menschen. Hierdurch ist aber zugleich bevorwortet,
daß, da der einzelne, sofern er durch einen freien Willensakt
den Qemeinschaftszustand anerkennt, auch wieder über dem-
selben steht, und daher auch die ursprüngliche Pflichtformel nur
modifiziert durch diese Anerkennung überall gültig bleibt, nun
jede einzelne aus dem Gemeinschaftszustand sich ergebende
Pflichtformel auch immer jene ursprüngliche, nach eigner Über-
zeugung jedesmal das sittlich Größte zu tun, in sich schließen
muß.
Zu allererst also, und ehe wir weiter gehen, müssen wir
untersuchen, ob nicht etwa auch dieses beides in Widerspruch mit-
einander kommen kann, und also beide Formeln sich auch als
Pflichtformeln aufheben und eine dritte nötig machen. Es er-
ledigt sich aber dieses Bedenken schon dadurch, daß die Anerken-
nung des Gemeinschaftszustandes selbst nur als eine pflichtmäßige
Handlung zustande kommen kann, und daß sie also nur mög-
lich ist unter der Form der subjektiven Überzeugung, die Aner-
kennung des sittlichen Gemeinschaftszustandes mit allem, was nur
die zeitliche Entwicklung derselben ist, sei ein für allemal das
sittlich Größte, was der einzelne Mensch tun kann, und er würde
also durch alles, was mit dieser Anerkennung im Widerspruch
390 Pflichtbegriff. [111,2,391]
stehen würde, allemal wenigstens das sittlich Kleinere tun und
also pflichtwidrig handeln. Daß nun im wirklichen Leben diese
Überzeugung immer vorherrscht, und das Gegenteil nur als ein
partieller Wahnsinn zutage kommt oder als eine verkehrte und
irrtümliche Form der Regeneration des Gemeinschaftszustandes,
dies bedarf hier nur angedeutet zu werden. Ebenso aber auch
auf der andern Seite, wenn wir uns denken die Gemeinschaft
schon bestehend, und nun den einzelnen, sobald dieser sie aner-
kennt, zugleich in sich aufnehmend: so kann sie ihn nur so auf-
nehmen, wie er sie anerkennt, also mit seinem ursprünglichen, der
Anerkennung selbst zum Grunde liegenden sittlichen Willen. Wie
nun aber das Eintreten des einzelnen in die Gemeinschaft ein
Zeitliches ist, also ein Werden: so ist auch die Identität der Über-
zeugung aller über die sukzessive Lösung der sittlichen Aufgabe
mit der eines jeden ein Werden; und daß sie, sofern sie noch
nicht ist, immer im Werden bleibe, und zwar als eine Wechsel-
wirkung zwischen allen und jedem, ist die Grundbedingung alles
sittlichen Gemeinlebens, indem nur auf diese Weise allmählich ein
Zusammenstimmen in der Anwendung der Pflichtformeln ent-
stehen wird.
Nachdem dieses vorausgeschickt ist, werden wir nun ver-
suchen können die allgemeine Pflichtformel: Jeder einzelne
bewirke jedesmal mit seiner ganzen sittlichen Kraft
das möglich Größte zur Lösung der sittlichen Ge-
samtaufgabe in der Gemeinschaft mit allen, zu einem
das ganze sittliche Gebiet erschöpfenden System von untergeord-
neten Formeln zu entwickeln. Es ist jedoch gegenwärtig meine
Absicht, nur diejenigen, die der allgemeinen am nächsten stehen,
zu verzeichnen, wodurch schon eine Übersicht des Ganzen ge-
wonnen wird, weitere Erörterungen aber und größere Verein-
zelung auf eine zweite Abhandlung zu versparen. Ich bemerke
nur, daß, wenn wir gleich von einem Wechselverhältnis zwischen
der Gemeinschaft und dem einzelnen ausgehen, wir dennoch in
[111,2, 392] Pflichtbegriff. 391
der Konstruktion der Pflichtenlehre nur den einzelnen als handeln-
des Subjekt, welches die Pflichtformeln in Anwendung bringen
soll, betrachten. Dieses rechtfertigt sich einerseits dadurch, daß
die absolute Gemeinschaft aller in einem bestimmten Wechselver-
hältnis mit jedem einzelnen in jedem Falle noch nicht besteht,
sondern immer nur wird, und also auch nicht als wirkhch schon
einzeln handelndes Subjekt aufgeführt werden kann, sondern nur
als das, welches werden soll und auf dessen Werden gehandelt
wird. Andrerseits rechtfertigt es sich dadurch, daß untergeord-
neter und wirkhch schon bestehender Gesellschaften sittliches Han-
deln doch immer nur aus dem pflichtmäßigen Handeln aller ein-
zelnen hervorgehn kann, also eigner Pfhchtformeln nicht bedarf;
sofern aber solche Gemeinschaften andern gegenüber selbst als
einzelne erscheinen, muß auch für sie gelten, was von den natür-
lichen Personen gilt. Hierzu gehört freilich auf der andern Seite
als Gegenstück auch noch dieses, daß, wenn der einzelne an-
gesehen wird als in die schon bestehende Gemeinschaft eintretend,
sein sittHches Handeln überall nur erscheint als ein Anknüpfen
an das schon Bestehende, mithin mehr durch die Gemeinschaft
bestimmt als durch ihn, so daß das Gegenteil des eben Gesagten
ratsamer scheint, nämUch die Gemeinschaft als das ursprüngHch
handelnde Subjekt in der Pflichtenlehre zum Grunde zu legen.
Allein die Gemeinschaft besteht nur durch das fortwährende Han-
deln der einzelnen in ihr, und ist also selbst nur als deren Tat
anzusehen, so daß jedes anknüpfende Handeln eigentlich doch ein
die Gesellschaft stiftendes und in jedem Augenblick wieder er-
zeugendes ist.
Aus diesen Betrachtungen nun gehen zwei Einteilungs-
gründe hervor für das ganze Gebiet des pflichtmäßigen Han-
delns. Der erste nämlich ist dieser. Eine Gemeinschaft könnte
nicht bestehen, wenn nicht die sittliche Kraft in allen einzelnen
dieselbe und die sittliche Aufgabe für alle dieselbe wäre, und da-
durch also ist bedingt ein in allen gleichzusetzendes Handeln.
392 Pflichtbegriff. [111,2,393]
Allein sofern der sittliche Wille jedem einzelnen einwohnet in
seiner Person, und jeder als ein schon irgendwie gewordener die
Ausführung dieses Willens beginnt auf den Grund seiner Über-
zeugung, welche der Ausdruck ist seiner, von allen andern unter-
schiedenen sittlichen Person, und jeder nur so in die Gemein-
schaft aufgenommen wird: so bedingt eben dieses ein für jeden
eigentümliches, von allen aber anzuerkennendes Handeln. Wir
nennen vorläufig jenes das universelle und dieses das individuelle
Gebiet. In der allgemeinen Pflichtformel sind beide ineinander
gesetzt, mithin ist jedes nur ein Sittliches, wenn es zugleich auf
das andere bezogene wird, und es entstehn uns für diese beiden
Handlungsweisen aus der ursprünglichen allgemeinen Pflicht-
formel zwei besondere und abgeleitete, die erste : Handlejedes-
mal gemäß deiner Identität mit andern nur so, daß
du zugleich auf die dir angemessene eigentümliche
Weise handelst. Die Notwendigkeit dieser Formel, wenn ein
vollkommen sittliches Handeln zustande kommen soll, wird schon
jedem daraus einleuchten, daß ein in bezug auf die andern voll-
kommen richtiges Handeln doch als ein relativ leeres, also un-
vollkommnes erscheint, wenn ihm das Gepräge des eigentüm-
lichen ganz abgeht, indem durch die Forderung auf Übereinstim-
mung, welche die andern machen können, die Art und Weise der
Handlung doch nie vollkommen bestimmt wird. Will aber die
Gesamtheit ihre Anforderungen bis zu einer gänzlichen Unter-
drückung des Eigentümlichen steigern: so wird der einzelne nur
unvollkommen anerkannt, die Pflichtmäßigkeit ist von der Ge-
samtheit verletzt, und das Resultat ist eine Mechanisierung des
ganzen Gesamtlebens, wozu das Chinesische eine bedeutende An-
näherung darstellte. Die andre Formel lautet so: Handle nie
als ein von den andern unterschiedener, ohne daß
deine Übereinstimmung mit ihnen in demselben
Handeln mitgesetzt sei; denn ohne diese Bedingung wäre
aus dem eigentümlichen Handeln alle Anerkennung der Gemein-
[111,2,394] Pflichtbegriff. 393
Schaft vertilgt, und das Resultat würde sein die Verwandlung
des sittlichen in ein völlig lizenziöses Leben.
Der zweite Einteilungsgrund ist dieser. Der ursprüngliche
sittliche Wille des einzelnen für sich betrachtet schließt in sich die
Aneignung der ganzen sittlichen Aufgabe. Indem aber der ein-
zelne die Gesamtheit der handelnden Subjekte, mit denen er
sich in Verbindung findet, anerkennt: so stiftet er mit ihnen die
Gemeinschaft. Dieses beides nun, Aneignen und Gemeinschaft-
stiften, ist in der ursprünglichen Pflichtformel als eines gesetzt.
Also ist auch jedes für sich nur sittlich in Beziehung auf das
andere, und es entstehen daher durch die beiden Momente des
ursprünglichen sittlichen Willens aus der allgemeinen Pflicht-
formel zwei besondere einander ergänzende Formeln. Die erste:
Eigne nie anders an, als indem du zugleich in Ge-
meinschaft trittst. Diese schließt alles Egoistische aus von
dem sittlichen Handeln, und schließt den einzelnen so ganz in
die Gemeinschaft ein, daß er nie einen Teil der sittlichen Auf-
gabe ausschheßend für sich nehmen noch auch irgend etwas von
dem durch sittliches Handeln, und zwar gleichviel, ob durch sein
eignes oder durch fremdes gebildeten, in Beziehung auf sich allein
haben und behalten darf, sondern immer nur in bezug auf die
Gemeinschaft und für sie. Die andere: Tritt immer in Ge-
meinschaft, indem du dir auch aneignest. Diese sichert
dem einzelnen in der Gemeinschaft seine sittliche Selbständigkeit,
damit er zwar immer in der Gemeinschaft, in ihr aber auch wirk-
lich so handle. Denn es gibt kein anderes Aneignen als nur
des, wenn ich so sagen darf, sittlichen Stoffes, um ihn zum Gut,
aber immer wieder zum Gemeingut zu bilden.
Wie nun in diesen vier Formeln das Ganze erschöpft sei,
so daß es außer ihnen keine weiter gibt, sondern nur, wie sie
selbst aus der allgemeinen als ihr untergeordnete Entwicklungen
dadurch entstanden sind, daß die allgemeine Naturvoraussetzung
des sittlichen Handelns mit in Betrachtung gezogen wurde, eben-
394 Pflichtbegriff. [111,2,395]
so auch alle anderen nur untergeordnete Entwicklungen von
ihnen sein können, entstehend aus einer nähern Betrachtung der
sittlichen Gesamtaufgabe und ihrer Beziehung auf jene Vor-
aussetzung; dies kann vorläufig bis auf nähere Erörterung eini-
germaßen geprüft werden, teils wenn wir auf unsere anfäng-
liche Fiktion zurückgehen, und unsere Formeln mit ihr verglei-
chend finden, daß sie nichts anderes sind als die Verteilung der-
selben Momente auf die Gesamtheit der einzelnen, von denen
bei dem einen die vollkommene Lösung der sittlichen Aufgabe
abhing. Teils wird auch dasselbe erhellen, wenn man betrachtet,
wie die beiden Einteilungsgründe einander schneiden, so daß
es gibt ein universelles Gemeinschaftbilden und ein ebensolches
Aneignen, sowie auch ein eigentümliches Aneignen und ein
ebensolches Gemeinschaftbilden. Die beiden Gemeinschaftsgebiete
sind die des Rechtes und der Liebe, die beiden Aneignungs-
gebiete sind die des Berufs und des Gewissens; letzteres auf
besondere Weise so genannt, weil in der Abneigung in bezug auf
die Eigentümlichkeit das ursprüngliche Verhältnis des einzelnen
zur Gesamtheit der sittlichen Aufgabe wiederkehrt, und also über
die Pflichtmäßigkeit im einzelnen dieses Gebietes nichts anderes
entscheiden kann als dieselbe subjektive Überzeugung. Diese
Gebiete bedingen einander gegenseitig; und die Bezugnahme auf
alle übrigen, indem man vorzüglich für eines von ihnen handelt,
muß die Sicherheit geben, daß keine Kollisionen entstehen können.
Wir wollen daher sagen, der Ausdruck: Begib dich unter
kein Recht, ohne dir einen Beruf sicher zu stellen und
ohne dir das Gebiet des Gewissens vorzubehalten,
sei die allgemeine kollisionsfreie Formel der Rechtspflicht; die
gleiche aber für die Liebespflicht laute so: Gehe keine Ge-
meinschaft der Liebe ein, als nur indem du dir das
Gebiet des Gewissens frei behältst und in Zusam-
menstimmung mit deinem Beruf. Und ähnliches wird
[111,2, 396] Pflichtbegriff. 395
von den beiden andern gegenüberstehenden Punkten zu konstruie-
ren sein, so daß alle sich gegenseitig mehr oder weniger unmittel-
bar bedingen. Alles aber wobei irgend Pflichtformeln in An-
wendung kommen können, wird in einem von diesen Gebieten,
wenn die Ausdrücke in dem angegebenen Sinne genommen wer-
den, auch gewiß enthalten sein.
über den Unterschied zwischen Naturgesetz
und Sittengesetz.
Gelesen am 6. Januar 1825.
Eine vereinzelte Untersuchung, wie die hier angekündigte,
welche damit beginnt, zwei Begriffe aus ihrem natürlichen Ort
herauszureißen, den hier der eine in der Naturwissenschaft hat,
der andere in der Sittenlehre, um sie vergleichend nebeneinander
zu stellen, ist immer schon wegen des Scheines von Willkür miß-
lich; und soll überhaupt etwas dadurch erreicht werden, so ist es
notwendig, daß gleich von vornherein die Absicht des Verfah-
rens bestimmt dargelegt v/erde. In dem gegenwärtigen Falle sind
nur zwei Absichten denkbar. Entweder, da beide Begriffe unter
dem höheren des Gesetzes als Arten oder Anwendungen zusam-
mengefaßt sind, kann die Untersuchung auf dieses höhere, auf die
Bestimmung seines Umfanges und die Einteilung desselben ge-
richtet sein, welches aber hier nicht der Fall ist; oder sie muß
das Verhältnis der untergeordneten Begriffe zu den wissenschaft-
lichen Gebieten, denen sie angehören, feststellen wollen. Von die-
sen aber habe ich es, wie ich denn überhaupt mit meinen Stu-
dien der Naturwissenschaft weniger angehöre, eigentlich nur mit
[111,2, 398] Naturgesetz und Sittengesetz. 397
der Sittenlehre zu tun, und möchte etwas beitragen, um durch
Vergleichung mit dem entsprechenden naturwissenschaftHchen
Ausdrucic Naturgesetz die Bedeutung des Begriffes Sittengesetz
für die Sittenlehre genauer zu bestimmen.
Es ist eine alte wissenschaftliche Form, Naturwissenschaft
und Sittenlehre einander zu koordinieren und also entgegenzustel-
len; sie ist so alt als die Einteilung aller Wissenschaft in Logik,
oder nach dem altern Sprachgebrauch Dialektik*), Physik und
Ethik. Denn in dieser ist offenbar, daß die beiden letzteren sich
zur ersteren verhalten sollen, eine wie die andere, nicht aber etwa
auch Logik und Physik zur Ethik eine wie die andere, oder um-
gekehrt Logik und Ethik zur Physik. In der hellenischen Philoso-
phie aber war in keiner von beiden Wissenschaften eigentlich von
Gesetzen die Rede; teils aber wurden übrigens beide in gleicher
Form behandelt, teils auch nicht. Namentlich, um bei den
beiden Weltweisen stehen zu bleiben, welche auf die späteren
Formationen den bedeutendsten Einfluß ausgeübt haben, gilt dies
von Piaton und Aristoteles. So behandelte Piaton beide Wissen-
schaften auf gleiche Weise, denn sie waren ihm beide Konstruk-
tionen aus der verschieden gewendeten Idee des Guten; Aristote-
les aber behandelte sie ungleich, insofern wenigstens, als er aus
der Naturwissenschaft die Idee des Guten verbannte, in seiner
Ethik aber diese noch ihre Stelle fand als Maß, um unter dem
in der menschlichen Seele und den menschlichen Lebenstätigkei-
ten vorkommenden und auf die bezogenen das Bessere als Ziel
und Gegenstand des Bestrebens von dem Schlechteren zu unter-
scheiden. Will man nun sagen, hier habe doch schon der Begriff
des Gesetzes latitiert, so will ich freigebig sein und dieses in gewis-
sem Sinne zugeben; nur gestehe man, zum rechten Bewußtsein
•) Vielleicht ließe sicti nachweisen, daß diese Änderung des Sprachgebrauchs
auf nichts weiter als auf dem Aufhören der dialogischen Methode beruht ;
wenigstens ist ein Unterschied in Absicht auf den Gehalt beider Ausdrücke in
dieser Zeit durchaus nicht vorhanden.
398 Naturgesetz und Sittengesetz, [111,2, 399]
und somit zu einem eigenen bestimmten Einfluß auf die Behand-
lung der Wissenschaft ist dieser Begriff damals nicht gekommen,
und zwar in der Naturwissenschaft ebensowenig als in der Ethik,
sondern dies blieb der neueren Zeit vorbehalten. Denn wenn
gleich bei den Stoikern der Begriff der Pflicht — sofern es
überhaupt richtig ist ihr xarÖQ&cojna und xa&rjxov unter diesem
Ausdruck zusammenzufassen — eine größere Rolle spielte: so war
es doch wieder nur die Idee des Guten, woraus die Pflichten
abgeleitet wurden, und nicht eigentlich der Begriff des Gesetzes.
In der neueren Zeit hingegen finden wir diesen Begriff in bei-
den Wissenschaften in einem ganz andern Sinne vorherrschend
und die Form derselben bestimmend, indem beide, Ethik und Phy-
sik, nach nichts anderem zu streben scheinen als nach einem System
von Gesetzen. Aber sobald dies recht zum Bewußtsein gekom-
men war, wurde auch festgestellt, daß der Begriff Gesetz in dem
Ausdruck Naturgesetz etwas anderes bedeute, also nicht der-
selbe sei, als in dem Ausdruck Sittengesetz; und der Einfluß, den
dieses seit Kant und Fichte auf die ganze Gestaltung der Sitten-
lehre gehabt hat, hat mich vornehmlich zu der gegenwärtigen
Untersuchung angeregt. Nun kann man freilich sagen, die hier
bezeichneten Formen der Philosophie, die Kantische und
Fichtische, seien schon lange antiquiert, und also sei auch weder
die eine noch die andere von beiden Sittenlehren als die einzige
oder auch nur vorzüglich geltende anzusehn; neuere Gestaltungen
aber würden schon von selbst den Begriff des Gesetzes wieder
mehr zurücktreten lassen, und somit auch jenem Gegensatz zwi-
schen Naturgesetz und Sittengesetz keine so große Bedeutung
einräumen. Mögen diese neuen Formen der Ethik auf das treff-
lichste geraten; meine Meinung ist, weder ihnen vorgreifend zum
Vorteil der einen Methode und zum Nachteil einer andern zu
entscheiden, noch überhaupt zur bessern Gestaltung dieser Wissen-
schaft selbst durch die gegenwärtige Untersuchung etwas Eignes
beizutragen. Meine Untersuchung ist vielmehr nur rückwärts
[111,2, 400] Naturgesetz und Sittengesetz. 399
gewendet, und ich will nur kritisch und geschichtlich jene Formen
der Sittenlehre würdigen helfen, welche, daß ich so sage, auf
der Zentralität des Begriffes Sittengesetz beruhen.
Die Ausdrücke Naturgesetz und Sittengesetz scheinen freilich
schon durch ihre sprachliche Zusammensetzung sich einer genauen
Beziehung aufeinander verweigern zu wollen: denn was bilden
wohl Natur und Sitte für einen Gegensatz? Allein eine solche
Kritik halten wohl wenig wissenschaftliche Terminologien aus; und
um diese beiden Ausdrücke gleichmäßiger zu machen, dürfen wir
ja nur, da beides so oft als gleichbedeutend gebraucht worden
ist, Sittengesetz verwandeln in Vernunftgesetz, wobei nur zu be-
vorworten ist, daß hier lediglich von dem, was man praktische
Vernunft genannt hat, vorläufig die Rede sein kann; Vernunft-
gesetz also, mit Ausschluß der logischen oder anderweitig theoreti-
schen Vernunftgesetze, zu verstehen ist. Dann sind unsere Aus-
drücke auf den Gegensatz Natur und Vernunft zurückgeführt, der
noch immer häufig genug gebraucht wird, um hier keiner beson-
deren Feststellung zu bedürfen. Nun sollen aber beide Ausdrücke
noch auf eine andere Weise verschieden sein, als schon durch jenen
Gegensatz bezeichnet wird. Das Sittengesetz soll nicht etwa
auf dieselbe Weise ein Gesetz sein wie das Naturgesetz, so daß
dieses auf dem Gebiet der Natur ebensoviel gälte als jenes
auf dem Gebiet der praktischen Vernunft; sondern das Natur-
gesetz soll eine allgemeine Aussage enthalten von etwas, was in
der Natur und durch sie wirklich erfolgt, das Sittengesetz aber
nicht ebenso, sondern nur eine Aussage über etwas, was im
Gebiet der Vernunft und durch sie erfolgen soll. So daß in
dem einen Fall Gesetz eine Aussage wäre über ein Sein, ohne
daß im eigentlichen Sinne ein Sollen daran hinge, in dem an-
dern eine Aussage über ein Sollen, ohne daß demselben sofort
ein Sein entspräche. Daß also das Wort Gesetz, so verstanden,
in der einen Zusammensetzung eine andere Bedeutung hat als in
der andern, das ist für sich klar. Die Frage, die ich hier zuerst
400 Naturgesetz und Sittengesetz. [111,2,401]
aufvverfen möchte, welche von diesen beiden Bedeutungen wohl die
richtigere oder wenigstens ursprünglichere sei, erscheint zwar ganz
grammatisch; wir können sie aber doch nicht umgehen, weil sie
mit einem Hauptpunkt unserer Untersuchung zusammenhängt,
nämlicii mit jenem Sollen, welches auf dem Gebiet der rationa-
len Sittenlehre, wie sehr wir auch schon daran gewöhnt sind,
doch immer etwas Geheimnisvolles und Unerklärliches an sich hat.
Das Sollen nämlich geht ursprünglich immer auf eine An-
rede zurück; es setzt einen Gebietenden voraus und einen Gehor-
chenden, und spricht eine Anmutung des ersten an den letzten
aus. Denn der Gehorchende sagt, Ich soll, wenn der Gebietende
ihm etwas angemutet hat, und er sagt dieses ohne Rücksicht
darauf, ob er selbst das Angemutete zu tun gedenkt oder nicht,
niemals aber ohne die genaueste Beziehung auf ein dem Anmu-
tenden beiwohnendes bestimmtes Recht. Wer soll nun aber in
diesem sittlichen Sollen der Anredende sein, und wer der Ange-
redete? Mancherlei zu diesem Behuf gebrauchte Gegensätze treten
uns hier vor Augen, aber keiner will sich recht angemessen zei-
gen. Die praktische Vernunft oder das obere Begehrungsver-
mögen redet an; dann aber muß angeredet werden das untere
Begehrungsvermögen oder die Sinnlichkeit, aber dann auch ihr
nichts zugemutet, was sie nicht wirklich vollziehen kann. Kann
aber wohl die Sinnlichkeit darauf angeredet werden zu vollziehen,
was z. B. in dem Kantischen kategorischen Imperativ enthalten
ist? Unmöglich. Denn in ihr liegt kein Trieb auf allgemein Gesetz-
mäßiges, ja auch nicht einmal ein Urteil darüber, ob etwas,
was sie wirklich vollziehen kann, dem Gesetzmäßigen widerspreche
oder nicht. Ja sie vernimmt überhaupt schon nicht das bloße
Wort, sondern es gibt mit ihr keine andere Sprache als die der
Empfindung oder des Reizes, sei es in der unmittelbaren Gegen-
wart oder in Furcht und Hoffnung. Ebenso ist es mit dem
Fichteschen Prinzip der Sittlichkeit, sowohl dem formalen Ausdruck
desselben, sich die absolute Selbständigkeit zum Gesetz zu machen,
[111,2,402] Naturgesetz und Sittengesetz. 401
als auch dem realen, die Dinge gemäß ihrer Bestimmung zu be-
handeln. Denn die Sinnlichkeit besteht nur in der Wechselwir-
kung, und hat überall keine Selbständigkeit, noch auch kennt sie
eine andere Bestimmung der Dinge als deren Beziehung auf sie
selbst. Oder soll die Vernunft anreden, und das obere Begeh-
rungsvermögen angeredet werden? Denn man hat beide auch
irgendwie unterschieden, und wir wollen gern zufrieden sein, wenn
wir unserm Sollen zuliebe auch nur einen halb eingebildeten
Unterschied herausbringen. Will man aber beide unterscheiden:
so muß doch die praktische Vernunft nicht begehren, sofern sie
nicht soll das Begehrungsvermögen sein. Im Aussprechen des
Sollens aber begehrt sie, denn das Anmuten ist doch ein Be-
gehren; und man kann nicht sagen, daß sie als nichtbegehrend
von sich selbst als Begehrendes etwas begehrte. Oder ist es die
Vernunft überhaupt und an sich, welche anmutet der Vernunft
des einzelnen? wenn anders dies nicht schon ein Unterschied gar
nicht mehr ist, sondern nur scheint. Aber v^enn es auch einer
ist: so spricht doch der einzelne die Pflicht aus in sich selbst
für sich selbst, und das Begehren, selbst etwas zu tun, ist nur
ein Wollen, kein Sollen, so wie das Anerkennen des Begehrens
sich selbst etwas anzumuten nur ein Selbstanerkennen ist, nicht
ein Anerkennen eines andern; so daß auf beiden Seiten das
Sollen ganz seine Bedeutung verliert.
Doch es ist noch eine andere Ansicht der Sache möglich.
Nämlich indem die Vernunft in der Konstruktion der Sittenlehre
oder des Systems der richtigen menschlichen Handlungen begriffen
ist, befindet sie sich in einer wissenschaftlichen Tätigkeit, in wel-
cher alles im Zusammenhange in großer Klarheit erscheint. Im
Leben kommt die Anwendung davon nur vereinzelt vor und zer-
streut; die Vernunft aber im wissenschaftlichen Zustande mutet
sich selbst als im Leben handelnder zu, dann doch immer aus die-
sem klar gedachten Zusammenhange heraus zu handeln und unter
ihn zu subsumieren. Hier wäre also eine Zweiheit, wenngleich
Schleiermacher, Werke. I. 26
402 Naturgesetz und Sittengesetz. [111,2, 403]
nur verschiedener Momente, der wissenschaftliche wäre der ge-
bietende und der handelnde der gehorchende, und das Sollen
spräche eigentlich aus, daß, wenn in einem tätigen Augenblick
der Willensakt der Vernunft nicht diesem Zusammenhange ent-
spräche, er falsch sein würde. Hiergegen ist nur einzuwenden,
daß das sittliche Verhältnis derer, die auf einen wissenschaftlichen
Zusammenhang zurückgehn, durchaus nicht unterschieden wird
von dem sittlichen Verhältnis derer, welche von einem solchen gar
nichts wissen. Ja auch diejenigen, denen dieser Zusammenhang
zugänglich ist, gehn doch im Augenblick des Entschlusses und der
Tat nicht auf ihn zurück, sondern das Soll, was sie in sich
vernehmen, bezieht den jedesmahgen einzelnen Fall auf ein mehr
oder minder allgemeines oder besonderes, immer aber als einzeln
gedachtes Gebot, ohne dieses als Glied eines allgemeinen Zusam-
menhanges vorzustellen. Also kann auch dies die Bedeutung die-
ses sittlichen Solls nicht sein.
Diese gar nicht leicht zu überwindenden Schwierigkeiten füh-
ren ganz natürlich darauf zu fragen, woher doch eigentlich dieses
Soll uns entstanden ist mit dem Gesetz zusammen in der Sitten-
lehre. Zuerst kennen wir das Sollen in dem Gebiet des häus-
lichen und bürgerlichen Lebens; es ist der Ausdruck, durch wel-
chen einer in dem andern einen Willen hervorruft, welcher vor
dem Soll gar nicht vorausgesetzt wird: der Gehorchende erkennt
aber an dem Soll den Willen des Gebietenden, und was also
allerdings vorausgesetzt wird in dem Angeredeten, das ist sein all-
gemeiner Wille zu gehorchen. Mit dem Gesetz als dem Willen
des Gebietenden hängt also hier allerdings das Soll zusammen,
keinesweges aber etwa mit der Strafe. Vielmehr wenn man Zu-
flucht zur Strafe nehmen muß: so verliert das Soll seine Kraft,
und man sagt dann richtiger. Du mußt dieses tun, sonst wird
dir jenes begegnen. Man kann sich auch denken in einem Ge-
meinwesen alle einzelnen so bereitwillig dem allgemeinen Wil-
len nachzukommen, daß keine Androhung von Strafen nötig ist
[111,2, 404] Naturgesetz und Sittengesetz. 403
den Gesetzen hinzuzufügen, aber doch wird ihnen das Soll an-
hängen als Zeichen des willenbestimmenden Ansehns. Es läßt
sich allerdings noch eine höhere Stufe denken, auf welcher, weil
der Wille nicht erst bestimmt zu werden braucht, auch das Soll,
aber dann mit dem Soll zugleich auch das Gesetz verschwindet,
wenn nämlich zu der allgemeinen Bereitwilligkeit noch eine eben
so allgemeine richtige Einsicht in das allgemeine Wohl hinzu-
kommt, so daß nur die vorhandenen Umstände dargelegt zu wer-
den brauchen, um einen gleichmäßigen Beschluß aller einzelnen
hervorzurufen. Was also hier das Soll bedeutet auf dem Ge-
biet positiver Willensbestimmungen, das ist klar. In der jüdi-
schen Gesetzgebung aber war der theokratischen Verfassung ge-
mäß das allgemein Menschliche mit dem besonderen Bürgerhchen
und Religiösen gemischt, wie es auch notwendig war für ein Volk,
welches solange in einem Zustande gänzlicher Unterdrückung des
Gefühls für das allgemein Menschliche gelebt hatte, daß es nur
zu geneigt sein konnte, alles für erlaubt zu halten. Der gött-
liche Wille wird hier gedacht wie der oberherrliche, einen Willen
hervorrufend vermittelst des allgemeinen Willens, ihm zu gehor-
chen. Als nun unter eben dieser Form jene Festsetzungen des
Sittlichen auch in den christlichen Unterricht aufgenommen wur-
den: so entstand die Gewöhnung, mit der sittHchen Erkenntnis
das Soll zu verbinden, und diese erhielt sich hernach auch, seit-
dem man angefangen hatte, die sitthche Erkenntnis in eine all-
gemeine Gestalt zu bringen, wobei auf einen äußerlich bekannt
gemachten göttlichen Willen nicht mehr gesehen, sondern die
menschliche Vernunft selbst als gesetzgebend gedacht wurde. Wie-
viel nun aber von der ursprünglichen Bedeutung des Soll bei
dieser Übertragung übrig bleibt? Wohl nur dieses. Das Soll
des bürgerlichen Gebotes ergeht an alle die unter derselben an-
mutenden Autorität stehn. Sofern ich also etwas will, und mir
dabei bewußt bin, daß dieser Wille ein allgemeiner Akt der
menschlichen Vernunft ist, unter deren anmutendem Ansehen alle
26*
404 Naturgesetz und Sittengesetz. [111,2,405]
stehen, so drücke ich ihn durch Soll aus, weil alle andere mir
dasselbe anmuten können, so gut als ich ihnen. Dieses ange-
nommen, wird man nun wohl sagen können, daß auf dem sitt-
lichen Gebiet Gesetz und Sollen genau miteinander verbunden
sind, indem auch das Soll nichts anders aussagt als die All-
gemeinheit der sittlichen Bestimmung. Ob nun aber alles Sittliche
unter dieser Form ausgesprochen werden kann, das wäre eine
andere Frage. Denn jeder Entschluß, der als ein rein individueller
entsteht, kommt nicht mit diesem Soll zum Bewußtsein, son-
dern als ein eigentümlicher aber vernunftmäßiger Wille, und
nur die zweite Frage, inwiefern einem solchen ohne Soll auf-
tretenden, auf ein sogenanntes Erlaubtes gehenden Willen gefolgt
werden darf, läßt sich wieder auf ein Gesetz zurückführen. Und
dies wäre dann freilich ein Unterschied zwischen Naturgesetz und
praktischem Vernunftgesetz, daß alles Natürliche, wie es geschieht,
sich auf Gesetze zurückführen läßt, vermöge deren es geschieht,
nicht aber im Gebiet der praktischen Vernunft alles auf solche
Gesetze, vermöge deren es geschehen soll; nur ganz ein anderer
Unterschied ist dies, als der gewöhnlich angenommene.
Ehe wir aber diesen näher betrachten, entsteht uns noch die
Frage, wie es damit steht, daß die sittlichen Formeln, um sie von
andern auch mit dem Soll behafteten auf demselben Gebiet auf-
tretenden Gesetzen oder Imperativen zu unterscheiden, kategori-
sche genannt werden, die andern aber hypothetische. Zunächst
würde man nun nach der Kantischen Tafel versucht, zu beiden
noch einen dritten aufzusuchen, dessen er aber nirgends erwähnt,
nämlich den disjunktiven, welcher lauten müßte: Du sollst entweder
dieses tun oder jenes. Die hypothetischen Imperative aber teilt
Kant wieder in solche, die als praktische Prinzipien assertorisch,
und in solche, die nur problematisch sind, wogegen der katego-
rische Imperativ apodiktisch ist. Doch gesteht er selbst zu, daß
beide zusammenfallen würden, wenn die Klugheit auf einen rich-
tigen Begriff leicht zu bringen wäre. Wenn aber nun alle besag-
[111,2,406] Naturgesetz und Sittengesetz. 405
ten Regeln hypothetische Imperative sind, weil unentschieden
bleibt, ob die Absicht, zu welcher sie gebraucht werden, gut ist:
so muß der kategorische Imperativ ebenfalls hypothetisch bleiben,
wenn man nicht darauf zurückgehn will, daß der Begriff des
Guten vor Aufstellung der sittlichen Gesetze bestimmt sein muß.
Denn sonst ist noch nicht entschieden, oft vernunftmäßig Handeln-
wollen gut ist; und das Gebot dazu kann demnach nie anders
lauten als so: Wenn du vernünftig sein willst, so handle so.
Nehmen wir aber an, daß natürlich alle verschiedenen Methoden
und Stile einer Kunst in ihren Verhältnissen zueinander einer Kon-
struktion fähig sein müssen, und in dieser angeschaut ein Ganzes
bilden, so daß jeder, der etwas Tüchtiges hervorbringen will, nach
einer von diesen verfahren muß : so wird offenbar in diesem
Fall der technische Imperativ ein disjunktiver, und diese Lücke
wäre demnach ausgefüllt. Vergleichen wir nun hier mit dem
individuellen sittlichen Handeln das einzelne, und denken uns,
wie kaum anders möglich, wenn wir die menschliche Natur als
Gattung betrachten, die verschiedenen Gestaltungen der Intelligenz
innerhalb derselben auch als einen Zyklus: so ergibt sich von
selbst das gleiche, daß nämlich der ursprünglich kategorische
Imperativ an die Gesamtheit der einzelnen gerichtet als Ausdruck
des allgemeinen sittlichen Willens ebenfalls in der Anwendung
der Formel auf die einzelnen disjunktiv werden muß. Der all-
gemeine Wille, vernünftig zu sein, muß sich an dem einzelnen
entweder so gestalten oder so. Ja noch auf andere Weise kann
man sagen, wenn man auf die Gesamtheit der sittlichen Hand-
lungen sieht, daß, wenn in dem Vernunftwesen der allgemeine
sittliche Wille gesetzt ist, alle besonderen Formeln, welche sich
auf einzelne Klassen von Handlungen beziehn, wie dies mit den
Pflichtformeln der Fall ist, nichts anders sind, als technische Im-
perative, um jenen allgemeinen Willen, dessen Ausdruck allein
der kategorische ist, zu realisieren. Man nehme noch hinzu, daß
die isolierte Betrachtung des kategorischen Imperativs am wenig-
40ö Naturgesetz und Sittengesetz. [111,2,407]
sten geeignet ist, eine wissenschaftliche Basis zu werden, weil
sie nichts darbietet zwischen der Einheit des Prinzips und der
Unendlichkeit einzelner Fälle der Anwendung, also die Vielheit
gar nicht gestalten kann; und nur das Disjunktive ist auch bei
Kant das Prinzip aller wissenschaftlichen Zusammenstellung der
Vielheit. Der kategorische Imperativ kommt also erst zur Klar-
heit des Bewußtseins, wenn er hypothetisch wird. Nur indem das
Dilemma aufgestellt wird, entweder vernünftig sein und so han-
deln, oder nicht so und unvernünftig, wird das Sittengesetz nach
Kants Ausdruck pragmatisch, welcher Ausdruck in der Tat weit
mehr sagen will als jener, wenngleich Kant ihn nur für den
untergeordneten konsumtiven Imperativ der Klugheit aufbewahrt.
Denn das Soll, sobald es sich nicht mehr auf eine äußere Autori-
tät gründet, kann nur wie ein Zauber erscheinen, wenn es nicht
jenen assertorischen Charakter annimmt: Weil du vernünftig sein
willst, so handle also. Der kategorische Imperativ ist demgemäß
nur die bewußtlose unentwickelte Form des Sittengesetzes, und
bekommt erst eine praktische Realität und eine wissenschaftliche
Traktabilität, wenn er sich in den hypothetischen und disjunktiven
entwickelt.
Doch dieses war nur beiläufig; aber wie steht es nun um
den durch ein entgegengesetztes Verhältnis beider zum Sein be-
gründeten Gegensatz zwischen Sittengesetz und Naturgesetz? Be-
steht — denn darauf laufen die Kantischen und Fichtischen Er-
klärungen hinaus — besteht die absolute Gültigkeit des Sitten-
gesetzes darin, daß es immer gelten würde, wenn auch niemals
geschähe, was es gebietet, weil ja doch das Soll desselben be-
steht, auch wenn ihm ein Sein gar nicht anhängt, die absolute
Gültigkeit des Naturgesetzes hingegen darin, daß immer geschehen
muß, was darin ausgesagt ist? Was das erste betrifft, so ist
allerdings wahr, daß die Gültigkeit des Gesetzes nicht abhängt
von der Vollständigkeit seiner Ausführung; ja es ist der richtige
Ausdruck für unsere Annahme des Gesetzes, daß, ohnerachtet wir
[111,2, 408] Naturgesetz und Sittengesetz. 407
keine einzige menschliche Handlung für schlechthin vollkommen,
also ganz dem Gesetz entsprechend erkennen, die Gültigkeit des
Gesetzes dadurch dennoch gar nicht leidet. Allein auf der andern
Seite muß doch immer etwas vermöge des Gesetzes geschehen,
sonst wäre es auch kein Gesetz. Denn wenn wir auf den Pro-
totyp des Sollens, nämlich das bürgerliche Gesetz, zurückgehn:
würde wohl jemand sagen, das sei wirklich ein Gesetz, was zwar
ausgesprochen sei als solches, aber niemand mache auch nur die
geringste Anstalt, dem Gesetz zu gehorchen? Gewiß würden wir
verneinen, aber dann auch hinzufügen, der Gesetzgeber sei auch
keine Obrigkeit mehr, weil seine Aussprüche nicht anerkannt wer-
den, und das ganze Verhältnis nur im Anerkennen bestehe. Wer-
den wir nun nicht auf dieselbe Art auch vom Sittengesetz sagen
müssen: Wenn in keinem Menschen die geringsten Anstalten ge-
macht würden, demselben zu gehorchen, und das, was Kant die
Achtung für das Gesetz nennt, gar nicht vorhanden wäre; denn
diese ist doch immer schon ein, wenngleich unendlich kleiner, An-
fang des Gehorchens: so wäre auch das Sittengesetz kein Gesetz,
sondern nur ein theoretischer Satz, von welchem man sagen könnte,
er würde ein Gesetz sein, wenn es ein Anerkenntnis desselben
gäbe? Aber die Vernunft wäre dann auch gar nicht praktisch,
so wenig als jener Gesetzgeber, dem niemand im mindesten ge-
horchte, eine Obrigkeit wäre. Jene Achtung für das Gesetz, ein
gewiß unter den gegebenen Umständen sehr wohlgewählter Aus-
druck, konstituiert als eigentlich erst das Gesetz, und ist die Wirk-
lichkeit des Gesetzes. Denn das einzige, was man an dem Aus-
druck tadeln könnte, ist nur dieses, daß er zu trennen scheint, was
unmöglich getrennt werden kann. Denn nicht existiert das Sitten-
gesetz zuerst als Gedanke, und hernach bringt die Vernunft die
Achtung dafür hervor; sondern es ist nur ein und dasselbe oder
ein und derselbe transzendentale Akt, wodurch die Vernunft prak-
tisch wird, das heißt als Impuls besteht, und wodurch es ein
Sittengesetz gibt. Kann man also wohl sagen, das Sittengesetz
408 Naturgesetz und Sittengesetz. [111,2, 409]
würde gelten, wenn auch nie etwas demselben gemäß geschähe?
Wohl nur, wenn man bei der äußern Vollbringung der Handlun-
gen stehen bleibt; diese aber sind auf der einen Seite gar nicht
Produkte des Gesetzes oder des Willens allein, auf der andern
Seite ist aber doch immer, wenn nur irgend das Gesetz dabei
mit eingetreten ist, auch etwas in ihnen, was rein dem Gesetz ge-
mäß geschieht. Denn wird überhaupt nur auf das Gesetz bezogen:
so wird auch entweder dem Gesetz gemäß gewollt, oder das
Gegenteil wird nur unter der Form des Unrechtes gewollt; und
auch das geschieht dann dem Gesetz gemäß. Wird aber dem Ge-
setz gemäß gewollt: so ist notwendig auch in der erscheinenden
Handlung etwas, wodurch das Gesetz repräsentiert wird. Eben
dieses aber ist ja ein Sein, es ist die innerste Bestimmtheit des
Ich, und aus unserm Gesichtspunkt weit mehr ein Sein als die
äußere Tat und was aus derselben hervorgeht; denn die be-
stimmende Kraft der Gesinnung ist das eigentliche und ursprüng-
liche sittliche Sein, wodurch allein jede erscheinende Tat, sie sei
nun vollkommner oder unvollkommner, an der Sittlichkeit teil-
nimmt. Ja wenn man auch bei dem ohnstreitig dürftigern Aus-
drucke der sich selbst setzenden Selbsttätigkeit oder der Gesetz-
mäßigkeit um des Gesetzes willen stehen bleibt, was freilich in
einer Hinsicht etwas Leeres ist, weil daraus niemals eine bestimmte
Handlung hervorgehen kann, so ist doch auch dann die Gesin-
nung in der Tat das Sein bestimmend, weil sie den Verlauf
jeder Tätigkeit hemmt, welche der Gesetzmäßigkeit und der Selbst-
tätigkeit schlechthin etwa zuwider wäre. Das Gesetz ist also nur
Gesetz, insofern es auch ein Sein bestimmt, und nicht als ein blo-
ßes Sollen, wie denn auch ein solches streng genommen gar nicht
nachgewiesen werden kann.
Können wir also hier auf dem Gebiet des Vernunftgesetzes
das Sollen nicht trennen von der Bestimmung des Seins; ist
die Vernunft nur praktisch, sofern sie zugleich lebendige Kraft ist:
wie wird es nun auf der Seite des Naturgesetzes stehn? Werden
[111,2,410] Naturgesetz und Sittengesetz. 409
wir dort dieses, daß das Gesetz wiriclich das Sein bestimmt, ganz
trennen iiönnen davon, daß dem Gesetz auch ein Sollen anhängt?
Freilich, wenn man allein dabei stehen bleibt, daß das Sollen
eine Anmutung an den Willen enthält: so kann hier von keinem
Soll die Rede sein, weil in der Natur kein Wille gesetzt ist.
Alsdann ist aber durch den Unterschied, von welchem wir han-
deln, auch keine Verschiedenheit zwischen Naturgesetz und Ver-
nunft g e s e t z ausgedrückt, sondern nur zwischen Natur und Ver-
nunft. Es liegt aber allerdings in dem Sollen, außerdem daß es
eine Anmutung an den Willen ausdrückt, auch noch dieses, daß
bei derselben zweifelhaft bleibt, ob der Anmutung wird Folge
geleistet werden oder nicht. Wenn wir nun nachweisen, daß
Naturgesetze auch eine Anmutung enthalten, wenngleich freilich
an ein willenloses Sein, aber doch eine solche Anmutung eben-
falls, bei welcher zweifelhaft bleibt, ob sie wird in Erfüllung gehen
oder nicht: dann wäre das Verhältnis zwischen Sollen und Sein-
bestimmung in beiderlei Gesetzen so sehr dasselbe, als es bei der
Verschiedenheit von Natur und Vernunft nur möglich ist. Die
Gesetze nun, welche sich auf die Bewegungen der Weltkörper be-
ziehen, und welche die Verhältnisse der elementarischen Natur-
kräfte und Urstoffe aussagen, wollen wir in dieser Hinsicht über-
gehen. Denn wenn die einzelnen Fälle hier nicht mit dem Ge-
setz zusammenstimmen, so behaupten wir entweder, daß in dem
einzelnen Falle noch etwas anders tätig gewesen als dasjenige,
wovon das Gesetz redet; oder wir erkennen unsern Ausdruck nicht
mehr für das wahre Naturgesetz, sondern modifizieren ihn, und
hoffen so, es immer besser zu treffen, lassen aber nicht von der
Voraussetzung, daß, wenn wir erst das Richtige gefunden haben,
alsdann auch alles, w^orauf das Gesetz anwendbar ist, demselben
völlig entsprechen werde. Ebenso mit den Formeln für die Be-
wegungen. Wenn diese nicht genau zutreffen: so sieht das frei-
lich aus, als hätten wir dem Weltkörper etwas zugemutet, was
er nicht geleistet habe; allein statt uns dabei zu begnügen, nehmen
410 Naturgesetz und Sittengesetz. [111,2,411]
wir an, daß noch andere bewegende Kräfte müßten eingewirkt
haben. Aber wir können dieses zugeben, ohne dem Eintrag
zu tun, was wir hier über das Naturgesetz behaupten möchten.
