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Full text of "Werke : mit einem Bildnis Schleiermachers und einem Geleitwort"

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DANIEL  FRIEDRICH  ERNST  SCHLEIERMACHER 

Nach  der  Büste  von  C.  Rauch  1825 
(In  der  Aula  der  Universität  Berlin) 


Schlefermacher. 


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Fr.D.E.Schleiermacher,Werke. 


Auswahl  in  vier  Bänden. 


Mit  einem  Bildnis  Schleiermachers /und 
einem  Geleitwort  von  Prof.  D.  Dr.  Aug. 
Dorner/ herausgegeben  u.  eingeleitet  von 
Dr.  Otto  Braun  und  Prof.  D.  Joh.  Bauer. 


Fritz  Eckardt  Verlag. 
Leipzig  1910. 


Schleiermachers  Werke. 


Erster  Band. 


NOV  18  1914 


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Geleitwort  von  August  Dorner  /  Vor- 
wort /  Einleitung  von  Otto  Braun  / 
Kritik  der  Sittenlehre  /Akademieabhand- 
lungen /  Register  /  Zur  Textbehandlung. 


Fritz  Eckardt  Verlag. 
Leipzig  1910. 


Inhalt. 

Seite 
Geleitwort I 

Vorwort XXXIII 

Allgemeine  Einleitung XXXV 

Inhaltsanalyse  der  „Grundlinien" CI 

Kritik  der  Sittenlehre 1 

Akademieabhandlungen 347 

Register 533 

Zur  Textbehandlung 545 


Geleitwort. 

Nachdem  die  skeptische  Hochflut  in  Deutschland  sich  zu  ver- 
laufen begonnen  hat,  fängt  man  wieder  an,  sich  zu  dem  Idealismus 
des  vorigen  Jahrhunderts  zurückzuwenden;  „Zurück  zum  Idealis- 
mus", „Hinauf  zum  Idealismus"  lautet  die  Devise.  Der  „Kampf 
um  die  Weltanschauung"  macht  sich  in  der  Repristination  der 
Romantik  Luft.  Andere  wollen  Werke  von  Hegel  oder  Schelling 
in  neuen  Ausgaben  zugänglich  machen.  Die  vorliegende  Sammlung 
gibt  ausgewählte  Werke  von  Schleiermacher  und  Teile  einzelner 
Werke.  Da  ich  in  der  Rückkehr  zu  dem  Studium  des  deutschen 
Idealismus  eine  durchaus  berechtigte  Reaktion  gegen  den  seichten 
Empirismus  sehe,  so  habe  ich  gerne  die  Bitte  des  Herausgebers 
erfüllt,  ein  Begleitwort  zu  diesem  Unternehmen  zu  schreiben,  in- 
dem ich  auf  diejenigen  Momente  hinweise,  welche  für  die  Gegen- 
wart die  Lebensarbeit  Schleiermachers  noch  bedeutsam  erscheinen 
lassen.  Denn  daß  man  vergangene  Zeiten  einfach  repristinieren 
kann,  davon  ist  natürlich  nicht  die  Rede. 

Die  Philosophie  Schleiermachers  ist  durch  ihre  Eigenart  be- 
fähigt, der  Gegenwart  noch  reiche  Ausbeute  zu  gewähren,  weil 
bei  ihm  sehr  verschiedene  Elemente  miteinander  kombiniert  sind. 
Er  hat  einmal  die  historische  Richtung  in  der  Philosophie  in- 
auguriert, durch  seine  Übersetzung  des  Plato  und  die  mannig- 
fachen Abhandlungen  in  der  Akademie  der  Wissenschaften  über 
Philosophen  des  klassischen  Altertums,  und  er  hat  doch  nicht,  wie 
es  nach  ihm  geschah,  diese  Untersuchungen  als  Selbstzweck  be- 
handelt, sondern  in  seiner  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre  das 
historische  Material  nach  großen  Gesichtspunkten  kritisch  gesichtet, 
um  durch  diese  historische  Kritik  hindurch  sich  seinen  eigenen 
Weg  zu  bahnen.  Hierdurch  trägt  aber  seine  Kritik  einen  ganz 
anderen  Charakter  als  die  Kants.  Denn  während  Kants  Kritik 
sich  auf  die  Untersuchung  der  menschlichen  Geistesvermögen 
reduziert,  hält  sich  Schleiermachers  Kritik  an  den  geschichtlichen 

Schleiermacher,  Werke.     I.  I 


II  Geleitwort. 

Zusammenhang.  Auf  Grund  historischer  Kritik  will  er  seine  An- 
sicht aufbauen.  Daß  er  dabei  auch  philologisch  vorgeht,  wie  er 
überhaupt  auf  die  Bedeutung  der  Sprache  für  das  Erkennen  und 
auf  den  verschiedenen  Gebrauch  der  Sprache  im  rhetorischen, 
poetischen,  didaktischen  Sinne  großes  Gewicht  legt,  entspricht 
durchaus  modernen  wissenschaftlichen  Tendenzen.  Wenn  er  aber 
in  seiner  Erkenntnistheorie  grundsätzlich  das  Recht  der  Kritik 
geltend  macht,  ja  es  als  eine  ethische  Forderung  ansieht,  daß 
der  Erkenntnisprozeß  stets  ein  kritisches,  ja  skeptisches  Moment 
in  sich  aufnehmen  müsse,  so  ist  er  darin  von  Kantischem  Geist 
beeinflußt. 

Mit  dieser  kritischen  Richtung  scheinen  nun  diejenigen  Werke 
in  Widerspruch  zu  stehen,  die  zuerst  seinen  Namen  bekannt  ge- 
macht haben,  die  Monologen  und  die  Reden  über  Religion,  die 
einen  weit  mehr  dichterischen  als  kritischen  Charakter  tragen. 
Allein  gerade  das  ist  ein  charakteristisches  Merkmal  der  Persön- 
lichkeit Schleiermachers,  daß  er  mit  der  kritischen  Anlage  eine 
seltene  Tiefe  des  Gemütes  und  eine  reiche  Phantasie  ver- 
bindet. Die  Kritik  war  imstande  sein  Gefühlsleben  zu  zügeln, 
wie  er  in  den  Monologen  die  Besonnenheit  der  Jugend  als  die 
Quelle  der  Jugend  des  Alters  preist.  In  seinem  Gemütsleben  ist 
die  Mystik  begründet,  die  er  in  dem  Gebiete  der  Religion  ver- 
tritt, in  der  er  die  Anschauung  mit  dem  Gefühl  verbindet;  die 
Phantasie  aber  ist  es,  die  ihm  den  Sinn  für  das  Gebiet  der  Ästhetik 
eröffnet,  auf  deren  Verbindung  mit  der  Geselligkeit  und  mit  der 
Religion  er  nach  Andeutungen  Kants  in  der  Kritik  der  Urteilskraft 
in  origineller  Weise  zuerst   eingehend   aufmerksam  gemacht  hat. 

Seine  ganze  Größe  aber  zeigt  sich  erst,  wenn  man  die  speku- 
lative und  dialektische  Kraft  hinzunimmt,  die  ihn  auszeichnet.  Er 
geht  auf  eine  einheitliche  Weltanschauung  aus,  ist  aber  zugleich 
so  vielseitig  interessiert,  daß  er  die  größesten  Gegensätze  in  sich 
vereinigt.  Einmal  ist  gerade  für  die  Gegenwart  die  Grundposition 
seiner  Erkenntnistheorie  von  hohem  Werte.  Wie  Kant  die  Empfin- 
dung und  Anschauung  von  dem  Verstände  und  dessen  apriorischen 
Kategorien  unterschied,  so  hat  Schleiermacher  die  empirische  und 
spekulative  Wissenschaft  unterschieden.  Während  die  absolute 
Philosophie  die  empirischen  Wissenschaften  von  der  Philosophie 
nicht  zu  unterscheiden  vermochte  und  die  von  der  Empirie  aus- 
gehenden Philosophen  für  die  Philosophie  kein  besonderes  Gebiet 
übrig  haben,  da  alles  nur  Abstraktion  aus  den  Empirie  sein  soll, 
so  hat  Schleiermacher  beide  Gebiete  anerkannt  und  für  jedes  eine 


Geleitwort.  IH 

relative  Selbständigkeit  beansprucht.  Dabei  bleibt  er  nicht  bei 
dem  Kantischen  Subjektivismus  stehen,  für  den  die  Natur  nur 
Erscheinung,  im  Grunde  von  dem  Ding  an  sich  abgesehen  unser 
eigenes  Produkt  ist,  für  den  die  Geisteswissenschaften  mit  der 
Untersuchung  der  Geisteskräfte  und  ihrer  Betätigung  im  w^esent- 
lichen  erledigt  sind  und  der  schließlich  seiner  gesamten  Grund- 
richtung nach  sich  mit  der  Untersuchung  des  Subjekts  begnügt, 
wie  seine  ganze  Erkenntnistheorie  sich  auf  die  Erforschung  der  Er- 
kenntnisvermögen und  seine  Ethik  sich  auf  die  subjektive  Gesinnung 
der  Hauptsache  nach  beschränkt.  Schleiermacher  dagegen  ist  objektiv 
gerichtet.  Er  erkennt  die  Gegensätze  von  Real  und  Ideal  an,  die 
in  der  absoluten  Identität  eins  sind,  während  Kant  mehr  subjektiv 
in  einem  Wesen  mit  intellektueller  Anschauung  den  Gegensatz 
von  Anschauung  und  Begriff  ausgeglichen  fand.  Weil  aber  für 
Schleiermacher  beides.  Real  und  Ideal,  in  der  absoluten  Identität 
eins  ist,  so  tritt  in  der  Welt  der  Gegensatz  von  Real  und  Ideal 
nicht  absolut  auf,  sondern  in  dem  Realen  ist  das  Ideale  und  im 
Idealen  das  Reale  enthalten.  Er  sagt  von  vornherein:  Wissen  und 
Sein  gibt  es  für  uns  nur  in  Beziehung  aufeinander.  Das  Sein  ist 
das  Gewußte,  und  das  Wissen  weiß  um  das  Seiende.  So  ist 
das  Wissen  von  vornherein  auf  das  Sein  gerichtet;  aber  auch 
das  Sein  ist  für  das  Wissen  da.  Das  Ideale,  das  Wissen,  hat 
eo  ipso  Beziehung  auf  das  Reale,  das  Sein.  Das  Reale  ist  eo  ipso 
auch  Gewußtes,  das  Sein  hat  Beziehung  auf  das  Wissen.  Zwar 
muß  das  höchste  Wissen  über  alle  Gegensätze  hinaus  sein,  aber 
unser  Wissen  kann  nur  ein  Ineinander  von  Gegensätzen  umfassen 
und  ist  ein  Abbild  des  höchsten  Wissens.  Der  letzte  Gegensatz, 
unter  dem  wir  alles  Wissen  zusammenfassen  können,  ist  der  des 
Geistigen  und  Dinglichen,  oder  des  Wissenden  und  des  Gewußten, 
oder  des  das  Sein  Wissenden  und  des  gewußten  Seins.  „Das  In- 
einander aller  Gegensätze  alles  dinglichen  und  geistigen  Seins 
als  dingliches  d.  h.  gewußtes  ist  die  Natur;  und  das  Ineinander 
des  Dinglichen  und  Geistigen  als  geistiges  d.  h.  wissendes  ist 
die  Vernunft."  Die  Vernunft  also  ist  Wissen  vom  Sein  und 
umfaßt  das  Ineinander  aller  Gegensätze  wissend;  die  Natur  da- 
gegen ist  gewußtes  Sein,  das  ebenfalls  das  Ineinander  aller 
Gegensätze  umfaßt.  Für  Schleiermacher  gibt  es  also  kein 
Wissen,  das  nicht  eine  Beziehung  zu  der  Realität  hat 
und  kein  Sein,  kein  Ding  an  sich,  das  ohne  Beziehung 
auf  das  Wissen  wäre.  Vernunft  und  Natur  sind  die  beiden 
Objekte  des  Wissens.    Denn  die  Vernunft  als  wissende  kann  so- 


IV  Geleitwort. 


wohl  sich  selbst^)  wissen  als  auch  die  Natur.  So  gibt  es  also 
Vernunftwissenschaft  und  Naturwissenschaft.  Ein  zweiter  Gegen- 
satz ist  aber  der  des  Allgemeinen  und  Besonderen,  des  Wesens 
und  der  Erscheinung.  Erscheinung  hat  aber  hier  nicht  den  Kanti- 
schen Sinn,  sondern  die  Erscheinung  ist  die  reale  Betätigung  der 
Kraft  im  besonderen,  das  „Dasein",  wie  das  Wesen  oder  die  Kraft 
immer  in  der  Erscheinung  hervortritt.  Hiernach  ist  das  Wissen  auch 
wieder  ein  doppeltes;  es  kann  überwiegend  auf  das  Wesen  gerichtet 
sein,  dann  ist  es  mehr  allgemein,  spekulativ,  oder  auf  die  Erschei- 
nung, dann  ist  es  „beachtend",  auf  das  Konkrete  überwiegend 
gerichtet,  empirisch.  Schleiermacher  unterscheidet  sich  hier  von 
Kant  dadurch,  daß  er  die  Vernunft  keineswegs  bloß  formal  denkt. 
Für  Kant  sind  die  Kategorien  lediglich  formal  und  können  ohne 
Beziehung  auf  die  Anschauung  und  Empfindung  in  keiner  Weise 
irgendeine  Erkenntnis  gewähren.  Schleiermacher  denkt  die  Ver- 
nunft produktiv,  da  sie  auf  ihre  Weise  auch  das  Sein  umfaßt  und 
so  kann  es  nach  ihm  eine  spekulative  Wissenschaft  geben,  weil 
die  Vernunft  nicht  bloß  formal  ist,  sondern  auch  einen  Inhalt  hat, 
die  Prinzipien  des  Seins,  „das  Wesen",  in  sich  birgt,  wenn  auch 
als  wissende  auf  ideale  Weise.  Andererseits  ist  die  Erscheinung 
das  Einzelne,  Besondere  für  sich  zwar  dem  Begriff  nicht  völlig 
zugänglich  und  kann  deshalb  auch  nicht  a  priori  konstruiert 
werden,  aber  sie  ist  doch  Erscheinung  des  Wesens,  das  sich  in 
ihr  in  konkreter  individueller  Form  darstellt.  So  erkennt  Schleier- 
macher eine  empirische  Naturwissenschaft  an,  unterscheidet  aber 
von  ihr  die  Naturphilosophie,  oder  spekulative  Physik,  die  die 
leitenden  Prinzipien  der  empirischen  Naturwissenschaft  umfaßt. 
Ebenso  gibt  es  eine  spekulative  Vernunftwissenschaft,  die  die 
Aktivität  der  Vernunft  auf  die  Natur  ihren  Grundbegriffen  nach 
schildert,  die  Ethik  und  eine  empirische  Vernunftwissenschaft, 
die  Geschichte.  Die  Prinzipien  zum  Verständnis  der  Geschichte 
enthält  die  Ethik.  Schleiermacher  will  also  die  empirischen 
Wissenschaften  zu  ihrem  selbständigen  Recht  kommen 
lassen,    ohne   der  Spekulation  zu   nahe  zu  treten.     Beide 


1)  Im  Unterschied  von  Kant,  der  die  Existenz  der  theoretischen  Ver- 
nunft bezweifelt  und  leugnet,  daß  man  die  Existenz  des  der  synthetischen 
Tätigkeit  zugrunde  liegenden  Ich  erkennen  könne,  ist  für  Schleiermacher 
auch  die  Vernunft  als  wissende  nicht  aller  Realität  bar,  sondern  auch  ihr 
liegt  ein  Sein  zugrunde,  wie  es  für  ihn  überhaupt  kein  Wissen  ohne  Wollen, 
ohne  Tätigkeit  gibt.  Und  ebenso  ist  auch  das  zu  erkennende  Objekt  nicht 
bloß  Phänomen,  da  das  Sein  selbst  intelligibel  ist,  für  das  Wissen  bestimmt  ist. 


Geleitwort. 


sind  nach  dem  Gesagten  in  der  Dialektik  begründet,  welche  das 
Wissen  an  sich  untersucht  und  die  Einheit  von  Erkenntnistheorie 
und  Metaphysik  darstellt. 

Eine  Verbindung  der  empirischen  und  spekulativen  Ver- 
nunftwissenschaft, der  Geschichte  und  Ethik  hat  Schleiermacher 
in  kritischen  und  technischen  Disziplinen  gefunden,  welche  die 
Grundsätze  der  spekulativen  Vernunftwissenschaft  auf  die  empiri- 
schen Zustände  teils  zum  Behufe  der  Kritik  anwenden,  teils  um 
technische  Anweisungen  für  die  Durchführung  dieser  Grundsätze 
unter  empirischen  Verhältnissen  zu  geben. 

In  der  Psychologie  ferner  ist  eine  Kombination  von  Vernunft- 
und  Naturwissenschaft  gegeben.  Denn  die  Seele  mit  ihrem  Orga- 
nismus stellt  diejenige  Vereinigung  von  Vernunft  und  Natur  dar, 
welche  die  Grundlage  für  das  sittliche  Handeln  ist.  Man  kann 
nun  die  Seele  mit  ihrem  Organismus  von  der  Naturseite  betrachten, 
sofern  sie  der  Gipfel  des  Naturlebens  ist.  Man  kann  sie  aber 
auch  ethisch  betrachten,  sofern  sie  mit  ihren  Vermögen  aus  der 
gattungsmäßigen  Tätigkeit  der  Vernunftwesen  hervorgeht.  Die 
Psychologie  ist  also  ebenso  ethisch  bestimmt  wie  physisch,  und 
da  sie  es  mit  der  Vereinigung  von  Vernunft  und  Natur  in  einem 
Einzelwesen  zu  tun  hat,  ist  sie  auch  metaphysisch  begründet. 
Ethik,  Physik,  Metaphysik  sind  an  der  Psychologie  beteiligt.  „Im 
einzelnen,  im  höheren  Sinne  für  sich  Setzbaren  ist  das  Ineinander 
des  Dinglichen  und  Geistigen  ausgedrückt  im  Zusammensein  und 
Gegensatz  von  Seele  und  Leib."  Das  Werk  des  Geistigen  in  der 
Natur  ist  die  Gestalt,  das  Werk  des  Dinglichen  in  der  Vernunft 
ist  das  Bewußtsein;  wo  Gestalt,  da  ist  auch  entsprechendes  Be- 
wußtsein. Ohne  Gestalt  wäre  der  Leib  ohne  Geistiges,  bloßer 
Stoff.  Ohne  dingliche  Affektion  wäre  die  Seele  ohne  Bewußtsein. 
(Psychophysik.)  Bewußtsein  ist  nur,  wo  Sein,  Dingliches  gewußt 
wird,  Bewußtsein  ist  immer  ein  Wissen  von  einem  Sein. 

Man  ist  heute  vielfach  geneigt,  die  Psychologie  zur  Grund- 
wissenschaft zu  machen,  da  alles  psychologisches  Phänomen  sei. 
Schleiermacher  geht  dieser  Einseitigkeit  gegenüber  davon  aus,  daß 
es  für  das  Erkennen  nicht  genüge,  bloß  die  subjektiven  seelischen  Er- 
scheinungen zu  untersuchen,  die  ihm  vielmehr  selbst  zugleich  objek- 
tiv begründet  sind.  Das  Subjekt  ist  nicht  das  alleinige  Fundament 
des  Erkennens,  dieses  ist  vielmehr  an  das  reale  Objekt  gebunden, 
wie  umgekehrt  das  letztere  der  erkennenden  Vernunft  zugänglich 
ist.  Das  Erkennen  ist  für  ihn  nicht  bloß  eine  psychologische  Funk- 
tion, sondern  das  Hereinnehmen  des  Seins,  des  Realen,  der  js^atu»' 


VI  Geleitwort. 


in  die  Vernunft,  des  Objektiven  in  das  Subjekt.  So  überwindet 
er  auf  seine  Weise  die  Einseitigkeit  des  psychologischen  Subjek- 
tivismus. Und  doch  hat  er  auf  der  anderen  Seite  sov^ohl  den 
psychophysischen  Zusammenhang  als  auch  die  große  Bedeutung 
der  Psychologie  für  die  Geisteswissenschaften  erkannt,  ja  er  hat 
zuerst  die  Religion  psychologisch  untersucht. 

Schleiermacher  vereinigt  die  dialektische  Kraft  mit  der  Glut 
der  Mystik  und  der  Schärfe  des  kritischen  Verstandes.  Es  gibt 
vielleicht  keine  Schrift,  die  in  so  virtuoser  Weise  die  Vereinigung 
der  Dialektik  mit  der  psychologischen  Analyse  darstellt,  wie  seine 
Glaubenslehre.  Obgleich  nur  als  Sammlung  von  Reflexionen  über 
Einzelerfahrungen  gedacht,  ist  sie  doch  mit  einer  so  konzentrierten 
Einheitlichkeit,  einer  so  inneren  Beziehung  der  einzelnen  Teile 
aufeinander,  die  alle  als  Teile  einer  Grunderfahrung  aufgefaßt 
werden,  mit  einer  so  virtuosen  dialektischen  Kunst  aufgebaut,  daß 
sie  in  dieser  Beziehung  nicht  übertroffen  ist.  Dieselbe  Verbindung 
von  dialektischer  Kunst  mit  psychologischer  Analyse  finden  wir 
auch  in  seiner  „christlichen  Sitte"  und  würden  wir  wohl  in  noch 
höherem  Maße  finden,  wenn  er  sie  noch  selbst  hätte  herausgeben 
können.  Besonders  beachtenswert  aber  ist  es,  mit  welcher  Präzision 
er  sich  über  die  Methode  selbst  Rechenschaft  gibt.  Dafür  ist  ein 
glänzendes  Beispiel  seine  Hermeneutik  und  Kritik,  in  der  er  die 
Prinzipien  der  Erkenntnistheorie  auf  das  philologische  Verständnis 
anwendet  und  zugleich  auch  hier  die  große  Bedeutung  der  Psycho- 
logie für  das  richtige  Verstehen  und  Beurteilen  der  Schriftsteller 
hervorhebt.  Kurz,  wenn  Schleiermacher  auch  nicht  so  einseitig 
ist,  die  Psychologie  zu  der  Grundwissenschaft  überhaupt  zu  machen, 
so  ist  es  doch  bei  ihm  ein  charakteristischer  Zug,  daß  in  seiner 
Ethik  wie  in  seiner  Religionswissenschaft  und  in  der  „kritischen 
Disziplin"  der  Ästhetik,  wie  in  der  technischen,  der  Pädagogik, 
die  Psychologie  eine  hervorragende  Rolle  spielt. 

Er  hat  der  Religion  eine  besondere  Provinz  im  Seelenleben 
zuweisen  wollen  und  ihr  dadurch  eine  eigentümliche  Stellung  ge- 
geben, die  sie  von  dem  Intellektualismus  und  Moralismus  befreien 
soll.  Neben  dem  Willen,  den  er  als  das  ursprüngliche  Organ, 
und  dem  Erkennen,  das  er  als  das  ursprüngliche  universale  Symbol 
der  Vernunft  ansah,  betont  er  das  Gefühl,  das  unmittelbare  Selbst- 
bewußtsein, und  während  das  Subjekt  in  dem  Willen  aus  sich 
herausgeht,  im  Erkennen  dagegen  das  Objekt  in  sich  herein- 
nimmt und  ihm  den  Stempel  der  Vernunft  verleiht,  stellt  das  Ge- 
fühl, das  unmittelbare  Selbstbewußtsein  die  Indifferenz  von  beiden 


Geleitwort.  VlI 


dar.  Eben  daher  soll  auch  in  dem  Gefühl  die  Gottheit  gegenwärtig 
sein,  welche  die  gegensatzlose  Einheit  der  Gegensätze  ist.  Denn  da 
im  Erkennen  ein  Hereinnehmen  des  Objektiven,  dem  Subjekt  Äußer- 
lichen in  die  Vernunft  und  im  Wollen  ein  Heraustreten  der  Vernunft 
in  die  äußere  objektive  Welt  vor  sich  geht,  ist  die  Gottheit  für  das 
Erkennen  und  Wollen  die  transzendente  Voraussetzung,  sofern 
sie  die  Vereinbarkeit  von  Vernunft  und  Natur  als  die  letzte  Einheit 
garantiert;  und  im  unmittelbaren  Gefühl  ist  sie  als  solche  Einheit 
gegenwärtig.  Wenn  er  in  den  Reden  die  Religion  als  Einswerden 
mit  dem  Unendlichen  bezeichnet,  so  ist  eben  seine  Meinung,  daß  das 
unmittelbare  Selbstbewußtsein  imstande  ist,  diese  Einheit,  die  allen 
Gegensätzen  zugrunde  liegt,  inne  zu  werden;  und  dasselbe  tritt 
in  der  Dialektik  hervor,  wenn  er  Gott  in  dem  Gefühl  als  dem 
Indifferenzpunkt  der  Gegensätze  sein  läßt.  Es  scheint  dem  zu 
widersprechen,  wenn  er  andererseits  in  der  Ethik  das  Gefühl  doch 
wieder  nur  als  das  individuelle  ursprüngliche  Symbol  bezeichnet. 
Damit  scheint  er  dem  Gefühl  eine  einseitige  Stellung  zu  geben, 
nämlich  auf  der  Seite  des  symbolisierenden  Handelns,  während 
das  Gefühl  die  Indifferenz  des  Gegensatzes  darstellen  soll.  Aber 
einmal  wird  hierdurch  das  Gefühl  oder  das  unmittelbare  Selbst- 
bewußtsein schon  eo  ipso  als  Produkt  des  Handelns  der  Vernunft 
vernünftig,  was  man  für  Schleiermachers  Religionsbegriff  nicht 
aus  den  Augen  lassen  darf.  Sodann  aber  ist  in  dem  Gefühl  doch 
eine  unmittelbare  Einheit  von  Vernunft  und  Natur  gegeben,  ein  Be- 
wußtsein realster  Art,  Selbstbewußtsein,  individuelles  Selbstbewußt- 
sein, also  eine  ganz  andere  Art  von  Einheit  von  real  und  ideal  als 
im  Erkennen  oder  Wollen:  der  Gegensatz  von  real  und  ideal  ist  eben 
hier  ausgeglichen  in  dem  unmittelbaren  Bewußtsein  des  Selbst 
von  sich  als  Realität.  Endlich  aber  ist  gerade  in  diesem  Aus- 
gleich auch  die  Einheit  der  Gegensätze  von  Vernunft  und  Natur, 
von  real  und  ideal,  d.  h.  die  höchste  Einheit  oder  das  absolute 
Wesen  unmittelbar  gegenwärtig.  Das  Selbstbewußtsein  in  seiner 
Unmittelbarkeit  ist  zugleich  Gottesbewußtsein.  Beides  läßt  sich 
seiner  Meinung  nach  gar  nicht  trennen.  Als  die  höchste  Einheit 
ist  die  Gottheit  in  dem  unmittelbaren  Selbstbewußtsein  eo  ipso 
gegenwärtig. 

Wenn  Schleiermacher  dieses  selbe  Bewußtsein  in  seiner  Glaubens- 
lehre absolutes  Abhängigkeitsbewußtsein  nennt,  so  scheint  das  hier- 
mit nicht  zu  stimmen.  Allein  das  verbindende  Glied  ist  in  dem 
Einheitsbewußtsein  gegeben.  Nur  in  diesem  Gottesbewußtsein  ist 
wirklich  das  Bewußtsein  der  Einheit  vollzogen,   während    in  den 


YH!  Geleitwort. 

anderen  Funktionen  einseitige  Betätigung  ist.  Geht  man  nun  von 
der  Tatsache  aus,  daß  das  Subjeiit  sich  zu  der  Welt  im  Gegen- 
satz befindet,  ihr  relativ  frei  und  relativ  abhängig  gegenübersteht, 
so  kann  die  Einheit  nur  gefunden  werden  in  der  absoluten  Ab- 
hängigkeit, d.  h.  darin,  daß  die  relative  Freiheit  wie  die  relative 
Abhängigkeit  von  der  Welt  auf  das  Absolute  zurückgeführt  wird, 
daß  das  Subjekt  sich  mit  der  Welt  absolut  von  Gott  abhängig 
weiß.  Das  unmittelbare  Selbstbewußtsein  kann  die  Einheit  nur  voll 
darstellen,  wenn  in  ihm  auch  der  Gegensatz  von  relativer  Freiheit 
und  relativer  Abhängigkeit  zur  Einheit  gebracht  ist,  d.  h.  wenn 
dieses  unmittelbare  Selbstbewußtsein  eo  ipso  zugleich  absolutes 
Abhängigkeitsbewußtsein  ist.  Gott  ist  in  dem  unmittelbaren  Selbst- 
bewußtsein  als  die  alle  in  ihm  vorhandenen  Gegensätze  aus- 
söhnende Einheit,  nicht  als  die  alles  konkrete  Bewußtsein  aus- 
löschende, das  individuelle  Bewußtsein  vernichtende  Einheit.  Erst 
wenn  die  Gegensätze  klar  hervorgetreten  sind,  kann  in  dem  reli- 
giösen Bewußtsein  auch  die  Einheit  dieser  Gegensätze  klar  erfaßt 
werden.  Gott  ist  in  dem  Menschen  gegenwärtig,  indem  der  A\ensch 
sich  mit  seinen  Gegensätzen  auf  die  letzte  Einheit  bezieht,  von 
der  alle  Gegensätze  umspannt  werden,  und  das  geschieht  in  seinem 
unmittelbaren  Selbstbewußtsein,  in  welchem  der  Gegensatz  von 
real  und  ideal  zur  Einheit  gebracht  ist,  in  welchem  der  Gegen- 
satz von  relativer  Freiheit  und  Abhängigkeit  in  dem  schlecht- 
hinnigen  Abhängigkeitsbewußtsein  ausgeglichen  ist.  Zugleich  aber 
tritt  hier  zutage,  daß  die  Seele  nicht  in  der  Einheit  untergeht. 
Indem  sie  sich  mit  allen  Gegensätzen  schlechthin  abhängig 
weiß,  weiß  sie  sich  von  Gott  unterschieden,  mit  dem  sie  sich 
eins  weiß. 

So  ist  hier  das  Individuellste  unmittelbar  auf  Gott  bezogen 
und  eben  dadurch  auch  in  die  göttliche  Einheit  aufgenommen, 
aber  nicht  für  sich  allein,  sondern  mit  all  den  Gegensätzen  und 
Beziehungen,  in  denen  es  steht;  eine  solche  Religion  kann  nicht 
egoistisch  sein;  sie  enthält  eo  ipso  die  Unterordnung  alles  Kon- 
kreten unter  die  Einheit  und  den  Antrieb  alle  Gegensätze  durch 
die  Einheit  auszugleichen.  Erkennen  wie  Handeln  sind  in  einer 
so  bestimmten  Frömmigkeit  der  Einheit  untergeordnet.  Diesem 
unmittelbaren  individuellen  Selbstbewußtsein  ist  die  Gottheit  auf 
die  Weise  immanent,  daß  zugleich  der  gesamte  Inhalt  des  Welt- 
und  Selbstbewußtseins  in  das  Gottesbewußtsein  aufgenommen  ist, 
so  daß  Gott  als  die  allumfassende  Einheit  in  dem  unmittelbaren 
Selbstbewußtsein  gewußt  wird.     Es  ist  klar,   daß  seine  metaphy- 


Geleitwort.  IX 

sische  Position,  welche  die  Einheit  der  Gegensätze  von  real  und 
ideal,  von  Vernunft  und  Natur  in  Gott  zusammenfaßt,  in  seiner 
Mystik  ihren  Höhepunkt  erreichen  muß,  weil  das  unmittelbare 
Selbstbewußtsein  die  konzentrierteste  Einheit  der  Gegensätze  in 
der  Welt  darstellt. 

Diese  Mystik  ist  auch  interessant,  insofern  Schleiermacher  in 
dem  unmittelbaren  Selbstbewußtsein  den  Punkt  gefunden  zu  haben 
glaubt,  der  den  Menschen  direkt  mit  Gott  verbindet.  Kant  hatte 
nur  von  der  praktischen  Vernunft  aus  einen  Schluß  auf  Gott  ge- 
wagt, während  er  der  theoretischen  Vernunft  die  Gotteserkenntnis 
verwehrt  hatte.  Nur  mittels  der  praktischen  Vernunft  und  des 
moralischen  Gottesbeweises  sollte  der  Schritt  in  die  transzendente, 
die  Erfahrung  übersteigende  Welt  gemacht  werden.  Zwar  ist  auch 
bei  Kant  das  Streben  nach  einer  abschließenden  Einheit  der  Faktor, 
der  ihn  zu  der  Gottesidee  treibt,  indem  wir  theoretisch  Gott  als 
das  All  der  Realität  denken,  ohne  ihn  freilich  als  wirklich  existierend 
beweisen  zu  können,  und  ihn  praktisch  als  den  postulieren,  der 
die  Einheit  von  Sitten-  und  Naturgesetz  garantiert  und  damit  die 
Durchführbarkeit  des  Sittengesetzes  in  der  Natur  verbürgt.  Aber 
diese  Einheit  ist  bei  Kant  teils  Postulat,  teils  überhaupt  nur 
theoretische  „regulative,  nicht  konstitutive"  Idee.  Schleiermacher 
dagegen  hat  in  dem  unmittelbaren  Selbstbewußtsein  Gott  als  Ob- 
jekt der  Erfahrung.  Die  Einheit  ist  hier  unmittelbar  gegeben, 
während  sie  bei  Kant  nur  erschlossen  ist.  Gott  ist  im  Gefühl, 
sofern  hier  die  unmittelbare  Einheit  von  Vernunft  und  Natur  ge- 
geben ist.  Wenn  dagegen  Kant  gelegentlich  die  praktische  Ver- 
nunft für  sich  selbst  den  Gott  in  uns  nennt,  so  hat  er  da  gänz- 
lich übersehen,  daß  der  homo  Phaenomenon  und  die  Natur  auch 
noch  da  ist,  und  negiert  im  Grunde  die  Natur  oder  schließt  die 
ganze  phänomenale  Welt  von  der  Beziehung  zu  Gott  aus.  Schleier- 
macher konnte  in  dem  Gottesbewußtsein  wirklich  den  einheit- 
lichen Abschluß  unseres  Bewußtseins  finden  und  so  ist  das  Gottes- 
bewußtsein die  höchste  Erscheinungsform  der  Vernunft  in  indivi- 
duellen Ichpunkten.  Eben  damit  ist  aber  die  Kantische  Trennung 
zwischen  dem  konkreten  empirischen  Menschen,  der  nur  Erschei- 
nung sein  soll,  und  dem  abstrakten  allgemeinen  Vernunftwesen, 
das  in  allen  gleich  ist,  ebenfalls  überwunden.  Das  individuell 
bestimmte  unmittelbare  Selbstbewußtsein  ist  direkt  mit  Gott  ver- 
bunden. Daher  ist  durch  die  Beziehung  auf  Gott  die  konkrete 
Welt  nicht  ausgeschlossen.  Vielmehr  hat  die  Religion  zugleich  in- 
dividuelle Färbung  und  das  ist  das  psychologische  Element  in  ihr. 


X  Geleitwort. 

Wie  er  aber  so  imstande  ist,  die  Mannigfaltigkeit  des  religiösen 
Lebens  zu  verstehen,  so  ist  auch  durch  diese  Kombination  die 
Ethik  bereichert.  Denn  in  der  unmittelbaren  Einheit  mit  Gott,  in 
dem  alle  Gegensätze  ausgeglichen  sind,  ist  das  individuelle  Moment 
zugleich  mit  dem  universellen  verbunden,  und  u^as  Schleiermacher 
in  seinen  Monologen  geltend  gemacht  hatte,  daß  die  Individualität 
sich  ausleben  solle,  indem  sie  sich  zum  Spiegel  der  ganzen  Welt 
macht  und  sich  allseitig  betätigt,  ist  hier  religiös  sanktioniert, 
aber  nicht  in  der  Art  der  Romantiker,  die  das  Recht  der  Indivi- 
dualität einseitig  ausbilden.  Vielmehr  ist  das  Empirische,  Einzelne 
immer  mit  dem  Vernünftigen,  Idealen  verbunden,  das  universell  ist. 
Das  Individuum  weiß  sich  mit  allen  anderen  Individuen  von  Gott 
abhängig  und  hierin  liegt  auch  die  Anerkennung  der  anderen  Indivi- 
duen und  der  Ausgleich  des  Gegensatzes  von  individuell  und 
universell.  Ja  man  kann  sagen,  daß  die  göttliche  Einheit,  die  in 
jedem  Subjekt  ist,  der  göttliche  Geist,  dazu  dient,  die  Gemeinschaft 
zu  fördern,  indem  die  Individuen  durch  ihre  gemeinsame  Beziehung 
auf  die  Gottheit  zusammengehalten,  in  ihren  individuellen  Be- 
stimmtheiten einander  gegenseitig  anschauen  und  so  sich  gegen- 
seitig bereichern. 

Man  hat  gemeint,  Schleiermacher  habe  durch  das  Bewußtsein 
der  absoluten  Abhängigkeit  die  Tätigkeit  der  Subjekte  und  ihre 
Freiheit  lahm  gelegt.  Allein  das  ist  durchaus  nicht  der  Fall. 
Denn  Gott  ist  als  aktueller  in  dem  Bewußtsein  vorhanden  und 
nur  an  dem  Gegensatz  der  relativen  Freiheit  und  relativen  Ab- 
hängigkeit kommt  die  absolute  Abängigkeit  zum  Bewußtsein,  die 
aber  gar  nicht  die  Freiheit  ausschließt,  sondern  sie  begründet. 
Gott  ist  —  objektiv  ausgedrückt  —  nach  Schleiermacher  Kausa- 
lität setzende  Kausalität.  Indem  die  Subjekte  sich  von  ihm  absolut 
abhängig  wissen,  wissen  sie  sich  auch  in  ihrer  relativen  Freiheit 
durch  Gott  bestärkt.  Der  Gott,  von  dem  sie  abhängen,  ist  aktueller 
Gott  und  wird  in  der  höchsten  Form  der  Religion  als  die  Quelle 
der  Aktivität  gewußt,  der  Mensch  weiß  sich  von  Gott  als  tätigem 
abhängig,  der  ihn  aktiv  macht.  Die  Abhängigkeit  von  Gott  gibt 
zur  Selbsttätigkeit  gegenüber  der  Welt  den  Impuls.  Der  Mensch 
weiß  Gott  in  sich  wirkend.  Während  Kant  nur  eine  mit  der 
Vorstellung  von  Gott  verbundene  schlechthin  autonome  Tätigkeit 
kennt,  hat  Schleiermacher  die  eigene  Tätigkeit  zugleich  als  von 
Gott  begründete  aufgefaßt.  Wenn  die  Vertreter  der  Prädestination 
jede  Selbsttätigkeit  im  Grunde  leugnen  müßten  und  Kant  Gottes 
Aktion  zurückstellte,  versuchte  Schleiermacher  eine  Verbindung  der 
Abhängigkeit  mit  der  Freiheit,  der  Frömmigkeit  mit  der  Sittlich- 


Geleitwort.  XI 

keit  herzustellen.  Da  ist  es  ganz  begreiflich,  daß  Schleiermacher 
durch  die  Religion  nicht  das  Erkennen  oder  Handeln  lahm  legt. 
Im  Gegenteil  ist  Gott  die  Voraussetzung  dafür,  daß  erkannt  und 
gehandelt  werden  kann,  weil  er  die  Gegensätze  von  Subjekt  und 
Objekt,  von  Vernunft  und  Natur  zur  Einheit  zusammenhält.  Das 
Gottesbewußtsein  steht  also  im  Gegenteil  mit  dem  Denken  und 
Handeln  im  Bunde,  weil  es  Gott  als  die  Voraussetzung,  ohne  die 
beides  nicht  möglich  ist,  im  unmittelbaren  Bewußtsein  hat. 

Eben  hierin  ist  es  auch  begründet,  daß  Schleiermachers  Ethik 
nicht  etwa  bloße  Gesinnungsethik  ist,  wie  die  Kantische  Ethik.  Er 
geht  zwar  in  der  religiösen  Ethik  von  der  Grundgesinnung  aus, 
welche  in  dem  Gottesbewußtsein  gegeben  ist.  Aber  dieses  wird 
zum  Antrieb,  die  Einheit  der  Vernunft  und  der  Natur  durch  das 
Handeln  der  ersten  auf  die  letztere  herzustellen;  das  entspricht 
durchaus  der  Einheitstendenz,  deren  man  sich  in  der  Frömmig- 
keit bewußt  wird,  führt  aber  zugleich  zu  einer  konkreten  Aus- 
gestaltung der  Ethik.  Daher  hat  Schleiermacher  gegen  Kant  die 
Kulturethik  geltend  gemacht,  ohne  die  einheitliche  Gesinnung 
zurückzustellen.  Bei  Kant  ist  Dualismus  zwischen  Vernunft  und 
Natur;  Schleiermacher  hat  ihm  vorgeworfen,  daß  er  nur  eine  ein- 
schränkende aber  keine  produktive  Ethik  habe.  Man  hat  gemeint, 
daß  Schleiermachers  Ethik  vieles  aufgenommen  habe,  was  nicht 
der  Ethik  angehöre;  man  hat  einen  Gegensatz  zwischen  Kultur 
oder  Zivilisation  und  Ethik  gesetzt  und  von  einer  Kulturkomödie 
geredet.  Schleiermacher  hat  von  seinem  Standpunkte  aus  weder 
die  theoretische  und  praktische  Vernunft,  noch  die  Sittlichkeit  und 
Kultur  auseinanderreißen  können.  Vielmehr  ist  die  eine  Vernunft 
organisierend  und  symbolisierend  tätig;  das  theoretische  Erkennen 
ist  ebenso  sittliche  Aufgabe  wie  die  Naturbeherrschung,  und  selbst 
die  Religion  zieht  er  in  den  Kreis  des  sittlichen  Lebens, 

Es  könnte  hier  eine  bedenkliche  Unklarheit  vorzuliegen  scheinen, 
indem  einerseits  die  Religion  die  Quelle  des  Sittlichen  und  anderer- 
seits sittliches  Produkt  sein  soll.  Allein  von  der  sittlichen  Seite 
liegt  hier  kein  Widerspruch  vor,  weil  Schleiermacher  den  allge- 
meinen Grundsatz  ausspricht,  daß  das  Sittliche  Produkt  und  produ- 
zierend zugleich  sei,  jedes  Produkt  wieder  produzierend  wirke.  Von 
der  religiösen  Seite  aber  liegt  auch  kein  Widerspruch  vor,  weil  das 
religiöse  Bewußtsein  zwar  absolutes  Abhängigkeitsbewußtsein  ist, 
aber  doch  als  Bewußtsein  auch  wieder  ethisches  Produkt  ist. 
Zwar  ist  hier  die  Tätigkeit  in  dem  absoluten  Abhängigkeits- 
bewußtsein, wie  es  scheint,  aufgehoben;  es  ist  ein  Getroffensein 


XII  Geleitwort. 

von  dem  Unendlichen;  aber  diese  absolute  Abhängigkeit  kommt 
doch  nur  bei  der  Entfaltung  des  Selbst-  und  Weltbewußtseins 
als  das  diesen  Gegensatz  aufhebende  zum  Bewußtsein,  also  nicht 
ohne  Tätigkeit  des  Subjekts  und  das  absolute  Abhängigkeits- 
bewußtsein läßt  sich  doch  nicht  verwirklichen  ohne  eine  be- 
stimmte sittliche  Tätigkeit,  welche  erst  durch  den  Gegensatz  des 
Welt-  und  Selbstbewußtseins  hindurch  die  Empfänglichkeit  für 
die  höchste  Einheit  möglich  macht. 

Man  hat  in  der  Gegenwart  vielfach  eine  starke  Abneigung 
gegen  den  Intellektualismus,  legt  auf  „Erlebnisse"  das  größeste 
Gewicht  und  mißtraut  dem  begrifflichen  Erkennen  und  auch 
da,  wo  an  die  Stelle  des  reinen  Sensualismus  psychologische 
Erlebnisse  treten,  bleibt  man  doch  vielfach  im  Empirischen 
stecken.  Andere  betonen  den  Voluntarismus  und  wollen  selbst 
das  Erkennen  inhaltlich  von  der  Zustimmung  des  Willens  ab- 
hängig machen.  Es  soll  keine  Beweise  für  eine  Weltanschauung 
geben;  man  soll  sich  mit  dem  Willen  für  dieselbe  entscheiden. 
Nur  in  dem  „theoretischen"  Erkennen  der  Natur  soll  es  eine  ge- 
wisse Notwendigkeit  geben.  Man  hat  Kant  und  Schleiermacher 
als  Eideshelfer  dieser  Ansichten  herbeigezogen.  Religiöse  Wahr- 
heiten —  so  sage  Schleiermacher  —  lassen  sich  nur  erleben  und 
dann  begrifflich  ausdrücken,  aber  nicht  andemonstrieren.  Ebenso 
habe  aber  auch  Kant  durch  den  Unterschied  zwischen  praktischer 
und  theoretischer  Vernunft  darauf  hingewiesen,  daß  die  praktische 
Erkenntnis  eine  ganz  anders  geartete  sei  als  die  theoretische. 
Diese  Meinungen,  welche  auf  einen  Dualismus  zwischen  Praxis 
und  Theorie  hinauslaufen,  hat  Schleiermacher  nicht  geteilt.  Es 
ist  wahr,  daß  er  nicht  einseitig  intellektualistisch  gerichtet  ist, 
daß  er  die  Rechte  des  Gefühls,  der  Phantasie,  des  Willens  nicht 
gegen  die  Intelligenz  —  letztere  nur  in  dem  rein  theoretischen 
Sinne  genommen  —  verkürzt  wissen  will.  Aber  ebensowenig  ist 
er  rein  voluntaristisch,  als  ob  die  Erkenntnis  von  der  Willens- 
cntscheidung  abhinge.  Er  setzt  vielmehr  beide  Faktoren  ins  Gleich- 
gewicht. Es  kann  das  praktische  Handeln  gar  nicht  stattfinden, 
wenn  wir  nicht  Zweckbegriffe  bilden.  Diese  aber  bildet  unsere 
Vernunft  mit  Notwendigkeit.  Die  Ethik  ist  spekulative  Vernunft- 
wissenschaft. Gegenüber  dem  Empirismus  freilich  liegt  hierin, 
daß  sie  über  die  Empirie  hinausgehend  ein  Ideal  entwirft,  das 
zugleich  die  Prinzipien  enthält,  um  die  Geschichte  zu  verstehen, 
und  den  Maßstab,  um  sie  zu  beurteilen.  Die  Spekulation  greift 
also  über  die  Empirie  hinaus.    Sie  ist  eine  notwendige  Vernunft- 


Geleitwort.  XIII 

Wissenschaft,  die  sich  aus  den  letzten  dialektischen  Gegensätzen 
mit  Notwendigkeit  ergibt.  Schleiermacher  also  ist  allerdings  nicht 
einseitig  intellektualistisch,  sofern  er  die  Empirie  in  ihrer  Selb- 
ständigkeit anerkennt,  sofern  er  die  empirische  Realität  nicht  in 
Begriffe  auflöst;  aber  er  erkennt  doch  notwendige  Vernunftbegriffe 
an,  die  die  Aktualität  der  Vernunft  nach  ihren  verschiedenen 
Richtungen  darstellen. 

Ebenso  sagt  er  allerdings,  daß  man  die  Frömmigkeit  und 
ihren  Inhalt  nicht  andemonstrieren  könne;  er  will  der  Religion 
ihre  Selbständigkeit  wahren.  Aber  darum  meint  Schleiermacher 
noch  lange  nicht,  wie  heutige  Empiristen,  daß  sie  beliebige  Ge- 
fühlserlebnisse enthalte,  über  deren  Vernünftigkeit  man  nichts  aus- 
sagen könne.  Man  darf  vor  allem  nicht  vergessen,  daß  die  Religion 
für  ihn  der  einheitliche  Abschluß  des  Bewußtseins  ist,  daß  durch 
sie  erst  die  volle  Einheit  des  Bewußtseins  erreicht  wird,  daß  in  ihr 
erst  die  letzten  Gegensätze  zur  Ruhe  kommen.  Man  darf  nicht 
vergessen,  daß  die  Religion  als  Gefühlssache  etwas  durchaus  Ver- 
nünftiges ist,  weil  das  Gefühl  selbst  nur  eine  Erscheinungsform 
der  Vernunft  ist.  Auch  hier  hat  Schleiermacher  das  Erkennen 
und  das  Gefühl  durchaus  nicht  auseinandergerissen.  Wenn  er  der 
Meinung  ist,  daß  der  Gefühlsinhalt  der  Religion  Inhalt  für  ein 
reflexives  Erkennen  werden  könne,  das  mit  der  Frage  nach  der 
Wahrheit  dieses  Inhalts  nicht  zu  tun  habe,  sondern  nur  zum  be- 
grifflichen Ausdruck  bringe,  was  der  Erfahrungsinhalt  des  un- 
mittelbaren Selbstbewußtseins  sei,  so  sind  diese  Äußerungen  gegen 
den  Intellektualismus  der  Orthodoxie  und  des  Supernaturalismus 
gerichtet,  der  in  dem  Besitz  der  reinen  Lehre  das  Wesen  der 
Religion  sieht.  Religion  ist  nicht  primo  loco  Erkennen,  sondern 
Sache  des  unmittelbaren  Selbstbewußtseins.  Den  Inhalt  desselben 
wünschte  er  für  sich  fixiert  und  wollte  ihn  nicht  mit  Spekulation 
vermischt  haben,  teils  weil  er  völlig  klar  stellen  wollte,  daß  dieser 
Inhalt  Sache  des  unmittelbaren  Selbstbewußtseins  sei,  teils  weil 
derselbe  individuell  bestimmt  sein  sollte.  Aber  andererseits  ist 
doch  die  Religion  vernünftig  und  Schleiermacher  hat  auch  einen 
vernünftigen  Maßstab  an  die  Religionen  angelegt,  um  sie  zu 
messen.  Denn  die  Religion  wird  ihrem  Wesen  nach  in  der  philo- 
sophischen Ethik  als  eine  Art  der  Vernunfttätigkeit  abgeleitet, 
soweit  sie  Produkt  der  Vernunfttätigkeit  ist.  Daher  hat  Schleier- 
macher zwar  nicht  angenommen,  daß  mit  der  Einsicht  in  den 
Gehalt  der  Religion  jemand  schon  religiös  sei,  weil  die  Vernunft- 
form der  Religion  eine  andere  sein  sollte,  als  die  des  Erkennens, 


XIV  Geleitwort. 

und  diesen  Sinn  hat  es,  wenn  er  meint,  daß  man  die  Religion 
nicht  andemonstrieren  könne.  Aber  er  hat  nicht  gemeint,  daß 
die  ReHgion  irgendwie  mit  dem  Erkennen  in  Konflikt  kommen 
müßte,  da  sonst  ja  die  Vernunft  in  ihren  verschiedenen  Aktionen 
sich  selbst  widersprechen  würde.  Vielmehr  ist  Schleiermacher  der 
Ansicht,  daß  die  erkennende  Funktion  den  religiösen  Inhalt  nicht 
zum  vollen  Ausdruck  bringen  könne,  weil  unsere  Begriffe  zwar 
für  die  Weltweisheit  geeignet  sind,  bei  der  Gotteserkenntnis  aber 
versagen,  weil  sie  nicht  über  die  Gegensätze  hinauskommen.  Eben 
daher  will  er  auch,  daß  die  Begriffe,  mit  denen  wir  Gott  als 
religiös  erlebten  bezeichnen,  nur  als  der  Ausdruck  für  die  be- 
stimmte Art  unseres  Erlebnisses  aufgefaßt  werden.  Unw^ahr  brauchen 
diese  Aussagen  deshalb  nicht  zu  sein,  aber  sie  sind  nur  anthro- 
pomorphistische  Notbehelfe,  um  die  Beziehung  der  Gottheit  zu 
uns  auszudrücken,  denen  gewiß  ein  wahrer,  aber  nicht  adäquat 
auszudrückender  Inhalt  zugrunde  liegt.  Wenn  man  sich  der  anthro- 
pomorphen  Unvollkommenheit  dieser  Aussagen  bewußt  bleibt,  so 
widersprechen  sie  durchaus  nicht  der  Grundidee,  daß  Gott  als 
absolute  Einheit  überall  vorauszusetzen  sei,  wenn  man  die  objektive 
Welt  erkennen  oder  auf  sie  handeln  will.  Als  diese  Einheit  der 
Gegensätze,  die  aber  über  allen  Gegensätzen  stehen  soll,  wird  ja 
eben  Gott  auch  erfahren  in  der  Religion.  Will  man  nun  die 
Beziehungen,  in  denen  diese  Einheit  für  das  konkrete  Bewußtsein 
im  religiösen  Leben  zutage  tritt,  auch  auf  Gott  zurückführen,  so 
ist  das  vollkommen  berechtigt.  Wollte  man  aber  hiernach  gött- 
liche Eigenschaften  in  Gott  selbst  unterscheiden,  so  würde  man 
Gott  selbst  in  die  Gegensätze  hineinziehen  und  anthropomorphi- 
stisch  werden.  So  wird  es  vollkommen  begreiflich,  daß  Schleier- 
macher einerseits  den  Inhalt  der  Glaubenslehre  nur  als  Aussagen 
der  zeitweiligen  Erfahrungen  gelten  läßt,  andererseits  aber  damit 
durchaus  nicht  mit  seiner  Grundposition  in  Streit  kommt,  nach 
der  Gott  die  Voraussetzung  ist,  unter  der  allein  eine  Weltweisheit 
und  sittliches  Handeln  möglich  ist,  weil  er  die  Einheit  der  Gegen- 
sätze verbürgt,  verbürgt,  daß  die  Natur  der  Vernunft  zugänglich 
sei  und  die  Vernunft  der  Natur,  weil  in  der  realen  Natur  Ideales 
und  in  der  idealen  Vernunft  Reales  enthalten  ist,  weil  die  Einheit 
von  beiden  in  der  Gottheit  begründet  ist. 

Man  kann  also  sagen,  daß  Schleiermacher  beiden  Interessen 
gerecht  zu  werden  sucht,  einmal  dem  Interesse  des  Erkennens, 
das  er  durchaus  nicht  von  dem  Willen  in  bezug  auf  seinen  In- 
halt abhängig  macht,  —  eine  Meinung,  die  direkt  zum  Autoritäts- 


Geleitwort.  XV 


prinzip  des  Katholizismus  führen  könnte  und  für  eine  falsche  An- 
sicht den  Willen  verantwortlich  macht,  der  sich  nicht  für  die 
rechte  Ansicht  entscheidet.  Aber  ebenso  will  er  die  Religion  nicht 
in  Erkennen  auflösen,  sondern  ihr  ihre  eigentümliche  Stellung 
lassen.  Indes  sind  ihm  beide  Funktionen,  die  Frömmigkeit  wie 
das  Erkennen,  verschiedene  Formen  der  einen  Vernunfttätigkeit  und 
stimmen  deshalb  im  Grund  zusammen.  Die  Spekulation  setzt  die 
Einheit  voraus,  die  in  dem  unmittelbaren  Selbstbewußtsein  er- 
fahrenwird, und  dieses  ist  vernünftig;  dagegen  ist  eine  konkrete 
religiöse  Lehre  in  begrifflicher  Form  nur  der  Ausdruck  der  Be- 
ziehungen die  das  Subjekt  erfährt,  die  keine  direkten  Aussagen 
über  Gott  selbst  sein  können.  So  hoffte  er  der  Scholastik  zu 
entgehen,  welche  die  religiöse  Erkenntnis  spekulativ  gestalten 
wollte.  Ob  Schleiermacher  hier  eine  endgültige  Lösung  gefunden 
hat,  könnte  man  wohl  fragen.  Aber  jedenfalls  hat  er  die  Er- 
kenntnis nicht  dualistisch  von  der  Religion  getrennt,  sondern 
nur  angenommen,  daß  der  konkreten  Gotteserkenntnis  durch  unser 
Begriffsvermögen  eine  Grenze  gesteckt  sei,  die  unsere  Vernunft 
nur  in  der  Form  des  unmittelbaren  Selbstbewußtseins  überschreiten 
könne.  Dagegen  hat  er  die  Existenz  Gottes,  als  der  letzten  gegen- 
satzlosen Einheit  aller  Gegensätze,  stets  als  eine  Vernunftwahr- 
heit, ja,  als  die  grundlegende  Wahrheit  anerkannt. 

Was  aber  das  Verhältnis  des  Erkennens  zum  praktischen  Leben 
angeht,  so  ist  Schleiermacher  weder  auf  selten  eines  Utilitarismus, 
der  das  Erkennen  nur  in  den  Dienst  der  Praxis  stellen  will,  noch 
auf  Seiten  eines  Intellektualismus,  der  das  Handeln  im  Erkennen 
enden  läßt.  Vielmehr  ist  ihm  beides  gleich  wichtig,  das  Erkennen 
wie  das  Handeln,  oder  besser  ausgedrückt:  das,  was  man  gewöhn- 
lich Handeln  nennt,  fällt  ihm  mit  dem  organisierenden  Handeln  zu- 
sammen, dem  das  symbolisierende  gleichberechtigt  zur  Seite  steht, 
da  beide  nur  verschiedene  Seiten  des  Einen  Handelns  der  Vernunft 
auf  die  Natur  sind.  Das  Erkennen  ist  ihm  sittliche  Aufgabe  nicht 
in  dem  Sinne,  daß  der  Inhalt  des  Erkennens  von  der  Willensent- 
scheidung abhängt,  sondern  in  dem  Sinne,  daß  das  Erkennen  eine 
sittlich  geforderte  Tätigkeit  sei,  einen  Teil  des  sittlichen  Lebens 
ausmache,  und  daß  man  die  Bedingungen,  unter  denen  allein  Er- 
kennen möglich  ist,  wollen  muß,  weil  man  das  Erkennen  wollen 
muß.  Ebenso  ist  die  Ethik,  mit  ihren  Zweckbegriffen,  durch  das 
Erkennen  bedingt.  Aber  nicht  minder  ist  auch  die  Kultur  im 
engeren  Sinne,  das  gesamte  Gebiet  des  organisierenden  Handelns 
sittliche  Aufgabe   und   die  verschiedenen  Güter  sind   ihm  gleich- 


XVI  Geleitwort. 

vvertig,  da  keines  in  dem  Organismus  der  sittlichen  Güter,  der 
das  höchste  Gut  ausmacht,  fehlen  darf.  Er  betont  ebenso  das 
Recht  der  Wissenschaft,  wie  des  Staates,  in  welchem  sich  das 
organisierende  Handeln  unter  nationalem  Gesichtspunkt  vollzieht. 
Ebenso  aber  sind  ihm  die  Religion  und  die  Kunst,  und  die  Ge- 
selligkeit sittliche  Güter,  welche  das  Resultat  des  symbolisierenden 
und  organisierenden  Handelns  unter  individuellem  Typus  sind.  Wenn 
andere  bald  die  Religion,  bald  die  Wissenschaft,  bald  die  Kunst, 
bald  den  Staat  für  den  letzten  Zweck  erklärt  hatten,  so  setzt 
Schleiermacher  alle  Gebiete  ins  Gleichgewicht  und  nimmt  an, 
daß  alle  im  Grund  auf  ihre  Weise  ein  Spiegel  der  sittlichen 
Totalität  sind.  Das  ist  ihm  möglich,  weil  er  das  Wesen  all 
dieser  Gebiete  darin  findet,  daß  jedes  nur  einen  Faktor  im  Über- 
gewicht repräsentiert,  ohne  die  anderen  auszuschließen.  Insofern 
jedes  Gebiet  eine  Funktion  im  Übergewicht  hat,  ist  es  einseitig, 
und  so  können  erst  alle  zusammen  das  Ganze  des  sittlichen  Lebens 
umspannen.  Aber  jedes  enthält  doch  alle  Funktionen,  nur  unter 
dem  Übergewicht  einer,  und  so  kann  jedes  auf  seine  Weise  doch 
die  Totalität  aller  Güter  abspiegeln. 

Man  hat  der  Schleiermacherschen  Ansicht  entgegengesetzt, 
daß  nicht  die  teleologische,  sondern  die  imperative  Gesinnungs- 
ethik den  Kern  der  Ethik  ausmache,  daß  das  Sittliche  nicht  in 
dem  Erfolg,  auch  nicht  in  dem  Produkt  liege,  sondern  in  dem 
guten  Willen.  Man  legt  den  Hauptakzent  auf  die  Persönlichkeit! 
Allein,  es  müßte  nachgerade  klar  geworden  sein,  daß  diese  Persön- 
lichkeit doch  einen  Inhalt  haben  muß  und  daß  der  rein  formale 
Wille,  das  Gesetz  zu  wollen,  noch  nicht  ethisch  befriedigen  kann. 
Freilich  ist  ein  guter  Wille  notwendig;  aber  dieser  gute  Wille 
muß  das  Vernünftige,  und  zwar  das  konkret  Vernünftige  wollen. 
Darum  hat  Schleiermacher  als  die  Grundtugend  der  Gesinnung 
keineswegs  bloß  die  Liebe,  sondern  Weisheit  und  Liebe  in  ihrer 
Vereinigung  bezeichnet.  Die  Weisheit  aber  hat  das  Vernünftige 
in  seinen  konkreten  Formen  als  sittliche  Aufgabe  zu  erkennen, 
d.  h,  die  produktive  Aktion  der  Vernunft  in  der  Natur. 

Es  ist  für  ihn  charakteristisch,  daß  er  das  Bedürfnis  hat,  das 
Sittliche  als  eine  Totalität  zu  fassen  und  so  jeder  einzelnen  Auf- 
gabe gleichmäßig  gerecht  zu  werden.  Ebenso  aber  hat  er  das 
Bedürfnis,  jede  Einzehvissenschaft  in  den  Zusammenhang  des 
ganzen  Wissens  zu  stellen  und  dadurch  erst  zu  voller  Klarheit 
zu  bringen.  Heutzutage  pflegt  man  z.  B.  Ethik  oder  Religions- 
philosophie rein  für  sich  zu  behandeln;  Schleiermacher,  der  überall 


Geleitwort.  XVII 

auf  die  Einheit  gerichtet  ist,  kann  es  nicht  über  sich  gewinnen, 
den  Zusammenhang  einer  Wissenschaft  mit  den  übrigen  außer 
acht  zu  lassen.  So  betrachtet  er  auch  die  Ethik  im  Zusammen- 
hang des  Wissens  überhaupt.  Ihm  würde  es  zu  eng  sein,  die 
Ethik  lediglich  auf  die  praktische  Vernunft,  im  Unterschied  von 
der  theoretischen,  auf  das  allgemeine  Gesetz  der  praktischen  Ver- 
nunft zu  gründen.  Er  sieht,  daß  die  Vernunft  eine  ist  und  daß 
man  Vernunft  und  Natur  nicht  auseinanderreißen  kann.  Daher 
ist  ihm  der  Gegenstand  der  Ethik  das  Handeln  der  Vernunft  auf 
die  Natur  als  symbolisierendes,  wozu  auch  das  theoretische  Er- 
kennen gehört,  und  als  organisierendes.  Aber  Vernunft  wie  Natur 
sind  in  den  letzten  Gegensätzen  begründet,  die  zur  Einheit  aus- 
zugleichen sind.  So  ist  die  Ethik  als  spekulative  Vernunft- 
wissenschaft, die  zugleich  die  Prinzipien  für  die  Philosophie  der 
Geschichte  enthält,  Glied  eines  großen  Systems,  und  zwar  hat 
Schleiermacher  die  Ethik  so  gestaltet,  daß  sie  einen  produktiven 
Charakter  trägt.  Eben  daher  kann  sie  gar  nicht  ohne  die  Beziehung 
zur  Natur  gedacht  werden.  Aber  als  spekulative  Wissenschaft 
schildert  sie  das  Ideal  des  Handelns  und  ist  insofern  von  der  Un- 
vollkommenheit  der  Empirie  unberührt.  So  enthält  sie,  gerade 
wie  Kants  Ethik,  ein  Ideal,  nur  nicht  das  ganz  abstrakte  Ideal 
des  guten  Willens,  sondern  das  konkrete  Ideal  der  sittlichen  Güter, 
der  Tugend,  die  als  Gesinnung  Einheit  ist,  als  Fertigkeit  in  eine 
Vielheit  auseinandergeht,  und  der  Pflichten,  welche  das  Gesetz 
darstellen,  nach  welchem  dem  Ideal  gemäß  gehandelt  wird.  Schleier- 
macher kommt  nicht  in  die  Verlegenheit,  der  Kant  kaum  aus- 
weichen kann,  daß  eigentlich  alle  guten  Menschen  ihrer  Gesinnung 
nach  identisch  sind,  weil  der  Wille  nur  das  Wollen  des  allgemeinen 
Gesetzes  ist,  und  daß  die  Unterschiede  nur  in  dem  homo  Phaeno- 
menon  liegen,  der  doch  eigentlich  nur  ein  Erscheinungswesen  ist, 
das  überall  durch  das  allgemeine  Gesetz  eingeschränkt  werden  soll, 
soweit  es  durch  die  Neigungen  bestimmt  ist.  Natur  und  Geist 
sind  nach  Schleiermacher  nicht  einander  fremd,  vielmehr  soll  die 
Natur  durch  die  Tätigkeit  des  Geistes  gestaltet  werden.  Durch 
ihren  Zusammenhang  mit  der  Natur  ist  eben  die  Vernunft  überall 
schon  konkret  individuell  und  zugleich  universell  bestimmt.  Denn 
die  menschlichen  Individuen,  welche  sittlich  handeln,  sind  eben 
schon  eine  Verbindung  von  Geist  und  Natur  und  haben  nun  ver- 
schiedene Arten  des  Handelns  zu  vollziehen,  die  durch  die  ver- 
schiedene Wirkungsart  der  Vernunft  auf  die  Natur  und  den  Gegen- 
satz des  Universellen  und  Individuellen  bestimmt  sind.    So  schildert 

Schleiermacher,  Werke.     I.  II 


XVIII  Geleitwort. 

die  spekulative  Vernunftwissenschaft  das  Ideal  des  Handelns  der 
Vernunft  auf  die  Natur,  wie  die  empirische  Vernunftwissenschaft 
die  Geschichte.  Die  Art  und  Weise  aber,  wie  auf  die  empirische 
Wirklichkeit  das  Ideal  angewendet  werden  soll,  kommt  in  den 
technischen  und  kritischen  Disziplinen  zur  Geltung.  Eine  solche 
technische  und  kritische  Disziplin  ist  für  ihn  auch  die  Theologie. 

Eben  dadurch,  daß  Schleiermacher  den  verschiedenen  Disziplinen 
gerecht  wird,  daß  er  für  dieselben  verschiedene  Methoden  an- 
erkennt, ohne  diese  Disziplinen  zu  vereinzeln,  indem  er  sie  doch 
wieder  dem  Gesamtsysteme  einordnet  und  so  sie  durcheinander 
erleuchtet,  ist  er  für  die  Gegenwart  von  der  größesten  Be- 
deutung. 

Es  entspricht  durchaus  seiner  Grundanschauung,  welche  keinen 
hiatus  zwischen  Erkennen  und  praktischem  Handeln  zuläßt,  daß 
er  auch  die  Resultate  seiner  Erkenntnis  praktisch  verwertet  hat, 
und  das  Bild  von  ihm  wäre  nicht  vollständig,  wenn  man  sich 
nicht  daran  erinnerte,  daß,  wie  er  grundsätzlich  vom  Theoretiker 
verlangt,  daß  er  seine  Theorie  durch  praktische  Tätigkeit  er- 
gänzen müsse,  um  nicht  in  Einseitigkeit  zu  verkommen,  so  er 
selbst  auch  im  religiösen  und  politischen  Gebiet  sich  auf  das 
Mannigfaltigste  betätigt  hat,  teils  als  Prediger,  teils  als  Kirchen- 
mann in  seiner  Wirksamkeit  für  die  Union,  für  die  Verfassung 
der  Kirche,  für  die  Agende  und  Gesangbuch,  ebenso  aber  auch 
als  Patriot  zur  Zeit  der  Freiheitskriege  gewirkt  hat,  und  nicht 
minder  auch  für  die  Ausgestaltung  des  Schulwesens  und  be- 
sonders der  Universitäten  sich  bemüht  hat.  Daß  er  selbst  neben 
seiner  wissenschaftlichen  Arbeit  den  Beruf  des  Lehrers  glänzend 
ausgeübt  hat,  ist  bekannt;  und  endlich  darf  man  auch  nicht  ver- 
gessen, wie  er  im  geselligen  Gebiet,  besonders  im  Gebiet  der 
Freundschaft,  sich  virtuos  betätigt  hat,  das  um  so  weniger,  als 
eine  der  glänzendsten  Partien  seiner  Ethik  gerade  die  Ethisierung 
des  Gebietes  der  Geselligkeit  ist.  In  der  Verbindung  der  prak- 
tischen, besonders  der  patriotischen  Tätigkeit  mit  der  theoretischen, 
erinnert  er  an  antike  Philosophen.  Und  doch  zeigt  er  diese  Ver- 
bindung ganz  besonders  in  einer  Form,  die  nur  in  der  christlichen 
Ära  vorkommt,  insofern  er  sich  vorwiegend  als  Theologe  prak- 
tisch betätigt  hat. 

Er  hat  aber  auch  neben  der  Philosophie  das  gesamte  Gebiet 
der  wissenschaftlichen  Theologie  in  allen  seinen  Zweigen  virtuos 
beherrscht.  Er  w^eiß  die  Theologie  dem  philosophischen  Bau  so 
einzufügen,  daß  diese  zwar  in  Abhängigkeit  von  der  Philosophie 


Geleitwort.  XIX 

bleibt,  insofern  sie  als  eine  technische  Disziplin  erscheint,  die  wie 
die  Kirche,  auf  die  sie  sich  bezieht,  ihre  letzte  Begründung  in 
der  philosophischen  Ethik  hat;  daß  er  aber  auf  der  anderen  Seite 
ihr  die  Unabhängigkeit  von  der  Philosophie  durch  ihre  Beziehung 
zu  der  Empirie  zu  wahren  sucht  als  historischer,  exegetischer, 
praktischer  Theologie.  Ebenso  hat  er  aber  seine  Philosophie  nicht 
durch  theologische  Positionen  eingeschränkt  und  der  Philosophie 
etwa  durch  supernaturale  Offenbarung  Schranken  gesetzt,  oder  die 
Philosophie  nach  theologischer  Voreingenommenheit  gestaltet,  wie 
die  Scholastiker.  Ich  will  noch  kurz  das  Verhältnis  der  Theologie 
und  Philosophie  betrachten,  wie  es  Schleiermacher  bestimmt  hat. 

Obgleich  die  Theologie  im  Grunde  eine  kritische  und  tech- 
nische Disziplin  mit  praktischer  Abzweckung  ist,  will  sie  Schleier- 
macher doch  als  Wissenschaft  deshalb  an  die  Universität  an- 
geschlossen wissen,  weil  sie  dadurch  vor  einem  engherzigen,  bloß 
auf  die  momentanen  praktischen  Interessen  gerichteten  Geiste  be- 
wahrt bleibt,  daß  sie  in  den  Zusammenhang  mit  dem  gesamten 
Wissen  gestellt  wird.  Es  ist  das  genau  so,  wie  mit  der  juri- 
stischen und  medizinischen  Fakultät,  wie  er  das  in  seinen  „ge- 
legentlichen Gedanken  über  Universitäten  im  deutschen  Sinn" 
ausführt. 

Die  Stellung  der  Theologie  und  ihrer  einzelnen  Disziplinen 
ist  bedingt  durch  seine  Einteilung  der  Geisteswissenschaften:  da 
ist  die  spekulative  Vernunftwissenschaft  die  Ethik,  die  empirische 
Vernunftwissenschaft  die  Geschichte,  und  die  technischen  und 
kritischen  Disziplinen  haben  die  Aufgabe,  zwischen  der  speku- 
lativen und  empirischen  Wissenschaft  so  zu  vermitteln,  daß  sie  die 
Prinzipien  der  spekulativen  Wissenschaft  auf  die  Empirie  anwenden. 
Die  Ethik  hat  die  Aufgabe,  das  Wesen  der  Religion  und  der 
religiösen  Gemeinschaft,  der  Kirche,  deutlich  zu  machen,  und  die 
verschiedenen  möglichen  Formen  der  Religion  zu  konstruieren.  Die 
Religionsphilosophie  hat  dann  die  einzelnen  historisch  gegebenen 
Religionen  in  den  Maschen  dieses  Netzes  unterzubringen.  Sie 
ist  eine  kritische  Disziplin,  welche  die  individuellen  Differenzen 
der  einzelnen  Religionen  und  Kirchen  —  da  sich  nach  ihm  die 
Religion  in  kirchlicher  Gemeinschaft  darstellt  —  in  komparativer 
Behandlung  fixiert  und  sie  nach  den  möglichen  Erscheinungs- 
formen der  Idee  der  Religion  bestimmt.  Die  Apologetik,  als  ein 
Teil  der  philosophischen  Theologie,  hat  dann  das  empirische 
Christentum  seinem  eigentümlichen  Wesen  nach  im  Verhältnis 
zu  den  anderen  Religionen  mit  Hilfe  der  aus  der  Ethik  ge- 
ll* 


XX  Qeleitvvort. 

wonnenen  Gesichtspunkte  zu  fixieren,  und  die  Polemik  hat  die 
diesem  Wesen  widersprechenden  Seiten  der  empirischen  Ausgestal- 
tung des  Christentums  kritisch  zu  beleuchten.  Schleiermacher  ist 
also  der  Meinung,  daß  das  Christentum  weder  bloß  spekulativ, 
noch  bloß  historisch  verstanden  werden  kann.  Die  apologetische 
und  polemische  Theologie  hat  vielmehr  als  philosophische  Theo- 
logie die  Verbindung  zwischen  dem  empirischen  Christentum  und 
der  durch  die  Spekulation  festgestellten  Idee  der  Religion  und 
Kirche  herzustellen  und  auf  diese  Weise  das  Wesen  des  Christen- 
tums historisch-spekulativ-kritisch  zu  fixieren  als  eine  indivi- 
duelle Erscheinungsform  der  von  der  philosophischen  Ethik  be- 
stimmten Idee  der  Religion  und  Kirche.  Demgemäß  hat  denn  auch 
Schleiermacher  in  seiner  Glaubenslehre  die  Untersuchung  über  das 
Wesen  des  Christentums  und  der  Kirche  in  Lehnsätzen  aus  der 
Ethik,  Religionsphilosophie  und  Apologetik  an  die  Spitze  gestellt. 
Es  handelt  sich  hier  also  um  die  kritische  Anwendung  der  in  der 
philosophischen  Ethik  gewonnenen  Begriffe  der  Religion  und  Kirche 
auf  das  Christentum,  das  eine  empirische  Religion  ist,  aber  doch  nur 
wahrhaft  begriffen  werden  kann  aus  der  Verbindung  der  Betrachtung 
des  empirischen  Christentums  mit  dem  Begriff  der  Religion.  Hier- 
nach hat  die  Theologie  zwar  einen  positiven  Einschlag,  weil  sie 
empirisch  ist,  und  als  solche  ist  sie  historische  Theologie,  aber 
sie  ist  zugleich  philosophische  Theologie,  weil  das  empirische 
historische  Christentum  nur  in  Verbindung  mit  dem  spekulativen 
Element  begriffen  werden  kann.  Erst  nach  dem  Resultat  dieser 
spekulativ-historischen  Untersuchung  können  nun  die  technischen 
Anweisungen  gegeben  werden,  die  für  die  Kirchenleitung  not- 
wendig sind  und  die  sich  in  concreto  zugleich  nach  der  eigen- 
tümlichen Beschaffenheit  einer  bestimmten  Kirche  richten.  Die 
Theologie  hat  als  technische  Disziplin  diejenigen  wissenschaft- 
lichen Kenntnisse  und  Kunstregeln  zu  geben,  ohne  deren  An- 
wendung ein  christliches  Kirchenregiment  nicht  möglich  ist.  Die 
Krone  der  Theologie  ist  deshalb  die  praktische  Theologie,  die 
eben  auf  Grund  dieser  Erkenntnisse  praktisch -technische  An- 
weisungen für  die  Kirchenleitung  gibt. 

Daß  die  einzelne  Religion  und  Kirche  individuell  bestimmt 
sei,  das  ist  schon  in  dem  allgemeinen  Begriff  der  Religion  ent- 
halten; eben  daher  ist  schon  im  Begriff  der  Religion  selbst  ge- 
geben, daß  sie  einen  positiven  Charakter  hat,  der  sich  in  empi- 
rischen individuellen  Typen  darstellt.  So  kann  man  behaupten, 
daß  der  theologische  Positivismus  Schleiermachers  mit  der  philo- 


Geleitwort.  XXI 

sophischen  Ethik  und  ihrer  Bestimmung  der  Religion  im  Grunde 
zusammenstimmt.  Das  ist  aber  ganz  besonders  auch  deshalb  der 
Fall,  weil  Schleiermacher  doch  nicht  bloß  individuelle  Typen  der 
Religion  kennt,  sondern  auch  ein  Ideal  der  Religion  aufstellt. 
Denn  zweifellos  ist  nach  ihm  der  Monotheismus  die  höchste  Stufe 
der  Religion,  und  in  den  Monotheismus  wieder  diejenige  Stufe, 
welche  in  den  Mittelpunkt  des  religiösen  Bewußtseins  die  Er- 
lösung von  der  Unkräftigkeit  des  Gottesbewußtseins  mit  auf- 
nimmt, das  doch  natürlicherweise  als  der  Abschluß  unseres  Be- 
wußtseins, als  die  einheitliche  Spitze  desselben  niemals  unter- 
drückt und  zurückgedrängt  werden  darf.  Somit  ist  die  höchste 
Religion  die,  welche  dieses  monotheistische  Bewußtsein  zu  voller 
Kräftigkeit  und  Dauer  erhebt.  Ebenso  aber  ist  auch  diejenige 
Religion  vollkommener  als  die  übrigen,  welche  mit  dem  ethischen 
Bewußtsein  Hand  in  Hand  geht  und  welche  zum  Impuls  für  das 
Handeln  wird,  d.  h.  die  teleologische  Religion.  Da  nun  das 
Christentum  teleologische  monotheistische  Erlösungsreligion  ist, 
so  ist  es  die  der  Idee  der  Religion  entsprechende  Religion,  die 
freilich  wieder  verschiedene  Formen  annehmen  kann.  Das  positive 
Element  ist  nun  dies,  daß  im  Christentum  empirisch  diese  Religions- 
form in  Christus  erschienen  ist,  der  selbst  durchaus  monotheistisch- 
ethisch gerichtet  mit  seinen  vollkommenen  Gottesbewußtsein  von 
der  Unkräftigkeit  desselben  erlösen  kann.  Wenn  aber  hierin  auch 
ein  positiv  historischer  Zug  gegeben  ist,  so  entspricht  doch  Christus 
der  Idee  der  Menschheit  und  realisiert  das  Ideal  der  Frömmig- 
keit. Er  ist  in  diesem  Sinne  durchaus  rational.  Das  Christen- 
tum ist  also  eine  Religion,  die  durchaus  mit  der  in  der  Ethik 
bestimmten  Religionsidee  zusammenstimmt.  Die  supernaturale 
Theologie  hat  also  bei  Schleiermacher  im  Grunde  genommen  keine 
Stütze;  nur  von  dem  Standpunkt  derer,  welche  noch  nicht  von 
Christi  Geist  ergriffen  sind,  erscheint  das  Christentum  übernatür- 
lich. In  Wahrheit  aber  entspricht  die  christliche  Religion  der 
Idee  der  Religion,  und  zwischen  der  philosophischen  Ethik  und 
der  Theologie  besteht  kein  prinzipieller  Widerspruch.  Wie  sehr 
Schleiermacher  auf  diese  Punkte  das  Gewicht  legt,  kann  man 
daraus  sehen,  daß  er  in  seiner  Glaubenslehre  alle  sogenannten 
Heilstatsachen,  Christi  jungfräuliche  Geburt,  seine  Auferstehung, 
Höllen-  und  Himmelfahrt,  Sitzen  zur  Rechten  Gottes,  Wiederkunft 
zum  Gericht  für  irrelevant  für  den  Glauben  erklärt  und  als  wesent- 
lich nur  ansieht,  daß  uns  die  Kräftigkeit  des  Gottesbewußtseins 
Christi   und   die    mit    ihr   verbundene   Seligkeit,    d.   h.   der   Geist 


XXII  Geleitwort. 


Christi,    der    schließlich    mit    dem    in    der  Gemeinde    wirksamen 
göttlichen  Geiste  identisch  ist,  zuteil  werde. 

Es  mag  noch  an  zwei  Punkten  diese  Vereinbarkeit  des  philo- 
sophischen und  theologischen  Standpunktes  aufgezeigt  werden, 
zunächst  an  dem  Erkenntnisgebiet.  Es  ist  schon  oben  darauf 
hingewiesen  worden,  daß  die  philosophische  Erkenntnis  anders 
geartet  ist  als  die  theologische.  Erstere  geht  auf  Wahrheit  aus, 
letztere  will  nur  den  Erfahrungsinhalt  in  Begriffe  umsetzen,  un- 
bekümmert darum,  ob  derselbe  an  sich  als  wahr  erkannt  werden 
kann.  Allein,  soviel  scheint  doch  zweifellos,  daß  nach  seiner 
Meinung  die  Theologie  keine  Aussagen  macht,  die  der  philosophisch 
erkannten  Wahrheit  widersprechen.  Schleiermacher  hat  nur  das 
Interesse,  die  erkennende  Funktion  in  der  Religion  nicht  zur  Haupt- 
sache zu  machen.  In  dem  religiösen  Gebiete  kann  man  zwar 
die  religiösen  Zustände  analysieren  und  ihren  Inhalt  beschreiben, 
aber  man  kann  damit  immer  nur  sagen,  wie  der  an  sich  über 
alles  dialektisch-begriffliche  Erkennen  hinausgehende  Gott  unter 
den  gegebenen  Beziehungen  dem  Frommen  erscheint.  Denn  alle 
konkreten  Bestimmtheiten  Gottes  sagen  nur  aus,  wie  die  Gottheit 
dem  so  oder  so  bestimmten  Selbstbewußtsein  erscheint.  Aber  alle 
diese  Eigenschaften  Gottes,  die  auf  bestimmte  Zustände  des  Subjekts 
in  der  Welt  bezogen  werden,  müssen  wieder  zueinander  in  Be- 
ziehung gebracht  werden,  und  dann  ergibt  sich,  daß  jede  Eigen- 
schaft Gottes  nur  in  Verbindung  mit  der  anderen  gedacht  werden 
darf,  daß  sie  alle  sich  also  in  der  letzten  Einheit  ausgleichen,  und 
daß  jede  für  sich  nur  ein  unvollkommener  Ausdruck  des  Göttlichen 
ist,  nur  der  Ausdruck  für  eine  bestimmte  Art,  wie  das  Gottes- 
bewußtsein sich  mit  einem  bestimmten  Selbstbewußtsein  ver- 
bindet. So  erscheint  er  z.  B.  heilig,  sofern  das  (strafende)  Ge- 
wissen mit  dem  Gottesbewußtsein  verbunden  ist.  Allein  diese  Eigen- 
schaft Gottes  muß  sofort  zugleich  auf  das  Bewußtsein  der  Erlösung 
bezogen  werden,  wonach  Gott  Liebe  ist,  und  beides  wieder  auf 
das  allgemeine  aller  Religion  zugrunde  liegende  Abhängigkeits- 
bewußtsein, wonach  Gott  allmächtig  ist.  So  hat  also  auch  für 
das  reflexive  Erkennen,  sofern  es  Ausdruck  der  Erfahrung  ist, 
eine  isolierte  Eigenschaft  Gottes  keinen  Wert,  sondern  nur  alle 
zusammen,  die  sich  schließlich  in  der  Einheit  ausgleichen,  die 
wir  nicht  mehr  begrifflich  erfassen  können,  in  der  alle  Vollkommen- 
heit aber  aufbewahrt  bleiben  soll.  Denn  Gott  wird  nicht  über 
die  Gegensätze  hinausgehoben  vorgestellt,  weil  er  leer  ist,  sondern 
weil    er    über    unsere   Begriffe    hinaus    vollkommen    ist.     So    an- 


Geleitwort.  XXIII 

gesehen,  besteht  aber  kein  Widerspruch,  zwischen  dem  reUgiösen 
Erkennen  und  dem  philosophischen. 

Ähnlich  aber  hat  auch  die  Erkenntnis  der  Welt  und  des  Selbst 
in  der  Glaubenslehre  nur  die  Bedeutung,  auszusagen,  wie  unter 
dem  Aspekt  der  Frömmigkeit  Welt  und  Selbst  sich  ausnimmt;  da- 
gegen handelt  es  sich  hier  nicht  um  kosmologische  und  psycho- 
logische Probleme  an  sich.  Hiermit  hat  Schleiermacher  das  Ge- 
biet des  dogmatischen  Erkennens  abgegrenzt.  Aber  es  besteht 
deshalb  durchaus  kein  Widerspruch  zwischen  der  Psychologie  und 
Kosmologie  und  diesen  Aussagen.  Denn  da  der  Zustand  des 
Frommen  ein  vernünftiger  Zustand  ist,  so  kann  er  auf  der  höchsten 
Entwicklungsstufe  grundsätzlich  nicht  dem  Erkennen  wider- 
sprechen. Das  reflexive  Erkennen  dient  dazu,  den  Zustand  der 
Frömmigkeit  begrifflich  zu  fixieren,  den  Glauben  über  sich  selbst 
aufzuklären.  Wie  das  Selbst,  die  Welt,  Gott  dem  frommen  Be- 
wußtsein erscheint,  das  soll  zur  Darstellung  kommen.  Aber  ein 
Widerspruch  mit  dem  sonstigen  Erkennen  ergibt  sich  nicht, 
wie  u.  a.  auch  das  durch  die  Frömmigkeit  bestimmte  Welt- 
bewußtsein beweist,  wo  er  auf  den  Naturzusammenhang  das 
größeste  Gewicht  legt. 

Der  zweite  Punkt,  an  dem  ich  das  Verhältnis  von  Theologie 
und  Philosophie  nach  Schleiermacher  klar  machen  möchte,  be- 
trifft die  Ethik.  Die  philosophische  Ethik  ist  die  spekulative 
Geisteswissenschaft  und  die  Religion  selbst,  also  auch  die  christ- 
liche Religion  ist  ein  ethisches  Produkt.  Nun  ist  aber  anderer- 
seits die  Religion  selbst  wieder  zu  dem  Handeln  in  Beziehung 
zu  setzen,  und  da  die  Frömmigkeit  ein  dauernder  Zustand  des 
unmittelbaren  Selbstbewußtseins  ist,  so  steht  sie  auch  dauernd  zu 
dem  sittlichen  Handeln  in  Beziehung,  und  durch  das  einheitliche 
Bewußtsein,  das  sie  ermöglicht,  gibt  sie  dem  Handeln  auch  einen 
dauernden  Rückhalt,  insofern  man  sich  bewußt  ist,  mit  dem  Handeln 
der  Vernunft  auf  die  Natur  auch  etwas  erreichen  zu  können,  weil 
Vernunft  und  Natur  nicht  in  Widerspruch  miteinander  stehen, 
sondern  durch  die  letzte  Einheit  zusammengehalten  sind.  Ganz 
besonders  ist  das  bei  den  teleologischen  Religionen  der  Fall, 
denn  in  diesen  geht  von  dem  Gottesbewußtsein  ein  Impuls  zum 
Handeln  aus.  Nun  kann  man  aber  die  Ethik  auch  unter  diesem 
Aspekt  betrachten  und  fragen,  welchen  Einfluß  das  religiöse  Be- 
wußtsein auf  das  sittliche  Handeln  ausübt,  und  hier  ergibt  sich 
eine  theologische  Ethik.  Diese  wird  nicht  aus  sich  heraus  alle 
Sphären  des  Handelns  konstruieren  können.    Wohl  aber  wird  sie 


XX!Y  Geleitwort. 

die  Frage  zu  beantworten  haben,  welche  eigentümliche  Bestimmt- 
heit das  Handeln  unter  diesem  Aspekte  erfährt.  Da  wird  sich 
einmal  ergeben,  daß  die  Grundstimmung,  aus  der  heraus  gehandelt 
wird,  eine  andere  ist,  als  wenn  man  von  der  Religion  absieht. 
Sodann  aber  wird  diese  Grundstimmung,  welche  den  Willen 
dauernd  beeinflußt,  auch  auf  den  Inhalt  des  Handelns  Einfluß 
üben  und  Modifikationen  herbeiführen.  Nun  ist  zwar  nicht  zu 
leugnen,  daß  die  empirische  Religion  ganz  bestimmte  Modifikationen 
des  religiösen  Bewußtseins  hat  und  daß  von  diesen  aus  die  Ethik 
ganz  verschieden  beeinflußt  wird,  so  daß,  während  die  philo- 
sophische Ethik  ein  Ideal  dieses  Handelns  begrifflich  aufstellen  sollte, 
hier  bei  den  verschiedenen  Religionen  die  größesten  Verschieden- 
heiten in  diesen  Modifikationen  sich  ergeben.  Allein  wenn  auch 
in  dieser  Hinsicht  bei  den  unvollkommeneren  Formen  der  Religion 
ein  Konflikt  zwischen  der  religiösbestimmten  und  der  philosophi- 
schen Ethik  möglich  ist,  so  ist  dieser  doch  ausgeschlossen,  wenn 
die  Religion  die  höchste  Form  erreicht  hat,  weil  diese  selbst  zu- 
gleich rational  ist,  also  mit  den  Forderungen  der  vernunftgemäßen 
Ethik  nicht  in  Widerspruch  kommt.  Schleiermacher  hat  die  „christ- 
liche Sitte"  der  philosophischen  Ethik  zur  Seite  gestellt,  und  hier,  wo 
auch  das  empirische  Moment  einer  konkreten  religiösen  Erfahrung 
in  Betracht  kommt,  findet  sich  eine  wesentliche  Ergänzung  zu  der 
philosophischen  Ethik  schon  darin,  daß,  während  diese  das  Ideal 
des  Handelns  ohne  Rücksicht  auf  etwa  eintretende  empirische 
Hemmungen  darstellt,  die  christliche  Sitte  ausgeht  von  dem  Be- 
wußtsein der  empirischen  Differenz  mit  dem  Ideal,  woraus  ein 
reinigendes  Handeln  sich  als  notwendig  ergibt.  Denn  das  Bewußt- 
sein der  eigenen  Unvollkommenheit  ist  mit  dem  Bewußtsein 
der  Erlösung  verbunden  und  wird  durch  ein  Gefühl  der  Unselig- 
keit  über  die  Unvollkommenheit  zum  Antrieb  dafür,  durch  reinigen- 
des Handeln  diese  Unvollkommenheit  zu  beseitigen.  Ebenso  aber 
will  sich  das  religiöse  Bewußtsein,  soweit  es  sich  befriedigt  fühlt, 
für  sich  selbst  und  für  die  Gemeinschaft  darstellen,  und  so  er- 
gibt sich  das  Gebiet  des  religiös  darstellenden  Handelns.  Endlich 
wird  das  religiöse  Bewußtsein  überall  da  zu  einem  Antrieb  für 
produktive  Tätigkeit,  wo  Empfänglichkeit  für  dieselbe  vorhanden 
ist  und  das  hieraus  folgende  Handeln  nennt  Schleiermacher  das 
verbreitende  Handeln.  Daß  nun  hier  ein  Widerstreit  zwischen 
der  philosophischen  und  theologischen  Ethik  sich  ergeben  würde, 
kann  man  nicht  behaupten,  weil  von  dem  christlichen  Bewußtsein 
kein   Impuls   ausgeht,    der   inhaltlich   der  rationalen  Ethik  wider- 


Geleitwort.  XXV 


streitet,  da  ja  das  christliche  Prinzip  selbst  der  ethischen  Idee  der 
Religion  entspricht.  Aber  auch  überflüssig  wird  weder  die  theo- 
logische Ethik  noch  die  philosophische.  Zwar  haben,  wenn  beide 
dem  Ideale  entsprechen,  beide  im  wesentlichen  denselben  Inhalt. 
Aber  dieser  Inhalt  wird  in  verschiedener  Motivierung  betrachtet. 
Während,  die  philosophische  Ethik  den  Inhalt  als  Handeln  der 
Vernunft  auf  die  Natur  beschreibt,  geht  die  theologische  Ethik 
von  der  Person,  von  ihrem  innersten,  religiös  bestimmten  Bewußt- 
sein aus,  und  wenn  man  sonst  wohl  der  Kantischen  Ethik  gegenüber 
die  Schleiermachersche  zu  unpersönlich  fand,  so  kann  man  darauf 
erwidern,  daß  gerade  die  persönliche  Gesinnung  und  ethische 
Grundrichtung  in  der  theologischen  Ethik  zum  Ausgangspunkt 
genommen  wird.  In  dem  religiösen  Bewußtsein  ist  ein  Impuls 
zu  handeln,  der  die  Durchführung  der  sittlichen  Aufgabe  be- 
deutend erleichtert.  Wenn  also  inhaltlich  auch  keine  wesentliche 
Differenz  in  beiden  Ethiken  sich  findet,  so  wird  doch  die  Moti- 
vierung in  der  christlich  bestimmten  Ethik  eine  andere,  und  es 
werden  in  jeder  von  beiden  bestimmte  Seiten  des  Handelns  ganz 
besonders  hervorgehoben;  so  in  der  theologischen  Ethik  z.  B.  das 
reinigende  Handeln,  oder  die  spezifische  Darstellung  der  Frömmig- 
keit im  kirchlichen  und  persönlichen  Handeln.  Andererseits  werden 
die  Vorschriften  der  philosophischen  Ethik  in  der  theologischen 
vorausgesetzt  und  nur  durch  die  eigentümliche  Motivation  der 
theologischen  Ethik  noch  in  ein  neues  Licht  gerückt.  Wenn  z.  B. 
die  philosophische  Ethik  nach  ihm  schon  Vergewaltigung  tiefer 
stehender  Rassen  verbietet,  so  fügt  die  theologische  Ethik  das 
Motiv  hinzu,  daß  sie  alle  für  das  Reich  Gottes  berufen  sind,  daß 
der  ethische  Universalismus  seinen  Grund  in  dem  religiösen 
Bewußtsein  von  der  Bestimmung  aller  Menschen  für  die  Ge- 
meinschaft des  christlichen  Gottesbewußtseins,  für  das  Reich 
Gottes   hat. 

Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  daß  Schleiermacher  die  Theo- 
logie bei  aller  Abhängigkeit  von  den  prinzipiellen  philosophischen 
Erörterungen  der  Ethik  als  kritische  und  technische  Disziplin  doch 
wieder  selbständig  stellen  wollte,  ja  die  theologischen  Betrach- 
tungen in  der  Ethik  als  eine  Ergänzung  der  philosophischen  Ansicht 
ansah,  sofern  sie  durch  ihre  religiöse  Bestimmtheit  eine  Rückwirkung 
auf  die  philosophische  Ethik  ausüben,  die  diese  in  mancher  Hin- 
sicht modifiziert,  ohne  mit  ihr  in  Widerspruch  zu  kommen.  An 
diesem  Beispiel  ist  klar,  wie  Schleiermacher  die  Konsequenz  seiner 
Prinzipien  ins  Konkrete  durchzuführen  vermag,   wie  er  den  ver- 


XXVI  Geleitwort. 

schiedenen  Gebieten  ihrer  Eigenart  gemäß  gerecht  werden  will 
und  doch  alle  harmonisch  zusammenzuhalten  sucht,  weil  er 
sie  in  den  letzten  Prinzipien  zu  einem  einheitlichen  System 
verbindet. 

Schleiermacher  ist  vorbildlich  darin,  daß  er  alle  Einseitigkeiten 
vermeidet.  Er  tritt  jeder  Enge  entgegen,  wie  er  selbst  die  Enge 
des  Pietismus  überwunden  hat.  Er  erkennt  die  Rechte  echter 
Mystik  in  der  Religion  an,  und  ist  doch  durch  die  Klarheit  seines 
Geistes  vor  Mystizismus  bewahrt;  er  erkennt  das  Recht  des  Er- 
kennens  an  wie  das  der  Religion,  er  will  weder  das  Wissen  durch 
den  Glauben  beschränken,  noch  den  Glauben  seiner  Selbständig- 
keit berauben. 

Sehen  wir  noch  darauf,  wie  Schleiermacher  sich  von  den  haupt- 
sächlichsten Denkern  seiner  Zeit  unterscheidet,  so  kommen  im 
wesentlichen  neben  Plato  und  Spinoza  Kant,  Fichte,  Hegel,  Schelling, 
Rousseau,  Jakobi-Fries,  die  Romantik,  Herbart,  Schiller  in  Betracht. 
Obgleich  Schleiermacher  von  Kant  sehr  stark  beeinflußt  ist^),  so 
betont  er  doch  im  Gegensatz  zu  Kant  und  Fichte  die  Zusammen- 
gehörigkeit von  Natur  und  Geist,  worin  er  von  Schelling  beein- 
flußt ist,  der  in  der  Identität  den  gemeinsamen  Grund  für  Geist 
und  Natur  fand.  Er  geht  auch  in  der  Anerkennung  des  objektiven 
Seins  über  Kant  und  Fichte  hinaus;  denn  für  die  letzteren  ist  der 
ganze  Erkenntnisprozeß  von  den  subjektiven  Erkenntnisvermögen 
bedingt,  während  Schleiermacher  den  subjektiven  Erkenntnis- 
vermögen das  zu  erkennende  Objekt  zur  Seite  stellt,  von 
vornherein  den  Gegensatz  von  ideal  und  real  konstatiert  und 
demgemäß  zwischen  erkennendem  Subjekt  und  zu  erkennendem 
Objekt  unterscheidet  und  sowohl  in  dem  Subjekt  reale  als  auch 
in  dem  Objekt  ideale  Momente  anerkennt,  so  daß  beide  zuein- 
ander in  Beziehung  treten  können.  Er  bleibt  nicht  in  der  Kanti- 
schen Tretmühle  stecken,  die  nur  die  Erkenntnisvermögen  unter- 
sucht und  so  gar  nicht  zu  einem  realen  Objekt,  sondern  nur  zu 
Erscheinungen  kommt.  Er  macht  sich  klar,  daß  das  Subjekt  ebenso 
vom  Objekt  abhängt  wie  das  Objekt  vom  Subjekt,  weil  beide  ein- 
seitig sind  und  in  der  Identität  den  Grund  ihrer  Harmonie  haben. 
Der  Mensch  stellt  vermittels  seiner  gesamten  Organisation  schon 
diejenige  Vereinigung  von  Vernunft  und  Natur  dar,  welche  das 
Subjekt  für  den  erkennenden  Prozeß  ist.     So    kann  die  Vernunft 


1)  Vgl.  meine  Abhandlung,  Schleiermachers  Verhältnis  zu  Kant:  theol. 
Studien  und  Kritiken  1901,  S.  1  f. 


Geleitwort.  XXVII 


in  der  Natur  sich  darstellen  auch  in  der  Sprache,  dem  „inneren 
und  äußeren"  Sprechen,  auf  dessen  Bedeutung  für  das  Erkennen 
er  weit  mehr  geachtet  hat  als  Kant.  So  kann  die  Natur  von  der 
Vernunft  umgestaltet,  vergeistigt  w^erden,  was  neben  der  organi- 
sierenden Tätigkeit,  besonders  in  dem  Erkennen  geschieht.  Hin- 
gegen erinnert  die  Art,  wie  er  die  religiöse  Mystik  mit  der  Ethik 
kombiniert,  an  Fichtes  Anweisung  zum  seligen  Leben. 

Man  hat  den  Einfluß  Spinozas  auf  Schleiermacher  für  sehr  be- 
deutend gehalten,  weil  er  dessen  Ethik  in  seinen  „Grundlinien"  sehr 
hoch  gewertet  und  in  den  „Reden"  ihn  gepriesen  hat.  Allein,  wenn 
auch  in  dem  Gottesbegriff  eine  Ähnlichkeit  besteht,  so  hat  doch 
Schleiermacher  an  Stelle  des  Parallelismus  ein  Handeln  der  Ver- 
nunft auf  die  Natur  angenommen  und  später  Gott  und  Welt  als 
Correlata  bezeichnet.  Auch  hat  er  die  sekundären  Kausalitäten 
zu  größerer  Selbständigkeit  kommen  lassen,  hat  der  Geschichte 
weit  mehr  Interesse  zugewendet  und  der  Individualität  mehr  Be- 
deutung gegeben,  in  welch  letzter  Hinsicht  er  mehr  an  Leibniz 
erinnert. 

Wir  haben  gesehen,  daß  Schleiermacher  auch  die  Differenz 
zwischen  der  spekulativen  und  empirischen  Wissenschaft  betont; 
hierin  unterscheidet  er  sich  von  der  spekulativen  Philosophie 
seiner  Zeit,  die  aus  der  Entwicklung  der  Idee  den  ganzen  Welt- 
prozeß zu  verstehen  suchte.  Da  konnten  die  empirischen  Wissen- 
schaften von  der  Spekulation  schwer  unterschieden  werden.  Anderer- 
seits war  freilich  der  Hegeische  Satz,  daß  die  Philosophie  nur  das 
Abbild  des  realen  Prozesses  im  subjektiven  Bewußtsein  sei,  daß 
die  Betrachtung  erst  hintennach  komme  und  den  Prozeß  über- 
schaue, gleichsam  nur  dem  Werden  zuschaue,  geeignet,  dem  Epiris- 
mus  Vorschub  zu  leisten  und  den  tatsächlichen  Prozeß  lediglich 
als  den  Prozeß  der  Idee  in  der  Welt  zu  registrieren,  wie  er  in 
dem  Bewußtsein,  das  beobachtet,  sich  darstellt.  Schleiermacher 
hat  dagegen  die  Empirie  von  der  Idee  unterschieden  und  die 
Spekulation  von  den  empirischen  Wissenschaften,  und  hat  damit 
auch  die  Möglichkeit  von  der  Idee  aus  den  empirischen  Prozeß 
kritisch  zu  beleuchten,  die  Unvollkommenheit  der  Empirie  gegen- 
über der  Idee  anzuerkennen  und  doch  nicht  in  Pessimismus  zu 
verfallen,  weil  das  Handeln  nach  dem  Ideal  die  Unvollkommen- 
heiten  allmählich  beseitigt.  Auch  von  dem  späteren  Schelling^)  ist 


1)  Vgl.  meine  Schrift:  Zur  Erinnerung  an  den  hundertjährigen  Geburts- 
tag von  Schelling,  1875. 


XXVIII  Geleitwort. 

er  dadurch  different,  daß  er  nicht  wie  jener  die  Religionsgeschichte 
als  einen  theogonischen  Prozeß  auffaßt,  sondern  den  Unterschied 
zwischen  der  idealen  Vernunftwissenschaft  und  der  empirischen 
Wissenschaft  der  Geschichte  stark  hervorhebt,  sofern  die  letztere  mit 
dem  Ideal  nicht  völlig  zusammenstimmt,  da  gerade  der  geschicht- 
liche Prozeß  erst  die  allmähliche  Realisierung  desselben  aufweist. 
Schleiermacher  erkennt  also  die  Differenz  an,  läßt  aber  der  Geistes- 
wissenschaft, der  Ethik  ihre  Selbständigkeit,  indem  sie  frei  auf 
spekulative  Weise  sich  gestaltet.  Schleiermacher  konstruiert  nicht 
den  empirischen  Prozeß,  wie  es  Schelling  tut,  der  auch  noch  in 
seiner  positiven  Philosophie  den  realen  Prozeß  als  einen  not- 
wendigen Prozeß  der  Potenzen  darstellt;  er  nimmt  ihn  als  gegeben 
an  und  die  empirische  Wissenschaft  hat  ihn  zu  erforschen.  Aber 
er  stellt  das  Ideal  des  Prozesses  auf  und  hat  an  ihm  den  Maß- 
stab für  die  Beurteilung  der  Geschichte,  während  Schelling  die 
tatsächliche  Entwicklung  als  eine  notwendige  von  Anfang  bis  zu 
Ende  zu  verstehen  sucht.  Schleiermacher  bleibt  seiner  Methode 
gemäß  in  der  Mitte  der  Entwicklung  stehen  und  hat  es  weder 
gewagt,  den  Anfang  noch  das  Ende  der  Entwicklung  ins  Auge 
zu  fassen,  wie  es  bei  Schelling  der  Fall  ist.  Auf  der  einen  Seite 
ist  Gott  die  Identität  über  allen  Gegensätzen,  auf  der  anderen 
Seite  ist  die  Welt  mit  ihren  Gegensätzen  aber  doch  von  dieser 
Identität  durchdrungen,  die  sie  als  Einheit  zusammenhält  und 
der  Weltprozeß  geht  auf  die  Ausgleichung  der  Gegensätze  hinaus, 
die  aber  niemals  voll  erreicht  wird.  So  betrachtet  er  die  Gesetz- 
mäßigkeit dieses  Ausgleichprozesses,  die  Wirksamkeit  der  Vernunft 
auf  die  Natur  spekulativ  nach  ihren  typischen  Formen,  und  anderer- 
seits fixiert  er  den  empirischen  Prozeß  selbst,  wie  er  vorliegt,  in 
der  empirischen  Wissenschaft  und  beide  Betrachtungen  verbindet 
er  durch  kritische  und  technische  Anwendung  des  Ideals  auf  die  Ge- 
schichte. Eben  hierdurch  ist  er  aber  noch  heute,  auch  gegenüber 
denjenigen  ethischen  Versuchen  von  der  größten  Bedeutung,  welche 
die  ethischen  Regeln  nur  aus  dem  empirischen  Verlauf  abstrahieren 
wollen  und  die  ethischen  Begriffe  nicht  auf  eine  Vernunftidee, 
sondern  auf  eudämonistische  Erfahrungen  gründen  wollen. 

Ganz  andersartig  sind  die  Beziehungen  Schleiermachers  zu 
Jakob i,  dem  er  nach  der  Vorrede  zu  den  Reden  über  Religion 
1821  „so  vieles  verdankt".  Wenn  dieser  auf  das  Gefühl  das 
Hauptgewicht  legte  und  die  Gottheit  nur  mit  dem  Gefühl  erfaßbar 
hielt,  so  hat  Schleiermacher  ihm  darin  zugestimmt.  Auch  die 
Meinung,   daß   die   Erkenntnis  Gottes   nur  auf  symbolische  Dar- 


Geleitwort.  XXIX 

Stellung  beschränkt  ist  und  niemals  die  Gottheit  erreicht,  daß 
deshalb  die  Religion  in  anthropomorphen  und  symbolischen  Aus- 
drücken sich  ergeht,  teilt  Schleiermacher,  Nur  differiert  Schleier- 
macher, insofern  als  er  das  religiöse  Gefühl  konkreter  bestimmt  und 
als  eine  Form  der  Betätigung  der  Vernunft  auffaßt,  auch  zugibt, 
daß  sich  die  Reflexion  auf  die  Gemütszustände  richten  kann, 
und  als  er  die  Verbindung  der  konkret  bestimmten  Religion  mit 
der  Ethik  aufrecht  erhält.  Schleiermacher  läßt  den  Dualismus 
zwischen  Verstand  und  Gefühl  nicht  gelten,  durch  den  sich  Jakobi 
zu  der  Bezeichnung  des  Verstandes  als  des  geborenen  Gottes- 
leugners hinreißen  ließ.  Überhaupt  ist  Schleiermacher  viel  um- 
fassender in  seinem  Denken  und  geht  überall  darauf  aus,  die 
Gegensätze  durch  die  Einheit  zusammenzuhalten. 

Ähnliches  kann  man  mit  Bezug  auf  Rousseau  sagen,  der  ja 
auch  die  Religion  wesentlich  im  Gefühle  fand.  Die  Kulturfeind- 
schaft Rousseaus,  der  auf  die  Natur  zurückwies,  hat  Schleier- 
macher dadurch  überwunden,  daß  er  einerseits  selbst  die  Kultur 
auf  die  Natur  aufbaute,  andererseits  aber  sie  ethisch  als  die  Durch- 
dringung der  Natur  mit  Vernunft  betrachtete  und  die  Kultur  als 
die  Ethisierung  der  Natur  auffaßte.  Seine  Religionsphilosophie, 
wie  überhaupt  seine  Weltanschauung  unterscheidet  sich  aber  von 
der  Rousseaus  durch  die  Betonung  der  Geschichte,  sowie  dadurch, 
daß  ihn  in  der  Geschichte  der  Religion  nicht  bloß  das  allen  Reli- 
gionen Gemeinsame,  die  natürliche  Religion  interessierte,  sondern 
daß  er  die  geschichtlichen,  und  insbesondere  die  individuellen 
Nuancen  des  religiösen  Lebens  beachtete,  ohne  die  in  der  Ethik 
begrifflich  konstruierte  Idee  der  Religion  fallen  zu  lassen,  die 
sich  in  individuellen  Formen  darstellt. 

Was  das  Verhältnis  Schleiermachers  zu  Herbart  angeht,  so 
sind  sie  zwar  grundverschieden  in  ihrer  Metaphysik  und  ihrer 
Methode.  Aber  in  den  Resultaten  und  in  der  Opposition  gegen 
die  absolute  Philosophie  stimmen  sie  namentlich  in  der  Ethik 
vielfach  zusammen.  Geradeso  wie  Schleiermacher  in  seiner  Güter- 
lehre von  einem  Organismus  der  Güter  redet,  deren  jedes  doch 
wieder  für  sich  selbständig  ist,  so  redet  Herbart  von  der  beseelten 
Gesellschaft,  in  welcher  auch  wieder  verschiedene  Systeme  sich 
relativ  selbständig  organisieren  und  wie  bei  Herbart  diese  Systeme 
auf  den  fünf  einfachen  Ideen  beruhen,  welche  zunächst  Verhält- 
nisse des  Individuums  zu  sich  selbst  und  zu  den  anderen  be- 
zeichnen, und  wie  die  ethischen  Systeme  aus  der  sozialen  Kom- 
bination der  einfachen  Verhältnisse  der  Personen  hervorgehen,  so 


XXX  Geleitwort. 

sind  auch  bei  Schleiermacher  die  Individualitäten  die  Produzenten 
der  Güter  und  beide  legen  auf  die  Individualität  ein  großes  Ge- 
wicht, nur  mit  dem  Unterschied,  daß  Schleiermacher  geneigt  ist, 
die  Individualität  als  ein  Produkt  der  Gattung  und  Durchgangs- 
punkt anzusehen,  Herbart  die  Gemeinschaft  als  Produkt  der  Indi- 
viduen. Aber  da  Schleiermacher  doch  die  Selbsttätigkeit  der 
Individuen  energisch  geltend  macht  und  Herbart  doch  die  Gemein- 
schaft als  die  höchste  Form  der  Einheit  der  Individuen  ansieht, 
so  gleicht  sich  in  der  Praxis  dieser  Gegensatz  nahezu  aus.  Auch 
darin  sind  beide  ähnlich,  daß  sie  auf  Grund  der  Ethik  und  Psy- 
chologie die  Pädagogik  bearbeiten. 

Man  hat  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  wie  enge  sich  die 
Schleiermachersche  christliche  Sitte  mit  der  Schillerschen  Ethik 
berührt,  insofern  Schleiermacher  in  der  christlichen  Sitte  auf  die 
Leichtigkeit  und  Anmut  der  sittlichen  Persönlichkeit  hinweist,  die 
die  volle  Harmonie  von  Vernunft  und  Natur  darstellen  soll,  so  daß 
die  natürlichen  Affekte  und  Neigungen  nicht  nur  beherrscht  werden, 
sondern  mit  voller  Leichtigkeit  in  den  Dienst  der  Vernunft  treten. 
Dasselbe  hat  auch  Schiller  Kant  gegenüber  gefordert. 

Endlich  hat  man  Schleiermacher  zu  der  Romantik  in  Be- 
ziehung gebracht,  was  besonders  in  seinen  Monologen  hervor- 
treten soll.  Allein  was  ihn  trotz  seiner  Freundschaft  mit  Fr.  Schlegel, 
trotz  seiner  Betonung  der  freien  individuellen  Sittlichkeit  von  der 
Romantik  scheidet,  ist  die  Stellung,  die  er  der  Individualität  als 
Glied  der  Gemeinschaft  gibt,  ist  trotz  der  Betonung  des  Gefühls 
in  der  Religion  ihre  gliedliche  Einordnung  in  das  gesamte  ethische 
Leben,  ist  trotz  seiner  reichen  Phantasie  seine  scharfe  Dialektik 
und  seine  kritische  Besonnenheit  gegenüber  der  phantastischen 
Geschichtsbetrachtung  besonders  des  Mittelalters  seitens  der  Ro- 
mantik. Seine  Betonung  der  religiösen  Gemeinschaft  ist  nicht  die 
katholische,  da  er  auf  die  Erfahrung  des  Subjekts  zurückgeht  und 
die  Kirche  als  die  Gemeinschaft  derer  ansieht,  die  den  Geist  Christi 
haben.  Er  ist  sich  des  Gegensatzes  gegen  die  römische  Auf- 
fassung klar  bewußt  gewesen.  Weit  mehr  ist  er  an  dem  Rück- 
gang auf  die  Griechen  beteiligt,  der  die  Signatur  der  ganzen 
Zeit  war.  Plato  bildet  bei  ihm  ein  Gegengewicht  gegen  den 
Einfluß  Kants,  was  sich  bei  ihm  besonders  darin  zeigt,  daß  er 
den  rein  formalen  Charakter  des  Kantischen  Denkens  durch  die 
Anerkennung  eines  konkreten  Vernunftinhaltes  überbietet. 

So  nimmt  Schleiermacher  in  seiner  Umgebung  eine  sehr  eigen- 
tümliche Stellung  ein.     Von  verschiedenen  Seiten  beeinflußt,  hat 


Geleitwort.  XXXI 


er  doch  seine  wissenschaftliche  Selbständigkeit  zu  wahren  gewußt, 
die  in  seiner  Vielseitigkeit  ebenso  begründet  ist,  wie  in  seiner 
prinzipiellen  Stellung.  Nach  beiden  Seiten  ist  er  auch  für  die 
Gegenwart  noch  von  hoher  Bedeutung.  Er  hat  philologische 
Untersuchungen  in  der  Geschichte  der  Philosophie  gemacht,  die 
von  Trendelenburg,  Zeller,  Dilthey  u.  a.  fortgeführt  wurden.  Er  hat 
die  Geschichte  der  Philosophie  zur  kritischen  Grundlage  für  seine 
eigene  Position  gemacht.  Er  hat  als  Theologe  alle  Disziplinen 
der  Theologie  mit  seinen  Untersuchungen  befruchtet  und  den 
Zusammenhang  der  Theologie  mit  der  Philosophie  ebenso  gewahrt, 
wie  die  Selbständigkeit  der  Theologie  behauptet.  Er  hat  die 
Hauptdisziplinen  der  Philosophie  in  Vorlesungen  behandelt,  die 
Dialektik  wie  die  Ethik,  die  ihm  zugleich  die  Prinzipien  der 
Philosophie  der  Geschichte  umfaßt.  Aber  auch  die  Politik  wie 
die  Pädagogik,  die  Ästhetik  wie  die  Kritik  und  Hermeneutik  sind 
Gegenstand  seiner  Bearbeitung.  Er  hat  das  Verdienst,  die  Prinzipien 
der  Geselligkeit  ethisch  untersucht  zu  haben,  und  er  hat  ebenso 
in  seinen  politischen  Untersuchungen  die  sozialen  Fragen  ein- 
gehend erörtert.  Prinzipiell  wertvoll  aber  ist  auch  heute  noch 
sein  Versuch,  das  empirische  Gebiet  und  das  Gebiet  der  Ideen, 
jedes  nach  seiner  Methode  zu  behandeln,  beiden  Seiten  gerecht  zu 
werden  und  die  Selbständigkeit  der  Spekulation  wie  der  empiri- 
schen Wissenschaften,  der  Naturwissenschaften  und  der  Geschichte 
anzuerkennen  und  sie  in  der  letzten  Einheit  zu  verknüpfen.  Ebenso 
hat  er  den  Gegensatz  des  Natürlichen  und  Geistigen  nicht  duali- 
stisch aufgefaßt,  sondern  gezeigt,  wie  Natur  und  Vernunft  auf 
einander  angewiesen  sind  und  zur  Harmonie  hinstreben.  Ohne 
Eudämonist  zu  sein,  hat  er  in  der  Ethik  eine  Güterlehre  produziert 
und  die  individuellen  und  universellen  Interessen  gleichzeitig  be- 
rücksichtigt. Wenn  man  in  der  Gegenwart  ein  so  großes  Gewicht 
auf  die  Psychologie  legt,  so  hat  er  den  Standpunkt,  daß  es  eine 
Physik  der  Seele  geben  müsse,  mit  der  Ansicht  ausgeglichen,  daß 
zugleich  die  seelischen  Anlagen  als  ethisches  Produkt  sich  auf- 
fassen lassen  und  hat  namentlich  im  Gebiet  der  Religion  den 
psychologischen  Standpunkt  zur  Erklärung  der  konkreten  Religion 
herangezogen,  ohne  den  metaphysischen  Hintergrund  der  Religion 
in  Abrede  zu  stellen.  Er  hat  auch  darin  große  Bedeutung,  daß 
er  den  Wert  der  antiken  klassischen  Welt  klar  erkannt  hat,  ohne 
deshalb  die  Fortschritte  des  modernen  Erkennens  und  Lebens  zu 
unterschätzen,  wie  sich  das  ganz  besonders  bei  seiner  Tendenz 
zeigt,   das   psychologische    mit  dem   metaphysichen  Elemente  zu 


XXXII  Geleitwort. 

kombinieren  und  ebenso  in  seiner  Wertung  der  empirischen  Wissen- 
schaften neben  der  Philosophie,  ferner  in  seiner  Schätzung  der 
mechanischen  Tätigkeiten,  die  das  Altertum  mißachtete,  während 
Schleiermacher  verlangt,  daß  alle  auch  an  dem  organisierenden 
Handeln  sich  beteiligen  sollen,  und  den  Wert  der  Technik  ein- 
schärft. Er  will  nicht,  daß  jemand  bloß  der  Pflege  der  Intelligenz 
obliege,  den  praktischen  Tätigkeiten  aber  über  der  erkennenden 
Funktion  fern  bleibe.  Und  doch  hat  er  ebenso  den  selbständigen 
Wert  der  Erkenntnis  mit  der  Antike  vertreten.  Überall  ist  er 
bemüht,  die  Vielseitigkeit  mit  der  Beschränkung  auf  ein  Gebiet 
als  das  wesentliche  und  berufsmäßige  zu  kombinieren.  Ebenso 
hat  er  aber  auch  selbst  seine  theoretischen  Arbeiten  durch  eine 
rege  praktische  Tätigkeit  ergänzt. 

In  bezug  auf  die  Auswahl  der  Werke  Schleiermachers,  welche 
hier  geboten  werden  soll,  bemüht  sich  der  Herausgeber,  ein  einheit- 
liches Bild  von  seinen  Leistungen  zu  geben.  Da  bei  Schleiermacher 
das  Zentrum  die  Ethik  ist,  so  beginnt  die  Ausgabe  mit  der  histo- 
risch kritischen  Grundlage  seiner  Ethik  in  den  „Grundlinien  einer 
Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre".  Sodann  wird  die  philosophische 
Ethik  mit  den  ethischen  Abhandlungen  aus  der  Akademie  in  den 
Mittelpunkt  gestellt.  Zur  Erläuterung  soll  auch  die  Einleitung  in 
die  „christliche  Sitte"  zum  Abdruck  kommen.  Da  seine  philoso- 
phische Ethik  leider  abstrakt  geblieben  ist,  so  wird  an  einzelnen 
Beispielen  ihre  Fruchtbarkeit  zur  Darstellung  gebracht,  in  Aus- 
zügen aus  der  Pädagogik,  Ästhetik,  Politik,  in  den  Predigten  über 
den  christlichen  Hausstand,  in  der  Schrift  über  Universitäten  in 
deutschem  Sinne.  Seine  Religionsphilosophie  soll  in  ihrer  reifen 
Gestalt  in  der  Einleitung  in  die  Glaubenslehre  aufgenommen 
werden.  Die  psychologischen  Voraussetzungen  sollen  in  Auszügen 
aus  der  Psychologie,  die  wissenschaftliche  Fundamentierung  seines 
Systems  in  Auszügen  aus  der  Dialektik  zur  Anschauung  gebracht 
werden.  Auf  diese  Weise  hofft  der  Herausgeber  einen  Totalein- 
druck von  Schleiermachers  Lebenswerk  geben  zu  können.  Möge 
seine  Arbeit  von  Erfolg  gekrönt  sein! 

Königsberg  i.  Pr.,  Juli  1910. 

A.  Dorner. 


Vorwort. 

Daß  eine  Schleiermacher-Auswahl  nichts  Unnützes  ist,  haben  mir  so 
manche  Mitteilungen  im  Laufe  meiner  Arbeit  bestätigt.  Da  ich  als  Philo- 
soph an  Schleiermacher  herantrat,  konnte  es  sich  für  mich  nur  darum 
handeln,  die  philosophischen  Schriften  in  den  Mittelpunkt  zu  stellen.  Um 
aber  die  Auswahl  nicht  zu  subjektiv  zu  treffen,  habe  ich  mich  mit  der  Bitte 
um  Rat  an  die  Herren  Prof.  D.  Joh.  Bauer,  Geheimrat  Prof.  Dr.  Wilh.  Dilthey, 
Prof.  D.  Dr.  August  Dorner,  Prof.  D.  Rade  und  Dr.  J.  Halpern  gewandt, 
die  mir  auch  freundlichst  ihre  Ansichten  mitgeteilt  haben.  Daß  auch 
diese  Ratschläge  stark  auseinander  gingen,  ist  selbstverständlich.  So  blieb 
immer  noch  meinem  Urteil  genug  überlassen.  Ich  will  nur  hoffen,  einiger- 
maßen das  Richtige  getroffen  zu  haben.  Heute  —  dem  Abschluß  eines 
Hauptteils  der  Arbeit  nahe  —  empfinde  ich  deutlicher  als  am  Anfang, 
welch  ein  Wagnis  eine  solche  Auswahl  ist!  Ich  muß  daher  mit  einer 
captatio  benevolentiae  beginnen;  nicht  jedem  werde  ich  es  recht  gemacht 
haben,  ich  bitte,  mir  das  um  der  Schwierigkeit  des  Ganzen  willen  nicht 
zu  sehr  anzurechnen! 

Die  Ethik  ist  der  Kernpunkt  von  Schleiermachers  Philosophie;  alle  zur 
Ethik  gehörenden  Schriften  bilden  daher  den  Grundstock  der  Ausgabe. 
Dazu  kamen  —  nach  den  eingeholten  Ratschlägen  —  Auswahlen  aus  den 
Schriften,  die  die  Anwendung  der  ethischen  Prinzipien  zeigen  (so  z.  B. 
Politik  und  Pädagogik)  und  aus  denen,  welche  das  Weltbild  begründen  oder 
abschließen  (Dialektik,  Glaubenslehre).  Der  Psychologie,  Ästhetik  und 
Hermeneutik  wurden  Stellen  entnommen,  die  gleichfalls  Beziehungen  zur 
ethischen  Anschauung  enthalten.  Herr  Prof.  D.  Bauer  hatte  dann  die 
Güte,  seine  wertvolle  Mitarbeit  dem  Unternehmen  durch  Herausgabe  und 
Analyse  der  „Predigten  über  den  Hausstand"  zu  leihen;  ich  möchte  ihm 
auch  hier  dafür  meinen  aufrichtigsten  Dank  aussprechen.  Für  das  Ein- 
zelne der  Textgestaltung  verweise  ich  auf  die  Bemerkungen  in  den  Vor- 
oder Nachworten. 

Ich  hatte  erst  beabsichtigt,  die  bekanntesten  Schriften  —  Reden, 
Monologen  und  Weihnachtsfeier  —  nicht  noch  einmal  zu  drucken,  da  sie 
in  billigen  und  guten  Neuausgaben  vorliegen.  Einem  Wunsche  des 
Verlages  folgend,  sollen  sie  aber  doch  im  4.  Bande  erscheinen.  Mit  Aus- 
nahme des  2.  Bandes  ist  die  Ausgabe  keine  kritische, 

Schleiermacher,  Werke.    I.  IH 


XXXIV  Vorwort. 

Eine  ungemein  wichtige  Unterstützung  meiner  Arbeit  habe  ich  da- 
durch gefunden,  daß  die  BerUner  Literaturarchiv-Gesellschaft  mir  die  von 
Schleiermacher  noch  vorhandenen  Handschriften  zur  Ethik  gütigst  zur  Ver- 
fügung stellte,  wofür  ich  hier  öffentlich  den  Leitern  der  Gesellschaft 
meinen  ergebensten  Dank  sagen  möchte.  Dadurch  war  es  mir  möglich, 
im  2.  Bande  einen  revidierten  und  ergänzten  Text  des  „Entwurfs  eines 
Systems  der  Sittenlehre"  anzufertigen. 

Herr  Prof.  D.  Dr.  Dorner,  dem  hier  ebenfalls  herzlich  gedankt  sei, 
nahm  sich  des  Ganzen  durch  ein  Geleitwort  an.  Mir  blieb  daher  für 
die  allgemeine  Einleitung  eine  hauptsächlich  biographische  Aufgabe. 
Diese  Einleitung  schöpft  nur  aus  gedruckten  Quellen,  es  war  mir  in  der 
Kürze  der  Zeit  ganz  unmöglich,  ungedrucktes  Material  aufzusuchen.  Sie 
ist  auf  Wunsch  des  Verlages  geschrieben,  um  die  Ausgabe  für  weitere 
Kreise  nutzbar  zu  gestalten.  Am  meisten  verdankt  sie  natürlich  den  Werken 
von  Dilthey  und  Schenkel,  daneben  ist  mögUchst  alle  moderne  Literatur 
berücksichtigt ^  Daß  die  Jugend  Schleiermachers  darin  etwas  breiter  als 
das  Alter  behandelt  ist,  liegt  an  dem  Sonderzweck  der  Einleitung,  der 
sie  an  die  Spitze  der  ethischen  Schriften  stellt:  in  der  Jugend  werden  die 
Grundgedanken  der  Ethik  aus  Erleben  und  Studium  gewonnen.  Herr  Prof. 
Bauer  hat  manche  wertvolle  Winke  zur  Einleitung  gegeben. 

Den  „Grundlinien"  schicke  ich  eine  kurze  Inhaltsanalyse  voran,  um 
diese  komplizierte  Schrift  weiteren  Kreisen  zugänglich  zu  machen. 

Im  zweiten  Band  fand  eine  Spezialeinleitung  über  Schleiermachers  Ethik 
ihre  Stelle,  die  eine  wissenschaftliche  Behandlung  des  Themas  geben  will. 

Die  Verteilung  der  Schriften  auf  die  einzelnen  Bände  konnte  leider 
keine  systematische  oder  chronologische  sein,  sondern  ist  von  mehr 
praktischen  Gesichtspunkten  bestimmt:  ich  habe  die  Auswahlen  mit  dem 
Nachtrag  der  bekanntesten  Schriften  in  den  2  letzten  Bänden  vereinigt, 
während  die  ersten  beiden  die  Hauptschriften  zur  Ethik  geben. 

Zum  Schluß  sage  ich  nochmals  allen  denen  Dank,  die  zum  Gedeihen 
der  Ausgabe  mitgewirkt,  nicht  zu  wenigst  dem  verehrlichen  Verlage,  der 
mich  durch  Abnahme  von  Revisionen  und  Registerarbeit  besonders  unter- 
stützte (Herr  Fritz  Eckardt  hat  sich  selbst  der  großen  Mühe  unterzogen, 
die  Register  zu  Band  1,  3  und  4  anzufertigen),  und  —  last  not  least  — 
meiner  Frau,  die  mir  bei  den  Korrekturen  und  Textvergleichungen  ge- 
treulich geholfen  hat. 

Hamburg,  im  Herbst  1910.  Otto  Braun. 


1  Da  ich  mich  sehr  kurz  fassen  mußte,  habe  ich  die  wichtigste  Literatur 
zitiert,  damit  Interessenten  sich  leicht  über  jeden  Punkt  genauer  informieren  können. 


Einleitung. 

Schleiermachers  Leben  und  Werke. 

Die  Jugend. 

Friedrich  Daniel  Ernst  Schleiermacher  wurde  am  21.  November  1768  in 
Breslau  geboren.  In  ihm  erreichte  der  religiöse  Familiengeist  seine 
Konzentration  und  seinen  Höhepunkt.  Der  Großvater  schon  wurde  als 
Prediger  in  Elberfeld  in  die  sektiererischen  Bewegungen  von  Elias  Eller 
und  der  „Prophetin"  Anna  v.  Buchel  hineingezogen,  und  hatte  des- 
wegen manche  Anfeindungen,  ja  1749  eine  Anklage  wegen  Hexerei 
zu  erdulden,  der  er  sich  nur  durch  rechtzeitige  Flucht  entziehen  konnte. 
Unter  dem  Einfluß  dieser  aufregenden  Vorgänge  ist  der  Vater,  Gott- 
lieb Schleiermacher,  1727  geboren,  aufgewachsen.  In  ihm  finden  wir 
nicht  mehr  die  ruhige  Sicherheit  des  Kirchenglaubens,  und  noch  nicht 
die  philosophisch-fundierte  Gewißheit  des  Sohnes.  Er  gehörte  damit 
ganz  der  Generation  der  Semler  und  Hippel  an,  zu  der  auch  Kant 
in  gewissem  Sinne  zu  rechnen  ist:  die  Wissenschaft  hat  in  diesen 
Männern  eigentlich  schon  die  Grundsäulen  des  Glaubens  gestürzt,  und 
doch  ist  dieser  Glaube  persönlich  in  ihnen  noch  lebendig  i.  Von  der 
Aufklärung  beeinflußt,  war  Gottlieb  bis  1778  JUoralist,  dann  näherte  er 
sich  stark  den  Herrnhutern,  um  endlich  wieder  beim  Moralismus  anzu- 
langen. Schleiermachers  Vater  war  reformierter  Feldprediger  in  Schlesien, 
als  seine  Frau,  eine  geborene  Stubenrauch,  ihm  den  ältesten  Sohn  Friedrich 
schenkte.  !  Auch  die  Mutter  war  aus  einer  Prediger-Familie,  verwandt 
mit  den  Spaldings  und  Sacks.  Da  der  Vater  auf  Amtsreisen  oft  ab- 
wesend war,  so  verdankte  Friedrich  seine  Erziehung  fast  allein  der 
Mutter.  2  Diese,  eine  geistig  und  religiös  sehr  begabte  Frau,  sorgte  mit 
Hingebung  für  ihn  und  seine  Geschwister:  die  Schwester  Charlotte 
und  den  Bruder  Karl.  Eine  tiefreligiöse  Beanlagung  wurde  unter 
dem    Einfluß    der   Mutter   in   dem    frühreifen    Knaben,    der    bereits    mit 


1  Dilthey,  Leben  Schleiermachers.    Berlin  1870.    I,  7i. 

2  Vgl.  die  Selbstbiographie  vom  April  1794  in  „Aus  Schleiermachers  Leben 
in  Briefen"  I,  3  ff.  (zitiert  als  Br.). 

III* 


XXXVI  Einleitung. 

4  Jahren  zu  lesen  begann,  bestärkt  und  ausgebildet.  „Als  ich 
fünf  Jahre  alt  war,  fing  ich  an,  die  unter  der  Direktion  des 
Herrn  Hofpredigers  Heinz  stehende  Friedrichs-Schule  zu  besuchen,  und 
durchlief  mit  ziemlicher  Schnelligkeit  die  unteren  Klassen  ...  Da  ich 
wegen  dieser  Fortschritte  in  den  sehr  frühen  Ruf  eines  guten  Kopfes 
kam,  ...  so  fing  ich  an,  stolz  und  eitel  zu  werden,  und,  was  so  oft  V 
eine  Folge  von  diesen  Eigenschaften  ist,  ein  auffahrendes,  heftiges  Wesen 
anzunehmen,  welches  in  meiner  Konstitution  nicht  gegründet  war.  Meine 
Mutter,  welche  mich  zwar  sehr  liebte,  aber  keineswegs  blind  gegen 
meine  Fehler  war,  suchte  meinen  Stolz  durch  vernünftige  religiöse  Vor- 
stellungen in  Dankbarkeit  gegen  Gott  zu  verwandeln  .  .  ."^jDie  Mutter 
scheint  die  Erziehung  mit  klugem  Bedacht  geleitet  zu  haben,  nicht  nur 
dem  Gefühl,  sondern  auch  der  Reflexion  folgend.  So  setzt  sie  ihrem 
Bruder  auseinander,  „daß  man  die  Kinder  nicht  mit  Strafen  zum  Lernen 
zwingt" 2.  Von  ihrem  Sohn  erzählt  sie  befriedigt:  „Wenn  Fritz  so 
fortfährt,  wird  er  es  in  den  Sprachen  weit  bringen;  seine  Lehrer  sind 
sehr  mit  ihm  zufrieden  .  .  ."  Fritz  selbst  kam  bald  in  eine  Periode 
inneren  Zweifels  an  sich  selbst  hinein,  weil  sein  scharfer  Verstand 
viele  Lücken  in  seinen  Kenntnissen  entdeckte  und  er  stets  fürchtete, 
andere  würden  dasselbe  bei  ihm  feststellen.  Er  hatte  —  wie  manchmal 
begabte  Menschen  —  das  Gefühl,  jeder  andere  wisse  viel  mehr  als  er. 
Als  er  das  10.  Jahr  erreicht  hatte,  siedelten  die  Eltern  nach  Pleß, 
und  dann  1779  nach  der  Emigranten-Kolonie  Anhalt  in  Schlesien  über. 
2  Jahre  verbrachte  Friedrich  auf  dem  Lande,  was  seiner  Gesundheit, 
die  schon  damals  durch  ein  Magenleiden  angegriffen  war,  sehr  wohl 
tat.  „Mein  Unmut  gegen  die  Kenntnisse,  für  die  ich  mir  keine  Fähig- 
keiten zutraute,  nahm  zu;  ich  fing  an,  die  Sprachkenntnisse  ordentlich 
zu  verabscheuen,  aber  ich  sammelte  unvermerkt  durch  die  Bemühungen 
meiner  Mutter  eine  Menge  von  Sachkenntnissen  ein."  In  den  nächsten 
beiden  Jahren  besuchte  er  die  Realschule  in  Pleß,  wo  er  in  Pension 
war  und  nun  wieder  regelmäßigen  Unterricht  genoß.  Dort  wußte  sein 
Lehrer,  ein  Schüler  Ernestis,  wieder  sein  Interesse  auf  die  alten  Sprachen 
zu  lenken.  Dabei  quälte  ihn  nur  der  merkwürdige  Skeptizismus,  „daß 
alle  alten  Schriftsteller  und  mit  ihnen  die  alte  Geschichte  untergeschoben 
wären".  Man  kann  hier  vielleicht  —  wie  Schenkel  ^  —  die  Anzeichen 
des  Wahrheitstriebes  sehen,  der  nicht  auf  bloße  Überlieferung  etwas 
glauben  wollte. 


1  Selbstbiographie,  a.  a.  O.  ^  ßr.  1, 18. 

3  Fr.  Schleiermacher,  ein  Lebens-  und  Charakterbild.    Elberfeld  1868.  S.  11. 


Einleitung.  XXXVII 

In  der  Schule  zu  Pleß  wäre  Schleiermacher  gewiß  gern  geblieben, 
aber  ihr  Leiter  wurde  fortberufen.  So  standen  die  Eltern  wieder  vor  der 
Frage,  wohin  sie  den  Knaben  geben  sollten.  Auf  seinen  Reisen  hatte 
der  Vater  vielfach  Berührung  mit  Mitgliedern  der  Herrnhutischen  Ge- 
meinde gehabt  und  von  ihnen  einen  lebhaften  und  sympathischen  Eindruck 
des  Treibens  dieser  Sekte  empfangen.  So  machte  er  sich  denn  im  Herbst 
1782  mit  der  Mutter  auf,  um  Herrnhut,  Gnadenfrei  und  das  Pädagogium  zu 
Niesky  persönlich  kennen  zu  lernen.  Sie  fanden  es  „über  alle  Erwartung  in 
aller  Absicht  vortrefflich*'  i.  Der  Vater  hörte  sich  den  Unterricht  in  vielen 
Klassen  an  und  war  vor  allem  dadurch  beruhigt,  „daß  die  Hauptsache, 
worauf  es  bei  dem  Menschen  ankommt,  die  Wiedervereinigung  mit 
Gott,  hier,  wie  in  allen  Brüdergemeinden,  auf  den  einzig  wahren  Grund: 
das  blutige  Versöhnungsopfer  Christi,  gebauet  .  .  .  wird". 

Nachdem  früher  die  Schleiermacherschen  Kinder  im  Geiste  des  Mora- 
lismus erzogen  worden  waren,  hatte  seit  1778/79  schon  das  neue  Herrn- 
hutertum  ihrer  Eltern  sie  stark  beeinflußt.  Verstandesmäßige  und  ge- 
fühlsmäßige Religionsauffassung  wirkten  so  schon  in  der  Jugend  auf 
Schleiermacher  —  diese  Doppelrichtung  ist  ihm  stets  eigen  geblieben. 
Dem  Sohne  schilderte  jetzt  der  Vater  die  Gefahren  der  anderen  Schulen 
und  das  religiöse  und  freundliche  Leben  in  Niesky  in  lebhaften  Farben, 
so  daß  dieser  „die  Abreise  mit  Sehnsucht  erwartete".  Da  aber  die  Auf- 
nahme vom  Los  abhing,  mußte  er  mit  den  Eltern  einige  Wochen  in 
Gnadenfrei  bleiben,  wohin  seine  Schwester  Charlotte  gebracht  wurde. 
„Hier  wurde  der  Grund  zu  einer  Herrschaft  der  Phantasie  in 
Sachen  der  Religion  gelegt,  die  mich  bei  etwas  weniger  Kalt- 
blütigkeit wahrscheinlich  zu  einem  Schwärmer  gemacht  haben  würde, 
der  ich  aber  in  der  Tat  mancherlei  sehr  schätzbare  Erfahrungen  ver- 
danke .  .  ."2  Während  er  sich  schon  früher  in  schlaflosen  Nächten 
mit  der  Frage  der  unendlichen  Strafen  und  Belohnungen  abgequält  hatte, 
regte  ihn  jetzt  die  Lehre  von  dem  natürlichen  Verderben  und  den  über- 
natürlichen Gnadenwirkungen  auf.  Rings  um  sich  sah  und  hörte  er 
nur  von  den  mystischen,  innerlichen  Gnadenerlebnissen  —  und  er 
selbst  konnte  trotz  aller  Mühe  nur  flüchtige  Schatten  davon  erhaschen. 
So  zweifelte  er  an  der  Kraft  zur  Erlösung  durch  die  eigene  Tat, 
ohne   doch    die  übernatürliche   Hilfe  zu   erfahren  3.    Alles  hoffte  er  von 


*  Br.  I,  22.  2  Br.  I,  7. 

^  Trotzdem  scheint  er  in  Gnadenfrei  eine  Art  pietistischer  Erweckung  auf 
einem  Spaziergang  erlebt  zu  haben.  (E.  R.  Meyer:  Schleiermachers  und  Brink- 
manns Gang  durch  die  Brüdergemeinde.     Leipzig  1905,  S.  61.) 


XXXVni  Einleitung. 

dem  Eintritt  in  die  Gemeinde,  und  war  entschlossen,  im  Falle  der 
Abweisung  ein  Handwerk  dort  zu  erlernen.  Doch  sein  Wunsch  wurde 
erfüllt:  im  Juni  1783  trat  er  (mit  seinem  Bruder)  in  das  Pädagogium  zu 
Niesky  ein. 

In  dürftiger,  „eben  nicht  einnehmender"  i,  aber  freundlicher  Um- 
gebung liegt  Niesky,  einige  Meilen  nördlich  von  Görlitz.  „Wenn  man 
von  Görlitz  kam,  sah  man  das  kleine,  freundliche  Dorf  in  der  Ebene 
sich  hinstrecken,  die  schmalen  Glockentürmchen  des  Gemeindehauses 
hervorragend  unter  den  niedrigen  Häusern,  links  daneben  das  zwei- 
stöckige Brüderhaus,  rechts  das  Knabeninstitut  und  das  Pädagogium  . .  ."2 
Aufgenommen  in  den  friedvollen  Geist  der  ihn  umgebenden  Menschen 
und  der  ländlichen  Natur,  wichen  bald  die  krankhaften,  unkindlichen 
Seelenerregungen  und  machten  einer  stilleren  Frömmigkeit  Platz.  Unter 
Leitung  des  alten  Zembsch  gewann  Schleiermacher  die  Liebe  zum 
Altertum  wieder.  Vor  allem  war  es  aber  der  junge  Lehrer  Hilmer, 
der  auf  ihn  wirkte;  ihm  rühmt  er  „einen  wahrhaft  philosophischen 
Geist,  ein  vorzügliches  pädagogisches  Talent  und  einen  nicht  zu  er- 
müdenden Fleiß  zum  Besten  seiner  Schüler"  nach.  Durch  ihn  angeregt, 
stürzte  sich  Schleiermacher  mit  seinem  „Orest",  dem  späteren  Bischof 
der  Brüdergemeinde,  J.  Baptista  v.  Albertini,  in  „kolossalische  und 
abenteuerliche"  literarische  Unternehmungen.  Sie  lasen  zusammen  Homer, 
Hesiod,  Theophrast,  Sophokles,  Euripides,  Plato  und  Pindar  —  und  eine 
neue  Welt  ging  ihnen  auf.  Sie  machten  Entdeckungen  —  die  nur  ihnen 
welche  waren,  die  aber  ihr  ganzes  Wesen  mit  Begeisterung  erfüllten. 
Nach  Okelys,  eines  älteren  Gemeindemitgliedes,  Tagebuch  erzählt  Dilthey: 
„Und  dann  dürfen  wir  uns  die  jungen  Gelehrten  wieder  denken,  wie  Okelys 
Tagebuch  seine  eigenen  Erholungen  aus  diesen  Jahren  beschreibt.  Auf 
dem  Rasen  im  Maiblumenwäldchen  sitzen  sie  zusammen,  Okely  hat 
einen  französischen  Miszellaneenband  vor  sich,  aber  er  kann  nicht  um- 
hin, mehr  auf  das  halb  lustige,  halb  altkluge  Geplauder  um  sich  zu 
hören.  Da  ist  von  Hilmers  vergeblichen  Anstrengungen,  Suppe  aus- 
zuteilen, die  Rede,  und  gleich  darauf  vom  Verdienst  der  jüngeren  Ge- 
meindearbeiter." 3  Ein  Hauch  frischer,  fröhlicher  Jugend  weht  uns 
entgegen,  wenn  auch  alles  durch  das  weihevolle  religiöse  Wesen  der 
Umgebung  gedämpft  wird.  So  recht  eigentlich  „jung"  ist  Schleier- 
macher erst  später  gewesen,  als  ihn  die  Wellen  der  romantischen  Be- 
wegung  ergriffen   hatten! 


1  Br.  1,29.  2  Dilthey  14.  »  a.  a.  O.  S.  16. 


Einleitung.  XXXIX 

Die  Briefe  an  die  Schwester  ^^  zeigen  ihn  uns  in  einer  liebevollen, 
aber  doch  ein  wenig  moralisierenden,  steifen  Überlegenheit.  Als  Char- 
lotte einmal  nach  Anhalt  gereist  war,  bedauerte  sie,  ihre  Ruhe  haben 
aufgeben  zu  müssen.  Da  weist  er  sie  zurecht:  „Pflicht  ist  Pflicht, 
und  man  muß  sich  immer  freuen,  sie  zu  tun.  Ich  denke,  wenn  Du  Dich 
auch  von  morgens  um  5  bis  abends  um  10  im  Hause  und  Garten 
herumtummelst,  so  kannst  Du  eben  so  selig  sein,  eben  so  sehr  des 
Heilands  Nähe  fühlen,  als  in  Deiner  ruhigen  Untätigkeit  (wenn  Du  mir 
das  Wort  erlaubst)  ...  Sei  doch  froh,  daß  Du  einmal  wieder  in  Wirt- 
schaftsgeschäfte hineinkommst;  es  ist  für  ein  junges  Frauenzimmer  un- 
umgänglich nötig,  etwas  davon  zu  verstehen;  Du  kannst  ja  doch  nicht 
wissen,  wo  Dich  der  Heiland  noch  einmal  hinführt,  und  ob  es  Deine 
Bestimmung  ist,  immer  im  Chorhause  vor  dem  Nährahmen  zu  sitzen. 
Sei  nicht  zu  ängstlich,  ob  Du's  auch  recht  machst,  denn  das  taugt  gar 
nichts.  Mein  Grundsatz  heißt:  Frisch  gewagt  ist  halb  gewonnen.  Ver- 
steht sich,  daß  das  Frisch-Wagen  die  nötige  Behutsamkeit  und  Über- 
legung nicht  ausschließt."-  Die  hier  ausgesprochene  Mahnung  zur  Be- 
tätigung der  Religion  im  Leben  wird  aber  bei  ihm  selbst  immer  durch 
die  mystische  Hingabe  an  Christus  zurückgehalten:  „Wären  wir  ihm 
nur  ganz  zur  Freude,  ständen  wir  immer  in  einem  ganz  ungestörten  Um- 
gang mit  ihm,  könnte  uns  nichts  auch  nicht  einen  Augenblick  von  ihm  ab- 
bringen!" 3  Manchmal  nur  hören  wir  kindliche  Wünsche  mitten  zwischen 
den  Heilandsgefühlen:  „Du  kannst  unsern  Vater  daran  erinnern,  daß 
mein  Beutel  die  Schwindsucht  hat,  und  das  vom  Obst,  es  soUts  nie- 
mand glauben;    Papa  kann   ihn   kurieren."* 

Ende  August  1785  wurde  er  mit  Albertini  in  das  Lehrer-  und  Prediger- 
seminar zu  Barby,  etwa  60  Kilometer  nördlich  von  Halle  an  der  Elbe 
gelegen,  aufgenommen,  wo  er  am  22.  September  mit  17  anderen  zu 
Wagen  eintraf.  Die  Anstalt  stand  im  guten  Rufe  —  sogar  der  Hallenser 
Professor  Stubenrauch  wünschte  dem  Neffen  herzlich  Glück  zu  seiner 
Aufnahme  und  warnte  ihn  nur  vor  Unduldsamkeit,  was  Schleiermacher 
ziemlich  übel  genommen  zu  haben  scheint.  Tatsächlich  aber  stand  es 
schlimm  um  die  dortige  theologische  Fakultät.  Einen  Fehler  empfand 
Schleiermacher  selbst  schon,  ehe  er  hinkam:  „Wir  sahen  in  der  Brüder- 
gemeinde keine   recht  sich  auf  das   Leben  verbreitende,  der  Mühe  loh- 


*  Vgl.  auch  „Neue  Briefe  Schleiermachers  aus  der  Jugendzeit,  Niesky 
1784 — 1785",  mitgeteilt  von  J.  Bauer.  Zeitschrift  für  Kirchengeschichte.  XXXI, 
4,  587  ff. 

2  Br.  1,31  f.  3  Br.  1,34.  *  Br.  1,30. 


XL  Einleitung. 

nende  Anwendung  der  Wissenschaften/*  Doch  bald  bemerkten  die 
Freunde,  zu  denen  sich  jetzt  Okely  gesellt  hatte,  den  innern,  unheil- 
baren Schaden  des  ganzen  Gemeinwesens.  Man  war  in  Barby  genötigt, 
den  neuen  Geist  der  Wissenschaft,  der  so  frisch  von  dem  benachbarten 
Halle  herüberwehte,  fernzuhalten.  Man  pflegte  hier  die  Wissenschaft  nicht 
um  ihrer  selbst  willen,  stellte  sie  nicht  einmal  den  Schülern,  die  doch 
so  gern  etwas  davon  hören  wollten,  dar,  sondern  kritisierte  nur  einige 
Sätze  aus  ihr  vom  Standpunkt  der  Brüder-Religion.  Da  es  nach  der 
Weltanschauung  der  Herrnhuter  lediglich  auf  den  Gemütsprozeß  der 
Einigung  mit  Christus  und  der  übernatürlichen  Gnadenwirkung  dadurch 
ankommt,  werden  alle  anderen  idealen  Güter  der  Menschheit  eigentlich 
entwertet.  Daß  unter  diesen  Umständen  die  Lehrer  den  jungen  Männern 
nichts  geben  konnten,  versteht  sich  von  selbst.  Die  suchenden  Geister 
schlössen  sich  um  so  inniger  zusammen  (zu  einen  „philosophischen 
Klub")  und  begannen  auf  eigene  Faust  auf  ihren  Spaziergängen  zu 
philosophieren,  eine  „erste  Blüte  des  Geistes"  entfaltete  sich  bei 
Schleiermacher.  „Ihre  innere  Welt  war  der  grenzenlose  Stoff  ihres 
Nachdenkens"  (Dilthey).  Zur  Freude  Stubenrauchs  lasen  sie  die 
damals  streng  kantische  Jenaer  Literaturzeitung,  sie  verschafften  sich 
auf  heimlichen  Gängen  nach  Zerbst,  das  2  Meilen  entfernt  liegt, 
Werke  der  gegenwärtigen  Literatur,  so  Wielands  Gedichte  und  Goethes 
Werther.  Ihr  Empfinden  wollten  sie  von  außen  nähren,  ihr  Denken 
hatte  mit  den  Gärungen  im  eigenen  Innern  genug  zu  tun.  Schleiermachers 
„Wasserfahrt"  schildert  uns  den  Naturgenuß  bei  einer  Mondschein- 
partie des  Klubs  auf  der  Elbe,^  man  schwärmte  für  Klopstock,  Haller, 
Hölty,  und  gleichzeitig  entfaltete  die  Vernunft  ihre  autonome  Macht. 
Natürlich  blieb  ihr  Zustand  und  ihre  dauernde  t^bertretung  der  lasten- 
den Hausordnung  nicht  ganz  unbemerkt  von  den  Lehrern;  man  hielt 
sie  im  Auge.  Okely  tröstete  sich  zwar  damit,  daß  die  äußere  Einschränkung 
ihrem  Denken,  dem  alle  Gebiete  offen  ständen,  nichts  anhaben  könne. 
Immerhin  war  es  doch  ein  unerträglicher  Zustand:  man  dachte  an 
Flucht.  Beyer,  ein  älterer  Freund,  schied  aus  der  Brüderschaft  aus, 
Okely  wurde  ausgestoßen  im  Winter  1786,  und  der  vereinsamte  Schleier- 
macher folgte   bald. 

Schon  im  Sommer  1786  hatte  er  versucht,  den  Vater  auf  die  Ände- 
rung seiner  Sinnesart  vorzubereiten.  Er  fühlte,  wie  schweren  Stand  er 
gegen  seinen  Vater  —  im  Gegensatz  zu  Okely,  der  in  seiner  Familie 
wieder  freudige   Aufnahme  gefunden   hatte  —   haben   würde,   zumal   er 


1  E.  R.  Meyer,  a.  a.  O.  S.  21 3  f. 


Einleitung.  XLI 

die  verstehende  Hilfe  der  vor  3  Jahren  verstorbenen  Mutter  entbehren 
mußte.  „Ich  möchte  gern  Theologie  studieren,"  schrieb  er  damals,  „und 
zwar  recht  von  Grund  aus;  das  werde  ich  mich  aber  nicht  rühmen 
können,  wenn  ich  von  hier  wegkomme,  und  daran  ist  unsere,  wie 
mich  däucht,  etwas  zu  große  Eingeschränktheit  in  der  Lektüre  Schuld."  ^ 
Der  Vater  hielt  ihm  die  Weisheit  der  älteren  Generation  entgegen, 
bei  der  er  sich  beruhigt  hatte:  er  solle  auf  die  Lektüre  der  Neueren 
nur  ruhig  verzichten,  denn  sie  könnten  ihm  nichts  geben.  Da  er  ja 
praktischer  Prediger  werden  wolle,  sei  ihm  das  alles  unnütz.  Damit 
aber  vermochte  der  Vater  ihn  nicht  zu  beruhigen;  denn  es  waren 
nicht  vorübergehende,  subjektive  Zweifel  in  ihm  aufgestiegen,  sondern 
ihn  hatte  der  Geist  der  neuen  Zeit  ergriffen,  die  den  Menschen  kraft 
seiner  sittlichen  Entscheidung  auf  sich  selbst  zu  stellen  suchte.  „Was 
bisher  seine  Seele  mit  schwärmerischem  Entzücken  gefüllt,  war  ihm 
jetzt  wie  ein  Wahnbild  in  nichts  zerronnen."-  Im  Seminar  peinigte  man 
ihn  durch  Verhöre  und  durch  die  Erwartung,  daß  er  sich  eines  Besseren 
besinnen  werde.  So  entschloß  er  sich  endlich  am  21.  Januar  1787,  sich 
dem  Vater  zu  offenbaren.  Für  ihn  sei  der  alte  Glaube  verloren,  erklärt 
er  offen.  An  die  stellvertretende  Versöhnung  durch  den  Kreuzestod 
Christi  kann  er  nicht  mehr  glauben.  „Denn  Gott  kann  die  Menschen, 
die  er  offenbar  nicht  zur  Vollkommenheit,  sondern  nur  zum  Streben 
nach  derselben  geschaffen  hat,  unmöglich  ewig  darum  strafen  wollen, 
weil  sie  nicht  vollkommen  geworden  sind."  Starke  Gründe  hat  er, 
auf  denen  er  fest  steht;  er  glaubt  nicht,  daß  der  Vater  ihn  widerlegen 
könne.  Immer  wieder  beteuert  er,  wie  schwer  es  ihm  wird,  dem  Vater 
das  alles  zu  schreiben.  Mit  verhaltener  innerer  Wärme  ist  der  ganze 
Brief  geschrieben.  Er  bringt  seine  Bitte,  nach  Halle  gehen  zu  dürfen, 
gleich  bestimmt  vor  und  bespricht  die  verschiedenen  Studien.  Man  fühlt, 
wie  gern  er  bei  diesem  Teil  des  Briefes  verweilt  —  wie  sehr  er  wünscht, 
daß  alles  andere  versunken  sei.  Er  stellt  dem  Vater  die  Möglichkeit  der 
Sinnesänderung  in  Halle  als  leichter  hin  als  in  der  Gemeinde,  um 
ihn  für  den  Plan  zu  gewinnen.  Noch  ehe  er  Antwort  hat,  am  12.  Februar, 
schreibt  er  noch  einmal.  Er  weist  auf  den  Onkel  hin,  mit  dem  er  alles 
wird  bereden  können;  er  legt  dem  Vater  eine  Kostenaufrechnung  vor, 
die  er  sich  von  einem  Freund  hat  schicken  lassen,  um  ihm  die  Billig- 
keit des  Unternehmens  zu  zeigen  —  es  ist  rührend  zu  lesen,  wie  er 
sich  einschränken  will.  „Frühstück  und  Abendbrot  48  Fl.;  hiervon, 
dächte  ich,  müßte  sich,  da  ich  keinen  Kaffee  trinke,  auch  abends  nicht 


1  Br.  1,42.  2  Schenkel  S.  19- 


XLII  Einleitung. 

viel  esse,  wenigstens  die  Hälfte  retranchieren  lassen."  i  So  sieht  er 
sich  im  Geiste  schon  in  der  ersehnten  Freiheit. 

Und  der  Vater?  Ein  Brief  voll  leidenschaftlicher  Liebe  und  fast 
fanatischer  Erregung  bringt  dem  Sohne  die  Erlaubnis,  sich  nach  Halle  zu 
wenden.  „Ach  mein  Sohn,  mein  Sohn!  wie  tief  beugst  Du  mich!  welche 
Seufzer  pressest  Du  aus  meiner  Seele!"  2  Er  versucht,  den  Sohn  auch 
verstandesmäßig  von  der  Verkehrtheit  seiner  Anschauungen  zu  über- 
zeugen —  daß  es  nicht  gelingen  konnte,  hat  er  wohl  selbst  undeutlich 
gefühlt.  ■  i  !  ^{^ 

Schmerzvoll  empfand  der  Sohn,  der  mit  inniger  Liebe  an  dem  Vater 
hing,  die  innere  Kluft,  die  sich  zwischen  ihm  und  der  älteren  Generation 
auftat.  Zurück  konnte  er  nicht  —  sein  ganzes  Wesen  drängte  nach  Be- 
freiung. So  entgegnete  er  denn  nur  zurückhaltend  und  wehmütig  auf 
die  Vorwürfe  und  Einwände.  Das  schlimmste  war  ihm  eins:  „Ich  habe 
Zweifel  gegen  die  Versöhnungslehre  und  die  Gottheit  Christi  und  Sie 
sehen  mich  an  als  einen  Verleugner  Gottes  I"^  Es  war  eben  kein  Ver- 
ständnis zwischen  Altem  und  Neuem  zu  erzielen.  So  verließ  er  denn 
die  Gemeinde,  von  unangenehmen  Eindrücken  begleitet,  die  erst  in 
späterer  Zeit  einer  objektiven  Würdigung  Raum  gaben,  und  eilte  dem 
neuen  Leben  entgegen.  Hin  und  her  gehen  noch  die  Briefe,  in  denen 
die  Erregung  langsam  ausschwingt.  Der  Onkel  schreibt  freundlich  und 
ruhig  mahnend.  „Wir  müssen  immer  zufrieden  sein,  der  Wahrheit  so 
nahe  zu  kommen,  als  es  zu  unserm  Fortgang  im  Guten  und  zu  unsrer 
Beruhigung  erforderlich."*  Auf  die  Bitte  des  Vaters  nimmt  er  Schleier- 
macher  in  sein  Haus  auf.  „Das  für  Sie  bestimmte  Stübchen  ist  klein, 
freilich  sehr  klein;  vielleicht  aber  gefällt  es  Ihnen  doch  in  Betracht,  daß 
Sie   so  ganz  nahe   bei  Ihren  nächsten   Verwandten  sind."^ 


Die  Universitätszeit. 

Wie  ein  böser  Traum  versanken  nach  und  nach  die  Beziehungen 
zu  Barby  hinter  dem  Abtrünnigen.  Die  Verbindung  mit  Albertini  löste 
sich  auch  allmählich,  Okely  fand  einen  plötzlichen  frühen  Tod  in  den 
Wellen  der  Nordsee  bei  Northampton.  Der  Vater  ermahnte  den  Sohn 
zwar  weiter,  zum  alten  Glauben  zurückzukehren  und  die  „Lauheit  und 
Gefahr  der  bloßen  Spekulation"  zu  meiden.   Auf  die  Hingabe  an  Christus 


1  Br.  I,  54.  2  a.  a.  O.  52.  ^  a.  a.  O.  56.  *  a.  a.  O.  59. 

5  a.  a.  O.  64. 


Einleitung.  XLIII 

als  die  Quelle  aller  Beruhigung  wies  er  ihn  immer  wieder  hin,  aber 
nicht  mehr  mit  leidenschaftlichem  Eifern.  So  konnte  Schleiermacher, 
frei  von  den  alten  Fesseln,  sich  ganz  dem  Drange  seines  Sehnens  über- 
lassen. Er  tat  die  alten  dogmatischen  Fragen  schnell  ab  und  beruhigte 
sich  dabei,  daß  Gott  den  Menschen  nicht  zur  absoluten  Vollkommenheit 
geschaffen  habe.  Nur  auf  unser  Streben  kommt  es  an,  so  doziert  der 
werdende  Schüler  Kants.  Er  hatte  strenge  Christen  und  Nichtchristen 
getroffen,  die  sehr  gute  Menschen  waren  —  damit  versanken  die  unge- 
sunden  Selbstquälereien   der  früheren   Zeit  ins   Wesenlose. 

Wenn  man  nun  ein  Aufblühen  und  Ausweiten  aller  Seelenkräfte  bei 
Schleiermacher  erwartet,  so  wird  man  ein  wenig  enttäuscht  sein,  ihn 
so  ruhig  und  gemessen  zu  finden.  Die  Ermattung  infolge  der  durch- 
lebten Kämpfe  wirkte  wohl  noch  nach;  vor  allem  aber  war  es  der 
Mangel  einer  hinreißenden  Persönlichkeit  unter  den  Universitätslehrern, 
der  eine  leidenschaftliche  Hingabe  an  das  Neue  unmöglich  machte. 
Schleiermachers  Entwicklung  ist  nicht  so  stürmisch  verlaufen  wie  die 
des  jungen  Schelling.  Er  war  keine  so  frühreife  Natur,  trotz  seines  früh 
entwickehen  Intellektes.  Alles  ist  bei  ihm  nach  der  Lösung  von  Barby 
organisch  gewachsen,  nichts  stoßweise  hervorgebrochen.  Er  war  für 
seine  Beanlagung  noch  zu  jung,  als  er  Ostern  1787  die  Universität  bezog, 
um  wie  Herder  etwa,  als  er  sich  aus  Rigas  drückenden  Verhältnissen 
losriß,  einen  beispiellosen  Aufschwung  seines  inneren  Wesens  zu  emp- 
finden und  in  dem  Gewinn  voller  Eigenart  zu  bekunden. 

Die  Theologen  von  Halle  gerade  konnten  ihm  bei  seiner  seelischen 
Lage  nichts  geben.  Knapp,  Nösselt,  Niemeyer  hatten  keine  eigenartige 
Bedeutung,  Semler  war  alt  —  und  durch  die  neue,  von  Kant  ausgehende 
Bewegung  veraltet.  Seine  bedeutenden  Schüler,  Michaelis  und  Eichhorn, 
blieben  Halle  fern,  und  so  erhielt  Schleiermacher  nicht  ihre  eingehende 
Kenntnis  orientalischer  Sprachen  und  Geschichte  vermittelt.  „Es  blieb 
das  der  in  mehrfacher  Beziehung  verhängnisvolle  Mangel  in  Schleier- 
machers theologischer  Bildung,  daß  er  in  Halle  dieser  großartigen 
theologischen  Bewegung,  die  sich  von  Göttingen  her,  ausbreitete,  fem 
stand  und  so  später  für  seine  kritischen  Arbeiten  des  wahren  historischen 
Gesichtspunktes  und  des  breiten  Fundaments  der  orientalischen  Sprachen 
entbehrte,  was  dann  für  seine  allgemeine  Stellung  zu  dem  Fortgang 
der  Theologie  in  unserm  Jahrhundert  entscheidende  Folgen  hatte" 
(Dilthey)i.  Halle  stand  zwar  äußerlich  auf  seiner  Höhe  mit  1156  Studenten, 
darunter    800    Theologen;    innerlich    aber    begann    schon    damals    Jena 

1  a.  a.  O.  31  f. 


XLIV  Einleitung. 

ihm  den  Rang  abzulaufen,  denn  diese  Universität  wurde  unter  Reinhold 
zur  Hochburg   des   Kantianismus. 

In  richtigem  Instinkt  ließ  denn  Schleiermacher  auch  die  Theologie 
links  liegen  und  wandte  sich  an  die  Stelle,  wo  er  noch  am  ehesten 
Zusammenhang  mit  der  neuen  Geistesbewegung  zu  bekommen  hoffen 
konnte:  er  besuchte  den  philosophischen  Kursus  des  Popularphilosophen 
J.  Aug.  Eberhard,  des  Genossen  der  Mendelssohn,  Nicolai,  Basedow, 
Abbt,  Garve,  Feder.  Dieser  trug  in  eleganter  Form  das  System  seines 
Meisters  Wolff  vor,  geschickt  es  den  Interessen  des  Tages  anpassend, 
bis  der  scharfe  Wind  kritischer  Erkenntnis  vom  Osten  Deutschlands 
her  dies  ganze  Gebäude  seichter  Aufklärung  umblies. 

Ein  Gutes  hatte  Eberhard:  er  führte  in  seinem  Kolleg  die  verschie- 
densten Meinungen  der  Philosophen  vor  und  prüfte  sie  dann  kritisch. 
So  leitete  er  den  jungen  Schleiermacher  wieder  zum  Griechentume, 
namentlich  zu  Piaton  und  Aristoteles.  In  dieser  Richtung  bestärkten 
ihn  auch  die  Vorlesungen  von  F.  A.  Wolff.  Wir  haben  aus  seiner 
Studentenzeit  Übersetzungen  des  8.  und  9.  Buchs  der  nikomachischen 
Ethik  mit  „Schlüssel"  und  Anmerkungen.  ^  Eberhard  hat  bei  diesen  Dingen 
Pate  gestanden.  Eigenes  ist  kaum  zu  entdecken.  Einen  Plan  zu  einem 
Aufsatze  über  die  aristotelische  Theorie  der  Gerechtigkeit  hat  er  auch 
noch  in  Halle  entworfen,  die  Arbeit  selbst  wurde  erst  aus  Drossen  an 
Eberhard  gesandt.  So  beginnen  hier  die  engen  philosophischen  Be- 
ziehungen zur  Antike,  die  ihn  sein  Leben  lang  begleitet  haben. 

Aber  auch  mit  den  bewegenden  Kräften  der  neuen  Zeit  brachte 
dies  Kolleg  seine  Hörer  in  Berührung.  Eberhard  suchte  Kant  zu  be- 
kämpfen, 1789  begann  schon  das  „Philosophische  Magazin"  zu  erscheinen, 
1792  das  „Philosophische  Archiv",  Zeitschriften,  die  ganz  dem  Kampf 
gegen  den  Kritizismus  gewidmet  waren.  So  wurde  Schleiermacher  in 
die  Bewegung  hineingezogen.  Er  hatte  schon  in  Barby  die  „Prolegomena" 
gelesen 2  und  schrieb  dem  Vater:  „Was  die  Kantische  Philosophie 
betrifft,  so  habe  ich  von  je  her  sehr  günstige  Meinungen  von  ihr  gehabt, 
eben  weil  sie  die  Vernunft  von  den  metaphysischen  Wüsten  zurück  in 
die  Felder,  die  ihr  eigentümlich  gehören,  zurückweist."  Auch  Eberhard 
hat  nicht  vermocht,  Schleiermacher  zur  vollständigen  Verwerfung  Kants 
zu  bringen.  Er  hat  in  Halle  offenbar  schon  sehr  genau  Kant  studiert, 
denn  aus  dem   Ende  seiner  Studienzeit  stammt  der  Anfang  zu  der  Ab- 


^  Vgl.   Diltheys   Anhang:     Denkmale    der   inneren    Entwicklung   Schleier- 
machers. 

2  Br.  I,  70. 


Einleitung.  XLV 

Handlung  „Über  das  höchste  Gut",  in  der  er  sich  in  tief  eindringender 
Kritik  mit  Kant  auseinandersetzt,  i  So  finden  wir  hier  doch  Anfänge  aller 
Grundtendenzen,   die   Schleiermachers   Schaffen   später  bestimmt   haben. 

Einige  andere  Anfänge  von  Schleiermachers  Schriftstellerei  sind  uns 
teils  erhalten,  teils  verloren,  so  Briefe  über  Schwärmerei  und  Skeptizismus, 
Briefe  über  den  Ursprung  der  Verbindlichkeit  in  Verträgen,  Anfänge  zu 
„philosophischen  Versuchen",  so  „vom  gemeinen  Menschenverstand", 
Pläne  zu  „kritischen  Briefen"  usw.  Langsam  beginnt  sich  die  Selb- 
ständigkeit zu  regen.  Er  selbst  bezeichnet  es  als  sein  „höchstes  Be- 
dürfnis" in  dieser  Zeit,  die  „Geschichte  der  menschlichen  Meinungen" 
kennen  zu  lernen; 2  ein  fertiges  System  wollte  er  nicht  annehmen,  er 
hatte  von  Dogmatik  in  seiner  Jugend  gerade  genug  bekommen.  Er 
wollte  Material  aus  der  Geschichte,  an  das  sich  seine  eigene  Reflexion 
anspinnen  konnte.    Über  seine  theologischen  Studien  ist  wenig  bekannt. 

Sein  äußeres  Leben  auf  der  Universität  war  bis  zur  Übertreibung 
schlicht  und  eingeschränkt.  Er  nennt  sich  selbst  in  dieser  Zeit  noch 
einen  „echten  Herrnhuter".^  Er  zog  sich  von  jeder  Geselligkeit  zurück, 
vernachlässigte  sich  in  Kleidung  und  Auftreten,  zeigte  sich  oft  genug 
stolz  und  schroff;  von  Jugendlichkeit  ist  nichts  zu  spüren.  Sein  Talent 
zur  Freundschaft  begann  sich  aber  schon  damals  weiter  zu  entfalten.  Der 
intimste  Freund  aus  jener  Zeit  war  Gustav  v.  Brinkmann,  ein  Schwede 
aus  vornehmer  Familie,  der  auch  in  Barby  gewesen  und  schon  1785 
nach  Halle  gewandert  war.  Brinkmann  war  der  rechte  Gegensatz 
zu  seinem  4  Jahre  jüngeren  Freund,  eine  elegante  Erscheinung,  mit 
allen  Gaben  geselligen  Talentes  überreich  ausgestattet,  bewegte  er  sich 
mit  Leichtigkeit  in  den  Professorenkreisen  und  spann  mit  den  Töchtern 
seiner  Lehrer  zarte  Verhältnisse  an.*  Dabei  wollte  auch  er  sich  dem 
geistlichen  Berufe  widmen,  schlug  aber  nachher  die  diplomatische  Kar- 
riere ein.  Vorläufig  dichtete  er  schmachtende  Verse  im  Schäferstil,  die 
sogar  unter  dem  Namen  Selmar  1789  erschienen.  Oft  genug  hat  Schleier- 
macher ihm  in  hingebender  Freundschaft  seine  Zeit  geopfert  und  ihm 
Episteln  und  ähnliches  abgeschrieben  —  und  während  er  sich  so  mühte, 
ging  der  vielbeschäftigte  Freund  nach  Passendorf  spazieren.  Da  schilt 
der  gutmütige  Schleiermacher  wohl  erst:  „Es  ist  der  ärgste  Mißbrauch 
freundschaftlicher  Dienstfertigkeit  —  und  ich  hätte  ihn  deiner  Delikatesse 


^  Vgl.  darüber  die  Einleitung  im  II.  Band. 

2  Br.  1, 13- 

^  Vgl.  auch  Realenzyklopädie  für  pr.  Theologie  und  Kirche.     17,  590. 

*  Dilthey  34. 


XLVI  Einleitung. 

nicht  zugetraut  —  daß  du  einem  guten  Freund  an  einem  so  schönen 
Tage  eine  so  unangenehme  Arbeit  zumutest,  bloß  damit  du  selbst  desto 
ungestörter  deinem  Vergnügen  nachgehen  kannst."  ^  Trotzdem  blieb 
die  Freundschaft  ungestört  und  gern  ordnete  sich  Schleiermacher  dem 
weltgewandten  Freunde  unter. 

Der  Vater  beschäftigte  sich  allmählich  in  seinen  Briefen  immer 
weniger  mit  den  inneren  Angelegenheiten  des  Sohnes  —  er  fühlte  wohl, 
daß  er  gegen  die  ruhige  Selbstsicherheit  nicht  aufkommen  konnte; 
desto  mehr  tritt  die  Sorge  um  das  äußere  Fortkommen  hervor.  Ihm 
fehlten  die  Mittel,  um  Friedrich  länger  unterhalten  zu  können.  Dieser 
mußte  also  daran  denken,  recht  rasch  eine  Stellung  zu  finden.  So 
hält  ihn  der  Vater  dringend  an,  sich  im  Französischen  und  Englischen 
zu  vervollkommnen  und  Beziehungen  mit  vornehmen  Familien  anzu- 
knüpfen, damit  er  eine  Stellung  als   Hauslehrer  erhalten  könne. 

Als  aber  im  Frühjahr  1789  das  Ende  der  Studienzeit  da  war,  da  zer- 
schlug sich  die  Aussicht  auf  eine  Schulstelle  in  Breslau,  und  in  Halle 
war  bei  der  Überzahl  studierter  Leute  für  ihn  keine  Möglichkeit,  Lebens- 
unterhalt zu  erwerben.  So  mußte  er  bei  dem  Onkel  Stubenrauch,  der 
Herbst  1788  eine  Landpredigerstelle  zu  Drossen  in  der  Neumark  ange- 
nommen hatte,  eine  vorläufige  Zuflucht  suchen.  Mit  schmerzlichen  Emp- 
findungen verließ  er  Halle. 

Drossen. 

Am  26.  Mai  traf  er  in  dem  freundlichen  Städtchen,  4  Meilen  von 
Frankfurt  a.  O.,  ein,  die  letzte  Strecke  zu  Fuß  zurücklegend,  während  er 
über  Berlin  nach  Frankfurt  die  Post  benutzt  hatte.  Das  stille  Bibliothek- 
zimmer des  Onkels  nahm  ihn  für  ein  Jahr  auf,  für  ein  Jahr,  in  dem 
er  innerlich  wachsen  und  sich  fortbilden  sollte.  In  dieser  Abgeschieden- 
heit berührten  den  jungen  Theologen  wenig  die  Folgen  des  Wöllnerschen 
Religionsediktes.  Er  lebte  in  der  friedlichen  Umgebung  ruhig  seinen 
Arbeiten  und  seinem  Freundes-Briefwechsel.  Das  Städtchen  mit  seinem 
Eichenwald  und  dem  Jägerhaus  davor,  die  alte  Stadtmauer,  die  ganze 
engumhegte  Gemütlichkeit  der  kleinen  Gassen,  die  schlichte  Geselligkeit 
mit  den  Honoratioren  und  endlich  die  norddeutsche  Kernigkeit  und  feste 
Überzeugungstreue  des  Onkels:  das  alles  schuf  eine  Atmosphäre,  wie 
sie  für  die  innerliche  Gärung  und  das  Ringen  nach  Klarheit  äußerst 
geeignet  war.  Dabei  blieb  er  im  Konnex  mit  der  „größeren  Welt": 
der  Onkel  hielt  die  Jenaer  Literatur-Zeitung  und  andere  gelehrte  Blätter, 

1  Br.  IV,  5. 


Einleitung.  XLVII 

aus  Franlifurt  kamen  Bücher,  aus  Halle  Eberhards  Magazin,  so  daß 
man  —  wenn  auch  etwas  verspätet  —  von  allen  Tagesfragen  unterrichtet 
war,  wenn  auch  die  schöne  Literatur  kaum  dabei  Berücksichtigung  fand. 

Seine  theologischen  Studien  setzte  Schleiermacher  erst  energischer 
fort,  als  die  Prüfung  in  Berlin  in  bedenkliche  Nähe  rückte.  Dafür  ver- 
senkte er  sich  um  so  eifriger  in  die  Antike  und  in  Kant.  Aristoteles, 
Piaton,  Xenophon,  Lucian:  das  waren  die  Genossen  seiner  Stunden, 
wenn  er  einsam  hinter  seinem  Schreibtisch  saß.  Mit  Kant  hat  er 
sich  in  der  50  Oktavseiten  umfassenden  Abhandlung  „Über  das 
höchste  Gut''  und  in  dem  Gespräch  „Über  die  Freiheit  des  Menschen" 
gründlich  auseinandergesetzt.  Diese  Studien  fanden  erst  in  der  „Kritik  der 
Sittenlehre''  ihren  Abschluß.  Ans  Publizieren  dachte  er  dabei  kaum 
und  schrieb  am  9.  Dezember  1789  an  Freund  Brinkmann:  „Das 
Schreiben  hab'  ich  völlig  für  dieses  Leben  aufgegeben,  weil  ich  so 
gewiß  als  von  meiner  eignen  leider  sehr  unnützen  Existenz  davon  über- 
zeugt bin,  daß  in  diesem  Stück  niemals  etwas  aus  mir  werden  kann."  ^ 

Nicht  immer  ist  seine  Stimmung  so  trübe  gewesen,  am  23.  Dezember 
1789  schreibt  er  an  den  Vater:  „Mit  dem  Lesen  wechselt  bei  mir  das 
Schreiben  ab;  denn  ich  finde  oft  bei  meinen  Materien  Gelegenheit 
zu  einem  kleinen  Aufsatz,  und  ich  glaube,  daß  dies  eine  sehr  gute  Übung 
ist."  Dieser  Brief  enthält  überhaupt  interessante  Berichte  über  Inneres 
und  Äußeres,  so  daß  wir  ihn  zur  Kennzeichnung  des  Lebens  in  Drossen 
zum  Teil  hier  anfügen  wollen:  „Die  Empfindelei,  diese  Auszehrung  des 
Geistes,  .  .  .  diese  ist  für  meine  Seele  niemals  gefährlich  gewesen  .  .  . 
Noch  weiter  aber  bin  ich  immer  von  der  Systemsucht  entfernt  geblieben  . . . 
Ich  glaube  nicht,  daß  ich  es  jemals  bis  zu  einem  völlig  ausgebildeten 
System  bringen  werde,  so  daß  ich  alle  Fragen,  die  man  aufwerfen  kann, 
entscheidend  und  im  Zusammenhang  mit  aller  meiner  übrigen  Erkenntnis 
würde  beantworten  können;  aber  ich  habe  von  jeher  geglaubt,  daß 
das  Prüfen  und  Untersuchen,  das  geduldige  Abhören  aller  Zeugen,  aller 
Parteien,  das  einzige  Mittel  sei,  endlich  zu  einem  hinlänglichen  Gebiet 
von  Gewißheit,  und  vor  allen  Dingen  zu  einer  festen  Grenze  zwischen 
dem  zu  gelangen,  worüber  man  notwendig  Partei  nehmen  und  sich  und 
einem  jeden  andern  Rede  und  Antwort  muß  stehen  können,  und  zwischen 
dem,  was  man  ohne  Nachteil  seiner  Ruhe  und  Glückseligkeit  unent- 
schieden lassen  kann.  So  sehe  ich  den  Kampfspielen  philosophischer 
und  theologischer  Athleten  ruhig  zu,  ohne  mich  für  irgend  einen  zu 
erklären,  oder  meine   Freiheit  zum  Preis  einer  Wette  für  irgend  einen 

'  Br.  IV,  42. 


XLVIII  Einleitung. 

zu  setzen;  aber  es  kann  nicht  fehlen,  daß  ich  nicht  jedesmal  von  beiden 

etwas  lernen  sollte Alles,  was  ich  vornehme,  geschieht  mit  einer 

gewissen  Vehemenz,  und  ich  ruhe  nicht  eher,  bis  ich  —  auf  einem 
gewissen  Punkte  wenigstens  —  damit  fertig  bin.  .  .  .  Diese  Art  zu 
studieren  hat  vielleicht,  wie  jede  andere,  ihre  Fehler,  aber  auch  ihre 
unleugbaren  Vorzüge;  man  wird  nicht  so  durch  die  Menge  ganz  ver- 
schiedener Gegenstände  zerstreut  und  verwirrt,  und  da  man  immer 
durch  ein  gewisses  Bedürfnis,  durch  irgend  eine  Lücke,  die  man  in 
seinen  Kenntnissen  gewahr  wird,  zu  seinen  Beschäftigungen  getrieben 
wird,  so  tut  man  alles  con  amore  und  läuft  nicht  Gefahr,  um  der 
festgesetzten  Ordnung  willen  einen  Teil  seiner  Zeit  auf  etwas  zu  wenden, 
was  man   nicht  nötig  hat.'  ^ 

Neben  dem  Umgang  mit  dem  Onkel,  dessen  gerade  und  schlichte 
Art  ihm  zeitlebens  als  das  Ideal  für  einen  Prediger  vorschwebte, 
schuf  Schleiermacher  sich  seine  eigene  Sphäre  in  dem  Freundesbrief- 
wechsel mit  Brinkmann,  dessen  galantes  Getändel  durch  den  Kampf 
zwischen  Eberhard  und  Reinhold  gestört  worden  war,  so  daß  er  in 
einiger  Verwirrung  mit  seinem  „Freundschaftsarchiv"  nach  Schweden 
reiste.  In  diesen  Briefen  zeigen  sich  schon  Anklänge  des  späteren  Freund- 
schaftskultes, die  weitab  liegen  von  der  rationalistischen  Stimmung  seiner 
Umgebung.  Dem  Freunde  schwärmt  er  von  der  ersten  Frau,  die  ihn 
angezogen,  begeistert  vor,  von  der  Tochter  des  Predigers  Schumann  in 
Landsberg  a,  W.,  des  Schwagers  von  Onkel  Stubenrauch,  den  er  im 
Sommer  178Q  besuchte.  In  diesen  Briefen  entfaltet  er  seine  Pläne  zu 
„kritischen  Briefen"  und  zur  Aristoteles-Übersetzung,  entwickelt  seine 
Auffassung  vom  Verhältnis  der  Theologie  zur  Philosophie,  und  klagt  — 
als  das  Examen  näher  rückt  —  über  den  theologischen  Wust.  Die  Aus- 
sichten auf  die  Prüfung  und  auf  sein  ungewisses  Schicksal  —  als 
Kandidat  konnte  er  noch  10  Jahre  vielleicht  unbesoldet  herumlaufen  — 
verbitterten  ihm  die  Gegenwart.  Namentlich  die  Theologie,  sein  Berufs- 
fach, wollte  ihm  gar  nicht  innerlich  nahe  treten:  „Ich  fürchte,  mein 
guter  Genius  wird  ominös  die  Flügel  über  meinem  Haupt  schütteln  und 
davon  fliehen,  wenn  ich  von  theologischen  Subtilitäten  Red'  und  Antwort 
geben  soll,  die  ich  im  Herzen  —  verlache."-  Aber  da  half  nichts  —  im 
April  1790  mußte  er  nach  Berlin,  wo  er  ein  unangenehmes  halbes  Jahr  im 
Hause  seines  Vetters,  des  alten,  beinahe  blinden  Predigers  Reinhard  zu- 
brachte, zwischen  Vorbereitungen,  Besuchen  bei  „Gönnern"  und  Sorgen 
rastlos  umhergetrieben.    Im  Mai  war  die  Prüfung  überstanden  und  nach 

1  Br.  1,82 ff.  2  Br.  IV,  47. 


Einleitung.  IL 

einigen  Monaten  erhielt  er  durch  Vermittelung  des  Hofpredigers  Sack  eine 
Informatorstelle   beim  Grafen  Dohna  zu  Schlobitten  (Ostpreußen). 


Im  Dohnaschen  Hause. 

Am  22.  Oktober  traf  er,  nach  einem  lebensgefährlichen  Über- 
gang über  die  Weichsel,  ^  auf  dem  prächtigen  Gute  ein,  um  sich 
vorzustellen  und  dann  nach  Königsberg  zum  jungen  Grafen  Wilhelm 
zu  eilen,  dessen  Studien  er  leiten  sollte.  Ein  Unwohlsein  hielt  ihn 
fest,  und  da  er  sich  in  dem  vornehmen  Schlosse  bei  den  bedeutenden 
Menschen  sehr  zufrieden  fühlte,  blieb  er  dort  als  Hauslehrer  der  3  jüngsten 
Grafen  Louis,  Fabian  und  Fritz,  während  die  Hofmeisterstelle  bei  Graf 
Wilhelm  aufgegeben  wurde.  Eine  sehr  glückliche  Zeit  für  Schleier- 
macher begann.  Eine  neue  Welt  ging  ihm  in  diesem  aristokratischen, 
dem  Königshause  nahe  stehenden  Kreise  auf.  Der  alte  Graf,  ein  knorriger 
Charakter  mit  klugem  Geiste,  seine  Gattin  Caroline,  von  schönem  Wuchs, 
in  der  großen  Welt  aufgewachsen  und  doch  am  liebsten  im  häuslichen 
Kreise  sich  bewegend,  die  älteste  Komtesse  Caroline  mit  feinfühlendem 
Herzen  und  einem  leisen  Hang  zur  Schwärmerei,  und  dann:  „Friederike, 
zwischen  sechzehn  und  siebzehn  Jahren,  vereinigt  Alles,  was  ich  mir 
jemals  von  Reiz  und  Grazie  des  Geistes  und  Körpers  gedacht  habe"  (an 
Catel).2  Ein  zartes  und  reines  Gefühl,  aus  verehrender  Liebe  und 
herzlicher  Freundschaft  gemischt,  entfaltete  sich  in  dem  jungen  Lehrer 
—  hier  ging  ihm  der  Sinn  für  die  Frauen  und  damit  die  Erkenntnis 
des  menschlichen  Wertes  zum  ersten  Male  voll  auf.  Auch  einen  neuen 
Freund  gewann  er  in  dem  Prediger  Wedecke:  so  hatte  er  überreiche  An- 
regung durch  seine  Umgebung. 

Die  strenge,  theologische  Facharbeit  kam  dabei  wieder  ein  wenig 
zu  kurz.  Viel  Zeit  für  sich  allein  hatte  er  nicht:  zwischen  5  und  6 
stand  er  früh  auf,  bis  7  war  er  sein  eigener  Herr;  ebenso  von  11 — 1 
und  nach  1/2IO  Uhr  abends.  Sonst  war  er  mit  dem  Unterricht  beschäftigt 
oder  im  geselligen  Umgange  im  Kreise  der  Familie:  Schachspiel,  Gespräch 
und  Vorlesen  lösten  einander  ab.  Auch  das  Predigen  ward  ihm  in  diesem 
Kreise  zuerst  zu  einem  ihn  innerlich  erfüllenden  Beruf.  Seine  Predigten, 
die  von  Onkel  und  Vater  nicht  ganz  gebilligt  wurden  und  an  denen 
auch  die  Gräfin  etwas  „zu  Neues"  fand,  zeigen  hier  schon  eine  Eigenart, 


1  Vgl.  Br.  III,  30  u.  R.  Baxmann:  Fr.  Schleiermacher.   Elberfeld  1868.    S.  36. 

2  Br.  111,33. 

Schleiermacher,  Werke.     I.  IV 


L  Einleitung. 

die  ihnen  geblieben  ist:  „Dem  Worte  zu  geben,  was  verstehende, 
befreundete  Gemüter  bewegt  .  .  ."  (Dilthey.)  Am  Neujahrstage  1792 
sprach  er  auf  der  Kanzel  über  das  Glück  im  Leben,  das  Problem  des 
Glückes  beschäftigte  ihn  überhaupt  dauernd  —  am  21.  November  1792 
begann  er  mit  „Selbstprüfungen''  seine  Abhandlung  „Über  den  Wert 
des  Lebens"^  —  seine  philosophischen  Versuche  zum  Druck  abzuschließen 
plante  er  energisch,  vom  Onkel  und  von  Sack  dazu  gedrängt.  In  Schleier- 
macher beginnt  eine  phantasiemäßige  Vorahnung  einer  Umgestaltung 
des  Weltbildes,  eines  neuen  Gottesbegriffes ;  auch  die  Stellung  von 
Staat  und  Kirche  betrachtet  er  kritisch  —  nach  seinen  jetzigen  Ansichten 
soll  der  Staat  sich  überhaupt  nicht  um  die  Religion  kümmern.  So 
sehen   wir   einschneidende   Wandelungen   vorbereitet. 

Äußerlich  verlief  der  Aufenthalt  in  Schlobitten  ziemlich  ruhig,  nur 
durch  eine  kurze  Fahrt  nach  Königsberg  wurde  er  unterbrochen,  auf 
der  Schleiermacher  Kant  kennen  lernte,  ohne  gerade  einen  angenehmen 
Eindruck  von  ihm  zu  erhalten.  Doch  so  ganz  ungetrübt  blieben  die  Be- 
ziehungen zwischen  der  gräflichen  Familie  und  ihm  nicht;  eine  Differenz 
mit  der  Gräfin  im  Frühjahr  1791  war  bald  vergessen,  doch  gab  es 
gelegentlich  Wortwechsel  mit  dem  hitzigen  alten  Herren  über  Politik 
und  pädagogische  Prinzipien.  Der  Graf,  bis  ins  Innerste  konservativ, 
konnte  über  leise  geäußerte  liberale  Ansichten  aufbrausen  —  und  Schleier- 
macher war  noch  immer  etwas  steif,  etwas  stolz,  etwas  scharf  und  leicht 
verletzbar,  so  daß  ihn  der  Onkel  mahnte,  gegen  eine  allzu  große  Emp- 
findlichkeit auf  der  Hut  zu  sein  und  sich  vor  beißenden  Ausdrücken  in 
acht  zu  nehmen.  In  Erziehungsfragen  war  auch  manchmal  der  gräfliche 
Vater  anderer  Ansicht  als  der  Lehrer,  und  darüber  kam  es  am  Abend  des 
6.  Mai  1793  zum  Bruch.  Am  nächsten  Tage  erfolgte  in  aller  Freundschaft 
eine  Aussprache  —  aber  es  war  klar,  daß  ein  Bleiben  Schleiermachers 
nicht  angezeigt  erschien.  Er  war  sich  zu  genau  bewußt  über  das,  was 
er  wollte,  und  war  es  seinem  ethischen  Gefühle  schuldig,  sich  zu  be- 
haupten. Aber  unsäglich  schwer  wurde  ihm  die  Trennung:  ihn  hielt 
mehr,  als  auch  die  Freunde  wußten,  an  diesen  schönen  Fleck  ostpreußi- 
schen Landes  gekettet.  Zwei  Wochen  blieb  er  noch  auf  Schlobitten,  zwei 
weitere  in  Schlodien  bei  Wedecke  —  dann  reiste  er  über  Landsberg 
zu  dem  Onkel  nach  Drossen,  wo  er  am  17.  Juni  eintraf.  Die  Zeiten 
des  naiven  Glücksgenusses  waren  für  immer  vorüber.  Der  ganze  Ernst 
des  Daseinskampfes  trat  wieder  an  ihn  heran. 


Dilthey,  Anhang  46  ff. 


Einleitung.  LI 

Der  junge  Prediger. 

Im  August  ging  er  nach  Berlin,  um  sich  dort  die  Fähigkeit  zur 
Anstellung  zu  erwerben.  Als  vorläufige  Versorgung  erhielt  Schleier- 
macher durch  Sack  eine  Stellung  an  Gedikes  Seminar,  mit  120  Talern 
Gehalt.  Das  war  nun  gar  nichts  für  ihn :  mit  den  Berliner  Rangen  wurde 
er  nicht  gut  fertig.  Mit  seinem  Dasein  unzufrieden,  fand  er  noch  keinen 
Eingang  in  die  höhere  Geselligkeit. 

Aus  dieser  peinlichen  Lage  befreite  ihn  die  Aussicht  auf  eine  Adjunkt- 
Stelle  bei  dem  alten  Schumann  in  Landsberg  —  schleunigst  ließ  er  sich  pro 
ministerio  prüfen   und  ordinieren  und  trat  im  April  1794  die  Stelle  an. 

Die  hübsch  am  Abhang  von  Hügeln  gelegene  größere  Landstadt  hat 
Über  zwei  Jahre  Schleiermacher  als  Prediger  gehabt.  Von  literarischen 
Dingen  ziemlich  abgeschnitten,  durch  die  lebhafte  Geselligkeit  manchmal 
in  Anspruch  genommen,  hat  Schleiermacher  sich  hier  innerlich  und  äußer- 
lich zum  bedeutendsten  Kanzelredner  entwickelt.  Seine  Predigten  dachte 
er  bis  ins  einzelne  durch,  schrieb  sie  aber  erst  auf,  nachdem  sie  ge- 
halten waren.  Die  Predigten  aus  dieser  Zeit  stellen  einen  fein  gegliederten 
begrifflichen  Zusammenhang  dar,  „von  ruhiger  Wärme  gleichmäßig  durch- 
drungen, kein  Schmuck,  keine  plötzliche  Begeisterung,  nichts  von  den 
beliebten  Predigtbeispielen  . . ."  (Dilthey  67.)  Seinen  Stil  bildete  er  teil- 
weise an  dem  Engländer  Blair,  dessen  Reden  er  mit  Sack  zusammen 
übersetzte:  seine  erste  gedruckte  Arbeit.  Sie  wurde  später  (1798)  durch 
eine  Fawcett-Übertragung  und  einen  weiteren  Band  Blair  fortgesetzt  (1802). 
Von  politisch-patriotischen  Vorgängen  nahm  Schleiermacher  hier  noch 
keinen  Anlaß,  auf  der  Kanzel  zu  reden:  —  in  einer  Predigt  zur  fest- 
lichen Feier  des  Baseler  Friedens  vom  April  1795  hat  er  nichts  von 
Zeitereignissen  erwähnt.  Katechisation  und  Schulvisitation  übte  er 
mit  Hingabe  an  seinen  Beruf  aus  —  dem  alten  Schumann  war  sein 
Eifer  sogar  oft  zu  heftig!  —  Von  wissenschaftlichen  Arbeiten  sei  nur 
die  unvollendete  „Kurze  Darstellung  des  spinozistischen  Systems"  (SW. 
III,  41)  erwähnt,  die  wahrscheinlich  in  dieser  Zeit  entstand.  (Dilthey,  An- 
hang S.  65.)    Goethes  „Wilhelm  Meister"  „entzückte"  ihn  in  Landsberg. 

Die  Tochter  seines  gestrengen  Vorgesetzten,  an  den  Beamten  Benecke 
verheiratet,  die  schon  bei  dem  ersten  Besuche  aus  Drossen  sein  Herz 
berührt  hatte,  war  in  dieser  Zeit  der  Gegenstand  seiner  herzlichen  Zu- 
neigung und  intimen  Freundschaft.  Sie  war  —  das  mußte  er  bald  er- 
fahren —  ein  leidenschaftliches  Weib,  und  er  hat  es  als  ihr  Berater  in 
allen  Dingen  oft  nicht  leicht  gehabt.  Mit  besonderer  Liebe  nahm  er 
sich  ihres  Töchterchens  an  und  unterrichtete  es  täglich.  Der  beschützende, 

IV* 


LH  Einleitung. 

väterliche  Zug,  der  später  in  den  Verhältnissen  zu  Frauen  so  hervortrat, 
ist  hier  schon  deutlich  zu  erkennen. 

Am  2.  September  1794  starb  der  Vater,  seine  zweite  Frau  mit  einer 
kleinen  Pension  zurücklassend,  von  der  sie  leben  und  die  noch  kleinen 
Kinder  erziehen  mußte.  Schleiermacher  hat  diesen  Schlag  unendlich 
schmerzlich  empfunden  und  schloß  sich  seither  noch  enger  an  die  geliebte 
Schwester  Charlotte  an,  mit  ihr  Erinnerungen  an  den  Verstorbenen  aus- 
tauschend, wobei  ihn  der  Gedanke  an  den  Zwist  von  Barby  besonders 
wehmütig  stimmte.  ^ 

Juni  1795  starb  auch  der  alte  Schumann.  Die  Gemeinde  bat  das 
Direktorium,  ihr  Schleiermacher  als  ersten  Prediger  zu  lassen;  doch 
dieser  erschien  den  Herren  als  zu  jung,  und  so  erhielt  Onkel  Stubenrauch 
die  Stelle,  während  Schleiermacher  einen  kleinen  Posten  an  der  Charite  in 
Berlin  übernahm;  auf  eine  zweite  Predigerstelle  in  Brandenburg  ver- 
zichtete er  zugunsten  eines  älteren  Kandidaten,  der  sich  in  schlimmer 
Lage  befand.  Über  Schlesien,  wo  er  die  Schwester  besuchte,  reiste  er 
nach  Berlin  —  einer  neuen  Zeit,  dem  Höhepunkte  seines  Lebens  entgegen. 

Gewinn  der  neuen  Weltanschauung. 

Im  September  1796  zog  Schleiermacher  in  seine  kümmerliche  Woh- 
nung, im  dritten  Stock  des  alten  Charite-Gebäudes  gelegen,  ein;  später 
wohnte  er  außerhalb  des  Oranienburger  Tores.  Die  Charite  lag  damals 
entfernt  von  der  Stadt,  in  wüster  Gegend.  Die  Zustände  —  was  Rein- 
lichkeit, Essen  usw.  anbetrifft  —  ließen  mehr  als  alles  zu  wünschen 
übrig,  so  daß  schließlich  die  höheren  Beamten  eine  Beschwerde  ein- 
reichten. Der  Wirkungskreis  für  den  Prediger  war  ein  recht  beschränkter: 
es  kamen  zwar  auch  Leute  aus  den  nächsten  Stadtteilen  in  die  Kapelle, 
aber  das  war  ein  Publikum,  zu  dem  Schleiermacher  ganz  anders  sprechen 
mußte  als  zu  seiner  Landsberger  Gemeinde.  So  konnten  ihn  die  äußeren 
Verhältnisse  seiner  Stellung  nicht  gerade  begeistern.  Er  blieb  auch 
zunächst  ziemlich  einsam.  „Da  kann  ich  sitzen  Stunden  lang  und  mit 
dem  größten  Vergnügen  meine  Gedanken  und  Empfindungen  ansehn, 
wie  die  indianischen  Gymnosophisten  ihre  Nasenspitze",  schrieb  er  August 
1797  noch  an  die  Schwester.  Im  ersten  Winter  verkehrte  er  im  Kreise 
der  Sacks  und  Spaldings  und  beschäftigte  sich  mit  kirchenpolitischen 
Untersuchungen  usw.  Im  Juni  1797  besuchte  er  auf  14  Tage  den  alten 
Onkel  Stubenrauch  in  Landsberg  und  fand  ihn  abgestumpft,  kränklich  und 
bitter  —  das  war  der  letzte  Eindruck  der  alten  Welt,  die  ihn  bisher  umgeben. 

»  Br.  I,  I39f- 


Einleitung.  LIII 

Eine  neue  stieg  herauf,  Alexander  Dohna  hatte  ihn  in  das  Haus 
des  Hofrats  Marcus  Herz  eingeführt,  des  angesehensten  jüdischen  Arztes, 
der  sich  als  junger  Mann  der  Teilnahme  Kants  zu  erfreuen  gehabt  und 
durch  Schriftstellern  und  Vorträge  sich  einen  Namen  gemacht  hatte. 
Er  besaß  die  Gabe  geistreichen  Gespräches  in  hohem  Maße. 

„Welch  ein  liebender  Kreis  von  weisen   Freunden  umgab  ihn!' 

Jeder  schätzte  den  Arzt,  Denker  und  Spötter  in  ihm. 

Gleich  den   Weisen   Athens   liebt  er  die  fröhlichen  Zirkel. 

Seine  Sorgen  allein  bleiben  im  Herzen  versenkt; 

Alles  opfert   er  sanft  auf  dem   Altare  der  Freundschaft, 

Seinen    Witz    und    Wein,    seine    Erfahrungen    gern.**  Göckingk. 

Neben  ihm  stand  seine  Gattin  Henriette,  17  Jahre  jünger  als  er, 
eine  von  allen  angeschwärmte,  vielbewunderte  Schönheit.^  Ihre  Erschei- 
nung wird  durch  keinen  aufdringlichen  Zug  von  Emanzipationsgelüsten 
gestört,  wenn  sie  selbst  auch  in  der  Ehe  mit  dem  etwas  nüchternen  Ratio- 
nalisten keine  Erfüllung  ihres  Wesens  fand,  zumal  ein  Kind  fehlte.  Sie  war 
nicht  geistreich  und  sprühend,  aber  sie  hatte  einen  klaren  Verstand 
(sie  beherrschte  z.  B.  zehn  Sprachen,  darunter  Sanskrit  und  Türkisch) 
und  vor  allem  ein  unvergleichlich  reiches  Empfindungsleben  und 
die  Fähigkeit,  mit  andern  tiefen  Naturen  innig  mitzufühlen.  2  Die 
ganze  Fülle  ihrer  Natur  entfaltete  sich  in  der  neuen  vergeistigten  Ge- 
selligkeit, die  seit  Ende  der  80  er  Jahre  unter  dem  Einfluß  des  Goethischen 
Lebensideals  aufblühte.  Das  ältere  Berlin  gegen  Ende  der  Lebenszeit 
des  großen  Friedrich  hatte  auch  schon  seine  Salons  gehabt,  so  das 
berühmte  Bauersche  Haus.  Da  gaben  die  Mendelssohn  und  Nikolai 
den  Ton  an.  Es  herrschte  die  verstandesmäßige  Kritik,  wie  sie 
Berlin  durchzog,  seit  man  begann,  die  Sittenlosigkeit  und  Üppigkeit 
der  Stadt  zu  geißeln.  Die  ehrgeizigen,  klugen  und  reichen  jüdischen 
Familien  verstanden  es,  die  höheren  Geister  schon  damals  an  sich 
zu  ziehen.  Henriette  Herz  hatte  selbst  noch  zu  Füßen  des  greisen 
Mendelssohn  gesessen,  der  die  Juden  aus  dem  bildungsfeindlichen  Bann 
des  Gesetzes  befreit  hatte;  und  sie  hatte  begeistert  dann  das  Goethische 
Evangelium  von  der  Ausbildung  der  Individualität  aufgenommen,  das 
im  Wilhelm  Meister  der  Welt  gepredigt  wurde.   Bei  der  Stifterin  des  Tugend- 

*  S.  Boisseree  verglich  Henriette  mit  den  venezianischen  Frauenporträts  von 
Bordone  und  Tizian.  {Vgl  H.  Rinn :  Schleiermacher  und  seine  romantischen  Freunde^ 
Sammlung  gemeinverständlicher  Vorträge  von  Virchow  und  Holtzendorff,  N.  F.  5-) 

2  Schleiermacher  und  seine  Lieben.  In  Briefen  der  Henriette  Herz.  Magde- 
burg 1910.     S.  5- 


LIV  Einleitung. 

bundes  und  der  Freundschaftsloge  vereinigten  sich  Prinzen,  Diplomaten, 
Gelehrte,  Künstler,  Schauspieler  zu  zwangloser  Unterhaltung.  Neben  den 
Häuptern  der  Romantik  sehen  wir  dort  Reichardt,  Fr.  Gentz,  Sophie 
Bernhardi  und  Sophie  Mereau. '  „Viel  gereist  und  überall  mit  den  geistig 
hervorragenden  Kreisen  in  Verkehr  gekommen,  lernte  sie  (Henriette)  den 
Wert  feiner  Konversation  in  der  Praxis  begreifen"  (A.  v.  Gleichen-Rußwurm).- 

In  diesem  Hause  vollendete  sich  Schleiermachers  Wesen  zu  reiner 
Menschlichkeit.  Wie  oft  ist  er  nach  Neue  Friedrichstraße  22  gewandert; 
vor  der  Teestunde  kam  er  meist,  um  Henriette  zuerst  allein  zu  treffen.  Und 
wenn  er  dann  ging,  im  Knopfloch  die  kleine  Laterne,  um  auf  unge- 
pflastertem  Wege  sein  einsames  Stübchen  zu  erreichen,  dann  nahm 
er  immer  innerliche  Eindrücke  mit  sich.  „Denken  Sie  sich  nur,  schreibt 
Henriette  an  den  Grafen  Dohna,  9.  Sept.  1797,  der  Schleiermacher  kömmt 
fast  täglich  zu  uns  und  liest  mit  mir  und  der  Veit  das  Schlegelbuch 
[Griechen  und  Römer],  das  sehr  schwer  ist."^  Das  Verhältnis  zwischen 
Henriette  und  „Schleier"  ist  reine  Freundschaft  gewesen,  und  hat  nichts 
mit  sinnlicher  Liebe  zu  tun  gehabt.  Die  Geselligkeit  als  freie  Selbst- 
darstellung der  Persönlichkeiten  ist  seit  jener  Zeit  ein  ethischer  Grund- 
wert des  Philosophen  geworden. 

In  diesem  Zirkel  wurde  ihm  auch  die  wichtigste  Begegnung  seines 
Lebens  zuteil,  die  mit  dem  jungen,  eben  berühmt  gewordenen  Fried- 
rich Schlegel.  Hier  fanden  sich  zwei  Geister,  die  sich  in  diesem  Punkte 
ihres  Entwicklungsganges  unendlich  viel  zu  sagen  hatten.  „Schlegel 
zuerst  eröffnete  seinem  Freunde  den  Einblick  in  die  Welt  der  Kunst 
und  Poesie.  Schlegel  zuerst  wies  ihn  nachdrücklich  auf  die  Fichtische 
Fassung  der  Kantischen  Lehre  hin.  Schleiermacher  trug  jenem  eine  durch- 
gebildete sittliche  Anschauung  entgegen,  und  stellte  sich  selbst  als  eine 
noch  durchgebildetere  Verkörperung  dieser  Anschauung,  als  eine  vor- 
ragend ethische  Persönlichkeit  dar."  (Rudolf  Haym.)  *  Schleiermacher 
war  von  Schlegel  enthusiasmiert,  bis  zur  Urteilslosigkeit  begeistert.  Er 
schwärmte  der  Schwester  vor  von  dieser  alles  überragenden,  großen 
Originalität,  von  den  unbegreiflich  ausgebreiteten  Kenntnissen.  Er  sah 
in  ihm  einen  großen  Philosophen,  ja,  einen  starken  sittlichen  Charakter! 


^  R.  A.  Lipsius:  Schleiermacher  und  die  Romantik  1876,  in  Glauben  und 
Wissen.     XIII.     Berlin  1897. 

2  Geselligkeit.     Stuttgart  1910.     S.  80. 

^  Ungedruckte  Predigten  Schleiermachers,  herausgegeben  von  Joh.  Bauer. 
1909,  S.  108. 

*  Die  romantische  Schule.     2.  Aufl.    1906.    S.  414f. 


Einleitung.  LV 

Unbedingt  fast  ordnete  er  sich  zuerst  ihm  unter.  Viel  richtiger  hat  Schlegel 
den  neuen  Freund  beurteilt.  Mit  einer  Skizze  über  „Immoralität  aller  Moral* 
erwarb  sich  der  junge  Prediger  die  Achtung  des  genialen  Schriftstellers 
„Schleiermacher  ist   ein  Mensch,   in  dem   der  Mensch  gebildet  ist.  .  . 
Er  ist  nur  drei  Jahre  älter  wie  ich,  aber  an  moralischem  Verstände  über 
trifft  er  mich  unendlich  weit.    Jch  hoffe  noch  viel  von  ihm  zu   lernen 
Sein  ganzes  Wesen  ist  moralisch  — "  (an  A.  W.  Schlegel,  November  1797. 
vgl.  Haym  S.  415.)    Tiefste,  in  sich  gefaßte  Innerlichkeit  machte  Schleier 
machers  Wesen  aus  (Dilthey).  Fr.  Schlegel  brachte  ihm  nun  die  alldurch 
dringende  Universalität  nahe,  die  später  so  bezeichnend  für  sein  Denken 
ist.    Mit  Schelling  und  Schleiermacher  als   „Symphilosophen"  wollte  er 
eine     universalgeschichtliche    Kulturphilosophie    entwerfen,  ^    im    Lyzeum 
und  Athenäum   sollten  die  Freunde  vereint  mit  ihm  auftreten.    Deshalb 
trieb  er  den  jungen   Prediger  und  „rupfte  beständig"  an  ihm,  er  solle 
endlich  etwas  schreiben.  ^   Äußerlich  und  innerlich  wurde  Schleiermacher 
so  durch  die  Begegnung  mit  einem  genialen  Menschen  in  die  Bewegung 
der    neuen,    mächtig  aufstrebenden   Generation   hineingezogen.    Schlegel 
erst  gelang  es,  „diese  große,  aber  ganz  beschauliche  Natur  der  geistigen 
Bewegung    seiner    Zeit   gegenüber    zu    einer    bestimmten    Rückwirkung 
zu  bringen*'  (Dilthey  234). 

Gehoben  und  getragen  von  den  neuen  Verbindungen  fühlte  er 
sich,  als  an  seinem  29.  Geburtstage  Henriette,  Dorothea  Veit, 
Alexander  Dohna  und  Schlegel  zu  ihm  kamen  und  eine  gemüt- 
liche Feier  mit  Schokolade  und  Kuchen  veranstalteten;  und  Neu- 
jahr 1798  zog  Friedrich  zu  dem  Freunde  in  die  Wohnung,  so  daß 
sie  eine  förmliche  „Ehe"  führten.  „Wie  neu  ist  mir  das,  daß  ich  nur 
die  Türe  zu  öffnen  brauche,  um  mit  einer  vernünftigen  Seele  zu  reden, 
daß  ich  einen  guten  Morgen  austeilen  und  empfangen  kann,  sobald 
ich  erwache,  daß  mir  jemand  gegenübersitzt  bei  Tische  und  daß  ich 
die  gute  Laune,  die  ich  abends  mitzubringen  pflege,  noch  früh  jemand 
mitteilen  kann."^  Eine  kleine  kritische  Bemerkung  fügt  er  an,  die 
ihn  selbst  charakterisiert:  „Was  ich  doch  vermisse,  ist  das  zarte  Gefühl 
und  der  feine  Sinn  für  die  lieblichen  Kleinigkeiten  des  Lebens  und  für 
die  feinen  Äußerungen  schöner  Gesinnungen,  die  oft  in  kleinen  Dingen 
unwillkürlich  das  ganze  Gemüt  enthüllen." 


1  Vgl.  F.  Lederbogen,  Fr.  Schlegels  Geschichtsphilosophie.     Leipzig  1908. 
-  Fr.  Schlegels  Briefe  an  seinen  Bruder  August  Wilhelm,  herausgegeben  von 
Walzel.     Berlin  1890,  S.  222. 
3  Br.  L176. 


LVI  Einleitung. 

Schleiermacher  ist  das  ethische  Genie  unter  unseren  Großen.  „In 
der  Feinfühligkeit  für  sittliche  Tatsachen  und  Bedürfnisse,  in  der  un- 
ablässigen Arbeit  an  sich  selber,  in  dem  so  entspringenden  sittlichen 
Verstände  ist  seit  Luther  niemand  mit  ihm  zu  vergleichen."  (Dilthey  239.) 
Schriftstellerisch  begann  Schleiermacher  jetzt  unter  Schlegels  Drängen 
„ethische  Rhapsodien"  niederzuschreiben,  die  in  die  berühmten  Athe- 
näum-Fragmente übergegangen  sind.  An  Kant  anschließend,  hatte  er 
bereits  in  seiner  früheren  Entwicklung  die  unbedingte  Apriorität  des 
Sittengesetzes  begriffen,  er  hatte  einen  ethischen  Determinismus  ausge- 
bildet —  ganz  unabhängig  vom  Pantheismus  Spinozas,  den  er  erst 
1794  in  Landsberg  näher  studiert  hatte;  schließlich  hatte  er  im  Begriffe 
des  höchsten  Gutes  als  der  Gesamtheit  alles  ethisch  Geschaffenen  die 
Grundlage  seiner  ganzen  Ethik  gewonnen.  Aus  eigenstem  Erleben  bil- 
deten diese  Gedanken  sich  jetzt  fort  und  wurden  ergänzt  durch  die 
Idee  der  Individualität  als  der  Eigenbestimmtheit  des  menschlichen  Wesens 
und  durch  ihr  Komplement:  die  freie  Gemütsgemeinschaft  in  gegen- 
seitiger Mitteilung.  In  diesem  Kreise  innerlicher  Gemeinschaft  erfüllte 
sich  nach  seinem  damaligen  Ideal  das  wahre  Leben.  „Es  scheint  mir 
die  unnachläßliche  Pflicht  eines  jeden  Menschen  zu  sein,  andere  zu  er- 
ziehen." i  „Eigentlich  gibt  es  doch  keinen  größeren  Gegenstand  des 
Wirkens,  als  das  Gemüt,  ja  überhaupt  keinen  anderen."  ^  Unter  Beein- 
flussung von  Leibniz,  Jakobi,  Goethe  u.  a.  bilden  sich  seine  Gedanken 
aus,  der  Plan  von  „Selbstanschauungen",  den  späteren  „Monologen", 
entsteht,  und  gleichzeitig  kritisiert  Schleiermacher  die  anderen  Ethiker  r 
im  Sommer  1798  arbeitet  er  an  einer  gegen  Kant  und  Fichte  gerichteten 
Moralkritik,  deren  Positives  eine  Apologie  der  Humanität  sein  sollte. 
Daneben  entstehen  Essays  „über  die  gute  Lebensart",  über  Scham 
und  Treue  —  ganz  herausgewachsen  aus   der  Umgebung. 

Durch  das  Athenäum  knüpften  sich  Beziehungen  zu  der  ganzen 
ersten  Generation  der  Romantik  an,  so  zu  Novalis,  Tieck,  A.  W.  Schlegel. 
Nicht  zu  verwundern  ist  es,  daß  Schleiermacher  in  ästhetischen  Fragen 
durch  die  Lehren  der  neuen  Schule  beeinflußt  ist^  und  daß  in  seiner 
„Ästhetik"  noch  überall  sich  Anknüpfungen  finden.  Auch  mit  dichterischen 
Plänen  hat  er  sich  jetzt  und  später  getragen,  ein  Heft  Gedichte  hat  DiHhey 
aufgefunden,   mit    einem    Roman-Projekt   hat   er   sich   lange   beschäftigt. 


1  Br.  I,  190.  -  I,  195- 

•*  Über  die  Beeinflussung  Schleierniachers  durch  die  Romantik  nach  der 
Formseite  seiner  Schriften;  vgl.  Bauer:  Schleiermacher  als  patriotischer  Prediger. 
Gießen  1908.     S.  229. 


Einleitung.  LVII 

Ihm  fehlte  aber  zum  schaffenden  Künstler  die  Macht  der  sinnlichen 
Anschauung:  in  Verständnis  und  Nachempfinden,  ja  auch  in  der  archi- 
tektonisch-künstlerischen Gliederung  seiner  späteren  Werke  zeigt  sich 
ein  gut  Teil  Künstlergeist.  Auch  die  erste  geniale  Zusammenfassung 
der  neu  gewonnenen  Weltanschauung,  die  Reden  über  die  Religion,  sind 
wesentlich  bedingt  in  ihrer  Gestaltung  durch  das  künstlerische  Milieu !  ^ 

Über  die  Entstehungsgeschichte  der  „Redenüberdie  Religion, 
an  die  Gebildeten  unter  ihren  Verächtern"  (1799)  wissen  wir  merk- 
würdig wenig  —  in  den  Briefen  finden  sich  kaum  Andeutungen.  Die 
ersten  Gedankenkeime  im  Tagebuch  sind  nicht  vor  August  1798  auf- 
gezeichnet. Im  November  begann  wohl  die  Niederschrift,  Mitte  Februar 
1799  wurde  Schleiermacher  dann  nach  Potsdam  geschickt,  um  den  Pre- 
diger Bamberger  zu  ersetzen,  und  war  damals  bis  gegen  Ende  der 
2.  Rede  vorgedrungen.  Die  Trennung  von  Henriette,  die  neuen  Amts- 
geschäfte wirkten  hemmend  auf  die  Produktion:  der  dithyrambische 
Schwung  im  Stil  der  Reden  hält  sich  nur  in  den  ersten  zwei  auf  gleicher 
Höhe,  später  wurde  er  etwas  maniriert.  Auch  inhaltlich  liegt  fast  alles 
in  den  Anfangsreden  beschlossen.  Am  15.  April  waren  die  Reden  voll- 
endet. Die  Entwicklung  der  eigenen  Gedanken  bei  Schleiermacher  war 
bisher  fast  ausschließlich  auf  ethische  Probleme  gerichtet  gewesen,  die 
„Monologen"  erscheinen  als  ihr  folgerechter  Abschluß. ^  Bei  dem  Ringen 
um  den  dort  entfalteten  Individualitätsgedanken,  der  ihm  gerade  in  reli- 
giöser Beziehung  bei  den  Herrnhutern  schon  aufgegangen  sein  mag, 
ergab  sich  für  Schleiermacher  die  Einsicht,  daß  Individualität  ohne  Re- 
ligion nicht  denkbar  sei:  hier  liegt  vielleicht  der  äußere  Anlaß  zur 
Niederschrift   der    Reden.^ 

„Daß  ich  rede  ...  ist  die  innere  unwiderstehliche  Notwendigkeit 
meiner  Natur,  es  ist  ein  göttlicher  Beruf,  es  ist  das,  was  meine  Stelle 
im  Universum  bestimmt,  und  mich  zu  dem  Wesen  macht,  welches 
ich  bin."  (Reden,  1.  Aufl.  S.  5.)  Aus  dem  durchaus  individuellen  Drange 
einer  genialen  Natur  wurde  hier  ein  Werk  geboren,  das  so  typisch 
wie  kaum  ein  anderes  den  vollen  Sieg  eines  neuen  Zeitalters  darstellt. 
Versunken  ist  der  Rationalismus.  Die  individuelle  Seele  mit  all  ihren 
Kräften   und    Fähigkeiten   ist   der  Ausgangspunkt   und   Quellpunkt  alles 


^  Vgl.  dazu  auch  Lamprecht,    Deutsche  Geschichte  X,  58 f. 

^  Vgl.  G.  Wehrung :  Der  geschichtsphilosophische  Standpunkt  Schleiermachers 
zur  Zeit  seiner  Freundschaft  mit  den  Romantikern.     Stuttgart  1907. 

^  Samuel  Eck:  Über  die  Herkunft  des  Individualitätsgedankens  bei  Schleier- 
macher.    Gießen  1908. 


LVIII  Einleitung. 

Wissens.  Und  doch  wieder  ist  es  bei  Schleiermacher  nicht  das  starre 
Fichtesche  Ich,  das  weltbeherrschend  auftritt.  Im  Gegenteil:  aus  einem 
gewissen  Stimmungsgegensatz  gegen  den  selbstherrlichen  Idealismus  sind 
die  Reden  entstanden.  ^  Schleiermacher  ist  nie  Kantianer  in  strengstem 
Sinne  und  nie  Fichtianer  gewesen;  er  hat  von  jeher  einem  transzenden- 
talen Realismus  zugestrebt,  der  in  vielen  Stücken  an  E.  v.  Hartmann 
erinnert.  Als  metaphysischen  Grundgedanken  der  Reden  müssen  wir 
geradezu  hervorheben:  Das  Jenseitige  ist  für  uns  erkennbar,  denn  es 
hat  nur  Realität  in  den  Individualisationen  der  endlichen  Welt.  2  So 
stellt  Schleiermacher  den  Menschen  nicht  als  isoliertes  Ich  auf,  sondern 
er  will  gerade  zeigen,  daß  er  überall  umfangen  ist  von  dem  Univer- 
sellen, Unendlichen,  das  in  seiner  Realität  dem  Individuum  unendlich 
überlegen  ist!  Nur  auf  Grund  dieser  erkenntnistheoretischen  Anschau- 
ungen, die  später  in  der  „Dialektik"  ihre  Vollendung  fanden,  läßt  sich 
die  Definition  der  Religion  in  den  Reden  begreifen. 

Die  Reden  sind  eine  Kampfschrift  —  die  hervorragende  Stellung 
der  Religion  im  Geistesleben  der  Menschheit  will  Schleiermacher  da- 
durch neu  sichern,  daß  er  ihr  wahres  Wesen  zeigt,  und  es  abgrenzt 
gegen  Metaphysik  und  Moral.  „Daß  sie  aus  dem  Inneren  jeder  besseren 
Seele  notwendig  von  selbst  entspringt,  daß  ihr  eine  eigne  Provinz 
im  Gemüte  angehört  .  .  .  das  ist  es,  was  ich  behaupte."  (37.)  Alle 
dogmatischen  Lehrsätze  gehören  nicht  zum  Wesen  der  Religion,  sie 
beruht  vielmehr  auf  einem  andächtigen  Anschauen  des  Universums, 
des  Unendlichen  im  Endlichen.  Religion  ist  Sinn  und  Geschmack  fürs 
Unendliche.  Alle  Begebenheiten  in  der  Welt  als  Handlungen  eines  Gottes 
sich  vorstellen,  das  ist  Religion.  Die  religiöse  Anschauung  muß  alldurch- 
dringend sein!  Praxis  haben  zu  wollen  ohne  Religion,  ist  freche  Feind- 
schaft gegen  die  Götter.  Das  ist  einer  der  charakteristischen  Züge  des 
ganzen  Schleiermacher:  er  will  alles  Ideelle  ins  Reelle  hineinbilden,  er 
will  nicht  bei  Ideen  stehen  bleiben,  sondern  sie  im  Leben  betätigen. 
Sein  lebendiger  Sinn  für  Individualität,  der  ihm  aus  der  Erfahrung  er- 
wachsen war,  bestärkte  ihn  darin.  Er  wollte  den  Menschen  in  seiner 
ganzen  Lebensfülle  vergeistigen,  nicht  alles  ins  Gedankliche  auflösen. 
Schleiermacher  ist  am  wenigsten  Intellektualist  unter  allen  unsern  großen 
idealistischen   Philosophen.    „Hier  war  die  Zartheit  des  Empfindens  und 


^  Vgl.  R.  Ottoin  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  derReden.  2.  Aufl.  1906.  S.  XII. 

2  Vgl.  H.  Süßkind,  Der  Einfluß  Schellings  auf  die  Entwicklung  von 
Schleiemiachers  System.  Tübingen  1909.  S.  24.  (Die  Auffassung  von  S.  rückt 
Schleiermacher  etwas  zu  weit  von  Kant  fort;  vgl.  Dorner:  Theologische  Studien 
und  Kritiken.     1901.     Dagegen  behält  S.  Wehrung  gegenüber  wohl  Recht.) 


Einleitung.  LIX 

Verstehens,  wie  die  Romantiker  sie  besaßen,  vereinigt  mit  der  Kraft  eines 
hochstrebenden  ethischen  Willens,  der  vom  bloßen  Genießen  zum  Um- 
setzen des  Empfundenen  in  Leben  und  Tat  drängte.  Und  was  ebensoviel 
bedeutete:  Er  führte  die  pantheistischen  Gottnaturgedanken  der  Goe- 
thischen  Welt  .  .  .  aus  den  Sphären  der  reinen  Geistesbildung  hinüber 
in  die  protestantische  Religiosität  selbst  und  vereinigte  sie  mit  deren 
noch  frischen  und  lebendigen  Trieben.*'  (F.  Meinecke.)  ^  Im  Sinne 
von  Herder,  Goethe  und  Schelling,  an  dessen  Naturphilosophie  er 
Reden  S.  172  anknüpfte,  nahm  er  den  Menschen  als  höchste  Krone  eines 
Entwicklungsprozesses  (ohne  Naturalist  zu  sein!),  nicht  mehr  als  Wesen 
höherer   Ordnung,    als   das    er   noch    bei   Kant    erscheint. 

Schleiermacher  selbst  hat  die  Reden  1806,  1821  und  1831  nochmals 
überarbeitet  herausgegeben.  Die  späteren  Fassungen  zeigen  bei  genauer 
Untersuchung  ziemlich  einschneidende  Änderungen.  In  der  2.  Auflage 
tritt  das  positive  Christentum  viel  deutlicher  hervor  und  vor  allem 
hat  sich  der  Religionsbegriff  geändert.  Seit  1801  nämlich  hatte  Schelling 
—  z.  T.  angeregt  durch  die  Reden,  die  ihn  erst  abgestoßen,  dann 
aber  begeistert  hatten  —  „Anschauung  des  Universums"  als  Wesen 
der  Philosophie  bezeichnet  —  und  so  mußte  Schleiermacher,  um 
die  Selbständigkeit  für  die  Religion  zu  retten,  diesen  Begriff  aufgeben 
und  den  des  Gefühls  mehr  hervorheben ;  die  Anschauung  über- 
läßt er  dem  wissenschaftlichen  Erkennen.  Die  Stellung  von  Religion 
und  Wissenschaft  zueinander  erscheint  sogar  in  der  2.  Auflage  gerade 
umgekehrt,  wie  in  der  ersten!  Außerdem  ist  —  vermutlich  unter  dem 
Einfluß  Piatons  —  der  Individualitätsbegriff  aus  seiner  zentralen  Stellung 
verdrängt.  - 

In  die  Zeit  der  Abfassung  der  Reden  fallen  eine  Predigtsammlung, 
die  1801  erschien,  und  die  „Briefe  bei  Gelegenheit  der  politisch-theo- 
logischen Aufgabe  und  des  Sendschreibens  jüdischer  Hausväter".  Beide 
hängen  mit  dem  Ideenkreise  der  Reden  z.  T.  zusammen  und  können  hier 
nur  genannt  werden.  Die  Wirkung  der  neuen  Ideen  war  zunächst  keine 
breite,  wohl  aber  eine  bei  den  geistigen  Genossen  sehr  in  die  Tiefe 
gehende:  die  Schlegels,  Novalis, ^  Schelling  und  Caroline,  alle  gewinnen 


1  Zeitalter  der  deutschen  Erhebung  1795  — 1815  (Monographien  zur  Welt- 
geschichte XXV).     S.  25. 

2  Vgl.  über  diese  Unterschiede  die  sehr  gründlichen  Untersuchungen  von  Süß- 
kind a.  a.  O.    Seine  Erklärung  der  Änderungen  ist  natürlich  etwas  hypothetisch. 

®  Vgl.  z.  B.  dessen  Aufsatz:  Die  Christenheit  oder  Europa  (1799)  Minor  II, 
40 f.  Jena  1907,  und  zum  Ganzen:  F.  Strich:  Die  Mythologie  in  der  deutschen 
Literatur.     II.     Halle  191O. 


LX  Einleitung. 

durch   sie    ein   Verhältnis    zur   Religion    und   werden   in    ihren    Werken 
durch   Schleiermacher   beeinflußt. 

Nach  Berlin  zurückgekehrt,  beschäftigten  Schleiermacher  zunächst 
kleinere  Arbeiten,  eine  (recht  ungerechte)  Kritik  der  Anthropologie  Kants 
und  eine  Anzeige  der  Schriften  Garves.  Persönliche  Verhältnisse  brachten 
ihm  tiefe  Aufregungen,  so  namentlich  die  Entfremdung  Fr.  Schlegels 
von  ihm,  die  Ende  Juni  1799  einsetzte.  Friedrich  stand  selbst  in  sehr 
unruhigen  Verhältnissen,  die  Trennung  seiner  Geliebten,  Dorothea  Veit, 
von  ihrem  Manne  war  erfolgt,  und  dadurch  Dorothea  in  eine  sehr 
peinliche  Lage  gekommen;  er  selbst  fand  kein  Gelingen  und  keinen 
Lebensunterhalt,  glaubte  in  völliger  Selbsttäuschung,  sich  an  Fichte  an- 
schließen zu  können  usw.  Das  alles  trieb  ihn  bei  seinem  Mangel  an 
ethischer  Kraft  in  einen  Gegensatz  gegen  Schleiermacher  hinein,  so 
daß  er  mit  einem  kurzen  Lebewohl  mit  Dorothea  nach  Jena  reiste. 
Schleiermacher  seinerseits  hat  Friedrich  nicht  fallen  lassen:  seine  sittliche 
Größe  trieb  ihn,  mehr  für  den  Freund  zu  tun,  als  für  ihn  selber  gut  war. 

Durch  den  Gegensatz  zu  dem  einst  so  verehrten  Genossen  wurde 
Schleiermacher  erst  recht  auf  seine  Eigentümlichkeit  geführt  und  be- 
fähigt, sein  individuelles  Wesen  in  genialer  Selbstdarstellung  zu  schil- 
dern: in  kaum  4  Wochen  schrieb  er,  beginnend  an  seinem  3L  Geburts- 
tage, die  Monologen. 

In  den  ersten  Tagen  von  1800  erschien  diese  anonyme  „Neujahrsgabe", 
fast  gleichzeitig  mit  Fichtes  „Bestimmung  des  Menschen".  Beide  Schriften 
eint  ein  Streben:  der  ethische  Idealismus  will  die  in  Kleinlichkeit  und 
äußerlichem  Glückstreben  befangene  Zeit  aufrütteln  zur  Besserung,  zur 
Vergeistigung.  Die  Wirkung  ins  Große  war  auch  diesen  Schriften  nicht 
beschieden:  erst  nach  dem  äußeren  Zusammenbruch  begann  die  sitt- 
liche Reform;  erst  brutale  Tatsachen  halfen  den  Gedanken  zur  Wirkung. 
Schleiermachers  Schrift,  in  begeistertem,  wenn  auch  nicht  immer  aus- 
geglichenem Stile  geschrieben,  hat  ihre  innerliche  Wirkung  dafür  auch  bis 
heute  bewahrt. 

Schleiermacher  hatte  erst  mit  pointiertem  Witz  und  beißender  Kritik 
seine  Zeit  geißeln  wollen:  unter  der  Hand  wurde  ihm  die  Schrift  zu 
einem  „lyrischen  Extrakt  aus  einem  permanenten  Tagebuch".  ^  So  ist 
sie  ein  Konfessionsbuch  geworden  —  aber  eins,  das  nicht  von  Schuld 
und  Verfehlung  spricht,  sondern  das  ein  Urbild,  ein  Idealvvesen  der 
eigenen  Seele  vorführt,  abgelöst  von  allen  Äußerlichkeiten  (Br.  1,  392; 
II,    138).      Der    Vorwurf    der    Selbstverhimmelung    —    der     so     ganz 

1  Br.  IV,  64. 


Einleitung.  LXI 

sinnlos   gerade    Schleiermacher  gegenüber   ist  —   wurde   ihm   natürlich 
nicht  erspart.^ 

Die  Monologen  heben  die  Seite  der  Sittlichkeit  heraus,  die  in 
jener  Zeit  des  geselligen  Verkehrs  mit  den  Romantikern  in  Schleier- 
macher vor  allem  lebendig  war:  die  Forderung  der  Individualität.  „Es 
ist  mir  klar  geworden,  daß  jeder  Mensch  auf  eigene  Art  die  Menschheit 
darstellen  soll."  (1.  Aufl.  S.  40.)  Nur  spät  gelangt  allerdings  der  Mensch 
zum  vollen  Bewußtsein  seiner  Eigentümlichkeit;  das  darf  ihn  aber 
nicht  hindern,  in  stetiger  Selbstanschauung  sich  in  das  Reich  der  inneren 
Freiheit  zu  erheben.  „Jegliches  Tun  soll  begleiten  der  Blick  in  die  My- 
sterien des  Geistes,  jeden  Augenblick  kann  der  Mensch  außer  der  Zeit 
leben,  zugleich  in  der  höheren  Welt"  (26).  Die  innere  Selbstbildung 
setzt  auch  eine  volle  Ausbildung  des  Intellektuellen  voraus,  denn  nie 
soll  der  Mensch  etwa  in  mystischer  Kontemplation  verharren,  sondern 
aus  seiner  inneren  Freiheit  soll  er  die  Kraft  gewinnen,  seine  Ideen 
schaffend  in  die  Welt  hineinzutragen  (148  f.).  So  zeigt  sich  Schleiermacher 
hier  wieder  in  der  Ausübung  seines  großen  Berufes,  das  Leben  selbst 
durch  die  Gedanken  zu  erhöhen,  nicht  bloß  über  das  Leben  zu 
denken.  Er  kämpft  —  aus  eigner  Not  —  für  „Sinn  und  Wert 
des  Lebens"   (Eucken). 

Die  Monologen  zeigen  uns  einen  ethisch  abgeklärten  Indi- 
vidualismus, der  sich  nur  dem  abstrakten  Vernunftgesetz  (Fichte!)  gegen- 
überstellt.2  Die  Gefahren  des  schrankenlosen  Individualismus  zeigten 
sich  bei  all  den  Naturen,  die  weniger  sittliche  Kraft  besaßen  als  Schleier- 
macher: an  den  Schicksalen  Fr.  Schlegels,  Schellings,  Carolinens  und 
Dorotheas.  Auch  Schleiermachers  Verhältnis  zu  Eleonore  Grunow  ge- 
hört z.  T.  in  diese  Verbindung  —  allerdings  zeigt  es  uns  gerade  wieder 
den  gewaltigen  Unterschied  dieser  ethisch  reinen  Natur  gegenüber  den 
Haltlosigkeiten   der   ihr  Nahestehenden. 

Eleonore  hatte  den  Prediger  Grunow  geheiratet,  trotzdem  er  sich 
schon  als  Bräutigam  herzlos  und  roh  gezeigt  hatte,  weil  sie  als  12jähriges 
Kind  ihm  ihr  Jawort  gegeben  hatte!  Ihre  feine  Seele  litt  unsäglich 
unter  der  Ehe,  und  Schleiermacher  wurde  von  einer  innigen,  teilnehmen- 
den Liebe  zu  ihr  ergriffen.  Eleonore  zeigt  sich  in  den  wenigen  Zeilen, 
die    uns    von   ihr   erhalten   sind   und    in   den   den   ihren    nachgebildeten 


^  Vgl.  auch  Schieies  Einleitung  zu  seiner  textkritischen  Neuausgabe  der 
Monologen.     Dürrs  Philosoph.  Bibliothek  84. 

'^  Vgl.  auch  Noth:  Schleiermachers  Monologen  (Neue  kirchliche  Zeitschrift 
XII,  1901)  und  E.  Fuchs:  Vom  Werden  dreier  Denker.     1904.     S.  296. 


LXII  Einleitung. 

Worten  der  Eleonore  in  den  Lucinde-Briefen  Schleiermachers  als 
eine  Frau  von  starkem  Intellekt,  von  strengem,  ethischen  Pflicht- 
gefühl und  einer  seltenen  Tiefe  der  Empfindung.  Unendliches  hat  diese 
Frau  für  Schleiermacher  bedeutet:  „Unter  allen  Seelen,  die  mich  angeregt 
und  zu  meiner  Entwicklung  beigetragen  haben,  ist  doch  niemand  mit 
Ihnen,  mit  Ihrem  Einfluß  auf  mein  Gemüt,  auf  die  reinere  Darstellung 
meines  Innern  zu  vergleichen"  (24.  Nov.  1802).  ^  Seinem  Ideal  von  der 
schrankenlosen  Pflicht  der  Individualität  sich  auszubilden  folgend,  fühlte 
Schleiermacher  sich  berechtigt,  die  Trennung  der  Grunowschen  Ehe  zu 
wünschen,  wenn  er  auch  lange  Zeit,  bis  zum  Sommer  1801,  nur  als 
Freund  Eleonore  nahe  trat.  Von  da  an  hat  er  immer  wieder  gehofft,  sie  zu 
gewinnen.  Mehrere  Male  schien  Eleonore  dicht  vor  der  Trennung  von 
ihrem  Manne  zu  stehen  —  der  Gedanke  an  ihre  durch  das  Ehegelöbnis 
übernommene  Pflicht  ließ  sie  immer  wieder  davor  zurückschrecken,  was 
Schleiermacher  und  seinem  Kreis  als  Schwachheit  erschien.  „Der 
Himmel  gebe  ihr  nur  mehr  Kraft  und  Entschlossenheit,  als  sie  bis 
jetzt  gehabt  hat,"  schreibt  Henriette  am  10.  März  1803;  aber  am 
31.  März  meldet  sie  Ehrenfried  v.  Willich,  daß  Leonore  bei  ihrem  Manne 
bliebe  und  Schleiermacher  unendlich  elend  sei.  ^  Am  16.  November  1805 
teilt  Schleiermacher  an  Gaß  den  endgültigen  Abbruch  des  Verhält- 
nisses mit. 

Diese  verschiedenen  Beziehungen  und  Kämpfe  bilden  das  Milieu 
für  Fr.  Schlegels  Unroman  „Lucinde"  und  für  Schleiermachers  Ver- 
teidigungsschrift „Vertraute  Briefe  über  die  Lucinde"  (1800),  die  be- 
zeichnenderweise später  von  Gutzkow  und  dann  in  unsern  Tagen  neu- 
gedruckt worden  sind.  In  diesen  erreicht  von  Schleiermachers  Seite 
die  Überspannung  des  individualistischen  Prinzips  ihre  Höhe  —  mit 
ihnen  hat  er  einen  großen  Tribut  an  die  romantische  Zeitströmung  gezahlt. 
Seine  Ideale  ließen  ihn  in  Schlegels  ethisch,  wie  künstlerisch  verfehltem 
Buche  noch  viel  zu  viel  Gutes  sehen,  so  daß  er  sich  zur  öffentlichen 
Verteidigung  hergab.  Genützt  haben  die  Briefe  dem  unglücklichen  Buche 
nichts  —  sie  haben  dem  allzu  hilfsbereiten  Verfasser  nur  geschadet. 
„Er  schrieb  die  Vertrauten  Briefe,  weil  er  die  sittlichen  Anschauungen 
liebte,  die  er,  vermöge  einer  optischen  Täuschung,  in  den  Roman  hinein- 
las"  (R.   Haym2,  529  f.). 

Ein  anderer  Plan  war  schon  vor  diesen  Abwegen  zwischen  den 
Freunden  gereift:  der  Plan  zu  einer  Übersetzung  des  ganzen  Piaton. 
Fr.    Schlegel    hat  ihn    179Q   angeregt,   offenbar   wohl   auch   um   äußerer 


*  Br.  1, 368.  2  Schleiermacher  und  seine  Lieben.    S.  49,  50. 


Einleitung.  LXIII 

Erfolge  willen,  die  ihm  aus  der  chronischen  Geldnot  helfen  sollten. 
Er  versicherte  sich  der  Hilfe  Schleiermachers,  wollte  aber  stets  die  erste 
Rolle  spielen,  ja,  seinen  Namen  allein  in  die  Ankündigung  setzen.  Schleier- 
macher dagegen  gewann  sofort  innerlichstes  Interesse  an  der  Sache, 
denn  Piaton  hatte  ihn  schon  aufs  tiefste  beeinflußt.  „Es  gibt  gar  keinen 
Schriftsteller,  der  so  auf  mich  gewirkt,  und  mich  in  das  Allerheiligste 
nicht  nur  der  Philosophie,  sondern  des  Menschen  überhaupt  so  ein- 
geweiht hätte,  als  dieser  göttliche  Mann"  (9.  Juni  1800).  ^  So  geht  er 
denn  mit  Feuereifer  an  die  Arbeit  und  sucht  von  der  Annahme  aus, 
daß  Piaton  seine  Philosophie  bereits  fertig  gehabt  hätte  2,  als  er  begann, 
sie  in  3  Abteilungen  von  Dialogen  zu  entwickeln,  eine  Gruppierung  der 
Schriften  und  Kriterien  ihrer  Echtheit  zu  finden  —  ein  Gesichtspunkt, 
für  den  ihm  auch  die  moderne  Forschung  verpflichtet  ist.  Fr.  Schlegel 
aber  versagte  vollkommen.  Er  lieferte  die  Einleitung  nicht,  er  brachte 
keine  Übersetzung  fertig  —  seine  guten  Einfälle  mußte  der  nie  ermüdende 
Freund  immer  erst  verwerten.  Frommann,  der  mit  Interesse  den  Verlag 
übernommen  hatte,  gab  ihn  schließlich  auf.  Schleiermacher  aber  faßte  den 
heroischen  Entschluß,  ganz  allein  das  Riesenwerk  zu  bewältigen.  Georg 
Reimer,  der  mit  ihm  seit  1802  eng  befreundet  war,  übernahm  den 
Verlag.  Die  poetische  und  historische  Seite  des  Unternehmens  hat  bei 
dieser  Ausscheidung  Schlegels  gewiß  gelitten  —  im  übrigen  kann  man 
nicht  genug  über  die  gewaltige  Leistung  staunen,  die  Schleiermacher 
in  so  bewegter  Zeit  und  neben  so  vielem  anderen  fertig  gebracht  hat! 

Persönliche  und  sachliche  Anfeindungen  setzten  1800  in  so  hohem 
Maße  ein,  daß  sich  der  Freundeskreis  aufzulösen  begann,  und  Schleier- 
macher schließlich  Mai  1802  aufs  tiefste  verstimmt  Berlin  verließ,  um 
eine    Pfarrstelle   in  Stolpe   (Pommern)   anzunehmen. 

Niedrigste  Satire  gegen  Schleiermacher  füllte  damals  Pamphlete  wie 
die  „Laterne  des  Diogenes",  „Gigantomachie"  usw.  Überall  —  auch 
in  der  Jenaer  Literatur-Zeitung  —  rührten  sich  die  Feinde.  Ihr  gegenüber 
sollte  eine  neue  Zeitschrift  gegründet  werden,  an  der  neben  den  Schlegels 
und  Schleiermacher  auch  Fichte  und  Schelling  teilnehmen  sollten.  Auch 
daraus  wurde  nichts.  Fichte  wollte  selbst  ein  Journal  herausgeben,  wo 
er  die  Hauptleitung  haben  konnte  und  alle  andern  sich  nach  ihm  hätten 
richten  müssen,  und  Schelling  zog  sich  auch  zurück.  Es  waren  zwischen 
ihm  und  den  Schlegels  um  Carolinens  Willen,  die  im  Juni  1803  Schlegels 
Frau    wurde,    manche   Mißhelligkeiten    vorgefallen.    Am    25.    März   1801 


1  Br.  IV,  72. 

^  Dieser  Gedanke  geht  auch  auf  eine  Anregung  Fr.  Schlegels  zurück  (Haym  863). 


LXIV  Einleitung. 

starb  Novalis  —  allmählich  löste  sich  der  geistige  Bund  immer  mehr. 
Zu  Fichte,  der  seit  dem  Atheismusstreit  1799  in  BerUn  weilte,  konnte 
Schleiermacher  überhaupt  kein  Verhältnis  gewinnen.  „Fichte  .  .  .  habe 
ich  freilich  kennen  gelernt:  er  hat  mich  aber  nicht  sehr  affiziert. 
Philosophie  und  Leben  sind  bei  ihm  .  .  .  ganz  getrennt,  seine  natür- 
liche Denkart  hat  nichts  Außerordentliches  .  .  ."  (4.  Jan.  1800 1). 
Auch  dasVerhältnis  zu  dem  Hof  prediger  Sack  hatte  sich  unerquicklich  gestaltet. 
Die  Beziehungen  zu  Eleonore  wurden  ebenfalls  immer  aufreibender  —  und 
so  kam  es,  daß  Schleiermacher,  um  seine  und  ihre  Ruhe  wiederherzu- 
stellen, Berlin  mit  dem  abgelegenen  kleinen  Orte  an  der  Pommerschen 
Küste  vertauschte.  Nach  einem  Besuch  bei  seiner  Schwester  zog 
er  sich  in  die  Einsamkeit  zurück  —  die  äußerlich  reichste  Zeit  seiner 
ersten   Lebensepoche   war  vorüber. 

Wissenschaftliche  Vertiefung. 

Abgeschnitten  von  geistiger  Geselligkeit  und  literarischen  Hilfsmitteln, 
verlebte  Schleiermacher  stille  Tage  in  dem  kleinen  Städtchen  an  der 
Stolpe,  17  Kilometer  von  der  Küste,  in  anspruchsloser,  hügeliger  Um- 
gebung. Seine  Stimmung  schwankte  zwischen  traurigen  Erinnerungen 
und  mutvollem  Vertrauen  auf  den  Wert  der  eigenen  Arbeiten,  auf  die 
er  sich  immer  mehr  zurückzog.  Neben  diesen  beschäftigt  ihn  der  Freun- 
desbriefwechsel am  meisten:  Fr.  Schlegels  Stelle  war  durch  Georg 
Reimer  und  den  jungen  Prediger  Ehrenfried  v.  Willich  reichlich  ausge- 
füllt worden.  Diesen  hatte  er  im  Mai  1801  durch  Vermittelung  von 
Henriette  in  Prenzlau  kennen  gelernt,  und  es  hatte  sich  ein  sehr  inniges 
Verhältnis  gebildet.  „Willich  ist  mir  sehr  wert;  er  hat  nicht  das 
Große,  nicht  den  tiefen,  alles  umfassenden  Geist  von  Fr.  Schlegel, 
aber  meinem  Herzen  ist  er  in  vieler  Hinsicht  näher"  (1.  Juli  1801  an 
Charlotte).  ^  Seitdem  begann  ein  reger  Briefwechsel,  der  zu  den  schönsten 
unserer  Briefliteratur  gehört;  er  erstreckte  sich  bald  auch  auf  die  Um- 
gebung des  jungen  Stralsunder  Regimentspredigers,  vor  allem  auf  dessen 
15jährige  Braut  Henriette  von  Mühlenfels  und  deren  Schwester,  Char- 
lotte V.   Käthen,  die  Jugendfreundin  E.   M.  Arndts.  3 

Für  die  Weiterentwicklung  Schleiermachers  in  diesem  Exil  ist  aber  vor 
allem  seine  Vertiefung  in  wissenschaftliche  Studien  wichtig,  denen  er  sich 
mit  derselben  leidenschaftlichen  Vehemenz,  wie  in  seiner  Jugend,  hingab. 


1  Br.  IV,  53-  2  I,  286. 

'  Vgl.  die  schöne  Auswahl  aus  den  Briefen  in  Rades  Ausgabe.    Jena  1906. 


Einleitung.  LXV 

Vor  allem  reifte  hier  sein  großes,  kritisches  Werk,  die  „Grundlinien 
einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre"  (1803).  Der  Plan 
geht  bis  auf  die  Rhapsodien  zurück,  die  er  Schiegel  vorgelesen,  seitdem 
hatte  er  ihn  nicht  aus  den  Augen  verloren.  Am  11.  Juni  1801  schrieb  er 
an  Willich,  er  w^olle  „künftiges  Jahr  eine  Kritik  aller  bisherigen  Moral" 
schreiben,  und  zwar,  um  auf  seine  eigene  systematische  Darstellung 
vorzubereiten.  Am  28.  August  1802  erwähnt  er  es  als  Programm  für  die 
fleißige  und  stille  Arbeit  des  Winters,  die  Kritik  der  Moral  zu  schreiben. 
Anfang  September  ist  dann  schon  der  Plan  zum  Ganzen  entworfen  und 
eine  systematische  Materialsammlung  begonnen.^  Das  Lesen  und  Exzer- 
pieren ist  ihm  eine  „herkulische  Arbeit",  so  manche  Stoßseufzer  darüber 
sendet  er  an  die  Freunde.  „Bin  ich  nicht  ein  recht  erbärmlicher  Mensch, 
daß  mir  dergleichen  jedesmal  so  entsetzlich  schwer  wird?  und  sollte 
ich  nicht  wie  angeschmiedet  sitzen,  sobald  etwas  angefangen  ist,  und 
nicht  eher  davon  gehen,  bis  es  fertig  ist?  aber  das  kann  ich  leider  auch 
nicht.  Also  kann  ich  ausgemachter  Weise  gar  nichts.  So  weit  wäre 
ich  nun  mit  mir  im  Reinen."  "  Der  Wechsel  zwischen  dem  Gewinnen 
seiner  sittlichen  Anschauungen  im  bewegten  persönlichen  Erlebnis  und 
der  so  trockenen  gelehrten  Durcharbeitung  der  Prinzipien  war  ein  zu 
plötzlicher  gewesen:  er  empfand  die  wissenschaftliche  Sezierung  des 
ihn  so  bewegenden  Ideals  fast  als  Entweihung.  „Wieviel  tote  Buchstaben 
über  den  heiligsten,  lebendigsten  Gegenstand."  ^  Es  war  eben  etwas 
ganz  anderes,  was  jetzt  hervortrat,  es  war  eine  Ernüchterung  nach  dem 
Jugendrausch  der  Berliner  Zeit  —  aber  es  war  ein  notwendiger  und 
heilsamer  Prozeß.  „Ach,  das  Schreiben  ist  ein  großes  Elend,  aber  gar 
ein  Buch  von  dieser  Art;  in  meinem  Leben  nicht  wieder!  Ich  glaube, 
ich  habe  diese  ganze  Zeit  über  nicht  einen  gescheuten  Gedanken  gehabt, 
lauter  kritische  Späne.  Der  einzige  Spaß  ist,  wenn  ich  mir  vorstelle, 
wie  Fichte  sich  ärgern,  mich  noch  tiefer  verachten  wird,  und  A.  W. 
Schlegel  die  Nase  rümpfen,  daß  es  nichts  weiter  ist,  als  das,  und 
daß  auch  gar  kein  Schellingianismus  darin  vorkommt,  und  die  alten 
Herren  sich  wundern,  wie  ich  ein  so  nüchterner  und  gründlicher  Kritiker 
geworden  und  abwarten,  ob  ich  eine  solche  Verwandlung  überleben 
werde.  Indes  sollen  sie  bald  wieder  sehen,  daß  ich  noch  der  alte 
Mystiker  bin."*  Am  2.  August  1803  will  er  „den  Beschluß  der  Kritik  zu 
Ende  schreiben",  ^  mit  Methode,  Komposition  und  Stil  ist  er  zufrieden, 
nur  erscheint  ihm  selbst  manches  nicht  klar  genug.  Später  hat  er 
selbst   dies    Buch   als   einen   ostindischen    Kaktuswald   bezeichnet,   durch 


1  Br.  I,  345.  '2  I,  364.  ^  I,  372.  *  I,  380f.  &  I,  389. 

Schleiermacher,  Werke.     I.  V 


LXVI  Einleitung. 

den  man  nur  schwer  hindurchkommen  kann  —  und  so  ganz  Unrecht 
hat  er  nicht  damit.  Durch  die  drückenden  Verhältnisse  ist  der  Schreib- 
weise Schleiermachers  damals  jeder  Schwung  genommen,  das  Bemühen, 
alles  Material  in  möglichster  Kürze  hineinzuarbeiten,  hat  die  Ausfüh- 
rungen oft  zu  Andeutungen  zusammenschrumpfen  lassen.  Um  das  Buch 
genießen  und  beurteilen  zu  können,  muß  man  —  streng  genommen  — 
die  ethischen  Schriftsteller  noch  besser  kennen,  als  Schleiermacher! 
Daher  hat  denn  dies  so  bedeutende  Werk  stets  wenig  Leser  gefunden, 
es  hatte  keine  nennenswerte  Wirkung  bei  seinem  Erscheinen.  Fichte  — 
las  es  nicht  (1,  404),  die  Schlegels  konnten  ihrer  ganzen  Art  nach  kein 
Verhältnis  dazu  gewinnen,  den  anderen  Lesern  wird  es  so  ergangen  sein, 
wie  Spalding  es  von  sich  Schleiermacher  schildert:  „Ich  komme  von 
Ihren  Grundlinien  wie  von  einer  Algebra,  mit  dem  wehmütigen  Seufzer 
Gellerts  gegen  Kästner:  ,Und  das  verstehen  Sie  nun  so  alles?*  Durch- 
gelesen habe  ich  sie  in  ununterbrochener  Lesung.  Aber  wie?  Wie 
ein  schaufelnder  Maulwurf.  Nichts,  durchaus  nichts  habe  ich  verstanden 
im  Zusammenhang  .  .  ."  ^  Die  allgemeine  Anschauung  war,  daß  Schleier- 
macher Kant  und  Fichte  zu  schlecht  behandelt  habe:  „Ich  begreife  nicht 
recht,  wie  dies  zugeht,  da  ich  mir  gar  keiner  andern  Absicht  bewußt  bin, 
als  der,  ihre  Fehler  aufzudecken.  In  dem  ursprünglichen  Entwurf  der 
Kritik,  der  mehr  auf  den  Witz  angelegt  war,  wäre  es  ganz  anders  ge- 
kommen." 2 

Im  Laufe  von  knapp  11  Monaten  hatte  Schleiermacher  wieder  eine 
enorme  Arbeit  bewältigt.  Und  dabei  hatte  er  einen  vollen  Beruf  mit 
Predigen,  Unterricht  usw.  zu  versehen!  Das  Predigen  wurde  ihm  wieder 
recht  lieb  jetzt;  er  bezeichnet  es  als  „das  einzige  Mittel  von  persönlicher 
Wirkung  auf  den  gemeinschaftlichen  Sinn  der  Menschen  in  Masse".  ^  Dg. 
bei  schwebte  es  ihm  als  höchstes  Ziel  vor,  Prediger  und  akademischer 
Lehrer  zugleich  zu  sein.  So  bewarb  er  sich  schon  im  Herbst  1802  auf 
Betreiben  der  Dohnas  um  eine  Predigerstelle  an  der  Burgkirche  in  Königs- 
berg Pr.,  predigte  am  24.  und  31.  Oktober  dort,  wurde  aber  nicht  ge- 
wählt.* Die  Predigten  dieser  Zeit  zeigen  eine  moralisch-praktische  Auf- 
fassung der  Religion,  die  noch  ohne  rechten  Ausgleich  mit  dem  Mystizis- 
mus   der    Reden   ist. 

Auch  mit  der  Reform  des  Kirchenwesens  hat  sich  Schleiermacher  in 
Stolp  beschäftigt;  gleich  nach  Vollendung  der"  Kritik  schrieb  er:    „Zwei 


^  Br.   III,  367.  '^  III,  370.  »  I,  355- 

*  Vgl.  Bauer,  Schleiermacliers  Bewerbung  um  eine  Predigerstelle  in  Königs- 
berg.    Altpreußische  Monatsschrift  46,  3. 


Einleitung.  LXVII 

unvorgreifliche  Gutachten  in  Sachen  des  protestantischen  Kirchenwesens 
zunächst  in  Beziehung  auf  den  preußischen  Staat."  (S.  W.  I,  5.)  Schleier- 
macher vertritt  hier,  kühn  und  offen,  die  Überzeugung,  daß  die  Verschie- 
denheiten der  reformierten  und  lutherischen  Kirche  so  gering  wären, 
daß  bei  einer  Verschmelzung  keine  etwas  verlieren  würde.  Es  sollte 
daher  unbedingte  Abendmahlsgemeinschaft  stattfinden,  so  daß  für  den 
Staat  nur  eine  evangelische  Kirche  existiere.  In  einem  zweiten  Teil 
bespricht  er  die  Mittel,  um  dem  Verfall  der  Religion  vorzubeugen.  Da 
schlägt  er  innerlich  bewegte  Religionsübungen  vor,  deren  Muster  er  den 
Herrnhuterischen  Gemeinden  entlehnt.  Wichtiger  aber  ist  seine  scharfe 
und  rücksichtslose  Kritik  des  Predigerstandes:  er  findet  in  ihm  geradezu 
sittliche  Verkommenheit  und  zum  mindesten  Gleichgültigkeit  der  Religion 
gegenüber. 

Von  innerlichem  Reichtum  war  die  Zeit  in  Stolp  erfüllt  —  und  doch 
ist  es  so  verständlich,  daß  Schleiermacher  sich  fortsehnte.  Klima  und 
ungesunde  Amtswohnung  griffen  seine  an  sich  schon  zarte  Gesundheit  an: 
ein  Magenleiden  hat  ihn  oft  gequält.  Daher  erschien  es  ihm  eigentlich  als 
Erlösung,  daß  er  1804  auf  Betreiben  von  Paulus  einen  Ruf  als  Professor 
der  Theologie  nach  Würzburg  erhielt.  Aber  Schleiermacher  hatte  — 
nicht  mit  Unrecht  —  einige  Bedenken  gegen  diese  Universität  und  hatte 
ein  Grauen  vor  der  persönlichen  Ranküne  der  Kollegen.  Schließlich 
nahm  er  doch  an  und  erbat  seine  Entlassung.  Da  aber  zeigte  sich,  daß 
man  an  oberster  Stelle  Schleiermacher  schätzen  gelernt  hatte:  als  schon 
der  förmliche  Ruf  nach  Würzburg  eingetroffen  war,  verweigerte  Friedrich 
Wilhelm  III.  die  Entlassung  und  ließ  ihm  dann  die  Stelle  eines  außer- 
ordentlichen Professors  und  Universitätspredigers  mit  800  Talern  Gehalt 
in  Halle  anbieten,  mit  ausdrücklichem  Hinweis  darauf,  daß  durch  diese 
Berufung  die  Unionsbestrebungen  gefördert  würden,  i  Freudig  bewegt 
über  die  Anerkennung  sagte  Schleiermacher  zu;  im  Oktober  1804  trat 
er  sein  Amt  in  der  Stadt  seiner  Studienzeit  an. 

Halle. 
In  Halle  herrschte  noch  immer  der  Rationalismus;  kein  Wunder, 
daß  man  den  Genossen  der  Romantiker  mit  einer  gewissen  Reserve 
aufnahm,  zumal  er  reformiert  war.  Vor  allem  Eberhardt  entsetzte  sich 
über  seine  Berufung.  Schleiermacher  tröstete  sich  mit  der  ihm  eröffneten 
Aussicht  auf  eine  spätere  Stelle  in  Berlin,  wenn  dieses  ihm  auch  bei  der 


^  Vgl.    den  Brief  Friedrich  Wilhelms  III.    an    den    Minister  v.  Massow  bei 
W.  Schrader:  Geschichte  der  Universität  Halle,  Berlin  1894.     II,  529. 

V* 


LXVm  Einleitung. 

Durchreise  nach  Halle  durch  das  Schwinden  alter  Freunde  nicht  sehr 
anziehend  erschienen  war.  In  Halle  suchte  er  sich  nach  Möglichkeit 
gemütlich  einzurichten;  da  die  meisten  Hörer  aber  kein  Kollegiengeld 
zahlten,  reichte  das  Gehalt  nicht  weit.  Seine  einsame  Häuslichkeit  wurde 
freundlicher,  seit  Nanny,  seine  Halbschwester  aus  der  zweiten  Ehe 
des  Vaters,  ihm  die  Wirtschaft  führte.  Sie  ist  bei  ihm  geblieben,  bis 
sie  1817  die  Gattin  E.  M.  Arndts  wurde. 

Mit  dem  Predigen  wurde  es  zunächst  in  Halle  nicht  viel,  da  end- 
lose Verhandlungen  über  Zeit  und  Ort  der  Predigten  die  Sache  ver- 
zögerten. Desto  mehr  nahmen  ihn  die  akademischen  Vorlesungen  in 
Anspruch,  die  sich  vor  allem  mit  philosophischer  Sittenlehre  und  mit 
Exegese  beschäftigten.  Dabei  schlug  er  ein  Verfahren  ein,  das  er  stets 
beibehalten  hat:  er  notierte  nur  die  Hauptsätze  für  den  Vortrag  und 
sprach  sonst  ganz  frei.  Infolge  dieser  Methode  kamen  ihm  oft  neue 
Einfälle  auf  dem  Katheder,  so  daß  er  selbst  lernte  während  des  Lehrens. 
Das  wirkte  natürlich  belebend,  wenn  auch  manchmal  Übersichtlichkeit  und 
Vollständigkeit  darunter  litten.  Für  die  Ethik  versprach  er  sich  großen 
Nutzen  von  seiner  Methode.  „Von  meiner  Professur  ist  wohl  das  beste, 
was  ich  davon  zu  sagen  weiß,  daß  ich  gewiß  viel  dabei  lernen  kann,  und 
daß  nun  wohl  in  ein  paar  Jahren  meine  Ethik  zustande  kommen  wird, 
mit  der  es  sonst  noch  weit  länger  gedauert  hätte."  (15.  Dez.  1804.)  ^ 
An  Reimer,  der  am  liebsten  gleich  etwas  gedruckt  hätte,  schreibt  er  dann, 
er  wolle  mindestens  dreimal  erst  über  Ethik  lesen,  ehe  etwas  zum  Drucke 
kommen  könnte.  Leider  ist  nie  etwas  erschienen  —  das  „Brouillon 
von  1805"  haben  wir  noch  (vgl.  Bd.  II),  ebenso  wie  die  späteren  Auf- 
zeichnungen.    Aber   nichts  ist  vollendet. 

Neben  dem  Fortgang  der  Platon-Übersetzung  und  den  mit  Eifer 
betriebenen  theologischen  Kollegien  blieb  ihm  —  wie  stets  —  Zeit  zu 
einer  reichen  Freundeskorrespondenz.  Im  September  1804  hatte  Willich 
sich  mit  Henriette  v.  Mühlenfels  verheiratet,  nachdem  im  Juni  Schleier» 
macher  und  Henriette  Herz  das  Brautpaar  auf  Götemitz  in  Rügen,  dem 
Landbesitz  Charlotte  von  Kathens,  gesehen  und  eine  schöne  Zeit  mit 
ihm  verlebt  hatten.  ^  Jetzt  schreibt  er  an  das  Freundespaar:  „Glaubt 
nur,  lieben  Menschen,  ich  schwärme  ordentlich  über  Euch,  ich 
liebe  Eure  Ehe  gleichsam  noch  außer  Euch  selbst,  wie  ein 
eignes     Wesen ,     leidenschaftlich     möcht     ich     sagen,     aber     zart     und 


1  Br.   IV,  109. 

2  Brief  Henriettens  vom  16.  Juli  1804  an  Willich  („Schleiermacherund  seine 
Lieben",  73 fj  und  Br.  II,  33- 


Einleitung.  LXIX 

heilig  .  .  ."  (17.  Okt.  1804.)  In  diesen  Briefen  entwickelt  er  seine  Ge- 
danken über  die  Ehe,  nach  der  er  selbst  sich,  wie  er  oft  aussprach, 
so  herzlich  sehnte.  „So  denke  ich  mir  auch  jede  Familie  als  ein 
niedliches,  trauliches  Kabinett  in  dem  großen  Palast  Gottes,  als  ein 
liebes,  sinniges  Ruheplätzchen  in  seinem  Garten,  von  wo  aus  man 
das  Ganze  übersehen,  aber  doch  auch  sich  recht  vertiefen  kann  in  das  Enge, 
Beschränkte,  Trauliche."  (30.  Okt=  1804.;  Henriette  sah  zu  Schleiermacher, 
wie  zu  einem  Vater,  mit  tiefster  Verehrung  auf  und  beide  Gatten  wetteiferten 
im  Oktober  1805  miteinander,  den  durch  Eleonorens  Wankelmut  aufs 
schwerste  gebeugten  Freund  mit  Trostworten  aufzurichten.  Innig  nimmt 
Schleiermacher  an  den  Mutterfreuden  seiner  „Tochter"  teil  —  und  mit  hei- 
liger Wehmut  sucht  er  Henriette  über  den  so  unerwartet  frühen  Tod  ihres 
Gatten  im  März  1807  zu  trösten,  indem  er  sie  auf  die  Ewigkeit  des 
Geistes  hinweist. 

Zu  den  alten  Freunden  gewann  Schleiermacher  neue.  Vor  allem 
trat  ihm  der  Norweger  Steffens  nahe,  der  als  Schüler  Schellings  in 
origineller  und  mehr  auf  die  Erfahrung  basierender  Arbeit  die  idealistische 
Naturphilosophie  fortzubilden  suchte.  Die  Ähnlichkeit  des  ethischen  Cha- 
rakters hat  die  beiden  Männer  einander  nahe  gebracht.  „Dieser  so 
unerschöpflich  tiefe  Geist,  der  zugleich  so  ein  liebenswürdiges,  durch 
alles  Gute  bewegliches  kindliches  Wesen  hat,  macht  mir  fast  jedesmal,  wenn 
ich  einige  Stunden  mit  ihm  zubringe,  neue  Freude  auch  dadurch,  daß, 
wo  mir  Natur  und  Geschichte  in  ihren  Endpunkten  sich  berühren, 
wir  immer  in  unsern  Ansichten  zusammentreffen."  ^  „Es  ist  auch  zwischen 
Steffens  und  mir  eine  wunderbare  Harmonie,  die  mir  große  Freude 
macht  und  mir  gleichsam  eine  neue  Bürgschaft  gibt  für  mich  selbst. 
Wenn  er  im  Gespräch  sittliche  Ideen  äußert,  so  sind  es  immer  die 
meinigen,  und  was  ich  von  der  Natur  verstehe  und  von  mir  gebe, 
fällt  immer  in  sein  System."-  Steffens  konnte  Schleiermacher  für  seine 
Ethik  mehr  geben  als  Schelling.  Mit  diesem  hatte  Schleiermacher  sich 
öffentlich  in  seiner  Rezension  von  Schellings  „Vorlesungen  über  die 
Methode  des  akademischen  Studiums"  vom  April  1804  wissenschaftlich 
auseinandergesetzt.  In  diesem  Werke  Schellings  hatte  er  in  dem  Aufbau 
der  Wissenschaften  die  Anknüpfung  für  seine  Ethik  gefunden,  die  er 
selbst  seit  1802  bereits  besaß.  Seit  1804  hatte  er  sich  dann  auch  Schellings 
Identitätslehrc  angeeignet,  die  ebenfalls  nur  das  systematisierte,  was 
er  selbst  von  früh  an  geahnt.  ^  Steffens  Fortbildung  der  Schellingschen 
Ideen    war    ihm    aber    von    noch    größerer    Wichtigkeit,    denn    Steffens 


Br.  II,  17.  •''  II,  19.  "  Vgl.  Süßkind  a.  a.  O. 


LXX  Einleitung. 

führte  wirklich  den  Übergang  von  der  Naturentwicklung  zum  Menschen 
und  damit  zur  Ethik  aus,  den  Schelling  nur  postuliert  hatte. 

Durch  die  Freundschaft  mit  Steffens  fühlte  sich  Schleicrmacher  immer 
wohler  in  Halle.  „Wir  schlössen  uns  ganz  und  unbedingt  aneinander, 
und  ich  habe  es  nie  auf  eine  entschiedenere  Weise  erfahren,  daß  eine 
unbedingte  Hingebung  die  Selbständigkeit  fördert,  nicht  unterdrückt." 
(Steffens.)  ^  Immer  fester  zog  auch  die  akademische  Tätigkeit  Schleier- 
macher an  sich.  Im  Wintersemester  1805/06  las  er  zum  zweiten  Male  die 
Ethik  vor  50  Hörern  und  über  den  Galaterbrief  vor  120.  Mitten  in  dieser 
bewegten  Zeit  entstand  „durch  Inspiration"  ein  kleines  Buch,  „Die  Weih- 
nachtsfeier, ein  Gespräch".  „Ganz  wunderbar  kam  mir  der  Gedanke 
plötzlich  des  abends  am  Ofen,  da  wir  eben  aus  Dulons  Flötenkonzert 
kamen."  2  In  2 — 3  Wochen  wurde  der  Plan  ausgeführt,  am  Morgen  des 
24.  Dezember  wanderte  der  Schluß  der  kleinen  Schrift  in  die  Druckerei. 
Dieser  Dialog  ist  das  einzige  rein  poetische  Werk,  das  Schleiermacher  er- 
scheinen ließ;  die  Beschäftigung  mit  Piaton  legte  ihm  die  Form  nahe, 
für  den  Inhalt  sind  Anregungen  von  außen  nicht  festzustellen.  3  Ästhetisch 
enthält  die  Arbeit  viel  Gelungenes  —  nur  Sofie  ist  als  Kind  verzeichnet. 
Im  übrigen  ist  die  lebendige  Schilderung  des  Beschenkens  und  der 
Freude  darüber,  sowie  der  allmähliche  Übergang  zu  den  religionsphilo- 
sophischen Reden  mit  feinem  Geschmack  gestaltet.  Die  einzelnen  Redner 
vertreten  sämtlich  Elemente,  die  damals  für  Schleiermachers  Theologie 
von  Wichtigkeit  waren.  Daß  Schleiermacher  mit  dem  Ganzen  für  die 
Toleranz  eintrat,  ist  unverkennbar.  Die  Freunde  begrüßten  das  Buch 
mit  freudiger  Zustimmung,  Schelling  aber  schrieb  eine  ziemlich  ablehnende 
Kritik  in  der  Literatur-Zeitung,  in  der  er  vor  allem  den  geistigen  Aristo- 
kratismus   der    Weihnachtsgesellschaft    angriff. 

