Full text of "Werke"
*^S
r;. <"
-. ^<^
^S^'»'"
C
^7
^^^*^^
^■•^'"--^^
--^-'- '. -■
^^^" ^
TOr^pjKj
"'^./tr^^- ^t"5^ "'^
•-%' ■
-<^
J5^
1 s*w-, ., ,^_^
■- ■ /T^
^^ ~^->^
'f^
M..
s^
^p^
Nietzsche's Werke
Erste Abtheilung
Band II
Menschliches
Allzumenschliches
Erster Band
im)
Alfred Ivröner Verlag in Leipzig
1917
i9|-r
Menschliches
Allzumenschliches
Ein Buch für freie Geister
Von
Friedrich Nietzsche
Erster Band
lo^i:^
^. "
r^
Alfred Kröner Verlag in Leipzig-
1917
ÜbersetzunjJ^srecht vorbehalten.
Das nachfolgende Facsimile ist die getreue Reproduction eines von Nietzsche
ursprünglich für das „Menschliche, Allzumenschliche" bestimmten Epilogs.
Germany
Menschliches
Allzumenschhches
Erster Band
Inhalt.
Seite
Vorrede 3
Erstes Hauptstück; Von den ersten und letzten
Ding-en 15
Zweites Hauptstück: Zur Geschichte der morali-
schen Empfindung"en 55'
Drittes Hauptstück : Das religiöse Leben .... 113
Viertes Hauptstück: Aus der Seele der Künstler
und Schriftsteller 155
Fünftes Hauptstück: Anzeichen höherer und nie-
derer Cultur 209
Sechstes Hauptstück: Der Mensch im Verkehr , . 269
Siebentes Hauptstück: Weib und Kind 299
Achtes Hauptstück: Ein Blick auf den Staat . . . 323
Neuntes Hauptstück: Der Mensch mit sich allein 361
Unter Freunden. Ein Nachspiel 415
Aphorismen-Register 421
Nachbericht 431
Niftzsche, Werke Band II.
VORREDE.
Es ist mir oft genug und immer mit grossem Be-
fremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemein-
sames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften
gäbe, von der „Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin
veröffentlichten „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft":
sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt. Schlingen
und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine
beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung
gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohn-
heiten. Wie? Alles nur — menschlich -allzumenschlich?
Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften
heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst
gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermuthigt,
einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen:
wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien?
Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts ge-
nannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch
des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich
selbst glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich
tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur
als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso
sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer
I*
— 4 -
Gottes; und wer etwas von den Folgen erräth, die in
jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten
und Ängsten der Vereinsamung, zu denen jede unbe-
dingte Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Be-
hafteten verurtheilt, wird auch verstehn, wie oft ich zur
Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbst-
vergessen, irgendwo unterzutreten suchte — in irgend
einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlich-
keit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum
ich, wo ich nicht fand, was ich brauchte, es mir
künstlich erzwingen, zurechtfälschen, zurechtdichten musste
( — und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu
wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer
wieder am nöthigsten brauchte, zu meiner Cur und
Selbst -Wiederherstellung, das war der Glaube, nicht
dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, — ein zau-
berhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit
in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der
Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht
und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen, Ober-
flächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut
und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in die-
sem Betrachte mancherlei „Kunst", mancherlei feinere
Falschmünzerei vorrücken könnte: zum Beispiel, dass ich
wissentlich -willentlich die Augen vor Schopenhauer's
blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer Zeit,
wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; ins-
gleichen dass ich mich über Richard Wagner's unheil-
bare Romantik betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang
und nicht ein Ende sei; insgleichen über die Griechen,
insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft — und
es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher
Insgleichen? — Gesetzt aber, diess Alles wäre wahr und
— 5 —
mit gutem Grunde mir vorgerückt, was wisst ihr davon,
was könntet ihr davon wissen, wie viel List der Selbst-
Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut in sol-
chem Selbst-Betruge enthalten ist, — und wie viel Falsch-
heit mir noch noth thut, damit ich mir immer wieder
den Luxus meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf? . . .
Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal
nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es
lebt von der Täuschung aber nicht wahr? da
beginne ich bereits wieder und thue, was ich immer
gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller — und
rede unmoralisch, aussermoralisch, „jenseits von Gut und
Böse«? —
2.
— So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig
hatte, mir auch die „ft^eien Geister" erfunden, denen die-
ses schwermüthig-muthige Buch mit dem Titel „Mensch-
liches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen „ft"eie
Geister" giebt es nicht, gab es nicht, — aber ich hatte
sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter
Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Ivrankheit,
Vereinsamung, Fremde, acedia, Unthätigkeit) : als tapfere
Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und
lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen,
und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig
werden, — als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde.
Dass es dergleichen freie Geister einmal geben könnte,
dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen und
Übermorgen solche muntere und verwegene Gesellen
haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur,
wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-
Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten zweifeln.
— 6 ~
Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und
vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleu-
nigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen
Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie
kommen sehe? — —
3.
Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der
Typus „freier Geist" einmal bis zur Vollkommenheit reif
und süss werden soll, sein entscheidendes Ereigniss in
einer grossen Loslösung gehabt hat, und dass er vor-
her um so mehr ein gebundener Geist war und für immer
an seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet
am festesten? welche Stricke sind beinahe unzerreissbar?
Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden
es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend
eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten
und Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem
sie wuchsen, für die Hand, die sie führte, für das Heilig-
thum, wo sie anbeten lernten, — ihre höchsten Augen-
blicke selbst werden sie am festesten binden, am dauernd-
sten verpflichten. Die grosse Loslösung kommt für
solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss:
die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, los-
gerissen, herausgerissen, — sie selbst versteht nicht, was
sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird
über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch
erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine
heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten
Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. „Lieber
sterben als hier leben" — so klingt die gebieterische
Stimme und Verführung: und diess „hier", diess „zu Hause"
ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte I Ein plötzlicher
— 7 —
Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie hebte, ein
ßUtz von Verachtung gegen Das, was ihr „Pflicht" hiess,
ein aufrührerisches willkürHches vulcanisch stossendes
Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung,
Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die
Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick
rückwärts, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte,
vielleicht eine Gluth der Scham über das, was sie eben
that, und ein Frohlocken zugleich, dass sie es that, ein
trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich
ein Sieg verräth — ein Sieg? über was? über wen? ein
räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der
erste Sieg immerhin: — dergleichen Schlimmes und
Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Los-
lösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Men-
schen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft
und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst -Werthsetzung,
dieser Wille zum freien Willen: und wie viel Krankheit
drückt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten
aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich nunmehr
seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht!
Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten
Lüsternheit; was er erbeutet, muss die gefährliche Span-
nung seines Stolzes abbüssen; er zerreisst, was ihn reizt.
Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er verhüllt,
durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht,
wie diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt. Es
ist Willkür und Lust an der Willkür darin, wenn er viel-
leicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in
schlechtem Rufe stand, — wenn er neugierig und ver-
sucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hinter-
gründe seines Treibens und Schweifens — denn er ist
unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wüste —
steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neu-
gierde. „Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und
ist Gut vielleicht Böse? und Gott nur eine Erfindung
und Feinheit des Teufels? Ist Alles vielleicht im letzten
Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind wir
nicht ebendadurch auch Betrüger? müssen wir nicht
auch Betrüger sein?" — solche Gedanken führen und
verführen ihn, immer weiter fort, immer OL'eiter ab. Die
Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer drohender,
würgender, herzzuschnürender, jene furchtbare Göttin und
maier saeva cupidinum — aber wer weiss es heute, was
Einsamkeit ist? . . .
Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der
Wüste solcher Versuchs -Jahre ist der Weg noch weit
bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und
Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen
mag, als eines IMittels und Angelhakens der Erkenntniss,
bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche ebenso-
sehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und
die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen
erlaubt — , bis zu jener inneren Umfänglichkeit und Ver-
wöhnung des Überreichthums , welche die Gefahr aus-
schliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen
Wege verlöre und verliebte und in irgend einem Win-
kel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenem Überschuss
an plastischen ausheilenden nachbildenden und wieder-
herstellenden Kräften , welcher eben das Zeichen der
grossen Gesundheit ist, jener Überschuss, der dem
freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf den
Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten
zu dürfen: das Meisterschafts- Vorrecht des freien Geistes!
-- 9 —
Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung liegen,
Jahre voll vielfarbiger schmerzlich - zauberhafter Wand-
lungen, beherrscht und am Zügel geführt durch einen
zähen Willen zur Gesundheit, der sich oft schon als
Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt. Es giebt
einen mittleren Zustand darin, dessen ein Mensch solchen
Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist: ein
blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen,
ein Gefühl von Vogel - Freiheit , Vogel -Umblick, Vogel-
Übermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und
zarte Verachtung gebunden haben. Ein „freier Geist". —
diess kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt
beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe
und Hass. ohne Ja, ohne Nein, fi-ei willig nahe, freiwillig
ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fort-
flattemd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist
verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei
unter sich gesehn hat, — und man ward zum Gegen-
stück Derer, welche sich um Dinge bekümmern, die sie
nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nun-
mehr lauter Dinge an — und wie viele Dinge 1 — , welche
ihn nicht mehr bekümmern . . .
5-
Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie
Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich,
fast widerspänstig, fast misstrauisch. Es wird wieder
wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl und Mitgefühl
bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn
weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die
Augen für das Nahe aufgiengen. Er ist verwundert und
sitzt stille: wo war er doch? Diese nahen und nächsten
— lO —
Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt! welchen Flaum
und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt
dankbar zurück, — dankbar seiner "Wanderschaft, seiner
Härte und Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und
Vogelflügen in kalte Höhen. Wie gut, dass er nicht
wie ein zärtlicher dumpfer Eckensteher immer „zu Hause",
immer „bei sich" gebheben ist! Er war ausser sich: es
ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst — , und
welche Überraschungen findet er dabei! Welche uner-
probten Schauder! Welches Glück noch in der Müdigkeit,
der alten Krankheit, den Rückfällen des Genesenden!
Wie es ihm gefällt, leidend stillzusitzen, Geduld zu spinnen,
in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm
auf das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der
Mauer! Es sind die dankbarsten Thiere von der Welt,
auch die bescheidensten, diese dem Leben wieder halb
zugewendeten Genesenden und Eidechsen: — es giebt
solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen, ohne
ihm ein kleines Loblied an den nachschleppenden Saum
zu hängen. Und ernstlich geredet: es ist eine gründhche
Cur gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden alter
Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt — ), auf die Art
dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile
krank zu bleiben und dann, noch länger, noch länger,
gesund, ich meine „gesünder" zu werden. Es ist Weis-
heit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst
lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen. —
Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den
plötzlichen Lichtern einer noch ungestümen, noch wech-
selnden Gesundheit, dass dem freien, immer freieren
Geiste sich das Räthsel jener grossen Loslösung zu ent-
schleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragwürdig,
fast unberührbar in seinem Gedächtnisse gewartet hatte.
Wenn er sich lange kaum zu fragen wagte „warum so
abseits? so allein? Allem entsagend, was ich verehrte?
der Verehrung selbst entsagend? warum diese Härte,
dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?"
— jetzt wagt und fragt er es laut und hört auch schon
etwas wie Antwort darauf. „Du solltest Herr über dich
werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher
waren sie deine Herrn; aber sie dürfen nur deine Werk-
zeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Ge-
walt über dein Für und Wider bekommen und es ver-
stehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach
deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspectivische
in jeder Werthschätzung begreifen lernen — die Ver-
schiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der
Horizonte und was Alles zum Perspecti vischen gehört;
auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte
Werthe und die ganze intellectuelle Einbusse, mit der
sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest
die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und
Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unab-
lösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch
das Perspectivische und seine Ungerechtigkeit. Du soll-
test vor Allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit
immer am grössten ist: dort nämlich, wo das Leben am
kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt
ist und dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und
Maass der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zu
Liebe das Höhere, Grössere, Reichere heimlich und klein-
lich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stel-
len, — du solltest das Problem der Rangordnung mit
12 —
Augen sehn, und wie Macht und Recht und Umfäng-
Uchkeit der Perspective mit einander in die Höhe wach-
sen. Du solltest" — genug, der freie Geist weiss nun-
mehr, welchem „du sollst" er gehorcht hat, und auch,
was er jetzt kann, was er jetzt erst — darf. . .
7.
Dergestalt giebt der freie Geist in Bezug auf jenes
Räthsel von Loslösung sich Antwort und endet damit,
indem er seinen Fall verallgemeinert, sich über sein Er-
lebniss also zu entscheiden. „Wie es mir ergieng, sagt
er sich, muss es Jedem ergehn, in dem eine Aufgabe
leibhaft werden und „zur Welt kommen" will. Die heim-
liche Gewalt und Noth wendigkeit dieser Aufgabe wird
unter und in seinen einzelnen Schicksalen walten gleich
einer unbewussten Schwangerschaft, — lange, bevor er
diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren
Namen weiss. Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch
wenn wir sie noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die
unserm Heute die Regel giebt. Gesetzt, dass es das
Problem der Rangordnung ist, von dem wir sagen
dürfen, dass es unser Problem ist, wir freien Geister:
jetzt, in dem Mittage unsres Lebens, verstehn wir es erst,
was für Vorbereitungen, Umwege, Proben, Versuchungen,
Verkleidungen das Problem nöthig hatte, ehe es vor uns
aufsteigen durfte, und wie wir erst die vielfachsten und
widersprechendsten Noth- und Glücksstände an Seele
und Leib erfahren mussten, als Abenteurer und Welt-
umsegler jener inneren Welt, die „Mensch" heisst, als Aus-
messer jedes „Höher" und „Übereinander", das gleichfalls
„Mensch" heisst — überallhin dringend, fast ohne Furcht,
nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend.
13 -
alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend
— bis wir endlich sagen durften, wir freien Geister:
„Hier — ein neues Problem! Hier eine lange Leiter,
auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen
sind, — die wir selbst irgendwann gewesen sind!
Hier ein Höher, ein Tiefer, ein Unter -uns, eine unge-
heure lange Ordnung, eine Rangordnung, die wir sehen:
hier — unser Problem!"
8.
— Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter
einen Augenblick verborgen bleiben, an welche Stelle
der eben geschilderten Entwicklung das vorliegende Buch
gehört (oder gestellt ist — ). Aber wo giebt es heute
Psychologen? In Frankreich, gewiss; vielleicht in Russ-
land; sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an
Gründen, wesshalb sich diess die heutigen Deutschen so-
gar noch zur Ehre anrechnen könnten: schlimm genug für
Einen, der in diesem Stücke undeutsch geartet und ge-
rathen ist! Diess deutsche Buch, welches in einem weiten
Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden
gewusst hat — es ist ungefähr zehn Jahr unterwegs —
und sich auf irgend welche Musik und Flötenkunst ver-
stehn muss, durch die auch spröde Ausländer-Ohren zum
Horchen verführt werden, — gerade in Deutschland ist
diess Buch am nachlässigsten gelesen, am schlechtesten
gehört worden: woran liegt das? — „Es verlangt zu
viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich an Men-
schen ohne die Drangsal grober Pflichten, es will feine
und verwöhnte Sinne, es hat Überfluss nöthig, Überfluss
an Zeit, an HeUigkeit des Himmels und Herzens, an
ottum im verwegensten Sinne: — lauter gute Dinge, die
— 14 —
wir Deutschen von Heute nicht haben und also auch
nicht geben können." — Nach einer so artigen Antwort
räth mir meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr
weiter zu fragen; zumal man in gewissen Fällen, wie
das Sprüchwort andeutet, nur dadurch Philosoph bleibt,
dass man — schweigt.
Nizza, im Frühling 1886.
Erstes Hauptstück:
Von den ersten und letzten Dingen,
Chemie der Begriffe und Empfindungen. --
Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast. in
allen Stücken dieselbe Form der Frage an wie vor zwei-
tausend Jahren: wie kann Etwas aus seinem Gegensatz
entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem,
Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesse-
loses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für
Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern? Die
metaphysische Philosophie half sich bisher über diese
Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des
Einen aus dem Andern leugnete und für die höher
gewertheten Dinge einen Wunder -Ursprung annahm,
unmittelbar aus dem Kern und Wesen des „Dinges
an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen,
welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissen-
schaft zu denken ist, die allerjüngste aller philosophischen
Methoden , ermittelte in einzelnen Fällen (und vermuth-
lich wird dicss in allen ihr Ergebniss sein), dass es keine
Gegensätze sind, ausser in der gewohnten Übertreibung
der populären oder metaphysischen Auffassung, und dass
ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zu
Grunde liegt: nach ihrer Erklärung giebt es, streng
gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein
völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur Subli-
Ni etliche, Werlcp Band U. 2
miningen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt
erscheint und nur noch für die feinste Beobachtung sich
als vorhanden erweist. — Alles, was wir brauchen und
was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen
Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine
Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstel-
lungen und Empfindungen, ebenso aller jener Regungen,
welche wir im Gross- und Klein verkehr der Cultur und
Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie,
wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass
auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus
niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind? Werden
Viele Lust haben , solchen Untersuchungen zu folgen ?
Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und
Anfänge sich aus dem Sinne zu schlagen: muss man
nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten
Hang in sich zu spüren? —
Erbfehler der Philosophen. — Alle Philosophen
haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom
gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Ana-
lyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwill-
kürlich schwebt ihnen ,,der Mensch" als eine aeterna
veritas , als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als
ein sichres Maass der Dinge vor. Alles, was der Philo-
soph über den ^Menschen aussagt, ist aber im Grunde
nicht mehr als ein Zeugniss über den Menschen eines
sehr beschränkten Zeitraums. Mangel an historischem
Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar
nehmen unversehens die allerjüngste Gestaltung des
Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter
— 19 —
Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden
ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse.
Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist,
dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist; wäh-
rend Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem
Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen. — Nun
ist alles Wesentliche der menschlichen Entwicklung
in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier
tausend Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen
mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben.
Da sieht aber der Philosoph „Instincte" am gegen-
wärtigen Menschen und nimmt an, dass diese zu den
unveränderlichen Thatsachen des Menschen gehören und
insofern einen Schlüssel zum Verständniss der Welt über-
haupt abgeben können: die ganze Teleologie ist darauf
gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahr-
tausende als von einem ewigen redet, zu welchem hin
alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natür-
liche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt
keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten
Wahrheiten g^ebt — Demnach ist das historische
Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm die
Tugend der Bescheidung.
Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten. —
Es ist das Merkmal einer hohem Cultur, die kleinen un-
scheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode
gefunden wurden, höher zu schätzen als die beglücken-
den und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen
und künstlerischen Zeitaltem und Menschen entstammen.
Zunächst hat man gegen erstere den Hohn auf den Lippen,
20
als könne hier gar nichts Gleichberechtigtes gegen ein-
ander stehen: so bescheiden, schlicht, nüchtern, ja schein-
bar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend, be-
rauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber
das Mühsam-Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb
für jede weitere Erkenntniss noch Folgenreiche ist doch
das Höhere, zu ihm sich zu halten ist männlich und zeigt
Tapferkeit Schlichtheit Enthaltsamkeit an. Allmählich
wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte
Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden,
wenn sie sich endlich an die höhere Schätzung der
haltbaren, dauerhaften Erkenntnisse gewöhnt und allen
Glauben an Inspiration und wundergleiche Mittheilung
von Wahrheiten verloren hat. — Die Verehrer der For-
men freilich, mit ihrem Maassstabe des Schönen und Er-
habenen, werden zunächst gute Gründe zu spotten haben,
sobald die Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten und
der wissenschaftliche Geist anfängt zur Herrschaft zu
kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch
nicht dem Reiz der schlichtesten Form erschlossen
hat oder weil die in jenem Geiste erzogenen Menschen
noch lange nicht völlig und innerlich von ihm durch-
drungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte
Formen nachmachen (und diess schlecht genug, wie es
Jemand thut, dem nicht mehr viel an einer Sache lieg^).
Ehemals war der Geist nicht durch strenges Denken in
Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen
von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert;
joner Ernst des Symbolischen ist zum Kennzeichen der
niederen Cultur geworden. Wie unsere Künste selber
immer intellectualer, unsre Sinne geistiger werden, und
wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt,
was sinnlich wohltönend ist als vor hundert Jahren: so
■ — 21 —
werden auch die Formen unseresLebens immer geistiger,
für das Auge älterer Zeiten vielleicht hässlicher, aber
nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der
inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und
erweitert und inwiefern uns Allen der geistreiche Blick
jetzt mehr gelten darf als der schönste Gliederbau und
das erhabenste Bauwerk.
4.
Astrologie und Verwandtes. — Es ist wahr-
scheinlich, dass die Objecte des religiösen, moralischen
und aesthetischen Empfindens ebenfalls nur zur Oberfläche
der Dinge gehören, während der Mensch gerne glaubt,
dass er hier wenigstens an das Herz der Welt rühre;
er täuscht sich, weil jene Dinge ihn so tief beseligen
und so tief unglücklich machen, und zeigt also hier
denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese
meint, der Sternenhimmel drehe sich um das Loos des
Menschen; der morahsche Mensch aber setzt voraus, Das,
was ihm wesentlich am Herzen liege, müsse auch Wesen
und Herz der Dinge sein.
5.
Missverständniss des Traumes. — Im Traum
glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfäng-
licher Cultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen;
hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum
hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt
gefunden. Auch die Zerlegung in Seele und Leib hängt
mit der ältesten Auffassung des Traumes zusammen,
ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also die
Herkunft alles Geisterglaubens und wahrscheinlich auch
22
des Götterglaubens. „Der Todte lebt fort; denn er er-
scheint dem Lebenden im Traume": so schloss man ehe-
dem, durch viele Jahrtausende hindurch.
6.
Der Geist der Wissenschaft im Theil, nicht
im Ganzen mächtig. — Die abgetrennten kleinsten
Gebiete der Wissenschaft werden rein sachlich behandelt:
die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen,
als Ganzes betrachtet, die Frage — eine recht unsach-
liche Frage freilich — auf die Lippen: wozu? zu wel-
chem Nutzen? Wegen dieser Rücksicht auf den Nutzen
werden sie, als Ganzes, weniger unpersönlich als in ihren
Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei
der Spitze der gesammten Wissenspyramide, wird un-
willkürlich die Frage nach dem Nutzen der Erkenntniss
überhaupt aufgeworfen, und jede Philosophie hat unbe-
wusst die Absicht, ihr den höchsten Nutzen zuzu-
schreiben. Desshalb giebt es in allen Philosophien so \del
hochfliegende Metaphysik und eine solche Scheu vor den
unbedeutend erscheinenden Lösungen der Physik; denn
die Bedeutsamkeit der Erkenntniss für das Leben soll
so gross als möglich erscheinen. Hier ist der Antago-
nismus zwischen den wissenschaftlichen Einzelgebieten
und der Philosophie. Letztere will, was die Kunst will,
dem Leben und Handeln möglichste Tiefe und Bedeutung
geben; in ersteren sucht man Erkenntniss und Nichts
weiter — was dabei auch herauskomme. Es hat bis
jetzt noch keinen Philosophen gegeben, unter dessen
Händen die Philosophie nicht zu einer Apologie der Er-
kenntniss geworden wäre; in diesem Punkte wenigstens
ist ein Jeder Optimist, dass dieser die höchste Nützlich-
— 21 —
keit zugesprochen werden müsse. Sie alle werden von
der Logik tyrannisirt: und diese ist ihrem Wesen nach
Optimismus.
7.
Der Störenfried in der Wissenschaft. — Die
Philosophie schied sich von der Wissenschaft, als sie die
Frage stellte: welches ist diejenige Erkenntniss der Welt
und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten
lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen: durch
den Gesichtspunkt des Glücks unterband man die Blut-
adern der wissenschaftlichen Forschung — und thut es
heute noch.
8.
Pneumatische Erklärung der Natur. — Die
Metaphysik erklärt die Schrift der Natur gleichsam pneu-
matisch, wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals
mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand
dazu, um auf die Natur dieselbe Art der strengen
Erklärungskunst anzuwenden, wie jetzt die Philologen
sie für alle Bücher geschaffen haben: mit der Absicht,
schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber
nicht einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen.
Wie aber selbst in Betreff der Bücher die schlechte Er-
klärungskunst keineswegs völlig überwunden ist und
man in der besten gebildeten Gesellschaft noch fort-
während auf Überreste allegorischer und mystischer Aus-
deutung stösst: so steht es auch in Betreff" der Natur —
ja noch viel schlimmer.
9.
Metaphysische Welt. — Es ist wahr, es könnte
eine metaphysische Welt geben ; die absolute Möglichkeit
— 24 —
davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge
durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf
nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt,
was von der Welt noch da wäre , wenn man ihn doch
abgeschnitten hätte. Diess ist ein rein wissenschaftliches
Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorge
zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische
Annahmen werthvoll, schrcckenvoll , lustvoll
gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum
und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der
Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben
lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament
aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, auf-
gedeckt hat, hat man sie widerlegt. Dann bleibt immer
noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man gar
nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil
und Leben von den Spinnenfäden einer solchen Möglich-
keit abhängen lassen dürfte. — Denn man könnte von
der metaphysischen Welt gar nichts aussagen als ein
Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches
Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigen-
schaften. — Wäre die Existenz einer solchen Welt noch
so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die gleich-
gültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre:
noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr
die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers
sein muss.
IG.
Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zu-
kunft. — Sobald die Religion Kunst und Moral in
ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie voll-
ständig sich erklären kann, ohne zur Annahme meta-
— 25 —
physischer Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der
Bahn seine Zuflucht zu nehmen, hört das stärkste Interesse
an dem rein theoretischen Problem vom „Ding an sich"
und der „Erscheinung" auf. Denn wie es hier auch
stehe: mit Religion Kunst und Moral rühren wir nicht
an das „Wesen der Welt an sich" ; wir sind im Bereiche
der Vorstellung, keine „Ahnung" kann uns weitertragen.
Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser Welt-
bild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der
Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Ent-
wicklungsgeschichte der Organismen und Begriffe über-
lassen.
II.
Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft.
Die Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der
Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigne
Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für
so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den
Angeln zu heben und sich zum Herren derselben zu
machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und
Namen der Dinge als an aeternae veritates durch
lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich
jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier
erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss
der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so be-
scheiden zu glauben, dass er den Dingen eben nur Be-
zeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte,
das höchste Wissen über die Dinge mit den Worten aus;
in der That ist die Sprache die erste Stufe der Bemühung
um die Wissenschaft. Der Glaube an die gefundene
Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten
Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich — jetzt
— 2Ö —
erst — dämmert es den Menschen auf, dass sie einen un-
geheuren Irrthum in ihrem Glauben an die Sprache pro-
pagirt haben. Glücklicherweise ist es zu spät, als dass
es die Entwicklung der Vernunft, die auf jenem Glauben
beruht, wieder rückgängig machen könnte. — Auch die
Logik beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der
wirklichen Welt entspricht, z. B. auf der Voraussetzung
der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dings
in verschiedenen Punkten der Zeit: aber jene Wissen-
schaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben
(dass es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings
gebe). Ebenso steht es mit der Mathematik, welche
gewiss nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang
an gewusst hätte, dass es in der Natur keine exact ge-
rade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes
Grössenmaass gebe.
12.
Traum und Cultur. — Die Gehirnfunction, welche
durch den Schlaf am meisten beeinträchtigt wird, ist das
Gedächtniss: nicht dass es ganz pausirte — aber es ist
auf einen Zustand der Unvollkommenheit zurückgebracht,
wie es in Urzeiten der Menschheit bei Jedermann am Tage
und im Wachen gewesen sein mag. Willkürlich und
verworren, wie es ist, verwechselt es fortwährend die
Dinge auf Grund der flüchtigsten Ähnlichkeiten: aber
mit derselben Willkür und Verworrenheit dichteten die
Völker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende
zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit
neigt, wie sein Geist nach kurzer Anspannung des Ge-
dächtnisses hin und her zu taumeln beginnt und er, aus
blosser Erschlaffung, Lügen und Unsinn hervorbringt.
Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das
— 27 —
schlechte Wiedererkennen und irrthümliche Gleichsetzen
ist der Grund des schlechten Schliessens, dessen wir uns
im Traume schuldig machen: so dass wir, bei deutlicher
Vergegenwärtigung eines Traumes, vor uns erschrecken,
weil wir so viel Narrheit in uns bergen. — Die voll-
kommne Deutlichkeit aller Traum -Vorstellungen, welche
den unbedingten Glauben an ihre Realität zur Voraus-
setzung hat, erinnert uns wieder an Zustände früherer
Menschheit, in der die Hallucination ausserordentlich
häufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Völker
gleichzeitig ergrifif. Also: im Schlaf und Traum machen
wir das Pensum früheren Menschenthums noch einmal
durch.
13.
Logik des Traumes. — Im Schlafe ist fort-
während unser Nervensystem durch mannichfache innere
Anlässe in Erregung, fast alle Organe secerniren und
sind in Thätigkeit, das Blut macht seinen ungestümen
Kreislauf, die Lage des Schlafenden drückt einzelne
Glieder, seine Decken beeinflussen die Empfindung ver-
schiedenartig, der Magen verdaut und beunruhigt mit
seinen Bewegungen andere Organe, die Gedärme win-
den sich, die Stellung des Kopfes bringt ungewöhnhche
Muskellagen mit sich, die Füsse, unbeschuht, nicht mit
den Sohlen den Boden drückend, verursachen das Gefühl
des Ungewöhnlichen ebenso wie die andersartige Be-
kleidung des ganzen Körpers, — alles diess, nach seinem
täglichen Wechsel und Grade, erregt durch seine Ausser-
gewöhnlichkeit das gesammte System bis in die Gehirn-
function hinein: und so giebt es hundert Anlässe für den
Geist, um sich zu verwundern und nach Gründen
dieser Erregung zu suchen: der Traum aber ist das
28
Suchen und Vorstellen der Ursachen für jene er-
regten Empfindungen, das heisst der vermeintlichen Ur-
sachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen
umgürtet, träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse
umringein: diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein
Glaube, mit einer begleitenden bildlichen Vorstellung und
Ausdichtung: „diese Schlangen müssen die causa jener
Empfindung sein, welche ich, der Schlafende habe," —
so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene
nächste Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie
ihm zur Gegenwart. So weiss Jeder aus Erfahrung, wie
schnell der Träumende einen starken an ihn dringenden
Ton, zum Beispiel Glockenläuten , Kanonenschüsse in
seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm hinterdrein
erklärt, so dass er zuerst die veranlassenden Umstände,
dann jenen Ton zu erleben meint. — Wie kommt es
aber, dass der Geist des Träumenden immer so fehl
greift, während derselbe Geist im Wachen so nüchtern
behutsam und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu
sein pflegt? so dass ihm die erste beste Hypothese zur
Erklärung eines Gefühls genügt, um sofort an ihre Wahr-
heit zu glauben? (Denn wir glauben im Traume an den
Traum, als sei er Realität, das heisst wir halten unsre
Hypothese für völlig erwiesen.) — Ich meine: wie jetzt
noch der Mensch im Traume schlicsst , schloss die
Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende hin-
durch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend
Etwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte
ihm und galt als Wahrheit (So verfahren nach den Er-
zählungen der Reisenden die Wilden heute noch.) Im
Traum übt sich dieses uralte Stück Menschenthum in
uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die höhere
Vernunft sich entwickelte und in jedem Menschen sich
— 29 —
noch entwickelt: der Traum bringt uns in ferne Zustände
der menschlichen Cultur wieder zurück und giebt ein
Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. Das Traum-
denken wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren
Entwicklungsstrecken der Menschheit gerade auf diese
Form des phantastischen und wohlfeilen Erklärens aus
dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut eingedrillt
worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung für das
Gehirn, welches am Tage den strengern Anforderungen
an das Denken zu genügen hat, wie sie von der höheren
Cultur gestellt werden. — Einen verwandten Vorgang
können wir geradezu als Pforte und Vorhalle des Traumes
noch bei wachem Verstände in Augenschein nehmen.
Schliessen wir die Augen, so producirt das Gehirn eine
Menge von Lichteindrücken und Farben, wahrscheinlich
als eine Art Nachspiel und Echo aller jener Licht-
wirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen.
Nun verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im
Bunde) diese an sich formlosen Farbenspiele sofort zu
bestimmten Figuren Gestalten Landschaften belebten
Gruppen. Der eigentliche Vorgang dabei ist wiederum
eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; in-
dem der Geist fragt: woher diese Lichteindrücke und
Farben, supponirt er als Ursachen jene Figuren Ge-
stalten: sie gelten ihm als die Veranlassungen jener Farben
und Lichter, weil er, am Tage, bei offenen Augen, ge-
wohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindruck eine ver-
anlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die
Phantasie fortwährend Bilder vor, indem sie an die Ge-
sichtseindrücke des Tages sich in ihrer Production anlehnt,
und gerade so macht es die Traumphantasie: — das heisst
die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung er-
schlossen und nach der Wirkung vorgestellt: alles diess
— so-
mit ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim
Taschenspieler eine Verwirrung des Urtheils entstehen
und ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst
wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann. —
Wir können aus diesen Vorgängen entnehmen, wie spät
das schärfere logische Denken, das Strengnehmen von
Ursache und Wirkung entwickelt worden ist, wenn unsere
Vernunft- und Verstandesfiinctionen jetzt noch unwill-
kürlich nach jenen primitiven Formen des Schliessens
zurückgreifen und wir ziemlich die Hälfte unseres Lebens
in diesem Zustande leben. — Auch der Dichter, der
Künstler schiebt seinen Stimmungen und Zuständen
Ursachen unter, welche durchaus nicht die wahren sind;
er erinnert insofern an älteres Menschenthum und kann
uns zum Verständnisse desselben verhelfen.
14.
Miterklingen. — Alle stärkern Stimmungen
bringen ein Miterklingen verwandter Em.pfindungen und
Stimmungen mit sich: sie wühlen gleichsam das Gedächt-
niss auf; es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und
wird sich ähnhcher Zustände und deren Herkunft be-
wusst. So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen
von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie
blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr
als Complexe, sondern als Einheiten empfunden wer-
den. In diesem Sinne redet man vom moralischen Ge-
fühle, vom religiösen Gefühle, wie als ob diess lauter
Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Ströme mit hundert
Quellen und Zuflüssen. Auch hier, wie so oft, ver-
bürgt die. Einheit des Wortes Nichts für die Einheit
der Sache.
— 31 —
15-
Kein Innen und Aussen in der Welt. — Wie
Demokrit die Begrifife Oben und Unten auf den unend-
lichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben, so
die Philosophen überhaupt den Begriff „Innen und Aussen"
auf Wesen und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit
tiefen Gefühlen komme man tief in's Innre, nahe man
sich dem Herzen der Natur. Aber diese Gefühle sind
nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse
complicirte Gedanken gruppen regelmässig erregt werden,
welche wir tief nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den
begleitenden Gedanken für tief halten. Aber der „tiefe"
Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr ferne sein, wie
zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom
tiefen Gefühle die beigemischten Gedankenelemente ab,
so bleibt das starke Gefühl übrig und dieses verbürgt
Nichts für die Erkenntniss als sich selbst, ebenso wie der
starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des
Geglaubten beweist.
i6.
Erscheinung und Ding an sich. — Die Philo-
sophen pflegen sich vor das Leben und die Erfahrung
— vor Das, was sie die Welt der Erscheinung nennen —
wie vor ein Gemälde hinzustellen, das Ein für alle Mal
entrollt ist und unveränderlich fest denselben Vorgang
zeigt: diesen Vorgang, meinen sie, müsse man richtig
ausdeuten, um damit einen Schluss auf das Wesen zu
machen, welches das Gemälde hervorgebracht habe: also
auf das Ding an sich, das immer als der zureichende
Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden
pflegt. Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie
— 32 —
den Begriff des Metaphysischen scharf als den des
Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt
hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten
(der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt
in Abrede gestellt: so dass in der Erscheinung eben
durchaus nicht das Ding an sich erscheine, und von
jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von
beiden Seiten ist aber die Möglichkeit übersehen, dass
jenes Gemälde — Das, was jetzt uns Menschen Leben
und Erfahrung heisst — allmählich geworden ist, ja
noch völlig im Werden ist und desshalb nicht als feste
Grösse betrachtet werden soll, von welcher aus man
einen Schluss über den Urheber (den zureichenden Grund)
machen oder auch nur ablehnen dürfte. Dadurch, dass
wir seit Jahrtausenden mit moralischen, ästhetischen,
religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft
oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten
des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist
diese Welt allmählich so wundersam bunt, schrecklich,
bedeutungstief, seelenvoll geworden, sie hat Farbe
bekommen, — aber wir sind die Coloristen gewesen:
der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen
lassen und seine irrthümlichen Grundauffassungen in
die Dinge hineingetragen. Spät, sehr spät — besinnt
er sich: und jetzt scheinen ihm die Welt der Erfahrung
und das Ding an sich so ausserordentlich verschieden und
getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses ablehnt
— oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum
Aufgeben unseres Intellectes, unseres persönlichen Willens
auffordert: um dadurch zum Wesenhaften zu kommen,
dass man wesenhaft werde. Wiederum haben Andere
alle charakteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung
— das heisst der aus intellectuellen Irrthümern heraus-
— 33 —
gesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der
Welt — zusammengelesen und, statt den Intellect
als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge
als Ursache dieses thatsächlichen , sehr unheimlichen
Weltcharakters angeschuldigt und die Erlösung vom
Sein gepredigt. — Mit all diesen Auffassungen wird der
stätige und mühsame Process der Wissenschaft, welcher
zuletzt einmal in einer Entstehungsgeschichte des
Denkens seinen höchsten Triumph feiert, in entschei-
dender Weise fertig werden, dessen Resultat vielleicht
auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: Das, was wir jetzt
die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irr-
thümern und Phantasien, welche in der gesammten Ent-
wicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, in
einander verwachsen sind und uns jetzt als aufgesammelter
Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, — als
Schatz: denn der Werth unseres Menschenthums ruht
darauf. Von dieser Welt der Vorstellung vermag uns
die strenge Wissenschaft thatsächlich nur in geringem
Maasse zu lösen — wie es auch gar nicht zu wünschen
ist — , insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der
Empfindung nicht wesentlich zu brechen vermag: aber
sie kann die Geschichte der Entstehung jener Welt als
Vorstellung ganz allmählich und schrittweise aufhellen
— und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen
Vorgang hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass
das Ding an sich eines homerischen Gelächters werth ist:
dass es so viel, ja Alles schien und eigenthch leer,
nämlich bedeutungsleer ist.
17.
Metaphysische Erklärungen. — Der junge
Mensch schätzt metaphysische Erklärungen, weil sie ihm
Nietzsche, Werke Band n »
— 34 —
in Dingen, welche er unangenehm oder verächtlich fand,
etwas höchst Bedeutungsvolles aufweisen; und ist er mit
sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gefühl, wenn
er das innerste Welträthsel oder Weltelend in Dem
wiedererkennt, was er so sehr an sich missbilligt. Sich
unverantwortlicher fühlen und die Dinge zugleich interes-
santer finden — das gilt ihm als die doppelte Wohlthat,
welche er der Metaphysik verdankt. Später freilich be-
kommt er Misstrauen gegen die ganze metaphysische
Erklärungsart; dann sieht er vielleicht ein, dass jene
Wirkungen auf einem anderen Wege ebenso gut und
wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und
historische Erklärungen mindestens ebenso sehr jenes
Gefühl der Un Verantwortlichkeit herbeiführen, und dass
jenes Interesse am Leben und seinen Problemen vielleicht
noch mehr dabei entflammt wird.
i8.
Grundtragen der Metaphysik. — Wenn einmal
die Entstehungsgeschichte des Denkens geschrieben ist,
so wird auch der folgende Satz eines ausgezeichneten
Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen: „Das
ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Sub-
jects besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegen-
stand an sich, in seinem eigenen Wesen als einen mit
sich selbst identischen, also selbstexistirenden und im
Grunde stäts gleichbleibenden und unwandelbaren, kurz
als eine Substanz zu erkennen." Auch dieses Gesetz,
welches hier „ursprünglich" genannt wird, ist geworden:
es wird einmal gezeigt werden, wie allmählich, in den
niederen Organismen, dieser Hang enstoht: wie die
blöden Maulwurfsaugen dieser Organisationen zuerst
— 35 —
Nichts als immer das Gleiche sehen: wie dann, wenn die
verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerk-
barer werden, allmählich verschiedene Substanzen unter-
schieden werden, aber jede mit Einem Attribut, das heisst
' einer einzigen Beziehung zu einem solchen Organismus.
— Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil: dessen
Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker,
im Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die Em-
pfindung des Angenehmen oder Schmerzhaften
in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue dritte
Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen ein-
zelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten
Form. — Uns organische "Wesen interessirt ursprünglich
Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältniss zu uns in
Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den Momenten,
wo wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den
Zuständen des Empfindens, liegen solche der Ruhe, des
Nichtempfindens: da ist die Welt und jedes Ding für
uns interesselos, wir bemerken keine Veränderung an
ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter nicht merkt,
dass Jemand an ihm vorbeigeht). Für die Pflanze sind
gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst
gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her
ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es gleiche
Dinge giebt (erst die durch höchste Wissenschaft aus-
gebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der Ur-
glaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht
sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt
ist. — Am fernsten liegt für jene Urstufe des Logischen
der Gedanke an Causalität: ja jetzt noch meinen wir
im Grunde, alle Empfindungen und Handlungen seien
Acte des freien Willens; wenn das fühlende Individuum
sich selbst betrachtet, so hält es jede Empfindung, jede
3*
- 3Ö —
Veränderung für etwas Isolirtes, das heisst Unbeding-
tes, Zusammenhangloses: es taucht aus uns auf, ohne
Verbindung mit Früherem oder Späterem. "Wir haben
Hunger, aber meinen ursprünglich nicht, dass der Orga-
nismus erhalten werden will, sondern jenes Gefühl scheint
sich ohne Grund und Zweck geltend zu machen, es
isolirt sich und hält sich für willkürlich. Also: der
Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünghcher
Irrthum alles Organischen, so alt, als die Regungen des
Logischen in ihm existiren; der Glaube an unbedingte
Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ur-
sprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen.
Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Sub-
stanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf
man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den
Grundirrthümern des Menschen handelt — doch so, als
wären es Grundwahrheiten.
19.
Die Zahl. — Die Erfindung der Gesetze der Zahlen
ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irr-
thums gemacht, dass es mehrere gleiche Dinge gebe
(aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches), mindestens
dass es Dinge gebe (aber es giebt kein „Ding"). Die
Annahme der Vielheit setzt immer schon voraus, dass es
Etwas gebe, das vielfach vorkommt: aber gerade hier
schon waltet der Irrthum, schon da fingiren wir Wesen,
Einheiten, die es nicht giebt. —Unsere Empfindungen von
Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, consequent
geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissen-
schaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich
immer mit einigen falschen Grössen: aber weil diese
— 37 —
Grössen wenigstens constant sind, wie zum Beispiel
unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die
Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene
Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange mit
einander; man kann auf ihnen fortbauen — bis an jenes
letzte Ende, wo die irrthümliche Grundannahme, jene
Constanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten
treten, zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir
uns immer noch zur Annahme eines „Dinges" oder stoff-
lichen „Substrats", das bewegt wird, gezwungen, während
die ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe
verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen
aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer
Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen
aus diesem Cirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge
mit unserem Wesen von Alters her verknotet ist. —
Wenn Kant sagt „der Verstand schöpft seine Gesetze
nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", so
ist diess in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig
wahr, welchen wir genöthigt sind mit ihr zu verbinden
( Natur = Welt als Vorstellung, das heisst als Irrthum),
welcher aber die Aufsummirung einer Menge Irrthümer
des Verstandes ist. — Auf eine Welt, welche nicht
unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahl völlig
unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen- Welt.
20.
Einige Sprossen zurück. — Die eine, gewiss sehr
hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der IMensch
über abergläubische und religiöse Begriffe und Ängste
hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben
Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der
- 38 —
Seele zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der
Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung
seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. Dann
aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er muss
die historische Berechtigung, ebenso die psychologische
in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen,
wie die grösste Förderung der Menschheit von dorther
gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rück-
läufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen
Menschheit berauben würde. — In Betreff der philo-
sophischen Metaphysik sehe ich jetzt immer Mehrere,
welche an das negative Ziel (dass jede positive Meta-
physik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige,
welche nun wieder einige Sprossen rückwärts steigen;
man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl
hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen. Die Auf-
geklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Meta-
physik zu befreien und mit Überlegenheit auf sie zurück-
zusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom,
noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen.
21.
Muthmaasslicher Sieg der Skepsis. — Man lasse
einmal den skeptischen Ausgangspunkt gelten: gesetzt,
es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus
der Metaphysik genommenen Erklärungen der uns einzig
bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem
Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen?
Diess kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst
wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaft-
lich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal
abgelehnt würde. Denn es ist nach historischer Wahr-
— 39 —
scheinlichkeit sehr gut möglich, dass die Menschen
einmal in dieser Beziehung im Ganzen und Allgemeinen
skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie wird
sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Ein-
fluss einer solchen Gesinnung gestalten? Vielleicht ist
der wissenschaftliche Beweis irgend einer metaphy-
sischen Welt schon so schwierig, dass die Menschheit
ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und
wenn man gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt
es im Ganzen und Grossen dieselben Folgen, wie wenn
sie direct widerlegt wäre und man nicht mehr an sie
glauben dürfte. Die historische Frage in Betreff einer
unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in
beiden Fällen dieselbe.
22,
Unglaube an das „inonumentuut aere peren-
ntus". — Ein wesentlicher Nachtheil, welchen das Auf-
hören metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt
darin, dass das Individuum zu streng seine kurze Lebens-
zeit in's Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt,
an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen
zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken,
den es pflanzt, und desshalb mag es jene Bäume nicht
mehr pflanzen, welche eine jahrhundertlange gleichmässige
Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von
Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn
metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in
ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei,
auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit
niederzulassen und anzubauen genöthigt sei; der Einzelne
fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein
— 40 —
Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen
Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist
Arbeit am ewigen Heil der Seele. — Kann die Wissen-
schaft auch solchen Glauben an ihre Resultate erwecken?
In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen
als treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der
Zeit die Summe der unantastbaren, das heisst alle Stürme
der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten
so gross werden (zum Beispiel in der Diätetik der Ge-
sundheit), dass man sich darauf hin entschliesst, „ewige"
Werke zu gründen. Einstweilen wirkt der Contrast
unseres aufgeregten Ephemeren-Daseins gegen die lang-
athmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark,
weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der
einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere
und äussere Entwicklungen, als dass er auch nur auf
seine eigene Lebenszeit sich dauerhaft und Ein für alle
Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner Mensch, der
sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein
Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein
Mausoleum vermauern wolle.
23.
Zeitalter der Vergleichung. — Je weniger die
Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so
grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so
grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe,
das Durcheinanderfluthen der Menschen, die Polyphonie
der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen
strengen Zwang, an einen Ort sich und seine Nach-
kommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch
etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste
— 4^ —
neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen
und Arten der ]\Ioralität, der Sitten, der Culturen. —
Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch,
dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen Sitten
Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden
können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft
jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Ge-
bundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit,
Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls
endgültig unter so vielen der Vergleichung sich dar-
bietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten —
nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden
— absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen
in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlich-
keit statt, deren Ziel kein anderes als der Untergang
der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeit-
alter der Vergleichung! Das ist sein Stolz — aber
billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor
diesem Leiden nicht 1 Vielmehr wollen wir die Aufgabe,
welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als
wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob
segnen — eine Nachwelt, die ebenso sich über die ab-
geschlossnen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als
über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten
der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit
Dankbarkeit zurückblickt.
24.
Möglichkeit des Fortschritts. — Wenn ein Ge-
lehrter der alten Cultur es verschwört, nicht mehr mit
Menschen umzugehen, welche an den Fortschritt glauben,
so hat er Recht Denn die alte Cultur hat ihre Grösse
— 42 —
und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt
Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden
kann; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso
unleidliche Schwärmerei nöthig, um diess zu leugnen.
Aber die Menschen können mit Bewusstsein be-
schliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln,
während sie sich früher unbewusst und zufällig ent-
wickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die
Entstehung der Menschen, ihre Ernährung Erziehung
Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch
verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen
einander abwägen und einsetzen. Diese neue bewusste
Cultur tödtet die alte, welche als Ganzes angeschaut ein
unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt hat; sie
tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt — er
ist möglich. Ich will sagen: es ist voreilig und fast
unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt nothwendig
erfolgen müsse; aber wie könnte man leugnen, dass er
möglich sei? Dagegen ist ein Fortschritt im Sinne und
auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar.
Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort
„Fortschritt" von ihren Zielen (z. B. abgeschlossenen
originalen Volks-Culturen) gebraucht: jedenfalls entlehnt
sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken
und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Origi-
nalität.
25-
Privat- und Welt-Moral. — Seitdem der Glaube
aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt
im Grossen leite und trotz aller anscheinenden Krüm-
mungen im Pfade der Menschheit sie doch herrlich hinaus-
führe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die
— 43 —
ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral,
namentlich die Kant's, verlangt vom Einzelnen Hand-
lungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war
eine schöne naive Sache ; als ob ein Jeder ohne Weiteres
wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der
Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt
wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom
Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie
sich nach eingebornen Gesetzen des Besserwerdens von
selbst ergeben müsse. Vielleicht lässt es ein zukünftiger
ÜberbHck über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus
nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen
gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer
Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, viel-
leicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen
sein. — Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht
durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde
richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade über-
steigende Kenntniss der Bedingungen derCultur,
als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele,
gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der
grossen Geister des nächsten Jahrhunderts.
26.
Die Reaction als Fortschritt. — Mitunter
erscheinen schroffe gewaltsame und fortreissende , aber
trotzdem zurückgebliebene Geister, welche eine vergangene
Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschwören: sie
dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen, welchen
sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, dass
Etwas an ihnen fehlt: sonst würden sie jenen Beschwörern
besseren Widerpart halten. So zeugt zum Beispiel Luthers
— 44 —
Reformation dafür, dass in seinem Jahrhundert alle
Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart,
jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr
Haupt erheben. Ja die gesammte Renaissance erscheint
wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit
wird. Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopen-
hauer's Metaphysik, dass auch jetzt der wissenschaftliche
Geist noch nicht kräftig genug ist: so konnte die ganze
mittelalterlich christliche Weltbetrachtung und Mensch-
Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre trotz
der längst errungenen Vernichtung aller christlichen
Dogmen eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft
klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe
nicht, sondern das alte wohlbekannte „metaphysische Be-
dürfniss". Es ist gewiss einer der grössten und ganz
unschätzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer
gewinnen, dass er unsre Empfindung zeitweilig in ältere,
mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zu-
rückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad
führen würde. Der Gewinn für die Historie und die
Gerechtigkeit ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt
Niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopen-
hauer's Beihülfe dem Christenthum und seinen asiatischen
Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was
namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christen-
thums aus unmöglich ist. Erst nach diesem grossen Er-
folge der Gerechtigkeit, erst nachdem wir die
historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Auf-
klärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Punkte
corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung —
die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Vol-
taire — von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der
Reaction einen Fortschritt gemacht.
45 —
27.
Ersatz der Religion. — Man glaubt einer Philo-
sophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man sie als
Ersatz der Religion für das Volk hinstellt In der That
bedarf es in der geistigen Ökonomie gelegentlich über-
leitender Gedankenkreise; so ist der Übergang aus Re- v/
ligion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer
gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. In-
sofern hat man mit jener Anempfehlung Recht. Aber
endlich sollte man doch auch lernen, dass die Bedürfnisse,
welche die ReMgion befriedigt hat und nun die Philo-
sophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese
selbst kann man schwächen und ausrotten. Man
denke zum Beispiel an die christliche Seelennoth, das
Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das
Heil — alles Vorstellungen, welche nur aus Irrthümern
der Vernunft herrühren und gar keine Befriedigung,
sondern Vernichtung verdienen. Eine Philosophie kann
entweder so nützen, dass sie jene Bedürfnisse auch be-
friedigt oder dass sie dieselben beseitigt; denn es
sind angelernte, zeitlich begrenzte Bedürfnisse, welche
auf Voraussetzungen beruhen, die denen der "Wissenschaft
widersprechen. Hier ist, um einen Übergang zu machen,
die Kunst viel eher zu benutzen, um das mit Empfin-
dungen überladne Gemüth zu erleichtern; denn durch
sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten
als durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst
aus kann man dann leichter in eine wirkHch befreiende
philosophische Wissenschaft übergehen.
— 46 -
28.
Verrufene Worte. — Weg mit den bis zum Über-
druss verbrauchten Wörtern Optimismus und Pessimismus!
Denn der Anlass sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu
Tag mehr; nur die Schwätzer haben sie jetzt noch so
unumgänglich nöthig. Denn wesshalb in aller Welt sollte
Jemand Optimist sein wollen, wenn er nicht einen Gott
zu vertheidigen hat, welcher die beste der Welten ge-
schaffen haben muss, falls er selber das Gute und Voll-
kommene ist. — welcher Denkende hat aber die Hypo-
these eines Gottes noch nöthig? — Es fehlt aber auch jeder
Anlass zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss,
wenn man nicht ein Interesse daran hat, den Advocaten
Gottes, den Theologen oder den theologisirenden Philo-
sophen, ärgerlich zu werden und die Gegenbehauptung
kräftig aufzustellen: dass das Böse regiere, dass die
Unlust grösser sei als die Lust, dass die Welt ein Mach-
werk, die Erscheinung eines bösen Willens zum Leben sei.
Wer aber kümmert sich jetzt noch um die Theologen —
ausser den Theologen? — Abgesehen von aller Theologie
und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die
Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die
beste oder die schlechteste ist, und dass diese Begriffe
„gut" und „böse" nur in Bezug auf Menschen Sinn haben,
ja vielleicht selbst hier, in. der Weise, wie sie gewöhnlich
gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der schimpfenden
und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in
jedem Falle entschlagen.
29.
Vom Dufte der Blüthen berauscht — Das
Schiff der Menschheit , meint man , hat einen immer
— 47 —
stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man glaubt,
je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher
er sich schätzt, je weiter seine Entfernung von den
anderen Thieren wird — je mehr er als das Genie unter
den Thieren erscheint — um so näher werde er dem
wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss
kommen: diess thut er auch wirklich durch die Wissen-
schaft, aber er meint diess noch mehr durch seine
Religionen und Künste zu thun. Diese sind zwar eine
Blüthe der Welt, aber durchaus nicht der Wurzel der
Welt näher, als der Stengel ist: man kann aus ihnen
das Wesen der Dinge gerade gar nicht besser verstehen,
obschon diess fast Jedermann glaubt. Der Irrthum hat
den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht, eine
solche Blüthe, wie Religionen und Künste, herauszutreiben.
Das reine Erkennen wäre dazu ausser Stande gewesen.
Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns
Allen die unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht
die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vor-
stellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich, tief, wunder-
voll. Glück und Unglück im Schoosse tragend. Diess
Resultat führt zu einer Philosophie der logischen
Weltverneinung: welche übrigens sich mit einer
praktischen Weltbejahung ebenso gut wie mit deren
Gegentheile vereinigen lässt.
30.
Schlechte Gewohnheiten im Schliessen. —
Die gewöhnlichsten Irrschlüsse der Menschen sind diese:
eine Sache existirt, also hat sie ein Recht. Hier wird
aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmässigkeit, aus der
Zweckmässigkeit auf die Rechtmässigkeit geschlossen.
- 48 —
Sodann: eine Meinung beglückt, also ist sie die wahre,
ihre Wirkung ist gut, also ist sie selber gut und wahr.
Hier legt man der Wirkung das Prädicat beglückend,
gut im Sinne des Nützlichen, bei und versieht nun die
Ursache mit demselben Prädicat gut, aber hier im Sinne
des Logisch-Gültigen. Die Umkehrung der Sätze lautet:
eine Sache kann sich nicht durchsetzen, erhalten, also
ist sie unrecht; eine Meinung quält, regt auf, also ist
sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte dieser Art
zu schliessen nur allzu häufig kennen lernt und an ihren
Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verführung, die
entgegengesetzten Schlüsse zu machen, welche im All-
gemeinen natürlich ebenso sehr Irrschlüsse sind: eine
Sache kann sich nicht durchsetzen, also ist sie gut; eine
Meinung macht Noth, beunruhig^, also ist sie wahr.
31.
Das Unlogische nothwendig. — Zu den Dingen,
welche einen Denker in Verzweiflung bringen können,
gehört die Erkenntniss, dass das Unlogische für den
Menschen nöthig ist, und dass aus dem Unlogischen
vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leiden-
schaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion
und überhaupt in Allem, was dem Leben Werth verleiht,
dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese
schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die
allzu naiven Menschen, welche glauben können, dass die
Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt
werden könne; wenn es aber Grade der Annäherung an
dieses Ziel geben sollte, was würde da nicht Alles auf
diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der ver-
nünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit •wieder der
— 49 —
Natur, das heisst seiner unlogischen Grundstellung
zu allen Dingen.
32.
Ungerechtsein nothwendig. — Alle Urtheile
über den Werth des Lebens sind unlogisch entwickelt
und desshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urtheils
liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, näm-
lich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus
die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes
einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen
Erkennens ist und zwar diess mit voller Nothwendigkeit.
Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen,
stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein,
so dass wir ein logisches Rec!it zu einer Gesammt-
abschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind
voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maass,
womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche
Grösse, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und
doch müssten wir uns selbst als ein festes Maass kennen,
um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns gerecht
abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass
man gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur
leben könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und
Zuneigung zu haben! — denn alles Abgeneigtsein hängt
mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein.
Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein
Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem
Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von
erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles
existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein
unlogische und daher ungerechte Wesen und können
diess erkennen: diess ist eine der grössten und unauf-
lösbarsten Disharmonien des Daseins.
Nietzsche, Werke Band Tl. *
— 50 —
33.
Der Irrthum über das Leben zum Leben
nothwendig. — Jeder Glaube an Werth und Würdig-
keit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist
allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das
allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr
schwach im Individuum entwickelt ist. Auch die selte-
neren Menschen, welche überhaupt über sich hinaus
denken, fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern
abgegrenzte Theile desselben in's Auge. Versteht man
es , sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen , ich
meine auf die hohen Begabungen und die reichen Seelen
zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der
ganzen Weltentwicklung und erfreut sich an deren
Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben,
weil man nämlich die anderen Menschen dabei über-
sieht: also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar
alle Menschen in's Auge fasst, aber in ihnen nur eine
Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, gelten
lässt und sie in Betreff der anderen Triebe entschuldigt:
dann kann man wiederum von der Menschheit im Ganzen
etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens
glauben: also auch in diesem Falle durch Unreinheit des
Denkens. Mag man sich aber so oder so verhalten,
man ist mit diesem Verhalten eine Ausnahme unter
den Menschen. Nun ertragen aber gerade die aller-
meisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren,
und glauben somit an den Werth des Daseins, aber
gerade dadurch, dass sich Jeder allein will und behauptet,
und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles
Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als
ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein
— 51 —
beruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen,
alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt als
die Welt Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er
leidet, macht, dass er sich nicht in andere Wesen hinein-
fOhlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem
Loos und Leiden theilnimmt Wer dagegen wirklich
daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe des Le-
bens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusst-
sein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden,
er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammen-
brechen, — denn die Menschheit hat im Ganzen keine
Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des
ganzen Verlaufs, nicht darin seinen Trost und Halt
finden, sondern seine Verzweiflung. Sieht er bei Allem,
was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen,
so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den
Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit
(und nicht nur als Individuum) ebenso vergeudet zu
fühlen, wie wir die einzelne Blüthe von der Natur ver-
geudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. — Wer
ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und
Dichter wissen sich immer zu trösten.
34.
Zur Beruhigung. — Aber wird so unsere Philo-
sophie nicht zur Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem
Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage scheint uns
die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden
zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben
könne? oder, wenn man dies müsse, ob da nicht der
Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen giebt es nicht
mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch
4*
— 5^ —
unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion,
Die Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust,
Nutzen und Schaden bestehen lassen: wie aber werden
diese Motive sich mit dem Sinne für Wahrheit ausein-
andersetzen? Auch sie berühren sich ja mit Irrthümem
(insofern wie gesagt Neigung und Abneigung und ihre
sehr ungerechten Messungen unsere Lust und Unlust
wesentlich bestimmen). Das ganze menschliche Leben ist
tief in die Unwahrheit eingesenkt: der Einzelne kann
es nicht aus diesem Brunnen herausziehn, ohne dabei
seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu
werden, ohne seine gegenwärtigen Motive, wie die der
Ehre, ungereimt zu finden und den Leidenschaften,
welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben
hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen.
Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig,
welche als persönliches Ergebniss die Verzweiflung, als
theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich
zöge? — Ich glaube, die Entscheidung über die Nach-
wirkung der Erkenntniss wird durch das Temperament
eines Menschen gegeben: ich könnte mir ebenso gut wie
jene geschilderte und bei einzelnen Naturen mögliche
Nachwirkung eine andere denken, vermöge deren ein viel
einfacheres, von Affecten reineres Leben entstünde, als
das jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive
des heftigeren Begehrens' noch Kraft hätten, aus alter
vererbter Gewöhnung her, allmählich aber unter dem
Einflüsse der reinigenden Erkenntniss schwächer würden.
Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich
wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an
Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor
dem man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die
Emphasis los und würde die Anstachelung des Gedankens,
— 53 —
dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei,
nicht weiter empfinden. Freilich gehörte hierzu, wie
gesagt, ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und
im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht
vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu
sein brauchte und in ihren Äusserungen Nichts von dem
knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge —
jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und
Menschen, die lange an der Kette gelegen haben. Viel-
mehr muss ein Mensch, von dem in solchem Maasse
die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind,
dass er nur desshalb weiter lebt, um immer besser zu
erkennen, auf Vieles , ja fast auf Alles , was bei den an-
deren Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruss
verzichten können, ihm muss als der wünschenswertheste
Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen,
Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen
der Dinge genügen. Die Freude an diesem Zustande
theilt er gerne mit und er hat vielleicht nichts Anderes
mitzutheilen — worin freilich eine Entbehrung, eine Ent-
sagung mehr liegt Will man aber trotzdem mehr von
ihm, so wird er mit wohlwollendem Kopfschütteln auf
seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der That,
und vielleicht ein wenig Spott nicht verhehlen: denn
mit dessen „Freiheit" hat es eine eigene Bewandniss.
Zweites Hauptstück:
Zur Geschichte der moraHschen
Empfindungen.
35.
Vortheile der psychologischen Beobachtung.
— Dass das Nachdenken über Menschliches, Allzu-
menschliches — oder wie der gelehrtere Ausdruck lautet:
die psychologische Beobachtung — zu den Mitteln gehöre,
vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern
könne, dass die Übung in dieser Kunst Geistesgegenwart
in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer
langweiligen Umgebung verleihe, ja dass man den dornen-
vollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens
Sentenzen abpflücken und sich dabei ein wenig wohler
fühlen könne: das glaubte man, wusste man — in früheren
Jahrhunderten. Warum vergass es dieses Jahrhundert,
wo wenigstens in Deutschland, ja in Europa die Armuth
an psychologischer Beobachtung durch viele Zeichen sich
zu erkennen giebt? Nicht gerade in Roman Novelle
und philosophischer Betrachtung — diese sind das "Werk
von Ausnahmemenschen ; schon mehr in der Beurtheilung
öflfentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten: vor Allem
aber fehlt die Kunst der psychologischen Zergliederung
und Zusammenrechnung in der Gesellschaft aller Stände,
in der man wohl viel über LIenschen, aber gar nicht
über den Menschen spricht. Warum doch lässt man
sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhal-
tung entgehen? Warum liest man nicht einmal die
- 58 -
grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? —
denn, ohne jede Übertreibung gesprochen: der Gebildete
in Europa, der La Rochefoucauld und seine Geistes- und
Kunstverwandten gelesen hat, ist selten zu finden; und
noch viel seltener Der, welcher sie kennt und sie nicht
schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser unge-
wöhnHche Leser viel weniger Freude an ihnen haben,
als die Form jener Künstler ihm geben sollte; denn
selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend, die Kunst
der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn
er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr ge wetteifert
hat Man nimmt, ohne solche praktische Belehrung, dieses
Schaffen und Formen für leichter als es ist, man fühlt
das Gelungene und Reizvolle nicht scharf genug heraus.
Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen ein
verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen,
ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen
ebenso geht wie den gewöhnlichen Betrachtern von
Kameen: als welche loben, weil sie nicht lieben können
und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber
noch, fortzulaufen.
36.
Einwand. — Oder sollte es gegen jenen Satz, dass
die psychologische Beobachtung zu den Reiz- Heil- und
Erleichterungs-Mitteln des* Daseins gehöre, eine Gegen-
rechnung geben? Sollte man sich genug von den unan-
genehmen Folgen dieser Kunst überzeugt haben, um
jetzt mit Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden
von ihr abzulenken? In der That, ein gewisser blinder
Glaube an die Güte der menschlichen Natur, ein einge-
pflanzter Widerwille vor der Zerlegung menschlicher
Handlungen, eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf
— 59 —
die Nacktheit der Seele mögen wirklich für das gesammte
Glück eines Menschen wünschenswerthere Dinge sein
als jene in einzelnen Fällen hülfreiche Eigenschaft der
psychologischen Scharfsichtigkeit; und vielleicht hat der
Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und
Handlungen, an eine Fülle des unpersönlichen Wohl-
wollens in der Welt die Menschen besser gemacht, inso-
fern er dieselben weniger misstrauisch machte. Wenn man
die Helden Plutarch's mit Begeisterung nachahmt und
einen Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Han-
delns anzweifelnd nachzuspüren, so hat zwar nicht
die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der menschlichen Ge-
sellschaft ihren Nutzen dabei: der psychologische Irrthum
und überhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft
der Menschlichkeit vorwärts, während die Erkenntniss
der Wahrheit vielleicht durch die anregende Kraft einer
Hypothese mehr gewinnt, wie sie La Rochefoucauld der
ersten Ausgabe seiner „Sentences et maximes morales"
vorangestellt hat: „Ce que le monde nomme vertu n'est
d'ordtnatre qu'unfa7it6me formd par nos passtons, ä qui
on donne un nom honnete pour faire impunSmefit ce
qu'on veut." La Rochefoucauld und jene anderen fran-
zösischen Meister der Seelenprüfung (denen sich neuer-
dings auch ein Deutscher, der Verfasser der „Psycholo-
gischen Beobachtungen" zugesellt hat) gleichen scharf
zielenden Schützen, welche immer und immer wieder
in's Schwarze treffen — aber in's Schwarze der mensch-
lichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich
venvünscht vielleicht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste
der Wissenschaft sondern der Menschenfreundlichkeit
geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Ver-
kleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Men-
schen zu pflanzen scheint.
— 6o —
37-
Trotzdem. — Wie es sich nun mit Rechnung und
Gegenrechnung verhalte: in dem gegenwärtigen Zustande
einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Aufer-
weckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden,
und der grausame Anblick des psychologischen Secir-
tisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit
nicht erspart bleiben. Denn hier gebietet jene WissenschaÄ,
welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten
moralischen Empfindungen fragt und welche im Fort-
schreiten die verwickelten sociologischen Probleme auf-
zustellen und zu lösen hat — die ältere Philosophie kennt
die letzteren gar nicht und ist der Untersuchung von
Ursprung und Geschichte der moralischen Empfindungen
unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege
gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt
sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen
nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten Philo-
sophen gewöhnlich ihren Ausgangspunkt in einer falschen
Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und
Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen
Analysis, zum Beispiel der sogenannten unegoistischen
Handlungen, eine falsche Ethik sich aufbaut, dieser zu
Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches
Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die
Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und
die gesammte Weltbetrachtung hineinfallen. Steht es
aber fest, dass die Oberflächlichkeit der psychologischen
Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen
die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fort-
während von Neuem legt, so bedarf es jetzt jener
Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine
— 6i —
auf Steine, Sternchen auf Steinchen zu häufen, so
bedarf es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer
solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen und
jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. Es ist
wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches
und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft
zuerst entdeckt und ausgesprochen worden, welche ge-
wohnt waren, nicht der wissenschaftlichen Erkenntniss,
sondern einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfer
darzubringen; und fast unlösbar hat sich der Duft jener
alten Heimath der moralistischen Sentenz — ein sehr
verführerischer Duft — der ganzen Gattung angehängt:
so dass seinetwegen der wissenschaftliche Mensch un-
willkürlich einiges Misstrauen gegen diese Gattung und
ihre Ernsthaftigkeit merken lässt Aber es genügt, auf
die Folgen zu verweisen: denn schon jetzt beginnt sich
zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem
Boden der psychologischen Beobachtung aufwachsen.
Welches ist doch der Hauptsatz, zu dem einer der kühn-
sten und kältesten Denker, der Verfasser des Buches
„Über den Ursprung der moralischen Empfindungen"
vermöge seiner ein- und durchschneidenden Analysen
des menschlichen Handelns gelangt? „Der moralische
Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen)
"Welt nicht näher als der physische Mensch." Dieser
Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammer-
schlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht ein-
mal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche
dem „metaphysischen Bedürfniss" der Menschen an die
Wurzel gelegt wird, — ob mehr zum Segen als zum
Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu
sagen? — aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten
Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich, und mit jenem
— 62 —
Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle grossen
Erkenntnisse haben.
38.
Inwiefern nützlich. — Also: ob die psycholo-
gische Beobachtung mehr Nutzen oder mehr Nachtheil über
die Menschen bringe, das bleibe immerhin unentschieden;
aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die Wissen-
schaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber
kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig
als die Natur sie kennt: sondern wie diese gelegentlich
Dinge von der höchsten Zweckmässigkeit zu Stande
bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die
ächte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur
in Begriffen, den Nutzen und die Wohlfahrt der
Menschen gelegentlich, ja vielfach fördern und das Zweck-
mässige erreichen — aber ebenfalls, ohne es gewollt
zu haben. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen
Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der
hat vielleicht nur zu wenig Feuer in sich: er möge sich
indess umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen,
in denen Eisumschläge noth thun, und Menschen, welche
so aus Gluth und Geist „zusammengeknetet" sind, dass
sie kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug
für sich finden. Überdiess: wie allzu ernste Einzelne
und Völker ein Bedürfhiss nach Leichtfertigkeiten haben,
wie andere, allzu Bewegliche und Erregbare zeitweilig
schwere niederdrückende Lasten zu ihrer Gesundheit nöthig
haben: sollten wir, die geistigeren Menschen eines
Zeitalters, das ersichtlich immer mehr in Brand geräth,
nicht nach allen löschenden und külilenden Mitteln,
die es giebt, greifen müssen, damit wir wenigstens
- 63 -
so stätig, harmlos und massig bleiben, als wir es noch
sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden,
diesem Zeitalter als Spiegel und Selbstbesinnung über
sich zu dienen? — *
39.
Die Fabel von der intelligiblen Freiheit. —
Die Geschichte der Empfindungen, vermöge deren wir
Jemanden verantwortHch machen, also der sogenannten
moralischen Empfindungen, verläuft in folgenden Haupt-
phasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder
böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern
allein der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen.
Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen
und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rück-
sicht auf deren Folgen, die Eigenschaft „gut" oder
„böse" innewohne: mit demselben Irrthume, nach welchem
die Sprache den Stein selber als hart, den Baum
selber als grün bezeichnet — also dadurch, dass man,
was Wirkung ist, als Ursache fasst Sodann legt
man das Gut- oder Böse-sein in die Motive hinein
und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zwei-
deutig. Man geht weiter und giebt das Prädicat
gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive,
sondern dem ganzen Wesen eines Menschen, aus dem
das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich, heraus-
wächst So macht man der Reihe nach den Menschen
für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann
für seine Motive und endlich für sein Wesen verant-
wortHch. Nun entdeckt man schliesslich, dass auch
dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern
es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den
— 64 -
Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger
Dinge concrescirt: also dass der Mensch für Nichts
verantwortlich zu machen ist, weder für sein Wesen,
noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine
Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntnis gelangt,
dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die
Geschichte eines Irrthums, des Irrthums von der
Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum
von der Freiheit des Willens ruht. — Schopenhauer
schloss dagegen so: weil gewisse Handlungen Unmuth
(„Schuldbewusstsein") nach sich ziehen, so muss es eine
Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth wäre
kein Grund vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln
des Menschen mit Nothwendigkeit verliefe — wie es
thatsächlich, und auch nach der Einsicht dieses Philosophen,
verläuft — , sondern der Mensch selber mit derselben
Nothwendigkeit sein ganzes Wesen erlangte — was
Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Un-
muthes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen
zu können, welche der Mensch irgendwie gehabt haben
müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber
in Bezug auf das Wesen: Freiheit also so oder so zu
sein, nicht so oder so zu handeln. Aus dem esse,
der Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit, folgt
nach seiner Meinung das pperari, die Sphäre der strengen
Causalität, Nothwendigkeit und Un Verantwortlichkeit
Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das
operari — insofern sei er irrthümlich — , in Wahrheit
aber auf das esse, welches die That eines freien Willens,
die Grundursache der Existenz eines Individuums sei:
der Mensch werde Das, was er werden wolle, sein
Wollen sei früher als seine Existenz. — Hier wird der
Fehlschluss gemacht, dass aus der Thatsache des Unmuthes
- 65 -
die Berechtigung, die vernünftige Zulässigkeit dieses
Unmuthes geschlossen wird; und von jenem Fehlschluss
aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen
Consequenz der sogenannten intelligiblen Freiheit. Aber
der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernünftig
zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der
irrthümlichen Voraussetzung, dass die That eben nicht
noth wendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der
Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist,
empfindet er Reue und Gewissensbisse. — Überdiess ist
dieser Unmuth Etwas, das man sich abgewöhnen kann,
bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen
gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen
ihn empfinden. Er ist eine sehr wandelbare, an die
Entwicklung der Sitte und Cultur geknüpfte Sache und
vielleicht nur in" einer verhältnissmässig kurzen Zeit der
Weltgeschichte vorhanden. — Niemand ist für seine
Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten
ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das
Individuum über sich selbst richtet. Der Satz ist so
hell wie Sonnenücht und doch geht hier Jedermann
lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück:
aus Furcht vor den Folgen.
40.
Das Über-Thier. — Die Bestie in uns will
belogen werden; Moral ist Nothlüge, damit wir von
ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irrthümer, welche
in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch
Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres
genommen und sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat
Nie tische, Werke Band II. C
— 66 —
desshalb einen Hass gegen die der Thierheit näher
gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige Missachtung
des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache
zu erklären ist.
41.
Der unveränderliche Charakter. — Dass der
Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne
wahr; vielmehr heisst dieser beliebte Satz nur soviel,
dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen
die einwirkenden Motive nicht tief genug ritzen können,
um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu
zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen von
achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen
absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle
verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm
entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet
zu manchen irrthümlichen Behauptungen über die Eigen-
schaften des Menschen.
42.
Die Ordnung der Güter und die Moral. —
Die einmal angenommene Rangordnung der Güter, je
nachdem ein niedriger höherer höchster Egoismus das
Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das
Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut
(zum Beispiel Sinnengenuss) einem höher geschätzten
(zum Beispiel Gesundheit) vorziehn gilt als unmoralisch,
ebenso Wohlleben der Freiheit vorziehn. Die Rang-
ordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten feste
und gleiche; wenn Jemand Rache der Gerechtigkeit vor-
zieht, so ist er nach dem Maassstabe einer früheren
Cultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch.
- 67 -
„Unmoralisch" bezeichnet also, dass Einer die höheren
feineren geistigeren Motive, welche die jeweilen neue
Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht
stark genug empfindet: es bezeichnet einen Zurückge-
bliebenen, aber immer nur dem Gradunterschied nach. —
Die Rangordnung der Güter selber wird nicht nach
moralischen Gesichtspunkten auf- und umgestellt; wohl
aber wird nach ihrer jedesmaligen Festsetzung darüber
entschieden, ob eine Handlung morahsch oder un-
moralisch sei.
43.
Grausame Menschen als zurückgeblieben.
— Die Menschen, welche jetzt grausam sind, müssen uns
als Stufen früherer Culturen gelten, welche übrig
geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier
einmal die tieferen Formationen, welche sonst versteckt
liegen, offen. Es sind zurückgebliebene Menschen, deren
Gehirn, durch alle möglichen Zufälle im Verlaufe der
Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet
worden ist Sie zeigen uns, was wir Alle waren, und
machen uns erschrecken: aber sie selber sind so wenig
verantwortlich, wie ein Stück Granit dafür, dass es
Granit ist. In unserem Gehirne müssen sich auch Kinnen
und Windungen finden, welche jener Gesinnung ent-
sprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher
Organe Erinnerungen an Fischzustände finden sollen.
Aber diese Rinnen und Windungen sind nicht mehr das
Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer Empfin-
dung wälzt
44.
Dankbarkeit und Rache. — Der Grund, wess-
halb der Mächtige dankbar ist, ist dieser. Sein Wohl-
5*
— 68 —
thäter hat sich durch seine Wohlthat an der Sphäre des
Mächtigen gleichsam vergriffen und sich in sie ein-
gedrängt: nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder
an der Sphäre des Wohlthäters durch den Act der Dank-
barkeit. Es ist eine mildere Form der Rache. Ohne
die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, würde der
Mächtige sich unmächtig gezeigt haben und fürderhin
dafür gelten. Desshalb stellt jede Gesellschaft der Guten,
das heisst ursprünglich der Mächtigen, die Dankbarkeit
unter die ersten Pflichten. — Swift hat den Satz hin-
geworfen, dass Menschen in demselben Verhältniss dank-
bar sind, wie sie Rache hegen.
45-
Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse. —
Der Begriff gnt und böse hat eine doppelte Vorgeschichte :
nämlich einmal in der Seele der herrschenden Stämme
und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes
mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Ver-
geltung übt, also dankbar und rachsüchtig ist, der %\'ird
gut genannt; wer unmächtig ist und nicht vergelten
kann, gilt als schlecht. Man gehört als Guter zu den
„Guten", einer Gemeinde, welche Gemeingefühl hat, weil
alle Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit ein-
ander verflochten sind. Man gehört als Schlechter zu
den „Schlechten", zu einem Haufen unterworfener, ohn-
mächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben.
Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse
wie Staub. Gut und schlecht ist eine Zeitlang so viel
wie vornehm und niedrig, Herr und Sclave. Dagegen
sieht man den Feind nicht als böse an: er kann ver-
gelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer
- 69 -
beide gut Nicht Der, welcher uns Schädliches rufQgt,
sondern Der, welcher verächtlich ist, gilt als schlecht
In der Gemeinde der Guten vererbt sich das Gute; es
ist unmöglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche
hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten etwas,
das der Guten unwürdig ist, so verfallt man auf Aus-
flüchte; man schiebt zum Beispiel einem Gott die Schuld
zu, indem man sagt: er habe den Guten mit Verblendung
und Wahnsinn geschlagen. — Sodann in der Seele der
Unterdrückten, Machtlosen. Hier gilt jeder andere
Mensch als feindlich, rücksichtslos, ausbeutend, grausam,
listig, sei er vornehm oder niedrig. Böse ist das Charakter-
wort far Mensch, ja für jedes lebende Wesen, welches
man voraussetzt, zum Beispiel für einen Gott; mensch-
lich, göttlich gilt so viel als teuflisch, böse. Die Zeichen
der Güte Hülfbereitschaft Mitleid werden angstvoll
als Tücke, Vorspiel eines schrecklichen Ausganges, Be-
täubung und Überlistung aufgenommen, kurz als ver-
feinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des Ein-
zelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, höchstens
die roheste Form desselben: so dass überall, wo diese
Auffassung von Gut und Böse herrscht, der Untergang
der Einzelnen, ihrer Stämme und Rassen nahe ist —
Unsre jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herr-
schenden Stämme und Kasten aufgewachsen.
46.
Mitleiden stärker als Leiden. — Es giebt Fälle,
wo das Mitleiden stärker ist als das eigentliche Leiden.