Denn eine Formel für die Bewegung allein als das bloße Massen-
vcrhäitnis ist doch nur eine abstrakte mathematische Formel.
Erst wenn wir aus der Genesis der Sonne und der Planeten
die Massen und Raumverhältnisse selbst begreifen könnten, so
daß auch alle Veränderungen in den Massenverhältnissen der
Weltkörper und in ihrem Verhalten zu ihren Bahnen mit darin
begriffen wären, erst dann würden wir ein wahres Naturgesetz
haben auch für die Bewegungen. Aber würde denn dieses rein
zutreffen? Wohl nicht leicht; sondern wenn wir auf diese Art ein
Bewegungsgesetz für das Sonnensystem an sich gefunden hätten:
so würde es doch irgendwie, wenn auch auf eine für uns gänz-
lich unmerkliche Weise, durch den allgemeinen Zusammenhang
affiziert werden; und wir werden mit Recht sagen können, es
solle sich so bewegen, erleide aber bisweilen Perturbationen, und
ein Gesetz, das ein vollkommener Ausdruck des Seins wäre, wür-
den wir erst gefunden haben, wenn wir das ganze Universum auf
eine Formel bringen könnten. Dasselbe gilt von den Urstoffen
und den elementarischen Kräften. In welchem Umfange wir sie
als ein Ganzes begreifen könnten, wenn es nicht das absolute
Ganze wäre, so würden wir immer nur ein Gesetz haben, nach
welchem das Sein sich nicht vollkommen richtete, und die Ab-
weichung würde uns über jenen Umfang hinaus weisen; wo wir
aber eine ganz zutreffende Formel haben, die wird sich nur auf
sehr bedingte Faktoren beziehen, deren Erscheinen unter diesen
Bedingungen wir wieder nur als ein Zufälliges begreifen, so daß
kein Sein durch die Formel bestimmt wird.
Doch hierbei länger stehen zu bleiben, das hieße nur die Frage
ins Unendliche hinausschieben, bis wir etwa zu Naturgesetzen ge-
langen, die dem Begriff besser entsprechen. Allein wir haben der-
gleichen schon auf einem andern uns näher liegenden Gebiet, und
[111,2, 412J Naturgesetz und Sittene:esetz. 411
die uns nur um so mehr als wahre Naturgesetze erscheinen wer-
den, wenn wir sie mit jenen vergleichen. Nämlich alle Gattungs-
begriffe der verschiedenen Formen des individuellen Lebens sind
wahre Naturgesetze. Denn die lebendigen Wesen, die Vegetation
mit eingerechnet, entstehen aus Tätigkeiten und bestehen in Tätig-
keiten, welche sich immer auf dieselbe Weise entwickeln; wahre
Gattungsbegriffe nun sollen der vollständige Ausdruck sein für
alles, was eine bestimmte Lebensform konstituiert an sich und in
ihrer Differenz von andern verwandten, und zwar so, daß sie in
ihrem Zusammenhange, den wir auf bestem Wege sind, immer
vollkommner zu begreifen, das Naturgesetz des individuellen
Lebens auf unserm ganzen Weltkörper ausdrücken. Weiter hinab-
zusteigen bis z. B. auch auf die Formen der Kristallisation, deren
allerdings jede auch nur begriffen werden kann als eine Ent-
stehung der Gestalt aus der Bewegung, werden wir dadurch ver-
hindert, teils, daß hier die Gattungsbegriffe überall auf das dem
Kristallisierten analoge Derbe zurückweisen, und die bloße Regel
der Kristallisation doch nur eine abstrakte Formel sein würde, das
Naturgesetz aber sich auf die Entstehung und Gestaltung des Star-
ren überhaupt erstrecken müßte, teils auch dadurch, daß uns
hier der Prozeß selbst nicht gegeben ist, sondern nur das Resul-
tat desselben. Die Vegetation aber und Animalisation zeigen
uns in jeder ihrer verschiedenen Formen ein abgeschloßnes Ganze,
dessen Begriff das Gesetz ist für ein System von Funktionen in
ihrer zeitlichen Entwicklung. Werden wir nun gefragt: Ist jedes
solche Gesetz, gleichviel ob es der untergeordnete Begriff einer Art
ist oder der höhere einer Gattung oder der noch höhere einer
natürlichen Familie, ist jedes solche Gesetz bestimmend ein Sein?
so werden wir offenbar bejahen müssen; denn die sämtlichen In-
dividuen dieser Art oder Gattung entstehen nach diesem Gesetz,
und ihr ganzes Dasein in seiner allmählichen Entwicklung, Kul-
mination und Entkräftigung verläuft nach demselben. Wenn wir
aber nun auf der andern Seite gefragt werden: Hängt diesem
412 Naturgesetz und Sittengesetz. [111,2,413]
Gesetz auch ein Sollen an? so werden wir soviel ebenfalls be-
jahen müssen, daß wir das Gesetz aufstellen für das Gebiet, ohne
daß in der Aufstellung zugleich mit gedacht werde, daß alles rein
und vollkommen nach dem Gesetz verlaufe. Denn das Vorkom-
men von Mißgeburten als Abweichungen des Bildungsprozesses,
und das Vorkommen von Krankheiten als Abweichungen in dem
Verlauf irgendeiner Lebensfunktion nehmen wir nicht auf in das
Gesetz selbst, und diese Zustände verhalten sich zu dem Natur-
gesetz, in dessen Gebiet sie vorkommen, gerade wie das Unsittliche
und Gesetzwidrige sich verhält zu dem Sittengesetz.
Noch eine Betrachtung, mit welcher wir schließen wollen,
wird die Identität des Verhaltens beider Begriffe zur vollen An-
schauung bringen. Legen wir die elementarischen Kräfte und
Prozesse und den Erdkörper in seiner durch die Scheidung des
Starren und Flüssigen bedingten Ruhe zum Gmnde; und können
wir dann mit Recht sagen, hypothetisch wenigstens, und mehr
ist hier nicht nötig, mit der Vegetation trete ein neues Prinzip,
nämlich die spezifische Belebung, in das Leben der Erde, ein
Prinzip, welches in einer Mannigfaltigkeit von Formen und Ab-
stufungen erscheinend sich in seinem Umfange den chemischen
Prozeß sowohl als die mit der Bildung der Erde gegebene Gestal-
tung unterordnet und beides auf eine individuelle Weise fixiert;
und fragen wir dann weiter, worin denn das gegründet sei, was
auf diesem Gebiet als Mißgeburt oder Krankheit angesehen wer-
den muß, was hier freilich fast immer sehr einfach auf Mangel
oder Überfluß, das heißt auf ein quantitatives Mißverhältnis,
zurückgeführt werden kann, so werden wir doch nur antworten
können: Nicht in dem neuen Prinzip an und für sich; denn für
dessen reine Wirksamkeit sei der Begriff der Vegetation der reine
und vollständige Ausdruck; sondern in einem Mangel der Ge-
walt des neuen Prinzips über den chemischen Prozeß und die
mechanische Gestaltung. An diesem Mangel aber scheine zugleich
1111,2,414] Naturgesetz und Sittengesetz. 413
die zeitliche Beschränktheit der vegetativen Einzelwesen zu han-
gen; wenn also diese vergänglich sein sollten, so mußte auch jener
Mangel mit seinen anderweitigen Folgen sein. Weitergehend
werden wir dann sagen müssen, mit der Animalisation trete aber-
mal ein neues Prinzip, nämlich der spezifischen Beseelung ein, wel-
ches sich in seiner ganzen Erstreckung, wenngleich nicht überall
in gleichem Maße, sowohl den vegetativen Prozeß als auch das
allgemeine Leben unterordnet, und ebenfalls in einer Mannig-
faltigkeit von Formen und Abstufungen erscheint, welche nun auf
dieselbe Weise Gesetze sind für die Natur. Und wird nun weiter
gefragt, worin denn die auf diesem Gebiet vorkommenden, schon
weit komplizierteren Abweichungen gegründet sein, so werden
wir wohl auch antworten müssen: Nicht in dem Prinzip selbst;
denn für dieses ist der Begriff des tierischen Lebens in der
Mannigfaltigkeit seiner Formen der reinste Ausdruck; sondern in
einem relativen Mangel an Gewalt dieses Prinzips über den vege-
tativen Prozeß sowohl, als über das allgemeine Leben, und natür-
lich wären also die Abweichungen auf diesem Gebiet auch kom-
plizierter und nicht in so leichte Formeln zu fassen. Und können
wir nun wohl noch umhin, der Steigerung die Krone aufzusetzen,
indem wir sagen, mit dem intellektuellen Prozeß trete nun aber-
mals ein neues, denn wir brauchen nicht zu behaupten das letzte,
Prinzip in das Leben der Erde, welches jedoch nicht in einer
Mannigfaltigkeit von Gattungen und Arten, sondern nur in einer
Mannigfaltigkeit von Einzehvesen einer Gattung erscheine, so daß
eine Mannigfaltigkeit der Gattungen nicht gedacht werden kann,
als nur in Verbindung mit der Mehrheit der Weltkörper. Wie
aber der Geist nun hier erscheine in der einen Menschengattung:
so werde er sich auch in seinem Umfange nicht nur den Prozeß
der eigentümlichen Beseelung und Belebung, sondern auch das
allgemeine Leben unterordnen und aneignen. In diesem geistigen
Lebensgebiet wiederholten sich nun auf die seiner Natur gemäße
414 Naturgesetz und Sittengesetz. [111,2,415]
Weise die Abweichungen, die innerhalb des Gebietes der Anima-
lisation und der Vegetation vorkommen; aber es entständen zu-
gleich neue, welche dem obigen zufolge ihren Grund nicht haben
in der Intelligenz selbst, denn für das Wesen und die Wirksam-
keit dieser sei das Gesetz, welches hier aufgestellt werden müsse,
ebenfalls der reine und vollkommene Ausdruck, sondern wie oben
darin, daß der Geist eintretend in das irdische Dasein ein Quan-
tum werden muß, und als solches in einem oszillierenden Leben
im einzelnen unzureichend erscheint gegen die untergeordneten
Funktionen. Und wenngleich dieses eben so hypothetisch gesetzt
ist, wie das, woraus es folgt: so ist doch dies gerade dieselbe
Hypothese, von der auch diejenigen ausgehen, welche das Sitten-
gesetz als ein reines Sollen beschreiben; denn sie sagen, es sei ein
solches, weil mit der Vernunft und dem Vernunftgesetz zugleich
eine Insuffizienz gesetzt sei. Was also folgt, das folgt vermöge
eben jener Hypothese. Und das Gesetz, welches hier neu auf-
gestellt werden muß, so daß es die ganze Wirksamkeit der Intel-
ligenz vollständig verzeichnet, wird das wohl etwas anderes sein
als das Sittengesetz? und die neuen Abweichungen, in welchen
die Begeistung unzureichend erscheint gegen die Beseelung, wer-
den sie etwas anderes sein als das, was wir böse nennen und
unsittlich? Schwerlich wird jemand verneinen wollen; es müßte
denn einer fragen, wo denn nun der Unterschied bleibe zwischen
der theoretischen und praktischen Vernunft, und woher denn ent-
schieden worden, daß das hier aufzustellende Gesetz allein das der
praktischen Vernunft und nicht beider sei, oder daß nicht viel-
leicht ausschließend das der theoretischen hierher gehöre. Oder es
möchte mir jemand das Schreckbild des Wahnsinns vorhalten,
und sagen, dieser und alles was eine Annäherung dazu bildet,
sei die hier neu aufzustellende Abweichung, das Böse aber müsse
einen andern Ort haben. Dem ersten würde ich antworten, da
hier nur die Rede sei von einem neuen Prinzip für ein System
von Tätigkeiten: so könne auch die Vernunft hier nur betrach-
[111,2,416] Naturgesetz und Sittengesetz. 415
tet werden als praktisch, das heißt als tätig, und der ganze
theoretische Vernunftgebrauch gehe doch als Handlung immer vom
Willen aus. Dem andern aber würde ich aus demselben Grunde
sagen, daß von unserm Standpunkt aus der Wahnsinn und das
Böse nicht zwei verschiedene Örter haben könne, sondern jedes
sei auf das andere zurückzuführen, und jeder Wahnsinn entstehe
nur dadurch, daß die Intelligenz als Wille zu ohnmächtig sei,
um den Angriff einer untergeordneten Potenz auf ihren unmittel-
baren Organismus abzuweisen. Bleibt es also bei der Bejahung
beider Fragen: so stimmt auch das hier Gesagte vollkommen zu-
sammen mit dem oben Gesagten über die Art, wie das Sitten-
gesetz sowohl seinbestimmend ist, als aucii ihm ein Sollen an-
hängt. Hier aber entwickelt es sich uns durch eine Steigerung
als das höchste individuelle Naturgesetz aus den niederen. Die
Seinsbestimmung in demselben ist also von derselben Art, und
das Sollen ist auch von derselben Art, nur mit dem einzigen
Unterschiede, daß erst mit dem Eintreten der Begeistung das
Einzelwesen ein freies wird, und nur das begeistete Leben ein
wollendes ist, also auch nur auf diesem Gebiet das Sollen sich
an den Willen richtet. Im allgemeinen aber ist es überall die
Forderung der Gewalt des individuellen Seins über das elemen-
tarische und allgemeine, als des höheren über das niedere, und
das Naturgesetz liegt nicht auf der entgegengesetzten Seite wie
das Sittengesetz, sondern beide auf derselben. Also werden auch,
was wenigstens das Verhältnis des Gegenstandes zum Gesetz
betrifft, Naturwissenschaft und Sittenlehre keineswegs zwei ver-
schiedene Formen haben müssen, sondern sie werden sich füglich
hineinbilden lassen in eine gemeinschaftliche, sobald nämlich die
Sittenlehre sich befreit hat von der Analogie mit dem Politischen,
und die Einsicht hervorgetreten ist, daß, da das Politische selbst
nur durch die Sittenlehre konstruiert werden kann, die Form des-
selben unmöglich als die Urform angesehen werden darf, nach
welcher die Sittenlehre gebildet werden muß. Sondern die Form
416 Naturgesetz und Sittengesetz. [111,2,417]
der Sittenlehre wird die beste sein, in welcher die Intelligenz
dargestellt wird als aneignend und bildend und sich so in einer
eigenen in sich abgeschlossenen Schöpfung offenbarend; ein
Typus, welcher nirgend so deutlich als bei der platonischen Kon-
struktion zum Grunde liegt, aber nicht zu seiner vollkommenen
Entfaltung gediehen ist.
über den Begriff des Erlaubten.
Gelesen am 29. Junius 1826.
Der Zusammenhang dieses Begriffs mit dem früher von mir
behandelten Begriff der Pflicht ist so genau, daß diese Abhand-
lung nur als eine Erläuterung zu jener angesehen werden kann.
Denn überall stellt sich das Erlaubte in die Mitte zwischen das
Pflichtmäßige und Pflichtwidrige, als ein Drittes zu beiden, welches
keines von beiden sein will. Es will überall mit dem Pfhcht-
mäßigen das eine gemein haben, daß es nicht gewehrt werden
kann; mit dem Pflichtwidrigen aber das andere, daß es nicht ge-
fordert werden darf. Eine Darstellung der Pflichtenlehre ist also
erst völlig verstanden, das heißt, man übersieht erst ihr Verhält-
nis zur Gesamtheit des geistigen Lebens, wenn auch deutlich
geworden ist, inwiefern sie diesem Begriff eine Wahrheit zu-
gesteht, und was für einen Umfang sie ihm anweiset. Dieses
allein ist daher auch der Gegenstand der gegenwärtigen Abhand-
lung, ohne daß sie — sofern sich nicht auch dieses schon durch
jene Untersuchung von selbst erledigt — ausdrücklich beabsichtigte
zu bestimmen, welche Handlungen oder Handlungsweisen in ein-
zelnen Gebieten für erlaubt zu halten sind oder nicht; sondern
sie hat es nur mit dem Begriff selbst und seinem Verhältnis zu
Schleiermacher, Werke. I. 27
418 Begriff des Erlaubten. [111,2,419]
den andern sittlichen Begriffen zu tun. Denn steht er gleich im
unmittelbarsten Verhältnis mit dem Pflichtbegriff, so muß er doch
eben deshalb auch ein Verhältnis haben zu dem Begriff der
Tugend und dem des Guten.
Wenn nun meine vor einiger Zeit mitgeteilte Abhandlung
über den Pflichtbegriff*) das Ergebnis aufgestellt hat, daß pflicht-
mäßig jede solche Handlung sei, welche, indem der Antrieb dazu
von dem Interesse an einem bestimmten sittlichen Gebiet ausgeht,
doch zugleich auch das Interesse an der Totalität der sittlichen
Aufgabe befriedigt, pflichtwidrig aber demgemäß nicht nur das-
jenige, was der sittlichen Totahtät oder einer einzelnen sittlichen
Richtung widerstreitet, ohne im letzten Fall von einer anderen
solchen ausgegangen zu sein, weil nämlich der Antrieb bloß sinn-
lich ist, sondern auch welche Handlung wirklich von einer einzel-
nen sittlichen Richtung ausgeht, aber so, daß sich die Forderung
einer andern sittHchen Richtung in dem gegebenen Moment gegen
sie erhebt, so daß sie in Beziehung auf diese zur Unzeit geschähe
oder im Unmaß: so fragt sich zunächst, was für Handlungen
könnten wohl zwischen diesen beiden liegend solche erlaubte sein?
Zweierlei scheinen sich deren zu ergeben. Denn wenn zu
einer Handlung zwar der Antrieb ein sinnlicher wäre, aber es
erhöbe sich gegen sie keine Klage von irgendeinem sittlichen Ge-
biete aus: so wäre eine solche weder pfiichtmäßig, weil der sitt-
liche Antrieb, noch pflichtwidrig, weil der sittliche Einspruch
fehlt. Ebenso auch zweitens, wenn es möglich wäre, daß der Im-
puls zu einer Handlung ausginge von dem Interesse an der ge-
samten sittlichen Aufgabe, aber ein einzelnes sittliches Gebiet
erhöbe sich dagegen: so läge eine solche auf eine andere Weise
zwar zwischen beiden, würde aber doch auch erlaubt zu nennen
sein, wenngleich nur als eine Sache der Not. Der Einspruch näm-
lich fehlt hier nicht, aber er wird, weil der vollkommene Antrieb
*) S. den Jahrgang 1824. Philosoph. Klasse.
[111,2,420] Begriff des Erlaubten. 419
da ist, überhört. Nur daß dann auch das Entgegengesetzte erlaubt
sein muß, nämlich dem Einspruch als dringend zu folgen und
die angestrebte Handlung zu unterlassen, den Antrieb aber auf
einen späteren Moment zu vertrösten. Die Not aber ist eben
dies, daß vorausgesetzt wird, daß das sittlich einzelne und die sitt-
liche Totalität sich einander, wenn auch nur momentan, aufheben.
Hierher gehören nun fast alle die so oft angeführten und beleuch-
teten Fälle von Selbsthilfe in der Not auf Gefahr eines andern
zuzufügenden Unrechtes, sofern nämHch dabei immer voraus-
gesetzt wird, man dürfe den Trieb der Selbsterhaltung und die
Richtung des Individuums auf die Totalität der sittlichen Aufgabe
als eines und dasselbe ansehen. Allein die ganze Gegend bleibt,
auch dieses zugegeben, immer verdächtig, indem ja doch ein
Widerspruch in dem Gebiete des rein Sittlichen vorausgesetzt
wird, der eigentlich auf keine Weise angenommen werden kann,
wenigstens nicht aus dem Standpunkte der angezogenen und hier
zum Grunde liegenden Abhandlungen, als welche eine wesentliche
Zusammengehörigkeit alles dessen, was mit Recht sittlich soll
genannt werden können, überall voraussetzen. Denn es hört alle
Konstruktion des Pflichtmäßigen auf, mithin ist es auch um aile
wissenschaftlichen Prinzipien zur Beurteilung der einzelnen sitt-
lichen Handlungen geschehen, sobald ein Widerspruch stattfinden
kann zwischen dem, was das Ganze fordert, und dem, worauf ein
Teil Anspruch macht. Der Unterschied zwischen dem Pflicht-
widrigen und Pflichtmäßigen wird sofort nur ein zufälliger, und
der Charakter des Pflichtbegriffs ist aufgehoben. Es möchte aber
auch niemals nachzuweisen sein, daß überhaupt eine einzelne
Handlung als von der Richtung des Willens auf die ganze sitt-
liche Aufgabe ausgehend angesehen werden kann, weil durch diese
allein nichts einzelnes bestimmt wird. Am wenigsten aber möchte
man eine Äußerung des Selbsterhaltungstriebes so nennen können.
Denn wenngleich der einzelne sich erhalten soll, um sittlich zu
leben, so ist doch ein jeder Akt der Selbsterhaltung nur bedingt
27*
420 Begriff des Erlaubten. [111,2,421]
durch die ihm eben vorHegenden sittlichen Aufgaben, damit diese
nicht gestört werden und sonach durch wenngleich mannigfaches,
doch immer einzelnes sittliches Interesse, gegen welches also auch
ein anderes auftreten kann.
Genau betrachtet also würde auch das zweite, was sich uns
ergeben hätte, nur eine leere Stelle sein, und die scheinbar dahin
gehörigen Fälle wären bei dem ersten unterzubringen, wie denn
alle sinnlichen Motive mehr oder weniger auf die Selbsterhal-
tung zurückgehn, die ja auch oft genug als die allgemeine For-
mel für alle ist angesehen worden. Sonach bliebe uns nur das
erste übrig. Erlaubt nämlich wären solche Handlungen, bei denen
zwar ein sinnlicher Impuls zum Grunde liegt, aber ein solcher,
gegen den von keiner Seite der sittlichen Aufgabe aus protestiert
wird. Da nun diese Protestation eben das ist, was einer Hand-
lung das Gepräge der Schuld aufdrückt: so wäre das Erlaubte,
wie es scheint, das Unschuldige, und dann auch umgekehrt.
Nämlich was erlaubt ist, das wäre unschuldig, weil es als nicht
von dem sittlichen Interesse ausgehend auch nicht verdienst-
lich sein kann, und weil nicht im Widerspruch mit der sitt-
lichen Aufgabe, auch nicht verwerflich; und das Unschuldige
wiederum müßte immer erlaubt sein, weil es zwar nicht pflicht-
mäßig ist seinem Ursprünge nach, aber auch nicht pflichtwidrig
seiner Beschaffenheit nach. Wir haben nun hierdurch zwar ein
neues Merkmal gewonnen, aber keineswegs etwa eine Entschei-
dung. Denn wenn man freilich auf der einen Seite sagen möchte,
daß es eine große Menge unschuldiger menschlicher Handlungen
gebe, könne doch niemand bezweifeln: so ist auf der andern Seite
wieder nicht zu leugnen, daß diese wesentlich der Kindheit an-
gehören, welcher das sittliche Auge noch nicht geöffnet ist, und
andern ähnlichen Zuständen. Es fragt sich also immer noch, ob
und auf welche Weise es solche Handlungen geben könne, welche
zwar von einem sinnlichen Antriebe ausgehen, aber doch keinen
Widerspruch von dem sittlichen Interesse erfahren.
[111,2, 422] Begriff des Erlaubten. 421
Wenn nun nach dem früher Gesagten aus der Totalität aller
pflichtmäßigen Handlungen auch alle Güter hervorgehn: so könn-
ten also alle bloß erlaubte Handlungen an der Hervorbringung
irgendeines Gutes keinen Anteil haben, und wären demnach
unfruchtbar für das höchste Gut. Man sollte daher denken, es
könne sich gegen dieselben nur insofern kein Widerspruch von
dem sittlichen Interesse aus erheben, als feststände, daß zu der-
selben Zeit dasselbe Subjekt nichts tun könne, um das höchste
Gut zu fördern. Ebenso wenn jede Tugend nichts anderes ist
als die kräftige Wirksamkeit eines sittlichen Antriebes, und mit-
hin alle Tugenden in der Gesamtheit der von sittlichen Antrieben
ausgehenden Handlungen vollkommen aufgehen: so hätte also
an allen bloß erlaubten Handlungen, sofern sie ja von einem
sinnlichen Antriebe ausgehn, keine Tugend irgendeinen Anteil;
und auch so betrachtet sollte man denken, die sittliche Lebens-
kraft des Individuums müsse sich allemal gegen solche Hand-
lungen auflehnen und die sinnlichen Antriebe auch mit diesen An-
sprüchen abweisen, es müßte denn sein, daß zu derselben Zeit gar
keine Tugend sich wirksam beweisen könne. So zeigt sich dem-
nach auf alle Weise, daß bloß erlaubte Handlungen in einem
sittlichen Leben nur insofern vorkommen können, als sie in eine
als natürlich und notwendig nachzuweisende Pause des sittlichen
Lebens hineinfallen, so wie der Schlaf eine Pause des Seelen-
lebens ist. Und wie das Leben sich in dieser Beziehung in Schlaf
und Wachen teilt, so müßte es sich in jener Beziehung teilen
in das Pflicht- und Berufsleben, oder, so können wir es wohl
nennen, den Ernst, welcher das eigentliche sittliche Wachen wäre,
und in dieses andere, welches aus dem sittlichen Standpunkt be-
trachtet, weil keine Tugenden dabei wirksam sind, eben wie der
Schlaf nur als ein untätiger Zustand zu denken wäre, und auch
wie jener außer der Ernährung und Stärkung der sinnlichen ledig-
lich dienstbaren Kräfte nur den Gehalt eines Traumes haben
könnte. Wollen wir nun diesen Teil das Erholungsleben oder
422 Begriff des Erlaubten. [111,2,423]
das Spiel nennen im Gegensatz gegen den Ernst oder das Be-
rufsleben: so werden wir nicht weit fehlen; vielmehr sieht jeder
leicht, daß alles, was wir mit solchen Namen zu bezeichnen pfle-
gen, von denen, die es verteidigen, immer nur als erlaubt in
Schutz genommen wird, und daß, wo eines oder das andere die-
ser Art angefochten wird, die Rechtfertigung des Erlaubten immer
darauf beruht, daß es unschuldig sei.
So scheint denn dieser Begriff ein überall in irgendeinem
Maß anerkanntes, in den schönsten und edelsten Gestaltungen
des menschlichen Daseins aber so gar weit umfassendes und
überall zugleich gewissermaßen unter sich zusammenhängendes
Gebiet in unserm Leben einzunehmen. Je strenger und herber die
ganze Form des Lebens, desto seltnere und kürzere Pausen von
sittlicher Anstrengung und Mühe, und umgekehrt, wo sich das
Leben in größerer Fülle und Anmut entfaltet; überall aber, so
oft der Ernst des Lebens nachläßt, und unser Beruf (das Wort
in seinem weitesten Umfange genommen) feiert, so oft wir im
Spiel irgendeiner Art begriffen sind, im freien und fröhlichen
geselligen Verkehr, im Genuß irgendeiner Kunst und Schönheit:
so treiben wir Erlaubtes. Im Berufsleben soll die volle Zustim-
mung, das beifällige Bewußtsein, daß wir Pflichtmäßiges treiben
und für das höchste Gut arbeiten, uns beständig begleiten, wie
im wachen Zustande das besonnene Selbstbewußtsein im allge-
meinen Sinne des Wortes in jedem Augenblick jede Tätigkeit
begleitet; wenn wir aber in diesem Zwischenräume des Spiels
und der Erholung uns befinden, dann schläft jenes höhere Be-
wußtsein; aber es erwacht gleich wieder und ordnet das Leben,
sobald wir wieder in den Zustand des Ernstes und der Pflicht-
erfüllung zurücktreten. Ja auch das versteht sich schon aus die-
ser Analogie, daß wir doch dieses Gebiet des Erlaubten, wenn-
gleich wir dabei nicht von sittlichen Antrieben ausgehen, keines-
weges aller sittlichen Beurteilung entziehen. Denn wie es einen
erquicklichen Schlaf gibt und einen krankhaften, und so auch
[111,2, 424] Begriff des Erlaubten. 423
anmutige Träume und düstere und erschreckende, und wir gern
wachend etwas tun würden, wenn wir nur wüßten was, um
diesen letzten zuvorzukommen und den Schlaf in seinen gesunden
Typus hinein zu beschwören: so unterscheiden wir auch in er-
laubten Handlungen ein mehr und minder Zuträgliches und dem
eigentlichen sittlichen Leben Verwandtes, und möchten uns gern
immer einen sittlichen Einfluß bewahren auf den Pulsschlag in
diesem Schlaf, und auf die Elemente, aus denen diese Träume
sich zusammensetzen; und so scheidet sich denn, um auf eine alte
Terminologie zurückzukommen, ein Vorgezogenes und ein Ab-
geratenes.
Eine solche Analogie, wie die hier aufgestellte, ist freilich
kein Beweis, und es wäre ohnstreitig zu kühn, aus dem bisherigen
folgern zu wollen, Spiel und Erholung wären aus dem Grunde
erlaubt, und das Erlaubte sicher gestellt, weil es dieselbe Be-
wandtnis damit habe wie mit dem Schlaf. Indessen, wenn sie
sich sonst nur halten läßt, wäre immer mit der Subsumtion unter
ein so klares Verhältnis nicht wenig gewonnen, und wir hätten
daran eine gute Vorarbeit für die bestimmtere wissenschaftliche
Begrenzung des Begriffs. — Aber läßt sie sich halten? und scheint
nicht vielmehr die ganze Ähnlichkeit bei näherer Betrachtung
wieder zu verschwinden, weil sie allzu bedenklich wird, wenn
wir auf Anfang und Ende eines solchen Zustandes zurücksehen?
Denn der Rückgang aus dem freien Spiel mit erlaubten Hand-
lungen in das eigentliche sittliche Leben gleicht doch dann dem
Erwachen; und wie sollen wir eigentlich denken, daß uns das
sittliche Leben immer wieder entsteht aus jenem seiner Abstam-
mung und seinem unmittelbaren Gehalt nach nicht sittlichen?
Wenn wir doch in einer solchen Reihe von Momenten nicht von
sitthchen Antrieben bewegt werden, sondern von sinnlichen, soll
der Übergang von hier zum pflichtmäßigen Leben als der letzte
Moment jener Reihe auch von sinnlichen Motiven abhängen, und
nicht von sittlichen? Denn würde alles, was sich an diesen
424 Begriff des Erlaubten. [111,2,425]
Moment des Erwachens anschließt, auch auf dasselbe Motiv zu-
rückgeführt werden können, das Sittliche käme nur vermöge des
Nichtsittlichen zur Wirklichkeit, und das Berufsleben wäre mehr
dem Schein als der Wahrheit nach von dem Erholungsleben ge-
schieden, und jeder neue Abschnitt von jenem, da doch sein erstes
Motiv in diesem läge, wäre nur gleichsam eine Episode von
diesem. Eine Ansicht, auf welche sich freilich manche ethische
Theorie von denen, die man als eudämonistische bezeichnet hat,
zurückführen läßt, mit welcher aber Pflicht und Tugend als be-
stimmte Begriffe für sich überhaupt nicht, am wenigsten aber so,
wie wir sie bestimmt haben, zu vereinigen sind. Ein anderes wäre
es, wenn sich auch von diesem Erwachen sagen ließe, es sei keine
Handlung im eigentlichen Sinne des Wortes, wie dies von dem
täglichen Erwachen aus dem Schlafe gilt. Denn alsdann wäre
ein Motiv dazu gar nicht zu suchen, und es könnte also auch
die Frage nicht entstehen, ob dieses ein sittliches wäre oder ein
sinnliches. Wir müßten dieses aufgreifend etwa sagen, das Er-
wachen zum Ernst des Lebens erfolge von selbst, sobald wieder
Stoff gegeben sei zu pflichtmäßigen Handlungen, sobald sich wie-
der eine Wirksamkeit auftue für die einwohnenden Tugenden.
Allein hierdurch würden wir, wie mir scheint, nur eine Verlegen-
heit mit einer andern vertauschen. Denn zwischen dem bloßen
Vorhandensein solchen Stoffes und dem Anfang einer neuen Reihe
von Handlungen ist kein unmittelbarer Zusammenhang einzusehen.
Der Stoff muß doch erst aus einem Äußeren ein Inneres ge-
worden, er muß als Wahrnehmung oder wenigstens als Ahn-
dung aufgenommen sein. Dann aber ist auch das Erwachen
selbst ein sittlicher Moment; es geht aus von dem Interesse an
der Gesamtheit der sittlichen Aufgabe, und niemand wird leug-
nen können, daß bei gleichem Vorhandensein des Stoffes der-
jenige am frühesten erwachen wird, in dem das sittliche Interesse
am lebendigsten ist. Aber so, wie wir hier angekommen sind,
scheint auch der Begriff, den wir bestimmen wollten, wieder ganz
[111,2, 426] Begriff des Erlaubten. 425
in den Dunst zu zerfließen. Denn was wollen wir entgegnen, wenn
einer sagt, daß bei dem höchsten Grade des sittlichen Interesse ge-
wiß niemand überhaupt erst einschlafen könne. Es werde ja wohl
immer ein kleinstes von sittlichem Stoff vorhanden sein, bestände
es auch nur in Vorbereitungen und Übungen. Ja wenn auch
gar nichts wahrzunehmen sei, so werde jenes lebendigste Interesse
doch das Suchen nach sittlichem Stoff nicht aufgeben können.
Dieses aber gehöre offenbar dem Wachen an, und nicht dem
Schlaf; und so werde denn eine solche Pause, welche von den
bloß erlaubten Handlungen ausgefüllt werden dürfe, gar nicht
eintreten. Diese seien also immer nur eine Folge sittlicher Un-
vollkommenheit, ein Mangel an Tugend, mithin pflichtwidrig,
weil zu derselben Zeit stattfinden könne jenes offenbar pflicht-
mäßige Suchen. — Doch unsere Vergleichung bietet uns noch
einen anderen Ausweg dar. Es könnte nämlich jemand sagen,
wie das Erwachen aus dem Schlaf auch in manchen Fällen
wahrhaft eine Handlung sei, wenn wir uns nämlich von der
Notwendigkeit des Geschäftes oder von einem starken Entschluß
gemahnt, schon als wir uns dem Schlafe hingaben, vorgesetzt
haben, zu einer bestimmten Zeit zu erwachen und dies dann auch
leisten: so sei es nun hier immer. Die Unterbrechung des pflicht-
mäßigen Handelns durch die Erholung sei nun größer oder kleiner,
immer werde sie nur eingewilligt als in eine Unterbrechung, mit-
hin für eine bestimmte Zeit. So sei demnach das Berufsleben
keineswegs eine Episode, sondern das einzige ganz in sich Zu-
sammenhängende, und das Spiel sei die Episode im eigentlich-
sten Sinne, indem auch die Rückkehr von demselben zum Pflicht-
leben nicht aus der Erholung selbst als eine Wirkung derselben
hervorgehe, sondern sie gehe vielmehr auf den Anfang derselben
zurück, und sei schon vollkommen begründet und bestimmt gewollt
in demselben Zeitraum pflichtmäßiger Tätigkeit, auf welchen die
Erholung gefolgt ist, so wie ja in jenem Falle das Erwachen
auch noch dem wachenden Zustande vor dem Einschlafen an-
426 Begriff des Erlaubten. [111,2,427]
gehört. — Auch diese Darstellung der Sache aber erklärt das Ende
eines solchen Zustandes nur, indem es die Schwierigkeit auf den
Anfang zurückwirft. Denn freilich, wenn eine Pause im Berufs-
leben beschlossen wird als eine solche, so wird ihr Ende schon
mitbeschlossen, und daß sie dann beendigt wird, ist demgemäß
eine vollkommen sittliche Handlung. Aber wenn es wahr ist, daß
immer entweder Aufforderung zu pflichtmäßigen Handlungen vor-
handen ist, oder Gelegenheit dazu gesucht werden kann: wie mag
denn ein Beschluß, diese Bahn auch nur auf eine kurze Zeit ganz
zu verlassen, jemals ohne Pflichtwidrigkeit zustande kommen?
Und hier eben scheint uns die Ähnlichkeit mit jenem andern Ge-
biete ganz zu verlassen. Das natürliche Erwachen freilich ist nicht
nur dann, wenn es für einen bestimmten Zeitpunkt gewollt wor-
den ist, wirkliche Tat, sondern es muß auch in jedem Falle,
wenn das tätige Leben wieder beginnen soll, erst durch Besin-
nung auf den Gesamtzustand Tat geworden sein. Ganz ein
anderes aber ist es mit dem Einschlafen, Dies ist niemals freie
Handlung, sondern immer nur eine Naturnotwendigkeit, also für
das geistige Lebensgebiet nicht eine Tat, sondern nur eine Be-
gebenheit. Wir wehren uns dagegen oft, so lange wir nur irgend
können, und bezeugen eben dadurch, daß, solange wir noch
imstande sind zu wollen, wir auch die sittliche Tätigkeit fort-
setzen wollen und nichts anderes; und ebenso ist es mit der Zeit,
die wir der Ernährung widmen. Denn wenn wir uns vielleicht
in der Regel gegen Hunger und Schlaf nicht bis auf den letzten
Augenblick wehren, und somit auch das Einschlafen freiwillig zu
sein scheint: so kommt dies teils daher, weil, wenn wir den
Kampf zulange fortsetzen wollten, der Preis desselben immer
schon früher verloren gehn würde, indem bei zu großer Anspan-
nung der Kräfte nichts mehr gefördert wird; teils verbindet sich
mit dieser Erfahrung die andere, wieviel heilsamer es ist, wenn
auch diese unabweisbaren Forderungen der Natur in eine be-
stimmte Ordnung gebracht werden. Was also hierbei als freiwillig
[111,2, 428] Begriff des Erlaubten. 427
erscheint, das ruht doch ganz auf der Naturnotwendigkeit, und
ist nur eine Modifii<ation derselben. Das Übergehen aus dem
Pflichtleben in die Erholung hingegen ist immer und ursprüngUch
freiwillig. Es gibt dafür gar keine Naturnotwendigkeit, und man
kann niemals sagen, daß die Erholung so bestimmt als Bedürf-
nis indiziert sei, wie der Schlaf und die Ernährung es sind.
Zumal einige strenge, aber erfahrene Leute kommen und sagen,
daß schon die Abwechslung in pflichtmäßigen Handlungen ein
hinreichendes Mittel sei zur Wiederherstellung der psychischen
Naturkräfte. Freiwillig also, und ohne daß eine hemmende Natur-
notwendigkeit einträte, müssen wir die pflichtmäßige Tätigkeit,
sei es auch nur für eine Zeitlang, aufgeben; und es fragt sich,
ob dies auf eine pflichtmäßige Weise geschehen, ob ein solcher
Entschluß aus dem sittlichen Interesse selbst hervorgehen könne.
Es sei mir erlaubt, hier zu bemerken, daß meine neulich in der
Akademie vorgelesene Abhandlung*) Über Piatons Ansicht von
der richtigen Ausübung der Heilkunst, i. denselben Gegenstand im
Auge hat, und genau genommen, wiewohl es nicht ausgesprochen
v.'ird, nichts anderes ist als von einem einzelnen Falle ausgehend
eine kasuistische Behandlung dieser Frage. Die Krankheit, welche
einen bestimmten Verlauf hat, ist dem Schlaf zu vergleichen oder
dem Hunger. Die Naturnotwendigkeit, das pfHchtmäßige Han-
deln einzustellen, würde eintreten, sollte es auch größtenteils um
etwas später geschehen, als der Arzt den Kranken in seine Be-
handlung nimmt; und sobald die Möglichkeit des Berufslebens
wiedergegeben ist, hört auch die Unterbrechung auf. Wer hin-
gegen auch die Kränklichkeit auf solche Weise behandeln läßt,
daß er sein Berufsleben unterbricht, nicht um einer sichern Hei-
lung willen, die in bestimmter Zeit erfolgen müßte, sondern nur
um einer immer wieder zu erneuernden Linderung willen, der
*) Die Akademie hat dem Verfasser in bezug auf diese Abhandlung den
Wunsch gewährt, sie nicht in ihre Denkschriften aufzunehmen.
1 Sämtliche Werke. III.
428 Begriff des Erlaubten. [111,2, 429]
macht einen ebensolchen Anspruch auf Erholung — denn was ist
Linderung anders? — der nie kann sittlich gerechtfertigt werden;
und Piatons Meinung geht dahin, daß man nicht solle die pflicht-
mäßige Tätigkeit als die eigentliche Lebensbestimmung jenem
Anspruch aufopfern, und nie eines bloß Erlaubten willen das
Gebiet des Pflichtmäßigen in immer engeren Grenzen einschließen,
solange es noch möglich ist, es in weiterem Umfange zu erfüllen.
Denn daß ein solcher Gehorsam gegen den Arzt, wie sehr die-
ser auch sonst das Recht habe, über die Kranken zu herrschen,
doch immer nur etwas Erlaubtes sei, das wird jedem einleuchten.
Man kann die platonische Widersetzlichkeit rauh finden und eigen-
sinnig, aber pflichtwidrig wird sie doch niemand nennen wollen,
es müßte denn einer gar keine andere Pflicht gelten lassen wollen
als die der Selbsterhaltung, und diese in dem weitesten Sinne.
Ist nun aber der Ungehorsam nicht pflichtwidrig: so kann auch
der Gehorsam nicht pflichtmäßig sein, sondern nur etwas zwischen
beiden. Und der dortige Eifer gegen die Weichlichkeit, mit wel-
cher wir in solche Erholungskuren eingehen, geht zugleich auf
alle Weichlichkeit, mit welcher wir dem Erlaubten einen freien
Spielraum vergönnen; und den Ärzten sind in jener Beziehung
alle diejenigen zuzugesellen, welche der Erholung dienen, und sich
uns einander abwechselnd zuzuschieben suchen, jeder mit dem An-
spruch, daß wir nun auch um seinetwillen unserm Berufsleben
einige Zeit entziehen möchten, deren Verwendung in das, was er
uns darbietet, uns schon irgendwie zugute kommen werde in
der Zukunft. Wenn man nun bedenkt, wie es in unserm heu-
tigen Leben eine große, keineswegs zu übersehende Klasse gibt,
für welche sich in immer nicht unbedeutender Zeit des Jahres
das, was seinem Gehalte nach nur Erholung sein kann, so zu-
sammendrängt, daß zwischen Vorbereitung und Genuß und neue
Vorbereitung kaum ein weniges von solcher Tätigkeit, die wirk-
lich von sittlichen Impulsen ausgeht, gleichsam als Erholung von
Erholungen eingeschoben werden kann: so wird auch jener Eifer
[111,2,430] Begriff des Erlaubten. 429
minder barock und unphilosophisch erscheinen, weil er gegen eine
Maxime gerichtet ist, welche, indem sie allen Ernst des Lebens
bedroht, zugleich auch, wenn sie Erfolg hätte, aller Philosophie
ein Ende machen würde. Darum lobe ich mir für diesen Gegen-
stand einen berühmten Ethiker, wenn ich auch über anderweitige
Anwendungen seiner Formel nicht überall mit ihm einig werden
dürfte, welcher mancherlei Ansprüche, die in sein System von
Pflichten nicht hineingehen, damit abweiset, es sei alles der-
gleichen, wozu man keine Zeit haben müsse; eine Formel, die
auch schon in jener platonichen Diatribe vorkommt.