Im  Winter  1805  trat  eine  Aufforderung,  als  Prediger  nach  Bremen 
zu  gehen,  an  ihn  heran,  der  zu  folgen  er  nicht  ganz  abgeneigt 
war.  Jedenfalls  erreichte  er  durch  Hinweis  auf  diesen  Ruf  in  Berlin, 
daß  er  Stimme  in  der  Fakultät  bekam  und  daß  die  für  ihn  bestimmte 
Kirche  von  den  dort  lagernden  —  Kornvorräten  befreit  wurde.  Frühjahr 
1806  hatte  er  die  Freude,  neue  Auflagen  von  den  „Reden"  und  Predigten 
herstellen  zu  können.  Pfingsten  unternahm  er  mit  Steffens  und  einigen 
Studenten  eine  Fußtour  in  den  Harz;  neu  erquickt  las  er  dann  zum  ersten 


1  H.  Steffens:  Was  ich  erlebte.     V,  143. 

2  Br.   IV,  122. 

'  Vgl.  die  Einleitung  zur  kritischen  Ausgabe  von  Mulert.     Philosoph.  Biblio- 
thek 117- 


Einleitung.  LXXI 

Male  sein  Kolleg  über  christliche  Sittenlehre.  Für  das  Vorwort  der 
Reden  schrieb  er  damals  die  Herausforderung  an  Napoleon:  „Ich  möchte 
herausfordern  den  Mächtigsten  der  Erde,  ob  er  dieses  nicht  auch  etwa 
durchsetzen  wolle  [nämlich  die  Ausgleichung  von  Katholizismus  und 
Protestantismus]  .  .  .;  aber  ich  weissage  ihm,  es  wird  ihm  mißlingen, 
und  er  wird  mit  Schanden  bestehen.  Denn  Deutschland  istimmer 
noch    da,    und   seine    unsichtbare    Kraft    ist    ungeschwächt."    — 

Die  friedlichen  Zeiten  gingen  schnell  zu  Ende.  „Glauben  Sie  mir, 
es  steht  bevor,  früher  oder  später,  ein  allgemeiner  Kampf,  dessen  Gegen- 
stand unsre  Gesinnung,  unsre  Religion,  unsre  Geistesbildung  nicht  weniger 
sein  werden,  als  unsre  äußere  Freiheit  und  äußeren  Güter,  ein  Kampf, 
der  gekämpft  werden  muß,  den  die  Könige  mit  ihren  gedungenen  ^leeren 
nicht  kämpfen  können,  sondern  die  Völker  mit  ihren  Königen  gemeinsam 
kämpfen  werden,  der  Volk  und  Fürsten  auf  eine  schönere  Weise,  als 
es  seit  Jahrhunderten  der  Fall  gewesen  ist,  vereinigen  wird,  und  an 
den  sich  Jeder,  Jeder,  wie  es  die  gemeine  Sache  erfordert,  anschließen 
muß."  (20.  Juni  1806.)  Jetzt  trat  neben  Wissenschaft  und  Freundschaft 
die  Vaterlandsidee  als  Lebensmacht  an  Schleiermacher  heran.  Und  gerade 
jetzt  konnte  er  seinen  akademischen  Gottesdienst  beginnen  —  am 
3.  August  1806  sprach  er  vor  700  Studenten  über  Römer  1,  16.  „Die 
Kirche  war  gepreßt  voll,  und  eine  angemessene  Stille  ehrte  den  Redner." 
(Varnhagen  v.  Ense,  Denkwürdigkeiten  I,  383.)  Der  Staat  ist  auf  die 
Macht  religiöser  Gesinnung  gegründet  —  so  verkündete  Schleiermacher 
von  der  Kanzel  herab  „voll  Kraft  und  Salbung."  i  Noch  viermal  predigte 
Schleiermacher  vor  den  Studenten  —  dann  brach  der  Krieg  aus.  Am 
24.  August  sprach  er  gegen  den  Weltbürgersinn  und  stellte  den  Staat 
als  den  höchsten  Gipfel  menschlicher  Tätigkeit  dar.  Dabei  zeigte  er 
volles  Verständnis  für  Volksindividualität  und  Nationalstaat.  „Das  Beste, 
was  jeder  verrichtet,  wird  immer  das  sein,  dem  dieser  gemeinsame  Sinn 
aufgedrückt,  was  im  eigentümlichsten  Geiste  seines  Volkes  gedacht  und 
getan  ist."^  So  sehen  wir  hier  bei  Schleiermacher,  wie  der  deutsche 
Nationalgedanke  aus  der  Sphäre  des  Individualismus  herausgewachsen 
ist,  und  können  von  dieser  Seite  die  Anschauung  F.  Meineckes  bestä- 
tigen, die  er  in  „Weltbürgertum  und  Nationalstaat"  ausspricht:  „Es  ist 
kein  Zufall,  daß  der  Ära  des  modernen  Nationalgedankens  eine  Ära 
individualistischer  Freiheitsregungen  unmittelbar  vorhergeht.    Die  Nation 


*  Vgl.   Joh.    Bauer,    Schleiermacher   als   patriotischer    Prediger.     Gießen 
f908.     S.  18. 

-  Predigten  I,  2.  Sammlung,  Nr.  3-     Schleiermacher,  Werke  II,  1,  226. 


LXXII  Einleitung. 

trank  gleichsam  das  Blut  der  freien  Persönlichkeiten,  um  sich  selbst 
zur  Persönlichkeit  zu  erheben."  (S.  8).  Erst  mußte  das  Individuum  selbst 
befreit  werden,  um  dann  die  Wirklichkeit  gestalten  zu  können,  i  Kosmo- 
politismus und  Nationalgedanke  haben  lange  miteinander  gerungen,  auch 
in  dem  Denken  derselben  Persönlichkeiten.  W.  v.  Humboldt  mit  seinen 
„Ideen  zu  einem  Versuch,  die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staates 
zu  bestimmen"  (1792)  und  Fichte  mit  den  „Beiträgen  zur  Berichti- 
gung der  Urteile  des  Publikums  über  die  französische  Revolution"  (1793) 
zeigen  schon  reales  politisches  Interesse;  aber  erst  Arndt  in  „Ger- 
manien und  Europa"  (1802)  fordert  —  genau  wie  Schleiermacher:  „Nur 
wenn  wir  ein  Vaterland,  wenn  wir  die  hochmenschlichen  und  hochpoli- 
tischen Ideen  eines  eigenen,  einigen,  kräftigen  Volkes  hätten,  würden 
wir  stehende  Sitten,  festen  Charakter  und  Kunstgestalt  gewinnen,  dann 
nur  könnte  das  Höchste  und  Herrlichste  der  Menschheit  aus  solchen 
irdischen  Wurzeln  zu  schimmernden  Sonnenwipfeln  erwachsen."  Unsere 
Frühromantiker  Novalis,  Fr.  Schlegel,  Schleiermacher,  sind  die  Vor- 
kämpfer einer  idealen  Staatsauffassung  gewesen.  - 

Anfang  Oktober  sprach  Schleiermacher  zum  letzten  Male  vor  den 
Studenten,  und  zwar  über  den  Krieg.  Am  16.  Oktober  schon  drangen 
Franzosen  in  Halle  ein.  Steffens  mit  Frau  und  Kind  und  Freund  Gaß 
fanden  in  der  geschützter  liegenden  Wohnung  von  Schleiermacher  Auf- 
nahme. Plünderung  und  Einquartierung  setzte  den  Freunden  arg 
zu,  ohne  daß  Schleiermacher  den  Mut  verloren  hätte.  Viel 
schwerer  traf  es  ihn,  daß  Napoleon,  gereizt  durch  leichtsinnige 
Herausforderungen  der  Studenten,  die  Universität  Halle  am  20.  Ok- 
tober aufhob.  Ohne  seinen  Wirkungskreis  hätte  das  Leben  seinen 
Wert  für  ihn  verloren,  schrieb  er  an  Charlotte  v.  Käthen.  Trotzdem 
nahm  er  einen  erneuten  Ruf  nach  Bremen  nicht  an,  es  erschien  ihm 
„treulos  gegen  seinen  inneren  Beruf",  jetzt  Preußen  zu  verlassen.  „Mehr 
als  je  scheint  mir  jetzt  der  Einfluß  höchst  wichtig,  den  ein  akademischer 
Lehrer  auf  die  Gesinnung  der  Jugend  haben  kann"  (1.  Dez.  1806  an 
E.  v.  Willich).  So  hielt  er  aus,  wenn  auch  die  äußeren  Verhältnisse 
immer  drückender  wurden.  Er  lebte  mit  Nanny  bei  Steffens,  hatte 
Licht  und  Feuerung  gemeinsam  mit  den  Freunden  und  teilte  mit  Steffens 
das  Arbeitszimmer.  Trotzdem  arbeitete  er  weiter  am  Piaton,  an  einer 
neuen  Predigtsammlung  und  an  Untersuchungen  über  den  ersten  Timo- 


1  F.  Meinecke,  Zeitalter  der  deutschen  Erhebung.     1906.     S.  28. 

2  Vgl.  E.  Spranger,  Philosophie  und  Pädagogik  der  preußischen  Reformzeit 
(Historische  Zeitschrift  III,  8,  2,  S.  278 ff.). 


Einleitung.  LXXIII 

theus;  dazu  kamen  noch  etwa  9  Predigten,  die  er  bis  Ostern  1807  hielt. 
Dabei  suchte  er  den  Glauben  an  Deutschland  seinen  Hörern  immer 
wieder  einzuprägen.  Er  fürchtete  nichts  so  sehr,  als  einen  „faulen 
Frieden".  Er  hoffte  auf  eine  allgemeine  Erhebung  der  protestantischen 
Völker  gegen  Napoleon.  Bei  dieser  Hoffnung  auf  die  positive  Kraft 
des  Protestantismus,  die  ihn  von  jeder  Romantik  entfernt  zeigt,  mußte 
es  ihm  geradezu  als  Verrat  des  Vaterlandes  erscheinen,  daß  Fichte  in 
seinen  „Grundzügen  des  gegenwärtigen  Zeitalters*'  Christentum  und 
Reformation  wegwerfend  behandelte;  er  sprach  seine  Entrüstung  darüber 
in   einer   sehr   scharfen   Rezension  der   Literatur-Zeitung   1807  aus. 

Da  in  Halle  an  keine  erneute  Wirksamkeit  im  patriotischen  Sinne 
zu  denken  war,  entschloß  Schleiermacher  sich  im  Mai  1807,  nach  Berlin 
überzusiedeln;  er  las  dort  im  Sommer  Privatvorlesungen  über  Geschichte 
der  Philosophie.  Am  7.  Juli  1807  wurde  Halle  zum  Königreich  West- 
falen geschlagen,  darauf  erging  am  4.  September  eine  Kabinettsordre 
des  Königs  aus  Memel,  die  den  seit  Jahren  gehegten  Plan,  eine  Universität 
in  Berlin  zu  errichten,  realisierte.  Eine  Professur  wurde  Schleiermacher 
durch  Nolte  in  Beymes  Auftrag  angeboten;  er  sagte  natürlich  zu.  So 
war  er  wieder  nach  Berlin  zurückgekehrt,  aber  unter  wie  anderen  Um- 
ständen, als  er  ersehnt! 

Bis  zu  den  Freiheitskriegen. 

Am  7.  Dezember  1807  siedelte  Schleiermacher  endgültig  in  die  Stadt 
über,  deren  Geistesleben  er  neben  Hegel  am  tiefsten  beeinflussen  sollte. 
Er  lebte  als  Privatgelehrter,  unterstützt  von  dem  getreuen  Reimer,  und 
tat  das  Seine,  die  neue  Pflanzstätte  deutschen  Wissens  und  deutscher 
Gesinnung  zu  schaffen.  Fachkollegen  und  Berufskollegen  feindeten  ihn 
nach  wie  vor  an  —  aber  der  Kreis  der  preußischen  Reformer  wußte  sein 
Genie  zu  schätzen. 

Von  allen  Seiten  arbeitete  man  mit  Denkschriften  daran,  etwas  Neues 
entstehen  zu  lassen;  und  während  Fichte  seine  „Reden  an  die  deutsche 
Nation"  hielt,  in  denen  sich  Kosmopolitismus  und  Nationalidee  seltsam 
verquicken,  arbeitete  Schleiermacher  an  „Gelegentlichen  Gedanken  über 
Universitäten  in  deutschem  Sinne,  nebst  einem  Anhang,  über  eine  neu 
zu  errichtende".  ^  Diese  Schrift  zeigt  Schleiermachers  eigentümliche  Be- 
gabung, hohe  Ideen  ohne  utopistische  Übertreibungen  der  Wirklichkeit 
dienstbar  zu  machen.    Was  er  von  dem  historischen  Werden  der  Fakul- 


^  Vgl.  die  Neuausgabe  und   Einleitung  von   Spranger  in   Dürrs  Philosoph. 
Bibliothek  120. 


LXXIV  Einleitung. 

täten  usw.  sagt,  ist  nicht  immer  richtig;  seine  Reformvorschläge  zeigen 
aber  oft  praktischen  BHck.  So  wählte  ihn  denn  auch  W.  v.  Humboldt 
1810   in   die  engere   Kommission  zur   Einrichtung   der  Universität. 

Ein  idealistischer  Grundgedanke  —  dem  Schellings  in  seinen  „Vor- 
lesungen über  die  Methode  des  akademischen  Studiums"  verwandt  — 
trägt  die  Einzelausführungen  der  Schrift  Schleiermachers:  die  Wissen- 
schaften bilden  eine  Einheit  höchster  Erkenntnis,  davon  muß  jeder 
Studierende  einen  lebendigen  Begriff  bekommen  und  diese  Ideen 
der  universitas  litterarum  und  des  reinen  Erkennens  sollen  zum 
leitenden  Prinzip  werden.  Dabei  nimmt  die  Beschäftigung  mit  Philo- 
sophie eine  hohe  Stufe  ein:  sie  muß  jedem  einen  Ausblick  auf  Natur 
und  Geschichte  geben,  nicht  soll  sie  sich  —  wie  Fichtes  Transzentalphilo- 
sophie —  in  leere  Spekulation  jenseits  des  Lebens  verlieren.  Wahres 
Erkenntnisstreben  erzeugt  von  selbst  edles  Tun:  so  darf  die  akademische 
Freiheit  nie  beschränkt  werden,  wenn  man  nicht  uns  Deutschen,  uns 
„geschworenen  Verehrern  der  Freiheit",  das  Beste  nehmen  will.  Von 
der  eigentümlichen  Selbstentscheidung  jedes  einzelnen  erhoffte  Schleier- 
macher die  nationale  Wiedergeburt.  Darum  verbarg  er  nicht  seine  Be- 
denken gegen  Berlin  als  Stätte  der  neuen  Universität!  Unabhängigkeit 
vor  allem  von  selten  des  Staates  mußte  ihr  gewahrt  bleiben.  Die  Idee 
einer  deutschen  Universität  entwickelt  Schleiermacher  im  deut- 
lich fühlbarem.  Gegensatz  zu  den  in  Frankreich  durch  Napoleon  geschaf- 
fenen Spezialschulen.!  Freiheit  soll  den  Forschenden  und  den  Lernenden 
gewahrt  sein,  sonst  wird  der  wahre  Zweck  verfehlt.  2  Im  Jubiläumsjahre 
der  Berliner  Universität  liegt  es  besonders  nahe,  auf  diese  idealen  For- 
derungen wieder  energisch  hinzuweisen.  Im  einzelnen  ist  in  Schleier- 
machers Schrift  manches  Verkehrte  und  Einseitige  —  er  kannte  ja  den 
Universitätsbetrieb  noch  kaum.  Er  polemisiert  gegen  Fichte,  mit  W. 
v.  Humboldt  ist  er  aber  im  Grundgedanken  einig.  So  hat  seine  Arbeit 
die    vielen    Eintagsfliegen,   die   damals   herumflatterten,    überlebt. 

In  seinen  Predigten  wirkte  Schleiermacher  energisch  im  patriotischen 
Sinne  weiter.  Am  24.  Januar  1808,  dem  Geburtstage  Friedrichs  des 
Großen,  als  Fichte  seine  6.  Rede  hielt,  sprach  Schleiermacher  von  der 
Kanzel  „Über  die  rechte  Verehrung  gegen  das  einheimische  Große 
aus  einer  früheren  Zeit".  Einmütige  Arbeit  an  der  Reform  des  preußischen 
Staates:   war  auch  hier  seine   Grundforderung.    „Die   Predigt  ist  ihrem 


'  Vgl.  Joh.  Bauer,  Schleiermacher  über  die  Aufgabe  der  Universitäten  18OS 
(„Deutsch- Evangelisch",  1910,  Heft  10). 

2  Vgl.  Dorner,  Die  Aufgaben  der  Universitäten.     Leipzig  1904.     S.  12. 


Einleitung.  LXXV 

innersten  Kern  nach  eine  Apologie  der  Steinschen  Reform 
von  ethischen  Gesichtspunkten  aus"  (Bauer).  Schleiermacher  war  in 
der  Forderung,  daß  Belebung  der  religiösen  Gesinnung  vor  allem  er- 
strebt werden  müsse,  in  Einverständnis  mit  Stein,  Hardenberg,  und 
Altenstein.  Einen  speziell  politischen  Charakter  erhält  die  Predigt  noch 
durch  ihre  Anknüpfung  an  das  Edikt  vom  9.  Oktober  1807,  das  die 
Trennung  der  Stände  und  die  sozialen  Privilegien  aufheben  will.  Darüber 
hatte  es  manche  Streitigkeiten  gegeben,  so  daß  die  Mahnung  zu  ein- 
mütigem Zusammenstehen  nur  zu  berechtigt  war.  Die  ganze  Predigt 
ist  ein  Ausdruck  stärksten  preußisch-patriotischen  Gefühls,  das  ihm 
als  Sohn  des  fridericianischen  Staates  angeboren  war,  während  Fichte 
immer  Weltbürger  blieb.  Beide  Redner  haben  „den  Geist  der  Stadt 
in  diesen  Jahren  völlig  umgewandelt"  (Dilthey).  ^  Schleiermachers  Wirken 
darf  nicht  hinter  Fichtes  zurückgestellt  werden;  Reinhold  Steig  be- 
zweifelt in  seinem  Werk  über  „H.  v.  Kleists  Berliner  Kämpfe",  daß  die 
„Reden"  überhaupt  so  gewaltigen  Einfluß  gehabt  haben! 

Noch  mehrmals  hat  Schleiermacher  gepredigt,  bevor  er  im  iVlai 
1809  die  Stelle  an  der  Dreifaltigkeitskirche  antrat.  Nur  die  Predigt  vom 
Januar  1809  kennen  wir,  deren  eigentliches  Thema  war:  „Über  die 
Notwendigkeit  einer  allgemeinen  Beteiligung  am  öffentlichen  Leben" 
(Bauer,  54).  Echte  Frömmigkeit  ist  der  Boden  der  Bürgertugend  und 
sie  muß  zum   Dienste  fürs  Vaterland  führen! 

An  den  geheimen  Verbindungen,  die  für  die  Regeneration  tätig 
waren,  hat  Schleiermacher  wohl  nicht  direkt  teilgenommen.  Doch 
hat  er  die  engsten  Beziehungen  zu  Scharnhorst  und  Gneisenau  gepflegt 
und  hat  auch  manche  heimliche  Zusammenkunft  der  Patrioten  mitge- 
macht. Im  Sommer  1808  ging  er  in  patriotischer  Mission  nach  Rügen  — 
und  fand  auf  dieser  Reise  im  Dienste  des  Vaterlandes  seine  Lebens- 
gefährtin: er  verlobte  sich  mit  der  Witwe  seines  Freundes  Ehrenfried, 
die  eben  erst  das  21.  Lebensjahr  erreichte.  Er  schob  die  Hochzeit  wegen 
der  Ungewißheit  seiner  Lage  hinaus  —  mußte  er  doch  gleich  für  die 
2  Kinder  Henriettens  sorgen!  Aber  der  Liebesbund  beseligte  ihn,  er 
wiegte  sich  in  den  schönsten  Träumen.  Auch  erfrischte  ihn,  daß  er  auf  dem 
Lande  wieder  einmal  der  Arbeit  des  Menschen  an  der  Natur  nahe  getreten 
war.  „Wie  der  einfache  stärkende  Geruch  der  blühenden  Kornfelder 
und  der  Wiesen  auf  die  Sinne,  so  wirkt  diese  Anschauung  immer  auf 
mein  Gemüt"   (an  Charlotte  v.  Käthen,    11.   August  1808). 


^  Schleiermachers  politische  Gesinnung  und  Wirksamkeit.    Preußische  Jahr- 
bücher 1862. 


LXXVI  Einleitung. 

Vom  25.  August  bis  zum  30.  September  befand  er  sicli  in  politischer 
Mission  auf  einer  Reise,  deren  Ziel  Königsberg  war.  Dort  trat  er  Stein 
persönlich  nahe,  lernte  auch  die  Königin  und  die  Prinzeß  Wilhelm  kennen 
und  verlebte  glückliche  Tage  im  Heime  seines  alten  Freundes  Wedecke. 
—  Seine  Hoffnung  auf  eine  Volkserhebung,  in  deren  Interesse  seine 
Reise  unternommen  war,  ging  noch  nicht  in  Erfüllung.  Traurig  darüber 
kehrte  er  nach  Berlin  zurück.  Am  14.  Oktober  hatte  er  in  Begleitung  von 
Reimer  und  Lützow  eine  Zusammenkunft  mit  Steffens  und  Blank  in 
Dessau,  vielleicht  um  einen  Mordplan  gegen  Napoleon  entgegen- 
zuwirken, i  Dann  stürzte  er  sich  wieder  eifriger  in  die  wissenschaftliche 
Arbeit.  Er  las  im  Winter  über  Glaubenslehre  und  über  Theorie  des 
Staates.  „Letztere  als  etwas  ganz  Neues  interessiert  mich  natürlich  be- 
sonders. Sie  ist  ein  natürlicher  Ausfluß  meiner  Ethik,  und  ich  finde, 
daß  sich  alles  in  großer  Einfachheit  und  Klarheit  gestaltet."  (11.  Febr. 
1809.)  2  In  seiner  Ruhe  störte  es  ihn  weiter  nicht,  daß  er  am  27.  No- 
vember 1808  —  drei  Tage  nach  Steins  Entlassung  —  vor  den  Marschall 
Davoust  zitiert  wurde.  Er  wußte  sich  und  seine  Mitbeschuldigten  in 
ruhiger  Vornehmheit   zu   rechtfertigen   und   wurde    wieder   entlassen. 

Seit  der  Verlobung  entspann  sich  ein  innig-zärtlicher  Briefwechsel 
zwischen  Schleiermacher  und  Henriette,  in  welchem  beide  sich  mit  voller 
Offenheit  aussprachen.  „Es  ist  nichts  in  meinem  Leben,  in  allen  meinen 
Bestrebungen,  wovon  Du  nicht  den  Geist  richtig  auffassen  könntest; 
sonst  könntest  Du  ja  auch  mich  selbst  nicht  verstehn,  nicht  mein  sein." 
Den  ganzen,  ihm  wegen  der  bis  zum  Frühjahr  verschobenen  Hochzeit  ewig 
erscheinenden  Winter  hindurch  gehen  Briefe  hin  und  her,  die  voll 
sind  von  gegenseitigem  Austausch  innerster  Gefühle  und  von  sinnig  aus- 
gemaltem Zukunftsglück.  Ich  kann  nur  einige  Zitate  hersetzen,  die 
gleichzeitig  Schleiermachers  Tätigkeiten  und  Anschauungen  beleuchten: 
„Mein  Leben  in  der  Wissenschaft  und  in  der  Kirche,  und,  so  Gott 
will  und  Glück  gibt,  wie  mir  beinahe  ahnet,  auch  noch  im  Staat, 
soll  gar  nicht  von  Deinem  Leben  ausgeschlossen  und  Dir  fremd  sein, 
sondern  Du  sollst  und  wirst  den  innigsten  Anteil  daran  nehmen.  Ohne 
das  gibt  es  keine  rechte  Ehe.  Du  brauchst  deshalb  die  Studien  und 
die  Worte  nicht  alle  zu  verstehen;  aber  mein  Bestreben  und  meine 
Tat  wirst  Du  immer  nicht  nur  anschauen  und  verstehen,  sondern  auch 
teilen,  daß  nichts  ohne  Dich  gelingt,  nichts  ohne  Dich  vollbracht  wird, 
alles  mit  deine  Tat  ist,  und  Du  Dich  meines  Wirkens  in  der  Welt 
wie  Deines  eigenen  erfreust."    (IV,  152.) 


1  Baxmann:   Fr.  Schleiermacher,  S.  103.  -  Br.   IV,  16?. 


Einleitung.  LXXVII 

Henr.  v.  Willich  an  Schleiermacher.  21.  Nov.  1808:  „Es  ist  ja  nichts 
in  mir,  was  nicht  Dir  angehört.  Ich  kann  mir  wohl  denken,  daß  Du 
unzufrieden  mit  mir  sein  könntest,  aber  dann  würdest  Du  mich  liebreich 
und  väterlich  führen,  und  ich  würde  mich,  dein  liebendes  Kind,  weh- 
mütig,  aber   zärtlich   an   Dich  schmiegen."     (170.) 

Schleiermacher  an  Henriette.  4.  Dez.  1808:  „Was  mir  aber 
auch  jetzt  schon  recht  große  Freude  macht,  das  sind  meine  Vor- 
lesungen; mit  den  ersten  Stunden  bin  ich  selten  zufrieden,  war  es  auch 
diesmal  nicht,  wie  ich  auch  mit  dem  Eingang  in  meine  Predigten  am 
wenigsten  zufrieden  bin.  Aber  nun  komme  ich  hinein  und  die  Zuhörer 
auch.  Alles  ordnet  sich  bestimmter,  es  geht  immer  klarer  hervor,  daß 
wir  die  Wahrheit  ergriffen  haben,  der  Vortrag  wird  immer  leichter, 
und  oft  überrascht  mich  selbst  mitten  im  Vortrage  etwas  Einzelnes, 
was  von  selbst  hervorgeht,  ohne  daß  ich  daran  gedacht  hatte,  so  daß 
ich  selbst  aus  jeder  einzelnen  Stunde  fast  belehrt  herauskomme.  Ich 
kann  Dir  gar  nicht  sagen,  was  für  ein  Genuß  das  ist.  Und  dabei  sind 
die  Gegenstände  so  herrlich!  Den  jungen  Männern  jetzt  das  Christentum 
klar  machen  und  den  Staat,  das  heißt  eigentlich  ihnen  alles  geben, 
was  sie  brauchen,  um  die  Zukunft  besser  zu  machen  als  die  Vergangen- 
heit war''.     (179.) 

Henriette  an  Schleiermacher.  Dez.  1808:  „Es  ist  doch  wunderbar, 
daß  Du  nun  gerade  kein  Mädchen  lieben  konntest.  Du  sagtest  uns 
das  schon  einmal  vor  vier  Jahren  in  Götemitz  im  Garten,  Du  habest  immer 
die  sichere  Ahnung  gehabt,  daß  Du  würdest  eine  leidende  Frau  be- 
glücken."   (190.) 

Schleiermacher  an  Henriette.  25.  Dez.  1808:  „Wissenschaft  und 
Kirche,  Staat  und  Hauswesen,  —  weiter  gibt  es  nichts  für  den  Menschen 
auf  der  Welt,  und  ich  gehörte  unter  die  wenigen  Glücklichen,  die  alles 
genossen  hätten  .  .  .  Die  Menschen,  die  sich  etwas  emporheben  aus  der 
gemeinen  Masse,  machen  alle  so  viel  aus  der  Unsterblichkeit  des  Namens 
in  der  Geschichte.  Ich  weiß  nicht,  ich  kann  darnach  so  gar  nicht 
trachten.  Die  Art,  wie  sie  den  Königen,  bloß  als  solchen,  auf  ein  paar 
Jahrhunderte  wenigstens  sicher  ist,  hat  doch  nichts  Beneidenswertes. 
Die  Taten  der  Menschen  im  Staat  sind  doch  immer  gemeinschaftlich,  und 
mit  Unrecht  wird  etwas  Großes  dem  Einzelnen  auf  die  Rechnung  ge- 
schrieben. In  der  Wissenschaft  ist  nun  gar  nicht  daran  zu  denken, 
und  das  künftige  Geschlecht  müßte  aus  elenden  Kerls  bestehn,  wenn  sie 
nicht  in  fünfzig  Jahren  Alles  weit  besser  wissen  sollten,  als  auch  der 
Beste  jetzt.  Nur  der  Künstler  kann  auf  diese  Art  unsterblich  sein 
und  ein  solcher  bin  ich  nun  einmal  nicht."    (195.) 


LXXVIII  Einleitung. 

31.  Dez.  1808.  „Niemals  kann  ich  dahin  kommen,  am  Vaterlande  zu 
verzweifeln;  ich  glaube  zu  fest  daran,  daß  es  ein  auserwähltes  Werkzeug 
und  Volk  Gottes  ist."    (200.) 

Während  Frankreich  und  Österreich  gegeneinander  ins  Feld  zogen, 
schlössen  Schleiermacher  und  Menriette  den  Bund  fürs  Leben,  im  Mai 
1809.  Geistig  stand  die  „liebe  Jette"  ihrem  Gatten  nicht  so  gleich,  wie 
etwa  Caroline  ihrem  Schelling.  Sie  hat  aber  erreicht,  was  Schleiermacher 
wünschte:  sie  konnte  mit  liebevollem  Verständnis  seinem  Wirken  folgen. 

Schon  im  Dezember  1808  hatte  Schleiermacher  auf  Wunsch  von 
Stein  Vorschläge  zu  einer  neuen  Kirchenordnung  entworfen;  seine  Hand- 
schrift ist  aber  uns  nicht  bekannt.  ^  Er  scheint  darin  (nach  der  Ver- 
öffentlichung von  Richter,  Zeitschrift  für  Kirchenrecht,  1,  326)  offen  für 
eine  ziemlich  weitgehende  Selbständigkeit  der  Kirche  dem  Staate  gegen- 
über, für  unbedingte  Lehrfreiheit  und  für  absolute  Verbindlichkeit  der 
bürgerlichen  Trauung  eingetreten  zu  sein.  Er  stieß  damit  auf  starken 
Widerspruch  bei  den  Räten  des  Königs.  Neben  dieser  Arbeit  geht  die  am 
5.  Bande  Platon  und  an  der  berühmten  Abhandlung  über  Heraklit  einher. 
In  dieser  sucht  er  mit  meisterhafter  Anwendung  der  kritischen  Methode 
ein  Bild  der  Philosophie  des  Ephesiers  aus  den  Bruchstücken  und  Zeug- 
nissen herauszuarbeiten.  Gewiß  ist  heute  vieles  zu  berichtigen;  aber 
die  scharfsinnige  Untersuchung  kann  auch  dem  gegenwärtigen  Forscher 
noch   Positives   geben. 

Im  Wintersemester  1809/10  las  Schleiermacher  christliche  Sitten- 
lehre und  Hermeneutik.  Im  Anfang  des  Jahres  1810  wurde  er  auf  W. 
V.  Humboldts  Vorschlagt  zum  Mitglied  der  wissenschaftlichen  Deputation 
und  bald  zu  ihrem  Direktor  gewählt,  und  damit  war  sein  Wunsch  erfüllt, 
auch    an    der    staatlichen    Tätigkeit   teilnehmen    zu    können. 

Am  5.  August  predigte  er  zum  Gedächtnis  der  Königin  Luise.  Am 
10.  Oktober  wurde  die  Universität  eröffnet,  Schleiermacher  erhielt  ein 
Gehalt  von  2000  Tlr.  Als  Mitglied  der  „Einrichtungskommission"  hatte 
er  großen  Einfluß  auf  Berufungen  gehabt.  Auch  an  der  Ausarbeitung  der 
Universitätsgesetze  war  er  beteiligt.  In  diesem  vielbewegten  Jahre  schrieb 
er    die    Schrift,    die    der    Theologie    ganz    neue    Bahnen    weisen    sollte: 


1  Vgl.  Bauer,  Schleiermacher  als  patr.  Prediger  S.  60,  u.  E.  Foerster: 
Die  Entstehung  der  Preußischen  Landeskirche  unter  der  Regierung  König 
Friedrich  Wilhelms  III.   1905-     I,  159  ff- 

«  E.  Spranger,  W.  v.  Humboldt  und  die  Reform  des  Bildungswesens  (Große 
Erzieher  IV).     Berlin  1910.     S.  112. 


Einleitung.  LXXIX 

„Kurze  Darstellung  des  theologischen  Studiums  zum  Behuf  einleitender 
Vorlesungen  entworfen."  (S.  W.  1,  1.)  In  dieser  Schrift  verteidigt  Schleier- 
macher vor  allem  den  Wissenschaftscharakter  der  Theologie  und  sichert 
gleichzeitig  ihren  Wert  für  das  praktische  Religionsleben.  Die  Theologie 
gliedert  er  in  philosophische,  historische  und  praktische.  Die  historische 
Theologie  ist  ihm  der  „eigentliche  Körper",  sie  ist  —  das  ist  besonders 
hervorzuheben  —  ein  Teil  der  Geschichtskunde,  und  hat  nichts 
mit  übernatürlichen  Dingen  zu  tun.  Auch  die  dogmatische  Theologie  ist 
ihm  lediglich  eine  historische  Disziplin:  sie  soll  das  Wissen  von  der 
jetzt  herrschenden  Lehre  sein.  Die  Regeln  für  die  richtige  Führung 
des  Kirchenregiments  leitet  die  praktische  Theologie  ab,  die  Schleier- 
macher erst  wieder  zu  Ehren  brachte.  Die  philosophische  Theologie 
hat  das  Wesen  des  Christentums  und  der  christlichen  Gemeinschaft 
zu    erörtern. 

So  auf  der  Höhe  seiner  Tätigkeit  stehend,  wurde  ihm  das  ersehnte 
Glück  zuteil,  Vater  zu  werden:  am  Weihnachtsabend  1810  schenkte  Hen- 
riette ihm  eine  Tochter.  Mit  tiefbewegtem  Herzen  predigte  er  am 
nächsten   Tage   und  sprach    ein    Dankgebet   von   der   Kanzel. 

Sorge  und  Ärger  machte  ihm  die  Arbeit  im  Unterrichtsdepartement. 
Man  fürchtete  seinen  scharfen  Geist  und  suchte  ihn  durch  gleichgültige 
Beschäftigungen  unschädlich  zu  machen.  So  konnte  er  hier  keine  seiner 
Neigung  und  Begabung  entsprechende  Wirksamkeit  entfalten.  Doch  hat 
er  stets  das  Möglichste  geleistet  und  vor  allem  treu  zur  Patriotenpartei 
gehalten.  Stein  stellte  er  sich  zur  Verfügung,  um  die  gegen  diesen  gerich- 
teten Verleumdungen  aufzudecken.  Im  Herbst  1811  unternahm  er  wieder 
eine  Reise  im  patriotischen  Interesse,  diesmal  nach  Schlesien.  In  diesem 
Jahre  empfahl  ihn  der  Freiherr  v.  Stein,  um  die  Verordnungen  zu  for- 
mulieren, die  den  religiösen  Geist  des  Volkes  v^ecken  sollten.  (Lehmann: 
Stein,  III,  116.) 

Als  philosophische  Großtat  aus  dieser  Zeit  ist  die  endgültige  Fundie- 
rung der  Dialektik  durch  eine  Vorlesung  1811  zu  nennen.  Schleier- 
macher hatte  sich  energisch  bemüht,  seinen  Freund  Steffens  nach  Berlin 
zu  ziehen,  und  zwar  begründete  er  das  mit  einem  persönlichen  Argu- 
ment: „Ich  wünsche  die  Wahl  dringend  für  die  Vorlesungen  über  die 
ethischen  Wissenschaften  .  .  .,  für  welche  ich,  da  ich  selbst  allgemeine 
Philosophie  nie  vortragen  werde,  keine  Haltung  finde  und  sie  daher 
unterlasse."!    Steffens   erhielt  den   Ruf  nicht;   daher  mag  sich   Schleier- 


Br.  IV,  175- 


LXXX  Einleitung. 

macher  entschlossen  haben,  selbst  eine  allgemein-philosophische  Grund- 
lage für  seine  Ethik  zu  schaffen.  ^  Um  der  Ethik  willen  ist  die  Dia- 
lektik ausgearbeitet,  ja,  die  Ethik  wurde  bis  zur  ersten  Vollendung 
dieser  Grundwissenschaft  liegen  gelassen.  1814,  ISIS,  1822,  1828, 
1831  hat  Schleiermacher  später  die  Dialektik  nach  immer  neuen  Entwürfen 
wiederholt  und  ausgestaltet.  Seine  Methode  ist  hier  besonders  deutlich 
an  die  Art  des  platonischen  Dialoges  angeschlossen;  immer  weiter 
ringt  sich  der  Geist  des  Hörers  und  Lehrers  von  Irrtümern  frei  und 
erreicht  endlich,  von  Gegensatz  zu  Gegensatz  fortschreitend,  auf  der 
Spitze  die  Wahrheit.  ^  Metaphysik  und  Erkenntnistheorie  sind  dabei 
ineinander  verflochten.  An  diese  Vorlesungen  schlössen  sich  im  Winter 
1811/12  die  über  Geschichte  der  Philosophie  an,  die  später  ebenfalls 
wiederholt   wurden. 

Im  Frühjahr  1812  schien  für  die  Patriotenpartei  alles  verloren:  der 
König  hatte  das  Bündnis  mit  Frankreich  gegen  Rußland  abgeschlossen. 
Scharnhorst  und  Gneisenau  verließen  Berlin,  Schleiermacher  kämpfte 
von  seiner  Kanzel  herab  mutig  weiter  für  die  endliche  Erhebung.  „Mögen 
die  Feinde  des  Guten,  wie  sie  auch  gestellt  sein  mögen  in  der  Welt, 
fühlen,  was  wir  von  ihnen  halten.  Wir  wollen  es  weder  ihnen  noch 
anderen  verbergen,  daß  nach  unserer  Überzeugung  sie  es  sind,  welche  das 
Verderben  des  Volkes  bereiten  .  .  ."  (Predigt  über  Luc.  7,  24 — 34.)  Die 
Feinde  der  Reform,  die  v.  d.  Marwitz  und  Arnim,  werden  so  —  den 
Hörern  wohl  deutlich  genug  —  offen  angegriffen.  Eine  Predigt  am 
3.  Jan.  1813  erregte  bei  Hardenberg  Verdacht,  so  daß  er  dem  Fürsten 
Wittgenstein  Auftrag  gab,  Schleiermacher  zu  überwachen.  ^ 

Nie  hatte  Schleiermacher  den  Mut  verloren,  trotzdem  er  in  Briefen 
an  Gaß  und  den  Freiherrn  v.  Stein  die  Haltung  der  Regierung  aufs 
schärfste  tadelte.  Er  sollte  mit  seiner  Hoffnung  recht  behalten.  Am 
3.  Februar  1813  erließ  der  König  den  Aufruf  zur  Errichtung  des  frei- 
willigen Jägerkorps,  am  27.  Februar  wurde  das  Bündnis  mit  Rußland  ge- 
schlossen, dem  am  17.  März  der  Aufruf  „an  mein  Volk"  folgte.  „So 
trat  nun  wirklich  das  preußische  „Volk"  auf  die  Bühne  der  Geschichte" 
(Fr.  Meinecke). 


^  Vgl.  Halpern  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  der  Dialektik.  Berlin 
1903.     S.  XXVII. 

2  Vgl.  R.  Eucken:  Lebensanschauungen  der  grossen  Denker.  7.  Aufl.  1907. 
S.  465. 

^  Max  Lenz:  Geschichte  der  königl.  Friedrich  Wilhelms-Universität  zu 
Berlin.     Halle  1910.     I,  488. 


Einleitung.  LXXXI 

Schleiermacher  stand  hinter  seinen  Gesinnungsgenossen  in  rastloser 
Arbeit  fürs  Vaterland  nicht  zurück.  Seine  Vorlesungen  hielt  er  weiter 
vor  nur  7  Zuhörern,  predigte  außer  jeden  Sonntag  noch  bei  besonderen 
Anlässen,  redigierte  vom  25.  Juni  bis  zum  Ende  des  3.  Quartals  1813 1  an 
Stelle  von  Niebuhr  den  „Preußischen  Korrespondenten"  2  und  übte  mit 
dem  Landsturm.  Seine  Redaktionstätigkeit  blieb  nicht  unbehelligt.  Gegen 
einen  von  ihm  verfaßten  Artikel  vom  14.  Juli  1813,  in  welchem  er 
offenherzig  die  eventuellen  Friedensabsichten  der  Regierung  tadelte,  schritt 
die  Zensur  ein  und  Schleiermacher  mußte  eine  Verteidigung  aufsetzen. 
Die  Geschichte  machte  „ein  ungeheures  Aufsehen".  ^  Er  rechtfertigte  sich 
mündlich  und  schriftlich  dem  Minister  v.  Schuckmann  gegenüber,  erhielt 
aber   im   September  nochmals   einen  Verweis. 

Predigten  sind  uns  aus  der  bewegtesten  Zeit  leider  nur  wenige 
erhalten,  darunter  die  berühmte  Rede  vom  28.  März  bei  der  Feier  des 
Kriegsanfanges.  Ihm  zu  Füßen  saßen  die  Freiwilligen,  die  ihre  Gewehre 
draußen  an  die  Wand  der  Kirche  gelehnt  hatten.  Der  große  Umschwung 
—  so  führte  Schleiermacher  aus  —  ist  die  Folge  davon,  daß  unser 
innerer  Wert  gewachsen  ist.  Rückkehr  zur  Wahrheit  und  Selbstän- 
digkeit ist  der  Beginn  der  Erhebung.  Volk  und  Heer  sollen  nicht 
mehr  getrennt  sein,  sondern  einmütig  den  Feind  bekämpfen.  Daraus 
entwickelt  Schleiermacher  Forderungen  an  alle,  die  etwas  für 
den  Krieg  tun  können,  direkt  oder  indirekt.  Gewaltig  wirkte 
diese  Predigt,  wie  K.  v.  Raumer  bekundet.  Von  einer  anderen, 
nicht  erhaltenen  Predigt  erzählt  Hofprediger  Eylert:  „Da  stand 
der  körperlich  kleine,  unscheinbare  Mann  mit  seinem  edlen  geist- 
vollen Angesicht,  an  heiliger  Stätte,  in  heiliger  Stunde,  und 
seine  sonore,  reine,  durchdringende  Stimme  drang  durch  die  feier- 
liche Stille  der  überfüllten  Kirche.  In  frommer  Begeisterung  vom 
Herzen  redend,  drang  er  in  jedes  Herz,  und  der  volle,  klare  Strom 
seiner  gewaltigen  Rede  riß  alles  mit  sich  fort  .  .  .  Und  als  er  zuletzt 
noch  mit  dem  Feuer  der  Begeisterung  die  zum  Kampfe  gerüsteten  edlen 
Jünglinge  anredete,  dann  an  deren  großenteils  anwesende  Mütter  sich 
wandte  ...  —  da  durchzuckte  es  die  ganze  Versammlung,  und  in 
das   laute    Weinen    und    Schluchzen   derselben    rief   Schleiermacher   sein 


^  H.  Dreyhaus:  Der  Preussische  Korrespondent  etc.  1909. 
^  Zur  Mitarbeit  forderte  er  auch  Fr.  Schlegel  auf. 
3  Br.  IV,  413  ff. 

Schleiermacher.  Werke.     I.  VI 


LXXXII  Einleitung. 

versiegelndes  Amen."  ^  So  blieb  er  stets  dem  früh  erkannten  Berufe  ge- 
treu, Gedanken  wirksam  für  das  Leben  zu  machen,  er  hat  unendlich 
viel  dafür  getan,  die  errungenen  Ideen  in  die  Wirklichkeit  überzuführen. 
Darin  liegt  seine  höchste  Leistung  im  Gange  der  Weltgeschichte. 

Nach  der  Niederlage  von  Großgörschen  hielt  es  Schleiermacher  für 
das  beste,  Frau  und  Kinder  nach  Schlesien  in  Sicherheit  zu  bringen: 
er  hat  es  bald  sehr  bedauert,  als  sich  der  Krieg  gerade  dorthin  zog. 
In  den  Berichten  an  die  Frau  spiegeln  sich  die  Mühen  und  Sorgen  des 
einsamen,  von  körperlichem  Leiden  oft  gequälten  Mannes.  Was  lastete 
auf  ihm  nicht  alles!  Die  Vorlesungen  führte  er  ziemlich  als  einziger  fort, 
da  sein  Gesuch  um  eine  Feldpredigerstelle  unbeantwortet  geblieben  war. 
An  einem  Tage  hatte  er  z.  B.  Kirchenrechnungen  durchzusehen,  von  2 — 5 
Übungen  des  Landsturms,  um  6  eine  Sitzung,  um  8  eine  Einsegnungsrede 
an  ein  Bataillon  Landwehr.  Abends  genoß  er  die  Ruhe  in  seinem 
Gartenhäuschen  am  Schafgraben.  Als  man  das  Vorrücken  der  Franzosen 
auf  Berlin  fürchtete,  da  beeilte  er  sich,  zu  seiner  Flinte  auch  Munition 
zu  besorgen:  er  wollte  als  Mitglied  des  Landsturms  bis  zum  letzten  aus- 
harren. Reimer,  Arndt,  Eichhorn,  Savigny,  Fichte  u.  a.  m.  standen  ihm 
zur  Seite.  Sein  „politisches  Glaubensbekenntnis"  hat  er  in  dem  letzten 
Brief  an  Fr.  Schlegel  vom  12.  Juni  1813  ausgesprochen;  es  klingt  wie 
eine  Prophezeiung.  „Nach  der  Befreiung  ist  mein  höchster  Wunsch 
auf  ein  wahres  deutsches  Kaisertum,  kräftig  und  nach  außen  hin  allein 
das  ganze  deutsche  Volk  und  Land  repräsentierend,  das  aber  wieder 
nach  innen  an  einzelnen  Ländern  und  ihren  Fürsten  recht  viele  Freiheit 
läßt,  sich  nach  ihrer  Eigentümlichkeit  auszubilden  und  zu  regieren."  2 
Österreich  soll  ausgeschlossen  sein.  So  hat  er  hier  schon  die  Idee  aus- 
gesprochen, für  die  spätere  Zeiten  noch  gegen  den  Wahn  der  Groß- 
deutschen  so   heiß  kämpfen   mußten. 

Für  wissenschaftliche  Arbeit  war  wenig  Ruhe  übrig.  „In  einem 
sehr  aufgeregten  Zustande  kann  ich  nur  reden,  schreiben  gar  nicht." 
Und  doch  verlas  er  in  der  Akademie  der  Wissenschaften,  deren  Mit- 
glied er  seit  1810  war,  eine  Abhandlung  „über  die  verschiedenen  Methoden 
des  Übersetzens"  (26.  Juli  1823),  die  seine  Meisterschaft  zeigt,  auch 
scheinbar  kleine  Probleme  philosophisch  zu  vertiefen  und  mit  dem 
Höchsten  in  Verbindung  zu  bringen.  Auch  diese  Rede  hat  patriotische 
Färbung.  —   Im  Winter  1813/14  waren  kaum  Studenten  der  Theologie 


1  Vgl.  Bauer.    S.  97  ff-    Lenz  nimmt  im  Gegensatz  zu  Bauer  an,  daß  diese 
Stelle  sich  doch  auf  die  Predigt  vom  28.  März  bezieht  (I,  495). 
«  Br.  III,  429. 


Einleitung.  LXXXIII 

an  der  Universität;  doch  las  Schleiermacher  zum  ersten  Male  über  Päda- 
gogik. Im  Sommer  1814  gönnte  er  sich  die  ihm  sehr  nötige  Erholung  auf 
einer  Reise  nach  Schwalbach  und  an  den  Rhein,  wobei  er  mit  Daub, 
Creuzer  und  Paulus  in  Berührung  kam.  Heimgekehrt,  hatte  er  eine 
ernstliche  Fehde  mit  dem  Lehrer  des  Staatsrechts  Schmalz,  dem  ersten 
Rektor  der  neuen  Universität,  auszufechten.  Schmalz  hatte  es  als 
Glied  der  hochkonservativen  Partei  unternommen,  die  Mitglieder 
der  Patriotenpartei  als  Revolutionäre  zu  verdächtigen.  Schleiermachers 
Schrift  „An  Herrn  Geheimrat  Schmalz"  ist  scharf  und  schneidig  und 
behandelt  mit  glänzender  Ironie  den  nichtigen  Angriff.  Das  schadete 
ihm  in  leitenden  Kreisen  erst  recht,  und  so  wurde  er  1814  aus  dem 
Unterrichtsdepartement  entlassen,  unter  dem  Vorwande,  durch  seine  — 
nur  mit  Schwierigkeiten  bestätigte  —  Wahl  zum  Sekretär  der  Akademie 
sei  er  zu  sehr  überlastet.  So  entfernte  man  diesen  klar  denkenden  Mann 
und  machte  es  ihm  unmöglich,  seine  Ideen,  die  er  eben  in  einer 
Abhandlung  über  den  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung  niedergelegt  hatte, 
zu  verwirklichen.  Hier  fordert  er  im  Grunde  den  konstitutionellen  Staat. 
Wie  wenig  Schleiermacher  übrigens  in  seiner  politischen  Ansicht  links- 
liberal war,  wie  sehr  er  selbst  in  seinem  Gefühl  ein  konservatives  Element 
besaß,  mag  gleich  hier  angefügt  werden.  Er  hat  in  der  Akademie 
siebenmal  am  Geburtstage  Friedrich  des  Großen  über  diesen  gesprochen, 
im  engen  Anschluß  an  die  einstige  Predigt.  Stets  hat  er  dabei  betont, 
wie  wichtig  es  ist,  das  Große  der  alten  Zeit  in  der  neuen  zu  bewahren. 
Seine  Forderung  eines  kleindeutschen  Reiches  barg  selbst  schon  in  sich 
die  Hegemonie  eines  starken  preußischen  Königstums,  und  das  ist  ledig- 
lich eine  Fortführung  der  friderizianischen  Tradition.  Hier  stimmt 
Schleiermacher  mit  v.  d.  Marwitz  voll  überein,  der  in  dieser  Betonung 
des  Preußentums  sogar  noch  über  Boyen  hinausgeht.  So  lebte  der  alte 
Staat  auch  in  dem  Wirken  Schleiermachers  fort,  wie  das  allgemein 
unsere  neuesten  Historiker  anerkannt  haben.  „Die  Bewegungen  des 
neuen  Jahrhunderts,  liberale  Gedanken,  soziale  Mächte  sind  durch  die 
Reform  unabweisbar  in  das  alte  Preußen  eingeflutet;  sie  haben  dies 
Jahrhundert  mit  ihrer  Wirkung  durchdrungen;  weggeschwemmt  haben 
sie  das  Alte  nicht"  (Erich  Marcks).i  Die  „Erbschaft  Friedrich  des 
Großen"  blieb  in  dem  preußischen  Machtgefühl  lebendig.  Auch  hier 
steht  Schleiermacher  mit  seinem  Wirken  mitten  in  dem  edelsten  Streben 
der  Nation. 


1  Bismarck.     1909.     I.  Bd.,  34. 

VI* 


LXXXIV  Einleitung. 

Kirchliche  Kämpfe. 

Voll  bitteren  Gefühles  beobachtete  auch  Schleiermacher  die  geringen 
Erfolge  des  Befreiungskampfes;  Unendliches  war  geopfert  und  wenig  er- 
reicht. „Es  ist  im  Buche  des  Schicksals  geschrieben,  daß  Preußen 
große  Prüfungen   bestehen  soll,"  schrieb  Gneisenau  an  ihn  aus   Paris.  ^ 

Im  Sommer  1815  las  Schleiermacher  theologische  Moral  und  Ge- 
schichte der  alten  Philosophie,  bearbeitete  einige  Akademieabhandlungen 
und  eine  Neuauflage  vom  ersten  Band  seines  Piaton,  und  las  „zum  Behuf 
einer  künftigen  Rhetorik''  den  Dionysius  von  Halikarnaß.  Während  um 
ihn  her  sich  die  Ruhe  der  halkyonischen  Tage,  die  Erschlaffung  nach  der 
höchsten  Erregung,  einstellte,  sollte  er  keine  Ruhe  mehr  finden.  Körper- 
Hch  quälte  ihn  ein  Magenleiden  und  seelisch  bedrückte  ihn  die  allge- 
meine Lage  schmerzlich,  dazu  wurde  er  noch  in  persönliche  Kämpfe 
verstrickt.  „Der  ganze  faule  Sumpf  bleibt  stehen  in  Staat  und  Kirche 
unverrückt,  und  ein  Termin  nach  dem  andern  verstreicht"  (5.  Aug.  1816).- 
Die  Saat,  welche  die  Reform  einst  mit  heißem  Bemühen  gestreut,  trug 
wenig  Ernte  —  der  große  Anlauf  war  fast  umsonst  gewesen. 
Schleiermacher  selbst  arbeitete  unentwegt  an  seiner  Ethik  weiter,  neben 
den  Kollegien,  aber  er  verlor  schließlich  die  Lust  zu  ihr,  da  er  immer 
wieder  durch  äußere  Kämpfe  gestört  wurde.  ^  Die  Streitigkeiten  über 
Liturgie,  Kirchenverfassung,  Agende,  Union  durchziehen  die  letzten  Jahr- 
zehnte von  Schleiermachers  Leben  fast  ununterbrochen.  Wir  können  sie 
nur  ganz   kurz   skizzieren. 

Am  17.  September  1814  hatte  der  König  die  „liturgische  Kommission" 
eingesetzt,  zu  der  weder  Schleiermacher  noch  ein  anderer  Akademiker 
gewählt  worden  waren.  An  die  Mitglieder  richtete  Schleiermacher  ein 
anonymes  „Glückwunsschreiben"  (S.  W.  1,  5),  in  dem  er  (mit  Bei- 
stimmung weiter  Kreise)  scharf  das  Vorgehen  der  Regierung  tadelte 
und  seine  eigenen  Anschauungen  entwickelte.  Er  kämpfte  darin  vor 
allem  für  die  Freiheit  des  Gottesdienstes:  dieser  muß  sich  umgestalten 
und  entwickeln  können,  entsprechend  dem  Fortschritt  des  religiösen 
Geistes;  ihn  unter  den  Buchstaben  zu  bannen,  widerspricht  dem  Wesen 
der  Religion.  Dafür  sei  vor  allem  eine  neue  lebendige  Kirchenverfassung 
nötig.  Wie  er  diese  sich  dachte,  hatte  er  schon  im  Januar  1813  klar 
gelegt.  Damals  war  wenigstens  von  Nicolovius  ein  Entwurf  von  Gaß 
auf  dessen  Bitte  an  Schleiermacher  als  Mitglied  der  Sektion  für  öffent- 
lichen Unterricht  gegangen  und  Schleiermacher  hatte  den  Entwurf  einer 

1  Br.  IV,  211.  2  IV,  212.  s  IV,  217- 


Einleitung.  LXXXV 

Synodalordnung  eingesandt.  ^  Am  30.  April  1815  wurden  die  Konsistorien, 
die  1808  abgeschafft  waren,  auf  Vorschlag  der  Kommission  wieder  ein- 
geführt. Damit  war  aber  nichts  Neues  gewonnen.  Durch  den  Erlaß  vom 
2.  Januar  1817  begann  eine  Machtverschiebung  zugunsten  der  Superinten- 
dentur^:  es  sollten  Kreissynoden  aus  den  Geistlichen  jedes  Kreises 
gebildet  werden,  denen  die  Superintendenten  präsidierten;  aus  diesen 
setzt  sich  die  Generalsynode  zusammen.  So  wurde  —  gerade  gegen 
Schleiermachers  Ansicht  —  die  Gemeinde  von  der  Leitung  ziemlich 
ausgeschlossen.  In  ihr  aber  liegt  das  fortschrittliche,  lebensvolle  Element 
gegenüber  dem  oft  erstarrten  Priesterwesen.  Die  Grundabsicht  Schleier- 
machers war  stets  in  diesen  Kämpfen,  die  liberalen  politischen  Tendenzen 
der  Reformer  auch  auf  die  Ordnung  der  Kirchenverfassung  zu  über- 
tragen. In  seiner  Schrift  „über  die  für  die  protestantische  Kirche  des 
preußischen  Staates  einzurichtende  Synodalverfassung"  sagte  er  zunächst 
der  Regierung  Dank  für  ihren  neuen  Schritt  —  aber  dieser  Dank  lief 
schließlich  wieder  in  Mißbilligung  aus.  Doch  nahm  die  Angelegenheit 
unvorhergesehen  eine  günstigere  Wendung,  als  Schleiermacher  am  4.  Juni 
181Q  der  Provinzialsynode  in  Berlin  beiwohnte:  durch  sein  Eintreten  gelang 
es,  eine  Mitwirkung  der  Gemeinde  in  der  Kirchenleitung  zu  sichern. 
Vor  allem  wurde  beschlossen,  neben  den  Geistlichen  dieselbe  Zahl 
weltlicher  Mitglieder  in  die  Synode  zu  wählen,  die  Konsistorien  sollten 
durch  freigewählte  Ausschüsse  aus  den  Synoden  ersetzt  werden  und 
ein  Ausschuß  aus  der  Generalsynode  sollte  die  oberste  Kirchenleitung 
übernehmen.  Das  war  ein  schöner  Erfolg  —  leider  war  auch  er  um- 
sonst: die  1819  einsetzende  Reaktion  begrub  alles  in  den  Akten. 

Inzwischen  hatte  sich  die  Liturgie-Frage  zugespitzt.  Die  liturgische 
Kommission  hatte  im  Juni  1815  eine  neue  Liturgie  und  Agende  ausgear- 
arbeitet,  die  der  König  mit  Randbemerkungen  versah.  Im  Herbst  erschien 
vom  Könige  selbst  eine  Liturgie.  Diese  dilettantische,  unhistorische  Li- 
turgie wurde  das  schwerste  Hindernis  der  Union.  ^  Sie  wurde  zuerst  an 
den  Militärkirchen  von  Potsdam  und  Berlin,  dann  in  allen  Militärkirchen 
durch  königliches  Dekret  eingeführt.  Schleiermacher  konnte  dazu  nicht 
schweigen  —  unter  seinem  Namen  erschien  die  Schrift  „über  die  neue 
Liturgie"  usw.    Er  griff  darin  die  Art  der  Einführung  unter  Umgehung 

1  Dilthey,  Artikel  „Schleiermacher"  in  „Allgem.  deutsche  Biographie". 

^  Foerster,  a.  a.  O.  263. 

^  Joh.  Bauer:  Des  Staatsministers  Grafen  A.  Dohna  Stellung  zu  Union 
und  Agende  1817—1827,  (Schriften  der  Synodalkommission  für  ostpreussische 
Kirchengeschichte  8)  Königsberg  1910.     S.  29. 


LXXXVI  Einleitung. 

der  konstitutionellen  Kirchenorgane  an,  ferner  die  Verdrängung  der  lebens- 
vollen Elemente  des  Gottesdienstes,  der  Predigt  und  des  Gemeindege- 
sanges, zugunsten  starrer  Formeln.  Was  Schleiermacher  mit  diesen  An- 
griffen wagte,  ist  unmittelbar  klar:  er  allein  sagte  ein  offenes  Wort, 
trotzdem  seine  Stellung  an  sich  schon  exponiert  war. 

Seine  Lage  wurde  noch  gefährlicher,  als  er  durch  eine  Vorstellung 
beim  Minister  und  durch  seine  Widmung  des  „kritischen  Versuches 
über  die  Schriften  des  Lukas"  an  seinen  Kollegen  de  Wette  seine  offene 
Sympathie  für  diesen,  von  der  Regierung  angefeindeten.  Gelehrten  aus- 
sprach, trotzdem  er  selbst  in  seinem  Rektoratsjahr  1816  mit  de  Wette 
wegen  der  Berufung  Hegels  in  Streit  verwickelt  und  auch  sonst  mit 
ihm  selten  in  Harmonie  gewesen  war.  Wie  gefährlich  sein  Eintreten 
für  den  bedrängten  Kollegen  war,  geht  daraus  hervor,  daß  dieser  im 
Dezember  1819  verhaftet  wurde.  „Ich  fühle  mich  in  meiner  Universitäts- 
tätigkeit wirklich  wie  auf  einer  Seite  gelähmt,"  schrieb  Schleiermacher 
bei  dieser  „greulichsten  Geschichte"  an  Arndt.  ^  Mit  Hegel  geriet  er 
auf  einer  Gesellschaft  in  persönlichen  Streit  über  dieses  Ereignis.  - 

Bei  einem  anderen  kirchlichen  Vorgang  von  größter  Bedeutung  war 
indessen  Schleiermacher  mit  seinen  König  zum  guten  Teil  einverstanden: 
bei  der  Unionsstiftung.  Getreu  den  Traditionen  des  Hohenzollernhauses 
war  es  das  ehrliche  Bemühen  Friedrich  Wilhelms  III.,  die  konfessionelle 
Spaltung  im  Protestantismus  zu  beseitigen.  Da  ein  Widerstand  der 
Gemeinden  kaum  zu  befürchten  war,  erklärte  der  König  am  27.  Sep- 
tember 1817,  daß  er  gemeinsam  mit  den  Lutheranern  das  Abendmahl  ein- 
nehmen wolle.  Am  1.  Oktober  nahm  eine  Versammlung  der  Berliner 
Geistlichkeit  unter  Schleiermachers  Vorsitz  einen  Antrag  Hansteins,  der 
nach  derselben  Seite  zielte,  an.  Am  300-Jahr-Feste  der  Reformation 
versammelten  sich  63  Geistliche,  alle  theologischen  Doktoren  und  Pro- 
fessoren und  viele  Beamte  in  der  Nikolaikirche,  um  ein  gemeinsames 
Abendmahl  zu  feiern;  Bruderkuß  und  Händedruck  wurden  gewechselt. 
Schleiermacher  war  auch  hierbei  die  eigentliche  Seele  der  Bewegung: 
er  war  mit  großer  Stimmenmehrheit  zum  Präsidenten  der  allgemeinen 
Kreissynode  gewählt  worden,  zu  seiner  eigenen  Überraschung.  Er  verfaßte 
auch  die  „Erklärung"  an  die  lutherischen  Gemeinden  und  an  die  gesamte 
protestantische  Kirche  und  betonte  darin  wieder,  daß  dogmatische  Unter- 
schiede die  Kirchengemeinschaft  nicht  hindern  sollten. 


1  Notgedrungener  Bericht  aus  meinem  Leben.     2.  Teil.     1847- 
=  Lenz  II,  1,  97. 


Einleitung.  LXXXVII 

Das  Wartburgfest  zeitigte  schlimme  Folgen.  Die  große,  schöne  Tat 
des  Königs  wurde  durch  die  weiteren  Maßnahmen  der  Regierung  illu- 
sorisch gemacht:  es  herrschte  völlige  Unklarheit  über  die  Art  der  Unions- 
einführung, später  versuchte  man,  durch  Befehl  und  Zwang  die  Union 
einzuführen,  ohne  die  freie  Bestimmung  der  Gemeinden  abzu- 
warten. Zwar  breitete  sich  die  Union  allmählich  weiter  aus:  in 
Nassau  wurde  sie  1817  eingeführt,  in  Rheinbayern  1818,  in  Baden 
1821,  in  Reinhessen  1822  ;i  doch  regte  sich  scharfer  Widerstand, 
und  zwar  zunächst  in  den  95  Thesen  des  Archidiakonus  Claus  Harms 
in  Kiel.  Da  heißt  es  recht  drastisch:  „Die  Vernunft  geht  rasen  in  der 
lutherischen  Kirche:  reißt  Christum  vom  Altar,  schmeißt  Gottes  Wort 
von  der  Kanzel,  wirft  Kot  ins  Taufwasser,  mischt  allerlei  Leute  beim 
Gevatterstand,  zischt  die  Priester  aus  und  alles  Volk  ihnen  nach,  und  hat 
das  schon  so  lange  getan.  Noch  bindet  man  sie  nicht?  (71.)  Als  eine 
arme  Magd  möchte  man  die  lutherische  Kirche  jetzt  durch  eine  Kopu- 
lation reich  machen.  Vollzieht  den  Akt  ja  nicht  über  Luthers  Gebein! 
Es  wird  lebendig  davon  und  dann  —  wehe  euch"  (75).  Diesen  übrigens 
ehrlich  gemeinten  Grobheiten  beizupflichten,  fühlte  sich  ein  Mann  be- 
rufen, der  bisher  sich  als  liberal  und  unionsfreundlich  aufgespielt  hatte: 
der  Oberhofprediger  Ammon  in  Dresden.  Gegen  ihn  und  damit  auch 
zu  seinem  Bedauern  gegen  den  wackern  Harms  mußte  Schleiermacher 
zum  Schutze  der  Union  eine  Streitschrift  verfassen,  die  wieder  ein 
Meisterstück  in  spitziger  Kritik  ist.  Der  doppelzüngige  Herr  Oberhof- 
prediger vermochte  mit  seinen  schwächlichen  Entgegnungen  nichts  aus- 
zurichten. Doch  von  allen  Seiten  rührten  sich  nun  wieder  die  Reaktionäre, 
so  daß  Schleiermacher  im  Reformationsalmanach  1819  „über  den  eigen- 
tümlichen Wert  und  das  bindende  Ansehen  symbolischer  Bücher"  schreiben 
mußte.  Hier  kämpfte  er  gegen  die  neu  aufschießende  Orthodoxie  für 
die  unbedingte  Freiheit  der  Bibelforschung  gegenüber  einer  dogmatischen 
Beschränkung  und  drang  zu  einem  verinnerlichten  Begriff  der  Kirche 
vor.  „Gebt  unsern  Gemeinden  eine  öffentliche  Stimme  .  .  .,  daß 
die  Gesamtheit  sich  frei  äußern  möge,  wo  ihr  frommer  Sinn  befriedigt  und 
wo  er  verletzt  wird  in  Wort  und  Tat."  So  finden  wir  Schleiermacher 
fortgesetzt  im  Kampfe:  langsam  nur  ging  die  Union  in  Berlin  und  Um- 
gegend vorwärts.  Polizeilichen  Druck  suchte  er  als  Präsident  der  Synode 
fernzuhalten,  und  machte  sich  viel  Mühe  mit  der  Untersuchung  der 
Ursachen   zur    Unionsverweigerung. 


1  Kahnis,    Der   innere   Gang   des   deutschen    Protestantismus.      3-  Aufl. 
Leipzig  1874,  und  Hering,  Geschichte  der  kirchlichen  Unionsversuche.     1836. 


LXXXVIII  Einleitung. 

In  solchen  von  Hoffnung  nur  wenig  durchsonnten  Zeiten  bedeutete 
ihm  das  Zurückziehen  in  seine  stille  HäusHchkeit  das  einzige  Glück. 
Drei  Mädchen  hatte  seine  Gattin  ihm  geschenkt,  Schwester  Nanny  hatte 
sich  1817  mit  Arndt  verheiratet.  Dazwischen  machte  Schleiermacher  zur 
Erholung  im  Sommer  1816  eine  Ttägige  Fußtour  durch  den  Thüringer 
Wald,  im  Herbst  1818  reiste  er  mit  Reimer  und  einem  Offizier  nach 
Tirol  und  Salzburg  und  erfreute  sich  in  Bayreuth  an  einem  Besuch  bei 
Jean  Paul. 

Politische  Verdächtigung. 

Die  Gründung  der  Burschenschaften,  das  Wartburgfest,  Jahns  Turn- 
plätze: das  alles  hatte  schon  seit  längerer  Zeit  den  Verdacht  der  Regie- 
rungen erweckt.  Metternich,  der  kühle  Dämon  seiner  Zeit,  hatte  auf  dem 
Aachener  Kongreß  dem  preußischen  Könige  alle  Verfassungspläne  aus- 
geredet. Da  brachte  die  wahnsinnige  Mordtat  Sands  den  Zündstoff  zur 
Explosion.  Eine  nervöse  Angst  vor  Revolutionen  bemächtigte  sich 
weitester  Kreise,  selbst  Männer  wie  Hegel,  Solger  und  Gneisenau  glaubten 
an  eine  bevorstehende  europäische  Revolution.  Der  tote  Kotzebue  „spukt 
und  tobt  ganz  gewaltig  herum,  und  wenn  sich  ein  paar  Leute  zanken, 
hat  er  sie  gehetzt",  schrieb  damals  Schleiermacher.  Er  wunderte  sich, 
daß  er  vorläufig  noch  ungeschoren  blieb  (Brief  vom  30.  Sept.  1819 
an  August  Twesten^).  Gegen  das  Turnen  ging  man  zuerst  vor  — 
ohne  daß  die  Jugend  sich  darüber  übermäßig  ereiferte.  „Es  ist  mir  schon 
betrübt  zu  sehen,  mit  welcher  Leichtigkeit  die  Knaben  den  Verlust  des 
Turnplatzes  ertragen.  Anfangs  zwar  wollten  Göschens  Otto  und  Ehren- 
fried [der  Stiefsohn  Schleiermachers]  den  König  zur  Rede  stellen  und 
waren  wirklich  schon  bis  auf  die  Rampe  gekommen,  wo  die  Schildwache 
sie  zurückwies;  nun  aber  haben  sie  sich  gefunden,  als  wäre  nichts." ^ 
Mit  seiner  Sympathie  für  das  Turnwesen  setzte  sich  Schleiermacher  in 
scharfen  Gegensatz  zu  dem  zweiten  Freunde  aus  den  romantischen  Tagen, 
zu  Steffens  in  Breslau.  Dieser  hatte  1818  in  seiner  Schrift  „Das  Turnspiel" 
und  1819  in  seinen  „Karikaturen  des  Heiligsten"  das  Turnen  scharf 
verurteilt.  3  So  gingen  die  Freunde  auseinander  —  Fr.  Schlegel  war 
katholisch  geworden,  Steffens  jetzt  ein  Reaktionär  und  Lutheraner. 


*  D.  August  Twesten   nach  Tagebüchern  und   Briefen   von  C.   F.   Heinrici. 
Berlin  1889-     S.  352. 

"^  An  Arndt,  17-  Mai  1819,  Notgedrungener  Bericht. 
3  Richard  Petersen,  Henrik  Steffens.     Gotha  18S4. 


Einleitung.  LXXXIX 

Die  Zeiten  wurden  schlimmer.  Bei  Reimer  und  Arndt  fanden  Haus- 
suchungen statt,  de  Wette,  der  an  Sands  Mutter  einen  Trostbrief  ge- 
schrieben, wurde  entlassen.  ^  Der  König  drohte  allen  Professoren  mit 
Absetzung,  die  für  Jahn  ein  günstiges  Zeugnis  abgelegt  hatten;  Schleier- 
macher nannte  sich  selbst  in  einem  Schreiben  an  den  Staatskanzler  als 
Ratgeber  und  Autor  bei  dieser  Sache.  „Die  gute  Folge,  die  ich  erwarte, 
ist  die,  daß  das  Interesse  an  der  Konstitution  dadurch  weit  allgemeiner  ver- 
breitet werden  wird  als  bei  uns  bisher  der  Fall  war"  (an  Twesten). 
Unter  Metternichs  Einfluß  wurde  seit  den  Karlsbader  Beschlüssen  die 
preußische  Regierung  immer  reaktionärer,  trotzdem  neben  Hardenberg 
W.  V.  Humbold  ins  Ministerium  berufen  wurde.  Da  dieser  aber  dem 
Staatskanzler  feindlich  gegenüberstand,  wurde  dadurch  nichts  gebessert.  2 
Schleiermacher  war  selbst  auf  Haussuchungen,  gar  auf  Arrest  gefaßt, 
bewahrte   aber  vollständige  Ruhe  und  Entschlossenheit. 

Am  21.  März  1820  schrieb  er  an  Arndt:  „Seit  länger  als  14  Tagen 
ist  wieder  die  ganze  Stadt  voll  davon,  daß  ich  abgesetzt  sei  oder  werden 
solle.  Das  Faktum,  das  dabei  zum  Grunde  liegt,  ist  einmal,  daß  der 
Staatskanzler  sich  die  Akten  der  Fakultät,  de  Wettes  Entlassung  betreffend, 
hat  geben  lassen,  und  dann,  daß  Schulz  sehr  darauf  inquiriert  hat, 
was  für  Gesundheiten  ich  am  9.  Februar,  wo  die  Studenten  das  Bewaff- 
nungsfest feierten,  ausgebracht  habe."  Und  am  20.  Juni:  „Unser 
munteres  Studentenvolk,  welches  sich  Gott  sei  Dank  durch  alle  Plackereien 
nicht  knicken  läßt,  hat  den  18.  in  Treptow  gefeiert,  und  ich  bin  auf 
die  Gefahr,  daß  wieder  ein  paar  verhaftet  und  über  meine  ausgebrachten 
Gesundheiten  inquiriert  werden  möchten,  mitten  unter  ihnen  gewesen; 
denn  es  tut  wohl  jetzt  mehr  als  jemals  not,  sich  durch  das  Leben 
mit  der  Jugend  zu  erquicken."  Unentwegt  ging  Schleiermacher  seine 
Bahn  fort.  Seit  1819  arbeitete  er  an  dem  theologischen  Hauptwerk, 
der  Glaubenslehre,  daneben  an  neuen  Auflagen  von  Reden,  Monologen 
und  Predigtsammlung.  So  wirkte  die  drohende  Gefahr  nicht  lähmend 
auf  ihü,  sondern  spornte  ihn  zu  höchster  Anspannung  aller  Kräfte. 

Am  12.  April  verfügte,  geradezu  gegen  Schleiermacher  gemünzt,  der 
König,  daß  die  Entscheidung  über  angeklagte  Geistliche  allein  in  der 
Hand  des  Ministers  liegen  solle.  Schleiermacher  erwartete  seinen  Namen 
obenan  auf  der  Proskriptionsliste  zu  sehen.  Im  August  bat  er  um  Urlaub 
für  eine  Reise  nach  Tirol  —  trotzdem  es  Ferienzeit  war,  wurde  dieser 
verweigert;  ja,  selbst  eine  kleinere  Reise  im  Inland  ward  nicht  gestattet. 


^  de  Wettes  Aktensammlung  über  seine  Entlassung.     Leipzig  1820. 

*  Flathe,  Zeitalter  der  Restauration  und  Revolution.     Berlin  1883.     S.  66. 


XC  Einleitung. 

Erst  nach  einem  Gesuch  beim  König  und  beim  Staatskanzler  erhielt  er 
die  Erlaubnis  zu  einer  4wöchigen  Reise,  wie  er  glaubte  nur,  um  sich 
für  die  bevorstehenden  Leiden  kräftigen  zu  können.  Trotz  dieser  An- 
feindungen hielt  Schleiermacher  am  17.  November  1822,  dem  22jäh- 
rigen  Regierungsjubiläum  Fr.  Wilhelms  III.,  eine  Predigt,  in  der  er 
mit  herzlicher  Wärme  seine  Vaterlandsliebe  und  Königstreue  an  den 
Tag  legte.  In  sittlicher  Größe  und  Selbständigkeit  behauptete  sich 
diese  wahrhaft  männliche  Natur,  trotz  „der  bitteren  Feindschaft  aller 
derer,  die  am  meisten  gelten".  Zu  diesen  Feinden  hatte  sich  auch 
Hegel  gesellt,  der  es  sich  gefallen  lassen  mußte,  als  Philosoph  der 
Reaktion  ausgerufen  zu  werden.  Er  war  in  jeder  Beziehung  der 
Gegensatz  zu  Schleiermacher:  —  ihm  war  die  Selbstentwicklung 
des  absoluten  Geistes  alles,  während  Schleiermacher  von  der  Persön- 
lichkeit ausging,  er  war  Intellektualist,  während  Schleiermacher  das 
Gefühl  als  Lebensmacht  hervorhob.  Das  hätte  einen  so  bedeutenden 
Mann  aber  nicht  dazu  bewegen  dürfen,  dem  angegriffenen  Kollegen  in 
den  Rücken  zu  fallen,  wie  er  es  1822  in  der  Vorrede  zu  Hinrichs 
„Religionsphilosophie"  tat.  „Gründet  sich  die  Religion  im  Menschen 
nur  auf  ein  Gefühl,"  lesen  wir  da,  „so  hat  solches  richtig  keine 
weitere  Bestimmung,  als  das  Gefühl  seiner  Abhängigkeit  zu  sein,  und 
so  wäre  der  Hund  der  beste  Christ,  denn  er  trägt  dieses  am  stärksten 
in  sich  und  lebt  vornehmlich  in  diesem  Gefühle.  Auch  Erlösungsgefühle 
hat  der  Hund,  wenn  seinem  Hunger  durch  einen  Knochen  Befriedigung 
wird."  Daß  auch  die  hegelisierenden  Theologen  über  Schleiermacher  her- 
fielen, versteht  sich.  Später  widersetzte  sich  Hegel  auch  der  Aufnahme 
Schleiermachers  als  Mitarbeiter  an  den  seit  1827  erscheinenden  „Jahr- 
büchern für  wissenschaftliche  Kritik".  ^  So  stand  Schleiermacher  im  Kampf 
nach  allen  Fronten.  Die  Kirchenverfassungssache  ging  nicht  vom  Fleck: 
keine  Gemeindesynode  kam  zustande.  Man  wollte  eben  keine  repräsen- 
tative   Verfassung,    auch   nicht   auf  kirchlichem   Gebiete. 

Als  Krönung  all  dieser  Widerwärtigkeiten  schien  das  Schlimmste 
zu  drohen:  im  Januar  1823  wurde  Schleiermacher  dreimal  auf  das  Polizei- 
präsidium geladen,  um  über  Briefe,  die  man  bei  Arndt  und  Reimer  ge- 
funden, sich  zu  verantworten.  Schleiermacher  verteidigte  sich  ruhig,  sachge- 
mäß. Er  gab  nur  in  einem  Punkte  eine  Schuld  zu:  er  hatte,  allerdings 
in  vertrautesten  Briefen  nur,  nicht  immer  respektvoll  genug  von  der 
Person  des  Königs  gesprochen.  Man  entließ  ihn,  und  die  Untersuchung 
wurde   durch   Altenstein  so  verzögert,  daß   es   endlich  nicht  zur  Absen- 


^  L.  Geiger,  Berlin.     II,  612.     Berlin  1895- 


Einleitung.  XCI 

düng  des  Antrages  auf  Entlassung  Schleiermachers  kam.i  Als  Kamptz 
1824  Unterrichtsminister  wurde  und  die  Unterdrückung  der  Universitäten 
von  Neuem  begann,  da  fürchteten  die  Freunde  wieder  für  Schleiermacher. 
„Kampt/.  weiß  zu  gut,  wie  Schleiermacher  ihn  verachtet,  und  er  hat 
jetzt  die  Gewalt  in  Händen,  und  ein  solches  Bewußtsein  verzeiht  man  dem, 
der  es  in  uns  veranlaßt,  gewiß  nicht"  (Frau  Prof.  Horkel  an  Twesten, 
1.  Juni  1824).  1828  gab  es  noch  einmal  einen  bösen  Zwist  mit  Altenstein 
über  das  Fernbleiben  Schleiermachers  von  Sitzungen  und  Prüfungen; 
Schleiermacher  wollte  seine  Entlassung  nachsuchen.  Das  Unrecht  liegt 
hierbei  nicht  ganz  auf  Seiten  des  Ministers:  Schleiermacher  ging  in 
seinem   Kampfesmut  wohl  etwas  zu  weit.  ^ 

Letzte  Kämpfe  und  Jahre. 

Weihnachten  1821  war  eine  neue,  vom  Könige  entworfene  Agende 
erschienen,  man  hatte  die  Absicht,  sie  bald  durch  Kabinettsordres  in  der 
ganzen  Landeskirche  einzuführen.  Der  kleinste  Teil  der  Geistlichen  nur 
stimmte  der  Neuerung  zunächst  bei,  die  dahin  zielte,  die  alte  lutherische 
Messe  einzuführen,  wie  sie  der  König  seit  1820  in  der  Kirchenordnung 
seiner  Vorfahren  kennen  gelernt  hatte;  aber  da  die  Regierung  mit  allen 
Mitteln  für  die  Annahme  wirkte,  der  König  drohte,  Prof.  Augusti  das 
Recht  des  Königs,  eine  neue  Liturgie  zu  befehlen,  verteidigte,  ergab 
eine  erneute  Umfrage  1824,  daß  von  1311  Kirchen  der  Provinz  nur 
175  sich  zurückhielten.  3  Allgemein  war  ein  Einlenken  in  die  „Recht- 
gläubigkeit" zu  bemerken.  Da  hielt  Schleiermacher  nicht  länger  zurück, 
sondern  veröffentlichte  die  Schrift:  „Über  das  liturgische  Recht  evan- 
gelischer Landesfürsten.  Ein  theologisches  Bedenken  von  Pacificus  Sin- 
cerus".  Es  handelte  sich  für  ihn  darum,  die  Freiheit  der  protestantischen 
Kirche  gegen  ein  persönliches  Regiment  zu  schützen.  Mit  schneidiger 
Kritik  zeigt  Schleiermacher  hier,  daß  das  liturgische  Recht  lediglich  der 
Kirche  gehört;  damit  trat  er  nicht  nur  Eylert,  Augusti  und  den  Hof- 
theologen entgegen,  sondern  auch  dem  Könige  selbst.  Dieser  urteilte 
trotzdem  (nach  Eylerts  Mitteilung)*  zuerst  günstig  über  die  Schrift: 
„Ich  habe  sie  mit  Vergnügen  gelesen,"  denn  er  hatte  ein  ehrliches 
Wollen    zum    Besten    der    Kirche    —    aber    seine    Berater    wußten    ihm 


1  Lenz  II,  1,  175-  -  Lenz  a.  a.  O.  359 f-  ^  Foerster,  II,  116. 

*  Charakterzüge  III,  1,  362.     Foerster  bezweifelt  diese  Notiz  ohne  nähere 
Begründung  II,  132. 


XCII  Einleitung. 

dieses    Streben    nach    Freiheit   als   revolutionär    darzustellen    —   und   so 
blieb  Schleiermachers   Schrift   ein  nur  moralischer  Sieg. 

Hegel  fuhr  inzwischen  fort,  in  seinem  Kolleg  über  die  Unwissenheit 
Schleiermachers  von  Gott  zu  schimpfen  —  der  Angegriffene  nahm  kaum 
Notiz  davon.  1  Dem  Meister  folgte  der  Schüler:  Marheineke,  Schleier- 
machers Kollege  an  der  Dreifaltigkeitskirche,  griff  den  Pacificus  an, 
wohl  wissend,  wer  sich  dahinter  verbarg.  Er  verdächtigte  Schleier- 
machers Tendenzen  und  verteidigte  die  absolute  Fürstengewalt  in  Sachen 
der  Kirche.  Ihm  trat  in  einer  zweiten  Schrift  Augusti  an  die  Seite, 
dem  dann  noch  Ammon  auf  königlichen  Wunsch  beisprang.  Als  das 
Ministerium  dann  am  4.  Juli  1825  befahl,  daß  alle  Gemeinden  sich  ent- 
weder zur  neuen  Agende  bekennen,  oder  die  alte  in  strenger  Form,  ohne 
jede  Abweichung  benutzen  sollten,  da  mußte  Schleiermacher  auch  als 
Prediger  Stellung  nehmen,  vor  allem,  da  er  noch  persönlich  zur  Äuße- 
rung aufgefordert  worden  war.  Ihm  schlössen  sich  noch  11  Berliner 
Geistliche  zu  einer  „Vorstellung"  bei  dem  Minister  Altenstein  an,  in 
der  sie  gegen  die  Willkür  protestierten.  Am  1.  März  1826  wurde  eine 
zweite  von  Schleiermacher  verfaßte  Eingabe  gemacht,  direkt  an  den  König, 
der  sie  sehr  ungnädig  abwies.  Umsonst!  Auf  weitere  Zwangsverfügungen 
wagten  die  12  eine  neue  Gegenvorstellung  vom  27.  Juni  (ebenfalls  von 
Schleiermacher)  bei  Altenstein.  Da  erschien  noch  Schleiermachers  letzte 
Schrift  in  diesem  unerquicklichen  Streit:  das  „Gespräch  zweier  selbst- 
überlegender Christen  über  die  Schrift:  Luther  inbezug  auf  die  neue 
preußische  Agende".  Letztere  Schrift  rührte  zum  guten  Teil  von  Friedrich 
Wilhelm  III.  selbst  her  —  trotzdem  wagte  Schleiermacher,  ungeachtet 
seiner  gefährlichen  Lage,  nochmals  ein  Wort.  Er  zeigte  kurz  und  schla- 
gend, wie  wenig  die  geübte  Wilkür  und  die  rückschrittliche  Tendenz 
im  Sinne  Luthers  wären.  Er  forderte  hier,  wie  schon  immer:  eine  Er- 
neuerung der  Kirche  durch  die  Entwicklung  einer  freien  Kirchenver- 
fassung.- Inzwischen  sah  die  Regierung  ein,  daß  es  unzweckmäßig  sei, 
weitere  Gewalt  gegen  die  12  anzuwenden,  zumal  der  Magistrat  und 
der  Kronprinz  auf  ihrer  Seite  standen;  man  lenkte  ein.  Ein  scharfer 
Verweis  wurde  ihnen  erteilt,  gegen  den  Schleiermacher  protestierte.  Dann 
gab  die  Regierung  zu  (Kabinettsordre  4.  1.  1829),  daß  für  jede  Provinz 
gewisse  Abweichungen  gestattet  werden  sollten,  Schleiermacher  sicherte 
sich  noch  besondere  Freiheit  durch  eine  Erklärung  an  den  Minister  — 
und  dann  gaben  die  12  ihren  Widerstand  auf.  Schleiermacher  hatte 
innerlich    seine    Stellung   bewahrt,    wenn    er   auch    äußerlich    nachgeben 


1  Br.   IV,  309.  ^  Foerster,  II,  157- 


Einleitung.  XCIII 

mußte.  Er  erlebte  die  Genugtuung,  daß  die  Regierung,  auf  Wunsch  des 
Kronprinzen,  seine  Hilfe  erbat,  als  in  Schlesien  Scheibel  seine  Sekte 
gründete.  Damals  erhielt  Schleiermacher  den  roten  Adlerorden  III.  Klasse 
(1831)  —  die  erste  Auszeichnung  seines  Lebens.  „Es  erfolgten  Ein- 
ladungen von  Prinzen,  die  früher  nie  daran  gedacht  hatten,  und  er 
war  mit  einem  Male  ein  populärer  Mann  auch  in  den  höchsten  Regionen 
geworden.     (E.   v.  Willich.)  ^ 


Inzwischen  war  das  Werk  erschienen,  welches  das  Grundbuch  der 
modernen  Theologie  zu  werden  bestimmt  war:  die  Glaubenslehre.- 
Schleiermacher  hatte  sie  geschrieben,  um  der  Zerfahrenheit  der  eigenen 
Zeit  entgegen  zu  wirken;  den  meisten  Zeitgenossen  aber  blieb  sie 
unverständHch.  Im  Sommer  1822  erschien  der  2.  Band  —  Rationalisten 
und  Supranaturalisten  fielen  gleich  grimmig  darüber  her.  Auch  die  Führer 
der  beginnenden  neuen  Schule,  F.  Chr.  Baur  und  später  D.  Fr.  Strauß, 
ebenso  Braniß  und  Fries  mit  seiner  Schule  erklärten  sich  gegen  Schleier- 
machers Dogmatik;3  und  heute  finden  wir  z.  B.  bei  Pfleiderer  eine 
starke  Kritik  der  Glaubenslehre.  Der  Grund  für  diese  Ablehnung  ist 
wohl  in  der  Schwierigkeit  zu  suchen,  das  Problem  des  Verhältnisses  von 
Christentum  und  Wissenschaft  klar  zu  durchschauen,  wie  es  sich  bei 
Schleiermacher  herausgebildet  hatte.  Strauß  hatte  schon  die  richtige 
Bemerkung  gemacht,  daß  Schleiermacher  in  der  Glaubenslehre  nie  aus  der 
Rolle  fällt,  sondern  wirklich  alle  Sätze  aus  dem  Abhängigkeitsgefühl 
herauspinnt.  *  Trotzdem  hält  er  das  nur  für  einen  nachträglichen  Ausputz 
der  ursprünglich  philosophisch  gewonnenen  Anschauungen,  für  eine  „Kutte 
des  religiösen  Gefühles",  die  den  philosophischen  Truppen  umgeworfen 
wurde.  Tatsächlich  hat  Schleiermacher  schon  in  der  Kritik  von  Schel- 
lings  Vorlesungen  über  die  Methode  sich  von  einer  spekulativen  Be- 
gründung des  Christentums  losgesagt.  Für  ihn  begründet  lediglich  der 
Glaube  an  Christum  als  den  Erlöser  die  Christlichkeit  (§  14).  Damit 
weist  er  Beweise  aus  dem  Buchstaben  der  Bibel  ab,  ebenso  Spekulation, 


^  „Aus  Schleiermachers  Hause".  Jugenderinnerungen  seines  Stiefsohnes. 
Berlin  1909-     S.  141. 

"^  Vgl.  „Die  Leitsätze  der  ersten  und  zweiten  Auflage  von  Schleiermachers 
Glaubenslehre",  nebeneinander  gestellt  von  M.  Rade.     1904. 

^  H.  Mulert,  Die  Aufnahme  der  Glaubenslehre  Schleiermachers.  Zeitschr. 
f.  Theol.  u.  Kirche  1908. 

^  Charakteristiken  und  Kritiken.     1839-     S.  I63 


XCIV  Einleitung. 

Geschichtsphilosophie  und  Scholastik.  ^  „Der  prinzipielle  Verzicht  auf 
die  spekulative  Methode  ist  die  grundlegende  Tat  der  Schleiermacher- 
schen  Theologie"  (Scholz).  Und  doch  war  die  Philosophie  für  Schleier- 
rnacher  von  unendlichem  Wert,  sie  erst  schuf  ihm  die  Vertiefung  aller  Er- 
kenntnis. Mußte  deshalb  ein  Dualismus  zwischen  Kopf  und  Herz  be- 
stehen, wie  Jacobi  es  wollte?  Für  Schleiermacher  persönlich  lag  darin 
kein  Problem,  denn  seine  ganze  Entwicklung  bestand  in  einem  immer 
innigeren  Verschmelzen  von  Philosophie  und  Religion.  So  hat  er  denn 
auch  stets  ausgesprochen,  daß  in  demselben  Subjekt  Glaube  und  Philo- 
sophie geeint  sein  können.-  Er  wollte  einen  ewigen  Vertrag  zwischen 
Wissenschaft  und  Religion  stiften.  Die  Grundlage  und  der  Mittelpunkt 
seines  Philosophierens  ist  ein  lebendiger  Gottesbegriff;  auf  ihm  basiert 
die  Dialektik  ebenso  wie  die  Ethik.  Wissen  können  wir  von  Gott 
selbst  nichts  —  in  der  Glaubenslehre  wie  in  der  Dialektik  tritt  seine 
Unpersönlichkeit  klar  hervor.  Gott  ist  das  „Woher"  des  Abhängigkeits- 
gefühles 3,  er  ist  die  erahnte,  von  uns  unerreichbare  Identität  von  Realem 
und  Idealem.  Jedenfalls  ist  dieser  durch  platonische  und  schellingsche 
Gedanken  belebte  Spinozismus  für  eine  Annäherung  an  das  Christentum 
besonders  geeignet,  wenn  man  auch  nicht  —  wie  Scholz  das  will  — 
von  einem  direkt  „christlichen  Gepräge  seiner  Philosophie"  reden  kann. 
Die  pantheistische  Fassung  der  Gegenwart  Gottes  in  der  Welt  bleibt 
auch  in  der  Glaubenslehre  bestehen.  Da  nun  die  Philosophie  so  viel 
Einfluß  auf  die  Grundlagen  des  religiösen  Weltbildes  hat,  muß  natür- 
lich vieles,  was  allgemein  noch  zum  Wesen  des  Christentums  gerechnet 
wird,  fortfallen.  Über  alle  Äußerlichkeiten  erhebt  sich  Schleiermachers 
Religion  durch  ihren  philosophischen  Gehalt.  Und  so  gelingt  es  ihm,  die 
Religion  in  streng  wissenschaftlicher  Form  zu  begründen,  ohne  doch 
sie  durch  die  Wahrheit  der  philosophischen  Sätze  stützen  zu  wollen.  Da  in 
seiner  Persönlichkeit  Christentum  und  Philosophie  zur  vollsten  Harmonie 
verschmolzen  waren,  da  sein  Hauptstreben  dahin  ging,  werktätig  seine 
Ideen  in  das  reale  Leben  einzubilden,  konnte  es  ihm  auch  gelingen,  in  der 
Theorie  eine  völlige  Verschmelzung  von  Wissenschaft  und  Christen- 
tum zu  erreichen,  ohne  beide  Mächte  in  ein  Kausalverhältnis  zu  setzen. 
Ob  diese  Verschmelzung  über  seine  Persönlichkeit  hinaus  Bestand  haben 
kann,  erscheint  allerdings  zweifelhaft  —  sie  war  jedenfalls  zu  individuell, 


1  H.  Scholz,    Christentum  und  Wissenschaft  in  Schleiermachers  Glaubens- 
lehre.    Berlin  1909.     S.  14. 

*  Zweites  Sendschreiben  an  Lücke,  S.  W.  I,  2,  649- 

3  E.  Zeller,  Theologische  Jahrbücher  1842,  S.  267. 


Einleitung.  XCV 

um  die  Bildung  einer  „Schleiermacher-Schuie*'  zu  ermöglichen.  ^  Für 
ihn  war  sie  Wesensausdruck  und  nicht  Konstruktion.  Vom  rein  philo- 
sophischen Standpunkt  angesehen,  hat  natürlich  seine  Philosophie  durch 
die  christlichen  Interessen  nicht  gewonnen,  es  mußte  durch  diese  abseits 
liegende  Tendenz  eine  gewisse  Trübung  in  der  konsequenten  Gedanken- 
bildung eintreten.  Das  harmoniert  aber  völlig  mit  Schleiermachers  geistiger 
Grundanlage,  die  weniger  auf  theoretische  Gedankenentwicklung,  als  auf 
Erkennen  der  Vergeistigungsmöglichkeiten  der  Einzeldinge  gerichtet  ist  — 
seine   Ethik   gipfelt  in   diesem   Sinne   in   der  Lehre  vom  höchsten   Gut. 

Die  Glaubenslehre  ist  ein  Werk  im  Geiste  des  Protestantismus, 
der  die  volle  Selbständigkeit  der  Vernunft  auch  in  Sachen  des  Glaubens 
anerkennt.  Unchristlich  aber  ist  sie  in  demselben  Sinne,  wie  es  nach 
Schellings  Urteil  einst  die  Weihnachtsfeier  gewesen  war:  denn  auch 
die  Glaubenslehre  enthält  ein  Christentum  von  geistig-aristokratischer 
Färbung,  sie  gibt  keine  Religion  der  Armen  im  Geist.  ^  Doch  wird  dieser 
Johanneische  Charakter  wieder  dadurch  gemäßigt,  daß  Schleiermacher  den 
größten  Nachdruck  auf  die  lebendige  Betätigung  der  Religion  im  Ge- 
meindeleben legt.  Eine  sittlich-soziale  Erneuerung  der  Menschheit  durch 
den  christlichen  Gemeingeist  ist  sein  Ziel  (Schenkel).  Die  Gemeinde 
muß  im  Mittelpunkt  des  kirchlichen  Lebens  stehen,  nicht  der  Klerus. 
Alle  Handlungen  in  der  Kirche  müssen  als  Handlungen  der  Gemeinde 
aufgefaßt,  nirgends,  auch  nicht  beim  Dienst  am  Wort  und  bei  den 
Sakramenten,  darf  der  Klerus  selbstherrlich  der  Gemeinde  gegenüber- 
treten. Und  so  werden  denn  die  Schwierigkeiten,  die  sich  aus  der 
Stellung  der  Person  Jesu  in  der  Glaubenslehre  ergeben,  aufgewogen  durch 
das  neue  Gemeindeprinzip ;  der  lebendige  Christus  ist  der  Geist  der  Gemeinde. 

Schleiermachers  Kirchenbegriff  berührt  sich  „in  einem  Haupt- 
punkt mit  dem  alten  echten  Kirchenbegriff,  in  der  Anerkennung 
der  dem  Individuum  vorgeordneten  zeugenden  Kraft  der  Mitteilung, 
der  die  eigene  Tätigkeit  erst  anregenden  Gnade,  der  alles  umfassenden 
historischen  Gesamtmacht.  Umgekehrt  hat  er  doch  auch  Elemente  des 
Sektenbegriffes,  die  Lebendigkeit  und  Mittätigkeit  der  Individuen,  die 
Abzielung  auf  aktive  Bewährung  an  Stelle  bloß  passiver  Hingebung 
an  die  kirchlichen  Gnadenmittel*'   (Troeltsch).  3 


*  A.  E.  Biedermann:  Ausgewählte  Vorträge  und  Aufsätze.  Berlin  1885-  S.  198. 

^  Vgl.  über  den  ästhetischen  Einschlag  der  Glaubenslehre:  Horst 
Stephan:  Die  Lehre  Schleiermachers  von  der  Erlösung.     1901,  S.  I42ff. 

^  Schleiermacher,  der  Philosoph  des  Glaubens.  Sechs  Aufsätze  (Moderne 
Philosophie,  Bd.  6).     191O.    S.  31. 


XCVI  Einleitung. 

In  seinen  beiden  Sendschreiben  an  Dr.  Lücke  1829  suchte  er  bei 
Gelegenheit  der  2.  Auflage  der  Glaubenslehre  die  Grundlagen  seiner 
Dogmatik  nochmals  klar  zu  machen,  nachdem  1819  eine  mit  de  Wette 
gegründete  Zeitschrift,  die  denselben  Zweck  verfolgte,  nach  dessen 
Entlassung  nicht  weiter  geführt  worden  war.  Gleichzeitig  war  die  Arbeit 
der  Gesangbuchkommission  abgeschlossen,  an  der  Schleiermacher  wenig 
Freude  gehabt  hatte.  Trotz  der  Proteste  in  Hengstenbergs  „evangelischer 
Kirchenzeitung"  und  einiger  Abneigung  des  Königs  wurde  das  neue  Ge- 
sangbuch in  fast  allen  Kirchen  Berlins  eingeführt.  Weitere  Kämpfe 
brachte  ihm  noch  die  Bekenntnisfrage:  auch  hier  wollte  man  etwas 
„Neues"  —  tatsächlich  nur  den  Rückgang  zum  Ältesten.  In  einem  Send- 
schreiben an  die  Theologen  Colin  und  Schulz  und  in  seinen  Predigten 
über  die  confessio  Augustana  stritt  Schleiermacher  für  die  unbedingte 
Freiheit   von   jedem   Buchstabenzwang. 

Eine  lange  Reihe  von  Jahren  haben  Schleiermacher  diese  Streitig- 
keiten gekostet  —  sehr  viel  wertvolle  Zeit  ging  ihm  durch  sie  für  seine 
Arbeiten  verloren.  Manchmal  hat  er  das  selbst  schmerzlich  empfunden, 
meist  aber  wußte  er  genau,  daß  seine  Mühen  nicht  verloren  wären.  „Für 
Schleiermacher  war  immer  Leben  mehr  als  Forschen  und  Denken" 
(Dilthey).  Den  größten  Teil  seiner  wissenschaftlichen  Aufzeichnungen 
konnte  er  nicht  selbst  für  den  Druck  fertig  gestalten;  dafür  hat  er  für  die 
Freiheit  des  Kirchenwesens  mit  aller  Kraft  aus  reinster  Gesinnung  gestritten. 

Trotz  aller  Verketzerungen  war  sein  Ansehen  als  Kanzelredner  und 
akademischer  Lehrer  immer  nur  gestiegen.  Seine  Predigten  wurden 
von  der  geistigen  Elite  besucht,  und  trotzdem  bezeugten  auch  einfache 
Männer,  daß  sie  Schleiermacher  völlig  verstehen  könnten.  Doch  war 
es  sein  eigentlicher  Beruf,  den  Gebildeten  das  Christentum  zu 
predigen.  1818  schon  hatte  er  seine  „Predigten  über  den  christlichen 
Hausstand"  gehalten,  die  1820  zuerst  erschienen  waren  und  1826  neu 
aufgelegt  werden  mußten  (vgl.  Bauers  Einführung  in  Bd.  III  dieser 
Ausgabe).  In  vernunftmäßiger  Durchdringung  wußte  er  das  Eigen- 
tümliche des  Christentums  auch  in  seinen  Predigten  festzuhalten; 
alles  diente  ihm  nur  dazu,  das  christliche  Bewußtsein  mitzu- 
teilen. „Hinreißend  war  die  Schärfe  des  Gedankens,  hinreißend 
vorzüglich  sein  eignes,  inneres  Erregtsein,  wenn  nach  ruhiger, 
klarer  Erklärung  des  Textes  und  Entwicklung  des  Stoffes  nun  die 
rednerische  Gewalt  des  bewegten  Gemütes  den  Hörer  nötigte,  auf  dem 
vorher  sorgfältig  bestimmten  Wege  nun  auch  zu  wandeln"  (Schweizer)  i. 


^  Schleiermachers  Wirksamkeit  als  Prediger.     Halle  1834.    S.  95- 


Einleitung.  XCVII 

Twesten,  der  Schleiermacher  in  diesen  Jahren  nahe  stand,  erzählt:  „Sonn- 
tag, den  22.  [Juli  1827]  machten  wir  uns  früh  auf,  um  in  Schleiermachers 
Kirche  zu  ziehen.  Er  predigte  um  neun.  Als  wir  in  die  eine  Kirchtüre 
traten,  war  dort  nicht  durchzukommen.  Wir  arbeiteten  uns  durch  die 
Menschenmassen  glücklich  hinaus,  da  klopfte  mich  jemand  auf  die  Schulter 
und  es  war  unser  freundlicher  Bleek,  der  uns  in  eine  andere  Tür, 
Schleiermachers  Stuhl  näher,  glücklich  hineinlotste  .  .  .  Sein  Auftreten, 
seine  Sprache,  die  Art,  wie  er  seinen  Gegenstand  behandelt,  ist  un- 
gemein schön  und  anziehend."  ^  Durch  seine  Predigertätigkeit  gewann 
Schleiermacher  einen  großen  Einfluß  auf  den  Berliner  Geist,  ja,  er 
repräsentiert  ihn  geradezu  in  den  20iger  Jahren.  So  berichtet  uns  z.  B. 
Adele  Schopenhauer  aus  dem  Juli  1820  von  einer  Predigt,  die  einen 
inneren    Erneuerungsprozeß   in  ihr   angeregt   habe.  - 

Auch  als  akademischer  Lehrer  hatte  er  einen  großen  Einfluß !  Im 
Wintersemester  1824/25  hatte  er  140  Zuhörer  im  ethischen  Kolleg.  Und 
das  in  den  Tagen  der  Erstarrung.  Das  tröstete  ihn  immer  wieder, 
wenn  er  sich  von  seinen  Kollegen  verlassen  sah.  Sein  persönliches 
Leben  lief  ruhig  dahin,  von  kleinen  Erholungsreisen  unterbrochen,  so 
einmal  nach  Rügen,  wo  seine  Frau  Saßnitz  als  Bad  „entdeckte",  indem 
sie  zum  ersten  Male  dort  in  einem  Fischerhause  Sommeraufenthalt  mit 
den  Kindern  nahm.  Das  gute  Verhältnis  zwischen  den  Gatten  wurde 
seit  1819  etwa  öfters  dadurch  gestört,  daß  Henriette  unter  den  Einfluß 
der  somnambulen  Frau  Fischer,  der  Schwester  ihres  späteren  Schwieger- 
sohnes, Prof.  Lommatzsch,  geriet.  Diese  Frau  hatte  die  größte  Macht 
auch  innerlich  über  sie,  und  so  ging  die  alte  Einheit  mit  ihrem  Gatten 
verloren.  Nur  dessen  grenzenlose  Güte  hat  alle  Reibungen  immer  wieder 
überwunden   (vgl.   E.  v.   Willichs   Erinnerungen,   S.  42  ff). 

Im  Herbst  1828  reiste  Schleiermacher  nach  England  und  predigte  in 
London  am  21.  September.  Auch  einen  schweren  Verlust  brachten  ihm  diese 
Jahre.  Am  2.  Februar  1820  war  ihm  sein  einziger  Sohn  Nathanael  geboren 
worden,  am  29.  Oktober  1829  mußte  er  ihn  von  sich  lassen  —  aufs  schmerz- 
lichste bewegt  hielt  er  ihm  selbst  die  Grabrede.  Das  war  eine  Wunde,  die 
nicht  mehr  heilte  (an  Bleek,  23.  April  1830).  Schon  1829  schrieb  er  an 
Twesten:  „Mein  Gefühl  sagt  mir,  daß  ich  nur  noch  eine  kleine  Anzahl 
frischer  Jahre  vor  mir  habe,  und  da  scheint  es  mir  pflichtmäßiger,  die 
noch  womöglich  zum  Schreiben  zu  verwenden,  damit  es  noch  eine 
Ernte  gebe  und  nicht  mein  ganzes  Feld  bloß  als  Grünfutter  abgeschnitten 


^  a.  a.  O.  S.  402  f. 

2  Tagebücher.     II,  55-     Leipzig  1909. 
Schleiermacher,  Werke.     I.  VII 


XCVIII  Einleitung. 

werde."  Zu  furchtbar  hatte  der  Tod  des  Kindes  den  Vater  getroffen. 
„Mir  war  es  nun  besonders,  seit  der  Knabe  angefangen,  das  Gymnasium 
zu  besuchen,  ein  eigener  Beruf,  ihn  unter  meine  nähere  Leitung  zu 
nehmen.  Zuletzt  hatte  ich  es  mir  eingerichtet,  daß  er  in  meiner  Stube 
arbeitete,  und  so  kann  ich  sagen,  es  war  keine  Stunde,  wo  ich  nicht 
des  Knaben  gedacht  und  um  ihn  Sorge  getragen  hätte,  so  daß  ich  ihn 
nun  auch  in  jeder  Stunde  vermisse.  Da  ist  nun  nichts  zu  tun,  als 
sich  zu  fügen  und  seinen  Schmerz  zu  verarbeiten"  (an  Gaß,  12.  Nov.  1829). 
In  das  Jahr  1830  fällt  auch  die  Einsegnung  des  jungen  Otto  v.  Bismarck 
durch  Schleiermacher,  der  ebenso  wie  sein  Bruder  den  Konfirmations- 
unterricht bei  dem  großen  Prediger  besuchte.  ^  Schleiermacher  wählte 
für  Bismarck  einen  Spruch,  den  dieser  nicht  vergessen  hat,  und  der 
voll  und  ganz  zu  seinem  Wesen  paßte:  Alles,  was  ihr  tut,  das  tut 
von  Herzen,  als  dem  Herrn  und  nicht  den  Menschen,  Kol.  3,  23.  Von 
der  kritischen  Gebotslehre  und  dem  Gottesbegriff  Schleiermachers  ist 
Bismarck  wohl  nicht  unberührt  geblieben;  doch  faßte  er  die  Religion 
rationalistisch  auf.  „Eine  innerliche  Macht  hat  die  Wärme  und  Gemüts- 
kraft des  Neubegründers  unserer  Religiosität  auf  ihn  nicht  ausgeübt" 
(Marcks).  Seit  dem  Herbst  1830  hielt  Schleiermacher  ein  längeres  Unwohl- 
sein von  abendlicher  Geselligkeit  zurück,  der  Arzt  verbot  ihm  auch,  auf  den 
Kirchhöfen  zu  sprechen.  1831  mußte  er  noch  einmal  die  Feder  zur  Abwehr 
von  Verdächtigungen  ergreifen:  das  Journal  „Messagen  des  Chambres" 
hatte  ihn  als  Führer  der  seit  der  Julirevolution  in  Berlin  entstandenen 
demokratischen  Partei  bezeichnet.  Ernst  und  würdig  wies  Schleiermacher 
das  in  einer  Zuschrift  an  den  „Staatsanzeiger"  ab,  ebenso  wie  das 
Lob,  das  ihm  die  französische  Zeitschrift  erteilte.  Im  Herbst  1833 
machte  er  seine  letzte  Reise;  sie  führte  ihn  nach  Schweden  und  Däne- 
mark. Er  überstand  die  sehr  stürmische  Seefahrt  und  die  anderen  Stra- 
pazen in  voller  Frische.  In  Kopenhagen  fand  ein  großes  Fest  zu 
seinen  Ehren  statt,  mehrere  Hundert  Studenten  versammelten  sich 
beim  Scheine  von  Fackeln,  Schleiermacher  hielt  verschiedene  Ansprachen, 
ein  begeistertes,  für  ihn  gedichtetes  Huldigungslied  wurde  gesungen  2: 
er  fühlte  sich  von  Verehrung  und  Liebe  getragen,  wie  es  ihm  in  solchem 
Maße  in  seinem  Vaterlande  nie  geschehen  war! 

Das  war  der  glänzende  Abschluß  seiner  Lebensbahn.  In  der  Nacht 
vom  6.  zum  7.  Februar  1834  brach  eine  heftige  Lungenentzündung  aus, 
die  am    12.   Februar  zum  Tode  führte,  der  ihm   nicht  unerwartet  kam. 


1  E.  Marcks,  Bismarck.     S.  73  f. 

2  Br.  II,  475. 


Einleitung.  IC 

Seine  Gattin,  die  ihm  1840  ins  Grab  folgte,  hat  uns  eine  genaue  Beschrei- 
bung der  letzten  Tage  gegeben.  ^  „Seine  Stimmung  war  während  der 
ganzen  Krankheit  klare,  milde  Ruhe,  pünktlicher  Gehorsam  gegen  jede 
Anordnung,  nie  ein  Laut  der  Klage  oder  Unzufriedenheit,  immer  gleich 
freundlich  und  geduldig,  wenngleich  ernst  und  nach  innen  gezogen."  Ein 
merkwürdiges,  symbolisches  Wort  ist  uns  erhalten:  „Ich  bin  doch  eigent- 
lich in  einem  Zustand,  der  zwischen  Bewußtsein  und  Bewußtlosigkeit 
schwankt,  aber  in  meinem  Innern  verlebe  ich  die  göttlichsten  Momente  — 
ich  muß  die  tiefsten  spekulativen  Gedanken  denken  und  die  sind  mir 
völlig  eins  mit  den  innigsten  religiösen  Empfindungen."  In  voller  Klar- 
heit teilte  er  den  Seinigen  das  Abendmahl  aus  und  nahm  es  selbst,  Wasser 
statt  Wein  für  sich  benutzend.  -  „Nun  kann  ich  auch  nicht  mehr  hier  aus- 
halten." Er  atmete  einige  Male  auf;  das  Leben  stand  still.  Unterdessen 
waren  alle  Kinder  hereingetreten  und  umgaben  knieend  das  Bett.  Sein 
Auge  schloß  sich  allmählich. 

Seine  Beisetzung  hatte  den  „Charakter  einer  allgemeinen  Volkstrauer". 
Ranke  erzählt  uns  davon:  20 — 30  000  Menschen  erfüllten  die  Straßen, 
alles  ging  zu  Fuß.  „Ich  erinnere  mich,  welch  einen  Eindruck  es  auf  mich 
machte,  als  wir  Schleiermacher  begruben,  und  die  ganze  lange  Straße 
hinab  an  allen  Fenstern,  an  allen  Türen  geweint  ward."^  In  der  Uni- 
versität hielt  Steffens  die  Trauerrede  und  wies  mit  innerer  Bewegung 
auf  die  „Tiefe  des  Gemütes  und  die  Reinheit  der  Gesinnungen"  des  Ver- 
ewigten hin.* 


Schleiermacher  war  ein  ethisch-pädagogisches  Genie.  Tiefer  als  an- 
dere Denker  hat  er  durch  seine  Reformbestrebungen  seine  Zeit  auf  den 
verschiedensten  Gebieten  beeinflußt  und  sie  weitergebracht  —  er  war 
Philosoph  in  dem  großen  Sinne  eines  Mannes,  der  die  Welt  nicht  auf  dem 
Punkte  ruhen  läßt,  auf  dem  er  sie  angetroffen,  sondern  der  in  idealem 
Streben  sie  dem  selbstgeschaffenen  Ideale  näher  führt.  Sein  Leben 
wurde  von  Ideen  geleitet,  von  Ideen,  die  er  nicht  aus  dichtender  Speku- 
lation gewonnen,  sondern  die  seinem  forschenden  Auge  aus  der  Fülle 
der  Welterscheinungen  selbst  erwachsen  waren.    Schleiermacher  ist  kein 


1  Br.  II,  482 ff. 

^  Schleiermachers  letzte  Predigt.     Mit  einer  Einleitung  neu  herausgegeben 
von  Joh.  Bauer,  19OS.     S.  17. 

=5  Sämtliche  Werke  53—54.     S.  311. 

*  „Drei  Reden  am  Tage  der  Bestattung".     Berlin  1834. 

VII* 


C  Einleitung. 

so  konsequenter  Theoretiker  wie  Fichte  etwa;  aber  er  ist  ihm  in  dem 
feinsinnigen  Durchdringen  des  Erfahrungsinhalts  mit  dem  verstehenden 
Gedanken  weit  überlegen.  So  wird  seine  Philosophie  auch  weiter  an- 
regend wirken,  denn  in  ihr  sind  Ideen  von  bleibendem  Werte  zur 
Formulierung  gekommen.  Schleiermacher  hat  selbst  unendlich  viel  dazu 
getan,  sein  Ideal  zu  verwirkHchen:  Idee  und  Wirklichkeit  in 
wahrer  Humanität  harmonisch  zu  einen.  Nicht  eine  Schule 
stiftete  er,  sondern  ein  Zeitalter  (Begriff  des  großen  Mannes,  III,  3,83). 
Er  ist  ein  „großer  Mann",  denn  er  ist  unersetzlich  (J.  Burckhardt).  Aus 
seinen  Werken  und  Taten  tritt  uns  seine  reine,  vollendete  Menschlichkeit 
strahlend  entgegen:  gemütv^olle  Weichheit  war  bei  ihm  mit  energischer 
Männlichkeit  gepaart  und  beides  war  zu  einem  harmonischen  Innenleben 
verschmolzen,  das  sich  in  der  selbstlosen  Hingabe  an  die  höchsten 
Zwecke  darstellte.  Schleiermachers  größtes  Werk  ist  sein  eigenes  Leben. 
Bettina  v.  Arnim,  die  in  den  30iger  Jahren  fast  täglich  in  Schleier- 
machers Hause  verkehrte,  urteilte  über  ihn:  „Ob  er  der  größte 
Mann  seiner  Zeit  sei,  wisse  sie  nicht,  aber  der  größte  Mensch  sei 
er  gewiß."  Dieses  reinmenschliche  Wesen  wird  uns  immer  im  Innersten 
bewegen,  wenn  wir  auch  bei  seinen  Lehren  nicht  immer  stehen  bleiben 
können. 


Inhaltsanalyse 

der  „Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre". 

Rudolf  Otto  hat  seine  Neuausgabe  der  „Reden  über  die  Religion" 
mit  einer  Inhaltsanalyse,  fortlaufend  unter  dem  Text,  versehen;  die 
„Grundlinien"  bedürfen  einer  solchen  Zergliederung  in  viel  höherem 
Maße.  Ich  ziehe  es  aber  vor,  sie  vorauszuschicken,  damit  das  Auge 
nicht  bei  der  Lektüre  zu  sehr  gestört  wird;  denn  gewiß  ist  diese 
Hilfe  für  sehr  viele  überflüssig.  Ich  bitte,  diese  Analyse  nur  als  eine 
Art  detaillierteren  Inhaltsverzeichnisses  anzusehen,  nicht  als  einen  zu- 
sammenhängenden Aufsatz;  nur  neben  dem  Text  selbst  kann  sie  be- 
nutzt werden,  nicht  allein! 

Vorrede. 

S.  5.  (der  vorliegenden  Ausgabe,  entsprechend  S.  3  der  S.  W.) 
Die  Kritik  verneint  nicht  die  Möglichkeit  der  Ethik  selbst,  sondern 
weist  auf  die  Punkte  hin,  von  denen  die  Verbesserung  ausgehen  kann. 

S.  6  u.  7.  Nur  für  die  ist  das  Buch  berechnet,  die  mit  den' 
kritisierten  Gegenständen   vertraut  sind. 

S.  8.    Erklärung  des  Stiles  der  Schrift. 

Einleitung. 

S.  9.    Die  gewöhnlichen  Arten  der  Kritik  sind  verfehlt. 

S.  10.  Hier  soll  eine  Kritik  der  wissenschaftlichen  Form  aufgestellt 
werden;  dazu  ist  der  Besitz  eines  schon  als  richtig  anerkannten  Systems 
unnötig.    Wohl  aber  muß  die  Gestalt  dem  Gehalt  entsprechen. 

S.  11 — 16.  Dabei  können  nur  solche  Ethiker  berücksichtigt  werden, 
deren  Ansichten  innerlich  ein  System  bilden.  Das  Vorhandensein  be- 
stimmter Begriffe  (Freiheit)  kann  nicht  ausschlaggebend  für  den  ethischen 
oder    unethischen    Charakter    einer    Lehre    sein. 

S.  16 — 18.  Die  Einteilung  der  Schrift  kann  sich  nicht  an  die  sog. 
„Schulen"  halten,  denn  das  sind  schwankende  Bezeichnungen.  Die  Kritik 
muß  inhaltlich  gegliedert  werden  in:  Kritik  der  Prinzipien,  der  ethischen 
Begriffe,  der  Vollständigkeit  der  Systeme.  Dabei  werden  die  einzelnen 
Schulen  in   verschiedener  Reihenfolge  besprochen. 

Schleiermacher,  Werke.     I.  Vlla 


CII  Inhaltsanalyse. 


Erstes  Buch. 

Kritik  der  höchsten  Grundsätze  der  Sittenlehre. 

Einleitung. 

S.  19.  Es  erscheint  notwendig,  daß  all  unsere  Erkenntnisse  an  ein 
höchstes  Wissen  angeknüpft,  aus  ihm  deduziert  werden;  so  auch  die 
höchste  Idee  der  Ethik.  Die  höchste  Wissenschaft  von  den  Gründen 
und  dem  Zusammenhange  aller  Wissenschaften  darf  nicht  wie  jede 
Einzelwissenschaft  auf  einem  obersten  Grundsatz  beruhen,  sondern  muß 
als  Ganzes  in  sich  selbst  ruhen,  kann  auch  nicht  bewiesen,  sondern 
muß  angenommen   werden.    „Wissenschaftslehre". 

S.  21.  Wir  wollen  die  Entstehungsarten  der  höchsten  Ideen  unter- 
suchen und  erkennen,  von  welchem  Bedürfnis  die  Bildung  einer  Ethik 
ausgegangen. 

S.  22.  Bei  den  Alten  ist  keine  gemeinsame  Ableitung  für  die  höchsten 
Ideen  der  logischen,  physischen,  ethischen  Erkenntnisse  zu  finden.  Eben- 
sowenig in  der  neuen  Philosophie  für  die  Verbindung  von  theoretischer 
und  praktischer   Philosophie. 

Auch  Kant  hat  wohl  noch  nicht  den  Gedanken  einer  systematischen 
Verknüpfung  aller  menschlichen  Erkenntnisse  gehabt,  trotz  seiner  „Archi- 
tektonik der  Vernunft".  Er  hatte  zu  viel  Vernunft  und  zu  wenig  Be- 
geisterung. 

S.  23.  Er  begnügt  sich  mit  einer  Einteilung  des  Vorhandenen,  ohne 
das  Fundament  zu  zeigen.  Wenn  er  die  Ethik  (System  der  Freiheit) 
zur  allgemeinen  begründenden  Wissenschaft  machen  will,  so  ist  das 
ein  Fehler,  weil  aus  ihr  nicht  die  Stellung  der  übrigen  Wissenschaften 
begründet  werden  kann.  Auch  die  Brücke  zwischen  theoretischem  und 
praktischem  System  durch  die  Ideen  von  Freiheit,  Unsterblichkeit  und 
Gott  ist  illusorisch. 

S.  24.  Die  Ethik  hat  es  nur  mit  dem  Inhalt  der  Vernunftgebote  zu 
tun,  nicht  mit  den  zur  Sanktion  hinzugefügten  Drohungen  und  Ver- 
heißungen. Was  nichts  miteinander  zu  tun  hat  —  Sittlichkeit  und  Glück- 
seligkeit —  kann   nicht  notwendig  verbunden   sein. 

Die  Idee  des  höchsten  Wesens  ist  in  der  theoretischen  Philosophie 
ein  Fehler,  in  der  praktischen  überflüssig  —  das  ist  aber  keine  Ver- 
bindung!   Kant  macht  auch  keine  Ableitung  aus  dieser  Idee. 

S.  25.  Auf  den  richtigen  Weg  kommen  wir,  wenn  wir  Glückseligkeit, 
Unsterblichkeit  und  Gott  als  Phantasieprodukte  ansehen. 


tnhaltsanalyse.  CHI 


S.  26,  27.  Fichte  gibt  die  Anknüpfung  seiner  Sittenlehre  an  die 
Wissenschaftslehre  nicht  an,  sondern  in  der  Sittenlehre  schafft  er  seine 
Wissenschaftslehre   um   und   findet   so   die   Anknüpfung. 

S.  28.  Bei  Fichte  kann  leicht  ein  Sprung  oder  Fehler  in  der 
Ableitung  verborgen  werden  bei  den  „Ansichten  und  Umsichten",  die 
den  Gang  des  Systems  unterbrechen. 

Auch  kann  die  „übrigens  sehr  tugendhafte  und  lobenswerte  Ver- 
meidung einer  all  zu  eng  bestimmten  Lehrsprache'*  Erleichterungen  ver- 
schafft haben. 

Mit  dem  bloßen  Wollen  soll  auch  zugleich  das  Sittengesetz  ge- 
funden sein. 

S.  29.  Fichte  behauptet,  daß  in  dem  allgemeinen  Bewußtsein  des 
Wollens  die  einzelnen  bes.  Pflichten  enthalten  sind,  läßt  aber  doch 
Selbsttätigkeit  auch  da  zu,  wo  bei  einer  Wahl  nicht  das  Bewußtsein  des 
allgemeinen  Gesetzes  vorhanden  ist.  Unmöglich  kann  mit  dem  All- 
gemeinen das  Besondere  bestimmt  sein,  sonst  müßte  auch  die  Wissen- 
schaftslehre aus  der  Urhandlung  alles  einzelne  ableiten. 

S.  30.  Wie  äußert  sich  der  Trieb  nach  Selbsttätigkeit  auf  das  ganze 
Ich?    Fichte  machte  Fehler  dabei. 

S.  31.  Er  verwechselte  das  gesetzliche  Denken  mit  dem  Denken  des 
Gesetzes.  i          '    1 

S.  32.  Aus  der  Forderung  einer  selbsttätigen  Bestimmung  wird 
ein  reiner  Trieb  abgeleitet,  der  sich  gegen  den  Naturtrieb  richtet.  Das 
könnte  höchstens   ein   Trieb  auf  Reflexion  sein. 

S.  33.  Widerspruch  zwischen  Naturtrieb  und  reinem  Trieb  falsch 
abgeleitet. 

Wie  soll  sich  das  Ich  seiner  Unabhängigkeit  annähern,  wenn  diese 
im  Unendlichen  liegt? 

S.  34.  Die  Verknüpfung  der  Sittenlehre  mit  dem  ersten  Ringe  der 
menschlichen  Erkenntnis  ist  bei  Fichte  unhaltbar. 

S.  35.  Plato  und  Spinoza  stellen  als  erstes  und  ursprüngliches  Wissen 
die  Erkenntnis  des  höchsten  Wesens  auf,  von  der  alles  abzuleiten  ist. 

S.  36.  Spinoza  haßte  die  Zweckbegriffe  und  verwechselte  mit  ihnen 
das  Ideal;  so  war  er  fast  stets  in  Feindschaft  dem  eigentümlich  Ethischen 
gegenüber.  „Man  kann  daher  nicht  leugnen,  daß  die  Ethik  ihm  fast 
wider  seinen  Willen  und  wohl  nur  polemisch  zustande  gekommen  ist, 
es  sei  nun,  um  die  gemeinen  Begriffe  zu  bestreiten  oder  um  seine 
Theorie  vom  höchsten  Wesen  zu  rechtfertigen  und  zu  berühren." 

S.  37.  Plato  faßt  die  Dinge  als  Gedanken  der  Gottheit  auf  und  den 
Menschen  ist  es  geboten,  Gott  ähnlich  zu  werden.    Nur  da  ist  die  Ver- 

VII  a* 


CIV  Inhaltsanalyse. 


knüpfung  alles  Denkens  zu  finden,  wo  man  von  dem  Unendlichen  als 
einzig  notwendigen   Gegenstande   ausgeht. 

S.  38.  Der  Wissenschaft  sind  stets  vorausgegangen:  das  Bewußtsein 
der  inneren   sittlichen   Zunötigung  oder  einzelne   sittHche   Begriffe. 

„Alles  aber  nicht  mit  Bewußtsein  noch  nach  festen  Gesetzen  Gebildete 
ist  schwankend  und  irgendwo  unbestimmt;  woraus  denn  die  Verschie- 
denheit der  höchsten  Grundsätze  sich  leicht  erklärt,  welche  die  doppelte 
Aufgabe  zu  lösen  hatten,  das  bereits  einzeln  Gefundene  entweder  zu 
vereinigen  oder  außer  Wert  zu  setzen,  und  jene  innere  Zunötigung  auf 
eine   befriedigende  Weise  auszusprechen." 

Erster  Abschnitt. 

S.  39 — 40.  Schwierigkeit  der  Einteilung,  Unbrauchbarkeit  von  Kants 
Tafel. 

S.  41.  Jeder  einzelne  Grundsatz  ist  mannigfaltig  in  seinen  Eigen- 
schaften und  Beziehungen;  diese  müssen  aufgesucht  werden,  um  zu  sehen, 
ob  sie  auf  die  wissenschaftliche  Tauglichkeit  des  obersten  Grundsatzes 
Einfluß  haben. 

Systeme  der  Glückseligkeit  —  Vollkommenheit. 

S,  42.  Die  ersteren  sind  auf  einen  Zustand  des  Bewußtseins  gerichtet, 
die  zweiten  auf  ein  bestimmtes  Sein.  Beides  ist  nicht  notwendig  ver- 
bunden. In  dem  System  der  Lust  ist  die  Handlung  oder  das  Sein  nur 
das  Mittel,  in  dem  der  Tugend  ist  das  Gefühl  nur  Zugabe. 

S.  43.  Shaftesbury  und  seine  Schule  sind  dem  Lustsystem  ergeben, 
trotz  des  vielen  Redens  von  der  Tugend;  denn  alles  endet  mit  dem  Be- 
weis, daß  nur  durch  die  Tugend  Glückseligkeit  zu  erreichen  ist.  Es 
läuft  darauf  hinaus,  glücklich  zu  sein,  ohne  etwas  zu  tun. 

S.  44.  Konsequent  wäre  die  höchste  Weisheit,  die  sittliche  Lust  in 
der  Einbildung  und  die  organische  in  der  Wirklichkeit  zu  genießen. 
Ähnlich  bei  Ferguson  und  Garve. 

S.  45.  Aristoteles  hat  ein  reines  System  der  Tätigkeit,  Lust  nur  als 
Probe  auf  Vollendung  der  Handlung. 

S.  46.  Noch  klarer  ist  das  bei  Spinoza:  um  ihrer  selbst  willen  muß 
die  reine   Tätigkeit,   das   Ethische  geliebt  werden. 

S.  47 — 48.  Bei  den  Stoikern  und  ähnlich  bei  Fichte  folgt  auf  eine 
vorsittliche   Stufe   die   ethische   Tätigkeit  der   Vernunft. 

S.  49 — 50.  Kyniker.  Den  Gegensatz  zwischen  System  der  Voll- 
kommenheit und   Glückseligkeit  aufzuheben,   ist  verkehrt. 

S.  51.    Kant  hat  den  Unterschied  von  formaler  und  materialer  Sitt- 


Inhaltsanalyse.  CV 


lichkeit  nicht  aufrecht  erhalten,  denn  ein  vernünftiger  Mensch  zu  werden, 
ist  ein  Inhalt,  ebenso  sein  höchstes  Gut. 

S.  51 — 53.  Neuer  Gegensatz:  zwiefacher  Trieb,  natürlich  und  sittlich, 
oder  das  Ethische  nur  eine  Verbesserung  des  Natürlichen,  Diese  Frage 
kann  dem  Dasein  der  Sittenlehre  keinen  Eintrag  tun,  weil  man  doch 
stets  zugibt,  daß  bloße  Belehrung  nichts  hilft. 

S.  54.  Neuer  Gegensatz:  Sittlichkeit  bloß  als  etwas  Beschränkendes 
—  oder  als  selbst  etwas  Hervorbringendes.  Epikur  beschränkend:  aus 
dem  rohen  Genuß  die  Ruhe  des  Weisen  bildend.  Cyrenaiker  bildend: 
das  Sittliche  ist  selbst  der  natürliche  Trieb. 

S.  55.  Bei  den  Stoikern  ist  die  Ausführung  einer  sittlichen  Handlung 
erst  von  einem  Gegebenen  abhängig,  denn  auch  nachdem  die  höhere  Natur 
zum  Bewußtsein  gekommen  ist,  ist  das  doch  noch  keine  eigene  Kraft, 
sondern  nur  eine  neue  Art,  über  die  Forderungen  des  Selbsterhaltungs- 
triebes zu  entscheiden. 

S.  56.  Ebenso  Fichte:  das  Geschäft  des  reinen  Triebes  besteht  nur 
in  der  Auswahl  des  ihm  Gemäßen  aus  den  Forderungen  des  Natur- 
triebes.   Diese  müssen  immer  gegeben  sein,  sonst  geschieht  gar  nichts. 

S.  57.  Ebenso  bei  Kant:  sein  Sittengesetz  kann  nie  etwas  durch  sich 
selbst  produzieren. 

S.  58.  Anders  Spinoza:  das  Sittliche  ist  ein  Eigenes,  nicht  nur 
ein  Verbessern  eines  unsittlichen,  gebundenen  Handelns.  Das  Fliehen 
des  Bösen  ist  gar  keine  eigene,  sittliche  Leistung,  sonde/n  entsteht 
nur  aus  dem  Suchen  des  Guten. 

S.  59.  Ebenso  Plato:  Gott  ähnlich  werden  wir  nur,  wenn  die  Kraft 
des  Geistes  eine  eigene  ist. 

S.  60.    Auch  bei  Aristoteles  ist  es  so. 

S.  61.  Neuer  Gegensatz:  alles  Menschliche  ist  eigentümlich  oder  all- 
gemein.  Eine  Sittenlehre,  die  beides  vereinigt,  ist  noch  nicht  geschrieben. 

S.  62.  In  den  Systemen  der  Lust  ist  das  Allgemeine  dem  Besonderen 
untergeordnet.  Bei  Epikur  undeutlich,  bei  Aristipp  deutlich:  alles  zu 
Erstrebende  ist  nur  für  einen  bestimmten  Menschen  erstrebenswert.  Bei 
den  Engländern  durch  Machtspruch  das  Wohlwollen  als  allgemeine  Lust 
dekretiert. 

S.  63.  Bei  den  Systemen  der  Tätigkeit  ist  das  Eigentümliche  fast 
gänzlich  vernachlässigt.  So  die  Stoiker:  der  richtige  Verstand  ist  das 
Gemeinschaftliche.  Ebenso  Fichte,  bei  dem  Individualität  nur  die  äußere 
Lage  bedeutet. 

S.  64.  Die  Vernunft  bei  ihm  ist  eine  gemeinschaftliche,  es  gibt  nur 
eine  Norm,  jeder  muß  auf  demselben  Platze  dasselbe  tun. 


CVI  Inhaltsanalyse. 


S.  65.    Ebenso  Kant,  dessen  Sittenlehre  juridisch  ist. 

S.  66.  Seine  Ethik  ist  eine  Rechtslehre,  auch  das  Reich  der  Zwecke 
ist  ein  bürgerliches  usw. 

S.  67.    Die  Engländer  und  Qarve  verwerfen  das  Individuelle. 

S.  68 — 69.  Bei  Plato  und  Spinoza  ist  eine  Vereinigung  von  Eigentüm- 
lichem und  Allgemeinem  angestrebt. 

Zweiter  Abschnitt. 

S.  70 — 74.  3  ethische  Ideen:  der  Weise,  das  höchste  Gut,  das  Gesetz 
(entsprechend  nachher  im  System  der  Ethik:  Tugendlehre,  Güterlehre, 
Pflichtenlehre).  Alle  drei  müssen  irgendwie  vorhanden  sein  in  jedem 
System. 

Jeder  Grundsatz  muß  aus  sich  selbst  das  ganze  sittliche  Tun 
und  Sein  ableiten  lassen,  kann  sich  aber  eines  Hilfsbegriffes  bedienen. 

S.  75—80.  Jede  sittliche  Bestimmung  gilt  nur  in  gewissen  Grenzen, 
die  sich  auch  aus  dem  System  ergeben  müssen  (aufbauendes  Verfahren). 
Daneben:  prüfendes  Verfahren. 

Wahres  Wollen  ist  stets  mit  Handeln  verbunden.  Zufällige  Hand- 
lungen, wenn   sie   nicht  irgendwie  mit   einem  Willen  zusammenhängen. 

Eine  Handlung,  die  Mittel  ist,  muß  stets  ohne  Rücksicht  auf  den 
höheren  Wert  gewertet  werden,  so,   als   wenn  sie  Zweck   ist. 

S.  81.  Das  höchste  Gut  darf  kein  bloßes  Aggregat  sein,  wie  bei 
Aristoteles  und  den  Systemen  der  Lust. 

S.  82.  Der  Gesamtgenuß  ist  etwas  Unbestimmtes,  es  kann  bei 
jeder  Lust  gefragt  werden,  warum  nicht  eine  größere  ihre  Stelle  ein- 
genommen. Das  Streben  nach  der  einen  Lust  hebt  die  andere  auf,  die 
Länge  der  Lust  tut  der  Stärke  Eintrag. 

S.  83.  Am  schlimmsten  sind  die  Engländer  daran,  die  der  Lust 
bestimmte  veränderliche  Werte  zusprechen,  abgesehen  von  der  Quan- 
tität. Da  das  Wohlwollen  als  höchste  Lust  erkannt  ist,  so  müßte  jeder 
nur  danach  streben,  dem  andern  wohlzutun;  so  käme  man  auf  ein 
Herumdrehen  im   Kreise. 

S.  84.  Die  Franzosen  folgern  konsequent,  daß  die  höchste  Lust 
anderer  dadurch  am  besten  befördert  wird,  wenn  ich  meine  Glück- 
seligkeit den  anderen  zeige. 

Aristippos  setzt  alle  Lust  gleich.  Hier  entsteht  die  neue  Schwierig- 
keit, daß  jeder  Genuß  Ursache  einer  Unlust  wird  und  umgekehrt. 

S.  85.  A.  bescheidet  sich  schließlich  dabei,  die  Existenz  des  höchsten 
Gutes  ganz  zu  leugnen  und  nur  an  den  kommenden  Moment  zu  denken. 


Inhaltsanalyse.  CVII 


So  gibt  es  in  diesem  System  nicht  die  Idee  eines  zusammenhängenden 
Lebens,  und  Hegesias  fordert  richtig  den  Tod,  wenn  es  keine  Lust  mehr 
gibt. 

S.  86.  Die  Idee  des  Weisen  bekommt  hier  eine  besondere  Bedeutung. 
Wie  wir  schon  sahen,  herrschte  hier  das  Individuelle.  So  bedarf  es 
für  jede  Gestalt  des  höchsten  Gutes  einer  best.  Verfassung  des  Gemütes. 
Um  ein  allgemeines  Gut  zu  erreichen,  müßte  jeder  sich  Zwang  antun, 
also  Unlust  bereiten  =  unsittlich  sein.  Also:  die  größte  Vollendung 
des  Menschen  liegt  in  der  Verknöcherung  seiner  Gewöhnung. 

S.  88.    Auch  Epikur  führt  zur  völligen  Untätigkeit. 

S.  89.  Bei  Epikur  kann  das  Unterlassen  eines  Sittlichen  gar  nicht 
verurteilt  werden,  weil  das  ja  an  dem  Fehlen  des  natürlichen  Triebes 
liegt. 

S.  90.  Man  kann  bei  dem  System  der  Lust  gar  nicht  den  sittlichen 
Wert  einer  Handlung  bestimmen,  denn  man  kennt  nicht  die  Nebenan- 
regungen der  Lust.  Im  höchsten  Gut  ist  der  nicht-ethische  Bestandteil 
der  Erregung  enthalten.  In  der  Abhängigkeit  des  sittlichen  Verfahrens 
von  dem  natürlichen  Trieb  liegt  der  Grund  der  unsicheren  Beurteilung,  die 
allen  Eudämonisten  zukommt. 

S.  91.  Übung  ist  nötig  zur  Erreichung  der  Schmerzlosigkeit;  diese 
braucht  Zeit  und  diese  Zeit  könnte  stets  direkt  für  die  Lust  verwendet 
werden. 

S,  92.  Die  Weisheit  endet  in  einem  Wahn,  der  sich  alle  Genüsse 
vorspiegelt    und   aller  Vernunft  entgegengesetzt  ist. 

S.  93.  Bei  den  Engländern,  die  Wertabstufungen  der  Lust  annehmen, 
ist  das  Sittliche  ein  Mittelpunkt  zwischen  zwei  Extremen,  die  unbekannt 
sind:  es  soll  in  jedem  Augenblick  die  höchste  Lust  gewonnen  werden,  und 
man  kennt  doch  gar  nicht  die  Unlust  usw.  Ein  ewiger  Übergang  von 
Zuviel  und  Zuwenig  kommt  zustande.  Das  Sittliche  liegt  in  der  Be- 
schränkung. 

S.  94.  Bei  den  Systemen  der  „reinen  Tätigkeit"  ist  das  höchste  Gut 
einheitlich.    So    bei    Fichte,   Stoa,    Piaton,    Spinoza. 

S.  95.  Fichtes  höchstes  Gut:  vollständige  Erfüllung  des  Berufes 
in  bezug  auf  alle  Bedingungen  der  Ichheit. 

Kant:  unbeschränkte  Herrschaft  der  richtigen  Maximen. 

S.  97.  Verknüpfung  der  einzelnen  Wertungen  mit  dem  höchsten  Gut. 
Stoiker  können  Unterlassung  einer  sittlichen  Handlung  nicht  als  wider- 
sittlich bezeichnen,  da  ja  das  gute  Handeln  nur  eine  Gestaltung  des 
natürlichen   ist. 

S,  98.    Ähnlich  bei  Fichte  und  Kant. 


CVIII  Inhaltsanalyse. 


S.  99.  Wenn  man  bei  Kant  eine  Pflicht  nicht  wahrnimmt,  so  ist 
das  kein  ethisches  Manko,  da  ja  gar  kein  Handeln  erfolgt. 

S.  100.  Bei  Kant  läßt  sich  aus  allen  Formeln  überhaupt  kein 
reales  Gesetz  oder  Pflicht  oder  Tugend  ableiten.  Der  Grundsalz  kann 
nur  zur  Prüfung  des  Gegebenen  dienen. 

S.  101.  Ebenso  die  Naturgemäßheit  der  Stoa:  was  ist  „Natur"?  Bei 
Fichte  ist  die  Grundlage  der  ganzen  Ethik  eine  „MögHchkeit"  anderer 
Individuen. 

S.  102.  Die  Stoiker  führen  den  Verbindungsbegriff  der  anderen  Indi- 
viduen offen  ein. 

S.  103.  Kant  ist  mit  den  Engländern  ganz  eng  verwandt:  Vollkommen- 
heit ist  Mittel,  als  höchster  Zweck  bleibt  Glückseligkeit  der  anderen  — 
Mannigfaltigkeit  des  Verbindungsbegriffes,  es  ist  bei  Stoa,  Kant,  Fichte 
nicht  bestimmt,  wie  weit  wir  uns  oder  andere  fördern  sollen. 

S.  104—105.  Auch  bei  Vollkommenheitsethik  keine  Bestimmung  des 
einzelnen. 

S.  107.  Lust  und  Vollkommenheit  können  nur  verbunden  werden 
wie  bei  Spinoza:  eine  Lust  und  eine  Vollkommenheit,  und  nun 
auf  letztere  die  Tätigkeit  gerichtet. 

Vollkommenheitsethik  endet  in  Trägheit,  denn  das  Handeln  ist  nur 
Mittel  zum  Werden  und  je  mehr  der  Mensch  sich  dem  Ziele  nähert, 
desto  weniger  braucht  er  zu  handeln  und  am  Ziele  gar  nicht  mehr! 
Piaton  als  Retter:  höchster  Zweck  ist  Ähnlichkeit  mit  einem  handelnden 
Gott. 

S.  108.  Universeller  Charakter  der  Ethik  oder  beschränkter?  „Mittel- 
dinge", wenn  die  Ethik  nicht  alles  umfaßt. 

S.  111.    Ist  das  Sittliche  im  Allgemeinen  oder  im  Individuellen? 

S.  112 — 113.  Wenn  nur  das  Allgemeine  ethisch  ist,  so  bleibt  in  jeder 
Handlung  viel  unbestimmt,  ja  es  gibt  viele  Handlungen,  die  ihren  Grund 
nur  in   der  Eigentümlichkeit  des  A'lenschen   haben!    (Ehe.) 


Zweites  Buch. 
Kritik  der  ethischen  Begriffe. 

S.  121 — 127.  Man  behauptet,  die  ethische  Idee  sei  nur  durch  Ab- 
straktion aus  der  Erfahrung  gewonnen.  Das  ist  falsch.  Denn  wenn 
unsere  sittlichen  Urteile  wirklich  ethisch  sind,  bevor  wir  die  höchste 
Idee  haben,   so   enthalten  sie  eben   diese   Idee  unentwickelt  und  sind 


Inhaltsanalyse.  CIX 


nur  durch  dieses  Enthalten  sittlich.  Die  Einteilung  der  menschlichen 
Handlungen  ist  nur  dann  ethisch,  wenn  sie  übereinstimmt  mit  der  Ab- 
leitung aus  der  Idee,  allein  hat  die  empirische  Einteilung  keinen  Wert. 
Jeder  Grundsatz  müßte  seine  eigenen  Einzelbegriffe  zur  Folge  haben, 
wir  sehen  aber,  daß  die  Systeme  sich  in  den  Bezeichnungen  gleichen  und 
viel,  was  mit  dem  Prinzip  nicht  zusammenstimmt,  aufnehmen. 


Erster  Abschnitt. 

S.  128—130.  Formale  ethische  Begriffe:  Pflicht,  Tugend,  Gut,  — 
Übertretung,  Laster,  Übel.  Bei  Stoikern  und  vielen  Neuen  werden  die 
drei  nicht  klar  auseinandergehalten.  Verwirrung  bei  Kant.  Jeder  dieser 
Begriffe  muß  in  seiner  Art  von  Beziehung  zum  Prinzip  das  ganze  sittliche 
Gebiet  umschließen.  Es  ist  zu  prüfen,  ob  die  Beziehung  auf  eine 
bestimmte  Form  der  obersten  Idee  festgehalten  wird,  ob  die  Begriffs- 
teilungen ihrer  ersten  Bildung  entsprechen. 

S.  130.  Die  Pflicht  bezeichnet  das  Sittliche  in  Beziehung  auf  das 
Prinzip  als  Gesetz.  Das  Gesetz  bezieht  sich  wieder  auf  die  Tat 
und  jede  Frage  nach  der  Pflicht  ist  eine  nach  dem  Sittlichen  in  jeder  Tat. 

S.  135  ff.  Das  „Erlaubte"  als  fehlerhafter  Pflichtbegriff;  die  PfHcht 
umfaßt  alles. 

„Erlaubt'-  ist  jede  Handlung,  bevor  sie  in  bestimmte  Verhältnisse 
eintritt  und  sittlich  beurteilt  ist.  „Erlaubt"  ist  eine  noch  nicht  vollendete 
Bezeichnung  einer  Handlung,  dieser  Begriff  ist  eine  Aufgabe,  aber  keine 
Bestimmung.  Wer  erlaubt  =  ethisch  setzt,  hat  falsche  Begriffe  von  recht 
und  unrecht. 

S.  137.  Für  den  Wert  der  Erfüllung  eines  Gesetzes  ist  es  gleich- 
gültig, ob  die  Handlung,  an  der  sich  die  Befolgung  zeigt,  groß  ist 
oder  geringfügig.  Stoiker.  Kant  verwechselt  rechtlich  und  sittlich  und 
will  ein  Erlaubnisgesetz  auf  dem  Gebiete  der  Ethik  aufstellen. 

S.  138.  Vollkommene  —  Unvollkommene  Pflichten,  die  letzteren  sollen 
sein  solche,  die  durch  andere  eingeschränkt  sind  —  das  sind  aber  alle! 
Denn  jede  Pflicht  ist  immer  mit  bestimmten  Beziehungen  verbunden, 
sie  hat  Grenzen. 

S.  139.  Namentlich  die  Rechtspflichten  werden  als  vollkommen 
angefaßt,  aber  sie  bezeichnen  nur  ein  Unsittliches,  ja,  sie  sind  nur 
Teile  einer  ihnen  unähnlichen  Pflicht.  (Abneigung  gegen  „Recht!")  Sie 
haben  nur  technischen  Wert  für  die  Ausführung  eines  Ethischen  aus 
anderer  Sphäre.    (Beruf  und  seine  Folgen,  Eigentum  —  nicht  stehlen.) 


CXII  Inhaltsanalyse. 


S.  163.  Tugenden  des  Verstandes  und  des  Willens:  auch  falsch, 
da  das  Ethische  nur  den  Willen  angeht,  der  alles  umspannt.  Wird  das 
vernachlässigt,  so  kommt  man  zu  Tugenden,  die  mit  Lastern  verbunden 
sind:    Herzensgüte   ohne   Verstand  usw. 

S.  164.  „Wenn  aber  die  sittliche  Gesinnung  den  Verstand  nicht 
treiben  kann,  wo  sie  ihn  braucht!  so  muß  sie  schwach  sein " 

S.  165.  Die  Stoiker  haben  sehr  gut  gesagt:  nur  der  Weise  kann 
Meister  einer  Wissenschaft  sein,  d.  h.  jede  Leistung  auf  irgend  einem 
Gebiete  ist  nur  dann  etwas  wert,  wenn  sie  aus  ethischer  Gesinnung 
geschieht. 

Einteilung  nach   Zwecken  und  Gegenständen. 

Kant.  Dadurch  wird  aber  die  Gesinnung  nicht  eingeteilt,  im  Gegen- 
teil, sie  muß  gerade  sich  als  einheitlich  zeigen,  dem  vielen  Äußeren 
gegenüber. 

Einteilung:  gesellige   —  auf  sich   bezogene   Tugenden. 

S.  166.  Platon  vertieft  überall  die  Einheit  der  Tugenden.  Oarve 
will  den  4  Haupttugenden  der  Hellenen  nachgehen.  Auch  das  ist  un- 
richtig. 

S.  167—168.    Güter  —  Übel. 

Ein  Gut  ist,  was  im  Sinne  der  sittlichen  Idee  geschaffen  ist.  Gut 
als  Erfolg  von  Pflicht  und  Tugend  scheint  zunächst  selbstverständlich 
etwas  drittes  zu  sein  neben  der  hervorbringenden  Kraft  und  der  Hand- 
lung des    Hervorbringens. 

S.  169.  Da  aber  in  der  Sittenlehre  nichts  bloßes  Mittel  sein  darf, 
sondern  alles  durch  sich  selbst  bestehen  muß,  so  muß  das  Verhältnis 
ein  anderes  sein. 

S.  170.  Im  Eudämonismus  erscheint  ein  richtiger  Güterbegriff,  denn 
hier  ist  Streben  nach  Lust  auch  schon  Lust,  nicht  nur  Mittel  zum  Zweck. 

S.  171.  Ebenso  entspricht  in  der  Ethik  des  Handelns  das  Verhältnis 
von  Pflicht  und  Gut  dem  Vernunftnotwendigen. 

S.  172.  So  scheint  im  allgemeinen  in  allen  Sittenlehren  Platz  für  den 
Güterbegriff  zu  sein. 

S.  173.  Im  Eudäm  onismus  ist  er  am  meisten  bewahrt.  Aber  hier 
zeigt  sich  wieder  die  Unzulänglichkeit  des  Eudämonismus,  indem  jede 
Einteilung  von  Gütern  und  Übeln  ausgeschlossen  ist. 

S.  174.  In  der  Ethik  des  Handelns  herrscht  die  größte  Ver- 
wirrung. Aristoteles  nennt  auch  das  Güter,  was  seine  Existens  der 
Natur  oder  dem  Zufall  verdankt,  nicht  nur  das,  was  aus  Handlungen  nach 
der  sittlichen  Idee  entsteht.  Nun  gehören  viele  Güter  nicht  zum  höchsten 
Gut. 


Inhaltsanalyse.  CXIII 


S.  175,  Es  läßt  sich  überhaupt  kein  Vereinigungspunkt  für  alle 
Arten  von  Gütern  finden. 

Die  Stoiker  haben  in  den  rein  formalen  Begriff  des  Gutes  einen 
eudämonistischen  Inhalt  hineingetragen:  Gut  ist  nur,  was  sich  auf  den 
persönlichen  Zustand  des  Menschen  bezieht.  Dabei  blieben  ihnen  die 
Tugenden  allein  übrig. 

S.  176  ff.  Schließlich  geraten  sie  in  die  Verwirrung  des  Aristoteles. 
Wenn  sie  die  Einteilung:  Güter,  die  das  Sittliche  enthalten,  Güter, 
die  es  hervorbringen,  und  Güter,  von  denen  beides  gilt,  dialektisch  ver- 
folgt hätten,  so  wären  sie  auf  den  richtigen  Begriff  des  Gutes  als  der 
Darstellung  sittlicher  Gesinnung  gestoßen.  Spinoza  ist  dem  Fehler  des 
Aristoteles  und  der  Stoa  entgangen. 

S.  178.  Am  besten  ist  der  Begriff  bei  Piaton  zu  finden:  Darstellung 
des  göttlichen   Wesens  im  Inneren  und  Äußeren. 

S.  17Q.    Zweiter  Abschnitt.     Die  einzelnen   realen   ethischen 

Begriffe. 

Die  äußerlichen  Güter. 

Die  Peripatetiker:  Reichtum,  bürgerliche  Gewalt.  Sie  nennen 
fälschlich  ein  Gut,  was  dem  Zustandekommen  der  sittlichen  Tat  dient. 
Diesen  Gütern  fehlt  das  Merkmal  der  Allgemeinheit,  schon  deswegen 
sind  sie  nicht  ethisch.  Die  Eudämonisten  nehmen  das  nicht  als  Güter 
an,   eher  die  Tätigkeitsethiker. 

S.  180.  Reichtum  und  bürgerliche  Gewalt  auf  die  Gesamtheit  der 
Menschen  bezogen,  zeigt  sich  doch  als  eine  sittliche  Tat,  also  als 
ein  gemeinschaftliches   Gut, 

S.  181.  Freundschaft.  Ist  fast  für  alle  ein  Gut  in  richtigem 
Sinne. 

S.  182.  Weniger  feste  Verbindungen:  Gastfreundschaft. 
Gastmahl. 

S.  183.  Bürgerliche  und  häusliche  Gesellschaft.  Für  die 
Ethik  der  Tat  ist  der  Staat  ein  Gut.  Für  Eudämonismus  wechselnde  Stel- 
lung gegen  Ehe  und  Staat. 

S.  184.  Für  Ethik  der  Tat  ist  auch  wissenschaftliche  Gemeinschaft, 
Kirche  und  Freimaurerei  ein  Gut.  Die  Frage,  ob  der  Teil  eines  Ganzen 
auch  noch  ein  selbständiges  Gut  heißen  kann,  beantwortet  jede  Ethik, 
die  nicht  auf  der  Erfahrung  sich  aufbaut,  sondern  systematisch  erzeugt 
und  ordnet,  von  selbst. 

Schleiermacher,  Werke.    I.  VIII 


CXIV  Inhaltsanalyse. 


S.  185.  Für  Eudämonisten  und  Energisten  sind  die  Werke  der  Kunst 
Güter. 

Güter   des    Leibes    sind   in   diesem    Sinne    hier   alle    Güter. 

S.  186—190.    Tugenden  als  Güter. 

S.  190.  Pflichten  gegen  den  Leib.  Selbsterhaltung.  Absolute 
Pflicht  kann  diese  nirgends  sein,  denn  die  Ethik  hat  immer  nur  mit 
einer  Art  des  Lebens  zu  tun.  Es  läßt  sich  außerdem  keine  allgemeine 
Regel  aufstellen,  wo  Lebensgefahr  anfängt.  Auch  zur  Erhaltung  des 
Lebens  darf  keine  Handlung  vorkommen,  die  sonst  unsittlich  wäre. 

S.  197 ff.  Mäßigkeit  bei  Ernährung  und  Geschlechts- 
trieb. 

S.  200.  Die  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  ist  eine  ganze  und 
ewige  Hingebung,  aus  welcher  eine  gänzliche  Verschmelzung  zweier 
Individuen  resultiert.  Die  Sittlichkeit,  welche  früher  aus  dem  Innersten 
des  Geistes  entsprang,  sprießt  nun  in  einer  anderen  Gestalt  aus  dem 
Geschlechtstriebe  hervor. 

S.  202—203.    Keuschheit  —  Schamhaftigkeit. 

S.  203.  Pflichten  gegen  sich  als  moralisches  Wesen.  Nirgends 
gibt  Kant  deren  Inhalt  bestimmt  nach  Umfang  und  Einheit  an,  sondern 
nur  mittelbar  auf  dreifache  Art  bestimmt.  1.  Durch  den  Zweck  der  Selbst- 
erkenntnis, dieser  hängt  aber  zu  lose  mit  dem  Inhalt  zusammen,  welcher 
ist  „Wahrhaftigkeit  in  Mitteilungen  und  Vollständigkeit  des  notwendigen 
Genusses".  2.  Durch  Prinzip  der  Erfüllung.  3.  Durch  ihre  Übertretungen, 
die  Laster.  Diese  beiden  Mittel,  die  Pflicht  zu  erkennen,  müssen  eigentlich 
identisch  sein.  Denn  Prinzip  der  Erfüllung  ist  die  bestimmte  Tugend, 
und  die  Laster  müssen  auch  auf  die  ihnen  entgegengesetzten  Tugenden 
reduziert  werden.  Kant  gibt  aber  das  Prinzip  —  als  Ehrliebe  —  zu 
weit  an,  denn  alle  Laster  sind  der  Ehrliebe  entgegengesetzt,  nicht  nur 
die  Laster,  die  auf  Übertretung  der  Pflicht  gegen  sich  als  moralisches 
Wesen  beruhen.  Außerdem  zeigt  sich  Ehrliebe  als  vollkommene  PfHcht, 
die  alle  anderen  unter  sich  enthält  und  die  Realität  der  unvollkommenen 
aufhebt. 

Ganz  sonderbar  ist,  daß  der  Genuß  des  Wohllebens  als  vollkommene 
Pflicht  bei  Kant  erscheint,  wenn  auch  nur,  damit  der  Mensch  sich 
bewußt  wird,  daß  er  nicht  am  Besitze  klebt.  Dieses  Sichtrennen  vom 
Besitz,  das  Freihalten  vom  Geiz  ist  aber  viel  leichter  zu  erreichen, 
wenn  man  mit  dem  Gelde  andere  erfreut,  als  wenn  man  genießt. 

S.  205.  Sparsamkeit  als  bloßes  Versagen  des  Genusses  ohne 
besondere  Absicht  ist  nicht  ethisch.  Wenn  man  die  Absicht  hinzufügt, 
löst  sich   der  Begriff  auf.    Nach  technischer  Regel  ist  sie  nicht  ethisch, 


Inhaltsanalyse.  CXV 


als    Klugheit    des    Voraussehens    kann    auch    das    Gegenteil    der    Spar- 
samkeit gefordert  sein. 

S.  206.  So  ist  die  Stellung  im  System,  der  Umfang  und  Inhalt  ganz 
unbekannt.  „Unmöglich  kann  ein  fester,  ethischer  Begriff  enthalten  sein 
in  einer  Bezeichnung,  welche  auf  einen  äußeren  Gegenstand  gerichtet  ist." 

Wahrhaftigkeit,  bei  Kant  zusammengesetzt  aus  innerer  Lüge 
und  Unwahrheit  in  Aussagen.  Die  Erklärung  als  „vorsätzliche  Unwahr- 
heit" bedeutet  bei  Kant  so  viel  als  absichtliches  Abbrechen  des  Nach- 
forschens.    Also:   nicht  handeln  wollen  nach  der  Wahrheit. 

S.  207.  Äußere  Wahrhaftigkeit:  Aufrichtigkeit  in  Aussagen 
und  Treue  in  Versprechungen  ist  nicht  dasselbe!  Der  Entschluß  ist 
im  ethischen  Sinne  die  Handlung.    Auch  bei  Fichte  Verwirrung. 

S.  208.  Die  Tugend  der  Treue  umfaßt  beides,  da  es  auch  Versprechen 
geben  kann,  nichts  zu  sagen,  so  kollidieren  die  Pflichten  der  Treue 
und  der  Aufrichtigkeit.    So  müssen  beide  noch  eingeschränkt  werden. 

S.  209.  Falsch  mischt  Kant  Wahrhaftigkeit  des  Umganges  und  bei 
ernsten  Angelegenheiten.  Fichte  setzt  Wohltätigkeit  und  Wahrhaftigkeit 
in  enge  Beziehung,  Kant  trennt  sie. 

S.  210.  Die  Wohltätigkeit  erscheint  bei  ihm  unter  den  Pflichten,  die 
andere  verpflichten,  und  doch  sagt  er,  es  dürfe  nie  gemerkt  werden,  daß 
der  Wohltäter  verpflichtet.  Also  man  soll  den  andern  etwas  glauben 
machen,  was  nicht  ist,   Oder  man  muß  sich  selbst  belügen. 

Die  Durchsetzung  des  Anspruchs  auf  eigenen  moralischen 
Wert  ist  eine  ungeschickte  Pflichtformel. 

S.  211.  Selbstschätzung  ist  wieder  zu  beschränken  durch  die  Aner- 
kennung, die  anderen  zu  zollen  wäre.  So  sind  beides  nur  unbestimmte 
Handlungsweisen,  die  erst  auf  einen  gemeinsamen  Grund  zurückgeführt 
werden  müssen,  um  Pflichten  zu  werden.    Das  fehlt  aber  überall! 

Das  moralische  Selbstbewußtsein  kann  keine  besondere  Pflicht  sein, 
sondern  enthält  alle  anderen  unter  sich. 

S.  212.  Keine  Handlung  eines  Menschen  ist  so  auszulegen,  als 
entstände  sie  aus  dem  dauernden  Verkennen  der  sittlichen  Natur 
eines  andern  —  auch  nicht  Sklavenhalten.  Richtet  sich  die  Selbst- 
schätzung nur  auf  die  individuelle  Sittlichkeit,  so  kann  es  für  jeden  gar 
nicht  Pflicht  sein,  sich  selbst  zu  erkennen,  da  etwas  Unsittliches  dann 
nur  auf  den  Fehler  des  Verstandes  zurückführt.  Pflicht  kann  nur  sein 
eine  Methode  der  Untersuchung  ohne  unsittliche  Voraussetzungen. 

Wenn  wir  die  Pflicht  haben,  falschen  Urteilen  über  uns  und  andern 
entgegenzutreten,  so   ist  das  eine  Pflicht  der  Wahrhaftigkeit. 

S.    213.     Der    Grund    der   Verwirrung   liegt    in    der    Verwechselung 

vni* 


CXVI  Inhaltsanalyse. 


von  sittlichem  und  bürgerlichem  Wert.   Im  Eudämonismus  hat  die  Wahr- 
heit —  innere  und  äußere  —  eigentlich  gar  keinen  Wert  mehr. 

S.  214.  Bei  Fichte  fehlt  Pflicht  der  Selbstschätzung  und  Selbster- 
kenntnis; weil  er  kein  inneres  Handeln  als  Pflicht  annimmt.  So  kann 
auch  die  Pflicht,  das  Urteil  anderer  zu  berichtigen,  nicht  hier  vor- 
kommen. Kant  führt  die  Pflicht  der  Erhöhung  der  sittlichen  Vollkommen- 
heit an,  die  kollidiert  aber  mit  der  Idee,  daß  jeder  Augenblick  eine  be- 
sondere Aufgabe  zu  erfüllen  hat. 

S.  215.  Fichte  bleibt  seiner  Absicht,  das  innere  Handeln  auszu- 
schließen, nicht  getreu,  denn  er  stellt  eine  allgemeine  Pflicht  auf,  die 
Sittlichkeit  im  allgemeinen  zu  befördern.  Er  sieht  aber  selbst  ein,  daß 
keine  besonderen  Handlungen  diese  Pflicht  erfüllen,  sondern  daß  eben 
jeder  selbst  sittlich  handeln  muß. 

S.  215 — 216.  Unbestimmtheit  in  den  besonderen  Pflichten  bei  Fichte. 
S.  217.  Bei  den  allgemeinen  Pflichten  gegen  andere  werden 
Pflicht  und  Tugend  fast  stets  verwechselt.  Wohltätigkeit  —  Dankbarkeit. 
Nach  Fichte  kann  auch  der  Dürftige  von  der  Gesellschaft  die  Wohltätigkeit 
als  sein  Recht  fordern.  Dankbarkeit  gibts  dann  nur  gegen  die  Gesellschaft. 
Dabei  beruht  aber  die  Wohltätigkeit  nur  auf  einem  bestimmten  Zu- 
stande der  Gesellschaft,  ist  also  nur  eine  relative  Pflicht. 

S,  218.  „Dienstfertigkeit"  für  andere  ist  Unsinn,  denn  für  jeden 
Augenblick  ist  eben  das  eigene  Tun  bestimmt.  —  Die  Wohltätig- 
keit bei  Kant  beruht  auf  der  Voraussetzung,  daß  jeder  sich  helfen  lassen 
will;  das  ist  aber  kein  unbedingt  sittliches  Wollen.  Die  Dankbarkeit 
besteht  in  der  Selbstunterwerfung,  also  in  dem  fortwährenden  Stiften 
einer  Ungleichheit.  Das  Wohltun  beruht  bei  Kant  nicht  einmal  auf  der 
Uesinnung. 

S.  219.  Das  Ganze  beruht  auf  Herabwürdigung  eines  sittlichen  Wertes 
wegen  eines  sinnlichen  Zweckes.  Dankbarkeit  vorausgesetzt,  hebt  die 
Wohltätigkeit  auf,  ohne  die  sie  doch  wieder  nicht  besteht  —  also  ganz 
unzulässig.  Die  Dankbarkeit,  solange  sie  sich  nur  auf  selbst  genossene 
Wohltaten  bezieht,  ist  unzulässig. 

S.  220.  Im  Eudämonismus  hat  die  Dankbarkeit  entweder  den 
Sinn,  die  Verbindung  aufzulösen.  Oder  sie  soll  ein  Reizmittel  sein, 
zu  neuen   Wohltaten   aufzufordern.    Beides  unhaltbar. 

S.    221.     Auch    die    Fichtesche    Fassung    ist    noch    zu    unbestimmt. 
Bei  Stoa  gehört  vieles  unter  Staatsverwaltung,  als  Tugend  setzen  sie  Wohl- 
taten unter  Gerechtigkeit.  Hier  tritt  die  gemütvolle  Teilnahme  als  Pflicht  auf. 
S.  222.    Bei   Eudämonismus  wird  sich   Teilnahme  als  Lust  viel 
eher  an  Nachahmungen  von  Unglück  entflammen.    Der  stoische  Satz, 


Inhaltsanalyse.  CXVH 


Mitleid    sei    vom    Übel,    da   statt    eins    zwei    leiden,    ist   schon   deshalb 
falsch,  weil  nach  ihnen  Schmerz  überhaupt  kein  Übel  ist. 

S.  223.  Das  Gefühl  für  etwas  Unsittliches  als  Pflicht  zu  fordern 
scheint  bedenklich,  weil  es  nicht  willkürlich  ist.  Spinoza  will  die  teil- 
nehmende Traurigkeit  verbannen,  weil  auf  der  Höhe  der  sittlichen  Be- 
trachtung der  Begriff  des  Unvollkommenen  verschwindet.  Das  stimmt 
nicht  mit  seiner  Identität  von  Gefühl  und  Gedanken. 

Andere  Gefühle.  Im  Eudämonismus  sind  Rache  oder  Rachsucht 
je  nach  den  Umständen  sittlich  oder  nicht. 

S.  224.  In  der  sympathetischen  Ethik  müßte  Sanftmut  eine 
merkwürdige  Mischung  von  Unwillen  und  Sympathie  sein.  In  der  prak- 
tischen Ethik  ist  neben  der  Inhaltsfrage  noch  die  nach  der  Schick- 
lichkeit der  Bewegungen  aufzustellen.  Das  Gefühl  für  das  Un- 
sittliche muß  mit  dem  für  das  Sittliche  identisch  sein.  Beim  Verhalten 
gegen  Beleidigungen  muß  unterschieden  werden  die  Gesinnung  gegen 
den  Täter  und  dessen  Behandlung. 

S.  225.  Verteidigung  und  Ersatz  —  Strafe  und  Belehrung 
treten  auseinander.  Die  Verteidigung  aber  kann  sich  nur  beziehen  auf 
die  sittliche  Wirksamkeit,  und  es  muß  festgestellt  werden,  was  eine  Be- 
hinderung derselben  ist.  Auch  bei  Fichte  ist  das  verfehlt,  vor  allem 
ist  das  Gebot,  sich  gegen  Gerüchte  zu  verteidigen,  zu  weit,  denn  so 
könnten  die  Gegner  einen  immerfort  von  der  Haupttätigkeit  abziehen. 
Strafe  hebt  Kant  fälschlich  auf,  wenn  er  nur  alle  Menschen  vor  Gott 
strafwürdig  nennt.  Strafe  und  Belehrung  sind  eins,  aber  in  der  Me- 
thode verschieden.  Die  Stoiker  wenden  zu  viel  Strafe  an. 
S.  226.  Verschiedene  Pflichten  ohne  rechte  Begründung. 
S,  227.  Tugenden.  Aristoteles  hat  einen  ungeordneten  Haufen 
davon. 

S.  228.    Die  Bestimmung  der  „Mitte"  ist  nicht  immer  gleichmäßig. 
Es  fehlt  an  einem  Prinzip  für  die  Anwendung  der  allgemeinen  Formel. 
Er  gibt  auch  zu,  daß  nicht  jede  Mitte  einer  Neigung  ethisch  ist,  nämlich 
wenn  sie  selbst  unsittlich. 

S.  229.    Die  Tugenden  laufen  ineinander. 

Darstellung  aller  sittlichen  Gesinnungen  unter  4  Tugenden:  Klug- 
heit, Mäßigung,  Tapferkeit  und  Gerechtigkeit.  Ihr  Wesen  wird  durch 
die  Stoiker  nicht  erklärt. 

S.  230.  Die  von  ihnen  als  verschieden  angegebenen  Tugenden  gehen 
ineinander  über. 

S.  231.  So  ist  nicht  einmal  klar,  ob  die  4  Kardinaltugenden  real  oder 
formal  sind. 


CXVIII  Inhaltsanalyse. 


S.  232.  In  der  eudämonistischen  Lehre  schleichen  sich  praktische 
Tugenden  ein. 

Nur  Piaton  und  Spinoza  haben  sich  ganz  frei  gemacht  von  den 
4  Tugenden. 

S.  233.  Piaton  zeigt,  daß  sich  alle  Tugenden  unter  jeder  der  4  Formen 
darstellen  lassen.   Spinoza  bezeichnet  mit  Tapferkeit  die  ganzen  Tugenden. 

S.  234.   Er  hat  gar  keine  Mehrheit  von   Tugenden. 

S.  234 — 246.  Anhang.  Aus  den  Verwirrungen  in  den  Tugendbe- 
griffen folgt,  daß  auch  das  Leben  der  Menschen  noch  nie  nach  einer 
ethischen  Idee  gestaltet  gewesen  sein  kann,  sonst  müßte  sich  leichter 
eine  solche  Idee  in  den  Begriffen  finden  lassen.  Bei  den  Alten  war  das 
Leben  politisch,  also  auch  die  Tugenden.  Bei  uns  ist  es  das  Gebiet 
der  Pflichten,  das  vom  Recht  beeinflußt  ist.  Die  Ethiker  kleiden  in 
politisches  Gewand  manches,  um  es  den  Pflichten  einzuverleiben  —  so 
Reich  Gottes.  Die  Tugenden  beziehen  sich  meistens  auf  das  Privatleben, 
da  das  öffentliche  verschwunden  ist  (1803!)  und  ihre  rechte  Bedeutung 
ist  kaufmännisch.  Sie  beziehen  sich  auf  die  äußere  Leistung  des  Menschen, 
auf  seinen  „Marktpreis".  Nur  auf  diese  Weise  findet  man  etwas  Ge- 
meinsames in  all  den  Tugenden.  Sie  unterscheiden  sich  von  Lastern 
nur  durch  ihre  vielseitige  Brauchbarkeit.  Die  augenscheinliche  Über- 
zeugung in  dieser  Hinsicht  liefert  die  Ableitung  aller  Tugenden  aus  der 
Selbsterhaltung  bei  Spinoza.  Der  Einteilungsgrund  aller  Begriffe  hängt 
hier  von  der  Seelenlehre  ab.  Psychologie  und  Ethik  stehen  immer  in 
engem  Zusammenhange.  Jedoch  ist  die  Psychologie  noch  so  unaus- 
gebildet,  daß  sie  kaum  der  Ethik  nützlich  sein  kann.  Sie  muß  erst 
aus  einem  logischen  und  poetischen  Standpunkt  bearbeitet  werden 
und  darauf  braucht  die  Ethik  nicht  zu  warten,  denn  sie  ist  nahe  daran, 
ihre  Begriffe  aus  sich  selbst  zu  finden. 

Die  Reflexionsbegriffe:  Lob  —  Tadel,  Selbstschätzung  —  Gewissen. 
Ein  untrügliches  Gefühl  für  das  Sittliche  kann  nicht  angenommen  werden, 
denn  das  Wesentliche  wächst  allmählich  und  das  sichere  Gefühl  hätte 
auch  den  Gedanken  fortbilden  müssen,  was  nicht  geschehen  ist.  Mit 
einem  solchen  Gefühl  müßten  sich  auch  alle  Streitfragen  der  Ethik 
untrüglich  lösen  lassen.  Lob  und  Tadel  sind  ethisch  ganz  unbestimmt 
und  gehen  über  das  Gewissen  hinaus.  Fichte  bleibt  beim  Gewissen 
stehen.  Die  Ableitung  ist  zum  großen  Teil  transzendental,  ethisch  läßt 
sich  sagen,  daß  das  Gewissen  bei  ihm  die  Schnelligkeit  bedeutet,  die 
notwendige  Pflicht  des  Augenblickes  zu  finden.  Diese  Aufgabe  kann 
aber  gelöst  werden,  ohne  daß  man  ein  Gefühl  für  das  Unsittliche  hat. 
An  die  Stelle  eines  untrüglichen  Gefühls,  daß  man  jetzt  handeln  müsse, 


Inhaltsanalyse.  CXIX 


könnte  ein  ausgeführtes  System  treten,  das  jede  Pflicht  oder  Tugend 
bezeichnet.  Darauf  deutet  auch  die  Formel,  daß  (bei  Fichte)  wirk- 
liches und  ursprüngliches  Ich  übereinstimmen  sollen.  Das  ist  nur  auf 
Grund  einer  allgemeinen  Erkenntnis  des  Sittlichen  möglich.  Dadurch 
ist  aber  das  Gefühl,  Gewissen  überflüssig  gemacht,  auch  Fichte  selbst 
fordert  theoretische  Regeln  für  die  Urteilskraft.  Um  des  Gewissens 
willen   eine  Hälfte  der  Wissenschaft  frei  zu  lassen,  ist  sehr  unrecht! 

Gefühl  und  bewußtes  Erkennen  des  Guten  halten  sich  die  Wage, 
dazu  stimmt,  daß  die  Art  des  gewöhnlichen  Menschen,  zu  tadeln  und 
zu  loben,  mit  dem  übereinstimmt,  was  Spinoza  bezeichnet  als  aus  dem 
Affekt  der  Freude  und  Traurigkeit  entspringend.  Für  die  Mehrzahl 
der  Meister  und  Schüler  der  Sittenlehre  ergibt  sich,  daß  sie  nicht  genügend 
Sinn  und  Verstand  besaßen,  um  sich  selbst  und  andere  sittlich  zu  er- 
höhen. 


S.  247.  Drittes  Buch. 

Kritik  der  ethischen  Systeme. 

Einleitung.     Von   der  Anwendung  der  Idee  eines  Systems 

auf  die  Ethik. 

S.  248.  Reales  System.  1.  Eine  Gesamtheit  von  Erscheinungen 
kann  nur  in  gegenseitigen  Beziehungen  verstanden  werden.  2.  Durch 
eine  Kraft  oder  sonstiges  Allgemeines  erzeugte  Gesamtheit.  Beispiel: 
Planetensystem  —  Weltganzes,  Organischer  Körper  —  alle  Erscheinungen 
des  Organismus. 

S.  249.  Die  Darstellung  eines  solchen  in  der  Wirklichkeit  vorhandenen 
Systems  muß  natürlich  auch  systematisch  sein.  Was  nicht  systematisch 
ist,  kann  so  auch  nicht  dargestellt  werden.    (Geometrie,  Logik.) 

S.  250.  Das  Reale,  auf  das  die  Ethik  sich  bezieht,  muß  von 
jedem  als  systematisch  zugegeben  werden.  So  bei  den  Pflichten: 
jede  Pflicht  ist  durch  alle  andern  bestimmt,  nicht  durch  Ableitung  aus 
einer  höheren.  Nur  die  durch  alle  andern  richtig  bestimmte  Pflicht 
fördert    die    Gesamtheit    der   sittlichen    Zwecke,    jede    andere    stört    sie. 

S.  251.  Auch  das  beweist  den  systematischen  Charakter  der  Ethik, 
daß  aus  ihrer  Darstellung  sich  erkennen  lassen  muß,  was  nicht  sittlich 
ist,  indem  alles  einzelne  im  System  seinen  notwendigen  Platz  hat. 

S.  252.  Die  Förderung  aller  Güter  im  Leben  geschieht  nicht  einzeln 
nacheinander,  sondern  nebeneinander.  Die  äußeren  Handlungen  erscheinen 


CXX  Inhaltsanalyse. 


dabei  nicht  als  System,  wohl  aber  die  inneren  Entschlüsse  —  bei  einem 
sittlichen  Menschen. 

S.  253.  So  ist  auch  beim  Eudämonismus  die  Glückseligkeit  ein 
System  von  Handlungen. 

S.  254.       Von  der  Prüfung  nach  dieser  Idee. 

Das  Unsymmetrische  muß  sich  in  Gestalt  und  Inhalt  der  Sittenlehre 
ausdrücken,  aber  diese  beiden  brauchen  nicht  in  so  festem  Verhältnis  zu 
stehen,   daß   nur  eins  von  beiden  untersucht  werden  müßte. 

S.  255.  Aller  Inhalt  muß  wesentlich  in  das  System  gehören  und 
das  Merkmal  des  dem  System  Allgemeinen  an  sich  tragen.  Alles  was 
hineingehört,  muß  auch  drin  sein,  so  daß  jede  vernünftige  Frage  zu 
beantworten  ist, 

S.  256.  Die  hauptsächliche  Aufmerksamkeit  ist  auf  den  Inhalt  zu 
richten.  Nun  ist  unter  Vollständigkeit  nicht  zu  verstehen:  alles  muß 
aufgeführt  werden,  was  nach  der  Idee  ethisch  möglich  ist.  Denn  die 
Bedingungen  für  das  Geistige  wandeln  sich,  eine  Ethik  der  Alten  kann 
unmöglich  so  viel  wie  die  heutige  enthalten.  Aber  nichts  Ethische? 
darf  so  ganz  fehlen,  daß  ihm  nicht  der  Platz  im  System  angewiesen 
werden  könnte. 

S.  257.  Die  Mängel  (außer  der  falschen  Grundidee  und  den  Fehlera 
des  einzelnen)  im  System  können  herrühren  von  der  mangelnden  wissen- 
schaftlichen Gestaltungskraft,  trotzdem  im  Leben  vielleicht  das  Sittliche 
seinen  Platz  hat.  Ethischer  und  wissenschaftlicher  Sinn  müssen  eigentlich 
Lücken  bemerken,  tun  sie's  nicht,  so  zeigt  das,  daß  die  Grundidee 
nicht  vollständig. 

S.  258.  Wesentliche  Mängel  dieser  Art  sind  entscheidend  für  die 
Untauglichkeit  eines  Systems. 

Ähnlich  bei  der  Gestalt,  vor  allem  ist  Vollständigkeit  der  Beziehungen. 
zu  untersuchen. 

S.  259.    Erster    Abschnitt.     Vollständigkeit    des  Inhalts    der 

Systeme. 

Die  bisherigen  Darstellungen  enthalten  kein  vollständiges  Bild 
menschlichen  Handelns.  Denn  sie  bestimmen  das  Äußere  einer  Pflicht 
etwa,  aber  im  Innern  kann's  ganz  verschieden  aussehen,  trotz  gleichea 
Erfolges. 


Inhaltsanalyse.  CXXI 


S.  260.  So  kann  jemand  begeistert  die  Pflicht  erfüllen,  seine  Meinung 
gegen  die  anderen  zu  verteidigen  —  ein  anderer  kann  es  gleichgültig 
tun  usw.  So  bei  Erfüllung  des  Berufes.  Wenn  man  sagt,  das  Wie 
werde  in  einem  anderen  Teile  der  Ethik  bestimmt,  als  das  Was,  so  ist 
das  falsch,  und  außerdem  verschiebt  es  die  Antwort  von  einem  Teil 
auf  den  andern. 

S.  261.  Außerdem  haben  die  Stoiker  recht,  daß  in  jeder  Handlung 
letzthin  alle  Tugenden  vorhanden  sind.  Nun  ist  es  nicht  die  Aufgabe 
der  Sittenlehre,  genau  die  Art  jeder  Handlungsweise  eindeutig  festzu- 
legen, sondern  es  müssen  nur  Umfang  und  Bedingungen  der  verschiedenen 
Möglichkeiten  beschrieben  werden,  damit  für  den  einzelnen  Fall  abge- 
leitet werden  kann,  was  sittlich  ist  und  was  nicht.  Ebenso  wie  in  der 
Ästhetik  neben  den  allgemeinen  Regeln  die  Verschiedenheiten  der  Indi- 
vidualitäten verschiedene  Behandlungsarten  desselben  Gegenstandes  zu- 
lassen, so  auch  in  der  Ethik.  Es  muß  aber  entschieden  werden,  welche 
Arten  sittlich   sind,   welche  nicht. 

S.  262,  Die  Unterschiede  in  der  Ethik  beruhen  auf  dem  „Eigen- 
tümlichen". Verschiedenheit  des  Charakters.  Nur  wenn  es  um  die 
äußere  Seite  der  Tat  zu  tun  ist,  kann  man  auf  die  inneren  Unterschiede  ver- 
zichten. Unter  dem  Ethischen  muß  man  aber  all  das  verstehen,  was 
in  einem  gegebenen  Falle  im  Oemüte  vorgegangen  ist. 

S.  263.  Ist  das  Ideal  des  Weisen  ein  einfaches  oder  vielfaches?  Ist 
es  einfach,  so  ist  Verschiedenheit  unsittHch.  In  den  meisten  Sittenlehren 
ist  gar  nichts  oder  jedenfalls  nichts  Genügendes  darüber  gesagt. 

S.  264.  Es  hängt  das  damit  zusammen,  ob  das  Sittliche  ein  Allgemeines 
oder  ein  Eigentümliches  ist.  Im  Eudämonismus  ist  Glückseligkeit  nur 
in  sehr  verschiedener  Weise  zu  erreichen,  so  müßte  hier  das  Individuelle 
stark   berücksichtigt   sein   —  das   ist   aber  gar   nicht   der   Fall! 

S.  265.  Die  praktische  Etik  hat  zunächst  wenig  Grund,  auf  das 
Individuelle  zu  achten.  Die  meisten  übersehen  aber  nur  das  Eigen- 
tümliche.   Peripatetiker. 

S.  266.  Das  gilt  auch  für  Aristoteles.  Von  anderen  Schulen  des 
Altertums  sollte  man  die  Bevorzugung  des  Allgemeinen  erwarten,  da  ja 
das  Politische  eine  solche  Rolle  spielt  und  weil  sie  oft  einen  speziellen 
Wert  für  die  ganze  Ethik  halten.  (Stoiker  —  bei  ihnen  aber  findet 
sich  Aufzählung  des  Eigentümlichen.)   Kyniker  umgekehrt. 

S.  267.  Bei  beiden  sind  Anfänge,  die  nicht  fortgesetzt  sind.  Ähnlich 
bei  Kant.  Dieser  läßt  verschiedene  Stimmungen  beim  ethischen  Handeln 
zu,  ohne  darüber  klar  zu  werden. 

Fichte  ist  mehr  einem  allgemeinen  Sittlichen  treu  geblieben.    Denn 


CXXII  Inhaltsanalyse. 


bei  ihm  kommt  alles  auf  die  Überlegung  an,  nur  die  äußeren  Bedingungen 
machen  die  Unterschiede. 

S.  268.  Doch  sieht  man  näher  hin,  so  muß  gerade  die  individuelle 
Art,  Gedanken  zu  verknüpfen,  ausschlaggebend  für  die  Pflichterfüllung 
sein.  Jeder  wählt  eben  nach  seiner  Art,  und  Fichte  erkennt  das  an, 
indem  er  jeden  an  sein  „Herz"  verweist. 

S,  269.  Auch  der  Vollkommenheitsethik  geht  es  so.  Alle  können 
einem  indirekten   Anerkennen  der  Verschiedenheit  nicht  ausweichen. 

Piaton  und  Spinoza  wollen  das  Eigentümliche  sittlich  machen.  Spinoza 
hat  das  aber  auch  nur  an  einigen  Stellen  vorgeschwebt. 

S.  270.  Nur  Pia  ton  scheidet  klar  das  Allgemeine  vom  Besonderen, 
letzteres  auch  als  ewig  auffassend.  Auch  eine  systematische  Aufzählung 
des  Mannigfaltigen  ist  bei  ihm  angedeutet. 

S.  271.  Der  Grund  aller  Unklarheiten  ist  der:  fast  alle  sehen  das 
geistige  Vermögen  als  Vernunft  an  —  und  da  gibt's  nur  eine!  Aber 
es  ist  Phantasie,  das  Vermögen  frei  zu  verknüpfen  und 
hervorzubringen.  Diese  Phantasie  ist  das  Individuelle  im  mensch- 
lichen Geiste,  es  ist  seine  Grundkraft,  auf  die  nicht  verzichtet  werden 
kann!    (Kant.    Fichte.) 

S.  272 — 273.  Der  zweite  Fehler  ist,  daß  vieles,  was  ethisch  bestimmt 
werden  muß,  ausgelassen  wird.  So  alle  die  Gedanken  und  Gefühle,  die 
bei   Handlungen  mitwirken,  die  zur  Gewöhnung  geworden  sind. 

S.  274.  Nicht  nur  die  weibliche  Sittlichkeit,  sondern  auch  die  der 
mechanisch  arbeitenden  Gesellschaftsklassen  hängt  von  dem  Beherrschen 
der  inneren  Vorgänge  ab.  Auf  innerer  Tätigkeit  beruht  ein  großer  Teil 
des  Sittlichen.  In  der  Art,  die  Gegenstände  zu  behandeln,  liegt  sehr 
viel  Sittliches.  Davon  ist  nichts  in  den  gewöhnlichen  Darstellungen  zu 
finden.  Auch  darüber  ist  nichts  zu  finden,  wie  die  inneren  Vorgänge  mit- 
geteilt werden   sollen. 

S.  275.  Weder  bei  den  Stoikern  noch  bei  Kant  ist  etwas  Richtiges 
über  die  geselligen  Tugenden   zu  finden.    Ähnlich    Fichte. 

S.  276.    Auch  im  Eudämonismus  ist  seine  Mitteilung  vernachlässigt. 

Scherz  und  Witz  werden  in  der  praktischen  Sittenlehre  fast  gar 
nicht  berücksichtigt.     Bei   vielen  ist  Scherz   =   Zwerchfellerschütterung. 

S.  277.  Aristoteles  erkennt  den  Scherz  als  Mittel  zur  Ruhe  an.  Er 
muß  aber  an  sich  selbst  Zweck  und  Bedeutung  haben. 

Auch  Liebe  und  Freundschaft  sind  nicht  untersucht. 

S.  278.  Für  jede  Ethik  sind  die  beiden  wichtig.  Die  Freundschaft 
ist  wenigstens  im  Eudämonismus  untersucht,  aber  sie  ist  nicht  mit 
den  höchsten   Ideen  abgeleitet. 


Inhaltsanalyse.  CXXIII 


S.  279.  Auch  in  der  Ethik  des  Handelns  nichts  Gutes. 

S.  280.  Die  Liebe  als  Streben  aus  der  Schönheit  entstanden  nach 
Verbesserung  eines  andern  —  wie  die  Stoiker  erklären  —  ist  nicht  zu 
begreifen. 

Kant  will  alle  Liebe  nur  als  Behandlung  nach  dem  Gesetz  gelten 
lassen.    Für  die  „pathologische''  Liebe  findet  er  dabei  keinen  Platz. 

S.  281.  Dem  ehelichen  und  elterlichen  Verhältnis  fehlt  es  nun  ganz 
an  einem  Entstehungsgrunde.  Denn  als  „Gehorsam  gegen  die  Natur" 
ist  das  unbegreiflich. 

Bei  Fichte  ebenfalls  Verwirrung,  indem  er  Freundschaft  und  Liebe 
auf    Ehe   einschränkt. 

S.  282.  Fichte  fordert  zwar  das  Verschmelzen  der  Individuen;  aber 
er  hat  die  Gründe  und  Grenzen  gar  nicht  bestimmt.  Es  müßte  vor  allem 
über  die  geistigen  Unterschiede  der  Geschlechter  etwas  gesagt  werden. 
Diese  Unterschiede  müssen  vor  der  Ehe  scharf  ausgebildet  werden. 
Auch  muß  gesagt  werden,  was  die  schuldlos  Ehelosen  tun  sollen. 

S.  283.  F.  kann  keinen  Bestimmungsgrund  der  Liebe  angeben,  so 
bleibt  sie  unfrei.  So  wird  die  Lehre  vom  Gewissen  verdorben,  denn 
dieses  kann  doch  nicht  auf  etwas  Unfreies  angewandt  werden.  Es 
hätte  ein  Trieb  aufgestellt  werden  können,  Individuen  zu  suchen,  der 
dann    auch    zu    den   Kunstwerken   geführt    hätte. 

S.  284.  Aber  das  ist  ja  bei  Fichte  nicht  möglich,  der  ja  das  Erlaub- 
nisgesetz begründet,  in  der  Wüste  zu  bleiben.  Bei  anderen  Modernen  ist 
erst  recht  nichts  über  die  Liebe  Gutes  zu  finden. 

S.  285 — 286.  Auch  über  Freundschaft  wissen  Kant,  Fichte,  Aristoteles 
nichts   Genügendes   zu   sagen. 

S.  287.  Piaton  ist  allen  voran.  Er  verbindet  symbolisierend  den 
Geschlechtstrieb  mit  dem  Streben  nach  gemeinsamer  Ideenerzeugung, 
hinweisend  auf  die  Unvollkommenheit  der  Individualität  und  ihre  Unzu- 
länglichkeit zur  Hervorbringung  eines  höchsten  Gutes.  Hier  erst  sind 
Freundschaft  und  Liebe  nicht  von  außen  angeklebt,  sondern  aus  dem 
Wesen  des   Systems  entwickelt. 

Wissenschaft  und  Kunst:  es  ist  zu  untersuchen,  welche  Art 
ihres  Betriebes  sittlich  ist. 

S.  288.  Wissen,  das  einem  schon  anderweit  als  sittlich  Erkannten 
dient,  kommt  nicht  in  Frage.  Wissen  um  seiner  selbst,  als  Erkenntnis, 
muß  sittlich  sein.  Es  auf  die  Nützlichkeit  zurückzuführen,  ist  falsch. 
Denn  gerade  die  höchsten  Wissenschaften  haben  keine  Beziehung  zur 
Praxis!    Und  die  andern  nicht  als  wissenschaftliche  Form. 


CXXIV  Inhaltsanalyse. 


S.  289.  Das  Wissen  selbst  muß  ein  sittlicher  Zweck  sein.  Die 
Eudämonisten  verachten  das  Wissen.  Die  Tätigkeitsethiker  tun  so,  als 
sei  es  selbstverständlich.    Aristoteles  trennt  es  von  der  Ethik. 

S.  290.  Das  ist  ebenso  verkehrt,  als  wenn  man  das  Philosophieren 
vom  Leben  trennt.  Fichte:  das  Forschen  muß  geschehen  um  der 
Pflicht  willen.  Diese  Pflicht  ist  aber  nicht  allgemein,  sondern  nur  damit 
Sittlichkeit  besteht,  muß  sie  sein;  zu  einem  äußeren  Geschäft  ist 
es  gleich,  ob  alle  oder  einige  die  Pflicht  erfüllen.  Das  letztere  ist  aber 
besser,  also  wissen  nur  die  Gelehrten.  Diese  verbessern  die  Ethik, 
indem  sie  sie  zum  Wissen  erheben,  und  sie  haben  Wissen,  um  die 
Ethik  zu  machen  —  ein  Zirkel.  Nur  Piaton  will  die  ganze  Sittlichkeit 
auch  im  Wissen  darstellen  und  bei  Spinoza  steht  die  Sittlichkeit  in 
engstem  Verhältnis  zu  dem  Wissen  des  Ganzen. 

S.  291.  So  ist  es  möglich  bei  ihm,  das  gesamte  Wissen  und  seinen 
Erwerb  aus  seinen  Grundsätzen  abzuleiten.  In  Beziehung  auf  die  Kunst 
verdient  Piaton  den  Vorzug.  Spinoza  lehnt  die  Kunst  ab,  ohne  zu  polemi- 
sieren, und  dagegen  hat  die  (formale)  Kritik  nichts  einzuwenden.  Die 
andern  fordern  die  Kunst,  ohne  sie  zu  begründen.  Denn  z.  B.  bei 
Fichte  hebt  die  Kunst  als  Mittel  zur  Sittlichkeit  die  Kunst  auf. 

S.  292.  Die  Unentbehrlichkeit  des  Mittels  ist  nicht  mit  erwiesen. 
Sonstige  Unklarheiten.  Ebenso  Kant.  Die  Alten  haben  die  Entschuldi- 
gung, daß  bei  ihnen  alles  dem  Staate  anheimgestellt  ist. 

S.   293.    Die   moderne  Ethik   hat   diese   Entschuldigung  nicht. 

Der  Staat  ist  zu  wenig  begründet.  Denn  daß  er  allgemeine  Glück- 
seligkeit schaffen  soll,  ist  nur  im  Eudämonismus  möglich. 

S.  294.  Auch  der  Staat  als  Schutz  gegen  das  Unrecht  ist  unzureichend 
im  Eudämonismus.  Denn  hier  ist  nicht  einmal  das  Recht  abgeleitet, 
wie  viel  weniger  der  Staat.  Legt  man  diesen  Gedanken  der  praktischen 
Ethik  bei,  so  ist  klar,  daß  der  Staat  mit  Anfang  der  Sittlichkeit  aufhören 
muß.  So  darf  dem  Staate  nichts  zugeschoben  werden,  was  dem  Zu- 
stande der  vollen  Sittlichkeit  zukommt. 

S.  295.  Spinoza  schließt  nichts  Sittliches  vom  Staate  aus.  Bei 
Fichte  bleibt  als  Begründung  der  Gemeinschaft  nur  der  Ackerbau  und 
die  Verwendung  der  Erzeugnisse.  In  Kunst  und  Ehe  erscheinen  dann 
mystische  Zusätze  und  hier  hineingepreßte  Erhöhung  des  Gesichtspunktes 
über  die  Welt  usw. 

S.  296.  Hier  ist  offenbar  zu  viel  oder  zu  wenig.  Jedenfalls  müßte 
man  heute  auch  einen  Staat  als  Selbstzweck  haben. 


Inhaltsanalyse.  CXXV 


Ungenügende  Reduktion  der  ethischen  Sätze  auf  Prin- 
zipien. 

Der  gegebene  Zustand  wird  zugrunde  gelegt  ohne  Prüfung. 

S.  297.  So  setzen  die  Griechen  Sklaverei  für  ihren  Staat  voraus. 
So  bei  vielen  anderen. 

S.  298.  Die  Stoiker  setzen  bei  ihren  Trostgründen  über  das  Unglück 
die  damalige  Ohnmacht  des  Menschen  voraus.  So  ist  es  selbst  bei 
Fichte.  Die  Folge  dieses  Anfangens  auf  halbem  Wege  ist,  daß  nie- 
mals das  ganz  Sittliche  dargestellt  wird,  sondern  das  Unsittliche  fest- 
gehalten wird. 

S.  299.  So  etwa  wenn  Tapferkeit  als  pflichtmäßiger  Kriegsmut 
gefaßt  wird,  ist  der  Krieg  vorausgesetzt,  der  doch  unsittlich  ist.  Dieses 
Anfangen  auf  halbem  Wege  ist  die  Quelle  von  Kollisionen  des  einen 
Sittlichen  jnit   dem   andern. 

S.  300.  Die  Sittenlehre  soll  das  vollendete  Sittliche  in  seinem  Sein 
s  o  darstellen,  daß  aus  den  Formeln  sein  annäherndes  Werden  für  jede 
Bedingung  zu  finden  ist. 

S.  301.  Zweiter  Abschnitt.    Von  der  Vollkommenheit  ethischer 
Systeme  in  Absicht  auf  deren  Gestalt. 

Kasuistik  und  Asketik  erscheinen  als  Anhängsel  an  die  Systeme.  So 
bei  Kant.     Die  Asketik  scheint  nur  erfunden,  um  einen  Platz  zu  füllen. 

S.  302.  Die  Kasuistik  ist  ganz  leer  bei  Kant.  Man  muß  sie  nach 
Kant  usw.  auffassen  als  Unternehmen,  durch  Erörterung  von  Grenzfällen 
den    Geltungsbereich    von    ethischen    Formeln    festzustellen. 

S.  303.  Das  kann  aber  kein  gesonderter  Teil  der  Ethik  sein!  Auch 
dazwischen,  wie  bei  Kant,  kann  sie  nicht  auftreten,  sondern  hat  ihren 
Grund  in   der  Unbestimmtheit  der  Formeln. 

S.  304.  Wenn  Güter  und  Tugenden  im  Vordergrund  stehen,  so  ist 
Kasuistik  das  Feststellen  der  Handlung  nach  diesen  Begriffen;  denn 
die  Forderung  ist  ja  noch  nirgends  erfüllt,  daß  die  ganze  Ethik  nur 
unter   anderm    Gesichtspunkt    in   jedem    Teil    enthalten    ist. 

Die  Asketik   soll   eine   Technik   sein,   um   sittlich   zu   werden. 

S.  305.  Es  darf  aber  nichts  nur  als  Mittel  gesetzt  werden  und  die 
Asketik  im    obigen  Sinne  ist  die   Gesamtheit  der  inneren   Mittel. 

Ist  der  Tugendbegriff  im  Mittelpunkt,  so  ist  die  Asketik  alles. 
Beim  Gutbegriff  ist  ein  Nebeneinander  möglich. 

S.  306 — 310.  Weitere  Nachw^se  der  Unmöglichkeit  von  Kasuistik 
und  Asketik. 


CXXVI  Inhaltsanalyse. 


S.  311.  Welche  Sittenlehre,  die  nicht  alle  drei  Haupt- 
begriffe enthält,  ist  relativ  am  vollständigsten?  Solange 
Pflicht  und  Tugend  nicht  richtiger  gefaßt  sind,  ist  es  unmöglich,  die 
Sittenlehre  durch  sie  befriedigend  darzustellen.  Die  Behandlung  nach 
einem  einzelnen    Begriff  ist  immer  einseitig. 

S.  312.  Der  Güterbegriff  ist  wenigstens  kosmisch,  aber  er  braucht 
zur  Berufung  die  beiden  andern,  so  daß  diese  drei  sich  auch  hier  als 
notwendig  vereint  erweisen. 

S.  313.  Durch  bloßes  Nebeneinanderstellen  der  drei  Behandlungsarten 
ist  nichts  getan,  das  würde  ja  nur  die  Selbständigkeit  der  einzelnen  Teile 
bewähren.  Das  Wesen  der  Vereinigung  liegt  in  der  Reduktion  der  Formeln 
für  das  Gesetz  (Pflicht)  und  für  den  Weisen  (Tugend)  auf  die  des 
höchsten  Gutes. 

S.  314.  Allenfalls  der  Güterbegriff  gibt  auch  der  einseitigen  Ethik 
Wert.    Pflicht  und  Tugend  weniger  gut. 

S.  315.  Mangelhafte  Zusammenfügung  der  drei  Teile  bei  Stoa  und 
Fichte. 

S.  316.  Einteilung  in  reine  —  angewandte  Ethik.  1.  In  der  „reinen'' 
soll  das  Ethische  vor  der  menschlichen  Natur,  ohne  Rücksicht  auf  sie, 
enthalten  sein,  in  der  angewandten  das,  was  aus  deren  Eigentümlichkeit 
entspringt.  Fichte  sagt  mit  Recht,  daß  in  der  ersten  nichts  Reales 
sein  kann. 

S.  317.  In  den  angewandten  Ethiken  dann  eine  Beschränkung  des 
Allgemeinen  —  Formalen  durch  die  Natur  des  Menschen.  Das  kommt 
namentlich  bei  denen  vor,  die  das  Ethische  in  einer  Beschränkung  sehen. 
(Kant.)  2.  Man  trennt  danach  auch  den  realen  ethischen  Inhalt:  reine 
Ethik  —  allgemeine  Vorschriften  —  angewandte  Ethik.  —  besondere 
Vorschriften   für   einzelne  aus  der  Erfahrung  stammende   Fälle. 

S.  318.  Kant  nimmt  auch  das  auf,  trotzdem  bei  ihm  jeder  Unterschied 
vom  Allgemeinen  und  Besonderen  schwindet.  Ist  das  Wesen  des 
Menschen  spekulativ  festgestellt,  so  muß  mit  dem  Allgemeinen  zugleich 
der  Ort  des  Besonderen  gefunden  sein. 

S.  319.  In  jeder  Tat  der  Pflicht  ist  vereinigt  das  Allgemeine  mit 
dem  für  den  besonderen  Fall  Nötige. 

S.  320.  Ein  wirklich  bekannter  Zustand  eignet  sich  nicht  zur  wissen- 
schaftlichen Darstellung,  sondern  die  richtige  Behandlung  desselben  ist 
die  künstlerische  und  selbstbildende  Anwendung,  die  jeder  von  seiner 
Ethik  zu  machen  hat.  Denn  die  Wissenschaft  muß  trennen,  im  Leben 
ist  nichts  getrennt.  Über  keinen  Gegenstand  kann  die  Wissenschaft 
etwas    aussagen,    der    nicht   seine    Einzelheit    verloren    hat.     Die    „reine 


Inhaltsanalyse.  CXXVIi: 


Ethik"   ist    eben    nie   allgemein    genug,   jede  Ethik  aber  muß  umfassen, 
was  für  alle  Zeit  gilt. 

S.  321.  Das  Vergangene  erhält  durch  sie  seine  wahre  Stelle  und 
wird  erst  eigentUch  erkannt.  Die  Zukunft  kann  von  den  Formeln  der 
Ethik  aus  berechnet  werden,  denn  die  tatsächlichen  Verbesserungen 
der  sittlichen  Verhältnisse  wären  auch  aus  Berechnung  hervorgegangen, 
wenn  man  den  sittlichen  Tatbestand  mit  den  wahren  Formeln  der 
Ethik  vergUchen  hätte. 

3.  Unter  „angewandte  Ethik"  werden  einige  untergeordnete  Wissen- 
schaften verstanden,  die  Zwecke  und  Grundsätze  von  ihr  entlehnen^ 
aber  ein  eignes  Gebiet  haben. 

S.  322.  Das  Verhältnis  ist  ganz  anders  wie  das  zwischen  reiner  und 
angewandter  Mathematik.  Allenfalls  bei  der  beschränkenden  Ethik  ist 
Ähnlichkeit. 

S.  323.  In  der  Ethik  der  Selbsttätigkeit  muß  die  Idee  jeder  Wissen- 
schaft vorhanden  sein,  da  sie  ja  sonst  kein  Ziel  des  Strebens  wäre.  Als 
Theorem  in  Beziehung  auf  seinen  Inhalt  gehört  nichts  von  den  speku- 
lativen Theoriewissenschaften  in  die  Ethik,  nur  insofern  das  Streben 
danach  Tat  in  der  Zeit  ist.  Alle  praktischen  Wissenschaften,  die  Hand- 
lungen vorschreiben,  sind  ganz  von  der  Ethik  mit  bestimmt. 

S.  324.  So  Erziehungs-,  Haushaltungs-  und  Staatskunst. 

S.  325.  Die  negative  Ethik  findet  die  verschiedenen  äußeren  Zwecke 
vor  und  kann  daher  eher  diese  Teile  von  der  Ethik  trennen. 

Die  Form   dieser  anhängenden  Teile  ist  höchst  unvollständig. 

S.  326.  Z.  B.  wenn  in  der  Haushaltungslehre  (Nationalökonomie) 
der  Reichtum  angesehen  wird  als  Darstellung  der  bildenden  Herrschaft 
des  JVlenschen  über  das  Leblose,  so  muß  damit  gleichzeitig  Verbesserung 
von  Sprache  und  Kunst  verbunden  sein.  Nie  ist  das  vorhanden,  weil 
man  immer   nur  beim  Allgemeinen  stehen   bleibt. 

So  gehört  auch  in  jeder  Ethik  zur  Staatslehre  die  Theorie  der 
wissenschaftlichen   und    religiösen    Gemeinschaften. 

S.  327.  Die  Religion  wird  vergessen,  weil  man  der  Phantasie 
keinen  Raum  läßt.  Das  Übersehen  der  wissenschaftlichen  Vereine  hat 
seinen  Grund  darin,  daß  hier  eine  erweiternde  Vereinigung  vorliegt,  keine 
beschränkende. 

Die  Hauptsache  aber  ist,  daß  bei  Vollständigkeit  der  angewandten 
Ethik  für  die  reine    nichts  außer  leeren  Formeln  übrig  bleibt, 

S.  328.  Die  scheinbaren  Grundlagen  für  diese  Scheidung  sind:  man 
wollte  die  ethischen  Vorschriften  einteilen  nach  den  Gegenständen, 
welchen  sie  dienen.   So  ist  das  eigentlich  eine  mißverstandene  Güterlehre^ 


CXXVIII  Inhaltsanalyse. 


Das  Bestreben,  die  verschiedenen  Potenzen  des  Daseins  hervortreten 
zu  lassen.    Mensch  in  Familie,  Staat. 

S.  329.  Bei  den  Alten  gehen  mehrere  davon  aus,  es  bleibt  aber  bei 
Unzulänglichem.     Man    trennt   Naturrecht  von    Ethik. 

S.  330.  Kant  trennt  ganz  oberflächlich  nur  innere  und  äußere  Gesetz- 
gebung in  dieser  Beziehung.  Im  Grunde  erscheint  hier  wieder  die 
Ethik  als  nur  limitativ.  Derselbe  Geist  hat  sicher  Fichte  veranlaßt  zu 
dieser  Trennung. 

Fichte  scheidet   wieder  zu  wenig  das   Wesentliche  vom  Zufälligen. 

S.  331.  Sittengesetz  und  Gesetz  der  Konsequenz  gehören  verschie- 
denen Zonen  an.  Deren  Übereinstimmung  wird  nicht  gezeigt,  ja,  es 
fehlt   sogar    jede    Möglichkeit,    Harmonie    herzustellen. 

S.  332.  Der  Inhalt  beider  fällt  z.  T.  zusammen,  z.  T.  sind  sie 
wieder  ganz  getrennt.  Fortgesetzt,  wie  Fichte  es  angefangen,  wäre 
Naturrecht  eine  Ableitung  aller  äußerlichen  Bedingungen  des  Selbst- 
bewußtseins, also  der  physische  Teil  einer  idealistischen  Philosophie. 
Tatsächlich  ist  das  Naturrecht  nichts  als  die  Aufgabe,  zu  dem,  was  in 
Politik  willkürlich   erscheint,  das  Notwendige  zu  finden. 

S.  333.  Ähnlich  Aristoteles.  Jedenfalls  Naturrecht  in  dieser  Weise 
ein  Unding. 

S.  334 — 340.  Vom   Stil  der  bisherigen  Sittenlehre. 

S.  341—346.  Beschluß. 


Zu  den  Anmerkungen  unterm  Text: 
Durch  ein  Versehen  sind  die  Bemerkungen  auf  den  Seiten  201,  271, 
272^,  274  nicht  mehr  entfernt  worden,  trotzdem  sie  nicht  für  den  Druck 
bestimmt  waren.     Br. 


Grundlinien 


einer 


Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre, 


1803.     1834.     1846. 


Schleiermacher,  Werke.    I. 


Inhalt. 

Seite 

Vorrede 5 

Einleitung. 

1.  Von  der  Idee  dieser  Kritik 9 

2.  Von  den  Grenzen  derselben 11 

3.  Von  ihrer  Anordnung  und  Einteilung 16 

Erstes  Buch.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze  der  Sitten- 
lehre. 
Einleitung 19 

Erster  Abschnitt.  Von  der  Verschiedenheit  in  den  bisherigen  ethischen 
Grundsätzen 38 

Zweiter  Abschnitt.  Von  der  Tauglichkeit  der  verschiedenen  ethischen 
Grundsätze  zur  Errichtung  eines  Systems. 

1.  Bedingungen  dieser  Tauglichkeit 70 

2.  Prüfung  der  Grundsätze  nach  den  aufgestellten  Bedingungen     .      80 
Anhang.  Erläuterungen  zu  dem,  was  von  einigen  Schulen  gesagt  worden.    114 

Zweites  Buch.     Kritik  der  ethischen  Begriffe. 

Einleitung.     Von  der  Methode,  die  ethischen  Begriffe  zu  bilden,  und 

von  der  Art,  wie  die  vorhandenen  erscheinen 121 

Erster  Abschnitt.     Von  den  formalen  ethischen  Begriffen 128 

1.  Vom  Pflichtbegriff 130 

2.  Vom  Tugendbegriff      ISO 

3.  Vom  Begriff  der  Güter  und  Übel 167 

Zweiter  Abschnitt.     Von  den  einzelnen  realen  ethischen  Begriffen     .  179 

Anhang .  234 

1* 


Inhalt 


Drittes  Buch.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  S'"* 

Einleitung. 

1.  Von  der  Anwendung  der  Idee  eines  Systems  auf  die  Ethik   .    .  247 

2.  Von  den  Momenten  der  Prüfung  nach  dieser  Idee 254 

Erster  Abschnitt.     Von  der  Vollständigkeit  der  ethischen  Systeme  in 

Absicht  auf  den  Inhalt 259 

Zweiter  Abschnitt.     Von  der  Vollkommenheit  der  ethischen  Systeme 

in  Absicht  auf  deren  Gestalt 301 

Anhang.     Vom  Stil  der  bisherigen  Sittenlehre 334 

Beschluß 341 


(Alle  Anmerkungen,  Einteilungen  am  Rande  und  Sperrungen  im  Texte 
sind  in  dieser  Schrift  vom  Herausgeber  hinzugefügt!  Vgl.  darüber  am  Schlüsse 
des  Bandes  „Bemerkungen  zur  Textbehandlung".     A.  d.  H.) 


Vorrede. 

Von  der  Absicht  dieses  Buches  redet  die  Einleitung;  und  der 
Verfasser  verspricht,  wie  auch  das  Werk  selbst  beurteilt  werde, 
dem  Zwecke  wenigstens  Billigung.  Auch  hofft  er,  wiewohl  ein 
ähnlicher  Versuch  von  ihm  auf  einem  andern  Gebiet  und  in  an- 
derer Form  unglücklich  genug  von  vielen  ist  ausgelegt  worden, 
nicht  so  mißverstanden  zu  werden,  als  sei  es  mit  dieser  Prüfung 
der  bisherigen  Sittenlehre  darauf  abgesehn,  das  ganze  Bestreben 
für  nichtig  zu  erklären,  und  sich  denjenigen  zuzugesellen,  welche 
die  Ethik  als  besondere  philosophische  Wissenschaft  verneinen.  Viel- 
mehr glaubt  er  seinen  Glauben  an  die  Möglichkeit  dessen,  was 
noch  nicht  zur  Wirklichkeit  gekommen  ist,  genugsam  beurkundet. 
Ja  es  war  in  diesem  Werke,  worin  von  seinen  eignen  Grund- 
sätzen nicht  ausdrücklich  die  Rede  sein  konnte,  eine  nie  aus  den 
Augen  gesetzte  Nebenabsicht,  dasjenige,  was  er  sagen  mußte,  so 
darzustellen  und  so  zu  verknüpfen,  daß  dem  Leser  recht  oft  und 
von  allen  Seiten  die  Punkte  vor  Augen  geführt  würden,  von 
welchen  nach  des  Verfassers  Überzeugung  jede  gründliche  Ver- 
besserung der  Ethik  ausgehen  muß.  So  daß  er  hofft,  für  die- 
jenigen, welche  in  dem  philosophischen  Calculus  nicht  ungeübt  sind, 
und  dasjenige  vergleichen  wollen,  was  gelegentlich  in  den  Reden 
über  die  Religion,  noch  mehr  aber  in  den  Monologen  angedeutet 
worden,  seine  Ideen  auch  hier  schon  deutlich  genug  niedergelegt 
zu  haben,  und  sich  deshalb  leichter  beruhigen  wird,  wenn  ihm 
das  Schicksal  die  Zeit  verweigern  sollte,  um  die  Sittenlehre  nach 
seiner  Weise  irgend  befriedigend  darzustellen.  Aus  diesem  Ge- 
sichtspunkt also  wünschen  seine  Voraussetzungen  sowohl  als  seine 
Resultate  nicht  als  Theoreme  und  Lösungen,  sondern  als  Aufgaben 
vielmehr  und  heuristische  Hypothesen  beurteilt  zu  werden.   Viel- 


6  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [III,  1,  4] 

leicht  möchte  bei  dem  gegenwärtigen  Zustande  der  Wissenschaften 
und  dem  immer  noch  obwaltenden  Streit  über  die  ersten  Prin- 
zipien eine  solche  Art  der  Kritik  wie  diese  auch  für  andere  Zweige 
der  Erkenntnis  sich  nützlich  erweisen,  um  von  einem  Punkt  aus, 
der  außerhalb  des  streitigen  Gebietes  Hegt,  dasselbe  zu  vermessen. 
Wenigstens  kann  nicht  genug  erinnert  werden,  was  im  Streit 
über  das  Einzelne  sich  so  leicht  vergißt,  daß  zur  wissenschaftlichen 
Form,  in  welcher  die  Erkenntnis  und  die  Kunst  sich  durchdringen, 
alles  muß  hingeführt  werden,  was  den  Namen  der  Philosophie 
verdient.  Doch  dieses  nur  beiläufig.  Über  die  Ausführung  aber 
ist  noch  folgendes  zu  erinnern. 
1.  Zuerst  will  dieses  Buch  ausdrücklich  nur  für  diejenigen  ge- 
schrieben sein,  welche  mit  seinen  Gegenständen  hinlänglich  be- 
kannt sind.  Schon  von  irgendeinem  einzelnen  Werke  scheint  eine 
Kritik,  welche  zugleich  Darlegung  des  Inhaltes  ist,  etwas  Wunder- 
liches imd  Vergebliches  zu  sein.  Denn  der  Urteilende  ist  nicht 
zu  derselben  Zeit  in  einem  rein  auffassenden  Gemütszustande, 
oder  kann  wenigstens  nicht  dafür  angenommen  werden,  und  so 
sind  dem  Leser  zwei  unbekannte  Größen  gegeben,  der  Gegen- 
stand selbst  und  die  Ansicht  des  Urteilenden,  so  daß  er  sich  im 
besten  Falle  mit  einer  unbestimmten  Aufgabe  verstrickt  sieht,  von 
welcher  die  Grenzen,  innerhalb  deren  die  Lösung  liegt,  nur  schwer 
zu  finden  sind.  Auch  ist  offenbar,  wieviel  Unwahrheit  durch 
diese  Art  der  Behandlung  verbreitet  wird,  und  welche  Vor- 
stellungen diejenigen  erhalten,  welche  nur  durch  ein  solches  Mittel 
die  literarischen  Gegenstände  betrachten.  Wieviel  weniger  also 
könnte  Glauben  verdienen  und  Nutzen  schaffen  eine  ähnliche 
Kritik  einer  ganzen  Wissenschaft.  Wer  daher  erst  aus  diesem 
Buche  die  verschiedenen  Systeme  der  Sittenlehre  will  kennen 
lernen,  der  gehört  nicht  unter  die  gewünschten  Leser,  und 
wird,  die  fragmentarische  Darstellung,  die  das  meiste  voraussetzt, 
nicht  verstehend,  auch  das  Urteil  nur  auf  bloßen  blinden  Glauben 
hinnehmen  müssen,  und  gar  nicht  berechtigt  sein,  es  selbst  wieder 


[III,  1, 5]  Vorrede.  ^ 

zu  beurteilen.  Diese  Beschränlcung  des  Wirkungskreises  hat  nun 
auch  alle  einzelnen  Anführungen  und  Belege  unnötig  gemacht. 
Denn  die  Kundigen,  welche  in  den  Quellen  zu  Hause  sind,  werden 
ohne  Zweifel,  was  jedesmal  gemeint  ist,  herausfinden.  Die  andern 
aber,  wenn  ja  auf  sie  sollte  Rücksicht  zu  nehmen  sein,  werden 
doch  in  einer  Angelegenheit,  wo  alles  Verstehen  nur  auf  dem 
Zusammenhange  beruht,  durch  den  Prunk  der  Zitate  um  ihren 
Glauben  nur  betrogen.  Obgleich  fest  entschlossen,  nicht  nachzu- 
schlagen, meinen  sie,  der  Schriftsteller  werde  es  doch  nicht  wagen, 
ihnen  Stellen  aufzuführen,  in  denen  das  nicht  enthalten  sei,  weshalb 
er  sie  herbeibringt.  Daran  aber  denken  die  Guten  nicht  in  ihrer 
Unschuld,  daß  bei  der  genauesten  wörtlichen  Übereinstimmung 
doch  das  Angeführte  eine  andere  Bedeutung  haben  könne  im 
Zusammenhange.  Deshalb  wird  ihnen  auch  so  zum  Bemitleiden 
mitgespielt  in  den  Geschichten  und  Kritiken  der  Philosophie,  ja, 
um  es  nicht  so  weit  zu  suchen,  in  jeder  parteigängischen  Be- 
urteilung auch  neuerer  Werke  von  räsonierendem  Inhalt.  Da- 
gegen wäre  der  Verfasser  gern  für  die  Kundigen  an  mehreren 
Orten  mehr  ins  Einzelne  gegangen,  hätte  der  Raum  es  gestattet. 
Ebenso  blieb  mit  Recht  ausgeschlossen  jede  polemische  Rücksicht 
auf  abweichende  Ansichten  und  Auslegungen  des  geschichtlichen 
Stoffes.  Doch  ist,  um  diese  Grenzen  festzuhalten,  dem  Verfasser 
sehr  willkommen  gewesen,  daß  er  nicht  eher  als  nach  dem  Abdruck 
fast  des  ganzen  Buches  die  letzten  Bände  gelesen  hat  von  Tenne- 
manns *  Geschichte  der  Philosophie.  Denn  das  gründliche  Studium 
und  das  freie  Urteil,  welches  sich  in  diesem  Werk  offenbart, 
hätte  ihn  leicht  verleiten  können,  an  mehreren  Stellen  teils  die 
wirkliche  Abweichung  seiner  Ansicht  stärker  heraus  zu  heben, 
teils  über  die  scheinbaren  sich  befriedigender  zu  erklären. 

Was   zweitens  die   Schreibart   betrifft,   so   ist  leicht  voraus-  2. 
zusehen,  daß  sie  von  vielen,  welche  sich  gern  zu  Richtern  auf- 

*  W.  G.  Tennemann:   Handbuch  der  Geschichte  der  Philosophie,  über- 
setzt ins  Französische  von  V.  Cousin. 


8  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [III,  1,  6J 

werfen,  als  abscheulich  wird  verworfen  werden,  von  andern  Wohl- 
meinenden bedauernd  gemißbilliget,  und  nur  von  wenigen  Auf- 
merksamen einer  ernstlichen  Prüfung  ihrer  Gründe  und  ihrer 
Bedeutung  gewürdiget.  Doch  da  die  ungebundene  Rede,  nicht 
diejenige  nämlich,  deren  jeder  sich  gebraucht,  ohne  davon  zu 
wissen,  nur  erst  entsteht,  ja  von  vielen  noch  nicht  anerkannt  ist, 
so  wird  es  leicht,  sich  über  jene  zu  trösten.  Die  letzteren  aber 
mögen  überlegen,  ob  es  ein  unrechter  Gedanke  gewesen,  eine 
Schrift,  welche  sich  lediglich  mit  der  Auflösung  wissenschaftlicher 
Formeln  beschäftigt,  auch  soviel  möglich  in  Absicht  auf  die  Zeichen 
selbst  und  ihre  Verknüpfung  auf  die  Strenge  und  Einfachheit  der 
mathematischen  Analyse  zurückzuführen.  Hierzu  ist  auch  die  Frei- 
heit zu  rechnen,  deren  sich  die  Analysten  bedienen,  die  Zwischen- 
glieder, oder  auch,  wenn  der  Weg  gebahnt  ist,  das  Ende  der 
Auflösung  ihrer  Gleichungen  nicht  selten  auszulassen,  und  nur 
beiläufig  ohne  Abweichung  vom  Wege  darauf  hinzuzeigen,  wo 
eine  Formel  aufstößt,  die  in  anderer  Hinsicht  bemerkenswert  sein 
kann.  Wie  weit  nun  diese  Idee  hier  ist  erreicht  worden,  mögen 
andere  beurteilen;  dem  Verfasser  ist  nur  soviel  gewiß,  daß  der 
Versuch,  zum  zweitenmal  angestellt,  ihm  besser  gelingen  würde. 
Auch  von  kleinen  Nachlässigkeiten,  in  deren  Vermeidung,  die  in 
der  Tat  beschwerlicher  ist  als  schwer,  einige  mit  Unrecht  den 
ganzen  Wert  eines  guten  Vortrags  setzen,  weiß  er  sich  nicht 
frei.  Aber  wenn  es  auch  Gründe  geben  kann,  diese  Art  der  Voll- 
endung der  früheren  Erscheinung  eines  Werkes,  besonders  eines 
wissenschaftlichen,  bisweilen  leichter  aufzuopfern,  so  haben  sie 
doch  nur  für  den  Schriftsteller  selbst  ihr  rechtes  Gewicht,  und 
er  kann  ihrer  ohnerachtet  nicht  umhin,  indem  er  die  verfehlten 
Stellen  der  bessernden  Sprachliebe  der  Leser  überläßt,  sich  selbst 
dem  Tadel  preiszugeben,  der  ihn  betrifft. 

Stolpe,  im  August  1803. 


Einleitung. 

1. 

Von  der  Idee  dieser  Kritik. 

Wie  eine  bestimmte  Darstellung  der  Ethik  von  ihren  Grund-  Kritik 
Sätzen  aus  die  übrigen  prüft  und  würdiget,  dieses  haben  wir  der  gewöhn- 
schon öfters  gesehen,  und  fast  keiner,  der  über  die  allgemeinen  Kritik. 
Gesetze  des  menschlichen  Handelns  auf  eine  neue  Art  zu  reden 
glaubte,  hat  es  unterlassen.  Es  kann  aber,  wie  bei  einer  solchen 
Vergleichung  gewöhnlich  verfahren  wird,  kaum  daraus  abge- 
nommen werden,  inwiefern  eine  von  der  andern  abweicht,  wozu 
etwas  Vollständigeres  erfordert  würde  als  diese  einzelnen  Blicke, 
welche  jeder  von  den  vorteilhaftesten  Stellen  seines  eignen  Weges 
auf  den  des  andern  hinüberwirft;  noch  weniger  aber,  welche 
von  beiden  die  richtige  ist.  Denn  oftmals  wird  die  Sache  geführt 
nur  durch  eine  Berufung  auf  das  Gefühl,  welches  jeder  dem 
seinigen  gleichartig  bei  den  Unparteiischen  voraussetzt;  auf 
welchem  Wege  denn  für  die  Wissenschaft  gar  nichts  entschieden 
werden  kann.  Oder,  wie  die  Beispiele  zeigen,  beruht  der  Aus- 
spruch darauf,  daß  die  eine  nicht  erweisen  und  zustande  bringen 
kann,  was  die  andere,  und  daß,  was  sie  gebietet,  jener  zufolge 
nicht  sollte  geboten  werden.  Soll  nun  Gründen  dieser  Art  einiges 
Gewicht  beigelegt  werden,  so  muß  dasjenige  System  der  Sitten- 
lehre, auf  welches  die  Prüfung  sich  bezieht,  sich  bereits  als  das 
richtige  erwiesen  haben.  Dieses  aber  kann  keines  vermittelst  einer 
solchen  oder  solchen  Beschaffenheit  seines  Inhaltes,  wie  wenn 
eines  von  sich  sagt,  aus  ihm  allein  erfolge  ein  solches  Betragen, 
wie  es  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  201  wünschen  wäre,  oder 


10  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [III,  1,  8] 

wie  es  der  Gottheit  angenehm  sein  kann,  oder  wie  es  den  Menschen 
überhaupt  wahrhaft  nützlich  ist.  Denn  jenes  beides  ist  fremdartig 
für  die  Sittenlehre,  welche  doch  als  Wissenschaft  ein  Recht  hat, 
keinem  andern  Endzweck  untergeordnet,  sondern  nur  für  sich  be- 
urteilt zu  werden.  Das  letztere  aber  ist  ganz  töricht,  und  nichts 
Lächerlicheres  mag  wohl  erdacht  werden,  als  was  jemand  zu  sagen 
pflegt  von  dieser  ethischen  Schule,  sie  sei  der  Tugend  günstiger 
als  jene.    Sondern  dies  kann  nur  geschehen,  indem  eine  solche 

Grundsatz   Darstellung  von  sich  zeigt,  daß  sie  ihre  Aufgabe  der  Form 
der  eigenen  ^  ^  '  ^ 

Kritik,     nach    vollständig   und    rein   gelöst    habe;    denn    alsbald 

kann  sie  eine  jede  andere  mit  ihren  Ansprüchen  so  lange  ab- 
weisen, bis  diese  den  nämlichen  Beweis  geführt  hat.  Es  gibt 
nämlich  gar  für  jede  eigentliche  Wissenschaft,  wie 
doch  die  Ethik  sein  will  und  soll,  keine  andere  Kritik, 
als  die  der  wissenschaftlichen  Form,  und  eine  solche 
aufzustellen  soll  hier  versucht  werden.  Ob  aber  auch 
mit  einer  solchen  für  die  Sittenlehre  viel  zu  gewinnen  sein  möchte, 
könnte  wohl  mit  Recht  einer  zweifelnd  fragen.  Dieser  müßte 
vorläufig  entweder  mit  der  Antwort  zufrieden  sein,  daß  der  Ver- 
such es  zeigen  werde,  oder  sich  mit  seinem  Zweifel  auf  eine  zwie- 
fache Voraussetzung  verweisen  lassen.  Wenn  nämlich  mehrere  von 
den  ihrem  Inhalt  und  ihren  Grundsätzen  nach,  wie  sie  wenigstens 
selbst  behaupten,  so  weit  voneinander  abweichenden  Systemen 
der  Sittenlehre  jedes  in  seiner  Art  die  Aufgabe  kunstgerecht  ge- 
löst hätten:  dann  würde  allerdings  auf  diesem  Wege  über  die 
Vorzüge  des  einen  vor  dem  des  andern  nichts  zu  entscheiden  sein. 
Wer  aber  möchte  dieses  wohl  glauben  und  so  gering  von  der 
Wissenschaft  denken,  daß  es  ihm  möglich  schiene,  dieselbige  Auf- 
gabe könne  nach  ihren  Gesetzen  zu  mehreren  und  verschiedenen 
Lösungen  ohne  Fehler  gelangen?  Vielmehr  würden  wir  alsdann 
mit  Sicherheit  folgern,  nicht  nur  daß  die  Ethik  sich  nicht  eigne, 
eine  Wissenschaft  zu  sein,  sondern  auch  daß  schon  der  Gedanke 
derselben  nur  auf  einem  vielfältig  leeren  Schema  beruhen  müsse. 


[111,1,9]  Einleitung.  11 

Kann  hingegen  jenes  Zeugnis  der  Richtigkeit  der  Form  nur  einer 
oder  gar  keiner  gegeben  werden :  dann  werden  wir  sowohl  ferner- 
hin glauben  dürfen,  daß  die  Ethik  eine  Wissenschaft  sei,  als  auch 
hoffen,  diese  Art  der  Kritik  werde  uns  zeigen,  entweder  wo  sie 
bereits  oder  warum  sie  noch  nirgends  zustande  gekommen.  Denn 
ohne  Zweifel  muß  es  wie  für  die  Kunst,  so  auch  für 
die  Wissenschaft  gelten,  daß  Gestalt  und  Gehalt  ein- 
ander gegenseitig  zur  Bewährung  dienen;  so  nämlich, 
daß,  was  der  Gestalt  widerstrebt,  auch  gar  nicht  ein  Bestandteil 
irgendeines  so  gearteten  Ganzen  darf  sein  wollen,  und  wiederum, 
welche  Gestalt  sich  nicht  einen  bestimmten  Gehalt  aneignet,  alles 
andere  aber  aus  eigner  Kraft  ausstößt,  diese  auch  nicht  ver-^ 
langen  darf,  daß  irgend  etwas  Gutes  und  Würdiges  sich  hergebe, 
um  sie  auszufüllen.  Auf  diesem  Grundsatze  nun  beruht  die  Mög- 
lichkeit, daß  eine  wie  die  Ethik  so  vielfach  bearbeitete  Wissen- 
schaft, wenn  nur  der  Begriff  derselben  gegeben  ist,  ganz  ohne 
weder  einen  von  den  bisherigen  Versuchen  anzuerkennen,  noch 
auch  einen  neuen  zuvor  anzustellen,  dennoch  der  Kritik  unter- 
worfen werden  kann. 

2. 
Von  den  Grenzen  derselben. 

Wenn  nun  das  Geschäft  einer  solchen  Kritik  dieses  ist,  zu 
untersuchen,  inwiefern  die  Ethik  in  ihren  bisherigen  Gestalten 
den  Anspruch,  eine  eigne  und  echte  Wissenschaft  sein  zu  wollen, 
gerechtfertigt  hat:  so  folgt  also,  daß  sie  nur  da  es  zu  verrichten 
befugt  ist,  wo  diese  Ansprüche  mit  dem  Wort  oder  der  Tat  ge- 
macht worden  sind,  das  heißt,  wo  ein  zusammenhängendes  und 
das  Gebiet  umfassendes  System  verheißen  worden  ist,  welches  das 
zufällige  menschliche  Handeln  unter  einer  Idee  betrachtet,  nach 
der,  was  darin  ihr  angemessen  ist,  ausschließend  und  ohne  Aus- 
nahme als  gut  gesetzt,  als  böse  aber  ebenso  alles  mit  ihr  Un- 
vereinbare verworfen  wird.  Wobei  jedoch  einerseits  nicht  jede 
geringfügige  Verschiedenheit  einer  einzelnen  Darstellung  ihr  das 


12  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [III,  1,  lOJ 

Recht  gibt,  ein  besonderes  Verweilen  der  Untersuchung  zu  for- 
dern; denn  sonst  würde  weder  das  Ende  zu  finden  sein,  noch 
auch  verhindert  werden  können,  daß  nicht,  was  vielleicht  ur- 
sprünglich nur  Mißverstand  oder  Ungeschicklichkeit  war,  uns  un- 
belohnte  Mühe  verursache.  Andererseits  aber  auch  muß  nicht 
eben  was  wir  suchen  mit  ausdrücklichen  Worten  verkündigt 
noch  auch  in  einer  sich  dem  ersten  Anblick  beglaubigenden  Ge- 
stalt ausgeführt  worden  sein:  sondern  auch  die  stillschwei- 
gende Absicht  reicht  uns  hin,  und  die  unvollendete  Tat. 
So  hat  gleich  Piaton,  obschon  er  unter  den  ersten  und  trefflichsten 
Arbeitern  dieses  Feldes  hervorragt,  keine  zu  Ende  geführte  und 
vollständige  Darlegung  seiner  Ethik  hinterlassen.  Welcher  aber 
verdiente  wohl  genannt  zu  werden,  wenn  dieser  ausgeschlossen 
sein  sollte?  Oder  wie  könnte  er  es,  da  doch  nicht  geleugnet 
werden  mag,  daß  er  die  Ethik  als  Wissenschaft  gedacht  und  ge- 
wollt hat,  und  so  deutlich  zwar,  daß  jeder  gestehen  muß,  wie 
alle  derart  Andeutungen  und  Aussprüche  in  seinen  Werken  nicht 
etwa  aufs  ohngefähr  hier  so,  dort  anders  hingeworfen,  sondern 
zusammengehörige  und  von  dem  Kundigen  leicht  zusammen- 
zufügende T^ile  eines  eigenen  Ganzen  sind.  Nur  kann  er,  und 
wer  sich  in  gleichem  Falle  befindet,  weder  selbst  noch  auch 
seine  Idee  des  Fehlenden  wegen  getadelt  werden,  es  müßte  denn 
der  letztern  erwiesen  werden  können,  daß  sie  ihrer  Natur  nach 
nicht  hingereicht  habe,  um  das  Angefangene  zu  vollenden.  Nur 
also  da,  wo  wissenschaftliche  Ausführung  und  Absicht  entweder 
an  sich  oder  doch  für  uns  nicht  vorhanden  ist,  kann  auch  das 
Ethische  nicht  Gegenstand  dieser  Kritik  sein.  Das  „für  uns"  näm- 
lich ist  zu  verstehen  von  solchen  Völkern,  deren  nicht  wie  die 
unsrige  von  der  hellenischen  abstammende  Weisheit  uns  nicht 
im  Zusammenhange  bekannt  ist;  das  „an  sich"  aber  von  allen  sitt- 
lichen Aussprüchen  der  gemeinen  Rede  und  Meinung,  so  wie 
auch  von  jeder  Ethik,  die  sich  auf  empfangene  göttliche  Gebote 
bezieht.    Denn  ebenso  würde  eine   Kritik  der  Wissenschaft  von 


[111,1,11]  Einleitung.  13 

den  Gründen  des  Daseins  weder  mit  den  halben  und  schiefen 
Begriffen  des  gemeinen  Verstandes,  noch  auch  mit  den  von  einer 
Offenbarung  ausgehenden  Lehren  sich  einlassen  dürfen.  Ist  nun 
als  Gegenstück  der  letzteren  die  Ethik  der  Gottseligkeit  nur  Dar- 
legung des  gebietenden  Inhaltes  einer  Offenbarung:  so  ist  sie 
ganz  außerhalb  der  Wissenschaft  gelegen.  Will  sie  aber  diesen 
Inhalt  auf  irgendeine  Art  mit  der  natürlichen  Erkenntnis  in  Ver- 
bindung setzen:  so  fügt  sie  sich  notwendig  entweder  an  die 
kunstlosen  und  unverbundenen  Ausdrücke  der  gemeinen  Mei- 
nung, oder  an  die  wissenschaftliche  Behandlung  irgendeiner  Schule 
an;  wie  sie  denn  auch  beides  zu  allen  Zeiten  mit  abwechselndem 
Erfolge  getan  hat.  Beides  gilt  auch  von  dem  Teile  ihres  Inhaltes, 
welchem  die  Gottheit  noch  besonders  als  Gegenstand  zum  Grunde 
liegt,  da  ja  die  gemeine  Meinung  vorzüglich  das  Sittliche  und 
Fromme  verbindet,  aber  auch  die  Ethik  der  Schule  nicht  unter- 
läßt, von  Pflichten  oder  Gesinnungen  gegen  die  Gottheit  auf 
irgendeine  Weise  zu  handeln.  Erstere  aber,  die  Aussprüche  des 
gemeinen  Verstandes,  können  für  sich  gar  nicht  im  Zusammen- 
hange betrachtet  werden,  da  nicht  einmal  eine  vorgebliche  Ein- 
heit der  Grundsätze  vorhanden  ist,  sondern  vielmehr  das  eine 
hier,  das  andere  dort  her  genommen  zu  sein  scheint,  und  was  sie 
zusammen  hält,  nur  eine  der  Ethik  fremde  Beziehung  sein  kann. 
Allerdings  indes  stehen  sie  in  einer  unvermeidlichen  Wechsel- 
wirkung, teils  diese  bestimmend,  teils  durch  sie  bestimmt,  mit 
den  Versuchen  der  wissenschaftlichen  Ethik,  und  insofern  wird 
in  einzelnen  Fällen  auch  auf  sie  Rücksicht  zu  nehmen  sein. 

Demnächst  aber  soll  nur  jenes  System  über  das  zufällige 
menschliche  Handeln  der  Gegenstand  der  Untersuchung  sein,  und 
über  nichts  darf  sie  sich  verbreiten,  was  von  oben  oder  unten  her 
diesem  angehängt  zu  werden  pflegt.  Deshalb  schon  ist  das  mensch- 
liche Handeln,  wiefern  es  der  Inhalt  dieser  Wissenschaft  ist,  ein 
zufälliges  genannt  worden,  nicht  aber  ein  freies,  um  nämlich  diesen 
Begriff  gänzlich  zu  vermeiden,  über  welchen  schon  wegen  Un- 


14  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [III,  1,  121 

gleichheit  der  Meinungen  hier  nicht  im  voraus  entschieden  werden 
kann.  Denn  einige  zwar  legen  ihn  zum  Grunde  ihrer  Ethik 
als  unentbehrlich;  andere  aber  haben  ihn  gänzlich  verneint,  ob- 
wohl sie  auch  eine  Ethik  aufstellen;  und  es  gibt  auch  solche, 
unter  denen  Kant  ist,  die  ihn  zu  diesem  Endzweck  gänzlich  bei- 
seite stellen.  Wollten  wir  nun  im  voraus  entscheiden,  daß  eine 
von  diesen  Verfahrungsarten  für  die  Sittenlehre  notwendig  sei, 
und  welche:  so  würden  wir  unbefugtermaßen  diejenigen,  welche 
anderer  Meinung  sind,  vom  Anfange  her  ausschließen,  und  die 
ganze  Untersuchung  auf  einen  andern  Ort  stellen  als  den  einmal 
in  Besitz  genommenen.  Es  liegt  nämlich  dieser  Begriff  gar  nicht 
innerhalb  des  abgesteckten  Gebietes.  Denn  keiner,  er  bejahe  ihn 
nun  oder  verneine,  wird  behaupten,  daß  wenn  seine  Überzeugung 
hiervon  sich  änderte,  er  dann  anderes  für  gut  und  anderes  für 
böse  halten  würde  als  zuvor.  Wofern  nicht  jemand  im  Eifer 
sagen  möchte,  er  würde  dann  gar  keinen  Unterschied  annehmen 
zwischen  böse  und  gut;  welches  jedoch  hieße,  die  menschhche 
Natur  weniger  dem  Ideal  unterwerfen  als  irgendeinen  Teil  der 
körperlichen.  Denn  von  dieser  sind  wir  überzeugt,  daß  alles  in 
ihr  notwendig  erfolgt:  wer  aber  macht  nicht,  den  Begriff  des 
Ideals  anwendend,  dennoch  einen  Unterschied  der  Vollkommen- 
heit und  Unvollkommenheit  oder  Schönheit  und  Häßlichkeit 
zwischen  den  verschiedenen  Naturen  sowohl  als  auch  den  ein- 
zelnen von  gleicher  Natur?  So  auch  gibt  es  über  die  künst- 
lerischen Handlungen  des  Menschen  und  das  Gelingen  derselben 
ein  System  der  Beurteilung  nach  dem  Ideale,  ohne  daß  jemals 
die  Frage  in  Anregung  käme,  ob  auch  der  Künstler  Freiheit  ge- 
habt, anders  und  besser  zu  können.  Sondern  dieser  Begriff  liegt 
auf  der  einen  Seite  höher,  auf  der  andern  niedriger,  als  die 
Wissenschaft.  Niedriger  nämlich  Hegt  die  Anwendung,  welche  von 
demselben  gemacht  wird,  wenn  bestimmt  werden  soll,  ob  man 
'denken  und  sagen  müsse,  der  Täter  habe  nicht  anders  gekonnt, 
oder  er  habe  nicht  anders  gewollt,  welches  noch  genauer  so  aus- 


[111,1,  13]  Einleitung.  15 

zudrücken  wäre,  ob  er  nicht  anders  können  gewollt,  oder  nicht 
anders  wollen  gekonnt.  Denn  diese  Frage  würde  gar  nicht  auf- 
geworfen werden,  wenn  nicht  durch  die  sittliche  Beurteilung  etwas 
von  der  Tat  ausgesagt  würde,  welches,  inwiefern  es  auch  auf  den 
Täter  überzutragen  sei,  der  Gegenstand  des  Zweifels  ist.  Höher 
aber  als  die  besondere  Wissenschaft  der  Ethik  liegt  die  Frage 
selbst  von  der  Freiheit,  insofern  sie  die  menschliche  Natur  in 
ihren  wesentlichen  Beziehungen  erst  zusammensetzend  darstellen, 
und  die  Verhältnisse  der  Persönlichkeit  zu  der  Eigenschaft  des 
Menschen,  vermöge  deren  er  ein  Teil  eines  Ganzen  ist,  bestimmen 
soll.  Denn  dies  ist  offenbar  ein  Teil  desjenigen  Geschäfts,  welches 
der  natürlichen  Ordnung  nach  jeder  einzelnen  Wissenschaft 
vorangehen  muß,  nie  aber  mit  in  dieselbe  hinabgezogen  werden 
darf.  Womit  jedoch  noch  nicht  gesagt  ist,  daß  jene  Frage  gerade 
zu  demjenigen  Höheren  gehöre,  wovon  die  Ethik  abgeleitet  werden 
müßte.  Ebensowenig  wird  aus  denselben  Gründen  die  Rede  sein 
von  jeder  von  den  meisten  gleichfalls  zum  Behuf  der  Sittenlehre 
für  notwendig  erachteten  Einteilung  des  menschlichen  Geistes 
in  was  immer  für  einzelne  einander  bei-  oder  untergeordnete 
Kräfte  und  Vermögen.  Denn  auch  hier,  ob  auf  eine  und  auf 
welche  die  Ethik  sich  beziehen  müsse,  entscheiden  zu  wollen, 
würde  den  Besitz  jener  Begriffsbildung  und  Ableitung  der  mensch- 
lichen Natur  voraussetzen,  und  von  der  Beurteilung  der  bisherigen 
ethischen  Versuche  unvermeidlich  zur  selbsteigenen  Anstellung 
eines  neuen  hintreiben.  Sondern  uns  wird  nur  obliegen,  aus 
dem,  was  jeder  ans  Licht  gebracht  hat,  zu  zeigen,  mit  welchem 
Erfolg  der  eine  sich  dieses  Hilfsmittels  gänzlich  begeben,  und 
was  mit  demselben  andere  ausgerichtet.  Denn  weder  jenes  nocK 
dieses  Verfahren  dürfen  wir  ansehen  als  unnachlaßliche  Be- 
dingung der  Sittenlehre  überhaupt,  sondern  wir  müssen  für  jeden 
einzelnen  Fall  besonders  fragen,  ob  es  nur  willkürlich  und  zu- 
fällig sei  in  diesem  System,  oder  aber  durch  seines  höchsten  Grund- 
satzes, sei  es  nun  Geist  oder  Buchstabe,  bedingt  und  begründet. 


16  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [III,  1,  14] 

3. 
Von  ihrer  Anordnung  und  Einteilung, 

Was  aber  die  Anordnung  der  vorseienden  Untersuchung  be- 
trifft, so  werden  vielleicht  die  meisten,  weil  es  ihnen  das  Be- 
quemste scheint,  erwarten,  die  verschiedenen  Behandlungsarten 
der  Sittenlehre,  wie  man  sie  hergebrachterweise  als  verschiedene 
Schulen  zu  betrachten  pflegt,  nacheinander  und  jede  in  ihrem 
eigenen  Zusammenhange  für  sich  gewürdiget  zu  sehen.  Allein 
es  ist  dieser  Begriff  von  soundso  vielen  Schulen,  wie  man  sie 
auch  stellen  und  zählen  möge,  mehr  eine  zufällige  und  halb  er- 
dichtete, als  auf  etwas  Wirkliches  und  Wesentliches  sich  beziehende 
Vorstellungsart.  Nicht  freilich  so,  als  ob  sie  nicht  ursprünglich 
ihren  Sinn  gehabt  hätte;  nur  war  dieser  mehr  ein  geschichtlicher, 
nicht  sowohl  den  Inhalt  als  die  Überlieferung  betreffender.  Der 
gegenwärtige  Gebrauch  dieses  Wortes  aber  ist  ein  solcher,  wel- 
chem zwar  die  der  Sache  Kundigen  sich  ohne  Widerrede  fügen, 
wohl  aber  wissen,  wie  wenig  Treffendes  damit  bezeichnet  wird. 
Es  darf  nämlich,  wie  jeder  zugeben  wird,  im  wissenschaftlichen 
Sinn  eine  Schule  nicht  bloß  aus  dem  Erfinder  und  seinen  Nach- 
tretern  bestehen,  sondern  die  Nachfolger  sollen  jene  Ansicht, 
welche  der  Stifter  genommen,  weiter  ausbilden,  und  wiewohl 
immer  seinem  Geiste  getreu,  auch  die  Mannigfaltigkeit,  welche 
sie  noch  zuläßt,  weiter  ins  Licht  setzen,  indem  sie  der  eine  diese, 
der  andere  jene,  jeder  seiner  Natur  gemäß  auffassen,  so  auch 
der  eine  dem,  ein  anderer  jenem  Teile  des  Ganzen  sich  vorzüglich 
widmen.  Und  in  diesem  Sinne  gibt  es  wohl  wenigstens  inner- 
halb der  Ethik  noch  nichts,  was  so  fest  bestehend  zur  Vollendung 
ausgebildet  worden  wäre,  ohne  von  seiner  ursprünglichen  Eigen- 
tümlichkeit zu  verlieren.  Denn  wenn  auch  jemand  auf  den  ersten 
Anblick  glauben  möchte,  es  sei  unter  den  Alten  die  Schule  des 
Epikuros  und  die  engländische  unter  den  Neueren  diesem  Ge- 
danken nahe  gekommen:  so  wird  sich  doch  bei  längerer  Betrach- 


[111,1,  15]  Einleitung.  17 

tung  auch  dieser  Schein  wieder  verUeren.  Doch  dies  sei  nur 
im  Vorbeigehen  angedeutet.  Noch  weniger  aber  könnte  nach 
dieser  Ansicht  auf  eine  bequeme  Weise  die  Untersuchung  geordnet 
werden,  sondern  nur  unzulängUch,  und  doch  nicht  ohne  mancherlei 
Wiederholungen,  welche  den  Lesenden  verwirren.  Denn  es  gibt 
innerhalb  jeder  dieser  Schulen  nicht  nur  Abweichungen,  welche 
bedeutender  sind,  als  das,  was  in  anderer  Hinsicht  eine  von  der 
andern  unterscheidet;  sondern  auch  die  Eigentümlichkeiten  der 
mehresten  sind  ohne  ihr  Verhältnis  zu  den  andern,  welches  durch 
solche  Absonderung  nur  dem  Auge  entzogen  wird,  nicht  richtig 
zu  verstehen.  Überdies  verschwinden  in  manchen  Teilen  der 
Wissenschaft  die  Unterschiede,  wo  nicht  gänzlich,  doch  weit  mehr, 
als  man  nach  den  Abweichungen  im  Ausdruck  der  obersten  Idee 
und  nach  den  Behauptungen  von  ihrer  großen  Ungleichartigkeit 
vermuten  sollte.  Besser  also  scheint  es  getan,  nach  den  zur 
Lösung  der  ethischen  Aufgabe  unumgänglichen  Erfordernissen 
das  Ganze  zu  ordnen;  innerhalb  dieser  großen  Hauptstücke  aber 
die  Ausführung  bald  so,  bald  anders  zu  gestalten,  je  nachdem 
bequeme  Übersicht  und  richtige  Vergleichung  bald  durch  diese, 
bald  durch  jene  Anordnung  am  meisten  begünstigt  werden.  Zu- 
folge nämlich  des  schon  vorläufig  aufgestellten  Begriffes  ist  das 
erste  Erfordernis  einer  jeden  Ethik  die  leitende  Idee  oder  der 
oberste  Grundsatz,  welcher  diejenige  Beschaffenheit  des  Handelns 
aussagt,  durch  welche  jedes  einzelne  als  gut  gesetzt  wird,  und 
welche  sich  überall  wiederfinden  muß,  indem  das  ganze  System 
nur  eine  durchgeführte  Aufzeichnung  alles  desjenigen  ist,  worin 
sie  erscheinen  kann.  Diese  Ideen  nun,  lediglich  aus  dem  Gesichts- 
punkte ihrer  Tauglichkeit  zur  Begründung  eines  solchen  Systems, 
vergleichend  zu  würdigen,  soll  das  Geschäft  des  ersten  Buches 
sein.  Dann  besteht  das  weitere  darin,  daß  für  jeden  Fall,  wo 
von  einem  Zustande  der  Unbestimmtheit  und  der  Aufforderung 
aus  ein  Gutes  und  ein  Böses  möglich  ist,  die  Handlungsweise, 
wodurch  jenes  zustande   kommen   würde,  in   Beziehung  auf  die 

Schleiermacher,  Werke.     I.  2 


18  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [IH,  1,  16] 

leitende  Idee  sowohl,  als  auch  auf  ihren  besonderen  Gegenstand, 
bezeichnet  werde.  Die  Beschaffenheit  dieser  einzelnen  sittlichen 
Begriffe  zii  prüfen,  ist  das  zweite  Buch  bestimmt.  Nämlich  nicht 
etwa,  ob  das  für  gut  Ausgegebene  auch  wirklich  gut  sei;  denn 
dieses  können  wir  von  da  aus,  wohin  wir  uns  gestellt  haben, 
nicht  an  und  für  sich  entscheiden.  Sondern  nur,  ob  sie  unter 
sich  und  mit  ihren  obersten  Gründen  in  richtigem  Zusammen- 
hange stehn,  und  sich  eines  wahren  Inhaltes  und  bestimmter 
Umrisse  zu  rühmen  haben.  Endlich  aber  entsteht  die  Frage,  ob 
auch  die  Gesamtheit  dieser  Begriffe  die  ganze  Sphäre  des  mög- 
lichen menschlichen  Handelns  ausfüllt,  so  daß  nichts,  was  darin 
ethisch  gebildet  werden  könnte,  ausgeschlossen,  und  nichts,  was 
sich  als  Gegenstand  sittlicher  Beurteilung  zeigt,  unbestimmt  ge- 
lassen worden;  kurz,  ob  das  System  auch  vollständig  und  ge- 
schlossen ist.  Diese  Untersuchung  muß,  die  Richtigkeit  der  im 
ersten  Buch  über  die  Grundsätze  gefällten  Urteile  bewährend  und 
so  zum  Anfange  zurückkehrend,  im  dritten  das  Ganze  beschließen. 
Auf  diesem  Wege  stehet  zu  hoffen,  daß  eine  in  Beziehung  auf 
den  genommenen  Standort  vollständige  Übersicht  über  die  bis- 
herigen Fortschritte  der  Ethik  als  Wissenschaft  gewonnen  und 
so  ein  jeder  instand  gesetzt  werde,  auch  über  den  Wert  des  so 
verarbeiteten  Inhaltes  sein  Urteil  zu  fällen. 


Erstes   Buch. 
Kritik  der  höchsten  Grundsätze  der  Sittenlehre. 

Einleitung. 

Ehe   die  verschiedenen    Ideen,   welche   bisher   der   Ethik   zu-  Ursprung 
gründe  gelegt  wurden,  in  Absicht  auf  ihren  Wert,   nämlich  ihre    ^^ 
Tauglichkeit  zur  Aufführung   eines   wissenschaftlichen   Gebäudes, 
beurteilt  werden,  dringt  sich  die  vorläufige  Frage  auf  nach  ihrem 
verschiedenen  Ursprung.    Es  kann  nämlich  die  höchste  Idee  erst 
nach  den  einzelnen  Sätzen  und  vermittelst  ihrer  gefunden  worden 
sein,  um  diese  zu  vereinigen  und  so  das  Bedürfnis  der  Vernunft  Induktion. 
nach  Vollendung  der  wissenschaftlichen  Form  wenigstens  im  ein- 
zelnen  zu  befriedigen;   so  wie  gewiß   in  der   Größenlehre   nicht 
die  ersten  und  einfachsten  Grundsätze  zuerst  gefunden,  sondern 
nur  zur  Begründung  dessen  gesucht  worden,  was  sich  zunächst  im 
Gebrauch  als  unbestreitbar  aufdrang.    Oder  es  kann  ein  besonderes 
Bedürfnis  auf  diese  bestimmte  Wissenschaft  ihres  Inhaltes  wegen 
gerichtet  sein,  und  so  der  eine  sich  bei   dieser  der  andere  bei 
jener  Idee  beruhigt  haben,  wie  jede  die  vorliegende   Forderung 
zu  erfüllen  schien.    Oder  endlich,  es  kann  auch  die  höchste  Idee 
dieser  Wissenschaft  noch  einen  höheren  wissenschaftlichen  Grund 
über   sich   haben,    und    entweder   als    aus    ihm    durch    die    reine 
herabwärts  gehende  Forschung  ohne  irgendein  anderes  Interesse  Deduktion. 
entstanden,  oder  doch  als  an  ihn  angeknüpft  und  auf  ihn  zurück- 

2* 


20  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenleiire.        [111,1,  18] 

geführt  vorgestellt  werden.  Denn  so  wie  die  Vernunft  des  einen 
von  einem  einzelnen  in  wissenschaftlicher  Gestalt  erscheinenden 
Satze  zurückgetrieben  wird,  um  die  Aufgabe,  wozu  dieser  und 
alle  ihm  beigeordneten  Sätze  gehören  und  die  Gründe  ihrer  Auf- 
lösung zu  suchen:  so  erscheint  der  noch  wissenschaftlicheren 
Vernunft  des  andern  diese  Forderung  selbst  nur  als  ein  einzelnes, 
und  ihr  Grund  als  ein  selbst  noch  weiter  zu  Begründendes.  Ein 
solches  Bestreben  aber  kann  seine  Ruhe  nirgends  anders  finden, 
als  in  der  Bildung  einer  —  wenn  hier  nicht  ein  höherer  Name 
nötig  ist  —  Wissenschaft  von  den  Gründen  und  dem  Zu- 
sammenhange aller  Wissenschaften.  Diese  nun  darf  selbst 
nicht  w^iederum  wie  jene  einzelnen  Wissenschaften  auf  einem  ober- 
sten Grundsatze  beruhen;  sondern  nur  als  ein  Ganzes,  in  welchem 
jedes  der  Anfang  sein  kann,  und  alles  einzelne  gegenseitig  einander 
bestimmend  nur  auf  dem  Ganzen  beruht,  ist  sie  zu  denken,  und  so 
daß  sie  nur  angenommen  oder  verworfen,  nicht  aber  begründet  und 
Wissen-  bewiesen  werden  kann.  Eine  solche  höchste  und  allgemeinste  Er- 
schafts-  kenntnis  würde  mit  Recht  Wissenschaftslehre  genannt,  ein  Name, 
welcher  dem  der  Philosophie  unstreitig  weit  vorzuziehen  ist,  und 
dessen  Erfindung  vielleicht  für  ein  größeres  Verdienst  zu  halten 
ist,  als  das  unter  diesem  Namen  zuerst  aufgestellte  System.  Denn 
ob  dieses  die  Sache  selbst  gefunden  habe,  ist  noch  zu  bestreiten, 
solange  es  nicht  in  einer  ungetrennten  Darstellung  bis  zu  den 
Gründen  aller  wissenschaftlichen  Aufgaben  und  den  Methoden 
ihrer  Auflösung  herabgeführt  ist.  Jener  aber  hält,  wodurch  allein 
schon  zur  Erreichung  des  letzten  Endzweckes  nicht  wenig  ge- 
wonnen ist,  die  Aufmerksamkeit  immer  auf  das  höchste  Ziel  des 
menschlichen  Wissens  gerichtet:  dahingegen  der  Name  der  Philo- 
sophie entweder  nur  den  untergeordneten  Nutzen  hat,  einen  fal- 
schen Dünkel  zu  demütigen,  oder  gar  einer  Zeit  geziemt,  wo 
jenes  Ziel  noch  nicht  anerkannt  war;  indem  er  nur  im  allgemeinen 
auf  eine  zu  unternehmende  Übung  und  Verbesserung  des  mensch- 
lischen  Verstandes  hindeutet.    Wäre  nun  jene  höchste  Erkenntnis 


[111,1,  19]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  21 

bereits  auf  eine  unbestrittene  Art  mit  dem  unmittelbaren  Bewußt- 
sein allgemeiner  Übereinstimmung  gefunden:  so  würde  aus  un- 
serem Standort  die  Ethik,  welche  sich  in  dieser  gründete,  allen 
übrigen  vorzuziehen  sein.  Denn  alle  ihre  Fehler,  wenn  die  Kritik 
uns  deren  zeigte,  könnten  nur  zufällige  und  leicht  zu  heilende 
sein,  dagegen  jede  andere,  wie  fest  in  sich  bestehend  und  wohl 
gerundet  sie  auch  zu  sein  schiene,  uns  nur  die  Aufgabe  aufdringen 
würde,  sie  entweder  auf  jene  zurückzuführen,  oder  den  Betrug 
aufzudecken,  durch  welchen  sie  sich  einen  scheinbaren  Wert  ver- 
schafft habe.  Allein  jene  Erkenntnis  ist  nicht  auf  eine  solche 
Art  gefunden,  sondern  nur  einige  Versuche  gemacht,  deren  keiner 
recht  genügen  will.  Daher  kann  auch  die  Meinung  nicht  sein, 
einem  System  der  Sittenlehre  deshalb,  weil  es  mit  einem  von 
ihnen  zusammenhängt,  einen  entschiedenen  Vorzug  einzuräumen; 
indem  es  nicht  unser  Geschäft  ist,  jene  Versuche  zu  vergleichen 
und  zwischen  ihnen  zu  entscheiden.  Wohl  aber  kann,  wie  überall 
so  auch  hier,  Kenntnis  von  der  Entstehungsart  der  zu  unter- 
suchenden obersten  Ideen  zum  besseren  Verständnis  derselben 
beitragen,  und  die  Einsicht,  von  welchem  Bedürfnis  die  Bildung 
einer  jeden  Ethik  ausgegangen  ist,  kann  unsern  Erwartungen 
gleich  anfangs  die  gehörige  Richtung  geben.  Doch  nun  genug 
von   diesem  Vorläufigen,   und  zur  Sache  selbst. 

Diejenigen  zuerst  unter  den  Alten,  welche  in  einem  geschlos-  Die  Alten, 
senen  Zusammenhange  die  sogenannte  Philosophie  vortrugen, 
pflegten  sie  einzuteilen  in  die  logische,  physische  und  ethische, 
ohne  den  gemeinschaftlichen  Keim,  aus  welchem  diese  drei  Stämme 
erwachsen  sind,  aufzuzeigen,  noch  auch  höhere  Grundsätze  auf- 
zustellen. Denn  wenn  bei  einigen  gewissermaßen  eine  von  diesen 
Wissenschaften  der  andern  untergeordnet  wird,  indem  die  logische 
die  Kennzeichen  der  Wahrheit  für  die  beiden  andern  enthält;  die 
ethische  aber,  in  welcher  gezeigt  wurde,  daß  Beschäftigung  mit 
jener  dem  Weisen  gebühre,  den  Grund  des  Daseins  derselben  als 
menschliches  Werk  aufzeigt;  und  die  physische  dem  Gegenstande 


22  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [111,1,20] 

der  beiden  andern  seine  Stelle  im  ganzen  bestimmt:  so  erhellt 
daraus  nur  um  so  deutlicher,  wie  alle  dreie  voneinander  unab- 
hängig jede  auf  ihrem  eignen  Grunde  beruhen,  ohne  daß  eine 
gemeinschaftliche  Ableitung  für  sie  gefunden  wäre,  und  ohne  daß 
ins  Licht  gesetzt  würde,  wie  man  sich  bei  ihnen  beruhigen  müsse, 
und  wie  jede  das  gesamte  Gebiet  der  Erkenntnis  einer  gewissen 
Art  umfaßt.  Dieselbe  Bewandtnis  hat  es  mit  der  neueren  Ein- 
teilung der  Philosophie  in  die  theoretische  und  praktische,  welche 
auch  mit  der  vorigen,  bis  auf  die  Aussonderung  der  Logik,  ganz 
übereinkommt.  Vielmehr  ist  hier  noch  deutlicher  herausgehoben, 
wie  wenig  beide  miteinander  gemein  haben.  Denn  jedem  Teile 
ist,  besonders  für  die  Wissenschaften,  in  welche  er  zerfällt,  eine 
allgemeine  Philosophie  vorgesetzt,  welche  die  gemeinschaftlichen 
Grundbegriffe  derselben  enthält;  eine  noch  allgemeinere  aber,  um 
beide  Teile  zu  verbinden,  wird  nicht  ebenso  gefunden.  Demnach 
ist  die  Ethik,  was  nämlich  den  Ursprung  der  Idee  derselben  und 
die  Ableitung  ihrer  Grundsätze  betrifft,  ebensoweit  von  der 
Theorie  der  Seele  als  von  der  des  höchsten  Wesens  abgeschnitten, 
so  daß  auch  nicht  einmal  der  Gedanke  an  eine  systematische 
Verknüpfung  aller  menschlichen  Erkenntnisse  hier  anzutreffen  ist. 
Kant.  Ob  aber  Kant,  welcher  mit  der  Fackel  der  Kritik  in  diesem 

alten  Gebäude  umherzuleuchten  den  Mut  faßte,  diesen  Gedanken 
wirklich  gehabt  hat,  könnte  auch  mit  Grund  bezweifelt  werden. 
Denn  er  redet  zwar  mit  nicht  geringem  Nachdruck  von  einer 
Architektonik  der  Vernunft,  möchte  aber  dennoch,  sokratisch  be- 
fragt, mehr  ein  Begeisterter  als  ein  vernünftig  Wissender  zu  sein 
scheinen,  und  zwar  vielleicht  aus  Mangel  an  Begeisterung  und 
Überfluß  an  Vernunft.  Wenigstens  kann,  was  er  sagt,  nicht  dazu 
dienen,  die  Notwendigkeit  irgendeiner  einzelnen  Wissenschaft  ins 
Licht  zu  setzen,  oder  den  Kreis,  innerhalb  dessen  sie  alle  befaßt 
sein  müssen,  aus  seinem  Mittelpunkte  zu  zeichnen.  Sondern  wie 
wenn  einer,  der  nach  dem  Fundament  eines  Gebäudes  gefragt 
wird,   die   Zwischenwände    aufzeigt,   welche   die    Gemächer   von- 


[111,1,21]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  23 

einander  absondern,  begnügt  er  sich  mit  einer  Einteilung  des 
Vorhandenen,  welche  höchstens  nur  ein  dialektisches  Bedürfnis 
befriedigen  kann;  und  auch  dieses  nur  unzureichend.  Denn  wer 
mag  es  ertragen,  wiewohl  von  Kants  Nachfolgern  und  Verbesserern 
die  besten  es  auch  angenommen  haben,  die  reine  Ethik  von  der 
reinen  Naturlehre,  nur  als  Gesetzgebung  der  Vernunft  für  die 
Freiheit,  von  der  für  die  Natur  unterschieden  zu  sehen,  da  doch 
die  Art  der  Gesetzgebung  in  beiden  Wissenschaften  bei  ihm  so 
durchaus  verschieden  ist,  daß  es  eine  der  ethischen  ähnliche  für 
die  Natur,  und  eine  der  physischen  ähnliche  für  die  Freiheit 
gleichfalls  geben  muß.  Dies  heißt  die  Wissenschaften  selbst  ver- 
larven,  um  zugleich  desto  leichter  ein  ungeschicktes  Verfahren  ver- 
hüllen zu  können.  Wenn  er  aber,  um  beide  getrennte  Systeme  zu 
vereinigen,  die  Ethik  selbst  als  die  ganze  Bestimmung  des  Men- 
schen darlegend  zur  höchsten  Wissenschaft  machen  will:  so  ist 
dies  nur  dieselbe  beschränkte  Ansicht,  die  sich  schon  bei  den 
Alten  gezeigt  hat.  Es  mag  wohl  gesagt  werden,  daß  der  Ethiker 
die  übrigen  Vernunftkünstler  anstelle :  aber  aus  seiner  Wissenschaft 
kann,  daß  jene,  und  warum  gerade  so  gefunden  worden  sind, 
niemals  begründet  werden.  Zum  Behuf  dieser  vom  Praktischen 
ausgehenden  Einheit  aller  Vernunftkenntnisse  mußte  nun  freilich 
ein  Übergang,  eine  Brücke  zwischen  den  beiden  bisher  getrennten 
Systemen  gesucht  werden.  Es  ist  aber  hiermit  gleichfalls  nur  leerer 
Schein,  der  auf  ebensoviel  Willkürlichkeit  als  Mißverstand  beruht. 
Denn  wenn  auch  deutlich  wäre,  was  doch  schwer  zu  begreifen 
sein  möchte,  wie  die  Ideen  von  Freiheit,  Unsterblichkeit  und 
Gott  für  das  höchste  Ziel  alles  Bestrebens  der  beschauenden 
Vernunft  zu  halten  sind,  wie  mag  doch  derjenige  gerade,  welcher 
gezeigt  hat,  wie  sie  aus  ganz  natürlichen  Mißverständnissen  in 
dem  Geschäfte  der  Welterklärung  entstanden  sind,  vernünftiger- 
weise auf  den  Versuch  geleitet  werden,  ob  sie  nicht  da,  wo  Hand- 
lungen geboten  werden,  einen  positiven  Wert  und  Gehalt  haben 
möchten.    Dann  aber  liegt  auch  dieser  Fund  ganz  außerhalb  der 


24  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [111,1,  22] 

Ethik,  welche  nur  den  Inhalt  der  Vernunftgebote  für  das  Handeln 
aufstellt,  mit  den  zur  Sanktion  hinzugefügten  Drohungen  und 
Verheißungen  aber  gar  nichts  zu  schaffen  hat.  Ferner,  wie  sollte 
irgendeiner  Wissenschaft  eine  solche  Voraussetzung  geziemen,  daß 
vermöge  des  einen,  und  mit  ihm  zugleich  ein  anderes  gesetzt 
sein  könne,  was  mit  jenem  gar  nichts  gemein  hat,  wie  doch  von 
der  Sittlichkeit,  der  nach  Kant  nämlich,  und  der  GlückseUgkeit 
offenbar  ist?  Alles  dieses  aber  muß  herbeigeführt  werden,  um 
jenen  Übergang  zu  bauen.  Hätte  nun  jemand  diese  Ideen  von 
Unsterblichkeit  und  Gott  auf  die  geforderte  Art  ursprünglich  in 
die  Sittenlehre  hinein  verarbeitet:  so  würde  eine  gleiche  Kritik, 
wie  sie  Kant  an  der  theoretischen  Philosophie  geübt  hat,  sehr 
leicht  zeigen,  wie  entbehrlich  und  nur  aus  Mißverstand  hinein- 
gedrungen sie  dort  sind,  und  umgekehrt  mit  großem  Recht  ver- 
muten, sie  möchten  auf  spekulativem  Boden  erzeugt  und  dort 
eigenbehörig  sein.  Und  so  verwandelt  sich  der  Bau  nur  in  ein 
Kinderspiel  mit  dem  luftigen  Baustoff,  der  von  einem  Ufer  zum 
andern  hin  und  wieder  geschlagen  wird.  Denn  auf  diese  Weise, 
wenn  nämlich  die  Idee  des  höchsten  Wesens  zwar  beiden  Teilen 
der  Philosophie  gemein,  aber  in  dem  einen  nur  ein  durch  einen 
unvermeidlichen  Fehler  entstandenes  und  also  hinauszuwerfendes 
Erzeugnis,  und  in  dem  andern  nur  ein  überflüssiges  Triebwerk 
ist,  welches  nichts  bewegt  und  von  nichts  bewegt  wird,  kann  sie 
solche  unmöglich  beide  verbinden.  Auch  tut  Kant  sehr  wohl,  dem- 
gemäß keine  Ableitung  des  Inhalts  der  Ethik  von  jener  Idee  zu 
gestatten,  welche  auf  diese  Art  selbst  keinen  Boden  hat  und 
eigenthch  nirgends  steht.  Hiervon  also  mag  der  Zusammenhang 
oder  vielmehr  der  Mangel  daran  genugsam  angedeutet  sein,  daß 
sich  nicht  jemand  verleiten  lasse  zu  glauben,  jene  Physikotheologie 
oder  transzendentale  Theologie,  welche  doch  zuletzt  der  Schluß- 
stein in  dem  Gewölbe  alles  Wissens  sein  soll,  sei  in  diesem 
Weltweisen  und  für  ihn  wirklich  etwas.  Sie  ist  freilich  die  glück- 
liche Stelle,  von  welcher  aus  andere  das  gesehen  haben,  was  auch 


[111,1,23]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  25 

er  sucht,  nur  daß  er  auf  seinem  Wege  niemals  dorthin  gelangen 
kann.  Merkwürdig  aber  ist  es  und  nicht  ganz  zu  verschweigen, 
wenn  es  gleich  hier  nicht  ausgeführt  werden  darf,  wie  sich  in 
diesem  Lehrgebäude,  statt  der  unerreichbaren  Einheit  des  theoreti- 
schen und  praktischen  Systems,  ganz  unerwartet  eine  Unterordnung 
beider  unter  dieselbe  Phantasie  zeigt,  welche  überall,  wo  der  Geist 
dieser  Philosophie  sich  frei  und  mit  Besonnenheit  äußert,  so  ent- 
schieden herabgewürdiget  wird.  Nämlich  daß  die  Glückseligkeit 
nur  ein  Ideal  der  Phantasie  sei,  gesteht  der  Urheber  selbst;  ihm 
zufolge  aber  sind  die  Ideen  von  Unsterblichkeit  und  Gott  im 
Praktischen  nur  um  jener  willen  gleichsam  aufgedrungen ;  und  da 
sie  nun  im  Theoretischen  auch  nicht  vernunftmäßig  entstanden 
sind:  so  bleibt  nur  übrig,  daß  sie  überall  einem  Handeln  der 
Phantasie  ihr  Dasein  verdanken.  Dieses  wäre  vielleicht  an  sich 
nicht  wunderlich,  sehr  wunderlich  aber  bleibt  es  in  diesem  System, 
und  ein  starker  Beweis,  wie  schlecht  in  dem  Geiste  desselben  das 
Beabsichtigte  durch  sie  ausgeführt  worden.  Das  Gesagte  mag 
hinreichen,  um  zu  zeigen,  daß  auch  Kant  die  Ethik  nur  vorgefunden, 
daß  er  sonst  auch  nicht  den  Gedanken  gehabt  haben  würde,  sie 
hervorzubringen  und  von  einem  Mittelpunkte  des  menschlichen 
Wissens  aus  zu  beschreiben.  Dies  geht  auch  schon  aus  der  Art 
hervor,  wie  er  überall  den  Streit  führt,  daß  die  Ethik  sich  nicht 
auf  einen  Begriff  der  menschlichen  Natur  gründen  dürfe,  nämlich 
ohne  den  geringsten  Verdacht,  daß  ein  solcher  von  einem  höheren 
Punkt  aus  könnte  abgeleitet  sein,  sondern  immer  nur  auf  die 
gemeinen  und  willkürlichen  Rücksicht  nehmend.  Ferner  daraus, 
daß  er  selbst  gar  nicht  besorgt  ist,  dasjenige,  was  seinem  Aus- 
drucke des  ethischen  Gesetzes  zugrunde  liegt,  nämlich  die  Mehr- 
heit und  Gemeinschaft  vernünftiger  Wesen,  irgendwoher  abzu- 
leiten; und  doch  ist  ihm  diese  Voraussetzung  so  notwendig,  daß 
ohne  sie  sein  Gesetz  nur  ein  unverständliches  Orakel  sein  würde. 
Auch  vieles  andere  einzelne  könnte  angeführt  werden,  wenn  es 
nötig  wäre. 


