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Full text of "Werke"

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Nietzsche's  Werke 


Erste  Abtheilung 
Band  II 

Menschliches 
Allzumenschliches 

Erster  Band 


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Alfred   Ivröner  Verlag  in  Leipzig 
1917 


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Menschliches 
Allzumenschliches 

Ein  Buch  für  freie  Geister 


Von 

Friedrich  Nietzsche 


Erster  Band 


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Alfred   Kröner  Verlag  in   Leipzig- 
1917 


ÜbersetzunjJ^srecht  vorbehalten. 


Das  nachfolgende  Facsimile  ist  die  getreue  Reproduction  eines  von  Nietzsche 
ursprünglich  für  das  „Menschliche,  Allzumenschliche"  bestimmten  Epilogs. 


Germany 


Menschliches 
Allzumenschhches 

Erster  Band 


Inhalt. 

Seite 

Vorrede       3 

Erstes  Hauptstück;    Von    den    ersten    und    letzten 

Ding-en 15 

Zweites  Hauptstück:    Zur  Geschichte   der   morali- 
schen Empfindung"en 55' 

Drittes  Hauptstück :  Das  religiöse  Leben      ....    113 

Viertes  Hauptstück:   Aus   der  Seele   der  Künstler 

und  Schriftsteller 155 

Fünftes  Hauptstück:  Anzeichen  höherer  und  nie- 
derer Cultur 209 

Sechstes  Hauptstück:  Der  Mensch  im  Verkehr  ,    .  269 

Siebentes  Hauptstück:   Weib  und  Kind 299 

Achtes  Hauptstück:  Ein  Blick  auf  den  Staat  .    .    .  323 

Neuntes  Hauptstück:   Der  Mensch    mit   sich    allein  361 

Unter  Freunden.     Ein  Nachspiel 415 

Aphorismen-Register 421 

Nachbericht 431 


Niftzsche,  Werke   Band   II. 


VORREDE. 


Es  ist  mir  oft  genug  und  immer  mit  grossem  Be- 
fremden ausgedrückt  worden,  dass  es  etwas  Gemein- 
sames und  Auszeichnendes  an  allen  meinen  Schriften 
gäbe,  von  der  „Geburt  der  Tragödie"  an  bis  zum  letzthin 
veröffentlichten  „Vorspiel  einer  Philosophie  der  Zukunft": 
sie  enthielten  allesammt,  hat  man  mir  gesagt.  Schlingen 
und  Netze  für  unvorsichtige  Vögel  und  beinahe  eine 
beständige  unvermerkte  Aufforderung  zur  Umkehrung 
gewohnter  Werthschätzungen  und  geschätzter  Gewohn- 
heiten. Wie?  Alles  nur  —  menschlich -allzumenschlich? 
Mit  diesem  Seufzer  komme  man  aus  meinen  Schriften 
heraus,  nicht  ohne  eine  Art  Scheu  und  Misstrauen  selbst 
gegen  die  Moral,  ja  nicht  übel  versucht  und  ermuthigt, 
einmal  den  Fürsprecher  der  schlimmsten  Dinge  zu  machen: 
wie  als  ob  sie  vielleicht  nur  die  bestverleumdeten  seien? 
Man  hat  meine  Schriften  eine  Schule  des  Verdachts  ge- 
nannt, noch  mehr  der  Verachtung,  glücklicherweise  auch 
des  Muthes,  ja  der  Verwegenheit.  In  der  That,  ich 
selbst  glaube  nicht,  dass  jemals  Jemand  mit  einem  gleich 
tiefen  Verdachte  in  die  Welt  gesehn  hat,  und  nicht  nur 
als  gelegentlicher  Anwalt  des  Teufels,  sondern  ebenso 
sehr,   theologisch    zu    reden,    als   Feind   und  Vorforderer 

I* 


—     4      - 

Gottes;  und  wer  etwas  von  den  Folgen  erräth,  die  in 
jedem  tiefen  Verdachte  liegen,  etwas  von  den  Frösten 
und  Ängsten  der  Vereinsamung,  zu  denen  jede  unbe- 
dingte Verschiedenheit  des  Blicks  den  mit  ihr  Be- 
hafteten verurtheilt,  wird  auch  verstehn,  wie  oft  ich  zur 
Erholung  von  mir,  gleichsam  zum  zeitweiligen  Selbst- 
vergessen, irgendwo  unterzutreten  suchte  —  in  irgend 
einer  Verehrung  oder  Feindschaft  oder  Wissenschaftlich- 
keit oder  Leichtfertigkeit  oder  Dummheit;  auch  warum 
ich,  wo  ich  nicht  fand,  was  ich  brauchte,  es  mir 
künstlich  erzwingen,  zurechtfälschen,  zurechtdichten  musste 
( —  und  was  haben  Dichter  je  Anderes  gethan?  und  wozu 
wäre  alle  Kunst  in  der  Welt  da?).  Was  ich  aber  immer 
wieder  am  nöthigsten  brauchte,  zu  meiner  Cur  und 
Selbst -Wiederherstellung,  das  war  der  Glaube,  nicht 
dergestalt  einzeln  zu  sein,  einzeln  zu  sehn,  —  ein  zau- 
berhafter Argwohn  von  Verwandtschaft  und  Gleichheit 
in  Auge  und  Begierde,  ein  Ausruhen  im  Vertrauen  der 
Freundschaft,  eine  Blindheit  zu  Zweien  ohne  Verdacht 
und  Fragezeichen,  ein  Genuss  an  Vordergründen,  Ober- 
flächen, Nahem,  Nächstem,  an  Allem,  was  Farbe,  Haut 
und  Scheinbarkeit  hat.  Vielleicht,  dass  man  mir  in  die- 
sem Betrachte  mancherlei  „Kunst",  mancherlei  feinere 
Falschmünzerei  vorrücken  könnte:  zum  Beispiel,  dass  ich 
wissentlich -willentlich  die  Augen  vor  Schopenhauer's 
blindem  Willen  zur  Moral  zugemacht  hätte,  zu  einer  Zeit, 
wo  ich  über  Moral  schon  hellsichtig  genug  war;  ins- 
gleichen  dass  ich  mich  über  Richard  Wagner's  unheil- 
bare Romantik  betrogen  hätte,  wie  als  ob  sie  ein  Anfang 
und  nicht  ein  Ende  sei;  insgleichen  über  die  Griechen, 
insgleichen  über  die  Deutschen  und  ihre  Zukunft  —  und 
es  gäbe  vielleicht  noch  eine  ganze  lange  Liste  solcher 
Insgleichen?  —  Gesetzt  aber,  diess  Alles  wäre  wahr  und 


—     5     — 

mit  gutem  Grunde  mir  vorgerückt,  was  wisst  ihr  davon, 
was  könntet  ihr  davon  wissen,  wie  viel  List  der  Selbst- 
Erhaltung,  wie  viel  Vernunft  und  höhere  Obhut  in  sol- 
chem Selbst-Betruge  enthalten  ist,  —  und  wie  viel  Falsch- 
heit mir  noch  noth  thut,  damit  ich  mir  immer  wieder 
den  Luxus  meiner  Wahrhaftigkeit  gestatten  darf?  .  .  . 
Genug,  ich  lebe  noch;  und  das  Leben  ist  nun  einmal 
nicht  von  der  Moral  ausgedacht:  es  will  Täuschung,  es 

lebt    von    der    Täuschung aber    nicht    wahr?    da 

beginne  ich  bereits  wieder  und  thue,  was  ich  immer 
gethan  habe,  ich  alter  Immoralist  und  Vogelsteller  —  und 
rede  unmoralisch,  aussermoralisch,  „jenseits  von  Gut  und 
Böse«?  — 

2. 