Und in der Tat, ohne mich auf die Frage einlassen zu wollen,
ob alles nicht an sich Pflichtmäßige auf diese Weise abgewie-
sen werden kann, scheint es nicht schwer, die Formel so zu ent-
wickeln und zu begründen, daß dadurch wenigstens auf mittelbare
Weise die ganze Zeit, welche unser Begriff sich angemaßt hatte,
wieder für die Pflicht und den Beruf gewonnen wird. Denn
wenn wir auch zugeben, es müßten aus irgendeinem Grunde
Pausen in dem Berufsleben- eintreten, auch außer denen, welche
durch die Notwendigkeit des Schlafes und der Ernährung er-
zwungen werden: muß deshalb die Zeit durch irgend etwas
ausgefüllt werden, was mit dem sittlichen Interesse in gar keiner
Verbindung steht? Was ich eben beiläufig als einen ziemlich
unbestimmten und eben deshalb auch unsichern Ausspruch der
Erfahrung angeführt habe, daß schon Abwechselung mit verschie-
denartigen pflichtmäßigen Handlungen eine Erholung gewähre,
das läßt sich allgemeiner auf einen größeren Gegensatz zurück-
führen, nämlich auf den zwischen der Betrachtung und der äußern
Tätigkeit, so nämlich, daß denen, welche aus der Betrachtung
ihr eigentliches Geschäft machen, schon jede nach außengehende
Tätigkeit, auch solche, die Berufsarbeit ist für andere, Erholung
gewähre, und ebenso diejenigen, welche durch ihren Beruf an
eine äußere Tätigkeit gewiesen sind, sich schon in der Betrach-
tung erholen. Jene also dürften nur in bestimmten Zwischen-
430 Begriff des Erlaubten. [111,2,431]
räumen die Vertreter von diesen werden, um einer andern außer-
halb des sittlichen Gebietes liegenden Erholung nicht weiter zu
bedürfen. Für die letzteren aber gibt es ein Gebiet der Betrach-
tung, auf welchem sie sich ergehen können, ohne den Zusammen-
hang mit der pflichtmäßigen Tätigkeit aufzugeben. Wenn ich
aus der Abhandlung über den Pflichtbegriff zurückrufe, wie jede
einzelne sitdiche Willensbestimmung ein Produkt ist von der all-
gemeinen sittlichen Richtung des Willens in eine bestimmte äußere
Aufforderung, wird nicht daraus folgen, daß alle Unvollkommen-
heit in der Pflichterfüllung teils auf einer schwachen Wirksam-
keit des sittlichen Impulses beruhe, teils auf einem Mangel an
Fertigkeit, die einzelnen Aufforderungen wahrzunehmen? Nun
aber gibt es Betrachtungen, welche den sittlichen Antrieben einen
neuen Zufluß zuführen, und auch solche, welche die Aufmerk-
samkeit auf den sittlichen Gehalt und die sittHchen Bedürfnisse
unseres Lebenskreises zu schärfen geeignet sind. Wer also mit
solchen die geforderte Pause ausfüllt, der wird keines Über-
ganges zu solchen Handlungen bedürfen, zu welchen sich keine
sittHchen Motive nachweisen lassen; denn zur Teilnahme an sol-
chen Betrachtungen findet jeder das Motiv in dem Bewußtsein
der Unvollkommenheit seiner Pflichterfüllung. Ja man könnte
sagen, solle es überhaupt einen hinreichenden Grund geben zu
solchen Pausen: so könne es nur der sein, daß in einem länge-
ren oder kürzeren Zeitverlauf dieses Bewußtsein so mächtig würde,
daß die Aufforderung, sich zu sittlich stärkenden und belehrenden
Betrachtungen hinzuwenden, alle anderen Aufforderungen über-
wiegt. Sei nun aber diese befriedigt: so trete auch unmittelbar
der gewöhnliche Verlauf der Berufstätigkeit wieder ein. Hier
sind wir also bei einer rigoristischen Theorie angekommen, welche
für alle solche Zwischenräume keinen andern Inhalt gestattet als
die sittliche Betrachtung, und deshalb alles, was sich unter dem
Vorwande der Erholung als Erlaubtes eingeschlichen hatte, wenn
auch die Form nicht gleich zerschlagen werden kann, doch in einen
[111,2, 432] Begriff des Erlaubten. 431
solchen Inhalt umlenkt. Und da nun die aus der Betrachtung
hervorgehende sittliche Belebung und Reinigung unleugbar eine
Vervollkommnung und also ein Teil der sittlichen Aufgabe ist:
so kann jedem, der im Begriff wäre, sich dem sogenannten Er-
laubten hinzugeben, gezeigt werden, daß es in diesem Augenblick
auch für ihn noch einen Teil der sittlichen Aufgabe zu realisieren
gäbe, und jeder wäre ohne alle Entschuldigung, wenn er nicht
umlenkte. Auch hat wohl jeder diesen Anzeiger immer in sich
selbst. Denn wer müßte nicht, so oft ihm die Aufforderungen zu
pflichtmäßigen Handlungen nicht mehr in Fülle zuströmen, sich
selbst einer sichtbaren Abstumpfung zeihen, welche ihm eine neue
Belebung notwendig macht. Mithin gibt es keinen anderen Wech-
sel als diesen, und die Formel, daß wir zu nichts Zeit haben
sollen, was nicht pflichtmäßig, sondern nur erlaubt, nicht sittlich
notwendig, sondern nur sittlich möglich sein will, dafür aber
auch nur von sinnlichen oder, wie man auch gesagt hat, patholo-
gischen Motiven ausgeht, erscheint vollkommen gerechtfertigt.
Vorausgesetzt also, das sei die richtige Vorstellung von erlaubten
Handlungen, von der wir gleich anfänglich ausgegangen sind:
so würde unsere Untersuchung dahin enden, daß man immerhin
zugeben könne, diese Handlungen seien ihrem Inhalte nach nicht
pfHchtwidrig, und insofern also an sich betrachtet sittlich mög-
lich, wie ja auch das Erlaubte gewöhnlich erklärt wird; aber
dies sei eine Möglichkeit von jener untergeordneten Art, welche
nie reaHsiert werden kann. Denn solche Handlungen vollziehen
wollen, sei immer pflichtv\ädrig, weil ein bestimmter Wille in
einem Augenblick anders als aus sittlichen Motiven zu handeln
notwendig vorangehen muß.
Wenn nun auf der einen Seite gegen die Art, wie uns
dieses Ergebnis entstanden ist, schwerlich viel einzuwenden sein
möchte: so wird auf der andern Seite doch auch nicht leicht je-
mand das Starre und Versteinernde darin verkennen, wodurch sich
überall die sittlichen Gestaltungen auszeichnen, die von dem
432 Begriff des Erlaubten. [111,2, 433]
isolierten Pfliciitbegriff aus gebildet sind. Nun hängt aber die
ganze bisherige Auseinandersetzung von unserer früheren Be-
handlung des Pflichtbegriffes ab, und zugleich beruht sie auf dem
strengen Unterschiede zwischen rein sitthchen Motiven und sinn-
lichen oder pathologischen; es käme also zunächst auf einen Ver-
such an. ob nicht, wo dieser nicht auf dieselbe Weise anerkannt
und jener Begriff anders gefaßt wird, ein milderes und anspre-
chenderes Ergebnis hervortritt; und man könnte die Frage auf-
werfen, ob es nicht, statt den Begriff des Erlaubten aufzugeben,
richtiger sein möchte, jenen Unterschied etwas minder scharf zu
fassen und den Begriff der PfHcht irgendwie auf einen engeren
Raum zu beschränken. Der Versuch wird wohl nicht anders aus-
fallen als so. Wenn wir jene Unterscheidung beiseite stellen, auf
welcher der strengere Pflichtbegriff beruht, und vorzüglich zuge-
ben, auch was wir nur von sinnlichen Bewegungen aus erstreben,
gehöre mit zur Vollständigkeit des Lebens: so wird doch auch
auf diesem Standpunkt jeder, der nur überhaupt der Idee der Sitt-
lichkeit eine Wahrheit beilegt, doch damit einverstanden sein, daß
der Zustand der vollkommensten sittlichen Selbstbejahung auch
das höchste Bewußtsein und der höchste Lebenszustand sei. Soll
nun zugleich noch ein Unterschied zwischen innerlich Gebotenem
und lediglich Erlaubtem bestehen: so folgt auch notwendig, daß
jener höchste Zustand nur durch die erste Tätigkeit herbeigeführt
wird, durch die andere aber nicht. Wie soll sich einer aber frei-
willig dazu verstehen, und nicht sich selbst Unrecht tun, wenn er
es täte, aus jenem höchsten Zustand in einen niedrigeren überzu-
gehen? zumal uns das Niedrigere doch schon von der Natur auf-
gedrungen wird, und dann unsere erste Sorge ist, es so viel mög-
lich zu veredeln! Wenn sich also nun diese, die mehr den Stand-
punkt der Lebensweisheit festhalten, mit jenen strengeren bloß
rationellen Sittenlehrern vereinigen, und nun noch eine dritte
Klasse hinzukommt und dasselbe sagt, nämlich die strengeren An-
hänger einer supernaturalistischen asketischen Frömmigkeit, als
[111,2,434] Begriff des Erlaubten. 433
welche sich auch nur durch die Naturnotwendigkeit überwältigt
auf dem Oebiet der Natur bewegen wollen, sonst aber, um mich
ihres Ausdrucks zu bedienen, nur das für unsündlich erkennen,
nicht etwa was der Gottandächtigkeit nur nicht widerspricht, son-
dern nur das, was ihr unmittelbar angehört und von ihr ausgeht:
welch ein gefährliches Bündnis gegen unsern Begriff von mehre-
ren, welche sonst selten eins sind! und doch, wie natürhch muß
es uns erscheinen, wenn wir nur noch eine Betrachtung dazu
nehmen. Denn jene rein rationellen Moralisten, denen die Pflicht
allein das schlechthin Heilige ist, unterscheiden sich zwar von den
andern beiden wesentlich dadurch, daß sie sich niemals in dem
einen Augenblick durch die Beziehung auf den andern bestim-
men; dafür aber haben sie an dem sich immer gleich bleibenden
Gebot einen Beziehungspunkt, von dem sie sich niemals können
entfernen wollen, solange sie nicht das Gebot etwa in ein Ver-
bot verwandeln. Die andern beiden, die es weniger scheuen, auf
einen künftigen Moment Rücksicht zu nehmen, werden jeder auf
seine Weise sagen — ich will es aber nur in einer Sprachweise
ausdrücken — Wenn wir auch über den kritischen Augenblick
einer freiwilligen vorübergehenden Entsagung auf das höchste
hinweggehen, so treten doch immer hernach Momente des höch-
sten, rein sittlichen Bewußtseins ein, wo dieses sich in seiner rich-
tenden Form auf die ganze Vergangenheit wendet, mit einge-
schlossen diese Zustände der Unterbrechung des sittlichen Lebens.
Ein solches wiederaufnehmendes Bewußtsein wird aber in allen
zweifelhaften Fällen die Ergänzung oder Berichtigung des un-
mittelbaren. Wird nun alsdann die Vergangenheit um jener Unter-
brechungen willen gemißbilligt, weil sich, nun ein größerer Zu-
sammenhang vorliegt, das Sittliche zeigt, was in jener Stelle
hätte geschehen sollen: so war es auch damals nur ein unvoll-
ständiges Bewußtsein, vermöge dessen sie uns als erlaubt erschie-
nen, sondern sie sollten uns als pflichtwidrig erschienen sein.
Verringert sich aber die Billigung auch alsdann nicht, erscheinen
Schleiermacher, Werke. I. 28
434 Begriff des Erlaubten. [111,2,435]
vielmehr jene damals nur als erlaubt unternommene Handlun-
gen als wirksam in dem sittlichen Zusammenhange des Lebens:
so war doch das frühere Bewußtsein ebenfalls unvollständig; denn
wir sollten sie nicht nur für erlaubt, sondern für pflichtmäßig er-
kannt haben. Sonach würde also, sobald wir nicht eine un-
bestimmte Allgemeinheit im Auge haben, sondern von einer be-
stimmten Handlung die Rede ist, die in bestimmter Zeit vollzogen
werden soll oder unterbleiben, das dritte zwischen dem Pflicht-
mäßigen und Pflichtwidrigen, welches unser Beweis aufstellen
will, auf jeden Fall ausgeschlossen.
Und wie gestaltet sich die Sache, wenn wir auf das Ver-
hältnis unseres problematischen Begriffes zu dem andern für uns
außer allem Zweifel gestellten, nämlich zu dem Begriff der Tugend
sehen wollen. Schon bei der Tugend im allgemeinen, noch mehr
aber wenn wir uns die Tugenden vereinzeln wollen, müssen
wir auf zweierlei achten, auf die Stärke und Tüchtigkeit der
bestimmten Tätigkeitsform, und auf die Unfehlbarkeit und Aus-
schließlichkeit ihres Zusammenhanges mit einem sittlichen An-
triebe. Mag immerhin der Begriff seiner materiellen Seite nach
einer unendlichen Teilbarkeit fähig sein; alle Fertigkeiten sind
doch nur insofern Tugenden, als sie nur durch einen sittlichen
Antrieb in Bewegung gesetzt werden. Wenn nun die erlaubten
Handlungen nur durch solche Tätigkeitsformen verrichtet wür-
den, welche unfähig sind, dem sittlichen Antriebe zu folgen: so
wäre es nicht möglich, daß sie nicht sollten dem sittlichen In-
teresse widerstreiten und also pflichtwidrig sein. Wenn nun aber
Tätigkeitsformen, die ihrer Natur nach dem sittlichen Antriebe
dienen können, und also auch häufig für ihn in Anspruch genom-
men werden, in den erlaubten Handlungen einem sinnlichen Im-
pulse dienen: wie sollte es möglich sein, daß dadurch nicht der
Zusammenhang dieser Fertigkeiten mit dem sittlichen Antriebe,
mithin auch ihr Tugendgehalt geschv/ächt würde? Betrachten wir
nun von hier aus den ganzen Umfang des sogenannten Erho-
[111,2,436] Begriff des Erlaubten. 435
lungslebens: so finden wir darin eine große Mannigfaltigkeit an-
mutiger und zierlicher Fertigkeiten geschäftig, die wir nicht ge-
rade Tugenden nennen, aber nahe verwandt finden wir sie den
Tugenden, und müssen fast von ihnen allen rühmen, daß durch
sie auch die pflichtmäßigen Handlungen, in denen sich die eigent-
lichen Tugenden zeigen, erst ihre höchste Vollkommenheit er-
langen. Ist nun dieses nicht zu leugnen, wenn wir an die Meister-
schaft in der Sprache, an die Anmut in den Bewegungen, an
das schöne Maß in allen Äußerungen und an so vieles andere
denken: so werden wir doch auch gestehen müssen, daß diese
Eigenschaften, wenn sie sich an den pflichtmäßigen Handlungen
finden, dann auch Tugenden sind, wenn auch nur untergeord-
nete, weil sie hier nur durch den sittlichen Antrieb in Bewegung-
gesetzt werden, welcher der Haupthandlung zum Grunde liegt.
Kommen sie aber vor in dem freien Spiel des geselligen Verkehrs:
dann freilich sind sie keine Tugenden, weil der Zusammenhang
mit dem sittlichen Antriebe fehlt. Wie soll aber das beides neben-
einander hergehen, ohne daß eines dem andern schadet? Je
weniger der Lauf des Berufslebens unterbrochen worden, um
desto schwieriger wird es dann werden, in diesen seltenen Fällen
jene Fertigkeiten, die ganz in den Ernst des Lebens hineingezogen
sind, für die, v/enn auch unschuldigen, sinnlichen Antriebe in Gang
zu bringen. Je mehr Raum das Erholungsleben einnimmt, um
desto mehr muß der Zusammenhang solcher Fertigkeiten mit den
sittlichen Antrieben geschvv'ächt werden, und also hier die Tugend
allmählich verloren gehen. Daher ist auch hier das Endergebnis
dasselbige. Wir dürfen es nie billigen, daß unsere wohlerworbe-
nen Fertigkeiten bald einem sittlichen Antriebe dienen und bald
einem sinnlichen. Wie unschuldig auch der letztere sein möge,
das sinnlich Begonnene kann doch nur sittenverderblich wirken;
w^enn also alles was zur Tugend gehört, in wahrem Fortschrei-
ten bleiben soll: so müssen die Handlungen, die wir geneigt sind,
als erlaubte zu dulden, ganz aus dem Leben verbannt v^erden,
28*
436 Begriff des Erlaubten. [111,2,437]
es müßte denn sein, daß auch sie in der Tat von sittlichen An-
trieben ausgehen.
Sonach ist nur noch übrig, daß wir diese Handlungen in
Beziehung setzen mit dem dritten Begriff, nämlich dem der Güter
und Übel. Hier aber können wir nicht mehr ganz so verfahren
wie bisher; denn wir haben es nicht mit den einzelnen Handlun-
gen selbst zu tun; sondern mit dem, was aus der Gesamtheit
gleichartiger Handlungen hervorgeht. Und hier muß sich also
zeigen, ob, wenn wir auf diese Weise jede Art von erlaubten
Handlungen für sich betrachten, man sagen kann, daß sie, im
allgemeinen und nur ihrem Inhalte nach angesehen, in der Mitte
stehen zwischen dem Sittlichen und Unsittlichen. So wird es sich
nämlich verhalten, wenn dasjenige, was sich aus ihnen als ein
Ganzes gestaltet, weder ein Gut ist noch ein Übel. Sollte aber
dieses notwendig entweder ein Gut sein oder ein Übel: dann
gewiß sind auch die Handlungen, woraus dieses hervorgeht, in
dem einen Falle sittlich, in dem andern unsittlich. Nun ist ge-
wiß, daß ohne die Gewohnheit des Spazierengehens keine schöne
Gartenkunst vorhanden wäre, daß ohne die Neigung Musik in
Masse zu hören, unsere großen Gattungen tonkünstlerischer Pro-
duktion nicht beständen, und ebensowenig die dramatische Kunst,
wenn sich niemand an ihren Darstellungen ergötzte*). Könnten
wir nun wohl diese und andere ähnliche so große gemeinschaftliche
*) Sollte jemand einwenden, man könne doch eigentlich nicht sagen, daß
diese Künste aus den angegebenen Handlungen, im ganzen betrachtet, ent-
stünden: so bemerke ich dagegen, daß doch offenbar Musik hervorbringen und
Musik aufnehmen und so auch das übrige beides zusammengehört, ja wesent-
lich dasselbige ist, und sich nur verhält wie Spontaneität und Rezeptivität,
und daß daher alle festlichen Versammlungen dieser Art angesehen werden
können als ein aus Einem Impuls hervorgehendes Ganze, das nur aus in dem
angegebenen Verhältnis ungleichartigen Teilen besteht, in welchem einigen ihrer
Beschaffenheit gemäß obliegt, produktiv hervorzutreten, den anderen, das Dar-
gebotene aufzufassen und in sich lebendig zu erhalten.
[111,2, 438] Begriff des Erlaubten. 437
Werke ganz, aus dem sittlichen Gebiete verweisen und für sittlich
gleichgültig erklären wollen? oder werden wir nicht immer sagen
müssen, entweder es sei eine UnvoUkommenheit, wenn sie in einem
Volke ganz fehlen, und dann sind sie ein Gut, oder es sei ein
Verderben, wenn sie in einem Volke auch nur irgendwie vorhan-
den sind, und dann sind sie ein Übel. Sonach muß aber auch
in dem einen Falle sittlich und also irgendwann pflichtmäßig
sein, sie machen zu helfen, und in dem andern unsittlich und
auf alle Weise pflichtwidrig, sie nicht nach allen Kräften zu hin-
dern und zu stören. Oder — um noch ein anderes Beispiel an-
zuführen — es könnte jemand sagen, die Tätigkeit der Gedanken-
erzeugung sei nur rein sittlich, wenn sie absichtlich auf etwas
Bestimmtes gerichtet entweder das geschäftige Leben begleitet und
diesem angehört, oder sich auf dem Gebiet der Wissenschaft an
der Leitung einer strengen Methode entwickelt; aber Einfälle
nicht sowohl zu haben, denn das könnte als unwillkürlich nicht
ganz hierher gehören, aber doch sie auszubilden und mitzuteilen,
dieses könne doch nicht jenem gleichgestellt werden, sondern höch-
stens als etwas Erlaubtes durchgehen. Ich aber entgegne, daß
wie durch jenes das Geschäftsleben und die Wissenschaft gemacht
wird, so durch dieses das freie gesellige Gespräch in seinen ver-
schiedenen reizenden Formen; und ich könnte nicht absehen, wa-
rum dieses weniger als jene sollte entweder ein Gut sein oder ein
Übel. Ich trage daher kein Bedenken, hierauf gestützt den Aus-
spruch zu tun, daß so große und bedeutende Gebiete der mensch-
lichen Gesamttätigkeit keinesweges dürfen der sittlichen Beurtei-
lung entzogen werden; und ich glaube, es wird schwer sein, irgend-
eine Tätigkeitsform, die man gern als erlaubt möchte gelten
lassen, aufzufinden, welche im großen betrachtet nicht einem
solchen gemeinsamen Werke angehörte. Wie wir also auf der
einen Seite sagen müssen, jede freie Handlung eines sittlichen
Wesens muß entweder pflichtmäßig sein oder pflichtwidrig, und
alle Fertigkeiten, welche in pflichtmäßigen Handlungen verwendet
438 Begriff des Erlaubten. [111,2,439]
werden können, dürfen niemals einem wenn auch noch so un-
schuldigen doch bloß sinnlichen Antriebe folgen: so auch alles,
was aus freien Handlungen gleicher Art zusammenwächst, muß
entweder ein Qut sein oder ein Übel. Sonach würde der Begriff
des Erlaubten aufgehoben, und sein Inhalt müßte — wie, das
lassen wir dahingestellt sein — unter die beiden Glieder des
Gegensatzes, zwischen denen es sonach kein drittes gäbe, ver-
teilt werden.
Nachdem sich nun von allen Seiten her gleichmäßig dasselbe
ergeben hat, kann wohl die oft wiederholte Klage, das sei eben
die Krankheit der Theorie, ihren Gegenstand so auf die Spitze
zu stellen, daß sie sich selbst dadurch alles Einflusses auf die Aus-
übung beraube, nicht weiter gehört werden; denn hier möchte
schwerlich eine Wahl sein. Wenn wir ein sittlich Gleichgültiges
zwischen einschieben zwischen Gebot und Verbot, und also durch
die Theorie selbst der Willkür und dem einzelnen ja augenblick-
lichen Gutdünken einen Spielraum gestatten, was der Theorie
mehr als alles andere entgegen ist: so geht dieser Einfluß eben-
falls verloren; aber es möchten überdies von der eigentUch sitt-
lichen Theorie kaum noch unzusammenhängende Bruchstücke
übrigbleiben, und sehr bald alles, was Pflicht auch im sittlichen
Sinne sein soll, auf das Gebiet des äußern Gesetzes beschränkt
werden.
Nur das sind wir freilich schuldig zu erklären, wie doch die-
ser Begriff, wenn er so ganz unstatthaft ist, entstanden sei und
sich so weit verbreitet habe. Dies hat aber auch keine Schwie-
rigkeit, vielmehr führt schon das eben Gesagte unmittelbar darauf.
Das ist nämlich wohl klar, daß der ursprüngliche Sitz dieses Be-
griffes nicht das Gebiet der Sittlichkeit sein kann, auf welchem
er eben gar nicht statthaft ist. Er gehört aber in das Gebiet
des positiven Rechtes und Gesetzes; und im bürgerlichen Leben
gibt es ursprünglich in eben diesem Sinne ein Erlaubtes, daß
es nämlich in der Mitte steht zwischen dem Gesetzlichen und dem
[111,2,440] Begriff des Erlaubten. 439
Gesetzwidrigen, als dasjenige offenbar, was das Gesetz gar nicht
zu seinem Gegenstande gemacht hat. Denn in dem vorbürger-
lichen Zustand, wo es kein äußerlich Gebotenes und Verbotenes
gibt, gibt es eigentlich auch kein Erlaubtes, und nur wir von
dem gesetzlichen Zustande aus werfen die Frage auf, ob dort alles
erlaubt sei. Aber es gibt eben deshalb auch auf jener Stufe wenig
individuelle Entwicklung des Willens, sondern nur eine gleich-
förmige Art und Weise. Mit dem Anfang des bürgerlichen Zu-
standes setzt das Gesetz sich selbst als Gebot und Verbot, und
zugleich erwacht im Gegensatz der individuelle Wille; beides von
einem kleinsten beginnend in fortschreitender Entwicklung. In
demselben Maß aber entwickelt sich auch dem Gesetz gegenüber
der Wille des einzelnen und bemächtigt sich des freigelassenen
Tätigkeitsstoffes, und das ist das Gebiet des Erlaubten. Zwar
unterscheidet schon der Autor ad Herenn. *) erlaubende Gesetze
von nötigenden Gesetzen, und auch bei Cicero**) kommt dasselbe
vor, und hernach ebenso bei späteren römischen Rechtslehrern***);
und wahrscheinlich ist die Quelle dieser Vorstellung schon grie-
chisch; allein es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß Erlaubnisgesetze
im römischen Staate sich immer nur auf frühere Verbote bezogen
als Aufhebung oder als teilweise Begrenzung derselben, und
dies gilt auch von denen Erlaubnisgesetzen, welche Kant versucht
hat geltend zu machen. Ein bürgerHches Erlaubnisgesetz ohne
eine solche frühere Beziehung läßt sich nur denken in dem Falle,
wenn sich für die Bürger eine bisher noch gar nicht vorgekom-
mene Tätigkeit auftäte. Aber auch dann wäre eine von der
höchsten Gewalt ausgehende Erlaubnis doch immer ein Beweis,
daß sie an dieser Tätigkeit Interesse nimmt, und wäre für eine
*) II, 10. utrum leges ita dissentiant, ut altera cogat, altera permittat.
**) De Invent. II, 49- utra lex iubeat aliquid, utra permittat.
***) Legis virtus est imperare, vetare, permittere, punire. Modestin. L. 7 D.
de legib. I, 3-
440 Begriff des Erlaubten. [111,2,441]
Aufforderung oder Auktorisation zu achten. Man kann daher ge-
nau genommen keineswegs sagen, daß in einem Staate das Ge-
setz eigentlich eine erlaubende Macht, folglich in demselben nichts
erlaubt sei, als was vermöge eines Gesetzes erlaubt ist. Vielmehr
werden in dem gewöhnlichen Leben des Staates die Geset/chütcr
nie in den Fall kommen zu fragen, wer hat dir das erlaubt?
ausgenommen da, wo ein Verbot besteht, unter welches die Hand-
lungen hätten subsumiert werden sollen, so daß die beständige Be-
ziehung des Erlaubten auf das Verbotene wohl nicht bezweifelt
werden kann. Nur Barbeyrac*) geht von einer andern allge-
meinen Voraussetzung aus, als ob der Gesetzgeber genau genom-
men über alle Handlungen seiner Angehörigen zu disponieren
habe, und also in der Tat nichts anders erlaubt sei als durch ihn.
Allein dies ist nur für einen solchen Zustand richtig, in welchem
die Obrigkeit im eigentlichsten Sinne eine väterliche Gewalt aus-
übt, und also eine gänzliche Unmündigkeit der Untertanen vor-
ausgesetzt wird. Wie aber in einem solchen Zustande allerdings
der Gegensatz zwischen dem Erlaubten auf der einen Seite und
dem Gebotenen und Verbotenen auf der andern fast verschwindet:
so auch jener andere, daß der freie Wille des einzelnen sich fort-
entwickelnd einzelnes vollbringt, das Gesetz hingegen in allgemei-
nen Akten die Stabilität repräsentiert, d. h. es ist ein Zustand,
der als gesetzlicher erst ein kleinster ist. Wo aber das bürgerliche
Leben schon auf einer höheren Stufe steht, da nimmt der freie
Wille der einzelnen immer mehr Material als erlaubt in Besitz
und ruft es auch hervor, und aus diesem erst bestimmt dann,
wenn die gemeine Sache es erfordert, das Gesetz wiederum eini-
ges als gesetzmäßig und geboten, und anderes als verboten und
und gesetzwidrig. Und so ist es natürlich immer ein sehr gutes
Zeichen für einen Staat, wenn sich in demselben eine recht große
Mannigfaltigkeit von erlaubten Handlungen, als die Hauptmasse
*) In der Übersetzung des Grotius B. i, S. 49, Note 5-
[111,2, 442] Begriff des Erlaubten. 441
der gemeinsamen Tätigkeit, gestaltet. Es ist das Zeichen von
einer erfolgreichen Regsamkeit, und zugleich von einer dem Ge-
meinwohl so zusagenden Richtung derselben, daß die Gesetz-
gebung nicht nötig findet, die Äußerungen des freien Willens der
einzelnen durch Verbote zu hemmen oder ihnen durch Gebote ein
Gegengewicht zu geben. Hier also ist der eigentliche Sitz des
Erlaubten, und jede Handlung wird so genannt, welche, wenn sie
aus dem freien Willen der einzelnen entspringt, aus dem Gesetz
nicht kann angefochten werden. Auf diesem Verhältnis also, daß
ein handelnder Wille da sei und ein Gesetz außer dem Willen,
ruht der Begriff wesentlich; und je mehr dem freien Willen der
einzelnen in diesem Verhältnis überlassen ist, um desto lieber
und kräftiger unterstützen sie auch wieder das Gesetz. — In die-
sem vom bürgerlichen Gesetz frei gelassenen Gebiete aber gestaltet
sich früher oder später ohnfehlbar wieder ein anderes feststehen-
des, nämlich das Gebiet der Sitte und der öffentlichen Meinung.
Hier finden wir also wieder bestimmte übereinstimmende Billi-
gung und Mißbilligung, welche wir aussprechen, wenn wir nach
Maßgabe der Wichtigkeit und der Beschaffenheit des Gegenstan-
des das eine anständig oder schicklich nennen, und das andere mit
den entgegengesetzten Namen bezeichnen. Nicht ist diese dem
Gebot und Verbot des Gesetzes zu vergleichen; denn die Sitte
gebietet nicht, weil sonst unterbleiben würde, was sie verbietet,
und umgekehrt verbietet sie auch nicht gleich dem Gesetz, was
sonst geschehen würde; sie ist nichts außer dem Willen der ein-
zelnen, sondern sie ist die Übereinstimmung dieser einzelnen Wil-
len. Darum freuen wir uns auch hier nicht daran, als wäre es eine
Folge schöner und freier Entwicklung, sondern wir achten es als
ein Zeichen herannahenden Verfalls der Gesellschaft, wenn es
sehr viele Handlungsweisen gibt, welche die Sitte gleichgültig
übersieht, und über welche sich die öffentliche Meinung nicht aus-
spricht. Und so erscheint es denn, weil das Erlaubte dem Rechts-
begriff angehört, und nicht dem Pflichtbegriff, auch ganz natür-
442 Begriff des Erlaubten. [111,2,443]
lieh, daß wir schon auf dem Gebiet der Sitte, welches auch schon
außer dem des Rechtsbegriffes liegt, keinen Wohlgefallen haben
an einem solchen mitten zwischen dem Löblichen und Tadelns-
werten inne Liegenden. Viel weniger also noch auf dem Gebiete
des eigentlichen sittlichen Pflichtbegriffs, wo jede Bestimmung
nichts anderes ist als der sich selbst setzende vollständige Wille
des einzelnen selbst. Denn eher noch kann jene freie Überein-
stimmung der einzelnen Willen unsicher erscheinen, so daß wir
nicht wissen, ob wir etwas sollen anständig nennen oder unschicklich,
als daß dem einzelnen Willen für sich ähnlichen begegnen könnte.
Es scheint daher notwendig zu folgen, daß, wenn man das
sittliche Handeln so ansieht wie hier überall vorausgesetzt wird,
daß nämlich die Vernunft nicht bloß abschlägt oder genehmigt,
sondern ursprünglich die Handlungen bildet, alsdann das Erlaubte
von diesem Gebiet verwiesen werden muß, so daß kein sittlich
handelndes Subjekt eine Handlung zustande bringt unter dem
Titel einer erlaubten, sondern das Erlaubte gehört nur dem
Rechtsgebiet an, aber das dort Erlaubte tut der sittlich Handelnde
in jedem einzelnen Fall nur als die Pflicht des Augenblicks, oder
unterläßt es, weil er eine andere zu tun hat. Und nur wenn
die Vernunft im sittlichen Handeln beschränkt wird auf Gewäh-
rung oder Versagung des anderwärts her Geforderten, wie dies
allerdings der Fall ist, wenn sie nur ein Gesetz aufstellt, wonach
sie die Tauglichkeit der Maximen beurteilt, selbst also nichts tut
als Recht sprechen; in einer solchen Sittenlehre muß des Erlaub-
ten viel aufgestellt werden. So daß die Zulassung dieses Be-
griffes auf dem sittlichen Gebiet ein charakteristisches Merkmal
derjenigen ethischen Systeme ist, welche ich die negativen genannt
habe. Wer aber verlangt, es solle sich im sittlichen Menschen
alles nur als Organ zur Intelligenz verhalten, der kann jenen
Begriff nicht zulassen, sondern muß auch fordern, daß jede Hand-
lung der Idee der Sittlichkeit widerspreche, zu welcher der Im-
puls nicht von der Intelligenz ausgegangen ist.
[111,2,444] Begriff des Erlaubten. 443
Ohne nun hiervon das mindeste nachzulassen, kann ich doch
den Sprachgebrauch nicht verdammen u^ollen, welcher diesen Aus-
druck nicht rein auf das Gebiet des bürgerlichen Gesetzes be-
schränken will; und es ist mir nur noch übrig, die Erweiterungen
zu bezeichnen, welche ihm in Übereinstimmung mit dem bisherigen
gestattet werden können. Denn zuerst können wir ja unser gan-
zes Sein und Leben im Staat so ansehen, daß wir durch eine
freie Willensbestimmung hineintreten. Wenn diese nicht in allen
Staaten auf eine so bezeichnende und feiediche Weise zur An-
schauung gebracht wird, wie in einigen: so ist das eher ein Feh-
ler zu nennen, aber die Sache ist überall dieselbe. Was nun
von dieser Willensbestimmung gilt, daß nämlich durch dieselbe
eine große Menge von künftigen Handlungen schon im voraus
bestimmt sind, diejenigen aber, von denen dieses nicht gesagt wer-
den kann, eben die erlaubten sind, die wir schlechthin so nennen
— sie sind es aber eigentlich nur in bezug auf jene Willens-
bestimmung — : eben das muß gelten von allen Willensbestim-
mungen, durch welche ein dauerndes Verhältnis angeknüpft wird,
daß alle nicht durch sie schon im voraus bestimmten Handlungen
in Beziehung auf sie erlaubt sind, jede von ihnen ist aber jedes-
mal, wenn sie vollzogen wird, dennoch für den Täter nur entweder
pfHchtmäßig oder pflichtwidrig. Ob sie nun aber das eine oder
das andere ist, ob, nachdem der einzelne sittliche Impuls gegeben
war, der Gedanke der Handlung auch an die Totalität der sitt-
lichen Aufgabe gehalten worden ist, und sich kein Widerstreben
gefunden hat, oder ob es sich entgegengesetzt verhält, das wird in
den meisten Fällen nur der Täter selbst wissen, und wem er es
offenbaren will. Jeder andere kann von jeder Handlung eines
anderen, welche nicht schon durch ein ihm bekanntes Verhältnis
des Täters irgendwie müßte im voraus bestimmt worden sein,
auch nur sagen, daß sie von seinetwegen und für seine Kennt-
nis eine erlaubte sei. Wodurch aber auch der Beurteilende,
wenn er anders sich selbst recht versteht, den Täter keinesweges
444 Begriff des Erlaubten. [111,2, 445]
davon frei sprechen will, daß er bei der Handlung selbst sich in
einem Zustande vollkommner sittlicher Zustimmung müsse befun-
den haben.
Und was diesem Gebrauch des Wortes den weitesten Spiel-
raum eröffnet, das sind die engen Grenzen, in welche das Sich-
offenbaren-wollen selbst eingeschlossen ist. Wir können den Zu-
stand der festen Überzeugung und gänzlichen Zustimmung zu
unsern Handlungen fast nur dann in Worte fassen und mitteilen,
wenn wir selbst genötigt gewesen sind mit Worten zu rechnen,
wenn uns diese vollkommne Sicherheit entstanden ist durch über-
wundene Bedenklichkeiten, durch aufgelöste Zweifel, durch eine
wohl abwägende Wahl zwischen verschiedenen Ansprüchen; und
dies ist vielleicht bei den meisten unserer freien Handlungen der
Fall, aber diese sind dann nicht die begeistertsten, nicht die rein-
sten. Die vollkommenste Sittlichkeit ist nur da, wo unsere volle
Überzeugung sich gleich, und ohne daß etwas anderes dazwischen
tritt, der Handlung zuwendet und sie gestaltet, und solche Hand-
lungen sind es, auf welche wir auch lange hernach noch mit
derselben Befriedigung sehen. Von solchen Augenblicken aber,
die nicht auch innerlich durch Worte vermittelt waren, durch Worte
Rechenschaft zu geben, ist uns nicht verliehen; und so müssen
wir oft zufrieden sein, wenn das Urteil anderer uns das als etwas
wohl Erlaubtes durchgehen läßt, worin wir selbst uns der sitt-
lichen Kraft unseres eigentümlichen Lebens auf das bestimmteste
bewußt geworden sind.
über den Begriff des höchsten Gutes.
Erste Abhandlung,
Gelesen am 17. Mai 1827.')
Es ist, glaube ich, keine gewagte Behauptung, daß die Sitten-
lehre als Wissenschaft sich in einem unerfreulichen Zustande
befindet. Die Produktivität auf diesem Gebiet ist äußerst gering,
und auch das wenige wird weniger als alles andere beachtet.
Demohnerachtet kann man nicht sagen, daß sie etwa als eine
ältere Wissenschaft schon so völlig ausgebaut sei, daß aus diesem
Grunde der größte Teil des wissenschaftlichen Bestrebens sich
anderen Regionen zuwende. Denn dann müßte sie lange Zeit
hindurch auf eine gleichmäßige Weise sein bearbeitet worden,
welches doch keinesweges der Fall ist. Vielmehr scheinen die
vielen und auch in der neueren Zeit schnell aufeinander folgenden
Veränderungen zu beweisen, daß keiner von den früheren Ver-
suchen eine feste Überzeugung begründet habe; und es wäre nicht
übereilt, den Schluß zu ziehen, daß wahrscheinlich der rechte
Weg noch nicht eingeschlagen sei. Die Kant sehe Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten mit ihrem kategorischen Imperativ
machte freilich ein glänzendes Glück; aber schon die Ausführung
•) Gedruckt unter den Abhandlungen aus dem Jahre 1830.
446 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2, 447]
auf diesem Grunde, welche in der Rechtslehre und Tugendlehre
als die wirkliche Metaphysik der Sitten auftrat, vermochte nicht
den ersten Erfolg zu unterstützen. Fichtes System der Sitten-
lehre ist unter allen Werken dieses ausgezeichneten Denkers viel-
leicht das der Form nach vollendetste; die Wirkung aber, die es
hervorgebracht hat, ist verhältnismäßig wohl die geringste. Läßt
sich nun doch keineswegs annehmen, daß es im allgemeinen an
Interesse für den Gegenstand dieser Wissenschaft fehle; dürfen
wir uns vielmehr wohl das Zeugnis geben, daß auch in den ver-
worrensten Zeiten Sittlichkeit und sittliche Gewißheit nie auf-
gehört haben, als zu unsern wichtigsten Angelegenheiten gehörig
auch den Forschungen derer empfohlen zu sein, welche berufen
sind, überall auf die letzten Gründe zurückzugehen: so kann die
Schuld eines solchen Mißlingens nur in der wissenschaftlichen Be-
handlung des Gegenstandes gesucht werden; und am nächsten
liegt dann immer die Vermutung, daß jede Sittenlehre, welche nur
in der Form von Pflichtenlehre oder Tugendlehre auftritt, sei es
in einer von beiden allein oder auch, daß man beide verbindet,
nur eine geringe Befriedigung gewähren könne. Wenn auch wirk-
lich ein System von Pflichtformeln das ganze Leben umfaßt, so
daß der Besitzer desselben sich niemals ratlos finden kann oder
auch nur unaufgeregt: so findet es doch seine Anwendung immer
nur in den einzelnen Fällen, und hält die Aufmerksamkeit an die-
sen fest; ein lebendiger Zusammenhang alles dessen aber, was
von dem vernünftigen Willen oder von der Gesetzgebung der Ver-
nunft ausgeht, kommt hierbei nirgend zum Vorschein. Auch die-
jenige Pflichtenlehre, wozu ich die ersten Grundlinien in einer frü-
heren Abhandlung aufgezeichnet habe, konnte das, was sie aller-
dings voraussetzte als die Abzweckung aller sittlichen Handlun-
gen, nämlich die sittliche Aufgabe in ihrem ganzen Umfang zu
lösen, in dieser Form nicht so zur Darstellung bringen, daß dieser
ganze Umfang ausgefüllt vor Augen träte; denn die Natur jenes
Begriffes leidet es nicht. Stellt nun gar eine Pflichtenlehre solche
[111,2, 448] Begriff des höchsten Gutes. I. 447
Formeln auf, welche noch Kollisionen zulassen: so erscheint die
Totalität des Lebens ganz verworren, so daß klare sittliche Be-
stimmungen nur als einzelne zerstreute Lichtpunkte auftreten, ohne
auch nur den Anspruch machen zu wollen, daß jenes Verworrene
völlig könne geordnet, und die Verwirrung durch ein bestimmtes
und umfassendes Verfahren gelöst werden. Denn es findet sich
in solchen Behandlungen nirgend ausgesprochen, daß, wenn nur
das pflichtmäßige Handeln einmal durchgeführt werde, alle solche
Kollisionen unmöglich geworden sein müßten. Nicht anders ist
es auch in beider Hinsicht mit der Tugendlehre. Die Tugend ist
die sittliche Vollkommenheit des handelnden einzelnen, und wird
immer nur in diesem gefunden. Der einzelne aber ist, v^enn
man von der leeren Dichtung eines völlig isolierten Zustandes
abstrahiert, teils nur in einem sehr engen Gebiet allein und ab-
geschlossen zu ergreifen, teils aber auch kann man ihn inner-
halb dieses Raumes doch nicht vollständig verstehen. Fragen wir
wo die Tugend sich zeigt: so finden wir uns ursprüngUch auf
das Entstehen eines Entschlusses, auf den Moment einer Willens-
bestimmung hingewiesen. In dieser hegt zunächst alles Lobens-
würdige und Verdienstliche; versteht sich, daß ich unter Willens-
bestimmung nicht nur das innere Wort verstehe, sondern daß ich
die wirkliche Bewegung, den Impuls, der sich von da an durch
den ganzen seelischen und leiblichen Organismus fortpflanzt, als
mit darin enthalten denke. Inwiefern aber nun durch diese
Tätigkeit das in der Willensbestimmung Vorgebildete wirklich
ins Leben tritt, das fällt durchaus nicht mehr in das Gebiet des
Handelnden, und das sittliche Werk kommt also in einer solchen
Darstellung nicht ans Licht. Denn die Tugend ist nicht größer,
wenn die Tat vollkommen gelingt, und nicht kleiner in dem
andern Fall; indem dieses mehr oder weniger überall von der
Mitwirkung oder Gegenwirkung anderer abhängt. Es lohnt kaum
die Einwendung hiergegen zu widerlegen, daß doch Geduld, Be-
harrlichkeit u. dgl. Tugenden nicht eine neue Willensbestimmung
y!
448 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2, 449]
hervorbringen, sondern sich nur in dem Verlauf einer schon ge-
faßten offenbaren. Denn es sind hier nur zwei Ansichten mög-
lich. Denken wir uns eine Hemmung der verlaufenden Tätig-
keit eingetreten oder vorgebildet: so ist auch eine neue Willens-
bestimmung in Beziehung auf dieselbe zu fassen, und dann er-
klären sich auch diese Tugenden auf die obige Weise, sie sind die
Quelle der richtigen Willensbestimmungen in bezug auf ein-
tretende Hemmungen der schon bestehenden sittlichen Tätigkeit.
Fassen wir aber die Sache anders, und sagen, diese Tugenden
verhinderten eben, daß Hemmungen gar nicht einträten: so sind
sie dann auch nichts Besonderes für sich, sondern nur die Stärke
der jedesmaligen ursprünglichen und unterbrochen fortwirkenden
Willensbestimmung. Über diese also hinaus zum Ergebnis der
Tat, zum Werk, kommen wir mit der Tugend niemals. Ist aber
nun dieses enge Gebiet aus sich selbst vollkommen zu ver-
stehen, so daß der handelnde einzelne vollständig verstanden ist
als solcher, wenn sein Tugendzustand gegeben wird? Auch dies
ist wohl kaum zu bejahen. Denn die Willensbestimmung könnte
doch nie die sein, welche sie ist, wenn die Auffassung der Ele-
mente, welche den durch eine Willensbestimmung auszufüllenden
Moment konstituieren, eine andere gewesen wäre. Diese Auf-
fassung hängt freilich zum Teil auch von eigner Willensbestim-
mung ab, und insofern fällt sie auch, wiewohl dies häufig nicht
einmal anerkannt wird, in das Gebiet der Tugend. Ebensosehr
aber ist sie abhängig von dem Gesamtzustand, welcher nicht
ohne Mitwirkung anderer entstanden ist. Und so ist das unter
dieser Form darstellbare Sittliche ebenfalls nach beiden Seiten
hin abgebrochen und vereinzelt. Wenn nun aber noch die Größe
der Tugend abhängt von dem Widerstand, welchen sie über-
windet; und wenn dieser keineswegs allein oder auch nur vor-
züglich von den äußeren Dingen ausgeht, sondern bei weitem
größtenteils von entgegenstrebenden menschlichen Handlungen: so
muß also auch hier, soll anders die Tugend sich herausheben und
[111,2, 450] Begriff des höchsten Gutes. I. 449
bemerklich werden, die große Masse des Lebens ebenso verworren
erscheinen als dort.
Schon dieses erklärt mir wenigstens hinreichend jene herr-
schende Gleichgültigkeit gegen die wissenschaftliche Sittenlehre.