26  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  24] 

Doch  vielleicht  ist  schon  zu  lange  gezögert  worden,  von  diesem 
Philosophen  zu  demjenigen  überzugehen,  welcher  von  vielen,  wie- 
Fichte.  wohl  gegen  jenes  Willen,  für  den  Vollender  seines  Systems  ge- 
halten wird,  zu  dem  Erfinder  nämlich  der  Wissenschaftslehre. 
Dieser  nun  macht  teils  als  solcher,  teils  und  mehr  noch  wegen 
seines  Systems  der  Sittenlehre  und  der  Art,  wie  es  sich  überall 
auf  jene  Wissenschaftslehre  bezieht,  die  meisten  Ansprüche  darauf, 
eine  Ableitung  der  Ethik,  wie  wir  sie  verlangten,  zustande  ge- 
bracht zu  haben.  Freilich  scheint  gleich  anfangs  die  ganze  Strenge 
dieser  Forderung  verletzt  zu  sein.  Wenn  nämlich  die  Wissenschafts- 
lehre, welche  die  höchste  Erkenntnis  wie  die  Wurzel  aller  übrigen 
sein  soll,  zu  des  Erfinders  eigner  Zufriedenheit  soweit  wirklich 
ausgeführt  wäre,  daß  der  Ort  sich  aufzeigen  ließe,  wo  jeder  be- 
sonderen philosophischen  Wissenschaft  Keim  ihr  eingewachsen  ist, 
und  von  wo  aus  er,  sobald  ihm  Freiheit  vergönnt  wird,  als  ein 
eigner  Stamm  in  die  Höhe  steigen  muß:  dann  natürlich  würde 
das  System  der  Sittenlehre  sich  lediglich  angeschlossen  haben  an 
diesen  bestimmten  Ort  der  Wissenschaftslehre,  darauf  sich  berufend, 
daß  dort  die  Idee  der  Ethik  als  ein  notwendiger  Gedanke  ge- 
funden worden,  dessen  methodische  und  systematische  Entwicklung 
nun  die  besondere  Wissenschaft  bilden  soll.  Dem  ganz  entgegen 
vernachlässigt  seine  Ethik  die  Berufung  auf  einen 
solchen  Ort  in  der  Grundlage  der  Wissenschaftslehre,  und  scheint 
wie  jede  andere  nur  mit  der  Hinweisung  auf  die  allgemein  vor- 
handene sittliche  Zunötigung  zu  beginnen.  Von  dieser  aber  er- 
hellt nicht  für  sich,  daß  sie  einen  transzendentalen  Grund  haben 
müsse:  denn  auch  ein  allgemein  Gefundenes  kann  eine  Täuschung 
sein,  die  nur  einen  empirischen  Grund  hat.  Hieraus  nun  ent- 
steht der  nachteilige  Schein,  als  ob  die  Wissenschaft,  ohne  zu 
wissen,  daß  sie  eine  solche  sein  muß,  anfinge  aufs  Geratewohl, 
und  als  ob,  wenn  sie  auch  nun  an  die  Wissenschaftslehre  an- 
knüpft, dieses  nur  zufällig  geschähe  an  einer  zufälligen  Stelle, 
dergleichen    es   man    weiß    nicht   wo   und   wie   viele    mehr   noch 


[111,1,25]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  27 

geben  könne.  Auf  diese  Art  aber  würde  sie  nicht  erscheinen  als 
ein  notwendiges  Glied  in  einem  alles  umfassenden  System  mensch- 
licher Erkenntnis.  Allein  dieser  nur  scheinbare  Vorwurf  trifft 
die  Sache  selbst  wenig,  und  löst  sich  darin  auf,  daß,  es  sei 
nun  aus  Unzufriedenheit  mit  der  ersten  Darstellung  der  Wissen- 
schaftslehre oder  aus  welchen  anderen  Gründen,  der  Urheber 
vorgezogen  hat,  das  hierher  gehörige  Stück  der  ursprünglichen 
Wissenschaft,  welches  dort  zum  Teil  fehlte,  zum  Teil  in  einer 
untauglichen  Gestalt  vorhanden  war,  an  Ort  und  Stelle  von  vorn- 
herein aufs  neue  zu  bilden,  lieber  als  sich  unzureichend  und  er- 
künstelt auf  jenes  zu  berufen.  Denn  als  Teile  der  Wissenschafts- 
lehre muß  auch  schon  der  Unkundige  diejenigen  Sätze  erkennen, 
die  in  der  Sittenlehre  und  dem  Naturrecht,  zwei  voneinander 
verschiedenen  besonderen  Wissenschaften,  gemeinschaftlich  zu  fin- 
den sind,  welches  nur  so  möglich  ist,  daß  sie  eigentlich  nicht 
diesen,  sondern  der  über  ihnen  stehenden  höheren  Wissenschaft 
angehören.  Der  Kundige  aber  erkennt  dafür  gleich  auf  den  ersten 
Blick  die  alles  begründende  Aufgabe,  sich  selbst  bloß  als  sich 
selbst  zu  denken,  oder  wie  sie  hernach  näher  bestimmt  wird,  sich 
selbst  als  das  Objektive  zu  finden.  Daher  wird  auch  nur  der, 
welchem  die  ersten  Gründe  der  Wissenschaftslehre  nicht  genug 
bekannt  sind,  einen  wesentlichen  Anstoß  daran  finden  (was  frei- 
lich im  Vortrage  mangelhaft  ist),  daß  dieses  beides  ohne  weiteres 
gleich  gesetzt  wird,  und  das  zu  Findende,  abgesehen  vom  Denken, 
zu  finden  aufgegeben  werden  soll.  Ein  solches  umbildendes  Er- 
gänzen der  Wissenschaftslehre  nun  sehen  wir  nicht  nur  im  An- 
fang der  Sittenlehre,  sondern  in  allen  Hauptteilen  derselben,  im 
ersten  sowohl,  welcher  nur  den  leeren  Gedanken  eines  Sitten- 
gesetzes zutage  fördert,  als  auch  in  dem  zweiten,  worin  für  diesen 
der  Gehalt  und  die  Anwendung  gefunden  wird,  und  ebenso  im 
dritten,  von  welchem  hier  nicht  weiter  die  Rede  sein  kann.  Dieses 
alles  soll  nicht  gesagt  sein,  als  ob  etwa  ein  solches  Verfahren 
von   uns   für   verdächtig  gehalten   würde;    vielmehr   würden    wir 


28  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  26] 

auch  dieses  rückwärts  gehende  Anbilden  des  hier  erforderlichen 
Teiles  der  höchsten  Wissenschaft,  sofern  es  sich  nur  als  richtig 
bewährt,  gar  sehr  zu  loben  finden.  Erinnert  aber  muß  es  werden, 
damit  in  Absicht  auf  den  Zusammenhang  des  Abgeleiteten  mit 
dem  gesamten  menschlichen  Wissen,  oder  andern  einzelnen  Teilen 
desselben,  ein  Unterschied  gemacht  werde  zwischen  dem  All- 
gemeinen und  dem  rein  Ethischen ;  ferner  damit  in  beiden  Haupt- 
teilen der  Ort  sorgfältig  aufgesucht  werde  wo,  und  die  Art  wie 
nun  eigentlich  das  Besondere  sich  ableitend  von  dem  Allgemeinen 
ausgeht.  Denn  hierbei  ist  die  größte  Aufmerksamkeit  erforder- 
lich, wegen  der  besondern  Beschaffenheit  der  Methode  dieses 
Weltweisen,  welche  bei  einigen  großen  und  eigentümlichen  Vor- 
trefflichkeiten, die  allein  ihrem  Erfinder  den  Ruhm  eines  der 
ersten  philosophischen  Künstler  zusichern,  auch  durch  andere  viel- 
leicht nicht  sowohl  absichtlich  ersonnene  als  von  selbst  sich  dar- 
bietende, gefährliche  und  verführerische  Hilfsmittel  sich  auszeichnet. 
Besonders  kann  da,  wo  gleichsam  aus  Nachsicht  dem  strengen 
und  ermüdenden  Gange  des  Systems  Einhalt  geschieht  unter  dem 
Schein  vorbereitender  Ansichten  und  Umsichten,  etwas  schon  vor- 
läufig halb  eingeschwärzt  werden,  dessen  mangelhafter  Erweis  in 
der  eigentlichen  weitern  Entwicklung  des  Systems  hernach  um 
so  weniger  bemerkt  wird.  So  kann  auch  leicht  bei  Vereinigung 
der  Gegensätze,  und  sonst  wo  die  Formeln  vielfach  verschlungen 
sind,  ein  bedeutender  Fehler  des  Rechnens  unbeachtet  durch- 
schlüpfen; oder  auch  die  übrigens  sehr  tugendhafte  und  lobens- 
werte Vermeidung  einer  allzu  eng  bestimmten  Lehrsprache  einige 
nicht  ganz  rechtliche  Erleichterungen  begünstigen.  Und  auf  eine 
andere  als  solche  Art  mag  auch  wohl  jenes  Wunderbare  nicht 
erreicht  worden  sein,  daß  nämlich  in  und  mit  dem  bloßen  Wollen 
zugleich  auch  das  Sittengesetz  soll  gefunden  worden  sein.  Wunder- 
bar gewiß,  daß  die  Aufgabe,  ein  bestimmtes  notwendiges  Be- 
wußtsein, wie  das  Finden  seiner  selbst,  zustande  zu  bringen, 
endlich  und  vollständig  nicht  anders  kann  gelöst  werden,  als  in- 


[111,1,27]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  29 

dem  ein  in  Hinsicht  auf  jenes  ganz  zufälliges  Denken  gefunden 
wird.  Und  so  geht  doch  ohne  Sprung,  wie  in  dem  Werke  selbst 
gerühmt  wird,  die  Ableitung  weiter  von  dem  allgemeinen  Be- 
wußtsein des  Wollens  zu  dem  besonderen  bestimmter  Pflichten, 
so  daß  dieses  als  bereits  in  jenem  enthalten  und  nur  aus  ihm 
heraus  entwickelt  und  dargestellt  muß  betrachtet  werden.  Denn 
daß  dieses  letztere  Bewußtsein,  in  Beziehung  auf  jenes  erste  des 
WollenSi  überhaupt  und  der  Freiheit,  ein  besonderes  und  zufälliges 
sei,  dies  kann  Fichte  ebensowenig  als  sonst  einer  ableugnen, 
obschon  er  sich  verwahrt  durch  die  Behauptung,  daß  gänzlich 
von  einem  solchen  Gedanken  entblößt  keiner  ein  vernünftiges 
Wesen  sein  könne.  Gesteht  er  doch,  dieses  nicht  achtend,  anders- 
wo selbst,  daß  Äußerung  der  Selbsttätigkeit  auch  statt  habe  in 
einer  Wahl,  bei  welcher  auf  keiner  Seite  jenes  Gesetz  in  Betracht 
gezogen  wird;  schildert  auch  selbst  menschliche  Gesinnungen 
und  zwar  die  so  Gesinnten  als  Freie,  wobei  das  Bewußtsein  der 
Selbsttätigkeit  das  leuchtende  und  herrschende,  das  des  Gesetzes 
aber  ganz  verdunkelt  und  aufgehoben  ist.  Ferner,  daß  unmöglich 
auf  solche  Weise  das  Besondere  mit  dem  Allgemeinen  zugleich 
gefunden  und  durch  denselben  Grund  wie  dieses  bedingt  und  be- 
stimmt sein  kann,  muß  jeder  wissen.  Sonst  dürfte  auch  an  die 
Wissenschaftslehre  die  Aufgabe  ergehen,  aus  derselben  ursprüng- 
lichen Handlung  des  Ich,  aus  welcher  sie  eine  Außenwelt  ent- 
wickelt, auch  die  Gesetze  der  Bewegung,  Veränderung  und  Bildung 
in  derselben  abzuleiten;  wogegen  sie  sich  immer  sehr  weislich 
und  verständig  verwahrt  hat.  Endlich  aber,  daß  die  Aufgabe 
wirklich  nicht  eine  neue  ist,  welche  zunächst  durch  den  Gedanken 
des  Sittengesetzes  gelöst  wird,  sondern  noch  die  erste,  ist  klar 
genug.  Denn  es  war  nur  eben  vorher  bemerkt,  das  Ich  sei  bis 
jetzt  sich  der  Selbsttätigkeit  nur  erst  als  eines  Vermögens  bewußt 
geworden;  wodurch  also,  und  zwar  am  meisten  nach  dem  rich- 
tigen Begriff  von  Vermögen,  den  Fichte  überall  nachdrücklich 
aufstellt,  noch  so  viel  als  nichts  geleistet  worden.    Und  daß  sie 


30  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,28] 

sich  deren  bewußt  werden  soll  als  eines  Triebes,  daraus  ergibt 
sich  hernach  unmittelbar  der  Gedanke  des  Sittengesetzes.  Im 
voraus  also  scheint  diese  Ableitung  nicht  die  Prüfung  bestehen 
zu  können,  welches  auch  die  Betrachtung  des  Verfahrens  selbst 
gar  sehr  bestätigt.  Die  Aufgabe  nämlich  lautet,  zu  finden,  wie 
sich  der  Trieb  nach  Selbsttätigkeit  als  solcher  auf  das  ganze  Ich 
äußert.  Dieses  nun  kann,  wie  bekannt,  nach  Fichte  nicht  anders 
als  teilweise  gefunden  und  dargestellt  werden.  Sonach  wäre  dieser 
Trieb  zu  stellen  als  einzeln  beide  Seiten  des  Ich,  die  subjektive 
sowohl  als  die  objektive,  bestimmend,  und  beide  Bestimmungen 
wären  hernach  wie  gewohnt  miteinander  zu  vereinigen,  welches 
heißt  durcheinander  zu  bedingen,  um  jenen  Trieb  im  Bewußt- 
sein vorzustellen  und  zu  bezeichnen.  Ganz  so  einfach  wie  der 
Sache  angemessen  würde  auf  diesem  Wege  erhalten,  als  voll- 
ständiges Bewußtsein  der  Freiheit,  wie  sie  ein  Trieb  ist,  und 
als  jedes  Finden  seiner  selbst  begleitend  und  vollendend,  ein 
Gedanke  und  ein  Gefühl;  das  Gefühl  nämlich  des  Strebens  und 
der  Gedanke  der  Freiheit,  als  gleich  notwendig,  wie  durchein- 
ander bedingt,  so  voneinander  unzertrennlich.  Weit  dieser  Auf- 
lösung vorbei  wird  hingegen  zuerst,  weil  nämUch  nur  ein  Ge- 
danke, und  zwar  ein  ganz  anderer,  aufgestellt  werden  soll,  vor- 
bereitend gezeigt,  daß  hier  nicht  ein  Gefühl  zu  erwarten  sei,  da 
doch  nur  geleugnet  werden  kann  bloß  ein  Gefühl,  ebensowenig 
aber  sich  behaupten  läßt  bloß  ein  Gedanke.  Ferner  wird  zu  dem- 
selben Behuf  und  um  dennoch  das  ganze  Verfahren  scheinbar  an- 
zuwenden, nicht,  wie  hier  angedeutet  worden  ist,  die  Rechnung 
angelegt,  sondern  nur  das  Subjektive  durch  das  Objektive,  und  erst 
das  so  Verbundene  durch  jenen  Trieb,  dann  aber  wieder  das  so 
Entstandene  auch  durch  das  Subjektive  bestimmt.  Dieses  Ver- 
fahren aber  muß  jeder,  der  auch  nur  ein  tüchtiger  Lehrling  dieser 
Methode  geworden  ist,  als  unregelmäßig  und,  um  eine  Bestim- 
mung des  ganzen  Ich  vorzustellen,  durchaus  fehlerhaft  finden. 
Allein  sogar  von  alle  diesem  abgesehen,  ist  doch  das  Resultat  nur 


[111,1,29]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  31 

erschlichen.  Denn  das  gesetzUch  notwendige  Denken  der  Selbst- 
tätigkeit, welches  der  gefundene  Inhalt  des  Gedanken  eigentlich 
ist,  kann  doch  nicht  gleich  gelten  dem  Denken  oder  sich  selbst 
Geben  eines  Gesetzes  der  Selbsttätigkeit,  wie  hier  leider  eines 
in  das  andere  sich  verwandeln  muß.  Wenn  so  ein  bestimmtes 
Zeichen  und  ein  bestimmendes  ihr  Geschäft  miteinander  ver- 
tauschen, so  ist  nicht  möglich,  daß  die  Formel  noch  ihren  vorigen 
Wert  behalte  und  der  andern  Seite  der  Gleichung  entspreche. 
Daß  nun  solche  Fehler  und  noch  manche  vorhergehende  der 
Methode  nicht  ganz  würdige  Wendungen  vielen  unbemerkt  ge- 
blieben sind,  geschieht,  anderer  kleiner  Verfänghchkeiten  nicht 
zu  gedenken,  nur  weil  von  Anfang  her  die  sittliche  Zunötigung 
als  Veranlassung  der  ganzen  Aufgabe  gezeigt,  und  also  bei  allen 
Lesenden  zum  begleitenden  Gedanken  geworden  ist,  den  sie  gern, 
sobald  es  sich  tun  läßt,  der  Reihe  einschieben.  Nicht  besser  auch 
steht  es  um  eine  andere  kleine  wie  in  der  Nußschale  eingeschaltete 
Ableitung,  davon  ausgehend,  daß  die  Vernunft  sich  durch  sich 
selbst  ihr  Handeln,  die  endliche  ein  endliches,  bestimme.  Denn 
wo  das  eigentliche  Handeln  und  das  in  der  Vorstellung,  sonst  das 
ideale  genannt,  nebeneinander  gestellt  werden,  da  kann  nicht  in 
demselben  Sinn,  worin  die  Bedingungen  des  Denkens  und  An- 
schauens  Gesetz  der  Vernunft  für  das  letzte  sind,  das  Ethische  ihr 
Gesetz  für  das  erste  sein.  Zwar  hier  wird  auf  dieses  gedeutet, 
weil  nämlich  Bestimmtheit  eines  reinen  Tuns  kein  Sein  gäbe, 
sondern  ein  Sollen:  hiervon  aber  liegt  die  überredende  Kraft  nur 
in  dem  „kein  Sein".  Denn  wer  dieses  herausnimmt,  wird  nicht 
mehr  begreifen,  wofür  ihm  die  Gleichheit  des  vieldeutigen  Aus- 
drucks, Bestimmtheit  eines  reinen  Tuns,  mit  dem  ganz  unerklärten 
des  Sollens  so  klar  geworden  sei.  So  auch  ist  ein  verwechselter 
Gebrauch  des  Seins  und  Sollens  die  einzige  Begründung  einer 
andern  Aussage  vom  Sittengesetz,  an  welche  hernach  vieles  an- 
geknüpft wird,  daß  nämlich  das  durch  dieses  Gesetz  Geforderte, 
weil  es  eben  immer  sein  solle  und  nie  sei,  in  der  Unendlichkeit 


32  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [IH.l,  30] 

liegen  müsse,  so  daß  ihm  nur  in  einer  Reihe  angenähert  werden 
i<önne.  Noch  schärfer  unterscheidet  sich,  was  die  Bündigkeit  des 
Zusammenhanges  betrifft,  im  zweiten  Teile  das  eigentlich  Ethische 
von  dem  Allgemeinen.  Denn  letzteres  stellt  nach  Vermögen  die 
äußeren  Bedingungen  auf,  unter  welchen  allein  das  Ich  praktisch 
sein  kann,  ersteres  aber  geht  in  großer  Verwirrung  und  ohne 
Leitung  umher,  ein  verlassenes  Kind  des  Überflusses  und  der 
Armut  der  Methode,  ihres  zu  viel  und  zu  wenig  Tuns,  um  sich 
einen  Raum  zu  gewinnen  in  diesem  abgesteckten  Gebiet.  Hier 
nämlich  soll  der  schon  oben  halb  eingeschwärzte  Begriff  von  einer 
selbsttätigen  Bestimmung,  gemäß  oder  auch  zuwider  gewissen, 
man  weiß  nicht  woher  entstehenden  Forderungen  der  Selbsttätig- 
keit, und  also  von  einer  materiellen  Freiheit  in  und  neben  der 
formellen,  ordentlich  hervorgebracht  werden.  Zu  dem  Ende  wird 
gefordert  ein  Trieb  auf  das  Bewußtsein  der  Freiheit,  und  so  auch 
ein  Trieb  auf  die  Bedingung  desselben,  nämlich  die  Unbestimmt- 
heit. Wunderlich  indes  erscheint  es  sicher  jedem,  wie  ein  Trieb 
nach  Unbestimmtheit  sich  hernach  entwickeln  soll  als  Trieb  auf 
etwas  so  durchaus  Bestimmtes,  als  zumal  in  dieser  Darstellung 
das  Sittengesetz  sein  will.  Noch  auch  würde  sich  jemand  hierbei 
beruhigen,  wenn  nicht  durch  die  vorhergegangene  Äußerung,  die 
auch  scheinbarer  als  richtig  ist,  daß  nämlich  eine  höhere  Art  von 
Freiheitsbewußtsein  entstände,  wenn  die  Selbstbestimmung  gegen 
die  Neigung  liefe,  eine  Geneigtheit  bewirkt  worden  wäre,  nun 
irgendein  unveränderliches  Gewicht  in  dieser  Wageschale  zu  er- 
warten, nämlich  den  hier  aufgestellten  reinen  Trieb.  Wie  kann 
aber  überhaupt  aus  jener  Forderung,  die  selbst,  wie  jeder  sieht, 
nur  schlecht  herbeigeführt  ist,  ein  eigner  Trieb  gefolgert  werden? 
Es  müßte  denn,  wovor,  da  ja  alles  im  Ich  aus  einem  Triebe  er- 
klärt werden  soll,  das  System  nicht  erschrecken  möge,  ein  Trieb 
sein  nach  der  Reflexion.  Denn  von  dieser  aus  herrscht  ja  nicht 
nur  im  Ich  die  Freiheit,  sondern  auch  durch  diese,  da  schon  ver- 
möge des  Innehaltens  andere  Forderungen  des  Triebes  sich  dar- 


[111,1,  31]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze,  33 

stellen,  wird  es  sich  seiner  Freiheit  bewußt;  wie  sich  denn  auch 
die  Reflexion,  wenn  der  zuerst  geprüfte  Teil  der  Ableitung  rich- 
tiger vollführt  worden  wäre,  als  die  eigentliche  Bedingung  des 
Freiheitsbewußtseins  würde  gezeigt  haben.  Denn  daß  das  Ge- 
fühl 'des  Strebens  notwendig  begleitet  ist  von  dem  Gedanken  der 
Freiheit,  will  eben  dieses  sagen  und  nichts  anderes.  Der  auf 
eine  so  mangelhafte  Art  herbeigeführte  reine  Trieb  wird  nun, 
damit  aus  ihm  der  erwünschte  sittliche  Trieb  erwachsen  könne, 
in  einen  Widerspruch  gesetzt  mit  dem  als  Bedingung  des  Handelns 
überhaupt  in  dem  allgemeinen  Teile  abgeleiteten  Naturtriebe. 
Dieser  Widerspruch  aber  entsteht  nicht  nur  bloß  aus  der  voraus- 
gesetzten beschränkten  Vorstellung  des  Handelns,  daß  es  näm- 
lich immer  und  überall  auf  Objekte  außer  dem  Ich  gehen  müsse, 
sondern  er  wird  auch  nur  sehr  unzureichend  gelöst.  Nämlich  um  ihn 
zu  setzen,  wird  dem  reinen  Triebe  Kausalität  abgesprochen,  in 
der  Bedeutung,  daß  er  der  Materie  nach  doch  nichts  anderes  wollen 
könne,  als  was  die  Natur,  wenn  dies  von  ihr  gesagt  werden 
dürfte,  auch  wollen  würde,  ausdrücklich  also  in  Beziehung  auf 
die  Materie  des  Wollens.  Gelöst  aber  wird  er  dadurch,  daß  dem 
reinen  Triebe  die  Form  des  Handelns  zum  Hervorbringen  an- 
gewiesen wird.  So  bleibt  demnach  in  dem  nämlichen  Sinne  seine 
Kausalität  doch  aufgehoben  und  der  Widerspruch  ungelöst.  Diese 
Auflösung  nun,  angeknüpft  an  jenen  nicht  minder  in  der  Luft 
schwebenden  Gedanken  von  der  Reihe  der  Annäherung,  ergibt 
es,  daß  diese  Reihe  in  jener  der  Forderungen  des  Naturtriebes 
enthalten  ist,  so  daß  jedes  Glied  in  jener  aus  einem  Gliede  in 
dieser  herausgehoben  ist.  Also  die  Reihe,  durch  deren  Fortsetzung 
das  Ich  unabhängig  werden  würde,  ist  ein  Teil  derjenigen,  deren 
ebenfalls  unendliche  Summe  das  Ganze  seiner  Abhängigkeit  aus- 
macht. Wie  er  nun  dieses  denken  könne,  mag  jeder  zusehen. 
Allein  auch  abgerechnet  ein  so  merkwürdiges  Verhältnis,  wie  mag 
wohl  durch  Fortsetzung  irgendeiner  Reihe  das  Ich  seiner  Unab- 
hängigkeit, das  heißt,  nach  dem  Sinne  des  Systems  selbst,  seinem 

Schleiermacher,  Werke.     I.  3 


34  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  32] 

Aufhören  annähern?  Durch  das  Hinzufügen  einer  Handlung  zur 
andern,  so  daß  gedacht  werden  muß,  wenn  die  unendUche  Summe 
könnte  gezogen  werden,  würde  das  Aufhören  anfangen?  Oder 
vielleicht  durch  das  Wachsen  der  Sittlichkeit  dem  Grade  nach,  so 
daß  etwas  Ähnliches  hier  stattfände,  wie  bei  den  Zahl-  und 
Meßkünstlern  der  Übergang  durch  das  Unendliche  in  das  Entgegen- 
gesetzte? Und  soll  es  an  dieser  des  Übermutes  und  Stolzes  so 
oft  verklagten  Philosophie  etwa  nur  Bescheidenheit  sein,  daß 
nicht  nur  die  Mittel,  wie  etwa  der  Staat  und  die  Kirche,  sondern 
auch  die  Zwecke,  wie  das  Ich,  auf  die  eigne  Zerstörung  absicht- 
lich und  pflichtmäßig  ausgehen?  Denn  des  mystischen  Wesens  ist 
sie  noch  nie  beschuldigt  worden.  Doch  dieses  verhalte  sich,  wie 
es  wolle:  offenbar  ist  immer  aus  dem  vorigen,  daß  diese  in  ihrer 
Absicht  und  Entstehung  sich  widersprechende  Reihe,  und  ihre  so 
unbegreifliche  als  unbewiesene  Bestimmtheit  für  jeden  von  jedes 
erstem  Punkt  aus,  die  einzige  Gestalt  ist,  in  welcher  das  Sitten- 
gesetz und  sein  Gefordertes,  mit  dem,  was  hier  der  Wissenschafts- 
lehre angehört,  in  Verbindung  gebracht  worden.  Und  dieses  Ge- 
webe, von  dem  nur  die  Hauptfäden  an  der  eben  geendigten 
Beleuchtung  haben  sichtbar  gemacht  werden  können,  wird  sonder 
Zweifel  jedem,  der  es  weiter  verfolgt,  so  lose  als  verworren  er- 
scheinen, nicht  ungleich  dem  Faden,  welchen  die  Kinder  mit 
scheinbarer  Künstlichkeit  um  die  Finger  verschlingend  befestigen, 
und  welcher  sich  dann  wieder  mit  einem  Zuge  lösen  läßt,  weil 
eigentlich  nichts  befestigt  war.  Nicht  als  ob  schon  geleugnet 
werden  sollte,  das  hier  aufgestellte  Sittengesetz  könne  nicht  ein 
echter  und  brauchbarer  Ausdruck  der  höchsten  Idee  der  Ethik 
sein;  noch  weniger  soll  schon  etwas  bestimmt  werden  über  den 
Wert  der  daraus  abgeleiteten  Sittenlehre;  nur  ihre  Verknüpfung 
mit  dem  ersten  Ringe  der  menschlichen  Erkenntnis  ist  für  unhalt- 
bar und  wie  nicht  vorhanden  anzusehen. 
Piaton  und  Zwei  nur  sind  noch  übrig,  von  denen  gerühmt  werden  kann, 
Spinoza,      (jaß  gje  gjj^g  Ableitung  der  Ethik  ebenfalls  versucht  Haben,  Piaton 


[111,1,  33]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  35 

nämlicK  unter  den  Alten,  unter  den  Neueren  aber  Spinoza.    Beide 
fast  so  sehr  einander  entgegengesetzt,  als   Meister  der  höheren 
Wissenschaft  es  nur  sein  dürfen,  haben  doch  unter  manchem  andern 
auch   dieses  Unternehmen,    ja    zum  Teil    auch    die  Art   der  Aus- 
führung miteinander  gemein.    Beide  nämlich  kommen  darin  über- 
ein,   daß    ihnen    die    Erkenntnis    des    unendlichen    und    höchsten 
Wesens  nicht  etwa  erst  Erzeugnis  einer  andern  ist,  viel  weniger 
ein  zu  andern  ersten  Gründen  noch  hinzugeholtes  Not-  und  Hilfs- 
mittel,  sondern   die    erste   und   ursprüngliche,   von   welcher   jede 
andere  ausgehen  muß.    Offenbar  ist  nun,  daß  auf  diese  Art  eine 
Unterordnung  aller  einzelnen  besonderen  Wissenschaften  unter  eine 
so  weit  über  sie  erhabene  nicht  schwer  kann  zu  bewerkstelligen 
sein,  und  daß   so   weder  die   Aussonderung  des    Ethischen   vom 
Physischen  Schwierigkeiten  erregen,  noch  aus  einer  sich  darbieten- 
den   gegenseitigen    Unterordnung    beider    Verwirrung    entstehen 
kann,  wie  es  bei  denen,  die  vom  Endlichen  anfangen,  unvermeid- 
lich  zu  sein  scheint.     So  demnach  stellt  Spinoza,  der  besondern  Spinoza. 
Wissenschaft,  die  er  darstellen  will,  die  höchste  eben  wie  Fichte 
nur  als  Vorkenntnis  mitgebend,  das  Buch  von  Gott  an  die  Spitze 
seiner  Ethik;  an  welches  sich  dann  natürlich  anschließt  das  von 
der  Seele  des  Menschen.    Denn  der  Begriff  derselben  ist  genau 
abgeleitet  aus  dem  in  der  Lehre  von  Gott  aufgestellten  Verhältnis 
des  Unendlichen  zum  Endlichen  und  Einzelnen.    Und  zwar  nicht 
allein,  welches  billig   Verdacht  erregen  könnte,  sondern  so,   daß 
gleich   die  Stelle   angewiesen   ist  für  ähnliche   Darstellungen   der 
Weltkörper  sowohl,  als  der  übrigen  organischen  Wesen,  und  bis  zu 
der  sogenannten  toten   Natur  herab   aller  verschiedenen   Verbin- 
dungen des  Denkenden  und  Ausgedehnten,  in  denen  das  Unend- 
liche sich  offenbart.   In  diesem  Begriff  der  menschlichen  Seele  aber 
ist  notwendig  enthalten  der  Gegensatz  des  Tuns  und  Leidens,  der 
geteilten  und  ungeteilten  Ursächlichkeit  der  Veränderung,  welcher 
in  seiner  Ethik  den  Charakter  des  Guten  und  Bösen,  oder  viel- 
mehr, weil  er  die  gänzliche  Ausschließung  des  einen  nicht  etwa 

3* 


36  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  34] 

in  der  Unendlichkeit  fordert,  sondern  überall  als  unmöglich  ab- 
leitet, den  des  Vollkommenen  und  Unvollkommenen  bestimmt.  Nur 
zweierlei  ist  mangelhaft  an  dieser  Verknüpfung.  Zuerst  nämUch 
ist  zwar  der  Begriff  aller  einzelnen  Dinge  und  so  auch  des  Men- 
schen dem  Verhältnis  des  Endlichen  zum  Unendlichen  ganz  gemäß, 
aber  nicht  in  ihrer  besondern  gerade  solchen  Bestimmtheit  daraus 
begreiflich  gemacht;  so  daß  er  gleichsam  über  die  einzelnen 
Naturen  zwar  die  Probe  machen,  nicht  aber  sie  selbst  durch 
Rechnung  hervorbringen  kann.  Dieses  indes  wird  für  die  Ethik  da- 
durch gut  gemacht,  daß  auch  die  höchste  Idee  derselben  sich  nicht 
auf  den  besonderen  Begriff  des  Menschen  bezieht,  sondern  auf 
den  jedes  einzelnen  Dinges,  dem  eine  Seele  zugeschrieben  werden 
kann.  Darum  aber  muß  zugestanden  werden,  daß  eben  diese 
Idee  ihm  nur  insofern  natürlich  ist,  als  dadurch  der  Maßstab 
für  die  möglichen  Verschiedenheiten  angegeben  wird,  nicht  aber 
insofern  sie  den  Weg  bezeichnen  soll  zur  Bildung  aus  dem  Un- 
vollkommenen in  das  Vollkommene.  Denn  eine  Ethik  in  diesem 
Charakter  würde  er,  wenn  er  sie  nicht  vorgefunden  hätte,  keine 
Veranlassung  gehabt  haben  hervorzubringen.  Teils  vv^eil  er,  in- 
dem er  sich  mit  aller  Kraft  seiner  Eigentümlichkeit  hüten  vv^ollte, 
daß  nicht  das  gefährliche  Spiel  mit  allgemeinen  Begriffen  seine 
auf  die  reinste  und  anschaulichste  Abspiegelung  des  Wirklichen  an- 
gelegte Wissenschaft  verdürbe,  auf  eine  ihm  eigne  Art  das  Ideal 
mit  dem  allgemeinen  Begriff  verwechselte.  Teils  haßte  er  nicht 
ungerechterweise  die  Zweckbegriffe,  und  vermischte  noch  mit 
diesen  das  Ideal.  So  daß  er  auf  allen  Seiten  in  Feindschaft  be- 
fangen war  gegen  dasjenige,  worauf  der  eigentümliche  Charakter 
der  Ethik  beruht;  was  ihm  freilich  nicht  hätte  begegnen  können, 
wenn  er  nicht,  so  ganz  wie  er  es  war,  entblößt  gewesen  wäre 
auch  von  jeder  Vorstellung  einer  Kunst  oder  eines  Kunstwerkes. 
Man  kann  daher  nicht  leugnen,  daß  die  Ethik  ihm  fast  wider 
seinen  Willen  und  wohl  nur  polemisch  zustande  gekommen  ist, 
es  sei  nun,  um  die  gemeinen  Begriffe  zu  bestreiten,  oder  um  seine 


[111,1,  35]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  37 

Theorie  vom  höchsten  Wesen  zu  rechtfertigen  und  zu  bewähren. 
Diese  Mängel  nun  sind  es,  welche  den  Gegensatz  zwischen  ihm 
und   Piaton  am   augenscheinlichsten  bezeichnen. 

Von  diesem  letzteren  muß  jeder,  der  ihn  einigermaßen  kennt,  Piaton. 
es  wissen,  wie  er  von  Anfang  an  von  der  Ahndung  ausgegangen 
ist  für  die  Wissenschaft  des  Wahren  und  des  Guten,  für  die 
Physik  und  Ethik,  einen  gemeinschaftUchen  Gmnd  zu  suchen,  und 
wie  er  diesen,  ihrem  Ursprünge  sich  je  länger  je  mehr  annähernd, 
beständig  aufgesucht  hat.  Ja,  man  kann  sagen,  daß  es  keine  be- 
deutende gibt  unter  seinen  Darstellungen,  worin  nicht  dieses  Be- 
streben die  Stelle  wäre,  von  weicher  aus  sich  Licht  über  das 
Ganze  verbreitete.  Ihm  nun  erscheint  das  unendliche  Wesen  nicht 
nur  als  seiend  und  hervorbringend,  sondern  auch  als  dichtend, 
und  die  Welt  als  ein  werdendes,  aus  Kunstwerken  ins  Unendliche 
zusammengesetztes  Kunstwerk  der  Gottheit.  Daher  auch,  weil 
alles  Einzelne  und  Wirkliche  nur  werdend  ist,  das  unendliche 
Bildende  aber  allein  seiend,  sind  auch  ihm  die  allgemeinen  Be- 
griffe nicht  etwa  nur  v/ie  jenem  Schein  und  Wahn  der  Menschen, 
sondern  bei  dem  entgegengesetzten  Verfahren  werden  sie  ihm  die 
lebendigen  Gedanken  der  Gottheit,  welche  in  den  Dingen  sollen 
dargestellt  werden,  die  ewigen  Ideale,  in  welchen  und  zu  welchen 
alles  ist.  Da  er  nun  allen  endlichen  Dingen  einen  Anfang  setzt 
ihres  Werdens,  und  ein  Fortschreiten  desselben  in  der  Zeit:  so 
entsteht  auch  notwendig  in  allen,  denen  eine  Verwandtschaft  mit 
dem  höchsten  Wesen  gegeben  ist,  die  Forderung,  dem  Ideale  des- 
selben anzunähern,  für  welche  es  keinen  andern  erschöpfenden  Aus- 
druck geben  kann  als  den,  der  Gottheit  ähnlich  zu  werden.  Daß 
also  hier  eine  noch  festere  Anknüpfung  der  Ethik  an  die  oberste 
Wissenschaft  stattfinde  als  dort,  ist  offenbar.  Ob  aber  die  höchste 
Wissenschaft,  selbst  so  logisch  als  Spinoza  sie  aufbaut,  oder  so  wie 
Piaton  sie  nur  nach  einer  poetischen  Voraussetzung  des  höchsten 
Wesens  hinzeichnet,  einen  festeren  Stand  habe,  dieses  zu  be- 
urteilen   ist  nicht  des  gegenwärtigen  Orts.    Nur  dies  ist  das  Ende 


38  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [IH,!,  36] 

der  Untersuchung,  daß  unter  allen,  welche  den  Gedanken  gefaßt 
haben,  die  Ethik  aus  einer  höheren  Wissenschaft  her  zu  begründen, 
es  nur  denen  bis  jetzt  vielleicht  gelungen  ist,  welche  objektiv 
philosophiert  haben,  das  heißt,  von  dem  Unendlichen  als  dem  ein- 
zigen notwendigen  Gegenstande  ausgegangen  sind.  Auch  diese 
aber  mögen  die  Idee  der  Sittenlehre  eher  gehabt  haben  als  den 
Gedanken  dieser  Verknüpfung;  und  so  kann  im  allgemeinen  an- 
genommen werden,  daß  bis  jetzt  nur  die  zuerst  angeführten  Gründe 
wirksam  gewesen  sind  zu  deren  Entstehung.  Denn  sowohl  das 
Bewußtsein  der  innern  sittlichen  Zunötigung,  es  beruhe  nun, 
worauf  es  wolle,  als  auch  einzelne  ethische  Begriffe  und  Sätze 
in  äußerer  wissenschaftlicher  Gestalt,  sind  den  Versuchen  der 
Wissenschaft  selbst  Überali  vorangegangen.  Alles  aber  nicht  mit 
Bewußtsein  noch  nach  festen  Gesetzen  gebildete  ist  schwankend 
und  irgendwo  unbestimmt;  woraus  denn  die  Verschiedenheit  der 
höchsten  Grundsätze  sich  leicht  erklärt,  welche  die  doppelte  Auf- 
gabe zu  lösen  hatten,  das  bereits  einzeln  Gefundene  entweder  zu  ver- 
einigen oder  außer  Wert  zu  setzen,  und  jene  innere  Zunötigung  auf 
eine  befriedigende  Weise  auszusprechen.  Welche  so  entstandene 
Verschiedenheiten  wir  nun  im  Begriff  stehen,  näher  zu  beleuchten. 


Erster  Abschnitt. 
Von   der  Verschiedenheit   in   den   bisherigen   ethischen 

Grundsätzen. 

Mannig-  Unzählig  sind,  wenn  man  auf  jede  kleine  Abweichung  sehen 

^  ^  ^'  will,  die  Formeln,  welche  von  jeher  als  Grundsätze  an  die  Spitze 
Grundsätze.  ^^^  Sittenlehre  gestellt  worden;  und  ein  nicht  zu  beendigendes 
Geschäft  wäre  es,  sie  einzeln  aufzuzählen  und  zu  behandeln.  Denn 
auch  solche,  die  im  ganzen  einstimmig  w^aren  mit  andern,  hat  bald 
die  Hoffnung,  leichter  einen  Einwurf  zu  beschwichtigen,  bald  die 
Aussicht  durch  mehr  Allgemeinheit  oder  durch  abgeschnittenere  Be- 


[111,1,  37]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  39 

Stimmung  einen  festeren  Grund  zu  legen,  auf  Abänderungen  ge- 
leitet an  dem,  was  ihnen  überliefert  war.  So  auch  hat  mancher, 
wie  es  zu  gehen  pflegt,  Neues  erfunden  zu  haben  geglaubt, 
indem  er  nur  aus  den  Schätzen  der  Sprache  das  Alte  mit  neuen 
Worten  bekleidete  oder  dieselbe  Gleichung  nur  anders  ordnete  und 
gestaltete.  Dennoch  sollten  wir  keine  von  diesen  übergehen,  so- 
fern sie  der  Grund  eines  eignen  Gebäudes  wirklich  geworden  oder 
werden  gekonnt.  Denn  es  kann  auch,  was  obenhin  betrachtet 
nur  als  ein  geringer  Unterschied  erscheint,  sich  in  den  Folgerungen 
wichtiger  zeigen;  und  jede  besondere  Wissenschaft,  wie  sie  ver- 
bunden  ist,  den  Worten  genau  zu  folgen,  muß  auch  diese  überall 
geziemend  verehren.  Erleichtert  indes  würde  die  Sichtung,  wenn 
es  möglich  wäre,  mit  Gewißheit  die  große  Anzahl  der  Ausdrücke 
auf  eine  kleinere  der  Gedanken  zurückzuführen.  Denn  da  für 
jedes  Gedachte  nur  ein  Ausdruck  der  angemessenste  sein  kann :  so 
würde  sich  nach  dieser  Vergleichung  dem  Vollkommeneren  das  Un- 
vollkommene unterordnen  lassen,  und  es  müßten  die  vielen  kleinen 
Erscheinungen  sich  in  wenige  große  und  durch  kenntliche  Züge 

zu  unterscheidende  verwandeln.    Wie  ganz  leicht  aber  und  unbe-  Ungenügen 

der 
deutend    wäre   das    Geschäft,   könnten   wir  jenes   von    Kant    auf-  kantischen 

gezeichnete  Täflein  dabei  gebrauchen,  welches,  wie  er  verheißt,  alle  Scheidung, 
ethischen  Grundsätze,  die  möglichen  zu  den  wirklichen  enthalten 
soll.  Nur  leider  hat  er  auch  hier  nach  seiner  Weise  zu  viel  ge- 
tan und  zu  wenig.  Wer  zum  Beispiel  möchte  wohl  sagen,  daß 
der  Urheber  der  Fabel  von  den  Bienen,  und  der  alte  gallicanische 
Montaigne,  jener  die  bürgerliche  Verfassung,  dieser  die  Erziehung 
in  demselben  Sinne  zum  Bestimmungsgrunde  des  Willens  im 
ethischen  Gesetz  erhoben,  wie  etwa  die  alte  dialektische  oder 
stoische  Schule  den  Begriff  der  Vollkommenheit?  Vielmehr  wird 
jeder  gestehen,  daß  von  dem,  was  zu  billigen  ist  oder  zu  verwerfen, 
Merkmale  angeben,  und  die  Form  dieser  Urteile,  selbst  ihrem 
Wesentlichen  nach  nur  als  Tatsachen  aus  einem  natürlichen  Grunde 
erklären  wollen,  zwei  ganz  verschiedene  Handlungen  sind,  welche 


40  Grundlinien  eine    Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  38] 

nur  gewissermaßen  den  Gegenstand  gemein  haben.  Und  schwer 
ist  besonders  zu  begreifen,  wie  auf  eine  solche  Zusammenstellung 
gerade  Kant  verfallen  konnte,  welcher  überall  die  unabhängige 
Aufbauung  eines  Systems  im  Sinne  hat,  die  jene  aus  dem,  was 
er  ihre  Grundsätze  nennt,  verwerfen,  die  übrigen  aber  aus  den 
ihrigen  versuchen  wollen.  So  auch  drückt  er  den  ethischen  Grund- 
satz überall  aus  unter  der  Formel  des  SoUens,  welche  den  ge- 
nannten beiden  unterlegen  zu  wollen,  nur  das  Lachen  erregen 
müßte  über  den  gänzlichen  Mißverstand.  Denn  so  würden  beide, 
die  Fahne  des  ethischen  Zweifels  verlassend,  der  eine  sich  wo- 
hin er  noch  wollte,  der  andere  zu  den  Schulen  des  Altertums 
flüchten,  welche  die  Ethik  der  Staatskunst  unterordnen.  Das  Zu- 
wenig aber  in  jenem  Täflein  aufzuzählen  möchte  zu  viel  werden; 
denn  zu  groß  und  auffallend  ist  darin  die  Unkenntnis  alter  und 
neuer  Schulen.  Wer  zum  Beispiel  mag  es  dulden,  daß  Aristipp 
über  dem  Epikur  vergessen  worden,  oder  daß  die  sinnvollere 
platonische  Formel  der  Verähnlichung  Gottes  durch  die  neuere 
und  inhaltleere  des  göttlichen  Willens  verdrängt  ist,  oder  daß 
Aristoteles  und  Spinoza  gänzlich  vergessen  sind?  Es  genüge 
daher  diese  allgemeine  Andeutung,  um  Mißtrauen  zu  erwecken 
gegen  jene  Ansicht,  welche  uns  zwischen  allen  ethischen  Grund- 
sätzen keine  andere  Entgegensetzung  übrig  läßt,  als  die,  daß  wir 
den  kantischen  der  allgemeinen  Gesetzmäßigkeit  oder  Selbstherr- 
schaft des  Willens  von  allen  übrigen,  als  welche  sämtlich  auf 
eine  Untertänigkeit  desselben  ausgehen,  unterscheiden  sollen.  Denn 
indem  sich  diesem  während  seiner  Prüfung  das  von  ihm  soge- 
nannte Objektive  doch  wieder  in  ein  Subjektives,  und  das  Vernunft- 
mäßige in  ein  auf  der  Erfahrung  Beruhendes  verw^andelt:  so 
fließt  alles,  was  nicht  das  seinige  ist,  dermaßen  zusammen,  daß 
aller  natürliche  Unterschied  der  Farben  verschwindet.  Ob  nun 
dieser  Gegensatz  zwischen  dem  Formellen  und  Materiellen  wenig- 
stens als  ein  einzelner  vorhanden  ist,  dieses  wird  die  Folge  lehren. 
Jetzt   aber   ist   zunächst   ein   anderer   Weg   aufzuzeigen,    um    die 


[111,1,  39]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  41 

Verhältnisse  der  verschiedenen  Grundsätze  gegeneinander,  ihre 
ÄhnHchkeit  und  Unähnlichkeit,  so  wie  es  unser  Vorhaben  er- 
fordert, zu  entdecken.  Daß  wir  hiebei  nicht  an  eine  systematische 
Einteilung  derselben  denken  können,  leuchtet  von  selbst  jedem 
ein,  der  den  Sinn  unseres  Vorhabens  begriffen  hat,  und  sich  des 
Ortes  erinnert,  an  welchen  wir  uns  von  Anfang  an  gestellt  haben. 
Vielmehr  haben  wir,  anstatt  nur  mehrere  unter  wenige  gemein- 
schaftliche Abteilungen  zusammenzufassen,  von  dem  Gedanken 
auszugehen,  daß  auch  jeder  einzelne  mannigfaltig  ist  in 
seinen  Eigenschaften  und  Beziehungen.  Diese  also  wer- 
den wir  aufsuchen  und  sehen,  ob  sie  auf  die  wissenschaftliche 
Tauglichkeit,  welche  der  Gegenstand  unserer  Prüfung  ist,  einen 
Einfluß  haben;  in  welchem  Falle  sich  denn  ergeben  wird,  daß 
einige  von  den  verschiedenen  Grundsätzen  in  dieser,  andere  in 
einer  andern  Hinsicht  sich  gleichen  und  zusammengehören.  Eines 
aber  ist  hiebei  als  schon  getan  vorauszusetzen,  die  Unterordnung 
nämlich  dessen,  was  nur  im  einzelnen  abweicht,  unter  einen  Haupt- 
gedanken, welches,  ob  es  richtig  geschehen,  die  Sache  selbst  und 
die  Zusammenstimmung  des   Erfolgs   am  besten  beweisen  wird. 

Der  erste  Gegensatz  nun,    der    sich    uns    aufdringt,  ist  der.    Glückselig- 
weichen  auch  Kant  anfänglich  angenommen,  bald  aber  wieder  ver-  ^  ..,     ~~ 
nichtet  hat,  nämlich  der  alte  zwischen  den  Systemen  der  Lust  und        heit. 
der  Tugend  und  Naturgemäßheit,  oder  wie  die  neueren  ihn  aus- 
drücken, zwischen  denen  der  Glückseligkeit  und  der  Vollkommen- 
heit.   Denn  wenngleich  die  meisten  Neueren  beides  der  Tat  nach 
als  unzertrennlich  miteinander  verbunden  darstellen,  ja  schon  die 
Späteren  unter  den  Alten  ähnliche  Meinungen  geäußert:  so  unter- 
scheidet sich  doch  beides  dem  Gedanken  nach  so  sehr,  und  ist  ur- 
sprünglich" für  so  entgegengesetzt  gehalten  worden,  daß,  wie  es 
damit  beschaffen  sei,  aufs  neue  muß  untersucht  werden.    Dieses 
wird  am  besten  geschehen,  wenn  wir  die  Grundsätze  in  ihrer  An- 
wendung auf  das   einzelne  verfolgen.    Hier  nun  zeigt  sich,   daß 
die    Grundsätze    der    Naturgemäßheit,    der   Vollkommenheit,    der 


42  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  40] 

Gottähnlichkeit,  und  welche  noch  sonst  hierher  gehören  mögen,  alle 
diese  gerichtet  sind  auf  ein  so  und  nicht  anders  Sein  oder  Tun 
des  Menschen;  die  aber  der  Lust  und  der  Schmerzlosigkeit  und  die 
ihnen  ähnlichen  nicht  auf  das  so  Sein  oder  so  Tun  selbst,  sondern 
nur  auf  eine  bestimmte  Beschaffenheit  der  Bewußtseins  von  einem 
Sein   oder  Tun.    Denn   ein  solches   ist  die   Lust,   nicht   ein  Sein 
oder  Tun  selbst,  sondern  ein  durch  das  Gefühl  gegebenes  Wissen 
um   ein  Sein   oder  Tun.    So  kann  ja   einer  vollkommen   sein  in 
der  körperlichen  Stärke,  aber  er  wird,  wenn  er  nicht,  es  sei  nun 
ruhend  oder  handelnd,  diese  Vollkommenheit  betrachtet,  die  eigen- 
tümliche Lust  daran  nicht  genießen.    Daß  aber  auch  beides  wie 
nicht  an  sich  einerlei,  so  auch  nicht  für  den  Willen   notwendig 
verbunden  ist,  leuchtet  ebenfalls  ein.    Denn  es  kann  ja,  und  wird 
auch  wenigstens  dem  Vorsatz  nach,  jeder,  dessen  Grundsatz  dies  ist, 
wenn  er  etwas  nach  der  Idee  der  Naturgemäßheit  vollbracht  hat, 
sogleich  fortschreiten  zu  einer  neuen  Handlung,  ohne  auf  das  der 
vorigen  nachfolgende  Gefühl  seine  Aufmerksamkeit  zu  richten;  so 
daß,  wenn  sich  dieses  auch  immer  einigermaßen  aufdrängt,  er  es 
doch  nur  zufällig  besitzt,  und  was  den  Willen  anbetrifft,  es  längst 
übersprungen   hat.    Ebenso   kann   der,   welcher  nur  auf  das   Ge- 
fühl ausgeht,  sich  dieses  in  manchen  Fällen  wenigstens  verschaffen, 
ohne  gehandelt  zu  haben,  durch  Erinnerung  an  eine  vergangene 
Handlung  oder  durch  das  Vorbilden  einer  künftigen    oder  durch 
die   Vorstellung  derselben   überhaupt,   und  behauptet  so,  seinem 
Grundsatz  nachgekommen  zu  sein,  wo  jener  glauben  würde,  noch 
gar  nichts  getan  zu  haben.    Ja,  wenn  auch  ein  solcher  sich  be- 
wogen findet,  die  Handlung  selbst  zu  vollbringen,  um  nicht  das 
auf  jene   Art   erzeugte   Bewußtsein   durch   ein   entgegengesetztes 
leichter  aufgehoben  zu  sehen:  so  geschieht  doch  das  nur  zufällig, 
und  sein  Wille  ist  nicht  darauf  gerichtet.   Sonach  ist  soviel  gewiß, 
daß  in  dem  System  der  Lust  die  Handlung  oder  das  Sein  nur  das 
Nichtgewollte  ist  als  Mittel,  in  dem  der  Tugend  aber  das  Gefühl, 
das  Nichtgewollte  als  Zugabe.    Dieses  Gegensatzes  nun  waren  die 


[111,1,  41]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  43 

Alten  sich  sehr  deuthch  bewußt.  Wie  denn  von  den  Epikureern  DieGriechea 
gesagt  wird,  sie  hätten  nicht  zugeben  mögen,  daß  in  dem  Begriff 
des  höchsten  Gutes  mit  verschlungen  werde  der  der  Tätigkeit, 
weil  nämhch  ihr  Höchstes  nicht  ein  im  Handeln,  sondern  ein  im 
Leiden  Gegebenes  war,  nicht  ein  Selbstwirken,  sondern  ein  gleich- 
viel woher  Bewirktes.  Und  die  Dialektiker  oder  Stoiker  nannten 
deshalb  die  Lust  ein  beiläufig  und  im  Gefolge  eines  andern  mit 
Erzeugtes,  um  das  Verhältnis  derselben  zu  ihrem  Gegenstande 
des  Wollens  zu  bezeichnen.  Nur  die  Neueren  haben,  den  Unter- 
schied zwischen  dem  Wesentlichen  und  Zufälligen  übersehend,  bei- 
des friedliebend  verbunden,  so  daß  die  Verwirrung  groß  und  kaum 
zu  lösen  ist,  indem  der  eine  vielleicht  mit  der  Gesinnung  dieses, 
in  der  Darstellung  aber  jenes,  und  ein  anderer  dagegen  in  um- 
gekehrter Ordnung  beides  ergriffen  hat.  Wer  aber  wissenschaft- 
lich zu  prüfen  entschlossen  ist,  darf  sich  nicht  blenden  lassen  durch 
den  Schein  der  Gesinnung,  welche  doch  nur  zweideutig  bleibt, 
wenn  sie  nicht  genau  und  bestimmt  ausgesprochen  wird,  sondern 
er  hat  sich  lediglich  an  die  Darstellung  zu  halten.  Dieser  nun 
bei  einigen  zu  folgen,  von  denen  es  zweifelhaft  sein  könnte,  wo- 
hin sie  zu  rechnen  sind,  muß  den  Gegensatz,  von  welchem  jetzt  die 
Rede  ist,  noch  deutlicher  machen.  So  erscheint  die  anghkanische 
Schule  des  Shaftesbury,  wieviel  auch  dort  immer  von  der  Tugend  Shaftesbury 
die  Rede  ist,  dennoch  als  gänzlich  der  Lust  ergeben.  Denn  es  "•  ^• 
endigt  alles  in  den  Beweis,  daß  die  echte  und  dauerhafte  Glück- 
seligkeit nur  vermittelst  der  Tugend  zu  erwerben  sei;  und  das 
Wohlwollen,  welches  ihr  Wesen  in  dieser  Schule  ausmacht,  er- 
hält seine  Stelle  nur  dadurch,  daß  eine  eigene  Lust,  wie  sie  sagen, 
aus  demselben  entspringt.  Vielleicht  würde  die  unhaltbare  Doppel- 
seitigkeit ihrer  Darstellung  eher  und  besser  ans  Licht  gekommen 
sein,  wenn  schon  gleich  damals,  als  unstreitig  der  Grund  dazu 
gelegt  wurde,  jene  Empfindsamkeit  sichtbar  gewesen  wäre,  welche 
es  anlegt  auf  die  Fertigkeit,  sich,  ohne  Hand  oder  Fuß  zu  regen, 
durch  das  bloße  Nachempfinden  vermittelst  der  Einbildung,  alle 


44  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,42] 

Süßigkeiten  jenes  auf  Wohlwollen  beruhenden  sittlichen  Gefühls 
zu  verschaffen.  Denn  diesem  Genuß  müßte  Shaftesbury  folge- 
rechtervveise  denselben  Wert  zuerkannt  haben,  wie  dem  aus  dem 
eigenen  Handeln  entstandenen,  und  so  würde  die  Weisheit  ihr  Ziel 
darin  gesetzt  haben,  die  sittliche  Lust  zwar,  weil  es  sich  bei  ihr 
tun  läßt,  in  der  Einbildung,  die  organische  aber,  bei  welcher 
dieses  nicht  gehen  will,  in  der  Wirklichkeit  zu  genießen.  Woraus 
denn  am  besten  erhellt,  wie  wenig  in  diesem  System  das  Han- 
deln eigentlich  das  Gewollte  sein  kann.  Und  wenn  auch  einige, 
wie  Ferguson,  ihrem  Gesetz  den  Namen  geben,  nicht  von  der  Lust, 
sondern  von  der  Selbsterhaltung,  so  daß  es  unmittelbar  auf  ein 
Sein  zu  geben  scheint:  so  erklären  sie  doch  selbst  wie  unter- 
geordnet dieses  ist,  indem  sie  äußern,  ein  Wesen,  welches  keine 
Übel  empfände  und  keine  Bedürfnisse  hätte,  welches  ja  beides 
Beziehungen  auf  die  Lust  sind,  würde  auch  keine  Bewegungs- 
gründe haben  zu  handeln.  Ja,  der  dieser  Schule  sich  so  sehr  an- 
nähernde Garve  hat  ihrem  Gebäude  die  Zinne  aufgesetzt,  die  für 
jeden  das  Wahrzeichen  sein  kann,  indem  er  die  Achtung,  welche 
seit  einiger  Zeit  das  Losungswort  geworden  war  für  die,  welche 
eine  reine  Tätigkeit  abgesondert  von  aller  Lust  suchen,  erklärt 
als  die  Sympathie  mit  der  Glückseligkeit  dessen,  der  gut  gehandelt 
hat,  welches  sagen  will,  der  durch  das  Wohlwollen  glückselig  ge- 
worden ist. 

Aufi  der  andern  Seite  sind  nun  aber  auch  diejenigen  zu  be- 
trachten, w^elche,  obgleich  der  reinen  Tätigkeit  angehörig,  dennoch 
von  vielen  unverschuldeterweise  für  Anhänger  der  Lust  sind  an- 
Aristoteles, gesehen  worden.  Unter  diesen  ist  der  erste  Aristoteles,  an  dem 
man  deutlich  sehen  kann,  wie  derjenige,  welcher  auf  reine  Tätig- 
keit ausgeht,  auch  die  Lust  behandeln  wird,  wenn  nicht  etwa  die 
Rücksichten  eines  Streites  ihn  anders  nötigen.  Er  nämlich  sieht 
die  Lust  zw^ar  an  als  notwendig  verbunden  mit  der  Vollendung 
einer  naturgemäßen  Handlung,  deshalb  aber  ist  sie  keineswegs 
^  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,  43]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  45 

das,  worauf  er  abzweckt.  Denn  sonst  würde  er  nicht  ohne  Hin- 
sicht auf  etwa  schmerzliche  Folgen  jede  Lust  ausschließen,  welche 
auf  einem  andern  Wege  als  diesem  erzeugt  wird,  jede,  welche 
übermäßig  eine  übermäßige  Handlung  begleitet,  oder  die  aus  ver- 
wickelten Beziehungen  entstehend  nicht  einer  bestimmten  Hand- 
lungsweise eigentümlich  ist.  Auch  deshalb,  weil  er  zur  Erreichung 
des  höchsten  den  Besitz  äußerer  Güter  fordert,  darf  er  nicht  anders 
beurteilt  werden.  Denn  dies  hängt  bei  ihm  teils  davon  ab,  daß 
er  nicht  den  sittlichen  Wert  auch  in  dem  ruhenden  der  Ge- 
sinnung zu  finden  weiß,  sondern  nur  in  dem  beweglichen  des 
Handelns,  wozu  es,  da  bei  der  Art,  wie  er  die  Sittenlehre  ver- 
bindet mit  der  Staatslehre,  alles  Handeln  nur  ein  bürgerliches 
sein  kann,  eines  anständigen  Wirkungskreises  und  äußerer  Mittel 
bedarf;  teils  auch  davon,  daß  er  diesen  Wert  nicht  festzuhalten 
und  anzuschauen  weiß  in  einem  Moment,  sondern  nur  in  dem  un- 
unterbrochenen Gebrauch  einer  lang  ausgesponnenen  Zeit.  Daher 
ist  es  ganz  in  seinem  Geiste  gesagt,  was  seine  bald  ausgeartete 
Schule  nicht  nachgesprochen  haben  würde,  daß  diejenigen,  welche 
den  Reichtum  für  einen  Bestandteil  an  sich  der  Glückseligkeit 
hielten,  nicht  bedächten,  wie  diese  eine  Lebensweise  sei,  welche 
also  keine  andern  unmittelbaren  Bestandteile  haben  könne,  als 
Handlungen.  Auch  erklärt  er  sich  oft  genug,  es  gäbe  für  ihn 
kein  anderes  unmittelbar  Gewolltes,  als  dasjenige,  von  welchem 
man  auch  nichts  begehre  als  eben  die  Tätigkeit  selbst.  Wie  ihm 
denn  auch  die  Lust,  auf  welche  er  einen  Wert  legt,  nicht  ein 
gleichviel  woher  Gegebenes  ist,  sondern  nur  durch  die  Tätigkeit 
einer  naturgemäßen  Kraft  und  Eigenschaft;  und  er  nicht  an  ihr 
schätzt,  daß  sie  stark  empfunden  wird,  sondern  nur,  daß  sie  ein 
Zeichen  der  Vollendung  ist,  indem  sie  das  Bewußtsein  des  Un- 
gehinderten gewährt.  Woraus  deutlich  erhellt,  daß  er  die  Lust 
eigentlich  nur  begehrt  als  Probe  und  Bewährung  einer  zur  Voll- 
kommenheit gediehenen  naturgemäßen  Handlung;  so  wie  er  den 
Trieb  nach  Ehre  zuläßt  als  Trieb,  das  eigne  Urteil  durch  andere 


46  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  44] 

zu  bestätigen.  Ihm  ähnlich  und  ihn  erläuternd  ist  hierin  auch 
Spinoza.  Spinoza.  Denn  die  Verknüpfung  des  Gefühls  mit  der  Tätigkeit, 
welche  in  jenem  doch  nur  willkürlich  und  fast  zufällig  erscheint, 
ist  bei  diesem  aufs  innigste  verwebt  in  den  Gang  seiner  Gedanken 
und  das  Eigentümliche  seiner  Weltbetrachtung.  Nicht  zu  trennen 
ist  ihm,  wie  von  dem  Gedanken  die  Veränderung  des  Leibes, 
so  auch  der  Gedanke  von  dem  Bewußtsein  desselben.  Seine  Lust 
ist  der  Übergang  in  einen  Zustand  größerer  Kraft  und  Wirklich- 
keit, und  der  Gedanke  daran  und  das  Bewußtsein  dieses  Ge- 
dankens, alles  in  einem  ungetrennt  und  ungeteilt.  Aber  dieses 
letztere  noch  zumal  für  den  Willen  besonders  auszuscheiden,  wäre 
für  ihn  das  Inhaltleerste  gewesen  unter  allem  Denkbaren,  die  nich- 
tige Vorstellung  einer  bloßen  Vorstellung.  Daher  schließt  er  auch 
von  dem  ethischen  Gebiet  alles  aus,  was  nur  einen  Teil  des 
Menschen  zu  größerer  Vollkommenheit  fördert  oder  diese  anzeigt, 
und  somit  den  größten  Teil  der  eigentlich  sogenannten  und  von 
den  mehresten  um  ihrer  selbst  willen  gesuchten  Lust,  von  welcher 
er  sogar  sagt,  sie  könne  Mittel  oder  Art  und  Weise  des  Todes 
sein.  Ja  die  Art,  wie  er  ohne  weiteres  aus  dem  auf  die  bloße 
Selbsterhaltung  gerichteten  Gesetz  aufs  natürlichste  folgert,  daß 
das  Ethische,  nämlich  die  reine  Tätigkeit,  um  ihrer  selbst  willen 
müsse  geliebt  werden,  diese  zeichnet  gleichsam  die  schärfste  Grenz- 
linie zwischen  beiden  Systemen,  dem  der  Lust  und  dem  der 
Tätigkeit. 

Aus^  diesen  Beispielen,  miteinander  verglichen,  offenbart  sich 
deutlich,  daß  das  Handeln  und  die  Beziehung  auf  dasselbe  im 
Gefühl  selbst  da,  wo  sie  in  der  vorstellenden  und  erklärenden 
Ansicht  ungetrennt  sind,  doch  für  den  Willen  niemals  eins  und 
dasselbe  sein  können,  so  daß  es,  wie  diejenigen  unter  den  Neueren 
behaupten,  welche  Vollkommenheit  und  Glückseligkeit  zusammen- 
schmelzen wollen,  gleichgültig  sei,  ob  auf  dieses  oder  jenes  der 
Wille  zunächst  gerichtet  werde.  Sondern  es  sind  vielmehr  beide 
Hinsichten  sittlich  durchaus  verschieden,  so  gänzlich,  daß  jeder 
^  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,  45]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  47 

ethische  Grundsatz  sich  entweder  auf  eine  von  beiden  beziehen, 
oder  auf  der  einen  Seite  leer  und  auf  der  andern  unrein  und  zu- 
sammengesucht erscheinen  muß.    Welche  nun  rein  auf  die   Lust 
gehen,  wobei  der  Gegenstand,  von  dem  sie  hergenommen  werden 
muß,   wenigstens  für   die   gegenwärtige   Beurteilung  gleichgültig 
ist,  die  sind  leicht  zu  erkennen,  wenn  man  das  obige  im  Auge  be- 
hält. Dagegen  haben  die,  welche  die  Tätigkeit  zum  Ziel  genommen,  Unterschiede 
so  sehr  in  anderer  Hinsicht  voneinander  abweichende  Gestalten,    _..  ^^^ . 
daß   auch  diese   Ähnlichkeit  nicht  von  jedem  jederzeit  leicht  er-      Systeme, 
kannt  wird.  Zuerst  sondern  sich  ab  diejenigen  Grundsätze,  in  denen 
eine   Beziehung  auf  die   Gottheit  ausgedrückt  wird,  nämlich   die 
auch    voneinander   gleich    unabhängigen    wie    verschiedenen    des 
Pia  ton  und  des  Spinoza,  dieser  der  Erkenntnis  Gottes,  jener 
der  Verähnlichung  mit  ihm.    Dann  sind  wiederum  unter  denen, 
welche   bei  dem   Menschen   allein,   ihn   nur  mit  sich   selbst   ver- 
gleichend, stehen  bleiben,  einige  zu  unterscheiden,  welche  mehr 
vom   Platon  ausgehend   ein  zwiefaches  im  Menschen  annehmen. 
So  behaupten  die  Stoiker,  daß,  wenn  auch  der  anfängliche  Zu- 
stand des  Menschen  keineswegs  widersittlich  ist,  indem  er  etwa 
auf  die  Lust  ausginge,  sondern  auch  da  schon  die  Tätigkeit  sein 
Geschäft  ist,  nämlich  die  der  Selbsterhaltung,  doch  hernach  erst 
die  Vernunft  als  ein  Neues  oder  neu  im  Bewußtsein  Gefundenes 
hinzu  kommen  müsse,  um  ein  neues,  nämlich  das  ethische  Leben 
zu   bilden.    Mit   ihnen   stimmt  am   nächsten   überein,    nicht   etwa 
Kant;   denn   man   tut  unrecht   ihrem   Ausdruck,   das   Sittliche  sei 
ein  übereinstimmendes  Leben,  wenn  auch  darin  ursprünglich  von 
der  Übereinstimmung  mit  der  Natur  keine  Erwähnung  geschehen, 
doch  jenen  Sinn  beizulegen,  da  er  offenbar  nur  auf  die  Gleich- 
artigkeit   alles    Ethischen   geht,    wie   genugsam   erhellt   aus   Ver- 
gleichung  mit  der   Erklärung,  die  Gesinnung  sei  die  Quelle  der 
Lebensführung,  aus  welcher  die  einzelnen  Handlungen  herfließen. 
Jedoch   aber  stimmt  mit  ihnen  sowohl  an  sich   als   auch   in  der 
Vielfältigkeit    der    Formeln    auf    vielfache   Art    überein    Fichte, 
welcher  ebenso,  ausgenommen,  daß  er  dem  natürlichen  Menschen 


48  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  46] 

nur  die  Lust  anweiset,  einen  gedoppelten  Trieb  setzt,  wovon  der 
letzte,  sittliche,  abhängt  von  dem  Gefundenhaben  der  Freiheit, 
oder  welches  eins  ist,  der  Vernunft.  Auch  wie  jene  vergnügt 
er  sich  an  einer  natürlichen  Geschichte  des  Menschen  in  der  vor- 
sittlichen Zeit  und  seines  Überganges  aus  einem  Zustande  in  den 
andern.  Die  Gleichartigkeit  alles  Sittlichen  aber  wird  bei  ihm 
dadurch  ausgedrückt,  daß  es  alles  als  in  einer  Reihe  liegend  ge- 
setzt wird.  Besonders  aber  läßt  sich  die  Vielseitigkeit  der  stoi- 
schen Formeln  nicht  besser  als  durch  die  seinigen  erläutern,  und 
bei  der  mangelhaften  Kenntnis  jener  Schule  der  Zusammenhang 
mancher  späteren  mit  den  früheren,  und  wie  sich  in  der  einen 
mehr  der  gute,  in  der  andern  der  böse  Geist  des  Systems  offenbart 
hat,  fast  nur  aus  ihm  verstehen.  So,  wenn  man  denkt  an  des 
Fichte  Erklärung  des  Gewissens,  und  an  seine  Weltordnung:  so 
überrascht  die  Formel  des  Chrysippos,  tugendhaft  leben  heiße 
leben  in  Übereinstimmung  mit  dem  einem  jeden  einwohnenden 
Dämon,  gemäß  dem  Willen  des  allgemeinen  Weltordners.  Wie 
nun  Archidemos  einen  dem  Scheine  nach  bestimmteren  Aus- 
druck aufgebracht,  nämlich  in  jedem  Falle  das  Geziemende  zu 
tun,  so  auch  Fichte,  in  jedem  Augenblick  die  Bestimmung  zu 
erfüllen;  und  wie  der  stoische  Diogenes  sich  noch  gehaltreicher 
und  in  Beziehung  auf  das  vorsittliche  Leben  so  ausdrückt,  ver- 
nunftmäßig handeln  in  der  Auswahl  des  von  der  Natur  ange- 
strebten: so  bezeichnet  auch  Fichte  das  Geschäft  des  sittlichen 
Triebes  als  ein  Auswählen  aus  dem  vom  Naturtriebe  geforderten, 
als  ein  den  Endzwecken  gemäßes  Behandeln  der  Gegenstände, 
sonach  die  praktische  Wissenschaft  als  eine  Einsicht  von  den  End- 
zwecken der  Dinge,  woraus  man  sieht,  besser  als  sonst,  wie  diese 
spätere  stoische  Formel  sich  wieder  anschließt  an  jene  frühere  des 
Chrysippos  von  dem  Leben  nach  richtiger  Schätzung  dessen, 
was  sich  natürlich  ereignet.  Daß  nun  auch  Kant,  wenngleich 
mehr  von  weitem,  sich  diesen  anschließt,  bedarf  kaum  einer  wei- 
teren Ausführung.     Denn   daß   sein   Sittliches   ein  Tun   ist,  wird 


[111,1,47]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  49 

keiner  leugnen,  auch  nicht,  daß  es  durch  eine  neue,  durch  die  Be- 
trachtung der  Vernunft  hinzukommende  Kraft,  heiße  sie  nun  Trieb 
oder  Triebfeder  oder  wie  sonst  immer,  bewirkt  wird.  Andere, 
mehr  dem  Spinoza  gegenüberstehend,  der  ohne  eine  solche 
Zwiefachheit  den  sittlichen  Trieb  unmittelbar  als  den  Erhaltungs- 
trieb des  Ganzen  darstellt,  unterscheiden  nur  das  Handeln  und 
Leiden,  das  äußere  und  innere,  das  eigne  und  fremde.  Dieses 
taten  die  Cyniker,  deren  wahre  Idee  wohl  nicht  eine  der  Bildung 
und  Geselligkeit  entgegenstehende  Natureinfalt  gewesen  ist,  son- 
dern eine  Selbsterhaltung  und  ein  Leben  aus  eigner  Kraft,  wobei 
sie,  nur  auf  eine  andere  Art  als  andere  hernach,  übersehen,  wie 
auch  die  Geselligkeit  und  ihre  Früchte  schon  als  ein  durch  die 
eigne  Kraft  des  Menschen  Entstandenes  zu  betrachten  sind.  Denn 
ein  solcher  Gedanke  liegt  offenbar  in  ihren  ursprünglichen  Ent- 
gegensetzungen zwischen  Glück  und  Mut,  Gesetz  und  Natur, 
Leidenschaft  und  Vernunft.  Eben  hierher  werden  auch  diejenigen 
unter  den  Neueren  gehören,  dafern  es  anders  solche  gibt,  denen 
es  rein  und  unvermischt  ein  Ernst  gewesen  wäre  um  den  Grund- 
satz der  Vervollkommnung.  Denn  eine  eigne  Stelle  gebührt  doch 
diesem  Grundsatz  allerdings,  und  es  scheint  in  dem  gegenwärtigen 
Zusammenhange  gar  nicht  leicht  zu  begreifen,  wie  Kant  es  mög- 
lich gemacht  habe,  ihn  ebenfalls  auf  den  der  Glückseligkeit  zurück- 
zuführen, und  wie  er  nicht  habe  verstehen  können,  daß  Voll- 
kommenheit in  praktischer  Bedeutung  etwas  anderes  sein  solle  als 
Tauglichkeit  zu  allerlei  Endzwecken,  welche  ja  ihm  selbst  zufolge 
nur  den  Namen  einer  pragmatischen  verdienen  würde.  Hätte  er 
auch  nur  darauf  geachtet,  wie  die  Cyniker,  denen  gewisser- 
maßen die  neueren  Stoiker  sich  wieder  näher  anschheßen,  und 
ebenso  Spinoza  alle  ethischen  Unterschiede  aus  dem  Handeln 
und  Leiden,  aus  der  recht  oder  vergeblich  und  gar  nicht  gebrauchten 
Kraft  entwickelt  hatten:  so  könnte  ihm  nicht  entgangen  sein,  wie 
gar  wohl  jener  Begriff  der  Vollkommenheit,  da  unter  dem  Worte 
verstanden   wird  die  Vollständigkeit  eines   Dinges   in  seiner  Art, 

Schleiermacher,  Werke.    F.  4 


50  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  48] 

eine  anordnende  Anwendung  finde  auf  den  Menschen,  als  ein,  wie 
er  doch  selbst  will,  eigentlich  handelndes  Wesen  gedacht.  Ja  schon 
die  gemeine  Erklärung  von  Zusammenstimmung  des  Zufälligen  mit 
dem  Wesentlichen,  wiewohl  sie  dem  Buchstaben  nach  sehr  schlecht 
ist,  und  auch  die  zum  Grunde  liegende  Vorstellung  nicht  rühm- 
lich, da  nämlich  der  Mensch  für  sich  und  vor  dem  Handeln  mithin 
als  ein  Ding  gedacht  für  das  Wesentliche,  alles  Handeln  aber  für 
das  Zufällige  genommen  wird,  hätte  ihn  dennoch  von  seinem 
Orte  aus  an  die  Bedeutung  der  echt  stoischen  Formeln  erinnern 
müssen,  in  denen  die  ununterbrochene  Tätigkeit  der  höheren  Kraft 
des  Menschen  so  offenbar  und  allein  die  Hauptsache  ist.  Hätte 
er  aber  den  Gedanken  besser  verstanden  als  die  meisten,  welche 
ihn  vorbrachten,  und  dabei  an  die  Vollkommenheit  eines  Kunst- 
werkes gedacht:  so  hätte  sich  ihm  ein  eigentümlicher  und  tieferer 
Sinn  enthüllen  müssen,  in  Beziehung  auf  welchen  dieser  Ausdruck 
leicht  der  echteste  ethische  ist,  weil  er  der  Wahrheit  nach  sich 
unmittelbar  auf  den  Gedanken  des  Ideals  bezieht. 
Misch-  Was^   aber  diejenigen  betrifft,  welche  selbst  den  Gmndsatz 

Systeme,  ^^j.  Vollkommenheit  anerkennend,  ihn  dennoch  dem  der  Glück- 
seligkeit für  gleichartig  oder  ganz  gleich  erklärt  haben,  weil  näm- 
lich die  echte  Farbe  und  Dauer  der  Glückseligkeit  am  Ende  doch 
wieder  von  der  Vollkommenheit  abhinge:  so  ist  offenbar,  daß  sie 
entweder  sich  selbst  sowohl  als  die  andern  nicht  verstanden,  oder 
einer  ganz  unwissenschaftlichen  Friedliebe  und  Einigungssucht 
Raum  gegeben,  welche,  das  Innere  verachtend,  sich  an  einer  bloß 
äußerlichen  Übereinstimmung  ergötzt.  Zu  vergleichen  ist  die  Sache, 
als  ob  etwa  einige  sich  stritten,  welches  wohl  die  Bahn  der  Welt- 
körper wäre,  Kreis  oder  Ellipse,  und  wenn  es  nicht  zum  Ende  ge- 
deihen wollte,  dann  endlich  die  letzteren  sprächen  unter  sich  und 
zu  den  ersten,  daß  es  gar  nicht  der  Mühe  wert  wäre  den  Streit 
fortzusetzen,  denn  der  Kreis  Heße  sich  vollkommen  als  eine  Ellipse 
betrachten,  und  so  man  nur  die  Brennpunkte  zusammenrückte, 
^  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,  49]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  51 

würden  ja  alle  Ellipsen  Kreise.  Wenn  nun  aber  jene  nichts  v/üßten 
von  den  Brennpunkten,  auch  sich  bis  zu  der  Idee  einer  Funktion 
niemals  erhoben  hätten:  so  wären  doch  weder  beide  Parteien 
einig,  noch  weniger  aber  die  Sache  selbst  wirkhch  auf  eine  solche 
Art  dieselbe. 

Ob  aber  Kant,  nachdem  er  diesen  Gegensatz  mit  Unrecht  Formalismus 
aufgehoben,  wenigstens  einen  andern  wahren  aufgestellt,  indem  er  —  ^^tena- 
unter  dem  Namen  des  Formalismus  seinen  Grundsatz  nicht  nur 
von  den  Subjektiven,  sondern  auch  die  Objektiven,  wie  er  sie  nennt, 
eingeschlossen,  von  beiden  als  dem  Materialismus  der  Sittenlehre 
abgesondert;  dies  ist  sehr  zu  bezweifeln.  Denn  die  Beschuldigung, 
daß  bei  jenen  allen  das  Gebotene  auf  etwas  außerhalb  bezogen 
werde,  ist  für  die  letzteren  ungerecht,  indem  bei  ihnen  dieses 
„Außerhalb"  nur  ein  solches  ist,  wie  man  von  dem  Ganzen  sagen 
kann,  daß  es  außerhalb  des  Teils  liegt.  Vielmehr  läßt  sie  sich  so 
auf  Kant  besonders  zurückwerfen,  w^ie  sehr  er  auch  davon  frei  zu 
sein  glaube;  denn  er  erlangt  diesen  Schein  nur  durch  die  Zwei- 
deutigkeit in  dem  Ausdruck  ,,ein  vernünftiges  Wesen",  der  sowohl 
bedeuten  kann  ein  solches,  welches  die  Vernunft  hat  als  Vermögen, 
als  auch  ein  solches,  welches  von  ihr  wirklich  getrieben  und  dessen 
übriges  also  von  ihr  gehabt  wird.  Kant  nun  muß  voraussetzen, 
jedes  vernünftige  Wesen  in  dem  ersteren  Sinne  wolle  auch  eins 
in  dem  letzteren  sein,  und  sein  Grundsatz  geht  aus  auf  die  Voll- 
kommenheit eines  solchen.  Warum  also  dies  nicht  ebenfalls  ein 
Angestrebtes,  eine  Materie  des  WoUens  zu  nennen  sei,  mögen 
andere  besser  begreifen.  Ja  es  findet  sich  leider  bei  Kant  noch  ein 
ärgeres  „Außerhalb",  indem  sein  höchstes  Gut,  als  das  zuletzt  und 
im  ganzen  Gewollte,  einen  Bestandteil,  die  wohl  ausgeteilte  Glück- 
seHgkeit  in  sich  faßt,  wovon  in  dem  jedesmal  und  einzeln  Gewollten 
nicht  ein  verhältnismäßiger  Teil,  sondern  höchstens  in  der  Würdig- 
keit glücklich  zu  sein,  daß  ich  so  sage,  der  Logarithme  davon  ent- 
halten ist.  Doch  dieses  wäre  hier  vorweggenommen  und  kann  nicht 
weiter  ausgeführt  werden. 

4* 


52  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  50] 

Einfacher  oder        Es  ist  aber  nicht  unbemerkt  vorbeizulassen,  wie  sich  uns  oben 
T^'h  f-^*^    bei  Anordnung  der  verschiedenen  Systeme,  deren  Grundsatz  Tätig- 

Natürlichkeit  ^^^^  ist  im  Gegensatz  gegen  die  Lust,  ein  neuer  anderer  Gegensatz 
und        von  selbst  aufgedrungen  hat,  den  wir  auch  bei  den  Sittenlehrern 
Sittlichkeit,  ^gj.  j^^g^  wiederfinden,  nämlich  zwischen  denen,  welche  einen  zwie- 
fachen Trieb  annehmen,  so  daß  sie  den  sittlichen  dem  natürlichen 
entgegenstellen,  und  denen,  welche  das  ethische  Leben  nicht  aus 
einem  besondern  erst  später  erwachenden,  sondern  nur  aus  dem 
allgemeinen,  das  ganze  Leben  umfassenden  Triebe  entwickeln,  so 
daß  der  sittliche  Mensch  nicht  etwas  Neues  und  anderes,  sondern 
nur  auf  bessere  Art  das  nämliche  zu  tun  scheint,  was  auch  jeder 
andere   von  selbst  tut  und  seiner  Natur  gemäß  tun   muß.    Wie 
nun  von  denen,  welche  auf  Tätigkeit  ausgehn  die  meisten, 
aber  nicht  alle,  ein  zwiefaches  setzen:  so  wird  dieses  von  denen, 
welche  die  Lustzum  Ziel  haben  größtenteils  geleugnet.  Denn 
schon  die  Alten  beriefen  sich  darauf,  daß  auf  die  Lust  der  all- 
gemeine   Trieb    alles    Lebendigen    gehe,    und    auch     die    galli- 
kanische  Schule  leugnet,  daß  aus  einem  andern  Bewegungs- 
grunde als  dem  Eigennutz  innerhalb  der  menschlichen  Natur  ge- 
handelt   werden    könne,   so    daß    sich    nur    der   wohlverstandene 
unterscheiden    lasse    von    dem    andern.     Ja    selbst    die    angli- 
kanische, welche  eine  doppelte  Quelle  der  Lust  annimmt,  die 
idiopathische   nämlich   und  die   sympathische,   und   so   daß   jene, 
sobald  sie  sich  ausschUeßend  setzt,  das  Unsittliche  ist,  sucht  doch 
auch  öfters  beide  als  der  eigentlichen  und  innersten  Natur  nach 
dasselbe    darzustellen.    Wesentlich    aber    ist    es    doch    nicht    den 
Systemen  der  Lust,  sich  ganz  auf  diese  Seite  zu  begeben.  Vielmehr 
könnte  es  und  sollte  auch  wohl  herzhaftere  Verteidiger  derselben 
geben,   welche  den   Mut  hätten,   den   entgegengesetzten   auf  die 
Tätigkeit  selbst  gerichteten  Trieb  nicht  für  eine  Täuschung  und 
einen  Mißverstand,  sondern  auch  für  einen  wirklichen  Trieb,  näm- 
lich für  den  unsittlichen,  Lust  und  Leben  vernichtenden,  zu  erklären, 
welches    erst  die   mutige   und   der   gegenwärtigen   Zeit   würdige 
Vollendung   dieser   Denkungsart  sein   würde.    Dieser   Gegensatz 


[in,1,  51]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  53 

nun,  der  sich  eben  dadurch  als  ein  eigner  bewährt,  daß  auf  jeder 
Seite  sich  Teilhaber  von  beiden  Seiten  des  vorigen  vereinigen, 
scheint  auf  den  ersten  AnbHck  so  beschaffen,  daß  der  eine  seiner 
beiden  Sätze  die  Ethik  ihrer  eigentHchen  Würde  beraubt.  Denn 
nur  da,  wo  ein  zwiefacher  Trieb  angenommen  wird,  scheint  ein 
scharfer  und  schneidender  Unterschied  zu  sein  zwischen  dem  sitt- 
lichen und  vvidersitthchen ;  die  andere  Seite  hingegen  Veranlassung 
zu  geben,  daß  das  Böse  nur  verwandelt  werde  in  einen  Irrtum, 
und  das  Gute  in  eine  Einsicht,  wodurch  denn  die  Ethik  von  der 
Würde  einer  Wissenschaft  herabsinken  müßte  zu  dem  niedrigeren 
Range  einer  technischen  Anleitung.  So  haben  es  manche  gemeint, 
welche  die  Tugend  eine  Wissenschaft  genannt  haben,  und  noch 
mehrere,  welche  einen  solchen  Ausspruch,  wo  er  anders  und  besser 
gemeint  war,  nur  in  diesem  Sinne  zu  erklären  gewußt.  Allein 
es  dürfte  dieses  wohl  nur  ein  Schein  sein,  daß  ein  innerhalb 
einer  Wissenschaft  gefundener  Gegensatz  auch  über  sie  hinaus- 
gehen könnte.  Denn  jene  Annäherung  des  Sittlichen  und  Wider- 
sittlichen aneinander  und  die  daraus  zu  folgernde  Aufhebung  der 
Ethik  als  wahrer  Wissenschaft,  dies  beides  hebt  sich  immer  selbst 
wieder  auf;  indem  doch  überall  zugegeben  wird,  daß  der  Irrtum 
durch  die  bloße  Belehrung  nicht  verschwindet,  mithin  als  in- 
wohnende Ursache  desselben  doch  eine  Handlungsweise  oder 
Denkungsart  angenommen  vv^erden  muß,  an  welcher  dann  das 
Sittliche  einen  ihm  ähnlichen  reellen  Gegensatz  erhält.  So  haben 
ja  auch  die  Stoiker,  ohnerachtet  sie  eigenthch  ein  zwiefaches 
Treiben  annahmen,  dennoch  die  einzelnen  Tugenden  als  Wissen- 
schaft erklärt;  wir  sehen  aber  aus  den  Bedeutungen,  in  welchen 
sie  dieses  Wort  genommen,  wie  dunkel  sie  uns  auch  Johannes 
Stobaios  aufbehalten  hat,  das  Praktische  darin  ganz  deutlich;  wo- 
durch denn  der  Widerspruch  zwischen  ihrem  übrigen  System  und 
ihrem  Begriff  vom  Unsittlichen  wegfällt.  Daher  dieses  nur  für  eine 
Verschiedenheit  der  Ansicht  zu  halten,  welche  im  Inneren  nichts 
verändert.  So  nämlich,  daß  die  Frage  über  die  Einheit  des  Triebes, 
wie  sie  auch  beantwortet  werde,  dem  Dasein  der  Sittenlehre  keinen 


54  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [IH,  1,  52] 

Eintrag  tun  kann,  demnach  aber  jener  Unterschied,  ob  auch  an 
dem  sittlich  zu  beurteilenden  Zustande  zwei  verschiedene  Triebe 
als  wirksam  gedacht  werden  oder  nur  einer,  wie  er  sich  gefunden, 
auf  seinem  Werte  beruhen  muß. 
Das  sittliche  Diesem  ähnlich,  aber  doch  wohl  von  ihm  zu  unterscheiden,  ist 
I  ^h  ff"  d  ^^"  anderer  Gegensatz,  welcher  sich  bezieht  auf  das  Verhältnis  des 
oder  be-  sittlich  Bewirkten  zu  dem  im  vorsittlichen  Zustande  Bewirkbaren; 
schränkend',  ob  nämlich  das  dem  ethischen  Grundsatz  gemäße,  es  sei  nun 
Handeln  oder  Genießen,  ein  durch  ihn  ganz  und  gar  eigentümlich 
und  neu  Hervorgebrachtes  ist,  oder  nur  eine  eigne  Bestimmung 
und  Begrenzung  eines  anderwärts  her  und  auch  ohne  ihn  vor- 
handenen. Vielleicht  wird  dieser  Unterschied  deuthch  durch  Ver- 
gleichung  mit  der  verschiedenen  Art,  wie  eine  Raumerfüllung  in 
bestimmter  Gestalt  kann  hervorgebracht  vv^erden.  Nämlich  wenn 
eine  lebendige  und  bildende  Kraft  nach  ihrem  Gesetz  sich  aus- 
dehnend bewegt  und  in  irgendeinem  Zeitteil  als  festgehalten  ge- 
dacht wird:  so  entsteht  auf  diese  Weise  dann  das  Erfüllende  und 
seine  Gestalt  zugleich,  und  ist  nur  aus  demselben  Grunde  zu  er- 
klären. Wenn  hingegen  das,  was  eine  solche  Kraft  bewirkt  hat, 
von  außen  her  nach  einer  bestimmten  Vorschrift  abgeschnitten  und 
begrenzt  wird:  dann  ist  das  Erfüllende  und  das  Einschränkende 
jedes  ein  anderes,  und  jedes  mit  einem  ihm  Fremden  in  Berührung 
gesetzt.  Das  dem  ersten  ähnliche  würde  ein  freies  oder  bildendes 
ethisches  Prinzip  sein;  das  dem  letzteren  zu  vergleichende  aber 
ein  beherrschendes  und  beschränkendes.  Und  von  beiderlei  Art 
finden  sich  sowohl  in  den  Systemen  der  Lust  als  der  Tätigkeit, 
wie  die  Beispiele  es  näher  erläutern  werden.  So  ist  das  Sitt- 
liche des  Epikuros  lediglich  beschränkend;  denn  es  bildet  aus 
dem  rohen  Stoff,  dem  Streben  oder  Fliehen  des  natürlichen  Triebes 
nach  Genuß,  die  tugendhafte  Schmerzlosigkeit  und  ruhige  Lust 
des  Weisen,  welche,  wo  jener  Trieb  sich  nicht  geäußert  hat,  auch 
nicht  her\'orgebracht  werden  kann,  wonach  also  das  Sittliche  nicht 
selbst  erzeugend  und  bildend  ist.  Wohl  aber  hat  diese  Eigen- 
1  Vgl.  auch  S.  95f- 


[111,1,  53]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  55 

Schäften  das  der  älteren  Cyrenaiker;  denn  ihr  Sittliches  ist  selbst 
jener  natürliche  Trieb  nach  Lust,  wie  er  sich  nach  seinen  eigenen 
Gesetzen  bewegt,  und  nur  das  Unsittliche  ist  beschränkend  und 
verneinend,  nämlich  die  Trägheit,  welche  die  Lust  recht  auszubilden 
verhindert,  und  das  regellose  Dichten  der  Unklugheit,  welche  un- 
bewußt den  künftigen  Schmerz  als  verneinende  Größe  mit  hervor- 
bringt. Ebenso  ist  lediglich  beschränkend  und  an  einem  andern 
sich  äußernd  die  Sittlichkeit  der  gallikanischen  Schule,  wie 
sie  am  besten  durch  den  Helvetius  vorgestellt  wird;  denn  die  als 
das  SittHche  vorgestellte  Einstimmung  zum  gemeinen  Nutzen  ist 
nicht  die  Quelle  eigner  Handlungen,  sondern  nur  an  demjenigen 
äußert  sie  sich,  was  der  allgemeine  Trieb  der  Selbstliebe  gefordert 
hat.  Selbsttätig  hingegen  erscheint  größtenteils  die  der  angli- 
kanischen Schule,  weil,  wenn  auch  in  vielen  Fällen  die  Hand- 
lung, die  aber  nur  das  Zufällige  und  Nichtgewollte  ist,  durch  eine 
andere  Kraft  hervorgebracht  werden  könnte;  doch  nicht  eben  dies 
gilt  von  der  eigentümlichen  Lust,  welche  das  unmittelbar  An- 
gestrebte ist,  und  nur  dem  Triebe  folgt,  der  durch  eine  neue,  sonst 
nicht  denkbare  Art  von  Handlungen  sich  äußert. 

Gleicherweise^  findet  sich  derselbe  Unterschied  in  den  auf 
die  Tätigkeit  gehenden  Darstellungen.  So  ist  zuerst 
ganz  beschränkend  und  also  in  der  Ausführung  von  einem 
Gegebenen  abhängig  der  Grundsatz  der  Stoiker.  Denn  auch 
nachdem  die  höhere  Natur  zum  Bewußtsein  gekommen,  ist 
dadurch  nicht  eine  neue  unmittelbar  selbst  handelnde  Kraft 
gegeben,  sondern  nur  eine  neue  Art,  über  die  Forderungen 
des  natürlichen  Selbsterhaltungstriebes  zu  entscheiden,  nämlich 
so,  daß  die  Erhaltung  der  Vernunft  überall  mit  eingeschlossen 
und  vorangestellt  wird.  Dies  müssen  schon  ihre  Gegner  unter 
den  Alten  getadelt  haben,  weil  auch  Cicero  es  erfahren  hat,  und, 
wiewohl  nicht  der  Sache  angemessen,  es  rügt,  indem  er  ihnen  vor- 
wirft, sie  nähmen  den  Antrieb  zu  handeln  anders  woher  als  das 
Gesetz.    Nämlich  das  ethische  Prinzip  kann  bei  ihnen  die  Tätig- 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


56  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  54] 

keit,  welche  jedesmal  erfordert  wird,  nicht  hervorbringen,  wenn 
nicht  zuvor  durch  den  blinden  Naturtrieb  erst  gesetzt  worden,  daß 
überhaupt  etwas  geschehen  solle;  denn  aus  diesem  entsteht  immer 
jede  erste  Aufforderung  zum  Handeln.  Worin  niemand  sich  irren 
lassen  möge  durch  jene  oben  schon  angeführte  Erklärung  des  Sitt- 
lichen als  Quelle  der  Lebensführung;  denn  diese  sagt  bloß  aus, 
daß  in  allen  sittlichen  Handlungen  das  bestimmende  Prinzip  immer 
eins  und  das  gleiche  sei.  Das  nämliche  begegnet  ferner  dem 
ihnen  unbewußterweise  so  sehr  nachtretenden  Fichte  durch  seine 
jenen  ganz  ähnlich  in  allen  sittlichen  Handlungen  gesetzte  Ver- 
knüpfung des  höheren  Triebes  mit  dem  natürlichen.  Denn  auch 
diese  besteht  nicht  etwa  nur  in  der  Gleichheit  des  äußerlich  dar- 
gestellten Inhaltes,  welche  zufällig  sein  könnte,  wie  sie  Spinoza 
darstellt  in  dem  Satz,  daß  jede  Handlung  mit  jeder  Art  von  Ge- 
danken könne  verbunden  sein.  Sondern,  wenngleich  Fichte  auch 
davon  ausgeht,  kein  Wollen  ohne  Handeln,  und  kein  Handeln 
ohne  ein  äußerlich  Vorhandenes  und  Behandeltes:  so  ist  doch  jenes 
Verhältnis  bei  ihm  ein  anderes  und  innigeres;  so  nämlich,  daß 
der  höhere  Trieb  den  Stoff  jedesmal  nehmen  muß  vom  Natur- 
triebe, daß  er  jedesmal  ein  von  diesem  gerade  jetzt  Gefordertes 
sein  muß,  und  das  Geschäft  des  reinen  Triebes  eben  wie  bei  den 
Stoikern  nur  besteht  in  der  Auswahl  desjenigen  aus  der  Gesamt- 
heit jener  Forderungen,  was  seiner  Form  angemessen  ist.  Es 
erhellt  dies  nicht  nur  aus  den  Ausdrücken  und  dem  Gang  der 
Verhandlungen  selbst,  sondern  ganz  sonnenklar  aus  der  Hmi- 
tativen  Beschaffenheit  aller  seiner  Gesetze,  besonders  aber,  doch 
nicht  ausschließend,  derer,  welche  sich  beziehen  auf  die  Behand- 
lung des  Leibes.  Wollte  etwa  hier  jemand  sagen,  das  limitative 
Gesetz  sei  doch  nur  eines,  und  schon  vorher  sei  aufgestellt  das 
positive:  so  ist  zu  antworten,  es  werde  eben  behauptet,  daß  dies 
gar  nicht  drei  Gesetze  wären,  sondern  nur  eines,  erst  in  seinen 
entgegengesetzten  Bestandteilen  dargestellt,  und  dann  aus  den- 
selben verbunden.  Denn  wenn  der  sittliche  Trieb  hier  etwas  aus 
und  für  sich  selbst  hervorzubringen  hätte:  so  würde  er  selbst  auf- 


[111,1,  55]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  57 

fordern  zu  Handlungen,  welche  Beiträge  wären  zur  Bildung  des 
Leibes  als  Werkzeug,  ohne  alle  Hinsicht  auf  Genuß.  Und  da  diese 
in  systematischer  Einheit  nach  dem  Prinzip  der  Vervollkommnung 
könnten  fortgesetzt  werden:  so  würden  dann  die  Anforderungen 
des  Naturtriebes,  die  auf  den  Genuß  gerichtet  sind,  wenn  sie  auch 
zugleich  auf  Bildung  könnten  hingelenkt  werden,  dennoch  abzu- 
weisen sein,  als  weit  unter  jenem  Ideal  und  nicht  in  der  syste- 
matischen Reihe  gelegen,  und  würden  sämtlich  im  voraus  unter 
die  Klasse  von  Handlungen  fallen,  zu  welchen  die  Zeit  fehlt,  nicht 
nur  um  sie  zu  vollbringen,  sondern  selbst  um  nur  über  sie  zu 
beratschlagen.  Ein  Bewußtsein  dieses  Mangels  leuchtet  doch  her- 
vor, wie  denn  überhaupt  ein  höherer  Grad  von  Bewußtsein  diesem 
Sittenlehrer  nicht  abzusprechen  ist,  aus  dem  Satz,  man  sei  nicht 
gehalten,  gewisse,  nur  hätte  er  sagen  sollen:  alle,  Tugendübungen 
aufzusuchen,  sondern  die  Pflicht  sei  nur  sie  zu  vollbringen,  wenn 
sie  sich  darbieten.  Dieses  Sichdarbieten  aber  ist  nichts  anderes, 
als  ihr  Gegebensein  durch  den  Naturtrieb.  Nicht  minder  gilt 
auch  das  nämliche  von  Kants  ethischem  Grundsatz,  in  welchem 
diese  Eigenschaft  auf  das  genaueste  zusammenhängt  mit  der,  für 
welche  er  ihn  am  meisten  lobt,  daß  er  nämlich  bloß  formell  sein 
will.  Ja,  es  ist  wohl  nicht  nötig  erst  zu  zeigen,  was  sich  jedem 
auf  den  ersten  Anbhck  darstellt,  daß  dieser  Grundsatz,  werde  er 
auch  als  beständig  rege  Kraft  gedacht,  nie  etwas  durch  sich  selbst 
hervorbringen  kann.  Denn  wenn  seine  Wirkung  nur  darin  besteht, 
daß  beachtet  werde,  ob  die  Maxime  einer  Handlung  die  Fähigkeit 
habe,  ein  allgemeines  Gesetz  zu  sein:  so  muß  ja,  ehe  diese  Wir- 
kung eintreten  kann,  die  Maxime  zuvor  gegeben  sein;  und  wie 
anders  wollte  sie  dies,  wenn  nicht  als  ein  Teil  des  Naturzweckes. 
Auch  ist  es  ganz  gleich,  ob  man  sich  an  diesen  Ausdruck  des 
Grundsatzes  hält,  oder  an  jenen  anderen  von  Behandlung  der 
Menschheit  als  Zweck,  und  von  dem  zu  denkenden  Reich  der 
Zwecke.  Sollte  indes  jemand  noch  Zweifel  haben,  der  ist  zu 
verweisen  an  die  Art,  wie  Kant  selbst  seinen  Grundsatz  anwendet 
und  durch  Beispiele  bewährt.   So  ist  unter  andern  die  Frage,  was 


58  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [IH,!,  56] 

die  Vernunft  zu  tun  befiehlt  mit  niedergelegtem  Eigentum.  Würde 
nun  hier  der  sittliche  Trieb  durch  sich  selbst  und  das  Gesetz, 
welches  er  vertritt,  auf  eine  bestimmte  Handlungsweise  geführt:  , 
so  müßte  dieses  dargestellt  werden  können  durch  eine  Fort- 
schreitung vom  Allgemeinen  zum  Besonderen,  und  der  Trieb 
würde  dann  gedacht  als  von  dem  Augenblick  des  Empfangs  an 
schon  in  dem  Bestreben  auf  die  beschriebene  Weise  damit  zu  ver- 
fahren. Hier  aber  kann  die  Regel  nicht  gefunden  werden  als  nur 
durch  Vergleichung  der  verschiedenen  möglichen  Fälle  mit  dem 
Gesetz;  und  so  kann  auch  der  sittliche  Trieb  nur  gedacht  werden 
als  ledigHch  leidendlich,  bis  ihm  kommt  entweder  die  unmittelbare 
Aufforderung  zur  Wiedergabe  oder  die  Versuchung  zum  Unter- 
schlagen, Daher  auch  in  dem  Erweis  dieser  Regel  nicht  zugleich 
die  erwiesen  ist,  auch  alle  Fahrlässigkeit  mit  solchem  Eigentum 
zu  vermeiden,  weil  nämHch  dieses,  von  selten  des  Naturtriebes 
aus  angesehen,  eine  andere  Handlung  ist,  und  also  auch  für  den 
sittlichen  Grundsatz  ein  anderer  Fall  sein  muß;  welches,  wenn 
dieser  auf  die  beschriebene  Art  selbsttätig  wäre,  sich  ganz  anders 
verhalten  müßte.  Damit  aber  niemand  glaube,  es  könne  etwa, 
wo  das  Sittliche  als  Tätigkeit  erscheint,  der  Grundsatz  in  keinem 
andern  als  diesem  Verhältnis  vorkommen:  so  ist  zu  zeigen,  wie 
allerdings  bei  andern  das  Sittliche  sich  als  selbsttätig  und  Eignes 
bildend  darstelle.  Und  zwar  ist  dieses  am  deutlichsten  zu  sehen 
bei  Plato  und  Spinoza,  von  denen  freilich  der  letztere  das 
Streben,  sein  eigentümliches  Dasein  zu  erhalten,  als  das  Wesen  aller 
beseelten  Dinge  und  als  den  letzten  Grund  alles  menschlichen  Han- 
delns aufstellt,  wie  er  denn  schon  oben  unter  diejenigen  gesetzt  ist, 
welche  von  einem  zwiefachen  Triebe  in  einer  Seele  nicht  hören 
wollen;  aber  an  ihm  zeigt  sich  eben  am  deutlichsten,  wie  der 
Gegensatz,  welchen  wir  jetzt  betrachten,  von  jenem  unterschieden 
ist.  Denn  obschon  ein  und  derselbe  Trieb,  kann  und  muß  er  doch 
in  jedem  Falle  in  einer  von  diesen  beiden  Gestalten  erscheinen. 
Entweder  nämlich  das  wahrhaft  eigentümliche  Dasein  des  Men- 
schen, sein  im  engeren  Sinne  sogenanntes  Handeln,  zum  Gegen- 


[111,1,57]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  59 

stände  habend,  und  was  so  entsteht,  ist  das  SittHche ;  oder  aber  das 
gemeinschaftliche,  mit  andern  Dingen  verknüpfte  und  von  ihnen 
abhängige  Dasein,  und  das  nur  scheinbare  Handeln,  wovon  die 
Ursache  zum  Teil  außerhalb  des  Menschen  zu  finden  ist,  daher  es 
mit  Recht  ein  Leiden  heißt,  und  das  so  Entstandene  ermangelt 
der  sittlichen  Beschaffenheit.  Von  diesem  nun  ist  jenes  nicht  etwa 
ein  Umbilden  und  Verbessern  des  letzten  oder  ein  nur  auf  das 
letzte  Erbautes,  sondern  von  vorne  her  ein  Eignes.  Daher  auch 
Spinoza  ausdrücklich  behauptet,  daß  das  Fliehen  des  Bösen,  das 
Vernichten  eines  etwa  schon  voran  gedachten  und  angestrebten 
Unsitthchen,  gar  kein  eigenes  Geschäft  sei,  sondern  nur  mittel- 
bar und  von  selbst  erfolge,  indem  das  Gute  gesucht  wird.  Hierin 
zeigt  sich  am  schärfsten  der  Unterschied  von  jenem,  als  bei  wel- 
chem das  Gute  nur  dadurch  zustande  kommt,  daß  das  Böse 
ausgeschlossen  wird;  und  so  am  besten  bewährt  sich  eine  Sitten- 
lehre als  wirkhch  ein  freies  und  eigenes  Gebiet  des  Handelns  um- 
fassend. Das  nämliche  erhellt  von  selbst  von  der  Formel  des 
Piaton,  nämlich  der  VerähnHchung  mit  Gott.  Denn  da  es  der 
Gottheit  an  allem,  was  Naturtrieb  genannt  werden  mag,  ermangelt 
und  die  Tätigkeit  der  höheren  Geisteskraft  in  ihr  eine  rein  aus 
sich  selbst  hervorgehende,  schaffende  und  bildende  ist:  so  würde 
offenbar  ein  gemeinschaftliches  Glied  zur  Vergleichung  nicht  zu 
finden  sein,  wenn  im  Menschen  die  Vernunft  nur  beschränkend 
auf  seinen  Naturtrieb  handelte,  und  nur,  was  jener  zuerst  hervor- 
gebracht, hernach  auf  ihre  Weise  gestaltete ;  sondern  es  muß  auch 
bei  uns  das  Verhältnis  zu  dem  niederen  Vermögen  nicht  das  Wesent- 
liche des  höheren  sein,  sondern  nur  die  Erscheinung  seiner  unter- 
brochenen ^  Tätigkeit.  Von  hier  aus  nun  wird  auch  zu  übersehen 
sein,  inwiefern  dem  Aristoteles  Unrecht  geschehen,  wenn  er  zu 
denen  gerechnet  wird,  deren  Sittlichkeit  nur  von  jener  beschrän- 
kenden Art  ist,  weil  er  nämlich  die  Tugend  erklärt  als  eine  ge- 
mäßigte Neigung.    Denn  es  soll  vielleicht  diese  Erklärung  eben- 

^  In  der  Ausgabe  von  1803  steht  hier  „ununterbrochenen",  die  Ausgabe 
1846  schreibt  richtig  „unterbrochenen". 


60  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [HI,!,  58) 

falls  nicht  das  Wesentliche  bezeichnen,  sondern  nur  die  Erschei- 
nung, und  nicht  das  Sittliche  an  sich  erschöpfen,  sondern  nur  so, 
wie  es  in  einzelnen  Fällen  und  schon  in  Beziehung  auf  Gegen- 
stände sinnlicher  Neigungen  vorgestellt  wird;  und  er  mag  wohl 
nie  geglaubt  haben,  daß  die  Zügellosigkeit  zum  Beispiel  hervor- 
ginge aus  demselben  Prinzip,  wie  die  eigentümliche  Beschaffenheit 
einer  begierdelosen  wohlgeordneten  Seele,  nur  daß  es  aufgehalten 
wäre  im  letzteren  Falle,  Schon  ist  dieses  wohl  zu  merken,  daß  er 
nicht  redet  von  einzelnen  Äußerungen  der  Tugend,  als  ob  diese  ent- 
ständen durch  Erhöhung  des  von  Natur  zu  schwachen,  oder  durch 
Mäßigung  des  zu  starken  Triebes  auf  einen  Gegenstand,  sondern 
daß  er  redet  von  der  Tugend  als  bleibender  einwohnender  Eigen- 
schaft. Daß  er  nun  nicht  deren  Wesen  und  Entstehung  durch 
jene  Erklärung  hat  bezeichnen  wollen,  könnte  man  hinreichend 
sehen  aus  der  Beschreibung  des  Gerechten  als  des  Mittels  zwi- 
schen Schaden  und  Gewinn,  wo  jene  Auslegung  abgeschmackter 
wäre,  als  daß  sie  auch  einem  Einfältigen  könnte  untergeschoben 
werden.  Noch  deutlicher  aber  daraus,  daß  er  überall  die  Tugend 
als  von  der  Lust  begleitet  vorstellt,  woraus  nach  seiner  schon 
erläuterten  Ansicht  folgt,  daß  er  sie  in  der  Ausübung  als  eine 
einzige  von  innen  heraus  gleichsam  in  einem  Zuge  vollendete 
Handlung  denkt,  nicht  als  eine  aus  dem  Zusammenstoß  zweier 
Kräfte  entstandene  und  also  gleichsam  zerbrochene  oder  unter- 
brochene. Denn  nur  denen,  bei  welchen  die  Sittlichkeit  lediglich 
beschränkend  ist,  und  abhängig  in  ihren  Äußerungen  von  anderen 
Trieben,  ziemt  es,  ihr  die  Unlust  zur  Begleitung  zu  geben.  —  Wird 
nun  in  Hinsicht  auf  den  vorliegenden  Gegensatz  auch  noch  nach 
denen  gefragt,  welche  eine  handelnde  Sittlichkeit  unter  dem  Namen 
der  Vollkommenheit  einführen:  so  ist  über  diese,  weil  sie  mehr 
im  Wort  übereinstimmen  als  im  Gedanken,  nichts  allgemeines 
zu  sagen.  Sondern  einige  schließen  sich  dem  Piaton  an  durch 
den  Begriff  der  Kunstbildung,  andere  durch  den  der  freien  Tätig- 
keit dem  Aristoteles,  andere  den  Stoikern  durch  den  der  Ver- 
nunftherrschaft; wonach  denn  die  einen  hier,  die  andern  dorthin 


[111,1,  59]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  61 

zu  ordnen  sind.  Daß  nun  dieses  ein  wahrer  Gegensatz  ist,  und 
jeder  ethische  Grundsatz  entweder  auf  die  eine  oder  die  andere 
Seite  desselben  gehört,  ist  aus  dem  Gesagten  offenbar. 

Noch  aber  ist  einer  übrig,  der  vielleicht  nicht  minder  be-  Ist  das 
deutend  als  einer  unter  den  vorigen,  ausgezeichnet  aber  dadurch  Ethische  im 
ist,  daß  er  sich  ohnerachtet  der  großen  Mannigfaltigkeit  ethischer  ^^^^  jj^ 
Grundsätze  nicht  wie  die  andern  nach  beiden  Seiten  verschiedent-  Individuellen 
lieh  ausgebildet  schon  zeigt,  sondern  die  eine  Seite  desselben,  wie-  ^"  suchen.?  ^ 
wohl  in  der  Natur  ebenso  deutlich  gezeichnet,  in  den  Systemen 
fast  überall  nur  erst  angedeutet  ist.  Es  liegt  nämlich  in  dem  Begriff 
des  Menschen  als  Gattung,  daß  alle  einiges  miteinander  gemein 
haben,  dessen  Inbegriff  die  menschUche  Natur  genannt  wird,  daß 
aber  innerhalb  derselben  es  auch  anderes  gibt,  wodurch  jeder  sich 
von  den  übrigen  eigentümlich  unterscheidet.  Nun  kann  der  ethische 
Grundsatz  entweder  nur  eines  von  beiden  zum  Gegenstande  haben, 
und  diesem  das  andere,  es  sei  nun  ausdrücklich  oder  stillschwei- 
gend durch  Vernachlässigung  unbedingt  unterordnen;  oder  aber 
er  kann  beides,  das  Allgemeine  und  das  Eigentümliche,  nach  einer 
Idee  miteinander  vereinigen.  Das  letztere  scheint  noch  nirgends 
geschehen  zu  sein.  Denn  wiewohl  sich  nicht  einsehen  läßt,  warum 
diese  Stelle  sollte  leer  sein  müssen,  dürfte  doch  niemand  eine 
Sittenlehre  aufzeigen  können,  welche  dem  Eigentümlichen  ent- 
weder ein  besonderes  Gebiet  anwiese  neben  dem  Allgemeinen, 
oder  beide  durcheinander  gesetzmäßig  beschränkte  und  bestimmte; 
sondern  nur  darauf  ist  für  jetzt  zu  sehen,  ob  dem  Allgemeinen 
das  Eigentümliche,  oder  diesem  jenes  unbedingt  untergeordnet 
wird.  Was  nun  diejenigen  Sittenlehren  betrifft,  welche  die  Lust 
als  das  Ziel  und  Erzeugnis  der  Sittlichkeit  aufstellen:  so 
ist  offenbar  und  auch  von  jeher  bemerkt  worden,  daß  einige 
Quellen  der  Lust  sich  auf  die  gemeine  menschHche  Natur  zurück- 
führen lassen,  daß  aber  auch  die  besondere  Beschaffenheit  eines 
jeden  einige  hinwegnimmt  und  neue  hinzusetzt.  Hier  also  ist  der 
Natur  der  Sache  nach,  und  wenn  nicht  ein  anderes  willkürlich  be- 

'"vgl.  S.  111. 


62  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,60] 

stimmt  wird,  das  Allgemeine  dem  Eigentümlichen  untergeordnet 
und  von  ihm  verschlungen.  Denn  von  dem,  was  innerhalb  der 
gemeinschaftlichen  Natur  mögUch  ist,  erfolgt  doch  nur  dasjenige 
wirklich,  was  die  besondere  Beschaffenheit  zuläßt,  und  jeder  hat 
doch  lediglich  auf  das  zu  sehen,  nicht  was  im  Allgemeinen  und 
Unbestimmten,  sondern  was  in  ihm  und  für  ihn  möglich  ist.  In 
Epikur.  dem  System  des  Epikuros  nun  zeigt  sich  diese  Unterordnung 
weniger  auffallend,  weil,  wenn  auch  auf  der  einen  Seite  das  Hin- 
wegzunehmende, nämhch  der  Schmerz  und  die  Begierde,  auf  der 
andern  das  Überschießende,  nämlich  die  positive  kitzelnde  Lust, 
bei  dem  einen  anders  sein  mag  als  bei  dem  andern,  doch  das 
eigentlich  Hervorzubringende,  woraus  das  höchste  Gut  allein  be- 
steht, nämlich  die  Schmerzlosigkeit,  überall  als  dieselbe  erscheint, 
und  die  individuellen  Verschiedenheiten  darin  nicht  bemerkt  wer- 

Aristippos.  den.  Deutlich  aber  ist  die  Sache  in  dem  System  des  Aristippos, 
wo  alles  zu  Suchende  und  zu  Wählende  dem  Inhalt  nach  sich  nur 
unter  der  Gestalt  des  für  diesen  und  jenen  zu  Suchenden  und  zu 
Wählenden  darstellt,  und  das  allgemeine  Gebot  nur  das  Wesen 
der  Lust  ohne  alle  Beziehung  auf  ihren  Inhalt  aussprechen  kann. 

Engländer.  Ganz  anders  hingegen  ist  in  der  anglikanischen  Schule  die  aus 
dem  wohlwollenden  Triebe  entspringende  Lust  ausschließend  als 
das  Sittliche  gesetzt  durch  einen  auf  keine  Weise  zu  rechtfertigen- 
den Machtspruch,  indem  nämlich  im  voraus  beschlossen  wird,  es 
solle  nicht  angenommen  werden,  wenn  einer  sagte,  daß  bei  ihm 
der  wohlwollende  Trieb  zu  schwach  wäre,  um  eine  merkliche  Lust 
hervorzubringen.  Daß  dieses  nur  ein  Machtspruch  sei,  erhellt  von 
selbst;  denn  wenn  sie  etwa  sich,  als  auf  ihren  ersten  Grundsatz, 
darauf  berufen  wollten,  daß  eben  diese  Schwäche  die  Unsittlich- 
keit  sei,  welche  hinweggenommen  werden  soll:  so  müßten  sie  auf- 
hören, das  Wohlwollen  um  der  Lust  willen  zu  gebieten. 

Was^  aber  diejenigen  ethischen  Systeme  betrifft,  welche  das 
Sittliche  als  Tätigkeit  setzen:  so  ist  klar,  daß  der  nämliche 


1  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,  61]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  63 

Unterschied  auch  bei  ihnen  stattfinden  kann,  und  daß  sie,  den  nicht 
gefundenen  Fall  einer  gesetzmäßigen  Vereinigung  des  Allgemeinen 
und  Eigentümlichen  ausgenommen,  in  ihrem  Grundsatze  entweder 
ein  Bestimmendes  setzen  können  als  dasjenige,  welchem  von  allen 
nachgestrebt  und  welches  also  ohne  Hinsicht  auf  die  eigentümliche 
Beschaffenheit  des  Allgemeinen  wirklich  werden  solle  mit  gänz- 
licher Vernichtung  des  Eigentümlichen,  oder  daß  sie  nur  ein  an 
sich  Unbestimmtes  und  nur  in  Beziehung  auf  das  Eigentümliche 
Bestimmtes  setzen,  nämlich  eine  solche  oder  solche  Behandlungs- 
weise  desselben  mit  Vorbeigehung  des  Gemeinschaftlichen.  Be- 
trachtet man  nun  die  hierher  gehörigen  Darstellungen  der  Sitten- 
lehre: so  findet  sich  fast  überall  das  Eigentümliche  gänzlich  ver- 
nachlässigt, und  eben  daher  nicht  besser  als  unterdrückt  und  für 
unsittlich  erklärt.  Bei  den  Stoikern  zum  Beispiel  ist  in  dem  Begriff  Stoiker, 
der  Naturgemäßheit  von  der  besonderen  Bestimmbarkeit  der  Natur 
gar  nicht  die  Rede;  und  es  wäre  nur  ein  leerer  Schein,  wenn 
jemand  in  dem  Ausdruck,  durch  welchen  sie  gevv^öhnlich  das  Sitt- 
liche bezeichnen,  und  der,  wie  unser  anständig  und  geziemend, 
etwas  Besonderes  in  sich  zu  schließen  scheint,  einen  Gedanken 
dieser  Art  finden  wollte.  Vielmehr  ist  ihr  durch  alle  sich  ver- 
breitender richtiger  Verstand  das  allen  Gemeinschaftliche,  und  auch 
schon  der  Weise,  wie  er  als  Musterstück  aufgestellt  wird,  deutet 
auf  ein  in  gleichen  Fällen  für  alle  gleichförmiges  Handeln;  so  daß, 
wenn  mit  Hinsicht  auf  ihre  besondere  Eigentümlichkeit  zwei  in 
gleichem  Falle  verschieden  handeln  wollten,  nur  einer  oder  keiner 
der  Weise  wäre,  und  einer  oder  beide  das  Sittliche  verletzten. 
Auf  ihrer  Seite  steht  auch  hierin  Fichte,  sowohl  was  jenen  Schein  Fichte, 
als  auch  was  den  wahren  Befund  der  Sache  betrifft.  Denn  auch 
sein  Ausdruck  „Beruf"  scheint  etwas  für  jeden  Eigenes  und  anderes 
anzuzeigen,  und  also  eine  gleiche  Deutung  zu  begünstigen,  wie 
auch  die  besondere  Reihe  eines  jeden  von  einem  eigenen  Punkte 
aus.  Allein  dieses  Besondere  hängt  nicht  ab  von  einer  inneren 
Eigentümlichkeit  des  Menschen,  sondern  nur  von  dem  Punkte, 
wo  jeder  seine  Freiheit  zuerst  findet,  und  von  der  Verschiedenheit 


64  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       (111,1,  62] 

der  Umgebungen  und  äußeren  Verhältnisse  eines  jeden,  welche 
Beziehung  auch  dem  Schicklichen  der  Stoiker  zum  Grunde  liegt, 
so  daß  bei  beiden  das  Besondere  nur  das  Räumliche  und  Zeitliche 
sein  kann.  Dies  bestätigt  sich  deutlicher,  wenn  man  sieht,  wie 
auch  die  Individualität,  welche  Fichte  unter  den  Bedingungen  der 
Ichheit  aufführt,  sich  nicht  weiter  erstreckt  als  auf  das  Verhältnis 
zu  einem  eigenen  Leibe,  und  auf  die  Mehrheit  der  Menschen- 
Exemplare  überhaupt.  Ja  noch  entscheidender  womöglich  ist 
jene  Stelle,  wo  die  Aufgabe  eintritt,  die  Vorherbestimmtheit  der 
freien  Handlungen  eines  jeden  für  die  übrigen  mit  der  Freiheit 
zu  vereinigen,  und  wo  die  besondere  Bestimmtheit  eines  jeden 
im  geistigen  Sinne  ganz  aufgehoben  und  die  ganze  geistige  Masse 
völlig  gleichartig  angenommen  wird.  Es  liegt  für  die  gesamte 
Vernunft  da  ein  unendliches  Mannigfaltiges  von  Freiheit  und 
Wahrnehmung,  in  welches  alle  Individuen  sich  teilen;  und  es 
existieren  für  jeden  nicht  mehrere  bestimmte  Ichs,  sondern  nur 
eine  Gesamtheit  von  Ichs.  Jedoch  nicht  nur  dieses,  sondern  es 
besteht  auch  die  sittliche  Vollendung  eben  darin,  daß  jeder  aufhöre 
etwas  anderes  zu  sein,  als  ein  gleichartiger  Teil  dieser  Gesamt- 
heit. Denn  die  Vernunft,  welche  jeden  bestimmen  soll,  ist  aus 
dem  Individuum  herausversetzt  in  die  Gemeinschaft,  und  kann 
also  auch  keine  andere  sein,  als  eine  allen  gemeinschaftliche;  so 
daß  in  allen  alles  Rechte  aus  demselben  sich  nur  auf  das  Gemein- 
schaftliche beziehenden  Grunde  hervorgeht,  jeder  an  der  Stelle  des 
andern  auch  das  nämliche  hätte  verrichten  müssen,  und  jede  Ab- 
weichung von  der  einzigen  Norm  als  Verletzung  des  Gesetzes 
erscheint,  weil  aller  Unterschied  unter  sittlichen  Menschen  nur  auf 
Kant,  dem  Ort  beruhen  soll,  wo  sie  stehen.  Bei  dem  früheren  Kant 
aber  tritt  diese  nämliche  Ansicht  so  stark  hervor,  daß  sie  zur 
heftigsten  Polemik  ausartet  gegen  alles,  was  eine  besondere  Be- 
stimmtheit auch  nur  von  weitem  verrät.  Von  dieser  Art  ist  die 
Forderung,  daß  die  Erfüllung  des  Gesetzes  mit  Unlust  verbunden 
sein  soll,  weil  nämlich  die  Lust  ihm  zufolge  dasjenige  ist,  was 


[III,  1,  63]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  65 

vorzüglich  die  Persönlichkeit  vertritt;  ferner  die  Pfhcht,  sich'  fremde 
Glückseligkeit  zum  Zweck  zu  machen,  um  dadurch  die  Lust,  in- 
sofern sie  doch  ein  Gegenstand  des  Handelns  sein  kann  und  muß, 
von  ihrer  Verbindung  mit  der  Eigentümlichkeit  möglichst  zu  be- 
freien, welche  Pflicht  aus  seinem  Grundsatz  allein  nirgends  von 
ihm  abgeleitet  worden  ist,  auch  nicht  werden  kann,  und  also  nur, 
wie  alles  der  Art,  aus  dem  innern  Geiste  des  Systems  zu  er- 
klären ist.  Dieser  nun,  kann  man  sagen,  ist  durchaus  mehr  juridisch 
als  ethisch,  und  hat  überall  das  Ansehn  und  alle  Merkmale  einer 
gesellschaftlichen  Gesetzgebung;  welches  auch  mit  dem  vorigen 
genau  zusammenhängt.  Denn  wenn  der  ethische  Grundsatz  immer 
und  allein  unter  der  Gestalt  eines  Gesetzes  erscheint,  w^elches 
bloß  in  einem  vielen  Gemeinschaftlichen  gegründet  ist:  so  kann 
es  nicht  anders  als  ein  gesellschaftliches  oder  im  strengen  Sinne 
betrachtet  ein  Rechtsgesetz  werden.  Deshalb  hat  auch  die  Fichte- 
sche Sittenlehre,  wie  schon  aus  dem  obigen  zu  ersehen,  eigent- 
lich dasselbe  Gepräge;  nur  tritt  es  bei  Kant  stärker  hervor.  Denn 
bei  diesem  ist  es  auf  das  genaueste  herausgearbeitet,  und  alles 
Wunderbare  darin  nur  in  Verbindung  mit  diesen  Zügen  zu  be- 
greifen. Ganz  juridisch  sind  schon  seine  frühesten  ethischen  Äuße- 
rungen, daß  zum  Beispiel  das  Sittliche  müsse  angesehen  werden 
können  als  aus  einem  obersten  Willen  entsprungen,  der  alle  Privat- 
willkür in  oder  unter  sich  begreift;  wodurch  gleichfalls  das  Be- 
sondere und  Eigentümliche  vernichtet  wird;  denn  dieses,  da  es 
sich  untereinander  entgegengesetzt  ist,  kann  jener  oberste  Wille 
nicht  mit  enthalten.  Aus  nichts  anderem  als  hieraus  ist  auch  zu 
erklären  der  so  ganz  ohne  Zusammenhang,  aber  mit  der  festesten 
Zuversicht  allgemeiner  Billigung  hingestellte  Gedanke  von  der 
Strafwürdigkeit  und  der  entgegengesetzten  Würdigkeit  glücklich  zu 
sein,  weil  nämlich  in  dem  rechtlichen  Verhältnis  eines  bürger- 
lichen Vereins  eine  solche  durchgängige  Abhängigkeit  des  Wohl- 
befindens von  dem  gesetzmäßigen  Tun  und  Leben  die  höchste, 
wiewohl  unauflösliche  Aufgabe  ist;  so  daß  man  sagen  kann,  auch 

Schleiermacher,  Werke.    I.  5 


66  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [HI,!,  64] 

sein  höchstes  Gut  sei  nur  ein  politisches.  Und  was  anderes  sollte 
es  sein  als  politisch,  die  Idee  eines  Verpflichteten  und  Verpflich- 
tenden aufzustellen,  deren  Einführung  in  die  Ethik  sich  aus  seinem 
höchsten  Grundsatz  derselben  keineswegs  erklären  läßt?  Oder 
auch  die  eines  inneren  und  heimlichen  Krieges  aller  gegen  alle, 
die  er  sogar  bei  der  Freundschaft,  dem  reinsten  ethischen  Ver- 
hältnis, zum  Grunde  legt;  so  daß  selbst  seine  sittliche  Freundschaft, 
die  aber  eigentlich  nur  eine  dialektische  heißen  dürfte,  nur  als  ein 
verstohlener  Genuß  eines  einzelnen  Waffenstillstandes  erscheint. 
Gleichfalls  hat  seine  Formel,  den  Menschen  als  Zweck  an  sich  zu 
behandeln,  wiewohl  sie  auf  etwas  anderes  geführt  haben  könnte, 
denselben  Charakter;  denn  von  den  Menschen,  als  ob  sie  auf  diesen 
nicht  zu  ruhen  vermöchte,  eben  wegen  des  Individuellen,  wird 
sie  gleich  übergetragen  auf  eine  Menschheit.  Auch  das  Reich  der 
Zwecke  ist  ein  bürgerliches;  jedoch  nicht  einmal  in  dem  besseren 
Sinne,  dem  das  kunstmäßige  und  wohlberechnete  Ineinandergreifen 
der  verschiedenen  Einzelheiten  die  Hauptsache  ist;  sondern  nur 
die  schlechteste  Vorstellung  eines  Staates  liegt  dabei  zum  Grunde, 
wo  das  Verhältnis  des  einzelnen  zum  Ganzen  nur  negativ  ist, 
jeder  eigentlich  etwas  anderes  will,  und  vom  Gesetz  allein  in 
Schranken  gehalten  wird.  Kant  selbst  zwar  meint,  er  habe  sich 
überall  bei  seinen  Gleichungen  die  eines  Naturgesetzes  zum  Vor- 
bilde gewählt;  diesen  Glauben  aber  wird  er  wohl  keinem  andern 
mitteilen.  Denn  ein  Naturgesetz  ist  nicht  zu  denken,  ohne  daß 
es  zu  Zerfällung  des  Gleichen  in  Entgegengesetztes  den  Keim  ent- 
halte, und  mit  dem  Allgemeinen  zugleich  Raum  und  Umfang  für 
das  Besondere  setze;  weil  nur  so  eine  organische  Verknüpfung  ent- 
steht, für  welche  es  allein  ein  Naturgesetz  geben  kann.  Wer  aber 
wollte  hier  eine  solche  finden,  wo  lauter  Gleichartiges  beieinander 
steht?  Wie  wenig  auch  Kant  imstande  gewesen  wäre,  ein  Natur- 
gesetz sich  zum  Vorbilde  zu  nehmen,  ersieht  jeder  aus  dem  ein- 
zigen kleinen  Versuch  dieser  Art,  da  er  meint,  unter  der  Idee 
einer  Natur  angesehen,  sei  Liebe  die  anziehende,  Achtung  aber 
die  abstoßende  Grundkraft;  sondern  sein  Vorbild  kann  kein  an- 


[111,1,  65]  1.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  67 

äeres  sein  als  das  politische  Gesetz,  Ob  nun  der  Ethik  besser 
geraten  ist,  wenn  sie  in  eine  Rechts-  als  wenn  sie  in  eine  Glück- 
seligkeitslehre verwandelt  wird,  dieses  wird  anderswo  zu  unter- 
suchen sein;  hier  war  nur  die  Absicht,  die  Sache,  wie  sie  ist,  auf- 
zudecken. Das  nämliche,  nur  etwas  anders  gestaltet,  zeigt  sich  in 
der  anglikanischen  Schule,  welche,  insofern  sie  den  Schein  behauptet, 
es  auf  Tätigkeit  anzulegen,  ihren  ethischen  Grundsatz  mehr  als  Engländer. 
einen  natürlichen  Trieb  darstellt,  und  daher  mehr  eine  freie  als  eine 
gesetzliche  Geselligkeit  im  Auge  hat.  Insofern  nun  eine  freie  Ge- 
selligkeit doch  immer  strebt  gesetzlich  zu  werden,  ist  sie  den 
vorigen  gleich;  insofern  aber  das  Bilden  einer  solchen  ethischer 
zu  sein  scheint  als  das  mechanische  Fortbewegen  in  einer  schon 
gebildeten,  möchte  sie  jenen  voranzustellen  sein.  Wie  aber  auch 
diese  Schule  das  Individuelle  gänzlich  verwirft,  kann  man  ebenso- 
gut als  an  irgendeinem  Engländer  an  dem  Deutschen  Garve  sehen, 
welcher,  das  Schwanken  zwischen  Lust  und  Tätigkeit  mit  ein-  Garve. 
gerechnet,  ganz  zu  derselben  gehört.  Entscheidend  und  anstatt 
aller  übrigen  ist  in  dieser  Beziehung  ein  Ausspruch  desselben  über 
das  allgemeine  Musterbild  der  menschlichen  Natur,  wo  ihm  jede 
Besonderheit  schon  als  eine  Abweichung  erscheint,  welche  durch 
das  regellose  Handeln  in  der  Zeit  vor  dem  Finden  des  sittlichen 
Gesetzes  entstanden  ist,  und  daher  durch  das  gesetzmäßige  und 
gebildete  wieder  hinweggeschafft  werden  muß ;  so  daß  offenbar  als 
höchste  Gesamtwirkung  der  sittlichen  Kraft  sich  ergeben  würde 
eine  völlige  innere  Gleichheit  der  Menschen. 

Gehen  1  wir  nun  von  diesen  Schwankenden  zu  denen  über,  Vollkommen- 
weiche  sich  ohne  geheimen  Verkehr  mit  der  Lust  die  Vollkommen-  l^^'tsethik. 
heit  zum  Ziele  setzen:  so  zeigen  sich  diese,  wie  schon  sonst  so  auch 
hier,  geteilt  und  uneins,  so  daß  sich,  wie  es  nur  durch  die  Vieldeutig- 
keit des  Wortes  und  die  Unbestimmtheit  des  Begriffes  geschehen 
kann,  die  verschiedenen  möglichen  Fälle  hier  zugleich  darstellen. 
Denn  sie  können  ebenfalls  ein  allgemeines  Musterbild  der  mensch- 


^  Absatz  nicht  im  Original. 

5* 


68  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [111,1,66] 

liehen  Natur  zum  Grunde  legen;  und  werden  dann  in  Verwerfung 
des  Eigentümlichen  den  bisher  Angeführten  nicht  nachstehen.  Andere 
aber  können  auch  ausschließend  die  besondere  Bestimmtheit  eines 
jeden  als  ein  schlechthin  Gegebenes  betrachtet  zum  Grunde  legen, 
ohne  irgendeine  Hinsicht  auf  ein  Allgemeines;  so  daß  ihr  Sittliches 
nur  in  Beziehung  auf  die  Eigentümlichkeit  als  Erhaltung,  Ent- 
wickelung  und  Darstellung  derselben  bestimmt  ist.  Dieses  aber 
ist  in  einem  wissenschaftlichen  Gebäude  wenigstens  noch  von 
keinem  versucht  worden;  nur  angedeutet  hat  Fichte  etwas  Ähn- 
liches, natürlich  aber  er  als  einen  unsittlichen  Zustand,  dem  das 
Finden  des  Gesetzes  müsse  ein  Ende  machen.  Oft  aber  kommt 
diese  Ansicht  vor  in  unwissenschaftlichen  Gestalten  als  Regel  eines 
wirklichen  Lebens  oder  eines  in  den  Werken  der  Dichtkunst  dar- 
gestellten, so  daß  ihr,  bis  vielleicht  zum  Erweis  ihrer  wissenschaft- 
lichen Unmöglichkeit,  die  ohnedies  leere  Stelle  nicht  kann  geweigert 
werden.  Noch  andere  aber  könnten  auch,  unter  der  Idee  der  Voll- 
kommenheit beides  vereinigend,  die  Aufgabe  fassen,  jene  Annähe- 
rung an  das  gemeinschaftliche  Musterbild  mit  der  Ausbildung  und 
Darstellung  des  Eigentümlichen  nach  gewissen  Grundsätzen  zu 
vereinigen,  und  beides  gegenseitig  durcheinander  zu  bestimmen 
und  zu  begrenzen;  wobei  freilich  eine  Regel  gefunden  werden 
müßte,  um  das  Mannigfaltige  des  Eigentümlichen  zu  ordnen  und  zu 
erschöpfen,  und  um  dann  einzeln  zu  beurteilen,  wohin  jedes  ge- 
höre.   Zu  dieser  Aufgabe  führen  auch,   wiewohl  nur  von   ferne, 

Pia  on  un    pj^^^^  ^j^^j  Spinoza.    Denn  auf  der  einen  Seite  scheint  zwar  jener 
Spinoza.  ' 

das  Ideal  auch  nur  als  ein  einziges  darzustellen,  auf  der  andern  aber 

ist  teils  schon  durch  seine  Methode,  welche  zur  Weltbildung 
hinaufsteigt,  um  von  der  herab  alles  abzuleiten,  das  Besondere  als 
im  götthchen  Entwurf  Hegend  gegeben,  teils  stellt  er  selbst  fest 
eine  natürliche  Verschiedenheit  in  den  Mischungen  der  verschie- 
denen Kräfte  und  Größen.  Wollte  aber  vielleicht  jemand  sagen, 
dies  geschehe  nur  auf  dem  Gebiete  der  Staatskunst;  und  was  da 
als  gefunden  vorkomme,  könne  dennoch  gar  wohl  in  dem  Gebiete 


[111,1,  67]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  69 

der  Ethik  als  umzubildend  oder  völlig  hinwegzunehmend  auf- 
gegeben sein:  so  steht  diesem  zweierlei  entgegen.  Zuerst  setzt  er 
dieses  Verschiedene  als  durch  die  Erzeugung  entstanden,  welches, 
wenn  man  es  auch  nur  mythisch  auslegt,  dennoch  die  Idee  des 
Ursprünglichen  und  Unabänderlichen  in  sich  schließt.  Dann  auch 
stellt  er  es  hin  als  ein  politisch  sorgfältig  und  auf  ewige  Zeiten 
Aufzubewahrendes;  und  ein  solches  kann  bei  der  Verbindung 
beider  Wissenschaften  unmöglich  ein  ethisch  zu  Vernichtendes  sein. 
Das  nämliche  nun  gilt  auch  von  Spinoza,  wenngleich  er  nicht  minder 
von  einem  allgemeinen  Musterbilde  redet.  Wenn  man  aber  be- 
denkt, wie  er  diesen  in  der  Ethik  überall  vorkommenden  und  in 
ihr  vielleicht  unvermeidlichen  Gedanken  unmöglich  doch  für  das 
einige  Notwendige  halten  konnte;  und  man  versucht  daher  mit 
seinem  Ausdruck,  daß  das  Annähern  an  dieses  Urbild  das  einige 
wahrhaft  Nützliche  sei,  den  Grundgedanken  seiner  Lehre  in  Ver- 
bindung zu  setzen,  daß  jedes  einzelne  Wesen,  nicht  etwa  jede  Gat- 
tung, die  Grundkräfte  des  Unendlichen  auf  seine  besondere  Weise 
darstellt:  so  erkennt  jeder  es  leicht  für  unmöglich,  daß  nach  seinem 
Sinne  dieses  Eigentümliche  als  ein  Fehlerhaftes  und  Hinwegzu- 
nehmendes  solle  behandelt  werden.  Daher  ist  offenbar  genug,  daß, 
wer  eine  Ethik  nach  den  Grundzügen  des  Platon  oder  des  Spinoza 
völlig,  und  so  genau  als  es  in  andern  Systemen  geschehen  ist,  auf- 
bauen wollte,  jener  Aufgabe  einer  Vereinigung  des  allen  Gemein- 
samen und  des  Eigentümlichen  nicht  entgehen  könnte.  Auf  wie 
mancherlei  Art  aber  und  wie  eine  solche  in  diesen  sowohl  als 
anderen  Systemen  zustande  zu  bringen  sei,  das  gehört  nicht  hier- 
her. Hier  vielmehr  reicht  es  hin,  gezeigt  zu  haben,  wie  auch  dieser 
Gegensatz  überall  stattfindet,  und  wie  auch  die  letzte,  wenngleich 
noch  vernachlässigte  Seite  desselben  fast  von  allen  verschiedenen 
Grundsätzen  aus  wenigstens  aufgegeben  ist.  Und  soviel  sei  gesagt 
von  den  bedeutenden  Verschiedenheiten  der  bisherigen  ethischen 
Grundsätze.  Nun  zur  Prüfung  ihrer  Tauglichkeit,  was  die  Er- 
richtung  eines  Systems  betrifft. 


70  Grundlinien  einer  Kritilc  der  bisherigen  Sittenlehre.        [111,1,  öS] 


Zweiter  Abschnitt. 

Von  der  Tauglichkeit  der  verschiedenen  ethischen  Grund- 
sätze zur  Errichtung  eines  Systems. 

1. 

Bedingungen  dieser  Tauglichkeit. 

Die  drei  Wenn  aus  einem  ethischen  Grundsatze  ein  System  von  Hand- 

ethischen Jungen  sich  soll  entwickeln  lassen:  so  muß  auch  die  Gesamtheit 
Weise  das  "dieser  Handlungen  oder  Zustände,  damit  auch  die  gleich  ein- 
höchste Gut,  begriffen  werden,  welche  nicht  auf  ein  eigentliches  Handeln  gehen, 
das  Gesetz,  gj^,  Ganzes  und  Gleichartiges  ausmachen,  welches  daher  auch 
unter  einem  Begriff  muß  dargestellt  werden  können.  Ferner  aber 
ist  auch  in  Betrachtung  zu  ziehen  dasjenige,  in  welchem  und 
durch  welches  diese  Gesamtheit  hervorgebracht  wird,  nämlich  die 
von  dem  sittlichen  Grundsatz  beherrschte  Seele,  welche  ebenso  die 
innere  und  bleibende,  wie  jenes  die  äußere  und  wechselnde  Dar- 
stellung desselben  ist,  und  als  eine  und  dieselbe  Kraft  in  allen 
verschiedenen  Äußerungen,  nämlich  nicht  nur  physisch,  sondern 
auch  ethisch  eine  und  dieselbe,  ebenfalls  unter  einem  Begriff 
befaßt  werden  muß.  Hieraus  nun  entstehen  die  beiden  Ideen  des 
höchsten  Gutes  und  des  Weisen,  welche  gewöhnlich  als  Eigen- 
tümlichkeiten dieser  oder  jener  Schule  angesehen  v/erden,  der 
Wahrheit  nach  aber  allen  Schulen  auf  gleiche  Weise  angehören 
müssen.  Denn  wird  zuerst  betrachtet  das  Verhältnis  des  eigent- 
lich sogenannten  ethischen  Grundsatzes,  der  in  dieser  engeren  Be- 
deutung, weil  er  sich  auf  das  einzelne  bezieht,  das  Gesetz  zu 
nennen  ist,  gegen  die  Idee  des  höchsten  Gutes:  so  zeigt  es  sich 
ganz  als  dasselbe,  wie  in  der  Meßkunst  das  Verhältnis  der  Glei- 
chung oder  Formel  zu  dem  anschaulichen  Bilde  der  Kurve,  Vielehe 
durch  jene  bestimmt  ist.   Hier  nämlich  kann,  wenn  die  unveränder- 


[111,1,  69]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  71 

liehe  Größe  angenommen  ist,  durch  aufeinander  folgendes  Setzen 
der  einen  Veränderlichen  nach  dem  in  der  Formel  angewiesenen 
Verfahren  die  dazu  gehörige  andere  und  mit  ihr  ein  Ort  in  der 
Kurve  jedesmal  gefunden  werden.    Ebenso  nun  wird  auch  in  der 
Ethik,   wenn   die  unveränderliche   Größe,   es   sei   nun   dieses   die 
menschliche   Natur  oder  wie  ein  jeder  es  ausdrücken  will,  fest- 
gestellt ist,  so  oft  dieser  oder  jener  Punkt  unter  den  gesamten 
ethischen  Beziehungen  des  Menschen  gleichsam  auf  der  Linie  der 
Abszissen  angenommen  wird,  durch  Ausübung  des  in  dem  Grund- 
satz   angezeigten    Verfahrens    auch    jedesmal   die    Tat    gefunden, 
welche  in  jener  Gesamtheit  des  ethischen  Lebens  das  zu  diesem 
Punkt  gehörige  Glied  darstellt.    Nur  aber  können  in  dem  ethi- 
schen  sowohl  als  dem  mathematischen   Verfahren   auf  diese  Art 
bloß  einzelne  Punkte  der  Kurve  wie  einzelne  Teile  des  höchsten 
Gutes  gefunden  werden,  mehrere  oder  wenigere,  je  nachdem  die 
bei  einem  abgerissenen  Verfahren  unvermeidlichen  Zwischenräume 
näher  oder  weiter  gerückt  vv^erden.    Wird  dagegen  ein  Werkzeug 
gedacht,    welches   so   genau   in    Beziehung    auf   die    Formel   ein- 
gerichtet wäre,  daß  es  durch  ein  stetiges  Fortrücken  auf  jener  Linie 
zugleich    nicht   einzelne   Orte   sondern   die   ganze    Kurve   als   ein 
stetiges   und  ununterbrochenes  Ganzes  verzeichnete:   ein   solches 
wäre  dann  zu  vergleichen  dem  Weisen,  der  ebenfalls  durch  stetige 
Fortrückung  auf  der  Linie  des  Lebens  das  höchste  Gut  im  Zu- 
sammenhang und  ohne  Abweichung  hervorbringt.    Und  so  wie  in 
jedem   Werkzeuge  die  Formel  gleichsam   ein   mechanisches,  sich 
selbst  darstellendes  Leben  gewonnen  hat,  so  ist  auch  der  Weise 
das  lebendige  Gesetz  und  die  das  höchste  Gut  erzeugende  Kraft. 
Hieraus  nun  erhellt  schon  hinlänglich,  daß  jene  Ideen,  eine  ohne 
die  andere  nicht  bestehen  können.    Denn  wenn  auch  die  Idee  des 
Weisen   zu   Errichtung  des   ethischen  Systems,   welches   aus   ein- 
zelnen getrennten  Gliedern  zusammengefügt  werden  muß,   nicht 
unmittelbar  gebraucht  werden  kann,  und  gleichsam  nur  das  Be- 
kenntnis enthält,  wie  unzulänglich  dieses  ist,  um  ein  stetiges  Ganzes 


72  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,70] 

darzustellen:  so  muß  sie  dennoch  in  jedem  ebenfalls  angedeutet 
sein.  Sonst  wenn  einem  sittlichen  Gesetz  die  ihm  entsprechende 
Idee  des  Weisen  mangelt,  muß  mit  Recht  ein  übler  Argwohn 
entstehen,  daß  die  nach  demselben  gebildeten  Handlungen  sich 
nicht  als  ein  eigentümliches  Inneres  aufdringen,  und  daß  nicht  eine 
gleiche  Kraft  und  Richtung  des  Menschen  der  beharrliche  Grund 
derselben  ist,  sondern  ihre  Gleichartigkeit,  und  also  das  eigentliche 
Wesen  des  Gesetzes,  von  irgend  etwas  Äußerem  abhängt.  Fehlt 
aber  gar  zu  einem  Gesetz  die  Idee  des  höchsten  Gutes:  dann  läßt 
sich  schließen,  daß  die  Aufgabe  nicht  in  ihrer  unzertrennhchen 
Vollständigkeit  gedacht  worden.  So  zum  Beispiel,  wenn  das  Ge- 
setz unmittelbar  nicht  auf  ein  eigenes  Hervorbringen  abzweckt, 
sondern  nur  auf  das  Zerstören  einer  anderen  Handelsweise,  wird 
die  Einheit  in  dem  durch  dasselbe  Bewirkten  sich  leicht  verbergen; 
und  wenn  das  Gesetz  für  sich  unzureichend  wäre,  was  es  selbst 
will  und  soll,  hervorzubringen,  so  würde  das  als  letztes  Ziel  Ge- 
dachte in  Absicht  auf  dasselbe  als  zufällig  erscheinen,  und  also  mit 
Recht  im  System  nicht  aufgestellt  werden.  Ebenso  darf  auch  zu 
einem  höchsten  Gut  das  Gesetz  nicht  fehlen,  noch  auch  der  Weise, 
weil  sonst  der  Inbegriff  desselben  als  ein  zufällig  und  äußerlich, 
nicht  aber  innerlich  und  gesetzmäßig  Entstehendes  erscheint,  und 
also  weder  die  Ethik  bestehen  kann,  welche  nichts  anderes  ist  als 
eine  systematische  und  nach  der  Einheit  des  Grundsatzes  unter- 
nommene Analyse  des  höchsten  Gutes,  noch  auch  die  Lebens- 
führung, auf  welche  sich  die  Wissenschaft  beziehen 
soll.  Denn  wie  dürfte  man  jemanden  anmuten  sich  als 
das  Ganzeseines  Bestrebens  etwas  vorzusetzen,  wozu 
ihm  nicht  eine  Einheit  der  Handlungsweise  als  hin- 
reichende Kraft,  um  es  zu  erreichen,  könnte  ange- 
wiesen werden? 
Ein-  Hieraus   darf  jedoch  nicht  folgen,  daß   alle  diese  drei  Ideen 

schränkung.  -^^  jedem  System  mit  gleicher  Klarheit  und  Bestimmtheit  müßten 
dargelegt  sein  und  gleich  stark  hervortreten.  Denn  noch  ist  es 
mit  der  Ethik  nicht  dahin  gediehen,  daß  diejenigen,  welche  ihrer 


[111,1,  71]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  73 

pflegen,  von  ihrem  ganzen  Zusammenhange  und  allen  ihren  Teilen 
eine  gleich  klare  Vorstellung  hätten;  und  andererseits  bringt  auch 
die  Verschiedenheit  in  der  Abzweckung  der  Systeme  es  mit  sich, 
daß    in    diesem   von   der,   in   jenem    von    einer   andern   weniger 
Gebrauch  gemacht  wird,  und  weniger  erleuchtende  Strahlen  aus- 
gehen,   welches,   ohne   ihnen   zum   unbedingten    Vorwurf   zu   ge- 
reichen, nur  der  Kritik  die  Pflicht  auflegt,  dem  Mangel  der  bis- 
herigen Darstellung  aus  ihrer  vergleichenden  Kenntnis  des  Inneren 
abzuhelfen,  und  auch  den  verborgenen  Elementen  derjenigen  Ideen 
nachzuspüren,  welche  dem  ersten  Anblick  nach  zu  fehlen  scheinen, 
es  sei  nun,  daß  sie  wirklich  überwachsen  oder  daß  sie  nur  un- 
scheinbar sind  und  den  gehörigen   Raum   nicht  ausfüllen.    Denn 
es  kann  gar  wohl  geschehen,  daß,  wo  in  einem  System  eine  von 
ihnen   ganz  zu  fehlen   oder  nur   erkünstelterweise   und   auf  eine 
mißverstandene  Art  nachgebildet  zu  sein  scheint,  so  daß  sie  den 
übrigen  nicht  entspricht,  dennoch  die  wahre  und  dem  System  an- 
gemessene  ebenfalls,   nur  nicht  an   der   rechten   Stelle  und   voll- 
kommen   entwickelt,   vorhanden   ist.    Auch   ist   nicht   möglich   im 
allgemeinen  darüber  zu  entscheiden,  welche  von  ihnen  die  erste 
ursprüngliche  ist.    Nämlich  keine  ist  eigentlich  abgeleitet  von  der 
andern,  und  eine  Ethik  kann  ebensogut  mit  dem  Grundsatz  an- 
fangen,  daß   alles   Handeln  ein   Teil   des  so  und  so  bestimmten 
höchsten  Gutes  sein  soll,  als  mit  dem,  daß  in  jedem  das  so  und 
so   ausgedrückte  Sittengesetz  als  der  eine   Faktor  enthalten  sein 
soll.    Denn  ebensogut  läßt  sich  aus  jenem,  dem  höchsten  Gute, 
die   Regel  des  Verfahrens  ableiten,  wie  aus  dieser  die  Idee  der 
Gesamtheit  des  Hervorgebrachten;  wie  denn  auch   aus   Betrach- 
tung der  Kurve  in  dem  Körper,  dem  sie  angehört,  die  Funktion 
sich   entdecken  läßt.    So   hat  unstreitig    Piaton   bei  seiner  Welt- 
anschauung zuerst  das  höchste  Gut  des  Menschen  gefunden,  näm- 
Uch  die  Ähnlichkeit  mit  Gott,  und  dann  erst,  nach  Anleitung  seines 
Begriffes  von  der  menschlichen  Natur,  die  Regel  des  Verfahrens 
hierzu;    Spinoza   hingegen   bei   der   seinigen    zuerst   das    Gesetz, 
nämüch  die  Angemessenheit  des  jedem  Handeln  zugehörigen  Ge- 


7-i  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  72] 

dankens,  und  hieraus  erst  das  höchste  Gut,  nämUch  die  in  jedem 
enthaltene  Erkenntnis  Gottes.  Und  so  stehen  beide  Ideen  in 
durchgängiger  Wechselbeziehung,  und  die  frühere  Erscheinung 
der  einen  oder  andern  hängt  ledigUch  ab  von  der  eigentümhchen 
Ansicht  dessen,  der  die  Ethik  bearbeitet,  oder  von  dem  Zusammen- 
hang, in  welchem  diese  Wissenschaft  gefunden  wird,  das  heißt, 
das  Früher  oder  Später  ist  jetzt  noch  und  für  uns  durchaus  zu- 
fälUg.  Daß  aber,  diese  Einschränkungen  festgehalten,  die  drei 
aufgezeigten  ethischen  Ideen,  da  jede  eine  eigne,  keine  aber  alle 
Beziehungen  des  höchsten  Grundsatzes  darstellt,  und  also  jede  als 
eine  eigne  unentbehrliche  Gestalt  desselben  angesehen  werden 
muß,  gleich  notwendig  sind,  wenn  eine  von  ihnen  einem  System 
der  Sittenlehre  zum  Grunde  liegen  soll,  und  dies  also  eine  not- 
wendige Bedingung  der  systematischen  und  architektonischen  Taug- 
lichkeit eines  sittlichen  Grundsatzes  ist,  dieses  muß  aus  dem  Ge- 
sagten einem  jeden  offenbar  sein. 
Das  Verfahren         Nächst   dieser   Mannigfaltigkeit   der    Gestalten    aber   gibt   es 

^^'         ein  zwiefaches  Verfahren,  wodurch  jeder  Grundsatz  sein  Geschäft 
Bestimmung  .  ,  ,    ,  ,  ,  ,  i     •    ,  t  •  i  j       •  n 

des  Ethischen  verrichtet,  und  wozu  demnach  auch  jeder  geschickt  sem  muß,  um 

sich  in  seiner  Eigenschaft  zu  bewähren.  Er  muß  nämlich  so  be- 
schaffen sein,  daß  sich  vermittelst  desselben,  so  weit  es  in  einer  nur 
im  allgemeinen  gehaltenen  Darstellung  möglich  ist,  alles  sittliche 
Tun  oder  Sein  als  ein  solches  aufzeigen  lasse.  Daß  er  sich  dazu 
eines  vermittelnden  und  leitenden  Begriffes  bedienen  dürfe,  ist 
schon  oben  gegen  einige  eingeräumt  worden,  wie  auch,  daß 
über  diesen  Begriff  auf  dem  Gebiet  unserer  Untersuchung  im 
voraus  kein  Urteil  stattfinde.  Denn  obgleich  er  freilich  mit  dem 
Grundsatze  selbst  in  einem  und  dem  nämlichen  gemeinschaftlichen 
Höheren  gegründet  sein  muß :  so  ist  doch,  ob  sich  dieses  in  einem 
einzelnen  Falle  also  verhalte,  eine  außerhalb  unserer  Grenzen 
gelegen  Frage.  Auf  dem  Gebiete  der  Ethik  selbst  aber  darf  dieser 
Begriff  unabhängig  sein  von  dem  Grundsatze ;  weil  er,  wenn  dieser 
die  Gestalt  des  Gesetzes  hat,  das  Gebiet  seiner  Anwendung,  hat 


[111,1,  73]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  75 

er  aber  die  des  höchsten  Gutes,  den  Grund  seiner  Einteilung 
enthalten  soll.  Nur  soviel  ist  von  selbst  deutlich,  daß,  da  beide 
in  diesem  Verhältnis  zusammengehören  sollen,  auch  einer  den 
andern  gänzlich  erschöpfen  muß ;  so  daß  in  dem  durch  den  Hilfs- 
begriff gezeichneten  Umriß  nichts  übrig  bliebe,  was  nicht  durch 
den  Grundsatz  ethisch  bestimmbar  wäre,  und  auch  keine  An- 
wendung des  Grundsatzes,  innerhalb  der  menschlichen  Welt  näm- 
lich, gedacht  werden  könne,  die  nicht  auch  durch  die  Beziehung 
des  Grundsatzes  auf  jenen  Begriff  sollte  zu  finden  sein.  Inwiefern 
nun,  wenn  dieses  nicht  geleistet  wird,  die  Schuld  nicht  etwa  auf 
eine  verfehlte  Wahl  des  Hilfsbegriffes  zu  werfen  ist,  als  ob  diese 
willkürlich  wäre,  sondern  allemal  auf  den  Grundsatz  selbst,  hier- 
über haben  wir  im  allgemeinen  nicht  zu  entscheiden,  weil  dieses 
zur  Beurteilung  der  Vollständigkeit  des  Systems  gehört,  welche 
nur  der  letzte  Teil  unserer  Untersuchung  sein  kann.  Sondern 
jetzt  haben  wir  nur  zuzusehen,  ob  sich  überhaupt  an  dem  Grund- 
satz, er  werde  nun  für  sich  allein  betrachtet,  wenn  er  so  bestehen 
zu  können  glaubt,  oder  in  Verbindung  mit  seinem  Hilfsbegriff, 
eine  Tauglichkeit  zu  diesem  Behuf  wahrnehmen  läßt,  oder  nicht 
vielmehr  eine  Quelle  von  Verwirrungen,  wo  nicht  gar  eine  gänz- 
Hche  Unfähigkeit.  Dieses  Verfahren  aber  scheint  selbst  wieder  ein 
zwiefaches  zu  enthalten.  Denn  nicht  dieselbe  ist  die  Art,  wie  eine 
Stelle  im  System  ausgefüllt  wird,  und  wie  ein  Zeitteil  im  wirk- 
lichen Leben.  Erstere  nämlich  enthält  das  Ganze  des  sittlichen 
Verfahrens  in  Beziehung  auf  einen  bestimmten  Gegenstand,  wel- 
ches Ganze  nur  in  einer  Reihe  von  Momenten  kann  dargestellt 
werden;  wird  aber  gefragt,  was  in  jedem  Moment  zu  tun  ist, 
so  zeigt  sich  ein  Mannigfaltiges  von  Aufforderungen,  welche  aus 
ganz  verschiedenen  Gegenden  des  Systems  hergenommen  sind,  und 
entweder  vereinigt,  oder  in  Beziehung  auf  die  Zeit  einander  unter- 
geordnet werden  müssen.  Daher  die  wirkliche  Anwendung  des 
Grundsatzes  in  der  Ausübung  aus  zwei  Faktoren  besteht,  von 
denen  der  eine  anzeigt,  welcher  Gegenstand  eben  jetzt,  der  andere 


76  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  74] 

aber  wie  er  überhaupt  zu  behandeln  ist.  Allein  es  ist  dies  schein- 
bar Zwiefache,  welches  zu  dem  verkehrten  Gedanken  von  einem 
Streit  des  Sittlichen  unter  sich  die  Veranlassung  gegeben,  dennoch 
nur  ein  Einfaches.  Denn  jeder  sittliche  Gegenstand  hat  auch  als 
solcher  eine  bestimmte  Größe,  über  welche  hinaus  er  aufhört 
sittlich  zu  sein,  so  daß  auch  das  System  ihn  nicht  anders  als  mit 
der  Bestimmung  seiner  Größe  zugleich  aufstellen  kann,  und  es 
hat  nur  die  Bedeutung,  daß  zur  Tauglichkeit  des  Grundsatzes  für 
dieses  Verfahren  notwendig  gehöre,  daß  durch  ihn  mit  jedem 
Sittlichen  zugleich  auch  die  Art  müsse  gefunden  werden,  wie  es 
durch  das  übrige  begrenzt  wird.  Diesem  aufbauenden  Verfahren 
nun  steht  gegenüber  ein  anderes,  welches  das  prüfende  genannt 
werden  kann  und  dem  ersten  zur  Bewährung  dient.  Der  Grund- 
satz nämlich  muß  auch  so  beschaffen  sein,  daß  von  jeder  gegebenen 
Handlung  durch  Vergleichung  mit  ihm  sogleich  bestimmt  werden 
kann,  ob  sie,  wenn  der  Grundsatz  die  Gestalt  des  höchsten  Gutes 
hat,  ein  Teil  desselben  sein,  oder  ist  er  als  Gesetz  aufgestellt,  als 
durch  ihn  konstruiert  kann  gedacht  werden.  Eine  solche  Frage 
darf  niemals  weder  unbeantwortet  bleiben,  noch  eine  doppelte  Ant- 
wort zulassen,  wenn  der  Grundsatz  wirklich  ist,  was  er  sein  soll. 
Denn  das  erste  würde  beweisen,  daß  der  Grundsatz  unzulänglich  ist, 
und  nicht  sein  ganzes  Gebiet  umfaßt;  das  andere  aber,  daß  ent- 
weder er  selbst  vieldeutig  ist,  oder  daß  der  Hilfsbegriff,  vermittelst 
dessen  das  einzelne  Sittliche  bestimmt  ist,  nicht  in  Beziehung  auf 
den  ethischen  Zweck  und  nach  seinem  Verhältnis  zu  dem  Grund- 
satz gHedermäßig  abgeteilt,  sondern  gewaltsam  von  einem  fremden 
Punkte  aus,  wo  nicht  gar  willkürlich  aufs  Ohngefähr  hin,  zer- 
schnitten worden.  Beides  kann  sich  bei  dem  ersten  Verfahren 
leichtlich  verbergen,  wo  nur  dasjenige  in  Betrachtung  kommt, 
was  eben  gebaut  wird;  daher  dieses  zweite  die  notwendige  Be- 
stätigung des  ersten  ist,  ohne  welche  über  den  Grundsatz  kein 
sicheres  Urteil  kann  gefällt  werden.  Wobei  jedoch  bemerkt  werden 
muß,  und  aus  dem  obigen  erhellt,  daß  die  Handlung  nur  dann 


[111,1,  75]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  77 

bestimmt  gegeben  ist,  wenn  auch  ihr  Verhältnis  zu  einem  Moment 
ausgedrückt  worden,  weil  sonst  nicht  geurteilt  werden  kann,  ob 
der  dabei  angewendete  sittHche  Begriff  auch  in  seinem  wahren 
ethischen  Umfange  ohne  eine  fremde  und  scheinbare  Vergröße- 
rung aufgefaßt  ist.  Denn  die  Verabsäumung  hiervon  hat  mancherlei 
ungerechte  Verleumdungen  über  einzelne  ethische  Systeme  ge- 
bracht. Weiter  ist  noch  zu  beobachten,  daß  auch  die  Handlung  als 
eine  ganze  muß  gegeben  werden,  wenn  sie  nicht  ohne  Verschulden 
des  Grundsatzes  entweder  als  ethisch  unbestimmbar  erscheinen 
oder,  je  nachdem  das  Fehlende  ergänzt  oder  das  Vielfache  gegen- 
einander in  Verhältnis  gesetzt  wird,  auch  so  und  anders  soll  be- 
urteilt werden  können.  Hierher  nun  gehören  die  Fragen  von  dem 
Willkürlichen  und  Unwillkürlichen,  Absichtlichen  und  Zufälligen, 
und  von  Verbindung  mehrerer  Handlungen  als  vermittelnder  zu 
einer  als  ihrem  Zweck.  Diese  haben  schon  von  Anfang  der  Ethik 
an  die  Untersuchung  beschäftigt,  und,  mit  dialektischer  Willkür 
außer  ihrem  Zusammenhange  behandelt,  nicht  wenig  Schwierig- 
keiten verursacht;  sie  gehören  aber  alle  zu  der  Frage  von  der 
ethischen  Einheit,  und  so  scheinen  sie  nicht  schwer  zu  beantworten. 
In  der  sittlichen  Bedeutung  nämlich  ist  Handeln  gleich  dem  Wollen; 
wo  ein  wirkliches  Wollen  ist,  da  ist  auch  gehandelt,  keine  Tat  aber 
ist  eine  Handlung  als  nur  durch  das  Wollen.  Welche  Handlung 
nun  ihrer  Natur  nach  mit  keinem  Wollen  verbunden  sein  kann, 
die  ist  auch  nicht  sittlich;  und  insofern  ist  freilich  das  Willkür- 
liche die  Grenze  des  Sittlichen,  aber  nur  das  an  sich  Unwillkür- 
liche ist  ausgeschlossen.  Scheint  aber,  was  an  sich  willkürlich  ist, 
nur  jetzt  und  hier  mit  keinem  Wollen  verbunden:  so  ist  ja  auch 
das  Nichtdasein  eines  aufgegebenen  Wollens  ethisch  zu  beurteilen. 
Denn  wenn  das  Nichtwollen  schlechthin  zufällig  und  unwillkür- 
lich wäre:  so  wäre  das  Wollen,  weil  es  ja  in  jedem  einzelnen 
Falle  eben  auch  hätte  unterbleiben  können,  ebenso  zufällig  und 
unwillkürHch,  und  es  hörte  alle  ethische  Beurteilung  des  Ge- 
schehenen auf.    Aber  es  kann  auch  eine  scheinbar  unwillkürliche 


78  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,76] 

Handlung  als  Teil  zusammenhängen  mit  einer  andern,  und  das 
Wollen  in  dieser  auch  auf  jene  müssen  bezogen  werden.  Dieses 
findet  statt  bei  allen  sowohl  absichtlichen  Gewöhnungen  als  un- 
absichtlich entstehenden  Gewohnheiten ;  und  so  wie  man  Unrecht 
hat  die  letzteren  zu  entschuldigen,  weil  nichts  in  ihrer  Ausübung 
gewollt  wird,  so  hat  man  Unrecht,  die  ersteren  eben  deshalb 
ihres  gebührenden  Lobes  zu  berauben.  Denn  wer  sich  absichtlich 
gewöhnt,  der  will  in  diesem  Entschluß  auch  die  folgenden  Hand- 
lungen mit,  zu  denen  es  hernach  keines  besonderen  Willens  mehr 
bedarf;  und  diese  hängen  mit  jenem  ersten  Wollen  sämtlich 
ebenso  zusammen  wie  jede  gleichzeitige  Ausführung  mit  dem 
sie  verursachenden  Willen.  Wer  aber  sich  etwas  zur  Gewohnheit 
werden  läßt,  indem  er  vielleicht  nur  ein  Anderes  will,  dem  ist 
dennoch  dieses  als  mitgewollt  anzurechnen,  weil  es  auf  eine  ihm 
bekannte  Weise  ein  natürlicher  Teil,  nämlich  eine  Folge  seines 
Handelns,  werden  mußte,  und  er  also  wenigstens  jenes,  auf  die 
Gefahr,  daß  dieses  mit  entstehen  könnte,  gewollt  hat.  Eben  wie 
man  von  dem,  welcher  durch  unbedachten  Gebrauch  seiner  Kräfte 
Schaden  anrichtet,  nicht  sagt,  er  habe  diesen  Schaden  gewollt, 
wohl  aber  habe  er  seinen  Zweck,  was  er  auch  gewesen,  außerhalb 
seiner  sittHchen  Größe  gewollt,  weil  er  mit  ihm  zugleich  eine 
verstandlose  Anwendung  eines  physischen  Vermögens,  welche 
offenbar  unsittlich  ist,  gewollt,  oder,  um  es  genauer  zu  sagen,  eine 
besonnene  und  den  ethischen  Zwecken  angemessene  nicht  gewollt 
hat.  Denn  der  unmittelbare  Gehalt  eines  Wollens  ist  immer  nur 
der  Zweckbegriff,  der  eines  Nichtwollens  aber  das  unterlassene 
ethische  Bestimmen  desjenigen,  was  ethisch  bestimmbar  gewesen 
wäre.  Wie  also,  wenn  das  äußere  Handeln  von  seinem  Wollen 
abgetrennt  oder  dieses  nicht  bis  zu  dem  Zweckbegriff  hinauf- 
geführt und  nicht  mit  dem  Nichtwollen,  welches  in  demselben  ge- 
setzt ist,  zusammengestellt  wird,  auch  die  Handlung  zerrissen  ist, 
und  nur  ein  Bruchstück  derselben  zur  Beurteilung  kommt,  dieses 
muß  einleuchten  aus  dem  Gesagten.  Die  Gefahr  aber,  anstatt  einer 


[111,1, 77]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  79 

mehrere  Handlungen  ineinander  verwirrt  zur  Prüfung  aufzustellen, 
entsteht  nicht  nur  eben  aus  jener  Zerreißung,  indem  natürlich 
die  einzelnen  Teile  zu  andern  Handlungen  hinangezogen  werden, 
sondern  noch  weit  mehr  aus  einem  Gedanken  von  einer  höheren 
Einheit  der  Handlung,  welche  nämlich  auf  der  Verbindung  von 
Mitteln  und  Zwecken  beruht,  und  alle,  wie  viele  es  auch  wären, 
so  verbundene  Handlungen  zu  einer  machen  soll.  Daß  dieses, 
sobald  eine  an  sich  ethisch  bedeutende  und  also  auch  für  sich 
nach  Maßgabe  des  Grundsatzes  zu  bestimmende  Handlung  nur 
als  Mittel  einer  andern  gesetzt  wird,  die  Beurteilung  notv^endig 
verwirren  muß,  ist  nicht  schwer  einzusehen.  Denn  jene  hat  ihrer 
Natur  nach  einen  Anspruch  für  sich  und  um  ihrer  selbst  willen 
verrichtet  und  also  auch  so  beurteilt  zu  werden,  welches  beides 
aber  nun  von  der  andern  verschlungen  wird.  Wie  nun  dieses 
keine  Einheit  hervorbringen  kann,  wenn  die  Mittelhandlung  als 
solche  anders  und  vielleicht  auf  entgegengesetzte  Art  ist  verrichtet 
worden,  als,  für  sich  selbst  sie  betrachtet,  geschehen  sein  würde, 
leuchtet  von  selbst  ein;  denn  jeder  sieht,  wie  hier  das  besondere 
Urteil  über  die  Mittelhandlung  nicht  zu  vermeiden  ist,  wiewohl 
die  Formel,  daß  das  Böse  nicht  um  des  Guten  willen  geschehen 
solle,  nur  das  Gröbste  davon  ausdrückt.  Aber  es  ist  ganz  das 
nämliche,  wenn  sie  auch  gerade  so  verrichtet  worden  ist,  wie  an 
und  für  sich  wäre  gefordert  worden;  denn  diese  Willensbestim- 
mung, sie  so  zu  verrichten,  ist  doch  nicht  erfolgt,  und  es  muß 
sich  neben  dem  Urteil  über  die  Zweckhandlung  ein  besonderes 
bilden  über  dieses  Nichtwollen.  Beispiele  dieser  Verwirrung  liegen 
nicht  fern.  So  ist  es  eine  schreckliche,  wenn,  als  eine  Handlung 
gedacht,  daß  einer  seine  Talente  ausbildet,  um  Lebensunterhalt  zu 
erwerben,  oder  daß  einer  einem  andern  wohltut,  um  eines  Dritten 
Gunst  zu  erlangen,  diese  günstig  beurteilt  wird,  weil  doch  jenes 
ein  erlaubtes  Mittel  gewesen.  Und  nicht  etwa  darin  liegt  das 
Bedenkliche,  daß  hier  ein  Mensch  als  Mittel  gebraucht  ist,  welches 
eine  wunderliche  und  fast  lächerliche  Formel  zu  sein  scheint,  dort 


80  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,78] 

aber  das  Größere  geschehen  ist  um  des  Kleineren  willen,  sondern 
unabhängig  von  dieser  Messung  in  der  Sache  selbst.  Denn  beides 
als  Mittel  Gedachte  hätte  sollen  für  sich  gewählt  oder  verworfen 
werden,  und  das  in  dieser  Wahl  liegende  sittliche  Handeln  ist 
durch  jenes  vernichtet.  So  daß  eine  Zweckhandlung  dieser  Art 
erscheint  wie  Kain,  der  seinen  Bruder  Abel  getötet,  und  leugnet, 
sein  Hüter  zu  sein;  aber  jenes  Blut  schreiet  doch  aus  der  Erde, 
und  verkündet,  daß  zwei  sein  sollten,  wo  nur  einer  ist.  Nur 
also  das  ethisch  an  sich  Unbedeutende  und  Unbestimmbare  darf 
sein  ein  Mittel  für  ein  anderes,  und  nur  unter  dieser  Bedingung 
kann  der  Grundsatz  dafür  haften,  daß  er  ein  einfaches  Urteil 
stellen  wird.  Dieses  nun  sind  die  Bedingungen  der  Tauglichkeit, 
welche  sich  für  einen  ethischen  Grundsatz  aus  seinen  wesent- 
lichen Verrichtungen  ergeben;  und  nun  zur  Prüfung  derselben 
nach  diesem  Maßstabe. 

2. 

Prüfung  der  Grundsätze  nach  den  aufgestellten  Be- 
dingungen. 

Das  höchste  Was  nun  zunächst  das  Zusammenbestehen  der  drei  Gestalten 

Gut  als  (jgg  ethischen  Grundsatzes  betrifft:  so  ist  zuvörderst  zu  bemerken, 
daß  das  höchste  Gut  nicht  bestimmt  ausgebildet  und  abgeschlossen 
sein  kann,  wo  es  nur  als  ein  Aggregat,  nicht  aber  als  eine  Reihe 
oder  noch  besser  als  eine  die  Reihe  darstellende  Gleichung  ge- 
geben ist.  Denn  in  einer  Reihe  ist  jedes  Glied  nicht  nur  durch 
seine  Natur  dem  Ganzen  gleichartig  und  angemessen,  sondern  auch 
durch  seinen  Koeffizienten  für  seine  Stelle  ausschließend  bestimmt. 
Ein  Aggregat  aber,  welches  aus  dem  Zusammenfügen  einzelner 
unbestimmt  verschiedener  Größen  entsteht,  ist  vielleicht  überhaupt 
eher  zu  schließen,  wenn  sein  Umfang  gegeben  ist,  als  eine  Reihe; 
hingegen  kann  über  jedes  Stück  desselben  Zweifel  entstehen,  ob 
es  recht  zusammengefügt  worden,  weil  für  jedes  Glied  ein  anderes 
und  größeres  hätte  gesetzt  werden  können,  um  die  Summe  ent- 


Aggregat. 


[111,1,  7Q]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  81 

weder  zu  erhöhen  oder  zu  beschleunigen.  In  den  Systemen  der 
Sittenlehre  nun,  welche  auf  Tätigkeit  ausgehen,  ist  ein  solches 
die  Zusammensetzung  bestimmendes  Prinzip  möglich  in  der  Art, 
wie  es  Fichte  vielleicht  zuerst  ausdrücklich  gefordert  hat.  Wie  Fichte. 
denn  schon  aus  dem  oben  Gesagten  hervorgeht,  daß,  wenn  eine 
Handlung,  welche  im  allgemeinen  gedacht,  sittlich  ist,  gar  wohl  an 
einer  Stelle  unsittlich  sein  kann,  auch  ebenso  alle  Handlungen 
an  einer  Stelle,  bis  auf  eine  einzige,  unsittlich  sein  mögen;  in 
welchem  Falle  denn  kein  Teil  des  höchsten  Gutes  durch  eine 
andere,  wenn  auch  noch  so  große  Tätigkeit  ersetzt  werden  könnte. 
Daher  es  auch  unter  diesen  ethischen  Darstellungen  nur  eine  gibt, 
welche  an  diesem  Mangel  offenbar  leidet,  weil  es  ihr  an  einem 
Bestimmungsgrunde  jener  Art  fehlt,  nämlich  die  des  Aristoteles, 
der  nur  die  vollkommene  Tätigkeit  überhaupt  im  Auge  hat,  und 
dem  also  das  höchste  Gut  nur  als  ein  Aggregat  erscheinen  kann. 
Daher  ihm  auch  die  Bedenklichkeit  entsteht,  ob  alle  solche  Hand- 
lungen oder  nur  die  besten  und  vortrefflichsten  demselben  als  Teile 
angehören.  In  den  Systemen  der  Lust  aber  ist  diese  Unbestimmt-  Eudämo- 
heit  natürlich  und  wesentlich.  Zwar  könnte  man  nach  Ähnlich- 
keit jener  Formel  auch  annehmen,  es  wären  alle  in  einem  Mo- 
ment möglichen  Befriedigungen,  bis  auf  eine,  sei  es  nun  in  Ver- 
gleich mit  dieser  oder  durch  ihre  Folgen,  eigentlich  Unlust,  wo- 
durch denn  das  höchste  Gut  eines  jeden  völlig  bestimmt  sein 
würde.  Allein  ein  jeder  muß  sehen,  daß  der  Unterschied  zwischen 
Handeln  und  Genießen  ein  solcher  ist,  daß  sich  diese  Formel  bei 
dem  letzteren  nicht  anwenden  läßt;  schon  deswegen,  weil  die  Lust 
ein  Veränderliches  ist  dem  Grade  nach,  und  jede  solche  Steigerung 
der  einen  das  Verhältnis  gegen  alle  übrigen  ändert;  dann  aber 
auch,  weil  die  Lust  nicht  wie  die  Handlung  ihr  natürliches  Ende 
hat,  wenige  ausgenommen,  und  also  selbst  dieses  willkürlich  ist, 
wann  ein  Moment  als  beendigt  angesehen  und  eine  neue  Selbst- 
bestimmung gefordert  werden  soll.  Auf  vielfache  Art  also  wäre 
der  Exponent  einer  Reihe  eine  unendliche  und  selbst  nicht  aus- 

Schleiermacher,  Werke.    I.  6 


82  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,80] 


zumittelnde  Größe,  und  es  bleibt  nichts  übrig,  als  das  höchste  Gut 
nur    als    ein    Aggregat    zustande    zu    bringen.      Bei    diesem    tritt 
nun  die  obenbemerkte  Schwierigkeit  ein  in  Absicht  der  Zusammen- 
setzung  eines   jeden   Teiles;    denn   der   Gesamtgenuß    des    Men- 
schen, aus  der  Summe  der  einzelnen  und  ihrer  Intension  zusammen- 
gesetzt, kann  nicht  als  ein  bestimmtes  Endliches  angesehen  werden, 
wiewohl  auch  so  die  Frage  entstände,  ob  es  in  gleiche  oder  un- 
gleiche Teile  zu  zerfallen  sei,  sondern  sowohl  wegen  Unbestimm- 
barkeit  des   Lebens,   als   auch  der   äußeren  und   inneren  hervor- 
bringenden Ursachen  selbst,  als  ein  unbestimmtes.  Sonach  kann  bei 
jeder  einzelnen  Lust  gefragt  werden,  warum  nicht  eine  andere  und 
größere   ihre   Stelle   eingenommen.    Das   Ganze   aber  ist   um  so 
weniger  zu  fassen  möglich,  weil  sowohl  die  verschiedenen  Verfah- 
rungsarten  bei   Hervorbringung  der  Lust  als  auch  ihre   verschie- 
denen Dimensionen  gegeneinander  streiten.    Die  Verfahrungsarten 
nämlich,  indem  immer  der  Hang  zu  der  einen  Art  von  Lust  dem 
zu  einer  andern  entgegensteht,  und  also  das  Setzen  eines  Teiles 
des  höchsten  Gutes  allemal  einen  andern,  nicht  nur  der  Zeit  nach, 
sondern  auch  für  die  Zukunft,  ausschließt;  die  Dimensionen  aber, 
indem  die  Ausdehnung  einer  Lust  in  die  Länge   der  Stärke  der 
Empfindung   Eintrag  tut,   und  beide  wiederum   die  Lebhaftigkeit 
des  Wechsels  verhindern.    Denn  wenn  einige  Spätlinge  aus   der 
cy renaischen   Schule  das  letztere  Moment  für  das  entschei- 
dende erklären  wollen,  indem  sie  behaupten,  nichts  sei  von  Natur 
oder  an  und  für  sich  angenehm  oder  widrig,  sondern  es  sei  nur 
das  Neue  und  Fremde  auf  der  einen  und  die  Übersättigung  auf 
der  andern  Seite,  wodurch  Lust  und  Unlust  bestimmt  werde:  so 
dient  dieses  nur  zum  deutlicheren  Erweise,  wie  wenig  diese  oder 
eine  andere   einseitige   Behauptung  bestehe,  und  der  Streit  also 
nicht  aufgehoben  werden  könne.    Was  aber  das  Paradoxon   des 
Aristippos  selbst  betrifft,  daß  alle  Lust  gleich  ist  und  ohne  Unter- 
schied: so  kann  es  unmöglich  dem  gegenüberstehenden  aber  bedeu- 
tenderen stoischen  so  ähnlich  sein,  daß  seine  Absicht  wäre,  jeden 


[111,1,81]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  83 

Unterschied  des  Grades  in  der  Empfindung  aufzuheben.  Denn 
auf  der  einen  Seite  würde  dadurch  eine  Unentschiedenheit  in  der 
Wahl  entstehen,  welche  den  Grundsatz  ganz  untaughch  machte, 
und  auf  der  andern  würde  sich  Aristippos  dadurch  zu  der  Nega- 
tivität  des  Epikuros  hinneigen,  die  ihm  so  offenbar  zuwider  ist; 
da  ja  bei  einer  gänzHchen  Gleichheit  aller  Lust  das  einzige,  was 
auf  eine  bestimmte  Weise  verrichtet  werden  muß,  nur  die  Entfer- 
nung des  Schmerzes  sein  kann,  was  aber  hernach  weiter  zu  tun 
ist,  dem  Ohngefähr  überlassen  werden  darf.  Vielmehr  kann  jener 
Satz  nur  den  entgegengesetzten  Sinn  haben,  den  nämlich,  daß  der 
Unterschied  des  Grades  der  einzige  ist,  und  von  diesem  abgesehen 
an  sich  keine  Lust  einen  größeren  Wert  hat  als  die  andere. 
Denn  am  übelsten  sind  allerdings  bei  Feststellung  des  höchsten 
Gutes  diejenigen  beraten,  welche,  wie  die  von  der  anglikanischen  Engländer. 
Schule,  einen  solchen  Unterschied  des  Wertes  annehmen,  und  daher 
ein  Verhältnis  suchen  müssen  in  den  verschiedenen  Befriedi- 
gungen, und  ein  diesem  Unterschied  angemessenes  Gleichgewicht, 
welches  noch  schwieriger  zu  finden  sein  möchte,  und  noch  nichtiger 
seinem  Wesen  nach  als  das  politische.  So  bedarf  es  zum  Bei- 
spiel nur  der  Frage,  warum  nicht,  wenn  einmal  die  wohlwollen- 
den Vergnügungen  besser  sind  als  die  selbstliebigen,  jede  Stelle, 
die  diesen  eingeräumt  wird,  mit  jenen  besetzt  werde,  zu  denen  es 
ja  an  Veranlassung  niemals  fehlen  kann,  so  daß  die  Selbsterhal- 
tung ohne  Lust  getrieben  würde,  nicht  als  Teil,  sondern  nur  als 
Bedingung  des  höchsten  Gutes,  wie  auch  Hutcheson  anfänglich 
ganz  richtig  gefunden  hatte.  Nur  springt  das  Lächerliche  in  die 
Augen,  daß  doch  das  Wohlwollen  am  Ende  auf  die  Erhaltung 
und  die  selbstliebige  Lust  der  andern  geht,  und  also  das  höchste 
Gut  nur  besteht  in  der  Lust  an  dem,  was  geringer  ist  als  das 
höchste  Gut,  und  dieses  Untergeordnete  jeder  dem  andern  mit  höf- 
lichem Eigennutz  darbietet  im  Kreise  herum;  aus  welchem  Kreise 
keine  andere  Erlösung  zu  sein  scheint,  als  durch  eine  kecke,  aber 
natürliche  Erweiterung  des  Grundsatzes,  welche  höchst  friedlich  die 

6* 


84  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [111,1,  82] 

Franzosen,  anglikanische  Sittenlehre  zu  der  gallikanischen  hinüberleitet.  Ist 
nämlich  doch  das  Wohlwollen  das  Höchste:  warum  soll  es  seine 
Befriedigung  hernehmen  aus  der  Lust  an  der  unmittelbaren  eigen- 
liebigen Glückseligkeit  anderer,  und  nicht  vielmehr  eine  höhere 
Lust  finden  an  ihrer  höheren,  nämlich  auch  wohlwollenden  Lust? 
Diese  nun  kann  ich  nicht  anders  und  sicherer  befördern  als  durch 
Bewirkung  meiner  eignen  ihnen  zur  Anschauung  dargebotenen 
Glückseligkeit,  welche  also  als  Pflicht  geboten  wird,  nicht  gegen 
sich,  sondern  gegen  andere,  so  daß  die  Sittlichkeit  eines  Menschen 
zuletzt  besteht  aus  seiner  höheren  Freude  an  anderer  Freude  über 
seine  niedere  Freude.  Auf  diese  Art  würde  am  sichersten,  wenn 
es  überall  möglich  ist,  der  Forderung  Genüge  geleistet  werden, 
daß  das  höchste  Gut  bestehe  in  der  größten  Summe  der  echtesten 
und  nach  Art  alles  dort  Landes  gearbeiteten,  auch  dauerhaftesten 
Naturbefriedigungen,  verbunden  mit  so  viel  kleineren  und  ge- 
ringeren als  nur  mit  jenen  bestehen  könnten.  Und  es  leuchtet  ein, 
welche  herrliche  Vereinigung  aller  Neigungen  selbst  über  jene 
Formel  hinaus  entstehen  würde,  w^enn  nur  nicht  das  nämliche 
Gesetz  der  Erweiterung  uns  wieder  höher  hinauftriebe;  so  daß  ein 
höchstes  Gut  von  diesem  Grundsatze  aus  wohl  niemals  kann  zu- 

Aristippos.  stände  gebracht  werden.  Aber  auch  wer  mit  Aristippos  alle  Lust 
der  Art  nach  an  Werte  gleich  setzt,  kommt  nicht  hinweg  über  jene 
Schwierigkeit.  Vermehrt  wird  dieselbe  noch,  wenn  man,  wie  es 
doch  sein  soll,  auch  auf  das  zugleich  Mitbewirkte  sieht.  Denn  hier 
ergibt  sich  zuerst  im  allgemeinen,  daß  durch  den  Genuß  über- 
haupt verändert  wird  die  Kapazität  des  Menschen  für  den  Genuß ; 
so  daß  jeder  Genuß  Ursach  wird  eines  Nichtgenusses,  und  jeder 
Nichtgenuß  Beförderung  eines  erhöhten  Genusses,  und  also  das 
höchste  Gut,  in  seine  Faktoren  aufgelöst,  jeden  einzelnen  nur  in 
der  bekannten,  aber  nie  zu  realisierenden  Formel  des  Entbehrens 
und  Genießens  darstellen  kann.  Ferner  aber  auch  im  Besonderen 
zeigt  sich,  wie  es  bei  Entgegengesetztem  zu  sein  pflegt,  die  Unlust 
oft  als  Ursach  der  Lust  und  die  Lust  wiederum  als  Ursach  der 
Unlust;  also  das  zu  Verwerfende  als  Bedingung  des  zu  Wählen- 


[111,1,83]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  85 

den,  und  dieses  als  nach  sich  ziehend  jenes,  welches  notwendig 
in  der  Lehre  vom  höchsten  Oute  große  Verwirrungen  verursachen 
muß.  Zwar  dem  Aristippos  weniger  als  allen  späteren  Lehrern 
der  Glückseligkeit;  denn,  wo  die  Unlust  ein  Mittel  sein  soll,  die 
Lust  herbeizuführen,  stellte  sich  ihm  als  das  Folgerechteste  dar  ent- 
weder die  Aufgabe,  diese  Verbindung,  als  welche  nur  zufällig  sein 
kann,  zu  zerstören,  oder  die  der  nur  so  zu  erwerbenden  Lust  eine 
andere  unterzuschieben.  Da  aber,  wo  die  Lust  soll  Unlust  zur 
Folge  haben,  hilft  er  sich  mit  der  schon  der  Lust  gleichzeitig  vor- 
handenen Furcht,  um  jene  als  unrein  und  nicht  das  Merkmal 
des  wahren  Guten  an  sich  tragend  zu  verwerfen,  weshalb  eben 
er  dem  Weisen  die  Furcht  übrig  läßt,  gleichsam  als  eine  Geschick- 
lichkeit die  echte  Lust  zu  unterscheiden  von  der  falschen.  Gleich- 
wohl aber  bescheidet  sich  Aristippos  mit  Recht,  das  höchste  Gut  als 
ein  vollendetes  und  nicht  zu  übertreffendes  Aggregat  von  Lust 
lieber  gänzlich  zu  leugnen  und  die  Realität  ihm  abzusprechen; 
auch  sei,  meint  er,  jenes  Aggregat  nicht  das  unmittelbar  Gewollte ; 
sondern  jeder  begehre  allein  die  einzelne  Lust,  und  hieraus  nur 
entstehe  jenes,  v/ie  es  eben  jedesmal  könne.  Wenn  nun  die  Idee 
eines  zusammenhängenden  Lebens,  wie  es  scheint,  bei  diesem 
System  ganz  aufgehoben  wird,  und  es  nur  dadurch  gerettet  werden 
kann,  daß  der  nächste  Moment  allein  in  Betracht  gezogen  werde: 
so  sieht  man,  wie,  ohne  aus  dem  System  herauszugehen  und 
ohne  entscheidenden  Einfluß  einer  eigentümlichen  Sinnesart,  Hege-  Hegesias. 
Sias  behaupten  durfte,  daß  der  Tod  zu  wählen  sei,  wenn  der 
Augenblick  keine  Lust  mehr  gewähren  könne.  Und  hier  zuerst 
sehen  wir  dieses  System  seinen  Kreislauf  vollenden.  Denn  wenn 
ein  ethischer  Grundsatz  das  Leben  aufgibt,  dieses  ist  ein  sicheres 
Zeichen,  daß  er  seine  Ohnmacht  anerkennt,  es  zu  dem  vorgesetzten 
Ziele   hinzuleiten. 

Dasi    Nämliche    findet   sich,    wenn    wir    im    Eudämonismus 
die   Idee  des  Weisen  aufsuchen;  welche  freilich  grar  nicht  mehr     Die  Idee 
.  angeknüpft   werden    kann,    wenn    wir   nicht    auch    für   jene    des         weisen. 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


86  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [IH,!,  84] 

höchsten  Gutes  noch  eine  Art  von  Rettung  finden.  Die  des 
Weisen  aber  erhält  hier  eine  ganz  eigne  Bedeutung,  wie  folgt. 
Oben  schon  hatten  wir  den  Eudämonismus  gefunden,  wie  er  mehr 
das  Besondere  im  Auge  hat  als  das  Allgemeine;  und  nur  eben 
hat  sich  bestätigt,  daß  er  ein  für  alle  gültiges  höchstes  Gut  nicht 
zustande  bringen  kann.  Wohl  aber  kann  der  Streit  zwischen 
den  verschiedenen  Arten  der  Zusammensetzung  und  den  verschie- 
denen Elementen,  welcher  dabei  entsteht,  geschlichtet  werden  durch 
Teilung.  So  nämlich,  daß  der  eine  sich  für  diese,  der  andere 
sich  für  jene  Unterordnung  der  Neigungen  entscheide,  und  ebenso 
der  eine  die  Wiederholung,  der  andere  den  Wechsel,  der  dritte  die 
Intension  zur  herrschenden  Regel  des  Verfahrens  mache,  wobei 
denn  auch,  beiläufig  zu  bemerken,  das  anglikanische  System  als 
ein  solches  Besonderes  für  eine  besondere  Richtung  des  Gemütes 
erscheint,  in  gleichem  Range  mit  den  verschiedenen  Zweigen  des 
gallikanischen,  welche  sich  mehr  im  Leben  ausgedrückt  haben  als 
in  Lehrschriften.  Ebenso  demnach,  wenn  der  Weise  dargestellt 
werden  soll,  welcher  das  höchste  Gut  wirklich  macht,  kann  dieses 
nicht  geschehen  nur  unter  einer  Gestalt;  sondern  für  jede  bestimmte 
und  eingeschränkte  Gestalt  des  höchsten  Gutes  bedarf  es  auch  einer 
eigenen  Richtung  und  Verfassung  des  Gemütes.  Wollte  nun 
jemand  meinen,  es  müsse  doch  eine  von  diesen  besser  sein  als  die 
andere,  und  so  auch  von  jenen,  der  bedenke,  warum  dieses  im 
Eudämonismus  nicht  kann  zugegeben  werden.  Denn  zuerst  müßte 
doch  die  beste  auch  die  allgemeine  werden ;  welches  aber  mit  der 
Natur  einer  jeden  streitet,  da  jede  nur  eine  besondere  ist,  und 
wodurch  auch  das  letzte  verloren  gehen  würde,  nämlich,  daß  wenn 
auch  von  jedem  nur  stückweise,  doch  von  allen  insgesamt  ganz 
und  vollständig  das  höchste  Gut  erreicht  werde.  Ferner  müßte 
auch  dann  der  Mensch  sich  bilden  zu  dieser  Gestalt,  wie  sehr  er 
ihr  sich  auch  entgegengesetzt  fände,  zu  der  Zeit,  wo  er  anfängt 
ein  nach  Grundsätzen  geordnetes  Leben  zu  führen.  Dieses  aber 
wäre  Anstrengung,  die  Anstrengung  ist  Unlust,  und  so  müßte  also 


[111,1,  85]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  87 

ein  ethisch  Verneintes,  nämHch  eine  Unlust,  angesehen  werden  als 
Mittel  zu  dem  ethisch  Bejahten;  welches,  wie  oben  gezeigt  wor- 
den, für  sich  hinreicht,  die  Untauglichkeit  eines  Grundsatzes  zu  be- 
urkunden. Sonach  besteht  die  Weisheit  darin,  daß  ein  jeder  gleich- 
förmig dasjenige  bleibe,  was  er  ist,  um  ohne  Abweichung  des- 
jenigen Teiles  am  höchsten  Gute  teilhaftig  zu  werden,  welcher 
rein  und  unvermischt  das  Größere  ist,  was  seine  Natur  aufnehmen 
kann.  Und  dann  ist  die  größte  Vollendung  des  Menschen  die 
höchste  innere  Untätigkeit,  die  festeste  Verknöcherung  in  der  Ge- 
wöhnung. Daß  dieses  wirklich  dem  System  genau  entspricht,  * 
erhellt  auch  daraus,  daß  ja  überall  das  Handeln  in  demselben 
nur  das  reine  Mittel,  das  ethisch  Unbestimmbare  ist,  und  es  also 
mit  Recht  für  keinen  besonderen  Gegenstand  gehalten  werden  und 
für  sich  keine  Zeit  ausfüllen  darf.  Wie  in  andern  Systemen  diese 
Bewußtlosigkeit  das  Ziel  ist  für  jedes  mechanische  Handeln,  so  in 
diesem  für  jedes  überhaupt.  Dieses  nun  ist  nicht  gesagt,  als  ob 
vorausgesetzt  würde,  jedermann  solle  es  für  unsittlich  halten,  nicht 
zu  handeln,  sondern  sich  zu  mechanisieren,  welche  Anmaßung  wir 
einmal  für  immer  entfernt  haben;  vielmehr  nur  deshalb  ist  es 
gesagt,  weil  durch  solche  Ansicht  der  Sache  fast  der  Begriff  der 
Ethik  völlig  aufgehoben  wird,  nichts  zu  sagen  von  ihren  wissen- 
schaftlichen Ansprüchen,  welche  zur  bloßen  Naturbeschreibung 
herabsinken,  und  zwar  zu  einer  ins  Unbestimmte  zerfahrenden 
durch  keine  festen  Punkte  zusammengehaltenen.  Aus  dem  Ge- 
sichtspunkt jener  Teilung  zeigt  sich  auch  die  negative  Ansicht  des 
Epikuros  als  ein  solches  Einzelne,  welches  für  eine  eigene  Be-  Epikuros. 
schaffenheit  des  Gemütes  einen  eigenen  Teil  des  höchsten  Gutes 
abschneidet.  In  diesem  eigentümlichen  Gebiet  ist  sein  Grundsatz 
der  der  Folgsamkeit  gegen  die  natürlichen  Begierden,  und  sein 
höchstes  Gut  der  ununterbrochene  Kreislauf  von  deren  Erregung 
und  Befriedigung.  Denn  seine  ruhige  Schmerzlosigkeit  soll  nicht 
sein  ein  gänzlicher  Mangel  an  Empfindung,  sondern  ein  beruhigen- 
des Gefühl  in  Beziehung  auf  einen  vorgebildeten  Schmerz.  Woraus 


88  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [1U,1,  86] 

zugleich  erhellt,  daß,  wie  bereits  gesagt,  seine  Sittlichkeit  ledig- 
lich beschränkender  Art  ist,  indem  sie  nicht  aus  sich  selbst  handeln 
kann,  sondern  nur  der  Tätigkeit  des  natürlichen  Triebes  folgen 
muß.  Was  nun  der  eigentliche  Grund  ist  von  der  Eigentümlich- 
keit seiner  Ethik,  grade  darin  findet  sie  auch  ihre  Vernichtung, 
nämlich  in  der  Übermacht  der  Furcht.  Denn  diese  allein  kann  den, 
welcher  die  Lust  sucht,  dazu  bewegen,  daß  er  den  bloß  beruhigen- 
den Genuß  dem  aufregenden  und  belebenden  vorziehe.  Gegen  die 
Furcht  nun  hat  er  als  ein  Bezauberungsmittel  ersonnen  jene 
Seelenruhe,  welche  sich  gründet  auf  die  bekannten  Behauptungen 
von  der  Kürze  des  heftigen  und  der  Erträglichkeit  des  langen 
Schmerzes.  Dieses  aber  ist  ein  Trost,  welcher  offenbar  auf  die 
Unzulänglichkeit  des  sittlichen  Verfahrens  gegründet  ist;  denn 
wovor  hätte  der  sich  wohl  zu  fürchten,  welcher  durch  Achtsamkeit 
auf  die  natürlichen  Begierden  den  Schmerz  zu  vertreiben  weiß? 
Und  dagegen,  v/as  würde  der  tun,  um  den  Schmerz  zu  ver- 
treiben, der  seine  Herrschaft  so  geringfügig  vorstellt?  Daher  ist  es 
auch  nicht  das  Sittliche,  was  ihn  antreibt,  ihm  tätig  entgegen  zu 
arbeiten,  sondern  nur  der  tierische  Trieb ;  das  Sittliche  aber  würde 
auch  hier  zur  völligen  Untätigkeit  hinführen,  so  daß  nun  zum 
drittenmal  die  Glückseligkeitslehre  sich  endigt  in  ein  leidentliches 
Erwarten  und  Gewährenlassen,  und  also  in  ihrer  eigenen  Ver- 
nichtung  als    Ethik    betrachtet. 

Soll  nun  nach  dem  bisherigen  noch  die  Anwendbarkeit  der 
Grundsätze  der  Glückseligkeitslehre,  es  sei  nun  in  dieser  oder  jener 
Gestalt,  besonders  geprüft  werden:  so  ist  darüber  nur  weniges  zu 
sagen  nötig.  Denn  was  zuerst  den  Vorwurf  betrifft,  welchen 
Kant  als  entscheidend  gegen  sie  vorbringt,  daß  nämlich  durch  sie 
gar  nichts  spezifisch  bestimmt  werden  könne,  indem  zwar  die  Lust 
im  allgemeinen  gefordert  sei,  was  aber  für  jeden  im  ganzen  oder 
in  einzelnen  Fällen  Lust  sein  werde,  durch  den  Grundsatz  gar  nicht, 
sondern  nur  empirisch  jedesmal  beurteilt  werden  könne:  so  ist 
schon   aus   dem   obigen  deutlich,  wie  dieser  Vorwurf  müsse  be- 


[IIIl,  87]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  89 

schränkt  und  näher  bestimmt  werden.  So  nämlich,  daß  freilich 
der  Grundsatz  des  Aristippos  zum  Beispiel,  „suche  eine  gelinde 
Bewegung,  welche  sich  als  Gefühl  zutage  legt",  nicht  für  sich 
allein  bestimmen  kann,  was  in  einem  gegebenen  Falle  zu  wählen 
oder  zu  fliehen  sei.  Dieses  aber  werden  auch  viele  andere  mit- 
nichten eudämonistische  Grundsätze  mit  ihm  gemein  haben,  und 
von  einer  Seite  wenigstens  betrachtet  der  kantische  ebenfalls, 
wovon  weiter  unten  das  Nähere.  Allein  keineswegs  ist  unbedingt 
und  von  vorne  herein  zu  leugnen,  wenigstens  ist  dieses  nicht, 
was  Kant  gesehen  hat,  daß  auch  mit  dem  leitenden  Begriff, 
nämlich  einen  von  den  vielen  Faktoren,  in  welche  die  Gesamt- 
heit menschlicher  Neigungen  und  Genußweisen  zerfällt  worden, 
in  Verbindung  gesetzt  jener  Grundsatz  oder  andere  ähnliche  etwas 
Genaues  und  Festes  zu  bestimmen  imstande  sei.  Hierauf  nun, 
als  auf  die  einzige  Art,  wie  diese  Systeme  das  ihrige  leisten 
können,  wollen  wir  achten,  sowohl  in  Beziehung  auf  das  Auf- 
finden eines  Gesuchten,  als  auf  das  Beurteilen  eines  Gegebenen. 
Was  nun  zuerst  das  letzte  betrifft,  so  ist  offenbar,  daß  in  dem 
System  des  Epikuros  das  Unterlassen  desjenigen,  was  bei  ihm  Epikuros. 
das  SittHche  und  Gute  ist,  nicht  kann  gestraft  werden,  und  also 
auch  in  fortgesetzter  Wiederholung  dieses  Urteils  die  gänzliche 
Leerheit  des  Lebens,  in  ethischem  Sinne  nämlich,  nur  als  ein 
Gleichgültiges  erscheint,  weder  zu  Lobendes  noch  zu  Tadelndes. 
Denn  wenn  in  einem  Augenblick  keine  beruhigende  Lust  hervor- 
gebracht worden:  so  kann  dieses  zwar  die  Folge  sein  von  einer 
Kraftlosigkeit  des  sittlichen  Verfahrens;  ebenso  leicht  aber  auch 
daher  entstanden,  weil  das  Natürliche  überall  keine  Begierde  auf- 
geregt, noch  auch  Anzeige  getan  von  einem  bevorstehenden  und 
abzuwendenden  Schmerz.  Das  letztere  nun  liegt  ganz  außerhalb 
der  sittlichen  Beurteilung,  deren  Gebiet  erst  mit  und  nach  der 
erfolgten  Aufregung  anfängt;  wonach  denn  in  diesem  Falle  ein 
ethisches  Urteil  nicht  gefällt  werden  kann,  und  die  Leerheit  eines 
Augenblicks  nur  als  ein  Unfall  erscheint.    Weiter  aber  ist  schon 


90  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [111,1,88] 

oben  gezeigt,  wie  jedes  Tun  nur  in  Vergleich  mit  dem  durch 
dasselbe  bestimmten  Unterlassen,  jedes  Wollen  nur  in  Verbindung 
mit  dem  ausdrücklich  mitgesetzten  Nichtwollen  kann  beurteilt  wer- 
den, weil  nämlich  nur  nach  Maßgabe  der  begleitenden  An- 
regungen und  wirklich  gegebenen  Möglichkeiten  des  Handelns  die 
sittliche  Größe  von  dem  Inhalt  des  Entschlusses  sich  abmessen 
läßt;  so  daß  in  diesem  System  die  Angemessenheit  des  beurteilen- 
den Verfahrens  überhaupt  sich  selbst  zerstört.  Dieser  Fehler  zeigt 
sich  auch  schon  in  der  Bestimmung  des  höchsten  Gutes,  welches 
als  ein  stetiges  Ganzes  nicht  anders  beschrieben  werden  kann,  als 
daß  es  sei  ein  ununterbrochener  Wechsel  von  Erregung  und  Be- 
friedigung natürlicher  Begierden;  wo  denn  ein  nicht  ethischer 
Bestandteil  unvermeidlich  eingewebt  ist,  nämlich  die  Erregung. 
So  auch  kann  der  Weise  nur  bezeichnet  werden  als  unerschüttert 
am  Gemüt  und  gesund  am  Leibe;  welches  letztere  nicht  etwa 
auf  die  Abwesenheit  der  körperlichen  Schmerzen  deutet,  als  die 
ja  dem  höchsten  Gute  unbeschadet  Epikuros  durch  die  Freuden 
der  Seele  zu  vernichten  verheißet,  sondern  auf  die  Lebendigkeit 
der  körperlichen  Reize  und  Aufforderungen.  Diese  Unfähigkeit 
nun  ist  denen  um  den  Epikuros  eigentümlich,  und  ist  nicht  in  der 
Lust  gegründet,  sondern  in  der  Abhängigkeit  des  sittlichen  Ver- 
fahrens vom  Natürlichen;  gemein  aber  ist  ihnen  mit  allen  eudämo- 
nistischen  Sittenlehren  die  unvermeidliche  Vielfachheit  im  Urteil 
über  einzelne  Fälle.  Bei  jenen  nämlich  entsteht  diese  aus  der 
Übung,  welche  erfordert  wird,  um  zu  jener  Furchtlosigkeit  zu  ge- 
langen, ohne  welche  den  natürlichen  Begierden  nicht  ungestört 
kann  gehorcht  werden.  Denn  tätige  Übung  gehört  dazu  not- 
wendig, indem  die  Vorschriften  nicht  anders  Bewährung  finden 
können  als  in  der  Erfahrung.  Diese  Übung  aber  kann  in  nichts 
anderem  bestehen,  als  in  Versuchen  mit  demselben  Schmerz, 
welcher  dem  Grundsatz  zufolge  soll  abgewehrt  werden,  und  in 
Hinsicht  auf  welchen  jedes  Handeln  für  sich  sittlich  bestimmbar 
sein  muß.    Ja,  selbst  abgesehen  von  der  Übung,  wenn  alles  hiebei 


[111,1,  89]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  91 

durch   Belehrung  zu   erreichen   wäre:  so   entstände  doch   in  Be- 
ziehung auf  die  Zeit,  welche  dieser  gewidmet  werden  muß,  die 
Frage,  ob  nicht  in  derselbigen  auch  etwas  den  höchsten  Zweck 
unmittelbar   Erfüllendes   hätte   können   geleistet  werden;   so  daß 
auf  jede  Weise  der  Streit  unvermeidlich  ist  zwischen  dem,  was  als 
Mittel  geschehen  soll,  und  dem,  was  der  Zweck  erfordert.   Noch 
mehrere  Beispiele  hiervon  aus  der  Gedankenreihe  dieser  Schule 
herbeizuführen   wäre   überflüssig.    Daß   aber  dasselbige   in   allen 
denen  eudämonistischen  Schulen  stattfinden  muß,  welche  irgend- 
ein Nützliches  von  dem  unmittelbar  angenehmen  Unterschiedenes 
zulassen,  dieses  ist  einleuchtend.    Denn  zwischen  beiden  ist  der 
Krieg  immer  lebhaft,  und  seiner  Natur  nach  ein  ewiger;  und  wie 
sie  höchst  gewaltsam  und  erkünstelt  sind,  so  sind  dennoch  sehr 
unzureichend  jene  Überredungen,  durch  welche  Aristippos  beide 
zu  versöhnen  versuchen  will.    Betrachten  wir  demnächst  das  auf- 
bauende und  ableitende  Verfahren:  so  offenbart  sich  hierin  ohne 
Unterschied    bei    allen    Systemen    der   Lust    die    Unzulänglichkeit 
des  Grundsatzes.    Denn  einesteils  werden  in  jedem  Moment  so- 
wohl Aufforderungen  zu  einem  Mittelbaren  zusammentreffen  mit 
Unmittelbarem,  als  auch  wird  jedem  Gegenstande  auf  diese  Art 
eine  zwiefache  Behandlungsweise  zukommen;  andernteils  aber  ist 
das   zufällig   Mitbewirkte,   auch   so,   wie   es   sich   selbst  andeutet 
und  in  Betrachtung  gezogen  werden  muß,  niemals  zu  berechnen, 
und  ebenso  können  auch  noch  nach  dem  Entschluß  und  während 
der    Erfüllung,    auf    welcher   doch    bei    diesen    alles    beruht   und 
nicht  auf   dem    Entschluß   allein,   die   sittlichen   Verhältnisse   sich 
gänzlich  umgestalten,  so  daß  in  vollem  Maße  sich  die  Andeutung 
des   Piaton  bewährt,   daß   die  Sittenlehre  auf   diesem  Fuß   keine 
Wissenschaft  sein  könne  noch  eine  andere  feste  Erkenntnis,  sondern 
nur  Wahrsagung  und  Eingebung.    Auch  gesteht  Aristippos  dieses 
unverhohlen,   indem   er  zugibt,   daß   nicht  jeder  Weise,   obschon 
der  Grundsatz  in  ihm  sich  immer  tätig  beweiset,   sich  jederzeit 
v/ohlbefinden,  noch  auch  dem  Toren,  wiewohl  er  nie  die  Lust  auf 
eine  vernünftige  Weise  hervorbringt,  es  immer  übel  ergehen  werde. 


92  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [111,1,  90] 

Überlegt  nun  jemand  weiter,  wie  alles  dieses  zusammenhängt 
mit  dem  Einfluß  der  äußerlichen  Dinge  und  der  demselben  unter- 
worfenen Ordnung  des  Bewußtseins:  so  dringt  sich  die  Überzeu- 
gung auf,  daß  die  höchste  Wohlberatenheit  des  Menschen  darin 
bestehen  würde,  v/enn  der  angenehme  Fluß  seiner  Empfindungen 
unabhängig  wäre  von  der  äußerlichen  Welt;  welches,  da  die  sinn- 
Uchen  Genüsse  ein  unentbehrlicher  Bestandteil  der  Glückselig- 
keit sind,  nicht  anders  zu  erreichen  ist  als  dadurch,  daß  sie  alle 
verwandelt  werden  in  Erinnerungen  und  Einbildungen,  welche 
zusammenwachsen  müssen  in  einem  festen  Wahn,  der  durch  nichts 
Äußerliches  zu  stören  ist.  Auch  so  betrachtet,  endet  demnach  diese 
Weisheit  in  das  aller  Vernunft  und  Wissenschaft  grade  Entgegen- 
gesetzte, indem  ihr  zwar  nicht  willkürlich  erreichbares,  aber  doch 
gewünschtes  und  beneidetes  Ziel  kein  anderes  ist  als  ein  froher 
und  glücklicher  Wahnsinn;  welcher  Satz  in  der  wissenschaftlichen 
Belehrung  zwar  nirgends  vorgetragen,  wohl  aber  häufig  genug 
von  folgerechten  Anhängern  der  Glückseligkeit  ist  anerkannt  wor- 
den. Alles  dieses  nun  trifft,  wenn  es  auch  dem  ersten  Anblick 
Engländer,  nicht  so  erscheint,  ebenfalls  die  anglikanische  Schule,  insofern  sie 
nämlich  ihrem  Grundsatze  treu  bleibt,  und  auch  für  das  wohl- 
Vv'oUende  Handeln,  welches  sie  gebietet,  die  Lust  als  den  Be- 
stimmungsgrund angibt.  Denn  diese  hat,  so  wie  ihre  eigenen 
Störungen  und  mit  der  Befriedigung  zugleich  bewirkten  Wider- 
wärtigkeiten, welche  der  Gegenstand  empfindsamer  Klagen  sind, 
so  auch  ihren  eigenen  schützenden  und  heilenden  Wahn,  indem 
einen  besseren  Namen  wohl  schwerlich  dasjenige  verdienen  möchte, 
was  diese  gemeinhin  Enthusiasmus  nennen.  Auch  ist  ihr  höchstes 
Gut  nicht  minder  ein  veränderliches  Aggregat,  bei  dessen  einzelnen 
Teilen,  wenn  sie  das  Mannigfaltige  erschöpfen  und  also  unter- 
einander ungleich  sein  sollen,  auch  die  unbequeme  Frage  nach 
dem  intensiv  Stärkeren  nicht  zu  vermeiden  ist.  Denn  es  hat 
unter  ihnen  noch  keinen  gegeben,  welcher  dem  Aristippos  nach 
behauptet  hätte,  daß  alle  Gefühle  von  Handlungen,  bei  denen  die 
beiden  Triebe  in  dem  geforderten  Gleichgewicht  stehen,  einander 


[in,l,  91]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  93 

gleich  wären,  weil  etwa  jenes  Gleichgewicht  als  eine  chemische 
Sättigung  angesehen  werden  müßte,  für  die  es,  anders  als  bei 
den  körperlichen  Dingen,  nur  eine  Stufe  der  Verbindung  gäbe, 
und  ein  Erzeugnis;  oder  als  ein  Verhältnis,  in  welchem  die  Größe 
der  Glieder  gleichgültig  wäre.  Was  aber  die  Ableitung  und  Be- 
stimmung des  Einzelnen  nach  ihrem  Grundsatze  betrifft:  so  er- 
liegt diese  noch  unter  besonderen  Schwierigkeiten.  Denn  bei 
ihnen  hat  der  Wahrheit  nach  das  Sittliche  die  Eigenschaft,  welche 
man  fälschlich  dem  des  Aristoteles  zugeschrieben  hat,  daß  es 
nämlich  im  Übergang  liegt  von  einem  Unsittlichen  zum  andern, 
und  ein  Mittelmaß  ist  zwischen  zwei  Äußersten,  auch,  weil  diese 
nicht  bestimmt  werden  können,  selbst  unbestimmbar.  Denn  jede 
Neigung,  welche  zu  schwach  ist,  um  den  Gleichgewichtspunkt 
zu  erreichen,  ist  unsittlich,  und  über  denselben  hinaus  verstärkt 
wiederum.  Will  man  nun  hieraus  die  angedeutete  Folgerung  nicht  . 
einräumen:  so  muß  man  behaupten,  das  Sittliche  entstände  auch 
hier  nicht  durch  das  Wachsen  derselben  Neigung,  sondern  durch 
die  Gegenwirkung  der  andern;  wodurch  denn  offenbar  alles  Sitt- 
liche eine  nur  beziehungsmäßige  Bedeutung  erhält,  indem  jeder 
Trieb  für  den  andern  der  sittliche  wird,  keiner  aber  es  für  sich 
selbst  ist.  Wie  aber  auf  diese  Art,  indem  einem  Übel  ausgewichen 
werden  soll,  das  andere  gewählt  wird,  leuchtet  ein;  denn  es 
kann  niemanden  entgehen,  daß  der  Fehler  des  Epikuros  unver-  Epikur. 
meidlich  ist,  sobald  das  Sittliche  nur  als  Beschränkung  erscheint. 
Oder  wie  sollte  es  unsittlich  gefunden  werden,  wenn  einer  der 
beiden  Triebe  nicht  stark  genug  gewesen,  um  von  dem  andern, 
der  dann  keinen  Stoff  wahrgenommen,  an  der  rechten  Stelle 
beschränkt  zu  werden?  Ferner  scheint  auch  hier  eine  doppelte 
Beurteilung  zu  entstehen,  indem  jede  Veranlassung  sowohl  auf 
die  selbstische,  als  auf  die  wohlwollende  Neigung  zunächst  kann 
bezogen  werden.  Hier  aber  ist  es  das  eigentliche  Kunststück 
jenes  Gleichgewichts,  daß,  von  welcher  Seite  auch  jemand  aus- 
gehe, der  Durchschnittspunkt  immer  der  nämhche  sein  muß.    Nur 


94  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.        [IH,!,  92] 

findet  es  freilich  schon  die  gemeine  Beurteilung  wunderbar,  daß 
beides  soll  für  dieselbe  Handlung  gehalten  werden,  eine  die  von 
der  Selbstliebe  und  eine  die  vom  Wohlwollen  ausgegangen;  und 
wissenschaftlich  betrachtet  würde,  wie  leicht  zu  zeigen  wäre,  die 
gänzliche  Verwerfung  einer  allen  gemeinschaft- 
lichen Sittlichkeit  daraus  folgen.  Wie  es  ihnen  aber  ergeht, 
insofern  sie  schwankend  von  der  Seite  der  Lust  sich  auch  an  die 
der  Tätigkeit  anschließen  wollen,  davon  zu  reden  wird  bald  weiter 
unten  der  Ort  sich  finden. 
Tätigkeits-  Gehen   wir   nun   überhaupt   zu   denen   über,   deren    Sittliches 

ethik.  reine  Tätigkeit  ist:  so  zeigt  sich  zuerst,  daß,  was  bei  jenen  der 
gemeinschaftliche  und  größte  Fehler  war,  diesen  nicht  kann  bei- 
gelegt werden;  denn  bei  ihnen  ist  das  höchste  Gut  nicht,  würde 
auch,  hätte  er  sich  recht  verstanden,  nicht  beim  Aristoteles  gewesen 
sein,  ein  gesetzlos  Zusammengefügtes  und  Veränderliches,  indem 
ja  nicht  die  bloße  Tätigkeit  als  Element  desselben  genannt  wird, 
sondern  eine  nach  einem  Gesetz  so  bestimmte,  daß  eine  Wahl  zwi- 
,  sehen  Wechsel  und  Wiederholung  oder  zwischen  einer  stärkeren 
und  schwächeren  Tätigkeit  nicht  gedacht  werden  kann,  und  sonach 
als  ein  Ganzes  betrachtet  das  höchste  Gut  überall  nur  eines  ist  und 
ein  Bestimmtes.  Oder  würde  es  vielleicht  nicht  jeder  für  Unsinn 
erklären,  wenn  jemand  Bedenken  äußern  wollte,  ob  nicht  das 
höchste  Gut  ein  Größeres  und  Vollendeteres  sein  würde,  wenn  es, 
anstatt  auch  einige  tapfere  Handlungen  zu  enthalten,  aus  lauter 
Übungen  der  Gerechtigkeit  oder  umgekehrt  zusammengefügt  wäre  ? 
Oder  wenn,  da  einige  nur  auf  sich  selbst  oder  eine  geringere  An- 
zahl gerichtet  ist,  alle  Tätigkeit  gesellig  und  bürgerlich  wäre? 
Auch  verfehlen  die  Schulen  dieser  Art  nicht,  einen  so  wichtigen  und 
ihnen  günstigen  Unterschied,  diese  so,  jene  anders,  zu  bezeichnen. 
Fichte.  So  Fichte,  gleichsam  mit  einem  Strich,  durch  die  geforderte  gänz- 
Stoiker.  liehe  Bestimmtheit  eines  jeden  Punktes  in  der  Reihe;  die  Stoiker 
aber  minder  vollkommen  auf  eine  doppelte  Art,  indem  sie  zuerst 
jeden  Unterschied  der  Größe  in  dem,  was  sittlich  ist,  aufheben, 


[111,1,  93]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  95 

und  alle  Tugenden  einander  gleich  machen,  dann  aber,  indem 
sie  leugnen,  daß  das  höchste  Gut  wachsen  könne  durch  die  Länge 
der  Zeit.  Beides  nun  ist  unmittelbar  nur  gerichtet  gegen  den 
Mißverstand  des  Aristoteles,  welcher  unterscheidet  zwischen 
schönen  Handlungen  und  den  schönsten,  und  keine  Eudämonie 
anerkennt  ohne  ein  vollständiges  Leben.  Mithin  ist  aus  dem 
letzteren  nicht  zu  folgern,  als  ob  sie  wie  Aristippos  nur  das 
Element  anerkannt,  das  Ganze  aber  geleugnet  hätten;  sondern 
was  damit  in  ihrem  System  gemeint  ist,  erhellt  nur  durch  Verglei- 
chung  mit  ihren  Ausdrücken  über  das  höchste  Gut,  welches  sie 
setzten  in  der  ununterbrochenen  Tätigkeit  dessen,  was  ihnen  die 
Quelle  des  Sittlichen  ist,  oder,  wie  sie  es  nennen,  in  dem  unge- 
hinderten Fluß  des  Lebens,  wobei,  wie  weit  es  fließe,  nicht  in 
Betrachtung  zu  ziehen.  So  daß  das  höchste  Gut  einer  Hyperbel 
zu  vergleichen  ist,  welche  gleich  sehr  eine  solche  bleibt,  wie  weit 
sie  auch  zu  beiden  Seiten  des  Scheitelpunktes  fortgeführt  worden. 
Daß  aber  auch  eine  solche  Einheit  und  Vollständigkeit  desselben 
in  den  Systemen  der  Lust  nicht  zu  erreichen  sei,  ist  genugsam 
gezeigt  worden.  Ebensowenig  kann  die  Ähnlichkeit  mit  Gott, 
welche  beim  Piaton  das  höchste  Gut  ausmacht,  als  ein  Ver-  Piaton. 
änderliches  angesehen  werden,  da  alles,  was  nur  zur  Größe  des 
Maßstabes  gehört,  in  dem  Begriff  nicht  eingeschlossen  ist;  noch 
auch  des  Spinoza  Erkenntnis  Gottes  in  allen  Dingen,  wobei  frei-  Spinoza 
lieh'  die  Stelle,  an  welcher  eine  jede  soll  gegeben  werden,  als 
gleichgültig  und  unbestimmt  erscheint,  der  Inhalt  aber  im  ganzen 
für  die  Welt  eines  jeden  völlig  bestimmt  ist,  weil  diese  Erkenntnis 
als  die  einzig  angemessene  und  wahre  gewiß  auch  nur  eine  sein 
kann.  Daß  dieses  weniger  von  dem  Begriff  der  Vollkommenheit 
gesagt  werden  könne,  ist  nur  scheinbar.  Denn  freilich  ist  das 
Ganze  hier  ein  Unendliches,  aber  doch  nicht  in  dem  Sinne  der 
Unbestimmbarkeit;  sondern  wie  das  Ganze  der  Form  nach  völlig 
bestimmt  ist,  so  sind  es  auch  alle  Teile  desselben  in  Beziehung 
auf   ihr   Ganzes,    wenn    gleich   in    Beziehung   auf    das   Wirkliche 


96  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  94] 

selbst  unendlich.  Soll  aber  von  dem  höchsten  Gute  der  neueren 
Stoisierenden,  des  Kant  nämlich  und  Fichte,  die  Rede  sein:  so 
muß  diesen  erst  die  Kritik  zu  Hilfe  kommen,  und  aus  ihren 
Grundsätzen  das  dazu  gehörige  höchste  Gut  bilden  und  auf- 
stellen, weil  sie  selbst  dessen  für  die  Aufführung  ihres  Systems 
nicht   zu   bedürfen    glaubten,    und   es    daher   unterlassen    haben. 

Fichte.  Strenger  ist  von  Fichte  wenigstens  nicht  nötig  zu  urteilen,  bei 
welchem  auch  das  Unterlassene  leichter  ist  zu  ergänzen.  Nämlich 
dasjenige,  was  er  bisweilen  als  das  Höchste  anführt,  die  gänz- 
liche Unabhängigkeit  des  Ich,  dieses  zwar  ist  nicht  in  dem  von 
uns  aufgestellten  Sinne  für  sein  höchstes  Gut  zu  halten.  Denn 
mit  demjenigen  Ich,  dafern  es  erlaubt  ist,  seine  Sprache  zu  reden, 
welches  der  Gegenstand  der  Ethik  ist,  steht  die  gänzliche  Unab- 
hängigkeit im  Widerspruche  sogar,  und  dieser  Gedanke  ist  ein  die 
Ethik  weit  übersteigender.  Aber  es  ist  leicht  zu  sehen,  daß  sein 
höchstes  Gut  kein  anderes  sein  kann  als  die  vollständige  Erfül- 
lung des  Berufs  in  Beziehung  auf  alle  Bedingungen  der  Ich- 
heit;  und  es  ist  von  selbst  offenbar,  daß  diese  ein  unveränderliches 
und  völlig  abgeschlossenes  Ganzes  ausmacht.    Ebenso  ergibt  sich 

Kant,  bei  näherer  Betrachtung  des  kantischen  Grundsatzes  für  diesen  als 
das  Ganze  seiner  Wirkung  die  unbeschränkte  Herrschaft  aller 
Maximen,  welche,  in  die  Potenz  der  allgemeinen  Gesetzgebung  er- 
hoben, eine  mögliche  Größe  darstellen.  Dieses  nun  scheint  freilich 
nur  ein  Zusammengefügtes  zu  sein,  weil  aus  dem  Ausdruck  selbst 
nicht  hervorgeht,  wie  diese  Maximen  untereinander  zusammen- 
hängen: wird  aber  erwogen,  daß  eine  Maxime  nichts  anders  ist 
als  der  Ausdruck  eines  Vorzuges,  welcher  einem  praktisch  Mög- 
lichen vor  dem  andern  beigelegt  wird,  so  zeigt  sich  bald,  wie  hierin 
allerdings  ein  systematischer  Keim  verborgen  liegt.  Nicht  so 
günstig  aber  kann  man  davon  urteilen,  wie  Kant  den  Begriff  des 
höchsten  Gutes  angesehen  hat.  Denn  er  läßt  ihn  nicht  etwa  wie 
Fichte  beiseite  liegen,  sondern  stellt  unter  seinem  Namen  etwas 
auf,  was  diesem  Namen  gar  nicht  entspricht;  so  daß  es  das  An- 


[111,1,  95]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  97 

sehen  gewinnt,  als  habe  er  die  wahre  Bedeutung  desselben  auch 
bei  andern  nicht  verstanden,  welches  auch  durch  die  Art,  wie  er 
andere  Formeln  auslegt  und  beurteilt,  leider  noch  bestätigt  wird. 
Hätte  er  nämlich  das  höchste  Gut  vorgestellt  als  das  Ganze, 
welches  durch  das  Sittengesetz  in  seiner  Tätigkeit  gedacht  mög- 
lich wird:  so  hätte  er  weder  vom  Epikuros  sagen  können,  sein 
höchstes  Gut  sei  die  Tugend  als  Bewußtsein  der  Glückseligkeit 
gedacht,  noch  von  den  Stoikern,  das  ihrige  bestehe  in  der  Glück- 
seligkeit, sofern  sie  als  Bewußtsein  und  Gefühl  der  Tugend  vor- 
gestellt werde.  Denn  dieses  wären  Erzeugnisse,  welche,  unge- 
rechnet daß  beide  Schulen  gar  nicht  danach  streben,  aus  den  von 
ihnen  aufgestellten  Grundsätzen  auch  nicht  hervorgehen  können. 
Ebenso  nun  ist  jene  Vereinigung  von  Vollkommenheit  und  Glück- 
seligkeit, welche  Kant  als  höchstes  Gut  des  Menschen  aufstellt, 
durch  menschliche  Tätigkeit  dem  Grundsatz  gemäß  gar  nicht  zu 
erreichen,  und  insofern  ebenfalls  eine  kosmische  und  das  Gebiet 
'der  Ethik  weit  hinter  sich  lassende  Idee.  Wie  aber  gerecht- 
fertigt werden  kann,  daß  eine  solche  unter  der  Form  eines  Wun- 
sches aufgestellt  wird,  welches  doch  ein,  wenngleich  nur  leerer 
Wille  ist,  der  also  aus  Gründen  innerhalb  der  Ethik  muß  ver- 
verteidigt werden  können:  dieses  mag  wohl  noch  niemand,  ein- 
geschlossen den  Urheber  selbst,  begriffen  haben;  sondern  nur  die 
Ursache  des  Irrtums  kann  verstanden  werden,  so  wie  sie  oben 
ist   verständlich   gemacht   worden. 

Sieht  man  ferner  bei  diesen  Systemen  auf  die  Art,  wie  aus  Verknüpfung 
dem  Grundsatze  das  einzelne  sowohl  im  Leben  hervorgebracht  und  des  einzelnen 
im  System  gefunden  und  dargestellt,  als  auch,  wo  es  gegeben  ist,  uvuL     q  + 
auf  den  Grundsatz  bezogen  werden  kann :  so  ist  zu  bemerken,  daß 
die   beiden  letztgenannten  und  ihre  Vorgänger,  die  Stoiker,  wie  Stoiker, 
den  Grund,  daß  nämlich  die  sittliche  Tätigkeit  bei  ihnen  von  einer 
andern  vorhergehenden   abhängt  und   diese  nur  beschränkt  und 
bestimmt,  so  auch  die  Folge  miteinander  gemein  haben,  daß  sie 
nämlich  die  Unterlassung  nicht  als  widersittlich  bezeichnen  können, 

Schleiermacher,  Werke.    I.  7 


98  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,96] 

und  waSj  wie  bereits  erwähnt,  hiervon  weiter  abhängt.  Denn 
bei  den  Stoikern  hat,  wenn  keine  erste  Aufregung  und  Forderung 
der  Natur  ergangen  ist,  auch  die  Vernunft  nichts  zu  verbessern 
und  zu  regieren.  Nun  deuten  sie  zwar  an,  daß  auch  dieses  solle 
sittlich  bestimmt  werden,  indem  sie  zum  Beispiel  sagen,  der  Weise 
mache  alles  wohl,  was  er  tue  sowohl  als  was  er  nicht  tue; 
aber  eben  dadurch,  daß  sie  nur  an  die  Idee  des  Weisen  dieses 
anzuknüpfen  wissen,  gestehen  sie,  daß  in  ihrem  System  keine  Stelle 
dafür  zu  finden  ist.  Auch  muß  auf  diese  Art  der  Beschreibung 
des  Weisen,  wie  auch  beim  Epikuros  geschah,  ein  Merkmal  ein- 
verleibt werden,  welches  in  der  Beschreibung  des  sittlichen  Grund- 
satzes sowohl  als  des  höchsten  Gutes  nichts  Entsprechendes  hat. 
Fichte.  Ebenso  findet  bei  Fichte,  wenn  das  Gewissen  nicht  gebietend  ge- 
sprochen hat,  weil  der  Naturtrieb  nicht  auf  dasjenige  ging,  was 
es  als  der  Form  des  Sittlichen  empfänglich  hätte  billigen  können, 
hierüber  keine  ethische  Verurteilung  statt.  Denn  jedes  Handeln 
ohne  Ausspruch  des  Gewissens  ist  zwar  widersittlich  und  ver- 
dammlich;  hat  aber  der  Mensch  sich  des  Handelns  ohne  einen 
solchen  begeben,  und  mit  Freiheit  inne  gehalten,  damit  mehr 
Naturtrieb  sich  entwickeln  möge:  so  ist  es  lediglich  die  Sache  der 
Natur  in  ihm,  und  außer  dem  Gebiete  der  sittlichen  Kraft,  ob 
sich  auch  zu  jeder  Zeit  alles  entwickelt,  worüber  das  Gewissen 
bejahend  zu  sprechen  hätte,  oder  ob  manches  unangeregt  vorbei- 
geht; und  weder  auf  die  Verletzung  irgendeiner  einzelnen  be- 
stimmten Pflicht,  noch  auf  eines  von  jenen  allgemeinen  Grund- 
lastern der  menschlichen  Natur  läßt  dieser  Mangel  sich  zurück- 
führen. Daher  auch  dem  Weisen  des  Fichte,  wenn  er  nicht  nur 
ohne  Abweichung,  sondern  auch  ohne  jemals  zu  versagen,  wie  ein 
schlechter  Griffel  tut,  die  Reihe  seines  Berufs  als  ein  Stetiges 
vollenden  soll,  außer  der  sittlichen  Kraft  noch  eine  Bestimmung 
der  Natur  muß  beigelegt  werden,  und  jene  nicht  minder  hilflos 
und  unzureichend  ist,  als  sie  beim  Epikuros  sich  zeigte.  So  wird 
Kant,  auch  bei  Kant  ohne  Tadel  eine  leere  Stelle  entstehen,  so  oft  die- 


[111,1,  97]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  99 

jenige  Maxime,  welche  der  Form  der  allgemeinen  Gesetzgebung 
entsprochen  hätte,  nicht  ist  ins  Bewußtsein  gekommen.  Welchen 
Einfluß  nun  dieses  auf  das  wirkliche  Tun  haben  muß,  ist  eben- 
falls schon  bei  Gelegenheit  des  Epikuros  bemerkt  worden;  es 
zeigt  sich  aber  auf  dem  Gebiete  der  Tätigkeit  nirgends  besser  als 
an  den  kantischen  Formeln.  So  ist  es,  ein  Beispiel  statt  aller,  eine 
ungesetzmäßige  Maxime,  daß  einer  der  sinnlichen  Vergnügungen 
pflege,  indes  er  bei  irgendeiner  allgemeinen  Not  zu  Aufrecht- 
haltung öffentlicher  Ordnung  und  Wohlergehens  tätig  sein  könnte; 
wohl  aber  ist  es,  so  spricht  Kant,  erlaubt,  sich  der  Glückseligkeit 
zu  befleißigen  als  eines  Mittels,  um  den  Versuchungen  zur  Ver- 
nachlässigung des  öffentlichen  Wohls  zu  entgehen.  Wenn  nun 
jemand  jenes  Stück  seiner  Pfhcht  nicht  wahrgenommen:  so  ist 
dieses  Nichtwahrnehmen  gar  kein  Handeln  nach  einer  Maxime, 
also  kein  Gegenstand  ethischer  Beurteilung,  indem  der  Täter  nur 
nach  der  erlaubten  Maxime  gehandelt  hat;  und  dennoch  ist  die 
Pflicht  wirklich  versäumt  und  eine  sittliche  Lücke  entstanden.  Die 
Nachfrage  aber  nach  der  Verschuldung  jenes  Nichtwahrnehmens 
findet  weder  in  Kants  Ethik  einen  Ort,  noch  auch  in  Fichtes,  wenn, 
was  in  der  sittlichen  Handlung  äußerlich  und  materiell  gewesen 
wäre,  sich  nicht  unter  den  wirklichen  Forderungen  des  Natur- 
triebes gefunden  hat;  sondern  es  müßte  die  Antwort  genügen, 
daß  sich  ihm  jene  Tugendübung  nicht  dargeboten.  Wogegen  in 
einem  System,  nach  welchem  die  sittliche  Kraft  nicht  erst  eine 
andere  Tätigkeit,  um  die  ihrige  zu  erwecken,  erfordert,  sondern 
als  ursprünglich  und  selbsthandelnd  gesetzt  wird,  eben  dieses 
Nichtwahrnehmen  als  eine  Wirkung  ihrer  Schwäche  und  unter- 
drückten Reizbarkeit  wäre  getadelt  worden.  Betrachten  wir  aber 
nächst  diesem  beurteilenden  und  prüfenden  nun  auch  das  Ver- 
fahren der  Ableitung  und  Bestimmung  des  einzelnen:  so  ist  zuerst 
zu  bemerken,  wie  eben  diese  drei,  welche  sich  immer  wieder  zu- 
sammenfinden, Kant  nämlich,  die  Stoiker  und  Fichte,  auch  darin  Stoiker,  Kant, 
übereinstimmen,  daß  sie  aus  ihrem  Grundsatz  allein,  weil  er  bloß       Fichte. 

7* 


100  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  98] 

ein  Verhältnis  ausdrückt,  nichts  bestimmen  und  aufbauen  können 
ohne  Dazwischenkunft  eines  anderen  Begriffs,  welcher  erst  diesem 
Verhältnis  seinen  Gehalt  gibt.  Denn  es  betrachte  jemand  von 
allen  Seiten  alle  drei  kantischen  Formeln,  von  der  Schicklichkeit 
zur  Gesetzgebung,  oder  von  Behandlung  der  Menschheit  als  Zweck, 
oder  auch  vom  Reich  der  Zwecke:  so  wird  es  sich  als  unmöglich 
zeigen,  hieraus  allein  irgendein  reales  Gesetz  oder  eine  Tugend 
oder  Pflicht  abzuleiten;  sondern  für  sich,  in  dieser  Gestalt,  kann 
der  Grundsatz  nur  zur  Prüfung  eines  Gegebenen  dienen,  wenn 
anders  auch  dieses  ihm  kann  zugestanden  werden.  Denn  überall, 
wo  er  selbst  Beispiele  anführt,  um  ihn  auch  nur  in  dieser  Hinsicht 
zu  bewähren,  zeigen  sich  merkliche  Mängel.  Zuerst  überall,  wo  die 
Frage  so  gestellt  werden  muß,  ob  wohl  jemand  wollen  könne, 
daß  diese  und  jene  Maxime  ein  allgemeines  Gesetz  werde,  und 
das  heißt  nichts  Geringeres  als  bei  allem  eigentlich  Sittlichen  im 
Gegensatze  des  Rechtlichen,  zeigt  sich  der  Grundsatz  als  unzu- 
reichend, weil  jenem  prüfenden  Willen  doch  auch  ein  Bestimmungs- 
grund erst  müßte  untergelegt  werden,  der  also  außerhalb  des 
Grundsatzes  liegen  würde.  Aber  auch  selbst  da,  wo  ein  Wider- 
spruch geradezu  sich  ergibt,  können  Zweifel  entstehen.  Beim 
niedergelegten  Gute  zum  Beispiel  könnte  leicht  jemand  den  Wider- 
spruch von  dem  Verfahren  auf  die  Bedingung  zurückwerfen  und 
sagen,  es  dürfe  wohl  ein  Erlaubnisgesetz  sein,  ähnlich  dem  lykurgi- 
schen des  Stehlens,  dasjenige  unterzuschlagen,  was  auf  solche 
Weise  niedergelegt  worden,  damit  nicht  die  Trägheit,  auf  ein 
trügliches  Vertrauen  gestützt,  sich  immer  mit  einer  schlechten 
Form  begnüge,  vielmehr  eine  bessere  desto  eher  erfunden  werde. 
So  daß  auf  der  einen  Seite  zwar  die  kantische  Ethik  dem  Gehalt 
und  der  Größe  nach  ganz  bürgerlich  und  rechtlich  zu  sein  scheint, 
auf  der  andern  aber  durch  die  noch  übrigen  geringen  ethischen 
Ansprüche  auch  des  rechtlichen  Zustandes  gründliche  Verbesserung 
nur  verzögert.  Doch  dieses,  da  es  mit  einem  Fehler  zusammen- 
hängt, von  welchem  hier  nicht  die  Rede  ist,  nur  im  Vorbeigehen. 


[llf,l,  99]  1.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  101 

Die  Unfähigkeit  dieses  Grundsatzes  aber,  aus  sich  allein  das  ein- 
zelne abzuleiten,  wird  jeder  eingestehen,  weil  auch  eine  Art,  wie 
es  anzufangen  wäre,  nicht  aufzufinden  ist.  Ebenso  offenbar  ist 
dies  an  den  Stoikern.  Denn  die  Naturgemäßheit  für  sich  ist  ein  Stoiker, 
reiner  Verhältnisbegriff,  und  kann  nichts  bestimmen,  bevor  nicht 
die  Natur  bestimmt  worden.  Daß  aber  auch  Fichte,  v/iewohl  er  Fichte, 
den  Anspruch  macht,  von  dem  höchsten  Begriff  der  Selbsttätigkeit 
aus  durch  regelmäßiges  allmähliches  Fortschreiten  zu  einer  reellen 
und  anwendbaren  Sittenlehre  zu  gelangen,  sich  dennoch  in  dem 
nämlichen  Falle  befinde,  ist  nicht  schwer  zu  sehen.  Denn  alle  jene 
verschiedenen  Ausdrücke,  welche  bei  ihm  wie  bei  Kant  einen 
solchen  Übergang  von  dem  bloß  Formellen  zu  dem  Realen  bilden 
sollen,  vermögen  diese  Aufgabe  nicht  zu  lösen;  auch  nicht  der 
letzte,  daß  nur  dasjenige  im  Naturtriebe  mit  den  Forderungen  des 
reinen  Triebes  übereinstimme,  worin  ein  Behandeln  der  Objekte 
nach  ihren  Endzwecken  enthalten  sei.  Von  hieraus  zwar  kommt 
er  unmittelbar  auf  die  ^wesentlichen  Bedingungen  der  Ichheit, 
welche  ihm  wirklich  das  Mittel  werden,  den  formalen  Grundsatz 
in  reale  Gebote  umzusetzen.  Aber  der  Schein,  als  ob  er  seinen 
Endzweck  erreicht  habe,  verschwindet  bald,  wenn  man  erwägt, 
daß  die  wesentlichste  unter  diesen  Bedingungen,  auf  welcher 
am  Ende  die  ganze  Ethik  beruht,  gerade  diejenige  ist,  welche  nicht 
als  notwendig,  sondern  nur  als  eine  bloße  Möglichkeit  abgeleitet 
und  eingesehen  werden  konnte,  nämlich  die  Mehrheit  der  In- 
dividuen. Merkwürdig  und  wahrhaft  magisch,  nichts  weniger  aber 
als  allmählich  und  regelmäßig,  ist  in  der  Tat  die  Art,  wie  die  als 
notwendig  geforderte  einmalige  Aufforderung  des  Ich  sich  ver- 
wandelt in  die  Gemeinheit  der  Vernunftwesen.  Denn,  möchte  einer 
fragen,  wäre  es  nicht  hinreichend  und  wahrlich  ein  kleineres 
Wunder  gewesen,  wenn,  worauf  doch  als  auf  ein  mögliches  Fichte 
anderwärts  hindeutet,  ein  höheres  Wesen  sich  des  Ichs  mitleidig 
erbarmt  hätte,  und  ihm  ein  Geist,  nach  der  Weise  seiner  Bestim- 
mung, erschienen  wäre?    Und  wäre,  wenn  einmal  das  Mythische 


102  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.     [111,1,  100] 

unentbehrlich  ist,  ein  solches  nicht  besser?  Oder  woher  ist  denn  das 
Ich  gewiß,  daß,  was  als  ein  Kunstwerk  erscheint,  ein  solches  auch 
wirklich  ist?  Und  sollte  diese  Meinung  einen  andern  Ursprung 
haben,  als  jene  Furcht,  welche  vom  verstümmelten  Daumen  den 
Namen  führt,  weil  sie  geneigt  ist,  sich  selbst  Übles  zuzufügen, 
wie  sie  denn  auch  hier  ohne  Grund  sich  die  Freiheit  verstümmelt? 
Denn  eine  solche  Furcht  vor  dem  eignen  Schatten  tönt  auch  ge- 
waltig laut  in  dem  von  Fichte  angeführten  prächtigen  Ausspruch 
eines  andern,  welcher  schaudernd  still  steht,  wo  es  ihm  zuruft,  hier 
ist  Menschheit.  Ja,  könnte  wohl  selbst  das  Annehmen  eines  Geistes 
der  ganzen  Lehre  des  Fichte  so  nachteilig  sein,  als  wenn  etwa 
einer  aus  allem  diesen  die  Folgerung  zöge,  das  als  unentbehrlich 
gesuchte  Supplement  der  Vernunft,  um  die  Ichheit  zu  ergänzen, 
sei  doch  vielleicht  am  Ende  nirgends  anders  zu  finden,  als  in 
jenen  aus  ihr  so  nachdrücklich  verwiesenen  Kräften,  in  der  Liebe 
nämlich  und  der  Phantasie?  Nun  ist  freilich  wahr,  daß  Fichte 
selbst  gesteht,  von  hier  an,  nämlich  von  der  Mehrheit  der  In- 
dividuen, werde  die  Sittenlehre  eine  bedingte  Wissenschaft,  die 
auf  einer  Voraussetzung  beruht:  aber  nicht  so  ausdrücklich  gesteht 
er,  daß  dieses  von  hier  an  ihr  alles  ist,  sondern  gedenkt  sich  doch 
noch  etwas  zurückzubehalten  von  dem  falschen  Ruhme,  den  er 
nun  gar  nicht  hätte  verkündigen  sollen.  Deshalb  nun  sind  die 
Fichte  und  Stoiker  vorzuziehen,  welche  denselben  Verbindungsbegriff  ganz  frei 
Stoa.  jjj^^j  offen  als  eine  willkürlich  angenommene  Erklärung  hinstellen. 
Denn  daß  es  bei  beiden  derselbige  ist,  kann  niemand  be- 
zweifeln, es  müßte  einer  in  des  Fichte  Bedingungen  der  Ichheit, 
dem  Leibe,  der  Intelligenz  und  dem  Zusammenhange  mit  mehreren, 
die  stoischen  Merkmale  der  menschlichen  Natur  verkennen  wollen, 
nämlich  das  Tier,  die  Vernunft,  und  die  Geselligkeit.  Wie  aber 
Fichte  mit  den  Stoikern  zusammenstimmt,  so  ist  wiederum  in 
Kant,  der  Art,  wie  Kant  die  Vermittlung  zwischen  dem  Grundsatz  und 
dem  einzelnen  Ethischen  einrichtet,  sein  natürlicher  Hang  zur 
anglikanischen  Schule,  wie  wenig  auch  er  selbst  sich  dessen  be- 
wußt gewesen  sei,  auf  keine  Weise  zu  verkennen;  und  man  kann 


[111,1,  101]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  103 

sagen,  seine  Sittenlehre  endige  in  dem  Versuche,  jenem  poUtischen 
Eudämonismus  eine,  wie  es  eben  gehen  will,  wissenschafthche  Ge- 
stalt zu  geben.  Denn  was  eigentlich  hätte  sein  Verbindungs- 
begriff sein  sollen,  eine  reale  Bezeichnung  der  Totalität  mensch- 
licher Maximen,  aus  welcher  dann  die  einzelnen  hätten  hergeleitet 
und  ihr  Verhältnis  zu  allgemeinen  Gesetzgebung  bestimmt  wer- 
den können,  das  würde  zuletzt  doch  immer  nur  ein  etwas  anders 
gestaheter  Begriff  der  menschlichen  Natur  geworden  sein,  eben 
wie  bei  jenen.  Wie  anders  nun  als  vom  Drange  natürlicher 
Neigung  geleitet  kann  er  dahin  gediehen  sein,  den  Umfang  aller 
Maximen  im  voraus  einzuschränken  auf  die  beiden  der  eigenen 
Vollkommenheit  und  fremden  Glückseligkeit?  Denn  was  er  dar- 
über erläuternd  und  rechtfertigend  beibringt,  wird  niemand  für 
einen  Erweis  halten.  Daß  aber  diese  Neigung  ganz  anglikanisch 
ist,  erhellt  daraus,  daß  auch  die  Vollkommenheit  ihm  nur  Zweck 
ist  als  Mittel  zu  andern  Zwecken,  und  daß  sonach  kein  Zweck, 
der  zugleich  Pflicht  wäre,  übrig  bleibt  als  eben  die  fremde  Glück- 
seligkeit, also  auch  keine  sittliche  Kraft  als  das  Wohlwollen.  Dieses 
beiläufig  von  dem  Geist  und  der  Ableitung  der  Verbindungs- 
begriffe in  diesen  Schulen. 

Worauf  1)  es  aber  hier  bei  Prüfung  ihrer  Tauglichkeit  ankommt, 
ist  nicht   dieses,   sondern   eine    Eigenschaft,   welche   allen  dreien 
gemein  ist,  daß  nämlich  der  Verbindungsbegriff  eine  unverbundene  Mannigfaltig- 
Mehrheit  von  Merkmalen  enthält,  welches  eine  sichere  Ableitung  yg^^lj^j  "  5. 
unmöglich  macht.    Denn  es  läßt  sich  zwar  im  System  darstellen,     begriffes. 
was  nun  sittlich  sei  in  Beziehung  auf  den  Leib  oder  die  Intelli- 
genz oder  die  Gemeinschaft  mit  den  vorhandenen  Individuen ;  aber 
das   Verhältnis   ist   nicht   bestimmt,   in   welchem    diese   einzelnen 
ethischen   Realitäten  gegeneinander  stehen;   welche  Unbestimmt- 
heit denn   die   Anwendung  im   Leben   gänzlich   verhindert.    Will 
nämlich   angenommen   werden,   es   dürften   einzelne   Handlungen 
ausschließend  eine  auf  den  Leib  und  eine  andere  auf  den  Geist 
oder  die  Gesellschaft  bezogen  werden:  so  ergibt  sich  für  jeden 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


104  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.     [111,1,  102] 

Moment  eine  Mehrheit,  aus  welcher  gewählt  werden  muß,  weil 
die  Ansprüche  dieser  Gegenstände  stetig  fortlaufen,  und  in  jedem 
Moment  für  jeden  einiges  zu  tun  bleibt,  so  daß  zum  Beispiel  einer 
sich  ununterbrochen  mit  seinem  Leibe  beschäftigen  könnte,  ohne 
doch  etwas  anders  zu  tun,  als  ihn  zum  Werkzeuge  des 
Sittengesetzes  möglichst  auszubilden.  Daß  also  diese  Methode 
nicht  anzunehmen  ist,  leuchtet  ein.  Will  man  aber  sagen,  welches 
das  einzige  Übrige  wäre,  es  müßte  jede  Handlung  sich  auf  alle 
diese  Gegenstände  zugleich  beziehen:  so  fehlt  jede  Regel  des 
Verfahrens  bei  dieser  gegenseitigen  Bestimmung  und  Begrenzung, 
kann  auch  aus  dem  Begriff,  in  welchem  sie  selbst  nicht  gesetzmäßig 
verbunden  sind,  unmöglich  hergenommen  werden.  Am  ehesten 
wäre  dieses  zu  erwarten  gewesen  von  Fichte,  der  sich  eine  solche 
Methode  der  gegenseitigen  Bestimmung  und  Begrenzung  eines 
Gebietes  durch  das  andere  besonders  zu  eigen  gemacht;  und  es 
ist  merkwürdig  für  die  Schätzung  seiner  ethischen  Eigentümlich- 
keit, daß  er  sich  ihrer  grade  hier  nicht  bedient,  sondern  an  dem 
unvollständigen  Verfahren  der  früheren  Genüge  gefunden.  So- 
lange aber  dieses  Hilfsmittel  nicht  gefunden  ist,  bleibt  bei  einer 
solchen  Anlage  der  Streit  einer  Pflicht  mit  der  andern  nicht  nur 
hier  und  da,  sondern  für  jeden   Augenblick  unvermeidlich. 

Dem^  gleichen  Tadel  ist,  so  wenigstens  wie  sie  bis  jetzt  be- 
arbeitet worden,  diejenige  Ethik  unterworfen,  welche  von  dem  Be- 
Vollkommen-  griff  der  Vollkommenheit  ausgeht,  in  welchem  nicht  nur  eine  unbe- 
heitsethik.    stimmte  und  in  diesem  Sinne  unendliche  Größe  der  Kraft,  sondern 
auch  ein  Verhältnis  ihrer  verschiedenen  Äußerungen  gesetzt  ist. 
Denn  da  dieses   zu  bestimmen  ebenfalls   noch  kein  Gesetz  auf- 
gestellt ist:  so  müßte  entweder  ganz  willkürlich  jenes  schon  er- 
wähnte  allgemeine   Musterbild   vorgezeichnet,    oder    eine    unbe- 
stimmte Mehrheit  solcher  Verhältnisse  angenommen  und  nur  von 
jedem  einzelnen  die  Gleicherhaltung  irgendeines  davon  gefordert 
werden.    Welches   von   beiden   aber  auch   geschehe,    so  entsteht 
^  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,  103]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  105 

immer  eine  doppelte  Aufgabe,  teils  das  angenommene  Verhältnis 
hervorzubringen,  teils  in  den  Bestimmungen  desselben  die  Größe 
der  einzelnen  Faktoren  zu  erhöhen.  Nun  kann  freilich  die  letzt- 
erwähnte Behandlung,  welche  einem  jeden  sein  eigenes  Ideal  an- 
weiset, sich  der  ersten  Aufgabe  entziehen,  und  gleichmäßig  mit  der 
dieser  Ansicht  gegenüberstehenden  folgerechten  Behandlung  der 
Glückseligkeitslehre  vorschreiben,  es  solle  kein  Verhältnis  hervor- 
gebracht, sondern  nur  dasjenige  festgehalten  und  ausgebildet  wer- 
den, in  welchem  ein  jeder  zuerst  sich  selbst  findet.  Allein  aucH 
dieses  vorausgesetzt,  finden  wir  doch  hier  den  obigen  Streit  wieder 
zwischen  den  Ansprüchen  der  einzelnen  Faktoren,  indem  jeder  die 
seinigen  auf  jeden  Zeitteil  ohne  Ausnahme  richten  kann.  Daher 
wir  hier  nicht  nur  einen  Streit  zwischen  zwei  Parteien,  sondern 
einen  allgemeinen  Aufruhr  erblicken  unter  einer  unbestimmten 
Menge,  je  nachdem  die  natürliche  Seelenkunde  mehr  oder  minder 
Mannigfaltiges  in  der  menschlichen  Natur  annimmt;  so  daß  man 
sagen  kann,  hier  zeige  sich  die  äußerste  Höhe  der  Verwirrung,  die 
aus  einer  solchen  unverbundenen  Mehrheit  entsteht,  und  werde 
also  auch  hier  am  lautesten  eine  Einheit  des  Begriffs  gefordert, 
welcher  den  Umfang  alles  ethisch  Bestimmbaren  bezeichnen  soll. 
Ehe  wir  aber  dies  System  der  Vollkommenheit  verlassen,  ist  das- 
selbe noch  zu  betrachten  in  Beziehung  auf  die  erste  Frage  von  dem 
Zugleichsein  und  der  Übereinstimmung  der  verschiedenen  Aus- 
drücke der  höchsten  ethischen  Idee.  Hier  zeigt  sich  nun,  daß  so  wie 
offenbar  dieses  System  mit  der  Idee  des  höchsten  Gutes  anfängt, 
so  im  Gegenteil  das  Gesetz  nach  demselben  gar  nicht  auszudrücken 
ist.  Denn  die  Vollkommenheit  ist  offenbar  das  Ganze  des  zu 
Bewirkenden,  und  die  Formel:  Vervollkommne  dich  selbst,  heißt 
nur,  dieses  höchste  Gut  soll  wirklich  gemacht  werden,  und  bezieht 
sich  keineswegs  auf  das  einzelne,  da  in  keinem  Falle  aus  ihr 
unmittelbar  das  unter  gegebenen  Umständen  zu  Tuende  kann  be- 
stimmt werden.  Daß  aber  überall  ein  solches  Gesetz  für  diese 
Idee    nicht   zu   finden    ist,    erhellt    aus    dem    vorigen.      Denn    es 


106  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.     (111,1,  104] 

müßte  die  Regel  des  Verfahrens  für  das  einzelne  aus  dem  Aus- 
druck des  höchsten  Gutes  abgeleitet  werden  vermöge  desjenigen 
Begriffes,  der  den  Einteilungsgrund  desselben  enthält;  diese  Ein- 
teilung aber  ist  dem  obigen  zufolge  unbestimmt,  und  eigentlich 
ohne  Grund.  Ferner  aber,  wie  sollte  auch,  solange  jene  Ein- 
heit noch  nicht  gefunden  ist,  eine  solche  Regel  möglich  sein,  da 
die  eine  Forderung  dieses  Systems,  nämlich  die  intensive  Er- 
höhung, mit  der  andern,  wenn  auch  diese  nur  die  Festhaltung  eines 
bestimmten  Normalverhältnisses,  nicht  erst  die  Hervorbringung 
desselben,  sein  sollte,  im  geraden  Widerspruche  steht.  Denn  so- 
lange noch  das  Subjekt  der  Vervollkommnung  als  ein  Mannig- 
faltiges gedacht  wird,  kann  auch  die  Erhöhung  nicht  anders  als 
teilweise  geboten  werden ;  eine  jede  solche  aber  verrückt  das  Ver- 
hältnis unvermeidlich.  Eben  wie  wann  eine  als  Aggregat  aus- 
gedrückte Größe  potenziert  oder  auch  nur  vervielfacht  werden  soll, 
wo  auch  bis  zur  Vollendung  jedes  Glied,  mit  welchem  die  Hand- 
lung vorgenommen  wird,  ein  der  Form  und  Absicht  des  Ganzen 
zuwiderlaufendes  Übergewicht  erhält.  So  daß  man  sagen  kann, 
dieses  System  endige,  wiewohl  aus  einer  andern  Ursache  als  das 
Vollkommen-  der  Glückseligkeit,  ebenfalls  in  Untätigkeit,  weil  nämlich  das  Sitt- 

heitsethik     \[qYiq  nicht  anders  als  durch  einen  ununterbrochenen  Wechsel  des 
endet  in 
Untätigkeit.    Unsittlichen  hervorgebracht  werden  kann.    Aufs  Höchste  gebracht 

1.  aber  wird  dieser  Widerspruch,  wenn  noch  mit  der  Vollkommen- 

heit in  Verbindung  gebracht  werden  soll  die  Glückseligkeit.  Denn 
diese,  wenn  sie  wirkliche  Lust  sein  soll,  entsteht  vorzüglich  aus 
einer  teilweisen  Tätigkeit,  wie  schon  der  Name  zeigt,  den  jede 
von  dem  Teile  erhält,  auf  v/elchen  sie  sich  bezieht,  und  wider- 
spricht also  dem  Gleichgewicht,  welches  zur  Vollkommenheit  ge- 
hört; soll  sie  aber  nur  Schmerzlosigkeit  sein  dürfen,  so  mag 
sie  wohl  diesem  Gleichgewicht  entsprechen,  würde  aber  gestört 
werden  durch  die  Vervollkommnung,  und  auch  gegenseitig  diese 
verhindern,  indem  sie  vor  der  Zeit  ein  Gefühl  von  Selbstgenügen 
hervorbrächte.    Aufs   deutlichste   also   erhellt   auch   hieraus,   wie 


[111,1,  105]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  107 

keine  andere  Verbindung  von  Lust  und  Tätigkeit  möglich  ist, 
als  diejenige,  welche  Spinoza  aufstellt,  wo  nämlich  die  Tätig- 
keit nur  eine  ist,  und  die  Lust  nur  eine,  und  beide  zwar  unzer- 
trennlich verbunden,  doch  so,  daß  der  Wille  unmittelbar  nur  auf 
jene  darf  gerichtet  werden.  Wie  denn  überhaupt  die  jetzt  ge- 
rügten Fehler  auf  die  Notwendigkeit  führen,  eine  solche  Einheit 
des  menschlichen  Tuns  und  Strebens  in  der  Ethik  überall  zum 
Grunde  zu  legen,  wie  Fichte  sie  zwar  gefordert,  nicht  aber  ge- 
funden hat,  und  Spinoza  sie  zwar  aufstellt,  aber  ohne  sie  durch  die 
Tat,  nämlich  die  vollständige  Ausführung  des  Systems,  erwiesen 
zu  haben.  Allein  es  endigt  noch  auf  eine  andere  Weise  die 
Sittenlehre  der  Vervollkommnung  in  Untätigkeit,  insofern  sie  2. 
nämlich  ein  natürliches  Streben  ist  nach  jener  Muße,  deren  sich 
die  Götter  des  Epikuros  und  Aristoteles  erfreuen.  Denn  ganz 
das  Gegenteil  von  andern,  welche  ein  Bilden  des  Menschen  an 
sich  selbst  gebieten,  als  Mittel,  um  so  und  so  handeln  zu  können, 
wird  hier  alles  Handeln  eigentlich  nur  gefordert  als  Mittel  zum 
Werden,  und  genau  genommen  jede  sogenannte  Tugend  auf- 
gehoben, welche  mehr  unter  als  über  der  bereits  erworbenen  Fertig- 
keit liegt,  als  welche  keine  Übung  mehr  sein  kann,  und  die  Zeit 
nur  vergebens  ausfüllt.  Je  mehr  nun  die  Vollkommenheit  wächst, 
um  desto  weniger  bleibt  über  ihr  zurück;  und  wenn  sie  erreicht 
wäre,  wäre  auch  der  Grund  des  Handelns  erschöpft,  und  in  einer 
beschaulichen  Ruhe  alles  Sittliche  geendigt.  Vielleicht  auch  könnte 
jemand,  einen  noch  schärferen  Gegensatz  der  Ausführung  gegen  die 
Absicht  suchend,  noch  lieber  sagen  wollen,  ihr  Bewirktes  sei  nur 
Roheit,  weil  sie  die  allseitige  Bildung  nur  in  einem  regellosen 
Wechsel  absichtlicher  Einseitigkeit  darzustellen  wisse.  Von  dieser 
Seite  nun  führt  sie  auf  die  Idee  des  Piaton,  als  auf  die  Ret-  Piaton. 
tung,  deren  sie  benötigt  ist,  welcher  nämlich  einen  andern  han- 
delnden Gott,  und  die  Ähnlichkeit  mit  diesem  als  den  höchsten 
Zweck  einführt.  Denn  so  ist  einesteils  das  Handeln  in  einem 
andern   Sinne   unentbehrlich,   nämUch   als  das    Bilden    und   Dar- 


108  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.     [IH,!,  106] 

stellen,  welches  eins  ist  mit  dem  Sein  und  Bestehen  des  Geistes, 
und  daher  der  höchsten  Vollkommenheit  nur  am  meisten  eigen; 
andernteils  auch  ist  so  der  Streit  über  die  Zeit  zwischen  dem 
einzelnen  geschlichtet,  weil  ein  göttliches  Handeln  mit  einer  ewigen 
Ordnung  auch  eine  bestimmte  Reihe  alles  dessen,  was  erfolgen 
soll,  seiner  Natur  nach  enthält.  Wie  also  alle  Fehler,  welche  in 
den  Systemen  der  Tätigkeit  aus  der  beschränkenden  Natur  der 
Sittlichkeit  und  aus  der  ungünstigen  Beschaffenheit  des  die  An- 
wendung vermittelnden  Begriffs  entstehen,  in  den  Darstellungen 
des  Piaton  und  des  Spinoza  am  besten  vermieden  werden,  dieses 
erhellt  aus  dem  bisherigen  zur  Genüge. 
Universeller  Zwei  Gegensätze  von  Bestimmungen  der  höchsten  ethischen 
Charakter  j^jgg  gjj^^j  -jj^gj.  j^q^j^  2u  betrachten  übrig,  welche,  als  der  Wir- 
oder be-  l^Ling  "''ch  zusammengehörig,  auch  hier  nebeneinander  sollen  ge- 
schränkter? stellt  werden.  Zuerst  nämlich  kann,  auch  wenn  der  sittliche  Trieb 
nicht  als  abhängig  und  bloß  beschränkend,  sondern  als  selbsttätig 
und  unabhängig  gesetzt  wird,  dennoch  entweder  er  allein  als 
im  sittlichen  Zustande  alles  bestimmend  und  ausschließlich  tätig 
angenommen  werden,  oder  neben  ihm  noch  ein  anderer  zugelassen, 
wäre  es  auch  nur,  um  dasjenige  zu  verrichten,  was  des  ersteren 
unwürdig  zu  sein  scheint.  Offenbar  nun  ist,  daß  nur  in  dem 
ersten  Falle  alles  menschliche  Handeln  einen  bestimmten  sittlichen 
Wert  haben  kann,  in  dem  letzten  aber  dasjenige,  was  dem  sitt- 
lichen Triebe  zwar  nicht  widerspricht,  aber  was  auch  nicht  durch 
ihn  hervorgebracht  worden,  als  außerhalb  seines  Gebietes  gelegen 
und  als  ethisch  gleichgültig  erscheinen  muß.  Dieses  nun  ist  der 
wahre  Umkreis  des  Begriffs  der  sogenannten  Mitteldinge.  Denn 
was  einige  Neuere  noch  sonst  so  nennen,  verdient  nicht  mit  hierher 
gezogen  zu  werden,  ist  auch  ethisch  betrachtet,  nichts  Besonderes, 
sondern  nur  die  Aussage,  daß  eine  Frage  nicht  vollständig  auf- 
geworfen worden  ist,  auf  welche  dann  auch  natürlich  keine  be- 
stimmte Antwort  erfolgen  kann.  Die  AHen  unterschieden  beides 
sehr  richtig,  und  bezeichneten  das  letztere  als  das  nicht  an  sich", 


[in,l,  107]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  109 

sondern  nur  zufällig  Gute  oder  Böse.  Dieselbige  Folge  nun  er- 
gibt sich  auch  da,  wo  der  sittliche  Trieb  nur  beschränkend  ist, 
so  daß  er  jedesmal  durch  den  andern  muß  aufgeregt  werden,  und 
wo  zugleich  die  Regel  fehlt,  um  alles  sittliche  Handeln  als  eine 
bestimmte  Reihe  ausmachend  vorzustellen.  Denn  in  diesem  Falle 
muß  alles,  was  in  dem  natürlichen  Triebe  diesseits  seines  Durch- 
schnittspunktes mit  dem  Sittlichen  liegt,  als  in  gleichem  Grade 
ethisch  möglich,  das  heißt,  als  gleichgültig  und  nur  erlaubt  sich 
darstellen.  Dagegen,  wo  eine  bestimmte  Reihe  gesetzt  wird,  nur 
dem  Durchschnittspunkt  selbst  die  ethische  Möglichkeit,  und  eben 
deshalb  mit  ihr  zugleich  die  Notwendigkeit  zukommt.  Daher 
auch  finden  wir  in  dem  System  des  Fichte,  welches  jene  Be-  Fichte. 
stimmtheit  der  Reihe  so  festzuhalten  bestrebt  ist,  den  Begriff 
der  Mitteldinge  nicht  unvermeidlich,  noch  ausdrücklich  gebilligt. 
Wohl  aber  tritt  er  stark  hervor  bei  den  Stoikern  und  beim  Epi-  Stoa,  Epikur. 
kuros.  Denn  die  vorzuziehenden  Dinge  bei  jenen,  und  bei  diesem 
die  positive  in  der  Bewegung  sich  erweisende  Lust,  so  weit 
sie  nämlich  aus  den  natürlichen  Begierden  entsteht,  nehmen  die 
gleiche  Stelle  ein  im  System,  und  stehen  sich  genau  gegenüber, 
als  dasjenige,  was,  man  bestimme  es  so  oder  anders,  die  Sitt- 
lichkeit weder  vermehrt  noch  vermindert,  sondern  nur  die  Ober- 
fläche ihrer  Erscheinung  gleichsam  färbt  und  verändert.  Bei  Kant  Kant, 
finden  sich  diese  Mitteldinge  nicht  nur  wiegen  der  mangelhaften 
Natur  der  Sittlichkeit  und  der  Unbestimmtheit  der  Reihe,  son- 
dern auch,  weil  er  selbst  im  sittlichen  Zustande  neben  dem  auf 
diesen  gerichteten  Triebe  auch  den  die  eigne  Lust  suchenden  noch, 
wiewohl  nur  im  Dunkeln,  fortwirken  läßt,  welches  wohl  keinem 
mit  seiner  Darstellung  Bekannten  erst  erwiesen  zu  werden  braucht. 
Jedoch  gebraucht  auch  er  zuweilen  den  Begriff,  auch  wohin  er 
nicht  gehört,  als  ein  Hilfsmittel  der  faulen  Vernunft.  Nicht  minder 
müßte  er  in  der  anglikanischen  Schule  bei  denen  angetroffen  Engländer, 
werden,  welche  den  wohlwollenden  Trieb  vorzugsweise  als  den 
sittlichen  ansehen.    Daß  nun  diese  Mitteldinge  ein  in  der  wissen- 


110  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  108] 

schaftlichen  Ethik  ganz  unstatthafter  Begriff  sind,  dieses  ist  leicht 
zu  sehen;  denn  offenbar  begrenzt  dieser  Begriff  den  Umfang 
der  sittHchen  Bestimmbarkeit  auf  eine  höchst  willkürhche  Art, 
indem  er  nur  einen  Schein  des  Natürlichen  hat,  wenn  man  sieht 
auf  die  gegebene  Entstehung  einer  Tat.  Betrachtet  man  dagegen 
den  Inhalt  derselben,  so  wird  man  unter  allen  diesen  Mittel- 
dingen kein  einziges  finden,  wie  klein  sie  auch  oft  des  Beispiels 
wegen  ausgeprägt  werden,  welches  nicht  auch  von  dem  sittlichen 
Triebe  aus  hätte  können  entweder  gefordert  oder  auch  verworfen 
werden.  Daher  stören  sie  sowohl  die  Stetigkeit  des  sittlichen 
Handelns  im  Leben,  als  auch  den  Zusammenhang  in  der  Dar- 
stellung, und  machen  die  Wahrheit  der  ethischen  Ideen  überhaupt 
verdächtig,  indem  sie  hindern,  daß  diese  sich  nicht  ^  durchgängig 
bewähren  können.  Auf  alle  Weise  also  wäre  es  eine  Verbesserung 
Ariston  gewesen  in  der  Lehre  seines  Meisters,  welche  Ariston  von  Chios 
von  Chios.  einführen  wollte,  indem  er  behauptete,  es  dürfe,  wo  das  Gute 
sein  solle,  auch  gar  kein  Trieb  stattfinden  und  keine  Bewegung 
des  Gemütes  auf  dasjenige,  was  zwischen  der  Tugend  liegt  und 
dem  Laster.  Denn  daß  er  dieses  allein  sollte  als  den  höchsten 
Zweck  und  das  erschöpfende  Merkmal  des  Sittlichen  aufgestellt 
haben,  ist  gev/iß  nur  ein  törichtes  Mißverständnis  der  späteren 
Erzähler.  Offenbar  richtig  aber  ist  der  Grundsatz,  daß 
Ethik  als  Wissenschaft  nicht  bestehen  kann,  wenn 
sie  nicht  das  Recht  sowohl  als  die  Pflicht  hat,  das 
Ganze  des  menschlichen  Handelns  zu  umfassen,  und 
daß  in  einem  als  vollständig  gedachten  sittlichen  Leben  alles 
Tun  sich  in  ein  Sittliches  und  folglich  ethisch  zu  Beurteilen- 
des verwandeln,  was  aber  noch  auf  eine  andere  Weise  ent- 
steht, als  aufzuhebend  und  jener  Vollständigkeit  Abbruch 
tuend  muß  angesehen  werden.  Nur  auf  eine  solche  Art  nun 
erscheint  alles,  was  aus  einem  andern  Triebe  hervorgegangen 
Piaton  ist,  im  Piaton  sowohl  als  im  Spinoza.  Denn  jener,  wenn  er 
und  Spinoza.  ^^^^  ^^^^  Grundsatz  selbst  nirgends  ausdrücklich  anerkannt  hätte, 
^  „nicht"  muß  fortfallen. 