Wir empfinden es zum Beispiel schmerzlicher, wenn
einer unserer Freunde sich etwas Schmähliches zu Schul-
den kommen lässt, als wenn wir selbst es thun. Einmal
— 70 — '
nämlich glauben wir mehr an die Reinheit seines Charak-
ters als er; sodann ist unsere Liebe zu ihm, wahrschein-
lich eben dieses Glaubens wegen, stärker als seine
Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein Egoismus
mehr dabei leidet als unser Egoismus, insofern er die
üblen Folgen seines Vergehens stärker zu tragen hat,
so wird das Unegoistische in uns — diess Wort ist nie
streng zu verstehen, sondern nur eine Erleichterung des
Ausdrucks — doch stärker durch seine Schuld betroffen
als das Unegoistische in ihm.
47.
Hypochondrie. — Es giebt Menschen, welche aus
Mitgefühl und Sorge für eine andere Person hypochon-
drisch werden; die dabei entstehende Art des Mitleidens
ist nichts Anderes als eine Krankheit. So giebt es auch
eine christliche Hypochondrie, welche jene einsamen
religiös bewegten Leute befällt, die sich das Leiden
und Sterben Christi fortwährend vor Augen stellen.
48.
Ökonomie der Güte. — Die Güte und Liebe
als die heilsamsten Kräuter und Kräfte im Verkehre der
Menschen sind so kostbare Funde, dass man wohl
wünschen möchte, es werde in der Verwendung dieser
balsamischen Mittel so ökonomisch wie möglich verfahren :
doch ist diess unmöglich. Die Ökonomie der Güte ist
der Traum der verwegensten Utopisten.
49.
Wohlwollen. — Unter die kleinen, aber zahllos
häufigen und desshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf
_ 71 —
welche die "Wissenschaft mehr Acht zu geben hat als
auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen
zu rechnen; ich meine jene Äusserungen freundlicher
Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene
Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich
fast alles menschliche Thun umsponnen ist. Jeder Lehrer,
jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was für ihn
Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwährende Bethätigung
der MenschHchkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes,
in denen Alles wächst; namentlich im engsten Kreise,
innerhalb der Familie, grünt und blüht das Leben nur
durch jenes Wohlwollen. Die Gutmüthigkeit, die Freund-
lichkeit, die Höflichkeit des Herzens sind immerquellende
Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel
mächtiger an der Cultur gebaut, als jene viel berühmteren
Äusserungen desselben, die man Mitleiden Barmherzig-
keit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt sie gering-
zuschätzen, und in der That: es ist nicht gerade viel
Unegoistisches daran. Die Summe dieser geringen
Dosen ist trotzdem gewaltig, ihre gesammte Kraft gehört
zu den stärksten Kräften. — Ebenso findet man viel
mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen: wenn
man nämlich richtig rechnet und nur alle jene Momente
des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem
bedrängtesten Menschenleben reich ist, nicht vergisst
50-
Mitleiden erregen wollen. — La Rochefoucauld
trifft in der bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-
Portraits (zuerst gedruckt 1658) gewiss das Rechte, wenn
er alle Die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden
warnt, wenn er räth, dasselbe den Leuten aus dem Volke
— 72 —
zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen (weil sie
nicht durch Vernunft bestimmt werden), um so weit
gebracht zu werden, dem Leidenden zu helfen und bei
einem Unglück kräftig einzugreifen; während das Mit-
leiden, nach seinem (und Plato's) Urtheil, die Seele ent-
kräfte. Freilich solle man Mitleid bezeugen, aber
sich hüten es zu haben: denn die Unglücklichen seien
nun einmal so dumm, dass bei ihnen das Bezeugen von
Mitleid das grösste Gut von der Welt ausmache. —
Vielleicht kann man noch stärker vor diesem Mitleid-
haben warnen, wenn man jenes Bedürfniss der Unglück-
lichen nicht gerade als Dummheit und intellectuellen
Mangel, als eine Art Geistesstörung fasst, welche das
Unglück mit sich bringt (und so scheint es ja La Roche-
foucauld zu fassen), sondern als etwas ganz Anderes und
Bedenklicheres versteht. Vielmehr beobachte man Kinder,
welche weinen und schreien, damit sie bemitleidet
werden, und desshalb den Augenblick abwarten, wo ihr
Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr
mit Kranken und geistig Gedrückten und frage sich, ob
nicht das beredte Klagen und Wimmern, das Zur -Schau-
tragen des Unglücks im Grunde das Ziel verfolgt, den
Anwesenden weh zu thun: das Mitleiden, welches
Jene dann äussern, ist insofern eine Tröstung für die
Schwachen und Leidenden, als sie daran erkennen, doch
wenigstens noch Eine Macht zu haben, trotz aller
ihrer Schwäche: die Macht, wehe zu thun. Der Un-
glückliche gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefühl
der Überlegenheit, welches das Bezeugen des Mitleids
ihm zum Bewusstsein bringt; seine Einbildung erhebt sich,
er ist immer noch wichtig genug, um der Welt Schmerzen
zu machen. Somit ist der Durst nach Bemitleidet-werden
ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten
— 73 —
der Mitmenschen; es zeigt den Menschen in der ganzen
Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst: nicht
aber gerade in seiner „Dummheit", wie La Rochefoucauld
meint. — Im Zwiegespräche der Gesellschaft werden
Dreiviertel aller Fragen gestellt, aller Antworten ge-
geben, um dem Unterredner ein klein wenig weh zu
thun; desshalb dürsten viele Menschen so nach Gesell-
schaft: sie giebt ihnen das Gefühl ihrer Kraft. In solchen
unzähligen aber sehr kleinen Dosen, in welchen die
Bosheit sich geltend macht, ist sie ein mächtiges Reiz-
mittel des Lebens: ebenso wie das Wohlwollen, in
gleicher Form durch die Menschenwelt hin verbreitet,
das allezeit bereite Heilmittel ist. — Aber wird es viele
Ehrliche geben, welche zugestehen, dass es Vergnügen
macht, weh zu thun? dass man sich nicht selten damit
unterhält — und gut unterhält — , anderen Menschen
wenigstens in Gedanken Kränkungen zuzufügen und die
Schrotkömer der kleinen Bosheit nach ihnen zu schiessen?
Die Meisten sind zu unehrlich und ein paar Menschen
sind zu gut, um von diesem, pudendum Etwas zu wissen;
diese mögen somit immerhin leugnen, dass Prosper
Merimee Recht habe, wenn er sagt: „Sachez ausst qu'il
n'y a rien de plus commun que de faire le mal pour le
platstr de le faire."
51-
Wie der Schein zum Sein wird, — Der Schau-
spieler kann zuletzt auch beim tiefsten Schmerz nicht
aufhören, an den Eindruck seiner Person und den ge-
sammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst
beim Begräbniss seines Kindes; er wird über seinen
eigenen Schmerz und dessen Äusserungen weinen, als
sein eigner Zuschauer. Der Heuchler, welcher immer
— 74 —
ein und dieselbe Rolle spielt, hört zuletzt auf Heuchler
zu sein — zum Beispiel Priester, welche als junge Männer
gewöhnlich be-^nisst oder unbewusst Heuchler sind, wer-
den zuletzt natürlich und sind dann wirkhch, ohne alle
AfFectation, eben Priester; oder wenn es der Vater nicht
so weit bringt, dann vielleicht der Sohn, der des Vaters
Vorsprung benutzt, seine Gewöhnung erbt. Wenn Einer
sehr lange und hartnäckig Etwas scheinen will, so
wird es ihm zuletzt schwer, etwas Anderes zu sein.
Der Beruf fast jedes Menschen, sogar der des Künstlers,
beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von Aussen
her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen. Der, welcher
immer die Maske freundlicher Mienen trägt, muss zuletzt
eine Gewalt über wohlwollende Stimmungen bekommen,
ohne welche der Ausdruck der Freundlichkeit nicht zu
erzwingen ist, — und zuletzt wieder bekommen diese
über ihn Gewalt, er ist wohlwollend.
52.
Der Punkt der Ehrlichkeit beim Betrüge. —
Bei allen grossen Betrügern ist ein Vorgang bemerkens-
werth, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen
Acte des Betrugs, unter all den Vorbereitungen, dem
Schauerlichen in Stimme Ausdruck Gebärden, inmitten
der wirkungsvollen Scenerie überkommt sie der Glaube
an sich selbst: dieser ist es, der dann so wunder gleich
und bezwingend zu den Umgebenden spricht. Die Reli-
gionsstifter unterscheiden sich dadurch von jenen grossen
Betrügern, dass sie aus diesem Zustande der Selbsttäu-
schung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten
einmal jene helleren Momente, wo der Zweifel sie über-
wältigt; gewöhnlich trösten sie sich aber, diese helleren
— 75 —
Momente dem bösen Widersacher zuschiebend. Selbst-
betrug muss da sein, damit Diese und Jene grossartig
wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit
alles dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird.
53.
Angebliche Stufen der Wahrheit. — Einer der
gewöhnlichen Fehlschlüsse ist der: weil Jemand wahr und
aufrichtig gegen uns ist, so sagt er die Wahrheit. So
glaubt das Kind an die Urtheile der Eltern, der Christ
an die Behauptungen des Stifters der Kirche. Ebenso
^vill man nicht zugeben, dass alles Jenes, was die Men-
schen mit Opfern an Glück und Leben in früheren Jahr-
hunderten vertheidigt haben. Nichts als Irrthümer waren:
vielleicht sagt man, es seien Stufen der Wahrheit gewesen.
Aber im Grunde meint man, wenn Jemand ehrlich an
Etwas geglaubt und für seinen Glauben gekämpft hat
und gestorben ist, wäre es doch gar zu unbillig, wenn
eigentlich nur ein Irrthum ihn beseelt habe. So ein Vor-
gang scheint der ewigen Gerechtigkeit zu widersprechen ;
desshalb decretirt das Herz empfindender Menschen immer
wieder gegen ihren Kopf den Satz: zwischen moralischen
Handlungen und intellectuellen Einsichten muss durchaus
ein nothwendiges Band sein. Es ist leider anders; denn
es giebt keine ewige Gerechtigkeit
54.
Die Lüge. — Wesshalb sagen zu allermeist die
Menschen im alltäglichen Leben die Wahrheit? — Gewiss
nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat. Sondern
erstens: weil es bequemer ist; denn die Lüge erfordert
— 76 -
Erfindung, Verstellung und Gedächtniss. (Wesshalb Swift
sagt: wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere
Last, die er übernimmt; er muss nämlich, um Eine Lüge
zu behaupten, zwanzig andere erfinden.) Sodann: weil
es in schlichten Verhältnissen vortheilhaft ist, direct zu
sagen: ich will diess, ich habe diess gethan, und der-
gleichen; also weil der Weg des Zwangs und der Au-
torität sicherer ist als der der List. — Ist aber einmal
ein Kind in verwickelten häuslichen Verhältnissen auf-
gezogen worden, so handhabt es ebenso natürlich die
Lüge und sagt unwillkürlich immer Das, was seinem In-
teresse entspricht; ein Sinn für Wahrheit, ein Widerwille
gegen die Lüge an sich ist ihm ganz fremd und unzu-
gänglich, und so lügt es in aller Unschuld.
55-
Des Glaubens wegen die Moral verdächtigen.
— Keine Macht lässt sich behaupten, wenn lauter Heuchler
sie vertreten; die katholische Kirche mag noch so viele
„weltliche" Elemente besitzen, ihre Kraft beruht auf jenen
auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche
sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und
deren Blick und abgehärmter Leib von Nachtwachen
Hungern glühendem Gebete, vielleicht selbst von Geissei-
hieben redet; diese erschüttern die Menschen und machen
ihnen Angst: wie, wenn es nöthig wäre, so zu leben?
— diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick
auf die Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten,
gründen sie immer von Neuem wieder einen Pfeiler ihrer
Macht; selbst die Freigesinnten wagen es nicht, dem
derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu wider-
stehen und zu sagen: „Betrogner du, betrüge nicht!" —
• - 77 -
Nur die Differenz der Einsichten trennt sie von ihm,
durchaus keine Differenz der Güte oder Schlechtigkeit;
aber was man nicht mag, pflegt man gewöhnlich auch
ungerecht zu behandeln. So spricht man von der Schlau-
heit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber über-
sieht, welche Selbstüberwindung jeder einzelne Jesuit sich
auferlegt und wie die erleichterte Lebenspraxis, welche
die jesuitischen Lehrbücher predigen, durchaus nicht
ihnen, sondern dem Laienstande zu Gute kommen soll.
Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklärten bei ganz
gleicher Taktik und Organisation ebenso gute Werk-
zeuge, ebenso bewundernswürdig durch Selbstbesiegung
Unermüdlichkeit Hingebung sein würden.
56.
Sieg der Erkenntniss über das radicale Böse.
— Es trägt Dem, der weise werden will, einen reich-
lichen Gewinn ein, eine Zeitlang einmal die Vorstellung vom
gründlich bösen und verderbten Menschen gehabt zu
haben: sie ist falsch, wie die entgegengesetzte; aber
ganze Zeitstrecken hindurch besass sie die Herrschaft,
und ihre Wurzeln haben sich bis in uns und unsere Welt
hinein verästet Um uns zu begreifen, müssen wir sie
begreifen; um aber dann höher zu steigen, müssen wir
über sie hinwegsteigen. Wir erkennen dann, dass es
keine Sünden im metaphysischen Sinne giebt; aber, im
gleichen Sinne, auch keine Tugenden; dass dieses
ganze Bereich sittlicher Vorstellungen fortwährend im
Schwanken ist, dass es höhere und tiefere Begriffe von
Gut und Böse, Sittlich und Unsittlich giebt. Wer nicht
viel mehr von den Dingen begehrt, als Erkenntniss der-
selben, kommt leicht mit seiner Seele zur Ruhe und wird
- 78 -
höchstens aus Unwissenheit, aber schwerlich aus Begehr-
lichkeit fehlgreifen (oder sündigen, wie die Welt es heisst).
Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und aus-
rotten wollen; aber sein einziges, ihn völlig beherrschendes
Ziel, zu aller Zeit so gut wie möglich zu erkennen,
wird ihn kühl machen und alle Wildheit in seiner An-
lage besänftigen. Überdiess ist er eine Menge quälen-
der Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts
mehr bei dem Worte Höllenstrafen, Sündhaftigkeit, Un-
fähigkeit zum Guten: er erkennt darin nur die ver-
schwebenden Schattenbilder falscher Welt- und Lebens-
betrachtungen.
57.
Moral als Selbstzertheilung des Menschen. —
Ein guter Autor, der wirklich das Herz für seine Sache
hat, wünscht, dass Jemand komme und ihn selber da-
durch vernichte, dass er dieselbe Sache deutlicher dar-
stelle und die in ihr enthaltenen Fragen ohne Rest be-
antworte. Das liebende Mädchen wünscht, dass sie die
hingebende Treue ihrer Liebe an der Untreue des Ge-
liebten bewähren könne. Der Soldat wünscht, dass er
für sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle:
denn in dem Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes
Wünschen mit. Die Mutter giebt dem Kinde, was sie
sich selber entzieht, Schlaf, die beste Speise, unter Um-
ständen ihre Gesundheit, ihr Vermögen. — Sind diess Alles
aber unegoistische Zustände? Sind diese Thaten der
Moralität Wunder, weil sie nach dem Ausdrucke
Schopenhauer's „unmöglich und doch wirklich" sind?
Ist es nicht deutlich, dass in all diesen Fällen der Mensch
Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein
Erzeugniss mehr liebt als etwas Anderes von sich.
— 79 —
dass er also sein Wesen zertheilt und dem einen Theil
den anderen zum Opfer bringt? Ist es etwas wesentlich
Verschiedenes, wenn ein Trotzkopf sagt: ,4ch will lieber
über den Haufen geschossen werden, als diesem Menschen
da einen Schritt aus dem Wege gehn"? — Die Neigung
zu Etwas (Wunsch, Trieb, Verlangen) ist in allen
genannten Fällen vorhanden; ihr nachzugeben, mit allen
Folgen, ist jedenfalls nicht „unegoistisch". — In der
Moral behandelt sich der Mensch nicht als tndividmim,
sondern als dividuum.
58.
Was man versprechen kann. — Man kann
Handlungen versprechen, aber keine Empfindungen; denn
diese sind unwillkürlich. Wer Jemandem verspricht, ihn
immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer
treu zu sein, verspricht Etwas, das nicht in seiner Macht
steht; wohl aber kann er solche Handlungen versprechen,
welche zwar gewöhnlich die Folgen der Liebe, des
Heisses, der Treue sind, aber auch aus anderen Motiven
entspringen können: denn zu einer Handlung führen
mehrere Wege und Motive. Das Versprechen, Jemanden
immer zu lieben, heisst also: so lange ich dich liebe,
werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen; liebe
ich dich nicht mehr, so wirst du doch dieselben Hand-
lungen, wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von
mir empfangen: so dass der Schein in den Köpfen der
Mitmenschen bestehen bleibt, dass die Liebe unverändert
und immer noch dieselbe sei. — Man verspricht also
die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man
ohne Selbstverblendung Jemandem immerwährende Liebe
gelobt
— 8o
59.
Intellect und Moral. — Man muss ein gutes
Gedächtniss haben , um gegebene Versprechen halten zu
können. Man muss eine starke Klraft der Einbildung
haben, um Mitleid haben zu können. So eng ist die
Moral an die Güte des Intellects gebunden.
60.
Sich rächen wollen und sich rächen. — Einen
Rachegedanken haben und ausführen heisst einen heftigen
Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen
Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth ihn
auszuführen, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung
an Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral,
welche nur auf die Absichten sieht, taxirt beide Fälle
gleich; für gewöhnlich taxirt man den ersten Fall als
den schlimmeren (wegen der bösen Folgen, welche die
That der Rache vielleicht nach sich zieht). Beide Schätz-
ungen sind kurzsichtig.
61.
Warten-können. — Das Warten -können ist so
schwer, dass die grössten Dichter es nicht verschmäht
haben, das Nicht-warten-können zum Motiv ihrer Dich-
tungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles
im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag
noch seine Empfindung hätte abkühlen lassen, nicht mehr
nöthig geschienen hätte, wie der Orakelspruch andeutet;
wahrscheinlich würde er den schrecklichen Einflüsterungen
der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen geschlagen und
zu sich gesprochen haben: wer hat denn nicht schon, in
— 8i —
meinem Falle, ein Schaf für einen Helden angesehn?
ist es denn so etwas Ungeheures ? Im Gegentheil, es ist
nur etwas allgemein Menschliches — Ajax durfte sich
dergestalt Trost zusprechen. Die Leidenschaft will nicht
warten; das Tragische im Leben grosser Männer liegt
häufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zelt und der
Niedrigkeit ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfähig-
keit, ein Jahr, zwei Jahre ihr Werk zu verschieben; sie
können nicht warten. — Bei allen Duellen haben die
zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die be-
theiligten Personen noch warten können: ist diess nicht
der Fall, so ist ein Duell vernünftig, insofern Jeder von
Beiden sich sagt: „entweder lebe ich weiter, dann muss
Jener augenblicklich sterben, oder umgekehrt." Warten
hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren Marter der
verletzten Ehre angesichts ihres Verletzers noch länger
leiden: und diess kann eben mehr Leiden sein, als das
Leben überhaupt werth ist
62.
Schwelgerei der Rache. — Grobe Menschen,
welche sich beleidigt fühlen, pflegen den Grad der Be-
leidigung so hoch als möglich zu nehmen und erzählen
die Ursache mit stark übertreibenden Worten, um nur
in dem einmal erweckten Hass- und Rachgefühl sich
recht ausschwelgen zu können.
63.
Werth der Verkleinerung. — Nicht wenige,
vielleicht die allermeisten Menschen haben, um ihre Selbst-
achtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln bei
Nietzsche, Werke Band II. 6
— Ö2 -
sich aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen
bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen
und zu verkleinern. Da aber die geringen Naturen in
der Überzahl sind und es sehr viel daran liegt, ob sie
jene Tüchtigkeit haben oder verlieren, so —
64.
Der Aufbrausende. — Vor Einem, der gegen
uns aufbraust, soll man sich in Acht nehmen wie vor
Einem, der uns einmal nach dem Leben getrachtet hat:
denn dass wir noch leben, das liegt an der Abwesen-
heit der Macht zu tödten; genügten Blicke, so wäre es
längst um uns geschehn. Es ist ein Stück roher Cultur,
durch Sichtbarwerdenlassen der physischen Wildheit, durch
Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu bringen. —
Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen
ihre Bedienten haben, ein Überrest jener kastenmässigen
Abgrenzungen zwischen Mensch und Mensch, ein Stück
rohen Alterthums; die Frauen, die Bewahrerinnen des
Alten, haben auch diess survtval treuer bewahrt.
65.
Wohin die Ehrlichkeit führen kann. — Jemand
hatte die üble Angewohnheit, sich über die Motive, aus
denen er handelte und die so gut und so schlecht waren
wie die Motive aller Menschen, gelegentlich ganz ehrlich
auszusprechen. Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht,
wurde allmählich geradezu verfehmt und in die Acht
der Gesellschaft erklärt, bis endlich die Justiz sich eines
so verworfenen Wesens erinnerte , bei Gelegenheiten , wo
sie sonst kein Auge hatte, oder dasselbe zudrückte. Der
- 83 -
Mangel an Schweigsamkeit über das allgemeine Geheim-
niss und der unverantwortliche Hang zu sehen, was
Keiner sehen will — sich selber — , brachten ihn zu
Gefängniss und frühzeitigem Tod.
66.
Sträflich, nie gestraft — Unser Verbrechen
gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte
behandeln.
67.
Sancta simplicitas der Tugend. — Jede Tugend
hat Vorrechte : zum Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen
eines Verurtheilten ihr eigenes Bündchen Holz zu liefern.
68.
Moralität und Erfolg. — Nicht nur die Zuschauer
einer That bemessen häufig das Morahsche oder Unmo-
ralische an derselben nach dem Erfolge: nein, der Thäter
selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind
selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint
selbst das Gedächtniss durch den Erfolg der That getrübt,
so dass man seiner That selber falsche Motive unter-
schiebt oder die unwesentlichen Motive als wesentliche
behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen
ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt
den Schatten von Gewissensbissen über die achtungs-
würdigste Handlung. Daraus ergiebt sich die bekannte
Praxis des Politikers, welcher denkt: „gebt mir nur den
Erfolg: mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf
meine Seite gebracht — und mich vor mir selber ehrlich
- 84 -
gemacht" — Auf ähnliche Weise soll der Erfolg die
bessere Begründung ersetzen. Noch jetzt meinen viele
Gebildete, der Sieg des Christenthums über die griechi-
sche Philosophie sei ein Beweis für die grössere Wahr-
heit des ersteren — obwohl in diesem Falle nur das
Gröbere und Gewaltsamere über das Geistigere und Zarte
gesiegt hat. Wie es mit der grösseren Wahrheit steht,
ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden Wissen-
schaften Punkt um Punkt an Epikur's Philosophie ange-
knüpft, das Christenthum aber Punkt um Punkt zurück-
gewiesen haben.
69.
Liebe und Gerechtigkeit. — Warum überschätzt
man die Liebe zu Ungunsten der Gerechtigkeit und
sagt die schönsten Dinge von ihr, als ob sie ein viel
höheres Wesen als jene sei? Ist sie denn nicht ersicht-
lich dümmer als jene? — Gewiss, aber gerade desshalb
um so viel angenehmer für Alle. Sie ist dumm und
besitzt ein reiches Füllhorn; aus ihm theilt sie ihre Gaben
aus, an Jedermann, auch wenn er sie nicht verdient, ja
ihr nicht einmal dafür dankt. Sie ist unparteiisch wie
der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung,
nicht nur den Ungerechten, sondern unter Umständen
auch den Gerechten bis auf die Haut nass macht
70.
Hinrichtung. — Wie kommt es, dass jede Hin-
richtung uns mehr beleidigt als ein Mord? Es ist die
Kälte der Richter, die peinliche Vorbereitung, die Ein-
sicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt wird, um
andre abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht be-
_ 85 -
straft, selbst wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehern
Eltern Umgebungen, in uns, nicht im Mörder — ich
meine die veranlassenden Umstände.
71.
Die Hoffnung. — Pandora brachte das Fass mit
den Übeln und öffnete es. Es war das Geschenk der
Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes ver-
führerisches Geschenk und „Glücksfass" zubenannt. Da
flogen all die Übel, lebendige beschwingte Wesen heraus:
von da an schweifen sie nun herum und thun den
^lenschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges
Übel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft: da
schlug Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu, und
so blieb es darin. Für immer hat der Mensch nun das
Glücksfass im Hause und meint Wunder was für einen
Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er
greift darnach, wenn es ihn gelüstet; denn er weiss
nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass
der Übel war, und hält das zurückgebliebene Übel für
das grösste Glücksgut - - es ist die Hoffnung. — Zeus
wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr
durch die anderen Übel gequält, doch das Leben nicht
wegwerfe , sondern fortfahre , sich immer von Neuem
quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die
Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der Übel, weil
sie die Qual der Menschen verlängert.
72.
Grad der moralischen Erhitzbarkeit unbe-
kannt — Daran dass man gewisse erschütternde An-
blicke und Eindrücke gehabt oder nicht gehabt hat, zum
— 86 —
Beispiel eines unrecht gerichteten, getödteten oder ge-
marterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen
feindlichen Überfalls, hängt es ab , ob unsere Leiden-
schaften zur Glühhitze kommen und das ganze Leben
lenken oder nicht. Keiner weiss, wozu ihn die Umstände,
das Mitleid, die Entrüstung treiben können, er kennt
den Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erbärmliche kleine
Verhältnisse machen erbärmlich; es ist gewöhnlich nicht
die Quantität der Erlebnisse, sondern ihre Qualität, von
welcher der niedere und höhere Mensch abhängt, im
Guten und Bösen.
73.
Der Märtyrer wider Willen. — In einer Partei
gab es einen Menschen, der zu ängstlich und feige war,
um je seinen Kameraden zu widersprechen: man brauchte
ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm Alles, weil
er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen
mehr als vor dem Tode fürchtete; es war eine erbärm-
liche schwache Seele. Sie erkannten diess und machten
auf Grund der erwähnten Eigenschaften aus ihm einen
Heros und zuletzt gar einen Märtyrer. Obwohl der feige
Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit den
Lippen immer Ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er
für die Ansichten seiner Partei starb: neben ihm nämlich
stand einer seiner alten .Genossen , der ihn durch Wort
und Blick so tyrannisirte , dass er wirklich auf die an-
ständigste Weise den Tod erlitt und seitdem als Märtyrer
und grosser Charakter gefeiert wird.
74.
Alltags-Maassstab. — Man wird selten irren,
wenn man extreme Handlungen auf Eitelkeit, mittel-
- 87 -
massige auf Gewöhnung und kleinliche auf Furcht zurück-
führt.
75.
Missverständniss über die Tugend. — Wer die
Untugend in Verbindung mit der Lust kennen gelernt
hat — wie Der, welcher eine genusssüchtige Jugend hinter
sich hat — bildet sich ein, dass die Tugend mit der Unlust
verbunden sein müsse. Wer dagegen von seinen Leiden-
schaften und Lastern sehr geplagt worden ist, ersehnt
in der Tugend die Ruhe und das Glück der Seele.
Daher ist es möglich, dass zwei Tugendhafte einander
gar nicht verstehen.
76.
Der AskeL — Der Asket macht aus der Tugend
eine Noth.
77.
Die Ehre von der Person auf die Sache über-
tragen. — Man ehrt allgemein die Handlungen der
Liebe und Aufopferung zu Gunsten des Nächsten, wo
sie sich auch immer zeigen. Dadurch vermehrt man die
Schätzung der Dinge, welche in jener Art geliebt
werden oder für welche man sich aufopfert: obwohl sie
vielleicht an sich nicht viel werth sind. Ein tapferes
Heer überzeugt von der Sache, für welche es kämpft.
78.
Ehrgeiz ein Surrogat des moralischen Ge-
fühls, — Das moralische Gefühl darf in solchen Naturen
nicht fehlen, welche keinen Ehrgeiz haben. Die Ehr-
— 88 —
geizigen behelfen sich auch ohne dasselbe, mit fast
gleichem Erfolge. — Desshalb werden Söhne aus be-
scheidenen, dem Ehrgeiz abgewandten Familien, wenn
sie einmal das moralische Gefühl verlieren, gewöhnlich
in schneller Steigerung zu vollkommenen Lumpen.
79-
Eitelkeit bereichert. — Wie arm wäre der mensch-
liche Geist ohne die Eitelkeit! So aber gleicht er einem
wohlgefüllten und immer neu sich füllenden Waaren-
magazin, welches Käufer jeder Art anlockt: Alles fast
können sie finden, Alles haben, vorausgesetzt dass sie
die gültige Münzsorte (Bewunderung) mit sich bringen.
So.
GreisundTod. — Abgesehen von den Forderungen,
welche die ReUgion stellt, darf man wohl fragen: warum
sollte es für einen altgewordenen Mann, welcher die
Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine
langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als
ihr mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die
Selbsttödtung ist in diesem Falle eine ganz natürliche
naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft
billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt
hat, in jenen Zeiten, als die Häupter der griechischen
Philosophie und die wackersten römischen Patrioten
durch Selbsttödtung zu sterben pflegten. Die Sucht da-
gegen, sich mit ängstlicher Berathung von Ärzten und
peinUchster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen,
ohne Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch näher zu
kommen, ist viel weniger achtbar. — Die Religionen
— 8q —
sind reich an Ausflüchten vor der Forderung der Selbst-
tödtung: dadurch schmeicheln sie sich bei Denen ein,
welche in das Leben verliebt sind.
8i.
Irrthümer des Leidenden und des Thäters. —
Wenn der Reiche dem Armen ein Besitzthum nimmt
(zum Beispiel ein Fürst dem Plebejer die Geliebte), so
entsteht in dem Armen ein Irrthum; er meint, Jener
müsse ganz verrucht sein, um ihm das Wenige, was er
habe, zu nehmen. Aber Jener empfindet den Werth eines
einzelnen Besitzthums gar nicht so tief, weil er gewöhnt
ist viele zu haben: so kann er sich nicht in die Seele
des Armen versetzen und thut lange nicht so sehr Un-
recht, als dieser glaubt. Beide haben von einander eine
falsche Vorstellung. Das Unrecht des Mächtigen, welches
am meisten in der Geschichte empört, ist lange nicht so
gross, wie es scheint. Schon die angeerbte Empfindung,
ein höheres Wesen mit höheren Ansprüchen zu sein,
macht ziemlich kalt und lässt das Gewissen ruhig: wir
Alle sogar empfinden, wenn der Unterschied zwischen
uns und einem andern Wesen sehr gross ist, gar nichts
mehr von Unrecht und tödten eine Mücke zum Beispiel
ohne jeden Gewissensbiss. So ist es kein Zeichen von
Schlechtigkeit bei Xerxes (den selbst alle Griechen als
hervorragend edel schildern), wenn er dem Vater seinen
Sohn nimmt und ihn zerstückeln lässt, weil dieser ein
ängstliches, ominöses Misstrauen gegen den ganzen Heer-
zug geäussert hatte: der Einzelne wird in diesem Falle
wie ein unangenehmes Insect beseitigt: er steht zu niedrig,
um länger quälende Empfindungen bei einem Weltherr-
scher erregen zu dürfen. Ja, jeder Grausame ist nicht
— 90 —
in dem Maasse grausam, als es der Misshandelte glaubt;
die Vorstellung des Schmerzes ist nicht dasselbe wie
das Erleiden desselben. Ebenso steht es mit dem unge-
rechten Richter, mit dem Journalisten, welcher mit kleinen
Unredlichkeiten die öffentliche Meinung irreführt. Ur-
sache und Wirkung sind in allen diesen Fällen von ganz
verschiedenen Empfindungs- und Gedankengruppen um-
geben; während man unwillkürlich voraussetzt, dass
Thäter und Leidender gleich denken und empfinden, und
gemäss dieser Voraussetzung die Schuld des Einen nach
dem Schmerz des Andern misst.
82.
Haut der Seele. — Wie die Knochen Fleischstücke
Eingeweide und Blutgefässe mit einer Haut umschlossen
sind, die den Anblick des Menschen erträglich macht,
so werden die Regungen und Leidenschaften der Seele
durch die Eitelkeit umhüllt: sie ist. die Haut der Seele.
83.
Schlaf der Tugend. — Wenn die Tugend ge-
schlafen hat, wird sie frischer aufstehen.
84.
Feinheit der Scham. — Die Menschen schämen
sich nicht, etwas Schmutziges zu denken, aber wohl,
wenn sie sich vorstellen, dass man ihnen diese schmutzigen
Gedanken zutraue.
— gi -^
85.
Bosheit ist selten. — Die meisten Menschen sind
viel zu sehr mit sich beschäftigt, um boshaft zu sein.
86.
Das Zünglein an der Wage. — Man lobt oder
tadelt, je nachdem das Eine oder das Andre mehr
Gelegenheit giebt, unsre Urtheilskraft leuchten zu lassen.
87.
Lucas 18,14 verbessert. — Wer sich selbst er-
niedrigt, will erhöhet werden.
88.
Verhinderung des Selbstmordes. — Es giebt
ein Recht, wonach wir einem Menschen das Leben
nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben nehmen :
diess ist nur Grausamkeit
89.
Eitelkeit. — Uns liegt an der guten Meinung der
Menschen, einmal weil sie uns nützlich ist, sodann weil
wir ihnen Freude machen wollen (Kinder den Eltern,
Schüler den Lehrern und wohlwollende Menschen über-
haupt allen übrigen Menschen). Nur wo Jemandem die
gute Meinung der Menschen wichtig ist, abgesehn vom
Vortheil oder von seinem Wunsche, Freude zu machen,
reden wir von Eitelkeit. In diesem Falle will sich der
— 92 —
Mensch selber eine Freude machen, aber auf Unkosten
seiner Mitmenschen, indem er diese entweder zu einer
falschen Meinung über sich verführt oder es gar auf
einen Grad der „guten Meinung" absieht, wo diese allen
Anderen peinlich werden muss (durch Erregung von
Neid). Der Einzelne will gewöhnlich durch die Meinung
Anderer die Meinung, die er von sich hat, beglaubigen
und vor sich selber bekräftigen; aber die mächtige Ge-
wöhnung an Autorität — eine Gewöhnung, die so alt
als der Mensch ist — bringt Viele auch dazu, ihren
eigenen Glauben an sich auf Autorität zu stützen, also
erst aus der Hand Anderer anzunehmen: sie trauen der
Urtheilskraft Anderer mehr als der eigenen. — Das In-
teresse an sich selbst, der Wunsch, sich zu vergnügen
erreicht bei dem Eitlen eine solche Höhe, dass er die
Anderen zu einer falschen allzu hohen Taxation seiner
selbst verführt und dann doch sich an die Autorität der
Anderen hält: also den Irrthum. herbeiführt und doch
ihm Glauben schenkt. — Man muss sich also eingestehen,
dass die eitlen Menschen nicht sowohl Anderen ge-
fallen wollen als sich selbst, und dass sie so weit gehen,
ihren Vortheil dabei zu vernachlässigen: denn es liegt
ihnen oft daran, ihre Mitmenschen ungünstig feindlich
neidisch, also schädlich gegen sich zu stimmen, nur um
die Freude an sich selber, den Selbstgenuss zu haben.
90.
Grenze der Menschenliebe. — Jeder, welcher sich
dafür erklärt hat, dass der Andere ein Dummkopf,
ein schlechter Geselle sei, ärgert sich, wenn Jener schhess-
lich zeigt, dass er es nicht ist
— 93 —
Moraltt^ larmoyante. — Wie viel Vergnügen
macht die Moralität! Man denke nur, was fiir ein Meer
angenehmer Thränen schon bei Erzählungen edler, gross-
müthiger Handlungen geflossen ist! — Dieser Reiz des
Lebens würde schwinden, wenn der Glaube an die völlige
UnVerantwortlichkeit überhand nähme.
Ursprung der Gerechtigkeit. — Die Gerechtig-
keit (BilHgkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr
gleich Mächtigen, wie diess Thukydides (in dem
furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen
Gesandten) richtig begriffen hat: wo es keine deut-
lich erkennbare Übergewalt giebt und ein Kampf zum
erfolglosen gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der
Gedanke, sich zu verständigen und über die beiderseitigen
Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches
ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder
stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekommt, was
er mehr schätzt als der Andre. Man giebt Jedem, was
er haben will, als das nunmehr Seinige, und empfängt
^^^g'^g'en das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Ver-
geltung und Austausch unter der Voraussetzung einer
ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich
die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein
Austausch. Ebenso die Dankbarkeit — Gerechtigkeit
geht natürlich auf den Gesichtspunkt einer einsichtigen
Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener
Überlegung: „wozu sollte ich mich nutzlos schädigen
und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?" — Soviel
— 94 —
vom Ursprung der Gerechtigkeit. Dadurch dass die
Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemäss, den
ursprünglichen Zweck sogenannter gerechter, billiger
Handlungen vergessen haben und namentlich, weil
durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt worden
sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen,
ist allmählich der Anschein entstanden, als sei eine ge-
rechte Handlung eine unegoistische: auf diesem Anschein
aber beruht die hohe Schätzung derselben, welche über-
diess, wie alle Schätzungen, fortwährend noch im Wachsen
ist: denn etwas Hochgeschätztes wird mit Aufopferung
erstrebt, nachgeahmt, vervielfältigt, und wächst dadurch,
dass der Werth der aufgewandten Mühe und Beeiferung
von jedem Einzelnen noch zum Werthe des geschätzten
Dinges hinzugeschlagen wird. — Wie wenig moralisch
sähe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter
könnte sagen, dass Gott die Vergesslichkeit als Thür-
hüterin an die Tempelschwelle der Menschenwürde hin-
gelagert habe.
93.
Vom Rechte des Schwächeren. — Wenn sich
Jemand unter Bedingungen einem Mächtigeren unter-
wirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die Gegen-
bedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt ver-
brennen und so dem Mächtigen eine grosse Einbusse
machen kann, Desshalb entsteht hier eine Art Gleich-
stellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden
können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Er-
haltung. — Insofern giebt es auch Rechte zwischen
Sclaven und Herren, das heisst genau so weit als der
Besitz des Sclaven seinem Herrn nützlich und wichtig
ist. Das Recht geht ursprünglich so weit, als Einer
— 95 —
dem Anderen werthvoU wesentlich unverlierbar unbesiegbar
und dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch
der Schwächere noch Rechte, aber geringere. Daher das
berühmte unusqiiisque tantum juris habet, quantum
fotentia valet (oder genauer: quantum potentia valere
creditur).
94.
Die drei Phasen der bisherigen Moralität. —
Es ist das erste Zeichen, dass das Thier Mensch geworden
ist, wenn sein Handeln nicht mehr auf das augenblick-
liche Wohlbefinden, sondern auf dauerndes sich be-
zieht, der Mensch also nützlich, zweckmässig wird:
da bricht zuerst die freie Herrschaft der Vernunft
heraus. Eine noch höhere Stufe ist erreicht, wenn er
nach dem Princip der Ehre handelt; vermöge desselben
ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen Em-
pfindungen, und das erhebt ihn hoch über die Phase, in
der nur die persönlich verstandene Nützlichkeit ihn
leitete: er achtet und will geachtet werden, das heisst:
er begreift den Nutzen als abhängig von dem, was
er über Andere, was Andere über ihn meinen. Endlich
handelt er, auf der höchsten Stufe der bisherigen
Moralität, nach seinem Maassstabe über die Dinge und
Menschen, er selber bestimmt für sich und Andere, was
ehrenvoll, was nützlich ist; er ist zum Gesetzgeber der
Meinungen geworden, gemäss dem immer höher ent-
wickelten Begriff des Nützlichen und Ehrenhaften. Die
Erkenntniss befähigt ihn, das Nützlichste, das heisst den
allgemeinen dauernden Nutzen, dem persönlichen, die
ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung
der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als
CoUectiv-Individuum.
- 96 -
95-
Moral des reifen Individuums. — Man hat
bisher als das eigentliche Kennzeichen der moralischen
Handlung das Unpersönliche angesehn; und es ist nach-
gewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allge-
meinen Nutzen es war, derentwegen man alle unpersön-
lichen Handlungen lobte und auszeichnete. Sollte nicht
eine bedeutende Umwandlung dieser Ansichten bevor-
stehen, jetzt wo immer besser eingesehn wird, dass
gerade in der möglichst persönlichen Rücksicht auch
der Nutzen für das Allgemeine am grössten ist: so dass
gerade das streng persönliche Handeln dem jetzigen
Begriff der Moralität (als einer allgemeinen Nützlichkeit)
entspricht? Aus sich eine ganze Person machen und
in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in's
Auge fassen — das bringt weiter als jene mitleidigen
Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer. Wir
Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen
Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht aus-
gebildet — gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr
unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem
Staat, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen zum Opfer
angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das ge-
opfert werden müsste. Auch jetzt wollen wir für unsere
Mitmenschen arbeiten, afcer nur sow^eit, als wir unsern
eignen höchsten Vortheil in dieser Arbeit finden, nicht
mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was
man als seinen Vortheil versteht; gerade das unreife,
unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten
verstehen.
— 97
96.
Sitte und sittlich. — Moralisch sittlich ethisch
sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz
oder Herkommen haben. Ob man mit Mühe oder gern
sich ihm unterwirft, ist dabei gleichgültig, genug dass
man es thut. »Gut" nennt man Den , welcher wie von
Natur, nach langer Vererbung, also leicht und gern das
Sittliche thut, je nachdem diess ist (zum Beispiel Rache
übt, wenn Rache-üben wie bei den älteren Griechen zur
guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil er
„wozu" gut ist; da aber Wohlwollen Mitleiden und
dergleichen in dem Wechsel der Sitten immer als „gut
wozu", als nützlich empfunden wurde, so nennt man
jetzt vornehmlich den Wohlwollenden Hülfreichen „gut".
Böse ist „nicht sittlich" (unsittlich) sein, Unsitte üben,
dem Herkommen widerstreben, wie vernünftig oder dumm
dasselbe auch sei; das Schädigen des Nächsten ist aber
in allen den Sittengesetzen der verschiednen Zeiten
vornehmlich als schädlich empfunden worden, so dass wir
jetzt namentlich bei dem Wort „böse** an die freiwillige
Schädigung des Nächsten denken. Nicht das „Egoistische"
und das „Unegoistische" ist der Grundgegensatz, welcher
die Menschen zur Unterscheidung von Sittlich und
Unsittlich, Gut und Böse gebracht hat, sondern:
Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung
davon. Wie das Herkommen entstanden ist, das ist
dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht auf Gut
und Böse oder irgend einen immanenten kategorischen
Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung
einer Gemeinde, eines Volkes: jeder abergläubische
Brauch, welcher auf Grund eines falsch gedeuteten
Nietzsche, Werke Band H. -
- 98 -
Zufalls enstanden ist, erzwingt ein Herkommen, dem
zu folgen sittlich ist; sich von ihm lösen ist nämlich
gefährlich, für die Gemeinschaft noch mehr schädlich
als für den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel
und jede Verletzung ihrer Vorrechte an der Ge-
meinde und nur insofern auch am Individuum straft).
Nun wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger,
je weiter der Ursprung abliegt, je mehr dieser ver-
gessen ist; die ihm gezollte Verehrung häuft sich
von Generation zu Generation auf, das Herkommen
wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so
ist jedenfalls die Moral der Pietät eine viel ältere
Moral als die, welche unegoistische Handlungen ver-
langt
97.
Die Lust in der Sitte. — Eine wichtige
Gattung der Lust und damit der Quelle der Moralität
entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das Gewohnte
leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine
Lust, und weiss aus der Erfahrung, dass das
Gewohnte sich bewährt hat, also nützlich ist;
eine Sitte, mit der sich leben lässt, ist als heilsam,
förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch
nicht bewährten Versuchen. Die Sitte ist demnach die
Vereinigung des Angenehmen und des Nützlichen,
überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig. Sobald
der Mensch Zwang ausüben kann übt er ihn aus,
um seine Sitten durchzusetzen und einzuführen,
denn für ihn sind sie die bewährte Lebensweisheit
Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes
einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil
— 99 —
man sich mit einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weü
man vermittelst derselben seine Existenz durchsetzt, so
ist diese Sitte nothwendig, denn sie gilt als die einzige
Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann; das
Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzu-
wachsen. Diese Auffassung des Gewohnten als einer
Bedingung des Daseins wird bis auf die kleinsten Einzel-
heiten der Sitte durchgeführt: da die Einsicht in die
wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern
und Culturen sehr gering ist, sieht man mit aber-
gläubischer Furcht darauf, dass Alles seinen gleichen
Gang gehe; selbst wo die Sitte schwer hart lästig ist,
wird sie ihrer scheinbar höchsten Nützlichkeit wegen be-
wahrt Man weiss nicht, dass derselbe Grad von Wohl-
befinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass
selbst höhere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber
nimmt man wahr, dass alle Sitten, auch die härtesten,
mit der Zeit angenehmer und milder werden, und dass
auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und damit
zur Lust werden kann.
98.
Lust und socialer Instinct. — Aus seinen Bezieh-
ungen zu anderen Menschen gewinnt der Mensch eine neue
Gattung von Lust zu jenen Lustempfindungen hinzu,
welche er aus sich selber nimmt; wodurch er das Reich
der Lustempfindung überhaupt bedeutend umfänglicher
macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hierher gehört,
schon von den Thieren her überkommen, welche er-
sichtlich Lust empfinden, wenn sie mit einander spielen,
namentlich die Mütter mit den Jungen. Sodann gedenke
man der geschlechthchen Beziehungen , welche jedem
lOO
Männchen ungefähr jedes Weibchen interessant in An-
sehung der Lust erscheinen lassen und umgekehrt. Die
Lustempfindung auf Grund menschlicher Beziehungen
macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemein-
same Freude, die Lust mitsammen genossen erhöht die-
selbe, sie giebt dem Einzelnen Sicherheit, macht ilin gut-
müthiger, löst das Misstrauen, den Neid: denn man fühlt
sich selber wohl und sieht den Andern in gleicherweise
sich wohl fühlen. Die gleichartigen Äusserungen
der Lust erwecken die Phantasie der Mitempfindung,
das Gefühl etwas Gleiches zu sein: dasselbe thun auch
die gemeinsamen Leiden, dieselben Unwetter Gefahren
Feinde. Darauf baut sich dann wohl das älteste Bünd-
niss auf: dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und
Abwehr einer drohenden Unlust zum Nutzen jedes Ein-
zelnen ist. Und so wächst der sociale Instinct aus der
Lust heraus.
99-
Das Unschuldige an den sogenannten bösen
Handlungen. — Alle „bösen" Handlimgen sind motivirt
durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch
die Absicht auf Lust und Vermeiden der Unlust des
Individuums; als solchermaassen motivirt aber nicht böse.
„Schmerz bereiten an siph" existirt nicht, ausser im
Gehirn der Philosophen, ebensowenig „Lust bereiten an
sich" (Mitleid im Schopenhauerischen Sinne). In dem Zu-
stand vor dem Staate tödten wir das Wesen, sei es
Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes
vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben
und auf den Baum zulaufen: wie wir es noch jetzt bei
Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere
thun würden. — Die bösen Handlungen, welche uns jetzt
lOI
am meisten empören, beruhen auf dem Irrthume, dass
der Andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe,
also dass es in seinem Belieben gelegen habe, uns
diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das
Belieben erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die
ganze Verschlechterung der Phantasie, während wir einem
Thiere viel weniger zürnen, weil wir diess als unverant-
wortlich betrachten. Leid thun nicht aus Erhaltungstrieb,
sondern zur Vergeltung — ist Folge eines falschen
Unheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne
kann im Zustande, welcher vor dem Staat liegt, zur
Abschreckung andere Wesen hart und grausam be-
handeln: um seine Existenz durch solche abschreckende
Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der
Gewaltthätige , Mächtige, der ursprüngliche Staaten-
gründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er
hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich
nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess
hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle
Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres
Individuum oder ein Collectiv- Individuum, zum Beispiel
die Gesellschaft der Staat, die Einzelnen unterwirft, also
aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband
einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja
sie selber ist noch eine Zeitlang Zwang, dem man sich,
zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte,
noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct:
dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit
Lust verknüpft — und heisst nun Tugend.
lOO.
Scham. — Die Scham existirt überall, wo es ein
„Mysterium" giebt; diess aber ist ein religiöser Begriff,
I02 —
welcher in der altern Zeit der menschlichen Cultur einen
grossen Umfang hatte. Überall gab es umgrenzte Gebiete,
zu welchen das göttliche Recht den Zutritt versagte
ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz
räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fusse der Un-
eingeweihten nicht zu betreten waren und in deren Nähe
Diese Schauder und Angst empfanden. Diess Gefühl
wurde vielfach auf andere Verhältnisse übertragen , zum
Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche als
ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken
der Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten:
Verhältnisse, zu deren Schutz und Heilighaltung viele
Götter thätig und im ehelichen Gemache als Wächter
aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heisst dess-
halb diess Gemach Harem „Heiligthum", wird also mit
demselben Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe
der Moscheen üblich ist.) So ist das Königthum als ein
Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt, dem
Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und
Scham: wovon viele Nachwirkungen noch jetzt, unter
Völkern, die sonst keineswegs zu den verschämten ge-
hören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt innerer
Zustände, die sogenannte „Seele" auch jetzt noch für
alle Nicht- Philosophen ein Mysterium, nachdem diese
endlose Zeiten hindurch als göttlichen Ursprungs, als gött-
lichen Verkehrs würdig geglaubt wurde: sie ist demnach
ein Adyton und erweckt Scham.
lOI.
Richtet nicht — Man muss sich hüten, bei der
Betrachtung früherer Perioden nicht in ein ungerechtes
Schimpfen zu gerathen. Die Ungerechtigkeit in der
— I03 —
Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung von
Personen und Völkern ist nicht mit unserem Maasse zu
messen. Denn damals war der Instinct der Gerechtigkeit
noch nicht so weit gebildet. Wer darf dem Genfer Cal-
vin die Verbrennung des Arztes Servet vorwerfen! Es war
eine consequente, aus seinen Überzeugungen fliessende
Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes
Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und
ergaben eine Consequenz, welche uns hart erscheint,
weil uns jene Ansichten fremd geworden sind. Was ist
übrigens Verbrennen eines Einzelnen im Vergleich mit
ewigen Höllenstrafen für fast Alle ! Und doch beherrschte
diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel
grösseren Schrecklichkeit der Vorstellung von einem
Gotte wesentHch Schaden zu thun. Auch bei uns werden
politische Sectirer hart und grausam behandelt, aber weil
man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben ge-
lernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht
so sehr wie dort, wo wir die Anschauungen verwerfen.
Die Grausamkeit gegen Thiere bei Kindern und Italiänern
geht auf Unverständniss zurück; das Thier ist namentlich
durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit hinter
den Menschen zurückgesetzt worden. — Auch mildert
sich vieles Schreckliche und Unmenschliche in der Ge-
schichte, an welches man kaum glauben möchte, durch
die Betrachtung, dass der Befehlende und der Ausführende
andere Personen sind: ersterer hat den Anbhck nicht
und daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer
gehorcht einem Vorgesetzten und fühlt sich unverant-
wortlich. Die meisten Fürsten und Militärchefs erscheinen,
aus Mangel an Phantasie, leicht grausam und hart, ohne
es zu sein. — Der Egoismus ist nicht böse, weil
die Vorstellung vom „Nächsten" — das Wort ist christ-
— I04 —
liehen Ursprungs und entspricht der Wahrheit nicht —
in uns sehr schwach ist, und wir uns gegen ihn beinahe
wie gegen Pflanze und Stein frei und unverantwortHch
fühlen. Dass der Andere leidet, ist zu lernen: und
völlig kann es nie gelernt werden.
I02.
„Der Mensch handelt* immer gut." — Wir
klagen die Natur nicht als unmoralisch an, wenn sie uns
ein Donnerwetter schickt und uns nass macht: warum
nennen wir den schädigenden Menschen unmoraHsch?
Weil wir hier einen willkürlich waltenden freien Willen,
dort Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unter-
scheidung ist ein Irrthum. Sodann: selbst das absicht-
liche Schädigen nennen wir nicht unter allen Umständen
unmoralisch; man tödtet zum Beispiel eine Mücke unbe-
denklich mit Absicht, bloss weil uns ihr Singen missfällt,
man straft den Verbrecher absichtlich und thut ihm Leid
an, um uns und die Gesellschaft zu schützen. Im ersten
Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu erhalten
oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtUch
Leid thut; im zweiten der Staat. Alle Moral lässt ab-
sichtliches Schadenthun gelten bei Nothwehr: das heisst
wenn es sich um die Selbsterhaltung handelt! Aber
diese beiden Gesichtspunkte genügen, um alle bösen
Handlungen, gegen Mensqhen von Menschen ausgeübt,
zu erklären: man wiU für sich Lust oder will Unlust
abwehren; in irgend einem Sinne handelt es sich immer
um Selbst erhaltung. Sokrates und Plato haben Recht:
was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das
heisst: Das was ihm gut (nützlich) scheint, je nach dem
Grade seines Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner
Vernünftigkeit.
- I05 —
I03.
Das Harmlose an der Bosheit • — Die Bosheit
hat nicht das Leid des Anderen an sich zum Ziele, son-
dern unsem eigenen Genuss, zum Beispiel als Rache-
gefühl oder als stärkere Nervenaufregung. Schon jede
Neckerei zeigt, wie es Vergnügen macht, am Anderen
unsere Macht auszulassen und zum lustvollen Gefühle
des Übergewichts zu bringen. Ist nun das Unmoralische
daran, Lust auf Grund der Unlust Andrer zu
haben? Ist Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer
sagt? Nun machen wir uns in der Natur Lust durch
Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen, Kampf
mit wilden Thieren, und zwar um unserer Kraft dabei
bewusst zu werden. Das Wissen darum, dass ein
Andrer durch uns leidet, soll also hier dieselbe Sache,
in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich
fühlen, unmoralisch machen? Aber wüsste man diess
nicht, so hätte man die Lust an seiner eigenen Über-
legenheit auch nicht dabei, diese kann eben sich nur im
Leide des Andern zu erkennen geben, zum Beispiel
bei der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder
gut noch böse; woher sollte die Bestimmung kommen,
dass man, um Lust an sich selber zu haben, keine Un-
lust Anderer erregen dürfe? Allein vom Gesichtspunkte
des Nutzens her, das heisst aus Rücksicht auf die
Folgen, auf eventuelle Unlust, wenn der Geschädigte
oder der stellvertretende Staat Ahndung und Rache er-
warten lässt: nur Diess kann ursprünglich den Grund
abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. —
Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum
Ziele, als wie gesagt die Bosheit den Schmerz des
Andern an sich. Denn es birgt mindestens zwei (viel-
— io6 —
leicht viel mehr) Elemente einer persönlichen Lust in
sich und ist dergestalt Selbstgenuss : einmal als Lust der
Emotion, welcher Art das Mitleid in der Tragödie ist,
und dann, wenn es zur That treibt, als Lust der Be-
friedigung in der Ausübung der Macht Steht uns über-
diess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen wir
durch Ausübung mitleidvoller Handlungen uns selbst ein
Leid ab. — Abgesehen von einigen Philosophen, so haben
die Menschen das Mitleid in der Rangfolge moralischer
Empfindungen immer ziemlich tief gestellt: mit Recht
104.
Nothwehr, — Wenn man überhaupt die Nothwehr
als moralisch gelten lässt, so muss man fast alle Äusser-
ungen des sogenannten unmoralischen Egoismus auch
gelten lassen: man thut Leid an, raubt oder tödtet, um
sich zu erhalten oder um sich zu schützen, dem persön-
lichen Unheil vorzubeugen; man lügt, wo List und
Verstellung das richtige Mittel der Selbsterhaltung ist.
Absichtlich schädigen, wenn es sich um unsere
Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbe-
findens) handelt, wird als moralisch concedirt; der Staat
schädigt selber unter diesem Gesichtspunkt, wenn er
Strafen verhängt. Im unabsichtlichen Schädigen kann
natürlich das Unmoralische nicht liegen, da regiert
der Zufall. Giebt es denn eine Art des absichtlichen
Schädigens, wo es sich nicht um unsere Existenz, um
die Erhaltung unseres Wohlbefindens handelt? Giebt es
ein Schädigen aus reiner Bosheit, zum Beispiel bei der
Grausamkeit? Wenn man nicht weiss, wie weh eine
Handlung thut, so ist sie keine Handlung der Bosheit;
so ist das Kind gegen das Thier nicht boshaft, nicht
- I07 —
böse: es untersucht und zerstört dasselbe wie sein Spiel-
zeug. Weiss man aber je völlig, wie weh eine Hand-
lung einem Andern thut? So weit unser Nervensystem
reicht, hüten wir uns vor Schmerz: reichte es weiter,
nämlich bis in die Mitmenschen hinein, so würden wir
Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen Fällen, wo
wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber
schneiden, der Gesundheit halber uns mühen und an-
strengen). Wir seh Hessen aus Analogie, dass etwas
Jemandem weh thut, und durch die Erinnerung und die
Stärke der Phantasie kann es uns dabei selber übel
werden. Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen
dem Zahnschmerz und dem Schmerze (Mitleiden), welchen
der Anblick des Zahnschmerzes hervorruft ! Also : bei dem
Schädigen aus sogenannter Bosheit ist der Grad des
erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt; insofern
aber eine Lust bei der Handlung ist (Gefühl der eignen
Macht, der eignen starken Erregung), geschieht die
Handlung, um das Wohlbefinden des Individuums zu er-
halten, und fällt somit unter einen ähnlichen Gesichts-
punkt wie die Nothwehr, die Nothlüge. Ohne Lust kein
Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das
Leben. Ob der Einzelne diesen Kampf so kämpft, dass
die Menschen ihn gut, oder so, dass sie ihn böse nennen,
darüber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit
seines Intellects.
105.
Die belohnende Gerechtigkeit. — Wer voll-
standig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit
begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und be-
lohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff
— io8 —
der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin be-
steht, dass man Jedem das Seine giebt. Denn Der,
welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht: er wird
nur als Mittel benutzt, um fürderhin von gewissen Hand-
lungen abzuschrecken; ebenso verdient Der, welchen
man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht
anders handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn
nur den Sinn einer Aufmunterung für ihn und Andere,
um also zu späteren Handlungen ein Motiv abzugeben;
das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen,
nicht Dem, welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch
Lohn sind Etwas, das Einem als das Seine zukommt;
sie werden ihm aus Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne
dass er sie mit Gerechtigkeit zu beanspruchen hätte.
Man muss ebenso sagen „der Weise belohnt nicht, weil
gut gehandelt worden ist", als man gesagt hat „der
Weise straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist,
sondern damit nicht schlecht gehandelt werde". Wenn
Strafe und Lohn fortfielen, so fielen die kräftigsten Motive,
welche von gewissen Handlungen weg, zu gewissen
Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen
erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn,
Tadel und Lob am empfindlichsten auf die Eitelkeit
wirken, so erheischt derselbe Nutzen auch die Fortdauer
der Eitelkeit.
io6.
Am Wasserfall. — Beim Anblick eines Wasser-
falls meinen wir in den zahllosen Biegungen Schlängel-
ungen Brechungen der Wellen Freiheit des Willens
und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig, jede
Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch
bei den menschlichen Handlungen; man müsste jede
— log —
einzelne Handlung vorher ausrechnen können, wenn man
allwissend wäre, ebenso jeden Fortschritt der Erkenntniss,
jeden Irrthum, jede Bosheit, Der Handelnde selbst steckt
freilich in der Illusion der Willkür ; wenn in einem Augen-
blick das Rad der Welt still stände und ein allwissender
rechnender Verstand da wäre, um diese Pause zu be-
nützen, so könnte er bis in die fernsten Zeiten die
Zukunft jedes Wesens weitererzählen und jede Spur
bezeichnen, auf der jenes Rad noch rollen wird. Die
Täuschung des Handelnden über sich, die Annahme des
freien Willens gehört mit hinein in diesen auszu-
rechnenden Mechanismus.
107.
UnVerantwortlichkeit und Unschuld. — Die
völlige UnVerantwortlichkeit des Menschen für seine
Handlungen und sein Wesen ist der bitterste Tropfen,
welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt
war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief
seines Menschthums zu sehen. Alle seine Schätzungen
Auszeichnungen Abneigungen sind dadurch entwerthet
und falsch geworden: sein tiefstes Gefühl, das er dem
Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem Irrthume
gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn
es ist ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu
loben und zu tadeln. So wie er das gute Kunstwerk
liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts für sich selber kann,
wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den Hand-
lungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann
Kraft Schönheit Fülle an ihnen bewundern, aber darf
keine Verdienste darin finden : der chemische Process
und der Streit der Elemente, die Qual des Ivranken, der
— HO —
nach Genesung lechzt, sind ebenso wenig Verdienste als
jene Seelenkämpfe und Nothzustände , bei denen man
durch verschiedene Motive hin- und hergerissen wird,
bis man sich endlich für das mächtigste entscheidet —
wie man sagt (in Wahrheit aber, bis das mächtigste
Motiv über uns entscheidet). Alle diese Motive aber,
so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus denselben
Wurzeln gewachsen, in denen wir die bösen Gifte woh-
nend glauben; zwischen guten und bcsen Handlungen
giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höch-
stens des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte böse;
böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute. Das
einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuss
(sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt
sich unter allen Umständen, der Mensch mag handeln,
wie er kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten
der Eitelkeit, Rache, Lust, NützHchkeit, Bosheit, List, sei
es in Thaten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkennt-
niss. Die Grade der Urtheilsfähigkeit entscheiden, wohin
Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen lässt; fort-
während ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine
Rangordnung der Güter gegenwärtig, wonach er seine
Handlungen bestimmt und die der Anderen beurtheilt.
Aber dieser Maassstab wandelt sich fortwährend, viele
Handlungen werden böse genannt und sind nur dumm,
weil der Grad der Intelligenz, welche sich für sie ent-
schied, sehr niedrig war. Ja in einem bestimmten Sinne
sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm, denn der
höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt er-
reicht werden kann, ^vird sicherlich noch überboten wer-
den: und dann wird, bei einem Rückblick, all unser
Handeln und Urtheilen so beschränkt und übereilt er-
scheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen zurück-
— III —
gebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und über-
eilt vorkommt. — Diess Alles einzusehen kann tiefe
Schmerzen machen, aber darnach giebt es einen Trost:
solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterhng
will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst
sie: da blendet und verwirrt ilin das unbekannte Licht,
das Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche
jener Traurigkeit fähig sind — wie wenige werden es
sein ! — , wird der erste Versuch gemacht, ob die Mensch-
heit aus einer moralischen sich in eine weise Mensch-
heit umwandeln könne. Die Sonne eines neuen
Evangeliums wirft ihren ersten Strahl auf die höchsten
Gipfel in der Seele jener Einzelnen: da ballen sich die
Nebel dichter als je, und neben einander lagert der
hellste Schein und die trübste Dämmerung. Alles ist
Nothwendigkeit — so sagt die neue Erkenntniss ; und
diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist
Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht
in diese Unschuld. Sind Lust, Egoismus, Eitelkeit noth-
wendig zur Erzeugung der moralischen Phänomene
und ihrer höchsten Blüthe, des Sinnes für Wahrheit und
Gerechtigkeit der Erkenntniss, war der Irrthum und die
Verirrung der Phantasie das einzige Mittel, durch welches
die Menschheit sich allmählich zu diesem Grade von
Selbsterleuchtung und Selbsterlösung zu erheben ver-
mochte — wer dürfte jene Mittel geringschätzen? Wer
dürfte traurig sein, wenn er das Ziel, zu dem jene Wege
führen, gewahr wird? Alles auf dem Gebiete der Moral
ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse,
es ist wahr: — aber Alles ist auch im Strome: nach
Einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit
des irrthümhchen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin
fortwalten, aber unter dem Einfluss der wachsenden Er-
— 112 —
kenntniss wird sie schwächer werden: eine neue Gewohn-
heit, die des Begreifens, Nicht -Liebens, Nicht- Hassens,
Überschauens , pflanzt sich allmählich in uns auf dem-
selben Boden an und wird in Tausenden von Jahren viel-
leicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft
zu geben, den weisen unschuldigen (unschuld-bewussten)
Menschen ebenso regelmässig hervorzubringen, wie sie
jetzt den unweisen, unbiUigen, schuldbewussten Menschen
— das heisst die nothwendige Vorstufe, nicht den
Gegensatz von jenem — hervorbringt.
Drittes Hauptstück:
Das religiöse Leben.
Nietzsche, Werke Band 11.
io8.
Der doppelte Kampf gegen das Übel. —
Wenn uns ein Übel trifft, so kann man entweder so
über dasselbe hinwegkommen, dass man seine Ursache
hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf
unsere Empfindung macht, verändert : also durch ein Um-
deuten des Übels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht
erst später ersichtlich sein wird. Religion und Kunst
(auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf
die Änderung der Empfindung zu wirken, theils durch
Änderung unsres Urtheils über die Erlebnisse (zum
Beispiel mit Hülfe des Satzes: „wen Gott lieb hat, den
züchtigt er"), theils diirch Erweckung einer Lust am
Schmerz, an der Emotion überhaupt (woher die Kunst
des Tragischen ihren Ausgangspunkt nimmt). Je mehr
Einer dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so
weniger wird er die Ursachen des Übels in's Auge fassen
und beseitigen; die augenblickliche Milderung und Nar-
kotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz ge-
bräuchlich ist, genügt ihm auch in ernsteren Leiden. Je
mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der
Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen
die wirkliche Beseitigung der Übel in's Auge: was
fi*eilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt — denn
zur Tragödie findet sich immer weniger Stoff, weil das
Reich des unerbittlichen unbezwinglichen Schicksals
8*
— IIÖ —
immer enger wird — , noch schlimmer aber für die
Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung
menschlicher Übel.
109.
Gram ist Erkenntniss. — Wie gern möchte man
die falschen Behauptungen der Priester, es gebe einen
Gott, der das Gute von uns verlange, Wächter und
Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblickes, jedes Ge-
dankens sei, der uns liebe, in allem Unglück unser
Bestes wolle, — wie gern möchte man diese mit Wahr-
heiten vertauschen, welche ebenso heilsam, beruhigend
und wohlthuend wären wie jene Irrthümerl Doch solche
Wahrheiten giebt es nicht; die Philosophie kann ihnen
höchstens wiederum metaphysische Scheinbarkeiten (im
Grunde ebenfalls Unwahrheiten) entgegensetzen. Nun ist
aber die Tragödie die, dass man jene Dogmen der Re-
ligion und Metaphysik nicht glauben kann, wenn man
die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe
hat, anderseits durch die Entwicklung der Menschheit
so zart reizbar leidend geworden ist, um Heil- und
Trostmittel der höchsten Art nöthig zu haben; woraus
also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der
erkannten Wahrheit verblute. Diess drückt Byron in
unsterblichen Versen aus:
Sorrow ts knowledge: they who know the most
Must mourn the deepest o'er the fatal truth,
The Tree 0/ Knowledge ts not that of Life.
Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den
feierlichen Leichtsinn Horazens, wenigstens für die
schlimmsten Stunden und Sonnenfinsternisse der Seele,
heraufzubeschwören und mit ihm zu sich selber zu sagen:
— 117 —
quid aeternis minorenn
consilüs animum f atigas?
cur non sub alta vel platano vel hac
pinu jacentes —
Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden
Grades besser als eine romantische Rückkehr und Fahnen-
flucht, eine Annäherung an das Christenthum in irgend
einer Form: denn mit ihm kann man sich, nach dem
gegenwärtigen Stande der Erkenntniss, schlechterdings
nicht mehr einlassen, ohne sein intellectuales Ge-
wissen heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen
preiszugeben. Jene Schmerzen mögen peinlich genug
sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem
Führer und Erzieher der Menschheit werden; und wehe
Dem, welcher diess versuchen möchte und jenes reine
Gewissen nicht mehr hätte!
TIO.
Die Wahrheit in der Religion. — In der
Periode der Aufklärung war man der Bedeutung der
Religionen nicht gerecht geworden, daran ist nicht zu
zweifeln: aber ebenso steht fest, dass man, in dem darauf
folgenden Widerspiel der Aufklärung, wiederum um ein
gutes Stück über die Gerechtigkeit hinausgieng, indem
man die Religionen mit Liebe, selbst mit Verliebtheit be-
handelte und ihnen zum Beispiel ein tieferes, ja das alier-
tiefste Verständniss der Welt zuerkannte; welches die
Wissenschaft nur des dogmatischen Gewandes zu ent-
kleiden habe, um dann in unmythischer Form die „Wahr-
heit" zu besitzen. Religionen sollen also — diess war die
Behauptung aller Gegner der Aufklärung — sensu alle-
gorico, mit Rücksicht auf das Verstehen der Menge, jene
— ii8 —
uralte Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich
sei, insofern alle wahre Wissenschaft der neueren Zeit
immer zu ihr hin, statt von ihr weg geführt habe: so
dass zwischen den ältesten Weisen der Menschheit und
allen späteren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten
walte und ein Fortschritt der Erkenntnisse — falls man
von einem solchen reden wolle — sich nicht auf das
Wesen, sondern die Mittheilung desselben beziehe.
Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft
ist durch und durch irrthümlich; und Niemand würde jetzt
noch zu ihr sich zu bekennen wagen, wenn nicht Schopen-
hauer's Beredsamkeit sie in Schutz genommen hätte:
diese laut tönende und doch erst nach einem Menschen-
alter ihre Hörer erreichende Beredsamkeit. So gewiss
man aus Schopenhauer's religiös-moralischer Menschen-
und Weltdeutung sehr viel für das Verständniss des,
Christenthums und anderer Religionen gewinnen kann
so gewiss ist es auch, dass er über den Werth der
Religion für die Erkenntniss sich geirrt hat. Er
selbst war darin ein nur zu folgsamer Schüler der
wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit, welche allesammt
der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklärung
abgeschworen hatten; in unsere jetzige Zeit hineingeboren,
hätte er unmöglich vom sensus allegoricus der Reli-
gion reden können; er würde vielmehr der Wahrheit
die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit dem
Worte: noch nie hat eine Religion, weder mittel-
bar noch unmittelbar, weder als Dogma noch
als Gleichniss, eine Wahrheit enthalten. Denn
aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede ge-
boren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich in's Dasein
geschlichen; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der
Gefährdung durch die Wissenschaft, irgend eine philo-
— 119 —
sophische Lehre in ihr System hineingelogen, damit man
sie später darin vorfinde: aber diess ist ein Theologen-
kunststück, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon
an sich selber zweifelt. Diese Kunststücke der Theologie
(welche freilich im Christenthum, als der Religion eines
gelehrten, mit Philosophie durchtränkten Zeitalters, sehr
früh schon geübt wurden) haben auf jenen Aberglauben
vom sensus allegoricus hingeleitet, noch mehr aber die
Gewohnheit der Philosophen (namentlich der Halbwesen,
der dichterischen Philosophen und der philosophirenden
Künstler), alle die Empfindungen, welche sie in sich
vorfanden, als Grundwesen des Menschen überhaupt zu
behandeln und somit auch ihren eigenen religiösen Empfin-
dungen einen bedeutenden Einfluss auf den Gedankenbau
ihrer Systeme zu gestatten. Weil die Philosophen viel-
fach unter dem Herkommen religiöser Gewohnheiten,
oder mindestens unter der altvererbten Macht jenes „meta-
physischen Bedürfnisses" philosophirten, so gelangten sie
zu Lehrmeinungen, welche in der That den jüdischen
oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr
ähnlich sahen, — ähnlich nämlich, wie Kinder den
Müttern zu sehen pflegen: nur dass in diesem Falle die
Väter sich nicht über jene Mutterschaft klar waren, wie
diess wohl vorkommt — sondern in der Unschuld ihrer
Verwunderung von einer Familien-Ähnlichkeit aller Re-
ligion und Wissenschaft fabelten. In der That besteht
zwischen den Religionen und der wirklichen Wissenschaft
nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft, noch selbst
Feindschaft: sie leben auf verschiedenen Sternen. Jede
Philosophie, welche einen religiösen Kometenschweif in
die Dunkelheit ihrer letzten Aussichten hinaus erglänzen
lässt, macht Alles an sich verdächtig, was sie als
Wissenschaft vorträgst: es ist diess Alles vermuthlich
— I20
ebenfalls Religion, wenngleich unter dem Aufputz der
Wissenschaft. — Übrigens: wenn alle Völker über ge-
wisse religiöse Dinge, zum Beispiel die Existenz eines
Gottes, übereinstimmten (was beiläufig gesagt in Betreff
dieses Punktes nicht der Fall ist), so würde diess doch
eben nur ein Gegenargument gegen jene behaupteten
Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, sein: der
consensus gentium und überhaupt hominum kann billiger-
weise nur einer Narrheit gelten. Dagegen giebt es
einen consensus omnium sapientium gar nicht, in Bezug
auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher
der Goethe'sche Vers spricht:
Alle die Weisesten aller der Zeiten
Lächeln und winken und stimmen mit ein:
Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harrenl
Kinder der Klugheit, o habet die Narren
Eben zum Narren auch, wie sich's gehört I
Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren
Fall angewendet: der consensus sapientium besteht darin,
dass der consensus gentium einer Narrheit gilt.
III.
Ursprung des religiösen Cultus. — Versetzen
wir uns in die Zeiten zurück, in welchen das religiöse
Leben am kräftigsten aufblühte, so finden wir eine Grund-
überzeugung vor, welche wir jetzt nicht mehr theilen
und derentwegen wir ein für alle Mal die Thore zum
religiösen Leben uns verschlossen sehen: sie betrifft die
Natur und den Verkehr mit ihr. Man weiss in jenen
Zeiten noch nichts von Naturgesetzen; weder für die
Erde noch für den Himmel giebt es ein Müssen; eine
Jahreszeit, der Sonnenschein, der Regen kann kommen
121 —
oder auch ausbleiben. Es fehlt überhaupt jeder Begriff
der natürlichen Causalität. Wenn man rudert, ist es
nicht das Rudern, was das Schiff bewegt, sondern
Rudern ist nur eine magische Ceremonie, durch welche
man einen Dämon zwingt, das Schiff zu bewegen. Alle
Erkrankungen, der Tod selbst ist Resultat magischer
Einwirkungen. Es geht bei Krankwerden und Sterben
nie natürlich zu; die ganze Vorstellung vom „natürlichen
Hergang" fehlt, — sie dämmert erst bei den älteren
Griechen, das heisst in einer sehr späten Phase der
Menschheit, in der Conception der über den Göttern
thronenden Moira. Wenn Einer mit dem Bogen schiesst,
so ist immer noch eine irrationelle Hand und Kraft da-
bei; versiegen plötzlich die Quellen, so denkt man zuerst
an unterirdische Dämonen und deren Tücken; der Pfeil
eines Gottes muss es sein, unter dessen unsichtbarer
Wirkung ein Mensch auf einmal niedersinkt. In Indien
pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem Hammer,
seinem Beil und den übrigen Werkzeugen Opfer darzu-
bringen; ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er
schreibt, ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht,
ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter seinen Pflug in
gleicher Weise. Die ganze Natur ist in der Vorstellung
religiöser Menschen eine Summe von Handlungen be-
wusster und wollender Wesen , ein ungeheurer Complex
von Willkürlichkeiten. Es ist in Bezug auf Alles
was ausser uns ist, kein Schluss gestattet, dass irgend
Etwas so und so sein werde, so und so kommen
müsse; das ungefähr Sichere, Berechenbare sind wir:
der Mensch ist die Regel, die Natur die Regellosig-
keit — dieser Satz enthält die Grundüberzeugimg, welche
rohe, religiös productive Urculturen beherrscht. Wir
jetzigen Menschen empfinden gerade völlig umgekehrt: je
— 122 —
reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner
sein Subject ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das
Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe
in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung
für die moderne Seele, wir hören den Pendelschlag
der grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach
Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses
Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss
unser selbst erst kommen könnten. Ehemals war es
umgekehrt: denken wir an rohe, frühe Zustände von
Völkern zurück oder sehen wir die jetzigen Wilden in der
Nähe, so finden wir sie auf das stärkste durch das Gesetz,
das Herkommen bestimmt: das Individuum ist fast
automatisch an dasselbe gebunden und bewegt sich mit
der Gleichförmigkeit eines Pendels. Ihm muss die Natur
— die unbegrifFene schreckliche geheimnissvolle Natur —
als das Reich der Freiheit, der Willkür, der höheren
Macht erscheinen, ja gleichsam als eine übermenschliche
Stufe des Daseins, als Gott. Nun aber fühlt jeder Ein-
zelne solcher Zeiten und Zustände, -wie von jenen Will-
kürlichkeiten der Natur seine Existenz, sein Glück, das
der Familie, des Staates, das Gelingen aller Unterneh-
mungen abhängen: einige Naturvorgänge müssen zur
rechten Zeit eintreten, andere zur rechten Zeit ausbleiben.
Wie kann man einen Einfluss auf diese furchtbaren Un-
bekannten ausüben, wie" kann man das Reich der Frei-
heit binden? so fragt er sich, so forscht er ängstlich:
giebt es denn keine Mittel, jene Mächte ebenso durch
ein Herkommen und Gesetz regelmässig zu machen, wie
du selber regelmässig bist? — Das Nachdenken der
magie- und wundergläubigen Menschen geht dahin,
der Natur ein Gesetz aufzulegen — : und kurz ge-
sagt, der religiöse Cultus ist das Ergebniss dieses Nach-
— 123 —
denkens. Das Problem, welches jene Menschen sich
vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem: wie
kann der schwächere Stamm dem stärkeren doch
Gesetze dictiren, ihn bestimmen, seine Handlungen (im
Verhalten zum schwächeren) leiten? Man wird zuerst sich
der harmlosesten Art eines Zwanges erinnern, jenes
Zwanges, den man ausübt, wenn man Jemandes Neigung
erworben hat. Durch Flehen und Gebete, durch Unter-
werfung, durch die Verpflichtung zu regelmässigen Ab-
gaben und Geschenken, durch schmeichelhafte Verherr-
lichungen ist es also auch möglich, auf die Mächte der
Natur einen Zwang auszuüben, insofern man sie sich
geneigt macht: Liebe bindet und wird gebunden. Dann
kann man Verträge schliessen, wobei man sich zu be-
stimmtem Verhalten gegenseitig verpflichtet, Pfänder
stellt und Schwüre wechselt. Aber viel wichtiger ist
eine Gattung gewaltsameren Zwanges, durch Magie und
Zauberei. Wie der Mensch mit Hülfe des Zauberers
einem stärkeren Feind doch zu schaden weiss und ihn
vor sich in Angst erhält, wie der Liebeszauber in die
Ferne wirkt, so glaubt der schwächere Mensch auch die
mächtigeren Geister der Natur bestimmen zu können.