Wie kann man sich für eine Darstellung des SittHchen interessieren,
die nur fragmentarische Einzelheiten aufzustellen vermag und wo-
rin das Sittliche immerfort durch die Fortdauer des Unsittlichen
bedingt erscheint? Wie anders ist es doch mit der Naturwissen-
schaft in ihrem ganzen Umfange betrachtet, wie weit sie auch noch
von ihrem Ziele entfernt sein mag! Denn wenn auch jemand sagen
wollte, das höchste Ziel, was sie sich gesteckt haben könne, sei
doch nur, unsern Weltkörper und die in ihm waltenden Kräfte
im Zusammenhange mit den noch bestehenden und den schon
ausgelebten körperlichen Dingen für die Erkenntnis vollständig
aufzuschließen, und dann dieses als einen Typus zu gebrauchen,
um die allgemeine Vorstellung auch von den andern Weltkörpern
mehr zu beleben und näher zu bestimmen; diese insgesamt aber
seien ja auch nur einzelnes und Abgerissenes, von dem uns noch
völlig verschlossenen allgemeinen Raum umgeben und ausein-
andergehalten, also auch durch ihn bestimmt: so wäre doch da-
durch keinesweges ein ähnliches Verhältnis aufgestellt wie auf
dem Gebiet der Sittenlehre. Denn einesteils hängt die Erkenntnis
des Weltkörpers gar nicht davon ab, daß jener allgemeine Raum
als Natur unerkannt bleibe, vielmehr muß jeder schon im voraus
überzeugt sein, daß unsere Naturerkenntnis der Weltkörper nur
um so voUkommner werden würde, wenn jener Raum uns auch
erkennbare Natur geworden wäre: andernteils aber sind doch
zunächst die in dem Weltkörper tätigen Kräfte und deren Erzeug-
nisse der eigentliche Gegenstand der Naturwissenschaft; und diese
sucht sie keineswegs als einzelnes und Fragmentarisches zu ver-
stehen, sondern immer tiefer in ihren Zusammenhang einzudrin-
gen, und die Kräfte mit den Gesetzen ihres Verhaltens als ein
unzertrennliches Ganze, durch welches zugleich auch das ganze
Schleiermacher, Werke. I. 2Q
450 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2,451]
System der lebendigen körperlichen Dinge gegeben ist, aufzufassen
und darzustellen. Auf dem ethischen Gebiet aber ist grade jene
schon erwähnte und überall, wo nichts als Pflichtenlehre oder
Tugendlehre aufgestellt wird, unvermeidliche, an sich aber höchst
unnatürliche Trennung der Handlungsweise und Tätigkeit von
dem daraus hervorgehenden Werke das, wodurch am meisten alles
Interesse an derselben aufgehoben wird. Kommt doch das meiste
von dem, was in der menschhchen Welt geschieht und auch unser
Leben bedingt und bestimmt, nicht durch unsere und anderer ein-
zelner sittliche Willensbestimmungen und pflichtmäßiges Handeln
zustande, sondern auf eine andere Weise: so kann man den
Vorsatz sich aller Versuche, die Regeln des sittlichen Handelns
wissenschaftlich zu begründen und zusammenzustellen, Heber ganz
zu enthalten, nicht füglich ungünstiger beurteilen, als jenes ähn-
liche, daß nicht wenige Seefahrer die Kunst zu schwimmen ver-
nachlässigen und gering achten, weil sie ihnen nämlich, wenn ein
Unglück ihnen auf offner See zustößt, nur Ursache wird zu ver-
längerter Qual, ohne sie doch retten und zum Ziele führen zu
können; und sie sei nur gut, sprechen sie, für diejenigen, welche
auf dem Festlande lebend nur zum Scherz und anständiger Leibes-
übung wegen ins Wasser tauchen, nicht aber für diejenigen,
die auf demselben ihr Leben führen. Denn wirklich ebenso ist
es auch mit der Sittenlehre in einer solchen Gestalt, ohne daß
ihre Ausübung zu dem hinführt, was doch in den Wünschen liegt,
oder in der Gesamtheit der Zweckbegriffe will ich lieber sagen,
damit mir nicht auch die Sprache in das Gebiet des Zufälligen
hinabgezogen werde, in solcher Gestalt, sage ich, leistet sie denen
gar nichts, die das Meer eines wahrhaft selbsttätigen Lebens zu
durchschiffen haben; sondern nur, wenn es solche gibt, die in
eine so feste und starre Ordnung gestellt sind, in welcher sich
schon das meiste für jeden von selbst versteht, und nur selten in
einzelnen Augenblicken einer zu einer wahrhaft freien Tätigkeit
aufgefordert wird, wobei es aber nicht darauf ankommt, etwas
[111,2,452] Begriff des höchsten Gutes. I. 451
zu bewirken, sondern nur sich so oder so selbst darzustellen, denen
kann sie die Regel ihrer Bewegungen angeben. Darum habe
ich mich auch in alle diese herrlichen Lobpreisungen niemals fin-
den können, wie wohl und voll sie auch klingen, von einer
Pflichtmäßigkeit des Handelns, welche gar nicht daran denke,
was dabei herauskommt oder nicht, und von einer Tugend, wel-
cher gar nichts darauf ankommt, ob das auch geUngt und wohl
gerät, woran sie sich setzt, oder nicht, sondern dieses, wie es nun
eben jeder meint, dem Zufall oder der göttlichen Vorsehung an-
heimstellt. Geht eine Handlung von einem Zweckbegriff aus: so
kann sie auch nur darnach geschätzt werden, wie viel oder wenig
jener Begriff durch sie seinen Gegenstand erhält. Will ich aber
nichts bewirken, warum handle ich? Geschieht es auch nur, um
mich andern als einen solchen und so Gesinnten zu zeigen: so will
ich ja doch etwas in diesen bewirken. Es bliebe also nur übrig,
daß jeder nur handelt, um so zu sein und zu bleiben, wie er ist.
Aber dazu brauchen wir nie etwas Bestimmtes zu tun, oder aus
zweien und mehrerem, was vorhanden ist, Heber eines als das
andere zu wählen; sondern nur irgend etwas zu tun. Denn
wird nur das Leben durch Tätigkeit erhalten: so bleibt jeder
auch dadurch, was er ist. Haben demohnerachtet diese Darstellun-
gen der Sittlichkeit durch die heilsame Strenge, welche sich darin
ausspricht, einen großen und vielleicht auch vorteilhaften Ein-
fluß gehabt auf die durch eine luftige, schmeichlerische Skepsis von
der tieferen Strenge religiöser Zuspräche entwöhnte Menge: so
kann eine Wirkung, die bei vielen gewiß nur auf der magischen
Kraft der Formeln beruhte, für ihren wissenschaftlichen Wert
um so weniger beweisen, als auch jener Einfluß in denen Krei-
sen, wo die Tongeber geistiger gebildet sind und schärfer prüfen,
sich niemals bedeutend erwiesen hat. Denn diesen konnte es
nicht entgehn, wie nicht nur auch hier, was die Anwendbarkeit
der Lehre im Leben betrifft, mit der Lehre zugleich auch ein neues
Feld für Täuschungen sich eröffnete, und je innerlicher der Maß-
29*
452 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2, 453]
Stab war, um desto weniger Sicherheit, ob sich nicht SinnHches
doch unter das Geistige gemischt und die SittHchi<eit verunreinigt
habe, sondern auch, und das ist das wichtigste, wie wenig diese
Vorschriften geeignet waren, alles das, was doch unleugbar aus
den freien Willensbestimmungen der Menschen hervorgeht, zu um-
fassen, und es nicht bloß scheinbar, sondern wahrhaft als ein Sitt-
liches zu bestimmen. Wenn z. B. die Frage skeptisch aufgewor-
fen wird, ob, wenn es den Staat nicht schon gäbe, es eines
Menschen Pflicht sein könnte, ihn zu errichten: so ist offenbar der
Staat, der doch notwendig ein aus freien Willensbestimmungen
Entstandenes ist, gar nicht sittlich bestimmt, sondern er ist ur-
sprünglich entweder ein Unsittliches oder ein Sittliches zwar, aber
auf ganz unbekannte Weise. Wenn Verbesserungen in den Grund-
verhältnissen der verschiedenen Klassen von Staatsbürgern davon
abhängig gemacht werden, daß eine große Mehrheit sie in An-
spruch nehme, dieses in Anspruch nehmen aber nicht seinen be-
stimmten Ort hat unter den sittlichen Handlungen oder Pflich-
ten: so sind auch jene Verbesserungen, weil nicht Handlungen
dessen, der sie vollzieht, sondern derer, welche sie in Anspruch
nehmen, keineswegs sittlich bestimmt, sondern sie sind bloße
Naturereignisse. Wenn die schönen Künste als eine Vorbereitung
zur Sittlichkeit deduziert werden, der Gebrauch derselben aber nur
als mit in den Inbegriff der geistigen Erhaltungsmittel gehörig ver-
ordnet wird: so kann man wohl nicht sagen, daß dieses große Ge-
biet freier Tätigkeit sittlich bestimmt sei, da doch beides, was
wesentlich zusammengehört, nicht zusammentrifft. Wenn einer ein
Künstler werden soll, nicht aus willkürlichem Vorsatz, sondern
nur aus Antrieb der Natur, im allgemeinen aber jeder seinen
besondern Beruf wählen soll nicht sowohl aus Antrieb der Natur,
als um der Überzeugung willen, dadurch den Vernunftzweck am
besten befördern zu können, nirgend aber bestimmt ist, wie der
Antrieb der Natur vom eigenwilligen Vorsatz zu unterscheiden,
und ebensowenig hier diese Überzeugung als ein sittlich Gewor-
[111,2, 454] Begriff des höchsten Gutes. I. 453
denes erscheint: so ist auch diese wichtige Angelegenheit mehr
scheinbar als in der Tat sittlich bestimmt, sondern auch hier zu-
letzt alles auf Naturereignisse, auf etwas was sich von selbst ver-
stehn soll, gestellt. Und doch ist Fichtes System der Sitten-
lehre das vortrefflichste in dieser Gattung. Es ist demnach ein
ganz allgemeines Ergebnis dieser Darstellungsweise, daß dabei
große Gebiete menschUchen Handelns von unstreitig sittlichem
Gehalt in der Sittenlehre doch nicht abgeleitet und in ihrer Not-
wendigkeit begreiflich gemacht, sondern nur als ein Zulässiges
oder Erlaubtes durchgelassen werden, und daß ein keineswegs
durchschauter und wissenschaftlich gebildeter, sondern verworre-
ner, aber in dieser Verworrenheit tief eingreifender Unterschied
entsteht zwischen dem, was der Mensch nicht von der Vernunft
getrieben, sondern nur seiner Natur nach, aber doch ebenso unver-
meidlicher als unverwerflicher Weise tut, und dem was er seiner
Vernunft nach tun soll. Eine Darstellung dieser Art spiegelt dann
auch nur eine sehr unvollkommne Entwicklung des sittlichen
Bewußtseins ab. Denn dieses kann, so wie es die von der Ver-
nunft gebotenen Handlungen begleitet oder ihnen vorangeht, bei
den von der Natur ausgehenden nicht vorhanden sein. Der ur-
sprüngliche Impuls ist also auch auf dem letzten Gebiet derselbe
in solchen Fällen, wo, wenn die Handlung vorgebildet ist, ein
negatives oder limitatives Vernunftgebot eintritt, und in solchen,
wo die Vernunft durch nichts dergleichen den Übergang von
der Vorbildung zur Ausführung hemmt.
Zwei früher vorgelesene Abhandlungen, von denen die eine
eben diese Vorstellung von einem sittlich Erlaubten einer Kritik
unterwirft und ihren wissenschaftlichen Gehalt beleuchtet, die an-
dere aber den angenommenen Gegensatz zwischen Naturgesetz und
Sittengesetz in Anspruch nimmt, haben die Abzv/eckung, auf diese
Unvollkommenheiten aufmerksam zu machen und der Abhilfe vor-
zuarbeiten. Denn wenn Naturgesetz und Sittengesetz auf dem
Gebiet der menschlichen Freiheit so zusammenfallen, daß aus der
454 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2,455;
menschlichen Natur gesund und vollkommen entwickelt alles her-
vorgeht, was der Mensch seiner Vernunft gemäß tun soll und
nichts anderes: nun so muß auch die Vernunft in ihren sitt-
lichen Forderungen alles das vorbilden, was die gesunde Natur
wirklich ans Licht bringt; und wenn der Begriff des Erlaubten
auf unserm Gebiet keine andere Geltung hat, als die ihm dort
beigelegt wird: so entsteht die Aufgabe, alles was unter denselben
subsumiert worden ist, zu sichten und in teils von der Ver-
nunft wirklich Gefordertes, teils der Natur wirklich Zuwiderlau-
fendes aufzulösen. Die gegenwärtige will den Versuch empfeh-
len, ob nicht den aufgezeigten Mängeln der Sittenlehre abgehol-
fen und sie in einen richtiger und gerader auf das Ziel hinfüh-
renden Entwicklungsgang geleitet werden könnte durch Wieder-
aufnahme einer früher schon angewendeten, aber nicht zu ihrer
rechten Ausbildung gelangten Methode, nämlich die Konstruktion
des höchsten Gutes. Daß dieses in der hellenischen Philosophie
nach Sokrates eine Hauptaufgabe der Ethik war, und ein strei-
tiger Ort, indem in der Behandlung derselben der Charakter der
verschiedenen Schulen sich bestimmt aussprach und der unter
ihnen stattfindende Gegensatz ins Licht trat, setze ich als bekannt
voraus, enthalte mich aber hier aller geschichtlichen Auseinander-
setzung, und will nur suchen anzugeben, was ich für die eigent-
liche Tendenz dieses Ausdruckes halte, und was mir durch den
Gebrauch desselben für die Sittenlehre erreicht werden zu können
scheint.
Zuerst will ich nur bevorworten, daß ich dabei nicht an den
adjektivischen Gebrauch des Wortes anzuknüpfen denke. Denn
Gutes und Böses oder Übles beziehen wir entweder auf äußere
Verhältnisse, und dies ist das zu etwas oder in Beziehung auf
ein anderes Gutes oder Übles, welches wir auch das Nützliche oder
Förderliche und sein Gegenteil nennen. Hiervon kann hier un-
mittelbar gar nicht die Rede sein; wenngleich, beiläufig gesagt,
nicht zu leugnen ist, es gehöre ebenfalls zum höchsten Gute, daß
[111,2, 456] Begriff des höchsten Gutes. I 455
alles Förderliche da sei, ja sogar alles, was zum höchsten Gut ge-
hört, müsse auch ein Förderliches sein, und Schädliches könne in
dem Inbegriff desselben nirgend vorkommen. Außerdem brauchen
wir nur gut und böse von menschlichen Handlungen oder Ge-
mütszuständen, entweder auch in dem obigen Sinne, insofern
sie zu etwas, und also um eines andern willen gesetzt und ge-
billigt werden, und dann gilt das eben Gesagte; oder so, daß wir
sie an und für sich als solche bezeichnen. Aber dann wird die
gute Handlung offenbar zurückzuführen sein auf ein Pflicht-
mäßiges, der gute Gemütszustand aber wird seinen Ort in dem
Gebiet der Tugend finden; und wollten wir auch unter dem höch-
sten Guten nicht ein einzelnes solches verstehen, sondern den In-
begriff von allen, so kämen wir doch nicht aus Pflicht und Tugend
heraus, und würden mit der Anwendung der Formel nichts Wesent-
liches gewinnen. Substantivisch kennen wir außer der eigent-
lich ethischen selbst noch zwei Gebrauchsweisen, zwischen denen
aber gar kein Zusammenhang stattzufinden scheint. Die eine
ist politisch und ökonomisch, indem wir die einzelnen Örter des
Nationalreichtums, Grundstücke, Bergwerke, zum Erwerb be-
stimmte Gebäude, Güter nennen; die andere religiös und speku-
lativ, indem Gott nicht selten das höchste Gut genannt wird.
In dem letzteren ist keine Analogie mit dem ersten. Denn ist
die Meinung, daß Gott das höchste Gut für den Menschen sei:
so wäre dies ein uneigentlicher Ausdruck, und besser würde ge-
sagt, die Liebe zu Gott oder die Erkenntnis von Gott oder die
Leitung und Fürsorge oder die Gnade Gottes, wie man es eben
nennen wollte, oder, um auch dies Mystische hinzuzufügen, der
Genuß Gottes sei dies höchste Gut. Wird aber Gott so ge-
nannt in demselben Sinne, in welchem man ihn auch das voll-
kommenste Wesen nennt, weil nämlich alles Gute und nichts als
Gutes in ihm gesetzt sein kann: so geht dieser Gebrauch offenbar
auf das Adjektivische zurück, und kann also hier nicht in Betracht
kommen. Der ökonomische Gebrauch hingegen hat mit dem
456 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2, 457]
ethischen die größte Analogie, und kann demselben füglich zur
Erläuterung dienen. Jene Güter nämlich sind immer etwas aus der
menschlichen Tätigkeit Hervorgegangenes, aber zugleich dieselbe
in sich Schließendes und Fortpflanzendes. Vermögen sie das letzte
nicht mehr, wie etwa eine abgebaute Grube oder ein ganz aus-
gesogener und deshalb verlassener Acker: so hören sie auch
auf, ein Gut zu sein. Dasselbe habe ich von dem früheren ethischen
Gebrauch in meiner Kritik der Sittenlehre zu zeigen gesucht, daß
alle alten Schulen, welche diesen Begriff verarbeitet haben, wie
verschieden auch ihren Ansichten gemäß die Anwendungen des
Begriffs waren, doch insgesamt dadurch das durch die sittliche
Tätigkeit Hervorgebrachte, insofern es dieselbe auch noch in sich
schloß und fortentwickelte, bezeichnen wollten. Der Ausdruck
„höchstes Gut" aber ist ebenso überall nicht in dem Sinne kom-
parativ, in welchem ein höchster Grad zwar jeden niederen ge-
wissermaßen in sich schließt, zugleich aber auch so ausschließt,
daß doch von ihm für sich nicht weiter die Rede sein kann; son-
dern in dem Sinne, in welchem jedes Ganze größer ist und voll-
kommner als seine einzelnen Teile, aber doch nicht erkannt und dar-
gestellt werden kann, als insofern diesen dasselbe auch widerfährt.
Wenn z. B. auch der Reichtum und die Gesundheit Güter genannt
werden: so geschieht es, weil beide eine Menge von freien Hand-
lungen voraussetzen, ohne welche sie nicht zustande kommen;
aber es geschieht auch nur insofern, als diese für sittlich gehalten
werden. Zur Gesundheit rechnet man wesentlich mit die voll-
kommne Entwicklung aller leiblichen Kräfte, und diese erfolgt
nur durch eine Menge freier, auf die Selbsterhaltung gerichteter
Handlungen. Wer die Gesundheit für ein Gut achtete, der achtete
auch diese Handlungen für sittliche, vielleicht nicht jeder insofern
sie Übungen waren, aber doch gewiß insofern sie ein Bewußt-
sein des werdenden Wohlbefindens und also einen Genuß in sich
schlössen. Und ebenso halten vielleicht viele zwar den Reichtum
für ein Gut, die Arbeit aber nur für eine Sache der Not; dann
[111,2, 458] Begriff des höchsten Gutes. I. 457
aber auch gewiß den Reichtum, der nur durch angestrengte Arbeit
und Entbehrung bei kleinem herbeigeschafft wird, noch lange
für kein Gut, sondern eher für einen Mangel, die leitenden und
gebietenden Tätigkeiten hingegen, aus denen er bei großem er-
wächst, desto gewisser für sittliche. Beide aber, Gesundheit und
Reichtum, sind auf der andern Seite nur Güter, weil und so-
fern es ihnen wesentHch ist, und nicht etwa nur ein Zufälliges,
daß sich sittliche Tätigkeiten und Zustände in ihnen erzeugen.
Eine verschlafene Gesundheit wäre kein Gut; aber Schlaf außer-
halb des naturgemäßen Wechsels zwischen Wachen und Schlaf ist
auch schon eine Störung der Gesundheit. Ähnliches ließe sich
auch vom Reichtum sagen; es ist aber minder einfach, weil der
eine ihn in dieser, der andere in jener Betrachtung für ein Gut
hält. Wenn wir ein Werk der schönen Kunst für ein Gut an-
sehen, so tun wir es freilich nur, insofern die Tätigkeit, woraus
es hervorging, uns eine sittliche ist; aber gewiß auch nur sofern
und nur für die, in welchen es durch sein Dasein sittliche Tätig-
keiten und Zustände wesentlich erweckt. Ebenso nun ist es
mit dem höchsten Gut, und der Ausdruck schließt sonach die Auf-
gabe in sich, den Inbegriff aller wahren Güter, die es nämlich in
dem bisher erläuterten Sinne sind, so aufzustellen, daß ihre wesent-
liche Zusammengehörigkeit und die vollständige Lösung der sitt-
lichen Aufgabe durch ihr Miteinander- und Füreinandersein, eben
weil sich in ihnen alle sittlichen Tätigkeiten immer wieder er-
zeugen, zum klaren Bewußtsein komme. Wollten wir dieses letzte
beiseite stellen: so würde auch der vollständigste Inbegriff alles
durch die Vernunft Bev/irkten und Hervorgebrachten nur ein leeres
Schattenbild sein. Ist in dieser Gesamtheit des Hervorgebrach-
ten das Hervorbringende selbst, das pflichtmäßige Handeln, durch
welches sich in jedem Moment ein Kleinstes ansetzt zur Erneuerung
jenes Organismus, und die Tugend als das kräftige Leben der
Vernunft in den einzelnen, nicht mit gesetzt: so sind dann beide
entweder überhaupt nicht, oder getrennt von jenem. In dciii
458 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2,459]
letzten Falle habt ihr dann zwei verschiedene Welten, aber nur
in der, wo diese sind, noch ein wahres Leben, in welchem ihr
aber auch gewiß, wären es auch der äußeren Erscheinung nach
erst leise Anfänge, das Wesentliche jenes Inbegriffs, den wir das
höchste Gut nennen, immer finden werdet; die andere aber, die
einzige, welche euch im ersten Falle übrig bleibt, wäre nur ein
Schattenleben, wie ein erstorbener Weltkörper, dessen Massen von
vergangenem Leben zeugen, auf dem sich aber nichts mehr regt;
ein solcher erstarrter und immer mehr erstarrender Nachgenuß und
Nachbewußtsein der vorigen Tätigkeit. Trümmern, wie übel auch
zugerichtet, können noch zu den Gütern des Lebens gehören
für den, dem sie Gedanken erregen, die zur lebendigen Tat
werden; ein tatenloser Zustand, wie unendlich auch ausgestattet,
ist keines.
Soll aber die Wiedereinführung dieses Begriffs der Absicht
entsprechen: so muß freilich der Fehler vermieden werden, in den
die älteren Schulen verfielen, und um dessentwillen wahrscheinlich
er zu seiner vollen Ausbildung nicht gelangen konnte; nämlich
daß wir nicht auch diesen Begriff nur auf den einzelnen Men-
schen beziehen, und nach dem höchsten Gute des einzelnen fragen,
worin es bestehe. Denn fragen wir, warum eigentlich in der
Pflichtenlehre und Tugendlehre, wenn man irgend streng und
genau verfahren will, es so notwendig ist, Gesinnung und
Handlungsweise von dem Werk und dem Erfolg gänzlich zu tren-
nen: so ist die Ursache eben die, daß die Wirksamkeit des ein-
zelnen sich nicht ausmitteln läßt, indem sie in die der andern ganz
unzertrennlich verflochten nicht nur, sondern wahrhaft verwachsen
ist. Wird nun also doch nach dem höchsten Gute des einzelnen
gefragt: so bleibt natürlich nichts anderes übrig, als etwas ganz
Innerliches aufzustellen, und die Tugend das höchste Gut zu
nennen oder die Glückseligkeit, eine Verwirrung, die ich in der
Kritik der Sittenlehre nachgewiesen und gerügt habe. Allerdings
ist auch die Tugend des einzelnen ein Gut, und zwar ganz in dem
fIII,2, 460] Begriff des höchsten Gutes. I. 45Q
eben angegebenen Sinne, und recht verstanden ist auch seine
Glückseligkeit ein solches, nur nicht sein Gut besonders, sondern
ein Gemeingut, in dem sittlichen Kreise, dem er angehört, her-
vorgebracht und auch hervorbringend; und nicht ist seine Tugend
ein anderes und seine Glückseligkeit ein anderes, sondern beide
in ihrer Wechselbeziehung, eigentlich also der einzelne selbst
seinem geistigen Gehalte nach ist ein Gemeingut. Nur vom höch-
sten Gut kann auf diese Weise gar nicht die Rede sein. Vielmehr
läßt sich des einzelnen intelligente Produktion so wenig isolieren,
daß selbst dasjenige, w^as man am meisten glauben sollte, als
das Seinige herausheben zu dürfen, doch nur durch eine gewöhn-
liche Täuschung dafür gehalten wird; denn der Wahrheit nach
kann nur in Form eines willkürlichen, und zwar auf einem un-
sittlichen Grunde beruhenden Tausches einer verlangen, dies und
jenes, sei es nun ein wissenschaftliches Werk oder ein Kunst-
werk oder ein politischer Effekt oder was irgend sonst, solle für
sein eignes gehalten werden, weil er sich nämlich dagegen auch
alles Anteils an dem begeben wolle, was ein anderer auf gleiche
Weise sich anzueignen begehre. Daher nun kann nur, was aus
einer Gesamttätigkeit hervorgeht, bestimmt aufgezeigt werden
und als ein Besonderes hingestellt; und wenn also von dem In-
begriff der Güter die Rede sein soll, so kann nur auf die Ge-
samtwirkung der Vernunft zurückgegangen werden. Diese, daß
ich mich so ausdrücke, als einen Organismus aufzustellen, in
welchem jeder verwirrenile Gegensatz von Mittel und Zweck
aufgehoben, jedes Auseinander auch ein Ineinander, jeder Teil
auch das Ganze ist, nichts aber mit aufgenommen wird, was
nicht aus dem Leben der Vernunft im menschlichen Geschlecht
entsprungen ist und dasselbe auch fortpflanzt und erneuert, das
ist es, was ich mir unter einer Darstellung des höchsten Gutes
denke. In diesem sind dann, wie ich es in den früheren Ab-
handlungen über den Tugendbegriff und Pflichtbegriff mehr postu-
Hert als wirklich dargelegt habe, alle menschlichen Tugenden
460 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2,461]
mitgesetzt. Denn irgend etwas in den Erscheinungen der Mensch-
heit dem Begriff des höchsten Gutes Angehöriges kann nur durch
das Zusammenwirken aller menschlichen Tugenden entstehen und
bestehen; und was für einen organischen Teil der Qesamt-
wirksamkeit der Vernunft könnte man sich wohl denken, aus dem
sich nicht alle menschlichen Tugenden nährten und in dem Wech-
sel der Individuen reproduzierten? sonst müßte ja in dem Ge-
samtorganismus etwas fehlen oder etwas Falsches mitgesetzt
sein. Ebenso können auch die Elemente dieser Wirksamkeit nichts
anderes sein, als die von allen Orten her ineinander greifenden,
einander aufnehmenden und ergänzenden pflichtmäßigen Handlun-
gen. Vornehmlich aber muß sich ergeben, daß alles wahrhaft
Menschliche, und nicht nur einiges, in dieser Darstellung aufzu-
finden sein muß ; jede Eigenschaft des einzelnen, wodurch etwas
hierher Gehöriges wahrhaft wird und fortbesteht, muß in der Glorie
der Tugend erscheinen, und jede Handlung, die irgend wohin
innerhalb dieses Umfanges wirklich gehört und ihren bestimmten
Ort hat, muß auch als pflichtmäßig gepriesen werden. Diese
Aufstellung daher beschränkt sich nicht in den Kleinlichkeiten des
einzelnen Lebens und verworrener persönlicher Relationen, sie ist
der Maßstab für alle geschichtlichen Erscheinungen und der Schlüs-
sel zu ihrem Verständnis; und wie wir alle in diesen mit ver-
schlungen sind, so ist sie zugleich auch die Verklärung des per-
sönlichen Bewußtseins. Wenn nun hernach Pflichtenlehre und
Tugendlehre, die es mit diesem letzten allein zu tun haben, auf
eine solche umfassende Darstellung zurückgeführt werden: so wird
es zwar dabei bleiben müssen, daß sie nur für das einzelne Leben
konstruiert werden, aber jene namhaft gemachten Mängel werden
sie ablegen können, und bei einer verständigen Behandlung wird
sich immer auch in ihren einzelnen Positionen dieses Ganze ab-
spiegeln.
Es ist in dieser Abhandlung, wie auch schon der Umfang
einer solchen verbietet, nicht meine Absicht, den Begriff des hoch-
[111,2, 462] Begriff des höchsten Gutes. I. 461
sten Gutes in seiner Verteilung aucii nur so weit auszuführen,
daß die ganze Behandlung desselben wenigstens angelegt wäre,
indem schon dieses die Grenzen einer Vorlesung nach unserer
Weise überschreiten würde; indessen muß ich doch, ohne Anspruch
auf strenge Systematisierung zu machen, einiges zur Bestätigung
des Gesagten herausnehmen. Stellen wir uns auf den in einer
früheren Abhandlung*) angegebenen Punkt, und denken uns das
Leben auf der Erde zur Animalisation hinauf entwickelt — ob
plötzlich oder allmählich, und im letzten Falle, ob stufenweise oder
nach manchen einander partiell wieder aufhebenden Aktionen und
Reaktionen, das Hegt außer dem Gebiet unserer jetzigen nicht nur,
sondern jeder ethischen Untersuchung. Nun aber soll die höhere
Stufe, das geistige Leben, hinzukommen, so nämlich, wie es dem
Menschen eignet und sich in ihm und von ihm aus auf der Erde
regt und wirkt. Wir bezeichnen das eigentümliche Prinzip des-
selben am liebsten mit dem Namen Vernunft, weil hierdurch wohl
am wenigsten schon im voraus Mißverständnisse ausgesäet wer-
den; in dieser also, der Vernunft, ist unsere ganze Aufgabe ab-
geschlossen. Denn wie die bloße Gravitation nebst dem Mischungs-
und Entmischungsprozeß von der Vegetation aufgenommen wurde,
und die Animalisation beides unter sich zusammenfaßte: so soll
wiederum die Humanisation aus dieser sich hervorheben und sie
in sich schließen. Wie denn auf der einen Seite schon das älteste
sittliche Bev^ußtsein der Menschen sich ausgesprochen hat in dem
Beruf, die Erde zu beherrschen, auf der andern Seite aber schon
ein zwar ziemlich entwickeltes Bewußtsein von der Beherrschung
untergeordneter Kräfte, das aber doch den Umfang derselben noch
lange nicht ausgemessen hatte, die richtige Grenze nach dieser Seite
zu finden wußte in dem bekannten dog jiov oxco xal yijv xi-
vyocü. Alles also, was der Mensch in diesem Sinn auf der
Erde tut, gehört in unsere Aufgabe; und wir wollen von nichts
^) Über das Verhältnis zwischen Naturgesetz und Sittengesetz.
462 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2, 463]
dieser Art sagen, so wie wir es an und für sich betrachten, daß
er es nur seiner Natur nach ohne die Vernunft beginne, und diese
es etwa nur gestatte und Hmitiere. Sondern finden wir in mensch-
lichen Tätigkeiten, welche sich auf die Entwicklung unseres
Lebens und auf unsere Herrschaft über die Erde beziehen, etwas
das limitiert werden muß: so ist es auch etwas Nichtbleibendes,
also Nichtwahres, und muß mit der weiteren Entwicklung des
Wahren verschwinden. Soll aber das Prinzip der Begeistung
irdisch werden und in der Menschengestalt erscheinen: so muß
es auch den Typus des Irdischen an sich tragen, und kann sich
nur in einem durch die Kreisbewegungen und die Oszillationen
der Erde mitbestimmten Geschlechtsleben offenbaren, welches
seine Fülle nur in aufeinander folgenden Lagerungen vergäng-
licher Individuen entwickelt. Ist nun gleich jeder von diesen ein
Ort, in welchem und von welchem aus die Vernunft wirkt: so
war doch das nur eine willkommne Fiktion, was ich als solche
auch nur zu einem bestimmten Behuf an einem andern Orte*)
eingeschoben habe, daß es einen einzelnen geben könne, welchem
die ganze sittliche Aufgabe zu lösen obliege; sondern die physische
Vorbedingung, auf welcher auch schon der erste Anfang dieser
Lösung ruht, ist die, daß die Geschlechter zusammen bestehen, und
nicht der einzelne als solcher ist ein selbständiger Ort für die
Wirksamkeit der Vernunft, sondern nur die Verbindung der Ge-
schlechter zur Erneuerung der Individuen, d. h. die Familie —
das Wort natürlich nur in seinem wesentlichen Inhalt genom-
men ohne nähere Bestimmung der Form; und der einzelne ist
ein solcher Ort nur innerhalb ihrer, oder wenigstens sie voraus-
gesetzt. Diese ist mithin der Ort nicht nur der Erneuerung jenes
ursprünglichen Aktes des Eintretens der Vernunft in das irdische
Leben, welcher sich nun durch Erzeugung und Geburt wieder-
holt, und also der Tradition des Lebens selbst, sondern auch des
^) Über den Pflichtbegriff.
[111,2, 464] Begriff des höchsten Gutes. I. 463
von der früheren Generation schon sittlich Bewirkten und Gewon-
nenen, Hier also ist das erste vollständige und für sich bestehende
Gut, das erste wahrhaft organische sittliche Element im Inein-
ander des Hervorgebrachten und Hervorbringenden, ein Abbild des
Großen und Ganzen. Auch hier gilt daher dasselbe, daß wir in
einem solchen Lebenskomplexus Natur und Vernunft nicht tren-
nen können. Nur was in diesem Sinne geschieht, ist das mensch-
lich Natürliche; aber dies ist auch alles anzusehen als durch die
Vernunft bewirkt, und vermöge ihres Gesetzes. Waltet wirklich
darin der Instinkt vor, ohne zum vernünftigen Triebe umgestal-
tet zu sein, sondern so wie er das bewußtlosere Gebiet der nie-
dern Animalisation bezeichnet: so ist dies nicht etwas, was die
Vernunft irgendwie limitieren soll, sondern es verschwindet durch
sie; und wer jenes behaupten wollte, könnte ebenso auch im all-
gemeinen sagen, die Menschheit sei nur eine Limitation des tie-
rischen Lebens.
Dies führt uns von selbst auf zwei Punkte, welche uns bei-
nahe das Ganze vollenden werden. Der erste ist dieser. So wie
schon von den niederen Stufen des Daseins an zugleich mit dem
höheren Hinaufsteigen auch die Gattungen bestimmter werden,
nämlich das Sein eines Gemeinsamen in vielen, und das Bewußt-
sein vieler durch ein und dasselbige, wie sich beides in auseinan-
der entspringenden Generationen wiederholt: so gebührt nun auch
dem mit dem Eintreten des Prinzips der Begeistung entstehen-
den menschlichen Geschlecht die vollkommenste Gattung zu sein,
d. h. das Eine in allen, nämlich jenes Prinzip selbst, muß auf das
Vollkommenste in allen dasselbe und aus allem andern auf das
Vollkommenste ausgeschlossen, dann aber auch jedes Einzelwesen
von allen andern auf das bestimmteste geschieden und verschie-
den, und also das Eine selbige in jedem einzelnen ein Eigentüm-
liches geworden sein. Dieses ist, wie es beides auch in der Men-
schengestalt am vollkommensten erscheint, so auch die allgemeinste
Grundvoraussetzung, welche unser Bewußtsein konstituiert, und
0
464 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2,465]
von welcher wir bei allem Handeln ausgehn. Dennoch wäre
das begeistete Leben ein sehr untergeordnetes, wenn die Unend-
lichkeit des Mannigfaltigen unmittelbar und verworren auf das
Eine in allen sollte zurückgeführt werden. Darum finden wir
schon immer, und wir mögen es gleich sehr naturgewordene Ver-
nunft nennen und Vernunft gewordene Natur, daß die Menschen
durch eine bestimmtere Gemeinsamkeit des Eigentümlichen in grö-
ßeren Massen, die wir Völker nennen, vereint sind, und unter
diesen also die Selbigkeit des Einen Prinzips nach bestimmter
Weise hervortritt. Wie sich nun dieses volkstümliche Gepräge in
allen wesentlichen Äußerungen der Begeistung fixiert und in der
Folge der Generationen erneuert: so haben wir hier einen größeren
eben solchen Ort, in welchem die Familie als ein organisches Ele-
ment nicht etwa verschwindet, sondern ihre Beziehung zur gan-
zen Menschheit unmittelbar fixiert. Auch hier gilt also dasselbe,
daß es rein sittliche Handlungen sind, durch welche ein Volk als
solches fortbesteht, und daß das Volksleben in seiner rein ver-
nünftigen Entwicklung ein organischer Teil ist des höchsten Gutes.
Der zweite Punkt ist dieser. So wie aus den niederen Stufen
des Daseins sich die Animalisation hervorhebt: so entwickelt sich
im Hinaufsteigen derselben zu voUkommneren Gestaltungen ein
immer kenntlicheres Analogon des Bewußtseins. Nur im Be-
wußtsein kann das geistige Leben wohnen, und darum ist es das-
selbe, daß die Vernunft auf der Erde erscheint, und daß in der
Menschengestalt das vollkommene Bewußtsein sich regt, sich selbst
festhaltend, und alles durch Entgegensetzung und Einigung in sich
aufnehmend. Und so sind es zwei Richtungen, in welchen die
Vernunft an allen jenen Orten wirkt, und in welchen das geistige
Leben der Völker begriffen ist, daß alles Sein ins Bewußtsein
aufgenommen werde auf das vollkommenste, und daß, indem
alles dem Menschen unterworfen wird, auch das innerste Wesen
des Geistes jeglichem Sein und Erscheinen nach Maßgabe seiner
Empfänglichkeit eingebildet werde auf das vollkommenste. Wie
[111,2, 466] Begriff des höchsten Gutes. I. 465
aber die Zersplitterung in das persönliche einzelne Leben nur dem
Irdischwerden der Vernunft angehört: so gehört es zur Vergei-
stigung der irdischen Erscheinung, daß die Vernunft die Schran-
ken der Persönlichkeit durchbreche, und daß soviel möglich, es ist
aber freilich nur in den mannigfaltigsten Abstufungen möglich,
das geistige Leben in jedem einzelnen zugleich für alle sei, und
doch in jedem ein anderes, je nachdem in einzelnen Äußerungen
die Selbigkeit des Einen Prinzips vorherrscht, oder in andern
die Eigentümlichkeit der Gestaltung sich geltend macht. So dür-
fen demnach auch die Völker nicht für sich sein; und rein stellt
sich die Vernunft in ihrem Leben erst dar, wenn auch diese sich
jedes der Gemeinschaft aller öffnen. Aber sowohl in der Tätig-
keit, welche das Bewußtsein bildet und, wie wir eben gesehen
haben, mitteilt, als in der, welche die Dinge dem Menschen an-
bildet, und zwar auf beide Weisen, mag die Einerleiheit vorherr-
schen in dem Verschiedenen oder die Eigentümlichkeit im Glei-
chen, ufird doch die Wirksamkeit der Vernunft erst ihre Selbst-
offenbarung, wenn der Geist seine überirdische Heimat darin
kund gibt, vermöge deren er das Ewige und Einfache, das schlecht-
hin Seiende, auf eine geheimnisvolle Weise in sich trägt. Alles
dieses ist Eins, und keines ohne das andere; aber je nachdem wir
den einen Standpunkt nehmen oder den andern, erscheint das
höchste Gut bald als das goldene Zeitalter in der ungetrübten
und allgenügenden Mitteilung des eigentümlichen Lebens, bald
als der ewige Friede in der wohlverteilten Herrschaft der Völker
über die Erde, oder als die Vollständigkeit und Unveränderlichkeit
des Wissens in der Gemeinschaft der Sprachen, und als das Him-
melreich in der freien Gemeinschaft des frommen Glaubens, jedes
von diesen in seiner Besonderheit dann die anderen in sich schlie-
ßend und das Ganze darstellend.
Aus diesen wenigen, aber doch das Wesentliche enthaltenden
Andeutungen muß, denke ich, hervorgehen, daß ein solches Ganze
auch schulgerecht und kunstgemäß kann aufgestellt werden, und
Schleiermicher, Werke. 1. 30
466 Begriff des höchsten Gutes. I. [111,2, 467]
daß, wenn sich dann solche Behandlungen der Pflichtenlehre und
der Tugendlehre nach der Weise der angelegten daran schließen,
eine solche Zusammengehörigkeit sich ergeben wird, und auch
diese Begriffe so sehr an Reichtum der Beziehungen gewinnen
werden, daß sich von selbst erweiset, wie diese allgemeine Dar-
stellung des geistigen Lebens in seiner reinen Vernünftigkeit auf-
gefaßt wesentlich unserer Wissenschaft angehöre, ja wie nur hierin
die Ethik ihre Vollendung finden könne. Nur zweierlei, was mehr
außer ihrem unmittelbaren Gebiete liegt, will ich noch hinzu-
fügen. Zuerst nämlich, daß nur auf diesem Wege der Zusammen-
hang anderer wissenschaftlichen Disziplinen mit der Ethik und
ihre Abhängigkeit von derselben wiederhergestellt wird, welche
bei den Alten, so wenig diese auch den Begriff des höchsten Gutes
durchgebildet hatten, doch immer auf dieser Seite standen, bei
uns aber meistenteils in der Luft schweben; ich nenne nur die
allgemeine Theorie der Erziehung, so wie die Theorie der Staats-
verfassungen und die allgemeinen Grundsätze der Staatsverwal-
tung. Ebenso aber müssen sich ihr von andern Seiten auch die
Theorie von den verschiedenen Organisationen der Verteilung
und Mitteilung des Wissens und die allgemeine Kunstlehre an-
schließen. — Das zweite ist dieses. Die allgemeinen Erscheinun-
gen des Lebens beruhen auf der einen Seite in ihrer Mannig-
faltigkeit auf bestimmten Beschaffenheiten und Verhältnissen der
irdischen Natur, welches ich auch oben, wiewohl nur durch eine
kurze Formel, angedeutet habe; sie sind in ihrem Verlauf der
Gegenstand der Geschichtskunde. Soll aber diese immer mehr
ein Verstandenes werden: so muß sie zuerst ihrer Basis nach auf
die entsprechenden Zweige der Naturkunde, nämlich auf die physi-
sche Erdkunde und auf die geographische sowohl als physiologi-
sche Ethnographie zurückgeführt, dann aber in den großen Zügen
ihres Verlaufs ethisch geschätzt werden, damit nicht die scheinbare
Verwirrung eine Veranlassung gebe, den Gang des menschlichen
Geschlechtes auch im großen als ein Spiel des Zufalls anzusehen.
[111,2, 468] Begriff des höchsten Gutes. I. 467
als wodurch alle Wissenschaft des Geistes zerstört wird. Diese
bedeutungsvollen eingreifenden Bestrebungen, in denen der
menschliche Geist sich selbst am lebendigsten und anschaulichsten
erfaßt, und aus deren Gebiet die neuere Zeit eine Menge von geist-
reichen Versuchen aufzuzeigen hat, haben doch nur in dieser rein
ethischen Darstellung ihren wissenschaftlichen Stützpunkt; und nur
wenn diese sich recht gestaltet hat, werden auch sie erst ihre voU-
kommne Durchbildung erreichen können. Dasselbe gilt natürlich
auch von der kritischen Betrachtung alles dessen, was in jenen
größeren Erscheinungen nicht der reinen Vernünftigkeit entspricht,
sondern durch Mißverständnisse oder andere Krankheitszustände
affiziert ist. Daß dieses nur ethisch gerichtet werden kann, ver-
steht sich; aber es ist bekannt, wie schwer es ist, den Maßstab der
Tugend, wo es auf eine differente Zusammenwirkung vieler an-
kommt, richtig anzulegen, und wie mannigfaltig auf der andern
Seite, so oft die Verhältnisse kompliziert sind und der Ausschlag
bedeutend, gegen eine Zurückführung auf den Pflichtbegriff pro-
testiert wird. Die Frage aber, ob diese und jene Gestaltung der
Dinge ein Element des höchsten Gutes sein könne, wird immer
leicht zu entscheiden sein, und niemand kann sie abweisen. Also
auch für den Zusammenhang der Wissenschaften und für den
kritischen Gebrauch der Ethik im Leben überhaupt, am meisten
aber in seinen größten Verhältnissen, ist es wichtig, diese Be-
handlungsweise derselben in der Schule wieder geltend zu machen
und womöglich der Vollkommenheit näher zu bringen.
SO"
über den Begriff des höchsten Gutes.
Zweite Abhandlung.
Gelesen am 24. Juni 1830.
Bei der ersten Abhandlung über diesen Gegenstand, welche
ich bereits im Jahre 1827 die Ehre hatte der Akademie vorzulesen,
kam es mir vornehmlich darauf an, den Ort dieses Begriffs mög-
lichst festzustellen, das Schwankende in seiner Anwendung zu be-
seitigen, und auf den Vorteil, welchen die Ethik aus einem er-
neuerten Gebrauch desselben ziehen könnte, aufmerksam zu
machen; hingegen mich über den Inhalt selbst zu verbreiten, war
nicht meine Absicht. Je weniger ich indes voraussah, daß ich bald
zu dem Gegenstande würde zurückkehren können: um desto weni-
ger konnte ich mich enthalten, mindestens einige Andeutungen
über denselben einzustreuen. Diese konnten aber ihrer ganzen
Stellung wegen nicht so ausgestattet werden, daß jeder Leser
schon selbst alle Einwendungen, die sich ihm darboten, mußte
zurückweisen können, oder daß es auch einem Wohlwollenden
könnte leicht geworden sein, sich aus dem Gesagten auch
nur die ersten Umrisse eines bestimmten Bildes zu gestalten. Da-
her mußte ich den Entschluß fassen, diesem Mangel späterhin
auf irgendeine Weise abzuhelfen, und mir zugleich die Erlaubnis
[111,2,470] Begriff des höchsten Gutes. II. 469
erbitten, jene Abhandlung lieber bis dahin von der öffentlichen
Bekanntmachung zurückzuhalten. Eine genügende ins einzelne
ausgeführte Darstellung aber würde ein Werk sein von nicht
unbedeutendem Umfang; und da es auch von strengerem systema-
tischen Charakter sein müßte, als die Form einzelner Abhand-
lungen gestattet: so halte ich es auch nicht für angemessen,
es auf eine Reihe von akademischen Abhandlungen anzulegen,
in der sich das Ganze erschöpfen ließe. Denn es scheint mir
gegen die Natur unserer Arbeiten und der Art wie wir sie dem
Publikum mitteilen, wenn wir, gleich einer immer wieder ab-
gebrochenen Erzählung, die durch eine Reihe von Tageblättern
hindurchgeht, ein größeres Ganze durch mehrere Jahrgänge zer-
stückeln wollten. Daher kann ich auch nur die ersten Qrundzüge
hier aufstellen, so wie sich mir die Veranlassung dazu aus der
ersten Abhandlung ergibt; und kann mir höchstens nur die Aus-
sicht offen lassen, in der Folge vielleicht einzelne Teile, zwar in
Beziehung auf diese Grundzüge, aber doch so zu bearbeiten,
daß jeder von den andern unabhängig und für sich allein ver-
ständlich sei.