[111,1,  109]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  111 

stellt,  solange  dergleichen  vorhanden  ist,  auch  die  Sittlichkeit  noch 
dar  als  im  Streite  begriffen,  und  also  unvollkommen.  Dieser 
aber,  wenn  er  gleich  die  vollständige  Sittlichkeit  für  unmöglich 
der  menschlichen  Natur  erklärt,  zeigt  nur  desto  stärker  die  Rein- 
heit seiner  wissenschaftlichen  Ansicht,  wenn  selbst  die  geglaubte 
Unvermeidlichkeit  ihn  nicht  '^ewegen  kann,  für  gleichgültig  zu  er- 
klären, was  nicht  unmittelbar  aus  der  Tätigkeit  des  reinen,  in 
seiner  Vollständigkeit  aufgefaßten  Triebes  hervorgegangen  ist.  Was 
er  aber  bisweilen  äußert,  daß  die  nicht  durch  die  Vernunft  er- 
zeugten Handlungen  sowohl  gut  sein  könnten  als  böse,  kann 
keineswegs  als  ein  Gegenerweis  gelten.  Denn  es  ist  nur  teils 
in  dem  eingeschränkten  Sinn  zu  verstehen,  den  er  selbst  von  dem 
wissenschaftlichen  unterscheidet,  ja  auch  in  diesem  nur  zufällig; 
teils  ist  es  nur  gesagt  im  Streit  gegen  die  vielgehörte  und  mit  seiner 
Voraussetzung  unverträgliche  Behauptung,  daß  von  dem  Bösen  aus 
auch  in  ununterbrochener  Reihe  nur  Böses  könne  angeknüpft  werden. 

Derselbe  Grundsatz  der  Beurteilung  nun  entscheidet  auch  über    Liegt  das 

den    letzten    Gegensatz,   den    nämlich,    ob    nur   in    dem    Gemein-  ^^"'^^  ^  *"^ 
^  '  '  allgemeinen 

schaftlichen  der  menschlichen  Natur,  oder  in  dem  Eigentümlichen     oder  im 

eines  jeden  das  Sittliche  soll  anzutreffen  sein,  und  ob  eins  das  Individuellen? 
andere  ausschUeßen  darf,  oder  beides  miteinander  zu  verknüpfen 
ist.  Wie  nun  das  Eigentümliche  allein,  wenn  ihm  das  Gemein- 
schaftliche untergeordnet,  und  also  dieses  als  solches  aus- 
geschlossen wird,  in  ein  unbestimmtes  und  unbestimmbares  Man- 
nigfaltiges notwendig  zerfährt,  dieses  hat  sich  schon  oben  an  den 
eudämonistischen  Sittenlehren  gezeigt.  Und  daß  auch  in  den  prak- 
tischen nichts  anderes  zu  erw^arten  ist,  kann  man  ebenfalls  aus 
jenen  ersehen,  wenn  man  denjenigen  Teil,  welcher  dort  freilich 
fälschlich  nur  als  Mittel,  dennoch  bildend  und  tätig  ist,  betrachtet, 
so  wie  diese  mit  Verachtung  aller  Hinsicht  auf  das  Gemeinschaft- 
liche geforderte  Bildung  und  Vollendung  irgendeiner,  gleichviel 
welcher  Gemütsart,  weniger  in  wissenschaftlichen  Vorträgen  als 
im  Leben  und  dessen  Verteidigung,  von  denen  der  gallikanischen 
Schule  ist  als  höchster  Zweck  aufgestellt  worden.    Soll  aber  das 


112  Grundlinien  einer  Kritilc  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  110] 

Sittliche  nur  in  dem  Gemeinschaftlichen  zu  finden  sein,  alles  Eigen- 
tümliche aber  als  aufzuhebend  gänzlich  ausgeschlossen:  so  ist  offen- 
bar, daß  wenn  auch  nicht  ganze  Gebiete  von  Handlungen,  doch 
in  allen  irgend  etwas  nicht  kann  ethisch  bestimmt  werden ;  sondern 
überall  wird  in  der  Art  und  Weise,  wie  etwas  kann  verrichtet 
werden,  noch  vieles  frei  bleiben.  Bestimmt  aber  muß  doch  durch- 
gängig sein,  was  wirklich  geschehen  soll;  und  so  tritt  auf  einmal 
entweder  eine  unbedingte  Willkür  oder  irgendein  Mechanismus, 
es  sei  nun  ein  äußerer  der  Gewohnheiten  und  Sitten,  oder  ein 
innerer  der  Neigungen,  in  das  ethische  Gebiet  ein.  Man  sehe  nur, 
wie  Kant  bisweilen  unter  dem  letzteren  seufzt,  und  sich  dafür  den 
ersteren  herwünscht.  Ein  solcher  Mechanismus  aber  kann  nicht 
entstehen,  wenn  nicht  die  Gesetze  desselben  schon  eine  Menge  von 
Handlungen  bestimmt  haben,  welches  nicht  ohne  Vorübergehung 
des  sittlichen  Gesetzes  geschehen  konnte,  so  daß  auch  hier  das  Zu- 
standekommen des  Sittlichen  abhängig  wird  von  einem  früheren 
Unsittlichen.  Aber  auch  ganze  Handlungen  selbst  gibt  es,  welche 
bloß  von  dem  Gemeinschaftlichen  aus  nicht  können  bestimmt  wer- 
den. Woher  zum  Beispiel  sollte  ein  allgemeiner  Bestimmungs- 
grund genommen  werden,  nach  welchem  der  Mensch  seinen  Stand 
und  Beruf  wählen,  oder  festsetzen  könnte,  ob  er  in  eine  gewisse 
Gesellschaft,  die  eheliche  zum  Beispiel,  jetzt  treten  sollte  oder 
später  oder  gar  nicht.  Denn  wo,  wenn  sie  nicht  in  dem  Eigentüm- 
lichen eines  jeden  liegen  sollen,  wären  die  Momente  jener  besten 
Überzeugung,  nach  der  und  nicht  nach  Neigung  wir  uns,  wie 
Fichte  denkt,  in  diesen  Dingen  entscheiden  sollen?  Auch  ist  Fichte 
fast  der  einzige  unter  den  Neueren,  welcher  diese  Gegenstände  er- 
wähnt. Die  Alten  aber  fühlten  die  Unmöglichkeit  sehr  wohl,  sie 
gut  begründet  in  das  System  hineinzubringen,  und  stellen  daher 
die  Frage  immer  so,  ob  wohl  der  Weise  dieses  oder  jenes  tun 
werde  oder  nicht,  durch  deren  Beantwortung  sie  freilich  die  Sache, 
wie  ja  der  Weise  ein  allgemeines  Musterbild  sein  sollte,  auch  all- 
gemein entschieden,  doch  aber  mit  dem  Bewußtsein,  daß  sie  dies 


[111,1,  111]  I.  Kritik  der  höchsten  Grundsätze.  113 

in  der  Ordnung  und  nach  der  Weise  des  Systems  nicht  bewerk- 
stelligen könnten.  Wie  nun  die  Aufgabe,  in  welche  dieses  zu 
endigen  scheint,  die  Verbindung  nämlich  des  Allgemeinen  mit  dem 
Eigentümlichen  und  des  einen  Bestimmung  durch  das  andere, 
noch  am  ersten  gelöst  werden  kann  nach  den  Ideen  des  Spinoza 
und  Piaton,  ist  auch  schon  erwähnt.  Ja,  unmittelbar  berührt, 
und  von  einer  Seite  nicht  übel  gelöst,  kann  man  sagen,  daß  sie 
schon  sei  durch  die  gewiß  nicht  platonische  und  der  Idee  der 
Ähnlichkeit  mit  Gott  angemessene  Einteilung  des  ganzen  sitt- 
lichen Geschäfts  in  die  Entwerfung  der  Lebensweise  und  die  Füh- 
rung des  Lebens,  Denn  in  jenem  Teile  wird  das  Eigentüm- 
liche festgestellt,  und  nur  durch  das  Gemeinschaftliche  begrenzt,  in 
'diesem  aber  walten  die  allgemeinen  Gesetze  vor,  so  jedoch,  daß 
alles  durch  jenes  Eigentümliche  bestimmt  und  darauf  bezogen 
wird. 

Dieses  nun  sei  genug  von  den  bemerkten  Verschiedenheiten 
'der  Grundsätze.  Denn  es  reicht  hin,  sowohl  den  wissenschaftlichen 
Wert  der  bisherigen  Ethik  in  dieser  Hinsicht  zu  prüfen,  als  auch 
die  Aufgabe  zu  bezeichnen,  welche  derjenige  sich  vorzulegen  hat, 
der  einen  genügenden  Grundsatz  der  Sittenlehre  aufstellen  will. 
Und  nun  zur  Prüfung  der  einzelnen  sittlichen  Begriffe,  welche 
wir  in   den   verschiedenen   Systemen   antreffen   werden. 


Schleiermacher,  Werke.     1. 


114  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  112] 


Anhang. 

Erläuterungen  zu  dem,  was  von  einigen  Schulen  gesagt 

worden. 

I.  Daß  Aristoteles  noch  in  einem  besonderen  Sinne  vor 
andern  die  Sittenlehre  der  Staatslehre  untergeordnet,  und  jene  vor- 
nehmlich als  Vorbereitung  und  Elementarlehre  zu  dieser  bearbeitet 
hat,  dies  erhellt  für  diejenigen,  welche  alles  mit  ausdrücklichen 
Worten  vernehmen  müssen,  aus  der  Einleitung  und  dem  Ende 
der  nikomachischen  Ethik.  Diese  aber  demjenigen,  von  welchem 
sie  den  Namen  trägt,  als  ihrem  Urheber  zuzuschreiben,  weil  doch 
nicht  einzusehen  sei,  warum  wohl  der  Sohn  nicht  sollte  dem 
Vater  gleich  haben  denken  und  schreiben  gekonnt,  dieses,  wenn  es 
nicht  etwa  eine  schielende  Ermahnung  sein  soll  an  seinen  Sohn 
Marcus,  ist  vielleicht  das  ärgste  unter  dem  Unkritischen,  was 
Marcus  Tullius  ausgesprochen.  Denn  wenn  auch  jemand,  eben 
wegen  der  Mehrheit  derselben  und  dem  Grade  von  Ähnlichkeit, 
geneigt  sein  sollte,  die  Abfassung  aller  drei  ethischen  Werke  des 
Aristoteles  ebensoviel  Schülern  desselben  beizulegen,  welche  jeder 
seine  Erinnerungen  aus  den  Vorträgen  des  Lehrers  zusammen- 
getragen: so  widerspricht  doch  dieser  Meinung  in  Hinsicht  der 
nikomachischen  eben  jenes  Ende  zu  deutlich.  Wenn  man  nämlich 
nicht  entweder  auch  demselben  auf  gleiche  Weise  die  PoHtik  ver- 
danken wollte,  wovon  sich  aber  keine  Spur  eines  Zeugnisses 
findet,  oder  den  Sohn  für  unverständig  genug  halten,  das  abge- 
sonderte Werk  mit  einer  so  ausdrücklichen  Hinweisung  zu  be- 
schließen; in  welchem  Falle  jedoch  diese  Verknüpfung  gleichmäßig 
auf  den   Vater  müßte   zurückgeführt   werdend     Diejenigen   aber, 

*  Die  Nikomachische  Ethik  ist  eine,  wahrscheinlich  von  dem  früh  ver- 
storbenen Sohne  Nikomachos  etwa  unter  Theophrasts  Beihilfe  bearbeitete  Aus- 
gabe des  Vorlesungskursus  seines  Vaters.  Sie  ist  authentischer  als  die  Eude- 
mische  Ethik  (vgl.  Th.'Gomperz,  Griechische  Denker,  III,  S.  189 f.). 


[111,1,113]  Anhang.  115 

welche  etwas  tiefer  eindringen,  werden  aus  den  Ansichten,  von 
welchen  Aristoteles  ausgeht,  schon  nichts  anderes  erwarten.  Denn 
indem  er  der  Ethik  nur  das  Gebiet  anweist,  die  Tugenden  des 
unvernünftigen  Teiles  im  Menschen  zu  verzeichnen:  so  kann  sie 
schon  deshalb  ihren  Zweck  nicht  in  sich  selbst  haben,  welcher  kein 
anderer  sein  könnte,  als  das  rein  genießende  Leben;  sondern  muß 
demjenigen  dienen,  was  ein  Zweck  des  vernünftigen  Teiles  ist, 
entweder  also  nach  seiner  Ansicht  dem  bloß  beschaulichen  und 
wissenschaftlichen,  oder  dem  geselligen  und  den  Staat  bildenden. 
Von  jenem  finden  sich  mehrere  Spuren  in  der  eudemischen  Ethik, 
in  welcher  die  Verbindung  mit  der  Politik  beinahe  verwischt  ist; 
das  letztere  aber  ist  die  herrschende  Beziehung  in  der  nikomachi- 
schen  sowohl  als  der  großen. 

Dem  ohnerachtet  aber  ist  Aristoteles,  historisch  betrachtet,  der 
Mittelpunkt  der  alten  Sittenlehre,  aus  welchem  auf  der  einen 
Seite  die  Stoiker  sich  genährt  und  gebildet,  auf  der  andern  aber 
Epikuros,  und  zwar  so,  daß  jene  gleichsam  die  eine  Hälfte  seiner 
Darstellung  mit  dem  Geist  und  Leben  der  Cyniker  verbinden, 
dieser  aber  die  andere  mit  dem  der  Cyrenaiker,  und  er  also,  ohne 
daß  man  ihn  selbst  dieser  Eigenschaft  beschuldigen  könnte,  den- 
noch die  Quelle  des  negativen  und  beschränkenden  Charakters  der 
Ethik  geworden  zu  sein  scheint,  sowohl  in  dem  System  der  Lust 
als  in  dem  der  Tätigkeit.  Denn  die  Naturgemäßheit  der  Stoiker 
besagt  ganz  das  nämliche,  was  seine  Formel,  daß  die  Eudämonie 
darin  bestehe,  wenn  für  einen  insbesondere  dasjenige  gut  ist,  was 
an  sich  und  im  allgemeinen  muß  dafür  gehalten  werden;  und 
ihre  Herrschaft  der  Vernunft  über  den  natürlichen  Trieb  der 
Selbsterhaltung  ist  genau  dasselbe  mit  seinem  Gehorsam  des  un- 
vernünftigen Teiles  gegen  den  vernünftigen,  so  daß  jener  diesen 
nicht  beeinträchtige  in  seinem  eigenen  Werk  und  Leben,  Ja,  auch 
ihre  dem  Streit  gegen  die  Anhänger  der  Lust  zugrunde  gelegte 
Ansicht  von  dieser,  daß  sie  nur  ein  Mit-  und  Nacherzeugnis  der 
Handlung  sei,    ist   offenbar  genug   aus   ihm    entlehnt.    Dagegen 

8* 


116  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  114] 

hat  Epikuros  gleichfalls  von  ihm  den  seine  ganze  Lehre  um- 
fassenden Unterschied,  wodurch  er  die  des  Aristippos  zu  ver- 
bessern glaubte,  den  nämlich  zwischen  der  beruhigenden  Lust  und 
der  reizenden,  und  den  natürlichen  und  unnatürUchen  Begierden. 
Wie  nun  diese  beiden  miteinander  entzweit  sind,  und  also  seine 
verschiedenen  Elemente  in  Widerstreit  gesetzt  haben,  ist  bekannt. 
Wollte  aber  jemand  aus  dem  Zusammenhange  seiner  Ideen,  und 
auch  ausdrücklich  aus  dem  Schluß  der  endemischen  Ethik,  wenn 
dieser  gerade  so  von  ihm  sollte  herrühren  können,  die  Folgerung 
ziehen,  daß,  wenn  man  seine  Ethik  in  Verbindung  setze  mit  dem 
beschaulichen  Leben,  sie  in  die  Lehre  und  Ansicht  des  Spinoza 
hinüberspiele:  so  wäre  auch  dieses  allerdings  eine  fruchtbare  Be- 
trachtung. Diese  Teilbarkeit  aber  daraus  vollständig  zu  begreifen, 
daß  es  ihm  an  Sinn  gefehlt  für  den  eigentümlichen  Weg  des 
Piaton,  wird  einem  jeden  aus  dem  Bisherigen  leicht  genug  sein. 

II.  Richtig  ist  demnach  in  dieser  Hinsicht,  was  den  Stoikern 
so  oft  und  schon  von  alters  vorgeworfen  worden,  daß  sie  nichts 
Neues  erfunden ;  und  den  Peripatetikern  war  nicht  zu  verargen, 
daß  sie  im  Streite  der  Schulen  diese  Beschuldigung  vorbrachten. 
Nicht  zu  rechtfertigen  aber  ist  die  Art,  wie  jener  sonst  preis- 
würdige Römer  1)  sie  nachspricht,  ohne  weder  auf  das  Verhältnis 
der  Stoiker  zu  der  cynischen  Schule  die  gebührende  Rücksicht 
zu  nehmen,  noch  auch,  wie  es  von  dem  zu  fordern  ist,  der  über 
den  Schulen  zu  stehen  sich  anmaßt,  den  Geist  des  Ganzen  von 
den  historischen  Beziehungen  des  einzelnen  zu  unterscheiden. 
Doch  wie  wenig  er  überall  von  der  Pliilosophie  der  Hellenen  ver- 
stand, dieses  zu  beweisen  sind  gleichsam  alle  seine  Werke  dieser 
Art  im  Wettstreit  begriffen.  Man  sehe  nur,  wie  er  alle  die  ver- 
schiedenen stoischen  Formeln,  frühere  und  spätere,  durcheinander 
wirft,  ohne  auch  nur  eine  Ahnung  weder  von  ihrer  Verschiedenheit, 
noch  von  der  Art,  wie  sie  doch  wieder  eins  sind,  sondern  als 
hätte  er  etwa  mit  schlechten  Tautologien  zu  tun  oder  mit  redne- 

^  Cicero. 


[111,1,115]  Anhang.  117 

rischen  Erklärungen,  denen  man,  weil  keine  genau  ist,  mehrere 
zusammenstellt.  Oder  wie  er  selbst  den  Epikuros,  so  stolz  er 
auch  das  Gegenteil  beteuert,  mißverstanden,  und  wie  schlecht 
und  gegen  den  Geist  des  Systems  er  seinen  Torquatus  den  Ahn- 
herrn verteidigen  läßt  über  die  Hinrichtung  des  Sohnes;  oder  wie 
er  in  der  Stoa  sowohl  als  in  der  Lehre  des  Piaton  und  Aristoteles 
die  ganz  ausgearteten  Nachfolger  mit  den  ersten  Meistern  zu- 
sammenwirft, und  über  den  Unterschied  der  Systeme  ohne  alle 
Einsicht  in  den  Geist  unbefangen  hinredet.  So  daß  jeder  andere 
Bericht  selbst  aus  den  Sammlungen  des  unverständigen  Diogenes, 
wenn  sie  nur  mit  Verstand  gelesen  werden,  ein  sicherer  Weg- 
v/eiser  ist,  und  daß,  wer  aus  dem  Cicero  die  Ethik  der  Älteren 
wollte  kennen  lernen,  gewiß  nicht  besser  beraten  wäre,  als  wer 
irgendein  System  der  Sittenlehre  aus  der  neuesten  allgemeinen 
und  kritischen  Geschichte  dieser  Wissenschaft  beurteilen  wollte. 

III.  Ein  Gegenstück  zu  der  erwähnten  Vieldeutigkeit ^  des 
Aristoteles  ist  die  anglikanische  Schule  mit  ihrem  Hinüber- 
spielen in  die  verschiedensten  Ansichten.  Niemand  aber  wird  hof- 
fentlich die  sehr  verschiedene  Ursache  dieser  Erscheinung  bei  dieser 
und  bei  jenem  miteinander  verwechseln.  Eher  könnte  es  vielleicht 
unbillig  erscheinen,  das,  was  von  so  verschiedenen  Schriftstellern 
herrührt,  geflissentlich  zusemmenzustellen,  und  wohl  gar  erst  da- 
durch den  Schein  der  Unbestimmtheit  und  des  Widerspruchs  hervor- 
zubringen. Allein  keinem,  der  sie  genau  kennt,  wird  die  Gleichheit 
entgehen,  wenn  gleich  Shaftesbury  sich  mehr  dem  Piaton  zu 
nähern  scheint,  Hume  dagegen  das  aristippische  Element  aufgefaßt 
hat,  und  Ferguson  gar  von  vielen  für  einen  Stoiker  ist  gehalten 
worden.  Denn  wie  im  Shaftesbury  das  Gleichgewicht  beider  Triebe 
die  Hauptsache  ist,  leuchtet  für  sich  ein.  Vom  Hutcheson  aber 
kann  man  sagen,  sein  sittlicher  Sinn  sei  nur  für  den  Durch- 
schnittspunkt beider  dasselbe  Gefühl,  welches  bei  Fichte  das  Ge- 
wissen ist  für  die  Übereinstimmung  des  wirklichen  Ich  mit  dem 

^  Ausgabe  1803  hat  hier  „Vielseitigkeit". 


118  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  116] 

ursprünglichen.  Smith  hingegen  hat  mit  seinem  Grundsatz,  welcher 
die  Sympathie  der  Menschen  zum  Kennzeichen  des  Sittlichen  macht, 
alles  überboten,  was  oben  gesagt  worden  ist  über  die  Art,  wie 
das  Wohlwollen  wieder  in  die  Selbstliebe  zurückkehrt;  denn  gewiß 
werden  die  Beobachtenden  nicht  sympathisieren  mit  demjenigen, 
dessen  selbstliebige  Triebe  zu  schwach  sind,  weil  sonst  auch 
seine  wohlwollenden  sich  selbst  zerstören,  und  seine  Erhaltung 
dann  ihnen  vergeblich  zur  Last  fiele.  Ja,  auch  andere,  die  gewöhn- 
lich von  diesen  getrennt  werden,  wie  Clarke  und  Wollaston,  ge- 
hören nicht  minder  zu  derselbigen  Schule.  Denn  des  ersteren  an- 
gemessene Behandlung  der  Dinge  ist  nichts  als  eine  über  den 
Menschen  hinaus  erweiterte  Sympathie.  Wollaston  aber  setzt  bei 
den  Sätzen,  welche  er  aus  den  Handlungen  zieht,  überall  das 
Wohlwollen  voraus,  und  einer  Voraussetzung  von  der  Ansicht, 
nach  welcher  gehandelt  worden,  bedarf  er,  weil  sonst  aus  einer 
Handlung  unzählige  Sätze  könnten  gezogen  werden.  Und  auch 
nur  in  Absicht  auf  diese  Einrichtung  und  Form  des  prüfenden  Ver- 
fahrens kann  man  sagen,  daß  er  dem  Kant  vorangegangen.  Wie 
wenig  Wert  auch  daher  das  den  Engländern  Gemeinschaftliche 
haben  mag,  wie  denn,  wer  einigen  wissenschaftlichen  Sinn  in  sich 
hat,  noch  die  gallikanische  Darstellung  vorziehen  muß:  so  bleibt 
ihnen  doch  der  Ruhm,  fast  ausschließend  unter  den  Neueren  eine 
Art  von  Schule  zu  bilden,  welche  sich  noch  mehr  durch  die  An- 
gemessenheit zur  ganzen  Denkart  des  Volkes  als  ein  in  wissen- 
schaftliche Form  gebrachtes  Erzeugnis  ihres  gemeinschaftlichen 
Verstandes  bewährt. 

IV.  Um  aber  im  Zusammenhange  zu  übersehen,  wie  jene 
drei  verschiedenen  Gestalten  der  obersten  ethischen  Idee  auch  von 
den  Alten  sind  wahrgenommen  und  unterschieden  worden,  ist 
folgendes  zu  bemerken.  Zuerst  nämlich,  daß  das  Wort,  welches 
wir  durch  Glückseligkeit  zu  übertragen  pflegen,  wie  es  auch  schon 
in  der  gewöhnlichen  Rede,  aus  der  es  herübergenommen  ist,  halb 
gemein  war  und  halb  mystisch,  so  auch  im  Gebrauch  der  Schule 


[111,1,117]  Anhang.  119 

leicht  von  jedem  sich  konnte  angeeignet  werden.    Daher  keines- 
wegs derselbe  Inhalt  überall  unterzulegen  ist,  sondern  das  Gleich- 
förmige ist  nur  die  Stelle  des  Begriffs  im  System.  Wie  denn  offen- 
bar der  schwerscheinende  Satz  der  Stoiker  und  des  Epikuros, 
von  der  Eudämonie  des  Weisen  auch  unter  allen  Martern,  zwar 
der  Form   nach  bei  beiden  dasselbe   bedeutet,   dem  Inhalt  nach 
aber   etwas   ganz   Verschiedenes.    Weshalb   auch    Epikuros   zwar 
dieses  behaupten  konnte,  Aristippos  aber  es  mit  Aristoteles  leugnen 
mußte.    Hier  nun  sind  die  meisten  und  unter  ihnen  auch  Kant 
durch  das  Wort  getäuscht  worden,  und  haben  die  Stoiker  beschul- 
digt, als  hätten  sie  eine  Summe  von  angenehmen  Empfindungen 
in  ihrem  höchsten  Gut.    Dann  erdichteten  sie  sich  weiter,  wohl 
der  Zusammenstimmung  wegen,  einen  noch  weniger  veranlaßten 
Vorwurf  gegen  den  Epikuros,  als  habe  auch  er  eine  Tugend,  in 
praktischem   Sinne    nämlich,    in    dem   seinigen.     Ferner,    was   die 
Alten  den  Zweck  nannten,  auf  den  alles  bezogen  und  um  des- 
willen  alles   gewählt  wird,   dieser  Ausdruck   wird   nur  bisweilen 
uneigentlich  für  das  höchste  Gut  gebraucht,   und   soll  eigentlich 
dasjenige  bezeichnen,  was  für  alle   Handlungen  gemeinschaftlich 
der  nächste  Bestimmungsgrund  ist  bei  der  Wahl.    Also  dasselbe, 
was  in  unserer  Sprache  das  Gesetz  genannt  wird;  nur  daß  die 
Alten  selten  den  Inhalt  dieser  Formel  unabhängig  darstellen,  son- 
dern zurückgeführt  auf  den  Begriff  der  Güter  oder  der  Tugend. 
Hieraus  sind  mehrere  teils  schwer  zu  vereinigende  Äußerungen, 
teils  offenbare  Mißverständnisse  späterer  Berichterstatter  am  besten 
zu  verstehen.    Wer  aber  aus  der  Übertragung  des  Marcus  Cicero 
dieses   widerlegen   wollte,    der   erinnere   sich   an   mehrere  solche 
Unschicklichkeiten,  wie  er  zum  Beispiel  das,  was  die  Stoiker  die 
mittlere  Pflicht  nennen  im  Gegensatz  der  vollendeten,  ganz  ohne 
Sinn  als  die  angefangene  dolmetscht.    Endlich,  indem   die  Alten 
die  Frage  aufwerfen  und  beantworten,  was  denn  um  seiner  selbst 
und  was  um  eines  anderen  willen  gewählt  werde,  so  übersehen 
sie  den  großen  Unterschied  zwischen  dem  Zusammenhange  des 


120  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  118] 

Teils  mit  dem  Ganzen,  und  dem  des  Mittels  mit  dem  Zweck, 
und  sagen  auch  von  dem  Teil  in  Beziehung  auf  sein  Ganzes,  er 
werde  um  eines  andern  willen  gewählt,  ohne  zu  bedenken,  daß 
bei  einer  solchen  Fortschreitung  kein  Übergang  des  Willens  statt- 
finde von  einem  Gegenstand  zum  andern,  sondern  vielmehr  ein 
standhaftes  Verharren  bei  einem  und  demselbigen.  Daher  so 
manche  Sätze,  die  uns  wunderlich  erscheinen,  zum  Beispiel,  daß 
die  Tugend  um  ihrer  selbst,  aber  auch  um  des  höchsten  Gutes 
willen  gewählt  werde.  Daß  sie  aber  die  Idee  des  Weisen  ganz 
so  gebrauchen,  wie  es  der  obigen  Ableitung  gemäß  ist,  dies  er- 
hellt fast  aus  allen  Sprüchen,  die  in  allen  Systemen  von  ihm  vor- 
kommen, und  wäre  unnötig  ausführlicher  zu  beweisen. 


Zweites  Buch. 
Kritik  der  ethischen'  Begriffe. 

Einleitung. 

Von  der  Methode,  die  ethischen  Begriffe  zu  bilden,  und 
von  der  Art,  wie  die  vorhandenen  erscheinen. 

Die  untergeordneten  Begriffe,  wie  verschieden  sie  auch  sein 
mögen,  sowohl  dem  Umfange  nach  als  in  der  Gestalt,  können  in 
ihrer  Beziehung  auf  das  System  nicht  anders  gedacht  werden,  als 
daß  sie  durch  Ableitung  hervorgegangen  sind  aus  der  höchsten 
Idee.  Deshalb  auch  war  es  notwendig,  die  Prüfung  von  dieser 
anzufangen,  und  dann  erst  zu  den  Begriffen,  als  dem  niedrigeren, 
herabzusteigen.  Da  es  jedoch  eine  Dialektik  gibt,  welche  für  alle 
Wissenschaften  und  so  auch  für  die  Ethik  das  Gegenteil  behaupten 
möchte:  so  ist  diese  zuvor  mit  wenigem  zurecht  zu  weisen.  Die 
Behauptung  nämlich  geht  in  Beziehung  auf  unsem  Gegenstand 
dahin,  daß  die  sittliche  Idee  selbst  nur  auf  dem  Wege  der  Ab- 
sonderung gefunden  worden,  nachdem  man  an  verschiedenen  Arten 
der  Handlungen  den  Gegensatz  zwischen  dem  einige  derselben 
begleitenden  Beifall  und  dem  den  andern  nachfolgenden  Miß- 
fallen beobachtet.  Dieses  aber  selbst  vorausgesetzt,  da  es  eines- 
teils eine  lediglich  geschichtliche  Frage  ist  und  als  solche  in 
unsern  Zweck  nicht  eingreift,  in  einem  andern  Sinne  aber  ge- 
nommen höher  liegt  als  die  jetzige  Untersuchung:  so  ergibt  sich 
doch  daraus  keineswegs  das  Gefolgerte.    Denn  wenn   auch  die 


^  Ausgabe  1803  „sittlichen". 


122  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre-      [111,1,  120] 

ethische  Idee  erst  so  hätte  müssen  gefunden  werden,  so  entsteht 
daraus  ein  Schein  freilich,  als  ob  jene  Begriffe  müßten  früher 
vorhanden  sein,  welcher  jedoch  selbst  die  Sache  so  weit  erleuchtet, 
daß  jeder  sieht,  sie  sind  nicht  ethische  Begriffe  gewesen,  und 
ethische  Begriffe  vor  der  Idee  müssen  auch  bei  dieser  Ansicht  für 
Unsinn  gehalten  werden.  Was  nämlich  jene  Begriffe  des  Beifalls 
und  der  Mißbilligung  anbetrifft,  so  können  sie  freilich,  insofern 
sie  zur  Entwicklung  der  ethischen  Idee  hingeführt,  ebenfalls 
ethische  gev^esen  sein:  allein  eben  insofern  können  sie  auch  nur 
angesehen  werden  als  Anwendungen  dieser  Idee,  und  als,  wenn- 
gleich unentwickelt,  sie  in  sich  enthaltend  und  auf  sich  beziehend. 
Was  aber  die  Arten  und  Abteilungen  menschlicher  Handlungen 
betrifft,  welche  vor  Beobachtung  jener  Merkmale  gemacht  worden: 
so  können  diese  nicht  ethische  gewesen  sein,  und  es  müssen  viel- 
mehr in  ihnen  sittliche  und  unsittliche  Handlungen  miteinander 
vermischt  gefunden  werden.  Wenn  man  zum  Beispiel  abgeteilt 
hatte  nach  den  Kräften,  in  Handlungen  des  Verstandes  und  Willens, 
oder  nach  der  Anschaulichkeit,  in  innere  und  äußere,  oder  nach 
der  Wirkung,  in  solche,  die  nur  den  Handelnden  selbst,  und  solche, 
die  auch  andere  angehn,  oder  wie  irgend  sonst  vor  Auffindung  der 
sittlichen  Begriffe :  so  ist  weder  einzusehn,  wie  diese  Begriffe  eher 
in  jenen  kleineren  Haufen  hätten  gefunden  werden  können  als  in 
der  großen  gesamten  Masse,  und  wie  also  in  Beziehung  auf  sie 
die  Abteilungen  anders  als  ganz  zufällig  sein  können,  noch  auch 
demgemäß,  wie  bei  dieser  Zufälligkeit  solche  Abteilungen  über- 
tragen werden  können  in  das  System  der  Ethik,  so  daß  es  richtig 
wäre,  in  dieser  zu  unterscheiden  zwischen  beifälligen  und  miß- 
fälligen Handlungen  des  Verstandes  und  Willens,  oder  gegen 
sich  selbst  und  andere.  Vielmehr  wäre  von  vornherein  das  Gegen- 
teil zu  vermuten,  daß  nämlich  auf  solche  Art  die  sittliche  Idee 
nicht  gliedermäßig,  wie  sie  gewachsen  ist,  zerlegt,  sondern  wider- 
natürlich müßte  zerhackt  und  zerbrochen  sein;  indem  ja  das  dia- 
lektische  Verfahren   mit  Bewußtsein  gar  nicht  von   ihr,  sondern 


[111,1,  121]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  123 

von  einem  fremden  Gebiet  ausgegangen  ist.  Sollte  es  sich  aber 
dem  ohnerachtet  entgegengesetzt  verhalten:  so  könnte  doch  dies 
nicht  anders  bewährt  und  anerkannt  u^erden,  als  indem  das  Ver- 
hältnis dieser  Begriffe  zur  höchsten  Idee  der  Ethik  dargelegt,  und 
sie  dadurch  aufs  neue  und  regelmäßig  gebildet  w^ürden.  Und  nur 
dann  wäre  ihre  Stelle  im  System  keiner  Anfechtung  ausgesetzt, 
wenn  sich  hieraus  ergäbe,  daß  sie  durch  reine  Ableitung  eben- 
falls  hätten   können  gefunden   werden. 

Welchen  1  etwa  dieses  noch  zweifelhaft  sein  sollte,  die  mögen 
bedenken,  wie  es  selbst  mit  den  natürlichen  und  sichtbaren  Gegen- 
ständen sich  nicht  anders  verhält.  So  möchte  jemand  behaupten,  man 
habe  lange  zuvor,  ehe  die  naturwissenschaftliche  Idee  eines  tierischen 
Körperbaues  vorhanden  gewesen,  schon  einzelne  darunter  gehörige 
Begriffe  gefunden,  und  unter  mancherlei  Abteilungen  die  lebenden 
Wesen  geordnet  und  zusammengestellt.  Zweierlei  aber  wird  den- 
noch müssen  zugegeben  werden.  Einmal,  daß  auch  die  roheren  Ver- 
suche dieser  Art  nicht  im  Geist  einer  echten  Naturbeschreibung 
gewesen;  wie  denn  viele  derselben,  so  wie  die  Behandlung  sich 
näher  an  jene  Idee  angeschlossen  hat,  wieder  haben  zerstört  werden 
müssen,  und  das  gleiche  Schicksal  noch  mehreren  bevorsteht,  je 
genauer  in  Zukunft  die  Naturkenntnis  alles  für  die  höhere  Wissen- 
schaft bearbeiten  wird.  Andernteils  aber,  daß  anderen,  obgleich 
in  vollendeter  Gestalt,  jene  Idee  zum  Grunde  gelegen,  und  sie  nur, 
indem  dieses  vollkommener  dargestellt  worden,  in  der  Wissen- 
schaft mit  Recht  ihren  Platz  eingenommen  haben.  Ebenso  nun 
werden  auch  in  der  Ethik  die  Begriffe  ihre  wissenschaftlichen 
Ansprüche  nur  behaupten  können,  wenn  sie  als  aus  der  Idee 
abgeleitet  und  ihr  entsprechend  anzusehen  sind;  und 
dieses  also  ist  der  Maßstab,  nach  welchem  sie  in  unserer  Unter- 
suchung müssen  geprüft  werden.  Wenn  nun  bei  Betrachtung  der 
verschiedenen  Systeme  eine  Mehrheit  von  Begriffen  sich  darstellt: 
so  werden  diese  entweder  alle  gegeneinander  sich  verhalten  wie 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


124  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  122] 

obere  und  untere  und  gleichen  untergeordnete;  oder  es  werden 
einige  zu  andern  in  diesem  Verhältnis  nicht  stehen,  so  daß  nicht 
nur  von  Begriffen,  sondern  auch  von  Reihen  eine  Mehrheit  zu 
entdecken  ist.  Was  zuerst  diejenigen  betrifft,  welche  unterein- 
ander eine  Reihe  bilden,  so  ist  zuvörderst  der  Einteilungsgrund 
zu  betrachten,  welcher  Gehalt  und  Umfang  eines  jeden  bestimmt, 
ob  er  aus  der  ethischen  Idee  oder  dem  mit  ihr  zugleich  gegebenen 
Gebiet  ihrer  Anwendung  hergenommen  ist.  Ferner  aber  ist  zu 
bemerken,  daß  es  in  jeder  Reihe  zwei  Arten  von  Begriffen  geben 
muß,  wenn  sie  als  geschlossen  soll  angesehen  werden,  von  welchen 
die  einen  möchten  formale  zu  nennen  sein,  die  anderen  aber 
reale.  Jene  nämlich  sagen  bloß  eine  Beziehung  aus  auf  die  sitt- 
liche Idee,  es  sei  nun  allgemein  oder  mit  Bezeichnung  eines  be- 
schränkten Umfangs,  und  tragen  eben  in  Hinsicht  auf  diesen  Um- 
fang das  Merkmal  der  weiteren  Teilbarkeit  an  sich.  Soll  nun 
diese  nicht  ins  Unendliche  fortgehen:  so  muß  zuletzt  der  Raum 
dieser  Begriffe  ausgefüllt  werden  durch  reale,  solche  nämlich,  welche 
nicht  weiter  als  teilbar  gedacht  werden  und  ein  Prinzip  der  Ein- 
heit in  sich  selbst  haben.  Und  dieses  eben  müßte  bei  ihnen  be- 
sonders noch  geprüft  werden,  ob  es  ein  sittliches  ist  oder  ein 
fremdartiges.  So  zum  Beispiel  wäre  der  Begriff  der  Tugend  im 
allgemeinen  sowohl  als  auch  besonders  der  geselHgen  Tugend,  ein 
formaler  und  in  Absicht  auf  seinen  Umfang  noch  weiterhin  teil- 
bar. Als  ein  realer  hingegen  und  unteilbar  wird  gedacht  der 
Begriff  der  Wohltätigkeit  oder  jeder  andern  bestimmten  Tugend. 
Geteilt  freilich  kann  auch  dieser  werden,  wie  man  sich  denn 
denken  kann,  eine  Wohltätigkeit  durch  Mitteilung  und  eine  durch 
Handlung,  und  eine,  welche  sich  auf  das  Äußere,  und  eine  andere, 
welche  sicli  auf  das  Innere  bezieht.  Indem  er  aber  aufgestellt 
ward  als  ein  realer  Begriff:  so  wird  behauptet,  daß  jede  solche 
Teilung,  wie  nützlich  sie  auch  sein  möge  zu  irgendeinem  Behuf, 
dennoch  den  Vorbehalt  mit  sich  führe,  daß  das  eigentlich  Sittliche 
durch  sie  nicht  weiter  geteilt  werde.  Denn  es  wird  vorausgesetzt, 
daß,  wer  diese  Tugend  besitzt,  sie  aucK  ganz  besitze,  und  daß  nicht 


[111,1,  123]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  125 

wieder  Teile  von  ihr  gedacht  werden  können,  die  als  Tugenden 
in  der  Wirklichkeit  können  abgesondert  erscheinen;  welches  zum 
Beispiel  in  dem  obigen  Begriff  der  geselligen  Tugend,  als  einem 
formalen,  nicht  war  gedacht  worden.  Demnächst  aber  ist  offenbar, 
daß  in  einem  System  der  Ethik  mehrere  Reihen  von  Begriffen 
können  und  vielleicht  sollen  gefunden  werden,  indem  aus  jeder 
von  den  verschiedenen  Gestalten,  unter  denen  die  oberste  Idee  an- 
getroffen wird,  auch  eine  eigene  Reihe  von  Begriffen  muß  abzu- 
leiten sein.  Weshalb  auch  darauf  zu  merken  ist,  auf  welche  von 
diesen  Gestalten  eine  jede  Reihe  sich  bezieht,  und  ob  alles,  was 
unter  derselben  enthalten  ist,  auch  dieser  Beziehung  treu  bleibt, 
ohne   zu  verwildern  und  durch   Vermischung   auszuarten. 

Wird!  nun  dieses  angev/endet  auf  die  verschiedenen  Systeme, 
welche  vorhanden  sind :  so  ergibt  sich  zuerst,  daß  die  formalen  Be- 
griffe selbst,  um  so  mehr,  je  weiter  sie  hinabsteigen,  in  einem  jeden 
verschieden  sein  müssen  von  denen  in  allen  übrigen,  und  so  auch 
noch  mehr  die  realen.  Denn  wie  wäre  es,  was  die  letzten  betrifft, 
möglich,  daß  aus  Ideen,  die  im  Inhalt  ganz  verschieden  sind,  das 
einzelne  sollte  gleich  und  ähnlich  können  entwickelt  werden?  Was 
aber  die  ersten  anbelangt,  so  ist  ebenfalls  klar  genug,  daß  der  ver- 
schiedene Inhalt  der  Idee  auch  einen  ganz  verschiedenen  Ein- 
teilungsgrund geben  muß,  und  daß  in  verschiedenen  Systemen  nur 
etwa  die  allgemeinen  Ausdrücke  des  sittlichen  Bejahens  und  Ver- 
neinens  können  dieselbigen  sein.  Vielleicht  möchte  jemand  hier- 
gegen einwenden,  daß  nicht  die  Idee  selbst  dürfte  geteilt  werden, 
sondern  vielmehr  das  ihr  angewiesene  Gebiet,  und  dieses  könnte 
ja  in  mehreren  das  nämliche  sein,  wie  denn  für  dasselbe  mehrere 
den  allgemeinen  Ausdruck  menschliche  Natur  miteinander  gemein 
haben.  Aber  auch  diese  wird  ja,  wenn  die  Idee  anders  ist,  nach 
einem  anderen  Grunde  müssen  geteilt  werden;  und  gewiß  wird, 
dafern  es  folgerecht  sein  will,  ein  System,  welches  auf  die  bloße 
Empfindung  ausgeht,  eine  andere  Teilung  vornehmen,  als  das- 
jenige,  welches   die   Tätigkeit  selbst  sich   zum   Ziel  setzt.    Noch 

*  Absatz  nicht  im  Original. 


126  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  124] 

weniger  etwa  würde  der  Einwurf  besagen,  es  könne  ja  der  all- 
gemeine Begriff  der  Angemessenheit  zur  sittlichen  Idee,  ohne 
Hinsicht  auf  den  Gehalt  von  dieser,  geteilt  werden  nach  einem 
logischen  Prinzip,  so  wie  etwa  Kant  uns  aufstellt  das  Verzeichnis 
der  Kategorien  der  Freiheit  in  Ansehung  der  Begriffe  des  Guten 
und  Bösen,  woraus  denn  offenbar  formale  Begriffe  entstehen, 
welche  in  allen  Systemen  ohne  Unterschied  des  Gehaltes  ihrer 
Forderungen  müßten  zu  brauchen  sein.  Denn  die  Tafel  selbst 
zeigt  genugsam  das  Gegenteil,  indem  darin  bald  unter  einer  Ab- 
teilung vereinigt  ist,  was  stattfinden  kann  in  der  Ethik,  und  was 
nicht;  bald  Teilungen  gemacht  sind,  welche  ethisch  gar  keine  Be- 
deutung haben,  bald  durcheinander  geworfen,  was  getrennt  sein 
sollte;  so  daß  nicht  Not  ist,  in  Beziehung  auf  sie  viel  gegen  die- 
jenigen zu  sagen,  welche  meinen,  das  Heil  müsse  überall  zu 
finden  sein  bei  einem  solchen  Verfahren.  Ja,  Kant  selbst  erklärt 
wörtlich"  sowohl  als  durch  die  Tat,  daß  seine  Absicht  damit  mehr 
auf  eine  Annäherung  der  ethischen  Begriffe  von  außen  her  ge- 
gangen, als  auf  derselben  Erfindung  und  Anordnung.  Femer  aber, 
was  die  voneinander  unabhängigen  Begriffe  betrifft,  welche  die 
verschiedenen  Reihen  anfangen :  so  wäre  zu  untersuchen,  wie  voll- 
ständig eine  jede  ausgeführt  worden,  noch  mehr  aber,  ob  auch 
wirklich  eine  richtige  Beziehung  auf  die  entsprechende  Gestalt  der 
höchsten  Idee  zugrunde  gelegen.  Demzufolge  also  müßte  jedes 
System  seinen  eigenen  geschlossenen  Kreis  ethischer  Begriffe 
haben,  durch  welche  der  gesamte  Umfang  des  sittlichen  Gebietes 
anders  als  bei  andern  geteilt,  und  durch  andere  reale  Einheiten 
ausgefüllt  würde.  Ja,  in  der  vollständigen  Ausführung  müßte 
dieser  Kreis  ein  dreifacher  sein,  und  wenigstens  müßte  die  Prü- 
fung das  Unvollständige  ergänzen,  entweder  darstellend  oder  nur 
divinierend,  indem  von  dem  Geist  und  Wert  einzelner  Bruch- 
stücke einer  unvollendeten  Reihe  auf  das  übrige  geschlossen  würde. 
Daß  aber  dieses  ausführliche  und  mühsame  Verfahren  mit 
dem   Werte   dessen,   was   bisher  in   diesem   Teil  der  Sittenlehre 


[111,1,  125]  11.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  127 

geleistet  worden  ist,  in  keinem  Verhältnis  stehen  würde,  muß 
teils  schon  aus  den  Schlußsätzen,  welche  das  erste  Buch  ange- 
deutet, erhellen,  teils  wird  jede  auch  nur  flüchtige  Betrachtung 
der  eingeführten  Begriffe  selbst  in  ihrer  Verbindung  ohne  Zweifel 
darauf  hinführen.  Denn  jenes  muß  gezeigt  haben,  um  wieviel 
weniger,  als  gewöhnlich  gedacht  wird,  die  ethischen  Systeme  in 
ihren  Grundideen  sich  voneinander  scheiden,  und  wie  fast  keines 
ohne  ein  tadelnswertes  Hinschielen  auf  die  andern  zu  finden  ist; 
welcher  Vorwurf  noch  zum  Überfluß  gerade  die  ausgeführtesten 
auch  am  schärfsten  zeichnet.  Wer  aber  diese  ^  anstellen  will,  dem 
kann  es  nicht  entgehen,  wie  in  der  Tat  die  Verwirrung  noch 
größer  ist,  als  sie  im  voraus  sich  erwarten  ließ.  Überall  bis  zum 
Widerwillen  zeigen  sich  dieselben  Einteilungen  und  Begriffe ;  auch 
die  Darstellungen,  welche  am  meisten  voneinander  abweichen 
sollten,  borgen  eine  von  der  andern;  und  anstatt  Eigenes  zu  ent- 
wickeln, ist  das  systematische  Bestreben  so  träge,  daß  es  sich  nur 
begnügt,  gegen  einiges  von  dem  Vorhandenen  zu  streiten,  indem 
es  das  übrige  sich  aneignet.  Kurz,  alles  ist  allen  so  gemein,  daß, 
wenn  die  historischen  Spuren  verwischt  werden,  niemand  mehr 
einen  Grund  haben  kann,  einiges  mehr  diesem,  anderes  mehr  einem 
andern  System  zuzuschreiben,  und  daß  ganz  von  selbst  der  Ver- 
dacht entsteht,  daß  allen  diesen  Ansichten  und  Begriffen  ein 
anderer  als  ethischer  Ursprung  zukommen  möge.  Da  nun  die  Ver- 
wirrung weiter  herabwärts  immer  zunimmt,  und  in  den  für  real 
gehaltenen  Begriffe  so  groß  ist,  daß  nicht  selten  derselbe  unter 
mehrere  ganz  verschiedene  formale  gezogen  wird:  so  scheint  die 
sicherste  Art  der  Behandlung  diese,  daß  beide  Klassen  gänzlich 
voneinander  gesondert,  und  zuerst  die  formalen  Begriffe  geprüft, 
dann  aber  mit  dem  Licht,  welches  von  hier  aus  auf  sie  fallen 
muß,  auch  die  realen  beleuchtet  werden. 


*  So  schreibt  Ausgabe  1846;  es  muß  offenbar  heißen:  „dieses",  wie  auch 
Ausgabe  1803  angibt 


128  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  12Ö] 


Erster  Abschnitt. 
Von  den  formalen  ethischen  Begriffen. 

Pflichten,  Gehen  wir  nun  über  zur  Prüfung  der  formalen  Begriffe  der 

Tugenden  und  5;^j^j|^^  SO  treten  deren  drei  heraus  vor  allen  übrigen,  jeder  eine 
Reihe  von  andern  unter  sich,  keiner  aber  dem  andern  unter- 
geordnet; die  Begriffe  nämHch  der  Pflichten,  der  Tugenden  und 
der  Güter,  mit  ihren  Gegensätzen  von  Übertretungen,  Lastern  und 
Übeln,  und  den  sich  auf  sie  und  ihre  Verhältnisse  beziehenden 
Nebenbegriffen.  So  nämlich,  wie  angedeutet  ist,  erscheinen  sie  im 
ganzen;  denn  im  einzelnen  fehlt  es  auch  hier  nicht  an  Abwei- 
chungen und  an  Verworrenheit.  Wie  zum  Beispiel  die  Stoiker 
zwar  im  allgemeinen  Tugenden  und  Güter  unterscheiden,  und  als 
getrennte  Abschnitte  der  Sittenlehre  behandeln;  dann  aber  doch 
auch  die  Güter  einteilen  in  Tugenden,  und  in  solche,  die  es  nicht 
sind;  so  daß  zu  schließen  ist,  das  nämliche  Merkmal,  wodurch 
etwas  als  Tugend  gedacht  wird,  nötige  auch  es  zu  denken  als  ein 
Gut.  Oder  v/ie  die  Neueren  mit  den  ihnen  geläufigeren  Begriffen 
der  Tugend  und  der  Pflicht  verfahren,  welche  sie  zwar  unter- 
scheiden in  allgemeinen  Erklärungen  sowohl  als  in  der  Art,  wie 
sie  ganz  anders  jeden  zu  teilen  pflegen;  geht  man  aber  weiter 
ins  einzelne  hinab,  so  findet  man  nicht  selten  ganz  das  nämliche 
als  Pflicht  und  auch  als  Tugend  aufgeführt.  Sonach  schiene  es 
wieviel  Pflichten  zu  geben,  soviel  auch  Tugenden,  in  beiden  Be- 
griffen gleiches  zusammengefaßt,  und  durch  beide  das  Sittliche 
auf  gleiche  und  genau  entsprechende  Weise  geteilt.  Ja  höchst 
seltsam  und  verworren  werden  oft  beide  durcheinander  geworfen, 
wenn  zum  Beispiel  Garve,  nachdem  er  gelehrt,  die  Klugheit  sei 
eine  Tugend,  dann  zu  vernehmen  gibt,  es  sei  die  erste  Pflicht  des 
klugen  Mannes,  daß  er  zugleich  tapfer  sei  und  besonnen,  welches 
doch   selbst  wieder  andere   Tugenden  sind;   so   daß   auf  solche 


[111,1,  127]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  129 

Art  beide  Begriffe  ganz  ineinander  geschoben  werden.  Doch 
diese  Verwirrung  zeigt  sich  erst  in  den  realen  Begriffen,  und 
könnte  also  leicht  nur  ein  Fehler  der  Ableitung  sein,  welche  zur 
Ungebühr  genähert  hätte,  was  entfernt  bleiben  sollte.  Allgemeiner 
aber  und  höher  hinauf  findet  man  dieses  Ineinanderschieben  bei 
Kant,  welcher  die  Frage  aufstellt,  inwiefern  einer  dieser  Begriffe  Kant, 
vom  andern  könne  ausgesagt  werden,  und  sich  darin  mannig- 
faltig und  höchst  undialektisch  verwickelt.  So  hat  er  Pflichten, 
welche  Tugendpflichten  sind,  und  solche,  die  es  nicht  sind,  doch 
aber  ethische,  dann  auch  allerlei,  was  zu  tun  Tugend  sei,  aber 
nicht  TugendpfHcht;  und  bald  meint  er,  man  könne  sagen,  der 
Mensch  sei  zur  Tugend  verpfHchtet,  bald  wiederum,  man  könne 
nicht  sagen,  es  sei  Pflicht  die  Tugend  zu  besitzen.  Indes  wird 
weder  diese  Verwirrung  noch  die  oben  angeführte  der  Stoiker 
jemanden  bewegen,  es  müßte  denn  aus  Trägheit  zur  Untersuchung 
geschehen,  zu  glauben,  weder  daß  beide  Begriffe  gleich  oder  einer 
dem  andern  untergeordnet  wären,  noch  auch  daß  einer  oder  beide, 
wie  sie  denn  freilich  aus  dem  gemeinen  Redegebrauch  herüber- 
genommen sind,  etwas  gar  nicht  in  die  Wissenschaft  Gehöriges 
bezeichneten.  Vielmehr  wird  jeder  überall,  er  gehe  nun  der  Mehr- 
heit der  Andeutungen  nach  oder  dem  eigenen  Gefühl,  von  dem 
wesentlichen  Unterschied  sowohl  als  der  gleichen  Unentbehrlich- 
keit  beider  überzeugt  bleiben,  und  den  Fehler  nur  in  einer  sich 
selbst  mißverstehenden  Dialektik  suchen,  welche  eben  prüfend  soll 
zurechtgewiesen  werden.  Ferner  erhellt,  daß  keiner  von  ihnen  dem 
andern  untergeordnet  ist,  auch  schon  daraus,  weil  es  Darstellungen 
der  Sittenlehre  gibt,  in  denen  einer  von  beiden  gänzlich  fehlt,  indem 
es  undenkbar  und  der  Natur  zuwider  ist,  daß  eine  Wissenschaft 
mitten  in  der  Reihe  der  ihr  zugehörigen  Begriffe  sollte  anfangen 
oder  aufhören  können.  Ihren  wesentlichen  Unterschied  nun  und 
ihre  gleiche  Ursprünglichkeit  vorausgesetzt,  entsteht  um  so  mehr, 
da  sich  kein  vierter  Begriff  findet,  welcher  den  gleichen  Rang  be- 
haupten wollte,  der  Gedanke,  daß  jeder  von  ihnen  einer  andern 

Schleiermacher,  Werke.    I.  9 


130  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre,      [111,1,  128] 

Form  der  ethischen  Idee  entspricht,  und  als  oberster  seiner  Art 
das  Sittliche  überhaupt  bezeichnet,  insofern  es  auf  jene  Form  sich 
bezieht.  Demnach  müßte  in  allen  ethischen  Systemen  ihr  Ver- 
hältnis gegeneinander  dieses  sein,  daß  keiner  dem  andern  mit 
Recht  untergeordnet  wäre,  noch  auch  so  beigeordnet,  daß  sie  unter 
sich  den  Umfang  des  sittlichen  Gebietes  teihen  und  auf  diese 
Weise  einer  den  andern  ergänzte.  Denn  in  diesem  Falle  müßten 
sie  sämtlich  einem  andern  nur  nicht  ausgesprochenen  als  seine 
Teile  untergeordnet  sein.  Sondern  so  vielmehr,  daß  jeder  das 
Sittliche  überhaupt  und  im  allgemeinen  bezeichnet,  und  es  in 
seinen  Unterabteilungen  ganz  aber  nach  einem  andern  Prinzip  so 
teilt,  daß,  wie  weit  auch  die  Teilung  fortgesetzt  werde,  die  Teile 
des  einen  nie  zusammenfallen  mit  denen  des  andern.  Wie  etwa 
der  Geometer  eine  Kreisfläche  teilen  kann,  wenn  er  auf  die  Teil- 
barkeit des  Halbmessers  sieht,  in  konzentrische  Ringe,  sieht  er 
aber  auf  die  Teilbarkeit  der  bildenden  Bewegung,  in  Ausschnitte; 
und  bei  keiner  von  diesen  Teilungen  können  jemals  durch  Kon- 
struktion nach  ihrem  Gesetz  dieselben  Teile  herauskommen,  als 
bei  der  andern.  Ob  nun  jene  Beziehung  auf  eine  bestimmte  Form 
der  obersten  Idee  festgehalten  worden,  ob  ferner  dieses  Verhält- 
nis nicht  verletzt  ist,  und  ob  die  weiteren  Teilungen  der  Begriffe 
ihrer  ursprünglichen  Bildung  entsprechen,  dieses  sind  die  Gegen- 
stände der  mit  ihnen  vorzunehmenden  Prüfung. 

1. 
Vom  Pflichtbegriff. 

Von  dem  Begriffe  der  Pflicht  zuerst  ergibt  sich  aus  allen 
Erklärungen,  welche  einigen  Bestand  haben,  daß  er  das  Sittliche 
bezeichnet  in  Beziehung  auf  das  Gesetz.  Das  Gesetz  bezieht  sich 
unmittelbar  auf  die  Tat,  und  jede  Frage  nach  der  Pflicht  ist  eine 
Frage  nach  dem  Sittlichen  in  einer  bestimmten  Tat.  Was  also 
in  diesem  Sinn  irgenwo  vorkommt,  das  ist  unter  diesen  Begriff 
gehörig    und   hier   mit   in    Untersuchung   zu   ziehen.    So    erklärt 


[111,1,  129]  II.  Kritik  der  ethischen  Begrifife.  131 

Kant  die  Pflicht  als  die  durch  das  Gesetz  bestimmte  Notwendig- 
keit einer  Handlung.  So  auch  wird  Pflicht  sein,  was  die  Stoiker 
sehr  verständlich  erklären  als  dasjenige,  was,  wie  es  im  Zusammen- 
hange des  Lebens  gehandelt  wird,  eine  vernunftmäßige  Verteidi- 
gung zuläßt.  Das  Vernunftmäßige  nämlich  ist,  was  durch  Be- 
ziehung auf  das  Gesetz  gefunden  wird ;  das  erstere  Merkmal  aber 
deutet  sehr  vortrefflich  die  Art  an,  wie  überall  allein  die  Pflicht 
kann  ans  Licht  gebracht  und  bestimmt  werden.  Ebenso  ist  es 
eine  Frage  nach  der  Pflicht,  wenn  gefragt  wird,  ob  in  der  Schlacht 
den  Freund  zu  verlassen  schön  sei  oder  schändlich,  wie  die 
Alten  sagten,  recht  aber  oder  unrecht,  wie  wir  sagen  würden, 
denn  auch  dieses  Wort  drückt  in  unserm  Gebrauch  nicht  eine 
rechtliche  Beziehung  aus,  sondern  eine  sittliche.  Daß  nun  dieser 
Begriff  ein  rein  formaler  ist,  und  seinen  Inhalt  erst  erwartet,  auf 
der  einen  Seite  von  dem  Inhalte  des  Gesetzes,  auf  der  andern 
aber  von  dem  Inhalte  des  Gebietes  der  Handlungen,  worauf  es 
soll  angewendet  werden,  dieses  ist  deutlich.  Und  wenn  Kant 
nur  das  für  heilig  hält,  was  dem  Gesetz  wie  es  von  ihm  aufgestellt 
und  erkannt  worden,  entspricht:  so  hat  er  nicht  Ursache,  also 
begeistert,  wie  er  tut,  den  Namen  der  heihgen  Pflicht  anzurufen. 
Denn  wenn  gleich  in  den  Darstellungen  der  auf  die  Empfindung 
und  den  Genuß  ausgehenden  Sittenlehre  wenig  die  Rede  ist  von 
der  Pflicht:  so  hat  dennoch  dieser  Begriff  auch  dort  seine  Stelle, 
weil  ja  der  Gegenstand  des  Triebes  auf  eine  auch  der  Idee 
jener  Ethik  angemessene  oder  widerstreitende  Art  kann  behandelt 
und  jeder  Augenblick  auf  diese  oder  jene  Art  ausgefüllt  werden. 
Weiter  aber  als  diese  möchte  wohl  keine  Sittenlehre  von  dem 
Begriff  der  Pflicht  entfernt  sein,  so  daß  hieraus  seine  allgemeine 
Gültigkeit  hinlänglich  erhellt.  Was  aber  das  Verhältnis  desselben 
zum  Begriff  der  Tugend  betrifft,  dieses  bezeichnen  die  Stoiker 
sehr  bestimmt,  indem  sie  sagen,  daß  in  jeder  pflichtmäßigen 
Handlung  alle  Tugenden  müssen  vereinigt  sein,  woraus  auch 
umgekehrt   folgt,   daß    dieselbe   Tugend   bei    sehr   verschiedenen 

Q* 


132  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  130] 

Pflichten  geschäftig  ist;  welches  beides  zusammen  die  Verschieden- 
heit der  Beziehung  und  des  Inhalts  beider  Begriffe  in  dem  hell- 
sten Lichte  darstellt.  Unter  den  Neueren  hingegen  pflegt  dieser 
Unterschied  dadurch  bezeichnet  zu  werden,  daß  dem  Sittlichen,  in- 
sofern es  auf  die  Pflicht  bezogen  wird,  Gesetzmäßigkeit,  insofern 
es  aber  der  Tugend  angehört,  Sittlichkeit  zugeschrieben  wird  in 
einem  engeren  Sinne.  Welches  bei  weitem  nicht  so  deutlich  ist, 
sondern  vielmehr  eine  verderbliche  Mißdeutung  zuläßt.  Denn  nicht 
wenige  verstehen  dieses  so,  als  könnte  eine  Handlung  gesetz- 
mäßig sein  in  ethischem  Sinne,  also  entsprechend  dem  Begriff  der 
Pflicht,  dennoch  aber  nicht  hervorgegangen  aus  der  sittlichen  Ge- 
sinnung; woraus  folgen  müßte,  daß  dem  Pflichtbegriff  noch  ein 
außerhalb  des  Sittlichen  gelegenes  Gebiet  unterworfen  wäre,  und 
er  also  kein  ethischer  sein  könnte.  Vielmehr  könnte  eine  solche 
Handlung  nur  durch  einen  falschen  Schein  mit  dem  Gesetz  zu- 
sammentreffend gefunden  werden,  welcher  sogleich  verschwinden 
müßte,  wenn  sie  wirklich  ethisch  bezeichnet  würde,  nämlich  nach 
den  Maximen,  welche  dabei  in  Vergleichung  gekommen.  Setzet 
etwa,  um  eines  von  jenen  abgetragenen  Beispielen  zu  wählen, 
es  habe  einer  ein  anvertrautes  Gut,  so  er  ohne  Gefahr  hätte  zu- 
rückbehalten mögen,  dennoch  erstattet,  um  hernach  durch  Dar- 
legung dessen,  was  in  seiner  Gewalt  gestanden,  sich  im  Besitz  des 
Vertrauens  zu  befestigen:  so  ist  diese  Handlung  ethisch  nicht 
anders  auszudrücken,  als  er  habe  den  größeren,  wenngleich  ent- 
fernteren Vorteil  dem  geringeren  vorgezogen.  Wo  nun,  wie  in 
manchen  eudämonistischen  Sittenlehren,  der  Vorteil  das  Gesetz 
ist,  und  die  Enthaltsamkeit  eine  sittliche  Gesinnung,  da  ist  sie 
sowohl  gesetzmäßig,  als  auch  sittlich;  wo  aber  wie  in  den  rein- 
tätigen Sittenlehren  der  Vorteil  kein  ethischer  Zweck  ist,  da  wird 
sie  auch  nicht  mehr  gesetzmäßig  sein,  als  sie  tugendhaft  ist,  denn 
es  ist  nach  einer  Regel  gehandelt,  welche  gar  keine  Stelle  ein- 
nimmt, und  der  scheinbar  ethische  Ausgang  beruht  nur  auf  einem 
veränderlichen   Verhältnis.    Daher  ist   offenbar,   daß,    wenn   dem 


[111,1,  131]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  133 

Pflichtbegriff  die  Gesetzmäßigkeit,  dem  Tugendbegriff  aber  die 
Sittlichkeit  im  engeren  Sinne  zur  Seite  gestellt  wird,  dieses  kein 
Gegensatz  sein  soll,  als  ob  beide  in  der  Wirklichkeit  könnten  ge- 
trennt sein,  sondern  nur  ein  Hinwegsehen  in  der  Betrachtung. 
Denn  bei  gleicher  Beziehung  auf  das  Gesetz,  welche  nur  sein  kann 
Bejahung  oder  Verneinung,  findet  statt  eine  verschiedene  Be- 
ziehung auf  die  Kraft,  welche  kann  größer  gewesen  sein  oder 
geringer,  um  die  entgegenstehenden  Antriebe  zu  überwinden.  Auch 
dieses  bezeichneten  die  Stoiker,  ohnerachtet  sie  keine  Grade  der 
sittlichen  Kraft  annehmen  wollen,  wie  denn  oftmals  ihre  Dialektik 
besser  ist  als  ihre  Grundsätze.  Nämlich  dieselbe  Handlung,  welche 
sie  in  Beziehung  auf  das  Gesetz  Pflicht  nennen,  nennen  sie  in 
Beziehung  auf  die  Kraft  und  Gesinnung,  je  nachdem  der  Weise 
sie  verrichtet  hat  oder  der  andere,  in  jenem  Falle  eine  richtige 
oder  vollendete  Tat,  in  diesem  ein  Schickliches  im  niedrigen  oder 
zweideutigen  Sinne.  Daß  dies  der  Sinn  ist  von  den  beiden  hier 
gemeinten  und  oft  mißverstandenen  Ausdrücken,  muß  jedem  ein- 
leuchten; wiewohl  der  letztere  von  einigen  noch  in  einer  andern 
verwandten  Bedeutung  gebraucht  worden,  um  nämlich  Bestim- 
mungen anzudeuten,  welche  gefaßt  worden  in  Beziehung  auf  die- 
jenigen Dinge,  von  denen  die  vollkommene  sittliche  Gesinnung 
ihrer  Behauptung  nach  nicht  soll  bewegt  werden.  Wenn  aber 
Garve  hiermit  die  ehemaligen  Tugenden  der  Heiden  vergleicht,  so 
ist  ihm  dieses  zu  verzeihen,  da  er  dem  Marcus  Cicero  folgt,  welcher 
hier  alles  verwirrt  hat,  weil  er,  zur  unglücklichen  Stunde  wie 
immer,  vom  Panaitios  absitzend  sein  eignes  ungelerntes  Roß 
bestiegen  hat.  Kant  indes  hat  offenbar  von  dem  richtigen  Wege 
weit  abweichend  und,  wie  es  ihm  leicht  und  oft  begegnet,  das 
Juridische  mit  dem  Ethischen  verwechselnd,  die  Gesetzmäßigkeit 
und  die  Sittlichkeit  als  Gegensatz  genommen,  und  sich  dadurch, 
wovon  auch  die  Spuren  sich  überall  offenbaren,  den  ganzen  Pflicht- 
begriff, den  einzigen  mit  dem  er  noch  umzugehen  weiß,  ebenfalls 
verdorben.    So  zum  Beispiel  wird  es  ihm  nun  zu  einer  besondern 


134  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  132] 

Pflicht,  daß  alles  aus  Pflicht  geschehen  müsse,  und  noch  zu  einer 
anderen  besonderen,  daß  man  sich  auch  die  Erfüllung  aller  Pflichten 
zum  Zweck  mache,  und  zwar,  um  die  Verwirrung  recht  groß  zu 
machen  und  die  juridische  Beschaffenheit  seiner  Ethik  ganz  auf- 
zudecken, beide  zu  solchen,  bei  denen  wir  nur  zur  Maxime  ver- 
bunden sind,  jede  wirkliche  Ausübung  aber  verdienstlich  ist,  wel- 
ches heißt,  über  die  Nötigung  des  Gesetzes  hinausgeht.  Wie 
nun  dieses,  wenn  anders  die  ethische  Gesetzmäßigkeit  entsprechen 
muß  der  ethischen  Gesetzgebung,  mit  seinem  Begriff  von  der 
letzteren  zu  vereinigen  ist,  daß  sie  nämlich  die  sei,  welche  die 
Pflicht  zugleich  zur  Triebfeder  macht,  das  mag  er  selbst  recht- 
fertigen. Andern  aber  muß  hieraus  klar  sein,  wie  der  Begriff  der 
Pfhcht  bei  ihm  ein  solcher  ist,  welcher  der  Sittenlehre  vorangeht, 
herüber  genommen  nämlich  aus  der  ganz  unbefugt  abgesonderten 
Theorie  des  Rechtes.  Ebenso  unnatürhch  sondert  Fichte  beides 
ab,  und  scheint  auf  dem  gleichen  Irrwege  zu  sein,  indem  er  sagt,  es 
könne  bei  der  freien,  nämlich  nicht  nur  formal,  sondern  auch 
material  freien  Handlung  gefragt  werden  nach  dem  Was  und 
nach  dem  Wie,  oder  nach  der  Form  und  nach  der  Materie,  wel- 
ches wechselnd  ins  Unendliche  spielen  zu  wollen  scheint.  Unnatür- 
lich aber  ist  es  bei  ihm ;  denn  was  nicht  auf  die  rechte  Art  ge- 
handelt worden  ist,  das  liegt  auch  nicht  in  seiner  Reihe  der  sitt- 
lichen Annäherung,  und  es  kann  nicht  auf  die  rechte  Art  sein  ge- 
handelt worden,  wenn  nicht  nach  ihr  gefragt  worden  ist.  Eigent- 
lich also  ist,  wie  es  auch  sein  muß,  das  Was  und  das  Wie  un- 
zertrennlich verbunden,  so  daß,  wenn  nur  das  erste  richtig  be- 
zeichnet ist,  über  das  letzte  keine  Frage  mehr  stattfindet,  und  auch 
aus  dem  Wie,  wenn  nur  die  Momente  der  Handlung  bekannt  sind, 
das  Was  sich  von  selbst  ergeben  muß.  Wie  aber  überhaupt  bei 
Fichte  der  juridische  Charakter  nicht  so  stark  und  kenntlich  aus- 
geprägt und  überall  auf  der  Oberfläche  verbreitet  ist:  so  hat  auch 
dieser  falsche  Zug  bei  ihm  nicht  so  viel  verwirrende  Folgen. 
Wenn    nun   der   Pflichtbesriff   ferner  seine    Stelle   als   erster 


Erlaubten. 
1. 


[111,1,  133]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  135 

seiner  Art  und  als  allgemeine  Bezeichnung  des  Sittlichen  würdig  Universalität 
behaupten  soll:  so  muß  er  es  auch  ganz  umfassen  und  auf  jede  ^^^  Pflicht. 
Handlung  seine  Anwendung  finden.  Denn  daß  diese  Allgemein- 
heit gewiß  der  Idee  zukommen  muß  und  ihr  bald  nichts  übrig 
bleibt,  wenn  erst  einiges  ihr  entzogen  ist,  dieses  ist  schon  oben 
mit  Wenigem  erwähnt;  hier  aber  muß  davon  mit  Beziehung  auf 
den  Begriff  auf  andere  Weise  gehandelt  werden,  indem  der  Fall 
sich  denken  läßt,  daß  der  Grundsatz  selbst  in  seinem  Inhalt  eine 
solche  Beschränkung  nicht  bei  sich  führe,  und  sie  ihm  nur  bei  der 
Anwendung  aus  Schuld  der  Begriffe  aufgelegt  werde.  Derjenige 
Begriff  nun,  welcher  überall,  wo  er  als  ein  wirklicher  und  posi- 
tiver in  die  Ethik  eingeführt  wird,  eine  solche  fehlerhafte  Be- 
schaffenheit des  Pflichtbegriffs  anzeigt,  ist  der  Begriff  des  Er-  Begriff  des 
laubten.  Daß  dieser,  so  gedacht  wie  jetzt  bestimmt  worden,  ein 
widersprechender  sei,  ist  nicht  schwer  einzusehen.  Denn  er  geht 
in  Absicht  auf  seinen  Inhalt  doch  immer  auf  dasjenige,  was  inner- 
halb des  sittlichen  Gebietes  liegt;  —  oder  würde  es  etwa  nicht 
lächerlich  und  als  eine  falsche  Anwendung  des  Begriffs  erscheinen, 
wenn  jemand  zum  Beispiel  fragen  wollte,  ob  es  erlaubt  sei,  zu 
verdauen?  —  von  diesem  aber  sagt  er  aus,  daß  es  sittlich  nicht 
bestimmbar  sei,  so  daß  offenbar  die  Bestimmung  und  das  Be- 
stimmte darin  einander  aufheben.  Wie  er  nun  dennoch  in  die 
meisten  Darstellungen  der  Sittenlehre  Eingang  gefunden,  dieses 
ist  auf  eine  zwiefache  Art  zu  erklären.  Zuerst  daraus,  daß  er 
allerdings  in  der  Anwendung  der  Ethik  im  Leben  seine  Bedeutung 
hat;  aber  nicht  als  ein  positiver,  sondern  nur  als  ein  negativer 
Begriff.  So  nämhch,  daß  er  besagt,  eine  Handlung  sei  noch  nicht 
so  in  ihrem  Umfang  und  mit  ihren  Grenzen  vollständig  auf- 
gefaßt, daß  ihr  sitthcher  Wert  könne  bestimmt  werden.  Denn 
zufolge  des  oben  schon  Gesagten  steht  die  ethische  Idee,  gleich- 
viel, welchen  Gehalt  man  ihr  unterlege,  mit  einer  Handlung,  in- 
sofern diese  nur  entweder  eine  Bewegung  des  Gemütes  oder  eine 
Veränderung   in   der  Sinnenwelt  ist,   unmittelbar   in   gar  keinem 


136  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  134] 

Verhältnis;  und  von  jeder  Handlung,  solange  sie  nur  so  aus- 
gedrückt ist,  muß  gesagt  werden,  daß  sie  erlaubt  ist,  das  heißt, 
daß  es  Bestimmungen  geben  könne,  unter  welchen  sie  dem  Gesetz 
gemäß,  und  andere,  unter  denen  sie  demselben  zuwider  sein  wird. 
Ja,  dieses  gilt  von  dem  Vernichten  eines  menschlichen  Lebens 
nicht  minder  als  von  dem  Essen  einer  Auster.  Denn  daß  im  ge- 
meinen Leben  auch  solche  noch  nicht  geschlossene  Formeln  bald 
erlaubt,  bald  unerlaubt  genannt  werden,  je  nachdem  sich  dem 
Gemüt  mehrere  verneinende  oder  bejahende  Bestimmungen  dar- 
bieten, dieses  hat  auf  den  wissenschaftlichen  Wert  des  Begriffs 
keinen  Einfluß.  Wogegen  zum  Beispiel  in  der  Formel,  der  Lust 
nachgehn  mit  Verabsäumung  des  Berufs,  eine  für  die  praktische 
Ethik  wenigstens  hinreichende  Bestimmung  liegt,  oder  in  der 
ganz  einfach  scheinenden  des  Stehlens  schon  enthalten  ist  die  Ver- 
nichtung der  vorhergegangenen  Anerkennung  des  Eigentums,  und 
hier  also  ist  der  Begriff  des  Erlaubten  nicht  mehr  anwendbar. 
Woraus  sich  ergibt,  daß  er  in  wissenschaftlichem  Sinn  nur  besagt, 
die  Bezeichnung  einer  Handlung  sei,  zum  Behuf  nämlich  ihrer 
sittlichen  Schätzung,  noch  nicht  vollendet  und  stehe  also  auf 
einem  Punkt,  auf  welchem  sie  nicht  könne  stehenbleiben;  so  daß 
dieser  Begriff  keineswegs  eine  Bestimmung  enthält,  sondern  nur 
eine  Aufgabe.  Wird  er  aber  so  verkannt,  daß  beides  verwechselt, 
und  geglaubt  wird,  er  könne  wirklich  etwas  ethisch  bestimmen: 
so  ist  zu  vermuten,  daß  die  Begriffe  des  Rechten  und  Unrechten, 
denen  er  fälschlich  beigeordnet  und  zwischengeschoben  wird,  eben 
so  verkannt  sind,  und  daß  sich  in  den  Formeln,  welche  das  Pflicht- 
mäßige angeben  sollen,  Vernachlässigung  der  sittlichen  Grenz- 
und  Größenbestimmung  finden,  welche  es  rechtfertigen,  daß  neben 
diesem  Begriff  der  ganz  leere  des  Erlaubten  hingestellt  werde. 
Wer  zum  Beispiel  nicht  nur  wie  jeder  behauptet,  es  sei  erlaubt, 
Austern  zu  essen,  sondern  auch  sich  einbildet,  hiermit  ethisch  etwas 
bestimmt  zu  haben,  so  daß  nun  über  die  Frage  nichts  mehr  zu 
sagen  wäre,  von  dem  ist  zu  glauben,  daß  auch  seine  Formeln  zu 


111,1,  135]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  137 

Bezeichnung  des  Pflichtmäßigen  in  der  Ernährung  des  Körpers 
und  im  Gebrauch  der  Naturdinge  müssen  unzureichend  sein.  Denn 
wären  sie  bestimmt,  so  könnte  ihm  nicht  entgehn,  daß  jene  Hand- 
lung in  jedem  einzelnen  Fall  unter  eine  von  diesen  Bestimmungen 
fallen  müsse,  bald  unter  die  bejahende,  dann  unter  die  verneinende, 
und  daß  sie  demnach  müsse  weiter  konstruiert  werden.  Wollte 
aber  jemand  sagen,  der  Begriff  des  Erlaubten  sei  einzuschränken 
auf  diejenigen  Gegenstände,  welche  zu  geringfügig  wären,  um 
jedesmal  diese  weitere  Bestimmung  vorzunehmen:  so  wäre  dieses 
ja  offenbar  sehr  unwissenschaftlich,  weil  vor  dieser  Bestimmung 
niemand  über  die  sittliche  Größe  und  Bedeutsamkeit  der  Hand- 
lung etwas  behaupten  kann.  Dieses  haben  besonders  die  Stoiker, 
deren  gleichgültige  Dinge  nicht  an  diesen  Ort  gehören,  vortreff- 
lich eingesehen,  und  jedes  Mittel  zwischen  Pflicht  und  Über- 
tretung verworfen.  Ja,  indem  sie  denselben  Ausdruck,  durch  wel- 
chen sie  vollkommenste  sittliche  Handlung  bezeichnen,  auch  mit 
den  unbedeutendsten  Erfolgen  zusammengesellen,  und  ein  voll- 
kommen sittliches  Spazierengehen  oder  Fragen  und  Antworten 
und  mehr  solches  annehmen:  so  bezeugen  sie  vortrefflich,  daß  die 
Anwendung  des  Gesetzes  auf  eine  Handlung  mit  der  scheinbaren 
Größe  derselben  in  keiner  Verbindung  stehe.  Denn  wenn  doch 
auch  sie  sagen,  es  gebe  Handlungen,  die  weder  Pflichten  wären 
noch  Übertretungen:  so  haben  sie  nur  dialektisch  die  leere  Stelle 
bezeichnen  gewollt.  Wie  sie  denn  auch  selbst  sagen,  daß  sie  sie 
nur  mit  dem  Unbestimmten  ausfüllen;  denn  das  einzelne,  welches 
sie  hinsetzen,  ist  dasselbe,  worin  sie  auch  ein  vollkommen  Sitt- 
liches annehmen,  das  Fragen  nämlich,  das  Antworten  und  der- 
gleichen. Daß  also  die  erste  Entstehung  des  mißverstandenen  Be- 
griffs des  Erlaubten  von  übler  Vorbedeutung  sei  für  den  Pflicht- 
begriff überhaupt,  ist  deutlich  aus  dem  Gesagten.  Die  zweite  aber  2. 
ist  die  schon  als  verderblich  anerkannte  Verwechslung  des  Sitt- 
lichen mit  dem  Rechtlichen.  Denn  dieses  letztere  nimmt  sich  nicht 
heraus,  eine  Sphäre  des  menschlichen  Handelns  auszufüllen,  son- 


138  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  136] 

dem  vielmehr  nur  einiges  aus  derselben  auszuschließen;  und  so 
muß  natürlich  dort,  eben  weil  der  Begriff  der  Pflicht  ein  negativer 
ist,  der  des  Erlaubten  ein  positiver  sein.  Wird  nun  dieses  letztere 
auf  das  Sittliche  übergetragen,  so  wird  auch  das  erste  müssen  mit- 
genommen werden;  und  wer,  wie  Kant  unstreitig  abermals  aus 
Schuld  dieser  Verwechslung,  sogar  ein  Erlaubnisgesetz  auf  dem 
Gebiet  der  Ethik  aufstellen  will,  von  dem  ist  zu  besorgen,  daß  er 
auch  den  Begriff  der  Pflicht  seines  wahren  Gehaltes  berauben, 
und  ihn  in  einen  beschränkenden  und  negativen  verwandeln  werde. 
Doch  dieses  schließt  sich  an  die  Art,  den  Pflichtbegriff  einzuteilen, 
welche  jetzt  soll  untersucht  werden. 
Einteilung  Zuerst  fällt  in  Beziehung  auf  die  geahndeten  Mängel  in  die 

der  Pflichten,  ^^gg^  ^jig  j3gj  ^jgj^  Neueren  fast  allgemeine  Einteilung  der  Pflicht 
vollkommene        °  o  ^ 

—  unvoll-    in  die  vollkommene  und  unvollkommene;  welcher,  wiewohl  sie  von 

kommene.  Verschiedenen  verschieden  erklärt,  doch  überall  derselbe  Begriff 
zum  Grunde  liegt,  und  dieselben  Verfälschungen  des  Pflichtbe- 
griffes nachfolgen.  Denn  einerseits  wird  die  unvollkommene  Pflicht 
erklärt  als  diejenige,  welche  sich  durch  andere  einschränken  läßt, 
die  vollkommene  aber  als  die,  welche  dies  nicht  erleidet;  womit 
jene  andere  Erklärung  in  Verbindung  zu  setzen  ist,  die  unvoll- 
kommene Pflicht  sei  die,  in  Ansehung  deren  ein  jeder,  nicht  wie 
bei  der  vollkommenen  unmittelbar  zur  Handlung,  sondern  nur  die 
Maxime  zu  haben  verbunden  sei,  offenbar  jener  möglichen  Be- 
schränkung wegen.  Hier  nun  ist  zuförderst  die  Nichtigkeit  der  Ein- 
teilung leicht  zu  erkennen,  wie  auch  das  damit  verbundene  Miß- 
verständnis des  Pflichtbegriffs.  Denn  aus  dem  bisher  Gesagten 
muß  jedem  deutlich  sein,  daß  jede  Pflichtformel  mit  einem 
Handeln  auch  zugleich  seine  Grenzbestimmung  aus- 
drücken muß.  Pflicht  nämlich  ist  Bezeichnung  des 
Sittlichen  in  einer  Tat;  in  dieser  aber  ist  es  nicht  unmittelbar, 
sondern  nur  durch  Beziehung  auf  die  Gesinnung  zu  erkennen; 
welche  Beziehung  wiederum  nur  erscheinen  kann  in  der  Beschrän- 
kung und  Bedingung,  die  daraus  entsteht,  daß  nicht  das  Tun  selbst. 


[111,1,  137]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  139 

sondern  das  Sittliche  in  demselben  angestrebt  ward.  Wesentlich 
also  ist  jeder  Pflichtbegriff  Konstruktion  des  Sittlichen  durch  Orenz- 
bestimmung  des  Handelns;  und  eine  Formel,  die  ein  bloßes  Han- 
deln ausdrückt  ohne  solche  Grenzbestimmung,  ist  keine  Formel  für 
eine  Pflicht.  Eine  solche  zum  Beispiel  ist  die,  wenn  gesagt  wird,  es 
sei  Pflicht,  das  Leben  zu  erhalten;  denn  unter  diese  Formel  läßt 
sich,  wenn  nicht  das  Wie,  Wodurch  und  Wenn  bestimmt  ist,  viel 
Unsittliches  unterbringen.  Hiergegen  freilich  erhebt  sich  ein  Schein 
aus  den  Rechtspflichten,  bei  denen  dieses  nicht  stattfindet,  und 
welche  überall  mehr  als  sonst  irgend  etwas  die  Abteilung  der  voll- 
kommenen Pflichten  ausfüllen.  Diese  aber  im  ethischen  Sinne  be- 
sonders zu  betrachten  und  ihnen  den  Namen  eigener  Pflichten  zu- 
zugestehen, möchte  sehr  bedenklich  sein,  da  nichts  Sittliches  durch 
sie  gesetzt  und  bestimmt,  sondern  nur  ein  Unsittliches  bezeichnet 
wird.  Ja  sie  sind  ethisch  angesehen  gar  nichts  für  sich  Bestehendes, 
sondern  nur  Teile  der  Analyse  irgendeiner  ihnen  in  Hinsicht  auf 
diesen  Charakter  unähnlichen  Pflicht;  so  daß  man  sagen  kann,  sie 
haben  nur  den  Wert  von  technischen  Regeln  für  die  richtige  Aus- 
fühmng  eines  anderweitig  Beschlossenen.  So  wenn  die  Pflicht  er- 
wiesen und  anerkannt  ist,  ein  Eigentum  zu  stiften,  ist  es  nur  eine 
technische  Bemerkung  für  den  Unverständigen  und  Unbedacht- 
samen, daß  er  nicht  durch  einzelne  Handlungen,  ohne  zu  merken, 
daß  sie  jener  Pflicht  angehören,  die  Einrichtung  verletze,  und  das 
pflichtmäßig  Gehandelte  wiederum  aufhebe.  Auf  ähnliche  Art  nun 
weisen  sie  alle  hin  auf  eine  andere  Pflicht,  und  zwar  größtenteils 
auf  die,  einen  Rechtszustand  hervorzubringen,  oder,  welches  gleich- 
viel ist,  durch  fortgesetzte  Hervorbringung  zu  erhalten.  Deshalb 
wird  auch  bei  den  Alten  dieser  Pflichten  in  der  Ethik  so  gut  als 
gar  nicht  erwähnt,  weil  bei  ihrer  mehr  öffentlichen  und  tätig 
bürgerlichen  Lebensweise  das  Bev/ußtsein  von  der  fortgesetzten 
Hervorbringung  des  gesellschaftlichen  Zustandes  zu  lebhaft  war, 
um  solcher  Vorsichtsregeln  zu  bedürfen.  Diese  Pflicht  aber,  den 
Rechtszustand  wirklich  zu  machen,  ist  ebenfalls  eine  solche,  die 


140  Grundlinien  einer  Kritiic  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  138] 

nur  durch  Grenzbestimmung  als  Pflicht  auszudrücken  ist,  indem 
es  auch  in  Beziehung  auf  sie  ein  Wenn  gibt,  und  Wie    und  mit 
Wem.   Und  nach  eben  der  Regel  müßte  eine  große  Menge  anderer 
Handlungen  abgesondert  werden,  welche  Aristoteles  zusammen- 
faßt unter  dem  Titel  solcher,  über  welche  nicht  mehr  beratschlagt 
wird,   weil  sie  nicht  ein  neues   und  frei  beginnendes  Tun  sind, 
sondern  nur  ein  notwendiges  Fortsetzen  eines  andern,  in  welchem 
die  Seele  noch  begriffen  ist.    So,  sagt  er,  wird  keiner,  der  sich' 
einmal   als  Arzt  gesetzt  hat,  noch  darüber  beratschlagen,  ob  er 
einen  Kranken  heilen  solle;  denn  dieses  ist  mitgesetzt  in  jener  Tat. 
Auch  haben  hierauf  einige  Alte,  wie  der  peripatetische  Eudoros, 
eine    Einteilung   gegründet   in    zusammengesetzte   und    nicht   zu- 
Einfache  —  sammengesetzte  Pflichten,  und  den  ganzen  Ort  vom  Beruf  und  der 
besetzte      Lebensweise  unter  die  ersten  gebracht.    Diese  Einteilung  nun  ist 
Pflichten,     freilich    folgerechter   als   die   der   Neueren:    dennoch    aber   ist   es 
ethisch   genommen  kein   wesentlicher   Unterschied,   ob   die   Voll- 
bringung einer  Handlung  in  einem  ungeteilten  Moment  geschieht 
oder  nicht,  und  ob  sie  sich  in  gleiche  Teile  zerfallen  läßt  oder  nicht, 
sondern  nur  ein  willkürlich  angenommener  zwischen  Anfang  und 
Fortsetzung.   Wenn  also,  was  von  der  Einschränkung  gesagt  wird, 
welche   die  unvollkommenen   Pflichten   erleiden,  sich   hierauf  be- 
ziehen soll,  und  andeuten,  daß  es  ihnen,  wie  sie  im  System  auf- 
gestellt sind,  an  dieser  Grenzbestimmung  fehle,  welche  erst  für 
jeden   einzelnen  Fall  besonders  müsse  gefunden  und  hinzugetan 
werden,   gleichsam   wie  ein  flüchtiger   Bestandteil,   welcher  einer 
Zusammensetzung  besser  erst  im  Augenblick  des  Gebrauches  bei- 
gemischt wird:  so  ist  nach  dem  Obigen  gerade  dieser  Bestandteil 
der  eigentlich  ethische,  und  Formeln,  denen  er  fehlt,  sind  gar  keine 
Pflichtformeln.    Ja,  da  sich  nun  auch  die  sogenannten  vollkom- 
menen lassen  auf  jene  zurückführen,  so  würde  durch  die  so  ver- 
standene und  erklärte  Einteilung  am  Ende  gesagt,  daß  gar  keine 
Pflichtformel  könne  aufgestellt  werden.    Ist  es  damit  aber  anders 
und  buchstäblich  so  gemeint,  daß  eine  Pflicht  durch  die  andere  soll 


[111,1,  139]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  141 

eingeschränkt  werden :  so  ist  ja  klar,  daß  die  Formel,  welche  die 
Einschränkung  erleidet,  keine  Pflichtformel  kann  gewesen  sein. 
Denn  es  wird  der  abgestoßene  und  ausgesonderte  Teil  ihres 
Gebietes  gesetzt  als  der  einschränkenden  Pflicht  entgegen,  und  also 
als  pflichtwidrig,  und  die  Formel  enthält  demnach  Sittliches  und 
Unsittliches  vermischt.  Noch  auffallender  auf  eine  andere  Art  ist 
der  Widerspruch,  wenn  Kant  behauptet,  daß  dennoch  nur  die  un- 
vollkommenen Pflichten  den  eigentlichen  Inhalt  der  Ethik  aus- 
machen. Denn  sollen  nun  die  einschränkenden  Pflichten  Rechts- 
pflichten sein:  so  gerät  er  auf  eine  im  Kreise  herumgehende  Unter- 
ordnung der  Ethik  unter  eine  andere  Disziplin,  wogegen  jene  sich 
immer  sträubt;  sollen  sie  aber  auch  unvollkommene  sein:  so  ent- 
steht ein  Unbestimmtes,  welches  bestimmt  werden  soll  durch  ein 
anderes  in  gleicher  Hinsicht  Unbestimmtes,  auf  welche  Weise  denn 
nichts  möchte  bestimmt  werden.  Es  wäre  auch  dieses  Beschränkt- 
sein einer  Pflicht  durch  die  andere  nichts  anderes  als  ein  Wider- 
streit der  Pflichten  gegeneinander;  wie  denn  auch  fast  ausschließend 
diejenigen,  welche  eine  Einteilung  in  vollkommene  und  unvoll- 
kommene Pflichten  zulassen,  einen  solchen  einführen  in  die  Sitten- 
lehre, andere  aber  nicht.  Ein  Widerstreit  der  Pflichten  aber  vv^äre 
widersinnig,  und  nur  zu  denken,  wenn  die  Pflichtformeln  auf  jene 
Art  unbestimmt  ihrem  Begriff  nicht  Genüge  leisten.  Denn  es 
können  zwar  die  rohen  Stoffe  des  Sittlichen,  die  Zwecke  nämlich 
und  Verhältnisse,  in  Streit  geraten,  welche  auch  deshalb  als  ethisch 
veränderlich  und  bildsam  gesetzt  werden;  die  Pflicht  aber  als 
die  Formel  der  Anwendung  einer  und  derselben  Regel  des  Ver- 
änderns  und  Bildens  kann  auch  nur  eine  sein  und  dieselbige. 
Wird  nun  dieses  Beschränken  der  PfHchten  hinweggenommen:  so 
kann  es  auch  nicht  ferner  Pflichten  geben,  in  Ansehung  deren 
jeder  nur  zur  Maxime  verbunden  wäre,  nicht  aber  zu  irgendeiner 
bestimmten  Tat.  Denn  eben  dieses  wird  alsdann  das  Merkmal 
der  PfHcht,  daß  die  Handlung  an  ihrer  Stelle  nicht  kann  über- 
gangen   werden,   ohne   zugleich   die   Maxime    aufzugeben.    Auch 


142  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre,      [111,1,  140] 

wäre  eine  solche  Behauptung  ein  Beispiel,  an  welchem  sich  zeigen 
ließe,  wie  in  der  Ethik  ein  Hauptbegriff  dem  andern  und  der 
Behandlung  nach  demselben  kann  zum  Prüfstein  dienen.  Denn 
setzet  eine  solche  beschränkbare  PfHcht  und  suchet  die  Gesinnung, 
welche  das  Bewußtsein  der  Verbindlichkeit  dazu  enthält.  Diese, 
wenn  sie  der  Maxime  entspricht,  wird  nicht  sittlich  sein,  weil  sie 
mit  derselben  auch  auf  das  jenseits  der  Schranken  gelegene  Un- 
sittliche gehen  würde;  wenn  sie  aber  in  den  Schranken  notwendig 
festgehalten  wird:  so  bezieht  sie  sich  auch  eigentlich  auf  das 
Prinzip  der  Beschränkung,  mit  welchem  ja  sie  anfängt  und  auf- 
hört, auf  die  Maxime  aber  nur  zufällig  und  nicht  unbedingt.  Und 
so  muß  allemal  ein  unrichtiger  Pflichtbegriff  auch  den  Tugend- 
begriff verderben,  ein  richtiger  Tugendbegriff  aber  auch  den  Pflicht- 
begriff erretten  und  verbessern.  Andererseits  wird  von  vielen  der 
Unterschied  zwischen  den  vollkommenen  und  unvollkommenen 
Pflichten  darin  gesetzt,  daß  bei  den  ersteren  ein  jeder  die  Ver- 
bindlichkeit zu  beurteilen  imstande  sei,  bei  den  letzteren  aber  nur 
der  Handelnde  selbst.  Hierbei  nun  haben  offenbar  als  voll- 
kommene Pflichten  ebenfalls  die  Rechtspflichten  vorgeschwebt, 
bei  welchen  freilich  einem  jeden  die  Handlung  vor  Augen  liegt, 
welche  widersprochen  und  aufgehoben  wird  durch  deren  Ver- 
letzung. Bei  den  unvollkommenen  aber  ebenfalls  die  Unbestimmt- 
heit der  Formeln.  Denn  wenn  einer  dem  andern  nur  eine  solche 
vorlegt,  die  Angaben  aber,  welche  sich  auf  den  vorliegenden  Fall 
beziehen,  zurückhält:  so  ist  dieser  nicht  imstande,  die  Beschrän- 
kung nach  dem  ethischen  Prinzip  wirklich  zu  vollziehen.  Wogegen, 
wenn  diese  mit  vorgelegt  werden,  ein  jeder  ebensogut  als  der 
Handelnde  selbst  muß  entscheiden  können,  wenn  nicht  etwa,  wie 
Kant  bisweilen  zu  wollen  scheint,  ein  Erlaubnisgesetz  angenommen 
wird,  welchem  zufolge  auch  andern  der  ethischen  Idee  fremden 
Beweggründen  ein  Spielraum  vergönnt  wird.  Woraus  aber  nur 
erheilt,  wie  wenig  dieser  Sittenlehrer  sich  auf  dem  von  ihm  selbst 
als  ethisch  abgesteckten  Gebiet,  dem  rein  praktischen  nämlich,  zu 


[111,1,  141]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  143 

behaupten  weiß,  sondern  sich  fast  nur  abwechselnd  bald  auf  dem 
mechanischen  des  bloßen  Rechts,  bald  auf  dem  in  seinem  Sinne 
nur  pragmatischen  der  Glückseligkeit  und  Klugheit  befindet.  G  a  rve 
aber,  welcher  logischen  Sinn  genug  hatte,  um  sich  da,  wo  überall 
nichts  Bestimmtes  und  Gesundes  kann  gesagt  werden,  wenigstens 
nicht  mit  einem  Merkmal  zu  begnügen,  und  so  eben  durch  das 
Anhäufen  die  Verwirrung  kund  tut,  dieser  fügt  dem  angeführten 
Merkmal  noch  ein  anderes  als  unterscheidend  bei,  nämlich  die 
Nützlichkeit  der  Maxime  für  die  Gesellschaft.  Wie  nun  dieses  im 
Kreise  herumgehe,  und  den  Einteilungsgrund  auf  eine  einzelne 
Pflicht  zurückführe,  ist  nicht  Not  zu  erwähnen.  Überdies  aber 
verwandelt  sich  auf  diese  Art  der  Unterschied  nur  in  einen  des 
Grades,  so  daß  es  willkürlich  sein  muß,  welche  Pflichten  voll- 
kommene sein  sollen  und  welche  nicht,  wodurch  gleichfalls  der 
wissenschaftliche  Wert  der  Einteilung  gänzlich  aufgehoben  wird. 
Denn  das  Willkürliche  darf  in  der  Wissenschaft  keinen  Raum 
finden.  Daß  also  diese  Einteilung  sich  mit  dem  richtig  auf- 
gefaßten Pflichtbegriff  nicht  vereinigen  läßt,  und  teils  auf  einer 
nicht  ethischen  Ansicht  des  Rechtlichen,  teils  auf  einer  gänzlichen 
Unbestimmtheit  des  Sittlichen  beruht,  muß  aus  dem  Gesagten 
genugsam   erhellen. 

Ob  es  nun  besser  beschaffen  sei  mit  einer  andern  unter  den      Pflichten 

Neueren  nicht  minder  allgemeinen  Einteilung  der  Pflichten,  näm-  ^e&en  sich  — 

,  , .  gegen  andere. 

lieh  in  solche  gegen  sich  selbst  und  m  solche  gegen  andere,  dieses 

wäre  demnächst  zu  untersuchen.  Um  aber  diese  recht  zu  verstehen, 
muß  auch  das  ehemalige,  jetzt  fast  nicht  mehr  genannte  dritte  Glied 
derselben,  nämlich  die  Pflicht  gegen  Gott,  mit  in  Betrachtung  ge-  Pflicht 
zogen  werden.  Diese  nämlich  ist  neuerlich  ihres  Ranges  beraubt  ^^^^"  ° 
worden,  zuerst  aus  andern  Gründen  von  anderen,  von  Kant  aber, 
weil  der  Wille  Gottes,  auf  welchem  doch  die  Pflichten  gegen  ihn 
beruhen  müßten,  nicht  könne  in  der  Erfahrung  gegeben  werden. 
Dieser  Grund  nun  konnte  die  Älteren  von  Einführung  eines  sol- 
chen Abschnittes  nicht  zurückhalten,  weil  sie  allerdings  vermeinten, 


144  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  142] 

der  Wille  Gottes  sei  als  ein  Wahrnehmbares  gegeben,  und  er 
vor  allen  als  verpflichtende  Person  sich  offenbarend  und  erkenn- 
bar. Es  führt  aber  dieses  auf  die  Frage,  was  es  denn  heiße, 
eine  Pflicht  gegen  jemand?  Von  welcher  nicht  leicht  verständ- 
lichen Redensart  die  strengste  Bedeutung  unstreitig  die  ist,  es  sei 
diejenige,  welche  zur  Pflicht  werde  vermittelst  einer  Nötigung 
durch  den  Willen  eines  andern,  nämlich  des  Verpflichtenden.  Wird 
nun  diese  Bedeutung  angenommen,  so  ist  von  denen,  welche 
Pflichten  gegen  Gott  zulassen,  offenbar,  daß,  da  der  göttliche  Wille 
notwendig  auf  alles  gerichtet  ist,  was  die  Menschen  sich  selbst 
sowohl  als  andern  Lobenswürdiges  leisten  können,  und  da  er  das 
Sittliche  vollkommen  erschöpft,  sie  unrecht  handeln  und  dem  Meere 
noch  den  Eimer  voll  zu  gießen,  wenn  sie  neben  dem  höchsten  und 
unendlichen  Willen  noch  einen  andern,  sei  es  nun  der  eigene  oder 
fremde,  als  nötigend  annehmen.  Sonach  würde  die  Pflicht  gegen 
Gott  in  diesem  Sinne  die  beiden  andern  Abteilungen  der  Pflichten 
gegen  sich  und  gegen  andere  verschlingen,  so  daß  nichts  geteilt 
wäre.  Diejenigen  aber,  welche  Pflichten  gegen  Gott  in  einem 
solchen  Sinne  leugnen,  werden  auch  nicht  leicht  dahin  gelangen, 
die  Pflichten  gegen  andere  sich  zu  erhalten.  Denn  tun  sie  jenes, 
weil  Gott  als  verpflichtende  Person  nicht  kann  gegeben  werden: 
so  begehren  sie  als  Grund  der  Verpflichtung  nicht  einen  Willen, 
wie  er  in  der  Idee  konstruiert  wird,  sondern  einen  wirklich  ge- 
gebenen; wonach,  wenn  dies  auf  die  Menschen  angewendet  wird, 
auch  von  den  Pflichten  gegen  andere  nichts  übrig  bleiben  dürfte, 
als  die  wirklich  geforderten  des  geschriebenen  Rechtes.  Leugnen 
sie  aber  die  Pflichten  gegen  Gott,  weil  es  unnötig  wäre  und 
den  Gesetzen  der  Sparsamkeit  zuwider,  einen  entfernteren  Willen 
herbeizuholen,  um  durch  dessen  Nötigung  zu  bewirken,  was  aucK 
ein  näherer  schon  ausrichtet,  indem  dem  Inhalt  nach  die  Pflichten 
gegen  Gott  nichts  anderes  wären  als  die  gegen  sich  selbst  und 
die  anderen:  dann  würde  dasselbe  auch  von  dem  Willen  der 
anderen   gelten   im   Vergleich   mit  dem   eigenen.    Denn   welcher 


1 111,1,  143]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriflfe.  145 

ethischen  Idee  auch  jemand  folge,  er  kann  nichts  aufnehmen  als 
Pflicht   gegen   andere,   wozu   nicht   schon    der   eigene   Wille   ihn 
nötige,   es  sei  nun  unter  der   Form  der  Vernunftmäßigkeit  oder 
der  Glückseligkeit,  oder  welcher  sonst.    Woraus  denn  zuletzt  sich 
ergibt,    daß    der   Begriff   dieser   Nötigung    durch    einen    fremden 
Willen  nichts  ist  als  eine  leere  Erscheinung.   Und  woher  käme  wohl 
auch  dem  Willen  eines  andern  die  verpflichtende  Kraft,  wenn  sie 
ihm  nicht  eingeräumt  wird  zufolge  einer  Idee,  deren  Anwendung 
und  Herrschaft  immer  wiederum  von  dem  eigenen  Willen  abhängt? 
Kant  jedoch  hat  eine  schlaue  Erfindung  gemacht,  um  darzutun, 
wie  diese  verpflichtende  Kraft  sich  erwerben  lasse,  nämlich  durcH 
Ausübung  solcher  Pflichten,  welche  den  andern  verpflichten;  bei 
welcher    Verwirrung    von    Verpflichtungen     man    in    Versuchung 
wäre,   in   einem   ganz  andern   als   er,   nämlich  dem  altrömischen 
Sinne,    die    PfHcht   als    einen    heiligen    Namen    zu    verrufen.     So 
könnte   gefragt  werden,  ob  diese  verpflichtenden   Pflichten   auch 
PfHchten  gegen  andere  wären,  und  derjenige  hart  beschuldigt,  der 
zuerst  das  bedenkliche  Spiel  angefangen,  durch  seine  Pflichterfül- 
lung andere  zu  verpflichten  zu  Pflichten,  durch  w^elche  er  wieder 
verpflichtet  wird.   Ja,  man  könnte  darin  einen  tiefen  Grund  finden 
zu  der  Höflichkeit  des  gemeinen  Lebens,  welche,  wenn  sie  dem 
andern   eine  Dienstleistung  erweisen  will,  denn   Dienstleistungen 
sind  doch  die  verpfHchtenden   Pflichten,  erst  die   Erlaubnis  dazu 
nachsucht.    Doch  es  ist  zu  wunderlich  und  leer,  um  mehr  darüber 
zu  sagen.    Sonach  müßte,  dieses  abgemacht,  den  Pflichten  gegen 
andere  die  gelindere  Bedeutung  beigelegt  werden,   daß  sie  sind 
Pflichten   in  Ansehung  anderer.    In  diesem  Sinne  nun  will  auch 
Kant  Pflichten  gegen  Gott  zulassen,  findet  aber  als  solche  bloß 
die   Pflicht,  die  sittlichen  Gebote  als  göttliche  anzuerkennen.    In- 
sofern zwar  ist  der  Versuch  mit  diesen  Pflichten  verunglückt:  denn 
es  kann  keine  Pflicht  geben,  etwas  einzusehen,  weil  dieses,  so  für 
sich  betrachtet,  weder  etwas  Sittliches  ist  noch  der  Willkür  unter- 
worfen.    Notwendig    aber   ist   er   immer:    denn    wenn    Pflichten 

Schleiermacher,  Werke.    I-  10 


146  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  144] 

abgeteilt  werden  sollen  nach  dem,  was  dabei  der  Gegenstand  ist, 
so  kann  nichts  davon  ausgeschlossen  sein,  weil  ja  alles  ein  Gegen- 
stand des  sittlichen  Handelns  sein  soll.  Eben  deshalb  aber  möchte 
es  unmöglich  sein,  den  Gegenstand  zu  bestimmen,  weil  dieser 
jedesmal  mannigfaltig  könnte  angegeben  werden.  Und  zwar  am 
wenigsten  möchten  zu  unterscheiden  sein  Pflichten  gegen  sich 
selbst  und  gegen  andere.  Denn  sind  aus  der  Idee  der  Glück- 
seligkeit diese  Pflichten  abgeleitet:  so  ist  ja  offenbar,  wie  der 
Handelnde  selbst  der  Gegenstand  ist.  Steht  ihnen  aber  die  der 
Naturgemäßheit  voran:  so  ist  es  ja  ebenfalls  des  Handelnden 
Natur,  welche  würde  verletzt  werden.  Nicht  weniger  auch  ließe 
sich  zeigen,  wie  die  Pflichten  gegen  sich  selbst  zugleich  erscheinen 
müssen  als  Pflichten  gegen  andere,  in  jedem  System  der  Sitten- 
lehre in  der  Bedeutung,  worin  es  solche  PfHchten  zuläßt,  welches 
weiter  auszuführen  eines  jeden  Belieben  überlassen  bleibt.  So- 
viel aber  wird  jedem  angemutet  aus  dem  Vorigen  einzugestehen, 
daß  nichts  Wesentliches  im  Pflichtbegriff  dieser  Einteilung  zum 
Grunde  liegt,  und  daß  auch  für  sie,  wie  für  die  vorige,  keine 
bessere  Entstehung  nachzuweisen  ist,  als  aus  dem  falschen  Schein, 
welchen  die   Rechtspflichten  verbreiten. 

Von  solchem  allgemeinen  Urteil  ist  jedoch  einigermaßen  aus- 
zunehmen die  Art,  wie  dieselbe  Einteilung  erscheint  in  der  Sitten- 
lehre von  Fichte,  wo  sie  ebenfalls,  nicht  zwar  den  Worten,  wohl 
aber  der  Tat  nach,  vorhanden  ist,  und  versteckt  unter  einer  andern, 
welche,  da  sie  als  eine  neue  Behandlung  sich  ankündigt,  ohne- 
dies näher  geprüft  werden  muß.  Hierbei  nun  zeigt  sich  zuerst, 
daß  von  der  doppelten  sich  durchschneidenden  Einteilung,  welche 
in  diesem  System  die  Pflichtenlehre  umfaßt,  die  eine,  nämlich  die 
Allgemeine  in  allgemeine  Pflichten  und  besondere,  als  eine  Haupteinteilung 
und  besondere  nicht  bestehen  kann,  da  der  Einteilungsgrund,  nämlich  die  Not- 
wendigkeit, alle  menschliche  Tätigkeit  in  mehrere  und  immer  klei- 
nere Teile  eigentümlich  abzuschneiden,  nur  aus  der  Pflicht,  in 
Gemeinschaft  die  Natur  zu  beherrschen,  kann  begriffen  werden, 
welche    Pflicht   hier  zwar  dem    Bedürfnis   gemäß    offenbar   aber 


[111,1,  145]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  147 

widernatürlich  aus  der  Reihe  einzelner  Pflichten  herausgerückt 
worden.  Und  auch  nicht  einmal  aus  dem  Wesen  von  dieser  geht 
die  Einteilung  hervor,  sondern  nur  aus  einer  zu  deren  besseren 
Erfüllung  genommenen,  wer  weiß,  ob  unter  allen  Umständen  zu 
lobenden,  Maßregel.  Unmöglich  aber  kann  eine  allgemeine  Ein- 
teilung der  Pflichten  die  richtige  sein,  welche  sich  auf  einen  nicht 
allgemeinen  und  durch  den  einzelnen  nicht  bewirkbaren  Zustand 
bezieht.  Daher  auch  auf  der  einen  Seite  die  Willkürlichkeit  in 
den  Einteilungen  des  Berufs,  auf  der  andern  die  unnatürliche 
Art,  wie  zu  diesem  Zufälhgen  und  Veränderlichen  das  Wesent- 
liche und  Unveränderliche,  nämlich  die  natürlichen  Stände  des 
Menschen,  hingestellt  ist  als  ein  gleichartiges  Glied,  die  Unrichtig- 
keit hinlänglich  bezeugt.  Die  andere  Einteilung  aber,  nämlich  die 
in  bedingte  und  unbedingte  Pflichten,  ist  unter  einem  andern 
Namen  dem  Inhalt  nach  ganz  dieselbe  mit  jener  alten  in  Pflichten  Bedingte  und 

gegen  sich  und  andere.    Denn  auf  diese  Weise  scheidet  sich  unter    ""  .^.'"^ 
^  ^  Pfhchten. 

beide  Teile  alles,  vi^as  sonst  dasselbe  sein  würde.   Nun  aber  erhellt 

die  UnStatthaftigkeit  dieser  Einteilung  mehr  als  irgendwo  her  aus 
dem  Grundsatz,  welchen  Fichte  bekennt,  und  zwar  nicht  voran- 
stellt, wie  es  sich  gebührt  hätte,  sondern  fast  beiläufig  nachschickt, 
daß  nämlich  der  eigentliche  Gegenstand  des  Vernunftzweckes 
und  Gebotes  immer  die  Gemeinheit  der  vernünftigen  Wesen  sein 
muß.  Denn  so  kann  es  keinen  wesentlichen  und  das  Ganze 
teilenden  Unterschied  machen,  ob  ich  diesen  an  mir  oder  an 
andern  erfülle;  sondern  höchstens  nur  kann  dadurch  ein  für  diese 
beiden  Fälle  verschiedenes  Maß  gesetzt  werden  desjenigen,  was 
im  Gebiete  einer  jeden  Pflicht  von  jedem  wird  zu  leisten  sein. 
Demzufolge  erscheint  auch,  aus  dem  Gesichtspunkt  jenes  Grund- 
satzes betrachtet,  je  eine  bedingte  und  unbedingte  Pflicht  immer 
als  dieselbe,  wie  jeder  gleich  sehen  wird,  der  die  Vergleichung 
ausführlich  anstellen  will;  denn  wo  eine  Verschiedenheit  der  Grenz- 
bestimmung sich  zeigt,  ist  auch  sicher  eine  Hälfte  aus  der  andern 
zu  berichtigen,  und  einzelne  Versetzungen,  welche  erst  einzurichten 
sind,  werden  jedem  in  die  Augen  fallen.    Der  Vorzug  aber,  wel- 

10* 


148  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  146] 

eher  diesem  Sittenlehrer  in  Betracht  jener  Einteilung  zuzuschreiben 
ist,  besteht  eben  darin,  daß  bei  ihm  ihre  Nichtigkeit  so  deuthch 
aus  dem  Gebrauch  selbst  ans  Licht  kommt,  und  die  Gebrechen 
unbefangen  aufgezeigt  werden. 

Daher  findet  sich  auch,  wie  schon  hieraus  allein  konnte  ver- 
mutet werden,  bei  ihm  der  Keim  einer  andern  und  bessern  Ein- 
teilung. Denn  wer  genauer  auf  das  einzelne  sieht,  der  findet 
unter  jeder  Abteilung  Pflichten,  welche  sich  beziehen  die  eine  auf 
diese,  die  andere  auf  jene  von  seinen  subjektiven  Bedingungen  der 
Ichheit;  so  daß  alle  seine  allgemeinen  sowohl  als  besondern,  be- 
dingten und  unbedingten  Pflichten  sich  beziehen  teils  auf  den 
Leib,  teils  auf  die  Intelligenz,  teils  auf  das  Bewußtsein  der  In- 
Pflichten    dividualität,   welches  heißt,  auf  die  Anerkennung   einer  Mehrheit 

gegen  Leib,  fj-gjgj.  Wesen.   Die  letztere  Abteilung  ist  freilich  teils  vernachlässigt, 

Intelligenz  ^  *=  ' 

und  Mehrheit  ^^^^^    unnatürlich   zerstückt;    welches    aber   lediglich    daher   rührt, 

freier  Wesen,  weil  ein  Teil  derselben  als  Grund  jener  höchsten  Einteilung  ist 
herausgerissen  worden.  Fallen  nun  jene  oberen  Einteilungen  als 
unstatthaft  hinweg:  so  erhebt  sich  diese  von  selbst  zu  der  höchsten. 
Und  dieses  möchte  die  einzige  Spur  des  Richtigen 
sein,  welche  in  den  bisherigen  Einteilungen  der 
Pflicht  anzutreffen  ist.  Denn  hier  wird  doch  dasjenige 
selbst,  worin  das  Gesetz  sich  äußern  soll,  geteilt  nach  den,  gleich- 
viel für  uns  woher,  gefundenen  wesentlichen  Merkmalen  desselben. 
Diese  folglich  hat  einen  wesentlichen  Grund,  und  kann  nicht  nur 
den  Begriff  der  Pflicht  auf  keine  Weise  vernichten  oder  verstüm- 
meln, sondern,  vorausgesetzt,  daß  das  Gefundene  richtig  gefunden 
ist,  auch  dereinst  durch  den  Zusammenhang  der  Ethik  mit  der 
höchsten  Wissenschaft  bewährt  werden.  Merkwürdig  aber  ist,  wie 
auch  hier  die  ÄhnHchkeit  mit  der  alten  stoischen  Schule  die  Fich- 
tesche Ethik  nicht  verläßt.  Dürfen  wir  nämlich  aus  dem  von  dem 
Römeri  uns  ziemlich  entstellt  vviedergegebenen  Panaitios  auf 

^  Cicero. 


[111,1,  147]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  149 

die  Schule  überhaupt  schheßen,  wenigstens  in  allem,  was  mit  dem 
Unterschiede  zwischen  den  früheren  und  späteren  Stoikern  nicht 
in  Verbindung  steht:  so  findet  sich  auch  bei  ihnen  der  gleiche 
bessere  Keim  unter  dem  gleichen  Fehler  versteckt.  Denn  wie  es 
scheint,  teilten  sie  die  Pflicht  zunächst  ein  nach  den  vier  Haupt- 
tugenden, in  Pflichten  der  Klugheit  und  der  Mäßigung,  der  Tapfer- 
keit und  der  Gerechtigkeit;  eine  unstreitig  bösartige  und  schon 
oben  bei  einer  andern  Gelegenheit  getadelte  Verwirrung,  Hinter 
dieser  Einteilung  aber  findet  sich  bald  eine  andere,  v/elche  sich 
auf  die  drei  Stücke  bezieht,  in  denen,  wie  Cicero,  die  Verv/irrung 
vermehrend,  sagt,  alle  Tugend,  er  hätte  aber  sagen  sollen:  alle 
Pflicht  und  Naturgemäßheit,  besteht,  nämlich  die  Ausbildung  der 
Erkenntnis,  die  Unterwerfung  des  Leibes  und  der  Naturtriebe  unter 
die  Vernunft  und  die  Aufrechthaltung  der  Gemeinschaft.  Daß 
dieses  nun,  sowohl  was  den  Inhalt  als  was  das  Verhältnis  zum 
Pflichtbegriff  anbetrifft,  ganz  dasselbe  ist,  wie  das  eben  bei  Fichte 
Gefundene,  darf  aus  dem  früher  schon  Gesagten  nicht  erst  wieder- 
holt werden.  Ist  nun  dieser  Standort  einmal  genommen:  so  kann 
endlich,  wer  gutmütig  und  nachsichtig  prüft,  auch  bei  Kant  eine 
ähnliche  Spur  finden  der  Form  nach,  jedoch  in  jeder  Hinsicht 
weit  unter  jenen  beiden.  Denn  ihm,  da  er  die  menschliche  Natur 
auf  keine  Weise  will  in  Betrachtung  ziehen,  bleibt,  wie  schon 
gezeigt  ist,  als  das,  was  dem  Sittlichen  zur  Bearbeitung  vorliegt, 
nichts  übrig  als  die  Gesamtheit  aller  Maximen,  und  diese  natür- 
lich nicht  als  wirklicher  Inhalt,  der  nur  dürfte  geteilt  werden, 
sondern  vielmehr  als  roher  Stoff,  von  welchem  einiges  ausgewählt, 
anderes  aber  hinweggeworfen  wird.  Die  Gesamtheit  der  Ma- 
ximen aber  weiß  er  nicht  anders  zu  teilen,  als  nach  den  beiden 
Zwecken,  welche  er,  sofern  sie  die  Sittlichkeit  ausdrücken  sollen, 
verwirft,  zu  Bezeichnung  des  rohen  Stoffes  derselben  aber  ganz 
tauglich  findet,  nach  Glückseligkeit  nämlich  und  Vollkommenheit. 
Jedoch  ist  freilich  nichts  darin  zu  loben,  als  die  Spur  eines  rich- 
tigen   Gedanken.    Wie    willkürlich    aber   und    unrichtig   nun    die 


150  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  148] 

eigene  Glückseligkeit  und  die  fremde  Vollkommenheit  ausgeschie- 
den werden,  muß  jedem  von  selbst  deutlich  sein.  Denn  wenn 
man  aus  dem  Element  das  Ganze  konstruiert,  so  erscheint  doch 
die  gesamte  Glückseligkeit  als  Vernunftzweck  und  Gebot;  und 
wendet  man  so  die  Fichtesche  Vorschrift  von  Teilung  der  Ge- 
schäfte an,  so  möchte  nichts  Vorteilhafteres  gefunden  werden,  als 
ein  Tausch,  der  alles  in  die  alte  vorkantische  Ordnung  zurück- 
versetzte. Ebenso  ließe  sich,  zumal  für  Kant  in  seiner  abspringen- 
den Weise  und  mit  Hilfe  seiner  eigenen  Ansicht  von  der  mensch- 
lichen Natur,  in  Absicht  der  Vollkommenheit  das  Umgekehrte  er- 
weisen. Auch  zeigt  sich  in  seinen  Unterabteilungen  genug,  sowohl 
der  schielende  Begriff  der  Vollkommenheit,  als  der  Widerstreit 
zwischen  Zuneigung  und  Abneigung  gegen  die  Glückseligkeit; 
welches  alles  in  Verbindung  mit  dem  bisher  Gesagten  zu  offenbar 
ist,  um  mehr  als  angedeutet  zu  werden. 

Dieses  nun  sind  die  bisherigen  Einteilungen  des  Pflichtbegriffs, 
aus  denen  ein  jeder,  wie  weit  dieser  Begriff  bisher  verstanden 
worden  sei,  beurteilen  möge.  Jetzt  aber  ist  ebenso  der  Tugend- 
begriff, was  er  sei,  und  ob  ihm  ein  besseres  Schicksal  zuteil 
w.orden,   zu  betrachten. 

2. 
Vom  Tugendbegriff. 

Daß  dieser  Begriff  dem  Begriff  der  Pflicht  dem  Range  nach 
gleichzustellen  ist  und  auch  in  allen  Darstellungen  der  Sitten- 
lehre so  erscheint,  wird  wohl  niemand  leugnen.  Denn  in  einigen 
Systemen  ist  er  offenbar  der  gemeinschaftliche  Ursprung  mehrerer 
untergeordneter  einzelner  Begriffe;  in  allen  aber  erscheint  er  als 
unabhängig  und  ursprünglich,  keinen  neben  sich  habend,  mit  wel- 
chem er  etwa  zu  gleichen  Teilen  die  Sphäre  eines  andern  höheren 
ausfüllte.  Daß  aber  die  Stoiker  ihn  als  ein  Einzelnes,  darunter 
Befaßtes,  dem  Begriff  des  Gutes  unterordnen,  welches  wohl  die 
einzige    Ausnahme  dieser  Art  sein   mag,   wird   sich   bei   näherer 


[111,1,  149]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  151 

Betrachtung  als  wohl  verträglich  mit  dieser  Behauptung  zeigen. 
Alle  Erklärungen  der  Tugend  nun  stimmen  zuerst  darin  überein,  Wesen 
daß  das  Wort  etwas  ganz  Innerliches  bedeutet,  eine  Beschaffen-  ^^^  Tugend, 
heit  der  Seele,  eine  Bestimmtheit  der  Gesinnung.  Ferner  auch 
darin,  daß  diese  Bestimmtheit  die  sittliche  ist,  von  jedem  auf  das- 
jenige bezogen,  was  ihm  den  Inhalt  der  ethischen  Idee  ausmacht; 
wobei  vorläufig  mehr  auf  das  Allgemeine  zu  sehen  ist,  als  auf 
das  Besondere.  Denn  dieser  Begriff  war  allgemein  im  Umlauf, 
die  besondere  Form  aber,  welcher  er  zunächst  angehört,  nicht 
überall  gleich  anerkannt  und  geläufig.  So  ergibt  sich  dieselbe 
Bedeutung,  wenn  nur  im  allgemeinen  gesagt  wird,  die  Tugend 
sei  die  beste  Beschaffenheit  der  Seele;  oder  wenn  es  bestimmter 
heißt,  diejenige,  durch  welche  alle  Pflichten  erfüllt  werden;  oder 
aber,  diejenige,  welche  das  höchste  Gut  ihrer  Natur  nach  hervor- 
bringt. Denn  deshalb  gehört  der  Tugendbegriff  im  eigentlichsten 
Verstände  weder  zu  der  ersten  noch  zu  der  letzten  besonderen 
Gestalt  der  ethischen  Idee.  Wie  man  ebenso  auch  den  Pflicht- 
begriff auf  das  Ideal  des  Weisen  oder  des  höchsten  Gutes,  und 
den  Begriff  eines  Gutes  auf  jenes  und  auf  das  Gesetz  beziehen 
könnte,  ohne  daß  deshalb  die  näheren  Beziehungen,  wie  sie  auf- 
gestellt worden  sind,  wieder  aufgelöst  würden.  Bezeichnet  nun 
der  Tugendbegriff  die  Kraft  und  Gesinnung,  und  zwar  ganz, 
durch  welche  die  richtigen  Taten  oder  Werke  hervorgebracht 
werden:  so  ist  er  also  der  allgemeinste  sittliche  Begriff,  ent- 
sprechend dem  Ideal  des  Weisen.  Denn  der  Weise  ist  derjenige,  in 
welchen  die  sittliche  Kraft  und  Gesinnung  ununterbrochen  und  aus- 
schließend wirksam  ist,  und  welcher  alles  hervorbringt,  was  durch 
sie  kann  gewirkt  werden,  anderes  aber  nichts.  Daß  aber  auf  der 
andern  Seite  die  Tugend  auch  ein  Gut  genannt  wird,  kann  mit 
Recht  nicht  anders  geschehen,  als  insofern  sie  zugleich  ein  Hervor- 
gebrachtes ist,  gestärkt  und  befestiget  durch  die  Tätigkeit  selbst, 
und  ein  Anschauliches,  welches  sich  durch  Taten  oder  Werke  als 
durch  Zeichen  offenbart.   Wovon  jedoch  erst  bei  dem  Begriff  der 


152  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  150] 

Güter  und  Übel  weiter  kann  gehandelt  werden.  Sonach  verhält 
sich  die  Tugend  zur  Pflicht,  oder  die  Gesinnung  zur  Tat,  wie 
die  Idee  des  Weisen  zu  der  des  Gesetzes,  das  heißt,  wie  die  Kraft 
zu  der  Formel,  durch  welche  ihre  Äußerungen  müssen  bezeichnet 
werden.  Wie  nun  oben,  um  die  Pflicht  von  der  Tugend  zu  unter- 
scheiden, für  das,  was  unter  jenen  Begriff  gehört,  das  Merkmal 
der  Gesetzmäßigkeit  aufgestellt  wurde,  für  diesen  aber  das  der 
Sittlichkeit,  und  gezeigt,  wie  meistenteils  die  wahre  Bedeutung 
überschritten,  und  auch  das  getrennt  werde,  was  vereinigt  bleiben 
sollte;  ebenso  ist  auch  hier  ein  ähnhches  Mißverständnis  auf- 
zulösen. Viele  nämhch  haben,  um  die  Innerlichkeit  des  Begriffs 
am  stärksten  anzudeuten,  ihn  der  Äußerung  ganz  entgegengesetzt, 
und  diese  nicht  nur  für  das  Denken  davon  abgesondert,  sondern 
auch  beide  als  in  der  Wirklichkeit  trennbar  vorgestellt;  als  ob 
die  Äußerung  nur  ein  Zufälliges  wäre  für  die  Gesinnung  und 
ein  Gleichgültiges,  da  doch  beide  unzertrennlich  sind  in  der  Wirk- 
lichkeit. Denn  um  die  Gesinnung  als  ein  Inneres  von  der  Tat 
als  einem  Äußeren  zu  unterscheiden,  kann  zwar  von  jeder  be- 
stimmten Wirkung  hinweggesehen  und  gesagt  werden,  die  Ge- 
sinnung würde  doch  die  nämliche  gewesen  sein  und  von  gleichem 
Werte,  wenn  auch  der  Fall  nicht  vorgekommen  wäre,  wo  sie  eine 
solche  Tat  hätte  verrichten  können.  Niemals  aber  läßt  sich  von 
jeder  Wirkung  überhaupt  hinwegsehen,  und  annehmen,  die  Ge- 
sinnung könne  wohl  innerlich  vorhanden  sein,  doch  aber,  ohn- 
erachtet  sie  wollte  und  strebte,  nicht  vermögend,  etwas  zu  wirken 
und  her\'orzubringen.  Denn  dieses  behaupten,  heißt  den  Begriff 
nicht  etwa  unterscheiden  und  auszeichnen,  sondern  vielmehr  ver- 
nichten, indem  ja  eine  Tätigkeit,  welche  nichts  tut,  auch  gar  nicht 
vorhanden  ist.  Wenigstens  gerade  in  diesem  Falle  und  von  der 
sittlichen  Gesinnung  überhaupt  kann  dies  mit  Zuversicht  gesagt 
werden.  Denn  sie  soll  ja  nicht  von  einem  bestimmten  Gegenstande 
abhängen,  welchem  allein  obläge  sie  aufzufordern;  sondern  auf 
die  Idee  soll  sie  sich  beziehen,  für  welche  alles  ein 


[111,1,  151]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  153 

Gegenstand  ist.  Ja  nicht  nur  von  der  sittlichen  Gesinnung 
als  einer  im  ganzen  betrachtet,  sondern  auch  von  jeder  einzelnen 
muß  es  gelten  und  sogar  das  Zeichen  sein,  ob  der  Begriff  richtig 
gebildet  und  ein  wahrer  Teil  des  Ganzen  dadurch  bezeichnet  wird 
oder  nicht,  daß  jede  Tugend  in  jedem  Augenbhck  etwas  bewirken 
muß.  Daher  bewährt  sich  auch  von  diesem  Orte  aus  als  richtige 
Bezeichnung  des  Unterschiedes  sowohl  als  der  Verbindung  zwi- 
schen Pflicht  und  Tugend  jener  Spruch  der  Stoiker,  daß  in  jeder 
vollkommenen  Handlung  alle  Tugenden  wirksam  sind.  Denn  was 
von  dem  Weisen  in  jedem  Augenblick  getan  sowohl  als  nicht  getan 
und  ausgeschlossen  wird,  das  allein  ist  die  Pflicht  und  die  voll- 
kommene Handlung  dieses  Augenblicks.  Es  gibt  also  für  jeden 
Augenblick  eine  solche,  und  also  kann  auch  immer  und  muß  jede 
Tugend  wirksam  sein  und  hat  nicht  nötig,  aus  Mangel  an  Gegen- 
stand und  Gelegenheit  sich  untätig  zu  verbergen  und  gleichsam 
zu  verschwinden.  Ferner,  wenn  der  Begriff  der  Tugend  das  Sitt- 
liche allgemein  bezeichnen  soll:  so  muß  auch,  wie  in  Beziehung 
auf  die  Pflicht  jede  wirkliche  Tat  ihr  gemäß  war  oder  zuwider, 
so  auch  hier  jede  Kraft  und  Gesinnung,  aus  welcher  eine  Tat 
hervorgeht,  entweder  gut  sein  oder  böse,  welches  heißt,  der 
Tugend  entweder  gemäß  oder  zuwider.  Denn  wie  kein  wirkliches 
Handeln,  wenn  nicht  die  Ethik  als  Wissenschaft  soll  zerstört  wer- 
den, außerhalb  des  sittlichen  Gebietes  darf  angenommen  werden: 
so  auch  keine  Quelle  des  Handelns.  Hiegegen  aber  wird  von 
den  meisten  zwiefach  gefehlt,  indem  sie  zuerst  innere  und  han- 
delnde Kräfte  annehmen,  welche  doch  weder  gut  sein  sollen  noch 
böse,  weil  sie  nämlich  in  keiner  Beziehung  ständen  mit  dem  Sitt- 
lichen; dann  aber  auch  setzen  sie  Sittliches  und  auf  das  Sitthche 
sich  Beziehendes  in  der  Seele,  welches  doch  weder  Tugend  sein 
soll  noch  Laster,  weil  es  nämlich  keine  Kraft  wäre  und  keine 
Gesinnung.  Was  nun  das  erste  betrifft,  so  behaupten  viele,  es 
könne  geben  Lust  und  Liebe,  Neigung  oder  Abneigung,  welche 
Bewegungen  des  Gemütes  doch  allerdings  und   überall  auf  den 


154  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  152] 

Willen  bezogen  werden,  die  deshalb  nicht  sittlich  sein  könnten, 
weil   ihre  Gegenstände  zu  unbedeutend  wären.    Wie   aber  oben 
bei  der  Pflicht  gesagt  wurde,  daß  kein  unmittelbares  Verhältnis 
stattfindet   zwischen  der  sittlichen   Idee   und   einer  äußeren  Tat: 
so  auch  nicht  zwischen  ihr  und  einem  äußeren  Gegenstande;  son- 
dern nur  vermittelst  eines  inneren,  worauf  dieser  bezogen  wird. 
Daher  überall  von  der  Größe  des  Gegenstandes  nicht  kann  die 
Rede  sein;  sondern  die  sittHche  Bedeutsamkeit  der  Neigung  zu 
ihm  oder  Abneigung  von  ihm  hängt  ab  von  dem  Inneren,  worauf 
er  bezogen  wird,  welches  Innere  immer  nur  kann  gedacht  werden 
entweder  in  Einstimmung  oder  in  Abweichung  von  der  ethischen 
Idee.    Andere   aber  wollen   handelnde   Kräfte   von    der  sittlichen 
Beurteilung  ausschließen,  weil  sie  nicht  Kräfte  des  Willens  wären, 
sondern  des  Verstandes  oder  eines  anderen   Vermögens.    Dieses 
nun   ist  ein   Mißverstand,   welcher  die    Frage   über  das   Sittliche 
wiederum    hinüberzuspielen    scheint    in    die    von    unserer    Unter- 
suchung ausgeschlossene  Frage  von  der  Freiheit;  indem  nämlich 
der   Grund  darin  vorzüglich  gesetzt  wird,   daß   diese   Kräfte   an- 
geborene wären  oder  Naturgaben,  und  wie  es  sonst  ausgedrückt 
wird,  kurz  unabhängig  vom  Willen.    Es  ist  aber  sehr  leicht,  ihn 
aufzulösen    und  jenem  verschlossenen  Gebiet  auszuweichen,  wenn 
nur   erwogen   wird,   daß    der    Ursprung    des   größeren   oder   ge- 
ringeren Umfangs  und  der  so  oder  anders  bestimmten  Richtung 
eines  Vermögens  hier  unmittelbar  gar  nicht  in  Betrachtung  kommt. 
Denn  es  ist  hier  gar  nicht  vom  Vermögen  die  Rede,  sondern  von 
der  tätigen   Kraft.    Diese  aber  ist  der  Wille  allein.    Denn  jedes 
Vermögen  wird  nur  in  Übung  und  Tätigkeit  gesetzt  durch  den 
Willen;  und  der  Art,  wie  dieses  geschieht,  liegt  zum  Grunde  eine 
Richtung  und  Bestimmung  des  Willens.    Auf  diese  nur  wird  ge- 
sehen, ob  sie  mit  der  ethischen   Idee  übereinstimmt  oder  nicht; 
denn   nur  die   Richtung   des   Willens   ist  das   ethische 
Realie.   Denn  der  Umfang  des  ausführenden  Vermögens  bestimmt 
nur  den  Erfolg,  nach  welchem  zunächst  nicht  gefragt  wird:  die 


[111,1,  153]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  155 

Richtung  aber  desselben  ist  nichts  für  sich,  sondern  nur  abhängig 
von  der  des  Willens.  Was  etwa  hiegegen  noch  zu  sagen  wäre, 
widerlegt  sich  durch  die  Rückweisung  auf  das,  was  im  vorigen 
Buche  gesagt  ist  von  den  Gewöhnungen  und  Gewohnheiten,  wie 
auch  von  dem  an  sich  und  von  dem  nur  beziehungsweise  Unwill- 
kürlichen; woraus  die  einfachen,  hieher  gehörigen  Folgerungen 
ein  jeder  selbst  ziehen  möge.  Dieselbe  Bewandtnis  nun  hat  es, 
nur  daß  sie  noch  deutlicher  hervortritt,  mit  der  zweiten  Ansicht, 
daß  nämlich  einiges  unmittelbar  auf  das  Sittliche  sich  beziehend 
sein  könne  im  Gemüt,  ohne  doch  Tugend  zu  sein  oder  Untugend. 
Denn  hieher  gehört,  v^^as  Kant  wunderbar  genug  die  ästhetischen 
Vorbegriffe  der  Sittlichkeit  nennt,  und  was,  auf  ein  Gemeinschaft- 
liches zurückgeführt,  nichts  anderes  ist  als  die  größere  oder  ge- 
ringere Übung  des  Verstandes,  das  Sittliche  zum  Gegenstande  zu 
machen,  und  ebenso  die  Lebhaftigkeit  oder  Stumpfheit  des  Ge- 
fühls im  Unterscheiden  desselben  und  im  Bewegtwerden  davon. 
Hiezu  nun  muß  ein  Vermögen  überhaupt  jedem  zugeschrieben 
werden,  welcher  der  sittlichen  Beurteilung  soll  unterworfen  sein. 
Denn  kein  Sittliches  kann  zustande  kommen,  weder  ein  inneres 
noch  äußeres,  wenn  nicht  Verstand  und  Gefühl  dabei  geschäftig 
sind  und  darauf  gerichtet;  welche  Meinung  eben  zum  Grunde 
liegt,  wenn  gesagt  wird,  die  Tugend  sei  eine  Erkenntnis.  Ist 
aber  von  einem  Grade,  das  heißt  einer  Kraft,  die  Rede  und  von 
einer  Tätigkeit:  so  ist  ja  deutlich,  wie  diese,  es  sei  nun  zunächst 
und  unmittelbar,  oder  zufolge  des  Vorigen  mittelbar  und  im  ganzen, 
von  der  Richtung  des  Willens  abhängt.  Denn  wenn  gesagt  wird, 
daß  der  Wille  einer  Idee  entspreche:  was  ist  damit  anders  gesagt, 
als  daß  diese  die  immer  gegenwärtige  und  vorwaltende  sei,  und 
die,  auf  welche  alles  bezogen  wird?  Und  wenn  eine  Idee  diese 
Gewalt  ausübt:  so  heißt  eben  dieses,  der  Wille  entspricht  ihr 
und  ist  auf  sie  gerichtet.  Sonach  ist  deutlich,  daß,  ob  Verstand 
und  Gefühl  in  demjenigen,  was  der  Wahrnehmung  gegeben  wird, 
das  Sittliche  vornehmlich  aufsuchen  und  genau  unterscheiden  oder 


156  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [IH,  1,  154] 

nicht,  keineswegs  abhängt  von  einer  eigentümlichen  Beschaffen- 
heit dieser  Vermögen,  sondern  lediglich  von  dem  Verhältnis  des 
Willens  zur  ethischen  Idee,  und  von  der  Gewalt,  welche  diese 
über  ihn  ausübt.  Und  dieses  ist  der  gegenüberstehende  und 
entsprechende  Fall,  in  welchem  gesagt  werden  kann,  die  Er- 
kenntnis des  Sittlichen,  nämlich  gleichviel,  ob  durch  den  Verstand 
oder  durch  das  Gefühl,  sei  selbst  Tugend. 

Dieses  also  sind  die  Bestimmungen,  unter  welchen  der  Begriff 
der  Tugend  muß  gedacht  werden,  wenn  er  die  Stelle  in  der 
Sittenlehre  einnehmen  soll,  welche  für  ihn  allein  die  schickliche 
ist.  Daß  er  aber  nur,  unter  diesen  Bestimmungen  gedacht,  immer 
noch  ein  formaler  bleibt  und  seinen  Inhalt  erst  erwartet  von 
dem  Inhalt  der  ethischen  Idee,  dies  bedarf  keines  Beweises.  Wie 
denn  auch  deshalb  alles  Bisherige  nur  in  nackten  Worten  hat 
können  ausgeführt  werden,  ohne  Beispiele.  Da  nun  auf  keinen 
Inhalt  bis  jetzt  ist  Beziehung  genommen  worden:  so  folgt,  daß 
jede  Ethik,  der  ihrige  sei,  welcher  er  wolle,  etwas  muß  als 
Tugend  aufstellen  können.  Denn  daran  hängt  ihre  Wahrheit  und 
Anwendbarkeit,  daß  ein  Wille  kann  gedacht  werden  als  allein 
und  durchaus  der  obersten  Idee  derselben  entsprechend.  Und 
dieser  Idee  wird  in  jedem  System  etwas  anderes  unter  der  Formel 
des  bloßen  Naturtriebes  entgegengesetzt,  auf  welchen  also,  es 
sei  nun  auf  einfache  oder  vielfache  Art,  ein  anderer  als  der  sitt- 
liche Wille  sich  beziehen  kann.  So  wird  dem  Epikuros  zufolge 
jeder  Wille  unsittlich  sein,  welcher  die  positive  Lust  anstrebt,  und 
nur  derjenige  sittlich,  welcher  ausschließend  auf  die  beruhigende 
gerichtet  ist.  Nach  dem  Aristippos  aber  unsittlich  jeder,  welcher 
fähig  wäre,  sich  auch  für  die  bloße  Tätigkeit  zu  bestimmen,  oder 
irgendeiner  Idee  zuliebe  sich  zu  bewegen,  ohne  auf  die  leise 
Bewegung  zu  achten  oder  auf  die  rückkehrende  Empfindung; 
sittlich  aber  jeder,  der  nur  die  wahre  Lust  und  diese  immer  und 
überall  zu  bilden  und  zu  besitzen  strebt.  Offenbar  aber  ist  ohne 
weitere  Erinnerung,  daß  in  den  wenigsten  Darstellungen  der  Ethik 


[111,1,  155]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  157 

auf  diese  Art  der  Begriff  der  Tugend  der  eigentümlichen  Idee 
angebildet  ist,  und  so  das  Sittliche  einzeln  ausführlich  verzeichnet. 
Wie  denn  gleich  die  angeführten  eudämonistischen  Systeme  sich 
damit  begnügen,  daß  sie,  anstatt  die  eigene  Tugend  vorzuzeigen, 
nur  die  fremden  nach  ihren  Grundsätzen  sichten.  Dieses  aber  heißt 
den  Begriff  gar  nicht  aufstellen.  Denn  was  so  von  anderwärts 
her  aufgenommen  wird,  kann  nur  zufällig  mit  dem  Eigenen  über- 
einstimmen; und  nicht  als  ein  Vielfaches,  zufällig  Zusammen- 
gerafftes, sondern  als  ein  e  und  ein  Wesentliches  soll  die  Gesinnung 
sich  zeigen.  Was  nun  die  einfache  und  reine  Darstellung  des  Ari- 
stippos  betrifft:  so  liegt  hievon  die  Schuld  nicht  an  dem  eigen- 
tümhchen  Inhalt  seiner  Idee,  sondern  nur  an  einem  fast  für  ihn 
selbst  lasterhaften  Überrest  unwissenschaftlicher  Scham,  welche 
sich  weigerte,  das  so  gefundene  Sittliche  in  Widerspruch  zu  setzen 
mit  dem  allgemein  geltenden  Rechtlichen;  wiewohl  hierin  schon 
vor  ihm  nicht  wenig  geschehen  vv^ar,  und  auch  er  im  einzelnen 
deutlich  genug  seine  Meinung  offenbart  hat.  Epikuros  aber  hat 
nur  die  eine  mittelbare  Darstellung  mit  der  andern  verwechselt. 
Denn,  wie  schon  erwähnt,  gehört  er  zu  denjenigen,  deren  Sittlich- 
keit nur  beschränkender  Art  ist,  und  in  diesen  freilich  ist  es  schwer, 
den  Begriff  der  Tugend  unabhängig  für  sich  darzustellen.  Denn 
wenn  die  ethische  Idee  selbst  nicht  rein  aus  sich  auf  eigene  Weise 
das  Leben  bildet,  sondern  nur  einen  negativen  Charakter  hat:  so 
kann  auch  die  ihr  angemessene  Gesinnung  nicht  für  sich  dar- 
gestellt werden  als  selbsttätig,  sondern  nur  vermittelst  desjenigen, 
was  sie  zurückhalten  und  beherrschen  soll.  Daher  auch  jeder  so 
beschaffenen  Sittenlehre  die  Behandlung  nach  dem  Tugendbegriff 
fremd  und  vornehmlich  nur  die  nach  dem  Pflichtbegriffe  natür- 
lich ist;  welches  deutlich  gefühlt  und  streng  beobachtet  zu  haben 
von  Fichte  allein  als  ein  großer  Vorzug  kann  gerühmt  werden. 
Kant  hingegen  hat  seine  Darstellung  zur  Ungebühr  Tugendlehre 
genannt,  da  alles  Reale  darin  nur  Pflichtbegriffe  sind,  und  er  von 
der  Tugend  nur  den  Gegensatz,  nämlich  das  Laster,  hat  gebrauchen 


158  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [IH,1,  156] 

können :  welches  zwar  den  Pflichten  gegenüberstehend  sich  wunder- 
lich ausnimmt,  doch  aber,  indem  überall  viele  einer  oder  eines 
vielen  entspricht,  Gelegenheit  gibt,  die  Ungleichartigkeit  der  Be- 
griffe zu  bemerken.  Mit  der  Tugend  selbst  aber  befindet  er  sich 
überall  im  Gedränge,  und  sie  ist  bei  ihm  und  bei  allen  dieser 
Art  im  Kampf  in  jedem  Sinne.  Nicht  nur  so  nämlich,  daß  dadurch' 
eine  UnvoUkommenheit  der  sittlichen  Gesinnung  ausgedrückt  wird, 
oder  das  Vorhandensein  anderer  neben  ihr,  welche  sie  überwinden 
muß:  sondern  es  ist  ihr  etwas  Wesentliches,  daß  sie  gar  nicht 
gedacht  werden  kann  ohne  andere  Antriebe,  welche  teils  ganz, 
teils  zum  Teil  zu  zerstören  ihr  einziges  Geschäft  ausmacht.  Daß 
aber  die  Stoiker,  welche  sich  doch,  wie  oben  gezeigt  worden, 
in  demselben  Falle  befinden,  fast  am  ausführlichsten  unter  allen 
Alten  den  Tugendbegriff  abgehandelt  haben,  ist  mehr  ihrem  philo- 
logischen und  dialektischen  Sinn  zuzuschreiben,  als  der  Natur 
ihrer  Sittenlehre.  Welches  auch  hinlänglich  dadurch  sich  bestätigt, 
daß  alles  Wahre  und  Richtige,  was  bei  ihnen  gefunden  wird, 
mehr  in  demjenigen  liegt,  was  sie  andere  bestreitend,  als  in  dem, 
was  sie  selbst  aufbauend  vortragen.  Schon  wenn  sie  die  der 
Tugend  entgegengesetzte  Gesinnung  beschreiben  als  ein  nicht 
im  Gehorsam  der  Vernunft  stehendes  Begehren,  die  Tugend 
selbst  aber  als  ein  Erkennen,  muß  ohnerachtet  dessen,  was  oben 
hierüber  gesagt  worden,  jeder  einsehen,  daß  ihnen  der  eigent- 
liche Gegensatz  zwischen  beiden  Gesinnungen  entgangen  ist,  und 
sie  nur  um  ein  und  dasselbe  Begehren  wissen,  bald  mit,  bald 
ohne  Kenntnis,  praktische  freihch,  der  Regeln,  welche  die  Ver- 
nunft darüber  aufstellt.  Daher  auch  sehr  wohl  zu  unterscheiden 
ist  die  Bedeutung,  in  welcher  sie  die  Tugend  Erkenntnis  nennen, 
von  der,  in  welcher  Pia  ton  das  nämliche  behauptet.  Denn  dieser 
hat  nach  seiner  mittelbaren  Lehrweise  dadurch  nur  anzeigen 
wollen,  daß  die  sittliche  Gesinnung  auf  eine  Idee  geht,  und  also 
von  dem  Bewußtsein  derselben  unzertrennlich  ist,  es  sei  nun 
unentwickelt  als  richtige  Meinung,  oder  entwickelt  als  wirkliche 


[111,1,  157]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriflfe.  159 

Erkenntnis;  jene  aber  wollen  andeuten,  daß  die  Gesinnung,  um 
sich  zu  äußern,  eines  vorher  gegebenen  und  ihr  fremden  Be- 
gehrens bedarf,  welches  sie  einer  Regel  gemäß  behandelt.  Daher 
auch  ihre  Erklärungen  der  Tugend  teils  auf  das  zu  Wählende 
oder  das  Gute  sich  zurückbeziehen,  welches  wiederum  die  Tugend 
ist  oder  doch  nicht  ohne  sie,  und  also  im  Kreise  herumgehen,  teils 
aber  ganz  formal  sind,  und  nur  einen  polemischen  Wert  haben, 
wie  die  von  der  Übereinstimmung  im  ganzen  Leben,  oder  die 
gegen  die  Aristoteles  gerichtete,  die  sittliche  Gesinnung  sei  eine 
solche,  welche  ihrer  Natur  nach  kein  Übermaß  zuläßt.  Denn 
die  von  diesem  gegebene  Erklärung,  wenn  sie  auch  nicht  in  dem 
Grade  wie  Kant  es  getan  hat,  und  aus  seinen  Gründen  zu  ver- 
werfen ist,  kann  doch  nicht  gelobt  werden,  weil  sie  ebenfalls 
nur  eine  mittelbare  ist,  auf  die  äußere  Erscheinung  gegründet. 
Nämlich  jede  Handlung,  welche  aus  der  sittlichen  Gesinnung  her- 
vorgeht, hat  einen  Gegenstand,  welcher  zugleich  auch  Gegenstand 
ist  irgendeiner  Neigung.  Daher  muß  jene  Gesinnung  dem  äußeren 
Erfolge  nach  zusammenstimmen  mit  dem,  was  ein  bestimmter 
Grad  von  dieser  Neigung  würde  hervorgebracht  haben;  und  daß 
dieser  Grad  immer  in  der  Mitte  liegen  wird  zwischen  dem,  was 
zu  beiden  Seiten  als  das  Äußerste  der  Neigung  ins  Auge  fällt, 
dies  zu  bemerken  und  für  etwas  zu  achten,  war  eines  Empirikers, 
wie  Aristoteles,  ganz  würdig.  Dasselbige  besagt  seine  andere 
Erklärung  von  Übereinstimmung  der  Vernunft  und  des  unver- 
nünftigen Triebes,  welche  ebenfalls  das,  was  er  in  sich  wohl 
als  Einheit  erkannte,  so  darstellt,  wie  es  in  der  Erscheinung  als 
ein  Zwiefaches  zerfällt.  Welche  Folgen  nun  diese  ganz  unwissen- 
schaftliche Erklärung  und  Konstruktion  des  Begriffes  für  die  ein- 
zelnen Begriffe  und  ihre  Bestimmtheit  haben  muß,  dieses  wird 
sich  unten  zeigen ;  denn  formal  geteilt  hat  A  r  i  s  t  o  t  e  1  e  s  die  Tugend 
nicht,  wenigstens  nicht  nach  diesem  Prinzip.  Hier  ist  nur  zu 
zeigen,  wie  er  sich,  wiewohl  kaum  zu  denen  gehörig,  welchen  die 
Sittlichkeit  überhaupt  ein  Negatives  ist,  ihnen  dennoch  in  seiner 


160  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  158] 

Erklärung  der  sittlichen  Gesinnung  annähert,  weil  nämlich  das 
innere  Wesen  derselben  ihm  immer  eine  unbekannte  Größe  ge- 
wesen ist,  worüber  auch,  wer  ihn  aufmerksam  verfolgt,  viel  un- 
schuldige Winke  antreffen  wird,  ja  deutliche  Geständnisse.  So- 
nach scheinen  unter  den  Vorhandenen  nur  diejenigen  eines  reinen 
und  reellen  Begriffs  der  Tugend  fähig  zu  sein,  weichen,  gleich- 
viel ob  Lust  oder  Tätigkeit,  das  Sittliche  ein  einfaches  Reales  und 
für  sich  selbst  Begreifliches  vorstellt;  welche,  da  den  gewöhn- 
lichen neuen  Bekennern  der  Vollkommenheit  das  Einfache  nicht 
zuzugestehen  ist,  sich  auch  hier  auf  Aristippos,  Platon  und 
Spinoza  werden  zurückführen  lassen. 
Einteilung  Was   nun   bisher  von   der   Art,   den   Begriff  der  Tugend   zu 

derTugenden.jjgstimmen,  gesagt  worden,  dem  fehlt  noch  die  Bestätigung  durch 
nähere  Ansicht  der  Art,  wie  er  von  Verschiedenen  pflegt  eingeteilt 
zu  w^erden.  Sehen  wir  hiebei  zuerst  auf  diejenigen,  bei  denen  die 
Tugend  sich  auf  ein  anderes  und  vorher  gegebenes  Begehren 
bezieht:  so  ist  deutlich,  daß  ihnen  kaum  etwas  anderes  übrig  bleibt 
zur  Regel,  um  die  untergeordneten  und  einzelnen  Begriffe  zu 
bilden,  als  die  Betrachtung  desjenigen,  worauf  die  Tugend  sich 
bezieht;  und  sie  müßte  sonach  geteilt  werden  wie  die  rohen 
Begehrungen,  welche  erst  durch  das  Hinzukommen  der  Tugend 
können  sittlich  werden,  oder  unsittlich  auch  erst  werden  durch 
ihr  Ausbleiben.  Auch  hier  zwar  kann  schon  nicht  gesagt  werden, 
daß  auf  solche  Weise  die  Tugend  eingeteilt  ist;  denn  nur  das 
Beschränkte  wäre  so  als  ein  Vielfaches  dargestellt,  nicht  aber  das 
Beschränkende,  und  es  kann  nicht  gezeigt  werden,  daß  irgendeine 
Art  oder  auch  ein  Teil  der  Tugend  dasselbe  verrichtet  in  diesem, 
eine  andere  Art  aber  dasselbe  in  einem  anderen  Falle.  Allein  von 
dieser  Einteilung  finden  sich  wenig  Spuren  bei  denen,  welchen 
sie  angemessen  wäre,  sondern  mehr  bei  anderen,  bei  denen  diese 
erträglichere  Bestimmung  nicht  einmal  angewendet  werden  kann, 
sondern  es  ganz  das  Ansehen  gewinnt,  als  sollte  die  sittliche  Ge- 
sinnung geteilt  werden  gemäß  der  unsittlichen,  die  ihr  entgegen- 


[111,1,  159]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  161 

gesetzt  wird,  sei  es  nun  unter  dem  Namen  der  Begierde  oder  des 
Affektes  oder  der  Leidenschaft.  Welches  nur  bei  dem  Verfahren 
des  Aristoteles  nicht  ganz  widersinnig  ist,  jedoch  auch  dieses 
genugsam  in  seiner  Blöße  darstellt.  Werden  nun  jene  Neigungen 
selbst  nicht  geteilt  nach  der  verschiedenen  Art,  wie  überhaupt  das 
Begehren  oder  Verabscheuen  auf  einen  Gegenstand  kann  bezogen 
werden,  wozu  Spinoza,  weit  mehr  noch  und  regelmäßiger  als  die 
Stoiker,  wiewohl  ihnen  ähnlich,  einen  lobenswerten  Versuch  ge- 
macht hat,  sondern  nach  bestimmten  Gegenständen,  wie  zum  Bei- 
spiel die  drei  bekannten  und  gemeinen,  Vergnügen,  Reichtum 
und  Ehre:  so  sind  diese  schon  für  die  Neigungen  selbst  nicht  jedes 
eins  und  ein  Bestimmtes;  und  das,  wodurch  sie  sich  unterscheiden, 
steht  gar  nicht  in  Verbindung  mit  dem  Begehren  und  Verab- 
scheuen. Nicht  anders  als  ob  jemand,  nachdem  ein  prismatischer 
Körper  erklärt  worden  als  durch  gleichmäßige  Bewegung  einer 
Fläche  längs  einer  Linie  entstanden,  nun  diese  Körper  einteilen 
wollte,  je  nachdem  die  Fläche  ein  Dreieck  wäre  oder  Viereck, 
oder  sonst  eine  Gestalt  hätte,  welches  für  die  Eigenschaften  des 
Entstandenen  in  der  wissenschaftlichen  Betrachtung  auch  nicht  im 
mindesten  wesentlich  wäre;  ebenso  würden  auch  hier  Verschieden- 
heiten aufgestellt,  die  schon  für  eine  wissenschaftliche  Betrachtung 
der  natürlichen  Neigungen  nicht  wesentliche  wären,  sondern  nur 
zufällige;  wieviel  mehr  noch  zufällig  für  die  Betrachtung  der 
Tugend.  Denn  selbst  wenn  die  Neigungen  auf  eine  vernünftigere 
Art  geteilt  würden,  könnte  doch  nicht  die  Tugend  ihnen  gemäß 
auch  geteilt  werden.  Nämlich  betrachtet  man  sie  zunächst  als 
die  Abwesenheit  der  Neigungen,  welche  auf  etwas  anderes  als 
die  sittliche  Idee  gerichtet  sind:  so  kann  sie  insofern  unmöglich 
geteilt  werden  nach  dem  Mannigfaltigen  und  Eigentümlichen, 
worauf  diese  gerichtet  sind.  Oder  möchte  es  Beifall  finden,  die 
Finsternis,  sofern  sie  eine  Abwesenheit  des  Lichtes  ist,  deshalb, 
weil  das  Licht  in  der  Erscheinung  nicht  dasselbige  ist,  einzuteilen 
in  Beraubung  des  roten  Lichtes  oder  des  blauen  und  wie  sonst  die 

Schleiermacher,  Werke.     I.  11 


162  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  160] 

prismatischen  Strahlen  geschieden  werden?  Betrachtet  man  aber 
die  Tugend  als  im  Kampf  mit  den  entgegenstehenden  Neigungen: 
so  ist  teils  auch  dieses  nicht  ihr  Wesen,  sondern  vielmehr  ein 
vorübergehender  Zustand,  denn  in  ihrer  Vollkommenheit  im 
Weisen  gedacht,  muß  sie  vorgestellt  werden  ohne  Kampf;  teils 
aber  sind  auch  so  die  verschiedenen  Neigungen  für  sie  nicht  der 
Art  nach  verschieden,  sondern  nur  der  Größe  nach.  Denn  daß  in 
dem  einen  Gemüt  die  sittliche  Gesinnung  leichter  und  stärker 
diese  Neigung  überwindet,  in  einem  andern  aber  jene,  dieses  ist 
nicht  daher  abzuleiten,  weil  etwa  jenes  diejenige  Art  oder  Gestalt 
der  Tugend  besäße,  welche  dem  Streit  mit  der  andern  entspräche, 
sondern  nur  daher,  weil  in  jenem  die  eine,  in  diesem  die  andere 
die  schwächere  ist.  Dieses  ist  so  deutlich,  daß  es  verschwenderisch 
wäre,  es  daraus  zu  erweisen,  weil  sonst  nicht  nur  jeder  Neigung, 
sondern  auch  jedem  Gegenstande  derselben  eine  eigene  Art  der 
Tugend  entsprechen  müßte,  so  daß  nicht  nur  eine  gemeinschaft- 
liche Tugend  entgegengesetzt  wäre  der  Neigung  zum  Wohlge- 
schmack, sondern  jedem  Reizenden,  Genießbaren  eine  besondere, 
und  so  in  allen  übrigen.  Wird  dieses  immer  weiter  fortgesetzt,  so 
ergibt  sich  gewiß  ein  Punkt,  wo  es  jedem  ungereimt  erscheint; 
und  willigt  er  dann  in  die  Vernichtung  des  Verfahrens,  so  wird 
durch  denselben  Ausspruch  auch  jedes  vorige  Glied  vernichtet,  bis 
die  Tugend  nur  als  eine  dasteht  im  Verhältnis  gegen  alle  Nei- 
gungen, wie  mannigfaltig  diese  auch  sein  mögen.  Auch  ergibt  sich 
im  Großen  betrachtet  die  Unstatthaftigkeit  dieser  Einteilung  daraus, 
daß,  ohnerachtet  sie  keineswegs  auf  irgendeinem  besonderen  In- 
halt der  ethischen  Idee  beruht,  sie  dennoch,  von  jedem  entgegen- 
gesetzten System  aus  betrachtet,  ungereimt  erscheint  für  das  andere. 
Denn  setzet,  es  sei  im  Eudämonismus  die  Konsequenz  des  Ari- 
stippos  auf  die  mehrmals  erwähnte  Weise  vollendet:  so  ist  dann 
in  diesem  System  und  dem  rein  tätigen  Sittliches  und  Unsittliches 
mit  vertauschter  Überschrift  ganz  dasselbe.  Soll  nun  die  Tugend 
nicht  anders  können  eingeteilt  werden,  als  nach  der  Art,  wie  die 
Untugend  sich  von  selbst  einteilt:  so  muß  in  dem  einen  die  tätige 


[111,1,  161]  11   Kritik  der  ethischen  Begriffe.  163 

Gesinnung  ihre  Einteilung  borgen  von  der  Lust,  in  dem  andern 
aber  gegenseitig  die  Lust  von  der  tätigen  Gesinnung.  So  daß 
entweder  keine  von  beiden  geteilt  werden  kann  durch  die  andere, 
oder,  wenn  dieses,  auch  jede  muß  fähig  sein,  sich  selbst  nach 
einem  inneren  Grunde  zu  teilen.  Kein  Ethiker  aber  ist  wegen 
der  Reinheit  von  diesem  Fehler  so  sehr  zu  loben  als  Spinoza, 
welcher,  wiewohl  er  die  sittliche  Kraft  und  die  andere  nur  als 
Vollkommenheit  und  Unvollkommenheit  unterscheidet  und  besser 
als  irgendein  anderer  die  unsittlichen  Neigungen  geteilt  hatte, 
dennoch  sich  verständig  enthielt,  dieselbe  Teilung  auch  auf  das 
Sittliche  zu  verpflanzen,  und  so  Sittliches  und  Unsittliches  einzeln 
gegenüberzustellen. 

Sehen*  wir  ferner  auf  diejenigen  Einteilungen,  welchen  ein 
vorausgesetzter  Inhalt  des  Sittlichen  zum  Grunde  liegt,  und  zwar, 
weil  die  anderen  nichts  eigentümlich  und  vollständig  ausgeführt 
haben,  auf  die,  welche  das  Sittliche  in  das  Handeln  und  Sein 
setzen  im  Gegensatz  des  Habens  und  Genießens:  so  zeigt  sich 
weit  verbreitet  bei  allen,  welche  die  Vollkommenheit  zu  ihrer 
Formel  gewählt  haben,  eine  Einteilung  der  Tugend  nach  der  Art, 
wie  überhaupt  die  geistige  Kraft  eingeteilt  wird,  in  Tugenden  Tugenden  des 
des  Verstandes  und  des  Willens,  oder  des  Vorstellungs-  und  ^^^  Willens. 
Begehrungsvermögens,  oder  wie  sonst  in  der  Lehre  von  der 
Seele  dieser  Unterschied  pflegt  angedeutet  zu  werden.  Was  nun 
diese  betrifft,  so  ist  Beziehung  zu  nehmen  auf  das  bereits  Gesagte 
von  dem  Verhältnis  des  Willens  zu  allem  übrigen  in  der  Seele, 
was  von  ihm  unterschieden  wird,  und  wie  in  der  Ethik  alles  nur 
kann  auf  den  Willen  bezogen  werden  und  als  dessen  Tugend 
erscheinen.  Daher  haben  auch  mit  Recht  Aristoteles  und  andere 
Alte  den  besseren  oder  schlechteren  Zustand  des  Erkenntnis- 
vermögens, sofern  er  sich  abgesondert  vom  Willen  betrachten  ließ, 
außerhalb  der  Sittenlehre  gestellt.  Wenn  nun,  dem  obigen  gemäß, 
die  Gesinnung  es  ist,  die  sittliche  oder  unsittliche,  welche,  was 
wir  Vermögen   der  Seele   nennen,   in   Tätigkeit   setzt,   und   ihnen 

^  Absatz  nicht  im  Original. 

11* 


164  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  162] 

Umfang  und  Richtung  bestimmt:  so  wäre  nicht  nur  zuerst  der 
Name  der  Einteilung  widersinnig  gewählt,  sondern  auch  der  Grund 
derselben  wäre  nichtig,  als  ob  jemand  das  Licht  einteilen  wollte 
nach  den  leitenden  Stoffen,  durch  welche  es  sich  bewegt,  oder 
eine  Kunst  nach  den  Werkzeugen,  deren  sie  sich  bedient.  Wird 
aber  jene  Zurückführung  alles  andern  auf  die  Einheit  des  Willens 
verabsäumt,  und  auf  die  Gesinnung  nicht  gesehen,  welche  irgend- 
ein Vermögen  des  Geistes  so  bestimmt  hat,  wie  es  bestimmt  ist: 
so  entstehen  dann  Tugenden,  welche  mit  Lastern  zusammen- 
hängen und  aus  einem  Grunde  mit  ihnen  herrühren,  welches,  wenn 
die  Sittlichkeit  und  ihr  Gegenstand  überall  etwas  sein  soll,  wo- 
möglich noch  ärger  ist  als  der  oben  gerügte  Widerstreit  der 
Pflichten,  und  auf  jede  Weise  ein  Zeichen  einer  tiefgehenden 
Verwirrung  der  Begriffe.  So  hört  man  bisweilen  reden  von  einem 
vollkommenen  Verstände,  der  sich  mit  boshaften  Gesinnungen 
verträgt,  und  von  einer  Güte  des  Herzens,  welche  mit  Schwachheit 
des  Verstandes  verbunden  ist.  Wenn  aber  die  sittliche  Gesinnung 
den  Verstand  nicht  treiben  kann,  wo  sie  ihn  braucht:  so  muß 
sie  schwach  sein  und  sich  auch  so  zeigen  in  der  sogenannten 
Güte  des  Herzens,  welche  sich  also  nicht  als  sittlich  bewähren 
wird.  Und  wenn  im  unmittelbaren  Handeln  die  unsittliche  Ge- 
sinnung sich  herrschend  zeigt:  so  wird  sie  auch  diejenige  Reihe 
von  Wollungen  beherrscht  haben,  welche  der  Übung  und  Tätig- 
keit des  Verstandes  zum  Grunde  lag,  so  daß  die  sogenannte  Voll- 
kommenheit ethisch  betrachtet  nichts  anderes  ist  als  eine  Stärke 
und  Vollkommenheit  der  unsittlichen  Gesinnung.  Und  es  ist  nichts 
gesagt,  wenn  jemand  einwendet,  derselbe  Verstand  werde  doch 
auch  um  so  besser  das  Sittliche  vollbringen  und  der  Tugend  dienen 
können;  denn  er  vollbringt  ja  nichts  als  durch  den  Willen  und 
für  den  Willen,  durch  welchen  und  für  welchen  er  ist.  Ja,  es 
ließe  sich  als  ein  schwerscheinender  Satz  behaupten,  daß,  an- 
genommen, die  Gesinnung  könne  sich  umkehren,  dann  auch  eine 
neue  Übung  und  Gestaltung  des  Erkenntnisvermögens  voran- 
gehen müsse,  ehe  es  der  neuen  Gesinnung  mit  gleichem  Geschick 


[111,1,  163]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  165 

werde  dienen  können,  welches  jedoch  nicht  hieher  gehört.  Die 
Sache  selbst  aber  haben  die  Stoiker,  wiewohl  selbst  von  dem 
Fehler  nicht  frei,  sehr  gut  ausgedrückt  durch  die  Behauptung,  daß 
nur  der  Weise  in  Wahrheit  Freund  und  Meister  sein  könne  irgend- 
einer Kunst  oder  Wissenschaft;  welches  sagen  will,  daß 
diese  Vollkommenheiten  ethisch  betrachtet  nur  in- 
sofern des  Namens  genießen,  als  sie  durch  die  sitt- 
liche Gesinnung  in  ihrem  wahren  Umfange  aufge- 
geben und  hervorgebracht  und  also  auch  innerhalb 
derselben   beschlossen  sind. 

Weiter!   auch   wird  in  denselben   Darstellungen   die  Tugend  Einteilung 

eingeteilt,    wie  die   Pflicht,  sowohl   nach   den   Zwecken   als   nach"^'^  .  ^^^  ^" 
^  '  '  und  Gegen- 

den  Gegenständen.    Das  erste  behauptet,  ohne   es  jedoch  genau      ständen. 

auszuführen,  Kant  mit  einer  Verwirrung,  in  der  jede  Spur  seines 
dialektischen  Verstandes  verschwindet,  indem  er  sagt,  es  sei  zwar 
nur  eine  Tugend,  man  könne  aber  mehrere  Tugenden  unter- 
scheiden nach  Maßgabe  der  Zwecke,  welche  die  Vernunft  vor- 
schreibt. Denn  soviel  fehlt,  daß  jedem  Zvv^eck  eine  andere  und 
eigene  Gesinnung  müßte  untergelegt  werden,  daß  vielmehr  nur 
durch  die  Mehrheit  der  Zwecke,  indem  vielem  Äußeren  dasselbe 
Innere  als  zum  Grunde  liegend  sich  offenbart,  die  Gesinnung  kann 
erkannt  werden.    Nicht  besser  aber  ist  es  mit  dem  zweiten,  wenn  Altruistische 

die    Tugenden,    wie    vorher   die    Pflichten,    eingeteilt   werden    in        ""    , 

^  j  o  egoistische 

gesellige   und  in  auf  sich  selbst  bedachte.    Denn  im  sympatheti-    Tugenden. 

sehen  System  ist  weder  der  wohlwollende  Trieb  für  sich  sittlich 
noch  der  selbstische,  sondern  nur  das  Gleichgewicht,  und  also 
die  Gesinnung  nur  insofern  sittlich,  als  dieser  Unterschied  auf- 
gehoben wird;  im  praktischen  aber  ist  jede  Person  nur  insofern 
Gegenstand  des  Sittlichen,  als  sie  ein  Mitglied  ist  von  der  Gemein- 
heit der  Vernunftwesen,  also  die  Gesinnung  nur  insofern  sittlich, 
als  der  Unterschied  gar  nicht  gemacht  wird.  In  beiden  wäre 
daher  diese  Teilung  nur  der  des  Aristoteles  ähnlich  nach  dem 
^  Absatz  nicht  im  Original. 


166  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenleiire.      (111,1,  164) 

Schein,  oder  der  andern  nach  dem  Gegensatz;  denn  von  Nei- 
gungen, welche  selbstisch  sind  und  gesellig,  werden  wohl  beide 
reden.  Auch  könnte  jemand  fragen,  wie  wohl  der  Mensch  dazu 
gelange,  die  Mehrheit  von  Menschen  zu  finden  und  anzuerkennen, 
wenn  nicht  durch  einen  Trieb,  welcher  sie  sucht,  und  ob  es  also 
eine  gesellige  Tugend  gebe  vor  den  Gegenständen  der  Gesellig- 
keit, wodurch  ebenfalls  beide  sich  wieder  in  eine  und  dieselbe 
verwandeln  würden.  Daß  aber  auch  Spinoza  diesen  Unterschied 
auffaßt  und  seine  Tugend  einteilt  in  Starkmütigkeit  und  Edel- 
mütigkeit, geschieht  wenigstens  mit  deutlichem  Bewußtsein,  daß 
die  Einteilung  nur  eine  äußere  ist,  und  daß  die  Tugend  nicht  auf 
diese  Weise  in  zwei  an  sich  unterschiedene  Gesinnungen  zerfällt, 
so  daß  man  von  ihm  nicht  sagen  kann,  er  werde  durch  einen 
Mangel  an  ethischem  Sinn  dazu  getrieben,  sondern  nur  durch  eine 
rhetorische  Absicht.  Diese  jedoch  würde  er  nicht  nötig  gehabt 
haben  zu  verfolgen,  wenn  er  die  zuletzt  aufgeworfene  Frage 
beantwortet  und  der  Wurzel  der  ethischen  Gesinnung  bis  dahin 
nachgegraben  hätte,  wo  auch  der  Trieb  gleiche  Wesen  zu  suchen 
in  sie  eingewachsen  ist,  wozu  sein  System  einen  gar  nicht  be- 
schwerlichen Weg  deutlich  anzeigte.  Pia  ton  hingegen  hat  überall 
so  stark  als  möglich  gegen  diese  Unterscheidung  sich  erklärt, 
indem  er  sogar  in  der  Gerechtigkeit,  welche  doch  immer  an  die 
Spitze  der  geselligen  Tugenden  gestellt  wird,  die  gleiche  auf  den 
Handelnden  selbst  sich  beziehende  Gesinnung  aufsucht.  Zu  wel- 
chem Versuch,  um  die  Unteilbarkeit  der  Tugend  auf  diesem  Wege 
anschauHch  genug  zu  zeigen,  noch  die  andere  Hälfte  mangelt, 
nämlich,  auch  die  am  meisten  auf  den  Handelnden  selbst  sich 
beziehende  Gesinnung  zu  einer  geselligen,  und  zwar  in  der  größten 
Allgemeinheit  zu  erweitern.  Endlich  noch  haben  einige,  an  den 
neueren  Einteilungen  verzweifelnd,  denjenigen  Teilungsgrund  zu 
erforschen  gesucht,  auf  welchem  die  vier  Haupttugenden  der 
gemeinen  hellenischen  Sittenlehre  beruhten,  welches  doch  nur  dann 
von  Nutzen  für  die  Wissenschaft  sein  könnte,  wenn  zuvor  die  Bc- 


[111,1,  165]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  167 

deutung  dieser  Tugenden  selbst  genauer  als  bisher  wäre  geprüft 
worden.  So  meint  Garve  zuerst,  es  habe  dabei  die  Wahrnehmung 
der  vier  natürlichen  Gemütsarten  zum  Grunde  gelegen,  welches 
denn  auf  die  bereits  betrachtete  Einteilung  der  Tugend  nach  den 
rohen  Begehrungen  und  Antrieben  zurückwiese.  Dann  wieder,  sie 
bezögen  sich  auf  die  verschiedenen  Stufen  des  Daseins,  welche 
der  Mensch  als  die  höchste  Potenz  in  sich  vereinigte,  welches 
zwar  gar  nicht  hellenisch,  in  gewisser  Hinsicht  aber  spinozistischer 
ist,  als  man  von  diesem  vermuten  sollte.  Ethisch  indessen  ist  es 
wohl  gar  nicht.  Denn  unmöglich  könnten  diejenigen  Gesinnungen, 
welche  den  niedrigeren  Stufen  des  Daseins  entsprächen,  als  für 
sich  allein  tätig  gedacht,  den  Charakter  der  Vollkommenheit  an 
sich  tragen;  und  wer  jemals  nur  einer  solchen  gemäß  handelte, 
könnte  nicht  der  Weise  sein.  So  daß  alle  übrigen  nicht  für  sich 
Tugenden  sein  würden,  sondern  nur  entweder  Teile  der  höchsten 
Tugend  wären,  oder  dieser  untergeordnete  und  an  sich  gar  nicht 
sittliche  Eigenschaften. 

Was  also  den  Begriff  der  Tugend  anbetrifft,  so  ergibt  sich 
aus  dem  Gesagten,  daß  auch  dieser  meistenteils  weder  gehörig 
entwickelt,  noch  auch  immer  auf  die  rechte  Weise  gebraucht  ist; 
besonders  aber,  daß  er  sich  bis  jetzt  jeder  Einteilung  zu  ver- 
weigern scheint,  welches  im  voraus  von  den  vielen  überall  vor- 
kommenden einzelnen  und  besonderen  Tugenden  keine  günstige 
Meinung  erregt. 

3. 

Vom  Begriff  der  Güter  und  Übel. 

Am  schwierigsten  aber  unter  allen  ethischen  Begriffen  ist  für 
die  Untersuchung  der  Begriff  der  Güter  und  Übel,  weil  nicht 
nur  die  neuere  Sittenlehre  ihn  gänzlich  vernachlässigt  und  kaum 
hie  und  da,  gleichsam  nur  weil  er  doch  einmal  vorhanden  ist, 
seiner  Erwähnung  tut,  sondern  auch  in  der  alten  die  Klarheit, 
worin  er  sich  darstellt,  gar  nicht  in  Verhältnis  steht  zu  den  vielen 


^68  Grundlinien  einer  Kritiic  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  166] 

Versuchen,  welche  damit  sind  gemacht  worden.  So  viel  indes 
ist  für  sich  deutlich,  daß,  wenn  er  weder  ein  leerer  Name  sein 
soll  für  dasselbe,  was  unter  den  vorigen  Begriffen  zusammen- 
gefaßt wurde,  noch  auch  außerhalb  der  Ethik  Gelegenes  bedeuten, 
nämlich  dasjenige,  was  nur  ein  Mittel  ist,  um  das  Sittliche  als 
seinen  Zweck  hervorzubringen  oder  zu  erhalten;  sondern  wenn 
er  in  der  Wissenschaft  selbst  seinen  Ort,  wie  er  ihm  vor  alters 
angewiesen  worden,  behaupten  soll,  muß  er  sich,  wie  bei  uns 
auch  schon  der  Name  andeutet,  auf  die  noch  übrige  dritte  Gestalt 
der  ethischen  Idee,  nämlich  das  höchste  Gut  beziehn,  und  zwar 
ebenso  wie  die  beiden  vorigen  auf  die  ihrige,  wie  das  Element 
auf  das  Ganze,  oder  wie  das  einzelne  auf  die  Totalität,  unter 
welcher  es  befaßt  ist.  Das  höchste  Gut  aber  hatte  sich  gezeigt 
als  Gesamtheit  dessen,  was  durch  die  ethische  Idee  kann  hen'or- 
gebracht  werden;  welches  Hervorbringen  freiUch  nur  eine  all- 
gemeine Bezeichnung  ist,  und  der  näheren  Bestimmung  nach  in 
jedem  System  verschieden  sein  kann,  in  dem  einen  sich  verhaltend 
zum  Hervorbringenden,  wie  die  Welt  zur  Gottheit,  in  dem  an- 
dern, wie  die  Sprache  zum  Gedanken  oder  wie  die  Frucht  zur 
Pflanze.  Was  also  ein  Gut  sein  soll,  muß  sich  wie  ein  einzelnes 
auf  jene  Art  Hervorgebrachtes  verhalten,  und  wiederum  eine 
andere  ethische  Einheit  sein,  als  die  Pflicht  war  oder  die  Tugend. 
Und  daß  in  diesem  Sinn  der  Begriff  der  Güter  gemeint  war,  ist 
nicht  schwer  zu  sehen.  Denn  jener  Fall,  wo  auch  die  Tugend 
ein  Gut  genannt  wird,  ist  oben  schon  vorläufig  erörtert,  und 
der  andere  Begriff  der  Pflicht  ist  niemals  mit  diesem  verwechselt 
worden.  Wie  aber  nun  zu  jenen  beiden  diese  neue  Einheit  sich 
verhalten  soll,  und  ob  noch  eine  dritte  zu  den  vorigen  statt- 
haben kann,  dies  muß  jetzt  näher  betrachtet  werden.  Denn  an 
sich  zwar  scheint  überall  das  Hervorgebrachte  ein  drittes  zu  sein 
zu  der  hervorbringenden  Kraft  und  der  Handlung  des  Hervor- 
bringens; und  so  wie  einer  Kraft  viele  Handlungen  gehören,  so 
auch  können  viele  Handlungen  erfordert  werden,  damit  ein  Her- 


[111,1,  167]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  169 

vorgebrachtes    entstehe.     Oder    auch,    wie    eine    Handlung    kann 
zurückgeführt  werden  müssen  auf  viele  Kräfte,  als  zugleich  und 
im    Verein   wirkend:   so   auch   kann   jede   Handlung  zu   erklären 
sein    aus    einer   zusammengesetzten    Abzweckung    auf    mehreres 
Hervorzubringende.    In  Beziehung  aber  auf  das  Sittliche  scheint 
dieses  eigenen  Schwierigkeiten  unterworfen  zu  sein  und  uns  plötz- 
lich  wieder  zurückzuwerfen   in   den   alten   Streit   über  die   Form 
des  SittHchen  und  seine  Materie.    Um  nun  sogleich  diesen  Schein 
zu  entfernen,  ist  zuerst  im  allgemeinen  zu  erinnern,  daß  keines- 
wegs das  Verhältnis  der  Pflicht  zum  Gut  so  gedacht  werden  solle, 
daß   die  Tat  nur  Mittel  sei,   das   Werk   aber  oder  das   Hervor- 
gebrachte der  Endzweck;  welches  ja  schon   oben   als  nicht  ver- 
träghch  ist  erklärt  worden  mit  der  Natur  der  Sittenlehre,  als  in 
der  alles  unmittelbar  und  um  sein  selbst  willen  bestehen  muß. 
Vielmehr  ist  dieses  ein  sicheres  Merkmal,  daß   eine  Ethik  nicht 
frei  ist  von  Widersprüchen,  wenn  sie  nicht  auf  eine  andere  eigene 
Weise   diese   beiden    Begriffe   aufeinander   zu   beziehen    vermag; 
oder  vermag  sie  es   zwar,   hat   es   aber  nicht  geleistet,  so  geht 
hervor,    daß   sie   sich   selbst   nicht   gehörig   verstanden   und   aus- 
gebildet habe.   Welchergestalt  also  auch  die  formalistische  Sitten- 
lehre,  wenigstens  von  diesem   Punkt  aus,   den   Begriff  nicht  be- 
streiten kann.    Ebensowenig  aber  darf  die  Pflicht  gedacht  werden 
als   unzureichend,  um  das  Gut  hervorzubringen,   wie  gerade  die 
formalistische  Sittenlehre  hat  behaupten  wollen;  denn  durch  ein 
solches   Verhältnis  würde  ebensosehr  als  durch   jenes   einer  von 
beiden  Begriffen  aufhören,  ethisch  zu  sein.    Dieses  nun  sei  im  all- 
gemeinen   verwahrend    vorausgesetzt;    die    wahre    Beschaffenheit 
dieses  Verhältnisses  aber  und  der  Sinn  des  zu  betrachtenden  Be- 
griffs läßt  sich  nur  genauer  betrachten  in  Beziehung  auf  die  ein- 
zelnen  voneinander  abweichenden   Darstellungen  der  Sittenlehre. 

Was  nun  zuerst  die  eudämonistische  Ethik  betrifft,  so  ist  Ethik  des 
schon  im  vorigen  Buche  gezeigt  worden,  daß  sie  eines  vorbereiten-  ^nusses. 
den  und  bloß  vermittelnden  Handelns  kaum  entbehren  kann,  und 


170  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  168] 

was  für  nicht  zu  hebende  Nachteile  ihr  hieraus  entstehen.  Ferner 
auch  ist  noch  erinnerhch,  wie  für  sie  das  höchste  Gut  nichts  sein 
kann  als  nur  ein  Aggregat,  so  daß  keineswegs  nach  dieser  An- 
sicht die  einzelnen  Güter  für  jene  Idee  so  organische  Elemente 
sind,  wie  etwa  für  die  Idee  des  Gesetzes  die  Pfhchten,  und  daß 
sie  auch  nicht  vollständig,  sondern  nur  durch  Annäherung  der 
Idee  entsprechen,  deren  Möglichkeit  daher  auch  in  diesem  Sinne 
von  den  besten  eudämonistischen  Schulen  ist  geleugnet  worden. 
Hievon  aber  müssen  wir  eben  deshalb  hinwegsehen,  wenn  die 
Frage  nur  die  ist,  ob  der  Begriff  der  Güter  in  seinem  wahren 
Sinne  ist  aufgestellt  worden;  denn  seine  Beziehung  auf  die  Idee 
wird  durch  deren  beschränkte  Beschaffenheit  nicht  hinweg- 
genommen. Wenn  man  nun  nur  dasjenige  Handeln  betrachtet, 
welches  nicht  erst  Vorbereitungen  trifft  und  Mittel  herbeischafft, 
sondern  unmittelbar  mit  dem  Hervorbringen  der  Lust  beschäftigt 
ist:  so  zeigt  sich  dieses,  wie  nahe  es  auch  an  seiner  Vollendung 
beobachtet  wird,  immer  unterscheidbar  von  der  Lust  selbst,  als 
dem  Hervorgebrachten.  Niemals  aber  erscheint  es  doch  gegen  sie 
als  ein  ganz  Fremdes,  oder  nur  als  Mittel;  sondern  es  zeigt  sich 
überall  so  mit  ihr  verbunden,  daß  eins  ohne  das  andere  nicht 
kann  gedacht  werden.  Denn  nicht  nur  wird  die  Lust  hervor- 
gebracht in  einer  Zeitfolge,  durch  ein  in  gleicher  Zeitfolge  fort- 
laufendes Handeln;  sondern  das  Handeln  selbst  enthält  schon 
seiner  Natur  nach  die  Lust  im  Vorbilde,  welches,  mit  dem  Fort- 
gange von  jenem  sich  steigernd,  fast  stetig  in  die  Wirklichkeit 
übergeht.  So  daß  das  Handeln  und  das  als  ein  Leiden  gedachte 
Entstehen  der  Lust  zwei  in  umgekehrter  Ordnung,  eine  wachsend, 
die  andere  abnehmend,  verbundenen  Reihen  zu  vergleichen  sind. 
Womit  auch  die  Verschiedenheit  der  Einheiten  nicht  streitet,  son- 
dern gar  wohl  einer  Lust  ein  mannigfaltiges  Handeln  entsprechen 
und  ein  und  dasselbe  Handeln  auf  ein  Vielfaches  der  Lust  kann  ge- 
richtet sein;  denn  nach  einem  andern  Grunde  wird  das  Handeln, 
nach   einem  andern  das   Genießen   geteilt   und   zusammengefaßt. 


[111,1,  169]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  171 

Sehen  1  wir  weiter  auf  die  praktische  Ethik,  so  entspricht  hier  Ethik  des 
noch  weit  offenbarer  jedem  Handeln,  als  seine  eigentUche  Voll-  ^"^^'"s. 
endung,  ein  Werk.  Denn  jedes  sittliche  Handeln  ist  das  Hervor- 
bringen, oder,  welches  gleichviel  gilt,  das  Erhalten  eines  Verhält- 
nisses, entweder  der  Teile  des  Menschen  untereinander,  oder  des 
einen  zu  den  andern,  welches  ^  ein  Gut  müßte  genannt  werden. 
Und  zwar  ist  es  seiner  Natur  nach  allezeit  ein  solches,  welches 
nur  im  Handeln  und  aus  Handlungen  besteht,  indem  ja  von  dem 
Standpunkt  dieser  Ethik  nichts  anderes  gesehen  wird,  als  Handeln. 
Sonach  erscheint  das  Handeln  nicht  als  Mittel  zu  dem  Werk  als 
Zweck,  sondern  es  ist  selbst  ein  Teil  desselben ;  und  wiederum  ist 
in  dem  Werke  nichts  anderes  als  solches  Handeln  enthalten,  so 
daß  offenbar  das  pflichtmäßige  Handeln  zureichend  sein  muß  zum 
Hervorbringen  des  Werkes,  und  also  genau  dasjenige  Verhältnis 
entsteht  zwischen  Pflicht  und  Gut,  welches  die  Natur  der  Begriffe 
und  ihr  Ursprung  erfordern.  Weil  nämlich  demnach  die  Hand- 
lung nicht  bloß  als  Teil  dem  Werk  untergeordnet  ist,  sondern 
auch  wieder  das  Werk  der  Handlung.  Denn  von  dem  Handeln 
für  sich  ist  der  Entschluß  das  Wesen;  und  bei  diesem  ist  nicht 
nur  auf  dasjenige  Werk  allein  gesehen,  welches  unmittelbar  durch 
die  Tat  gefördert  wird,  sondern  auch  auf  alle  übrigen,  die  als 
Güter  und  als  Teile  des  höchsten  Gutes  aufgegeben  sind;  wie 
dieses  schon  oben  gezeigt  worden.  Vielleicht  aber  möchte  jemand 
gegen  die  behauptete  Zulänglichkeit  der  Tat  zur  Vollbringung 
des  Werkes  einwenden,  daß  doch  in  beiden,  sowohl  der  eudämo- 
nistischen  Ethik,  als  der  praktischen,  das  Werk  nicht  rein  aus 
der  Tat  hervorgehe,  sondern  in  der  ersteren  auch  abhänge  von 
der  Natur,  in  der  letzteren  aber  meistenteils  von  den  Handlungen 
anderer,  welche  doch  in  Beziehung  auf  jeden  einzelnen  Fall  eben- 
falls  Natur  sind  oder  Zufall.    Hier   nun   ist  eine   andere  in   Be- 


^  Absatz  nicht  im  Original. 

-  In  Ausgabe  1803  folgen  jetzt  die  Worte:  „Verhältnis  dann  für  sich  be- 
trachtet das  Werk  ist,  welches". 


172  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  170] 

trachtung  zu  ziehen  von  den  Verschiedenheiten  der  Grundsätze, 
ob  nämlich  nur  das  Gemeinschaftliche  der  menschlichen  Natur 
gedacht  ist  als  Gegenstand  der  Sittlichkeit,  oder  auch  das  Be- 
sondere und  Eigentümliche  1;  denn  von  diesen  Fällen  führt  jeder 
seine  eigene  Antwort  herbei.  Wird  nämlich,  wie  in  den  Systemen 
der  Tätigkeit  fast  durchgängig  geschieht,  der  erste  gesetzt:  so  sind 
für  diese  Ansicht,  bei  welcher  die  Persönlichkeit  nicht  in  Betracht 
kommt,  die  verschiedenen  Handlungen  des  einzelnen  nicht  besser 
verbunden  und  minder  zufällig  eine  für  die  andere,  als  die  ein- 
zelnen Handlungen  Verschiedener.  Und  sonach  würde  entweder 
auch  durch  diese,  oder  auch  nicht  einmal  durch  jene,  ein  Werk 
können  so  hervorgebracht  werden,  daß  man  sagen  dürfte,  es  sei 
das  sittliche  Handeln  ohne  Zufall  dazu  hinreichend  gewesen.  Wer 
nun  das  letzte  behaupten  wollte,  der  müßte,  wie  mit  den  ein- 
zelnen Handlungen,  so  auch  mit  den  Bruchstücken  des  Werkes 
sich  genügen  lassen,  welche  er  dann  rein  sittlich  finden  würde,  wie 
in  der  Lust,  so  auch  in  der  Tätigkeit.  Wird  aber,  wie  in  der 
Sittenlehre  des  Genusses  am  allgemeinsten  und  auch  am  richtig- 
sten geschieht,  das  Besondere  und  Eigentümliche  als  Gegenstand 
der  Sittlichkeit  gesetzt:  so  verschwindet,  sie  gehe  nun  auf  Tätig- 
keit oder  auf  Lust,  mit  dem  Gemeinschaftlichen  der  Kraft  oder 
des  Stoffes  auch  der  allgemeingültige  Maßstab  für  die  Vollendung 
des  Werkes,  sowohl  dem  Begriff  als  dem  Grade  nach,  und  auch 
das  v/ird  müssen  für  ein  Werk  gelten,  was  ohne  Beihilfe  der 
Natur  aus  eigener  Kraft  ist  vollbracht  worden,  wenn  es  gleich 
äußerhch  nur  als  ein  Bruchstück  erscheint,  oder  als  ein  Teil, 
oder  auch  als  eine  Verminderung  eines   Entgegengesetzten. 

Auf  diese  Art  also  scheint  dem  Begriff  seine  Stelle  in  allen 
Darstellungen  der  Sittenlehre  gesichert  und  seine  Bedeutung  für 
das  Ganze  außer  Streit  gesetzt.  Worauf  nun  zu  untersuchen  ist, 
ob  er  auch  diesem  Sinne  gemäß  und  an  der  rechten  Stelle  ist 
aufgestellt  worden;  welches  hier,  wie  auch  bei  den  vorigen  ge- 
schehen, ohne  durch    Beispiele   des   einzelnen   und    Realen   dem 

1  Vgl.  auch  S.  61,  111,  261. 


[111,1,  171]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  173 

folgenden  Abschnitt  vorzugreifen,  vermittelst  der  dem  Begriff  an- 
hangenden, gleichfalls  formalen  Nebenbegriffe  sowohl,  als  auch 
der  Art,  ihn  zu  teilen,  muß  geprüft  werden. 

Und  hier  ist  zuerst  von  der  Ethik,  welche  sich  die  Lust  zum      Weitere 

Ziel  gesetzt  hat,  zu  bemerken,  daß  sie  sich  diesen  Begriff,  ohn-  ^     1!^^ 

^  '  '  ö       '  Begriffes  von 

erachtet  der  erwähnten  Schwierigkeiten,  möglichst  rein  hat  zu  er- qu^u^^  Übel, 
halten  gewußt.  Denn  Aristippos  wenigstens  schließt  davon  alles  1.  Eudämo- 
dasjenige  aus,  was  nur  ein  Erzeugnis  des  vermittelnden  und  vor-  "ismus. 
bereitenden  Handelns  ist  und  nur  erst  durch  den  Gebrauch  seinen 
bestimmten  Wert  erhält.  Auch  kommt  der  Mittelbegriff  zwischen 
Gut  und  Übel  bei  ihm  nicht  vor  als  etwas  Wirkliches  und  sitt- 
lich Hervorgebrachtes,  sondern  nur  als  eine  leere  Stelle.  Denn 
ein  Zustand,  welcher  weder  Lust  noch  Schmerz  in  sich  enthält, 
ist  entweder  gar  nicht  möglich,  oder  nur  dadurch,  daß  das  Selbst- 
bewußtsein aufgehoben  ist,  welches,  wenn  nicht  ein  Teil  der 
Handlung  für  die  ganze  genommen  wird,  durch  ein  sittlich  zu 
beurteilendes,  das  heißt  willkürliches  Handeln  diesem  System  zu- 
folge unmöglich  geschehen  kann.  Diese  verhältnismäßig  größte 
Reinheit  nun  scheint  zu  beweisen,  daß  dieser  Begriff  mehr  als 
einer  von  den  vorigen  geeignet  ist,  das  Gerüst  einer  solchen 
Sittenlehre  zu  bilden.  Zugleich  aber  offenbart  sich  doch  auch  in 
ihm  die  chaotische  Natur  derselben.  Denn  sie  kann  nicht  füglich 
anders  als  jede  Einteilung  dieses  Begriffs  verwerfen,  weil  ent- 
weder Güter  und  Übel,  das  Sittliche  und  Unsittliche,  auf  gleiche 
Weise  müßten  geteilt  werden,  welches  bisher  allezeit  falsch  ist 
befunden  worden,  wenn  nämlich  die  Teilung  sich  gründete  auf 
die  Merkmale,  welche  im  Begriffe  der  Empfindung  verbunden 
sind.  Oder  wenn  nach  den  Gegenständen  geteilt  würde,  deren 
Berührung  und  Behandlung  die  Lust  hervorbringt,  so  bezöge  sich 
die  Teilung  auf  nichts  Wesentliches,  welches  Wert  und  Art  des 
Eingeteilten  verschieden  bestimmte.  Denn  die  Ursachen  der  Lust 
sind  bei  dieser  Ansicht  ganz  gleichgültig,  wie  auch  Aristippos 
ausdrücklich  behauptet;  und  sie  erkennt,  genau  zu  reden,  keinen 
andern  Unterschied  zwischen  einem  Gut  und  dem  andern,  als 
den  des  Grades,  wenigstens  muß  sie  diesem  alle  andern  unter- 


174  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  172] 

ordnen.  Da  nun  aus  diesem  keine  wissenschaftliche,  sondern  nur 
eine  höchst  willkürliche  Einteilung  hervorgehen  kann,  so  ver- 
schwindet zu  jener  jede  Möglichkeit;  so  daß  das  einzelne  Reale, 
welches  dem  Begriff  des  Gutes  angehört,  nur  ebenso  grob  em- 
pirisch und  regellos  kann  aneinander  gereiht  werden,  wie  hier 
die  Idee  des  höchsten  Gutes  selbst  nur  als  ein  solches  Zusammen- 
gereihtes gedacht  wird. 
II.  Ethik  Was  aber  zweitens  die  Sittenlehre  des   Handelns  betrifft,  so 

des  Handelns. j^g^  ^q^.  Begriff  von  Gütern,  wenngleich  nirgends  häufiger  ge- 
braucht, doch  nirgends  in  größerer  Verwirrung  gelegen,  und  zwar 
größtenteils  deswegen,  weil  sie  das  Formale  desselben  nicht  rein 
aufgefaßt,  sondern,  was  in  der  Sittenlehre  der  Lust  seinen  Inhalt 
bezeichnet,  mit  darin  aufgenommen  haben.  Von  Aristoteles 
zwar  kann  man  das  letztere  weniger  sagen  und  muß  davon,  daß  er 
diesen  Begriff  gänzlich  verdorben,  den  Grund  vielmehr  suchen 
in  der  eigentümhchen  Art,  wie  er  der  Lust  eine  Stelle  einräumt 
neben  dem  Handeln.  Denn  er  begleitete  die  eigentümliche  Lust 
nicht  durch  das  allmähliche  Fortschreiten  einer  jeden  Handlung, 
sondern  erblickte  sie  nur  am  Ende  und  bezog  sie  auf  das  Wohl- 
geraten, auf  die  gänzliche  Erreichung  des  äußerHchen  Endzweckes 
der  Tat.  Hiezu  nun  fand  er  mit  Recht,  um  es  jedesmal  zu  be- 
wirken, die  sittliche  Kraft  nicht  hinreichend,  sondern  bedurfte 
ebenfalls  eines  vorbereitenden  und  vermittelnden  Handelns  nicht 
nur,  sondern  auch  einer  unmittelbaren  Hilfe  und  Beistimmung 
der  Natur  und  des  Zufalls;  und  hievon  die  Erzeugnisse  Güter 
zu  nennen,  dieser  Täuschung,  gegen  welche  Aristippos  sich  zu 
verwahren  gewußt,  hat  er  untergelegen.  Denn  nun  beziehen  sich 
ein  Teil  seiner  Güter  nicht  auf  die  Idee  des  höchsten  Gutes, 
und  er  gesteht  selbst,  es  gebe  einige  Güter,  die  kein  Bestandteil 
von  dieser  sein  könnten;  weil  er  nämlich,  auf  die  Tätigkeit  aus- 
gehend, nur  die  Lebensweise,  als  ein  Innerliches  betrachtet,  für 
dasjenige  erkannte,  was  rein  sittlich  kann  hervorgebracht  werden. 
Auch  fehlt  es  an  einem  Vereinigungspunkt  für  seine  verschie- 
denen Arten  von  Gütern,  wie  er  sie  dem  Pia  ton  oder  vielmehr 


[111,1,  173]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriife.  175 

einer  alten  und  gemeinen  Vorstellung  nachsprechend  einteilt;  und 
fes  möchte  schwer  sein,  den  allgemeinen  Begriff,  unter  welchem 
sie  sollen  befaßt  sein,  als  einen  ethischen  aufzustellen  und  zu 
bestimmen.  Denn  einige,  nämlich  alle  äußerliche  und  auch  von 
den  körperHchen  und  geistigen  ein  Teil,  sind  nur  Ergänzungen 
und  Erleichterungen  des  Handelns,  andere  aber,  nämlich  von  den 
beiden  letzteren  Arten  die  übrigen,  sind  ordentlich  ein  Bewirktes 
durch  das  Handeln;  beide  also  scheinen  ethisch  gänzlich  von- 
einander getrennt  zu  sein  und  die  Einheit  des  Begriffes  dem- 
nach außer  den  Grenzen  dieser  Wissenschaft  zu  liegen.  Noch 
eigentlicher  aber  läßt  sich  das  oben  Gesagte,  daß  nämlich  eudämo- 
nistische  Bestandteile  auch  die  bloß  formale  Ansicht  des  Begriffes 
verdorben,  von  den  Stoikern  behaupten.  In  der  Sittenlehre  der 
Lust  nämlich  kann  natürlich  nur  das  ein  Gut  sein,  was  sich 
auf  den  persönlichen  Zustand  eines  Menschen  bezieht;  und  der 
Begriff  des  Besitzes  ist  mit  dem  Begriff  des  Gutes  unzertrennlich 
verbunden.  Dieses  materiale  Merkmal  nun  nahmen  die  Stoiker 
mit  auf  in  den  formalen  Begriff,  und  weil  sie  mit  Recht  gegen 
die  Eudämonisten  sowohl  als  gegen  den  Aristoteles  die  Hin- 
länglichkeit der  sittlichen  Kraft  zur  Hervorbringung  eines  jeden 
Gutes  behaupten  wollten,  welches  der  Sinn  ist  von  jener  Formel, 
daß  nur  das  ein  Gut  sein  könne,  was  von  uns  abhängt:  so  blieb 
ihnen,  als  zum  persönlichen  Zustande  gehörig  und  als  sittlicher 
Besitz,  nichts  übrig,  als  die  Tugenden.  Daher  kann  man  sagen, 
daß  der  Begriff  von  ihnen  nur  polemisch  aufgenommen  und 
angewendet  ist  und  nur  so  einen  Wert  hat.  Denn  sehr  gut 
haben  sie  gegen  die  Peripatetiker  geleugnet,  daß  äußerliche 
Begünstigungen  zur  Vollendung  der  Tugend  notwendig  wären,  oder 
daß  irgend  etwas  ein  Gut  sein  könne,  was  nicht  als  Bestandteil 
zum  höchsten  Gut  gehöre.  Für  sie  selbst  ist  aber  der  Begriff 
ursprüngHch  ganz  leer  geblieben,  und  hat  nur  aus  Furcht  vor 
dieser  Leere  hernach,  anstatt  das  System  zu  vollenden,  zum  Ver- 
derben desselben  gereicht.  Denn  wegen  jenes  aufgenommenen 
Merkmals    mußte    ihnen    der    Begriff   der    Darstellung    des    Sitt- 


176  .Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  174] 

liehen,  als  das  unterscheidende  Merkmal  der  Güter,  entgehen, 
und  mit  diesem  auch  die  verschiedene  Beziehung  der  Tugend, 
insofern  sie  einen  unabhängigen  und  ursprünglichen  Begriff  bildet, 
und  wiederum  insofern  sie  dem  der  Güter  als  ein  Reales  unter- 
geordnet ist.  Da  sie  aber  dennoch,  durch  ihre  dialektische  Neigung 
getrieben,  beides  unterscheiden  wollten:  so  sind  sie  in  jene  dem 
Aristoteles  ähnliche  Verwirrung  hineingeraten.  Daß  nun  dieses 
wirklich  die  Geschichte  des  Begriffs  der  Güter  in  ihrem  Lehr- 
gebäude gewesen  ist,  muß  die  ganze  Behandlung  desselben  einem 
jeden  beweisen.  Denn  zuerst  offenbart  sich  die  Beziehung  auf 
den  persönlichen  Zustand  und  den  Besitz  in  dem  Verfahren  mit 
dem  Begriff  der  gleichgültigen  Dinge,  der  ganz  darauf  beruht, 
daß  es  etwas  gibt,  dessen  Besitz  aus  sittlichen  Gründen  weder 
gesucht  werden  darf  noch  vermieden;  keineswegs  aber  darauf, 
daß  einiges  überall  kein  Werk  ist,  und  also  weder  die  sitt- 
liche Gesinnung  darstellt  noch  die  entgegengesetzte.  Wie  denn 
auch  die  große  Ausdehnung  des  Begriffs  der  Güter  überhaupt 
und  die  Einteilung  alles  dessen,  was  ist,  in  Güter  und  Übel 
und  keines  von  beiden  nur  ein  dialektisches  Wagestück  sein  mag, 
aus  der  Verlegenheit  den  ihnen  fremden  Begriff  irgendwo  an- 
zuknüpfen entstanden;  die  Aufgabe  aber,  welche  für  denjenigen, 
darin  liegt,  der  die  Güter  als  Darstellungen  ansieht  und  als 
Werke,  ist  von  ihnen  gar  nicht  gedacht  worden.  Ferner  erhellt 
das  nämliche  aus  allen  ihren  Einteilungen,  welche  genau  be- 
trachtet keine  andern  sind  als  die  des  Aristoteles,  in  ihrer  mehr 
dialektischen  Sprache  ausgedrückt.  Nur  daß  in  der  einen,  in  Güter 
in  der  Seele  und  außer  der  Seele  und  keines  von  beiden,  den 
Widersinn  der  Dreiteilung  abgerechnet,  der  Gedanke  des  Be- 
sitzes mehr  hervorsticht:  in  der  andern  aber,  in  Güter,  welche 
das  Sittliche  in  sich  haben,  und  in  solche,  welche  es  hervorbringen, 
und  solche,  von  denen  beides  gilt,  die  gänzliche  Unbestimmtheit 
der  sittUchen  Beziehung.  Nicht  leicht  aber  zeigt  sich  irgendwo 
.deutlicher  als  hier  die   Vortrefflichkeit  der   Dialektik,  welche  sie, 


[111,1,  175]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  177 

wenn  sie  ihr  treu  geblieben  wären,  notwendig  auf  das  Richtige 
hätte    führen    müssen.     Denn    was   weder   in    der  Seele   ist   noch 
außer  ihr,  welchen  Sinn  könnte  diese   Formel  haben,  wenn  nicht 
dasjenige   ihr  entsprechen  soll,   was   überall   nicht   in   Beziehung 
auf  einen  und  als   Besitz  kann   gedacht  werden;  und  wenn  nur 
irgend   Güter  sollen  außer  diese   Abteilungen  ^   gehören,   müssen 
auch  die  vorigen  hierauf  zurückgeführt  werden,  und  auch  die  in 
der  Seele  nur  Güter  sein,  weil  sie  nicht  außer  ihr,  und  die  außer 
ihr,  weil  sie  nicht  in  ihr  sind.    Ebenso  müßte  sich  aus  der  ersten 
Abteilung    ergeben,   daß,   wenn    es    Güter   gibt,   die   auf  so   ver- 
schiedene Weise  sich  auf  das  Sittliche  beziehen,  das  Wesentliche 
des  Begriffs  nicht  liegen  kann  in  dem,  wodurch  diese  Beziehungen 
einander  entgegengesetzt  sind,  sondern  in   einem   Gemeinschaft- 
lichen, welches  aber  auch  nicht  bloße   Unbestimmtheit  sein  darf, 
sondern  ein  Bestimmtes.    Dieses  aber  ist  nichts  anderes  als  der 
Begriff   des   Werkes   und   der   Darstellung,    welche   aus   der   Ge- 
sinnung   hervorgegangen    auch    wieder   die    Gesinnung    erweckt, 
indem  sie  sie  verkündigt,  und  welche  sittlich  hervorgebracht  auch 
wieder  die  Kraft  hat,  in  einer  anderen   Reihe  sittlicher  Tätigkeit 
mitzuwirken.    Ferner  hätte  sich,  wenn  sie  den   Unterschied  nicht 
vernachlässigt   hätten,  daß   sich   im   Eudämonismus   alles   auf  die 
Einzelheit,  bei  ihnen  aber  alles  auf  die  gemeinschaftliche  Natur 
bezieht,  auch  der  Gedanke  des  Besitzes  erweitern  müssen  zu  dem 
eines  Gemeinbesitzes,  welcher  in  seiner  größten  Ausdehnung  ge- 
dacht  nichts   übrig  läßt,   als   dasjenige,    was   da   ist  für  die   An- 
schauung.    Von   selbst   hätte    sich    dann    nach    derjenigen    Regel 
erweitert  die  Formel  der  Zulänglichkeit  der  sittlichen  Kraft,  näm- 
lich es  müsse  zureichen  diejenige  sittliche  Kraft  und  Größe,  für 
welche  auch  das  Gut  ein  Gut  ist,  nämlich  die  gesamte.   Und  auch 
hier  zeichnet  sich  wiederum  aus  Spinoza,  welcher,  obgleich  er 
ebenfalls  nicht  viel  Gebrauch  macht  von  dem  Begriff  der  Güter, 
doch  bei  gleichen  ja  stärkeren  Veranlassungen,  als  die  des  Aristo- 

Schleiermacher,  Werke.     I.  12 


178  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  176] 

teles  und  der  Stoiker,  dieselben  Fehler  vermeidet  und  den  Fehler 
des  Nichtgebrauchs  nicht  vermehrt  durch  den  Mißbrauch.  Denn 
bei  der  Art,  wie  er  den  Menschen  abhängig  macht  von  der  Natur, 
wäre  es  keinem  verzeihlicher  gewesen  als  ihm,  die  Begünsti- 
gungen derselben  als  etwas  Sittliches  unter  dem  Namen  der  Güter 
aufzunehmen.  Hievon  aber  entfernt  er  sich  gänzlich  durch  die 
Erklärung,  daß  alle  wahren  Güter  der  Wirklichkeit  nach  allen 
Weisen,  der  Natur  nach  aber  allen  Menschen  müßten  gemein 
sein;  welches  zugleich  auch  in  der  andern  Hinsicht  der  Aufschluß 
ist  und  die  Vermittlung  für  die  den  andern  gemeinsamen  Irr- 
tümer. Am  reinsten  aber  nicht  nur  von  Fehlern,  sondern  auch 
am  vollständigsten  findet  sich  dieser  Begriff,  wenngleich  auch 
nur  unentwickelt,  in  der  Sittenlehre  des  Piaton.  Denn  so  dachte 
er  sich  die  Gottähnlichkeit  des  Menschen  als  das  höchste  Gut, 
daß,  so  wie  alles  Seiende  ein  Abbild  ist  und  eine  Darstellung  des 
göttlichen  Wesens,  so  auch  der  Mensch  zuerst  zwar  innerlich  sich 
selbst,  dann  aber  auch  äußerlich  was  von  der  Welt  seiner  Gewalt 
übergeben  ist,  den  Ideen  gemäß  gestalten  solle,  und  so  überall 
das  Sittliche  darstellen.  Hier  also  tritt  das  unterscheidende 
Merkmal  des  Begriffs  deutlich  heraus,  und  die  Beziehung  des- 
selben sondert  sich  ab  von  der  Tat  sowohl  als  der  Gesinnung. 
Und  wer  kann  beurteilen,  wie  weit  dieses  ist  ausgeführt  gewesen 
in  seinen  Gedanken,  und  wieviel  wir  davon  erblicken  würden, 
wenn  wir  jenes  große  Werk  ganz  vor  uns  hätten,  welches  das 
göttliche  Wesen,  wiewohl  des  Neides  unfähig,  entweder  ihm  aus- 
zuführen  oder  uns  zu  besitzen  nicht  erlaubt  hat^. 


1  Piatons  großes  Werk  „Die  Gesetze"  sind  Fragment. 


[111,1,  177]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  179 


Zweiter  Abschnitt. 
Von  den  einzelnen  realen  ethischen  Begriffen. 

Da  nun  von  der  Absonderung  der  einzelnen  realen  Begriffe 
von  den  allgemeinen  formalen,  unter  welche  sie  dennoch  gehören, 
die  Ursache  keine  andere  war  als  die  Notwendigkeit,  letztere  so 
genau  zu  unterscheiden  als  möglich,  worin  die  öfters  zweifelhafte 
Beziehung  eines  realen  Begriffes  bald  auf  diesen  bald  auf  jenen 
formalen  ein  sehr  erschwerendes  Hindernis  würde  gewesen  sein: 
so  ist  nun  auch  natürlich  bei  den  realen  der  Anfang  der  Unter- 
suchung von  demjenigen  Gebiete  zu  machen,  welches  am  meisten 
abgesondert  und  in  jene  Grenzstreitigkeiten  nicht  verwickelt  ist. 
Dieses  aber  ist  das  der  Güter,  teils  aus  andern  Ursachen,  teils  Die  Güter, 
schon  wegen  des  weniger  ausgebreiteten  Gebrauches,  der  davon 
ist  gemacht  worden.  Um  nun  nach  einer  von  den  gegebenen  Ab- 
teilungen, ohne  daß  sie  jedoch  dadurch  für  richtig  sollte  aner- 
kannt werden,  die  Übersicht  zu  ordnen,  so  mögen  zuerst  zur  Be- 
trachtimg kommen  die  äußerlichen  Güter,  wie  sie  am  zahlreichsten 
erscheinen  in  den  Darstellungen  der  Nachfolger  des  Aristoteles; 
denn  den  größten  Teil  von  ihnen  haben  sowohl  die  Cyrenaiker 
verw^orfen  als  auch  die  Stoiker.  So  haben  die  Peripatetiker  den 
Reichtum  und  die  bürgerliche  Gewalt,  ja  sogar  den  fortdauernd  a)  Reichtum 
günstigen  Zufall  als  Güter  aufgeführt;  im  Verfolg  nämhch  jener  Qg^^*]^  ^^^^ 
unrichtigen  Ansicht,  dasjenige  was  den  glückhchen  Erfolg  der 
sittlichen  Tat  begünstigt,  nicht  aber  das,  was  das  natürliche 
und  notwendige  Werk  derselben  ist,  ein  Gut  zu  nennen,  und 
zwar  jedes  nur  für  denjenigen,  welchem  es  dient.  Daher  auch 
offenbar  ist,  daß  diesen  Gütern  das  Merkmal  der  Allgemeinheit 
abgeht,  welches  allem  Ethischen  beiwohnen  muß:  denn  solcher- 
gestalt auf  den  Besitzer  bezogen,  haben  sie  auch  für  diesen  einen 
Wert  nur  in  dem  Maße,  in  welchem  andere  ihrer  entbehren. 
Diejenigen  nun,  welche  sich  die  Lust  zum  Endzweck  machten, 

12* 


180  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [IH,  1,  178] 

haben  sehr  richtig  diese  Güter  nicht  als  solche  anerkennen  ge- 
wollt, weil  nämlich  keineswegs  in  ihnen  nur  Sittliches,  nämlich 
Lust  gedacht  wird,  sondern  vielmehr,  wenn  die  Lust  an  ihnen, 
sofern  sie  Mittel  sind,  als  nicht  sittlich  mit  Recht  ist  ausgeschlossen 
worden,  unmittelbar  gar  keine  Lust  in  ihnen  enthalten  ist.  Weniger 
aber  haben  diejenigen,  deren  Sittliches  Tätigkeit  ist,  ein 
Recht,  diese  Gegenstände  aus  dem  Verzeichnis  der  Güter  zu  löschen. 
Denn  wiewohl  dieses  von  den  meisten  mit  allgemeinem  Beifall 
ist  behauptet  worden,  so  ist  doch  dies  nur  eine  unüberlegte  Nach- 
ahmung der  Stoiker,  welche  wie  erwähnt  nicht  aus  der  Idee 
einer  praktischen  Ethik  den  Begriff  der  Güter  gebildet,  sondern 
ihn  nur  aus  der  genießenden,  mit  Merkmalen,  welche  ihm  dort 
eigen  sind,  aufgenommen  haben,  und  also  immer  auf  einen  ein- 
zelnen Besitzer  und  eines  solchen  Zulänglichkeit  zum  Hervor- 
bringen zurücksehen.  Sie  hätten  aber,  wie  doch  ihre  Sittenlehre 
ganz  auf  Gemeinschaft  und  gemeinschaftliche  Natur  gerichtet  ist, 
auch  diese  Güter  betrachten  sollen  in  Beziehung  auf  ein  Gesamtes 
von  Menschen,  für  welche  sie  gemeinschafthch  und  ausschheßend 
ihren  Wert  haben.  Und  dann  wäre  allerdings  der  Reichtum, 
zuerst  zwar  der  unmittelbare,  nämlich  die  Menge  der  Erzeugnisse 
und  Verarbeitungen,  dann  aber  auch  mittelbar  der  bezeichnende, 
ein  Gut,  ein  sittlich  Hervorgebrachtes  und  Darstellung  eines  Sitt- 
lichen, nämlich  der  bildenden  Herrschaft  des  Menschen  über  die 
Erde.  Nicht  aber  in  Beziehung  auf  den  Besitzer,  denn  der  Besitz 
wäre  hiebei  nur  ein  Zufälliges  und  Vorübergehendes,  sondern  auf 
alle,  soweit  sich  die  Teilnahme  daran  ausdehnen  läßt  in  der 
Idee.  Ebenso  auch  die  bürgerliche  Gewalt  ist  ein  Hervorgebrachtes 
durch  alle  die  offenbar  sittlichen  Handlungen,  aus  welchen  Er- 
haltung nicht  minder  als  Stiftung  der  größten  und  zureichenden 
menschlichen  Gesellschaft  besteht,  und  eine  Darstellung  dieser 
Gemeinschaft  selbst.  Also  ein  Gut,  nämlich,  wie  es  sich  gebührt, 
ein  gemeinschaftliches  für  alle,  durch  deren  Handeln  es  hervor- 
gebracht worden.    Denn  da  die  bürgerliche  Gewalt  ein  gemein- 


f  111,1,  179]  n.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  181 

samer  und  durch  das  Gemeinsame  bestimmter  Wille  sein  soll:  so 
hat  sie  nach  der  Idee  dieser  Sittenlehre  auf  denjenigen,  der  sie 
verwaltet,  keine  nähere  und  andere  Beziehung  als  auf  alle  anderen. 
Ja,  man  kann  sagen,  daß  in  der  praktischen  Ethik  selbst  der 
günstige  Zufall  als  ein  Ideal  gedacht  unter  den  Gütern  müßte 
aufgeführt  werden,  insofern  aus  der  natürlichen  Übereinstimmung 
aller  sittlichen  Zwecke  von  selbst  erfolgt,  ohne  Absicht  oder  Mit- 
wissenschaft, eine  Tauglichkeit  und  Angemessenheit  der  Hand- 
lungen des  einen  für  die  Endzwecke  des  andern,  welche  Überein- 
stimmung darstellend  dieses  Zusammentreffen  in  seiner  Regel- 
mäßigkeit ein  Gut  ist.  Dieses  alles  nun  ist  ohne  Zweifel  von 
den  Peripatetikern  nicht  in  solchem  Sinne  gemeint  gewesen,  son- 
dern nur  als  Mittel  zum  Handeln,  und  deshalb  im  Streit  gegen 
sie  von  den  Stoikern  mit  Recht  verworfen  worden,  welche  nur 
ihre  Dialektik  nicht  weit  genug  geführt  hat,  um  den  Begriffen 
die  Beziehung  auf  ihre  eigene  Idee  abzugewinnen,  und  der  Ver- 
nichtung des  Falschen  die  Erfindung  des  für  sie  wenigstens  Rich- 
tigen beizufügen.   Anders  aber  und  leichter  ist  es  mit  der  Freund-  b)  Freund- 

schäf t 
Schaft  bewandt,  welche  auch  die  Stoiker   mit   Recht  unter  die 

Güter  aufgenommen,  indem  anschaulicher  in  ihr  jene  Merkmale 
dessen  zusammentreffen,  was  in  der  handelnden  Sittenlehre  ein 
Gut  sein  soll.  Denn  daß  sie  nur  im  Handeln  und  durch  Handeln 
besteht,  ist  von  allen  anerkannt,  so  daß  das  bloße  Wohlwollen 
den  Namen  der  Freundschaft  nicht  erhielt.  Und  daß  nur  ein  sitt- 
liches Handeln  die  Freundschaft  erzeugen  könne,  für  die  Unsitt- 
lichen sie  aber  gar  nicht  vorhanden  wäre,  war  ein  gemeiner  Satz 
der  alten  Sittenlehre.  Einige  zwar  von  denen  der  Lust  Zuge- 
tanen "haben  die  Freundschaft  verworfen;  aber  nur  sofern  sie  ein 
Mittel  sein  soll,  um  Lust  hervorzubringen.  Denn  in  diesem  Sinne 
gilt,  was  sie  sagen,  daß  der  Weise  sich  selbst  müsse  genug  sein, 
um  das  Sittliche  herbeizuschaffen.  Sonst  aber  ist  auch  für  sie  die 
Freundschaft  ein  Gut,  insofern  sie  selbst  unmittelbar  Lust  ist, 
und  zwar  ein  Zustand  fortdauernder  und  sich  von  selbst  immer 


182  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  180] 

wieder  erzeugender  Lust,  in  welchem,  wenn  er  nur  für  sich  be- 
trachtet wird,  nichts  anders  gedacht  werden  kann  als  Lust.  Denn 
so  muß  und  kann  auch  in  jeder  genießenden  Sittenlehre  nach 
Maßgabe  des  Umfanges,  welchen  sie  sich  gesteckt  hat,  die  Freund- 
schaft gebildet  werden.  In  dem  nämlichen  Sinne  nun  können 
auch  andere  Gegenstände,  welche  von  andern  zum  Reichtum  ge- 
rechnet werden,  in  der  eudämonistischen  Ethik  Güter  sein,  insofern 
sie  nämlich  ein  festes,  auf  die  besonderen  Bestimmungen  des 
einzelnen  berechnetes  Verhältnis  ausdrücken,  in  welchem  eben 
deshalb  gleichfalls  an  sich  nur  Lust  kann  enthalten  sein.  Welches 
auch  leicht  die  Ursache  sein  mag,  warum  in  der  gemeinen  Rede 
das  reale  und  der  Voraussetzung  nach  dem  Besitzer  besonders 
angeeignete  und  angebildete  Besitztum  sein  Gut  genannt  wird,  das 
andere  aber  nur  sein  Vermögen.  Steigen  wir  nun  von  der 
Freundschaft,  der  engsten  und  festesten  Verbindung  einzelner  Men- 
schen als  solcher,  herab  zu  Ähnlichem,  wenngleich  Geringerem :  so 
c)  Weniger  müssen  auch  losere  und  weniger  umfassende  Verbindungen  Güter 
feste  Verbin-  g^j^^  Pl^ij.  ^^j^  q[^q^  als  Erzeugnisse  eines  gemeinschaftlichen  und 
zwar  sittlichen  Handelns,  in  denen  sich  ein  Sittliches  vollendet 
darstellt  und  fortdauernd  erzeugt.  Für  die  andern  aber  insofern 
irgendeine  der  Verbindung  eigentümliche  Lust  in  dem  gestifteten 
Verhältnis  gleichsam  festgehalten  und  zur  wechselseitigen  Er- 
neuerung voraus  bestimmt  ist.  Selbst  die  Gastfreundschaft  nahmen 
so  die  Stoiker  unter  die  Güter  auf,  in  welcher  wir  jetzt  nur  die 
unvollkommenste  Stufe  eines  Gutes  erblicken,  nämlich  die  teil- 
weise Linderung  eines  von  der  Hinwegschaffung  noch  entfernten 
Übels.  Ebenso,  wenn  sie  sagen,  der  Weise  allein  verstehe  sich 
im  Gastmahl  recht  zu  verhalten,  geben  sie  zu  erkennen,  daß  auch 
dieses,  um  seinem  Begriff  zu  entsprechen,  müsse  aus  sittlichen 
Handlungen  gemeinschaftlich  hervorgegangen  sein  und  also  auch 
das  Sittliche  darstellen  und  den  Namen  eines  Gutes  verdienen. 
Welches  freilich  eine  ganz  andere  Ansicht  gewährt,  als  die  Kant 
zu  nehmen,  niemand  weiß  wodurch,  gezwungen  v/urde,  v/elcher 


düngen. 


[111,1,  181]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  183 

den  Schmaus  als  eine  förmliche  Einladung  zur  Unmäßigkeit  unter 
den  streitigen  Gegenständen  in  seinen  kasuistischen  Fragen  auf- 
stellt und  wie  mit  lüsternem  Zweifel  über  dessen  Zulässigkeit  be- 
ratschlagt.     Wie    nun    auch    dieses,    wenngleich    dem    Anscheine 
nach  eine  Kleinigkeit,  den  Geist  jeder  Sittenlehre  unterscheidend 
bezeichnet,  sei   als   hieher   nicht  gehörig   einem  jeden   zu  unter- 
suchen anheimgestellt.   Aufwärts  steigend  aber  zu  denjenigen  Ver-  d)  Bürgerliche 
bindungen,   welche    die   Menschen    nicht   mehr   als    Einzelne   zu-  ""'^  n^"?«  ^ 
sammenfassen,  sondern  sie  gleichsam  von  der  Einzelheit  hinweg- 
sehend in  Teile  eines  gemeinschaftlichen  Ganzen  verwandeln:  so 
wurden  die  bürgerliche  sowohl  als  die  häusliche  Gesellschaft  von 
allen,  welche  eine  tätige  Sittenlehre  bearbeiteten,   unter  die 
Güter  gezählt.   Denn  die  Frage,  ob  der  Weise  den  Staat  würde  ver- 
walten helfen,  kann  dieses  nicht  widerlegen,  sondern  vielmehr  nur 
beweisen,  wenn  man  hinzunimmt,  daß  jede  hieher  gehörige  Schule, 
wie  wir  selbst  von  der  des  Antisthenes  wissen,  das  Ideal  eines 
Staates  aufzustellen  pflegte.    Woraus  hinlänglich  erhellt,  daß  jene 
Frage  den   Staat  nur  betraf,   insofern   er  vielleicht  nur  ein  Not- 
staat, wie  es  ein  Neuerer  genannt,  oder  wohl  gar  ganz  unsittlich 
entstanden  und  gebildet  den  Sittlichen  zum  Widerstreit  gegen  sich 
selbst  und  seine  Ideen  nötigte.    Denselben  Unterschied  haben  die 
Stoiker  in  Beziehung  auf  die  häusliche  Gesellschaft  auf  die  ent- 
gegengesetzte Weise  ausgedrückt,  indem  sie  sagen,  nur  der  Weise 
liebe    die    Seinigen,    nämlich    nur    er    mit   derjenigen    Gesinnung, 
welche  ein  Hauswesen  als  ein  Sittliches  oder  ein  Gut  stiften  könne 
und  erhalten.  Wie  nun  auch'  in  einer  eudämonistischen  Ethik 
die  Ehe  ein  Gut  sein  kann  oder  nicht,  je  nachdem  darin  den  geselligen 
Empfindungen  Raum  gelassen  wird,  der  Staat  aber  wohl  immer 
nur  als   ein  notwendiges   Übel   erscheinen   wird;   imgleichen   auf 
welche  Seite   sich   demzufolge  jede   Behauptung   neige,   von   der 
Art,  daß  der  Staat  streben  müsse,  sich  selbst  entbehrlich  zu  machen, 
dies  mag  ein  jeder  für  sich  entscheiden.    Für  die  tätige  Sitten- 
lehre aber  müßte  nach  dem  Beispiel  des  Staates  und  der  häus- 


184  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre-      [111,1,  182  J 

liehen    Gesellschaft   auch    die    wissenschaftliche,    wie    sie   damals 
bestand  in   Gestalt  einer  Schule,   und   wie  wir  sie  jetzt  kennen 
in  andern  Gestalten,  ein  Gut  sein;  ja  auch  die  Kirche,  wie  Fichte 
sie    in   seiner   Sittenlehre    ableitet,    und,    möchte   vielleicht    einer 
hinzusetzen,  die  Freimaurerei,  wie  sie  ihm  immer  gleichsam  auf 
der  Zunge  schwebt,  ohne  ganz  hervorzutreten,  würden  nach  seinen 
Vorstellungen   hieher   gehören,   schwerlich    aber   die    Zünfte   und 
geschlossenen    Stände    des    von    ihm    vorgezeichneten    Staates. 
Welches  als  Beispiel  hier  stehen  mag  von  der  noch  nicht  beant- 
worteten,   ja    wohl    nicht    aufgeworfenen    Frage,    wie    überhaupt 
die  Einheit  jedes  ein  Gut  bezeichnenden  Begriffes  zu  bestimmen 
ist.    Denn  nicht  nur  für  dasjenige   unter  dem  Angeführten,  was 
der  neueren  Sittenlehre  angehört,  dringt  sie  sich  auf,  sondern  auch 
schon  für  das  Alte.    So  ist  es  eine  gemeine  Erklärung  der  Alten, 
daß  der  Staat  nicht  eine  Verbindung  von  einzelnen  sei,  sondern 
von   Hauswesen,   welche   also   eigentlich   dessen   Teile  sind,   und 
so  ist  zu  fragen,  ob,  was  Teil  eines  Ganzen  ist,  neben  diesem 
auch  als  ein  eigenes  Gut  könne  angesehen  werden.    Ebenso  er- 
klären sie   den  Staat  für  die   zur  Hervorbringung   des   höchsten 
Gutes  hinreichende  Verbindung,  welche  also  in  ihrer  Vollkommen- 
heit gedacht  alle  Güter  müßte  in  sich  schließen,  wonach  zu  unter- 
suchen wäre,  ob  auch  die  Freundschaft,  die  eigentlich  ethische  und 
die  wissenschaftliche,  anzusehen  wären  als  Teile  des  Staates,  in 
ihm  und  durch  ihn  hervorgebracht.    Daß  die  Beantwortung  dieser 
Fragen  sich  von  selbst  ergeben  müßte  in  jeder  Sittenlehre,  welche 
ihre   Vorstellungen   von   einzelnen   Gütern   nicht   aus   der   Er- 
fahrung   herbeizöge,    sondern    systematisch    erzeugte 
und  ordnete,  wie  auch,  daß  sie  einen  großen   Einfluß  haben 
müßte   auf   die   wichtigsten   und   bestrittensten   Gegenstände   der 
Ethik,  dies  leuchtet  ein.    Dieses  wird  noch  deutlicher,  wenn  man 
erwägt,   daß   nach   Maßgabe   des   bisherigen   ebenso   auch   jedes 
e)  Werke  der  Wgrk  wenigstens  der  schönen  und  bildenden  Kunst  muß  ein  Gut 
*^'^"^*'       sein.    Auch  für  die  Sittenlehre  der  Lust,  als  ein  sich  erneuernder 


[111,1,  183]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  185 

Wechsel  von  Befriedigung  und  Erregung  eines  bestimmten  Triebes, 
nicht  nur  im  Anschauen,  sondern  auch  in  der  Verfertigung,  welche 
zu  denken  ist  als  annäherndes  Herbeischaffen  des  Gegenstandes 
der  vorgebildeten  Lust.  Noch  mehr  aber  für  die  Sittenlehre  der 
Tätigkeit,  indem  es  auch  entstanden  ist  aus  sittlichen,  nämlich 
eine  Idee  darstellenden  Handlungen,  und  selbst  den  Geist  der- 
selben, nämlich  die  Regel  und  das  Urbild,  im  Sinnlichen  darstellt. 
So  daß  zwischen  diesen  Werken  und  jenen  aus  reinem  Handeln 
bestehenden  kein  anderer  Unterschied  obwaltet  als  der  zwischen 
dem  bloßen  Handeln  und  dem  Hervorbringen,  welches  doch  auch 
ethisch  angesehen  immer  ein  Handeln  ist.  Wer  nun  überlegt, 
wie  wunderlich  in  neueren  nur  nach  dem  Pflichtbegriff  die  Sitten- 
lehre abhandelnden  Darstellungen  die  meisten  der  hier  als  Güter 
aufgeführten  sittlichen  Gegenstände  und  Verhältnisse  erscheinen, 
besonders  aber  der  Staat  samt  dem,  was  ihm  anhängt,  und  die 
Kunst  mit  ihren  Werken,  als  um  welche  sich  alles  bewegt,  ohne 
doch  daß  sie  selbst  ihren  Platz  beurkunden  und  mit  dem  wissen- 
schaftlichen Kleide  angetan  sind,  der  wird  geneigt  sein  zu  ver- 
muten, daß  nur  unter  dem  Begriff  von  Gütern  alle  diese  recht 
können  dargestellt  werden.  Was  ferner  die  sogenannten  Güter  f)  Güter  des 
des  Leibes  anbetrifft,  deren  die  Alten  vornehmlich  vier  zählen,  ^'  "' 
Gesund,  Schönheit,  Stärke  und  Wohlgebautheit:  so  ist  leicht  zu 
sehen,  daß  auch  sie  ursprünglich  zwar  nur  als  Mittel  und  Be- 
dingungen, wenn  auch  nicht  sowohl  der  Lust  als  der  vollbringenden 
Tätigkeit,  also  immer  mit  Unrecht,  diesen  Namen  erhalten  haben, 
dennoch  aber  in  anderer  Bedeutung,  ebenso  wie  die  vorigen, 
wirklich  Güter  sind.  Für  die  Eudämonisten  nämlich,  insofern 
sie  nichts  anders  sind  für  den  Menschen  als  ein  im  Körper 
gleichsam  befestigtes  angenehmes  Bewußtsein,  welches  sich  zu 
jeder  andern  vorübergehenden  Lust  als  ein  erhöhender  Faktor  hin- 
zugesellt. Für  die  tätige  Sittenlehre  aber,  insofern  sie  gedacht 
werden  nicht  als  Naturerzeugnisse  vom  Zufall  gegeben  oder  ver- 
sagt, sondern  als  hervorgebracht  durch  das  gemeinschaftliche  natur- 


186  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  184] 

gemäße  Leben,  und  darstellend  die  fortgesetzte  allseitige  Sittlichkeit 
der  Geschlechter  und  Völker,  welchen  sie  einwohnen.  Denn  daß 
in  einer  auf  Handeln  und  Bilden  ausgehenden  Sittenlehre  auch 
die  Schönheit  und  Wohlgebautheit,  als  auf  diesem  Wege  erlangt, 
unter  der  Idee  des  höchsten  Gutes  mit  begriffen  sind,  wird  wohl 
keiner  bezweifeln.  Nur  aber  möchte  die  Art  sehr  willkürlich  sein, 
wie  diese  Güter  vereinzelt  sind.  Denn  wenn  auch  die  Schönheit 
sich,  worauf  man  auch  sehe,  von  den  übrigen  leicht  absondert: 
so  möchten  doch  diese  untereinander  so  genau  zusammenhängen, 
daß  nichts  für  die  Sittenlehre  Wesentliches  zu  unterscheiden  ist, 
weder  wenn  sie  als  Lust  oder  Unlust,  noch  wenn  sie  als  Werk 
und  Darstellung  des  Sittlichen  betrachtet  werden.  Dagegen  haben 
die  Neueren,  vielleicht  vom  Gefühl  ihrer  Mängel  dazu  getrieben, 
oder  vom  Neide  gegen  die  besser  begabten  Stämme  der  Bar- 
baren, richtiger  von  der  Gesundheit  abgesondert  die  Schärfe  und 
Feinheit  der  Sinne,  und  dürften  immer,  bis  sie  dahin  wieder 
gelangen,  die  Linderungen  dieser  Übel,  nämlich  alle  künstliche 
äußere  Vorrichtungen  und  Werkzeuge,  welche  ethisch  betrachtet 
als  erweiternde  Fortsetzungen  der  Sinnglieder  anzusehen  sind,  im- 
gleichen  die  künstliche  Stärke  der  Waffen  und  was  dem  ähnlich 
ist,  den  Gütern  dieser  Art  beigesellen.  Es  scheint  aber  jene  vier- 
fache Zahl  nur  gesucht  zu  sein,  damit  den  vier  Tugenden,  als 
Hauptgütern  der  Seele,  auch  ebenso  viele  Vollkommenheiten  und 
Güter  des  Leibes  entsprächen. 
Tugenden  Daß  nun  jene  vier  Haupttugenden  die  erste  Stelle  einnehmen 

als  Guter,  unter  den  Gütern  der  Seele  bei  den  Peripatetikern  sowohl  als 
Stoikern  und  so  die  Begriffe  von  Tugenden  und  Gütern  im  ein- 
zelnen scheinen  untereinander  geworfen  zu  sein,  davon  ist  schon 
oben  Erwähnung  geschehen.  Die  Ursache  aber  hievon  ist  eine 
zwiefache  Ansicht  desselben  Gegenstandes,  welche  nicht  deutlich 
genug  unterschieden  wurde.  Daß  nämlich  die  Gesinnung  an  sich 
zwar  als  das  Wirksame  und  Hervorbringende  betrachtet  Tugend 
ist  und   unter  die   Idee   des   Weisen  gehört;   wird  sie   aber  als 


[111,1,  185]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  187 

eine  bestimmte  Größe  gedacht,  hervorgegangen  aus  dem  Handeln 
und  durch  die  Übung  und  wiederum  sich  offenbarend  und  der 
Anschauung  hingebend  durch  Handeln  und  Ausübung,  so  er- 
scheint sie  auf  der  andern  Seite  als  ein  Werk,  als  die  Darstel- 
lung des  vorhergegangenen,  sie  hervorbringenden  Handelns,  und 
also  für  die  praktische  Ethik  als  ein  Teil  dessen,  was  bewirkt 
werden  soll,  nämlich  des  höchsten  Gutes.  Und  auch  hier  wiederum 
erfreuen  sich  die  Stoiker  einer  richtigen,  wenngleich  nicht  vöUig 
verstandenen  Ahndung.  Denn  die  Peripatetiker  verwischen 
diesen  Unterschied  gänzlich,  und  Schönheit  und  Stärke  der  Seele 
sind  ihnen  nur  verschiedene  Namen  für  Tapferkeit  und  Gerechtig- 
keit, sowie  für  Klugheit  und  Mäßigung,  wie  diese  hellenischen 
Tugenden  unrichtig  genug  übersetzt  werden,  der  Seele  Gesund- 
heit und  Wohlgebautheit;  da  doch  die  letzten  Namen  offenbar 
einen  bestehenden  und  anschaulichen  Zustand  der  Seele,  die  ersten 
hingegen  auf  eine  bestimmte  Weise  hervorbringende  Kraft  anzu- 
deuten sich  eignen.  So  aber  unterscheiden  die  Stoiker  zwischen 
Tugenden,  welche  Künste  sind,  also  jede  ihr  bestimmtes  Werk  zu 
vollbringen  streben,  unter  welcher  Abteilung  die  vier  bekannten 
Namen  aufgestellt  zu  werden  pflegen,  und  zwischen  solchen,  die 
gleichsam  von  selbst  und  nebenbei  durch  die  Übung  entstehen,  wie 
von  jeder  Gesinnung,  als  bestimmte  Größe  betrachtet,  kann  ge- 
sagt werden;  daher  auch  hier  die  Gesinnungen  unter  jenen  Namen 
vorkommen,  welche  Zustände  und  Beschaffenheiten  der  Seele  an- 
zeigen. Dieser  richtigen  Spur  jedoch  sind  sie  nicht  bis  zu  Ende 
gefolgt,  sondern  haben  auch  die  Tugenden  in  jener  Hinsicht 
unter  die  Güter  gerechnet.  Ob  aber  die  Gesinnungen,  sofern  sie 
Güter  sind,  ebenso  müßten  geordnet  und  geteilt  werden,  wie 
jeder  sie  als  Tugenden  aufstellt,  schon  dies  könnte  im  allge- 
meinen bezweifelt  werden,  noch  mehr  aber  ob  jenen  vier  Tugenden 
überhaupt  die  genannten  Eigenschaften  der  Seele  entsprechen  und 
wieviel  von  ihnen  als  wirklich  verschieden  und  nach  Gründen 
voneinander  getrennt  möchten  übrig  bleiben.    Allein  es  verlohnt 


188  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  186] 

nicht,  hierüber  ein  mehreres  zu  sagen,  da  solche  bildhche  Bezeich- 
nungen des  Geistigen  durch  das  Körperhche  der  Wissenschaft 
überall  nicht  wohl  anstehn,  und  diese  durchaus  nur  schlecht  und 
mangelhaft  sind  erklärt  worden.  Offenbar  aber  ist,  und  auch  von 
den  Stoikern  anerkannt  und  bezeugt  worden,  daß  nach  derselben 
Regel  nicht  nur  jene  vier  Tugenden  und  andere  eigentlich  so 
genannte  für  Güter  zu  halten  sind,  sondern  jede  andere  ethisch 
bestimmte  Vollkommenheit  des  Geistes,  sowohl  die  des  Verstandes, 
welche  ihm  zu  Wissenschaft  und  Einsicht  werden,  als  auch  die 
der  andern  Seelenkräfte,  welche  zu  Fertigkeiten  in  bildenden  oder 
geselligen  Künsten  gedeihen.  Alle  nämhch,  insofern  sie  das  Werk 
sittlicher  Tätigkeit  sind,  und  nur,  wie  schon  oben  erwähnt,  in 
und  mit  diesen  Schranken  gedacht  werden;  denn  diese  alle  sind, 
so  wie  ihre  Werke  eine  äußere,  so  sie  selbst  eine  innere  Darstel- 
lung eines  bestimmten  Sittlichen.  Vorzüglich  aber  sind  hieher  zu 
rechnen  jene  Eigenschaften,  welche  von  vielen  zwar  als  sittlicher 
Natur  anerkannt,  doch  aber  nicht  unter  die  Reihe  der  Tugenden 
zugelassen  werden,  wie  zum  Beispiel  die  Stärke  und  Feinheit  des 
sittlichen  Gefühles  und  was  dem  ähnlich  ist.  Denn  diese  sind 
ebenfalls  als  Anlagen  überhaupt  zwar  von  Natur  vorhanden,  be- 
stimmt aber  nach  ihrer  Stärke  und  Richtung  sind  sie  ein  Er- 
zeugnis teils  des  einzelnen  sittlichen  Willens,  teils  des  gesamten 
in  Gemeinschaft  und  Wechselwirkung  stehenden  menschlichen 
Handelns,  und  also  in  ihren  Fortschritten  und  Veränderungen 
ein  gemeinsames  und  gemeinsam  hervorgebrachtes  Gut.  Ja,  wenn 
Kant  meint,  die  teilnehmenden  Empfindungen  und  ihre  Werke 
wären  nicht  sowohl  für  pflichtmäßig  zu  achten,  als  nur  für  Zier- 
den der  Welt  und  des  Menschen,  um  erstere  als  ein  schönes  sitt- 
liches Ganzes  darzustellen:  so  hat  er  nur  entgegengesetzt,  was 
füglich  nebeneinander  bestehen  kann.  In  dieselbe  Stelle  würden 
auch  dann  noch  gehören  die  Werke  der  von  ihm  sogenannten 
Pflichten  gegen  oder  in  Ansehung  der  leblosen  Natur  und  zur 
Erhaltung  des  Schönen  überhaupt.   Wie  denn  im  ganzen  bei  ihm 


[111,1,  187]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  18Q 

jene  Formel,  die  Welt  als  ein  sittliches  Ganzes  darzustellen,  einer 
ihres  Namens  würdigen  Idee  des  höchsten  Gutes  noch  am  nächsten 
zu  kommen  scheint.  Außer  den  Tugenden  aber  wird  auch  noch 
gesagt,  daß  jeder  Tugendhafte  und  Weise,  als  solcher  an  sich 
betrachtet,  ein  Gut  ist,  worin  auch  Spinoza  mit  den  Stoikern 
zusammenstimmt.  Zu  leugnen  nun  ist  dieses  nach  den  allgemeinen 
Merkmalen  des  Begriffes  für  jede  praktische  Ethik  freilich  nicht. 
Denn  der  Weise  ist  aus  dem  natürlichen  Menschen  hervorgegangen 
durch  Handeln,  und  stellt  der  Voraussetzung  nach  durch  sein 
Dasein  und  Handeln  das  Sittliche  und  sonst  nichts,  dieses  aber 
im  ganzen  Umfange  dar.  Wie  aber  auch  hier  die  Einheiten 
zu  bestimmen  und  auseinander  zu  halten  wären,  da  doch  die 
einzelnen  Gesinnungen  sich  im  Weisen  befinden  und  gleichsam 
seine  Teile  sind,  dies  würde  eine  eigene  Untersuchung  erfordern 
und  aus  dem  Vorhandenen  durch  Vergleichung  nicht  können  an- 
gegeben werden.  Nächst  dem  Weisen  endlich  und  seinen  Gesin- 
nungen wird  auch  noch  sein  den  Stoikern  zufolge  dreifaches  sitt- 
liches Wohlbefinden  zu  den  Gütern  gerechnet.  Nicht  als  Lust 
natürlich,  sondern  als  ein  durch  sittliche  Gesinnung  und  Hand- 
lung entstandenes  inneres  Verhältnis,  in  welchem  sein  Ursprung 
sich  darstellt,  und  welches  sich  wiederum  äußert  nicht  sowohl  durch 
ein  bestimmtes  Tun  als  durch  die  Weise  des  Denkens  und  den 
Ton  des  Handelns  überhaupt.  Nur  die  Scheu  freilich  oder  das 
besonnene  Umsehn  nach  möglichen  bevorstehenden  Übeln  müßte 
ausgestrichen  werden,  welches  auch  Spinoza  eingesehen  und  sie 
deshalb  nicht  mit  aufgenommen  hat,  weil  sie  ja  doch  in  Be- 
ziehung auf  den  Weisen  nur  ein  Übel  sein  kann.  Denn  dieser  Zu- 
stand kann  nur  aus  der  Erinnerung  eines  unsittlichen  Handelns 
entstehen,  aus  dem  Bewußtsein  des  Sittlichen  aber  muß  Sicherheit 
hervorgehn.  Wie  aber  beide  Systeme,  das  der  Tätigkeit  und 
das  der  Lust,  natürlich  da  am  meisten  sich  nähern,  wo  das  zurück- 
sehende Bewußtsein  mit  in  Rechnung  zu  bringen  ist:  so  ist 
auch  dieses  das  einzige  unter  den  Gütern  der  Seele,  welches  mit 


190  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  188] 

der  tätigen  auch  die  genießende  Sittenlehre  gemein  hat.  Wie- 
wohl, was  den  Inhalt  betrifft,  ihrer  Idee  gemäß  anders  bestimmt, 
und  auch  in  der  entgegengesetzten  Beziehung,  als  Lust  nämHch, 
welche  mit  dem  Vergangenen  das  Künftige  im  Selbstbewußtsein 
weissagend  zusammenknüpft.  Dieses  nämlich  ist  jene  Uner- 
schrockenheit  oder  Furchtlosigkeit,  insofern  sie  nicht  als  wirkende 
Kraft,  sondern  als  Zustand  und  Gefühl  betrachtet  ein  Gut  kann 
genannt  werden.  Was  aber  sonst  noch  in  Sittenlehren  dieser  Art 
als  Tugend  zu  denken  ist,  kann  nicht  zugleich  auch  ein  Gut  sein. 
Denn  die  sittliche  Kraft  stellt  für  sich  allein  noch  nicht  das  Sitt- 
liche dar,  sondern  muß  in  Wechselwirkung  gedacht  werden  mit  den 
Aufforderungen  von  außen;  und  nichts,  was  neuere  Eudämonisten 
hiegegen  Scheinbares  vorgetragen  haben,  möchte  eine  strenge 
Prüfung  bestehen.  Doch  dieses  sei  genug  von  einzelnen  Gütern 
zur  Bewährung  dessen,  was  über  den  Wert  und  Gebrauch  dieses 
Begriffes  oben  ist  gesagt  worden. 

Pflichten.  Von   den    Pflichten    aber   werde   ebenfalls,    um   noch    länger 

1.  gegen  den  (] je  Verwirrung  zurückzuhalten,  der  Anfang  mit  denen  gemacht, 
welche  noch  am  wenigsten  der  Verwechselung  mit  Tugenden  aus- 
gesetzt sind,  vielmehr  schon  durch  die  Art  der  Benennung  sich 
entschieden  zu  jenem  Begriff  bekennen;  und  zuerst  zwar  mit  der, 
welche  vielen  als  die  vornehmste  erscheint,  von  allen  aber  als  die 

a)  Selbst-  erste   aufgeführt   wird,   nämlich   der   Pflicht   der   Selbsterhaltung. 

erhaltung.  f)aß  ^^^1  diese  schlechthin  in  keinem  ethischen  Systeme  Pflicht 
sein  könne,  sondern  überall  durch  irgend  etwas  müsse  bedingt  sein, 
leuchtet  ein.  Denn  die  Ethik  beschreibt  nur  eine  Weise  des  Lebens, 
und  so  kann  in  ihr  keine  Art  vorkommen  es  zu  erhalten  außer 
jener  Weise,  weil  dieses  ein  Hinausgehn  wäre  aus  ihrem  Inhalt. 
Noch  auch  ist  es  überhaupt  möglich,  eine  bestimmte  Weise  des 
Lebens  im  Handeln  festzuhalten,  wenn  das  Leben  selbst  um 
jeden  Preis  soll  geschont  werden,  weil  keine  allgemeine  Regel 
bestimmen  könnte,  wo  nun  die  Gefahr  anginge.  So  daß  offenbar 
auch  zur  Erhaltung  des  Lebens  keine  Handlung  vorkommen  darf. 