—  So  habe  ich  denn  einstmals,  als  ich  es  nöthig 
hatte,  mir  auch  die  „ft^eien  Geister"  erfunden,  denen  die- 
ses schwermüthig-muthige  Buch  mit  dem  Titel  „Mensch- 
liches, Allzumenschliches"  gewidmet  ist:  dergleichen  „ft"eie 
Geister"  giebt  es  nicht,  gab  es  nicht,  —  aber  ich  hatte 
sie  damals,  wie  gesagt,  zur  Gesellschaft  nöthig,  um  guter 
Dinge  zu  bleiben  inmitten  schlimmer  Dinge  (Ivrankheit, 
Vereinsamung,  Fremde,  acedia,  Unthätigkeit) :  als  tapfere 
Gesellen  und  Gespenster,  mit  denen  man  schwätzt  und 
lacht,  wenn  man  Lust  hat  zu  schwätzen  und  zu  lachen, 
und  die  man  zum  Teufel  schickt,  wenn  sie  langweilig 
werden,  —  als  ein  Schadenersatz  für  mangelnde  Freunde. 
Dass  es  dergleichen  freie  Geister  einmal  geben  könnte, 
dass  unser  Europa  unter  seinen  Söhnen  von  Morgen  und 
Übermorgen  solche  muntere  und  verwegene  Gesellen 
haben  wird,  leibhaft  und  handgreiflich  und  nicht  nur, 
wie  in  meinem  Falle,  als  Schemen  und  Einsiedler- 
Schattenspiel:   daran  möchte   ich  am  wenigsten  zweifeln. 


—     6     ~ 

Ich  sehe  sie  bereits  kommen,  langsam,  langsam;  und 
vielleicht  thue  ich  etwas,  um  ihr  Kommen  zu  beschleu- 
nigen, wenn  ich  zum  Voraus  beschreibe,  unter  welchen 
Schicksalen  ich  sie  entstehn,  auf  welchen  Wegen  ich  sie 
kommen  sehe?  —  — 

3. 

Man  darf  vermuthen,  dass  ein  Geist,  in  dem  der 
Typus  „freier  Geist"  einmal  bis  zur  Vollkommenheit  reif 
und  süss  werden  soll,  sein  entscheidendes  Ereigniss  in 
einer  grossen  Loslösung  gehabt  hat,  und  dass  er  vor- 
her um  so  mehr  ein  gebundener  Geist  war  und  für  immer 
an  seine  Ecke  und  Säule  gefesselt  schien.  Was  bindet 
am  festesten?  welche  Stricke  sind  beinahe  unzerreissbar? 
Bei  Menschen  einer  hohen  und  ausgesuchten  Art  werden 
es  die  Pflichten  sein:  jene  Ehrfurcht,  wie  sie  der  Jugend 
eignet,  jene  Scheu  und  Zartheit  vor  allem  Altverehrten 
und  Würdigen,  jene  Dankbarkeit  für  den  Boden,  aus  dem 
sie  wuchsen,  für  die  Hand,  die  sie  führte,  für  das  Heilig- 
thum,  wo  sie  anbeten  lernten,  —  ihre  höchsten  Augen- 
blicke selbst  werden  sie  am  festesten  binden,  am  dauernd- 
sten verpflichten.  Die  grosse  Loslösung  kommt  für 
solchermaassen  Gebundene  plötzlich,  wie  ein  Erdstoss: 
die  junge  Seele  wird  mit  Einem  Male  erschüttert,  los- 
gerissen, herausgerissen,  —  sie  selbst  versteht  nicht,  was 
sich  begiebt.  Ein  Antrieb  und  Andrang  waltet  und  wird 
über  sie  Herr  wie  ein  Befehl;  ein  Wille  und  Wunsch 
erwacht,  fortzugehn,  irgend  wohin,  um  jeden  Preis;  eine 
heftige  gefährliche  Neugierde  nach  einer  unentdeckten 
Welt  flammt  und  flackert  in  allen  ihren  Sinnen.  „Lieber 
sterben  als  hier  leben"  —  so  klingt  die  gebieterische 
Stimme  und  Verführung:  und  diess  „hier",  diess  „zu  Hause" 
ist  Alles,  was  sie  bis  dahin  geliebt  hatte I    Ein  plötzlicher 


—     7     — 

Schrecken  und  Argwohn  gegen  Das,  was  sie  hebte,  ein 
ßUtz  von  Verachtung  gegen  Das,  was  ihr  „Pflicht"  hiess, 
ein  aufrührerisches  willkürHches  vulcanisch  stossendes 
Verlangen  nach  Wanderschaft,  Fremde,  Entfremdung, 
Erkältung,  Ernüchterung,  Vereisung,  ein  Hass  auf  die 
Liebe,  vielleicht  ein  tempelschänderischer  Griff  und  Blick 
rückwärts,  dorthin,  wo  sie  bis  dahin  anbetete  und  liebte, 
vielleicht  eine  Gluth  der  Scham  über  das,  was  sie  eben 
that,  und  ein  Frohlocken  zugleich,  dass  sie  es  that,  ein 
trunkenes  inneres  frohlockendes  Schaudern,  in  dem  sich 
ein  Sieg  verräth  —  ein  Sieg?  über  was?  über  wen?  ein 
räthselhafter  fragenreicher  fragwürdiger  Sieg,  aber  der 
erste  Sieg  immerhin:  —  dergleichen  Schlimmes  und 
Schmerzliches  gehört  zur  Geschichte  der  grossen  Los- 
lösung. Sie  ist  eine  Krankheit  zugleich,  die  den  Men- 
schen zerstören  kann,  dieser  erste  Ausbruch  von  Kraft 
und  Willen  zur  Selbstbestimmung,  Selbst -Werthsetzung, 
dieser  Wille  zum  freien  Willen:  und  wie  viel  Krankheit 
drückt  sich  an  den  wilden  Versuchen  und  Seltsamkeiten 
aus,  mit  denen  der  Befreite,  Losgelöste  sich  nunmehr 
seine  Herrschaft  über  die  Dinge  zu  beweisen  sucht! 
Er  schweift  grausam  umher,  mit  einer  unbefriedigten 
Lüsternheit;  was  er  erbeutet,  muss  die  gefährliche  Span- 
nung seines  Stolzes  abbüssen;  er  zerreisst,  was  ihn  reizt. 
Mit  einem  bösen  Lachen  dreht  er  um,  was  er  verhüllt, 
durch  irgend  eine  Scham  geschont  findet:  er  versucht, 
wie  diese  Dinge  aussehn,  wenn  man  sie  umkehrt.  Es 
ist  Willkür  und  Lust  an  der  Willkür  darin,  wenn  er  viel- 
leicht nun  seine  Gunst  dem  zuwendet,  was  bisher  in 
schlechtem  Rufe  stand,  —  wenn  er  neugierig  und  ver- 
sucherisch um  das  Verbotenste  schleicht.  Im  Hinter- 
gründe seines  Treibens  und  Schweifens  —  denn  er  ist 
unruhig   und  ziellos   unterwegs   wie  in   einer  Wüste    — 