Dieses nun nehme ich zuerst als abgemacht aus jener Ab-
handlung herüber, daß es immer ein Mißverständnis gewesen ist,
ein sehr altes freilich und sehr weit verbreitetes — denn es kommt
fast in allen griechischen Schulen vor — wenn man gefragt hat,
was das höchste Gut für den einzelnen Menschen sei. Vielmehr
würde immer richtiger gesagt werden, der einzelne Mensch habe
Teil an den verschiedenen Teilen des höchsten Gutes, ohne daß
irgendeiner von diesen mehr als der andere das höchste Gut für
ihn sein könne, weder derselbe Teil für alle, noch für einige
dieser, für andere jener. Oder wenn man doch sagen wollte, weil
der einzelne an allen Teilen desselben teilhabe, so trage er
auch das Ganze, wenn auch nicht ausschließend, sondern mit allen
gemeinschaftlich in sich: so würde hiervon noch in weit höherem
Grade dasselbe gelten, was der platonische Sokrates von der
470 Begriff des höchsten Gutes. II. [111,2,471]
Gerechtigkeit beiiauptet, daß ihre Erscheinung in dem einzelnen
ein unendhch kleines Abbild sei, und daß wir daher, um es ge-
nau zu erkennen, das geistige Auge, damit es nicht durch die
Anstrengung geblendet werde, einem andern Gegenstand zuwen-
den müssen, wo dasselbe im großen anzuschauen ist. Dieser
hellere Ort aber ist nicht eine ebenso beschränkte menschliche
Gemeinschaft wie der platonische Staat, sondern vollständig ge-
schaut kann das höchste Gut nur werden in der Gesamtheit des
menschlichen Geschlechts, mithin ist auch dieses nur der wahre
und eigentliche Ort desselben. Ja ich möchte gleich hinzufügen,
auch dieses nicht etwa so wie man es sich denken könnte getrennt
oder trennbar von der Erde, sondern in seiner Zusammengehörig-
keit mit dieser. Denn da wir es hier mit dem schlechthin Realen
zu tun haben: so würden von einer solchen abstrakten Voraus-
setzung aus auf jede Frage nur fantastische Antworten können
gegeben werden. Wir haben hier das menschliche Geschlecht nicht
zu betrachten als eine Gesamtheit vernünftiger Wesen überhaupt,
sondern als die in dieser Organisation und unter den Bedingun-
gen dieses Weltkörpers lebende Vernunft; und was sonst auch
von Gott gesagt worden ist, er sei deshalb vollkommen, weil er
so ganz sei, daß alles in ihm ist, das gilt in diesem Sinne von
dem höchsten Gut; es ist vollkommen, weil es so das Ganze ist,
daß alles in ihm ist. Die Gesamtwirkung der Intelligenz auf
dieser Erde vermittelst der menschlichen Organisation ist es, die
wir uns auseinanderzulegen haben, als wäre sie so vollendet,
daß sie sich mit denselben Zügen nur immer wieder zu erneuern
brauchte. Diese ist das höchste Gut, ein vollkommen abgeschlos-
senes Ganze, wie unser Weltkörper ein im Raum Abgeschlossenes
ist, so daß auch alle menschHche Tätigkeit über den Umfang
desselben hinaus nicht reichen kann; und ein vollkommen erfüll-
ter Raum ist es, daß ich mich so ausdrücke, ohne gleichsam leere
Zwischenräume und ohne einander auf nichts bringende Gegen-
sätze, wenn alle Vernunfttätigkeit mit ihrer Wirkung gegeben ist.
[111,2,472] Begriff des höchsten Gutes. II. 471
Wobei allerdings dieses vorausgesetzt wird, daß alle Vernunft-
tätigkeit, auch die verschiedensten und einander relativ entgegen-
stehenden nicht ausgeschlossen, unter sich kompossibel; jede
Tätigkeit aber, welche die Abzweckung hätte, Vernunfttätigkeiten
oder deren Wirkungen aufzuheben, keine Vernunfttätigkeit sei.
Diese, allerdings die ethische Grundvoraussetzung, ist aber auch
nichts anderes als die uns allen ursprünglich einwohnende Über-
zeugung von der Identität der Vernunft in allen. Wenn wir nun,
wie in jener Abhandlung gezeigt ist, hier nicht die Vernunft-
tätigkeit als bloß inneren Impuls oder als Willensbestimmung
isoliert, sondern mit ihrer Wirkung als eins zu betrachten haben,
wie diese überwiegend bald als Tat, bald als Werk erscheint: so
müssen wir auch, weil uns die Intelligenz nur als dem mensch-
lichen Geschlechtsleben anhaftend gegeben ist, vermöge derselben
Grundvoraussetzung das ganze System von Vernunfttätigkeiten
als sich immer erneuernd und von jeder Generation stetig auf-
genommen denken. Demnach hat jede Generation in dieser Hin-
sicht drei aufeinander folgende, aber auch miteinander bestehende
Verrichtungen; zuerst entwickelt sich ihre Intelligenz an der des
früheren Geschlechtes, dann ist sie selbst fortbildend wirksam in
dem gegebenen Raum, und zuletzt überliefert sie anregend ihre
Tätigkeit an die in der Entwicklung noch begriffene Generation.
In diesem ganzen Vernunftleben ist nun freilich jede sittliche
Handlungsweise, ja jeder sittliche Moment ein Bestandteil; aber
nicht jedes solches Element werden wir mit dem Namen des
Ganzen ein Gut benennen, sondern nur solche Bestandteile, welche
auch dem Ganzen ähnlich, ebenfalls einen — wenn auch nur
beziehungsweise abgeschlossenen — Inbegriff von verschiedenen,
auch beziehungsweise entgegengesetzten Tätigkeiten bilden,
welche sich in demselben Umfang stetig erneuern. Denn nur
beziehungsweise wird jedes von diesen Gütern ein solcher In-
begriff sein dürfen, nämlich so daß jedes als für sich unvollständig
einer Ergänzung bedarf, wenn doch das vollständige, nämlich das
472 Betriff des höchsten Gutes. II. [111,2, 473]
höchste Gut, nicht eine Zusammenstellung von ihnen als gleichen,
sondern ein Inbegriff von ihnen als ungleichen sein soll. So ist
ja auch in jedem Leibe jedes Glied eine Ergänzung der übrigen,
so in jedem Staat ein jeder Stand eine Ergänzung der andern,
so in jeder Familie jedes Einzelwesen eine Ergänzung der übri-
gen, indem jedes sich erst ganz entwickelt und ganz erkannt wer-
den kann in seinen Relationen zu allen andern. Und aus eben
dem Grunde, wenn sich ein solcher partieller Inbegriff von Ver-
nunfttätigkeit seiner Wirkung nach beschränkt auf einen bestimm-
ten Raum, während andere gleicher Art andere Räume einneh-
men, wie das mit den Familien der Fall ist im kleinen und mit
den Völkern im großen, darf auch diese Beschränkung nicht eine
schlechthinige, sondern muß teilweise wenigstens aufgehoben sein.
Denn wie ein Volk nur besteht nicht aus den Familien einzeln,
sondern nur durch die Gemeinschaft der Familien: so besteht auch
die Menschheit und hat ihr wahres Dasein nicht durch die Völker
einzeln, sondern erst in ihrer möglichst innigen Gemeinschaft.
Soll nun das höchste Gut auf diese Weise beschrieben wer-
den können: so muß einerseits nachzuweisen sein, wie die Ver-
nunfttätigkeit sich differentiiert und auseinandergelegt, auf der
anderen Seite aber auch, wie das durch die Vernunfttätigkeit
anzufüllende Gesamtgebiet sich in Beziehung auf dieselbe gleich-
falls sondert oder zusammenfaßt. Ehe wir aber den hierüber in
der früheren Abhandlung gegebenen Andeutungen weiter nach-
gehen, muß ich noch einmal auch auf den dortigen Anfangspunkt
zurückkommen, daß nämlich das Eingetretensein der Intelligenz in
die Lebensentwicklung der Erde oder die Vernünftigkeit der
menschlichen Gattung, und zwar als die einzige hiesige Art zu
sein der Vernunft, vorausgesetzt wird. Hiermit soll keinesweges
irgendeine kosmologische oder metaphysische Prämisse über das
Verhältnis des Sittlichen zu dem lediglich Natürlichen, oder des
Geistigen zu dem lediglich Leiblichen erschlichen werden; viel-
mehr wollen wir unser Gebiet in dieser Hinsicht nur möglichst
[111,2, 474] Begriff des höchsten Gutes. II. 473
vollständig isolieren. Sollte auf der einen Seite behauptet werden,
die Vernunft sei überall nur das Resultat von der Entwicklung
des organischen leiblichen Lebens: so werden wir nur sagen,
wie die Vernunft geworden sei — wenn dieser Ausdruck, sei es
auch nur hier, erlaubt ist — das gelte uns gleich; das Geworden-
sein derselben aber sei der Wendepunkt in der Geschichte der
Erde, mit welchem das Sittliche erst beginne, und von welchem
an auch erst von einem Gut die Rede sein könne. Wollte im Gegen-
teil behauptet werden, die Intelligenz sei schon von vorneherein
und von unten auf das den Stoff Gestaltende und namentlich auch
das die organischen Zustände Hervorrufende gewesen, und finde
nur sich selbst nicht eher als auf diesem Punkt dem menschhchen
Organismus: so werden wir nur sagen, jene früheren Wirksam-
keiten wären nur nicht sittliche, sondern anderer Art, und nur
das Sich-selbst-gefunden-haben der Intelligenz sei es, wovon die
sittliche Wirksamkeit ausgehe. Und so bleibt auch jetzt das er-
neuernde Entstehen der menschlichen Organisation an und für sich
betrachtet von unserm Gebiet ausgeschlossen. Denn die Ge-
schlechtsvermischung zum Behuf der Erzeugung ist freilich ein
sittliches Element, die Erzeugung aber als unabhängig vom Willen
ist keines. Und daß die Anordnung der Geschlechtsverhältnisse
eine sittliche Aufgabe ist, und Abnormitäten in der Bildung eines
neuen Geschlechtes Folgen sein können von Mängeln an irgend-
einem sittlichen Ort, versteht sich von selbst. Aber an und für
sich betrachtet liegt das Entstehen neuer Organisationen außer-
halb unseres Bereichs. Mag sich die geistige Kraft bei der Ent-
wicklung der Organisation im embryonischen Zustande verhalten
wie es auch sei: das gewordene intelligente Einzelwesen tritt in
unser Gebiet erst ein, wenn es ans Licht tritt, und so wie es
dann schon, uns unbewußt, geworden ist. — Eine ähnliche Be-
wandtnis hat es noch mit einer andern dort aufgestellten Behaup-
tung, daß nämlich dem Menschen gebühre, in dem vollkommen-
sten Sinne des Wortes Gattung zu sein, so nämlich, daß jeder
474 Begriff des höchsten Gutes. II. [111,2, 475 ]
' einzelne nicht nur durch seine Stellung in Raum und Zeit von
1 allen andern verschieden ist, sondern auch auf rein geistige Weise
lals eine eigentümliche Modifikation der, wenngleich in allen selbi-
'gen, Intelligenz. Denn man könnte denken, alle Sätze, auf welche
diese Voraussetzung Einfluß hat — und dieser erstreckt sich,
wie wir sehen werden, durch das Ganze hindurch — wären für
diejenigen verloren, welche geneigt sind, eine anfängliche Gleich-
heit unter allen Menschen anzunehmen und alle Verschiedenheiten
nur aus den äußeren Verhältnissen zu erklären. Wir können
auch dieses streitig lassen; denn das wird nicht geleugnet werden
dürfen, daß die Hauptzüge des eigentümlichen Daseins schon
festgestellt sind, ebensogut als ob sie angeboren wären, ehe der
einzelne seinen eigenen Ort in der sittlichen Welt einnimmt, so
daß wir ihn auffordern, sich diesen Ort nach Maßgabe jener zu
suchen und zu bestimmen. Wir können daher beides zusammen-
fassen in eine und dieselbe Voraussetzung, daß immer schon die
Vernunft in der menschlichen Organisation gegeben sein muß,
wenn das höchste Gut werden soll, und daß immer schon eigen-
tümliche Natur gegeben ist, durch w^elche es werden muß.
Um aber den Inhalt unseres Begriffs näher zu ermitteln,
ist, soweit dies einerseits von einer Zerteilung der Vernunft-
tätigkeit ausgehen muß, dort nichts weiter angedeutet, als daß
sie in zweierlei zerfalle, daß alles Sein in Bewußtsein aufgenom-
men, und daß allem Sein das Wesen des Geistes eingebildet
werde. Wenn hierdurch auf der einen Seite insofern etwas Voll-
ständiges gegeben ist, als Sein und Bewußtsein dann ineinan-
der aufgehen: so scheint es doch, als ob in der ersten Tätigkeit,
durch welche nämlich das Sein in Bewußtsein aufgenommen
wird, doch nur das beschauliche Leben, oder vielleicht auch das
genießende, von der dritten griechischen Lebensweise aber, der
tätigen in der andern Vernunfttätigkeit, welche dem Sein das
Wesen des Geistes einbildet, nur der eine Teil, nämlich das
eigentlich künstlerische Leben ausgesprochen wäre, das praktische
[111,2, 476] Begriff des höchsten Gutes. II. 475
aber gänzlich vernachlässigt. Indes wird dieser Schein der Un-
vollständigkeit vielleicht verschwinden, wenn wir jene Formeln
durch ein paar andere erläutern, in welchen umgekehrt das dort
Vernachlässigte vornämlich hervorgehoben wird, und deren Iden-
tität mit jenen sich doch leicht nachweisen läßt.
Ist nun das lebendige Sein der Vernunft in der Organisa-
tion der schon immer vorausgesetzte Punkt, die Gesamtwirksam-
keit der Vernunft aber in allem irdischen Sein der angestrebte:
so ist auch alles, was von jenem ersten aus zu diesem letzten hin-
geht, das Werden des höchsten Gutes. Ein solches Hinübergehen
ist aber nur möglich unter der Voraussetzung lebendiger Bezie-
hungen zwischen der ursprünglich mit der Vernunft geeinigten
Organisation und der übrigen Natur, als welches die physische
Grundvoraussetzung für unsern Begriff ist; und das Werden des-
selben ist nicht anders anzuschauen als durch diese Beziehungen.
Wie nämUch anfangs der menschliche Leib ausschließlich mit der
Vernunft geeinigt ist, alles andere aber nicht: so tritt dann all-
mählich dies und jenes von diesem letzten, mittelst jener Bezie-
hungen an den Leib sich anschließend, in dieselbe Verbindung
mit der Vernunft, die hierauf mit diesem gleichermaßen auf das
übrige wirkt usf. Indem nun die jedesmal schon geeinigte
äußere Natur sich zu der noch nicht geeinigten verhält wie die
ursprünglich geeinigte Organisation zu der Gesamtheit des irdi-
schen Seins, für welche die Einigung mit der Vernunft angestrebt
wird: so ist also jene durch ihre erfolgte Vereinigung auch für
die Vernunft organisiert; und die Tätigkeit, welche dieses be-
wirkt, läßt sich nicht besser bezeichnen, als durch den Ausdruck,
die organisierende. In dieser Tätigkeit, wie sie von dem
Vorhergeeinigtsein der Vernunft und der Organisation ausgeht,
ist die Vernunft ebenso das bewegende Prinzip, als wenn sie
es auch schon bei der ursprünglichen Bildung der Organisation
selbst gewesen wäre; und die jedesmal schon angebildete Natur
verhält sich gemeinschaftlich mit der ursprünglichen Organisation
476 Begriff des höchsten Gutes. II. [111,2,477]
in dieser Tätigiveit so als Organ der Vernunft, als wäre auch
die ursprüngliche Organisation eine solche durch die Vernunft
als bewegendes Prinzip ihr angebildete Natur. Daher ist das Ende
dieser Wirksamkeit, mithin die hierher gehörige Seite des höchsten
Gutes, nichts anderes, als das möglichste Organisiertsein der
gesamten irdischen Natur für die geistigen Funktionen des Men-
schen. Wie aber die Vernunft nur in der Organisation gegeben
ist, so ist sie auch in dem Gegensatz der Geschlechter und in der
Gesamtheit der Einzelwesen aufeinander folgender Generationen
gegeben; mithin ist ein Gesamtwirken der Vernunft nur mög-
lich, insofern die in der einen Organisation eingeschlossene Ver-
nunfttätigkeit auch vermag, die in andern Organisationen ein-
geschlossenen, und zwar als handelnde, mit ihren Wirkungen zu
erkennen und anzuerkennen. Die Möglichkeit, jene Seite des höch-
sten Gutes auch nur als Werdendes zu realisieren, d. h. die Mög-
lichkeit der organisierenden Aufgabe überhaupt, beruht also da-
rauf, daß es Vernunfttätigkeiten gebe, wodurch die Vernunft sich
selbst erkennbar macht; sie kann das aber nur in einem andern,
mithin auch nur in dem irdischen Sein, in welches sie als mensch-
liche Seele gesetzt ist. Nun ist aber ein gewöhnlicher Ausdruck
für dasjenige, worin ein anderes, zumal für das Leibliche, worin
ein Geistiges erkannt werden kann, der, daß jenes ein Symbol
für dieses sei. Wir werden daher unsere zweite Vernunfttätig-
keit füglich durch den Namen der symbolisierenden bezeich-
nen können. Nun ist auch schon das Gattungsleben als solches
nicht denkbar, wenn nicht die Vernunft der Eltern in Gestalt und
Bewegung der Kinder sich selbst erkennt; und so auch kein Ver-
hältnis gleichzeitiger, wenn sie sich nicht untereinander erkennen.
Dieses also ist der Anfang des Werdens für diese Seite des höch-
sten Gutes; und das Ende wäre dieses, wenn die gesamte Ver-
nunft sich manifestierte in der gesamten Natur, so daß alle Ver-
nunft erkannt würde und alle irdische Natur in diese Kund-
machung einginge. Nehmen wir nun aber beide Tätigkeiten zu-
[111,2,478] Begriff des höchsten Gutes. II. 477
sammen: so können wir nicht dabei stehen bleiben, daß die orga-
nisierende nur bedingt sei durch die symbolisierende. Vielmehr
ist nicht nur ebenso die symbolisierende bedingt durch die organi-
sierende; denn die Vernunft muß sich erst in der ursprünglichen
Organisation tätig zeigen, das heißt sie sich selbsttätig aneignen,
ehe sie in ihr auch nur im mindesten erkannt wird; sondern sie
organisiert auch nur zum Behuf dieser vollständigen Anerkennung
ihrer selbst in allem ihr vorliegenden Sein. Daher, wenn wir die
Frage aufwerfen wollten, ob es außer diesen beiden noch andere
Vernunfttätigkeiten gebe, durch welche dem höchsten Gut Ele-
mente zugeführt werden können oder nicht; und wir besännen
uns nun darauf, was wohl noch zu verrichten übrig wäre, oder
was derjenige noch wünschen könnte, der ganz im Interesse der
Vernunft lebt, wenn dies beides vollbracht wäre, daß die ganze
Vernunft sich überall manifestierte, und daß alles ihr Erreichbare
ihr auch zum Organ diente: so würde, glaube ich, nichts gefun-
den werden können. Denn nehmen wir z. B. die höchste Ent-
wicklung des Denkens in der Wissenschaft, so ist diese doch durch
die Sprache vermittelt, und ist nur die höchste Manifestation der
Vernunft in dieser und die Hinwegräumung alles Vernunftwidri-
gen aus derselben. Ja alles, was wir nach dieser Seite hin als
größere Entwicklung ansehen, ist eigentlich doch immer nur Ent-
wicklung der Manifestation der Vernunft in diesem Organ; und
ist um so mehr nur so zu betrachten, als wir das Wissen an
und für sich als überall eines und sich selbst gleich voraussetzen.
— Und nun wird sich uns auch die Ausgleichung zwischen die-
sen beiden Formeln und den zuerst aufgestellten bald ergeben.
Dasjenige nämlich, um hiermit anzufangen, was in den ersten
beiden Formeln am meisten vernachlässigt zu sein schien, ist hier
vorzüglich wohl bedacht; denn alle Gewerbstätigkeit im Volks-
leben, sowie alle Staatsverwaltung, geht doch nur darauf aus,
die Natur auf das vollkommenste als Werkzeug für den Men-
schen auszubilden, und alles überhaupt wird hierher zu rechnen
478 Begriff des höchsten Gutes. II. [111,2,479]
sein, worauf die tätige Lebensweise es am meisten anlegt. So
wie auf der anderen Seite alles, was wir am meisten Kunst nen-
nen, auf eine solche Belebung der Natur hinwirkt, durch welche
am vollkommensten die Intelligenz in ihrem eigentümlichen Wesen
erkannt wird. Haben wir also, was sich leicht noch weiter
ausführen ließe nichts aufzuweisen was zum höchsten Gut ge-
hörig außerhalb dieser beiden Formeln läge: so müssen auch jene
beiden früheren, das Sein ins Bewußtsein aufnehmen und das
Bewußtsein dem Sein einbilden, wenigstens in diesen beiden ent-
halten sein. Aber es ergibt sich auch leicht, daß sie ganz in
ihnen aufgehen und sie auch ganz ausfüllen. Denn auf der
einen Seite muß das Bewußtsein allem eingebildet sein, woran
die Vernunft handelnd soll erkannt werden, und alles, dessen sich
die Intelligenz als Organ bedient, kann auch nur daran, daß
ihm Bewußtsein eingebildet ist, von dem mit der Intelligenz
noch nicht verbundenen Sein unterschieden werden; auf der an-
deren Seite kann überhaupt die Vernunft sich nur irgendwie an
etwas manifestieren, sofern sie Sein ins Bewußtsein aufgenom-
men; und alles, was sie sich als Organ angeeignet hat, muß
auch, indirekt wenigstens, in ihr Selbstbewußtsein auf dieselbe
Weise aufgenommen sein, wie die ursprüngliche Leiblichkeit darin
aufgenommen ist.
Um aber zu übersehen, wie der Gesamtzustand der mensch-
lichen Dinge, sofern darin das höchste Gut wird, auf diese Tätig-
keiten zurückzuführen ist, müssen wir noch zweierlei auch schon
Erwähntes mit dem Bisherigen in nähere Verbindung bringen.
Das erste ist dieses. Gehört es nämlich zur Vollkommenheit der
menschlichen Gattung als solcher, daß jedes organische Einzel-
wesen auch qualitativ durch seine Mischungs- und Gestaltungs-
verhältnisse von den andern verschieden sein müsse: so ist auch
die Vernunft in jedem schon vor aller sittlichen Tätigkeit mit
diesem. Eigentümlichen geeinigt; mithin muß auch die nachfol-
gende Tätigkeit das Gepräge dieser Eigentümlichkeit an sich tra-
[111,2,480] Begriff des höchsten Gutes. II. 479
gen. Demohnerachtet aber bleibt die Vernunft selbst in allen eine
und dieselbige, und auch diese Selbigkeit muß sich in allen Tätig-
keiten offenbaren. Beides ist nun freihch entgegengesetzt; aber es
darf nur beziehungsweise, nicht eines das andere aufhebend, son-
dern sich miteinander verbindend, entgegengesetzt sein. Hierbei
bleibt natürlich die größte Mannigfaltigkeit des Verhältnisses vor-
behalten, so daß das eine mit dem andern im Gleichgewicht sein
kann, oder auch das Eigentümliche an dem Identischen als Mini-
mum und umgekehrt. Sonach wird auch die organisierende und
symbolisierende Tätigkeit in allen ihren verschiedenen Beziehun-
gen eine andere sein, wenn überwiegend den einen oder den an-
deren Charakter an sich tragend. Jede eigentümliche aber ist als
solche von den gleichartigen ursprünglich geschieden, die iden-
tische hingegen auch mit den andern einzelnen ursprünglich eines;
mithin kann es eine Gesamtwirkung der Vernunft als einen In-
begriff aller Tätigkeiten nur geben unter der Form einer Ge-
meinschaft der auf jene Art verschiedenen und einer Sonderung
der auf diese Art identischen. Das andere ist dieses. Geht alle
Vernunfttätigkeit aus von der ursprünglichen, jedesmal vor aller
eigenen sittlichen Tätigkeit schon gegebenen Einigung der In-
telligenz mit der einzelnen Organisation; und ist sie in dem Be-
griff des höchsten Gutes ein auch äußerlich Vollständiges, sofern
abgeschlossen auf dem Umfang unseres Weltkörpers: so muß es
auch, weil äußerlich jedes Einzelwesen von dem anderen geschie-
den ist, eine ursprüngliche Gemeinschaft des Geschiedenen, und
weil an und für sich das Verhältnis der menschlichen Organisa-
tion zur Erde nur eines und dasselbe ist, eine ursprüngliche Schei-
dung dieses Identischen geben. Jene erfolgt vermittelst der Art,
wie das Einzelwesen wird durch Erzeugung; denn die Gleichheit
der Abstammung ist eine ursprüngliche Gemeinschaft der als Ein-
zelwesen ursprünglich Geschiedenen. Die ursprüngliche Scheidung
des Identischen ist gegeben in der klimatischen Differenz der ver-
schiedenen Regionen des Weltkörpers, vermöge welcher auch die
480 Begriff des höchsten Gutes. IL [111,2,481]
menschliche Organisation sich differentiiert in allen den verschiede-
nen Funktionen, durch welche die Vernunfttätigkeit hindurchgeht.
Dieses zusammengenommen ist also die schon gegebene Natur-
bedingung, vermittelst welcher das höchste Gut als Gesamt-
wirkung der Vernunft unter der Form von Sonderung und Ge-
meinschaft innerhalb dieses Naturganzen unseres Weltkörpers
möglich ist; so daß das Maximum des Verhältnisses der mensch-
lichen Organisation zu dem Weltkörper selbst das Maß desselben
ist. Wird nun das höchste Gut in dem Inbegriff von einzelnen Gü-
tern, welche nur als Abbilder von jenem an diesem Namen teil-
nehmen: so wird auch das höchste Gut nicht nur die Nebenein-
anderstellung, sondern auch die Gemeinschaft von diesen sein müs-
sen, jedes einzelne also auch als Abbild des Ganzen zwar ein
Abgeschlossenes, aber als die Gemeinschaft mit den Gleichartigen
sich vorbehaltend nur ein beziehungsweise Abgeschlossenes. Jedes
beziehungsweise für sich bestehende Naturganze aber, in welchem,
als einem Bestimmten und Gemessenen, die sich selbst gleiche und
überall selbige Vernunft zu einer Besonderheit des Daseins wird,
als zugleich Mittelpunkt einer eigenen Sphäre von Vernunft-
tätigkeiten und deren Wirkungen, zugleich aber auch Gemein-
>! Schaft anknüpfend, nennen wir eine Person; und jeder die Gegen-
sätze in sich vereinigende Inbegriff von Tätigkeiten ist nur ein
Gut und ein Ort innerhalb des höchsten Gutes, insofern ihm in
diesem Sinn eine Persönlichkeit zukommt.
Es wird in dem Umfang dieser Abhandlung nur noch mög-
lich sein, in Beziehung auf das eben Gesagte den Inhalt der bei-
den wesentlichen Vernunfttätigkeiten ihren ersten Grundzügen
nach darzulegen. Dies kann freilich manchen Sätzen den Schein
geben, als knüpften sie nicht genau an, und wären also auch
nicht hinreichend begründet; allein dieser würde bei einer genaue-
ren Ausführung, die aber ein jeder leicht selbst ergänzen kann,
unfehlbar verschwinden. Betrachten wir zuerst die organisierende
oder anbildende Tätigkeit, und zv/ar überwiegend unter dem
[111,2, 482] Begriff des höchsten Gutes. II. 481
Charakter, wie sie überall und in allen dieselbige ist: so kommt
auch schon die Ausbildung der Leiblichkeit eines einzelnen für die
Vernunft nur in der Gemeinschaft der Generationen, wodurch
sich also die FamiHe als der ursprüngliche Ort dieser Tätigkeit
bewährt, zustande, und zwar als zusammengesetzt aus Angeerb-
tem oder Mitgeborenem und Eingeübtem. Handelt dann der ein-
zelne in der Familie oder die aus solchen einzelnen bestehende
Familie auf die noch nicht angebildete Natur: so wird jede solche
Handlung etwas zu dem Organismus der Intelligenz hinzufügen;
aber nur soweit wird dies ein und derselbe Bildungsprozeß sein,
als die bildende geistige Natur dieselbe ist, und auch allen die-
selbe zu bildende leibliche Natur zugewendet. Soll aber dieses
Gebiet ein Gut sein: so dürfen nicht nur die einzelnen gleich-
mäßig nebeneinander bilden, sondern ihre bildenden Tätigkeiten
müssen sich aufeinander beziehen, mithin der Prozeß ein gemein-
schafthcher sein. Nun ist jede naturbildende Tätigkeit, sofern
sie an die Persönlichkeit anreiht, Erwerbung, und das Resul-
tat Besitz; teilweise Aufhebung des Besitzes für die Gemein-
schaftlichkeit des Bildungsprozesses ist Verkehr, und gegensei-
tige Bedingtheit beider, der Erwerbung und der Gemeinschaft
durcheinander, ist der Rechtszustand. In der Einheit des höch-
sten Gutes ist also notwendig zu setzen ein über die ganze Erde
verbreiteter Rechtszustand. Wäre jedoch dieser nur ein gleich-
mäßiges Verhältnis jedes einzelnen zu allen oder jeder Familie zu
allen, nur in seiner Fruchtbarkeit verschieden nach Maßgabe ihrer
Entfernung voneinander: so wäre nirgend bestimmte Sonderung,
indem es alsdann kein anderes für sich bestehendes Naturganze
gäbe, als die Familie; diese aber muß auf den Gesamtumfang
der Vernunfttätigkeit bezogen als ein unendlich Kleines ver-
schwinden, so daß das Ganze nur als ein Aggregat aus unend-
lich kleinen verschiedenen Elementen, mithin chaotisch erschiene.
Gehen wir aber den schon gegebenen Naturdifferenzen nach: so
finden wir von der klimatischen Verschiedenheit aus in jeder Volks-
Schleiermacher, Werke. I. 31
482 Begriff des höchsten Gutes. II. [111,2, 483]
tümlichkeit ein durch Identität der Abstammung und durch Zu-
sammengehörigkeit des Eigentümlichen relativ abgeschlossenes
Bildungsgebiet, mithin auch für das Verwandtere einen bestimmt
gebundenen und von dem Fremden bestimmt gesonderten Rechts-
zustand, gleichviel ob unter der loseren Form einstimmig anerkann-
ter Sitten und Gebräuche oder unter der festeren des Gesetzes und
der bürgerlichen Ordnung. Innerhalb dieses Ganzen nun finden
wir, daß in der FamiUe der Gegensatz von Besitz und Gemein-
schaft sich für ihre einzelnen Glieder verliert, außerhalb der Volks-
begrenzung aber erscheint ein die Gemeinschaft der Völker reprä-
sentierendes, eben deshalb aber, verglichen mit jenem, auch nur
vereinzeltes und zerstreutes Verkehr, sei es nun unter der loseren
Form der ungesicherten Zulassung oder unter der festeren des
Vertrages.
Gehen wir nun zurück und fassen dieselbe Tätigkeit ins
Auge, so wie jedes menschhche Einzelwesen ein eigentümliches,
von allen andern verschiedenes ist: so ist auch jedes in seiner an-
bildenden Tätigkeit ursprünglich von allen andern geschieden und
mit den Wirkungen derselben in sich selbst abgeschlossen. Diese
Abgeschlossenheit begründet die Unübertragbarkeit des so Ange-
eigneten. Das schlechthin und ursprünglich Unübertragbare, mit
dem Einzelsein des Geistigen unzertrennHch Verbundene ist daher
der Leib. Diese ursprüngliche leibliche Geschiedenheit der Einzel-
wesen ist aber in der Familie schon zu einer mögUchen Gemein-
schaftlichkeit vermittelt durch die Identität der Abstammung, in-
dem die Leiblichkeit der Geschwister abgeleitet ist von der Leib-
lichkeit derselben Eltern. So wie sich diese schon in der Orga-
nisation an und für sich zu erkennen gibt durch die Familien-
ähnlichkeit: so gibt es auch in der Familie eine eigentümliche
Gemeinschaft der anbildenden Tätigkeit, und die Erzeugnisse der-
selben möchte ich — im Gegensatz gegen das, was wir nur Be-
sitz genannt haben, worin aber, was im gewöhnlichen rechtlichen
Sinn Eigentum heißt, mit eingeschlossen ist — in einem präg-
[111,2, 484] Begriff des höchsten Gutes. II. 483
nanteren Sinne des Wortes Eigentum nennen, dasjenige da-
runter verstehend, was beinahe ebensowenig als der Leib selbst
ein Gegenstand des Verkehrs sein darf, weil es nicht über-
tragen werden kann, ohne von seinem sittlichen Wert zu verlieren.
Wäre nun jede Familie mit diesem, wir wollen sagen zurück-
gesetzten, das heißt außerhalb des Verkehrs gestellten, Eigen«
tum gänzlich isoliert: so wären diese Ergebnisse der eigentüm-
lichen Tätigkeit in dem Gesamtumfang des höchsten Gutes nur
in einem leeren Nebeneinandersein gegeben, so daß jedes für
sonst niemand da wäre; und das will fast sagen, dieser Zweig
der Vernunfttätigkeit wäre aus der Einheit des höchsten Gutes
ausgeschlossen. Nun aber gibt es auch hier ein größeres Natur-
ganze als das der Familie ursprünglich schon in der Volkstüm-
lichkeit der Organisation, welche, wenn wir sie im großen be-
trachten, klimatisch bedingt ist durch die Beschaffenheit des Bo-
dens, den ein Volk einnimmt. Daher auch abgesehen von gro-
ßen geschichtlichen Entwicklungsknoten, welche in ein ethisches
Verständnis aufzulösen nicht dieses Ortes sein kann, ein Volk
sich nicht trennt von seinem Wohnsitz. Dieser ist daher der all-
gemeinste Gegenstand der volkstümlichen bildenden Tätigkeit,
aus welchem sich die übrigen allmählich entwickeln, und daher
auch mehr oder weniger mit ihren Werken untrennbar in dem
Boden wurzeln, oder sich der Persönlichkeit und dem häuslichen
Leben als gemeinsam charakterisierend anschließen. Allein auch
dieses löst für sich noch nicht unsere Aufgabe, indem auch diese
größeren Gebiete, so lange sie streng abgeschlossen sind, auch nur
nebeneinander bestehen und nicht füreinander, mithin das Eigen-
tümliche noch ganz der Gemeinschaft entbehrt. Aber die allge-
meine Selbigkeit der Vernunft, welche durch die Verschiedenheit
des Eigentümlichen niemals kann aufgehoben werden, behauptet
auch hier ihr Recht; und was nicht auf dieselbe Weise, wie es
geworden ist, nämlich als Organ im Verkehr von einem zum
andern hinüber wandern kann, das soll sich wenigstens der frem-
31*
484 Begriff des höchsten Gutes. II. [111,2,485]
den Intelligenz öffnen, um von ihr, so weit es angeht, ins Be-
wußtsein aufgenommen zu werden. Das ist die Bedeutung zu-
nächst der freien, auf Geschäft und Verkehr nicht bezüglichen
Verhältnisse der Geselligkeit, deren Mittelpunkt die Familien sind,
sofern sie vorzüglich die Darstellung des Eigentümlichen, und
zwar ursprünglich des Eigentümlichen der anbildenden Tätig-
keit, wie es überall in dem Innern des Hauswesens zutage
liegt, für die gemeinsame Vernunft beabsichtigen, ebenso aber
auch der Gastf reiheit, sowohl der häuslichen gegen einzelne,
welche nicht dem volkstümlichen Kreise der gemeinsamen Eigen-
tümlichkeit angehören, als auch nicht minder derjenigen, welche
Völker ausüben gegen einzelne, die als Repräsentanten anderer
unter ihnen erscheinen. Und ebenso erklärt sich hieraus das Ver-
langen, welches von jeher einzelne, mit besonderem geschichtlichen
Sinn begabte in die Fremde verlockt hat, nicht um des Gewinns
und des Verkehrs willen, sondern um die abweichenden Gestal-
tungen des menschlichen Lebens kennen zu lernen, und durch
diese Kunde das gemeinsame Leben, dem sie angehören, zu berei-
chern. Auch auf dieser Seite also haben wir an der FamiHe und
dem Volk zwei in verschiedenem Maß für sich bestehende Natur-
ganze, in welchen Abgeschlossenheit und Geselligkeit sich gegen-
seitig bedingen. Innerhalb der Famihe ist das Eigentümliche der
bildenden Tätigkeit immer schon von selbst verstanden, und ein
Volk öffnet seine eigentümliche Abgeschlossenheit andern in dem
Maß, als es schon zu der Voraussetzung entwickelt ist, daß die
in allen selbige Vernunft den Schlüssel zum Verständnis jeder
eigentümlichen Gestaltung in sich trägt, während die Familien
innerhalb des Volks einen unbestrittenen, aber doch durch den
Umfang der gemeinsamen Eigentümlichkeit bedingten Anspruch
haben an die Anschauung aller besondern Gestaltungen der bil-
denden Tätigkeit, die der gemeinsamen Eigentümlichkeit unter-
geordnet sind. Und hierin wäre nun die Beschreibung der anbil-
denden Tätigkeit vollendet; ja wir können sagen, daß wir schon
[111,2,486] Begriff des höchsten Gutes. II. 485
über sie hinausgegangen sind, denn die letzten hier aufgezeigten
Grade scheinen schon mehr zur Manifestation der Vernunft zu
gehören. Allein dies ist wegen der gegenseitigen Bedingtheit bei-
der geistigen Funktionen durcheinander weder zu vermeiden noch
zu verwundern. Andrerseits aber, wenn wir diese Gemeinschaft
der Völker zum Beispiel genauer betrachten: so entsteht sie doch
nicht durch diejenigen, die darin nur passiv sind, indem sie sich
nicht verschließen, sondern durch die aktiven, die mit jenen an-
knüpfen; und nur von derjenigen Gemeinschaft ist hier die Rede,
welche das Resultat einer im Interesse der bildenden Tätigkeit
erfolgten Anknüpfung ist, wodurch diese immer wieder neue Im-
pulse und einen vergrößerten Umlauf erhält.
Ehe wir aber ebenso das Gebiet der symbolisierenden Tätig-
keit durchlaufen, muß zuvor bemerkt werden, daß diese Tätig-
keit ihre Beziehung nicht nur hat auf das räumliche Zerteilt-
sein der Vernunft, sofern sie in den zugleichseienden Einzelwesen
eingeschlossen ist als deren Seele, sondern auch auf die zeitliche
Zerteilung derselben. Denn das zeitliche Leben ist auch seinem
geistigen Gehalt nach ein Aggregat von Momenten, die jeder für
sich sein würden, wie der geistige Gehalt jedes Tages für sich ist,
durch die dazwischen tretende Nacht realiter getrennt von dem
vorigen und folgenden, wenn nicht jeder vorige immer wieder
aufgenommen würde im folgenden. Dieses Zeitlichwerden und
sich als zeitlich Finden und Wiederaufnehmen der Vernunft ist
nun ihr Dasein als Bewußtsein. Das Bewußtsein daher in seiner
ihm wesentlichen Zeitlichkeit ist das ursprüngliche Symbol der
an sich unzeitlichen Vernunft; und die ursprüngliche Aufgabe
für unsere Tätigkeit ist also die, daß die ganze Vernunft Be-
wußtsein werde, eine Aufgabe, die sich, wie in jedem Einzelwesen,
so auch in dem Ganzen des menschlichen Geschlechtes nur all-
mählich realisiert, indem, wenn auch jeder bewußte Moment in
den folgenden wiedei mit aufgenommen wird, doch der eigent-
liche Grund niemals zu erschöpfen ist. Diese Seite der symbo-
486 Begriff des höchsten Gutes. II. [111,2,487]
lisierenden Tätigkeit ist aber von der anderen, die sich der räum-
lichen Zerteilung zuwendet, nicht zu trennen; was dort das Be-
wußtsein ist, das ist hier der durch die Leibhchkeit vermittelte
Ausdruck des Innern oder die Mitteilung des Bewußtseins.
Aber nicht einmal kommt diese als ein Zweites zu dem Bewußt-
sein selbst als einem Ersten hinzu, sondern ursprünglich schon ist
beides eins; denn es gibt keine Form des Bewußtseins, die an-
ders als mit ihrer Leiblichkeit zugleich hervortreten könnte. Der
Gedanke wird erst als Sprechen, wenn auch nur als inneres
und ebenso innerlich vernommenes, wirklich, vorher ist er noch
nicht Bewußtsein; und ebenso ist mit jeder Empfindung schon
das Differential einer mimischen, und mit jedem Affekt das einer
transitiven Bewegung verbunden. Hieraus erhellt zugleich von
vorneherein, wie jeder Moment organisierender Tätigkeit zu-
gleich ein Moment der symbolisierenden wird. Denn jede Tat
ist an sich selbst schon Ausdruck der ihr zum Grunde liegenden
Willensbestimmung, mithin eines Bewußtseins. Aber ebenso
wird auch jeder Moment der symbolisierenden Tätigkeit eine orga-
nisierende; denn jedes wirklich gewordene Bewußtsein ist auch,
insofern es immer wieder aufgenommen werden kann, ein Organ
der Vernunft. Sind nun also gleich beide immer ineinander:
so betrachten wir doch mit Recht alle diejenigen Tätigkeiten als
symbolisierende, die ursprünglich und hauptsächlich als sich ent-
wickelndes Bewußtsein geworden sind. Das Bewußtsein ent-
wickelt sich aber immer nur in der Gemeinschaft der Einzelwesen,
indem ein sich von vorneherein einsam entwickelndes uns nicht
gegeben ist, und auch nicht von uns angeschaut werden kann.
Auch für diese Tätigkeit also ist die Familie der ursprüngliche
Ort; und sowohl in dieser als auch hernach von ihr aus weiter
entwickelt sich das Bewußtsein als ein gemeinschaftlich durch
Reiz und freien Trieb bestimmtes. Unter dem letzten nämlich ver-
stehen wir das Bestimmtsein der Vernunft durch sich selbst zum
Zeitlichwerden, unter dem ersteren den Einfluß, den die Gemein-
[111,2,488] Begriff des höchsten Gutes. II. 487
sdiaft im weitesten Sinne, also auch nicht nur das Wiederauf-
genommensein der eignen früheren Momente, sondern nicht min-
der auch das Gesetztsein in die alle Gemeinschaft der mensch-
lichen Individuen vermittelnde Natur, auf dieses Zeitlichwerden in
jedem Moment ausübt. Betrachten wir nun dieses Werden und
Hervortreten des Bewußtseins unter den beiden entgegengesetzten
Charakteren, dem einen, vermöge dessen sich darin die in allen
Einzelwesen selbige, und dem anderen, vermöge dessen sich da-
rin die in jedem zur besonderen Seele gewordene Vernunft mani-
festiert: so finden wir beide freilich in keinem einzelnen Erzeug-
nis gänzlich getrennt, sondern in jedem Produkt des einen ist auch
der entgegengesetzte, wenn auch nur auf untergeordnete Weise,
mitgesetzt. Denn alles Denken im weitesten Sinne des Wortes,
nicht nur den Begriff, sondern auch die Vorstellung, ja sogar das
Bild d. h. die Insichaufnahme des einzelnen Gegenstandes darun-
ter begriffen, ist allerdings das Werk der in allen selbigen Ver-
nunft, und eben dieses die Grundvoraussetzung aller geistigen
Gemeinschaft. Demohnerachtet aber ist kein einziger Gedanke
oder Bild in dem einen ganz dasselbe wie in dem andern, weil das
Werden derselben in jedem zugleich vermittelt ist durch seine Be-
sonderheit, und auch diese mit auszusprechen hat. Ebenso auf
der anderen Seite ist das zeitliche Selbstbewußtsein jedes einzel-
nen das, was ihn ausschließlich konstituiert, und deshalb an und
für sich schlechthin unübertragbar. Dennoch aber, sofern es natur-
gemäß auch in der organischen Erscheinung der einzelnen her-
austritt, gibt es auch ein Verständnis desselben. Nehmen wir
nun auch dieses aus dem vorher Gesagten hier herüber, daß, wenn
dieses Werden des Bewußtseins in den einzelnen auch im Sinn
der Gesamtvernunft ein Gut sein soll, die einzelnen nicht nur
jeder für sich sich nebeneinander als Bewußte entwickeln dürfen,
sondern nur in einem wahren Zusammenwirken und Aufeinander-
wirken: so setzen wir für die eine Tätigkeit eine Gemeinschaft
des Denkens und Sprechens, worin jedoch die Differenz des Pro-
488 Begriff des höchsten Gutes. II. [111,2, 489]
duktes, und also auch die Hemmung der Gemeinschaft, ins Un-
bestimmte zunehmen kann. Auf dem anderen Gebiet hingegen ist
die Form der Gemeinschaft die, daß nur die Abgeschlossenheit des
einzelnen in seinem besonderen Dasein durch die Manifestation
stufenweise aufgehoben wird. Sind also auch hier Produktivität
und Gemeinschaft durcheinander bedingt, indem nur so die Ver-
nunft sich als Einheit herstellt aus der Zerspaltung in die Ein-
zelwesen: so fordern wir auch hier eine über die ganze Erde sich
verbreitende Wechselerregung und Mitteilung des Wissens, und
ebenso eine überall versuchte wechselseitige Offenbarung und Er-
regung der zeitlichen Selbstbewußtseinszustände, des Gefühls so-
wohl, das heißt der mehr passiven, als auch der freien Verknüp-
fung, das heißt der mehr aktiven. Auch für diese wie für die
erste Tätigkeit ist zwar die Familie der ursprüngliche Ort; aber
auch hier wie dort fallen wir in das Chaotische zurück, wenn die
Gemeinschaft nur besteht in dem unendlichen Aggregat der für
das Verständnis mannigfaltig, aber unbestimmt gegeneinander ab-
gestuften Familien. Die Richtung auf ein bestimmtes Vereini-
gen und Absondern in größeren Massen findet nun auf der
einen Seite, nämlich der des objektiven Bewußtseins, ihre Be-
friedigung in derselben ursprünglichen Naturbegrenzung, wie die
organisierende Tätigkeit. Denn die Verschiedenheit der Spra-
chen, durch welche doch allein das Denken sich mitteilt, hängt
ohnstreitig zusammen mit der klimatischen und volkstümlichen
Verschiedenheit der Organisation. Und wie der menschliche Geist
sich als Bewußtsein nur manifestiert in der Gesamtheit der
Sprachen: so ist für die Gesamtheit der einzelnen diese Mani-
festation nur vollendet in der Gemeinschaft aller Sprachen. Je
vollständiger also jede alles Sein in ihrem Bezeichnungssystem
ausdrückt; und je genauer sich alle anderen Sprachen in jeder
einzelnen abspiegeln: um desto voUkommner ist von dieser Seite
die Vernunft in ihrer Einheit hergestellt aus der Geschiedenheit
[111,2,490] Begriff des höchsten Gutes. II. 489
der Vereinzelung, und dies ist die hierher gehörige Seite des
höchsten Gutes.