[111,1,  189]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  191 

welche  nicht  den  sittlichen  Charakter,  wie  er  eben  in  jedem 
System  ist,  an  sich  trüge,  und  der  entgegenstehende  Satz,  daß 
etwas  Unsittliches  dürfe  getan  werden,  um  das  Leben  zu  er- 
halten, jede  Ethik  umstürzen  muß.  Dennoch  sind  die  meisten 
Neuern  in  diesen  Widerspruch  geraten.  Und  zwar  einige  ganz 
grob,  indem  sie  mit  klaren  Worten  auch  das  Verbotenste  frei- 
stellen zu  diesem  Endzweck.  Kant  aber  stillschweigend,  indem  er 
sie  zu  einer  vollkommenen  Pflicht  erhebt,  welche  also  jedesmal  zur 
Handlung  selbst  verbindet  und  nicht  wegen  irgendeiner  unvoll- 
kommenen darf  verletzt  werden.  Ebenso  auch  Fichte  auf  eine 
verstecktere  Art,  indem  er  doch  das  Leben  überhaupt  von  dem 
sittlichen  Leben  trennt,  und  dann  nur  wieder  auf  eine  künstliche 
Art  das  erste  dem  letzteren  unterwirft.  Denn  wenn  das  sittliche 
Bestreben,  das  Leben  zu  erhalten,  von  Anfang  an  nur  auf  das 
sittliche  Leben  ist  gerichtet  gewesen,  so  gibt  es  nichts  zu  vergessen 
und  von  nichts  hinwegzusehen.  Ist  aber  jenes  pflichtmäßige  Be- 
streben ursprünglich  auf  das  Leben  an  sich  gerichtet  gewesen,  so 
ist  ja  die  Pflicht  unbedingt,  und  hat  ihre  Grenzen  nicht  in  sich 
selbst,  sondern  muß  sie  erst  im  Streit  mit  andern  Pflichten  er- 
halten, so  daß  jenes  Vergessen  und  Hinwegsehen  nur  ein  schlecht 
geführter  Krieg  ist,  der  mit  der  Flucht  anfängt,  ein  Krieg  aber 
doch  auf  alle  Weise.  Welches  aber  nun  der  eigentliche  reale  In- 
halt der  Pflicht  der  Selbsterhaltung  sei,  und  die  mit  demselben 
zugleich  gegebenen  Grenzen,  das  haben  selbst  von  denen,  welche 
Grenzen  derselben  auf  irgendeine  Art  anerkennen,  die  meisten 
geradezu  zu  bestimmen  unterlassen,  und  nur  mittelbar  muß  es 
daraus  geschlossen  werden,  inwiefern  sie  eingestehen,  daß  irgend 
etwas  getan  werden  dürfe,  um  das  Leben  zu  endigen,  so  daß 
das  Sterbenwollen  die  eigentliche  Formel  der  Handlung  wäre. 
Dergleichen  nun  bestimmt  nicht  nur  ein  Zweig  der  cyrenaischen 
Schule,  sondern  auch  die  stoische;  ja  selbst  Spinoza,  wiewohl 
Selbsterhaltung  bei  ihm  die  allgemeine  Formel  des  Sittlichen  ist, 
scheint  einen  Fall  anzunehmen,  in  welchem  es  natürlich  wäre  das 


192  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  190] 


Leben   zu  enden.    Was   also  die   ersten   betrifft,  so  scheint  ihre 
Formel  eigentlich   die   zu  sein,   daß   es  recht  ist,  das   Leben  zu 
endigen,  wenn  nicht  anders  als  mit  demselben  zugleich  die  Unlust 
kann  hinweggeschafft  werden.  Wonach  also  dieses  das  Unbedingte 
sein  würde,  das  Leben  selbst  aber  bedingt  durch  seinen  sittlichen 
Gehalt,   nämlich   die   Lust;   denn   ein   Mittleres   wollen   sie   nicht 
anerkennen  als  ein  beharrlich  Reales,  sondern  nur  als  einen  Über- 
gang.   So  bestimmt  aber  und  richtig  dieses  zu  sein  scheint,  so 
sehr  ist  es  doch  unbestimmt  und  unzureichend.    Denn  muß  die 
Unlust,  welche  allein  auf  Kosten  des  Lebens  darf  hinweggeschafft 
werden,  eine  absolute  sein,  so  daß  kein  Element  von  Lust  zugleich 
mit  aufgehoben  und  zerstört  würde,  und  der  Fall  nur  bei  einer 
gänzlichen  Beraubung  aller  Güter  des  Lebens   einträte:  so  wür- 
den hier  Lust  und  Unlust  in  einer  andern  Bedeutung  genommen 
als   im   Gesetz,    und   in   einer   solchen,   aus   welcher  die  übrigen 
Pflichten  und  Tugenden  nicht  könnten  hergeleitet  werden.    Soll 
aber  im  Gegenteil  auch  die  relative  Unlust  gemeint  sein,  die  nur 
im   Übergewicht   besteht,   und   also   jeder   Moment  des   heftigen 
Schmerzes  gerechte  Ursache  geben  zur  Selbsttötung:  so  ist  jede 
Hinsicht  auf  die  Güter  aufgehoben,  und  der  Begriff  verliert  seine 
Bedeutung.    So   daß   hier   ein   ungelöster   Widerspruch   obwaltet 
zwischen  dem,   was   aus  dem   Begriff  der  Güter  und  dem,  was 
aus  dem  Begriff  der  Pflicht  hervorgeht.    Bei  den  Stoikern  hin- 
gegen  scheint  jeder  ethisch   reale   Grund   zu  fehlen   zur   Selbst- 
tötung, und  diese   Erlaubnis  nur  die   dialektische  Spitze  zu  sein 
zu  dem  polemischen  Satz,  daß  das  höchste  Gut  nicht  durch  die 
Länge  der  Zeit  wächst  und  gewinnt.    Denn  es  ist  gar  nicht  die 
Unmöglichkeit  eines  Sittlichen    oder  die  Unvermeidlichkeit  eines 
Unsittlichen,  was  dabei  den  Bestimmungsgrund  ausmacht.   So  daß 
hienach  zu  urteilen  es  gar  keine   Pflicht  der  Selbsterhaltung  bei 
ihnen  geben  würde,  wie  sie  denn  auch  das  Leben  und  den  Tod 
unter  die  gleichgültigen   Dinge  zählen,  welches  jedoch  teils  mit 
andern  Äußerungen  der  nämlichen  Schule  streitet,  teils  auch  sonst 


[111,1,  191]  11.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  193 

schwer  möchte  durchzuführen  sein.    Fichte  aber,   welcher  nicht 
durch  einen  solchen   Grenzpunkt,   jenseits   dessen   das   Gegenteil 
Pflicht  würde,  welches  er  vielmehr  leugnet,  sondern  geradezu  den 
Inhalt  dieser  Pflicht  bestimmt,  ist  dabei  auf  seine  eigene  Art  in 
Widersprüche  geraten.    Auf  der  einen  Seite   nämlich  geht  seine 
Absicht  dahin,  sie  real  zu  bestimmen,  so  daß  das  Bestreben,  das 
Leben  zu  erhalten,  nicht  etwa  anders  woher  soll  entstanden  sein 
und  nur  sittlich  begrenzt,  wie  andere  voraussetzen,  sondern  un- 
mittelbar ein  sittliches  sein,  auf  einem  sittlichen  Grunde  beruhend; 
so  aber  bringt  er  sie  nicht  zustande.    Denn  da  er  jede  bedingte 
Pflicht   den    unbedingten    unterordnet,    welche    das    einzige    Not- 
wendige enthalten:  so  kann  der  Mensch,  solange  noch  eine  un- 
bedingte Pflicht  zu  erfüllen   übrig  ist,   auf  rein  sittlichem  Wege 
niemals    dazu   kommen,    irgend    etwas    ausdrücklicJi    zu   tun,    um 
der  bedingten  Pflicht  der  Selbsterhaltung  Genüge  zu  leisten,  wie 
sehr   leicht   ein    jeder   ganz   nach    der   Methode    dieses    Systems 
finden  wird,  indem,  selbst  wenn  die  physischen  Kräfte  schon  zu 
sehr  geschwächt  wären,  um  die  eine  zu  erfüllen,  sie  doch  noch  hin- 
reichen w^ürden  zu  einer  andern  oder  zu  einem  immer  unvollkomm- 
neren  Grade  von  jeder,  bis  durch  ein  unendlich  Kleines  der  Pflicht- 
erfüllung und  der  Existenz  das  natürliche  und  das  sittliche  Leben 
zugleich   in   Null   überginge,   wenn   nicht   vorher  das   Herz,   oder 
wie  es  genannt  wird,  was  in  jedem  Augenblick  aus  den  Forde- 
rungen des  Naturtriebes  das  Sittliche  ausw^ählt,  einem  rein  natür- 
lichen Triebe   Raum  gäbe,  um   das   Leben  zu  erhalten.    Auf  der 
andern  Seite  aber  will  Fichte  diese  Pflicht  auch  ethisch  bedingen, 
und  sie  gerät  ihm  dennoch  in   der  Tat  unbedingt,  und  ist  also 
zugleich  nichts  und  alles.    Denn  wenn,  da  der  eigentliche  letzte 
Zweck  im  Unendlichen  liegt,  jedes  Handeln  den  seinigen  nur  in 
dem  nächsten  Handeln  als  Annäherung  suchen  muß:  so  darf  ja 
wiederum  das  Herz  oder  die  Einsicht  oder  wie  vielfach  dasjenige 
heißt,  was  in  Ermangelung  eines  festen  Prinzips  und  einer  allge- 
meinen bestimmten  Formel  den  Beruf  jedes  Moments  bestimmt, 

Schleiermacher ,  Werke.     I.  13 


194  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  192] 

unmöglich  aus  den  verschiedenen  an  sich  sittlichen  gerade  das- 
jenige auswählen,  welches  als  Leben  zerstörend  schon  den  nächsten 
Zweck  unmöglich  macht.   Sondern  anstatt  mit  Gefahr  des  eigenen 
Lebens  etwa  ein  fremdes  zu  retten,  würde  es  ohne  Zweifel  sitt- 
licher sein,  eiligst  etwas  zu  produzieren  oder  zu  verarbeiten  oder 
zu    erforschen    oder   was    sonst   die    besondere    und    unbedingte 
Pflicht  dem  Herzen  ans   Herz  legte.    Aus  welchem  Widerspruch 
nach  diesem  System  wohl  schwerlich  eine  andere  Erlösung  möchte 
zu  finden  sein,  als  bis  jedes  mögliche  Handeln,  auf  daß  irgend- 
einer keine  Entschuldigung  habe,  in  Beruf  verwandelt,  das  Herz 
aber  überall  in  Ruhestand  versetzt  wird.    In  dieser  Hinsicht  nun 
ist  dem  Widerspruch  und  der  Unbestimmtheit  niemand  besser  aus- 
gewichen als  Spinoza.    Denn  dieser  trennt  auf  der  einen  Seite 
das  Leben  gar  nicht  von  seiner  ethischen  Bedeutung,  und  es  ist 
ihm   als   Gegenstand   der   Erhaltung   nichts   anders,   als  teils   das 
fortgesetzte  wahre  Handeln,  wiewohl  der  Reinheit  desselben  nur 
kann  angenähert  werden,  teils  aber  die  Identität  des  Seins,  welche 
absolut  ist.    Könnte   nun   diese   nicht   erhalten  werden,   so   wäre 
das  Leben  in  ethischer  Bedeutung  schon  geendigt,  und  es  findet 
keine  Frage  mehr  statt  über  das,   was  im  Zusammenhange  mit 
dem  vorigen  zu  tun  ist.    Auf  der  andern  Seite  können  bei  seiner 
Ansicht  des  Lebens  sowohl  als  der  Sittlichkeit  die  spitzigen  Fragen, 
welche  sich  auf  den  Gegensatz  eines  Moments  mit  den  übrigen 
beziehen,  gar  nicht  stattfinden.    Was   aber  die   Einheit  des   Be- 
griffs der  Selbsterhaltung  betrifft,  insofern  nämlich  alles,  was  dazu 
gehört,   nur  eine   einzige   Pflicht   ausmacht   und   also  ethisch   als 
ein  gleichartiges   Handeln  erscheinen  soll:  so  löst  auch  sie  sich 
in   eine   unbestimmte   Vielheit  auf.    Denn   wird  sie  nur  auf  das 
physische   Leben   bezogen:    so   hat   dieses    zwar  seinen    Sitz   im 
Leibe,  der  Leib  selbst  aber  ist  ein  Teilbares  von  der  Art,  daß  seine 
verschiedenen  Teile  auch  eine  verschiedene  Beziehung  haben  auf 
das  Leben;  weshalb  denn  nicht  alles  Handeln  zu  diesem  Zweck 
seinem  ethischen  Werte  nach  gleich  ist,  sondern  eins  den  andern 


[111,1,  193]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  195 

untergeordnet,  welches  denn  der  Einheit  der  Pflicht  widerstreitet. 
In  diesem  physischen  und  materiellen  Sinne  hat  Kant  den  Be- 
griff am  weitesten  verfolgt,  und  was  gegen  die  Erhaltung  einzelner, 
das  Leben  nicht  unmittelbar  enthaltender  Teile  geschehen  könnte 
als  partiellen  Selbstmord  aufgestellt.  Daß  aber  diese  Pflicht  einen 
ganz  andern  Rang  hat  als  jene,  und  also  unter  dem  gemein- 
schaftlichen Namen  zwei  ganz  verschiedene  Dinge  zusammengefaßt 
sind,  ist  offenbar.  Denn  bei  dem  partiellen  Selbstmorde  unter- 
scheidet er  sowohl  das  ganz  Pflichtmäßige,  als  von  dem  Ab- 
weichenden die  verschiedenen  Grade  der  Verschuldung  nach  Maß- 
gabe der  Absicht,  so  daß  hier  die  Pflicht  der  Erhaltung  bedingt 
ist  durch  irgendeine  Beziehung,  die  unmittelbare  und  gänzliche 
Erhaltung  aber  ist  unbedingt.  Ebenso  ließe  sich  eine  andere 
Einteilung  denken,  nicht  nach  den  Teilen  und  Bedingungen  des 
Lebens,  sondern  nach  der  Art  und  dem  Grade  der  Gefahr,  aus 
welcher  sich  ganz  dasselbige  ergeben  würde.  Nun  aber  ist  weder 
der  bedingende  Grund  aufgestellt,  welcher  die  eine  Pflicht  von 
der  andern  trennt,  noch  der  beide  vereinigende  Grund  bestimmt, 
so  daß  sie  weder  ganz  eins  sind,  noch  ganz  geschieden,  und 
auch  die  erste  in  die  Unbestimmtheit  der  letzteren  mit  hinein- 
gezogen wird.  Dieses  erhellt  nicht  nur  aus  den  von  Kant  auf- 
gestellten kasuistischen  Fragen,  welche  fast  immer  der  Beweis  von 
der  Unklarheit  und  Unzulänglichkeit  seiner  Bestimmungen  sind, 
sondern  die  gleiche  Verwirrung  hat  auch  die  Stoiker  getrieben, 
vorzüglich  selbst  die  unbedeutendste  Verletzung  des  Körpers  zur 
Ursache  des  Selbstmordes  zu  machen,  als  ob  das  Leben  und  die 
Glieder  gleich  wären,  oder  wenigstens  der  Unterschied  zwischen 
beiden  nicht  zu  bestimmen.  Wird  aber  im  Gegenteil  die  Selbst- 
erhaltung auf  das  ganze  empirische  Selbst  bezogen,  und  auf  dessen 
Qualität  als  Werkzeug  des  Sittengesetzes:  so  gehört,  was  sehr 
ethisch  zu  sein  scheint,  das  Entwickeln  aller  Kräfte  und  Natur- 
vollkommenheiten, welches  bei  Kant  zum  Beispiel  eine  besondere 
Pflicht  ausmacht,   und   zwar  eine   unvollkommene,   der  Nährung 

13* 


1*56  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      (111,1,  1Q4] 

des  Leibes  als  einer  vollkommenen  weit  nachstehend,  dieses  ge- 
hört dann  hier  als  das  eigentlich  Positive  und  Reale  der  Selbst- 
erhaltung zu.  Allein  indem  doch  das  Positive  vom  Negativen 
unterschieden  wird,  bleiben  es  zwei  Elemente,  die  miteinander 
können  in  Widerstreit  geraten,  ohne  daß  zu  entscheiden  wäre, 
wie  weit  alsdann  das  bloß  körperlich  erhaltende  und  ersetzende 
Verfahren  dürfe  hintangesetzt  werden  zum  besten  des  geistig  ent- 
wickelnden, oder  umgekehrt,  so  daß  der  Langschläfer  und  der 
Langwacher,  oder  was  sonst  für  größere  Gegensätze  hier  vor- 
kommen mögen,  lediglich  ihrem  Herzen  überlassen  sind.  Ja,  es 
gilt  nun,  was  oben  von  der  Unmöglichkeit  gesagt  worden,  nach 
Fichte  etwas  besonderes  zur  Erhaltung  zu  tun,  natürlich  nicht 
minder  von  der  mit  darunter  begriffenen  Entwicklung  des  Leibes 
sowohl  als  des  Geistes,  indem  beide  wohl  immer  zu  unbedingten 
Pflichten  werden  zu  gebrauchen  sein.  Ferner  auch  stößt  sich  diese 
Pflicht  mit  jener  andern  bedingten  besonderen,  daß  jeder  solle 
seinen  Stand  wählen.  Denn  dieses  nach  Einsicht  zu  vollbringende 
Geschäft  setzt  Entwickelung  und  Ausbildung  voraus,  und  es  ist 
nicht  zu  sehen,  wie  weit  diese  schon  müssen  gediehen  sein,  ehe 
jene  kann  eintreten.  Welches  vielleicht  Fichte  geahnt  zu  haben 
scheint,  wenn  es  anders  mit  Bewußtsein  geschieht,  daß  er  Aus- 
bildung und  Entv/ickelung  vornehmlich  in  demjenigen  setzt,  was 
an  Kindern  zu  geschehen  pflegt,  und  dasjenige  verbietet,  was  diese 
öfters  erleiden  müssen.  Überdies  aber  ist  bei  Fichte  sowohl  das 
Negative  des  geistigen  Teils  der  Selbsterhaltung,  als  auch  das 
gesamte  Positive  dieser  Pflicht,  gleichsam  wie  ein  verächtlicher 
abgelegener  Ort,  ein  unordentliches  Behältnis  alles  dessen,  was 
zwar  sittlich  zu  sein  schien,  die  folgenden  Stellen  des  Systems 
aber  hätte  verunzieren  mögen.  Denn  sie  enthält  ein  höchst  un- 
bestimmtes Mannigfaltiges  von  Vorschriften  ohne  Gesetz  und  Ord- 
nung, und  die,  was  noch  ärger  ist,  ein  fast  ins  Unendliche  sich 
zerspaltendes  mittelbares  Verfahren  bilden,  welches,  wie  oben  zur 
Genüge  erwiesen  worden,  in  der  Ethik  ganz  unzulässig  ist.    So 


[111,1,  195]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  197 

wird,  um  den  Leib  zu  nähren,  Sparsamkeit  und  Ordnung  ge- 
boten, und  um  den  Geist  zu  entwickeln  werden  die  schönen  Künste 
empfohlen,  jede  offenbare  und  geheime  Untätigkeit  aber,  wie  die 
leere  Beschäftigung  mit  Zeichen  und  das  leidentliche  Aufnehmen 
fremder  Gedanken  wird  verboten.  Hier  nun  wird  wohl  jedem 
unbegreiflich  sein,  teils  warum  dieses  irgendwo  ein  Ende  nimmt, 
und  warum  nicht  auch  Fichte,  wie  Spinoza,  alle  Pflichten  und 
Tugenden  aus  der  Selbsterhaltung  ableitet.  Wobei  der  Unter- 
schied immer  würde  geblieben  sein,  daß  sie  bei  Spinoza  neben- 
einander aus  ihrem  gemeinschaftlichen  Grunde  hervorgehen,  wie 
es  sich  in  der  Ethik  geziemt,  bei  Fichte  aber  gar  nicht  ethisch 
eine  immer  zum  Behuf  der  andern  als  Mittel  zu  ihrem  Zweck 
würden  erfunden  werden.  Teils  auch,  je  unbestimmter  alle  diese 
Vorschriften  hier  sind,  und,  ihre  Gegenstände  aus  der  Erfahrung 
vorausgesetzt,  ohne  jede  Spur  von  Ableitung,  desto  lebhafter 
wird  sich  jedem  aufdringen,  daß  sie  entweder  gar  kein  Ansehen 
haben  in  der  Sittenlehre,  oder  daß  sie  auf  andern  Gründen  be- 
ruhen müssen,  und  nur  an  einer  andern  Stelle  ihre  Gültigkeit 
erlangen  können.  Teilen  wir  daher  das  so  wunderlich  verbundene 
Mannigfaltige,  so  ist  zuerst  in  Betracht  zu  ziehen,  wie  als  Teil 
oder  Mittel  der  Selbsterhaltung  geboten  wird  die  Mäßigkeit  im 
assimilierenden  und  ausleerenden  Genuß,  oder  wie  könnte  jemandb)  Mäßigkeit 
anders  den  Ernährungs-  und  Geschlechtstrieb  in  Beziehung  auf  ma  mng 
die  Selbsterhaltung  zusammenfassen  und  sondern?  Dieses  findet  ceschlechts- 
sich  bei  Fichte  und  bei  Kant,  zwar  bei  dem  letzteren  nicht  unter  trieb. 
der  Selbsterhaltung,  sondern  neben  ihr  als  eine  andere  Pflicht 
des  Menschen  gegen  sich  selbst  in  der  Eigenschaft  als  animalisches 
Wesen,  welche  Absonderung  aber  seinen  eigenen  Begriffen  gemäß 
grundlos  sein  möchte.  Daß  nun  die  Mäßigkeit  im  Gebrauch  der 
Nahrungsmittel  als  eine  eigene  Pflicht  aufgeführt  wird,  ist  in 
einer  Hinsicht  dem  älteren  dieser  beiden  noch  eher  zu  verzeihen, 
weil  er  was  zur  Selbstliebe  gehört,  es  sei  nun  in  Beziehung  auf 
Erhaltung    oder    Genuß,    nicht   sittlich    hervorzubringen    begehrt, 


198  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  196] 

sondern  sich  nur  begnügt,  es  sittlich  zu  beschränken,  und  also, 
was  ihm  als  ein  eigener  Trieb  erscheint,  auch  eine  eigene  PfHcht 
erfordert.  Gar  nicht  aber  auch  in  dieser  Hinsicht  dem  jüngeren. 
Denn  nach  diesem  soll,  wie  es  auch  recht  wäre,  was  für  die  Selbst- 
erhaltung getan  wird,  nicht  nur  durch  seine  Begrenzung,  sondern 
auch  an  sich  ein  Sittliches  sein.  Wenn  nun  also  nur  um  das 
Leben  zu  erhalten  die  Nahrungsmittel  genommen  werden:  so  ist 
ja  mit  dem  Zwecke  zugleich  die  Grenze  der  Handlung  gesetzt; 
und  so  wie  jenes  als  Gebot  gegeben  ist,  bedarf  es  nicht  mehr 
eines  Verbots,  daß  nicht  mehr  geschehen  solle,  welches  vielmehr 
einen  andern  unsittlichen  Antrieb  zur  Handlung  voraussetzt,  bei 
welchem  auch  das  nicht  zu  viele  schon  unsittlich  wäre.  Dieses 
in  seiner  ganzen  Ausdehnung  gedacht  gibt  den  Schluß,  daß  die 
Mäßigkeit  als  sittliche  Bestimmung  der  Grenzen  einer  solchen 
Handlung,  welche  bis  zu  diesen  Grenzen  hin  aus  einem  anderen 
Prinzip  gelangt  ist,  gar  kein  Begriff  einer  einzelnen  Tugend  sein 
kann.  Denn  in  einer  realen  und  positiven  Sittenlehre  wäre  auch 
das  innerhalb  dieser  Grenzen  Beschlossene  entweder  nicht  sittlich, 
oder  die  Grenzbestimmung  beruhte  auf  einem  Streite  der  Pflichten, 
oder  hätte  höchstens  Einheit  und  Gültigkeit  als  Pflicht,  nicht  aber 
als  Tugend.  In  einer  negativen  und  beschränkenden  aber  ist 
dieses  die  ganze  Tugend,  und  es  gibt  keine  andere.  Daher  auch 
geht  hieraus  zugleich  die  Unmöglichkeit  hervor,  wie  bei  Fichte, 
denn  Kant  wird  von  diesem  Vorwurf  nicht  getroffen,  ein  bestimmtes 
Verhalten  in  Ansehung  des  Ernährungstriebes  und  ein  ähnliches 
in  Ansehung  des  Geschlechtstriebes  aus  dem  Grunde  der  Selbst- 
erhaltung kann  geboten  werden.  Denn  soll  um  ihretwillen  nur, 
was  anderwärts  her  gegeben  ist,  eingeschränkt  werden:  so  hat 
das  Gebot  den  Charakter  verloren,  unter  welchem  es  aufgestellt 
ist.  Soll  es  aber  nur  dasjenige  begrenzen,  was  es  auch  selbst 
hervorgebracht  hat,  so  kann  vom  Geschlechtstriebe  an  dieser  Stelle 
gar  nicht  die  Rede  sein;  abgerechnet  noch,  daß  es  ganz  unwissen- 
schaftlich  wäre,    zumal   in   der    Ethik,   daß   die   Grenze   für  eine 


[111,1,  197]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  199 

Realität  eher  sollte  gegeben  werden  als  die  Realität  selbst.    Wir 
wollen  indes  den  Ort  nicht  achten,  da  von  der  Behandlung  dieses 
Triebes  unter  den  unbedingten   Pflichten  beim   ehelichen  Stande 
wieder   die    Rede    ist,    sondern    aus    allem    zusammengenommen 
untersuchen,  was  in  Absicht  desselben  Pflicht  oder  Tugend  sein 
mag.    Vorausgesetzt   nun,    er   habe   dort   diesen   Trieb   in    einen 
sittlichen  verwandelt  oder  mit  einem  sittlichen  verbunden,  so  daß 
Handlungen,    durch    welche    der    natürliche    Geschlechtstrieb    be- 
friedigt wird,   nicht  sowohl  aus   demselben,   als  vielmehr  sittlich 
aus  der  gemeinschaftlichen  Kraft  hervorgehen,  welche  die  Quelle 
aller  sittlichen  Handlungen  ist:  so  ist  gewiß,  daß  eben  dort  mit 
dem  Grunde  des  Handelns  auch  die  Grenze  desselben  müßte  ge- 
geben sein,  weil  sonst  in  der  Tat  keine  Pflicht  aufgestellt  wäre. 
Dann  aber  müßte  ferner  alles  innerhalb  dieser  Grenze  Gelegene 
als  Pflicht  geboten  sein,  und  zwar  dem  Orte  gemäß   als  unbe- 
dingte.  So  daß,  wenn  es  etwa  [als]  Pflicht  erfunden  würde,  alles 
was  der  Natur  nach  zur  Fortpflanzung  des  Geschlechtes  zu  tun 
möglich  ist,  es  sei  nun  in  dem  engeren  Umfang  der  einweibigen 
oder  in  dem  weiteren  der  vielweibigen  Ehe,  sich  zum  Zweck  zu 
machen,   alsdann   auch   bei   der   Erfüllung   dieser   Pflicht   auf   die 
Selbsterhaltung   gar   keine    Rücksicht   dürfte   genommen   werden. 
Allein  es  ist  auch  dort  keineswegs  bewerkstelligt  worden,  diesen 
Trieb  ebenso  zu  ethisieren,  wie  bei  der  Selbsterhaltung  mit  dem 
der  Ernährung  geschieht.    Denn  es  wird  zwar  den  Frauen  zuerst 
und   unmittelbar  der   Vorzug   eingeräumt,   diesen   Trieb   nur   als 
einen  sittlichen  zu  haben,  so  daß  er  fleischlich  noch  vor  der  Ge- 
burt, denn  er  darf  nie  zum   Bewußtsein  kommen,  getötet  wird, 
und  geistig  als  Liebe  wieder  aufersteht,  ja  sogar  bei  dem  Manne 
verwandelt   sich    durch    des    Weibes    Ergebung    dieser   Trieb    in 
Gegenliebe,   wobei  er  zur  billigen   Entschädigung  für  diese   ab- 
geleitete Sittlichkeit  das  Recht  erhält,  sich  ihn  auch  vor  dem  und 
außer  dem  wohl  gestehen  dürfen.  Was  für  ein  loses  und  nichtiges 
Spiel  aber  dieses  alles  ist,  vornehmlich  nach  den  Grundsätzen  des 


200  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,  198] 

Systems,  wird  jeder  einsehen.  Denn  höchstens  wäre  diese  Ab- 
leitung eines  Engländers  würdig,  da  sie  genau  betrachtet  nichts 
anderes  leistet,  als  zuerst  den  selbstischen  Trieb  des  Weibes  in 
einen  sympathetischen  zu  verwandeln  mit  dem  selbstischen  des 
Mannes,  und  dann  auch  den  selbstischen  des  Mannes  in  einen 
sympathetischen  sowohl  mit  dem  selbstischen  der  Frau  als  auch 
mit  ihrem  auf  seinen  selbstischen  gerichteten  sympathetischen. 
Aus  welchem  allen,  ohnerachtet  es  der  Gipfel  dieser  sympatheti- 
schen Ethik  ist,  und  daher  auch  bei  ihren  Anhängern  diese  Tugend 
die  symbolische  und  die  Beglaubigung  für  alle  übrigen,  doch 
nichts  Sittliches  im  Sinne  des  Fichte  entstehen  kann.  Alles  übrige 
ganz  Unwissenschaftliche  und  mehr  als  Verworrene,  wie  nämlich 
die  Einwilligung  der  Frau,  die  für  sich,  aus  allem  Ange- 
führten nämlich,  nichts  anders  sein  würde  als  eine  Handlung  der 
Gefälligkeit,  eine  wohltätige  Befriedigung  eines  fremden  Bedürf- 
nisses, vielmehr  eine  ganze  und  ewige  Hingebung  ist, 
aus  welcher  erfolgt  eine  gänzliche  Verschmelzung 
zweier  Individuen,  und  zwar  solcher,  welche  nun  eine  ganz 
verschiedene  Quelle  ihrer  Sittlichkeit  haben,  ferner  wie  dann  doch 
auch  die  Sittlichkeit  des  Mannes  gleichsam  durchdrungen  und 
gesättiget  wird  mit  dem  Wasser  dieser  fremden  Quelle,  und  die 
Sittlichkeit  überhaupt,  welche  vorher  aus  dem  Innersten  der  In- 
telligenz hervorging,  nun  am  Ende  in  einer  andern,  vielleicht 
noch  schöneren  Gestalt  aus  dem  Geschlechtstriebe  hervorsprießt, 
dieses  alles  ist  zu  sehr  hervorspringend,  um  mehr  als  angedeutet 
zu  werden. 

Daßi  also  bei  Fichte  der  Geschlechtstrieb  noch  keineswegs 
ethisiert  ist,  mag  aus  dem  Gesagten  erhellen.  Noch  viel  weniger 
aber  ist  er  es  anderswo.  Denn  Kant  hat  die  Ehe  nur  in  der 
Rechtslehre  als  einen  rechtmäßig  erlaubten,  und  wenn  überhaupt 
der  Geschlechtstrieb  soll  befriedigt  werden,  notwendigen  Vertrag 
aufgeführt,  jenes  Sollen  selbst  aber  in  der  Ethik  nirgends  erwiesen. 
Fast   alle   anderen  aber,   die   Alten   aus   den   praktischen   Schulen 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


|III,1,  199]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  201 

an  der  Spitze,  ethisieren  diesen  Trieb  nur  insofern,  daß  der  Mensch 
den  Endzweck  der  Natur  bei  demselben,  nämlich  die  Fortpflanzung, 
adoptieren  soll;  woraus  aber  weder  ein  Maß  dieser  Verpflichtung 
hervorgeht,  noch  auch  die  Ehe  einen  andern  als  untergeordneten 
Wert  hat,  indem  jeder  Ehegatte  dem  andern  nur  Nebensache 
ist  und  Mittel,  die  Kinder  aber  der  Zweck  und  die  Hauptsache  i. 
Soll  nun  die  Keuschheit  als  die  auf  diesen  Gegenstand  sich  be- 
ziehende Tugend  etwas  von  der  Mäßigkeit  Unterschiedenes  sein, 
und  nicht  nur  in  einem  Maße  der  Befriedigungen  sich  äußern, 
sondern  in  einem  eigenen  Charakter  derselben  und  einer  Maxime, 
die  ihnen  zum  Grunde  liegt :  so  würde  sie  bei  Fichte  darin  bestehen, 
daß  die  Befriedigungen  allemal  hervorgingen  aus  der  Liebe  und 
der  Gegenliebe;  dann  aber  müßten  diese  auch  das  Maß  derselben 
sein,  und  es  könnte  von  einer  Mäßigkeit  darin  außer  der  Keusch- 
heit nicht  geredet  werden.  Daß  aber  dasjenige,  worauf  sie  nach 
dieser  Erklärung  beruht,  in  demselben  System  noch  nicht  als  ein 
ethischer  Begriff  vorhanden  ist,  geht  hervor  aus  dem  vorigen. 
Bei  den  Alten  hingegen,  und  denen  die  ihnen  folgen,  würde  sie 
darin  bestehen,  daß  ihnen  immer  die  Absicht  zum  Grunde  läge,  den 
Naturzweck  zu  erreichen.  Warum  aber  nun  diese  Absicht  den 
ganzen  Trieb  einnehmen  soll,  der  mit  dem  Naturzweck  nicht  von 
Natur  gleichlaufend  ist,  zumal  da  das  Überschießende  desselben 
als  ein  störender  Reiz  animalisch  wirkt,  dieses  würde  eines  eigenen 
Erweises  bedürfen.  Daher  auch  viele  von  den  Alten,  ohnerachtet 
sie  auf  dem  Naturzweck  die  Ehe  erbauen,  teils  diese  nicht  als 
einen  sittlichen  notwendigen  Zustand,  oder  wenigstens  als  ein 
solches  Bestreben  setzen,  wie  Fichte  tut,  teils  auch  außer  der- 
selben der  zwecklosen  und  unnatürlichen  Lust  einen  Raum  lassen 
als  dem  leichtesten  Mittel,  den  physischen  Reiz  zu  beseitigen-. 
Ja,  so  scheint  selbst  im  allgemeinen  die  Befriedigung  des  Triebes 
angesehen  zu  werden  von  denen,  welche  wie  Epiktetos  lehren, 
sie  müsse  nur  im  Vorbeigehen  geschehen,  gleichsam  ohne  wo- 
möglich eine  eigene  Zeit  auszufüllen  und  das  Gemüt  besonders 
^  So  ist  die  Ehe  auch  von  E.  v.  Hartmann  jBfefaßt. 


202  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,200] 

zu  beschäftigen.  Das  Unsittliche  aber  in  dem  vom  Naturzweck 
Abweichenden  darin  zu  suchen,  daß  statt  des  belebten  Gegen- 
standes nur  ein  Bild  das  Gemüt  beschäftigt,  dieses  hängt  an  gar 
nichts  und  ist  völlig  unverständlich.  Wie  gänzlich  also  dieser  für 
die  Ethik  höchst  wichtige  Gegenstand  in  den  praktischen  Systemen 
noch  in  der  Verwirrung  liegt  und  den  ersten  klaren  Begriff  er- 
wartet, dies  muß  jedem  einleuchten.  Denn  in  der  genießenden 
Sittenlehre  ist  er  sehr  leicht  aufs  Reine  gebracht.  Für  die  näm- 
lich, welche  auf  die  beruhigende  Lust  ausgeht,  besteht  die  Keuschheit 
darin,  daß  jede  Befriedigung  wirklich  nur  beruhigend  sei,  das 
heißt,  der  ungereizten  Aufforderung  der  Natur  folge ;  welche  Regel 
von  selbst  auf  dasjenige  Maß  führt,  bei  dem  der  Trieb  selbst  immer 
erhalten  wird.  Auch  ist  es  ganz  der  Sache  angemessen,  daß  die  so, 
wie  jetzt  geschehen,  bestimmte  Keuschheit  für  dies  System  ebenso 
die  symbolische  Tugend  ist,  wie  die  sympathetische  Keuschheit  für 
das  anglikanische.  Im  reinen  Eudämonismus  aber  würde 
die  Keuschheit  zu  erklären  sein  durch  die  Bedingung,  daß  jede 
Befriedigung  auch  wirklich  Genuß  sein  müsse  und  um  des  Ge- 
nusses willen  unternommen,  und  so  ebenfalls  ihren  Charakter  haben 
und  ihr  Maß.  Auch  kommt  in  der  Sittenlehre  der  Lust  nirgends 
vor  der  Begriff  der  der  Keuschheit  untergeordneten  und  auf  sie 
sich  beziehenden  Tugend  der  Schamhaftigkeit,  welche  sonst  in  der 
neueren  rein  praktischen  sowohl  als  vermischten  Sittenlehre  sich 
eine  Stelle  mit  Hilfe  der  Scham,  wie  es  scheint,  erworben  hat. 
Daß  er  aber  leer  und  schwankend  ist,  ist  leicht  zu  zeigen.  Denn 
sein  Gehalt  soll  sein  das  Nichtäußern  gewisser  auf  jenen  Trieb 
sich  beziehender  Gedanken  und  Empfindungen.  Sind  nun  diese 
unsittHch,  so  ist  nicht  zu  sehen,  wie  eine  Tugend  sich  gründen 
soll  geradezu  auf  das  Unsittliche,  ohne  daß,  welches  hier  offenbar 
nicht  mit  gedacht  wird,  dessen  Hinwegschaffung  ihr  Geschäft 
wäre.  Sollen  sie  aber  an  sich  nicht  unsittlich  sein,  so  ist  überhaupt 
nicht  einzusehen,  daß  eine  solche  Gemütsbewegung,  wie  dennoch 
Kant  vom  Neide  behauptet,  dadurch  nur  könne  unsittlich  werden, 
daß  sie  ausbricht,  am  wenigsten  aber  hier,  wo  das  Ausbrechen  die 


[111,1,201]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  203 

bloße  Mitteilung  ist,  durch  welche  in  dem  Hörenden  nichts  an- 
deres könnte  hervorgebracht  werden,  als  was  in  dem  Mitteilenden 
selbst  zuvor  gewesen  ist,  nämlich  das  nicht  Unsittliche.  Was  aber 
nicht  die  Mitteilung  der  Gedanken  betrifft,  sondern  das  kund- 
bare Verrichten  der  Handlungen  des  Triebes,  so  müßte  sich,  nach 
der  Analogie  des  Ernährungstriebes  zu  urteilen,  auch  von  diesem 
die  Verwerflichkeit  auf  eine  andere  Ansicht  gründen,  als  auf  die 
des  Naturtriebes,  also  auf  eine,  wenn  dem  bisherigen  zu  glauben 
ist,  ethisch  noch  nicht  vorhandene.  Aus  welchem  Gesichtspunkt 
betrachtet  daher  auch  die  freilich  etwas  rohe  Polemik  der  Cyniker 
und  älteren  Stoiker  gegen  diesen  Begriff  sich  möchte  dem  Wesen 
und  der  Absicht  nach  verteidigen  lassen. 

Soviel  1  von  diesen  Pfhchten  und  Tugenden  und  ihrem  Orte.    2.  pflichten 

So  wie  nun  die  Selbsterhaltung  und  das  ihr  Beigeordnete  nach  S^gensic   as 

°  °  morahsches 

Kant  die  Pflicht  war  des  Menschen  gegen  sich  selbst  als  animali-       Wesen. 

sches  Wesen:  so  steht  dieser  gegenüber  eine  andere  auch  voll- 
kommene gegen  sich  selbst  als  moralisches  Wesen.  Von  dieser 
aber  wird  nirgends  der  Inhalt  nach  seinem  ganzen  Umfang  und 
seiner  Einheit  bestimmt  angegeben,  sondern  nur  mittelbar  be- 
zeichnet auf  eine  dreifache  Art.  Zuerst  nämlich  durch  den  Zweck, 
auf  welchen  sie  gerichtet  ist,  welcher  sein  soll,  daß  der  Mensch 
sich  selbst  erkenne.  Dieser  aber  hängt  mit  dem  größten  Teile  des 
Inhaltes,  nämlich  mit  der  Wahrhaftigkeit  in  Mitteilungen  und  der 
Vollständigkeit  des  notwendigen  Genusses,  nicht  sichtbar  zusam- 
men, wenigstens  nicht  genauer,  als  man  von  jedem  Unsittlichen 
sagen  kann,  daß  es  im  Mangel  der  Erkenntnis  seinen  Grund  habe. 
Zweitens  aber  durch  das  Prinzip  ihrer  Erfüllung,  so  wie  drittens 
durch  die  Laster,  welche  der  Übertretung  derselben  zum  Grunde 
liegen.  Diese  beiden  Erkenntnismittel  nun  sollten  eigenthch  nicht 
verschieden  sein,  sondern  nur  eins  und  dasselbe.  Denn  das  Prinzip 
der  Erfüllung  einer  Pflicht  besonders  betrachtet,  kann  kein  anderes 
sein,  als  die  Tugend,  welche  dabei  vorzugsweise  wirksam  ist;  die 
Laster  aber,  welche  die  Erfüllung  hindern,  können  für  die  Pflicht 
^  Absatz  nicht  im  Original. 


204  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  202] 

nicht  anders  ein  Erkenntnismittel  werden,  als  durch  die  Zurück- 
führung  auf  die  ihnen  entgegengesetzten  Tugenden.  Hier^  indes 
ist  das  Prinzip  viel  zu  weit  angegeben,  um  die  einzelne  Pflicht 
Ehrliebe,  daraus  zu  erkennen.  Denn  der  Ehrliebe  sind  alle  Laster  gleich 
sehr  entgegengesetzt,  wie  die  drei  hier  angeführten,  und  niemand 
wird  einsehen,  warum  nicht  die  Trägheit  zum  Beispiel  den  Men- 
schen ebenso  verächtlich  mache,  als  die  Falschheit  oder  die  Selbst- 
verachtung und  das  Selbstpeinigen.  Ja,  wenn  die  Ehrliebe  darauf 
beruht,  daß  der  Mensch  sich  des  Vorzugs  nach  Prinzipien  zu 
handeln  nicht  begeben  dürfe,  und  wenn  dieses  die  höchste  und 
gemeinschaftliche  Formel  für  die  hier  behandelte  Pflicht  sein  soll: 
so  ist  hier  wieder  eine  vollkommene  Pflicht,  welche  alle  anderen 
in  sich  begreift,  und  namentlich  den  Begriff  der  unvollkommenen 
Pflichten  seiner  Realität  gänzlich  beraubt.  Denn  es  stehen  auf  diese 
Art  alle  Handlungen  unter  der  Maxime,  daß  sie  nach  Prinzipien 
müssen  bestimmt  werden,  also  auch  diejenigen,  welche  in  den 
freien  Spielraum  der  unvollkommenen  Pflichtmaximen  fallen  wür- 
den, welches  in  die  Widersinnigkeit  dieser  Einteilung  und  ihrer 
Gründe  eine  neue  Aussicht  eröffnet.  Lassen  wir  aber  die  Einheit, 
und  sehen  auf  die  einzelnen  sehr  verschiedenen  Bestandteile  dieser 
Pflicht,  so  wird  sich  gewiß  zuerst  jeder  wundern,  in  diesem  anti- 
Genießen.  eudämonistischen  System  den  Genuß  des  Wohllebens,  wenngleich 
innerhalb  des  Maßes  des  Bedürfnisses,  als  eine  vollkommene 
Pflicht  von  dem  moralischen  Wesen  gefordert  zu  finden,  und  zwar 
abgesondert  von  der  Erhaltung.  Denn  als  ein  reizendes  Mittel 
möchte  der  Gebrauch  der  Lust  auch  nach  Fichte  nicht  zu  ver- 
weigern sein.  Nun  wird  sie  freilich  nicht  um  des  Genusses  willen 
gefordert,  sondern  um  sich  mit  Sicherheit  der  liberalen  Denkungs- 
art  bewußt  zu  werden,  nämlich  der  Freiheit  von  der  Anhänglich- 
keit an  den  bloßen  Besitz.  Dieses  aber  wäre  dem  Grundsatz  und 
Geist  des  Systems  weit  angemessener  zu  erreichen  durch  Ver- 
wendung für  die  fremde  Glückseligkeit.  So  daß  der  besondere 
Grund  dieser  Pflicht  nicht  zu  ersehen  ist,  und  wenn  sich  sonst  schon 
'  Bei  Kant! 


[111,1,  203]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  205 

öfters  eine  Pflicht  gegen  sich  selbst  gezeigt  hat  als  einerlei  mit 
einer  gegen  andere:  so  scheint  hier  eine  von  der  ersten  Art  sich 
vielmehr  ganz  verwandeln  zu  m.üssen  in  eine  von  der  letzten.  Als 
Gegensatz  aber  von  dieser  Pflicht  und  um  sie  zu  begrenzen,  stellt  Sparsunkoit. 
Kant,  wenngleich  problematisch,  eine  andere  auf,  nämlich  die 
Pflicht  oder  Tugend  der  Sparsamkeit.  So  unbestimmt  nun,  wie 
dieser  Begriff  aus  seinen  Händen  kommt,  ohne  Beziehung  auf 
das  Gesetz,  als  bloßes  Versagen  des  Genusses  ohne  Beisatz  einer 
Absicht,  kann  er  kein  ethischer  sein.  Ergänzt  man  aber  diese  Ab- 
sicht, welches  denn  nur  identisch  geschehen  kann,  daß  nämlich 
der  Genuß  solle  versagt  werden,  insofern  er  nur  an  sich  selbst  als 
Genuß  gefordert  wird:  so  ist  er  zwar  ethisch,  stimmt  aber  nicht 
mehr  mit  seiner  Bezeichnung  überein,  welche  ausschließend  das 
Eigentum  zu  seinem  Gegenstande  macht.  Späterhin  aber  kommt 
dieser  Begriff  noch  einmal  vor  als  eine  Maßregel  der  Klugheit, 
um  sich  die  zur  Erhaltung  der  Innern  Würde  nötige  Unabhängig- 
keit zu  sichern,  also  als  eine  technische  Regel,  nicht  aber  un- 
mittelbar als  Pflicht.  Ebenso  wird  sie  auch  von  andern  zur  Klug- 
heit gerechnet.  Allein  soll  diese  gedacht  werden  als  ein  Voraus- 
sehen des  Bestimmten:  so  kann  sie  ebensowohl  das  Gegenteil 
der  Sparsamkeit  gebieten,  als  diese  selbst,  welche  also  wiederum 
nur  sittHch  wäre,  insofern  ihr  Gegenteil  es  auch  ist.  Soll  aber 
die  Klugheit  nur  bestehen  in  dem  Bewußtsein  des  Nichtvoraus- 
sehens:  so  würde  die  Sittlichkeit  der  Sparsamkeit  beruhen  auf 
der  Frage,  wie  weit  man  einen  gegebenen  Zweck  aufopfern  dürfe 
einem  noch  nicht  bekannten,  welche  dann  verneinend  beantwortet 
wird  durch  denjenigen  Teil  der  Klugheit,  den  die  Alten  erklären 
als  die  Fertigkeit  einen  Ausweg  zu  finden,  und  der  als  wesent- 
lich auch  von  den  praktischen  Systemen  anerkannt  ist,  im  cy renai- 
schen aber  fast  den  ganzen  Inhalt  dieser  Haupttugend  ausmacht. 
Auch  unter  den  Pflichten  gegen  andere  oder  den  unbedingten 
allgemeinen  kommt  die  Sparsamkeit  bei  Fichte  vor  als  Mittel, 
das  Eigentum  allgemein  zu  machen,  und  würde  in  dieser  Hin- 
sicht  als   Tugend  zur  Gerechtigkeit  gehören.    Aus   welcher   Un- 


206  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  204] 

bestimmtheit  des  Verpflichtungsgrades  sowohl  und  des  Ortes  im 
System  als  des  Umfangs  hinlänglich  erhellt,  daß,  wenn  man  die 
Bezeichnung  des  Begriffes  festhält,  die  Sparsamkeit  nichts  ist 
als  eine  gewisse  Weise,  etwas  zu  verrichten,  deren  ethischer  Wert 
ganz  unbestimmt  ist,  und  die  also  auch  nicht  ethisch  dem  Begriffe 
nach  entstanden  ist,  dessen  Einheit  vielmehr  auf  einem  andern 
Gebiete  liegen  muß.  Wenn  man  aber  das  Ethische  aufsucht,  an 
welches  sie  sich  anschließen  könnte:  so  muß  man  über  die  Be- 
zeichnung hinausgehen,  und  die  Einheit  des  Begriffs  verschwindet. 
So  daß  es  kaum  noch  eines  andern  Beispiels  bedürfte,  um  zu 
erweisen,  daß  unmöglich  ein  fester  ethischer  Begriff  enthalten 
sein  kann  in  einer  Bezeichnung,  welche  auf  einen  äußeren  Gegen- 
stand gerichtet  ist.  Der  zweite  Teil  aber  jener  vollkommenen 
Wahrhaftig-  Pflicht  gegen  sich  selbst  ist  die   Wahrhaftigkeit,   unter  welchem 

^  .^'         Namen  aber  Kant  von  allen  andern  abweichend,  vielleicht  durch 
a)  innere.  ' 

das    Bedürfnis    des    Raums    verführt,    gewiß    aber   dem    Systeme 

nicht  nur,  sondern  auch  der  Sprache  Gewalt  antuend,  zwei  ganz 
verschiedene  Begriffe  zusammengefaßt  hat.  Oder  wer  könnte  wohl, 
was  er  die  innere  Lüge  nennt,  für  einerlei  halten  mit  der  Un- 
wahrheit in  Aussagen?  oder  sie  überhaupt  erklären  für  eine  vor- 
sätzliche Unwahrheit,  welche  jemand  sich  selbst  sagt?  Denn  hiezu 
gehört  notwendig  das  Wissentliche;  und  wie  kann  einer  das  eine 
zwar  wissen,  das  Gegenteil  aber  glauben  oder  glauben  wollen? 
Vielmehr  muß  entweder  das  Wissen  kein  Wissen  sein,  oder  das 
Glauben  kein  Glauben,  oder  beides.  Und  die  letzteren  beiden  Fälle 
sind  unstreitig  dasjenige,  was  Kant  gemeint  hat.  Denn  der  Mangel 
des  Wissens  mit  einem  wirklichen  Glauben  verbunden,  wäre  wenig- 
stens ein  redlicher  Besitz  einer  unvollkommenen  oder  unrichtigen 
Erkenntnis,  und  gar  nicht  mit  dem  Namen  der  Unwahrheit  zu 
brandmarken,  sondern  der  Fehler  nur  ein  nicht  genug  fortgesetztes 
Forschen,  der  Grund  desselben  aber  in  der  Gesinnung  ein  zu 
schwaches  Wollen  der  Selbsterkenntnis.  Was  Kant  aber  andeutet, 
ist  ein  unredlicher  Besitz,  so  daß,  wenn  auch  das  Wissen  mangel- 
haft ist,  es  angesehen  werden  muß  als  ein  absichtlich  abgebrochenes 


[111,1,205]  11.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  207 

Nachforschen,  um  nicht  handeln  zu  dürfen  demgemäß,  was  sich 
als  Wahrheit  ergeben  würde.  Die  sittHchei  Gesinnung  also  wäre, 
wie  es  auch  um  das  Wissen  stehe,  das  Nicht-Handeln-Wollen 
nach  der  Wahrheit,  sie  sei  nun  gesehen  oder  nur  vorausgesehen. 
Und  dieses  ist  eine,  und  zwar  wie  Kant  sie  nennen  sollte  qualifi- 
zierte, Unlust,  die  moralische  Vollkommenheit  zu  erhöhen,  gegen 
welche  das  Gebot  unter  der  so  überschriebenen  Pflicht  hätte 
müssen  vorkommen.  Was  aber  nun  die  äußere  Wahrhaftigkeit  b)  äußere. 
betrifft:  so  ist  zu  fragen,  zuerst  ob  wohl  die  Aufrichtigkeit  in 
Aussagen  und  die  Treue  in  Versprechungen  wirklich  eins  sind. 
Denn  das  Ausführen  der  Verträge  ist,  wie  bereits  oben  ausgeführt 
worden,  keine  eigene  Handlung,  weil  es  dazu  keines  neuen  Ent- 
schlusses bedarf,  sondern  dieser  schon  begriffen  ist  in  demjenigen, 
welcher  die  Gemeinschaft  des  Rechtes  und  der  Sprache  gestiftet 
hat.  Denn  durch  die  erstere  wird  einmal  für  immer  die  Willens- 
handlung an  ihre  Ausführung  gebunden,  durch  die  letztere  aber 
die  Rede  unter  bestimmten  Formen  und  Bedingungen  in  eine 
Willenshandlung  verwandelt.  Der  Entschluß  ist  ethisch  be- 
trachtet die  Handlung,  und  indem  ich  diesen  einem  andern 
übergebe  mit  seinem  und  meinem  Wissen,  habe  ich  ihm  die  Hand- 
lung übergeben,  von  welcher  ich  nun  das  Äußere,  was  noch  fehlt, 
nicht  mehr  trennen  darf.  Dieses  nicht  deutlich  genug  auffassend 
verdirbt  sich  auch  Fichte  gegen  seine  sonstige  Tugend  die  Klarheit 
dieses  Begriffs,  und  muß  einen  unbestimmten  Unterschied  ein- 
führen zwischen  dem,  Vv'as  der  Sittlichkeit  absolut  widerspricht,  und 
dem,  was  ihr  zwar  auch,  aber  nicht  absolut  widerspricht,  indem 
ich  dieses  zwar,  nicht  aber  jenes,  um  seinetwillen  tun  müsse. 
So  gründet  sich  nun  freilich  die  Treue  in  Verträgen  auf  die  Ge- 
meinschaft der  Sprache,  nicht  aber  gilt  dies  von  der  Aufrichtig- 
keit in  Aussagen.  Denn  wer  sich  hiebei  hinter  die  Vieldeutigkeit 
der  Worte  verbirgt,  will  nur  seinem  Unrecht  eine  andere  Gestalt 
geben,  das  eigentliche  Unrecht  aber  ist  allemal  die  Absicht,  den 


^  Muß  offenbar  heißen:  „unsittliche". 


208  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  206] 

andern  glauben  zu  machen,  was  nicht  ist.  Dieses  aber  kann  von 
der  Untreue  in  Versprechungen  nur  in  dem  besonderen  Falle 
gesagt  werden,  wenn  schon  anfänglich  der  Wille  nicht  da  ist,  sie 
zu  halten,  nicht  aber,  wenn  der  Wille  als  wirklich  vorausgesetzt 
wird.  Da  nun  die  Pflicht  oder  Tugend  der  Treue  beide  Fälle 
umfaßt:  so  muß  der  Grund  derselben  ein  anderer  und  gemein- 
schaftlicher sein.  Ferner  erhellt  dasselbe  daraus,  weil  Wahrheit 
in  Aussagen  und  Treue  in  Versprechungen  können  in  Widerstreit 
geraten,  da  es  ja  Versprechungen  gibt  und  geben  kann,  etwas 
nicht  auszusagen,  welche  oft,  wenn  gefragt  v.'ird,  auch  durch  das 
bloße  Nichtaussagen  schon  würden  verletzt  werden.  Hieraus  aber 
folgt  von  selbst,  daß  eine  oder  beide  noch  müssen  bedingt  werden, 
es  müßte  denn  das  Nichtaussagen  als  eine  absolute  Unsittlichkeit 
angesehen  werden,  so  daß  ein  Vertrag  darüber  unsittlich  wäre; 
was  aber  noch  schwieriger  sein  möchte,  indem  jenes  sich  noch  von 
andern  Seiten  als  der  Bedingung  bedürftig  einem  jeden  darstellen 
muß.  Denn  wie  Fichte  diese  Pflicht  bedingt  hat,  daß  sie  nur  auf 
dasjenige  gehe,  was  für  den  andern  unmittelbar  praktisch  ist, 
ist  die  Bedingung  weder  bestimmt,  weil  die  Regel  der  Beurteilung 
erst  seine  Eröffnung  voraussetzt  über  etwas,  was  für  mich  auch 
nicht  unmittelbar  praktisch  wäre;  noch  ist  sie  vollständig,  weil 
Fichte  dabei  nur  einen  besonderen  Fall,  nicht  aber  den  hier  an- 
geführten und  andere  im  Auge  gehabt  hat. 

Dann^  auch  wäre  zu  fragen,  ob  die  Wahrhaftigkeit,  nachdem 
so  auch  die  Treue  in  Versprechungen  von  ihr  abgesondert  worden, 
als  Pflicht  eins  ist  oder  als  Tugend.  Denn  als  letztere  scheint  sie 
auf  der  einen  Seite  nur  eine  natürliche,  und  zwar  die  niedrigste 
Äußerung  des  Wohlwollens  zu  sein,  indem  allemal  eine  besondere 
eigene  Absicht  dazu  gehört,  um  von  der  Wahrheit  abzuweichen, 
oder  doch,  wo  dieses  eine  für  sich  bestehende  Handlungsweise 
wäre,  wir  sie  immer  auf  das  Übelwollen  zurückführen  würden, 
und   auf  die   Absicht  den,   wenngleich    unbekannten   Zweck   des 

*  Absatz  nicht  im  Original 


(Ili.l,  207]  IL  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  209 

andern  zu  vernichten.  Auf  der  andern  Seite  wird  aber  doch,  wer 
um  seines  Vorteils  willen  die  Wahrheit  in  Aussagen  verletzt,  ganz 
anders  beurteilt,  als  ein  eigennütziger.  Wäre  sie  hingegen  das 
erstere,  so  müßte  das  Gebot,  welches  der  Ausdruck  derselben  sein 
sollte,  einen  Zweck  entweder  ausdrücklich  oder  durch  Voraus- 
setzung angeben,  und  nach  demselben  sich  ihre  Grenzen  be- 
stimmen, welche  der  Pflicht  notwendige  Form  sie  bis  jetzt  noch 
nirgends  zu  haben  scheint.  Überdies  vermischt  Kant  auf  eine 
wunderliche  Art  mit  der  Wahrhaftigkeit  in  Geschäften  und  ernst- 
haften Angelegenheiten  die  im  Umgange,  und  kann  die  Frage 
pedantisch  aufwerfen,  ob  dieser  Tugend  nicht  zuwider  wäre  der 
Gebrauch  solcher  Redensarten,  welche  in  der  geselligen  Sprache 
eine  andere  Bedeutung  haben  als  in  den  Wörterbüchern,  da  doch 
jene  Bedeutung  gemeinschaftlich  ist  und  keinen  Irrtum  veranlaßt. 
Daher  auch  keineswegs  der  Gebrauch  dieser  Sitten  aus  dem  Grunde 
der  Wahrhaftigkeit  zu  tadeln  ist;  eher  vielleicht  ihre  Erfindung 
aus  andern  Gründen  als  ein  vergebüches  und  sich  selbst  aufheben- 
des Unternehmen.  Gewiß  aber  hat  wegen  dieser  entschiedenen  Un- 
gleichheit der  Beziehungen  Aristoteles  besser  getan,  die  Wahr- 
haftigkeit des  Umganges,  wiewohl  er  sie  in  einem  größeren  Um- 
fange verstand,  ganz  abzusondern  von  der  Wahrhaftigkeit  der 
Geschälte.  Bei  Fichte  findet  sich  für  diese  Absonderung  freilich 
kein  Grund,  aber  auch  überall  keine  Veranlassung,  die  Wahrhaftig- 
keit auch  auf  das  bloß  erheiternde  Gespräch  auszudehnen.  Denn 
er  gründet  die  Verpflichtung  dazu  nicht  wie  Kant  auf  ein  Verhältnis 
des  Menschen  gegen  sich  selbst,  sondern  auf  die  Beförderung  des 
Freiheitsgebrauches  anderer.  Welche  Verschiedenheit  des  Ver- 
pflichtungsgrundes bei  Systemen  gleicher  Art  nicht  geringen  Ver- 
dacht erregt.  Wenn  aber  Fichte  die  Wahrhaftigkeit  auf  denselben  Wohltäti?- 
Grund  baut  wie  die  Wohltätigkeit,  und  also  als  Gesinnung  beide 
für  eins  erklärt:  so  hat  dagegen  Kant,  als  Pflicht  betrachtet,  die 
Wahrhaftigkeit  in  Streit  gesetzt  mit  der  Wohltätigkeit,  wie  er 
diese   in   ihrem  eigentlich   sittUchen   Charakter   beschreibt.    Denn 

Schleiermacher,  Werke.     I.  14 


210  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  208] 

nachdem  er  die  Pflichten  gegen  andere  eingeteilt  hat  in  solche, 

wodurch  der  Ausübende  andere  verpflichtet,  und  solche,  wo  dies 

nicht     geschieht,     die     Wohltätigkeit     aber     unter     die     ersteren 

versetzt,  so  will  er  doch,  daß  der  Schein,  als  dächte  der  Wohltäter 

den   andern   dadurch   zu   verpflichten,   sorgfältig   solle   vermieden 

werden,  welches  doch  offenbar  heißt,  den  andern  glaubend  machen, 

was  nicht  ist.  Oder  es  müßte  der  Wohltäter  sich  selbst,  ohnerachtet 

er  die  Wahrheit  jener  Einteilung  eingesehen,  dasselbe  überreden 

wollen,  und  um  die  äußere  zu  vermeiden,  zur  innern  Lüge  seine 

Zuflucht  nehmen. 

Diesel  auch  anderwärts  gerühmte  und  beHebte  Tugend  oder 

Pflicht,  den  Wert  sittlicher  Handlungen,  es  sei  nun  nur  äußerlich 

gegen   andere    oder  auch  im   eigenen    Bewußtsein,  sofern  dieses 

möglich  ist,  zu  verringern,  hängt  auch  zusammen  mit  dem  dritten 

Teile  der  in  Prüfung  seienden  kantischen  Pfhcht,  welcher  nämlicK 

Anspruch  auf  verbietet  dem  Anspruch  auf  eigenen  moralischen  Wert  zu  entsagen. 

eigenen  mora-  {^^^jj^  fügt  diesem  noch  den  Bewegungsgrund  hinzu,  es  solle  näm- 
lischen  Wert.    .  &      &  &  > 

lieh  nicht  geschehen  in  der  Meinung,  eben  durch  diese  Entsagung 

einen  andern  Wert  zu  erwerben;  als  ob  dieses  eine  eigene  Pflicht 
wäre,  eine  andere  aber  wieder,  das  nämliche  nicht  zu  tun,  um 
jemandes  Gunst  zu  erwerben.  Dieses  nun  ist  schon  in  der  Form 
falsch,  denn  die  Festhaltung  des  moralischen  Wertes  ist  schon  eine 
sittliche  Realität,  und  so  ist  es  immer  nur  dieselbe  Pflicht,  diese 
festzuhalten  gegen  jeden  unsittlichen  Antrieb;  die  Verschiedenheit 
des  Unsittlichen  aber  kann  nicht  ein  Grund  sein  zur  Teilung  des 
Sittlichen.  Überdies  aber  ist  jener  Bewegungsgrund  eine  schlechte 
Formel.  Denn  ist  der  vermeinte  Wert  als  ein  nicht  sittlicher 
gemeint,  so  schließt  sie  ja  alle  übrigen  in  sich,  und  der  Unter- 
schied ist  auch  von  dieser  Seite  betrachtet  nichts;  ist  er  aber  ge- 
meint als  ein  sittlicher,  so  würde  sie  sich  auflösen  in  die,  nicht 
etwas  Nicht-Sittliches  zu  halten  für  ein  Sittliches,  welches,  wenn 
es  ebenso  für  jeden  besonderen  Fall  als  eine  eigene  Pflicht  auf- 
geführt würde,  neben  der  eigentlichen  Reihe  der  Pflichten  noch 
^  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,  209]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  211 

eine  andere  gleichlaufende  hervorbringen  müßte,  welche  nur  aus- 
sagte, den  Irrtum  zu  vermeiden  über  die  Pflicht.    Was  aber  die 
Sache  selbst  betrifft,  so  findet  noch  der  Doppelsinn  statt,  ob  der 
sittliche   Wert  des   Subjekts,   welcher  auf  seinen   wirklichen   Ge- 
sinnungen und  Taten  beruht,  der  Gegenstand  der  Schätzung  sein 
soll,  oder  der  allgemeine  Wert  der  Menschheit  in  seiner  Person, 
oder  ob  beides  nicht  zu  unterscheiden  ist.    Wie  dem  aber  auch 
sei,  so  ergibt  sich  im  folgenden  eine  andere  Pflicht,  diese  Selbst- 
schätzung zu  beschränken  durch  die  Redlichkeit,  andere  zu  schätzen; 
so   daß  beide   Pfhchten  einander  aufzuheben   trachten,   und  also, 
den  aufgestellten  Grundsätzen  gemäß,  noch  keineswegs  als  Pflich- 
ten gesetzt  sind,  sondern  nur  als  sittlich  unbestimmte  Handlungs- 
weisen, welche,  um  Pflichten  zu  werden,  auf  ein  gemeinschaftliches 
Prinzip  müßten  bezogen  und  durch  dasselbe  entweder  jede  in  sich 
selbst   mit  Aufhebung   alles   Streites   gegen   die   andere   begrenzt 
und  bestimmt,  oder  vielleicht  mit  Aufhebung  der  Rücksicht  auf 
das  Eigene  und  Fremde  beide  nur  als  eine  und  dieselbe  dargestellt 
werden.    Dieses  aber  fehlt  nicht  nur  bei  Kant,  sondern  überall; 
denn  überall  liegt  die  Bescheidenheit  mit  der  Selbstschätzung  im 
Streit,   indem  bald  jener  so  viel  eingeräumt  wird,  daß  für  diese 
kein  Raum  bleibt,  bald  diese  so  weit  ausgedehnt,  daß  jene  keine 
Anwendung  behält,  und  so  einigen  die   Bescheidenheit  als  Krie- 
cherei, anderen  aber  die  Selbstschätzung  als   Hochmut  erscheint. 
Und  noch  mehr  ist  der  Inhalt  ganz  schwankend  und  verschwindet 
bei  der  genaueren  Betrachtung.    Denn  das  eigene  Anerkennen  der 
sittHchen  Natur  kann  keine  besondere  Pflicht  sein,  weil  es  über- 
haupt der  Unterwerfung  unter  alle  Pflichten  zum  Grunde  liegt,  und 
es  würde  in  dieser  Hinsicht  nicht  besser  sein,  als  jene  besondere 
Pflicht,  sich  die  Pflicht  zur  Triebfeder  zu  machen.   Daß  aber  andere 
diese  Natur  anerkannten,  ist  vorauszusetzen  in  Beziehung  auf  jeden, 
mit  welchem  sie  in  Gemeinschaft  treten  oder  verharren,  und  was 
sie  auch  jener  Voraussetzung  dem  Anschein  nach  Widerstreitendes 
tun  könnten,  kann  niemals  diese  bleibende  Bürgschaft  überwiegen. 
Daher  auch  schwerlich  irgendeine  Äußerung  oder  Tat  eines  Alen- 

14* 


2*2  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  210] 

sehen  gegen  den  andern  so  auszulegen  ist,  als  entstände  sie  aus 
einem  bleibenden  Verkennen  seiner  sittlichen  Natur.  Denn  was 
gewöhnhch  als  ein  solches  angeführt  wird,  wenn  nämlich  einer 
den  andern  als  Sklaven  hat  oder  als  bloßes  Werkzeug  des  Scherzes, 
welches  zur  Belustigung  des  andern  jede  beliebige  Kraft  des 
Gemütes  bewegen  muß,  auch  diese  Zustände  sind  doch  weder 
von  der  Art,  daß  jede  Spur  von  Gemeinschaft  dabei  verschwände, 
noch  auch  läßt  sich  leugnen,  daß  sie  von  andern,  welche  jeder 
als  zulässig  anerkennt,  nur  dem  Grade  nach  verschieden  sind. 
Soll  aber  die  Schätzung  nicht  auf  die  gemeinschaftliche  Natur 
gehen,  sondern  auf  die  besondere  Sittlichkeit  eines  jeden,  so  kann, 
diese  richtig  zu  erkennen  und  zu  würdigen,  nicht  einmal  für  jeden 
selbst  Pflicht  sein,  weil  die  unrichtige  Angabe,  wenn  sie  bloß  aus 
einem  Rechnungsfehler  während  der  Geschäftigkeit  des  prüfenden 
Verstandes  hervorgegangen  ist,  nicht  kann  als  unsittlich  angesehen 
werden.  Sondern  PfHcht  könnte  bloß  sein,  die  Untersuchung  nach 
einer  solchen  Methode  anzustellen,  welcher  keine  unsittliche  Vor- 
aussetzung zum  Grunde  Hegt;  welches  aber  von  keinem  ist  als 
die  Hauptsache  angesehen  worden,  und  auch  nur  mit  Unrecht  eine 
PfHcht  der  Selbstschätzung  konnte  genannt  werden.  Daß  es  nun 
gar  eine  eigene  Pflicht  geben  sollte,  andere  zu  richtiger  Anerken- 
nung unserer  eigentHchen  Sittlichkeit  zu  bewegen,  dieses  ist,  wenn 
nämlich  die  Freundschaft  so  ganz  verkannt  wird,  wie  Fichte,  oder 
so  enge  eingeschränkt,  wie  Kant  es  tut,  kaum  zu  denken.  Denn 
eine  Pflicht,  uns  Handlungen  zu  widersetzen,  die  auf  einem  un- 
richtigen Urteile  zu  beruhen  scheinen,  könnte  sich  dennoch  auf 
diesen  Bewegungsgrund  nicht  beziehen,  sondern  müßte  in  der 
Beschaffenheit  jener  Handlungen  ihren  Grund  haben;  für  den 
Wunsch  aber,  ihre  Erkenntnis  zu  berichtigen,  müßte  ihr  Urteil  über 
andere  ebensowohl  ein  Gegenstand  sein,  als  das  über  uns.  So 
daß  dieser  Teil  der  vermeinten  Pflicht  zur  erweiternden  Wahr- 
heitsliebe gehören  würde,  für  jenen  aber,  wenn  er  anders  etwas 
Reales    sein   soll,    ein    anderer   Ort   müßte   gesucht   werden.     Es 


[111,1,211]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  213 

scheint  aber  die  Ursache  der  Verwirrung  die  zu  sein,  daß  der 
sittliche  Wert  und  dessen  Anerkennung  verwechselt  worden  ist 
mit  dem  bürgerlichen;  welches  auch  überall  auf  die  Behandlung 
des  guten  Rufes  von  nachteiligem   Einfluß   gewesen  ist. 

Dieses ^  nun  bezog  sich  auf  die  praktische  Sittenlehre.  In 
der  eudämonistischen  aber  ist  die  Wahrheit  gar  nichts  an  sich, 
und  nur  die  Wahrheit  des  Natürlichen  und  Zufälligen,  sofern  ihm 
noch  ein  Einfluß  bevorsteht  auf  das  Hervorbringen  der  Lust  und 
Unlust,  hat  einen  bestimmten  Wert.  Nach  der  Wahrheit  des  Gegen- 
wärtigen aber  kann  keine  Frage  entstehen  und  noch  weniger  die 
des  Vergangenen  einen  Wert  haben.  Vielmehr  muß  die  sittliche 
Selbstschätzung  an  Sittlichkeit,  nämlich  an  Lust  gewinnen  durch 
die  natürliche  Täuschung  des  Urteils,  welche  oft  als  hervorgebracht 
angibt,  was  nur  zufällig  erreicht  war,  und  durch  die  Falschheit 
der  Erinnerung,  welche  aus  der  Vergangenheit  allemal  mehr  die 
Lust  herausholet  als  den  Schmerz,  so  daß  es  sogar  zur  Aufgabe 
würde,  diese  Täuschung  hervorzubringen  und  zur  Gewohnheit 
zu  machen.  Noch  weniger  aber  kann  die  Wahrheit  in  andern 
einen  Wert  haben,  sondern  oft  ist  aus  ihrer  nachteiligen  Meinung 
mehr  Lust  hervorzubringen,  als  aus  der  richtigeren  und  günstigen. 
Daher  es  auch  von  den  wahren  Meistern  dieser  Lebensweise  für 
eine  Tugend,  das  heißt  eine  Maßregel  der  Klugheit  gehalten  wird, 
selbst  wenn  man  der  Wahrheit  und  der  Ehre  eine  eigentümliche 
Lust  zuschreiben  wollte,  dieser  doch  ihrer  Wandelbarkeit  wegen 
keinen  unbedingten  Wert  beizulegen.  Dasselbe  aber  würde  auch 
gelten  von  der  sympathetischen  Ethik,  für  welche  unter  andern 
jene  Verringerung  des  Wertes  eigener  Handlungen  zur  Schonung 
des  fremden  Gefühls  eine  natürliche  Grenze  der  Wahrhaftigkeit 
wäre,  und  von  welcher  alle  Vorstellungen  von  wohltätigen  Täu- 
schungen, glücklichen  Irrtümern  und  dergleichen  ausgegangen  sind. 
Diese  nun  nach  ihrer  Sittlichkeit  zu  beurteilen,  ist  nicht  dieses 
Ortes;   daß   aber  die   Wahrheit  dabei   gänzlich   verschwindet,   ist 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


214  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,2121 

klar;  und  wenn  einige  unter  diesen  Sittcnlehrern  ihren  Haß  gegen 
die  Gerechtigkeit  so  offenbar  bekannt  haben,  so  ist  zu  verwundern, 
warum  sie  nicht  auch  sagen,  die  Wahrheit  anzuzeigen  sei  mehr 
die  Eigenschaft  einer  Uhr  als  eines  Menschen.  Auch  die  Regel, 
um  die  Selbstschätzung  und  die  Bescheidenheit  zu  vereinigen, 
welches  allerdings  in  diesem  System  gefordert  wird,  kann  nicht 
die  Wahrheit  sein,  sondern  das  Abwägen  der  gegenseitigen  Lust 
und  Unlust,  deren  VeränderHchkeit  dann  auch  jenen  Begriffen 
keine  Sicherheit  ihres  Inhaltes  zurückläßt.  Aus  einem  andern 
Grunde  aber  fehlt  bei  Fichte  die  Pflicht  der  Selbstschätzung  so- 
wohl als  der  Selbsterkenntnis,  weil  er  nämlich  es  sich  zum  Gesetz 
scheint  gemacht  zu  haben,  keinem  bloß  innern  Handeln  eine 
Stelle  einzuräumen  in  der  eigentlichen  Pflichtlehre.  Daher  auch 
die  Berichtigung  des  Urteils  anderer  über  unsere  Sittlichkeit  keine 
eigene  Pfhcht  sein  kann:  denn  unmittelbar  erfolgt  sie  aus  Liebe 
zu  ihrer  Freiheit  in  jedem  Falle,  wo  ihr  Urteil  unmittelbar  prak- 
tisch für  sie  sein  würde;  mittelbar  aber  kann  nichts  dazu  ge- 
schehen, als  daß  jeder  seine  Sittlichkeit  handelnd  darstellt,  wo 
denn  die  Beziehung  auf  jenen  Zweck  nur  ein  begleitendes  Bewußt- 
sein wäre, 
^ndere  Ebenso  ^  ergeht  es  ferner  der  von  Kant  aufgeführten  besondern 

Pflicht  der  Erhöhung  der  sittlichen  Vollkommenheit.  Denn  so 
wie  diese  Maxime  als  höchste  ethische  Idee  vorgestellt,  welches 
schon  im  ersten  Buche  erwähnt  worden,  jeder  bloß  ausübenden 
PfHcht  widerstreitet:  so  widerstreitet  sie  als  einzelne  Pflicht  ge- 
dacht der  Idee  von  einem  für  jeden  Augenbhck  bestimmten  Beruf. 
Nach  dieser  nämlich  ist  das  eigentlich  sittliche  Bestreben  nur  dieses, 
die  Pflicht  in  jedem  Augenblick  ganz  zu  vollbringen,  v/elches,  wenn 
es  gelingt,  keiner  weiteren  Forderung  einer  Vervollkommnung 
Raum  läßt.  Daß  aber  dieses  in  Beziehung  auf  das  Vergangene 
jedesmal  besser  gelinge,  setzt  teils  die  Selbsterkenntnis  voraus, 
welche  ebenfalls  aufgelöst  ist  und  unnötig  gemacht  durch  die 
Pflichterkenntnis,  teils  kann  es  sich  doch  nicht  in  eigenen  Hand- 
'■  Absatz  nicht  im  Original. 


Pflichten. 


[111,1,  213]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  215 

lungen  äußern,  sondern  bleibt  ebenfalls  nur  ein  inneres,  ein  die 
bestimmte  Pflichterfüllung  begleitendes,  reflektierendes  Bewußt- 
sein. Nur  ist  auf  der  andern  Seite  auch  Fichte  jenem  Gesetz,  das 
bloß  innere  Handeln  gänzlich  auszuschließen,  nicht  treu  geblieben. 
Denn  er  stellt  doch  auf,  eine  Pflicht  die  Sittlichkeit  im  allgemeinen 
zu  befördern,  von  welcher  er  ebenfalls  einsieht,  daß  sie  keine 
eigenen  Handlungen  veranlassen  kann,  sondern  erfüllt  wird,  indem 
jeder  das  ihm  obliegende  Gute  vollbringt,  welche  Pflicht  also  ent- 
weder garnichts  ist,  oder  auch  ein  diese  Vollbringung  begleitendes 
Bewußtsein  jener  Absicht.  Worin  also  ein  Irrtum  liegt,  welcher 
Bedenken  erregen  muß  auch  über  die  formale  Richtigkeit  jener 
Auslassungen  und  überhaupt  über  seine  Ansicht  von  dieser  Sphäre 
der  Pflichten.  Nicht  mindere  Unbestimmtheit  und  Verwirrung 
findet  sich  auch  in  seinen  unbedingten  besonderen  Pflichten,  wenn 
man  sie  vergleicht  mit  den  gleichen  bedingten.  Zuerst  nämlich 
entsteht  Zweifel,  ob  und  wie  die  allgemeine  Regel,  seinen  Stand 
nicht  nach  Neigung,  sondern  nach  Einsicht  zu  wählen,  sich  auch 
erstrecke  auf  die  natürlichen  Stände,  in  welchen  doch  auch  die 
Wahl  nicht  ganz  kann  ausgeschlossen  werden.  Denn  wenn  auch 
die  Liebe  nicht  von  der  Freiheit  abhängt,  insofern  ihr  ein  Natur- 
trieb beigemischt  ist:  so  zeigt  doch  eben  diese  Erklärung,  daß  es 
noch  etwas  anderes  in  ihr  gibt,  welches  allerdings  von  der  Frei- 
heit abhängt.  Sonach  ist  ganz  unentschieden,  ob  dieses  andere 
in  Beziehung  auf  eine  bestimmte  Person  mit  dem  Naturtriebe  zu 
verbinden,  oder  nicht,  eine  Sache  der  Wahl  sei;  und  ob  bei  dieser 
Wahl  die  Einsicht  entscheiden  dürfe,  oder  was  sonst.  Ebenso, 
wenn  auch  die  Handlung,  welche  den  Trieb  befriedigt  und  die 
Fortpflanzung  bewirkt,  allemal  aus  dem  Triebe  hervorgehen  muß: 
so  ist  doch  nicht  gesagt,  daß  sie  jedesmal  geschehen  müsse,  wenn 
der  Trieb  sie  fordert,  und  sonach  unentschieden,  ob  die  Beurteilung, 
welche  dabei  stattfindet,  sich  auch  beziehen  dürfe  auf  eine  freie 
Wahl  in  Absicht  der  Vervielfältigung  des  elterlichen  Verhältnisses. 
In  welcher  Hinsicht  denn  die  alten  Sittenlehrer  weit  bestimmter 
sind,  welche,  indem  sie  die  Ehe  bloß  um  der  Kinder  willen  setzen, 


216  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  214] 

für  die  Gattin  die  Gründe  der  Wahl,  für  die  Anzahl  der  Kinder  aber 
ein  zuträgliches  Maß  anzugeben  nicht  unterlassen;  und  vieles  war 
bei  ihnen  schändlich  in  dieser  Hinsicht,  was  bei  uns  überall  nicht 
pflegt  zur  sittlichen  Beurteilung  gezogen  zu  werden.  Eine  solche 
Bestimmtheit  aber  muß  für  die  Wissenschaft  gefordert  werden,  und 
kann  weder  durch  die  Selbständigkeit  der  Ehe  noch  durch  die 
Vermischung  des  Freuen  und  Unfreien  unmöglich  gemacht  sein. 
Ferner  auch  scheint  die  Bestimmung  und  Einteilung  des  Berufs 
teils  nicht  nach  Grundsätzen,  sondern  nach  Maßgabe  des  Vor- 
handenen gemacht  zu  sein,  und  zwar  so  einseitig,  daß  kaum 
irgendwo  von  Verbindung  der  verschiedenen  Einheiten  in  einer 
Person  die  Rede  ist.  Teils  auch  scheint  sich  jener  Regel  von  der 
freien  Wahl  des  Berufs  nach  besserer  Einsicht  zu  widerstreiten. 
Denn  die  verschiedenen  Arten  sind  hier  so  konstruiert,  daß  eine  der 
andern  in  ethischem,  nicht  etwa  nur  in  bürgerlichem  Verstände 
sich  untergeordnet  zeigt;  zur  Wahl  nach  Einsicht  aber  gehört  vor- 
nehmlich die  Kenntnis  des  wesentlichen  Unterschiedes,  woraus 
denn  hervorgeht,  daß  einer  freiwillig  seinem  Anspruch,  zu  den 
höher  gebildeten  Menschen  zu  gehören,  entsagen  muß,  welches, 
wenn  nicht  ein  natürlicher  und  angeborener  Unterschied  an  Geistes- 
kräften sogar  der  Art  nach  angenommen  wird,  für  jeden  Fall 
eine  unsittHche  Handlungsweise  entweder  des  Wählenden  selbst 
voraussetzt,  oder  derer,  welche  ihn  vorläufig  zur  Wahl  nach  Ein- 
sicht bilden  sollten,  oder  endlich  der  Gemeinheit,  welcher  beide 
angehören;  so  daß,  welcher  auch  gelten  möge,  die  Möglichkeit 
einer  solchen  Einteilung  unter  der  Voraussetzung  jener  Regel  auf 
dem  Unsittlichen  beruht.  Deshalb  auch  hier  über  die  einzelnen 
Begriffe,  über  die  Art,  wie  sie  gefaßt  sind,  und  wie  ihnen  durch 
die  erteilten  Vorschriften  Genüge  geschieht,  nichts  weiter  zu 
sagen  ist. 
Allgemeine  Gehen  wir  nun  zu  den  gewöhnlich  sogenannten  allgemeinen 

Pflichten     Pflichten  gegen  andere:  so  ist  es  eben  hier,  wo  die  Verwechse- 
lung des   Pflicht-  und  Tugendbegriffes  nicht  mehr  in   einzelnen 


[111,1,  215J  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  217 

Fällen,  sondern  fast  allgemein  vorkommt.    So  daß  diese  Verwir- 
rung der  Form  nicht  mehr  einzeln  wird  angemerkt  werden,  son- 
dern   nur    hier   wird    noch    einmal    für    alle    zurückgewiesen    auf 
dasjenige,  was  vom  Verhältnis  dieser  Begriffe  ist  gesagt  worden, 
und  wie  eine  Formel,  welche  als  für  die  Pflicht  berechnet  unzu- 
länglich und  unbestimmt  noch  weniger  eine  Tugend  bezeichnen 
kann,   und  umgekehrt.    Nach  dieser   Erklärung   nun   knüpfe  sich 
zunächst  an  das  vorige  an  ein  Verhältnis,  in  welchem  gemeinhin 
ebenfalls  eine  freiwillige  ethische  Selbstunterwerfung  gedacht  wird, 
nämlich  das  der  Wohltätigkeit  und  Dankbarkeit.   Bei  Fichte  zwar    Wohltätig- 
ist die  Wohltätigkeit  am  folgerechtesten  für  jede  praktische  Ethik  pj^n^barkeit. 
gar  nicht  auf  das  Wohlbefinden  des  Bedürftigen  bezogen,  sondern 
lediglich    auf  dasjenige,    was   für   alle    als    die   gemeinschaftliche 
Bedingung  der  Freiheit  und  des  sittlichen  Handelns  in  der  Sinnen- 
welt  aufgestellt  ist.    So  daß   auch  der   Dürftige  wenigstens  von 
allen  gemeinschaftlich,  wenn  auch  nicht  von  jedem  einzelnen,  die 
Ausübung   der  Wohltätigkeit  fordern   kann   als   sein    Recht,   und 
daher  die  Dankbarkeit,  wenn  nicht  ganz  verschwindet,  doch  ihren 
Sitz  verändert,  und  nicht  mehr  eine  Pflicht  wäre  des  Bedürftigen 
gegen   den   Wohltäter,  sondern   vielmehr  der   Gemeinheit  gegen 
den    Einzelnen,    welcher   als    ein    sich    selbst   dazu    aufwerfender 
Bevollmächtigter    ihre    Pflicht   hat   erfüllen    wollen.     Hiebei    aber 
ist   zu  bemerken,  einesteils,  daß   auf  diese   Art  auch  die  Wohl- 
tätigkeit  keine   reine   Pflicht  sein   kann,   sondern   nur  auf   einem 
Zustande  beruht  und  mit  ihm  selbst  in  einer  besseren  Zeit  ver- 
schwinden muß,  dessen  Aufhebung  als  sittlich  notwendig  angezeigt 
ist.    Auf  welche  Weise  denn  gerade  in  der  Hinsicht,  in  welcher 
Kant  sie  zu  wünschen  scheint,  die  Verwandlung  der  Liebespflicht 
in   Rechtspflicht  eintreten  würde,  ohne  doch  die  Darstellung  der 
Welt  als  eines  sittlich  schönen  Ganzen  zu  behindern.   Andernteils 
aber,  daß  die  Wohltätigkeit,  wie  Fichte  sie  angibt,  den  gewöhn- 
lichen Begriff  nicht  ausfüllt,  sondern  in  diesem  auch  mit  enthalten 
ist  seine   Dienstfertigkeit.    Und   in   diesen   abgesonderten   Begriff 


218  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  216] 

scheint  sich  bei  ihm  jene  Unstatthaftigkeit  zurückgezogen  zu 
haben,  welche  sonst  dem  Ganzen  einwohnt.  Denn  sobald  ein 
Beruf  gesetzt  ist,  hat  auch  jeder  in  jedem  Augenblicke  für  einen 
eigenen  Zweck,  welcher  gewiß  sittlich  ist,  etwas  zu  verrichten, 
und  jeder  Versuch,  die  Zwecke  anderer  zu  befördern,  wäre  einer- 
seits ein  verbotenes  abenteuerliches  Aufsuchen  einer  Tugendübung, 
weil  er  nämlich  ein  Hinwegsehen  ist  von  der  aufgegebenen  be- 
stimmten und  ununterbrochen  fortgehenden  Pflicht,  andererseits 
aber  eine  Klügelei,  oder  die  Anmaßung,  etwas,  das  ich  nicht  weiß, 
demjenigen  vorzuziehen,  was  ich  weiß.  Weichergestalt  denn  von 
der  Dienstfertigkeit  nichts  übrigbleiben  würde,  als  das  natürliche 
Ineinandergreifen  der  verschiedenen  Berufsarten,  in  dessen  Be- 
wußtsein und  der  daraus  entstehenden  Verehrung  der  niedern 
Stände  gegen  die  höheren  auch  die  Dankbarkeit  ganz  im  kanti- 
schen Sinne  als  Verehrung  des  Wohltäters  und  Bestreben  nach 
Gegendiensten  verborgen  liegt  und  auch  ganz  auf  einem  ein- 
geschlichenen Unsittlichen  beruht.  Dieses  aber  ist  bei  Kant  selbst 
noch  weit  offenbarer  der  Fall  mit  der  Dankbarkeit  und  Wohl- 
tätigkeit, so  wie  beide  zusammengehören,  und  überall,  wo  auf 
dem  Grunde  einer  praktischen  Idee  eine  auf  Glückseligkeit,  gleich- 
viel ob  eigene  oder  fremde,  sich  beziehende  Pflicht  gebaut  wird. 
Bei  Kant  besonders  beruht  die  Wohltätigkeit  auf  der  Voraus- 
setzung, daß  jeder  wolle,  ihm  solle  aus  der  Not  geholfen  werden. 
Dieser  Wille  aber  ist  so  unbedingt  kein  sittliches  Wollen  in  der 
praktischen  Ethik.  Sondern,  da  auch  in  der  Not  noch  Tugend- 
übungen und  PfHchterfüllungen  möglich  sind,  und  dieser  Zustand 
das  sittliche  Dasein  nicht  schlechthin  aufhebt:  so  wird  der  Wille, 
ihn  zu  verändern,  sittUch  oder  unsittlich,  je  nachdem  der  Preis  es 
ist,  welcher  gegeben  werden  soll.  Ohnstreitig  aber  ist  der  Preis 
einer  solchen  Seibstunterwerfung,  wie  sie  in  der  Dankbarkeit  ge- 
setzt ist,  durch  welche  eine  immerwährende  sittliche  Ungleichheit 
gestiftet  wird,  welche  noch  überdies  nur  auf  dem  Zufall  beruht, 
nämlich   auf  der  Gelegenheit  wohlzutun,  und   nicht  auf  der  Ge- 


[111,1,217]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  219 

sinnung,   in   Hinsicht  auf  welche  gar  wohl  der  Bedürftige  dem 
Wohltäter  gleich  sein  kann  und  überlegen;  ein  solcher  Preis  ist 
auf  jeden  Fall  unsittlich,  und  das  Verhältnis  eine  Herabwürdigung 
des  sittlichen  Wertes  wegen  eines  sinnlichen  Zweckes.    Ja,  schon 
indem  dem  Wohltäter  Ansprüche  auf  wenigstens  gleiche,  eigent- 
lich aber  auf  unendliche  Gegendienste  zugestanden  werden,  müßte 
mit  der  Möglichkeit  der  Wohltaten   auch   die   Möglichkeit  einer 
sittlichen  Sklaverei  ethisch  gesetzt  werden,  und  die  Erlösung  aus 
der  Not  wäre  der  Preis,  um   welchen  die   Freiheit  gesetzmäßig 
dürfte  verkauft  werden.    So  daß,  die   Dankbarkeit  vorausgesetzt, 
der  Verpflichtungsgrund  zur  Wohltätigkeit  unmöglich   wird,   auf 
welcher  doch  wiederum  die  Dankbarkeit  beruht,  und  das  System 
von  Pflichten  in  seiner  Wechselbeziehung  als  ganz  unzulässig  er- 
scheint.   Wenn   aber   auch   die   Wohltätigkeit   auf   einem   andern 
Grunde  beruhte  und  also  für  sich  bestehen  könnte:  so  bliebe  doch 
die   Dankbarkeit,  wie  man  auch  den   Begriff  einschränke,  sobald 
sie  sich  nur  auf  selbstgenossene  Wohltaten  beziehen  sollte,  für  die 
praktische    Ethik   ganz   unzulässig.     Denn    wenn    auch    über   die 
SittHchkeit  in  den  Beweggründen  einer  genossenen  Wohltat  die 
größte   Gewißheit  zu  erlangen  wäre,  so  könnte  doch  aus  dieser 
persönlichen  Beziehung  keine  Verehrung  entstehen,  sondern  diese 
müßte    sich    ausdehnen    auf   alle    auch    gegen    andere    ausgeübte 
Wohltaten,   wie  sie  als  sittlich  einem   jeden  bekannt  werden,  ja 
auch  auf  die  Gesinnung,  welche  nur  durch  äußere  Umstände  in  den 
tätigen   Erweisen  ist  gehindert  worden.    Die   Verpflichtung   aber 
zu   gleichen   Diensten  würde  noch  außerdem   entweder  auf  dem 
Verpflichtungsgrunde  zur  Wohltätigkeit  überhaupt  beruhen  müssen, 
und  also  der  vorhergegangenen  empfangenen  Wohltat  nicht  be- 
dürfen, oder  mit  dieser  im  Streit  sein,  und  also  noch  eine  neue 
und  andere  Bestimmung  beider  Begriffe  notwendig  machen.    Im 
Eudämonismus    wiederum   kann  die    Dankbarkeit   keinen    andern 
Sinn  haben,  als  entweder,  sofern  sie  Vergeltung  ist,  die  Verbin- 
dung aufzulösen ;  welches  voraussetzt,  daß  diese  Unlust  macht,  daß 


220  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  218] 

also  der  Wohltäter  entweder  gar  nicht  in  Beziehung  auf  den 
Empfänger  gehandelt  hat,  welches  ohnedies  nicht  gedacht  werden 
kann,  sondern  nur  dessen  vorausgesehene  Unlust  als  Mittel  ge- 
braucht, um  für  sich  die  Lust  zu  gewinnen,  die  ihm  aus  der  Ver- 
geltung entsteht;  oder  daß  er,  wenn  sein  Zweck  auf  eine  an- 
genommene eigentümliche  Lust  des  Wohltuns  gerichtet  war,  diesen 
überschritten  hat,  wofür  er  eine  Gegenlust  gewiß  nicht  verdient. 
Oder  es  soll  die  Dankbarkeit  ein  Reizmittel  sein,  um  zu  neuen 
Wohltaten  aufzumuntern ;  dann  aber  verliert  sie  teils  die  Be- 
ziehung auf  eine  empfangene  Wohltat,  und  müßte  aus  gleichem 
Grunde  gegen  alle  bewiesen  werden,  welche  in  dem  Fall,  wohl- 
tun zu  können,  eines  solchen  Reizmittels  empfänglich  und  be- 
dürftig sind;  in  welcher  Hinsicht  sie  dann  ganz  identisch  wäre 
mit  jener  Wohltätigkeit,  und  das  wesentliche  Merkmal  des  Be- 
griffs, inwiefern  er  sittlich  sein  soll,  anderwärts  müßte  aufgesucht 
werden;  teils  ließe  sich  doch  kein  sittlicher  Grund  aufstellen  für 
die  Erwartung,  daß  die  Lust  den  Empfänger  bewegen  würde, 
dem  Urheber  wieder  Lust  zu  machen,  außer  wenn  eine  damit  ver- 
bundene Unlust  vorausgesehen  wird,  welche  abgeschüttelt  werden 
muß;  in  welchem  Falle  dann  zwischen  Wohltat  und  Beleidigung, 
sowie  zwischen  Dankbarkeit  und  Rache  oder  Schadenersatzforde- 
rung eine  wimderbare  und  höchst  verwirrte  Identität  entstehen 
müßte.  Überdies  aber  müßten  doch  beide  Begriffe  so  begrenzt 
werden,  daß  nur  das  auf  einen  andern  verwendet  würde,  was 
dem  Besitzer  selbst  in  Beziehung  auf  die  eigentümlich  damit 
verbundene  Lust  wieder  brauchbar  ist;  wodurch  beide  Begriffe  in 
den  eines  liberalen  Tausches  übergehen  und  gar  kein  eigentüm- 
liches Verhältnis  übrig  bleibt.  Wie  aber  in  der  sympathetischen 
Ethik  etwas  ganz  Ähnliches  erfolgt,  darf  wohl  kaum  noch  aus- 
geführt werden.  Ebenso  wird  jeder  einsehen,  daß  auch  die  Wohl- 
tätigkeit, für  sich  betrachtet,  in  der  praktischen  Ethik  noch  genauerer 
Bestimmungen  bedürfte,  um  als  Pfücht  aufgestellt  zu  werden  oder 
als  Tugend,  wie  selbst  nach  der  Fichteschen  Erklärung,  welche 
doch  die  bestimmteste  und  begründetste  ist,  aus  den  unbestimmten 


[111,1,219]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  221 

Vorschriften  erhellt,  daß  einerseits  auch  zur  Wohltätigkeit  die  Ver- 
anlassung sich  darbieten  müsse,  andrerseits  aber  jeder  solle  ihrent- 
wegen  haushälterisch  sein  und  sparsam,  und  was  sonst  noch  zu 
lesen  ist.  Was  aber  über  diesen  Gegenstand  die  Alten  und  vor- 
nehmlich die  Stoiker  in  dem  Abschnitte  von  den  Pflichten  genauer 
bestimmt  gehabt,  davon  ist  wenig  übriggeblieben,  welches,  teils 
mehr  in  das  Gebiet  der  Staatsverwaltung  hinübergezogen  als 
das  sittliche  Leben  überhaupt  umfassend,  teils  auch  seiner  Natur 
nach  nicht  besser  als  das  bisher  Erwähnte  nur  dasjenige  berührt, 
was  auch  Kant  unter  seinen  Gewissensfragen  aufgeworfen,  die 
Grenzen  nämlich  zwischen  der  Wohltätigkeit  und  der  Selbstliebe. 
So  daß  auch  hier,  trotz  dem  Grundsatz  von  der  Unmöglichkeit 
eines  Übermaßes  im  wahrhaft  Sittlichen,  nur  ein  unbestimmter 
Begriff  geherrscht  hat.  Als  Tugend  betrachtet  aber  haben  sie  eben- 
falls die  Wohltätigkeit  unter  die  Gerechtigkeit  gesetzt  und  als  eine 
Äußerung  derselben  aufgestellt;  so  jedoch,  daß  in  allen  Abteilungen 
der  Gerechtigkeit,  in  der  Widersetzung  gegen  das  Unrecht,  in 
dem  Bestreben,  jedem  gleiche  Vorteile  aus  der  Gemeinschaft  zu- 
zusichern, in  dem  Wohlverhalten  bei  Verträgen,  überall  das  Recht- 
liche mit  dem  über  die  strenge  Rechtspflicht  Hinausgehenden  so 
vermischt  ist,  daß  weder  eine  Absonderung  sich  zeigt,  noch  auch" 
zu  sehen  ist,  was  wohl  als  der  Inhalt  der  eigentlich  sogenannten 
Gütigkeit  zurückbleibe. 

Außer  1  der  tätigen  Hilfeleistung  aber  ist  auch  fast  überall  Teilnahme. 
geredet  worden  von  einer  Pflicht,  durch  die  Empfindung  teilzu- 
nehmen an  dem,  was  andern  begegnet.  Welche  Forderung  wohl 
auf  dem  gewöhnlichen  Wege  der  praktischen  Sittenlehre  nicht  ist 
wahrgenommen  worden,  sondern  nur  in  der  eudämonistischen 
Ethik  teils,  noch  mehr  aber  in  der  sympathetischen  scheint  ein- 
heimisch zu  sein.  In  der  letzteren  nun  müßte  die  Teilnehmung 
als  sittlich  auch  ein  selbstisches  Gefühl  enthalten,  und  nirgends 
ist  bestimmt,  ob  dieses  sein  sollte  die  Unlust,  welche  aus  der 
Gleichheit  der  Individuen  entsteht,  und  der  Erwartung  des  ähn- 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


222  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,220] 

liehen,   oder  die  Lust  aus  ihrem   Gegensatz  und  aus  der  gegen- 
wärtigen Befreiung.    Im  reinen  Eudämonismus  aber  könnte 
sie  nur  sittlich  sein  entweder  als  unvermischte  Lust,  also  ohne  allen 
Charakter  der  Teilnehmung  als  Freude  über  das  eigene  verglichene 
Wohlergehen,  oder  als  eigentümliche  überwiegende  Lust,  woher 
auch  immer  die  Rede  gewesen  ist  von  dem  besonderen  Reiz  der 
vermischten    Empfindungen.    So  betrachtet  indes  würde   aus  der 
Aufgabe,   diesen    Genuß   teils   mehr   in    die   Gewalt  der   Willkür 
zu   bringen,  teils  von   allem,   was    über  ihn   hinausgeht  und   ihn 
verunreiniget,  zu  befreien,  die  Vorschrift  entstehen,  seine  Befriedi- 
gung nicht  sowohl  aus  der  Wirklichkeit  zu  schöpfen,  als  vielmehr 
aus   den   Werken  der  nachahmenden    Darstellung;   wonach   denn 
die    Realität  der  Teilnehmung   wieder  verschwindet.    Wird    aber 
die    Sache,   dieses    alles    abgesondert,    aus    dem    Standpunkt    der 
praktischen  Sittenlehre  betrachtet,  so  erscheint  fast  noch  größere 
Ungewißheit  und  Verwirrung.    Denn  was  zuerst  den  stoischen 
Satz  betrifft,  daß  das  Mitgefühl  müsse  vermieden  werden,  damit 
nicht  zweie  leiden  mögen  statt  eines,  dieser  ist  schlecht  begründet, 
weil    eben,    wenn   der   Schmerz   kein    Übel    ist,    auch    seine   Ver- 
breitung   nicht   dafür  kann   gehalten   werden.     Wiewohl   auf   der 
andern  Seite  aus  dieser  Voraussetzung  auch  keine  Ursach  entsteht, 
Schmerz  zu  haben  über  den  Schmerz,  vielmehr,  wenn  ja  dieses 
Mitgefühl  seinen  Grund  haben  sollte  in  der  geselligen  Natur  des 
Menschen,  es  doch  ein  sittlich  Unbestimmtes  wäre,  und  nicht  aus 
allgemeinen  Gründen,  sondern  aus  der  Sache  Fremden  in  jedem 
Fall  zu  suchen  wäre  oder  zu  vermeiden.   Wird  ferner  auf  das  oben 
Ausgeführte   Bezug  genommen,  daß  doch  alles  Leiden  im  allge- 
meinen betrachtet  ein  Übel  ist:  so  wird  zwar  ein  Gefühl  desselben 
entstehen,  dieses  aber  wird  keine  Teilnehmung  sein,  weil  in  dieser 
Beziehung  das  fremde  Leiden  und  das   eigene  auf  ganz  gleiche 
Weise   müßte  betrachtet  und  behandelt  werden.    Wollte   endlich 
jemand  dies  alles  beiseite  setzen  und  für  die  praktische  Ethik  bloß 
die  Frage  übrig  lassen,  ob  nicht  Schmerz  müsse  empfunden  werden 
über  die  Unsittlichkeit  anderer  als  über  ihr  wahrstes  und  eigenstes 


[111,1,  221]  II.  Kritik  der  ethischen  Begrifife.  223 

Übel:  so  scheint  es  zwar  unsittlich,  das  Unsitthche  nicht  zu  emp- 
finden, bedenklich  doch  aber  auch  das  Gefühl,  als  ob  es  vvill- 
kürhch  könne  hervorgebracht  werden,  als  eine  Pflicht  zu  fordern. 
Den  Spinoza  aber,  nach  dessen  Ansicht  aus  dem  reinsittlichen 
Zustande  mit  jeder  andern  auch  die  teilnehmende  Traurigkeit 
verbannt  wird,  weil  die  sittliche  Betrachtung  auf  einer  solchen 
Höhe  steht,  wo  der  Begriff  des  Unvollkommenen  und  Bösen  über- 
haupt verschwindet,  diesen  möchte  man  fragen,  wie  denn  bei 
seiner  Identität  des  Gedankens  und  Gefühls  von  dem  nachbilden- 
den Gedanken  an  fremde  Verschlimmerung  sich  trennen  lasse  ein 
nachbildendes  Gefühl,  und  ob  nicht  die  Aufgabe  entstände,  ein 
solches  anzunehmen  nicht  nur,  sondern  auch  mit  der  dem  System 
unentbehrlichen  durchgängigen  Freude  des  Frommen  zu  vereini- 
gen. Aristoteles  endlich,  wie  er  nichts  weiß  von  der  Wohltätig- 
keit insbesondere  (denn  seine  Freigebigkeit  bezieht  sich  nicht  auf 
eine  bestimmte  Beschaffenheit  der  Zwecke,  sondern  nur  auf  eine 
Art,  sie  auszuführen) :  ebensowenig  auch  weiß  er  von  Teilnehmung, 
sondern  dem  Neide  und  der  Schadenfreude  setzt  er  entgegen  die 
Nemesis,  welche  nur  auf  die  Einstimmung  des  Ergehens  mit  der 
SittHchkeit  sich  bezieht,  und  sonst  führt  er  kein  Gefühl  an,  weder 
für  jene  noch  für  diese  allein.  Wie  unrichtig  aber  diese  Nemesis 
gezeichnet  ist,  indem  ja  Neid  und  Schadenfreude  einander  nicht 
entgegengesetzt  sind,  sondern  eins  und  dasselbe,  leuchtet  ein. 

Dieses  1  von  der  Wohltätigkeit  und  Teilnehmung,  Nun  auch  Andere 
von  der  Übeltätigkeit,  wiefern  sie  sittlich  sein  kann,  und  von  dem 
nicht  schmerzhaften,  sondern  unwilligen  Gefühl  über  andere,  beides 
nämlich  in  Beziehung  auf  unsittliche  Taten  und  Beleidigungen, 
ob  vielleicht  hierüber  etwas  Gewisseres  irgendwo  zu  finden  ist. 
In  der  Sittenlehre  der  Lust  nun  ist  offenbar  weder  die  Rache 
an  sich  sittlich  oder  unsittlich,  noch  auch  die  Nachsicht;  und 
ebenso  beides  weder  der  Zorn  noch  auch  die  Sanftmut;  sondern 
wie  jeder  glaubt  in  jedem  Falle  am  besten  den  Gegner  unschäd- 
lich zu  machen,  sich  selbst  aber  den  Stachel  aus  der  Wunde  zu 

^  Absatz  fehlt  im  Original. 


Gefühle. 


224  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  222] 

ziehen, so  ist  es  ihm  sittHch  und  recht.  In  der  sympathetischen 
Ethik  aber  müßte  die  Sanftmut  eine  Vermischung  sein  aus  dem 
eigenen  Unwillen  und  aus  der  Sympathie  mit  dem  Beleidiger. 
Dieser  nun  hat  in  dem  Augenblick  der  Beleidigung  kein  anderes 
Gefühl  als  ein  selbstisches,  also  einen  Mangel  an  Sympathie; 
mit  welchem  sonach  zu  sympathisieren  eine  Aufgabe  wäre,  welche 
das  Prinzip  mit  sich  selbst  in  Streit  bringt.  Soll  aber  nur  sym- 
pathisiert werden  mit  dem  vorausgesehenen  Zustande  der  Reue: 
so  wäre  diese  Regel  teils  ohne  Grund,  teils  würde  sie  in  ihrer 
weiteren  Anwendung  unausbleiblich  die  Teilnehmung  aufheben. 
Die  praktische  Ethik  endlich  hat  hierin  dieselben  Schwierig- 
keiten zu  überwinden,  wie  oben  bei  der  Teilnehmung.  Und  wie  auch 
die  Frage  dem  Inhalt  nach  möchte  entschieden  werden,  so  müßte 
hernach  noch  die  besondere  Prüfung  angestellt  werden,  da  die 
Gemütsbewegnugen  an  sich  und  ohne  Beziehung  auf  ihre  Ur- 
sachen oder  Folgen  einer  Regel  unterworfen  sind,  ob  auch  das 
auf  jene  Art  Gefundene  übereinstimmte  mit  dem  allgemeinen 
Gesetz  der  Schicklichkeit  in  den  Bewegungen,  welches  auch  mit 
Recht  der  einzige  Ort  ist,  unter  welchem  dieses  alles  bei  den 
Stoikern  angetroffen  wird.  Wie  denn  überhaupt  die  Vorschrift 
über  das  Gefühl  für  das  Unsittliche  nicht  nur  ohne  Unterschied 
das  eigene  und  fremde  betreffen  muß,  sondern  auch  dem  Ver- 
pflichtungsgrunde nach  eine  und  dieselbe  sein  muß,  welche  auch 
das  Gefühl  für  das  positiv  Sittliche  bestimmt;  worauf  aber  keiner 
gesehen  hat. 
Abwehr  Was^    aber  das  Verfahren   betrifft  gegen    Beleidigungen,   so 

von  Beleidi-  y^i^d  von  einigen  Sittenlehrern  dieser  Art  die  Nachsicht  und  die 
gungen. 

Versöhnlichkeit  gelobt,  von  andern  aber  verworfen,  und  die  Be- 
wandtnis wird  ganz  dieselbe  sein,  wie  oben  bei  der  Dankbarkeit 
in  Beziehung  auf  die  Wohltaten.  Denn  auch  hier  müßte  unter- 
schieden werden  die  Gesinnung  gegen  den  Täter,  und  dann 
dessen  Behandlung,  und  in  der  letzten  wiederum,  was  unmittelbar 
^  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,  223]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  225 

in  Beziehung  auf  ihn  geschieht,  von  dem,  was  die  Tat  demjenigen, 
gegen  welchen  sie  ausgeübt  worden,  in  Beziehung  auf  sich  selbst 
zur  PfUcht  machte;  wovon  letzteres  auf  Verteidigung  und  Ersatz 
abzweckt,  ersteres  aber  auf  Strafe  und  Belehrung.  Die  Verteidi-  Verteidigung, 
gung  nun  kann  sich  nur  beziehen  auf  die  sittliche  Wirksamkeit; 
und  der  Begriff  ist  unbestimmt,  wenn  nicht  erklärt  ist,  welches 
denn  eine  wirkhche  Behinderung  derselben  ist  oder  nur  eine 
scheinbare.  Eben  dieses  aber  wird  von  den  meisten  ganz  vernach- 
lässigt, von  andern  aber,  wie  von  Fichte,  verfehlt.  Denn  daß  die 
Gefahr  des  Lebens,  die  Verletzung  des  Eigentums  und  die  Krän- 
kung des  guten  Rufes,  wie  er  ihn  erklärt,  den  ganzen  Umfang 
des  zu  Verteidigenden  erschöpften,  möchte  keiner  glauben,  der  das 
Sittliche  von  dem  Rechtlichen  unterscheidet,  und  auf  der  andern 
Seite  möchte  eine  Verpflichtung,  den  guten  Ruf  gegen  falsche 
Gerüchte  zu  verteidigen,  zu  groß  sein,  welches  schon  daraus 
erhellt,  weil  sonst  die  Unsittlichen  es  in  ihrer  Gewalt  haben 
würden,  den  Sitthchen  immer  auf  dem  Wege  seines  eigentlichen 
Berufes  aufzuhalten  und  zu  einem  Handeln  auf  sie  zu  zwingen. 
Was  aber  die  Strafe  betrifft,  so  ist  nicht  nötig,  die  verworrenen  Strafe. 
Vorstellungen  zu  widerlegen,  welche  sich  darüber  zum  Beispiel 
bei  Kant  vorfinden,  welcher  auf  die  Strafwürdigkeit  des  Men- 
schen vor  Gott  das  Verbot  gründet,  daß  keiner  dürfe  Strafe  ver- 
hängen über  den  andern.  Sondern  als  zugestanden  wird  voraus- 
gesetzt, daß,  ethisch  betrachtet,  Strafe  und  Belehrung  eins  und 
dasselbige  sind  und  nur  der  Methode  nach  unterschieden,  und  die 
Aufgabe  wäre  nur  zu  bestimmen  die  Anwendbarkeit  einer  jeden. 
Denn  die  Strafe  überall  auszuschließen,  die  Belehrung  aber  ins 
Unendliche  zu  fordern,  würde  den  Unsittlichen  eben  wie  das 
Gerügte  eine  unbedingte  Übermacht  geben;  welches  also  mit  der 
Verteidigung  der  eigenen  nicht  nur,  sondern  auch  der  gemein- 
schaftlichen Wirksamkeit  stritte.  Auf  der  andern  Seite  aber  die 
Strafe  überall  zu  handhaben  wie  die  Stoiker,  welche  dem  Weisen 
die   Nachsicht  verbieten,  dieses  wird  entweder  die  Sache  in   den 

Schleiermacher,  Werke.    I.  15 


226  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,224] 

engeren  Umkreis  des  bloß  Rechtlichen  zurückweisen,  oder  un- 
bedingt dem,  welcher  Unrechtes  getan  hat,  die  Empfänglichkeit  für 
die  Belehrung  absprechen.  Daß  also  beides  muß  vereiniget  wer- 
den, ist  ebenso  offenbar,  als  daß  noch  nirgends  dieser  Punkt  auf- 
gezeigt ist,  sondern  die  VersöhnHchkeit  und  Gelindigkeit  sowohl, 
als  die  Strenge  und  Härte  sämtlich  ethisch  betrachtet  ganz  un- 
bestimmte Begriffe  sind,  die  zu  der  genaueren  Bestimmung,  welche 
gefordert  wird,  auch  nicht  die  Elemente  enthalten.  An  die  Pflicht 
Andere  aber,  die  gemeinschaftliche  Wirksamkeit  der  guten  zu  verteidigen, 
Pflichten,  schließt  sich  an  die  Frage  von  der  PfHchtmäßigkeit  oder  Pflicht- 
widrigkeit der  Bekanntmachung  des  Unsittlichen,  deren  Entschei- 
dung, wo  nicht  abgeleitet,  doch  in  wesentliche  Übereinstimmung 
gebracht  sein  muß  mit  der  Pflicht  der  Vermehrung  fremder  Er- 
kenntnis, welches  jedoch  mit  der  von  Fichte  angegebenen  Grenz- 
bestimmung nach  dem  unmittelbar  Praktischen  sehr  zweifelhaft  sein 
möchte.  Bei  Kant  aber  findet  sich  gar  anstatt  der  Übereinstim- 
mung ein  Widerspruch,  indem  es  nicht  schwer  sein  möchte,  von 
seiner  Antwort  zu  zeigen,  daß  sie  auf  eine  Lüge  hinauslaufe. 
Eben  derselbige  deutet  außer  den  sich  auf  Liebe  und  auf  Achtung 
gründenden  Pflichten  noch  auf  besondere  Pflichten  oder  Tugen- 
den des  Umgangs,  jedoch  nur  unter  dem  verdächtigen  Namen  von 
Außenwerken,  welche  unmittelbar  nur  einen  tugendhaften  Schein 
hervorbringen.  Wie  nun  dieses  der  ganzen  Form  der  Ethik  zu- 
widerlaufe, muß  jedem  einleuchten.  Denn  welches  Verhältnis  einen 
tugendhaften  Schein  anzunehmen  vermag,  das  ist  notwendig  auch 
der  Tugend  selbst  fähig.  Daher  auch  die  Stoiker  diese  Voll- 
kommenheiten als  Tugenden  betrachtet  dem  Weisen  allein  zu- 
schreiben, und  sie  als  einen  Teil  derjenigen  ansehen,  welche  über- 
haupt die  sittliche  Richtung  des  Gefühls  bezeichnet.  Wie  aber, 
was  hieher  gehört,  als  Pflicht  von  den  andern  ganz  könne  ab- 
gesondert werden,  ist  schwer  zu  begreifen.  Denn  einesteils  ist 
klar,  daß  die  Behandlung  aller  freien  geselligen  Verhältnisse  sich 
ebenfalls   auf  Liebe  gründen   müsse  und   auf  Achtung;  wo  also, 


[111,1,225]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  227 

was  aus  diesen  Gesinnungen  folgt,  vollständig  aufgezeichnet  ist, 
da  müssen  die  Vorschriften  für  jene  mit  darin  enthalten  sein ; 
teils  auch  ist  jedes  Geschäft  zugleich  Umgang  und  Gespräch,  und 
jedes  auch  ernste  und  bestimmte  Verhältnis  zugleich  ein  freies 
geselliges  und  steht  unter  den  Gesetzen  von  diesen,  wenn  nicht 
der  vollständigen  Sittlichkeit  etwas  in  der  Ausführung  soll  ver- 
geben werden. 

Wie  nun  überall  die  einzelnen  Pflichtbegriffe  entweder  un- 
bestimmt sind  und  das  Betragen  nicht  gehörig  ordnen  können, 
oder  mit  andern,  mit  denen  sie  zusammentreffen  sollten,  im  Wider- 
spruch, ferner  von  den  bloß  formalen  Abteilungsbegriffen  nicht 
gehörig  geschieden,  daß  oft  zweifelhaft  bleibt,  wo  verschiedene 
Pflichten  oder  nur  einzelne  Anwendungen  derselben  Pflicht  auf- 
geführt werden;  endhch  auch,  weil  sie  bald  als  Pflichten  auf  die 
Zwecke  und  hervorzubringenden  Güter  bezogen  werden,  bald 
wieder  als  Tugenden  einer  andern  Einheit  unterworfen,  zerstückt, 
und  dann  übel  zusammenfügbar  an  verschiedenen  Stellen  des 
Systems  angetroffen  werden,  dieses  mag  aus  den  durchgeführten 
Beispielen  zur  Genüge  erhellen.  Jetzt  aber  wäre  noch  zu  sehen, 
ob  ein  besseres  Schicksal  die  Tugendbegriffe,  sofern  sie  der  Ver-  Tugenden, 
wechselung  mit  den  Pflichten  weniger  unterworfen  sind,  getroffen 
habe;  welches  vornehmlich  an  den  Darstellungen  der  Alten  zu 
untersuchen  ist,  wo  sie  am  meisten  in  ihrer  formellen  Reinheit 
sich  erhalten  haben.  Unter  ihnen  nun  sei  der  erste  Aristoteles  mit 
seinen  Haufen,  denn  anders  verdienen  sie  nicht  genannt  zu  werden, 
von  Tugenden,  weder  nach  irgendeiner  Regel  geordnet,  noch 
sonst  eine  Vermutung  für  sich  habend,  als  ob  sie  das  Ganze  der 
sitthchen  Gesinnung  umfaßten,  eben  deshalb  aber  jedem,  der  die 
wissenschaftliche  Genauigkeit  sucht,  auch  im  einzelnen  schon  ver- 
dächtig. Daher  auch,  was  eben  zur  Verteidigung  seiner  Art,  die 
Tugenden  zu  beschreiben,  ist  gesagt  worden,  hier  zwar  wieder 
anerkannt  wird,  daß  er  nicht  etwa  die  Tugenden  in  einem  mittleren 
Grade   sinnlicher,   also   in   jedem    andern    unsittlicher   Neigungen 

15* 


228  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  22^)] 

gesetzt  habe,  sondern  hiedurch  nur  die  Erscheinung  habe  be- 
zeichnen wollen,  wie  es  seiner  Weise,  die  natürlichen  Dinge  zu 
betrachten,  gemäß  ist:  dennoch  aber  nicht  soll  geleugnet  werden, 
daß  er  hiebei  seines  Endzweckes,  wenn  dieser  auf  etwas  besseres 
gestellt  war,  als  auf  eine  dunkle  Vorstellung,  notwendig  verfehlen 
mußte.  Denn  einesteils,  wie  bereits  gelegentlich  angeführt  wor- 
den, ist  die  Bezeichnungsart  nicht  immer  dieselbe,  sondern  die 
Tugend  bald  in  die  Mitte  gesetzt  zwischen  dem  Übermaß  und 
der  Abwesenheit  einer  Neigung,  bald  ebenso  in  Beziehung  auf 
zwei  verschiedene  Neigungen,  bald  wiederum  in  die  Mitte  zwi- 
schen zwei  Erfolgen  ohne  allen  Bezug  auf  Neigung.  Wie  zum 
Beispiel  das  Gerechte  die  Mitte  zwischen  Schaden  und  Gewinn, 
welches  auch  nicht  zutreffen  wird,  wenn  nicht  wieder  im  Kreise 
Schaden  und  Gewinn  nach  dem  Begriff  des  Gerechten  bestimmt 
werden.  Oder  die  Freigebigkeit  das  Mittel  zwischen  zu  viel  und 
zu  wenig  Geben  und  Nehmen;  wonach  sich  nicht  einsehen  läßt, 
warum  sie  nicht  das  nämliche  sein  sollte  mit  der  Gerechtigkeit. 
So  daß  es  an  einem  Prinzip  für  die  Anwendung  der  allgemeinen 
Formel  gänzlich  fehlt,  und  somit  auch  an  jeder  gegründeten 
Zuversicht,  daß  irgendwo  das  Rechte  getroffen  sei.  Ferner  gesteht 
er  selbst,  daß  nicht  jede  Mitte  einer  Neigung  die  Erscheinung 
einer  Tugend  gebe,  wenn  nämlich  die  Neigung  schon  an  sich  selbst 
das  Unsittliche  enthalte,  welches  also,  um  es  zu  bestimmen,  eine 
andere  und  tiefer  gehende  Erklärung  voraussetzt.  Auch  hat  nicht 
mit  Unrecht  Garve  ihm  vorgeworfen,  er  selbst  habe  hier  nicht 
Vorsicht  genug  gebraucht,  und  die  Furcht  zum  Beispiel,  in  deren 
Mittelmaß  die  Tapferkeit  sich  zeigen  solle,  könne  an  sich  schon 
als  etwas  Unsittliches  betrachtet  werden ;  welches  sich  gewiß  von 
mehreren  Fällen  behaupten  ließe,  wenn  dies  nicht  besser  jedem 
selbst  überlassen  würde,  indem  die  anerkannte  Untauglichkeit  für 
die  Wissenschaft  und  der  beschränkte  Zweck  der  Formel  hier  keine 
genauere  Betrachtung  verdient.  Ferner  sind  auch  zu  diesem  be- 
schränkten Zweck  die  gegebenen  Erklärungen  nicht  selten  un- 
brauchbar,   wie    zum    Beispiel   bei   der   Tapferkeit   selbst   erhellt. 


[111,1,  227]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  229 

Denn  wird  eine  solche  Äußerung  derselben  gesetzt,  wo  sie  als 
Furcht  erscheint,  so  ist  nicht  zu  erkennen,  ob  dies  in  dem,  wie  es 
sich  gebührt  und  wovon  es  sich  gebührt,  seinen  Grund  habe,  oder 
in  der  Neigung,  welcher  dieses  Maß  fremd  ist,  und  ebenso,  wenn 
sie  als  Zuversicht  erscheint.  Auch  laufen  vielfältig  die  Tugenden 
ineinander,  wenn  man  jener  rechtfertigenden  Voraussetzung  zu- 
folge nicht  annimmt,  daß  die  Neigungen  oder  die  Gegenstände 
den  wesentlichen  Unterschied  bilden  sollen.  Denn  wie  sollte  die 
Nemesis  oder  die  Freude  an  der  Gerechtigkeit  des  Glücks,  und 
die  Seelengröße,  welche  nach  allem  strebt,  was  sie  wert  ist,  etwas 
anderes  sein  als  Gerechtigkeit;  ja  selbst  die  Freundschaft,  wenn 
anders  das  Wohlwollen  als  ein  Gut  angesehen  wird,  bei  wel- 
chem Gewinn  und  Verlust  stattfindet,  fiele  zusammen  mit  der 
Gerechtigkeit,  und  was  für  andere  Beispiele  noch  könnten  an- 
geführt werden.  So  daß  hier  auf  bestimmte  und  richtige  Begriffe 
gar  nicht  zu  hoffen  ist. 

Nächstdemi  aber  ist  zu  sehen  auf  die  von  den  meisten 
alten  Sittenlehrern  angenommene  Darstellung  aller  sittlichen 
Gesinnungen  unter  den  vier  Tugenden  der  Klugheit,  der 
Mäßigung,  der  Tapferkeit  und  der  Gerechtigkeit. 
Wenn  nur,  was  der  Inhalt  und  das  Wesen  einer  jeden  unter 
ihnen  eigentlich  sein  soll,  bestimmt  zu  ersehen  wäre;  welches 
leider  die  allgemeinen  Erklärungen  der  Stoiker  nicht  leisten,  von 
welcher  Schule  unter  allen,  die  nach  dieser  Anlage  die  Sittenlehre 
behandelt  haben,  nicht  nur  uns  das  meiste  und  am  meisten  Zu- 
sammenhängende übriggeblieben  ist,  sondern  auch  überhaupt  die 
größte  dialektische  Genauigkeit  zu  erwarten  wäre.  Ihnen  zufolge 
nun  ist  zuerst  weder  die  Mäßigung,  welche  sich  auf  das  Wählen, 
noch  die  Gerechtigkeit,  welche  sich  auf  das  Austeilen  bezieht, 
vorausgesetzt  nämlich,  daß  der  Ausdruck  Erkenntnis  bei  allen  die 
gleiche  Bedeutung  habe,  zu  unterscheiden  von  der  Klugheit  als 
der  Erkenntnis  dessen,  was  zu  tun  ist.  Denn  das  Wählen  ist 
ja   das   eigentliche    Handeln,   und   jedes    Austeilen    wiederum    ist 

1  Absatz  nicht  im  Original. 


230  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,228] 

ein  Wählen.  Wollte  man  aber  die  Klugheit  nur  auf  das  mittel- 
bare Handeln  beziehen,  wodurch  das  Gewählte  zustande  kommt 
und  das  im  Entschluß  Ausgeteilte  wirklich  eingehändigt  wird:  so 
widerstreitet  dem  nicht  nur  im  allgemeinen  der  gleiche,  ja  höhere 
Rang  dieser  Tugend,  sondern  auch  die  Beschreibung  einzelner 
Teile  derselben,  wo  sie  offenbar  auf  die  Pflicht  bezogen  wird. 
Ebenso  ist  die  Tapferkeit,  als  Erkenntnis  dessen,  was  zu  erdulden 
ist,  teils  nur  halb  und  einseitig  beschrieben,  teils  aber  auch  nicht 
als  eigene  Tugend  dargestellt,  sondern  nur  als  die  hinreichende 
Stärke  einer  jeden  andern.  Denn  zu  erdulden  gibt  es  im  V/ählen 
sowohl  als  im  Handeln  und  Vierteilen;  und  es  würde  gleichgültig 
sein,  wenn  nicht  zur  Wirklichkeit  gelangt,  was  eine  jede  be- 
schlossen hat,  dieses  dem  Mangel  der  Tapferkeit  zuzuschreiben, 
oder  auch  dem  Mangel  an  Stärke  der  jedesmal  aufgeforderten 
Tugend.  Welches  also  ein  gänzliches  Zusammenschmelzen  in  eine 
Tugend  ankündigt,  so  daß  die  verschieden  benannten  nicht  nur 
in  der  Wirklichkeit  nicht  gänzlich  getrennt  sein  können,  weiches 
allerdings  nicht  die  richtige  Forderung  wäre,  sondern  daß  sie 
auch  nicht  einmal  in  Gedanken  abzusondern  sind. 

Dasselbe  1  ergibt  sich  auch,  wenn  man  die  bei  den  Stoikern 
ihnen  untergeordneten  Tugenden  betrachtet.  Denn  die  Getrostheit, 
welche  zur  Tapferkeit  gehört,  als  die  Erkenntnis,  daß  wir  in  kein  Übel 
geraten  werden,  was  ist  sie  anders  als  das  Bewußtsein  der  zur  Klug- 
heit gehörigen  Gewandtheit,  der  Erkenntnis  nämlich,  welche  in  allen 
Handlungen  einen  Ausgang  findet.  Ebenso  die  Wohlgemutheit, 
das  Bewußtsein  von  der  Unüberwindlichkeit  der  Seele,  und  die 
Mühsamkeit,  welche  das  Vorliegende  verrichtet,  ohne  sich  von 
den  Beschwerden  hindern  zu  lassen,  sind  nichts  anderes  als  die 
zur  sogenannten  Mäßigung  gehörige  Beharrlichkeit  oder  Wissen- 
schaft, bei  dem  zu  bleiben,  was  einmal  richtig  geurteilt  ist,  und 
Mäßigkeit,  welche  das,  was  der  Vernunft  gemäß  "ist,  nicht  über- 
schreitet. Ferner  die  rechte  Anordnung  des  Handelns,  wann  ein 
jedes   zu  verrichten  ist,   welche   zu   eben   der  Mäßigung  gehört, 

*  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,229]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  231 

wie  sollte  sie  zu  unterscheiden  sein  von  der  zur  Klugheit  ge- 
rechneten Wohlberatenheit,  welche  einsieht,  wie  jedes  muß  getan 
werden,  um  nützlich  zu  sein.  Aber  diese  untergeordneten  Tugen- 
den erregen  überdies  den  Zweifel,  ob  jene  vier  Haupttugenden 
reale  Begriffe  sind,  oder  nur  formale,  und  demgemäß,  ob  die  unter- 
geordneten real  verschieden  sind,  oder  nur  als  Anwendungen  der- 
selben Gesinnung  und  Fertigkeit  auf  verschiedene  Fälle.  Denn 
einiges  begünstigt  die  eine  Meinung,  anderes  die  andere.  So 
kann  die  Getrostheit  von  der  Großherzigkeit,  welche  über  das 
erhebt,  was  dem  Guten  sowohl  als  dem  Bösen  begegnet,  gar  wohl 
getrennt  gedacht  werden  als  Fertigkeit,  keineswegs  aber  die  Müh- 
samkeit von  der  Geschicklichkeit,  welche  den  jedesmal  vorgesetzten 
Endzweck  wirklich  zu  erreichen  weiß.  Und  dergleichen  wider- 
sprechende Anzeigen  wird  jeder  noch  mehrere  finden,  der  das 
Verzeichnis  der  stoischen  Tugenden  zur  Hand  nimmt,  besonders 
wenn  noch  damit  verglichen  werden  diejenigen  Gesinnungen  und 
Vollkommenheiten,  welche  sie,  weil  sie  in  das  Verzeichnis  der 
Tugenden  sich  nicht  fügen  wollten,  noch  als  einzelne  Eigenschaften 
des  Weisen  aufführen.  Diese  Ungewißheit  aber,  ob  dies  und  jenes 
eine  einzelne  Tugend  sei,  das  heißt,  demselben  Menschen  auch 
unzertrennt  ihrem  ganzen  Umfange  nach  als  Fertigkeit  in  gleichem 
Grade  und  als  wirklich  eine  beiwohnen  muß,  oder  umgekehrt, 
muß  auf  die  Anwendung  der  Sittenlehre  von  entschiedenem  Einfluß 
sein.  Wenn  nun  dieselben  Tugenden  auch  in  der  eudämonisti- 
schen  Sittenlehre  aufgeführt  werden,  so  ist  wohl  zu  unterschei- 
den, ob  sie  dem  Inhalt  nach  dieselben  sind,  oder  nur  dem  Namen 
nach.  Denn  die  Namen  sind  ihrer  Natur  nach  nur  formal,  welches 
die  Stoiker  selbst  anerkennen,  und  überall  den  Beisatz  „gemäß 
der  Natur  eines  vernünftigen  und  geselligen  Wesens"  wollen  ver- 
standen haben,  als  welcher  erst  den  ihrem  System  eigentümlichen 
Inhalt  hervorbringt.  Nun  sollte  freilich  auch  schon  die  Einteilung 
des  gesamten  Begriffs  der  Gesinnung  für  jede  andere  oberste 
ethische  Idee  anders  ausfallen,  und  auch  die  niederen  und  ab- 
geleiteten formalen  Begriffe  nicht  zweien  Systemen  gemein  sein; 


232  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,230] 

welcher  Vorwurf  aber  hier  zwischen  beiden  schwanivt,  da  auch  jene 
sich  die  Einteilung  nicht  durch  Verbindung  mit  ihrer  höchsten 
Idee  ausschließend  angeeignet  haben.  Wenn  aber  nicht  nur  dem 
Namen,  sondern  auch  dem  Inhalt  nach  praktische  Tugenden  sich 
einschleichen  in  eine  Lehre  der  Glückseligkeit,  so  ist  die  innere 
ünhaltbarkeit  sogleich  einleuchtend  und  entschieden.  Daher  eben 
der  besondere  Widerwille  dieser  Sittenlehrer  gegen  die  Gerechtig- 
keit, welche  ihnen  überall  zu  viel  sein  muß  und  zu  wenig,  weil  sie 
am  wenigsten  als  echte  Tugend  mit  einem  eudämonistischen  Ge- 
halt kann  dargestellt  werden.  Denn  die  Ordnung,  in  welcher  ein 
jeder  wegen  des  Nebeneinanderstehens  der  Menschen  seine  Glück- 
seUgkeit  suchen  darf,  ist  immer  nur  ein  notwendiges  Übel,  auch 
die  hervorbringende  Eigenschaft  derselben  nicht  eine  eigene 
Tugend,  sondern  nur  eine  Anwendung  der  Klugheit.  Worin,  ob 
der  Eudämonismus  folgerecht  sei,  sich  am  besten  zeigen  muß  in 
der  Bestimmung  der  Billigkeit  als  des  einem  jeden  innerhalb  seines 
Gebietes  überlassenen  Teils  dieser  Hervorbringung,  Denn  diese 
kann,  ganz  dem  Praktischen  entgegengesetzt,  nichts  anderes  sein 
als  die  geschickte  Übertretung  des  gemeinschaftlich  Festgestellten. 
Ebenso  darf  zur  Tapferkeit  nur  gehören  der  Widerstand  gegen 
die  Hindernisse  der  Lust,  nicht  aber  unmittelbar  gegen  die  des 
Handelns.  Wo  es  aber  anders  ist,  und  es  findet  sich  gewöhnlich 
anders,  wie  denn  leicht  Aristippos  fast  der  einzige  in  dieser  Hin- 
sicht Folgerechte  unter  denen  seiner  Art  bleiben  möchte,  da  sind 
die  Eudämonisten  in  Absicht  der  Tugenden  in  denselben  Fehler 
geraten,  wie  die  Stoiker  gegen  sie  in  Absicht  der  Güter,  und  zwar 
eben   auch  im  Verwerfen  sowohl  als   im   Übertragen. 

GänzHch  aber  haben  sich  von  diesen  vier  Formen  unter  allen, 
welche  die  Sittenlehre  nach  dem  Begriff  der  Tugend  behandelt 
haben,  nur  zweie  losgemacht,  P 1  a  t  o  n  nämlich  und  Spinoza,  jeder 
auf  seine  eigene  Art.  Und  zwar  der  erste,  indem  er  wiederholt 
den  Versuch  macht  zu  zeigen,  daß  sich  die  ganze  Tugend  unter 
jeder  dieser  Formen  darstellen  lasse;  welches  ihm  auch  ohne 
andere   Hilfsmittel  als  die  dialektische  Kunstfertigkeit    und  ganz 


[111,1,  231]  II.  Kritik  der  ethischen  Begriffe.  233 

abgesondert   von   der   kosmischen    und    mystischen    Abzvveckung 
seiner  Sittenlehre  so  vollkommen  gelingt,  daß  diejenige  Tugend, 
welche  sich  am  meisten  auf  die  Verhältnisse  gegen  andere  zu  be- 
ziehen scheint,  sich  als  diejenige  zeigt,   welche  der  Mensch   am 
meisten  in  und  gegen  sich  selbst  zu  üben  hat,  und  welche  allein  ihn 
in  sich  selbst  zu  erhalten  vermag.    Ebenso  die  Mäßigung,  welche 
für  die  innerlichste  gehalten  wird,  als  die,  welche  das  ganze  äußere 
Leben  durchdringt  nicht  nur,  sondern  auch  hervorbringt.    Endlich 
auch   die  Tapferkeit,  welche  sich   auf  den   ersten   Blick   am   ent- 
schiedensten von  den  andern  absondert  und  in  ein  einzelnes  be- 
schränktes Gebiet  zurückzieht,  als  eine  allgemeine  jedem  Verhält- 
nis und  jeder  Tat  unentbehrhche.    Daher  das  Berufen  auf  diese 
Darstellungen  aller  weitern  Prüfung  über  den  wissenschaftlichen 
Wert  der  vier  Begriffe  überhebt.   Denn  was  bisher  zu  ihrer  näheren 
Bestimmung  getan  worden,  widersteht  dieser  so  lange  schon  vor- 
handenen Polemik  nicht;  andere  Unterschiede  aber  aufsuchen,  oder 
die  innere  Veranlassung  dieser  Absonderung  und  das  Wahre,  was 
derselben  bewußt ^  zum  Grunde  liegt,  darlegen,  hieße  die  Grenzen 
einer  Prüfung  des  Vorhandenen  überschreiten.  Spinoza  hingegen 
bewirkt  das  nämliche  dadurch,  daß  er  mit  dem  Namen  einer  ein- 
zigen von  diesen,  nämlich  der  Tapferkeit,  die  ganze  Tugend  be- 
zeichnet; welches  auch  mit  seinen  Grundideen  aufs  genaueste  zu- 
sammenhängt.   Denn  da  die  Tugend  das  mögHchst  reine  Handeln 
ist,  so  läßt  sich  ihr  unterscheidendes  Wesen  nicht  besser  bezeichnen 
als  durch  die  Kraft  des  Widerstandes,  welche  den  äußeren   Ein- 
fluß   zurücktreibend  beherrscht  und   so   das    Leiden   abhält.    Die 
einzige  Einteilung  aber,  welche  er  zuläßt,  ist  mit  jener  vierfachen 
nicht  zu  vergleichen;  denn  jede  von  diesen  würde  bald  so,  bald 
anders   unter  jede  von   den   seinigen   fallen.    Auch   ist  sie   über- 
haupt nicht  als  eine  solche  zu  betrachten,  welche  zwei  verschiedene 
Tugenden  festsetzen  sollte,  welche  auch  nur  dem  Grade  nach  in 
der  Wirklichkeit  voneinander  könnten  verschieden  sein.    Vielmehr 


Ausgabe  I803  schreibt  hier  richtig:  „unbewußt". 


234  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  232] 

gibt  es  bei  ihm  keine  andere  Trennung,  als  weiche  auf  der 
Macht  undeutlicher  Vorstellungen  beruht,  deren  keine  aus- 
schließend an  eine  von  diesen  Äußerungen  der  Tugend  gebunden 
ist;  sondern  dieselbe  Ursach,  welche  jetzt  den  Edelsinn  in  seiner 
Wirksamkeit  schwächt,  wird  in  einem  andern  auch  der  Beherztheit 
im  Wege  stehen.  Vielmehr  ist  es  nur  eine  verdeutlichende  und 
verteidigende  Maßregel,  um  desto  auffallender  zu  zeigen,  wie  auch 
nach  seinem  System  der  Geist  aus  der  Sphäre  der  Beschauung, 
welche  ihn  allein  festzuhalten  scheinen  könnte,  in  die  einer  ge- 
meinsamen bestimmten  Tätigkeit  heraustritt.  Die  Tugend  selbst 
aber  ist  bei  ihm  nur  eine  und  unteilbar  nicht  nur  der  Wirklichkeit 
nach,  sondern  auch  für  den  Gedanken  und  die  Untersuchung,  und 
kann  als  ein  Mannigfaltiges  nicht  anders  beschrieben  werden  als 
im  Gegensatz  gegen  die  Mißverständnisse  und  Torheiten,  aus 
denen  das  seiner  Natur  nach  unbestimmte  und  mannigfaltige 
Leiden  der  Menschen  besteht,  auf  deren  Verzeichnis  daher  auch  mit 
Recht  ein  seltener  Fleiß  von  ihm  ist  verwendet  worden.  Von 
einer  Mehrheit  einzelner  Tugenden  also  ist  in  Beziehung  auf  ihn 
nichts  weiter  zu  sagen. 


Anhang. 

Ursprung  I.     Was   beispielswegen   nur   von    wenigen    in    den   verschie- 

^^R^*^-?^^"  denen  Systemen  der  Ethik  aufgenommenen  Tugenden  ist  gezeigt 
worden,  dasselbe  wäre  leicht  gewesen,  von  allen  zu  erweisen, 
sowohl  welche  überall,  als  welche  nur  irgendwo  gelten,  daß  sie 
nämlich  ethisch  betrachtet  teils  ganz  unbestimmte  Bezeichnungen 
sind,  teils  von  keinem  Grundsatze  aus,  sobald  man  sie  unter- 
einander vergleicht,  eine  mit  der  andern  bestehen  können,  sondern 
vielm.ehr  jede  irgendeiner  andern  ihre  Stelle  als  ergänzender  und 
unentbehrlicher  Teil  des  Systems  bestreitet.    Hieraus   nun  ergibt 


[111,1,233]  Anhang.  235 

sich  als  unvermeidliche  Folgerung,  wenn  nämlich  alle  diese  Fehler 
nicht  überall  bloß  dialektisch  sind,  und  auf  unvollkommenen  Er- 
klärungen beruhen,  an  welche  Übereinstimmung  und  Vollständig- 
keit des  Irrtums  wohl  niemand  glauben  wird,  daß  jene  Begriffe, 
so  wie  sie  nicht  durch  die  Ethik  und  in  ihr  entstanden,  sondern 
nur  aus  dem  Gebrauch  des  gemeinen  Lebens  in  die  Wissen- 
schaft herübergenommen  worden,  so  auch  gewiß  nicht  kraft  einer 
unentwickelten,  nur  dunkel  gedachten  ethischen  Idee  sind  gebildet 
worden,  sondern  in  anderer  Hinsicht  und  in  einem  andern  Geiste. 
Denn  wäre  jenes,  so  müßten  sie  auch  leichter  irgendeiner  deut- 
lich gedachten  ethischen  Idee  unterzuordnen  sein,  und  die  dialek- 
tische Ausbildung,  welche  dieser  zuteil  geworden,  auch  leichter 
auf  die  einzelnen  Begriffe  übergehen.  Liegt  nun  den  im  Geiste 
des  gemeinen  Lebens  gedachten  und  gebildeten  Begriffen  auch 
nicht  unentwickelt  eine  ethische  Idee  zum  Grunde :  so  folgt  weiter, 
daß  auch  der  Geist  des  gemeinen  Lebens  noch  nirgends  ein 
sittlicher  gewesen,  und  zwar  eudämonistisch  so  wenig  als  praktisch, 
weil  sonst  doch  wenigstens  in  jene  Darstellungen  der  Sittenlehre 
die  insgemein  dafür  gehaltenen  Tugenden  sich  fügen  würden. 
Offenbar  aber  war  bei  den  Alten  der  Geist  des  Lebens  zum 
größten  Teile  politisch,  indem  selbst  die  freieren,  auf  den  Genuß 
des  Daseins  unmittelbar  berechneten  gesellschaftlichen  Verhältnisse 
jenem  Größeren  untergeordnet  waren,  welches  daher  auch  als 
hinreichend,  um  das  höchste  Gut  hervorzubringen,  von  den  meisten 
gedacht  wurde.  Ja  selbst  Aristippos,  welcher  mehr  als  irgend- 
einer die  hergebrachten  Vorstellungen  der  Einstimmigkeit  des 
Systems  aufzuopfern  geneigt  war,  konnte,  vom  herrschenden  Geiste 
hingerissen,  behaupten,  daß  auch  nach  dem  Untergang  aller  Ge- 
setze und  Verfassungen  die  Philosophen  doch  immerfort  leben 
würden,  als  wären  sie  noch  vorhanden.  Dasselbe  also  wird  auch 
bei  ihnen  der  ursprünghche  Gehalt  der  für  ethisch  geltenden 
Begriffe  sein  müssen.  Welches  auch  zunächst  aus  den  vom  Aristo- 
teles aufgezählten  Tugenden  erhellt,  in  denen  bis  auf  wenige,  die 


236  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,234] 

sich  auf  die  kleineren  geselligen  Verhältnisse  beziehen,  die  politische 
Bedeutung  nicht  zu  verkennen  ist.  Ja  dieser,  dem  es  auch  am 
meisten  ziemt,  dem  Gemeingeltenden  zu  dienen,  hat  einige  bloß 
bürgerliche  Eigenschaften,  welche  sittlich  gedacht  und  bestimmt 
mit  andern  zusammengefallen  wären,  oder  in  weiterem  Umfange 
gezeichnet  worden,  geradezu  und  ohne  irgend  einiges  daran  zu 
ändern  und  zu  bessern  in  die  Reihe  der  Tugenden  aufgenommen. 
Ebensowenig  aber  ist  auch  dasselbe  zu  verkennen  an  den  vier  hel- 
lenischen Haupttugenden,  sowohl  wie  sie  von  den  meisten  dar- 
gestellt werden,  als  wie  die  Stoiker  sie  in  ihre  untergeordneten 
Teile  genauer  zerlegen.  Wobei,  wie  man  auch  aus  dem  sieht,  was 
von  der  gemeinen  Bedeutung  in  der  dialektischen  Untersuchung 
des  Piaton  vorkommt,  alles,  was  sich  auf  die  kleineren  Verhält- 
nisse des  Lebens  bezieht,  nur  einen  kleinen  Teil  von  derjenigen 
ausmacht,  welche  von  den  Neueren  gewöhnlich  durch  Mäßigung 
übersetzt  wird,  und  deren  wahre  Einheit  auch  nur  aus  diesem 
Gesichtspunkt  möchte  zu  finden  sein.  Endlich  kann  auch  keinem 
entgehen,  wie  in  der  neustoischen  Behandlung  der  Pflichten, 
nach  dem  zu  urteilen,  was  wir  durch  Cicero  erhalten  haben,  das 
PoHtische  vorleuchtet.  Schwerlich  aber  möchte  diese  ganze  Neigung 
nur  dem  Dolmetscher  zuzuschreiben  sein,  dessen  Unfähigkeit,  so 
vieles  zu  verwischen  sowohl  als  hinzuzufügen,  niemand  bezweifeln 
wird.  Bei  den  Neueren  nun  hat  dieser  politische  Geist  sich  ganz 
aus  dem  Tugendbegriff  herausgezogen  und  in  den  Pflichtbegriff  ge- 
flüchtet. Offenbar  nämlich,  weil  jener  zu  sehr  das  selbsttätige 
Hervorbringen  bezeichnet,  das  Politische  aber  unter  uns  von  der 
Selbsttätigkeit  wenig  Spuren  trägt  i,  daher  auch  auf  die  Tugend, 
welche  ausschließend  und  geradezu  diesem  Verhältnis  gewidmet 
ist,  der  Name  der  Gerechtigkeit  nicht  mehr  allgemein  sich  schickt, 
sondern  nur  für  die  Gesetzgeber,  Richter  oder  für  die  herrschenden 
Teile  in  ungleichen  Verbindungen,  im  allgemeinen  aber  der  leident- 
lichere  Name  der  Rechtlichkeit  eine  richtigere  Bezeichnung  ge- 
währt. Sehr  gut  hingegen  ist  der  Pflichtbegriff,  der  auch  an  ein 
*  Diese  Ansicht  änderte  Schleiermacher  sehr  bald! 


[111,1,235]  Anhang.  237 

Aufgegebenes  erinnert,  jedem  leidentlichen  Nachbilden  angemessen, 
und  vielleicht  daraus  vornehmlich  der  Vorzug  zu  erklären,  der  ihm 
überall  vor  den  Begriffen  der  Tugenden  und  Güter  in  den  neueren 
Darstellungen  der  Sittenlehre  gegeben  wird.  Daher  auch,  teils 
was  im  gemeinen  Leben  als  Pflicht  dargestellt  wird,  über  das 
Gebiet  des  Rechtes  wenig  hinausgeht,  und  nur  mit  dem  Vor- 
behalt alles  mit  darunter  zu  begreifen,  worüber  vernünftigerweise 
Gesetze  könnten  gegeben  werden,  oder  was  schon  irgendwo  mit 
in  das  Gebiet  derselben  gezogen  ist,  wie  etwa  die  Kindererziehung 
oder  die  Wohltätigkeit,  welchen  Umfang  schon  Aristoteles  der 
Gerechtigkeit  angev/iesen  hat;  teils  suchen  ja  die  Sittenlehrer 
selbst,  was  dem  politischen  Verhältnis  zu  fremde  ist,  wenigstens 
in  die  Gestalt  desselben  zu  kleiden,  als  ob  es  sonst  in  die  Ver- 
sammlung der  Pflichten  nicht  dürfte  eingelassen  werden.  Denn 
dieses  ist  unstreitig  der  Grund,  warum  die  Idee  eines  göttlichen 
Reiches,  die  doch  als  religiös  und  christlich  dem  Geiste  des 
Zeitalters  ganz  fremd  ist,  so  viel  Eingang  finden  konnte  in  der 
Sittenlehre.  Wie  denn  auch  einzelnes  noch  vieles  anzuführen 
wäre,  um  diese  Ansicht  zu  bestätigen,  w^enn  nicht  schon  das  All- 
gemeine jeden  überzeugen  müßte.  Die  sogenannten  Tugenden 
aber  beziehen  sich  bei  den  Neueren  eigentlich  und  fast  allgemein 
auf  die  verschiedenen  Gewerbe  und  Beschäftigungen  in  dem  Leben 
eines  jeden  für  sich,  welche  anstatt  des  fast  verschwundenen  öffent- 
lichen Lebens  1  zu  Ehren  gekommen,  und  ihre  Bedeutung  ist,  um 
das  rechte  Wort  zu  sagen,  kaufmännisch  oder  haushälterisch ;  hin- 
deutend nämlich  auf  die  verschiedene  Brauchbarkeit  der  Menschen 
zu  verschiedenen  Endzwecken,  auf  den  Kraftaufwand,  durch  den 
sie  zu  gewissen  Tätigkeiten  zu  bewegen  sind,  und  die  Art,  wie 
gewisse  Eindrücke  auf  sie  erregend  oder  beruhigend  zu  wirken 
pflegen,  kurz  und  überhaupt  auf  das,  was  Kant  nicht  unschicklich 
den  Marktpreis  der  Menschen  genannt  hat  2.    Nur  so  wird  jeder 


^  Deutschlands  Zustand  1803! 

'2  Bekanntlich    erhebt    heute    Eucken    dieselben    Vorwürfe    gegen    unsere 
„Leistungskultur". 


238  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,236] 

in  den  Begriffen  von  Woiiltätigkeit,  Dankbari<eit,  Bescheidenheit, 
Großmut,  Gutmütigkeit  und  den  meisten  andern  die  Einheit  finden, 
die    aus   dem   ethischen   Standpunkt   gar   nicht   zu   entdecken   ist. 
Daher  auch  so  wie  Garve  die  vollkommenen  Pflichten  und  die 
unvollkommenen   unterscheidet  nach  dem  Grade  der  Nützlichkeit 
der  Maxime,  so  kann  man  sagen,  daß  bei  der  innern  ethischen 
Gleichheit  aller  dieser  Begriffe  die  Tugenden  sich  von  den  Lastern 
nur  unterscheiden  durch  die  sichere  und  vielseitige  Brauchbarkeit 
der  Eigenschaft,  und  daß  auf  der  einen  Seite  nur  diese  Täuschung 
von    der    Einstimmigkeit   zu    eigenem    und    fremdem    Wohl    den 
ethischen    Schein    hervorbringt,    auf    der    andern    aber    auch    der 
Gegensatz  zwischen  Tugenden  und  Lastern  ebenso  unsicher  ist, 
als    jener   zwischen    Brauchbarkeit   und    Unbrauchbarkeit.      Wem 
aber  dieses  alles  noch  nicht  genügen  wollte,  der  würde  vielleicht 
die   augenscheinlichste  Überzeugung  finden   in  den    Erklärungen, 
welche  Spinoza  von  den  Affekten  gegeben.    Denn  indem  er  alles 
aus  der  Selbsterhaltung  in  dem  sinnlichen,  gemeinen  Sinne  her- 
leitet, und  von  dem  Bestreben,  sich  mit  Gegenständen  zu  umgeben, 
welche  das  Gefühl  des  Daseins  beleben,  so  findet  er  auf  diesem 
Wege   teils  in  dem,   was   unmittelbar   zur   Begierde  gehört,   teils 
in    dem,    was    sich    auf    Freude    und    Traurigkeit   bezieht,    wenn 
man    es    auf   bleibende    Tätigkeiten    oder    Eigenschaften    zurück- 
führt, alles  Wohlwollen  in  seinen  verschiedenen  Stufen  und  Um- 
kreisen, ohne  es  jedoch,  wie  diegallikanischen  Sittenlehrer  taten, 
zu  verunstalten  oder  gänzlich  zu  zerstören.    Denn  hier  findet  jeder 
die  unentwickelten  Ideen,  v.elche  allen  diesen  Eigenschaften  zum 
Grunde   liegen,  und  sieht  sich  gezwungen   zu   gestehen,  daß   es 
nicht  sittliche  sind.    Von   denjenigen   Begriffen   aber,   welche  die 
Neueren  als  Vollkommenheiten  gewisser  Teile  oder  Kräfte  der 
Seele  von  den  Tugenden  abgesondert,  welche  Absonderung  nach 
dem   Sinn  des  neuen   Begriffs  von   Tugend  ebenso  folgerecht  ist 
als  zufolge  des  alten  Begriffs  die  Vereinigung  beider,  von  diesen 
könnte    der    Ursprung   gleichgültiger   sein,    weil    jene    Einteilung 


[111,1,237]  Anhang.  239 

der  Seele  in  verschiedene   Kräfte   aus   dem   sittliciien   Standpunkt 
schon  im  allgemeinen  ist  verworfen  und  alles  auf  die  eine  Kraft 
des    Willens    zurückgeführt   worden.     Auch    hängt    die    Bildungs- 
regel und  der  Einteilungsgrund  dieser  Begriffe  von  keinem  Inter- 
esse   ab,   sondern   gehört   der   Seelenlehre    an,    in   Vv^elcher   zuerst 
die    Einteilung   in    Denken    und    Handeln    höchst    wunderbar   ist, 
und  nur  etwa  im  ersten  Unterricht  für  Kinder  könnte  entschuldigt 
werden,   dann   aber  auch   die   weitere    Einteilung   in   oberes   und 
unteres   Vermögen,  oder  nach  den  logischen   Potenzen  der  Vor- 
stellung,   noch   wenig   Tüchtiges   hat   zutage    fördern    lassen.     Es 
hat  aber  von  jeher  die  Seelenlehre  in  einem  Zusammenhange  mit 
der  Sittenlehre  gestanden,  über  welchen  an  sich  sowohl,  als  in  Ab- 
sicht auf  die  richtige  Unterordnung  beider  hier  nichts  kann  ent- 
schieden werden,  indem  die  Frage  davon  abhängt,  wie  jeder  beide 
Wissenschaften   von   der  gemeinschaftlichen   höchsten    Erkenntnis 
ableitet.   Jedoch  muß  soviel  hier  beiläufig  zu  äußern  vergönnt  sein, 
daß  die  Seelenlehre  für  sich  betrachtet  sich  noch  gar  nicht  in  einem 
solchen  Zustande  befindet,  der  Sittenlehre  nützlich  sein  zu  können. 
Daher  auch  gewiß  diejenige  Ethik  die  beste  ist,  welche  entv.eder 
so  wenig  als  möglich  aus  ihr  entlehnt,  worin  unstreitig  Fichte 
bis  jetzt  alle  andern  übertroffen  hat,  oder  welche  sich  ihre  eigene 
Art,    die    Erscheinungen   des    Gemüts   zu    betrachten,    nach    ihren 
eigenen  Grundsätzen  erschafft,  wovon  Spinoza  ein  vortreffliches 
Beispiel   gegeben.    Denn  zuerst   muß   die   Ärmlichkeit  jeder  bis- 
herigen Seelenlehre  jedem  einleuchten,  die  große  Mangelhaftigkit 
und  Gemeinheit  ihres  Fachwerkes,  welche,  was  nur  irgend  über  das 
Mechanische  hinausgeht,  weder  begreifen  noch  konstruieren  kann. 
Dann  aber  erhellt  auch  die  Unnatürlichkeit  ihrer  Begriffe  daraus, 
daß  sie,  weit  entfernt  bis  zur  verwickelten  Konstruktion  der  Cha- 
raktere fortzuschreiten,  nicht  imstande  ist,  ein  Individuum  zu  be- 
greifen, sondern  gemeinhin  in  demselben  Eigenschaften  verknüpft 
findet,    welche    nach    ihrer    Konstruktion    einander    widerstreiten. 
Liegt  nun,   wie  zu  vermuten,  das    Prinzip   ihrer  Natürlichkeit   in 


240  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  238] 

demjenigen  Begriff,  mit  welchem  sie  sich  an  die  höchste  Wissen- 
schaft anknüpft,  so  icönnte  vorderhand  das  Richtige  in  ihr  nur 
zufällig  gefunden  werden,  und  nur  nachdem  sie  weit  vielseitiger 
als  bisher  nicht  nur  aus  einem  logischen  Gesichtspunkt,  sondern 
auch  aus  einem  spekulativen  und  einem  praktischen,  aus  einem 
physischen  und  einem  poetischen  bearbeitet  würde.  Welches  abzu- 
warten, um  dann  einiges  immer  noch  Fremde  und  Unsichere  zu 
entlehnen,  für  die  Ethik  gewiß  ein  allzuweiter  Weg  wäre,  da  sie 
nahe  genug  daran  ist,  ihre  Begriffe  aus  ihrem  eigenen  Innern  zu 
vervollkommnen. 

II.  Von  den  ethischen  Reflexionsbegriffen  aber,  denn  so  wären 
wohl  Lob  und  Tadel,  Selbstschätzung  und  Gewissen  und  was 
ihnen  ähnlich  ist,  am  besten  zu  nennen,  von  diesen  konnte  in  dem 
vorigen  Abschnitt  selbst  nicht  die  Rede  sein,  weil  sie  nicht  unent- 
behrliche Teile  des  Systems  der  Sittenlehre  sind,  sondern  eigent- 
lich außerhalb  desselben  liegen.  Hier  indes  muß  ihrer  erwähnt 
werden  in  Beziehung  auf  das  eben  Gesagte.  Denn  um  dieses  in 
seinem  ganzen  Zusammenhange  zu  verstehen,  und  entweder  zu  be- 
Gibt  es  ein  stätigen  oder  zu  widerlegen,  entsteht  die  Frage,  worauf  eigentlich 
untrügliches  diese  Begriffe  in  der  gewöhnlichen  Anwendung  bezogen  werden, 

.*^^c"!ll-^?'^.  und   ob  die   Urteile   und   Gefühle,   welche  sie  bezeichnen  sollen, 
das  Sittliche?  .  '  ' 

das  wirklich  Sittliche  anzeigen,  oder  nur  dasjenige,  wie  man  es 
auch  nennen  möge,  was  den  Gehalt  der  für  ethisch  geltenden  Be- 
griffe ausmacht.  Das  erste  nun  zu  behaupten  wäre  wunderlich 
von  jedem,  welcher  der  oben  aufgestellten  Erklärung  dieser  Be- 
griffe seine  Zustimmung  gegeben.  Denn  wenn  diese  so  wenig 
Sittliches  und  auch  das  wenige  nur  zufällig  enthalten:  so  müßte 
entweder  niemals  und  nur  durch  Irrtum  Lob  ausgeteilt  werden, 
gewöhnlich  aber,  und  dann  auch  besonders  über  das  falsche  Lob, 
nur  Tadel,  und  das  sittliche  Gefühl  also  immer  in  einem  widrig 
erregten  Zustande  sich  befinden,  oder  es  müßte  von  allen,  die 
jene  Begriffe  noch  anerkennen,  gar  nicht  empfunden  werden, 
welches  heißen  würde,  in  ihnen  gar  nicht  vorhanden  sein.    Denn 


[111,1,239]  Anhang.  241 

daß  es  bloß  auf  die  Erscheinung  seines  wirklichen  Gegenstandes 
warten,  durch  sein  Gegenteil  aber  gar  nicht  erregt  werden  sollte, 
dieses  widerspricht  der  Natur  der  Sache  und  der  Ähnlichkeit  mit 
allem,  was  der  Mensch  bildend  hervorbringt.  Auch  erhellt  es,  ohne 
auf  einiges  andere  zu  sehen,  aus  der  deutlichen  Beziehung  und 
häufigen  Anwendung  verwerfender  Urteile  und  Gefühle.  Soll 
aber,  um  es  beschränkend  zu  rechtfertigen,  diese  Erkenntnis  des 
Sittlichen  und  Unsittlichen  eine  solche  sein,  welche  Spinoza  die 
Erkenntnis  der  zweiten  Art  nennt:  so  ist  zu  bemerken,  daß  in 
diesen  Dingen,  wo  die  Elemente  sich  vom  Zusammengesetzten 
nicht  so  schneidend  unterscheiden  als  etwa  in  der  Größenlehre,  auch 
das  Einfache  und  Leichte,  worauf  eine  solche  Erkenntnis  sich  mit 
Untrüglichkeit  bezieht,  nur  relativ  ist.  Bedenkt  man  nun  teils  über- 
haupt die  sittlichen  Verhältnisse,  teils  den  Pflichtbegriff  insbe- 
sondere, auf  welchen  unmittelbar  die  reflektierenden  Begriffe  am 
meisten  angewendet  werden,  und  der  dem  obigen  zufolge  immer 
ein  Zusammengesetztes  ist:  so  möchte  mit  Recht  bezweifelt  werden 
können,  ob  überhaupt  in  der  Wirklichkeit  ein  Einfaches  und 
Leichtes  sich  dem  Urteil  darbietet.  Auch  müßte  gewiß  von  den- 
jenigen, die  das  Sittliche  zum  Gegenstand  einer  Erkenntnis  der 
dritten  Art  zu  erheben  suchen,  das  eigentliche  Wesen  jener  Be- 
griffe und  Gefühle  in  wissenschaftlichen  Formeln  längst  zutage 
gefördert  und  daraus  die  realen  Begriffe  berichtiget  sein,  wodurch 
denn  auch  das  Gefühl  selbst  sich  erweitern,  und  die  Erkenntnis  der 
zweiten  Art  zu  mehrerer  Vollkommenheit  hätte  gelangen  müssen. 
So  daß  offenbar  die  bisher  entwickelte  Vorstellung  von  dem  Zu- 
stande der  Ethik  als  Wissenschaft,  wie  auch  jeder  sonst  und  im 
allgemeinen  vom  Verhältnis  der  Theorie  zur  Praxis  denken  möge, 
mit  der  Annahme  echt  ethischer  reflektierender  Begriffe  und  eines 
durch  dieselben  dargestellten  untrüglichen  Gefühls  des  Sittlichen 
nicht  bestehen  kann.  An  sich  aber  und  ohne  Bezug  auf  die  bis- 
herigen Ergebnisse  unserer  Prüfung  betrachtet,  sind  zuerst  die  ins- 
Q^emein  angeführten  Gründe  einer  solchen  Annahme  zu  verwerfen. 

Schleiermacher,  Werke.     I.  16 


242  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  240] 

Denn  weit  entfernt,  daß  die  Würde  der  Sittlichkeit  Gefahr  Hefe, 
wenn  ein  solches  untrügHches  Gefühl  als  wirklich  und  allgemein 
vorhanden  geleugnet  würde,  als  ob  nämlich  alsdann  dieselbe  als 
etwas  in  der  Natur  nicht  Gegründetes,  sondern  willkürlich  Aus- 
gedachtes erscheinen  könnte:  so  sind  ja  alle  darüber  einig,  daß 
auch  das  Natürliche  und  Wesentliche,  wie  es  auch  nach  dem  Be- 
griff einer  selbsttätigen  Natur  nich*;  anders  sein  kann,  sich  nur 
allmählich  entwickelt,  und  so  daß  Gedanke  und  Gefühl  einander 
wechselseitig  ausbilden  und  erregen,  nicht  aber  so,  daß  ein  ein- 
faches und  untrügliches  Gefühl  für  das  Vollkommene  vorhanden 
ist,  indem  noch  der  Gedanke  teils  offenbar  falsch  ist,  teils  überall 
dem  Streit  unterworfen.  Vielmehr  würde  es  der  menschlichen 
Natur  zur  Unehre  gereichen,  wenn  ein  solches  Gefühl  den  Ge- 
danken noch  nicht  weiter  gebracht,  und  auch  seinen  Gegenstand 
nicht  so  vielfach  und  kenntlich  hervorgebracht  hätte,  um  ab- 
weichende und  widerstreitende  Ansichten  davon  unmöglich  zu 
machen.  Und  warum  sollte  auch  das  sittliche  Gefühl  ursprünglich 
vollkommener  sein  als  das  logische  oder  mathematische?  Doch  von 
diesen  fremdartigen  Gründen  hinweggesehen,  müßte  andernteils, 
wenn  ein  solches  Gefühl  angenommen  wird,  durch  ein  verständiges 
versuchendes  Verfahren  mit  demselben  allein  der  Streit  über  die 
ethischen  Grundsätze  geschlichtet  und  die  vollkommene  Tonleiter 
gefunden  werden  können,  in  welche  sich  alle  übrigen  auflösen 
müssen.  Welches  unter  den  wissenschaftlichen  Behandlern  der 
Ethik  auch  die  losesten  und  dem  Gefühl  am  meisten  einräumen- 
den aus  der  anglikanischen  Schule  selbst  nicht  einräumen,  noch 
weniger  aber  durch  ihr  Beispiel  andere  locken  werden,  denselben 
Weg  einzuschlagen. 

Ferner  1  entstehen  noch  andere  Zweifel  über  die  Echt- 
heit dieser  Begriffe  als  ethischer  aus  der  Betrachtung  ihres 
Verhältnisses  gegeneinander.  Denn  Lob  und  Tadel  verbreiten  sich 
ungleich  weiter  als  das  Gewissen  auf  Gegenstände,  über  welche 
dem  letzteren  weder  Vorwürfe  zugemutet  werden  noch  Billigung, 

*  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,241]  Anhang.  243 

wovon  erst  Beispiele  anzuführen  nur  überflüssig  wäre;  wogegen 
aber  dem  Lobe  und  Tadel  dieselbe  Untrüglichkeit  nicht  bei- 
gemessen wird  als  dem  Gewissen.  Vergleicht  man  nun  dieses  mit 
dem,  was  oben  gesagt  worden  teils  von  der  Befugnis,  auch  das 
fremde  Sittliche  zu  beurteilen,  teils  von  der  sittlichen  Natur  alles 
Handelns  überhaupt,  so  ergibt  sich  für  jeden  zuerst,  wie  wenig  das 
ein  ethischer  Begriff  sein  kann,  und  also  auch  nicht  das  Gefühl, 
welches  er  bezeichnet,  ein  rein  sittliches,  der  auf  gleiche  Weise  ein 
ethisches  Urteil  und  ein  anderes  ausdrückt,  so  daß  er  mehr  nur 
auf  das  Bejahen  und  Verneinen  sich  zu  beziehen  scheint,  als  auf 
die  Grundsätze,  nach  denen  es  erfolgt.  Dann  auch  noch,  wie  un- 
zulässig ein  so  unbestimmter  Übergang  sein  muß  aus  dem  Ge- 
wissen in  das  Ungewisse,  und  aus  dem  Sittlichen  in  das  Nicht- 
Sittliche;  welches  die  Stoiker  richtig  beurteilend  das  Lob  und 
das  sittlich  Gute  zu  unzertrennlichen  Wechselbegriffen  zu  machen 
suchten.  Wollte  man  aber  Lob  und  Tadel  und  das  übrige  fahren 
lassend  nur  bei  dem  Gewissen  stehenbleiben,  wie  es  noch  neuer- 
lich Fichte  als  notwendig  und  untrüglich  will  abgeleitet  haben: 
so  kann  über  diese  mit  dem  gewohnten  Scharfsinn  ausgeführte 
Ableitung  hier  keine  vollständige  und  gründliche  Erörterung 
Raum  finden,  weil  sie  größtenteils  außerhalb  des  ethischen  Ge- 
bietes auf  dem  transzendentalen  liegt,  indem  das  Abgeleitete  auf 
eine  Übereinstimmung  des  wirklichen  Ichs  mit  dem  ursprüng- 
lichen hinausläuft.  Was  jedoch  von  dem  ethischen  Standpunkt 
aus  hieher  Gehöriges  darüber  kann  gesagt  werden,  ist  folgendes. 
Zuerst  ist  bei  Fichte  das  Gewissen,  inwiefern  er  ihm  jene  beiden 
Eigenschaften  beilegt,  keineswegs  das  Gefühl  oder  Bewußtsein 
des  Sittlichen  und  seines  Gegenstandes  überhaupt,  sondern  nur 
ein  Teil  desjenigen,  was  die  Stoiker  die  sittliche  Geistesgegen- 
wart oder  Schnelligkeit  nannten,  des  Vermögens  nämlich,  die 
Pflicht  in  jedem  Augenblick  zu  finden.  Auf  diese  Weise  nun 
müßte  erst  bestimmt  werden,  was  es  heiße,  nach  der  Pflicht  fragen, 
wenn  nicht  zur  Vereinigung  dieser  Untrüglichkeit  mit  jener  Falsch- 
heit der  geltenden   Begriffe  der  Ausweg   offen   bleiben   soll,   zu 

16* 


244  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,242] 

sagen,   daß  alle  jene  nach  der   Pflicht  nicht  gefragt  haben.    Auf 
jeden  Fall  aber,  wenn  es  etwa  lächerlich  scheinen  sollte,  daß  der- 
jenige  nicht  nach  der   Pflicht  gefragt   habe,  der  ein  System  von 
ethischen    Begriffen   aufstellen   will,  erhellt  schon   aus   der  Natur 
des  Pflichtbegriffs,  daß  mit  einem  die  Pflicht  untrüglich  für  jeden 
bestimmten  Moment  anzeigenden  Gefühl  gar  wohl  ein  im  ganzen 
sehr  unvollkommenes  Bewußtsein  der  Sittlichkeit  könne  verbunden 
sein.    Denn  die  Pflicht  zu  erkennen  ist  jedesmal  eine  bestimmte 
und  durch  die  vorhandenen  Umstände  und  die  gegebenen  Mög- 
lichkeiten des  Handelns  bedingte  Aufgabe,  welche  richtig  gelöst 
werden   kann,  ohne  daß  dennoch  die   Unsittlichkeit  oder  unvoll- 
kommene Sittlichkeit  wahrgenommen  und  gefühlt  werde,  welche 
schon  in  den  Bedingungen  liegt.   Welches  Nichtwahrnehmen  den- 
noch  nicht  minder  eine   Unvollkommenheit  und    Fehlbarkeit  des 
sitthchen  Gefühls  überhaupt  anzeigt.  Ferner  könnte  sich  der  Forde- 
rung  eines  solchen  untrüglichen   Gefühls  als   eines  notwendigen 
Zeichens,  daß  nun  die  Überlegung  geschlossen  sei  und  das  Han- 
deln angehen  solle,  an  die  Stelle  setzen  lassen  die  Forderung  eines 
vollendeten  Systems,  es  sei  nun  der  Pflicht  oder  der  Tugend,  in 
welcher  jeder  jeden  ihm  gegebenen  Fall  leicht  auffinden  könnte, 
ohne  dazu  eines  andern  Gefühls  zu  bedürfen,  als  des  Gefühls  der- 
jenigen Gewißheit,  welche  unter  allen  am  leichtesten  zu  erlangen 
ist  und  fast  nur  auf  der  Identität  des  Bewußtseins  beruht,  näm- 
lich von  der  Gleichheit  oder  Verschiedenheit  zweier  Formeln.   Daß 
nun    demjenigen,    der   ein    System    der    Pflichten    aufstellen    will, 
diese  Forderung  besser  anstehe  als  jene,  darüber  kann  kein  Streit 
sein.    Aber  auch  die   Art  der   Ableitung  selbst  deutet  mehr  auf 
diese   als  jene.    Denn  die   Übereinstimmung   des   wirklichen   Ichs 
mit  dem  ursprünglichen  ist  wohl  nicht  als  ein  Vorübergehendes 
und  einzelnes  zu  denken,  sondern  als  ein  Bleibendes  und  Ganzes. 
Als  ein  solches  aber  müßte  sie  entstehen  nicht  aus  der  Erkenntnis 
des  in  einem  bestimmten  Augenblick  Geforderten,  sondern  des  ge- 
samten  Sittlichen,  und  das  aus  jener  entstehende  Gefühl  könnte 


[III,.l,  243]  Anhang.  245 

nur  dann  Sicherheit  und  Wahrheit  haben,  wenn  es  zugleich  aus- 
sagte, daß  jene  sich  auf  diese  gründe.  So  daß  die  zweite  Forde- 
rung vorausgesetzt  wird,  welche  doch,  sobald  sie  erfüllt  ist,  die  erste 
überflüssig  machte.  Daß  es  auch  an  Fichte  nicht  zu  loben  ist,  daß 
er  dem  Gewissen  einen  ansehnlichen  Teil  von  dem  Geschäft  der 
Wissenschaft  überläßt,  und  diese  im  einzelnen  überall  von  jenem 
soll  vertreten  werden,  dies  kann  man  ihm  aus  ihm  selbst  erweisen. 
Denn  er  gesteht  ja,  daß  es  für  die  Urteilskraft  theoretische  Regeln 
geben  muß,  wie  sie  suchen  soll,  und  diese  muß  ja,  wer  an  ein 
untrügliches  Gewissen  glaubt,  nur  um  so  leichter  finden  und  in 
ihrer  ganzen  Vollständigkeit  aufstellen  können,  um  so,  wie  es 
sich  geziemt,  vermittels  seines  Gewissens  gesetzgebend  zu  werden 
für  andere.  Nicht  aber  durfte  ein  solcher  mit  Berufung  auf  das 
Gewissen  die  ganze  Hälfte  der  Wissenschaft  leer  lassen,  so  daß 
auch  entweder  das  übrige,  weil  es  doch  für  sich  nicht  kann  an- 
gewendet werden,  nicht  einmal  praktisch  gemeint  zu  sein  scheint, 
oder  die  Prinzipien,  um  das  Ganze  zu  Ende  zu  führen,  nicht 
zugereicht  haben. 

III.  Wenn  also  die  Notwendigkeit  eines  in  allen  Menschen  Folgerungen, 
gleichen  und  in  jedem  untrüglichen  sittlichen  Gefühls  nicht  kann 
erwiesen  werden,  so  ist  es  recht,  zu  dem  zurückzukehren,  was  die 
Natur  der  Sache  andeutet,  daß  nämlich  das  Gefühl  und  die  Ein- 
sicht eines  jeden  sich  untereinander  bestimmen  und  in  ihrer  Fort- 
schreitung sich  gegenseitig  zum  Maß  dienen  können.  Hieraus 
nun  würde  für  die  unwissenschaftlichen  Menschen  zwar  folgen, 
daß  auch  ihre  Selbstschätzung  und  ihr  Gew^issen  nur  auf  das- 
jenige können  gerichtet  sein,  was  den  Gehalt  ihrer  für  sittlich 
angenommenen  Vorstellungen  ausmacht,  nämlich  auf  der  einen 
Seite  nur  in  den  engen  Kreis  des  Rechtlichen  beschränkt,  auf  der 
andern  aber  über  das  Sittliche  hinaus  auf  das  Kaufmännische  und 
Haushälterische.  Welches  sich  auch  dadurch  hinlänglich  bestätigt, 
daß  ihre  Art  zu  billigen  sowohl  als  zu  tadeln  und  zu  bereuen 
ebenso  genau  mit  dem  übereinstimmt,  was  Spinoza  als  aus  dem 


246  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [IH,!,  244] 

Affekt  der  Freude  und  Traurigkeit  hervorgehend  bezeichnet,  wie 
gleichfalls  ihre  Tugenden  mit  dem  zusammentrafen,  was  bei  ihm 
in  jeder  Art  dem  Affekt  der  Begierde  zugehört.  Was  aber  soll 
daraus  geschlossen  werden  für  die  wissenschaftlichen  Schüler  so- 
wohl als  Meister  der  Sittenlehre,  deren  sittlichem  Gefühl  noch  das 
dialektische  sollte  zu  Hilfe  gekommen  sein,  und  ihnen  den  Mangel 
innerer  Wahrheit  und  Übereinstimmung  in  ihren  Begriffen  an- 
gezeigt haben?  Was  aber  anders,  als  daß,  da  beides  zusammen 
nicht  hingereicht  hat,  sie  über  das  Gemeine  zu  erheben,  in  dem 
Maß  nämlich,  in  welchem  sich  dieses  so  verhält,  auch  ihr  ethischer 
Sinn  und  Verstand  nicht  genugsam  hervorrage,  um  eine  höhere 
Stufe  selbst  zu  ersteigen,  und  dann  auch  die  andern  zu  sich 
heraufzuheben;  sondern  sie  mehr  den  Merkzeichen  gleichen,  welche 
nur  den  Stand  der  Wasserfläche  anzeigen,  als  den  künstlichen 
Vorrichtungen,  welche  ihn  erhöhen.  Wovon  wiederum,  was  die 
einzelnen  Begriffe  betrifft,  nur  Piaton  und  Spinoza  durch  ihre 
kräftige  und  durchgeführte  Polemik  gegen  die  eingeführte  ethische 
Sprache  sich  als  preiswürdige  Ausnahmen  sogleich  ankündigen. 
Dem  Fichte  hingegen  kann  auf  diesem  Gebiet  nur  das  indirekte 
Verdienst  zugeschrieben  werden,  dadurch,  daß  er  sich  streng 
an  den  Pflichtbegriff  gehalten  hat,  zur  Verminderung  der  bis- 
herigen Verworrenheit  eine  Anleitung  gegeben  zu  haben.  Was 
aber  das  Ganze  betrifft,  so  geht  aus  dem  obigen  hervor,  welchen 
Mängeln  er  selbst  bei  einer  vollkommenen  Richtigkeit  des  Pflicht- 
gefühls dennoch  unterworfen  sein  kann,  wenn  auf  der  einen  Seite 
nur  dieses  das  Maß  seiner  Sittlichkeit  ist,  und  auf  der  andern 
nicht  die  Dialektik  ihm  besser,  als  bisher  sich  gelegentlich  gezeig, 
hat,  zu  Hilfe  kommt.  Wieviel  nun  von  ihm  sowohl  als  den  andern 
in  Absicht  auf  die  Vollständigkeit  des  Systems  ist  geleiölpt 
worden,  dieses  ist,  was  dem  folgenden  Buche  noch  übrig  bleibt  zu 
untersuchen. 


Drittes  Buch. 
Kritik  der  ethischen  Systeme. 

Einleitung. 
1. 

Von  der  Anwendung  der  Idee  eines  Systems  auf  die  Ethik. 

Die  Idee  eines  Systems,  vielleicht  überdies  noch  in  Absicht  auf 
ihren  Inhalt  streitig,  ist  in  jedem  Falle  eine  solche,  die  zwar  als 
Forderung  der  Vernunft  im  allgemeinen  von  jedem,  welcher  über 
die  Natur  der  menschlichen  Erkenntnis  nachdenkt,  muß  zugegeben 
werden,  deren  Anwendbarkeit  für  einen  einzelnen  Fall  aber  gegen 
die  Einwendungen  des  Skeptikers  nur  entweder  durch  ihre  un- 
mittelbare wirkliche  Ausführung  kann  sicher  gestellt  vverden  oder 
mittelbar  durch  Beziehung  auf  eine  ähnliche  bereits  gegebene  und 
als  richtig  anerkannte  Anwendung.  Daher  freilich,  wenn  die  Ethik 
als  System  vorhanden  wäre,  die  Frage  nur  lächerlich  sein  würde, 
ob  sie  als  ein  solches  existieren  solle;  dasselbige  aber,  da  wir  jenes 
müssen  unentschieden  lassen,  nicht  kann  gesagt  werden,  vielmehr 
uns  allerdings  obliegt,  die  Forderung  zu  rechtfertigen.  Wäre  nun 
auch  nur  das  Ganze  der  menschlichen  Erkenntnis,  sollte  es  gleich 
bloß  im  Umriß  sein,  als  System  gegeben,  und  dabei  zugestanden, 
daß  die  Ethik  einen  wesentlichen  Teil  jenes  Ganzen  ausmache: 
so  würde  dann  leicht  sein  zu  zeigen,  daß  auch  sie  schon  deshalb 


248  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  246] 

systematisch  müsse  gebildet  werden,  jetzt  hingegen  wird  dieses 
von  einigen,  jenes  von  anderen  geleugnet,  und  auch  wenn  eine 
der  Ethik  ähnliche  Erkenntnis  als  System  vorgezeigt  würde,  möchte 
Streit  entstehen  über  den  Grund  der  Ähnlichkeit,  indem  man  dabei 
entweder  ausgehen  müßte  von  irgendeiner  einzelnen,  also  be- 
strittenen Vorstellung  der  Ethik,  oder  von  jener  eigentlich  noch 
gar  nicht  vorhandenen  Idee  eines  Systems  der  ganzen  Erkennt- 
nis, worin  denn  freilich  einzelne  Teile  andern  entsprechen  müßten. 
Weshalb  die  ganze  Forderung  nicht  hinlänglichen  Grund  zu  haben 
schiene,  und  vielmehr  aufgegeben  werden  müßte,  wenn  sich  nicht 
der  Gedanke  aufdränge,  daß  sie  nicht  unmittelbar  das  Ideale  der 
Ethik  betrifft,  sondern  vielmehr  ihr  Reales,  oder  um  es  anders 
zu  sagen,  nicht  die  Erkenntnis,  sondern  den  Gegenstand.  In 
zweierlei  Fällen  nämlich  pflegt  ein  Reales,  es  sei  nun  gegeben 
oder  erst  hervorzubringen,  ein  System  genannt  zu  werden;  zuerst 
insofern  es  betrachtet  wird  als  ein  in  sich  beschlossenes  Ganzes, 
dessen  Teile  nur  aus  dem  Ganzen  und  durch  dasselbe  können 
verstanden  werden,  dann  auch  insofern  es  betrachtet  wird  als 
die  Gesamtheit,  es  sei  nun  der  Äußerungen  einer  Kraft,  die  sich 
nur  in  einer  Mannigfaltigkeit  des  einzelnen  offenbart,  oder  sonst 
eines  Allgemeinen,  welches  sich  vereinzelnd  darstellt.  So  wird 
in  dem  ersten  Sinne  das  Ganze  von  Weltkörpern,  welchem  unsere 
Erde  zunächst  angehört,  ein  System  genannt,  mit  dem  Vorbehalt 
"jedoch,  es  noch  aus  einem  andern  Gesichtspunkt  zu  betrachten, 
auf  welchem  es  selbst  wiederum  als  Teil  eines  andern  erscheint; 
und  wiederum  in  dem  andern  Sinne  heißt  das  Weltganze  ein 
System  als  Gesamtheit  der  Äußerungen  eben  jener  physisch  archi- 
tektonischen Kraft,  welche  sich  durch  solche  einzelne  offenbart, 
die  in  ihrer  Verschiedenheit  den  ganzen  Umfang  derselben  er- 
schöpfen, jedoch  ebenfalls  mit  dem  Eingeständnis,  daß  wir  die 
Regel,  nach  welcher  die  Gesamtheit  des  einzelnen  das  Ganze  er- 
schöpft, noch  nicht  gefunden  haben.  Ebenso  nennen  wir  in  der 
ersten   Bedeutung  jeden  organischen   Körper  ein   System,   in  der 


[111,1,  247]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  249 

andern  aber  auch  zusammengenommen  die  gesamten  Erschei- 
nungen des  Organismus,  wiewohl  ebenfalls  unter  jenem  Vorbehalt. 
Woraus  zugleich  am  besten  erhellt,  wie  der  Unterschied  zwischen 
einem  schon  vorhandenen  und  einem  erst  hervorzubringenden 
Ganzen  hier  nicht  in  Betrachtung  kommt.  Denn  niemand  wird 
sich  auch  weigern  zu  gestehen,  daß  ein  Kunstwerk  ein  System  ist 
in  dem  ersten  Sinne;  und  ebenso  auch,  daß  alle  Künste  und  ihre 
Produktion,  insofern  jede  von  der  andern  wesentlich  verschieden 
ist,  ein  System  bilden  sollen.  Von  einem  solchen  systematischen 
Realen  muß  nun  unfehlbar  auch  die  ideale  Darstellung  systematisch 
ausfallen,  wenn  sie  anders  getreu  sein  und  die  Idee  nicht  ver- 
lassen will,  unter  welcher  das  Reale,  worauf  sie  sich  bezieht, 
wenngleich  nur  problematisch,  ist  angeschaut  worden.  Ob  aber 
überall  eine  Wissenschaft  oder  Erkenntnis  noch  aus  einem  andern 
Grunde,  als  weil  sie  eines  solchen  Darstellung  ist,  als  ein  System 
müsse  betrachtet  werden,  und  den  Forderungen,  welche  daraus 
entspringen,  genügen,  dies  ist  eine  Frage,  welche  wohl  bezweifelt 
werden  dürfte,  ja  vielleicht  gar  bis  auf  weiteres  im  voraus  verneint, 
wenn  einer  auf  das  Beispiel  der  Größenlehre  sehen  will,  oder 
der  sogenannten  Vernunftlehre.  Denn  diese  beiden  sind  in  dem 
ältesten  und  anerkanntesten  Besitz  des  Namens  der  Wissenschaft; 
niemand  aber  hat  eine  von  ihnen  je  ein  System  genannt  oder 
Forderungen  der  Art  an  sie  gemacht.  Weil  nämlich  die  erste 
außerhalb  sich  immer  mehr  erweitert,  und  neue  Zweige  derselben 
erfunden  werden,  ohne  daß  in  den  früheren  und  ihrem  Zusammen- 
hange irgendeine  Lücke  wahrgenommen  würde;  die  andere  aber, 
wenngleich  sie  keine  Fortschritte  der  Art  machen  kann,  dennoch" 
weder  Anfang  und  Ende  noch  irgendeine  sichere  Grenze  auf- 
zeigt, und  der  eigentlichen  realen  Wissenschaftslehre  zwar  zum 
Grunde  liegend  dennoch  auf  allen  Seiten  von  ihr  abhängig  ist. 
Ja  auch  eine  falsche  Annäherung  an  die  systematische  Gestalt 
erlangen  beide  Wissenschaften  alsdann  nur,  wenn  sie  auf  ihr 
ungemessenes   ideales   Gebiet  Verzicht  leistend,   den   Schein   an- 


250  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [IH,1,  248] 

nehmen,  sich  nur  auf  ein  bestimmtes  reales  zu  beziehen.  So  etwa, 
wenn  die  Größenlehre  die  Sätze  irgendeines  ihrer  wesentlichen 
Zweige  nur  aufstellt  als  Bedingungen  zur  Auflösung  einer  ein- 
zelnen Aufgabe;  oder  die  Vernunftlehre  sich  bescheidet,  nichts 
anderes  sein  zu  wollen,  als  die  Analyse  des  Syllogismus,  der  als 
ein  ideales  Kunstwerk  kann  betrachtet  werden.  Doch  wie  es  sich 
auch  mit  dieser  nur  im  Vorbeigehen  aufgeworfenen  Frage  ver- 
halten möge,  die  Forderung,  welche  an  die  Sittenlehre  gemacht 
wird,  daß  sie  ein  System  sein  solle,  ist  von  ihr  nicht  abhängig, 
sondern  lediglich  davon,  daß  schon  das  Reale,  auf  welches  die 
Ethik  sich  bezieht,  von  jedem  als  ein  System  muß  vorgestellt 
werden. 

Denn  man  gehe  zuerst  aus  von  dem  Gesichtspunkt  der  prak- 
tischen Ethik  und  betrachte  das  Reale,  was  den  Inhalt  der- 
selben ausmacht,  so  wie  es  in  der  gewöhnlichen  Behandlung  nach 
dem  Pflichtbegriff  vorkommt.  Hier  nun  wird  aus  allem  über  diesen 
Begriff  Gesagten,  besonders  in  Hinsicht  dessen,  daß  die  Pflicht 
immer  nur  durch  Begrenzung  kann  gefunden  werden,  offenbar 
sein,  daß,  wie  es  einem  System  gebührt,  das  einzelne  jedesmal 
nur  kann  aus  dem  Ganzen  verstanden  werden.  Denn  wenn  das 
Pflichtmäßige  in  jedem  Entschluß  nur  kann  beurteilt  werden,  in- 
dem das  Gewollte  zusammengenommen  wird  mit  dem  Nicht- 
gewollten, nämlich  nicht  etwa  dem  Unsittlichen,  sondern  nur  das 
unmittelbar  angestrebte  SittHche  mit  dem  nicht  unmittelbar  Be- 
förderten, vielmehr  in  seinen  Ansprüchen  Zurückgesetzten :  so  ist 
ja  deutlich,  daß  das  einzelne  nicht  abgeleitet  wird  als  ein  Niederes 
von  einem  höheren  Allgemeinen,  oder  von  einem  andern  ein- 
zelnen, sondern  nur  aus  dem  Ganzen  und  der  Gesamtheit  alles 
einzelnen.  Nämlich  in  jedem  Moment,  oder  auch  so  viel  sich 
davon  sagen  läßt  im  allgemeinen,  ist  etwas  nur  pflichtmäßig, 
weil  nur  nach  dieser  Formel  die  Gesamtheit  der  sittlichen  Zwecke 
kann  befördert  werden,  durch  jede  andere  aber  ein  Teil  den  andern 
stören,   und  also  das   Gehandelte   nur  ein   zum  Teil   Unsittliches 


[Iil,l,  249]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  251 

unter  dem  Schein  eines  Sittlichen  sein  könnte.  Wird  nun  hiebei 
noch  dieses  in  Betrachtung  gezogen,  daß  nach  einer  allgemein 
anerkannten  Forderung  die  Darstellung  der  Ethik  nach  dem  Pflicht- 
begriff auch  so  muß  eingerichtet  sein,  daß  nach  derselben  jede 
wenn  nur  vollständig  gegebene  Handlung  muß  können  geprüft 
werden,  ob  sie  für  die  angegebene  Stelle  sei  eine  sittliche  ge- 
wesen, oder  nicht:  so  sieht  man,  es  wird  gefordert,  daß  aus 
derselben  Idee  des  Ganzen,  durch  welche  jedes  einzelne  bestimmt 
wird,  auch  solle  folgen  können  die  Erkenntnis  dessen,  was  nicht 
ein  solches  einzelne  ist,  und  nicht  in  der  Annäherung  zum  Voll- 
bringen der  gesamten  Aufgabe  des  Handelns  liegen  kann.  Ein 
Ganzes  von  dieser  Art  aber  muß  offenbar  ein  vollkommen  in  sich 
selbst  Beschlossenes  sein,  in  welchem  für  gar  kein  Zufälliges  ein 
Raum  übrig  bleibt.  Dieses  nun  kann  die  Größenlehre  zum  Bei- 
spiel, welche  kein  System  ist  in  dem  angegebenen  Sinne,  eben 
deshalb  auch  nicht  leisten;  sondern  es  können  Fragen  dieser  Art 
aufgeworfen  werden,  für  welche  die  Antwort  noch  gar  nicht  vor- 
handen ist,  und  erst  durch  Vergleichung  mit  mehreren  einzelnen 
Gegebenen  muß  gesucht  werden.  Denn  solche  Fragen  zum  Bei- 
spiel, wie  die  nach  einem  gleichseitigen  Vieleck  im  Kreise  mit  un- 
gleichen Winkeln,  sind  freilich  schon  beantwortet,  aber  nur  weil 
das  Gefragte  an  sich  unmöglich  ist  und  den  ersten  notwendigen 
Sätzen  widerstreitet,  zu  vergleichen  etwa  in  der  Sittenlehre  dem, 
was  die  sogenannten  vollkommenen  Pflichten  verletzt,  worüber 
auch  keine  Frage  aufzustellen  ist.  Solche  Fragen  aber,  die  an  sich 
eine  bedingte  Möglichkeit  enthalten,  wie  zum  Beispiel,  unter  wel- 
chen Bedingungen  auch  ein  durch  ungleiche  Flächen  begrenzter 
Körper  von  einer  Kugel  könne  umspannt  werden,  finden  sich  nicht 
durch  notwendige  Sätze  der  Wissenschaft  beantwortet,  sondern 
müssen  jede  durch  Vergleichung  mehreres  einzelnen  besonders 
untersucht  werden.  Betrachtet  man  demnächst  das  Reale  der  prak- 
tischen Ethik,  wie  es  in  der  Behandlung  nach  dem  Begriff  der 
Güter  vorkommt,  so  soll,  wie  alle  verlangen,  der  Inbegriff  der- 


252  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  250] 

selben  oder  das  höchste  Gut  nicht  so  wirklich  gemacht  werden, 
daß  nacheinander  jedes  einzelne  Gut,  wie  sie  eben  nach  jedem 
System  auf  verschiedene  Weise  zerfallen,  vollendet  werde,  sondern 
vielmehr  durch  allmähliche  Annäherung,  so  daß  an  allen  zugleich' 
gearbeitet  wird.  Denn  nur  so  kann  diese  Behandlung  mit  der 
nach  dem  Pflichtbegriff  in  Übereinstimmung  sein.  Indem  nun 
jenes  vereinzelnde  Verfahren  für  ethisch  unmöglich  erklärt  wird, 
so  ist  zugleich  gesagt,  daß  jedes  dieser  Güter  die  übrigen  bedingt, 
folglich  auch,  daß  sie  untereinander  ein  Ganzes  ausmachen,  und 
zwar  so,  daß  in  dem  Bestreben  nach  ihnen  sowohl,  als  in  der 
Aufzeichnung  derselben  keines  fehlen  darf,  weil  sonst  auch  die 
übrigen  nicht  könnten  richtig  zustande  gebracht  und  dargestellt 
werden.  Sonach  muß  auch  von  dieser  Seite  betrachtet  die  Ethik 
als  ein  System  erscheinen.  Daß  aber  die  Handlungen  eines  Men- 
schen, auch  wenn  sie  alle  als  sittlich  gedacht  werden,  weder 
in  der  natürlichen  Ordnung  der  Zeit,  noch  auch  nach  der  Ordnung 
der  Zwecke  betrachtet  ein  Ganzes  ausmachen,  sondern  ihrer  Folge 
nach  zufällig  erscheinen  und  ihrer  Wirkung  nach  fragmentarisch, 
dies  kann  demjenigen,  der  das  obige  im  Sinne  hat,  keinen  Einwand 
abgeben.  Denn  das  eigentlich  Reale  der  Handlung  ist  nur 
der  Entschluß,  die  verschiedenen  Entschlüsse  aber  bilden  aller- 
dings untereinander  ein  Ganzes,  so  gewiß  als  die  Pflichtenlehre 
eins  bildet,  in  welche  sie  sich  ja  fügen.  In  Absicht  auf  die  Wir- 
kung aber  muß  den  aufgestellten  Begriffen  von  Gütern  gemäß, 
wie  sie  ihrer  Natur  nach  gemeinschaftliche  Werke  sind  in  der 
Ethik,  auch  die  Gesamtheit  dessen,  was  der  einzelne  hervor- 
bringt, als  Element  betrachtet  werden,  in  welchem  jedoch  eben- 
falls, wenn  es  integriert  wird,  der  systematische  Zusammenhang 
der   Güter  nicht  wird  können  verkannt  werden. 

Geht  man  aber  zv/citens  aus  von  dem  Gesichtspunkt  der 
genießenden  Ethik,  so  ist  oben  hinlänglich  gezeigt,  daß  aucK 
die  Glückseligkeit  zu  denken  ist  als  ein  Ganzes,  wenngleich  als  ein 
solches,  das  niemals  in  seiner  Vollständigkeit  als  eines  erscheint, 


[111,1,  251]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  253 

sondern  nur  in  einer  Mehrheit  einzelner  Gestalten  sich  ganz  offen- 
bart. Wie  denn  auch  dieses  alle  ihre  Verteidiger  mehr  oder 
minder  deutlich  eingesehen.  Denn  keiner  glaubt,  daß  irgend  je- 
mand die  ganze  Glückseligkeit  haben  könne.  Und  nicht  etwa  nur 
der  unvermeidlichen  Unlust  wegen,  die  in  jedem  Leben  angetroffen 
wird,  oder  weil  es  zu  jeder  Art  der  Lust  einigen  an  Gelegenheit 
fehlt;  sondern  weil  es  mehrere  unvereinbare  Arten  gibt,  dieselbe 
Lust  zu  genießen,  und  dasselbe  Verhältnis  zu  einem  verschiedenen 
Element  der  Glückseligkeit  zu  verarbeiten.  Sind  nun  diese  ver- 
schiedenen Gestalten,  in  denen  zusammengenommen  die  Glück- 
seligkeit enthalten  ist,  nur  willkürlich  bestimmt:  so  ist  für  keinen 
ein  Weg  zu  zeichnen  zu  seiner  Glückseligkeit,  und  keiner  weiß 
nach  einer  Regel,  was  er  suchen  soll,  und  wessen  sich  enthalten. 
Wodurch  offenbar  die  ganze  Ethik  aufgehoben  würde.  Sind  sie 
aber  wesentlich  und  der  Natur  nach  voneinander  abgesondert,  so 
daß  es  bestimmte  Gründe  gibt,  warum  jedes  Element  nur  der 
einen  und  nicht  irgendeiner  andern  eigen  sein  kann,  unter  wel- 
cher Bedingung  allein  diese  Ethik  besteht:  dann  müssen  auch  teils 
alle  untereinander  ein  System  der  zweiten  Art  ausmachen,  indem 
sie  ein  Inbegriff  sind  der  Erscheinungen,  unter  denen  sich  ein 
allgemeines  offenbart.  Teils  auch  muß  in  jeder  einzelnen  das 
für  sie  mögliche  durch  ein  gemeinschaftliches  Merkmal  verknüpft 
und  unter  einer  Formel  befaßt  sein,  welche  es  erschöpft,  so 
daß  wiederum  jede  auch  ein  System  der  ersten  Art  ausmacht. 
Da  nun  jede  Sittenlehre  zu  einer  von  diesen  Abteilungen  gehört, 
der  tätigen  oder  genießenden,  so  ist  offenbar,  daß  jede  als  System 
muß  betrachtet  und  geprüft  werden.  Dasselbe  hätte  auch  können 
gezeigt  werden  aus  jeder  andern  von  den  oben  bemerkten  Ver- 
schiedenheiten der  ethischen  Grundideen;  es  reicht  aber  hin,  daß 
es  durch  eine  ist  entwickelt  worden,  zumal  durch  die  leichteste 
und  verständlichste. 


254  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,252] 

2. 

Von  den  Momenten  der  Prüfung  nach  dieser  Idee. 

Soll  nun  ferner  untersucht  werden,  wie  denn  zu  entscheiden 
ist,  ob  eine  Darstellung  der  zu  prüfenden  Wissenschaft  dieser  Idee 
angemessen  ist,  oder  nicht,  so  kann  dieses  ersehen  werden  teils 
aus  dem  Gehalte  derselben,  teils  auch  aus  ihrer  Gestalt.  Denn 
beide  stehen  in  einem  so  genauen  Zusammenhange, 
daß  die  Vollkommenheit  der  Gestalt  allemal  Bürg- 
schaft leistet  für  die  Gleichartigkeit  und  Vollstän- 
digkeit des  Inhaltes,  und  wiederum  diese  nicht  vorhanden 
sein  kann,  ohne  sich  von  selbst  in  eine  schöne  und  genügende 
Gestalt  zu  ordnen;  welches  besonders  zu  erweisen  überflüssig 
sein  würde.  Es  ist  aber  dieser  Zusammenhang  nicht  von  der 
Art,  daß,  wo  UnvoUkommenheit  stattfindet,  jedem  Mangel  des 
Inhaltes  auch  ein  gleicher  und  ähnlicher  der  Gestalt,  es  sei  nun 
als  Ursach  oder  als  Wirkung,  entspreche  und  umgekehrt;  in 
welchem  Falle,  der  sich  aber  mit  der  Verschiedenheit  beider 
Gegenstände  nicht  verträgt,  es  genug  sein  würde,  nur  einen  und 
gleichviel  welchen,  prüfend  zu  betrachten.  Vielmehr  können  als 
Wirkungen  einer  gemeinschaftlichen  Ursach,  nämlich  eines  Fehlers 
in  der  zum  Grunde  liegenden  Idee,  beide  sich  auf  mannigfaltige 
Weise  aufeinander  beziehen,  und,  was  im  Gehalt  als  ein  ein- 
zelner Mangel  erscheint,  die  ganze  Gestalt  verderben  oder  um- 
gekehrt. So  wie  auch  im  menschlichen  Körper  die  Mißgestalt  eines 
Gefäßes  mehrere  ganz  verschiedene  Säfte  verderben,  und  die 
schlechte  Beschaffenheit  oder  der  Mangel  einer  Flüssigkeit  eine 
Verunstaltung  des  ganzen  Gebildes  verursachen  kann.  Und  eben 
deshalb  ist  es  notwendig,  beides,  Gestaltung  und  Inhalt,  abgesondert 
zu  betrachten,  um  teils  desto  sicherer  an  dem  einen  zu  entdecken, 
was  bei  Betrachtung  des  andern  vielleicht  der  Aufmerksamkeit  ent- 
geht, teils  auch  das  Auffinden  der  Ursachen  einem  jeden  zu  erleich- 
tern, soweit  es  die  Grenzen  des  gegenwärtigen  Geschäftes  gestatten. 


[111,1,  253]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  255 

Was  nun  zuvörderst  den  Inhalt  einer  Ethik  betrifft,  so  ent-  Inhalt 
steht  aus  der  Idee  eines  Systems  an  denselben  die  doppelte  Forde-  Ethik. 
rung,  daß  alles  einzelne,  was  darin  aufgeführt  ist,  auch  wesent- 
lich hineingehöre,  und  das  Merkmal  an  sich  trage,  wodurch  da? 
Ganze  verbunden  ist.  Dann  auch  ferner,  daß  alles,  was  dem 
Ganzen  angehört,  wirklich  darin  zu  finden  sein  muß,  und  jede 
Frage  dieser  Art  aus  demselben  muß  können  entschieden  werden, 
wenn  sie  nur  mit  Verstand  und  auf  die  rechte  Weise  ist  auf- 
geworfen worden.  Über  die  erste  dieser  Forderungen  aber  ent-  1. 
halten  schon  die  Ergebnisse  des  zweiten  Buches  eine  ungünstige 
Entscheidung.  Denn  wenn,  wie  dort  gezeigt  worden,  in  fast  jeder 
Darstellung  der  Ethik  die  Elemente  in  solche  Begriffe  zusammen- 
gefaßt sind,  welche  nach  keiner  Idee  sich  als  reinsittlich  bewähren, 
sondern  Sittliches  und  Unsittliches  vermischt  enthalten,  und  wenn 
ferner  in  den  verschiedensten  Darstellungen,  deren  Grundideen 
gänzlich  voneinander  abweichen,  dennoch  dieselben  Begriffe  an- 
getroffen werden:  so  ist  offenbar  genug,  daß  nirgends  alles  im 
System  Aufgeführte  demselben  angehört,  sondern  Fremdartiges 
überall  eingemischt  ist.  Und  was  hieraus  folgt  für  den  gegenwärti- 
gen Zustand  der  Wissenschaft  überhaupt,  und  für  die  ethische  wie 
auch  systematische  Fähigkeit  derjenigen,  welche  diese  Darstel- 
lungen aufgeführt  haben  und  durch  sie  befriediget  werden,  dies 
ist  ebenfalls  dort  hinreichend  angedeutet.  Es  trifft  aber  dieser 
Vorwurf  nur  die  Darstellungen  der  Sittenlehre,  wie  sie  gegenwärtig 
sind,  nicht  aber  kann  hiedurch  entschieden  werden,  daß  sie  besser 
sein  könnten,  und  daß  es  unmöglich  wäre  auf  demselben  Grund, 
auf  welchem  sie  aufgeführt  sind,  bessere  und  tadellose  Grenzen 
zu  erbauen.  Denn  um  dieses  zu  erweisen,  müßte  gezeigt  werden, 
daß  auch  mit  dem  richtigsten  sittlichen  und  wissenschaftlichen  Sinn 
wegen  Verkehrtheit  der  ersten  fdee  in  Übereinstimmung  derselben 
richtige  und  in  sich  bestehende  Begriffe  nicht  könnten  gebildet 
werden.  Eine  solche  Behauptung  aber  kann  nur  von  einer  polemi- 
schen Absicht  aus  entstehen,  und  auch  schwerlich  mit  bloß  kriti- 


256  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  254] 

sehen  Hilfsmitteln  durchgeführt  werden.  Vielmehr  muß  die  Kritik, 
welche  sich  durch  keine  vorgefaßte  Meinung  verunreinigen  darf, 
sich  hinneigen  zu  Versuchen,  solche  zufällige  Fehler  zu  verbessern, 
und  muß  ein  Urteil  über  das  Ganze,  sofern  es  auf  diesen  Grün- 
den beruhen  soll,  verschieben,  bis  jedes  auf  die  möglich  beste  Art 
ist  vollendet  worden.  Deshalb  nun  ist  die  Aufmerksamkeit  vor- 
züglich zu  lenken  auf  die  zweite  Forderung,  nämlich  auf  des  In- 
haltes Vollständigkeit.  Diese  aber  ist  nicht  so  zu  verstehen,  als 
ob  in  jeder  Darstellung  alles  ihrer  Idee  zufolge  ethisch  Mögliche 
auch  ausdrücklich  müßte  aufgeführt  sein.  Vielmehr  muß  in  dieser 
Hinsicht  jede  Darstellung  eines  Systems  unvollkommen  sein,  schon 
weil  das  Reale  für  das  Geschäft  der  Absonderung  immer  ein 
Unendliches  darbietet,  und  also  einzelnes  kann  herausgegriffen 
werden,  welches  in  einer  gegebenen  Darstellung  nur  unter  einem 
andern  befaßt  ist.  Noch  mehr  aber,  wenn  das  Reale  wie  hier 
unmittelbar  ein  Geistiges  ist,  für  welches  ja  durch  alles,  was 
erfolgt,  allmählich  die  Bedingungen  sich  ändern,  und  folglich  mit 
ihnen  auch  die  Gestalt  des  Bedingten.  So  muß  besonders  in 
Absicht  auf  den  PfUchtbegriff  einleuchtend  sein,  wie  unmöglich 
eine  Vollständigkeit  wäre,  welche  alles  genau  enthielte,  was  irgend- 
einer aus  dem  ihm  Vorliegenden  sich  als  Pflicht  berechnet.  Über- 
haupt aber  muß  es  bei  dem  Fortschritt  und  der  weiteren  Bildung 
und  Realisierung  des  Sittlichen  unmöglich  erscheinen,  daß  eine 
Sittenlehre  aus  der  alten  Zeit  alles  ausdrücklich  enthalten  könnte, 
was  von  den  Genossen  der  jetzigen  zu  fordern  ist,  und  ebenso- 
wenig in  einer  jetzigen  für  eine  ferne  Zukunft.  Sondern  es  ist 
nur  gemeint,  daß  nichts  Sittliches  so  ganz  fehlen 
darf,  daß  nicht  der  Ort  aufzuzeigen  wäre,  an  wel- 
chem es  unter  einem  andern  ausdrücklich  Benannten 
mit  enthalten  wäre;  und  ebenso,  daß  für  jedes  geforderte 
Urteil  die  Gründe  in  einem  wirklich  aufgestellten  müssen  zu  finden 
sein.  Auch  in  dieser  Bedeutung  nun  sind  bereits  oben  einige 
Mängel  angeführt  worden,  welche  aus  der  besondern  Beschaffen- 


(111,1,  255]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  257 

heit  dieser  oder  jener  ethischen  Idee  notwendig  zu  folgen  scheinen. 
Wenn  nun  hier  nicht  nur  aus  Betrachtung  des  Vorhandenen  diese 
bestätigt,  sondern  ebenso  mehrere  Neue  hinzugefügt  werden,  viel- 
leicht ohne  eine  notwendige  Ursach  davon  in  irgendeinem  Merk- 
mal der  zum  Grunde  Hegenden  Idee  aufzuzeigen:  so  könnte  es 
scheinen,  als  ob  die  letzteren  ebenfalls  nur  den  zufälligen  ver- 
änderlichen Zustand  eines  jeden  Systems  anzeigten,  nicht  aber 
ein  Urteil  über  seine  wesentliche  Beschränktheit  und  Untauglich- 
keit  begründen  könnten.  Es  verhält  sich  aber  hiemit  anders  als 
mit  dem,  was  an  der  Richtigkeit  des  einzelnen  auszustellen  war, 
und  zwar  aus  diesen  Gründen.  Zuerst  nämlich  kann  der  wesent- 
liche Grund  solcher  Mängel,  wenn  er  nicht  in  der  Hauptidee  des 
Systems  zu  finden  ist,  in  demjenigen  Begriff  der  menschlichen 
Natur  liegen,  welcher  dabei  als  Bezeichnung  des  Umfanges  und 
als  Grund  der  Einteilung  angenommen  ist;  und  daß  zwischen 
beiden  wiederum  ein  notwendiger  Zusammenhang  stattfindet,  ist 
bereits  anfänglich  erinnert.  Dann  aber  ist  auch  ein  anderes:  selbst 
erfinden  und  aufbauen,  ein  anderes:  nur  das  Vorhandene  ver- 
gleichend bemerken  und  anreihen.  Jenes  nämlich  kann  auch  bei 
einer  richtigen  Idee  mißlingen,  wenn  der  sittliche  Sinn  von  dem 
wissenschaftlichen  nicht  gehörig  geleitet  wird,  da  denn  die  Dar- 
stellung zwar  unrichtig  sein  wird,  im  Handeln  aber  vielleicht  das 
Gefühl  berichtigt,  was  die  Begriffe  verworren  haben,  ohne  daß 
dieses  auch  sogleich  auf  die  Darstellung  vorteilhaft  zurückwirkt. 
Wenn  aber  ein  im  System  gar  nicht  berührter  und  unstreitig 
ethischer  Gegenstand  in  der  Erfahrung  w^irklich  vorkommt,  gleich- 
viel ob  auf  eine  richtige  oder  unrichtige  Art  behandelt:  so  muß 
doch  notwendig  der  sittliche  Sinn,  wo  er  vorhanden  ist,  die  in 
der  Tatsache  liegende  Aufgabe  wahrnehmen,  und  der  Idee  an- 
gemessen, was  recht  ist,  über  den  Gegenstand  bestimmen.  Ja 
auch,  wenn  jener  schwiege,  müßte  doch  der  wissenschaftliche 
Sinn  bemerken,  daß  ihm  ein  Ort  entgangen  ist,  und  ausfüllend 
auf  die  erste  Quelle  des  Mangels  zurückgehen.    Je  weniger  aber 

Schleiermacher,  Werke.    I.  17 


258  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,256] 

bei  einer  solchen  Aufforderung  die  Lücke  wahrgenommen  wird, 
um  desto  sicherer  fehlt  es  auch  der  Idee  an  irgendeiner  nötigen 
■Eigenschaft,  um  das  Ganze  aus  ihr  abzuleiten.  Ja  überhaupt,  wenn 
mangelhaft  ist  die  sittliche  sowohl,  als  die  wissenschaftliche  Fähig- 
keit derer,  welche  eine  Idee  hervorgebracht  und  angenommen 
haben,  was  für  ein  Grund  bleibt  noch  übrig,  um  sie  für  die  richtige 
zu  halten?  Darum  nun  sind  wesentliche  Mängel  dieser  Art  jeder- 
zeit entscheidend  für  die  Untauglichkeit  eines  Systems. 

Was  aber  auf  der  andern  Seite  die  Gestalt  des  Ganzen  be- 
trifft: so  ist  hier  ebenfalls  die  erste  Forderung  die  der  durch- 
gängigen Richtigkeit  und  Übereinstimmung  des  inneren  Glieder- 
baues. Über  diese  jedoch  ist  ebenfalls  zu  dem  im  zweiten  Buche 
bereits  Abgehandelten  nichts  hinzuzusetzen.  Denn  die  unstatthafte 
Einteilung  der  formalen  Begriffe,  welche  sich  fast  durchgängig 
offenbarte,  und  der  Mißverstand  in  ihren  ersten  Verhältnissen  zu- 
einander gibt  genugsam  zu  erkennen,  daß  an  eine  richtige  Gliede- 
rung noch  nirgends,  am  wenigsten  aber  in  den  am  weitesten  aus- 
geführten Systemen  zu  denken  ist,  sondern  sie  meistenteils  wider- 
natürlich, teils  Fremdartiges  verknüpfen,  .teils  das  Zusammen- 
gehörige auseinanderwerfen.  Dennoch  aber  könnte  durch  ge- 
schickte Auseinanderlegung  vielleicht  auch  ein  so  verunstaltetes  in 
ein  wohlgeordnetes  und  richtiges  System  sich  verwandeln  lassen. 
So  daß  auch  hier  entscheidender  ist  die  zweite  Forderung,  die  der 
Vollständigkeit.  Welche  jedoch  auch  nicht  so  zu  verstehen  ist,  daß 
alle  verschiedenen  Beziehungen  der  einzelnen  Teile  oder  der  Be- 
handlungsarten aufeinander  müßten  aufgezeichnet  sein.  Vielmehr 
ist  natürlich,  daß  eben  das  wahrste  und  schönste  Ganze  hierin  am 
unerschöpflichsten  ist,  und  also  in  der  Darstellung  das  meiste  dem 
Betrachter  selbst  aufzusuchen  überlassen  muß;  nur  daß  mit  den 
wichtigsten  dieser  Beziehungen  auch  die  Regeln  um  die  übrigen 
aufzufinden  müssen  gegeben  sein.  Die  Vollständigkeit  aber,  welche 
in  einem  strengeren  Sinne  gefordert  wird,  ist  auf  der  einen  Seite 
das  Ebenmaß  der  äußeren  Umrisse,  auf  der  andern  aber  die  Be- 


[111,1,  257]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  259 

stimmtheit  und  Verständlichkeit  der  Grenzen  der  Wissenschaft 
gegen  die  übrigen  nahegelegenen  und  verwandten,  ohne  welche 
die  ursprüngliche  Idee  unmöglich  eine  richtige  sein  kann.  Dies 
also  ist  es,  was  in  Hinsicht  auf  den  Inhalt  und  die  Gestalt  der 
bisher   aufgestellten   ethischen  Systeme   wird  zu   prüfen   sein. 


Erster  Abschnitt. 

Von  der  Vollständigkeit  der  ethischen  Systeme  in  Absicht 

auf  den  Inhalt. 

I.  Das  „Wie"  des  Handelns.^ 

Das  erste  nun,  was  in  Beziehung  auf  diese  Frage  unter- 
sucht wird,  sei  dieses,  ob  dasjenige,  was  in  den  bisherigen  Dar- 
stellungen der  Sittenlehre  wirklich  aufgeführt  wird,  auch  so  durch- 
gängig bestimmt  ist,  daß  es  mit  Recht  als  das  treffende  Bild 
eines  der  angenommenen  Idee  gemäßen  menschlichen  Handelns 
kann  angesehen  werden.  Und  hier  wird  jeder  sogleich  gestehen 
müssen,  daß  von  allem  fast,  wovon  das  Was  ist  bestimmt  worden, 
das  Wie  wenigstens  fast  überall  hat  unbestimmt  bleiben  müssen. 
Alle  sittlichen  Vorschriften  nämlich  sind  so  weit,  daß  ohne  ihnen 
zuwiderzulaufen  dieselbe  Pflicht  auf  sehr  verschiedene  Arten  kann 
ausgeübt  werden,  und  zwar  so,  daß  die  Ähnlichkeit  der  Hand- 
lungen in  ihrem  Innern  Wesen  ganz  verschwindet,  und  nur  die 
äußere  des  Bewirkten  übrig  bleibt  oder  die  allgemeine  des  End- 
zwecks. So  zum  Beispiel  können  mehrere  dieselbe  Pflicht  der 
vergeltenden  Gerechtigkeit  ausüben  nach  gleichen  Grundsätzen, 
mit  gleicher  Hinsicht  auf  das  gemeine  Wohl  oder  das  persönliche 
Verdienst  und  gleichen  Vorstellungen  von  dem  zu  beobachtenden 
Maß,  dennoch  aber  mit  so  verschiedenen  Abstufungen  des  be- 
gleitenden Gefühls  von  der  entschiedensten  Kälte  an  bis  zur  be- 
wegtesten Teilnehmung,  daß  die  äußersten  Enden  mehr  entgegen- 
^  Hinzugefügte  Überschrift. 

17* 


260  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,258] 

gesetzt   erscheinen  durch  diese   Verschiedenheit  als   gleich  durch 
jene  Übereinstimmung  mit  der  gleichen  Vorschrift.   Ebenso  können 
mehrere  die  Verbindlichkeit  erfüllen,  ihre  Überzeugung  mitzuteilen 
gegen  eine  ihr  zuwiderlaufende;  der  eine  aber  mit  begeistertem 
Eifer,   der  andere  mit  bedachtsamer  Gelassenheit,   und  der  eine 
nur  sich  verteidigend,  und  nicht  mehr,  als  unmittelbar  zum  Zweck 
gehörig  ist,  ausführend,  der  andere  aber  tiefer  in  den  Zusammen- 
hang eindringend,  und  mehr  im  großen,  um  Bahn  zu  machen  der 
künftigen    Erörterung   ähnlicher   Verschiedenheiten.    Andere    Un- 
gleichheiten gäbe  es  in  der  Art  den  Beruf  auszuüben  und  zu  ver- 
vollkommnen, und  dabei  das  Nachdenken  mit  der  Ausübung  zu 
verbinden.     Denn    wie   bei    einem    einzelnen    Werk    andere   nach 
anderer    Ordnung    verfahren,    der   eine    nämlich    erst    einen    Teil 
vollendet,  der  andere  gleichmäßig  alle  bearbeitet:  so  kann  auch 
das  ganze  geschäftige  oder  bildende  Leben  verschieden  eingerichtet 
sein.     Und   viele   andere    Beispiele   könnten   von   allen   Seiten   an 
diese  angeknüpft  werden ;  es  können  aber  auch  die  angeführten 
schon  hinreichen,  um  jedem  bemerklich  zu  machen,  wie  diese  Un- 
bestimmtheit über  das  ganze   Gebiet  der   Pflicht  sich  verbreitet. 
Vielleicht  nun  könnte  jemand  hierauf  verteidigend  anwenden,  was 
Kant  irgendwo  sagt,  daß  in  jeder  Handlung  mehrere  Pflichten 
zusammenkommen,   und  daß   also  der  Aufschluß   über  das  Wie 
unter  einem  andern  Abschnitt  könne  zu  finden  sein,  als  jener  über 
das   Was.    Allein  dieses   ist  zuvörderst   zufolge   desjenigen,   was 
oben  im  Zusammenhange  zur  Erörterung  des   Pflichtbegriffs  ist 
durchgeführt  worden,  eine  gänzliche  Verdrehung  desselben,  und 
auf  solche  Weise  ließen  sich  die  Mängel  des  Systems  der  Reihe 
nach   einem  Teile  nach  dem   andern   zuschieben,  ohne  irgendwo 
wirklich  erlediget  zu  werden.   Denn  das  Wesen  des  Pflichtbegriffs 
besteht  eben  darin,  zu  bestimmen,  was  das  ganze  Sittliche  ist  für 
ein  gegebenes  Handeln  oder  einen  gegebenen  Moment,  und  diese 
Bestimmung  also  muß  vermittelst  desselben  an  einer  Stelle  ganz 
und  ungeteilt  können  gefunden  werden.    Wie  es  mit  dieser  Ent- 
schuldigung beschaffen  ist,  erhellt  aber  auch   daraus,  wenn  man 


[111,1,259]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  261 

nur  auf  den  Gedanken  achtend  und  die  unrichtige  Bezeichnung 
übersehend,  die  richtigere  stoische  an  die  Stelle  setzt  von  der 
Gegenwart  mehrerer  oder  aller  Tugenden  in  einer  Handlung.  Denn 
alle  jene  Besonderheiten  der  Art  und  Weise  kann  man,  wenn  sie 
das  Maß  nicht  überschreiten,  unter  den  Namen  einer  Tugend 
bringen.  Nun  aber  kann  es  unmöglich  gleichgültig  sein,  ob  nur 
auf  eine  Weise  oder  auf  verschiedene  die  verschiedenen  Tugenden 
in  jedem  Falle  dürfen  verknüpft  sein.  Also  wird  die  Forderung 
anerkannt  nicht  nur,  sondern  auch  notwendig  auf  den  Pflicht- 
begriff zurückgeworfen.  Und  ebenso  würde  sie  auf  ihn  zurück- 
kommen, wenn  man  die  Frage  ursprünglich  aus  dem  Gesichts- 
punkt der  Güter  betrachten  wollte.  Es  ist  aber  wohl  zu  merken, 
daß,  was  die  Kritik  fordert,  um  dem  Mangel  abzuhelfen,  nicht  Bedeutung 
dieses  ist,  daß  für  jeden  Fall  eine  einzig  mögliche  Handlungs-  Individualität 
weise  als  sittlich  aufgestellt  werde :  denn  sie  kann  im  voraus  nicht  für  die  Ethik, 
entscheiden,  ob  es  nur  eine  gibt  oder  viele.  Sondern  nur,  daß 
eben  diese  durch  die  Erfahrung  aufgegebene  Frage  wissenschaftlich 
beantwortet,  und  im  letzten  Falle  Umfang  und  Bedingungen  der 
angenommenen  Mehrheit  bestimmt  werde,  damit  jeder  das  Sitt- 
liche unterscheiden  könne  von  dem  Unsittlichen.  Denn  dieses  in 
der  Ethik  vorüberzugehen,  ist  nicht  leichter  zu  entschuldigen,  als 
wenn  eine  Anweisung  zur  bildenden  Kunst  mit  allgemeinen  Vor- 
schriften sich  begnügend,  den  Umstand  gar  nicht  wahrnehmen 
wollte,  daß  es,  und  zwar  für  jeden  Gegenstand  sehr  verschiedene 
Arten  gibt,  ihn  zu  behandeln  in  der  Darstellung,  welche  doch  alle 
jenen  allgemeinen  Vorschriften  nicht  widerstreiten.  So  wie  nun 
die  Kunstlehre  sich  darüber  entscheiden  muß,  ob  alle  diese  bis  auf 
eine  jedesmal  nur  können  fehlerhafte  Manieren  sein,  oder  welche 
und  welche  nicht;  so  auch  die  Sittenlehre ^  Wollte  aber  jemand 
sagen,  es  seien  diese  Verschiedenheiten  weniger  bedeutend  als 
auf  dem  Gebiete  der  Kunst  auf  dem  der  Sittenlehre,  wo  sie  daher 
willig  und  billig  vernachlässigt  würden,  der  hat  die  Ähnlichkeit 

1  Vgl.  S.  m. 


2ö2  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,260] 

des  Beispiels  nicht  verstanden,  nocii  bedenkt  er,  wie  weit  diese 
Abweichungen  sich  erstrecken,  und  in  welcher  Gestalt  sie  im 
großen  betrachtet  erscheinen.  Denn  sie  beruhen  am  Ende  auf  der 
besondern  Art,  wie  die  Gedanken  sich  aneinanderreihen,  und  wie 
die  Gefühle  sich  untereinander  und  gegen  jene  verhalten,  worin 
fast  jeder  seine  eigene  Weise  hat,  durch  alle  Teile  des  Lebens  hin- 
durchgehend, und  in  allen  Handlungen  wiederzuerkennen.  Welche 
natürliche  Beständigkeit  auch  die  Ursach  sein  mag,  warum  teils 
bei  einzelnen  Vorschriften  hierüber  nichts  bestimmt  ist,  teils  auch 
im  ganzen  dieses  Eigentümliche^  einer,  wenngleich  nur  stillschwei- 
genden und  eben  darum  unwissenschaftlichen.  Unverletzlichkeit 
genießt.  Denn  das  gemeine  Urteil  wenigstens  erkennt  diese  an, 
indem  es  die  Handlung,  welche  dem  einen  als  aus  seiner  fest- 
stehenden Regel  hervorgegangen  ungetadelt  hingeht,  einem  an- 
deren in  gleichem  Falle  als  mit  der  seinigen  nicht  übereinstimmend 
zum  Vorwurf  rechnet.  Im  großen  betrachtet  also,  wo  sich  doch 
über  den  Wert  eines  jeden  Sittlichen  am  besten  urteilen  läßt, 
ist  dieses  der  wichtige  und  schwierige  Ort  von  der  Verschiedenheit 
der  Gemütsstimmung,  oder  um  es  für  den  Fall,  daß  diese  Ver- 
schiedenheit sittlich  möglich  ist,  mit  dem  würdigsten  Namen  zu 
nennen,  von  der  Verschiedenheit  des  Charakters.  Welcher  gewiß 
für  die  Sittenlehre  nicht  unbedeutender  sein  kann,  als  der  von 
der  Mannigfaltigkeit  des  Stils  für  die  Kunstlehre;  ihn  aber  den- 
noch dafür  aufzugeben,  wäre  das  Unverständigste,  und  der  deut- 
lichste Beweis,  daß  das  eigentHche  Wesen  der  Sittlichkeit  ganz 
ist  verkannt  worden.  Denn  nur  derjenige,  welchem  es  lediglich 
um  die  äußere  Tat  zu  tun  wäre,  dürfte  von  dieser  Mannig- 
faltigkeit keine  Kenntnis  nehmen;  wer  aber  unter  dem  Sittlichen 
versteht  den  ganzen  Inbegriff  dessen,  was  in  einem  gegebenen 
Falle  im  Gemüt  vorgegangen  ist,  von  dem  muß  sie  wohl  be- 
trachtet und  eine  Entscheidung  darüber  gefaßt  werden.  Um  nun 
das  Ganze  in  wenige  Worte  zu  vereinigen,  so  ist  die  Frage  diese, 
ob  das  Ideal  des  Weisen  ein  Einfaches  ist  oder  ein  Vielfaches, 
'   Eigentümlichkeit  ^^  Individualität  und  Persönlichkeit  bei  Schleiermacher. 


1111,1,261]  lil.  Kritik  der  etliischen  Systeme.  263 

und  gefordert  wird,  daß  jede  Ethik  diese  Frage,  auf  welche  Weise 
es  auch  sei,  entscheiden  solle.  Denn  bei  der  Unbestimmtheit  der 
sittlichen  Vorschriften  in  allen  Systemen  können  mehrere  Men- 
schen denselben  fortschreitend  in  gleichem  Maße  Genüge  leisten, 
und  werden  also  angesehen  werden  als  dem  Ideal  des  Weisen 
gleichmäßig  annähernd;  dennoch  aber  können  sie  in  ihrem  Han- 
deln und  Sein  sich  wesentlich  verschieden  zeigen.  Soll  daher  die 
Ethik  ihren  Gegenstand  bestimmen,  so  muß  sie  auch  entscheiden, 
ob  mehrere  solche,  ohne  diesen  Unterschied  aufzuheben,  das  Ideal 
erreichen  könnten,  in  welchem  Falle  es  für  jeden  in  gewisser  Hin- 
sicht ein  anderes  sein  würde,  oder  ob  es  schlechthin  für  alle 
durchaus  dasselbe  ist,  und  also  der  Unterschied  bei  allen  entweder 
allmählich  verschwinden,  oder  einer  in  die  Weise  des  andern 
übergehen  müsse.  Es  ist  aber  auch  der  Ausweg  abgeschnitten, 
daß  dieses  zusammenhange  mit  einer  unerklärlichen  und  jenseit 
des  Gebietes  der  Ethik  gelegenen  natürlichen  und  angeborenen 
Verschiedenheit  der  Menschen.  Denn  nichts,  was  das  wirkliche 
menschliche  Handeln  betrifft,  liegt  jenseit  des  Gebietes  der  Ethik, 
weil  alles  angesehen  wird  als,  wenn  auch  nicht  der  Anlage,  wenig- 
stens der  Kraft  nach,  durch  die  Übung  und  das  zufällige  will- 
kürliche Handeln  selbst  entstanden,  und  also  auch  sittlich  zu 
beurteilen.  Ist  also  jene  Verschiedenheit  anzusehen  als  der  einen 
und  unteilbaren  Gestalt  des  Guten  zuwider,  so  wird  sie  auch  ge- 
setzt als  sittlich  zu  vernichten,  und  dies  muß  eine  Aufgabe  der 
Ethik  sein.  Wo  aber  nicht:  so  muß  sie  anerkannt  werden  als 
ein  sittlich  Hervorzubringendes  oder  Auszubildendes,  und  also  auf 
jeden  Fall  ihren  Platz  finden  in  der  Ethik,  weil  der  Begriff  des 
Gleichgültigen  für  diese  Wissenschaft  gänzlich  aufgehoben  ist. 
Dieses  nun  ist  es,  worüber  in  den  meisten  Sittenlehren  gar  nichts 
und  in  keiner  etwas  Genügendes  bestimmt  wird.  Denn  wo  das 
Ideal  des  Weisen  nicht  ausdrücklich  als  eins  gesetzt  wird,  da 
wird  doch  auch  die  Mannigfaltigkeit  des  Sittlichen  nicht  gehörig 
anerkannt  und  bestimmt;  noch,  wo  jenes  geschieht,  die  Einförmig- 
keit ausdrücklich  festgesetzt  und  deutlich  vorgezeichnet.  Soviel  abc^r 


264  Grundlinien  einer  Kritilc  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  262} 

wird  jeder  sehen,  daß  die  Entscheidung  der  Frage  selbst  zunächst 
abhängt  von  jener  bereits  erwähnten  Verschiedenheit  der  Ansicht, 
ob  nämlich  das  Sittliche  nur  ein  allen  Gemeinschaftliches  sein  soll 
oder  auch  ein  Besonderes  und  Eigentümliches;  und  es  scheint  aus 
diesem  Erfolg,  als  ob  jener  Unterschied  nicht  wäre  deutlich  genug 
ins   Bewußtsein  gekommen.    Wird  nun   auf  dasjenige   zurückge- 
sehen, was  oben  schon  hierüber  beigebracht  worden,  daß  nämHch, 
Eudämo-  was  zuerst  die  Sittenlehre  des  Genusses  anbetrifft,  diese  um  sich 
msmus.    selbst  zu  erhalten  notwendig  ein   Eigentümliches  der  Sittlichkeit 
annehmen  muß,  weil  die  Glückseligkeit  nicht  anders  als  in  viel- 
fachen   Gestalten   ganz   und    wirklich    vorhanden    sein,    und    nur 
geteilt,  beides  in  Beziehung  auf  die  Gegenstände  sowohl,  als  auf 
die  Art  sie  zu  behandeln,  von  Verschiedenen  auf  verschiedene  Weise 
kann  hervorgebracht  werden:  so  ist  von  diesen  Systemen  die  aus- 
gebreitetste   Behandlung  des  Besonderen  und  Vielfachen  in   der 
Sittlichkeit  und  Aufzeichnung   der  verschiedenen  Arten,  wie   die 
Menschen  können  weise  werden,  mit  Recht  zu  erwarten.  Dem  ganz 
entgegen   findet  sich  das   Wenige,  was   der   Eudämonismus  von 
dieser  Art  aufzuweisen  hat,  und  was  keinem  anders  als  fragmen- 
tarisch und  unzureichend  erscheinen  wird,  fast  nur  in  den  nicht 
wissenschaftlichen  Darstellungen  zerstreut;  die  zusammenhängen- 
den aber  halten  sich  alle  vornehmlich  nur  an  das  Gemeinschaft- 
liche, welches,  da  es  kein  Allgemeines  sein  kann,  ein  Unbestimmtes 
sein  muß.  Schon  dieses  nun  kann  unmöglich  ein  vorteilhaftes  An- 
zeichen sein  für  ein  System,  wenn  das  Richtige  und  Notwendige 
mehr  in  anderer  Gestalt  vorhanden  ist  als  in  der  wissenschaft- 
lichen; weil  nämlich  mit  Recht  die  Vermutung  entsteht,  daß  der 
Inhalt  der  wissenschaftlichen  Gestalt  widerspricht,  und   eins  das 
andere    zerstört.    Wie   denn    auch   die    Ursachen    dieses   Mangels 
darin  vornehmhch  möchten  zu  finden  sein,  daß  seinem  Geiste  treu 
bleibend  das  System  das  Gemeinschaftliche  ganz  müßte  vernach- 
lässigen, so  daß  es  nicht  einmal  dem  Besonderen  zur  beschränken- 
den Bedingung  dienen  könnte,  und  dieses  also  gar  nicht  zu  bändi- 
gen und  zusammenzuhalten  wäre,  sondern  ins  Unbestimmte  und 


[111,1,  263]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  265 

Unendliche  zerfahren  müßte.  Daher  denn  die  furchtsame  Unvoll- 
ständigkeit  und  UngründHchkeit,  welche  jedem  in  jeder  Sittenlehre 
dieser  Art  auffallen  muß.  Was  aber  zweitens  die  Sittenlehre  Tätigkeits- 
der  Tätigkeit  anbetrifft,  so  folgt  aus  dem  gemeinschaftlichen  Geiste  " 
derselben  keineswegs  eine  solche  vorzügliche  Hinneigung  zum 
Anerkennen  und  Darstellen  eines  besonderen  und  eigentümlichen 
Sittlichen.  Denn  wenngleich  oben  gesagt  worden,  daß  auch  in 
diesen  Systemen,  recht  verstanden,  das  höchste  Gut  ebenfalls 
nicht  von  jedem  ganz,  sondern  nur  von  allen  gemeinschaftlich  kann 
hervorgebracht  werden:  so  bezieht  sich  doch  diese  Teilung  nur 
auf  das  Bewirkte,  nicht  aber  auf  das  innere  Handeln,  welches, 
wenn  kein  anderer  Bestimmungsgrund  eintritt,  in  allen  das  näm- 
Uche  sein  kann.  Nirgends  also  liegt  in  dem,  was  allen  Systemen 
dieser  Art  gemein  ist,  eine  Notwendigkeit,  daß  die  der  Weisheit 
sich  annähernden  nicht  nur  der  Lage  nach,  sondern  auch  an  sich 
müßten  verschieden  sein.  Daher  zu  erwarten  wäre,  daß  andere 
Verschiedenheiten  der  Ansicht  eine  Mannigfaltigkeit  der  Denkart 
über  diesen  Gegenstand  sollten  hervorgebracht,  und  einige  auf 
diese,  andere  auf  jene  Seite  sollten  hingeneigt  haben,  bestimmt 
aber  müßte  ein  jeder  sein.  Allein  fast  gänzlich  ist  von  allen  das 
Eigentümliche  nicht  sowohl  verworfen  als  übersehen  worden,  und 
die  Unvollkommenheiten  sind  vielfach,  welche  man  in  dem  Ganzen 
erblickt,  wenn  dieser  Gesichtspunkt  einmal  gefaßt  ist.  Zuerst  als 
Einwurf  möchten  manchem  hier  einfallen  als  ein  Versuch  die  Schil- 
derungen, welche  die  Peripatetikerzu  machen  pflegten,  welche 
aber  nicht  hieher  gehören,  da  sie  nur  auf  die  äußeren  Erschei- 
nungen einzelner  vornehmlich  zu  tadelnder  Eigenschaften  sich  er- 
strecken. Dagegen  ist  der  Mangel  um  so  offenbarer,  daß  derselbe 
Beobachtungsgeist  sie  nicht  auch  auf  jene  größeren  Eigentümlich- 
keiten geführt  hat,  um  so  mehr,  da  nach  ihren  Grundsätzen 
jede  Abweichung  von  einem  gemeinschaftlichen  Urbilde  ihnen 
ebenfalls  als  verwerflich  hätte  erscheinen  müssen.  Denn  da  die  Un- 
bestimmtheit des  einzelnen  Sittlichen  und  der  gänzliche  Mangel  der 
Idee  eines  Berufs  den  Aristoteles  veranlassen  konnte,  auch  das 


266  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  264] 

unbestreitbar  Sittliche  in  Vergleich  miteinander  zu  setzen  und  die 
schönsten  Handlungen  den  schönen  vorzuziehen,  wieviel  mehr  hätte 
ihm  auch  eine  bestimmte  Gemütsverfassung  als  die  schönste,  alle 
übrigen   aber  als   Unvollkommenheiten   erscheinen   müssen.    Von 
andern    Schulen    des    Altertums    wäre    aus    andern    Gründen    die 
Annahme   eines  gleichförmig  bestimmten  Sittlichen  zu   erwarten. 
Teils  nämlich,  weil  der  größere  Wert,  den  sie  auf  das  politische 
Ganze   legen,  von  dem  der  einzelne   nur  ein  Teil  ist,  sie  mehr 
auf  die  Ausbildung  des   Gemeinschaftlichen   als   des   Besonderen 
führen   mußte.    Teils  auch,  weil  sie  selbst  schon  von  einem  Be- 
sonderen ausgehend,  und  eigentlich  nur  Teile  und  Zweige  eines 
größeren   Systems,  sich  fälschlich   für  das    Ganze   hielten.    Denn 
dieses,  wie  es  oben  von  den  beiden  eudämonistischen  Systemen  ge- 
sagt ist,  könnte  ebenso  auch  von  dem  stoischen  und  cynischen 
in  Vergleich  mit  dem  platonischen  gesagt  werden.    Bei  den 
Stoikern  muß  dieser  Mißverstand,  einen  besonderen  Charakter 
für  die  ganze  Sittlichkeit  zu  nehmen,  jedem  einleuchten,  da  hingegen 
den  Cynikern  vielleicht  das  Zeugnis  gebührt,  ihn  weniger  gemacht 
zu  haben.   Demnach  aber  hätten  die  letzteren  die  Mannigfaltigkeit 
durchführen    und  der  ihrigen   beigeordnete   Gestalten    aufzeigen 
sollen,  wovon  jedoch  keine  Spur  sich  findet.    Ebenso  hätten  die 
Stoiker  nichts  fester  halten  sollen,  als  das  eine  Urbild  des  Weisen 
und   die  auf  alle  inneren   Verhältnisse   sich   erstreckende   Einheit 
einer  vollkommenen  Handlung  für  jeden  Fall.  Dagegen  finden  sich 
imPanaitioSjSo  wie  im  Epiktet  und  andern  ähnlichen,  Spuren 
genug  von  einer  beim  Handeln  zu  nehmenden  Rücksicht  auf  die 
Eigentümlichkeit  des  Handelnden,  und  solche,  daß  es  schwer  ist, 
dabei   nur  an  die  äußere   Verschiedenheit  der  Lage  zu  denken. 
Ja,  wenn  auch  diese  als  spätere  und  unreine  sollten  zurückgewiesen 
werden,  so  ist  schon  genug  an  dem  bekannten  Spruch  der  Stoiker 
über  die  Cyniker.    Denn  wenn  es  einen  abgekürzten  und  doch 
nicht  allen  gebotenen  Weg  zur  Weisheit  gibt,  und  zwar  einen 
solchen,    für    oder   gegen    welchen    äußere    Veranlassungen    und 


[111,1,  263]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  267 

Beruf  nicht  entscheiden  können,  so  gibt  es  wohl  schwerHch  hiezu 
einen  andern  Grund,  obgleich  er  ein  besonderer  sein  soll,  als 
einen  inneren.  Unleugbar  also  und  deutlich  sind  hier  Spuren 
und  Anfänge,  welche  nicht  fortgesetzt  sind,  und  daher  Unbe- 
stimmtheit des  Ganzen,  welche,  wie  nirgends,  so  auch  hier  nicht 
ohne  Widersprüche  besteht.  Unter  den  neueren  stoisierenden 
schwankt  Kant  auf  ähnliche  Art.  Denn  er  redet  zwar  ausdrück- 
lich von  einer  bestimmten  Gemütsstimmung,  nämlich  der  wackern 
und  fröhlichen,  als  von  einem  nicht  etwa  beliebigen,  sondern 
notwendigen  Mittel  zur  Sitthchkeit:  allein  eben  daraus,  daß  sie 
nur  ein  Mittel,  ja  das  eine  Element  gar  nur  die  Bedingung  eines 
anderen  Mittels  ist,  scheint  hervorzugehen,  daß  sie  dem  bei- 
zugesellen ist,  was  bei  vollendeter  Sittlichkeit  wieder  kann  auf- 
gegeben werden,  und  also  der  Sittlichkeit  nicht  als  Bestandteil 
notwendig  angehört.  Dies  bestärkt  sich  noch,  wenn  man  erwägt, 
wie  Kant  anderwärts  als  von  einer  natüriichen  und  gar  nicht 
zu  tadelnden  Ansicht  und  Stimmung  von  der  redet,  die  Menschen 
unUebenswürdig  und  widrig  zu  finden,  welches  doch  weder  wacker 
noch  fröhlich  lautet.  Kann  nun  diese  Stimmung,  die  ihrem  Inhalt 
nach  doch  offenbar  etwas  Sittliches  ist,  vorhanden  sein,  ohne 
der  Tugendübung  zu  schaden:  so  kann  auch  andern,  als  der  schwer- 
mütigen und  elegischen,  und  was  für  welche  sich  aus  andern 
Gesichtspunkten  darstellen  möchten,  das  gleiche  Recht  nicht  ent- 
gehen. Weder  aber  sind  diese  angedeutet  und  konstruiert,  noch 
in  Absicht  auf  ihren  Einfluß  gewürdigt.  Mehr  scheint  Fichte  der 
Idee  eines  ganz  gleichförmig  bestimmten  Sittlichen  treu  gebUeben 
zu  sein.  Denn  vi^enn  man  acht  gibt,  wie  bei  ihm  die  sittlichen 
Handlungen  zustande  kommen,  so  ist  alles  der  Überlegung  ein- 
geräumt, und  es  zeigt  sich  auf  den  ersten  Anblick  keine  Ver- 
schiedenheit, als  die  der  Angaben,  nach  denen  die  Rechnung  an- 
gelegt wird,  und  höchstens  unter  die,  also  unter  das  nach  einer 
und  derselben  Regel  für  alle  zu  Modifizierende,  könnte  die  Stim- 
mung mitgerechnet  werden.    Allein  auch  er  ist  ein  Beweis,  daß 


268  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  266] 

diese  Gleichförmigkeit  sich  leichter  mit  Worten  aussprechen,  als 
wirklich  in  ihrer  Gestalt  zeichnen  und  darstellen  läßt.   Denn  steigt 
man  etwas  weiter  hinauf  zu  der  Art,  wie  die  Überzeugung  oder 
das    jedesmalige    Pflichtgefühl    zustande    kommt,    mit    Zuziehung 
dessen,  was  oben  von  der  Handlungsweise  des  Gewissens  gesagt 
worden:  so  wird  man  finden,  daß,   wenn  dieses  nicht  ein  ganz 
blindes  ahndendes  Vermögen  sein  soll,  alsdann  gerade  das,  was 
der  Grund  des  sittlich  unbestimmt  gelassenen  Mannigfaltigen  ist, 
nämlich  die  besondere  Art,  Gedanken  und  Gefühle  aneinander  zu 
reihen  und  zu  beziehen,  den  entschiedensten  Einfluß  haben  muß 
zur  Bestimmung  dessen,  was  in  jedem  Falle  als  Pflicht  gefunden 
wird.    Nämlich  nicht  nur,  da  keiner  wohl  das  Gebiet  des  mög- 
lichen Handelns  dem  Umfang  und  Inhalt  nach  vollkommen  über- 
sieht, wird  natürlich  jeder  nach  Maßgabe  seiner  Eigentümlichkeit 
hierin  auch  einen  andern  Teil  beachten  und  vernachlässigen,  wel- 
ches freilich  allen  für  eine  aufzuhebende  Unvollkommenheit  müßte 
angerechnet    werden:    sondern    auch    unter   Voraussetzung    voll- 
ständiger Übersicht  hat  gewiß  jeder  seine  eigene  Art,  im  einzelnen 
eines   dem  andern  der  Zeit  sowohl   als  dem  Werte  nach  unter- 
zuordnen, von  welcher  Verschiedenheit  denn  nicht  dasselbe  mit 
Zuversicht  im  allgemeinen  kann  gesagt  werden.    Auch  findet  sich 
bei  Fichte  ein  Wort,  welches  unter  dem  Scheine  gemeingeltender 
Verständlichkeit   diese   ganze   Unbestimmtheit  verbirgt,   wenn    er 
nämlich  einen  jeden  an  sein  Herz  verweiset.    Offenbar  ist  dieses 
Herz  der  Sitz  des  gerügten  Übels,  und  es  hätte,  um  folgerecht  zu 
sein,  entweder  ganz  müssen  ausgerissen  werden  in  einer  Sitten- 
lehre, die  den  größten  Teil  seiner  Funktionen  ohnedies  aufhebt, 
so  daß  nur  die  Urteilskraft  und  das  gleich  unbegreifliche  Gewissen 
übriggebUeben  wäre;  oder  es  hätte  müssen  selbst  v/eiter  bestimmt 
werden,  damit  nicht  mit  dem  Herzen  überhaupt  auch  allerlei  böse 
Herzen  gesetzt  würden,  oder  solche  die  der  sittlichen  Urteilskraft 
das   Gebiet  verletzten.    So  aber  wie  jetzt  verfahren  worden,  ist 
mit  dem   Herzen  unstreitig  ein   Unbestimmtes,  ohne   Prinzip  der 


[111,1,  267]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  269 

Bestimmbarkeit  durch  das  ganze  Gebiet  des  sittlichen  Handelns 
Hindurchgehendes  gesetzt. 

Aufi  eine  andere  Weise  verfehlen  femer  ihres  Zwecks  einige  Voükommen- 
Lehrer  der  Vollkommenheit,  welche  auch  einen  einzig  möglichen  ' 

sittlichen  Charakter  behauptend  sich  mehr  als  andere  bemühen,  ihn 
genau  zu  verzeichnen.  Ihr  Verfahren  dabei  besteht  aber  darin,  daß 
sie  etwas  unfein  die  Verschiedenheiten  nur  da  bemerken,  wo  sie 
durch  Übermaß  sich  von  der  sittlichen  Regel  entfernen,  und  daß 
sie  nun  glauben,  sie  durch  Mäßigung  gänzlich  aufzuheben,  wo- 
durch sie  ja  vielmehr  erst  sittlich  konstituiert  werden.  Denn  die 
Gleichförmigkeit  ist  auf  diese  Art  nur  die  äußere  der  Erscheinung, 
das  innere  Prinzip  aber  bleibt  immer  verschieden,  und  wer  zum 
Beispiel  in  einem  sanftmütigen  Geiste  handelt,  welcher  sittlich 
ist,  und  eben  daher  gemäßigt  erscheint,  weil  sich  nie  eine  still- 
schweigende Billigung  des  Unrechts  oder  etwas  dem  ÄhnHches 
darin  zeigt,  der  hat  doch  anders  gehandelt  als  der,  welcher  in 
einem  eifrigen  und  auf  dieselbe  Art  sittlichen  Geiste  handelte, 
sollten  auch  äußerlich  beide  nicht  zu  unterscheiden  sein. 

So^  ergehet  es  also  denen,  welche  ihrem  Grundsatz  nach  von 
der  Gleichförmigkeit  alles  Sittlichen  ausgehen,  daß  sie  nämlich 
dennoch  in  der  Ausführung  dem  indirekten  Anerkennen  einer 
Verschiedenheit  nicht  ausweichen,  und  so  zwischen  Entgegen- 
gesetztem schwankend,  ebensowenig  die  Gleichförmigkeit  wirklich 
zu  behaupten  vermögen,  als  die  Verschiedenheit  zu  bestimmen. 
Derer  aber,  welche  von  einer  Ausbildung  des  Eigentümlichen  zur 
Sittlichkeit,  und  also  von  einem  besonderen  und  vielgestalteten 
Sittlichen  ausgegangen  sind,  gibt  es,  abgesehen  von  den  Eudämo- 
nisten,  deren  schon  erwähnt  worden,  nur  wenige,  und  zu  nennen 
sind  nur  die  beiden,  Piaton  nämlich  und  Spinoza.  Von  dem  Piaton 
letzten  ist  schon  oben  gesagt,  wie  ihm  die  Annahme  eines  solchen 
Besonderen  natürlich  sein  mußte,  er  befindet  sich  aber  in  dem- 
selben Falle,  sich  dessen  nicht  recht  deutlich  bewußt  geworden  zu 
sein,    und    nur  der   aufmerksame    Leser   desselben    wird   wenige 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


2~0  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.       [111,1,268] 

Stellen  finden,  wo  ihm  so  etwas  vorgeschwebt  hat.  Wie  denn 
auch  nur,  sofern  der  Mensch  ein  Gegenstand  der  Betrachtung  und 
Behandlung  ist  nach  seinen  Grundsätzen,  ein  solches  Eigentüm- 
liches als  notwendig  erscheint;  von  der  Seite  des  Handelns  aber 
angesehen,  möchte  auch  wohl  sein  Ideal  des  Weisen  nur  ein  ein- 
faches sein,  weil  die  durchgängige  Erkenntnis  Gottes  in  allen 
Dingen  als  reine  Wissenschaft  nur  eine  und  durchaus  dieselbe  sein 
kann,  und  auch  der  daraus  hervorgehende  Affekt  der  Liebe  zu 
Gott  nur  einer  ist.  So  daß  leicht  dieses  eine  von  den  Stellen  sein 
möchte,  wo  auch  er  weniger  mit  sich  selbst  übereinstimmt.  Nur 
Piaton  ist  offenbar  und  überall  auf  dieser  Seite.  Denn  er  unter- 
scheidet sehr  sorgfältig  das  Gebiet  des  Gemeinschaftlichen  von  dem 
des  Besonderen,  und  setzt  auch  das  letzte  auf  die  Art,  wie  er  bei 
allem  zu  tun  pflegt,  was  über  das  Gebiet  dialektischer  Erweise 
hinausgeht,  nämlich  durch  mythische  und  mystische  Behandlung, 
als  ein  Ursprüngliches  und  Ewiges.  Ja  dem  Aufmerksamen  wird 
auch  das  Bestreben  einer  kosmischen  und  also  gewiß  systemati- 
schen Zusammenstellung  dieses  Mannigfaltigen  nicht  entgehen. 
Woraus  genugsam  erhellt,  wie  weit  er  auch  in  Beziehung  auf 
diesen  Gegenstand  an  sicherer  und  übereinstimmender  Anschauung 
allen  denen  vorangeht,  welche,  obschon  zugleich  von  dem  Bedürf- 
nis, ein  Ganzes  der  Form  nach  darzustellen,  getrieben,  dennoch 
den  Ausweg  aus  dem  Unbestimmten  nicht  zu  finden  gewußt,  in 
welches  sie  sich  verwickelt  hatten.  Die  Zusammenstellung  dieser 
beiden  aber  wird  auch  demjenigen,  der  ihre  Eigentümlichkeiten 
kennt,  am  besten  den  entscheidenden  Wink  geben,  welches  eigent- 
lich die  Ursach  ist  von  dieser  ganzen  Verwirrung,  daß  einige 
das  Besondere  im  Sittlichen  in  ihrer  ausdrücklichen  Lehre  laut 
verneinen,  und  es  dann  doch  stillschweigend  und  versteckt  wieder 
annehmen,  andere  aber  es  2:war  dialektisch  auf  ihrem  Wege  finden,  es 
aberdoch  weder  gründlich  verstehen,  noch  gehörig  herauszubringen 
vermögen.  Denn  wenn  Pia  ton  sich  eines  Vorzuges  rühmt,  und 
denselben  Spinoza  entbehren  muß:  so  ist  die  Ursach  leicht  zu 
linden,  und  vielleicht  nirgends  so  deutlich  als  hier  bestätigt  sie  sich 


[111,1,  269]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  271 

durch  Vergleichung  der  übrigen,  von  denen  zu  reden  der  Mühe 
verlohnt.    Doch  v^as  so  sehr  an  den  Grenzen  der  Untersuchung 
liegt,  weil  es  so  genau  mit  der  physischen  Theorie  der  Ethiker 
zusammenhängt,  kann  für  die,  welche  es  noch  nicht  verstanden 
haben,    nur   mit  wenigen   Worten   angedeutet   werden.     Dieses 
nämlich   scheint   der   Qrund   des    Übels    zu   sein,   daß 
alle   fast  das  geistige   Vermögen   des    Menschen   nur 
ansehen    als    Vernunft,    die    andere    Ansicht    dieser 
Grundkraft  aber  als  freies   Verknüpf ungs-  und   Her- 
vorbringungsvermögen,    oder    als    Phantasie,    ganz 
vernachlässigen,    welches   doch   die    eigentlich   ethi- 
sche Ansicht  sein  müßte,  und  sich  eben  deshalb  auch 
in  der  Ausführung  nicht  ganz  übersehen  läßt^    Denn 
die  Vernunft  freilich  ist  in  allen  dieselbe    und  das  durchaus  Ge- 
meinschaftliche  und  Gleichförmige,  so  daß   es   eigentlich  sinnlos 
ist,  von  einer  individuellen  Vernunft  zu  reden,  wenn  nämlich  dieses 
mehr   bedeuten   soll,   als   die   bloße    numerische    Verschiedenheit 
der  Organisation  und  der  äußeren  Bedingungen  von  Raum  und 
Zeit.     Die  Phantasie  aber  ist  das  eigentlich  Individuelle  und  Be- 
sondere eines  jeden,  und  zu  ihr  offenbar  gehört  auch,  was  sich 
oben    als    das    gemeinschaftliche    Merkmal    des    unbestimmt    Ge- 
lassenen gezeigt  hat.    Und  wie  würde  sich  Kant  zum  Beispiel, 
welcher  so  gern  gesteht,  seine  Sittenlehre  sei  nur  für  diejenigen, 
gültig,    welche   vernünftig  sein   wollen,   wie    würde   er  sich   ver- 
wundern und  gar  nicht  vernehmen,  was  gesagt  wäre,  wenn  einer 
noch   den   zweiten   Teil   der   Sittenlehre   forderte   für  diejenigen, 
welche  Vernunft  freilich,  aber  nicht  nur  sie  haben  wollten,  sondern 
auch   Phantasie,  indem  sie  sonst  glauben   möchten  nichts  weder 
zu  sein  noch  zu  haben.   Denn  jener  begreift  nicht,  daß  er  durch 
dieselbe    Kraft,   welcher  er   nur  verstatten    möchte,    aus   dem 
umherziehenden   Rauch  Bilder  zu  dichten,  auch   alles  andere 
bilden  und  gestalten  muß,  und  daß   eben  diese  nicht 
nur  alle  künftigen  Handlungen  vorbildet,  welche  die 
^  Hier  scheidet  sich  der  deutsche  Idealismus  von  Aufklärung  und  Rationalismus. 


272  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,270] 

Vernunft  bestätigt  oder  verwirft,  sondern  auch  die 
gewählten  erst  belebend  ausbilden  mußi.  Nicht  anders 
ja  ist  es  auch  bei  Fichte,  welchem  nur  folgerechter  als  jenem  auch 
das  Wenige  noch  verschwindet,  und  alle  Funktionen  der  Phantasie, 
ausgenommen,  wenn  sie  wieder  rückwärts  von  der  Vernunft  ge- 
fordert werden,  in  die  nicht  genug  zu  beachtende  Rubrik  der  Dinge 
gehören,  zu  denen  die  Zeit  nicht  vorhanden  ist.  Wie  er  denn 
auch  außerdem  ganz  richtig  in  die  Gemeinheit  aus  dem  Individuo 
heraus  versetzten  Sittengesetz  nichts  anerkennt  als  Verstand  und 
Leib,  welche  Werkzeuge  des  Sittengesetzes  sein  sollen,  alles  übrige 
aber  ihm  zu  dem  Äußeren  gehören  muß,  durch  welches  der 
Punkt  bestimmt  wird,  auf  dem  der  Mensch  sich  findet,  unter  wel- 
chem Zufälligen  dann  auch  die  Phantasie  schläft  zu  großer  Über- 
einstimmung mit  seiner  Lehre  vom  Dasein,  Indes  zeiget  auch 
hier  das  Gleichnis  vom  Werkzeuge  hinkend  und  verräterisch'  auf 
die  Wahrheit  und  auf  den  Zusammenhang  jenes  Fehlers  mit 
einem  andern  schon  erwähnten,  nämlich  der  Unbestimmtheit  in 
der  Methode,  den  Stand  und  Beruf  zu  erwählen.  Denn  die  eigen- 
tümliche Art,  Gedanken  und  Gefühle  hervorzubringen,  muß  ent- 
weder von  dem  Augenblick  an,  wo  der  Mensch  sich  findet, 
ganz  unter  eine  gleichförmige  und  allgemein  geltende  Vorschrift 
gebracht  werden,  wozu  jede  Anweisung  fehlt,  oder  sie  muß  als 
ein  Bleibendes  notwendigen  Einfluß  haben  auf  die  Art,  wie  jeder 
Werkzeug  ist,  und  auf  die  Regeln,  nach  welchen  er  die  Gegen- 
stände seiner  Bearbeitung  wählt,  welche  Regeln  nicht  nur  gleich- 
falls fehlen,  sondern  auch  im  Widerspruch  stehen  würden  mit 
dem  der  Gesellschaft  eingeräumten  Rechte  des  Verbotes. 

IL  Fehlen  von  ethisch  Bestimmtem.^ 

Ob  aus  demselben  Grunde  entstehend,  das  bleibe  eines  jeden 
Beurteilung  anheimgestellt,  offenbar  aber  im  genauen  Zusammen- 

^  Heute  betont  Eucken  oft  den  großen  Wert  der  Phantasie  für  Wissen- 
schaft und  Leben. 

2  Hinzugefügte  Überschrift. 


[in,l,  271]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  273 

hange    mit  dem  bisher  Gerügten   steht  der  zweite   Fehler,   daß 
nämlich  vieles,  was  ethisch  bestimmt  sein  müßte,  so  gut  als  ganz 
übergangen  ist  in  den  Darstellungen  der  Sittenlehre.    Und  zuerst 
zwar  zeigt  sich  dieses  natürlich  in  demjenigen  Teile  des  mensch- 
lichen  Lebens,  wo  das  bisher  als   eigentümliche  Art  und  Weise 
in  pflichtmäßigen  Handlungen  Beschriebene  zugleich  den  eigent- 
lichen Gehalt  der  Handlungen  ausmacht.  Daß  es  aber  einen  solchen 
gibt,  und  daß  er  von  großer  Wichtigkeit  ist  für  das  Ganze,  wird 
wohl  niemand  leugnen.    Denn  offenbar  beschäftiget  einerseits  bei 
den  meisten  Menschen  ihr  eigentliches  Handeln  gar  nicht  die  ganze 
Kraft   des    Gemütes,   sondern    wo    die    mechanische    Ausführung 
angeht,   da   macht  Übung   und   Gewöhnung   selbst   einen   hohen 
Grad    von    Vollkommenheit   möglich,    ohne    die    Aufmerksamkeit 
mehr  als  in  einzelnen  Augenblicken  für  den  Gegenstand  zu  binden. 
Und  eine  solche  Reihe  von  Gedanken  und  Gefühlen,  welche  mit  1-  Innere 
der  Handlung  gar  nicht  anders  als  durch  die  Identität  der  Zeit  ^^•^'g'^^'*^- 
verbunden  sind,  wird  mit  Recht  als  ein  eigener  Gegenstand  der 
sittlichen  Bestimmung  und  Beurteilung  angesehen.    Daß  aber  hier 
alle  Verschiedenheit  beruht  nicht  etwa  auf  den  äußern  veranlassen- 
den   und   auffordernden   Gegenständen,   sondern    auf   der   eigen- 
tümlichen   Art,    die    Gedanken    anzuknüpfen    und    zu    verbinden, 
dieses    muß    einleuchten,   da   ja   bei    Gelegenheit   der   nämlichen 
Gegenstände  ganz  verschiedene  Betrachtungen  entstehen  können. 
und  umgekehrt.    So  daß  ein  jeder  gestehen  muß,  es  gebe  schon 
innerhalb  dieses  Gebietes  eine  große  Masse  inneren  und  idealen 
Handelns  der  angezeigten  Art.    Gewiß  auch  möchte  es  nicht  an- 
gehen, dieses  etwa  unter  dem  Vorwande  des  Unwillkürlichen  oder 
Geringfügigen   auszuschließen   aus  dem   Gebiete  der  Sittlichkeit. 
Denn  über  beides  ist  schon  oben,   und  so  auch  über  seine  An- 
wendung auf  das  sogenannte  ideale  Handeln  das  Nötige  gesagt: 
hier  aber  besonders  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  es  einesteils  den- 
jenigen sittlichen  Zustand,  mit  welchem  es  als  Zeichen  und  Aus- 
druck zusammenhängt,  auch  als  Übung  und  Gewöhnung  befestigt, 

Schleiermacher,  Werke.    I.  18 


274  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  272] 

und  daß  es  andemteils  bei  einiger  absichtlichen  Leitung  auch 
durch  Prüfung  und  Betrachtung  des  Gegenwärtigen  vorbereitend 
und  bessernd  auf  das  Künftige  zu  wirken  vermag.  Wie  denn  auch 
offenbar  nicht  nur  die  Sittlichkeit  des  weiblichen  Geschlechtes 
vorzüglich  von  diesem  Teile  ihres  Lebens  abhängt,  sondern  auch 
die  mannigfaltigen  besonderen  sittlichen  Erscheinungen  unter  der 
mechanisch  arbeitenden  Abteilung  der  Gesellschaft  hieraus  zu  er- 
klären sind.  Ja  der  traurigste  und  am  meisten  zu  verbannende  Zu- 
stand der  menschlichen  Seele,  der  Wahnsinn  nämlich,  kann  un- 
möglich anders  anfangen,  als  durch  unbeherrschte  Verkehrtheit 
dieses  Innern  Spieles  der  Vorstellungen.  Andererseits  aber  müssen 
ebenso  gewiß  diejenigen,  deren  Handeln  wenig  oder  nichts  Mecha- 
nisches beigemischt  ist,  einen  abgesonderten  Zustand  der  freien 
und  inneren  Tätigkeit  haben,  nicht  etwa  nur  aus  Bedürfnis,  von 
welchem  ja  erst  müßte  untersucht  werden,  ob  es  zu  befriedigen  ist 
oder  abzuweisen,  sondern  schon  weil  alles  vorhanden  sein  soll  im 
menschlichen  Leben,  was  darin  gegeben  ist,  nur  auf  die  rechte 
Art,  und  noch  mehr,  weil  ein  großer  Teil  der  wesentlichsten 
sittlichen  Endzwecke  nicht  etwa  nach  einem,  sondern  nach  allen 
verschiedenen  Systemen  gar  nicht  anders  kann  erreicht  werden  als 
durch  freie  und  innere  Tätigkeit.  Auch  fühlt  jeder  wohl,  wie 
durch  dieser  Tätigkeit  Gehalt,  Beschränkung  und  Ausdehnung, 
Sittlichkeit  oder  Unsittlichkeit  sich  ausdrückt  und  entsteht,  und 
wie  sowohl  in  den  Gegenständen  derselben,  als  in  der  Art  sie  zu 
behandeln.  Schickliches  und  UnschickUches  liegt  für  andere  auf 
andere  Weise;  Anweisungen  aber  hierüber  wird  keiner  in  irgend- 
einer Darstellung  der  Sittenlehre  aufzuzeigen  haben,  oder  nur 
solche  könnten  es  sein,  über  deren  Leerheit  und  Dürftigkeit  nicht 
erst  nötig  ist,  etwas  zu  erinnern.  Weiter  verbreitet  sich  ferner 
2.  Freie  dieser  Fehler  sehr  natürlich  über  die  Art,  eben  dieses  im  Innern 
'  /ah"^  Vorgehende  auch  anderen  mitzuteilen  i,  worüber  gleichfalls  sittliche 
gemeines.   Vorstellungen  von  einiger  Bedeutung  an  den  meisten  Orten  ver- 


^  Im  folgenden  spricht  Schleiermacher  als  Künstler  des  geselligen  Umgangs. 


[111,1,  273]  III.  Kritik  der  ethisciien  Systeme.  275 

geblich  möchten  gesucht  werden.  Denn  die  Gesetze  des  Um- 
ganges überhaupt  sind  fast  überall  nur  negativ  in  Beziehung  auf 
irgendeine  entweder  angenommene  oder,  wenn  es  hoch  kommt, 
selbst  konstruierte  äußere  Wohlanständigkeit.  Sogar  verbreitet 
sich  nicht  weiter  die  scheinbare,  aber  nur  aus  dem  dialektischen 
Interesse  entstandene  Vollständigkeit  der  Stoiker,  welche  mehr 
den  leeren  Titel  einer  sich  hierauf  beziehenden  Tugend  aufstellt, 
als  ihn  wirklich  ausfüllt,  wozu  auch  in  dem  Geiste  des  Systems 
keine  Veranlassung  war.  An  die  Benutzung  der  freien  Mitteilung 
zur  Beförderung  wesentlicher  ethischer  Zwecke  ist  bei  ihnen  eben- 
sowenig als  bei  andern  zu  denken,  und  die  Tugenden  der  freien 
Geselligkeit,  welche  sie  aufstellen,  weisen  auf  nichts  zurück  in  dem 
Verzeichnis  ihrer  Güter.  Und  was  vielleicht  jemand  sagen  möchte, 
die  Handlungsweise  müsse  in  dieser  Hinsicht  beurteilt  werden 
nach  den  allgemeinen  Vorschriften  der  Menschenliebe,  wie  sie  eben 
in  jedem  System  ist,  und  der  Wahrhaftigkeit,  dies  heißt  nur  den 
Streitpunkt  verschieben,  und  höchstens  diesen  Fehler  in  einen  der 
vorigen  Art  verwandeln.  Denn  jene  Vorschriften  sind  ja  auch  über- 
all nur  allgemein,  in  der  freien  Mitteilung  aber  beruht  das  meiste, 
wo  nicht  alles,  nicht  nur  dem  Inhalt,  sondern  auch  der  Weise 
nach  gleichfalls  auf  dem  Eigentümlichen,  so  daß  gewiß  das  Prinzip 
der  Beurteilung  fehlte,  wenn  auch  der  Ort  dazu  da  wäre,  wie- 
wohl auch  das  letzte  nur  mit  großer  Einschränkung  könnte  zu- 
gestanden werden.  Und  wie  wenig  namentlich  den  neueren  prak- 
tischen Ethikern  der  Gedanke  gekommen  ist,  etwas  über  diese 
Gegenstände  bestimmen  und  die  Mitteilung  dieser  Art  eigentlich 
sittlich  konstruieren  zu  wollen,  dies  sieht  jeder.  Denn  wie  lässig 
ohne  eigentlichen  Ort  und  Zusammenhang  steht  bei  Kant  die 
Maxime,  daß  der  Mensch  sich  nicht  vereinzeln  solle  mit  seinen 
Kenntnissen  und  Gedanken,  und  wie  wenig  kann  sie  auch  zu 
sagen  haben  bei  dem  Grundsatz,  daß  der  Sittlichkeit  nicht  zu- 
gehöre, fremde  Vollkommenheit  zu  befördern.  Diesen  nun  hat 
Fichte  zwar  nicht  in  derselben  Art  aufgestellt,  allein  bei  ihm  bezieht 
sich  jede  Mitteilung,  welche  nicht  streng  wissenschaftlich  ist,  oder 


276  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  274] 

zum  Geschäft  des  Berufs  gehört,  nur  auf  eine  Aufforderung,  und 
Sittliches  gibt  es  nur  in  Hinsicht  derselben,  wenn  diese  Aufforde- 
rung etwas  unmittelbar  Praktisches  zum  Gegenstande  hat.  Ver- 
gleicht man  nun  hiemit  gar  jene  denkwürdige  Äußerung,  daß  es 
dem  Menschen  gar  nicht  obliege,  Gesellschaft  zu  stiften,  sondern 
er  gar  wohl  in  der  Wüste  bleiben  dürfte,  wenn  er  sich  da  fände: 
so  sieht  man,  wie  wenig  auch  er  bedacht  sein  konnte,  diesen 
Teil  des  Lebens,  wie  es  sein  müßte,  ethisch  zu  konstruieren.  Be- 
sonders offenbart  sich  auch  bei  ihm,  eben  weil  er  folgerechter  und 
genauer  ist,  auch  noch  deutlicher  als  bei  Kant,  dieser  Mangel  an 
Bestimmtheit  über  die  freie  sittliche  Einwirkung  durch  die  schroffe 
und  harte  Art,  wie  die  Erziehung  sich  absondern  und  begrenzen 
soll,  ohne  daß  das  Problem,  den  rechten  Punkt  zu  finden,  wirk- 
lich konnte  gelöst  werden.  Doch  dieses  sei  nur  beiläufig  an- 
gedeutet. Es  gilt  aber  dieser  Vorwurf,  daß  vernachlässiget  wird, 
die  freie  Mitteilung  als  ein  sittlich  Gefordertes  aufzustellen  und 
auszubilden,  nicht  nur  die  praktischen  Sittenlehren,  sondern  nicht 
minder  auch  die  auf  Lust  und  Genuß  ausgehenden,  für  welche 
doch  eben  dieses,  wofern  sie  sich  nur  einigermaßen  über  das 
Organische  ausdehnen  wollen,  das  Wichtigste  und  der  Sitz  der 
größten  Güter  sein  müßte.  So  daß  zu  verwundern  ist,  wie  so  viele 
sich  dennoch  länger  bei  der  Gerechtigkeit  verweilen,  die  ihnen 
doch  eigentlich  ein  Übel  dünken  muß,  und  lieber  einen  Staat  auf- 
bauen, als  ein  Gastmahl,  oder  sonst  einen  gemeinsamen  Genuß 
löblicher  und  edlerer  Vergnügungen.   Vorzüglich  nun  wäre  für  sie 

b)  Scherz  wichtig,  den  Scherz  und  den  Witz  abzuleiten  und  zu  bestimmen ; 

und  Witz,  gjjgj.  ^^^Yi  für  die  praktischen  Sittenlehrer  ist  es  vieler  Beziehungen 
wegen  offenbar  eine  bedeutende  Aufgabe,  Umfang  und  eigentüm- 
liche Grenzen  des  Sittlichen  dieser  Art  zu  finden.  Wie  wenig  aber 
hievon  die  Rede  ist,  weiß  jeder.  Denn  selbst  denen,  welche  sonst 
wohl  zu  scherzen  wissen,  geht  der  Scherz  in  der  Sittenlehre  ganz 
aus,  und  ist  ihnen  so  fremd,  daß  er  gar  nicht  zur  Erinnerung 
kommt.  Bei  andern  wird  er  zunächst  nur  als  Erschütterungs- 
mittel auf  das  Zwerchfell  bezogen,  oder  als  Reiz  auf  die  Nerven, 


[in,l,  275)  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  277 

und  gehört  dem  Körper  an,  so  daß  er  eigentlich  vom  Arzt  muß 
verordnet  werden.  Auch  die  Stoiker,  wissen  sie  gleich  dieses 
eine,  daß  der  Weise  sich  nicht  betrinken  werde,  noch  bestimmter  als 
Kant,  führen  doch  von  seinem  Verhalten  in  dieser  Hinsicht  gar 
wenig  aus.  Aristoteles  möchte  fast  der  einzige  sein,  der  dem 
Scherz  ganz  ernsthaft  einen  ebenso  breiten  Platz  einräumt,  als 
jedem  andern  ethischen  Element;  wiewohl  auch  nur  aus  Bedürf- 
nis, der  Ruhe  wegen,  also  als  Mittel.  Davon  aber,  daß  er,  wenn 
er  überhaupt  sein  soll,  da  er  die  Zeit  ausfüllt,  auch  an  sich 
selbst  Zweck  und  Bedeutung  haben  muß,  und  von  der  beson- 
deren Ansicht  der  Welt,  wovon  er  gleichsam  die  Wurzel  ist, 
davon  ist  nirgends  die  Rede,  obgleich  die  Kunst  nicht  weniger 
als  das  Leben  sich  bestrebt  hat,  es  zur  Anschauung  zu  bringen. 
Und  hier  tritt  freilich  noch  hinzu  eine  natürliche  Wirkung  von 
der  beschränkenden  Natur  der  meisten  Sittenlehren,  denen  es  gar 
nicht  in  den  Sinn  kommen  kann,  den  Scherz  zum  Beispiel  ur- 
sprünglich auf  sittlichem  Wege  erzeugen  zu  wollen ;  sondern  ihnen 
genügt,  daß  sie  ihn  annehmen,  wie  er  gegeben  ist,  als  eine  natür- 
liche unschuldige  Neigung,  und  ihn  nur  durch  irgendeine  fremd- 
artige sittliche  Vorschrift  begrenzen  und  im  Zaum  halten.  Woraus 
freilich  nichts  Festes  und  Bestimmtes  entstehen  kann,  so  daß 
schon  diese  fast  allgemeine  Beschaffenheit  die  Notwendigkeit  von 
Mängeln  dieser  sowohl  als  der  vorigen  Art  verbürget.  Ferner 
ist  auch  ebensowenig  bestimmt  über  die  ernsteren  und  wich-  c)  Liebe  und 
tigeren  menschlichen  Verhältnisse,  von  denen  Gemeinschaft  des  "^^"^  ^'^  ^ 
Innern  wo  nicht  das  eigentliche  Wesen,  doch  eine  unentbehrliche 
Bedingung  ist.  Denn  wenn  wir  von  diesen  das  Beste  zusammen- 
fassen unter  den  beiden  Namen  der  Liebe,  im  engeren  Sinne  des 
Wortes  nämlich,  und  der  Freundschaft,  so  wird  gleich  jeder  wissen, 
wie  unbestimmt  beide  überall  gelassen  werden.  So  sehr  nämlich, 
daß  sie  auch  noch  nicht  die  Spur  einer  wissenschaftlichen  Be- 
arbeitung tragen,  und  daß,  weil  fast  nirgends  auszumitteln  ist, 
ob  und  wie  beide  genau  unterschieden  werden,  gar  nicht  würde 
davon   zu  reden  sein,  wenn  es   nicht  erlaubt  wäre,  sie  nur  pro- 


278  Grundlinien  einer  Kritik  der  hislierigen  Sittenlehre.       [111,1,  276] 

blematisch  dem  gemeinen  Gebrauch  nach  zu  trennen,  und  darauf 
zu  verweisen,  daß  die  Sache  selbst  zeigen  werde,  sie  sei  noch 
nicht  weiter  gediehen.  Daß  nun  diese  beiden  Verhältnisse  für 
jede  Ethik  unter  die  wichtigsten  Gegenstände  gehören,  ist  offen- 
bar. Denn  für  die  Glückseligkeit  zuerst  verursachen  sie  eine  gänz- 
liche Veränderung,  indem  sie  die  Lust  sowohl  als  den  Schmerz 
vervielfachen,  und  zu  einer  höheren  Potenz  gleichsam  erheben, 
überdies  auch,  sobald  sie  gesetzt  werden,  eine  ganz  andere  Unter- 
ordnung und  Abwägung  der  Dinge  entsteht,  als  sonst  müßte 
statthaben.  Ferner  auch  für  die  praktische  Sittenlehre  sind 
die  Aufgaben  selbst  seltsam  und  merkwürdig,  und  nicht  minder  groß 
ihr  Einfluß  auf  das  übrige.  In  beiden  aber  sind  Liebe  und  Freund- 
schaft immer  der  Sitz  eines  blendenden  und  verführerischen 
Scheines  gewesen,  indem  unter  ihrem  Vorwande  gegen  die 
mehrere  Glückseligkeit  sowohl,  als  gegen  das  richtige  Handeln  von 
jeher  vielfach  ist  gefehlt  worden.  So  daß  auf  alle  Weise  für 
beide  notwendig  ist,  diese  Verhältnisse  zuerst  in  ihrem  notwen- 
digen Zusammenhange,  wenn  es  einen  gibt,  mit  den  wesentlichen 
sittüchen  Zwecken  aufzustellen,  dann  aber  hieraus  genau  ihren 
Umfang  und  ihre  Grenzen  zu  bestimmen.  Hierin  nun  scheinen 
im  ganzen  die  Sittenlehrer  der  Glückseligkeit  den  Vorzug  wenig- 
stens des  Bestrebens  zu  haben.  Denn  zu  allen  Zeiten  haben  sie 
sich  bemüht,  durch  genaue  Bestimmung  des  Begriffs  und  Aus- 
sonderung alles  desjenigen,  was  offenbar  ihren  Grundsätzen  wider- 
spricht, die  Freundschaft  als  ein  auch  nach  ihren  Ideen  sittliches 
Verhältnis  darzustellen.  Näher  betrachtet  aber  ist  deutlich  genug, 
daß  die  Selbstverteidigung  gegen  die  praktischen  Sittenlehrer, 
v/elche  behaupten  wollten,  alles  Wohlwollen  werde  aufgehoben 
durch  das  alles  beherrschende  Streben  nach  Lust,  hieran  den 
meisten  Anteil  gehabt,  und  daß  auch  sie  den  Begriff  mehr  als 
einen  schon  vorhandenen  mit  ihrem  System  zu  vereinigen  gesucht, 
als  daß  sie  ihn  aus  den  innersten  Grundsätzen  selbst  erzeugt  hätten. 
Wie  denn  auch  an  eine  nur  einigermaßen  durchgeführte  Lehre  von 
der  Freundschaft  in  keiner  eudämonistischen  Ethik  zu  denken  ist. 