steht  das  Fragezeichen  einer  immer  gefährlicheren  Neu- 
gierde. „Kann  man  nicht  alle  Werthe  umdrehn?  und 
ist  Gut  vielleicht  Böse?  und  Gott  nur  eine  Erfindung 
und  Feinheit  des  Teufels?  Ist  Alles  vielleicht  im  letzten 
Grunde  falsch?  Und  wenn  wir  Betrogene  sind,  sind  wir 
nicht  ebendadurch  auch  Betrüger?  müssen  wir  nicht 
auch  Betrüger  sein?"  —  solche  Gedanken  führen  und 
verführen  ihn,  immer  weiter  fort,  immer  OL'eiter  ab.  Die 
Einsamkeit  umringt  und  umringelt  ihn,  immer  drohender, 
würgender,  herzzuschnürender,  jene  furchtbare  Göttin  und 
maier  saeva  cupidinum  —  aber  wer  weiss  es  heute,  was 
Einsamkeit  ist?  .  .  . 


Von  dieser  krankhaften  Vereinsamung,  von  der 
Wüste  solcher  Versuchs -Jahre  ist  der  Weg  noch  weit 
bis  zu  jener  ungeheuren  überströmenden  Sicherheit  und 
Gesundheit,  welche  der  Krankheit  selbst  nicht  entrathen 
mag,  als  eines  IMittels  und  Angelhakens  der  Erkenntniss, 
bis  zu  jener  reifen  Freiheit  des  Geistes,  welche  ebenso- 
sehr Selbstbeherrschung  und  Zucht  des  Herzens  ist  und 
die  Wege  zu  vielen  und  entgegengesetzten  Denkweisen 
erlaubt  — ,  bis  zu  jener  inneren  Umfänglichkeit  und  Ver- 
wöhnung des  Überreichthums ,  welche  die  Gefahr  aus- 
schliesst,  dass  der  Geist  sich  etwa  selbst  in  die  eignen 
Wege  verlöre  und  verliebte  und  in  irgend  einem  Win- 
kel berauscht  sitzen  bliebe,  bis  zu  jenem  Überschuss 
an  plastischen  ausheilenden  nachbildenden  und  wieder- 
herstellenden Kräften ,  welcher  eben  das  Zeichen  der 
grossen  Gesundheit  ist,  jener  Überschuss,  der  dem 
freien  Geiste  das  gefährliche  Vorrecht  giebt,  auf  den 
Versuch  hin  leben  und  sich  dem  Abenteuer  anbieten 
zu  dürfen:  das  Meisterschafts- Vorrecht  des  freien  Geistes! 


--     9     — 

Dazwischen  mögen  lange  Jahre  der  Genesung  liegen, 
Jahre  voll  vielfarbiger  schmerzlich  -  zauberhafter  Wand- 
lungen, beherrscht  und  am  Zügel  geführt  durch  einen 
zähen  Willen  zur  Gesundheit,  der  sich  oft  schon  als 
Gesundheit  zu  kleiden  und  zu  verkleiden  wagt.  Es  giebt 
einen  mittleren  Zustand  darin,  dessen  ein  Mensch  solchen 
Schicksals  später  nicht  ohne  Rührung  eingedenk  ist:  ein 
blasses  feines  Licht  und  Sonnenglück  ist  ihm  zu  eigen, 
ein  Gefühl  von  Vogel  -  Freiheit ,  Vogel -Umblick,  Vogel- 
Übermuth,  etwas  Drittes,  in  dem  sich  Neugierde  und 
zarte  Verachtung  gebunden  haben.  Ein  „freier  Geist".  — 
diess  kühle  Wort  thut  in  jenem  Zustande  wohl,  es  wärmt 
beinahe.  Man  lebt,  nicht  mehr  in  den  Fesseln  von  Liebe 
und  Hass.  ohne  Ja,  ohne  Nein,  fi-ei willig  nahe,  freiwillig 
ferne,  am  liebsten  entschlüpfend,  ausweichend,  fort- 
flattemd,  wieder  weg,  wieder  empor  fliegend;  man  ist 
verwöhnt,  wie  Jeder,  der  einmal  ein  ungeheures  Vielerlei 
unter  sich  gesehn  hat,  —  und  man  ward  zum  Gegen- 
stück Derer,  welche  sich  um  Dinge  bekümmern,  die  sie 
nichts  angehn.  In  der  That,  den  freien  Geist  gehen  nun- 
mehr lauter  Dinge  an  —  und  wie  viele  Dinge  1  — ,  welche 
ihn  nicht  mehr  bekümmern  .  .  . 


5- 

Ein  Schritt  weiter  in  der  Genesung:  und  der  freie 
Geist  nähert  sich  wieder  dem  Leben,  langsam  freilich, 
fast  widerspänstig,  fast  misstrauisch.  Es  wird  wieder 
wärmer  um  ihn,  gelber  gleichsam;  Gefühl  und  Mitgefühl 
bekommen  Tiefe,  Thauwinde  aller  Art  gehen  über  ihn 
weg.  Fast  ist  ihm  zu  Muthe,  als  ob  ihm  jetzt  erst  die 
Augen  für  das  Nahe  aufgiengen.  Er  ist  verwundert  und 
sitzt  stille:  wo  war  er  doch?    Diese  nahen  und  nächsten 