Das Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man Etwas in
Gewalt bekommt, das Jemandem zu eigen ist, Haare,
Nägel, etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein
Bild, seinen Namen. Mit solchem Apparate kann man
dann zaubern; denn die Grundvoraussetzung lautet: zu
allem Geistigen gehört etwas Körperliches; mit dessen
Hülfe vermag man den Geist zu binden, zu schädigen,
zu vernichten; das Körperliche giebt die Handhabe ab,
mit der man das Geistige fassen kann. So wie nun der
Mensch den Menschen bestimmt, so bestimmt er auch
irgend einen Naturgeist; denn dieser hat auch sein
— 124 '
Körperliches, an dem er zu fassen ist. Der Baum und,
verglichen mit ihm, der Keim, aus dem er entstand, —
dieses räthselhafte Nebeneinander scheint zu beweisen,
dass in beiden Formen sich ein und derselbe Geist
eingekörpert habe, bald klein, bald gross. Ein Stein,
der plötzlich rollt, ist der Leib, in wechem ein Geist
wirkt; liegt auf einsamer Haide ein ungeheurer Block,
so erscheint es unmöglich, an Menschenkraft zu denken,
die ihn hierher gebracht habe, so muss also der Stein
sich selbst hinbewegt haben, das heisst: er muss einen
Geist beherbergen. Alles, was einen Leib hat, ist der
Zauberei zugänglich, also auch die Naturgeister, Ist
ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann
man auch ganz directen Zwang (durch Verweigerung
der Opfernahrung, Geissein, In -Fesseln -legen und
Ähnliches) gegen ihn ausüben. Die geringen Leute in
China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes
zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich
gelassen hat, mit Stricken, reissen es nieder, schleifen es
über die Strassen durch Lehm- und Düngerhaufen; „du
Hund von einem Geiste, sagen sie, wir Hessen dich in
einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich
hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir Opfer
und doch bist du so undankbar." Ähnliche Gewalt-
maassregeln gegen Heiligen- und Muttergottesbilder,
wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel ihre
Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch während dieses
Jahrhunderts in katholischen Ländern vorgekommen. —
Durch alle diese zauberischen Beziehungen zur Natur
sind unzähHge Ceremonien in's Leben gerufen; und end-
lich, wenn der Wirrwarr derselben zu gross geworden ist,
bemüht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren , so
dass man den günstigen Verlauf des gesammten Ganges
— 125 —
der Natur, namentlich des grossen Jahres-Kreislaufs, sich
durch einen entsprechenden Verlauf eines Proceduren-
Systems zu verbürgen meint. Der Sinn des religiösen
Cultus ist, die Natur zu menschlichem Vortheil zu be-
stimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit
einzuprägen, die sie von vornherein nicht hat;
während in der jetzigen Zeit man die Gesetzlichkeit der
Natur erkennen will, um sich in sie zu schicken.
Kurz, der religiöse Cultus ruht auf den Vorstellungen
der Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der
Zauberer ist älter als der Priester. Aber ebenso ruht
er auf anderen und edleren Vorstellungen; er setzt das
sympathische Verhältniss von Mensch zu Mensch, das
Dasein von Wohlwollen, Dankbarkeit, Erhörung Bitten-
der, von Verträgen zwischen Feinden, von Verleihung
der Unterpfänder, von Anspruch auf Schutz des Eigen-
thums voraus. Der Mensch steht auch in sehr niederen
Culturstufen nicht der Natur als ohnmächtiger Sclave
gegenüber, er ist nicht nothwendig der willenlose Knecht
derselben: auf der griechischen Stufe der Rehgion, be-
sonders im Verhalten zu den olympischen Göttern, ist
sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten, einer
vornehmeren, mächtigeren und einer weniger vornehmen
zu denken; aber beide gehören ihrer Herkunft nach
irgendwie zusammen und sind Einer Art, sie brauchen
sich vor einander nicht zu schämen. Das ist das Vor-
nehme in der griechischen Religiosität.
112.
Beim Anblick gewisser antiker Opfergeräth-
schaften. — Wie manche Empfindungen uns verloren
gehen, ist zum Beispiel an der Vereinigung des Possen-
126
haften, selbst des Obscönen mit dem religiösen Gefühl
zu sehen: die Empfindung für die Möglichkeit dieser
Mischung schwindet, wir begreifen es nur noch historisch,
dass sie existirte, bei den Demeter- und Dionysosfesten,
bei den christlichen Osterspielen und Mysterien: aber
auch wir kennen noch das Erhabene im Bunde mit
dem Burlesken und dergleichen, das Rührende mit dem
Lächerlichen verschmolzen: was vielleicht eine spätere
Zeit auch nicht mehr verstehen wird.
113.
Christenthum als Alterthum. — "Wenn wir eines
Sonntag Morgens die alten Glocken brummen hören, da
fragen wir uns: ist es nur möglich! diess gilt einem vor
zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er
sei Gottes Sohn. Der Beweis für eine solche Behauptung
fehlt. — Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die
christliche Religion ein aus ferner Vorzeit hereinragendes
Alterthum, und dass man jene Behauptung glaubt —
während man sonst so streng in der Prüfung von
Ansprüchen ist — , ist vielleicht das älteste Stück dieses
Erbes. Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe
Kinder erzeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr
zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die
Zeichen des bevorstehenden Weltuntergangs zu achten;
eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stell-
vertretendes Opfer annimmt; Jemand, der seine Jünger
sein Blut trinken heisst; Gebete um Wunderein griffe; Sün-
den an einem Gotte verübt, durch einen Gott gebüsst;
Furcht vor einem Jenseits, zu welchem der Tod die Pforte
ist ; die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit,
welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes
— 127 —
nicht mehr kennt — wie schauerlich weht uns diess
Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheiten an!
Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt wird?
114.
Das Ungriechische im Christenthum. — Die
Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht
als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte, wie
die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der
gelungensten Exemplare ihrer eignen Kaste , also ein
Ideal, keinen Gegensatz des eignen Wesens. Man fühlt
sich mit einander verwandt, es besteht ein gegenseitiges
Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch denkt vor-
nehm von sich, wenn er sich solche Götter giebt, und
stellt sich in ein Verhältniss, wie das des niedrigeren
Adels zum höheren ist; während die italischen Völker
eine rechte Bauern -Religion haben, mit fortwährender
Ängstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber
und Quälgeister. Wo die olympischen Götter zurück-
traten, da war auch das griechische Leben düsterer und
ängstlicher. — Das Christenthum dagegen zerdrückte
und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte
ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefühl völliger Ver-
worfenheit Hess es dann mit Einem Male den Glanz
eines göttlichen Erbarmens hineinleuchten, so dass der
Überraschte, durch Gnade Betäubte einen Schrei des
Entzückens ausstiess und für einen Augenblick den
ganzen Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen
krankhaften Excess des Gefühls, auf die dazu nöthige
tiefe Kopf- und Herz-Corruption wirken alle psycholo-
gischen Erfindungen des Christenthums hin: es will ver-
nichten, zerbrechen, betäuben, berauschen, es will nur
— 128 --
Eins nicht: das Maass, und desshalb ist es im tiefsten
Verstände barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch.
115-
Mit Vortheil religiös sein. — Es giebt nüchterne
und gewerbstüchtige Leute, denen die Religion wie ein
Saum höheren Menschthums angestickt ist: diese thun
sehr wohl, religiös zu bleiben, es verschönert sie. — Alle
Menschen, welche sich nicht auf irgend ein Waffenhand-
werk verstehen — Mund und Feder als Waffen einge-
rechnet — , werden servil: für solche ist die christliche
Religion sehr nützlich, denn die Servilität nimmt dann
den Anschein christlicher Tugenden an und wird er-
staunlich verschönert. — Leute, welchen ihr tägliches
Leben zu leer und eintönig vorkommt, werden leicht
religiös: diess ist begreiflich und verzeihlich; nur haben
sie kein Recht, Religiosität von Denen zu fordern, denen
das tägliche Leben nicht leer und eintönig verfliesst.
ii6.
Der Alltags-Christ. — Wenn das Christenthum
mit seinen Sätzen vom rächenden Gotte, der allgemeinen
Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer
ewigen Verdammniss Recht hätte, so wäre es ein Zeichen
von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nicht Priester
Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und
Zittern einzig am eignen Heile zu arbeiten; es wäre un-
sinnig, den ewigen Vortheil gegen die zeitliche Bequem-
lichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt dass
überhaupt geglaubt wird, so ist der Alltags-Christ eine
erbärmliche Figrir, ein Mensch, der wirklich nicht bis
— 129 —
drei zählen kann , und der übrigens , gerade wegen
seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit, es nicht ver-
diente, so hart bestraft zu werden, wie das Christenthum
ihm verheisst.
117.
Von der Klugheit des Christenthums. — Es
ist ein Kunstgriif des Christenthums, die völlige Unwür-
digkeit, Sündhaftigkeit und Verächtlichkeit des Menschen
überhaupt so laut zu lehren, dass die Verachtung der
Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist. „Er m.ag
sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht
wesentlich von mir: ich bin es, der in jedem Grade un-
würdig und verächtlich ist," — so sagt sich der Christ.
Aber auch dieses Gefühl hat seinen spitzigsten Stachel
verloren, weil der Christ nicht an seine individuelle Ver-
ächtlichkeit glaubt: er ist böse als Mensch überhaupt
und beruhigt sich ein wenig bei dem Satze: wir Alle
sind Einer Art.
118.
Personenwechsel. — Sobald eine Religion
herrscht, hat sie alle Die zu ihren Gegnern, welche
ihre ersten Jünger gewesen wären.
119.
Schicksal des Christenthums. — Das Christen-
thum entstand, um das Herz zu erleichtern; aber jetzt
muss es das Herz erst beschweren, um es nachher er-
leichtern zu können. Folglich wird es zu Grunde gehen.
Nietrsclie. Werke Band H. Q
— I30
I20.
Der Beweis der Lust. — Die angenehme Meinung
wird als wahr angenommen: diess ist der Beweis der
Lust (oder, wie die Kirche sagt, der Beweis der Kraft),
auf welchen alle Religionen so stolz sind, während sie
sich dessen doch schämen sollten. Wenn der Glaube
nicht selig machte, so würde er nicht geglaubt werden:
wie wenig wird er also wertli seinl
121.
Gefährliches Spiel. — Wer jetzt der religiösen
Empfindung wieder in sich Raum giebt, der muss sie
dann auch wachsen lassen, er kann nicht anders. Da
verändert sich allmählich sein Wesen, es bevorzugt das
dem religiösen Element Anhängende Benachbarte, der
ganze Umkreis des Urtlieilens und Empfindens wird um-
wölkt, mit religiösen Schatten überflogen. Die Empfin-
dung kann nicht still stehen; man nehme sich also
in Acht.
122.
Die blinden Schüler. — So lange Einer sehr
gut die Stärke und Schwäche seiner Lehre, seiner Kunst-
art, seiner Religion kennt, ist deren Kraft noch gering.
Der Schüler und Apostel, welcher für die Schwächep der
Lehre, der Religion und so weiter, kein Auge hat, ge-
blendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine
Pietät gegen ihn, hat desshalb gewöhnlich mehr Macht
als der Meister. Ohne die blinden Schüler ist noch nie
der Einfluss eines Mannes und seines Werkes gross ge-
worden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen heisst
— 131 —
oft nur: sie so mit der Dummheit verschwistem , dass
das Schwergewicht der letzteren auch den Sieg für die
erstere erzwingt.
123.
Abbruch der Kirchen. — Es ist nicht genug an
Rehgion in der Welt, um die ReUgionen auch nur zu
vernichten.
124.
Sündlosigkeit des Menschen. — Hat man
begrififen, wie „die Sünde in die Welt gekommen" ist,
nämhch durch Irrthümer der Vernunft, vermöge deren
die Menschen unter einander, ja der einzelne Mensch
sich selbst für viel schwärzer und böser nimmt, als es
thatsächlich der Fall ist, so wird die ganze Empfindung
sehr erleichtert, und Menschen und Welt erscheinen mit-
unter in einer Glorie von Harmlosigkeit, dass es Einem
von Grund aus wohl dabei wird. Der Mensch ist in-
mitten der Natur immer das Klind an sich. Diess Kind
träumt wohl einmal einen schweren beängstigenden Traum ;
wenn es aber die Augen aufschlägt, so sieht es sich immer
wieder im Paradiese.
125.
Irreligiosität der Künstler. — Homer ist unter
seinen Göttern so zu Hause und hat als Dichter ein
solches Behagen an ihnen, dass er jedenfalls tief un-
religiös gewesen sein muss; mit Dem, was der Volks-
glaube ihm entgegenbrachte — einen dürftigen, rohen,
zum Theil schauerlichen Aberglauben — , verkehrte er so
frei, wie der Bildhauer mit seinem Thon, also mit der-
selben Unbefangenheit, welche Äschylus und Aristophanes
9*
— 132 —
besassen und durch welche sich in neuerer Zeit die
grossen Künstler der Renaissance, sowie Shakespeare
und Goethe auszeichneten.
126.
Kunst und Kraft der falschen Interpreta-
tion. — Alle die Visionen Schrecken Ermattungen
Entzückungen des Heiligen sind bekannte Krankheits-
Zustände , welche von ihm , auf Grund eingewurzelter
religiöser und psychologischer Irrthümer, nur ganz anders,
nämlich nicht als Krankheiten, gedeutet werden. —
So ist vielleicht auch das Dämonion des Sokrates ein
Ohrleiden, das er sich gemäss seiner herrschenden
moralischen Denkungsart nur anders, als es jetzt ge-
schehen würde, auslegt. Nicht anders steht es mit dem
Wahnsinn und Wahnreden der Propheten und Orakel-
priester; es ist immer der Grad von Wissen, Phantasie,
Bestrebung, Moralität in Kopf und Herz der Inter-
preten, welcher daraus so vi^ gemacht hat. Zu den
grössten Wirkungen der Menschen, welche man Genies
und Heilige nennt, gehört es, dass sie sich Interpreten
erzwingen, welche sie zum Heile der Menschheit mi ss-
verstehen.
127.
Verehrung des Wahnsinns. — Weil man be-
merkte, dass eine Erregung häufig den Kopf heller
machte und glückliche Einfälle hervorrief, so meinte man,
durch die höchsten Erregungen werde man der glück-
lichsten Einfälle und Eingebungen theilhaftig: und so
verehrte man den Wahnsinnigen als den Weisen und
Orakelgebenden. Hier liegt ein falscher Schluss zu
Grunde.
^ 133 —
128.
Verheissun gen der Wissenschaft. — Die
moderne Wissenschaft hat als Ziel: so wenig Schmerz
wie möglich, so lange Leben als möghch — also eine
Art von ewiger SeUgkeit, freilich eine sehr bescheidene
in Vergleich mit den Verheissungen der Religionen.
129.
Verbotene Freigebigkeit. — Es ist nicht genug
Liebe und Güte in der Welt, um noch davon an ein-
gebildete Wesen wegschenken zu dürfen.
130.
Fortleben des religiösen Cultus im Gemüth. —
Die katholische Kirche, und vor ihr aller antike Cultus,
beherrschte das ganze Bereich von Mitteln, durch welche
der Mensch in ungewöhnliche Stimmungen versetzt wird
und der kalten Berechnung des Vortheils oder dem reinen
Vernunft-Denken entrissen wird. Eine durch tiefe Töne
erzitternde Kirche, dumpfe, regelmässige, zurückhaltende
Anrufe einer priesterlichen Schaar, welche ihre Spannung
unwillkürlich auf die Gemeinde überträgt und sie fast
angstvoll lauschen lässt, wie als wenn eben ein Wunder
sich vorbereitete, der Anhauch der Architektur, welche
als Wohnung einer Gottheit sich in's Unbestimmte aus-
reckt und in allen dunklen Räumen das Sich-Regen der-
selben fürchten lässt — wer wollte solche Vorgänge den
Menschen zurückbringen, wenn die Voraussetzungen dazu
nicht mehr geglaubt werden? Aber die Resultate von
dem Allen sind trotzdem nicht verloren: die innere Welt
— 134 —
der erhabenen gerührten ahnungsvollen tiefzerknirschten
hoffnungsseligen Stimmungen ist den Menschen vornehm-
lich durch den Cultus eingeboren worden ; was jetzt davon
in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs
und blühte, gross gezüchtet
131-
Religiöse Nachwehen. — Glaubt man sich noch
so sehr der Religion entwöhnt zu haben, so ist es doch
nicht in dem Grade geschehen, dass man nicht Freude
hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen ohne
begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der
Musik; und wenn eine Philosophie uns die Berechtigung
von metaphysischen Hoffnungen, von dem dorther zu
erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und zum
Beispiel von „dem ganzen sicheren Evangelium im Blick
der Madonna bei Raffael" spricht, so kommen wir solchen
Aussprüchen und Darlegungen mit besonders herzlicher
Stimmung entgegen: der Philosoph hat es hier leichter,
zu beweisen, er entspricht mit Dem, was er geben will,
einem Herzen, welches gern nehmen will. Daran be-
merkt man, wie die weniger bedachtsamen Freigeister
eigentlich nur an den Dogmen Anstoss nehmen, aber
recht wohl den Zauber dpr religiösen Empfindung kennen ;
es thut ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der
ersteren willen. — Die wissenschaftliche Philosophie muss
sehr auf der Hut sein, nicht auf Grund jenes Bedürf-
nisses — eines gewordenen und folglich auch vergäng-
lichen Bedürfnisses — Irrthümer einzuschmuggeln: selbst
Logiker sprechen von „Ahnungen" der Wahrheit in
Moral und Kunst (zum Beispiel von der Ahnung, „dass
das Wesen der Dinge Eins ist"): was ihnen doch ver-
- 135 —
boten sein sollte. Zwischen den sorgsam erschlossenen
Wahrheiten und solchen „geahnten" Dingen bleibt un-
überbrückbar die Kluft, dass jene dem Intellect, diese
dem Bedürfniss verdankt werden. Der Hunger beweist
nicht, dass es zu seiner Sättigung eine Speise giebt,
aber er wünscht die Speise. „Ahnen" bedeutet nicht das
Dasein einer Sache in irgend einem Grade erkennen,
sondern dasselbe für möglich halten, insofern man sie
wünscht oder fürchtet; die „Ahnung" trägt keinen Schritt
weit in's Land der Gewissheit. — Man glaubt unwill-
kürlich, die religiös gefärbten Abschnitte einer Philo-
sophie seien besser bewiesen als die anderen; aber es
ist im Grunde umgekehrt, man hat nur den inneren
Wunsch, dass es so sein möge, also dass das Beseligende
auch das Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns.
schlechte Gründe als gute einzukaufen.
132.
Von dem christlichen Erlösungsbedürfniss.
— Bei sorgsamer Überlegung muss es möglich sein, dem
Vorgang in der Seele eines Christen, welchen man Er-
lösungsbedürfniss nennt, eine Erklärung abzugewinnen,
die frei von Mythologie ist: also eine rein psychologische.
Bis jetzt sind freilich die psychologischen Erklärungen
religiöser Zustände und Vorgänge in einigem Verrüfe
gewesen, insoweit eine sich frei nennende Theologie auf
diesem Gebiete ihr unerspriessliches Wesen trieb: denn
bei ihr war es von vornherein, so wie es der Geist ihres
Stifters, Schleiermacher's, vermuthen lässt, auf die Er-
haltung der christlichen Religion und das Fortbestehen
der christlichen Theologie abgesehn; als welche in den
psychologischen Analysen der religiösen „Thatsachen"
- 136 -
einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue
Beschäftigung gewinnen sollte. Unbeirrt von solchen
Vorgängern wagen wir folgende Auslegung des bezeich-
neten Phänomens. Der Mensch ist sich gewisser Hand-
lungen bewusst, welche in der gebräuchlichen Rangord-
nung der Handlungen tief stehen, ja er entdeckt in sich
einen Hang zu dergleichen Handlungen, der ihm fast so
unveränderlich wie sein ganzes Wesen erscheint. Wie
gern versuchte er sich in jener andern Gattung von
Handlungen, welche in der allgemeinen Schätzung als
die obersten und höchsten anerkannt sind, wie gern
fühlte er sich voll des guten Bewusstseins, welches einer
selbstlosen Denkweise folgen soll! Leider aber bleibt es
eben bei diesem Wunsche: die Unzufriedenheit darüber,
demselben nicht genügen zu können, kommt zu allen
übrigen Arten von Unzufriedenheit hinzu, welche sein
Lebensloos überhaupt oder die Folgen jener böse ge-
nannten Handlungen in ihm erregt haben; so dass eine
tiefe Verstimmung entsteht, mit dem Ausblick nach
einem Arzte, der diese und alle ihre Ursachen zu heben
vermöchte. — Dieser Zustand würde nicht so bitter
empfunden werden, wenn der Mensch sich nur mit
andern Menschen unbefangen vergliche: dann nämlich
hätte er keinen Grund, mit sich in einem besondern
Maasse unzufrieden zu sein, er trüge eben nur an der
allgemeinen Last der menschlichen Unbefriedigung und
Unvollkommenheit. Aber er vergleicht sich mit einem
Wesen, welches allein jener Handlungen fähig ist, die
unegoistisch genannt werden, und im fortwährenden
Bewusstsein einer selbstlosen Denkweise lebt, mit Gott;
dadurch dass er in diesen hellen Spiegel schaut,
erscheint ihm sein Wesen so trübe, so ungewöhnlich
verzerrt. Sodann ängstigt ihn der Gedanke an dasselbe
— 137 —
Wesen, insofern dieses als strafende Gerechtigkeit vor
seiner Phantasie schwebt: in allen möglichen kleinen und
grossen Erlebnissen glaubt er seinen Zorn, seine Droh-
ungen zu erkennen, ja die Geisseischläge seines Richter-
und Henkerthums schon vorzuempfinden. Wer hilft ihm
in dieser Gefahr, welche durch den Hinblick auf eine
unermessliche Zeitdauer der Strafe an Grässliclikeit alle
anderen Schrecknisse der Vorstellung überbietet?
133-
Bevor wir diesen Zustand in seinen weiteren Folgen
uns vorlegen, wollen wir uns doch eingestehen, dass der
Mensch in diesen Zustand nicht durch seine „Schuld"
und „Sünde", sondern durch eine Reihe von Irrtliümern
der Vernunft gerathen ist, dass es der Fehler des Spiegels
war, wenn ihm sein Wesen in jenem Grade dunkel und
hassenswerth vorkam, und dass jener Spiegel sein Werk,
das sehr unvollkommene Werk der menschlichen Phan-
tasie und Urtheilskraft war. Erstens ist ein Wesen,
welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig
wäre, noch fabelhafter als der Vogel Phönix; es ist deut-
lich nicht einmal vorzustellen, schon desshalb weil der
ganze Begriff „unegoistische Handlung" bei strenger
Untersuchung in die Luft verstiebt. Nie hat ein Mensch
Etwas gethan, das allein für Andere und ohne jeden
persönlichen Beweggrund gethan wäre; ja wie sollte er
Etwas thun können, das ohne Bezug zu ihm wäre,
also ohne innere Nöthigung (welche ihren Grund doch
in einem persönlichen Bedürfniss haben müsste)? Wie
vermöchte das ego ohne ego zu handeln? — Ein
Gott, der dagegen ganz Liebe ist, wie gelegentlich
angenommen wird, wäre keiner einzigen unegoistischen
— 138 -
Handlung fähig: wobei man sich an einen Gedanken
Lichtenberg's, der freiHch einer etwas niedrigeren Sphäre
entnommen ist, erinnern sollte: „Wir können unmöglich
für Andere fühlen, wie man zu sagen pflegt; wir fühlen
nur für uns. Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht,
wenn er nur recht verstanden wird. Man liebt weder
Vater, noch Mutter, noch Frau, noch Künd, sondern die
angenehmen Empfindungen, die sie uns machen", oder wie
La Rochefoucauld sagt: „si on croit aivier sa maitresse
p07ir l'amour d'elle, on est bien troinp^." Wesshalb Hand-
lungen der Liebe höher geschätzt werden als andere,
nämlich nicht ihres Wesens, sondern ihrer Nützlichkeit
halber, darüber vergleiche man die schon vorher er-
wähnten Untersuchungen „über den Ursprung der mora-
lischen Empfindungen". Sollte aber ein Mensch wünschen,
ganz wie jener Gott Liebe zu sein. Alles für Andre,
Nichts für sich zu thun und zu wollen, so ist letzteres
schon desshalb unmöglich, weil er sehr Viel für sich
thun muss, um überhaupt Anderen Etwas zu Liebe
thun zu können. Sodann setzt es voraus, dass der
Andre Egoist genug ist, um jene Opfer, jenes Leben für
ihn, immer und immer wieder anzunehmen: so dass die
Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem
Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen
Egoisten haben, und die höchste Moralität, um bestehn
zu können, förmlich die Existenz der Unmoralität er-
zwingen müsste (wodurch sie sich fi-eilich selber auf-
heben würde). — Weiter: die Vorstellung eines Gottes
beunruhigt und demüthigt so lange, als sie geglaubt
wird, aber wie sie entstanden ist, darüber kann bei
dem jetzigen Stande der völkervergleichenden Wissen-
schaft kein Zweifel mehr sein; und mit der Einsicht in
diese Entstehung fällt jener Glaube dahin. Es geht dem
— 139 —
Christen, welcher sein Wesen mit dem Gottes vergleicht,
so wie dem Don Quixote, der seine eigene Tapferkeit
unterschätzt, weil er die Wunderthaten der Helden aus
den Ritterromanen im Kopfe hat: der Maasstab, mit
dem in beiden Fällen gemessen wird, gehört in's Reich
der Fabel. — Fällt aber die Vorstellung Gottes weg, so
auch dcis Gefühl der „Sünde" als eines Vergehens
gegen götthche Vorschriften, als eines Fleckens an einem
gottgeweihten Geschöpfe. Dann bleibt wahrscheinlich
noch jener Unmuth übrig, welcher mit der Furcht vor
Strafen der weltlichen Gerechtigkeit oder vor der Miss-
achtung der Menschen sehr verwachsen und verwandt
ist, der Unmuth der Gewissensbisse: der schärfste Stachel
im Gefühl der Sünde ist immerhin abgebrochen, wenn
man einsieht, dass man sich durch seine Handlungen
wohl gegen menschliches Herkommen, menschliche Satz-
ungen und Ordnungen vergangen habe, aber damit doch
nicht das „ewige Heil der Seele" und ihre Beziehung zur
Gottheit gefährdet habe. Gelingt es dem Menschen zu-
letzt noch, die philosophische Überzeugung von der
unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer
völligen UnVerantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch
und Blut aufzunehmen, so verschwindet auch jener Rest
von Gewissensbissen.
134.
Ist nun der Christ, wie gesagt, durch einige Irr-
thümer in das Gefühl der Selbstverachtung gerathen, also
durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner
Handlungen und Empfindungen, so muss er mit höchstem
Erstaunen bemerken, wie jener Zustand der Verachtung,
der Gewissensbisse, der Unlust überhaupt, nicht anhält,
wie gelegentlich Stunden kommen, wo ihm diess Alles
— I40 —
von der Seele weggeweht ist und er sich wieder frei und
muthig fühlt. In Wahrheit hat die Lust an sich selber,
das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im Bunde mit
der nothwendigen Abschwächung jeder tiefen Erregung
den Sieg davongetragen: der Mensch liebt sich wieder,
er fühlt es, — aber gerade diese Liebe, diese neue
Selbstschätzung kommt ihm unglaublich vor, er kann
in ihr allein das gänzlich unverdiente Herabströmen
eines Gnadenglanzes von Oben sehen. Wenn er früher
in allen Begebnissen Warnungen, Drohungen, Strafen
und jede Art von Anzeichen des göttlichen Zornes zu
erblicken glaubte, so deutet er jetzt in seine Erfahrungen
die göttliche Güte hinein: diess Ereigniss kommt ihm
liebevoll, jenes wie ein hülfreicher Fingerzeig, ein drittes
und namentlich seine ganze freudige Stimmung als Be-
weis vor, dass Gott gnädig sei. Wie er früher im Zu-
stande des Unmuthes namentlich seine Handlungen
falsch ausdeutete, so jetzt namentlich seine Erlebnisse;
die getröstete Stimmung fasst er als Wirkung einer
ausser ihm waltenden Macht auf, die Liebe, mit der er
sich im Grunde selbst liebt, erscheint als göttliche Liebe;
Das, was er Gnade und Vorspiel der Erlösung nennt,
ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterlösnng.
• 135-
Also: eine bestimmte falsche Psychologie, eine ge-
wisse Art von Phantastik in der Ausdeutung der Motive
und Erlebnisse ist die nothwendige Voraussetzung davon,
dass Einer zum Christen werde und das Bedürfniss der
Erlösung empfinde. Mit der Einsicht in diese Verirrung
der Vernunft und Phantasie hört man auf, Christ zu sein.
— 141 —
136.
Von der christlichen Askese und Heiligkeit
So sehr einzelne Denker sich bemüht haben, in den
seltenen Erscheinungen der Moralität, welche man As-
kese und Heiligkeit zu nennen pflegt, ein Wunderding
hinzustellen, dem die Leuchte einer vernünftigen Er-
klärung in's Gesicht zu halten beinahe schon Frevel
und Entweihung sei: so stark ist hinwiederum die Ver-
führung zu diesem Frevel. Ein mächtiger Antrieb der
Natur hat zu allen Zeiten dazu geführt, gegen jene
Erscheinungen überhaupt zu protestiren; die Wissen-
schaft, insofern sie wie gesagt eine Nachahmung der
Natur ist, erlaubt sich wenigstens gegen die behauptete
Unerklärbarkeit , ja Unnahbarkeit derselben Einsprache
zu erheben. Freilich gelang es ihr bis jetzt nicht: jene
Erscheinungen sind immer noch unerklärt, zum grossen
Vergnügen der erwähnten Verehrer des moralisch -Wun-
derbaren. Denn, allgemein gesprochen: das Unerklärte
soll durchaus unerklärlich, das Unerklärliche durchaus
unnatürlich, übernatürlich, wunderhaft sein — so lautet
die Forderung in den Seelen aller Religiösen und Meta-
physiker (auch der Künstler, falls sie zugleich Denker
sind); während der wissenschaftliche Mensch in dieser
Forderung das „böse Princip" sieht. — Die allgemeine
erste Wahrscheinlichkeit, auf welche man bei Betrachtung
von Heiligkeit und Askese zuerst geräth, ist diese, dass
ihre Natur eine complicirte ist: denn fast überall,
innerhalb der physischen Welt sowohl wie in der mora-
lischen, hat man mit Glück das angeblich Wunderbare
auf das Complicirte, mehrfach Bedingte zurückgeführt.
Wagen wir es also, einzelne Antriebe aus der Seele der
Heiligen und Asketen zunächst zu isoliren und zum
Schluss sie uns in einander verwachsen zu denken.
142
137.
Es giebt einen Trotz gegen sich selbst, zu
dessen sublimirtesten Äusserungen manche Formen der
Askese gehören. Gewisse Menschen haben nämlich ein
so hohes Bedürfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht aus-
zuüben, dass sie, in Ermangelung anderer Objecte oder
weil es ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf
verfallen, gewisse Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam
Ausschnitte oder Stufen ihrer selbst zu tyrannisiren. So
bekennt sich mancher Denker zu Ansichten, welche er-
sichtlich nicht dazu dienen, seinen Ruf zu vermehren
oder zu verbessern; Mancher beschwört förmlich die
Missachtung Anderer auf sich herab, während er es leicht
hätte, einfach durch Stillschweigen, ein geachteter Mann
zu bleiben; Andere widerrufen frühere Meinungen und
scheuen es nicht, fürderhin inconsequent genannt zu
werden: im Gegentheil, sie bemühen sich darum und be-
nehmen sich wie übermüthige Reiter, welche das Pferd,
erst wenn es wild geworden , mit Schweiss bedeckt,
scheu gemacht ist, am liebsten mögen. So steigt der
Mensch in gefährlichen Wegen auf die höchsten Gebirge,
um über seine Ängstlichkeit und seine schlotternden
Kniee Hohn zu lachen; so bekennt sich der Philosoph
zu Ansichten der Askese, Demuth, Heiligkeit, in deren
Glänze sein eigenes Bild auf das ärgste verhässlicht
wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott über
die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die
Religionen so viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr
hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Berg-
predigt gehört hierher: der Mensch hat eine wahre
Wollust, sich durch übertriebene Ansprüche zu verge-
waltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner
— 143 —
Seele nachher zu vergöttern, — In jeder asketischen Moral
betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und
hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisiren.
138.
Der Mensch ist nicht zu allen Stunden gleich mora-
lisch, diess ist bekannt: beurtheilt man seine Moralität
nach der Fähigkeit zu grosser aufopfernder Entschliessung
und Selbstverleugnung (welche, dauernd und zur Gewohn-
heit geworden, Heiligkeit ist), so ist er im Affect am
moralischsten; die höhere Erregung reicht ihm ganz neue
Motive dar, welcher er, nüchtern und kalt wie sonst, viel-
leicht nicht einmal fähig zu sein glaubte. Wie kommt
diess? Wahrscheinlich aus der Nachbarschaft alles Grossen
und Hocherregenden: ist der Mensch einmal in eine
ausserordentHche Spannung gebracht, so kann er ebenso-
wohl zu einer furchtbaren Rache, als zu einer furchtbaren
Brechung seines Rachebedürfnisses sich entschliessen.
Er will, unter dem Einflüsse der gewaltigen Emotion,
jedenfalls das Grosse Gewaltige Ungeheure, und wenn
er zufällig merkt, dass ihm die Aufopferung seiner selbst
ebenso oder noch mehr genugthut als die Opferung des
Anderen, so wählt er sie. EigentHch liegt ihm also nur
an der Entladung seiner Emotion; da fasst er wohl,
um seine Spannung zu erleichtern, die Speere der Feinde
zusammen und begräbt sie in seine Brust. Dass in der
Selbstverleugnung, und nicht nur in der Rache, etwas
Grosses liege, musste der Menschheit erst in langer
Gewöhnung anerzogen werden; eine Gottheit, welche
sich selbst opfert, war das stärkste, wirkungsvollste
Symbol dieser Art von Grösse. Als die Besiegung des
schwerst zu besiegenden Feindes, die plötzliche Bemei-
— 144 —
sterung eines Affectes — als Diess erscheint diese
Verleugnung und insofern gilt sie als der Gipfel des
Moralischen. In Wahrheit handelt es sich dabei nur um
die Vertauschung der einen Vorstellung mit der andren,
während das Gemüth seine gleiche Höhe, seinen
gleichen Fluthstand behält. Ernüchterte, vom Affect
ausruhende Menschen verstehen die Moralität jener Augen-
blicke nicht mehr, aber die Bewunderung Aller, die jene
miterlebten, hält sie aufrecht; der Stolz ist ihr Trost,
wenn der Affect und das Verständniss ihrer That weicht.
Also: im Grunde sind auch jene Handlungen der Selbst-
verleugnung nicht moralisch, insofern sie nicht streng
in Hinsicht auf Andere gethan sind; vielmehr giebt
der Andre dem hochgespannten Gemüth nur eine
Gelegenheit, sich zu erleichtern, durch jene Verleugnung.
139-
Auch der Asket sucht sich das Leben leicht zu
machen: und zwar gewöhnlich durch die vollkommene
Unterordnung unter einen fremden Willen oder unter
ein umfängliches Gesetz und Ritual; etwas in der Art, wie
der Brahmane durchaus Nichts seiner eigenen Be-
stimmung überlässt und sich in jeder Minute durch
eine heilige Vorschrift bestimmt. Diese Unterordnung
ist ein mächtiges Mittel, um über sich Herr zu werden;
man ist beschäftigt, also ohne Langeweile, und hat
doch keine Anregung des Eigenwillens und der Leiden-
schaften dabei: nach vollbrachter That fehlt das Gefühl
der Verantwortung und damit die Qual der Reue. Man
hat ein für alle Mal auf eigenen Willen verzichtet, und
diess ist leichter, als nur gelegentlich einmal zu ver-
zichten; so wie es auch leichter ist, einer Begierde ganz
— 145 —
zu entsagen als in ihr Maass zu halten. Wenn wir uns
der jetzigen Stellung des Mannes zum Staat erinnern,
so finden wir auch da, dass der unbedingte Gehorsam
bequemer ist als der bedingte. Der Heilige also erleich-
tert sich durch jenes vöUige Aufgeben der Persönlichkeit
sein Leben, und man täuscht sich, wenn man in jenem
Phänomen das höchste Heldenstück der Moralität be-
wundert Es ist in jedem Falle schwerer, seine Persön-
lichkeit ohne Schwanken und Unklarheit durchzusetzen,
als sich von ihr in der erwähnten Weise zu lösen ; über-
diess verlangt es viel mehr Geist und Nachdenken.
140.
Nachdem ich in vielen der schwerer erklärbaren
menschlichen Handlungen Äusserungen jener Lust an der
Emotion an sich gefunden habe, möchte ich auch in
Betreff der Selbstverachtung, welche zu den Merkmalen
der Heiligkeit gehört, und ebenso in den Handlungen
der Selbstquälerei (durch Hunger und Geisseischläge, Ver-
renkungen der Glieder, Erheuchelung des Wahnsinns usw.)
ein Mittel erkennen, durch welches jene Naturen gegen die
allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (ihrer Nerven)
ankämpfen: sie bedienen sich der schmerzhaftesten Reiz-
mittel und Grausamkeiten, um für Zeiten wenigstens aus
jener Dumpfheit und Langeweile aufzutauchen, in welche
ihre grosse geistige Indolenz und jene geschilderte Unter-
ordnung unter einen fremden Willen sie so häufig ver-
fallen lässt
141.
Das gewöhnlichste Mittel, welches der Asket und
Heilige anwendet, um sich das Leben doch noch erträg-
Nietxsche, Werke Band H. lO
— 146 —
lieh und unterhaltend zu machen, besteht in gelegent-
lichem Kriegführen und in dem Wechsel von Sieg und
Niederlage. Dazu braucht er einen Gegner und findet
ihn in dem sogenannten .inneren Feinde". Namentlich
nützt er seinen Hang zur Eitelkeit, Ehr- und Herrsch-
sucht, sodann seine sinnlichen Begierden aus, um sein
Leben wie eine fortgesetzte Schlacht und sich wie ein
Schlachtfeld ansehen zu dürfen, auf dem gute und böse
Geister mit wechselndem Erfolge ringen. Bekanntlich
wird die sinnliche Phantasie durch die Regelmässigkeit
des geschlechtlichen Verkehrs gemässigt, ja fast unter-
drückt; umgekehrt durch Enthaltsamkeit oder Unordnung
im Verkehre entfesselt und wüst. Die Phantasie vieler
christlicher Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse
schmutzig; vermöge jener Theorie, dass diese Begierden
wirkliche Dämonen seien, die in ihnen wütheten, fühlten
sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei: diesem Ge-
fühle verdanken wir die so belehrende Aufrichtigkeit
ihrer Selbstzeugnisse. Es war in ihrem Interesse, dass
dieser Kampf in irgend einem Grade immer unterhalten
wurde, weil durch ihn wie gesagt ihr ödes Leben unter-
halten wurde. Damit der Kampf aber wichtig genug
erscheine, um andauernde Theilnahme und Bewunderung
bei den Nicht-Heiligen zu erregen, musste die Sinnlich-
keit immer mehr verketzert und gebrandmarkt werden,
ja die Gefahr ewiger Verdammniss wurde so eng an
diese Dinge geknüpft, dass höchst wahrscheinlich ganze
Zeitalter hindurch die Christen mit bösem Gewissen Kinder
zeugten, wodurch gewiss der Menschheit ein grosser Schade
angethan worden ist. Und doch steht hier die Wahrheit
ganz auf dem Kopfe: was für die Wahrheit besonders
unschicklich ist. Zwar hatte das Christenthum gesagt: jeder
Mensch sei in Sünden empfangen und geboren, und
— 147 —
im unausstehlichen Superlativ-Christenthum des Calderon
erscheint dieser Gedanke noch einmal zusammen geknotet
und verschlungen, als die verdrehteste Paradoxie, die es
giebt, in dem bekannten Verse:
die grösste Schuld des Menschen
ist, dass er geboren wa-rd.
In allen pessimistischen Religionen wird der Zeugnngsact
als schlecht an sich empfunden, aber keineswegs ist diese
Empfindung eine allgemein-menschliche, selbst nicht einmal
das Urtheil aller Pessimisten ist sich hierin gleich. Empedokles
zum Beispiel weiss gar nichts vom Beschämenden Teuflischen
Sündhaften in allen erotischen Dingen; er sieht vielmehr
auf der grossen Wiese des Unheils nur eine einzige heil-
und hoffnungsvolle Erscheinung, die Aphrodite; sie gilt ihm
als Bürgschaft, dass der Streit nicht ewig herrschen, sondern
einem milderen Dämon einmal das Scepter überreichen
werde. Die christlichen Pessimisten der Praxis hatten, wie
gesagt, ein Interesse daran, dass eine andere Meinung in
der Herrschaft blieb; sie brauchten für die Einsamkeit und
die geistige Wüstenei ihres Lebens einen immer lebendigen
Feind: und einen allgemein anerkannten Feind, durch dessen
Bekämpfung und Überwältigung sie dem Nicht-Heiligen
sich immer von Neuem wieder als halb unbegreifliche,
übernatürliche Wesen darstellten. Wenn dieser Feind endlich,
in Folge ihrer Lebensweise und ihrer zerstörten Gesundheit,
die Flucht für immer ergriff, so verstanden sie es sofort, ihr
Inneres mit neuen Dämonen bevölkert zu sehen. Das
Auf- und Niederschwanken der Wagschalen Hochmuth
und Demuth unterhielt ihre grübelnden Köpfe so gut
wie der Wechsel von Begierde und Seelenruhe. Damals
diente die Psychologie dazu, alles Menschliche nicht nur
zu verdächtigen, sondern zu lästern, zu geisscln, zu
kreuzigen : man wollte sich möglichst schlecht und böse
— 148 —
finden, man suchte die Angst um das Heil der Seele,
die Verzweiflung an der eigenen Kraft. Alles Natürliche,
an welches der Mensch die Vorstellung des Schlechten,
Sündhaften anhängt (wie er es zum Beispiel noch jetzt
in Betreff des Erotischen gewöhnt ist), belästigt, ver-
düstert die Phantasie, giebt einen scheuen Blick, lässt
den Menschen mit sich selber hadern und macht
ihn unsicher, vertrauenslos gegen sich selbst. Selbst
seine Träume bekommen einen Beigeschmack des ge-
quälten Gewissens. Und doch ist dieses Leiden am
Natürlichen in der Realität der Dinge völlig unbegrün-
det: es ist nur die Folge von Meinungen über die Dinge.
Man erkennt leicht, wie die Menschen dadurch schlechter
werden, dass sie das Unvermeidlich-Natürliche als schlecht
bezeichnen und später immer als so beschaffen empfinden.
Es ist der Kunstgriff der Religionen und Metaphysiken,
welche den Menschen als böse und sündhaft von Natur
wollen, ihm die Natur zu verdächtigen und so ihn selber
schlecht zu machen: denn so lernt er sich als schlecht
empfinden, da er das Kleid der Natur nicht ausziehn
kann. Allmählich fühlt er sich, bei einem langen Leben
im Natürlichen, von einer solchen Last von Sünden be-
drückt, dass übernatürliche Mächte nö!hig werden, um diese
Last heben zu können: und damit ist das schon besprochene
Erlösungsbedürfniss auf den Schauplatz getreten,
welches gar keiner wirklichen, sondern nur einer einge-
bildeten Sündhaftigkeit entspricht. Man gehe die einzelnen
moralischen Aufstellungen der Urkunden des Christenthums
durch und man wird überall finden, dass die Anforderungen
überspannt sind, damit der Mensch ihnen nicht genügen
könne: die Absicht ist nicht, dass er moralischer
werde, sondern dass er sich möglichst sündhaft
fühle. Wenn dem Menschen diess Gefühl nicht ange-
— 149 —
nehm gewesen wäre — wozu hätte er eine solche
Vorstellung erzeugt und sich so lange an sie gehängt?
Wie in der antiken Welt eine unermessliche Kraft von
Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist, um die
Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren: so
ist in der Zeit des Christenthums ebenfalls unermesslich
viel Geist einem anderen Streben geopfert worden: der
Mensch sollte auf alle Weise sich sündhaft fühlen und
dadurch überhaupt erregt, belebt, beseelt werden.
Erregen, beleben, beseelen, um jeden Preis — ist das nicht
das Losungswort einer erschlafften überreifen übercul-
tivirten Zeit? Der Kreis aller natürlichen Empfindungen
war hundertmal durchlaufen, die Seele war ihrer müde
geworden: da erfanden der Heilige und der Asket eine
neue Gattung von Lebensreizen. Sie stellten sich vor
Aller Augen hin, nicht eigentlich zur Nachahmung für
Viele, sondern als, schauderhaftes und doch entzückendes
Schauspiel, welches an jenen Grenzen zwischen Welt und
Überwelt aufgeführt wurde, wo Jedermann damals bald
himmlische Lichtblicke bald unheimliche, aus der Tiefe
lodernde Flammenzungen zu erblicken glaubte. Das Auge
des Heiligen, hingerichtet auf die in jedem Betracht furcht-
bare Bedeutung des kurzen Erdenlebens, auf die
Nähe der letzten Entscheidungen über endlose neue Lebens-
strecken, dieses verkohlende Auge in einem halb ver-
nichteten Leibe machte die Menschen der alten Welt bis
in alle Tiefen erzittern; hinblicken, schaudernd weg-
blicken, von Neuem den Reiz des Schauspiels spüren,
ihm nachgeben, sich an ihm ersättigen, bis die Seele in
Gluth und Fieberfrost bebt, — das war die letzte Lust,
welche das Alterthum erfand, nachdem es selbst
gegen den Anblick von Thierhetzen und Menschen-
kämpfen stumpf geworden war.
— I50 —
142.
Um das Gesagte zusammenzufassen: jener Seelen-
zustand, dessen sich der Heilige oder Heiligwerdende
erfreut, setzt sich aus Elementen zusammen, welche wir
Alle recht wohl kennen, nur dass sie sich unter dem
Einflüsse anderer als religiöser Vorstellungen anders ge-
färbt zeigen und dann den Tadel der Menschen ebenso
stark zu erfahren pflegen, wie sie, in jener Verbrämung
mit Religion und letzter Bedeutsamkeit des Daseins, auf
Bewunderung, ja Anbetung rechnen dürfen, — mindestens
in früheren Zeiten rechnen durften. Bald übt der Heihge
jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter
der Herrschsucht um jeden Preis ist und auch dem Ein-
samsten noch das Gefühl der Macht giebt; bald springt
seine angeschwellte Empfindung aus dem Verlangen, seine
Leidenschaften dahinschiessen zu lassen, über in das Ver-
langen, sie wie wilde Rosse zusammenstürzen zu machen,
unter dem mächtigen Druck einer stolzen Seele; bald will
er ein völliges Aufhören aller störenden quälenden reizen-
den Empfindungen, einen wachen Schlaf, ein dauerndes
Ausruhen im Schoosse einer dumpfen, thier- und pflanzen-
haften Indolenz; bald sucht er den Kampf und entzündet
ihn in sich, weil ihm die Langeweile ihr gähnendes Ge-
sicht entgegenhält: er geisselt seine Selbst Vergötterung
mit Selbstverachtung und Grausamkeit, er freut sich an
dem wilden Aufruhr seiner Begierden, an dem scharfen
Schmerz der Sünde, ja an der Vorstellung des Verloren-
seins; er versteht es, seinen Affecten, zum Beispiel dem
der äussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen,
so dass er in den der äussersten Erniedrigung übergeht
und seine aufgehetzte Seele durch diesen Contrast aus allen
Fugen gerissen wird; und zuletzt: wenn es ihn gar
— 151 —
nach Visionen, Gesprächen mit Todten oder göttlichen
Wesen gelüstet, so ist es im Grunde eine seltene Art
von Wollust, welche er begehrt, aber vielleicht jene Wol-
lust, in der alle anderen in einen Knoten zusammen-
geschlungen sind. Novalis, eine der Autoritäten in
Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct,
spricht das ganze Geheimniss einmal mit naiver Freude
aus: „Es ist wunderbar genug, dass nicht längst die
Association von Wollust, Religion und Grausamkeit die
Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft
und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat."
143-
Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was
er in den Augen der Nicht-Heiligen bedeutet, giebt
ihm seinen welthistorischen Werth. Dadurch dass man
sich über ihn irrte, dass man seine Seelenzustände falsch
auslegte und ihn von sich so stark als möglich abtrennte,
als etwas durchaus Unvergleichliches und Fremdartig-
Übermenschliches — dadurch gewann er die ausserordent-
liche Kraft, mit welcher er die Phantasie ganzer Völker,
ganzer Zeiten beherrschen konnte. Er selbst kannte
sich nicht; er selbst verstand die Schrift seiner Stim-
mungen Neigungen Handlungen nach einer Kunst der
Interpretation, welche ebenso überspannt und künstlich
war, wie die pneumatische Interpretation der Bibel. Das
Verschrobene und Kranke in seiner Natur, mit ihrer
Zusammenkoppelung von geistiger Armuth, schlechtem
Wissen, verdorbener Gesundheit, überreizten Nerven,
blieb seinem Blick ebenso wie dem seiner Beschauer
verborgen. Er war kein besonders guter Mensch, noch
weniger ein besonders weiser Mensch: aber er bedeu-
— 152 —
tete etwas, das über menschliches Maass in Güte und
Weisheit hinausreiche. Der Glaube an ihn unterstützte
den Glauben an Göttliches und Wunderhaftes, an einen
religiösen Sinn alles Daseins, an einen bevorstehenden
letzten Tag des Gerichtes. In dem abendlichen Glänze
einer Weltuntergangs-Sonne, welche über die christüchen
Völker hinleuchtete, wuchs die Schattengestalt des Heili-
gen in's Ungeheure: ja bis zu einer solchen Höhe, dass
selbst in unserer Zeit, die nicht mehr an Gott glaubt, es
noch Denker giebt, welche an den Heihgen glauben.
144.
Es versteht sich von selbst, dass dieser Zeichnung
des Heiligen, welche nach dem Durchschnitt der ganzen
Gattung entworfen ist, manche Zeichnung entgegen-
gestellt werden kann, welche eine angenehmere Em-
pfindung hervorbringen möchte. Einzelne Ausnahmen
jener Gattung heben sich heraus, sei es durch grosse
Milde und Menschenjfreundlichkeit , sei es durch den
Zauber ungewöhnHcher Thatkraft; andere sind im höch-
sten Grade anziehend, weil bestimmte Wahnvorstellungen
über ihr ganzes Wesen Lichtströme ausgiessen: wie es
zum Beispiel mit dem berühmten Stifter des Christenthums
der Fall ist, der sich für den eingebornen Sohn Gottes
hielt und desshalb sich sündlos fühlte; so dass er durch
eine Einbildung — die man nicht zu hart beurtheilen
möge, weil das ganze Alterthum von Göttersöhnen wim-
melt — dasselbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger
Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt
durch die Wissenschaft Jedermann sich erwerben kann!
— Ebenfalls habe ich abgesehn von den indischen
Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem
— 153 —
christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen
stehen und insofern keinen reinen Typus darstellen: die
Erkenntniss, die Wissenschaft — soweit es eine solche
gab — , die Erhebung über die anderen Menschen durch
die logische Zucht und Schulung des Denkens wurde
bei den Buddhisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit
ebenso gefordert, wie dieselben Eigenschaften in der
christlichen Welt, als Kennzeichen der Unheiligkeit, ab-
gelehnt und verketzert werden.
Viertes Hauptstück:
Aus der Seele
der Künstler und Schriftsteller
145-
Das Vollkommene soll nicht geworden sein.
— Wir sind gewöhnt, bei allem Vollkommenen die Frage
nach dem Werden zu unterlassen: sondern uns des
Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauber-
schlag aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich
stehen wir hier noch unter der Nachwirkung einer ur-
alten mythologischen Empfindung. Es ist uns beinahe
noch so zu Muthe (zum Beispiel in einem griechischen
Tempel wie der von Pästum), als ob eines Morgens ein
Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein Wohn-
haus gebaut habe: andere Male, als ob eine Seele urplötz-
lich in einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn
reden wolle. Der Künstler weiss, dass sein Werk nur
voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation,
an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt;
und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene
Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden
Unordnung, des aufhorchenden Träumens beim Beginn
der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um die
Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, dass sie
an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen
glaubt — Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion,
wie es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu
widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen
" 158 -
des Intellects aufzuzeigen, vermöge deren er dem
Künstler in das Netz läuft.
146.
Der Wahrheitssinn des Künstlers. — Der
Künstler hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahr-
heiten eine schwächere Moralität als der Denker; er will
sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens
durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen
nüchterne, schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar
kämpft er für die höhere Würde und Bedeutung des
Menschen; in Wahrheit will er die für seine Kunst wir-
kungsvollsten Voraussetzungen nicht aufgeben, also
das Phantastische Mythische Unsichere Extreme, den
Sinn für das Symbolische, die Überschätzung der Person,
den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius: er
hält also die Fortdauer seiner Art des Schaffens für
wichtiger als die wissenschaftliche Hingebung an das
Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so
schlicht.
147.
Die Kunst als Todtenbeschwörerin. — Die
Kunst versieht nebenbei die Aufgabe zu conserviren,
auch wohl erloschene Verblichene Vorstellungen ein
wenig wieder aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese
Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und
macht deren Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein
Scheinleben wie über Gräbern, welches hierdurch ent-
steht, oder wie die Wiederkehr geliebter Todten im
Traume, aber wenigstens für Augenblicke wird die alte
Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach
— 159 --
einem sonst vergessenen Tacte. Nun muss man wegen
dieses allgemeinen Nutzens der Kunst dem Künstler
selber es nachsehen, wenn er nicht in den vordersten
Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden Ver-
männlichung der Menschheit steht: er ist zeitlebens
ein Kind oder ein Jüngling geblieben und auf dem
Standpunkt zurückgehalten, auf welchem er von seinem
Kunsttriebe überfallen wurde; Empfindungen der ersten
Lebensstufen stehen aber zugestandener Maassen denen
früherer Zeitläufte näher als denen des gegenwärtigen
Jahrhunderts. Unwillkürlich wird es zu seiner Aufgabe,
die Menschheit zu verkindlichen: diess ist sein Ruhm
und seine Begrenztheit
148.
Dichter als Erleichterer des Lebens. — Die
Dichter, sofern auch sie das Leben der Menschen er-
leichtern woUen, wenden den Blick entweder von der
mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart
durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit her-
strahlen machen, zu neuen Farben. Um diess zu können,
müssen sie selbst in manchen Hinsichten rückwärts ge-
wendete Wesen sein: so dass man sie als Brücken zu
ganz fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden
oder abgestorbenen Religionen und Culturen gebrauchen
kann. Sie sind eigentlich immer und nothwendig Epi-
gonen. Es ist freilich von ihren Mitteln zur Erleichterung
des Lebens einiges Ungünstige zu sagen: sie beschwich-
tigen und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick;
sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen
Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten, indem sie
gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten, welche zur
That drängen, aufheben und palliativisch entladen.
— i6o
149-
Der langsame Pfeil der Schönheit — Die
edelste Art der Schönheit ist die, welche nicht auf ein-
mal hinreisst, welche nicht stürmische und berauschende
Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel), sondern
jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt
mit sich fortträgt und die Einem im Traum einmal
wiederbegegnet, endlich aber, nachdem sie lange mit
Bescheidenheit an unserem Herzen gelegen, von uns ganz
Besitz nimmt, unser Auge mit Thränen, unser Herz mit
Sehnsucht füllt. — Wonach sehnen wir uns beim An-
blick der Schönheit? Darnach, schön zu sein: wir wähnen,
es müsse viel Glück damit verbunden sein. — Aber das
ist ein Irrthum.
150.
Beseelung der Kunst. — Die Kunst erhebt ihr
Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt
eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und
Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber
tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung
mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte.
Der zum Strome angewachsene Reichthum des religiösen
Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue
Reiche erobern: aber die wachsende Aufklärung hat die
Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches
Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch
die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt,
in die Kunst ; in einzelnen Fällen auch auf das politische
Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft. Überall, wo
man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere
Färbung wahrnimmt, darf man vermuthen , dass Geister-
— i6i —
grauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängen
geblieben sind.
151-
AVodurch das Metrum verschönert. — Das
Metrum legt Flor über die Realität; es veranlasst einige
Künstlichkeit des Geredes und Unreinheit des Denkens;
durch den Schatten, den es auf den Gedanken wirft,
verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten
nöthig ist, um zu verschönern, so ist das „Dumpfe"
nöthig, um zu verdeutlichen. — Die Kunst macht den
Anblick des iebens erträglich, dadurch dass sie den Flor
des unreinen Denkens über dasselbe legt
152-
Kunst der hässlichen Seele. — Man zieht der
Kunst viel zu enge Schranken, wenn man verlangt, dass
nur die geordnete, sittlich im Gleichgewicht schwebende
Seele sich in ihr aussprechen dürfe. Wie in den bildenden
Künsten so auch giebt es in der Musik und Dichtung
eine Kunst der hässUchen Seele, neben der Kunst der
schönen Seele; und die mächtigsten Wirkungen der
Kunst, das Seelen-Brechen Steine-Bewegen und Thiere-
Vermenschlichen ist vielleicht gerade jener Kunst am
meisten gelungen.
153-
Die Kunst macht dem Denker das Herz
schwer. — Wie stark das metaphysische Bedürfniss ist,
und wie sich noch zuletzt die Natur den Abschied von
ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, dass
noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen
Nietzsche, Werke Band n. II
102
entschlagen hat, die höchsten Wirkungen der Kunst leicht
ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen
metaphysischen Saite hervorbringen, sei es zum Bei-
spiel, dass er bei einer Stelle der neunten Symphonie
Beethoven's sich über der Erde in einem Sternendome
schweben fühlt, mit dem Traume der Unsterblichkeit
im Herzen: alle Sterne scheinen um ihn zu flimmern
und die Erde immer tiefer hinabzusinken. — Wird er
sich dieses Zustandes bewusst, so fühlt er wohl einen
tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen,
welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun
Religion oder Metaphysik, zurückführe. • In solchen
Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die
Probe gestellt.
154-
Mit dem Leben spielen. — Die Leichtigkeit und
Leichtfertigkeit der homerischen Phantasie war nöthig,
um das übermässig leidenschaftliche Gemüth und den
überscharfen Verstand der Griechen zu beschwichtigen
und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Ver-
stand: wie herbe und grausam erscheint dann das Leben!
Sie täuschen sich nicht, aber sie umspielen absichtlich das
Leben mit Lügen. Simonides rieth seinen Landsleuten,
das Leben wie ein Spiel zu nehmen ; der Ernst war ihnen
als Schmerz allzubekannt (das Elend der Menschen ist
ja das Thema, über welches die Götter so gern singen
hören), und sie wussten, dass einzig durch die Kunst
selbst das Elend zum Genüsse werden könne. Zur Strafe
für diese Einsicht waren sie aber von der Lust zu fabu-
liren so geplagt, dass es ihnen im Alltagsleben schwer
wurde, sich von Lug und Trug frei zu halten, wie alles
Poetenvolk eine solche Lust an der Lüge hat und oben-
- i63 -
drein noch die Unschuld dabei. Die benachbarten Völker
fanden das wohl mitunter zum Verzweifeln.
155.
Glaube an Inspiration, — Die Künstler haben
ein Interesse daran, dass man an die plötzlichen Ein-
gebungen, die sogenannten Inspirationen glaubt; als ob
die Idee des Kunstwerks , der Dichtung , der Grund-
gedanke einer Philosophie wie ein Gnadenschein vom
Himmel herableuchte. In Wahrheit producirt die Phan-
tasie des guten Künstlers oder Denkers fortwährend,
Gutes, Mittelmässiges und Schlechtes, aber seine Ur-
theilskraft, höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt
aus, knüpft zusammen; wie man jetzt aus den Notiz-
büchern Beethoven's ersieht, dass er die herrlichsten Melo-
dien allmählich zusammengetragen und aus vielfachen
Ansätzen gewissermaassen ausgelesen hat. Wer weniger
streng scheidet und sich der nachbildenden Erinnerung
gern überlässt, der wird unter Umständen ein grosser
Improvisator werden können ; aber die künstlerische
Improvisation steht tief im Verhältniss zum ernst und
mühevoll erlesenen Kunst gedanken. Alle Grossen waren
grosse Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden, son-
dern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.
156.
Nochmals die Inspiration. — Wenn sich die
Productionskraft eine Zeitlang angestaut hat und am
Ausfliessen durch ein Hemmniss gehindert worden ist,
dann giebt es endlich einen so plötzlichen Ergiiss, als
ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes
— 104 —
innres Arbeiten, also ein Wunder sich vollziehe. Diess
macht die bekannte Täuschung aus, an deren Fort-
bestehen, wie gesagt, das Interesse aller Künstler ein
wenig zu sehr hängt. Das Capital hat sich eben nur
angehäuft, es ist nicht auf Ein Mal vom Himmel ge-
fallen. Es giebt übrigens auch anderwärts solche schein-
bare Inspiration, zum Beispiel im Bereiche der Güte, der
Tugend, des Lasters.
157-
Die Leiden des Genius und ihr Werth. —
Der künstlerische Genius will Freude machen , aber
wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm
leicht die Geniessenden; er bietet Speisen, aber man
will sie nicht. Das giebt ihm ein unter Umständen
lächerlich - rührendes Pathos; denn im Grunde hat er
kein Recht, die Menschen zum Vergnügen zu zwingen.
Seine Pfeife tönt, aber Niemand will tanzen: kann das
tragisch sein? Vielleicht doch. — Zuletzt hat er als
Compensation für diese Entbehrung mehr Vergnügen
beim Schaffen, als die übrigen Menschen bei allen andern
Gattungen der Thätigkeit haben. Man empfindet seine
Leiden übertrieben, weü der Ton seiner Klage lauter,
sein Mund beredter ist; und mitunter sind seine Leiden
wirklich sehr gross, aber nur desshalb, weil sein Ehr-
geiz, sein Neid so gross i-st. Der wissende Genius, wie
Kepler und Spinoza, ist für gewöhnlich nicht so begehr-
lich und macht von seinen wirklich grösseren Leiden
und Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit
grösserer Sicherheit auf die Nachwelt rechnen und sich
der Gegenwart entschlagen; während ein Künstler, der
diess thut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt, bei dem
ihm wehe um's Herz werden muss. In ganz seltenen
- i65 -
Fällen — dann, wenn im selben Individuum der Genius
des Könnens und des Erkennens und der moralische
Genius sich verschmelzen — kommt zu den erwähnten
Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu,
welche als die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt
zu nehmen sind: die ausser- und überpersönlichen, einem
Volke, der Menschheit, der gesammten Cultur, allem
leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welche
ihren Werth durch die Verbindung mit besonders schwie-
rigen und entlegenen Erkenntnissen erlangen (Mitleid
an sich hat wenig Werth). — Aber welchen Maassstab,
welche Goldwage giebt es für deren Ächtheit? Ist es
nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein,
welche von Empfindungen dieser Art bei sich reden?
158-
Verhängniss der Grösse. — Jeder grossen
Erscheinung folgt die Entartung nach, namentlich im
Bereiche der Kunst. Das Vorbild des Grossen reizt die
eitleren Naturen zum äusserlichen Nachmachen oder zum
Überbieten; dazu haben alle grossen Begabungen das
Verhängniss volle an sich, viele schwächere Kräfte und
Keime zu erdrücken und um sich herum gleichsam die
Natur zu veröden. Der glücklichste Fall in der Ent-
wicklung einer Kunst ist der, dass mehrere Genie's sich
gegenseitig in Schranken halten; bei diesem Kampfe
wird gewöhnlich den schwächeren und zarteren Naturen
auch Luft und Licht gegönnt _
159-
Die Kunst dem Künstler gefährlich. — Wenn
die Kunst ein Individuum gewaltig ergreift, dann zieht
— i66 —
es dasselbe zu Anschauungen solcher Zeiten zurück, wo
die Kunst am kräftigsten blühte, sie wirkt dann zurück-
bildend. Der Künstler kommt immer mehr in eine
Verehrung der plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter
und Dämonen, durchseelt die Natur, hasst die Wissen-
schaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen wie die
Menschen des Alterthums und begehrt einen Umsturz
aller Verhältnisse, welche der Kunst nicht günstig sind,
und zwar diess mit der Heftigkeit und Unbilligkeit
eines Kindes. An sich ist nun der Künstler schon ein
zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen bleibt,
welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt
noch, dass er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet
wird. So entsteht zuletzt ein heftiger Antagonismus
zwischen ihm und den gleichalterigen Menschen seiner
Periode und ein trübes Ende; so wie, nach den Erzäh-
lungen der Alten , Homer und Äschylus in Melancholie
zuletzt lebten und starben.
1 60.
Geschaffene Menschen. — Wenn man sagt, der
Dramatiker (und der Künstler überhaupt) schaffe -wirk-
lich Charaktere, so ist diess eine schöne Täuschung und
Übertreibung, in deren Dasein und Verbreitung die
Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen
Triumphe feiert In der That verstehen wir von einem
wirklichen lebendigen Menschen nicht viel und gene-
ralisiren sehr oberflächKch, wenn wir ihm diesen und
jenen Charakter zuschreiben: dieser unsrer sehr un-
vollkommenen Stellung zum Menschen entspricht
nun der Dichter, indem er ebenso oberflächliche Ent-
würfe zu Menschen macht (in diesem Sinne „schafft").
- i67 —
als unsere Erkenntniss der Menschen oberflächlich ist.
Es ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen Charak-
teren der Künstler; es sind durchaus keine leibhaftigen
Naturproducte , sondern ähnlich wie die gemalten Men-
schen ein wenig allzu dünn, sie vertragen den Anblick
aus der Nähe nicht. Gar wenn man sagt, der Charakter
des gewöhnlichen lebendigen Menschen widerspreche
sich häufig, der vom Dramatiker geschaffene sei das
Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so ist
diess ganz falsch. Ein wirklicher ISIensch ist etwas ganz
und gar Noth wendiges (selbst in jenen sogenannten
Widersprüchen), aber wir erkennen diese Nothwendigkeit
nicht immer. Der erdichtete Mensch, das Phantasma,
will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen,
welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer
rohen, unnatürlichen Simplification verstehen: so dass
ein paar starke, oft wiederholte Züge, mit sehr viel Licht
darauf und sehr viel Schatten und Halbdunkel herum,
ihren Ansprüchen vollständig genügen. Sie sind also
leicht bereit, das Phantasma als wirkHchen, nothwendigen
Menschen zu behandeln, weil sie gewöhnt sind, beim
wirkHchen Menschen ein Phantasma, einen Schattenriss,
eine willkürliche Abbreviatur für das Ganze zu nehmen. —
Dass gar der Maler und der Bildhauer die „Idee" des
Menschen ausdrücke, ist eitel Phantasterei und Sinnen-
trug: man wird vom Auge tyrannisirt, wenn man so
etwas sagt, da dieses vom menschlichen Leibe selbst
nur die Oberfläche, die Haut sieht; der innere Leib ge-
hört aber eben so sehr zur Idee. Die bildende Kunst
will Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen; die
redende Kunst nimmt das Wort zu demselben Zwecke,
sie bildet den Charakter im Laute ab. Die Kunst geht
von der natürlichen Unwissenheit des Menschen über
i68
sein Innres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht
für Physiker und Philosophen da.
i6i.
Selbstüberschätzung im Glauben an Künstler
und Philosophen. — Wir Alle meinen, es sei die
Güte eines Kunstwerks, eines Künstlers bewiesen, wenn
er uns ergreift, erschüttert. Aber da müsste doch erst
unsre eigne Güte in Urtheil und Empfindung
bewiesen sein: was nicht der Fall ist. Wer hat mehr
im Reiche der bildenden Kunst ergriffen und entzückt
als Bernini, wer mächtiger gewirkt als jener nachdemo-
sthenische Rhetor, welcher den asianischen Stil einführte
und durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte?
Diese Herrschaft über ganze Jahrhunderte beweist Nichts
für die Güte und dauernde Gültigkeit eines Stils; dess-
halb soll man nicht zu sicher in seinem guten Glauben
an irgend einen Künstler sein: ein solcher ist ja nicht
nur der Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfin-
dung, sondern auch an die Unfehlbarkeit unseres Urtheils,
während Urtheil oder Empfindung oder beides selber
zu grob oder zu fein geartet, überspannt oder roh sein
können. Auch die Segnungen und Beseligungen einer
Philosophie, einer Religion beweisen für ihre Wahrheit
nichts: ebensowenig als 'das Glück, welches der Irr-
sinnige von seiner fixen Idee her geniesst, etwas für
die Vemünftigkeit dieser Idee beweist
162.
Cultus des Genius aus Eitelkeit. — Weil wir
gut von uns denken, aber doch durchaus nicht von uns
— 169 —
erwarten, dass wir je den Entwurf eines RafFaelischen
Gemäldes oder eine solche Scene wie die eines Shake-
speare'schen Drama's machen könnten, reden wir uns ein,
das Vermögen dazu sei ganz übermässig wunderbar, ein
ganz seltner Zufall — oder, wenn wir noch religiös eth-
pfinden, eine Begnadigung von Oben. So fördert unsere
Eitelkeit, unsere Selbstliebe den Cultus des Genius: denn
nur wenn dieser ganz fem von uns gedacht ist, als ein
finraculum, verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose,
nannte Shakespeare seinen Stern der fernsten Höhe;
wobei man sich jenes Verses erinnern mag: „die Sterne
die begehrt man nicht"). Aber von jenen Einflüsterungen
unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint die Thätigkeit
des Genie's durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes
von der Thätigkeit des mechanischen Erfinders, des astro-
nomischen oder historischen Gelehrten, des Meisters der
Taktik. Alle diese Thätigkeiten erklären sich, wenn
man sich Menschen vergegenwärtigt, deren Denken in
Einer Richtung thätig ist, die Alles als Stoff benützen,
die immer ihrem inneren Leben und dem Anderer mit
Eifer zusehen, die überall Vorbilder Anreizungen er-
blicken, die in der Combination ihrer Mittel nicht müde
werden. Das Genie thut auch nichts, als dass es erst
Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach
Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätig-
keit des Menschen ist zum Verwundem complicirt, nicht
nur die des Genie's: aber keine ist ein „Wunder". —
Woher nun der Glaube, dass es allein beim Künstler
Redner und Philosophen Genie gäbe? dass nur sie „In-
tuition" haben? (womit man ihnen eine Art von Wunder-
Augenglas zuschreibt, mit dem sie direct in's „Wesen"
sehen!) Die Menschen sprechen ersichtlich dort allein
von Genius, wo ihnen die Wirkungen des grossen In-
— I70 —
tellects am angenehmsten sind und sie wiederum nicht
Neid empfinden wollen. Jemanden „göttlich" nennen
heisst: „hier brauchen wir nicht zu wetteifern". Sodann:
alles Fertige Vollkommene wird angestaunt, alles Wer-
dende unterschätzt. Nun kann Niemand beim Werk
des Künstlers zusehen, wie es geworden ist; das ist
sein Vortheil, denn überall, wo man das Werden sehen
kann, wird man etwas abgekühlt. Die vollendete Kunst
der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab;
es tyrannisirt als gegenwärtige Vollkommenheit. Dess-
halb gelten die Künstler der Darstellung vornehmlich als
genial, nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In
Wahrheit ist jene Schätzung und diese Unterschätzung
nur eine Kinderei der Vernunft.
163.
Der Ernst des Handwerks. — Redet nur nicht
von Begabung, angeborenen Talenten! Es sind grosse
Männer aller Art zu nennen, welche wenig begabt waren.
Aber sie bekamen Grösse, wurden „Genies" (wie man
sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel Niemand
gern redet, der sich ihrer bewusst ist: sie hatten Alle
jenen tüchtigen Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die
Theile vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein grosses
Ganzes zu machen ; sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr
Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten
als an dem Effecte eines blendenden Ganzen. Das Re-
cept zum Beispiel, wie Einer ein guter Novellist werden
kann, ist leicht zu geben, aber die Ausfuhrung setzt
Eigenschaften voraus, über die man hinwegzusehen pflegt,
wenn man sagt „ich habe nicht genug Talent". Man
mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen,
— lyi —
keinen länger als zwei Seiten, doch von solcher Deutlich-
keit, dass jedes Wort darin nothwendig ist; man schreibe
täglich Anekdoten nieder, bis man es lernt, ihre präg-
nanteste, wirkungsvollste Form zu finden; man sei uner-
müdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen
und Charaktere; man erzähle vor Allem so oft es möglich
ist und höre erzählen, mit scharfem Auge und Ohr für
die Wirkung auf die anderen Anwesenden; man reise
wie ein Landschaftsmaler und Costümzeichner; man ex-
cerpire sich aus einzelnen Wissenschaften alles Das, was
künstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt
wird; man denke endlich über die Motive der mensch-
lichen Handlungen nach, verschmähe keinen Fingerzeig
der Belehrung hierüber und sei ein Sammler von der-
gleichen Dingen bei Tag und Nacht. In dieser mannich-
fachen Übung lasse man einige zehn Jahre vorübergehen:
was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf
auch hinaus in das Licht der Strasse. — Wie machen es
dagegen die Meisten? Sie fangen nicht mit dem Theile,
sondern mit dem Ganzen an. Sie thun vielleicht einmal
einen gnten Griff, erregen Aufmerksamkeit und thun von
da an immer schlechtere Griffe, aus guten natürlichen
Gründen. — Mitunter, wenn Vernunft und Charakter
fehlen, um einen solchen künstlerischen Lebensplan zu
gestalten, übernimmt das Schicksal und die Noth die
Stelle derselben und führt den zukünftigen Meister
schrittweise durch alle Bedingungen seines Handwerks.
164.
Gefahr und Gewinn im Cultus des Genius. —
Der Glaube an grosse, überlegene, fruchtbare Geister ist
nicht nothwendig, aber sehr häufig noch mit jenem ^kt\z-
— 172 —
oder halbreligiösen Aberglauben verbunden, dass jene
Geister übermenschlichen Ursprungs seien und gewisse
wunderbare Vermögen besässen, vermittelst deren sie
ihrer Erkenntnisse auf ganz anderem Wege theilhaftig
würden als die übrigen Menschen. Man schreibt ihnen
wohl einen unmitttelbaren Bhck in das Wesen der Welt,
gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung,
zu und glaubt, dass sie ohne die Mühsal und Strenge der
Wissenschaft, vermöge dieses wunderbaren Seherblickes,
etwas Endgültiges und Entscheidendes über Mensch und
Welt mittheilen könnten. So lange das Wunder im
Bereiche der Erkenntniss noch Gläubige findet, kann
man vielleicht zugeben, dass dabei für die Gläubigen
selber ein Nutzen herauskomme, insofern diese, durch
ihre unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister,
ihrem eigenen Geiste für die Zeit der Entwickelung die
beste Disciplin und Schule verschaffen. Dagegen ist
mindestens fraglich, ob der Aberglaube vom Genie, von
seinen Vorrechten und Sondervermögen für das Genie
selber von Nutzen sei, wenn er in ihm sich einwurzelt
Es ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn den
Menschen jener Schauder vor sich selbst überfällt, sei
es nun jener berühmte Cäsaren -Schauder oder der hier
in Betracht kommende Genie-Schauder; wenn der Opfer-
duft, welchen man billigerweise allein einem Gotte bringt,
dem Genie in's Gehirn dringt, so dass er zu schwanken
und sich für etwas Übermenschliches zu halten beginnt.
Die langsamen Folgen sind: das Gefühl der Unverant-
wortlichkeit, der exceptionellen Rechte, der Glaube, schon
durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige Wuth
bei dem Versuche, ihn mit Anderen zu vergleichen oder
gar ihn niedriger zu taxiren, das Verfehlte seines
Werkes in's Licht zu setzen. Dadurch dass er aufhört.
— 173 —
Kritik gegen sich selbst zu üben, fällt zuletzt aus seinem
Gefieder eine der Schwungfedern nach der anderen aus:
jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an
und macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem
seine Kraft von ihm gewichen ist. Für grosse Geister
selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher, wenn sie über
ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen,
wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigen-
schaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücks-
umstände hinzutraten: also einmal anhaltende Energfie,
entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, grosser
persönlicher Muth, sodann das Glück einer Erziehung,
welche die besten Lehrer Vorbilder Methoden frühzeitig
darbot. Freilich, wenn ihr Ziel ist, die grösstmögliche
Wirkung zu machen, so hat die Unklarheit über sich
selbst und jene Beigabe eines halben Wahnsinns immer
viel gethan; denn bewundert und beneidet hat man zu
allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermöge deren
sie die Menschen willenlos machen und zum Wahne fort-
reissen, dass übernatürliche Führer vor ihnen her giengen.
Ja, es erhebt und begeistert die Menschen, Jemanden im
Besitz übernatürlicher Kräfte zu glauben: insofern hat
der Wahnsinn, wie Plato sagt, die grössten Segnungen
über die Menschen gebracht. — In einzelnen seltenen
Fällen mag dieses Stück Wahnsinn wohl auch das Mittel
gewesen sein, durch welches eine solche nach allen Seiten
hin excessive Natur fest zusammengehalten wurde: auch
im Leben der Individuen haben die Wahnvorstellungen
häufig den Werth von Heilmitteln, welche an sich Gifte
sind; doch zeigt sich endlich, bei jedem „Genie", das an
seine Göttlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das
„Genie" alt wird: man möge sich zum Beispiel Napoleon's
erinnern, dessen Wesen sicherlich gerade durch seinen
— 174 —
Glauben an sich und seinen Stern und durch die aus
ihm fliessende Verachtung der Menschen zu der mäch-
tigen Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen
modernen Menschen heraushebt, bis endlich aber dieser
selbe Glaube in einen fast wahnsinnigen Fatalismus über-
gieng, ihn seines Schnell- und Scharfblicks beraubte
und die Ursache seines Unterganges wurde.
165.
Das Genie und das Nichtige. — Gerade die
originellen, aus sich schöpfenden Köpfe unter den
Künstlern können unter Umständen das ganz Leere und
Schaalehervorbringen,während die abhängigeren Naturen,
die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles
mögliche Gute stecken und auch im Zustand der Schwäche
etwas Leidliches produciren. Sind die Originellen aber
von sich selber verlassen, so giebt die Erinnerung ihnen
keine Hülfe: sie werden leer.
166.
Das Publicum. — Von der Tragödie begehrt das
Volk eigentlich nicht mehr, als recht gerührt zu werden,
um sich einmal ausweinen zu können ; der Artist dagegen,
der die neue Tragödie -sieht, hat seine Freude an den
geistreichen technischen Erfindungen und Kunstgriffen,
an der Handhabung und Vertheilung des Stoffes, an der
neuen Wendung alter Motive, alter Gedanken. Seine
Stellung ist die ästhetische Stellung zum Kunstwerk, die
des Schaffenden; die erstbeschriebene, mit alleiniger
Rücksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem
Menschen dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder
— 175 —
Volk noch Artist und weiss nicht, was er will: so ist
auch seine Freude unklar und gering.
167.
Artistische Erziehung des Publicums. — Wenn
dasselbe Motiv nicht hundertfältig durch verschiedene
Meister behandelt wird, lernt das Publicum nicht über
das Interesse am Stofif hinauskommen; aber zuletzt
wird es selbst die Nuancen, die zarten neuen Erfindungen
in der Behandlung dieses Motivs fassen und geniessert,
wenn es also das Motiv längst aus zahlreichen Be-
arbeitungen kennt und dabei keinen Reiz der Neuheit,
der Spannung mehr empfindet
Der Künstler und sein Gefolge müssen Schritt
halten. — Der Fortgang von einer Stufe des Stils
zur anderen muss so langsam sein, dass nicht nur die
Künstler, sondern auch die Zuhörer und Zuschauer ihn
mitmachen und genau wissen, was vorgeht. Sonst ent-
steht auf einmal jene grosse Kluft zwischen dem Künstler,
der auf abgelegener Höhe seine Werke schafft, und dem
Publicum, welches nicht mehr zu jener Höhe hinaufkann
und endlich missmuthig wieder tiefer hinabsteigt. Denn
wenn der Künstler sein Publicum nicht mehr hebt, so
sinkt es schnell abwärts, und zwar stürzt es um so tiefer
und gefährlicher, je höher es ein Genius getragen hat,
dem Adler vergleichbar, aus dessen Fängen die in die
Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu ilirem Unheil
hin abfällt
— 176 —
lög.
Herkunft des Komischen. — Wenn man erwägt,
dass der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein
im höchsten Grade der Furcht zugängliches Thier war,
und dass alles Plötzliche Unerwartete ihn kampfbereit,
vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst später, in
socialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten,
auf dem Herkommen in Meinung und Thätigkeit beruhte,
so darf man sich nicht wundern, dass bei allem Plötz-
lichen Unerwarteten, in Wort und That, wenn es ohne
Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen
wird, in's Gegentheil der Furcht übergeht: das vor Angst
zitternde zusammengekrümmte Wesen schnellt empor,
entfaltet sich weit — der Mensch lacht. Diesen Über-
gang aus momentaner Angst in kurzdauernden Über-
muth nennt man das Komische. Dagegen geht im
Phänomen des Tragischen der Mensch schnell aus grossem,
dauerndem Übermuth in grosse Angst über; da aber
unter Sterblichen der grosse dauernde Übermuth viel
seltener als der Anlass zur Angst ist, so giebt es viel
mehr des Komischen als des Tragischen in der Welt;
man lacht viel öfter, als dass maii erschüttert ist
170.