[111,1,  277]  in.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  279 

Sondern  es  wollen  die  einen  immer  zu  viel  beweisen,  indem  sie 
die  Freundschaft  auch  zum  Grunde  der  größeren  bürgerlichen 
Vereinigung  machen  wollen,  welches  dem  in  dieser  Ethik  unver- 
meidlichen Vorrange  des  Besonderen  vor  dem  Gemeinschaftlichen 
zuwiderläuft;  die  andern  aber  zu  wenig,  indem  sie  die  Freundschaft 
nicht  aufrichten  als  ein  festes  und  selbständiges  Verhältnis,  sondern 
nur  als  ein  zufälliges  Zusammentreffen  des  eigenen  Bestrebens 
und  Gelingens  mit  dem  fremden.  Was  nun  gar  die  Liebe  an- 
betrifft, so  ist  weder  von  denen,  welche  die  Geschlechtslust  allein 
für  eines  der  größten  Güter  annehmen,  die  Absonderung  der- 
selben von  jeder  auf  etwas  anderes  gerichteten  Freundschaft  als  das 
Bessere  erwiesen,  und  die  Art  bezeichnet  worden,  wie  jener  Gegen- 
stand in  solcher  Absonderung  zu  behandeln  sei;  noch  auch  von 
den  unter  den  Neueren  nicht  seltenen  Verteidigern  einer  höheren 
Liebe  der  Grund  zu  der  Vereinigung  zwei  so  verschiedener  Ele- 
mente aufgezeigt  und  sie  in  ihrem  Wesen  und  ihren  Wirkungen 
dargestellt  worden.  Gewiß  aber  nicht  besser  stimmen  die  Sitten- 
lehrer des  Handelns  mit  sich  selbst  überein,  oder  lösen  bis  zur 
Vollendung  die  Aufgabe.  Wobei  für  die  Älteren  noch  dieses  den 
Vorwurf  erschwert,  daß  sie  sich  der  Fähigkeit,  Freundschaft  her- 
vorzubringen, gegen  die  Eudämonisten  so  besonders  gerühmt,  und 
diesen  Ort  als  die  Haupt-  und  Prachtstelle  ihres  Gebäudes  also 
auch  vorzüglich  hätten  beleuchten  und  verzieren  gesollt.  Den 
Neueren  aber,  welche  mehr  aus  historischen  als  systematischen 
Gründen  diesen  Streitpunkt  aufgegeben,  ist  dagegen  nachzusagen, 
daß  sie  in  der  Sache  selbst  noch  schlechter  erfunden  werden  als 
jene.  Denn  was  zuerst  die  Liebe  betrifft  als  ein  besonderes,  und 
zwar  das  allergenaueste  auf  Gemeinschaft  des  Inneren  angelegte 
Verhältnis,  so  wären  die  Alten  bei  dem  angenommenen  und  auch 
äußerlich  dargestellten  Verhältnis  sittlicher  Ungleichheit  zwischen 
beiden  Geschlechtern  sehr  zu  entschuldigen,  wenn  dieses  gänzlich 
bei  ihnen  übergegangen  wäre.  Viel  mehr  also  wird  man  sich  be- 
gnügen müssen,  wenn  das,  was  dem  ähnlich  in  dem  Ort  von 
der  edleren  Knabenliebe  vorkommt,  auch  unvollständig  dargestellt 


280  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,278] 

und,  wie  die  Verkehrtheit  der  Sache  selbst  nicht  anders  erwarten 
läßt,  sehr  mangelhaft  abgeleitet  ist.  Wie  denn  auch  das  Ver- 
hältnis, wie  zum  Beispiel  die  Stoiker  es  erklären,  als  das  aus 
der  Schönheit  eines  anderen  entstandene  Bestreben  nach  seiner 
Verbesserung,  sich  nicht  gehörig  begreifen  läßt.  Denn  da  ihnen 
die  Idee  des  Symbolischen  gänzlich  fehlt,  sind  sie  auch  nicht  im- 
stande, einen  Zusammenhang  zwischen  dem  Physischen  und  Ethi- 
schen anzugeben,  und  der  Vorzug,  welcher  der  Schönheit  erteilt 
wird,  erscheint  rein  willkürlich  und  unsittlich.  Auf  der  andern 
Seite  aber  ist  die  ethische  Aufgabe,  selbst  so  beschränkt  aufgefaßt, 
wenigstens  klar  und  verständhch.  Bei  den  Neueren  aber  ist  fast 
alles  in  diesem  Gegenstande  dunkel  und  unbestimmt,  und  sie 
scheinen  nicht  zu  wissen,  wie  sie  dieses  Erzeugnis  ihres  Zustandes 
und  ihrer  Denkart  verarbeiten  sollen.  Denn  es  ganz  abzuleugnen 
hat  fast  Kaht  allein  den  Mut,  welcher  keine  andere  sittliche  Liebe 
anerkennt,  als  die,  welche  er  die  praktische  nennt,  nämlich  die 
Behandlung  nach  dem  Gesetz,  welche  sich  jedoch  weniger  auf  das 
behandelte  Subjekt  bezieht,  als  auf  das  Gesetz,  und  also  den 
Namen  der  Liebe  kaum  verdient.  Etwas  Besonderes  aber  und 
Höheres  dieser  Art  anzuerkennen  ist  er  so  weit  entfernt,  daß  er 
auch  das  eheliche  und  elterliche  Verhältnis  ganz  ohne  die  Spur 
eines  solchen  behandelt.  Wenn  nun  dieses  als  folgerecht  und  in 
sich  zusammenhängend  zu  loben  wäre  aus  unserm  kritischen 
Standpunkte,  so  ist  dagegen  aus  demselben  zweierlei  sehr  zu 
tadeln.  Einmal  ist  ihm  doch,  was  er  die  pathologische  Liebe  nennt, 
als  ein  Wirkliches  von  großem  Einfluß  auf  das  gesellige  Verhalten 
gegeben;  will  er  sie  also  nicht  als  ein  Sittliches  anerkennen,  so 
muß  er  sie  als  ein  Unsittliches  verwerfen.  Dieses  nun  dürfte 
freilich  jeder  andere  nur  stillschweigend  tun,  indem  ja  alles  ver- 
worfen ist,  was  nicht  mit  aufgebaut  wird;  nur  ihm  gerade  kann 
diese  Hilfe  nicht  zustatten  kommen,  da  er  den  entgegengesetzten 
Weg  einschlägt,  und  die  Tugenden  am  meisten  durch  die  ihnen 
entgegenstehenden  Laster  beschreibt.  Denn  so  müßte  auch  die 
pathologische   Liebe  als  ein  besonderes  einer  Tugend  entgegen- 


{1!I,1,  279]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  281 

stehendes  Laster  erscheinen;  nun  aber  sieht  man  vielmehr,  wie 
ganz  mit  Unrecht,  durch  eigene  Feigherzigkeit  geschlagen,  er  sich 
quält  mit  der  Ungewißheit,  ob  sie  anzunehmen  sei  oder  zu  ver- 
werfen. Hätte  sich  ihm  aber  aus  diesen  Zweifeln  verraten,  daß  sich 
unter  jenem  Namen  noch  etwas  anderes,  nicht  so  wie  die  eigent- 
lich pathologische  Liebe  unbedenkhch  zu  Verwerfendes  mit  ver- 
birgt, weil  er  eben  weder  Ort  noch  Namen  dafür  weiß :  so  hätte  er 
weiter  schließend  auf  die  Vermutung  kommen  können,  daß  diese 
sich  auf  ein  wenigen  Gemeinschaftliches,  nicht  aber  als  Neigung 
Unsittliches,  sondern  als  reine  Eigentümlichkeit  Sittliches  gründen, 
und  daß  es  also  ein  solches  geben  müsse.  Zweitens  fehlt  es  nun, 
die  Liebe  hinweggenommen,  dem  ehelichen  und  elterlichen  Ver- 
hältnis ganz  an  einem  Entstehungsgrunde  und  an  einem  festhalten- 
den Bande.  Denn  der  Gehorsam  gegen  die  Natur,  durch  den 
er  sie  nun  allein  erklären  muß,  gibt  weder  einen  Grund  der 
Wahl,  noch  eine  längere  Dauer  und  weitere  Ausbildung,  als  bis 
die  Absicht  der  Natur  erreicht  ist,  und  man  kann  sagen,  daß  diese 
Verhältnisse  nun  nicht  sowohl  ein  besonderes  und  geschlossenes 
Ganze  bilden,  sondern  nur  eine  Reihe  zufällig  verknüpfter  gleich- 
artiger Anwendungen  des  Gesetzes,  und  daß  die  ethische  Aufgabe 
vielmehr  dahin  gehen  müsse,  ihren  Einfluß  auf  die  übrigen  Teile 
des  Lebens,  wie  von  allem,  was  bloß  die  Natur  auflegt,  möglichst 
einzuschränken.  Worin  sich  denn  mehr  als  irgendwo  die  Härte 
und  der  Unzusammenhang  dieser  bloß  das  Rechtliche  abzirkeln- 
den Sittenlehre  offenbart. 

Beil  Fichte  hingegen  fängt  zum  deutlichen  Beweise,  wie 
wenig  die  bessere  Tendenz,  die  er  im  einzelnen  verrät,  in  dem 
Inneren  des  Systems  gegründet  ist,  der  Unzusammenhang  noch 
früher  an.  Denn  er  setzt  zwar  eine  höhere  und  sittliche  Liebe 
als  notwendig;  zuerst  aber  ist  schon  nicht  klar,  wie  er  sie  unter- 
scheidet von  der  Freundschaft,  welche  er  eben  wie  jene  auf  die 
Ehe  einschränkt,  und  ob  nicht  eine  von  beiden  nur  ein  leeres  Wort 
ist,  oder  was  eigentlich  jeder  zukommt  in  dem  durch  beide  be 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


282  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  280] 

stimmten  Verhältnis.  Ferner,  insofern  nun  die  Liebe  dasjenige 
Gefühl  ist,  welches  das  Wesentliche  in  dem  Zustande  der  Ehe, 
nämlich  die  gänzliche  Hingebung  bezeichnet:  so  ist  die  Hohe 
Aufgabe,  welche  er  ihr  anweiset,  nämlich  das  Verschmelzen  der 
Individuen,  auch  nicht  im  geringsten  als  wünschenswert  oder 
notw^endig  erwiesen,  und  ebensowenig  in  ihren  Grenzen  be- 
stimmt: so  daß  es  scheint,  als  habe  er  über  der  Freude  des  ersten 
Findens  zur  klaren  Einsicht  nicht  gelangen  können.  Denn  wie  aus 
dem  körperlichen  Hingeben,  welches  die  Befriedigung  des  Ge- 
schlechtstriebes bezeichnet,  ein  so  gänzliches  Geistiges  erfolge, 
und  gerade  diesem  Teile  des  organischen  Systems  eine  so  viel 
größere  Bedeutung  zukomme  als  jedem  andern,  dies  ist  aus  dem, 
was  gesagt  wird,  ethisch  gar  nicht  zu  begreifen,  und  nicht  zu 
sehen,  wie  der  cynischen  Gleichgültigkeit  gegen  dieses  Geschäft 
zu  entkommen  ist;  da  ja  der  Untüchtigkeit  des  einen  Grundes 
durch  Hinzufügung  eines  andern  abhelfen  zu  wollen,  welcher  sich 
mit  jenem  nicht  vereinigt,  und  für  sich  das  Ganze  doch  auch'  nicht 
erklärt,  ebenfalls  ein  ganz  unwissenschaftliches  und  unbefriedigen- 
des Verfahren  sein  würde.  Was  aber  am  meisten  zu  tadeln  ist, 
besteht  hierin.  Erstlich,  wenn,  wie  Fichte  annimmt,  der  körper- 
lichen Verschiedenheit  der  Geschlechter  auch  eine  geistige  ähn- 
liche entspricht:  so  liegt  ja  die  Aufgabe  da,  etwas  über  diese  zu 
bestimmen,  welche  aber,  als  gehöre  sie  der  Ethik  nicht  an,  gänz- 
lich vorbeigelassen  ist.  Denn  teils  mußte  gesagt  werden,  wie 
sie  vor  der  Ehe  recht  scharf  ausgebildet  werden  müßte,  damit  die 
Ehe  selbst  das  Geschäft  der  Vereinigung  auch  recht  vollkommen 
vollbringen  könne.  Andernteils  auch,  wie  diejenigen  damit  zu 
verfahren  hätten,  denen  nun  ohne  Schuld  die  Verschmelzung  un- 
möglich gemacht  worden  ist.  Und  so  müßte  eine  Grenze  gezogen 
sein  zwischen  dem  gemein  Menschlichen  und  dem  geschlechtlich 
Eigentümlichen.  Welche  anerkannte  Eigentümlichkeit  dann  offen- 
bar mehrere  Arten  und  Stufen  derselben  nach  sich  ziehen  müßte; 
so  daß  entweder  jene  Anerkennung  etwas  Fremdartiges  und  Un- 
gehöriges sein  muß,  oder  diese  Ethik  hat  sich  bis  auf  eine  kleine 


[111,1,  281 J  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  283 

Spur  um  die  ganze  Hälfte  fast  ihres  Stammes  verkrüppelt.  Zwei- 
tens, indem  er  auch  den  Bestimmungsgrund  der  Liebe  nicht  an- 
geben oder  nicht  erweisen  kann,  und  also  etwas  Unfreies  in 
derselben  anerkennt,  so  verdirbt  er  sich  den  innersten  Grund  seiner 
Sittenlehre,  nämlich  die  Lehre  vom  Gewissen.  Denn  ohne  dessen 
Genehmigung  darf  doch  nicht  die  Liebe,  nachdem  sie  unwissend 
wie  entstanden  ist,  handelnd  weiter  verfolgt,  und  die  Ehe  als 
die  größte  und  sittlichste  Angelegenheit  des  Lebens  gestiftet  wer- 
den: wie  aber  kann  das  Gewissen  sprechen  über  das  Unfreie, 
und  zwischen  Unfreien,  nämhch  einer  richtigen  und  einer  doch 
auch  möglichen  falschen  Wahl,  entscheiden,  wohin  doch  die  sitt- 
liche Urteilskraft  es  nicht  geführt  hat?  Auch  erscheinen,  wenn  man 
auf  diesem  Punkt  stehen  bleibt,  alle  Maximen,  nach  welchen  sonst 
in  diesem  System  das  Sittliche  in  schwierigen  Fällen  konstruiert 
oder  vielmehr  tumultuarisch  ergriffen  wird,  das  Nicht-Zeit-Haben, 
die  scharfe  und  einzige  Linie  des  Berufs,  und  was  dem  ähnlich 
ist,  gleichsam  auf  den  Kopf  gestellt,  und  die  Unfähigkeit  der  Idee, 
ein  wirkliches  System  zu  begründen,  dem  allgemeinen  Anblick  bloß 
gegeben.  Dasselbe  zeigt  sich  auch,  wenn  man  verbessernd  unter- 
suchen wollte,  wie  wohl  Fichte  auf  richtigem  Wege  von  seiner 
Idee  aus  sowohl  zu  derjenigen  Liebe,  welche  sich  auf  die  Ge- 
schlechtsverschiedenheit und  die  Ehe  bezieht,  als  auch  zu  jeder  an- 
dern genaueren  und  geistigen  Verbindung  hätte  gelangen  können. 
Nämlich  davon  ausgehend,  daß  die  Individualität  unter  die  wesent- 
lichen Bedingungen  der  Ichheit  gehört,  wäre  es  der  synthetischen 
Methode  leicht,  ja  sogar  angemessen  gewesen,  einen  Trieb  aufzu- 
stellen, welcher  darauf  gerichtet  wäre,  Individuen  zu  suchen.  Dieser 
würde  nicht  nur,  durch  des  reinen  Triebes  Durchdringung  zu  einem 
sittlichen  gemacht,  zu  mannigfaltiger  Freundschaft  hingeführt 
haben,  sondern  hätte  auch  allein  das  notwendige  und  jetzt  so 
wunderbare  Auffinden  der  Kunstwerke  erklären  können.  Ja  es 
läßt  sich  denken,  daß  dies  würde  bis  zu  den  Sternen,  jenem 
größten  Gegenstande  des  kritischen  Enthusiasmus,  hingewiesen 
haben.    Indes  sieht  ein  jeder,  daß,  um  auch  auf  diesem  Wege  zum 


284  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  2S2] 

vorgesteckten  Zwecke  zu  gelangen,  jenes  Prinzip  nicht  müßte  in 
Fichte  gewesen  sein,  welches  das  Erlaubnisgesetz  begründet,  ge- 
gebenenfalls in  der  Wüste  zu  bleiben,  und  daß  auch  Individualität 
ihm  etwas  mehr  bedeuten  mußte,  als  nur  Persönlichkeit  ^  und 
numerische  Verschiedenheit  des  Leibes  nebst  dem  bloß  materialen 
Unterschied  des  Geistigen,  der  daraus  folgt.  So  daß  demnach 
ohne  eine  gänzliche  Umwandlung  des  Inneren  dieses  Systems 
dasjenige  nicht  zu  vollbringen  möglich  ist,  welches  anzufangen  und 
einzuführen  doch  ein  unüberwindlicher  Trieb  vorhanden  war.  Bei 
noch  mehreren  Neueren  aber  zu  fragen,  was  ihnen  die  Liebe  sei, 
scheint  überflüssig.  Denn  wer  auch  nur  den  Hauptknoten  der 
Aufgabe  suchen  will,  nämlich  die  Verbindung  des  natürlichen 
Geschlechtstriebes  mit  einem  besonderen  geistigen  Bedürfnis,  oder 
wo  diese  geleugnet  wird,  die  Nachweisung  es  sei  nun  eines  an- 
deren Unterschiedes  zwischen  Freundschaft  und  Liebe,  oder  eines 
anderen  Grundes,  das  aus  dem  Naturtriebe  entstehende  Verhältnis 
zugleich  zu  einem  intellektuellen  zu  machen,  der  wird  überall 
diesen  Knoten  noch  ungelöst,  ja  auch  die  Versuche  dazu  schwächer 
finden,  und  von  selbst  schließen,  daß  also  in  noch  seichteren  und 
unfähigeren  Systemen  auch  die  Unbestimm.theit  noch  häßlicher, 
und  die  Verwirrung  der  schlechteren  Anlage  des  Ganzen  gemäß 
noch  schreiender  sein  muß. 

Was  2  daher,  um  weiter  fortzugehen,  die  eigentliche  Freund- 
schaft anbetrifft,  so  mag  von  ihr  besonders  in  der  Kürze  nur 
noch  dieses  hinzugefügt  werden.  Zuerst  nämlich  setzt  schon  der 
gemeine  Begriff  mehrere  Arten  derselben,  worunter  nicht  etwa 
die  alten  Abteilungen  um  des  Nützlichen,  des  Angenehmen  und 
des  Guten  willen  sollen  verstanden  werden,  welches  nur  eine 
Bestimmung  des  Begriffs  angemessen  dem  Geist  eines  jeden 
Systems  wäre,  sondern  wie  jede  dieser  Ideen  ihre  verschiedenen 
Teile   hat,  von  denen  bald  der,   bald  jener  der  Gegenstand  der 

^  Heute  brauchen  wir  die  Begriflfe  Individualität  und  Persönlichkeit  gerade 
umgekehrt. 

-  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,  283]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  285 

Verbindung  und  das  gemeinschaftliche  Streben  ihrer  Genossen 
sein  kann.  In  den  Darstellungen  der  Sittenlehre  aber  scheint 
weder  das  gemeinschaftliche  Wesen,  noch  die  Verschiedenheit  der 
Arten  der  Freundschaft  gehörig  bemerkt  zu  sein.  Denn  wenn 
Kant  hieran  auch  nur  gedacht  hätte:  so  würde  er  gefunden  haben, 
daß  die  dialektische  Freundschaft,  welches  doch  wohl  der  an- 
gemessenste Name  sein  möchte  für  das,  was  er  von  der  Freund- 
schaft übrig  läßt,  nur  eine  einzelne  und  untergeordnete  Art  sein 
könne.  Oder  wenn  Fichte  sich  die  Freundschaft  auf  die  rechte 
Art  geteilt  hätte:  so  würde  er  nicht  nötig  gehabt  haben,  indem 
er  die  ganze  Freundschaft  nur  in  der  Ehe  sucht,  die  teilweisen 
Verbindungen  stillschweigend  ganz  zu  verwerfen,  sondern  den 
Ort  wohl  gefunden  haben,  wo  auch  er  bei  seiner  lückenhaften  Dar- 
stellung menschlicher  Verhältnisse  die  eine  oder  andere  Art  gar 
wohl  hätte  gebrauchen  können,  wie  zum  Beispiel  bei  der  unbegreif- 
lich vorausgesetzten  Überzeugung  des  Biedermannes  von  dem 
übereinstimmenden  Willen  der  Gemeine,  den  Notstaat  umzustoßen. 
Was  aber  gegen  die  ganze  und  so  gar  nicht  erwiesene  Freundschaft 
in  der  Ehe  zu  sagen  wäre,  welche  doch  gewiß  bei  der  Aus- 
schließung des  andern  Geschlechts  von  so  manchen  Zweigen 
menschlicher  Tätigkeit  eines  festen  Grundes  bedurft  hätte,  das  mag 
als  für  sich  einleuchtend  übergangen  werden.  Ja  auch  vom  Aristo- 
teles, welcher  diese  Sache  genauer  nimmt  als  die  meisten,  und 
Fragen  aufwirft  und  beantwortet,  die  andern  auch  nicht  in  den 
Sinn  gekommen,  kann  man  sagen,  daß  aus  Überfluß  seine  Theorie 
mangelhaft  geworden.  Denn  da  er  Freundschaft  als  den  stiften- 
den Grund  aller  Verbindungen  setzt,  ja  in  allen  häuslichen,  ganz 
das  Gegenstück  von  Kant,  gar  kein  Recht,  sondern  nur  Liebe 
sehen  will:  so  ist  ihm  über  dem  Unterschiede,  den  er  auf  diese 
Art  zwischen  der  häuslichen  und  der  bürgerlichen  Gesellschaft  fest- 
stellt, der  vielleicht  größere  zwischen  der  Freundschaft,  welche  von 
jener  den  Grund  ausmacht,  und  der  eigentlich  sogenannten  fast 
entgangen,  so  daß  man,  was  er  darüber  noch  sagt,  kaum  auf 
etwas  anderes  als  die  politischen  Freundschr.ftcii  beziehen  kann. 


286  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,234] 

Noch  weiter  zurück  aber  kann  man  behaupten,  daß  auch  die 
Freundschaft  wie  die  Liebe  noch  nirgends  aus  den  Grundsätzen 
eines  Systems  als  notwendig  herfließend  ist  abgeleitet  worden, 
daher  sie  auch  wohl  unter  dem  Verzeichnis  der  Güter  steht,  in 
welches  noch  niemand  einen  notwendigen  Zusammenhang  ge- 
bracht hat,  von  einer  Pflicht  aber,  Freunde  zu  haben,  nirgends  die 
Rede  ist.  Sondern  sie  steht  immer  nur  als  aus  einem  fremden, 
niemand  weiß,  welchem  Gebiet  aufgenommen  da,  und  muß  eben 
deshalb  von  den  Ansprüchen,  mit  welchen  sie  ursprünglich  auf- 
tritt, vieles  zurücknehmen,  und  sich  auf  mancherlei  Weise  ein- 
zwängen lassen,  um  in  die  Ordnung  des  Systems  eingekleidet 
zu  werden.  Dergleichen  aber  in  der  Ethik  zu  dulden,  streitet  gegen 
die  ersten  Grundsätze,  und  beweiset  deutlich  die  Unfähigkeit  des 
Systems,  den  so  behandelten  Gegenstand  sich  anzueignen.  So 
erscheint  aber  die  Sache  der  Freundschaft  gerade  da  am  deut- 
lichsten, wo  am  meisten  von  ihr  die  Rede  ist.  Denn  worauf  anders 
läuft  es  hinaus,  wenn  sie  als  ursprünglich  im  Streit  mit  andern 
Pflichten  und  Verhältnissen  aufgeführt,  und  beratschlagt  wird, 
wieviel  jeder  Teil  nachlassen  müsse?  Wie  denn  Marcus  Tullius 
meint,  einiges  dürfe  um  der  Freundschaft  willen  schon  vom  strengen 
Rechte  abgewichen  werden,  nur  zu  arg  dürfe  die  Zumutung  nicht 
sein.  Oder  wenn  sie  im  Aristoteles  als  sterblich  vorgestellt,  und 
Maßregeln  für  den  Fall  vorgeschlagen  werden;  da  doch  nichts 
aus  ethischen  Prinzipien  Entstandenes  sich  auflösen  kann.  Oder 
wenn  die  Stoiker,  bei  denen  doch  nichts  wahrhaft  Sittliches  sich 
auf  die  bloße  Empfindung  beziehen  kann,  fragen,  ob  zum  Mit- 
leiden oder  zum  Mitgenuß  der  Freund  herbeizurufen  sei,  und 
durch  ihre  Entscheidung  die  schlecht  herbeigerufene  Freundschaft 
ebenso  schlecht  wieder  entfernen.  Denn  wollte  man  auch  sagen, 
zu  diesem  Mißgriff  hätte  sie  nur  die  Polemik  ihrer  Gegner  ver- 
leitet, welche  sie,  von  der  Selbstgenügsamkeit  des  Weisen  aus- 
gehend, in  das  Geständnis  hineinzwangen,  daß  er  zu  seinen  wesent- 
lichen Zwecken  des  Freundes  nicht  bedürfe:  so  ist  doch  gewiß,  daß 
sie  durch  diesen  Schein  nicht  hätten  können  geblendet  werden, 


[111,1,  285]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  287 

wenn  die  Freundschaft  in  ihrem  System  wirkHch  wäre  gegründet 
gewesen.  In  allen  diesen  Beispielen  also  erscheint  sie  als  etwas 
ursprünglich  nicht  Sittliches,  das  erst  durch  Begrenzung  sittlich  soll 
gemacht  werden,  und  so  ist  es  natürlich,  daß  sie  kein  Ganzes  aus- 
machen, noch  bestimmt  in  ihrem  sittlichen  Wert  und  Einfluß  kann 
dargestellt  werden.  Weit  allen  andern  voraus  ist  also  auch  hier 
wieder  Pia  ton,  welcher  von  Freundschaft  und  Liebe,  ob  überall 
richtig  und  in  jeder  Hinsicht  genügend,  dies  kann  hier  nicht  er- 
örtert werden,  gewiß  aber  so  zusammenhängend  redet,  daß  es 
leicht  wäre,  aus  allem,  was  zerstreut  darüber  vorkommt,  in  dia- 
lektischer und  mythischer  Form  ein  Ganzes  zu  machen.  Es  darf 
nur  erinnert  werden,  wie  er  symbolisierend  den  Geschlechtstrieb 
mit  dem  Bestreben  nach  gemeinsamer  Ideenerzeugung  verbindet, 
und  auf  die  Unvollkommenheit  des  persönHchen  Daseins  und  seine 
Unzulänglichkeit  zur  Hervorbringung  eines  höchsten  Gutes  diese 
Aufgaben  gründet:  so  muß  jeder  einsehen,  daß  hier,  wenn  auch 
nur  durch  leise  Andeutungen,  Fragen  beantwortet  sind,  an  die 
andere  nicht  dachten,  und  daß  hier  Freundschaft  und  Liebe  nicht 
von  außen  angeknüpft  oder  aufgeklebt,  sondern  durch  die  eigenen 
Kräfte  seiner  ethischen  Grundideen  aus  dem  Inneren  seines  Systems 
hervorgetrieben  sind. 

Noch  1  ein  dritter  ethischer  Stoff  aber,  der  überall  fast  ganz-  d)  Wissen- 
lich vernachlässigt  wird,  ist  Wissenschaft  und  Kunst.  Denn  da  schaft  und 
beide  nur  durch  willkürliche  Handlungen  entstehen  können,  welche 
der  sittlichen  Beurteilung  unterworfen  sind:  so  muß  auch  über 
diese  Handlungen  und  ihr  Hervorgebrachtes,  dessen  vorgefaßt; 
Idee  der  Grund  des  Handelns  war,  die  Ethik  entscheiden,  und 
aus  dem  Grunde,  welcher  diese  Handlungen  löblich  macht  oder 
verwerflich,  muß  sich  ergeben  der  Geist,  in  welchem  Wissenschaft 
und  Kunst  allein  können  sittlich  geübt  werden,  auch  ob  und 
vv^elche  Grenzen  derselben  es  gibt.  Was  nun  zuerst  die  Wissen- 
schaft betrifft,  so  muß,  um  die  hier  gemachte  Forderung  zu  ver- 
stehen,   der   Unterschied   wohl   betrachtet   werden    zwischen   de 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


288  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  286] 

Erkenntnis,  welche  Teil  oder  Bedingung  irgendeines  andern,  ethisch 
schon  aufgegebenen  Handelns  ist,  und  derjenigen,  welche  für  sich 
selbst  und  nicht  in  und  mit  einem  andern  Handeln  gesucht  und 
hervorgebracht  wird.  Denn  jene  bedarf  natürlich  keiner  besondern 
Rechtfertigung  und  Ableitung,  sobald  das  Handeln  gerechtfertigt 
ist,  dem  sie  angehört.  So  daß  zum  Beispiel  das  Erlernen  der 
Sprache  oder  der  natürlichen  Mechanik  körperlicher  Bewegungen 
gerechtfertiget  ist,  sofern  es  immer  zugleich  Teil  eines  andern 
unmittelbaren  Handelns  ist,  und  an  demselben  erfolgt;  ebenso 
auch  jedes  nach  der  Wahl  eines  selbst  gerechtfertigten  Berufs 
erfolgende  und  auf  ihn  sich  beziehende  Lernen  und  Sammeln 
von  Erkenntnissen.  Das  eigentliche  Wissen  aber,  welches  nur 
das  Haben  der  Erkenntnis  ist,  und  mit  demselben  sein  Ziel  er- 
reicht hat,  also  ein  besonderes  Handeln  für  sich  ausmacht,  bedarf 
auch  wie  jedes  andere  seiner  eigenen  Ableitung,  und  wo  diese 
fehlt,  müßte  man  glauben,  es  sei  in  einem  solchen  System  der 
Ethik  stillschweigend  ausgeschlossen  aus  dem  Zusammenhange  des 
sittlichen  Lebens  und  verworfen.  Welches  demgemäß  fast  in  allen 
Sittenlehren  müßte  der  Fall  sein,  weil  eine  ethische  Konstruktion 
des  Wissens  oder  des  wissenschaftlichen  Bestrebens  fast  nirgends 
gefunden  wird.  Denn  die  Erkenntnis  der  zweiten  Art  oder  die 
Wissenschaft,  auf  jene  der  ersten  zurückzuführen,  damit  würde 
dem  Übel  nicht  abgeholfen  sein.  Einesteils  nämlich  gibt  es  ganze 
Wissenschaften,  und  zwar  diejenigen  am  meisten,  welche  als  soche 
den  höchsten  Rang  einnehmen,  denen  gar  kein  Einfluß  als  Mittel 
auf  das  unmittelbare  und  eigentlich  sogenannte  Handeln  zuzu- 
schreiben ist,  worunter  derjenige,  welcher  den  Satz  bestreiten 
möchte,  zunächst  nur  unentbehrliche  Mittel  denken  mag,  welches 
bei  einer  ethischen  Frage  hinreicht,  es  ließe  sich  aber  gewiß  noch 
mehr  erweisen.  Andernteils  aber  gehört  von  denjenigen  Wissen- 
schaften, denen  ein  solcher  Einfluß  kann  beigelegt  werden,  wenig- 
stens die  wissenschaftliche  Form  nicht  dazu,  sondern  nur  die 
einzelnen,   am   meisten  auch  der   Geschichte   nach   im   Gebraucli 


[111,1,  287]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  289 

selbst  gefundenen  Sätze.  Ferner  auch,  wenn  auf  diesem  Zusammen- 
hange die  Sittlichkeit  des  Wissens  beruhen  sollte,  so  würde  jeder, 
der  sich  einer  wenngleich  nützlichen  Wissenschaft  als  Wissen- 
schaft widmet,  es  werde  nun  dieses  im  Großen  als  gewählter 
Beruf  oder  auch  nur  als  einzelne  Tat  betrachtet,  unsittlich  handeln, 
weil  er  offenbar  und  selbstgeständig  seine  Handlung  nicht  auf 
diese  Zwecke  bezieht.  Sonach  ist  deutlich,  daß  die  Frage  von  der 
Nützlichkeit  der  Wissenschaften,  wenn  sie  auch  in  das  Gebiet  der 
Ethik  gezogen  würde,  den  bezeichneten  Punkt  nicht  trifft,  sondern 
es  muß  das  Wissen  selbst  als  ein  sittlicher  Zweck  oder  als  ein 
Gut  aufgestellt  werden,  um  hernach  auch  als  Pflicht  betrachtet 
gehörig  bestimmt  und  begrenzt  werden  zu  können.  Wie  viele 
einzelne  Aufgaben  nun  hieraus  besonders  für  die  letzte  Behand- 
lung entspringen,  sieht  jeder,  wie  auch,  daß  sie  nirgends  be- 
rührt sind. 

So^  wird  auch  jedem  leicht  sein,  die  Verkehrtheit  wahrzu- 
nehmen, welche  in  beiden  entgegengesetzten  Stämmen  der  ethi- 
schen Systeme  in  dieser  Hinsicht  obwaltet.  Denn  die  eudämoni- 
stischen  neigen  sich  zu  einer  Verachtung  des  Wissens,  da  es 
ihnen  doch  am  leichtesten  wäre,  nicht  nur  das  Haben  der  Erkennt- 
nis, sondern  auch  schon  das  Hervorbringen  derselben  als  einen  Zu- 
stand eigentümlicher  Lust  aufzustellen,  so  daß  sie  nicht  einmal 
das  letztere  auf  eine  unwürdige  Art  bloß  als  Mittel  durchschleichen 
dürften.  Die  praktischen  hingegen,  denen  dies  wegen  der  ihnen 
fast  allen  gemeinen  so  sehr  beschränkten  Ansicht  des  Handelns 
schwer  sein  müßte,  lieben  vielmehr  das  Wissen  und  stellen  sich 
an,  als  verstände  es  sich  von  selbst.  Dieses  unverständige  Sich- 
Von-Selbst-Verstehen,  wobei  immer  nur  etwa  von  den  Pflichten 
dessen  die  Rede  ist,  der  da  weiß  oder  wissen  will,  verbinde  man 
mit  dem  Gegenstück,  das  Aristoteles  dazu  hergibt,  welcher,  bis 
auf  einen  gewissen  Punkt  hin  klarer  in  der  Verwirrung,  das  ge- 
samte Wissen  mit  allem,  was  dazu  gehört,  als  ein  eigenes  Gebiet 
^  Absatz  nicht  im  Original. 

Schleiermacher,  Werke.     I.  IQ 


2Q0  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  288) 

von  dem  Sittlichen  gänzlich  trennt,  und  so  in  einem  umfassenderen 
Sinn  und  folgerechter  freilich  der  Vorläufer  derer  ist,  welche  das 
Philosophieren  ebenso  vom  Leben  absondern:  so  ergibt  sich  der 
ganze  Umfang  der  Unbestimmtheit,  welche  nicht  auf  einem  Ver- 
kennen der  Aufgabe  beruht,  sondern  auf  der  Unfähigkeit,  sie  zu 
lösen.  Das  beste  Beispiel,  wie  in  dieser  Verlegenheit  bald  alles 
vorausgesetzt,  bald  alles  hinweggenommen  wird,  gibt  Fichte, 
welcher  zuerst  das  Forschen  als  eine  nur  durch  die  Form  zu  be- 
dingende Pflicht  setzt,  nämlich  nur,  daß  es  müsse  geschehen  um  der 
Pflicht  willen.  Dann  aber  wird  diese  Pflicht  eine  übertragbare,  so 
daß  also  nicht  jedem  obliegt,  wissend  zu  sein,  wie  sittlich  zu  sein, 
sondern  daß  nur  im  allgemeinen,  damit  das  Sittengesetz  herrsche, 
gewußt  werden  muß,  gleichviel,  wie  bei  jedem  äußeren  Geschäft, 
ob  jeder  es  für  sich  selbst  vollbringe,  oder  wenige  für  alle.  Und 
da  nun  das  letzte  nach  einer  allgemeinen  Maxime  das  Bessere  ist, 
so  wissen  nun  nur  die  Gelehrten.  Was  sie  aber  wissen,  ist  teils 
das  Sinnliche  zum  Behuf  der  Naturbearbeitung,  wozu  nach  dem 
obigen  das  strenge  Wissen  keineswegs  gehört;  teils  aber  das 
Übersinnliche,  um  das  Meinen  der  Gemeine  zum  Behuf  der  An- 
erkennung des  Sittengesetzes  zu  verbessern  und  um  die  Ethik  als 
Wissenschaft  hervorzubringen.  Welcher  Kreislauf  auf  das  zier- 
lichste vollendet  wird,  wenn  man  fragt,  warum  die  Ethik  müsse 
gewußt  werden,  da  doch  dieses  zur  Herrschaft  des  Gesetzes  gar 
nicht  erfordert  wird.  Denn  so  ist  die  Ethik  da  für  das  Wissen 
und  das  Wissen  für  die  Ethik,  beide  aber  zu  nichts,  also  zum 
Spiel,  welches  aber  auch  verboten  ist,  weil  die  Sittlichkeit  beide, 
die  Ethik  und  das  Wissen  verschmäht.  So  daß  auch  hier  wieder 
nur  Piaton  und  Spinoza  mit  einigen  richtigen  Andeutungen 
übrigbleiben.  Der  erste,  indem  er  bei  dem  Bestreben  in  jeder  ein- 
zelnen wahren  Vollkommenheit  die  ganze  Sittlichkeit  darzustellen, 
sie  auch  darstellt  im  Wissen ;  der  letzte  aber,  indem  bei  ihm  die 
Sittlichkeit  überall  im  genauesten  Verhältnis  steht  mit  dem  wahren 
Wissen,  und  zwar  nicht  etwa  irgendeines  einzelnen  unmittelbar 
Praktischen,  sondern  mit  dem  Wissen  des  Ganzen.   Daher  es  mög- 


[111,1,  289]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  291 

lieh  sein  muß,  wiewohl  er  selbst  es  vernachlässiget  hat,  das  ge- 
samte Wissen  sowohl  als  auch  die  rechte  Art  seiner  Erwerbung 
und    Gemeinschaft   aus   seinen    Grundsätzen    abzuleiten,    und    er 
hier  nocH  den  Vorzug  vor  Pia  ton  verdient.    Wogegen  in  Ab- 
sicht der  Kunst  das  Verhältnis  zwischen  beiden  ganz  anders  ist. 
Denn  Piaton  ist  fast  der  einzige,  der  die  Kirnst  ohnerachtet  des 
Hasses,  dessen  er  im  einzelnen  gegen  sie  beschuldiget  wird,  im 
ganzen   ordentlich   ableitet    und   als   ein   Glied   in  sein   ethisches 
System   verwebt,  wenngleich  die  Art  und  Weise  etwas  unförm- 
lich ist  und  nicht  so  hell  und  bündig,  als  seine  ersten  Grundsätze 
es  wohl  zuließen.  Beim  Spinoza  hingegen  ist  das  vollkommenste 
Stillschweigen   hierüber,  und  schwerlich  möchte,  wenn   man   ihn 
ergänzen  wollte,  die  Kunst  unter  einer  besseren  Aufschrift  geltend 
zu  machen  sein,  als  der  eines  doch  nur  zufälligen  und  unsichern 
Beförderungsmittels  der  Weisheit  bei  andern.    So  daß  man  sagen 
muß,  sie  werde  von  ihm  herzhaft  und  im  ganzen  verworfen,  und 
daß  selbst  das  Leben  des  Spinoza  als  eine  symbolische  Andeu- 
tung erscheint,  wie  er  den  geringsten  Dienst  irgendeiner  Wissen- 
schaft für  wichtiger  und  sittlicher  gehalten.  Gegen  eine  solche  Ver- 
werfung nun,  der  nichts  weder  mittelbar  noch  geradehin  wider- 
spricht, hat  auch  die  Kritik  nichts  einzuwenden,  und  muß  selbst 
den  Mangel  aller  Polemik  gegen  das  Verworfene  nur  als  höhere 
Vollkommenheit  achten.  So  aber  ist  es  keineswegs  bei  den  übrigen, 
welche  im  Gegenteil  die  Kunst  fordern,  jeder  auf  seine  Art,  alle 
aber  ohne  genügende  Darlegung  der  Gründe,  wodurch  die  Forde- 
rung   bestimmt    wird,    und    der    Handlungen,    welche    sie    selbst 
wiederum  bestimmt.    Der  unstreitig  am  meisten  dafür  getan  hat, 
ist  Fichte,  und  doch  ist  auch  bei  ihm  nur  Verwirrung  zu  suchen 
in  dem  vielerlei  Angefangenen  und  wieder  Aufgegebenen.    Näm- 
lich zunächst  ist  sie  ihm  ethisch  betrachtet  auch  nur  ein  Mittel, 
um  der  Sittlichkeit  den  Boden  zu  bereiten,  selbst  also  kein  Teil 
derselben.    Woraus,  wenn  weiter  gefolgert  wird,   einesteils   sich 
ergibt,  daß  sie  aufhören  muß,  sobald  auch  nur  die  Empfänglich- 
keit für  das  eigentlich  Sittliche  fest  gegründet  ist,  und  daß  sie  also 

19* 


292  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  290] 

in  einer  Ethik  als  Darstellung  des  wahrhaft  Sittlichen  in  seinem 
ganzen  Umfange  keinen  Raum  findet;  andernteils  auch  Zweifel 
entstehen  könnten,  zumal  Unentbehrlichkeit  des  Mittels  nicht  mit 
erwiesen  ist,  über  dessen  Zweckmäßigkeit  und  Zulässigkeit,  indem 
sich  gar  nicht  abwägen  läßt  das  Verhältnis  des  Erreichten  zu 
dem  großen  und  der  Sittlichkeit  unmittelbar  entzogenen  Aufwand 
menschlicher  Kräfte.  Was  aber  Fichte  weiter  sagt  von  der  Kunst, 
gleichsam  um  jenem  Mangel  abzuhelfen,  davon  möchte  einiges 
wunderlich  scheinen.  Denn  was  bedeutet  wohl  der  Verband  zwi- 
schen dem  Verstand  und  dem  Willen,  und  wie  ist  es  mit  dem 
ästhetischen  Sinn,  der  zwar  von  selbst  kommen  muß,  von  dem 
aber  nicht  gesagt  ist,  daß  er  von  selbst  kommt?  Oder  wenn  er 
ein  eigentümliches  Vermögen  des  Geistes  ist,  und  zwar  von 
solcher  Wichtigkeit,  wie  mag  doch  die  Ausbildung  desselben  zur 
Vollkommenheit  ein  übertragbares  Geschäft  sein?  Oder  wenn  der 
Genuß  der  Kunstwerke  eine  ebenso  vollkommene  Ausbildung  des- 
selben ist,  als  deren  Verfertigung,  weshalb  soll  diese  einen  be- 
sondern Beruf  bilden?  Das  andere  aber,  daß  sie  nämlich  den 
transzendentalen  Gesichtspunkt  gemein  mache,  schwebt  in  einer 
solchen  Dunkelheit,  daß  nun  der  Künstler  entgegengesetzt  scheint 
dem  Weisheitslehrer,  und  daß  der,  welcher  keines  von  beiden  ist, 
schwanken  muß  zwischen  ihnen  ohne  ein  Gesetz,  das  ihn  entweder 
ganz  zu  einem  von  beiden  hintriebe  oder  ihre  Forderungen  be- 
stimmte. So  daß  hier  alles  unbestimmt  ist  und  ohne  Haltung. 
Von  Kant  aber,  der  nur  wie  von  ungefähr  an  der  Kunst  vorbei- 
streift, oder  gar  von  andern  zu  reden,  wäre  unbelohnend,  indem 
die  Unbestimmtheit  der  Folgerungen  die  nämliche  ist,  die  Flach- 
heit und  Dunkelheit  der  Gründe  aber  noch  ärger.  Die  Alten  nun 
haben  hier  eine  leidliche  Entschuldigung,  welche  den  Fehler  mildert 
und  zurückwirft.  Denn  die  nähere  Bestimmung  alles  Wissens 
und  Bildens,  worauf  es  gehen  und  wie  verteilt  sein  soll,  ist  bei 
ihnen  anheimgestellt  dem  Staate.  Daß  aber  und  wie  das  Wissen 
und  die  Kunst  mit  des  Staates,  der  bei  ihnen  alles  in  allem  war. 


[111,1,  291]  in.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  293 

Endzwecken  zusammenhängt,  dieses  besonders  abzuleiten  unter- 
ließen sie  als  von  selbst  einleuchtend,  indem  die  Verbindung  der 
Staatskunst  mit  dem  Wissen  und  der  Kunst  mit  der  Ehrfurcht 
vor  den  Göttern  von  keinem  System  bestritten  wurde.  Welcher 
Mangel  freilich  auch  bei  ihnen  unwissenschaftlich  bleibt,  doch 
aber  mehr  die  Schuld  der  Ausführung  sein  kann,  als  der  herrschen- 
den Ideen.  Die  Neueren  hingegen  können  dergleichen  nichts 
sagen ;  denn  teils  hängt  die  Kunst  bei  ihnen  mit  nichts  Besonderem 
besonders  zusammen,  und  sie  hätte  nur  können  durch  ihren  all- 
gemeinen Zusammenhang  mit  allem  gerechtfertigt  werden;  teils 
kann  bei  ihnen  der  Staat  weder  solche  Befugnis  haben,  noch 
solche  Dienste  leisten  wegen  seiner  in  den  meisten  Darstellungen 
der  Sittenlehre  so  höchst  beschränkten  Zwecke. 

Doch  1  dieses  ist  ein  neuer  Gegenstand  für  die  jetzige  Anklage,  e)  Der  Staat. 
welcher  für  sich  verdient  betrachtet  zu  werden.  Denn  wunder- 
licheres gibt  es  nicht  als  die  lose  Art,  wie  die  bürgerliche  Ver- 
bindung gekittet  und  gehalten  wird,  zumal  in  den  neueren  Dar- 
stellungen der  Sittenlehre.  Bedenken  wir  nämlich  nur  die  beiden 
Gründe,  auf  einem  von  welchen  sie  fast  überall  ruht,  so  sieht  man 
leicht,  daß  die  allgemeine  Glückseligkeit,  welche  der  Staat  be- 
schaffen soll,  nur  in  einer  Sittenlehre  des  Genusses  stattfinden 
kann.  Oder  wie  könnte  die  entgegengesetzte  einem  für  sie  gar 
nicht  ethischen  Zweck  eine  Stelle  einräumen,  und  zwar  eine  solche, 
auf  welche  bei  jedem  sittlichen  Handeln  fast  muß  hingesehen 
werden?  Aber  auch  in  der  genießenden  Ethik  hat,  wie  hinlänglich 
gezeigt  ist,  das  Besondere  den  Vorrang  vor  dem  allgemeinen,  und 
es  fehlt  ganz  an  einer  Rechtfertigung  dieser  Idee  einer  allgemeinen 
Glückseligkeit,  welche  die  besondere  eines  jeden  überall  zu  be- 
schränken und  die  besten  Hilfsmittel  ihr  zu  entziehen  scheint.  Ja 
bei  einer  so  künsthchen  und  verwickelten  Aufgabe  würde  sie  sich 
vergeblich  der  Forderung  entziehen,  entweder  ein  bestimmtes 
Ideal  der  Verfassung  zu  zeichnen,  oder  den  wohlbegründeten  Ent- 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


294  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  292] 

vvurf  einer  möglichen  Mehrheit.  Die  gewöhnliche  Ausflucht  aber, 
als  liege  der  Unterschied  nur  in  der  Verwaltung,  mag  wohl  hin- 
reichen denjenigen  abzuweisen,  der  keine  andere  Verschiedenheit 
sieht,  als  in  der  Zusammensetzung  der  Gewaltzweige,  muß  aber 
dem  nichtig  erscheinen,  der  eben  aus  dem  ethischen  Standpunkt 
ganz  andere  wahrnimmt.  Eben  das  läßt  sich  sagen,  wenn  etwa 
auch  Sittenlehren  dieser  Art  wollten  den  andern  Grund  des  bürger- 
lichen Vereins  geltend  machen,  nämlich  den  Schutz  gegen  das 
Unrecht.  Oder  gibt  es  etwa  schon  eine  Ableitung  des  Rechts  nach 
eudämonistischen  Grundsätzen,  und  weiß  nicht  vielmehr  jeder,  wie 
sich  die  Lehrer  der  Glückseligkeit  von  einer  dieser  Ideen  in  die 
andere  zurückziehen?  Wieviel  weniger  also  würden  sie  imstande 
sein,  vollständig  und  zusammenhängend  zu  bestimmen,  was  nun 
aus  dem  Gebot,  den  Staat  zu  stiften,  in  dem  ganzen  Umfang  der 
Sittlichkeit  folgen  muß,  und  wie  nun  die  eigene  Glückseligkeit 
durch  die  Idee  der  allgemeinen  oder  des  Rechtes  genauer  bestimmt 
oder  anders  gewendet  wird?  Daher  auch  bei  fast  allen  die  ganz 
fremdartige  Behandlung  dieser  Gegenstände.  Legt  man  im  Gegen- 
teil diese  Idee,  der  Staat  sei  da  zu  Abwehrung  des  Unrechts,  der 
praktischen  Sittenlehre  bei:  so  ist  offenbar,  daß,  da  das  Unrecht 
ein  Unsittliches  ist,  der  Staat  mit  dem  Anfang  der  allgemeinen 
Sittlichkeit  aufhören  müsse.  Welches  aucK  vielen  Neueren  nicht 
entgangen  ist;  wie  der  merkwürdige  Ausspruch  bezeugt,  ein  guter 
Staat  sei  daran  zu  erkennen,  daß  er  sich  neige  und  strebe,  sich 
selbst  entbehrlich  zu  machen.  Weniger  aber  ist  die  natürliche  Folge 
bemerkt  worden,  daß  auf  diese  Weise  auch  dem  Staat  nichts  dürfe 
zugeschoben  werden,  was  auch  im  Zustande  der  allgemeinen  Sitt- 
lichkeit muß  gedacht  werden.  Denn  sofern  die  Sittenlehre  eigent- 
lich diesen  seinem  ganzen  Umfang  nach  darstellen  soll,  ist  schon 
der  Staat  ausgeschlossen,  und  es  darf  mit  ihm  nicht  das  Mittel 
fehlen  zur  Konstruktion  irgendeines  wesentlichen  Teiles  jener  Dar- 
stellung. So  ist  es  auch  zum  Beispiel  beim  Spinoza,  welcher 
den  Staat  ebenfalls  nur  als  ein  Verwahrungs-  und  Verbesserungs- 
mittel aufstellt,  dagegen  aber  auch,  wenn  man  einzelne  leicht  zu 


[111,1,  29j>]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  295 

bessernde  Irrungen  nicht  rechnen  will,  nichts  wahrhaft  und  voll- 
kommen Sittliches  von  ihm  ausschließend  ableitet.  Beurteilt  man 
hingegen  nach  demselben  Maßstabe,  um  die  andern  mit  Still- 
schweigen zu  übergehen,  den  vorzüglichsten  der  heutigen  Sitten- 
lehrer i,  und  fügt  hinzu,  wie  seine  Kirche  und  seine  gelehrte  Ge- 
meinschaft nicht  minder  hinfällig  sind:  so  ist  zu  verwundem,  wie 
sehr  er  hiegegen  gefehlt  hat.  Und  von  hieraus  ist  es  am  leichtesten, 
über  den  Umfang  der  Ethik  nach  diesem  System  eine  Musterung 
anzustellen.  Denn  wenn  nun  der  Staat  wegfällt  als  gesetzgebende 
Macht,  so  bleibt  allerdings  die  freie  Einsicht  in  die  Art,  wie  jeder 
will  behandelt  sein,  und  die  freie  Enthaltung  aller  dem  zuwider- 
laufenden Handlungen.  Ebenso,  wenn  die  Kirche  wegfällt,  bleibt 
dennoch  die  Übereinstimmung  in  Hinsicht  der  auf  das  Über- 
sinnHche  gegründeten  sittlichen  Überzeugung.  Aber  fragt  man 
nun  weiter,  was  denn,  nachdem  alles,  was  bloß  Zurüstung  war, 
hinweggenommen  worden,  als  der  eigentliche  und  letzte  Gegen- 
stand dieser  einstimmigen  Überzeugung  und  jener  frei  gesetzlichen 
Behandlung  übrig  bleibt:  dann  möchte  schwerlich  etwas  anderes 
aufzuzeigen  sein,  als  die  Beherrschung  der  Erde  und  die  Ver- 
arbeitung ihrer  Erzeugnisse.  So  daß  eine  gleichsam  physio- 
kratische  Sittenlehre  herauskommt,  in  welcher  der  Ackerbau  das 
eins  und  alles  ist  dem  Inhalt  nach,  die  Form  aber  nicht  besser 
beschrieben  werden  kann,  als  die  freilich  möglichst  strenge  und 
ausgedehnte  Rechtlichkeit  in  Form  der  Formlosigkeit.  Nur  nicht 
zu  vergessen,  daß  sich  wiewohl  sehr  schlecht  hinzufügen  zwei 
mystische  Anhänge,  die  Kunst  nämlich  und  die  Ehe,  in  welchen 
beiden  alles  zusammengepreßt  ist,  was  sich  außer  jenem  großen 
Gegenstande  und  unmittelbarer  auf  den  Menschen  selbst  bezieht, 
dergleichen  Kleinigkeiten  nämlich,  wie  die  Erhöhung  seines  Ge- 
sichtspunktes für  das  Ganze  der  Welt,  die  Ausbildung  der  liebens- 
würdigsten Eigenschaften  seiner  Natur,  die  endliche  Verknüpfung 
seines  Verstandes  und  Willens,  und  was  sonst  an  diesen  Orten 
zu  lesen  ist,  auch  wohl  selbst  bezeichnet  wird  als  das  höhere  der 
1  Fichte. 


296  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  294] 

Sittlichkeit.  Welch  ein  schlechtes  Ganzes  nun  dieses  bildet,  von 
jeder  Seite  angesehen,  zu  viel  entweder  oder  zu  wenig,  das  ist 
klar,  und  es  deutet  hin  auf  die  Notwendigkeit,  die  propädeutische 
Ethik,  die  es  nur  mit  den  Vorübungen  zur  Sittlichkeit  zu  tun  hat, 
entweder  ganz  aufzugeben,  wie  denn  die  Alten  nichts  davon 
wissen,  oder  ganz  abzusondern,  wie  Spinoza  getan,  oder  auf 
eine  andere  Weise  mit  der  wahren  Ethik  zu  verbinden,  und  den  Ein- 
richtungen der  ersten  einen  solchen  Grund  unterzulegen  und 
solche  Gestalt  zu  geben,  daß  sie  auch  dem  wahren  und  vollendeten 
Sittlichen  zu  dienen  vermögen.  Und  wie  die  Alten  die  ganze  Stärke 
ihrer  Ethik  setzten  in  den  Staat  allein,  in  einen  solchen  aber,  der 
nicht  etwa,  wenn  alle  sittlich  wären,  zu  Ende  ginge,  sondern  dann 
erst  seine  ganze  Vortrefflichkeit  anfinge  zu  entwickeln  und  den 
Endzweck  der  größten  gemeinschaftlichen  Tätigkeit  zu  erreichen, 
in  diesem  Sinne  sollten  auch  die  Neueren  einen  Staat  nicht  nur 
haben,  sondern  eine  Kirche,  und  was  sonst  noch  dieser  Art  sich' 
darbietet.  Denn  ob  die  verschiedenen  Güter,  welche  hievon  der 
Zweck  sind,  auch  durch  eine  und  dieselbe  Verbindung  zu  erreichen 
wären,  diese  erfordert  eine  eigene  nicht  hierher  gehörige  Unter- 
suchung, daher  sie  besser  problematisch  als  Mehrheit  zu  denken  sind. 

ni.   Ungenügende    Reduktion    der    ethischen    Sätze    auf 

Prinzipien.^ 

Einen  dritten  Fehler  endlich  hätte  aus  allem  bisher  einzeln 
Angeführten  jeder  von  selbst  entdecken  können,  und  er  darf  des- 
halb nur  mit  kurzem  berührt  werden.  Es  ist  der  nämlich,  daß  auch 
mit  demjenigen,  was  sie  bestimmen,  die  Sittenlehrer  nicht  weit 
genug  zurückgehen,  sondern  von  solchen  Bedingungen  anfangen, 
welche  doch  kein  Anfang  sind,  weil  sie  selbst  nur  können  ethisch 
entstanden  sein,  so  daß  auch  von  ihnen  erst  muß  gefragt  werden, 
ob  sie  sittHch  sind  oder  nicht.  Oder  um  den  nächsten  und  ge- 
meinsten Fall  zu  bezeichnen,  daß  sie  jedesmal  den  ihnen  gegebenen 
Zustand  der  Dinge  zum  Grunde  legen,  ohne  ihn  selbst  der  Prü- 

*     Überschrift  nicht  im  Original. 


[111,1,295]  111.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  2Q7 

fung  zu  unterwerfen.  Beispiele  sind  aus  allen  Teilen  des  ethi- 
schen Gebietes  nicht  schwer  zu  finden.  So  dürfen  wir  nur  bei 
dem  stehenbleiben,  wovon  zuletzt  geredet  worden,  der  Verfassung 
des  Staates.  Denn  mehr  oder  minder  geht  jeder  aus  von  den 
Formen,  welche  er  kennt,  ohne  sie  selbst  ethisch'  entstehen  zu 
lassen,  oder  zu  fragen,  ob  nicht  ganz  andere  ebenso  auf  diesem 
Wege  möglich  sind.  So  beziehen  sich  die  Ideale  der  Griechen 
überall  auf  ein  kleines  Gebiet,  auf  die  Voraussetzung  der  Sklaverei, 
und  auch  der  Einfluß  ihrer  beschränkten  Begriffe  von  Völker- 
verwandtschaft und  ihres  Gegensatzes  von  Hellenen  und  Barbaren 
ist  überall  dem  Kundigen  leicht  zu  spüren.  Wäre  eine  Ethik  vor- 
handen von  einem  Volke,  bei  welchem  die  Erblichkeit  der  Geschäfte 
und  Zünfte  eingeführt  gewesen,  so  würde  auch  diese  gewiß  darin 
vorausgesetzt  sein,  und  die  Frage  von  der  Wahl  des  Berufs  keinen 
Raum  haben.  Ebenso  ist  bei  den  Alten  allgemein  die  Voraus- 
setzung eines  untergeordneten  und  zurückgezogenen  Zustandes 
für  das  weibliche  Geschlecht,  bei  den  Neueren  hingegen  die  der 
Einheit  und  Unzertrennlichkeit  der  Ehe,  ohne  auch  nur  zu  denken, 
es  könne  jemand  einen  Beweis  davon  verlangen,  daß  jede  andere 
Gestaltung  dieses  Verhältnisses  müßte  unsittlich  sein.  Nicht  anders 
aber  würde  der  Morgenländer  von  der  Vielweiberei  ausgehen, 
und  der  nairische  Sittenlehrer  die  Natürlichkeit  und  Sicherheit 
seiner  Einrichtungen  anpreisen.  Denn  wenn  auch  bisweilen  die 
Fragen  aufgeworfen  wurden,  ob  wohl  der  Weise  dürfe  den  Staat 
verwalten,  oder  Kinder  erzeugen  und  ehelich  werden,  so  hatten  diese 
gar  nicht  den  Sinn,  ob  solche  Verhältnisse  überhaupt  dürften  vor- 
handen sein,  sondern  sie  bezogen  sich  nur  auf  diejenige  Form  der- 
selben, von  welcher  allein  konnte  die  Rede  sein.  Ferner,  wenn 
von  den  Pflichten  der  verschiedenen  Stände  gehandelt  wird,  bringen 
die  Neueren  jedesmal  die  eben  vorhandene  Einrichtung  derselben 
mit.  Und  in  dem  Abschnitte  von  der  sittlichen  Ansicht  der  äußeren 
Güter  wird  fast  immer  vorausgesetzt,  daß  sie  dem  Zufall  unter- 
worfen sind,  ohnerachtet  doch  dieser  Zufall  beruht  teils  auf  den 
willkürlichen  Handlungen  der  Menschen,  teils  auf  der  Art,  wie  sie 


298  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      1 111,1,  296] 

gemeinschaftlich  die  Natur  beherrschen,  und  also  ebenfalls  ethisch 
müßte  gebildet  und  berichtiget  werden.  Auch  die  S  t  o  i  k  e  r  in  ihren 
Trostgründen  bei  Unfällen  und  in  ihren  Vorschriften,  um  sich 
über  das  Unglück  zu  erheben,  setzen  immer  die  damalige  Ohn- 
macht des  Menschen  voraus,  und  denken  an  nichts  anderes.  Ja 
auch  in  der  Fichteschen  Sittenlehre,  welche  weiter  als  andere 
zurückgeht  in  ihren  Ableitungen,  sieht  nicht  jeder  an  dem  Unzu- 
sammenhange  der  Folgerungen,  daß  sie  das  dem  gegenwärtigen 
Ähnliche  nicht  gefunden,  sondern  sich  mit  Gewalt  einen  Weg  dahin 
gebahnt  hat,  weil  sie  eben  nirgends  anders  anzukommen  gewußt? 
Denn  wie  gewaltsam  und  durch  welche  Mißdeutungen  ist  nicht 
der  Begriff  des  Symbols  in  das  System  gezogen,  um  die  Kirche  auf- 
zurichten? Und  das  Prinzip  der  Teilung  der  Stände  hätte  es  nicht 
ebenso  leicht  auf  eine  Erblichkeit  aller  Geschäfte  führen  können, 
als  auf  jene  Einrichtung,  aus  welcher  dennoch  kein  vollständiger 
Bestimmungsgrund  hervorgeht?  Selbst  von  dem  ersten  Punkt 
an,  wo  die  Ableitung  der  Ehe  angeht,  hätte  gar  leicht  statt  ihrer 
der  Weg  gefunden  werden  können  zu  einer  vollkommenen  Ge- 
meinschaft der  Weiber,  Dieses  jedoch  mag  jeder  selbst  heraus- 
finden, dem  Nachrechnungen  solcher  Art  geläufig  sind;  so  wie  auch 
jedem  überlassen  bleibt,  von  hieher  gehörigen  Fehlern  aller  Systeme 
noch  eine  größere  Anzahl  aufzusuchen  in  allen  Teilen  des  ethi- 
schen Gebietes,  welches  besonders  in  den  bis  jetzt  vorhandenen 
eudämonistischen  Sittenlehren  ein  schwer  zu  beendigendes  Ge- 
schäft sein  würde.  Die  Folge  aber  von  diesem  Anfangen  auf 
halbem  Wege  ist  die,  daß  niemals  das  vollkommene  Sittliche  dar- 
gestellt wird,  welches  der  Grundidee  eines  jeden  Systems  an- 
gemessen wäre,  sondern  daß  vielmehr  das  Unsittliche  festgehalten 
wird.  Denn  wenn  ein  Zustand,  der  den  Keim  desselben  enthält, 
unbedingt  gesetzt  wird  als  ein  Moment,  welches  bei  Bestimmung 
des  Sittlichen  muß  in  Anschlag  gebracht  werden :  so  muß  ja 
alles  auf  diese  Art  Bestimmte  noch  unsittlich  sein,  und  kann  nur 
sittlich  werden,  wenn  zugleich  die  Aufgabe,  jenes  zu  berichtigen,  ein 
anderes  Moment  ist  in  derselben  Berechnung.   Setzet  zum  Beispiel 


[111,1,297]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  29Q 

die  Tapferkeit,  wie  sie  von  vielen  eingeschränkt  wird,  bloß  als 
den  pflichtmäßigen  Kriegesmut:  so  ist  sie  eine  Tugend,  welche 
lediglich  auf  der  Voraussetzung  eines  Unsittlichen  beruht;  denn 
niemand  wird  leugnen,  daß  ein  Krieg  nur  beginnen  kann  durch 
eine  unsittliche  Handlung.  Wird  ihr  nun  nicht  beigelegt  das  Be- 
wußtsein dieser  Bedingtheit,  sondern  vielmehr  ein  solches  Be- 
streben, sich  immerfort  tätig  zu  erweisen,  wie  es  in  jeder  wahren 
Tugend  muß  gedacht  werden,  so  ist  sie  offenbar  unsittlich.  Kommt 
nun  etwa  anderwärts  zum  Ersatz  eine  Gesinnung  vor,  welche  den 
Ausbruch  der  Gewalt  hindern  soll:  so  entsteht  zwischen  beiden, 
es  sei  nun  offenbar  oder  versteckt,  unfehlbar  eine  Art  von  Wider- 
streit. Dasselbe  wird  sich  auch  ergeben  bei  solchen  Mängeln, 
welche  allgemeiner  durch  das  Handeln  eines  jeden  können  und 
sollen  hinweggenommen  werden;  wie  wenn  die  Rede  ist  vom 
Verhalten  gegen  Vorurteile,  oder  von  dem  Werte,  welcher  zu  legen 
ist  auf  eine  herrschende,  aber  ungegründete  öffentHche  Meinung. 
So  daß  überall  dieses  Anfangen  auf  halbem  Wege  und  bei  dem 
schon  Verdorbenen  eine  neue  und  reichHche  Quelle  sein  muß  von 
sogenannten  Kollisionen  eines  Sittlichen  mit  dem  anderen;  und  so 
lange  noch  irgend  etwas  selbst  von  menschlichem  Handeln  Ab- 
hängiges als  unbewegliche  Bedingung  des  Sittlichen  gesetzt  wird, 
fehlt  es  in  der  Sittenlehre  an  Zuversicht  des  Inhaltes  und  an  voll- 
ständiger Haltung.  Ja,  wo  ein  offenbarer  Widerspruch  in  einem 
ethischen  System  angetroffen  wird,  da  ist  gewiß  auch  in  Ver- 
bindung damit  ein  Mangel  dieser  Art  anzutreffen.  Was  zum  Bei- 
spiel ist  widersprechender,  als  daß  Kant  eine  Pfhcht  annimmt  für 
seine  Glückseligkeit  zu  sorgen  ?  Hätte  er  aber  nur  den  Grundsatz 
festgehalten,  daß  auf  dem  Gebiet  der  Ethik  nichts  gegeben  ist, 
sondern  alles  erst  muß  gemacht  werden,  welcher  aber  freilich  dem- 
jenigen schwerlich  recht  klar  sein  kann,  für  den  die  Sittlichkeit 
nur  eine  beschränkende  Natur  hat:  so  würde  er  anstatt  jener 
widersinnigen  Pflicht  nur  die  Aufgabe  gefunden  haben,  die  gesetz- 
liche Geselligkeit  so  zu  gestalten,  daß  das  zur  fortgesetzten  Tätig- 
keit nötige  Wohlbefinden  aus  der  vorigen   Tätigkeit  regelmäßig 


300  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  298] 

erfolgt;  welche  Aufgabe,  wenn  sie  vollständig  gelöst  wird,  keine 
Notwendigkeit  mehr  übrig  läßt,  auf  diesem  Gebiet  etwas  Eigenes 
und  Besonderes  zu  tun  der  Glückseligkeit  wegen.  Auch  von  dem 
Selbstmorde  der  Stoiker  möchte  der  Grund  größtenteils  in  einem 
Mangel  dieser  Art  zu  suchen  sein.  Unter  den  Neueren  zwar  hat 
Fichte  in  einer  Stelle  sehr  deutUch  gesagt,  daß  es  für  die  Sittlich- 
keit nicht  genug  sei,  den  vorhandenen  Bedingungen  zu  genügen, 
sondern  daß  es  auch  darauf  ankomme,  sie  zu  verbessern.  Allein 
teils  ist  dieses  bei  ihm  nur  eine  leere  Formel,  indem  nichts  in 
seinem  System  danach  wirklich  ausgeführt  ist,  vielmehr  an  den 
wenigen  Stellen,  wo  er  wirklich  auf  Verbesserung  des  Vorhandenen 
ausgeht,  wie  zum  Beispiel  bei  der  Umstürzung  des  Notstaates 
durch  erstweichen  Biedermann,  und  bei  der  Veränderung  des  Sym- 
bols erlaubt  er  sich  ein  höchst  tumultuarisches  Verfahren,  und  an 
andern  Stellen,  wo  die  Verbesserung  ebenso  dringend  wäre,  wie 
bei  der  Einteilung  der  Stände,  übersieht  er  sie  gänzlich.  Teils 
auch,  wenn  er  diese  Maxime  überall  richtig  befolgt  hätte,  ist  sie 
doch  viel  zu  beschränkt,  um  der  Ethik  die  Vollständigkeit  ihres 
Inhaltes  von  dieser  Seite  zu  sichern.  Denn  jeder  sieht,  daß  die 
Sittenlehre,  wenn  sie  bei  ihren  Bestimmungen  von  vorhandenen 
Bedingungen  ausgeht,  entweder  ihre  Anwendbarkeit  beschränkt, 
sofern  sie  über  den  besonderen  Fall  das  Allgemeine  verabsäumt, 
oder  daß  sie  sich  eine  unendliche  Aufgabe  setzt,  wenn  sie  durch  die 
Aufzählung  alles  Besonderen  das  Allgemeine  herbeischaffen  will. 
Sondern,  indem  sie  das  vollendet  Sittliche  darstellen  will  in  seinem 
Sein,  muß  es  in  solchen  Formeln  geschehen,  daß  darin  auch, 
wie  sein  annäherndes  Werden  für  jede  angenommene  Bedingung 
zu  konstruieren  sei,  muß  können  gefunden  werden.  Doch  dieses 
hängt  so  genau  zusammen  mit  dem,  was  den  Gegenstand  des 
zweiten  Abschnittes  ausmacht,  daß  es  hier  mag  zur  Seite  gelegt 
werden,  um  es  dort  unter  einer  andern  Gestalt  wieder  aufzu- 
nehmen. 


[111,1,299]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  301 

Zweiter  Abschnitt. 

Von  der  Vollkommenheit  der  ethischen  Systeme  in  Absicht 
auf  deren  Gestalt. 

Der  Anfang  dieses  letzten  Teiles  unserer  Untersuchung  möge  Kasuistik  und 
gemacht  werden  von  einer  Mißgestaltung,  welche  sich  dem  ersten  Asketik. 
Anblick  nicht  als  ein  Mangel  ankündigt,  sondern  als  ein  Über- 
fluß, nämlich  von  dem  Ansetzen  einer  Kasuistik  und  Asketik  an 
die  eigentliche  und  unmittelbare  systematische  Abhandlung  der 
Ethik.  Nicht  mit  Unrecht  freilich  könnte  es  manchem  vielleicht 
scheinen,  als  ob  zu  wenige  Sittenlehrer  diese  Fächer  angebaut 
hätten,  um  ihrer  zu  erwähnen  bei  einer  nur  das  Große  betreffen- 
den Untersuchung.  Denn  unter  den  rein  philosophischen  Sitten- 
lehrern, von  welchen  doch  mit  Ausschluß  der  religiösen  hier  allein 
geredet  wird,  möchte  leicht  Kant  der  einzige  sein  von  Bedeutung, 
der  beides  ausdrücklich  aufführt.  Und  auch,  könnte  einer  hinzu- 
fügen, sein  Beispiel  hinreichend,  um  die  Sache  in  ihrer  Nichtigkeit 
darzustellen.  Denn  die  ganze  Einteilung  in  Elementarlehre  und 
Methodenlehre,  durch  welche  allein  der  Platz  ausgemittelt  wird 
für  die  Asketik,  ist  ja  der  Sittenlehre  gar  nicht  angemessen, 
und  scheint  nur  aus  Anhänglichkeit  entstanden  zu  sein  an  die 
längstgewohnte  Gestalt  seiner  kritischen  Werke.  So  daß  man 
sagen  möchte,  die  Asketik  sei  mehr  hingestellt,  um  den  Platz  aus- 
zufüllen, als  der  Platz  ersonnen  ihres  Inhaltes  wegen.  Zumal 
auch  diese  Asketik  eigentlich  leer  gelassen  ist,  weil  ja  nirgends 
Mittel  und  Wege  aufgezeigt  sind,  um  die  wackere  und  fröhliche 
Gemütsstimmung  zu  erwerben,  noch  auch  erwiesen,  daß  etwa 
jeder  sie  von  selbst  haben  müsse,  und  sich  nur  erhalten  dürfe. 
Nicht  besser  ist  es  mit  der  Didaktik  bestellt,  welche  teils  nur 
ein  Abschnitt  ist  aus  der  Erziehungskunst,  die  doch,  wenn  sie 
zugegeben  wird,  eine  besondere  Wissenschaft  sein  müßte,  wenn- 
gleich von  der  Ethik  abgeleitet,  teils  aber  bei   Kant  eigentlich 


302  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      (111,1,  300] 

gar  nicht  in  Betracht  kommen  darf,  dessen  erster  Grundsatz  ja  die 
Beförderung  fremder  Vollkommenheit  leugnet.  Seine  Asketik  ist 
also  schon  ihrer  Nachbarschaft  und  ihres  Ortes  wegen  verdächtig; 
seine  Kasuistik  aber,  welche  keinen  eigenen  Ort  hat  und  keine 
Nachbarschaft,  teilt  wenigstens  mit  jener  den  Vorwurf  der  Leer- 
heit, da  sie  sich  fast  ausschließend  mit  müßigen  und  kindischen 
Fragen  beschäftiget,  oder  mit  solchen,  welche  des  Urhebers  Ab- 
neigung beurkunden  gegen  sein  eigenes  Werk.  Allein  es  mag  Kant 
uns  hier  nur  gelten  als  irgendein  gleichviel  welches  Beispiel,  nur 
vorzüglich  wegen  der  Ausführlichkeit,  womit  er  diese  Gegenstände 
vor  Augen  stellt,  um,  ohne  auf  sein  Eigentümliches  dabei  zu  sehen, 
durch  genauer  Betrachtung  der  Sache  selbst  zu  zeigen,  daß  aucK 
andere,  wenngleich  weniger  ausgeführt  und  noch  gestaltloser, 
dasselbe  mit  ihm  gemein  haben.  Denn  wenn  wir  fragen,  was 
die  Kasuistik  eigentlich  sei,  so  ist  es  nicht  etwa,  wie  auf  den 
ersten  Anblick  scheinen  möchte,  eine  Anweisung,  schwierige  ein- 
zelne Fälle  unter  die  ethischen  Vorschriften  oder  die  in  der  Ethik 
angegebenen  Begriffe  richtig  zu  befassen.  Sondern  vielmehr  aus 
dem  Gesichtspunkt  muß  man  sie  ansehen,  daß  sie  durch  Ver- 
gleichung  mit  solchen  Fällen,  welche  gleichsam  an  der  Grenze 
Hegen,  erst  den  Sinn  und  Umfang  der  Formeln  genauer  festzu- 
setzen sucht.  Denn  die  aufgeworfenen  Fragen  sind  immer  darauf 
gestellt,  als  Versuche  die  Grenzen  der  ethischen  Formeln  zu  be- 
stimmen, es  sei  nun  einer  an  sich  oder  mehrerer  gegeneinander; 
wie  zum  Beispiel  bei  Kant,  inwieweit  man  müsse  sich  selbst  ab- 
brechen, um  wohltätig  zu  sein,  oder  die  Frage,  wo  nun  im  Ge- 
brauch der  Sprachzeichen  die  Unwahrheit  angehe,  ob  bei  dem  buch- 
stäblichen Sinn,  oder  bei  der  durch  stillschweigende  Übereinkunft 
festgesetzten  Bedeutung;  oder  was  eigentlich  seine  größte  kasu- 
istische Frage  ist,  ob  nicht  etwa  das  Wohlwollen  solle  unter  die 
gleichgültigen  Dinge  gezählt  werden.  Das  nämliche  würden  alle 
Beispiele  aus  der  religiösen  Sittenlehre  ausweisen,  wo  es  auch 
immer  darauf  angelegt  ist,  den  Umfang  der  Heiligkeit  eines  Gegen- 
standes zu  bestimmen  oder  die  Grenzen  eines  göttlichen  Gebotes. 


[111,1,  301]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  303 

Auch  die  Vergleichung,  wie  Marcus  Cicero  sie  anstellt,  zwischen 
einem  Pflichtmäßigen  und  dem  andern,  welches  das  Größere  sei, 
ist  in  gleichem  Sinne  eine  Kasuistik,  nur  daß  sie  sich  vor  andern 
dem  ersten  Anblick  dadurch  empfiehlt,  daß  sie  nur  das  Verhältnis 
mehrerer  Formeln  gegeneinander  bestimmen  soll.  Welcher  Vor- 
zug jedoch  nur  ein  Schein  ist.  Denn  wenn  nicht  jedes  kleinere 
Pflichtmäßige  gänzlich  verschwinden  soll  gegen  jedes  größere:  so 
entsteht  hier  die  Frage,  wo  doch  die  Vergleichung  anhebe,  nämlich 
wie  klein  in  jedem  einzelnen  Falle  das  Wichtigere  sein  dürfe,  um 
dem  größeren  Unwichtigen  voranzugehen ;  welches  doch  immer  die 
Frage  ist  über  den  Sinn  und  die  Grenzen  jeder  Formel  für  sich. 
Daß  aber  diese  Bestimmung  kein  besonderer  Teil  der  Wissen- 
schaft sein  könne,  leuchtet  ein.  Denn  wie  sollte  wohl  ein  Teil  das 
Setzen  der  Formeln  in  sich  enthalten,  ein  anderer  aber  die  Be- 
stimmung ihrer  Grenzen,  da  ja  ohne  diese  auch  im  ersten  nichts 
gesetzt  ist,  und  keine  Ordnung  kann  gewesen  sein,  nach  welcher 
dabei  zu  Werke  gegangen  worden.  Allein  auch,  wie  Kant  getan 
hat,  sie  gleich  hier  und  dort  oder  auch  überall  dem  Hauptteil  einzu- 
streuen, kann  nicht  für  besser  gelten:  denn  so  wird  doch  die  Grenze 
einer  jeden  nur  nach  einer  Seite  hin  bestimmt  in  Beziehung  auf  das 
bereits  Festgestellte,  jedes  folgende  aber  muß  auch  wieder  neue 
kasuistische  Fragen  veranlassen  im  Gebiete  des  vorigen.  Auch  ist 
Kants  rechtfertigende  Ableitung  der  Kasuistik  der  offenherzigste 
Fingerzeig  über  ihren  eigentlichen  Ursprung.  Denn  es  erhellt 
daraus  ganz  deutlich,  daß  die  Unbestimmtheit  der  Formeln  das 
Bedürfnis  derselben  veranlaßt,  dieselbe,  welche  oben  von  uns  ist 
getadelt  worden  bei  Übersicht  der  gewöhnlichen  Behandlung  des 
Pflichtbegriffs.  Daher  auch  bei  jeder  Behandlung  der  Ethik  nach 
dem  Pflichtbegriff  bis  jetzt  die  Kasuistik  ist  am  deutlichsten  ans 
Licht  getreten.  Wiewohl  wenn  man  bedenkt,  wie  im  einzelnen 
Tugend  und  Pflicht  fast  überall  verwechselt  werden,  und  wie 
schlecht  auch  alle  Einteilungen  des  Tugendbegriffs  uns  erschienen 
sind,  man  nicht  zweifeln  kann,  daß  auch  in  einer  solchen  Be- 
handlung  dieser   Auswuchs   nicht  fehlen   werde.    Am   wenigsten 


304  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,302] 

scheint  demselben  ausgesetzt  zu  sein  diejenige  Ethik,  welche  dem 
Begriff  der  Güter  nachginge,  bei  welchem  die  Unbestimmtheit  sich 
so  groß  und  vielfach  nicht  gezeigt  hat.  Jedoch  mag  auch  dieses 
leicht  nur  der  sparsamen  Bearbeitung  nach  dieser  Methode  zu 
zu  verdanken  sein;  und  der  mangelhafte  systematische  sowohl  als 
ethische  Sinn  würde  auch  wohl  den  klarsten  und  leichtesten  Be- 
griff, wenn  er  sich  dessen  bemächtiget  hätte,  verdunkelt  und  ver- 
dorben haben.  Indes  geben  die  Begriffe  der  Güter  und  der  Tugend 
noch  eine  andere  entschuldigende  Vorstellung  von  der  Möglichkeit 
eines  solchen  Mißgriffs.  Nämlich  wenn  nach  diesen  Begriffen 
und  ihren  abgeleiteten  Formeln  die  Tat  für  einen  gegebenen  Fall 
soll  bestimmt  werden:  so  kann  es,  weil  jene  Begriffe  diesem  Ge- 
schäft nicht  angemessen  sind,  nicht  anders  geschehen  als  vermittelst 
eines  solchen  Versuchmachens,  wie  es  die  Kasuistik  uns  darstellt. 
Denn  wie  man  auch  die  Frage  löse,  so  wird  immer  scheinen  nur 
ein  Gut  befördert  zu  sein,  und  eine  Tugend  geübt,  die  andere 
aber  zurückgesetzt,  versteht  sich,  insofern  die  Sittlichkeit  eines 
Systems  jenen  fast  überall  gefundenen  Charakter  des  Negativen 
an  sich  trägt,  bei  welchem  sich  an  dem  Einzelnen,  durch  eine 
Beschränkung  gebildeten  die  Fülle  unmöglich  wahrnehmen  läßt, 
welche  auch  der  Forderung  von  Verbindung  aller  Güter  und 
aller  Tugenden  Genüge  leistet.  So  daß  unter  jener  Voraussetzung 
die  Kasuistik  allen  Systemen  der  Ethik  natürlich  ist,  insofern 
darin  entweder  aus  den  Begriffen  der  Güter  und  Tugenden  die 
einzelne  Tat  soll  gefunden,  oder  die  nach  der  Pflichtformel  ge- 
fundene mit  den  Forderungen  jener  Begriffe  verglichen  werden. 

Einei  ähnliche  Bewandtnis  nun  hat  es  mit  der  Asketik.  Diese 
nämlich  soll  vorstellen  eine  Technik  der  Sittenlehre,  eine  Methode 
gleichsam,  um  sich  sittlich  zu  machen  oder  sittlicher,  oder  um  sich 
im  einzelnen  die  Ausübung  des  Pflichtmäßigen  zu  erleichtern. 
So  daß  auch  sie  zunächst  nur  in  Beziehung  auf  den  Pflicht-  und 
Tugendbegriff   stattfindet,   der    Begriff   der   Güter    aber   weniger 

1  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,303]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  305 

auf  sie  hinführt.  Daß  nun  eine  solche  Übung,  sofern  sie  aus 
einer  eigenen  Reihe  bestimmter  Handlungen  bestehen  soll,  in  der 
Ethik  nicht  kann  gefordert  und  aufgestellt  werden,  davon  sind 
schon  oben  die  Gründe  auseinandergesetzt  worden,  da  nämlich, 
wo  gezeigt  wurde,  wie  unstatthaft  es  wäre  in  der  Ethik,  etwas 
als  Mittel  zu  setzen.  Denn  bei  einer  Behandlung  der  Ethik  nach 
dem  Pflichtbegriff  kann  die  Asketik  nur  angesehen  werden  als  der 
Inbegriff  aller  inneren  Mittel.  Da  nun  dem  obigen  zufolge  in 
jedem  Augenblick  die  schon  erworbene  Tugend  soll  in  Tätigkeit 
gesetzt  werden,  um  die  Pflichten  des  Berufes  zu  üben,  ebenso 
aber  in  jedem  Augenblick  etwas  zu  tun  wäre  zu  Erhöhung  der 
Tugend,  so  würden  diese  Reihen  in  der  Ausübung  einander  wider- 
streiten, und  selbst  wenn  das  Geforderte  jedesmal  zusammenträfe, 
wäre  ohne  die  Überzeugung  von  der  Notwendigkeit  dieses  Zu- 
sammentreffens doch  eine  von  beiden  Forderungen  in  der  Absicht 
des  Handelnden  unerfüllt  geblieben.  Wird  aber  die  Ethik  nach 
dem  Tugendbegriff  behandelt,  so  daß  die  Tugend  als  eine  wach- 
sende Fertigkeit  dargestellt  wird,  welches  das  Eigentümliche  aus- 
macht in  dem  System  der  Vervollkommnung:  so  entsteht  der 
nämliche  Gegensatz,  nur  umgekehrt.  Hier  nämlich  wird  die  Asketik 
alles,  und  dagegen  wird  die  eigentliche  Ethik  mit  ihren  Forde- 
rungen nur  zufällig  befriedigt.  Nur  aus  dem  Begriff  der  Güter 
angesehen  können  beide  in  dieser  Hinsicht  nebeneinander  bestehen, 
indem  die  Tugend,  als  Fertigkeit  angesehen,  selbst  ein  Gut  ist, 
und  ihr  Hervorbringen  also  ein  Teil  der  allgemeinen  Forderung. 
Doch  dieses  betrifft  das  Reale  der  Sache,  und  sei  nur  beiläufig 
gesagt,  da  hier  ja  zimächst  die  Rede  ist  von  dem  Formalen.  Über 
dieses  aber  ist  folgendes  zu  bemerken.  Zuerst  nämlich  wenn  man 
den  letztgedachten  Fall  annimmt:  so  ist  freilich  nicht  zu  sehen,  wie 
die  Anweisung,  dieses  Gut  hervorzubringen,  mehr  im  Streit  sein 
sollte  mit  dem  Ganzen  der  Ethik,  als  die  über  irgendein  anderes; 
ebensowenig  aber,  warum  sie  einen  eigenen  Teil  oder  Anhang 
der  Wissenschaft  ausmachen  sollte  mehr  als  irgendeine,  und  nicht 

Schleiermacher,  Werke.     I.  20 


306  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  304] 

zum  Beispiel  die  Kunst,  den  Reichtum  ethisch  zu  vermehren, 
oder  die  Ökonomik  und  tausend  andere  ebenso  müßten  behandelt 
werden.  Dann  aber  auch  könnte  unter  allen  diesen  keine  uns 
Vorschriften  geben  zu  irgendeinem  bestimmten  Handeln,  weil 
ja  in  jedem  alle  Güter  müssen  befördert  werden,  so  daß  sie 
ebensowenig  als  die  Kasuistik  die  rechte  Verbindung  sein  kann 
zwischen  der  Behandlung  der  Ethik  nach  einem  andern  und  der 
nach  dem  Pflichtbegriff.  Ferner  aber,  wenn  man  von  dieser  letzten 
Behandlung  ausgeht,  und  zwar  so  unvollkommen  wie  da,  wo 
sie  auch  eine  Kasuistik  hervorbringt,  und  wenn  man  sich  die 
Asketik  neben  dieser  Kasuistik  denkt,  so  verflechten  sich  beide 
wunderbarlich  ineinander.  Nämlich  die  Kasuistik  in  der  Aus- 
übung als  Fertigkeit  gedacht  müßte  ebensogut  ihre  besondere 
Asketik  haben  als  die  Ethik  selbst,  und  so  auch  die  Asketik  auf 
jene  unvollständigen  und  unbestimmten  Begriffe  von  Pflichten 
und  Tugenden  bezogen  ihre  Kasuistik.  So  daß  beide  als  ein 
künstliches  Netz  die  so  gestaltete  Ethik  ohne  Ausweg  bestricken 
und  ihren  verbotenen  Umgang  mit  dem  Unverstände  offenbaren 
zur  belachenswerten  Schau.  Allein  außerdem,  wie  sollte  wohl  die 
Asketik  irgendeine  wissenschaftliche  Gestalt  haben  können?  Denn 
zweierlei  läßt  sich  nur  tun,  um  sie  zu  teilen  und  zu  gliedern. 
Entweder  die  Tugend  wird  geteilt,  und  es  wird  gesetzt,  es  fehle 
dem  an  diesem,  jenem  an  einem  andern.  Dann  aber  kann  Stär- 
kungsmittel für  den  schwachen  Teil  nur  sein  entweder  ein  anderer; 
wodurch  die  Teilung  wieder  aufgehoben  würde,  indem  was  als 
Wirkung  und  Ursach  verbunden  ist,  nicht  zugleich  kann  gedacht 
werden  in  der  Verbindung,  welche  stattfindet  zwischen  Teilen 
desselbigen  Ganzen.  Oder  für  alle  dasselbe,  nämlich  Übung  durch' 
Handeln  und  Vorübung  durch  Denken.  Dann  aber  bestände  die 
Asketik  aus  zwei  ganz  ungleichartigen  Teilen,  deren  jeder  schon 
anderswohin  gehört,  nämlich  die  Teilung  des  Tugendbegriffs  in 
die  Behandlung  der  Ethik  nach  demselben,  der  allgemeine  Satz 
aber,    daß   sie   nur  gestärkt   wird   durch   sitthches    Handeln   und 


[111,1,305]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  307 

Denken,  dahin,  wo  jeder  die  Übereinstimmung  jedes  ersten  Be- 
griffs mit  den  übrigen  und  dem  Ganzen  auseinanderzusetzen  ge- 
denkt.   Woraus   genugsam   erhellt,   daß   sie    der   Wahrheit   nach 
nichts  anderes  ist  als  ein  einzelnes  Beispiel  jener  Übereinstimmung, 
welches    nur   fragmentarisch   und    unwissenschaftlich    zu    einem 
eigenen   ausgedehnten   Ganzen  kann  verarbeitet  werden.    Daher 
bewährt   sich   sehr   verständig   die    Einteilung    der   Alten   in   die 
wissenschaftliche  Sittenlehre  und  die  paränetische  als  eine  auf  die 
Ethik  gemachte  Anwendung  von  jener  allgemeinen  aller  Erkennt' 
nis  in  die  esoterische  und  exoterische.    Denn  hierin  liegt  ja  deut- 
lich das  Eingeständnis,  daß  nicht  im  Gegenstande  etwas  soll  unter- 
schieden werden,  sondern  nur  in  der  Behandlung,  also  der  Gegen- 
stand ganz  derselbe  sein  muß.  Wenn  nun  gewiß  keiner  bezweifeln 
kann,   daß   die   paränetische   Ethik   ganz   gleich   ist  der   Asketik, 
und  daß  auch  diese  nichts  anderes  ist  als  die  Ethik  selbst,  nur, 
wie    es   sich   fürs   Volk   geziemt,  vom   einzelnen   ausgehend  und 
durch   dargestellte   Übereinstimmung   des  einzelnen  sich  erst   als 
Ganzes  bewährend :  so  hätte  ja  jene  Einteilung  billig  zur  Warnungs- 
tafel  dienen    müssen   für   jeden    späteren    wissenschaftlichen    Be- 
arbeiter,  nicht  wie   Kant  gerade   der  wissenschaftlichsten   Form 
der  Sittenlehre  jene  nicht  etwa  als  Anhang  beizufügen,  sondern 
als  einen  wesentlichen  Teil  einzuverleiben.    Auch  von  dieser  Ver- 
irrung  also  ist  ein  subjektiver  Grund  aufzusuchen  in  dem  Geist 
der  verschiedenen  Systeme,  und  wird  gewiß  gefunden  werden  in 
eben  jener  schon  gerügten  Vorstellung  der  Sittlichkeit  als  eines 
nur  Beschränkenden  und  nicht  Ursprünglichen.    Und  zwar  in  den 
praktischen  besonders,  sofern  diese  überall  nur  die  Rechtlichkeit 
hervortreten   lassen,  und  daher  immer  den  Stachel  des  Bewußt- 
seins fühlen,  daß  kein  einzelnes  der  ganzen  ethischen  Forderung 
entspreche.  In  den  eudämonistischen  aber,  insofern  das  zu  Be- 
schränkende  gleichartig  ist  dem   Sittlichen   und   nur  dem   Maße 
nach    verschieden,   so   daß   durch   dieses   immer   auch   jenes   mit 
genährt   wird,   wogegen   ein   besonderes    Hilfsmittel    außer   dem 
jedesmaligen    sittlichen   scheint   erfordert   zu   werden. 

20* 


308  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.     [111,1,306] 

Diese  ^  Vorstellungen  von  dem  Sinne  der  Kasuistik  und  Asketik 
und  ihren  Ursachen  festhaltend,  werden  wir  beide  auch  unange- 
kündigt  überall  finden,  wo  jene  Veranlassungen  vorhanden  sind. 
Aristoteles  zum  Beispiel  ist  die  Kasuistik  nur  ein  Ausbruch  der 
Dialektik  wegen  der  Unbestimmtheit  der  einzelnen  Begriffe,  die 
bei  der  Beschaffenheit  seines  Begriffes  von  Tugend  unvermeidüch 
war,  und  er  entschuldigt  sie  sich  leicht  nach  seiner  vorklagenden 
Überzeugung  von  der  Unwissenschaftlichkeit  der  Ethik.  Doch"  be- 
ziehen sich  seine  zerstreuten  Fragen  dieser  Art  weniger  auf  die 
rohe  Unbestimmtheit  der  realen  Begriffe,  wodurch  sie  bei  Kant 
hauptsächlich  bewirkt  werden,  sondern  mehr  teils  auf  die  Un- 
bestimmtheit der  metaphysischen  Vorbegriffe,  teils  auf  den  Wider- 
streit des  rein  Sittlichen  mit  den  nicht  selbst  auch  ethisch  kon- 
struierten Bedingungen,  unter  denen  es  soll  wirklich  gemacht 
werden.  Epikorus  bedarf  einer  ausgeführten  Kasuistik,  um  die 
Begriffe  von  der  Lust  der  Beruhigung  und  der  Lust  des  Reizes  zu 
sondern,  und  sie  würde  ausführlicher  sein  müssen  als  jemals  eine 
ist  vorgetragen  worden,  wenn  es  nicht  im  Geiste  des  Eudämonis- 
mus  überflüssig,  ja  fast  lächerlich  wäre,  die  gebietende  Darstellung 
des  Sittlichen  zu  derjenigen  Schärfe  zu  treiben,  welche  doch  die 
Wissenschaft  fordert.  Ebenso  bedarf  er  einer  Asketik,  um  den 
Schmerz  und  die  Furcht  zu  verhüten,  unter  welchen  letzteren  Titel, 
weil  er  den  Trieb  nach  Erkenntnis  als  eine  natürliche  Aufforderung 
nicht  genug  in  Anschlag  bringt,  bei  ihm  fast  alles  gehört,  was  sich 
auf  die  Reinigung  und  Verbesserung  des  Verstandes  bezieht. 
Und  eben  dieses  ist  eine  sonderbare  Mißbildung  seiner  Ethik, 
welche  fast  mit  allem  Fehlerhaften  derselben  zusammenhängt,  daß 
der  Schmerz  zwar,  sofern  er  ein  Erzeugnis  des  willkürlichen 
Handelns  sein  kann  oder  doch  unter  dessen  Einfluß  steht,  durch  das 
Sittliche  selbst  ohne  fif  mde  Veranstaltung  aufgehoben  wird,  die 
Furcht  aber,  welche  immer  aus  der  Tätigkeit  der  geistigen  Kraft 
hervorgeht,  einer  anderen  an  und  für  sich  nicht  sittlichen  Hilfe 

*  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,307]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  309 

bedarf,  und  also  einer  Asketik  mit  einem  eigenen  der  Ethik  frem- 
den Inhalte.  Hiezu  nun  bildet  Spinoza  den  vollkommensten  Ge- 
gensatz. Denn  man  kann  freilich  sagen,  daß  auch  bei  ihm  alles,  was 
zur  Verbesserung  des  Verstandes  angeraten  wird,  asketisch  sei: 
allein  wie  bei  ihm  die  Tugend  eigentümlich  erscheint  als  ein 
lebendiges  Wissen,  und  als  solches  vollendet  dargestellt  wird  in 
der  Ethik,  so  ist  auch  jene  Asketik  nichts  anderes  als  dasselbige 
Wissen  in  seinem  Werden  dargestellt,  als  Lösung  der  Aufgabe  des 
Verstandes.  Daher  sie  auch  keineswegs  ein  Anhang  der  Ethik  ist 
und  in  dieser  nichts  von  jener  vermißt  wird;  außer  wenn  jemand 
das  in  des  Spinoza  anschaulicher  Darstellung  Verbundene  erst 
trennen,  und  die  sittliche  Gesinnung  oder  das  sittliche  Handeln  in 
Beziehung  auf  einzelne  Fälle  einseitig  betrachten  wollte,  und  so, 
daß  er  das,  was  sich  nicht  unmittelbar  auf  den  vorhandenen 
Gegenstand  bezieht,  nicht  abgesondert  dächte,  sondern  vernichtet, 
welches  eben  die  Quelle  so  vieler  Fehler  ist  bei  den  andern.  Ebenso 
aber  müßte  auch  bei  denen,  welche  die  Tugend  als  ein  Handeln 
und  Wirken  darstellen,  einleuchtend  gemacht  werden,  wie  sie 
durch  sich  selbst  sich  erweitert  und  vervollkommnet,  und  wie  die 
Methode,  sie  hervorzubringen,  nichts  anderes  enthalten  könne  als 
was  auch  die  Darstellung  ihres  Wesens  enthält.  Diesem  Urbilde 
aber  möchte  unter  allen,  die  es  anerkennen  müßten,  nur  Piaton 
entsprechen,  für  den  es  leicht  wäre,  eine  solche  Probe  anzu- 
fertigen; wie  denn  bei  ihm  selbst  von  einer  besonderen  Asketik 
mit  einem  eigenen  Inhalt  auch  nicht  die  leisesten  Spuren  sicH 
zeigen,  nicht  einmal,  wo  es  am  ehesten  zu  erwarten  wäre,  in  seiner 
Politik  und  Erziehungslehre.  Bei  dem  besten  hingegen  unter  den 
Neueren,  bei  Fichte,  zeigen  sich  zerstreut  gleichfalls  Kasuistik 
sowohl  als  Asketik,  sich  ankündigend  durch  formlosen  Trotz  und 
Verzagtheit.  Aber  nur  zerstreut;  und  keiner  bilde  sich  ein,  daß 
etwa  seine  mittelbaren  Pflichten  ein  asketisches  System  bildeten 
neben  der  Ethik,  weil  er  nämlich  sagt,  sie  bezögen  sich  auf  die 
Zurüstung  des  Menschen  zum  Werkzeuge  des  Gesetzes,  welches 


310  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  308] 

bei  ihm,  der  sich  so  streng  an  den  Pflichtbegriff  hält,  dasselbe  sei, 
wie  bei  andern  die  Vorübung  zur  Tugend.  Denn  diese  gehen  un- 
mittelbar nicht  darauf  aus,  die  Tüchtigkeit  des  Menschen  zu  er- 
höhen, und  was  von  dieser  Art  vorkommt,  ist  entweder  nicht  sitt- 
lich, nämlich  die  bloße  Übung,  oder  es  beruht  auf  einem  anderen 
nicht  hieher  gehörigen  auch  sonst  schon  gerügten  Mißverstand. 
Sondern  sie  stellen  nur  dar  die  Besitznehmung  und  Erhaltung 
eines  eigenen  Raumes  für  sein  bestimmtes  Handeln,  und  ihre  Ab- 
sonderung ist  nur  jene  schon  gerügte,  gar  nicht  ethische  Tren- 
nung des  Anfangs  der  Handlung  von  ihrem  natürlichen  Fort- 
schreiten. Vielmehr  in  der  andern  Abteilung  wird  der  Suchende 
finden  vieles,  was  nicht  für  sich  als  sittlich  aufgestellt  ist,  dennoch 
gefordert  als  Mittel,  um  die  Ausübung  eines  Sittlichen  zu  er- 
leichtern, und  er  wird  eine  ganze  asketische  Reihe  entdecken,  vom 
kleineren  zum  größeren  fortschreitend,  von  einzelnen  Vorschriften, 
wie  die  der  Sparsamkeit,  unbestimmt  wie  sie  ist  als  Mittel  zur 
gleichfalls  unbestimmten  Wohltätigkeit,  bis  zu  großen  und  zu- 
sammengesetzten Anstalten  wie  die  Kirche  und  das  gelehrte 
Publikum,  denn  beide  gehören  doch  bei  ihm  fast  nur  zum  asketi- 
schen Getriebe.  Kasuistisch  aber  sind  offenbar  alle  jene  formalen 
Maximen  vom  Nicht-Zeit-Haben  zu  dem  und  jenem,  vom  Warten 
auf  das  Darbieten  der  Pflicht  und  Tugend,  von  dem  Einfluß  des 
ersten  Punktes,  auf  welchem  der  Mensch  sich  findet.  Denn  was 
ist  anders  ihr  Geschäft,  als  die  Verwandlung  der  für  sich  unbe- 
stimmten realen  Vorschriften  in  bestimmte  anzuordnen  und  zu  be- 
wirken? So  daß  auch  hier  in  dem  Fehlerhaften  dennoch  Fichte  sich 
auszeichnet  vor  den  andern  durch  eine  höhere  wissenschaftliche 
Würde,  indem  er  nicht  einzelne  Fragen  aufwirft  und  beantwortet, 
sondern  Regeln  gibt,  um  alle  gleichartigen  im  allgemeinen  zu  ent- 
scheiden. Wie  es  aber  diesen  Regeln  selbst  an  fester  Begründung 
mangelt,  wie  sie  keinen  festen  Ort  haben,  noch  auch  haben  können, 
wo  ihre  Rechte  eingetragen  wären,  und  wie  sie  ebenfalls  mit  jenen 
Fehlern  zusammenhängen,  aus  denen  auch  anderwärts  die  Kasu- 


[111,1,309]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  311 

istik   entspringt,  dieses  kann   nun   aus   vielen   bereits  gegebenen 
Andeutungen  jeder  sich  selbst  wiederholend  zusammenfügen.  Welche 

Ferner  indem  in  beiden  jetzt  gerügten  Fehlern  sich  das  Be-  ^j^  ^^^-^it  al'le 
dürfnis  offenbart,  einer  Darstellung  der  Ethik  nach  einem  der  drei  Haupt- 
drei Hauptbegriffe  etwas  hinzuzufügen,  das  einer  andern  angehört:  b^S'"'^^  ^"t- 
80  entsteht  die  Frage,  ob  ein  solches  verdächtiges  Bedürfnis  jeder  ^^  y^jj, 
nicht  alle  jene  Begriffe  umfassenden  Darstellung  natürlich  ist,  ständigsten? 
oder  welcher  von  ihnen  der  Vorzug  gebührt,  sich  hierin  selbst- 
genügsamer zu  beweisen.  Diese  nun  zuerst  in  Beziehung  auf  das 
Vorhandene  beantwortet,  so  ist  leicht  zu  entscheiden,  daß,  so- 
lange die  Begriffe  von  Pflicht  und  Tugend  nicht  richtiger  ins  Auge 
gefaßt  und  fester  gehalten  werden,  als  dem  obigen  zufolge  bisher 
geschehen  ist,  es  unmöglich  sein  muß,  die  Sittenlehre  durch  sie 
irgend  befriedigend  darzustellen.  Denn  wenn  der  Pflichtbegriff 
nur  eine  nie  zu  beendigende  Teilbarkeit  zeigt,  und  nichts  Reales 
für  ihn  sich  darbietet,  und  der  Tugendbegriff  im  Gegenteil  nicht 
auseinander  will  und  trotz  aller  Bemühungen  eine  Einfachheit 
bewährt,  die  jeder  Analyse  trotzt,  wie  sollten  sie  zu  irgendeiner 
wissenschaftlichen  Darstellung  gedeihen  ?  Und  wie  sollte  nicht  das 
unvermeidliche  Gefühl  des  Leeren  und  Verfehlten  jeden  Schutz  er- 
greifen, um  sich  dahinter  zu  verbergen?  Welchen  Schutz  jeder 
von  diesen  Begriffen  in  dem  Gebiete  des  andern  suchen  wird 
oder  des  nur  dunkel  geahnten  Dritten.  Auf  die  Sache  selbst  aber 
gesehen  und  die  möghche  bessere  Behandlung  dieser  Begriffe,  so 
ist  nicht  minder  einleuchtend,  daß  jeder  für  sich  die  Ethik  nur 
einseitig  darstellen  kann,  und  nur  so,  wie  sie  durch  eine  zufällige 
Wahrnehmung  gefunden  oder  durch  ein  besonderes  Bedürfnis 
aufgegeben  erscheint.  Denn  wer  sich  der  Ethik  nur  nach'  An- 
leitung des  Pflichtbegriffes  bemächtiget  hat,  wird  noch  nicht  im- 
stande sein,  im  einzelnen  das  Sittliche  in  die  Formel  der  Gesin- 
nungen umzusetzen,  und  ebenso  umgekehrt;  und  da  beides  so 
genau  zusammenhängt,  so  wird  jeder  auf  irgendeine  Art  aus  der 
andern   Quelle  ergänzen,  was  eine  für  sich  nicht  gewähren  will. 


312  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  310] 

Ja  schon  die  Bedürfnisse,  sowohl  das,  ein  gültiges  Gesetz  der  Ent- 
scheidung zu  finden  im  Streite  menschlicher  Neigungen,  als  auch' 
jenes,  das  sittliche  Gefühl  als  ein  Gegebenes  zu  erklären  und  die 
Denkungsart  genau  zu  unterscheiden,  welcher  es  folgt,  sind  von 
der  Art,  daß  in  einer  wissenschaftlichen  Gestalt  aufgelöst  diese  dem 
Gegenstande  zu  groß  zu  sein  scheint,  und  niemand  weiß,  wohin 
sie  eigentlich  gehört.  Denn  jenes  Gefühl  als  ein  wahres  und  not- 
wendiges im  voraus  anzunehmen,  ist  schon  voreilig  und  unwissen- 
schaftlich. Hat  sich  aber  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  der 
menschlichen  Natur  so  weit  entwickelt,  daß  es  sich  als  ein  solches 
bewährt,  so  ist  die  Analyse  desselben  nur  ein  kleiner  Teil  von 
der  Erkenntnis  des  Menschen  als  eines  besonderen  Naturwesens, 
und  ein  Vorwand  muß  gesucht  werden,  ihr  eine  höhere  Stelle 
anzuweisen.  Welcher  Vorwurf  beide  Behandlungen  der  Ethik 
trifft,  die  von  der  Pflicht  ausgehende  und  die  von  der  Tugend. 
Hier  nun  zeigt  sich  keine  andere  Rettung,  wo  sie  auch  gesucht 
würde,  als  in  dem  Begriff  der  Güter,  der  allein  kosmisch  ist  und 
von  einer  Aufgabe  ausgeht,  welcher,  wenn  sie  auch  nicht  aus  der 
Idee  eines  Systems  menschlicher  Erkenntnis  ausgegangen  ist,  doch 
ihre  Stelle  in  derselben  niemand  bestreiten  wird.  Denn  wenn  die 
Lösung  jener  ganz  subjektiven  Aufgabe  zusammentrifft  mit  der 
einer  so  durchaus  objektiven,  was  nämlich  der  Mensch  bil- 
den und  darstellen  soll  in  sich  wie  außer  sich,  nur  dann 
ist  ein  Ruhepunkt  gefunden,  und  eine  Rechtfertigung  des  wissen- 
schaftlichen Bestrebens.  Der  Begriff  der  Güter  aber  und  die 
Aufgabe,  auf  welche  er  sich  zunächst  bezieht,  bedürfen  selbst 
wieder  jener  beiden  zur  Bewährung  ihrer  Realität.  Denn  es  muß 
aufgezeigt  werden  für  das,  was  dargestellt  werden  soll,  das  Ver- 
mögen in  der  menschlichen  Natur  und  die  Regel  für  das  dabei 
zu  beobachtende  Verfahren.  Sonach  scheint  mit  Beiseitsetzung  der 
höheren  Ansprüche,  welcher  wir  uns  gleich  anfänglich  begaben, 
der  wissenschaftlichen  Gestalt  der  Ethik  so  notwendig  zu  sein  eine 
Vereinigung   jener  drei   Begriffe,  daß   sie,   wenn   nicht  auf  dem 


111,1,311]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  313 


richtigen  Wege  gefunden,  wenigstens  auf  einem  falschen  von 
jedem  muß  gesucht  werden.  Offenbar  aber  kann  diese  Vereinigung 
nicht  bestehen  in  dem  bloßen  Zusammenstellen  jener  drei  Behand- 
lungen der  Ethik.  Denn  da  allem  obigen  zufolge  das  Sittliche  im 
einzelnen  jedesmal  in  einer  andern  Gestalt  erscheint,  je  nachdem 
es  unter  einen  andern  von  jenen  drei  Begriffen  gebracht  wird, 
und  durch  eine  solche  Zusammenstellung  gerade  nur  das  einzelne 
ins  Licht  gesetzt  würde:  so  könne,  anstatt  ihre  Übereinstimmung 
anschaulich  zu  machen,  auf  diesem  Wege  nur  der  Schein  ihrer 
Unabhängigkeit  und  Verschiedenheit  noch  verführerischer  gemacht 
werden.  Sondern  das  Wesen  dieser  Vereinigung  liegt  in  der  Re- 
duktion jener  verschiedenen  Gestalten  des  Sittlichen,  welche,  wenn 
sie  überzeugend  sein  soll  und  allgemein,  nicht  vom  einzelnen  darf 
aufs  einzelne  gehen,  was  auch  schon  die  Natur  der  Sache  ver- 
bietet, noch  auch  vom  Ganzen  aufs  einzelne,  sondern  nur  vom 
Ganzen  aufs  Ganze.  So  daß  alles  ankommt  auf  die  Re- 
duktion der  Formeln,  durch  welche  das  Gesetz  be- 
zeichnet wird,  oder  der  Weise,  auf  die  des  höchsten 
Gutes.  Hiernach  nun  entsteht  allerdings  jeder  Ethik  ein  formaler 
Teil,  welcher  unentbehrlich  alle  jene  Formeln  enthält,  und  ihre 
Übereinstimmung  dartut,  dann  ein  realer,  welcher  freilich  nur 
dann  ganz  vollständig  sein  wird,  wenn  er  das  Sittliche  nach  allen 
drei  Begriffen  der  Pflichten,  der  Tugenden  und  der  Güter  darstellt. 
Ist  jedoch  auch  nur  eine  dieser  Darstellungen  richtig  geleistet, 
so  wird  durch  jenen  formalen  Teil  unnötig  jeder  verunstaltete  Zu- 
satz, indem,  die  Reduktion  im  ganzen  vorausgeschickt,  ihre  An- 
wendung auf  das  einzelne  nur  ein  Versuch  ist,  durch  den  jeder 
die  Richtigkeit  sich  anschaulich  machen  kann,  der  aber  in  die  Be- 
handlung der  Wissenschaft  nicht  mehr  gehört.  Über  den  Vorzug 
jener  vollständigen  Darstellung  vor  diesen  einzelnen  ist  nicht 
nötig,  etwas  zu  erwähnen;  und  wenn  die  Ethik  erst  als  ein  Glied 
eines  allgemeinen  Systems  menschlicher  Erkenntnis  wird  bearbeitet 


314  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  312] 

werden,  möchte  schwerlich  eine  andere  als  solche  zu  dulden  sein. 
Wird  aber  gefragt  nach  etwanigen  Vorzügen  irgendeiner  von  den 
einzelnen  Darstellungsarten  vor  den  übrigen,  so  ergibt  sich  hierüber 
aus  dem  obigen  das  Gegenteil  von  der  Meinung,  welche  fast  all- 
gemein angetroffen  wird.  Denn  zu  dem  großen  Vorzug,  welchen 
die  Neueren  dem  Pflichtbegriff  eingeräumt  haben,  entdeckt  sich 
keine  Ursach;  vielmehr  ist  er  nach  allem  obigen  für  jetzt  noch 
weiter  entfernt  eine  taugliche  Ethik  zu  gewähren,  als  der  Begriff 
der  Güter,  wenn  sich  jemand  dessen  bedienen  wollte.  So  daß  eine 
Täuschung  scheint  hiebei  zum  Grunde  zu  liegen,  daß  er  nämlich 
nur  verglichen  worden  ist  mit  dem  Begriff  der  Tugend,  und  zwar 
weniger  in  Hinsicht  auf  das  Hervorbringen  der  Wissenschaft,  als 
auf  deren  Anwendung  im  Leben.  Denn  weil  unter  dem  Pflicht- 
begriff das  Sittliche  als  Teil  erscheint:  so  scheint  nach  demselben 
leichter,  das,  was  in  jedem  Augenblick  geschehen  soll,  zu  finden. 
Sieht  man  aber  auf  das  oben  Gesagte,  daß  nämlich  auch  die 
Pflichtformeln,  wenn  sie  genügen  sollen  und  in  Übereinstimmung 
stehen  mit  den  andern,  so  müssen  eingerichtet  sein,  daß  nur  unter 
Voraussetzung  der  sittlichen  Gesinnung  und  durch  diese  ihre  An- 
wendung im  einzelnen  kann  gefunden  werden:  so  ist  nicht  zu 
sehen,  warum  nicht  selbst  die  Tugendformeln  das  nämliche  leisten 
sollten,  und  es  scheint  nur  eine  Erleichterung  geträumt  zu  sein 
zum  Auffinden  der  fälschlich  sogenannten  Legalität,  bei  welcher 
nämlich  die  Gesinnung  fehlt.  Ebenso  ist  zwar  der  Tugendbegriff 
für  jetzt  noch  nicht  so  bearbeitet,  daß  eine  Ethik  daraus  könnte 
erbaut  werden;  seine  Unzulänglichkeit  aber  besteht  doch  auch 
nur  in  der  schwierigeren  Anwendung,  und  eine  auf  ihn  sich  be- 
ziehende vollständige  Darstellung  des  Sittlichen  kann  an  sich  nicht 
für  unmöglich  gehalten  werden.  Eines  wesentlichen  Vorzuges 
also  möchte  sich  nur  der  Begriff  der  Güter  rühmen  können,  und 
unter  Voraussetzung  jenes  formalen  Teiles  möchte  auch  er  einer 
sichern  Anwendung  fähig  sein,  bei  welcher,  wenn  anders  die 
Gesinnung  vorhanden  ist,  auch  dem  Irrtum  am  wenigsten  Spiel- 
raum bliebe. 


[111,1,313]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  315 

Doch!   diese  Vergleichung  nur  beiläufig,  da  von  Seiten  der 

Form  bei  richtiger  Behandlung  wohl  kein  Unterschied  möchte  zu 

finden  sein.  Von  hieraus  aber,  nämlich  von  der  eingesehenen  Not- 

w^endigkeit   die   Übereinstimmung  der   Formeln   darzulegen,   und 

erst  auf  diese  das   Reale  zu  gründen,   eröffnet  sich  die  Ansicht 

auf  viele  Unförmlichkeiten  der  bisherigen  Sittenlehren,  auf  große 

und   allgemeine  sowohl   als   auf   einzelne,   weiche   jedoch   hieher 

gehören,  sofern  sie  eben  aus  dem  Mangel  an  richtiger  Form  des 

Ganzen  entstanden  sind    und  denselben  verdecken  sollen.    So  ist 

zuerst  verwirrt  und  unförmlich  die  Art,  wie  die  Stoiker  alle  drei 

Behandlungen  der  Ethik  zusammenfügen,  ohne  sie  zu  vereinigen.  Mangelhafte 

Oder  wie  könnte  eine  irgend  klare  Einsicht  in  die  Natur  und  den  ^usammen- 

'^  fugung  der 

Zusammenhang  dieser  Begriffe  ein  so  ganz  schlechtes  Ganze  her-      jew^, 

vorgebracht  haben,  als  ihre  bekannten  Abschnitte  oder  Örter  uns 
darbieten?  Die  unwahrscheinlichen  Sätze  nun  vom  Weisen,  welche, 
wenn  auch  von  den  Cynikern  entlehnt,  doch  in  das  System  auf- 
genommen eigentlich  keinen  Ort  haben  in  allen  diesen  Örtem, 
können  formal  nicht  anders  verstanden  werden,  als  daß  sie  ein 
Behelf  sein  sollen,  um  die  verabsäumte  Reduktion  der  ethischen 
Ideen  zu  ergänzen.  Nämlich  sie  laufen  lediglich  darauf  hinaus, 
im  einzelnen  zu  zeigen,  daß  die  unter  der  Idee  des  Weisen  dar- 
gestellte sittliche  Gesinnung  hinreiche,  um  das  Sittliche,  wie  es 
im  Abschnitte  von  den  Gütern  dargestellt  ist,  vollkommen  hervor- 
zubringen. Denn  umgedeutet  wenigstens  aus  dem  peripatetischen 
Sinn  in  den  cynischen  ist  auch  den  Stoikern  alles  ein  Gut,  was 
jene  Sätze  dem  Weisen  nachrühmen,  der  Reichtum  und  das  König- 
tum mit  allem  übrigen.  Ferner  bei  Fichte  muß  es  jedem  als  eine 
große  Unförmlichkeit  auffallen,  daß  zuerst  die  Frage  nach  der 
Pflicht  abgeteilt  wird  in  die  zwei  Fragen,  was  geschehen  solle, 
und  wie  es  geschehen  solle,  dann  aber  diese  letztere  auf  eine 
von  der  ersten  so  ganz  unterschiedene,  dem  Pflichtbegriff  nicht 
angemessene  Art  behandelt,  und  dabei  zurückgegangen  wird,  bis  in 
eine  Gegend,  welche  ebenso  hoch  oder  höher  liegt  als  der  Pflicht- 
^  Absatz  nicht  im  Original. 


316  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  314] 

begriff  selbst,  von  welchem  doch  ist  ausgegangen  worden.  Dies 
nun  erklärt  sich  ebenfalls  aus  dem  hier  angeregten  Bedürfnis. 
Es  ist  nämlich  dieser  Teil  der  Untersuchung  gar  nicht  ein  Teil 
der  Behandlung  des  Pflichtbegriffs,  sondern  eine  Behandlung  des 
Tugendbegriffs  und  Anknüpfung  desselben  an  die  dieser  Philo- 
sophie ersten  Glieder  der  Erkenntnis.  Die  Art  aber,  wie  sie  gestellt 
ist,  soll  die  durch  die  Natur  der  Sache  geforderte  Verknüpfung 
beider  Begriffe  scheinbar  ergänzen.  Ebenso  wenn  Fichte  und 
andere  der  Abhandlung  des  Pflichtbegriffes  eine  Übersicht  hinzu- 
fügen von  dem,  was  nun  durch  Erfüllung  dieser  PfHchten  in  der 
Welt  geleistet  wird  und  hervorgebracht:  so  ist  auch  dieses  nichts 
anderes,  als  eine  unförmliche  und  tumultuarische  Stellvertretung 
für  die  verabsäumte  Reduktion  des  Pflichtbegriffes  auf  den  Be- 
griff der  Güter. 
Reine  —  an-  Anstatt   jener   hier   geforderten    Einteilung   nun    in    die   ver- 

«^++lt"a>,L  einigende  Auseinandersetzung  des  Formalen  und  die  fortschreitende 
Darstellung  des  Realen  findet  sich  in  manchen  Sittenlehren  der 
Neueren  teils  wirklich  ausgeführt,  teils  wenigstens  vorausgesetzt 
und  angedeutet  eine  andere  Einteilung,  welche  anders  als  jene 
und  nicht  bei  allen  auf  gleiche  Weise  das  Reale  absondert  vom 
Formalen,  die  Einteilung  nämlich  in  eine  reine  Sittenlehre  und 
eine  angewendete.  Zwischen  welchen  beiden  einige  die  Grenze 
so  ziehen,  daß  die  erste  dasjenige  enthalte,  was  gleichsam  vor  der 
menschhchen  Natur  und  ohne  Hinsicht  auf  ihre  besondere  Be- 
schaffenheit kann  ethisch  gesetzt  werden,  die  andere  aber  alles, 
was  sich  nach  erlangter  Erkenntnis  der  besonderen  Verhältnisse 
der  menschlichen  Natur  genauer  bestimmen  läßt.  Auf  diese  Weise 
aber  kann  jene  nicht  nur,  wie  Fichte  ihr  mit  Recht  vorwirft, 
nichts  Reales  enthalten,  sondern  auch  nicht  einmal  das  Formale 
umfassen.  Denn  sollen  die  Formeln  des  Gesetzes  oder  des  Weisen 
oder  des  höchsten  Gutes  etwas  so  weit  Bestimmtes  enthalten,  daß 
sich  dadurch  ein  System  der  Ethik  von  den  andern  unterscheiden 
läßt,   und  anders  mögen  sie  doch   ihre   Stelle  nicht  erfüllen,  so 


Sittenlehre. 


[111,1,315]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  317 

muß  irgend  etwas  gesetzt  sein,  worauf  sich  jedes  System  auf  eigene 
Weise  beziehen  kann.  Absolut  aber  vor  der  menschHchen  Natur 
kann  nichts  gesetzt  sein,  als  die  durch  das  bloße  Denken  ge- 
forderten und  gegebenen  Gesetze  desselben.  Wonach  in  diesen 
Grenzen  jenen  Formeln  kein  Inhalt  kann  zugewiesen  werden,  son- 
dern nur  ihre  Form  ausgesprochen,  nämlich  die  Allgemeinheit  der 
Maximen,  das  Wechselverhältnis  der  Tugenden,  die  Kompossibili- 
tät  der  Güter.  Offenbar  also  muß  in  der  angewendeten  Sittenlehre 
ihr  Inhalt  erst  anderswoher  begründet  oder  eingeschlichen  werden, 
und  auf  dieses  positive  und  reale  Prinzip,  welches  es  auch  sei, 
kann  dann  jene  formale  Bedingung  nicht  anders  angewendet 
werden  als  prüfend  und  beschränkend.  Hieraus  nun  erhellt  genug- 
sam, daß  diese  Einteilung  in  solchem  Sinne  nur  da  stattfinden 
wird,  wo  der  Charakter  der  Sittlichkeit  darin  besteht,  die  Natur 
zu  beschränken.  Welche  Ansicht  sich  auch  hier  durch  die  schlechte 
Form,  welche  sie  hervorbringt,  als  dem  Erbauen  der  Wissenschaft 
ungünstig  verrät.  Denn  solche  Einteilung  muß  jeden  systemati- 
schen Sinn  beleidigen,  weil  sie  nicht  etwa  das  Fremde  vom 
Realen  trennt,  sondern  jenes  selbst  in  zwei  Elemente  zerfällt, 
und  diese  ganz  voneinander  reißt,  das  Negative  noch  dazu  als 
das  Höchste  obenan  stellend.  In  diesem  Sinne  wäre  bei  Kant 
das  eigentlich  Ethische  in  seiner  Kritik  der  praktischen  Vernunft 
und  seiner  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  die  reine 
Ethik,  diese  Metaphysik  selbst  aber  die  angewendete;  und  es 
bedarf  schwerlich  noch  eines  andern  Beispieles,  um  den  erhobenen 
Tadel  zu  beurkunden,  so  deutlich  zeigt  sich  hier  die  Trennung 
dessen,  was  vereinigt  sein  sollte,  und  die  schlecht  verkittete  und 
übertünchte  Verknüpfung  dessen,  was  gesondert  sein  müßte. 
Andere  im  Gegenteil  sondern  durch  eine  gleichnamige  Einteilung 
das  Reale  der  Ethik  in  zwei  verschiedene  Teile,  indem  sie  der 
reinen  Sittenlehre  diejenigen  Vorschriften  zuweisen,  welche  all- 
gemeiner Art  sind  und  aus  der  Natur  des  Menschen  selbst,  oder 
was  sonst  zum  Objekte  der  Pflicht  gemacht  wird,  zu  verstehen. 


318  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,316] 

Die  angewendete  aber  enthält  solche,  die  sich  auf  ein  Besonderes 
beziehen,  welches  nur  erkannt  werden  kann  in  der  Erfahrung, 
auf  bestimmte  Zustände  nämlich  und  Verhältnisse.  Eine  solche 
Einteilung  setzt  auch  Kant  voraus  in  seiner  Tugendlehre,  viel- 
leicht um  einiges  daraus  verbannen  zu  können,  weil  sie  in  diesem 
Sinn  genommen  die  reine  Sittenlehre  sein  soll.  Wiewohl  er  am 
wenigsten  berechtiget  gewesen  wäre,  das  Schwankende  dieses 
Verfahrens  nicht  wahrzunehmen.  Denn  wenn  wie  bei  ihm  die 
menschliche  Natur  nicht  irgendwoher  abgeleitet,  sondern  auch  nur 
aufgefaßt  ist:  so  verschwindet  jeder  bestimmte  Unterschied  zwi- 
schen dem  Allgemeinen  und  Besonderen.  Daher  ist  nicht  einzu- 
sehen, warum  zum  Beispiel  das,  was  sich  auf  den  Unterschied  der 
Geschlechter  bezieht,  mehr  der  reinen  Ethik  angehören  soll,  als 
was  von  der  Mannigfaltigkeit  der  Gemütsarten  ausgeht;  oder 
warum  auf  den  Unterschied  der  Erwachsenen  und  der  Kinder  ein 
ganzer  Abschnitt  der  Ethik  sich  gründet,  dessen  aber  zwischen  den 
Kräftigen  und  den  Abgelebten  auch  gar  nicht  gedacht  wird.  Auf 
der  andern  Seite  aber  hat  er  sehr  Unrecht  getan,  die  Ausführung 
dieser  angewendeten  Ethik  als  eine  Nebensache  zu  vernachlässigen, 
da  er  nicht  imstande  war,  in  der  reinen  die  Gründe  befriedigend 
aufzustellen  zu  den  ethischen  Bestimmungen,  welche  sicK  auf 
jenes  Besondere  beziehen.  Woraus  zugleich  erhellt,  daß  seine  an- 
gewendete Ethik,  ausgeführt,  keineswegs  nur  Anwendungen  ent- 
halten dürfte,  sondern  auch  für  sich  von  vorn  anfangen  müßte; 
welches  teils  eine  Folge  ist  von  der  Unstatthaftigkeit  der  Ein- 
teilung, teils  von  der  unrichtigen  und  verworrenen  Art,  den  Pfiicht- 
begriff  zu  behandeln.  Ist  aber  im  Gegenteil  die  menschliche 
Natur,  wie  es  auch  sei,  abgeleitet  und  konstruiert:  so  muß  mit  dem 
Allgemeinen  zugleich  auch  der  Ort  gefunden  sein  für  das  Be- 
sondere, und  eben  deshalb  auch  die  reine  Ethik  schon  die  Gründe 
enthalten  zu  den  ethischen  Bestimmungen  aller  Gestalten,  in  denen 
es  vorkommen  kann.  Und  da  überdies  das  Besondere  seiner 
Natur  nach  unendlich  ist  und  unerschöpflich,  so  fehlt  es  wiederum 
am  Entscheidungsgrunde,  welches  nun  den  Vorzug  erhalten  soll. 


[111,1,  317]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  319 

wiederum  als  das  Allgemeine  des  Besondern  dargestellt  zu  werden. 
Und  so  scheint  die  wissenschaftliche  Behandlung,  wie  sie  aus 
jenem  Grunde  nicht  notwendig  ist,  aus  diesem  auch  nicht  mög- 
lich zu  sein. 

Ferner,  1  wird  überlegt,  daß  das  Besondere  und  Zufällige, 
womit  die  angewendete  Ethik  sich  beschäftigen  soll,  nicht  etwa 
ein  solches  ist,  das  durch  Naturnotwendigkeit  so  und  nicht 
anders  gegeben  ist,  sondern  immer  durch  willkürHches  Handeln 
hervorgegangen,  gleichviel,  ob  durch  eigenes  oder  gemeinschaft- 
liches: so  sieht  man  leicht,  wie  diese  Einteilung  zusammenhängt 
mit  jenem  Fehler,  irgend  etwas  als  absolut  gegeben  anzusehen  in 
der  Ethik,  welcher  sich  schon  als  ein  solcher  erwiesen  hat,  der 
die  ersten  Bedingungen  ihrer  Wissenschaftlichkeit  aufhebt.  Daher 
natürlich  auch  diese  Form,  welche  er  veranlaßt,  nicht  bestehen 
kann.  Denn  ist  nach  gewöhnlicher  Weise  die  Ethik  aus  dem  Pflicht- 
begriff dargestellt,  und  es  wollte  zur  Beschützung  jener  Einteilung 
gesagt  werden,  es  sei  doch  in  Hinsicht  auf  einen  unvollkommenen 
ethischen  Zustand  zweierlei  erforderlich,  einmal  freilich"  ihn  zu 
verbessern,  dann  aber  auch  ihm,  wie  er  ist.  Genüge  zu  leisten: 
so  weiset  gerade  jene  Behandlung  dieses  Vorworts  zurück,  weil 
in  der  pflichtmäßigen  Tat  beides  jedesmal  muß  vereiniget  sein. 
Ist  aber  die  Ethik  unter  dem  Begriff  der  Güter  dargestellt,  so 
enthält  die  Beschreibung  eines  jeden  die  Formel,  in  welcher  die 
ganze  Reihe  der  Veränderungen  irgendeines  ethischen  Zustandes 
eingewickelt  enthalten  ist  von  seiner  ersten  Bearbeitung  an  bis 
zu  seiner  Vollendung.  Wie  sollte  es  also  zugestanden  werden, 
aus  diesen  Reihen  einzelne  Momente  in  einem  besondern  Teile 
der  Ethik  besonders  zu  entwickeln?  Ja,  selbst  wenn  diese  Ent- 
wicklung als  Gegenstück  einer  im  ganzen  nach  dem  Begriff  der 
Güter  behandelten  Ethik  sollte  dem  Pflichtbegriff  unterworfen 
werden,  eben  um  jene  häufig  angedeutete,  aber  nirgends  ausge- 
führte Verknüpfung  des  Behandeins  und  Verbesserns  endlich  dar- 
zustellen, welches  gewiß  die  verständigste  Ansicht  wäre :  so  eignet 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


320  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [IH,!,  318] 

sich  doch  ein  wirklicher  bestimmter  Zustand  nicht  zu  einer  solchen 
wissenschaftlichen   Darstellung,  sondern  die  richtige   Behandlung 
desselben   ist  vielmehr  die  künstlerische  und   selbstbildende   An- 
wendung, welche  ein  jeder  zu  machen  hat  von  der  ihm  als  Richt- 
maß geltenden  Ethik.    Denn  die  Wissenschaft  kann  nur  vereinzelt 
darstellen  erst  dieses  Verhältnis,  dann  jenes;  in  einem  wirklichen 
Zustande  aber  läßt  sich  nichts  vereinzeln,  sondern  ein  jedes  Ver- 
hältnis hängt  zusammen  mit  der  Art,  wie  auch  die  übrigen  be- 
stimmt sind,  ohne  daß  jedoch  irgend  die  sämthchen  Bedingungen 
eines    wirklichen   gegebenen   Momentes    ein    Ganzes    ausmachen, 
welches  durch  bestimmte  Formeln  darzustellen  wäre.   Über  keinen 
Gegenstand  also  würde  etwas  können  ausgesagt  werden,  bis  er 
seine   Einzelheit  verloren,  und  sich  gleichsam  unter  den  Händen 
verwandelt  hätte  in  ein  Ganzes  mit  mehreren;  und  anstatt  Regeln 
auf  viele  ähnliche  Fälle  anwendbar  an  die  Hand  zu  geben,  könnte 
dieser   Teil  der   Ethik   mit   Recht   nur   Entscheidungen   enthalten 
über   einzelne  ganz  bestimmte   Fälle.    Das   scheinbare    Bedürfnis 
aber  nach  einer  solchen  angewendeten  Ethik  ist  unstreitig  daher 
entstanden,  weil  durch  Einwirkung  eben  jenes  Fehlers  auch  das, 
was  als  reine  Ethik  gegeben  wurde,  größtenteils  nicht  allgemein- 
gültig   war    und    das   Ganze    umfassend,    sondern    von  Voraus- 
setzungen ausgehend,  welche  nur  eine  bedingte  Gültigkeit  übrig 
ließen,  und  also  nur  einer  gewissen  Zeit  angemessen,  wovon  oben 
Beispiele  genug  angegeben  wurden.    Denn  dieses   unzulängliche 
Verfahren  einmal  mit  der  Wirklichkeit  befangen,  konnte  eher  bei 
dem  herrschenden  Geist  zu  dem  noch  bestimmteren  herabgeführt 
werden,  als  zu  dem  höheren  und  unbedingten  hinauf.  Die  wahre 
Darstellung  der  Ethik  aber  darf  sich,  wie  bereits  gesagt,  auf 
keine,  weder  eine  ganz  bestimmte  noch  eine  längere  und  unbe- 
stimmte Zeit  beschränken,  sondern  muß  ganz  allgemein  sein; 
nicht  so  nämHch,  daß  sie  von  dem  Inhalt  irgendeiner  Zeit  hinweg- 
sieht,  sondern  so,  daß  sie  den   von   einer  jeden   umfaßt.    Ja  in 
demselben   Maße,  als  die   Gegenwart  sich   durch  sie  bestimmen 


[111,1,  319]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  321 

läßt,  muß  sie  auch  historisch  die  Vergangenheit  und  prophetisch 
die  Zukunft  bestimmen.  Denn  nur  indem  ihm  seine  Stelle 
bestimmt  vvirdinderReihederethischen  Fortschritte, 
wird  das  Vergangene  eigentlich  erkannt  und  gewür- 
digt; und  was  die  Zukunft  betrifft,  so  ist  ebenso  alles 
Erfinden,  insofern  es  nicht  etwa  nur  ein  Entdecken 
ist  wie  in  der  Naturwissenschaft,  eigentlich  ethisch, 
und  in  der  Ethik  liegen  die  Prinzipien  der  von  vielen 
gesuchten  Erfindungslehre.  Hievon  werden  sich  Beispiele 
einem  jeden  aufdrängen.  Oder  erscheint  nicht  vieles  von  dem,  was 
jetzt  Besseres  anzutreffen  ist  in  unsern  geselligen  und  andern  Ver- 
hältnissen, als  Auflösung  der  Widersprüche,  an  welchen  diese  Ver- 
hältnisse sonst  litten?  Und  kann  man  zweifeln,  daß  eben  dieses 
auch  durch  Rechnung  hätte  können  gefunden  werden,  wenn  jemand 
den  sittlichen  Zustand  verglichen  hätte  mit  den  ethischen  Forde- 
rungen? Ebenso,  wie  manches  ist  schon  ehedem  dagewesen,  was 
unserer  Überlegung  besser  erscheint  als  das  jetzige,  und  jeder  wird 
einsehen,  daß  es  schwerlich  hätte  verschwinden  können,  wenn  es 
in  seinem  sittlichen  Wert  wäre  erkannt  und  auch  so  aufgefaßt 
worden.  Denn  nur  was  zufällig  da  ist  in  menschlichen 
Dingen  ist  vergänglich.  Nicht  anders  aber  muß  auch  aus 
dem,  was  jetzt  noch  ein  Gegenstand  ähnlicher  Klagen  ist,  sich 
berechnen  lassen,  was  die  Zukunft  wird  erfinden  müssen,  um  ihnen 
abzuhelfen.  Nur  daß  die  Ethik  selbst  nichts  weiter  als  die  Formeln 
enthält,  nach  denen  diese  Berechnungen  anzulegen  sind,  ihre  An- 
wendungen selbst  aber  liegen  außerhalb  ihres  Gebietes. 

Endlich  haben  noch  andere  sich  desselben  Namens  bedient,  3. 
um  einen  andern  Unterschied  zu  bezeichnen,  nämlich  zwischen  der 
Ethik  selbst  und  einigen  untergeordneten  Wissenschaften,  welche 
ihr  auf  eine  besondere  Art  angehören,  indem  sie  Zweck  und 
Grundsätze  von  ihr  entlehnen,  doch  aber  auch  jede  ein  eigenes 
Ganzes  für  sich  ausmachen,  kurz  auf  eine  Art,  welche  genau  zu 
bestimmen  nicht  wenig  schwer  fällt.  Jedoch  auch  ohne  den  Namen 

Schleiermacher,  Werke.     I.  21 


322  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  320) 

findet  sich  dieselbe  Verbindung  solcher  Wissenschaften  mit  der 
Ethik  auch  anderwärts,  so  daß  die  Prüfung  dieser  Form  um  so 
weniger  kann  übergangen  werden,  da  sie  die  Ethik  durch  den 
glänzenden  Schein  vergrößert,  als  werde  in  ihr  wirklich  ein  ganzer 
wissenschaftlicher  Cyklus  dargestellt.  Auf  den  ersten  Anblick  nun 
könnte  man  Ähnlichkeit  finden  zwischen  diesem  Verhältnis  und 
dem  der  reinen  Qrößenlehre  zu  der  angewendeten;  der  näheren 
Betrachtung  aber  muß  die  gänzliche  Verschiedenheit  bald  ein- 
leuchten. Denn  die  Gegenstände,  auf  welche  sich  die  Wissen- 
schaften der  angewendeten  Größenlehre  beziehen,  sind  keineswegs 
durch  die  reine  gefunden  oder  in  ihr  abgeleitet,  sondern  sie 
müssen  anderwärts  her  gesetzt  werden,  ja  im  Gegenteil  ihre  Wahr- 
nehmung muß  gewissermaßen  vorausgesetzt  werden,  damit  nur  die 
Aufgabe  entstehe,  die  reine  Größenlehre  zu  suchen.  So  daß  die 
Anwendung  der  Wahrheiten  dieser  letztern  auf  jene  nur  ist  teils 
ein  Zurücksehen  auf  dasjenige,  wovon  vorher  ist  hinweggesehen 
worden,  teils  ein  Hinsehen  auf  ein  fremdes,  und  nicht  etwa 
untergeordnetes,  sondern  höheres  Gebiet,  nämlich  das  der  physi- 
schen Kräfte.  Ganz  das  Gegenteil  aber  findet  statt  in  Hinsicht 
der  Ethik  und  der  ihr  untergeordneten  Wissenschaften.  Denn 
die  Staatskunst  zum  Beispiel,  die  Erziehungslehre,  die  Haus- 
haltungskunst, als  welche  vorzüglich  in  diesem  Sinne  die  an- 
gewendete Sittenlehre  ausmachen,  alle  diese  können  in  der  Wissen- 
schaft nur  existieren  in  der  Voraussetzung  einer  ethischen  Aufgabe, 
und  können  auf  die  Ethik  nur  bezogen  werden,  nicht  inwiefern  sie 
durch  ein  besonderes,  von  ihr  unabhängiges  Bedürfnis  aufgegeben 
sind,  indem  sie  so  angesehen  vielmehr  im  Widerspruch  mit  ihr 
stehen  müßten,  sondern  lediglich  inwiefern  ihre  Idee  ist  in  der 
Ethik  gefunden  worden.  Welches  jedoch  nur  gilt  von  derjenigen 
Ethik,  welche  als  ursprünglich  und  selbst  hervorbringend  gedacht 
wird;  dagegen  jene  Ähnlichkeit  mit  der  Größenlehre  allerdings 
besteht  für  diejenige  Ansicht,  welcher  das  Sittliche  nur  beschrän- 
kend ist,  der  Stoff  zur  Beschränkung  aber  ihm  überall  muß  von 
außen  gegeben  sein,  indem  denn  auch  jene  Aufgaben  aus  dem 


[111.1,321]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  323 

sinnlichen  Bedürfnis  entspringen,  und  nur  verlangt  wird,  ihre  Be- 
handlung übereinstimmend  zu  machen  mit  den  Forderungen  der 
Ethik.  Und  dieses  gibt  allerdings,  wenn  sonst  keine  Ursach  sollte 
zu  finden  sein,  eine  Andeutung  über  den  Ursprung  einer  sonst 
unerklärlichen   Mißgestaltung. 

Doch  1   nur  beiläufig  von  dieser  Vergleichung  und  mehr  als  ^\  Einzelne 

ö  o  Grunde  gegen 

genug,  da  die  Sache  an  sich  selbst  betrachtet  das  eben  Gefundene        ^jjgjg 

so  sehr  bestätiget.  Denn  von  dem  Gesichtspunkt  der  selbst-  Scheidung. 
tätigen  Sittlichkeit  aus  muß  die  Idee  jeder  Wissenschaft  in 
der  Ethik  gefunden  und  ihre  Ausführung  aufgegeben  sein,  weil 
sonst  das  Streben  danach  keine  Zeit  ausfüllen  und  gar  nicht 
dürfte  vorhanden  sein.  Hiernach  also  wären  alle  Wissenschaften 
einander  gleich,  und  keine  entweder  oder  alle  müßten  der  an- 
gewandten Ethik  zugehören.  Der  Unterschied  aber,  welcher  sich 
eröffnet,  ist  dieser,  daß  bei  allen  eigentlichen  spekulativen  Wissen- 
schaften das  Einzelne  keiner  ethischen  Beurteilung  weiter  unter- 
worfen ist,  außer  als  Tat  in  der  Zeit,  nicht  aber  als  Theorem 
in  Beziehung  auf  seinen  Inhalt,  sondern  so  ist  es  nur  den  Ge- 
setzen der  Erkenntnis  unterworfen.  Wodurch  also  die  Behandlung 
dieser  Wissenschaften  als  ein  Fremdartiges  aus  der  Ethik  gänzlich 
entfernt  wird,  und  sie  von  der  Ethik  aus  nur  erscheint  als  die 
anderweitig  zu  bestimmende  Technik  des  aufgegebenen  Zweckes. 
So  wird,  um  nicht  ganz  kahl  zu  reden,  in  der  Ethik  auch  ge- 
fordert die  Sternkunde,  und  als  Tat  ist  allerdings  auch  ethisch 
zu  beurteilen,  ob  gerade  dieser  sich  damit  beschäftigen  solle  oder 
nicht,  und  ob  gerade  jetzt  oder  nicht:  ob  aber  nach  dieser  oder 
einer  andern  Voraussetzung  die  Bahn  eines  Gestirns  zu  suchen 
ist,  und  ob  es  richtig  sei,  die  Nebelflecke  als  Milchstraßen  zu  be- 
trachten oder  nicht:  dieses,  wie  alles,  was  den  Inhalt  betrifft,  hat 
keine  Berührung  mehr  mit  der  Sittenlehre.  Praktische  Wissen- 
schaften dagegen,  deren  Inhalt  aus  Vorschriften  besteht  zu  einem 
eigentlich  sogenannten  Handeln,  welches  auch  einzeln  und  für  sich 


Absatz  nicht  im  Original. 

21* 


324  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  322) 

mit  den  ethischen  Zwecken  zusammenhängt,  sind  nicht  nur  durch 
die  Ethik  aufgegeben,  sondern  auch  alles  einzelne  in  ihnen  ist 
selbst  wieder  ethisch  zu  beurteilen.  So  zum  Beispiel  von  der 
Erziehungskunst  ist  nicht  nur  die  allgemeine  Aufgabe,  auf  die 
Belebung  der  geistigen  Kräfte  der  Jugend  richtig  zu  wirken,  in 
der  Ethik  gegründet;  sondern  auch  jede  Vorschrift,  welche  dazu 
erteilt  wird,  ob  zum  Beispiel  durch  willkürliche  Verknüpfung 
mit  fremdartigen  angenehmen  Folgen  die  Tätigkeit  der  geistigen 
Kraft  dürfe  unterstützt  und  gelenkt  werden,  darf  nicht  technisch 
allein  nach  der  Taughchkeit  zum  Zweck  beurteilt  werden,  son- 
dern muß  auch  der  ethischen  Prüfung  nach  der  Zusammenstim- 
mung aller  Zwecke  gewachsen  sein.  Soll  aber  der  allgemeine 
Zweck  gleich  in  dieser  Beziehung  so  ausgedrückt  werden,  daß 
jeder  ethische  Fehler  auch  ein  technischer  würde,  so  wird  alsdann 
gewiß  auch  alles  Technische  ethisch,  und  die  Ursach  geht  ganz  ver- 
loren, diese  Theorie  als  eine  besondere  aus  der  Behandlung  der 
Sittenlehre  abzuscheiden.  Nicht  anders  die  Kunst  des  Haushaltes, 
oder  um  der  dürftigen  und  mißverstandenen  Benennung  zu  ent- 
fliehen, die  Lehre  von  Vermehrung  des  Reichtums;  denn  sie  ist 
ebenfalls  nicht  nur  durch  die  Ethik  aufgegeben,  sondern  auch 
jeder  einzelne  Fortschritt  zum  Zwecke  kann  an  und  für  sich  nichts 
anderes  sein  als  eine  sittHche  Handlung,  die  allen  Gesetzen  der 
Ethik  gemäß  sein  muß;  so  daß  also  bei  Verfolgung  dieser  Auf- 
gabe der  ethische  Standpunkt  ununterbrochen  der  herrschende 
bleibt,  ja  der  einzige.  Das  nämliche  gilt  auch  von  der  Staatskunst, 
wie  jedem  von  selbst  einleuchten  muß.  Wie  also  können  diese 
von  dem  angenommenen  Standpunkte  aus  eigene  und  abgeson- 
derte wissenschaftliche  Ganze  bilden,  da  doch  ihre  Teile  unter- 
einander nicht  genauer  oder  nach  einem  andern  Gesetz  zusammen- 
hängen, als  jeder  einzelne  und  alle  zusammen  mit  dem  größeren 
Ganzen,  von  welchem  sie  sollen  getrennt  werden?  Auch  läßt  sich 
leicht  weissagen,  daß,  wenn  ein  solcher,  dem  eine  reale  und  selbst- 
hervorbringende  Ethik  vorschwebt,  eine  von  diesen  abgeleiteten 


[111,1,323]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  325 

Wissenschaften  einzeln  bearbeiten  wollte,  wie  jetzt  Schwarz  ^  an- 
gefangen hat  mit  der  Erziehungslehre,  er  entweder  von  selbst, 
wenngleich  ohne  deutlich  zu  wissen  warum,  nicht  eine  streng 
wissenschaftliche  Form  wählen  wird,  oder  diese  nicht  wird  fest- 
halten können,  sondern  sich  genötigt  sehen,  bei  jedem  einzelnen 
Gegenstand  und  vielleicht  öfter  in  die  Ethik  zurückzugehen  und 
diese  selbst  zerstückelt  mit  hervorzubringen.  Füglicher  aber,  und 
vielleicht  ausschÜeßend,  läßt  sich  eine  solche  Trennung  denken  aus 
dem  Standpunkte  der  negativen  Ethik,  welche  nicht  alle  jene 
Zwecke  selbst  aussinnt,  sondern  sie  bereits  findet,  aufgegeben  durch 
irgendein  anderes  Bedürfnis.  Daher  sie  nicht  mit  Unrecht  diese 
Lehren  der  Ethik  anhängt  in  der  Gestalt,  welche  diese  ihnen  ge- 
geben hat  durch  äußere  Begrenzung  sowohl,  als  durch  innere  Be- 
arbeitung. Denn  hier  ist  offenbar,  teils  daß  sie  nicht  eins  aus- 
machen können  mit  der  Ethik,  teils  auch,  daß  das  Ganze  mit  dieser 
auf  eine  sehr  verschiedene  Art  zusammenhängt  von  der,  welche 
die  Teile  desselben  untereinander  verbindet  und  die  Einheit  der 
Wissenschaft  bestimmt.  Jedoch  kann  vor  der  Kritik  dieser  Ur- 
sprung, auch  wenn  er  befriedigend  erwiesen  ist,  die  Sache  nicht 
verdammen;  sondern  es  muß  gefragt  werden,  ob  sie  überhaupt 
bestehen  kann  oder  nicht,  und  hier  springt  folgendes  in  die  Augen. 
Zuerst  ist  diese  Form  überall  nur  höchst  unvollständig  ausgeführt, 
und  so,  daß  jedes  wirklich  vorhandene  Glied  aus  dem  rechten 
Gesichtspunkt  betrachtet  auf  dies  Bedürfnis  von  andern  würde 
hingeführt  haben.  So  zum  Beispiel,  wenn  die  Erziehungslehre 
ein  eigenes  Ganze  sein  soll  von  der  oben  beschriebenen  Aufgabe 
ausgehend,  so  erscheint  sie  entweder  nur  als  ein  willkürlich  ab- 
gesondertes Stück  einer  allgemeinen  Theorie  des  Umganges  und 
der  geistigen  Einwirkung  der  Menschen  aufeinander;  oder  wenn 
das  Einseitige  darin  ein  unterscheidendes  Merkmal  ausmacht,  so 
müßten  wenigstens  alle  andern  intellektual  ungleichen  Verhältnisse 
der  Menschen  mit  diesem  zu  gleichen  Rechten  behandelt  sein. 
^  Karl  Schwarz,  stark  von  Schleiermacher  beeinflußt. 


326  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  324] 

Und  warum  sollten  nicht  diesen  zusammen  die  gegenseitigen  Ein- 
wirkungen und  die  gleichen  Verhältnisse  mit  denselben  An- 
sprüchen gegenüberstehen?  Ferner  in  der  Haushaltungskunst  kann 
der  Reichtum  angesehen  werden  entweder  als  Mittel  zur  Dar- 
stellung sittlicher  Ideen  überhaupt,  welches  jedoch  dem  obigen 
zufolge  weniger  ethisch  sein  würde,  oder  auch  selbst  als  Dar- 
stellung einer  solchen  Idee,  nämlich  derbildenden  Herrschaft 
des  Menschen  über  das  Leblose.  Weder  aber  ist  das  Ma- 
teriale  im  ersten  Falle  das  einzige  Darstellungsmittel  überhaupt, 
noch  auch  in  dem  andern  zeigt  sich  die  Herrschaft  des  Menschen 
allein  in  der  Vermehrung  der  beweglichen  realen  oder  symboli- 
schen Erzeugnisse:  sondern  es  ist  auch  sowohl  das  Formale  ein 
Darstellungsmittel  überhaupt,  als  auch  die  Vermehrung  und  Ver- 
besserung der  Formen  ein  Produkt  der  bildenden  Gewalt  des 
Menschen.  Daher  müßte  mit  der  Theorie  des  Reichtums  entweder 
als  eins  verbunden  sein  oder  ihr  als  entsprechend  gegenüberstehen 
die  Theorie  zur  Erweiterung  und  Verbesserung  der  Sprache  und 
der  Kunst,  sie  mögen  nun  angesehen  werden  von  seiten  der  Dar- 
stellung oder  von  seiten  des  Genusses.  Beide  Vernachlässigungen 
nun,  die  erste  sowohl  als  die  letzte,  scheinen  ihren  Grund  nirgends 
anders  zu  haben,  als  in  der  Vernachlässigung  des  Besonderen  und 
dem  Begnügen  im  Allgemeinen.  Denn  wenn  es  mit  der  Erziehung 
auf  nichts  abgesehen  ist,  als  auf  das  Hervorbringen  der  Recht- 
lichkeit und  der  gemeinnützigen  Kultur,  so  braucht  ihr  allerdings 
nichts  anderes  gegenüberzustehen  als  der  Staat,  in  dessen  Ein- 
richtungen sich  ja  der  Idee  nach  alle  Mittel  vereinigen  sollen,  das- 
selbe hervorzubringen  in  allen,  die  bereits  in  seinen  Wirkungs- 
kreis eingetreten  sind.  Ebenso,  wenn  nur  dasjenige  soll  dargestellt 
werden,  das  zum  Allgemeinen  gehört,  so  reicht  allerdings  das 
Materiale  hin,  und  die  Kultur  des  Formalen  wird  übersehen,  indem 
sich  dieses  nur  zur  Darstellung  des  Besonderen  eignet.  Ebenso 
endlich  müßte  der  Theorie  des  Staates  in  der  praktischen  Ethik 
sowohl,  wo  er  einen  unmittelbaren  Wert  hat,  als  auch  in  der 
genießenden,  die  ihn  nur  als  Notmittel  gebraucht,  gegenüber- 


[111,1,  325]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  327 

stehen  die  Theorie  der  wissenschaftHchen  und  der  religiösen  Ge- 
meinschaft. Beide  aber  sind  nirgends  weder  als  eigene  Wissen- 
schaften noch  als  Veranstaltungen  des  Staates  gehörig  behandelt. 
Von  der  Religion  nun  ist  nichts  zu  sagen,  wenn  man  sich  des  ethi- 
schen Druckes  erinnert,  unter  welchem  das  freie  Kombinations- 
vermögen existiert:  denn  so  wird  sie  natürlich  dem  einen  nur  ein 
Werkzeug  des  ethischen  Wissens,  dem  andern  aber  ein  untergeord- 
netes und  zufälliges,  nur  unter  gewissen  Umständen  anwendbares 
Mittel.  Das  Übersehen  der  wissenschaftlichen  Verbindung  aber 
gründet  sich  offenbar  in  der  Negativität  der  Sittenlehre.  Denn 
hier  wäre  die  Vereinigung  nicht  beschränkend,  wie  beim  Staat 
und  zum  Teil  auch  bei  der  Kirche,  sondern  erweiternd,  und  diese 
also  durch  die  Sittenlehre  zu  fordern  würde  voraussetzen,  daß  die 
Aufgabe  des  Wissens  aus  der  ethischen  unmittelbar  hervorgegangen 
wäre.  Ganz  anders  freilich  ist  es  zu  beurteilen,  wenn  bei  den 
Alten  die  Staatskunst  allein  gleichsam  die  ganze  angewendete 
Sittenlehre  in  dieser  Hinsicht  ausmacht.  Denn  weil  alles  Bürger- 
liche bei  ihnen  so  sehr  als  irgend  etwas  selbsttätig  war,  der  Um- 
fang der  Religion  mit  dem  des  Staates  von  selbst  zusammenfiel, 
und  das  Wissen  noch  viel  zu  wenig  ausgebreitet  und  organisiert 
war,  so  fanden  sie  keine  Ursach  zu  diesen  für  uns  so  einleuchten- 
den Absonderungen. 

Doch!  über  das  einzelne,  wie  es  wirklich'  dasteht,  genug,  um 
die  Widersprüche  der  Form  anzudeuten,  durch  welche  das  Gebäude 
ganz  das  Ansehen  des  Zufälligen  erhält.  Denn  die  letzte  Ent-b) Allgemeiner 
Scheidung  gibt  nur  das  zweite,  was  in  die  Augen  fällt.  Dieses  Emwurf. 
nämlich,  daß,  wenn  eine  vollständige  Behandlung  solcher  an- 
gewendeten Ethik  die  den  gegebenen  entsprechenden  Teile  überall 
hinzufügte,  alsdann  bald  alle  reale  Vorschriften  unter  diesen  Teil 
sich  stellen  würden,  der  reinen  Ethik  aber  nichts  übrig  bleiben, 
als  das  Formale  in  seiner  gewöhnlichen  Dürftigkeit.  Sonach  aber 
würde  auch  die  vollständigste  Behandlung  des  Realen  immer 
jenen  Anschein  des  Zufälligen  behalten,  weil  ohne  Ableitung  aus 

^  Absatz  nicht  im  Original. 


328  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  326] 

dem  rein  Ethischen  kein  Grund  da  sein  kann  sich  von  der  Voll- 
ständigkeit zu  überzeugen, 
c)  Welches  Will  i  man  nun  fragen,  ob  vielleicht  auch  diesen  mißlungenen 

sind  die     pormen,  wie  jenen  zuerst  erwähnten,  etwas  Wahres  den  Beifall 
scheinbaren  .  ,  r  ,         , 

Grundla<Ten  erschlichen   hat,  dessen  sie  sich   erfreuen,   so  kann  es  folgendes 

für  diese  sein.  Zuvörderst  das  Bedürfnis,  die  ethischen  Vorschriften  auch  nach 
Scheidung."  ]viaßgabe  der  Gegenstände,  welche  durch  sie  hervorgebracht  wor- 
den, zusammen  zu  ordnen.  Welches  bei  der  gemeinen  Behand- 
lung nach  dem  Ptlichtbegriff  nicht  möglich  ist.  Denn  da  müssen 
zum  Beispiel  die  Vorschriften,  welche  die  Theorie  des  Reichtums 
bilden,  zusammengesucht  werden  unter  mancherlei  vollkommenen 
und  unvollkommenen  Pflichten  gegen  sich  und  andere;  ebenso 
die  der  Erziehung  teils  unter  den  Pflichten,  die  Moralität  un- 
mittelbar zu  befördern,  teils  unter  denen  in  Ansehung  der  Freiheit 
anderer,  und  wo  nicht  sonst  noch.  Aus  welchem  Gesichtspunkt 
betrachtet  diese  verunglückte  Form  eigentlich  nichts  anderes  wäre, 
als  die  natürliche  Tendenz  einer  Darstellung  der  Sittenlehre  unter 
dem  Begriff  der  Güter,  welche  jedoch,  weil  es  an  dem  deut- 
lichen Bewußtsein  des  Begriffs  fehlt,  nicht  anders  ausfallen  konnte 
als  fragmentarisch  und  unvollkommen.  Femer  aber  kann  auch 
dabei  zum  Grunde  liegen  ein  Bestreben,  die  verschiedenen  Po- 
tenzen des  Daseins  bestimmter  ins  Auge  zu  fassen,  als  bei  der 
gewöhnlichen  Behandlung  der  Ethik  nach  dem  Pflichtbegriff  mög- 
lich ist,  und  diese  Beziehung  kann  leicht  den  Schein  der  Voll- 
ständigkeit heiA'orgebracht  haben.  Denn  wenn  sicK  der  Mensch 
außer  der  ersten  Stufe  seines  Daseins  als  Person  und  Individuum 
noch  betrachtet  als  Glied  einer  Familie,  eines  aus  den  natürlich 
ungleichartigen  Teilen  der  Menschheit  bestehenden  Ganzen,  und 
dann  noch  als  Glied  eines  Staates,  aus  gleichartig  Ungleichen 
zusammengesetzt,  so  scheint  der  Umfang  seiner  Bestimmung  aus- 
gefüllt. So  beziehen  sich  aber  auf  der  Familie  äußeres  und  inneres 
Dasein,  Erziehungskunst  und  Hauswirtschaft,  Staatswirtschaft  aber 
und    Politik  auf  das  des  Staates.    Von   hier  scheinen   unter  den 


^  Absatz  nicht  im  Original. 


[111,1,327]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  329 

Alten  mehrere  ausgegangen  zu  sein  bei  ihrer  Gestaltung  der 
praktischen  Philosophie.  Nur  daß  sie  sich  bei  der  mittleren  Potenz 
weniger  aufhielten,  und  die  Familie  ganz  als  Element  des  Staates 
behandelten.  Auch  das  gehört  zu  dieser  Ansicht,  daß,  weil  im 
Staate  zugleich  der  Mann  in  seiner  ganzen  Eigenheit  könnte  tätig 
sein,  zuletzt  einigen  von  ihnen  die  Staatskunst  alles  wurde,  die 
Ethik  aber  nur  als  formale  Elementarlehre  erschien,  aber  freilich 
der  Idee  nach  in  einem  weit  vollständigeren  Sinne,  als  wo  die 
Neueren  bis  zu  einer  solchen  Teilung  gelangen,  und  vielmehr  so, 
daß  es  eine  große  Annäherung  ist  zu  der  oben  beiläufig  ge- 
zeichneten richtigen  Gestalt  der  Wissenschaft.  Indes  geht  schon 
aus  den  obigen  Andeutungen  hervor,  daß  jene  Einteilung  auch 
diesem  Gesichtspunkt  nicht  genügt.  Denn  die  Staatswirtschaft 
kann  nicht  anders  gedacht  werden  als  abhängig  von  der  Politik; 
die  Hauswirtschaft  aber  und  die  Erziehungskunst,  wie  ihre  Grenzen 
gewöhnlich  gesetzt  werden,  erschöpfen  noch  bei  weitem  nicht  die 
ethische  Theorie  der  Familie.  Noch  mehr  aber  möchte  es  daran 
fehlen,  daß  in  der  formalen  Ethik  der  Grund  aufgezeigt  worden, 
warum  nun  in  diesen  beiden  Ganzen  alle  möglichen  Konstruk- 
tionen eines  Zusammengesetzten  erschöpft  wären,  vielmehr  finden 
sich  Andeutungen  genug  zum  Gegenteil.  Negativ  nämlich  das 
Bedingte  und  Zufällige,  dem  die  Familie  unterworfen  ist  in  ihrer 
Bildung  sowohl  als  Zerstörung;  positiv  aber  die  fast  überall  an- 
erkannte Aufgabe  der  Freundschaft,  mit  der  es  von  den  mehrsten 
doch  auch  angesehen  ist  auf  ein  geschlossenes  Ganze.  So  daß 
Zufälliges  und  Unbewußtes  in  der  Form  auch  hier  aus  der  un- 
gründlichen Auffassung  des  Inhaltes  von  selbst  hervorgeht. 

Ganz  entgegengesetzt  dem  bis  jetzt  betrachteten  Verhältnis 
der  Staatskunst  zur  Sittenlehre  ist  jetzt  noch,  wenngleich  nur  von 
einigen  Neueren  aufgestellt,  das  Naturrecht  in  Erwägung  zu  ziehen, 
welches  die  Ethik  gewissermaßen  von  außen  zu  begrenzen  sucht, 
sich  als  eine  eigene  beigeordnete  Wissenschaft  neben  sie  hin- 
stellend. Hiebei  aber  ist  nicht  nötig,  auf  einen  andern  Rück- 
sicht zu  nehmen,  als   nur  auf   Fichte.    Denn   zu  tumultuarisch 


330  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  328] 

und  oberflächlich  ist  die  Art,  wie  Kant  diese  Beiordnung  be- 
gründet, indem  er  die  Gesetzgebung  der  Vernunft  einteilt  in  die- 
jenige, die  nur  eine  innere  ist,  und  diejenige,  welche  auch  eine 
äußere  sein  kann.  Schon  durch  die  Formlosigkeit  des  Ausdrucks 
„Sein*'  und  „Seinkönnen*'  wird  sie  verdammt.  Noch  mehr  aber 
durch  die  Überlegung,  daß  der  Umfang  der  äußeren  Gesetzgebung 
höchst  veränderlich  ist,  und  wenn  man  dabei  auf  das  Seinkönnen 
sieht,  auf  das,  was  durch  Verträge  und  willkürliche  Einrichtungen 
hereingezogen  werden  kann,  der  Ethik  wenig  übrigbleiben  würde. 
Erwägt  man  ferner  das  „Auch",  welches  feststellt,  daß  die  äußere 
vorher  schon  eine  innere  sein  muß:  so  sieht  man,  daß  Kant  nicht 
weniger  als  die  Früheren  ungewiß  ist  über  das  Verhältnis  der 
Sittenlehre  zum  Naturrecht,  und  über  des  letzteren  Ableitung.  Ja 
man  weiß  nicht,  soll  es  enthalten  eine  Grenzbestimmung  der  Politik 
für  die  Ethik,  oder  soll  es  eine  solche  voraussetzend  nur  den  In- 
halt des  politisch  Möglichen  analysieren.  In  beiden  Fällen  aber 
leuchtet  ein,  daß  nichts  Reales  durch  diese  Begründung  ausge- 
drückt worden,  als  jenes  Alte,  daß  nämlich  das  menschliche  Han- 
deln eine  andere  Quelle  und  ein  anderes  Ziel  haben  soll  für  sich, 
die  Ethik  aber  nur  die  Grenzen  desselben  bestimmen.  So  daß 
auch  das  Naturrecht  keinen  andern  Ursprung  zu  haben  scheint, 
als  die  Negativität  des  Begriffs  von  der  Sittlichkeit.  Wie  denn 
schon  der  Frage  nach  einem  absoluten  Dürfen  außerhalb  des 
Sollens  kaum  ein  anderer  Sinn  kann  untergelegt  werden.  Daher 
auch  kaum  zu  bezweifeln  ist,  daß  derselbe  Geist  auch  Fichte  be- 
wogen, im  voraus  anzunehmen,  das  Naturrecht  solle  doch  wohl 
eine  besondere  Wissenschaft  sein,  welches  ja  allerdings  einer  Unter- 
suchung bedurft  hätte.  Doch  da  hievon  auch  die  Tat  den  Beweis 
führen  kann,  so  ist  zu  prüfen,  wie  er  es  denn  als  eine  solche 
abgeleitet  und  hervorgebracht  hat.  Es  ist  aber  hier  dässelbige 
zu  tadeln,  was  schon  der  Sittenlehre  ist  vorgeworfen  worden, 
nämlich  daß  das  Wesentliche  und  das  in  Hinsicht  desselben  nur 
Zufällige   in  gleichen   Rang  gestellt  wird,   als  wäre  es  von  dem 


[111,1,329]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  331 

gleichen  Grunde  auch  gleich  unmittelbar  abgeleitet.  Denn  die 
Notwendigkeit,  sich  selbst  als  Individuum,  oder,  welches  gleich 
ist,  eine  teilbare  Welt  und  andere  neben  sich  zu  setzen,  ist  eine 
ganz  andere,  als  die  Notwendigkeit,  die  Welt  wirklich  zu  teilen, 
und  die  Freiheit  durch  fortdauernde  Anerkennung  zu  beschränken. 
So  wie  der  jener  ersten  zum  Grunde  liegende  Charakter  der  Ver- 
nünftigkeit, daß  nämlich  das  Handelnde  und  das  Behandelte  eins 
sei,  ein  anderer  und  höherer  ist  als  das  Gesetz  der  Konsequenz, 
auf  welchem  diese  letzte  beruht.  Auch  muß  es  jedem  einleuchten, 
daß  unmöglich  aus  demselben  Grunde  wie  die  Sinnenwelt  oder 
der  Leib  und  also  zugleich  mit  diesem  auch  der  Rechtsbegriff  und 
der  Gedanke  eines  Staats,  ja  einer  bestimmten  einzig  möglichen 
Verfassung  derselben  könne  gesetzt  und  beides  auf  gleiche  Weise 
des  Selbstbewußtseins  Bedingung  sein.  Wovon  den  ersten  Fehler 
in  der  Rechnung  genauer  aufzusuchen  hier  nicht  hergehört,  und 
je  leichter  es  ist,  um  so  eher  einem  jeden  selbst  kann  überlassen 
werden.  Genau  nun  hat  weder  im  Naturrecht  noch  in  der  Sitten- 
lehre Fichte  dargestellt,  wie  beide  sich  gegeneinander  verhalten 
sollen;  im  allgemeinen  aber  läßt  sich  zeigen,  daß  bei  seiner 
Begründung  und  Ausführung  ein  unabhängiges  Verhältnis  nicht 
kann  statthaben.  Denn  sobald  es  zwei  Gesetze  des  Handelns 
gibt,  wie  hier  das  Sittengesetz  und  das  der  Konsequenz:  so  muß 
zwischen  beiden,  wenn  es  eine  Wissenschaft  des  Handelns  geben 
soll,  aufgezeigt  werden  ein  bestimmtes  Verhältnis  der  Überein- 
stimmung; indem  es  nicht  genug  ist,  zu  zeigen,  wie  freilich  Fichte 
tut,  daß  der  Rechtsbegriff  niemals  dem  Sittengesetz  widerstreiten 
könne  wegen  der  jedem  Recht  beiwohnenden  Klausel  der  Frei- 
heit des  Nichtgebrauchs.  Er  müßte  denn,  wie  er  nicht  tut,  zeigen 
können,  daß,  einmal  angenommen  jenes  Gesetz  der  Konsequenz, 
dennoch  nichts  anderes  sich  je  daraus  ableiten  lasse,  als  eben  der 
Rechtsbegriff.  Nun  aber  versperrt  Fichte  jeden  Weg,  um  die  ge- 
forderte Übereinstimmung  zu  finden.  Denn  nicht  nur  soll  keines 
abhängig  sein  vom  andern,  sondern  es  bleibt  auch  nicht  übrig, 


332  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.      [111,1,  330] 

beide  als  Teile  oder  Folgerungen  eines  höheren  anzusehen.  Teils 
nämlich  würde  dieses  den  Rang  beider  Wissenschaften,  wie  er 
ihn  festgestellt  hat,  schmälern,  teils  auch  müßte  dann  jedes  von 
beiden  seine  eigene  Sphäre  haben,  ausschließend  alles,  was  das 
andere  enthält.  Wogegen  bei  ihm  der  Inhalt  zum  Teil  zusammen- 
fällt, indem  die  Ehe,  das  Eigentum,  der  Staat  und  sonst  einiges 
notwendig  ist  aus  Gründen  der  Sittenlehre  sowohl  als  des  Natur- 
rechts. Welches  jedoch  auch  sonst  kein  günstiger  Umstand  ist 
für  den,  welcher  behauptet,  für  alles  wissenschaftlich  Notwendige 
könne  es  nur  einen  Grund  geben  und  einen  Beweis.  Zum 
Teil  aber  sind  auch  beide  in  Hinsicht  dessen,  was  sie  beide  um- 
fassen, gänzlich  getrennt.  Denn  die  Sittenlehre  kann  es  durch 
die  Gründe,  aus  welchen  sie  eine  Ehe  fordert  und  einen  Staat, 
nicht  zu  einer  solchen  Konstitution  beider  bringen,  wie  das  Natur- 
recht zu  bilden  vermag,  sondern  jene  setzt,  dieses  gänzlich  ver- 
leugnend, einen  Notstaat  voraus,  der  doch  gar  nicht  möglich  wäre, 
wenn  das  Konsequenzgesetz,  aus  dem  der  rechte  Staat  von  selbst 
erfolgt,  jene  dem  Setzen  der  Individualität  gleiche  Notwendigkeit 
hätte,  und  die  Sittenlehre  um  dieses  Gesetz  wüßte.  So  daß  nicht 
einmal  eingetreten  ist,  was  Fichte  vermutete,  es  könne  nämlich 
wohl  die  Sittenlehre  eine  neue  Sanktion  herbeiführen  für  den 
Rechtsbegriff  und  was  aus  ihm  folgt.  Sehen  wir  nun  noch  einmal 
auf  die  Zusammensetzung  dieses  sogenannten  Naturrechts:  so 
zeigt  sich,  daß  es  aus  den  ungleichartigsten  Dingen  besteht.  So 
nämlich  fortgesetzt,  wie  Fichte  es  angefangen,  wäre  es  gewesen 
eine  Ableitung  alles  KörperUchen  und  Äußerlichen,  auch  der  Ver- 
nunftwesen in  ihrer  körperlichen  Darstellung  als  Bedingung  des 
Selbstbewußtseins,  also  allerdings  eine  Hälfte  der  idealistischen 
Philosophie,  nämlich  die  physische,  und  wohl  wären  wir  beraten, 
hätte  Fichte  dies  festgehalten,  und  uns  nun  weiter  geschenkt  die 
Ableitung  der  Verschiedenheit  äußerer  Objekte  und  ihrer  natür- 
lichen Klassifikation.  So  aber  angefangen,  wie  er  es  fortsetzt, 
und   wie  andere  es  anfangen,  ist  es   nichts  anderes  als  die  nur 


f  III,  1,331]  III.  Kritik  der  ethischen  Systeme.  333 

durch  ein  ethisches  Bedürfnis,  nämHch  das  der  Übereinstimmung, 
entstehende  Aufgabe  zu  dem,  was  in  der  Staatsi<unst  als  ein  Will- 
kürliches und  Positives  erscheint,  das  Natürliche  und  Notwendige 
zu  finden.  Auf  diese  Art  auch  bezeichnet  mit  andern  sich  ähnlich 
ausdrückenden  Alten  Aristoteles  diesen  Teil  von  dem  Inhalt 
des  neueren  Naturrechts  als  das,  was  in  dem  gesetzlichen  Rechte 
natürlich  ist;  aber  wiewohl  er  das  Hinzukommende,  wodurch  es 
sich  in  verschiedenen  Gestalten  offenbart,  für  ungöttlich  und  un- 
vollkommen hielt,  hatte  er  doch  keinen  Drang,  jenes  Reine  als 
ein  eigenes  Ganze  darzustellen,  weil  er  nämlich  überzeugt  war  von 
dessen  ethischem  Ursprung  und  Wesen.  Was  nun  jenes  Gesetz 
der  Konsequenz  in  Beziehung  auf  das  Handeln  bedeutet,  und  wo 
es  in  der  Ethik  zu  stehen  kommt,  dieses  berechne  sich  jeder  aus 
dem,  was  oben  gesagt  ist  von  der  vollkommenen  und  unvoll- 
kommenen PfHcht.  Denn  das  Recht,  wie  aus  Fichte  selbst  her- 
vorgeht, insofern  es  ein  Handeln  bestimmt,  ist  nichts  Ursprüng- 
liches und  für  sich  Bestehendes,  sondern  hängt  ab  von  der  voll- 
kommenen Pflicht  als  eine  andere  Ansicht  derselben,  und  erwartet, 
wie  auch  diese  tut,  seine  Realität  erst  von  der  unvollkommenen. 
So  viel  aber  ist  ohne  weiteres  offenbar,  daß  ein  so  geartetes  und 
gebautes  Ganze  sich  nicht  eignet,  neben  der  Ethik  zu  stehen,  ihr 
die  Alleinherrschaft  des  Handelns  beschränkend,  und  daß  jener 
nicht  weit  entfernt  gewesen  ist  von  der  Wahrheit,  der  es  für 
nicht  mehreres  gelten  ließ  als  für  ein  groteskes  Spiel  des  wissen- 
schaftlichen Strebens.  Daß  also  eine  rechte  Ethik  auch  diese  Un- 
form  zerstören,  und  das  Wesen  und  Praktische  daraus  in  sich  selbst 
aufnehmen  muß,  jede  aber,  die  hiezu  unfähig  ist  und  jene  Disziplin 
anerkennt  im  Systematischen  oder  Sittlichen,  oder  wie  es  zu- 
sammenzuhängen pflegt  in  beidem,  muß  vernachlässiget  sein, 
dieses  folgt  unmittelbar. 


334  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre-      [111,1,  332] 

Anhang. 

Vom  Stil  der  bisherigen  Sittenlehre, 

So  wie  nun  die  Wissenschaft  selbst  in  den  verschiedenen 
Formen  erscheint,  welche  bis  jetzt  sind  in  Erwägung  gezogen  wor- 
den, so  gibt  es  auch  noch  besondere  Unterschiede  in  der  Form  oder 
dem  Stil  der  einzelnen  Werke,  welche  sich  als  Darstellungen  der 
Ethik  ankündigen.  Diese  freilich  sind  nicht  mit  jenen  von  gleicher 
Wichtigkeit  für  die  geführte  Untersuchung  selbst,  und  daher  auch 
aus  dem  eigentlichen  Umkreise  derselben  mit  Recht  ausgeschlossen, 
dennoch  aber  einer  beiläufigen  Betrachtung  nicht  unwert.  Denn 
so  wie  es  freilich  ein  leeres  Geschäft  wäre  hiebei  ins  einzelne 
zu  gehen,  und  auch  bei  denjenigen  nach  der  Form  und  Eigentüm- 
lichkeit ihrer  Darstellung  und  nach  deren  Gründen  zu  fragen,  wel- 
chen von  der  Kunst  der  Zusammensetzung  jeder  Begriff  mangelt: 
so  muß  doch  auf  der  andern  Seite  jeder  mit  dieser  Einsicht  Be- 
gabte wohl  wissen,  daß  bei  denen,  welche  auf  den  Namen  der 
Künstler  in  der  Wissenschaft  dürfen  Anspruch  machen,  nichts  ganz 
Zufälliges  stattfindet,  sondern  jede  Bestimmung  auch  der  Form 
ihren  Grund  hat,  es  sei  nun  bewußt  in  einer  Absicht,  oder  un- 
bewußt in  einer  nicht  verkannten  Beschaffenheit  des  Gegenstandes 
oder  des  Darstellenden.  Aus  diesem  Gesichtspunkt  nun  sind  be- 
sonders merkwürdig  drei  Verschiedenheiten  des  Stils  in  Darstel- 
lungen der  Sittenlehre,  welche  sich  bei  Verschiedenen  nicht  nur 
zu  verschiedenen  Zeiten  wiederfinden,  sondern  auch  unabhängig 
von  der  Beschaffenheit  der  Grundidee  und  dem  Inhalt  des  Systems. 
So  daß  sie  uns  bei  Erforschung  ihrer  Ursachen  über  die  unmittel- 
baren Gegenstände  unserer  Untersuchung  hinaus  und  wahrschein- 
lich zu  demjenigen  hinführen,  worauf  wir  nur  bei  der  Einleitung 
des  ersten  Buches  vorbeigehend  hingesehen  haben,  indem  sie  näm- 
lich abzuhängen  scheinen  von  der  Art,   wie  jeder  die   Ethik  ge- 


[111,1,333]  Anhang.  335 

funden    hat,   und   wie   er  sie    anknüpft;   welches,   ob   es  sich   so 
verhalte,  ein  jeder  aus  folgendem   ersehen  mag. 

Zuerst  nun  gibt  es  in  der  Ethik  ein  rhapsodisches  und 
tumultuarisches  Verfahren,  welches  sich  begnügt,  unter 
der  großen  Masse  alles  dessen,  was  unter  das  Gebiet  der  Wissen- 
schaft gehört,  gleichsam  herumzuwühlen,  ohne  gesunde  Dialektik 
das  einzelne  vergleichend  und  unterordnend,  ohne  systematisches 
Verfahren  seine  Abschnitte  wählend  oder  vielmehr  ergreifend  nach 
hergebrachter  ungeprüfter  Weise  des  gemeinen  Lebens  oder  aufs 
Geratewohl.  So  daß  von  einer  so  unvoUkmmenen  Behandlung  hier 
gar  nicht  Erwähnung  geschehen  könnte,  wenn  nicht  ein  Künstler, 
dessen  Werke  anderer  Art,  es  seien  nun  physische  oder  technische 
und  kritische,  dem  allgemeinen  Urteil  nach  einen  weit  höheren 
Charakter  an  sich  tragen,  Aristoteles  nämlich,  es  in  der  Sitten- 
lehre nicht  weiter  hätte  bringen  können,  als  bis  hieher.  Der  Grund 
aber  der  Verdammnis  scheint  der  zu  sein,  daß  er  die  Wissenschaft 
nicht  an  sich  gewollt  hat,  wie  er  denn  ausdrücklich  sagt,  er  sehe 
nicht  die  Möglichkeit,  sie  zustande  zu  bringen ;  sondern  er  hat  ge- 
klebt an  einem  materiellen  Endzweck.  Er  wollte  nämlich  nicht  als 
Resultat  der  Wissenschaft  oder  als  höchstes  Kunstwerk,  sondern 
wie  es  eben  sein  könnte  als  ein  wirkliches  Ding  in  der  wirklichen 
Welt,  ein  gemeines  Wesen.  Daß  dieses  die  ganze  subjektive  Ten- 
denz seiner  Ethik  ist,  und  er  auch  mit  dem  Staat  nicht  etwa  höher 
hinaus  will,  wie  Piaton,  sondern  nur  diesen  Standpunkt  hat,  dar- 
über wird  gewiß  kein  Zweifel  erhoben  werden  von  denen,  welche 
seine  Sittenlehre  kennen.  Dieses  vorausgesetzt  nun  wird  ein  Blick 
auf  diejenigen,  die  ihm  hierin  ähnlich  sind,  hinreichen,  um  den 
Charakter  solcher  ethischen  Darstellungen  noch  fester  und  vollstän- 
diger ins  Auge  zu  fassen.  Der  nächste  sei  ihm  der  unter  den 
Deutschen  sonst  vielgeachtete  Garve,  welcher  mit  seinen  ethi- 
schen Bemühungen  nie  etwas  anderes  gewollt  hat,  als  die  Ord- 
nung der  guten  Gesellschaft;  ferner  hängen  sich  hier  an  der  große 
Haufe    der   anglikanischen    und   gallikanischen   Sitten- 


336  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.     [111,1,  334] 

lehrer,  von  denen  es  den  ersten  zu  tun  ist  um  den  Gemeingeist, 
den  andern  aber  um  die  Ungebundenheit  unter  der  Vormundschaft 
der  Konvenienz.  Bei  einer  solchen  Beschränkung  nun  auf  einen 
ganz  willkürlichen  pragmatischen  Zweck  ist  ganz  unvermeidlich 
jenes  rhapsodische  Verfahren,  Nicht  anders  als  diejenigen  es  zu 
machen  pflegen,  welche  in  Beziehung  auf  irgendein  Gewerbe  die 
Kenntnis  der  natürlichen  Dinge  und  ihrer  Kräfte  betreiben,  ohne 
jedoch  diesen  Zweck  sich  selbst  oder  öffentlich  zu  bekennen;  da 
denn  natürlich  eine  dunkle  Ahndung  der  Zweckmäßigkeit  oder  ein 
blindes  Umhertappen  danach  die  Stelle  des  Wissenschaftlichen  ver- 
tritt sowohl  in  der  Anordnung  des  Ganzen,  als  in  der  Bestimmung 
und  Behandlung  des  einzelnen.  In  derselben  Richtung  auf  ein 
materielles  Bedürfnis  hat  ferner  seinen  Grund  jenes  allen  Sitten- 
lehrern dieser  Art  anklebende  ironische  Bestreben,  welches 
allen  Streit  über  die  Prinzipien  zu  vermeiden  sucht  und  am  liebsten 
behauptet,  er  beruhe  immer  nur  auf  Mißverstand,  ^wohlverstanden 
aber  sei  alles  einig.  Wozu  noch  gefügt  werden  kann  ein  eigentüm- 
liches Unvermögen,  diejenigen  zu  vernehmen,  welche  von  einem 
höheren  Standpunkt  ausgegangen  sind,  und  ein  oft  glückliches 
Bestreben  auf  die  redlichste  Weise  und  ohne  irgendeine  Absicht 
der  Täuschung  dem  Mißverstande  den  Schein  des  Verstehens  zu 
geben,  weil  nämlich  das  Äußere  sich  leicht  in  jene  Sphäre  der 
Betrachtung  hinabziehen  läßt.  Dieses  nun  sind  die  Hauptzüge  der 
ersten  und  unvollkommensten  Weise  der  ethischen  Darstellung. 
Die  zweite  nun  könnte  am  besten  mit  Verwarnung  vor  allen 
Mißdeutungen  eines  bedenklichen  Wortes  die  dogmatische  ge- 
nannt werden,  weil  sie  von  einem  festen  Punkt  ausgehend  die 
Wissenschaft  will  und  nichts  anderes.  Woraus  im  Gegensatz  gegen 
die  vorige  ein  gemessener  Fortschritt  entsteht,  und  eine  eigen- 
tümliche, nach  bestimmten  Regeln  jenem  Anfangspunkt  gemäß 
verfahrende  Teilung  und  Verknüpfung  der  Begriffe.  Auch  ebenso 
offenbar  anstatt  jenes  ironischen  Bestrebens  vielmehr  eine  po- 
lemische Richtung,  sie  äußere  sich  nun  geradezu  oder  nur  mittel- 


[111,1,335]  Anhang.  337 

bar.  Denn  wer  so  von  einem  festen  Punkt  auf  wissenschaftliche 
Art  ausgeht,  der  muß  notwendig  einiges  absolut  verwerfen;  da- 
gegen wer  nur,  wie  jene,  einen  materiellen  Zweck  im  Auge  hat, 
auch  fast  nur  zu  relativen  Entscheidungen  gelangt,  und  weniger 
das  Entgegensetzen  der  Begriffe  betreibt,  als  nur  das  Vergleichen 
derselben.  Damit  aber  gleich  der  ganze  Umfang  dessen  erhelle, 
was  zu  dieser  Gattung  zu  gehören  scheint,  ist  es  am  besten  die 
entgegengesetzten  Pole  derselben  zu  bezeichnen,  hier  nämUch  die 
Methode  der  Stoiker,  dort  aber  die  des  Spinoza.  Denn  daß 
beide  übereinkommen  in  den  angeführten  Gegensätzen  gegen  die 
vorigen,  ist  offenbar.  Die  Verschiedenheit  aber  zwischen  beiden, 
welche  in  die  Augen  fällt,  beruht  darauf,  wie  jener  Anfangspunkt 
beschaffen  gewesen,  und  zwar  nicht  etwa  seinem  Inhalt  nach,  son- 
dern in  Beziehung  auf  seinen  Wert  für  das  Bewußtsein.  Die 
Stoiker  nämlich  gingen  aus  von  einem  in  seinen  Grenzen  schwan- 
kenden Gedanken,  den  sie,  unfähig,  ihn  durch  höheres  Hinauf- 
steigen und  Bestimmen  seiner  Elemente  ganz  für  die  Wissenschaft 
zu  reinigen,  nur  durch  den  Erfolg  beweisen  konnten,  nämlich 
durch  vollständige  und  gelungene  Ausführung  des  darauf  gegrün- 
deten Gebäudes.  Daher  also  ihr  fast  ins  Unendliche  gehendes 
Bestreben  nach  dialektischer  Vollständigkeit;  daher  aber  auch,  daß 
die  Polemik  sie  oft  verleitete  in  das  Gebiet  der  Sophisterei,  indem 
sie  auch  negativ  ihre  Grundsätze  durchgängig  bewähren  wollten. 
Wogegen  Spinoza  ausging  von  einer  klaren  und  ganz  bestimm- 
ten Anschauung,  für  welche  nichts  mehr  rückwärts  zu  tun  übrig 
blieb.  Daher  denn  die  Polemik  zuerst  niemals  ihm  selbst  Bedürf- 
nis war  für  sich,  sondern  nur  Erläuterung  für  andere,  und  deshalb 
auch  mehr  abgesondert  gleichsam  den  Rahmen  ausmacht,  der  das 
Ganze  und  seine  einzelnen  Teile  umgibt,  als  innig  in  die  Darstel- 
lung des  Systems  selbst  verwebt  ist,  wie  bei  den  Stoikern  wohl 
größtenteils  der  Fall  war.  Ferner  auch  ist  ihm  fremd  jene  klein- 
Hche  niederländische  Vollendung,  an  welcher  die  Stoiker  sich  er- 
götzen; sondern  er  begnügt  sich,  in  wenigen  großen  und  starken 

Schleiermacher,  Werke.     I.  22 


338  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.     [111,1,336] 

Zügen  Umriß  und  Gehalt  seines  Systems  vors  Auge  zu  stellen. 
Was  aber  die  geometrische  Methode  betrifft,  so  hat  er  vielleicht 
besser  gewußt,  was  damit  gemeint  war,  als  diejenigen,  die  hin 
und  wieder  nach  wunderlichen  Ansichten  über  diese  Sache  geredet 
haben.  Vielleicht  auch  hat  er  nichts  gewußt,  wie  es  den  Künstlern 
bisweilen  ergeht.  Die  Hauptsache  aber  ist  wohl  nicht  in  den 
Überschriften  zu  suchen,  durch  welche  die  verschiedenen  Sätze 
bezeichnet  werden,  sondern  teils  in  dem  öfteren  und  unmittel- 
baren genetischen  Zurückweisen  auf  die  ursprüngliche  Anschau- 
ung, teils  in  dem  Wechsel  des  fortschreitenden  synthetischen  Kon- 
struierens  und  des  analysierenden  Vergleichens  eines  anderswoher 
Gegebenen  oder  willkürlich  Angenommenen  mit  dem  Ursprüng- 
lichen oder  dem  bereits  Gefundenen.  Von  dem  ersten  dieser 
Elemente  nun  kann  mit  Recht  gesagt  werden,  daß  es  nicht  nur 
im  Spinoza,  sondern  auch  in  andern  Philosophen,  welche  das 
Äußere  jener  Methode  nicht  nachgeahmt,  reiner  und  richtiger 
durchgeführt  worden,  als  von  den  Größenlehrern  selbst;  woraus 
schon  zu  schließen,  daß  es  der  Philosophie  nicht  minder  muß  an- 
gehörig sein  als  der  Mathematik.  Das  andere  aber  ist,  wie  es 
in  der  Geometrie  sich  nur  dadurch  rechtfertigt,  daß  sie  kein  System 
sein  kann,  in  der  Ethik  gewiß  nur  da  anwendbar,  wo  sie  sich 
in  Polemik  ergießt,  und  nur  nach  diesem  Maßstabe  ist  Spinoza 
in  Hinsicht  auf  diesen  Teil  seiner  Methode  zu  beurteilen.  Wen 
nun  und  wie  viele  von  den  Sittenlehrern  jeder  in  dieses  Gebiet 
des  dogmatischen  Stils  zu  setzen  würdigen  will,  bleibe  jedem 
unbenommen,  damit  nicht  übertriebene  Strenge  sich  scheine  auf- 
zudringen. 

Die  dritte  Methode  aber  ist  die  heuristische,  und  Pia  ton 
der  einzige  Meister,  der  sie  in  ihrer  Vollkommenheit  aufgestellt 
hat.  Ihr  Wesen  nun  besteht  darin,  daß  sie  nicht  von  einem  festen 
Punkt  anhebend  nach  einer  Richtung  fortschreitet,  sondern  bei  der 
Bestimmung  jedes  einzelnen  von  einer  skeptischen  Aufstellung  an- 
hebend durch  vermfttelnde  Punkte  jedesmal  die   Prinzipien   und 


[111,1,337]  Anhang.  339 

das  einzelne  zugleich  darstellt,  und  wie  durch  einen  elektrischen 
Schlag  vereinigt.  Wenn  nun  schon  die  vorerwähnte  geometrische 
Methode  dahin  vorzüglich  abzweckt,  zu  verhindern,  daß  nicht  die 
Frage  nach  dem  Prinzip  durch  die  zunehmende  Entfernung  des 
einzelnen  von  demselben  als  eine  alte  und  abgetane  Sache  er- 
schiene, und  sein  eigentümliches  Wesen  durch  die  lange  Ab- 
leitung geschwächt  in  dem  einzelnen  oft  dem  Übersehen  und  Ver- 
kanntwerden ausgesetzt  wäre:  so  wird  diese  Absicht  durch  den  heu- 
ristischen Stil  ungleich  vollkommener  erreicht,  und  der  Wissen- 
schaft in  allen  ihren  Teilen  der  höchste  Grad  des  Lebens  gesichert. 
Denn  die  innere  Kraft  derselben  wird  auf  diese  Art  allgegenwärtig 
gefühlt,  und  erscheint  immer  jung  und  neu  in  jedem  Teile  der 
Darstellung.  Sollte  es  auf  diese  Art  aber  scheinen,  als  ob  dafür 
die  Übersicht  des  Ganzen  erschwert  würde  durch  die  dazwischen 
sich  drängenden  Zurüstungen,  so  ist  wohl  dieses  nur  den  Un- 
gewohnten treffende  Hindernis  nicht  in  die  Wage  zu  legen  gegen 
die  tätige  Teilnahme  an  dem  Entstehen  des  Ganzen,  wozu  diese 
Darstellung  einen  jeden  gleichsam  nötigt.  Der  wesentlichste  Vor- 
zug aber  ist  die  völlige  Gewalt  des  Künstlers  über  die  Schnellig- 
keit und  Langsamkeit  der  Bewegung,  und  daß  er  in  jedem  Augen- 
blick innehalten  und  nach  allen  Seiten  umschauen  kann.  Hieran 
aber  ist  nur  demjenigen  gelegen,  der  nicht  nur  die  einzelne 
Wissenschaft  als  ein  organisches  Ganze  hervorbringen  will,  in 
welchem  alle  Teile  sich  gleichzeitig  und  verhältnismäßig  bilden, 
sondern  auch  der  jede  einzelne  Wissenschaft  nur  als  einen  Teil 
des  Ganzen  betrachtet,  welcher  ebenfalls  den  übrigen  voreilen 
weder  darf  noch  kann.  Welcher  allgemeine  Zusammenhang  nun 
auf  diese  Art  im  einzelnen  bisweilen  sich  erreichen,  und  wo  nicht, 
sich  wenigstens  andeuten  läßt.  Inwiefern  aber  alle  Eigentümlich- 
keiten des  platonischen  Stils  der  Gattung  selbst  angehören,  oder 
ihm,  dieses  ist  hier  nicht  zu  untersuchen.  Nur  soviel,  daß  der 
dialogische  Vortrag  nur  in  einem  sehr  weiten  Sinne  kann  für  not- 
wendig  gehalten   werden.    In   demjenigen   nämlich,    in    welchem 

22* 


340  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.     [111,1,  338] 

auch  der  antithetische  Vortrag  des  Fichte  dialogisch  wäre;  denn 
dieser  gehört  allerdings  hieher.  Ja,  die  Vergleichung,  wie  Piaton 
auch  in  seinen  größten  ethischen  Konstruktionen  jener  Methode 
getreu  bleibt,  Fichte  aber  in  der  eigentlichen  Ethik  in  den  rein 
dogmatischen  Stil  ausweicht,  und  wieviel  weniger  was  in  diesem 
letzten  hervorgebracht  ist,  die  Prühing  aushält,  diese  kann  am 
besten  einen  jeden  leiten  in  dem  Urteil,  welches  er  zu  fällen  hat. 


Beschluß. 

Nachdem  die  Untersuchung  in  den  zuvor  abgesteckten  Grenzen 
abgeschlossen  worden,  und  einem  jeden,  der  sie  aufmerksam  be- 
gleitet hat,  die  Hauptzüge  vorschweben  müssen,  welche  die  Ethik 
zeihen,  dasjenige  noch  fast  gänzlich  zu  verfehlen,  was  sie  sein  soll: 
so  entsteht  die  Frage,  ob  etwa  auf  die  Wissenschaft  besser  als  auf 
den  Menschen  jener  befremdliche  Satz  der  Stoiker  anzuwenden 
ist,  daß  jeder  entweder  ein  Weiser  sei  oder  gänzHch  ein  Tor;  ob  also 
der  Ethik  gar  kein  Sinn  kann  zugeschrieben  werden  als  Wissen- 
schaft bis  sie  vollkommen  ist,  oder  ob  man  wenigstens  sagen  könne, 
sie  werde  als  eine  solche,  und  unter  welchen  Bedingungen.  Hier- 
über möge  noch  beschließend  hinzugefügt  werden  soviel  davon 
sich  aus  dem  Standort  dieser  Kritik  erblicken  läßt.  Zu  welchem 
Ende  eigentlich  nur  darf  erinnert  werden  an  zweierlei,  welches 
hieher  gehörig  schon  oben  beiläufig  ist  aufgeführt  worden.  Zuerst 
nämlich  im  allgemeinen,  daß  keine  Wissenschaft  kann  im  streng- 


342  Beschluß.  [111,1,  340J 

sten  Sinne  vollendet  sein  für  sich  allein,  sondern  nur  in  Vereini- 
gung mit  allen  andern  unter  einer  höchsten,  welche  für  alle  den 
gemeinschaftlichen  Grund  des  Daseins  enthält,  und  eine  jede  be- 
stätigt durch  den  Zusammenhang  mit  allen  übrigen.  Woraus 
schon  von  selbst  hervorgeht,  daß  entweder  diese  auch  die  erste  sein 
muß  der  Zeit  nach  und  jene  erzeugen,  welches  niemand  gefunden 
zu  haben  behaupten  wird,  oder  daß  die  untergeordneten  sich  zu- 
gleich und  nach  gleichen  Regeln  in  Gestalt  und  Inhalt  der  Voll- 
endung nähern,  und  eben  hiedurch  auch  jene  Idee  sich  allmäh- 
lich entwickelt.  Nur  freilich  erstreckt  sich  dieser  Zusammenhang 
nicht  auch  auf  solche  Hilfswissenschaften,  wie  etwa  die  Größen- 
lehre und  die  Vernunftlehre,  sondern  nur  auf  die  eigentlichen  dem 
Inhalt  und  der  Bedeutung  nach  selbständigen;  von  diesen  aber 
wird  gewiß  der  wissenschaftliche  Sinn  eines  jeden  ohne  weitere 
Erörterung  das  Gesagte  einräumen.  Zweitens  aber  in  Beziehung 
auf  die  Ethik  besonders  ist  angedeutet  worden,  daß  sie  als  Dar- 
stellung eines  Realen  sich  nicht  anders  als  mit  diesem  zugleich 
vollkommen  entwickeln  könne.  Welches  von  der  Naturwissen- 
schaft von  selbst  gilt,  insofern  ihr  Reales  von  ihr  selbst  voll- 
ständig gegeben  ist,  von  der  Geschichte  aber  auch,  insofern  von 
ihr  vielleicht  gilt,  was  die  Stoiker  vom  höchsten  Gute  behaupten, 
daß  sie  nicht  wächst  durch  die  Länge  der  Zeit.  Soll  nun  der 
Ethik  irgendwann  mehr  als  einer  unbestimmten  und  wieder  ver- 
schwindenden Erscheinung  ein  wohlbegründetes  bleibendes  Da- 
sein zukommen:  so  muß  ein  notwendiger  Zusammenhang  statt- 
finden zwischen  ihren  angeführten  beiden  Bedingungen.  So  daß 
entweder  das  Fortschreiten  auch  der  andern  Wissenschaften  nebst 
dem  Auffinden  und  Entwickeln  der  höchsten  Erkenntnis  gleich- 
falls abhängt  von  der  Entwicklung  des  Sittlichen  im  Menschen, 
oder  umgekehrt  dieses  von  jenem,  oder  auch  beides  gemeinschaft- 
lich in  einem  dritten  gegründet  ist.  Dieses  zwar,  wie  es  sich 
verhalte,  zu  untersuchen  ist  nicht  unseres  Ortes ;  die  Erscheinungen 


[111,1,341]  Beschluß.  343 

aber,  welche  wir  hier  können  in  Erwägung  ziehen,  müssen  in 
allen  Fällen,  ist  nur  überhaupt  die  Voraussetzung  gegründet,  einen 
Parallelismus  darstellen,  welcher  auch  in  allem  bisher  Geschehenen 
sich  nicht  verkennen  läßt.  Denn  nicht  nur  die  ersten  fragmentari- 
schen Elemente  der  Ethik,  jene  Denksprüche  der  Weisheit  nämlich, 
welche  bald  mehr,  bald  minder  den  Mittelpunkt  des  Lebens  trafen 
oder  nur  berührten,  und  doch  schon  sowohl  die  Ahndung  ent- 
halten von  dem  letzten  Ziele  der  Wissenschaft,  als  auch  die  Keime 
jener  verschiedenen  Gestalten,  in  welche  sie  sich  hernach  spaltete, 
diese  nicht  nur  sind  gefunden  worden  in  gleichem  Zeitraum  mit 
den  Elementen  der  Naturwissenschaft  und  der  Historie,  und  gleich- 
sam in  demselben  Anlauf  geistiger  Anstrengung,  sondern  auch 
das  Bestreben,  die  gebührende  Form  für  sie  zu  finden,  hat  fast 
in  Hinsicht  auf  alle  gleichen  Schritt  gehalten.  Ja,  was  noch  mehr 
beweisende  Kraft  hat,  zwischen  den  verschiedenen  Ideen,  nach 
denen  im  Verlauf  besonders  die  Naturwissenschaft  ist  bearbeitet 
worden,  und  denen,  welche  der  Ethik  zum  Grunde  lagen,  findet 
sich  eine  Ähnlichkeit  der  Verhältnisse  und  ein  durchgängig  herr- 
schender Zusammenhang  des  gleichartigen  in  beiden,  welcher 
dem  Satz,  daß  die  praktische  Philosophie  eines  jeden,  wie  sie 
selbst  durch  die  Sittlichkeit  in  ihm  bestimmt  werde,  auch  wieder 
seine  theoretische  bestimme,  eine  frühere  Anerkennung  schon 
längst  hätte  zusichern  müssen.  Oder  hat  jemals,  seitdem  es  ver- 
schiedene Schulen  und  Charaktere  der  Philosophie  gab,  eine  Ver- 
bindung stattgefunden  in  einem  und  demselben  zwischen  der  Ethik 
der  Stoiker  und  der  atomistischen  Naturlehre  des  Epikuros? 
Oder  etwa  wäre  es  einem  möglich  gewesen,  dessen  Naturwissen- 
schaft nur  von  dem  ewigen  Fluß  der  Dinge  wöißte,  ein  Platoniker  zu 
sein  in  der  Sittenlehre?  Offenbar  so  wenig,  daß  nur  der  alle 
Verbindung  aufhebende  Skeptizismus  sich  schwankend  bald  hier-, 
bald  dorthin  neigen  konnte,  im  Theoretischen  auf  diese,  im  Prak- 
tischen auf  jene  Seite.  Wer  nun  diese  Verschiedenheiten  betrachtet, 


344  Beschluß.  [111,1,342] 

wie  sie  von  jeher  nebeneinander  bestanden  haben,  der  möchte 
bezweifeln,  ob  auch  nur  innerUch  solchen  Versuchen  die  beson- 
deren Erkenntnisse  zustande  zu  bringen,  die  Idee  einer  höchsten 
und  allgemeinen  zum  Grunde  gelegen  habe.  Denn  je  höher  der 
Standpunkt  genommen  wird,  desto  weniger  sollte  wohl  Vielartig- 
keit der  Ansicht  und  der  Ausführung  möglich  sein.  Wenigstens 
war  es  nicht  eine  und  dieselbe:  denn  unter  der  Herrschaft  einer 
solchen  Idee  kann  auch  jede  Wissenschaft  nur  auf  eine  Art  der 
Form  und  dem  Inhalt  nach  ausgeführt  werden.  Wollte  aber 
jemand  als  ein  Zeichen,  daß  jetzt  nur  eine  solche  anerkannt  werde 
von  allen,  und  als  die  Wirkung  der  darin  liegenden  Wahrheit 
anführen,  die  dem  Anschein  nach  nun  vollendete  Reinigung  des 
wissenschaftlichen  Gebietes  von  dem  Eudämonismus  in  der  Ethik, 
und  dem  Atomismus,  sei  er  nun  chemisch  oder  mechanisch,  in  der 
Naturwissenschaft:  so  hat  freilich  von  jenem  die  Kritik  nichts  an- 
deres finden  können,  als  daß  er  eine  Wissenschaft  zu  bilden  un- 
fähig sei,  und  muß  den  Zusammenhang  des  letzteren  mit  ihm, 
und  was  daraus  folge,  dahingestellt  sein  lassen.  Allein  sie  gibt 
zu  erwägen,  daß  doch  dieses  nur  einen  von  den  Gegensätzen 
betrifft,  welche  sie  auf  dem  Gebiete  der  Sittenlehre  gefunden  hat, 
und  daß  der  siegreiche  dynamische  Idealismus,  wie  er  sich  bis 
jetzt  gezeigt  hat,  wohl  schwerlich  die  Ahnenprobe  seiner  Ab- 
stammung von  einer  Idee  der  höchsten  Erkenntnis  bestehen  möchte, 
welche  doch  erforderlich  ist,  wenn  ihm  soll  der  Preis  gereicht  wer- 
den. Denn  von  den  beiden  Darstellungen  desselben,  welche  eben- 
falls in  einem  wichtigen  und  bedenklichen  Streit  begriffen  sind, 
hat  die  eine  zwar  eine  Ethik  aufgebaut,  dagegen  aber  die  Mög- 
lichkeit einer  Naturwissenschaft  bald  trotziger,  bald  verzagter  ab- 
geleugnet, und  die  andere  dagegen  die  Naturwissenschaft  zwar 
hingestellt,  für  die  Ethik  aber  keinen  Platz  finden  können  auf  dem 
Gesamtgebiete  der  Wissenschaften.  Sollte  man  daher  von  der 
Sittenlehre  der  ersteren,  welche  sehr  mangelhaft  ist  befunden  wor- 


[111,1,343]  Beschluß.  345 

den,  den  Schluß  machen  dürfen  auf  die  ebenso  einseitig  ver- 
neinende Naturwissenschaft  der  anderen:  so  dürfte,  was  sie  beide 
zusammen  Reales  besitzen,  nur  einen  mäßigen  Wert  haben;  was 
sie  dagegen  beide  zusammen  leugnen,  zumal  wenn  man  die  Ab- 
neigung der  einen  wenigstens  gegen  die  Geschichte  dazunimmt, 
möchte  ziemlich  alle  reale  und  mehr  als  elementarische  Wissen- 
schaft ausmachen.!  Wie  nun  der  Charakter  der  einzelnen  Wissen- 
schaften, wie  jeder  sie  darstellt,  abhängig  ist  von  der  Beschaffenheit 
des  sittlichen  Bewußtseins  in  ihm,  so  auch  im  allgemeinen  die 
wahre  Idee  eines  Systems  der  menschlichen  Erkenntnis,  ohne 
welche  keine  Wissenschaft  vollkommen  sein  kann  und  durchaus 
wahr,  von  der  vollkommenen  SittHchkeit  in  der  Idee  wenigstens, 
oder  welches  dasselbe  ist,  von  dem  vollständigen  Bewußtsein  der 
höchsten  Gesetze  und  des  wahren  Charakters  der  Menschheit.  Wo 
demnach  dieses  Bewußtsein  vorhanden  war,  da  war  auch  in  dem- 
selben Maße  der  Keim  der  wahren  Ethik;  und  von  welcher  Zeit 
an  es  unaustilgbar,  wenngleich  nur  von  wenigen  anerkannt,  fort- 
gepflanzt wird,  von  der  fängt  sich  an  das  Werden  der  wahren 
Sittenlehre.  Denn  werdend  kann  sie  immer  nur  sein,  bis  wenig- 
stens von  allen,  welche  die  Bildung  des  Geschlechts  repräsentieren, 
jenes  Bewußtsein  anerkannt  ist,  weil  vorher  im  Kampf  die  An- 
sicht von  dem  ganzen  Gebiet  des  Sittlichen,  welches  sie  dar- 
stellen soll,  zu  sehr  beschränkt  ist  und  getrübt,  als  daß  es  tadellos 
könnte  in  Formeln  gefaßt  werden,  welche  den  ganzen  Fortschritt 
der  notwendigen  Entwicklung  in  sich  begreifen.  Wo  aber  und 
solange  jenes  Bewußtsein  noch  nicht  vorhanden  ist,  ist  auch  noch 
nicht  die  Ethik  werdend  als  Wissenschaft,  sondern  nur  ihre  Idee. 
Dieses  letztere  Werden  aber  kann  auch  nicht  gleichmäßig  sein, 
sondern  muß  den  Schein  des  Zufälligen  darbieten,  indem  bald 
das  eine,  bald  das  andere  Element  der  Annäherung  den  übrigen 
vorangeht,  bald  der  Sinn  für  das  Ideale  bloß  von  den  Gesetzen 
1  Gegen  Fichte  und  Schelling  gerichtet.     A.  d.  H. 


346  Beschluß.  [111,1,344] 

der  Form  aus  das  bessere  Reale  ahndet  und  die  Wirklichkeit 
hinter  sich  läßt,  bald  aber  das  Reale  in  der  Wirklichkeit  dem- 
jenigen zuvoreilt,  welches  in  der  Wissenschaft  dargestellt  ist,  ohne 
sich  dessen  Anerkennung  zu  gewinnen.  Und  so  erscheint  bald 
vorwärtsgehend,  bald  rückläufig  die  Bewegung  demjenigen,  wel- 
chem ihr  Mittelpunkt  nicht  gegeben  ist  und  ihr  Gesetz:  denn  nur 
in  der  vollkommenen  Wahrheit  und  im  klaren  Selbstbewußtsein 
verkündiget  sich  unverkennbar  das  Maß  und  die  Ordnung. 


Abhandlungen 

gelesen  in  der  Königlichen  Akademie  der  Wissenschaften 


über  die  wissenschaftliche  Behandlung  des 
Tugendbegriffes. 

Vorgelesen  den  4.  März  1819. 

In  meinen  Grundzügen  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre 
habe  ich  durch  eine  vergleichende  Zusammenstellung  zu  zeigen 
versucht,  wie  w^enig  bis  dahin  noch  die  Sittenlehre  als  Wissen- 
schaft fortgeschritten  gewesen.  Eine  Fortsetzung  solcher  Kritik  in 
Beziehung  auf  das,  was  seit  jener  Zeit  auf  dem  Gebiete  der 
Sittenlehre  erschienen  ist,  würde  ich,  auch  wenn  dessen  mehr  wäre 
und  Lohnenderes,  wenigstens  für  jetzt  nicht  beabsichtigen.  Viel- 
mehr hatte  ich  darauf  gerechnet,  schon  früher  der  bekannten  Auf- 
forderung nach  Vermögen  Folge  zu  leisten,  daß,  wer  zerstöre,  auch 
wieder  aufbauen  müsse,  obgleich  ich  sie  aus  dem  auch  auf  dem 
wissenschaftlichen  Gebiete  ganz  zweckmäßigen  Grundsatz  der  Tei- 
lung der  Arbeit  zurückweisen  könnte.  Allein  wiewohl  ich  schon 
seit  langer  Zeit  in  der  Ausarbeitung  eines  eignen  Entwurfs  der 
Sittenlehre  begriffen  bin,  bei  welchem  es  dann  darauf  ankom- 
men müßte,  ob  und  mit  welchem  Erfolg  ich  an  ihm  selbst  eine 
ähnliche  Kritik  geübt,  wie  dort  an  meinen  Vorgängern:  so  ver- 
zögert sich  doch  die  Vollendung  dieser  Arbeit  so  sehr  über  die 
Gebühr,  daß  es  mir  wenigstens  angemessen  scheint,  endlich  ein- 


350  Tugendbegriff.  [111,2,351] 

mal,  wenn  auch  nur  so  weit  es  sich  in  einer  Abhandlung  von 
diesem  Umfange  tun  läßt,  an  einem  einzelnen  Punkte  eine  Probe 
mitzuteilen  von  dem  Verfahren,  welches  ich  einzuschlagen  ge- 
denke, ob  es  wohl  geeignet  sein  mag,  dem  mannigfaltigen  Tadel 
auszuweichen,  den  jene  Kritik  über  die  bisherigen  Systeme  aus- 
gesprochen hat.  Es  ist  der  Begriff  der  Tugend,  welchen  ich 
hierzu    gewählt    habe. 

Das  unerfreuliche  Ergebnis  jener  Untersuchung  war  näm- 
lich, daß  in  der  bisherigen  Behandlung  der  Sittenlehre  die  Begriffe 
weder  gehörig  voneinander  gesondert,  noch  gehörig  unterein- 
ander verbunden  wären.  Wollen  wir  nun  von  dieser  Überzeugung 
aus  eine  neue  Darstellung  versuchen:  so  ist  wohl  die  erste  vor- 
läufige Maßregel  die,  daß  wir  uns  von  der  vergleichenden  Be- 
trachtung der  Begriffe  selbst  zur  Beurteilung  des  Verfahrens 
wenden,  welches  bei  Bearbeitung  des  Gegenstandes  ist  beobachtet 
worden,  und  daß  wir  uns  die  Frage  vorlegen,  welche  Fehler  die 
Sittenlehrer  wohl  begangen  haben  mögen,  aus  denen  jener  un- 
günstige Zustand  der  Wissenschaft  hervorgegangen  ist.  Diese 
Frage  ist  natürlich  sehr  schwierig,  und,  weil  der  Abweichungen 
vom  rechten  Wege  so  viele  sein  können,  kaum  durch  eine  Antwort 
im  ganzen  zu  erledigen.  Was  sich  aber  darüber  in  bezug  auf 
den  jetzt  vorhegenden  Teil  des  Ganzen  im  allgemeinen  sagen 
läßt,  scheint  mir  folgendes  zu  sein.  Zwei  Umstände  haben  zu- 
sammengewirkt, um  die  Darstellung  des  Sittlichen  unter  dem  Be- 
griffe der  Tugend  zu  verwirren.  Der  eine  ist  eine  allgemeine, 
auch  in  andern  Teilen  dieser  und  verwandter  Wissenschaften 
sichtbare  Einseitigkeit  der  Betrachtungsweise.  Überall  nämlich, 
wo,  um  einen  Gegenstand  zur  Anschauung  zu  bringen,  ein  Sy- 
stem von  Begriffen  aufgestellt  wird,  ist  der  Gegensatz. von  Ein- 
heit und  Vielheit  die  herrschende  Form,  sei  es  nun,  daß  das  Ver- 
fahren mehr  so  erscheine,  daß  die  Vielheit  unter  eine  Einheit 
gebracht,  oder  so,  daß  die  Einheit  in  eine  Vielheit  zerspalten 
wird.    Ist  ein  Gegenstand  nur  als  einer  vorgelegt:  so  ist  unter 


[111,2,  352]  Tugendbegriff.  351 

der  Form  des  Begriffes  nichts  von  ihm  zu  sagen,  als  daß  seine 
Erklärung  aufgestellt  wird;  wie  sehr  aber,  und  auf  welche  Weise 
das  unter  die  Erklärung  Gehörige  unter  sich  verschieden,  also 
vieles,  sein  kann,  das  wird  nicht  ausgemittelt.  Sieht  man  da- 
gegen nur  die  Vielheit,  so  kann  man  zwar  mit  den  Einzelheiten, 
aus  welchen  sie  besteht,  dasselbe  tun  wie  dort;  aber  wie  diese 
unter  sich  zusammen  gehören  und  von  andern  getrennt,  also 
eines  sind,  das  kann  nicht  erhellen.  Die  wissenschaftliche  Dar- 
stellung unter  dieser  Form  beruht  also  ganz  auf  der  Gabe,  Ein- 
heit und  Vielheit  zusammen  zu  schauen  und  ineinander  zu  ver- 
wandeln. Es  gibt  aber  im  Gegensatz  zu  dieser  Richtung  zwei 
Einseitigkeiten  der  Betrachtung,  die  eine,  welche  nur  Einheit 
überall  sieht  und  die  Vielheit  für  bloßen  Schein  erklärt  oder  für 
Verworrenes  und  der  Betrachtung  Unwertes;  die  andere,  welche 
nur  Vielheit  sieht,  und  die  Einheit  für  Schein  erklärt  oder  für 
willkürHches  Zusammenwerfen.  Beide  finden  wir  schon  im  Alter- 
tume,  oder,  genauer  zu  reden,  nur  im  Altertume  in  jener  voll- 
ständigen Ausbildung,  wegen  der  man  die  eine  die  panthei- 
stische,  die  andere  die  atomistische  nennen  kann.  Im  einzelnen 
aber  finden  wir  sie  häufig  auch  in  solchen  philosophischen  Dar- 
stellungen, welche,  ohnerachtet  einer  vielleicht  unleugbaren  Ver- 
wandtschaft der  Grundansicht,  dennoch  mit  keinem  von  jenen  bei- 
den Namen  belegt  zu  werden  pflegen.  Und  so  haben  sich  beide 
Einseitigkeiten  auch  zu  allen  Zeiten  auf  unsern  Gegenstand  ge- 
worfen. Die  Frage,  welche  im  Altertume  schon  so  oft  behan- 
delt wurde,  ob  die  Tugend  eine  sei  oder  viele,  ist  nichts  an- 
deres als  das  natürliche  Ergebnis  aus  dem  Streite  jener  unvoll- 
ständigen Betrachtungsweisen.  Denn  die  natürliche  Voraussetzung 
für  jeden,  der  den  Tugendbegriff  zu  einer  wissenschaftlichen  Dar- 
stellung brauchen  wollte,  könnte  doch  nur  die  sein,  die  Tugend 
müsse  eines  und  vieles  sein  in  verschiedener  Hinsicht.  Aber  hat 
der  eine  vermöge  der  einen  Einseitigkeit  gesagt,  die  Tugend  ist 
nur  eine,   und  folglich  ist  sie   überall  entweder  ganz  oder  gar 


352  Tugendbegriff.  [111,2,353] 

nicht;  der  andere  vermöge  der  anderen,  die  verschiedenen  Tugen- 
den haben  gar  nichts  miteinander  zu  schaffen,  sondern  der  eine 
besitzt  diese  von  ihnen,  der  andere  jene,  jeder  nur  vermöge  seiner 
besonderen  Einrichtung,  und  die  höchste  Kunst  besteht  nur  darin, 
die  Menschen  so  zusammenwirken  zu  lassen,  daß  ihre  verschiede- 
nenen  Tugenden  einander  ergänzen:  dann  entsteht  freiUch  zunächst 
die  Frage,  welcher  von  beiden  recht  habe,  und  ist  ein  neues  Zei- 
chen, daß  die  beiderlei  Ansichten  vereinigende  Gabe,  das  Viele  in 
seiner  natürlichen  Zusammengehörigkeit  und  das  Eine  in  seiner 
natürlichen  Geteiltheit  zu  sehen,  in  der  Untersuchung  nicht  walte. 
Eine  geringere  Wirkung  derselben  Einseitigkeiten  ist  diese,  wenn 
zwar  Zusammengehöriges  verknüpft,  und  das  in  verschiedene 
Gestalten  Verschiebbare  geteilt  wird,  aber  auf  eine  solche  Art, 
daß  die  Erklärungen  der  größeren  Einheit  und  der  untergeord- 
neten Einzelheiten  nicht  so  miteinander  zusammenstimmen,  daß 
eines  aus  dem  andern  verstanden,  und  also  in  unserm  Falle  be- 
griffen werden  könne,  wie  die  aufgestellten  einzelnen  Tugenden 
den  allgemeinen  Begriff  der  Tugend  erschöpfen,  und  wie  der 
aufgestellte  allgemeine  Begriff  dasjenige  ausdrücke,  was  die  ein- 
zelnen Tugenden  Gemeinsames  haben.  Und  dieses  eben  wird 
man  weder  beim  Aristoteles,  noch  bei  den  Stoikern,  noch  bei  einem 
von  den  Neueren,  so  viele  deren  noch  mit  dem  Tugendbegriffe 
verkehrt  haben,  auf  eine  befriedigende  Weise  finden.  Wer  also 
eine  neue  Darstellung  versuchen  will,  der  muß  zuerst  diese  Ein- 
seitigkeit zu  vermeiden  suchen,  und  nicht  den  allgemeinen  Begriff 
der  Tugend  für  sich  und  die  Erklärungen  der  einzelnen  Tugenden 
wieder  für  sich  zustande  bringen,  sondern  beide  nur  in  Bezie- 
hung aufeinander,  so  daß  er  mit  keinem  allgemeinen  Begriff 
der  Tugend  zufrieden  ist,  es  sei  denn  ein  solcher,  in  welchem  er 
schon  die  Teilungsgründe  erblickt,  nach  denen  sich  die  einzelnen 
Tugenden  ableiten  und  ordnen  lassen,  und  so  auch  mit  keiner 
Erklärung  einer  einzelnen  Tugend,  es  sei  denn,  daß  er  darin  das- 
jenige nachweisen  könne,  was  nur  von  einer  beschränkenden  Be- 


[111,2,354]  Tugendbegriff.  353 

stimmtheit  befreit  werden  darf,  um  in  dem  allgemeinen  Begriffe 
der  Tugend  gefunden  zu  werden. 

Der  andere  Umstand  aber,  welcher  der  Behandlung  des  Tu- 
gendbegriffes nachteilig  geworden,  scheint  dieser  zu  sein.  Es  fin- 
den sich  in  der  Sprache  eine  große  Menge  Bezeichnungen  lobens- 
würdiger  oder  beliebter  menschlicher  Eigenschaften,  in  bezug  auf 
welche  es  scheint,  als  könne  der  Sittenlehrer  zu  einem  von  bei- 
den angehalten  werden,  entweder  ihnen  sämtlich  einen  Platz  an- 
zuweisen in  dem  System  von  Tugenden,  welches  er  aufstellt, 
oder  seine  Gründe  anzugeben,  warum  er  einige  ausschließt.  Je 
mehr  nun  in  jenen  Bezeichnungen  das  öffentliche  Urteil  sich  aus- 
spricht, und  gerade  am  meisten  in  Beziehung  auf  das  öffentliche 
und  gesellige  Leben  die  Sittenlehre  bearbeitet  wurde;  oder,  wenn 
wir  auf  die  neueren  Zeiten  sehen,  je  mehr  man  die  unbedingte 
Richtigkeit  des  sittlichen  Gefühls  voraussetzte,  und  je  mehr  die 
philosophische  Behandlung  der  Sittenlehre  nichts  anderes  sein  zu 
dürfen  glaubte,  als  nur  eine  genauere  Verständigung  über  das- 
jenige, was  im  sittlichen  Gefühle  enthalten  sei:  um  desto  weni- 
ger wagte  man  es,  von  den  geltenden  Begriffen  löblicher  Eigen- 
schaften einige  aus  dem  Verzeichnis  der  Tugenden  auszuschheßen, 
sondern  hielt  sich  streng  verpflichtet,  einem  jeden  seinen  Platz  an- 
zuweisen. Daher  denn  die  untergeordneten  Haufen  von  Tugenden 
schon  bei  Aristoteles,  und  die  ganz  willkürlich  gebildeten  Stel- 
len derselben  bei  den  Stoikern,  und  eben  so  bei  den  Neueren. 
Denn  wenn  z.  B.  Aristoteles  und  die  Stoiker  nicht  ganz  dieselben 
Tugenden  aufstellen,  ohnerachtet  beide  demselben  Volk  ange- 
hören, und  die  ältere  stoische  Schule  auch  im  wesentlichen  noch 
demselben  Zeitalter:  so  muß  man  dieses  mehr  grammatisch  an- 
sehen, daß  nämlich,  wie  denn  die  im  gemeinen  Leben  erzeugten 
Ausdrücke  immer  schwankend  sind,  die  eine  Schule  eine  andere 
Synonymie  angenommen  als  die  andere.  Nun  ist  aber  offenbar, 
daß  gerade  im  öffentlichen  Leben  die  Eigenschaften  der  handeln- 
den Personen  nach  ganz  anderen  Gesichtspunkten  aufgefaßt  wer- 

Schleiermacher,  Werke.     I.  23 


354  Tugendbegriff.  [111,2,355] 

den  als  nach  dem,  auf  welchen  die  wissenschaftliche  Sittenlehre 
sich  stellen  muß;  und  ebenso  liegt  zutage,  daß  das  sittliche  Ge- 
fühl nicht  immer  und  überall  sich  auf  dieselbe  Weise  äußert,  so 
wie  daß  auch  im  geselligen  Leben  über  die  sich  dort  bildenden 
Urteile  öfters  Zweifel  entstehen  können,  ob  es  auch  das  sittliche 
Gefühl  gewesen,  welches  sich  geäußert,  oder  ein  anderes.  Alle 
Begriffe  aber  über  einen  Gegenstand,  die  von  einem  andern  In- 
teresse aus,  als  dem,  daß  er  rein  und  vollständig  soll  erkannt 
werden,  sind  gebildet  worden,  haben  keinen  Anspruch  darauf,  in 
eine  wissenschaftliche  Darstellung  aufgenommen  zu  werden.  Sie 
gehören  einer  andern  Reihe  an,  in  welcher  sie  wahr  und  richtig 
sein  mögen,  aber  auf  dem  wissenschaftlichen  Gebiet  muß  ihre  Ein- 
mischung notwendig  Verwirrung  anrichten.  Daher  ich  auch  in 
bezug  auf  jene  Begriffe  nicht  einmal  die  zweite  Forderung  gel- 
ten lassen  kann,  daß  der  Sittenlehrer  verpflichtet  sei,  einzeln  nach- 
zuweisen, warum  er  diese  im  gemeinen  Leben  gültigen  Begriffe 
in  das  System  der  seinigen  nicht  aufnehme.  Vielmehr  ist  ja  offen- 
bar, solche  Begriffe  zu  würdigen,  erst  ein  weit  späteres  Geschäft, 
und  kann  nur  gelingen,  nachdem  die  wissenschaftlich  begründeten 
Begriffe  aufgestellt  sind;  denn  jenes  ist  zugleich  die  Würdigung 
des  sittlichen  Zustandes  desjenigen  Volkes  und  Zeitalters,  in  wel- 
chem solche  Begriffe  ihre  Geltung  erlangt  haben;  und  hiezu 
müssen  eben  die  wissenschaftlichen  Begriffe  den 
Maßstab  enthaltend  Wer  aber  beide  Geschäfte  nicht  trennt, 
sondern  seinen  allgemein  aufgestellten  Tugendbegriff  durch  An- 
wendung auf  alle  jene  oft  politische,  oft  ökonomische  oder 
sonst  lebenskünstlerische  Begriffe  rechtfertigen  will,  der  wird 
sich  sein  Geschäft  ohnfehlbar  verderben;  ja  was  er  irgend  an 
sich  hat  von  einer  jener  beiden  Einseitigkeiten,  das  wird  dadurch 
begünstigt.  Ist  er  geneigt,  nur  die  Einheit  genau  und  richtig  zu 
sehen,  so  wird  er  durch  jenes  verworrene  Gemenge  nur  um 
so  sicherer  überredet,  es  gebe  außer  der  Einheit  keine  bestimmte 
*  Von  mir  gesperrt.     (Br.) 


[111,2, 356]  Tugendbegriff.  355 

Vielheit,  sondern  nur  die  unbestimmt  ineinander  sich  verlaufende 
Unendlichkeit  der  einzelnen  Erscheinungen,  und  ebenso  um- 
gekehrt. Deshalb  aber  ist  keineswegs  meine  Meinung,  daß  die 
Begriffe  einzelner  Tugenden,  welche  der  Sittenlehrer  unabhängig 
von  jenen  im  gemeinen  Leben  üblichen  auf  seinem  eigenen  Wege 
findet,  müßten  mit  neuen  und  unerhörten  Namen  bezeichnet  wer- 
den, welches  allerdings  auf  seine  Tugenden  den  Verdacht  wer- 
fen würde,  als  wären  sie  ganz  und  gar  ersonnen.  Sondern  dieses 
nur  meine  ich,  daß  allerdings,  wenn  er  seine  Begriffe  gebildet 
hat,  er  die  Zeichen  dazu  aufsuchen  soll  in  dem  vorhandenen 
Schatz  der  Sprache,  und  sich  fragen,  ob  er  nicht  eben  dieses, 
was  er  jetzt  gedacht,  oft  so  und  so  genannt  habe;  und  wie 
sonst  der  platonische  Sokrates  getan,  soll  er  auch  andere,  entweder 
unmittelbar  oder  indem  er  an  ihren  Reden  und  Schriften  anklopft, 
fragen,  ob  sie  nicht  auch  etwas  so  nennen,  und  ob  es  nicht 
dasselbe  sei,  was  auch  er  sonst  so  genannt;  und  wie  dann  er 
selbst  und  andere  das  Gefundene  am  meisten  und  sichersten 
genannt  haben  anderwärts,  so  soll  er  nun  dasselbe  auch  in 
seinem  System  nennen,  und  das  Wort  zum  Zeichen  dieses  Be- 
griffs stempeln;  wodurch  er  zugleich  zu  erkennen  gibt,  daß  es 
noch  andere  Gebrauchsweisen  des  Wortes  geben  könne,  mag  nun 
dabei  dasselbe  gedacht,  aber  falsch  angewendet  worden,  oder  auch 
wohl  ganz  andres  gedacht  und  nur  einer  falschen  Ähnlichkeit  zu- 
liebe dasselbe  Zeichen  gebraucht  worden  sein,  und  daß  er  diese 
samt  und  sonders  gar  nicht  zu  vertreten  gesonnen  sei.  Hält  er 
nun  aber  mit  seiner  Begriffsbildung  inne,  und  es  bleiben  ihm 
dann  auch  noch  so  viele  Wörter  übrig,  deren  er  sich  zwar  er- 
innern muß,  wenn  er  sich  fragt,  was  für  vortreffliche  Tugenden 
unter  den  Menschen  seiner  Zeit  und  seines  Volkes  im  Umlauf 
seien,  die  er  aber  doch  in  seinem  Umkreise  von  Begriffsbildung 
nicht  anzubringen  weiß :  so  soll  er  sich  um  diese  weder  so  viel 
kümmern,  daß  er  deshalb  Furcht  bekäme,  er  hätte  wohl  die  rechte 
Tugend  nicht  gefunden,  noch  auch  so  wenig,  daß  er  sie  gehen 

23* 


356  Tugendbegriff.  [111,2,  357] 

ließe,  wohin  sie  wollten;  sondern  er  soll  ihnen  auflauern,  um  zu 
sehen,  ob  sie  etwa  bei  einer  noch  weiteren  Vereinzelung  der  Be- 
griffe, die  er  noch  nicht  unternommen  hat,  ihren  Platz  finden 
wollen,  oder  ob  sie  einem  andern  Teil  der  sittlichen  Darstellung 
angehören,  oder  wohl  gar  einem  ganz  andern  Gebiete.  Hat  er 
sie  nun  lange  genug  beobachtet,  so  wird  ihm  dieses  gewiß  nicht 
entgehen,  und  er  wird  sein  zweites  Geschäft  an  ihnen  vollbringen 
können,  nämlich  die  Reinigung  und  Sichtung  der  Sprache,  wel- 
ches allerdings  seinem  ersten  nicht  wenig  zu  Hilfe  kommt.  — 
Von  der  Anwendung  dieser  beiden  Regeln  nun  will  ich  versuchen 
das  Beispiel  zu  geben,  so  gut  es  sich  außerhalb  des  geschlossenen 
Zusammenhanges,  das  heißt,  ohne  streng  genommen  von  vorn 
anzufangen,  tun  läßt,  und  natürlich  indem  ich,  um  nicht  die 
Grenzen  einer  Abhandlung  zu  überschreiten,  nur  bei  der  ersten 
Abstufung  der  Begriffe  stehen  bleibe. 

Dieses  nun  muß  ich  mir,  weil  ich  nicht  von  vorn  anfan- 
gen kann,  gleich  vorausnehmen,  und  kann  mich  nur  darauf  be- 
rufen, daß  es  teils  aus  dem  angeführten  Buche  so  deutlich  her- 
vorgeht, als  ich  es  irgend  darzustellen  imstande  bin,  teils  auch 
jeder  für  sich  es  finden  und  also  leicht  ohne  weiteres  zugeben 
wird,  daß  nämlich  die  drei  gepaarten  Begriffe,  Gutes  und  Übel, 
Tugend  und  Laster,  pflichtmäßiges  und  pflichtwidriges  Handeln, 
sich  so  gegeneinander  verhalten,  daß  jedes  Paar  für  sich  allein 
in  seiner  Vollständigkeit  gedacht,  das  Sittliche  ganz  setzt  und 
ganz  aufhebt,  so  daß  auch  die  übrigen  Paare  notwendig  mit 
gesetzt  sind;  auf  die  Weise,  daß,  sind  alle  Güter  gesetzt,  die  in 
sittlichem  Sinne  so  können  genannt  werden,  dann  notwendig, 
so  wie  alle  Übel  in  demselben  Sinne  ausgeschlossen  sind,  so  hin- 
gegen alle  Tugenden  als  vorhanden  gedacht  werden  müssen,  und 
alle  pflichtmäßigen  Handlungen;  Laster  aber  und  pflichtwidrige 
Handlungen  gar  nicht,  oder  sonst  könnten  auch  die  Güter  nicht 
da  sein,  sondern  es  müßten  Übel  entstehen.  Ebenso  wenn  man 
zuerst  alle  Tugenden  in  allen  denkt,  oder  nichts  als  pflichtmäßige 


[111,2,358]  Tugendbegriff.  357 

Handlungen  auf  allen  Punkten  und  in  allen  Augenblicken,  als- 
dann ebenso  wie  oben  das  übrige  alles  mit  gesetzt,  das  Gegen- 
teil aber  ausgeschlossen  sein  muß.  Denn  das  wird  wohl  nie- 
mand glauben,  daß,  wenn  alle  Tugenden  in  allen  Menschen  wirk- 
sam wären,  daraus  Übel  in  der  Welt  entstehen  könnten,  oder 
pflichtwidrige  Handlungen,  noch  dieses,  daß  das  Gute  ebensowohl 
aus  pflichtwidrigen  Handlungen  entstehen  und  dabei  bestehen 
könne  als  aus  und  bei  pflichtmäßigen,  und  was  nun  weiter  folgt. 
Das  zweite  muß  ich  mir  ebenso  geben  lassen,  daß  nämhch,  dem- 
ohnerachtet  Gut,  Tugend  und  Pflicht  nicht  an  und  für  sich  das- 
selbe sei,  sondern  jeder,  wenn  er  das  eine  nennt,  etwas  anderes 
meine,  als  wenn  das  andere.  Woraus  von  selbst  folgt,  daß  auch 
nicht  eine  einzelne  Tugend  einzelne  bestimmte  pflichtmäßige  Hand- 
lungen oder  Güter  notwendig  bedinge;  sondern  das  obige,  daß, 
wenn  alle  Tugenden  in  allen  gesetzt  sind,  auch  alle  und  lauter 
pflichtmäßige  Handlungen  gesetzt  sein  müssen,  entsteht  vielmehr 
daher,  weil  in  jeder  pflichtmäßigen  Handlung  alle  Tugenden  des 
Handelnden  sind,  und  jede  Tugend  auch  an  allen  pflichtmäßigen 
Handlungen  ihres  Besitzers  Anteil  hat,  und  ebenso  mit  den 
Gütern.  Wenn  nun  hieraus  hervorgeht,  daß,  weil  jeder  dieser 
Begriffe  das  Sittliche  ganz  darstellt  und  dennoch  etwas  anderes 
bedeutet,  jeder  es  in  einer  andern  Beziehung  darstellen  muß :  so 
ist  nun  die  nächste  Frage  die,  in  welcher  Beziehung  denn  der 
Tugendbegriff  das  Sittliche  darstelle.  Und  auch  hier  nehme  ich 
mir,  weil  ich  nicht  von  vorn  anfangend  zeigen  kann,  ob  und 
warum  diese  drei  Begriffe  und  nur  diese  von  gleicher  Geltung 
bestehen,  ganz  unbesorgt  dieses  zum  voraus,  daß  im  Tugend- 
begriff das  Sittliche  dargestellt  werde  als  Kraft,  welche  in  dem 
einzelnen  Leben  ihren  Sitz  hat.  Denn  so  reden  wir  alle  von  der 
Tugend  als  von  etwas  im  Menschen,  und  zwar  woraus  seine 
Handlungen  hervorgehen  nicht  nur,  sondern  auch  woraus  Hand- 
lungen gewisser  Art  notwendig  hervorgehen  müssen,  indem  eine 
untätige  Tugend  niemand  denken  kann;  und  möchte  wohl  nie- 


358  Tugendbegriff.  [111,2,  359] 

mand  viel  einwenden,  wenn  wir  die  Erklärung  des  Zenon  von 
rjd^og,  es  sei  die  Quelle  des  Lebens,  woraus  die  einzelnen  Hand- 
lungen hervorgehn,  auf  den  allgemeinsten  Begriff  der  Tugend 
anwendeten,  denn  diese  ist  eben  die  sittliche  Lebensquelle*).  Re- 
den wir  aber  auch  von  Tugenden  eines  Volkes,  so  betrachten  wir 
alsdann  gewiß  dieses  ebenfalls  als  ein  einzelnes  Leben,  aus  des- 
sen Kraft  sowohl  die  einzelnen  Menschen  solche  werden,  als  die 
gemeinsamen  Handlungen  hervorgehen,  welche  das  Gepräge  jener 
Tugenden  tragen. 

Dieses  nun  vorausgesetzt,  entsteht  uns  die  Aufgabe.  Wenn 
die  Tugend  im  allgemeinen  überall  und  in  allen  dieselbe,  und 
also  nur  eine  ist;  soll  aber  das  Sittliche  in  seiner  ganzen  Fülle 
aus  der  Vollständigkeit  aller  Tugenden  beschrieben  werden,  zu- 
gleich ein  mannigfaltiges  sein  muß,  und  zwar  nicht  nur  dem 
Orte  nach,  sofern  dieselbe  Tugend  in  verschiedenen  Menschen  ist, 
sondern  auch  in  jedem  einzelnen,  in  eine  Mannigfaltigkeit  ge- 
teilt: so  muß  bestimmt  werden,  wie  sie  dann  geteilt  werden 
soll,  um  zugleich  eines  und  vieles  zu  sein.  Die  Lösung  dieser 
Aufgabe  muß  angefangen  werden  mit  einem  Satz,  wovon  ich 
mich  hier,  da  ich  ihn  nicht,  ohne  noch  viel  weiter  zurückzugehen, 
aus  der  Quelle  ableiten  kann,  nur  auf  die  allgemeine  Zusammen- 
stimmung berufen  muß,  daß  nämlich  alle,  welche  überhaupt  von 
Tugend  reden,  es  nur  tun  in  Voraussetzung  eines  Zwiefältigen 
im  Menschen,  eines  Höheren  und  Niederen,  Vernünftigen  und  Un- 
vernünftigen,   Geistigen    und   Sinnlichen,   oder   himmlischen   und 


)  Stob.  II.  cp.  VII.  ol  de  xaTO.  Zrjvcova  rgojxixwg'  rjd'ög  iarc  nrjyr]  ßlov 
dcp  j]g  ai  xaia  fiigo;  jigä^sig  gsovai.  Man  könnte  freilich  sagen,  das  Wort 
^&og  entspreche  mehr  unserm  Wort  Gesinnung,  und  dieses  bedeute  mehr  die 
individuelle  Art,  die  Pflicht  zu  konstruieren:  allein  dieses  gilt  nur,  sofern  das 
Wort  als  ein  mannigfaltiges  gebraucht  wird,  sofern  man  von  einer  Gesinnung 
redet,  oder  gar  von  einer  guten  und  schlechten.  Die  sittliche  Gesinnung  aber 
ganz  im  allgemeinen  und  die  Tugend  ganz  im  allgemeinen  können  hier  einander 
unbedenklich  substituiert  werden. 


[111,2,  360]  Tugendbegriff.  359 

Irdischen,  oder  wie  andere  es  anders  benennend  doch  immer  im 
wesentlichen  dasselbe  dabei  meinen,  \X^er  aber  eine  solche  Zwie- 
fältigkeit  im  Menschen  nicht  annähme,  der  könnte  zwar  wohl, 
wenn  er  einen  Menschen  mit  dem  andern  oder  einen  Augenblick 
mit  dem  andern  vergleicht,  Stärke  und  Schwäche  unterscheiden, 
oder  Vollkommenheit  und  Unvollkommenheit,  oder  sonstwie  Bes- 
seres und  Geringeres;  von  Tugend  und  Untugend  aber  im  Sinn 
unserer  Sprache  und  Sitte  könnte  er  eigentlich  nicht  reden.  Eben- 
so auch,  wer  beides  zwar  unterschiede  im  Gedanken,  meinte  aber, 
daß  beides  schon  von  Natur  immer,  und  zwar  entweder  in  allen 
auf  gleiche  Weise  vorhanden  und  vereinigt  wäre,  oder  wenigstens, 
daß  die  Verschiedenheit  des  Verhältnisses  nur  von  äußeren  Um- 
ständen abhinge  und  gar  nichts  Innerliches  sei,  auch  der  könnte 
nicht  von  Tugend  reden.  Sondern  der  Begriff  der  Tugend  setzt 
notwendig  voraus,  nicht  zwar,  daß  ein  Mensch  sein  könne  weder 
durch  das  Höhere  allein  ohne  das  Niedere,  noch  durch  das  Nie- 
dere allein  ohne  das  Höhere,  aber  doch,  daß  großer  Raum  sei  für 
Verschiedenheit  in  dem  Zusammensein  beider.  Und  nur  dasjenige 
Zusammensein  beider  ist  die  Tugend,  worin  das  Höhere  gebietet 
und  das  Niedere  gehorcht,  das  umgekehrte  aber  ist  das  Gegenteil. 
Ist  nun  dieses,  so  müssen  wir  jedes  Zusammensein  beider  ansehen 
als  zusammengesetzt  einmal  aus  ihrer  Zusammengehörigkeit,  und 
aus  ihrer  Verschiedenheit,  welche  in  bezug  auf  das  Gebieten  der 
einen  und  Gehorchen  der  andern  als  ein  Widerstand  aufgefaßt 
werden  muß.  Dieses  nun  gibt  uns  den  einen  Teilungsgrund,  und 
die  Tugend  wird  uns  zuvörderst  eine  zwiefältige,  inwiefern  sich 
in  der  Herrschaft  des  Höheren  über  das  Niedere  ausdrückt  die 
Zusammengehörigkeit,  und  inwiefern  sich  darin  ausdrückt  der 
Widerstand.  Ich  möchte  die  erste  nennen  die  belebende  Tugend, 
welche  ohne  diese  nicht  gesetzt  wäre,  die  andere  aber  die  bekämp- 
fende Tugend,  indem  durch  diese  der  Widerstand  bezwungen 
wird,  weil  sonst  ja  keine  Herrschaft  des  Höheren  über  das  Nie- 
dere sich  zeigen  könnte  im  Widerstände  des  letzteren.    Niemand 


360  Tugendbegriff.  [111,2,361] 

wird  diese  Verschiedenheit  leugnen  können;  denn  es  ist  eine  an- 
dere  Tätigkeit,    wodurch    unmittelbar   die    Zusammengehörigkeit 
sich  offenbart,  wenngleich  auch  mittelbar  dadurch  der  Widerstand 
gedämpft  wird,  und  eine  andere,  wodurch  unmittelbar  der  Wider- 
stand sich  verringert,  wenngleich  auch  in  ihr  sich  mittelbar  die  Zu- 
sammengehörigkeit offenbart.  Aber  die  Einheit  wird  nicht  aufge- 
hoben durch  diese  Verschiedenheit,  denn  in  beiden  ist  das  Herr- 
schen des  Höheren,  und  auch  in  einem  und  demselben  einzelnen 
Leben  werden  beide  nicht  können  getrennt  sein,  indem  die  bele- 
bende Tugend  nicht  ans  Licht  kommen  könnte,  ohne  die  bekämp- 
fende zu  üben,  und  diese  wiederum  nicht  geübt  werden,  ohne  die 
belebende  ans  Licht  zu  bringen.    Denn  setzten  wir  das  Höhere  im 
Menschen  tätig,  so  muß,  wenn  der  Widerstand  überwunden  ist,  die 
Angehörigkeit  des  Niederen  in  der  Erscheinung  frei  werden,  sonst 
wäre  nicht  nur  das  Element  des  Widerstandes  im  Niederen,  son- 
dern das  Niedere  selbst  vernichtet.   Doch  dieses  kann  erst  zur  An- 
schaulichkeit gebracht  werden,  wenn  wir  noch  den  andern  Tei- 
lungsgrund  der  Tugend  hinzunehmen.    Nämlich  wenn  wir  davon 
ausgehen,  daß  sie  die  sittliche  Kraft  sei  im  einzelnen  Leben:  so 
müssen  wir  auch  sehen,  was  das  einzelne  Leben  ist.    Dieses  nun 
steht,  indem  es  immer  nur  beziehungsweise  vereinzelt  ist  und  nie 
vollkommen,  mit  dem  Ganzen  in  einem  beziehungsweisen  Gegen- 
satz, der  sich  in  einer  stets  erneuerten  Wechselwirkung  offenbart, 
in  welcher  einmal  auf  das  einzelne  eingewirkt  wird  von  außen 
und  es  also  leidend  ist,  aber  als  Lebendes  nicht  ohne  Gegenwir- 
kung, was  wir  die  Empfänglichkeit  nennen,  das  anderemal  das 
einzelne  von  innen  etwas  nach  außen  wirkt,  was  wir  die  Selbst- 
tätigkeit nennen,  aber  weil  beschränkt  und  einzeln  auch  nicht  ohne 
Gegenwirkung  zu   erfahren,   welche  dann   dasselbe  Spiel  wieder 
von  neuem,  beginnt.    In  dem  Menschen  nun,  wie  auch  schon  das 
Niedere  in  ihm  das  Gepräge  an  sich  trägt,  ist  das  einzelne  Leben 
als  ein  bewußtes  und  sich  bewußt  werdendes  gegeben  und  er- 
scheint  demzufolge   wesentlich    in   zwei   Gestalten;    die   eine   ist 


[111,2,  362]  Tugendbegriff.  361 

das  bewußte  Insicheinbilden,  worin  die  Empfänglichkeit,  die  an- 
dere das  bewußte  aus  sich  heraus  in  die  Welt  Hinüberbilden, 
worin  die  Selbsttätigkeit  vorherrscht.  Das  erste  von  beiden  nen- 
nen wir  auch  das  Erkennen  oder  Vorstellen,  denn  auf  die  Unter- 
schiede dieser  Ausdrücke  kommt  es  hier  nicht  an,  das  andere  aber 
das  Handeln,  sei  es  nun  mehr  wirksam  oder  darstellend.  Ist  nun 
diese  Zwiefältigkeit  die  allgemeine  Form  aller  Lebenstätigkeit:  so 
folgt,  daß  auch  das  Geistige  und  Vernünftige  im  Menschen  nicht 
kann  das  Niedere  beherrschen  als  nur  in  eben  dieser  Form.  Und 
dieses  gibt  daher  eine  zweite  Einteilung  der  Tugend,  nämlich 
in  eine  vorstellende  und  darstellende.  Die  Verschiedenheit  beider 
wird  niemand  leugnen  können,  jeder  aber  auch  zugeben,  daß  die 
Einheit  dadurch  nicht  aufgehoben  wird;  denn  die  Herrschaft  des 
Höheren  über  das  Niedere  ist  in  beiden,  jedoch  eine  andere  in 
jedem.  Und  auch  in  demselben  einzelnen  Leben  werden  beide  nie- 
mals getrennt  sein.  Denn  die  vorstellende  oder  erkennende  Tu- 
gend wäre  nichts  als  ein  träumerisches,  sich  in  sich  verzehrendes 
Grübeln,  wenn  sie  nicht  in  Darstellung  überginge;  und  die  dar- 
stellende wäre  nichts  Menschliches,  geschweige  Sittliches,  wenn  sie 
nicht  auf  dem  Erkennen  beruhte.  Jedoch  können  in  jedem  Ein- 
zelnen beide  in  einem  andern  Verhältnis  stehen,  so  daß,  weil  ein 
größtes  im  Erkennen  verbunden  sein  kann  mit  einem  kleinsten  im 
Handeln  und  umgekehrt,  nicht  jede  auch  an  und  für  sich  das 
Maß  der  anderen  ist.  Wollte  aber  jemand  die  Verschiedenheit 
ganz  leugnen  und  sagen  z.  B.,  Denken  könne  nicht  sein  ohne 
Reden,  aber  dieses  sei  schon  ein  Aussichherausbilden,  und  kein 
Handeln  könne,  am  wenigsten  sittlich,  gedacht  werden,  welches 
nicht  beständig  auch  selbst  im  Denken  oder  Empfinden  sein  müßte: 
so  werde  ich  auch  das  noch  annehmen  können  und  nur  erwädern, 
daß  doch  in  umgekehrter  Ordnung  in  dem  einen  erfüllten  Augen- 
blick dieses  und  in  dem  andern  das  andere  Geschäft  das  Haupt- 
werk sei  und  die  Zugabe;  welches  zuzugeben  niemanden  zu  viel 
dünken   wird,   mir  aber  genug  ist.    Denn   nun   können  wir  das 


362  Tugendbegriff.  [111,2,  363] 

Netz' zuziehen  und  sagen,  daß  diese  beiden  Teilungsgründe  sich 
kreuzen,  und  daß  die  belebende  Tugend,  sofern  sie  vorzüglich  er- 
kennend ist,  die  Weisheit  heiße,  sofern  aber  aus  sich  heraus- 
bildend, heiße  sie  die  Liebe,  die  bekämpfende  Tugend  hingegen 
im  Insichhineinbilden  sei  die  Besonnenheit,  im  Handeln  aber  die 
Beharrlichkeit.  Außer  diesem  Netz  von  Tugenden,  wollen  wir 
sagen,  sei  keine  weiter  gesetzt,  sondern  jede  andere  müsse  bei  einer 
weiteren  Teilung  in  einer  unter  diesen  ihren  Ort  finden.  Über 
diese  vier  aber  und  die  ihnen  zugeteilten  Benennungen  will  ich, 
in  bezug  auf  das  obige,  noch  einige  Bemerkungen  hinzufügen. 
Zuerst  also  von  der  belebenden  erkennenden  Tugend,  welche 
ich  die  Weisheit  genannt.  Der  gewöhnliche  Begriff,  den  wir  mit 
diesem  Worte  verbinden,  ist  der,  daß  es  sei  die  Richtigkeit  in  der 
Bestimmung  der  Zwecke.  Diese  Erklärung  findet  sich  freilich 
größtenteils  in  Beziehung  gesetzt  mit  einer  verwandten  Erklä- 
rung der  Klugheit,  daß  diese  nämlich  sei  die  Richtigkeit  in  der 
Bestimmung  der  Mittel,  und  sofern  sie  gemacht  ist,  nur  um  die 
Unterscheidung  dieses  Begriffs  von  einem  anderen  durch  einen 
Gegensatz  zu  befestigen,  könnte  sie  schwerlich  auf  große  Berück- 
sichtigung Anspruch  machen.  Indes  ist  sie  sehr  verwandt  mit  den 
Erklärungen,  welche  in  dem  stoischen  System  der  Tugenden  vor- 
kommen, (pQovrjoig  imor^jfxf]  cov  noiriTEOv  xal  ov  xal  ovde- 
regojv,  besonders  wenn  man  noch  dazu  nimmt  rrjv  fxh  (pQÖvrj- 
oiv  tieqI  to.  xa&}']xovra  yiyveo^ai*).  Eben  dahin  führen  andere 
Erklärungen,  welche  geradezu  sagen,  die  q^QÖvijoig  sei  die 
Wissenschaft  des  Guten.  So,  daß  der  Frage  doch  nicht  auszu- 
weichen ist,  wie  sich  doch  der  Begriff,  den  wir  durch  das  Wort 
bezeichnen  wollen,  zu  dem  gewöhnlichen  Gebrauch  desselben  ver- 
halte? Offenbar  erscheint  der  gewöhnliche  weit  beschränkter,  in- 
dem man  Zweckbegriffe  nur  auf  im  engeren  Sinne  sogenannte 
Handlungen  zu  beziehen  pflegt,  in  unserm  Begriff  aber  alles  lie- 


^)  Stob.  Lib.  II.  ecp.  VII.  p.  102  und  104  Ed.  Har. 


[111,2,  364]  Tugendbegriff.  363 

gen  muß,  wodurch  sich  im  Bewußtsein  das  Belebtsein  des  nie- 
deren Vermögens  im  Menschen  durch  das  höhere  beweiset.  Ver- 
gleichen wir  zum  Beispiel  denjenigen  Zustand  des  erfüllten 
menschlichen  Bewußtseins,  in  welchem  es  dem  tierischen  am  näch- 
sten kommt,  wie  wir  ihn  nicht  etwa  nur  bei  noch  unentwickelten 
Organen  in  der  Kindheit,  sondern  auch  bei  rohen  Menschen  im 
Zustand  der  organischen  Reife  finden,  mit  demjenigen  in  welchem, 
mehr  oder  weniger  entwickelt,  die  Anlage  zur  Wissenschaft  sich 
offenbart:  so  werden  wir  sagen  müssen,  dieses  sei  aus  der  bele- 
benden Tätigkeit  des  Höheren  entstanden  und  jenes  aus  dessen 
Untätigkeit;  kurz,  wo  und  in  welchem  Maß  wir  in  der  vor- 
stellenden Tätigkeit  den  Vernunftgehalt  finden,  da,  sagen  wir, 
walte  das,  was  wir  Gewißheit  nennen,  wogegen  jene  Erklärun- 
gen vorzüglich  vorkommen  in  Verbindung  mit  einer  Unterschei- 
dung zwischen  sogenannten  Verstandestugenden  und  eigentlich 
sittlichen,  so  daß  wenigstens  der  Umfang  des  Begriffes  ein  ganz 
anderer  zu  sein  scheint.  Allein  wenn  wir  die  vorstellende  Tätig- 
keit nicht  als  einen  bloß  leidendlichen  Zustand  denken  wollen,  was 
sie  doch  gewiß,  wenigstens  überall  wo  Forschung  und  Unter- 
suchung ist,  nicht  sein  kann,  so  müssen  wir  doch  gestehen,  daß  in 
diesen  erstgenannten  Fällen  wenigstens,  ihr  wie  ein  Wollen  so  auch 
ein  Zweck  zum  Grunde  liegt:  und  daß,  zumal  auch  Forschen  und 
Untersuchen  muß  als  Pflicht  eingesehen  werden,  und  auch  kein 
anderer  sittlicher  Zweck  ohne  Forschen  und  Untersuchung  richtig 
kann  bestimmt  werden,  kein  Grund  abzusehen  ist,  warum  die  Be- 
stimmung dieser  Zwecke  nicht  im  Gebiet  derselbigen  Weisheit  lie- 
gen solle;  und  es  liegt  also  unserer  Bezeichnung  in  der  Tat 
auch  derselbe  Sprachgebrauch  zum  Grunde,  nur  allerdings  in  einem 
weiteren  Umfange,  bei  welchem  aber  auch  allein  sowohl  eine 
vollständigere  Zusammenstellung,  als  auch  eine  gesundere  Tei- 
lung möglich  wird.  Dieser  Umfang  unseres  Begriffs  scheint  sich 
aber  noch  mehr  zu  erweitern,  wenn  wir  bedenken,  daß  erstlich, 
was  der  Wissenschaft  recht  ist,  auch  der  Kunst  billig  sein  muß, 


364  Tugendbegriff.  1111,2,365] 


und  also  auch  das  Entwerfen  aller  wahren  und  echten  Kunst- 
werke ebensogut  als  das  der  eigentlichen  Handlungen  in  das 
Gebiet  der  Weisheit  fällt;  zweitens  aber  auch  das  Gefühlsver- 
mögen dem  Bewußtsein  angehört,  und  auch  hier  jene  zwiefachen 
Erscheinungen  stattfinden,  welche  die  Belebung  des  Niederen 
durch  das  Höhere  aussprechen  und  welche  sie  verbergen,  und  so 
würde  auch  hier  auf  Seiten  des  Gefühls  ebenso  wie  auf  selten 
des  Verstandes  die  Weisheit  walten.  Auch  dieses  leugne  ich 
nicht  ab,  daß  sich  die  "Weisheit  auch  hierher  erstrecken  müsse;  nur 
scheint  mir  auch  dies  ebenfalls  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch, 
wenn  er  sich  selbst  recht  versteht,  vollkommen  angemessen.  Denn 
wer  sagt  nicht,  es  sei  gerade  der  weise  Mann,  dem  es  nicht  ge- 
zieme, sich  von  einem  sinnlichen  Schmerz  überwältigen  zu  lassen. 
Dies  ist  ja  die  gemeine  Rede  aller  von  dem  ältesten  Philosophen 
an  bis  zu  dem  neuesten  Weltmanne,  so  Gott  will.  Wenn  ich 
aber  weiter  frage,  ist  denn  das  der  weise  Mann,  welcher  das 
sinnliche  Gefühl  erst  gewaltig  werden  läßt  und  es  dann  mäßigt? 
so  wird  wohl  auch  die  allgemeine  Antwort  sein,  daß,  wiefern  ein 
solcher  zu  loben  sei,  er  wohl  wegen  einer  andern  Tugend,  etwa 
der  Mäßigung,  gelobt  werden  möge,  der  Weise  aber  sei  er  nicht. 
Und  so  wird  wohl  der  Weise  nur  der  sein  können,  in  welchem 
das  Gefühl  von  Anfang  herein  nicht  etwa  gemäßigt  erscheint, 
sondern  ganz  anders  konstruiert  ist,  so  nämlich,  daß  das  Sinn- 
liche gleich  in  seinem  Entstehen  von  einem  Höheren  belebt,  ein 
Sittliches  werde,  und  was  sich  im  Leben  als  ein  voller  Moment, 
als  die  Einheit  des  geistigen  Pulsschlages  absondern  läßt,  nie- 
mals durch  ein  Sinnliches  allein  erfüllt  sei.  Wie  nun  die  Abweichung 
des  gewöhnlichen  Sprachgebrauchs  darin  gegründet  ist,  daß  er 
das  sittliche  Gebiet  überhaupt  zu  eng  auffaßt,  dies  wird  sich  am 
besten  von  selbst  zeigen,  wenn  wir  ähnliches  auch  in  den  andern 
Tugenden  finden.  Wie  aber  die  Teilung  des  so  erweiterten  Be- 
griffs anzugeben  sei,  um  die  verschiedenen  Unterarten  oder  Ge- 
staltungen der  Weisheit  zusammenhängend  und  vollständig  dar- 


[111,2,  366]  Tugendbegriff.  365 

zustellen,  dies  liegt  jenseits  der  Grenzen  unserer  Untersuchung. 
Ich  wende  daher  um,  in  der  Absicht,  nachdem  so  der  Umfang  des 
Begriffs  der  Weisheit,  soweit  es  sich  durch  Hervorhebung  weni- 
ger Punkte  tun  ließ,  ins  Licht  gesetzt  ist,  auch  das  Verhältnis 
desselben  zu  dem  verwandten  Gebiet  der  Besonnenheit  zu  bestim- 
men. —  Hier  aber  muß  ich  zuerst  einem  Mißverständnisse,  wel- 
ches leicht  entstehen  könnte,  vorbeugen.  Man  mag  nämlich  auf 
die  Art  sehen,  wie  die  Weisheit  sich  in  dem  eigentlich  sogenann- 
ten sittlichen  Handeln  äußert,  oder  auf  ihre  Äußerung  im  Ge- 
fühl oder  im  Vorstellen:  so  erscheint  sie  nach  dem  obigen  sowohl 
im  einzelnen  Menschen,  als  in  den  größeren  Teilen  des  mensch- 
hchen  Geschlechtes,  als  ein  wachsendes  und  allmählich  sich  aus- 
bildendes; und  es  könnte  also  leicht  einer  sagen,  in  diesem  Wach- 
sen muß  sie  einen  Widerstand  überwunden  haben,  sonst  würde 
sie  ja  ursprünglich  oder  plötzlich  gewesen  sein,  was  sie  erst  gewor- 
den ist  und  noch  wird,  und  also  erscheint  sie  selbst  überall,  wo 
sie  ist,  als  eine  bekämpfende  Tugend,  und  der  aufgestellte  Unter- 
schied zwischen  dieser  und  der  belebenden,  also  der  Weisheit  und 
Besonnenheit,  ist  nichtig.  Allein  hierauf  erwidere  ich,  daß  ich 
das  Wort  gern  schenken  will,  wenn  jemand  behauptet,  alles 
Werden  und  Wachsen,  wenn  man  es  auf  eine  Kraft  zurückführe, 
setze  eine  Hemmung  derselben  und  also  einen  Widerstand  vor- 
aus; denn  der  Streit,  der  hierüber  zu  führen  wäre,  liegt  wenig- 
stens nicht  auf  unserm  Gebiet,  sondern  einem  weit  höheren.  Aber 
dieser  Widerstand,  welcher  die  Form  alles  Werdens  ist,  wenn  er 
so  heißen  soll,  ist  wenigstens  nicht  derselbe,  auf  welchen  sich  die 
bekämpfende  Tugend  in  ihrem  Gegensatz  gegen  die  belebende  be- 
zieht. Denn  nicht  nur  das  niedere  Vermögen  des  Menschen  ist 
ein  werdendes  und  wachsendes,  sondern  der  ganze  Mensch,  und 
so  auch  das  ganze  Volk,  und  was  man  sonst  will,  entwickelt  sich 
aus  der  Bewußtlosigkeit,  als  gleichsam  dem  relativen  Nichts,  in 
das  Bewußtsein,  und  das  Zunehmen  der  Weisheit  beruht  nur 
auf  dieser  Entwicklung  der  höheren  belebenden  Kraft  selbst,  nicht 


366  Tugendbegriff.  [111,2,  367] 


aber  auf  einem  überwundenen  Widerstände  der  schon  entwickelten 
niederen.  Wie  denn  aucii  in  der  Umgestaltung  aller  sittlichen 
Verhältnisse  durch  vollkommnere  Zweckbegriffe  das  spätere  Wei- 
sere sich  zu  dem  früheren  nicht  sowohl  als  Zerstörung  desselben 
verhält,  als  vielmehr  als  Entfaltung,  Entdeckung  der  vorher  ver- 
kannten oder  verborgenen  tiefern  Bedeutung.  Und  so  bleibt  von 
dieser  Seite  die  Weisheit  in  ihrer  Trennung  von  der  Besonnen- 
heit wohl  unangefochten  stehen.  Allein  von  einer  andern  Seite 
erscheint  es  schwieriger,  beide  getrennt  zu  erhalten.  Wenn  wir 
nämlich  davon  ausgehen,  daß  in  allem,  was  Einbilden  in  das 
Bewußtsein  ist,  die  Entwerfung  der  Zweckbegriffe,  oder  wo  sich 
dieses  Wort  nicht  in  seinem  eigentlichen  Sinne  brauchen  läßt, 
die  Typen  des  Handelns  der  Weisheit  zukommen:  so  kann  auf 
demselben  Gebiet  die  Besonnenheit  nirgend  anders  sein  als  in 
der  Ausführung,  und  man  könnte  auch  beide  unterscheiden  als 
die  entwerfende  Tugend  und  die  ausführende,  und  es  ist  auch 
ganz  natürlich,  daß  der  Kampf,  durch  welchen  die  andere  Tu- 
gend bezeichnet  ist,  auf  diesem  Gebiete  überall  sein  müsse  in  der 
Ausführung,  in  welcher  sich  teils  andere  Vorstellungen  zwischen 
eindringen  können,  teils  die  Trägheit  und  Unbeholfenheit  des 
vorstellenden  Organs  kann  zu  bekämpfen  sein.  Aber  um  Ent- 
wurf und  Ausführung  zu  scheiden,  komme  alles  darauf  an,  wie 
man  die  Einheit  der  Handlung  bestimme,  was  man  als  Teil 
und  was  als  Ganzes  ansehe,  welches  auf  die  verschiedenste  Weise 
geschehen  könne,  so  daß  dadurch  die  aufgestellte  Unterscheidung 
der  belebenden  und  bekämpfenden  Tugend  unmöglich  wird.  Diese 
Schwierigkeit  ist  nicht  abzuleugnen;  aber  sie  trifft  ebensogut 
den  gewöhnlichen  Unterschied  zwischen  Weisheit  und  Klugheit, 
wie  er  sich  auf  Zweck  und  Mittel  bezieht,  und  ist  überhaupt  wohl 
überall,  wo  Tugenden  getrennt  werden  sollen,  erst  zu  überwin- 
den. Wenn  z.  B.  auch  alle  übereinstimmen,  daß  es  die  Weis- 
heit sei,  vyelche  den  Entwurf  zu  einem  Feldzuge  hervorbringt; 
es  tritt  aber  hernach  irgendein  Umstand  ein,  der  eine  Bewegung 


[111,2,  368]  Tugendbegriff.  367 

erfordert,  welche  in  der  ursprünglichen  Idee  nicht  lag,  und  der 
Feldherr  hat  nun  oder  hat  nicht  die  Geistesgegenwart  diese  Be- 
wegung zu  erfinden,  gehört  dieses  zur  Weisheit  oder  zu  einer 
andern  Tugend,  mag  man  nun  sagen  zur  Klugheit,  wenn  man 
die  Bewegung  als  Mittel  ansieht,  jenen  Umstand  unschädlich  zu 
machen,  oder  zur  Besonnenheit,  wenn  man  sie  als  einen  Teil 
der  Ausführung  ansieht.  Offenbar  kann  man  das  letzte  sagen, 
aber  ebenso  auch  das  erste,  und  diese  Geistesgegenwart  der  Weis- 
heit zuschreiben,  wie  auch  die  Alten  ihre  äy^ivoia  unter  ihre 
qpQovyjoig  stellten,  wenn  man  nämlich  diese  Bewegung  als  eine 
eigene  im  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen  entworfene  Handlung 
ansieht,  deren  Begriff  ja  wieder  von  ihrer  Ausführung  verschie- 
den ist,  und  vor  derselben  hergeht.  Aber  ebenso  könnte  man 
auch  rückwärts  gehend  sagen,  die  Entwerfung  des  Feldzuges  selbst 
sei  schon  zur  Ausführung  gehörig,  und  die  Weisheit  sei  hier  nur 
in  dem  Herrscher,  der  den  Krieg  im  Zusammenhange  mit  einer 
reinen  und  richtigen  Idee  von  dem  Wohl  des  Ganzen  beschließt. 
Ja  noch  mehr,  auch  schon  den  Beschluß  des  Krieges,  wie  er 
denn  wirklich  besonnener  oder  unbesonnener  auch  schon  dem  ge- 
meinen Sprachgebrauch  nach  kann  gefaßt  werden,  könnte  man 
nur  zur  Ausführung  rechnen,  und  nur  die  bestimmte  und  alles 
beherrschende  Vorstellung  von  der  Stufe  der  Selbständigkeit, 
welche  der  Staat  unter  seinesgleichen  einnehmen  muß,  als  das 
Werk  der  größeren  oder  geringeren  Weisheit  ansehen.  Und  eben 
dasselbe  ließe  sich  mit  leichter  Mühe  auch  auf  jedem  andern  Ge- 
biet nachweisen.  Soweit  nun  hat  dieses  seine  Richtigkeit,  daß 
jede  hierher  gehörige  Handlung  der  Weisheit  sowohl  zugeschrie- 
ben werden  kann  als  der  Besonnenheit,  dieser  sofern  noch  eine 
größere  Handlung  über  der  bezeichneten  ist,  als  deren  Teil  sie  an- 
gesehen werden  kann,  jenes  sofern  noch  kleinere  unter  ihr  stehen. 
Aber  ebenso  gewiß  ist  auch,  daß  nicht  dieselbe  Ansicht  der  Sache 
zum  Grunde  Hegt,  wenn  man  das  eine  und  wenn  man  das  andere 
tut.    Denn  die  eine  läuft  darauf  hinaus,  daß  durch  eine  einzige 


3Ö8  Tugendbegriff.  [111,2,  369] 

Tat,  in  welcher  sich  gleichsam  das  höhere  erkennende  Vermögen 
seines  niederen  Organs  bemächtiget,  auch  das  ganze  Bewußtsein 
des  Menschen  von  seiner  Stellung  in  der  Welt,  mithin  sein  gan- 
zes Leben,  in  der  Idee  völlig  bestimmt  sei,  und  es  nur  noch  auf 
diejenige   Tätigkeit  ankomme,   welche  wir   der   kämpfenden   Tu- 
gend beigelegt  haben.    Die  andere   Ansicht  geht  darauf  hinaus, 
daß   es  keine   Unterordnung  von  Teilen  in  den  sittlichen  Tätig- 
keiten gebe,  sondern  jeder  einzelne  Moment  auf  einem  gleich  ur- 
sprünglichen Impuls  des  höheren  Vermögens  beruhe.    Wer  nun 
behauptet,  Weisheit  und  Besonnenheit  sei  nicht  zweierlei,  sondern 
eins,  der  sagt  eigentlich,  daß  diese  beiden  Ansichten  gleiche  Wahr- 
heit hätten,  und  man  eine  der  andern  substituieren  könne.   Allein 
dieses  möchte  wohl   nur  wahr  sein,  wenn   wir  uns  den  Weisen 
nach  Art  der  Alten  denken,  der  es  eigentlich  auch  nicht  geworden 
sein  kann,  sondern  immer  gewesen  sein  muß;  von  diesem  möchte 
kein   Grund  sein,   mehr  das   eine  zu  behaupten   als  das   andere, 
,    sondern  wir  möchten  ebensogut  sagen  können,  sein  ganzes  Leben 
j    sei  aus  dem   einen  Guß  einer  transzendenten  Tat,  und  auch,  es 
sei  die  in  jedem  Moment  sich  erneuende  ursprüngliche  Durchdrin- 
gung, vermöge  deren  nichts  in  dem  geistigen  Organismus  Erschei- 
nendes genauer  unter  sich  zusammenhänge,  als  jedes  von  einem 
besonderen  Impuls  abhängt.    Dem  erscheinenden  Menschen  aber 
ist  nur  gegeben,   sich  dieser  Formel  anzunähern,  und  also  muß 
auch  in  der  Tugend  unterschieden  werden,  was  wir  die  Weisheit 
und    was    wir    die   Besonnenheit   genannt   haben,   nur   daß   von 
jeder  einzelnen  Tatsache  streng  genommen    kein  anderer  als  der, 
dessen  innerem  Bewußtsein  sie  vorliegt,  entscheiden  kann,  ob  sie 
aus  der  Idee  der  Weisheit  oder  der  Besonnenheit  zu  beurteilen 
sei.    Niemand  wird  zum  Beispiel  leugnen,  daß  das  Wissenwollen 
ein   Erzeugnis   der  Wahrheit  sei;  wenn  wir  aber  nun  in   einzel- 
nen auf  diese  Richtung  Bezug  habenden  Handlungen  eines  Men- 
schen eine  Verworrenheit  bemerken,  die  in  dem  Streben  nach  Wis- 
sen nicht  aufgeht,  so  wird  nur  das  eigene  Gewissen  des  Han- 


[111,2,  370]  Tugendbegriff.  369 

delnden,  wenn  er  über  seiner  einzelnen  Handlung  steht,  entschei- 
den können,  ob  er  zwar  die  Idee  seines  Verfahrens  unrichtig 
aufgefaßt,  diese  aber  hernach  mit  aller  Besonnenheit  und  Beharr- 
lichkeit verwirklicht  habe,  oder  ob  er  vielmehr  nach  einem  rich- 
tigen Begriffe  zwar  verfahren  sei,  aber  hernach  in  der  Ausfüh- 
rung nicht  die  gehörige  Gewalt  gehabt  habe  über  zerstreuende 
Vorstellungen. 