—       lO       — 

Dinge:  wie  scheinen  sie  ihm  verwandelt!  welchen  Flaum 
und  Zauber  haben  sie  inzwischen  bekommen!  Er  blickt 
dankbar  zurück,  —  dankbar  seiner  "Wanderschaft,  seiner 
Härte  und  Selbstentfremdung,  seinen  Fernblicken  und 
Vogelflügen  in  kalte  Höhen.  Wie  gut,  dass  er  nicht 
wie  ein  zärtlicher  dumpfer  Eckensteher  immer  „zu  Hause", 
immer  „bei  sich"  gebheben  ist!  Er  war  ausser  sich:  es 
ist  kein  Zweifel.  Jetzt  erst  sieht  er  sich  selbst  — ,  und 
welche  Überraschungen  findet  er  dabei!  Welche  uner- 
probten Schauder!  Welches  Glück  noch  in  der  Müdigkeit, 
der  alten  Krankheit,  den  Rückfällen  des  Genesenden! 
Wie  es  ihm  gefällt,  leidend  stillzusitzen,  Geduld  zu  spinnen, 
in  der  Sonne  zu  liegen!  Wer  versteht  sich  gleich  ihm 
auf  das  Glück  im  Winter,  auf  die  Sonnenflecke  an  der 
Mauer!  Es  sind  die  dankbarsten  Thiere  von  der  Welt, 
auch  die  bescheidensten,  diese  dem  Leben  wieder  halb 
zugewendeten  Genesenden  und  Eidechsen:  —  es  giebt 
solche  unter  ihnen,  die  keinen  Tag  von  sich  lassen,  ohne 
ihm  ein  kleines  Loblied  an  den  nachschleppenden  Saum 
zu  hängen.  Und  ernstlich  geredet:  es  ist  eine  gründhche 
Cur  gegen  allen  Pessimismus  (den  Krebsschaden  alter 
Idealisten  und  Lügenbolde,  wie  bekannt  — ),  auf  die  Art 
dieser  freien  Geister  krank  zu  werden,  eine  gute  Weile 
krank  zu  bleiben  und  dann,  noch  länger,  noch  länger, 
gesund,  ich  meine  „gesünder"  zu  werden.  Es  ist  Weis- 
heit darin,  Lebens-Weisheit,  sich  die  Gesundheit  selbst 
lange  Zeit  nur  in  kleinen  Dosen  zu  verordnen.  — 


Um  jene  Zeit  mag  es  endlich  geschehn,  unter  den 
plötzlichen  Lichtern  einer  noch  ungestümen,  noch  wech- 
selnden   Gesundheit,   dass    dem    freien,    immer    freieren 


Geiste  sich  das  Räthsel  jener  grossen  Loslösung  zu  ent- 
schleiern beginnt,  welches  bis  dahin  dunkel,  fragwürdig, 
fast  unberührbar  in  seinem  Gedächtnisse  gewartet  hatte. 
Wenn  er  sich  lange  kaum  zu  fragen  wagte  „warum  so 
abseits?  so  allein?  Allem  entsagend,  was  ich  verehrte? 
der  Verehrung  selbst  entsagend?  warum  diese  Härte, 
dieser  Argwohn,  dieser  Hass  auf  die  eigenen  Tugenden?" 
—  jetzt  wagt  und  fragt  er  es  laut  und  hört  auch  schon 
etwas  wie  Antwort  darauf.  „Du  solltest  Herr  über  dich 
werden,  Herr  auch  über  die  eigenen  Tugenden.  Früher 
waren  sie  deine  Herrn;  aber  sie  dürfen  nur  deine  Werk- 
zeuge neben  andren  Werkzeugen  sein.  Du  solltest  Ge- 
walt über  dein  Für  und  Wider  bekommen  und  es  ver- 
stehn  lernen,  sie  aus-  und  wieder  einzuhängen,  je  nach 
deinem  höheren  Zwecke.  Du  solltest  das  Perspectivische 
in  jeder  Werthschätzung  begreifen  lernen  —  die  Ver- 
schiebung, Verzerrung  und  scheinbare  Teleologie  der 
Horizonte  und  was  Alles  zum  Perspecti vischen  gehört; 
auch  das  Stück  Dummheit  in  Bezug  auf  entgegengesetzte 
Werthe  und  die  ganze  intellectuelle  Einbusse,  mit  der 
sich  jedes  Für,  jedes  Wider  bezahlt  macht.  Du  solltest 
die  nothwendige  Ungerechtigkeit  in  jedem  Für  und 
Wider  begreifen  lernen,  die  Ungerechtigkeit  als  unab- 
lösbar vom  Leben,  das  Leben  selbst  als  bedingt  durch 
das  Perspectivische  und  seine  Ungerechtigkeit.  Du  soll- 
test vor  Allem  mit  Augen  sehn,  wo  die  Ungerechtigkeit 
immer  am  grössten  ist:  dort  nämlich,  wo  das  Leben  am 
kleinsten,  engsten,  dürftigsten,  anfänglichsten  entwickelt 
ist  und  dennoch  nicht  umhin  kann,  sich  als  Zweck  und 
Maass  der  Dinge  zu  nehmen  und  seiner  Erhaltung  zu 
Liebe  das  Höhere,  Grössere,  Reichere  heimlich  und  klein- 
lich und  unablässig  anzubröckeln  und  in  Frage  zu  stel- 
len, —  du  solltest  das  Problem  der  Rangordnung  mit 


12       — 


Augen  sehn,  und  wie  Macht  und  Recht  und  Umfäng- 
Uchkeit  der  Perspective  mit  einander  in  die  Höhe  wach- 
sen. Du  solltest"  —  genug,  der  freie  Geist  weiss  nun- 
mehr, welchem  „du  sollst"  er  gehorcht  hat,  und  auch, 
was  er  jetzt  kann,  was  er  jetzt  erst  —  darf.  .  . 


7. 
Dergestalt  giebt  der  freie  Geist  in  Bezug  auf  jenes 
Räthsel  von  Loslösung  sich  Antwort  und  endet  damit, 
indem  er  seinen  Fall  verallgemeinert,  sich  über  sein  Er- 
lebniss  also  zu  entscheiden.  „Wie  es  mir  ergieng,  sagt 
er  sich,  muss  es  Jedem  ergehn,  in  dem  eine  Aufgabe 
leibhaft  werden  und  „zur  Welt  kommen"  will.  Die  heim- 
liche Gewalt  und  Noth wendigkeit  dieser  Aufgabe  wird 
unter  und  in  seinen  einzelnen  Schicksalen  walten  gleich 
einer  unbewussten  Schwangerschaft,  —  lange,  bevor  er 
diese  Aufgabe  selbst  in's  Auge  gefasst  hat  und  ihren 
Namen  weiss.  Unsre  Bestimmung  verfügt  über  uns,  auch 
wenn  wir  sie  noch  nicht  kennen;  es  ist  die  Zukunft,  die 
unserm  Heute  die  Regel  giebt.  Gesetzt,  dass  es  das 
Problem  der  Rangordnung  ist,  von  dem  wir  sagen 
dürfen,  dass  es  unser  Problem  ist,  wir  freien  Geister: 
jetzt,  in  dem  Mittage  unsres  Lebens,  verstehn  wir  es  erst, 
was  für  Vorbereitungen,  Umwege,  Proben,  Versuchungen, 
Verkleidungen  das  Problem  nöthig  hatte,  ehe  es  vor  uns 
aufsteigen  durfte,  und  wie  wir  erst  die  vielfachsten  und 
widersprechendsten  Noth-  und  Glücksstände  an  Seele 
und  Leib  erfahren  mussten,  als  Abenteurer  und  Welt- 
umsegler  jener  inneren  Welt,  die  „Mensch"  heisst,  als  Aus- 
messer jedes  „Höher"  und  „Übereinander",  das  gleichfalls 
„Mensch"  heisst  —  überallhin  dringend,  fast  ohne  Furcht, 
nichts  verschmähend,  nichts  verlierend,  alles  auskostend. 