Künstler-Ehrgeiz. — Die griechischen Künstler,
zum Beispiel die Tragiker, dichteten, um zu siegen ; ihre
ganze Kunst ist nicht ohne Wettkampf zu denken: die
hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem Genius
die Flügel. Nun verlangte dieser Ehrgeiz vor Allem,
dass ihr Werk die höchste Vortrefiflichkeit vor ihren
eigenen Augen erhalte, sowie sie also die Vortrefflich-
— 177 —
keit verstanden, ohne Rücksicht auf einen herrschenden
Geschmack und die allgemeine Meinung über das Vor-
trefFHche an einem Kunstwerk; und so blieben Aschylus
und Euripides lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich
Kunstrichter erzogen hatten, welche ihr Werk nach den
Maassstäben würdigten, welche sie selber anlegten. So-
mit erstreben sie den Sieg über Nebenbuhler nach ihrer
eigenen Schätzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie
wollen wirkhch vortrefflicher sein; dann fordern sie von
Aussen her Zustimmung zu dieser eignen Schätzung,
Bestätigung ihres Urtheils. Ehre erstreben heisst hier
„sich überlegen machen und wünschen, dass es auch
öffentlich so erscheine". Fehlt das Erstere und wird das
Zweite trotzdem begehrt, so spricht man von Eitelkeit.
Fehlt das Letztere und wird es nicht vermisst, so redet
man von Stolz.
171.
Das Nothwendige am Kunstwerk. — Die,
welche so viel von dem Nothwendigen an einem Kunst-
werke reden, übertreiben, wenn sie Künstler sind, in
majorem artts gloriain, oder wenn sie Laien sind, aus
Unkenntniss. Die Formen eines Kunstwerks, welche
seine Gedanken zum Reden bringen, also seine Art zu
sprechen sind, haben immer etwas Lässliches, wie alle
Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine Züge
hinzuthun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es
ein Schauspieler oder, in Betreff der Musik, ein Virtuos
oder Dirigent. Diese vielen kleinen Züge und Ausfeilungen
machen üim heut Vergnügen, morgen nicht, sie sind
mehr des Künstlers als der Kunst wegen da, denn auch
er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung, welche
die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert,
Nietzsche, Werke Band 11. 12
— 178 —
gelegentlich des Zuckerbrods und der Spielsachen, um
nicht mürrisch zu werden.
172.
Den Meister vergessen machen. — Der Ciavier-
spieler, der das Werk eines Meisters zum Vortrag bringt,
wird am besten gespielt haben, wenn er den Meister
vergessen Hess und wenn es so erschien, als ob er eine
Geschichte seines Lebens erzähle oder jetzt eben Etwas
erlebe. Freilich: wenn er nichts Bedeutendes ist, wird
Jedermann seine Geschwätzigkeit verwünschen, mit der
er uns aus seinem Leben erzählt. Also muss er verstehen,
die Phantasie des Hörers für sich einzunehmen. Daraus
wiederum erklären sich alle Schwächen und Narrheiten
des „Virtuosenthums".
173-
Corriger la fortune. — Es giebt schlimme Zu-
fälligkeiten im Leben grosser Künstler, welche zum
Beispiel den Maler zwingen, sein bedeutendstes Bild nur
als flüchtigen Gedanken zu skizziren oder zum Beispiel
Beethoven zwangen, uns in manchen grossen Sonaten
(wie in der grossen B-dur) nur den ungenügenden Ciavier-
auszug einer Symphonie zu hinterlassen. Hier soll der
späterkommende Künstler das Leben der Grossen nach-
träglich zu corrigiren suchen: was zum Beispiel Der thun
würde, welcher, als ein Meister aller Orchester Wirkungen,
uns jene, dem Ciavier - Schein tode verfallne Symphonie
zum Leben erweckte.
174.
Verkleinern. — Manche Dinge, Ereignisse oder
Personen vertragen es nicht, im kleinen Maassstabe
~ 179 —
behandelt zu werden. Man kann die Laokoon - Gruppe
nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Grösse
nothwendig. Aber viel seltener ist es, dass etwas von
Natur Kleines die Vergrösserung verträgt; wesshalb es
Biographen immer noch eher gelingen wird, einen grossen
Mann klein darzustellen, als einen kleinen gross.
175-
Sinnlichkeit in der Kunst der Gegenwart. —
Die Künstler verrechnen sich jetzt häufig, wenn sie auf
eine sinnliche Wirkung ihrer Kunstwerke hinarbeiten;
denn ihre Zuschauer oder Zuhörer haben nicht mehr ihre
vollen Sinne und gerathen, ganz wider die Absicht des
Künstlers , durch sein Kunstwerk in eine „Heiligkeit"
der Empfindung, welche der Langweiligkeit nahe ver-
wandt ist. — Ihre Sinnlichkeit fängt vielleicht dort an,
wo die des Künstlers gerade aufhört, sie begegnen sich
also höchstens an Einem Punkte.
176.
Shakespeare als Moralist. — Shakespeare hat
über die Leidenschafl;en viel nachgedacht und wohl von
seinem Temperamente her zu vielen einen sehr nahen
Zugang gehabt (Dramatiker sind im Allgemeinen ziemlich
böse Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne,
darüber zu reden, sondern legte die Beobachtungen über
die Passionen den passionirten Figuren in den Mund:
was zwar wider die Natur ist, aber seine Dramen so
gedankenvoll macht, dass sie alle anderen leer erscheinen
lassen und leicht einen allgemeinen Widerwillen gegen
sie erwecken. — Die Sentenzen Schiller's (welchen fast
immer falsche oder unbedeutende Einfälle zu Grunde
— i8o —
liegen) sind eben Theatersentenzen und wirken als solche
sehr stark: während die Sentenzen Shakespeare's seinem
Vorbilde Montaigne Ehre machen und ganz ernsthafte
Gedanken in geschliffener Form enthalten, desshalb aber
für die Augen des Theaterpublicums zu fem und zu fein,
also unwirksam sind,
177-
Sich gut zu Gehör bringen. — Man muss nicht
nur verstehen gut zu spielen, sondern auch sich gut zu
Gehör zu bringen. Die Geige in der Hand des grössten
Tileisters giebt nur ein Gezirp von sich, wenn der Raum
zu gross ist ; man kann da den Meister mit jedem Stümper
verwechseln.
178.
Das Unvollständige als das Wirksame. —
Wie Relieffiguren dadurch so stark auf die Phantasie
wirken, dass sie gleichsam auf dem Wege sind, aus der
Wand herauszutreten und plötzlich, irgendwodurch ge-
hemmt, Halt machen: so ist mitunter die reliefartig un-
vollständige Darstellung eines Gedankens, einer ganzen
Philosophie wirksamer als die erschöpfende Ausführung:
man überlässt der Arbeit des Beschauers mehr, er wird
aufgeregt. Das was in so starkem Licht und Dunkel vor
ihm sich abhebt, fortzubilden, zu Ende zu denken und
jenes Hemmnis selber zu überwinden, welches ihrem
völligen Heraustreten bis dahin hinderlich war.
179.
Gegen die Originalen. — Wenn die Kunst sich
in den abgetragensten Stoff kleidet, erkennt man sie am
besten als Kunst
— Ibl —
i8o.
Collectivgeist. — Ein guter Schriftsteller hat
nicht nur seinen eignen Geist, sondern auch noch den
Geist seiner Freunde.
i8i.
Zweierlei Verkenn ung. — Das Unglück scharf-
sinniger und klarer Schriftsteller ist, dass man sie für
flach nimmt und desshalb ihnen keine Mühe zuwendet:
und das Glück der unklaren, dass der Leser sich an
ihnen abmüht und die Freude über seinen Eifer ihnen
zu Gute sclireibt.
182.
Verhältniss zur Wissenschaft. — Alle Die
haben kein wirkliches Interesse an einer Wissenschaft,
welche erst dann anfangen für sie warm zu werden,
wenn sie selbst Entdeckungen in ihr gemacht haben.
183.
Der Schlüssel. — Der Eine Gedanke, auf den ein
bedeutender Mensch, zum Gelächter und Spott der Un-
bedeutenden, grossen Werth legt, ist für ihn ein Schlüssel
zu verborgenen Schatzkammern, für jene nicht mehr als
ein Stück alten Eisens.
184.
Unübersetzbar. — Es ist weder das Beste, noch
das Schlechteste an einem Buche, was an ihm unüber-
setzbar ist.
— l82 --
185.
Paradoxien des Autors. — Die sogenannten
Paradoxien des Autors, an welchen ein Leser Anstoss
nimmt, stehen häufig gar nicht im Buche des Autors,
sondern im Kopfe des Lesers.
#
186.
Wi t z. — Die witzigsten Autoren erzeugen das kaum
bemerkbare Lächeln.
187.
Die Antithese. — Die Antithese ist die enge
Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrthum zur
Wahrheit schleicht
Denker als Stilisten. — Die meisten Denker
schreiben schlecht, weil sie uns nicht nur ihre Gredanken,
sondern auch das Denken der Gedanken mittheilen.
189.
Gedanken im Gedicht. — Der Dichter führt
seine Gedanken festlich . daher, auf dem Wagen des
Rhythmus: gewöhnhch desshalb, weil diese zu Fuss nicht
gehen können.
190.
Sünde wider den Geist des Lesers. — Wenn
der Autor sein Talent verleugnet, bloss um sich dem Leser
gleich zu stellen, so begeht er die einzige Todsünde,
welche ihm Jener nie verzeiht: falls er nämlich etwas
davon merkt. Man darf dem Menschen sonst alles Böse
nachsagen: aber in der Art, wie man es sag^, muss man
seine Eitelkeit wieder aufzurichten wissen.
191.
Grenze der Ehrlichkeit. — Auch dem ehrlich-
sten Schriftsteller entfällt ein Wort zu viel, wenn er eine
Periode abrunden will.
192.
Der beste Autor. — Der beste Autor wird der
sein, welcher sich schämt, Schriftsteller zu werden.
193.
Drakonisches Gesetz gegen Schriftsteller.
— Man sollte einen Schriftsteller als einen Missethäter
ansehen, der nur in den seltensten Fällen Freisprechung
oder Begnadigung verdient: das wäre ein Mittel gegen
das Überhandnehmen der Bücher.
194.
Die Narren der modernen Cultur. — Die Narren
der mittelalterlichen Höfe entsprechen unsern Feuille-
tonisten; es ist dieselbe Gattung Menschen, halbvernünftig,
witzig, übertrieben, albern, mitunter nur dazu da, das
Pathos der Stimmung durch Einfälle, durch Geschwätz
zu mildern und den allzu schweren, feierlichen Glocken-
klang grosser Ereignisse durch Geschrei zu übertäuben;
ehemals im Dienste der Fürsten und Adligen, jetzt im
Dienste von Parteien (wie in Partei -Sinn und Partei-
Zucht ein guter Theil der alten Unterthänigkeit im Ver-
— 184 —
kehr des Volks mit dem Fürsten jetzt noch fortlebt).
Der ganze moderne Litteratenstand steht aber den
Feuilletonisten sehr nahe, es sind die „Narren der mo-
dernen Cultur", welche man milder beurtheilt, wenn man
sie als nicht ganz zurechnungsfähig nimmt. Schrift-
stellerei als Lebensberuf zu betrachten, sollte billiger-
weise als eine Art Tollheit gelten.
195.
Den Griechen nach. — Der Erkenntniss steht
es gegenwärtig sehr im Wege, dass alle Worte durch
hundertjährige Übertreibung des Gefülils dunstig und
aufgeblasen geworden sind. Die höhere Stufe der Cultur,
welche sich unter die Herrschaft (wenn auch nicht unter
die Tyrannei) der Erkenntniss stellt, hat eine grosse Er-
nüchterung des Gefühls und eine starke Concentration
aller Worte von Nöthen; worin uns die Griechen im Zeit-
alter des Demosthenes vorangegangen sind. Das Über-
spannte bezeichnet alle modernen Schriften; und selbst
wenn sie einfach geschrieben sind, so werden die Worte
in denselben noch zu excentrisch gefühlt. Strenge
Überlegung, Gedrängtheit, Kälte, Schlichtheit, selbst ab-
sichtlich bis an die Grenze hinab, überhaupt An -sich-
halten des Gefühls und Schweigsamkeit — das kann
allein helfen. — Übrigen» ist diese kalte Schreib- und
Gefühlsart, als Gegensatz, jetzt sehr reizvoll: und darin
liegt freilich eine neue Gefahr. Denn die scharfe Kälte
ist so gut ein Reizmittel als ein hoher Wärmegrad.
196.
Gute Erzähler schlechte Erklärer. — Bei guten
Erzählern steht oft eine bewunderungswürdige psycho-
- i85 -
logische Sicherheit und Consequenz, soweit diese in den
Handlungen ihrer Personen hervortreten kann, in einem
geradezu lächerlichen Gegensatz zu der Ungeübtheit
ihres psychologischen Denkens: so dass ihre Cultur in
dem einen Augenblicke ebenso ausgezeichnet hoch als
im nächsten bedauerlich tief erscheint. Es kommt gar
zu häufig vor, dass sie ihre eigenen Helden und deren
Handlungen ersichtlich falsch erklären, — es ist daran
kein Zweifel, so unwahrscheinlich die Sache klingt. Viel-
leicht hat der grösste Ciavierspieler nur wenig über die
technischen Bedingungen und die specielle Tugend Un-
tugend Nutzbarkeit und Erziehbarkeit jedes Fingers
(daktylische Ethik) nachgedacht und macht grobe Fehler,
wenn er von solchen Dingen redet.
197.
Die Schriften von Bekannten und ihre
Leser. — Wir lesen Schriften von Bekannten (Freunden
und Feinden) doppelt , insofern fortwährend unsere Er-
kenntniss daneben flüstert: „das ist von -ihm, ein Merkmal
seines innerenWesens, seiner Erlebnisse, seiner Begabung",
und wiederum eine andere Art Erkenntniss dabei fest-
zustellen sucht, was der Ertrag jenes Werkes an sich ist,
welche Schätzung es überhaupt, abgesehn von seinem
Verfasser, verdient, welche Bereicherung des Wissens es
mit sich bringt. Diese beiden Arten des Lesens und
Erwägens stören sich, wie es sich von selbst versteht,
gegenseitig. Auch eine Unterhaltung mit einem Freunde
wird dann erst gute Früchte der Erkenntniss zeitigen,
wenn Beide endUch nur noch an die Sache denken und
vergessen, dass sie Freunde sind.
— i86 —
198.
Rhythmische Opfer. — Gute Schriftsteller ver-
ändern den Rhythmus mancher Periode bloss desshalb,
weil sie den gewöhnlichen Lesern nicht die Fähigkeit
zuerkennen, den Tact, welchem die Periode in ihrer
ersten Fassung folgte, zu begreifen: desshalb erleichtem
sie es ihnen, indem sie bekannteren Rhythmen den Vor-
zug geben. — Diese Rücksicht auf das rhythmische Un-
vermögen der jetzigen Leser hat schon manche Seufzer
entlockt, denn ihr ist Viel schon zum Opfer gefallen. —
Ob es guten Musikern nicht ähnlich ergeht?
199.
Das Unvollständige als künstlerisches Reiz-
mittel. — Das Unvollständige ist oft wirksamer als die
Vollständigkeit, so namentlich in der Lobrede: für ihren
Zweck braucht man gerade eine anreizende Unvoll-
ständigkeit, als ein irrationales Element, welches der
Phantasie des Hörers ein Meer vorspiegelt und gleich
einem Nebel diei gegenüberliegende Küste also die
Begrenztheit des zu lobenden Gegenstandes verdeckt.
Wenn man die bekannten Verdienste eines Menschen
erwähnt und dabei ausführlich und breit ist, so lässt diess
immer den Arg-wohn aufkommen, es seien die einzigen
Verdienste. Der vollständig Lobende stellt sich über
den Gelobten, er scheint ihn zu übersehen. Desshalb
wirkt das Vollständige abschwächend.
200.
Vorsicht im Schreiben und Lehren. — Wer
erst geschrieben hat und die Leidenschaft des Schreibens
- i87 -
in sich fühlt, lernt fast aus Allem, was er treibt und
erlebt, nur Das noch heraus, was schriftstellerisch mit-
theilbar ist. Er denkt nicht mehr an sich, sondern an
den Schriftsteller und sein Publicum: er will die Einsicht,
aber nicht zum eigenen Gebrauche. Wer Lehrer ist, ist
meistens unfähig, etwas Eigenes noch für sein eigenes
Wohl zu treiben, er denkt immer an das Wohl seiner
Schüler, und jede Erkenntniss erfreut ihn nur, so weit er
sie lehren kann. Er betrachtet sich zuletzt als einen
Durchweg des Wissens und überhaupt als Mittel, so dass
er den Ernst für sich verloren hat.
20T.
Schlechte Schrift steller noth wendig. — Es
wird immer schlechte Schriftsteller geben müssen, denn
sie entsprechen dem Geschmack der unentwickelten
unreifen Altersclassen ; diese haben so gut ihr Bedürfniss
wie die reifen. Wäre das menschliche Leben länger,
so würde die Zahl der reif gewordenen Individuen über-
wiegend oder mindestens gleich gross mit der der un-
reifen sein ; so aber sterben bei weitem die Meisten
zu jung, das heisst es giebt immer viel mehr unent-
wickelte Intellecte mit schlechtem Geschmack. Diese
begehren überdiess mit der grösseren Heftigkeit der
Jugend nach Befriedigung ihres Bedürfnisses: und sie
erzwingen sich schlechte Autoren.
202.
Zu nah und zu fern. — Der Leser und der Autor
verstehen sich häufig desshalb nicht, weil der Autor sein
Thema zu gut kennt und es beinahe langweilig findet,
so dass er sich die Beispiele erlässt, die er zu Hunderten
weiss; der Leser aber ist der Sache fremd und findet
sie leicht schlecht begründet, wenn ihm die Beispiele
vorenthalten werden.
203.
Eine verschwundene Vorbereitung- zur Kunst.
— An Allem, was das Gymnasium trieb, war das Werth-
vollste die Übung im lateinischen Stil: diese war eben
eine Kunstübung, während alle andren Beschäftigungen
nur das Wissen zum Zweck hatten. Den deutschen
Aufsatz voranzustellen ist Barbarei : denn wir haben
keinen mustergültigen , an öfFentUcher Beredsamkeit
emporgewachsenen deutschen Stil; will man aber durch
den deutschen Aufsatz die Übung im Denken fördern,
so ist es gewiss besser, wenn man einstweilen von Stil
dabei überhaupt absieht, also zwischen der Übung im
Denken und der im Darstellen scheidet. Letztere sollte
sich auf mannichfache Fassung eines gegebenen Inhalts
beziehen und nicht auf selbständiges Erfinden eines
Inhalts. Die blosse Darstellung bei gegebenem Inhalte
war die Aufgabe des lateinischen Stils, für welchen die
alten Lehrer eine längst verloren gegangene Feinheit
des Gehörs besassen. Wer ehemals gut in einer mo-
dernen Sprache schreiben, lernte, verdankte es dieser
Übung (jetzt muss man sich nothgedrungen zu den
älteren Franzosen in die Schule schicken). Aber noch
mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und
Schwierigkeit der Form überhaupt und wurde für die
Kunst auf dem einzig richtigen Wege vorbereitet, durch
Praxis.
— i89 —
204.
Dunkles und Überhelles neben einander.--
Schriftsteller, welche im Allgemeinen ihren Gedanken
keine Deutlichkeit zu geben verstehen, werden im Ein-
zelnen mit Vorliebe die stärksten übertriebensten Be-
zeichnungen und Superlative wählen: dadurch entsteht
eine Lichtwirkung, wie bei Fackelbeleuchtung auf ver-
worrenen Waldwegen.
205.
Schriftstellerisches Malerthum. — Einen be-
deutenden Gegenstand wird man am besten darstellen,
wenn man die Farben zum Gemälde aus dem Gegen-
stande selber wie ein Chemiker nimmt und sie dann
wie ein Artist verbraucht: so dass man die Zeichnung
aus den Grenzen und Übergängen der Farben erwachsen
lässt. So bekommt das Gemälde Etwas von dem hin-
reissenden Naturelement, welches den Gegenstand selber
bedeutend macht
206.
Bücher, welche tanzen lehren. — Es giebt
Schriftsteller, welche dadurch, dass sie Unmögliches als
möglich darstellen und vom Sittlichen und Genialen so
reden, als ob beides nur eine Laune, ein Belieben sei,
ein Gefühl von übermüthiger Freiheit hervorbringen, wie
wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und
vor innerer Lust durchaus tanzen müsste.
207.
Nicht fertig gewordene Gedanken. — Ebenso
wie nicht nur das Mannesalter, sondern auch Jugend und
— IQO —
Kindheit einen Werth an sich haben und gar nicht nur
als Durchgänge und Brücken zu schätzen sind, so haben
auch die nicht fertig gewordenen Gedanken ihren Werth.
Man muss desshalb einen Dichter nicht mit subtiler
Auslegung quälen und sich an der Unsicherheit seines
Horizontes vergnügen; wie als ob der Weg zu mehreren
Gedanken noch offen sei. Man steht an der Schwelle;
man wartet wie bei der Ausgrabung eines Schatzes: es
ist als ob ein Glücksfund von Tiefsinn eben gemacht
werden sollte. Der Dichter nimmt Etwas von der Lust
des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg
und macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem
haschen : der aber gaukelt an unserem Kopf vorüber und
zeigt die schönsten Schmetterlingsflügel — und doch
entschlüpft er uns.
208.
Das Buch fast zum Menschen geworden. —
Jeden Schriftsteller überrascht es von Neuem, wie das
Buch, sobald es sich von ihm gelöst hat, ein eignes
Leben für sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als wäre
der eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun
seinen eigenen Weg weiter. Vielleicht vergisst er es fast
ganz, vielleicht erhebt er sich über die darin nieder-
gelegten Ansichten, vielleicht selbst versteht er es nicht
mehr und hat jene Schwingen verloren, auf denen er
damals flog, als er jenes Buch aussann: währenddem
sucht es sich seine Leser, entzündet Leben, beglückt,
erschreckt, erzeugt neue Werke, wird die Seele von
Vorsätzen und Handlungen — kurz: es lebt wie ein mit
Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein
Mensch. — Das glücklichste Los hat der Autor ge-
zogen, welcher, als alter Mann, sagen kann, dass Alles,
— IQI —
was von lebenzeugenden kräftigenden erhebenden auf-
klärenden Gedanken und Gefühlen in ihm war, in seinen
Schriften noch fortlebe, und dass er selber nur noch die
graue Asche bedeute, während das Feuer überallhin
gerettet und weiter getragen sei. — Erwägt man nun
gar, dass jede Handlung eines Menschen, nicht nur ein
Buch, auf irgend eine Art Anlass zu anderen Handlungen
Entschlüssen Gedanken wird, dass Alles, was geschieht,
unlösbar fest sich mit Allem, was geschehen wird, ver-
knotet, so erkennt man die wirkhche Unsterblichkeit,
die es giebt, die der Bewegung: was einmal bewegt hat,
ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem
Bernsteine ein Insekt, eingeschlossen und verewigt.
209.
Freude im Alter. — Der Denker und ebenso der
Künstler, welcher sein besseres Selbst in Werke ge-
flüchtet hat, empfindet eine fast boshafte Freude, wenn
er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit
angebrochen und zerstört werden, als ob er aus einem
Winkel einen Dieb an seinem Geldschranke arbeiten
sähe, während er weiss, dass dieser leer ist und alle
Schätze gerettet sind.
210.
Ruhige Fruchtbarkeit. — Die geborenen Aristo-
kraten des Geistes sind nicht zu eifrig; ihre Schöpfungen
erscheinen und fallen an einem ruhigen Herbstabend
vom Baume, ohne hastig begehrt, gefördert, durch Neues
verdräng^ zu werden. Das unablässige Schaffenwollen
ist gemein und zeigt Eifersucht Neid Ehrgeiz an.
Wenn man Etwas ist, so braucht man eigenthch Nichts
— igz —
zu machen — und thut doch sehr Viel. Es giebt über
dem „productiven" Menschen noch eine höhere Gattung.
21 I.
Achilles und Homer. — Es ist immer wie
zwischen Achilles und Homer: der Eine hat das Er-
lebniss, die Empfindung, der Andre beschreibt sie.
Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der
Erfahrung Anderer nur Worte, er ist Künstler, um aus
dem Wenigen, was er empfunden hat, Viel zu errathen.
Künstler sind keineswegs die Menschen der grossen
Leidenschaft, aber häufig geben sie sich als solche, in
der unbewussten Empfindung, dass man ihrer gemalten
Leidenschaft mehr traut, wenn ihr eignes Leben für ihre
Erfahrung auf diesem Gebiete spricht Man braucht sich
ja nur gehen zu lassen, sich nicht zu beherrschen, seinem
Zorn, seiner Begierde offenen Spielraum zu gönnen: so-
fort schreit alle Welt: wie leidenschaftlich ist er! Aber
mit der tief wühlenden, das Individuum anzehrenden und
oft verschlingenden Leidenschaft hat es etwas auf sich:
wer sie erlebt, beschreibt sie gewiss nicht in Dramen,
Tönen oder Romanen. Künstler sind häufig zügel-
lose Individuen, soweit sie eben nicht Künstler sind:
aber das ist etwas Anderes.
212.
Alte Zweifel über die Wirkung der Kunst. —
Sollten Mitleid und Furcht wirklich, wie Aristoteles will,
durch die Tragödie entladen werden, so dass der Zuhörer
kälter und ruhiger nach Hause zurückkehre? Sollten
Geistergeschichten weniger furchtsam und abergläubisch
— 193 —
machen? Es ist bei einigen physischen Vorgängen, zum
Beispiel bei dem Liebesgenuss, wahr, dass mit der Be-
friedigung eines Bedürfnisses eine Lindenmg und zeit-
weilige Herabstimmung des Triebes eintritt. Aber die
Furcht und das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Be-
dürfnisse bestimmter Organe, welche erleichtert werden
wollen. Und auf die Dauer wird selbst jeder Trieb
durch Übung in seiner Befriedigung gestärkt, trotz
jener periodischen Linderungen. Es wäre möglich, dass
Mitleid und Furcht in jedem einzelnen Falle durch die
Tragödie gemildert und entladen würden : trotzdem
könnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung
überhaupt grösser werden, und Plato behielte doch Recht,
wenn er meint, dass man durch die Tragödie insgesammt
ängstlicher und rührseliger werde. Der tragische Dichter
selbst würde dann nothwendig eine düstere furchtvolle
Weltbetrachtung und eine weiche reizbare thränen-
süchtige Seele bekommen; auch würde es zu Plato's
Meinung stimmen, wenn die tragischen Dichter und
ebenso die ganzen Stadtgemeinden, welche sich be-
sonders an ihnen ergötzen, zu immer grösserer Maass-
und Zügellosigkeit ausarten. — Aber welches Recht hat
unsre Zeit überhaupt, auf die grosse Frage Plato's nach
dem moralischen Einfluss der Kunst eine Antwort zu
geben? Hätten wir selbst die Kunst — wo haben wir
den Einfluss, irgend einen Einfluss der Kunst?
213.
Freude am Unsinn. — Wie kann der Mensch
Freude am Unsinn haben ? So weit nämlich auf der Welt
gelacht wird, ist diess der Fall; ja man kann sagen, fast
überall wo es Glück g^ebt, giebt es Freude am Unsinn.
Nietzfche, Werke Band H. jt
— T94 —
Das Umwerfen der Erfahrung in's Gegenthcil, des Zweck-
mässigen in's Zwecklose, des Nothwendigen in's Beliebige,
doch so, dass dieser Vorgang keinen Schaden macht
und nur einmal aus Übermuth vorgestellt wird, ergetzt,
denn es befreit uns momentan von dem Zwange des
Nothwendigen, Zweckmässigen und Erfahrungsgemässen,
in denen wir für gewöhnlich unsere unerbittUchen Herren
sehn; wir spielen und lachen dann, wenn das Erwartete
(das gewöhnlich bange macht und spannt) sich ohne zu
schädigen entladet. Es ist die Freude der Sclaven am
Saturnalienfeste.
214.
Veredelung der Wirklichkeit. — Dadurch,
dass die Menschen in dem aphrodisischen Triebe eine
Gottheit sahen und ihn mit anbetender Dankbarkeit in
sich wirkend fühlten, ist im Verlaufe der Zeit jener
Affect mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen und
dadurch thatsächlich sehr veredelt worden. So haben
sich einige Völker, vermöge dieser Kunst des Idealisirens,
aus Krankheiten grosse Hülfsmächte der Cultur ge-
schaffen: zum Beispiel die Griechen, welche in früheren
Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art
der Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den
herrlichen Typus der Bacchantin herausgebildet haben. —
Die Griechen besassen "nämlich nichts weniger als eine
vierschrötige Gesundheit; — ihr Geheimniss war, auch
die Krankheit, wenn sie nur Macht hatte, als Gott zu
verehren.
215.
Musik. — Die Musik ist nicht an und für sich so
bedeutungsvoll für unser Innres, so tief erregend, dass
sie als unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte;
— 195 —
sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie "hat so
viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke
und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen,
sie spräche direct zum Innern und käme aus dem
Innern. Die dramatische Musik ist erst möglich, wenn
sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer
Mittel erobert hat, durch Lied Oper und hundertfältige
Versuche der Tonmalerei. Die „absolute !Musik" ist ent-
weder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo
das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener Stärke
überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon
zum Verständniss redende Symbolik der Formen, nach-
dem in langer Entwicklung beide Künste verbunden
waren und endlich die musikalische Form ganz mit Be-
griffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. Menschen,
welche in der Entwicklung der Musik zurückgeblieben
sind, können dasselbe Tonstück rein formalistisch em-
pfinden, wo die Fortgeschrittenen Alles symbohsch ver-
stehen. An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll,
sie spricht nicht vom „Willen", vom „Dinge an sich";
das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen,
welches den ganzen Umfang des inneren Lebens für die
musikalische Symbolik erobert hatte. Der Intellect selber
hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hinein-
gelegt: wie er in die Verhältnisse von Linien und
Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit ge-
legt hat, welche aber an sich den mechanischen Gesetzen
ganz fremd ist
216.
Gebärde und Sprache. — Alter als die Sprache
ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkürlich
vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zu-
13*
— ig6 —
rückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten Be-
herrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein be-
wegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichtes
ansehen können (man kann beobachten, dass fingirtes
Gähnen bei Einem, der es sieht, natürliches Gähnen her-
vorruft). Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der
nachahmte, zu der Empfindung zurück, welche sie im
Gesicht oder Körper des Nachgeahmten ausdrückte. So
lernte man sich verstehn: so lernt noch das Kind die
JMutter verstehn. Im Allgemeinen mögen schmerzhafte
Empfindungen wohl auch durch Gebärden ausgedrückt
worden sein, welche Schmerz ihrerseits verursachen
(zum Beispiel durch Haarausraufen, Die-Brust-schlagen,
gewaltsame Verzerrung und Anspannung der Gesichts-
muskeln). Umgekehrt: Gebärden der Lust waren selber
lustvoll und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen
des Verständnisses (Lachen als Äusserung des Gekitzelt-
werdens, welches lustvoll ist, diente wiederum zum Aus-
druck anderer lustvoller Empfindungen). — Sobald man
sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine Sym-
bolik der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte
über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar,
dass man zuerst Ton und Gebärde (zu der er symbolisch
hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte. — Es
scheint sich da in früher Zeit Dasselbe oftmals ereignet
zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in
der Entwicklung der Musik, namentlich der dramatischen
Musik, vor sich geht: während zuerst die Musik, ohne
erklärenden Tanz und Mimus (Gebärdensprache), leeres
Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes
Nebeneinander von Musik und Beweg-ung das Ohr zur
sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und
kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verstand-
— 197 —
nisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr
bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht.
Man redet dann von absoluter Musik, das heisst von
Musik, in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort sym-
bolisch verstanden wird.
217.
Die Entsinnlichung der höheren Kunst. —
Unsere Ohren sind, vermöge der ausserordentlichen Übung
des Intellects durch die Kunstentwicklung der neuen
Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen
wir jetzt viel grössere Tonstärke, viel mehr „Lärm", weil
wir viel besser eingeübt sind, auf die Vernunft in ihm
hinzuhorchen, als unsere Vorfahren. Thatsächlich sind nun
alle unsere Sinne eben dadurch, dass sie immer gleich
nach der Vernunft, also nach dem „es bedeutet" und
nicht mehr nach dem „es ist" fragen, etwas abgestumpft
worden: wie sich eine solche Abstumpfung zum Beispiel
in der unbedingten Herrschaft der Temperatur der Töne
verräth; denn jetzt gehören Ohren, welche die feineren
Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen eis und des,
noch machen, zu den Ausnahmen. In dieser Hinsicht ist
unser Ohr vergröbert worden. Sodann ist die hässliche,
den Sinnen ursprünglich feindselige Seite der Welt für
die Musik erobert worden; ihr Machtbereich namentlich
zum Ausdruck des Erhabenen Furchtbaren Geheimniss-
vollen hat sich damit erstaunlich erweitert: unsere Musik
bringt jetzt Dinge zum Reden, welche früher keine Zunge
hatten. In ähnlicher Weise haben einige Maler das
Auge intellectualer gemacht und sind weit über Das
hinausgegangen, was man früher Farben- und Formen-
freude nannte. Auch hier ist die ursprünglich als hässlich
geltende Seite der Welt vom künstlerischen Verstände
— ig8 —
erobert worden. — Was ist von alledem die Consequenz?
Je gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so mehr
kommen sie an die Grenze, wo sie unsinnlich werden;
die Freude wird in's Gehirn verlegt, die Sinnesorgane
selbst werden stumpf und schwach, das Symbolische tritt
immer mehr an Stelle des Seienden — und so gelangen
wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf
irgend einem anderen. Einstweilen heisst es noch: die
Welt ist hässlicher als je, aber sie bedeutet eine schönere
Welt, als je gewesen. Aber je mehr der Ambraduft der
Bedeutung sich zerstreut und verflüchtigt, um so seltener
werden Die, welche ihn noch wahrnehmen: und die
Übrigen bleiben endlich bei dem Hässlichen stehen und
suchen es direct zu geniessen, was ihnen aber immer
misslingen muss. So giebt es in Deutschland eine
doppelte Strömung der musikalischen Entwicklung: hier
eine Schaar von Zehntausend mit immer höheren zarteren
Ansprüchen und immer mehr nach dem „es bedeutet"
hinhörend, und dort die ungeheure Überzahl, welche
alljährlich immer unfähiger wird, das Bedeutende auch
in der Form der sinnlichen Hässlichkeit zu verstehen
und desshalb nach dem an sich Hässlichen und Ekel-
haften, das heisst dem niedrig Sinnlichen, in der Musik
mit immer mehr Behagen greifen lernt
218.
Der Stein ist mehr Stein als früher. — Wir
verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenig-
stens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen.
Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren
herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhe-
torik entwöhnt sind, und haben diese Art von Mutter-
— 199 —
milch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick
unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen
oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles
etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung
der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpf liehen Be-
deutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauber-
haften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das
System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-
Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten
wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höch-
stens das Grauen — aber dieses Grauen war überall
die Voraussetzung. — Was ist uns jetzt die Schönheit
eines Gebäudes? Dasselbe wie das schöne Gesicht einer
geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.
219.
Religiöse Herkunft der neueren Musik. —
Die seelenvolle Musik entsteht in dem wiederherge-
stellten Katholicismus nach dem Tridentiner Concil, durch
Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und tief
bewegten Geiste zum Klange verhalf; später, mit Bach,
auch im Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten
vertieft und von seinem ursprünglichen dogmatischen
Grundcharakter losgebunden worden war. Voraussetzung
und nothwendige Vorstufe für beide Entstehungen ist die
Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance
und Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene ge-
lehrte Beschäftigung mit Musik, jene im Grunde wissen-
schaftliche Lust an den Kunststücken der Harmonik und
Stimmführung. Andererseits musste auch die Oper vor-
hergegangen sein: in welcher der Laie seinen Protest
gegen eine zu gelehrt gewordene kalte Musik zu er-
— 200
kennen gab und der Polyhymnia wieder eine Seele
schenken wollte. — Ohne jene tiefreligiöse Umstimmung,
ohne das Ausklingen des innerlichst - erregten Gemüths
wäre die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben; der
Geist der Gegenreformation ist der Geist der modernen
Musik (denn jener Pietismus in Bach's Musik ist auch
eine Art Gegenreformation). So tief sind wir dem reli-
giösen Leben verschuldet. — Die Musik war die Gegen-
renaissance im Gebiete der Kunst; zu ihr gehört die
spätere Malerei der Carracci, zu ihr vielleicht auch der
Barockstil: mehr jedenfalls als die Architektur der Re-
naissance oder des Alterthums, Und noch jetzt dürfte
man fragen : wenn unsere neuere Musik die Steine bewe-
gen könnte, würde sie diese zu einer antiken Architektur
zusammensetzen? Ich zweifle sehr. Denn Das, was in
dieser Musik regiert, der Affect, die Lust an erhöhten
weitgespannten Stimmungen, das Lebendig- werden- wollen
um jeden Preis, der rasche Wechsel der Empfindung,
die starke Reliefwirkung in Licht und Schatten, die
Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven,
— das hat Alles schon einmal in den bildenden Künsten
regiert und neue Stilgesetze geschaffen: — es war aber
weder im Alterthum noch in der Zeit der Renaissance.
220.
Das Jenseits in der Kunst. — Nicht ohne tiefen
Schmerz gesteht man sich ein, dass die Künstler aller
Zeiten in ihrem höchsten Aufschwünge gerade jene
Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung hinauf-
getragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie
sind die Verherrlicher der religiös-philosophischen Irr-
thümer der Menschheit, und sie hätten diess nicht sein
20I
können ohne den Glauben an die absolute Wahrheit
derselben. Nimmt nun der Glaube an eine solche Wahr-
heit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um
die äussersten Enden des menschlichen Erkennens und
Wähnens: so kann jene Gattung von Kunst nie wieder
aufblühen, welche wie die dtvina commedia , die Bilder
Raffael's, die Fresken Michelangel o's . die gothischen
Münster nicht nur eine kosmische sondern auch eine
metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt.
Es wird eine rührende Sage daraus werden, dass es
eine solche Kunst, einen solchen Künstlerglauben ge-
geben habe.
221.
Die Revolution in der Poesie. — Der strenge
Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auf-
erlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des
Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl
der Worte und Gedanken, war eine so wichtige Schule,
wie die des Contrapunkts und der Fuge in der Entwick-
lung der modernen Musik oder wie die Gorgianischen
Figuren in der griechischen Beredsamkeit. Sich so zu
binden kann absurd erscheinen; trotzdem giebt es kein
anderes Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen,
als sich zuerst auf das allerstärkste (vielleicht allerwill-
kürlichste) zu beschränken. Man lernt so allmählich mit
Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche
schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die
höchste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute
mit heim: wie die Geschichte der Musik vor den Augen
aller Jetztlebenden beweist. Hier sieht man, wie Schritt
für Schritt die Fesseln lockerer werden, bis sie endlich
ganz abgeworfen scheinen können: dieser Schein ist
— 202 —
das höchste Ergebniss einer nothwendigen Entwicklung
in der Kunst. In der modernen Dichtkunst gab es keine
so glückliche allmähliche Herauswicklung aus den selbst-
gelegten Fesseln. Lessing machte die französische Form,
das heisst die einzige moderne Kunstform, zum Gespött
in Deutschland und verwies auf Shakespeare; und so
verlor man die Stätigkeit jener Entfesselung und machte
einen Sprung in den Naturalismus — das heisst in die
Anfänge der Kunst zurück. Aus ihm versuchte sich
Goethe zu retten, indem er sich immer von Neuem
wieder auf verschiedene Art zu binden wusste; aber
auch der Begabteste bringt es nur zu einem fortwähren-
den Experimentiren, wenn der Faden der Entwicklung
einmal abgerissen ist. Schiller verdankt die ungefähre
Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn
auch verleugneten Vorbilde der französischen Tragödie
und hielt sich ziemlich unabhängig von Lessing (dessen
dramatische Versuche er bekanntlich ablehnte). Den
Franzosen selber fehlten nach Voltaire auf einmal die
grossen Talente, welche die Entwicklung der Tragödie
aus dem Zwange zu jenem Scheine der Freiheit fort-
geführt hätten; sie machten später nach deutschem Vor-
bilde auch den Sprung in eine Art von Rousseau'schem
Naturzustand der Kunst und experimentirten. Man lese
nur von Zeit zu Zeit Voltaire's Mahomet, um sich klar
vor die Seele zu stellen,. was durch jenen Abbruch der
Tradition ein für alle Mal der europäischen Cultur ver-
loren gegangen ist. Voltaire war der letzte der grossen
Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den grössten
tragischen Gewitterstürmen gewachsene Seele durch
griechisches Maass bändigte, — er vermochte Das, was
noch kein Deutscher vermochte, weil die Natur des
Franzosen der griechischen viel verwandter ist als die
— 203 —
Natur des Deutschen — ; wie er auch der letzte grosse
Schriftsteller war, der in der Behandlung der Prosa-Rede
griechisches Ohr, griechische Künstler-Gewissenhaftigkeit,
griechische Schlichtheit und Anmuth hatte; ja wie er einer
der letzten Menschen gewesen ist , welche die höchste
Freiheit des Geistes und eine schlechterdings unrevolu-
tionäre Gesinnung in sich vereinigen können, ohne in-
consequent und feige zu sein. Seitdem ist der moderne
Geist mit seiner Unruhe, seinem Hass gegen Maass und
Schranke, auf allen Gebieten zur Herrschaft gekommen,
zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution und
dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und
Grauen vor sich selber anwandelte, — aber die Zügel der
starren Logik, nicht mehr die des künstlerischen Maasses.
Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung eine Zeitlang
die Poesien aller Völker, alles an verborgenen Stellen
Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich-
Schöne und Riesenhaft -Unregelmässige, vom Volksliede
an bis zum „grossen Barbaren" Shakespeare hinauf; wir
schmecken die Freuden der Localfarbe und des Zeit-
costüms, die allen künstlerischen Völkern bisher fremd
waren; wir benutzen reichlich die „barbarischen Avan-
tagen" unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend
macht, um die Formlosigkeit seines Faust in das gün-
stigste Licht zu stellen. Aber auf wie lange noch? Die
hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile aller Völker
muss ja allmählich das Erdreich wegschwemmen, auf
dem ein stilles verborgenes Wachsthum noch möglich
gewesen wäre; alle Dichter müssen ja experimentirende
Nachahmer, wagehalsige Copisten werden, mag ihre Kraft
von Anbeginn noch so gross sein. Das Publicum endlich,
welches verlernt hat, in der Bändigung der darstellen-
den Kraft, in der organisirenden Bewältigung aller Kunst-
204 —
mittel die eigentliche künstlerische That zu sehn, muss
immer mehr die Kraft um der Kraft willen, die Farbe
um der Farbe willen, den Gedanken um des Gedankens
willen, die Inspiration um der Inspiration willen schätzen,
es wird demgemäss die Elemente und Bedingungen
des Kunstwerks gar nicht, wenn nicht isolirt, ge-
messen und zu guterletzt die natürliche Forderung
stellen, dass der Künstler sie ihm auch isolirt darreichen
müsse. Ja, man hat die „unvernünftigen" Fesseln der
französisch- griechischen Kunst abgeworfen, aber unver-
merkt sich daran gewöhnt, alle Fesseln, alle Beschrän-
kung unvernünftig zu finden; — und so bewegt sich die
Kunst ihrer Auflösung entgegen und streift dabei —
was freilich höchst belehrend ist — alle Phasen ihrer
Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer
einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen: sie inter-
pretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden.
Einer der Grossen, auf dessen Instinct man sich wohl
verlassen kann und dessen Theorie nichts weiter als ein
dreissig Jahre Mehr von Praxis fehlte, — Lord Byron
hat einmal ausgesprochen: „Was die Poesie im Allge-
meinen anlangt, so bin ich, je mehr ich darüber nach-
denke, immer fester der Überzeugung, dass wir alle-
sammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der
Andere. Wir folgen Alle einem innerlich falschen revo-
lutionären System — unserö oder die nächste Generation
wird noch zu derselben Überzeugung gelangen." Es ist
diess derselbe Byron, welcher sagt: „Ich betrachte
Shakespeare als das schlechteste Vorbild, wenn auch als
den ausserordentlichsten Dichter." Und sagt im Grunde
Goethe's gereifte künstlerische Einsicht aus der zweiten
Hälfte seines Lebens nicht genau Dasselbe? — jene
Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung über
— 205 —
eine Reihe von Generationen gewann, dass man im
Grossen Ganzen behaupten kann, Goethe habe noch
gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen?
Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der
poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründ-
lichsten auskostete, was Alles indirect durch jenen Ab-
bruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten,
Hülfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen
der Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine
spätere Umwandelung und Bekehrung so Viel: sie be-
deutet, dass er das tiefste Verlangen empfand,, die
Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen
gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels
mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Voll-
kommenheit und Ganzheit anzudichten, wenn die Kraft
des Arms sich viel zu schwach erweisen sollte, zu
bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören
nöthig waren. So lebte er in der Kunst ds in der Er-
innerung an die walire Kunst: sein Dichten war zum
Hülfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter
längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine For-
derungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des
neuen Zeitalters unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde
aber reichlich durch die Freude aufgewogen, dass sie
einmal erfüllt gewesen sind und dass auch wir noch
an dieser Erfüllung theilnehmen können. Nicht Indivi-
duen, sondern mehr oder weniger idealische Masken;
keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemein-
heit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren
abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige
Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Ge-
sellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt,
ihrer reizenden spannenden pathologischen Eigenschaften
■ — 2o6
entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinn
wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und Charak-
tere, sondern die alten längstgewohnten in immerfort
währender Neubeseelung und Umbildung: das ist die
Kunst, so wie sie Goethe später verstand, so wie sie
die Griechen, ja auch die Franzosen übten.
222.
Was von der Kunst übrig bleibt. — Es ist
wahr, bei gewissen metaphysischen Voraussetzungen hat
die Kunst viel grösseren Werth, zum Beispiel wenn der
Glaube gilt, dass der Charakter unveränderlich sei und
das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und
Handlungen fortwährend ausspreche: da wird das Werk
des Künstlers zum Bild des ewig Beharrenden,
während für unsere Auffassung der Künstler seinem
Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann,
weil der Mensch im Ganzen geworden und wandelbar
und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Be-
harrendes ist. — Ebenso steht es bei einer andern meta-
physischen Voraussetzung: gesetzt dass unsere sichtbare
Welt nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker
annehmen, so käme die Kunst der wirklichen Welt ziem-
lich nahe zu stehen: denn zwischen der Erscheinungswelt
und der Traumbild- Welt des Künstlers gäbe es dann gar
zu viel Ähnliches; und die übrigbleibende Verschieden-
heit stellte sogar die Bedeutung der Kunst höher als die
Bedeutung der Natur, weil die Kunst das Gleichförmige,
die Typen und Vorbilder der Natur darstellte. — Jene
Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung bleibt
nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst ? Vor Allem
hat sie durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse
- 207 —
und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und
unsere Empfindung so weit zu bringen , dass wir endlich
rufen: „wie es auch sei, das Leben, es ist gutl" Diese
Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das
Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mit-
bewegung, als Gegenstand gesetzmässigcr Entwicklung
anzusehen, — diese Lehre ist in uns hineingewachsen,
sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfniss des Er-
kennens wieder an's Licht. Man könnte die Kunst auf-
geben, würde damit aber nicht die von ihr gelernte
Fähigkeit einbüssen: ebenso wie man die Religion auf-
gegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Ge-
müths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende
Kunst und die Musik der Maassstab des durch die
Religion wirkhch erworbenen und hinzugewonnenen Ge-
fühls-Reichthums ist, so würde nach einem Verschwinden
der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartig-
keit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern.
Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung
des künstlerischen.
223.
Abendröthe der Kunst. — Wie man sich im
Alter der Jugend erinnert und Gedächtnissfeste feiert, so
steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältniss einer
rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend.
Vielleicht dass niemals früher die Kunst so tief und
seelenvoll erfasst wurde als jetzt, wo die Magie des
Todes dieselbe zu umspielen scheint. Man denke an jene
griechische Stadt in Unteritalien, welche an Einem Tage
des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter
Wehmuth und Thränen darüber, dass immer mehr die
ausländische Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten
— 208 —
triumphire; niemals hat man wohl das Hellenische so
genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher
Wollust geschlürft als unter diesen absterbenden Helle-
nen, Den Künstler wird man bald als ein herrliches
Überbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren
Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück
früherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht
leicht Unsersgleichen gönnen. Das Beste an uns ist
vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu
denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr
kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen,
aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet
noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.
Fünftes Hauptstück:
Anzeichen höherer und niederer
Cultur.
Niftuche, Werkp Band 11.
'4
224.
Veredelung durch Entartung. — Aus der Ge-
schichte ist zu lernen, dass der Stamm eines Volkes
sich am besten erhält, in dem die meisten Menschen
lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer
gewohnten und undiscutirbaren Grundsätze, also in Folge
ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die
gute, tüchtige Sitte, hier wird die Unterordnung des
Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit schon
als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen.
Die Gefahr dieser starken, auf gleichartige charaktervolle
Individuen gegründeten Gemeinwesen ist die allmählich
durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun
einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind
die ungebundeneren, viel unsichereren und morahsch
schwächeren Individuen, an denen das geistige Fort-
schreiten in solchen Gemeinwesen hängt: es sind
die Menschen, die Neues und überhaupt Vielerlei ver-
suchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche
wegen, ohne sehr ersichtliche Wirkung zu Grrunde; aber
im Allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen haben,
lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem sta-
bilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei.
Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen
Stelle wird dem gesammten Wesen etwas Neues gleich-
14*
212
sam inoculirt; seine Kraft im Ganzen muss aber stark
genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen
und sich zu assimiliren. Die abartenden Naturen sind
überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt
erfolgen soll; jedem Fortschritt im Grossen muss eine
theilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Na-
turen halten den Typus fest, die schwächeren helfen
ihn fortbilden. — Etwas Ähnliches ergiebt sich für
den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung, eine
Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine
körperliche oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil
auf einer andern Seite. Der kränkere Mensch zum
Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen und
unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich
zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der
Einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde
wird tiefer in's Innere schauen und jedenfalls schärfer
hören. Insofern scheint mir der berühmte Kampf um's
Dasein nicht der einzige Gesichtspunkt zu sein, aus dem
das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen,
einer Rasse erklärt werden kann. Vielmehr muss zweierlei
zusammen kommen: einmal die Mehrung der stabilen
Kraft durch Bindung der Geister im Glauben und Ge-
meingefühl; sodann die Möglichkeit zu höheren Zielen
zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in
Folge derselben, theilweise Schwächungen und Verwun-
dungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade die
schwächere Natur, als die zartere und freiere, macht
alles Fortschreiten überhaupt möglich. Ein Volk, das
irgendwo anbröckelt und schwach wird, aber im Ganzen
noch stark und gesund ist, vermag die Infection des
Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben.
Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Er-
— 213 —
Ziehung so: ihn so fest und sicher hinzustellen, dass et
als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt
werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden
beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal
ihm schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und
das Bedürfniss entstanden sind, so kann auch in die ver-
wundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculirt werden.
Seine gesammte Natur wird es in sich hinein nehmen und
später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen.
— Was den Staat betrifft, so sagt Macchiavelli, dass
„die Form der Regierungen von sehr geringer Bedeutung
ist, obgleich halbgebildete Leute anders denken. Das
grosse Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche
alles Andere aufwiegt, indem sie weit werthvoUer ist
als Freiheit". Nur bei sicher begründeter und verbürgter
grösster Dauer ist stätige Entwickelung und veredelnde
Inoculation überhaupt möglich. Freilich wird gewöhnlich
die gefahrliche Genossin aller Dauer, die Autorität, sich
dagegen wehren.
225.
Freigeist ein relativer Begriff. — Man nennt
Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von
ihm auf Grund seiner Herkunft Umgebung, seines
Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden
Zeitansichten erwartet Er ist die Ausnahme, die ge-
bundenen Geister sind die Regel; diese werfen ihm vor,
dass seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder
in der Sucht aufzufallen haben, oder gar auf freie Hand-
lungen, das heisst auf solche, welche mit der gebundenen
Moral unvereinbar sind, schliessen lassen. Bisweilen sagt
man auch, diese oder jene freien Grundsätze seien aus
Verschrobenheit und Überspanntheit des Kopfes herzu-
214 —
leiten; doch spricht so nur die Bosheit, welche selber an
Das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit schaden will:
denn das Zeugniss für die grössere Güte und Schärfe
seines Intellects ist dem Freigeist gewöhnlich in's Ge-
sicht geschrieben, so lesbar, dass es die gebundenen
Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern
Ableitungen der Freigeisterei sind redlich gemeint; in
der That entstehen auch viele Freigeister auf die eine
oder die andere Art Desshalb könnten aber die Sätze,
zu denen sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer
und zuverlässiger sein als die der gebundenen Geister.
Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es darauf an,
dass man sie hat, nicht darauf, aus welchem Antriebe
man sie gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden
hat. Haben die Freigeister Recht, so haben die ge-
bundenen Geister Unrecht, gleichgültig, ob die ersteren
aus Unmoralität zur Wahrheit gekommen sind, die an-
deren aus Moralität bisher an der Unwahrheit festge-
halten haben. — Übrigens gehört es nicht zum Wesen
des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern
vielmehr dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst
hat, sei es mit Glück oder mit einem Misserfolge. Für
gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder min-
destens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite
haben: er fordert Gründe, die Anderen Glauben.
226.
Herkunft des Glaubens. — Der gebundene Geist
nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus
Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die
Einsicht in die verschiednen Religionen und die Wahl
zwischen ihnen gehabt hätte, er ist Engländer, nicht weil
21
er sich für England entschieden hat. sondern er fand das
Christenthum und das Engländerthum vor und nahm sie
an ohne Gründe, wie Jemand, der in einem Weinlande
geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später, als er
Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige
Gründe zu Gunsten seiner Gewöhnung ausfindig ge-
macht; man mag diese Gründe umwerfen, damit wirft
man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man
nöthige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine
Gründe gegen die Bigamie vorzubringen, dann wird man
erfahren, ob sein heiliger Eifer für die Monogamie auf
Gründen oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung
geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.
227.
Aus den Folgen auf Grund und Ungrund
zurückgeschlossen. — Alle Staaten und Ordnungen
der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung, das
Recht, alles diess hat seine Kraft und Dauer allein in
dem Glauben der gebundenen Geister an sie» — also in
der Abwesenheit der Gründe, mindestens in der Abwehr
des Fragens nach Gründen. Das wollen die gebundenen
Geister nicht gern zugeben und sie fohlen wohl, dass es
ein pudendum ist. Das Christenthum, das sehr unschuldig
in seinen intellectuellen Einfällen war, merkte von diesem
pudendum Nichts, forderte Glauben und Nichts als
Glauben und wies das Verlangen nach Gründen mit
Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens
hin: ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon spüren,
deutete es an, ihr sollt durch ihn selig werden. That-
sächlich verfährt der Staat ebenso, und jeder Vater erzieht
in gleicher Weise seinen Sohn: halte diess nur für wahr,
— 2l6 —
sagt er, du wirst spüren, wie gnt diess thut. Diess be-
deutet aber, dass aus dem persönlichen Nutzen, den
eine Meinung einträgt, ihre Wahrheit erwiesen werden
soll; die Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellec-
tuelle Sicherheit und Begründetheit Gewähr leisten. Es
ist diess so, wie wenn der Angeklagte vor Gericht
spräche; mein Vertheidiger sag^ die ganze Wahrheit,
denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde
freigesprochen. — Weil die gebundenen Geister ihre
Grundsätze ihres Nutzens wegen haben, so vermuthen
sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten
ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das für wahr
halte, was ihm gerade frommt. Da ihm aber das Ent-
gegengesetzte von dem zu nützen scheint, was seinen
Landes- oder Standesgenossen nützt, so nehmen diese
an, dass seine Grundsätze ihnen gefährlich sind; sie
sagen oder fühlen: er darf nicht Recht haben, denn er
ist uns schädlich.
228.
Der starke, gute Charakter. — Die Gebundenheit
der Ansichten, durch Gewöhnung zum Instinct geworden,
führt zu Dem, was man Charakterstärke nennt. Wenn
Jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Mo-
tiven handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse
Energie; stehen diese Handlungen im Einklänge mit
den Grundsätzen der gebundenen Geister, so werden sie
anerkannt und erzeugen nebenbei in Dem, der sie thut,
die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive,
energisches Handeln und gutes Gewissen machen Das
aus, was man Charakterstärke nennt. Dem Charakter-
starken fehlt die Kenntniss der vielen Möglichkeiten und
Richtungen des Handelns; sein Intellect ist unfrei, ge-
— 217 —
bunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht
nur zwei Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen muss er
jetzt, gemäss seiner ganzen Natur, mit Nothwendigkeit
wählen, und er thut diess leicht und schnell, weil er
nicht zwischen fünfzig Möglichkeiten zu wählen hat Die
erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen,
indem sie ihm immer die geringste Zahl von Möglich-
keiten vor Augen stellt. Das Individuum wird von seinen
Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei,
aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der
Mensch zunächst als etwas Unbekanntes , nie Dage-
wesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem
gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an
einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch
das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite
der gebundenen Geister stellt, bekundet es zuerst seinen
erwachenden Gemeinsinn; auf der Grundlage dieses Ge-
meinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande
nützhch.
229.
Maass der Dinge bei den gebundenen
Geistern. — Von vier Gattungen der Dinge sagen die
gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle
Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens:
alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen, sind im Recht;
drittens: alle Dinge, welche uns Vortheil bringen, sind
im Recht; viertens: alle Dinge, für welche wir Opfer
gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum
Beispiel, wesshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes
begonnen wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, so-
bald erst Opfer gebracht sind. — Die Freigeister, welche
ihre Sache vor dem Forum der gebundenen Geister
— 2l8 —
führen, haben nachzuweisen, dass es immer Freigeister
gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat, so-
dann, dass sie nicht lästig fallen wollen, und endlich,
dass sie den gebundenen Geistern im Ganzen Vortheil
bringen ; aber weil sie von diesem Letzten die gebundenen
Geister nicht überzeugen können, nützt es ihnen nichts,
den ersten und zweiten Punkt bewiesen zu haben.
230.
Esprit fort. — Verglichen mit Dem, welcher das
Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gründe für
sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach,
namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive
und Gesichtspunkte und hat desshalb eine unsichere,
ungeübte Hand. Welche Mittel giebt es nun, um ihn
doch verhältnissmässig stark zu machen, so dass er
sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu
Grunde geht? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort)?
Es ist diess in einem einzelnen Falle die Frage nach der
Erzeugung des Genius. Woher kommt die Energie, die
unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher der Ein-
zelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle
Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet?
231.
Die Entstehung des Genie's. — Der Witz des
Gefangenen, mit welchem er nach Mitteln zu seiner Be-
freiung sucht, die kaltblütigste und langwierigste Be-
nützung jedes kleinsten Vortheils kann lehren, welcher
Handhabe sich mitunter die Natur bedient, um das Genie
— ein Wort, das ich bitte, ohne allen mythologischen
219 —
und religiösen Beigeschmack zu verstehen — zu Stande
zu bringen: sie fängt es in einen Kerker ein und reizt
seine Begierde, sich zu befreien, auf das äusserste. —
Oder mit einem anderen Bilde: Jemand, der sich auf
seinem Wege im Walde völlig verirrt hat, aber mit un-
gemeiner Energie nach irgend einer Richtung hin in's
Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen
Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man
Originalität nachrühmt. — Es wurde schon erwähnt, dass
eine Verstümmelung, Verkrüppelung , ein erheblicher
Mangel eines Organs häufig die Veranlassung dazu giebt,
dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut entwickelt,
weil es seine eigene Function und noch eine andere zu
versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher glän-
zenden Begabung zu errathen. — Aus diesen allge-
meinen Andeutungen über die Entstehung des Genius
mache man die Anwendung auf den speciellen Fall, die
Entstehung des vollkommenen Freigeistes.
232.
Vermuthung über den Ursprung der P>ei-
geisterei. — Ebenso wie die Gletscher zunehmen, wenn
in den Äquatorialgegenden die Sonne mit grösserer Gluth
als früher auf die Meere niederbrennt, so mag auch
wohl eine sehr starke, um sich greifende Freigeisterei
Zeugniss dafür sein, dass irgendwo die Gluth der Em-
pfindung ausserordentlich gewachsen ist
233-
Die Stimme der Geschichte. — Im Allgemeinen
scheint die Geschichte über die Erzeugung des Genius
220 —
folgende Belehrung zu geben: Misshandelt und quält die
Menschen — so ruft sie den Leidenschaften Neid, Hass
und Wetteifer zu — treibt sie zum Äussersten, den Einen
wider den Andern, das Volk gegen das Volk, und zwar
durch Jahrhunderte hindurch! Dann flammt vielleicht,
gleichsam aus einem bei Seite fliegenden Funken der
dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf Ein Mal das
Licht des Genius empor; der Wille, wie ein Ross durch
den Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus
und springt auf ein anderes Gebiet über. — Wer zum
Bewusstsein über die Erzeugung des Genius käme und
die Art, wie die Natur gewöhnlich dabei verfährt, auch
praktisch durchführen wollte, würde gerade so böse und
rücksichtslos wie die Natur sein müssen. — Aber viel-
leicht haben wir uns verhört.
234-
Werth der Mitte des Wegs. — Vielleicht ist
die Erzeugung des Genius nur einem begrenzten Zeit-
räume der Menschheit vorbehalten. Denn man darf von
der Zukunft der Menschheit nicht zugleich alles Das er-
warten, was ganz bestimmte Bedingungen irgend welcher
Vergangenheit allein hervorzubringen vermochten; zum
Beispiel nicht die erstaunlichen Wirkungen des religiösen
Gefühls. Dieses selbst hat seine Zeit gehabt und vieles
sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus
ihm wachsen konnte. So wird es nie wieder einen reli-
giös umgrenzten Horizont des Lebens und der Cultur
geben. Vielleicht ist selbst der Typus des Heiligen nur
bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes möglich,
mit der es, wie es scheint, für alle Zukunft vorbei ist
Und so ist die Höhe der Intelligenz vielleicht einem ein-
— 221
zelnen Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen: sie
trat hervor — und tritt hervor, denn wir leben noch in
diesem Zeitalter, — als eine ausserordentliche, lang an-
gesammelte Energie des Willens sich ausnahmsweise auf
geistige Ziele durch Vererbung übertrug. Es wird
mit jener Höhe vorbei sein, wenn diese Wildheit und
Energie nicht mehr gross gezüchtet werden. Die Mensch-
heit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der
mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele
näher als am Ende. Es könnten Kräfte, durch welche
zum Beispiel die Kunst bedingt ist, geradezu aussterben;
die Lust am Lügen, am Ungenauen, am Symbolischen,
am Rausche, an der Ekstase könnte in Missachtung
kommen. Ja, ist das Leben erst im vollkommenen Staate
geordnet, so ist aus der Gegenwart gar kein Motiv zur
Dichtung mehr zu entnehmen, und es würden allein die
zurückgebliebenen Menschen sein, welche nach dichter-
ischer Unwirklichkeit verlangten. Diese würden dann
jedenfalls mit Sehnsucht rückwärts schauen, nach den
Zeiten des unvollkommenen Staates, der halb-barbarischen
Gesellschaft, nach unseren Zeiten.
235.
Genius und idealer Staat in Widerspruch. —
Die Socialisten begehren für möglichst Viele ein Wohl-
leben herzustellen. Wenn die dauernde Heimath dieses
Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht
wäre, so würde durch dieses Wohlleben der Erdboden,
aus dem der grosse Intellect und überhaupt das mächtige
Individuum wächst, zerstört sein: ich meine die starke
Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden sein,
wenn dieser Staat erreicht ist, um den Genius noch er-
222
zeugen zu können. Alüsste man somit nicht wünschen,
dass das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte
und dass immer von Neuem wieder wilde Kräfte und
Energien hervorgerufen würden? Nun will das warme,
mitfühlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewalt-
samen und wilden Charakters, und das wärmste Herz,
das man sich denken kann, würde eben darnach am
leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade seine
Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charak-
ter des Lebens ihr Feuer, ihre Wärme, ja ihre Existenz
genommen hat; das wärmste Herz will also Beseitigung
seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heisst
doch: es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent.
Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können
nicht in Einer Person beisammen sein, und der Weise,
welcher über das Leben das Urtheil spricht, stellt sich
auch über die Güte und betrachtet diese nur als Etwas,
das bei der Gesammtrechnung des Lebens mit abzu-
schätzen ist. Der Weise muss jenen ausschweifenden
Wünschen der unintelligenten Güte widerstreben, weil
ihm an dem Fortleben seines Typus und an dem end-
lichen Entstehen des höchsten Intellects gelegen ist;
mindestens wird er der Begründung des „vollkommenen
Staates" nicht förderlich sein, insofern in ihm nur ermattete
Individuen Platz haben. Christus dagegen, den wir uns
einmal als das wärmste Herz denken wollen , förderte
die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite
der geistig Armen und hielt die Erzeugung des grössten
Intellectes auf: und diess war consequent. Sein Gegen-
bild, der vollkommene Weise — diess darf man wohl
vorhersagen — wird ebenso nothwendig der Erzeugung
eines Christus hinderlich sein. — Der Staat ist eine kluge
Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegen ein-
- 223 —
ander: übertreibt man seine Veredelung, so wird zuletzt
das Individuum durch ihn geschwächt, ja aufgelöst —
also der ursprüngliche Zweck des Staates am gründ-
lichsten vereitelt
236.
Die Zonen der Cultur. — Man kann gleichniss-
weise sagen, dass die Zeitalter der Cultur den Gürteln
der verschiedenen Klimata entsprechen, nur dass diese
hinter einander und nicht, wie die geographischen Zonen,
neben einander liegen. In Vergleich mit der gemässigten
Zone der Cultur , in welche überzugehen unsere Aufgabe
ist, macht die vergangene im Ganzen Grossen den Ein-
druck eines tropischen Klima's. Gewaltsame Gegen-
sätze, schroffer Wechsel von Tag und Nacht, Gluth und
Farbenpracht, die Verehrung alles Plötzlichen Geheim-
nissvollen Schrecklichen, die Schnelligkeit der herein-
brechenden Unwetter, überall das verschwenderische
Überströmen der Füllhörner der Natur: und dagegen,
in unserer Cultur, ein heller, doch nicht leuchtender
Himmel, reine ziemlich gleich verbleibende Luft, Schärfe,
ja Kälte gelegentlich: so heben sich beide Zonen gegen
einander ab. Wenn wir dort sehen, wie die wüthendsten
Leidenschaften durch metaphysische Vorstellungen mit
unheimlicher Gewalt niedergerungen und zerbrochen wer-
den, so ist es uns zu Muthe, als ob vor unseren Augen
in den Tropen wilde Tiger unter den Windungen unge-
heurer Schlangen zerdrückt würden ; unserem geistigen
Klima fehlen solche Vorkommnisse, unsre Phantasie ist
gemässigt, selbst im Traume kommt uns Das nicht bei,
was frühere Völker im Wachen sahen. Aber sollten wir
über diese Veränderung nicht glücklich sein dürfen, selbst
zugegeben, dass die Künstler durch das Verschwinden
— 224 —
der tropischen Cultur wesentlich beeinträchtigt sind und
uns Nicht-Künstler ein wenig zu nüchtern finden? Inso-
fern haben Künstler wohl das Recht, den „Fortschritt"
zu leugnen, denn in der That: ob die letzten drei Jahr-
tausende in den Künsten einen fortschreitenden Verlauf
zeigen, das lässt sich mindestens bezweifeln; ebenso wird
ein metaphysischer Philosoph wie Schopenhauer keinen
Anlass haben den Fortschritt zu erkennen, wenn er die
letzten vier Jahrtausende in Bezug auf metaphysische
Philosophie und Religion überblickt. — Uns gilt aber
die Existenz der gemässigten Zone der Cultur selbst
als Fortschritt.
237-
Renaissance und Reformation. — Die italiä-
nische Renaissance barg in sich alle die positiven Ge-
walten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also
Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten,
Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, Be-
geisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche
Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Indivi-
duums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und Abneigung
gegen Schein und blossen Effect (welche Gluth in einer
ganzen Fülle künstlerischer Charaktere hervorloderte, die
Vollkommenheit in ihren Werken und Nichts als Voll-
kommenheit mit höchster sittlicher Reinheit von sich
forderten); ja die Renaissance hatte positive Kräfte,
welche in unserer bisherigen modernen Cultur noch
nicht wieder so mächtig geworden sind. Es war das
goldene Zeitalter dieses Jahrtausends, trotz allen Flecken
und Lastern. Dagegen hebt sich nun die deutsche Refor-
mation ab als ein energischer Protest zurückgebliebener
Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch
— 225 —
keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung,
die ausserordentliche Verflachung und Veräusserlichung
des religiösen Lebens, statt mit Frohlocken, wie sich
gebührt, mit tiefem Unmuthe empfanden. Sie warfen mit
ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen
wieder zurück , erzwangen die Gegenreformation , das
heisst ein katholisches Christenthum der Nothwehr, mit
den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes, und
verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das
völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften, als
sie das völlige In-Eins- Verwachsen des antiken und des
modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten.
Die grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu
Ende gebracht werden, der Protest des inzwischen zurück-
gebliebenen deutschen Wesens (welches im Mittelalter
Vernunft genug gehabt hatte , um immer und immer
wieder zu seinem Heile über die Alpen zu steigen)
verhinderte diess. Es lag in dem Zufall einer ausser-
ordentlichen Constellation der Politik, dass damals Luther
erhalten blieb und jener Protest Kraft gewann: denn
der Kaiser schützte ihn, um seine Neuerung gegen den
Papst als Werkzeug des Druckes zu verwenden, und
ebenfalls begünstigte ihn im Stillen der Papst, um die
protestantischen Reichsfürsten als Gegengewicht gegen
den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammen-
spiel der Absichten wäre Luther verbrannt worden wie
Huss — und die Morgenröthe der Aufklärung vielleicht
etwas früher und mit schönerem Glänze, als wir jetzt
ahnen können, aufgegangen.
238.
Gerechtigkeit gegen den werdenden Gott
— Wenn sich die ganze Geschichte der Cultur vor den
Nietzsche. Wprkp B.in I H. [p
226
Blicken aufthut, als ein Gewirr von bösen und edlen,
wahren und falschen Vorstellungen, und es Einem beim
Anblick dieses Wellenschlags fast seekrank zu Muthe
wird, so begreift man, was für ein Trost in der Vorstellung
eines werdenden Gottes liegt: dieser enthüllt sich
immer mehr in den Verwandlungen und Schicksalen
der Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinn-
und zweckloses Durcheinanderspielen von Kräften. Die
Vergottung des Werdens ist ein metaphysischer Aus-
blick — gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere
der Geschichte herab — , an welchem eine allzuviel
historisirende Gelehrtengeneration ihren Trost fand; dar-
über darf man nicht böse werden, so irrthümlich jene
Vorstellung auch sein mag. Nur wer wie Schopenhauer
die Entwicklung leugnet, fühlt auch Nichts von dem
Elend dieses historischen Wellenschlags und darf dess-
halb, weil er von jenem werdenden Gotte und dem
Bedürfniss seiner Annahme Nichts weiss, Nichts fühlt,
billigerweise seinen Spott auslassen.
239.
Die Früchte nach der Jahreszeit. — Jede bessere
Zukunft, welche man der Menschheit anwünscht, ist noth-
wendi gerweise auch in manchem Betracht eine schlechtere
Zukunft: denn es ist Schwärmerei zu glauben, dass eine
höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge
früherer Stufen in sich vereinigen werde und zum Bei-
spiel auch die höchste Gestaltung der Kunst erzeugen
müsse. Vielmehr hat jede Jahreszeit ihre Vorzüge und
Reize für sich und schliesst die der anderen aus. Das,
was aus der Religion und in ihrer Nachbarschaft ge-
wachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese
227
zerstört ist; höchstens können verirrte, spät kommende
Absenker zur Täuschung darüber verleiten, ebenso wie
die zeitweilig ausbrechende Erinnerung an die alte Kunst:
ein Zustand, der wohl .das Gefühl des Verlustes, der
Entbehnmg verräth, aber kein Beweis für die Kraft ist,
aus der eine neue Kunst geboren werden könnte.
240.
Zunehmende Severität der Welt — Je höher
die Cultur eines Menschen steigt, um so mehr Gebiete
entziehen sich dem Scherze, dem Spotte. Voltaire war
für die Erfindung der Ehe und der Kirche von Herzen
dem Himmel dankbar: als welcher damit so gut für
unsere Aufheiterung gesorgt habe. Aber er und seine
Zeit, und vor ihm das sechzehnte Jahrhundert, haben
diese Themen zu Ende gespottet; es ist Alles, was jetzt
Einer auf diesem Gebiete noch witzelt, verspätet und
vor Allem gar zu wohlfeil, als dass es die Käufer be-
gehrlich machen könnte. Jetzt fragt man nach den
Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes. Wem liegt
jetzt noch daran, die Differenzen zwischen Wirklichkeit
und anspruchsvollem Schein, zwischen dem, was der
Mensch ist und was er vorstellen will, in scherzhaftem
Lichte zu sehen; das Gefühl dieser Contraste wirkt als-
bald ganz anders, wenn man nach den Grründen sucht.
Je gründUcher Jemand das Leben versteht, um so weniger
wird er spotten, nur dass er zuletzt vielleicht noch über
die „Gründlichkeit seines Verstehens" spottet
241.
Genius der Cultur. — Wenn Jemand einen Genius
der Cultur imaginiren wollte, wie würde dieser beschaffen
»5*
— 228 —
sein? Er handhabt die Lüge, die Gewalt, den rücksichts-
losesten Eigennutz so sicher als seine Werkzeuge, dciss
er nur ein böses dämonisches Wesen zu nennen wäre;
aber seine Ziele, welche hier und da durchleuchten, sind
gross und gut. Es ist ein Centaur, halb Thier, halb
Mensch, und hat noch Engelsflügel dazu am Haupte.
242.
Wunder-Erziehung. — Das Interesse an der Er-
ziehung wird erst von dem Augenblick an grosse Stärke
bekommen, wo man den Glauben an einen Gott und
seine Fürsorge aufgiebt: ebenso wie die Heilkunst erst
erblühen konnte, als der Glaube an Wunderkuren auf-
hörte. Bis jetzt glaubt aber alle Welt noch an die
Wunder -Erziehung: aus der grössten Unordnung, Ver-
worrenheit der Ziele, Ungunst der Verhältnisse sah man
ja die fruchtbarsten mächtigsten Menschen erwachsen:
wie konnte diess doch mit rechten Dingen zugehen? —
Jetzt wird man bald auch in diesen Fällen näher zu-
sehen, sorgsamer prüfen: Wunder wird man dabei
niemals entdecken. Unter gleichen Verhältnissen gehen
fortwährend zahlreiche Menschen zu Grunde, das ein-
zelne gerettete Individuum ist dafür gewöhnlich stärker
geworden, weil es diese* schlimmen Umstände vermöge
unverwüstlicher eingeborener Kraft ertrug und diese
Kraft noch geübt und vermehrt hat: so erklärt sich das
Wunder. Eine Erziehung, welche an kein Wunder mehr
glaubt, wird auf dreierlei zu achten haben: erstens, wie
viel Energie ist vererbt? zweitens, wodurch kann noch
neue Energie entzündet werden? drittens, wie kann das
Individuum jenen so überaus vielartigen Ansprüchen der
Cultur angepasst werden, ohne dass diese es beunruhigen
■ - 229 —
und seine Einartigkeit zersplittern — kurz, wie kann
das Individuum in den Contrapunkt der privaten und
öffentlichen Cultur eingereiht werden, wie kann es zu-
gleich die Melodie führen und als Melodie begleiten?
243-
Die Zukunft des Arztes. — Es giebt jetzt keinen
Beruf, der eine so hohe Steigerung zuliesse, wie der des
Arztes; namentlich nachdem die geistlichen Ärzte, die
sogenannten Seelsorger, ihre Beschwöiningskünste nicht
mehr unter öffentlichem Beifalle treiben dürfen und ein
Gebildeter ihnen aus dem Wege geht. Die höchste
geistige Ausbildung eines Arztes ist jetzt nicht erreicht,
wenn er die besten neuesten Methoden kennt und auf
sie eingeübt ist und jene fliegenden Schlüsse von Wir-
kungen auf Ursachen zu machen versteht, derentwegen
die Diagnostiker berühmt sind; er muss ausserdem eine
Beredsamkeit haben, die sich jedem Individuum anpasst
und ihm das Herz aus dem Leibe zieht, eine Männlich-
keit, deren Anblick schon den ICleinmuth (den Wurmfrass
aller Kranken) verscheucht, eine Diplomaten-Geschmeidig-
keit im Vermitteln zwischen Solchen, welche Freude zu
ihrer Genesung nöthig haben und Solchen, die aus Ge-
sundheitsgründen Freude machen müssen (und es können),
die Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die Ge-
heimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu ver-
rathen, — kurz ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunst-
griffe und Kunstvorrechte aller anderen Berufsclassen : so
ausgerüstet ist er dann im Stande, der ganzen Gesell-
schaft ein Wohlthäter zu werden, durch Vermehrung
guter Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch
Verhütung von bösen Gedanken Vorsätzen Schurkereien
— 230 —
(deren ekler Quell so häufig der Unterleib ist), durch
Herstellung einer geistig-leiblichen Aristokratie (als Ehe-
stifter und Eheverhinderer), durch wohlwollende Ab-
schneidung aller sogenannten Seelenqualen und Ge-
wissensbisse: so erst wird er aus einem „Medicinmann"
ein Heiland und braucht doch keine Wunder zu thun;
hat auch nicht nöthig, sich kreuzigen zu lassen.
244.
In der Nachbarschaft des Wahnsinns. — Die
Summe der Empfindungen Kenntnisse Erfahrungen, also
die ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass
eine Überreizung der Nerven- und Denkkräfte die all-
gemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der
europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast
jede ihrer grösseren Familien in einem Gliede dem Irr-
sinn nahe gerückt ist. Nun kommt man zwar der Ge-
sundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in der
Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung
des Gefühls, jener niederdrückenden Cultur- Last von
Nöthen, welche, wenn sie selbst mit schweren Einbussen
erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen Hoffnung
einer neuen Renaissance Spielraum giebt. Man hat
dem Christenthum , den Philosophen Dichtern Musikern
eine Überfülle tief erregender Empfindungen zu danken:
damit diese uns nicht überwuchern, müssen wir den Geist
der Wissenschaft beschwören, welcher im Ganzen etwas
kälter und skeptischer macht und namentlich den Gluth-
strom des Glaubens an letzte endgültige Wahrheiten ab-
kühlt; er ist vornehmlich durch das Christenthum so wild
geworden.
231
245-
Glockenguss der Cultur. — Die Cultur ist ent-
standen wie eine Glocke, innerhalb eines Mantels von
gröberem gemeinen Stoffe: Unwahrheit Gewaltsamkeit,
unbegrenzte Ausdehnung aller einzelnen Ich's, aller
einzelnen Völker, waren dieser Mantel. Ist es an der
Zeit, ihn jetzt abzunehmen? Ist das Flüssige erstarrt,
sind die guten nützlichen Triebe, die Gewohnheiten des
edleren Gemüthes so sicher und allgemein geworden,
dass es keiner Anlehnung an Metaphysik und die Irr-
thümer der Religionen mehr bedarf, keiner Härten und
Gewaltsamkeiten als mächtigster Bindemittel zwischen
Mensch und Mensch, Volk und Volk? — Zur Beant-
wortung dieser Frage ist kein Wink eines Gottes uns
mehr hülfreich: unsere eigne Einsicht muss da ent-
scheiden. Die Erdregierung des Menschen im Grossen
hat der Mensch selber in die Hand zu nehmen, seine
„Allwissenheit" muss über dem weiteren Schicksal der
Cultur mit scharfem Auge wachen.