Weit schwieriger aber ist es, die Manifestation des Beson-
deren in seiner Eigentümlichkeit ebenso zusammenzufassen. Doch
müssen wir versuchen auch dem Hervortreten des Bewußtseins,
sofern sich darin die eigentümliche Besonderheit ausdrückt, seinen
Gehalt anzuweisen. Im zeitlichwerdenden unmittelbaren Selbst-
bewußtsein nämlich setzt das geistige Einzelwesen sich selbst als
vereigentümlichend das Gemeinsame, oder als verallgemeinernd
das Besondere, indem es besondere Seele in jedem Moment nur
als Vernunft wird, und als in der symbolisierenden Tätigkeit be-
griffen zugleich die Einheit des Seins und Bewußtseins oder
das absolute Schlechthinige in sich trägt, das heißt, es prägt
sich aus als sittliches und frommes Bewußtsein. Und wie Zeit-
liches nicht ohne Ungleichheit ist, auch hierin also Ungleichheit
sein muß : so bezeichnet es sich selbst als in dieser Funktion mehr
oder minder gefördert oder gehemmt. Aber wie dieses höhere
Leben sich in jedem Einzelwesen erst aus den mehr animalischen
Zuständen entwickelt: so wird es auch nur zugleich, indem es
diese ergreift und beherrscht; und diese selbst geben die unmittel-
barste Kunde von ihm. Daher ist es ein und dasselbe Gebiet,
in welchem die sinnlicheren und die geistigeren Lebenszustände
der einzelnen als mehr oder weniger eins füreinander mitempfind-
bar und erregend sind; und die Kunst, welche hier ihren eigent-
lichen Ort hat, vermittelt in ihren verschiedenen Verzweigungen
die Gemeinschaft des Daseins für diese ganze Gebiet. Denn
nur in dem, was wir ein Kunstwerk nennen, verallgemeint das
einzelne Leben seine Besonderheit vollkommen, oder vereigen-
tümlicht die in allen selbe Geistigkeit auf das bestimmteste. Aber
wie diese sittliche Funktion ganz auf der Besonderheit ruht: so
macht sich in ihr auch diese vorzüglich geltend; die Naturbegren-
zungen treten hier mehr zurück, und überall tritt zunächst die
Form des wahlverwandtschaftlichen Anschließens an Einzelwesen
490 BegriffdeshochstenGutes.il. [111,2,491]
hervor, die auf eine ausgezeichnete Weise in das Geheimnis einer
dieser Symbolisierungen eingedrungen sind. Diese Konkretionen
sind es, die wir Schulen nennen; sie sind ursprünglich einhei-
misch in der Kunst, aber auch in der Wissenschaft repräsentieren
sie den untergeordneten Einfluß des Individuellen. Und hier wie
dort teilen sie auch die Vergänglichkeit des individuellen Lebens;
denn ihr Zusammenhang kann nur noch eine Zeitlang fort-
dauern, wenn derjenige nicht mehr einwirkt, der ursprünglich mit
seiner anbildenden Kraft in die Masse einschlug. Diese Dauer
erweitert sich nach dem Maß der Kraft des zentralen Indivi-
duums; aber nicht in dem Gebiet des Ausdrucks und der Dar-
stellung, also nicht in irgendeinem einzelnen Kunstzweig, son-
dern nur für die innere Seite der Aufgabe, alle Zustände des
Einzellebens mit dem schlechthin höchsten Bewußtsein zu durch-
dringen, läßt sich denken — vorausgesetzt, die Vernunft könne
als absolut in einem Einzelwesen leben — daß ein solcher auch
einen zuletzt das ganze Geschlecht dominierenden Lebenstypus her-
vorrufen könne, und durch diesen wahlverwandtschaftlichen Zu-
sammenhang alle Sonderung für dieses Gebiet aufheben, so daß
durch denselben jeder mit jedem vermittelt ist. Auf der andern
Seite bleibt allerdings der Ausdruck, ohne den auch das geistigste
Selbstbewußtsein nicht kann aus sich herauswirken und mitge-
teilt werden, — sei es nun der am meisten sinnliche und un-
mittelbare durch die bewegte LeibHchkeit in Ton und Gebärde,
oder der durch Zusammenstellung von Bildern und durch Fol-
gen von Gedanken — immer abhängig von der Verwandtschaft
der Organisation und der Sprache; und so bleibt, wenn die
Kunst in allen ihren Zweigen wesentlich volkstümlich ist, auch
die Religion, die sich nur durch die Kunst ausdrückt und mit-
teilt, mehr oder weniger hierdurch bedingt. Aber es liegt in der
Natur der Sache, daß sich dennoch dieser Teil des höchsten
Gutes durch ein ganz anderes Verhältnis von Sonderung und
Gemeinschaft unterscheidet von den übrigen. Denn auf der Seite
[111,2, 492] Begriff des höchsten Gutes. II. 491
der organisierenden Tätigkeit tritt der Staat durchaus herrschend
hervor. In der Volkstümlichkeit der Anbildung und des Rechts-
zustandes ist die sittliche Befriedigung ursprünglich gegeben; und
alles Streben über dieses Gebiet hinaus, sowohl das mehr mate-
rielle des Verkehrs, als auch das nach einem dem Rechtszustand
wenigstens ähnlichen Verhältnis der Völker, welches das forma-
lere Streben ist, bleibt immer bedingt durch den Staat, und nie
könnte die Aufgabe gestellt werden, die Staaten aufzulösen, um
eine unbegrenzte Gemeinschaft des Verkehrs zu errichten. Ähnlich
verhält es sich mit dem objektiven Bewußtsein. Hier ist freilich
die Identität des gedachten, so oft dasselbe vernommen wird, die
Grundvoraussetzung, und alle Mitteilung, mithin auch alle Ent-
wicklung des Denkens, ruht auf diesem Glauben: aber er ver-
spottet nur sich selbst, wenn er über die Grenze der Sprache hin-
ausschreitet; und bald wird eingesehen, daß sich das Wissen in
jeder Sprache als ein besonderes entwickelt. Zu dem wesentlichen
Erkennen verhält sich jedes von diesen nur wie der gebrochene
Strahl zu dem Licht an sich; aber das zeitlose wesentliche Erken-
nen erscheint nur wirklich in dieser Mannigfaltigkeit des Gebroche-
nen. Darum ist und bleibt das Wesenthche in dieser Seite des
höchsten Gutes die möglichst vollständige Entwicklung des Wis-
sens in jeder Sprache. Zugleich aber entspricht dem über die
Grenzen des Staates hinausgehenden Verkehr hier die Vielsprachig-
keit der einzelnen und die daraus entstehende, immer nur approxi-
mative Aneignung des in anderen Sprachen Gedachten. Den
Bestrebungen aber, ein Völkerrecht zu gewinnen, entspricht die
Richtung auf eine allgemeine Sprachlehre, welche zugleich alle
besonderen aus sich entwickelte, und dadurch jede für alle auf-
schlösse, so daß auch hier die auf die innere Einheit zurückwei-
sende gemessene Mannigfaltigkeit als das Höchste gesetzt ist.
Sehen wir nun noch einmal auf die individuelle Seite der organi-
sierenden Tätigkeit zurück: so ist auch dort eine unbegrenzte Ge-
meinschaft der Anschauung nur als eine leere Möglichkeit gesetzt.
492 Begriff des höchsten Gutes. II. [111,2,493]
Die Familie schon erschließt andern ihr Eigentum gastfreundlich
nur unter der Voraussetzung, daß ihre Eigentümlichkeit verständ-
lich werde aus der gemeinsamen lokalen oder volkstümhchen.
Von wo aus aber die Gemeinschaft am meisten gefördert wird
auf diesem Gebiete, ob von der öffentlichen Gastfreundschaft aus
oder von der der einzelnen, das hängt vorzüglich davon ab, ob
in einer Gesamtheit das Privatleben vorherrschend ist oder das
öffentliche. In allen diesen drei Gebieten also ist eine Mehrheit
bestimmter Gemeinschaftskreise das Festorganisierte, welchen, um
eine Seite des höchsten Gutes zu realisieren, nur noch die Rich-
tung sich gegeneinander auch zu vermitteln einwohnen muß,
wenn auch in der Wirklichkeit dieser Zusammenhang nur frag-
mentarisch zustande kommt. Hingegen die Offenbarung der
Zustände des höheren Selbstbewußtseins, wenn sie einmal den
patriarchalischen Kreis der Familie überschritten hat, strebt sie
auch gleich die Gesamtheit an. Gottheiten verschiedenen Ur-
sprungs fließen zusammen, Mythologien bewegen sich, und viele
r'kleinere Kreise werden innerhalb Eines großen vereinigt. Blei-
ben hingegen Religionen und Kulte mit dem ihnen angehörigen
Kunstgebiet in den Grenzen eines Volks und einer Sprache: so
scheint das eine Andeutung, daß das persönliche Selbstbewußtsein
auch erst von dieser höheren Einheit durchdrungen ist, aber die
höchste, die des Seins schlechthin, noch nicht in sich aufgenom-
^ men hat. Und so scheint, genauer betrachtet, auch dieses beides in
der Tat zusammenzugehören, daß das Einzelwesen sich dieses
Schlechthinigen in sich bewußt wird, und daß es auch allen ohne
Unterschied zumutet, durch die Offenbarung des Zeitlichwerdens
dieses Schlechthinigen in ihm mit aufgeregt zu werden. Daher,
wenn wir das Verbundensein verschiedener Völker in Einen Staat
nur als einen Durchgangszustand ansehen können, jedes Bestre-
ben aber, einen Universalstaat aufzurichten, für Unsinn erklären;
wenn wir ebenso auch den Gedanken, ein einiges System des Wis-
sens trotz der Diversität der Sprache geltend zu machen, als eine
IUI, 2, 494] Begriff des höchsten Gutes. II. 493
falsche Tendenz bald wieder aufgeben: so finden wir es dennoch
natürlich, daß jede Religion, die auf einem kräftigen Bewußtsein
ruht, auch darauf ausgeht, sich allgemein zu verbreiten. Ja wir
sehen hier die Vollendung nur darin, daß wirklich eine derselben
in der Weltgeschichte diesen Preis erreiche, wenn sie sich dann
auch, was ihre Darstellungsmittel betrifft, wieder auf mancherlei
Weise teilen muß; so daß hier offenbar ein umgekehrtes Ver-
hältnis wie dort stattfindet, indem hier nur die Zusammenfassung
von allem unter einem als das feststehende gelten kann, und
dieser alle Teilung definitiv nur untergeordnet sein darf.
Und alles hier bestimmter Dargelegte ist auch der Inhalt der
weniger strengen Ausdrücke, mit welchen die erste Abhandlung
schloß. Denn das Himmelreich ist nur als Eine, alle einzelnen
gleichsam ineinander auflösende Gemeinschaft des tiefsten Selbst-
bewußtseins mittelst geistiger Selbstdarstellung in ernsten Kunst-
werken gesetzt; aber die Vollständigkeit und bezugsweise dann
auch Unveränderlichkeit des Wissens getrauten wir uns nicht
ebenso als Einheit, sondern nur in der Wechselwirkung einer
nebeneinander fortbestehenden Mehrheit zu denken. Unter dem
goldnen Zeitalter, wie es mythisch der Herrschaft des Menschen
über die Natur vorangeht, wird allerdings nur eine Zulänglich-
keit derselben für die unentwickelten Zustände des Menschen
gedacht. Wir haben aber den Ausdruck genommen, wie er ebenso
auch die Beendigung des Kampfes mit der Natur um die Herr-
schaft bedeuten kann; und es soll darin gedacht werden, daß
überwiegend die gestaltende Tätigkeit nur für den gemeinsamen
Genuß des sich eigentümlich differentiierenden geistigen Seins
in Kunst und Spiel verwendet, alles aber, sofern es dem Bedürf-
nis dienen soll, nur durch die von dem Wink des Menschen
abhängig gewordenen Naturkräfte verrichtet wird. Der ewige
Friede setzt eine Mehrheit politischer Vereine voraus, aber unter
ihnen Zusammenstimmung und freie Gemeinschaft, um die Herr-
schaft über die Natur zu vervollständigen und stetig zu erneuern.
494 Begriff des höchsten Gutes. II. [111,2, 495]
Daß aber in diesen Resultaten von der Wirksamkeit der Vernunft
in der menschlichen Leiblichkeit nicht sollte das höchste Gut
des Menschen auf dieser sich ihn immer wieder zum Herrn ge-
bärenden Erde ausgesprochen, oder in denselben nicht alles ent-
halten sein, was zu dem aus sich herausgehenden und in sich
zurückkehrenden Leben des Geistes in dieser Form gehören kann,
dieses auch nur zweifelhaft zu machen, dürfte schwerlich gelingen,
außer insofern die Vernunft selbst und ihre Tätigkeit irgend-
wie geleugnet würde.
über den Beruf des Staates zur Erziehung.*)
Wir finden überall, namentlich auch, um nur bei dem Nächsten
stehen zu bleiben, auf dem Gebiet unserer neu-europäischen Bil-
dung, eine Tätigkeit des Staates in der Erziehung seiner künftigen
Bürgen Aber bald ist sie fast zu nichts herabgesunken, bald
wieder fast zu seiner wichtigsten Angelegenheit erhoben, so daß
er strebt, sich ausschließend dieses Geschäft anzueignen, und auch
diejenigen, denen es am natürlichsten obliegt und die ein früheres
und größeres Recht dazu zu haben scheinen als er, nur seinen
Bestimmungen zu unterwerfen. Wir finden Zeiten in der Ge-
schichte unserer neuen Welt, wo Völker nur dadurch aus einer
langen Dumpfheit und Roheit zu erwachen scheinen, daß ihre
Regierung die Zügel dieses wichtigen Geschäftes in die Hand
nimmt und durch andere Mittel in dem jüngeren Geschlecht die
gewünschten höheren Kräfte aufzuregen sucht, welche das ältere
auf dem gewöhnlichen Wege der häuslichen Erziehung deshalb
nicht zu erwecken vermag, weil sie in ihm selbst nicht vorhanden
oder erstorben sind. Aber es zeigt sich hier und da wohl auch
*) Gelesen in der Plenarsitzung der Königlichen Akademie der Wissen-
schaften am 22. Dezember i8l4. Jonas.
496 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3, 228]
das Entgegengesetzte, daß Völkern eben dadurch das Joch der
Knechtschaft erschwert und verlängert wird, daß die Regierung
mit gleich ehernem Zepter auch die Scharen der Unmündigen
regiert und gewaltsam hindert, daß sich irgend etwas anderes in
ihnen entwickele, als die Fertigkeit, dasjenige am angestrengtesten
zu tun und am geduldigsten zu leiden, was ein vielleicht tyran-
nischer und dem innersten Geiste des Volkes ganz fremder Wille
sie will tun und leiden machen. Wenn in Fällen der ersten Art
jeder Menschenfreund sich freut, das große Geschäft der geisti-
gen Entwickelung in einem größeren Stil betrieben und es
schneller gedeihen zu sehen, als ohne Hinzutreten der öffent-
lichen Gewalt möglich wäre, und wenn die einzelnen Stimmen,
welche sich vielleicht warnend erheben, daß auch hier zwar ein
Nützliches sei, aber ein solches vielleicht, das doch nicht könne
für gerecht gehalten werden, und also auch zu besorgen stehe,
das ungerechte Gut werde nicht gedeihen, und die im Treibhaus
des Staates erzwungene Bildung werde eben deshalb nicht Früchte
tragen, weil der Segen der Erziehung nur da sei, wo das natür-
liche Recht dazu sich finde, und weil der Mensch sich nur das
lebendig aneigne, wozu der Grund gelegt werde in dem Heilig-
tume des väterlichen Hauses, oder was wenigstens mit der väter-
lichen und mütterlichen Wirksamkeit zu seiner Ausbildung in
freier und unmittelbarer Übereinkunft stehe, wenn diese Stim-
men, sage ich, in einem solchen Falle tadelnd nur als Vorurteile
gewürdiget werden, welche das Alte beschützen wollen, oder als
fjgensinn der Theorie, über welchen das Leben sich hinweg-
setzen muß: so sind die Fälle der zweiten Art mehr geeignet,
die Frage zur Sprache zu bringen, ob es denn in der Natur der
Sache liege, daß der Staat auch das Geschäft der Erziehung
beherrsche und ordne, und inwiefern. Denn besonders, wenn
die Tyrannei mit ihrem erstickenden Gewicht auf der ganzen
Masse eines unglücklichen Volkes lastet, beruhigen wir uns nicht
leicht nur damit, daß eben jede einzelne gewalttätige Unter-
nehmung ein Mißbrauch sei der an sich rechtmäßigen Gewalt,
[111,3, 229] Beruf des Staates zur Erziehung. 497
sondern wir forschen genauer, ob auch überall ein Recht da sei,
welches gemißbraucht werden könne, und ob nicht wenigstens
dieses Recht nur mit seinem bestimmten Maße zugleich könne
gedacht werden, denn wir wünschen, daß die Ausweichung nicht
nach Belieben auch als ein Irrtum könne angesehen werden,
sondern daß sie sich notwendig als ein vollkommenes und be-
wußtes Unrecht darstellen müsse. Wir selbst und die meisten
andern deutschen Stämme, und die vielen slawischen von den
Sprößlingen deutscher Fürstenhäuser regierten Völker befinden
uns in dem glücklichen Falle eines seit mehreren Geschlechtem
fortwirkenden höchst förderlichen Einflusses der Regierung auf
die Erziehung des Volkes, und je mehr jedermann und besonders
die Freunde und Beförderer der Wissenschaft hieran teilnehmen,
je mehr wir uns mit Untersuchungen beschäftigen über die besten
Methoden, nach denen die Regierung ihre Absicht verfolgen
müsse, das Volk durch die Erziehung zu veredeln: desto mehr
scheint uns die andere Frage, worauf denn das Recht des Staates
beruhe, sich das Geschäft der Erziehung anzumaßen, entweder
sehr unnütz oder auch völlig abgemacht. Indem ich sie wieder
zur Sprache bringe, will ich mich also zunächst halten an das
Interesse für den vorliegenden Fall, wieviel tiefer noch nämlich
das französische Volk würde gesunken sein, wenn nur ein paar
Geschlechter lang das napoleonische Erziehungssystem wäre
durchgeführt worden; daran sich dann leicht die Vermutung
schließt, ob nicht auch die Irrtümer, denen reine und wohl-
wollende Regierungen bei ihrem Einfluß auf die Erziehung wie
alles Menschliche ausgesetzt sind, doch weniger gefähdich sein
werden, wenn man mit der Quelle, aus welcher der Beruf des
Staates zur Erziehung entspringt, auch das Gebiet erkennt, worin
derselbe eingeschlossen ist: und so kommen wir darauf zurück,
daß auch wohl jene einzelnen Stimmen eine Wahrheit haben
mögen, welche sich gegen den Einfluß des Staates auf die Er-
ziehung im allgemeinen erklären, eben inwiefern er sich als einen
allgemeinen will geltend machen. Die Aufgabe selbst, auf die es
Schleiermacher, Werke- I. 32
498 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3, 230]
ankommt, wäre also diese, aus den Gründen, worauf der Beruf des
Staates zur Erziehung beruht, auch die Grenzen dieses Berufs zu er-
kennen. Und wenn die Praxis sagen möchte, die Auflösung er-
gebe sich jedesmal von selbst, indem doch nirgend der Staat
den Beruf der Eltern zur Erziehung aufhöbe und beide Teile sich
immer den Umständen nach darüber verständigten: so kann die
Theorie sich nicht dabei beruhigen, die Sache auf ein solches
Geratewohl auszusetzen, zumal in ihrem eigenen Gebiet schon
ganz entgegengesetzte Ansichten, welche die Teilhabung des einen
von beiden völlig ausschließen, vorgekommen sind. Denn be-
kannt ist die platonische Theorie, nach welcher die Kinder schon
von Geburt an Kinder des Staates sind, und die persönliche Be-
ziehung ganz in Schatten gestellt, ja möghchst ignoriert und ver-
borgen gehalten wird, so daß eigentlich alle Mütter nur Ammen
und Kinderfrauen, und alle Väter nur Vormünder und Versorger
sind. Und schön und lachend, ja man kann sagen, das festeste
Bollwerk der persönlichen Freiheit und der individuellen Ent-
wickelung, ist auf der andern Seite die Theorie, daß das Haus,
nicht freilich als Werkstatt, aber als Sitz der Familie, das Heilig-
tum ist, in welches die öffentliche Gewalt unter keinem Verwände
unaufgefordert eindringen darf. Die Kinder sind aber natürlicher-
weise im Hause, bis wenigstens der Zeitpunkt ihrer ersten Mündig-
keit eintritt, und sie anfangen, an den Elementen des öffentlichen
Lebens teilzuhaben und sich zur Gründung eines eigenen Hauses
vorzubereiten. Wie die erste dieser beiden Ansichten allen selb-
ständigen Einfluß der FamiHe auf die Erziehung aufhebt, so die
andere allen ursprünglichen Einfluß des Staates. Zwischen bei-
den also liegen alle andern beides verbindenden Theorien und
die gesamte Praxis, die, da niemals eines von jenen beiden Ex-
tremen ist realisiert worden, auf verschiedene Weise sich hier
dem einen und dort dem andern nähert. Meine Absicht geht
eigentlich nur dahin, eben diese mannigfaltige Praxis der Staaten
nicht als ein unbestimmt Fließendes aufzufassen, das sich nur
durch Willkür und Zufall hier so, dort anders gestaltet, sondern
[111,3, 231] Beruf des Staates zur Erziehung. 499
bestimmte Hauptzüge in diesen verschiedenen Gestaltungen und
Gründe dazu nachzuweisen. Ich will weder Vorschriften geben,
wie weit der Staat seinen Einfluß auf die Erziehung ausdehnen
soll und wohin nicht, noch historische Untersuchungen anstellen,
weshalb in dem einen Staat und zu der einen Zeit diese Ansicht
geherrscht habe, anders aber eine andere: sondern zwischen
diesen beiden Aufgaben schwebend möchte ich nur ein Fach-
werk aufstellen für diese Untersuchungen, um nämlich die Staaten
selbst und die Gesichtspunkte, von denen sie haben ausgehen
können, zu klassifizieren, und damit zugleich ein Mittel zur Ver-
ständigung über die verschiedenen Theorien, wie nämlich die
eine vielleicht unter solchen Umständen anwendbar sein könne,
und die andere unter anderen. Hierzu weiß ich aber kein anderes
Verfahren als dieses. Staat und Erziehung sind zwei Begriffe,
welche an und für sich nicht zusammenfallen; denn der Staat
ist ein Verhältnis der erwachsenen Menschen unter sich, und in
dem Begriff liegt keine Beziehung darauf, woher die Erwachsenen
kommen ; und Erziehung ist ein Verhältnis der Generationen unter
sich, indem die eine erzieht und die andere erzogen wird, und
die Erziehung kann sehr gut gedacht werden ohne den Staat
und vor ihm. Auch würden wir zu hoch steigen müssen und uns
zu weit entfernen von der Wirklichkeit der Dinge, wenn wir zu
einem gemeinschaftlichen höheren Begriff aufsteigen wollten. Also
bleibt nur übrig, daß wir beide als außereinander betrachten und
fragen: Gibt es etwas und was gibt es im Staat, wodurch er
von der Erziehung viel oder wenig an sich reißt? und gibt es
etwas und was ist es in der Erziehung, wodurch sie dem Staat
oder einer bestimmten Vorrichtung desselben anheimfällt? Be-
stätigt und bestimmt sich gegenseitig, was wir von beiden Punkten
aus finden: so werden wir dann wenig gegen unsere Unter-
suchung einwenden können.
Freilich scheint hier unser Vorhaben gleich anfänglich in die
Unendlichkeit sich ausdehnen zu müssen, wenn doch das erste,
was wir gebrauchen, ein Begriff ist vom Staat, dieser aber noch
32*
500 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3, 232]
ganz streitig ist unter denen, welche über diese Gegenstände
philosophieren. Wo träfe man aber nicht auf dieses Übel, wenn
man aus irgendeinem Gebiet der realen Wissenschaften einen
einzelnen Gegenstand der Untersuchung herausnimmt? Mit den
ersten Schritten ist man bei den Prinzipien, und somit auch auf
dem Gebiet eines unendlichen Streites. Und vielleicht können
wir ein Großes gewinnen mit einem einzigen Schritte. Man kann
nämlich die verschiedenen Begriffe vom Staat wohl auf zwei
Klassen zurückführen. Die eine ist die negative, indem nämlich
als das eigentliche handelnde Prinzip auf diesem ganzen Gebiet
des gemeinsamen Lebens der Trieb und die Willkür der einzelnen
gesetzt wird, und der Staat nur das Nebeneinanderbestehen dieser
Triebe und Freiheiten sichern und den Mißbrauch verhüten soll.
Einem Staate, der ein solcher sein will, ziemt es offenbar nicht,
sich der Erziehung anzumaßen; oder wenn er es tut, so darf es
nur interimistisch sein, weil er nämlich sein Geschäft noch nicht
hinlänglich versteht, und er verspricht aufzuhören mit der Er-
ziehung, sobald er selbst wird weiter fortgeschritten oder besser
erzogen sein. Denn ein solcher muß auch die Freiheit der
einzelnen als die eigentlich positive Kraft, der er dient, möglichst
wenig beschränken; und wie barbarisch müßte er sein, wenn
er nicht sähe, daß eben dieses eine der teuersten und genuß-
reichsten Äußerungen der Freiheit ist, wie die Eltern ihre Kinder
sich anbilden und ihr innerstes Dasein in ihnen zu vervielfältigen
suchen, und daß er seinem Beruf wenig entspricht, wenn er
zwar seinen Untertanen möglichste Freiheit lassen will in ihrem
Verfahren mit den Dingen, mit denjenigen aber, die ihnen ja
viel eigentümlicher angehören als irgend Dinge, welche sie um
sich versammeln können, wolle er sie nicht verfahren lassen nach
der Lust ihres Herzens und nach ihrer Vorstellung von ihrem
eigenen Vorteil. Darf ihm gleich ein wenig bange sein, daß bei
so ungestörter Freiheit in der Erziehung viele Menschen ganz
verdorben würden für das ganze: so darf er sich doch nur vor-
behalten ihr Verderben, wenn es sich hernach auf eine strafbare
[111,3, 233] Beruf des Staates zur Erziehung. 501
Weise äußert, alsdann zu zügeln und zu lähmen, und muß ver-
trauen, daß doch menschlicher Wahrscheinlichkeit nach auf diesem
Wege jedes künftige Geschlecht nicht nur nicht schlechter werde
dargestellt werden als das vorige, sondern auch daß seine Unter-
tanen bei möglichst freiem Verkehr und ungestörtem Gedanken-
wechsel schon von selbst zu einer bessern Erziehung gelangen
werden. Freilich kann es ihm bequemer sein, die Menschen sich
zahmer zu erziehen, als die Roheit, welche besser verhütet worden
wäre, hernach durch Strafen zu bändigen. Aber diese Bequem-
lichkeit ist ihm nicht erlaubt; denn mit demselben Recht müßte
ihm auch manches andere bequemer gewesen sein, zu bilden
und positiv zu bestimmen als bloß zu verwahren und abzu-
wehren; und er würde hier auf dem entscheidenden Punkt um-
kehren und aus einem negativen ein positiver werden. Soll er
sich also treu bleiben: so muß ihm seine Strafgesetzgebung nach
innen zu alles sein ; durch diese muß er allem zu steuern wissen,
und dabei alles Falsche und Mangelhafte der Erziehung ruhig
gewähren lassen. Ganz anders freilich ist es, wenn der Staat
selbst nicht bloß als eine hemmende, sondern als eine selbst
hervorbringende, bildende, leitende Kraft angesehen wird; und
diese Voraussetzung sieht nicht aus, als wenn wir sie ebenso
mit einem Strich abmachen könnten, sondern als käme es darauf
an, was nun der Zweck des Staates sei, um zu bestimmen, wie
nahe demselben die Erziehung liege oder wie fern. Doch viel-
leicht können wir auch so um die schwierige und hier nicht
füglich auszumachende Frage über den Zweck des Staates herum-
kommen, wenn wir uns gefallen lassen, diesen Zweck ganz all-
gemein zu setzen, daß alles, was der Mensch auf Erden zu tun
hat, durch den Staat solle hervorgebracht werden, und er die
Gesamttätigkeit des Menschen bilden und leiten. Dann würde
die erste und strengste Form sein, daß der Staat alles, was er
hervorbringen soll, selbst täte, alle einzelnen aber nur mechanisch
in seinem Dienste wären. Nächstdem aber ließe sich auch denken,
daß er die einzelnen zu demjenigen, was getan werden soll,
502 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3, 234]
erziehe und unterrichte, wenn dieses überhaupt möglich ist, da-
mit er der mechanischen Korrektion und Aufsicht im einzelnen
überhoben sei. Man könnte auf diese Weise sagen, daß für
einen solchen Staat alles andere nur Sache der Not sei und
zwischen eintretendes Wesen, die Hauptsache aber, daß er die
Menschen für die Geschäfte des Staates erziehe, und habe er
dieses vollkommen erreicht: so brauche er es nur gleichmäßig
fortzutreiben und könne in demselben Maß alles andere ruhen
lassen. Ist nun der Zweck des Staates allgemein: so gehört die
Erziehung als eine natürliche Tätigkeit des Menschen auch dazu,
und der Staat wird zuerst unmittelbar selbst erziehen, demnächst
aber auch einzelne zum Erziehen immer kräftiger und sicherer
bilden, und jenes durch dieses allmählich beschränken. Ist aber
feein Zweck nicht so allgemein: so bleibt dennoch die Form
wesentlich dieselbe, und jeder sieht, daß der Staat zwar, was
zu seinem Zweck gehört, unmittelbar selbst tun, zugleich aber
darauf bedacht sein werde, die Menschen für das, was in seinem
Zwecke liegt, zu erziehen, und daß er nur solange ackerbauen,
handeln und mehr dergleichen selbst tun darf, bis er sich ihm
und seiner eigentümlichen Natur angemessene Landbauer, Kauf-
leute und was sonst erzogen hat. Auf jeden Fall also fällt ein
Erziehen in den Zweck des Staates; aber auf jeden Fall auch
teilt es sich. Ist sein Zweck ein bestimmter: so wird er für
diesen teils unmittelbar handeln und teils für ihn erziehen; ist
er aber zweckmäßig ganz allgemein: so wird er unter anderem
auch unmittelbar erziehen, nächstdem aber besonders die Er-
zieher erziehen. So daß immer wieder, und ohne sonderHche
Rücksicht auf den Inhalt des Staatszweckes, alles ankommt auf
das Maß, in welchem die Erziehung sein Geschäft werden kann
oder nicht.
Um aber hier alles Mißverständnis zu vermeiden, müssen wir
uns wenigstens erinnern, daß der Staat, sein Zweck sei auch,
welcher er wolle, eine Gesellschaft sei von Regierern und Re-
gierten, seien es auch dieselben und jeder nur in dem einen
[111,3, 235] Beruf des Staates zur Erziehung. 503
Akt Obrigkeit und in dem andern Untertan, aber ohne diese Form
gänzlich ist kein Staat, und man kann nur von demjenigen sagen,
daß der Staat es tue, was durch diese Form hindurchgeht. Dar-
über also, daß das Erziehen eine gemeinsame und öffentliche
Angelegenheit sei im Staat, kann wohl überall kein Zweifel sein
nach dem obigen; aber wir werden nur im eigentHchen Sinne
sagen, daß der Staat erzieht, wenn entweder die Maßregeln und
Weisen der Erziehung zwar zunächst im Volk ihren Grund und
Ursprung haben, aber von der Regierung entweder modifiziert
oder sanktioniert werden, und sie über deren Ausführung wacht,
oder noch mehr, wenn sie von der Regierung selbst ausgehen
und vom Volke nur angenommen und ausgeführt werden. Nicht
aber jedesmal, wenn im Volk eine gemeinsame oder auch öffent-
liche Erziehung stattfindet, von der aber die Regierung weiter
keine Kenntnis nimmt, darf man sagen, der Staat erziehe, auch
nicht, wenn die Regierung nur über das Was in Sachen der Er-
ziehung diejenige Aufsicht führt, wie z. B. auch eine protestan-
tische Regierung über die katholische Kirche in ihrem Lande
ausübt, sondern dann erziehen immer nur die Regierten, die dann
für den Staat nur als einzelne dastehen, wie fest sie auch durch
Sitte und öffentliche Meinung an eine gemeinsame Weise mögen
gebunden sein. Damit wir nun das Maß finden, in welchem
in diesem Sinne dem Staate die Erziehung zusteht, scheint das
Ratsamste, daß wir zusammenhalten den Zustand eines Volkes,
ehe es Staat geworden ist, mit seinem Zustande unter der Form
des Staates, und daß wir fragen, ob sich denn und was in bezug
auf die Erziehung dadurch ändere, daß in dem Volke nun der
Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen herausgetreten ist. Und
es scheint wirklich hierbei alles auf die Weise und die Bedin-
gungen dieser Veränderung anzukommen, die Frage hingegen,
wie man den Staatszweck zu denken habe, und wie in dem
einen Staate dieser, in dem andern jener Teil desselben mehr
hervortrete, diese scheint mehr auf die verschiedenen Grundsätze
zu führen, nach denen die Erziehung, gleichviel, ob vom Volke
504 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3, 236)
oder vom Staat wird geleitet werden, als auf den Umfang, in
welchem der Staat als solcher sich ihrer annehmen wird.
Es ist nicht meine Absicht, auf einen erdachten Naturstand
zurückzugehen, mag er nun ein feindseliger sein oder nicht, son-
dern nur auf denjenigen, der uns als unmittelbar an den eigent-
lichen bürgerlichen Zustand grenzend, wirklich in der Geschichte
gegeben ist, nämüch auf den Zustand, da mehrere Familien ohne
bestimmte Form einer Verfassung ein sehr ähnliches Leben bei-
einander leben, mit einem allgemeinen Namen auf den Zustand
der Horde. Auch in diesem Zustande lassen sich schon sehr
verschiedene Stufen der Bildung denken, und nach Maßgabe der-
selben eine festere und zusammengesetztere Sitte oder eine losere
und einfachere. In dieser sind ausgedrückt die schon gegebenen
Regungen des sittlichen und religiösen Gefühls; in dieser er-
halten sich die Übungen und Fertigkeiten, welche zu der der
Horde eignen Erwerbsweise gehören. In dieser Sitte wächst dann
auch auf und übt sich die Jugend, und wird also, wer wollte es
anders sagen? wirklich erzogen. Leben die Menschen wie im
dürftigen Klima die Grönländer und ihre Verwandten mehr nur
nebeneinander: so wird auch die Erziehung mehr der Privat-
erziehung gleichen. Gibt es dagegen schon ein gemeinsames
Leben miteinander und durcheinander: so wird auch jenes Ana-
logon von Erziehung diesen Charakter annehmen und mehr einer
öffentlichen Erziehung gleichen. So daß wir jenen Gegensatz
schon jenseit des Staates verfolgen können, und er also nicht
erst durch diesen entsteht. Wenn nun eine solche Horde schon
lange patriarchalische Häupter gehabt, wenn sie schon bisweilen
vorübergehend im Kriege oder bei Verhandlungen mit anderen
Stämmen unter strengeren Formen gestanden hat, und diese sich
nun auf die einfachste Weise in ihr festsetzen und konsolidieren,
so daß sie von nun an für sich einen kleinen Staat bildet, gleich-
viel, unter welcher von den drei Formen er vorzüglich steht,
ohne daß sie ihre Lebensweise ändert oder ihre Zwecke aus-
dehnt: was ist für ein Grund, daß die neuentstandene Regierung
111,3,237] Beruf des Staates zur Erziehung. 505
sich sollte der Erziehung annehmen? Es wäre dies eine Willkür,
die in diesem Zustande nicht denkbar ist. Denn auch das ist
nicht denkbar, selbst wenn Reibungen entstehen und innere Un-
ruhen, daß ein einzelner nun aus dem Geleise der Sitte weichen
und seinen Kindern eine Richtung geben sollte, welche gegen
den Sinn und Geist des Ganzen anginge. Wenn also nicht ein
fremdartiges Element hinzukommt, wird alle§ im vorigen Gange
bleiben, und die Erziehung wird daran, daß die Gesellschaft
die Form der bürgerlichen angenommen hat, keinen unmittel-
baren Anteil nehmen. Sowohl der Charakter der Erziehung wird
derselbe bleiben, als auch die Rechte der Eltern über ihre Kinder.
Aus dieser einfachen Betrachtung scheint zweierlei zu folgen.
Einmal, und dies ist der Hauptsatz, auf welchem alles folgende
ruht, da Sitten und Gebräuche in einem Volk überall älter sind
als die Verfassung, kann auch dasjenige in der Erziehung, was
auf der Sitte ruht, nie, auch in einem folgenden Zustande ebenso-
wenig als in diesem ursprünglichen, als von der Regierung aus-
gegangen und von ihr erzeugt angesehen werden, sondern dieses
ist wohl überall auch in seinen allmählichen Umwandlungen das
unbewußte Erzeugnis, freilich nicht der einzelnen als solcher,
auch nicht der Weisesten und Kunstverständigsten, denn auch
diese können nur allmählich und durch einen unmerklichen Ein-
fluß daran rühren, auch nicht das Erzeugnis des isolierenden
Privatlebens, sondern das gemeinsame, aber freie und nur in
freier Gemeinsamkeit gedeihende unbewußte Erzeugnis des
Volkes. Die Regierung kann es im besten Falle beschützen und
sanktionieren, wenn hierzu ein Bedürfnis entsteht, sie kann im
schlimmsten Falle dagegen kämpfen und es zu unterdrücken
suchen, aber herbeiführen kann sie es nicht. Wenn man nun
sagt, die Erziehung sei eigentlich nur die natürliche Äußerung
des Selbsterhaltungstriebes der Gemeinheit: so ist damit gerade
dieses in der Sitte begründete, sich auf sie beziehende Moment
der Erziehung gemeint, und was hier tätig ist, ist also der
Selbsterhaltungstrieb des Volkes, abgesehen von seiner Verfas-
506 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3, 238)
sung, nicht der Selbsterhaltungstrieb des Staates und der Regie-
rung. Der Beweis hierzu findet sich überall, wo ohnerachtet
vieler Wechsel in der Verfassung das Wesen der öffentlichen Er-
ziehung lange Zeit dasselbe geblieben ist, und wo ohnerachtet
die Verfassung ungeändert dieselbe blieb, die Maximen und
Formen der Erziehung sich allmählich geändert haben. Zweitens
scheint zu folgen, daß, wenn ein Volk, nachdem es diesen ur-
sprünglichen Zustand verlassen hat, vielleicht durch harte Schick-
sale und schwere Kämpfe hindurch wieder in einen ähnlichen
zurückkehrt, ich meine zu einer durchgreifenden und die zu-
fälligen Abweichungen beherrschenden, seine eigentümliche Natur
ausdrückenden Sitte, und zu einer nach Verhältnis seines Um-
fanges genaueren oder weiteren Gleichförmigkeit gemeinsamer
Bildung: alsdann auch keine Ursache mehr vorbanden ist, warum
die Regierung einen tätigen Anteil an der Erziehung nehmen
sollte; sondern dann wird ihr höchstens übrig bleiben, durch die
Sicherheit, welche sie der Erziehungstätigkeit des Volkes gewährt
und durch die behütende Aufsicht, welche sie darüber führt,
ihre Bestimmung zu erkennen zu geben. Weder jene ursprüng-
liche noch diese wiedererlangte Gleichheit wird eine absolute
sein, sondern nach größerem Maßstabe bei der letzten, nach
kleinerem bei der ersten, wird sich die Differenz gemeiner und
edler Naturen offenbaren. Allein je konstanter und bedeutender
diese Unterschiede sind, um so mehr wird von selbst durch das
bloße Prinzip der Kohärenz, wie es auch vor dem Staate waltet,
das Gleichere sich anziehn, und es werden sich verschiedene
Kreise bilden mit einer relativ eigentümlichen Sitte, welche
hindern wird, daß in der Gemeinschaft mit den Geringeren die
Edleren untergehen. So wie auf der andern Seite das voraus-
gesetzte herrschende Prinzip der Gleichheit verursachen muß, daß
das Gemeinere von dem Höheren immer befruchtet wird, und
nicht unter die Fähigkeit der Gemeinschaft heruntersinkt. Bei
dieser Verkettung des Allgemeinen und des Besonderen in Sitte
und Bildung kann denn auch die Erziehung ohne Schaden un-
[111,3, 239] Beruf des Staates zur Erziehung. 507
gestört fortgeht!. Was hat denn nun den Piaton bewogen, der
ohngefähr diesen Fall voraussetzt, eine merkliche angeborene aber
doch nicht streng angeerbte und also nicht spezifische Differenz
seiner Bürger, was hat ihn bewogen, dennoch dem Staat die
Erziehung nicht nur ganz in die Hand zu geben, sondern sie
auch zum stärksten Motiv für denselben zu machen, in einem
Grade, wie es ein pädagogisches Regale nie gegeben hat und
nie geben kann? Er hat offenbar ein Mittel gesucht, aber nur
ein unausführbares und also schlechtes herausgegriffen gegen
das Verderben seiner vaterländischen Demokratien und Aristo-
kratien, deren jene mit demselben Eigensinn wie die Despotien
oft ganz gemeine Menschen auf eine Stelle emporheben, die
ihnen nie gebühren kann, die letzten aber die äußere Dignität
noch festhalten wollen, wenn die innere längst erstorben ist,
und der herrschende Stamm seine ursprünglichen Vorzüge längst
verloren. Indem der große Mann bei der Idee des Staats beide
Gebrechen zugleich heilen will, hat ihn seine Konstruktion auf
diesen Punkt geführt.
Setzen wir nun einen anderen Fall, die Horde nämlich gehe
nicht durch sich selbst und nicht in sich selbst zur bürgerlichen
Gesellschaft über, sondern ergreife selbst eine andere oder werde
von einer andern ergriffen, und es entstehe ein Staat aus zwei
früheren Gemeinheiten auf ungleiche Weise, so nämlich, daß die
eine Horde die herrschende werde und die andere die dienende,
welcher Fall auch diejenigen unter sich begreift, daß eine von
beiden schon vorher eine bürgerliche Verfassung für sich gehabt
habe: wie wird es dann mit der Erziehung werden? Offenbar
kann dann nur in einem Falle alles im alten Gange bleiben;
wenn nämlich der herrschende Stamm auch von Natur oder durch
bildendere Schicksale der edlere in edlerer Sitte gelebt und seine
Jugend zu derselben erzogen hat, der unterworfene hingegen
zurückstehend hinter jenem roher und ungebildeter erscheint, und
indem er seiner Sitte gemäß zu gleichem Zustande seine Jugend
erzieht, keine Besorgnis erregt, daß der Eindruck der Ungleich-
508 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3, 240]
heit 2Avischen beiden Teilen verschwinden könne. Wozu noch
kommen muß, daß der siegende Stamm den unterworfenen auch
bei seiner Lebensweise läßt, ihn von seinem Boden und aus
seinen Gewerben nicht vertreibt, sondern ihn auf dieselbe Weise
wie vorher, nur zu des Siegers Nutzen, fortleben läßt. In diesem
und wie es scheint auch in diesem einzigen Falle wird nach
einer solchen Zusammenschmelzung jeder Teil seine bisherige
Erziehungsweise behalten, und also auch ohne weitere Dazwischen-
kunft der Regierung wie vorher fortsetzen können. Nur daß
diese jede Neigung der Überwundenen, sich in die Sitten der
Sieger einzuschleichen und ihre Erziehung nachahmend, ihnen
ihre höheren Vorzüge zu entwenden, eifersüchtig bewachen wird.
So lange nämlich wird alles so bleiben, als auch die Regierung
das Verhältnis beider Teile im Staat gegeneinander nicht zu ändern
gesonnen ist. Will sie aber dieses, oder sind die Verhältnisse
beider Teile von vornherein nicht völlig so bestimmt: so wird
zum Behuf einer solchen heterogenen Zusammenschmelzung auch
das Erziehungswesen umgewälzt werden müssen, und diese Um-
wälzung kann dann nur von der Regierung ausgehen, so daß
die Erziehung dann insoweit Sache des Staates werden muß.
Nämlich wenn entweder ursprünglich der unterworfene Stamm
eine zu edle Sitte und Bildung hatte für die Lage, in die er
bei der Zusammenschmelzung herabgestürzt wird, oder, wenn er
sich allmählich nach langer Zeit dem herrschenden genähert hat,
und zu besorgen steht, er werde bald an Sitte und Bildung von
diesem nicht mehr zu unterscheiden sein, in diesen Fällen wird
der Staat in die Erziehung dieses Stammes gewalttätig aber zer-
störend eingreifen; er wird dessen Sitte auflösen und die Er-
ziehung unter das Gesetz stellen, wodurch schon großenteils das
innere Leben verloren geht und mit beschleunigter Geschwindig-
keit die Neigung wächst, sich bei einer mechanischen Be-
handlung zu beruhigen. Es kann auch sein, daß der herrschende
Stamm allmählich sinkt aus gewohnter Trägheit derer, welche
andere für sich arbeiten lassen, und dann kann es geschehen,
[111,3,241] Beruf des Staates zur Erziehung. 509
daß unter andern künstlichen Mitteln, ihn in seiner ursprüng-
lichen Stellung zu erhalten, der Staat auch in die Erziehung des-
selben eingreift. Wie aber? Gegenüber einem unterworfenen
Stamme, der im Begriff ist, sich zu heben, wird dies von einer
Regierung, die selbst dem herrschenden Stamme angehört, schwer-
lich auf die rechte Weise geschehen. Denn das Prinzip eines
solchen Staates kann nicht schlimmer gefährdet werden, als wenn
der Eindruck eines Wetteifers zwischen beiden Ständen entsteht.
Also anstatt der verfallenen Sitte und Bildung wieder aufzuhelfen,
wozu auch im ganzen wenig Hoffnung ist, wird man durch die
künstliche Erziehung suchen, dem gesunkenen Stande neue Vor-
züge zu verschaffen, welche der sich hebende weniger geeignet
ist, sich zu erwerben. Ich will nicht sagen, es folge streng, aber
die Erfahrung lehrt es, und so ist es auch leicht zu begreifen,
daß diese Vorzüge dann vorzüglich gesucht werden in der Ein-
pfropfung irgendeines Fremden, das sich in dem allgemeinen Ver-
kehr der Staaten gerade geltend gemacht hat; denn der herr-
schende Stand, welcher den ganzen Staat nach außen repräsen-
tiert, ist ausschließend geeignet, hiermit zu prunken. Dies ist
die eine Art, wie das Fremde in die Erziehung kommt durch die
Bestrebungen einer aristokratisierenden Regierung, sie mag nun
hierbei mehr als Gesetzgebung wirken, oder mehr als Hof; und
dieses ist der zerstörende Beruf des aristokratischen Staates in
der Erziehung. Kommt aber beides in einem Moment zusammen,
Unterdrückung des unteren Standes durch die Erziehung und
falsche künstliche Hebung des oberen: so ist das Verderben voll-
endet, und nur eine besonders waltende Vorsehung kann ver-
hüten, daß entweder gänzliche Auflösung erfolge oder gewalt-
same Reaktion. Denn durch Störung des naturgemäßen Er-
ziehungsganges wird ein Volk in seinen innersten Tiefen er-
schüttert.