13     - 

alles  vom  Zufälligen  reinigend  und  gleichsam  aussiebend 
—  bis  wir  endlich  sagen  durften,  wir  freien  Geister: 
„Hier  —  ein  neues  Problem!  Hier  eine  lange  Leiter, 
auf  deren  Sprossen  wir  selbst  gesessen  und  gestiegen 
sind,  —  die  wir  selbst  irgendwann  gewesen  sind! 
Hier  ein  Höher,  ein  Tiefer,  ein  Unter -uns,  eine  unge- 
heure lange  Ordnung,  eine  Rangordnung,  die  wir  sehen: 
hier  —  unser  Problem!" 


8. 

—  Es  wird  keinem  Psychologen  und  Zeichendeuter 
einen  Augenblick  verborgen  bleiben,  an  welche  Stelle 
der  eben  geschilderten  Entwicklung  das  vorliegende  Buch 
gehört  (oder  gestellt  ist  — ).  Aber  wo  giebt  es  heute 
Psychologen?  In  Frankreich,  gewiss;  vielleicht  in  Russ- 
land; sicherlich  nicht  in  Deutschland.  Es  fehlt  nicht  an 
Gründen,  wesshalb  sich  diess  die  heutigen  Deutschen  so- 
gar noch  zur  Ehre  anrechnen  könnten:  schlimm  genug  für 
Einen,  der  in  diesem  Stücke  undeutsch  geartet  und  ge- 
rathen  ist!  Diess  deutsche  Buch,  welches  in  einem  weiten 
Umkreis  von  Ländern  und  Völkern  seine  Leser  zu  finden 
gewusst  hat  —  es  ist  ungefähr  zehn  Jahr  unterwegs  — 
und  sich  auf  irgend  welche  Musik  und  Flötenkunst  ver- 
stehn  muss,  durch  die  auch  spröde  Ausländer-Ohren  zum 
Horchen  verführt  werden,  —  gerade  in  Deutschland  ist 
diess  Buch  am  nachlässigsten  gelesen,  am  schlechtesten 
gehört  worden:  woran  liegt  das?  —  „Es  verlangt  zu 
viel,  hat  man  mir  geantwortet,  es  wendet  sich  an  Men- 
schen ohne  die  Drangsal  grober  Pflichten,  es  will  feine 
und  verwöhnte  Sinne,  es  hat  Überfluss  nöthig,  Überfluss 
an  Zeit,  an  HeUigkeit  des  Himmels  und  Herzens,  an 
ottum  im  verwegensten  Sinne:  —  lauter  gute  Dinge,  die 


—      14      — 

wir  Deutschen  von  Heute  nicht  haben  und  also  auch 
nicht  geben  können."  —  Nach  einer  so  artigen  Antwort 
räth  mir  meine  Philosophie,  zu  schweigen  und  nicht  mehr 
weiter  zu  fragen;  zumal  man  in  gewissen  Fällen,  wie 
das  Sprüchwort  andeutet,  nur  dadurch  Philosoph  bleibt, 
dass  man  —  schweigt. 

Nizza,    im   Frühling    1886. 


Erstes  Hauptstück: 
Von  den  ersten  und  letzten  Dingen, 


Chemie  der  Begriffe  und  Empfindungen.  -- 
Die  philosophischen  Probleme  nehmen  jetzt  wieder  fast. in 
allen  Stücken  dieselbe  Form  der  Frage  an  wie  vor  zwei- 
tausend Jahren:  wie  kann  Etwas  aus  seinem  Gegensatz 
entstehen,  zum  Beispiel  Vernünftiges  aus  Vernunftlosem, 
Empfindendes  aus  Todtem,  Logik  aus  Unlogik,  interesse- 
loses Anschauen  aus  begehrlichem  Wollen,  Leben  für 
Andere  aus  Egoismus,  Wahrheit  aus  Irrthümern?  Die 
metaphysische  Philosophie  half  sich  bisher  über  diese 
Schwierigkeit  hinweg,  insofern  sie  die  Entstehung  des 
Einen  aus  dem  Andern  leugnete  und  für  die  höher 
gewertheten  Dinge  einen  Wunder -Ursprung  annahm, 
unmittelbar  aus  dem  Kern  und  Wesen  des  „Dinges 
an  sich"  heraus.  Die  historische  Philosophie  dagegen, 
welche  gar  nicht  mehr  getrennt  von  der  Naturwissen- 
schaft zu  denken  ist,  die  allerjüngste  aller  philosophischen 
Methoden ,  ermittelte  in  einzelnen  Fällen  (und  vermuth- 
lich  wird  dicss  in  allen  ihr  Ergebniss  sein),  dass  es  keine 
Gegensätze  sind,  ausser  in  der  gewohnten  Übertreibung 
der  populären  oder  metaphysischen  Auffassung,  und  dass 
ein  Irrthum  der  Vernunft  dieser  Gegenüberstellung  zu 
Grunde  liegt:  nach  ihrer  Erklärung  giebt  es,  streng 
gefasst,  weder  ein  unegoistisches  Handeln,  noch  ein 
völlig  interesseloses  Anschauen,  es  sind  beides  nur  Subli- 

Ni  etliche,   Werlcp  Band  U.  2 


miningen,  bei  denen  das  Grundelement  fast  verflüchtigt 
erscheint  und  nur  noch  für  die  feinste  Beobachtung  sich 
als  vorhanden  erweist.  —  Alles,  was  wir  brauchen  und 
was  erst  bei  der  gegenwärtigen  Höhe  der  einzelnen 
Wissenschaften  uns  gegeben  werden  kann,  ist  eine 
Chemie  der  moralischen,  religiösen,  ästhetischen  Vorstel- 
lungen und  Empfindungen,  ebenso  aller  jener  Regungen, 
welche  wir  im  Gross-  und  Klein  verkehr  der  Cultur  und 
Gesellschaft,  ja  in  der  Einsamkeit  an  uns  erleben:  wie, 
wenn  diese  Chemie  mit  dem  Ergebniss  abschlösse,  dass 
auch  auf  diesem  Gebiete  die  herrlichsten  Farben  aus 
niedrigen,  ja  verachteten  Stoffen  gewonnen  sind?  Werden 
Viele  Lust  haben ,  solchen  Untersuchungen  zu  folgen  ? 
Die  Menschheit  liebt  es,  die  Fragen  über  Herkunft  und 
Anfänge  sich  aus  dem  Sinne  zu  schlagen:  muss  man 
nicht  fast  entmenscht  sein,  um  den  entgegengesetzten 
Hang  in  sich  zu  spüren?  — 