246. •
Die Cyclopen der Cultur. — Wer jene zerfurchten
Kessel sieht, in denen Gletscher gelagert haben, hält es
kaum für möglich, dass eine Zeit kommt, wo an der-
selben Stelle ein Wiesen- und Waldthal mit Bächen darin
sich hinzieht. So ist es auch in der Geschichte der
^lenschheit; die wildesten Kräfte brechen Bahn, zunächst
zerstörend, aber trotzdem war ihre Thätigkeit nöthig,
damit später eine mildere Gesittung hier ihr Haus auf-
schlage. Die schrecklichen Energien — Das, was man
das Böse nennt — sind die cyclopischen Architekten
und Wegebauer der Humanität.
232
247-
Kreislauf des Menschenthums. — Vielleicht
ist das ganze Menschthum nur eine Entwicklungsphase
einer bestimmten Thierart von begrenzter Dauer: so
dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und
wieder zum Affen werden wird, während Niemand da
ist, der an diesem verwunderlichen Komödien -Ausgang
irgend ein Interesse nehme. So wie mit dem Verfallo
der römischen Cultur und seiner wichtigsten Ursache, der
Ausbreitung des Christenthums, eine allgemeine Verhäss-
lichung des Menschen innerhalb des römischen Reiches
überhand nahm, so könnte auch durch den einstmaligen
Verfall der allgemeinen Erdcultur eine viel höher ge-
steigerte Verhässlichung und endlich Verthierung des
Menschen, bis in's Affenhafte, herbeigeführt werden. —
Gerade weil wir diese Perspective in's Auge fassen
können, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen
Ende der Zukunft vorzubeugen.
• 248.
Trostrede eines desperaten Fortschritts. —
Unsere Zeit macht den Eindruck eines Interim-Zustandes ;
die alten Weltbetrachtungen, die alten Culturen sind noch
theilweise vorhanden, die* neuen noch nicht sicher und
gewohnheitsmässig und daher ohne Geschlossenheit und
Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch würde,
das Alte verloren gienge, das Neue nichts tauge und
immer schwächlicher werde. Aber so geht es dem Sol-
daten, welcher marschieren lernt: er ist eine Zeit lang
unsicherer und unbeholfener als je, weil die Muskeln
bald nach dem alten System bald nach dem neuen be-
— 233 —
wegt werden und noch keins entscliieden den Sieg be-
hauptet. Wir schwanken, aber es ist nötlüg, dadurch
nicht ängstlich zu werden und das Neu-Errungene etwa
preiszugeben. Überdiess können wir in's Alte nicht
zurück, wir haben die Schiffe verbrannt; es bleibt nur
übrig, tapfer zu sein , mag nun dabei diess oder jenes
herauskommen. — Schreiten wir nur zu, kommen wir
nur von der Stelle! Vielleicht sieht sich unser Gebahren
doch einmal wie Fortschritt an; wenn aber nicht, so
mag Friedrich's des Grossen Wort auch zu uns gesagt
sein und zwar zum Tröste: Ak, mon eher Sulzer, vous
ne connaissez pas assez cette race maudite, ä laquelle
nous appartenons.
249.
An der Vergangenheit der Cultur leiden. —
Wer sich das Problem der Cultur klar gemacht hat,
leidet dann an einem ähnlichen Gefühle wie Der, welcher
einen durch unrechtmässige Mittel erworbenen Reich-
thum ererbt hat, oder wie der Fürst, der durch Gewalt-
that seiner Vorfahren regiert. Er denkt mit Trauer an
seinen Ursprung und ist oft beschämt, oft reizbar. Die
ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche
er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft mit einer
tiefen Müdigkeit: er kann seinen Ursprung nicht ver-
gessen. Die Zukunft sieht er wehmüthig an: seine Nach-
kommen, er weiss es voraus, werden an der Vergangenheit
leiden wie er.
250.
Manieren. — Die guten Manieren verschwinden in
dem Maasse, in welchem der Einfluss des Hofes und einer
abgeschlossenen Aristokratie nachlässt; man kann diese
— 234 —
Abnahme von Jahrzehend zujahrzehend deutlich beobachten,
wenn man ein Auge für die öffentlichen Acte hat: als
welche ersichtlich immer pöbelhafter werden. Niemand
versteht mehr, auf geistreiche Art zu huldigen und zu
schmeicheln; daraus ergiebt sich die lächerliche Thatsachc,
dass man in Fällen, wo man gegenwärtig Huldigungen
darbringen muss (zum Beispiel einem grossen Staats-
manne oder Künstler), die Sprache des tiefsten Gefülils,
der treuherzigen ehrenfesten Biederkeit borgt — aus
Verlegenheit und Mangel an Geist und Grazie. So er-
scheint die öffentliche festliche Begegnung der IVIenschen
immer ungeschickter, aber gefühlvoller und biederer,
ohne diess zu sein. — Sollte es aber mit den Manieren
immerfort bergab gehen? Es scheint mir vielmehr, dass
die Manieren eine tiefe Curve machen und wir uns
ihrem niedrigsten Stande nähern. Wenn erst die Ge-
sellschaft ihrer Absichten und Principien sicherer ge-
worden ist, so dass diese formbildend wirken (während
jetzt die angelernten Manieren früherer formenbiidender
Zustände immer schwächer vererbt und angelernt werden),
so Avird es Manieren des Umgangs, Gebärden und Aus-
drücke des Verkehrs geben, welche so nothwendig und
schhcht natürlich erscheinen müssen, als es diese Ab-
sichten und Principien sind. Die bessere Vertheilung
der Zeit und Arbeit, die zur Begleiterin jeder schönen
Mussezeit umgewandelte gymnastische Übung, das ver-
mehrte und strenger gewordene Nachdenken, welches
selbst dem Körper Klugheit und Geschmeidigkeit giebt,
bringt diess Alles mit sich. — Hier könnte man nun
freilich mit einigem Spotte unserer Gelehrten gedenken,
ob denn sie, die doch Vorläufer jener neuen Cultur sein
wollen, sich in der That durch bessere Manieren aus-
zeichnen? Es ist diess wohl nicht der Fall, obgleich ihr
Geist willig genug dazu sein mag: aber ihr Fleisch ist
schwach. Die Vergangenheit derCultur ist noch zu mächtig
in ihren Muskeln: sie stehen noch in einer unfreien Stel-
lung und sind zur Hälfte weltliche Geistliche, zur Hälfte
abhängige Erzieher vornehmer Leute und Stände, und
überdiess durch Pedanterie der Wissenschaft, durch ver-
altete geistlose Methoden verkrüppelt und unlebendig
gemacht. Sie sind also, jedenfalls ihrem Körper nach
und oft auch zu Dreiviertel ihres Geistes, immer noch
die Höflinge einer alten, ja greisenhaften Cultur und als
solche selber greisenhaft; der neue Geist, der gelegentüch
in diesen alten Gehäusen rumort, dient einstweilen nur
dazu, sie unsicherer und ängstlicher zu machen. In ihnen
gehen sowohl die Gespenster der Vergangenheit als
die Gespenster der Zukunft um: was Wunder, wenn sie
dabei nicht die beste Miene machen, nicht die gefälligste
Haltung haben?
251.
Zukunft der Wissenschaft. — Die Wissenschaft
giebt Dem, welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Ver-
gnügen, Dem, welcher ihre Ergebnisse lernt, sehr we-
nig. Da allmähUch aber alle wichtigen Wahrheiten der
Wissenschaft alltäghch und gemein werden müssen, so
hört auch dieses wenige Vergnügen auf: so wie wir
beim Lernen des so bewunderungswürdigen Einmaleins
längst aufgehört haben, uns zu freuen. Wenn nun die
Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht
und immer mehr Freude, durch Verdächtigung der tröst-
Hchen Metaphysik Religion und Kunst, nimmt: so ver-
armt jene grösste Quelle der Lust, welcher die Menschheit
fast ihr gesammtes Menschthum verdankt. Desshalb
muss eine höhere Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn,
— 236 —
gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissen-
schaft, sodann um Nicht -Wissenschaft zu empfinden:
neben einander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, ab-
schliessbar; es ist diess eine Forderung der Gesundheit.
Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der
Regulator: mit Illusionen Einseitigkeiten Leidenschaften
muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissen-
schaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen
einer Überheizung vorgebeugt werden. — Wird dieser
Forderung der höheren Cultur nicht genügt, so ist der
weitere Verlauf der menschlichen Entwicklung fast mit
Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren
hört auf, je weniger es Lust gewährt; die Illusion, der
Irrthum, die Phantastik erkämpfen sich Schritt um Schritt,
weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaup-
teten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurück-
sinken in Barbarei ist die nächste Folge; von Neuem
muss die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu
weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des Nachts zer-
stört hat. Aber wer bürget uns dafür, dass sie immer
wieder die ICraft dazu findet?
252.
Die Lust am Erkennen. — Wesshalb ist das Er-
kennen, das Element des Forschers und Philosophen, mit
Lust verknüpft? Erstens und vor Allem, weil man sich
dabei seiner ICraft bewusst wird, also aus demselben
Grunde, aus dem gymnastische Übungen, auch ohne Zu-
schauer, lustvoll sind. Zweitens, weil man, im Verlauf
der Erkenntniss, über ältere Vorstellungen und deren
Vertreter hinauskommt, Sieger wird oder wenigstens es
zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch so
— 257 —
kleine neue Erkenntniss über Alle erhaben und uns
als die Einzigen fühlen, welche hierin das Richtige
wissen. Diese drei Gründe zur Lust sind die wichtigsten,
doch giebt es, je nach der Natur des Erkennenden, noch
viele Nebengründe. — Ein nicht unbeträchtliches Ver-
zeichniss von solchen giebt, an einer Stelle, wo man es
nicht suchen würde, meine paränetische Schrift über
Schopenhauer: mit deren Aufstellungen sich jeder er-
fahrene Diener der Erkenntniss zufrieden geben kann,
sei es auch, dass er den ironischen Anflug, der auf jenen
Seiten zu liegen scheint, weg"wünschen wird. Denn wenn
es wahr ist, dass zum Entstehen des Gelehrten „eine
Menge sehr menschlicher Triebe und Triebchen zu-
sammengegossen werden muss", dass der Gelehrte zwar
ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und „aus einem
verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und
Reize besteht": so gilt doch dasselbe ebenfalls von Ent-
stehung und Wesen des Künstlers Philosophen mora-
lischen Genie's — und wie die in jener Schrift glorificirten
grossen Namen lauten. Alles Menschliche verdient in
Hinsicht auf seine Entstehung die ironische Betrach-
tung: desshalb ist die Ironie in der Welt so überflüssig.
253. ,
Treue als Beweis der Stichhaltigkeit — Es
ist ein vollkommenes Zeichen für die Güte einer Theorie,
wenn ihr Urheber vierzig Jahre lang kein Misstrauen
gegen sie bekommt; aber ich behaupte, dass es noch
keinen Philosophen gegeben hat, welcher auf die Philo-
sophie, die seine Jugend erfand, nicht endlich mit Gering-
schätzung — mindestens mit Argwohn — herabgesehen
hätte. — Vielleicht hat er aber nicht öfientlich von dieser
— 238 —
Umstimmung gesprochen , aus Ehrsucht oder — wie
es bei edlen Naturen wahrscheinlicher ist — aus zarter
Schonung seiner Anhänger.
254.
Zunahme des Interessanten. — Im Verlaufe
der höhern Bildung wird dem Menschen Alles interessant,
er weiss die belehrende Seite einer Sache rasch zu finden
und den Punkt anzugeben, wo eine Lücke seines Den-
kens mit ihr ausgefüllt oder ein Gedanke durch sie be-
stätigt werden kann. Dabei verschwindet immer melir
die Langeweile, dabei auch die übermässige Erregbarkeit
des Gemüths. Er geht zuletzt, wie ein Naturforscher
unter Pflanzen, so unter Menschen herum und nimmt
sich selber als ein Phänomen wahr, welches nur seinen
erkennenden Trieb stark anregt.
255-
Aberglaube im Gleichzeitigen. — Etwas
Gleichzeitiges hängt zusammen, meint man. Ein \'er-
wandter stirbt in der Ferne, zu gleicher Zeit träumen
wir von ihm — also! Aber zahllose Verwandte sterben
und wir träumen nicht" von ihnen. Es ist wie bei den
Schiffbrüchigen, welche Gelübde thun : man sieht später
im Tempel die Votivtafeln Derer, welche zu Grunde
giengen, nicht. — Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt,
eine Uhr steht still, alles in Einer Nachtstunde: sollte da
nicht ein Zusammenhang sein? Eine solche Vertraulich-
keit mit der Natur, wie diese Ahnung sie annimmt,
schmeichelt den Menschen. — Diese Gattung des Aber-
glaubens findet sich in verfeinerter Form bei Historikern
— 239 —
und Culturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen
Nebeneinander, an dem doch das Leben der Einzelnen
und der Völker so reich ist, eine Art Wasserscheu zu
haben pflegen.
256.
Das Können, nicht das Wissen, durch die
Wissenschaft geübt. — Der Werth davon, dass man
zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng betrieben
hat, beruht nicht gerade in deren Ergebnissen: denn
diese werden, im Verhältniss zum IMeere des Wissens-
werthen, ein verschwindend kleiner Tropfen sein. Aber
es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an Schlussver-
mögen , an Zähigkeit der Ausdauer ; man hat gelernt,
einen Zweck zweckmässig zu erreichen. Insofern
ist es sehr schätzbar, in Hinsicht auf Alles, was man
später treibt, einmal ein wissenschaftlicher JMensch ge-
wesen zu sein.
257-
Jugendreiz der Wissenschaft. — Das Forschen
nach Wahrheit hat jetzt noch den Reiz, dass sie sich
überall stark gegen den grau und langweilig gewordenen
Irrthum abhebt; dieser Reiz verliert sich immer mehr.
Jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der
Wissenschaft und pflegen der Wahrheit wie einem
schönen Mädchen nachzugehen; wie aber, wenn sie
eines Tages zum ältlichen, mürrisch blickenden Weibe
geworden ist? Fast in allen Wissenschaften ist die
Grundeinsicht entweder erst in jüngster Zeit gefunden
oder wird noch gesucht; wie anders reizt diess an, als
wenn alles Wesentliche gefunden ist und nur noch eine
kümmerliche Herbstnachlcse dem Forscher übrig bleibt
— 240 —
(welche Empfindung man in einigen historischen Disciplinen
kennen lernen kann).
258.
Die Statue der Menschheit. — Der Genius der
Cultur verfährt wie CeUini, als dieser den Guss seiner
Perseus- Statue machte: die flüssige Masse drohte nicht
auszureichen, aber sie sollte es: so warf er Schüsseln
und Teller und was ihm sonst in die Hände kam, hinein.
Und ebenso wirft jener Genius Irrthümer Laster Hoff-
nungen Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem
wie von edlerem Metalle hinein, denn die Statue der
Menschheit muss herauskommen und fertig werden; was
liegt daran, dass hier und da geringerer Stoff verwendet
wurde ?
259.
Eine Cultur der Männer. — Die griechische
Cultur der classischen Zeit ist eine Cultur der Männer.
Was die Frauen anlangt, so sagt Perikles in der Grabrede
Alles mit den Worten: sie seien am besten, wenn unter
Männern so wenig als möglich von ihnen gesprochen
werde. — Die erotische Beziehung der Männer zu den
Jünglingen war in einem unserem Verständniss unzugäng-
lichen Grade die nothwendige , einzige Voraussetzung
aller männlichen Erziehung (ungefähr wie lange Zeit
alle höhere Erziehung der Frauen bei uns erst durch
die Liebschaft und Ehe herbeigeführt wurde); aller
Idealismus der Kraft der griechischen Natur warf sich
auf jenes Verhältniss , und wahrscheinlich sind junge
Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so
durchaus in Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt
worden wie im sechsten und fünften Jahrhundert — also
— 241 —
gemäss dem schönen Spruche Hölderlin's „denn hebend
giebt der Sterbhche vom Besten". Je höher dieses Ver-
hältniss genommen wurde, um so tiefer sank der Verkehr
mit der Frau: der Gesichtspunkt der Kandererzeugung
und der Wollust — Nichts weiter kam hier in Betracht;
es gab keinen geistigen Verkehr, nicht einmal eine eigent-
liche Liebschaft. Erwägt man femer, dass sie selbst vom
Wettkampfe und Schauspiele jeder Art ausgeschlossen
waren so bleiben nur die rehgiösen Culte als einzige
höhere Unterhaltung der Weiber. — Wenn man nun
allerdings in der Tragödie Elektra und Antigone vor-
führte, so ertrug man diess eben in der Kunst, obschon
man es im Leben nicht mochte: so wie wir jetzt alles
Pathetische im Leben nicht vertragen, aber in der Kunst
gern sehen, — Die Weiber hatten weiter keine Aufgabe
als schöne machtvolle Leiber hervorzubringen, in denen
der Charakter des Vaters möglichst ungebrochen weiter
lebte, und damit der überhand nehmenden Nervenüber-
reizung einer so hochentwickelten Cultur entgegenzu-
wirken. Diess hielt die griechische Cultur verhältniss-
mässig so lange jung; denn in den griechischen Müttern
kehrte immer wieder der griechische Genius zur Natur
zurück.
260.
Das Vorurtheil zu Gunsten der Grösse. — Die
Menschen überschätzen ersichtlich alles Grosse und Her-
vorstechende. Diess kommt aus der bewussten oder un-
bewussten Einsicht her, dass sie es sehr nützlich finden,
wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich
gleichsam Ein monströses Organ macht. Sicherlich ist
dem Menschen selber eine gleichmässige Ausbildung
seiner Kräfte nützlicher und glückbringender; denn jedes
Nietzsche, Werke Band 11. 16
242
Talent ist ein Vampyr, welcher den übrig-en Kräften
Blut und Kraft aussaugt, und eine übertriebene Produc-
tion kann den begabtesten Menschen fast zur Tollheit
bringen. Auch innerhalb der Künste erregen die extremen
Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit; aber es ist
auch eine viel geringere Cultur nöthig, um von ihnen
sich fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich
aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will.
261.
Die Tyrannen des Geistes. — Nur wohin der
Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben der
Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben sich die
griechischen Philosophen eben dieses Mythus: ist es
nicht, als ob sie aus dem Sonnenschein sich in den
Schatten, in die Düsterkeit setzen wollten? Aber keine
Pflanze geht dem Lichte aus dem Wege; im Grunde
suchten jene Philosophen nur eine hellere Sonne, der
Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug
Sie fanden diess Licht in ihrer Erkenntniss, in dem, was
Jeder von ihnen seine „Wahrheit" nannte. Damals aber
hatte die Erkenntniss noch einen grösseren Glanz ; sie
war noch jung und wusste noch wenig von allen
Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade; sie konnte
damals noch hoffen, mit einem einzigen Sprung an den
Mittelpunkt alles Seins zu kommen und von dort aus
das Räthsel der Welt zu lösen. Diese Philosophen hatten
einen handfesten Glauben an sich und ihre „Wahrheit"
und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorgänger
nieder; Jeder von ihnen war ein streitbarer gewaltthätiger
Tyrann. Vielleicht war das Glück im Glauben an den
Besitz der Wahrheit nie grösser in der Welt, aber auch
— 243 —
nie die Härte, der Übermuth, das Tyrannische und Böse
eines solchen Glaubens. Sie waren Tyrannen, also Das,
was jeder Grieche sein wollte und was jeder war, wenn
er es sein konnte. Vielleicht macht nur Solon eine
Ausnahme; in seinen Gedichten sagt er es, wie er die
persönliche Tyrannis verschmäht habe. Aber er that es
aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung;
und Gesetzgeber sein ist eine sublimirtere Form des
Tyrannenthums. Auch Parmenides gab Gesetze, wohl
auch Pythagoras und Empedokles; Anaximander grün-
dete eine Stadt. Plato war der fleischgewordne Wunsch,
der höchste philosophische Gesetzgeber und Staaten-
gTünder zu werden; er scheint schrecklich an der Nicht-
erfüllung seines Wesens gelitten zu haben, und seine
Seele wurde gegen sein Ende hin voll der schwärzesten
Galle. Je mehr das griechische Phüosophenthum an
Macht verlor, um so mehr litt es innerlich durch diese
Galligkeit und Schmähsucht; als erst die verschiedenen
Secten ihre Wahrheiten auf den Strassen verfochten, da
waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch
Eifer- und Geifersucht völlig verschlammt, das tyrannische
Element wüthete jetzt als Gift in ihrem eigenen Körper.
Diese vielen kleinen Tyrannen hätten sich roh fressen
mögen; es war kein Funke mehr von Liebe und allzu-
wenig Freude an ihrer eigenen Erkenntniss in ihnen übrig
geblieben. — Überhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen
meistens ermordet werden und dass ihre Nachkommen-
schaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des Geistes.
Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung
bricht plötzlich ab. Fast von allen grossen Hellenen
kann man sagen, dass sie zu spät gekommen scheinen,
so von Äschylus, von Pindar, von Demosthenes, von
Thukydides; ein Geschlecht nach ihnen — und dann ist
i6*
— 244 —
es immer völlig vorbei. Das ist das Stürmische und
Unheimliche in der griechischen Geschichte. Jetzt zwar
bewundert man das Evangelium der Schildkröte. Ge-
schichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu allen
Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht worden wäre:
„möglichst wenig in möglichst langer Zeit!" Ach, die
griechische Geschichte läuft so rasch! Es ist nie wieder
so verschwenderisch, so maasslos gelebt worden. Ich
kann mich nicht überzeugen, dass die Geschichte der
Griechen jenen natürlichen Verlauf genommen habe,
der so an ihr gerühmt wird. Sie waren viel zu mannich-
fach begabt dazu, um in jener schrittweisen Manier
allmählich zu sein, wie es die Schildkröte im Wettlauf
mit Achilles ist: und das nennt man ja natürhche Ent-
wicklung. Bei den Griechen geht es schnell vorwärts,
aber eben so schnell abwärts; die Bewegung der ganzen
Maschine ist so gesteigert, dass ein einziger Stein, in ihre
Räder geworfen , sie zerspringen macht. Ein solcher
Stein war zum Beispiel Sokrates; in einer Nacht war die
bis dahin so wunderbar regelmässige, aber freihch allzu
schleunige Entwicklung der philosophischen Wissenschaft
zerstört. Es ist keine müssige Frage, ob nicht Plato,
von der sokratischen Verzauberung frei geblieben, einen
noch höheren Typus des philosophischen Menschen ge-
funden hätte, der uns auf immer verloren ist. Man sieht
in die Zeiten vor ihm wie in eine Bildner -Werkstätte
solcher Typen hinein. Das sechste und fünfte Jahrhundert
scheint aber doch noch mehr und Höheres zu verheissen,
als es selber hervorgebracht hat; aber es blieb bei dem
Verheissen und Ankündigen. Und doch giebt es kaum
einen schwereren Verlust als den Verlust eines Typus,
einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten
Möglichkeit des philosophischen Lebens. Selbst
- 245 —
von den älteren Typen sind die meisten schlecht über-
liefert; es scheinen mir alle Philosophen von Thaies bis
Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar; wem es
aber gelingt diese Gestalten nachzuschafFen, der wandelt
unter Gebilden von mächtigstem und reinstem Typus.
Diese Fähigkeit ist freilich selten, sie fehlte selbst den
späteren Griechen, welche sich mit der Kunde der älteren
Philosophie befassten ; Aristoteles zumal scheint seine
Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Be-
zeichneten steht. Und so scheint es, als ob diese herr-
lichen Philosophen umsonst gelebt hätten, oder als ob
sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der
sokratischen Schulen hätten vorbereiten sollen. Es ist
hier wie gesagt eine Lücke, ein Bruch in der Ent-
wicklung; irgend ein grosses Unglück muss geschehen
sein, und die einzige Statue, an welcher man Sinn und
Zweck jener grossen bildnerischen Vorübung erkannt
haben würde, zerbrach oder misslang: was eigentlich ge-
schehen ist, ist für immer ein Geheimniss der Werkstätte
geblieben. — Das, was bei den Griechen sich ereignete
— dass jeder grosse Denker im Glauben daran, Besitzer
der absoluten Wahrheit zu sein, zum Tyrannen wurde, so
dass auch die Geschichte des Geistes bei den Griechen
jenen gewaltsamen übereilten und gefährHchen Charakter
bekommen hat, den ihre politische Geschichte zeigt — ,
diese Art von Ereignissen war damit nicht erschöpft: es
hat sich vieles Gleiche bis in die neueste Zeit hinein be-
geben, obwohl allmählich seltener und jetzt schwerlich
mehr mit dem reinen naiven Gewissen der griechischen
Philosophen. Denn im Ganzen redet jetzt die Gegenlehre
und die Skepsis zu mächtig, zu laut Die Periode der
Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sphären der
höheren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft
— 246 —
geben müssen — aber diese Herrschaft liegt von jetzt
ab in den Händen der OHgarchen des Geistes. Sie
bilden, trotz aller räumlichen und politischen Trennung,
eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich
erkennen und anerkennen, was auch die öffentliche
Meinung und die Urtheile der auf die Masse wirkenden
Tages- und Zeitschriftsteller für Schätzungen der Gunst
und Abgunst in Umlauf bringen mögen. Die geistige
Überlegenheit, welche früher trennte und verfeindete,
pflegt jetzt zu binden: wie könnten die Einzelnen sich
selbst behaupten und auf eigener Bahn, allen Strömungen
entgegen, durch das Leben schwimmen, wenn sie nicht
ihres Gleichen hier und dort unter gleichen Bedingungen
leben sähen und deren Hand ergriffen, im Kampfe eben-
so sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halb-
geistes und der Halbbildung, als gegen die gelegentlichen
Versuche, mit Hülfe der Massenwirkung eine Tyrannei
aufzurichten? Die OHgarchen sind einander nöthig, sie
haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre
Abzeichen — aber trotzdem ist ein Jeder frei, er kämpft
und siegt an seiner Stelle und geht lieber unter, als
sich zu unterwerfen.
262.
Homer. — Die grösste Thatsache in der griechischen
Bildung bleibt doch die, dass Homer so frühzeitig pan-
hellenisch wurde. Alle geistige und menschliche Freiheit,
die die Griechen erreichten, geht auf diese Thatsache
zurück. Aber zugleich ist es das eigentliche Verhängniss
der griechischen Bildung gewesen, denn Homer ver-
flachte, indem er centrahsirte, und löste die ernsteren
Instincte der Unabhängigkeit auf. Von Zeit zu Zeit
— 247 —
erhob sich aus dem tiefsten Grunde des Hellenischen
der Widerspruch gegen Homer; aber er blieb immer
siegreich. Alle grossen geistigen Mächte üben neben
ihrer befreienden Wirkung auch eine unterdrückende aus;
aber freilich ist es ein Unterschied, ob Homer oder die
Bibel oder die Wissenschaft die Menschen tyrannisiren.
•
263.
Begabung. — In einer so hoch entwickelten Mensch-
heit, wie die jetzige ist, bekommt von Natur Jeder den
Zugang zu vielen Talenten mit; jeder hat angeborenes
Talent, aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit
Ausdauer Energie angeboren und anerzogen, so dass er
wirklich ein Talent wird, also wird, was er ist, das
heisst: es in Werken und Handlungen entladet
264.
Der Geistreiche entweder überschätzt oder
unterschätzt. — Unwissenschaftliche aber begabte
Menschen schätzen jedes Anzeichen von Geist, sei es
nun, dass er auf wahrer oder falscher Fährte ist; sie
wollen vor Allem, dass der Mensch, der mit ihnen ver-
kehrt, sie gut mit seinem Geist unterhalte, sie ansporne,
entflamme, zu Ernst und Scherz fortreisse und jedenfalls
vor der Langenweile als kräftigstes Amulet schütze. Die
wissenschaftlichen Naturen wissen dagegen, dass die Be-
gabung, allerhand Einfälle zu haben, auf das strengste
durch den Geist der Wissenschaft gezügelt werden müsse;
nicht Das, was glänzt scheint erregt, sondern die oft
unscheinbare Wahrheit ist die Frucht, welche er vom
Baume der Erkenntniss zu schütteln wünscht Er darf
— 248 —
wie Aristoteles, zwischen „Langweiligen" und „Geist-
reichen" keinen Unterschied machen, sein Dämon führt
ihn durch die Wüste ebenso wie durch tropische Vege-
tation, damit er überall nur an dem Wirklichen Halt-
baren Ächten seine Freude habe. — Daraus ergiebt sich,
bei unbedeutenden Gelehrten, eine Missachtung und Ver-
dächtigung des Geistreichen überhaupt, und wiederum
haben geistreiche Leute häufig eine Abneigrmg gegen
die Wissenschaft; wie zum Beispiel fast alle Künstler.
265.
Die Vernunft in der Schule. — Die Schule hat
keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vor-
sichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren:
desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht
für diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der
Religion. Sie kann ja darauf rechnen, dass menschliche
Unklarheit, Gewöhnung und Bedürfniss später doch
wieder den Bogen des allzustraffen Denkens abspannen.
Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen,
was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen
ist: „Vernunft und Wissenschaft, des Menschen aller-
höchste Kraft" — wie wenigstens Goethe urtheilt —
Der grosse Naturforscher von Baer findet die Überlegen-
heit aller Europäer im Vergleich zu Asiaten in der ein-
geschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für Das, was sie
glauben, angeben können, wozu diese aber völlig unfähig
sind. Europa ist in die Schule des consequenten und
kritischen Denkens gegangen, Asien weiss immer noch
nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden
und ist sich nicht bewusst, ob seine Überzeugungen aus
eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus
— 249 —
Phantasien stammen. — Die Vernunft in der Schule hat
Europa zu Europa gemacht: im Mittelalter war es auf
dem Wege, wieder zu einem Stück und Anhängsel
Asiens zu werden — also den wissenschaftlichen Sinn,
welchen es den Griechen verdankte, einzubüssen."
266.
Unterschätzte Wirkung des gymnasialen
Unterrichts. — Man sucht den Werth des Gym-
nasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort ge-
lernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden,
sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler
sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie so
schnell er darf von sich abzuschütteln. Das Lesen der
Classiker — das giebt jeder Gebildete zu — ist so, wie
es überall getrieben wird, eine monströse Procedur: vor
jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif
sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch
ihr Erscheinen schon einen Mehlthau über einen guten
Autor legen. Aber darin liegt der Werth, der gewöhn-
lich verkannte — dass diese Lehrer die abstracte
Sprache der höheren Cultur reden, schwerfällig und
schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe
Gymnastik des Kopfes; dass Begriffe Kunstausdrücke
Methoden Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend
vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer
Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn
die Schüler nur hören, so wird ihr Intellect zu einer
wissenschafthchen Betrachtungsweise unwillkürlich prä-
formirt. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht, völlig
unberührt von der Abstraction, als reines Naturkind
herauszukommen.
— 2ÖO —
267.
Viele Sprachen lernen. — Viele Sprachen
lernen füllt das Gedächtniss mit Worten statt mit That-
sachen und Gedanken, während diess ein Behältniss ist,
welches bei jedem Menschen nur eine bestimmt be-
grenzte Masse von Inhalt aufnehmen kann. Sodann
schadet das Lernen vieler Sprachen, insofern es den
Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und thatsächlich
auch ein gewisses verführerisches Ansehen im Verkehr
verleiht; es schadet sodann auch indirect, dadurch dass
es dem Erwerben gründlicher Kenntnisse und der Ab-
sicht, auf redliche Weise die Achtung der Menschen zu
verdienen, entgegenwirkt. Endlich ist es die Axt, welche
dem feineren Sprachgefühl innerhalb der Muttersprache
an die Wurzel gelegt wird: diess wird dadurch unheilbar
beschädigt und zu Grunde gerichtet. Die beiden Völker,
welche die grössten Stilisten erzeugten, Griechen und
Franzosen, lernten keine fremden Sprachen. — Weil aber
der Verkehr der Menschen immer kosmopolitischer werden
muss und zum Beispiel ein rechter Kaufmann in London
jetzt schon sich in acht Sprachen schriftlich und mündlich
verständlich zu machen hat, so ist freilich das Viele-
Sprachen - lernen ein nothwendiges Übel; weiches aber,
zuletzt zum Äussersten kommend, die Menschheit zwingen
wird, ein Heilmittel zu finden: und in irgend einer fernen
Zukunft wird es eine neue Sprache, zuerst als Handels-
sprache dann als Sprache des geistigen Verkehrs
überhaupt, für Alle geben, so gewiss als es einmal
Luft-Schifffahrt giebt. Wozu hätte auch die Sprachwissen-
schaft ein Jahrhundert lang die Gesetze der Sprachen
studiert und das Nothwendige Werthvolle Gelungene
an jeder einzelnen Sprache abgeschätzt!
2.S1
268.
Zur Kriegsgeschichte des Individuums. —
Wir finden in ein einzelnes Menschenleben, welches durch
mehrere Culturen geht, den Kampf zusammengedrängt,
welcher sich sonst zwischen zwei Generationen, zwischen
Vater und Sohn, abspielt: die Nähe der Verwandtschaft
verschärft diesen Kampf, weil jede Partei schonungslos
das ihr so gut bekannte Innre der anderen Partei mit
hineinzieht; und so wird dieser Kampf im einzelnen
Individuum am erbittertsten sein ; hier schreitet jede neue
Phase über die frühere mit grausamer Ungerechtigkeit
und Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg.
269.
Um eine Viertelstunde früher. ■ — Man findet
gelegentlich Einen, der mit seinen Ansichten über seiner
Zeit steht, aber doch nur um so viel, dass er die Vulgär-
ansichten des nächsten Jahrzehends vorwegnimmt. Er hat
die öffentliche Meinung eher, als sie öffentlich ist, das
heisst: er ist einer Ansicht, die es verdient trivial zu
werden, eine Viertelstunde eher in die Arme gefallen
als Andere. Sein Ruhm pflegt aber viel lauter zu sein
als der Ruhm der wirklichen Grossen und Überlegenen.
270.
Die Kunst zu lesen. — Jede starke Richtung ist
einseitig; sie nähert sich der Richtung der geraden
Linie und ist wie diese ausschliessend ; das heisst sie
berührt nicht viele andere Richtungen, wie dies schwache
Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und
— 252 —
Hergehen thun: das muss man also auch den Philo-
logen nachsehen, dass sie einseitig sind. Herstellung und
Reinhaltung der Texte nebst der Erklärung derselben,
in einer Zunft jahrhundertlang fortgetrieben, hat endlich
jetzt die richtigen Methoden finden lassen; das ganze
Alittelalter war tief unfähig zu einer streng philologischen
Erklärung, das heisst zum einfachen Verstehenwollen
dessen, was der Autor sagt, — es war etwas, diese
Methoden zu finden, man unterschätze es nicht! Alle
Wissenschaft hat dadurch erst Continuität und Stätigkeit
gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das
heisst die Philologie, auf ihre Höhe kam.
271.
Die Kunst zu schliessen. — Der grösste Fort-
schritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin,
dass sie richtig schliessen lernen. Das ist gar nicht
so etwas Natürliches, wie Schopenhauer annimmt, wenn
er sagt: „zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige
fähig", sondern ist spät erlernt und jetzt noch nicht zur
Herrschaft gelangt. Das falsche Schliessen ist in älteren
Zeiten die Regel: und die Mythologie aller Völker, ihre
Magie und ihr Aberglaube, ihr religiöser Cultus, ihr
Recht sind die unerschöpflichen Beweis-Fundstätten für
diesen Satz.
272.
Jahresringe der individuellen Cultur. — Die
Stärke und Schwäche der geistigen Productivität hängt
lange nicht so an der angeerbten Begabung, als an dem
mitgegebenen Maasse von Spannkraft. Die meisten
jungen Gebildeten von dreissig Jahren gehen um diese
— 253 —
Fruhsonnenwende ihres Lebens zurück und sind für neue
geistige Wendungen von da an unlustig. Desshalb ist
dann gleich wieder zum Heile einer fort und fort wach-
senden Cultur eine neue Generation nöthig, die es nun
aber ebenfalls nicht weit bringt: denn um die Cultur des
Vaters nachzuholen, muss der Sohn die an geerbte
Energie, welche der Vater auf jener Lebensstufe, als er
den Sohn zeugte, selber besass, fast aufbrauchen; mit
dem kleinen Überschuss kommt er weiter (denn weil
hier der Weg zum zweiten Male gemacht wird, geht es
ein wenig leichter und schneller vorwärts; der Sohn ver-
braucht, um dasselbe zu lernen, was der Vater wusste, nicht
ganz so viel Kraft). Sehr spannkräftige Männer wie zum
Beispiel Goethe durchmessen so viel, als kaum vier Gene-
rationen hinter einander vermögen; desshalb kommen sie
aber zu schnell voraus , so dass die anderen Menschen
sie erst in dem nächsten Jahrhundert einholen, vielleicht
nicht einmal völlig, weil durch die häufigen Unterbrech-
ungen die Geschlossenheit der Cultur, die Consequenz
der Entwicklung geschwächt worden ist. — Die gewöhn-
lichen Phasen der geistigen Cultur, welche im Verlauf
der Geschichte errungen ist, holen die Menschen immer
schneller nach. Sie beginnen gegenwärtig in die Cultur
als religiös bewegte Kinder einzutreten und bringen es
vielleicht im zehnten Lebensjahre zur höchsten Lebhaftig-
keit dieser Empfindungen, gehen dann in abgeschwäch-
tere Formen (Pantheismus) über, während sie sich der
Wissenschaft nähern; kommen über Gott Unsterblichkeit
und dergleichen ganz hinaus, aber verfallen den Zaubern
einer metaphysischen Philosophie. Auch diese wird ihnen
endlich unglaubwürdig; die Kunst scheint dagegen immer
mehr zu gewähren, so dass eine Zeitlang die Meta-
physik kaum noch in einer Umwandlung zur Kunst
— 254 —
oder als künstlerisch verklärende Stimmung übrig bleibt
und fortlebt. Aber der wissenschaftliche Sinn wird immer
gebieterischer und führt den Mann hin zur Naturwissen-
schaft und Historie und namentlich zu den strengsten
Methoden des Erkennens, während der Kunst eine immer
mildere und anspruchslosere Bedeutung zufällt. Diess
Alles pflegt sich jetzt innerhalb der ersten dreissig Jahre
eines Mannes zu ereignen. Es ist die Recapitulation
eines Pensums, an welchem die Menschheit vielleicht
dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat.
273.
Zurückgegangen, nicht zurückgeblieben. —
Wer gegenwärtig seine Entwicklung noch aus religiösen
Empfindungen heraus anhebt und vielleicht längere Zeit
nachher in Metaphysik und Kunst weiterlebt, der hat
sich allerdings ein gutes Stück zurückbegeben und be-
ginnt sein Wettrennen mit anderen modernen Menschen
unter ungünstigen Voraussetzungen: er verliert scheinbar
Raum und Zeit. Aber dadurch, dass er sich in jenen
Bereichen aufhielt, wo Gluth und Energie entfesselt
werden und fortwährend Macht als vulcanischer Strom
aus unversiegter Quelle strömt, kommt er dann, sobald
er sich nur zur rechten Zeit von jenen Gebieten getrennt
hat, um so schneller vorwärts, sein Fuss ist beflügelt,
seine Brust hat ruhiger länger ausdauernder athmen ge-
lernt. — Er hat sich nur zurückgezogen, um zu seinem
Sprunge genügenden Raum zu haben: so kann selbst
etwas Fürchterliches Drohendes in diesem Rückgange
liegen.
— 255 -
274-
Ein Ausschnitt unseres Selbst als künst-
lerisches Object. — Es ist ein Zeichen überlegener
Cultur, gewisse Phasen der Entwicklung, welche die
geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und
von der Tafel ihrer Seele dann wegwischen, mit Be-
wusstsein festzuhalten und ein getreues Bild davon zu
entwerfen: diess ist die höhere Gattung der Maler-
kunst, welche nur Wenige verstehen. Dazu wird es
nöthig, jene Phasen künstlich zu isoliren. Die historischen
Studien bilden die Befähigung zu diesem Malerthum
aus, denn sie fordern uns fortwährend auf, bei Anlass
eines Stückes Geschichte — eines Volkes oder Menschen-
lebens — uns einen ganz bestimmten Horizont von Ge-
danken, eine bestimmte Stärke von Empfindungen, das
Vorwalten dieser, das Zurücktreten jener vorzustellen.
Darin, dass man solche Gedanken- und Gefühlssysteme
aus gegebenen Anlässen schnell reconstruiren kann,
wie den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig
stehen gebliebenen Säulen und Mauerresten, besteht
der historische Sinn. Das nächste Ergebniss desselben
ist, dass wir unsere Mitmenschen als ganz bestimmte
solche Systeme und Vertreter verschiedener Cultviren
verstehen, das heisst als nothwendig, aber als verän-
derlich. Und wiederum: dass wir in unserer eigenen Ent-
wicklung Stücke heraustrennen und selbständig hinstellen
können.
275-
Cyniker und Epikureer. — Der Cyniker er-
kennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und
stärkeren Schmerzen des höher cultivirten Menschen und
— 256 —
der Fülle von Bedürfnissen; er begreift also, dass die
Menge von Meinungen über das Schöne vSchickliche
Geziemende Erfreuende ebenso sehr reiche Genuss-,
aber auch Unlustquellen entspringen lassen musste.
Gemäss dieser Einsicht bildet er sich zurück, indem er
viele dieser Meinungen aufgiebt und sich gewissen An-
forderungen der Cultur entzieht; damit gewinnt er ein
Gefühl der Freiheit und der Kräftigung, und allmählich,
wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise erträglich
macht, hat er in der That seltnere und schwächere
Unlustempfindungen als die cultivirten Menschen und
nähert sich dem Hausthier an; überdiess empfindet er
Alles im Reiz des Contrastes und — schimpfen kann er
ebenfalls nach Herzenslust: so dass er dadurch wieder
hoch über die Empfindungswelt des Thieres hinaus-
kommt. — Der Epikureer hat denselben Gesichtspunkt
wie der Cyniker; zwischen ihm und Jenem ist gewöhn-
lich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann
benutzt der Epikureer seine höhere Cultur, um sich von
den herrschenden Meinungen unabhängig zu machen; er
erhebt sich über dieselben, während der Cyniker nur in
der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in wind-
stillen wohlgeschützten halbdunklen Gängen, während
über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und
ihm verrathen, wie heftig bewegt da draussen die Welt
ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam nackt draussen
im Windeswehen umher und härtet sich bis zur Gefühl-
losigkeit ab.
276.
Mikrokosmus und Makrokosmus der Cultur.
— Die besten Entdeckungen über die Cultur macht der
Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei heterogene
— 2S7 —
Mächte waltend findet. Gesetzt, es lebe Einer ebenso-
sehr in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik,
als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen wird,
und er sehe es als unmöglich an , diesen Widerspruch
durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der
anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein
so grosses Gebäude der Cultur aus sich zu gestalten,
dass jene beiden Mächte, wenn auch an verschiedenen
Enden desselben, in ihm wohnen können, während
zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwie-
gender Kraft, um nöthigenfalls den ausbrechenden Streit
zu schlichten, ihre Herberge haben. Ein solches Ge-
bäude der Cultur im einzelnen Individuum wird aber die
grösste Ähnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen Zeit-
perioden haben und eine fortgesetzte analogische Be-
lehrung über denselben abgeben. Denn überall, wo
sich die grosse Architektur der Cultur entfaltet hat, war
ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden Mächte zur
Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammlung
der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen,
ohne sie desshalb zu unterdrücken und in Fesseln zu
schlagen.
277.
Glück und Cultur. — Der Anblick der Um-
gebungen unserer Kindheit erschüttert uns: das Garten-
haus , die Kirche mit den Gräbern , den Teich und den
Wald — diess sehen wir immer als Leidende wieder.
Mitleid mit uns selbst ergreift uns, denn was haben wir
seitdem Alles durchgelitten! Und hier steht Jegliches
noch so still, so ewig da: nur wir sind so anders, so
bewegt; selbst etliche Menschen finden wir wieder, an
welchen die Zeit nicht mehr ihren Zahn gewetzt hat
Ni etliche, Werke Band II. I7
- 258 -
als an einem Eichbaume: Bauern, Fischer. "VValdbewohncr
— sie sind dieselben. — Erschütterung, Selbstmitleid
im Angesichte der niederen Cultur ist das Zeichen der
höheren Cultur; woraus sich ergiebt, dass durch diese
das Glück jedenfalls nicht gemehrt worden ist. Wer
eben Glück und Behagen vom Leben ernten will, der
mag nur immer der höheren Cultur aus dem Wege
gehen. ^
278.
Gleichniss vom Tanze. — Jetzt ist es als das
entscheidende Zeichen grosser Cultur zu betrachten,
wenn Jemand jene Kraft und Biegsamkeit besitzt, um
ebenso rein und streng im Erkennen zu sein als, in
anderen Momenten, auch befähigt, der Poesie Religion
und Metaphysik gleichsam hundert Schritt vorzugeben
und ihre Gewalt und Schönheit nachzuempfinden. Eine
solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen An-
sprüchen ist sehr schwierig, denn die Wissenschaft
drängt zur absoluten Herrschaft ihrer Methode, und
wird diesem Drängen nicht nachgegeben, so entsteht
die andere Gefahr eines schwächlichen Auf- und Nieder-
schwankens zwischen verschiedenen Antrieben. Indessen:
um wenigstens mit einem Gleichniss einen Bhck auf die
Lösung dieser Schwierigkeit zu eröffnen, möge man sich
doch daran erinnern, dass der Tanz nicht dasselbe wie
ein mattes Hin- und Hfertaumeln zwischen verschiedenen
Antrieben ist. Die hohe Cultur wird einem kühnen
Tanze ähnlich sehen: wesshalb, wie gesagt, viel Kraft
und Geschmeidigkeit noth thut.
279.
Von der Erleichterung des Lebens. — Ein
Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das
— 259 —
Idealisiren aller Vorgänge desselben; man soll sich aber
aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren
heisst Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht
zu genau, zu scharf zusehe, er zwingt ihn in eine ge-
wisse Feme zurück, damit er von dort aus betrachte;
er ist genöthigt, eine ganz bestimmte Entfernung des
Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muss sogar
ein ebenso bestimmtes Maass von Schärfe des Auges
bei seinem Betrachter annehmen; in solchen Dingen
darf er durchaus nicht schwanken. Jeder also, der sein
Leben idealisiren will, muss es nicht zu genau sehen
wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Ent-
fernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum
Beispiel Goethe.
280.
Erschwerung als Erleichterung und umge-
kehrt — Vieles, was auf gewissen Stufen des Menschen
Erschwerung des Lebens ist, dient einer höheren Stufe
als Erleichterung, weil solche Menschen stärkere Er-
schwerungen des Lebens kennen gelernt haben. Ebenso
kommt das Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die
Religion ein doppeltes Gesicht, je nachdem ein Mensch
zu ihr hinaufbückt, um von ihr sich seine Last und Noth
abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie auf die
Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch
in die Lüfte steige.
281.
Die höhere Cultur wird nothwendig miss-
verstanden. — Wer sein Instrument nur mit zwei
Saiten bespannt hat, wie die Gelehrten, welche ausser
dem Wissenstriebe nur noch einen anerzogenen reli-
17*
— 26o --
giösen haben, der versteht solche Menschen nicht,
welche auf mehr Saiten spielen können. Es liegt im
Wesen der höheren, vielsaitigeren Cultur, dass sie
von der niederen immer falsch gedeutet wird; wie diess
zum Beispiel geschieht, wenn die Kunst als eine ver-
kappte Form des Religiösen gilt. Ja Leute, die nur
religiös sind, verstehen selbst die Wissenschaft als Suchen
des religiösen Gefühls, so wie Taubstumme nicht wissen,
was Musik ist, wenn nicht sichtbare Bewegung.
2^2.
Klagelied. — Es sind vielleicht die Vorzüge unserer
Zeiten, welche ein Zurücktreten und eine gelegentliche
Unterschätzung der vtta contemplativa mit sich bringen.
Aber eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit
arm ist an grossen Moralisten , dass Pascal , Epiktet,
Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit
und Fleiss — sonst im Gefolge der grossen Göttin Ge-
sundheit — mitunter wie eine Krankheit zu wüthen
scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken
fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr:
man begnügt sich sie zu hassen. Bei der ungeheuren
Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein
halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und
Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk
von der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbständige und
vorsichtige Haltung der Erkenntniss schätzt man beinahe
als eine Art Verrücktheit ab; der Freigeist ist in Verruf
gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an seiner
Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und
ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen
einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchten
— 201 —
Während er die ganz andere und höhere Aufgabe hat,
von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen
Heerbann der wissenschaftUchen und gelehrten Menschen
zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur
zu zeigen. — Eine solche Klage, wie die eben abge-
sungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben und von
selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius
der Meditation, verstummen.
2S3.
Hauptmangel der thätigen Menschen. — Den
Thätigen fehlt gewöhnlich die höhere Thätigkeit: ich
meine die individuelle. Sie sind als Beamte Kaufleute
Gelelirte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht
als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in
dieser Hinsicht sind sie faul. — Es ist das Unglück der
Thätigen, dass ihre Thätigkeit fast immer ein wenig
unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geld-
sammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen
Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen
rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der
Mechanik. — Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten
so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von
seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave,
er sei übrigens wer er wolle; Staatsmann Kaufmann
Beamter Gelehrter.
284.
Zu Gunsten der Müssigen. — Zum Zeichen
dafür, dass die Schätzung des beschaulichen Lebens
abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den
thätigen Menschen in einer Art von hastigem Genüsse,
202 —
SO dass sie also diese Art. zu geniessen, höher zu schätzen
scheinen als die, welche ihnen eigentlich zukommt und
welche in der That viel mehr Genuss ist. Die Gelehrten
schämen sich des otiiivi. Es ist aber ein edel Ding um
Müsse und Müssiggehen. — Wenn Müssiggang wirklich
der Anfang aller Laster ist, so befindet er sich also
wenigstens in der nächsten Nähe aller Tugenden ; der
müssige Mensch ist immer noch ein besserer Mensch
als der thätige. — Ihr meint doch nicht, dass ich mit
Müsse und Müssiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere? —
285.
Die moderne Unruhe. — Nach dem Westen zu
wird die moderne Bewegtheit immer grösser, so dass
den Amerikanern die Bewohner Europa's insgesammt
sich als ruheliebende- und geniessende Wesen darstellen,
während diese doch selbst wie Bienen und Wespen
durcheinander fliegen. Diese Bewegtheit wird so gross,
dass die höhere Cultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen
kann: es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf ein-
ander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsre Civili-
sation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben
die Thätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten.
Es gehört desshalb zu den nothwendigen Correcturen,
welche man am Charakter der Menschheit vornehmen
muss, das beschauliche Element in grossem Maasse zu
verstärken. Doch hat schon jeder Einzelne, welcher in
Herz und Kopf ruhig und stetig ist, das Recht zu
glauben, dass er nicht nur ein gutes Temperament,
sondern eine allgemein nützliche Tugend besitze und
durch die Bewahrung dieser Tugend sogar eine höhere
Aufgabe erfülle.
— 203
286.
Inwiefern der Thätige faul ist. — Ich glaube,
dass Jeder über jedes Ding, über welches Meinungen
möglich sind, eine eigene Meinung haben muss, weil er
selber ein eigenes nur einmaliges Ding ist, das zu allen
andern Dingen eine neue , nie dagewesene Stellung
einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele
des Thätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser
aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen. — Mit der
Freiheit der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit:
beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein
gültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine
Individuum zu seiner Gesundheit nöthig hat, ist für ein
anderes schon Grund zur Erkrankung, und manche
]\Iittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen höher
entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit
gelten.
287.
Censor vitae. — Der Wechsel von Liebe und Hass
bezeichnet für eine lange Zeit den inneren Zustand eines
Menschen, welcher frei in seinem Urtheil über das
Leben werden will; er vergisst nicht und trägt den
Dingen Alles nach, Gutes und Böses. Zuletzt, wenn die
ganze Tafel seiner Seele mit Erfahrungen voll ge-
schrieben ist, wird er das Dasein nicht verachten und
hassen, aber es auch nicht lieben, sondern über ihm
liegen, bald mit dem Auge der Freude bald mit dem der
Trauer, und wie die Natur bald sommerlich bald herbst-
lich gesinnt sein.
204 —
288.
Nebenerfolg. — Wer ernstlich frei werden will,
wird dabei ohne allen Zwang die Neigung zu Fehlern
und Lastern mit verlieren ; auch Ärger und Verdruss
werden ihn immer seltener anfallen. Sein Wille nämlich
will Nichts angelegentlicher als erkennen und das Mittel
dazu, das heisst: den andauernden Zustand, in dem er am
tüchtigsten zum Erkennen ist.
289.
Werth der Krankheit. — Der Mensch, der krank
zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er für
gewöhnlich an seinem Amte Geschäfte oder an seiner
Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit
über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der
Müsse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt.
290.
Empfindung auf dem Lande. — Wenn man
nicht feste, ruhige Linien am Horizonte seines Lebens
hat , Gebirgs- und Waldlinien gleichsam , so wird der
innerste Wille des Menschen selber unruhig, zerstreut
und begehrlich wie das Wesen des Städters: er hat kein
Glück und giebt kein Glück.
291.
Vorsicht der freien Geister. — Freigesinnte, der
Erkenntniss allein lebende Menschen werden ihr äusser-
liches Lebensziel, ihre endgültige Stellung zu Gesellschaft
und Staat bald erreicht finden und zum Beispiel mit
einem kleinen Amte oder einem Vermögen, das gerade
— 265 —
zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn
sie werden sich einrichten so zu leben, dass eine grosse
Verwandlung der äusseren Güter, ja ein Umsturz der
politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft. Auf
alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie möglich
an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten
Kraft und gleichsam mit einem langen Athem in das
Element des Erkennens hinabtauchen. So können sie
hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu
sehen. — Von einem Ereigniss wird ein solcher Geist
gerne nur einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der
ganzen Breite und Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht:
denn er will sich nicht in diesen verwickeln. — Auch
er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der Abhängig-
keit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muss ihm
ein Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das
Leben nicht aushalten. — Es ist wahrscheinlich, dass
selbst seine Liebe zu den Menschen vorsichtig und etwas
kurzathmig sein wird, denn er will sich nur, so weit
es zum Zweck der Erkenntniss nöthig ist, mit der Welt
der Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss
darauf vertrauen, dass der Genius der Gerechtigkeit et-
was für seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn
anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen soll-
ten. — Es giebt in seiner Lebens- und Denkweise einen
verfeinerten Heroismus, welcher es verschmäht, sich
der grossen Massen- Verehrung, wie sein gröberer Bruder
es thut, anzubieten, und still durch die Welt und aus der
Welt zu gehen pflegt. Was für Labyrinthe er auch durch-
wandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom
zeitweilig durchgequält hat — kommt er an's Licht, so
geht er hell, leicht und fast geräuschlos seinen Gang und
lässt den Sonnenschein bis in seinen Grund hinab spielen.
266
2Q2.
Vorwärts. — Und damit vorwärts auf der Bahn
der Weisheit, guten Schrittes, guten Vertrauens! Wie
du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung!
Wirf das Missvergnügen über dein Wesen ab, verzeihe
dir dein eignes Ich, denn in jedem Falle hast du an
dir eine Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du
zur Erkenntniss steigen kannst. Das Zeitalter, in welches
du dich mit Leidwesen geworfen fühlst, preist dich selig
dieses Glückes wegen; es ruft dir zu, dass dir jetzt noch
an Erfahrungen zu Theil werde, was Menschen späterer
Zeiten vielleicht entbehren müssen. Missachte es nicht,
noch religiös gewesen zu sein; ergründe es völlig, wie du
noch einen ächten Zugang zur Kunst gehabt hast. Kannst
du nicht gerade mit Hülfe dieser Erfahrungen ungeheuren
Wegstrecken der früheren Menschheit verständnissvoller
nachgehen? Sind nicht gerade auf dem Boden, welcher
dir mitunter so missfällt, auf dem Boden des unreinen
Denkens, viele der herrlichsten Früchte älterer Cultur auf-
gewachsen? Man muss Religion und Kunst wie Mutter
und Amme geliebt haben — sonst kann man nicht
weise werden. Aber man muss über sie hinaus sehen,
ihnen entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne,
so versteht man sie nicht. Ebenso muss dir die Historie
vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Wag-
schalen: „einerseits — andererseits." Wandle zurück, in die
Fussstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren
leidvollen grossen Gang durch die Wüste der Vergangen-
heit machte: so bist du am gewissesten belehrt, wohin
alle spätere Menschheit nicht wieder gehen kann oder
darf Und indem du mit aller Kraft voraus erspähen
willst, wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft wird,
~ 267 -
bekommt dein eigenes Leben den Werth eines Werk-
zeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast es in der
Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche
Irrwege Fehler Täuschungen Leidenschaften, deine Liebe
und deine Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest auf-
gehen. Dieses Ziel ist, selber eine nothwendige Kette
von Cultur-Ringen zu werden und von dieser Noth-
wendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der
allgemeinen Cultur zu schliessen. Wenn dejn Blick stark
genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen
deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so
werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen
Sternbilder zukünftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst
du, ein solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu
mühevoll, zu ledig aller Annehmlichkeiten? So hast du
noch nicht gelernt, dass kein Honig süsser als der der
Erkenntniss ist, und dass die hängenden Wolken der
Trübsal dir noch zum Euter dienen müssen, aus dem du
die Milch zu deiner Labung melken wirst Kommt das
Alter, so merkst du erst recht, wie du der Stimme der
Natur Gehör gegeben, jener Natur, welche die ganze
Welt durch Lust beherrscht: dasselbe Leben, welches
seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der
Weisheit, in jenem milden Sonnenglanz einer beständigen
geistigen Freudigkeit; beiden, dem Alter und der Weis-
heit, begegnest du auf Einem Bergrücken des Lebens:
so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit und kein An-
lass zum Zürnen, dass der Nebel des Todes naht. Dem
Lichte zu — deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der
Erkenntniss — dein letzter Laut.
Sechstes Hauptstück;
Der Mensch im Verkehr.
293-
Wohlwollende Verstellung. — Es ist häufig
im Verkehre mit Menschen eine wohlwollende Verstellung
nöthig, als ob wir die Motive ihres Handelns nicht
durchschauten.
294.
Copien. — Nicht selten begegnet man Copien
bedeutender Menschen; und den Meisten gefallen, wie
bei Gemälden so auch hier, die Copien besser als die
Originale.
295.
Der Redner. — Man kann höchst passend reden
und doch so, dass alle Welt über das Gegentheil schreit:
nämlich dann, wenn man nicht zu aller Welt redet
296.
Mangel an Vertraulichkeit. — Mangel an
Vertraulichkeit unter Freunden ist ein Fehler, der nicht
gerügt werden kann, ohne unheilbar zu werden.
297.
Zur Kunst des Schenkens. — Eine Gabe aus-
schlagen .zu müssen, bloss weil sie nicht auf die rechte
Weise angeboten wurde, erbittert gegen den Geber.
272
298.
Der gefährlichste Parteimann. — In jeder
Partei ist Einer, der durch sein gar zu gläubiges Aus-
sprechen der Partei grün dsätze die Übrigen zum Ab-
fall reizt.
299.
Rathgeber des Kranken. — Wer einem Kran-
ken seine Rathschläge giebt, erwirbt sich ein Gefühl von
Überlegenheit über ihn, sei es dass sie angenommen
oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reiz-
bare und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als
ihre Krankheit
300.
Doppelte Art der Gleichheit. — Die Sucht
nach Gleichheit kann sich so äussern, dass man ent-
weder alle Anderen zu sich hinunterziehn möchte (durch
Verkleinern Secretiren Beinstellen) oder sich mit Allen
hinauf (durch Anerkennen Helfen Freude an fremdem
Gelingen).
301.
Gegen Verlegenheit. — Das beste Mittel, sehr
verlegenen Leuten zu Hülfe zu kommen und sie zu be-
ruhigen, besteht darin, dass man sie entschieden lobt
302.
Vorliebe für einzelne Tugenden. — Wir legen
nicht eher besondern Werth auf den Besitz einer Tu-
gend, bis wir deren völlige Abwesenheit an unserem
Gegner wahrnehmen.
^73
303-
Warum man widerspricht. — Man widerspricht
oft einer Meinung-, während uns eigentlich nur der Ion,
mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist.
304.
Vertrauen und Vertraulichkeit. — Wer die
Vertraulichkeit mit einer anderen Person geflissentlich
zu erzwingen sucht, ist gewöhnlich nicht sicher darüber,
ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher
ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth.
305-
Gleichgewicht der Freundschaft, — Manch-
mal kehrt, im Verhältniss von uns zu einem andern
Menschen, das rechte Gleichgewicht der Freundschaft
zurück, wenn wir in unsre eigne Wagschale einige Gran
Unrecht legen.
306.
Die gefährlichsten Ärzte. — Die gefährlichsten
Arzte sind die, welche es dem geborenen Arzte als ge-
borene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Täu-
schung nachmachen.
307.
Wann Paradoxien am Platze sind. — Geist-
reichen Personen braucht man mitunter, um sie für einen
Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form einer un-
geheuerUchen Paradoxie vorzulegen.
Nietzsche, Werke Band 11. lg
— 274 —
3o8.
Wie muthige Leute gewonnen werden. —
Muthige Leute überredet man dadurch zu einer Hand-
lung, dass man dieselbe gefährlicher darstellt als sie ist,
309-
Artigkeiten. — Unbeliebten Personen rechnen
wir die Artigkeiten, welche sie uns erweisen, zum Ver-
gehen an.
310.
Warten lassen. — Ein sicheres Mittel, die Leute
aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu
setzen, ist: sie lange warten zu lassen. Diess macht un-
moralisch.
311-
Gegen die Vertraulichen. — Leute, welche uns
ihr volles Vertrauen schenken, glauben dadurch ein Recht
auf das unsrige zu haben. Diess ist ein Fehlschluss;
durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.
312.
Ausgleichsmittel. — Es genügt oft, einem Andern,
dem man einen Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu
einem Witz über uns zu geben, um ihm persönliche
Genugthuung zu schaffen, ja um ihn für uns gut zu
stimmen.
313-
Eitelkeit der Zunge. — Ob der Mensch seine
schlechten Eigenschaften und Laster verbirgt oder mit
— 275 —
Offenheit sie eing"esteht, so wünscht doch in beiden
Fällen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu habfen:
man beachte nur. wie fein er unterscheidet, vor wem er
jene Eigenschaften verbirg^, vor wem er ehrlich und offen-
herzig wird.
3M.
Rücksichtsvoll — Niemanden kränken. Nie-
manden beeinträchtigen wollen kann ebensowohl das
Kennzeichen einer gerechten als einer ängstlichen Sinnes-
art sein.
315.
Zum Disputiren erforderlich. — Wer seine Ge-
danken nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich
nicht in die Hitze des Streites begeben.
316.
Umgang und Anmaassung. — Man verlernt die
Anmaassung, wenn man sich immer unter verdienten
Menschen weiss; allein sein pflanzt Übermuth. Junge
Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen
um, welche alle nichts sind, aber gerne viel bedeuten.
317.
Motiv des Angriffs. — Man greift nicht nur an,
um Jemandem weh zu thun, ihn zu besiegen, sondern
vielleicht auch nur, um sich seiner Kraft bewusst zu
werden.
318.
Schmeichelei. — Personen, welche unsere Vorsicht
im Verkehr mit ihnen durch Schmeicheleien betäuben
i8*
— 276 —
wollen, wenden ein gefährliches Mittel an, g-leicbsam
ein^n Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschlätert,
nur um so mehr wach erhält
319.
Guter Briefschreiber. — Der, welcher keine
Bücher schreibt, viel denkt und in unzureichender Gesell-
schaft lebt, wird gewöhnlich ein guter Briefschreiber sein.
320.
Am hässlichsten. — Es ist zu bezweifeln, ob ein
Vielgereister irgendwo in der Welt hässlichere Gegenden
gefunden hat als im menschlichen Gesichte.
321.
Die Mitleidigen. — Die mitleidigen, im Unglück
jederzeit hülfreichen Naturen sind selten zugleich die sich
mitfreuenden: beim Glück der Anderen haben sie Nichts
zu thun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer
Überlegenheit und zeigen desshalb leicht Missvergnügen.
322.
Verwandte eines Selbstmörders. — Verwandte
eines Selbstmörders rechnen es ihm übel an, dass er nicht
aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben geblieben ist
323-
Undank vorauszusehen. — Der, welcher etwas
Grosses schenkt , findet keine Dankbarkeit ; denn der
Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu viel Last
— 277 —
324-
In geistloser Gesellschaft. — Niemand dankt
dem geistreichen Menschen die Höflichkeit, wenn er sich
einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht höflich ist,
Geist zu zeigen.
325.
Gegenwart von Zeugen. — Man springt einem
Menschen, der in's Wasser fällt, noch einmal so gern
nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht wagen.
326.
Schweigen. — Die für beide Parteien unange-
nehmste Art, eine Polemik zu erwidern, ist, sich ärgern
und schweigen: denn der Angreifende erklärt sich das
Schweigen gewöhnlich als Zeichen der Verachtung.
327.
Das Geheimniss des Freundes. — Es wird
Wenige geben, welche, wenn sie um Stoff zur Unter-
haltung verlegen sind, nicht die geheimeren Angelegen-
heiten ihrer Freunde preisgeben.
328.
Humanität — Die Humanität der Berühmtheiten
des Geistes besteht darin, im Verkehre mit Unberühmten
auf eine verbindliche Art Unrecht zu behalten.
329-
Der Befangene. — Menschen, die sich in der
Gesellschaft nicht sicher fühlen, benutzen jede Gelegen-
— 278 —
heit, um an einem Nahegestellten, dem sie überlegnen
sind, diese Überlegenheit öffentlich, vor der Gesellschaft,
zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien.
330-
Dank. — Eine feine Seele bedrückt es, sich Jeman-
den zum Dank verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich
Jemandem.
331-
Merkmal der Entfremdung. — Das stärkste
Anzeichen von Entfremdung der Ansichten bei zwei
Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig einiges
Ironische sagen, aber keiner von beiden das Ironische
daran fühlt.
332.
Anmaassung bei Verdiensten. — Anmaassung
bei Verdiensten beleidigt noch mehr als Anmaassung
von Menschen ohne Verdienst : denn schon das Verdienst
beleidigt.
333.
Gefahr in der Stimme. — Mitunter macht uns
im Gespräch, der Klang der eignen Stimme verlegen
und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar nicht
unsern Meinungen entsprechen.
334.
Im Gespräche. — Ob man im Gespräche dem
Andern vornehmlich Recht giebt oder Unrecht, ist durch-
aus die Sache der Angewöhnung: das Eine wie das
Andre hat Sinn.
79
335.
Furcht vor dem Nächsten. — Wir furchten die
feindsehge Stimmung des Nächsten, weil wir befürchten,
dass er durch diese Stimmung hinter unsere HeimHch-
keiten kommt
336.
Durch Tadel auszeichnen. — Sehr angesehene
Personen ertheilen selbst ihren Tadel so, dass sie uns
damit auszeichnen wollen. Es soU uns aufmerksam
machen, wie angelegentlich sie sich mit uns beschäftigen.
Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel
sachlich nehmen und uns gegen ihn vertheidigen ; wir
ärgern sie dadurch und entfremden uns ihnen.
337.
Verdruss am Wohlwollen Anderer, — Wir
irren uns über den Grad, in welchem wir uns gehasst,
gefürchtet glauben: weil wir selber zwar gut den Grad
unserer Abweichung von einer Person Richtung Partei
kennen, jene Andern aber uns sehr oberflächlich kennen
und desshalb auch nur oberflächhch hassen. Wir be-
gegnen oft einem Wohlwollen, welches uns unerklärlich
ist; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es
zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug
nimmt.
338.
vSich kreuzende Eitelkeiten. — Zwei sich begeg-
nende Personen, deren Eitelkeit gleich gross ist, behalten
hinterdrein von einander einen schlechten Eindruck, weil
jede so mit dem Eindruck beschäftigt war, den sie bei
— 28o —
dem Anderen hervorbrin gen wollte, dass der Andere auf
sie keinen Eindruck machte; beide merken endlich, dass
ihr Bemühen verfehlt ist, und schieben dem Anderen die
Schuld zu.
339.
Unarten als gute Anzeichen. — Der überlegene
Geist hat an den Tactlosigkeiten Anmaassungen , ja
Feindseligkeiten ehrgeiziger Jünglinge gegen ihn sein
Vergnügen; es sind die Unarten feuriger Pferde, welche
noch keinen Reiter getragen haben und doch in Kurzem
so stolz sein werden, ihn zu tragen.
3-40.
Wann es rathsam ist, Unrecht zu behalten. —
Man thut gut, gemachte Anschuldigungen, selbst wenn
sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung hinzunehmen,
im Fall der Anschuldigende darin ein noch grösseres
Unrecht unserseits sehen würde, wenn wir ihm wider-
sprächen und etwa gar ihn widerlegten. Freilich kann
Einer auf diese Weise immer Unrecht haben und immer
Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen
von der Welt der unerträglichste Tyrann und Quälgeist
werden; und was vom Einzelnen gilt, kann auch bei
ganzen Classen der Gesellschaft vorkommen.
341.
Zu wenig geehrt. — Sehr eingebildete Personen,
denen man Zeichen von geringerer Beachtung gegeben
hat, als sie erwarteten, versuchen lange sich selbst und
Andere darüber irre zu führen und werden spitzfindige
— 28l —
Psychologiker, um heraus zu bekommen, dass der Andere
sie doch genügend geehrt hat: erreichen sie ihr Ziel
nicht, reisst der Schleier der Täuschung, so geben sie
sich einer um so grösseren Wuth hin.
342.
Urzustände in der Rede nachklingend. —
In der Art, wie jetzt die Männer im Verkehre Behaup-
tungen aufstellen, erkennt man oft einen Nachklang der
Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen als auf
irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behaup-
tungen bald wie zielende Schützen ihr Gewehr , bald
glaubt man das Sausen und Kllirren der Klingen zu
hören; und bei einigen Männern poltert eine Behauptung
herab wie ein derber Knüttel. — Frauen dagegen
sprechen so wie Wesen, welche Jahrtausende lang am
Webstuhl Sassen oder die Nadel führten oder mit Kindern
kindisch waren.
343-
Der Erzähler. — Wer Etwas erzählt, lässt leicht
merken, ob er erzählt, weil ihn das Factum interessirt,
oder weil er durch die Erzählung interessiren will. Im
letzteren Falle wird er übertreiben, Superlative ge-
brauchen und Ähnliches thun. Er erzählt dann gewöhn-
lich schlechter, weil er nicht so sehr an die Sache als
an sich denkt.
344.
Der Vorleser. — Wer dramatische Dichtungen
vorliest, macht Entdeckungen über seinen Charakter: er
findet für gewisse Stimmungen und Scenen seine Stimme
— 2>i2 —
natürlicher als für andere, etwa für alles Pathetische
oder für das Scurrile, während er vielleicht im gewöhn-
lichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder
Scurrilität zu zeigen.
345.
Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben
vorkommt. — Jemand denkt sich eine geistreiche
Meinung über ein Thema aus, um sie in einer Gesell-
schaft vorzutragen. Nun würde man im Lustspiel an-
hören und ansehen, wie er mit allen Segeln an den
Punkt zu kommen und die Gesellschaft dort einzuschiffen
sucht, wo er seine Bemerkung machen kann: wie er
fortwährend die Unterhaltung nach Einem Ziele schiebt,
gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt,
endlich den Augenblick erreicht: fast versagt ihm der
Athem — und da nimmt ihm Einer aus der Gesellschaft
die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er thun?
Seiner eigenen Meinung opponiren?
346.
Wider Willen u nhöflich. — Wenn Jemand wider
Willen einen Andern unhöflich behandelt, zum Beispiel
nicht grüsst, weil er ihn -nicht erkennt, so wurmt ihn
diess, obschon er nicht seiner Gesinnung einen Vorwurf
machen kann; ihn kränkt die schlechte Meinung, welche
er bei dem Andern erzeugt hat, oder er fürchtet die Folgen
einer Verstimmung, oder ihn schmerzt, den Andern ver-
letzt zu haben — also Eitelkeit, Furcht oder Mitleid
können rege werden, vielleicht auch alles zusammen.
- 283 -
347-
Verräther-Meisterstück. — Gegen den !Mitver-
schworenen den kränkenden Argw^ohn zu äussern, ob
man nicht von ihm verrathen werde, und diess gerade
in dem Augenblick, wo man selbst Verrath übt, ist ein
Meisterstück der Bosheit, weil es den Andern persönlich
occupirt und ihn zwingt, eine Zeitlang sich sehr unver-
dächtig und offen zu benehmen: so dass der wirkliche
Verräther sich freie Hand gemacht hat.
348.
Beleidigen und beleidigt werden. — Es ist
weit angenehmer, zu beleidigen und später um Ver-
zeihung zu bitten, als beleidigt zu werden und Ver-
zeihung zu gewähren. Der, welcher das Erste thut, giebt
ein Zeichen von Macht und nachher von Güte des
Charakters. Der Andre, wenn er nicht als inhuman
gelten will, muss schon verzeihen; der Genuss an der
Demüthigung des Andern ist dieser Nöthigung wegen
gering.
349-
Im Disput. — "Wenn man zugleich einer anderen
Meinung widerspricht und dabei seine eigene entwickelt,
so verrückt gewöhnlich die fortwährende Rücksicht auf
die andere Meinung die natürliche Haltung der eigenen:
sie erscheint absichtlicher schärfer, vielleicht etwas über-
trieben.
350.
Kunstgriff. — Wer etwas Schwieriges von einem
Anderen erlangen will, muss die Sache überhaupt nicht
. — 284 —
als Problem fassen, sondern schlicht seinen Plan hinlegen,
als sei er die einzige Möglichkeit; er muss es verstehen,
wenn im Auge des Gegners der Einwand , der Wider-
spruch dämmert, schnell abzubrechen und ihm keine Zeit
zu. geben.
351-
Gewissensbisse nach Gesellschaften. —
Warum haben wir nach gewöhnlichen Gesellschaften
Gewissensbisse? Weil wir wichtige Dinge leicht ge-
nommen haben, weil wir bei der Besprechung von Per-
sonen nicht mit voller Treue gesprochen oder weil wir
geschwiegen haben, wo wir reden sollten, weil ^wir ge-
legentlich nicht aufgesprungen und fortgelaufen sind,
— kurz, weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als
ob wir zu ihr gehörten.
352.
Man wird falsch beurtheilt. — Wer immer dar-
nach hinhorcht, wie er beurtheilt wird, hat immer Ärger.
Denn wir werden schon von Denen, welche uns am
nächsten stehen („am besten kennen"), falsch beurtheilt.
Selbst gute Freunde lassen ihre Verstimmung mitunter
in einem missgüustigen Worte aus; und würden sie
unsre Freunde sein, wenn sie uns genau kennten? —
Die Urtlieile der Gleichgültigen thun sehr weh, weil sie
so unbefangen, fast sachlich klingen. Merken wir aber
gar, dass Jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim
gehaltenen Punkte so gut kennt, wie wir uns, wie gross
ist dann erst der Verdrussl
353-
Tyrannei des Portraits. — Künstler und Staats-
männer, die schnell aus einzelnen Zügen das ganze Bild
- 285 -
eines Menschen oder Ereignisses combiniren, sind am
meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein ver-
langen, das Ereigniss oder der Mensch müsse wirklich
so sein, wie sie es malten; sie verlangen geradezu, dass
Einer so begabt, so verschlagen, so ungerecht sei, wie er
in ihrer Vorstellung lebt.
354-
Der Verwandte als der beste Freund. — Die
Griechen, die so gut wussten, was ein Freund sei — sie
allein von allen Völkern haben eine tiefe, vielfache philo-
sophische Erörterung der Freundschaft; so dass ihnen
zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein lösens-
werthes Problem erschienen ist — , diese selben Griechen
haben die Verwandten mit einem Ausdrucke bezeich-
net, welcher der Superlativ des Wortes „Freund" ist.
Diess bleibt mir unerklärlich.
355.
Verkannte Ehrlichkeit. — Wenn Jemand im Ge-
spräche sich selber citirt („ich sagte damals", „ich pflege
zu sagen"), so macht diess den Eindruck der Anmaassung,
während es häufig gerade aus der entgegengesetzten
Quelle hervorgeht, mindestens aus Ehrlichkeit, welche
den Augenblick nicht mit den Einfällen schmücken und
herausputzen wiU, welche einem früheren Augenblicke
angehören.
356.
Der Parasit. — Es bezeichnet einen völligen
Mangel an vornehmer Gesinnung, wenn Jemand lieber
in Abhängigkeit, auf Andrer Kosten leben will, um
— 286 —
nur nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich mit einer heim-
lichen Erbitterung gegen Die, von denen er abhängt. —
Eine solche Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als
bei Männern, auch viel verzeihlicher (aus historischen
Gründen).
357-
Auf dem Altar der Versöhnung. — Es giebt
Umstände, wo man eine Sache von einem Menschen
nur so erlangt, dciss man ihn beleidigt und sich ver-
feindet: dieses Gefühl, einen Feind zu haben, quält ihn
so, dass er gern das erste Anzeichen einer milderen
Stimmung zur Versöhnung benützt und jene Sache auf
dem Altar dieser Versöhnung opfert, an der ihm früher
so viel gelegen war, dass er sie um keinen Preis geben
wollte.
358.
Mitleid fordern als Zeichen der Anmaassung.
— Es giebt Menschen, welche, wenn sie in Zorn gerathen
und die Anderen beleidigen, dabei erstens verlangen,
dass man ihnen Nichts übel nehme, und zweitens, dass
man mit ihnen Mitleid habe, weil sie so heftigen Paroxys-
men unterworfen sind: so weit geht die menschliche
Anmaassung.
359-
Köder. — „Jeder Mensch hat seinen Preis" — das
ist nicht wahr. Aber es findet sich wohl für Jeden ein
Köder, an den er anbeissen muss. So braucht man,
um manche Personen für eine Sache zu gewinnen, dieser
Sache nur den Glanz des Menschenfreundlichen Edlen
Mildthätigen Aufopfernden zu geben — und welcher
— 28; —
Sache könnte man ihn nicht geben! — : es ist das
Zuckerwerk und die Näscherei ihrer Seele; andere
haben anderes.
360.
Verhalten beim Lobe. — Wenn gute Freunde
die begabte Natur loben, so wird sie sich öfters aus
Höflichkeit und Wohlwollen darüber erfreut zeigen, aber
in Wahrheit ist es ihr gleichgültig. Ihr eigentliches
Wesen ist ganz träge dagegen und um keinen Schritt
dadurch aus der Sonne oder dem Schatten, in dem sie
liegt, herauszuwälzen; aber die Menschen wollen durch
Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben,
wenn man sich über ihr Lob nicht freute.
361.
Die Erfahrung des Sokrates. — Ist man in
einer Sache Meister geworden , so ist man gewöhnlich
eben dadurch in den meisten anderen Sachen ein völliger
Stümper geblieben; aber man urtheilt gerade umgekehrt,
wie diess schon Sokrates erfuhr. Diess ist der Übelstand,
welcher den Umgang mit Meistern unangenehm macht
362.
Mittel der Vertheidigung. — Im Kampf mit der
Dummheit werden die billigsten und sanftesten Menschen
zuletzt brutal. Sie sind damit vielleicht auf dem rechten
Wege der Vertheidigung; denn an die dumme Stirn
gehört, als Argument, von Rechtswegen die geballte
Faust. Aber weil, wie gesagt, ihr Charakter sanft und
billig ist, so leiden sie durch diese Mittel der Nothwehr
hiehr, als sie Leid zufügen.