Es kann aber auch geschehen, wenigstens wollen wir den
Fall setzen, daß die Regierung eines solchen Staates sich von
ihrem ursprünglichen Verhältnis der Angehörigkeit an dessen
510 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3, 242]
oberen Stand losmacht und den Staat als wahre Einheit, was er
eigentlich noch gar nicht war, ins Auge faßt. Sie strebt dann
danach, ohne jedoch zu revolutionieren, daß sie beide Stände
einander nähere, und, indem sie dem unteren weitere Schranken
öffnet, seine Kräfte vielseitiger für das Ganze benutze und alles
in ihm zur Reife bringe, wozu sich die Fähigkeiten in dem bis-
herigen Zustande vorbereitet haben. Dieses aber kann schwerlich
geschehen, wenn nicht an beiden Enden zugleich angefangen
wird, bei der eben mannhaften Generation, indem man sie vor-
sichtig und steigend emanzipiert, und bei der eben heranwachsen-
den, indem die Erziehung einen Charakter bekommt, der die bis-
herige beschränkende Sitte weit hinter sich läßt. Indem nun
hierbei weder die ursprüngliche Sitte des Standes das eigentlich
handelnde Prinzip sein kann, noch auch sein allmähliches Empor-
streben, als welches sich kein richtiges Ziel mit Bewußtsein vor-
zustecken vermag: so muß ein unmittelbares bildendes Eingreifen
der Regierung eintreten. Dieses nun ist der Zeitpunkt, wo ein
solcher Staat wirklich und notwendigerweise erzieht, ja, wo man
sagen darf, daß es ihm nur wohlgehen kann, wenn, um einen
platonischen Spruch zu parodieren, die Regenten erziehen oder
die Erzieher regieren, und an wen lieber, als an diese, sollten
auch wohl die Philosophen den Anspruch abtreten, den sie selbst
nicht durchführen können. Denn man kann mit Wahrheit sagen,
auf diesem Übergangspunkt von aristokratischer Zweiheit zu
wahrhafter Einheit, die dann immer, wenn es auch in der äußeren
Form minder heraustritt, dennoch sich monarchisch gestaltet, ist
das Erziehen die Hauptsache und selbst wichtiger als das richtige
Verfahren bei der allmählichen Eröffnung der inneren Schranken;
denn wenn hierbei etwas versehen ist: so wird die Erziehung
es leicht wieder gut machen durch die Masse von berichtigenden
Einsichten, die sie entwickelt. Hat man aber im pädagogischen
Prozeß einen unrichtigen Weg eingeschlagen: so können da-
durch die besten und richtigsten Maßregeln der inneren Verwal-
tung nur unwirksam gemacht und gleichsam Lügen gestraft wer-
[111,3,243] Beruf des Staates zur Erziehung. 511
den. Ich möchte noch hinzufügen, hat die Regierung in diesem
Sinne einmal angefangen zu erziehen: so darf sie auch nicht
eher aufhören, bis jener Zustand einer Einheit der Sitte und einer
gleichnamigen Bildungsstufe dem Wesen nach beide Stände mit-
einander vereint, sonst möchte sie das Volk in einem Zustande
von Venvirrung und Ratlosigkeit sich selbst überlassen, und das
zweite Übel könnte ärger werden, denn das erste.
Einige Folgerungen aus dem eben Dargestellten kann ich
nicht übergehen. Große ÄhnUchkeit mit dem Verhältnis zweier
solcher ursprünglich ungleichartiger Stämme hat in unsern Ver-
fassungen das Verhältnis des Adels zum Bürgerstande. Sollte
man nicht sagen können, daß eigentlich die Ausgleichung zwischen
beiden mit Sicherheit da beginne, wo beide an demselben Er-
ziehungssystem teilnehmen, und in keiner Beziehung mehr be-
sondere Anstalten getroffen werden einen auszeichnenden Cha-
rakter des Adels in dem heranwachsenden Geschlecht weder durch
eigne öffentliche Bildungsanstalten noch durch Ausschließung von
den nur für den Bürgerstand gestifteten hervorzurufen? Der erste
Grund aber zu dieser Vereinigung wird wohl weniger durch die
Regierung gelegt, als dadurch, daß die Kirche und der allmählich
aus dieser hervorgehende wissenschaftHche Verein von dem poli-
tischen Unterschiede beider Stände keine Notiz nehmen. Zwei-
tens scheint zu folgen, daß, wenn irgendwo eine Regierung die
Erziehung des ganzen Volkes nach einer solchen Maxime ver-
waltet, wie die aristokratische Regierung die des niederen Standes,
wenn sie fürchtet, er werde dem höheren zu Kopfe wachsen,
oder auch, wenn sie ihn sucht in neue, außer seiner ursprüng-
lichen Lebensweise liegende Bahnen zu führen, ohne ihn dennoch
höher zu erheben, lediglich seiner Nutzbarkeit halber: so ist sie
für vollkommen tyrannisch zu halten dem Geiste nach. Drittens,
wenn jemals eine Regierung das ganze Volk so behandelt, wie
jene aristokratische den höheren Stand, nachdem er in sich selbst
einzusinken angefangen, also, wenn sie pädagogisch am Volke
künstelt und schnitzelt und ihm Fremdes einimpft: so will sie
512 Beruf des Staates zur Erziehung. IIII,3, 244]
einer gewissen allgemeinen Tauglichkeit für die Welt zuliebe,
seine Eigentümlichkeit verfallen lassen und verrät wenig Ver-
trauen zur Sicherheit seines Bestehens. Oder, wenn gar ein Volk,
sich selbst überlassen, diesen Weg in der Erziehung einschlägt,
so daß die Volksbildung nicht mehr durch eine herrschende Sitte
in einer gewissen Gleichförmigkeit erhalten wird, sondern in eine
chaotische Masse von Zufälligkeiten und Willkürlichkeiten zer-
fällt: so leidet das Leben des Volkes in seiner innersten Wurzel,
und der tiefste Verfall ist unmittelbar vorauszusehen oder eigent-
lich ingeheim schon vorhanden, und wird durch Erziehungs-
künsteleien, die doch kein dauerndes, sich selbst reproduzierendes
Leben bekommen, weder verhindert noch gehemmt, sondern nur
prächtiger zur Schau getragen werden.
Nun ist noch übrig von der größten Form des Staates zu
reden, denn die bisher genannten sind immer nur kleine, wenn
nämlich ein Staat im großen Stil sich bildet, plötzlich oder all-
mählich, indem er eine Menge von einzelnen Stämmen, mögen
sie schon eine Verfassung gehabt haben oder nicht, in ein großes
Ganzes zusammenfaßt. Ist die erste Erschütterung überstanden:
so sucht denn doch jeder Stamm sein eigentümHches Dasein
wieder, das Inbegriffensein in die große Einheit gestaltet sich
ihm nur zu einer äußern Relation, die alte Sitte und Weise be-
hauptet ihr Recht überall, wo sie nicht durch die nur als äußere
gefühlte Gewalt gehemmt wird. In der Sitte hat die Erziehung
ihren Halt und reproduziert also mit wenigen Abweichungen noch
immer das alte abgesonderte beschränkte Leben des einzelnen
Stammes, ohne die Einheit des großen Ganzen in sich aufzu-
nehmen. Der Staat ist so lange eigenthch nur nach außen hin
eine Einheit, nach innen aber ebensowenig, als jener aristokra-
tische Staat, sondern nur eine noch zusammengesetztere Vielheit.
Es kann nun lange Zeit gehen, zumal bei einfachen politischen
Verhältnissen, daß die verschiedenen Teile des Staates nur ein
Aggregat bilden und unter sich fast ebensoviel Eifersucht haben,
als gegen einzelne Teile anderer ähnlicher Staaten. So lange
[111,3, 245] Beruf des Staates zur Erziehung. 513
hat auch die Regierung ebensowenig Ursache, sich in die Er-
ziehung zu mengen, als wenn sie nur mit einem einzelnen dieser
Teile zu tun hätte. Aber früher oder später wird eine Zeit
kommen, wo sie es fühlen wird, daß es notwendig ist, die Viel-
heit in eine wahre Einheit umzuprägen, jedem organischen Teile
das Gefühl des Ganzen lebendig einzubilden und diesem Gefühl
das des eigentümlichen Daseins unterzuordnen, damit nicht die
Liebe zum Stamm und zum Gaue, der Liebe zum Vaterlande
und zum Volke entgegenstrebe. Wie vielerlei Mittel ihr nun auch
hierzu zu Gebote stehen, um die erwachsene Generation zu be-
arbeiten, sie wird sich doch getrieben fühlen, das Werk zugleich
bei der heranwachsenden zu beginnen, weil sie sonst über dem
immer zu erneuernden Gebrauch jener Mittel niemals zum Ziel
wirklich kommen kann. Nun also beginnt sie sich der Erziehung
anzunehmen und auf dieselbe positiv einzuwirken, um die ein-
zelnen Teile einander näher zu bringen, damit sie ebenso zu
einem Gefühl ihrer Identität mit dem Ganzen kommen, wie die
einzelnen Glieder des Stammes auf dieselbe Weise das Gefühl
ihrer Identität mit diesem haben und immer wieder aufs neue
empfangen Es ist auch klar, daß die kleinere Einheit sich dieses
Gefühl der höheren nicht aus sich selbst geben kann, sondern
daß es ihr von der höheren kommen und diese sich ihr gleichsam
innerlich offenbaren muß. Dies muß also ein Werk der Regie-
rung sein, welche in einem solchen Staate von vornherein das
Gefühl der Einheit des Ganzen ausschließend hat und es erst
allmählich mitteilen kann, und der Staat kann unter diesen Um-
ständen die Erziehung auch nicht in den Händen der Kirche
lassen, welche ihr Bestreben, die Menschen zu einer höheren
geistigen Einheit zu verbinden, an das persönUche Gefühl des
einzelnen und an das allgemeinste Gefühl der menschlichen Natur
anknüpft, ohne an der Bildung einer größeren Nationaleinheit
einen entschiedenen Anteil zu nehmen. Ebenso klar ist, daß man
nicht sagen kann, dieses Gefühl sei im Volke, wenn es auch in
allen einzelnen wäre, sich aber nicht fortpflanzte. Es muß also
Schleiermacher, Werke. I. 33
514 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3, 246]
zunächst in der Erziehung sein, und indem es in die erste Periode
der Erziehung zurückgeht, worin beide Geschlechter nicht ge-
trennt sind, kann es sich allmähüch in ein angeborenes ver-
wandeln. Hat es sich aber erst als ein solches bewährt: so
ist auch kein Grund, warum die Regierung länger sollte die Er-
ziehung, die doch von Natur nicht ihr Geschäft ist, dazu machen,
und sie nicht vielmehr in die Hände des Volkes zurückgeben.
Und so kommen wir auch hier wieder auf die erste Annahme
zurück, und finden mit dem Grunde für diesen Beruf des Staates
auch zugleich die Grenze desselben.
Dieses also ist meine Antwort auf die Frage: Wie kommt
der Staat rechtmäßigerweise dazu einen tätigen Anteil an der
Erziehung des Volkes zu nehmen? Dann nämlich und nur dann,
wenn es darauf ankommt, eine höhere Potenz der Gemeinschaft
und des Bewußtseins derselben zu stiften. Alle andern Motive
sind entweder verderblich — und die Regierung setzt sich dann
in Streit mit der natürlichen Entwicklung des Volkes, wie in
den vorher aufgeführten Fällen — oder sie sind unhaltbar. Deren
sind freilich viele beigebracht worden und könnten noch an-
geführt werden, wenn es lohnen könnte, willkürliche Einfälle zu
prüfen, welche immer nur in den Köpfen der Theoretiker ge-
wesen sind, niemals aber die handelnden Personen wirklich ge-
leitet haben. Nur die Frage verdiente noch Berücksichtigung:
Wie kann der Staat, wenn er an der Grenze seines Berufes an-
gekommen ist, die Erziehung, die er so lange verwaltet hat, in
die Hände des Volkes zurückgeben, ohne wenigstens vorüber-
gehend eine Art von Auflösung und Verwirrung zu verursachen,
und wie soll sich überhaupt nach dieser Zurückgabe die Er-
ziehung gestalten? Offenbar kann sie nie wieder eine Privat-
erziehung werden. Diese muß vielmehr, wenn man nämhch von
den Söhnen redet, welche einst mit dem Staate zu tun haben,
nicht von den Töchtern, welche immer nur dem Hause anheim-
fallen, aber von Privaterziehung der Söhne kann, wenn ein wahres
Volksgefühl wirklich lebendig geworden ist, nicht mehr die Rede
[111,3, 247J Beruf des Staates zur Erziehung. 515
sein, da eine solche nur Willkür ausbrütet und nur in der Sehn-
sucht nach Willkür oder in dem Mangel an Gemeinsinn ihren
Ursprung hat. Also eine öffentliche Erziehung wird sie unter den
Betrieb und die Leitung des Volkes selbst gestellt und durch den
in demselben herrschenden gleichen Sinn in Gleichheit gehalten.
Es kann aber ein großer Staat von der Art, wie wir zuletzt be-
trachtet haben auf der Stufe, auf die er eben durch die pädago-
gische Tätigkeit der Regierung gekommen ist, nicht bestehn unter
andern ohne eine Kommunalverfassung, welches schon der Augen-
schein lehrt, auszuführen hier aber nicht der Ort ist. An diese
also, die durch ihre Gemeinschaft mit der Kirche und mit dem
wissenschaftlichen Verein, dessen Glieder durch sie zerstreut sind,
auch intellektuell belebt wird, geht die Erziehung über und bleibt
so auch mit der Regierung in dem indirekten Zusammenhang, in
welchem alles, was das Volk betrifft, mit ihr stehen muß, nur
daß diejenigen, die ihn vermitteln, nicht mehr eigentlich als Staats-
behörde, sondern nur die einen als Vertreter des Volkes bei
der Regierung, die andern als Vertreter der Regierung beim
Volke anzusehen sind. Auf diese Weise behält auch die Regie-
rung in ihrer Gewalt diesen Übergang, für den sich doch kein
Augenblick als der einzig richtige nachweisen läßt, allmählich zu
veranstalten, und eben dadurch aller Verwirrung vorzubeugen.
— Interessante Untersuchungen historischer Art knüpfen sich
hieran, wie nämlich und warum überhaupt hier mehr, dort weniger
Gewicht auf die Erziehung gelegt wird, ohne daß die Resultate
bedeutend verschieden wären; wie und warum ein Staat eine
lange, ein anderer eine kiu-ze Periode eigentlicher pädagogischer
Gesetzgebung und Verwaltung des Erziehungswesens durch die
Regierung gehabt hat, und ob und wie dieses mit einer mehr
ruhigen oder mehr stürmischen Entwicklung des ganzen poli-
tischen Daseins zusammenhängt. Diese Untersuchungen aber
muß ich zur Seite liegen lassen, indem ich nicht einmal die-
jenige für jetzt ausführen kann, welche mir eigentlich noch
obliegt.
33*
516 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3,248]
Ich sollte nämlich nun noch von dem Begriff der Erziehung
ausgehend ebenso zeigen, ob und wie denn sie vermöge ihrer
Natur in den Staat hineinfällt, wie ich an der natürlichen Ge-
schichte des Staats gezeigt habe, weshalb und inwiefern die
Regierung sich des Erziehens anmaßt. Diese Untersuchung würde
erst dem Resultat der vorigen seinen rechten Inhalt geben und
uns zeigen, was denn nun der Staat, insofern ihm das Erziehen
obliegt zu tun, und wie er zu Werke zu gehn habe. Allein anstatt
dieses zu gleicher Länge mit dem vorigen auszuspinnen, will
ich Zeit und Geduld schonen und mich nur auf einige Grund-
striche beschränken, aus denen das andere leicht abzunehmen
sein wird. Zum Glück nämlich glaube ich, daß ich mich auch
hier der schwierigen Frage überheben kann, was die Erziehung
sei, deren Beantwortung ja zugleich die Grundzüge eines päd-
agogischen Systems enthalten müßte. Denn da wir die Sache
nur in Beziehung auf den Staat betrachten: so kann ich davon-
kommen mit einer oben abgeschöpften Beschreibung der Seite
der Erziehung, welche dem Staat zugewendet ist. Wenn ich mich
nun auf diesen Punkt stelle: so sehe ich aus folgendem, daß es
bei der Erziehung vornämlich auf dieses beides ankomme. Ist
nämlich die Erziehung vollendet: so wird der Mensch abgeliefert
an den Staat als dessen Bürger, d. h. er soll tüchtig sein als
lebendiger organischer Bestandteil des Ganzen zu handeln und
irgendeine bestimmte Stelle in demselben einzunehmen. Der
Staat aber, um als christlicher Bürger eines christlichen Staates
zu reden, verlangte bis noch vor kurzem wenigstens, daß zuvor
die christliche Kirche ihn als ihr Mitglied sollte angenommen
haben, und der Erzieher mußte auch dieses prästieren, wobei
zugleich stillschweigend bedungen wurde, daß er in allen Ge-
schäften des Staates als Bürger keines Dolmetschers bedürfe,
sondern bei der Sprache des Landes und also auch für sein Teil
bei der darin niedergelegten Form und Masse des Denkens her-
gekommen sei. Hat nun der Erzieher dieses erwiesen, und ist
sein Zögling angenommen worden: so kehrt er sich um zu der
[111,3, 249] Beruf des Staates zur Erziehung. 517
rein menschlichen Gesellschaft im Staat, und in dem Maß als er
selbst sein Werk für gelungen hält und sich etwas darauf zugute tut,
empfiehlt er dieser seinen ZögUng als eine anmutig ausgestattete
eigentümliche Natur im Besitz alles dessen, was in der Gesell-
schaft geachtet werde, und zwar auf eine eigentümliche Weise.
Hieraus nun, wie dieses täglich geschieht, und übereinstimmend,
wie sehr man sich über die Erziehung auch streite, sehe ich,
daß es auf zweierlei ankommt. Zuerst nämlich, daß der Mensch
gebildet werde zur Ähnhchkeit mit den großen Gemeinwesen,
in denen er seinem natürlichen Schicksal zufolge leben soll, von
welcher Ähnlichkeit wie ihn die Erziehung beim Anfange seines
Lebens übernimmt, wenig an ihm zu sehen ist, sondern sie muß
hineingebildet werden oder herausgelockt. Dann aber kommt
es auch noch darauf an, daß er nicht nur äußedich ein anderer
sei, als jeder andere, sondern ohnerachtet jener Ähnlichkeit auch
innerhch, und so in sich selbst eins und unteilbar und nur sich
selbst gleich, ganz anders wie die Erziehung ihn empfing als
eine weiche und unbestimmte Masse, in der sich nur allgemeine
Regungen unterscheiden ließen. Dieses beides nun leistet freilich
die eine und selbe Erziehung, aber es scheinen mir doch ihrer zwei
Seiten zu sein. Und so wird wohl auch dieses wahr sein, daß
wer in der Ausübung der einen begriffen ist, sich über die
andere tröstet, welches am besten geschieht durch die Vorstel-
lung des Angebornen. Wer nämlich auf die Entwicklung des
freien Eigentümlichen der Natur ausgeht, der wird sich trösten,
daß die Ähnlichkeit mit dem Volk und den Glaubensgenossen
dem Menschen angeboren sei und sich schon von selbst mit
entwickeln werde. Und woran sollte sich auch wohl das Eigen-
tümliche zeigen, wenn nicht an einem Gemeinsamen, denn an
nichts kann es sich nicht zeigen. Wer hingegen auf die Hinein-
bildung des Menschen in den Staat und die Kirche ausgeht, der
setzt voraus, jedem sei seine eigentümliche Natur angeboren und
werde sich schon mit entwickeln. Beides scheint mir völlig wahr,
und ich meine, jedes wird nur dadurch falsch, wenn einer glaubt,
518 Beruf des Staates zur Erziehung. [111,3, 250]
das andere sei nicht wahr, und deshalb ganz einseitig wird in.
seiner Erziehung. Aber wie stehen nun diese beiden Seiten der
Erziehung gegen den Staat? Betrachten wir zuerst einen Staat,
der noch eine aristokratische Physiognomie hat: so ist der höhere
Stand derjenige, der ganz vorzügHch berechtigt ist zu dem Ver-
trauen, daß ihm die Idee des Staates angeboren sei, lind der also
auf die Ausbildung der Eigentümlichkeit ausgeht. Derselben Mei-
nung nun ist die Regierung auch, und läßt also den ganz frei,
der nach ihrem Sinne handelt. Daher auch in solchem Staat, so-
lange er ein wahres oder falsches Gefühl von Gesundheit hat,
die Regierung sich um die Ausbildung ihres Adels wenig küm-
mert. Der niedere Stand hingegen strebt in dem Gefühl, daß
sein Schicksal ihm doch angeboren sei, seine Jugend dem Staat
anzubilden und sie ihm dadurch zu empfehlen. So wird denn
die Jugend zeitig in die Mannigfaltigkeit der Gewerbe verteilt,
von denen bei solcher Ehrfurcht für den Staat auch Künste und
Wissenschaften eines zu sein scheinen, und in diesem löblichen
Bestreben wird den ausgezeichnetsten Menschen dieses Standes
eine eigentümliche Ausbildung ihrer Natur nur als Zugabe, ohne
zu wissen wie, und sie besitzen sich selbst in kindlicher und
heiliger Unschuld. Dies ist die höchste Glorie des Bürgerstandes
in dieser ganzen Periode. Da aber nun diejenigen, welche so
erziehen, im Namen des Staates handeln und zu seinem Vorteil:
so muß auch die Regierung sie im Auge halten, ob sie auch treu
handeln und ehrlich, und dies ist der Anfang und Grund des
untergeordneten behütenden Anteils, den die Regierung unter
solchen Verhältnissen an der Erziehung nimmt. Will sie aber
die Stände gleich machen und ordnet deshalb selbst die Erziehung
an: so kann sie nicht von der Voraussetzung ausgehen, daß die
Ähnlichkeit mit dem Staate schon angeboren sei, denn sonst
würde sie unmittelbar nichts zu tun haben, sondern sie will eben
dieses Prinzip erst erwecken und hineinbilden. Die von ihr ge-
ordnete Erziehung wird also eine bürgerliche sein, die höhere
Ausbildung der Eigentümlichkeit aber wird sie entweder von
[111,3,251] Beruf des Staates zur Erziehung. 519
selbst kommen sehen, oder sie den Bemühungen anderer über-
lassen. Die EigentümUchkeit entwickelt sich also entweder mit
der allgemeinen Bildung zugleich und durch sie, oder sie entsteht
als das Werk des übrigen Lebens und seiner mannigfaltigen Rei-
bungen, oder sie fällt der Privaterziehung anheim, in welche sich
dann um so mehr der pädagogische Dünkel flüchtet; denn nichts
verleitet mehr zu leerer Selbstgefälligkeit als die Einbildung, diese
zarteste Blüte der Natur, mag sie sich nun als Genie in der
Kunst und Wissenschaft, oder als charakteristische Anmut im
Leben offenbaren, durch künstliche Mittel hervorlocken und zeiti-
gen zu können, ein Abweg, auf welchen die öffentliche Erziehung,
eben weil sie nur in großen Massen arbeitet, zum Glück niemals
verfallen kann.
Es wäre nun freilich noch mehreres auf dieselbe Weise aus-
zuführen, vornämlich, wenn die Erziehung teils einen negativen
Charakter hat, teils einen positiven, auf welcher von beiden Seiten
der Beruf des Staates liegt; ferner, wenn irgendwo der Unter-
richt von der Erziehung getrennt als Gewerbe auftritt, das ein-
zelne treiben, ob auf dieselbe Weise oder auf ganz andere eine
Aufsicht des Staates darauf stattfindet, und ob diese aus dem-
selben Prinzip wie sein Beruf zur Erziehung herfließt, welches
letztere freilich besonders unsern Gegenstand ins Licht würde
gesetzt haben: allein ich muß dieses, um die gewohnten Grenzen
nicht zu weit zu überschreiten, einem andern Ort aufsparen.
über den Begriff des großen Mannes.
Am 24. Januar 1826.
Die Sitte, welche unter uns eingeführt ist, Friedrichs als des
Erneuerers unsers Vereins jährlich am Tage seiner Geburt öffent-
lich zu gedenken, würde eine unangemessene Feier sein^ wenn
er selbst an dieser Erneuerung nicht mehr Anteil genommen
hätte, als die meisten Fürsten an den Verordnungen nehmen, die
ihnen im Rate der Staatsdiener vorbereitet zur Unterschrift vor-
gelegt werden. Aber bei allem Werte, den Friedrich auf diese
Angelegenheit legte, würde doch eine solche Feier eine lästige
Verpflichtung sein, wenn abgerechnet diese Liebhaberei für die
Wissenschaften der König ein dürftiger Gegenstand wäre für die
Betrachtung und für die Darstellung. Allein, wenn schon lange
keiner mehr unter uns sein wird, der noch ihn und sein Zeit-
alter gesehen hat: so wird doch den Rednern dieses Tages der
Stoff nicht mangeln, ohne daß sie sich weder in solche Einzel-
heiten verlieren dürften, die ihrer Natur nach immer kleinlich
sind, noch auch einer geraten fände, auf die Rede eines früheren
zurückzukommen.
Wenn aber dieses allerdings großen Männern zukommt, un-
erschöpflich zu sein, so daß alles uns ergreift und in uns ankUngt,
was von ihnen gesagt wird, aber nach allem wir immer noch
einen Ton in uns finden, der noch nicht angeschlagen worden
[111,3,74] Begriff des großen Mannes. 521
ist: so gilt dasselbige auch von dem, was im allgemeinen über
den Begriff und das eigentümliche Wesen des großen Mannes
mag gesagt werden. Jede nicht ganz ungeschickte Hand von
einem Auge geleitet, das nur irgend geübt ist, auf das Wahre zu
sehen und in die Tiefe zu dringen, wird etwas Treffendes und
Richtiges zeichnen; aber wie vieles auch schon mag aufgedeckt
und ans Licht gezogen sein von den Vorzügen, welche eine Stelle
erwerben unter den Lichtem und Heroen des Geschlechtes: immer
noch wird der Eindruck, den jeder solcher auf uns macht, nicht
ganz wiedergegeben sein und zum klaren Verständnis erhoben.
Jedes Kunstwerk höherer Gattung und so auch der Begriff eines
solchen schließt eine Unendlichkeit in sich, aber auch durch dieses
Merkmal wird es nicht begriffen. So auch, wovon hier die Rede
ist, das größte Kunstwerk der geistigen Natur. Auch das also,
was hier auf Veranlassung des heutigen Tages über diesen Gegen-
stand angedeutet werden soll, unterliegt demselben Geschick, und
kann nur höchstens ein Weniges hinzufügen wollen zu dem Vielen,
was schon sonst und auch hier Anderes und Besseres von Besseren
ist gesagt worden.
Wenn wir an den Helden dieses Tages zurückdenken: so
entgeht uns auch an ihm nicht das Los wohl aller, welche wir
durch die Benennung großer Männer auszeichnen, daß er nämlich
lebend, wie er auf der einen Seite sehr zahlreiche und eifrige
Verehrer und Bewunderer gehabt hat, so auch auf der andern
Seite nicht minder ist gehaßt und angefeindet worden, nach seinem
Tode aber seine ganze Gestalt mehr in den Hintergrund zurück-
getreten ist und die verehrungsvolle Bewunderung von ihrem
Glänze nicht wenig scheint verloren zu haben. Solche Ungleich-
heit des Urteils möchten wir gern überall, besonders aber in
Beziehung auf diejenigen aufheben, welche am meisten die Gegen-
stände der Liebe und der Bewunderung sind. Der Gegensatz
zwar unter den Mitlebenden, wissen wir, ist unvermeidlich ver-
bunden mit jener Schwäche, von der fast nur große Männer
selbst eine Ausnahme machen, die meisten aber unterliegen dem.
522 Begriff des großen Mannes. [111,3,75]
daß ihr Urteil sich selten zur reinen Objektivität läutert, sondern
mitbestimmt wird dadurch, ob ihre persönlichen Interessen verletzt
erscheinen oder gepflegt, und diese Schwäche allmählich zu ver-
treiben, vermag nur der steigende Einfluß wahrer Philosophie,
welche, indem sie zu jedem gegebenen, und als solches not-
wendigen, sein Gegenstück aufsucht, auch am sichersten alle Ein-
seitigkeiten untereinander verbrüdert. Aber jene andere Ungleich-
heit zwischen den Mitlebenden und den Nachkommen gibt uns
nur zu leicht den allerdings unerfreulichen Eindruck, daß für bei
weitem die meisten Menschen die Beziehungen, welche sie machen,
eingeschlossen sind in den Kreis der lebendigen Überlieferimg.
Was in der Kindheit einer Generation noch unmittelbar da war,
was in den Erzählungen der Eltern die kindliche Phantasie auf-
regte, das ist eben dadurch für das Leben befestigt; alles andere
aber, was schon weiter zurückliegt, zieht sich in den engen Kreis
der Kundigen zurück, welchen durch die schriftliche Überlieferung
alle Zeitalter gleich nahe treten.
Aber werden hier alle Eindrücke so aufbewahrt und für alle
künftigen Zeiten erhalten, wie sie einst in dem lebendigen Be-
wußtsein der Mitlebenden waren? Oder sind nicht vielmehr fast
nur die großen Männer des klassischen Altertums als einzig be-
vorrechtet glücklich zu preisen, welche in den Zeiten, wo sich
das geistige Auge zuerst zu öffnen anfängt, der aufknospenden
Phantasie dargestellt werden, alle anderen aber, wenn auch ehedem
noch so groß geachtet, treten allmählich zurück, je nachdem die
geschichtlichen Massen sich häufen, wie auf dem ruhigen Wasser-
spiegel, wenn nach einem glücklichen Wurf gewaltige Kreise sich
bilden, die Spuren früherer Bewegungen bald gänzlich ver-
schwinden, so daß fast nur am Anfang der größten und durch-
greifendsten geschichtlichen Entwicklungen Gestalten stehen
bleiben, welchen das Gepräge der Größe für alle Zeitalter unver-
löschlich aufgedrückt ist. Daß aber nur nicht, wenn dem so ist, wie
es scheint, der Begriff des großen Mannes ganz zu zerfließen droht.
Wenn die Nähe mit parteiischer Vorliebe färbt und indem sie
[111,3, 76] Begriff des großen Mannes. 523
glänzend erheben will, oft durch ein fremdes Licht entstellt: so
dürfen wir nicht wagen, alles groß zu nennen, was dafür gepriesen
wird in den nächsten Geschlechtern. Wenn die Entfernung ver-
schleiert und ausbleicht: so werden wir auf der einen Seite dem
ohnerachtet nicht sagen dürfen, alles sei groß, was uns auch nach
einer Reihe von Jahrhunderten noch so erscheint im Zauber
der Darstellung, eben weil die Darstellung auch schmeichlerisch
zaubert und uns wieder wie das Urteil der Mitwelt in einen
Kampf von Parteien reißt, auf der andern Seite aber doch vielleicht
vieles zu bedauern haben, was nur die Entfernung unserer erheben-
den Bewunderung entzieht, und manches, was mit Recht als
groß empfunden wurde, da es war, werden wir nicht mehr
anerkennen, nur weil es uns an Mitteln fehlt, die Gestalt zu
sondern aus den farblosen und namenlosen Schatten der Masse.
Wenn aber dem Minos die Seelen nackt dargestellt werden ohne
alle Bekleidung der äußern Verhältnisse und Umstände, damit
er sie gebiete an den Weg der Gerechten oder der Ungerechten,
können sie dem Zeitlosen gar nicht dargestellt werden ohne jenem
veränderlichem Lichte unterworfen zu sein, damit er groß und
klein scheide und die wenigen hingeleite zur Tischgenossenschaft
der Götter? Worauf sieht er und wonach spricht er diesen Spruch?
Wenn die Seele entkleidet sein muß, damit der Richter nichts
anderes sehe als die Art und Weise des Handelns, um gut und
böse zu scheiden: so wird hingegen seinem geweiheten Auge
vieles sichtbar werden müssen, wenn er entscheiden soll über
groß und klein, was sonst unsichtbar und verborgen bleibt. In
dem geistigen Gebiet gibt es keine Größe als Kraft, und es
gibt keine Kraft, welcher die Wirkung fehlt, vielmehr Kraft und
Wirkung sind einander immer gleich. Die ganze Atmosphäre der
Seele muß dem Auge des Richters erscheinen, auf daß er sehe,
wie weit ihr belebender Hauch sich erstreckt hat und wie viele
sich an ihr genährt haben und erfrischt.
Hört eine geistige Erscheinung auf, den Eindruck der Größe
zu machen, sobald sie anfängt, sich im Gewühl der Masse zu
524 Begriff des großen Mannes. [111,3, 77]
verlieren: so ist gewiß diejenige nie groß gewesen, welche nie
imstande gewesen ist, sich diesem Gefühl zu entreißen und den
Beschauer zu einer ausschließlich ihr geweihten Betrachtung zu
zwingen. Gerecht kann eine solche Seele gewesen sein und so weit
ohne Tadel; sie kann in dem reinen Ebenmaß ihrer Bestrebungen
alle Elemente des Schönen in sich vereinigen und dem Auge
des Wohlwollens auch so erscheinen, jenem Unerbittlichen aber ist
sie doch das Kleine. Wo aber finden wir das Entgegengesetzte?
und lassen sich überhaupt hier feste Punkte aufstellen? Man ist
geneigt genug, diese Frage zu verneinen, und die Erfahrung drängt
uns alle mächtig nach dieser Seite hin; das Bedürfnis aber und
also auch die Forderung der Vernunft spricht sich aus in dem
Worte eines alten Weisen, daß ja unmöglich groß und klein nur
könne ein Fließendes, sondern daß auch hier wie überall in den
Begriffen müsse etwas Festes sein. Ja es scheint sogar, als ob
nach dieser Regel auch unsere Aufgabe zu behandeln nicht könne
allzu schwierig sein, da wir ja schon in dem Veränderlichen und
Fließenden selbst doch haben ein festes Element ergreifen können.
Denn wenn wir sagen, der einzelne verliert sich unter der Masse,
und ihn deswegen zum Kleinsein verdammen, nun so finden wir
eben dadurch das Nichtverlieren, und dies führt auf eine Mannig-
faltigkeit freilich von Verhältnissen zwischen dem einzelnen und
der Masse, auf eine solche aber, der eine bestimmte Zahl zum
Grunde liegt. Eingestanden wird wohl von allen werden, daß
auf dem geistigen Gebiete der Ausdruck Masse nur in einem
bestimmten und untergeordneten Sinne gebraucht wird. Wo wir
eine Menge aufeinander wirkendes, durcheinander wogendes, ein-
zelnes Leben sehen, in welcher aber weder eine wahrhaft
organische Gestaltung hervortritt, noch auch das einzelne sich als
Selbständiges sondert, das nennen wir Masse. Je mehr der einzelne
hier nur ein Ort ist, wo die verschiedenen in der Gesamtheit
waltenden Bewegungen sich begegnen, sich kreuzen und brechen
oder verdrängen, je nachdem die Weise ist, wie, und die Stärke,
mit welcher sie zusammenstoßen, ohne daß in dem einzelnen selbst
|III,3, 78] Begriff des großen Mannes. 525
ein den Erfolg regelndes Prinzip erscheint, um desto mehr erscheint
er nur als ein Element der Masse. Denken wir uns nun das
äußerste, fehlt die Eigentümlichkeit ganz, und dieser innere
Regulator, der der ganze eine Faktor des Lebens sein soll, ist
Null: so ist notwendig auch die ganze Erscheinung als Zahl zwar
zählend, aber als eigenes geistiges Leben betrachtet, das unendlich
oder absolut Kleine, und von dieser gilt auch nicht, daß sie tugend-
haft sein kann oder schön, denn wenn zufällig ohne Tadel, so
ist sie auch notwendig ohne Lob, und spielten in dem gestaltlosen
unsteten Flimmern auch lauter anmutige Farben: so wäre doch
keine Schönheit darin. Wo aber das Eigentümliche, der Charakter,
nicht fehlt, und alle Einwirkungen selbstgemäß bestimmt, so daß
man unterscheiden kann und als wesentlich zusammengehörig
fassen, was Moment eines solchen Lebens ist: da ist in den
mannigfaltigsten Abstufungen, die wir aber alle als Eines zu-
sammenfassen, das Verhältnis der Gegenseitigkeit zwischen dem
einzelnen und der Gesamtheit, einer Gegenseitigkeit des Gebens
und Empfangens, des Bestimmens und Bestimmtwerdens, in freier
Bewegung erscheinend, aber doch nach ewigen Gesetzen geordnet,
nicht mehr das Kleine und Gemeine, aber auch nicht das Große,
sondern das Gewöhnliche. Der allgemeine Ort, wo das Bessere
und das Schlechtere nebeneinander wachsen, wo alle Tugenden
und Trefflichkeiten gedeihen, alle Talente blühen und Früchte
tragen, ja wo auch das Genie glänzt — wenn ein Gewinn ist
bei dem Gebrauch solcher durch die Umprägung zweideutig
gewordener Münzen, deren oft wechselnden Kurs niemand genau
kennt — kurz, alles Gute und Schöne ist hier zu finden, aber
das Große nicht. Sondern der große Mann zeigt sich uns erst
diesem allen gegenüber nicht etwa als der schönste und kräftigste
aus der Masse oder als der begünstigtste, zu dessen Förderung
und Wachstum alle Bewegungen, die dort vorgehen, oft auf das
Wunderbarste gelenkt werden, sondern der ist es, der nichts
von ihr empfängt und ihr alles gibt. Freilich ist auch er nicht
ohne die Gemeinschaft, und wie möchte einer ein großer Mann
526 Begriff des großen Mannes. [111,3, 7Q]
sein, ohne die ihn umgebende Weit in sich aufgenommen zu
haben. Aber doch als das vollkommne Gegenteil müssen wir
ihn stellen von dem, was wir als das schlechthin Kleine gesetzt
haben in menschlichen Dingen. Das Empfangen und Insich-
aufnehmen, unentbehrlich in dem Rhythmus jedes Lebens, ist in
dem seinigen immer nur, daß ich so sage, der schlechte Zeitteil,
nur notwendig, um den guten zu heben, vorangehend, damit
dieser sei, ja selbst von diesem so beherrscht, daß der in jenen
mit hineinklingt, so daß, was er im buchstäblichen Sinne empfängt,
immer nur ein Nichtseiendes ist, ein Chaos, das sich in ihm erst
für ihn bildet und gestaltet kraft jenes inneren Regulators, der
in ihm nicht Null ist, sondern alles. Das Wahre aber und Wesent-
liche, wodurch er ist, was er ist, das sind die eigentümlichen
Ausströmungen seines Wesens, die Idole des Epikuros, die sich
jeden Augenblick von ihm losreißen, in alles eindringen und alles
in Bewegung setzen. Der große Mann ist nur der, welcher die
Masse beseelt und begeistert, ganz herausgetreten aus dem Ver-
hältnis der Gegenseitigkeit, er auf keine Weise ihr Werk, sie aber
auf seine Weise das seinige. Wer aber meinen wollte, unter dem
Begeistern sei etwa zu verstehen, daß die Masse dadurch, daß sie
des großen Mannes Taten und Wesen anschaut mit etwas Größerem
als gewöhnlich erfüllt und so über sich selbst erhoben werde,
der bliebe bei etwas Geringem stehen, was auch schon jedes
schöne Talent leistet; nur auf die Empfänglichkeit wirken, ist
zu wenig für den großen Mann. Denn Nachahmungen hervor-
bringen, durch Werke und Taten ein lange fortwirkendes Urbild
werden, durch sich selbst in irgendeinem Zweige menschlichen
Tuns neue Bahnen brechen, zu einer unerreichten Höhe sich
erheben und dort aufgestellt sein als ein immer angestrebtes,
aber nie getroffenes Ziel — dies mag vielleicht mit zu dem
gehören, was wir Genie zu nennen pflegen; aber so einseitig
ist nicht das Wesen und Wirken des großen Mannes; und auf
die letzte Art diejenigen beseelen, welche Gleiches oder Ähnliches
hervorbringen, auf die erste Art aber die, welche es genießen
[111,3, 80] Begriff des großen Mannes. 527
wollen, beweiset eben die Verwandtschaft mit beiden und das
Leben mit ihnen an demselben gemeinsamen Ort. Der große Mann
ist gesonderter von dem allen, nicht selbst in dieses mannigfaltige
Leben verflochten, aber der Urheber desselben. Oft ist es ein
solcher gewesen, der, wie ein göttlicher Hauch einer noch
ursprünglich starren bewegungslosen Masse mitgeteilt, das mannig-
faltige Leben in ihr erregt, wie ein himmlischer Funken hinein-
geworfen, alle diese schönen Lichter in ihr entzündet hat, öfter
noch war es ein solcher, der eine durch widriges Geschick ge-
drückte und in sich zusammengesunkene Masse wieder erweckt
hat zu einer neuen und schöneren Periode ihres Daseins. Kurz,
der große Mann ist nur der, durch welchen in irgendeiner Be-
ziehung die Masse aufhört, Masse zu sein, durch welchen sie
erregt wird, daß sie sich sondere, daß Selbstgefühl an die Stelle
eines träumerischen Schlummerlebens trete, nur der ist es, durch
den sie so erregt kraft des ihm einwohnenden Gesetzes sich zum
organischen Gesamtleben entweder zuerst gestaltet oder auch sich
nach einer Zeit des Verfalls und der Zerstörung neu entwickelt.
So wäre es also. Wo eine neue geschichtliche Entwicklung,
wo ein neues oder erneutes gemeinsames Leben von einem aus-
geht, da und nur da ist ein großer Mann. Bisweilen erscheint
er die freieste Gabe des Himmels ungeahndet und unbegehrt,
öfter nach den heftigsten Bewegungen und langem Seufzen der
hilflosen Kreatur. Wenn wir aber sehen, daß an der Grenze
zweier Zeitalter des Alten überdrüssig und nach Neuen ringend
die geistige Kraft sich abmüht in Erscheinungen, die keinen Bestand
gewinnen, ein Vergängliches das andere drängend, wie in den
Zeiträumen der noch unreifen Schöpfung, ehe fortbestehende
Gattungen sich bilden konnten: da kennen wir die Lösung. Die
Masse ist nicht geweckt genug, um ihr neues Leben als ein ge-
meinsames Werk hervorzurufen; alles harrt eines schöpferischen
Wesens, aber der große Mann will nicht erscheinen.
Vor diesem segensreichen Bilde seltener göttlicher Werkzeuge
stehen wir als nicht vor unseresgleichen. Es sind die Heroen
528 Begriff des großen Mannes. [111,3,811
der Gattung, es ist jenes dämonische Geschlecht, königlich und
herrschend seiner Natur nach, das aber nur in einzelnen weit
voneinander entfernten Erscheinungen aus geheimnisvollen
Zeugungen der Natur hervorgehend sich offenbart. Aber es ist
unser Stolz, daß unsere Sprache uns übermenschliche Ausdrücke
weigert. Ein großer Mann, Größeres können wir nicht sagen; ein
großer Geist, ein Held, das ist weniger; jeder besondere Name
gehört auch nur einzelnen Beziehungen, alle Häufungen können
nur Verringerungen sein. Etwas aber gibt uns die genauere
Betrachtung der hehren Gestalt an die Hand, was uns derselben
wieder näher bringt. Soll freilich Einer gedacht werden, in welchem
die Kraft Hegt, in dem ganzen menschlichen Geschlecht aller
Zonen und aller Zeiten ein neues Leben zu wecken, und das
Ganze in einer alles umfassenden Organisation zu befreunden,
der müßte alles menschliche Maß überschreiten, und er wäre
zugleich der, welcher alle menschliche Größe vernichtet. Dieses
Geheimnis aber, das in dem sich immer wieder erneuernden und
immer wieder reinigenden Glauben von MilHonen lebt, können
wir hier nur erwähnen, um es auszulassen aus unserer Betrach-
tung. Alle großen Männer aber innerhalb des rein menschlichen
Gebietes, wenn sie eine Masse beleben sollen und organisieren:
so können sie auch nur einer bestimmten Masse angehören, inner-
halb deren ihre eigentümliche Wirkung beschlossen ist; denn sehr
verschieden zwar ist das Maß organischer Bildungen, aber ge-
messen und begrenzt sind alle. Und hier findet der zweite Teil des
schon angeführten alten Wortes seine Bewährung und seine An-
wendung. Nämlich an demselben Orte, wo Piaton behauptet,
auch das Große könne nicht bloß relativ verstanden werden,
sondern etwas Festes müsse in dem Begriffe gesetzt sein, ebenda
stellt er auch eine Formel dafür auf; groß, sagt er, sei, was den
ganzen Umfang erfüllt, innerhalb dessen es in seiner Art noch
eines sein könne. In diesen Grenzen ist auch der große Mann
notwendig beschlossen; die Masse, auf die er wirkt, muß ein
Zusammengehöriges und in sich Abgeschlossenes entweder schon
[111,3, 82] Begriff des großen Mannes. 529
gewesen sein oder nun durch ihn werden, damit Einheit sein
könne in dem Leben, das er in ihr erweckt. Das Talent, das Genie
erfreuen sich einer äußerlichen Unendlichkeit ihrer Wirkungen.