Erbfehler  der  Philosophen.  —  Alle  Philosophen 
haben  den  gemeinsamen  Fehler  an  sich,  dass  sie  vom 
gegenwärtigen  Menschen  ausgehen  und  durch  eine  Ana- 
lyse desselben  an's  Ziel  zu  kommen  meinen.  Unwill- 
kürlich schwebt  ihnen  ,,der  Mensch"  als  eine  aeterna 
veritas ,  als  ein  Gleichbleibendes  in  allem  Strudel,  als 
ein  sichres  Maass  der  Dinge  vor.  Alles,  was  der  Philo- 
soph über  den  ^Menschen  aussagt,  ist  aber  im  Grunde 
nicht  mehr  als  ein  Zeugniss  über  den  Menschen  eines 
sehr  beschränkten  Zeitraums.  Mangel  an  historischem 
Sinn  ist  der  Erbfehler  aller  Philosophen;  manche  sogar 
nehmen  unversehens  die  allerjüngste  Gestaltung  des 
Menschen,  wie  eine  solche  unter  dem  Eindruck  bestimmter 


—     19     — 

Religionen,  ja  bestimmter  politischer  Ereignisse  entstanden 
ist,  als  die  feste  Form,  von  der  man  ausgehen  müsse. 
Sie  wollen  nicht  lernen,  dass  der  Mensch  geworden  ist, 
dass  auch  das  Erkenntnissvermögen  geworden  ist;  wäh- 
rend Einige  von  ihnen  sogar  die  ganze  Welt  aus  diesem 
Erkenntnissvermögen  sich  herausspinnen  lassen.  —  Nun 
ist  alles  Wesentliche  der  menschlichen  Entwicklung 
in  Urzeiten  vor  sich  gegangen,  lange  vor  jenen  vier 
tausend  Jahren,  die  wir  ungefähr  kennen;  in  diesen 
mag  sich  der  Mensch  nicht  viel  mehr  verändert  haben. 
Da  sieht  aber  der  Philosoph  „Instincte"  am  gegen- 
wärtigen Menschen  und  nimmt  an,  dass  diese  zu  den 
unveränderlichen  Thatsachen  des  Menschen  gehören  und 
insofern  einen  Schlüssel  zum  Verständniss  der  Welt  über- 
haupt abgeben  können:  die  ganze  Teleologie  ist  darauf 
gebaut,  dass  man  vom  Menschen  der  letzten  vier  Jahr- 
tausende als  von  einem  ewigen  redet,  zu  welchem  hin 
alle  Dinge  in  der  Welt  von  ihrem  Anbeginne  eine  natür- 
liche Richtung  haben.  Alles  aber  ist  geworden;  es  giebt 
keine  ewigen  Thatsachen:  sowie  es  keine  absoluten 
Wahrheiten  g^ebt  —  Demnach  ist  das  historische 
Philosophiren  von  jetzt  ab  nöthig  und  mit  ihm  die 
Tugend  der  Bescheidung. 


Schätzung  der  unscheinbaren  Wahrheiten.  — 
Es  ist  das  Merkmal  einer  hohem  Cultur,  die  kleinen  un- 
scheinbaren Wahrheiten,  welche  mit  strenger  Methode 
gefunden  wurden,  höher  zu  schätzen  als  die  beglücken- 
den und  blendenden  Irrthümer,  welche  metaphysischen 
und  künstlerischen  Zeitaltem  und  Menschen  entstammen. 
Zunächst  hat  man  gegen  erstere  den  Hohn  auf  den  Lippen, 


20 


als  könne  hier  gar  nichts  Gleichberechtigtes  gegen  ein- 
ander stehen:  so  bescheiden,  schlicht,  nüchtern,  ja  schein- 
bar entmuthigend  stehen  diese,  so  schön,  prunkend,  be- 
rauschend, ja  vielleicht  beseligend  stehen  jene  da.  Aber 
das  Mühsam-Errungene,  Gewisse,  Dauernde  und  desshalb 
für  jede  weitere  Erkenntniss  noch  Folgenreiche  ist  doch 
das  Höhere,  zu  ihm  sich  zu  halten  ist  männlich  und  zeigt 
Tapferkeit  Schlichtheit  Enthaltsamkeit  an.  Allmählich 
wird  nicht  nur  der  Einzelne,  sondern  die  gesammte 
Menschheit  zu  dieser  Männlichkeit  emporgehoben  werden, 
wenn  sie  sich  endlich  an  die  höhere  Schätzung  der 
haltbaren,  dauerhaften  Erkenntnisse  gewöhnt  und  allen 
Glauben  an  Inspiration  und  wundergleiche  Mittheilung 
von  Wahrheiten  verloren  hat.  —  Die  Verehrer  der  For- 
men freilich,  mit  ihrem  Maassstabe  des  Schönen  und  Er- 
habenen, werden  zunächst  gute  Gründe  zu  spotten  haben, 
sobald  die  Schätzung  der  unscheinbaren  Wahrheiten  und 
der  wissenschaftliche  Geist  anfängt  zur  Herrschaft  zu 
kommen:  aber  nur  weil  entweder  ihr  Auge  sich  noch 
nicht  dem  Reiz  der  schlichtesten  Form  erschlossen 
hat  oder  weil  die  in  jenem  Geiste  erzogenen  Menschen 
noch  lange  nicht  völlig  und  innerlich  von  ihm  durch- 
drungen sind,  so  dass  sie  immer  noch  gedankenlos  alte 
Formen  nachmachen  (und  diess  schlecht  genug,  wie  es 
Jemand  thut,  dem  nicht  mehr  viel  an  einer  Sache  lieg^). 
Ehemals  war  der  Geist  nicht  durch  strenges  Denken  in 
Anspruch  genommen,  da  lag  sein  Ernst  im  Ausspinnen 
von  Symbolen  und  Formen.  Das  hat  sich  verändert; 
joner  Ernst  des  Symbolischen  ist  zum  Kennzeichen  der 
niederen  Cultur  geworden.  Wie  unsere  Künste  selber 
immer  intellectualer,  unsre  Sinne  geistiger  werden,  und 
wie  man  zum  Beispiel  jetzt  ganz  anders  darüber  urtheilt, 
was  sinnlich  wohltönend  ist  als   vor  hundert  Jahren:    so 


■ —       21        — 

werden  auch  die  Formen  unseresLebens  immer  geistiger, 
für  das  Auge  älterer  Zeiten  vielleicht  hässlicher,  aber 
nur  weil  es  nicht  zu  sehen  vermag,  wie  das  Reich  der 
inneren,  geistigen  Schönheit  sich  fortwährend  vertieft  und 
erweitert  und  inwiefern  uns  Allen  der  geistreiche  Blick 
jetzt  mehr  gelten  darf  als  der  schönste  Gliederbau  und 
das  erhabenste   Bauwerk. 