363.
Neugierde. — "Wenn die Neugierde nicht wäre,
würde wenig für das Wohl des Nächsten gethan werden.
Aber die Neugierde schleicht sich unter dem Namen der
Pflicht oder des Mitleidens in das Haus des Unglücklichen
und Bedürftigen. — Vielleicht ist selbst an der vielbe-
rühmten Mutterliebe ein gut Stück Neugierde.
364.
Verrechnung in der Gesellschaft — Dieser
wünscht interessant zu sein durch seine Urtheile, Jener
durch seine Neigungen und Abneigungen, der Dritte
durch seine Bekanntschaften, ein Vierter durch seine Ver-
einsamung — und sie verrechnen sich Alle. Denn Der,
vor dem das Schauspiel aufgeführt wird, meint selber
dabei das einzig in Betracht kommende Schauspiel zu sein.
365.
Duell. — Zu Gunsten aller Ehrenhändel und Duelle
ist zu sagen, dass, wenn Einer ein so reizbares Gefühl
hat, nicht leben zu wollen, wenn Der und Der das und
das über ihn sagt oder denkt, er ein Recht hat, die
Sache auf den Tod des Einen oder des Anderen ankom-
men zu lassen. Darüber, dass er so reizbar ist, ist gar
nicht zu rechten, damit sind wir die Erben der Ver-
gangenheit, ihrer Grösse sowohl wie ihrer Übertrei-
bungen, ohne welche es nie eine Grösse gab. Existirt
nun ein Ehrenkanon, welcher Blut an Stelle des Todes
gelten lässt, so dass nach einem regelmässigen Duell das
Gemüth erleichtert ist, so ist diess eine grosse Wohlthat.
— 289 —
weil sonst viele Menschenleben in Gefahr wären. — So
eine Institution erzieht übrigens die Menschen in Vor-
sicht auf ihre Äusserungen und macht den Umgang mit
ihnen möglich.
366.
Vornehmheit und Dankbarkeit. — Eine vor-
nehme Seele wird sich gern zur Dankbarkeit verpflichtet
fühlen und den Gelegenheiten, bei denen sie sich ver-
pflichtet, nicht ängstlich aus dem Wege gehen; ebenso
wird sie nachher gelassen in den Äusserungen der Dank-
barkeit sein; während niedere Seelen sich gegen alles
Verpflichtetwerden sträuben oder nachher in den Äusser-
ungen ihrer Dankbarkeit übertrieben und allzu sehr be-
flissen sind. Letzteres kommt übrigens auch bei Personen
von niederer Herkunft oder gedrückter Stellung vor:
eine Gunst, ihnen erwiesen, deucht ihnen ein Wunder
von Gnade.
367-
Die Stunden der Beredsamkeit — Der Eine
hat um gut zu sprechen Jemanden nöthig, der ihm ent-
schieden und anerkannt überlegen ist, der Andere kann
nur vor Einem, den er überragt, völlige Freiheit der
Rede und glückliche Wendungen der Beredsamkeit
finden: in beiden Fällen ist es derselbe Grund; Jeder
von ihnen redet nur gut, wenn er sans gene redet, der
Eine, weil er vor dem Höheren den Antrieb der Con-
currenz, des Wettbewerbs nicht fühlt, der Andere eben-
falls desshalb, angesichts des Niederen. — Nun giebt es
eine ganz andere Gattung von Menschen, die nur
gut reden, wenn sie im Wetteifer, mit der Absicht zu
siegen, reden. Welche von beiden Gattungen ist die ehr-
Nietzsche, Werke UanJ II. lg
— 290 —
geizigere: die, welche aus erregter Ehrsucht gut, oder
die, welche aus eben diesem Motive schlecht oder gar
nicht spricht?
368.
Das Talent zur Freundschaft. — Unter den
Menschen, welche eine besondere Begabung zur Freund-
schaft haben, treten zwei Typen hervor. Der Eine ist in
einem fortwährenden Aufsteigen und findet für jede
Phase seiner Entwicklung einen genau zugehörigen
Freund. Die Reihe von Freunden, welche er auf diese
Weise erwirbt, ist unter sich selten in Zusammenhang,
mitunter in Misshelligkeit und Widerspruch: ganz dem
entsprechend, dass die späteren Phasen in seiner Ent-
wicklung die früheren Phasen aufheben oder beein-
trächtigen. Ein solcher Mensch mag im Scherz eine
Leiter heissen. — Den anderen Typus vertritt Der,
welcher eine Anziehungskraft auf sehr verschied ne
Charaktere und Begabungen ausübt, so dass er einen
ganzen Eüreis von Freunden gewinnt; diese aber kommen
dadurch selber unter einander in freundschaftliche Be-
ziehung, trotz aller Verschiedenheit. Einen solchen Men-
schen nenne man einen Kreis: denn in ihm muss jene
Zusammengehörigkeit so verschiedener Anlagen und
Naturen irgendwie vorgebildet sein. — Übrigens ist die
Gabe, gute Freunde zu Haben, in manchem Menschen
viel grösser als die Gabe, ein guter Freund zu sein.
369.
Taktik im Gespräch. — Nach einem Gespnäch
mit Jemandem ist man am besten auf den Mitunter-
redner zu sprechen, wenn man Gelegenheit hatte, seinen
291 —
Geist, seine Liebenswürdigkeit vor ihm im ganzen Glänze
zu zeigen. Diess benutzen kluge Menschen, welche Je-
manden sich günstig stimmen wollen, indem sie bei der
Unterredung ihm die besten Gelegenheiten zu einem
guten Witz und dergleichen zuschieben. Es wäre ein
lustiges Gespräch zwischen zwei sehr Klugen zu denken,
welche sich gegenseitig günstig stimmen wollen und sich
desshalb die schönen Gelegenheiten im Gespräch hin
und her zuwerfen, während keiner sie annimmt: so dass
das Gespräch im Ganzen geistlos und unliebenswürdig
verhefe, weil Jeder dem Anderen die Gelegenheit .zu
Geist und Liebenswürdigkeit zumese.
370-
Entladung des Unmuths, — Der Mensch, dem
etwas misslingt, führt diess Missling^n lieber auf den
bösen Willen eines Anderen als auf den Zufall zurück.
Seine gereizte Empfindung wird dadurch erleichtert, eine
Person und nicht eine Sache sich als Grund seines Miss-
lingens zu denken; denn an Personen kann man sich
rächen, die Unbilden des Zufalls muss man hinunter-
würgen. Die Umgebung eines Fürsten pflegt desshalb,
wenn diesem etwas misslungen ist, einen einzelnen
Menschen als angebliche Ursache ihm zu bezeichnen und
im Interesse aller Höflinge aufzuopfern; denn der Miss-
muth des Fürsten würde sich sonst an ihnen Allen aus-
lassen, da er ja an der Schicksalsgöttin selber keine
Rache nehmen kann.
371-
Die Farbe der Umgebung annehmen. —
Warum ist Neigung und Abneigung so ansteckend, dass
19*
— 292 —
man kaum in der Nähe einer stark empfindenden Person
leben kann, ohne wie ein Gefäss mit ihrem Für und
Wider angefüllt zu werden? Erstens ist die völlige Ent-
haltung des Urtheils sehr schwer, mitunter für unsere
Eitelkeit geradezu unerträglich ; sie trägt da gleiche
Farbe mit der Gedanken- und Empfindungsarmuth oder
mit der Ängstlichkeit, der Unmännlichkeit: und so werden
wir wenigstens dazu fortgerissen, Partei zu nehmen, viel-
leicht gegen die Richtung unserer Umgebung, wenn diese
Stellung unserem Stolze mehr Vergnügen macht. Gewöhn-
lich aber — das ist das Zweite — bringen wir uns den
Übergang von Gleichgültigkeit zu Neigung oder Ab-
neigung gar nicht zum Bewusstsein, sondern allmählich
gewöhnen wir uns an die Empfindungsweise unserer Um-
gebung, und weil sympathisches Zustimmen und Sich-
verstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen
und Parteifarben dieser Umgebung.
372.
Ironie. — Die Ironie ist nur als pädagogisches
Mittel am Platze, von Seiten eines Lehrers im Verkehr
mit Schülern irgend welcher Art: ihr Zweck ist De-
müthigung Beschämung, aber von jener heilsamen Art,
welche gute Vorsätze erwachen lässt und Dem, welcher
uns so behandelte, Verehrung Dankbarkeit als einem
Arzte entgegenbringen heisst. Der Ironische stellt sich
unwissend und zwar so gut, dass die sich mit ihm unter-
redenden Schüler getäuscht sind und in ihrem guten
Glauben an ihr eigenes Besserwissen dreist werden und
sich Blossen aller Art geben; sie verlieren die Behutsam-
keit und zeigen sich, wie sie sind, — bis in einem Augen-
blick die Leuchte, die sie dem Lehrer in's Gesicht hielten.
— 293 —
ihre Strahlen sehr demüthigend auf sie selbst zurück-
fallen lässt. — Wo ein solches Verhältniss, wie zwischen
Lehrer und Schüler, nicht stattfindet, ist sie eine Un-
art, ein gemeiner Affect. Alle ironischen Schriftsteller
rechnen auf die alberne Gattung von Menschen, welche
sich gerne allen Anderen mit dem Autor zusammen über-
legen fühlen wollen, als welchen sie für das Mundstück
ihrer Anmaassung ansehen. — Die Gewöhnung an Ironie,
ebenso wie die an Sarkasmus verdirbt übrigens den
Charakter, sie verleiht allmähhch die Eigenschaft einer
schadenfrohen Überlegenheit: man ist zuletzt einem
bissigen Hunde gleich , der noch das Lachen gelernt
hat, ausser dem Beissen.
373.
Anmaassung, — Vor Nichts soll man sich so
hüten als vor dem Aufwachsen jenes Unkrauts, welches
Anmaassung heisst und uns jede gute Ernte verdirbt;
denn es giebt Anmaassung in der Herzlichkeit, in den
Ehrenbezeigxingen, in der wohlwollenden Vertraulichkeit,
in der Liebkosung, im freundschaftlichen Rathe, im Ein-
gestehen von Fehlern, in dem Alitleiden für Andere, und
alle diese schönen Dinge erregen Widerwillen, wenn
jenes Kraut dazwischen wächst. Der Anmaassende, das
heisst Der, welcher mehr bedeuten will als er ist oder
gilt, macht immer eine falsche Berechnung. Zwar hat
er den augenblicklichen Erfolg für sich , insofern die
Menschen, vor denen er anmaassend ist, ihm gewöhnlich
das Maass von Ehre geben, welches er fordert, aus Angst
oder Bequemlichkeit; aber sie nehmen eine schlimme
Rache dafür, insofern sie ebensoviel, als er über das
Maass forderte, von dem Werthe subtrahiren, den sie ihm
294 —
bis jetzt beilegten. Es ist Nichts, was die Menschen sich
theurer bezahlen lassen, als Demüthigung. Der An-
maassende kann sein wirkliches grosses Verdienst so in
den Augen der x\nderen verdächtigen und kleinmachen,
dass man mit staubigen Füssen darauf tritt. Selbst
ein stolzes Benehmen sollte man sich nur dort erlauben,
wo man ganz sicher sein kann, nicht missverstanden und
als anmaassend betrachtet zu werden, zum Beispiel vor
Freunden und Gattinnen. Denn es giebt im Verkehre
mit Menschen keine grössere Thorheit als sich den Ruf
der Anmaassung zuzuziehn; es ist noch schlimmer, als
wenn man nicht gelernt hat, höflich zu lügen.
374-
Zwiegespräch. — Das Zwiegespräch ist das voll-
kommene Gespräch, weil Alles, was der Eine sagt, seine
bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Ge-
bärde in strenger Rücksicht auf den Anderen,
mit dem gesprochen wird, erhält, also dem entsprechend,
was beim Brief verkehre geschieht, dass ein und derselbe
zehn Arten des seelischen Ausdrucks zeigt, je nachdem
er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt. Beim Zwie-
gespräch giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des
Gedankens: diese bringt der Mitunterredner hervor als
der Spiegel, in welchem wir unsere Gedanken möglichst
schön wiedererblicken wollen. Wie aber ist es bei zweien,
bei dreien und mehr Mitunterrednern ? Da verliert noth-
wendig das Gespräch an individualisirender Feinlieit, die
verschiedenen Rücksichten kreuzen sich, heben sich auf;
die Wendung, welche dem Einen wohltut, ist nicht nach
der Sinnesart des Anderen. Desshalb wird der IMensch
im Verkehr mit Mehreren gezwungen, sich auf sich
— 295 —
zurückzuziehen., die Thatsachen hinzustellen, wie sie sind,
aber jenen spielenden Äther der Humanität den Gegen-
ständen zu nehmen, welcher ein Gespräch zu den ange-
nehmsten Dingen der Welt macht. Man höre nur den
Ton, in welchem IMänner im Verkehre mit ganzen Gruppen
von Männern zu reden pflegen, es ist als ob der Grund-
bass aller Rede der sei: „das bin ich, das sage ich,
nun haltet davon, was ihr wollt!" Diess ist der Grund,
wesshalb geistreiche Frauen bei Dem, welcher sie in der
Gesellschaft kennen lernte, meistens einen befremdenden,
peinlichen, abschreckenden Eindruck hinterlassen: es. ist
das Reden zu Vielen , vor Vielen , welches sie aller
geistigen Liebenswürdigkeit beraubt und nur das be-
wusste Beruhen auf sich selbst, ihre Taktik und die
Absicht auf öffentlichen Sieg in grellem Lichte zeigt:
während dieselben Frauen im Zwiegespräche wieder zu
Weibern werden und ihre geistige Anmuth wiederfinden.
375.
Nachruhm. — Auf die Anerkennung einer fernen
Zukunft hoffen hat nur Sinn, wenn man die Annahme
macht, dass die Menschheit wesenthch unverändert bleibe
und dass alles Grosse nicht für Eine, sondern für alle
Zeiten als gross empfunden werden müsse. Diess ist
aber ein Irrthum; die Menschheit, in allem Empfinden
und Urtheilen über Das, was schön und gut ist, ver-
wandelt sich sehr stark : es ist Phantasterei, von sich zu
glauben, dass man eine Meile Wegs voraus sei und dass
die gesammte Menschheit unsere Strasse ziehe. Zudem:
ein Gelehrter, der verkannt wird, darf jetzt bestimmt
darauf rechnen, dass seine Entdeckung von Anderen
auch gemacht wird und dass ihm besten Falls einmal
— 296 —
spät von einem Historiker zuerkannt wird, er habe diess
und jenes auch schon gewusst, sei aber nicht im Stande
gewesen, seinem Satze Glauben zu verschaffen. Nicht-
anerkannt-werden wird von der Nachwelt immer als
Mangel an Kraft ausgelegt. — Kurz, man soll der hoch-
müthigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden.
Es giebt übrigens Ausnahmefälle; aber gewöhnlich sind
es unsere Fehler Schwächen und Narrheiten, welche die
Anerkennung unserer grossen Eigenschaften verhindern.
376.
Von den Freunden. — Überlege nur mit dir
selber einmal, wie verschieden die Empfindungen, wie
getheilt die Meinungen, selbst unter den nächsten Be-
kannten sind; wie selbst gleiche Meinungen in dem
Kopf deiner Freunde eine ganz andere Stellung oder
Stärke haben als in deinem; wie hundertfältig der An-
lass kommt zum Missverstehen, zum feindseligen Aus-
einanderfliehen. Nach alledem wirst du dir sagen: wie
unsicher ist der Boden, auf dem alle unsere Bündnisse
und Freundschaften ruhen, wie nahe sind kalte Regen-
güsse oder böse Wetter, wie vereinsamt ist jeder Mensch!
Sieht Einer diess ein und noch dazu, dass alle Meinungen
und deren Art und Stärke bei seinen Mitmenschen ebenso
nothwendig und unverantwortlich sind wie ihre Hand-
lungen, gewinnt er das Auge für diese innere Noth wendig-
keit der Meinungen aus der unlösbaren Verflechtung
von Charakter Beschäftigung Talent Umgebung — so
wird er vielleicht die Bitterkeit und Schärfe der Em-
pfindung los, mit der jener Weise rief: „Freunde, es
giebt keine Freunde!" Er wird sich vielmehr ein-
gestehen: ja es giebt Freunde, aber der Irrthum, die
207 —
Täuschung über dich führte sie dir zu; und Schweig-en
müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben;
denn fast immer beruhen solche menschliche Beziehungen
darauf, dass irgend ein paar Dinge nicht gesagt werden,
ja dass an sie nie gerührt wird: kommen diese Steinchen
aber in's Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein
und zerbricht. Giebt es Menschen, welche nicht tödtlich
zu verletzen sind, wenn sie erführen, was ihre vertrautesten
Freunde im Grunde von ihnen wissen? — Indem wir
uns selbst erkennen und unser Wesen selber als eine
wandelnde Sphäre der Meinungen und Stimmungen an-
sehen, und somit ein wenig geringschätzen lernen, bringen
wir uns wieder in's Gleichgewicht mit den Übrigen. Es
ist wahr, wir haben gute Gründe, jeden unserer Be-
kannten, und seien es die grössten, gering zu achten ;
aber ebenso gute, diese Empfindung gegen uns selber
zu kehren. — Und so wollen wir es mit einander aus-
halten, da wir es ja mit uns aushalten; und vielleicht
kommt Jedem auch einmal die freudigere Stunde, wo
er ruft:
„Freunde, es giebt keine Freunde!" so rief der
sterbende Weise;
„Feinde, es giebt keinen Feind!" — ruf ich, der
lebende Thor.
Siebentes Hauptstück:
Weib und Kind.
377-
Das vollkommene Weib. — Das vollkommene
Weib ist ein höherer Typus des Menschen als der voll-
kommene Mann: auch etwas viel Seltneres. — Die
Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen
Satz wahrscheinlich zu machen.
378.
Freundschaft und Ehe. — Der beste Freund
wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil
die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht
379.
Fortleben der Eltern. • — Die unaufgelösten
Dissonanzen im Verhältniss von Charakter und Gesinnung
der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und
machen seine innere Leidensgeschichte aus.
380.
Von der Mutter her. — Jedermann trägt ein
Bild des Weibes von der Mutter her in sich: davon wird
er bestimmt, die Weiber überhaupt zu verehren oder sie
geringzuschätzen oder gegen sie im Allgemeinen gleich-
gültig zu sein.
— i02 ~-
381.
Die Natur corrigiren. — Wenn man keinen
guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.
382.
Väter und Söhne. — Väter haben viel zu thun,
um es wieder gut zu machen, dass sie Sohne haben.
383.
Irrthum vornehmer Frauen. — Die vornehmen
Frauen denken, dass eine Sache gar nicht da ist, wenn
es nicht möglich ist, von ihr in der Gesellschaft zu
sprechen.
384-
Eine Männer-Krankheit. — Gegen die Männer-
Krankheit der Selbstverachtung hilft es am sichersten,
von einem klugen Weibe geliebt zu werden.
385.
Eine Art der Eifersucht — Mütter sind leicht
eitersüchtig auf die Freunde ihrer Söhne, wenn diese be-
sondere Erfolge haben. Gewöhnlich liebt eine Mutter
sich mehr in ihrem Sohne als den Sohn selber.
386.
Vernünftige Unvernunft. — In der Reife des
Lebens und des Verstandes überkommt den Menschen
das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen.
— 303 —
38?.
Mütterliche Güte. — Manche Mutter braucht
glückliche geehrte Kinder, manche unglückliche: sonst
kann sich ihre Güte als Mutter nicht zeigen.
388.
Verschiedene Seufzer. — Einige Männer haben
über die Entführung ihrer Frauen geseufzt, die meisten
darüber, dass Niemand sie ihnen entführen wollte.
389.
Liebesheirathen. — Die Ehen, welche aus Liebe
geschlossen werden (die sogenannten Liebesheirathen),
haben den Irrthum zum Vater und die Noth (das Bedürf-
niss) zur Mutter.
390-
Frauenfreundschaft. — Frauen können recht
gut mit einem Manne Freundschaft schliessen; aber um
diese aufrecht zu erhalten — dazu muss wohl eine kleine
physische Antipathie mithelfen.
391-
Langeweile. — Viele Menschen , namentlich
Frauen, empfinden die Langeweile nicht, weil sie niemals
ordentlich arbeiten gelernt haben.
392.
Ein Element der Liebe. — In jeder Art der
weiblichen Liebe kommt auch etwas von der mütter-
Uchen Liebe zum Vorschein.
— 304
393-
Die Einheit des Orts und das Drama. — Wenn
die Ehegatten nicht beisammen lebten, würden die guten
Ehen häufiger sein.
394.
Gewöhnliche Folgen der Ehe. ^ Jeder Um-
gang, der nicht hebt, zieht nieder und umgekehrt; dess-
halb sinken gewöhnlich die Männer etwas, wenn sie
Frauen nehmen, während die F"rauen etwas gehoben
werden. Allzu geistige Männer bedürfen ebenso sehr
der Ehe als sie ihr wie einer widrigen Medicin wider-
streben.
395-
Befehlen lehren. — Kinder aus bescheidnen
Familien muss man ebenso sehr das Befehlen durch Er-
ziehung lehren wie andere Kinder das Gehorchen.
396.
Verliebt werden wollen. — Verlobte, welche
die Convenienz zusammengefügt hat, bemühen sich häufig,
verliebt zu werden, um über den Vorwurf der kalten,
berechnenden Nützlichkeit hinwegzukommen. Ebenso
bemühen sich Solche, die ihres Vortheils wegen zum
Christenthum umlenken, wirklich fromm zu werden; denn
so wird das religiöse Mienenspiel ihnen leichter.
397.
Kein Stillstand in der Liebe. — Ein Musiker,
der das langsame Tempo liebt, wird dieselben Ton-
— 305 —
stücke immer langsamer nehmen. So giebt es in keiner
Liebe ein Stillstehen.
398.
Schamhaftigk eit — Mit der Schönheit der
Frauen nimmt im Allgemeinen ihre Schamhaftigkeit zu.
3Q9-
Ehe von gutem Bestand. — Eine Ehe, in der
Jedes durch das Andere ein individuelles Ziel erreichen
will, hält gut zusammen, zum Beispiel wenn die Frau
durch den Mann berühmt, der Mann durch die Frau be-
liebt werden wilL '
400.
Proteus-Natur. — Weiber werden aus Liebe ganz
zu dem, als was sie in der Vorstellung der Männer, von
denen sie geliebt werden, leben.
401.
Lieben und besitzen. — Frauen lieben meistens
einen bedeutenden Mann so, dass sie ihn allein haben
wollen. Sie würden ihn gern in Verschluss legen, wenn
nicht ihre Eitelkeit widerriethe: diese will, dass er auch
vor Anderen bedeutend erscheine.
402.
Probe einer guten Ehe. — Die Güte einer Fhe
bewährt sich dadurch, dass sie einmal eine „Ausnahme"
verträgt.
Nietzsche, Werke Band Tl. 20
— 2,ob
403.
Mittel, Alle zu Allem zu bringen. — Man
kann Jedermann so durch Unruhen Ängste Überhäufung
von Arbeit und Gedanken abmatten und schwach machen,
dass er einer Sache, die den Schein des Complicirten hat,
nicht mehr widersteht, sondern ihr nachgiebt, — das
wissen die Diplomaten und die Frauen.
404.
Ehrbarkeit und Ehrlichkeit. — Jene Mädchen,
welche allein ihrem Jugendreize die Versorgung für's
ganze Leben verdanken wollen und deren Schlauheit die
gewitzigten Mütter noch souffliren, wollen ganz Dasselbe
wie die Hetären, nur dass sie klüger und unelirlicher
als diese sind.
405.
Masken. — Es giebt Frauen, die, wo man bei
ihnen auch nachsucht, kein Inneres haben, sondern reine
Masken sind. Der Mann ist zu beklagen, der sich mit
solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden
Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen
des Mannes auf das stärkste zu erregen: er sucht nach
ihrer Seele — und sucht 'immerfort.
406.
Die Ehe als langes Gespräch. — Man soll
sich beim Eingehen einer Ehe die Frage vorlegen:
glaubst du, dich mit dieser Frau bis in's Alter hinein
gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transi-
— 307 — •
torisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dera
Gespräche an.
407.
Mädchenträume. — Unerfahrene Mädchen schmei-
cheln sich mit der Vorstellung, dass es in ihrer Macht
stehe, einen Mann glücklich zu machen; später lernen
sie, dass es so viel heisst als: einen Mann geringschätzen,
wenn man annimmt, dass es nur eines Mädchens be-
dürfe, um ihn glücklich zu machen. — Die Eitelkeit der
Frauen verlangt, dass ein Mann mehr sei als ein glück-
licher Gatte.
408.
Aussterben von Faust und Gretchen. — Nach
der sehr einsichtigen Bemerkung eines Gelehrten ähneln
die gebildeten Männer des gegenwärtigen Deutschlands
einer Mischung von Mephistopheles und Wagner, aber
durchaus nicht Fausten: welchen die Grossväter (in ihrer
Jugend wenigstens) in sich rumoren fühlten. Zu ihnen
passen also — um jenen Satz fortzusetzen — aus zwei
Gründen die Gretchen nicht Und weil sie nicht mehr
begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus.
409.
Mädchen als Gymnasiasten. — Um Alles in
der Welt nicht noch unsere Gymnasialbildung auf die
Mädchen übertragen! Sie, die häufig aus geistreichen
wissbegierigen feurigen Jungen — Abbilder ihrer Lehrer
macht I
410.
Ohne Nebenbuhlerinnen. — Frauen merken
es einem Manne leicht an, ob seine Seele schon in licbitz
— 3o8 —
genommen ist; sie wollen ohne Nebenbuhlerinnen geliebt
sein und verargen ihm die Ziele seines Ehrgeizes, seine
politischen Aufgaben, seine Wissenschaften und Künste,
wenn er eine Leidenschaft zu solchen Sachen hat. Es
sei denn, dass er durch diese glänze, — dann erhoffen
sie, im Falle einer Liebesverbindung mit ihm, zugleich
einen Zuwachs ihres Glanzes; wenn es so steht, be-
günstigen sie den Liebhaber.
411.
Der weibliche Intellect. — Der Intellect der
"Weiber zeigt sich als voUkommne Beherrschung, Gegen-
wärtigkeit des Geistes , Benutzung aller Vortheile. Sie
vererben ihn als ihre Grundeigenschaft auf ihre KJnder,
und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des
Willens dazu. Sein Einfiuss bestimmt gleichsam Rhyth-
mus und Harmonie, mit denen das neue Leben abgespielt
werden soll; aber die Melodie desselben stammt vom
Weibe. — Für Solche gesagt, welche etwas sich zurecht
zu legen wissen: die Weiber haben den Verstand, die
Männer das Gemüth und die Leidenschaft. Dem wider-
spricht nicht, dass die Männer thatsächlich es ifÜt ihrem
Verstände so viel weiter bringen: sie haben die tieferen,
gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der
an sich etwas Passives ist, so weit. Die Weiber wundern
sich im Stillen oft über die grosse Verehrung, welche
die Männer ihrem Gemüthe zollen. Wenn die Männer
vor Allem nach einem tiefen, gemüthvollen Wesen, die
Weiber aber nach einem klugen, geistesgegenwärtigen
und glänzenden Wesen bei der Wahl ihres Ehegenossen
suchen, so sieht man im Grunde deutlich, wie der Mann
nach dem idealisirten Manne, das Weib nach dem ideali-
— 309 —
sirten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern
nach Vollendung der eigenen Vorzüge.
412.
Ein Urtheil Hesiod's bekräftigt. — Ein Zeichen
für die Klugheit .der Weiber ist es, dass sie es fast
überall verstanden haben , sich ernähren zu lassen , wie
Drohnen im Bienenkorbe. Man erwäge doch aber, was
das ursprünglich bedeuten will und warum die Männer
sich nicht von den Frauen ernähren lassen. Gewiss weil
die männliche Eitelkeit und Ehrsucht grösser als die
weibliche Klugheit ist; denn die Frauen haben es ver-
standen , sich durch Unterordnung doch den über-
wiegenden Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern. Selbst
das Pflegen der Kinder könnte ursprünglich von der
Klugheit der Weiber als Vorwand benutzt sein, um sich
der Arbeit möghchst zu entziehen. Auch jetzt noch
verstehen sie, wenn sie wirklich thätig sind, zum Bei-
spiel als Haushälterinnen, davon ein sinneverwirrendes
Auflieben zu machen: so dass von den Männern das
Verdienst ihrer Thätigkeit zehnfach überschätzt zu werden
pflegt
413.
Die Kurzsichtigen sind verliebt. — Mitunter
genügt schon eine stärkere Brille, um den Verliebten zu
heilen; und wer die Kraft der Einbildung hätte, um ein
Gesicht, eine Gestalt sich zwanzig Jahre älter vorzustellen,
gienge vielleicht sehr ungestört durch das Leben.
414.
Frauen im Ilass. — Im Zustande des Hasses
sind Frauen gefährlicher als Männer; einmal weil sie
— 3IO —
durch keine Rücksicht auf Billigkeit in ihrer einmal
erregten feindseligen Empfindung gehemmt werden,
sondern ungestört ihren Hass bis zu den letzten Con-
sequenzen anwachsen lassen, sodann weil sie darauf
eingeübt sind, wunde Stellen (die jeder Mensch, jede
Partei hat) zu finden und dorthinein zu stechen: wozu
ihnen ihr dolchspitzer Verstand treffliche Dienste leistet
(während die Männer beim Anblick von Wunden zurück-
haltend, oft grossmüthig und versöhnüch gestimmt
werden).
415.
Liebe. — Die Abgötterei, welche die Frauen mit
der Liebe treiben, ist im Grund und ursprünglich eine
Erfindung der Klugheit, insofern sie ihre Macht durch
alle jene Idealisirungen der Liebe erhöhen und sich in
den Augen der Männer als immer begehrenswerther dar-
stellen. Aber durch die jahrhundertelange Gewöhnung
an diese übertriebene Schätzung der Liebe ist es ge-
schehen, dass sie in ihr eignes Netz gelaufen sind und
jenen Ursprung vergessen haben. Sie selber sind jetzt
noch mehr die Getäuschten als die Männer, und leiden
desshalb auch mehr an der Enttäuschung, welche fast
nothwendig im Leben jeder Frau eintreten wird — sofern
sie überhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um
getäuscht und enttäuscht werden zu können.
416.
Zur Emancipation der Frauen. — Können die
Frauen überhaupt gerecht sein, wenn sie so gewohnt
sind zu lieben, gleich für oder wider zu empfinden?
Daher sind sie auch seltener für Sachen, mehr für
— 311 —
Personen eingenommen: sind sie es aber für Sachen, so
werden sie sofort deren Parteigänger und verderben
damit die reine unschuldige Wirkung derselben. So
entsteht eine nicht geringe Gefahr, wenn ihnen die Politik
und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden
(zum Beispiel Geschichte). Denn was wäre seltener als
eine Frau, welche wirklich wüsste, was Wissenschaft ist?
Die besten nähren sogar im Busen gegen sie eine heim-
liche Geringschätzung, als ob sie irgend wodurch ihr
überlegen wären. Vielleicht kann diess Alles anders
werden, einstweilen ist es so.
417.
Die Inspiration im Urtheile der Frauen. —
Jene plötzlichen Entscheidungen über das Für oder
Wider , welche Frauen zu geben pflegen , die blitz-
schnellen Erhellungen persönlicher Beziehungen durch
ihre hervorbrechenden Neigungen und Abneigungen,
kurz die Beweise der weiblichen Ungerechtigkeit sind
von liebenden Männern mit emem. Glanz amgeben
worden, als ob alle Frauen Inspirationen von Weisheit
hätten, auch ohne den delphischen Kessel und die Lor-
beerbinde : und ihre Aussprüche werden noch lange
nachher wie sibyllinische Orakel interpretirt und zurecht-
gelegt. Wenn man aber erwägt, dass für jede Person,
für jede Sache sich etwas geltend machen lässt, aber
ebenso gut auch etwas gegen sie, dass alle Dinge nicht
nur zwei-, sondern drei- und vierseitig sind, so ist es
beinahe schwer, mit solchen plötzhch^n Entscheidungen
gänzlich fehl zu greifen; ja man könnte sagen: die Natur
der Dinge ist so eingerichtet, dass die Frauen immer
Recht behalten.
i^2
418.
Sich lieben lassen. — Weil die eine von zwei
liebenden Personen gewöhnlich die liebende, die andere
die geliebte Person ist, so ist der Glaube entstanden, es
gäbe in jedem Liebeshandel ein gleichbleibendes Maass
von Liebe: je mehr eine davon an sich reisse, um so
weniger bleibe für die andere Person übrig. Ausnahms-
weise kommt es vor, dass die Eitelkeit jede der beiden
Personen überredet, sie sei die, welche geliebt werden
müsse; so dass sich beide lieben lassen wollen: woraus
sich namentlich in der Ehe mancherlei halb drollige halb
absurde Scenen ergeben.
419-
Widersprüche in weiblichen Köpfen. — Weil
die Weiber so viel mehr persönlich als sachhch sind,
vertragen sich in ihrem Gedankenkreise Richtungen, die
logisch mit sich im Widerspruche sind: sie pflegen sich
eben für die Vertreter dieser Richtungen der Reihe
nach zu begeistern und nehmen deren Systeme in Bausch
und Bogen an; doch so, dass überall dort eine todte
Stelle entsteht, wo eine neue Persönlichkeit später das
Übergewicht bekommt. Es kommt vielleicht vor, dass
die ganze Philosophie im' Kopf einer alten Frau aus
lauter solchen todten Stellen besteht
420.
Wer leidet mehr? — Nach einem persönlichen
Zwiespalt und Zanke zwischen einer Frau und einem
Manne leidet der eine Theil am meisten bei der Vor-
— 313 —
Stellung, dem anderen wehe gethan zu haben; während
jener am meisten bei der Vorstellung leidet, dem anderen
nicht genug wehe gethan zu haben, wesshaib er sich
bemüht, durch Thränen, Schluchzen und verstörte Mienen,
ihm noch hinterdrein das Herz schwer zu machen.
421.
Gelegenheit zu weiblicher Grossmuth. — Wenn
man sich über die Ansprüche der Sitte einmal in Ge-
danken hinwegsetzt, so könnte man wohl erwägen ^ ob
nicht Natur und Vernunft dea Mann auf mehrfache Ver-
heirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt,
dass er zuerst im Alter von zweiundzwanzig Jahren
ein älteres Mädchen heirathet, das ihm geistig und
sittlich überlegen ist und seine Führerin durch die
Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz Hass Selbstver-
achtung, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die
Liebe Dieser würde später ganz in das iMütterliche über-
treten, und sie ertrüge es nicht nur, sondern förderte
es auf die heilsamste Weise, wenn der Mann in den
dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Mädchen eine
Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in die
Hand nähme. — Die Ehe ist für die zwanziger Jahre ein
nöthiges, für die dreissiger ein nützliches, aber nicht
nöthiges Institut: für das spätere Leben wird sie oft
schädlich und befördert die geistige Rückbildung des
Mannes.
422.
Tragödie der Kindheit. — Es kommt vielleicht
nicht selten vor, dass edel- und hochstrebende Menschen
iliren härtesten Kampf in der Kindheit zu bestehen
— 314 —
haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen
einen niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei
ergebenen Vater durchsetzen oder fortwährend, wie Lord
Byron, im Kampfe mit einer kindischen und zornwüthigen
Mutter leben müssen. Hat man so etwas erlebt, so
wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu
wissen, wer Einem eigentlich der grösste, der gefähr-
lichste Feind gewesen ist.
423-
Eltern-Thorheit. — Die gröbsten Irrthümer in der
Beurtheilung eines Menschen werden von dessen Eltern
gemacht: diess ist eine Thatsache, aber wie soll man sie
erklären? Haben die Eltern zu viele Erfahrung von dem
Kinde und können sie diese nicht mehr zu einer Einheit
zusammenbringen? Man bemerkt, dass Reisende unter
fremden Völkern nur in der ersten Zeit ihres Aufent-
haltes die allgemeinen unterscheidenden Züge eines Volkes
richtig erfassen; je mehr sie das Volk kennen lernen,
desto mehr verlernen sie, das Typische und Unter-
scheidende an ihm zu sehen. Sobald sie nah - sichtig
werden, hören ihre Augen auf fern -sichtig zu sein.
Sollten die Eltern desshalb falsch über das Kind urtheilen,
weil sie ihm nie fern genug gestanden haben? — Eine
ga,nz andere Erklärung wäre folgende: die Menschen
pflegen über das Nächste, was sie umgiebt, nicht mehr
nachzudenken, sondern es nur hinzunehmen. Vielleicht
ist die gewohnheitsmässige Gedankenlosigkeit der Eltern
der Grund, wesshalb sie, einmal genöthigt über ihre
Kinder zu urtheilen, so schief urtheilen.
315
424.
Aus der Zukunft der Ehe. — Jene edlen frei-
gesinnten Frauen, welche die Erziehung und Erhebung
des weiblichen Geschlechts sich zur Aufgabe stellen,
sollen Einen Gesichtspunkt nicht übersehen: die Ehe in
ihrer höheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft
zweier Menschen verschiedenen Geschlechts, also so, wie
sie von der Zukunft erhofft wird, zum Zweck der Er-
zeugung und Erziehung einer neuen Generation ge-
schlossen, — eine solche Ehe, welche das Sinnliche
gleichsam nur als ein seltnes gelegentliches Mittel für
einen grössern Zweck gebraucht, bedarf wahrscheinlich,
wie man besorgen muss, einer natürlichen Beihülfe, des
Concubinats. Denn wenn aus Gründen der Gesundheit
des Mannes das Eheweib auch zur alleinigen Befriedigung
des geschlechtlichen Bedürfnisses dienen soll, so wird bei
der Wahl einer Gattin schon ein falscher, den ange-
deuteten Zielen entgegengesetzter Gesichtspunkt maass-
gebend sein: die Erzielung der Nachkommenschaft wird
zufällig, die glückliche Erziehung höchst unwahrscheinlich.
Eine gute Gattin, welche Freundin, Gehülfin, Gebärerin,
Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht
abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Geschäft und
Amt vorzustehen hat — kann nicht zugleich Concubine
sein: es hiesse im Allgemeinen zu viel von ihr verlangen.
Somit könnte in Zukunft das Umgekehrte dessen ein-
treten, was zu Perikles' Zeiten in Athen sich begab, die
Männer, welche damals an ihren Eheweibern nicht viel
mehr als Concubinen hatten, wandten sich nebenbei zu
den Aspasien, weil sie nach den Reizen eine; köpf- und
herzbefreienden Geselligkeit verlangten wie eine solche
nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen
— Sid —
zu schaffen vermag. Alle menschlichen Institutionen,
wie die Ehe, gestatten nur einen massigen Grad \'on
praktischer Idealisirung, widrigenfalls sofort grobe Re-
meduren nöthig werden.
425-
Sturm- und Drangperiode der Frauen. —
Man kann in den drei oder vier civilisirten Ländern
Europa's aus den Frauen durch einige Jahrhunderte von
Erziehung Alles machen, was man will, selbst Männer,
freilich nicht in geschlechtlichem Sinne, aber doch in
jedem anderen Sinne. Sie werden unter einer solchen
Einwirkung einmal alle männlichen Tugenden und Stär-
ken angenommen haben, dabei allerdings auch deren
Schwäclien und Laster mit in den Kauf nehmen müssen:
so viel, wie gesagt, kann man erzwingen. Aber wie
werden wir den dadurch herbeigeführten Zwischenzustand
aushalten, welcher vielleicht selber ein paar Jahrhunderte
dauern kann, während denen die weiblichen Narrheiten
und Ungerechtigkeiten, ihr uraltes Angebinde, noch die
Übermacht über alles Hinzugewonnene, Angelernte be-
haupten? Diese Zeit wird es sein, in welcher der Zorn
den eigentlich männlichen Afifect ausmacht, der Zorn
darüber, dass alle Künste und Wissenschaften durch
einen unerhörten Dilettantismus überschwemmt und ver-
schlammt sind, die Philosophie durch sinnverwirrendes
Geschwätz zu Tode geredet, die Politik phantastischer
und parteiischer als je, die Gesellschaft in voUer Auf-
lösung ist, weil die Bewahrerinnen der alten Sitte sich
selber lächerlich geworden und in jeder Beziehung ausser
der Sitte zu stehen bestrebt sind. Hatten nämlich die
Frauen ihre grösste Macht in der Sitte, wonach werden
sie greifen müssen, um eine ähnliche Fülle der Macht
— 317 —
wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben
haben?
426.
Freigeist und Ehe. — Ob die Freigeister mit
Frauen leben werden? Im Allgemeinen glaube ich, dass
sie, gleich den wahrsagenden Vögeln des Alterthums,
als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegen-
wart es vorziehen müssen, allein zu fliegen.
427.
Glück der Ehe. — Alles Gewohnte zieht ein
immer fester werdendes Netz von Spinneweben um uns
zusammen; und alsobald merken wir, dass die Fäden zu
Stricken geworden sind und dass wir selber als Spinne
in der Mitte sitzen, die sich hier gefangen hat und von
ihrem eignen Blute zehren muss. Desshalb hasst der
Freigeist alle Gewöhnungen und Regeln, alles Dauernde
und Definitive, desshalb reisst er, mit Schmerz, das Netz
um sich immer wieder auseinander: wiewohl er in Folge
dessen an zahlreichen kleinen und grossen Wunden
leiden wird — denn jene Fäden muss er von sich,
von seinem Leibe, seiner Seele abreissen. Er muss
dort lieben lernen, wo er bisher hasste: und umgekehrt.
Ja es darf für ihn nichts Unmöghches sein, auf dasselbe
Feld Drachenzähne auszusäen, auf welches er vorher
die Füllhörner seiner Güte ausströmen liess. — Daraus
lässt sich abnehmen, ob er für das Glück der Ehe ge-
schaffen ist
428.
Zu nahe. — Leben wir zu nahe mit einem Men-
schen zusammen, so geht es uns so, wie wenn wir einen
— 3IÖ -
guten Kupferstich immer wieder mit blossen Fingern
anfassen: eines Tages haben wir schlechtes beschmutztes
Papier und nichts weiter mehr in den Händen. Auch
die Seele eines Menschen wird durch beständiges An-
greifen endlich abgegriffen; mindestens erscheint sie
uns endlich so — wir sehen ihre ursprüngliche Zeich-
nung und Schönheit nie wieder. — Man verliert hnmer
durch den allzuvertraulichen Umgang mit Frauen und
Freunden ; und mitunter verliert man die Perle seines
Lebens dabei.
429.
Die goldene Wiege. — Der Freigeist wird immer
aufathmen, wenn er sich endlich entschlossen hat, jenes
mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit welchem die
Frauen um ihn walten, von sich abzuschütteln. Was
schadet ihm denn ein rauherer Luftzug, den man so
ängstlich von ihm wehrte, was bedeutet ein wirklicher
Nachtheil, Verlust, Unfall, eine Erkrankung Verschuldung
Bethörung mehr oder weniger in seinem Leben, verglichen
mit der Unfreiheit der goldncn Wiege, des Pfauen-
schweif-Wedels und der drückenden Empfindung, noch
dazu dankbar sein zu müssen, weil er wie ein Säugling
gewartet und verwöhnt wird? Desshalb kann sich ihm
die Milch, welche die mütterliche Gesinnung der ihn um-
gebenden Frauen reicht, so leicht in Galle verwandeln.
430.
Freiwilliges Opferthier. — Durch Nichts erleich-
tern bedeutende Frauen ihren Männern, falls diese berühmt
und gross sind, das Leben so sehr, als dadurch dass sie
gleichsam das Gefäss der allgemeinen Ungunst und ge-
— 319 —
legentlichen Verstimmung- der übrigen Menschen werden.
Die Zeitgenossen pflegen ihren grossen Männern viel
Fehlgriffe und Narrheiten, ja Handlungen grober Unge-
rechtigkeit nachzusehen, wenn sie nur Jemanden finden,
den sie als eigentliches Opferthier zur Erleichterung ihres
Gemüthes misshandeln und schlachten dürfen. Nicht
selten findet eine Frau den Ehrgeiz in sich, sich zu dieser
Opferung anzubieten, und dann kann freilich der Mann
sehr zufrieden sein, — falls er nämlich Egoist genug ist,
um sich einen solchen freiwilligen Blitz- Sturm- und
Regenableiter in seiner Nähe gefallen zu lassen,
431.
Angenehme Widersacher. — Die naturgemässe
Neigung der Frauen zu ruhigem, gleichmässigem, glück-
Uch zusammenstimmenden Dasein und Verkehren, das
ölgleiche und Beschwichtigende ihrer Wirkungen auf
dem Meere des Lebens arbeitet unwillkürlich dem hero-
ischeren inneren Drange des Freigeistes entgegen. Ohne
dass sie es merken, handeln die Frauen so, als wenn
man dem wandernden Mineralogen die Steine vom Wege
nimmt, damit sein Fuss nicht daran stosse — während
er gerade ausgezogen ist, um daran zu stossen.
432.
Missklang zweier Consonanzen. — Die Frauen
wollen dienen und haben darin ihr Glück: und der Frei-
geist will nicht bedient sein und hat darin sein Glück.
433.
Xanthippe. — Sokrates fand eine Frau, wie er sie
brauchte — aber auch er hätte sie nicht gesucht, falls
— 320 —
er sie gut genug gekannt hätte: so weit wäre auch der
Heroismus dieses freien Geistes nicht gegangen. That-
sächlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigenthümlichen
Beruf immer mehr hinein, indem sie ihm Haus und Heim
unhäuslich und unheimlich machte: sie lehrte ihn, auf
den Gassen und überall dort zu leben, wo man schwätzen
und müssig sein konnte, und bildete ihn damit zum
grössten athenischen Gassen-Dialektiker aus: der sich zu-
letzt selber mit einer zudringlichen Bremse vergleichen
musste, welche dem schönen Pferde Athen von einem
Gotte auf den Nacken gesetzt sei, um es nicht zur Ruhe
kommen zu lassen.
434-
Für die Ferne blind. — Ebenso wie die Mütter
eigentlich nur Sinn und Auge für die äugen- und sinn-
fälligen Schmerzen ihrer Kinder haben, so vermögen die
Gattinnen hoch strebender Männer es nicht über sich zu
gewinnen, ihre Ehegenossen leidend, darbend und gar miss-
achtet zu 'sehen, — während vielleicht alles diess nicht
nur die Wahrzeichen einer richtigen Wahl ihrer Lebens-
haltung, sondern schon die Bürgschaften dafür sind, dass
ihre grossen Ziele irgendwann einmal erreicht werden
müssen. Die Frauen intriguiren im Stillen immer gegen
die höhere Seele ihrer Männer; sie wollen dieselbe um
ihre Zukunft, zu Gunsten "einer schmerzlosen, behaglichen
Gegenwart, betrügen.
435-
Macht und Freiheit. — So hoch Frauen ihre
^länner ehren, so ehren sie doch die von der Gesellschaft
anerkannten Gewalten und Vorstellungen noch mehr: sie
sind seit Jahrtausenden gewohnt, vor allem Herrschenden
— 321 —
gebückt, die Hände auf die Brust gefaltet, einherzugehen
und missbilligen alle Auflehnung gegen die öffentliche
Macht. Desshalb hängen sie sich, ohne es auch nur zu
beabsichtigen, vielmehr wie aus Instinct, als Hemmschuh
in die Räder eines freigeisterischen unabhängigen Stre-
bens und machen unter Umständen ihre Gatten auf's
Höchste ungeduldig, zumal wenn diese sich noch vor-
reden, dass Liebe es sei, was die Frauen im Grunde
dabei antreibe. Die Mittel der Frauen missbilligen und
grossmüthig die Motive dieser Mittel ehren — das ist
Männer- Art und oft genug Männer -Verzweiflung.
436.
Cetenivi censeo. — Es ist zum Lachen, wenn eine
GeseDschaft von Habenichtsen die Abschaffung des Erb-
rechts decretirt, und nicht minder zum Lachen ist es,
wenn Kinderlose an der praktischen Gesetzgebung eines
Landes arbeiten: — sie haben ja nicht genug Schwer-
gewicht in ihrem Schiffe, um sicher in den Ocean der
Zukunft hineinsegeln zu können. Aber ebenso ungereimt
erscheint es, wenn Der, welcher die allgemeinste Er-
kenntniss und die Abschätzung des gesammten Daseins
zu seiner Aufgabe erkoren hat, sich mit persönlichen
Rücksichten auf dne Familie, auf Ernährung, Sicherung,
Achtung von Weib und I<jnd, belastet und vor sein
Teleskop jenen trüben Schleier aufspannt, durch welchen
kaum einige Strahlen der fernen Gestirnwelt hindurch-
zudringen vermögen. So komme auch ich zu dem Satze,
dass in den Angelegenheiten der höchsten philosophi-
schen Art alle Verheiratheten verdächtig sind.
Nietzsche, Werke Band Tl.
— 322
437-
Zuletzt. — Es giebt mancherlei Arten von Schier-
ling, und gewöhnlich findet das Schicksal eine Gelegen-
heit, dem Freigeiste einen Becher dieses Giftgetränkes
an die Lippen zu setzen — um ihn zu „strafen", wie
dann alle Welt sagt. Was thuen dann die Frauen um
ihn? Sie werden schreien und wehklagen und vielleicht
die Sonnenuntergangs-Ruhe des Denkers stören: wie sie
es im Gefängniss von Athen thaten. „O Kriton, heisse
doch Jemanden diese Weiber da fortführen 1" sagte end-
lich Sokrates. —
Achtes Hauptstück:
Ein Blick auf den Staat.
438.
Um das Wort bitten. — Der demagogische
Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken,
ist gegenwärtig allen politischen Parteien gemeinsam:
sie alle sind genöthigt, der genannten Absicht wegen,
ihre Principien zu grossen Alfresco-Dummheiten umzu-
wandeln und sie so an die Wand zu malen. Daran ist
nichts mehr zu ändern, ja es ist überflüssig, auch nur
einen Finger dagegen aufzuheben; denn auf diesem
Gebiete gilt, was Voltaire sagt: qtiand la populace se
mele de raisonner , tottt est perdu. Seitdem diess ge-
schehn ist , muss man sich den neuen Bedingungen
fügen, wie man sich fügt, wenn ein Erdbeben die alten
Grenzen und Umrisse der Bodengestalt verrückt und
den Werth des Besitzes verändert hat. Überdiess: wenn
es sich nun einmal bei aller Politik darum handelt, mög-
lichst Vielen das Leben erträglich zu machen, so mögen
immerhin diese Möglichst -Vielen auch bestimmen, was
sie unter einem erträglichen Leben verstehen; trauen sie
sich den Intellect zu, auch die richtigen Mittel zu diesem
Ziele zu finden, was hülfe es daran zu zweifeln? Sie
wollen nun einmal ihres Glücks und Unglücks eigene
Schmiede sein; und wenn dieses Gefühl der Selbstbe-
stimmung, der Stolz auf die fünf sechs Begriffe, welche
ihr Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der That
— 326 —
das Leben so angenehm macht, dass sie die fatalen
Folgen ihrer Beschränktheit gern ertragen: so ist wenig
einzuwenden, vorausgesetzt dass die Beschränktheit nicht
so weit geht, zu verlangen, es solle Alles in diesem
Sinne zur Pohtik werden, es solle Jeder nach solchem
Maassstabe leben und wirken. Zuerst nämlich muss es
Einigen mehr als je erlaubt sein, sich der Pohtik zu
enthalten und ein wenig bei Seite zu treten: dazu treibt
auch sie die Lust an der Selbstbestimmung; und auch
ein kleiner Stolz mag damit verbrnden sein, zu schweigen,
wenn zu Viele oder überhaupt nur Viele reden. Sodann
muss man es diesen Wenigen nachsehen, wenn sie dcis
Glück der Vielen, verstehe man nun darunter Völker
oder Bevölkerungsschichten, nicht so v/ichtig nehmen
und sich hier und da eine ironische Miene zu Schulden
kommen lassen; denn ihr Ernst liegt anderswo, ihr Glück
ist ein anderer Begriif, ihr Ziel ist nicht von jeder
plumpen Hand, welche eben nur fünf Finger hat, zu
umspannen. Endlich kommt — was ihnen gewiss am
schwersten zugestanden wird, aber ebenfalls zugestanden
werden muss — von Zeit zu Zeit ein Augenblick, wo
sie aus ihrer schweigsamen Vereinsamung heraustreten
und die Kraft ihrer Lungen wieder einmal versuchen:
dann rufen sie nämlich einander zu wie Verirrte in einem
Walde, um sich einander zu erkennen zu geben und zu
ermuthigen; wobei freilich Mancherlei laut wird, was den
Ohren, für welche es nicht bestimmt ist, übel klingt. —
Nun, bald darauf ist es wieder stille im Walde, so stille,
dass man das Schwirren Summen und Flattern der
zahllosen Insecten, welche in, über und unter ilim leben,
wieder deutlich vernimmt. —
— 327 —
439-
Cultur und Kaste. — Eine höhere Cultur kann
allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene Kasten
der Gesellschaft giebt: die der Arbeitenden und die der
Müssigen, zu wahrer Müsse Befähigten; oder mit stär-
kerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs- Arbeit und die
Kaste der Frei-Arbeit Der Gesichtspunkt der Vertheilung
des Glücks ist nicht wesentlich, wenn es sich um die
Erzeugung einer höheren Cultur handelt; jedenfalls aber
ist die Kaste der Müssigen die leidensfähigere leiden-
dere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre Aufgabe
grösser. Findet nun gar ein Austausch der beiden
Kasten statt, so, dass die stumpferen, ungeistigeren
Familien und Einzelnen aus der oberen Kaste in die
niedere herabgesetzt werden und wiederum die freieren
Menschen aus dieser den Zutritt zur höheren erlangen:
so ist ein Zustand erreicht, über den hinaus man nur
noch das offene Meer unbestimmter Wünsche sieht. —
So redet die verkUngende Stimme der alten Zeit zu uns;
aber wo sind noch Ohren, sie zu hören?
440.
Von Geblüt. — Das, was Männer und Frauen von
Geblüt vor Anderen voraus haben und was ihnen un-
zweifelhaftes Anrecht auf höhere Schätzung giebt, sind
zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte Künste:
die Kunst, befehlen zu können, und die Kunst des
stolzen Gehorsams. — Nun entsteht überall, wo das Be-
fehlen zum Tagesgeschäft gehört (wie in der grossen
Kaufmanns- und Industrie -Welt), etwas Ahnliches wie
jene Geschlechter „von Geblüt", aber ihnen fehlt die vor-
- 328 -
nehme Haltung im Gehorchen, welche bei jenen eine
Erbschaft feudaler Zustände ist und die in unserm
Cultur- Klima nicht mehr wachsen will.
441.
Subordination. — Die Subordination, welche im
Alilitär- und Beamtenstaate so hoch geschätzt wird, wird
uns bald ebenso unglaublich werden, wie die geschlossene
Taktik der Jesuiten es bereits geworden ist; und wenn
diese Subordination nicht mehr möglich ist, lässt sich
eine Menge der erstaunlichsten Wirkungen nicht mehr
erreichen, und die Welt wird ärmer sein. Sie muss
schwinden, denn ihr Fundament schwindet: der Glaube
an die unbedingte Autorität, an die endgültige Wahrheit;
selbst in Militärstaaten ist der physische Zwang nicht
ausreichend; sie hervorzubringen, sondern die angeerbte
Adoration vor dem Fürstlichen wie vor etwas Über-
menschlichem, — In freieren Verhältnissen ordnet man
sich nur auf Bedingungen unter, in Folge gegenseitigen
Vertrags, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes.
442.
Volks beere. — Der grösste Nachtheil der jetzt
so verherrlichten Volksheere besteht in der Vergeudung
von Menschen der höchsten Civihsation; nur durch die
Gunst aller Verhältnisse giebt es deren überhaupt — wie
sparsam und ängstlich sollte man mit ihnen umgehen,
da es grosser Zeiträume bedarf, um die zufälligen Be-
dingungen zur Erzeugung so zart organisirter Gehirne zu
schaffen 1 Aber wie die Griechen in Griechenblut wüthe-
ten, so die Europäer jetzt in Europäerblut; und zwar
— 329 —
werden relativ am meisten immer die Höchstgebildeten
zum Opfer gebracht, Die welche eine reichliche und gute
Nachkommenschaft verbürgen: Solche nämlich stehen im
Kampfe voran, als Befehlende, und setzen sich überdiess,
ihres höheren Ehrgeizes wegen, den Gefahren am meisten
aus. — Der grobe Römer-Patriotismus ist jetzt, wo ganz
andere und höhere Aufgaben gestellt sind als patrta
und honos, entweder etwas Unehrliches oder ein Zeichen
der Zurückgebliebenheit.
443.
Hoffnung als Anmaassung. — Unsere gesell-
schaftliche Ordnung wird langsam wegschmelzen, wie
es alle frühere Ordnungen gethan haben, sobald die
Sonnen neuer Meinungen mit neuer Gluth über die
Menschen hinleuchteten. Wünschen kann man diess
Wegschmelzen nur, indem man hofft: und hoffen darf
man vernünftigerweise nur, wenn man sich und seines-
gleichen mehr Kraft in Herz und Kopf zutraut als den
Vertretern des Bestehenden. Gewöhnlich also wird diese
Hoffnung eine Anmaassung, eine Überschätzung
sein.
444.
Krieg. — Zu Ungunsten des Kriegs kann man
sagen: er macht den Sieger dumm, den Besiegten bos-
haft. Zu Gunsten des Krieges: er barbarisirt in beiden
eben genannten Wirkungen und macht dadurch natür-
licher; er ist für die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der
Mensch kommt kräftiger zum Guten und Bösen aus ihm
heraus.
— 330 —
445-
Im Dienste des Fürsten. — Ein Staatsmann wird,
um völlig rücksichtslos handeln zu können, am besten
thun, nicht für sich, sondern für einen Fürsten sein Werk
auszuführen. Vom Glänze dieser allgemeinen Uneigen-
nützigkeit wird das Auge des Beschauers geblendet, so
dass er jene Tücken und Härten, welche das Werk des
Staatsmannes mit sich bringt, nicht sieht.
446.
Eine Frage der Macht, nicht des Rechts. —
Für Menschen, welche bei jeder Sache den höheren
Nutzen in's Auge fassen, giebt es bei dem Socialismus,
falls er wirklich die Erhebung der Jahrtausende lang
Gedrückten Niedergehaltenen gegen ihre Unterdrücker
ist, kein Problem des Rechts {mit der lächerlichen
weichlichen Frage: „wie weit soll man seinen Forder-
ungen nachgeben?"), sondern nur ein Problem der
Alacht („wie weit kann man seine Forderungen be-
nutzen?"); also wie bei einer Naturmacht, zum Beispiel
dem Dampfe, welcher entweder von dem Menschen in
seine Dienste, als Maschinengott, gezwungen wird oder,
bei Fehlern der Maschine das heisst Fehlern der mensch-
Hchen Berechnung im Bau derselben, sie und den
Menschen mit zertrümmert. Um jene Machtfrage zu
lösen, muss man wissen, wie stark der Socialismus ist,
in welcher Modification er noch als mächtiger Hebel
innerhalb des jetzigen politischen Kräftespiels benutzt
werden kann; unter Umständen müsste man selbst
Alles thun, ihn zu kräftigen. Die Menschheit muss bei
jeder grossen Kraft — und sei sie die gefährlichste —
— 331 —
daran denken, aus ihr ein Werkzeug ihrer Absichten
zu machen. — Ein Recht gewinnt sich der Sociahsmus
erst dann, wenn es zwischen den beiden Mächten, den
\^eitretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen
zu sein scheint, wenn aber dann das kluge Rechnen
auf möglichste Erhaltung und Zuträglichkeit auf Seiten
beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrag ent-
stehen lässt. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt
es aber auf dem bezeichneten Gebiete weder Krieg noch
Verträge, also auch keine Rechte, kein „Sollen".
447-
Benutzung der kleinsten Unredlichkeit. —
Die Macht der Presse besteht darin, dass jeder Einzelne,
der ihr dient, sich nur ganz wenig verpflichtet und ver-
bunden fühlt. Er sagt für gewöhnlich seine Meinung,
aber sagt sie einmal auch nicht, um seiner Partei
oder der Politik seines Landes oder endlich sich selber
zu nützen. Solche kleine Vergehen der Unredhchkeit
oder vielleicht nur einer unredlichen Verschwiegenheit
sind von dem Einzelnen nicht schwer zu tragen, doch
sind die Folgen ausserordentlich, weil diese kleinen Ver-
gehen von Vielen zu gleicher Zeit begangen werden.
Jeder von Diesen sagt sich: „für so geringe Dienste
lebe ich besser, kann ich mein Auskommen finden;
durch den Mangel solcher kleinen Rücksichten mache
ich mich unmöglich." Weil es beinahe sittlich gleich-
gültig erscheint, eine Zeile, noch dazu vielleicht ohne
Naroensur^rschrift, mehr zu schreiben oder nicht zu
schreiben, so kann Einer, der Geld und Einfluss hat, jede
Meinung zur öffentlichen machen. Wer da weiss, dass
die meisten Menschen in Kleinigkeiten schwach sind, und
— 332 —
seine eigenen Zwecke durch sie erreichen will, ist immer
ein gefährlicher Mensch.
448.
Allzu lauter Ton bei Beschwerden. — Da-
durch dass ein Nothstand (zum Beispiel die Gebrechen
einer Verwaltung, Bestechhchkeit und Gunstwillkür in
politischen oder gelehrten Körperschaften) stark über-
trieben dargestellt wird, verliert zwar die Darstellung bei
den Einsichtigen ihre Wirkung, aber wirkt um so stärker
auf die Nichteinsichtigen (welche bei einer sorgsamen
maassvollen Darlegung gleichgültig geblieben wären).
Da diese aber bedeutend in der Mehrzahl sind und
stärkere Willenskräfte, ungestümere Lust zum Handeln
in sich beherbergen, so wird jene Übertreibung zum
Anlass von Untersuchungen Bestrafungen Versprechen
und Reorganisationen. — Insofern ist es nützlich, Noth-
stände übertreibend darzustellen.
449.
Die anscheinenden Wettermacher der Politik.
— Wie das Volk bei Dem, welcher sich auf das Wetter
versteht und es um einen Tag voraussagt, im Stillen
annimmt, dass er das Wetter mache, so legen selbst
Gebildete und Gelehrte mit einem Aufwand von aber-
gläubischem Glauben grossen Staatsmännern alle die
wichtigen Veränderungen und Conjuncturen , welche
während ihrer Regierung eintraten, als deren eigenstes
Werk bei, wenn es nur ersichtlich ist, dass Jene etwas
davon eher wussten als Andere und ihre Berechnung
darnach machten: sie werden also ebenfalls als Wetter-
macher genommen — und dieser Glaube ist nicht das
geringste Werkzeug ihrer Macht.
333
450-
Neuer und alter Begriff der Regierung. —
Zwischen Regierung und Volk so zu scheiden, als ob
hier zwei getrennte Machtsphären, eine stärkere höhere
mit einer schwächeren niederen, verhandelten und sich
vereinbarten, ist ein Stück vererbter politischer Empfin-
dung, welches der historischen Feststellung der Macht-
verhältnisse in den meisten Staaten noch jetzt genau
entspricht. Wenn zum Beispiel Bismarck die constitutio-
nelle Form als einen Compromiss zwischen Regierung
und Volk bezeichnet, so redet er gemäss einem Princip,
welches seine Vernunft in der Geschichte hat (ebendaher
freilich auch den Beisatz von Unvernunft, ohne den nichts
Menschliches existiren kann). Dagegen soll man nun
lernen — gemäss einem Princip, welches rein aus dem
Kopfe entsprungen ist und erst Geschichte machen
soll — , dass Regierung nichts als ein Organ des Volkes
sei, nicht ein vorsorgliches, verehrungswürdiges „Oben"
im Verhältniss zu einem an Bescheidenheit gewöhnten
„Unten". Bevor man diese bis jetzt unhistorische und
willkürliche, wenn auch logischere Aufstellung des Be-
griffs Regierung annimmt, möge man doch ja die Folgen
erwägen: denn das Verhältniss zwischen Volk und Re-
gierung ist das stärkste vorbildliche Verhältniss, nach
dessen Muster sich unwillkürlich der Verkehr zwischen
Lehrer und Schüler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater
und Familie, Heerführer und Soldat, Meister und Lehr-
ling bildet. Alle diese Verhältnisse gestalten sich jetzt,
unter dem Einflüsse der herrschenden constitutionellen
Regierungsform, ein wenig um: sie werden Compro-
misse. Aber wie müssen sie sich verkehren und ver-
schieben, Namen und Wesen wechseln, wenn jener
— 334 —
allerneuste Begriff überall sich der Köpfe bemeistert
hat! — wozu es aber wohl ein Jahrhundert noch brau-
chen dürfte. Hierbei ist Nichts mehr zu wünschen als
Vorsicht und langsame Entwicklung.
451-
Gerechtigkeit als Parteien-Lockruf. — Wohl
können edle (wenn auch nicht gerade sehr einsichtsvolle)
Vertreter der herrschenden Classe sich geloben: wir
wollen die Menschen als gleich behandeln, ihnen gleiche
Rechte zugestehen. Insofern ist eine socialistische
Denkungsweise, welche auf Gerechtigkeit ruht, mög-
lich; aber wie gesagt nur innerhalb der herrschenden
Classe , welche in diesem Falle die Gerechtigkeit mit
Opfern und Verleugnungen übt. Dagegen Gleichheit
der Rechte fordern, wie es die Socialisten der unter-
worfenen Kaste tliun, ist nimmermehr der Ausfluss der
Gerechtigkeit, sondern der Begehrlichkeit. — Wenn man
der Bestie blutige Fleischstücke aus der Nähe zeigt und
wieder wegzieht, bis sie endlich brüllt: meint ihr, dass
diess Gebrüll Gerechtigkeit bedeute?
452.
Besitz und GerecTitigkeit. — Wenn die Socia
listen nachweisen , dass die Eigenthums-Vertheilung in
der gegenwärtigen Menschheit die Consequenz zahlloser
Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist , und in
summa die Verpflichtung gegen etwas so unrecht Be-
gründetes ablehnen: so sehen sie nur et\vas Einzelnes.
Die ganze Vergangenheit der alten Cultur ist aut Gewalt
Sclaverei Betrug Irrthum aufgebaut; wir können aber
— 335 —
uns selbst, die Erben aller dieser Zustände, Ja die Con-
crescenzen aller jener Vergangenheit, nicht wegdecre-
tiren und dürfen nicht ein einzelnes Stück herausziehn
wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt in den Seelen
der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als die
Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn
irgend wann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen.
Nicht gewaltsame neue Vertheilungen sondern allmäh-
liche UmschafiFungen des Sinnes thun noth, die Gerechtig-
keit muss in Allen grösser werden, der gewaltthätige
Instinct schwächer.
. 453.
Der Steuermann der Leidenschaften. — Der
Staatsmann erzeugt öffentliche Leidenschaften, um den
Gewinn von der dadurch erweckten Gegenleidenschaft
zu haben. Um ein Beispiel zu nehmen : so weiss ein
deutscher Staatsmann wohl, dass die katholische Kirche
niemals mit Russland gleiche Pläne haben wird, ja sich
viel lieber mit den Türken verbünden würde als mit
ihm; ebenso weiss er, dass Deutschland alle Gefahr von
einem Bündnisse Frankreichs mit Russland droht. Kann
er es nun dazu bringen, Frankreich zum Herd und
Hort der katholischen Kirche zu machen, so hat er diese
Gefahr für eine lange Zeit beseitigt. Er hat demnach
ein Interesse daran, Hass gegen die Katholiken zu zeigen
und durch Feindseligkeiten aller Art die Bekenner der
Autorität des Papstes in eine leidenschaftliche politische
Macht zu verwandeln , welche der deutschen Politik
feindlich ist und sich naturgemäss mit Frankreich als
dem Widersacher Deutschland's verschmelzen muss: sein
Ziel ist ebenso nothwendig die Katholisirung Frank-
reichs, als Mirabeau in der Dekatholisirung das Heil
— 336 —
seines Vaterlandes sah. — Der eine Staat will also die
Verdunkelung von Millionen Köpfen eines anderen Staates,
um seinen Vortheil aus dieser Verdunkelung zu ziehen.
Es ist diess dieselbe Gesinnung, welche die republi-
canische Regierungsform des nachbarlichen Staates —
le däsordre orga7iis6, wie Merimee sagt — aus dem
alleinigen Grunde unterstützt, weil sie von dieser an-
nimmt, dass sie das Volk schwächer, zerrissener und
kriegsunfähiger mache.
454.
Die Gefährlichen unter den Umsturz-Geistern.
Man theile Die, welche auf einen Umsturz der Gesell-
schaft bedacht sind, in Solche ein, welche für sich selbst,
und in Solche, welche für ihre Kinder und Enkel etwas
erreichen wollen. Die Letzteren sind die Gefährlicheren;
denn sie haben den Glauben und das gute Gewissen der
Uneigennützigkeit. Die Anderen kann man abspeisen:
dazu ist die herrschende Gesellschaft immer noch reich
und klug genug. Die Gefahr beginnt, sobald die Ziele
unpersönlich werden; die Revolutionäre aus unpersön-
lichem Interesse dürfen alle Vertheidiger des Bestehenden
als persönlich interessirt ansehen und sich d esshalb ihnen
überlegen fühlen.
455-
Politischer Werth der Vaterschaft. — Wenn
der Mensch keine Söhne hat, so hat er kein volles Recht,
über die Bedürfnisse eines einzelnen Staatswesens mit-
zureden. Man muss selber mit den Anderen sein Liebstes
daran gewagt haben: das erst bindet an den Staat fest;
man muss das Glück seiner Nachkommen in's Auge
— 337 —
fassen, also vor Allem Nachkommen haben, um an allen
Institutionen und deren Veränderung rechten natürlichen
Antheil zu nehmen. Die Entwicklung der höheren Moral
hängt daran, dass Einer Söhne hat; diess stimmt ihn
unegoistisch, oder richtiger: es erweitert seinen Egoismus
der Zeitdauer nach und lässt ihn Ziele über seine indi-
viduelle Lebenslänge hinaus mit Ernst verfolgen.
456.
Ahnenstolz. — Auf eine ununterbrochene Reihe
guter Ahnen bis zum Vater herauf darf man mit Recht
stolz sein — nicht aber auf die Reihe; denn diese hat
Jeder. Die Herkunft von guten Ahnen macht den ächten
Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung in jener
Kette , Ein böser Vorfahr also, hebt den Geburtsadel auf.
Man soll Jeden, welcher von seinem Adel redet, fragen:
hast du keinen gewaltthätigen habsüchtigen ausschwei-
fenden boshaften grausamen Menschen unter deinen
Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Ge-
wissen mit Nein antworten, so bewerbe man sich um
seine Freundschaft
457.
Sclaven und Arbeiter. — Dass \v\t mehr Werth
auf Befriedigung der Eitelkeit als auf alles übrige Wohl-
befinden (Sicherheit, Unterkommen, Vergnügen aller Art)
legen, zeigt sich in einem lächerlichen Grade daran, dass
Jedermann (abgesehen von politischen Gründen) die Auf-
hebung der Sclaverei wünscht und es aufs Ärgste ver-
abscheut, Menschen in diese Lage zu bringen: während
Jeder sich sagen muss, dass die Sclaven in allen Be-
ziehungen sicherer und glücklicher leben als der moderne
Nietische, Werke Rand II. 22
— 338 -
Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig- Arbeit im Ver-
hältniss zu der des „Arbeiters" ist. Man protestirt im
Namen der „Menschenwürde": das ist aber, schlichter
ausgedrückt, jene Hebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleich-
gestellt - sein, das öffentlich -niedriger -geschätzt -werden
als das härteste Loos empfindet. — Der Cyniker denkt
anders darüber, weil er die Ehre verachtet: — und so
war Diogenes eine Zeitlang Sclave und Hauslehrer.
458.
Leitende Geister und ihre Werkzeuge. —
Wir sehen grosse Staatsmänner und überhaupt alle Die,
welche sich vieler Menschen zur Durchführung ihrer
Pläne bedienen müssen, bald so bald so verfahren: ent-
weder wählen sie sehr fein uud sorgsam die zu ihren
Plänen passenden Menschen aus und lassen ihnen dann
verhältnissmässige grosse Freiheit, weil sie wissen, dass
die Natur dieser Ausgewählten sie eben dahin treibt,
wohin sie selber Jene haben wollen; oder sie wählen
schlecht, ja nehmen, was ihnen unter die Hand kommt,
formen aber aus jedem Thone etwas für ihre Zwecke
Taugliches. Diese letzte Art ist die gewaltsamere, sie
begehrt auch unterwürfigere Werkzeuge; ihre Menschen-
kenntniss ist gewöhnlich viel geringer, ihre Menschen-
verachtung grösser als bei den erstgenannten Geistern,
aber die Maschine, welche sie construiren, arbeitet ge-
meinhin besser als die Alaschine aus der Werkstätte
jener.
459-
Willkürliches Recht nothwendig. — Die
Juristen streiten, ob das am vollständigsten durchgedachte
— 339 —
Recht oder das am leichtesten zu verstehende in einem
Volke zum Siege kommen solle. Das erste, dessen
höchstes Muster das römische ist, erscheint dem Laien
als unverständlich und desshalb nicht als Ausdruck seiner
Rechtsempfindung. Die Volksrechte, zum Beispiel die
germanischen, waren grob abergläubisch unlogisch,
zum Theil albern, aber sie entsprachen ganz bestimmten
vererbten heimischen Sitten und Empfindungen. — Wo
aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist, da
kann es nur befohlen. Zwang sein; wir haben Alle
kein herkömmliches Rechtsgefühl mehr, desshalb müssen
wir uns Willkürsrechte gefallen lassen, die der Aus-
druck der Nothwendigkeit sind, dass es ein Recht geben
müsse. Das logischste ist dann jedenfalls das annehm-
barste, weil es das unparteilichste ist: zugegeben
selbst, dass in jedem Falle die kleinste Maasseinheit im
Verhältniss von Vergehen und Strafe willkürhch ange-
setzt ist.
460.
Der grosse ISIann der Masse. — Das Recept
zu dem, was die Masse einen grossen Mann nennt, ist
leicht gegeben. Unter allen Umständen verschaffe man
ihr etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr erst
in den Kopf, dass diess und jenes sehr angenehm wäre,
und gebe es ihr dann. Doch um keinen Preis sofort:
sondern man erkämpfe es mit grösster Anstrengung
oder scheine es zu erkämpfen. Die Masse muss den
Eindruck haben, dass eine mächtige, ja unbezwingliche
Willenskraft da sei; mindestens muss sie da zu sein
scheinen. Den starken Willen bewundert Jedermann,
weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt, dass,
wenn er ihn hätte, es für ihn und seinen Egoismus keine
— 340 —
Grenze mehr gäbe. Zeigt sich nun, dass ein solcher
starker Wille etwas der Masse sehr Angenehmes be-
wirkt, statt auf die Wünsche seiner Begehrlichkeit zu
hören, so bewundert man noch einmal und wünscht sich
selber Glück. Im Übrigen habe er alle Eigenschaften
der Masse: um so weniger schämt sie sich vor ihm, um
so mehr ist er populär. Also: er sei gewaltthätig nei-
disch ausbeuterisch intrigant schmeichlerisch kriechend
aufgeblasen, je nach Umständen Alles.
461.
Fürst und Gott. — Die Menschen verkehren mit
ihren Fürsten vielfach in ähnlicher Weise wie mit ihrem
Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst der Repräsentant
des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast
unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und
Scham war und ist viel schwächer geworden, aber mit-
unter lodert sie auf und heftet sich an mächtige Personen
überhaupt. Der Cultus des Genius ist ein Nachklang
dieser Götter- Fürsten -Verehrung. Überall, wo man sich
bestrebt, einzelne Menschen in das Übermenschliche hin-
autzuheben, entsteht auch die Neigung, ganze Schichten
des Volkes sich roher und niedriger vorzustellen, als sie
wirklich sind.
462.
Meine Utopie. — In einer besseren Ordnung der
Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Noth des
Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten
durch sie leidet, also dem Stumpfsten, und so schritt-
weise aufwärts bis zu Dem, welcher für die höchsten
sublimirtesten Gattungen des Leidens am empfindlichsten
— 341 —
ist und desshalb selbst noch bei der grössten Erleich-
terung des Lebens leidet
463.
Ein Wahn in der Lehre vom Umsturz. — Es
giebt politische und sociale Phantasten, welche feurig
und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen auf-
fordern, in dem Glauben, dass dann sofort das stolzeste
Tempelhaus schönen Menschenthums gleichsam von selbst
sich erheben werde. In diesem gefährlichen Traume
klingt noch der Aberglaube Rousseau's nach, welcher
an eine wundergleiche ursprüngliche, aber gleichsam
verschüttete Güte der menschlichen Natur glaubt und
den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft Staat Er-
ziehung, alle Schuld jener Verschüttung beimisst. Leider
weiss man aus historischen Erfahrungen, dass jeder solche
Umsturz die wildesten Energien als die längst begrabenen
Furchtbarkeiten und Maasslosigkeiten fernster Zeitalter
von Neuem zur Auferstehung bringt: dass also ein Um-
sturz wohl eine Kraftquelle in einer matt gewordenen
Menschheit sein kann, nimmermehr aber ein Ordner,
Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen Natur. —
Nicht Voltaire 's maassvolle, dem Ordnen Reinigen
und Umbauen zugeneigte Natur, sondern Rousseau's
leidenschaftliche Thorheiten und Halblügen haben den
optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen
den ich rufe: „Acrasez V infame!" Durch ihn ist der
Geist der Aufklärung und der fortschreitenden
Entwicklung auf lange verscheucht worden: sehen
wir zu — ein Jeder bei sich selber — ob es möglich
ist, ihn wieder zurückzurufen!
— 342 —
464.
Maass. — Die volle Entschiedenhei?Nles Denkens
und Forschens, also die Freigeisterei zur Eigenschaft
des Charakters geworden, macht im Handeln massig:
denn sie schwächt die Begehrlichkeit, zieht viel von der
vorhandenen Energie an sich, zur Förderung geistiger
Zwecke, und zeigt das Halbnützliche oder Unnütze und
Gefährliche aller plötzlichen Veränderungen.
465.
Auferstehung des Geistes. — Auf dem poli-
tischen Kränkenbette verjüngt ein Volk gewöhnlich sich
selbst und findet seinen Geist wieder, den es im Suchen
und Behaupten der Macht allmählich verlor. Die Cultur
verdankt das Allerhöchste den politisch geschwächten
Zeiten.
466.
Neue Meinungen im alten Hause. — Dem
Umsturz der Meinungen folgt der Umsturz der Institu-
tionen nicht sofort nach, vielmehr wohnen die neuen
Meinungen lange Zeit im verödeten und unheimlich ge-
wordenen Hause ihrer Vorgängerinnen und conserviren
es selbst, aus Wohnungshoth.
467.
Schulwesen. — Das Schulwesen wird in grossen
Staaten immer höchstens mittelmässig sein, aus dem-
selben Grunde, aus dem in grossen Küchen besten Falls
mittelmässig gekocht wird.
— 343 --
468.
Unschuldige Corruption. — In allen Instituten,
in welche nicht die scharfe Luft der öffentlichen Kritik
hineinweht, wächst eine unschuldige Corruption auf, wie
ein Pilz (also zum Beispiel in gelehrten Körperschaften
und Senaten).
469.
Gelehrte als Politiker. — Gelehrten, welche
Pohtiker werden, wird gewöhnlich die komische Rolle
zugetheilt, das gute Gewissen einer Politik sein zu
müssen.
470.
Der Wolf hinter dem Schafe versteckt ■ —
Fast jeder Politiker hat unter gewissen Umständen ein-
mal einen ehrlichen Mann so nöthig, dass er gleich
einem heisshungrigen Wolfe in einen Schafstall bricht:
nicht aber, um dann den geraubten Widder zu fressen,
sondern um sich hinter seinen wolligen Rücken zu
verstecken.