Das Bildwerk, von seiner Heimat aus fernen Regionen zugetragen,
wird auch dort zur glücklichen Stunde den Sinn entwickeln, den
Geschmack erwecken, und seine Wirkung ist dann dieselbe. Die
Dichtung, nachdem sie eine verwandte Kunst erzeugt, läßt sich in
fremde Sprachen übertragen, und die Wirkung im wesentlichen
ist dieselbe. Der große Mann ist mit seiner eigentümlichen
Wirkung auf das ihm von der Natur angewiesene Gebiet be-
schränkt, er hat eine bestimmte Heimat, sei sie nun räumlich
begrenzt oder durch einen geistigen Typus, welcher, wo er sich
auch finde, dieser Gewalt unterliegt, außerhalb dessen sie aber
ohne Wirkung bleibt.
Doch nun ist es Zeit, einer Frage zu horchen, die gewiß
schon lange hat hervorbrechen wollen, ob nämüch nicht diese
Rede den Ausdruck, welchen sie erläutern will, ganz gegen den
Gebrauch unserer Sprache und gegen das allgemeine Gefühl auf
eine viel zu enge Weise beschränkt. Denn worauf deutet das
zuletzt Gesagte, als daß es große Männer nur gibt im Staat und
in der Kirche. Die räumlich begrenzte Heimat, in welcher der
große Mann wirkt, ist die Volkstümlichkeit, und das organische
Leben derselben ist das bürgerliche. Der geistige Typus, den, wo
er sich auch finde, der große Mann sich aneignet, ist die religiöse
Sinnesart, und diese wird zu einem organischen Gesamtleben,
wo es eine Kirche gibt, so daß auch das früher Gesagte dazu
stimmt, denn es gibt keine anderen Organisationen aus der Masse
als diese. Also die Gründer und Wiederhersteller der Staaten,
wo hierbei einzelne auf eine ausschheßende Weise geherrscht
haben und gewaltet, die Stifter und die Reiniger der Religionen,
das sind die großen Männer. Zwei Arten derselben gibt es,
seitdem Staat und Kirche, mehr zur Besonnenheit gelangt, sich
voneinander geschieden haben, und die letztere kein Reich sein
will von dieser Welt; nur einartig zeigte sich der Begriff, so
Schleiermacher. Werke. 1. 34
530 Begriff des großen Mannes. [111,3,83]
lange noch beide theokratisch untereinander verworren waren.
Die Kunst aber und die Wissenschaft mögen sich mit dem Talent
begnügen oder dem Genie; wie herrlich sich auch ihre Kraft in
einzelnen GünstHngen der Natur offenbart, das Gepräge der Größe
vermag sie ihnen doch nicht aufzudrücken. Ich leugne es nicht,
so scheint sich mir die Sache zu stellen. Aber sollte das wirklich
gegen den Gebrauch der Sprache sein und gegen unser geheimstes
Gefühl? Unser Friedrich war Tonkünstler und Dichter; aber
wenn er beides gewesen wäre in der höchsten Meisterschaft,
würden wir ohne Bedenken sagen, auch das wären Elemente
seiner Größe, oder nicht vielmehr, er wäre das gewesen noch
neben dem großen Mann? Ich hätte mich zu dem letzten ent-
schlossen, ja auch nur zu demselben, wenn sein Philosophieren sich
zu dem wohlgeordnetsten und tiefsinnigsten System hätte ge-
stalten können. Der große Mann ist nicht, was er ist, durch
einzelne Werke und für einzelne Klassen; ja auch eine Schule
zu stiften in der Kunst oder der Wissenschaft ist etwas weit unter
seiner Aufgabe. Nicht eine Schule stiftet er, sondern ein Zeitalter.
Wenn man recht hat, in demselben Sinne von einem Zeitalter des
Perikles oder des französischen Ludwig zu reden — ohne es zu
bejahen, seien dies nur erdichtete Beispiele — so waren dies auch
Zeitalter der Kunst und der Wissenschaft, aber ohne daß der
Schüler des Anaxagoras selbst wäre ein Philosoph gewesen oder
der viel besungene Ludwig selbst ein Dichter. Ein Zeitalter
Friedrichs hat es gewiß gegeben. Der Umfang, in welchem sein
Geist belebend und organisierend wirkte, war nicht etwa sein
Staat, wie er ihn fand oder wie er ihn ließ — denn das ist einmal
das deutsche Geschick, daß die politischen Abteilungen wechselnd
sind und zufällig — , sondern dasjenige Deutschland, welches
wir, ohne es geographisch zu nehmen oder gar einen immer mehr
verschwindenden Parteigeist wecken zu wollen, das nördliche
nennen. Mittelbar, unmittelbar hat er hier alles belebt und ge-
staltet, ja selbst die Sprache, die sich hier in seinem Zeitalter
bildete, und die Kunst und Wissenschaft in dieser Sprache, wiewohl
[111,3, 84] Begriff des großen Mannes. 531
von ihm selbst nicht geübt und wenig beachtet, gehört doch mit
zu dem Werke seines Geistes.
So ist sein Gedächtnis ein Teil unserer Selbsterkenntnis,
seine geheim fortwirkende Kraft durchströmt noch alle unsere
Bestrebungen. Das größte Maß aber des großen Mannes, das
Maß, worin sich jenes Übermenschliche spiegelt *)
*) Hier bricht das Manuskript ab. Jonas.
34*
Personenregister.
A.
Anaxagoras 530.
Antisthenes 183-
Archidemos 48.
Aristipp 40, 62, 82 ff., 89, 91, 92, 95,
116, 119, l56f., 160, 162, 173f.,
232, 235.
Ariston von Chios HO.
Aristoteles 40, 44f., 59f., 8l, 93ff.,
107, 114, 119, 140, 159, 161, 163,
I65f., 174 f., 179, 209, 223, 227,
235, 237, 265, 277, 285 f., 289,
308, 333, 335, 352f., 397-
Barbeyrac 440.
C.
Chrysippos 48.
Cicero (Marcus Tullius) 55, 114, ll6f.,
119, 133, 148f., 236, 286, 303, 439-
Clarke 11 8.
Cousin, V., 7.
Diogenes 48, 117-
D.
E.
Epiktet 201, 266.
Epikur 16, 40, 54, 62, 83, 87, 89,
90, 93, 97 ff., 107, 109, 115ff., 156f.,
308, 343, 526.
Eucken 272.
Eudoros 140.
F.
Ferguson 44, 52, 55, 117-
Fichte 26ff., 47f., 56, 63f., 65, 68, 81,
94, 96, 98, 99, 101 f., 109, 112, 117,
134, 146, 157, 184, 191, 193, 196ff.,
200f., 204f., 207ff., 212, 214f.,
21 7 f., 220, 225, 239, 243, 245 f.,
267 f., 272, 275, 281 ff., 285, 290ff.,
295, 298, 300, 309 f., 31 5 f., 329,
331 ff-, 340, 398, 400, 446, 453.
Friedrich der Große 520, 530.
G.
Garve 44, 67, 128, 133, 143, I67, 228,
238, 335.
H.
Hartmann, E. v., 201.
Hegesias 85-
Helvetius 55-
Heraklit 524.
Hume 117.
Hutcheson 83, 117.
K.
Kant 14, 22ff., 39f., 48f., 51, 57, 64,
66, 88 f., 96 ff., 109, 112, 118, 126,
129, 131, 133, 138, 141 f., 143, 149f.,
155, 157, 159, 165, I82f., 188, 191,
195, 197f., 200, 202ff., 206f.,209ff.,
214, 217, 221, 225f., 237, 260,
267, 271, 275 ff-, 280f., 285 f., 292,
299, 301, 31 7 f-, 330, 398, 404 ff.,
439, 445.
L.
Ludwig XIV. 530.
534
Personenregister.
Montaigne 39-
Nikomachos 114.
M.
N.
P.
Panaitios 148, 266.
Perikles 530.
Piaton 12, 34f., 37, 47, 58f., 68f., 73,
91, 95, I07f., 110, 113, 116, 158,
166, 174, 178, 232, 236, 246, 269 f.,
287, 290f., 309, 335, 338f., 397, 427,
507, 528.
S.
Schwarz, Karl 325.
Shaftesbury 43 f-, 52, 55, 62, 67, 117-
Smith 118.
Sokrates 454, 469-
Spinoza 35 ff-, 40, 46 f., 49, 56, 58f.,
68f., 73, 95, 108, 110, 113, II6, l60f.,
163, 166, 177, 189, 191, 194, 197,
223, 232f., 238f., 241, 245f., 269f.,
290f., 294, 296, 309, 337f-
Stobaios, Johannes 53-
T.
Tennemann, W. G.,
Theophrast 114.
W.
WoUaston 118.
Sachregister.
A.
Abgeratenes 423.
Abstammung: 482.
Achtung (abstoßende Grundkraft) 66.
Adel 511, 518.
Affekt 161.
Allgemeine, das 31 8f., 326, 506.
Allgemeinen, Vereinigung des — und
Eigentümlichen 63.
Analysten 8.
Aneignen 393 f.
Anglikanische Sittenlehre 335 f.
Anglikanische Schule s. Namenregister:
Shaftesbury.
— 83 f., 92., 102f., 109, 117, 202, 242.
Anglikanisches System 86.
Animalisation 41 3 f., 461 ff.
Antrieb, sinnlicher 421.
— sittlicher 421.
Aristokratie 509 f., 51 8.
Asketik 301, 304 ff., 308f.
Aufforderung, äußere 389:
Aufrichtigkeit in Aussagen 207ff.
Ausbildung und Entwicklung 196.
B.
Begehrungsvermögen 400f.
Begierde I6l.
Begriffe, Einteilung der formalen 258.
Beharrlichkeit 362, 372.
Belehrung, Strafe und 225 f.
Beleidigung 223 f.
— Abwehr von 224.
Beruf 272, 276, 394.
„Beruf" (Fichte) 63.
Beruf, Idee eines 265.
Berufsleben 421 f.
Bescheidenheit 238.
Besiegte 508 f.
Besitz, Begriff des I75f-, 481 f.
Besondere, das 264f., 270, 293, 3l8f.,
326, 506.
Besonnenheit 362, 365 f-, 368£., 372.
Betrachtung, sittliche 430.
Betrachtungsweise, Einseitigkeit der
350ff.
Bewußtsein 478, 485 ff.
— sittliches 433-
Einbilden in das 366.
Bürger 5l6ff.
Bürgerliche Gewalt 179.
Bürgerstand 511.
c.
Charakter, Verschiedenheit des 262.
Cyniker 49, 115, 203, 266, 315-
Cyrenaiker 55, 115-
Cyrenaische Schule 82, 191, 205.
D.
Dankbarkeit und Wohltätigkeit 217ff.,
238.
Demokratie 509 f.
Denken und Handeln 239-
Dialektik 397.
Dienstfertigkeit 218.
E.
Edelmütigkeit 166.
Ehe 183, 199 ff-, 2l5f., 280ff., 295f., 332.
536
Sachregister.
Ehe, Freundschaft in der 285-
— Ableitung der 298.
Ehre l6l, 213-
Ehrliebe 204.
Eigentum 225, 482f.
Eigentümliche, das 265, 463 f., 478 f.,
483, 51 7 ff-
Eigentümlichen, Ausbildung des —
zur Sittlichkeit 269.
Eigentümlichkeit, geschlechtliche 282.
Einheit und Vielheit, Gegensatz von 350f.
Einseitigkeit der Betrachtung s. Be-
trachtung.
Einzelwesen 479, 486 ff.
Elementarlehre 301.
Empfänglichkeit 360.
Enthaltsamkeit 132.
Entschluß 207, 252, 383 ff, 404, 447-
Epikureer 43-
Erde 461 f., 470.
Erdkunde 466.
Erfinden 321.
Erfindungslehre, Prinzipien der — in
der Ethik 321.
Erhaltung, Pflicht der 195 f-
Erholung 429-
Erinnerung, Falschheit der 213.
Erkennen 361.
Erkenntnis (zu unterscheiden von der
Klugheit) 229.
Erlaubnisgesetz 138 142, 439 f-
Erlaubtes 428, 433 f-, 444, 453-
Erlaubtes, Begriff des 1 35 f-, 404, 407 ff.
Erwachen, das 423 f.
Erwerbung 481.
Erziehung 328, 466, 495-
— (Recht des Staates) 497.
— (Zweck des Staates) 502f.
Erziehungskunst 301, 324 f.
Erziehungskünsteleien 512.
Erziehungslehre 309, 322, 325.
Ethik s. a. Sittenlehre.
— Ableitung der 15, 26, 31-
— Ableitung ihrer Grundsätze 22.
— Grundsatz der 74 f.
— Tauglichkeit des Grundsatzes 76.
— Aufbauendes Verfahren 76.
— Prüfendes Verfahren 76.
— Anwendung der Idee eines Sytsems
auf die 247 ff.
Ethik, angewendete 327.
— aus einer höheren Wissenschaft
her zu begründen 38.
— Bedeutung der Individualität für
die 261.
— Begriffe 124 f.
— Begriffe. 1. formale, 2. reale I24f.,
I27f., 179-
— Prüfung der formalen Begriffe 128 f.
— die drei Begriffe der — (Pflichten,
Tugend, Güter) 3l2f., 3 78 f.
Wechselbeziehungen 379.
— Darstellung der 9f., 127, 251, 255,
259, 273, 309, 311, 3l3f., 3l9f.,
328, 382, 449, 451.
— drei Verschiedenheiten des
Stiles 334 (s. auch Verfahren).
— endemische ll4f.
— formaler Teil 313-
— genießende 252f.
— des Genusses 169 ff-, 180.
— des Handels 171, 174.
— die Idee jeder Wissenschaft in der
323.
— Inhalt der 25 5 f.
: doppelte Forderung 1. Zuge-
hörigkeit, 2. Vollständigkeit 25 5 f.,
258, 273.
— der oberste Grundsatz der iy, 21.
— Kantische 100.
— Keim der wahren 345.
— negative 325.
— Nikomachische ll4f.
— praktische 171, l80f., 187, 213,
222, 224, 250f., 278, 294.
— propädeutische 296.
— Prüfung der Grundsätze 80ff.
— sympathetische 213, 220 f., 224.
— verschiedene Systeme 125 ff.
— systematisch gebildete 247 f., 252.
— universeller Charakter der 108, 110.
— Vorstellung der 248.
— eine Wissenschaft lOff., 53, HO,
153, 241, 290, 349, 445.
— Zusammenhang der — mit der
höchsten Wissenschaft 148 f.
— Zusammenhang anderer wissensch.
Disziplinen mit der 466.
Ethische, das — im allgemeinen oder
im Individuellen 61, 111, 261.
Sachregister.
537
Ethische, das Verfahren bei Bestimmung
des 74.
— Begriffe, Bildung und Ableitung
121 ff., 234 f., 243.
— Formeln, Grenzen der 302 f.
— Fortschritte 321.
— Gesetzgebung 134.
— Grundideen, Verschiedenheit der 253.
— Grundsätze, Tauchlichkeit der ver-
schiedenen 70ff.
Verschiedenheit, Mannigfaltig-
keit der 38 f.
— Ideen, die drei 70.
höchste 214.
— Reale, das 154.
— Reflexionsbegriffe 240.
— Sprache 246.
— Systeme, Prüfung der 128 ff.
Vollkommenheit der — in Ab-
sicht auf deren Gestalt 301 ff.
Vollständigkeit der — in Absicht
auf den Inhalt 259f., 289.
Widerspruch in einem 299.
Ethnographie 466.
Eudämonismus 81 f., 85 f., 89, 90f.,
95, 103, 111, 115, 119, 162, 173,
177, 202, 219, 222, 264, 308.
Eudämonisten 17S, 185, 232.
Eudämonistische Ethik 169, 171, I82f.,
213, 221 f., 231, 278f., 289, 307.
— Systeme 157-
F.
Falschheit 204.
Familie 328f., 462, 464, 472, 48l ff.,
492, 498, 504.
Formalismus (Kant) 51-
Formeln des höchsten Gutes 3l6f.
— Kantische 100.
— Übereinstimmung der 315.
Forschen als Pflicht 290.
Frau I99f., 274.
Freigebigkeit 228.
Freiheit 215, 500.
— Gedanke der 25, 30.
— Kategorien der (Kant) 126.
• — des menschlichen Handelns 13 ff.
Freiheitsbewußtsein 32 f.
Freimaurerei 184.
Freundschaft l8l, 212, 229, 277ff.,
281, 283 ff., 329.
Freundschaft (Lust) 181.
— in der Ehe 285-
— politische 285-
— sittliche, dialektische 66.
— Verschiedenheit der Arten 285-
Friede, ewiger 465, 493-
Furcht 88, 228, 308.
Furchtlosigkeit 190.
Q.
Gallikanische Schule s. Namenregister:
Ferguson 111.
— Sittenlehre 84, 238, 335 f.
— s System 86.
Gastfreundschaft 182, 484, 492.
Gebieten 402.
Gebot, das 433, 438.
Gedankenerzeugung, die Tätigkeit der
437.
Gegenliebe 199-
Gehorchen 400, 402, 407.
Geist, Einteilung des menschlichen 15.
— des gemeinen Lebens 235.
— Vollkommenheit des 188.
Gemeinsame, das 463 f., 517-
Gemeinschaft 392f., 479, 492.
— die Theorie der wissenschaftlichen
und der religiösen 327.
— geistige 487 ff.
Gemeinschaftliche (gleichartige Teile
der Gesamtheit) 64, 264 f., 270.
Gemütsstimmung, Verschiedenheit der
262.
Genie 526, 529.
Genießen 204.
Genuß 276, 293.
— Mäßigkeit im 197.
— Sittenlehre des 169, 172.
— Ursache eines Nichtgenusses 84.
Genüsse, sinnliche 92.
Gerechtigkeit 149, 166, I87, 205, 228 f.,
236, 373-
— vergeltende 381.
Geschichtskunde 466.
Geschlecht 462, 470 f.
— menschliches 470.
Geschlechtstrieb 197 f-, 200, 282.
— Verbindung des natürlichen — mit
geistigen Bedürfnissen 284.
Geselligkeit 299, 484.
538
Sachregister.
Geselligkeit Tugenden der freien 275-
Gesellschaft 275 f-, 517-
— häusUche und bürgerUche 183, 293-
507.
— wissenschaftliche 184.
Gesetz 119, 397 f- 403 f., 407 f., 438 ff.
— (das Wort) 399-
— ethischer Grundsatz in Gestalt eines
65.
— Formeln des 3l6f.
— politisches 65 ff-
Gesetzgebung der Vernunft 330.
— jüdische 403-
Gesinnung 47.
— Begriff der 231.
— Einteiluns: der tätigen l62f.
— in der Tat 408.
Gesundheit l85ff., 456f.
Getrostheit 23 1.
Gewerbe 519-
Gewissen 240, 243, 245, 394.
— Lehre vom 283.
— Fichtes Erklärung des 48.
— Handlungsweise des 268.
Gewohnheiten 1 SS-
Gewöhnungen 155.
Geziemende 48.
Glückseligkeit 41, 46, 49 f., 65, 92,
103, 118, 149f., 218, 252f., 264, 278,
293, 299, 458 f.
Glückseligkeitslehre 88, 232.
— Anwendbarkeit der Grundsätze der
88.
Gott 23 ff., 470.
— Ähnlichkeit mit 73, 107, 112, 178,
376.
— Erkenntnis 74.
— Strafwürdigkeit des Menschen vor
225.
— Verähnlichung mit 59, 376f.
— ist die Weisheit 376.
— der Wille Gottes 144.
— das höchste Gut 455-
Göttliches Reich, Idee eines 237-
Griechen, Ideal der 297-
Größe, Unterschied der 94.
Größenlehre 249, 251, 342.
Größenlehre, reine, angewendete 322.
Große, Begriff des 528.
Großherzigkeit 231.
Großmut 238.
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
(Kant) 317, 445.
Gut, das höchste 70ff., 84, 94flf., Il9f.,
168, 174, 252, 313, 420f., 454 ff.,
458ff., 469ff., 480, 488ff.
als Aggregat 80f.
— das höchste(der Gebrauch des Wortes)
1. adjektivisch 454f.,
2. substantivisch: ethisch, politisch,
ökonomisch, religiös, spekulativ
455f.
— Begriff des höchsten 445 ff.
— Bestimmung des höchsten 90.
— Darstellung des höchsten 459-
— Idee des höchsten 105 f.
— Konstruktion des höchsten 454.
— Hervorbringen des 168 f.
— und Übel, Prüfung des Begriffs 173-
356.
— Werden des höchsten 474 ff.
Güte des Herzens l64.
Güter 179, 436.
Güter, Begriff der 128 f., 167, I70f.,
175, 236, 304 f., 312, 314.
— Geschichte des Begriffs der 176.
— des Leibes 185-
— in der Seele und außer der Seele 1 76f.
— Unterschied zwischen den 173-
— Vorstellung von einzelnen 184.
Gutmütigkeit 238.
H.
Handeln 36I.
— als das Bilden und Darstellen 107f.
— Freiheit des menschlichen 13-
— unwillkürliches 77.
— willkürliches n.
— Grenzbestimmung des 138f.
— Grund des 107.
— pflichtmäßiges und pflichtwidriges
356, 382.
— das „Wie" des 259-
— Wissenschaft des 331-
Handlung, das eigentlich Reale der 252.
— Gehalt der 273-
— Gesetzlichkeit und Sittlichkeit einer
380.
— Maxime einer 57-
— Richtigkeit der 384.
Sachregister.
539
Handlung, sittliche 379-
— Trennung von Anfang und Fort-
gang 310.
— Trennung vom Werk 450.
— in jeder vollkommenen — alle Tu-
genden wirksam 153-
— Verhältnis einer — zur Formel 381.
. — Vollendung, Vollkommenheit einer
naturgemäßen 44 ff., 266.
Handlungen, Ähnlichkeit der 259-
— erlaubte 430f., 435-
Haushaltungskunst 322, 324, 326.
Herz 268.
Himmelreich 493-
Hochmut 211.
Horde, Zustand der 504 f., 507-
Hunger 426.
I.
Ich, Unabhängigkeit des 96.
— die innerste Bestimmtheit des 408.
Ichheit, Bedingungen der 101 f.
Idee des Guten 398.
Ideen, Ursprung der 19-
Imperativ, disjunktiver 404.
— hypothetischer 404 ff.
— kategorischer 400, 404 ff., 445.
Individuen, Mehrheit der 101 f.
Individuelles (und Allgemeines) 6if.
K.
Kasuistik 301 f., 304, 306ff.
Kategorischer Imperativ (Kant) 400,
404 ff., 445.
Keuschheit 201 f.
Kirche l84, 295f., 327, 510, 529-
Klugheit 149, 187, 205, 229ff.
— Maßregeln der 21 3.
Knabenliebe 279-
Kommunalverfassung 51 5-
Kraft, sittliche 98.
— tätige 154.
Kräfte, handelnde 154.
Kräfte, innere, handelnde I53f-
Krieg 299-
Kritik der gewöhnlichen Kritik 9.
— Grundsatz der eigenen 10.
— der praktischen Vernunft (Kant)
31 7 f-
Kunst 291 f., 295, 306, 363f, 478, 489f.,
492.
Künste, schöne 452.
— Verbindung der — mit der Ehr-
furcht vor den Göttern 293.
— Werke der 184.
L.
Laster I57f-, 203.
— Begriff der I28f.
Leben, Erhaltung des 190.
— ein fremdes retten 194.
— Entwicklung unseres 462, 472f.
Lebensentwicklung, Eintreten der In-
telligenz in die 472 f.
Leidenschaft 161.
Liebe 199f., 215, 277 ff-, 362, 372ff.,
394.
— (anziehende Grundkraft) 66.
— erziehende 374.
— pathologische 280.
— zum Vaterland 513-
Liebespflicht, Verwandlung der — in
Rechtspflicht 217.
Lob 240ff.
Lüge, innere 206.
Lust 41 f., 44 f., 64 f., 204, 276.
— als das Ziel der Sittlichkeit 52, 61.
— der Beruhigung 308.
— als Bestimmungsgrund 92.
— des Reizes 308.
— (als Ziel) 173, 179-
— Sittenlehre der 184 f.
— System der 46, 52, 54f., 81, 91,
189-
— die Unzulänglichkeit des Grundsatzes
bei allen Systemen 91.
— Übergang in einen Zustand größerer
Kraft 46.
— Art und Weise des Todes 46.
— Ursache der Unlust 84f.
M.
Mann, der Begriff des großen 521 ff.
— der große 507.
Masse, die 524.
Mäßigung 149, I87, 229, 233, 236, 364.
Mäßigkeit 197 f., 201.
Materialismus der Sittenlehre (Kant) 51.
540
Sachregister.
Mechanisierung des ganzen Gesamt-
lebens 392.
Mechanismus, äußerer oder innerer 112.
Mensch, Begriff des — als Gattung 61,
473.
— Erkenntnis des — als besondere
Natur 312.
— (Werkzeug des Gesetzes) 309.
— Wohlberatenheit des 93-
Menschliche Natur 318.
Methodenlehre 301.
Mitgefühl 222.
Mitteilung, freie (Allgemeines) 274 ff.
Mitteldinge, Begriff der 108 ff.
Monologen 5.
Moralische Werte, Anspruch auf 2l0f.
Moralisten, rationelle 433-
N.
Nachsicht 223 ff.
Natur, Musterbild der menschlichen 67 f.
Naturgaben 154.
Naturgemäßheit 41, 63, 101, IIS-
Naturgesetz 394 ff., 406 ff., 415, 453 f-
Naturkunde 466.
Naturnotwendigkeit 433-
Naturrecht 329ff.
— (Fichtes) 27, 331-
Naturtrieb 33, 56ff., 101, 156, 215.
Naturwissenschaft 342 f, 449-
— und Sittenlehre (entgegengestellt) 397,
415-
Neid 202, 223.
Neigungen 161.
— innere 389-
— (unsittliche) 93-
Nemesis 223, 229.
Notstaat 183, 300, 332.
0.
Obrigkeit 407, 503-
Ökonomik 3O6.
Ordnung 197-
Organisation 474 ff.
P.
Peripatetiker 116, 175, 179, iSl, l86f.,
265.
Person 480.
Pflicht 260, 303, 433-
Pflichten, allgemeine und besondere 146,
216.
— bedingte und unbedingte 147 f.
— aus der Selbsterhaltung abgeleitet
197-
— Begriff der 128 f., 132 ff., 139, 146,
151 ff., 157, 246, 256, 260f., 311,
314f., 328, 378ff., 417, 432, 459f-
— einfache und zusammengesetzte
140ff.
— Einteilung der 149.
— Einteilung in vollkommene und
unvollkommene I38ff., 141 f., 238.
— der Erhöhung der sitthchen Voll-
kommenheit 214.
— gegen Gott 143 ff.
— Pflichten gegen Leib, Intelligenz
und Mehrheit freier Wesen 148 f.,
I90ff.
— gegen sich als moralisches Wesen
203 f.
Pflichten gegen sich und gegen andere
143ff., 210.
— ist das Sittliche in einer Tat 138.
— der verschiedenen Stände 297-
— System der 244.
— Universahtät der 135-
— Verhältnis der — zum Gut 169.
— der Selbsterhaltung 190.
— verpflichtende 145-
— Widerstreit der 141, I57f-, 164.
Pflichtbegriff, Behandlung des 384f.
— Entwicklung des 379f-
— unbestimmter 227.
— im Widerspruch mit anderen 227.
— und Tugendbegriff, Verwechselung
des 2l6f.
Pflichtenlehre 446 f., 450, 460, 466.
Pflichtformel I39ff., 314, 380ff., 386,
389f.
— allgemeine 390.
— zwei besondere 392.
— zwei ergänzende 393.
Pflichtgefühl 268.
Pflichtmäßige, das 4l7ff-, 428 f., 433 f-,
443.
Pflichtmäßigkeit 226.
Pflichtwidrige, das 41 7 ff., 433 f-, 443-
Phantasie 25, 271.
Sachregister.
541
Philosophie, idealistische 332.
— theoretische und praktische, all-
gemeine 22, 25.
— Einteilung bei den Alten 21 f.
Physikotheologie 24.
Politik 309, 328 f.
Politische, das 236.
Privaterziehung 518.
Prüfen einer Wissenschaft, Gehalt u.
Gestalt der Darstellung 254.
R.
Rache 223-
Reale der Handlung, das 252.
Recht, das 394.
Rechtlichkeit 307.
Rechtsbegriff 331-
Rechtsgesetz 65.
Rechtslehre 446.
Rechtspflichten 139 ff-, 146.
Rechtspflicht. Formel der 394.
Rechtszustand 481 f., 491.
Reden über Religion 5-
Reichtum 161, 179, 306, 456 f.
— Theorie des 326.
Regierung 505.
Religion 490ff.
Ruf, Kränkung des guten 225.
s.
Sanftmut 223.
Schadenfreude 223.
Schamhaftigkeit 202.
Scherz 276 f.
Schlaf 426 f.
Schmaus (Kant) I83.
Schmerz 88, 222, 308.
— sinnlicher 364.
Schöne, Erhaltung des 188.
Schönheit 185.
Schulen 490.
Seele 70.
— Einteilung der 238 f.
— Güter der 186.
— Schönheit und Stärke 187.
— Vermögen der 163.
Seelenlehre, Zusammenhang mit der
Selbständigkeit, sittliche 393-
Sittenlehre 239.
Selbstbejahung, sittliche 432.
Selbstbewußtsein 487, 489, 492 f.
Selbsterhaltung, Einheit des Begriffs 194.
— Gesetz der 44, I90ff., 238.
— natürlicher Trieb der 55, 115, 419,
505 f.
— ohne Lust 83.
Selbsterkenntnis 203, 214.
Selbstgefälligkeit 519-
Selbstliebe 221.
Selbstmord, partieller 195, 300.
Selbstschätzung 211 f., 214, 240, 245.
Selbsttätigkeit 29ff., 360, 408.
— Begriff der lOi.
Selbsttötung 192.
Selbstverachtung 204.
Sieger 508 f.
SinnHchkeit 401.
Sittengesetz 73, 394 ff., 406 ff., 41 5, 453 f.
— höchste Idee der Ethik 34.
Sittenlehre s. a. Ethik.
— (Fichtes) 27, 65, 146 f., 298, 331, 446,
453.
— Gleichgültigkeit gegen die wissen-
schaftliche 449-
— ihre Anordnung und Einteilung
l6ff.
— Kritik der 456, 458,
— anwendbare 101.
— Auffassung und gegenwärtiger Ge-
brauch des Wortes i6f.
— eigener Entwurf der 349.
— Einteilung der Alten in wissenschaft-
liche und paränetische 307.
— des Genusses 264.
— keinem anderen Endzweck unter-
geordnet 10.
— Konstruktion der 401.
— Mangel der bisherigen 73.
— Mittelpunkt der Alten 115.
— und Naturwissenschaft (entgegen-
gestellt) 397.
— physikokratische 295-
— Prüfung der bisherigen 5, 9-
— reine angewandte 3l6ff.
— der Staatslehre untergeordnet 114.
— tätige l83f., 250, 253.
— Technik der 304.
— Unförmlichkeiten der bisherigen 315.
— verbunden mit Staatslehre (Aristo-
teles) 45-
542
Sachregister.
Sittliche, Begriff des 262.
— das — als Beschränkung 93.
— Bewußtsein des 189.
— das — ein einfaches Reales 160.
— Erkenntnis des 156.
— Gefühl für das 240ff.
— dem — Gesetzmäßigkeit zugeschrie-
ben I32f.
— Gleichförmigkeit alles 267 ff.
— das — als Quel'e der Lehensführung
47, 56.
— das — als Tätigkeit 58, 62 f.
— im Tugendbegriff, das — dargestellt
als Kraft 357-
— Verwechslung des — mit dem
Rechtlichen 137-
— Geistesgegenwart 243-
— Gesinnung I58f., 165.
— Grenz- und Größenbestimmung 136.
— Vollendung 64.
Sittlicher Charakter, der einzig mögliche
269.
Sittliches, Gegenstand des Verstandes
155.
— inneres, äußeres 155-
— Konstruktion des 139.
— Gefühl, Stärke und Feinheit des 188.
— Handeln als schaffend oder be-
schränkend 54fif., 95 f-
Sittlichkeit ästhetischer Vorbegriff der
155.
— allen gemeinschaftlich 94.
— des weiblichen Geschlechts 274.
— (Fichtes Prinzip 400.
— Negativität des Begriffes von der
339 f.
— Urteil anderer über unsere 214.
Soll, das, mit der sittlichen Erkenntnis
verbunden 403.
Sollen 400 ff. 408 f.
Sprache 488, 490 f.
— Reinigung und Sichtung der 356.
Sprachgebrauch 353, 355-
Sparsamkeit 197, 205-
Staat 183 f., 276, 291 ff., 296, 326 f.,
328, 331 f., 373, 452, 472, 491,
510.
— Aufhörung des 294.
— Beruf des — zur Erziehung 495 ff.
— (Gegner) 497-
Staat (Grenzen dieses Berufes) 498, 5i4f.
— im großen Stil 5l2ff.
Staatskunst 322, 324.
Staatskunde, Verbindung der — mit
dem Wissen 293.
Staatslehre, der Sittenlehre überge-
ordnet 114.
Staatsverfassung 466.
Staatsverwaltung 466.
Stände, Einteilung der 300.
— geschlossene 184.
Stärke 185-
Starkmütigkeit 166.
Stoiker 47 f., 53, 55f., 60, 63f., 94, 96ff.,
lOlf., 109, 115ff., 119, 128, 131,
133, 137, 150, 153, 158, 167, 175,
179, 181 f., 183, 186 f., 189, 195,
203, 221 f., 224 ff., 229ff., 236, 243,
266, 275, 277, 280, 286, 298, 3OO,
315, 337, 341, 352, 362, 369, 398.
Stoisches Paradoxon 82.
Stoische Schule 191.
Strafe 225, 402.
— und Belehrung 225 f.
Strafen 501.
Strafgesetzgebung 501.
Strafwürdigkeit 65-
Synonymie in verschiedenen Schulen
353-
System, Idee eines 247fM 255-
— Untauglichkeit eines 258.
T.
Tadel 240ff.
Talent 529.
Tapferkeit 149, 187, 228ff., 232f., 299,
372.
Tätigkeit 152, 155-
— anbildende 482, 484 f.
— freie 274. 450, 452.
— belebende — des Höheren 363.
— innere 273 f-
— reine 44.
— Sittenlehre der 185.
— sittliche 97-
— System der 46, 54 f., 108, 172, 189,
414.
— Unterschiedin den Darstellungen 55.
— Unterschied der Systeme 47.
Sachregister.
543
Tätigkeit s. Vernunftstätigkeit.
— äußere 429-
— pflichtmäßige 427 ff.
— symboHsierende 485 f-
— Trennung vom Werk 450.
Tätigkeitsethik 94, 265-
Teilnahme 221 ff.
Theologie, transzendentale 24.
Trägheit 204.
Treue 375-
— in Versprechungen 207 ff.
— Pflicht oder Tugend der 208.
Trieb, gedoppelter (zweifacher) 48, 52f.
^ höherer 56.
— (im Ich) 32f.
— reiner 56, 101.
— sittlicher 56ff., 93, 108f., 283-
Tugend 41 ff., 107, 156, l75f-, 227, 303-
— Begriff der 124, 128 f., 142, 150 ff.,
237, 304 ff., 308 f., 311, 314, 350,
359ff- 434f., 458f.
— Bewußtsein der 158.
— Einteilung der 160.
— Einteilung nach Zwecken und Gegen-
ständen 165-
— entwerfende und ausführende 366.
— erkennende 370.
— eine Erkenntnis 155, 158.
— Erklärung der 228.
— gesellige 166.
— kämpfende 370.
— und Laster 110, 238, 356f.
— (Ort des Gesetztwerdens) 228.
— soziale und egoistische 165.
— Verhältnis zur Pflicht I52f.
— Wesen der 151.
— zweite Einteilung: 1. vorstellende,
2. darstellende 361.
— zwiefältige: 1. belebende, 2. bekämp-
fende 359f-
— als bleibende, einwohnende Eigen-
schaft 60.
Tugenden als Güter 186.
— in einer Handlung 261.
— praktische 232.
— aus der Selbsterhaltung abgeleitet
197-
— Unterscheidung der 187.
— des Verstandes und Willens l63-
— vier 149, 186 ff., 229, 236.
Tugendbegriff, eine neue Darstellung des
350, 352.
— wissenschaftliche Darstellung 351 f-,
354.
Tugendbegriff, Verwechselung des
Pflicht- und 21 6f., 227.
Tugendformeln 314.
Tugendhafte, der 189.
Tugendlehre (Kant) 157, 446, 450, 460,
466.
u.
Übel 436.
— Begriff der l28f., 167.
— Grund des 271.
Übeltätigkeit 223.
Übertretungen, Begriff der 128 f.
Umgang, Gesetze des 275.
Unendliche, Das — notwendiger Aus-
gangspunkt objektiver Philosophie
38.
Unerschrockenheit 190.
Universalstaat 492 f.
Unlust, Ursache der Lust 84f.
Unschuldige, das 420.
Unsittliches, Begriff vom — (Stoiker)
53-
Unsterblichkeit 24 f.
Untertanen 503.
UnvoUkommenheit 163.
Urteil der Mitwelt 523.
— geschichtliches 522 f.
V.
Vegetation 41 2 ff.
Verbindungsbegriff, Mannigfaltigkeit des
103.
Verbot 438.
Verfahren, das aufbauende und ab-
leitende 91-
Verfahren, Beurteilung des 350.
Verfahren, dogmatisches — in der
Ethik 336.
— heuristisches — in der Ethik 338f.
— ein rhapsodisches und tumultuari-
sches — in der Ethik 335-
Verfassung 331.
Vergeltung 219-
Vergnügen 161.
544
Sachregister.
Verkehr 481, 483, 490 f.
Vernunft 271, 461 ff., 471 f., 478f., 485-
— menschliche, als gesetzgebend ge-
dacht 403 f.
— praktische 400.
Vernunftgehalt in der vorstellenden
Tätigkeit 363.
Vernunftgesetz 399» 409.
Vernunftlehre 249, 342.
Vernunftstätigkeit
1. organisierende 475 flf-, 480 f.
2. symbolisierende 475 ff-
Verstand, vollkommener 164.
— und Wille 292.
Verstandestugenden 363.
Verteidigung 225.
Vervollkommnung, System der 305.
Volk (Völker) 464 f., 472, 484, 491.
Völkerrecht 491.
Vollkommenheit 41, 46, 49f., 64, 67,
103, I49f., 163, 165.
— Pflicht der Erhöhung der sittlichen
214.
Vollkommenheitsethik 104, 269-
— endet in Untätigkeit 106.
Vorgezogenes 423-
Vorstellen 361.
W.
Wahnsinn 274.
Wahrhaftigkeit, äußere 207ff.
— innere 206.
Wahrheit 21 3 f.
Wahrheitsliebe 212.
Weise, der 151, 165, 189, 225f., 275,
31 3 f.
— (der — als ethische Idee) 70f., 90,
112, 119.
— Formeln des 3l6f.
— das Ideal des 262, 270.
— die Idee des 85f., 120.
Weise, Urbild des 266.
Weisheit 3 72 ff.
Weltkörper 409 fT., 470.
„Wesen, ein vernünftiges" (Kant) 51.
Wille 154.
— göttlicher 403.
— sittlicher 156.
— unendlicher 144.
— vernunftmäßiger 404.
Willen, Anmutung an den 409.
— Selbstherrschaft des 40.
— Verhältnis des — zur ethischen Idee
156.
Willensbestimmungen 443, 447 f.
Wissen 488, 491.
— seine Ableitung 288.
— ethische Konstruktion des 288.
— lebendiges 309.
— Verachtung des 289-
Wissenschaft, Einteilung aller 397.
— und Kunst 287.
Wissenschaften, Nützlichkeit der 289.
— praktische 322.
Wissenschaftslehre 20, 26.
Witz 276 f.
Wohlgebautheit 185 ff.
Wohltätigkeit, Begriff der 124, 209,
223, 238.
Wohltätigkeit und Dankbarkeit 2t 7 ff-
— Verpflichtungsgrund zur 219-
z.
Zeitalter Friedrichs des Großen 530.
— Grenze zweier 527.
— Ludwigs XIV. 530.
— des Perikles 530.
Zorn 223.
Zünfte 184.
Zweck 119-
Zweckbegriff 78, 371, 375, 450f.
Zweckbegriffe, Entwerfen der 366.
Bemerkungen zur Textbehandlung.
I. Kritik der Sittenlehre.
Dem Texte liegt zugrunde der Druck vom Jahre 1846 in den „Sämtlichen
Werken" (Georg Reimer, Berlin, Abteilung III, Band 1), da nach dieser Ausgabe
fast allgemein zitiert wird. Die neue Orthographie kam durchgängig zur Anwen-
dung, dagegen habe ich jetzt veraltete Wendungen oder Wortformen, wie „zum
Grunde liegen", „hieher" usw. stehen lassen. Die Interpunktion wurde bis auf die
Kommata im wesentlichen beibehalten; zur größeren Klarheit sind Anführungs-
striche gelegentlich eingefügt.
Schleiermacher gibt uns selbst ein Recht, die Kommata zu ändern, denn
er schreibt am 19. Oktober 1803 an Brinkmann: „Der Sezer hat mir ein paar-
tausend Komma angedichtet, an die meine Seele nicht dachte. Dagegen habe
ich, aus heimlichem Grauen davor, daß der Sinn so oft aus sein soll, viel zu
wenig Punkte gemacht, und dieses zusammen bildet ein abscheuliches Ganzes:
doch du kennst meine alte Klage über unsre Interpunktion, die mich gleich-
gültiger macht gegen mich und den Sezer. Entweder sollten wir ein viel
größeres, komponierteres System von Zeichen haben, oder ganz zu der alten
Simplicität zurückkehren" (Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. IV, 79).
Die sonst einem Texte gegenüber ja unerlaubten Veränderungen durch Sperrung
und weitere Gliederung sind nach reiflichster Überlegung aus dem Gesichtspunkte
vorgenommen, daß in diesem Falle die äußerliche Genauigkeit der sachlichen
Notwendigkeit geopfert werden muß. Es war in dieser Ausgabe ein wesent-
licher Zweck, den schwer verständlichen Text durch kleine Änderungen lesbarer
zu machen. Das dürfte wohl — wenn nicht philologisch, so doch philosophisch
gerechtfertigt sein. Über die Absätze schreibt Schleiermacher übrigens an Brink-
mann, 14. Dezember 1803: „Mit den Absätzen habe ich gedacht, daß wer sie
nicht selbst findet, dem würden auch die Andeutungen auf dem Papier nicht
helfen, und diese schienen mir um so weniger schicklich, da in der Sprache
eigentlich gar kein Absatz ist, sondern jede Periode grammatisch betrachtet auf
Schleiermacher, Werke. I. 35
546
Bemerkungen zur Textbehandlung.
gleiche Art mit der andern verbunden." Darin liegt eine Überschätzung des
lesenden Publikums schon jener Tage; um so mehr müssen wir uns bemühen,
für den heutigen Leser die Lektüre zu erleichtern. Wenn auch die Sprache als
solche keine Absätze hat — der Gedanke bedarf der Gliederung.
Verglichen wurde vor allem genau mit dem Urtexte von 1803. Es ergab
sich aber, daß die Abweichungen nur in unwichtigen Wortänderungen, Um-
stellungen usw., vermutlich vom Korrektor herrührend, bestehen. Die Ab-
weichungen der ersten drei Bogen füge ich zur Probe bei:
Seite
Zeile
11
letzte
14
4 von
oben
14
6
unten
15
3
»>
16
7
oben
19
6
unten
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3
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»
21
2
22
6
"
oben
22
18
unten
24
5
,,
oben
26
14
„
unten
27
7
„
oben
27
10
„
i>
28
14
„
unten
32
10
>•
oben
34
12
»
unten
ihr das Recht gibt berechtiget.^
solche welche.
dieser Begriff er.
fehlt: wir müssen.
wie . . . möge (denn auch gewählt pflegen sie ju werden K
jede . . . Forderung jede jedem die Forderung (nach
Druckfehlerverzeichnis jedem statt Idee),
wozu dieser ?m welcher er.
vor gehören -f- Sätze. ^
vor unsern -f- ist, kann.
Doch . . • selbst Nun von diesem Vorläufigen Ober den
Zweck ^ur Sache selbst.
des Daseins derselben ihres Daseins.
und . . . umfaßt und wie sie das Gebiet der Erkenntnis
dieser Art umfassen.
was nämlich . . . betrifft '-v/ ebensoweit . . . abgeschnitten.*
des . . . ihm und mit Einem.
Entwicklung Analyse.
vorgezogen hat ... zu bilden lieber hat bilden wollen^
vor als -f- lieber.
eingeschwärzt eingeschlichen.
eingeschwärzt eingeschlichen.
dem Faden, welchen dem, welches.
1 Text 1803 kursiv.
« =^ 1846 fügt hinzu Sätze
» = 1846 stellt um . . .
Bemerkungen zur Textbehandlung.
547
Seite
Zeile
34
6
von oben
vor schon -f- soll.
35
15
»
unten
die höchste '>^ eben wie Fichte.
39
13
»
>»
vor gebrauchen -j- dabei.
40
8
„
oben
genannten /Vw«j.
40
13
>»
unten
welche unter welcher.
40
12
„
f>
läßt W«&/.
40
12
>•
,,
daß welche.
40
9
f«
„
unterscheiden sollen unterscheidet.
40
8
1»
»
diesem ihm.
42
11
»
oben
daran davon.
42
17
»
unten
vor nachfolgende -\- der vorigen.
43
12
f»
>*
dort immer bei ihnen.
43
4-1
»•
»
(Mehrere Umstellungen der Worte.)
44
2
»»
oben
Shaftesbury sie.
44
8
»»
„
vor das Handeln -f- in diesem System.
44
14
»
»
welches . . . sind — lauter Beziehungen auf die Lust. —
45
6
„
t>
weil da/i.
45
14
»f
„
davon daran.
45
4
>i
unten
die Lust sie.
46
15
>»
oben
diese sie.
47
7
„
unten
vor jenen -f- doch.
48
7
"
»j
sonach . . ., woraus sonach die praktische als eine Wissen-
schaft von den End^ecken der Dinge, als eine Ein ■
sieht, woraus.
II. Akademieabhandlungen.
Dem Text liegt der Druck in den S. W. zugrunde, verglichen wurde mit
den ersten Drucken in den Abhandlungen der Berliner Akademie — es ergaben
sich keine nennenswerten Abweichungen.
35*
Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig.
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Date Due
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