4. 

Astrologie  und  Verwandtes.  —  Es  ist  wahr- 
scheinlich, dass  die  Objecte  des  religiösen,  moralischen 
und  aesthetischen  Empfindens  ebenfalls  nur  zur  Oberfläche 
der  Dinge  gehören,  während  der  Mensch  gerne  glaubt, 
dass  er  hier  wenigstens  an  das  Herz  der  Welt  rühre; 
er  täuscht  sich,  weil  jene  Dinge  ihn  so  tief  beseligen 
und  so  tief  unglücklich  machen,  und  zeigt  also  hier 
denselben  Stolz  wie  bei  der  Astrologie.  Denn  diese 
meint,  der  Sternenhimmel  drehe  sich  um  das  Loos  des 
Menschen;  der  morahsche  Mensch  aber  setzt  voraus,  Das, 
was  ihm  wesentlich  am  Herzen  liege,  müsse  auch  Wesen 
und  Herz   der   Dinge   sein. 

5. 

Missverständniss  des  Traumes.  —  Im  Traum 
glaubte  der  Mensch  in  den  Zeitaltern  roher  uranfäng- 
licher Cultur  eine  zweite  reale  Welt  kennen  zu  lernen; 
hier  ist  der  Ursprung  aller  Metaphysik.  Ohne  den  Traum 
hätte  man  keinen  Anlass  zu  einer  Scheidung  der  Welt 
gefunden.  Auch  die  Zerlegung  in  Seele  und  Leib  hängt 
mit  der  ältesten  Auffassung  des  Traumes  zusammen, 
ebenso  die  Annahme  eines  Seelenscheinleibes,  also  die 
Herkunft  alles  Geisterglaubens    und  wahrscheinlich  auch 


22        

des  Götterglaubens.  „Der  Todte  lebt  fort;  denn  er  er- 
scheint dem  Lebenden  im  Traume":  so  schloss  man  ehe- 
dem, durch  viele  Jahrtausende  hindurch. 

6. 

Der  Geist  der  Wissenschaft  im  Theil,  nicht 
im  Ganzen  mächtig.  —  Die  abgetrennten  kleinsten 
Gebiete  der  Wissenschaft  werden  rein  sachlich  behandelt: 
die  allgemeinen  grossen  Wissenschaften  dagegen  legen, 
als  Ganzes  betrachtet,  die  Frage  —  eine  recht  unsach- 
liche Frage  freilich  —  auf  die  Lippen:  wozu?  zu  wel- 
chem Nutzen?  Wegen  dieser  Rücksicht  auf  den  Nutzen 
werden  sie,  als  Ganzes,  weniger  unpersönlich  als  in  ihren 
Theilen  behandelt.  Bei  der  Philosophie  nun  gar,  als  bei 
der  Spitze  der  gesammten  Wissenspyramide,  wird  un- 
willkürlich die  Frage  nach  dem  Nutzen  der  Erkenntniss 
überhaupt  aufgeworfen,  und  jede  Philosophie  hat  unbe- 
wusst  die  Absicht,  ihr  den  höchsten  Nutzen  zuzu- 
schreiben. Desshalb  giebt  es  in  allen  Philosophien  so  \del 
hochfliegende  Metaphysik  und  eine  solche  Scheu  vor  den 
unbedeutend  erscheinenden  Lösungen  der  Physik;  denn 
die  Bedeutsamkeit  der  Erkenntniss  für  das  Leben  soll 
so  gross  als  möglich  erscheinen.  Hier  ist  der  Antago- 
nismus zwischen  den  wissenschaftlichen  Einzelgebieten 
und  der  Philosophie.  Letztere  will,  was  die  Kunst  will, 
dem  Leben  und  Handeln  möglichste  Tiefe  und  Bedeutung 
geben;  in  ersteren  sucht  man  Erkenntniss  und  Nichts 
weiter  —  was  dabei  auch  herauskomme.  Es  hat  bis 
jetzt  noch  keinen  Philosophen  gegeben,  unter  dessen 
Händen  die  Philosophie  nicht  zu  einer  Apologie  der  Er- 
kenntniss geworden  wäre;  in  diesem  Punkte  wenigstens 
ist  ein  Jeder  Optimist,  dass  dieser  die  höchste  Nützlich- 


—       21       — 

keit  zugesprochen  werden  müsse.  Sie  alle  werden  von 
der  Logik  tyrannisirt:  und  diese  ist  ihrem  Wesen  nach 
Optimismus. 

7. 
Der  Störenfried  in  der  Wissenschaft.  —  Die 
Philosophie  schied  sich  von  der  Wissenschaft,  als  sie  die 
Frage  stellte:  welches  ist  diejenige  Erkenntniss  der  Welt 
und  des  Lebens,  bei  welcher  der  Mensch  am  glücklichsten 
lebt?  Diess  geschah  in  den  sokratischen  Schulen:  durch 
den  Gesichtspunkt  des  Glücks  unterband  man  die  Blut- 
adern der  wissenschaftlichen  Forschung  —  und  thut  es 
heute  noch. 

8. 

Pneumatische  Erklärung  der  Natur.  —  Die 
Metaphysik  erklärt  die  Schrift  der  Natur  gleichsam  pneu- 
matisch, wie  die  Kirche  und  ihre  Gelehrten  es  ehemals 
mit  der  Bibel  thaten.  Es  gehört  sehr  viel  Verstand 
dazu,  um  auf  die  Natur  dieselbe  Art  der  strengen 
Erklärungskunst  anzuwenden,  wie  jetzt  die  Philologen 
sie  für  alle  Bücher  geschaffen  haben:  mit  der  Absicht, 
schlicht  zu  verstehen,  was  die  Schrift  sagen  will,  aber 
nicht  einen  doppelten  Sinn  zu  wittern,  ja  vorauszusetzen. 
Wie  aber  selbst  in  Betreff  der  Bücher  die  schlechte  Er- 
klärungskunst keineswegs  völlig  überwunden  ist  und 
man  in  der  besten  gebildeten  Gesellschaft  noch  fort- 
während auf  Überreste  allegorischer  und  mystischer  Aus- 
deutung stösst:  so  steht  es  auch  in  Betreff"  der  Natur  — 
ja  noch  viel  schlimmer. 

9. 