471.
Glückszeiten. — Ein glückliches Zeitalter ist dess-
halb gar nicht möglich, weil die Menschen es nur
wünschen wollen, aber nicht haben wollen, und jeder
Einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, förmlich um
Unruhe und Elend beten lernt. Das Schicksal der Men-
schen ist auf glückliche Augenblicke eingerichtet —
jedes Leben hat solche — , aber nicht auf glückhche
Zeiten. Trotzdem werden diese als „das Jenseits der
Bercre" in der Phantasie des Menschen bestehen bleiben.
— 344 —
als Erbstück der Urväter; denn man hat wohl den Be-
griflf des Glückszeitalters seit uralten Zeiten her jenem
Zustand entnommen, in dem der Mensch, nach ge-
waltiger Anstrengung durch Jagd und Krieg, sich der
Ruhe übergiebt, die Glieder streckt und die Fittige des
Schlafes um sich rauschen hört. Es ist ein falscher
Schluss, wenn der Mensch jener alten Gewöhnung ge-
mäss sich vorstellt, dass er nun auch nach ganzen
Zeiträumen der Noth und Mühsal jenes Zustandes des
Glücks in entsprechender Steigerung und Dauer
theilhaftig werden könne.
472.
Religion und Regierung. — So lange der Staat
oder, deutlicher, die Regierung sich als Vormund zu
Gunsten einer unmündigen Menge bestellt weiss und um
ihretwillen die Frage erwägt, ob die Religion zu erhalten
oder zu beseitigen sei: wird sie höchst wahrscheinlich
sich immer für die Erhaltung der Religion entscheiden.
Denn die Religion befriedigt das einzelne Gemüth in
Zeiten des Verlustes, der Entbehrung, des Schreckens,
des Misstrauens, also da, wo die Regierung sich ausser
Stande fühlt, direct etwas zur Linderung der seelischen
Leiden des Privatmanns zu thun: ja selbst bei allge-
meinen unvermeidlichen und zunächst unabwendbaren
Übeln (Hungersnöthen Geldkrisen Kriegen) gewährt die
Religion eine beruhigte abwartende vertrauende Haltung
der Menge. Überall, wo die nothwendigen oder zu-
fälligen Mängel der Staatsregierung oder die gefährlichen
Consequenzen dynastischer Interessen dem Einsichtigen
sich bemerklich machen und ihn widerspänstig stimmen,
werden die Nicht - Einsichtigen den Finger Gottes zu
— 345 —
sehen meinen und sich in Geduld den Anordnungen von
Oben (in welchem Begriff göttliche und menschliche
Regierungsweise gewöhnlich verschmelzen) unterwerfen:
so wird der innre bürgerliche Friede und die Conti-
nuität der Entwicklung gewahrt. Die Macht, welche in
der Einheit der Volksempfindung, in gleichen Meinungen
und Zielen für Alle liegt, wird durch die Religion be-
schützt und besiegelt, jene seltnen Fälle abgerechnet,
wo eine Priesterschaft mit der Staatsgewalt sich über
den Preis nicht einigen kann und in Kampf t^iitt. Für
gewöhnlich wird der Staat sich die Priester zu gewinnen
wissen, weil er ihrer allerprivatesten verborgenen Er-
ziehung der Seelen benöthigt ist und Diener zu schätzen
weiss, welche scheinbar und äusserlich ein ganz anderes
Interesse vertreten. Ohne Beihülfe der Priester kann
auch jetzt noch keine Macht „legitim" werden: wie
Napoleon begriff. — So gehen absolute vormundschaft-
liche Regierung und sorgsame Erhaltung der Religion
noth wendig zusammen. Dabei ist vorauszusetzen, dass
die regierenden Personen und Classen über den Nutzen,
welchen ihnen die Religion gewährt, aufgeklärt werden
und somit bis zu einem Grade sich ihr überlegen fühlen,
insofern sie dieselbe als Mittel gebrauchen: wesshalb hier
die Freigeisterei ihren Ursprung hat. — Wie aber, wenn
jene ganz verschiedene Auffassung des Begriffes der
Regierung, wie sie in demokratischen Staaten gelehrt
wird, durchzudringen anfängt? Wenn man in ihr Nichts
als das Werkzeug des Volkswillens sieht, kein Oben im
Vergleich zu einem Unten, sondern lediglich eine Func-
tion des alleinigen Souverains, des Volkes? Hier kann
auch nur dieselbe Stellung, welche das Volk zur Reli-
gion einnimmt, von der Regierung eingenommen werden ;
jede Verbreitung von Aufklärung wird bis in ihre Ver-
— 346 —
treter hineinklingen müssen, eine Benutzung und Aus-
beutung der religiösen Triebkräfte und Tröstungen zu
staatlichen Zwecken wird nicht so leicht möglich sein
(es sei denn, dass mächtige Parteiführer zeitweilig einen
Einfluss üben, welcher dem des aufgeklärten Despotismus
ähnlich sieht). Wenn aber der Staat keinen Nutzen mehr
aus der Religion selber ziehen darf oder das Volk viel
zu mannichfach über religiöse Dinge denkt, als dass es
der Regierung ein gleichartiges einheitliches Vorgehen
bei religiösen Maassregeln gestatten dürfte, — so wird
nothwendig sich der Ausweg zeigen, die Religion als
Privatsache zu behandeln und dem Gewissen und der
Gewohnheit jedes Einzelnen zu überantworten. Die Folge
ist zu allererst diese, dass das religiöse Empfinden ver-
stärkt erscheint, insofern versteckte, und unterdrückte
Regungen desselben, welchen der Staat unwillkürlich
oder absichtlich keine Lebensluft gönnte, jetzt hervor-
brechen und bis in's Extrem ausschweifen; später er-
weist sich, dass die Religion von Secten überwuchert
wird und dass eine Fülle von Drachenzähnen in dem
Augenblick gesäet worden ist, als man die Religion zur
Privatsache machte. Der Anblick des Streites, die feind-
selige Blosslegung aller Schwächen religiöser Bekennt-
nisse lässt endlich keinen Ausweg mehr zu, als dass
jeder Bessere und Begabtere die Irreligiosität zu seiner
Privatsache macht: als \vielche Gesinnung nun auch in
dem Geiste der regierenden Personen die Überhand be-
kommt und, fast wider ihreil "Willen, ihren Maassregeln
einen rehgionsfeindlichen Charakter giebt. Sobald diess
eintritt , wandelt sich die Stimmung der noch religiös
bewegten Menschen, welche früher den Staat als etwas
halb oder ganz Heihges adorirten , in eine entschieden
staatsfeindliche um; sie lauern den Maassregeln der
— 347 —
Regierung auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu be-
unruhigen so viel sie können, und treiben dadurch die
Gegenparteien, die irreligiösen, durch die Hitze ihres "Wider-
spruchs in eine fast fanatische Begeisterung für den
Staat hinein; wobei im Stillen noch mitwirkt, dass in
diesen Kreisen die Gemüther seit der Trennung von der
Religion eine Leere spüren und sich vorläufig durch die
Hingebung an den Staat einen Ersatz, eine Art von
Ausfüllung zu schaffen suchen. Nach diesen vielleicht
lange dauernden Übergangskämpfen entscheidet es sich
endlich, ob die religiösen Parteien noch stark genug sind,
um einen alten Zustand heraufzubringen und das Rad
zurückzudrehen: in welchem Falle unvermeidlich der
aufgeklärte Despotismus (vielleicht weniger aufgeklärt
und ängstlicher als früher) den Staat in die Hände be-
kommt, — oder ob die religionslosen Parteien sich durch-
setzen und die Fortpflanzung ihrer Gegnerschaft, einige
Generationen hindurch, etwa durch Schule und Erziehung,
untergraben und endlich unmöglich machen. Dann aber
lässt auch bei ihnen jene Begeisterung für den Staat
nach: immer deutlicher tritt hervor, dass mit jener reli-
giösen Adoration , für welche er ein Mysterium , eine
überweltliche Stiftung ist , auch das ehrfürchtige und
pietätvolle Verhältniss zu ihm erschüttert ist. Fürderhin
sehen die Einzelnen immer nur die Seite an ihm, wo er
ihnen nützlich oder schädlich werden kann, und drängen
sich mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu be-
kommen. Aber diese Concurrenz wird bald zu gross,
die Menschen und Parteien wechseln zu schnell, stürzen
sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab, nach-
dem sie kaum oben angelangt sind. Es fehlt allen
Maassregeln, welche von einer Regierung durchgesetzt
werden, die Bürgschaft ihrer Dauer; man scheut vor
. — 348 —
Unternehmungen zurück, welche auf Jahrzehende, Jahr-
hunderte hinaus ein stilles Wachsthum haben müssten,
um reife Früchte zu zeitigen. Niemand fühlt mehr eine
andere Verpflichtung gegen ein Gesetz als die, sich augen-
blicklich der Gewalt, welche ein Gesetz einbrachte, zu
beugen: sofort geht man aber daran, es durch eine neue
Gewalt, eine neu zu bildende Majorität zu unterminiren.
Zuletzt — man kann es mit Sicherheit aussprechen —
muss das Misstrauen gegen alles Regierende, die Einsicht
in das Nutzlose und Aufreibende dieser kurzathmigcn
Kämpfe die Menschen zu einem ganz neuen Entschlüsse
drängen: zur Abschaffung des Staatsbegriifs , zur Auf-
hebung des Gegensatzes „privat und öffentlich". Die
Privatgesellschaften ziehen Schritt vor Schritt die Staats-
geschäfte in sich hinein: selbst der zäheste Rest, welcher
von der alten Arbeit des Regierens übrig bleibt (jene
Thätigkeit zum Beispiel, welche die Privaten gegen die
Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal
durch Privatunternehmer besorgt werden. Die Miss-
achtung, der Verfall und der Tod des Staates, die
Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu sagen:
des Individuums) ist die Consequenz des demokratischen
Staatsbegriffs; hier liegt seine Mission. Hat er seine
Aufgabe erfüllt — die wie alles Menschliche viel Ver-
nunft und Unvernunft im Schosse trägt — , sind alle
Rückfälle der alten Krankheit überwunden, so wird ein
neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf
dem man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch
einiges Gute lesen wird. — Um das Gesagte noch einmal
kurz zu sagen: das Interesse der vormundschaftlichen
Regierung und das Interesse der Religion gehen mit
einander Hand in Hand, so dass, wenn letztere abzu-
sterben beginnt, auch die Grundlage des Staates er-
— 349 —
schütten wird. Der Glaube an eine göttliche Ordnung
der politischen Dinge, an ein Mysterium in der Existenz
des Staates ist religiösen Ursprungs: schwindet die Re-
ligion, so wird der Staat unvermeidlich , seinen alten Isis-
schleier verlieren und keine Ehrfurcht mehr erwecken.
Die Souverainetät des Volkes, in der Nähe gesehen, dient
dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben auf dem
Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die mo-
derne Demokratie ist die historische Form vom Verfall
des Staates. — Die Aussicht, welche sich durch diesen
sichern Verfall ergiebt, ist aber nicht in jedem Betracht
eine unglückselige: die Klugheit und der Eigennutz der
Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten
ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser Kräfte der
Staat nicht mehr entspncht, so wird am wenigsten das
Chaos eintreten, sondern eine noch zweckmässigere Er-
findung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat
kommen. Wie manche organisirende Gewalt hat die
Menschheit schon absterben sehen: — zum Beispiel die
der Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende
lang viel mächtiger war als die Gewalt der Familie, ja
längst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete.
Wir selber sehen den bedeutenden Rechts- und Macht-
gedanken der Familie , welcher einmal , so weit wie
römisches Wesen reichte, die Herrschaft besass, immer
blasser und ohnmächtiger werden. So wird ein späteres
Geschlecht auch den vStaat in einzelnen Strecken der
Erde bedeutungslos werden sehen — eine Vorstellung,
an welche viele Menschen der Gegenwart kaum ohne
Angst und Abscheu denken können. An der Verbreitung
und Verwirkhchung dieser Vorstellur.g zu arbeiten, ist
freilich ein ander Ding: man muss sehr anmaassend von
seiner Vernunft denken und die Geschichte kaum halb
— 350 — •
verstehen, um schon jetzt die Hand an den Pflug zu
legen, — während noch Niemand die Samenkörner auf-
zeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher
gestreut werden sollen. Vertrauen wir also „der Klug-
heit und dem Eigennutz der Menschen", dass jetzt noch
der Staat eine gute Weile bestehen bleibt und zerstöre-
rische Versuche übereifriger und voreiliger Halbwisser
abgewiesen werden!
473-
Der Socialismus in Hinsicht auf seine
Mittel. — Der Socialismus ist der phantastische jüngere
Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben
will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstände
reactionär. Denn er begehrt eine Fülle der Staatsge-
walt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er
überbietet alles Vergangene dadurch, dass er die förm-
liche Vernichtung des Individuums anstrebt: als welches
ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt
und durch ihn in ein zweckmässiges Organ des Ge-
meinwesens umgebessert werden soll. Seiner Ver-
wandtschaft wegen erscheint er immer in der Nähe aller
excessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische
Socialist Plato am Hofe des sicilischen Tyrannen; er
wünscht (und befördert unter Umständen) den cäsarischen
Gewaltstaat dieses Jahrhunderts, weil er, wie gesagt, sein
Erbe werden möchte. Aber selbst diese Erbschaft würde
für seine Zwecke nicht ausreichen , er braucht die aller-
unterthänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem
unbedingten Staat, wie niemals etwas Gleiches existirt
hat; und da er nicht einmal auf die alte religiöse Pietät
gegen den Staat mehr rechnen darf, vielmehr an deren
Beseitigung unwillkürlich fortwährend arbeiten muss —
— 351 —
nämlich weil er an der Beseitigung aller bestehenden
Staaten arbeitet — , so kann er sich nur auf kurze
Zeiten, durch den äussersten Terrorismus, hier und da
einmal auf Existenz Hoffnung machen. Desshalb be-
reitet er sich im Stillen zu Schreckensherrschaften vor
und treibt den halbgebildeten Massen das Wort „Ge-
rechtigkeit" wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres
Verstandes völlig zu berauben (nachdem dieser Ver-
stand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat)
und ihnen für das böse Spiel, das sie spielen sollen/ein
gutes Gewissen zu schaffen. — Der Socialismus kann
dazu dienen, die Gefahr aller Anhäufungen von Staats-
gewalt recht brutal und eindringlich zu lehren und in-
sofern vor dem Staate selbst Misstrauen einzuflössen.
Wenn seine rauhe Stimme in das Feldgeschrei: „soviel
Staat wie möglich" einfällt, so wird dieses zunächst
dadurch lärmender als je: aber bald dringt auch das
entgegengesetzte mit um so grösserer Kraft hervor: „so
wenig Staat wie möglich".
474.
Die Entwicklung des Geistes vom Staate
gefürchtet. — Die griechische Polis war, wie jede
organisirende politische Macht, ausschli essend und miss-
trauisch gegen das Wachsthum der Bildung; üir ge-
waltiger Grundtrieb zeigte sich fast nur lähmend und
hemmend für dieselbe. Sie wollte keine Geschichte, kein
Werden in der Bildung gelten lassen; die in dem Staats-
gesetz festgestellte Erziehung sollte alle Generationen
verpflichten und auf Einer Stufe festhalten. Nicht anders
wollte es später auch noch Plato für seinen idealen Staat.
Trotz der Polis entwickelte sich also die Bildung:
— 352 —
indirect freilich und wider Willen half sie mit, weil die
Ehrsucht des Einzelnen in der Polis auf's Höchste ang-e-
reizt wurde, so dass er, einmal auf die Bahn geistiger
Ausbildung gerathen, auch in ihr bis in's letzte Extrem
fortgieng. Dagegen soll man sich nicht auf die Ver-
herrlichungsrede des Perikles berufen: denn sie ist nur
ein grosses optimistisches Trugbild über den angeblich
nothwendigen Zusammenhang von Polis und athenischer
Cultur; Thukydides lässt sie, unmittelbar bevor die Nacht
über Athen kommt (die Pest und der Abbruch der Tra-
dition), noch einmal wie eine verklärende Abendröthe
aufleuchten, bei der man den schlimmen Tag vergessen
soll, der ihr vorangieng.
475.
Der europäische Mensch und die Vernich-
tung der Nationen. — Der Handel und die Industrie,
der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller
höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Haus und
Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht -Land-
besitzer — diese Umstände bringen nothwendig eine
Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen,
mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen
allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Misch-
rasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss.
Diesem Ziele wirkt jetzt, bewusst oder unbewusst, die
Abschliessung der Nationen durch Erzeugung nationaler
Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang
jener Mischung dennoch vorwärts, trotz jenen zeitweiligen
Gegenströmungen: dieser künstliche Nationalismus ist
übrigens so gefährlich, wie der künstliche Katholicismus
es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewalt-
— 353 —
sanier Noth- und Belagerungszustand, welcher von
Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List
Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht
das Interesse der Vielen (der Völker), wie man wohl
sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Fürsten-
dynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels
und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat
man diess einmal erkannt, so soll man sich nur unge-
scheut als guten Europäer ausgeben und durch die
That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wo-
bei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft,
Dolmetscher und Vermittler der Völker zu sein,
mitzuhelfen vermögen. — Beiläufig: das ganze Problem
der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vor-
handen, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und
höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Ge-
schlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willens-
Capital in einem neid- und hass erweckenden Maasse
zum Übergewicht kommen muss, so dass die litterarische
Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt —
und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden — ,
die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und
inneren Übelstände zur Schlachtbank zu führen. Sobald
es sich nicht mehr um Conservirung von Nationen,
sondern um die Erzeugung einer möglichst kräftigen
europäischen Mischrasse handelt, ist der Jude als
Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht als irgend
ein anderer nationaler Rest. Unangenehme, ja ge-
fährliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder Mensch:
es ist grausam zu Verlagen, dass der Jude eine Aus-
nahme machen solle. Jene Eigenschaften mögen sogar
bei ihm in besonderem Maasse gefährlich und ab-
schreckend sein ; und vielleicht ist der jugendliche Börsen-
Nietzscbe, Werke Band 11. „
— 354 —
Jude die widerlichste Erfindung des Menschengeschlechtes
überhaupt. Trotzdem möchte ich wissen, wie viel man
bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen
muss, welches, nicht ohne unser Aller Schuld, die leid-
vollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat, und
dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten
Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das
wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt. Über-
diess: in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die
asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert
hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Arzte,
welche das Banner der Aufklärung und der geistigen
Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange
festhielten und Europa gegen Asien vertheidigten ; ihren
Bemühungen ist es nicht am wenigsten zu danken, dass
eine natürlichere, vernunftgemässere und jedenfalls un-
m)rthische Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege
kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher
uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen
Alterthums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb. Wenn
das Christenthum Alles gethan hat, um den Occident zu
Orientalisiren, so hat das Judenthum wesentHch mit dabei
geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren: was in
einem bestimmten Sinne so viel heisst, als Europa's
Aufgabe und Geschichte zu einer Fortsetzung der
griechischen zu machen.
47Ö.
Scheinbare Überlegenheit des Mittelalters. —
Das Mittelalter zeigt in der Kirche ein Institut mit einem
ganz universalen, die gesammte Menschheit in sich be-
greifenden Ziele, noch dazu einem solchen, welches den
— 355 —
— vermeintlich — höchsten Interessen derselben galt:
dagegen gesehen machen die Ziele der Staaten und
Nationen, welche die neuere Geschichte zeigt, einen be-
klemmenden Eindruck; sie erscheinen kleinlich, niedrig,
materiell, räumhch beschränkt. Aber dieser verschiedne
Eindruck auf die Phantasie soll unser Urtheil ja nicht
bestimmen; denn jenes universale Institut entsprach er-
künstelten, auf Fictionen beruhenden Bedürfnissen, welche
es, wo sie noch nicht vorhanden waren, erst erzeugen
musste (Bedürfniss der Erlösung); die neuen Institute
helfen wirklichen Nothzuständen ab; und die Zeit kommt,
wo Institute entstehen , um den gemeinsamen wahren
Bedürfnissen aller Menschen zu dienen und das phan-
tastische Urbild, die katholische Kirche, in Schatten und
Vergessenheit zu stellen.
477.
Der Krieg unentbehrlich. — Es ist eitel Schwär-
merei und Schönseelenthum, von der Menschheit noch
viel (oder gar: erst recht viel) zu erwarten, wenn sie
verlernt hat Kriege zu führen. Einstweilen kennen wir
keine anderen Mittel, wodurch »mattwerdenden Völkern
jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unper-
sönliche Hass, jene Mörder- Kaltblütigkeit mit gutenj
Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der
Vernichtung des Feindes , jene stolze Gleichgültigkeit
gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das
der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern
der Seele ebenso stark und sicher mitgetheilt werden
könnte, wie dicss jeder grosse Krieg thut: von den hier
hervorbrechenden Bächen und Strömen, welche freilich
Steine und Unrath aller Art mit sich wälzen und die
23*
- 356 -
Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nach-
her unter günstigen Umständen die Räderwerke in den
Werkstätten des Geistes mit neuer Kraft umgedreht
Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und Bosheiten
durchaus nicht entbehren. — Als die kaiserlich geword-
nen Römer der Kriege etwas müde wurden, versuchten
sie aus Thierhetzen, Gladiatorenkämpfen und Christen-
verfolgnngen sich neue Kraft zu gewinnen. Die jetzigen
Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt
zu haben scheinen, ergreifen ein andres Mittel, um jene
entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefähr-
lichen Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletter-
ungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst.
unternommen, in Wahrheit, um überschüssige Kraft aus
Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu
bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des
Krieges ausfindig machen, aber vielleicht gerade durch sie
immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte
und daher nothwendig matte Menschheit, wie die jetzige
Europa's, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und'
furchtbarsten Kriege — also zeitweiliger Rückfälle in
die Barbarei — bedarf, um nicht an den Mitteln der
Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen.
. 478.
Fleiss im Süden und Norden. — Der Fleiss ent-
steht auf zwei ganz verschiedne Arten. Die Hand-
werker im Süden werden fleissig, nicht aus Erwerbstrieb,
sondern aus der beständigen Bedürftigkeit der Andern.
Weil immer Einer kommt, der ein Pferd beschlagen,
einen Wagen ausbessern lassen will, so ist der Schmied
fleissig. Käme Niemand, so würde er auf dem Meirkte
— 357 —
herumlungern. Sich zu ernähren, das hat in einem frucht-
baren Lande wenig Noth, dazu brauchte er nur ein sehr
geringes Maass von Arbeit, jedenfalls keinen Fleiss;
schliesslich würde er betteln und zufrieden sein. — Der
Fleiss englischer Arbeiter hat dagegen den Erwerbssinn
hinter sich: er ist sich seiner selbst und seiner Ziele be-
wusst und will mit dem Besitz die Macht, mit der
Macht die grösstmögliche Freiheit und individuelle Vor-
nehmheit.
479-
Reichthum als Ursprung eines Geblütsadels.
Der Reichthum erzeugt nothwendig eine Aristokratie
der Rasse, denn er gestattet die schönsten Weiber zu
wählen, die besten Lehrer zu besolden, er gönnt dem
Menschen Reinlichkeit, Zeit zu körperlichen Übungen
und vor Allem Abwendung von verdumpfender körper-
licher Arbeit. Soweit verschafft er alle Bedingungen,
um, in einigen Generationen, die Menschen vornehm und
schön sich bewegen, ja selbst handeln zu machen: die
grössere Freiheit des Gemüths, die Abwesenheit des
Erbärmlich -Kleinen, der Erniedrigung vor Brodgebern,
der Pfennig - Sparsamkeit. — Gerade diese negative
Eigenschaften sind das reichste Angebinde das Glücks
für einen jungen Menschen ; ein ganz Armer richtet sich
gewöhnlich durch Vornehmheit der Gesinnung zu Grunde,
er kommt nicht vorwärts und erwirbt nichts, seine Rasse
ist nicht lebensfähig. — Dabei ist aber zu bedenken,
dass der Reichthum fast die gleichen Wirkungen ausübt,
wenn Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend jähr-
lich verbrauchen darf: es giebt nachher keine wesentliche
Progression der begünstigenden Umstände mehr. Aber
weniger zu haben, als Knabe zu betteln und sich zu er-
358
niedrigen, ist furchtbar: obwohl für Solche, welche inr
Glück im Glänze der Höfe, in der Unterordnung unter
Mächtige und Einflussreiche suchen oder welche Kirchen-
häupter werden wollen, es der rechte Ausgangspunkt
sein mag. ( — Es lehrt, gebückt sich in die Höhlen-
gänge der Gunst einzuschleichen.)
480.
Neid und Trägheit in verschiedener Richtung.
— Die beiden gegnerischen Parteien, die socialistische und
die nationale — oder wie die Namen in den verschiedenen
Ländern Europa's lauten mögen — , sind einander würdig:
Neid und Faulheit sind die bewegenden Mächte in ihnen
beiden. In jenem Heerlager will man so wenig als mög-
lich mit den Händen arbeiten, in diesem so wenig als
möglich mit dem Kopf; in letzterem hasst und neidet
man die hervorragenden, aus sich wachsenden Einzelnen,
welche sich nicht gutwillig in Reih und Glied zum
Zwecke einer Massenwirkung stellen lassen; in ersterem
die bessere, äusserlich günstiger gestellte Kaste der Ge-
sellschaft, deren eigentliche Aufgabe, die Erzeugung der
höchsten Culturgüter, das Leben innerlich um so viel
schwerer und schmerzensreicher macht. Gelingt es frei-
lich, jenen Geist der Massenwirkung zum Geiste der
höheren Classen der Gesellschaft zu machen, so sind die
socialistischen Schaaren ganz im Rechte, wenn sie auch
äusserlich zwischen sich und jenen zu nivelliren suchen,
da sie ja innerlich, in Kopf und Herz, schon mit ein-
ander nivellirt sind. — Lebt als höhere Menschen und
thut immerfort die Thaten der höheren Cultur, — so
gesteht euch Alles, was da lebt, euer Recht zu, und die
Ordnung der Gesellschaft, deren Spitze ihr seid, ist
gegen jeden bösen Blick und Griff gefeit!
— 359 --
48i.
Grosse Politik und ihre Einbussen, — Ebenso
wie ein Volk die grössten Einbussen, welche Krieg und
I^egsbereitschaft mit sich bringt, nicht durch die
Unkosten des Kriegs , die Stauungen in Handel und
Wandel erleidet, ebenso nicht durch die Unterhaltung
der stehenden Heere — so gross diese Einbussen auch
jetzt sein mögen, wo acht Staaten Europa's jährlich die
Summe von zwei bis drei Milliarden darauf verwenden — ,
sondern dadurch, dass Jahr aus Jahr ein die tüchtigsten
kräftigsten arbeitsamsten Männer in ausserordentlicher
Anzahl ihren eigentlichen Beschäftigungen und Berufen
entzogen werden, um Soldaten zu sein: ebenso erleidet
ein Volk, welches sich anschickt grosse Politik zu treiben
und unter den mächtigsten Staaten sich eine entschei-
dende Stimme zu sichern, seine grössten Einbussen nicht
darin, worin man sie gewöhnlich findet Es ist wahr,
dass es von diesem Zeitpunkte ab fortwährend eine
Menge der hervorragendsten Talente auf dem „Altar des
Vaterlandes" oder der nationalen Ehrsucht opfert, während
früher diesen Talenten, welche jetzt die Politik ver-
schling^, andere Wirkungskreise offen standen. Aber ab-
seits von diesen öffentlichen Hekatomben, und im Grunde
viel grauenhafter als diese, begiebt sich ein Schauspiel,
welches fortwährend in hunderttausend Acten gleichzeitig
sich abspielt: jeder tüchtige arbeitsame geistvolle stre-
bende Mensch eines solchen nach politischen Ruhmes-
kränzen lüsternen Volkes wird von dieser Lüsternheit
beherrscht und gehört seiner eigenen Sache nicht mehr
wie früher völlig an : die täglich neuen Fragen und
Sorgen des öffentlichen Wohls verschUngen eine täg-
liche Abgabe von dem Kopf- und Herz-Capitale jedes
— 360 —
Bürgers: die Summe aller dieser Opfer und Einbussen an
individueller Energie und Arbeit ist so ungeheuer, dass
das politische Aufblühen eines Volks eine geistige Ver-
armung und Ermattung, eine geringere Leistungsfähigkeit
zu Werken, welche grosse Concentration und Einseitigkeit
verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht^ Zu-
letzt darf man fragen: lohnt sich denn alle diese Blüthe
und Pracht des Ganzen (welche ja doch nur als Furcht
der anderen Staaten vor dem neuen Coloss und als
dem Auslande abgerungene Begünstigung der nationalen
Handels- und Verkehrs -Wohlfahrt zu Tage tritt), wenn
dieser groben und buntschillernden Blume der Nation
alle die edleren zarteren geistigeren Pflanzen und Ge-
wächse, an welchen ihr Boden bisher so reich war, zum
Opfer gebracht werden müssen?
482.
Und nochmals gesagt. — Öffentliche Meinungen
— private Faulheiten.
Neuntes Hauptstück:
Der Mensch mit sich allein.
a83.
Feinde der Wahrheit. — Überzeugungen sind
gefährhchere Feinde der Wahrheit als Lügen.
484.
Verkehrte Welt — Man kritisirt einen Denker
schärfer, wenn er einen uns unangenehmen Satz hinstellt;
und doch wäre es vernünftiger, diess zu thun, wenn sein
Satz uns angenehm ist.
485.
Charaktervoll. — Charaktervoll erscheint ein
Mensch weit häufiger, weil er immer seinem Tempera-
ment, als weil er immer seinen Principien tolgt.
486.
Das Eine, was noth thut. — Eins muss man
haben: entweder einen von Natur leichten Sinn oder
einen durch Kunst und Wissen erleichterten Sinn.
487.
Die Leidenschaft für Sachen. — Wer seine
Leidenschaft auf Sachen .{Wissenschaften Staatswohl
Culturinteressen Künste) richtet, entzieht seiner Leiden-
— 364 —
Schaft für Personen viel Feuer (selbst wenn sie Ver-
treter jener Sachen sind, wie Staatsmänner, Philosophen,
Künstler Vertreter ihrer Schöpfungen sind).
488.
Die Ruhe in der That. — Wie ein Wasserfall
im Sturz langsamer und schwebender wird, so pflegt
der grosse Mensch der That mit mehr Ruhe zu han-
deln, als seine stürmische Begierde vor der That es
erwarten Hess.
489.
Nicht zu tief. — Personen, welche eine Sache in
aller Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu.
Sie haben eben die Tiefe an's Licht gebracht: da giebt
es immer viel Schümmes zu sehen.
490.
Wahn der Idealisten. — Alle Idealisten bilden
sich ein, die Sachen, welchen sie dienen, seien wesent-
lich besser als die andern Sachen in der Welt, und
wollen nicht glauben, dass wenn ihre Sache überhaupt
gedeihen soll, sie genau desselben übel riechenden
Düngers bedarf, welchen ' alle andern menschlichen Un-
ternehmungen nöthig haben.
491.
Selbstbeobachtung. - Der Mensch ist gegen
sich selbst, gegen Auskundschaftung und Belagerung
durch sich selber sehr gut vertheidigt, er vermag ge-
wöhnlich nicht mehr von sich als seine Aussenwerke
- 365 -
Avahrzunehmen. Die eigentliche Festung ist ihm unzu-
gänglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde
und Feinde die Verräther machen und ihn selber auf
geheimem Wege hineinführen.
492.
Der richtige Beruf. — Männer halten selten
einen Beruf aus, von dem sie nicht glauben oder sich
einreden, er sei im Grunde wichtiger als alle anderen.
Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebhabern.
493.
Adel der Gesinnung. — Der Adel der Ge-
sinnung besteht zu einem grossen Theil aus Gutmüthig-
keit und Mangel an Misstrauen und enthält also gerade
Das, worüber sich die gewinnsüchtigen und erfolgreichen
Menschen so gerne mit Überlegenheit und Spott er-
gehen.
494.
Ziel und Wege. — Viele sind hartnäckig in Bezug
auf den einmal eingeschlagnen Weg, Wenige in Bezug
auf das Ziel.
495.
Das Empörende an einer individuellen
Lebensart. — Alle sehr individuellen Maassregeln des
Lebens bringen die Menschen gegen Den, der sie er-
greift, auf; sie fühlen sich durch die aussergewöhnliche
Behandlung, welche Jener sich angedeihen lässt, er-
niedrigt, als gewöhnliche Wesen.
— 366 ^
496.
Vorrecht der Grösse. — Es ist das Vorrecht der
Grösse, mit geringen Gaben hoch zu beglücken.
497-
Unwillkürlich vornehm. — . Der Mensch beträgt
sich unwillkürlich vornehm, wenn er sich gewöhnt hat,
von den Menschen Nichts zu wollen und ihnen immer
zu geben.
498.
Bedingung des Heroenthums. — Wenn Einer
zum Helden werden will, so muss die Schlange vorher
zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm sein rechter
Feind.
499.
Freund. — Mitfreude, nicht Mitleiden, macht den
Freund.
500.
Ebbe und Fluth zu benutzen. — Man muss
zum Zwecke der Erkenntniss, jene innere Strömung zu
benutzen wissen, welche uns zu einer Sache hinzieht, und
wiederum jene, welche uns, nach einer Zeit, von der
Sache fortzieht.
501.
Freude an sich. — „Freude an der Sache" so sagt
man: aber in Wahrheit ist es Freude an sich vermittelst
einer Sache.
— 36? —
502.
Der Bescheidene. — Wer gegen Personen be-
scheiden ist , zeigt gegen Sachen (Stadt Staat Gesell-
schaft Zeit Menschheit) um so stärker seine Anmaassung.
Das ist seine Rache.
503.
Neid und Eifersucht. — Neid und Eifersucht sind
die Schamtheile der menschlichen Seele. Die Vergleichung
kann vielleicht fortgesetzt werden.
504-
Der vornehmste Heuchler. — Gar nicht von
sich zu reden, ist eine sehr vornehme Heuchelei.
505-
Verdruss. — Der Verdruss ist eine körperliche
Krankheit, welche keineswegs dadurch schon gehoben
ist, dass die Veranlassung zum Verdrusse hinterdrein be-
seitigt wird.
506.
Vertreter der Wahrheit. — Nicht wenn es
gefährlich ist die Wahrheit zu sagen , findet sie am
seltensten Vertreter, sondern wenn es langweilig ist
507-
Beschwerlicher noch als Feinde. — Die
Personen, von deren sympathischem Verhalten wir nicht
unter allen Umständen überzeugt sind , während uns
- 368 -
irgend ein Grund (z. B. Dankbarkeit) verpflichtet, den
Anschein der unbedingten Sympathie unserseits auf-
recht zu erhalten, quälen unsere Phantasie viel mehr als
unsere Feinde.
508.
Die freie Natur. — Wir sind so gerne in der
freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat
509-
Jeder in Einer Sache überlegen. — In civilisirten
Verhältnissen fühlt sich Jeder jedem Andern in Einer
Sache wenigstens überlegen: darauf beruht das allge-
meine Wohlwollen, insofern Jeder einer ist, der unter
Umständen helfen kann und desshalb sich ohne Scham
helfen lassen darf.
510.
Trostgründe. — Bei einem Todesfall braucht man
zumeist Trostgründe, nicht sowohl um die Gewalt des
Schmerzes zu lindern, als um zu entschuldigen, dass
man sich so leicht getröstet fühlt
511.
Die Überzeugungstreuen. — Wer viel zu thun
hat, behält seine allgemeinen Ansichten und Standpunkte
fast unverändert bei. Ebenso Jeder, der im Dienst einer
Idee arbeitet: er wird die Idee selber nie mehr prüfen,
dazu hat er keine Zeit mehr; ja es geht gegen sein
Interesse, sie überhaupt noch für discutirbar zu halten.
— 3^9 --
512.
Moralität und Quantität — Die höhere Moralität
des einen Menschen im Vergleich zu der eines anderen
liegt oft nur darin , dass die Ziele quantitativ grösser
sind. Jenen zieht die Beschäftigung mit dem Kleinen,
im engen Kreise, nieder.
513.
Das Leben als Ertrag des Lebens. — Der
Mensch mag sich noch so weit mit seiner Erkenntriiss
ausrecken, sich selber noch so objectiv vorkommen:
zuletzt trägt er doch nichts davon als seine eigne Bio-
graphie.
514.
Die eherne Nothwendigkeit. — Die eherne
Nothwendigkeit ist ein Ding, von dem die Menschen im
Verlauf der Geschichte einsehen, dass es weder ehern
noch nothwendig ist
515-
Aus der Erfahrung. — Die Unvernunft einer
Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine
ßedingxmg desselben.
516.
Wahrheit — Niemand stirbt jetzt an tödtlichen
Wahrheiten: es giebt zu viele Gegengifte.
517.
Grundeinsicht — Es gicbt keine prästabilirte
Harmonie zwischen der Förderung der Wahrheit und
dem Wohle der Menschheit
Nietzsche, Werke Band Tl. 24
— 370 —
5i8.
Menschenloos. — Wer tiefer denkt, weiss, dass
er immer Unrecht hat, er mag handeln und urtheilen,
wie er will.
519.
Wahrheit als Circe. — Der Irrthum hat aus
Thieren Menschen gemacht; sollte die Wahrheit im
Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Thier zu
machen ?
520.
Gefahr unsrer Cultur. — Wir gehören einer
Zeit an, deren Cultur in Gefahr ist, an den Mitteln der
Cultur zu Grunde zu gehen.
521.
Grösse heisst: Richtung-geben. — Kein Strom
ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er
so viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das macht
ilin dazu. So steht es auch mit allen Grössen des Geistes.
Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung an-
giebt, welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen ; nicht
darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist
522.
Schwaches Gewissen. — ^Menschen, welche von
ihrer Bedeutung für die Menschheit sprechen, haben in
Bezug auf gemeine bürgerliche Rechtlichkeit, im Halten
von Verträgen Versprechungen ein schwaches Gewissen.
— 371 —
523-
Geliebt sein wollen. — Die Forderung, geliebt
zu werden, ist die grösste der Anmaassungen,
524-
Menschen Verachtung. — Das unzweideutigste
Anzeichen von einer Geringschätzung der Menschen ist
diess, dass man Jedermann nur als Mittel zu seinem
Zwecke oder gar nicht gelten lässt.
525.
Anhänger aus Widerspruch. — Wer die Men-
schen zur Raserei gegen sich gebracht hat, hat sich
immer auch eine Partei zu seinen Gunsten erworben.
526.
Erlebnisse vergessen. — Wer viel denkt, und
zwar sachhch denkt, vergisst leicht seine eigenen Erleb-
nisse, aber nicht so die Gedanken, welche durch jene
hervorgerufen wurden.
527.
Festhalten einer Meinung. — Der Eine hält eine
Meinung fest, weil er sich etwas darauf einbildet, von
selbst auf sie gekommen zu sein , der Andre , weil er
sie mit Mühe gelernt hat und stolz darauf ist, sie be-
griffen zu haben: Beide also aus Eitelkeit
24*
-' 372 —
528.
Das Licht scheuen. — Die gute That scheut
ebenso ängstUch das Licht als die böse That: diese
fürchtet, durch das Bekanntwerden komme der Schmerz
(als Strafe), jene fürchtet, durch das Bekanntwerden
schwinde die Lust (jene reine Lust an sich selbst näm-
lich , welche sofort aufhört , sobald eine Befriedigung
der Eitelkeit hinzutritt).
529.
Die Länge des Tages. — Wenn man viel hinein-
zustecken hat, so hat ein Tag hundert Taschen.
530.
Tyrannengenie. — Wenn in der Seele eine un-
bezwingliche Lust dazu rege ist, sich tyrannisch durch-
zusetzen, und das Feuer beständig unterhält, so wird
selbst eine geringe Begabung (bei Politikern Künstlern)
allmählich zu einer fast unwiderstehlichen Naturgewalt.
531.
Das Leben des Feindes. — Wer davon lebt,
einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, dass
er am Leben bleibt.
532-
Wichtiger. — Man nimmt die unerklärte dunkle
Sache wichtiger als die erklärte helle.
373
533-
Abschätzung erwiesener Dienste. — Dienst-
leistungen, die uns Jemand erweist, schätzen wir nach
dem Werthe, den Jener darauf legt, nicht nach dem,
welchen sie für uns haben.
534.
Unglück. — Die Auszeichnung, welche im Unglück
liegt (als ob es ein Zeichen von Flachheit Anspruchs-
losigkeit Gewöhnlichkeit sei, sich glückhch zu fühlen),
ist so gross, dass wenn Jemand Einem sagt: „aber wie
glücklich Sie sindl" — man gewöhnlich protestirt.
535-
Phantasie der Angst. — Die Phantasie der Angst
ist jener böse äffische Kobold, der dem Menschen gerade
dann noch auf den Rücken springt, wenn er schon am
schwersten zu tragen hat.
536-
Werth abgeschmackter Gegner. — Man bleibt
mitunter einer Sache nur desshalb treu, weil ihre Gegner
nicht aufhören abgeschmackt zu sein.
527-
Werth eines Berufs. — Ein Beruf macht ge-
dankenlos; darin liegt sein grösster Segen. Denn er ist
eine Schutzwehr, hinter welche man sich, wenn Bedenken
und Sorgen allgemeiner Art Einen anfallen, erlaubter-
maassen zurückziehen kann.
— 374 —
538.
Talent. — Das Talent manches Menschen erscheint
geringer, als es ist, weil er sich immer zu grosse Auf-
gaben gestellt hat.
539-
Jugend. — Die Jugend ist unangenehm; denn in
ihr ist es nicht möglich oder nicht vernünftig, productiv
zu sein, in irgend einem Sinne.
540.
Zu grosse Ziele. — Wer sich öffentlich grosse
Ziele stellt und hinterdrein im Geheimen einsieht, dass
er dazu zu schwach ist, hat gewöhnlich auch nicht
Kraft genug, jene Ziele öffentlich zu widerrufen, und
wird dann unvermeidlich zum Heuchler.
541.
Im Strome. — Starke Wasser reissen viel Gestein
und Gestrüpp mit sich fort, starke Geister viel dumme
und verworrene Köpfe.
542.
Gefahren der geistigen Befreiung. — Bei der
ernstlich gemeinten geistigen Befreiung eines Menschen
hoifen im Stillen auch seine Leidenschaften und Be-
gierden, sich ihren Vortheil zu ersehen.
543-
Verkörperung des Geistes. — Wenn Einer viel
und klug denkt, so bekommt nicht nur sein Gesicht,
sondern auch sein Körper ein kluges Aussehen.
— 375 —
544-
Schlecht sehen und schlecht hören. — Wer
wenig sieht, sieht immer weniger; wer schlecht hört,
hört immer Einiges noch dazu.
545.
Selbstgenuss in der Eitelkeit. — Der Eitle will
nicht sowohl hervorragen, als sich hervorragend fühlen,
desshalb verschmäht er kein Mittel des Selbstbetrugs
und der Selbstüberlistung. Nicht die Meinung der An-
deren, sondern seine Meinung von Deren Meinung liegt
ihm am Herzen.
546.
Ausnahmsweise eitel. — Der für gewöhnlich
Selbstgenugsame ist ausnahmsweise eitel und für Ruhm
und Lobsprüche empfänglich, wenn er körperlich krank
ist. In dem Maasse, in welchem er sich verliert, muss
er sich aus fremder Meinung, von Aussen her, wieder zu
gewinnen suchen.
547.
Die „Geistreichen". — Der hat keinen Geist,
welcher den Geist sucht
543.
Wink für Parteihäupter. — Wenn man die
Leute dazu treiben kann, sich öffentlich für etwas zu
erklären, so hat man sie meistens auch dazu gebracht,
sich innerlich dafür zu erklären; sie wollen fürderhin als
consequent erfunden werden.
376
549-
Verachtung. — Die Verachtung- durch Andere ist
dem Menschen empfindlicher als die durch sich sellDst.
550.
Schnur der Dankbarkeit. — Es giebt sclavische
Seelen, welche die Erkenntlichkeit für erwiesene Wohl-
thaten so weit treiben, dass sie sich mit der Schnur der
Dankbarkeit selbst erdrosseln.
551-
Kunstgriff des Propheten. — Um die Hand-
lungsweise gewöhnlicher Menschen im Voraus zu er-
rathen, muss man annehmen, dass sie immer den min-
desten Aufwand an Geist machen, um sich aus einer
unangenehmen Lage zu befreien.
552.
Das einzige Menschenrecht. — Wer vom Her-
kömmlichen abweicht, ist das Opfer des Aussergewöhn-
lichen; wer im Herkömmlichen bleibt, ist der Sclave
desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall
553.
Unter das Thier hinab. — Wenn der Mensch
vor Lachen wiehert, übertrifft er alle ihiere durch seme
Gemeinheit.
— 577 —
554.
Halbwissen. — Der, welcher eine fremde Sprache
wenig spricht, hat mehr Freude daran als Der, welcher
sie gnt spricht Das Vergnügen ist bei den Halb-
wissenden.
555-
Gefährliche Hülfbereitschaft. — Es giebt Leute,
welche das Leben den Menschen erschweren wollen, aus
keinem andern Grunde, als um ihnen hinterdrein ihre
Recepte zur Erleichterung des Lebens, zum Beispiel ihr
Christenthum, anzubieten.
556.
Fleiss und Gewissenhaftigkeit, — Fleiss und
Gewissenhaftigkeit sind oftmals dadurch Antagonisten,
dass der Fleiss die Früchte sauer vom Baume nehmen
will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange hängen
lässt, bis sie herabfallen und sich zerschlagen.
557.
Verdächtigen. — Menschen, welche man nicht
leiden kann, sucht man sich zu verdächtigen.
558.
Die Umstände fehlen. — Viele Menschen warten
ihr Leben lang auf die Gelegenheit, auf ihre Art gut
zu sein.
— 37Ö —
559-
Mangel an Freunden. — Der Mangel an Freunden
lässt auf Neid oder Anmaassung schliessen. Mancher
verdankt seine Freunde nur dem glücklichen Umstände,
dass er keinen Anlass zum Neide hat.
560.
Gefahr in der Vielheit. — Mit einem Talente mehr
steht man oft unsicherer, als mit einem weniger: wie
der Tisch besser auf drei als auf vier Füssen steht.
561.
Den Andern zum Vorbild. — Wer ein gutes
Beispiel geben will, muss seiner Tugend ein Gran Narr-
heit zusetzen: dann ahmt man nach und erhebt sich zu-
gleich über den Nachgeahmten, — was die Menschen
lieben,
562.
Zielscheibe sein. — Die bösen Reden Anderer
über uns gelten oft nicht eigentlich uns, sondern sind
die Äusserungen eines Argers, einer Verstimmung aus
ganz anderen Gründen.
563.
Leicht resignirt. — Man leidet wenig an ver-
sagten Wünschen, wenn man seine Phantasie geübt hat,
die Vergangenheit zu verhässlichen.
— 379 —
564-
In Gefahr. — IMan ist am meisten in Gefalir, über-
fahren zu werden, wenn man eben einem Wagen aus-
gewichen ist.
565.
Je nach der Stimme die Rolle. — Wer ge-
zwungen ist lauter zu reden, als er gewohnt ist (etwa
vor einem Halb -Tauben oder vor einem grossen Audi-
torium), übertreibt gewöhnlich die Dinge, welche er
mitzutheilen hat. — Mancher wird zum Verschwörer,
böswilligen Nachredner, Intriganten, bloss weil seine
Stimme sich am besten zu einem Geflüster eignet.
566.
Liebe und Hass. — Liebe und Hass sind nicht
blind, aber geblendet vom Feuer, das sie selber mit sich
tragen.
567.
Mit Vortheil angefeindet — Menschen, welche
der Welt ihre Verdienste nicht völlig deutlich machen
können, suchen sich eine starke Feindschaft zu erwecken.
Sie haben dann den Trost, zu denken, dass diese zwischen
ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe — und
dass mancher Andere dasselbe vermuthe: was sehr vor-
theilhaft für ihre Geltung ist
568.
Beichte. — Man vergisst seine Schuld, wenn man
sie einem Andern gebeichtet hat, aber gewöhnlich ver-
gisst der Andere sie nicht
— 38o —
569.
Selbstgenüg-samkeit. — Das goldene Vliess der
Selbstgenügsamkeit schützt gegen Prügel, aber nicht
gegen Nadelstiche.
570.
Schatten in der Flamme. — Die Flamme ist
sich selber nicht so hell als den Andern, denen sie
leuchtet: so auch der Weise.
571.
Eigene Meinungen. — Die erste Meinung, welche
vms einfällt, wenn wir plötzlich über eine Sache befragt
werden, ist gewöhnlich nicht unsere eigene, sondern nur
die landläufige, unsrer Kaste, Stellung, Abkunft zuge-
hörige; die eignen Meinungen schwimmen selten obenauf.
572.
Herkunft des Muthes. — Der gewöhnliche Mensch
ist muthig und unverwundbar wie ein Held, wenn er
die Gefahr nicht sieht, für sie keine Augen hat. Um-
gekehrt: der Held hat die einzig verwundbare Stelle auf
dem Rücken, also dort, wo er keine Augen hat.
573-
Gefahr im Arzte. — Man muss für seinen Arzt
geboren sein, sonst geht man an seinem Arzt zu Grunde.
- 38i —
574-
Wunderliche Eitelkeit. — Wer dreimal mit
Dreistigkeit das Wetter prophezeit hat und Erfolg hatte,
der glaubt im Grunde seiner Seele ein wenig an seine
Prophetengabe. Wir lassen das Wunderliche Irrationelle
gelten, wenn es unserer Selbstschätzung schmeichelt.
575.
Beruf. — Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens.
576.
Gefahr persönlichen Einflusses. — Wer fühlt,
dass er auf einen Andern einen grossen innerlichen
Einfluss ausübt, muss ihm ganz freie Zügel lassen, ja
gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst her-
beiführen: sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind
machen.
577.
Den Erben gelten lassen. — Wer etwas Grosses
in selbstloser Gesinnung begründet hat, sorgt dafür, sich
Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen einer tyrannischen
und unedlen Natur, in allen möglichen Erben seines
Werks seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande
der Nothwehr zu leben.
578.
Halbwissen. — Das Halbwissen ist siegreicher al?
das Ganzwis3en: es kennt die Dinge einfacher, als sie
sind, und macht daher seine Meinung fasslichcr und
überzeugender.
— 302 —
579-
Nicht geeignet zum Parteimann. — Wer viel
denkt, eignet sich nicht zum Parteimann: er denkt sich
zu bald durch die Partei hindurch.
580.
Schlechtes Gedächtniss. — Der Vortheil des
schlechten Gedächtnisses ist, dass man dieselben guten
Dinge mehrere Male zum ersten Mal geniesst
581.
Sich Schmerzen machen. — Rücksichtslosigkeit
des Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedHchen inneren
Gesinnung, welche Betäubung begehrt.
582.
Märtyrer. — Der Jünger eines Märtyrers leidet
mehr als der Märtyrer.
5S3.
Rückständige Eitelkeit. — Die Eitelkeit mancher
Menschen, die es nicht nöthig hätten eitel zu sein, ist
die übrig gebliebene und gross gewachsene Gewohnheit
aus der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten, an sich
zu glauben, und diesen Glauben erst von Anderen in
kleiner Münze einbettelten.
584-
Punctum salicns der Leidenschaft. — Wer im
Begriff ist, in Zorn oder in einen heftigen LiebesafFect
- 383 -
zu gerathen, erreicht einen Punkt, wo die Seele voll ist
wie ein Gefäss: aber doch muss ein Wassertropfen noch
hinzukommen, der gnte Wille zur Leidenschaft (den man
gewöhnlich auch den bösen nennt). Es ist nur diess
Pünktchen nötliig, dann läuft das Gefäss über.
585.
Gedanke desUnmuths. — Es ist mit den Menschen
wie mit den Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die
jungen Menschen ausgeglüht haben und verkohlt sind
gleich jeneu, dann werden sie nützlich. So lange sie
dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber
unnütz und gar zu häufig unbequem. — Die Menschheit
verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum
Heizen ihrer grossen Maschinen: aber wozu dann die
Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Mensch-
heit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen,
die sich selbst Zweck sind — ist das die umana commediaf
586.
Vom Stundenzeiger des Lebens. — Das Leben
besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster
Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen
uns besten Falls die Schattenbilder jener Momente um-
schweben. Die Liebe, der Frühling, jede schöne Me-
lodie, das Gebirge, der Mond, das Meer — Alles redet
nur einmal ganz zum Herzen: wenn es überhaupt je
ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben
jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und
Pausen in der Symphonie des wirklichen Lebens.
— 384 —
587.
Angreifen oder eingreifen. — Wir machen
häufig den Fehler, eine Richtung oder Partei oder Zeit
lebhaft anzufeinden, weil wir zufällig nur ihre veräusser-
lichte Seite, ihre Verkümmerung oder die ihnen noth-
wendig anhaftenden „Fehler ihrer Tugenden" zu sehen
bekommen, — vielleicht weil wir selbst an diesen vor-
nehmlich theilgenommen haben. Dann wenden wir ihnen
den Rücken und suchen eine entgegengesetzte Richtung;
aber das Bessere wäre, die starken guten Seiten aufzu-
suchen oder an sich selber auszubilden. Freilich gehört
ein kräftigerer Blick und besserer Wille dazu, das Wer-
dende und Unvollkommene zu fördern, als es in seiner
Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen.
588.
Bescheidenheit. — Es giebt wahre Bescheiden-
heit (das heisst die Erkenntniss, dass wir nicht unser
eigenes Werk sind); und recht wohl geziemt sie dem
grossen Geiste, weil gerade er den Gedanken der völligen
UnVerantwortlichkeit (auch für das Gute, was er schafft)
fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst
man nicht, insofern er seine Kraft fülilt, sondern weil er
seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die An-
deren verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit
sie es aushalten. Gewöhnlich beweist diess sogar den
Mangel an sicherem Gefühl der Kraft und macht somit
die Menschen an seiner Grösse zweifeln. Insofern ist
Unbescheidenheit vom Gesichtspunkte der Ivlugheit aus
sehr zu widerrathen.
- 385 -
589.
Des Tages erster Gedanke. — Das beste Mittel,
jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran
zu denken, ob man nicht wenigstens Einem Menschen
an diesem Tag eine Freude machen könne. Wenn diess
als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes
gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vortheil
bei dieser Änderung.
590.
Anmaassung als letztes Trostmittel. — Wenn
man ein Missgeschick, seinen intellectueUen Mangel, sein«
Kj-ankheit sich so' zurecht legt, dass man hierin sein
vorgezeichnetes Schicksal, seine Prüfung oder die ge-
heimnissvolle Strafe für früher Begangenes sieht, so
macht man sich sein eignes Wesen dadurch interessant
und erhebt sich in der Vorstellung über seine Mitmen-
schen. Der stolze Sünder ist eine bekannte Figur in
allen kirchlichen Secten.
591.
Vegetation des Glücks. — Dicht neben dem
Wehe der Welt, und oft auf seinem vulcanischen Boden,
hat der Mensch seine kleinen Gärten des Glücks ange-
legt. Ob man das Leben mit dem Blicke dessen be-
trachtet, der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder
Dessen, der sich ergiebt und resignirt, oder Dessen, der
an der überwundenen Schwierigkeit sich freut, — überall
wird er etwas Glück neben dem Unheil aufgesprosst
finden — und zwar um so mehr Glück, je vulcanischer
der Boden war; nur wäre es lächerlich, zu sagen, dass
mit diesem Glück das Leiden selbst gerechtfertigt sei.
Nietzsche, Werke Band II. je
— 386 —
592.
Die Strasse der Vorfahren. — Es ist vernünftig,
wenn Jemand das Talent, auf welches sein Vater oder
Grossvater Mühe verwendet hat, an sich selbst weiter
ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschlägt;
er nimmt sich sonst die Möglichkeit, zur Vollkommenheit
in irgend einem Handwerk zu gelangen. Desshalb sagt
das Sprüchwort: „Welche Strasse sollst du reiten? — die
deiner Vorfahren."
593-
Eitelkeit und Ehrgeiz als .Erzieher. — So
lange Einer noch nicht zum Werkzeug des allgemeinen
menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn der Ehr-
geiz peinigen; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit
Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so
mag dann die Eitelkeit kommen; sie wird ihn im Klei-
nen vermenschlichen, geselliger erträglicher nachsichtiger
machen, dann wenn der Ehrgeiz die grobe Arbeit (ihn
nützlich zu machen) an ihm vollendet hat
594.
Philosophische Neulinge. — Hat man die Weis-
heit eines Philosophen eben eingenommen, so geht man
durch die Strassen mit dem Gefühle, als sei man umge-
schaffen und ein grosser Mann geworden; denn man
findet lauter Solche, welche diese Weisheit nicht kennen,
hat also über Alles eine neue unbekannte Entscheidung
vorzutragen: weil man ein Gesetzbuch anerkennt, meint
man jetzt auch sich als Richter gebärden zu müssen.
- 387 -
595-
Durch Missfallen gefallen. — Die Menschen,
welche lieber auffallen und dabei missfallen wollen, be-
gehren dasselbe wie Die, welche nicht auffallen und
gefallen wollen, nur in einem viel höheren Grade und
indirect, vermitteist einer Stufe, durch welche sie sich
scheinbar von ihrem Ziele entfernen. Sie wollen Einfluss
und Macht, und zeigen desshalb ihre Überlegenheit, selbst
so, dass sie unangenehm empfunden wird; denn sie
wissen, dass Der, welcher endlich zur Macht gelangt ist,
fast in Allem was er thut und sagt, gefällt und dass
selbst, wo er missfällt, er doch noch zu gefallen scheint. —
Auch der Freigeist, und ebenso der Gläubige, wollen
Macht, um durch sie einmal zu gefallen; wenn ihnen
ihrer Lehre wegen ein übles Schicksal, Verfolgung
Kerker Hinrichtung droht, so freuen sie sich des Ge-
dankens, dass ihre Lehre auf diese Weise der Menschheit
eingeritzt und eingebrannt wird; sie nehmen es hin als
ein schmerzhaftes aber kräftiges, wenngleich spät wir-
kendes Mittel, um doch noch zur Macht zu gelangen.
596.
Casus bellt und Ahnliches. — Der Fürst, wel-
cher zu dem gefassten Entschlüsse, Krieg mit dem Nach-
bar zu führen, einen casus belli ausfindig macht, gleicht
dem Vater, der seinem Kinde eine Mutter unterschiebt,
welche fürderhin als solche gelten soll. Und sind nicht
fast alle öffentlich bekannt gemachten Motive unserer
Handlungen solche untergeschobene Mütter?
25*
~ 388 —
597.
Leidenschaft und Recht. — Niemand spricht
leidenschaftHcher von seinem Rechte als Der, welcher
im Grunde seiner Seele einen Zweifel an seinem Rechte
hat. Indem er die Leidenschaft auf seine Seite zieht,
will er den Verstand und dessen Zweifel betäuben: so
gewinnt er das gute Gewissen und mit ihm den Erfolg
bei den Mitmenschen.
598.
Kunstgriff des Entsagenden. — Wer gegen
die Ehe protestirt, nach Art der kathohschen Priester,
wird diese nach ihrer niedrigsten gemeinsten Auffassung
zu verstehen suchen. Ebenso wer die Ehre bei den
Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig
fassen; so erleichtert er sich die Entbehrung und den
Kampf dagegen. Übrigens wird Der, welcher sich im
Ganzen viel versagt, sich im Kleinen leicht Indulgenz
geben. Es wäre möglich, dass Der, welcher über den
Beifall der Zeitgenossen erhaben ist, doch die Befriedi-
gung kleiner Eitelkeiten sich nicht versagen will.
599-
Lebensalter der Anmaassung. — Zwischen dem
sechsundzwanzigsten und dem dreissigsten Jahre liegt bei
begabten Menschen die eigentliche Periode der Anmaass-
ung; es ist die Zeit der ersten Reife, mit einem starken
Rest von Säuerlichkeit. Man fordert auf Grund dessen,
was man in sich fühlt, von Menschen, welche nichts
oder wenig davon sehen, Ehre und Demüthigung, und
rächt sich, weil diese zunächst ausbleiben, durch jenen
- 389 -
Blick, jene Gebärde der Anmaassung, jenen Ton der
Stimme, die ein feines Ohr und Auge an allen Produc-
tionen jenes Alters, seien es Gedichte, Philosophien oder
Bilder und Musik, wiedererkennt. Altere erfahrene
Männer lächeln dazu und mit Rührung gedenken sie
dieses schönen Lebensalters, in dem man böse über das
Geschick ist, so viel zu sein und so wenig zu scheinen.
Später scheint man wirklich mehr — aber man hat
vielleicht den guten Glauben verloren, viel zu sein: man
bleibe denn zeitlebens ein unverbesserlicher Narr der
Eitelkeit.
600.
Trügerisch und doch haltbar. — Wie man,
um an einem Abgrund vorbeizugehen oder einen tiefen
Bach auf einem Balken zu überschreiten, eines Geländers
bedarf, nicht um sich daran festzuhalten — denn es
würde sofort mit Einem zusammenbrechen — sondern um
die Vorstellung der Sicherheit für das Auge zu erwecken:
so bedarf man als Jüngling solcher Personen, welche
uns unbewusst den Dienst jenes Geländers erweisen. Es
ist wahr, sie würden uns nicht helfen, wenn wir uns
wirklich in grosser Gefahr auf sie stützen wollten, aber
sie geben die beruhigende Empfindung des Schutzes in
der Nähe (zum Beispiel Väter Lehrer Freunde, wie sie,
aUe drei, gewöhnlich sind).
601.
Lieben lernen. — Man muss lieben lernen, gtltig
sein lernen, und diess von Jugend auf; wenn Erziehung
und Zufall uns keine Gelegenheit zur Übung dieser
Empfindungen geben, so wird unsere Seele trocken und
— 390 —
selbst zum Verständniss jener zarten Erfindungen liebe-
voller Menschen ungeeignet. Ebenso muss der Hass
gelernt und genährt werden, wenn Einer ein tüchtiger
Hasser werden will: sonst wird auch der Keim dazu
allmählich absterben.
Ö02.
Die Ruine als Schmuck. — Solche, die viele
geistige Wandlungen durchmachen, behalten einige An-
sichten und Gewohnheiten früherer Zustände bei, welche
dann wie ein Stück unerklärlichen Alterthums und
grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln
hineinragen: oft zur Zierde der ganzen Gegend.
003.
Liebe und Ehre. — Die Liebe begehrt, die Furcht
meidet Daran liegt es, dass man nicht zugleich von
derselben Person, wenigstens in demselben Zeiträume,
geliebt und geehrt werden kann. Denn der Ehrende
erkennt die Macht an, das heisst er fürchtet sie: sein
Zustand ist Ehr-furcht. Die Liebe aber erkennt keine
Macht an. Nichts was trennt, abhebt, über- und unter-
ordnet. Weil sie. nicht ehrt, so sind ehrsüchtige Menschen
insgeheim oder öffentlich gegen das Geliebtwerden wider-
spänstig.
604.
Vorurtheil für die kalten Menschen. —
Menschen, welche rasch Feuer fangen, werden schnell
kalt und sind daher im Ganzen unzuverlässig. Desshalb
giebt es für alle Die, welche immer kalt sind oder so
sich stellen, das günstige Vorurtheil, dass es besonders
— 391 —
vertrauenswerthe zuverlässige Menschen seien: man ver-
wechselt sie mit Denen, welche langsam Feuer fangen
und es lange festhalten.
605.
Das Gefährliche an freien Meinungen. — Das
leichte Befassen mit freien Meinungen giebt einen Reiz,
wie eine Art Jucken; giebt man ihm mehr nach, so
fängt man an, die Stellen zu reiben; bis zuletzt eine
ofEhe schmerzende Wunde entsteht, das heisst: bis die
freie Meinung uns in unserer Lebensstellung, unsern
menschhchen Beziehungen zu stören, zu quälen beginnt.
606.
Begierde nach tiefem Schmerz. — Die Leiden-
schaft lässt, wenn sie vorüber ist, eine dunkle Sehnsucht
nach sich selber zurück und wirft, im Verschwinden noch,
uns einen verführerischen Blick zu. Es muss doch eine
Art von Lust gewährt haben, mit ihrer Geissei geschlagen
worden zu sein. Die massigeren Empfindungen er-
scheinen dagegen schaal; man will, wie es scheint, die
heftigere Unlust immer noch lieber als die matte Lust
607.
Unmuth über Andere und die Welt. — Wenn
wir, wie so häufig, unseren Unmuth an Andern aus-
lassen, während wir ihn eigentlich über uns empfinden, er-
streben wir im Grunde eine Umnebelung und Täuschung
unseres Urtheils: wir wollen diesen Unmuth a posteriori
motiviren, durch die Versehen, Mängel der Anderen, und
— 392 —
uns selber so aus den Augen verlieren. — Die religiös
strengen Menschen, welche gegen sich selber unerbitt-
liche Richter sind, haben zugleich am meisten Übles der
Menschheit überhaupt nachgesagt: ein Heiliger, welcher
sich die Sünden und den Anderen die Tugenden vor-
behält, hat nie gelebt: ebensowenig wie Jener, welcher
nach Buddha's Vorschrift sein Gutes vor den Leuten ver-
birgt und ihnen sein Böses allein sehen lässt
608.
Ursache und Wirkung verwechselt. — Wir
suchen unbewusst die Grundsätze und Lehrmeinungen,
welche unserem Temperamente angemessen sind, so dass
es zuletzt so aussieht, als ob die Grundsätze und Lehr-
meinungen unsern Charakter geschaffen, ihm Halt und
Sicherheit gegeben hätten: während es gerade umgekehrt
zugegangen ist. Unser Denken und Urtheilen soll nach-
träglich, so scheint es, zur Ursache unseres Wesens ge-
macht werden: aber thatsächlich ist unser Wesen die
Ursache, dass wir so und so denken und urtheilen. —
Und was bestimmt uns zu dieser fast unbewussten Ko-
mödie? Die Trägheit und Bequemlichkeit und nicht am
wenigsten der Wunsch der Eitelkeit, durch und durch
als consistent, in Wesen und Denken einartig erfunden
zu werden: denn diess erwirbt Achtung, giebt Vertrauen
und Macht.
609.
Lebensalter und Wahrheit. — Junge Leute
lieben das Interessante und Absonderliche, gleichgültig
wie wahr oder falsch es ist. Reifere Geister lieben Das
an der Wahrheit, was an ihr interessant und absonder-
— 393 —
lieh ist Ausgereifte Köpfe endlich lieben die Wahrheit
auch in Dem, wo sie schlicht und einfältig erscheint
und dem gewöhnlichen Menschen Langeweile macht,
weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit das Höchste
an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu
sagen pflegt
6io.
Die Menschen als schlechte Dichter. — So
wie schlechte Dichter im zweiten Theil des Verses zum
Reime den Gedanken suchen, so pflegen die Menschen
in der zweiten Hälfte des Lebens, ängstlicher geworden,
die Handlungen, Stellungen, Verhältnisse zu suchen,
welche zu denen ihres früheren Lebens passen, so dass
äusserlich Alles wohl zusammenklingt: aber ihr Leben
ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht
und immer wieder neu bestimmt, sondern an die Stelle
desselben tritt die Absicht, einen Reim zu finden.
6ii.
Langeweile und Spiel. — Das Bedürfniss zwingt
uns zur Arbeit, mit deren Ertrage das Bedürfniss ge-
stillt wird; das immer neue Erwachen der Bedürfnisse
gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber, in
welchen die Bedürfnisse gestillt sind und gleichsam
schlafen, überfällt uns die Langeweile. Was ist diese?
Es ist die Gewöhnung an Arbeit überhaupt, welche
sich jetzt als neues, hinzukommendes Bedürfniss geltend
macht; sie wird um so stärker sein, je stärker Jemand
gewöhnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar, je stärker Jemand
an Bedürfnissen gelitten hat. Um der Langenweile zu
entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Maass
— 394 —
seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er erfindet das
Spiel, das heisst die Arbeit, welche kein anderes Be-
dürfniss stillen soll als das nach Arbeit überhaupt. Wer
des Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue
Bedürfnisse keinen Grund zur Arbeit hat, den überfällt
mitunter das Verlangen nach einem dritten Zustand,
welcher sich zum Spiel verhält wie Schweben zum Tanzen,
wie Tanzen zum Gehen — nach einer seligen ruhigen Be-
wegtheit: es ist die Vision der Künstler und Philosophen
von dem Glück.
612.
Lehre aus Bildern. — Betrachtet man eine Reihe
Bilder von sich selber, von den Zeiten der letzten Kind-
heit bis zu der der Mannesreife, so findet man mit einer
angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde
ähnlicher sieht als der Mann dem Jünglinge: dass also
wahrscheinlich, diesem Vorgange entsprechend, inzwischen
eine zeitweilige Alienation vom Grundcharakter einge-
treten ist, über welche die gesammelte geballte Kraft
des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung
entspricht die andre, dass alle die starken Einwirkungen
von Leidenschaften Lehrern politischen Ereignissen,
welche in dem Jünglingsalter uns herumziehen, später
wieder auf ein festes Maass zurückgeführt erscheinen:
gewiss, sie leben und wirken in uns fort, aber das
Grundempfinden und Grundmeinen hat doch die Über-
macht und benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber
mehr als Regulatoren, wie diess wohl in den zwanziger
Jahren geschieht. So erscheint auch das Denken und
Empfinden des Mannes dem seines kindlichen Lebens-
alters wieder gemässer — und diese innere Thatsache
spricht sich in der erwähnten äusseren aus.
— 395 —
6i3.
Stimmklang der Lebensalter. — Der Ton,
in dem Jünglinge reden loben tadeln dichten, missfällt
dem Ältergewordenen, v/eil er zu laut ist, und zwar
zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem
Gewölbe, der durch die Leerheit eine solche Schallkraft
bekommt; denn das Meiste, was Jünglinge denken, ist
nicht aus der Fülle ihrer eigene; i Natur herausgeströmt,
sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in ihrer
Nähe gedacht geredet gelobt getadelt worden ist. Weil
aber die Empfindungen (der Neigung und Abneigung)
viel stärker als die Gründe für jene in ihnen nachklingen,
so entsteht, wenn sie ihre Empfindung wieder laut werden
lassen , jener dumpfe hallende Ton , welcher für die
Abwesenheit oder die Spärlichkeit von Gründen das
Kennzeichen abgiebt. Der Ton des reiferen Alters ist
streng, kurz abgebrochen, massig laut, aber, wie alles
deutlich Articulirte, sehr weit tragend. Das Alter endlich
bringt häufig eine gewisse Müde und Nachsicht in den
Klang und verzuckert ihn gleichsam: in manchen Fällen
freilich versäuert sie ihn auch.
614.
Zurückgebliebene und vorwegnehmende
Menschen. — Der unangenehme Charakter, welcher
voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen der
Mitbewerbenden und Nächsten mit Neid fühlt, gegen ab-
weichende Meinungen gewaltthätig und aufbrausend ist,
zeigt, dass er einer frühem Stufe der Cultur zugehört,
also ein Überbleibsel ist: denn die Art, in welcher er mit
den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende
für die Zustände eines Faustrecht -Zeitalters; es ist ein
— 39Ö —
zurückgebliebener Mensch. Ein anderer Charakter, welcher
reich an Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, alles
Wachsende und Werdende liebevoll empfindet, alle
Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst und kein Vor-
recht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt,
sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, — das
ist ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren
Cultur der Menschen entgegenstrebt. Der unangenehme
Charakter stammt aus den Zeiten, wo die rohen Funda-
mente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren,
der andere lebt auf deren höchsten Stockwerken, mög-
lichst entfernt von dem wilden Thier, welches in den
Kellern, unter den Fundamenten der Cultur einge-
schlossen, wüthet und heult.
615.
Trost für Hypochonder. — Wenn ein grosser
Denker zeitweilig hypochondrischen Selbstquälereien
unterworfen ist, so mag er sich zum Tröste sagen: „es
ist deine eigene grosse Kraft , von der dieser Parasit
sich nährt und wächst; wäre sie geringer, so würdest
du weniger zu leiden haben." Ebenso mag der Staats-
mann sprechen, wenn Eifersucht und Rachegefühl, über-
haupt die Stimmung des bellum omniuvi contra omnes,
zu der er als Vertreter einer Nation nothwendig eine
starke Begabung haben muss, sich gclegentUch auch in
seine persönlichen Beziehungen eindrängt und ihm das
Leben schwer macht,
616.
Der Gegenwart entfremdet. — Es hat grosse
Vortheile, seiner Zeit sich einmal in stärkerem Maasse
— 397 —
zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer zurück
in den Ocean der vergangnen Weltbetrachtungen ge-
trieben zu werden. Von dort aus nach der Küste zu
blickend, überschaut man wohl zum ersten Male ihre
gesammte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr wieder
nähert, den Vortheil, sie besser im Ganzen zu verstehen
als Die, welche sie nie verlassen haben.
617.
Auf persönlichen Mängeln säen und ernten. —
Menschen wie Rousseau verstehen es, ihre Schwächen
Lücken Laster gleichsam als Dünger ihres Talentes zu
benutzen. Wenn Jener die Verdorbenheit und Ent-
artung der Gesellschaft als leidige Folge der Cultur
beklagt, so liegt hier eine persönliche Erfahrung zu
Grunde; deren Bitterkeit giebt ihm die Schärfe seiner
allgemeinen Verurtheilung und vergiftet die Pfeile, mit
denen er schiesst; er entlastet sich zunächst als In-
dividuum und denkt ein Heilmittel zu suchen, das
direct der Gesellschaft, aber indirect und vermittelst
jener, auch ihm zu Nutze ist.
618.
Philosophisch gesinnt sein. — Gewöhnlich
strebt man darnach, für alle Lebenslagen und Ereignisse
eine Haltung des Gemüths, eine Gattung von An-
sichten zu erwerben, — das nennt man vornehmlich
philosophisch gesinnt sein. Aber für die Bereicherung
der Erkenntniss mag es höheren Werth haben, nicht in
dieser Weise sich zu uniformiren, sondern auf die leise
Stimme der verschiednen Lebenslagen zu hören; diese
- 398 -
bringen ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man
erkennenden Antheil am Leben und Wesen Vieler, in-
dem man sich selber nicht als starres beständiges Eines
Individuum behandelt.
619.
Im Feuer der Verachtung. — Es ist ein neuer
Schritt zum Selbständigwerden , wenn man erst An-
sichten zu äussern wagt , die als schmählich für Den
gelten, welcher sie hegt; da pflegen auch die Freunde
und Bekannten ängsthch zu werden. Auch durch dieses
Feuer muss die begabte Natur hindurch; sie gehört sich
hinterdrein noch viel mehr selber an.
620.
Aufopferung. — Die grosse Aufopferung wird,
im Falle der Wahl, einer kleinen Aufopferung vorge-
zogen: weil wir für die grosse uns durch Selbstbewun-
derung entschädigen , was uns bei der kleinen nicht
möglich ist.
621.
Liebe als Kunstgriff — Wer etwas Neues wirk-
lich kennen lernen will (sei es ein Alensch, ein Ereig-
niss, ein Buch), der thut gut, dieses Neue mit aller
möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran
feindlich anstössig falsch vorkommt, schnell das Auge
abzuwenden, ja es zu vergessen: so dass man zum Bei-
spiel dem Autor eines Buches den grössten Vorsprung
giebt und geradezu , wie bei einem Wettrennen , mit
klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel
erreiche. Mit diesem Verfaliren dringt man nämlich der
— 399 —
neuen Sache bis an ihr Herz bis an ihren bewegenden
Punkt: und diess heisst eben sie kennen lernen. Ist
man so weit, so macht der Verstand hinterdrein seine
Restrictionen ; jene Überschätzung, jenes zeitweilige Aus-
hängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunst-
griff, die Seele einer Sache herauszulocken.
622.
Zu gut und zu schlecht von der Welt denken.
Ob man zu gut oder zu schlecht von den Dingen denkt,
man hat immer den Vortheil dabei, eine höhere Lust ein-
zuernten: denn bei einer vorgefsissten zu guten Meinung
legen wir gewöhnlich mehr Süssigkeit in die Dinge (Er-
lebnisse) hinein, als sie eigentlich enthalten. Eine vor-
gefasste zu schlechte Meinung verursacht eine angenehme
Enttäuschung: das Angenehme, das an sich in den
Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das An-
genehme der Überraschung. — Ein finsteres Tempera-
ment wird übrigens in beiden Fällen die umgekehrte
Erfahrung machen.
623.
Tiefe Menschen. — Diejenigen, welche ihre
Stärke in der Vertiefung der Eindrücke haben — man
nennt sie gewöhnlich tiefe Menschen — , sind bei allem
Plötzlichen verhältnissmässig gefasst und entschlossen:
denn im ersten Augenblick war der Eindruck noch flach,
er wird dann erst tief. Lange vorhergesehene, erwartete
Dinge oder Personen regen aber solche Naturen am
meisten auf und machen sie fast unfähig, bei der end-
lichen Ankunft derselben noch Gegenwärtigkeit des
Geistes zu haben. '
400
624.
Verkehr mit dem höheren Selbst. — Ein Jeder
hat seinen gnten Tag, wo er sein höheres Selbst findet;
und die wahre Humanität verlangt, Jemanden nur nach
diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der
Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum
Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er
zu sehen und darzustellen vermochte, taxiren und ver-
ehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr ver-
schieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind
häufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was
sie in jenen Augenblicken sind, später, immer wieder
nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth vor
ihrem Ideale und möchten es verleugnen : sie furchten
ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll
redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit, zu kommen
und fortzubleiben wie es will; es wird desswegen häufig
eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles
Andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: jenes aber ist
der Mensch selber.
625.
Einsame Menschen. — Manche Menschen sind
so sehr an das Alleinsein • mit sich selber gewöhnt, dass
sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen, sondern in
einer ruhigen freudigen Stimmung, unter gnten Ge-
sprächen mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben
fortspinnen. Bringt man sie aber dazu, sich mit Anderen
zu vergleichen, so neigen sie zu einer grübelnden Unter-
schätzung ihrer selbst: so dass sie gezwungen werden
müssen , eine gute gerechte Meinung über sich erst
von Andern wieder zu lernen: und auch von dieser
— 40I —
erlernten Meinung werden sie immer wieder etwas ab-
ziehen und abhandeln wollen, — Man muss also gewissen
Menschen ihr Alleinsein gönnen und nicht so albern
sein, wie es häufig geschieht, sie desswegen zu bedauern.
626.
Ohne Melodie. — Es giebt ^lenschen, denen ein
stätiges Beruhen in sich selbst und ein harmonisches
Sich-zurecht-legen aller ihrer Fähigkeiten so zu eigen
ist, dass ihnen jede Ziele setzende Thätigkeit widerstrebt.
Sie gleichen einer Musik, welche aus lauter langge-
zogenen harmonischen Accorden besteht, ohne dass je
auch nur der Ansatz zu einer gegliederten bewegten
Melodie sich zeigte. Alle Bewegung von Aussen her
dient nur, dem Kahne sofort wieder sein neues Gleich-
gewicht auf dem See harmonischen Wohlklangs zu geben.
Moderne Menschen werden gewöhnlich auf's Ausserste
ungeduldig, wenn sie solchen Naturen begegnen, aus
denen Nichts wird, ohne dass man von ihnen sagen
dürfte, dass sie Nichts sind. Aber in einzelnen Stim-
mungen erregt ihr Anblick jene ungewöhnliche Frage:
wozu überhaupt Melodie? Warum genügt es uns nicht,
wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See
spiegelt? — Das Mittelalter war reicher an solchen Na-
turen als unsere Zeit. Wie selten trifft man noch auf
Einen, der so recht froh und friedlich mit sich auch im
Gedränge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe:
„das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt
lebe und wachse, und gewinne, was sie mir mit Feuer
und Schwert nicht nehmen können."
Nietzsche, Werke Band 11. 26
-- 402 —
627.