Unter  der  Besonnenheit  also  verstehen  wir  die  den  Wider- 
stand des  niedern  Vermögens  überwindende  Verwirklichung  und 
vollkommene  Einbildung  alles  dessen  in  das  Bewußtsein,  wozu 
der  lebendige  Keim  in  der  belebenden  Tätigkeit  des  höheren  lag. 
Auch  durch  diese  Erklärung  wird  dem  Worte  ein  weiteres  Ge- 
biet beigelegt  als  der  hellenischen  oaxpgoovv)],  welche  ich  jedoch 
selbst  immer  durch  Besonnenheit  übertragen  habe.  Allein  die  Man- 
nigfaltigkeit der  hellenischen  Erklärungen,  und  wenn  man  in  dem 
stoischen  System  die  der  ococpQoovvr]  untergeordneten  Tugenden 
betrachtet,  wie  die  erste  evia^ia  noch  zur  Weisheit  zu  gehören 
scheint,  und  die  letzte  syKQfkeia  kaum  mehr  von  den  zur  Tapfer- 
keit gehörigen  unterschieden  werden  kann,  wenn  man  nämlich 
mehr  auf  die  Erklärung  als  auf  den  Namen  sieht,  ja  schon  die 
Verlegenheit,  in  der  man  sich  befindet,  wenn  man  eine  ejiiarijjur] 
aloeröjv  xai  (pevxTcov  von  einer  Eniorrj f^ir]  lov  jioirjTEOv  xal  ov 
auf  der  einen  Seite  unterscheiden,  und  auf  der  andern  eine 
EmoTYjfxr]  Ton>  deivwv  xal  ov  nicht  darunter  subsumieren  soll, 
dies  zusammen  zeigt  deutlich  genug,  daß  dieser  Begriff  zu  denen 
gehört,  welche  dort  am  wenigsten  sind  bestimmt  worden.  Blei- 
ben wir  aber  bei  dem  gewöhnlichen  Gebrauch  unseres  Wortes 
stehen:  so  wird  der  Besonnenheit  am  meisten  entgegengesetzt  die 
Zerstreuung  auf  der  einen  Seite  und  die  Übereilung  auf  der 
andern,  woraus  man  wohl  sieht,  es  soll  alles  abgehalten  werden, 
was  den  zur  Ausführung  einer  Handlung  nötigen  Zusammen- 
hang des  Bewußtseins  stört;  und  inwiefern  sich  Fremdes,  diesen 
Zusammenhang  Störendes  eindrängen  will,  ist  dies  allerdings  die 

Schleiermacher,  Werke.     I.  24 


370  Tugendbegriff.  [111,2,371] 

kämpfende  Tugend  im  Bewußtsein.  Aber  auch  dem  schreiben  wir 
einen  Mangel  an  Besonnenheit  zu,  welchem  das  zur  Vollbrin- 
gung einer  Handlung  Nötige  nicht  einfällt,  dann,  wann  es  ihm 
einfallen  sollte.  Oder  wenigstens  wird  wohl  jeder  zugeben,  daß 
die  Geistesgegenwart  nach  unserm  Sprachgebrauch  der  Besonnen- 
heit gar  sehr  verwandt  sei,  und  daß,  wenn  man  sie  in  das  Sy- 
stem der  Tugenden  einschalten  soll,  und  der  Begriff  der  Beson- 
nenheit schon  gegeben  ist,  man  ihr  weder  Aeben  dieser  einen  be- 
sonderen Platz  würde  anweisen,  noch  weniger  aber  sie  einer  an- 
dern Tugend  unterordnen  wollen.  Sollen  wir  nun  auch  die 
Geistesgegenwart  unter  den  Begriff  der  kämpfenden  Tugend  brin- 
gen, so  w  erden  wir  sagen  müssen,  sie  sei  der  Sieg  über  die  Träg- 
heit und  Ungeübtheit  des  Organismus  der  Vorstellungen,  und 
wir  sind  ja  schon  überall  gewohnt,  auch  die  Trägheit  als  Wider- 
stand anzusehen.  Indem  wir  aber  der  Besonnenheit  auch  die 
Übereilung  entgegensetzen,  die  doch  größtenteils  aus  einem  über- 
strömenden Gefühle  entspringt:  so  sehen  wir,  wie  leicht  sich  der 
Sprachgebrauch  dem  ganzen  Umfange  hergibt,  in  welchem  wir 
den  Begriff  nehmen  müssen,  indem  ja  allerdings  jede  Erregung 
des  Gefühls  auch  ein  Insichhineinbilden  ist,  wie  die  Konstruktion 
des  Gedankens,  und  wie  also  auch  die  Besonnenheit  auf  ihre  Weise 
zugleich  über  das  Gefühl  gebieten  muß,  wie  die  Weisheit  auf 
die  ihrige.  Aber  je  mehr  uns  der  Begriff  auf  diese  Weise  fest 
geworden  scheint,  um  so  schwieriger  will  es  auch  uns  werden, 
ihn  von  dem  verwandten  der  Beharrlichkeit  zu  trennen,  schon 
gleich,  wenn  wir  mit  der  Bemerkung  anfangen,  daß  ja  doch  die 
Furcht,  welche  am  meisten  die  Beharrlichkeit  zu  hindern  pflegt, 
auch  ein  Gefühl  sei,  und  also  dessen  Besiegung  der  Besonnenheit 
anheim  falle;  und  es  will  mit  den  beiden  Gliedern  der  kämpfen- 
den Tugend  ebenso  gehen,  wie  mit  denen  der  erkennenden.  Denn 
auch  hier  kann  einer  sagen,  das  Wesen  eurer  kämpfenden  Tu- 
gend ist  doch  immer  nur  die  Stärke  des  Willens;  was  ihr  aber 
darin  unterscheiden  wollt,  ob  sie  sich  zeige  in  dem  Insichhinein- 


[111,2,372]  Tugendbegriff.  371 

bilden  durch  das  Bewußtsein,  oder  in  dem  Aussichherausbilden 
durch  die  Tat  und  das  Werk,  so  daß,  wenn  das  erste  ohne  Stö- 
rung vollendet  ist,  ihr  dies  der  Besonnenheit,  wenn  aber  das  letzte, 
ihr  es  der  Beharrlichkeit  zuschreiben  wollt,  das  ist  kein  Unter- 
schied in  der  Sache.  Sondern  alles  in  dem  Menschen,  jede  Lebens- 
äußerung, auch  was  in  seinem  Bewußtsein  vorgeht,  ist  doch 
immer  Tat,  ist  Heraustreten  seines  inneren  verborgenen  Lebens 
in  das  Gebiet  der  Erscheinung  und  der  gemeinsamen  Welt,  und 
ebenso  ist  alles  Aussichherausbilden  in  Wort  und  Tat  doch 
nichts  anders  als  Bewußtsein,  Insichhineinbilden  der  äußerlich 
dargestellten  Idee  selbst.  Denn  jeder  Zweckbegriff  ist  an  sich  noch 
unbestimmt  und  dunkel,  und  die  zur  Ausführung  begeisternde 
Kraft  desselben  ist  nichts  anders  als  das  Streben,  jene  Unbe- 
stimmtheit und  Dunkelheit  zur  Klarheit  und  Vollendung  zu  brin- 
gen. Aber  auch  hier  werden  wir  dieselbe  Antwort  haben  wie  oben, 
daß  dem  vollkommenen  Weisen  zwar  alles  immer  gleich  geraten 
werde,  und  es  eben  wegen  der  überall  gleichmäßigen  Vollkom- 
menheit keinen  Unterschied  mache,  ob  man  alles  als  Beharrlich- 
keit oder  alles  als  Besonnenheit  ansehe,  aber  nur  deshalb,  weil 
dieser  vollkommene  Weise  eben  gegen  keine  von  beiden  je  fehlen 
wird,  jeder  andere  aber  wisse  gar  wohl,  daß  seine  Besonnenheit 
nicht  das  Maß  seiner  Beharrlichkeit  sei  und  umgekehrt,  und  daß 
daher  auch  beide  nicht  dasselbe  sein  könnten.  Denn,  um  es  da 
zu  betrachten,  wo  es,  weil  auf  dasselbe  sich  beziehend,  am  besten 
verglichen  werden  kann,  es  kann  mancher  stark  darin  sein,  jeden 
Gedanken  eines  Werkes  oder  einer  Tat  durch  Besonnenheit  wohl 
auszutragen  in  seiner  Seele  und  zu  nähren,  aber  schwach  darin, 
daß  er  das  Werk  im  Stich  läßt,  wenn  es  nicht  unangefochten 
und  ungehindert  zu  Ende  gehen  will,  und  umgekehrt.  Und  so 
unterscheidet  auch  jeder,  dem  sich  sein  Bewußtsein  verwirrt 
in  der  Entwicklung,  ob  dieses  geschieht  aus  vorbildender  Furcht 
oder  ersterbender  Teilnahme  an  dem  Gegenstande,  und  was 
sonst    der    Beharrlichkeit    feind    ist,    oder    ob    es    geschieht    aus 


372  Tugendbegriff.  [111,2,  373] 

Unvermögen  oder  Ungehorsam  der  vorstellenden  Verrichtung 
selbst. 

Nach  diesem  nun,  glaube  ich,  wird  nicht  nötig  sein,  von  der 
Beharrlichkeit,  sofern  sie  als  das  andere  Glied  der  kämpfenden 
Tugend  mit  der  Besonnenheit  zusammenhängt,  noch  besonders  zu 
handeln.  Denn  es  wird  von  selbst  deutlich  sein,  wie  sie  die  grie- 
chische dvÖQia  in  sich  schließt,  und  auch  hier  bei  den  vielen  sehr 
sinnverwandten  Wörtern,  deren  wir  in  unsrer  Sprache  uns  be- 
dienen, wird  sich  von  selbst  rechtfertigen,  daß  gerade  dieses  Wort, 
Beharrlichkeit  lieber  als  Tapferkeit,  zur  allgemeinen  wissenschaft- 
lichen Bezeichnung  gebraucht  wird.  Nur  über  die  kämpfende  Tu- 
gend überhaupt  möchten  wir  die  alte  Frage  nicht  ganz  vorbei- 
gehen können,  ob  die  Besonnenheit  und  Beharrlichkeit  der  Bösen 
denn  auch  könne  Tugend  genannt  werden.  Auf  diese  alte  Frage 
kann  aber  immer  nur  die  alte  Antwort  wiederholt  werden,  daß 
kein  Böser  als  solcher  weder  tapfer  noch  besonnen  sein,  noch 
irgendeine  andere  einzelne  Tugend  haben  könne.  Sondern  Be- 
sonnenheit und  Beharrlichkeit  sind  nur,  was  sie  sind,  in  ihrem 
Zusammenhange  mit  der  Weisheit  und  mit  der  Liebe;  und  wird 
ein  Böser  gut,  so  brächte  er  keineswegs  das,  was  man  fälschlich 
seine  Besonnenheit  oder  Beharrlichkeit  nannte,  in  den  Dienst  der 
Liebe  und  Weisheit  mit,  sondern  diese  Geschicklichkeiten  und  Fer- 
tigkeiten, die  er  im  Bösen  gehabt,  würden  ihn  sogleich  im  Stich 
lassen,  und  er  müßte  auf  dem  Gebiete  des  Guten  als  ein  Neu- 
ling und  also  als  ein  leicht  Verwirrbarer  und  Schwachmütiger 
von  vorn  anfangen,  und  sich  unsere  Besonnenheit  und  Beharr- 
lichkeit  erst   erwerben. 

Wie  aber  die  Beharrlichkeit,  als  das  kämpfende  Glied  der 
bildenden  Tugend,  sich  verhalte  zu  der  Liebe,  als  dem  belebenden 
Gliede  derselben,  das  wird  am  besten  erhellen,  wenn  wir  nur  erst 
deutlich  machen,  weshalb  wir  denn  die  ganze  bildende  Seite  der 
belebenden  Tugend  am  besten  glauben  Liebe  zu  nennen.  Hierbei 
mag  wohl  das  erste,  was  jedem  auffällt,  dieses  sein,  daß  unsere 


[111,2, 374  J  Tugendbegriff.  373 

andern  drei  Glieder  ziemlich  schienen  mit  den  andern  drei  helle- 
nischen Haupttugenden  zusammen  zu  treffen,  hier  aber  an   die 
Stelle   der    dixatoovvr]    etwas  ganz   anderes  tritt,    die   Gerechtig- 
keit dagegen  ganz  zu  verschwinden  scheint.    Verschwinden  nun 
soll  sie  nicht,  sondern  was  wir  Gerechtigkeit  nennen,  das  soll  in 
dem  Umfange  der  Liebe  eine  untergeordnete  Stelle  einnehmen, 
als  diejenige  besondere  Äußerung  der  Liebe,  welche  ein  schon  be- 
stehendes Bildungsgesetz  in  jedem  vorkommenden  Fall  im  einzel- 
nen darstellt.    Ist  nun  dieses  die  richtige  Erklärung  unseres  Wor- 
tes, wie  es  gewöhnlich  bei  uns  gebraucht  wird:  so  sieht  man, 
es  kann,  wird  nur  auf  einen  höheren  Gesichtspunkt  zurückgegan- 
gen, alle  Gerechtigkeit  auch  unter  die  Beharrlichkeit  gebracht  wer- 
den.    Die   dixaioovvY}   der   Griechen   ist  aber   mehr   als  was  wir 
Gerechtigkeit  zu  nennen  befugt  sind,  weil  sie  diejenige  Tugend  ist, 
durch  welche  das  Bildungsgesetz  selbst,  welches  hier  das  Recht 
heißt,  festgestellt  wird.    Wenn  wir  aber  uns  fragen,  wie  nennen 
denn  wir  die  Kraft,  welche  überall  das   Recht  hervorbringt:  so 
werden  wir  nicht  sagen  dürfen,  die  Gerechtigkeit,  weil  alles  erst 
gerecht  wird  unter  Voraussetzung  eines  Rechtes,  sondern  wir  wer- 
den sagen  müssen,  daß  überall  die  Liebe  das  Recht  hervorbringt, 
so  wie  überall,  wo  die  Liebe  aufhört,  auch  das  Recht  verloren 
geht,  und  in  demselben  Maß  ein  Zustand  der  Rechtlosigkeit  ein- 
tritt.   Dabei  aber  will  ich  nicht  sagen,  daß,  was  ich  Liebe  nenne, 
dasselbe  sei   mit  der  dixaioovvr]  der  Hellenen.     Der  Unterschied 
beruht  aber  darauf,  daß  bei  den  Hellenen  das  bürgerüche  Leben 
alles   war.    Auch    das   häusliche   Leben   wurde   ausschließend   in 
Beziehung  auf  dasselbe  gedacht  und  behandelt,  und  die  bürger- 
liche  Liebe    ist    freilich    nichts    anders    als   die  wohlverstandene 
dixaioovvr]  der  Hellenen.     Bei  uns  aber  ist  der  Staat  nicht  mehr 
das   alles  in   sich   Begreifende,   und  kann  uns  nicht  ebenso  wie 
ihnen  der  Typus  aller  Gemeinschaft  auf  so  ausschließende  Weise 
sein,   daß   wir,   wie  sie   es   tun,   selbst  die   Ehrfurcht  gegen  das 
höchste  Wesen  die  Gerechtigkeit  gegen  dasselbe  nennen  möchten. 


374  Tugendbegriff.  [111,2,  375] 

Eine  allgemeinere  Bezeichnung  aber  haben  wir  nicht  für  das  Be- 
streben, Gemeinschaft  hervorzubringen  als  Liebe.  Alle  Gemein- 
schaft aber,  welche  von  dem  höheren  geistigen  Vermögen  des  Men- 
schen ausgeht,  ist  Darstellung  und  Bildung,  und  deshalb  ist  Liebe 
die  rechte  Bezeichnung  für  alle  darstellende  und  bildende  Tugend, 
sofern  nicht  vorzüglich  das  Meßbare  derselben  in  der  Ausübung, 
welches  eben  die  Beharrlichkeit  ist,  sondern  vielmehr  ihr  inneres 
Wesen  ausgedrückt  werden  soll.  Denn  das  höhere  Geistige  des 
Menschen  kann  nur  in  Gemeinschaft  treten  entweder  erstlich  mit 
sich  selbst  in  andern  —  welches  aber  nur  möglich  ist  durch  Selbst- 
darstellung und  Offenbarung,  so  wie  diese  keinen  andern  Zweck 
haben  kann,  als  jene  Gemeinschaft  —  oder  zweitens  mit  dem  nie- 
deren menschlichen  Vermögen  in  sich  selbst  und  andern;  aber  diese 
Gemeinschaft  kann  nichts  anders  sein,  als  Anbildung,  und  dies  ist 
eben  die  erziehende  Liebe;  oder  endlich  drittens  kann  auch  das 
höhere  und  geistige  Vermögen  des  Menschen  mittelst  des  niederen 
in  Gemeinschaft  treten  mit  der  äußeren  Welt;  und  dieses  ist  eben- 
falls beides  sowohl  Offenbarung  des  Geistes  in  der  Gestaltung  der 
Welt,  als  auch  Erziehung  der  Welt  zur  Einheit  des  Daseins  mit 
dem  Menschen.  Und  dieses  reicht  für  den  gegenwärtigen  Zweck 
hin  zu  zeigen,  daß  ohne  die  Gleichheit  des  Einteilungsgrundes 
zu  verletzen,  diese  Stelle  anders  als  bei  den  Hellenen  mußte  aus- 
gefüllt werden,  und  daß  dieses  durch  den  Ausdruck  Liebe  sowohl 
der  Sache  am  würdigsten  als  auch  am  übereinstimmendsten  mit 
dem  wohlverstandenen  Gebrauch  unserer  Sprache  geschehe,  wenn 
doch  auch  ihr  die  Liebe  (pdia  nur  ist  die  Gemeinschaft  des  Gu- 
ten mit  sich  selbst  oder  mit  dem  weder  Gut  noch  Bösen,  um  es 
gut  zu  machen.  So  wie  auch  die  Hellenen  nach  ihrer  Ansicht 
Recht  hatten  diese  Stelle  der  dixaioovrt]  einzuräumen,  welche 
ihnen  höher  erscheinen  mußte  als  die  (fdia,  indem  sie  war  die 
Gemeinschaft  der  Guten  unter  sich,  um  durch  Gemeinschaft  mit 
dem  weder  Gut  noch  Bösen  dieses  gut  zu  machen.  Das  Gute 
selbst  aber  ist  nichts  anders  als  das  Sein  und  Leben  jenes  Höhe- 


[111,2,  376]  Tugendbegriff.  375 

ren,  mögen  wir  es  nun  Qeist  nennen  oder  Vernunft  oder  wie 
immer,  in  allem  andern.  Wie  nun  die  Liebe  sich  zur  Beharr- 
lichkeit ebenso  verhalten  muß  wie  die  Weisheit  zur  Besonnen- 
heit, das  erhellt  von  selbst;  auch  wie  dieselben  scheinbaren  Schwie- 
rigkeiten entstehen,  daß  Beharrlichkeit  Treue  ist,  und  Treue  und 
Liebe  eins,  und  daß  man  alles  müsse  auf  die  Liebe  zurückführen 
können  und  auf  die  Beharrlichkeit,  und  wie  diese  Schwierigkeiten 
sich  hier  ebenso  lösen  wie  dort,  scheint  keiner  ausdrücklichen  Wie- 
derholung zu  bedürfen,  sondern  kann  der  Kürze  aufgeopfert  wer- 
den. Nur  das  ist  nicht  gleichermaßen  zu  übergehen,  daß  auch 
Liebe  und  Weisheit  scheinen  können  ineinander  überzugehen,  wenn 
doch  die  Weisheit  vorzüglich  die  Zweckbegriffe  hervorbringt.  Denn 
was  können  diese  anders  sein  als  die  Keime  und  Urbilder  der 
Liebe  im  Bewußtsein;  und  alle  Taten  und  Werke  der  bildenden 
Liebe,  was  können  sie  anders  sein,  als  was  die  Weisheit  auch 
ist,  nämlich  der  Geist  der,  sich  selbst  offenbarend,  das  belebt,  was 
nicht  er  selbst  ist.  Was  ist  die  Liebe  als  das  schöpferische  Wollen 
der  Weisheit?  und  was  die  Weisheit  als  das  stille  Sinnen  und 
Insichselbstsein  der  Liebe?  Und  dieses  Hinüberschillern  beider  in 
einander  entsteht  ganz  natürlich  daraus,  weil  der  Mensch  weder 
ganz  getrennt  ist  von  der  übrigen  Welt,  noch  ganz  eins  in  sich 
selbst.  Denn  wenn  wir  uns  jemals  denken,  die  Welt  ganz  durch- 
gebildet durch  den  Menschen,  und  den  Menschen  ganz  eins  ge- 
worden in  sich,  dann  ist  auch  in  der  Tat  jede  Lebensäußerung 
ebensosehr  ein  Insichhinein-  als  ein  Aussichherausbilden.  Aber 
die  Tugend  selbst  ist  nicht  in  dieser  vollen  Einheit,  sondern  nur 
in  der  Annäherung  zu  ihr,  und  darum  sind  auch  Weisheit  und 
Liebe  nicht  dasselbe,  indem  der  eine  Liebe  genug  haben  kann,  um 
andere  damit  zu  übertragen,  seine  Weisheit  aber  selbst  ergänzen 
lassen  muß  von  andern,  und  umgekehrt. 

NatürUch  aber  erinnert  eben  dieses,  daß  die  Liebe  die  Stelle 
der  Gerechtigkeit  einnimmt,  wie  überhaupt  an  den  Unterschied  der 
alten  Welt  und  der  neuen,  so  auch  besonders  an  die  christliche 


376  Tugendbegriff.  [111,2,377] 

Trias  der  Tugenden,  mit  welcher  die  hier  aufgestellte  Eintei- 
lung ein  einzelnes  Glied  gemein  hat  und  kein  anderes.  Und  es 
scheint  schwierig,  dieses  Rätsel  zu  lösen,  wenn  man  nicht  anneh- 
men will,  auch  die  Gemeinschaft  dieses  einen  Gliedes  sei  nur 
scheinbar,  welches  doch  niemand  und  ich  am  wenigsten  behaupten 
möchte.  Wenn  man  aber  bedenkt,  wie  der  Glaube  doch  das  In- 
nerste des  Bewußtseins  ist  und  die  lebendige  Quelle  der  guten 
Werke:  so  kann  man  wohl  nicht  zweifeln,  daß  der  Glaube  der  reli- 
giöse Ausdruck  ist  für  dasselbe,  was  wir  in  der  Wissenschaft,  mit 
unserm  guten  Recht  zwar,  mit  einem  Ausdrucke  jedoch,  welcher 
der  religiösen  Sprache  zu  anmaßend  ist,  Weisheit  nennen;  und 
dann  bleibt  nur  zu  sagen,  daß  der  Unterschied  zwischen  der  Be- 
sonnenheit und  Weisheit  von  dieser  Ansicht  aus  nicht  konnte  auf- 
gefaßt werden,  die  Beharrlichkeit  aber  als  Hoffnung  bezeichnet  ist, 
als  das  im  Auge  behalten  des  Erfolges  und  der  Vollendung. 

Und  dieses  führt  mich  auf  noch  eine  ähnliche  letzte  Betrach- 
tung. Wie  nämlich  nicht  nur  der  christlichen  Sittenlehre  Grund- 
satz ist  Ähnlichkeit  mit  Gott,  sondern  auch  die  Alten  schon  ge- 
sagt, das  Ziel  des  Menschen  sei  Verähnlichung  mit  Gott  nach 
Vermögen:  so  muß,  wenn  unsere  aufgestellten  Tugenden  der  In- 
begriff der  menschlichen  Vollkommenheit  sind,  jener  Satz  sich 
auch  dadurch  bewähren,  daß  in  dieser  die  Ähnlichkeit  mit  Gott  muß 
dargestellt  sein.  Und  dies  findet  sich  auch,  wenn  man  nur  das 
nach  Vermögen  nicht  versäumt,  vollkommen.  Denn  Weisheit 
und  Liebe  werden  überall  als  die  wesentlichsten  Eigenschaften 
Gottes  aufgestellt,  ja  die  Liebe  als  der  Ausdruck  seines  ganzen 
Wesens,  welches  auch  insofern  vollkommen  richtig  ist,  als  ein 
Unterschied  zwischen  Weisheit  und  Liebe  in  Gott  nicht  kann  ge- 
dacht werden,  indem  der  Gedanke  selbst  unmittelbar  das  Hervor- 
bringende ist.  Nun  könnte  freilich,  dieses  vorausgesetzt,  ebenso- 
gut gesagt  werden,  Gott  ist  die  Weisheit  als  Gott  ist  die  Liebe; 
aber  jeder  wird  auch  einsehen,  daß  jenes  mehr  der  philosophische 
Ausdruck  wäre,  dieses  aber  der  religiöse  sein  muß.   Nur  freilich 


[111,2,  378]  Tugendbegriff.  377 

von  Besonnenheit  und  Beharrlichkeit  kann  nicht  die  Rede  sein, 
wo  kein  Widerstand  kann  gedacht  werden;  sondern  um  ihre  Stelle 
zu  bezeichnen,  setzen  wir  die  absolute  Macht,  welche  aber  wieder- 
um nicht  etwas  Besonderes  für  sich  ist,  sondern  nur  die  Unend- 
lichkeit jener  Identität  von  Weisheit  und  Liebe.  In  uns  aber  ist 
auch  Besonnenheit  und  Beharrlichkeit  die  Macht  des  in  Weis- 
heit und  Liebe,  Insichhinein-  und  Aussichherausgehen,  gespal- 
tenen Geistes.  So  daß  in  dem  Ineinandersein  dieser  Tugenden 
allerdings  die  Verähnlichung  mit  Gott  nach  Vermögen  ist,  und 
sich  zugleich  zeigt,  daß  das  Bestreben  eine  Vorstellung  des 
höchsten  Wesens  nach  Vermögen  zu  bilden  das  höchste  Erzeug- 
nis ist  unsers  Bewußtseins  von  unserem  eigenen  Ziel. 


Versuch   über  die  wissenschaftliche  Behandlung 
des  Pflichtbegriffs. 

Gelesen  am  12.  August  1824. 

Indem  ich  damit  anfange,  zu  erklären,  daß  diese  Abhandlung 
als  ein  Gegenstück  zu  betrachten  ist,  zu  der  früher  vorgelesenen 
über  die  Behandlung  des  Tugendbegriffs:  so  gilt  nun,  was  dort 
vorgeredet  ist,  gemeinsam  für  diesen  Aufsatz  ebensogut  wie  für 
jenen;  und  ich  kann  ohne  weiteres  zur  Sache  schreitend  auch  hier 
wie  dort  die  Behauptung  zum  Grunde  legen,  daß  die  drei  Be- 
griffe, Gut,  Tugend  und  Pflicht  jeder  für  sich  in  seiner  Ganz- 
heit auch  das  ganze  sittliche  Gebiet  darstellen,  jeder  aber  dieses 
tut  auf  eine  eigentümliche  Weise,  ohne  daß,  was  durch  den 
einen  gesagt  wird,  in  der  Wirklichkeit  jemals  könnte  getrennt 
sein  von  dem  durch  den  andern  gesagten.  Wenn  daher  in  dem 
ganzen  menschlichen  Geschlecht,  von  welchem  hier  nur  die  Rede 
ist,  alle  Güter  vorhanden  sind,  so  müssen  auch  alle  Tugenden 
in  allen  wirksam  sein;  und  umgekehrt,  sofern  alle  Tugenden  in 
allen  sind,  müssen  auch  alle  Güter  vorhanden  sein,  indem  diese 
auf  keine  andere  Weise  weder  durch  Zufall  noch  als  ein  göttliches 
Geschenk,  sondern  nur  als  die  Tätigkeit  aus  der  notwendig  zu- 


[111,2, 380]  Pflichtbegriff.  379 

sammenstimmenden  Wirksamkeit  aller  Tugenden  entstehen  kön- 
nen. Ebenso  nun,  denn  Pflicht  ist  der  dritte  zu  jenen  gehörige  Be- 
griff, können  nicht  jene  beiden  irgendwo  gefunden  werden,  ohne 
daß  ebenda  auch  alle  Pflichten  wären  erfüllt  worden,  so  wie 
unmöglich  alle  Pflichten  von  allen  können  erfüllt  werden,  als 
nur  sofern  auch  alle  Tugenden  in  ihnen  gesetzt  sind,  und  nicht, 
ohne  daß  zugleich  dadurch  auch  der  menschlichen  Gesellschaft  alle 
Güter  müßten  erworben  werden.  Die  Verschiedenheit  dieser  Be- 
griffe aber  zeigt  sich  darin,  daß  kein  einzelnes  Gut  etwa  entsteht 
durch  Erfüllung  einer  und  derselben,  sondern  verschiedener,  ja  ge- 
nau genommen,  aller  Pflichten,  und  daß  keine  Pflicht  erfüllt  wer- 
den kann  durch  die  Tätigkeit  einer,  sondern  nur  aller  Tugenden, 
wie  auch  jede  Pflichterfüllung,  sofern  die  Tugend  als  Fertigkeit 
ein  Werdendes  ist,  nicht  zum  Wachstum  nur  einer  Tugend,  son- 
dern aller  als  Übung  beiträgt,  und  nicht  nur  auf  die  Entstehung 
und  Erhaltung  eines  Gutes  hinwirkt,  sondern  aller. 

Hieraus  nun  geht  auch  schon  hervor,  auf  welche  Weise  der 
Pflichtbegriff  das  Sittliche  darstellt.  Denn  wenn  es  in  dem  Tugend- 
begriff dargestellt  wird  als  die  eine,  sich  aber  mannigfaltig  ver- 
zweigende, dem  Menschen  als  Handelndem  einwohnende  Kraft, 
in  dem  Begriff  des  Gutes  aber  als  dasjenige,  was  durch  die  ge- 
samte Wirksamkeit  jener  Kraft  wird  und  werden  muß :  so  kann 
es  in  dem  Pflichtbegriff  nur  dargestellt  sein  als  das,  was  zwi- 
schen jenen  beiden  Hegt,  d.  h.  als  die  sittliche  Handlung  selbst. 
Die  Entwicklung  des  Pflichtbegriffs  muß  also  ein  System  von 
Handlungsweisen  enthalten,  welche  nur  aus  der  sittlichen  Kraft 
und  der  Richtung  auf  die  gesamte  sittliche  Aufgabe  begriffen 
werden  können;  eine  Entwicklung  dieses  Begriffs  kann  es  aber 
wiederum  nur  geben,  sofern  in  den  sittHchen  Handlungen  die 
Beziehung  auf  die  Gesamtheit  der  sittlichen  Aufgabe  und  auf  das 
Begründetsein  in  der  Gesamtheit  der  Tugenden  sich  als  eine 
verschiedene  zeigt.  Indem  nun  eine  jede  Pflicht  eine  solche  Be- 
stimmtheit der  Handlungsweise  ist:  so  kann  sie  nicht  anders  aus- 


380  Pflichtbegriff.  [111,2,  381] 

gedrückt  werden,  als  durch  das,  was  Kant  eine  Maxime  nennt, 
welches  Wort  wir  aber,  weil  es  in  dem  allgemeinen  Sprach- 
gebrauch zu  deutlich  den  Stempel  der  Subjektivität  an  sich  trägt, 
mit  dem  Worte  Formel  vertauschen  wollen. 

Ehe  ich  aber  dazu  schreite,  ein  genügendes  Prinzip  zur  Ent- 
wicklung der  Pflicht-Formeln  womöglich  aufzustellen,  muß  ich 
noch  einige  Bemerkungen  voranschicken.  Zuerst,  wenn  der  Be- 
griff einer  Pflicht  die  vollkommne  sittliche  Richtigkeit  einer  Hand- 
lung ausdrückt:  so  kommt  hier  der  Unterschied,  den  man  bisweilen 
zwischen  der  Gesetzlichkeit  und  Sittlichkeit  einer  Handlung  ge- 
macht hat,  in  gar  keinen  Betracht,  weder  so,  als  ob  die  Pflicht- 
mäßigkeit die  bloße  Gesetzlichkeit  sei,  die  Sittlichkeit  also  etwas 
höheres  als  die  Pflicht,  noch  auch  so,  als  ob  die  Pflichtmäßig- 
keit zwar  die  Sittlichkeit  sei,  diese  aber  auch  wohl  ungesetzlich  sein 
könne.  Denn  das  Gesetz  selbst  ist,  da  ja  in  diesem  Zusammen- 
hang nur  von  einem  äußeren  Gesetz  die  Rede  sein  kann,  selbst 
nur  durch  menschliche  und  ihrer  Natur  nach  sittliche  Handlungen 
geworden,  und  könnte  also,  ob  es  richtig,  das  heißt  durch  pflicht- 
mäßige Handlungen  zustande  gekommen  ist  oder  nicht,  nie- 
mals beurteilt  werden,  hätte  also  gar  keine  erkennbare  Sittlich- 
keit, wenn  Pflichtmäßigkeit  selbst  immer  nur  Gesetzmäßigkeit 
wäre,  und  also  der  Pflicht  allemal  ein  Gesetz  schon  vorausgehen 
müßte.  Ebenso  aber  ist  auch  das  Gesetz  als  ein  sittlich  Gewordnes 
und  selbst  wieder  auf  dem  sittlichen  Gebiete  Wirksames,  notwen- 
dig ein  Gut;  und  wenn  jede  pflichtmäßige  Handlung  auf  die  ge- 
samte sittliche  Aufgabe,  also  auf  alle  Güter  Bezug  nehmen  muß: 
so  muß  auch  jede  auf  das  Gesetz  Bezug  nehmen,  und  keine  kann 
demnach  ungesetzlich  sein  *).  —  Zweitens,  wenn  der  Pflichtbegriff 


*)  Auch  für  das  Gebiet  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  für  welches  er  eigent- 
lich gemacht  ist,  hat  dieser  Unterschied  weit  weniger  Bedeutung  als  man  ge- 
wöhnlich glaubt.  Denn  auch  dem  Gesetzgeber  kann  an  der  bloßen  Gesetzlich- 
keit wenig  gelegen  sein ;  indem,  wenn  das  Gesetz  nicht  in  den  Bürgern  lebendig 
und  also  je  länger  je  mehr  ihre  eigene  Sittlichkeit  wird,  es  auch  in  jedem  Falle, 


[111,2,  382]  Pflichtbegriff.  381 

auf  die  angegebene  Art  seine  Stellung  hat  zwischen  dem  Tugend- 
begriff und  dem  Begriff  der  Güter:  so  sollte  man  denken,  die 
allgemeine  Pflichtformel  sei  schon  gegeben  in  dem  Ausdruck: 
Handle  in  jedem  Augenblick  so,  daß  alle  Tugenden  in  dir  tätig 
sind  in  bezug  auf  alle  Güter.  Allein  einesteils  ist  diese  Formel 
an  und  für  sich  zur  unmittelbaren  Anwendung  nicht  geschickt, 
weder  um  für  irgendeinen  Augenblick  ein  bestimmtes  Handeln 
zu  entwerfen,  noch  um  ein  schon  entworfenes  danach  zu  prüfen. 
Letzteres,  weil  das  Verhältnis  einer  Handlung  zu  dieser  Formel 
nicht  unmittelbar  erkannt  werden  kann.  Denn  wenn  ein  ent- 
worfenes Handeln  noch  so  klar  vor  Augen  liegt:  so  kann  weder 
bestimmt  behauptet  werden,  daß  es  alle  Güter  fördern  müsse, 
noch  auch  mit  rechtem  Grunde  geleugnet,  daß  es  dieses  nicht  lei- 
sten könne.  Und  ebenso  mit  den  Tugenden.  Vielmehr  wenn 
mir  die  Vorstellung  einer  bestimmten  Handlung  vorliegt,  die  sich 
nicht  schon  gleich  als  unsittlich  zu  erkennen  gibt:  so  kann  es  mir 
nur  als  ein  Zufälliges  erscheinen,  ob  sie  in  beiden  Stücken  unserer 
Aufgabe  entsprechen  wird  oder  nicht.  Noch  weniger  kann  durch 
diese  Formel  allein  ein  Handeln  bestimmt  werden;  sondern  es 
lassen  sich  von  derselben  Voraussetzung  gar  mancherlei  Hand- 
lungen entwerfen,  denen  mit  gleichem  Rechte  die  Möglichkeit  zu- 
käme, ihr  zu  entsprechen.  Es  ist  aber  ganz  vorzüglich  die  An- 
wendbarkeit in  dem  Leben  selbst,  sowohl  wo  die  Konstruktion  der 
Zweckbegriffe  schwankt  oder  stockt,  als  auch  für  die  Beurteilung 
des  Geschehenen,  welche  der  Pflichtenlehre,  dieser  den  Alten  fast 
unbekannten  Behandlung  der  Ethik,  in  der  neueren  Zeit  eine  so 
ganz   vorzügliche   Gunst   geschafft  hat.    Andernteils    wenn  man 


wo  es  mit  etwas  in  ihnen  Lebendigem  in  Streit  kommt,  immer  wird  übertreten 
werden,  sodaß  es  seinen  Zweck  nicht  erreichen  kann.  Nur  für  den  Richter  ist 
der  Unterschied  ein  Kanon,  daß  nämlich  die  Funktion  der  vergeltenden  Gerechtig- 
keit nur  da  beginnt,  wo  das  Gesetz  ist  verletzt  worden,  indem  Belohnung  und 
Bestrafung  mit  der  Sittlichkeit  in  gar  keiner  Beziehung  stehn. 


382  Pflichtbegriff.  [111,2,383] 

auch  diese  allgemeine  Formel  weiter  entwickeln  wollte,  um  ein 
System  der  einzelnen  Formeln  daraus  zu  bilden:  so  scheint  sich 
unmittelbar  kein  anderer  Einteilungsgrund  in  derselben  darzubie- 
ten, als  entweder  nach  den  Tugenden,  welche  tätig  sind,  oder 
nach  den  Gütern,  welche  angestrebt  werden;  dann  aber  wäre  diese 
Behandlung  keine  selbständige  Darstellung  der  Sittlichkeit,  son- 
dern ganz  abhängig  von  der  Lehre  vom  höchsten  Gut  und  von 
der  Tugendlehre,  und  somit  verlöre  die  Pflichtenlehre  alles,  was 
sie  der  Wissenschaft  empfehlen  kann.  Denn  für  diese  bleibt  im- 
mer die  objektivste  Darstellung,  also  die  aus  dem  Begriff  der  Güt- 
ter,  die  erste  und  für  sich  hinreichende;  die  beiden  andern  dienen 
jener  nur  gleichsam  als  Rechnungsprobe,  welches  sie  aber  nur  in 
dem  Maß  leisten  können,  als  sie  nicht  unmittelbar  aus  ihr  ent- 
lehnen. Wie  wir  also  die  Tugendlehre  gesucht  haben  zu  gestalten, 
ohne  von  einer  der  beiden  andern  Formen  unmittelbaren  Gebrauch 
dafür  zu  machen:  so  darf  auch  für  die  Gestaltung  der  Pflichten- 
lehre von  den  anderweitig  festgestellten  Begriffen  von  Tugenden 
und  Gütern  kein  Gebrauch  gemacht  werden. 

Demohnerachtet  können  wir  nicht  leugnen,  jener  Ausdruck: 
Handle  in  jedem  Augenblick  mit  der  ganzen  zusammengefaßten 
sittlichen  Kraft  und  die  ganze  ungeteilte  sittliche  Aufgabe  an- 
strebend, stellt  den  einen  das  ganze  sittliche  Leben  bedingenden 
Entschluß  dar,  unter  welchem  alle  einzelne  pflichtmäßige  Hand- 
lungen schon  so  begriffen  sind,  daß  kein  neuer  Entschluß  gefaßt 
zu  werden  braucht,  wenn  immer  das  Rechte  geschehen  soll,  daß 
aber  durch  jede  pflichtwidrige  Handlung  dieser  gewiß  gebrochen 
wird.  Daher  bleiben  wir  doch  an  diesen  Ausdruck  gewiesen,  und 
es  kommt  nur  darauf  an,  daß  wir  ihn  anderswie  als  nach  An- 
leitung der  Begriffe  von  Tugenden  und  Gütern  spaltend  auf  das 
einzelne  anzuwenden  wissen. 

Von  diesem  allgemeinen  Entschlüsse  aus  läßt  sich  aber  das 
ganze  sittliche  Leben  betrachten  nach  der  Analogie  zusammenge- 
setzter Handlungen,  welche  auf  einem  Entschluß  ruhend  dennoch 


[111,2,384]  Pflichtbegriff.  383 

aus  einer  Reihe  von  Momenten  bestehen,  so  daß  für  diese  auch 
noch  untergeordnete  Entschlüsse  aber  freiUch  in  sehr  verschie- 
denem Verhältnis  zu  dem  zum  Grunde  liegenden  allgemeinen  Ent- 
schluß gefaßt  v^erden.  Wer  sich  niedersetzt  zum  Schreiben,  wenn 
sein  Entschluß  nur  nicht  etwa  noch  ein  unbestimmter  ist,  sondern 
er  schon  seine  volle  Bestimmtheit  hat,  dessen  Handlung  besteht 
zwar  aus  einer  Reihe  von  Momenten,  aber  ohne  daß  eine  neue 
Beratung  oder  Wahl  entstände;  beim  Federeintauchen,  beim 
Blattumwenden  sind  wir  uns  kaum  einer  Volition  bewußt,  son- 
dern alles  geht  aus  dem  einen  Entschluß  hervor,  der  allein  das 
Bewußtsein  beherrscht.  Hier  also  verschwinden  die  untergeord- 
neten Entschlüsse  fast  ganz  sowohl  ihrer  Form  nach  ins  Bewußt- 
lose als  auch  ihrem  Inhalte  nach,  indem  sie  sich  nur  auf  die  un- 
bedeutendsten Kleinigkeiten  beziehen.  Wer  sich  hingegen  zu  einer 
bestimmten  Lebensweise  entschließt,  für  den  entsteht  aus  diesem 
allgemeinen  Entschluß  auch  eine  Reihe  von  Handlungen,  welche 
zusammengenommen  die  Ausführung  desselben  bilden  und  also 
eines  sind;  aber  wiewohl  eines,  gehört  doch  hier  zu  jeder  einzelnen 
noch  ein  besonderer  Entschluß;  die  einzelne  Wollung  tritt  stark 
hervor,  so  daß  der  allgemeine  Entschluß,  wiewohl  die  fortwirkende 
Ursache  dieser  einzelnen,  doch  in  den  Hintergrund  zurücktritt,  und 
also  hier  das  umgekehrte  Verhältnis  eintritt  wie  dort.  Der  Künst- 
ler endlich,  welcher  das  Urbild  seines  Gemäldes  vollkommen  in 
sich  trägt,  gleicht  im  ganzen  während  der  Ausführung  jenem 
Schreibenden;  allein  bei  welchem  Teile  er  anfängt  und  in  welcher 
Ordnung  und  Folge  er  fortarbeitet,  das  ist  in  dem  allgemeinen 
Entschluß  nicht  mit  gesetzt,  und  sofern  diese  Ordnung  auch  durch 
die  technischen  Regeln  —  auf  welche  wir  hier  ohnedies  nicht  Rück- 
sicht nehmen  dürfen  —  nicht  vollständig  und  nicht  für  alle  auf 
gleiche  Weise  bestimmt  ist,  so  geht  der  Fortschreitung  allerdings 
jedesmal  eine  einzelne  Wollung  voraus,  die  aber  nicht  eigentUch 
einen  Gegenstand  bestimmt,  sondern  nur  die  Priorität  eines  schon 
bestimmten  Gegenstandes,  deren  Wert  also  vorzüglich  darauf  bc- 


384  Pflichtbegriff.  [111,2, 385] 

ruht,  daß  sie  ohne  Verdunkelung  wie  ohne  fremde  Einmischung 
als  die  vollkommenste  Fortwirkung  des  ersten  Entschlusses  er- 
scheint. Aus  der  Zusammenstellung  dieser  drei  Fälle,  welche 
gleichsam  als  Typen  dienen  können,  erhellt  demnach,  daß  die  Ver- 
einzelung der  Momente,  aus  denen  eine  zusammengesetzte  Hand- 
lung besteht,  etwas  durchaus  Relatives  ist,  und  es  ist  leicht  zu 
schließen,  daß  eine  einfache  und  allgemein  gültige  Regel  für  die 
Richtigkeit  der  Handlung  nur  in  dem  Maß  gegeben  werden  könne, 
als  der  einzelne  Moment  mit  Notwendigkeit  aus  dem  ursprüng- 
lichen Entschluß  hervorgeht,  das  heißt,  als  man  einer  besonderen 
Regel  nicht  bedarf.  Sofern  wir  also  das  ganze  sittliche  Leben 
ansehen  können  als  die  Ausführung  eines  allgemeinen  Entschlus- 
ses, also  als  eine,  wenngleich  zusammengesetzte  Tat:  so  wird 
dasselbe  auch  hier  gelten,  und  es  scheint,  daß  wir  mit  dem  Ge- 
ständnis anfangen  müssen,  daß  Pflichtformeln  nur  da  recht  voll- 
kommen und  befriedigend  sein  können,  wo  der  Handelnde  selbst 
ihrer  nicht  bedarf,  und  daß  demnach  der  Nutzen  der  vollkommen- 
sten sich  am  meisten  auf  die  bloße  Beurteilung  beschränkt.  Wenn 
hier  also  eine  vorzügliche  Sicherheit  allen  denen  Momenten  bei- 
gelegt wird,  in  welchen  der  besondere  Entschluß  am  meisten  schon 
mit  dem  allgemeinen  gegeben  ist,  so  schadet  dies  wenigstens  der 
Freiheit,  welche  wir  für  die  sittlichen  Handlungen  postulieren, 
keinesweges;  denn  diese  besteht  am  wenigsten  in  einer  vor  der 
Entscheidung  hergehenden  und  mehr  oder  weniger  willkürlich, 
das  heißt  durch  subjektiven  Zufall  abgebrochenen  Unentschieden- 
heit,  sondern  nur  in  der  Selbsttätigkeit,  welche  dem  Entschluß 
in  seinem  ersten  Hervortreten  sowohl  als  in  seiner  Fortwirkung 
einwohnt. 

Um  nun  zu  bestimmen,  wie  weit  wir  es  mit  der  Behand- 
lung des  Pflichtbegriffes  bringen  können,  und  wie  wir  sie  dem- 
gemäß einzuleiten  haben,  muß  unsere  nächste  Frage  die  sein,  wel- 
cher von  den  drei  aufgestellten  Fällen  uns  die  genaueste  Analo- 
gie darbietet  mit  dem  sittlichen  Leben  als  einer  wahren  aber  in 


[111,2,  386]  Pflichtbegriff.  385 

eine  Reihe  von  sich  relativ  aussondernden  Momenten  zerfällten 
Einheit,  Es  wird  unschädlich  sein  die  Beantwortung  dieser  Frage 
mit  einer  Fiktion  anzufangen.  Wenn  wir  uns  einen  einzelnen 
Menschen  denken  für  sich  allein  die  gesamte  sittliche  Aufgabe 
des  ganzen  Menschengeschlechtes  auf  ihn  gelegt  oder  wenigstens 
ein  kleineres  vollkommen  abgeschlossenes  Gebiet  ihm  hingegeben, 
innerhalb  dessen  er  sie  lösen  soll:  so  würde  dieser  sich  unstreitig 
in  dem  mittleren  Falle  des  Künstlers  befinden.  Nämlich  Neues 
entstände  ihm  nichts,  was  nicht  in  seinem  ursprünglichen  Ent- 
schluß, welchen  wir  uns  die  ganze  sittliche  Aufgabe  umfassend  zu 
denken  haben,  schon  liegt,  wie  auch  die  ganze  Ausführung  schon 
in  dem  Urbilde  des  Künstlers  liegt;  aber  er  könnte  in  jedem  Mo- 
ment nur  einen  Teil  seiner  Aufgabe  lösen,  ohne  daß  jedoch  die 
Ordnung,  in  welcher  er  zu  verfahren  hat,  ihm  mit  aufgegeben 
wäre.  Denn  denken  wir  uns  das  Ganze  in  verschiedene  Regionen 
geteilt,  so  wird  es  an  sich  gleichgültig  sein,  und  dies  wäre  doch 
der  stärkste  Gegensatz,  der  sich  darbietet,  ob  er  erst  eine  Region 
ganz  zur  Vollendung  bringt,  und  dann  zu  einer  andern  übergeht, 
oder  ob  er  nacheinander  alle  zu  bearbeiten  beginnt,  und  sie 
nach  und  nach  ebenso  weiter  fördert;  sofern  er  nur  in  dem 
letzten  Falle  stark  genug  ist,  daß  er  nicht  etwa  über  der  gleich- 
mäßigen Steigerung  den  ursprünglich  mitgedachten  Grad  der 
Vollkommenheit,  gleichend  der  Stärke  der  Färbung  in  dem  Ur- 
bilde des  Künstlers,  vergißt,  und  in  dem  ersten,  daß  ihm  nicht 
über  der  beharrlichen  Beschäftigung  mit  dem  einen  Teile  das 
Bild  der  übrigen  Teile  allmählich  erlischt  und  sich  hernach  an- 
ders reproduziert.  Sind  nun  diese  beiden  Methoden  an  sich  gleich 
gut:  so  wird  auch  unter  denselben  Bedingungen  jeder  Wechsel 
zwischen  beiden,  wie  er  nur  immer  gedacht  werden  kann,  gleich 
gut  sein;  und  also  wird,  sobald  irgendeine  Handlung,  die,  mit 
welchem  Rechte  darf  uns  hier  nicht  kümmern,  als  ein  diskreter 
Teil  des  Ganzen  gesetzt  war,  vollendet  ist,  und  ein  neuer  Mo- 
ment beginnen  soll,   auch  eine  Wahl  eintreten,   wenngleich   nur 

Schleier m acher,  Werke.     I.  25 


386  Pflichtbegriff.  [111,2,  387] 

Über  Ordnung  und  Folge.  Wenn  nun  diese  durch  den  ursprüng- 
lichen Entschluß  nicht  bestimmt  sind,  wodurch  können  sie  jedes- 
mal bestimmt  werden?  Offenbar  nur  entweder  durch  eine  über- 
wiegende, aber  für  den  ursprünglichen  Entschluß  gleichgültige 
Hinneigung  des  Handelnden  zu  einem  Teile  der  Aufgabe  vor 
dem  andern,  oder  durch  eine  äußere  Mahnung  und  Aufforderung, 
welche  von  einem  Teile  aus  stärker  an  den  Handelnden  ergeht 
als  von  den  übrigen.  Und  jede  dieser  Bestimmungsweisen  für 
sich  abgesehen  von  der  andern  ist  untadelhaft.  Denn  jene  innere 
Hinneigung  ist  zwar  für  den  sittlichen  Willen  zufällig;  aber  wäre 
sie  auch  das  allerzufälligste  Innere,  was  wir  Laune  nennen,  da 
sie  einen  Teil  der  Aufgabe  realisiert  in  einem  Moment,  wo  sonst 
aus  Mangel  eines  anderen  Bestimmungsgrundes  keiner  wäre  rea- 
lisiert worden,  so  ist  sie  eine  richtige  Bestimmung,  und  wir  könn- 
ten hierüber  folgende  Formel  aufstellen:  Tue  in  jedem  Augen- 
blick dasjenige  sittliche  Gute,  wozu  du  dich  lebendig  aufgeregt 
fühlst.  Und  da  die  Hinneigung  dem  sittlichen  Willen  doch  fremd 
ist:  so  kann  es  auch  gleich  gelten,  ob  sie  eine  ursprünglich  ein- 
fache ist,  oder  ob  zwei  verschiedene  innere  Aufregungen  vorhanden 
waren,  aus  deren  Streite  nur  ein  Überschuß  der  einen  über  die 
andere  zurückgeblieben  ist.  Denn  die  Bestimmung  kann  doch 
erst  eintreten,  nachdem  dieser  Streit,  für  den  in  dem  ursprüng- 
lichen sittlichen  Entschluß  kein  Entscheidungsgrund  liegt,  irgend 
anderswie  entschieden  und  die  Kollision  der  Neigungen  geschlich- 
tet ist.  Ebenso  und  aus  demselben  Gründe  ist  die  äußere  Auf- 
forderung an  und  für  sich  ein  richtiger  Bestimmungsgrund,  und 
es  wäre  die  Formel  aufzustellen:  Tue  jedesmal  das,  wozu  du 
dich  bestimmt  von  außen  aufgefordert  findest.  Nur  daß  hier  nicht 
gleich  gilt,  ob  die  Aufforderung  eine  einfache  ist  oder  nicht.  Denn 
die  äußeren  Aufforderungen  reduzieren  sich  nicht  wie  die  inneren 
Erregungen  von  selbst  auf  einen  Überschuß;  sondern  ein  Streit 
zwischen  ihnen  könnte  nur  durch  ein  Urteil  des  Handelnden  ge- 
schlichtet werden,  welches  anderweitig  erst  mit  Rücksicht  auf  den 


[111,2,388]  Pflichtbegriff.  387 

allgemeinen  Entschluß  müßte  begründet,  und  demnach  eine  andere 
Formel,  um  die  Dringlichkeit  der  Aufforderungen  zu  messen,  ge- 
sucht werden.  Beide  Formeln  aber  sind  nur  wahre  Entscheidun- 
gen, die  eine,  wenn  keine  auf  einen  andern  Teil  der  Gesamt- 
aufgabe gerichtete  äußere  Aufforderung  sich  einer  innern  Hinnei- 
gung entgegenstellt,  und  die  andere  umgekehrt.  Sobald  aber  bei- 
des gleichzeitig  differiert,  entsteht  auch  dem  so  allein  Handelnden 
ein  Zwiespalt,  den  wir  eine  Kollision  nennen,  die  aber  nun  keine 
Kollision  der  Neigungen  mehr  ist,  sondern  eine  Kollision  der  Ma- 
ximen. In  solchem  Falle  heben  sich  beide  Formeln  auf,  und  es 
muß  das  Verlangen  entstehen  nach  einem  dritten,  welches  die 
Entscheidung  bewirke.  Da  nun  die  Möglichkeit  dieses  Streites 
zwischen  der  innern  Neigung  und  der  äußeren  Aufforderung, 
wenn  beide  nicht  dasselbe  sittliche  Handeln  fördern  wollen,  immer 
gegeben  ist:  so  sind  auch  eigentlich  die  beiden  aufgestellten  For- 
meln niemals  wahre  Pflichtformeln,  sondern  nur  diejenigen  sind 
solche,  welche  die  Lösung  dieses  Streites  in  sich  enthalten.  Denn 
Pflichtformeln  selbst  dürfen  nicht  miteinander  im  Streite  sein. 
Doch  wird  der  einzelne  die»  Lösung  in  sich  selbst  finden,  und 
immer  sagen  können,  er  habe  pflichtmäßig  gehandelt,  wenn  er 
weder  die  Neigung  der  Aufforderung,  noch  umgekehrt,  aufopfert, 
sondern  sie  in  dem  beiden  Gemeinschaftlichen  verbindet.  Denn 
der  Neigung  soll  man  folgen,  weil  das  am  besten  gerät,  was  mit 
Lust  geschieht;  und  der  Aufforderung,  weil  das  am  besten  gerät, 
was  im  günstigen  Augenblick  geschieht.  Vergleicht  er  also  beide 
nur  in  dieser  Hinsicht:  so  hat  er  nach  einem  Kanon  gehandelt, 
der  über  jenen  beiden  stehend  so  lautet:  Tue  unter  allem  Sitt- 
lichguten jedesmal  das,  was  sich  in  der  gleichen  Zeit  durch  dich 
am  meisten  fördern  läßt.  Nur  gibt  es  hier  keine  objektive  all- 
gemeingültige Entscheidung,  sondern  nur  die  subjektive  der  unge- 
teilten Zustimmung.  Bei  dieser  werden  wir  uns  also  auch  be- 
gnügen müssen  in  dem  gegenwärtigen  Zustand  für  dasjenige  Han- 
deln des  einzelnen,  und  zwar  gleichviel,  ob  von  einer  natürlichen 

26* 


388  Pflichtbegriff.  [111,2,389] 

oder  einer  moralischen  Person  die  Rede  ist,  welches  ebenfalls,  so 
weit  menschliche  Einsicht  reicht,  als  ein  ihm  ganz  eignes  abge- 
schlossenes Gebiet  erscheint.  Nicht  also,  als  ob  es  auf  diesem 
Gebiet,  wie  es  häufig  nicht  nur  im  Leben  sondern  auch  wissen- 
schaftlich angenommen  wird,  gar  keine  Pflicht  und  nichts  Pflicht- 
mäßiges, sondern  nur  Erlaubtes  gäbe;  sondern  nur,  daß  die 
Pflichtmäßigkeit  einzig  auf  des  Handelnden  subjektiver  Überzeu- 
gung von  der  größten  Zuträglichkeit  der  Handlung  für  das  ganze 
sittliche  Gebiet  beruht. 

Allein  der  größte  Teil  des  sittlichen  Lebens  wird  dieser  Regel 
entzogen  und  muß  unter  eine  andere  gestellt  werden,  deshalb 
weil  es  nur  eine  Fiktion  ist,  daß  der  einzelne  Mensch  allein  die 
ganze  sittliche  Aufgabe  oder  auch  nur  einen  Teil  derselben  wirk- 
lich abgeschlossen  für  sich  allein  vor  sich  habe.  Vielmehr  ist  die 
Aufgabe  eine  gemeinschaftliche  des  menschlichen  Geschlechts. 
Jeder  einzelne  findet  sich,  sobald  die  Möglichkeit  eines  sittlichen 
Handelns  in  ihm  entsteht,  ja  immer  schon  viel  früher,  nämlich 
am  Anfange  seines  Lebens  in  dieser  Gemeinschaft,  und  wird  von 
derselben  so  festgehalten,  daß  keiner  in  bezug  auf  irgendeinen 
Teil  seines  sittlichen  Handelns  sich  so  vollkommen  isolieren  kann, 
daß  er  nicht  immer  durch  diese  Gemeinschaft  mit  bestimmt  wäre. 
Hierdurch  nun  wird  das  sittliche  Handeln  der  Botmäßigkeit  der 
bisher  zum  Grunde  gelegten,  für  sich  selbst  nicht  weiter  teilbaren 
Formel  entzogen,  und  es  entsteht  eine  andere  Notwendigkeit  als 
nur  die  bisher  bemerkte,  welche  war,  innere  Neigung  und  äußere 
Aufforderung  gegeneinander  auszugleichen,  nämlich  die  einer  ge- 
genseitigen Verständigung  über  die  Teilung  der  Aufgabe  und 
das  Zusammenwirken  zu  ihrer  Lösung.  Da  nun  aber  außer  die- 
ser keine  andere  dem  sittlichen  Handeln  des  einzelnen  voran- 
gehende und  es  schon  zum  voraus  bestimmende  Naturvoraus- 
setzung vorhanden  ist:  so  müssen  außer  jener  dem  einzelnen 
Menschen  für  sich  zum  Grunde  liegenden  alle  andern  Pflicht- 
formeln sich   auf   diese   Voraussetzung   beziehen,   und   die   Not- 


[111,2,390]  Pflichtbegriff.  389 

wendigkeit,  ein  System  derselben  aufzustellen,  kann  nur  in  die- 
sem Gemeinschaftszustand  gegründet  sein,  wie  denn  auch  aus 
jener  ersten  Formel  keine  eigentümliche  Teilung  hervorgehen  will. 
Auf  der  andern  Seite  aber,  da  wir  jeden  einzelnen  sittlichen 
Willensakt  nur  ansehen  können  als  einen  Ausfluß  aus  jenem  all- 
gemeinen, der  das  ganze  sittliche  Leben  konstituiert  und  auf  eine 
wahre  Totalität  ausgeht:  so  muß  zugleich  eben  dieses,  daß  jeder 
einzelne  den  Gemeinschaftszustand  sittlich  anerkennt,  auf  jene  ur- 
sprüngliche Pflichtformel  zurückgeführt  und  als  ein  Akt  abso- 
luter Identität  der  Innern  Neigung  und  der  äußeren  Aufforderung 
gesetzt  werden;  welches  auch  schlechthin  postuliert  werden  kann, 
und  nichts  anderes  aussagt  als  die  Ethisierung  der  geselligen 
Natur  des  Menschen.  Hierdurch  ist  aber  zugleich  bevorwortet, 
daß,  da  der  einzelne,  sofern  er  durch  einen  freien  Willensakt 
den  Qemeinschaftszustand  anerkennt,  auch  wieder  über  dem- 
selben steht,  und  daher  auch  die  ursprüngliche  Pflichtformel  nur 
modifiziert  durch  diese  Anerkennung  überall  gültig  bleibt,  nun 
jede  einzelne  aus  dem  Gemeinschaftszustand  sich  ergebende 
Pflichtformel  auch  immer  jene  ursprüngliche,  nach  eigner  Über- 
zeugung jedesmal  das  sittlich  Größte  zu  tun,  in  sich  schließen 
muß. 

Zu  allererst  also,  und  ehe  wir  weiter  gehen,  müssen  wir 
untersuchen,  ob  nicht  etwa  auch  dieses  beides  in  Widerspruch  mit- 
einander kommen  kann,  und  also  beide  Formeln  sich  auch  als 
Pflichtformeln  aufheben  und  eine  dritte  nötig  machen.  Es  er- 
ledigt sich  aber  dieses  Bedenken  schon  dadurch,  daß  die  Anerken- 
nung des  Gemeinschaftszustandes  selbst  nur  als  eine  pflichtmäßige 
Handlung  zustande  kommen  kann,  und  daß  sie  also  nur  mög- 
lich ist  unter  der  Form  der  subjektiven  Überzeugung,  die  Aner- 
kennung des  sittlichen  Gemeinschaftszustandes  mit  allem,  was  nur 
die  zeitliche  Entwicklung  derselben  ist,  sei  ein  für  allemal  das 
sittlich  Größte,  was  der  einzelne  Mensch  tun  kann,  und  er  würde 
also  durch  alles,   was  mit  dieser  Anerkennung  im  Widerspruch 


390  Pflichtbegriff.  [111,2,391] 

stehen  würde,  allemal  wenigstens  das  sittlich  Kleinere  tun  und 
also  pflichtwidrig  handeln.  Daß  nun  im  wirklichen  Leben  diese 
Überzeugung  immer  vorherrscht,  und  das  Gegenteil  nur  als  ein 
partieller  Wahnsinn  zutage  kommt  oder  als  eine  verkehrte  und 
irrtümliche  Form  der  Regeneration  des  Gemeinschaftszustandes, 
dies  bedarf  hier  nur  angedeutet  zu  werden.  Ebenso  aber  auch 
auf  der  andern  Seite,  wenn  wir  uns  denken  die  Gemeinschaft 
schon  bestehend,  und  nun  den  einzelnen,  sobald  dieser  sie  aner- 
kennt, zugleich  in  sich  aufnehmend:  so  kann  sie  ihn  nur  so  auf- 
nehmen, wie  er  sie  anerkennt,  also  mit  seinem  ursprünglichen,  der 
Anerkennung  selbst  zum  Grunde  liegenden  sittlichen  Willen.  Wie 
nun  aber  das  Eintreten  des  einzelnen  in  die  Gemeinschaft  ein 
Zeitliches  ist,  also  ein  Werden:  so  ist  auch  die  Identität  der  Über- 
zeugung aller  über  die  sukzessive  Lösung  der  sittlichen  Aufgabe 
mit  der  eines  jeden  ein  Werden;  und  daß  sie,  sofern  sie  noch 
nicht  ist,  immer  im  Werden  bleibe,  und  zwar  als  eine  Wechsel- 
wirkung zwischen  allen  und  jedem,  ist  die  Grundbedingung  alles 
sittlichen  Gemeinlebens,  indem  nur  auf  diese  Weise  allmählich  ein 
Zusammenstimmen  in  der  Anwendung  der  Pflichtformeln  ent- 
stehen wird. 

Nachdem  dieses  vorausgeschickt  ist,  werden  wir  nun  ver- 
suchen können  die  allgemeine  Pflichtformel:  Jeder  einzelne 
bewirke  jedesmal  mit  seiner  ganzen  sittlichen  Kraft 
das  möglich  Größte  zur  Lösung  der  sittlichen  Ge- 
samtaufgabe in  der  Gemeinschaft  mit  allen,  zu  einem 
das  ganze  sittliche  Gebiet  erschöpfenden  System  von  untergeord- 
neten Formeln  zu  entwickeln.  Es  ist  jedoch  gegenwärtig  meine 
Absicht,  nur  diejenigen,  die  der  allgemeinen  am  nächsten  stehen, 
zu  verzeichnen,  wodurch  schon  eine  Übersicht  des  Ganzen  ge- 
wonnen wird,  weitere  Erörterungen  aber  und  größere  Verein- 
zelung auf  eine  zweite  Abhandlung  zu  versparen.  Ich  bemerke 
nur,  daß,  wenn  wir  gleich  von  einem  Wechselverhältnis  zwischen 
der  Gemeinschaft  und  dem  einzelnen  ausgehen,  wir  dennoch  in 


[111,2,  392]  Pflichtbegriff.  391 

der  Konstruktion  der  Pflichtenlehre  nur  den  einzelnen  als  handeln- 
des Subjekt,  welches  die  Pflichtformeln  in  Anwendung  bringen 
soll,  betrachten.  Dieses  rechtfertigt  sich  einerseits  dadurch,  daß 
die  absolute  Gemeinschaft  aller  in  einem  bestimmten  Wechselver- 
hältnis mit  jedem  einzelnen  in  jedem  Falle  noch  nicht  besteht, 
sondern  immer  nur  wird,  und  also  auch  nicht  als  wirkhch  schon 
einzeln  handelndes  Subjekt  aufgeführt  werden  kann,  sondern  nur 
als  das,  welches  werden  soll  und  auf  dessen  Werden  gehandelt 
wird.  Andrerseits  rechtfertigt  es  sich  dadurch,  daß  untergeord- 
neter und  wirkhch  schon  bestehender  Gesellschaften  sittliches  Han- 
deln doch  immer  nur  aus  dem  pflichtmäßigen  Handeln  aller  ein- 
zelnen hervorgehn  kann,  also  eigner  Pfhchtformeln  nicht  bedarf; 
sofern  aber  solche  Gemeinschaften  andern  gegenüber  selbst  als 
einzelne  erscheinen,  muß  auch  für  sie  gelten,  was  von  den  natür- 
lichen Personen  gilt.  Hierzu  gehört  freilich  auf  der  andern  Seite 
als  Gegenstück  auch  noch  dieses,  daß,  wenn  der  einzelne  an- 
gesehen wird  als  in  die  schon  bestehende  Gemeinschaft  eintretend, 
sein  sittHches  Handeln  überall  nur  erscheint  als  ein  Anknüpfen 
an  das  schon  Bestehende,  mithin  mehr  durch  die  Gemeinschaft 
bestimmt  als  durch  ihn,  so  daß  das  Gegenteil  des  eben  Gesagten 
ratsamer  scheint,  nämUch  die  Gemeinschaft  als  das  ursprüngHch 
handelnde  Subjekt  in  der  Pflichtenlehre  zum  Grunde  zu  legen. 
Allein  die  Gemeinschaft  besteht  nur  durch  das  fortwährende  Han- 
deln der  einzelnen  in  ihr,  und  ist  also  selbst  nur  als  deren  Tat 
anzusehen,  so  daß  jedes  anknüpfende  Handeln  eigentlich  doch  ein 
die  Gesellschaft  stiftendes  und  in  jedem  Augenblick  wieder  er- 
zeugendes ist. 

Aus  diesen  Betrachtungen  nun  gehen  zwei  Einteilungs- 
gründe hervor  für  das  ganze  Gebiet  des  pflichtmäßigen  Han- 
delns. Der  erste  nämlich  ist  dieser.  Eine  Gemeinschaft  könnte 
nicht  bestehen,  wenn  nicht  die  sittliche  Kraft  in  allen  einzelnen 
dieselbe  und  die  sittliche  Aufgabe  für  alle  dieselbe  wäre,  und  da- 
durch  also   ist   bedingt  ein   in   allen  gleichzusetzendes   Handeln. 


392  Pflichtbegriff.  [111,2,393] 

Allein  sofern  der  sittliche  Wille  jedem  einzelnen  einwohnet  in 
seiner  Person,  und  jeder  als  ein  schon  irgendwie  gewordener  die 
Ausführung  dieses  Willens  beginnt  auf  den  Grund  seiner  Über- 
zeugung, welche  der  Ausdruck  ist  seiner,  von  allen  andern  unter- 
schiedenen sittlichen  Person,  und  jeder  nur  so  in  die  Gemein- 
schaft aufgenommen  wird:  so  bedingt  eben  dieses  ein  für  jeden 
eigentümliches,  von  allen  aber  anzuerkennendes  Handeln.  Wir 
nennen  vorläufig  jenes  das  universelle  und  dieses  das  individuelle 
Gebiet.  In  der  allgemeinen  Pflichtformel  sind  beide  ineinander 
gesetzt,  mithin  ist  jedes  nur  ein  Sittliches,  wenn  es  zugleich  auf 
das  andere  bezogene  wird,  und  es  entstehn  uns  für  diese  beiden 
Handlungsweisen  aus  der  ursprünglichen  allgemeinen  Pflicht- 
formel zwei  besondere  und  abgeleitete,  die  erste :  Handlejedes- 
mal  gemäß  deiner  Identität  mit  andern  nur  so,  daß 
du  zugleich  auf  die  dir  angemessene  eigentümliche 
Weise  handelst.  Die  Notwendigkeit  dieser  Formel,  wenn  ein 
vollkommen  sittliches  Handeln  zustande  kommen  soll,  wird  schon 
jedem  daraus  einleuchten,  daß  ein  in  bezug  auf  die  andern  voll- 
kommen richtiges  Handeln  doch  als  ein  relativ  leeres,  also  un- 
vollkommnes  erscheint,  wenn  ihm  das  Gepräge  des  eigentüm- 
lichen ganz  abgeht,  indem  durch  die  Forderung  auf  Übereinstim- 
mung, welche  die  andern  machen  können,  die  Art  und  Weise  der 
Handlung  doch  nie  vollkommen  bestimmt  wird.  Will  aber  die 
Gesamtheit  ihre  Anforderungen  bis  zu  einer  gänzlichen  Unter- 
drückung des  Eigentümlichen  steigern:  so  wird  der  einzelne  nur 
unvollkommen  anerkannt,  die  Pflichtmäßigkeit  ist  von  der  Ge- 
samtheit verletzt,  und  das  Resultat  ist  eine  Mechanisierung  des 
ganzen  Gesamtlebens,  wozu  das  Chinesische  eine  bedeutende  An- 
näherung darstellte.  Die  andre  Formel  lautet  so:  Handle  nie 
als  ein  von  den  andern  unterschiedener,  ohne  daß 
deine  Übereinstimmung  mit  ihnen  in  demselben 
Handeln  mitgesetzt  sei;  denn  ohne  diese  Bedingung  wäre 
aus  dem  eigentümlichen  Handeln  alle  Anerkennung  der  Gemein- 


[111,2,394]  Pflichtbegriff.  393 

Schaft  vertilgt,  und  das  Resultat  würde  sein  die  Verwandlung 
des  sittlichen  in  ein  völlig  lizenziöses  Leben. 

Der  zweite  Einteilungsgrund  ist  dieser.  Der  ursprüngliche 
sittliche  Wille  des  einzelnen  für  sich  betrachtet  schließt  in  sich  die 
Aneignung  der  ganzen  sittlichen  Aufgabe.  Indem  aber  der  ein- 
zelne die  Gesamtheit  der  handelnden  Subjekte,  mit  denen  er 
sich  in  Verbindung  findet,  anerkennt:  so  stiftet  er  mit  ihnen  die 
Gemeinschaft.  Dieses  beides  nun,  Aneignen  und  Gemeinschaft- 
stiften, ist  in  der  ursprünglichen  Pflichtformel  als  eines  gesetzt. 
Also  ist  auch  jedes  für  sich  nur  sittlich  in  Beziehung  auf  das 
andere,  und  es  entstehen  daher  durch  die  beiden  Momente  des 
ursprünglichen  sittlichen  Willens  aus  der  allgemeinen  Pflicht- 
formel zwei  besondere  einander  ergänzende  Formeln.  Die  erste: 
Eigne  nie  anders  an,  als  indem  du  zugleich  in  Ge- 
meinschaft trittst.  Diese  schließt  alles  Egoistische  aus  von 
dem  sittlichen  Handeln,  und  schließt  den  einzelnen  so  ganz  in 
die  Gemeinschaft  ein,  daß  er  nie  einen  Teil  der  sittlichen  Auf- 
gabe ausschheßend  für  sich  nehmen  noch  auch  irgend  etwas  von 
dem  durch  sittliches  Handeln,  und  zwar  gleichviel,  ob  durch  sein 
eignes  oder  durch  fremdes  gebildeten,  in  Beziehung  auf  sich  allein 
haben  und  behalten  darf,  sondern  immer  nur  in  bezug  auf  die 
Gemeinschaft  und  für  sie.  Die  andere:  Tritt  immer  in  Ge- 
meinschaft, indem  du  dir  auch  aneignest.  Diese  sichert 
dem  einzelnen  in  der  Gemeinschaft  seine  sittliche  Selbständigkeit, 
damit  er  zwar  immer  in  der  Gemeinschaft,  in  ihr  aber  auch  wirk- 
lich so  handle.  Denn  es  gibt  kein  anderes  Aneignen  als  nur 
des,  wenn  ich  so  sagen  darf,  sittlichen  Stoffes,  um  ihn  zum  Gut, 
aber  immer  wieder  zum  Gemeingut  zu  bilden. 

Wie  nun  in  diesen  vier  Formeln  das  Ganze  erschöpft  sei, 
so  daß  es  außer  ihnen  keine  weiter  gibt,  sondern  nur,  wie  sie 
selbst  aus  der  allgemeinen  als  ihr  untergeordnete  Entwicklungen 
dadurch  entstanden  sind,  daß  die  allgemeine  Naturvoraussetzung 
des  sittlichen  Handelns  mit  in  Betrachtung  gezogen  wurde,  eben- 


394  Pflichtbegriff.  [111,2,395] 


so  auch  alle  anderen  nur  untergeordnete  Entwicklungen  von 
ihnen  sein  können,  entstehend  aus  einer  nähern  Betrachtung  der 
sittlichen  Gesamtaufgabe  und  ihrer  Beziehung  auf  jene  Vor- 
aussetzung; dies  kann  vorläufig  bis  auf  nähere  Erörterung  eini- 
germaßen geprüft  werden,  teils  wenn  wir  auf  unsere  anfäng- 
liche Fiktion  zurückgehen,  und  unsere  Formeln  mit  ihr  verglei- 
chend finden,  daß  sie  nichts  anderes  sind  als  die  Verteilung  der- 
selben Momente  auf  die  Gesamtheit  der  einzelnen,  von  denen 
bei  dem  einen  die  vollkommene  Lösung  der  sittlichen  Aufgabe 
abhing.  Teils  wird  auch  dasselbe  erhellen,  wenn  man  betrachtet, 
wie  die  beiden  Einteilungsgründe  einander  schneiden,  so  daß 
es  gibt  ein  universelles  Gemeinschaftbilden  und  ein  ebensolches 
Aneignen,  sowie  auch  ein  eigentümliches  Aneignen  und  ein 
ebensolches  Gemeinschaftbilden.  Die  beiden  Gemeinschaftsgebiete 
sind  die  des  Rechtes  und  der  Liebe,  die  beiden  Aneignungs- 
gebiete sind  die  des  Berufs  und  des  Gewissens;  letzteres  auf 
besondere  Weise  so  genannt,  weil  in  der  Abneigung  in  bezug  auf 
die  Eigentümlichkeit  das  ursprüngliche  Verhältnis  des  einzelnen 
zur  Gesamtheit  der  sittlichen  Aufgabe  wiederkehrt,  und  also  über 
die  Pflichtmäßigkeit  im  einzelnen  dieses  Gebietes  nichts  anderes 
entscheiden  kann  als  dieselbe  subjektive  Überzeugung.  Diese 
Gebiete  bedingen  einander  gegenseitig;  und  die  Bezugnahme  auf 
alle  übrigen,  indem  man  vorzüglich  für  eines  von  ihnen  handelt, 
muß  die  Sicherheit  geben,  daß  keine  Kollisionen  entstehen  können. 
Wir  wollen  daher  sagen,  der  Ausdruck:  Begib  dich  unter 
kein  Recht,  ohne  dir  einen  Beruf  sicher  zu  stellen  und 
ohne  dir  das  Gebiet  des  Gewissens  vorzubehalten, 
sei  die  allgemeine  kollisionsfreie  Formel  der  Rechtspflicht;  die 
gleiche  aber  für  die  Liebespflicht  laute  so:  Gehe  keine  Ge- 
meinschaft der  Liebe  ein,  als  nur  indem  du  dir  das 
Gebiet  des  Gewissens  frei  behältst  und  in  Zusam- 
menstimmung   mit    deinem    Beruf.      Und    ähnliches    wird 


[111,2,  396]  Pflichtbegriff.  395 

von  den  beiden  andern  gegenüberstehenden  Punkten  zu  konstruie- 
ren sein,  so  daß  alle  sich  gegenseitig  mehr  oder  weniger  unmittel- 
bar bedingen.  Alles  aber  wobei  irgend  Pflichtformeln  in  An- 
wendung kommen  können,  wird  in  einem  von  diesen  Gebieten, 
wenn  die  Ausdrücke  in  dem  angegebenen  Sinne  genommen  wer- 
den, auch  gewiß  enthalten  sein. 


über  den  Unterschied  zwischen  Naturgesetz 
und  Sittengesetz. 

Gelesen  am  6.  Januar  1825. 

Eine  vereinzelte  Untersuchung,  wie  die  hier  angekündigte, 
welche  damit  beginnt,  zwei  Begriffe  aus  ihrem  natürlichen  Ort 
herauszureißen,  den  hier  der  eine  in  der  Naturwissenschaft  hat, 
der  andere  in  der  Sittenlehre,  um  sie  vergleichend  nebeneinander 
zu  stellen,  ist  immer  schon  wegen  des  Scheines  von  Willkür  miß- 
lich; und  soll  überhaupt  etwas  dadurch  erreicht  werden,  so  ist  es 
notwendig,  daß  gleich  von  vornherein  die  Absicht  des  Verfah- 
rens bestimmt  dargelegt  v/erde.  In  dem  gegenwärtigen  Falle  sind 
nur  zwei  Absichten  denkbar.  Entweder,  da  beide  Begriffe  unter 
dem  höheren  des  Gesetzes  als  Arten  oder  Anwendungen  zusam- 
mengefaßt sind,  kann  die  Untersuchung  auf  dieses  höhere,  auf  die 
Bestimmung  seines  Umfanges  und  die  Einteilung  desselben  ge- 
richtet sein,  welches  aber  hier  nicht  der  Fall  ist;  oder  sie  muß 
das  Verhältnis  der  untergeordneten  Begriffe  zu  den  wissenschaft- 
lichen Gebieten,  denen  sie  angehören,  feststellen  wollen.  Von  die- 
sen aber  habe  ich  es,  wie  ich  denn  überhaupt  mit  meinen  Stu- 
dien der  Naturwissenschaft  weniger  angehöre,  eigentlich  nur  mit 


[111,2,  398]  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  397 

der  Sittenlehre  zu  tun,  und  möchte  etwas  beitragen,  um  durch 
Vergleichung  mit  dem  entsprechenden  naturwissenschaftHchen 
Ausdrucic  Naturgesetz  die  Bedeutung  des  Begriffes  Sittengesetz 
für  die  Sittenlehre  genauer  zu  bestimmen. 

Es  ist  eine  alte  wissenschaftliche  Form,  Naturwissenschaft 
und  Sittenlehre  einander  zu  koordinieren  und  also  entgegenzustel- 
len; sie  ist  so  alt  als  die  Einteilung  aller  Wissenschaft  in  Logik, 
oder  nach  dem  altern  Sprachgebrauch  Dialektik*),  Physik  und 
Ethik.  Denn  in  dieser  ist  offenbar,  daß  die  beiden  letzteren  sich 
zur  ersteren  verhalten  sollen,  eine  wie  die  andere,  nicht  aber  etwa 
auch  Logik  und  Physik  zur  Ethik  eine  wie  die  andere,  oder  um- 
gekehrt Logik  und  Ethik  zur  Physik.  In  der  hellenischen  Philoso- 
phie aber  war  in  keiner  von  beiden  Wissenschaften  eigentlich  von 
Gesetzen  die  Rede;  teils  aber  wurden  übrigens  beide  in  gleicher 
Form  behandelt,  teils  auch  nicht.  Namentlich,  um  bei  den 
beiden  Weltweisen  stehen  zu  bleiben,  welche  auf  die  späteren 
Formationen  den  bedeutendsten  Einfluß  ausgeübt  haben,  gilt  dies 
von  Piaton  und  Aristoteles.  So  behandelte  Piaton  beide  Wissen- 
schaften auf  gleiche  Weise,  denn  sie  waren  ihm  beide  Konstruk- 
tionen aus  der  verschieden  gewendeten  Idee  des  Guten;  Aristote- 
les aber  behandelte  sie  ungleich,  insofern  wenigstens,  als  er  aus 
der  Naturwissenschaft  die  Idee  des  Guten  verbannte,  in  seiner 
Ethik  aber  diese  noch  ihre  Stelle  fand  als  Maß,  um  unter  dem 
in  der  menschlichen  Seele  und  den  menschlichen  Lebenstätigkei- 
ten vorkommenden  und  auf  die  bezogenen  das  Bessere  als  Ziel 
und  Gegenstand  des  Bestrebens  von  dem  Schlechteren  zu  unter- 
scheiden. Will  man  nun  sagen,  hier  habe  doch  schon  der  Begriff 
des  Gesetzes  latitiert,  so  will  ich  freigebig  sein  und  dieses  in  gewis- 
sem Sinne  zugeben;  nur  gestehe  man,  zum  rechten  Bewußtsein 


•)  Vielleicht  ließe  sicti  nachweisen,  daß  diese  Änderung  des  Sprachgebrauchs 
auf  nichts  weiter  als  auf  dem  Aufhören  der  dialogischen  Methode  beruht ; 
wenigstens  ist  ein  Unterschied  in  Absicht  auf  den  Gehalt  beider  Ausdrücke  in 
dieser  Zeit  durchaus  nicht  vorhanden. 


398  Naturgesetz  und  Sittengesetz,  [111,2,  399] 

und  somit  zu  einem  eigenen  bestimmten  Einfluß  auf  die  Behand- 
lung der  Wissenschaft  ist  dieser  Begriff  damals  nicht  gekommen, 
und  zwar  in  der  Naturwissenschaft  ebensowenig  als  in  der  Ethik, 
sondern  dies  blieb  der  neueren  Zeit  vorbehalten.  Denn  wenn 
gleich  bei  den  Stoikern  der  Begriff  der  Pflicht  —  sofern  es 
überhaupt  richtig  ist  ihr  xarÖQ&cojna  und  xa&rjxov  unter  diesem 
Ausdruck  zusammenzufassen  —  eine  größere  Rolle  spielte:  so  war 
es  doch  wieder  nur  die  Idee  des  Guten,  woraus  die  Pflichten 
abgeleitet  wurden,  und  nicht  eigentlich  der  Begriff  des  Gesetzes. 
In  der  neueren  Zeit  hingegen  finden  wir  diesen  Begriff  in  bei- 
den Wissenschaften  in  einem  ganz  andern  Sinne  vorherrschend 
und  die  Form  derselben  bestimmend,  indem  beide,  Ethik  und  Phy- 
sik, nach  nichts  anderem  zu  streben  scheinen  als  nach  einem  System 
von  Gesetzen.  Aber  sobald  dies  recht  zum  Bewußtsein  gekom- 
men war,  wurde  auch  festgestellt,  daß  der  Begriff  Gesetz  in  dem 
Ausdruck  Naturgesetz  etwas  anderes  bedeute,  also  nicht  der- 
selbe sei,  als  in  dem  Ausdruck  Sittengesetz;  und  der  Einfluß,  den 
dieses  seit  Kant  und  Fichte  auf  die  ganze  Gestaltung  der  Sitten- 
lehre gehabt  hat,  hat  mich  vornehmlich  zu  der  gegenwärtigen 
Untersuchung  angeregt.  Nun  kann  man  freilich  sagen,  die  hier 
bezeichneten  Formen  der  Philosophie,  die  Kantische  und 
Fichtische,  seien  schon  lange  antiquiert,  und  also  sei  auch  weder 
die  eine  noch  die  andere  von  beiden  Sittenlehren  als  die  einzige 
oder  auch  nur  vorzüglich  geltende  anzusehn;  neuere  Gestaltungen 
aber  würden  schon  von  selbst  den  Begriff  des  Gesetzes  wieder 
mehr  zurücktreten  lassen,  und  somit  auch  jenem  Gegensatz  zwi- 
schen Naturgesetz  und  Sittengesetz  keine  so  große  Bedeutung 
einräumen.  Mögen  diese  neuen  Formen  der  Ethik  auf  das  treff- 
lichste geraten;  meine  Meinung  ist,  weder  ihnen  vorgreifend  zum 
Vorteil  der  einen  Methode  und  zum  Nachteil  einer  andern  zu 
entscheiden,  noch  überhaupt  zur  bessern  Gestaltung  dieser  Wissen- 
schaft selbst  durch  die  gegenwärtige  Untersuchung  etwas  Eignes 
beizutragen.     Meine    Untersuchung    ist    vielmehr    nur    rückwärts 


[111,2,  400]  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  399 

gewendet,  und  ich  will  nur  kritisch  und  geschichtlich  jene  Formen 
der  Sittenlehre  würdigen  helfen,  welche,  daß  ich  so  sage,  auf 
der  Zentralität  des  Begriffes  Sittengesetz  beruhen. 

Die  Ausdrücke  Naturgesetz  und  Sittengesetz  scheinen  freilich 
schon  durch  ihre  sprachliche  Zusammensetzung  sich  einer  genauen 
Beziehung  aufeinander  verweigern  zu  wollen:  denn  was  bilden 
wohl  Natur  und  Sitte  für  einen  Gegensatz?  Allein  eine  solche 
Kritik  halten  wohl  wenig  wissenschaftliche  Terminologien  aus;  und 
um  diese  beiden  Ausdrücke  gleichmäßiger  zu  machen,  dürfen  wir 
ja  nur,  da  beides  so  oft  als  gleichbedeutend  gebraucht  worden 
ist,  Sittengesetz  verwandeln  in  Vernunftgesetz,  wobei  nur  zu  be- 
vorworten  ist,  daß  hier  lediglich  von  dem,  was  man  praktische 
Vernunft  genannt  hat,  vorläufig  die  Rede  sein  kann;  Vernunft- 
gesetz also,  mit  Ausschluß  der  logischen  oder  anderweitig  theoreti- 
schen Vernunftgesetze,  zu  verstehen  ist.  Dann  sind  unsere  Aus- 
drücke auf  den  Gegensatz  Natur  und  Vernunft  zurückgeführt,  der 
noch  immer  häufig  genug  gebraucht  wird,  um  hier  keiner  beson- 
deren Feststellung  zu  bedürfen.  Nun  sollen  aber  beide  Ausdrücke 
noch  auf  eine  andere  Weise  verschieden  sein,  als  schon  durch  jenen 
Gegensatz  bezeichnet  wird.  Das  Sittengesetz  soll  nicht  etwa 
auf  dieselbe  Weise  ein  Gesetz  sein  wie  das  Naturgesetz,  so  daß 
dieses  auf  dem  Gebiet  der  Natur  ebensoviel  gälte  als  jenes 
auf  dem  Gebiet  der  praktischen  Vernunft;  sondern  das  Natur- 
gesetz soll  eine  allgemeine  Aussage  enthalten  von  etwas,  was  in 
der  Natur  und  durch  sie  wirklich  erfolgt,  das  Sittengesetz  aber 
nicht  ebenso,  sondern  nur  eine  Aussage  über  etwas,  was  im 
Gebiet  der  Vernunft  und  durch  sie  erfolgen  soll.  So  daß  in 
dem  einen  Fall  Gesetz  eine  Aussage  wäre  über  ein  Sein,  ohne 
daß  im  eigentlichen  Sinne  ein  Sollen  daran  hinge,  in  dem  an- 
dern eine  Aussage  über  ein  Sollen,  ohne  daß  demselben  sofort 
ein  Sein  entspräche.  Daß  also  das  Wort  Gesetz,  so  verstanden, 
in  der  einen  Zusammensetzung  eine  andere  Bedeutung  hat  als  in 
der  andern,  das  ist  für  sich  klar.    Die  Frage,  die  ich  hier  zuerst 


400  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  [111,2,401] 

aufvverfen  möchte,  welche  von  diesen  beiden  Bedeutungen  wohl  die 
richtigere  oder  wenigstens  ursprünglichere  sei,  erscheint  zwar  ganz 
grammatisch;  wir  können  sie  aber  doch  nicht  umgehen,  weil  sie 
mit  einem  Hauptpunkt  unserer  Untersuchung  zusammenhängt, 
nämlicii  mit  jenem  Sollen,  welches  auf  dem  Gebiet  der  rationa- 
len Sittenlehre,  wie  sehr  wir  auch  schon  daran  gewöhnt  sind, 
doch  immer  etwas  Geheimnisvolles  und  Unerklärliches  an  sich  hat. 
Das  Sollen  nämlich  geht  ursprünglich  immer  auf  eine  An- 
rede zurück;  es  setzt  einen  Gebietenden  voraus  und  einen  Gehor- 
chenden, und  spricht  eine  Anmutung  des  ersten  an  den  letzten 
aus.  Denn  der  Gehorchende  sagt,  Ich  soll,  wenn  der  Gebietende 
ihm  etwas  angemutet  hat,  und  er  sagt  dieses  ohne  Rücksicht 
darauf,  ob  er  selbst  das  Angemutete  zu  tun  gedenkt  oder  nicht, 
niemals  aber  ohne  die  genaueste  Beziehung  auf  ein  dem  Anmu- 
tenden beiwohnendes  bestimmtes  Recht.  Wer  soll  nun  aber  in 
diesem  sittlichen  Sollen  der  Anredende  sein,  und  wer  der  Ange- 
redete? Mancherlei  zu  diesem  Behuf  gebrauchte  Gegensätze  treten 
uns  hier  vor  Augen,  aber  keiner  will  sich  recht  angemessen  zei- 
gen. Die  praktische  Vernunft  oder  das  obere  Begehrungsver- 
mögen redet  an;  dann  aber  muß  angeredet  werden  das  untere 
Begehrungsvermögen  oder  die  Sinnlichkeit,  aber  dann  auch  ihr 
nichts  zugemutet,  was  sie  nicht  wirklich  vollziehen  kann.  Kann 
aber  wohl  die  Sinnlichkeit  darauf  angeredet  werden  zu  vollziehen, 
was  z.  B.  in  dem  Kantischen  kategorischen  Imperativ  enthalten 
ist?  Unmöglich.  Denn  in  ihr  liegt  kein  Trieb  auf  allgemein  Gesetz- 
mäßiges, ja  auch  nicht  einmal  ein  Urteil  darüber,  ob  etwas, 
was  sie  wirklich  vollziehen  kann,  dem  Gesetzmäßigen  widerspreche 
oder  nicht.  Ja  sie  vernimmt  überhaupt  schon  nicht  das  bloße 
Wort,  sondern  es  gibt  mit  ihr  keine  andere  Sprache  als  die  der 
Empfindung  oder  des  Reizes,  sei  es  in  der  unmittelbaren  Gegen- 
wart oder  in  Furcht  und  Hoffnung.  Ebenso  ist  es  mit  dem 
Fichteschen  Prinzip  der  Sittlichkeit,  sowohl  dem  formalen  Ausdruck 
desselben,  sich  die  absolute  Selbständigkeit  zum  Gesetz  zu  machen, 


[111,2,402]  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  401 

als  auch  dem  realen,  die  Dinge  gemäß  ihrer  Bestimmung  zu  be- 
handeln. Denn  die  Sinnlichkeit  besteht  nur  in  der  Wechselwir- 
kung, und  hat  überall  keine  Selbständigkeit,  noch  auch  kennt  sie 
eine  andere  Bestimmung  der  Dinge  als  deren  Beziehung  auf  sie 
selbst.  Oder  soll  die  Vernunft  anreden,  und  das  obere  Begeh- 
rungsvermögen angeredet  werden?  Denn  man  hat  beide  auch 
irgendwie  unterschieden,  und  wir  wollen  gern  zufrieden  sein,  wenn 
wir  unserm  Sollen  zuliebe  auch  nur  einen  halb  eingebildeten 
Unterschied  herausbringen.  Will  man  aber  beide  unterscheiden: 
so  muß  doch  die  praktische  Vernunft  nicht  begehren,  sofern  sie 
nicht  soll  das  Begehrungsvermögen  sein.  Im  Aussprechen  des 
Sollens  aber  begehrt  sie,  denn  das  Anmuten  ist  doch  ein  Be- 
gehren; und  man  kann  nicht  sagen,  daß  sie  als  nichtbegehrend 
von  sich  selbst  als  Begehrendes  etwas  begehrte.  Oder  ist  es  die 
Vernunft  überhaupt  und  an  sich,  welche  anmutet  der  Vernunft 
des  einzelnen?  wenn  anders  dies  nicht  schon  ein  Unterschied  gar 
nicht  mehr  ist,  sondern  nur  scheint.  Aber  v^enn  es  auch  einer 
ist:  so  spricht  doch  der  einzelne  die  Pflicht  aus  in  sich  selbst 
für  sich  selbst,  und  das  Begehren,  selbst  etwas  zu  tun,  ist  nur 
ein  Wollen,  kein  Sollen,  so  wie  das  Anerkennen  des  Begehrens 
sich  selbst  etwas  anzumuten  nur  ein  Selbstanerkennen  ist,  nicht 
ein  Anerkennen  eines  andern;  so  daß  auf  beiden  Seiten  das 
Sollen  ganz  seine  Bedeutung  verliert. 

Doch  es  ist  noch  eine  andere  Ansicht  der  Sache  möglich. 
Nämlich  indem  die  Vernunft  in  der  Konstruktion  der  Sittenlehre 
oder  des  Systems  der  richtigen  menschlichen  Handlungen  begriffen 
ist,  befindet  sie  sich  in  einer  wissenschaftlichen  Tätigkeit,  in  wel- 
cher alles  im  Zusammenhange  in  großer  Klarheit  erscheint.  Im 
Leben  kommt  die  Anwendung  davon  nur  vereinzelt  vor  und  zer- 
streut; die  Vernunft  aber  im  wissenschaftlichen  Zustande  mutet 
sich  selbst  als  im  Leben  handelnder  zu,  dann  doch  immer  aus  die- 
sem klar  gedachten  Zusammenhange  heraus  zu  handeln  und  unter 
ihn  zu  subsumieren.    Hier  wäre  also  eine  Zweiheit,  wenngleich 

Schleiermacher,  Werke.     I.  26 


402  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  [111,2,  403] 


nur  verschiedener  Momente,  der  wissenschaftliche  wäre  der  ge- 
bietende und  der  handelnde  der  gehorchende,  und  das  Sollen 
spräche  eigentlich  aus,  daß,  wenn  in  einem  tätigen  Augenblick 
der  Willensakt  der  Vernunft  nicht  diesem  Zusammenhange  ent- 
spräche, er  falsch  sein  würde.  Hiergegen  ist  nur  einzuwenden, 
daß  das  sittliche  Verhältnis  derer,  die  auf  einen  wissenschaftlichen 
Zusammenhang  zurückgehn,  durchaus  nicht  unterschieden  wird 
von  dem  sittlichen  Verhältnis  derer,  welche  von  einem  solchen  gar 
nichts  wissen.  Ja  auch  diejenigen,  denen  dieser  Zusammenhang 
zugänglich  ist,  gehn  doch  im  Augenblick  des  Entschlusses  und  der 
Tat  nicht  auf  ihn  zurück,  sondern  das  Soll,  was  sie  in  sich 
vernehmen,  bezieht  den  jedesmahgen  einzelnen  Fall  auf  ein  mehr 
oder  minder  allgemeines  oder  besonderes,  immer  aber  als  einzeln 
gedachtes  Gebot,  ohne  dieses  als  Glied  eines  allgemeinen  Zusam- 
menhanges vorzustellen.  Also  kann  auch  dies  die  Bedeutung  die- 
ses sittlichen  Solls  nicht  sein. 

Diese  gar  nicht  leicht  zu  überwindenden  Schwierigkeiten  füh- 
ren ganz  natürlich  darauf  zu  fragen,  woher  doch  eigentlich  dieses 
Soll  uns  entstanden  ist  mit  dem  Gesetz  zusammen  in  der  Sitten- 
lehre. Zuerst  kennen  wir  das  Sollen  in  dem  Gebiet  des  häus- 
lichen und  bürgerlichen  Lebens;  es  ist  der  Ausdruck,  durch  wel- 
chen einer  in  dem  andern  einen  Willen  hervorruft,  welcher  vor 
dem  Soll  gar  nicht  vorausgesetzt  wird:  der  Gehorchende  erkennt 
aber  an  dem  Soll  den  Willen  des  Gebietenden,  und  was  also 
allerdings  vorausgesetzt  wird  in  dem  Angeredeten,  das  ist  sein  all- 
gemeiner Wille  zu  gehorchen.  Mit  dem  Gesetz  als  dem  Willen 
des  Gebietenden  hängt  also  hier  allerdings  das  Soll  zusammen, 
keinesweges  aber  etwa  mit  der  Strafe.  Vielmehr  wenn  man  Zu- 
flucht zur  Strafe  nehmen  muß:  so  verliert  das  Soll  seine  Kraft, 
und  man  sagt  dann  richtiger.  Du  mußt  dieses  tun,  sonst  wird 
dir  jenes  begegnen.  Man  kann  sich  auch  denken  in  einem  Ge- 
meinwesen alle  einzelnen  so  bereitwillig  dem  allgemeinen  Wil- 
len nachzukommen,  daß   keine  Androhung  von  Strafen  nötig  ist 


[111,2,  404]  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  403 

den  Gesetzen  hinzuzufügen,  aber  doch  wird  ihnen  das  Soll  an- 
hängen als  Zeichen  des  willenbestimmenden  Ansehns.  Es  läßt 
sich  allerdings  noch  eine  höhere  Stufe  denken,  auf  welcher,  weil 
der  Wille  nicht  erst  bestimmt  zu  werden  braucht,  auch  das  Soll, 
aber  dann  mit  dem  Soll  zugleich  auch  das  Gesetz  verschwindet, 
wenn  nämlich  zu  der  allgemeinen  Bereitwilligkeit  noch  eine  eben 
so  allgemeine  richtige  Einsicht  in  das  allgemeine  Wohl  hinzu- 
kommt, so  daß  nur  die  vorhandenen  Umstände  dargelegt  zu  wer- 
den brauchen,  um  einen  gleichmäßigen  Beschluß  aller  einzelnen 
hervorzurufen.  Was  also  hier  das  Soll  bedeutet  auf  dem  Ge- 
biet positiver  Willensbestimmungen,  das  ist  klar.  In  der  jüdi- 
schen Gesetzgebung  aber  war  der  theokratischen  Verfassung  ge- 
mäß das  allgemein  Menschliche  mit  dem  besonderen  Bürgerhchen 
und  Religiösen  gemischt,  wie  es  auch  notwendig  war  für  ein  Volk, 
welches  solange  in  einem  Zustande  gänzlicher  Unterdrückung  des 
Gefühls  für  das  allgemein  Menschliche  gelebt  hatte,  daß  es  nur 
zu  geneigt  sein  konnte,  alles  für  erlaubt  zu  halten.  Der  gött- 
liche Wille  wird  hier  gedacht  wie  der  oberherrliche,  einen  Willen 
hervorrufend  vermittelst  des  allgemeinen  Willens,  ihm  zu  gehor- 
chen. Als  nun  unter  eben  dieser  Form  jene  Festsetzungen  des 
Sittlichen  auch  in  den  christlichen  Unterricht  aufgenommen  wur- 
den: so  entstand  die  Gewöhnung,  mit  der  sittHchen  Erkenntnis 
das  Soll  zu  verbinden,  und  diese  erhielt  sich  hernach  auch,  seit- 
dem man  angefangen  hatte,  die  sitthche  Erkenntnis  in  eine  all- 
gemeine Gestalt  zu  bringen,  wobei  auf  einen  äußerlich  bekannt 
gemachten  göttlichen  Willen  nicht  mehr  gesehen,  sondern  die 
menschliche  Vernunft  selbst  als  gesetzgebend  gedacht  wurde.  Wie- 
viel nun  aber  von  der  ursprünglichen  Bedeutung  des  Soll  bei 
dieser  Übertragung  übrig  bleibt?  Wohl  nur  dieses.  Das  Soll 
des  bürgerlichen  Gebotes  ergeht  an  alle  die  unter  derselben  an- 
mutenden Autorität  stehn.  Sofern  ich  also  etwas  will,  und  mir 
dabei  bewußt  bin,  daß  dieser  Wille  ein  allgemeiner  Akt  der 
menschlichen  Vernunft  ist,  unter  deren  anmutendem  Ansehen  alle 

26* 


404  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  [111,2,405] 

stehen,  so  drücke  ich  ihn  durch  Soll  aus,  weil  alle  andere  mir 
dasselbe  anmuten  können,  so  gut  als  ich  ihnen.  Dieses  ange- 
nommen, wird  man  nun  wohl  sagen  können,  daß  auf  dem  sitt- 
lichen Gebiet  Gesetz  und  Sollen  genau  miteinander  verbunden 
sind,  indem  auch  das  Soll  nichts  anders  aussagt  als  die  All- 
gemeinheit der  sittlichen  Bestimmung.  Ob  nun  aber  alles  Sittliche 
unter  dieser  Form  ausgesprochen  werden  kann,  das  wäre  eine 
andere  Frage.  Denn  jeder  Entschluß,  der  als  ein  rein  individueller 
entsteht,  kommt  nicht  mit  diesem  Soll  zum  Bewußtsein,  son- 
dern als  ein  eigentümlicher  aber  vernunftmäßiger  Wille,  und 
nur  die  zweite  Frage,  inwiefern  einem  solchen  ohne  Soll  auf- 
tretenden, auf  ein  sogenanntes  Erlaubtes  gehenden  Willen  gefolgt 
werden  darf,  läßt  sich  wieder  auf  ein  Gesetz  zurückführen.  Und 
dies  wäre  dann  freilich  ein  Unterschied  zwischen  Naturgesetz  und 
praktischem  Vernunftgesetz,  daß  alles  Natürliche,  wie  es  geschieht, 
sich  auf  Gesetze  zurückführen  läßt,  vermöge  deren  es  geschieht, 
nicht  aber  im  Gebiet  der  praktischen  Vernunft  alles  auf  solche 
Gesetze,  vermöge  deren  es  geschehen  soll;  nur  ganz  ein  anderer 
Unterschied  ist  dies,   als  der  gewöhnlich  angenommene. 

Ehe  wir  aber  diesen  näher  betrachten,  entsteht  uns  noch  die 
Frage,  wie  es  damit  steht,  daß  die  sittlichen  Formeln,  um  sie  von 
andern  auch  mit  dem  Soll  behafteten  auf  demselben  Gebiet  auf- 
tretenden Gesetzen  oder  Imperativen  zu  unterscheiden,  kategori- 
sche genannt  werden,  die  andern  aber  hypothetische.  Zunächst 
würde  man  nun  nach  der  Kantischen  Tafel  versucht,  zu  beiden 
noch  einen  dritten  aufzusuchen,  dessen  er  aber  nirgends  erwähnt, 
nämlich  den  disjunktiven,  welcher  lauten  müßte:  Du  sollst  entweder 
dieses  tun  oder  jenes.  Die  hypothetischen  Imperative  aber  teilt 
Kant  wieder  in  solche,  die  als  praktische  Prinzipien  assertorisch, 
und  in  solche,  die  nur  problematisch  sind,  wogegen  der  katego- 
rische Imperativ  apodiktisch  ist.  Doch  gesteht  er  selbst  zu,  daß 
beide  zusammenfallen  würden,  wenn  die  Klugheit  auf  einen  rich- 
tigen Begriff  leicht  zu  bringen  wäre.    Wenn  aber  nun  alle  besag- 


[111,2,406]  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  405 

ten  Regeln  hypothetische  Imperative  sind,  weil  unentschieden 
bleibt,  ob  die  Absicht,  zu  welcher  sie  gebraucht  werden,  gut  ist: 
so  muß  der  kategorische  Imperativ  ebenfalls  hypothetisch  bleiben, 
wenn  man  nicht  darauf  zurückgehn  will,  daß  der  Begriff  des 
Guten  vor  Aufstellung  der  sittlichen  Gesetze  bestimmt  sein  muß. 
Denn  sonst  ist  noch  nicht  entschieden,  oft  vernunftmäßig  Handeln- 
wollen gut  ist;  und  das  Gebot  dazu  kann  demnach  nie  anders 
lauten  als  so:  Wenn  du  vernünftig  sein  willst,  so  handle  so. 
Nehmen  wir  aber  an,  daß  natürlich  alle  verschiedenen  Methoden 
und  Stile  einer  Kunst  in  ihren  Verhältnissen  zueinander  einer  Kon- 
struktion fähig  sein  müssen,  und  in  dieser  angeschaut  ein  Ganzes 
bilden,  so  daß  jeder,  der  etwas  Tüchtiges  hervorbringen  will,  nach 
einer  von  diesen  verfahren  muß :  so  wird  offenbar  in  diesem 
Fall  der  technische  Imperativ  ein  disjunktiver,  und  diese  Lücke 
wäre  demnach  ausgefüllt.  Vergleichen  wir  nun  hier  mit  dem 
individuellen  sittlichen  Handeln  das  einzelne,  und  denken  uns, 
wie  kaum  anders  möglich,  wenn  wir  die  menschliche  Natur  als 
Gattung  betrachten,  die  verschiedenen  Gestaltungen  der  Intelligenz 
innerhalb  derselben  auch  als  einen  Zyklus:  so  ergibt  sich  von 
selbst  das  gleiche,  daß  nämlich  der  ursprünglich  kategorische 
Imperativ  an  die  Gesamtheit  der  einzelnen  gerichtet  als  Ausdruck 
des  allgemeinen  sittlichen  Willens  ebenfalls  in  der  Anwendung 
der  Formel  auf  die  einzelnen  disjunktiv  werden  muß.  Der  all- 
gemeine Wille,  vernünftig  zu  sein,  muß  sich  an  dem  einzelnen 
entweder  so  gestalten  oder  so.  Ja  noch  auf  andere  Weise  kann 
man  sagen,  wenn  man  auf  die  Gesamtheit  der  sittlichen  Hand- 
lungen sieht,  daß,  wenn  in  dem  Vernunftwesen  der  allgemeine 
sittliche  Wille  gesetzt  ist,  alle  besonderen  Formeln,  welche  sich 
auf  einzelne  Klassen  von  Handlungen  beziehn,  wie  dies  mit  den 
Pflichtformeln  der  Fall  ist,  nichts  anders  sind,  als  technische  Im- 
perative, um  jenen  allgemeinen  Willen,  dessen  Ausdruck  allein 
der  kategorische  ist,  zu  realisieren.  Man  nehme  noch  hinzu,  daß 
die  isolierte  Betrachtung  des  kategorischen  Imperativs  am  wenig- 


40ö  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  [111,2,407] 

sten  geeignet  ist,  eine  wissenschaftliche  Basis  zu  werden,  weil 
sie  nichts  darbietet  zwischen  der  Einheit  des  Prinzips  und  der 
Unendlichkeit  einzelner  Fälle  der  Anwendung,  also  die  Vielheit 
gar  nicht  gestalten  kann;  und  nur  das  Disjunktive  ist  auch  bei 
Kant  das  Prinzip  aller  wissenschaftlichen  Zusammenstellung  der 
Vielheit.  Der  kategorische  Imperativ  kommt  also  erst  zur  Klar- 
heit des  Bewußtseins,  wenn  er  hypothetisch  wird.  Nur  indem  das 
Dilemma  aufgestellt  wird,  entweder  vernünftig  sein  und  so  han- 
deln, oder  nicht  so  und  unvernünftig,  wird  das  Sittengesetz  nach 
Kants  Ausdruck  pragmatisch,  welcher  Ausdruck  in  der  Tat  weit 
mehr  sagen  will  als  jener,  wenngleich  Kant  ihn  nur  für  den 
untergeordneten  konsumtiven  Imperativ  der  Klugheit  aufbewahrt. 
Denn  das  Soll,  sobald  es  sich  nicht  mehr  auf  eine  äußere  Autori- 
tät gründet,  kann  nur  wie  ein  Zauber  erscheinen,  wenn  es  nicht 
jenen  assertorischen  Charakter  annimmt:  Weil  du  vernünftig  sein 
willst,  so  handle  also.  Der  kategorische  Imperativ  ist  demgemäß 
nur  die  bewußtlose  unentwickelte  Form  des  Sittengesetzes,  und 
bekommt  erst  eine  praktische  Realität  und  eine  wissenschaftliche 
Traktabilität,  wenn  er  sich  in  den  hypothetischen  und  disjunktiven 
entwickelt. 

Doch  dieses  war  nur  beiläufig;  aber  wie  steht  es  nun  um 
den  durch  ein  entgegengesetztes  Verhältnis  beider  zum  Sein  be- 
gründeten Gegensatz  zwischen  Sittengesetz  und  Naturgesetz?  Be- 
steht —  denn  darauf  laufen  die  Kantischen  und  Fichtischen  Er- 
klärungen hinaus  —  besteht  die  absolute  Gültigkeit  des  Sitten- 
gesetzes darin,  daß  es  immer  gelten  würde,  wenn  auch  niemals 
geschähe,  was  es  gebietet,  weil  ja  doch  das  Soll  desselben  be- 
steht, auch  wenn  ihm  ein  Sein  gar  nicht  anhängt,  die  absolute 
Gültigkeit  des  Naturgesetzes  hingegen  darin,  daß  immer  geschehen 
muß,  was  darin  ausgesagt  ist?  Was  das  erste  betrifft,  so  ist 
allerdings  wahr,  daß  die  Gültigkeit  des  Gesetzes  nicht  abhängt 
von  der  Vollständigkeit  seiner  Ausführung;  ja  es  ist  der  richtige 
Ausdruck  für  unsere  Annahme  des  Gesetzes,  daß,  ohnerachtet  wir 


[111,2,  408]  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  407 

keine  einzige  menschliche  Handlung  für  schlechthin  vollkommen, 
also  ganz  dem  Gesetz  entsprechend  erkennen,  die  Gültigkeit  des 
Gesetzes  dadurch  dennoch  gar  nicht  leidet.  Allein  auf  der  andern 
Seite  muß  doch  immer  etwas  vermöge  des  Gesetzes  geschehen, 
sonst  wäre  es  auch  kein  Gesetz.  Denn  wenn  wir  auf  den  Pro- 
totyp des  Sollens,  nämlich  das  bürgerliche  Gesetz,  zurückgehn: 
würde  wohl  jemand  sagen,  das  sei  wirklich  ein  Gesetz,  was  zwar 
ausgesprochen  sei  als  solches,  aber  niemand  mache  auch  nur  die 
geringste  Anstalt,  dem  Gesetz  zu  gehorchen?  Gewiß  würden  wir 
verneinen,  aber  dann  auch  hinzufügen,  der  Gesetzgeber  sei  auch 
keine  Obrigkeit  mehr,  weil  seine  Aussprüche  nicht  anerkannt  wer- 
den, und  das  ganze  Verhältnis  nur  im  Anerkennen  bestehe.  Wer- 
den wir  nun  nicht  auf  dieselbe  Art  auch  vom  Sittengesetz  sagen 
müssen:  Wenn  in  keinem  Menschen  die  geringsten  Anstalten  ge- 
macht würden,  demselben  zu  gehorchen,  und  das,  was  Kant  die 
Achtung  für  das  Gesetz  nennt,  gar  nicht  vorhanden  wäre;  denn 
diese  ist  doch  immer  schon  ein,  wenngleich  unendlich  kleiner,  An- 
fang des  Gehorchens:  so  wäre  auch  das  Sittengesetz  kein  Gesetz, 
sondern  nur  ein  theoretischer  Satz,  von  welchem  man  sagen  könnte, 
er  würde  ein  Gesetz  sein,  wenn  es  ein  Anerkenntnis  desselben 
gäbe?  Aber  die  Vernunft  wäre  dann  auch  gar  nicht  praktisch, 
so  wenig  als  jener  Gesetzgeber,  dem  niemand  im  mindesten  ge- 
horchte, eine  Obrigkeit  wäre.  Jene  Achtung  für  das  Gesetz,  ein 
gewiß  unter  den  gegebenen  Umständen  sehr  wohlgewählter  Aus- 
druck, konstituiert  als  eigentlich  erst  das  Gesetz,  und  ist  die  Wirk- 
lichkeit des  Gesetzes.  Denn  das  einzige,  was  man  an  dem  Aus- 
druck tadeln  könnte,  ist  nur  dieses,  daß  er  zu  trennen  scheint,  was 
unmöglich  getrennt  werden  kann.  Denn  nicht  existiert  das  Sitten- 
gesetz zuerst  als  Gedanke,  und  hernach  bringt  die  Vernunft  die 
Achtung  dafür  hervor;  sondern  es  ist  nur  ein  und  dasselbe  oder 
ein  und  derselbe  transzendentale  Akt,  wodurch  die  Vernunft  prak- 
tisch wird,  das  heißt  als  Impuls  besteht,  und  wodurch  es  ein 
Sittengesetz  gibt.    Kann  man  also  wohl  sagen,  das  Sittengesetz 


408  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  [111,2,  409] 

würde  gelten,  wenn  auch  nie  etwas  demselben  gemäß  geschähe? 
Wohl  nur,  wenn  man  bei  der  äußern  Vollbringung  der  Handlun- 
gen stehen  bleibt;  diese  aber  sind  auf  der  einen  Seite  gar  nicht 
Produkte  des  Gesetzes  oder  des  Willens  allein,  auf  der  andern 
Seite  ist  aber  doch  immer,  wenn  nur  irgend  das  Gesetz  dabei 
mit  eingetreten  ist,  auch  etwas  in  ihnen,  was  rein  dem  Gesetz  ge- 
mäß geschieht.  Denn  wird  überhaupt  nur  auf  das  Gesetz  bezogen: 
so  wird  auch  entweder  dem  Gesetz  gemäß  gewollt,  oder  das 
Gegenteil  wird  nur  unter  der  Form  des  Unrechtes  gewollt;  und 
auch  das  geschieht  dann  dem  Gesetz  gemäß.  Wird  aber  dem  Ge- 
setz gemäß  gewollt:  so  ist  notwendig  auch  in  der  erscheinenden 
Handlung  etwas,  wodurch  das  Gesetz  repräsentiert  wird.  Eben 
dieses  aber  ist  ja  ein  Sein,  es  ist  die  innerste  Bestimmtheit  des 
Ich,  und  aus  unserm  Gesichtspunkt  weit  mehr  ein  Sein  als  die 
äußere  Tat  und  was  aus  derselben  hervorgeht;  denn  die  be- 
stimmende Kraft  der  Gesinnung  ist  das  eigentliche  und  ursprüng- 
liche sittliche  Sein,  wodurch  allein  jede  erscheinende  Tat,  sie  sei 
nun  vollkommner  oder  unvollkommner,  an  der  Sittlichkeit  teil- 
nimmt. Ja  wenn  man  auch  bei  dem  ohnstreitig  dürftigern  Aus- 
drucke der  sich  selbst  setzenden  Selbsttätigkeit  oder  der  Gesetz- 
mäßigkeit um  des  Gesetzes  willen  stehen  bleibt,  was  freilich  in 
einer  Hinsicht  etwas  Leeres  ist,  weil  daraus  niemals  eine  bestimmte 
Handlung  hervorgehen  kann,  so  ist  doch  auch  dann  die  Gesin- 
nung in  der  Tat  das  Sein  bestimmend,  weil  sie  den  Verlauf 
jeder  Tätigkeit  hemmt,  welche  der  Gesetzmäßigkeit  und  der  Selbst- 
tätigkeit schlechthin  etwa  zuwider  wäre.  Das  Gesetz  ist  also  nur 
Gesetz,  insofern  es  auch  ein  Sein  bestimmt,  und  nicht  als  ein  blo- 
ßes Sollen,  wie  denn  auch  ein  solches  streng  genommen  gar  nicht 
nachgewiesen  werden   kann. 

Können  wir  also  hier  auf  dem  Gebiet  des  Vernunftgesetzes 
das  Sollen  nicht  trennen  von  der  Bestimmung  des  Seins;  ist 
die  Vernunft  nur  praktisch,  sofern  sie  zugleich  lebendige  Kraft  ist: 
wie  wird  es  nun  auf  der  Seite  des  Naturgesetzes  stehn?  Werden 


[111,2,410]  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  409 

wir  dort  dieses,  daß  das  Gesetz  wiriclich  das  Sein  bestimmt,  ganz 
trennen  iiönnen  davon,  daß  dem  Gesetz  auch  ein  Sollen  anhängt? 
Freilich,  wenn  man  allein  dabei  stehen  bleibt,  daß  das  Sollen 
eine  Anmutung  an  den  Willen  enthält:  so  kann  hier  von  keinem 
Soll  die  Rede  sein,  weil  in  der  Natur  kein  Wille  gesetzt  ist. 
Alsdann  ist  aber  durch  den  Unterschied,  von  welchem  wir  han- 
deln, auch  keine  Verschiedenheit  zwischen  Naturgesetz  und  Ver- 
nunft g  e  s  e  t  z  ausgedrückt,  sondern  nur  zwischen  Natur  und  Ver- 
nunft. Es  liegt  aber  allerdings  in  dem  Sollen,  außerdem  daß  es 
eine  Anmutung  an  den  Willen  ausdrückt,  auch  noch  dieses,  daß 
bei  derselben  zweifelhaft  bleibt,  ob  der  Anmutung  wird  Folge 
geleistet  werden  oder  nicht.  Wenn  wir  nun  nachweisen,  daß 
Naturgesetze  auch  eine  Anmutung  enthalten,  wenngleich  freilich 
an  ein  willenloses  Sein,  aber  doch  eine  solche  Anmutung  eben- 
falls, bei  welcher  zweifelhaft  bleibt,  ob  sie  wird  in  Erfüllung  gehen 
oder  nicht:  dann  wäre  das  Verhältnis  zwischen  Sollen  und  Sein- 
bestimmung in  beiderlei  Gesetzen  so  sehr  dasselbe,  als  es  bei  der 
Verschiedenheit  von  Natur  und  Vernunft  nur  möglich  ist.  Die 
Gesetze  nun,  welche  sich  auf  die  Bewegungen  der  Weltkörper  be- 
ziehen, und  welche  die  Verhältnisse  der  elementarischen  Natur- 
kräfte und  Urstoffe  aussagen,  wollen  wir  in  dieser  Hinsicht  über- 
gehen. Denn  wenn  die  einzelnen  Fälle  hier  nicht  mit  dem  Ge- 
setz zusammenstimmen,  so  behaupten  wir  entweder,  daß  in  dem 
einzelnen  Falle  noch  etwas  anders  tätig  gewesen  als  dasjenige, 
wovon  das  Gesetz  redet;  oder  wir  erkennen  unsern  Ausdruck  nicht 
mehr  für  das  wahre  Naturgesetz,  sondern  modifizieren  ihn,  und 
hoffen  so,  es  immer  besser  zu  treffen,  lassen  aber  nicht  von  der 
Voraussetzung,  daß,  wenn  wir  erst  das  Richtige  gefunden  haben, 
alsdann  auch  alles,  w^orauf  das  Gesetz  anwendbar  ist,  demselben 
völlig  entsprechen  werde.  Ebenso  mit  den  Formeln  für  die  Be- 
wegungen. Wenn  diese  nicht  genau  zutreffen:  so  sieht  das  frei- 
lich aus,  als  hätten  wir  dem  Weltkörper  etwas  zugemutet,  was 
er  nicht  geleistet  habe;  allein  statt  uns  dabei  zu  begnügen,  nehmen 


410  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  [111,2,411] 


wir  an,  daß  noch  andere  bewegende  Kräfte  müßten  eingewirkt 
haben.  Aber  wir  können  dieses  zugeben,  ohne  dem  Eintrag 
zu  tun,  was  wir  hier  über  das  Naturgesetz  behaupten  möchten. 
Denn  eine  Formel  für  die  Bewegung  allein  als  das  bloße  Massen- 
vcrhäitnis  ist  doch  nur  eine  abstrakte  mathematische  Formel. 
Erst  wenn  wir  aus  der  Genesis  der  Sonne  und  der  Planeten 
die  Massen  und  Raumverhältnisse  selbst  begreifen  könnten,  so 
daß  auch  alle  Veränderungen  in  den  Massenverhältnissen  der 
Weltkörper  und  in  ihrem  Verhalten  zu  ihren  Bahnen  mit  darin 
begriffen  wären,  erst  dann  würden  wir  ein  wahres  Naturgesetz 
haben  auch  für  die  Bewegungen.  Aber  würde  denn  dieses  rein 
zutreffen?  Wohl  nicht  leicht;  sondern  wenn  wir  auf  diese  Art  ein 
Bewegungsgesetz  für  das  Sonnensystem  an  sich  gefunden  hätten: 
so  würde  es  doch  irgendwie,  wenn  auch  auf  eine  für  uns  gänz- 
lich unmerkliche  Weise,  durch  den  allgemeinen  Zusammenhang 
affiziert  werden;  und  wir  werden  mit  Recht  sagen  können,  es 
solle  sich  so  bewegen,  erleide  aber  bisweilen  Perturbationen,  und 
ein  Gesetz,  das  ein  vollkommener  Ausdruck  des  Seins  wäre,  wür- 
den wir  erst  gefunden  haben,  wenn  wir  das  ganze  Universum  auf 
eine  Formel  bringen  könnten.  Dasselbe  gilt  von  den  Urstoffen 
und  den  elementarischen  Kräften.  In  welchem  Umfange  wir  sie 
als  ein  Ganzes  begreifen  könnten,  wenn  es  nicht  das  absolute 
Ganze  wäre,  so  würden  wir  immer  nur  ein  Gesetz  haben,  nach 
welchem  das  Sein  sich  nicht  vollkommen  richtete,  und  die  Ab- 
weichung würde  uns  über  jenen  Umfang  hinaus  weisen;  wo  wir 
aber  eine  ganz  zutreffende  Formel  haben,  die  wird  sich  nur  auf 
sehr  bedingte  Faktoren  beziehen,  deren  Erscheinen  unter  diesen 
Bedingungen  wir  wieder  nur  als  ein  Zufälliges  begreifen,  so  daß 
kein  Sein  durch  die  Formel  bestimmt  wird. 

Doch  hierbei  länger  stehen  zu  bleiben,  das  hieße  nur  die  Frage 
ins  Unendliche  hinausschieben,  bis  wir  etwa  zu  Naturgesetzen  ge- 
langen, die  dem  Begriff  besser  entsprechen.  Allein  wir  haben  der- 
gleichen schon  auf  einem  andern  uns  näher  liegenden  Gebiet,  und 


[111,2,  412J  Naturgesetz  und  Sittene:esetz.  411 

die  uns  nur  um  so  mehr  als  wahre  Naturgesetze  erscheinen  wer- 
den, wenn  wir  sie  mit  jenen  vergleichen.  Nämlich  alle  Gattungs- 
begriffe der  verschiedenen  Formen  des  individuellen  Lebens  sind 
wahre  Naturgesetze.  Denn  die  lebendigen  Wesen,  die  Vegetation 
mit  eingerechnet,  entstehen  aus  Tätigkeiten  und  bestehen  in  Tätig- 
keiten, welche  sich  immer  auf  dieselbe  Weise  entwickeln;  wahre 
Gattungsbegriffe  nun  sollen  der  vollständige  Ausdruck  sein  für 
alles,  was  eine  bestimmte  Lebensform  konstituiert  an  sich  und  in 
ihrer  Differenz  von  andern  verwandten,  und  zwar  so,  daß  sie  in 
ihrem  Zusammenhange,  den  wir  auf  bestem  Wege  sind,  immer 
vollkommner  zu  begreifen,  das  Naturgesetz  des  individuellen 
Lebens  auf  unserm  ganzen  Weltkörper  ausdrücken.  Weiter  hinab- 
zusteigen bis  z.  B.  auch  auf  die  Formen  der  Kristallisation,  deren 
allerdings  jede  auch  nur  begriffen  werden  kann  als  eine  Ent- 
stehung der  Gestalt  aus  der  Bewegung,  werden  wir  dadurch  ver- 
hindert, teils,  daß  hier  die  Gattungsbegriffe  überall  auf  das  dem 
Kristallisierten  analoge  Derbe  zurückweisen,  und  die  bloße  Regel 
der  Kristallisation  doch  nur  eine  abstrakte  Formel  sein  würde,  das 
Naturgesetz  aber  sich  auf  die  Entstehung  und  Gestaltung  des  Star- 
ren überhaupt  erstrecken  müßte,  teils  auch  dadurch,  daß  uns 
hier  der  Prozeß  selbst  nicht  gegeben  ist,  sondern  nur  das  Resul- 
tat desselben.  Die  Vegetation  aber  und  Animalisation  zeigen 
uns  in  jeder  ihrer  verschiedenen  Formen  ein  abgeschloßnes  Ganze, 
dessen  Begriff  das  Gesetz  ist  für  ein  System  von  Funktionen  in 
ihrer  zeitlichen  Entwicklung.  Werden  wir  nun  gefragt:  Ist  jedes 
solche  Gesetz,  gleichviel  ob  es  der  untergeordnete  Begriff  einer  Art 
ist  oder  der  höhere  einer  Gattung  oder  der  noch  höhere  einer 
natürlichen  Familie,  ist  jedes  solche  Gesetz  bestimmend  ein  Sein? 
so  werden  wir  offenbar  bejahen  müssen;  denn  die  sämtlichen  In- 
dividuen dieser  Art  oder  Gattung  entstehen  nach  diesem  Gesetz, 
und  ihr  ganzes  Dasein  in  seiner  allmählichen  Entwicklung,  Kul- 
mination und  Entkräftigung  verläuft  nach  demselben.  Wenn  wir 
aber  nun   auf  der  andern  Seite  gefragt  werden:   Hängt  diesem 


412  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  [111,2,413] 

Gesetz  auch  ein  Sollen  an?  so  werden  wir  soviel  ebenfalls  be- 
jahen müssen,  daß  wir  das  Gesetz  aufstellen  für  das  Gebiet,  ohne 
daß  in  der  Aufstellung  zugleich  mit  gedacht  werde,  daß  alles  rein 
und  vollkommen  nach  dem  Gesetz  verlaufe.  Denn  das  Vorkom- 
men von  Mißgeburten  als  Abweichungen  des  Bildungsprozesses, 
und  das  Vorkommen  von  Krankheiten  als  Abweichungen  in  dem 
Verlauf  irgendeiner  Lebensfunktion  nehmen  wir  nicht  auf  in  das 
Gesetz  selbst,  und  diese  Zustände  verhalten  sich  zu  dem  Natur- 
gesetz, in  dessen  Gebiet  sie  vorkommen,  gerade  wie  das  Unsittliche 
und  Gesetzwidrige  sich  verhält  zu  dem  Sittengesetz. 

Noch  eine  Betrachtung,  mit  welcher  wir  schließen  wollen, 
wird  die  Identität  des  Verhaltens  beider  Begriffe  zur  vollen  An- 
schauung bringen.  Legen  wir  die  elementarischen  Kräfte  und 
Prozesse  und  den  Erdkörper  in  seiner  durch  die  Scheidung  des 
Starren  und  Flüssigen  bedingten  Ruhe  zum  Gmnde;  und  können 
wir  dann  mit  Recht  sagen,  hypothetisch  wenigstens,  und  mehr 
ist  hier  nicht  nötig,  mit  der  Vegetation  trete  ein  neues  Prinzip, 
nämlich  die  spezifische  Belebung,  in  das  Leben  der  Erde,  ein 
Prinzip,  welches  in  einer  Mannigfaltigkeit  von  Formen  und  Ab- 
stufungen erscheinend  sich  in  seinem  Umfange  den  chemischen 
Prozeß  sowohl  als  die  mit  der  Bildung  der  Erde  gegebene  Gestal- 
tung unterordnet  und  beides  auf  eine  individuelle  Weise  fixiert; 
und  fragen  wir  dann  weiter,  worin  denn  das  gegründet  sei,  was 
auf  diesem  Gebiet  als  Mißgeburt  oder  Krankheit  angesehen  wer- 
den muß,  was  hier  freilich  fast  immer  sehr  einfach  auf  Mangel 
oder  Überfluß,  das  heißt  auf  ein  quantitatives  Mißverhältnis, 
zurückgeführt  werden  kann,  so  werden  wir  doch  nur  antworten 
können:  Nicht  in  dem  neuen  Prinzip  an  und  für  sich;  denn  für 
dessen  reine  Wirksamkeit  sei  der  Begriff  der  Vegetation  der  reine 
und  vollständige  Ausdruck;  sondern  in  einem  Mangel  der  Ge- 
walt des  neuen  Prinzips  über  den  chemischen  Prozeß  und  die 
mechanische  Gestaltung.  An  diesem  Mangel  aber  scheine  zugleich 


1111,2,414]  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  413 

die  zeitliche  Beschränktheit  der  vegetativen  Einzelwesen  zu  han- 
gen; wenn  also  diese  vergänglich  sein  sollten,  so  mußte  auch  jener 
Mangel  mit  seinen  anderweitigen  Folgen  sein.  Weitergehend 
werden  wir  dann  sagen  müssen,  mit  der  Animalisation  trete  aber- 
mal ein  neues  Prinzip,  nämlich  der  spezifischen  Beseelung  ein,  wel- 
ches sich  in  seiner  ganzen  Erstreckung,  wenngleich  nicht  überall 
in  gleichem  Maße,  sowohl  den  vegetativen  Prozeß  als  auch  das 
allgemeine  Leben  unterordnet,  und  ebenfalls  in  einer  Mannig- 
faltigkeit von  Formen  und  Abstufungen  erscheint,  welche  nun  auf 
dieselbe  Weise  Gesetze  sind  für  die  Natur.  Und  wird  nun  weiter 
gefragt,  worin  denn  die  auf  diesem  Gebiet  vorkommenden,  schon 
weit  komplizierteren  Abweichungen  gegründet  sein,  so  werden 
wir  wohl  auch  antworten  müssen:  Nicht  in  dem  Prinzip  selbst; 
denn  für  dieses  ist  der  Begriff  des  tierischen  Lebens  in  der 
Mannigfaltigkeit  seiner  Formen  der  reinste  Ausdruck;  sondern  in 
einem  relativen  Mangel  an  Gewalt  dieses  Prinzips  über  den  vege- 
tativen Prozeß  sowohl,  als  über  das  allgemeine  Leben,  und  natür- 
lich wären  also  die  Abweichungen  auf  diesem  Gebiet  auch  kom- 
plizierter und  nicht  in  so  leichte  Formeln  zu  fassen.  Und  können 
wir  nun  wohl  noch  umhin,  der  Steigerung  die  Krone  aufzusetzen, 
indem  wir  sagen,  mit  dem  intellektuellen  Prozeß  trete  nun  aber- 
mals ein  neues,  denn  wir  brauchen  nicht  zu  behaupten  das  letzte, 
Prinzip  in  das  Leben  der  Erde,  welches  jedoch  nicht  in  einer 
Mannigfaltigkeit  von  Gattungen  und  Arten,  sondern  nur  in  einer 
Mannigfaltigkeit  von  Einzehvesen  einer  Gattung  erscheine,  so  daß 
eine  Mannigfaltigkeit  der  Gattungen  nicht  gedacht  werden  kann, 
als  nur  in  Verbindung  mit  der  Mehrheit  der  Weltkörper.  Wie 
aber  der  Geist  nun  hier  erscheine  in  der  einen  Menschengattung: 
so  werde  er  sich  auch  in  seinem  Umfange  nicht  nur  den  Prozeß 
der  eigentümlichen  Beseelung  und  Belebung,  sondern  auch  das 
allgemeine  Leben  unterordnen  und  aneignen.  In  diesem  geistigen 
Lebensgebiet  wiederholten  sich  nun  auf  die  seiner  Natur  gemäße 


414  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  [111,2,415] 

Weise  die  Abweichungen,  die  innerhalb  des  Gebietes  der  Anima- 
lisation  und  der  Vegetation  vorkommen;  aber  es  entständen  zu- 
gleich neue,  welche  dem  obigen  zufolge  ihren  Grund  nicht  haben 
in  der  Intelligenz  selbst,  denn  für  das  Wesen  und  die  Wirksam- 
keit dieser  sei  das  Gesetz,  welches  hier  aufgestellt  werden  müsse, 
ebenfalls  der  reine  und  vollkommene  Ausdruck,  sondern  wie  oben 
darin,  daß  der  Geist  eintretend  in  das  irdische  Dasein  ein  Quan- 
tum werden  muß,  und  als  solches  in  einem  oszillierenden  Leben 
im  einzelnen  unzureichend  erscheint  gegen  die  untergeordneten 
Funktionen.  Und  wenngleich  dieses  eben  so  hypothetisch  gesetzt 
ist,  wie  das,  woraus  es  folgt:  so  ist  doch  dies  gerade  dieselbe 
Hypothese,  von  der  auch  diejenigen  ausgehen,  welche  das  Sitten- 
gesetz als  ein  reines  Sollen  beschreiben;  denn  sie  sagen,  es  sei  ein 
solches,  weil  mit  der  Vernunft  und  dem  Vernunftgesetz  zugleich 
eine  Insuffizienz  gesetzt  sei.  Was  also  folgt,  das  folgt  vermöge 
eben  jener  Hypothese.  Und  das  Gesetz,  welches  hier  neu  auf- 
gestellt werden  muß,  so  daß  es  die  ganze  Wirksamkeit  der  Intel- 
ligenz vollständig  verzeichnet,  wird  das  wohl  etwas  anderes  sein 
als  das  Sittengesetz?  und  die  neuen  Abweichungen,  in  welchen 
die  Begeistung  unzureichend  erscheint  gegen  die  Beseelung,  wer- 
den sie  etwas  anderes  sein  als  das,  was  wir  böse  nennen  und 
unsittlich?  Schwerlich  wird  jemand  verneinen  wollen;  es  müßte 
denn  einer  fragen,  wo  denn  nun  der  Unterschied  bleibe  zwischen 
der  theoretischen  und  praktischen  Vernunft,  und  woher  denn  ent- 
schieden worden,  daß  das  hier  aufzustellende  Gesetz  allein  das  der 
praktischen  Vernunft  und  nicht  beider  sei,  oder  daß  nicht  viel- 
leicht ausschließend  das  der  theoretischen  hierher  gehöre.  Oder  es 
möchte  mir  jemand  das  Schreckbild  des  Wahnsinns  vorhalten, 
und  sagen,  dieser  und  alles  was  eine  Annäherung  dazu  bildet, 
sei  die  hier  neu  aufzustellende  Abweichung,  das  Böse  aber  müsse 
einen  andern  Ort  haben.  Dem  ersten  würde  ich  antworten,  da 
hier  nur  die  Rede  sei  von  einem  neuen  Prinzip  für  ein  System 
von  Tätigkeiten:  so  könne  auch  die  Vernunft  hier  nur  betrach- 


[111,2,416]  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  415 

tet  werden  als  praktisch,  das  heißt  als  tätig,  und  der  ganze 
theoretische  Vernunftgebrauch  gehe  doch  als  Handlung  immer  vom 
Willen  aus.  Dem  andern  aber  würde  ich  aus  demselben  Grunde 
sagen,  daß  von  unserm  Standpunkt  aus  der  Wahnsinn  und  das 
Böse  nicht  zwei  verschiedene  Örter  haben  könne,  sondern  jedes 
sei  auf  das  andere  zurückzuführen,  und  jeder  Wahnsinn  entstehe 
nur  dadurch,  daß  die  Intelligenz  als  Wille  zu  ohnmächtig  sei, 
um  den  Angriff  einer  untergeordneten  Potenz  auf  ihren  unmittel- 
baren Organismus  abzuweisen.  Bleibt  es  also  bei  der  Bejahung 
beider  Fragen:  so  stimmt  auch  das  hier  Gesagte  vollkommen  zu- 
sammen mit  dem  oben  Gesagten  über  die  Art,  wie  das  Sitten- 
gesetz sowohl  seinbestimmend  ist,  als  aucii  ihm  ein  Sollen  an- 
hängt. Hier  aber  entwickelt  es  sich  uns  durch  eine  Steigerung 
als  das  höchste  individuelle  Naturgesetz  aus  den  niederen.  Die 
Seinsbestimmung  in  demselben  ist  also  von  derselben  Art,  und 
das  Sollen  ist  auch  von  derselben  Art,  nur  mit  dem  einzigen 
Unterschiede,  daß  erst  mit  dem  Eintreten  der  Begeistung  das 
Einzelwesen  ein  freies  wird,  und  nur  das  begeistete  Leben  ein 
wollendes  ist,  also  auch  nur  auf  diesem  Gebiet  das  Sollen  sich 
an  den  Willen  richtet.  Im  allgemeinen  aber  ist  es  überall  die 
Forderung  der  Gewalt  des  individuellen  Seins  über  das  elemen- 
tarische und  allgemeine,  als  des  höheren  über  das  niedere,  und 
das  Naturgesetz  liegt  nicht  auf  der  entgegengesetzten  Seite  wie 
das  Sittengesetz,  sondern  beide  auf  derselben.  Also  werden  auch, 
was  wenigstens  das  Verhältnis  des  Gegenstandes  zum  Gesetz 
betrifft,  Naturwissenschaft  und  Sittenlehre  keineswegs  zwei  ver- 
schiedene Formen  haben  müssen,  sondern  sie  werden  sich  füglich 
hineinbilden  lassen  in  eine  gemeinschaftliche,  sobald  nämlich  die 
Sittenlehre  sich  befreit  hat  von  der  Analogie  mit  dem  Politischen, 
und  die  Einsicht  hervorgetreten  ist,  daß,  da  das  Politische  selbst 
nur  durch  die  Sittenlehre  konstruiert  werden  kann,  die  Form  des- 
selben unmöglich  als  die  Urform  angesehen  werden  darf,  nach 
welcher  die  Sittenlehre  gebildet  werden  muß.   Sondern  die  Form 


416  Naturgesetz  und  Sittengesetz.  [111,2,417] 

der  Sittenlehre  wird  die  beste  sein,  in  welcher  die  Intelligenz 
dargestellt  wird  als  aneignend  und  bildend  und  sich  so  in  einer 
eigenen  in  sich  abgeschlossenen  Schöpfung  offenbarend;  ein 
Typus,  welcher  nirgend  so  deutlich  als  bei  der  platonischen  Kon- 
struktion zum  Grunde  liegt,  aber  nicht  zu  seiner  vollkommenen 
Entfaltung   gediehen    ist. 


über  den  Begriff  des  Erlaubten. 

Gelesen  am  29.  Junius  1826. 

Der  Zusammenhang  dieses  Begriffs  mit  dem  früher  von  mir 
behandelten  Begriff  der  Pflicht  ist  so  genau,  daß  diese  Abhand- 
lung nur  als  eine  Erläuterung  zu  jener  angesehen  werden  kann. 
Denn  überall  stellt  sich  das  Erlaubte  in  die  Mitte  zwischen  das 
Pflichtmäßige  und  Pflichtwidrige,  als  ein  Drittes  zu  beiden,  welches 
keines  von  beiden  sein  will.  Es  will  überall  mit  dem  Pfhcht- 
mäßigen  das  eine  gemein  haben,  daß  es  nicht  gewehrt  werden 
kann;  mit  dem  Pflichtwidrigen  aber  das  andere,  daß  es  nicht  ge- 
fordert werden  darf.  Eine  Darstellung  der  Pflichtenlehre  ist  also 
erst  völlig  verstanden,  das  heißt,  man  übersieht  erst  ihr  Verhält- 
nis zur  Gesamtheit  des  geistigen  Lebens,  wenn  auch  deutlich 
geworden  ist,  inwiefern  sie  diesem  Begriff  eine  Wahrheit  zu- 
gesteht, und  was  für  einen  Umfang  sie  ihm  anweiset.  Dieses 
allein  ist  daher  auch  der  Gegenstand  der  gegenwärtigen  Abhand- 
lung, ohne  daß  sie  —  sofern  sich  nicht  auch  dieses  schon  durch 
jene  Untersuchung  von  selbst  erledigt  —  ausdrücklich  beabsichtigte 
zu  bestimmen,  welche  Handlungen  oder  Handlungsweisen  in  ein- 
zelnen Gebieten  für  erlaubt  zu  halten  sind  oder  nicht;  sondern 
sie  hat  es  nur  mit  dem  Begriff  selbst  und  seinem  Verhältnis  zu 

Schleiermacher,  Werke.     I.  27 


418  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,419] 

den  andern  sittlichen  Begriffen  zu  tun.  Denn  steht  er  gleich  im 
unmittelbarsten  Verhältnis  mit  dem  Pflichtbegriff,  so  muß  er  doch 
eben  deshalb  auch  ein  Verhältnis  haben  zu  dem  Begriff  der 
Tugend  und  dem  des  Guten. 

Wenn  nun  meine  vor  einiger  Zeit  mitgeteilte  Abhandlung 
über  den  Pflichtbegriff*)  das  Ergebnis  aufgestellt  hat,  daß  pflicht- 
mäßig jede  solche  Handlung  sei,  welche,  indem  der  Antrieb  dazu 
von  dem  Interesse  an  einem  bestimmten  sittlichen  Gebiet  ausgeht, 
doch  zugleich  auch  das  Interesse  an  der  Totalität  der  sittlichen 
Aufgabe  befriedigt,  pflichtwidrig  aber  demgemäß  nicht  nur  das- 
jenige, was  der  sittlichen  Totahtät  oder  einer  einzelnen  sittlichen 
Richtung  widerstreitet,  ohne  im  letzten  Fall  von  einer  anderen 
solchen  ausgegangen  zu  sein,  weil  nämlich  der  Antrieb  bloß  sinn- 
lich ist,  sondern  auch  welche  Handlung  wirklich  von  einer  einzel- 
nen sittlichen  Richtung  ausgeht,  aber  so,  daß  sich  die  Forderung 
einer  andern  sittHchen  Richtung  in  dem  gegebenen  Moment  gegen 
sie  erhebt,  so  daß  sie  in  Beziehung  auf  diese  zur  Unzeit  geschähe 
oder  im  Unmaß:  so  fragt  sich  zunächst,  was  für  Handlungen 
könnten  wohl  zwischen  diesen  beiden  liegend  solche  erlaubte  sein? 

Zweierlei  scheinen  sich  deren  zu  ergeben.  Denn  wenn  zu 
einer  Handlung  zwar  der  Antrieb  ein  sinnlicher  wäre,  aber  es 
erhöbe  sich  gegen  sie  keine  Klage  von  irgendeinem  sittlichen  Ge- 
biete aus:  so  wäre  eine  solche  weder  pfiichtmäßig,  weil  der  sitt- 
liche Antrieb,  noch  pflichtwidrig,  weil  der  sittliche  Einspruch 
fehlt.  Ebenso  auch  zweitens,  wenn  es  möglich  wäre,  daß  der  Im- 
puls zu  einer  Handlung  ausginge  von  dem  Interesse  an  der  ge- 
samten sittlichen  Aufgabe,  aber  ein  einzelnes  sittliches  Gebiet 
erhöbe  sich  dagegen:  so  läge  eine  solche  auf  eine  andere  Weise 
zwar  zwischen  beiden,  würde  aber  doch  auch  erlaubt  zu  nennen 
sein,  wenngleich  nur  als  eine  Sache  der  Not.  Der  Einspruch  näm- 
lich fehlt  hier  nicht,  aber  er  wird,  weil  der  vollkommene  Antrieb 


*)  S.  den  Jahrgang  1824.     Philosoph.  Klasse. 


[111,2,420]  Begriff  des  Erlaubten.  419 

da  ist,  überhört.  Nur  daß  dann  auch  das  Entgegengesetzte  erlaubt 
sein  muß,  nämlich  dem  Einspruch  als  dringend  zu  folgen  und 
die  angestrebte  Handlung  zu  unterlassen,  den  Antrieb  aber  auf 
einen  späteren  Moment  zu  vertrösten.  Die  Not  aber  ist  eben 
dies,  daß  vorausgesetzt  wird,  daß  das  sittlich  einzelne  und  die  sitt- 
liche Totalität  sich  einander,  wenn  auch  nur  momentan,  aufheben. 
Hierher  gehören  nun  fast  alle  die  so  oft  angeführten  und  beleuch- 
teten Fälle  von  Selbsthilfe  in  der  Not  auf  Gefahr  eines  andern 
zuzufügenden  Unrechtes,  sofern  nämHch  dabei  immer  voraus- 
gesetzt wird,  man  dürfe  den  Trieb  der  Selbsterhaltung  und  die 
Richtung  des  Individuums  auf  die  Totalität  der  sittlichen  Aufgabe 
als  eines  und  dasselbe  ansehen.  Allein  die  ganze  Gegend  bleibt, 
auch  dieses  zugegeben,  immer  verdächtig,  indem  ja  doch  ein 
Widerspruch  in  dem  Gebiete  des  rein  Sittlichen  vorausgesetzt 
wird,  der  eigentlich  auf  keine  Weise  angenommen  werden  kann, 
wenigstens  nicht  aus  dem  Standpunkte  der  angezogenen  und  hier 
zum  Grunde  liegenden  Abhandlungen,  als  welche  eine  wesentliche 
Zusammengehörigkeit  alles  dessen,  was  mit  Recht  sittlich  soll 
genannt  werden  können,  überall  voraussetzen.  Denn  es  hört  alle 
Konstruktion  des  Pflichtmäßigen  auf,  mithin  ist  es  auch  um  aile 
wissenschaftlichen  Prinzipien  zur  Beurteilung  der  einzelnen  sitt- 
lichen Handlungen  geschehen,  sobald  ein  Widerspruch  stattfinden 
kann  zwischen  dem,  was  das  Ganze  fordert,  und  dem,  worauf  ein 
Teil  Anspruch  macht.  Der  Unterschied  zwischen  dem  Pflicht- 
widrigen und  Pflichtmäßigen  wird  sofort  nur  ein  zufälliger,  und 
der  Charakter  des  Pflichtbegriffs  ist  aufgehoben.  Es  möchte  aber 
auch  niemals  nachzuweisen  sein,  daß  überhaupt  eine  einzelne 
Handlung  als  von  der  Richtung  des  Willens  auf  die  ganze  sitt- 
liche Aufgabe  ausgehend  angesehen  werden  kann,  weil  durch  diese 
allein  nichts  einzelnes  bestimmt  wird.  Am  wenigsten  aber  möchte 
man  eine  Äußerung  des  Selbsterhaltungstriebes  so  nennen  können. 
Denn  wenngleich  der  einzelne  sich  erhalten  soll,  um  sittlich  zu 
leben,  so  ist  doch  ein  jeder  Akt  der  Selbsterhaltung  nur  bedingt 

27* 


420  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,421] 

durch  die  ihm  eben  vorHegenden  sittlichen  Aufgaben,  damit  diese 
nicht  gestört  werden  und  sonach  durch  wenngleich  mannigfaches, 
doch  immer  einzelnes  sittliches  Interesse,  gegen  welches  also  auch 
ein  anderes  auftreten  kann. 

Genau  betrachtet  also  würde  auch  das  zweite,  was  sich  uns 
ergeben  hätte,  nur  eine  leere  Stelle  sein,  und  die  scheinbar  dahin 
gehörigen  Fälle  wären  bei  dem  ersten  unterzubringen,  wie  denn 
alle  sinnlichen   Motive   mehr   oder  weniger  auf  die   Selbsterhal- 
tung zurückgehn,  die  ja  auch  oft  genug  als  die  allgemeine  For- 
mel für  alle  ist  angesehen  worden.    Sonach  bliebe  uns  nur  das 
erste  übrig.   Erlaubt  nämlich  wären  solche  Handlungen,  bei  denen 
zwar  ein  sinnlicher  Impuls  zum  Grunde  liegt,  aber  ein  solcher, 
gegen  den  von  keiner  Seite  der  sittlichen  Aufgabe  aus  protestiert 
wird.    Da  nun  diese  Protestation  eben  das  ist,  was  einer  Hand- 
lung das  Gepräge  der  Schuld  aufdrückt:  so  wäre  das  Erlaubte, 
wie    es    scheint,    das    Unschuldige,    und    dann    auch    umgekehrt. 
Nämlich  was  erlaubt  ist,  das  wäre  unschuldig,  weil  es  als  nicht 
von    dem    sittlichen    Interesse    ausgehend    auch    nicht    verdienst- 
lich   sein    kann,    und    weil    nicht    im    Widerspruch    mit   der   sitt- 
lichen   Aufgabe,    auch    nicht    verwerflich;    und    das    Unschuldige 
wiederum  müßte  immer  erlaubt  sein,  weil  es  zwar  nicht  pflicht- 
mäßig ist  seinem   Ursprünge  nach,  aber  auch  nicht  pflichtwidrig 
seiner  Beschaffenheit  nach.    Wir  haben  nun  hierdurch  zwar  ein 
neues  Merkmal  gewonnen,  aber  keineswegs  etwa  eine  Entschei- 
dung.   Denn  wenn  man  freilich  auf  der  einen  Seite  sagen  möchte, 
daß  es  eine  große  Menge  unschuldiger  menschlicher  Handlungen 
gebe,  könne  doch  niemand  bezweifeln:  so  ist  auf  der  andern  Seite 
wieder  nicht  zu  leugnen,  daß  diese  wesentlich  der  Kindheit  an- 
gehören, welcher  das  sittliche  Auge  noch  nicht  geöffnet  ist,  und 
andern  ähnlichen  Zuständen.    Es  fragt  sich  also  immer  noch,  ob 
und  auf  welche  Weise  es  solche  Handlungen  geben  könne,  welche 
zwar  von  einem  sinnlichen  Antriebe  ausgehen,  aber  doch  keinen 
Widerspruch  von  dem  sittlichen  Interesse  erfahren. 


[111,2,  422]  Begriff  des  Erlaubten.  421 

Wenn  nun  nach  dem  früher  Gesagten  aus  der  Totalität  aller 
pflichtmäßigen  Handlungen  auch  alle  Güter  hervorgehn:  so  könn- 
ten also  alle  bloß  erlaubte  Handlungen  an  der  Hervorbringung 
irgendeines  Gutes  keinen  Anteil  haben,  und  wären  demnach 
unfruchtbar  für  das  höchste  Gut.  Man  sollte  daher  denken,  es 
könne  sich  gegen  dieselben  nur  insofern  kein  Widerspruch  von 
dem  sittlichen  Interesse  aus  erheben,  als  feststände,  daß  zu  der- 
selben Zeit  dasselbe  Subjekt  nichts  tun  könne,  um  das  höchste 
Gut  zu  fördern.  Ebenso  wenn  jede  Tugend  nichts  anderes  ist 
als  die  kräftige  Wirksamkeit  eines  sittlichen  Antriebes,  und  mit- 
hin alle  Tugenden  in  der  Gesamtheit  der  von  sittlichen  Antrieben 
ausgehenden  Handlungen  vollkommen  aufgehen:  so  hätte  also 
an  allen  bloß  erlaubten  Handlungen,  sofern  sie  ja  von  einem 
sinnlichen  Antriebe  ausgehn,  keine  Tugend  irgendeinen  Anteil; 
und  auch  so  betrachtet  sollte  man  denken,  die  sittliche  Lebens- 
kraft des  Individuums  müsse  sich  allemal  gegen  solche  Hand- 
lungen auflehnen  und  die  sinnlichen  Antriebe  auch  mit  diesen  An- 
sprüchen abweisen,  es  müßte  denn  sein,  daß  zu  derselben  Zeit  gar 
keine  Tugend  sich  wirksam  beweisen  könne.  So  zeigt  sich  dem- 
nach auf  alle  Weise,  daß  bloß  erlaubte  Handlungen  in  einem 
sittlichen  Leben  nur  insofern  vorkommen  können,  als  sie  in  eine 
als  natürlich  und  notwendig  nachzuweisende  Pause  des  sittlichen 
Lebens  hineinfallen,  so  wie  der  Schlaf  eine  Pause  des  Seelen- 
lebens ist.  Und  wie  das  Leben  sich  in  dieser  Beziehung  in  Schlaf 
und  Wachen  teilt,  so  müßte  es  sich  in  jener  Beziehung  teilen 
in  das  Pflicht-  und  Berufsleben,  oder,  so  können  wir  es  wohl 
nennen,  den  Ernst,  welcher  das  eigentliche  sittliche  Wachen  wäre, 
und  in  dieses  andere,  welches  aus  dem  sittlichen  Standpunkt  be- 
trachtet, weil  keine  Tugenden  dabei  wirksam  sind,  eben  wie  der 
Schlaf  nur  als  ein  untätiger  Zustand  zu  denken  wäre,  und  auch 
wie  jener  außer  der  Ernährung  und  Stärkung  der  sinnlichen  ledig- 
lich dienstbaren  Kräfte  nur  den  Gehalt  eines  Traumes  haben 
könnte.    Wollen   wir  nun   diesen  Teil   das   Erholungsleben   oder 


422  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,423] 

das  Spiel  nennen  im  Gegensatz  gegen  den  Ernst  oder  das  Be- 
rufsleben: so  werden  wir  nicht  weit  fehlen;  vielmehr  sieht  jeder 
leicht,  daß  alles,  was  wir  mit  solchen  Namen  zu  bezeichnen  pfle- 
gen, von  denen,  die  es  verteidigen,  immer  nur  als  erlaubt  in 
Schutz  genommen  wird,  und  daß,  wo  eines  oder  das  andere  die- 
ser Art  angefochten  wird,  die  Rechtfertigung  des  Erlaubten  immer 
darauf  beruht,  daß  es  unschuldig  sei. 

So  scheint  denn  dieser  Begriff  ein  überall  in  irgendeinem 
Maß  anerkanntes,  in  den  schönsten  und  edelsten  Gestaltungen 
des  menschlichen  Daseins  aber  so  gar  weit  umfassendes  und 
überall  zugleich  gewissermaßen  unter  sich  zusammenhängendes 
Gebiet  in  unserm  Leben  einzunehmen.  Je  strenger  und  herber  die 
ganze  Form  des  Lebens,  desto  seltnere  und  kürzere  Pausen  von 
sittlicher  Anstrengung  und  Mühe,  und  umgekehrt,  wo  sich  das 
Leben  in  größerer  Fülle  und  Anmut  entfaltet;  überall  aber,  so 
oft  der  Ernst  des  Lebens  nachläßt,  und  unser  Beruf  (das  Wort 
in  seinem  weitesten  Umfange  genommen)  feiert,  so  oft  wir  im 
Spiel  irgendeiner  Art  begriffen  sind,  im  freien  und  fröhlichen 
geselligen  Verkehr,  im  Genuß  irgendeiner  Kunst  und  Schönheit: 
so  treiben  wir  Erlaubtes.  Im  Berufsleben  soll  die  volle  Zustim- 
mung, das  beifällige  Bewußtsein,  daß  wir  Pflichtmäßiges  treiben 
und  für  das  höchste  Gut  arbeiten,  uns  beständig  begleiten,  wie 
im  wachen  Zustande  das  besonnene  Selbstbewußtsein  im  allge- 
meinen Sinne  des  Wortes  in  jedem  Augenblick  jede  Tätigkeit 
begleitet;  wenn  wir  aber  in  diesem  Zwischenräume  des  Spiels 
und  der  Erholung  uns  befinden,  dann  schläft  jenes  höhere  Be- 
wußtsein; aber  es  erwacht  gleich  wieder  und  ordnet  das  Leben, 
sobald  wir  wieder  in  den  Zustand  des  Ernstes  und  der  Pflicht- 
erfüllung zurücktreten.  Ja  auch  das  versteht  sich  schon  aus  die- 
ser Analogie,  daß  wir  doch  dieses  Gebiet  des  Erlaubten,  wenn- 
gleich wir  dabei  nicht  von  sittlichen  Antrieben  ausgehen,  keines- 
weges  aller  sittlichen  Beurteilung  entziehen.  Denn  wie  es  einen 
erquicklichen   Schlaf  gibt   und    einen    krankhaften,   und  so   auch 


[111,2,  424]  Begriff  des  Erlaubten.  423 

anmutige  Träume  und  düstere  und  erschreckende,  und  wir  gern 
wachend  etwas  tun  würden,  wenn  wir  nur  wüßten  was,  um 
diesen  letzten  zuvorzukommen  und  den  Schlaf  in  seinen  gesunden 
Typus  hinein  zu  beschwören:  so  unterscheiden  wir  auch  in  er- 
laubten Handlungen  ein  mehr  und  minder  Zuträgliches  und  dem 
eigentlichen  sittlichen  Leben  Verwandtes,  und  möchten  uns  gern 
immer  einen  sittlichen  Einfluß  bewahren  auf  den  Pulsschlag  in 
diesem  Schlaf,  und  auf  die  Elemente,  aus  denen  diese  Träume 
sich  zusammensetzen;  und  so  scheidet  sich  denn,  um  auf  eine  alte 
Terminologie  zurückzukommen,  ein  Vorgezogenes  und  ein  Ab- 
geratenes. 

Eine  solche  Analogie,  wie  die  hier  aufgestellte,  ist  freilich 
kein  Beweis,  und  es  wäre  ohnstreitig  zu  kühn,  aus  dem  bisherigen 
folgern  zu  wollen,  Spiel  und  Erholung  wären  aus  dem  Grunde 
erlaubt,  und  das  Erlaubte  sicher  gestellt,  weil  es  dieselbe  Be- 
wandtnis damit  habe  wie  mit  dem  Schlaf.  Indessen,  wenn  sie 
sich  sonst  nur  halten  läßt,  wäre  immer  mit  der  Subsumtion  unter 
ein  so  klares  Verhältnis  nicht  wenig  gewonnen,  und  wir  hätten 
daran  eine  gute  Vorarbeit  für  die  bestimmtere  wissenschaftliche 
Begrenzung  des  Begriffs.  —  Aber  läßt  sie  sich  halten?  und  scheint 
nicht  vielmehr  die  ganze  Ähnlichkeit  bei  näherer  Betrachtung 
wieder  zu  verschwinden,  weil  sie  allzu  bedenklich  wird,  wenn 
wir  auf  Anfang  und  Ende  eines  solchen  Zustandes  zurücksehen? 
Denn  der  Rückgang  aus  dem  freien  Spiel  mit  erlaubten  Hand- 
lungen in  das  eigentliche  sittliche  Leben  gleicht  doch  dann  dem 
Erwachen;  und  wie  sollen  wir  eigentlich  denken,  daß  uns  das 
sittliche  Leben  immer  wieder  entsteht  aus  jenem  seiner  Abstam- 
mung und  seinem  unmittelbaren  Gehalt  nach  nicht  sittlichen? 
Wenn  wir  doch  in  einer  solchen  Reihe  von  Momenten  nicht  von 
sitthchen  Antrieben  bewegt  werden,  sondern  von  sinnlichen,  soll 
der  Übergang  von  hier  zum  pflichtmäßigen  Leben  als  der  letzte 
Moment  jener  Reihe  auch  von  sinnlichen  Motiven  abhängen,  und 
nicht    von    sittlichen?     Denn    würde    alles,    was    sich    an    diesen 


424  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,425] 

Moment  des  Erwachens  anschließt,  auch  auf  dasselbe  Motiv  zu- 
rückgeführt werden  können,  das  Sittliche  käme  nur  vermöge  des 
Nichtsittlichen  zur  Wirklichkeit,  und  das  Berufsleben  wäre  mehr 
dem  Schein  als  der  Wahrheit  nach  von  dem  Erholungsleben  ge- 
schieden, und  jeder  neue  Abschnitt  von  jenem,  da  doch  sein  erstes 
Motiv  in  diesem  läge,  wäre  nur  gleichsam  eine  Episode  von 
diesem.  Eine  Ansicht,  auf  welche  sich  freilich  manche  ethische 
Theorie  von  denen,  die  man  als  eudämonistische  bezeichnet  hat, 
zurückführen  läßt,  mit  welcher  aber  Pflicht  und  Tugend  als  be- 
stimmte Begriffe  für  sich  überhaupt  nicht,  am  wenigsten  aber  so, 
wie  wir  sie  bestimmt  haben,  zu  vereinigen  sind.  Ein  anderes  wäre 
es,  wenn  sich  auch  von  diesem  Erwachen  sagen  ließe,  es  sei  keine 
Handlung  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes,  wie  dies  von  dem 
täglichen  Erwachen  aus  dem  Schlafe  gilt.  Denn  alsdann  wäre 
ein  Motiv  dazu  gar  nicht  zu  suchen,  und  es  könnte  also  auch 
die  Frage  nicht  entstehen,  ob  dieses  ein  sittliches  wäre  oder  ein 
sinnliches.  Wir  müßten  dieses  aufgreifend  etwa  sagen,  das  Er- 
wachen zum  Ernst  des  Lebens  erfolge  von  selbst,  sobald  wieder 
Stoff  gegeben  sei  zu  pflichtmäßigen  Handlungen,  sobald  sich  wie- 
der eine  Wirksamkeit  auftue  für  die  einwohnenden  Tugenden. 
Allein  hierdurch  würden  wir,  wie  mir  scheint,  nur  eine  Verlegen- 
heit mit  einer  andern  vertauschen.  Denn  zwischen  dem  bloßen 
Vorhandensein  solchen  Stoffes  und  dem  Anfang  einer  neuen  Reihe 
von  Handlungen  ist  kein  unmittelbarer  Zusammenhang  einzusehen. 
Der  Stoff  muß  doch  erst  aus  einem  Äußeren  ein  Inneres  ge- 
worden, er  muß  als  Wahrnehmung  oder  wenigstens  als  Ahn- 
dung aufgenommen  sein.  Dann  aber  ist  auch  das  Erwachen 
selbst  ein  sittlicher  Moment;  es  geht  aus  von  dem  Interesse  an 
der  Gesamtheit  der  sittlichen  Aufgabe,  und  niemand  wird  leug- 
nen können,  daß  bei  gleichem  Vorhandensein  des  Stoffes  der- 
jenige am  frühesten  erwachen  wird,  in  dem  das  sittliche  Interesse 
am  lebendigsten  ist.  Aber  so,  wie  wir  hier  angekommen  sind, 
scheint  auch  der  Begriff,  den  wir  bestimmen  wollten,  wieder  ganz 


[111,2,  426]  Begriff  des  Erlaubten.  425 

in  den  Dunst  zu  zerfließen.  Denn  was  wollen  wir  entgegnen,  wenn 
einer  sagt,  daß  bei  dem  höchsten  Grade  des  sittlichen  Interesse  ge- 
wiß niemand  überhaupt  erst  einschlafen  könne.  Es  werde  ja  wohl 
immer  ein  kleinstes  von  sittlichem  Stoff  vorhanden  sein,  bestände 
es  auch  nur  in  Vorbereitungen  und  Übungen.  Ja  wenn  auch 
gar  nichts  wahrzunehmen  sei,  so  werde  jenes  lebendigste  Interesse 
doch  das  Suchen  nach  sittlichem  Stoff  nicht  aufgeben  können. 
Dieses  aber  gehöre  offenbar  dem  Wachen  an,  und  nicht  dem 
Schlaf;  und  so  werde  denn  eine  solche  Pause,  welche  von  den 
bloß  erlaubten  Handlungen  ausgefüllt  werden  dürfe,  gar  nicht 
eintreten.  Diese  seien  also  immer  nur  eine  Folge  sittlicher  Un- 
vollkommenheit,  ein  Mangel  an  Tugend,  mithin  pflichtwidrig, 
weil  zu  derselben  Zeit  stattfinden  könne  jenes  offenbar  pflicht- 
mäßige Suchen.  —  Doch  unsere  Vergleichung  bietet  uns  noch 
einen  anderen  Ausweg  dar.  Es  könnte  nämlich  jemand  sagen, 
wie  das  Erwachen  aus  dem  Schlaf  auch  in  manchen  Fällen 
wahrhaft  eine  Handlung  sei,  wenn  wir  uns  nämlich  von  der 
Notwendigkeit  des  Geschäftes  oder  von  einem  starken  Entschluß 
gemahnt,  schon  als  wir  uns  dem  Schlafe  hingaben,  vorgesetzt 
haben,  zu  einer  bestimmten  Zeit  zu  erwachen  und  dies  dann  auch 
leisten:  so  sei  es  nun  hier  immer.  Die  Unterbrechung  des  pflicht- 
mäßigen Handelns  durch  die  Erholung  sei  nun  größer  oder  kleiner, 
immer  werde  sie  nur  eingewilligt  als  in  eine  Unterbrechung,  mit- 
hin für  eine  bestimmte  Zeit.  So  sei  demnach  das  Berufsleben 
keineswegs  eine  Episode,  sondern  das  einzige  ganz  in  sich  Zu- 
sammenhängende, und  das  Spiel  sei  die  Episode  im  eigentlich- 
sten Sinne,  indem  auch  die  Rückkehr  von  demselben  zum  Pflicht- 
leben nicht  aus  der  Erholung  selbst  als  eine  Wirkung  derselben 
hervorgehe,  sondern  sie  gehe  vielmehr  auf  den  Anfang  derselben 
zurück,  und  sei  schon  vollkommen  begründet  und  bestimmt  gewollt 
in  demselben  Zeitraum  pflichtmäßiger  Tätigkeit,  auf  welchen  die 
Erholung  gefolgt  ist,  so  wie  ja  in  jenem  Falle  das  Erwachen 
auch   noch   dem   wachenden   Zustande  vor  dem   Einschlafen   an- 


426  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,427] 

gehört.  —  Auch  diese  Darstellung  der  Sache  aber  erklärt  das  Ende 
eines  solchen  Zustandes  nur,  indem  es  die  Schwierigkeit  auf  den 
Anfang  zurückwirft.  Denn  freilich,  wenn  eine  Pause  im  Berufs- 
leben beschlossen  wird  als  eine  solche,  so  wird  ihr  Ende  schon 
mitbeschlossen,  und  daß  sie  dann  beendigt  wird,  ist  demgemäß 
eine  vollkommen  sittliche  Handlung.  Aber  wenn  es  wahr  ist,  daß 
immer  entweder  Aufforderung  zu  pflichtmäßigen  Handlungen  vor- 
handen ist,  oder  Gelegenheit  dazu  gesucht  werden  kann:  wie  mag 
denn  ein  Beschluß,  diese  Bahn  auch  nur  auf  eine  kurze  Zeit  ganz 
zu  verlassen,  jemals  ohne  Pflichtwidrigkeit  zustande  kommen? 
Und  hier  eben  scheint  uns  die  Ähnlichkeit  mit  jenem  andern  Ge- 
biete ganz  zu  verlassen.  Das  natürliche  Erwachen  freilich  ist  nicht 
nur  dann,  wenn  es  für  einen  bestimmten  Zeitpunkt  gewollt  wor- 
den ist,  wirkliche  Tat,  sondern  es  muß  auch  in  jedem  Falle, 
wenn  das  tätige  Leben  wieder  beginnen  soll,  erst  durch  Besin- 
nung auf  den  Gesamtzustand  Tat  geworden  sein.  Ganz  ein 
anderes  aber  ist  es  mit  dem  Einschlafen,  Dies  ist  niemals  freie 
Handlung,  sondern  immer  nur  eine  Naturnotwendigkeit,  also  für 
das  geistige  Lebensgebiet  nicht  eine  Tat,  sondern  nur  eine  Be- 
gebenheit. Wir  wehren  uns  dagegen  oft,  so  lange  wir  nur  irgend 
können,  und  bezeugen  eben  dadurch,  daß,  solange  wir  noch 
imstande  sind  zu  wollen,  wir  auch  die  sittliche  Tätigkeit  fort- 
setzen wollen  und  nichts  anderes;  und  ebenso  ist  es  mit  der  Zeit, 
die  wir  der  Ernährung  widmen.  Denn  wenn  wir  uns  vielleicht 
in  der  Regel  gegen  Hunger  und  Schlaf  nicht  bis  auf  den  letzten 
Augenblick  wehren,  und  somit  auch  das  Einschlafen  freiwillig  zu 
sein  scheint:  so  kommt  dies  teils  daher,  weil,  wenn  wir  den 
Kampf  zulange  fortsetzen  wollten,  der  Preis  desselben  immer 
schon  früher  verloren  gehn  würde,  indem  bei  zu  großer  Anspan- 
nung der  Kräfte  nichts  mehr  gefördert  wird;  teils  verbindet  sich 
mit  dieser  Erfahrung  die  andere,  wieviel  heilsamer  es  ist,  wenn 
auch  diese  unabweisbaren  Forderungen  der  Natur  in  eine  be- 
stimmte Ordnung  gebracht  werden.  Was  also  hierbei  als  freiwillig 


[111,2,  428]  Begriff  des  Erlaubten.  427 

erscheint,  das  ruht  doch  ganz  auf  der  Naturnotwendigkeit,  und 
ist  nur  eine  Modifii<ation  derselben.  Das  Übergehen  aus  dem 
Pflichtleben  in  die  Erholung  hingegen  ist  immer  und  ursprüngUch 
freiwillig.  Es  gibt  dafür  gar  keine  Naturnotwendigkeit,  und  man 
kann  niemals  sagen,  daß  die  Erholung  so  bestimmt  als  Bedürf- 
nis indiziert  sei,  wie  der  Schlaf  und  die  Ernährung  es  sind. 
Zumal  einige  strenge,  aber  erfahrene  Leute  kommen  und  sagen, 
daß  schon  die  Abwechslung  in  pflichtmäßigen  Handlungen  ein 
hinreichendes  Mittel  sei  zur  Wiederherstellung  der  psychischen 
Naturkräfte.  Freiwillig  also,  und  ohne  daß  eine  hemmende  Natur- 
notwendigkeit einträte,  müssen  wir  die  pflichtmäßige  Tätigkeit, 
sei  es  auch  nur  für  eine  Zeitlang,  aufgeben;  und  es  fragt  sich, 
ob  dies  auf  eine  pflichtmäßige  Weise  geschehen,  ob  ein  solcher 
Entschluß  aus  dem  sittlichen  Interesse  selbst  hervorgehen  könne. 
Es  sei  mir  erlaubt,  hier  zu  bemerken,  daß  meine  neulich  in  der 
Akademie  vorgelesene  Abhandlung*)  Über  Piatons  Ansicht  von 
der  richtigen  Ausübung  der  Heilkunst,  i.  denselben  Gegenstand  im 
Auge  hat,  und  genau  genommen,  wiewohl  es  nicht  ausgesprochen 
v.'ird,  nichts  anderes  ist  als  von  einem  einzelnen  Falle  ausgehend 
eine  kasuistische  Behandlung  dieser  Frage.  Die  Krankheit,  welche 
einen  bestimmten  Verlauf  hat,  ist  dem  Schlaf  zu  vergleichen  oder 
dem  Hunger.  Die  Naturnotwendigkeit,  das  pfHchtmäßige  Han- 
deln einzustellen,  würde  eintreten,  sollte  es  auch  größtenteils  um 
etwas  später  geschehen,  als  der  Arzt  den  Kranken  in  seine  Be- 
handlung nimmt;  und  sobald  die  Möglichkeit  des  Berufslebens 
wiedergegeben  ist,  hört  auch  die  Unterbrechung  auf.  Wer  hin- 
gegen auch  die  Kränklichkeit  auf  solche  Weise  behandeln  läßt, 
daß  er  sein  Berufsleben  unterbricht,  nicht  um  einer  sichern  Hei- 
lung willen,  die  in  bestimmter  Zeit  erfolgen  müßte,  sondern  nur 
um   einer  immer  wieder  zu  erneuernden   Linderung  willen,   der 


*)  Die  Akademie  hat  dem  Verfasser  in  bezug  auf  diese  Abhandlung  den 
Wunsch  gewährt,  sie  nicht  in  ihre  Denkschriften  aufzunehmen. 
1  Sämtliche  Werke.    III. 


428  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,  429] 

macht  einen  ebensolchen  Anspruch  auf  Erholung  —  denn  was  ist 
Linderung  anders?  —  der  nie  kann  sittlich  gerechtfertigt  werden; 
und  Piatons  Meinung  geht  dahin,  daß  man  nicht  solle  die  pflicht- 
mäßige Tätigkeit  als  die  eigentliche  Lebensbestimmung  jenem 
Anspruch  aufopfern,  und  nie  eines  bloß  Erlaubten  willen  das 
Gebiet  des  Pflichtmäßigen  in  immer  engeren  Grenzen  einschließen, 
solange  es  noch  möglich  ist,  es  in  weiterem  Umfange  zu  erfüllen. 
Denn  daß  ein  solcher  Gehorsam  gegen  den  Arzt,  wie  sehr  die- 
ser auch  sonst  das  Recht  habe,  über  die  Kranken  zu  herrschen, 
doch  immer  nur  etwas  Erlaubtes  sei,  das  wird  jedem  einleuchten. 
Man  kann  die  platonische  Widersetzlichkeit  rauh  finden  und  eigen- 
sinnig, aber  pflichtwidrig  wird  sie  doch  niemand  nennen  wollen, 
es  müßte  denn  einer  gar  keine  andere  Pflicht  gelten  lassen  wollen 
als  die  der  Selbsterhaltung,  und  diese  in  dem  weitesten  Sinne. 
Ist  nun  aber  der  Ungehorsam  nicht  pflichtwidrig:  so  kann  auch 
der  Gehorsam  nicht  pflichtmäßig  sein,  sondern  nur  etwas  zwischen 
beiden.  Und  der  dortige  Eifer  gegen  die  Weichlichkeit,  mit  wel- 
cher wir  in  solche  Erholungskuren  eingehen,  geht  zugleich  auf 
alle  Weichlichkeit,  mit  welcher  wir  dem  Erlaubten  einen  freien 
Spielraum  vergönnen;  und  den  Ärzten  sind  in  jener  Beziehung 
alle  diejenigen  zuzugesellen,  welche  der  Erholung  dienen,  und  sich 
uns  einander  abwechselnd  zuzuschieben  suchen,  jeder  mit  dem  An- 
spruch, daß  wir  nun  auch  um  seinetwillen  unserm  Berufsleben 
einige  Zeit  entziehen  möchten,  deren  Verwendung  in  das,  was  er 
uns  darbietet,  uns  schon  irgendwie  zugute  kommen  werde  in 
der  Zukunft.  Wenn  man  nun  bedenkt,  wie  es  in  unserm  heu- 
tigen Leben  eine  große,  keineswegs  zu  übersehende  Klasse  gibt, 
für  welche  sich  in  immer  nicht  unbedeutender  Zeit  des  Jahres 
das,  was  seinem  Gehalte  nach  nur  Erholung  sein  kann,  so  zu- 
sammendrängt, daß  zwischen  Vorbereitung  und  Genuß  und  neue 
Vorbereitung  kaum  ein  weniges  von  solcher  Tätigkeit,  die  wirk- 
lich von  sittlichen  Impulsen  ausgeht,  gleichsam  als  Erholung  von 
Erholungen  eingeschoben  werden  kann:  so  wird  auch  jener  Eifer 


[111,2,430]  Begriff  des  Erlaubten.  429 

minder  barock  und  unphilosophisch  erscheinen,  weil  er  gegen  eine 
Maxime  gerichtet  ist,  welche,  indem  sie  allen  Ernst  des  Lebens 
bedroht,  zugleich  auch,  wenn  sie  Erfolg  hätte,  aller  Philosophie 
ein  Ende  machen  würde.  Darum  lobe  ich  mir  für  diesen  Gegen- 
stand einen  berühmten  Ethiker,  wenn  ich  auch  über  anderweitige 
Anwendungen  seiner  Formel  nicht  überall  mit  ihm  einig  werden 
dürfte,  welcher  mancherlei  Ansprüche,  die  in  sein  System  von 
Pflichten  nicht  hineingehen,  damit  abweiset,  es  sei  alles  der- 
gleichen, wozu  man  keine  Zeit  haben  müsse;  eine  Formel,  die 
auch  schon  in  jener  platonichen  Diatribe  vorkommt. 

Und  in  der  Tat,  ohne  mich  auf  die  Frage  einlassen  zu  wollen, 
ob  alles  nicht  an  sich  Pflichtmäßige  auf  diese  Weise  abgewie- 
sen werden  kann,  scheint  es  nicht  schwer,  die  Formel  so  zu  ent- 
wickeln und  zu  begründen,  daß  dadurch  wenigstens  auf  mittelbare 
Weise  die  ganze  Zeit,  welche  unser  Begriff  sich  angemaßt  hatte, 
wieder  für  die  Pflicht  und  den  Beruf  gewonnen  wird.  Denn 
wenn  wir  auch  zugeben,  es  müßten  aus  irgendeinem  Grunde 
Pausen  in  dem  Berufsleben-  eintreten,  auch  außer  denen,  welche 
durch  die  Notwendigkeit  des  Schlafes  und  der  Ernährung  er- 
zwungen werden:  muß  deshalb  die  Zeit  durch  irgend  etwas 
ausgefüllt  werden,  was  mit  dem  sittlichen  Interesse  in  gar  keiner 
Verbindung  steht?  Was  ich  eben  beiläufig  als  einen  ziemlich 
unbestimmten  und  eben  deshalb  auch  unsichern  Ausspruch  der 
Erfahrung  angeführt  habe,  daß  schon  Abwechselung  mit  verschie- 
denartigen pflichtmäßigen  Handlungen  eine  Erholung  gewähre, 
das  läßt  sich  allgemeiner  auf  einen  größeren  Gegensatz  zurück- 
führen, nämlich  auf  den  zwischen  der  Betrachtung  und  der  äußern 
Tätigkeit,  so  nämlich,  daß  denen,  welche  aus  der  Betrachtung 
ihr  eigentliches  Geschäft  machen,  schon  jede  nach  außengehende 
Tätigkeit,  auch  solche,  die  Berufsarbeit  ist  für  andere,  Erholung 
gewähre,  und  ebenso  diejenigen,  welche  durch  ihren  Beruf  an 
eine  äußere  Tätigkeit  gewiesen  sind,  sich  schon  in  der  Betrach- 
tung  erholen.    Jene   also   dürften   nur  in  bestimmten   Zwischen- 


430  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,431] 

räumen  die  Vertreter  von  diesen  werden,  um  einer  andern  außer- 
halb des  sittlichen  Gebietes  liegenden  Erholung  nicht  weiter  zu 
bedürfen.  Für  die  letzteren  aber  gibt  es  ein  Gebiet  der  Betrach- 
tung, auf  welchem  sie  sich  ergehen  können,  ohne  den  Zusammen- 
hang mit  der  pflichtmäßigen  Tätigkeit  aufzugeben.  Wenn  ich 
aus  der  Abhandlung  über  den  Pflichtbegriff  zurückrufe,  wie  jede 
einzelne  sitdiche  Willensbestimmung  ein  Produkt  ist  von  der  all- 
gemeinen sittlichen  Richtung  des  Willens  in  eine  bestimmte  äußere 
Aufforderung,  wird  nicht  daraus  folgen,  daß  alle  Unvollkommen- 
heit  in  der  Pflichterfüllung  teils  auf  einer  schwachen  Wirksam- 
keit des  sittlichen  Impulses  beruhe,  teils  auf  einem  Mangel  an 
Fertigkeit,  die  einzelnen  Aufforderungen  wahrzunehmen?  Nun 
aber  gibt  es  Betrachtungen,  welche  den  sittlichen  Antrieben  einen 
neuen  Zufluß  zuführen,  und  auch  solche,  welche  die  Aufmerk- 
samkeit auf  den  sittlichen  Gehalt  und  die  sittHchen  Bedürfnisse 
unseres  Lebenskreises  zu  schärfen  geeignet  sind.  Wer  also  mit 
solchen  die  geforderte  Pause  ausfüllt,  der  wird  keines  Über- 
ganges zu  solchen  Handlungen  bedürfen,  zu  welchen  sich  keine 
sittHchen  Motive  nachweisen  lassen;  denn  zur  Teilnahme  an  sol- 
chen Betrachtungen  findet  jeder  das  Motiv  in  dem  Bewußtsein 
der  Unvollkommenheit  seiner  Pflichterfüllung.  Ja  man  könnte 
sagen,  solle  es  überhaupt  einen  hinreichenden  Grund  geben  zu 
solchen  Pausen:  so  könne  es  nur  der  sein,  daß  in  einem  länge- 
ren oder  kürzeren  Zeitverlauf  dieses  Bewußtsein  so  mächtig  würde, 
daß  die  Aufforderung,  sich  zu  sittlich  stärkenden  und  belehrenden 
Betrachtungen  hinzuwenden,  alle  anderen  Aufforderungen  über- 
wiegt. Sei  nun  aber  diese  befriedigt:  so  trete  auch  unmittelbar 
der  gewöhnliche  Verlauf  der  Berufstätigkeit  wieder  ein.  Hier 
sind  wir  also  bei  einer  rigoristischen  Theorie  angekommen,  welche 
für  alle  solche  Zwischenräume  keinen  andern  Inhalt  gestattet  als 
die  sittliche  Betrachtung,  und  deshalb  alles,  was  sich  unter  dem 
Vorwande  der  Erholung  als  Erlaubtes  eingeschlichen  hatte,  wenn 
auch  die  Form  nicht  gleich  zerschlagen  werden  kann,  doch  in  einen 


[111,2,  432]  Begriff  des  Erlaubten.  431 

solchen  Inhalt  umlenkt.  Und  da  nun  die  aus  der  Betrachtung 
hervorgehende  sittliche  Belebung  und  Reinigung  unleugbar  eine 
Vervollkommnung  und  also  ein  Teil  der  sittlichen  Aufgabe  ist: 
so  kann  jedem,  der  im  Begriff  wäre,  sich  dem  sogenannten  Er- 
laubten hinzugeben,  gezeigt  werden,  daß  es  in  diesem  Augenblick 
auch  für  ihn  noch  einen  Teil  der  sittlichen  Aufgabe  zu  realisieren 
gäbe,  und  jeder  wäre  ohne  alle  Entschuldigung,  wenn  er  nicht 
umlenkte.  Auch  hat  wohl  jeder  diesen  Anzeiger  immer  in  sich 
selbst.  Denn  wer  müßte  nicht,  so  oft  ihm  die  Aufforderungen  zu 
pflichtmäßigen  Handlungen  nicht  mehr  in  Fülle  zuströmen,  sich 
selbst  einer  sichtbaren  Abstumpfung  zeihen,  welche  ihm  eine  neue 
Belebung  notwendig  macht.  Mithin  gibt  es  keinen  anderen  Wech- 
sel als  diesen,  und  die  Formel,  daß  wir  zu  nichts  Zeit  haben 
sollen,  was  nicht  pflichtmäßig,  sondern  nur  erlaubt,  nicht  sittlich 
notwendig,  sondern  nur  sittlich  möglich  sein  will,  dafür  aber 
auch  nur  von  sinnlichen  oder,  wie  man  auch  gesagt  hat,  patholo- 
gischen Motiven  ausgeht,  erscheint  vollkommen  gerechtfertigt. 
Vorausgesetzt  also,  das  sei  die  richtige  Vorstellung  von  erlaubten 
Handlungen,  von  der  wir  gleich  anfänglich  ausgegangen  sind: 
so  würde  unsere  Untersuchung  dahin  enden,  daß  man  immerhin 
zugeben  könne,  diese  Handlungen  seien  ihrem  Inhalte  nach  nicht 
pfHchtwidrig,  und  insofern  also  an  sich  betrachtet  sittlich  mög- 
lich, wie  ja  auch  das  Erlaubte  gewöhnlich  erklärt  wird;  aber 
dies  sei  eine  Möglichkeit  von  jener  untergeordneten  Art,  welche 
nie  reaHsiert  werden  kann.  Denn  solche  Handlungen  vollziehen 
wollen,  sei  immer  pflichtv\ädrig,  weil  ein  bestimmter  Wille  in 
einem  Augenblick  anders  als  aus  sittlichen  Motiven  zu  handeln 
notwendig  vorangehen  muß. 

Wenn  nun  auf  der  einen  Seite  gegen  die  Art,  wie  uns 
dieses  Ergebnis  entstanden  ist,  schwerlich  viel  einzuwenden  sein 
möchte:  so  wird  auf  der  andern  Seite  doch  auch  nicht  leicht  je- 
mand das  Starre  und  Versteinernde  darin  verkennen,  wodurch  sich 
überall    die    sittlichen    Gestaltungen    auszeichnen,    die    von    dem 


432  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,  433] 

isolierten  Pfliciitbegriff  aus  gebildet  sind.  Nun  hängt  aber  die 
ganze  bisherige  Auseinandersetzung  von  unserer  früheren  Be- 
handlung des  Pflichtbegriffes  ab,  und  zugleich  beruht  sie  auf  dem 
strengen  Unterschiede  zwischen  rein  sitthchen  Motiven  und  sinn- 
lichen oder  pathologischen;  es  käme  also  zunächst  auf  einen  Ver- 
such an.  ob  nicht,  wo  dieser  nicht  auf  dieselbe  Weise  anerkannt 
und  jener  Begriff  anders  gefaßt  wird,  ein  milderes  und  anspre- 
chenderes Ergebnis  hervortritt;  und  man  könnte  die  Frage  auf- 
werfen, ob  es  nicht,  statt  den  Begriff  des  Erlaubten  aufzugeben, 
richtiger  sein  möchte,  jenen  Unterschied  etwas  minder  scharf  zu 
fassen  und  den  Begriff  der  PfHcht  irgendwie  auf  einen  engeren 
Raum  zu  beschränken.  Der  Versuch  wird  wohl  nicht  anders  aus- 
fallen als  so.  Wenn  wir  jene  Unterscheidung  beiseite  stellen,  auf 
welcher  der  strengere  Pflichtbegriff  beruht,  und  vorzüglich  zuge- 
ben, auch  was  wir  nur  von  sinnlichen  Bewegungen  aus  erstreben, 
gehöre  mit  zur  Vollständigkeit  des  Lebens:  so  wird  doch  auch 
auf  diesem  Standpunkt  jeder,  der  nur  überhaupt  der  Idee  der  Sitt- 
lichkeit eine  Wahrheit  beilegt,  doch  damit  einverstanden  sein,  daß 
der  Zustand  der  vollkommensten  sittlichen  Selbstbejahung  auch 
das  höchste  Bewußtsein  und  der  höchste  Lebenszustand  sei.  Soll 
nun  zugleich  noch  ein  Unterschied  zwischen  innerlich  Gebotenem 
und  lediglich  Erlaubtem  bestehen:  so  folgt  auch  notwendig,  daß 
jener  höchste  Zustand  nur  durch  die  erste  Tätigkeit  herbeigeführt 
wird,  durch  die  andere  aber  nicht.  Wie  soll  sich  einer  aber  frei- 
willig dazu  verstehen,  und  nicht  sich  selbst  Unrecht  tun,  wenn  er 
es  täte,  aus  jenem  höchsten  Zustand  in  einen  niedrigeren  überzu- 
gehen? zumal  uns  das  Niedrigere  doch  schon  von  der  Natur  auf- 
gedrungen wird,  und  dann  unsere  erste  Sorge  ist,  es  so  viel  mög- 
lich zu  veredeln!  Wenn  sich  also  nun  diese,  die  mehr  den  Stand- 
punkt der  Lebensweisheit  festhalten,  mit  jenen  strengeren  bloß 
rationellen  Sittenlehrern  vereinigen,  und  nun  noch  eine  dritte 
Klasse  hinzukommt  und  dasselbe  sagt,  nämlich  die  strengeren  An- 
hänger einer  supernaturalistischen   asketischen    Frömmigkeit,   als 


[111,2,434]  Begriff  des  Erlaubten.  433 

welche  sich  auch  nur  durch  die  Naturnotwendigkeit  überwältigt 
auf  dem  Oebiet  der  Natur  bewegen  wollen,  sonst  aber,  um  mich 
ihres  Ausdrucks  zu  bedienen,  nur  das  für  unsündlich  erkennen, 
nicht  etwa  was  der  Gottandächtigkeit  nur  nicht  widerspricht,  son- 
dern nur  das,  was  ihr  unmittelbar  angehört  und  von  ihr  ausgeht: 
welch  ein  gefährliches  Bündnis  gegen  unsern  Begriff  von  mehre- 
ren, welche  sonst  selten  eins  sind!  und  doch,  wie  natürhch  muß 
es  uns  erscheinen,  wenn  wir  nur  noch  eine  Betrachtung  dazu 
nehmen.  Denn  jene  rein  rationellen  Moralisten,  denen  die  Pflicht 
allein  das  schlechthin  Heilige  ist,  unterscheiden  sich  zwar  von  den 
andern  beiden  wesentlich  dadurch,  daß  sie  sich  niemals  in  dem 
einen  Augenblick  durch  die  Beziehung  auf  den  andern  bestim- 
men; dafür  aber  haben  sie  an  dem  sich  immer  gleich  bleibenden 
Gebot  einen  Beziehungspunkt,  von  dem  sie  sich  niemals  können 
entfernen  wollen,  solange  sie  nicht  das  Gebot  etwa  in  ein  Ver- 
bot verwandeln.  Die  andern  beiden,  die  es  weniger  scheuen,  auf 
einen  künftigen  Moment  Rücksicht  zu  nehmen,  werden  jeder  auf 
seine  Weise  sagen  —  ich  will  es  aber  nur  in  einer  Sprachweise 
ausdrücken  —  Wenn  wir  auch  über  den  kritischen  Augenblick 
einer  freiwilligen  vorübergehenden  Entsagung  auf  das  höchste 
hinweggehen,  so  treten  doch  immer  hernach  Momente  des  höch- 
sten, rein  sittlichen  Bewußtseins  ein,  wo  dieses  sich  in  seiner  rich- 
tenden Form  auf  die  ganze  Vergangenheit  wendet,  mit  einge- 
schlossen diese  Zustände  der  Unterbrechung  des  sittlichen  Lebens. 
Ein  solches  wiederaufnehmendes  Bewußtsein  wird  aber  in  allen 
zweifelhaften  Fällen  die  Ergänzung  oder  Berichtigung  des  un- 
mittelbaren. Wird  nun  alsdann  die  Vergangenheit  um  jener  Unter- 
brechungen willen  gemißbilligt,  weil  sich,  nun  ein  größerer  Zu- 
sammenhang vorliegt,  das  Sittliche  zeigt,  was  in  jener  Stelle 
hätte  geschehen  sollen:  so  war  es  auch  damals  nur  ein  unvoll- 
ständiges Bewußtsein,  vermöge  dessen  sie  uns  als  erlaubt  erschie- 
nen, sondern  sie  sollten  uns  als  pflichtwidrig  erschienen  sein. 
Verringert  sich  aber  die  Billigung  auch  alsdann  nicht,  erscheinen 

Schleiermacher,  Werke.     I.  28 


434  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,435] 

vielmehr  jene  damals  nur  als  erlaubt  unternommene  Handlun- 
gen als  wirksam  in  dem  sittlichen  Zusammenhange  des  Lebens: 
so  war  doch  das  frühere  Bewußtsein  ebenfalls  unvollständig;  denn 
wir  sollten  sie  nicht  nur  für  erlaubt,  sondern  für  pflichtmäßig  er- 
kannt haben.  Sonach  würde  also,  sobald  wir  nicht  eine  un- 
bestimmte Allgemeinheit  im  Auge  haben,  sondern  von  einer  be- 
stimmten Handlung  die  Rede  ist,  die  in  bestimmter  Zeit  vollzogen 
werden  soll  oder  unterbleiben,  das  dritte  zwischen  dem  Pflicht- 
mäßigen und  Pflichtwidrigen,  welches  unser  Beweis  aufstellen 
will,  auf  jeden  Fall  ausgeschlossen. 

Und  wie  gestaltet  sich  die  Sache,  wenn  wir  auf  das  Ver- 
hältnis unseres  problematischen  Begriffes  zu  dem  andern  für  uns 
außer  allem  Zweifel  gestellten,  nämlich  zu  dem  Begriff  der  Tugend 
sehen  wollen.  Schon  bei  der  Tugend  im  allgemeinen,  noch  mehr 
aber  wenn  wir  uns  die  Tugenden  vereinzeln  wollen,  müssen 
wir  auf  zweierlei  achten,  auf  die  Stärke  und  Tüchtigkeit  der 
bestimmten  Tätigkeitsform,  und  auf  die  Unfehlbarkeit  und  Aus- 
schließlichkeit ihres  Zusammenhanges  mit  einem  sittlichen  An- 
triebe. Mag  immerhin  der  Begriff  seiner  materiellen  Seite  nach 
einer  unendlichen  Teilbarkeit  fähig  sein;  alle  Fertigkeiten  sind 
doch  nur  insofern  Tugenden,  als  sie  nur  durch  einen  sittlichen 
Antrieb  in  Bewegung  gesetzt  werden.  Wenn  nun  die  erlaubten 
Handlungen  nur  durch  solche  Tätigkeitsformen  verrichtet  wür- 
den, welche  unfähig  sind,  dem  sittlichen  Antriebe  zu  folgen:  so 
wäre  es  nicht  möglich,  daß  sie  nicht  sollten  dem  sittlichen  In- 
teresse widerstreiten  und  also  pflichtwidrig  sein.  Wenn  nun  aber 
Tätigkeitsformen,  die  ihrer  Natur  nach  dem  sittlichen  Antriebe 
dienen  können,  und  also  auch  häufig  für  ihn  in  Anspruch  genom- 
men werden,  in  den  erlaubten  Handlungen  einem  sinnlichen  Im- 
pulse dienen:  wie  sollte  es  möglich  sein,  daß  dadurch  nicht  der 
Zusammenhang  dieser  Fertigkeiten  mit  dem  sittlichen  Antriebe, 
mithin  auch  ihr  Tugendgehalt  geschv/ächt  würde?  Betrachten  wir 
nun  von  hier  aus   den  ganzen  Umfang  des  sogenannten   Erho- 


[111,2,436]  Begriff  des  Erlaubten.  435 

lungslebens:  so  finden  wir  darin  eine  große  Mannigfaltigkeit  an- 
mutiger und  zierlicher  Fertigkeiten  geschäftig,  die  wir  nicht  ge- 
rade Tugenden  nennen,  aber  nahe  verwandt  finden  wir  sie  den 
Tugenden,  und  müssen  fast  von  ihnen  allen  rühmen,  daß  durch 
sie  auch  die  pflichtmäßigen  Handlungen,  in  denen  sich  die  eigent- 
lichen Tugenden  zeigen,  erst  ihre  höchste  Vollkommenheit  er- 
langen. Ist  nun  dieses  nicht  zu  leugnen,  wenn  wir  an  die  Meister- 
schaft in  der  Sprache,  an  die  Anmut  in  den  Bewegungen,  an 
das  schöne  Maß  in  allen  Äußerungen  und  an  so  vieles  andere 
denken:  so  werden  wir  doch  auch  gestehen  müssen,  daß  diese 
Eigenschaften,  wenn  sie  sich  an  den  pflichtmäßigen  Handlungen 
finden,  dann  auch  Tugenden  sind,  wenn  auch  nur  untergeord- 
nete, weil  sie  hier  nur  durch  den  sittlichen  Antrieb  in  Bewegung- 
gesetzt  werden,  welcher  der  Haupthandlung  zum  Grunde  liegt. 
Kommen  sie  aber  vor  in  dem  freien  Spiel  des  geselligen  Verkehrs: 
dann  freilich  sind  sie  keine  Tugenden,  weil  der  Zusammenhang 
mit  dem  sittlichen  Antriebe  fehlt.  Wie  soll  aber  das  beides  neben- 
einander hergehen,  ohne  daß  eines  dem  andern  schadet?  Je 
weniger  der  Lauf  des  Berufslebens  unterbrochen  worden,  um 
desto  schwieriger  wird  es  dann  werden,  in  diesen  seltenen  Fällen 
jene  Fertigkeiten,  die  ganz  in  den  Ernst  des  Lebens  hineingezogen 
sind,  für  die,  v/enn  auch  unschuldigen,  sinnlichen  Antriebe  in  Gang 
zu  bringen.  Je  mehr  Raum  das  Erholungsleben  einnimmt,  um 
desto  mehr  muß  der  Zusammenhang  solcher  Fertigkeiten  mit  den 
sittlichen  Antrieben  geschvv'ächt  werden,  und  also  hier  die  Tugend 
allmählich  verloren  gehen.  Daher  ist  auch  hier  das  Endergebnis 
dasselbige.  Wir  dürfen  es  nie  billigen,  daß  unsere  wohlerworbe- 
nen Fertigkeiten  bald  einem  sittlichen  Antriebe  dienen  und  bald 
einem  sinnlichen.  Wie  unschuldig  auch  der  letztere  sein  möge, 
das  sinnlich  Begonnene  kann  doch  nur  sittenverderblich  wirken; 
w^enn  also  alles  was  zur  Tugend  gehört,  in  wahrem  Fortschrei- 
ten bleiben  soll:  so  müssen  die  Handlungen,  die  wir  geneigt  sind, 
als  erlaubte  zu  dulden,  ganz  aus  dem  Leben  verbannt  v^erden, 

28* 


436  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,437] 

es  müßte  denn  sein,  daß  auch  sie  in  der  Tat  von  sittlichen  An- 
trieben ausgehen. 

Sonach  ist  nur  noch  übrig,  daß  wir  diese  Handlungen  in 
Beziehung  setzen  mit  dem  dritten  Begriff,  nämlich  dem  der  Güter 
und  Übel.  Hier  aber  können  wir  nicht  mehr  ganz  so  verfahren 
wie  bisher;  denn  wir  haben  es  nicht  mit  den  einzelnen  Handlun- 
gen selbst  zu  tun;  sondern  mit  dem,  was  aus  der  Gesamtheit 
gleichartiger  Handlungen  hervorgeht.  Und  hier  muß  sich  also 
zeigen,  ob,  wenn  wir  auf  diese  Weise  jede  Art  von  erlaubten 
Handlungen  für  sich  betrachten,  man  sagen  kann,  daß  sie,  im 
allgemeinen  und  nur  ihrem  Inhalte  nach  angesehen,  in  der  Mitte 
stehen  zwischen  dem  Sittlichen  und  Unsittlichen.  So  wird  es  sich 
nämlich  verhalten,  wenn  dasjenige,  was  sich  aus  ihnen  als  ein 
Ganzes  gestaltet,  weder  ein  Gut  ist  noch  ein  Übel.  Sollte  aber 
dieses  notwendig  entweder  ein  Gut  sein  oder  ein  Übel:  dann 
gewiß  sind  auch  die  Handlungen,  woraus  dieses  hervorgeht,  in 
dem  einen  Falle  sittlich,  in  dem  andern  unsittlich.  Nun  ist  ge- 
wiß, daß  ohne  die  Gewohnheit  des  Spazierengehens  keine  schöne 
Gartenkunst  vorhanden  wäre,  daß  ohne  die  Neigung  Musik  in 
Masse  zu  hören,  unsere  großen  Gattungen  tonkünstlerischer  Pro- 
duktion nicht  beständen,  und  ebensowenig  die  dramatische  Kunst, 
wenn  sich  niemand  an  ihren  Darstellungen  ergötzte*).  Könnten 
wir  nun  wohl  diese  und  andere  ähnliche  so  große  gemeinschaftliche 


*)  Sollte  jemand  einwenden,  man  könne  doch  eigentlich  nicht  sagen,  daß 
diese  Künste  aus  den  angegebenen  Handlungen,  im  ganzen  betrachtet,  ent- 
stünden: so  bemerke  ich  dagegen,  daß  doch  offenbar  Musik  hervorbringen  und 
Musik  aufnehmen  und  so  auch  das  übrige  beides  zusammengehört,  ja  wesent- 
lich dasselbige  ist,  und  sich  nur  verhält  wie  Spontaneität  und  Rezeptivität, 
und  daß  daher  alle  festlichen  Versammlungen  dieser  Art  angesehen  werden 
können  als  ein  aus  Einem  Impuls  hervorgehendes  Ganze,  das  nur  aus  in  dem 
angegebenen  Verhältnis  ungleichartigen  Teilen  besteht,  in  welchem  einigen  ihrer 
Beschaffenheit  gemäß  obliegt,  produktiv  hervorzutreten,  den  anderen,  das  Dar- 
gebotene aufzufassen  und  in  sich  lebendig  zu  erhalten. 


[111,2, 438]  Begriff  des  Erlaubten.  437 

Werke  ganz,  aus  dem  sittlichen  Gebiete  verweisen  und  für  sittlich 
gleichgültig  erklären  wollen?  oder  werden  wir  nicht  immer  sagen 
müssen,  entweder  es  sei  eine  UnvoUkommenheit,  wenn  sie  in  einem 
Volke  ganz  fehlen,  und  dann  sind  sie  ein  Gut,  oder  es  sei  ein 
Verderben,  wenn  sie  in  einem  Volke  auch  nur  irgendwie  vorhan- 
den sind,  und  dann  sind  sie  ein  Übel.  Sonach  muß  aber  auch 
in  dem  einen  Falle  sittlich  und  also  irgendwann  pflichtmäßig 
sein,  sie  machen  zu  helfen,  und  in  dem  andern  unsittlich  und 
auf  alle  Weise  pflichtwidrig,  sie  nicht  nach  allen  Kräften  zu  hin- 
dern und  zu  stören.  Oder  —  um  noch  ein  anderes  Beispiel  an- 
zuführen —  es  könnte  jemand  sagen,  die  Tätigkeit  der  Gedanken- 
erzeugung sei  nur  rein  sittlich,  wenn  sie  absichtlich  auf  etwas 
Bestimmtes  gerichtet  entweder  das  geschäftige  Leben  begleitet  und 
diesem  angehört,  oder  sich  auf  dem  Gebiet  der  Wissenschaft  an 
der  Leitung  einer  strengen  Methode  entwickelt;  aber  Einfälle 
nicht  sowohl  zu  haben,  denn  das  könnte  als  unwillkürlich  nicht 
ganz  hierher  gehören,  aber  doch  sie  auszubilden  und  mitzuteilen, 
dieses  könne  doch  nicht  jenem  gleichgestellt  werden,  sondern  höch- 
stens als  etwas  Erlaubtes  durchgehen.  Ich  aber  entgegne,  daß 
wie  durch  jenes  das  Geschäftsleben  und  die  Wissenschaft  gemacht 
wird,  so  durch  dieses  das  freie  gesellige  Gespräch  in  seinen  ver- 
schiedenen reizenden  Formen;  und  ich  könnte  nicht  absehen,  wa- 
rum dieses  weniger  als  jene  sollte  entweder  ein  Gut  sein  oder  ein 
Übel.  Ich  trage  daher  kein  Bedenken,  hierauf  gestützt  den  Aus- 
spruch zu  tun,  daß  so  große  und  bedeutende  Gebiete  der  mensch- 
lichen Gesamttätigkeit  keinesweges  dürfen  der  sittlichen  Beurtei- 
lung entzogen  werden;  und  ich  glaube,  es  wird  schwer  sein,  irgend- 
eine Tätigkeitsform,  die  man  gern  als  erlaubt  möchte  gelten 
lassen,  aufzufinden,  welche  im  großen  betrachtet  nicht  einem 
solchen  gemeinsamen  Werke  angehörte.  Wie  wir  also  auf  der 
einen  Seite  sagen  müssen,  jede  freie  Handlung  eines  sittlichen 
Wesens  muß  entweder  pflichtmäßig  sein  oder  pflichtwidrig,  und 
alle  Fertigkeiten,  welche  in  pflichtmäßigen  Handlungen  verwendet 


438  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,439] 

werden  können,  dürfen  niemals  einem  wenn  auch  noch  so  un- 
schuldigen doch  bloß  sinnlichen  Antriebe  folgen:  so  auch  alles, 
was  aus  freien  Handlungen  gleicher  Art  zusammenwächst,  muß 
entweder  ein  Qut  sein  oder  ein  Übel.  Sonach  würde  der  Begriff 
des  Erlaubten  aufgehoben,  und  sein  Inhalt  müßte  —  wie,  das 
lassen  wir  dahingestellt  sein  —  unter  die  beiden  Glieder  des 
Gegensatzes,  zwischen  denen  es  sonach  kein  drittes  gäbe,  ver- 
teilt werden. 

Nachdem  sich  nun  von  allen  Seiten  her  gleichmäßig  dasselbe 
ergeben  hat,  kann  wohl  die  oft  wiederholte  Klage,  das  sei  eben 
die  Krankheit  der  Theorie,  ihren  Gegenstand  so  auf  die  Spitze 
zu  stellen,  daß  sie  sich  selbst  dadurch  alles  Einflusses  auf  die  Aus- 
übung beraube,  nicht  weiter  gehört  werden;  denn  hier  möchte 
schwerlich  eine  Wahl  sein.  Wenn  wir  ein  sittlich  Gleichgültiges 
zwischen  einschieben  zwischen  Gebot  und  Verbot,  und  also  durch 
die  Theorie  selbst  der  Willkür  und  dem  einzelnen  ja  augenblick- 
lichen Gutdünken  einen  Spielraum  gestatten,  was  der  Theorie 
mehr  als  alles  andere  entgegen  ist:  so  geht  dieser  Einfluß  eben- 
falls verloren;  aber  es  möchten  überdies  von  der  eigentUch  sitt- 
lichen Theorie  kaum  noch  unzusammenhängende  Bruchstücke 
übrigbleiben,  und  sehr  bald  alles,  was  Pflicht  auch  im  sittlichen 
Sinne  sein  soll,  auf  das  Gebiet  des  äußern  Gesetzes  beschränkt 
werden. 

Nur  das  sind  wir  freilich  schuldig  zu  erklären,  wie  doch  die- 
ser Begriff,  wenn  er  so  ganz  unstatthaft  ist,  entstanden  sei  und 
sich  so  weit  verbreitet  habe.  Dies  hat  aber  auch  keine  Schwie- 
rigkeit, vielmehr  führt  schon  das  eben  Gesagte  unmittelbar  darauf. 
Das  ist  nämlich  wohl  klar,  daß  der  ursprüngliche  Sitz  dieses  Be- 
griffes nicht  das  Gebiet  der  Sittlichkeit  sein  kann,  auf  welchem 
er  eben  gar  nicht  statthaft  ist.  Er  gehört  aber  in  das  Gebiet 
des  positiven  Rechtes  und  Gesetzes;  und  im  bürgerlichen  Leben 
gibt  es  ursprünglich  in  eben  diesem  Sinne  ein  Erlaubtes,  daß 
es  nämlich  in  der  Mitte  steht  zwischen  dem  Gesetzlichen  und  dem 


[111,2,440]  Begriff  des  Erlaubten.  439 

Gesetzwidrigen,  als  dasjenige  offenbar,  was  das  Gesetz  gar  nicht 
zu  seinem  Gegenstande  gemacht  hat.  Denn  in  dem  vorbürger- 
lichen Zustand,  wo  es  kein  äußerlich  Gebotenes  und  Verbotenes 
gibt,  gibt  es  eigentlich  auch  kein  Erlaubtes,  und  nur  wir  von 
dem  gesetzlichen  Zustande  aus  werfen  die  Frage  auf,  ob  dort  alles 
erlaubt  sei.  Aber  es  gibt  eben  deshalb  auch  auf  jener  Stufe  wenig 
individuelle  Entwicklung  des  Willens,  sondern  nur  eine  gleich- 
förmige Art  und  Weise.  Mit  dem  Anfang  des  bürgerlichen  Zu- 
standes  setzt  das  Gesetz  sich  selbst  als  Gebot  und  Verbot,  und 
zugleich  erwacht  im  Gegensatz  der  individuelle  Wille;  beides  von 
einem  kleinsten  beginnend  in  fortschreitender  Entwicklung.  In 
demselben  Maß  aber  entwickelt  sich  auch  dem  Gesetz  gegenüber 
der  Wille  des  einzelnen  und  bemächtigt  sich  des  freigelassenen 
Tätigkeitsstoffes,  und  das  ist  das  Gebiet  des  Erlaubten.  Zwar 
unterscheidet  schon  der  Autor  ad  Herenn.  *)  erlaubende  Gesetze 
von  nötigenden  Gesetzen,  und  auch  bei  Cicero**)  kommt  dasselbe 
vor,  und  hernach  ebenso  bei  späteren  römischen  Rechtslehrern***); 
und  wahrscheinlich  ist  die  Quelle  dieser  Vorstellung  schon  grie- 
chisch; allein  es  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln,  daß  Erlaubnisgesetze 
im  römischen  Staate  sich  immer  nur  auf  frühere  Verbote  bezogen 
als  Aufhebung  oder  als  teilweise  Begrenzung  derselben,  und 
dies  gilt  auch  von  denen  Erlaubnisgesetzen,  welche  Kant  versucht 
hat  geltend  zu  machen.  Ein  bürgerHches  Erlaubnisgesetz  ohne 
eine  solche  frühere  Beziehung  läßt  sich  nur  denken  in  dem  Falle, 
wenn  sich  für  die  Bürger  eine  bisher  noch  gar  nicht  vorgekom- 
mene Tätigkeit  auftäte.  Aber  auch  dann  wäre  eine  von  der 
höchsten  Gewalt  ausgehende  Erlaubnis  doch  immer  ein  Beweis, 
daß  sie  an  dieser  Tätigkeit  Interesse  nimmt,  und  wäre  für  eine 


*)  II,  10.  utrum  leges  ita  dissentiant,  ut  altera  cogat,   altera  permittat. 
**)  De  Invent.  II,  49-  utra  lex  iubeat  aliquid,  utra  permittat. 
***)  Legis  virtus  est  imperare,  vetare,  permittere,  punire.    Modestin.  L.  7  D. 
de  legib.  I,  3- 


440  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,441] 

Aufforderung  oder  Auktorisation  zu  achten.  Man  kann  daher  ge- 
nau genommen  keineswegs  sagen,  daß  in  einem  Staate  das  Ge- 
setz eigentlich  eine  erlaubende  Macht,  folglich  in  demselben  nichts 
erlaubt  sei,  als  was  vermöge  eines  Gesetzes  erlaubt  ist.  Vielmehr 
werden  in  dem  gewöhnlichen  Leben  des  Staates  die  Geset/chütcr 
nie  in  den  Fall  kommen  zu  fragen,  wer  hat  dir  das  erlaubt? 
ausgenommen  da,  wo  ein  Verbot  besteht,  unter  welches  die  Hand- 
lungen hätten  subsumiert  werden  sollen,  so  daß  die  beständige  Be- 
ziehung des  Erlaubten  auf  das  Verbotene  wohl  nicht  bezweifelt 
werden  kann.  Nur  Barbeyrac*)  geht  von  einer  andern  allge- 
meinen Voraussetzung  aus,  als  ob  der  Gesetzgeber  genau  genom- 
men über  alle  Handlungen  seiner  Angehörigen  zu  disponieren 
habe,  und  also  in  der  Tat  nichts  anders  erlaubt  sei  als  durch  ihn. 
Allein  dies  ist  nur  für  einen  solchen  Zustand  richtig,  in  welchem 
die  Obrigkeit  im  eigentlichsten  Sinne  eine  väterliche  Gewalt  aus- 
übt, und  also  eine  gänzliche  Unmündigkeit  der  Untertanen  vor- 
ausgesetzt wird.  Wie  aber  in  einem  solchen  Zustande  allerdings 
der  Gegensatz  zwischen  dem  Erlaubten  auf  der  einen  Seite  und 
dem  Gebotenen  und  Verbotenen  auf  der  andern  fast  verschwindet: 
so  auch  jener  andere,  daß  der  freie  Wille  des  einzelnen  sich  fort- 
entwickelnd einzelnes  vollbringt,  das  Gesetz  hingegen  in  allgemei- 
nen Akten  die  Stabilität  repräsentiert,  d.  h.  es  ist  ein  Zustand, 
der  als  gesetzlicher  erst  ein  kleinster  ist.  Wo  aber  das  bürgerliche 
Leben  schon  auf  einer  höheren  Stufe  steht,  da  nimmt  der  freie 
Wille  der  einzelnen  immer  mehr  Material  als  erlaubt  in  Besitz 
und  ruft  es  auch  hervor,  und  aus  diesem  erst  bestimmt  dann, 
wenn  die  gemeine  Sache  es  erfordert,  das  Gesetz  wiederum  eini- 
ges als  gesetzmäßig  und  geboten,  und  anderes  als  verboten  und 
und  gesetzwidrig.  Und  so  ist  es  natürlich  immer  ein  sehr  gutes 
Zeichen  für  einen  Staat,  wenn  sich  in  demselben  eine  recht  große 
Mannigfaltigkeit  von  erlaubten  Handlungen,  als  die  Hauptmasse 


*)  In  der  Übersetzung  des  Grotius  B.  i,  S.  49,  Note  5- 


[111,2,  442]  Begriff  des  Erlaubten.  441 

der  gemeinsamen  Tätigkeit,  gestaltet.  Es  ist  das  Zeichen  von 
einer  erfolgreichen  Regsamkeit,  und  zugleich  von  einer  dem  Ge- 
meinwohl so  zusagenden  Richtung  derselben,  daß  die  Gesetz- 
gebung nicht  nötig  findet,  die  Äußerungen  des  freien  Willens  der 
einzelnen  durch  Verbote  zu  hemmen  oder  ihnen  durch  Gebote  ein 
Gegengewicht  zu  geben.  Hier  also  ist  der  eigentliche  Sitz  des 
Erlaubten,  und  jede  Handlung  wird  so  genannt,  welche,  wenn  sie 
aus  dem  freien  Willen  der  einzelnen  entspringt,  aus  dem  Gesetz 
nicht  kann  angefochten  werden.  Auf  diesem  Verhältnis  also,  daß 
ein  handelnder  Wille  da  sei  und  ein  Gesetz  außer  dem  Willen, 
ruht  der  Begriff  wesentlich;  und  je  mehr  dem  freien  Willen  der 
einzelnen  in  diesem  Verhältnis  überlassen  ist,  um  desto  lieber 
und  kräftiger  unterstützen  sie  auch  wieder  das  Gesetz.  —  In  die- 
sem vom  bürgerlichen  Gesetz  frei  gelassenen  Gebiete  aber  gestaltet 
sich  früher  oder  später  ohnfehlbar  wieder  ein  anderes  feststehen- 
des, nämlich  das  Gebiet  der  Sitte  und  der  öffentlichen  Meinung. 
Hier  finden  wir  also  wieder  bestimmte  übereinstimmende  Billi- 
gung und  Mißbilligung,  welche  wir  aussprechen,  wenn  wir  nach 
Maßgabe  der  Wichtigkeit  und  der  Beschaffenheit  des  Gegenstan- 
des das  eine  anständig  oder  schicklich  nennen,  und  das  andere  mit 
den  entgegengesetzten  Namen  bezeichnen.  Nicht  ist  diese  dem 
Gebot  und  Verbot  des  Gesetzes  zu  vergleichen;  denn  die  Sitte 
gebietet  nicht,  weil  sonst  unterbleiben  würde,  was  sie  verbietet, 
und  umgekehrt  verbietet  sie  auch  nicht  gleich  dem  Gesetz,  was 
sonst  geschehen  würde;  sie  ist  nichts  außer  dem  Willen  der  ein- 
zelnen, sondern  sie  ist  die  Übereinstimmung  dieser  einzelnen  Wil- 
len. Darum  freuen  wir  uns  auch  hier  nicht  daran,  als  wäre  es  eine 
Folge  schöner  und  freier  Entwicklung,  sondern  wir  achten  es  als 
ein  Zeichen  herannahenden  Verfalls  der  Gesellschaft,  wenn  es 
sehr  viele  Handlungsweisen  gibt,  welche  die  Sitte  gleichgültig 
übersieht,  und  über  welche  sich  die  öffentliche  Meinung  nicht  aus- 
spricht. Und  so  erscheint  es  denn,  weil  das  Erlaubte  dem  Rechts- 
begriff angehört,  und  nicht  dem  Pflichtbegriff,  auch  ganz  natür- 


442  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,443] 

lieh,  daß  wir  schon  auf  dem  Gebiet  der  Sitte,  welches  auch  schon 
außer  dem  des  Rechtsbegriffes  liegt,  keinen  Wohlgefallen  haben 
an  einem  solchen  mitten  zwischen  dem  Löblichen  und  Tadelns- 
werten inne  Liegenden.  Viel  weniger  also  noch  auf  dem  Gebiete 
des  eigentlichen  sittlichen  Pflichtbegriffs,  wo  jede  Bestimmung 
nichts  anderes  ist  als  der  sich  selbst  setzende  vollständige  Wille 
des  einzelnen  selbst.  Denn  eher  noch  kann  jene  freie  Überein- 
stimmung der  einzelnen  Willen  unsicher  erscheinen,  so  daß  wir 
nicht  wissen,  ob  wir  etwas  sollen  anständig  nennen  oder  unschicklich, 
als  daß  dem  einzelnen  Willen  für  sich  ähnlichen  begegnen  könnte. 
Es  scheint  daher  notwendig  zu  folgen,  daß,  wenn  man  das 
sittliche  Handeln  so  ansieht  wie  hier  überall  vorausgesetzt  wird, 
daß  nämlich  die  Vernunft  nicht  bloß  abschlägt  oder  genehmigt, 
sondern  ursprünglich  die  Handlungen  bildet,  alsdann  das  Erlaubte 
von  diesem  Gebiet  verwiesen  werden  muß,  so  daß  kein  sittlich 
handelndes  Subjekt  eine  Handlung  zustande  bringt  unter  dem 
Titel  einer  erlaubten,  sondern  das  Erlaubte  gehört  nur  dem 
Rechtsgebiet  an,  aber  das  dort  Erlaubte  tut  der  sittlich  Handelnde 
in  jedem  einzelnen  Fall  nur  als  die  Pflicht  des  Augenblicks,  oder 
unterläßt  es,  weil  er  eine  andere  zu  tun  hat.  Und  nur  wenn 
die  Vernunft  im  sittlichen  Handeln  beschränkt  wird  auf  Gewäh- 
rung oder  Versagung  des  anderwärts  her  Geforderten,  wie  dies 
allerdings  der  Fall  ist,  wenn  sie  nur  ein  Gesetz  aufstellt,  wonach 
sie  die  Tauglichkeit  der  Maximen  beurteilt,  selbst  also  nichts  tut 
als  Recht  sprechen;  in  einer  solchen  Sittenlehre  muß  des  Erlaub- 
ten viel  aufgestellt  werden.  So  daß  die  Zulassung  dieses  Be- 
griffes auf  dem  sittlichen  Gebiet  ein  charakteristisches  Merkmal 
derjenigen  ethischen  Systeme  ist,  welche  ich  die  negativen  genannt 
habe.  Wer  aber  verlangt,  es  solle  sich  im  sittlichen  Menschen 
alles  nur  als  Organ  zur  Intelligenz  verhalten,  der  kann  jenen 
Begriff  nicht  zulassen,  sondern  muß  auch  fordern,  daß  jede  Hand- 
lung der  Idee  der  Sittlichkeit  widerspreche,  zu  welcher  der  Im- 
puls nicht  von  der  Intelligenz  ausgegangen  ist. 


[111,2,444]  Begriff  des  Erlaubten.  443 

Ohne  nun  hiervon  das  mindeste  nachzulassen,  kann  ich  doch 
den  Sprachgebrauch  nicht  verdammen  u^ollen,  welcher  diesen  Aus- 
druck nicht  rein  auf  das  Gebiet  des  bürgerlichen  Gesetzes  be- 
schränken will;  und  es  ist  mir  nur  noch  übrig,  die  Erweiterungen 
zu  bezeichnen,  welche  ihm  in  Übereinstimmung  mit  dem  bisherigen 
gestattet  werden  können.  Denn  zuerst  können  wir  ja  unser  gan- 
zes Sein  und  Leben  im  Staat  so  ansehen,  daß  wir  durch  eine 
freie  Willensbestimmung  hineintreten.  Wenn  diese  nicht  in  allen 
Staaten  auf  eine  so  bezeichnende  und  feiediche  Weise  zur  An- 
schauung gebracht  wird,  wie  in  einigen:  so  ist  das  eher  ein  Feh- 
ler zu  nennen,  aber  die  Sache  ist  überall  dieselbe.  Was  nun 
von  dieser  Willensbestimmung  gilt,  daß  nämlich  durch  dieselbe 
eine  große  Menge  von  künftigen  Handlungen  schon  im  voraus 
bestimmt  sind,  diejenigen  aber,  von  denen  dieses  nicht  gesagt  wer- 
den kann,  eben  die  erlaubten  sind,  die  wir  schlechthin  so  nennen 
—  sie  sind  es  aber  eigentlich  nur  in  bezug  auf  jene  Willens- 
bestimmung — :  eben  das  muß  gelten  von  allen  Willensbestim- 
mungen, durch  welche  ein  dauerndes  Verhältnis  angeknüpft  wird, 
daß  alle  nicht  durch  sie  schon  im  voraus  bestimmten  Handlungen 
in  Beziehung  auf  sie  erlaubt  sind,  jede  von  ihnen  ist  aber  jedes- 
mal, wenn  sie  vollzogen  wird,  dennoch  für  den  Täter  nur  entweder 
pfHchtmäßig  oder  pflichtwidrig.  Ob  sie  nun  aber  das  eine  oder 
das  andere  ist,  ob,  nachdem  der  einzelne  sittliche  Impuls  gegeben 
war,  der  Gedanke  der  Handlung  auch  an  die  Totalität  der  sitt- 
lichen Aufgabe  gehalten  worden  ist,  und  sich  kein  Widerstreben 
gefunden  hat,  oder  ob  es  sich  entgegengesetzt  verhält,  das  wird  in 
den  meisten  Fällen  nur  der  Täter  selbst  wissen,  und  wem  er  es 
offenbaren  will.  Jeder  andere  kann  von  jeder  Handlung  eines 
anderen,  welche  nicht  schon  durch  ein  ihm  bekanntes  Verhältnis 
des  Täters  irgendwie  müßte  im  voraus  bestimmt  worden  sein, 
auch  nur  sagen,  daß  sie  von  seinetwegen  und  für  seine  Kennt- 
nis eine  erlaubte  sei.  Wodurch  aber  auch  der  Beurteilende, 
wenn  er  anders  sich  selbst  recht  versteht,  den  Täter  keinesweges 


444  Begriff  des  Erlaubten.  [111,2,  445] 


davon  frei  sprechen  will,  daß  er  bei  der  Handlung  selbst  sich  in 
einem  Zustande  vollkommner  sittlicher  Zustimmung  müsse  befun- 
den  haben. 

Und  was  diesem  Gebrauch  des  Wortes  den  weitesten  Spiel- 
raum eröffnet,  das  sind  die  engen  Grenzen,  in  welche  das  Sich- 
offenbaren-wollen  selbst  eingeschlossen  ist.  Wir  können  den  Zu- 
stand der  festen  Überzeugung  und  gänzlichen  Zustimmung  zu 
unsern  Handlungen  fast  nur  dann  in  Worte  fassen  und  mitteilen, 
wenn  wir  selbst  genötigt  gewesen  sind  mit  Worten  zu  rechnen, 
wenn  uns  diese  vollkommne  Sicherheit  entstanden  ist  durch  über- 
wundene Bedenklichkeiten,  durch  aufgelöste  Zweifel,  durch  eine 
wohl  abwägende  Wahl  zwischen  verschiedenen  Ansprüchen;  und 
dies  ist  vielleicht  bei  den  meisten  unserer  freien  Handlungen  der 
Fall,  aber  diese  sind  dann  nicht  die  begeistertsten,  nicht  die  rein- 
sten. Die  vollkommenste  Sittlichkeit  ist  nur  da,  wo  unsere  volle 
Überzeugung  sich  gleich,  und  ohne  daß  etwas  anderes  dazwischen 
tritt,  der  Handlung  zuwendet  und  sie  gestaltet,  und  solche  Hand- 
lungen sind  es,  auf  welche  wir  auch  lange  hernach  noch  mit 
derselben  Befriedigung  sehen.  Von  solchen  Augenblicken  aber, 
die  nicht  auch  innerlich  durch  Worte  vermittelt  waren,  durch  Worte 
Rechenschaft  zu  geben,  ist  uns  nicht  verliehen;  und  so  müssen 
wir  oft  zufrieden  sein,  wenn  das  Urteil  anderer  uns  das  als  etwas 
wohl  Erlaubtes  durchgehen  läßt,  worin  wir  selbst  uns  der  sitt- 
lichen Kraft  unseres  eigentümlichen  Lebens  auf  das  bestimmteste 
bewußt  geworden  sind. 


über  den  Begriff  des  höchsten  Gutes. 

Erste  Abhandlung, 
Gelesen  am  17.  Mai  1827.') 

Es  ist,  glaube  ich,  keine  gewagte  Behauptung,  daß  die  Sitten- 
lehre als  Wissenschaft  sich  in  einem  unerfreulichen  Zustande 
befindet.  Die  Produktivität  auf  diesem  Gebiet  ist  äußerst  gering, 
und  auch  das  wenige  wird  weniger  als  alles  andere  beachtet. 
Demohnerachtet  kann  man  nicht  sagen,  daß  sie  etwa  als  eine 
ältere  Wissenschaft  schon  so  völlig  ausgebaut  sei,  daß  aus  diesem 
Grunde  der  größte  Teil  des  wissenschaftlichen  Bestrebens  sich 
anderen  Regionen  zuwende.  Denn  dann  müßte  sie  lange  Zeit 
hindurch  auf  eine  gleichmäßige  Weise  sein  bearbeitet  worden, 
welches  doch  keinesweges  der  Fall  ist.  Vielmehr  scheinen  die 
vielen  und  auch  in  der  neueren  Zeit  schnell  aufeinander  folgenden 
Veränderungen  zu  beweisen,  daß  keiner  von  den  früheren  Ver- 
suchen eine  feste  Überzeugung  begründet  habe;  und  es  wäre  nicht 
übereilt,  den  Schluß  zu  ziehen,  daß  wahrscheinlich  der  rechte 
Weg  noch  nicht  eingeschlagen  sei.  Die  Kant  sehe  Grundlegung 
zur  Metaphysik  der  Sitten  mit  ihrem  kategorischen  Imperativ 
machte  freilich  ein  glänzendes  Glück;  aber  schon  die  Ausführung 


•)  Gedruckt  unter  den  Abhandlungen  aus  dem  Jahre  1830. 


446  Begriff  des  höchsten  Gutes.   I.  [111,2,  447] 

auf  diesem  Grunde,  welche  in  der  Rechtslehre  und  Tugendlehre 
als  die  wirkliche  Metaphysik  der  Sitten  auftrat,  vermochte  nicht 
den  ersten  Erfolg  zu  unterstützen.  Fichtes  System  der  Sitten- 
lehre ist  unter  allen  Werken  dieses  ausgezeichneten  Denkers  viel- 
leicht das  der  Form  nach  vollendetste;  die  Wirkung  aber,  die  es 
hervorgebracht  hat,  ist  verhältnismäßig  wohl  die  geringste.  Läßt 
sich  nun  doch  keineswegs  annehmen,  daß  es  im  allgemeinen  an 
Interesse  für  den  Gegenstand  dieser  Wissenschaft  fehle;  dürfen 
wir  uns  vielmehr  wohl  das  Zeugnis  geben,  daß  auch  in  den  ver- 
worrensten Zeiten  Sittlichkeit  und  sittliche  Gewißheit  nie  auf- 
gehört haben,  als  zu  unsern  wichtigsten  Angelegenheiten  gehörig 
auch  den  Forschungen  derer  empfohlen  zu  sein,  welche  berufen 
sind,  überall  auf  die  letzten  Gründe  zurückzugehen:  so  kann  die 
Schuld  eines  solchen  Mißlingens  nur  in  der  wissenschaftlichen  Be- 
handlung des  Gegenstandes  gesucht  werden;  und  am  nächsten 
liegt  dann  immer  die  Vermutung,  daß  jede  Sittenlehre,  welche  nur 
in  der  Form  von  Pflichtenlehre  oder  Tugendlehre  auftritt,  sei  es 
in  einer  von  beiden  allein  oder  auch,  daß  man  beide  verbindet, 
nur  eine  geringe  Befriedigung  gewähren  könne.  Wenn  auch  wirk- 
lich ein  System  von  Pflichtformeln  das  ganze  Leben  umfaßt,  so 
daß  der  Besitzer  desselben  sich  niemals  ratlos  finden  kann  oder 
auch  nur  unaufgeregt:  so  findet  es  doch  seine  Anwendung  immer 
nur  in  den  einzelnen  Fällen,  und  hält  die  Aufmerksamkeit  an  die- 
sen fest;  ein  lebendiger  Zusammenhang  alles  dessen  aber,  was 
von  dem  vernünftigen  Willen  oder  von  der  Gesetzgebung  der  Ver- 
nunft ausgeht,  kommt  hierbei  nirgend  zum  Vorschein.  Auch  die- 
jenige Pflichtenlehre,  wozu  ich  die  ersten  Grundlinien  in  einer  frü- 
heren Abhandlung  aufgezeichnet  habe,  konnte  das,  was  sie  aller- 
dings voraussetzte  als  die  Abzweckung  aller  sittlichen  Handlun- 
gen, nämlich  die  sittliche  Aufgabe  in  ihrem  ganzen  Umfang  zu 
lösen,  in  dieser  Form  nicht  so  zur  Darstellung  bringen,  daß  dieser 
ganze  Umfang  ausgefüllt  vor  Augen  träte;  denn  die  Natur  jenes 
Begriffes  leidet  es  nicht.   Stellt  nun  gar  eine  Pflichtenlehre  solche 


[111,2,  448]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   I.  447 

Formeln  auf,  welche  noch  Kollisionen  zulassen:  so  erscheint  die 
Totalität  des  Lebens  ganz  verworren,  so  daß  klare  sittliche  Be- 
stimmungen nur  als  einzelne  zerstreute  Lichtpunkte  auftreten,  ohne 
auch  nur  den  Anspruch  machen  zu  wollen,  daß  jenes  Verworrene 
völlig  könne  geordnet,  und  die  Verwirrung  durch  ein  bestimmtes 
und  umfassendes  Verfahren  gelöst  werden.  Denn  es  findet  sich 
in  solchen  Behandlungen  nirgend  ausgesprochen,  daß,  wenn  nur 
das  pflichtmäßige  Handeln  einmal  durchgeführt  werde,  alle  solche 
Kollisionen  unmöglich  geworden  sein  müßten.  Nicht  anders  ist 
es  auch  in  beider  Hinsicht  mit  der  Tugendlehre.  Die  Tugend  ist 
die  sittliche  Vollkommenheit  des  handelnden  einzelnen,  und  wird 
immer  nur  in  diesem  gefunden.  Der  einzelne  aber  ist,  v^enn 
man  von  der  leeren  Dichtung  eines  völlig  isolierten  Zustandes 
abstrahiert,  teils  nur  in  einem  sehr  engen  Gebiet  allein  und  ab- 
geschlossen zu  ergreifen,  teils  aber  auch  kann  man  ihn  inner- 
halb dieses  Raumes  doch  nicht  vollständig  verstehen.  Fragen  wir 
wo  die  Tugend  sich  zeigt:  so  finden  wir  uns  ursprüngUch  auf 
das  Entstehen  eines  Entschlusses,  auf  den  Moment  einer  Willens- 
bestimmung hingewiesen.  In  dieser  hegt  zunächst  alles  Lobens- 
würdige  und  Verdienstliche;  versteht  sich,  daß  ich  unter  Willens- 
bestimmung nicht  nur  das  innere  Wort  verstehe,  sondern  daß  ich 
die  wirkliche  Bewegung,  den  Impuls,  der  sich  von  da  an  durch 
den  ganzen  seelischen  und  leiblichen  Organismus  fortpflanzt,  als 
mit  darin  enthalten  denke.  Inwiefern  aber  nun  durch  diese 
Tätigkeit  das  in  der  Willensbestimmung  Vorgebildete  wirklich 
ins  Leben  tritt,  das  fällt  durchaus  nicht  mehr  in  das  Gebiet  des 
Handelnden,  und  das  sittliche  Werk  kommt  also  in  einer  solchen 
Darstellung  nicht  ans  Licht.  Denn  die  Tugend  ist  nicht  größer, 
wenn  die  Tat  vollkommen  gelingt,  und  nicht  kleiner  in  dem 
andern  Fall;  indem  dieses  mehr  oder  weniger  überall  von  der 
Mitwirkung  oder  Gegenwirkung  anderer  abhängt.  Es  lohnt  kaum 
die  Einwendung  hiergegen  zu  widerlegen,  daß  doch  Geduld,  Be- 
harrlichkeit u.  dgl.  Tugenden  nicht  eine  neue  Willensbestimmung 


y! 


448  Begriff  des  höchsten  Gutes.   I.  [111,2,  449] 

hervorbringen,  sondern  sich  nur  in  dem  Verlauf  einer  schon  ge- 
faßten offenbaren.  Denn  es  sind  hier  nur  zwei  Ansichten  mög- 
lich. Denken  wir  uns  eine  Hemmung  der  verlaufenden  Tätig- 
keit eingetreten  oder  vorgebildet:  so  ist  auch  eine  neue  Willens- 
bestimmung in  Beziehung  auf  dieselbe  zu  fassen,  und  dann  er- 
klären sich  auch  diese  Tugenden  auf  die  obige  Weise,  sie  sind  die 
Quelle  der  richtigen  Willensbestimmungen  in  bezug  auf  ein- 
tretende Hemmungen  der  schon  bestehenden  sittlichen  Tätigkeit. 
Fassen  wir  aber  die  Sache  anders,  und  sagen,  diese  Tugenden 
verhinderten  eben,  daß  Hemmungen  gar  nicht  einträten:  so  sind 
sie  dann  auch  nichts  Besonderes  für  sich,  sondern  nur  die  Stärke 
der  jedesmaligen  ursprünglichen  und  unterbrochen  fortwirkenden 
Willensbestimmung.  Über  diese  also  hinaus  zum  Ergebnis  der 
Tat,  zum  Werk,  kommen  wir  mit  der  Tugend  niemals.  Ist  aber 
nun  dieses  enge  Gebiet  aus  sich  selbst  vollkommen  zu  ver- 
stehen, so  daß  der  handelnde  einzelne  vollständig  verstanden  ist 
als  solcher,  wenn  sein  Tugendzustand  gegeben  wird?  Auch  dies 
ist  wohl  kaum  zu  bejahen.  Denn  die  Willensbestimmung  könnte 
doch  nie  die  sein,  welche  sie  ist,  wenn  die  Auffassung  der  Ele- 
mente, welche  den  durch  eine  Willensbestimmung  auszufüllenden 
Moment  konstituieren,  eine  andere  gewesen  wäre.  Diese  Auf- 
fassung hängt  freilich  zum  Teil  auch  von  eigner  Willensbestim- 
mung ab,  und  insofern  fällt  sie  auch,  wiewohl  dies  häufig  nicht 
einmal  anerkannt  wird,  in  das  Gebiet  der  Tugend.  Ebensosehr 
aber  ist  sie  abhängig  von  dem  Gesamtzustand,  welcher  nicht 
ohne  Mitwirkung  anderer  entstanden  ist.  Und  so  ist  das  unter 
dieser  Form  darstellbare  Sittliche  ebenfalls  nach  beiden  Seiten 
hin  abgebrochen  und  vereinzelt.  Wenn  nun  aber  noch  die  Größe 
der  Tugend  abhängt  von  dem  Widerstand,  welchen  sie  über- 
windet; und  wenn  dieser  keineswegs  allein  oder  auch  nur  vor- 
züglich von  den  äußeren  Dingen  ausgeht,  sondern  bei  weitem 
größtenteils  von  entgegenstrebenden  menschlichen  Handlungen: so 
muß  also  auch  hier,  soll  anders  die  Tugend  sich  herausheben  und 


[111,2,  450]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  449 

bemerklich  werden,  die  große  Masse  des  Lebens  ebenso  verworren 
erscheinen  als  dort. 

Schon  dieses  erklärt  mir  wenigstens  hinreichend  jene  herr- 
schende Gleichgültigkeit  gegen  die  wissenschaftliche  Sittenlehre. 
Wie  kann  man  sich  für  eine  Darstellung  des  SittHchen  interessieren, 
die  nur  fragmentarische  Einzelheiten  aufzustellen  vermag  und  wo- 
rin das  Sittliche  immerfort  durch  die  Fortdauer  des  Unsittlichen 
bedingt  erscheint?  Wie  anders  ist  es  doch  mit  der  Naturwissen- 
schaft in  ihrem  ganzen  Umfange  betrachtet,  wie  weit  sie  auch  noch 
von  ihrem  Ziele  entfernt  sein  mag!  Denn  wenn  auch  jemand  sagen 
wollte,  das  höchste  Ziel,  was  sie  sich  gesteckt  haben  könne,  sei 
doch  nur,  unsern  Weltkörper  und  die  in  ihm  waltenden  Kräfte 
im  Zusammenhange  mit  den  noch  bestehenden  und  den  schon 
ausgelebten  körperlichen  Dingen  für  die  Erkenntnis  vollständig 
aufzuschließen,  und  dann  dieses  als  einen  Typus  zu  gebrauchen, 
um  die  allgemeine  Vorstellung  auch  von  den  andern  Weltkörpern 
mehr  zu  beleben  und  näher  zu  bestimmen;  diese  insgesamt  aber 
seien  ja  auch  nur  einzelnes  und  Abgerissenes,  von  dem  uns  noch 
völlig  verschlossenen  allgemeinen  Raum  umgeben  und  ausein- 
andergehalten, also  auch  durch  ihn  bestimmt:  so  wäre  doch  da- 
durch keinesweges  ein  ähnliches  Verhältnis  aufgestellt  wie  auf 
dem  Gebiet  der  Sittenlehre.  Denn  einesteils  hängt  die  Erkenntnis 
des  Weltkörpers  gar  nicht  davon  ab,  daß  jener  allgemeine  Raum 
als  Natur  unerkannt  bleibe,  vielmehr  muß  jeder  schon  im  voraus 
überzeugt  sein,  daß  unsere  Naturerkenntnis  der  Weltkörper  nur 
um  so  voUkommner  werden  würde,  wenn  jener  Raum  uns  auch 
erkennbare  Natur  geworden  wäre:  andernteils  aber  sind  doch 
zunächst  die  in  dem  Weltkörper  tätigen  Kräfte  und  deren  Erzeug- 
nisse der  eigentliche  Gegenstand  der  Naturwissenschaft;  und  diese 
sucht  sie  keineswegs  als  einzelnes  und  Fragmentarisches  zu  ver- 
stehen, sondern  immer  tiefer  in  ihren  Zusammenhang  einzudrin- 
gen, und  die  Kräfte  mit  den  Gesetzen  ihres  Verhaltens  als  ein 
unzertrennliches  Ganze,  durch  welches  zugleich  auch  das  ganze 

Schleiermacher,  Werke.     I.  2Q 


450  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  [111,2,451] 

System  der  lebendigen  körperlichen  Dinge  gegeben  ist,  aufzufassen 
und  darzustellen.  Auf  dem  ethischen  Gebiet  aber  ist  grade  jene 
schon  erwähnte  und  überall,  wo  nichts  als  Pflichtenlehre  oder 
Tugendlehre  aufgestellt  wird,  unvermeidliche,  an  sich  aber  höchst 
unnatürliche  Trennung  der  Handlungsweise  und  Tätigkeit  von 
dem  daraus  hervorgehenden  Werke  das,  wodurch  am  meisten  alles 
Interesse  an  derselben  aufgehoben  wird.  Kommt  doch  das  meiste 
von  dem,  was  in  der  menschhchen  Welt  geschieht  und  auch  unser 
Leben  bedingt  und  bestimmt,  nicht  durch  unsere  und  anderer  ein- 
zelner sittliche  Willensbestimmungen  und  pflichtmäßiges  Handeln 
zustande,  sondern  auf  eine  andere  Weise:  so  kann  man  den 
Vorsatz  sich  aller  Versuche,  die  Regeln  des  sittlichen  Handelns 
wissenschaftlich  zu  begründen  und  zusammenzustellen,  Heber  ganz 
zu  enthalten,  nicht  füglich  ungünstiger  beurteilen,  als  jenes  ähn- 
liche, daß  nicht  wenige  Seefahrer  die  Kunst  zu  schwimmen  ver- 
nachlässigen und  gering  achten,  weil  sie  ihnen  nämlich,  wenn  ein 
Unglück  ihnen  auf  offner  See  zustößt,  nur  Ursache  wird  zu  ver- 
längerter Qual,  ohne  sie  doch  retten  und  zum  Ziele  führen  zu 
können;  und  sie  sei  nur  gut,  sprechen  sie,  für  diejenigen,  welche 
auf  dem  Festlande  lebend  nur  zum  Scherz  und  anständiger  Leibes- 
übung wegen  ins  Wasser  tauchen,  nicht  aber  für  diejenigen, 
die  auf  demselben  ihr  Leben  führen.  Denn  wirklich  ebenso  ist 
es  auch  mit  der  Sittenlehre  in  einer  solchen  Gestalt,  ohne  daß 
ihre  Ausübung  zu  dem  hinführt,  was  doch  in  den  Wünschen  liegt, 
oder  in  der  Gesamtheit  der  Zweckbegriffe  will  ich  lieber  sagen, 
damit  mir  nicht  auch  die  Sprache  in  das  Gebiet  des  Zufälligen 
hinabgezogen  werde,  in  solcher  Gestalt,  sage  ich,  leistet  sie  denen 
gar  nichts,  die  das  Meer  eines  wahrhaft  selbsttätigen  Lebens  zu 
durchschiffen  haben;  sondern  nur,  wenn  es  solche  gibt,  die  in 
eine  so  feste  und  starre  Ordnung  gestellt  sind,  in  welcher  sich 
schon  das  meiste  für  jeden  von  selbst  versteht,  und  nur  selten  in 
einzelnen  Augenblicken  einer  zu  einer  wahrhaft  freien  Tätigkeit 
aufgefordert  wird,  wobei   es   aber  nicht  darauf  ankommt,  etwas 


[111,2,452]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   I.  451 

zu  bewirken,  sondern  nur  sich  so  oder  so  selbst  darzustellen,  denen 
kann  sie  die  Regel  ihrer  Bewegungen  angeben.  Darum  habe 
ich  mich  auch  in  alle  diese  herrlichen  Lobpreisungen  niemals  fin- 
den können,  wie  wohl  und  voll  sie  auch  klingen,  von  einer 
Pflichtmäßigkeit  des  Handelns,  welche  gar  nicht  daran  denke, 
was  dabei  herauskommt  oder  nicht,  und  von  einer  Tugend,  wel- 
cher gar  nichts  darauf  ankommt,  ob  das  auch  geUngt  und  wohl 
gerät,  woran  sie  sich  setzt,  oder  nicht,  sondern  dieses,  wie  es  nun 
eben  jeder  meint,  dem  Zufall  oder  der  göttlichen  Vorsehung  an- 
heimstellt. Geht  eine  Handlung  von  einem  Zweckbegriff  aus:  so 
kann  sie  auch  nur  darnach  geschätzt  werden,  wie  viel  oder  wenig 
jener  Begriff  durch  sie  seinen  Gegenstand  erhält.  Will  ich  aber 
nichts  bewirken,  warum  handle  ich?  Geschieht  es  auch  nur,  um 
mich  andern  als  einen  solchen  und  so  Gesinnten  zu  zeigen:  so  will 
ich  ja  doch  etwas  in  diesen  bewirken.  Es  bliebe  also  nur  übrig, 
daß  jeder  nur  handelt,  um  so  zu  sein  und  zu  bleiben,  wie  er  ist. 
Aber  dazu  brauchen  wir  nie  etwas  Bestimmtes  zu  tun,  oder  aus 
zweien  und  mehrerem,  was  vorhanden  ist,  Heber  eines  als  das 
andere  zu  wählen;  sondern  nur  irgend  etwas  zu  tun.  Denn 
wird  nur  das  Leben  durch  Tätigkeit  erhalten:  so  bleibt  jeder 
auch  dadurch,  was  er  ist.  Haben  demohnerachtet  diese  Darstellun- 
gen der  Sittlichkeit  durch  die  heilsame  Strenge,  welche  sich  darin 
ausspricht,  einen  großen  und  vielleicht  auch  vorteilhaften  Ein- 
fluß gehabt  auf  die  durch  eine  luftige,  schmeichlerische  Skepsis  von 
der  tieferen  Strenge  religiöser  Zuspräche  entwöhnte  Menge:  so 
kann  eine  Wirkung,  die  bei  vielen  gewiß  nur  auf  der  magischen 
Kraft  der  Formeln  beruhte,  für  ihren  wissenschaftlichen  Wert 
um  so  weniger  beweisen,  als  auch  jener  Einfluß  in  denen  Krei- 
sen, wo  die  Tongeber  geistiger  gebildet  sind  und  schärfer  prüfen, 
sich  niemals  bedeutend  erwiesen  hat.  Denn  diesen  konnte  es 
nicht  entgehn,  wie  nicht  nur  auch  hier,  was  die  Anwendbarkeit 
der  Lehre  im  Leben  betrifft,  mit  der  Lehre  zugleich  auch  ein  neues 
Feld  für  Täuschungen  sich  eröffnete,  und  je  innerlicher  der  Maß- 

29* 


452  Begriff  des  höchsten  Gutes.   I.  [111,2,  453] 

Stab  war,  um  desto  weniger  Sicherheit,  ob  sich  nicht  SinnHches 
doch  unter  das  Geistige  gemischt  und  die  SittHchi<eit  verunreinigt 
habe,  sondern  auch,  und  das  ist  das  wichtigste,  wie  wenig  diese 
Vorschriften  geeignet  waren,  alles  das,  was  doch  unleugbar  aus 
den  freien  Willensbestimmungen  der  Menschen  hervorgeht,  zu  um- 
fassen, und  es  nicht  bloß  scheinbar,  sondern  wahrhaft  als  ein  Sitt- 
liches zu  bestimmen.  Wenn  z.  B.  die  Frage  skeptisch  aufgewor- 
fen wird,  ob,  wenn  es  den  Staat  nicht  schon  gäbe,  es  eines 
Menschen  Pflicht  sein  könnte,  ihn  zu  errichten:  so  ist  offenbar  der 
Staat,  der  doch  notwendig  ein  aus  freien  Willensbestimmungen 
Entstandenes  ist,  gar  nicht  sittlich  bestimmt,  sondern  er  ist  ur- 
sprünglich entweder  ein  Unsittliches  oder  ein  Sittliches  zwar,  aber 
auf  ganz  unbekannte  Weise.  Wenn  Verbesserungen  in  den  Grund- 
verhältnissen der  verschiedenen  Klassen  von  Staatsbürgern  davon 
abhängig  gemacht  werden,  daß  eine  große  Mehrheit  sie  in  An- 
spruch nehme,  dieses  in  Anspruch  nehmen  aber  nicht  seinen  be- 
stimmten Ort  hat  unter  den  sittlichen  Handlungen  oder  Pflich- 
ten: so  sind  auch  jene  Verbesserungen,  weil  nicht  Handlungen 
dessen,  der  sie  vollzieht,  sondern  derer,  welche  sie  in  Anspruch 
nehmen,  keineswegs  sittlich  bestimmt,  sondern  sie  sind  bloße 
Naturereignisse.  Wenn  die  schönen  Künste  als  eine  Vorbereitung 
zur  Sittlichkeit  deduziert  werden,  der  Gebrauch  derselben  aber  nur 
als  mit  in  den  Inbegriff  der  geistigen  Erhaltungsmittel  gehörig  ver- 
ordnet wird:  so  kann  man  wohl  nicht  sagen,  daß  dieses  große  Ge- 
biet freier  Tätigkeit  sittlich  bestimmt  sei,  da  doch  beides,  was 
wesentlich  zusammengehört,  nicht  zusammentrifft.  Wenn  einer  ein 
Künstler  werden  soll,  nicht  aus  willkürlichem  Vorsatz,  sondern 
nur  aus  Antrieb  der  Natur,  im  allgemeinen  aber  jeder  seinen 
besondern  Beruf  wählen  soll  nicht  sowohl  aus  Antrieb  der  Natur, 
als  um  der  Überzeugung  willen,  dadurch  den  Vernunftzweck  am 
besten  befördern  zu  können,  nirgend  aber  bestimmt  ist,  wie  der 
Antrieb  der  Natur  vom  eigenwilligen  Vorsatz  zu  unterscheiden, 
und  ebensowenig  hier  diese  Überzeugung  als  ein  sittlich  Gewor- 


[111,2,  454]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  453 

denes  erscheint:  so  ist  auch  diese  wichtige  Angelegenheit  mehr 
scheinbar  als  in  der  Tat  sittlich  bestimmt,  sondern  auch  hier  zu- 
letzt alles  auf  Naturereignisse,  auf  etwas  was  sich  von  selbst  ver- 
stehn  soll,  gestellt.  Und  doch  ist  Fichtes  System  der  Sitten- 
lehre das  vortrefflichste  in  dieser  Gattung.  Es  ist  demnach  ein 
ganz  allgemeines  Ergebnis  dieser  Darstellungsweise,  daß  dabei 
große  Gebiete  menschUchen  Handelns  von  unstreitig  sittlichem 
Gehalt  in  der  Sittenlehre  doch  nicht  abgeleitet  und  in  ihrer  Not- 
wendigkeit begreiflich  gemacht,  sondern  nur  als  ein  Zulässiges 
oder  Erlaubtes  durchgelassen  werden,  und  daß  ein  keineswegs 
durchschauter  und  wissenschaftlich  gebildeter,  sondern  verworre- 
ner, aber  in  dieser  Verworrenheit  tief  eingreifender  Unterschied 
entsteht  zwischen  dem,  was  der  Mensch  nicht  von  der  Vernunft 
getrieben,  sondern  nur  seiner  Natur  nach,  aber  doch  ebenso  unver- 
meidlicher als  unverwerflicher  Weise  tut,  und  dem  was  er  seiner 
Vernunft  nach  tun  soll.  Eine  Darstellung  dieser  Art  spiegelt  dann 
auch  nur  eine  sehr  unvollkommne  Entwicklung  des  sittlichen 
Bewußtseins  ab.  Denn  dieses  kann,  so  wie  es  die  von  der  Ver- 
nunft gebotenen  Handlungen  begleitet  oder  ihnen  vorangeht,  bei 
den  von  der  Natur  ausgehenden  nicht  vorhanden  sein.  Der  ur- 
sprüngliche Impuls  ist  also  auch  auf  dem  letzten  Gebiet  derselbe 
in  solchen  Fällen,  wo,  wenn  die  Handlung  vorgebildet  ist,  ein 
negatives  oder  limitatives  Vernunftgebot  eintritt,  und  in  solchen, 
wo  die  Vernunft  durch  nichts  dergleichen  den  Übergang  von 
der  Vorbildung  zur  Ausführung  hemmt. 

Zwei  früher  vorgelesene  Abhandlungen,  von  denen  die  eine 
eben  diese  Vorstellung  von  einem  sittlich  Erlaubten  einer  Kritik 
unterwirft  und  ihren  wissenschaftlichen  Gehalt  beleuchtet,  die  an- 
dere aber  den  angenommenen  Gegensatz  zwischen  Naturgesetz  und 
Sittengesetz  in  Anspruch  nimmt,  haben  die  Abzv/eckung,  auf  diese 
Unvollkommenheiten  aufmerksam  zu  machen  und  der  Abhilfe  vor- 
zuarbeiten. Denn  wenn  Naturgesetz  und  Sittengesetz  auf  dem 
Gebiet  der  menschlichen  Freiheit  so  zusammenfallen,  daß  aus  der 


454  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  [111,2,455; 


menschlichen  Natur  gesund  und  vollkommen  entwickelt  alles  her- 
vorgeht, was  der  Mensch  seiner  Vernunft  gemäß  tun  soll  und 
nichts  anderes:  nun  so  muß  auch  die  Vernunft  in  ihren  sitt- 
lichen Forderungen  alles  das  vorbilden,  was  die  gesunde  Natur 
wirklich  ans  Licht  bringt;  und  wenn  der  Begriff  des  Erlaubten 
auf  unserm  Gebiet  keine  andere  Geltung  hat,  als  die  ihm  dort 
beigelegt  wird:  so  entsteht  die  Aufgabe,  alles  was  unter  denselben 
subsumiert  worden  ist,  zu  sichten  und  in  teils  von  der  Ver- 
nunft wirklich  Gefordertes,  teils  der  Natur  wirklich  Zuwiderlau- 
fendes aufzulösen.  Die  gegenwärtige  will  den  Versuch  empfeh- 
len, ob  nicht  den  aufgezeigten  Mängeln  der  Sittenlehre  abgehol- 
fen und  sie  in  einen  richtiger  und  gerader  auf  das  Ziel  hinfüh- 
renden Entwicklungsgang  geleitet  werden  könnte  durch  Wieder- 
aufnahme einer  früher  schon  angewendeten,  aber  nicht  zu  ihrer 
rechten  Ausbildung  gelangten  Methode,  nämlich  die  Konstruktion 
des  höchsten  Gutes.  Daß  dieses  in  der  hellenischen  Philosophie 
nach  Sokrates  eine  Hauptaufgabe  der  Ethik  war,  und  ein  strei- 
tiger Ort,  indem  in  der  Behandlung  derselben  der  Charakter  der 
verschiedenen  Schulen  sich  bestimmt  aussprach  und  der  unter 
ihnen  stattfindende  Gegensatz  ins  Licht  trat,  setze  ich  als  bekannt 
voraus,  enthalte  mich  aber  hier  aller  geschichtlichen  Auseinander- 
setzung, und  will  nur  suchen  anzugeben,  was  ich  für  die  eigent- 
liche Tendenz  dieses  Ausdruckes  halte,  und  was  mir  durch  den 
Gebrauch  desselben  für  die  Sittenlehre  erreicht  werden  zu  können 
scheint. 

Zuerst  will  ich  nur  bevorworten,  daß  ich  dabei  nicht  an  den 
adjektivischen  Gebrauch  des  Wortes  anzuknüpfen  denke.  Denn 
Gutes  und  Böses  oder  Übles  beziehen  wir  entweder  auf  äußere 
Verhältnisse,  und  dies  ist  das  zu  etwas  oder  in  Beziehung  auf 
ein  anderes  Gutes  oder  Übles,  welches  wir  auch  das  Nützliche  oder 
Förderliche  und  sein  Gegenteil  nennen.  Hiervon  kann  hier  un- 
mittelbar gar  nicht  die  Rede  sein;  wenngleich,  beiläufig  gesagt, 
nicht  zu  leugnen  ist,  es  gehöre  ebenfalls  zum  höchsten  Gute,  daß 


[111,2, 456]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   I  455 

alles  Förderliche  da  sei,  ja  sogar  alles,  was  zum  höchsten  Gut  ge- 
hört, müsse  auch  ein  Förderliches  sein,  und  Schädliches  könne  in 
dem  Inbegriff  desselben  nirgend  vorkommen.  Außerdem  brauchen 
wir  nur  gut  und  böse  von  menschlichen  Handlungen  oder  Ge- 
mütszuständen, entweder  auch  in  dem  obigen  Sinne,  insofern 
sie  zu  etwas,  und  also  um  eines  andern  willen  gesetzt  und  ge- 
billigt werden,  und  dann  gilt  das  eben  Gesagte;  oder  so,  daß  wir 
sie  an  und  für  sich  als  solche  bezeichnen.  Aber  dann  wird  die 
gute  Handlung  offenbar  zurückzuführen  sein  auf  ein  Pflicht- 
mäßiges, der  gute  Gemütszustand  aber  wird  seinen  Ort  in  dem 
Gebiet  der  Tugend  finden;  und  wollten  wir  auch  unter  dem  höch- 
sten Guten  nicht  ein  einzelnes  solches  verstehen,  sondern  den  In- 
begriff von  allen,  so  kämen  wir  doch  nicht  aus  Pflicht  und  Tugend 
heraus,  und  würden  mit  der  Anwendung  der  Formel  nichts  Wesent- 
liches gewinnen.  Substantivisch  kennen  wir  außer  der  eigent- 
lich ethischen  selbst  noch  zwei  Gebrauchsweisen,  zwischen  denen 
aber  gar  kein  Zusammenhang  stattzufinden  scheint.  Die  eine 
ist  politisch  und  ökonomisch,  indem  wir  die  einzelnen  Örter  des 
Nationalreichtums,  Grundstücke,  Bergwerke,  zum  Erwerb  be- 
stimmte Gebäude,  Güter  nennen;  die  andere  religiös  und  speku- 
lativ, indem  Gott  nicht  selten  das  höchste  Gut  genannt  wird. 
In  dem  letzteren  ist  keine  Analogie  mit  dem  ersten.  Denn  ist 
die  Meinung,  daß  Gott  das  höchste  Gut  für  den  Menschen  sei: 
so  wäre  dies  ein  uneigentlicher  Ausdruck,  und  besser  würde  ge- 
sagt, die  Liebe  zu  Gott  oder  die  Erkenntnis  von  Gott  oder  die 
Leitung  und  Fürsorge  oder  die  Gnade  Gottes,  wie  man  es  eben 
nennen  wollte,  oder,  um  auch  dies  Mystische  hinzuzufügen,  der 
Genuß  Gottes  sei  dies  höchste  Gut.  Wird  aber  Gott  so  ge- 
nannt in  demselben  Sinne,  in  welchem  man  ihn  auch  das  voll- 
kommenste Wesen  nennt,  weil  nämlich  alles  Gute  und  nichts  als 
Gutes  in  ihm  gesetzt  sein  kann:  so  geht  dieser  Gebrauch  offenbar 
auf  das  Adjektivische  zurück,  und  kann  also  hier  nicht  in  Betracht 
kommen.     Der   ökonomische   Gebrauch    hingegen    hat   mit    dem 


456  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  [111,2, 457] 

ethischen  die  größte  Analogie,  und  kann  demselben  füglich  zur 
Erläuterung  dienen.  Jene  Güter  nämlich  sind  immer  etwas  aus  der 
menschlichen  Tätigkeit  Hervorgegangenes,  aber  zugleich  dieselbe 
in  sich  Schließendes  und  Fortpflanzendes.  Vermögen  sie  das  letzte 
nicht  mehr,  wie  etwa  eine  abgebaute  Grube  oder  ein  ganz  aus- 
gesogener und  deshalb  verlassener  Acker:  so  hören  sie  auch 
auf,  ein  Gut  zu  sein.  Dasselbe  habe  ich  von  dem  früheren  ethischen 
Gebrauch  in  meiner  Kritik  der  Sittenlehre  zu  zeigen  gesucht,  daß 
alle  alten  Schulen,  welche  diesen  Begriff  verarbeitet  haben,  wie 
verschieden  auch  ihren  Ansichten  gemäß  die  Anwendungen  des 
Begriffs  waren,  doch  insgesamt  dadurch  das  durch  die  sittliche 
Tätigkeit  Hervorgebrachte,  insofern  es  dieselbe  auch  noch  in  sich 
schloß  und  fortentwickelte,  bezeichnen  wollten.  Der  Ausdruck 
„höchstes  Gut"  aber  ist  ebenso  überall  nicht  in  dem  Sinne  kom- 
parativ, in  welchem  ein  höchster  Grad  zwar  jeden  niederen  ge- 
wissermaßen in  sich  schließt,  zugleich  aber  auch  so  ausschließt, 
daß  doch  von  ihm  für  sich  nicht  weiter  die  Rede  sein  kann;  son- 
dern in  dem  Sinne,  in  welchem  jedes  Ganze  größer  ist  und  voll- 
kommner  als  seine  einzelnen  Teile,  aber  doch  nicht  erkannt  und  dar- 
gestellt werden  kann,  als  insofern  diesen  dasselbe  auch  widerfährt. 
Wenn  z.  B.  auch  der  Reichtum  und  die  Gesundheit  Güter  genannt 
werden:  so  geschieht  es,  weil  beide  eine  Menge  von  freien  Hand- 
lungen voraussetzen,  ohne  welche  sie  nicht  zustande  kommen; 
aber  es  geschieht  auch  nur  insofern,  als  diese  für  sittlich  gehalten 
werden.  Zur  Gesundheit  rechnet  man  wesentlich  mit  die  voll- 
kommne  Entwicklung  aller  leiblichen  Kräfte,  und  diese  erfolgt 
nur  durch  eine  Menge  freier,  auf  die  Selbsterhaltung  gerichteter 
Handlungen.  Wer  die  Gesundheit  für  ein  Gut  achtete,  der  achtete 
auch  diese  Handlungen  für  sittliche,  vielleicht  nicht  jeder  insofern 
sie  Übungen  waren,  aber  doch  gewiß  insofern  sie  ein  Bewußt- 
sein des  werdenden  Wohlbefindens  und  also  einen  Genuß  in  sich 
schlössen.  Und  ebenso  halten  vielleicht  viele  zwar  den  Reichtum 
für  ein  Gut,  die  Arbeit  aber  nur  für  eine  Sache  der  Not;  dann 


[111,2,  458]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  457 

aber  auch  gewiß  den  Reichtum,  der  nur  durch  angestrengte  Arbeit 
und  Entbehrung  bei  kleinem  herbeigeschafft  wird,  noch  lange 
für  kein  Gut,  sondern  eher  für  einen  Mangel,  die  leitenden  und 
gebietenden  Tätigkeiten  hingegen,  aus  denen  er  bei  großem  er- 
wächst, desto  gewisser  für  sittliche.  Beide  aber,  Gesundheit  und 
Reichtum,  sind  auf  der  andern  Seite  nur  Güter,  weil  und  so- 
fern es  ihnen  wesentHch  ist,  und  nicht  etwa  nur  ein  Zufälliges, 
daß  sich  sittliche  Tätigkeiten  und  Zustände  in  ihnen  erzeugen. 
Eine  verschlafene  Gesundheit  wäre  kein  Gut;  aber  Schlaf  außer- 
halb des  naturgemäßen  Wechsels  zwischen  Wachen  und  Schlaf  ist 
auch  schon  eine  Störung  der  Gesundheit.  Ähnliches  ließe  sich 
auch  vom  Reichtum  sagen;  es  ist  aber  minder  einfach,  weil  der 
eine  ihn  in  dieser,  der  andere  in  jener  Betrachtung  für  ein  Gut 
hält.  Wenn  wir  ein  Werk  der  schönen  Kunst  für  ein  Gut  an- 
sehen, so  tun  wir  es  freilich  nur,  insofern  die  Tätigkeit,  woraus 
es  hervorging,  uns  eine  sittliche  ist;  aber  gewiß  auch  nur  sofern 
und  nur  für  die,  in  welchen  es  durch  sein  Dasein  sittliche  Tätig- 
keiten und  Zustände  wesentlich  erweckt.  Ebenso  nun  ist  es 
mit  dem  höchsten  Gut,  und  der  Ausdruck  schließt  sonach  die  Auf- 
gabe in  sich,  den  Inbegriff  aller  wahren  Güter,  die  es  nämlich  in 
dem  bisher  erläuterten  Sinne  sind,  so  aufzustellen,  daß  ihre  wesent- 
liche Zusammengehörigkeit  und  die  vollständige  Lösung  der  sitt- 
lichen Aufgabe  durch  ihr  Miteinander-  und  Füreinandersein,  eben 
weil  sich  in  ihnen  alle  sittlichen  Tätigkeiten  immer  wieder  er- 
zeugen, zum  klaren  Bewußtsein  komme.  Wollten  wir  dieses  letzte 
beiseite  stellen:  so  würde  auch  der  vollständigste  Inbegriff  alles 
durch  die  Vernunft  Bev/irkten  und  Hervorgebrachten  nur  ein  leeres 
Schattenbild  sein.  Ist  in  dieser  Gesamtheit  des  Hervorgebrach- 
ten das  Hervorbringende  selbst,  das  pflichtmäßige  Handeln,  durch 
welches  sich  in  jedem  Moment  ein  Kleinstes  ansetzt  zur  Erneuerung 
jenes  Organismus,  und  die  Tugend  als  das  kräftige  Leben  der 
Vernunft  in  den  einzelnen,  nicht  mit  gesetzt:  so  sind  dann  beide 
entweder   überhaupt   nicht,    oder   getrennt   von    jenem.     In    dciii 


458  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  [111,2,459] 

letzten  Falle  habt  ihr  dann  zwei  verschiedene  Welten,  aber  nur 
in  der,  wo  diese  sind,  noch  ein  wahres  Leben,  in  welchem  ihr 
aber  auch  gewiß,  wären  es  auch  der  äußeren  Erscheinung  nach 
erst  leise  Anfänge,  das  Wesentliche  jenes  Inbegriffs,  den  wir  das 
höchste  Gut  nennen,  immer  finden  werdet;  die  andere  aber,  die 
einzige,  welche  euch  im  ersten  Falle  übrig  bleibt,  wäre  nur  ein 
Schattenleben,  wie  ein  erstorbener  Weltkörper,  dessen  Massen  von 
vergangenem  Leben  zeugen,  auf  dem  sich  aber  nichts  mehr  regt; 
ein  solcher  erstarrter  und  immer  mehr  erstarrender  Nachgenuß  und 
Nachbewußtsein  der  vorigen  Tätigkeit.  Trümmern,  wie  übel  auch 
zugerichtet,  können  noch  zu  den  Gütern  des  Lebens  gehören 
für  den,  dem  sie  Gedanken  erregen,  die  zur  lebendigen  Tat 
werden;  ein  tatenloser  Zustand,  wie  unendlich  auch  ausgestattet, 
ist  keines. 