Leben und Erleben. — Sieht man zu, wie Ein-
zelne mit ihren Erlebnissen — ihren unbedeutenden all-
täglichen Erlebnissen — umzugehen wissen, so dass
diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres
Frucht trägt; während Andere — und wie Viele! —
durch den Wogenschlag der aufregendsten Schicksale, der
mannichfaltigsten Zeit- und Volksströmungen hindurch-
getrieben werden und doch immer leicht, immer oben-
auf, wie Kork, bleiben: so ist man endlich versucht, die
Menschheit in eine Minorität (Minimalität) Solcher ein-
zutheilen, welche aus Wenigem Viel zu machen ver-
stehen, und in eine Majorität Derer, welche aus Vielem
Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf jene um-
gekehrten Hexenmeister , welche , statt die Welt aus
Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen.
628.
Ernst im Spiele. — In Genua hörte ich zur Zeit
der Abenddämmerung von einem Thurme her ein langes
Glockenspiel: das wollte nicht enden und klang wie
unersättlich an sich selber , über das Geräusch der
Gassen in den Abendhimmel und die Meerluft hinaus, so
schauerlich, so kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. Da
gedachte ich der Worte Plato's und fühlte sie auf Ein
Mal im Herzen: alles Menschliche insgesammt
ist des grossen Ernstes nicht werth; trotz-
dem — —
— 403 —
62g.
Von der Überzeugung und der Gerechtigkeit
— Das, was der Mensch in der Leidenschaft sagt, ver-
spricht, beschhesst, nachher in Kälte und Nüchternheit zu
vertreten — diese Forderung gehört zu den schwersten
Lasten, welche die Menschheit drücken. Die Folgen des
Zornes, der aufflammenden Rache, der begeisterten Hin-
gebung in alle Zukunft hin anerkennen zu müssen —
das kann zu einer um so grösseren Erbitterung gegen
diese Empfindungen reizen, je mehr gerade mit ihnen
allerwärts und namentlich von den Künstlern ein Götzen-
dienst getrieben wird. Diese züchten die Schätzung
der Leidenschaften gross und haben es immer
gethan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren
Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich
selber nimmt, jene Racheausbrüche mit Tod, Ver-
stümmelung, freiwilliger Verbannung im Gefolge, und jene
Resignation des zerbrochnen Herzens. Jedenfalls halten
sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist
als ob sie sagen wollten: „ihr habt ohne Leidenschaften
gar Nichts erlebt". — Weil man Treue geschworen, viel-
leicht gar einem rein fingirten Wesen wie einem Gotte,
weil man sein Herz hingegeben hat, einem Fürsten,
einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden,
einem Künstler, einem Denker, im Zustande eines ver-
blendeten Wahnes, welcher Entzückung über uns legte
und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes Opfers
würdig erscheinen Hess — ist man nun unentrinnbar
fest gebunden? Ja, haben wir uns denn damals nicht
selbst betrogen? War es nicht ein hypothetisches Ver-
sprechen, unter der freilich nicht laut gewordnen Vor-
aussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten,
26*
— 404 —
wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vor-
stellung erschienen? Sind wir verpflichtet, unseren Irr-
thümern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, dass wir
durch diese Treue an unserm höhern Selbst Schaden
stiften? — Nein, es giebt kein Gesetz, keine Verpflich-
tung der Art; wir müssen Verräther werden, Untreue
üben, unsere Ideale immer wied^- preisgeben. Aus einer
Periode des Lebens in die andere schreiten wir nicht,
ohne diese Schmerzen des Verraths zu machen und auch
daran wieder zu leiden. Wäre es nöthig, dass wir uns,
um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen
unserer Empfindung hüten müssten? Würde dann die
Welt nicht zu öde, zu gespenstisch für uns werden?
Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese Schmerzen bei
einem Wechsel der Überzeugung noth wendig sind
oder ob sie nicht von einer irrthümlichen Meinung
und Schätzung abhängen. Warum bewundert man Den,
welcher seiner Überzeugung treu bleibt, und verachtet
Den, welcher sie wechselt? Ich fürchte, die Antwort
muss sein: weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive
gemeineren Vortheils oder persönliche Angst einen
solchen Wechsel veranlassen. Das heisst: man glaubt
im Grunde, dass Niemand seine Meinungen verändert,
so lange sie ihm vortheilhaft sind, oder wenigstens so
lange sie ihm keinen Schaden bringen. Steht es aber
so, so liegt darin ein schlimmes Zeugniss über die in-
tellectuelle Bedeutung aller Überzeugungen. Prütien
wir einmal, wie Überzeugungen entstehen, und sehen
wif zu, ob sie nicht bei weitem überschätzt werden:
dabei wird sich ergeben, dass auch der Wechsel von
Überzeugungen unter allen Uniständen nach falschem
Maasse bemessen wird und dass wir bisher zu viel an
diesem Wechsel zu leiden pflegten.
— 405 —
630.
Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Punkte
der Erkenntniss im Besitz der unbedingten Wahrheit
zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es un-
bedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene voll-
kommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu
gelangen; endlich, dass Jeder, der Überzeugungen habe,
sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei
Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der
Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen
Denkens ist; er steht im Alter der theoretischen Un-
schuld vor uns und ist ein Klind, wie erwachsen er
auch sein mag. Ganze Jahrtausende aber haben in jenen
kindlichen Voraussetzungen gelebt, und aus ihnen sind
die mächtigsten Kraftquellen der Menschheit hervor-
geströmt. Jene zahllosen Menschen, welche sich für ihre
Überzeugungen opferten, meinten es für die unbedingte
Wahrheit zu thun. Sie Alle hatten Unrecht darin: wahr-
scheinlich hat noch nie ein Mensch sich für die Wahrheit
geopfert; mindestens wird der dogmatische Ausdruck seines
Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftlich ge-
wesen sein. Aber eigentlich wollte man Recht behalten,
weil man meinte. Recht haben zu müssen. Seinen
Glauben sich entreissen lassen, das bedeutete vielleicht
seine ewige Seligkeit in Frage stellen. Bei einer Ange-
legenheit von dieser äussersten Wichtigkeit war der
„Wille" gar zu hörbar der Souffleur des Intellects. Die
Voraussetzung jedes Gläubigen jeder Richtung war, nicht
widerlegt werden zu können; erwiesen sich die Gegen-
gründe als sehr stark, so blieb ihm immer noch übrig,
die Vernunft überhaupt zu verlästern und vielleicht gar
das „credo quia absurdum est" als Fahne des äussersten
— 4o6 —
Fanatismus aufzupflanzen. Es ist nicht der Kampf der
Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthätig ge-
macht hat, sondern der Kampf des Glaubens an die
Meinungen, das heisst der Überzeugungen. Wenn doch
alle Die, welche so gross von ihrer Überzeugung dachten,
Opfer aller Art ihr brachten und Ehre, Leib und Leben
in ihrem Dienste nicht schonten, nur die Hälfte ihrer
Kraft der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem
Rec;At3 sie an dieser oder jener Überzeugung hiengen,
auf welchem Vv''ege sie zu ihr gekommen seien: wie
friedfertig sähe die Geschichte der Menschheit aus!
Wieviel mehr des Erkannten würde es geben! Alle die
grausamen Scenen bei der Verfolgung der Ketzer jeder
Art wären uns aus zwei Gründen erspart geblieben:
einmal weil die Inquisitoren vor Allem in sich selbst in-
quirirt hätten und über die Anmaassung, die unbedingte
Wahrheit zu vertheidigen , hinausgekommen wären; so-
dann weil die Ketzer selber so schlecht begründeten
Sätzen, wie die Sätze aller religiösen Sectirer und
„Rechtgläubigen" sind, keine weitere Theilnahme ge-
schenkt haben würden, nachdem sie dieselben untersucht
hätten.
631.
Aus den Zeiten her, «in welchen die Menschen daran
gewöhnt waren, an den Besitz der unbedingten Wahr-
heit zu glauben, stammt ein tiefes Missbehagen an
allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu irgend-
welchen Fragen der Erkenntniss; man zieht meistens vor,
sich einer Überzeugung, welche Personen von Autorität
haben (Väter Freunde Lehrer Fürsten), auf Gnade und
Ungnade zu ergeben, und hat, wenn man diess nicht
thut, eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang ist
— 407 —
ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu
heftigen Vorwürfen gegen die Entwicklung der mensch-
lichen Vernunft. Allmähhch muss aber der wissenschaft-
hche Geist im Menschen jene Tugend der vorsichtigen
Enthaltung zeitigen, jene weise Mässigung, welche im
Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist als im
Gebiet des theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel
Goethe im Antonio dargestellt hat, als einen Gegen-
stand der Erbitterung für alle Tasso's, das heisst für die
unwissenschaftlichen und zugleich thatlosen Naturen. Der
Mensch der Überzeugungen hat in sich ein Recht, jenen
Menschen des vorsichtigen Denkens, den theoretischen
Antonio, nicht zu begreifen ; der wissenschaftliche Mensch
hinwiederum hat kein Recht, jenen desshalb zu tadeln,
er übersieht ihn und weiss ausserdem, im bestimmten
Falle, dass Jener sich an ihn noch anklammem wird, so
wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut.
632.
Wer nicht durch verschiedene Überzeugungen hin-
durchgegangen ist, sondern in dem Glauben hängen
bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfieng, ist unter
allen Umständen, eben wegen dieser Unwandelbarkeit,
ein Vertreter zurückgebliebener Culturen; er ist
gemäss diesem Mangel an Bildung (welche immer Bild-
barkeit voraussetzt) hart, unverständig, unbelehrbar, ohne
Milde, ein ewiger Verdächtiger, ein Unbedenklicher, der
zu allen Mitteln greift seine Meinung durchzusetzen, weil
er gar nicht begreifen kann, dass es andre Meinungen
geben müsse; er ist, in solchem Betracht, vielleicht eine
Kraftquelle und in allzu frei und schlaff" gewordenen
Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er kräftig
— 4o8 —
anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das
zartere Gebilde der neuen Cultur, welche zum Kampf
mit ihm gezwungen ist, selber stark.
Ö33-
Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen,
wie die des Reformations-Zeitalters: wie sollte es auch
anders sein? Aber dass wir uns einige Mittel nicht
mehr erlauben, um mit ihnen unserer Meinung zum Siege
zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und be-
weist, dass wir einer höheren Cultur angehören. Wer jetzt
noch, in der Art der Reformations-Menschen, Meinungen
mit Verdächtigungen, mit Wuthausbrüchen bekämpft und
niederwirft, verräth deutlich, dass er seine Gegner ver-
brannt haben würde , falls , er in anderen Zeiten gelebt
hätte, und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine
Zuflucht genommen haben würde, wenn er als Gegner
der Reformation gelebt hätte. Diese Inquisition war
damals vernünftig, denn sie bedeutete nichts Anderes
als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher über
den ganzen Bereich der Kirche verhängt werden musste
und der, wie jeder Belagerungszustand, zu den äussersten
Mitteln berechtigte, unter der Voraussetzung nämlich
(welche wir jetzt nicht mehr mit jenen Menschen theilen),
dass man die Wahrheit, in der Kirche, habe und um
jeden Preis mit jedem Opfer, zum Heile der Menschheit,
bewahren müsse. Jetzt aber giebt man Niemandem so
leicht mehr zu, dass er die Wahrheit habe: die strengen
Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und
Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewaltthätig
in Wort und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind
unserer jetzigen Cultur, mindestens als ein Zurückge-
— 409 —
bliebener empfunden wird. In der That: das Pathos.
dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im
Verhältniss zu jenem freilich milderen und klangloseren
Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird,
umzulernen und neu zu prüfen.
634.
Übrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit
selber das Resultat jener Zeiten, in denen die Über-
zeugungen mit einander in Fehde lagen. Wenn nicht
dem Einzelnen an seiner „Wahrheit", das heisst an
seinem Rechtbehalten gelegen hätte, so gäbe es über-
haupt keine Methode der Forschung; so aber, bei dem
ewigen Kampf der Ansprüche verschiedener Einzelner
auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt für Schritt
weiter, um unumslössliche Principien zu finden, nach
denen das Recht der Ansprüche geprüft und der Streit
geschlichtet werden könne. Zuerst entschied man nach
Autoritäten, später kritisirte man sich gegenseitig die
Wege und Mittel, mit denen die angebhche Wahrheit
gefunden worden war; dazwischen gab es eine Periode,
wo man die Consequenzen des gegnerischen Satzes zog
und vielleicht sie als schädlich und unglücklich machend
erfand: woraus dann sich für Jedermanns Urtheil er-
geben sollte, dass die Überzeugung des Gegners einen
Irrthum enthalte. Der persönliche Kampf der
Denker hat schliesslich die Methoden so verschärft,
dass wirklich Wahrheiten entdeckt werden konnten und
dass die Irrgänge früherer Methoden vor Jedermanns
Blicken biosgelegt sind,
— 4^o —
635.
Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden
mindestens ein ebenso wichtiges Ergebniss der Forschung
als irgend ein sonstiges Resultat: denn auf der Einsicht
in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist, und
alle Resultate der Wissenschaft könnten, wenn jene
Methoden verloren giengen , ein erneutes Überhand-
nehmen des Aberglaubens und des Unsinns nicht ver-
hindern. Es mögen geistreiche Leute von den Ergeb-
nissen der Wissenschaft lernen, so viel sie wollen :
man merkt es immer noch ihrem Gespräche und nament-
lich den Hypothesen in demselben an, dass ihnen der
wissenschaftliche Geist fehlt: sie haben nicht jenes in-
stinctive Misstrauen gegen die Abwege des Denkens,
welches in der Seele jedes wissenschaftlichen Menschen
in Folge langer Übung seine Wurzeln eingeschlagen
hat. Ihnen genügt es, über eine Sache überhaupt irgend-
eine Hypothese zu finden, dann sind sie Feuer und
Flamme für dieselbe und meinen, damit sei es gethan.
Eine Meinung haben heisst bei ihnen schon: dafür sich
fanatisiren und sie als Überzeugung fürderhin sich an's
Herz legen. Sie erhitzen sich bei einer unerklärten
Sache für den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer
Erklärung derselben ähnlich sieht: woraus sich, nament-
lich auf dem Gebiete der Politik, fortwährend die
schlimmsten Folgen ergeben. — Desshalb sollte jetzt
Jedermann mindestens eine Wissenschaft von Grund aus
kennen gelernt haben : dann weiss er doch, was Methode
heisst und wie nöthig die äusserste Besonnenheit ist.
Namentlich ist den Frauen dieser Rath zu geben; als
welche jetzt rettungslos die Opfer aller Hypothesen sind,
zumal wenn diese den Eindruck des Geistreichen Hin-
— 4" —
reissenden Belebenden Kräftigenden machen. Ja bei g&
nauerem Zusehen bemerkt man, dass der allergrösste Theil
aller Gebildeten noch jetzt von einem Denker Über-
zeugungen und Nichts als Überzeugungen begehrt,
und dass allein eine geringe Minderheit Gewissheit
will. Jene wollen stark fortgerissen werden, um dadurch
selber einen Kraftzuwachs zu erlangen; diese Wenigen
haben jenes sachliche Interesse, welches von persönhchen
Vortheilen, auch von dem des erwähnten Kraftzuwachses
absieht. Auf jene bei weitem überwiegende Classe
wird überall dort gerechnet, wo der Denker sich als
Genie benimmt und bezeichnet, also wie ein höheres
Wesen dreinschaut, welchem Autorität zukommt Inso-
fern das Genie jener Art die Gluth der Überzeugungen
unterhält und Misstrauen gegen den vorsichtigen und
bescheidenen Sinn der Wissenschaft weckt, ist es ein
Feind der Wahrheit, und wenn es sich auch noch so
sehr als deren Freier glauben sollte.
636.
Es giebt freilich auch eine ganz andre Gattung der
Genialität, die der Gerechtigkeit; und ich kann mich durch-
aus nicht entschhessen , dieselbe niedriger zu schätzen
als irgend eine philosophische, politische oder künstle-
rische Genialität. Ihre Art ist es, mit herzhchem Un-
willen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil
über die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich
eine Gegnerin der Überzeugungen, denn sie will
Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder
Gedachtes, das Seine geben — und dazu muss sie es
rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste
Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum.
Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder
— 412 —
kurzsichtigen „Überzeugung" (wie Männer sie nennen:
— bei Weibern heisst sie „Glaube"), geben, was der
Überzeugung ist — um der Wahrheit willen.
637.
Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen;
die Trägheit des Geistes lässt diese zu Überzeu-
gungen erstarren. — Wer sich aber freien, rastlos
lebendigen Geistes fühlt, kann durch beständigen Wechsel
diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt
ein denkender Schneeballen, so wird er überhaupt nicht
Meinungen, sondern nur Gewissheiten und genau be-
messene Wahrscheinlichkeiten in seinem Kopfe haben. —
Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom
Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind,
wollen vor der Gerechtigkeit knien, als der einzigen
Göttin, welche wir über uns anerkennen. Das Feuer
in uns macht uns für gewöhnlich ungerecht und, im
Sinne jener Göttin, unrein; nie dürfen wir in diesem Zu-
stande ihre Hand fassen, nie liegt dann das ernste
Lächeln ihres Wohlgefallens auf uns. Wir verehren sie
als die verhüllte Isis unseres Lebens; beschämt bringen
wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn
das Feuer uns brennt und verzehren wiU. Der Geist
ist es, der uns rettet, dass wir nicht ganz verglühen und
verkohlen; er reisst uns hier und da fort von dem Opfer-
altare der Gerechtigkeit oder hüUt uns in ein Gespinnst
aus Asbest. Vom Feuer erlöst, schreiten wir dann, durch
den Geist getrieben, von Meinung zu Meinung, durch
den Wechsel .der Parteien, als edle Verräther aller
Dinge, die überhaupt verrathen werden können, — und
dennoch ohne ein Gefühl von Schuld.
413
638.
Der Wanderer. — Wer nur einigermaassen zur
Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf
Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, — wenn
auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele:
denn dieses giebt es nicht. Wohl aber will er zusehen
und die Augen dafür offen haben, was Alles in der Welt
eigentlich vorgeht; desshalb darf er sein Herz nicht
allzufest an alles Einzelne anhängen; es muss in ihm
selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem
Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden
einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er
müde ist und das Thor der Stadt, welche ihm Rast
bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch
dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Thor reicht,
dass die Raubthiere bald ferner bald näher her heulen,
dass ein starker Wind sich erhebt, dass Räuber ihm
seine Zugthiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die
schreckliche Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste,
und sein Herz wird des Wanderns müde. Geht ihm
dann die Morgensonne auf, glühend wie eine Gottheit
des Zorns, öffnet sich die Stadt, so sieht er in den Ge-
sichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste,
Schmutz, Trug, Unsicherheit als vor den Thoren — und
der Tag ist fast schlimmer als die Nacht. So mag es
wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen,
als Entgelt , die wonnevollen Morgen anderer Gegenden
und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die
Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich
vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in
dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich
ergeht, aus deren Wipfeln und Laub verstecken heraus
— 4M —
lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Gre-
schenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und
Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in
ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer
und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen
der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen
dem zehnten und zwölften Glockenschlage ein so reines,
durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne; —
sie suchen die Philosophie des Vormittages.
Unter Freunden.
Ein NachsoieL
I.
Schön ist's, mit einander schweigen,
Schöner, mit einander lachen, —
Unter seidenem Himmels-Tuche
Hingelehnt zu Moos und Buche
Lieblich laut mit Freunden lachen
Und sich weisse Zähne zeigen.
Macht' ich's gut, so woll'n wir schweigen;
Macht' ich's schlimm — , so woll'n wir lachen
Und es immer schlimmer machen,
Schlimmer machen, schlimmer lachen,
Bis wir in die Grube steigen.
Freunde! Ja! So soll's geschehn? —
Amen! Und auf Wiedersehn 1
Nietische, Werke Band n. fj
2.
Kein Entschuld'genl Kein Verzeihen!
Gönnt ihr Frohen, Herzens -Freien
Diesem unvernünft'gen JJuche
Ohr und Herz und Unterkunft!
Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche
"Ward mir meine Unvernunft!
Was ich finde, was ich suche — .
Stand das je in einem Buche?
Ehrt in mir die Narren -Zunft!
Lernt aus diesem Narrenbuche,
Wie Vernunft kommt — „zur Vernunft"!
Also, Freunde, soll's g-eschehn? —
Amen! Und auf Wiedersehn 1
Aphorismen - Register,
Nachbericht, Lesarten -Verzeichniss.
Aphorismen-Register.
I. Von den ersten
SdU
Chemie der Begriffe und Em-
pfindungen 17
Erbfehler der Philosophen . .18
Schätzung der unscheinbaren
Wahrheiten 19
Astrologie und Verwandtes . .21
Missverständniss des Traumes . 21
Der Geist der Wissenschaft im
Theil, nicht im Ganzen mächtig 22
Der Störenfried in der Wissen-
schaft 23
Pneimiatische Erklärung der Natur 23
Metaphysische Welt .... 23
Harmlosigkeit der Metaphysik in
der Zukunft . .... 24
Die Sprache als vermeintliche
Wissenschaft 25
Traum und Cultur 26
Logik des Traumes . . . .27
Miterklingen 30
Kein Innen und Aussen in der
Welt 31
und letzten Dingen.
8«I«i
Erscheinung und Ding an sich . 31
Metaphysische Erklärungen . .33
Grundfragen der Metaphysik . 34
Die Zahl 36
Einige Sprossen zurück . . .37
Miithmaasslicher Sieg der Skepsis 38
Unglaube an das „monumentum
aere perennius" 39
Zeitalter der Vergleichung . . 40
Möglichkeit des Fortschritts . .41
Privat- und Welt-Moral ... 42
Die Reaction als Fortschritt . 43
Ersatz der Religion ... .45
Verrufene Worte 46
Vom Dufte der Blüthen berauscht 46
Schlechte Gewohnheiten im
Schliessen 47
Das Unlogische nothwendig . . 48
Ungerechtsein nothwendig . . 49
Der Irrthum über das Leben zum
Leben nothwendig .... 50
Zur Beruhigung 51
IL Zur Geschichte der moralischen Empfindungen.
Der unveränderliche Charakter . 66
Die Ordnung der Güter und
die Moral 66
Grausame Menschen als zurück-
gebliebene 67
Dankbarkeit und Rache ... 67
Doppelte Vorgeschichte von Gut
und Böse 68
Vortheile der psychologischen
Beobachtung .... .57
Einwand 58
Trotzdem 60
Inwiefern nützlich 62
Die Fabel von der intelligiblen
Freiheit 63
Das Über-Thier 65
422 —
Mitleiden stärker als Leiden
Hypochondrie
Ökonomie der Güte ....
Wohlwollen
Mitleiden erregen wollen . .
Wie der Schein zum Sein wird
Der Punkt der Ehrlichkeit beim
Betrüge
Angebliche Stufen der Wahrheit
Die Lüge
Des Glaubens wegen die Moral
verdächtigen
Sieg der Erkenntniss über das
radicale Böse
Moral als Selbstzerthailung des
Menschen
Was man versprechen kann
Intellect und Moral ....
Sich rächen wollen und sich rächen
Warten -können
Schwelgerei der Rache . . ,
Werth der Verkleinerung . .
Der Aufbrausende
Wohin die Ehrlichkeit führen
kann
Sträflich, nie gestraft ....
San da simplicitas der Tugend
Moralität und Erfolg ....
Liebe und Gerechtigkeit . . .
Hinrichtung
Die Hoffnung
Grad der moralischen Erhitzbar-
keit unbekannt
Der Äfärtyrer wider Willen . .
Alltags-Maassstab
Missverständniss über die Tugend
Der Asket
Die Ehre von der Person auf die
Sache übertragen 87
Ehrgeiz ein Surrogat des mora-
lischen Gefühls 87
Eitelkeit bereichert 88
Greis und Tod 88
Irrthümer des Leidenden und
des Thäters 89
Haut der Seele 90
Schlaf der Tugend 90
Feinheit der Scham .... 90
Bosheit ist selten 91
Das Zünglein an der Wage . .91
Lucas 18, 14 verbessert . . .91
Verhinderung des Selbstmordes 91
Eitelkeit 91
Grenze der Menschenliebe . . 92
Moraliti larmoyante .... 93
Ursprung der Gerechtigkeit . . 93
Vom Rechte des Schwächeren . 94
Die drei Phasen der bisherigen
Moralität 95
Moral des reifen Individuums . 96
Sitte und sittlich 97
Die Lust in der Sitte ... 98
Lust und socialer Instinct . . 99
Das Unschuldige an den so-
genannten bösen Handlungen 100
Scham 10 1
Richtet nicht! 102
„Der Mensch handelt immer gut" 104
Das Harmlose an der Bosheit 105
Nothwehr 106
Die belohnende Gerechtigkeit . I07
Am Wasserfall 108
UnVerantwortlichkeit und Un -
schuld 109
IIL Das religiöse Leben.
Der doppelte Kampf gegen das
Übel 115
Gram ist Erkenntniss . . .116
Die Wahrheit in der Religion 1 1 7
Ursprung des religiösen Cultus 120
Beim Anblick gewisser antiker
Opfergeräthschaften . . .125
Christenthum als Alterthum . i 26
Das Ungriechische im Christen-
thum
Mit Vortheil religiös sein . .
Der Alltags-Christ
Von der Klugheit des Christen-
thums
Personenwechsel
Schicksal des Christenthums
Der Beweis der Lust . . . .
Gefährhches Spiel
Die blinden Schüler . . . .
Abbruch der Kirchen . . .
Sündiosigkeit des Menschen .
127
128
128
129
129
129
130
130
130
131
131
SelU
Irreligiosität der Künstler . .131
Kunst und Kraft der falschen
Interpretation 132
Verehrung des Wahnsinns . .132
Verheissungen der Wissenschaft 133
Verbotene Freigebigkeit . . -133
Fortleben des religiösen Cultus
im Gemüth 133
Religiöse Nach wehen . . .134
Von dem christlichen Erlösungs-
bedürfniss 135
Von der christlichen Askese und
Heiligkeit 141
IV. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller.
Das Vollkommene soll nicht ge-
worden sein 157
Der Wahrheitssinn des Künstlers 1 58
Die Kunst als Todtenbeschwö
rerin
Dichter als Erleichterer des
Lebens
Der langsame Pfeil der Schön
heit
Beseelimg der Kunst . . .
Wodurch das Metrum ver
»chönert
Kunst der hässlichen Seele
Die Kunst macht dem Denke
das Herz schwer .
Mit dem Leben spielen .
Glaube an Inspiration
Nochmals die Inspiration
Die Leiden des Genius
ihr Werth ....
Verhängniss der Grösse .
Die Kunst dem Künstler
fährlich
Geschaffene Menschen
Selbstüberschätmni; im Glauben
an Künstler und Philosophen 168
Cultus des Genius aus Eitelkeit 168
Der Ernst des Handwerks . .170
und
ge-
158
159
160
160
161
161
161
162
163
163
164
165
«65
166
Gefahr und Gewinn im Cultus
des Genius 171
Das Genie und das Nichtige . 174
Das Publicum 174
Artistische Erziehung des Publi-
cums 175
Der Künstler und sein Gefolge
müssen Schritt halten . . .175
Herkunft des Komischen . .176
Künstler- Ehrgeiz 176
Das Nothwendige am Kunst-
werk 177
Den Meister vergessen machen 178
Corriger la fortune . . . .178
Verkleinem 178
Sinnlichkeit in der Kunst der
Gegenwart 179
Shakespeare als Moralist . .179
Sich gut zu Gehör bringen . 180
Das Unvollständige als das
Wirksame 180
Gegen die Originalen . . .180
Collectivgeist 181
Zweierlei Verkennung . . .181
VerhSltniss zur Wissenschaft . 181
Der Schlüssel i8|
Unübersetzbar 181
Paradoxien des Autors . , . 1S2
424 -
Wit2
Die Antithese
Denker als Stilisten . . . .
Gedanken im Gedicht . . ,
Sünde wider den Geist des Lesers
Grenze der Ehrlichkeit . .
Der beste Autor
Drakonisches Gesetz gegen
Schriftsteller
Die Narren der modernen Cultur
Den Griechen nach . . . .
Grute Erzähler schlechte Erklärer
Die Schriften von Bekannten
und ihre Leser ....
Rhythmische Opfer . . ,
Das Unvollständige als küust
lerisches Reizmittel . .
Vorsicht im Schreiben und Leh ren
Schlechte Schriftsteller noth
wendig
Zu nah und zu fern . . .
Eine verschwundene Vorberei
tung zur Kunst . . .
Dunkles und Überhelles neben
einander ......
8elt«
182
182
182
X82
182
183
183
183
183
184
184
185
186
186
186
187
187
188
189
Schriflstellerisches Malerthum . 189
Bücher, welche tanzen lehren . 189
Nicht fertig gewordene Gedanken 189
Das Buch fast zum Menschen
geworden 190
Freude im Alter 191
Ruhige Fruchtbarkeit . . .191
Achilles und Homer . . . .192
Alte Zweifel über die Wirkung
der Kunst 192
Freude am Unsinn .... 193
Veredelung der Wirklichkeit . 194
Musik 194
Gebärde und Sprache . . .195
Die Entsinnlichung der höheren
Kunst 197
Der Stein ist mehr Stein als
früher 198
Religiöse Herkunft der neueren
Musik 199
Das Jenseits in der Kunst . , 200
Die Revolution in der Poesie. 201
Was von der Kunst übrig bleibt 206
Abendröthe der Kunst . . . 207
V. Anzeichen höherer und niederer Cultur.
Veredelung durch Entartung .211
Freigeist ein relativer Begriff . 213
Herkunft des Glaubens . . .214
Aus den Folgen auf Grund und
Ungrund zurückgeschlossen . 215
Der starke, gute Charakter . .210
Maass der Dinge bei den ge-
bundenen Geistern . . . .217
Esprit fort 218
Die Entstehimg des Genie's . 218
Vermuthung über den Ursprung
der Freigeisterei . . . .219
Die Stimme der Geschichte . 219
Werth der Mitte des Wegs . 220
Genius und idealer Staat in
Widerspruch 221
Die Zonen der Cultur . . .223
Renaissance und Reformation . 224
Gerechtigkeit gegen den wer-
denden Gott 225
Die Früchte nach der Jahreszeit 226
Zunehmende Severität der Welt 227
Genius der Cultur 227
Wunder -Erziehung . . . .228
Die Zukunft des Arztes. . .229
In der Nachbarschaft des Wahn-
sinns 230
Glockenguss der Cullur . . .231
Die Cyclopen der Cultur . .231
KrcisKiuf des MenscheiUhums . 232
Trostrede eines desperaten Fort-
schritts 232
4-25
An derVerganpenheit der Cultur
leiden 233
Manierea 233
Zukunft der Wissenschaft . .235
Die Lust am Erkennen . . . 236
Treue als Beweis der Stichhaltig-
keit 237
Zunahme des Interessanten . . 238
Aberglaube im Gleichzeitigen . 238
Das Können, nicht das Wissen,
durch die Wissenschaft geübt 239
Jugendreiz der Wissenschaft . 239
Die Statue der Menschheit . 240
Eine Cultur der Männer , .240
Das Vorurtheil zu Gunsten der
Grösse 241
Die Tyrannen des Geistes . .242
Homer 246
Begabung 247
Der Geistreiche entweder über-
schätzt oder unterschätzt . . 247
Die Vernunft in der Schule . 248
Unterschätzte Wirkung des gym-
nasialen Unterrichts . . .249
Viele Sprachen lernen . . .250
Zur Kriegsgeschichte des Indi-
viduums 251
Um eine Viertelstunde früher . 251
Die Kunst zu lesen . . . .251
Die Kunst zu seh Hessen . .252
Jahresringe der individuellen
Cultur 252
Zurückgegaugen , nicht zurück-
geblieben 254
Ein Ausschnitt unseres Selbst
als künstlerisches Object . .255
Cyniker und Epikureer . . .255
Mikrokosmus und Mal^rokosmus
der Cultur 256
Glück und Cultur 257
Gleichniss vom Tanze . . . 258
Von der Erleichterung des
Lebens 258
Erschwerung als Erleichterung
und umgekehrt 259
Die höhere Cultur wird noth-
wendig missverstanden . .259
Klagelied 260
Hau[)tmangel der tbätigen Men-
schen 261
Zu Gunsten der Mü-:sigen . .261
Die moderne Unruhe . . . .262
Inwiefern der Thätige faul ist 263
Censor vitae 263
Nebenerfolg 264
Werth der Krankheit . . . 264
Empfindung auf dem l^nde . 264
Vorsicht der freien Geister . . 264
Vorwärts 2b6
VI. Der Mensch im Verkehr.
Wohlwollende Verstellung . .271
Copien 271
Der Redner 271
Mangel an Vertraulich.keit . .271
Zur Kunst des Schenkens . .271
Der gefährlichste Parteimann . 272
Rathgeber des Kianken . . .272
Doppelte Art der Gleichheit . 272
Gegen Verlegenheit . . . .272
Verhebe für einzelne Tugenden 272
Warum man widerspricht . .273
Vertrauen und Vertraulichkeit . 273
Gleichgewicht der P>eundschaft 273
Die gefährhchsten Ärzte . .273
Wann Paradoxien am Platze sind 273
Wie muthige Leute gewonnen
werden 274
Artigkeiten 274
Warten lassen 274
Gegen die Vertraulichen . . .274
Ausgleichsmittel 274
j EitcUceit der Zunge .... 274
— 426 —
Balt«
Rücksichtsvoll 275
Zum Disputiren erforderlich . 275
Umgang und Anmaassung . .275
Motiv des Angriffs . . . .275
Schmeichelei 275
Guter Briefschreiber . . . .276
Am hässlichsten 276
Die Mitleidigen 276
Ver\vandte eines Selbstmörders 276
Undank vorauszusehen . . . 276
In geistloser Gesellschaft . - 2';j
Gegenwart von Zeugen . . .277
Schweigen 277
Das Geheimniss des Freundes 277
Humanität 277
Der Befangene 277
Dank 278
Merkmal der Entfremdung . .278
Anmaassung bei Verdiensten . 278
Gefahr in der Stimme . . . 278
Im Gespräche 278
Furcht vor dem Nächsten . .279
Durch Tadel auszeichnen . . 279
Verdruss am Wohlwollen Anderer 279
Sich kreuzende Eitelkeiten . .279
Unarten als gute Anzeichen . 280
Wann es rathsam ist, Unrecht
zu behalten 280
Zu wenig geehrt 280
Urzustände in der Rede nach-
klingend 281
Der Erzähler 281
Der Vorleser 281
Eine Lustspiel-Scene, welche im
Leben vorkommt .... 282
Wider Willen unhöflich . .282
Verräther -Meisterstück . . . 283
Beleidigen und beleidigt werden 283
Im Disput 283
Kunstgriff 283
Gewissensbisse nach Gesell -
Schäften 284
Man wird falsch beurtheilt . 284
Tyrannei des Portraits . . . 284
Der Verwandte als der beste
Freund 285
Verkannte Ehrlichkeit . . . 285
Der Parasit 285
Auf dem Altar der Versöhnung 286
Mitleid fordern als Zeichen der
Anmaassung 286
Köder 286
Verhalten beim Lobe . . .287
Die Erfahrung des Sokrates . 287
Mittel der Vertheidigung . .287
Neugierde 288
Verrechnung in der Gesellschaft 288
Duell 288
Vornehmheit und Dankbarkeit 289
Die Stunden der Beredsamkeit 289
Das Talent zur Freundschaft . 290
Taktik im Gespräch .... 290
Entladung des Unmuths . .291
Die Farbe der Umgebung an-
nehmen 291
Ironie 292
Anmaassung . 293
Zwiegespräch ...... 294
Nachruhm 295
Von den Freunden .... 296
VII. Weib und Kind.
Das vollkommene W'cib
. . 301
Irrthum vornehmer Frauen
. 302
Freundschaft und Ehe
. . 301
Eine Männer-Krankheit
. 302
Fortleben der Eltern
. . 301
Eine Art der Eifersucht
. 302
Von der Mutter her •. .
. . 301
Vernünftige Unvernunft
. 302
Die Natur corrigiren . .
. . 302
Mütterliche Güte . . .
. 303
Väter und Sühne . . .
. . 302
Verschiedene Seufzer . .
. 30.^
Liebesheirathen
Frauenfreundschaft . . . .
Langeweile
Ein Element der Liebe . . .
Die Einheit des Orts und das
Drama
Gewöhnliche Folgen der Ehe .
Befehlen lehren
Verliebt werden wollen . .
Kein Stillstand in der Liebe .
Scham haftigkeit
Ehe von gutem Bestand . .
Proteus-Natur
Lieben und besitzen . . . .
Probe einer guten Ehe . . .
Mittel, Alle zu Allem zu bringen
Ehrbarkeit rmd Ehrlichkeit . .
Masken
Die Ehe als langes Gespräch .
Mädchenträume
Ausslerben von Faust und
Gretcben
Mädchen als Gymnasiasten
Ohne Nebenbuhlerinnen . .
Der weibliche Intellect . . .
Ein Urtheil Hesiod's bekräftigt
Die Kurzsichtigen sind verhebt
Frauen im Hass
■ 4^7
SelU
303
303
303
304
304
304
304
304
305
305
305
305
305
306
306
306
306
307
307
307
307
308
309
309
Liebe 310
Zur Emancipation der Frauen . 310
Die Inspiration im Urtheile der
Frauen 311
Sich lieben lassen 312
Widersprüche in weiblichen
Köpfen 312
Wer leidet mehr? . . . .312
Gelegenheit zu weiblicher Gross-
muth 313
Tragödie der Kindheit . . .313
Elterii-Thorheit 314
Aus der Zukunft der Ehe , .315
Sturm- und Drangperiode der
Frauen 316
Freigeist und Ehe . . . .317
Glück der Ehe 317
Zu nahe 317
Die goldene Wiege . . . -318
FreiwilUges Opferthier . . .318
Angenehme Widersacher . .319
Missklang zweier Consonanzen 319
Xanthippe 319
Für die Ferne blind . . . .320
Macht und Freiheit . . . .320
Ceterutn censeo 321
Zuletzt 322
VIIL Ein Blick auf den Staat
Um das Wort bitten . . .325
Cultur und Kaste 327
Von Geblüt 327
Subordination . . . . .328
Volksheere 328
Hoffnung als Anmaassung . .329
Krieg 329
Im Dienste des Fürsten . .330
Eine Frage der Macht, nicht
des Rechts 330
Benutzung der kleinsten Unred-
lichkeit 331
Allzu lauter Ton bei Beschwerden 332
Die anscheinenden Wettermacher
der Politik 332
Neuer und alter Begriff der
Regierung 333
Gerechtigkeit als Parteien -Lock-
ruf 334
Besitz und Gerechtigkeit . .334
Der Steuermann der Leiden-
schaften 335
Die Gefährlichen unter den Um-
sturz-Geistern 336
Politischer Werlh der Vaterschaft 336
Ahnenstolz 337
Sclaven und Arbeiter . .
Leitende Geister und ihre Werk-
zeuge 338
Willkürliches Recht nothwendig 338
Der grosse Mann der Masse . 339
Fürst und Gott . . ^ . . 340
Meine Utopie 340
Ein Wahn in der Lehre vom
Umsturz 341
Maass 342
Auferstehung des Geistes . . 342
Neue Meinungen im alten
Hause 342
Schulwesen 342
Unschuldige Corruption . . . 343
Gelehrte als Politiker . . . 343
Der Wolf hinter dem Schafe
versteckt 343
— 428 —
Srtt»
. 337
Glückszeiten 343
Religion und Regierung . . 344
Der Socialismus in Hinsicht auf
seine Mittel 350
Die Entwicklung des Geistes
vom Staate gefürchtet . .351
Der europäische Mensch und
die Vernichtung der Nationen 352
Scheinbare Überlegenheit des
Mittelalters 354
Der Krieg unentbehrhch . . 355
Fleiss im Süden und Norden . 356
Reichthum als Ursprung eines
Geblütsadels 357
Neid und Trägheit in verschie-
dener Richtung 358
Grosse Politik und ihre Einbussen 359
Und nochmals gesagt . . . 360
IX. Der Mensch mit sich allein.
Feinde der Wahrheit . . .363
Verkehrte Welt 363
Charaktervoll 363
Das Eine, was noth thut . . 363
Die Leidenschaft für Sachen . 363
Die Ruhe in der That . . . 3f'4
Nicht zu tief 364
Wahn der Idealisten . . . .364
Selbstbeobachtung 364
Der richtige Beruf .... 365
Adel der Gesinnung . . . . 3(j5
Ziel und Wege 365
Das Empörende an einer indi-
viduellen Lebensart . . .365
Vorrecht der Grösse . . . .366
Unwillkürlich vornehm . . . 366
Bedingung des Heroenthums . 366
Freund 366
Ebbe und Fluth zu benutzen . 366
Freude an sich 306
Der Bescheidene 367
Neid und Eifersucht . . . .367
Der vornehmste Heuchler . . 367
Verdruss 367
Vertreter der Wahrheit . . . 367
Beschwerlicher noch als Feinde 367
Die freie Natur 368
Jeder in Einer Sache überlegen 368
Trostgründe 368
Die Überzeugungstreuen . . 368
Moralität und Quantität . . . 369
Das Leben als Ertrag des Lebens 369
Die eherne Nothwendigkeit . 369
Aus der Erfahrung .... 369
Wahrheit 369
Grundeinsicht 369
Menschenloos 370
Wahrheit als Circe . . . .370
Gefahr unserer Cultur . . .370
Grösse heisst: Rirhtung-geben 370
Schwaches Gewissen .... 370
Geliebt sein wollen . . . .371
Menschenverachtung . . . .371
Anhänger aus Widerspruch . 371
Erlebnisse vergessen . . . .371
Festhalten einer Meinung . .371
— 4
Balte
Das Licht scheuen . . . .372
Die Länge des Tages , . .372
Tyrannengenie 372
Das Leben des Feindes . . .372
Wichtiger 372
Abschätzung erwiesener Dienste 373
Unglück 373
Phantasie der Angst . . . .373
Werth abgeschmackter Gegner 373
Werth eines Berufs .... 373
Talent 374
Jugend 374
Zu grosse Ziele 374
Im Strome 374
Gefahren der geistigen Befreiung 374
Verkörperung des Geistes . .374
Schlecht sehen und schlecht hören 375
Selbstgenuss in der Eitelkeit . 375
Ausnahmsweise eitel . . . »375
Die „Geistreichen" . . . -375
"Wink für Parteihäupter . . -375
Verachtung 376
Schnur der Dankbarkeit . . 376
Kunstgriff des Propheten . .376
Das einzige Menschen recht . 376
Unter das Thier hinab . . .376
Halbwissen 377
Gefährliche Hülfbereitschaft . 377
Fleiss und Gewissenhaftigkeit . 377
Verdächtigen 377
Die Umstände fehlen . . . 377
Mangel an Freunden , . .378
Gefahr In der Vielheit . . .378
Den Andern zum Vorbild . .378
Zielscheibe sein 378
Leicht resignirt 378
In Gefahr 379
Je nach der Stimme die Rolle 379
Liebe und Hass 379
Mit Vortheil angefeindet . .379
Beichte 379
Selbstgenügsamkeit .... 3S0
Schatten in der Flamme . . 3S0
29 —
Sdte
I Eigene Meinuugen .... 380
Herkunft des Muihes . . .380
Gefahr im Arzte 380
Wunderliche Eitelkeit . . .381
Beruf 381
Gefahr persönlichen Einflusses 381
Den Erben gelten lassen . .381
Halbwissen 381
Nicht geeignet zum Parteimann 382
Schlechtes Gedächtniss . . .382
Sich Schmerzen machen . . .382
Märtyrer 382
Rückständige Eitelkeit . . .382
Punctum saliens derLeidenschaft-382
Gedanke des Unmuths . . . 383
Vom Stundenzeiger des Lebens 383
Angreifen oder eingreifen . . 384
Bescheidenheit 384
Des Tages erster Gedanke . . 385
Anmaassung als letztes Trost-
mittel 385
Vegetation des Glücks . . .385
Die Strasse der Vorfahren . .386
Eitelkeit und Ehrgeiz als Er-
zieher 386
Philosophische Neulinge ,
Durch 2^1issfallen gefallen .
Casus belli und Ähnliches .
Leidenschaft und Recht . .
Kunstgriff des Entsagenden
Lebensalter der Anmaassung
Trügerisch und doch haltbar
Lieben lernen 389
Die Ruine als Schmuck . . . 390
Liebe und Ehre 390
Vorurtheil für die kalten Men-
schen
Das Gefährliche an freien Mein-
ungen
nach tiefem Schmerz 391
über Andere und die
386
387
387
388
388
388
389
390
391
Begierde
Unmuth
Welt
Ursache
und Wirkung ver-
391
wechselt 39»
430 —
Seite
Seite
Lebensalter und Wahrheit . .
Die Menscheu als schlechte
Dichter
Langeweile und Spiel .
Lehre aus Bildern ....
Stimmklang der Lebensalter
Zurückgebliebene und vorweg
nehmende Menschen .
Trost für Hypochonder .
Der Gegenwart entfremdet .
Auf persönlichen Mängeln säen
und ernten
Philosophisch gesinnt sein .
Im Feuer der Verachtung .
392
393
393
394
395
395
396
396
397
397
398
Aufopferung 398
Liebe als Kunstgriff .... 398
Zu gut und zu schlechN von der
Welt denken 399
Tiefe Menschen 399
Verkehr mit dem höheren Selbst 400
Einsame Menschen .... 400
Ohne Melodie 401
Leben und Erleben .... 402
Ernst im Spiele 402
Von der Überzeugung und der
Gerechtigkeit 403
Der Wanderer 413
Nachbericht.
Wer das allmähliche Erscheinen von Nietzsche's Schriften miterlebt
hat, wird sich entsinnen, welches Befremden 1878 Menschliches, Allzu-
menschliches erregte. Man wollte Nietzsche kaum wiedererkennen, man
sah in diesem Buch einen Bruch mit Nietzsche's eigner Vergangenheit.
Gleichwohl hängt dies Buch mit den vorhergehenden zusammen, es wächst
aus ihnen, ja in ihm leben die Rudimente einer schon 1873 mitgeplanten
Unzeitgemässen Betrachtung fort, dsren Titel „Der Weg zur Freiheit",
später „Der Freigeist" lautete (siehe Bd. X, S. 475, 477).
Mit dieser Betrachtung sollte nach Nietzsche's ursprünglicher Absicht
der auf mindestens 13 Nummern angelegte Cyklus der Unzeitgemässen ge-
krönt werden. Nietzsche's Entwicklung lief aber rascher, als die Zeit,
welche er bei seinem mühevollen Amt und seiner wechselnden Gesundheit
für die Ausarbeitung der ganzen Reihe erübrigen konnte: er gedachte jähr-
lich zwei solcher Betrachtungen zu fertigen, der Cyklus würde ihn demnach
bis 1879 in Anspruch genommen haben. Thatsächlich sind auch die ersten
drei Unzeitgemässen in ungefähr halbjährigen Fristen geschrieben; aber
über der Ausarbeitung vertieften und weiteten sich die Themen mehr, als
von Anfang an abzusehen war (schon die dritte erfuhr im Lauf der Nieder-
schrift wichtige Umge-iaitungen), sodass die als vierte geplante „Wir Philo-
logen" iheils wegen ihres reichen und schwer zu bewältigenden Materials,
theils aus äusseren Gründen (s. die Anmerkung zu S. 309 des i. Bandes
der Ges. Briefe Nietzsche's, 3. Aufl.) nicht zu Stande kam und die jetzige
vierte (Rieh. Wagner in Bayreuth) aus ähnlichen und anderen Gründen
gleichfalls beinahe ohne Abschluss geblieben wäre, wenn nicht Aufmunte-
rung und Anlässe von Aussen diesen doch noch herbeigeführt hätten.
Im Frühjahr 1876 notirt sich N. abermals zwei Titel -Verzeichnisse
der noch zu schreibenden Unzeitgemässen (gedruckt in Bd. X, S. 477).
— 432 —
überschaut man dieselben, so erkennt man in ihnen zum Theil die Auf-
schriften der neun Hauptstücke von Menschliches, Alizumenschliches wieder,
zum Theil auch Capitelüberschriften aus dem Aphorismenheft „Die Pflug-
schar" (Bd. XI, S. 396). Der Inhalt dieses Heftes („Die Pflugschar") ist
mir von Nietzsche vor und nach seiner Rückkehr von den ersten Bay-
reuther Nibelungen-Aufführungen, im Juni, Juli und September 1876 dictirt
worden. Die dort erlebte Erschütterung seines Glaubens an Wagner's
Ideal, welcher eine ähnliche Erschütterung bereits im Januar 1874 voraus-
gegangen war (s. Bd. X, S. 5 18 f.), hatte ihn zu einer umfassenden Neu-
prüfting seiner Gedanken über alle menschlichen Dinge gedrängt. Und so
kam während des nun folgenden Urlaubsjahres in Sorrent und in den Alpen
jene umfangreiche Sammlung fragmentarischer Aufzeichnungen zu Stande,
welche den ganzen Kreis von Nietzsche's nunmehr antiromantischem und
übernationalem Denken umschreibt. Alle Themen der noch geplanten Un-
zeitgemässen klingen darin auf Einmal an, in einer Sprache, die man an
Nietzsche nicht gewohnt war, die aber als Vorstufe seines späteren Stiles
nicht wegzudenken ist.
Genauere und ausführliche Angaben über die ersten Notizbücher, Hefte,
Pläne und sonstigen Niederschriften zu Menschliches, AUzumenschüches
(„Sorrentiner Papiere" u. s. w.) enthält der Nachbericht zum XL Band
der Gesammtausgabe, welcher Band eine Fülle bedeutender Nachträge zu
M. A. I und II bringt. Ueber die innere Geschichte der Wandlung
Nietzsche's um das Jahr 1876 wolle man „Das Leben Friedr. N.'s" von
Elisabeth Förster-Nietzsche II. Band S. 245 — 315 nachlesen.
Als Nietzsche am 31. August 1877 von seinem einjährigen Urlaub
nach Basel zurückgekehrt war, übernahm ich sofort die Abschrift der in
den mitgebrachten Manuscripten kenntlich gemachten Aphorismen und Sen-
tenzen. Hierauf begann eine mehrere Wochen dauernde gemeinsame Re-
vision des Textes und die Betitelung der Aphorismen, Die endgültige
Einreihung der Stücke unter neun Capitel-Überschriften erfolgte gegen Mitte
Januar 1878. Am 28. Januar ging das Manuscript an Nietzsche's damaligen
Verleger Ernst Schmeitzner in Schloss-Chemnitz ab. Das Titelblatt der
ersten Ausgabe trug folgenden Zusatz
„Dem Andenken Voltaire's
geweiht
zur Gedächtniss-Feier seines Todestages,
des 30. Mai 1778."
Auf der Rückseite des Titelblattes war mit kleinen Lettern gedruckt:
„Dieses monologische Buch, welches in Sorrent während eines Winter-
aufenthaltes (1876 auf 1877) entstand, würde jetzt der Öffentlichkeit
nicht übergeben werden, wenn nicht die Nähe des 30. Mai 1878 den
— 433 —
"Wunsch allzu lebhaft erregt hätte, einem der grSssten Befreier des Geistes
xar rechten Stunde eine persönliche Huldigung darzubringen."
Im Buche selbst kommt Voltaire nur in Aph. 221, 240, 438 und 463
vor. Ein (dem gegenwärtigen Band in Facsimile beigefügter) als Epilog
des Buches gedachter Aphorismus, der nochmals an Voltaire's Sterbetag
anknüpft, wurd« von Nietzsche beiseite gelegt. Sodann war hinter dem
Titelblatt der ersten Ausgabe folgende Seite aus Descartes' Meditattones
de prima philosophia eingeschaltet:
„An Stelle einer Vorrede.
„ — eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen
^sich die Menschen in diesem Leben überlassen, und machte den Ver-
„such, die beste von ihnen auszuwählen. Aber es thut nicht noth, hier
„zu erzählen, auf was für Gedanken ich dabei kam: genug, dass für meinen
„Tbeil mir nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vor-
nhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens dar-
„auf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahr-
„heit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen.
„Denn die Früchte, welche ich auf diesem Wege schon gekostet hatte,
„waren derart, dass nach meinem Urtheile in diesem Leben nichts An-
ngenehmeres, nichts UnschuliHgeres gefunden werden kann; zudem Hess
„mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu Hülfe nahm, etwas
„Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und durchaus nicht
„allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so voll von
„Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr nichts mehr anthun konnten.
Aus dem Lateinischen des Cartesius."
Diese herrliche Stelle, wie auch die "Widmung zu Voltaire's Gedächtniss
und der Vorvermerk, fiel weg, als Nietzsche im Jahre 1886 eine neue
Ausgabe des Buches bei E. W. Fritzsch in Leipzig veranstaltete und sie
mit der jetzigen, psychologisch so wichtigen Vorrede und dem Schluss-
gedicht „Unter Freunden" bereicherte.
Der gegenwärtige Druck (10. — 12. Tausend) giebt den Text in der
Fassung wieder, wie ihn die Urausgabe enthielt. Zwar existiren zwei
Handexemplare mit vielerlei Bleistift- Eintragungen Nietzsche's, von der
Aufnahme dieser Änderungen hat man jedoch abgesehen und dafür im
Folgenden ein Verzeichniss derselben aufgestellt. Maassgebend für dies Ver-
fahren waren folgende Gesichtspunkte.
Die Änderungen in beiden Handexemplaren gehören verschiedenen
Zeiten und Entwicklungsstadien Nietzsche's an, sie sind zum Theil beim
absichtslosen Wiederlesen, zum Theil aber auch im Hinblick auf eine radi-
kale "Umgestaltung des Buches vorgenommen. An eine solche Umgestaltung
Nietische, Werke Band II. 28
— 434 —
dachte Nietzsche vorübergehend z. B. im Herbst 1885, als er das damals
schon fertig vorliegende „Jenseits von Gut und Böse" (welches, wiederum
verändert, erst 1886 gedruckt wurde) mit dem Inhalte des „Menschlichen"
verquicken und als Ein Buch herausgeben wollte. Noch im jetzt vorliegen-
den „Jenseits" behandeln die ersten Aphorismen dieselben Themen wie die
ersten Aphorismen des „Menschlichen". Der Aphorismus 2 des „Jenseits"
z. B. (mit der Frage: „wie könnte etwas aus seinem Gegensatz entstehen?")
weist ganz auf den Aphorismus i des „Menschlichen" und ist sicher das
Ergebniss erneuter Befassung mit den Problemen des „Menschlichen", wie
andrerseits die unten S. 432 f.) unter C abgedruckten Umarbeitungen der
ersten drei Aphorismen von „Menschliches" für das im erwähnten Sinne
geplante „Jenseits" bestimmt waren.
Unmöglich aber konnte Nietzsche bei diesem Vorhaben verweilen;
die Menge neu zuströmender Gedanken war zu gross, als dass er sich mit
der Umformung eines älteren Werkes hätte lange aufhalten dürfen. Und
so Hess er das Angefangene liegen, wissend dass sein Werk, auch wenn
es seinem eigenen litterarischen Geschmack hie und da nicht mehr genügen
mochte, doch als Dokument einer entscheidenden Epoche seines Denker-
lebens auch in seiner ersten Gestalt von bleibendem Werth sein werde.
Demgemäss, und weil die Grenze zwischen den etwa aufzunehmenden
und den nicht aufzunehmenden Änderungen Nietzsche's unmöglich zu ziehen
war, hat man das Werk von den Änderungen getrennt gehalten.
Weimar, September 1905.
Peter Gast
Lesarten -Verzeichniss.
(Seiten und Zeilen sind nach der vorliegenden Ausgabe angegeben.
Cursivdruck bezeichnet die neu eingesetzten oder unterstrichenen
Wörter, die Streichungen, [ ] die Zusätze des Herausgebers.)
' A.
Textänderungen Nietzsche's
in einem Exemplar der ersten Ausgabe von 1878.
S. 18 f.:
2.
Erbfehler der Philosophen. — Alle Philosophen haben den
gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen
ausgehen und durch eine Prüfung und Zerlegung desselben an's Ziel
aller Menschenkenntniss zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt
ihnen „der Mensch" als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes
— 435 —
in allem Strudel des Werdens, als ein sichres Maass der Dinge vor.
Zuletzt ist aber Alles, was der Philosoph über „den Menschen" aussagt,
. . im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines . .
beschränkten Zeitraums — und vielleicht eines noch beschränkteren
Erd'lVinkels? Mangel an historischem Sinn war bisher . . der Erb-
fehler aller Philosophen; auch heute noch nehmen sie unversehens die
allerjüngste Gestaltung des europäischen Menschen, wie eine solche unter
dem Eindruck und Druck .... bestimmter politischer und wirthschaft-
licher Ereignisse entstanden ist und entsteht, als die feste Form, von
der man ausgehen müsse . . . ,; während .... alles Wesentliche
der menschlichen Entwicklung in Urzeiten vor sich gegangen ist, lange
vor jenen 4000 Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich
der Mensch nicht wesentlich mehr verändert haben. Umgekehrt urtheilt
der Philosoph: er nimmt „Instincte" am gegenwärtigen Menschen wahr
und nimmt sofort an, dass alles Instinctive zu den unveränderlichen
Thatsachen des Menschen gehöre und insofern einen Schlüssel zum Ver-
ständniss des Daseins überhaupt abgeben müsse: die ganze Teleologie
ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende
als von einem ewigen redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt
von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben. Aber Alles ist
geworden; es giebt gar keine ewisen Thatsachen: weshalb es auch
keine ewigen Wahrheiten giebt. — Demnach ist Geschichte für den
Philosophen von jetzt ab nöthig und mit der Geschichte die Tugend des
Historikers: Pescheidenheit.
S. 20 Z. 5 v. u. : jener Ernst im Symbolischen
S, 21 Z. 5 v. o.: der geistreiche innige Blick
S. 21 Z. 10 f. V. c: des religiösen, moralischen, . . aesthelischen und l^
gischen Empfindens
S. 31 f.:
16.
Erscheinung und Ding an sich. — Die Philosophen pflegen
sich vor das Leben und die Erfahrung — vor das, was sie die Welt
der Erscheinung nennen — wie vor ein Gemälde hinzustellen, das Ein
für alle Mal entrollt ist und unveränderlich fest denselben Vorgang zeigt:
diesen Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit
einen Schluss auf das AVesen zu machen, welches das Gemälde hervor-
gebracht habe: aus jener Wirkung also auf diese Ursache^ auf das
Unbedingte, das immer als der zureichende Grund der Welt der Er-
scheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen muss man, [indem man]
den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, y«/^-
lich auch Unbedingenden hinstellt, umgekehrt gerade jeden Zu-
sammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und
28*
— 436 —
der uns bekannten "Welt in Abrede stellm: so dass in der Erscheinung
eben durchaus nicht das Ding an sich erscheint, und von jener auf
dieses jeder Schluss abzulehnen \ist\. Von der ersten Seite wird der
Thatbesta7id ignorirt, dass jenes Gemälde — das, was jetzt uns Menschen
Leben und Erfahrung heisst — allmählich geworden ist, ja noch völlig
im Werden ist und deshalb nicht als feste Grösse betrachtet werden
sollte, von welcher aus man einen Schluss über den Urheber (den zu-
reichenden Grund) machen oder auch nur ablehnen dürfte. Dadurch, dass
wir seit Jahrtausenden mit moralischen, aesthetischen, religiösen An-
sprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die "Welt
geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht aus-
geschwelgt haben, ist diese Welt allmählich so wundersam bunt, schreck-
lich, bedeutungstief, seelenvoll geworden, sie hat Farbe bekommen, —
aber wir sind die Coloristen gewesen: der menschliche Intellect, auf
Grund der Tnenschlichen Bedürfnisse , der menschlichen Affecte, hat
diese „Erscheinung" erscheinen lassen und seine irrthümlichen Grund-
auffassungen in die Dinge hineingetragen. [Zweite Hälfte unverändert.]
S. 34 Z. 14 V. o. : Gefühl der Unverantwortlichkeit, der persönlichen Ent-
lastung herbeiführen,
S. 50 Z. 2 V. u. : ist ihnen . . höchstens als ein schwacher Schatten be-
merkbar.
S. 51 f.: [Im Aphorismus 34 sind folgende Theile eingeklammert: S. 51
Z. 7 V. u. „Wird" bis Z. 6 v. u. „feindlich?". Z. 3 v. u. „oder," bis
Z. 2 V. u. „sei?" Z. 2 V. u. „Denn" bis S. 52 Z. 8 v. o. „bestimmen)."
Z. I2f. „ , wie der Ehre,".]
S. 52 Z. 9 V. o.: tief in die Unwahrkeit eingesenkt;
S. 52 Z. 16 und 15 V. u.: eine Philosophie der Auflösung, Auseinander'
lösung. Selbst -Vernichtung nach sich zöge?
S. 57f.:
35.
Von der moralistischen Oberflächlichkeit in Deutsch-
land. — Dass das Nachdenket über Menschliches, Allzumenschliches
, . .zu den Mitteln gehöre, vermöge deren man sich die Last des
Lebens erleichtern könne, dass die Übimg in dieser Kunst Geistesgegen-
wart in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer langweiligen
Umgebung verleihe, ja dass man den dornenvollsten und unerfreulichsten
Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein
wenig wohler fühlen könne: das glaubte man, wusste man — in früheren
Jahrhunderten. Warum vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in
Deutschland .... die moralistische Armseligkeit durch viele Zeichen
sich zu erkennen giebt? Ja, man möchte zweifeln, ob Deutschland über-
haupt bisher schon „moralisirt"' hat Man gebe Acht auf die
— 437 —
Beiirtheilung öffentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten: man erwäge
den Erfolg, welchen lächerlich-enge, altjiingfernhafte Bücher (zum
Beispiel Vilmar's Litteraturgeschichte ocUr Janssen [haben,] vor Allem
aber gestehe man sich ein, wie die Kunst und auch die Lust der psy-
chologischen Zergliederung und Zusamraeurechnung in der Gesellschaft
aller deutschen Stände fehlt, in der man wohl viel über Menschen,
aber gar nicht über den Menschen spricht. Warum doch lässt man
sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen?
Warum liest man nicht einmal die grossen Meister der psychologischen
Sentenz mehr? — denn, ohne jede Übertreibung gesprochen: der Ge-
bildete in Deutschland, der Larochefoucauld und seine Geistes- und Kunst-
verwandten bis hin zum letzten grossen Moralisten Stendhal gelesen
hat, ist selten zu finden; und noch viel seltener der, welcher sie kennt
und sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungewöhn-
liche Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener
Künstler ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht ver-
mögend, die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen,
wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat — gleich
mir: man vergebe mir den Anspruch, unter Deutschen eine Ausnahme
tu sein. Man nimmt, ohne solche praktische Belehrung, dieses Schaffen
und Formen für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reiz-
volle nicht scharf genug heraus. Deshalb haben die deutschen Leser
von Sentenzen ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen,
ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht
wie den gewöhnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil
sie nicht lieben können, und schnell bereit sind zu bewundem, schneller
aber noch, fortzulaufen.
S. 59 unten ist als Schluss des Aphorismus 36 angefügt (vgl. S. 61 Z. 4
bis 15 V. 0.):
Zuletzt ist auch das noch wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über
Menschliches und Allzumenschiiches sind in Kreisen der Gesellschaft zu-
erst entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht
der wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht
jede Art von Opfern darzubringen; und fast unlösbar hat sich der Duft
jener alten Heimat der moralistischen Sentenz — ein sehr verführerischer
Duft — der ganzen Gattung angehängt: so dass seinetwegen der wissen-
schaftliche Mensch unwillkürlich einiges Misstrauen gegen diese Gattung
und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt.
S. 60 f.
37-
Trotzdem. — Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung
verhalte: in dem gegenwärtigen Zustande der Philosophie ist die Auf-
- 438 _
erweckung der tnoralistischen Beobachtung nöthig . ., und der grausame
Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen
kann der Menschheit nicht erspart bleiben Z)ie ältere Philo-
sophie .... ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der
vtenschlichen Werthschätzungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus
dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr
deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie
die Irrthümer der grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunkt
in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und
Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum
Beispiel der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik
sich aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiedenmi Religion und mytho-
logisches Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die Schatten
dieser trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrach-
tung hineinfallen. Steht es aber fest, dass die moralistische Oberflächlich-
keit dem menschlichen Urtheilen und Schliessen bisher die gefahrlichsten
Fallstricke gelegt hat vmd fortwährend von Neuem legt, so bedarf es
jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird. Steine auf
Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf es der enthaltsamen
Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen
und jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. . . .
[Am rechten Rande steht hier Allmählich hat sich mir — Diese
vier Worte sind der Anfang des Aphor. 6 in „Jenseits v. G. u. B.",
woraus zu entnehmen ist, dass die von Nietzsche gemachten Änderungen
und Ein klammer ungen (s. zu S. 62 u. 63) sich wahrscheinlich auf die
S. 424 erwähnte Verquickung des Inhalts von „Menschl., Allzum." und
„Jenseits" zu einem neuen Buche, beziehen.]
S. 62 f.: Aphorismus 38 ist vom zweiten Satze an eingeklammert und
durchgestrichen. Der erste Satz sollte anscheinend (mit der Variante
„nicht fnehr enlrathen kann" am Schlüsse) an den Anfang des vorher-
gehenden Aphorismus gestellt werden, ist dann aber auch gestrichen.]
S. 63 Z. 12 V. o.: der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen, welche
sie für die Gemeinde, haben. [Dieser Zusatz ist, anscheinend nachträg-
lich, eingeklammert.]
S. 63 Z, 14 f. V. u.: — also dadurch, dass man, was Folge ist, als Ur-
sache fasst.
S. 64 Z. 6 f. V. o.: dass die Geschichte der moralischen Werthschätzungen
zugleich die Geschichte eines Irrthums,
S. 64 Z. 14 — 18 V. o.; — wie es doch auch nach der Meinung dieses
Philosophen verläuft — sondern der Mensch selber mit derselben Noth-
wendigkeit gerade dieser Mensch wäre, der er ist — was Schopenhauer
leugnet.
— 439 —
S. 64 Z. 2 V. u. bis S. 65 Z. 10 V. o. : Hier wird, abgesehen von der
eigffitlichen Tollheit der letztgegebenen Behauptung, der Fehlschluss ge-
macht, dass aus der Thatsache des Unmuthes schon die Berechtigung,
die vernünftige Zulässigkeit dieses Unmuthes geschlossen wird; erst
von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen
Consequenz der sogenanuten intelligiblen Freiheit. (An der Entstehung
dieses Fabelwesens sind Plato und Kant zu gleichen Theilen mitschuldig.)
Aber der ünmuth nach der That braucht noch gar nicht vernünftig zu
sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthümlichen Vor-
aussetzung, dass die That eben nicht nothwendig hätte erfolgen müssen.
Also: nur weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei
ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse. —
[Der Schluss des Aphorismus von „Aber der Unmuth" (S. 65 Z. 4)
an ist eingeklammert.]
S. 66 Z. 3 V. o.: als eines A'bcrÄ-Nicht-Menschen , [der Schluss des Apho-
rismus von „woraus" (S. 66 Z. 2) an ist eingeklammert.]
S. 66 Z. 10 v. o. : die einwirkenden netten Motive
S. 67 Z. 6 f. V. o.: wird nicht nach moralischen Gesichtspunkten auf-
und umgestellt;
S. 96: [Die Nummer des Aphorismus 95 ist eingeklammert.]
S. 97:
96.
Sitte und sittlich. — Moralisch, sittlich, tugendhaft sein heisst
Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz und Herkommen üben. Ob
man mit Mühe oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei lange Zeit gleich-
gültig, genug dass man es thut. „Gut" nennt man endlich den, welcher
wie von Natur, nach langer Vererbung, also leicht und gern das Sitt-
liche thut, je nachdem dies ist (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache-
üben, wie bei den älteren Griechen, zur guten Sitte gehört). Er wird
gut genannt, weil et „wozu" gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden,
Rücksicht, Mässigung und dergleichen in dem Wechsel der Sitten zu-
letzt immer als „gut wo^u", als nützlich empfunden wurde, so nennt
man später vornehmlich den Wohlwollenden , Hülfreichen „gut" —
anfänglich standen andere und wichtigere Arten des Nützlichen in [oder
im — von Nietzsche nicht beendet]. Böse ist „nicht sittlich" (un-
sittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen widerstieben, wie ver-
nünftig oder dumm dasselbe auch sei; das Schädigen der Gemeinde (und
des in ihr begriffenen „Nächsten'y ist aber in allen den Sittengesetzen
der verschiedenen Zeiten vornehmlich als die eigentliche „Unsitte"
empfunden worden, so dass wir jetzt . . bei dem Wort „böse" zuerst
an die freiwillij^e Schädigung des Nächsten und deit Gemeinschaf t denken.
Nicht das „Egoistische" und das „Unegoistische'' ist der Grundgegen-
— 44^ —
satz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von Sittlich und Un-
sittlich, Gut und Böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein
Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie das Herkommen
entstanden ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht
auf Gut und Böse oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ,
sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung einer Gemeinde, einer
Geschlechtsgenossenschaft, eines Volkes;
[Der Schluss ist unverändert. Der zweite Satz des Aphorismus,
Ton „„Gut" bis „gehört)." ist eingeklammert.]
S. IOC f.: [Der Aphorismus 99 ist theilweise eingeklammert: zunächst vom
Titel bis zum Gedankenstrich S. 100 Z. i v. u., sodann von diesem
Gedankenstrich an bis zum "Worte „unschuldig." S. lOl Z. 10 v. 0.]
S. loi Z. 13 V. u.r wenn ein stärkeres Individuum
S. 103 Z. 17 und 16 V. u.: zu glauben gewohnt \isi\, so empfindet man
S. 103 f.: [Der Schluss des Aphorismus loi ist von „Der Egoismus"
S. 103 Z. 2 V. u. an eingeklammert.]
S. 104: [Die Nummer des Aphorismus io2 ist eingeklammert.]
S. 107: [Der Schluss des Aphorismus 104 ist von „Ohne Lust" an ein-
geklammert.]
S. 116 Z. 6 V. o. : die falschen Behauptungen der homines religiosi,
S. 116 Z. 10 und 9 V. u. : dass der Mensch sich an der erkannten Wahr-
heit, richtiger: am durchschauten Irrthum verblute.
S. 120 Z. 12 V. u. : dass der consensus gentium nur einer Narrheit gelten
kann.
S. 121 Z. 2 V. u. bis S. 122 Z. 9 V. o. : Wir jetzigen Menschen emp-
finden gerade . . umgekehrt: je reicher jetzt der Mensch sich innerlich
fühlt, je polyphoner die Musik und der Lärm seiner Seele ist, um so
gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen
mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigimg für die
moderne Seele, wir hören den Pendelscblag dieser grössten Uhr mit einer
Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir
dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch erst zum Genuss
unser selbst . . kommen könnten.
S. 126 Z. 15 — 12 V. u. : ein aus einer sehr fernen Vorzeit hereinragendes
Alterthum, und dass man ihrer Behauptung überhaupt yioch glaubt —
während man sonst so streng in der Prüfung von Ansprüchen geworden
ist — ,
S. 136 Z. 6 und 5 v. u.: welches allein jener Handlungen fÄhig sein soll,
die unegoistisch genannt werden,
S. 137 Z. 5 und 4 v. u. : (welche ihren Grund doch immer in einem per-
sönlichen BedürfnftS haben mussj?
S. 137 Z. 2 und I V. u.: wie ein solcher gelegentlich angenommen wird,
— 441 —
S. 138 Z. II — 15 V. o. : [Der Satz über R^e ist eingel<lammert.]
S. 138 Z. 16 V. u.: so ist letzteres auch noch aus dem Grunde unmöglich,
S. 141 Z. 16 und 15 V. u.: soll durchaus unerklärlich,
S. 143 Z. 8 f. V. o, : (welche, dauernd und zur Gewohnheit geworden,
Heiligkeit heisst),
S. 237 Z. I f. V. o.: über Alle erheben und uns nunrnehr als die Ein-
zigen fühlen,
S. 347 Z. 2 V. u.: von einer solchen Regierung
S. 348 Z. 9 V. o. ; gegen alles dergestalt Regierende,
S. 353 Z. 10 — 8 V. u. : Sobald es sich nicht mehr um Conservirung (oder
Errichtung — ) von Nationen, sondern um die Erzeugung und Züchtung
einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse handelt,
S. 354 S. 6v. o.: den //<fÄfz^o//!lf/tf» Menschen (Christus), den r*tA/jcAa^<f«j/«/
Weisen (Spinoza),
S. 410 Z. 9 V. o.: Es mögen seihst geistreiche Leute
S. 410 Z. 14 — II V. u.: Eine Meinung haben heisst bei ihnen schon:
sofort auch sich für sie fanatisiren und sie endlich als Überzeugung . .
sich an's Herz legen.
S. 413 erster Satz: Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft
kommen will, darf sich auf Erden lange Zeit nicht anders fühlen denn
als Wanderer — und nicht einmal als Reisender nach einem letzten
Ziele: denn dieses giebt es nicht.
B.
Textänderungen Nietzsche's
in einem Exemplar der Neuen Ausgabe von 1886.
S. 17 Z. 5 V. o. : aus seinem Gegensatz
S. 17 Z. 8 f . V. o. : Leben für Andere aus Selbstsucht,
S. 17 Z. 9 — 15: Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese
Schwierigkeit hinweg, insofern sie einfach die Entstehung des Einen
aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen
eigenen Ursprung annahm, unmittelbar aus dem An-sich der Dinge her-
aus. Die Philosophie des Werdens dagegen,
S. 140 Z. 3 — 5 Z. o.: im Bunde mit der nothwendigen Abschwächung
jeder tiefen Erregung durch die Zeit, den Sieg davongetragen:
S. 225 Z. 6 und 5 V, u. : Huss, —
S. 228 Z. 8 und 7 V. u. : und diese Kraft dabei noch geübt und ver-
mehrt bat:
S. 290 Z. 6 und 5 T. u.; in manchem Menschen . . . grösser
S. 359 Z. 8 f. V. 0.: die Summe von fünf Milliarden
— 442 —
C.
Anfang
einer geplanten Totalumarbeitung
aus dem Herbst 1885.
I.
Chemie der Begriffe und Werthgefühle. — Die philo-
sophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe
Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann etwas aus
seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Ver-
nunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses
Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Selbstsucht,
Wahrheit aus Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich bis-
her über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie einfach die Entstehung
des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten
Dinge einen eigenen Ursprung annahm, unmittelbar aus dem An-sich
der Dinge heraus. Eine umgekehrte Philosophie dagegen, .... die
allerjüngste und radikalste , die es bisher gegeben hat, eine eigentliche
Philosophie des Werdens, welche an ein „An-sick^^ überhaupt nicht
glaubt und folglich ebensowohl dem Begriffe „Sein" als dem Begriffe
„Ersclieimcng^^ das Bürgerrecht verweigert : eine solche antitnetaphy-
sische Philosophie hat mir in einzelnen Fällen wahrscheinlich gemacht
( — und vermuthlich wird dies in allen ihr Ergebniss sein), dass jene
Fragestellung falsch ist, dass es jene Gegensätze gar nicht giebt,
an welche die bisherige Philosophie geglaubt hat, verführt durch die
Sprache und die in ihr gebietende Nützlichkeit der Ver grober unsr und
Vereinfachung, kurz, dass man vorerst eine Chemie der Grund-
begriffe nöthig hat, diese als ge-vorden und noch werdend voraus-
gesetzt. Um mit solchen groben und viereckigen Gegenüberstellungen
wie „egoistisch" und „unegoistisch", „Begierde" und „Geistigkeit",
„lebendig" und „todt", „ Wahrheit" und „Irrthum", ein für alle Mal
fertig zu werden, bedarf es einer mikroskopischen Psychologie ebenso-
sehr als einer Geübtlieit in aller Art historischer Perspektiven-Optik,
wie eine solche bisher noch nicht da war und nicht einmal erlaubt
war. Philosophie, so wie ich sie will und verstehe, hatte bisher das
Gewissen gegen sich: die moralischen, religiösen und ästhetischen
Imperative sagten Nein zu einer Methodik der Forschung, welche hier
verlangt wird. Man muss sich vorerst von diesen Imperativen gelöst
haben: man muss, wider sein Gewissen, sein Gewissen selbst
secirt haben ... Die Historie der Begriffe uud der Begriffs -Venvand-
lung unter der Tyrannei der Werthgefühle — versteht ihr das? Wer
— 443 --
hat Ltist und Muth genng, solchen Untersuchungen zu folgen? Jetzt, wo
es vielleicht zur Höhe der erreichten Vermenschlichung selbst gehört,
dass der Mensch einen Widerstand fühlt gegen die Geschichte setner
Anfänge, dass er kein Auge haben will gegen alle Art pudenda origo:
muss man nicht beinahe unmenschlich sein, nm gerade in der umge-
kehrten Richtung sehen, suchen, entdecken zu wollen? —
Der Erbfehler der Philosophen. — Bisher litten die Philo-
sophen allesammt an dem gleichen Gebrechen, — sie dachten unhisto-
risch, widerhistorisch. Sie giengen vom . . Menschen aus, den ihre
Zeit und Umgebung ihnen darbot, am liebsten sogar von sich und von
sich allein; sie glaubten schon durch eine Selbst-Analysis zum .Ziel
zu kommen, zu einer Kenntniss „des Menschen". Ihre eigenen Werth-
gefühle (oder die ihrer Kaste, Rasse, Religion, Gesundheit) galten ihnen
als unbedingtes Werthmaass ; nichts war ihnen fremder und wider-
licher als jene Selbstentsagung des eigentlich wissenschaftlichen
Gewissens: als welches in einer wohlwollenden Verachtung der Person,
jeder Person, jeder Personal-Perspektive seine Freilieit geniesst. Diese
Philosophen waren vorallererst Personen; jeder sogar empfand bei sich
„ich bin die Person selber", gleichsam die aeterno veritas vom
Menschen, „Mensch afi sich". Aus dieser unhistorischen Optik, die sie
gegen sich selber übten, ist die grösste Zahl ihrer Irrthiimer abzu-
leiten, — vor allem der Grundirrthiim, überall das Seiende zu suchen,
überall Seiendes voratiszusetzen, überall IVechsel, Wandel, Widerspruch
mit Geringschätzung zu behandeln. Selbst unter dem Druck einer von
der Historie beherrschten Cultur ( — wie es die deutsche Cultur
an der Wende des Jahrhunderts war) wird sich der typische
Philosoph mindestens noch als Ziel des ganzen Werdens, auf welches
alle Dinge von Anbeginn ihre Richtung nehmen, präsentiren:
dies war das Schauspiel, welches seiner Zeit Hegel dem erstaunten
Europa bot.
Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten. — Es ist das
Merkmal eines stärkeren und stolzeren Geschmacks, so leicht es sich
auch als dessen Gegentheil ausnimmt, die kleinen unscheinbaren vor-
sichtigen Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden,
höher zu schätzen als jene weiten sch'vebenden umschleiernden Allgemein-
heiten , nach denen das Bedürfniss religiöser oder künstlerischer
Zeitalter greift. Menscfien, deren intellektuelle Zucht zurückgeblieben
ist oder, aus guten Gründen, zurückgehalten werden muss ( — der
— 444 —
Fall der IVeiber) haben gegen jene kleinen Gewissheiten etwas wie
Hohn auf den Lippen; einem Künstler zum Beispiel sagt eine physio-
logische Entdeckung nichts: Grund genug für ihn, gering von ihr
zu denken. Solche Rückständige , welche gelegentlich die Richter tu
spielen sich beikommen lassen ( — die drei Rückständigsten grossen
Stils, welche unsere Zeit aufzuweisen hat, haben es alle drei gethan:
Victor Hugo für Frankreich, Carlyle für England ^ Wagner für
Deutschland), weisen mit Ironie darauf hin
[bricht ab].
i
li
<55
CET
^Li
> >
v^^
;^^
^^ -;"^.^:
"^r^^.
WM.-- s
^^*^
lU:
(f>\
O (C
'O o>
LX h-
ICJ
-■U:*--- „^
>^^
\\^;^i/*:
bÄ:-«
4^0 : J-^
;i^' -