Soll  aber  die  Wiedereinführung  dieses  Begriffs  der  Absicht 
entsprechen:  so  muß  freilich  der  Fehler  vermieden  werden,  in  den 
die  älteren  Schulen  verfielen,  und  um  dessentwillen  wahrscheinlich 
er  zu  seiner  vollen  Ausbildung  nicht  gelangen  konnte;  nämlich 
daß  wir  nicht  auch  diesen  Begriff  nur  auf  den  einzelnen  Men- 
schen beziehen,  und  nach  dem  höchsten  Gute  des  einzelnen  fragen, 
worin  es  bestehe.  Denn  fragen  wir,  warum  eigentlich  in  der 
Pflichtenlehre  und  Tugendlehre,  wenn  man  irgend  streng  und 
genau  verfahren  will,  es  so  notwendig  ist,  Gesinnung  und 
Handlungsweise  von  dem  Werk  und  dem  Erfolg  gänzlich  zu  tren- 
nen: so  ist  die  Ursache  eben  die,  daß  die  Wirksamkeit  des  ein- 
zelnen sich  nicht  ausmitteln  läßt,  indem  sie  in  die  der  andern  ganz 
unzertrennlich  verflochten  nicht  nur,  sondern  wahrhaft  verwachsen 
ist.  Wird  nun  also  doch  nach  dem  höchsten  Gute  des  einzelnen 
gefragt:  so  bleibt  natürlich  nichts  anderes  übrig,  als  etwas  ganz 
Innerliches  aufzustellen,  und  die  Tugend  das  höchste  Gut  zu 
nennen  oder  die  Glückseligkeit,  eine  Verwirrung,  die  ich  in  der 
Kritik  der  Sittenlehre  nachgewiesen  und  gerügt  habe.  Allerdings 
ist  auch  die  Tugend  des  einzelnen  ein  Gut,  und  zwar  ganz  in  dem 


fIII,2,  460]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   I.  45Q 

eben  angegebenen  Sinne,  und  recht  verstanden  ist  auch  seine 
Glückseligkeit  ein  solches,  nur  nicht  sein  Gut  besonders,  sondern 
ein  Gemeingut,  in  dem  sittlichen  Kreise,  dem  er  angehört,  her- 
vorgebracht und  auch  hervorbringend;  und  nicht  ist  seine  Tugend 
ein  anderes  und  seine  Glückseligkeit  ein  anderes,  sondern  beide 
in  ihrer  Wechselbeziehung,  eigentlich  also  der  einzelne  selbst 
seinem  geistigen  Gehalte  nach  ist  ein  Gemeingut.  Nur  vom  höch- 
sten Gut  kann  auf  diese  Weise  gar  nicht  die  Rede  sein.  Vielmehr 
läßt  sich  des  einzelnen  intelligente  Produktion  so  wenig  isolieren, 
daß  selbst  dasjenige,  w^as  man  am  meisten  glauben  sollte,  als 
das  Seinige  herausheben  zu  dürfen,  doch  nur  durch  eine  gewöhn- 
liche Täuschung  dafür  gehalten  wird;  denn  der  Wahrheit  nach 
kann  nur  in  Form  eines  willkürlichen,  und  zwar  auf  einem  un- 
sittlichen Grunde  beruhenden  Tausches  einer  verlangen,  dies  und 
jenes,  sei  es  nun  ein  wissenschaftliches  Werk  oder  ein  Kunst- 
werk oder  ein  politischer  Effekt  oder  was  irgend  sonst,  solle  für 
sein  eignes  gehalten  werden,  weil  er  sich  nämlich  dagegen  auch 
alles  Anteils  an  dem  begeben  wolle,  was  ein  anderer  auf  gleiche 
Weise  sich  anzueignen  begehre.  Daher  nun  kann  nur,  was  aus 
einer  Gesamttätigkeit  hervorgeht,  bestimmt  aufgezeigt  werden 
und  als  ein  Besonderes  hingestellt;  und  wenn  also  von  dem  In- 
begriff der  Güter  die  Rede  sein  soll,  so  kann  nur  auf  die  Ge- 
samtwirkung der  Vernunft  zurückgegangen  werden.  Diese,  daß 
ich  mich  so  ausdrücke,  als  einen  Organismus  aufzustellen,  in 
welchem  jeder  verwirrenile  Gegensatz  von  Mittel  und  Zweck 
aufgehoben,  jedes  Auseinander  auch  ein  Ineinander,  jeder  Teil 
auch  das  Ganze  ist,  nichts  aber  mit  aufgenommen  wird,  was 
nicht  aus  dem  Leben  der  Vernunft  im  menschlichen  Geschlecht 
entsprungen  ist  und  dasselbe  auch  fortpflanzt  und  erneuert,  das 
ist  es,  was  ich  mir  unter  einer  Darstellung  des  höchsten  Gutes 
denke.  In  diesem  sind  dann,  wie  ich  es  in  den  früheren  Ab- 
handlungen über  den  Tugendbegriff  und  Pflichtbegriff  mehr  postu- 
Hert   als    wirklich   dargelegt   habe,    alle   menschlichen    Tugenden 


460  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  [111,2,461] 

mitgesetzt.   Denn  irgend  etwas  in  den  Erscheinungen  der  Mensch- 
heit dem  Begriff  des  höchsten  Gutes  Angehöriges  kann  nur  durch 
das  Zusammenwirken  aller  menschlichen  Tugenden  entstehen  und 
bestehen;     und    was    für    einen     organischen    Teil    der    Qesamt- 
wirksamkeit  der  Vernunft  könnte  man  sich  wohl  denken,  aus  dem 
sich  nicht  alle  menschlichen  Tugenden  nährten  und  in  dem  Wech- 
sel der  Individuen  reproduzierten?    sonst  müßte  ja  in  dem  Ge- 
samtorganismus    etwas    fehlen    oder    etwas    Falsches    mitgesetzt 
sein.   Ebenso  können  auch  die  Elemente  dieser  Wirksamkeit  nichts 
anderes  sein,  als  die  von  allen  Orten  her  ineinander  greifenden, 
einander  aufnehmenden  und  ergänzenden  pflichtmäßigen  Handlun- 
gen.   Vornehmlich    aber  muß   sich   ergeben,   daß    alles   wahrhaft 
Menschliche,  und  nicht  nur  einiges,  in  dieser  Darstellung  aufzu- 
finden sein  muß ;  jede  Eigenschaft  des  einzelnen,  wodurch  etwas 
hierher  Gehöriges  wahrhaft  wird  und  fortbesteht,  muß  in  der  Glorie 
der  Tugend   erscheinen,  und  jede  Handlung,  die  irgend  wohin 
innerhalb  dieses  Umfanges  wirklich  gehört  und  ihren  bestimmten 
Ort   hat,    muß    auch    als   pflichtmäßig  gepriesen   werden.     Diese 
Aufstellung  daher  beschränkt  sich  nicht  in  den  Kleinlichkeiten  des 
einzelnen  Lebens  und  verworrener  persönlicher  Relationen,  sie  ist 
der  Maßstab  für  alle  geschichtlichen  Erscheinungen  und  der  Schlüs- 
sel zu   ihrem  Verständnis;   und  wie  wir  alle  in  diesen  mit  ver- 
schlungen sind,  so  ist  sie  zugleich  auch  die  Verklärung  des  per- 
sönlichen   Bewußtseins.     Wenn    nun    hernach    Pflichtenlehre   und 
Tugendlehre,  die  es  mit  diesem  letzten  allein  zu  tun  haben,  auf 
eine  solche  umfassende  Darstellung  zurückgeführt  werden:  so  wird 
es  zwar  dabei  bleiben  müssen,  daß  sie  nur  für  das  einzelne  Leben 
konstruiert  werden,  aber  jene  namhaft  gemachten  Mängel  werden 
sie  ablegen  können,  und  bei  einer  verständigen  Behandlung  wird 
sich  immer  auch  in  ihren  einzelnen  Positionen  dieses  Ganze  ab- 
spiegeln. 

Es  ist  in  dieser  Abhandlung,  wie  auch  schon   der  Umfang 
einer  solchen  verbietet,  nicht  meine  Absicht,  den  Begriff  des  hoch- 


[111,2,  462]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  461 

sten  Gutes  in  seiner  Verteilung  aucii  nur  so  weit  auszuführen, 
daß  die  ganze  Behandlung  desselben  wenigstens  angelegt  wäre, 
indem  schon  dieses  die  Grenzen  einer  Vorlesung  nach  unserer 
Weise  überschreiten  würde;  indessen  muß  ich  doch,  ohne  Anspruch 
auf  strenge  Systematisierung  zu  machen,  einiges  zur  Bestätigung 
des  Gesagten  herausnehmen.  Stellen  wir  uns  auf  den  in  einer 
früheren  Abhandlung*)  angegebenen  Punkt,  und  denken  uns  das 
Leben  auf  der  Erde  zur  Animalisation  hinauf  entwickelt  —  ob 
plötzlich  oder  allmählich,  und  im  letzten  Falle,  ob  stufenweise  oder 
nach  manchen  einander  partiell  wieder  aufhebenden  Aktionen  und 
Reaktionen,  das  Hegt  außer  dem  Gebiet  unserer  jetzigen  nicht  nur, 
sondern  jeder  ethischen  Untersuchung.  Nun  aber  soll  die  höhere 
Stufe,  das  geistige  Leben,  hinzukommen,  so  nämlich,  wie  es  dem 
Menschen  eignet  und  sich  in  ihm  und  von  ihm  aus  auf  der  Erde 
regt  und  wirkt.  Wir  bezeichnen  das  eigentümliche  Prinzip  des- 
selben am  liebsten  mit  dem  Namen  Vernunft,  weil  hierdurch  wohl 
am  wenigsten  schon  im  voraus  Mißverständnisse  ausgesäet  wer- 
den; in  dieser  also,  der  Vernunft,  ist  unsere  ganze  Aufgabe  ab- 
geschlossen. Denn  wie  die  bloße  Gravitation  nebst  dem  Mischungs- 
und Entmischungsprozeß  von  der  Vegetation  aufgenommen  wurde, 
und  die  Animalisation  beides  unter  sich  zusammenfaßte:  so  soll 
wiederum  die  Humanisation  aus  dieser  sich  hervorheben  und  sie 
in  sich  schließen.  Wie  denn  auf  der  einen  Seite  schon  das  älteste 
sittliche  Bev^ußtsein  der  Menschen  sich  ausgesprochen  hat  in  dem 
Beruf,  die  Erde  zu  beherrschen,  auf  der  andern  Seite  aber  schon 
ein  zwar  ziemlich  entwickeltes  Bewußtsein  von  der  Beherrschung 
untergeordneter  Kräfte,  das  aber  doch  den  Umfang  derselben  noch 
lange  nicht  ausgemessen  hatte,  die  richtige  Grenze  nach  dieser  Seite 
zu  finden  wußte  in  dem  bekannten  dog  jiov  oxco  xal  yijv  xi- 
vyocü.  Alles  also,  was  der  Mensch  in  diesem  Sinn  auf  der 
Erde  tut,  gehört  in  unsere  Aufgabe;  und  wir  wollen  von  nichts 


^)  Über  das  Verhältnis  zwischen  Naturgesetz  und  Sittengesetz. 


462  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  [111,2, 463] 


dieser  Art  sagen,  so  wie  wir  es  an  und  für  sich  betrachten,  daß 
er  es  nur  seiner  Natur  nach  ohne  die  Vernunft  beginne,  und  diese 
es  etwa  nur  gestatte  und  Hmitiere.  Sondern  finden  wir  in  mensch- 
lichen Tätigkeiten,  welche  sich  auf  die  Entwicklung  unseres 
Lebens  und  auf  unsere  Herrschaft  über  die  Erde  beziehen,  etwas 
das  limitiert  werden  muß:  so  ist  es  auch  etwas  Nichtbleibendes, 
also  Nichtwahres,  und  muß  mit  der  weiteren  Entwicklung  des 
Wahren  verschwinden.  Soll  aber  das  Prinzip  der  Begeistung 
irdisch  werden  und  in  der  Menschengestalt  erscheinen:  so  muß 
es  auch  den  Typus  des  Irdischen  an  sich  tragen,  und  kann  sich 
nur  in  einem  durch  die  Kreisbewegungen  und  die  Oszillationen 
der  Erde  mitbestimmten  Geschlechtsleben  offenbaren,  welches 
seine  Fülle  nur  in  aufeinander  folgenden  Lagerungen  vergäng- 
licher Individuen  entwickelt.  Ist  nun  gleich  jeder  von  diesen  ein 
Ort,  in  welchem  und  von  welchem  aus  die  Vernunft  wirkt:  so 
war  doch  das  nur  eine  willkommne  Fiktion,  was  ich  als  solche 
auch  nur  zu  einem  bestimmten  Behuf  an  einem  andern  Orte*) 
eingeschoben  habe,  daß  es  einen  einzelnen  geben  könne,  welchem 
die  ganze  sittliche  Aufgabe  zu  lösen  obliege;  sondern  die  physische 
Vorbedingung,  auf  welcher  auch  schon  der  erste  Anfang  dieser 
Lösung  ruht,  ist  die,  daß  die  Geschlechter  zusammen  bestehen,  und 
nicht  der  einzelne  als  solcher  ist  ein  selbständiger  Ort  für  die 
Wirksamkeit  der  Vernunft,  sondern  nur  die  Verbindung  der  Ge- 
schlechter zur  Erneuerung  der  Individuen,  d.  h.  die  Familie  — 
das  Wort  natürlich  nur  in  seinem  wesentlichen  Inhalt  genom- 
men ohne  nähere  Bestimmung  der  Form;  und  der  einzelne  ist 
ein  solcher  Ort  nur  innerhalb  ihrer,  oder  wenigstens  sie  voraus- 
gesetzt. Diese  ist  mithin  der  Ort  nicht  nur  der  Erneuerung  jenes 
ursprünglichen  Aktes  des  Eintretens  der  Vernunft  in  das  irdische 
Leben,  welcher  sich  nun  durch  Erzeugung  und  Geburt  wieder- 
holt, und  also  der  Tradition  des  Lebens  selbst,  sondern  auch  des 


^)  Über  den  Pflichtbegriff. 


[111,2,  464]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  463 

von  der  früheren  Generation  schon  sittlich  Bewirkten  und  Gewon- 
nenen, Hier  also  ist  das  erste  vollständige  und  für  sich  bestehende 
Gut,  das  erste  wahrhaft  organische  sittliche  Element  im  Inein- 
ander des  Hervorgebrachten  und  Hervorbringenden,  ein  Abbild  des 
Großen  und  Ganzen.  Auch  hier  gilt  daher  dasselbe,  daß  wir  in 
einem  solchen  Lebenskomplexus  Natur  und  Vernunft  nicht  tren- 
nen können.  Nur  was  in  diesem  Sinne  geschieht,  ist  das  mensch- 
lich Natürliche;  aber  dies  ist  auch  alles  anzusehen  als  durch  die 
Vernunft  bewirkt,  und  vermöge  ihres  Gesetzes.  Waltet  wirklich 
darin  der  Instinkt  vor,  ohne  zum  vernünftigen  Triebe  umgestal- 
tet zu  sein,  sondern  so  wie  er  das  bewußtlosere  Gebiet  der  nie- 
dern  Animalisation  bezeichnet:  so  ist  dies  nicht  etwas,  was  die 
Vernunft  irgendwie  limitieren  soll,  sondern  es  verschwindet  durch 
sie;  und  wer  jenes  behaupten  wollte,  könnte  ebenso  auch  im  all- 
gemeinen sagen,  die  Menschheit  sei  nur  eine  Limitation  des  tie- 
rischen  Lebens. 

Dies  führt  uns  von  selbst  auf  zwei  Punkte,  welche  uns  bei- 
nahe das  Ganze  vollenden  werden.  Der  erste  ist  dieser.  So  wie 
schon  von  den  niederen  Stufen  des  Daseins  an  zugleich  mit  dem 
höheren  Hinaufsteigen  auch  die  Gattungen  bestimmter  werden, 
nämlich  das  Sein  eines  Gemeinsamen  in  vielen,  und  das  Bewußt- 
sein vieler  durch  ein  und  dasselbige,  wie  sich  beides  in  auseinan- 
der entspringenden  Generationen  wiederholt:  so  gebührt  nun  auch 
dem  mit  dem  Eintreten  des  Prinzips  der  Begeistung  entstehen- 
den menschlichen  Geschlecht  die  vollkommenste  Gattung  zu  sein, 
d.  h.  das  Eine  in  allen,  nämlich  jenes  Prinzip  selbst,  muß  auf  das 
Vollkommenste  in  allen  dasselbe  und  aus  allem  andern  auf  das 
Vollkommenste  ausgeschlossen,  dann  aber  auch  jedes  Einzelwesen 
von  allen  andern  auf  das  bestimmteste  geschieden  und  verschie- 
den, und  also  das  Eine  selbige  in  jedem  einzelnen  ein  Eigentüm- 
liches geworden  sein.  Dieses  ist,  wie  es  beides  auch  in  der  Men- 
schengestalt am  vollkommensten  erscheint,  so  auch  die  allgemeinste 
Grundvoraussetzung,  welche  unser  Bewußtsein  konstituiert,  und 


0 


464  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  [111,2,465] 

von  welcher  wir  bei  allem  Handeln  ausgehn.  Dennoch  wäre 
das  begeistete  Leben  ein  sehr  untergeordnetes,  wenn  die  Unend- 
lichkeit des  Mannigfaltigen  unmittelbar  und  verworren  auf  das 
Eine  in  allen  sollte  zurückgeführt  werden.  Darum  finden  wir 
schon  immer,  und  wir  mögen  es  gleich  sehr  naturgewordene  Ver- 
nunft nennen  und  Vernunft  gewordene  Natur,  daß  die  Menschen 
durch  eine  bestimmtere  Gemeinsamkeit  des  Eigentümlichen  in  grö- 
ßeren Massen,  die  wir  Völker  nennen,  vereint  sind,  und  unter 
diesen  also  die  Selbigkeit  des  Einen  Prinzips  nach  bestimmter 
Weise  hervortritt.  Wie  sich  nun  dieses  volkstümliche  Gepräge  in 
allen  wesentlichen  Äußerungen  der  Begeistung  fixiert  und  in  der 
Folge  der  Generationen  erneuert:  so  haben  wir  hier  einen  größeren 
eben  solchen  Ort,  in  welchem  die  Familie  als  ein  organisches  Ele- 
ment nicht  etwa  verschwindet,  sondern  ihre  Beziehung  zur  gan- 
zen Menschheit  unmittelbar  fixiert.  Auch  hier  gilt  also  dasselbe, 
daß  es  rein  sittliche  Handlungen  sind,  durch  welche  ein  Volk  als 
solches  fortbesteht,  und  daß  das  Volksleben  in  seiner  rein  ver- 
nünftigen Entwicklung  ein  organischer  Teil  ist  des  höchsten  Gutes. 
Der  zweite  Punkt  ist  dieser.  So  wie  aus  den  niederen  Stufen 
des  Daseins  sich  die  Animalisation  hervorhebt:  so  entwickelt  sich 
im  Hinaufsteigen  derselben  zu  voUkommneren  Gestaltungen  ein 
immer  kenntlicheres  Analogon  des  Bewußtseins.  Nur  im  Be- 
wußtsein kann  das  geistige  Leben  wohnen,  und  darum  ist  es  das- 
selbe, daß  die  Vernunft  auf  der  Erde  erscheint,  und  daß  in  der 
Menschengestalt  das  vollkommene  Bewußtsein  sich  regt,  sich  selbst 
festhaltend,  und  alles  durch  Entgegensetzung  und  Einigung  in  sich 
aufnehmend.  Und  so  sind  es  zwei  Richtungen,  in  welchen  die 
Vernunft  an  allen  jenen  Orten  wirkt,  und  in  welchen  das  geistige 
Leben  der  Völker  begriffen  ist,  daß  alles  Sein  ins  Bewußtsein 
aufgenommen  werde  auf  das  vollkommenste,  und  daß,  indem 
alles  dem  Menschen  unterworfen  wird,  auch  das  innerste  Wesen 
des  Geistes  jeglichem  Sein  und  Erscheinen  nach  Maßgabe  seiner 
Empfänglichkeit  eingebildet  werde  auf  das  vollkommenste.    Wie 


[111,2,  466]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  465 

aber  die  Zersplitterung  in  das  persönliche  einzelne  Leben  nur  dem 
Irdischwerden  der  Vernunft  angehört:  so  gehört  es  zur  Vergei- 
stigung der  irdischen  Erscheinung,  daß  die  Vernunft  die  Schran- 
ken der  Persönlichkeit  durchbreche,  und  daß  soviel  möglich,  es  ist 
aber  freilich  nur  in  den  mannigfaltigsten  Abstufungen  möglich, 
das  geistige  Leben  in  jedem  einzelnen  zugleich  für  alle  sei,  und 
doch  in  jedem  ein  anderes,  je  nachdem  in  einzelnen  Äußerungen 
die  Selbigkeit  des  Einen  Prinzips  vorherrscht,  oder  in  andern 
die  Eigentümlichkeit  der  Gestaltung  sich  geltend  macht.  So  dür- 
fen demnach  auch  die  Völker  nicht  für  sich  sein;  und  rein  stellt 
sich  die  Vernunft  in  ihrem  Leben  erst  dar,  wenn  auch  diese  sich 
jedes  der  Gemeinschaft  aller  öffnen.  Aber  sowohl  in  der  Tätig- 
keit, welche  das  Bewußtsein  bildet  und,  wie  wir  eben  gesehen 
haben,  mitteilt,  als  in  der,  welche  die  Dinge  dem  Menschen  an- 
bildet, und  zwar  auf  beide  Weisen,  mag  die  Einerleiheit  vorherr- 
schen in  dem  Verschiedenen  oder  die  Eigentümlichkeit  im  Glei- 
chen, ufird  doch  die  Wirksamkeit  der  Vernunft  erst  ihre  Selbst- 
offenbarung, wenn  der  Geist  seine  überirdische  Heimat  darin 
kund  gibt,  vermöge  deren  er  das  Ewige  und  Einfache,  das  schlecht- 
hin Seiende,  auf  eine  geheimnisvolle  Weise  in  sich  trägt.  Alles 
dieses  ist  Eins,  und  keines  ohne  das  andere;  aber  je  nachdem  wir 
den  einen  Standpunkt  nehmen  oder  den  andern,  erscheint  das 
höchste  Gut  bald  als  das  goldene  Zeitalter  in  der  ungetrübten 
und  allgenügenden  Mitteilung  des  eigentümlichen  Lebens,  bald 
als  der  ewige  Friede  in  der  wohlverteilten  Herrschaft  der  Völker 
über  die  Erde,  oder  als  die  Vollständigkeit  und  Unveränderlichkeit 
des  Wissens  in  der  Gemeinschaft  der  Sprachen,  und  als  das  Him- 
melreich in  der  freien  Gemeinschaft  des  frommen  Glaubens,  jedes 
von  diesen  in  seiner  Besonderheit  dann  die  anderen  in  sich  schlie- 
ßend und  das  Ganze  darstellend. 

Aus  diesen  wenigen,  aber  doch  das  Wesentliche  enthaltenden 
Andeutungen  muß,  denke  ich,  hervorgehen,  daß  ein  solches  Ganze 
auch  schulgerecht  und  kunstgemäß  kann  aufgestellt  werden,  und 

Schleiermicher,  Werke.     1.  30 


466  Begriff  des  höchsten  Gutes.   I.  [111,2,  467] 

daß,  wenn  sich  dann  solche  Behandlungen  der  Pflichtenlehre  und 
der  Tugendlehre  nach  der  Weise  der  angelegten  daran  schließen, 
eine  solche  Zusammengehörigkeit  sich  ergeben  wird,  und  auch 
diese  Begriffe  so  sehr  an  Reichtum  der  Beziehungen  gewinnen 
werden,  daß  sich  von  selbst  erweiset,  wie  diese  allgemeine  Dar- 
stellung des  geistigen  Lebens  in  seiner  reinen  Vernünftigkeit  auf- 
gefaßt wesentlich  unserer  Wissenschaft  angehöre,  ja  wie  nur  hierin 
die  Ethik  ihre  Vollendung  finden  könne.  Nur  zweierlei,  was  mehr 
außer  ihrem  unmittelbaren  Gebiete  liegt,  will  ich  noch  hinzu- 
fügen. Zuerst  nämlich,  daß  nur  auf  diesem  Wege  der  Zusammen- 
hang anderer  wissenschaftlichen  Disziplinen  mit  der  Ethik  und 
ihre  Abhängigkeit  von  derselben  wiederhergestellt  wird,  welche 
bei  den  Alten,  so  wenig  diese  auch  den  Begriff  des  höchsten  Gutes 
durchgebildet  hatten,  doch  immer  auf  dieser  Seite  standen,  bei 
uns  aber  meistenteils  in  der  Luft  schweben;  ich  nenne  nur  die 
allgemeine  Theorie  der  Erziehung,  so  wie  die  Theorie  der  Staats- 
verfassungen und  die  allgemeinen  Grundsätze  der  Staatsverwal- 
tung. Ebenso  aber  müssen  sich  ihr  von  andern  Seiten  auch  die 
Theorie  von  den  verschiedenen  Organisationen  der  Verteilung 
und  Mitteilung  des  Wissens  und  die  allgemeine  Kunstlehre  an- 
schließen. —  Das  zweite  ist  dieses.  Die  allgemeinen  Erscheinun- 
gen des  Lebens  beruhen  auf  der  einen  Seite  in  ihrer  Mannig- 
faltigkeit auf  bestimmten  Beschaffenheiten  und  Verhältnissen  der 
irdischen  Natur,  welches  ich  auch  oben,  wiewohl  nur  durch  eine 
kurze  Formel,  angedeutet  habe;  sie  sind  in  ihrem  Verlauf  der 
Gegenstand  der  Geschichtskunde.  Soll  aber  diese  immer  mehr 
ein  Verstandenes  werden:  so  muß  sie  zuerst  ihrer  Basis  nach  auf 
die  entsprechenden  Zweige  der  Naturkunde,  nämlich  auf  die  physi- 
sche Erdkunde  und  auf  die  geographische  sowohl  als  physiologi- 
sche Ethnographie  zurückgeführt,  dann  aber  in  den  großen  Zügen 
ihres  Verlaufs  ethisch  geschätzt  werden,  damit  nicht  die  scheinbare 
Verwirrung  eine  Veranlassung  gebe,  den  Gang  des  menschlichen 
Geschlechtes  auch  im  großen  als  ein  Spiel  des  Zufalls  anzusehen. 


[111,2,  468]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  I.  467 

als  wodurch  alle  Wissenschaft  des  Geistes  zerstört  wird.  Diese 
bedeutungsvollen  eingreifenden  Bestrebungen,  in  denen  der 
menschliche  Geist  sich  selbst  am  lebendigsten  und  anschaulichsten 
erfaßt,  und  aus  deren  Gebiet  die  neuere  Zeit  eine  Menge  von  geist- 
reichen Versuchen  aufzuzeigen  hat,  haben  doch  nur  in  dieser  rein 
ethischen  Darstellung  ihren  wissenschaftlichen  Stützpunkt;  und  nur 
wenn  diese  sich  recht  gestaltet  hat,  werden  auch  sie  erst  ihre  voU- 
kommne  Durchbildung  erreichen  können.  Dasselbe  gilt  natürlich 
auch  von  der  kritischen  Betrachtung  alles  dessen,  was  in  jenen 
größeren  Erscheinungen  nicht  der  reinen  Vernünftigkeit  entspricht, 
sondern  durch  Mißverständnisse  oder  andere  Krankheitszustände 
affiziert  ist.  Daß  dieses  nur  ethisch  gerichtet  werden  kann,  ver- 
steht sich;  aber  es  ist  bekannt,  wie  schwer  es  ist,  den  Maßstab  der 
Tugend,  wo  es  auf  eine  differente  Zusammenwirkung  vieler  an- 
kommt, richtig  anzulegen,  und  wie  mannigfaltig  auf  der  andern 
Seite,  so  oft  die  Verhältnisse  kompliziert  sind  und  der  Ausschlag 
bedeutend,  gegen  eine  Zurückführung  auf  den  Pflichtbegriff  pro- 
testiert wird.  Die  Frage  aber,  ob  diese  und  jene  Gestaltung  der 
Dinge  ein  Element  des  höchsten  Gutes  sein  könne,  wird  immer 
leicht  zu  entscheiden  sein,  und  niemand  kann  sie  abweisen.  Also 
auch  für  den  Zusammenhang  der  Wissenschaften  und  für  den 
kritischen  Gebrauch  der  Ethik  im  Leben  überhaupt,  am  meisten 
aber  in  seinen  größten  Verhältnissen,  ist  es  wichtig,  diese  Be- 
handlungsweise  derselben  in  der  Schule  wieder  geltend  zu  machen 
und  womöglich  der  Vollkommenheit  näher  zu  bringen. 


SO" 


über  den  Begriff  des  höchsten  Gutes. 

Zweite  Abhandlung. 
Gelesen  am  24.  Juni  1830. 

Bei  der  ersten  Abhandlung  über  diesen  Gegenstand,  welche 
ich  bereits  im  Jahre  1827  die  Ehre  hatte  der  Akademie  vorzulesen, 
kam  es  mir  vornehmlich  darauf  an,  den  Ort  dieses  Begriffs  mög- 
lichst festzustellen,  das  Schwankende  in  seiner  Anwendung  zu  be- 
seitigen, und  auf  den  Vorteil,  welchen  die  Ethik  aus  einem  er- 
neuerten Gebrauch  desselben  ziehen  könnte,  aufmerksam  zu 
machen;  hingegen  mich  über  den  Inhalt  selbst  zu  verbreiten,  war 
nicht  meine  Absicht.  Je  weniger  ich  indes  voraussah,  daß  ich  bald 
zu  dem  Gegenstande  würde  zurückkehren  können:  um  desto  weni- 
ger konnte  ich  mich  enthalten,  mindestens  einige  Andeutungen 
über  denselben  einzustreuen.  Diese  konnten  aber  ihrer  ganzen 
Stellung  wegen  nicht  so  ausgestattet  werden,  daß  jeder  Leser 
schon  selbst  alle  Einwendungen,  die  sich  ihm  darboten,  mußte 
zurückweisen  können,  oder  daß  es  auch  einem  Wohlwollenden 
könnte  leicht  geworden  sein,  sich  aus  dem  Gesagten  auch 
nur  die  ersten  Umrisse  eines  bestimmten  Bildes  zu  gestalten.  Da- 
her mußte  ich  den  Entschluß  fassen,  diesem  Mangel  späterhin 
auf  irgendeine  Weise  abzuhelfen,  und  mir  zugleich  die  Erlaubnis 


[111,2,470]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  469 

erbitten,  jene  Abhandlung  lieber  bis  dahin  von  der  öffentlichen 
Bekanntmachung  zurückzuhalten.  Eine  genügende  ins  einzelne 
ausgeführte  Darstellung  aber  würde  ein  Werk  sein  von  nicht 
unbedeutendem  Umfang;  und  da  es  auch  von  strengerem  systema- 
tischen Charakter  sein  müßte,  als  die  Form  einzelner  Abhand- 
lungen gestattet:  so  halte  ich  es  auch  nicht  für  angemessen, 
es  auf  eine  Reihe  von  akademischen  Abhandlungen  anzulegen, 
in  der  sich  das  Ganze  erschöpfen  ließe.  Denn  es  scheint  mir 
gegen  die  Natur  unserer  Arbeiten  und  der  Art  wie  wir  sie  dem 
Publikum  mitteilen,  wenn  wir,  gleich  einer  immer  wieder  ab- 
gebrochenen Erzählung,  die  durch  eine  Reihe  von  Tageblättern 
hindurchgeht,  ein  größeres  Ganze  durch  mehrere  Jahrgänge  zer- 
stückeln wollten.  Daher  kann  ich  auch  nur  die  ersten  Qrundzüge 
hier  aufstellen,  so  wie  sich  mir  die  Veranlassung  dazu  aus  der 
ersten  Abhandlung  ergibt;  und  kann  mir  höchstens  nur  die  Aus- 
sicht offen  lassen,  in  der  Folge  vielleicht  einzelne  Teile,  zwar  in 
Beziehung  auf  diese  Grundzüge,  aber  doch  so  zu  bearbeiten, 
daß  jeder  von  den  andern  unabhängig  und  für  sich  allein  ver- 
ständlich sei. 

Dieses  nun  nehme  ich  zuerst  als  abgemacht  aus  jener  Ab- 
handlung herüber,  daß  es  immer  ein  Mißverständnis  gewesen  ist, 
ein  sehr  altes  freilich  und  sehr  weit  verbreitetes  —  denn  es  kommt 
fast  in  allen  griechischen  Schulen  vor  —  wenn  man  gefragt  hat, 
was  das  höchste  Gut  für  den  einzelnen  Menschen  sei.  Vielmehr 
würde  immer  richtiger  gesagt  werden,  der  einzelne  Mensch  habe 
Teil  an  den  verschiedenen  Teilen  des  höchsten  Gutes,  ohne  daß 
irgendeiner  von  diesen  mehr  als  der  andere  das  höchste  Gut  für 
ihn  sein  könne,  weder  derselbe  Teil  für  alle,  noch  für  einige 
dieser,  für  andere  jener.  Oder  wenn  man  doch  sagen  wollte,  weil 
der  einzelne  an  allen  Teilen  desselben  teilhabe,  so  trage  er 
auch  das  Ganze,  wenn  auch  nicht  ausschließend,  sondern  mit  allen 
gemeinschaftlich  in  sich:  so  würde  hiervon  noch  in  weit  höherem 
Grade   dasselbe   gelten,   was    der   platonische   Sokrates   von    der 


470  Begriff  des  höchsten  Gutes.  II.  [111,2,471] 

Gerechtigkeit  beiiauptet,  daß  ihre  Erscheinung  in  dem  einzelnen 
ein  unendhch  kleines  Abbild  sei,  und  daß  wir  daher,  um  es  ge- 
nau zu  erkennen,  das  geistige  Auge,  damit  es  nicht  durch  die 
Anstrengung  geblendet  werde,  einem  andern  Gegenstand  zuwen- 
den müssen,  wo  dasselbe  im  großen  anzuschauen  ist.  Dieser 
hellere  Ort  aber  ist  nicht  eine  ebenso  beschränkte  menschliche 
Gemeinschaft  wie  der  platonische  Staat,  sondern  vollständig  ge- 
schaut kann  das  höchste  Gut  nur  werden  in  der  Gesamtheit  des 
menschlichen  Geschlechts,  mithin  ist  auch  dieses  nur  der  wahre 
und  eigentliche  Ort  desselben.  Ja  ich  möchte  gleich  hinzufügen, 
auch  dieses  nicht  etwa  so  wie  man  es  sich  denken  könnte  getrennt 
oder  trennbar  von  der  Erde,  sondern  in  seiner  Zusammengehörig- 
keit mit  dieser.  Denn  da  wir  es  hier  mit  dem  schlechthin  Realen 
zu  tun  haben:  so  würden  von  einer  solchen  abstrakten  Voraus- 
setzung aus  auf  jede  Frage  nur  fantastische  Antworten  können 
gegeben  werden.  Wir  haben  hier  das  menschliche  Geschlecht  nicht 
zu  betrachten  als  eine  Gesamtheit  vernünftiger  Wesen  überhaupt, 
sondern  als  die  in  dieser  Organisation  und  unter  den  Bedingun- 
gen dieses  Weltkörpers  lebende  Vernunft;  und  was  sonst  auch 
von  Gott  gesagt  worden  ist,  er  sei  deshalb  vollkommen,  weil  er 
so  ganz  sei,  daß  alles  in  ihm  ist,  das  gilt  in  diesem  Sinne  von 
dem  höchsten  Gut;  es  ist  vollkommen,  weil  es  so  das  Ganze  ist, 
daß  alles  in  ihm  ist.  Die  Gesamtwirkung  der  Intelligenz  auf 
dieser  Erde  vermittelst  der  menschlichen  Organisation  ist  es,  die 
wir  uns  auseinanderzulegen  haben,  als  wäre  sie  so  vollendet, 
daß  sie  sich  mit  denselben  Zügen  nur  immer  wieder  zu  erneuern 
brauchte.  Diese  ist  das  höchste  Gut,  ein  vollkommen  abgeschlos- 
senes Ganze,  wie  unser  Weltkörper  ein  im  Raum  Abgeschlossenes 
ist,  so  daß  auch  alle  menschHche  Tätigkeit  über  den  Umfang 
desselben  hinaus  nicht  reichen  kann;  und  ein  vollkommen  erfüll- 
ter Raum  ist  es,  daß  ich  mich  so  ausdrücke,  ohne  gleichsam  leere 
Zwischenräume  und  ohne  einander  auf  nichts  bringende  Gegen- 
sätze, wenn  alle  Vernunfttätigkeit  mit  ihrer  Wirkung  gegeben  ist. 


[111,2,472]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  471 

Wobei  allerdings  dieses  vorausgesetzt  wird,  daß  alle  Vernunft- 
tätigkeit, auch  die  verschiedensten  und  einander  relativ  entgegen- 
stehenden nicht  ausgeschlossen,  unter  sich  kompossibel;  jede 
Tätigkeit  aber,  welche  die  Abzweckung  hätte,  Vernunfttätigkeiten 
oder  deren  Wirkungen  aufzuheben,  keine  Vernunfttätigkeit  sei. 
Diese,  allerdings  die  ethische  Grundvoraussetzung,  ist  aber  auch 
nichts  anderes  als  die  uns  allen  ursprünglich  einwohnende  Über- 
zeugung von  der  Identität  der  Vernunft  in  allen.  Wenn  wir  nun, 
wie  in  jener  Abhandlung  gezeigt  ist,  hier  nicht  die  Vernunft- 
tätigkeit als  bloß  inneren  Impuls  oder  als  Willensbestimmung 
isoliert,  sondern  mit  ihrer  Wirkung  als  eins  zu  betrachten  haben, 
wie  diese  überwiegend  bald  als  Tat,  bald  als  Werk  erscheint:  so 
müssen  wir  auch,  weil  uns  die  Intelligenz  nur  als  dem  mensch- 
lichen Geschlechtsleben  anhaftend  gegeben  ist,  vermöge  derselben 
Grundvoraussetzung  das  ganze  System  von  Vernunfttätigkeiten 
als  sich  immer  erneuernd  und  von  jeder  Generation  stetig  auf- 
genommen denken.  Demnach  hat  jede  Generation  in  dieser  Hin- 
sicht drei  aufeinander  folgende,  aber  auch  miteinander  bestehende 
Verrichtungen;  zuerst  entwickelt  sich  ihre  Intelligenz  an  der  des 
früheren  Geschlechtes,  dann  ist  sie  selbst  fortbildend  wirksam  in 
dem  gegebenen  Raum,  und  zuletzt  überliefert  sie  anregend  ihre 
Tätigkeit  an  die  in  der  Entwicklung  noch  begriffene  Generation. 
In  diesem  ganzen  Vernunftleben  ist  nun  freilich  jede  sittliche 
Handlungsweise,  ja  jeder  sittliche  Moment  ein  Bestandteil;  aber 
nicht  jedes  solches  Element  werden  wir  mit  dem  Namen  des 
Ganzen  ein  Gut  benennen,  sondern  nur  solche  Bestandteile,  welche 
auch  dem  Ganzen  ähnlich,  ebenfalls  einen  —  wenn  auch  nur 
beziehungsweise  abgeschlossenen  —  Inbegriff  von  verschiedenen, 
auch  beziehungsweise  entgegengesetzten  Tätigkeiten  bilden, 
welche  sich  in  demselben  Umfang  stetig  erneuern.  Denn  nur 
beziehungsweise  wird  jedes  von  diesen  Gütern  ein  solcher  In- 
begriff sein  dürfen,  nämlich  so  daß  jedes  als  für  sich  unvollständig 
einer  Ergänzung  bedarf,  wenn  doch  das  vollständige,  nämlich  das 


472  Betriff  des  höchsten  Gutes.   II.  [111,2,  473] 

höchste  Gut,  nicht  eine  Zusammenstellung  von  ihnen  als  gleichen, 
sondern  ein  Inbegriff  von  ihnen  als  ungleichen  sein  soll.  So  ist 
ja  auch  in  jedem  Leibe  jedes  Glied  eine  Ergänzung  der  übrigen, 
so  in  jedem  Staat  ein  jeder  Stand  eine  Ergänzung  der  andern, 
so  in  jeder  Familie  jedes  Einzelwesen  eine  Ergänzung  der  übri- 
gen, indem  jedes  sich  erst  ganz  entwickelt  und  ganz  erkannt  wer- 
den kann  in  seinen  Relationen  zu  allen  andern.  Und  aus  eben 
dem  Grunde,  wenn  sich  ein  solcher  partieller  Inbegriff  von  Ver- 
nunfttätigkeit seiner  Wirkung  nach  beschränkt  auf  einen  bestimm- 
ten Raum,  während  andere  gleicher  Art  andere  Räume  einneh- 
men, wie  das  mit  den  Familien  der  Fall  ist  im  kleinen  und  mit 
den  Völkern  im  großen,  darf  auch  diese  Beschränkung  nicht  eine 
schlechthinige,  sondern  muß  teilweise  wenigstens  aufgehoben  sein. 
Denn  wie  ein  Volk  nur  besteht  nicht  aus  den  Familien  einzeln, 
sondern  nur  durch  die  Gemeinschaft  der  Familien:  so  besteht  auch 
die  Menschheit  und  hat  ihr  wahres  Dasein  nicht  durch  die  Völker 
einzeln,  sondern  erst  in  ihrer  möglichst  innigen  Gemeinschaft. 
Soll  nun  das  höchste  Gut  auf  diese  Weise  beschrieben  wer- 
den können:  so  muß  einerseits  nachzuweisen  sein,  wie  die  Ver- 
nunfttätigkeit sich  differentiiert  und  auseinandergelegt,  auf  der 
anderen  Seite  aber  auch,  wie  das  durch  die  Vernunfttätigkeit 
anzufüllende  Gesamtgebiet  sich  in  Beziehung  auf  dieselbe  gleich- 
falls sondert  oder  zusammenfaßt.  Ehe  wir  aber  den  hierüber  in 
der  früheren  Abhandlung  gegebenen  Andeutungen  weiter  nach- 
gehen, muß  ich  noch  einmal  auch  auf  den  dortigen  Anfangspunkt 
zurückkommen,  daß  nämlich  das  Eingetretensein  der  Intelligenz  in 
die  Lebensentwicklung  der  Erde  oder  die  Vernünftigkeit  der 
menschlichen  Gattung,  und  zwar  als  die  einzige  hiesige  Art  zu 
sein  der  Vernunft,  vorausgesetzt  wird.  Hiermit  soll  keinesweges 
irgendeine  kosmologische  oder  metaphysische  Prämisse  über  das 
Verhältnis  des  Sittlichen  zu  dem  lediglich  Natürlichen,  oder  des 
Geistigen  zu  dem  lediglich  Leiblichen  erschlichen  werden;  viel- 
mehr wollen  wir  unser  Gebiet  in  dieser  Hinsicht  nur  möglichst 


[111,2,  474]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  II.  473 

vollständig  isolieren.  Sollte  auf  der  einen  Seite  behauptet  werden, 
die  Vernunft  sei  überall  nur  das  Resultat  von  der  Entwicklung 
des  organischen  leiblichen  Lebens:  so  werden  wir  nur  sagen, 
wie  die  Vernunft  geworden  sei  —  wenn  dieser  Ausdruck,  sei  es 
auch  nur  hier,  erlaubt  ist  —  das  gelte  uns  gleich;  das  Geworden- 
sein derselben  aber  sei  der  Wendepunkt  in  der  Geschichte  der 
Erde,  mit  welchem  das  Sittliche  erst  beginne,  und  von  welchem 
an  auch  erst  von  einem  Gut  die  Rede  sein  könne.  Wollte  im  Gegen- 
teil behauptet  werden,  die  Intelligenz  sei  schon  von  vorneherein 
und  von  unten  auf  das  den  Stoff  Gestaltende  und  namentlich  auch 
das  die  organischen  Zustände  Hervorrufende  gewesen,  und  finde 
nur  sich  selbst  nicht  eher  als  auf  diesem  Punkt  dem  menschhchen 
Organismus:  so  werden  wir  nur  sagen,  jene  früheren  Wirksam- 
keiten wären  nur  nicht  sittliche,  sondern  anderer  Art,  und  nur 
das  Sich-selbst-gefunden-haben  der  Intelligenz  sei  es,  wovon  die 
sittliche  Wirksamkeit  ausgehe.  Und  so  bleibt  auch  jetzt  das  er- 
neuernde Entstehen  der  menschlichen  Organisation  an  und  für  sich 
betrachtet  von  unserm  Gebiet  ausgeschlossen.  Denn  die  Ge- 
schlechtsvermischung zum  Behuf  der  Erzeugung  ist  freilich  ein 
sittliches  Element,  die  Erzeugung  aber  als  unabhängig  vom  Willen 
ist  keines.  Und  daß  die  Anordnung  der  Geschlechtsverhältnisse 
eine  sittliche  Aufgabe  ist,  und  Abnormitäten  in  der  Bildung  eines 
neuen  Geschlechtes  Folgen  sein  können  von  Mängeln  an  irgend- 
einem sittlichen  Ort,  versteht  sich  von  selbst.  Aber  an  und  für 
sich  betrachtet  liegt  das  Entstehen  neuer  Organisationen  außer- 
halb unseres  Bereichs.  Mag  sich  die  geistige  Kraft  bei  der  Ent- 
wicklung der  Organisation  im  embryonischen  Zustande  verhalten 
wie  es  auch  sei:  das  gewordene  intelligente  Einzelwesen  tritt  in 
unser  Gebiet  erst  ein,  wenn  es  ans  Licht  tritt,  und  so  wie  es 
dann  schon,  uns  unbewußt,  geworden  ist.  —  Eine  ähnliche  Be- 
wandtnis hat  es  noch  mit  einer  andern  dort  aufgestellten  Behaup- 
tung, daß  nämlich  dem  Menschen  gebühre,  in  dem  vollkommen- 
sten Sinne  des  Wortes  Gattung  zu  sein,  so  nämlich,  daß  jeder 


474  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  [111,2,  475  ] 


'  einzelne  nicht  nur  durch  seine  Stellung  in  Raum  und  Zeit  von 
1  allen  andern  verschieden  ist,  sondern  auch  auf  rein  geistige  Weise 
lals  eine  eigentümliche  Modifikation  der,  wenngleich  in  allen  selbi- 
'gen,  Intelligenz.  Denn  man  könnte  denken,  alle  Sätze,  auf  welche 
diese  Voraussetzung  Einfluß  hat  —  und  dieser  erstreckt  sich, 
wie  wir  sehen  werden,  durch  das  Ganze  hindurch  —  wären  für 
diejenigen  verloren,  welche  geneigt  sind,  eine  anfängliche  Gleich- 
heit unter  allen  Menschen  anzunehmen  und  alle  Verschiedenheiten 
nur  aus  den  äußeren  Verhältnissen  zu  erklären.  Wir  können 
auch  dieses  streitig  lassen;  denn  das  wird  nicht  geleugnet  werden 
dürfen,  daß  die  Hauptzüge  des  eigentümlichen  Daseins  schon 
festgestellt  sind,  ebensogut  als  ob  sie  angeboren  wären,  ehe  der 
einzelne  seinen  eigenen  Ort  in  der  sittlichen  Welt  einnimmt,  so 
daß  wir  ihn  auffordern,  sich  diesen  Ort  nach  Maßgabe  jener  zu 
suchen  und  zu  bestimmen.  Wir  können  daher  beides  zusammen- 
fassen in  eine  und  dieselbe  Voraussetzung,  daß  immer  schon  die 
Vernunft  in  der  menschlichen  Organisation  gegeben  sein  muß, 
wenn  das  höchste  Gut  werden  soll,  und  daß  immer  schon  eigen- 
tümliche Natur  gegeben  ist,  durch  w^elche  es  werden  muß. 

Um  aber  den  Inhalt  unseres  Begriffs  näher  zu  ermitteln, 
ist,  soweit  dies  einerseits  von  einer  Zerteilung  der  Vernunft- 
tätigkeit ausgehen  muß,  dort  nichts  weiter  angedeutet,  als  daß 
sie  in  zweierlei  zerfalle,  daß  alles  Sein  in  Bewußtsein  aufgenom- 
men, und  daß  allem  Sein  das  Wesen  des  Geistes  eingebildet 
werde.  Wenn  hierdurch  auf  der  einen  Seite  insofern  etwas  Voll- 
ständiges gegeben  ist,  als  Sein  und  Bewußtsein  dann  ineinan- 
der aufgehen:  so  scheint  es  doch,  als  ob  in  der  ersten  Tätigkeit, 
durch  welche  nämlich  das  Sein  in  Bewußtsein  aufgenommen 
wird,  doch  nur  das  beschauliche  Leben,  oder  vielleicht  auch  das 
genießende,  von  der  dritten  griechischen  Lebensweise  aber,  der 
tätigen  in  der  andern  Vernunfttätigkeit,  welche  dem  Sein  das 
Wesen  des  Geistes  einbildet,  nur  der  eine  Teil,  nämlich  das 
eigentlich  künstlerische  Leben  ausgesprochen  wäre,  das  praktische 


[111,2,  476]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  475 

aber  gänzlich  vernachlässigt.  Indes  wird  dieser  Schein  der  Un- 
vollständigkeit  vielleicht  verschwinden,  wenn  wir  jene  Formeln 
durch  ein  paar  andere  erläutern,  in  welchen  umgekehrt  das  dort 
Vernachlässigte  vornämlich  hervorgehoben  wird,  und  deren  Iden- 
tität mit  jenen  sich  doch  leicht  nachweisen  läßt. 

Ist  nun  das  lebendige  Sein  der  Vernunft  in  der  Organisa- 
tion der  schon  immer  vorausgesetzte  Punkt,  die  Gesamtwirksam- 
keit der  Vernunft  aber  in  allem  irdischen  Sein  der  angestrebte: 
so  ist  auch  alles,  was  von  jenem  ersten  aus  zu  diesem  letzten  hin- 
geht, das  Werden  des  höchsten  Gutes.  Ein  solches  Hinübergehen 
ist  aber  nur  möglich  unter  der  Voraussetzung  lebendiger  Bezie- 
hungen zwischen  der  ursprünglich  mit  der  Vernunft  geeinigten 
Organisation  und  der  übrigen  Natur,  als  welches  die  physische 
Grundvoraussetzung  für  unsern  Begriff  ist;  und  das  Werden  des- 
selben ist  nicht  anders  anzuschauen  als  durch  diese  Beziehungen. 
Wie  nämUch  anfangs  der  menschliche  Leib  ausschließlich  mit  der 
Vernunft  geeinigt  ist,  alles  andere  aber  nicht:  so  tritt  dann  all- 
mählich dies  und  jenes  von  diesem  letzten,  mittelst  jener  Bezie- 
hungen an  den  Leib  sich  anschließend,  in  dieselbe  Verbindung 
mit  der  Vernunft,  die  hierauf  mit  diesem  gleichermaßen  auf  das 
übrige  wirkt  usf.  Indem  nun  die  jedesmal  schon  geeinigte 
äußere  Natur  sich  zu  der  noch  nicht  geeinigten  verhält  wie  die 
ursprünglich  geeinigte  Organisation  zu  der  Gesamtheit  des  irdi- 
schen Seins,  für  welche  die  Einigung  mit  der  Vernunft  angestrebt 
wird:  so  ist  also  jene  durch  ihre  erfolgte  Vereinigung  auch  für 
die  Vernunft  organisiert;  und  die  Tätigkeit,  welche  dieses  be- 
wirkt, läßt  sich  nicht  besser  bezeichnen,  als  durch  den  Ausdruck, 
die  organisierende.  In  dieser  Tätigkeit,  wie  sie  von  dem 
Vorhergeeinigtsein  der  Vernunft  und  der  Organisation  ausgeht, 
ist  die  Vernunft  ebenso  das  bewegende  Prinzip,  als  wenn  sie 
es  auch  schon  bei  der  ursprünglichen  Bildung  der  Organisation 
selbst  gewesen  wäre;  und  die  jedesmal  schon  angebildete  Natur 
verhält  sich  gemeinschaftlich  mit  der  ursprünglichen  Organisation 


476  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  [111,2,477] 

in  dieser  Tätigiveit  so  als  Organ  der  Vernunft,  als  wäre  auch 
die  ursprüngliche  Organisation  eine  solche  durch  die  Vernunft 
als  bewegendes  Prinzip  ihr  angebildete  Natur.  Daher  ist  das  Ende 
dieser  Wirksamkeit,  mithin  die  hierher  gehörige  Seite  des  höchsten 
Gutes,  nichts  anderes,  als  das  möglichste  Organisiertsein  der 
gesamten  irdischen  Natur  für  die  geistigen  Funktionen  des  Men- 
schen. Wie  aber  die  Vernunft  nur  in  der  Organisation  gegeben 
ist,  so  ist  sie  auch  in  dem  Gegensatz  der  Geschlechter  und  in  der 
Gesamtheit  der  Einzelwesen  aufeinander  folgender  Generationen 
gegeben;  mithin  ist  ein  Gesamtwirken  der  Vernunft  nur  mög- 
lich, insofern  die  in  der  einen  Organisation  eingeschlossene  Ver- 
nunfttätigkeit auch  vermag,  die  in  andern  Organisationen  ein- 
geschlossenen, und  zwar  als  handelnde,  mit  ihren  Wirkungen  zu 
erkennen  und  anzuerkennen.  Die  Möglichkeit,  jene  Seite  des  höch- 
sten Gutes  auch  nur  als  Werdendes  zu  realisieren,  d.  h.  die  Mög- 
lichkeit der  organisierenden  Aufgabe  überhaupt,  beruht  also  da- 
rauf, daß  es  Vernunfttätigkeiten  gebe,  wodurch  die  Vernunft  sich 
selbst  erkennbar  macht;  sie  kann  das  aber  nur  in  einem  andern, 
mithin  auch  nur  in  dem  irdischen  Sein,  in  welches  sie  als  mensch- 
liche Seele  gesetzt  ist.  Nun  ist  aber  ein  gewöhnlicher  Ausdruck 
für  dasjenige,  worin  ein  anderes,  zumal  für  das  Leibliche,  worin 
ein  Geistiges  erkannt  werden  kann,  der,  daß  jenes  ein  Symbol 
für  dieses  sei.  Wir  werden  daher  unsere  zweite  Vernunfttätig- 
keit füglich  durch  den  Namen  der  symbolisierenden  bezeich- 
nen können.  Nun  ist  auch  schon  das  Gattungsleben  als  solches 
nicht  denkbar,  wenn  nicht  die  Vernunft  der  Eltern  in  Gestalt  und 
Bewegung  der  Kinder  sich  selbst  erkennt;  und  so  auch  kein  Ver- 
hältnis gleichzeitiger,  wenn  sie  sich  nicht  untereinander  erkennen. 
Dieses  also  ist  der  Anfang  des  Werdens  für  diese  Seite  des  höch- 
sten Gutes;  und  das  Ende  wäre  dieses,  wenn  die  gesamte  Ver- 
nunft sich  manifestierte  in  der  gesamten  Natur,  so  daß  alle  Ver- 
nunft erkannt  würde  und  alle  irdische  Natur  in  diese  Kund- 
machung einginge.    Nehmen  wir  nun  aber  beide  Tätigkeiten  zu- 


[111,2,478]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  477 

sammen:  so  können  wir  nicht  dabei  stehen  bleiben,  daß  die  orga- 
nisierende nur  bedingt  sei  durch  die  symbolisierende.  Vielmehr 
ist  nicht  nur  ebenso  die  symbolisierende  bedingt  durch  die  organi- 
sierende; denn  die  Vernunft  muß  sich  erst  in  der  ursprünglichen 
Organisation  tätig  zeigen,  das  heißt  sie  sich  selbsttätig  aneignen, 
ehe  sie  in  ihr  auch  nur  im  mindesten  erkannt  wird;  sondern  sie 
organisiert  auch  nur  zum  Behuf  dieser  vollständigen  Anerkennung 
ihrer  selbst  in  allem  ihr  vorliegenden  Sein.  Daher,  wenn  wir  die 
Frage  aufwerfen  wollten,  ob  es  außer  diesen  beiden  noch  andere 
Vernunfttätigkeiten  gebe,  durch  welche  dem  höchsten  Gut  Ele- 
mente zugeführt  werden  können  oder  nicht;  und  wir  besännen 
uns  nun  darauf,  was  wohl  noch  zu  verrichten  übrig  wäre,  oder 
was  derjenige  noch  wünschen  könnte,  der  ganz  im  Interesse  der 
Vernunft  lebt,  wenn  dies  beides  vollbracht  wäre,  daß  die  ganze 
Vernunft  sich  überall  manifestierte,  und  daß  alles  ihr  Erreichbare 
ihr  auch  zum  Organ  diente:  so  würde,  glaube  ich,  nichts  gefun- 
den werden  können.  Denn  nehmen  wir  z.  B.  die  höchste  Ent- 
wicklung des  Denkens  in  der  Wissenschaft,  so  ist  diese  doch  durch 
die  Sprache  vermittelt,  und  ist  nur  die  höchste  Manifestation  der 
Vernunft  in  dieser  und  die  Hinwegräumung  alles  Vernunftwidri- 
gen aus  derselben.  Ja  alles,  was  wir  nach  dieser  Seite  hin  als 
größere  Entwicklung  ansehen,  ist  eigentlich  doch  immer  nur  Ent- 
wicklung der  Manifestation  der  Vernunft  in  diesem  Organ;  und 
ist  um  so  mehr  nur  so  zu  betrachten,  als  wir  das  Wissen  an 
und  für  sich  als  überall  eines  und  sich  selbst  gleich  voraussetzen. 
—  Und  nun  wird  sich  uns  auch  die  Ausgleichung  zwischen  die- 
sen beiden  Formeln  und  den  zuerst  aufgestellten  bald  ergeben. 
Dasjenige  nämlich,  um  hiermit  anzufangen,  was  in  den  ersten 
beiden  Formeln  am  meisten  vernachlässigt  zu  sein  schien,  ist  hier 
vorzüglich  wohl  bedacht;  denn  alle  Gewerbstätigkeit  im  Volks- 
leben, sowie  alle  Staatsverwaltung,  geht  doch  nur  darauf  aus, 
die  Natur  auf  das  vollkommenste  als  Werkzeug  für  den  Men- 
schen auszubilden,  und  alles  überhaupt  wird  hierher  zu  rechnen 


478  Begriff  des  höchsten  Gutes.  II.  [111,2,479] 

sein,  worauf  die  tätige  Lebensweise  es  am  meisten  anlegt.  So 
wie  auf  der  anderen  Seite  alles,  was  wir  am  meisten  Kunst  nen- 
nen, auf  eine  solche  Belebung  der  Natur  hinwirkt,  durch  welche 
am  vollkommensten  die  Intelligenz  in  ihrem  eigentümlichen  Wesen 
erkannt  wird.  Haben  wir  also,  was  sich  leicht  noch  weiter 
ausführen  ließe  nichts  aufzuweisen  was  zum  höchsten  Gut  ge- 
hörig außerhalb  dieser  beiden  Formeln  läge:  so  müssen  auch  jene 
beiden  früheren,  das  Sein  ins  Bewußtsein  aufnehmen  und  das 
Bewußtsein  dem  Sein  einbilden,  wenigstens  in  diesen  beiden  ent- 
halten sein.  Aber  es  ergibt  sich  auch  leicht,  daß  sie  ganz  in 
ihnen  aufgehen  und  sie  auch  ganz  ausfüllen.  Denn  auf  der 
einen  Seite  muß  das  Bewußtsein  allem  eingebildet  sein,  woran 
die  Vernunft  handelnd  soll  erkannt  werden,  und  alles,  dessen  sich 
die  Intelligenz  als  Organ  bedient,  kann  auch  nur  daran,  daß 
ihm  Bewußtsein  eingebildet  ist,  von  dem  mit  der  Intelligenz 
noch  nicht  verbundenen  Sein  unterschieden  werden;  auf  der  an- 
deren Seite  kann  überhaupt  die  Vernunft  sich  nur  irgendwie  an 
etwas  manifestieren,  sofern  sie  Sein  ins  Bewußtsein  aufgenom- 
men; und  alles,  was  sie  sich  als  Organ  angeeignet  hat,  muß 
auch,  indirekt  wenigstens,  in  ihr  Selbstbewußtsein  auf  dieselbe 
Weise  aufgenommen  sein,  wie  die  ursprüngliche  Leiblichkeit  darin 
aufgenommen   ist. 

Um  aber  zu  übersehen,  wie  der  Gesamtzustand  der  mensch- 
lichen Dinge,  sofern  darin  das  höchste  Gut  wird,  auf  diese  Tätig- 
keiten zurückzuführen  ist,  müssen  wir  noch  zweierlei  auch  schon 
Erwähntes  mit  dem  Bisherigen  in  nähere  Verbindung  bringen. 
Das  erste  ist  dieses.  Gehört  es  nämlich  zur  Vollkommenheit  der 
menschlichen  Gattung  als  solcher,  daß  jedes  organische  Einzel- 
wesen auch  qualitativ  durch  seine  Mischungs-  und  Gestaltungs- 
verhältnisse von  den  andern  verschieden  sein  müsse:  so  ist  auch 
die  Vernunft  in  jedem  schon  vor  aller  sittlichen  Tätigkeit  mit 
diesem.  Eigentümlichen  geeinigt;  mithin  muß  auch  die  nachfol- 
gende Tätigkeit  das  Gepräge  dieser  Eigentümlichkeit  an  sich  tra- 


[111,2,480]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  II.  479 

gen.  Demohnerachtet  aber  bleibt  die  Vernunft  selbst  in  allen  eine 
und  dieselbige,  und  auch  diese  Selbigkeit  muß  sich  in  allen  Tätig- 
keiten offenbaren.  Beides  ist  nun  freihch  entgegengesetzt;  aber  es 
darf  nur  beziehungsweise,  nicht  eines  das  andere  aufhebend,  son- 
dern sich  miteinander  verbindend,  entgegengesetzt  sein.  Hierbei 
bleibt  natürlich  die  größte  Mannigfaltigkeit  des  Verhältnisses  vor- 
behalten, so  daß  das  eine  mit  dem  andern  im  Gleichgewicht  sein 
kann,  oder  auch  das  Eigentümliche  an  dem  Identischen  als  Mini- 
mum und  umgekehrt.  Sonach  wird  auch  die  organisierende  und 
symbolisierende  Tätigkeit  in  allen  ihren  verschiedenen  Beziehun- 
gen eine  andere  sein,  wenn  überwiegend  den  einen  oder  den  an- 
deren Charakter  an  sich  tragend.  Jede  eigentümliche  aber  ist  als 
solche  von  den  gleichartigen  ursprünglich  geschieden,  die  iden- 
tische hingegen  auch  mit  den  andern  einzelnen  ursprünglich  eines; 
mithin  kann  es  eine  Gesamtwirkung  der  Vernunft  als  einen  In- 
begriff aller  Tätigkeiten  nur  geben  unter  der  Form  einer  Ge- 
meinschaft der  auf  jene  Art  verschiedenen  und  einer  Sonderung 
der  auf  diese  Art  identischen.  Das  andere  ist  dieses.  Geht  alle 
Vernunfttätigkeit  aus  von  der  ursprünglichen,  jedesmal  vor  aller 
eigenen  sittlichen  Tätigkeit  schon  gegebenen  Einigung  der  In- 
telligenz mit  der  einzelnen  Organisation;  und  ist  sie  in  dem  Be- 
griff des  höchsten  Gutes  ein  auch  äußerlich  Vollständiges,  sofern 
abgeschlossen  auf  dem  Umfang  unseres  Weltkörpers:  so  muß  es 
auch,  weil  äußerlich  jedes  Einzelwesen  von  dem  anderen  geschie- 
den ist,  eine  ursprüngliche  Gemeinschaft  des  Geschiedenen,  und 
weil  an  und  für  sich  das  Verhältnis  der  menschlichen  Organisa- 
tion zur  Erde  nur  eines  und  dasselbe  ist,  eine  ursprüngliche  Schei- 
dung dieses  Identischen  geben.  Jene  erfolgt  vermittelst  der  Art, 
wie  das  Einzelwesen  wird  durch  Erzeugung;  denn  die  Gleichheit 
der  Abstammung  ist  eine  ursprüngliche  Gemeinschaft  der  als  Ein- 
zelwesen ursprünglich  Geschiedenen.  Die  ursprüngliche  Scheidung 
des  Identischen  ist  gegeben  in  der  klimatischen  Differenz  der  ver- 
schiedenen Regionen  des  Weltkörpers,  vermöge  welcher  auch  die 


480  Begriff  des  höchsten  Gutes.   IL  [111,2,481] 

menschliche  Organisation  sich  differentiiert  in  allen  den  verschiede- 
nen Funktionen,  durch  welche  die  Vernunfttätigkeit  hindurchgeht. 
Dieses  zusammengenommen  ist  also  die  schon  gegebene  Natur- 
bedingung, vermittelst  welcher  das  höchste  Gut  als  Gesamt- 
wirkung der  Vernunft  unter  der  Form  von  Sonderung  und  Ge- 
meinschaft innerhalb  dieses  Naturganzen  unseres  Weltkörpers 
möglich  ist;  so  daß  das  Maximum  des  Verhältnisses  der  mensch- 
lichen Organisation  zu  dem  Weltkörper  selbst  das  Maß  desselben 
ist.  Wird  nun  das  höchste  Gut  in  dem  Inbegriff  von  einzelnen  Gü- 
tern, welche  nur  als  Abbilder  von  jenem  an  diesem  Namen  teil- 
nehmen: so  wird  auch  das  höchste  Gut  nicht  nur  die  Nebenein- 
anderstellung, sondern  auch  die  Gemeinschaft  von  diesen  sein  müs- 
sen, jedes  einzelne  also  auch  als  Abbild  des  Ganzen  zwar  ein 
Abgeschlossenes,  aber  als  die  Gemeinschaft  mit  den  Gleichartigen 
sich  vorbehaltend  nur  ein  beziehungsweise  Abgeschlossenes.  Jedes 
beziehungsweise  für  sich  bestehende  Naturganze  aber,  in  welchem, 
als  einem  Bestimmten  und  Gemessenen,  die  sich  selbst  gleiche  und 
überall  selbige  Vernunft  zu  einer  Besonderheit  des  Daseins  wird, 
als  zugleich  Mittelpunkt  einer  eigenen  Sphäre  von  Vernunft- 
tätigkeiten und  deren  Wirkungen,  zugleich  aber  auch  Gemein- 
>!  Schaft  anknüpfend,  nennen  wir  eine  Person;  und  jeder  die  Gegen- 

sätze in  sich  vereinigende  Inbegriff  von  Tätigkeiten  ist  nur  ein 
Gut  und  ein  Ort  innerhalb  des  höchsten  Gutes,  insofern  ihm  in 
diesem    Sinn    eine    Persönlichkeit    zukommt. 

Es  wird  in  dem  Umfang  dieser  Abhandlung  nur  noch  mög- 
lich sein,  in  Beziehung  auf  das  eben  Gesagte  den  Inhalt  der  bei- 
den wesentlichen  Vernunfttätigkeiten  ihren  ersten  Grundzügen 
nach  darzulegen.  Dies  kann  freilich  manchen  Sätzen  den  Schein 
geben,  als  knüpften  sie  nicht  genau  an,  und  wären  also  auch 
nicht  hinreichend  begründet;  allein  dieser  würde  bei  einer  genaue- 
ren Ausführung,  die  aber  ein  jeder  leicht  selbst  ergänzen  kann, 
unfehlbar  verschwinden.  Betrachten  wir  zuerst  die  organisierende 
oder    anbildende    Tätigkeit,    und    zv/ar   überwiegend   unter    dem 


[111,2,  482]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  481 

Charakter,  wie  sie  überall  und  in  allen  dieselbige  ist:  so  kommt 
auch  schon  die  Ausbildung  der  Leiblichkeit  eines  einzelnen  für  die 
Vernunft  nur  in  der  Gemeinschaft  der  Generationen,  wodurch 
sich  also  die  FamiHe  als  der  ursprüngliche  Ort  dieser  Tätigkeit 
bewährt,  zustande,  und  zwar  als  zusammengesetzt  aus  Angeerb- 
tem oder  Mitgeborenem  und  Eingeübtem.  Handelt  dann  der  ein- 
zelne in  der  Familie  oder  die  aus  solchen  einzelnen  bestehende 
Familie  auf  die  noch  nicht  angebildete  Natur:  so  wird  jede  solche 
Handlung  etwas  zu  dem  Organismus  der  Intelligenz  hinzufügen; 
aber  nur  soweit  wird  dies  ein  und  derselbe  Bildungsprozeß  sein, 
als  die  bildende  geistige  Natur  dieselbe  ist,  und  auch  allen  die- 
selbe zu  bildende  leibliche  Natur  zugewendet.  Soll  aber  dieses 
Gebiet  ein  Gut  sein:  so  dürfen  nicht  nur  die  einzelnen  gleich- 
mäßig nebeneinander  bilden,  sondern  ihre  bildenden  Tätigkeiten 
müssen  sich  aufeinander  beziehen,  mithin  der  Prozeß  ein  gemein- 
schafthcher  sein.  Nun  ist  jede  naturbildende  Tätigkeit,  sofern 
sie  an  die  Persönlichkeit  anreiht,  Erwerbung,  und  das  Resul- 
tat Besitz;  teilweise  Aufhebung  des  Besitzes  für  die  Gemein- 
schaftlichkeit des  Bildungsprozesses  ist  Verkehr,  und  gegensei- 
tige Bedingtheit  beider,  der  Erwerbung  und  der  Gemeinschaft 
durcheinander,  ist  der  Rechtszustand.  In  der  Einheit  des  höch- 
sten Gutes  ist  also  notwendig  zu  setzen  ein  über  die  ganze  Erde 
verbreiteter  Rechtszustand.  Wäre  jedoch  dieser  nur  ein  gleich- 
mäßiges Verhältnis  jedes  einzelnen  zu  allen  oder  jeder  Familie  zu 
allen,  nur  in  seiner  Fruchtbarkeit  verschieden  nach  Maßgabe  ihrer 
Entfernung  voneinander:  so  wäre  nirgend  bestimmte  Sonderung, 
indem  es  alsdann  kein  anderes  für  sich  bestehendes  Naturganze 
gäbe,  als  die  Familie;  diese  aber  muß  auf  den  Gesamtumfang 
der  Vernunfttätigkeit  bezogen  als  ein  unendlich  Kleines  ver- 
schwinden, so  daß  das  Ganze  nur  als  ein  Aggregat  aus  unend- 
lich kleinen  verschiedenen  Elementen,  mithin  chaotisch  erschiene. 
Gehen  wir  aber  den  schon  gegebenen  Naturdifferenzen  nach:  so 
finden  wir  von  der  klimatischen  Verschiedenheit  aus  in  jeder  Volks- 

Schleiermacher,  Werke.     I.  31 


482  Begriff  des  höchsten  Gutes.  II.  [111,2,  483] 

tümlichkeit  ein  durch  Identität  der  Abstammung  und  durch  Zu- 
sammengehörigkeit des  Eigentümlichen  relativ  abgeschlossenes 
Bildungsgebiet,  mithin  auch  für  das  Verwandtere  einen  bestimmt 
gebundenen  und  von  dem  Fremden  bestimmt  gesonderten  Rechts- 
zustand, gleichviel  ob  unter  der  loseren  Form  einstimmig  anerkann- 
ter Sitten  und  Gebräuche  oder  unter  der  festeren  des  Gesetzes  und 
der  bürgerlichen  Ordnung.  Innerhalb  dieses  Ganzen  nun  finden 
wir,  daß  in  der  FamiUe  der  Gegensatz  von  Besitz  und  Gemein- 
schaft sich  für  ihre  einzelnen  Glieder  verliert,  außerhalb  der  Volks- 
begrenzung aber  erscheint  ein  die  Gemeinschaft  der  Völker  reprä- 
sentierendes, eben  deshalb  aber,  verglichen  mit  jenem,  auch  nur 
vereinzeltes  und  zerstreutes  Verkehr,  sei  es  nun  unter  der  loseren 
Form  der  ungesicherten  Zulassung  oder  unter  der  festeren  des 
Vertrages. 

Gehen  wir  nun  zurück  und  fassen  dieselbe  Tätigkeit  ins 
Auge,  so  wie  jedes  menschhche  Einzelwesen  ein  eigentümliches, 
von  allen  andern  verschiedenes  ist:  so  ist  auch  jedes  in  seiner  an- 
bildenden Tätigkeit  ursprünglich  von  allen  andern  geschieden  und 
mit  den  Wirkungen  derselben  in  sich  selbst  abgeschlossen.  Diese 
Abgeschlossenheit  begründet  die  Unübertragbarkeit  des  so  Ange- 
eigneten. Das  schlechthin  und  ursprünglich  Unübertragbare,  mit 
dem  Einzelsein  des  Geistigen  unzertrennHch  Verbundene  ist  daher 
der  Leib.  Diese  ursprüngliche  leibliche  Geschiedenheit  der  Einzel- 
wesen ist  aber  in  der  Familie  schon  zu  einer  mögUchen  Gemein- 
schaftlichkeit vermittelt  durch  die  Identität  der  Abstammung,  in- 
dem die  Leiblichkeit  der  Geschwister  abgeleitet  ist  von  der  Leib- 
lichkeit derselben  Eltern.  So  wie  sich  diese  schon  in  der  Orga- 
nisation an  und  für  sich  zu  erkennen  gibt  durch  die  Familien- 
ähnlichkeit: so  gibt  es  auch  in  der  Familie  eine  eigentümliche 
Gemeinschaft  der  anbildenden  Tätigkeit,  und  die  Erzeugnisse  der- 
selben möchte  ich  —  im  Gegensatz  gegen  das,  was  wir  nur  Be- 
sitz genannt  haben,  worin  aber,  was  im  gewöhnlichen  rechtlichen 
Sinn  Eigentum  heißt,  mit  eingeschlossen  ist  —  in   einem  präg- 


[111,2,  484]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  483 

nanteren  Sinne  des  Wortes  Eigentum  nennen,  dasjenige  da- 
runter verstehend,  was  beinahe  ebensowenig  als  der  Leib  selbst 
ein  Gegenstand  des  Verkehrs  sein  darf,  weil  es  nicht  über- 
tragen werden  kann,  ohne  von  seinem  sittlichen  Wert  zu  verlieren. 
Wäre  nun  jede  Familie  mit  diesem,  wir  wollen  sagen  zurück- 
gesetzten, das  heißt  außerhalb  des  Verkehrs  gestellten,  Eigen« 
tum  gänzlich  isoliert:  so  wären  diese  Ergebnisse  der  eigentüm- 
lichen Tätigkeit  in  dem  Gesamtumfang  des  höchsten  Gutes  nur 
in  einem  leeren  Nebeneinandersein  gegeben,  so  daß  jedes  für 
sonst  niemand  da  wäre;  und  das  will  fast  sagen,  dieser  Zweig 
der  Vernunfttätigkeit  wäre  aus  der  Einheit  des  höchsten  Gutes 
ausgeschlossen.  Nun  aber  gibt  es  auch  hier  ein  größeres  Natur- 
ganze als  das  der  Familie  ursprünglich  schon  in  der  Volkstüm- 
lichkeit der  Organisation,  welche,  wenn  wir  sie  im  großen  be- 
trachten, klimatisch  bedingt  ist  durch  die  Beschaffenheit  des  Bo- 
dens, den  ein  Volk  einnimmt.  Daher  auch  abgesehen  von  gro- 
ßen geschichtlichen  Entwicklungsknoten,  welche  in  ein  ethisches 
Verständnis  aufzulösen  nicht  dieses  Ortes  sein  kann,  ein  Volk 
sich  nicht  trennt  von  seinem  Wohnsitz.  Dieser  ist  daher  der  all- 
gemeinste Gegenstand  der  volkstümlichen  bildenden  Tätigkeit, 
aus  welchem  sich  die  übrigen  allmählich  entwickeln,  und  daher 
auch  mehr  oder  weniger  mit  ihren  Werken  untrennbar  in  dem 
Boden  wurzeln,  oder  sich  der  Persönlichkeit  und  dem  häuslichen 
Leben  als  gemeinsam  charakterisierend  anschließen.  Allein  auch 
dieses  löst  für  sich  noch  nicht  unsere  Aufgabe,  indem  auch  diese 
größeren  Gebiete,  so  lange  sie  streng  abgeschlossen  sind,  auch  nur 
nebeneinander  bestehen  und  nicht  füreinander,  mithin  das  Eigen- 
tümliche noch  ganz  der  Gemeinschaft  entbehrt.  Aber  die  allge- 
meine Selbigkeit  der  Vernunft,  welche  durch  die  Verschiedenheit 
des  Eigentümlichen  niemals  kann  aufgehoben  werden,  behauptet 
auch  hier  ihr  Recht;  und  was  nicht  auf  dieselbe  Weise,  wie  es 
geworden  ist,  nämlich  als  Organ  im  Verkehr  von  einem  zum 
andern  hinüber  wandern  kann,  das  soll  sich  wenigstens  der  frem- 

31* 


484  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  [111,2,485] 

den  Intelligenz  öffnen,  um  von  ihr,  so  weit  es  angeht,  ins  Be- 
wußtsein aufgenommen  zu  werden.  Das  ist  die  Bedeutung  zu- 
nächst der  freien,  auf  Geschäft  und  Verkehr  nicht  bezüglichen 
Verhältnisse  der  Geselligkeit,  deren  Mittelpunkt  die  Familien  sind, 
sofern  sie  vorzüglich  die  Darstellung  des  Eigentümlichen,  und 
zwar  ursprünglich  des  Eigentümlichen  der  anbildenden  Tätig- 
keit, wie  es  überall  in  dem  Innern  des  Hauswesens  zutage 
liegt,  für  die  gemeinsame  Vernunft  beabsichtigen,  ebenso  aber 
auch  der  Gastf  reiheit,  sowohl  der  häuslichen  gegen  einzelne, 
welche  nicht  dem  volkstümlichen  Kreise  der  gemeinsamen  Eigen- 
tümlichkeit angehören,  als  auch  nicht  minder  derjenigen,  welche 
Völker  ausüben  gegen  einzelne,  die  als  Repräsentanten  anderer 
unter  ihnen  erscheinen.  Und  ebenso  erklärt  sich  hieraus  das  Ver- 
langen, welches  von  jeher  einzelne,  mit  besonderem  geschichtlichen 
Sinn  begabte  in  die  Fremde  verlockt  hat,  nicht  um  des  Gewinns 
und  des  Verkehrs  willen,  sondern  um  die  abweichenden  Gestal- 
tungen des  menschlichen  Lebens  kennen  zu  lernen,  und  durch 
diese  Kunde  das  gemeinsame  Leben,  dem  sie  angehören,  zu  berei- 
chern. Auch  auf  dieser  Seite  also  haben  wir  an  der  FamiHe  und 
dem  Volk  zwei  in  verschiedenem  Maß  für  sich  bestehende  Natur- 
ganze, in  welchen  Abgeschlossenheit  und  Geselligkeit  sich  gegen- 
seitig bedingen.  Innerhalb  der  Famihe  ist  das  Eigentümliche  der 
bildenden  Tätigkeit  immer  schon  von  selbst  verstanden,  und  ein 
Volk  öffnet  seine  eigentümliche  Abgeschlossenheit  andern  in  dem 
Maß,  als  es  schon  zu  der  Voraussetzung  entwickelt  ist,  daß  die 
in  allen  selbige  Vernunft  den  Schlüssel  zum  Verständnis  jeder 
eigentümlichen  Gestaltung  in  sich  trägt,  während  die  Familien 
innerhalb  des  Volks  einen  unbestrittenen,  aber  doch  durch  den 
Umfang  der  gemeinsamen  Eigentümlichkeit  bedingten  Anspruch 
haben  an  die  Anschauung  aller  besondern  Gestaltungen  der  bil- 
denden Tätigkeit,  die  der  gemeinsamen  Eigentümlichkeit  unter- 
geordnet sind.  Und  hierin  wäre  nun  die  Beschreibung  der  anbil- 
denden Tätigkeit  vollendet;  ja  wir  können  sagen,  daß  wir  schon 


[111,2,486]  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  485 

über  sie  hinausgegangen  sind,  denn  die  letzten  hier  aufgezeigten 
Grade  scheinen  schon  mehr  zur  Manifestation  der  Vernunft  zu 
gehören.  Allein  dies  ist  wegen  der  gegenseitigen  Bedingtheit  bei- 
der geistigen  Funktionen  durcheinander  weder  zu  vermeiden  noch 
zu  verwundern.  Andrerseits  aber,  wenn  wir  diese  Gemeinschaft 
der  Völker  zum  Beispiel  genauer  betrachten:  so  entsteht  sie  doch 
nicht  durch  diejenigen,  die  darin  nur  passiv  sind,  indem  sie  sich 
nicht  verschließen,  sondern  durch  die  aktiven,  die  mit  jenen  an- 
knüpfen; und  nur  von  derjenigen  Gemeinschaft  ist  hier  die  Rede, 
welche  das  Resultat  einer  im  Interesse  der  bildenden  Tätigkeit 
erfolgten  Anknüpfung  ist,  wodurch  diese  immer  wieder  neue  Im- 
pulse und  einen  vergrößerten  Umlauf  erhält. 

Ehe  wir  aber  ebenso  das  Gebiet  der  symbolisierenden  Tätig- 
keit durchlaufen,  muß  zuvor  bemerkt  werden,  daß  diese  Tätig- 
keit ihre  Beziehung  nicht  nur  hat  auf  das  räumliche  Zerteilt- 
sein der  Vernunft,  sofern  sie  in  den  zugleichseienden  Einzelwesen 
eingeschlossen  ist  als  deren  Seele,  sondern  auch  auf  die  zeitliche 
Zerteilung  derselben.  Denn  das  zeitliche  Leben  ist  auch  seinem 
geistigen  Gehalt  nach  ein  Aggregat  von  Momenten,  die  jeder  für 
sich  sein  würden,  wie  der  geistige  Gehalt  jedes  Tages  für  sich  ist, 
durch  die  dazwischen  tretende  Nacht  realiter  getrennt  von  dem 
vorigen  und  folgenden,  wenn  nicht  jeder  vorige  immer  wieder 
aufgenommen  würde  im  folgenden.  Dieses  Zeitlichwerden  und 
sich  als  zeitlich  Finden  und  Wiederaufnehmen  der  Vernunft  ist 
nun  ihr  Dasein  als  Bewußtsein.  Das  Bewußtsein  daher  in  seiner 
ihm  wesentlichen  Zeitlichkeit  ist  das  ursprüngliche  Symbol  der 
an  sich  unzeitlichen  Vernunft;  und  die  ursprüngliche  Aufgabe 
für  unsere  Tätigkeit  ist  also  die,  daß  die  ganze  Vernunft  Be- 
wußtsein werde,  eine  Aufgabe,  die  sich,  wie  in  jedem  Einzelwesen, 
so  auch  in  dem  Ganzen  des  menschlichen  Geschlechtes  nur  all- 
mählich realisiert,  indem,  wenn  auch  jeder  bewußte  Moment  in 
den  folgenden  wiedei  mit  aufgenommen  wird,  doch  der  eigent- 
liche Grund  niemals  zu  erschöpfen  ist.    Diese  Seite  der  symbo- 


486  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  [111,2,487] 

lisierenden  Tätigkeit  ist  aber  von  der  anderen,  die  sich  der  räum- 
lichen Zerteilung  zuwendet,  nicht  zu  trennen;  was  dort  das  Be- 
wußtsein ist,  das  ist  hier  der  durch  die  Leibhchkeit  vermittelte 
Ausdruck  des  Innern  oder  die  Mitteilung  des  Bewußtseins. 
Aber  nicht  einmal  kommt  diese  als  ein  Zweites  zu  dem  Bewußt- 
sein selbst  als  einem  Ersten  hinzu,  sondern  ursprünglich  schon  ist 
beides  eins;  denn  es  gibt  keine  Form  des  Bewußtseins,  die  an- 
ders als  mit  ihrer  Leiblichkeit  zugleich  hervortreten  könnte.  Der 
Gedanke  wird  erst  als  Sprechen,  wenn  auch  nur  als  inneres 
und  ebenso  innerlich  vernommenes,  wirklich,  vorher  ist  er  noch 
nicht  Bewußtsein;  und  ebenso  ist  mit  jeder  Empfindung  schon 
das  Differential  einer  mimischen,  und  mit  jedem  Affekt  das  einer 
transitiven  Bewegung  verbunden.  Hieraus  erhellt  zugleich  von 
vorneherein,  wie  jeder  Moment  organisierender  Tätigkeit  zu- 
gleich ein  Moment  der  symbolisierenden  wird.  Denn  jede  Tat 
ist  an  sich  selbst  schon  Ausdruck  der  ihr  zum  Grunde  liegenden 
Willensbestimmung,  mithin  eines  Bewußtseins.  Aber  ebenso 
wird  auch  jeder  Moment  der  symbolisierenden  Tätigkeit  eine  orga- 
nisierende; denn  jedes  wirklich  gewordene  Bewußtsein  ist  auch, 
insofern  es  immer  wieder  aufgenommen  werden  kann,  ein  Organ 
der  Vernunft.  Sind  nun  also  gleich  beide  immer  ineinander: 
so  betrachten  wir  doch  mit  Recht  alle  diejenigen  Tätigkeiten  als 
symbolisierende,  die  ursprünglich  und  hauptsächlich  als  sich  ent- 
wickelndes Bewußtsein  geworden  sind.  Das  Bewußtsein  ent- 
wickelt sich  aber  immer  nur  in  der  Gemeinschaft  der  Einzelwesen, 
indem  ein  sich  von  vorneherein  einsam  entwickelndes  uns  nicht 
gegeben  ist,  und  auch  nicht  von  uns  angeschaut  werden  kann. 
Auch  für  diese  Tätigkeit  also  ist  die  Familie  der  ursprüngliche 
Ort;  und  sowohl  in  dieser  als  auch  hernach  von  ihr  aus  weiter 
entwickelt  sich  das  Bewußtsein  als  ein  gemeinschaftlich  durch 
Reiz  und  freien  Trieb  bestimmtes.  Unter  dem  letzten  nämlich  ver- 
stehen wir  das  Bestimmtsein  der  Vernunft  durch  sich  selbst  zum 
Zeitlichwerden,  unter  dem  ersteren  den  Einfluß,  den  die  Gemein- 


[111,2,488]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  II.  487 

sdiaft  im  weitesten  Sinne,  also  auch  nicht  nur  das  Wiederauf- 
genommensein der  eignen  früheren  Momente,  sondern  nicht  min- 
der auch  das  Gesetztsein  in  die  alle  Gemeinschaft  der  mensch- 
lichen Individuen  vermittelnde  Natur,  auf  dieses  Zeitlichwerden  in 
jedem  Moment  ausübt.  Betrachten  wir  nun  dieses  Werden  und 
Hervortreten  des  Bewußtseins  unter  den  beiden  entgegengesetzten 
Charakteren,  dem  einen,  vermöge  dessen  sich  darin  die  in  allen 
Einzelwesen  selbige,  und  dem  anderen,  vermöge  dessen  sich  da- 
rin die  in  jedem  zur  besonderen  Seele  gewordene  Vernunft  mani- 
festiert: so  finden  wir  beide  freilich  in  keinem  einzelnen  Erzeug- 
nis gänzlich  getrennt,  sondern  in  jedem  Produkt  des  einen  ist  auch 
der  entgegengesetzte,  wenn  auch  nur  auf  untergeordnete  Weise, 
mitgesetzt.  Denn  alles  Denken  im  weitesten  Sinne  des  Wortes, 
nicht  nur  den  Begriff,  sondern  auch  die  Vorstellung,  ja  sogar  das 
Bild  d.  h.  die  Insichaufnahme  des  einzelnen  Gegenstandes  darun- 
ter begriffen,  ist  allerdings  das  Werk  der  in  allen  selbigen  Ver- 
nunft, und  eben  dieses  die  Grundvoraussetzung  aller  geistigen 
Gemeinschaft.  Demohnerachtet  aber  ist  kein  einziger  Gedanke 
oder  Bild  in  dem  einen  ganz  dasselbe  wie  in  dem  andern,  weil  das 
Werden  derselben  in  jedem  zugleich  vermittelt  ist  durch  seine  Be- 
sonderheit, und  auch  diese  mit  auszusprechen  hat.  Ebenso  auf 
der  anderen  Seite  ist  das  zeitliche  Selbstbewußtsein  jedes  einzel- 
nen das,  was  ihn  ausschließlich  konstituiert,  und  deshalb  an  und 
für  sich  schlechthin  unübertragbar.  Dennoch  aber,  sofern  es  natur- 
gemäß auch  in  der  organischen  Erscheinung  der  einzelnen  her- 
austritt, gibt  es  auch  ein  Verständnis  desselben.  Nehmen  wir 
nun  auch  dieses  aus  dem  vorher  Gesagten  hier  herüber,  daß,  wenn 
dieses  Werden  des  Bewußtseins  in  den  einzelnen  auch  im  Sinn 
der  Gesamtvernunft  ein  Gut  sein  soll,  die  einzelnen  nicht  nur 
jeder  für  sich  sich  nebeneinander  als  Bewußte  entwickeln  dürfen, 
sondern  nur  in  einem  wahren  Zusammenwirken  und  Aufeinander- 
wirken: so  setzen  wir  für  die  eine  Tätigkeit  eine  Gemeinschaft 
des  Denkens  und  Sprechens,  worin  jedoch  die  Differenz  des  Pro- 


488  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  [111,2,  489] 

duktes,  und  also  auch  die  Hemmung  der  Gemeinschaft,  ins  Un- 
bestimmte zunehmen  kann.  Auf  dem  anderen  Gebiet  hingegen  ist 
die  Form  der  Gemeinschaft  die,  daß  nur  die  Abgeschlossenheit  des 
einzelnen  in  seinem  besonderen  Dasein  durch  die  Manifestation 
stufenweise  aufgehoben  wird.  Sind  also  auch  hier  Produktivität 
und  Gemeinschaft  durcheinander  bedingt,  indem  nur  so  die  Ver- 
nunft sich  als  Einheit  herstellt  aus  der  Zerspaltung  in  die  Ein- 
zelwesen: so  fordern  wir  auch  hier  eine  über  die  ganze  Erde  sich 
verbreitende  Wechselerregung  und  Mitteilung  des  Wissens,  und 
ebenso  eine  überall  versuchte  wechselseitige  Offenbarung  und  Er- 
regung der  zeitlichen  Selbstbewußtseinszustände,  des  Gefühls  so- 
wohl, das  heißt  der  mehr  passiven,  als  auch  der  freien  Verknüp- 
fung, das  heißt  der  mehr  aktiven.  Auch  für  diese  wie  für  die 
erste  Tätigkeit  ist  zwar  die  Familie  der  ursprüngliche  Ort;  aber 
auch  hier  wie  dort  fallen  wir  in  das  Chaotische  zurück,  wenn  die 
Gemeinschaft  nur  besteht  in  dem  unendlichen  Aggregat  der  für 
das  Verständnis  mannigfaltig,  aber  unbestimmt  gegeneinander  ab- 
gestuften Familien.  Die  Richtung  auf  ein  bestimmtes  Vereini- 
gen und  Absondern  in  größeren  Massen  findet  nun  auf  der 
einen  Seite,  nämlich  der  des  objektiven  Bewußtseins,  ihre  Be- 
friedigung in  derselben  ursprünglichen  Naturbegrenzung,  wie  die 
organisierende  Tätigkeit.  Denn  die  Verschiedenheit  der  Spra- 
chen, durch  welche  doch  allein  das  Denken  sich  mitteilt,  hängt 
ohnstreitig  zusammen  mit  der  klimatischen  und  volkstümlichen 
Verschiedenheit  der  Organisation.  Und  wie  der  menschliche  Geist 
sich  als  Bewußtsein  nur  manifestiert  in  der  Gesamtheit  der 
Sprachen:  so  ist  für  die  Gesamtheit  der  einzelnen  diese  Mani- 
festation nur  vollendet  in  der  Gemeinschaft  aller  Sprachen.  Je 
vollständiger  also  jede  alles  Sein  in  ihrem  Bezeichnungssystem 
ausdrückt;  und  je  genauer  sich  alle  anderen  Sprachen  in  jeder 
einzelnen  abspiegeln:  um  desto  voUkommner  ist  von  dieser  Seite 
die  Vernunft  in  ihrer  Einheit  hergestellt  aus  der  Geschiedenheit 


[111,2,490]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  II.  489 

der   Vereinzelung,   und  dies   ist  die   hierher  gehörige   Seite  des 
höchsten   Gutes. 

Weit  schwieriger  aber  ist  es,  die  Manifestation  des  Beson- 
deren in  seiner  Eigentümlichkeit  ebenso  zusammenzufassen.  Doch 
müssen  wir  versuchen  auch  dem  Hervortreten  des  Bewußtseins, 
sofern  sich  darin  die  eigentümliche  Besonderheit  ausdrückt,  seinen 
Gehalt  anzuweisen.  Im  zeitlichwerdenden  unmittelbaren  Selbst- 
bewußtsein nämlich  setzt  das  geistige  Einzelwesen  sich  selbst  als 
vereigentümlichend  das  Gemeinsame,  oder  als  verallgemeinernd 
das  Besondere,  indem  es  besondere  Seele  in  jedem  Moment  nur 
als  Vernunft  wird,  und  als  in  der  symbolisierenden  Tätigkeit  be- 
griffen zugleich  die  Einheit  des  Seins  und  Bewußtseins  oder 
das  absolute  Schlechthinige  in  sich  trägt,  das  heißt,  es  prägt 
sich  aus  als  sittliches  und  frommes  Bewußtsein.  Und  wie  Zeit- 
liches nicht  ohne  Ungleichheit  ist,  auch  hierin  also  Ungleichheit 
sein  muß :  so  bezeichnet  es  sich  selbst  als  in  dieser  Funktion  mehr 
oder  minder  gefördert  oder  gehemmt.  Aber  wie  dieses  höhere 
Leben  sich  in  jedem  Einzelwesen  erst  aus  den  mehr  animalischen 
Zuständen  entwickelt:  so  wird  es  auch  nur  zugleich,  indem  es 
diese  ergreift  und  beherrscht;  und  diese  selbst  geben  die  unmittel- 
barste Kunde  von  ihm.  Daher  ist  es  ein  und  dasselbe  Gebiet, 
in  welchem  die  sinnlicheren  und  die  geistigeren  Lebenszustände 
der  einzelnen  als  mehr  oder  weniger  eins  füreinander  mitempfind- 
bar und  erregend  sind;  und  die  Kunst,  welche  hier  ihren  eigent- 
lichen Ort  hat,  vermittelt  in  ihren  verschiedenen  Verzweigungen 
die  Gemeinschaft  des  Daseins  für  diese  ganze  Gebiet.  Denn 
nur  in  dem,  was  wir  ein  Kunstwerk  nennen,  verallgemeint  das 
einzelne  Leben  seine  Besonderheit  vollkommen,  oder  vereigen- 
tümlicht  die  in  allen  selbe  Geistigkeit  auf  das  bestimmteste.  Aber 
wie  diese  sittliche  Funktion  ganz  auf  der  Besonderheit  ruht:  so 
macht  sich  in  ihr  auch  diese  vorzüglich  geltend;  die  Naturbegren- 
zungen treten  hier  mehr  zurück,  und  überall  tritt  zunächst  die 
Form  des  wahlverwandtschaftlichen  Anschließens  an  Einzelwesen 


490  BegriffdeshochstenGutes.il.  [111,2,491] 

hervor,  die  auf  eine  ausgezeichnete  Weise  in  das  Geheimnis  einer 
dieser  Symbolisierungen  eingedrungen  sind.  Diese  Konkretionen 
sind  es,  die  wir  Schulen  nennen;  sie  sind  ursprünglich  einhei- 
misch in  der  Kunst,  aber  auch  in  der  Wissenschaft  repräsentieren 
sie  den  untergeordneten  Einfluß  des  Individuellen.  Und  hier  wie 
dort  teilen  sie  auch  die  Vergänglichkeit  des  individuellen  Lebens; 
denn  ihr  Zusammenhang  kann  nur  noch  eine  Zeitlang  fort- 
dauern, wenn  derjenige  nicht  mehr  einwirkt,  der  ursprünglich  mit 
seiner  anbildenden  Kraft  in  die  Masse  einschlug.  Diese  Dauer 
erweitert  sich  nach  dem  Maß  der  Kraft  des  zentralen  Indivi- 
duums; aber  nicht  in  dem  Gebiet  des  Ausdrucks  und  der  Dar- 
stellung, also  nicht  in  irgendeinem  einzelnen  Kunstzweig,  son- 
dern nur  für  die  innere  Seite  der  Aufgabe,  alle  Zustände  des 
Einzellebens  mit  dem  schlechthin  höchsten  Bewußtsein  zu  durch- 
dringen, läßt  sich  denken  —  vorausgesetzt,  die  Vernunft  könne 
als  absolut  in  einem  Einzelwesen  leben  —  daß  ein  solcher  auch 
einen  zuletzt  das  ganze  Geschlecht  dominierenden  Lebenstypus  her- 
vorrufen könne,  und  durch  diesen  wahlverwandtschaftlichen  Zu- 
sammenhang alle  Sonderung  für  dieses  Gebiet  aufheben,  so  daß 
durch  denselben  jeder  mit  jedem  vermittelt  ist.  Auf  der  andern 
Seite  bleibt  allerdings  der  Ausdruck,  ohne  den  auch  das  geistigste 
Selbstbewußtsein  nicht  kann  aus  sich  herauswirken  und  mitge- 
teilt werden,  —  sei  es  nun  der  am  meisten  sinnliche  und  un- 
mittelbare durch  die  bewegte  LeibHchkeit  in  Ton  und  Gebärde, 
oder  der  durch  Zusammenstellung  von  Bildern  und  durch  Fol- 
gen von  Gedanken  —  immer  abhängig  von  der  Verwandtschaft 
der  Organisation  und  der  Sprache;  und  so  bleibt,  wenn  die 
Kunst  in  allen  ihren  Zweigen  wesentlich  volkstümlich  ist,  auch 
die  Religion,  die  sich  nur  durch  die  Kunst  ausdrückt  und  mit- 
teilt, mehr  oder  weniger  hierdurch  bedingt.  Aber  es  liegt  in  der 
Natur  der  Sache,  daß  sich  dennoch  dieser  Teil  des  höchsten 
Gutes  durch  ein  ganz  anderes  Verhältnis  von  Sonderung  und 
Gemeinschaft  unterscheidet  von  den  übrigen.    Denn  auf  der  Seite 


[111,2,  492]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  II.  491 

der  organisierenden  Tätigkeit  tritt  der  Staat  durchaus  herrschend 
hervor.  In  der  Volkstümlichkeit  der  Anbildung  und  des  Rechts- 
zustandes ist  die  sittliche  Befriedigung  ursprünglich  gegeben;  und 
alles  Streben  über  dieses  Gebiet  hinaus,  sowohl  das  mehr  mate- 
rielle des  Verkehrs,  als  auch  das  nach  einem  dem  Rechtszustand 
wenigstens  ähnlichen  Verhältnis  der  Völker,  welches  das  forma- 
lere Streben  ist,  bleibt  immer  bedingt  durch  den  Staat,  und  nie 
könnte  die  Aufgabe  gestellt  werden,  die  Staaten  aufzulösen,  um 
eine  unbegrenzte  Gemeinschaft  des  Verkehrs  zu  errichten.  Ähnlich 
verhält  es  sich  mit  dem  objektiven  Bewußtsein.  Hier  ist  freilich 
die  Identität  des  gedachten,  so  oft  dasselbe  vernommen  wird,  die 
Grundvoraussetzung,  und  alle  Mitteilung,  mithin  auch  alle  Ent- 
wicklung des  Denkens,  ruht  auf  diesem  Glauben:  aber  er  ver- 
spottet nur  sich  selbst,  wenn  er  über  die  Grenze  der  Sprache  hin- 
ausschreitet;  und  bald  wird  eingesehen,  daß  sich  das  Wissen  in 
jeder  Sprache  als  ein  besonderes  entwickelt.  Zu  dem  wesentlichen 
Erkennen  verhält  sich  jedes  von  diesen  nur  wie  der  gebrochene 
Strahl  zu  dem  Licht  an  sich;  aber  das  zeitlose  wesentliche  Erken- 
nen erscheint  nur  wirklich  in  dieser  Mannigfaltigkeit  des  Gebroche- 
nen. Darum  ist  und  bleibt  das  Wesenthche  in  dieser  Seite  des 
höchsten  Gutes  die  möglichst  vollständige  Entwicklung  des  Wis- 
sens in  jeder  Sprache.  Zugleich  aber  entspricht  dem  über  die 
Grenzen  des  Staates  hinausgehenden  Verkehr  hier  die  Vielsprachig- 
keit der  einzelnen  und  die  daraus  entstehende,  immer  nur  approxi- 
mative Aneignung  des  in  anderen  Sprachen  Gedachten.  Den 
Bestrebungen  aber,  ein  Völkerrecht  zu  gewinnen,  entspricht  die 
Richtung  auf  eine  allgemeine  Sprachlehre,  welche  zugleich  alle 
besonderen  aus  sich  entwickelte,  und  dadurch  jede  für  alle  auf- 
schlösse, so  daß  auch  hier  die  auf  die  innere  Einheit  zurückwei- 
sende gemessene  Mannigfaltigkeit  als  das  Höchste  gesetzt  ist. 
Sehen  wir  nun  noch  einmal  auf  die  individuelle  Seite  der  organi- 
sierenden Tätigkeit  zurück:  so  ist  auch  dort  eine  unbegrenzte  Ge- 
meinschaft der  Anschauung  nur  als  eine  leere  Möglichkeit  gesetzt. 


492  Begriff  des  höchsten  Gutes.  II.  [111,2,493] 

Die  Familie  schon  erschließt  andern  ihr  Eigentum  gastfreundlich 
nur  unter  der  Voraussetzung,  daß  ihre  Eigentümlichkeit  verständ- 
lich werde  aus  der  gemeinsamen  lokalen  oder  volkstümhchen. 
Von  wo  aus  aber  die  Gemeinschaft  am  meisten  gefördert  wird 
auf  diesem  Gebiete,  ob  von  der  öffentlichen  Gastfreundschaft  aus 
oder  von  der  der  einzelnen,  das  hängt  vorzüglich  davon  ab,  ob 
in  einer  Gesamtheit  das  Privatleben  vorherrschend  ist  oder  das 
öffentliche.  In  allen  diesen  drei  Gebieten  also  ist  eine  Mehrheit 
bestimmter  Gemeinschaftskreise  das  Festorganisierte,  welchen,  um 
eine  Seite  des  höchsten  Gutes  zu  realisieren,  nur  noch  die  Rich- 
tung sich  gegeneinander  auch  zu  vermitteln  einwohnen  muß, 
wenn  auch  in  der  Wirklichkeit  dieser  Zusammenhang  nur  frag- 
mentarisch zustande  kommt.  Hingegen  die  Offenbarung  der 
Zustände  des  höheren  Selbstbewußtseins,  wenn  sie  einmal  den 
patriarchalischen  Kreis  der  Familie  überschritten  hat,  strebt  sie 
auch  gleich  die  Gesamtheit  an.  Gottheiten  verschiedenen  Ur- 
sprungs fließen  zusammen,  Mythologien  bewegen  sich,  und  viele 

r'kleinere  Kreise  werden  innerhalb  Eines  großen  vereinigt.  Blei- 
ben hingegen  Religionen  und  Kulte  mit  dem  ihnen  angehörigen 
Kunstgebiet  in  den  Grenzen  eines  Volks  und  einer  Sprache:  so 
scheint  das  eine  Andeutung,  daß  das  persönliche  Selbstbewußtsein 
auch  erst  von  dieser  höheren  Einheit  durchdrungen  ist,  aber  die 
höchste,  die  des  Seins  schlechthin,  noch  nicht  in  sich  aufgenom- 

^  men  hat.  Und  so  scheint,  genauer  betrachtet,  auch  dieses  beides  in 
der  Tat  zusammenzugehören,  daß  das  Einzelwesen  sich  dieses 
Schlechthinigen  in  sich  bewußt  wird,  und  daß  es  auch  allen  ohne 
Unterschied  zumutet,  durch  die  Offenbarung  des  Zeitlichwerdens 
dieses  Schlechthinigen  in  ihm  mit  aufgeregt  zu  werden.  Daher, 
wenn  wir  das  Verbundensein  verschiedener  Völker  in  Einen  Staat 
nur  als  einen  Durchgangszustand  ansehen  können,  jedes  Bestre- 
ben aber,  einen  Universalstaat  aufzurichten,  für  Unsinn  erklären; 
wenn  wir  ebenso  auch  den  Gedanken,  ein  einiges  System  des  Wis- 
sens trotz  der  Diversität  der  Sprache  geltend  zu  machen,  als  eine 


IUI, 2,  494]  Begriff  des  höchsten  Gutes.  II.  493 

falsche  Tendenz  bald  wieder  aufgeben:  so  finden  wir  es  dennoch 
natürlich,  daß  jede  Religion,  die  auf  einem  kräftigen  Bewußtsein 
ruht,  auch  darauf  ausgeht,  sich  allgemein  zu  verbreiten.  Ja  wir 
sehen  hier  die  Vollendung  nur  darin,  daß  wirklich  eine  derselben 
in  der  Weltgeschichte  diesen  Preis  erreiche,  wenn  sie  sich  dann 
auch,  was  ihre  Darstellungsmittel  betrifft,  wieder  auf  mancherlei 
Weise  teilen  muß;  so  daß  hier  offenbar  ein  umgekehrtes  Ver- 
hältnis wie  dort  stattfindet,  indem  hier  nur  die  Zusammenfassung 
von  allem  unter  einem  als  das  feststehende  gelten  kann,  und 
dieser  alle   Teilung  definitiv  nur  untergeordnet  sein   darf. 

Und  alles  hier  bestimmter  Dargelegte  ist  auch  der  Inhalt  der 
weniger  strengen  Ausdrücke,  mit  welchen  die  erste  Abhandlung 
schloß.  Denn  das  Himmelreich  ist  nur  als  Eine,  alle  einzelnen 
gleichsam  ineinander  auflösende  Gemeinschaft  des  tiefsten  Selbst- 
bewußtseins mittelst  geistiger  Selbstdarstellung  in  ernsten  Kunst- 
werken gesetzt;  aber  die  Vollständigkeit  und  bezugsweise  dann 
auch  Unveränderlichkeit  des  Wissens  getrauten  wir  uns  nicht 
ebenso  als  Einheit,  sondern  nur  in  der  Wechselwirkung  einer 
nebeneinander  fortbestehenden  Mehrheit  zu  denken.  Unter  dem 
goldnen  Zeitalter,  wie  es  mythisch  der  Herrschaft  des  Menschen 
über  die  Natur  vorangeht,  wird  allerdings  nur  eine  Zulänglich- 
keit derselben  für  die  unentwickelten  Zustände  des  Menschen 
gedacht.  Wir  haben  aber  den  Ausdruck  genommen,  wie  er  ebenso 
auch  die  Beendigung  des  Kampfes  mit  der  Natur  um  die  Herr- 
schaft bedeuten  kann;  und  es  soll  darin  gedacht  werden,  daß 
überwiegend  die  gestaltende  Tätigkeit  nur  für  den  gemeinsamen 
Genuß  des  sich  eigentümlich  differentiierenden  geistigen  Seins 
in  Kunst  und  Spiel  verwendet,  alles  aber,  sofern  es  dem  Bedürf- 
nis dienen  soll,  nur  durch  die  von  dem  Wink  des  Menschen 
abhängig  gewordenen  Naturkräfte  verrichtet  wird.  Der  ewige 
Friede  setzt  eine  Mehrheit  politischer  Vereine  voraus,  aber  unter 
ihnen  Zusammenstimmung  und  freie  Gemeinschaft,  um  die  Herr- 
schaft über  die  Natur  zu  vervollständigen  und  stetig  zu  erneuern. 


494  Begriff  des  höchsten  Gutes.   II.  [111,2,  495] 

Daß  aber  in  diesen  Resultaten  von  der  Wirksamkeit  der  Vernunft 
in  der  menschlichen  Leiblichkeit  nicht  sollte  das  höchste  Gut 
des  Menschen  auf  dieser  sich  ihn  immer  wieder  zum  Herrn  ge- 
bärenden Erde  ausgesprochen,  oder  in  denselben  nicht  alles  ent- 
halten sein,  was  zu  dem  aus  sich  herausgehenden  und  in  sich 
zurückkehrenden  Leben  des  Geistes  in  dieser  Form  gehören  kann, 
dieses  auch  nur  zweifelhaft  zu  machen,  dürfte  schwerlich  gelingen, 
außer  insofern  die  Vernunft  selbst  und  ihre  Tätigkeit  irgend- 
wie geleugnet  würde. 


über  den  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.*) 

Wir  finden  überall,  namentlich  auch,  um  nur  bei  dem  Nächsten 
stehen  zu  bleiben,  auf  dem  Gebiet  unserer  neu-europäischen  Bil- 
dung, eine  Tätigkeit  des  Staates  in  der  Erziehung  seiner  künftigen 
Bürgen  Aber  bald  ist  sie  fast  zu  nichts  herabgesunken,  bald 
wieder  fast  zu  seiner  wichtigsten  Angelegenheit  erhoben,  so  daß 
er  strebt,  sich  ausschließend  dieses  Geschäft  anzueignen,  und  auch 
diejenigen,  denen  es  am  natürlichsten  obliegt  und  die  ein  früheres 
und  größeres  Recht  dazu  zu  haben  scheinen  als  er,  nur  seinen 
Bestimmungen  zu  unterwerfen.  Wir  finden  Zeiten  in  der  Ge- 
schichte unserer  neuen  Welt,  wo  Völker  nur  dadurch  aus  einer 
langen  Dumpfheit  und  Roheit  zu  erwachen  scheinen,  daß  ihre 
Regierung  die  Zügel  dieses  wichtigen  Geschäftes  in  die  Hand 
nimmt  und  durch  andere  Mittel  in  dem  jüngeren  Geschlecht  die 
gewünschten  höheren  Kräfte  aufzuregen  sucht,  welche  das  ältere 
auf  dem  gewöhnlichen  Wege  der  häuslichen  Erziehung  deshalb 
nicht  zu  erwecken  vermag,  weil  sie  in  ihm  selbst  nicht  vorhanden 
oder  erstorben  sind.    Aber  es  zeigt  sich  hier  und  da  wohl  auch 


*)  Gelesen   in  der  Plenarsitzung  der  Königlichen   Akademie   der  Wissen- 
schaften am  22.  Dezember  i8l4.    Jonas. 


496  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,  228] 

das  Entgegengesetzte,  daß  Völkern  eben  dadurch  das  Joch  der 
Knechtschaft  erschwert  und  verlängert  wird,  daß  die  Regierung 
mit  gleich  ehernem  Zepter  auch  die  Scharen  der  Unmündigen 
regiert  und  gewaltsam  hindert,  daß  sich  irgend  etwas  anderes  in 
ihnen  entwickele,  als  die  Fertigkeit,  dasjenige  am  angestrengtesten 
zu  tun  und  am  geduldigsten  zu  leiden,  was  ein  vielleicht  tyran- 
nischer und  dem  innersten  Geiste  des  Volkes  ganz  fremder  Wille 
sie  will  tun  und  leiden  machen.  Wenn  in  Fällen  der  ersten  Art 
jeder  Menschenfreund  sich  freut,  das  große  Geschäft  der  geisti- 
gen Entwickelung  in  einem  größeren  Stil  betrieben  und  es 
schneller  gedeihen  zu  sehen,  als  ohne  Hinzutreten  der  öffent- 
lichen Gewalt  möglich  wäre,  und  wenn  die  einzelnen  Stimmen, 
welche  sich  vielleicht  warnend  erheben,  daß  auch  hier  zwar  ein 
Nützliches  sei,  aber  ein  solches  vielleicht,  das  doch  nicht  könne 
für  gerecht  gehalten  werden,  und  also  auch  zu  besorgen  stehe, 
das  ungerechte  Gut  werde  nicht  gedeihen,  und  die  im  Treibhaus 
des  Staates  erzwungene  Bildung  werde  eben  deshalb  nicht  Früchte 
tragen,  weil  der  Segen  der  Erziehung  nur  da  sei,  wo  das  natür- 
liche Recht  dazu  sich  finde,  und  weil  der  Mensch  sich  nur  das 
lebendig  aneigne,  wozu  der  Grund  gelegt  werde  in  dem  Heilig- 
tume  des  väterlichen  Hauses,  oder  was  wenigstens  mit  der  väter- 
lichen und  mütterlichen  Wirksamkeit  zu  seiner  Ausbildung  in 
freier  und  unmittelbarer  Übereinkunft  stehe,  wenn  diese  Stim- 
men, sage  ich,  in  einem  solchen  Falle  tadelnd  nur  als  Vorurteile 
gewürdiget  werden,  welche  das  Alte  beschützen  wollen,  oder  als 
fjgensinn  der  Theorie,  über  welchen  das  Leben  sich  hinweg- 
setzen muß:  so  sind  die  Fälle  der  zweiten  Art  mehr  geeignet, 
die  Frage  zur  Sprache  zu  bringen,  ob  es  denn  in  der  Natur  der 
Sache  liege,  daß  der  Staat  auch  das  Geschäft  der  Erziehung 
beherrsche  und  ordne,  und  inwiefern.  Denn  besonders,  wenn 
die  Tyrannei  mit  ihrem  erstickenden  Gewicht  auf  der  ganzen 
Masse  eines  unglücklichen  Volkes  lastet,  beruhigen  wir  uns  nicht 
leicht  nur  damit,  daß  eben  jede  einzelne  gewalttätige  Unter- 
nehmung  ein   Mißbrauch  sei   der  an  sich   rechtmäßigen  Gewalt, 


[111,3,  229]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  497 

sondern  wir  forschen  genauer,  ob  auch  überall  ein  Recht  da  sei, 
welches  gemißbraucht  werden  könne,  und  ob  nicht  wenigstens 
dieses  Recht  nur  mit  seinem  bestimmten  Maße  zugleich  könne 
gedacht  werden,  denn  wir  wünschen,  daß  die  Ausweichung  nicht 
nach  Belieben  auch  als  ein  Irrtum  könne  angesehen  werden, 
sondern  daß  sie  sich  notwendig  als  ein  vollkommenes  und  be- 
wußtes Unrecht  darstellen  müsse.  Wir  selbst  und  die  meisten 
andern  deutschen  Stämme,  und  die  vielen  slawischen  von  den 
Sprößlingen  deutscher  Fürstenhäuser  regierten  Völker  befinden 
uns  in  dem  glücklichen  Falle  eines  seit  mehreren  Geschlechtem 
fortwirkenden  höchst  förderlichen  Einflusses  der  Regierung  auf 
die  Erziehung  des  Volkes,  und  je  mehr  jedermann  und  besonders 
die  Freunde  und  Beförderer  der  Wissenschaft  hieran  teilnehmen, 
je  mehr  wir  uns  mit  Untersuchungen  beschäftigen  über  die  besten 
Methoden,  nach  denen  die  Regierung  ihre  Absicht  verfolgen 
müsse,  das  Volk  durch  die  Erziehung  zu  veredeln:  desto  mehr 
scheint  uns  die  andere  Frage,  worauf  denn  das  Recht  des  Staates 
beruhe,  sich  das  Geschäft  der  Erziehung  anzumaßen,  entweder 
sehr  unnütz  oder  auch  völlig  abgemacht.  Indem  ich  sie  wieder 
zur  Sprache  bringe,  will  ich  mich  also  zunächst  halten  an  das 
Interesse  für  den  vorliegenden  Fall,  wieviel  tiefer  noch  nämlich 
das  französische  Volk  würde  gesunken  sein,  wenn  nur  ein  paar 
Geschlechter  lang  das  napoleonische  Erziehungssystem  wäre 
durchgeführt  worden;  daran  sich  dann  leicht  die  Vermutung 
schließt,  ob  nicht  auch  die  Irrtümer,  denen  reine  und  wohl- 
wollende Regierungen  bei  ihrem  Einfluß  auf  die  Erziehung  wie 
alles  Menschliche  ausgesetzt  sind,  doch  weniger  gefähdich  sein 
werden,  wenn  man  mit  der  Quelle,  aus  welcher  der  Beruf  des 
Staates  zur  Erziehung  entspringt,  auch  das  Gebiet  erkennt,  worin 
derselbe  eingeschlossen  ist:  und  so  kommen  wir  darauf  zurück, 
daß  auch  wohl  jene  einzelnen  Stimmen  eine  Wahrheit  haben 
mögen,  welche  sich  gegen  den  Einfluß  des  Staates  auf  die  Er- 
ziehung im  allgemeinen  erklären,  eben  inwiefern  er  sich  als  einen 
allgemeinen  will  geltend  machen.  Die  Aufgabe  selbst,  auf  die  es 

Schleiermacher,  Werke-     I.  32 


498  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,  230] 

ankommt,  wäre  also  diese,  aus  den  Gründen,  worauf  der  Beruf  des 
Staates  zur  Erziehung  beruht,  auch  die  Grenzen  dieses  Berufs  zu  er- 
kennen. Und  wenn  die  Praxis  sagen  möchte,  die  Auflösung  er- 
gebe sich  jedesmal  von  selbst,  indem  doch  nirgend  der  Staat 
den  Beruf  der  Eltern  zur  Erziehung  aufhöbe  und  beide  Teile  sich 
immer  den  Umständen  nach  darüber  verständigten:  so  kann  die 
Theorie  sich  nicht  dabei  beruhigen,  die  Sache  auf  ein  solches 
Geratewohl  auszusetzen,  zumal  in  ihrem  eigenen  Gebiet  schon 
ganz  entgegengesetzte  Ansichten,  welche  die  Teilhabung  des  einen 
von  beiden  völlig  ausschließen,  vorgekommen  sind.  Denn  be- 
kannt ist  die  platonische  Theorie,  nach  welcher  die  Kinder  schon 
von  Geburt  an  Kinder  des  Staates  sind,  und  die  persönliche  Be- 
ziehung ganz  in  Schatten  gestellt,  ja  möghchst  ignoriert  und  ver- 
borgen gehalten  wird,  so  daß  eigentlich  alle  Mütter  nur  Ammen 
und  Kinderfrauen,  und  alle  Väter  nur  Vormünder  und  Versorger 
sind.  Und  schön  und  lachend,  ja  man  kann  sagen,  das  festeste 
Bollwerk  der  persönlichen  Freiheit  und  der  individuellen  Ent- 
wickelung,  ist  auf  der  andern  Seite  die  Theorie,  daß  das  Haus, 
nicht  freilich  als  Werkstatt,  aber  als  Sitz  der  Familie,  das  Heilig- 
tum ist,  in  welches  die  öffentliche  Gewalt  unter  keinem  Verwände 
unaufgefordert  eindringen  darf.  Die  Kinder  sind  aber  natürlicher- 
weise im  Hause,  bis  wenigstens  der  Zeitpunkt  ihrer  ersten  Mündig- 
keit eintritt,  und  sie  anfangen,  an  den  Elementen  des  öffentlichen 
Lebens  teilzuhaben  und  sich  zur  Gründung  eines  eigenen  Hauses 
vorzubereiten.  Wie  die  erste  dieser  beiden  Ansichten  allen  selb- 
ständigen Einfluß  der  FamiHe  auf  die  Erziehung  aufhebt,  so  die 
andere  allen  ursprünglichen  Einfluß  des  Staates.  Zwischen  bei- 
den also  liegen  alle  andern  beides  verbindenden  Theorien  und 
die  gesamte  Praxis,  die,  da  niemals  eines  von  jenen  beiden  Ex- 
tremen ist  realisiert  worden,  auf  verschiedene  Weise  sich  hier 
dem  einen  und  dort  dem  andern  nähert.  Meine  Absicht  geht 
eigentlich  nur  dahin,  eben  diese  mannigfaltige  Praxis  der  Staaten 
nicht  als  ein  unbestimmt  Fließendes  aufzufassen,  das  sich  nur 
durch  Willkür  und  Zufall  hier  so,  dort  anders  gestaltet,  sondern 


[111,3,  231]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  499 

bestimmte  Hauptzüge  in  diesen  verschiedenen  Gestaltungen  und 
Gründe  dazu  nachzuweisen.  Ich  will  weder  Vorschriften  geben, 
wie  weit  der  Staat  seinen  Einfluß  auf  die  Erziehung  ausdehnen 
soll  und  wohin  nicht,  noch  historische  Untersuchungen  anstellen, 
weshalb  in  dem  einen  Staat  und  zu  der  einen  Zeit  diese  Ansicht 
geherrscht  habe,  anders  aber  eine  andere:  sondern  zwischen 
diesen  beiden  Aufgaben  schwebend  möchte  ich  nur  ein  Fach- 
werk aufstellen  für  diese  Untersuchungen,  um  nämlich  die  Staaten 
selbst  und  die  Gesichtspunkte,  von  denen  sie  haben  ausgehen 
können,  zu  klassifizieren,  und  damit  zugleich  ein  Mittel  zur  Ver- 
ständigung über  die  verschiedenen  Theorien,  wie  nämlich  die 
eine  vielleicht  unter  solchen  Umständen  anwendbar  sein  könne, 
und  die  andere  unter  anderen.  Hierzu  weiß  ich  aber  kein  anderes 
Verfahren  als  dieses.  Staat  und  Erziehung  sind  zwei  Begriffe, 
welche  an  und  für  sich  nicht  zusammenfallen;  denn  der  Staat 
ist  ein  Verhältnis  der  erwachsenen  Menschen  unter  sich,  und  in 
dem  Begriff  liegt  keine  Beziehung  darauf,  woher  die  Erwachsenen 
kommen ;  und  Erziehung  ist  ein  Verhältnis  der  Generationen  unter 
sich,  indem  die  eine  erzieht  und  die  andere  erzogen  wird,  und 
die  Erziehung  kann  sehr  gut  gedacht  werden  ohne  den  Staat 
und  vor  ihm.  Auch  würden  wir  zu  hoch  steigen  müssen  und  uns 
zu  weit  entfernen  von  der  Wirklichkeit  der  Dinge,  wenn  wir  zu 
einem  gemeinschaftlichen  höheren  Begriff  aufsteigen  wollten.  Also 
bleibt  nur  übrig,  daß  wir  beide  als  außereinander  betrachten  und 
fragen:  Gibt  es  etwas  und  was  gibt  es  im  Staat,  wodurch  er 
von  der  Erziehung  viel  oder  wenig  an  sich  reißt?  und  gibt  es 
etwas  und  was  ist  es  in  der  Erziehung,  wodurch  sie  dem  Staat 
oder  einer  bestimmten  Vorrichtung  desselben  anheimfällt?  Be- 
stätigt und  bestimmt  sich  gegenseitig,  was  wir  von  beiden  Punkten 
aus  finden:  so  werden  wir  dann  wenig  gegen  unsere  Unter- 
suchung einwenden   können. 

Freilich  scheint  hier  unser  Vorhaben  gleich  anfänglich  in  die 
Unendlichkeit  sich  ausdehnen  zu  müssen,  wenn  doch  das  erste, 
was  wir  gebrauchen,  ein  Begriff  ist  vom  Staat,  dieser  aber  noch 

32* 


500  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,  232] 

ganz  streitig  ist  unter  denen,  welche  über  diese  Gegenstände 
philosophieren.  Wo  träfe  man  aber  nicht  auf  dieses  Übel,  wenn 
man  aus  irgendeinem  Gebiet  der  realen  Wissenschaften  einen 
einzelnen  Gegenstand  der  Untersuchung  herausnimmt?  Mit  den 
ersten  Schritten  ist  man  bei  den  Prinzipien,  und  somit  auch  auf 
dem  Gebiet  eines  unendlichen  Streites.  Und  vielleicht  können 
wir  ein  Großes  gewinnen  mit  einem  einzigen  Schritte.  Man  kann 
nämlich  die  verschiedenen  Begriffe  vom  Staat  wohl  auf  zwei 
Klassen  zurückführen.  Die  eine  ist  die  negative,  indem  nämlich 
als  das  eigentliche  handelnde  Prinzip  auf  diesem  ganzen  Gebiet 
des  gemeinsamen  Lebens  der  Trieb  und  die  Willkür  der  einzelnen 
gesetzt  wird,  und  der  Staat  nur  das  Nebeneinanderbestehen  dieser 
Triebe  und  Freiheiten  sichern  und  den  Mißbrauch  verhüten  soll. 
Einem  Staate,  der  ein  solcher  sein  will,  ziemt  es  offenbar  nicht, 
sich  der  Erziehung  anzumaßen;  oder  wenn  er  es  tut,  so  darf  es 
nur  interimistisch  sein,  weil  er  nämlich  sein  Geschäft  noch  nicht 
hinlänglich  versteht,  und  er  verspricht  aufzuhören  mit  der  Er- 
ziehung, sobald  er  selbst  wird  weiter  fortgeschritten  oder  besser 
erzogen  sein.  Denn  ein  solcher  muß  auch  die  Freiheit  der 
einzelnen  als  die  eigentlich  positive  Kraft,  der  er  dient,  möglichst 
wenig  beschränken;  und  wie  barbarisch  müßte  er  sein,  wenn 
er  nicht  sähe,  daß  eben  dieses  eine  der  teuersten  und  genuß- 
reichsten Äußerungen  der  Freiheit  ist,  wie  die  Eltern  ihre  Kinder 
sich  anbilden  und  ihr  innerstes  Dasein  in  ihnen  zu  vervielfältigen 
suchen,  und  daß  er  seinem  Beruf  wenig  entspricht,  wenn  er 
zwar  seinen  Untertanen  möglichste  Freiheit  lassen  will  in  ihrem 
Verfahren  mit  den  Dingen,  mit  denjenigen  aber,  die  ihnen  ja 
viel  eigentümlicher  angehören  als  irgend  Dinge,  welche  sie  um 
sich  versammeln  können,  wolle  er  sie  nicht  verfahren  lassen  nach 
der  Lust  ihres  Herzens  und  nach  ihrer  Vorstellung  von  ihrem 
eigenen  Vorteil.  Darf  ihm  gleich  ein  wenig  bange  sein,  daß  bei 
so  ungestörter  Freiheit  in  der  Erziehung  viele  Menschen  ganz 
verdorben  würden  für  das  ganze:  so  darf  er  sich  doch  nur  vor- 
behalten ihr  Verderben,  wenn  es  sich  hernach  auf  eine  strafbare 


[111,3,  233]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  501 

Weise  äußert,  alsdann  zu  zügeln  und  zu  lähmen,  und  muß  ver- 
trauen, daß  doch  menschlicher  Wahrscheinlichkeit  nach  auf  diesem 
Wege  jedes  künftige  Geschlecht  nicht  nur  nicht  schlechter  werde 
dargestellt  werden  als  das  vorige,  sondern  auch  daß  seine  Unter- 
tanen bei  möglichst  freiem  Verkehr  und  ungestörtem  Gedanken- 
wechsel schon  von  selbst  zu  einer  bessern  Erziehung  gelangen 
werden.  Freilich  kann  es  ihm  bequemer  sein,  die  Menschen  sich 
zahmer  zu  erziehen,  als  die  Roheit,  welche  besser  verhütet  worden 
wäre,  hernach  durch  Strafen  zu  bändigen.  Aber  diese  Bequem- 
lichkeit ist  ihm  nicht  erlaubt;  denn  mit  demselben  Recht  müßte 
ihm  auch  manches  andere  bequemer  gewesen  sein,  zu  bilden 
und  positiv  zu  bestimmen  als  bloß  zu  verwahren  und  abzu- 
wehren; und  er  würde  hier  auf  dem  entscheidenden  Punkt  um- 
kehren und  aus  einem  negativen  ein  positiver  werden.  Soll  er 
sich  also  treu  bleiben:  so  muß  ihm  seine  Strafgesetzgebung  nach 
innen  zu  alles  sein ;  durch  diese  muß  er  allem  zu  steuern  wissen, 
und  dabei  alles  Falsche  und  Mangelhafte  der  Erziehung  ruhig 
gewähren  lassen.  Ganz  anders  freilich  ist  es,  wenn  der  Staat 
selbst  nicht  bloß  als  eine  hemmende,  sondern  als  eine  selbst 
hervorbringende,  bildende,  leitende  Kraft  angesehen  wird;  und 
diese  Voraussetzung  sieht  nicht  aus,  als  wenn  wir  sie  ebenso 
mit  einem  Strich  abmachen  könnten,  sondern  als  käme  es  darauf 
an,  was  nun  der  Zweck  des  Staates  sei,  um  zu  bestimmen,  wie 
nahe  demselben  die  Erziehung  liege  oder  wie  fern.  Doch  viel- 
leicht können  wir  auch  so  um  die  schwierige  und  hier  nicht 
füglich  auszumachende  Frage  über  den  Zweck  des  Staates  herum- 
kommen, wenn  wir  uns  gefallen  lassen,  diesen  Zweck  ganz  all- 
gemein zu  setzen,  daß  alles,  was  der  Mensch  auf  Erden  zu  tun 
hat,  durch  den  Staat  solle  hervorgebracht  werden,  und  er  die 
Gesamttätigkeit  des  Menschen  bilden  und  leiten.  Dann  würde 
die  erste  und  strengste  Form  sein,  daß  der  Staat  alles,  was  er 
hervorbringen  soll,  selbst  täte,  alle  einzelnen  aber  nur  mechanisch 
in  seinem  Dienste  wären.  Nächstdem  aber  ließe  sich  auch  denken, 
daß    er    die   einzelnen    zu    demjenigen,   was   getan   werden   soll, 


502  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,  234] 

erziehe  und  unterrichte,  wenn  dieses  überhaupt  möglich  ist,  da- 
mit er  der  mechanischen  Korrektion  und  Aufsicht  im  einzelnen 
überhoben  sei.  Man  könnte  auf  diese  Weise  sagen,  daß  für 
einen  solchen  Staat  alles  andere  nur  Sache  der  Not  sei  und 
zwischen  eintretendes  Wesen,  die  Hauptsache  aber,  daß  er  die 
Menschen  für  die  Geschäfte  des  Staates  erziehe,  und  habe  er 
dieses  vollkommen  erreicht:  so  brauche  er  es  nur  gleichmäßig 
fortzutreiben  und  könne  in  demselben  Maß  alles  andere  ruhen 
lassen.  Ist  nun  der  Zweck  des  Staates  allgemein:  so  gehört  die 
Erziehung  als  eine  natürliche  Tätigkeit  des  Menschen  auch  dazu, 
und  der  Staat  wird  zuerst  unmittelbar  selbst  erziehen,  demnächst 
aber  auch  einzelne  zum  Erziehen  immer  kräftiger  und  sicherer 
bilden,  und  jenes  durch  dieses  allmählich  beschränken.  Ist  aber 
feein  Zweck  nicht  so  allgemein:  so  bleibt  dennoch  die  Form 
wesentlich  dieselbe,  und  jeder  sieht,  daß  der  Staat  zwar,  was 
zu  seinem  Zweck  gehört,  unmittelbar  selbst  tun,  zugleich  aber 
darauf  bedacht  sein  werde,  die  Menschen  für  das,  was  in  seinem 
Zwecke  liegt,  zu  erziehen,  und  daß  er  nur  solange  ackerbauen, 
handeln  und  mehr  dergleichen  selbst  tun  darf,  bis  er  sich  ihm 
und  seiner  eigentümlichen  Natur  angemessene  Landbauer,  Kauf- 
leute und  was  sonst  erzogen  hat.  Auf  jeden  Fall  also  fällt  ein 
Erziehen  in  den  Zweck  des  Staates;  aber  auf  jeden  Fall  auch 
teilt  es  sich.  Ist  sein  Zweck  ein  bestimmter:  so  wird  er  für 
diesen  teils  unmittelbar  handeln  und  teils  für  ihn  erziehen;  ist 
er  aber  zweckmäßig  ganz  allgemein:  so  wird  er  unter  anderem 
auch  unmittelbar  erziehen,  nächstdem  aber  besonders  die  Er- 
zieher erziehen.  So  daß  immer  wieder,  und  ohne  sonderHche 
Rücksicht  auf  den  Inhalt  des  Staatszweckes,  alles  ankommt  auf 
das  Maß,  in  welchem  die  Erziehung  sein  Geschäft  werden  kann 
oder  nicht. 

Um  aber  hier  alles  Mißverständnis  zu  vermeiden,  müssen  wir 
uns  wenigstens  erinnern,  daß  der  Staat,  sein  Zweck  sei  auch, 
welcher  er  wolle,  eine  Gesellschaft  sei  von  Regierern  und  Re- 
gierten,  seien    es   auch   dieselben   und  jeder   nur  in   dem    einen 


[111,3,  235]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  503 

Akt  Obrigkeit  und  in  dem  andern  Untertan,  aber  ohne  diese  Form 
gänzlich  ist  kein  Staat,  und  man  kann  nur  von  demjenigen  sagen, 
daß  der  Staat  es  tue,  was  durch  diese  Form  hindurchgeht.  Dar- 
über also,  daß  das  Erziehen  eine  gemeinsame  und  öffentliche 
Angelegenheit  sei  im  Staat,  kann  wohl  überall  kein  Zweifel  sein 
nach  dem  obigen;  aber  wir  werden  nur  im  eigentHchen  Sinne 
sagen,  daß  der  Staat  erzieht,  wenn  entweder  die  Maßregeln  und 
Weisen  der  Erziehung  zwar  zunächst  im  Volk  ihren  Grund  und 
Ursprung  haben,  aber  von  der  Regierung  entweder  modifiziert 
oder  sanktioniert  werden,  und  sie  über  deren  Ausführung  wacht, 
oder  noch  mehr,  wenn  sie  von  der  Regierung  selbst  ausgehen 
und  vom  Volke  nur  angenommen  und  ausgeführt  werden.  Nicht 
aber  jedesmal,  wenn  im  Volk  eine  gemeinsame  oder  auch  öffent- 
liche Erziehung  stattfindet,  von  der  aber  die  Regierung  weiter 
keine  Kenntnis  nimmt,  darf  man  sagen,  der  Staat  erziehe,  auch 
nicht,  wenn  die  Regierung  nur  über  das  Was  in  Sachen  der  Er- 
ziehung diejenige  Aufsicht  führt,  wie  z.  B.  auch  eine  protestan- 
tische Regierung  über  die  katholische  Kirche  in  ihrem  Lande 
ausübt,  sondern  dann  erziehen  immer  nur  die  Regierten,  die  dann 
für  den  Staat  nur  als  einzelne  dastehen,  wie  fest  sie  auch  durch 
Sitte  und  öffentliche  Meinung  an  eine  gemeinsame  Weise  mögen 
gebunden  sein.  Damit  wir  nun  das  Maß  finden,  in  welchem 
in  diesem  Sinne  dem  Staate  die  Erziehung  zusteht,  scheint  das 
Ratsamste,  daß  wir  zusammenhalten  den  Zustand  eines  Volkes, 
ehe  es  Staat  geworden  ist,  mit  seinem  Zustande  unter  der  Form 
des  Staates,  und  daß  wir  fragen,  ob  sich  denn  und  was  in  bezug 
auf  die  Erziehung  dadurch  ändere,  daß  in  dem  Volke  nun  der 
Gegensatz  von  Obrigkeit  und  Untertanen  herausgetreten  ist.  Und 
es  scheint  wirklich  hierbei  alles  auf  die  Weise  und  die  Bedin- 
gungen dieser  Veränderung  anzukommen,  die  Frage  hingegen, 
wie  man  den  Staatszweck  zu  denken  habe,  und  wie  in  dem 
einen  Staate  dieser,  in  dem  andern  jener  Teil  desselben  mehr 
hervortrete,  diese  scheint  mehr  auf  die  verschiedenen  Grundsätze 
zu  führen,   nach  denen  die  Erziehung,  gleichviel,  ob  vom  Volke 


504  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,  236) 

oder  vom   Staat  wird  geleitet  werden,  als   auf  den  Umfang,  in 
welchem   der  Staat  als   solcher  sich  ihrer   annehmen  wird. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,   auf  einen   erdachten  Naturstand 
zurückzugehen,  mag  er  nun  ein  feindseliger  sein  oder  nicht,  son- 
dern nur  auf  denjenigen,  der  uns  als  unmittelbar  an  den  eigent- 
lichen bürgerlichen  Zustand  grenzend,  wirklich  in  der  Geschichte 
gegeben  ist,  nämüch  auf  den  Zustand,  da  mehrere  Familien  ohne 
bestimmte  Form  einer  Verfassung  ein  sehr  ähnliches  Leben  bei- 
einander leben,  mit  einem  allgemeinen  Namen  auf  den  Zustand 
der   Horde.    Auch   in   diesem    Zustande   lassen   sich   schon   sehr 
verschiedene  Stufen  der  Bildung  denken,  und  nach  Maßgabe  der- 
selben eine  festere  und  zusammengesetztere  Sitte  oder  eine  losere 
und  einfachere.    In  dieser  sind  ausgedrückt  die  schon  gegebenen 
Regungen   des    sittlichen   und    religiösen   Gefühls;   in   dieser   er- 
halten  sich   die   Übungen   und   Fertigkeiten,  welche   zu   der  der 
Horde  eignen  Erwerbsweise  gehören.   In  dieser  Sitte  wächst  dann 
auch  auf  und  übt  sich  die  Jugend,  und  wird  also,  wer  wollte  es 
anders   sagen?   wirklich   erzogen.    Leben   die  Menschen   wie  im 
dürftigen  Klima  die  Grönländer  und  ihre  Verwandten  mehr  nur 
nebeneinander:    so    wird   auch    die    Erziehung   mehr   der   Privat- 
erziehung  gleichen.     Gibt    es    dagegen    schon    ein    gemeinsames 
Leben  miteinander  und  durcheinander:  so  wird  auch  jenes  Ana- 
logon  von  Erziehung  diesen  Charakter  annehmen  und  mehr  einer 
öffentlichen    Erziehung   gleichen.    So    daß    wir   jenen    Gegensatz 
schon  jenseit   des  Staates   verfolgen   können,   und   er  also   nicht 
erst  durch  diesen  entsteht.    Wenn  nun  eine  solche  Horde  schon 
lange  patriarchalische  Häupter  gehabt,  wenn  sie  schon  bisweilen 
vorübergehend  im    Kriege  oder  bei   Verhandlungen  mit  anderen 
Stämmen  unter  strengeren  Formen  gestanden  hat,  und  diese  sich 
nun  auf  die  einfachste  Weise  in  ihr  festsetzen  und  konsolidieren, 
so  daß  sie  von  nun  an  für  sich  einen  kleinen  Staat  bildet,  gleich- 
viel,   unter   welcher  von   den    drei   Formen    er   vorzüglich   steht, 
ohne   daß    sie   ihre   Lebensweise   ändert  oder   ihre   Zwecke   aus- 
dehnt: was  ist  für  ein  Grund,  daß  die  neuentstandene  Regierung 


111,3,237]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  505 


sich  sollte  der  Erziehung  annehmen?    Es  wäre  dies  eine  Willkür, 
die  in   diesem  Zustande  nicht  denkbar  ist.    Denn   auch   das   ist 
nicht  denkbar,  selbst  wenn  Reibungen  entstehen  und  innere  Un- 
ruhen, daß  ein  einzelner  nun  aus  dem  Geleise  der  Sitte  weichen 
und  seinen    Kindern  eine   Richtung  geben  sollte,   welche  gegen 
den  Sinn  und  Geist  des  Ganzen  anginge.    Wenn  also  nicht  ein 
fremdartiges  Element  hinzukommt,  wird  alle§  im  vorigen  Gange 
bleiben,    und    die    Erziehung    wird    daran,    daß    die    Gesellschaft 
die   Form    der  bürgerlichen   angenommen    hat,   keinen   unmittel- 
baren Anteil  nehmen.   Sowohl  der  Charakter  der  Erziehung  wird 
derselbe  bleiben,  als  auch  die  Rechte  der  Eltern  über  ihre  Kinder. 
Aus    dieser    einfachen    Betrachtung    scheint   zweierlei   zu    folgen. 
Einmal,  und  dies  ist  der  Hauptsatz,  auf  welchem  alles  folgende 
ruht,  da  Sitten  und  Gebräuche  in  einem  Volk  überall  älter  sind 
als  die  Verfassung,  kann  auch  dasjenige  in  der  Erziehung,  was 
auf  der  Sitte  ruht,  nie,  auch  in  einem  folgenden  Zustande  ebenso- 
wenig als  in  diesem  ursprünglichen,  als  von  der  Regierung  aus- 
gegangen und  von  ihr  erzeugt  angesehen  werden,  sondern  dieses 
ist  wohl  überall  auch  in  seinen  allmählichen  Umwandlungen  das 
unbewußte  Erzeugnis,    freilich    nicht    der    einzelnen    als    solcher, 
auch   nicht   der  Weisesten   und   Kunstverständigsten,   denn   auch 
diese  können  nur  allmählich  und  durch  einen  unmerklichen  Ein- 
fluß   daran    rühren,    auch   nicht   das    Erzeugnis    des   isolierenden 
Privatlebens,    sondern   das    gemeinsame,    aber  freie   und   nur   in 
freier    Gemeinsamkeit    gedeihende    unbewußte     Erzeugnis     des 
Volkes.    Die  Regierung  kann  es  im  besten  Falle  beschützen  und 
sanktionieren,  wenn   hierzu  ein   Bedürfnis   entsteht,  sie  kann   im 
schlimmsten    Falle    dagegen   kämpfen    und    es   zu    unterdrücken 
suchen,   aber   herbeiführen   kann   sie   es   nicht.    Wenn   man   nun 
sagt,  die   Erziehung  sei   eigentlich   nur  die  natürliche   Äußerung 
des  Selbsterhaltungstriebes  der  Gemeinheit:  so  ist  damit  gerade 
dieses  in  der  Sitte  begründete,  sich  auf  sie  beziehende  Moment 
der    Erziehung    gemeint,    und    was    hier   tätig    ist,    ist    also    der 
Selbsterhaltungstrieb  des   Volkes,   abgesehen   von   seiner  Verfas- 


506  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,  238) 

sung,  nicht  der  Selbsterhaltungstrieb  des  Staates  und  der  Regie- 
rung. Der  Beweis  hierzu  findet  sich  überall,  wo  ohnerachtet 
vieler  Wechsel  in  der  Verfassung  das  Wesen  der  öffentlichen  Er- 
ziehung lange  Zeit  dasselbe  geblieben  ist,  und  wo  ohnerachtet 
die  Verfassung  ungeändert  dieselbe  blieb,  die  Maximen  und 
Formen  der  Erziehung  sich  allmählich  geändert  haben.  Zweitens 
scheint  zu  folgen,  daß,  wenn  ein  Volk,  nachdem  es  diesen  ur- 
sprünglichen Zustand  verlassen  hat,  vielleicht  durch  harte  Schick- 
sale und  schwere  Kämpfe  hindurch  wieder  in  einen  ähnlichen 
zurückkehrt,  ich  meine  zu  einer  durchgreifenden  und  die  zu- 
fälligen Abweichungen  beherrschenden,  seine  eigentümliche  Natur 
ausdrückenden  Sitte,  und  zu  einer  nach  Verhältnis  seines  Um- 
fanges  genaueren  oder  weiteren  Gleichförmigkeit  gemeinsamer 
Bildung:  alsdann  auch  keine  Ursache  mehr  vorbanden  ist,  warum 
die  Regierung  einen  tätigen  Anteil  an  der  Erziehung  nehmen 
sollte;  sondern  dann  wird  ihr  höchstens  übrig  bleiben,  durch  die 
Sicherheit,  welche  sie  der  Erziehungstätigkeit  des  Volkes  gewährt 
und  durch  die  behütende  Aufsicht,  welche  sie  darüber  führt, 
ihre  Bestimmung  zu  erkennen  zu  geben.  Weder  jene  ursprüng- 
liche noch  diese  wiedererlangte  Gleichheit  wird  eine  absolute 
sein,  sondern  nach  größerem  Maßstabe  bei  der  letzten,  nach 
kleinerem  bei  der  ersten,  wird  sich  die  Differenz  gemeiner  und 
edler  Naturen  offenbaren.  Allein  je  konstanter  und  bedeutender 
diese  Unterschiede  sind,  um  so  mehr  wird  von  selbst  durch  das 
bloße  Prinzip  der  Kohärenz,  wie  es  auch  vor  dem  Staate  waltet, 
das  Gleichere  sich  anziehn,  und  es  werden  sich  verschiedene 
Kreise  bilden  mit  einer  relativ  eigentümlichen  Sitte,  welche 
hindern  wird,  daß  in  der  Gemeinschaft  mit  den  Geringeren  die 
Edleren  untergehen.  So  wie  auf  der  andern  Seite  das  voraus- 
gesetzte herrschende  Prinzip  der  Gleichheit  verursachen  muß,  daß 
das  Gemeinere  von  dem  Höheren  immer  befruchtet  wird,  und 
nicht  unter  die  Fähigkeit  der  Gemeinschaft  heruntersinkt.  Bei 
dieser  Verkettung  des  Allgemeinen  und  des  Besonderen  in  Sitte 
und  Bildung   kann  denn  auch   die  Erziehung  ohne  Schaden  un- 


[111,3,  239]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  507 

gestört  fortgeht!.  Was  hat  denn  nun  den  Piaton  bewogen,  der 
ohngefähr  diesen  Fall  voraussetzt,  eine  merkliche  angeborene  aber 
doch  nicht  streng  angeerbte  und  also  nicht  spezifische  Differenz 
seiner  Bürger,  was  hat  ihn  bewogen,  dennoch  dem  Staat  die 
Erziehung  nicht  nur  ganz  in  die  Hand  zu  geben,  sondern  sie 
auch  zum  stärksten  Motiv  für  denselben  zu  machen,  in  einem 
Grade,  wie  es  ein  pädagogisches  Regale  nie  gegeben  hat  und 
nie  geben  kann?  Er  hat  offenbar  ein  Mittel  gesucht,  aber  nur 
ein  unausführbares  und  also  schlechtes  herausgegriffen  gegen 
das  Verderben  seiner  vaterländischen  Demokratien  und  Aristo- 
kratien, deren  jene  mit  demselben  Eigensinn  wie  die  Despotien 
oft  ganz  gemeine  Menschen  auf  eine  Stelle  emporheben,  die 
ihnen  nie  gebühren  kann,  die  letzten  aber  die  äußere  Dignität 
noch  festhalten  wollen,  wenn  die  innere  längst  erstorben  ist, 
und  der  herrschende  Stamm  seine  ursprünglichen  Vorzüge  längst 
verloren.  Indem  der  große  Mann  bei  der  Idee  des  Staats  beide 
Gebrechen  zugleich  heilen  will,  hat  ihn  seine  Konstruktion  auf 
diesen  Punkt  geführt. 

Setzen  wir  nun  einen  anderen  Fall,  die  Horde  nämlich  gehe 
nicht  durch  sich  selbst  und  nicht  in  sich  selbst  zur  bürgerlichen 
Gesellschaft  über,  sondern  ergreife  selbst  eine  andere  oder  werde 
von  einer  andern  ergriffen,  und  es  entstehe  ein  Staat  aus  zwei 
früheren  Gemeinheiten  auf  ungleiche  Weise,  so  nämlich,  daß  die 
eine  Horde  die  herrschende  werde  und  die  andere  die  dienende, 
welcher  Fall  auch  diejenigen  unter  sich  begreift,  daß  eine  von 
beiden  schon  vorher  eine  bürgerliche  Verfassung  für  sich  gehabt 
habe:  wie  wird  es  dann  mit  der  Erziehung  werden?  Offenbar 
kann  dann  nur  in  einem  Falle  alles  im  alten  Gange  bleiben; 
wenn  nämlich  der  herrschende  Stamm  auch  von  Natur  oder  durch 
bildendere  Schicksale  der  edlere  in  edlerer  Sitte  gelebt  und  seine 
Jugend  zu  derselben  erzogen  hat,  der  unterworfene  hingegen 
zurückstehend  hinter  jenem  roher  und  ungebildeter  erscheint,  und 
indem  er  seiner  Sitte  gemäß  zu  gleichem  Zustande  seine  Jugend 
erzieht,  keine  Besorgnis  erregt,  daß  der  Eindruck  der  Ungleich- 


508  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,  240] 

heit  2Avischen  beiden  Teilen  verschwinden  könne.  Wozu  noch 
kommen  muß,  daß  der  siegende  Stamm  den  unterworfenen  auch 
bei  seiner  Lebensweise  läßt,  ihn  von  seinem  Boden  und  aus 
seinen  Gewerben  nicht  vertreibt,  sondern  ihn  auf  dieselbe  Weise 
wie  vorher,  nur  zu  des  Siegers  Nutzen,  fortleben  läßt.  In  diesem 
und  wie  es  scheint  auch  in  diesem  einzigen  Falle  wird  nach 
einer  solchen  Zusammenschmelzung  jeder  Teil  seine  bisherige 
Erziehungsweise  behalten,  und  also  auch  ohne  weitere  Dazwischen- 
kunft  der  Regierung  wie  vorher  fortsetzen  können.  Nur  daß 
diese  jede  Neigung  der  Überwundenen,  sich  in  die  Sitten  der 
Sieger  einzuschleichen  und  ihre  Erziehung  nachahmend,  ihnen 
ihre  höheren  Vorzüge  zu  entwenden,  eifersüchtig  bewachen  wird. 
So  lange  nämlich  wird  alles  so  bleiben,  als  auch  die  Regierung 
das  Verhältnis  beider  Teile  im  Staat  gegeneinander  nicht  zu  ändern 
gesonnen  ist.  Will  sie  aber  dieses,  oder  sind  die  Verhältnisse 
beider  Teile  von  vornherein  nicht  völlig  so  bestimmt:  so  wird 
zum  Behuf  einer  solchen  heterogenen  Zusammenschmelzung  auch 
das  Erziehungswesen  umgewälzt  werden  müssen,  und  diese  Um- 
wälzung kann  dann  nur  von  der  Regierung  ausgehen,  so  daß 
die  Erziehung  dann  insoweit  Sache  des  Staates  werden  muß. 
Nämlich  wenn  entweder  ursprünglich  der  unterworfene  Stamm 
eine  zu  edle  Sitte  und  Bildung  hatte  für  die  Lage,  in  die  er 
bei  der  Zusammenschmelzung  herabgestürzt  wird,  oder,  wenn  er 
sich  allmählich  nach  langer  Zeit  dem  herrschenden  genähert  hat, 
und  zu  besorgen  steht,  er  werde  bald  an  Sitte  und  Bildung  von 
diesem  nicht  mehr  zu  unterscheiden  sein,  in  diesen  Fällen  wird 
der  Staat  in  die  Erziehung  dieses  Stammes  gewalttätig  aber  zer- 
störend eingreifen;  er  wird  dessen  Sitte  auflösen  und  die  Er- 
ziehung unter  das  Gesetz  stellen,  wodurch  schon  großenteils  das 
innere  Leben  verloren  geht  und  mit  beschleunigter  Geschwindig- 
keit die  Neigung  wächst,  sich  bei  einer  mechanischen  Be- 
handlung zu  beruhigen.  Es  kann  auch  sein,  daß  der  herrschende 
Stamm  allmählich  sinkt  aus  gewohnter  Trägheit  derer,  welche 
andere  für  sich  arbeiten   lassen,   und  dann   kann   es  geschehen, 


[111,3,241]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  509 

daß  unter  andern  künstlichen  Mitteln,  ihn  in  seiner  ursprüng- 
lichen Stellung  zu  erhalten,  der  Staat  auch  in  die  Erziehung  des- 
selben eingreift.  Wie  aber?  Gegenüber  einem  unterworfenen 
Stamme,  der  im  Begriff  ist,  sich  zu  heben,  wird  dies  von  einer 
Regierung,  die  selbst  dem  herrschenden  Stamme  angehört,  schwer- 
lich auf  die  rechte  Weise  geschehen.  Denn  das  Prinzip  eines 
solchen  Staates  kann  nicht  schlimmer  gefährdet  werden,  als  wenn 
der  Eindruck  eines  Wetteifers  zwischen  beiden  Ständen  entsteht. 
Also  anstatt  der  verfallenen  Sitte  und  Bildung  wieder  aufzuhelfen, 
wozu  auch  im  ganzen  wenig  Hoffnung  ist,  wird  man  durch  die 
künstliche  Erziehung  suchen,  dem  gesunkenen  Stande  neue  Vor- 
züge zu  verschaffen,  welche  der  sich  hebende  weniger  geeignet 
ist,  sich  zu  erwerben.  Ich  will  nicht  sagen,  es  folge  streng,  aber 
die  Erfahrung  lehrt  es,  und  so  ist  es  auch  leicht  zu  begreifen, 
daß  diese  Vorzüge  dann  vorzüglich  gesucht  werden  in  der  Ein- 
pfropfung irgendeines  Fremden,  das  sich  in  dem  allgemeinen  Ver- 
kehr der  Staaten  gerade  geltend  gemacht  hat;  denn  der  herr- 
schende Stand,  welcher  den  ganzen  Staat  nach  außen  repräsen- 
tiert, ist  ausschließend  geeignet,  hiermit  zu  prunken.  Dies  ist 
die  eine  Art,  wie  das  Fremde  in  die  Erziehung  kommt  durch  die 
Bestrebungen  einer  aristokratisierenden  Regierung,  sie  mag  nun 
hierbei  mehr  als  Gesetzgebung  wirken,  oder  mehr  als  Hof;  und 
dieses  ist  der  zerstörende  Beruf  des  aristokratischen  Staates  in 
der  Erziehung.  Kommt  aber  beides  in  einem  Moment  zusammen, 
Unterdrückung  des  unteren  Standes  durch  die  Erziehung  und 
falsche  künstliche  Hebung  des  oberen:  so  ist  das  Verderben  voll- 
endet, und  nur  eine  besonders  waltende  Vorsehung  kann  ver- 
hüten, daß  entweder  gänzliche  Auflösung  erfolge  oder  gewalt- 
same Reaktion.  Denn  durch  Störung  des  naturgemäßen  Er- 
ziehungsganges wird  ein  Volk  in  seinen  innersten  Tiefen  er- 
schüttert. 

Es  kann  aber  auch  geschehen,  wenigstens  wollen  wir  den 
Fall  setzen,  daß  die  Regierung  eines  solchen  Staates  sich  von 
ihrem    ursprünglichen    Verhältnis   der   Angehörigkeit   an    dessen 


510  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,  242] 

oberen  Stand  losmacht  und  den  Staat  als  wahre  Einheit,  was  er 
eigentlich  noch  gar  nicht  war,  ins  Auge  faßt.  Sie  strebt  dann 
danach,  ohne  jedoch  zu  revolutionieren,  daß  sie  beide  Stände 
einander  nähere,  und,  indem  sie  dem  unteren  weitere  Schranken 
öffnet,  seine  Kräfte  vielseitiger  für  das  Ganze  benutze  und  alles 
in  ihm  zur  Reife  bringe,  wozu  sich  die  Fähigkeiten  in  dem  bis- 
herigen Zustande  vorbereitet  haben.  Dieses  aber  kann  schwerlich 
geschehen,  wenn  nicht  an  beiden  Enden  zugleich  angefangen 
wird,  bei  der  eben  mannhaften  Generation,  indem  man  sie  vor- 
sichtig und  steigend  emanzipiert,  und  bei  der  eben  heranwachsen- 
den, indem  die  Erziehung  einen  Charakter  bekommt,  der  die  bis- 
herige beschränkende  Sitte  weit  hinter  sich  läßt.  Indem  nun 
hierbei  weder  die  ursprüngliche  Sitte  des  Standes  das  eigentlich 
handelnde  Prinzip  sein  kann,  noch  auch  sein  allmähliches  Empor- 
streben, als  welches  sich  kein  richtiges  Ziel  mit  Bewußtsein  vor- 
zustecken vermag:  so  muß  ein  unmittelbares  bildendes  Eingreifen 
der  Regierung  eintreten.  Dieses  nun  ist  der  Zeitpunkt,  wo  ein 
solcher  Staat  wirklich  und  notwendigerweise  erzieht,  ja,  wo  man 
sagen  darf,  daß  es  ihm  nur  wohlgehen  kann,  wenn,  um  einen 
platonischen  Spruch  zu  parodieren,  die  Regenten  erziehen  oder 
die  Erzieher  regieren,  und  an  wen  lieber,  als  an  diese,  sollten 
auch  wohl  die  Philosophen  den  Anspruch  abtreten,  den  sie  selbst 
nicht  durchführen  können.  Denn  man  kann  mit  Wahrheit  sagen, 
auf  diesem  Übergangspunkt  von  aristokratischer  Zweiheit  zu 
wahrhafter  Einheit,  die  dann  immer,  wenn  es  auch  in  der  äußeren 
Form  minder  heraustritt,  dennoch  sich  monarchisch  gestaltet,  ist 
das  Erziehen  die  Hauptsache  und  selbst  wichtiger  als  das  richtige 
Verfahren  bei  der  allmählichen  Eröffnung  der  inneren  Schranken; 
denn  wenn  hierbei  etwas  versehen  ist:  so  wird  die  Erziehung 
es  leicht  wieder  gut  machen  durch  die  Masse  von  berichtigenden 
Einsichten,  die  sie  entwickelt.  Hat  man  aber  im  pädagogischen 
Prozeß  einen  unrichtigen  Weg  eingeschlagen:  so  können  da- 
durch die  besten  und  richtigsten  Maßregeln  der  inneren  Verwal- 
tung nur  unwirksam  gemacht  und  gleichsam  Lügen  gestraft  wer- 


[111,3,243]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  511 

den.  Ich  möchte  noch  hinzufügen,  hat  die  Regierung  in  diesem 
Sinne  einmal  angefangen  zu  erziehen:  so  darf  sie  auch  nicht 
eher  aufhören,  bis  jener  Zustand  einer  Einheit  der  Sitte  und  einer 
gleichnamigen  Bildungsstufe  dem  Wesen  nach  beide  Stände  mit- 
einander vereint,  sonst  möchte  sie  das  Volk  in  einem  Zustande 
von  Venvirrung  und  Ratlosigkeit  sich  selbst  überlassen,  und  das 
zweite  Übel  könnte  ärger  werden,  denn  das  erste. 

Einige  Folgerungen  aus  dem  eben  Dargestellten  kann  ich 
nicht  übergehen.  Große  ÄhnUchkeit  mit  dem  Verhältnis  zweier 
solcher  ursprünglich  ungleichartiger  Stämme  hat  in  unsern  Ver- 
fassungen das  Verhältnis  des  Adels  zum  Bürgerstande.  Sollte 
man  nicht  sagen  können,  daß  eigentlich  die  Ausgleichung  zwischen 
beiden  mit  Sicherheit  da  beginne,  wo  beide  an  demselben  Er- 
ziehungssystem teilnehmen,  und  in  keiner  Beziehung  mehr  be- 
sondere Anstalten  getroffen  werden  einen  auszeichnenden  Cha- 
rakter des  Adels  in  dem  heranwachsenden  Geschlecht  weder  durch 
eigne  öffentliche  Bildungsanstalten  noch  durch  Ausschließung  von 
den  nur  für  den  Bürgerstand  gestifteten  hervorzurufen?  Der  erste 
Grund  aber  zu  dieser  Vereinigung  wird  wohl  weniger  durch  die 
Regierung  gelegt,  als  dadurch,  daß  die  Kirche  und  der  allmählich 
aus  dieser  hervorgehende  wissenschaftHche  Verein  von  dem  poli- 
tischen Unterschiede  beider  Stände  keine  Notiz  nehmen.  Zwei- 
tens scheint  zu  folgen,  daß,  wenn  irgendwo  eine  Regierung  die 
Erziehung  des  ganzen  Volkes  nach  einer  solchen  Maxime  ver- 
waltet, wie  die  aristokratische  Regierung  die  des  niederen  Standes, 
wenn  sie  fürchtet,  er  werde  dem  höheren  zu  Kopfe  wachsen, 
oder  auch,  wenn  sie  ihn  sucht  in  neue,  außer  seiner  ursprüng- 
lichen Lebensweise  liegende  Bahnen  zu  führen,  ohne  ihn  dennoch 
höher  zu  erheben,  lediglich  seiner  Nutzbarkeit  halber:  so  ist  sie 
für  vollkommen  tyrannisch  zu  halten  dem  Geiste  nach.  Drittens, 
wenn  jemals  eine  Regierung  das  ganze  Volk  so  behandelt,  wie 
jene  aristokratische  den  höheren  Stand,  nachdem  er  in  sich  selbst 
einzusinken  angefangen,  also,  wenn  sie  pädagogisch  am  Volke 
künstelt  und   schnitzelt  und  ihm   Fremdes  einimpft:  so  will  sie 


512  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  IIII,3,  244] 

einer  gewissen  allgemeinen  Tauglichkeit  für  die  Welt  zuliebe, 
seine  Eigentümlichkeit  verfallen  lassen  und  verrät  wenig  Ver- 
trauen zur  Sicherheit  seines  Bestehens.  Oder,  wenn  gar  ein  Volk, 
sich  selbst  überlassen,  diesen  Weg  in  der  Erziehung  einschlägt, 
so  daß  die  Volksbildung  nicht  mehr  durch  eine  herrschende  Sitte 
in  einer  gewissen  Gleichförmigkeit  erhalten  wird,  sondern  in  eine 
chaotische  Masse  von  Zufälligkeiten  und  Willkürlichkeiten  zer- 
fällt: so  leidet  das  Leben  des  Volkes  in  seiner  innersten  Wurzel, 
und  der  tiefste  Verfall  ist  unmittelbar  vorauszusehen  oder  eigent- 
lich ingeheim  schon  vorhanden,  und  wird  durch  Erziehungs- 
künsteleien, die  doch  kein  dauerndes,  sich  selbst  reproduzierendes 
Leben  bekommen,  weder  verhindert  noch  gehemmt,  sondern  nur 
prächtiger  zur  Schau  getragen  werden. 

Nun  ist  noch  übrig  von  der  größten  Form  des  Staates  zu 
reden,  denn  die  bisher  genannten  sind  immer  nur  kleine,  wenn 
nämlich  ein  Staat  im  großen  Stil  sich  bildet,  plötzlich  oder  all- 
mählich, indem  er  eine  Menge  von  einzelnen  Stämmen,  mögen 
sie  schon  eine  Verfassung  gehabt  haben  oder  nicht,  in  ein  großes 
Ganzes  zusammenfaßt.  Ist  die  erste  Erschütterung  überstanden: 
so  sucht  denn  doch  jeder  Stamm  sein  eigentümHches  Dasein 
wieder,  das  Inbegriffensein  in  die  große  Einheit  gestaltet  sich 
ihm  nur  zu  einer  äußern  Relation,  die  alte  Sitte  und  Weise  be- 
hauptet ihr  Recht  überall,  wo  sie  nicht  durch  die  nur  als  äußere 
gefühlte  Gewalt  gehemmt  wird.  In  der  Sitte  hat  die  Erziehung 
ihren  Halt  und  reproduziert  also  mit  wenigen  Abweichungen  noch 
immer  das  alte  abgesonderte  beschränkte  Leben  des  einzelnen 
Stammes,  ohne  die  Einheit  des  großen  Ganzen  in  sich  aufzu- 
nehmen. Der  Staat  ist  so  lange  eigenthch  nur  nach  außen  hin 
eine  Einheit,  nach  innen  aber  ebensowenig,  als  jener  aristokra- 
tische Staat,  sondern  nur  eine  noch  zusammengesetztere  Vielheit. 
Es  kann  nun  lange  Zeit  gehen,  zumal  bei  einfachen  politischen 
Verhältnissen,  daß  die  verschiedenen  Teile  des  Staates  nur  ein 
Aggregat  bilden  und  unter  sich  fast  ebensoviel  Eifersucht  haben, 
als   gegen    einzelne   Teile   anderer   ähnlicher  Staaten.    So    lange 


[111,3,  245]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  513 

hat  auch  die  Regierung  ebensowenig  Ursache,  sich  in  die  Er- 
ziehung zu  mengen,  als  wenn  sie  nur  mit  einem  einzelnen  dieser 
Teile  zu  tun  hätte.  Aber  früher  oder  später  wird  eine  Zeit 
kommen,  wo  sie  es  fühlen  wird,  daß  es  notwendig  ist,  die  Viel- 
heit in  eine  wahre  Einheit  umzuprägen,  jedem  organischen  Teile 
das  Gefühl  des  Ganzen  lebendig  einzubilden  und  diesem  Gefühl 
das  des  eigentümlichen  Daseins  unterzuordnen,  damit  nicht  die 
Liebe  zum  Stamm  und  zum  Gaue,  der  Liebe  zum  Vaterlande 
und  zum  Volke  entgegenstrebe.  Wie  vielerlei  Mittel  ihr  nun  auch 
hierzu  zu  Gebote  stehen,  um  die  erwachsene  Generation  zu  be- 
arbeiten, sie  wird  sich  doch  getrieben  fühlen,  das  Werk  zugleich 
bei  der  heranwachsenden  zu  beginnen,  weil  sie  sonst  über  dem 
immer  zu  erneuernden  Gebrauch  jener  Mittel  niemals  zum  Ziel 
wirklich  kommen  kann.  Nun  also  beginnt  sie  sich  der  Erziehung 
anzunehmen  und  auf  dieselbe  positiv  einzuwirken,  um  die  ein- 
zelnen Teile  einander  näher  zu  bringen,  damit  sie  ebenso  zu 
einem  Gefühl  ihrer  Identität  mit  dem  Ganzen  kommen,  wie  die 
einzelnen  Glieder  des  Stammes  auf  dieselbe  Weise  das  Gefühl 
ihrer  Identität  mit  diesem  haben  und  immer  wieder  aufs  neue 
empfangen  Es  ist  auch  klar,  daß  die  kleinere  Einheit  sich  dieses 
Gefühl  der  höheren  nicht  aus  sich  selbst  geben  kann,  sondern 
daß  es  ihr  von  der  höheren  kommen  und  diese  sich  ihr  gleichsam 
innerlich  offenbaren  muß.  Dies  muß  also  ein  Werk  der  Regie- 
rung sein,  welche  in  einem  solchen  Staate  von  vornherein  das 
Gefühl  der  Einheit  des  Ganzen  ausschließend  hat  und  es  erst 
allmählich  mitteilen  kann,  und  der  Staat  kann  unter  diesen  Um- 
ständen die  Erziehung  auch  nicht  in  den  Händen  der  Kirche 
lassen,  welche  ihr  Bestreben,  die  Menschen  zu  einer  höheren 
geistigen  Einheit  zu  verbinden,  an  das  persönUche  Gefühl  des 
einzelnen  und  an  das  allgemeinste  Gefühl  der  menschlichen  Natur 
anknüpft,  ohne  an  der  Bildung  einer  größeren  Nationaleinheit 
einen  entschiedenen  Anteil  zu  nehmen.  Ebenso  klar  ist,  daß  man 
nicht  sagen  kann,  dieses  Gefühl  sei  im  Volke,  wenn  es  auch  in 
allen  einzelnen  wäre,  sich  aber  nicht  fortpflanzte.    Es  muß  also 

Schleiermacher,  Werke.     I.  33 


514  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,  246] 

zunächst  in  der  Erziehung  sein,  und  indem  es  in  die  erste  Periode 
der  Erziehung  zurückgeht,  worin  beide  Geschlechter  nicht  ge- 
trennt sind,  kann  es  sich  allmähüch  in  ein  angeborenes  ver- 
wandeln. Hat  es  sich  aber  erst  als  ein  solches  bewährt:  so 
ist  auch  kein  Grund,  warum  die  Regierung  länger  sollte  die  Er- 
ziehung, die  doch  von  Natur  nicht  ihr  Geschäft  ist,  dazu  machen, 
und  sie  nicht  vielmehr  in  die  Hände  des  Volkes  zurückgeben. 
Und  so  kommen  wir  auch  hier  wieder  auf  die  erste  Annahme 
zurück,  und  finden  mit  dem  Grunde  für  diesen  Beruf  des  Staates 
auch  zugleich  die  Grenze  desselben. 

Dieses  also  ist  meine  Antwort  auf  die  Frage:  Wie  kommt 
der  Staat  rechtmäßigerweise  dazu  einen  tätigen  Anteil  an  der 
Erziehung  des  Volkes  zu  nehmen?  Dann  nämlich  und  nur  dann, 
wenn  es  darauf  ankommt,  eine  höhere  Potenz  der  Gemeinschaft 
und  des  Bewußtseins  derselben  zu  stiften.  Alle  andern  Motive 
sind  entweder  verderblich  —  und  die  Regierung  setzt  sich  dann 
in  Streit  mit  der  natürlichen  Entwicklung  des  Volkes,  wie  in 
den  vorher  aufgeführten  Fällen  —  oder  sie  sind  unhaltbar.  Deren 
sind  freilich  viele  beigebracht  worden  und  könnten  noch  an- 
geführt werden,  wenn  es  lohnen  könnte,  willkürliche  Einfälle  zu 
prüfen,  welche  immer  nur  in  den  Köpfen  der  Theoretiker  ge- 
wesen sind,  niemals  aber  die  handelnden  Personen  wirklich  ge- 
leitet haben.  Nur  die  Frage  verdiente  noch  Berücksichtigung: 
Wie  kann  der  Staat,  wenn  er  an  der  Grenze  seines  Berufes  an- 
gekommen ist,  die  Erziehung,  die  er  so  lange  verwaltet  hat,  in 
die  Hände  des  Volkes  zurückgeben,  ohne  wenigstens  vorüber- 
gehend eine  Art  von  Auflösung  und  Verwirrung  zu  verursachen, 
und  wie  soll  sich  überhaupt  nach  dieser  Zurückgabe  die  Er- 
ziehung gestalten?  Offenbar  kann  sie  nie  wieder  eine  Privat- 
erziehung werden.  Diese  muß  vielmehr,  wenn  man  nämhch  von 
den  Söhnen  redet,  welche  einst  mit  dem  Staate  zu  tun  haben, 
nicht  von  den  Töchtern,  welche  immer  nur  dem  Hause  anheim- 
fallen, aber  von  Privaterziehung  der  Söhne  kann,  wenn  ein  wahres 
Volksgefühl  wirklich  lebendig  geworden  ist,  nicht  mehr  die  Rede 


[111,3,  247J  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  515 

sein,  da  eine  solche  nur  Willkür  ausbrütet  und  nur  in  der  Sehn- 
sucht nach   Willkür  oder  in   dem  Mangel   an   Gemeinsinn  ihren 
Ursprung  hat.    Also  eine  öffentliche  Erziehung  wird  sie  unter  den 
Betrieb  und  die  Leitung  des  Volkes  selbst  gestellt  und  durch  den 
in  demselben  herrschenden  gleichen  Sinn  in  Gleichheit  gehalten. 
Es  kann  aber  ein  großer  Staat  von  der  Art,  wie  wir  zuletzt  be- 
trachtet haben  auf  der  Stufe,  auf  die  er  eben  durch  die  pädago- 
gische Tätigkeit  der  Regierung  gekommen  ist,  nicht  bestehn  unter 
andern  ohne  eine  Kommunalverfassung,  welches  schon  der  Augen- 
schein lehrt,  auszuführen  hier  aber  nicht  der  Ort  ist.    An  diese 
also,  die  durch  ihre  Gemeinschaft  mit  der  Kirche  und  mit  dem 
wissenschaftlichen  Verein,  dessen  Glieder  durch  sie  zerstreut  sind, 
auch  intellektuell  belebt  wird,  geht  die  Erziehung  über  und  bleibt 
so  auch  mit  der  Regierung  in  dem  indirekten  Zusammenhang,  in 
welchem  alles,   was  das  Volk  betrifft,  mit  ihr  stehen  muß,   nur 
daß  diejenigen,  die  ihn  vermitteln,  nicht  mehr  eigentlich  als  Staats- 
behörde,   sondern    nur   die    einen    als   Vertreter   des    Volkes   bei 
der    Regierung,    die    andern    als    Vertreter   der    Regierung   beim 
Volke  anzusehen  sind.    Auf  diese  Weise  behält  auch  die  Regie- 
rung in  ihrer  Gewalt  diesen  Übergang,  für  den  sich  doch  kein 
Augenblick  als  der  einzig  richtige  nachweisen  läßt,  allmählich  zu 
veranstalten,    und    eben    dadurch   aller   Verwirrung  vorzubeugen. 
—    Interessante    Untersuchungen    historischer    Art    knüpfen   sich 
hieran,  wie  nämlich  und  warum  überhaupt  hier  mehr,  dort  weniger 
Gewicht  auf  die  Erziehung  gelegt  wird,  ohne  daß  die  Resultate 
bedeutend   verschieden   wären;   wie   und   warum   ein   Staat   eine 
lange,  ein  anderer  eine  kiu-ze  Periode  eigentlicher  pädagogischer 
Gesetzgebung  und  Verwaltung  des  Erziehungswesens  durch  die 
Regierung  gehabt  hat,  und  ob  und  wie  dieses  mit  einer  mehr 
ruhigen   oder   mehr  stürmischen    Entwicklung   des   ganzen    poli- 
tischen   Daseins    zusammenhängt.     Diese    Untersuchungen    aber 
muß   ich   zur  Seite   liegen   lassen,    indem   ich   nicht  einmal   die- 
jenige   für    jetzt   ausführen    kann,    welche    mir    eigentlich    noch 
obliegt. 

33* 


516  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,248] 

Ich  sollte  nämlich  nun  noch  von  dem  Begriff  der  Erziehung 
ausgehend  ebenso  zeigen,  ob  und  wie  denn  sie  vermöge  ihrer 
Natur  in  den  Staat  hineinfällt,  wie  ich  an  der  natürlichen  Ge- 
schichte des  Staats  gezeigt  habe,  weshalb  und  inwiefern  die 
Regierung  sich  des  Erziehens  anmaßt.  Diese  Untersuchung  würde 
erst  dem  Resultat  der  vorigen  seinen  rechten  Inhalt  geben  und 
uns  zeigen,  was  denn  nun  der  Staat,  insofern  ihm  das  Erziehen 
obliegt  zu  tun,  und  wie  er  zu  Werke  zu  gehn  habe.  Allein  anstatt 
dieses  zu  gleicher  Länge  mit  dem  vorigen  auszuspinnen,  will 
ich  Zeit  und  Geduld  schonen  und  mich  nur  auf  einige  Grund- 
striche beschränken,  aus  denen  das  andere  leicht  abzunehmen 
sein  wird.  Zum  Glück  nämlich  glaube  ich,  daß  ich  mich  auch 
hier  der  schwierigen  Frage  überheben  kann,  was  die  Erziehung 
sei,  deren  Beantwortung  ja  zugleich  die  Grundzüge  eines  päd- 
agogischen Systems  enthalten  müßte.  Denn  da  wir  die  Sache 
nur  in  Beziehung  auf  den  Staat  betrachten:  so  kann  ich  davon- 
kommen mit  einer  oben  abgeschöpften  Beschreibung  der  Seite 
der  Erziehung,  welche  dem  Staat  zugewendet  ist.  Wenn  ich  mich 
nun  auf  diesen  Punkt  stelle:  so  sehe  ich  aus  folgendem,  daß  es 
bei  der  Erziehung  vornämlich  auf  dieses  beides  ankomme.  Ist 
nämlich  die  Erziehung  vollendet:  so  wird  der  Mensch  abgeliefert 
an  den  Staat  als  dessen  Bürger,  d.  h.  er  soll  tüchtig  sein  als 
lebendiger  organischer  Bestandteil  des  Ganzen  zu  handeln  und 
irgendeine  bestimmte  Stelle  in  demselben  einzunehmen.  Der 
Staat  aber,  um  als  christlicher  Bürger  eines  christlichen  Staates 
zu  reden,  verlangte  bis  noch  vor  kurzem  wenigstens,  daß  zuvor 
die  christliche  Kirche  ihn  als  ihr  Mitglied  sollte  angenommen 
haben,  und  der  Erzieher  mußte  auch  dieses  prästieren,  wobei 
zugleich  stillschweigend  bedungen  wurde,  daß  er  in  allen  Ge- 
schäften des  Staates  als  Bürger  keines  Dolmetschers  bedürfe, 
sondern  bei  der  Sprache  des  Landes  und  also  auch  für  sein  Teil 
bei  der  darin  niedergelegten  Form  und  Masse  des  Denkens  her- 
gekommen sei.  Hat  nun  der  Erzieher  dieses  erwiesen,  und  ist 
sein  Zögling  angenommen  worden:  so  kehrt  er  sich  um  zu  der 


[111,3,  249]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  517 

rein  menschlichen  Gesellschaft  im  Staat,  und  in  dem  Maß  als  er 
selbst  sein  Werk  für  gelungen  hält  und  sich  etwas  darauf  zugute  tut, 
empfiehlt  er  dieser  seinen  ZögUng  als  eine  anmutig  ausgestattete 
eigentümliche  Natur  im  Besitz  alles  dessen,  was  in  der  Gesell- 
schaft geachtet  werde,  und  zwar  auf  eine  eigentümliche  Weise. 
Hieraus  nun,  wie  dieses  täglich  geschieht,  und  übereinstimmend, 
wie  sehr  man  sich  über  die  Erziehung  auch  streite,  sehe  ich, 
daß  es  auf  zweierlei  ankommt.  Zuerst  nämlich,  daß  der  Mensch 
gebildet  werde  zur  Ähnhchkeit  mit  den  großen  Gemeinwesen, 
in  denen  er  seinem  natürlichen  Schicksal  zufolge  leben  soll,  von 
welcher  Ähnlichkeit  wie  ihn  die  Erziehung  beim  Anfange  seines 
Lebens  übernimmt,  wenig  an  ihm  zu  sehen  ist,  sondern  sie  muß 
hineingebildet  werden  oder  herausgelockt.  Dann  aber  kommt 
es  auch  noch  darauf  an,  daß  er  nicht  nur  äußedich  ein  anderer 
sei,  als  jeder  andere,  sondern  ohnerachtet  jener  Ähnlichkeit  auch 
innerhch,  und  so  in  sich  selbst  eins  und  unteilbar  und  nur  sich 
selbst  gleich,  ganz  anders  wie  die  Erziehung  ihn  empfing  als 
eine  weiche  und  unbestimmte  Masse,  in  der  sich  nur  allgemeine 
Regungen  unterscheiden  ließen.  Dieses  beides  nun  leistet  freilich 
die  eine  und  selbe  Erziehung,  aber  es  scheinen  mir  doch  ihrer  zwei 
Seiten  zu  sein.  Und  so  wird  wohl  auch  dieses  wahr  sein,  daß 
wer  in  der  Ausübung  der  einen  begriffen  ist,  sich  über  die 
andere  tröstet,  welches  am  besten  geschieht  durch  die  Vorstel- 
lung des  Angebornen.  Wer  nämlich  auf  die  Entwicklung  des 
freien  Eigentümlichen  der  Natur  ausgeht,  der  wird  sich  trösten, 
daß  die  Ähnlichkeit  mit  dem  Volk  und  den  Glaubensgenossen 
dem  Menschen  angeboren  sei  und  sich  schon  von  selbst  mit 
entwickeln  werde.  Und  woran  sollte  sich  auch  wohl  das  Eigen- 
tümliche zeigen,  wenn  nicht  an  einem  Gemeinsamen,  denn  an 
nichts  kann  es  sich  nicht  zeigen.  Wer  hingegen  auf  die  Hinein- 
bildung des  Menschen  in  den  Staat  und  die  Kirche  ausgeht,  der 
setzt  voraus,  jedem  sei  seine  eigentümliche  Natur  angeboren  und 
werde  sich  schon  mit  entwickeln.  Beides  scheint  mir  völlig  wahr, 
und  ich  meine,  jedes  wird  nur  dadurch  falsch,  wenn  einer  glaubt, 


518  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  [111,3,  250] 

das  andere  sei  nicht  wahr,  und  deshalb  ganz  einseitig  wird  in. 
seiner  Erziehung.  Aber  wie  stehen  nun  diese  beiden  Seiten  der 
Erziehung  gegen  den  Staat?  Betrachten  wir  zuerst  einen  Staat, 
der  noch  eine  aristokratische  Physiognomie  hat:  so  ist  der  höhere 
Stand  derjenige,  der  ganz  vorzügHch  berechtigt  ist  zu  dem  Ver- 
trauen, daß  ihm  die  Idee  des  Staates  angeboren  sei,  lind  der  also 
auf  die  Ausbildung  der  Eigentümlichkeit  ausgeht.  Derselben  Mei- 
nung nun  ist  die  Regierung  auch,  und  läßt  also  den  ganz  frei, 
der  nach  ihrem  Sinne  handelt.  Daher  auch  in  solchem  Staat,  so- 
lange er  ein  wahres  oder  falsches  Gefühl  von  Gesundheit  hat, 
die  Regierung  sich  um  die  Ausbildung  ihres  Adels  wenig  küm- 
mert. Der  niedere  Stand  hingegen  strebt  in  dem  Gefühl,  daß 
sein  Schicksal  ihm  doch  angeboren  sei,  seine  Jugend  dem  Staat 
anzubilden  und  sie  ihm  dadurch  zu  empfehlen.  So  wird  denn 
die  Jugend  zeitig  in  die  Mannigfaltigkeit  der  Gewerbe  verteilt, 
von  denen  bei  solcher  Ehrfurcht  für  den  Staat  auch  Künste  und 
Wissenschaften  eines  zu  sein  scheinen,  und  in  diesem  löblichen 
Bestreben  wird  den  ausgezeichnetsten  Menschen  dieses  Standes 
eine  eigentümliche  Ausbildung  ihrer  Natur  nur  als  Zugabe,  ohne 
zu  wissen  wie,  und  sie  besitzen  sich  selbst  in  kindlicher  und 
heiliger  Unschuld.  Dies  ist  die  höchste  Glorie  des  Bürgerstandes 
in  dieser  ganzen  Periode.  Da  aber  nun  diejenigen,  welche  so 
erziehen,  im  Namen  des  Staates  handeln  und  zu  seinem  Vorteil: 
so  muß  auch  die  Regierung  sie  im  Auge  halten,  ob  sie  auch  treu 
handeln  und  ehrlich,  und  dies  ist  der  Anfang  und  Grund  des 
untergeordneten  behütenden  Anteils,  den  die  Regierung  unter 
solchen  Verhältnissen  an  der  Erziehung  nimmt.  Will  sie  aber 
die  Stände  gleich  machen  und  ordnet  deshalb  selbst  die  Erziehung 
an:  so  kann  sie  nicht  von  der  Voraussetzung  ausgehen,  daß  die 
Ähnlichkeit  mit  dem  Staate  schon  angeboren  sei,  denn  sonst 
würde  sie  unmittelbar  nichts  zu  tun  haben,  sondern  sie  will  eben 
dieses  Prinzip  erst  erwecken  und  hineinbilden.  Die  von  ihr  ge- 
ordnete Erziehung  wird  also  eine  bürgerliche  sein,  die  höhere 
Ausbildung    der    Eigentümlichkeit   aber   wird    sie    entweder   von 


[111,3,251]  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung.  519 

selbst  kommen  sehen,  oder  sie  den  Bemühungen  anderer  über- 
lassen. Die  EigentümUchkeit  entwickelt  sich  also  entweder  mit 
der  allgemeinen  Bildung  zugleich  und  durch  sie,  oder  sie  entsteht 
als  das  Werk  des  übrigen  Lebens  und  seiner  mannigfaltigen  Rei- 
bungen, oder  sie  fällt  der  Privaterziehung  anheim,  in  welche  sich 
dann  um  so  mehr  der  pädagogische  Dünkel  flüchtet;  denn  nichts 
verleitet  mehr  zu  leerer  Selbstgefälligkeit  als  die  Einbildung,  diese 
zarteste  Blüte  der  Natur,  mag  sie  sich  nun  als  Genie  in  der 
Kunst  und  Wissenschaft,  oder  als  charakteristische  Anmut  im 
Leben  offenbaren,  durch  künstliche  Mittel  hervorlocken  und  zeiti- 
gen zu  können,  ein  Abweg,  auf  welchen  die  öffentliche  Erziehung, 
eben  weil  sie  nur  in  großen  Massen  arbeitet,  zum  Glück  niemals 
verfallen  kann. 

Es  wäre  nun  freilich  noch  mehreres  auf  dieselbe  Weise  aus- 
zuführen, vornämlich,  wenn  die  Erziehung  teils  einen  negativen 
Charakter  hat,  teils  einen  positiven,  auf  welcher  von  beiden  Seiten 
der  Beruf  des  Staates  liegt;  ferner,  wenn  irgendwo  der  Unter- 
richt von  der  Erziehung  getrennt  als  Gewerbe  auftritt,  das  ein- 
zelne treiben,  ob  auf  dieselbe  Weise  oder  auf  ganz  andere  eine 
Aufsicht  des  Staates  darauf  stattfindet,  und  ob  diese  aus  dem- 
selben Prinzip  wie  sein  Beruf  zur  Erziehung  herfließt,  welches 
letztere  freilich  besonders  unsern  Gegenstand  ins  Licht  würde 
gesetzt  haben:  allein  ich  muß  dieses,  um  die  gewohnten  Grenzen 
nicht  zu   weit  zu  überschreiten,   einem  andern   Ort  aufsparen. 


über  den  Begriff  des  großen  Mannes. 

Am  24.  Januar  1826. 

Die  Sitte,  welche  unter  uns  eingeführt  ist,  Friedrichs  als  des 
Erneuerers  unsers  Vereins  jährlich  am  Tage  seiner  Geburt  öffent- 
lich zu  gedenken,  würde  eine  unangemessene  Feier  sein^  wenn 
er  selbst  an  dieser  Erneuerung  nicht  mehr  Anteil  genommen 
hätte,  als  die  meisten  Fürsten  an  den  Verordnungen  nehmen,  die 
ihnen  im  Rate  der  Staatsdiener  vorbereitet  zur  Unterschrift  vor- 
gelegt werden.  Aber  bei  allem  Werte,  den  Friedrich  auf  diese 
Angelegenheit  legte,  würde  doch  eine  solche  Feier  eine  lästige 
Verpflichtung  sein,  wenn  abgerechnet  diese  Liebhaberei  für  die 
Wissenschaften  der  König  ein  dürftiger  Gegenstand  wäre  für  die 
Betrachtung  und  für  die  Darstellung.  Allein,  wenn  schon  lange 
keiner  mehr  unter  uns  sein  wird,  der  noch  ihn  und  sein  Zeit- 
alter gesehen  hat:  so  wird  doch  den  Rednern  dieses  Tages  der 
Stoff  nicht  mangeln,  ohne  daß  sie  sich  weder  in  solche  Einzel- 
heiten verlieren  dürften,  die  ihrer  Natur  nach  immer  kleinlich 
sind,  noch  auch  einer  geraten  fände,  auf  die  Rede  eines  früheren 
zurückzukommen. 

Wenn  aber  dieses  allerdings  großen  Männern  zukommt,  un- 
erschöpflich zu  sein,  so  daß  alles  uns  ergreift  und  in  uns  ankUngt, 
was  von  ihnen  gesagt  wird,  aber  nach  allem  wir  immer  noch 
einen  Ton  in  uns  finden,   der  noch   nicht  angeschlagen  worden 


[111,3,74]  Begriff  des  großen  Mannes.  521 

ist:  so  gilt  dasselbige  auch  von  dem,  was  im  allgemeinen  über 
den  Begriff  und  das  eigentümliche  Wesen  des  großen  Mannes 
mag  gesagt  werden.  Jede  nicht  ganz  ungeschickte  Hand  von 
einem  Auge  geleitet,  das  nur  irgend  geübt  ist,  auf  das  Wahre  zu 
sehen  und  in  die  Tiefe  zu  dringen,  wird  etwas  Treffendes  und 
Richtiges  zeichnen;  aber  wie  vieles  auch  schon  mag  aufgedeckt 
und  ans  Licht  gezogen  sein  von  den  Vorzügen,  welche  eine  Stelle 
erwerben  unter  den  Lichtem  und  Heroen  des  Geschlechtes:  immer 
noch  wird  der  Eindruck,  den  jeder  solcher  auf  uns  macht,  nicht 
ganz  wiedergegeben  sein  und  zum  klaren  Verständnis  erhoben. 
Jedes  Kunstwerk  höherer  Gattung  und  so  auch  der  Begriff  eines 
solchen  schließt  eine  Unendlichkeit  in  sich,  aber  auch  durch  dieses 
Merkmal  wird  es  nicht  begriffen.  So  auch,  wovon  hier  die  Rede 
ist,  das  größte  Kunstwerk  der  geistigen  Natur.  Auch  das  also, 
was  hier  auf  Veranlassung  des  heutigen  Tages  über  diesen  Gegen- 
stand angedeutet  werden  soll,  unterliegt  demselben  Geschick,  und 
kann  nur  höchstens  ein  Weniges  hinzufügen  wollen  zu  dem  Vielen, 
was  schon  sonst  und  auch  hier  Anderes  und  Besseres  von  Besseren 
ist   gesagt   worden. 

Wenn  wir  an  den  Helden  dieses  Tages  zurückdenken:  so 
entgeht  uns  auch  an  ihm  nicht  das  Los  wohl  aller,  welche  wir 
durch  die  Benennung  großer  Männer  auszeichnen,  daß  er  nämlich 
lebend,  wie  er  auf  der  einen  Seite  sehr  zahlreiche  und  eifrige 
Verehrer  und  Bewunderer  gehabt  hat,  so  auch  auf  der  andern 
Seite  nicht  minder  ist  gehaßt  und  angefeindet  worden,  nach  seinem 
Tode  aber  seine  ganze  Gestalt  mehr  in  den  Hintergrund  zurück- 
getreten ist  und  die  verehrungsvolle  Bewunderung  von  ihrem 
Glänze  nicht  wenig  scheint  verloren  zu  haben.  Solche  Ungleich- 
heit des  Urteils  möchten  wir  gern  überall,  besonders  aber  in 
Beziehung  auf  diejenigen  aufheben,  welche  am  meisten  die  Gegen- 
stände der  Liebe  und  der  Bewunderung  sind.  Der  Gegensatz 
zwar  unter  den  Mitlebenden,  wissen  wir,  ist  unvermeidlich  ver- 
bunden mit  jener  Schwäche,  von  der  fast  nur  große  Männer 
selbst  eine  Ausnahme  machen,  die  meisten  aber  unterliegen  dem. 


522  Begriff  des  großen  Mannes.  [111,3,75] 

daß  ihr  Urteil  sich  selten  zur  reinen  Objektivität  läutert,  sondern 
mitbestimmt  wird  dadurch,  ob  ihre  persönlichen  Interessen  verletzt 
erscheinen  oder  gepflegt,  und  diese  Schwäche  allmählich  zu  ver- 
treiben, vermag  nur  der  steigende  Einfluß  wahrer  Philosophie, 
welche,  indem  sie  zu  jedem  gegebenen,  und  als  solches  not- 
wendigen, sein  Gegenstück  aufsucht,  auch  am  sichersten  alle  Ein- 
seitigkeiten untereinander  verbrüdert.  Aber  jene  andere  Ungleich- 
heit zwischen  den  Mitlebenden  und  den  Nachkommen  gibt  uns 
nur  zu  leicht  den  allerdings  unerfreulichen  Eindruck,  daß  für  bei 
weitem  die  meisten  Menschen  die  Beziehungen,  welche  sie  machen, 
eingeschlossen  sind  in  den  Kreis  der  lebendigen  Überlieferimg. 
Was  in  der  Kindheit  einer  Generation  noch  unmittelbar  da  war, 
was  in  den  Erzählungen  der  Eltern  die  kindliche  Phantasie  auf- 
regte, das  ist  eben  dadurch  für  das  Leben  befestigt;  alles  andere 
aber,  was  schon  weiter  zurückliegt,  zieht  sich  in  den  engen  Kreis 
der  Kundigen  zurück,  welchen  durch  die  schriftliche  Überlieferung 
alle  Zeitalter  gleich  nahe  treten. 

Aber  werden  hier  alle  Eindrücke  so  aufbewahrt  und  für  alle 
künftigen  Zeiten  erhalten,  wie  sie  einst  in  dem  lebendigen  Be- 
wußtsein der  Mitlebenden  waren?  Oder  sind  nicht  vielmehr  fast 
nur  die  großen  Männer  des  klassischen  Altertums  als  einzig  be- 
vorrechtet glücklich  zu  preisen,  welche  in  den  Zeiten,  wo  sich 
das  geistige  Auge  zuerst  zu  öffnen  anfängt,  der  aufknospenden 
Phantasie  dargestellt  werden,  alle  anderen  aber,  wenn  auch  ehedem 
noch  so  groß  geachtet,  treten  allmählich  zurück,  je  nachdem  die 
geschichtlichen  Massen  sich  häufen,  wie  auf  dem  ruhigen  Wasser- 
spiegel, wenn  nach  einem  glücklichen  Wurf  gewaltige  Kreise  sich 
bilden,  die  Spuren  früherer  Bewegungen  bald  gänzlich  ver- 
schwinden, so  daß  fast  nur  am  Anfang  der  größten  und  durch- 
greifendsten geschichtlichen  Entwicklungen  Gestalten  stehen 
bleiben,  welchen  das  Gepräge  der  Größe  für  alle  Zeitalter  unver- 
löschlich  aufgedrückt  ist.  Daß  aber  nur  nicht,  wenn  dem  so  ist,  wie 
es  scheint,  der  Begriff  des  großen  Mannes  ganz  zu  zerfließen  droht. 
Wenn  die   Nähe  mit  parteiischer  Vorliebe  färbt  und  indem   sie 


[111,3,  76]  Begriff  des  großen  Mannes.  523 

glänzend  erheben  will,  oft  durch  ein  fremdes  Licht  entstellt:  so 
dürfen  wir  nicht  wagen,  alles  groß  zu  nennen,  was  dafür  gepriesen 
wird  in  den  nächsten  Geschlechtern.  Wenn  die  Entfernung  ver- 
schleiert und  ausbleicht:  so  werden  wir  auf  der  einen  Seite  dem 
ohnerachtet  nicht  sagen  dürfen,  alles  sei  groß,  was  uns  auch  nach 
einer  Reihe  von  Jahrhunderten  noch  so  erscheint  im  Zauber 
der  Darstellung,  eben  weil  die  Darstellung  auch  schmeichlerisch 
zaubert  und  uns  wieder  wie  das  Urteil  der  Mitwelt  in  einen 
Kampf  von  Parteien  reißt,  auf  der  andern  Seite  aber  doch  vielleicht 
vieles  zu  bedauern  haben,  was  nur  die  Entfernung  unserer  erheben- 
den Bewunderung  entzieht,  und  manches,  was  mit  Recht  als 
groß  empfunden  wurde,  da  es  war,  werden  wir  nicht  mehr 
anerkennen,  nur  weil  es  uns  an  Mitteln  fehlt,  die  Gestalt  zu 
sondern  aus  den  farblosen  und  namenlosen  Schatten  der  Masse. 
Wenn  aber  dem  Minos  die  Seelen  nackt  dargestellt  werden  ohne 
alle  Bekleidung  der  äußern  Verhältnisse  und  Umstände,  damit 
er  sie  gebiete  an  den  Weg  der  Gerechten  oder  der  Ungerechten, 
können  sie  dem  Zeitlosen  gar  nicht  dargestellt  werden  ohne  jenem 
veränderlichem  Lichte  unterworfen  zu  sein,  damit  er  groß  und 
klein  scheide  und  die  wenigen  hingeleite  zur  Tischgenossenschaft 
der  Götter?  Worauf  sieht  er  und  wonach  spricht  er  diesen  Spruch? 

Wenn  die  Seele  entkleidet  sein  muß,  damit  der  Richter  nichts 
anderes  sehe  als  die  Art  und  Weise  des  Handelns,  um  gut  und 
böse  zu  scheiden:  so  wird  hingegen  seinem  geweiheten  Auge 
vieles  sichtbar  werden  müssen,  wenn  er  entscheiden  soll  über 
groß  und  klein,  was  sonst  unsichtbar  und  verborgen  bleibt.  In 
dem  geistigen  Gebiet  gibt  es  keine  Größe  als  Kraft,  und  es 
gibt  keine  Kraft,  welcher  die  Wirkung  fehlt,  vielmehr  Kraft  und 
Wirkung  sind  einander  immer  gleich.  Die  ganze  Atmosphäre  der 
Seele  muß  dem  Auge  des  Richters  erscheinen,  auf  daß  er  sehe, 
wie  weit  ihr  belebender  Hauch  sich  erstreckt  hat  und  wie  viele 
sich  an  ihr  genährt  haben  und  erfrischt. 

Hört  eine  geistige  Erscheinung  auf,  den  Eindruck  der  Größe 
zu  machen,   sobald  sie  anfängt,   sich  im   Gewühl  der  Masse  zu 


524  Begriff  des  großen  Mannes.  [111,3, 77] 

verlieren:  so  ist  gewiß  diejenige  nie  groß  gewesen,  welche  nie 
imstande  gewesen  ist,  sich  diesem  Gefühl  zu  entreißen  und  den 
Beschauer  zu  einer  ausschließlich  ihr  geweihten  Betrachtung  zu 
zwingen.  Gerecht  kann  eine  solche  Seele  gewesen  sein  und  so  weit 
ohne  Tadel;  sie  kann  in  dem  reinen  Ebenmaß  ihrer  Bestrebungen 
alle  Elemente  des  Schönen  in  sich  vereinigen  und  dem  Auge 
des  Wohlwollens  auch  so  erscheinen,  jenem  Unerbittlichen  aber  ist 
sie  doch  das  Kleine.  Wo  aber  finden  wir  das  Entgegengesetzte? 
und  lassen  sich  überhaupt  hier  feste  Punkte  aufstellen?  Man  ist 
geneigt  genug,  diese  Frage  zu  verneinen,  und  die  Erfahrung  drängt 
uns  alle  mächtig  nach  dieser  Seite  hin;  das  Bedürfnis  aber  und 
also  auch  die  Forderung  der  Vernunft  spricht  sich  aus  in  dem 
Worte  eines  alten  Weisen,  daß  ja  unmöglich  groß  und  klein  nur 
könne  ein  Fließendes,  sondern  daß  auch  hier  wie  überall  in  den 
Begriffen  müsse  etwas  Festes  sein.  Ja  es  scheint  sogar,  als  ob 
nach  dieser  Regel  auch  unsere  Aufgabe  zu  behandeln  nicht  könne 
allzu  schwierig  sein,  da  wir  ja  schon  in  dem  Veränderlichen  und 
Fließenden  selbst  doch  haben  ein  festes  Element  ergreifen  können. 
Denn  wenn  wir  sagen,  der  einzelne  verliert  sich  unter  der  Masse, 
und  ihn  deswegen  zum  Kleinsein  verdammen,  nun  so  finden  wir 
eben  dadurch  das  Nichtverlieren,  und  dies  führt  auf  eine  Mannig- 
faltigkeit freilich  von  Verhältnissen  zwischen  dem  einzelnen  und 
der  Masse,  auf  eine  solche  aber,  der  eine  bestimmte  Zahl  zum 
Grunde  liegt.  Eingestanden  wird  wohl  von  allen  werden,  daß 
auf  dem  geistigen  Gebiete  der  Ausdruck  Masse  nur  in  einem 
bestimmten  und  untergeordneten  Sinne  gebraucht  wird.  Wo  wir 
eine  Menge  aufeinander  wirkendes,  durcheinander  wogendes,  ein- 
zelnes Leben  sehen,  in  welcher  aber  weder  eine  wahrhaft 
organische  Gestaltung  hervortritt,  noch  auch  das  einzelne  sich  als 
Selbständiges  sondert,  das  nennen  wir  Masse.  Je  mehr  der  einzelne 
hier  nur  ein  Ort  ist,  wo  die  verschiedenen  in  der  Gesamtheit 
waltenden  Bewegungen  sich  begegnen,  sich  kreuzen  und  brechen 
oder  verdrängen,  je  nachdem  die  Weise  ist,  wie,  und  die  Stärke, 
mit  welcher  sie  zusammenstoßen,  ohne  daß  in  dem  einzelnen  selbst 


|III,3,  78]  Begriff  des  großen  Mannes.  525 

ein  den  Erfolg  regelndes  Prinzip  erscheint,  um  desto  mehr  erscheint 
er  nur  als  ein  Element  der  Masse.  Denken  wir  uns  nun  das 
äußerste,  fehlt  die  Eigentümlichkeit  ganz,  und  dieser  innere 
Regulator,  der  der  ganze  eine  Faktor  des  Lebens  sein  soll,  ist 
Null:  so  ist  notwendig  auch  die  ganze  Erscheinung  als  Zahl  zwar 
zählend,  aber  als  eigenes  geistiges  Leben  betrachtet,  das  unendlich 
oder  absolut  Kleine,  und  von  dieser  gilt  auch  nicht,  daß  sie  tugend- 
haft sein  kann  oder  schön,  denn  wenn  zufällig  ohne  Tadel,  so 
ist  sie  auch  notwendig  ohne  Lob,  und  spielten  in  dem  gestaltlosen 
unsteten  Flimmern  auch  lauter  anmutige  Farben:  so  wäre  doch 
keine  Schönheit  darin.  Wo  aber  das  Eigentümliche,  der  Charakter, 
nicht  fehlt,  und  alle  Einwirkungen  selbstgemäß  bestimmt,  so  daß 
man  unterscheiden  kann  und  als  wesentlich  zusammengehörig 
fassen,  was  Moment  eines  solchen  Lebens  ist:  da  ist  in  den 
mannigfaltigsten  Abstufungen,  die  wir  aber  alle  als  Eines  zu- 
sammenfassen, das  Verhältnis  der  Gegenseitigkeit  zwischen  dem 
einzelnen  und  der  Gesamtheit,  einer  Gegenseitigkeit  des  Gebens 
und  Empfangens,  des  Bestimmens  und  Bestimmtwerdens,  in  freier 
Bewegung  erscheinend,  aber  doch  nach  ewigen  Gesetzen  geordnet, 
nicht  mehr  das  Kleine  und  Gemeine,  aber  auch  nicht  das  Große, 
sondern  das  Gewöhnliche.  Der  allgemeine  Ort,  wo  das  Bessere 
und  das  Schlechtere  nebeneinander  wachsen,  wo  alle  Tugenden 
und  Trefflichkeiten  gedeihen,  alle  Talente  blühen  und  Früchte 
tragen,  ja  wo  auch  das  Genie  glänzt  —  wenn  ein  Gewinn  ist 
bei  dem  Gebrauch  solcher  durch  die  Umprägung  zweideutig 
gewordener  Münzen,  deren  oft  wechselnden  Kurs  niemand  genau 
kennt  —  kurz,  alles  Gute  und  Schöne  ist  hier  zu  finden,  aber 
das  Große  nicht.  Sondern  der  große  Mann  zeigt  sich  uns  erst 
diesem  allen  gegenüber  nicht  etwa  als  der  schönste  und  kräftigste 
aus  der  Masse  oder  als  der  begünstigtste,  zu  dessen  Förderung 
und  Wachstum  alle  Bewegungen,  die  dort  vorgehen,  oft  auf  das 
Wunderbarste  gelenkt  werden,  sondern  der  ist  es,  der  nichts 
von  ihr  empfängt  und  ihr  alles  gibt.  Freilich  ist  auch  er  nicht 
ohne  die  Gemeinschaft,  und  wie  möchte  einer  ein  großer  Mann 


526  Begriff  des  großen  Mannes.  [111,3,  7Q] 

sein,  ohne  die  ihn  umgebende  Weit  in  sich  aufgenommen  zu 
haben.  Aber  doch  als  das  vollkommne  Gegenteil  müssen  wir 
ihn  stellen  von  dem,  was  wir  als  das  schlechthin  Kleine  gesetzt 
haben  in  menschlichen  Dingen.  Das  Empfangen  und  Insich- 
aufnehmen,  unentbehrlich  in  dem  Rhythmus  jedes  Lebens,  ist  in 
dem  seinigen  immer  nur,  daß  ich  so  sage,  der  schlechte  Zeitteil, 
nur  notwendig,  um  den  guten  zu  heben,  vorangehend,  damit 
dieser  sei,  ja  selbst  von  diesem  so  beherrscht,  daß  der  in  jenen 
mit  hineinklingt,  so  daß,  was  er  im  buchstäblichen  Sinne  empfängt, 
immer  nur  ein  Nichtseiendes  ist,  ein  Chaos,  das  sich  in  ihm  erst 
für  ihn  bildet  und  gestaltet  kraft  jenes  inneren  Regulators,  der 
in  ihm  nicht  Null  ist,  sondern  alles.  Das  Wahre  aber  und  Wesent- 
liche, wodurch  er  ist,  was  er  ist,  das  sind  die  eigentümlichen 
Ausströmungen  seines  Wesens,  die  Idole  des  Epikuros,  die  sich 
jeden  Augenblick  von  ihm  losreißen,  in  alles  eindringen  und  alles 
in  Bewegung  setzen.  Der  große  Mann  ist  nur  der,  welcher  die 
Masse  beseelt  und  begeistert,  ganz  herausgetreten  aus  dem  Ver- 
hältnis der  Gegenseitigkeit,  er  auf  keine  Weise  ihr  Werk,  sie  aber 
auf  seine  Weise  das  seinige.  Wer  aber  meinen  wollte,  unter  dem 
Begeistern  sei  etwa  zu  verstehen,  daß  die  Masse  dadurch,  daß  sie 
des  großen  Mannes  Taten  und  Wesen  anschaut  mit  etwas  Größerem 
als  gewöhnlich  erfüllt  und  so  über  sich  selbst  erhoben  werde, 
der  bliebe  bei  etwas  Geringem  stehen,  was  auch  schon  jedes 
schöne  Talent  leistet;  nur  auf  die  Empfänglichkeit  wirken,  ist 
zu  wenig  für  den  großen  Mann.  Denn  Nachahmungen  hervor- 
bringen, durch  Werke  und  Taten  ein  lange  fortwirkendes  Urbild 
werden,  durch  sich  selbst  in  irgendeinem  Zweige  menschlichen 
Tuns  neue  Bahnen  brechen,  zu  einer  unerreichten  Höhe  sich 
erheben  und  dort  aufgestellt  sein  als  ein  immer  angestrebtes, 
aber  nie  getroffenes  Ziel  —  dies  mag  vielleicht  mit  zu  dem 
gehören,  was  wir  Genie  zu  nennen  pflegen;  aber  so  einseitig 
ist  nicht  das  Wesen  und  Wirken  des  großen  Mannes;  und  auf 
die  letzte  Art  diejenigen  beseelen,  welche  Gleiches  oder  Ähnliches 
hervorbringen,  auf  die  erste   Art  aber  die,   welche  es  genießen 


[111,3,  80]  Begriff  des  großen  Mannes.  527 

wollen,  beweiset  eben  die  Verwandtschaft  mit  beiden  und  das 
Leben  mit  ihnen  an  demselben  gemeinsamen  Ort.  Der  große  Mann 
ist  gesonderter  von  dem  allen,  nicht  selbst  in  dieses  mannigfaltige 
Leben  verflochten,  aber  der  Urheber  desselben.  Oft  ist  es  ein 
solcher  gewesen,  der,  wie  ein  göttlicher  Hauch  einer  noch 
ursprünglich  starren  bewegungslosen  Masse  mitgeteilt,  das  mannig- 
faltige Leben  in  ihr  erregt,  wie  ein  himmlischer  Funken  hinein- 
geworfen, alle  diese  schönen  Lichter  in  ihr  entzündet  hat,  öfter 
noch  war  es  ein  solcher,  der  eine  durch  widriges  Geschick  ge- 
drückte und  in  sich  zusammengesunkene  Masse  wieder  erweckt 
hat  zu  einer  neuen  und  schöneren  Periode  ihres  Daseins.  Kurz, 
der  große  Mann  ist  nur  der,  durch  welchen  in  irgendeiner  Be- 
ziehung die  Masse  aufhört,  Masse  zu  sein,  durch  welchen  sie 
erregt  wird,  daß  sie  sich  sondere,  daß  Selbstgefühl  an  die  Stelle 
eines  träumerischen  Schlummerlebens  trete,  nur  der  ist  es,  durch 
den  sie  so  erregt  kraft  des  ihm  einwohnenden  Gesetzes  sich  zum 
organischen  Gesamtleben  entweder  zuerst  gestaltet  oder  auch  sich 
nach  einer  Zeit  des  Verfalls  und  der  Zerstörung  neu  entwickelt. 

So  wäre  es  also.  Wo  eine  neue  geschichtliche  Entwicklung, 
wo  ein  neues  oder  erneutes  gemeinsames  Leben  von  einem  aus- 
geht, da  und  nur  da  ist  ein  großer  Mann.  Bisweilen  erscheint 
er  die  freieste  Gabe  des  Himmels  ungeahndet  und  unbegehrt, 
öfter  nach  den  heftigsten  Bewegungen  und  langem  Seufzen  der 
hilflosen  Kreatur.  Wenn  wir  aber  sehen,  daß  an  der  Grenze 
zweier  Zeitalter  des  Alten  überdrüssig  und  nach  Neuen  ringend 
die  geistige  Kraft  sich  abmüht  in  Erscheinungen,  die  keinen  Bestand 
gewinnen,  ein  Vergängliches  das  andere  drängend,  wie  in  den 
Zeiträumen  der  noch  unreifen  Schöpfung,  ehe  fortbestehende 
Gattungen  sich  bilden  konnten:  da  kennen  wir  die  Lösung.  Die 
Masse  ist  nicht  geweckt  genug,  um  ihr  neues  Leben  als  ein  ge- 
meinsames Werk  hervorzurufen;  alles  harrt  eines  schöpferischen 
Wesens,   aber   der  große  Mann   will  nicht   erscheinen. 

Vor  diesem  segensreichen  Bilde  seltener  göttlicher  Werkzeuge 
stehen  wir  als   nicht  vor  unseresgleichen.    Es   sind  die   Heroen 


528  Begriff  des  großen  Mannes.  [111,3,811 

der  Gattung,  es  ist  jenes  dämonische  Geschlecht,  königlich  und 
herrschend  seiner  Natur  nach,  das  aber  nur  in  einzelnen  weit 
voneinander  entfernten  Erscheinungen  aus  geheimnisvollen 
Zeugungen  der  Natur  hervorgehend  sich  offenbart.  Aber  es  ist 
unser  Stolz,  daß  unsere  Sprache  uns  übermenschliche  Ausdrücke 
weigert.  Ein  großer  Mann,  Größeres  können  wir  nicht  sagen;  ein 
großer  Geist,  ein  Held,  das  ist  weniger;  jeder  besondere  Name 
gehört  auch  nur  einzelnen  Beziehungen,  alle  Häufungen  können 
nur  Verringerungen  sein.  Etwas  aber  gibt  uns  die  genauere 
Betrachtung  der  hehren  Gestalt  an  die  Hand,  was  uns  derselben 
wieder  näher  bringt.  Soll  freilich  Einer  gedacht  werden,  in  welchem 
die  Kraft  Hegt,  in  dem  ganzen  menschlichen  Geschlecht  aller 
Zonen  und  aller  Zeiten  ein  neues  Leben  zu  wecken,  und  das 
Ganze  in  einer  alles  umfassenden  Organisation  zu  befreunden, 
der  müßte  alles  menschliche  Maß  überschreiten,  und  er  wäre 
zugleich  der,  welcher  alle  menschliche  Größe  vernichtet.  Dieses 
Geheimnis  aber,  das  in  dem  sich  immer  wieder  erneuernden  und 
immer  wieder  reinigenden  Glauben  von  MilHonen  lebt,  können 
wir  hier  nur  erwähnen,  um  es  auszulassen  aus  unserer  Betrach- 
tung. Alle  großen  Männer  aber  innerhalb  des  rein  menschlichen 
Gebietes,  wenn  sie  eine  Masse  beleben  sollen  und  organisieren: 
so  können  sie  auch  nur  einer  bestimmten  Masse  angehören,  inner- 
halb deren  ihre  eigentümliche  Wirkung  beschlossen  ist;  denn  sehr 
verschieden  zwar  ist  das  Maß  organischer  Bildungen,  aber  ge- 
messen und  begrenzt  sind  alle.  Und  hier  findet  der  zweite  Teil  des 
schon  angeführten  alten  Wortes  seine  Bewährung  und  seine  An- 
wendung. Nämlich  an  demselben  Orte,  wo  Piaton  behauptet, 
auch  das  Große  könne  nicht  bloß  relativ  verstanden  werden, 
sondern  etwas  Festes  müsse  in  dem  Begriffe  gesetzt  sein,  ebenda 
stellt  er  auch  eine  Formel  dafür  auf;  groß,  sagt  er,  sei,  was  den 
ganzen  Umfang  erfüllt,  innerhalb  dessen  es  in  seiner  Art  noch 
eines  sein  könne.  In  diesen  Grenzen  ist  auch  der  große  Mann 
notwendig  beschlossen;  die  Masse,  auf  die  er  wirkt,  muß  ein 
Zusammengehöriges  und  in  sich  Abgeschlossenes  entweder  schon 


[111,3,  82]  Begriff  des  großen  Mannes.  529 

gewesen  sein  oder  nun  durch  ihn  werden,  damit  Einheit  sein 
könne  in  dem  Leben,  das  er  in  ihr  erweckt.  Das  Talent,  das  Genie 
erfreuen  sich  einer  äußerlichen  Unendlichkeit  ihrer  Wirkungen. 
Das  Bildwerk,  von  seiner  Heimat  aus  fernen  Regionen  zugetragen, 
wird  auch  dort  zur  glücklichen  Stunde  den  Sinn  entwickeln,  den 
Geschmack  erwecken,  und  seine  Wirkung  ist  dann  dieselbe.  Die 
Dichtung,  nachdem  sie  eine  verwandte  Kunst  erzeugt,  läßt  sich  in 
fremde  Sprachen  übertragen,  und  die  Wirkung  im  wesentlichen 
ist  dieselbe.  Der  große  Mann  ist  mit  seiner  eigentümlichen 
Wirkung  auf  das  ihm  von  der  Natur  angewiesene  Gebiet  be- 
schränkt, er  hat  eine  bestimmte  Heimat,  sei  sie  nun  räumlich 
begrenzt  oder  durch  einen  geistigen  Typus,  welcher,  wo  er  sich 
auch  finde,  dieser  Gewalt  unterliegt,  außerhalb  dessen  sie  aber 
ohne  Wirkung  bleibt. 

Doch  nun  ist  es  Zeit,  einer  Frage  zu  horchen,  die  gewiß 
schon  lange  hat  hervorbrechen  wollen,  ob  nämüch  nicht  diese 
Rede  den  Ausdruck,  welchen  sie  erläutern  will,  ganz  gegen  den 
Gebrauch  unserer  Sprache  und  gegen  das  allgemeine  Gefühl  auf 
eine  viel  zu  enge  Weise  beschränkt.  Denn  worauf  deutet  das 
zuletzt  Gesagte,  als  daß  es  große  Männer  nur  gibt  im  Staat  und 
in  der  Kirche.  Die  räumlich  begrenzte  Heimat,  in  welcher  der 
große  Mann  wirkt,  ist  die  Volkstümlichkeit,  und  das  organische 
Leben  derselben  ist  das  bürgerliche.  Der  geistige  Typus,  den,  wo 
er  sich  auch  finde,  der  große  Mann  sich  aneignet,  ist  die  religiöse 
Sinnesart,  und  diese  wird  zu  einem  organischen  Gesamtleben, 
wo  es  eine  Kirche  gibt,  so  daß  auch  das  früher  Gesagte  dazu 
stimmt,  denn  es  gibt  keine  anderen  Organisationen  aus  der  Masse 
als  diese.  Also  die  Gründer  und  Wiederhersteller  der  Staaten, 
wo  hierbei  einzelne  auf  eine  ausschheßende  Weise  geherrscht 
haben  und  gewaltet,  die  Stifter  und  die  Reiniger  der  Religionen, 
das  sind  die  großen  Männer.  Zwei  Arten  derselben  gibt  es, 
seitdem  Staat  und  Kirche,  mehr  zur  Besonnenheit  gelangt,  sich 
voneinander  geschieden  haben,  und  die  letztere  kein  Reich  sein 
will   von   dieser  Welt;    nur   einartig  zeigte   sich   der  Begriff,   so 

Schleiermacher.  Werke.     1.  34 


530  Begriff  des  großen  Mannes.  [111,3,83] 

lange  noch  beide  theokratisch  untereinander  verworren  waren. 
Die  Kunst  aber  und  die  Wissenschaft  mögen  sich  mit  dem  Talent 
begnügen  oder  dem  Genie;  wie  herrlich  sich  auch  ihre  Kraft  in 
einzelnen  GünstHngen  der  Natur  offenbart,  das  Gepräge  der  Größe 
vermag  sie  ihnen  doch  nicht  aufzudrücken.  Ich  leugne  es  nicht, 
so  scheint  sich  mir  die  Sache  zu  stellen.  Aber  sollte  das  wirklich 
gegen  den  Gebrauch  der  Sprache  sein  und  gegen  unser  geheimstes 
Gefühl?  Unser  Friedrich  war  Tonkünstler  und  Dichter;  aber 
wenn  er  beides  gewesen  wäre  in  der  höchsten  Meisterschaft, 
würden  wir  ohne  Bedenken  sagen,  auch  das  wären  Elemente 
seiner  Größe,  oder  nicht  vielmehr,  er  wäre  das  gewesen  noch 
neben  dem  großen  Mann?  Ich  hätte  mich  zu  dem  letzten  ent- 
schlossen, ja  auch  nur  zu  demselben,  wenn  sein  Philosophieren  sich 
zu  dem  wohlgeordnetsten  und  tiefsinnigsten  System  hätte  ge- 
stalten können.  Der  große  Mann  ist  nicht,  was  er  ist,  durch 
einzelne  Werke  und  für  einzelne  Klassen;  ja  auch  eine  Schule 
zu  stiften  in  der  Kunst  oder  der  Wissenschaft  ist  etwas  weit  unter 
seiner  Aufgabe.  Nicht  eine  Schule  stiftet  er,  sondern  ein  Zeitalter. 
Wenn  man  recht  hat,  in  demselben  Sinne  von  einem  Zeitalter  des 
Perikles  oder  des  französischen  Ludwig  zu  reden  —  ohne  es  zu 
bejahen,  seien  dies  nur  erdichtete  Beispiele  —  so  waren  dies  auch 
Zeitalter  der  Kunst  und  der  Wissenschaft,  aber  ohne  daß  der 
Schüler  des  Anaxagoras  selbst  wäre  ein  Philosoph  gewesen  oder 
der  viel  besungene  Ludwig  selbst  ein  Dichter.  Ein  Zeitalter 
Friedrichs  hat  es  gewiß  gegeben.  Der  Umfang,  in  welchem  sein 
Geist  belebend  und  organisierend  wirkte,  war  nicht  etwa  sein 
Staat,  wie  er  ihn  fand  oder  wie  er  ihn  ließ  —  denn  das  ist  einmal 
das  deutsche  Geschick,  daß  die  politischen  Abteilungen  wechselnd 
sind  und  zufällig  — ,  sondern  dasjenige  Deutschland,  welches 
wir,  ohne  es  geographisch  zu  nehmen  oder  gar  einen  immer  mehr 
verschwindenden  Parteigeist  wecken  zu  wollen,  das  nördliche 
nennen.  Mittelbar,  unmittelbar  hat  er  hier  alles  belebt  und  ge- 
staltet, ja  selbst  die  Sprache,  die  sich  hier  in  seinem  Zeitalter 
bildete,  und  die  Kunst  und  Wissenschaft  in  dieser  Sprache,  wiewohl 


[111,3, 84]  Begriff  des  großen  Mannes.  531 

von  ihm  selbst  nicht  geübt  und  wenig  beachtet,  gehört  doch  mit 
zu  dem  Werke  seines  Geistes. 

So  ist  sein  Gedächtnis  ein  Teil  unserer  Selbsterkenntnis, 
seine  geheim  fortwirkende  Kraft  durchströmt  noch  alle  unsere 
Bestrebungen.  Das  größte  Maß  aber  des  großen  Mannes,  das 
Maß,  worin  sich  jenes  Übermenschliche  spiegelt *) 

*)  Hier  bricht  das  Manuskript  ab.    Jonas. 


34* 


Personenregister. 


A. 

Anaxagoras  530. 

Antisthenes  183- 

Archidemos  48. 

Aristipp  40,  62,  82 ff.,  89,  91,  92,  95, 
116,  119,  l56f.,  160,  162,  173f., 
232,  235. 

Ariston  von  Chios  HO. 

Aristoteles  40,  44f.,  59f.,  8l,  93ff., 
107,  114,  119,  140,  159,  161,  163, 
I65f.,  174 f.,  179,  209,  223,  227, 
235,  237,  265,  277,  285 f.,  289, 
308,  333,  335,  352f.,  397- 


Barbeyrac  440. 


C. 


Chrysippos  48. 

Cicero  (Marcus  Tullius)  55,  114,  ll6f., 
119,   133,   148f.,  236,  286,  303,  439- 
Clarke  11 8. 
Cousin,  V.,  7. 


Diogenes  48,  117- 


D. 


E. 


Epiktet  201,  266. 

Epikur    16,    40,    54,    62,    83,    87,    89, 

90,  93,  97 ff.,  107,  109,  115ff.,  156f., 

308,  343,  526. 
Eucken  272. 
Eudoros  140. 

F. 

Ferguson  44,  52,  55,  117- 


Fichte  26ff.,  47f.,  56,  63f.,  65,  68,  81, 
94,  96,  98,  99,  101  f.,  109,  112,  117, 
134,  146,  157,  184,  191,  193,  196ff., 
200f.,  204f.,  207ff.,  212,  214f., 
21 7  f.,  220,  225,  239,  243,  245  f., 
267 f.,  272,  275,  281  ff.,  285,  290ff., 
295,  298,  300,  309 f.,  31 5 f.,  329, 
331  ff-,    340,    398,    400,  446,  453. 

Friedrich  der  Große  520,  530. 

G. 

Garve  44,  67,  128,  133,  143,  I67,  228, 
238,  335. 

H. 

Hartmann,  E.  v.,  201. 
Hegesias  85- 
Helvetius  55- 
Heraklit  524. 
Hume  117. 
Hutcheson  83,  117. 

K. 

Kant  14,  22ff.,  39f.,  48f.,  51,  57,  64, 
66,  88 f.,  96 ff.,  109,  112,  118,  126, 
129,  131,  133,  138,  141  f.,  143,  149f., 
155,  157,  159,  165,  I82f.,  188,  191, 
195,  197f.,  200,  202ff.,  206f.,209ff., 
214,  217,  221,  225f.,  237,  260, 
267,  271,  275 ff-,  280f.,  285 f.,  292, 
299,  301,  31 7  f-,  330,  398,  404 ff., 
439,  445. 


L. 


Ludwig  XIV.  530. 


534 


Personenregister. 


Montaigne  39- 


Nikomachos  114. 


M. 


N. 


P. 


Panaitios  148,  266. 

Perikles  530. 

Piaton  12,  34f.,  37,  47,  58f.,  68f.,  73, 
91,  95,  I07f.,  110,  113,  116,  158, 
166,  174,  178,  232,  236,  246,  269 f., 
287,  290f.,  309,  335,  338f.,  397,  427, 
507,  528. 


S. 


Schwarz,  Karl  325. 


Shaftesbury  43 f-,  52,  55,  62,  67,  117- 

Smith  118. 

Sokrates  454,  469- 

Spinoza  35 ff-,  40,  46 f.,  49,  56,  58f., 
68f.,  73,  95,  108,  110,  113,  II6,  l60f., 
163,  166,  177,  189,  191,  194,  197, 
223,  232f.,  238f.,  241,  245f.,  269f., 
290f.,  294,  296,  309,  337f- 

Stobaios,  Johannes  53- 


T. 


Tennemann,  W.  G., 
Theophrast  114. 


W. 


WoUaston  118. 


Sachregister. 


A. 

Abgeratenes  423. 

Abstammung:  482. 

Achtung  (abstoßende  Grundkraft)  66. 

Adel  511,  518. 

Affekt  161. 

Allgemeine,  das  31 8f.,  326,  506. 

Allgemeinen,   Vereinigung  des  —  und 

Eigentümlichen  63. 
Analysten  8. 
Aneignen  393  f. 

Anglikanische  Sittenlehre  335 f. 
Anglikanische  Schule  s.  Namenregister: 

Shaftesbury. 

—  83 f.,  92.,  102f.,  109,  117,  202,  242. 
Anglikanisches   System   86. 
Animalisation  41 3  f.,  461  ff. 
Antrieb,  sinnlicher  421. 

—  sittlicher  421. 
Aristokratie  509 f.,  51 8. 
Asketik  301,  304 ff.,  308f. 
Aufforderung,    äußere   389: 
Aufrichtigkeit  in  Aussagen  207ff. 
Ausbildung  und   Entwicklung   196. 

B. 

Begehrungsvermögen  400f. 

Begierde  I6l. 

Begriffe,  Einteilung  der  formalen  258. 

Beharrlichkeit  362,  372. 

Belehrung,  Strafe  und  225  f. 

Beleidigung  223  f. 

—  Abwehr  von  224. 
Beruf  272,  276,  394. 
„Beruf"  (Fichte)  63. 


Beruf,  Idee  eines  265. 

Berufsleben  421  f. 

Bescheidenheit  238. 

Besiegte  508  f. 

Besitz,   Begriff  des  I75f-,  481  f. 

Besondere,  das  264f.,  270,  293,  3l8f., 

326,  506. 
Besonnenheit    362,    365 f-,    368£.,    372. 
Betrachtung,  sittliche  430. 
Betrachtungsweise,     Einseitigkeit     der 

350ff. 
Bewußtsein  478,  485 ff. 
—  sittliches  433- 
Einbilden  in  das  366. 
Bürger  5l6ff. 
Bürgerliche  Gewalt   179. 
Bürgerstand  511. 

c. 

Charakter,  Verschiedenheit  des  262. 
Cyniker  49,  115,  203,  266,  315- 
Cyrenaiker  55,  115- 
Cyrenaische  Schule  82,  191,  205. 

D. 

Dankbarkeit  und  Wohltätigkeit  217ff., 

238. 
Demokratie  509  f. 
Denken  und  Handeln  239- 
Dialektik  397. 
Dienstfertigkeit  218. 

E. 

Edelmütigkeit  166. 

Ehe  183, 199 ff-,  2l5f.,  280ff.,  295f.,  332. 


536 


Sachregister. 


Ehe,  Freundschaft  in  der  285- 

—  Ableitung  der  298. 

Ehre  l6l,  213- 

Ehrliebe  204. 

Eigentum  225,  482f. 

Eigentümliche,  das  265,  463 f.,  478 f., 
483,  51 7 ff- 

Eigentümlichen,  Ausbildung  des  — 
zur  Sittlichkeit  269. 

Eigentümlichkeit,    geschlechtliche   282. 

Einheit  und  Vielheit,  Gegensatz  von  350f. 

Einseitigkeit  der  Betrachtung  s.  Be- 
trachtung. 

Einzelwesen  479,  486 ff. 

Elementarlehre  301. 

Empfänglichkeit  360. 

Enthaltsamkeit  132. 

Entschluß  207,  252,  383  ff,  404,  447- 

Epikureer  43- 

Erde  461  f.,  470. 

Erdkunde  466. 

Erfinden  321. 

Erfindungslehre,  Prinzipien  der  —  in 
der  Ethik  321. 

Erhaltung,  Pflicht  der  195  f- 

Erholung  429- 

Erinnerung,   Falschheit  der  213. 

Erkennen  361. 

Erkenntnis  (zu  unterscheiden  von  der 
Klugheit)  229. 

Erlaubnisgesetz  138  142,  439  f- 

Erlaubtes  428,  433 f-,  444,  453- 

Erlaubtes,  Begriff  des  1 35 f-,  404,  407 ff. 

Erwachen,  das  423  f. 

Erwerbung  481. 

Erziehung  328,  466,  495- 

—  (Recht  des  Staates)  497. 

—  (Zweck  des  Staates)  502f. 
Erziehungskunst  301,  324 f. 
Erziehungskünsteleien  512. 
Erziehungslehre  309,  322,  325. 
Ethik  s.  a.  Sittenlehre. 

—  Ableitung  der  15,  26,  31- 

—  Ableitung  ihrer  Grundsätze  22. 

—  Grundsatz  der  74  f. 

—  Tauglichkeit    des    Grundsatzes    76. 

—  Aufbauendes   Verfahren   76. 

—  Prüfendes  Verfahren   76. 

—  Anwendung  der  Idee  eines  Sytsems 
auf  die  247  ff. 


Ethik,  angewendete  327. 

—  aus  einer  höheren  Wissenschaft 
her  zu  begründen  38. 

—  Bedeutung  der  Individualität  für 
die  261. 

—  Begriffe  124  f. 

—  Begriffe.  1.  formale,  2.  reale  I24f., 
I27f.,  179- 

—  Prüfung  der  formalen  Begriffe  128 f. 

—  die  drei  Begriffe  der  —  (Pflichten, 
Tugend,  Güter)  3l2f.,  3 78 f. 

Wechselbeziehungen  379. 

—  Darstellung  der  9f.,  127,  251,  255, 
259,  273,  309,  311,  3l3f.,  3l9f., 
328,  382,  449,  451. 

—   drei   Verschiedenheiten   des 

Stiles  334  (s.  auch  Verfahren). 

—  endemische  ll4f. 

—  formaler  Teil  313- 

—  genießende  252f. 

—  des  Genusses  169 ff-,  180. 

—  des  Handels  171,  174. 

—  die  Idee  jeder  Wissenschaft  in  der 
323. 

—  Inhalt  der  25 5  f. 

:  doppelte  Forderung  1.  Zuge- 
hörigkeit, 2.  Vollständigkeit  25 5  f., 
258,  273. 

—  der  oberste  Grundsatz  der  iy,  21. 

—  Kantische  100. 

—  Keim  der  wahren  345. 

—  negative   325. 

—  Nikomachische   ll4f. 

—  praktische  171,  l80f.,  187,  213, 
222,  224,  250f.,  278,  294. 

—  propädeutische  296. 

—  Prüfung  der  Grundsätze  80ff. 

—  sympathetische  213,  220 f.,  224. 

—  verschiedene  Systeme  125  ff. 

—  systematisch  gebildete  247  f.,  252. 

—  universeller  Charakter  der  108,  110. 

—  Vorstellung  der  248. 

—  eine  Wissenschaft  lOff.,  53,  HO, 
153,  241,  290,  349,  445. 

—  Zusammenhang  der  —  mit  der 
höchsten  Wissenschaft  148 f. 

—  Zusammenhang  anderer  wissensch. 
Disziplinen  mit  der  466. 

Ethische,  das  —  im  allgemeinen  oder 
im  Individuellen  61,  111,  261. 


Sachregister. 


537 


Ethische,  das  Verfahren  bei  Bestimmung 
des  74. 

—  Begriffe,     Bildung    und    Ableitung 
121  ff.,  234 f.,  243. 

—  Formeln,  Grenzen  der  302 f. 

—  Fortschritte  321. 

—  Gesetzgebung  134. 

—  Grundideen,  Verschiedenheit  der  253. 

—  Grundsätze,  Tauchlichkeit  der  ver- 
schiedenen 70ff. 

Verschiedenheit,    Mannigfaltig- 
keit der  38 f. 

—  Ideen,  die  drei  70. 
höchste  214. 

—  Reale,  das  154. 

—  Reflexionsbegriffe  240. 

—  Sprache  246. 

—  Systeme,  Prüfung  der  128  ff. 
Vollkommenheit  der  —  in   Ab- 
sicht auf  deren  Gestalt  301  ff. 

Vollständigkeit  der  —  in  Absicht 

auf  den  Inhalt  259f.,  289. 

Widerspruch   in   einem   299. 

Ethnographie  466. 

Eudämonismus    81  f.,    85  f.,    89,    90f., 

95,    103,    111,   115,   119,   162,   173, 

177,  202,  219,  222,  264,  308. 
Eudämonisten  17S,  185,  232. 
Eudämonistische  Ethik  169,  171,  I82f., 

213,  221  f.,  231,  278f.,  289,  307. 

—  Systeme  157- 

F. 

Falschheit  204. 

Familie  328f.,    462,    464,   472,  48l  ff., 

492,  498,  504. 
Formalismus  (Kant)  51- 
Formeln   des   höchsten   Gutes   3l6f. 

—  Kantische  100. 

—  Übereinstimmung  der  315. 
Forschen  als  Pflicht  290. 
Frau  I99f.,  274. 
Freigebigkeit  228. 

Freiheit  215,  500. 

—  Gedanke  der  25,  30. 

—  Kategorien  der  (Kant)  126. 

• —  des  menschlichen  Handelns  13 ff. 
Freiheitsbewußtsein  32 f. 
Freimaurerei  184. 

Freundschaft    l8l,    212,    229,    277ff., 
281,  283  ff.,   329. 


Freundschaft  (Lust)  181. 

—  in   der   Ehe  285- 

—  politische  285- 

—  sittliche,  dialektische  66. 

—  Verschiedenheit  der  Arten  285- 
Friede,  ewiger  465,  493- 

Furcht  88,  228,  308. 
Furchtlosigkeit  190. 

Q. 

Gallikanische  Schule  s.  Namenregister: 
Ferguson  111. 

—  Sittenlehre  84,  238,  335  f. 
— s  System  86. 

Gastfreundschaft  182,  484,  492. 
Gebieten  402. 

Gebot,  das  433,  438. 
Gedankenerzeugung,  die  Tätigkeit  der 

437. 
Gegenliebe  199- 
Gehorchen  400,  402,  407. 
Geist,  Einteilung  des  menschlichen  15. 

—  des  gemeinen  Lebens  235. 

—  Vollkommenheit  des  188. 
Gemeinsame,  das  463  f.,  517- 
Gemeinschaft  392f.,  479,  492. 

—  die   Theorie   der   wissenschaftlichen 
und  der  religiösen  327. 

—  geistige  487  ff. 
Gemeinschaftliche     (gleichartige     Teile 

der  Gesamtheit)  64,  264  f.,  270. 
Gemütsstimmung,   Verschiedenheit   der 

262. 
Genie  526,  529. 
Genießen  204. 
Genuß  276,  293. 

—  Mäßigkeit  im  197. 

—  Sittenlehre  des  169,  172. 

—  Ursache  eines  Nichtgenusses  84. 
Genüsse,  sinnliche  92. 
Gerechtigkeit  149,  166,  I87,  205,  228  f., 

236,  373- 

—  vergeltende  381. 
Geschichtskunde  466. 
Geschlecht  462,  470  f. 

—  menschliches  470. 
Geschlechtstrieb  197 f-,  200,  282. 

—  Verbindung  des  natürlichen  —  mit 
geistigen  Bedürfnissen  284. 

Geselligkeit  299,  484. 


538 


Sachregister. 


Geselligkeit  Tugenden  der  freien  275- 
Gesellschaft  275 f-,  517- 

—  häusUche  und  bürgerUche  183,  293- 
507. 

—  wissenschaftliche  184. 

Gesetz  119,  397  f-   403  f.,  407  f.,  438 ff. 

—  (das  Wort)  399- 

—  ethischer  Grundsatz  in  Gestalt  eines 

65. 

—  Formeln  des  3l6f. 

—  politisches  65  ff- 
Gesetzgebung  der  Vernunft  330. 

—  jüdische  403- 
Gesinnung  47. 

—  Begriff  der  231. 

—  Einteiluns:  der  tätigen  l62f. 

—  in  der  Tat  408. 
Gesundheit  l85ff.,  456f. 
Getrostheit  23 1. 
Gewerbe  519- 

Gewissen  240,  243,  245,  394. 

—  Lehre   vom   283. 

—  Fichtes  Erklärung  des  48. 

—  Handlungsweise   des  268. 
Gewohnheiten  1  SS- 
Gewöhnungen  155. 
Geziemende  48. 

Glückseligkeit  41,  46,  49 f.,  65,  92, 
103,  118,  149f.,  218,  252f.,  264,  278, 
293,  299,  458  f. 

Glückseligkeitslehre  88,  232. 

—  Anwendbarkeit  der  Grundsätze  der 
88. 

Gott  23 ff.,  470. 

—  Ähnlichkeit  mit  73,  107,  112,  178, 
376. 

—  Erkenntnis  74. 

—  Strafwürdigkeit  des  Menschen  vor 
225. 

—  Verähnlichung  mit  59,  376f. 

—  ist  die  Weisheit  376. 

—  der  Wille  Gottes  144. 

—  das  höchste  Gut  455- 
Göttliches    Reich,    Idee   eines  237- 
Griechen,   Ideal  der  297- 

Größe,  Unterschied  der  94. 
Größenlehre  249,  251,  342. 
Größenlehre,    reine,   angewendete   322. 
Große,  Begriff  des  528. 
Großherzigkeit  231. 


Großmut  238. 

Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten 

(Kant)  317,  445. 
Gut,  das  höchste  70ff.,  84,  94flf.,  Il9f., 

168,   174,  252,   313,   420f.,   454  ff., 

458ff.,  469ff.,  480,  488ff. 
als  Aggregat  80f. 

—  das  höchste(der  Gebrauch  des  Wortes) 

1.  adjektivisch  454f., 

2.  substantivisch:  ethisch,  politisch, 
ökonomisch,  religiös,  spekulativ 
455f. 

—  Begriff  des  höchsten  445  ff. 

—  Bestimmung  des  höchsten  90. 

—  Darstellung  des  höchsten  459- 

—  Idee  des  höchsten  105 f. 

—  Konstruktion  des  höchsten  454. 

—  Hervorbringen  des  168 f. 

—  und  Übel,  Prüfung  des  Begriffs  173- 
356. 

—  Werden  des  höchsten  474  ff. 
Güte   des    Herzens   l64. 
Güter  179,  436. 

Güter,    Begriff   der   128 f.,    167,    I70f., 
175,  236,  304 f.,  312,  314. 

—  Geschichte  des  Begriffs  der  176. 

—  des  Leibes  185- 

—  in  der  Seele  und  außer  der  Seele  1 76f. 

—  Unterschied   zwischen   den   173- 

—  Vorstellung  von   einzelnen   184. 
Gutmütigkeit  238. 

H. 

Handeln  36I. 

—  als  das  Bilden  und  Darstellen  107f. 

—  Freiheit  des  menschlichen  13- 

—  unwillkürliches    77. 

—  willkürliches  n. 

—  Grenzbestimmung  des  138f. 

—  Grund  des  107. 

—  pflichtmäßiges    und    pflichtwidriges 
356,  382. 

—  das  „Wie"  des  259- 

—  Wissenschaft  des  331- 
Handlung,  das  eigentlich  Reale  der  252. 

—  Gehalt  der  273- 

—  Gesetzlichkeit  und  Sittlichkeit  einer 
380. 

—  Maxime  einer  57- 

—  Richtigkeit  der  384. 


Sachregister. 


539 


Handlung,  sittliche  379- 

—  Trennung   von    Anfang    und    Fort- 
gang 310. 

—  Trennung  vom  Werk  450. 

—  in  jeder  vollkommenen  —  alle  Tu- 
genden wirksam  153- 

—  Verhältnis  einer  —  zur  Formel  381. 
. —  Vollendung,    Vollkommenheit    einer 

naturgemäßen  44 ff.,  266. 
Handlungen,   Ähnlichkeit   der  259- 

—  erlaubte  430f.,  435- 
Haushaltungskunst   322,   324,   326. 
Herz  268. 

Himmelreich  493- 

Hochmut  211. 

Horde,  Zustand  der  504 f.,  507- 

Hunger  426. 

I. 

Ich,    Unabhängigkeit    des    96. 

—  die  innerste  Bestimmtheit  des  408. 
Ichheit,   Bedingungen  der  101  f. 

Idee  des  Guten  398. 
Ideen,   Ursprung  der  19- 
Imperativ,  disjunktiver  404. 

—  hypothetischer  404 ff. 

—  kategorischer  400,  404 ff.,  445. 
Individuen,  Mehrheit  der  101  f. 
Individuelles  (und  Allgemeines)  6if. 

K. 

Kasuistik  301  f.,  304,  306ff. 
Kategorischer    Imperativ    (Kant)    400, 

404 ff.,  445. 
Keuschheit  201  f. 

Kirche   l84,  295f.,   327,   510,  529- 
Klugheit  149,  187,  205,  229ff. 

—  Maßregeln  der  21 3. 
Knabenliebe  279- 
Kommunalverfassung  51 5- 
Kraft,   sittliche  98. 

—  tätige  154. 

Kräfte,  handelnde  154. 

Kräfte,   innere,   handelnde   I53f- 

Krieg  299- 

Kritik  der  gewöhnlichen  Kritik  9. 

—  Grundsatz  der  eigenen  10. 

—  der    praktischen    Vernunft    (Kant) 
31 7  f- 


Kunst  291  f.,  295,  306,  363f,  478,  489f., 

492. 
Künste,  schöne  452. 

—  Verbindung   der   —   mit   der    Ehr- 
furcht vor  den  Göttern  293. 

—  Werke  der  184. 

L. 

Laster  I57f-,  203. 

—  Begriff  der  I28f. 
Leben,  Erhaltung  des  190. 

—  ein  fremdes  retten   194. 

—  Entwicklung  unseres  462,  472f. 
Lebensentwicklung,    Eintreten  der    In- 
telligenz in  die  472  f. 

Leidenschaft  161. 

Liebe   199f.,   215,   277 ff-,   362,   372ff., 
394. 

—  (anziehende  Grundkraft)  66. 

—  erziehende  374. 

—  pathologische  280. 

—  zum  Vaterland  513- 
Liebespflicht,   Verwandlung  der  —  in 

Rechtspflicht  217. 
Lob  240ff. 
Lüge,  innere  206. 
Lust  41  f.,  44 f.,  64 f.,  204,  276. 

—  als  das  Ziel  der  Sittlichkeit  52,  61. 

—  der   Beruhigung  308. 

—  als    Bestimmungsgrund    92. 

—  des  Reizes  308. 

—  (als  Ziel)  173,  179- 

—  Sittenlehre  der  184  f. 

—  System    der  46,    52,    54f.,   81,   91, 
189- 

—  die  Unzulänglichkeit  des  Grundsatzes 
bei  allen  Systemen  91. 

—  Übergang  in  einen  Zustand  größerer 
Kraft  46. 

—  Art  und  Weise  des  Todes  46. 

—  Ursache  der  Unlust  84f. 

M. 

Mann,  der  Begriff  des  großen  521  ff. 

—  der  große  507. 
Masse,  die  524. 

Mäßigung  149,  I87,  229,  233,  236,  364. 

Mäßigkeit  197  f.,  201. 

Materialismus  der  Sittenlehre  (Kant)  51. 


540 


Sachregister. 


Mechanisierung    des    ganzen    Gesamt- 

lebens  392. 
Mechanismus,  äußerer  oder  innerer  112. 
Mensch,  Begriff  des  —  als  Gattung  61, 

473. 

—  Erkenntnis    des   —    als    besondere 
Natur  312. 

—  (Werkzeug  des  Gesetzes)  309. 

—  Wohlberatenheit  des  93- 
Menschliche  Natur  318. 
Methodenlehre  301. 
Mitgefühl  222. 

Mitteilung,    freie    (Allgemeines)    274 ff. 
Mitteldinge,  Begriff  der  108 ff. 
Monologen  5. 

Moralische  Werte,  Anspruch  auf  2l0f. 
Moralisten,  rationelle  433- 

N. 

Nachsicht  223 ff. 

Natur,  Musterbild  der  menschlichen  67 f. 
Naturgaben  154. 

Naturgemäßheit  41,  63,  101,  IIS- 
Naturgesetz  394 ff.,   406 ff.,   415,  453 f- 
Naturkunde  466. 
Naturnotwendigkeit  433- 
Naturrecht  329ff. 

—  (Fichtes)  27,  331- 
Naturtrieb  33,  56ff.,  101,  156,  215. 
Naturwissenschaft  342 f,  449- 

—  und  Sittenlehre  (entgegengestellt)  397, 
415- 

Neid  202,  223. 
Neigungen  161. 

—  innere  389- 

—  (unsittliche)  93- 
Nemesis  223,  229. 
Notstaat  183,  300,  332. 

0. 

Obrigkeit  407,  503- 
Ökonomik  3O6. 
Ordnung  197- 
Organisation  474  ff. 

P. 

Peripatetiker  116,  175,  179,  iSl,  l86f., 

265. 
Person  480. 


Pflicht  260,  303,  433- 
Pflichten,  allgemeine  und  besondere  146, 
216. 

—  bedingte   und   unbedingte   147  f. 

—  aus  der  Selbsterhaltung  abgeleitet 
197- 

—  Begriff  der  128 f.,  132 ff.,  139,  146, 
151  ff.,  157,  246,  256,  260f.,  311, 
314f.,  328,  378ff.,  417,  432,  459f- 

—  einfache  und  zusammengesetzte 
140ff. 

—  Einteilung  der  149. 

—  Einteilung  in  vollkommene  und 
unvollkommene   I38ff.,    141  f.,   238. 

—  der  Erhöhung  der  sitthchen  Voll- 
kommenheit 214. 

—  gegen  Gott  143  ff. 

—  Pflichten  gegen  Leib,  Intelligenz 
und  Mehrheit  freier  Wesen  148 f., 
I90ff. 

—  gegen  sich  als  moralisches  Wesen 
203  f. 

Pflichten  gegen  sich  und  gegen  andere 
143ff.,  210. 

—  ist  das  Sittliche  in  einer  Tat  138. 

—  der  verschiedenen  Stände  297- 

—  System  der  244. 

—  Universahtät  der  135- 

—  Verhältnis  der  —  zum  Gut  169. 

—  der  Selbsterhaltung  190. 

—  verpflichtende  145- 

—  Widerstreit  der  141,  I57f-,  164. 
Pflichtbegriff,    Behandlung    des    384f. 

—  Entwicklung  des  379f- 

—  unbestimmter  227. 

—  im   Widerspruch  mit   anderen  227. 

—  und  Tugendbegriff,  Verwechselung 
des  2l6f. 

Pflichtenlehre  446 f.,  450,  460,  466. 
Pflichtformel   I39ff.,   314,   380ff.,   386, 
389f. 

—  allgemeine  390. 

—  zwei  besondere  392. 

—  zwei  ergänzende  393. 
Pflichtgefühl  268. 

Pflichtmäßige,  das  4l7ff-,  428 f.,  433 f-, 

443. 
Pflichtmäßigkeit  226. 
Pflichtwidrige,  das  41 7  ff.,  433  f-,  443- 
Phantasie  25,  271. 


Sachregister. 


541 


Philosophie,  idealistische  332. 

—  theoretische    und    praktische,    all- 
gemeine 22,  25. 

—  Einteilung  bei  den  Alten  21  f. 
Physikotheologie  24. 

Politik  309,  328  f. 
Politische,  das  236. 
Privaterziehung  518. 
Prüfen    einer  Wissenschaft,  Gehalt  u. 
Gestalt  der  Darstellung  254. 

R. 

Rache  223- 

Reale  der  Handlung,  das  252. 
Recht,  das  394. 
Rechtlichkeit  307. 
Rechtsbegriff  331- 
Rechtsgesetz  65. 
Rechtslehre  446. 
Rechtspflichten   139  ff-,   146. 
Rechtspflicht.   Formel  der  394. 
Rechtszustand  481  f.,  491. 
Reden  über  Religion  5- 
Reichtum  161,  179,  306,  456 f. 

—  Theorie  des  326. 
Regierung  505. 
Religion  490ff. 

Ruf,   Kränkung  des  guten  225. 

s. 

Sanftmut  223. 
Schadenfreude  223. 
Schamhaftigkeit  202. 
Scherz  276 f. 
Schlaf  426  f. 
Schmaus  (Kant)  I83. 
Schmerz  88,  222,  308. 

—  sinnlicher  364. 
Schöne,   Erhaltung  des  188. 
Schönheit  185. 

Schulen  490. 
Seele  70. 

—  Einteilung  der  238 f. 

—  Güter  der  186. 

—  Schönheit  und  Stärke  187. 

—  Vermögen  der  163. 

Seelenlehre,    Zusammenhang    mit    der 
Selbständigkeit,  sittliche  393- 

Sittenlehre  239. 
Selbstbejahung,  sittliche  432. 


Selbstbewußtsein  487,  489,  492  f. 
Selbsterhaltung,  Einheit  des  Begriffs  194. 

—  Gesetz  der  44,  I90ff.,  238. 

—  natürlicher  Trieb  der  55,  115,  419, 
505  f. 

—  ohne  Lust  83. 
Selbsterkenntnis  203,  214. 
Selbstgefälligkeit  519- 
Selbstliebe  221. 

Selbstmord,  partieller  195,  300. 
Selbstschätzung  211  f.,   214,   240,   245. 
Selbsttätigkeit  29ff.,  360,  408. 

—  Begriff  der  lOi. 
Selbsttötung  192. 
Selbstverachtung  204. 
Sieger  508  f. 
SinnHchkeit  401. 

Sittengesetz  73,  394  ff.,  406 ff.,  41 5, 453 f. 

—  höchste  Idee  der  Ethik  34. 
Sittenlehre  s.  a.  Ethik. 

—  (Fichtes)  27,  65,  146 f.,  298,  331,  446, 
453. 

—  Gleichgültigkeit  gegen  die   wissen- 
schaftliche 449- 

—  ihre     Anordnung     und     Einteilung 
l6ff. 

—  Kritik  der  456,  458, 

—  anwendbare  101. 

—  Auffassung  und  gegenwärtiger  Ge- 
brauch des  Wortes  i6f. 

—  eigener  Entwurf  der  349. 

—  Einteilung  der  Alten  in  wissenschaft- 
liche und  paränetische  307. 

—  des   Genusses  264. 

—  keinem    anderen    Endzweck   unter- 
geordnet 10. 

—  Konstruktion  der  401. 

—  Mangel  der  bisherigen  73. 

—  Mittelpunkt  der  Alten  115. 

—  und    Naturwissenschaft    (entgegen- 
gestellt) 397. 

—  physikokratische  295- 

—  Prüfung  der  bisherigen  5,  9- 

—  reine  angewandte  3l6ff. 

—  der  Staatslehre  untergeordnet  114. 

—  tätige  l83f.,  250,  253. 

—  Technik  der  304. 

—  Unförmlichkeiten  der  bisherigen  315. 

—  verbunden  mit  Staatslehre  (Aristo- 
teles) 45- 


542 


Sachregister. 


Sittliche,   Begriff  des  262. 

—  das  —  als  Beschränkung  93. 

—  Bewußtsein  des   189. 

—  das  —  ein  einfaches  Reales  160. 

—  Erkenntnis  des  156. 

—  Gefühl  für  das  240ff. 

—  dem  —  Gesetzmäßigkeit  zugeschrie- 
ben I32f. 

—  Gleichförmigkeit  alles  267  ff. 

—  das  —  als  Quel'e  der  Lehensführung 
47,  56. 

—  das  —  als  Tätigkeit  58,  62 f. 

—  im  Tugendbegriff,  das  —  dargestellt 
als  Kraft  357- 

—  Verwechslung  des  —  mit  dem 
Rechtlichen  137- 

—  Geistesgegenwart  243- 

—  Gesinnung  I58f.,  165. 

—  Grenz-  und  Größenbestimmung  136. 

—  Vollendung  64. 

Sittlicher  Charakter,  der  einzig  mögliche 

269. 
Sittliches,    Gegenstand  des  Verstandes 

155. 

—  inneres,  äußeres  155- 

—  Konstruktion  des  139. 

—  Gefühl,  Stärke  und  Feinheit  des  188. 

—  Handeln  als  schaffend  oder  be- 
schränkend 54fif.,  95  f- 

Sittlichkeit  ästhetischer  Vorbegriff  der 
155. 

—  allen  gemeinschaftlich  94. 

—  des  weiblichen  Geschlechts  274. 

—  (Fichtes  Prinzip  400. 

—  Negativität  des  Begriffes  von  der 
339  f. 

—  Urteil  anderer  über  unsere  214. 
Soll,  das,  mit  der  sittlichen  Erkenntnis 

verbunden  403. 
Sollen  400  ff.  408  f. 
Sprache  488,  490  f. 

—  Reinigung  und  Sichtung  der  356. 
Sprachgebrauch  353,  355- 
Sparsamkeit  197,  205- 

Staat  183 f.,  276,  291  ff.,  296,  326 f., 
328,  331  f.,  373,  452,  472,  491, 
510. 

—  Aufhörung  des  294. 

—  Beruf  des  —  zur  Erziehung  495  ff. 

—  (Gegner)  497- 


Staat  (Grenzen  dieses  Berufes)  498,  5i4f. 

—  im  großen  Stil  5l2ff. 
Staatskunst  322,  324. 
Staatskunde,    Verbindung   der  —   mit 

dem  Wissen  293. 

Staatslehre,  der  Sittenlehre  überge- 
ordnet 114. 

Staatsverfassung  466. 

Staatsverwaltung  466. 

Stände,  Einteilung  der  300. 

—  geschlossene   184. 
Stärke  185- 
Starkmütigkeit  166. 

Stoiker  47 f.,  53,  55f.,  60,  63f.,  94,  96ff., 
lOlf.,  109,  115ff.,  119,  128,  131, 
133,  137,  150,  153,  158,  167,  175, 
179,  181  f.,  183,  186  f.,  189,  195, 
203,  221  f.,  224 ff.,  229ff.,  236,  243, 
266,  275,  277,  280,  286,  298,  3OO, 
315,    337,   341,   352,   362,  369,  398. 

Stoisches  Paradoxon  82. 

Stoische  Schule  191. 

Strafe  225,  402. 

—  und  Belehrung  225  f. 
Strafen  501. 
Strafgesetzgebung  501. 
Strafwürdigkeit  65- 

Synonymie   in   verschiedenen   Schulen 

353- 
System,  Idee  eines  247fM  255- 

—  Untauglichkeit  eines  258. 

T. 

Tadel  240ff. 

Talent  529. 

Tapferkeit  149,  187,  228ff.,  232f.,  299, 

372. 
Tätigkeit  152,  155- 

—  anbildende  482,  484  f. 

—  freie  274.  450,  452. 

—  belebende  —  des   Höheren  363. 

—  innere  273  f- 

—  reine  44. 

—  Sittenlehre  der  185. 

—  sittliche  97- 

—  System  der  46,  54 f.,  108,  172,  189, 
414. 

—  Unterschiedin  den  Darstellungen  55. 

—  Unterschied  der  Systeme  47. 


Sachregister. 


543 


Tätigkeit  s.  Vernunftstätigkeit. 

—  äußere  429- 

—  pflichtmäßige  427  ff. 

—  symboHsierende  485  f- 

—  Trennung  vom  Werk  450. 
Tätigkeitsethik  94,  265- 
Teilnahme  221  ff. 
Theologie,  transzendentale  24. 
Trägheit  204. 

Treue  375- 

—  in  Versprechungen  207  ff. 

—  Pflicht   oder   Tugend    der   208. 
Trieb,  gedoppelter  (zweifacher)  48,  52f. 
^  höherer  56. 

—  (im  Ich)  32f. 

—  reiner  56,  101. 

—  sittlicher   56ff.,   93,    108f.,   283- 
Tugend  41  ff.,  107,  156,  l75f-,  227,  303- 

—  Begriff  der  124,  128 f.,  142,  150 ff., 
237,  304 ff.,  308 f.,  311,  314,  350, 
359ff-  434f.,  458f. 

—  Bewußtsein  der  158. 

—  Einteilung  der  160. 

—  Einteilung  nach  Zwecken  und  Gegen- 
ständen 165- 

—  entwerfende   und   ausführende   366. 

—  erkennende  370. 

—  eine  Erkenntnis  155,  158. 

—  Erklärung   der   228. 

—  gesellige  166. 

—  kämpfende   370. 

—  und  Laster  110,  238,  356f. 

—  (Ort   des   Gesetztwerdens)   228. 

—  soziale  und  egoistische  165. 

—  Verhältnis  zur  Pflicht   I52f. 

—  Wesen  der  151. 

—  zweite  Einteilung:  1.  vorstellende, 
2.    darstellende   361. 

—  zwiefältige:  1.  belebende,  2.  bekämp- 
fende 359f- 

—  als  bleibende,  einwohnende  Eigen- 
schaft 60. 

Tugenden  als  Güter  186. 

—  in  einer  Handlung  261. 

—  praktische  232. 

—  aus  der  Selbsterhaltung  abgeleitet 
197- 

—  Unterscheidung  der  187. 

—  des  Verstandes  und  Willens  l63- 

—  vier  149,  186 ff.,  229,  236. 


Tugendbegriff,  eine  neue  Darstellung  des 
350,  352. 

—  wissenschaftliche  Darstellung  351  f-, 
354. 

Tugendbegriff,    Verwechselung    des 

Pflicht-  und  21 6f.,  227. 
Tugendformeln  314. 
Tugendhafte,  der  189. 
Tugendlehre  (Kant)  157,  446,  450,  460, 

466. 

u. 

Übel  436. 

—  Begriff  der  l28f.,  167. 

—  Grund  des  271. 

Übeltätigkeit  223. 

Übertretungen,    Begriff    der    128 f. 

Umgang,  Gesetze  des  275. 

Unendliche,  Das  —  notwendiger  Aus- 
gangspunkt objektiver  Philosophie 
38. 

Unerschrockenheit  190. 

Universalstaat  492  f. 

Unlust,   Ursache  der  Lust  84f. 

Unschuldige,  das  420. 

Unsittliches,   Begriff  vom  —   (Stoiker) 

53- 
Unsterblichkeit  24 f. 
Untertanen  503. 
UnvoUkommenheit  163. 
Urteil  der  Mitwelt  523. 

—  geschichtliches  522  f. 

V. 

Vegetation  41 2  ff. 

Verbindungsbegriff,  Mannigfaltigkeit  des 
103. 

Verbot  438. 

Verfahren,  das  aufbauende  und  ab- 
leitende 91- 

Verfahren,  Beurteilung  des  350. 

Verfahren,  dogmatisches  —  in  der 
Ethik  336. 

—  heuristisches  —  in  der  Ethik  338f. 

—  ein  rhapsodisches  und  tumultuari- 
sches  —  in  der  Ethik  335- 

Verfassung  331. 
Vergeltung  219- 
Vergnügen  161. 


544 


Sachregister. 


Verkehr  481,  483,  490 f. 

Vernunft  271,  461  ff.,  471  f.,  478f.,  485- 

—  menschliche,    als  gesetzgebend  ge- 
dacht 403  f. 

—  praktische  400. 
Vernunftgehalt    in    der    vorstellenden 

Tätigkeit  363. 
Vernunftgesetz  399»  409. 
Vernunftlehre  249,  342. 
Vernunftstätigkeit 

1.  organisierende  475  flf-,  480  f. 

2.  symbolisierende  475  ff- 
Verstand,    vollkommener    164. 

—  und  Wille  292. 
Verstandestugenden  363. 
Verteidigung  225. 

Vervollkommnung,    System    der    305. 
Volk  (Völker)  464  f.,  472,  484,  491. 
Völkerrecht  491. 
Vollkommenheit  41,  46,  49f.,  64,  67, 

103,  I49f.,  163,   165. 

—  Pflicht  der  Erhöhung  der  sittlichen 
214. 

Vollkommenheitsethik   104,   269- 

—  endet  in  Untätigkeit  106. 
Vorgezogenes  423- 
Vorstellen  361. 

W. 

Wahnsinn  274. 
Wahrhaftigkeit,  äußere  207ff. 

—  innere  206. 
Wahrheit  21 3  f. 
Wahrheitsliebe  212. 

Weise,  der  151,   165,   189,  225f.,  275, 
31 3  f. 

—  (der  —  als  ethische  Idee)  70f.,  90, 
112,  119. 

—  Formeln  des  3l6f. 

—  das  Ideal  des  262,  270. 

—  die  Idee  des  85f.,  120. 


Weise,  Urbild  des  266. 

Weisheit  3 72 ff. 

Weltkörper  409 fT.,  470. 

„Wesen,  ein  vernünftiges"  (Kant)  51. 

Wille  154. 

—  göttlicher  403. 

—  sittlicher  156. 

—  unendlicher  144. 

—  vernunftmäßiger  404. 
Willen,  Anmutung  an  den  409. 

—  Selbstherrschaft  des  40. 

—  Verhältnis  des  —  zur  ethischen  Idee 
156. 

Willensbestimmungen  443,  447  f. 
Wissen  488,  491. 

—  seine  Ableitung  288. 

—  ethische   Konstruktion  des  288. 

—  lebendiges  309. 

—  Verachtung  des  289- 
Wissenschaft,   Einteilung  aller  397. 

—  und  Kunst  287. 
Wissenschaften,    Nützlichkeit   der  289. 

—  praktische  322. 
Wissenschaftslehre  20,   26. 
Witz  276 f. 

Wohlgebautheit  185  ff. 
Wohltätigkeit,    Begriff   der    124,    209, 

223,  238. 
Wohltätigkeit  und  Dankbarkeit  2t  7  ff- 

—  Verpflichtungsgrund    zur    219- 

z. 

Zeitalter  Friedrichs  des  Großen  530. 

—  Grenze  zweier  527. 

—  Ludwigs  XIV.  530. 

—  des  Perikles  530. 
Zorn  223. 

Zünfte  184. 

Zweck  119- 

Zweckbegriff  78,  371,  375,  450f. 

Zweckbegriffe,   Entwerfen  der  366. 


Bemerkungen  zur  Textbehandlung. 

I.  Kritik  der  Sittenlehre. 

Dem  Texte  liegt  zugrunde  der  Druck  vom  Jahre  1846  in  den  „Sämtlichen 
Werken"  (Georg  Reimer,  Berlin,  Abteilung  III,  Band  1),  da  nach  dieser  Ausgabe 
fast  allgemein  zitiert  wird.  Die  neue  Orthographie  kam  durchgängig  zur  Anwen- 
dung, dagegen  habe  ich  jetzt  veraltete  Wendungen  oder  Wortformen,  wie  „zum 
Grunde  liegen",  „hieher"  usw.  stehen  lassen.  Die  Interpunktion  wurde  bis  auf  die 
Kommata  im  wesentlichen  beibehalten;  zur  größeren  Klarheit  sind  Anführungs- 
striche gelegentlich  eingefügt. 

Schleiermacher  gibt  uns  selbst  ein  Recht,  die  Kommata  zu  ändern,  denn 
er  schreibt  am  19.  Oktober  1803  an  Brinkmann:  „Der  Sezer  hat  mir  ein  paar- 
tausend Komma  angedichtet,  an  die  meine  Seele  nicht  dachte.  Dagegen  habe 
ich,  aus  heimlichem  Grauen  davor,  daß  der  Sinn  so  oft  aus  sein  soll,  viel  zu 
wenig  Punkte  gemacht,  und  dieses  zusammen  bildet  ein  abscheuliches  Ganzes: 
doch  du  kennst  meine  alte  Klage  über  unsre  Interpunktion,  die  mich  gleich- 
gültiger macht  gegen  mich  und  den  Sezer.  Entweder  sollten  wir  ein  viel 
größeres,  komponierteres  System  von  Zeichen  haben,  oder  ganz  zu  der  alten 
Simplicität  zurückkehren"  (Aus  Schleiermachers  Leben.  In  Briefen.  IV,  79). 
Die  sonst  einem  Texte  gegenüber  ja  unerlaubten  Veränderungen  durch  Sperrung 
und  weitere  Gliederung  sind  nach  reiflichster  Überlegung  aus  dem  Gesichtspunkte 
vorgenommen,  daß  in  diesem  Falle  die  äußerliche  Genauigkeit  der  sachlichen 
Notwendigkeit  geopfert  werden  muß.  Es  war  in  dieser  Ausgabe  ein  wesent- 
licher Zweck,  den  schwer  verständlichen  Text  durch  kleine  Änderungen  lesbarer 
zu  machen.  Das  dürfte  wohl  —  wenn  nicht  philologisch,  so  doch  philosophisch 
gerechtfertigt  sein.  Über  die  Absätze  schreibt  Schleiermacher  übrigens  an  Brink- 
mann, 14.  Dezember  1803:  „Mit  den  Absätzen  habe  ich  gedacht,  daß  wer  sie 
nicht  selbst  findet,  dem  würden  auch  die  Andeutungen  auf  dem  Papier  nicht 
helfen,  und  diese  schienen  mir  um  so  weniger  schicklich,  da  in  der  Sprache 
eigentlich  gar  kein  Absatz  ist,  sondern  jede  Periode  grammatisch  betrachtet  auf 

Schleiermacher,  Werke.     I.  35 


546 


Bemerkungen  zur  Textbehandlung. 


gleiche  Art  mit  der  andern  verbunden."  Darin  liegt  eine  Überschätzung  des 
lesenden  Publikums  schon  jener  Tage;  um  so  mehr  müssen  wir  uns  bemühen, 
für  den  heutigen  Leser  die  Lektüre  zu  erleichtern.  Wenn  auch  die  Sprache  als 
solche  keine  Absätze  hat  —  der  Gedanke  bedarf  der  Gliederung. 

Verglichen  wurde  vor  allem  genau  mit  dem  Urtexte  von  1803.  Es  ergab 
sich  aber,  daß  die  Abweichungen  nur  in  unwichtigen  Wortänderungen,  Um- 
stellungen usw.,  vermutlich  vom  Korrektor  herrührend,  bestehen.  Die  Ab- 
weichungen der  ersten  drei  Bogen  füge  ich  zur  Probe  bei: 


Seite 


Zeile 


11 

letzte 

14 

4  von 

oben 

14 

6 

unten 

15 

3 

»> 

16 

7 

oben 

19 

6 

unten 

20 

3 

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oben 

21 

14 

unten 

21 

13 

» 

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21 

2 

22 

6 

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oben 

22 

18 

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24 

5 

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oben 

26 

14 

„ 

unten 

27 

7 

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oben 

27 

10 

„ 

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28 

14 

„ 

unten 

32 

10 

>• 

oben 

34 

12 

» 

unten 

ihr  das  Recht  gibt     berechtiget.^ 

solche     welche. 

dieser  Begriff    er. 

fehlt:  wir  müssen. 

wie  .  .  .  möge  (denn  auch  gewählt  pflegen  sie  ju  werden K 

jede  .  .  .  Forderung      jede   jedem    die   Forderung    (nach 

Druckfehlerverzeichnis  jedem  statt  Idee), 
wozu  dieser    ?m  welcher  er. 
vor    gehören  -f-  Sätze.  ^ 
vor    unsern  -f-  ist,  kann. 
Doch  .  .  •  selbst     Nun  von  diesem  Vorläufigen  Ober  den 

Zweck  ^ur  Sache  selbst. 
des  Daseins  derselben    ihres  Daseins. 
und  .  .  .  umfaßt     und  wie  sie  das  Gebiet  der  Erkenntnis 

dieser  Art  umfassen. 
was  nämlich  . . .  betrifft  '-v/  ebensoweit . . .  abgeschnitten.* 
des  .  .  .  ihm     und  mit  Einem. 
Entwicklung     Analyse. 

vorgezogen   hat  ...  zu   bilden     lieber  hat  bilden  wollen^ 
vor  als  -f-  lieber. 
eingeschwärzt     eingeschlichen. 
eingeschwärzt     eingeschlichen. 
dem  Faden,  welchen    dem,  welches. 


1  Text  1803  kursiv. 

«    =^     1846  fügt  hinzu  Sätze 

»    =    1846  stellt  um  .  .  . 


Bemerkungen  zur  Textbehandlung. 


547 


Seite 

Zeile 

34 

6 

von  oben 

vor  schon  -f-  soll. 

35 

15 

» 

unten 

die  höchste  '>^  eben  wie  Fichte. 

39 

13 

» 

>» 

vor  gebrauchen  -j-  dabei. 

40 

8 

„ 

oben 

genannten    /Vw«j. 

40 

13 

>» 

unten 

welche    unter  welcher. 

40 

12 

„ 

f> 

läßt    W«&/. 

40 

12 

>• 

,, 

daß    welche. 

40 

9 

f« 

„ 

unterscheiden  sollen    unterscheidet. 

40 

8 

1» 

» 

diesem    ihm. 

42 

11 

» 

oben 

daran    davon. 

42 

17 

» 

unten 

vor  nachfolgende  -\-  der  vorigen. 

43 

12 

f» 

>* 

dort  immer    bei  ihnen. 

43 

4-1 

»• 

» 

(Mehrere  Umstellungen  der  Worte.) 

44 

2 

»» 

oben 

Shaftesbury    sie. 

44 

8 

»» 

„ 

vor  das  Handeln  -f-  in  diesem  System. 

44 

14 

» 

» 

welches  .  .  .  sind  —  lauter  Beziehungen  auf  die  Lust.  — 

45 

6 

„ 

t> 

weil     da/i. 

45 

14 

»f 

„ 

davon    daran. 

45 

4 

>i 

unten 

die  Lust     sie. 

46 

15 

>» 

oben 

diese     sie. 

47 

7 

„ 

unten 

vor  jenen  -f-  doch. 

48 

7 

" 

»j 

sonach  .  .  .,  woraus    sonach  die  praktische  als  eine  Wissen- 
schaft von  den  End^ecken  der  Dinge,  als  eine  Ein  ■ 
sieht,  woraus. 

II.  Akademieabhandlungen. 
Dem  Text  liegt  der  Druck  in  den  S.  W.  zugrunde,  verglichen  wurde  mit 
den  ersten  Drucken  in  den  Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  —  es  ergaben 
sich  keine  nennenswerten  Abweichungen. 


35* 


Druck  von  Oscar  Brandstetter  in  Leipzig. 


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