Metaphysische  Welt.  —  Es  ist  wahr,  es  könnte 
eine  metaphysische  Welt  geben ;  die  absolute  Möglichkeit 


—       24       — 

davon  ist  kaum  zu  bekämpfen.  Wir  sehen  alle  Dinge 
durch  den  Menschenkopf  an  und  können  diesen  Kopf 
nicht  abschneiden;  während  doch  die  Frage  übrig  bleibt, 
was  von  der  Welt  noch  da  wäre ,  wenn  man  ihn  doch 
abgeschnitten  hätte.  Diess  ist  ein  rein  wissenschaftliches 
Problem  und  nicht  sehr  geeignet,  den  Menschen  Sorge 
zu  machen;  aber  Alles,  was  ihnen  bisher  metaphysische 
Annahmen  werthvoll,  schrcckenvoll ,  lustvoll 
gemacht,  was  sie  erzeugt  hat,  ist  Leidenschaft,  Irrthum 
und  Selbstbetrug;  die  allerschlechtesten  Methoden  der 
Erkenntniss,  nicht  die  allerbesten,  haben  daran  glauben 
lehren.  Wenn  man  diese  Methoden,  als  das  Fundament 
aller  vorhandenen  Religionen  und  Metaphysiken,  auf- 
gedeckt hat,  hat  man  sie  widerlegt.  Dann  bleibt  immer 
noch  jene  Möglichkeit  übrig;  aber  mit  ihr  kann  man  gar 
nichts  anfangen,  geschweige  denn,  dass  man  Glück,  Heil 
und  Leben  von  den  Spinnenfäden  einer  solchen  Möglich- 
keit abhängen  lassen  dürfte.  —  Denn  man  könnte  von 
der  metaphysischen  Welt  gar  nichts  aussagen  als  ein 
Anderssein,  ein  uns  unzugängliches,  unbegreifliches 
Anderssein;  es  wäre  ein  Ding  mit  negativen  Eigen- 
schaften. —  Wäre  die  Existenz  einer  solchen  Welt  noch 
so  gut  bewiesen,  so  stünde  doch  fest,  dass  die  gleich- 
gültigste aller  Erkenntnisse  eben  ihre  Erkenntniss  wäre: 
noch  gleichgültiger  als  dem  Schiffer  in  Sturmesgefahr 
die  Erkenntniss  von  der  chemischen  Analysis  des  Wassers 
sein  muss. 

IG. 

Harmlosigkeit  der  Metaphysik  in  der  Zu- 
kunft. —  Sobald  die  Religion  Kunst  und  Moral  in 
ihrer  Entstehung  so  beschrieben  sind,  dass  man  sie  voll- 
ständig sich  erklären  kann,  ohne  zur  Annahme  meta- 


—      25      — 

physischer  Eingriffe  am  Beginn  und  im  Verlaufe  der 
Bahn  seine  Zuflucht  zu  nehmen,  hört  das  stärkste  Interesse 
an  dem  rein  theoretischen  Problem  vom  „Ding  an  sich" 
und  der  „Erscheinung"  auf.  Denn  wie  es  hier  auch 
stehe:  mit  Religion  Kunst  und  Moral  rühren  wir  nicht 
an  das  „Wesen  der  Welt  an  sich" ;  wir  sind  im  Bereiche 
der  Vorstellung,  keine  „Ahnung"  kann  uns  weitertragen. 
Mit  voller  Ruhe  wird  man  die  Frage,  wie  unser  Welt- 
bild so  stark  sich  von  dem  erschlossenen  Wesen  der 
Welt  unterscheiden  könne,  der  Physiologie  und  der  Ent- 
wicklungsgeschichte der  Organismen  und  Begriffe  über- 
lassen. 

II. 

Die  Sprache  als  vermeintliche  Wissenschaft. 
Die  Bedeutung  der  Sprache  für  die  Entwicklung  der 
Cultur  liegt  darin,  dass  in  ihr  der  Mensch  eine  eigne 
Welt  neben  die  andere  stellte,  einen  Ort,  welchen  er  für 
so  fest  hielt,  um  von  ihm  aus  die  übrige  Welt  aus  den 
Angeln  zu  heben  und  sich  zum  Herren  derselben  zu 
machen.  Insofern  der  Mensch  an  die  Begriffe  und 
Namen  der  Dinge  als  an  aeternae  veritates  durch 
lange  Zeitstrecken  hindurch  geglaubt  hat,  hat  er  sich 
jenen  Stolz  angeeignet,  mit  dem  er  sich  über  das  Thier 
erhob:  er  meinte  wirklich  in  der  Sprache  die  Erkenntniss 
der  Welt  zu  haben.  Der  Sprachbildner  war  nicht  so  be- 
scheiden zu  glauben,  dass  er  den  Dingen  eben  nur  Be- 
zeichnungen gebe,  er  drückte  vielmehr,  wie  er  wähnte, 
das  höchste  Wissen  über  die  Dinge  mit  den  Worten  aus; 
in  der  That  ist  die  Sprache  die  erste  Stufe  der  Bemühung 
um  die  Wissenschaft.  Der  Glaube  an  die  gefundene 
Wahrheit  ist  es  auch  hier,  aus  dem  die  mächtigsten 
Kraftquellen   geflossen  sind.     Sehr  nachträglich   —  jetzt 


—       2Ö       — 

erst  —  dämmert  es  den  Menschen  auf,  dass  sie  einen  un- 
geheuren Irrthum  in  ihrem  Glauben  an  die  Sprache  pro- 
pagirt  haben.  Glücklicherweise  ist  es  zu  spät,  als  dass 
es  die  Entwicklung  der  Vernunft,  die  auf  jenem  Glauben 
beruht,  wieder  rückgängig  machen  könnte.  —  Auch  die 
Logik  beruht  auf  Voraussetzungen,  denen  Nichts  in  der 
wirklichen  Welt  entspricht,  z.  B.  auf  der  Voraussetzung 
der  Gleichheit  von  Dingen,  der  Identität  desselben  Dings 
in  verschiedenen  Punkten  der  Zeit:  aber  jene  Wissen- 
schaft entstand  durch  den  entgegengesetzten  Glauben 
(dass  es  dergleichen  in  der  wirklichen  Welt  allerdings 
gebe).  Ebenso  steht  es  mit  der  Mathematik,  welche 
gewiss  nicht  entstanden  wäre,  wenn  man  von  Anfang 
an  gewusst  hätte,  dass  es  in  der  Natur  keine  exact  ge- 
rade Linie,  keinen  wirklichen  Kreis,  kein  absolutes 
Grössenmaass  gebe. 

12. 

Traum  und  Cultur.  —  Die  Gehirnfunction,  welche 
durch  den  Schlaf  am  meisten  beeinträchtigt  wird,  ist  das 
Gedächtniss:  nicht  dass  es  ganz  pausirte  —  aber  es  ist 
auf  einen  Zustand  der  Unvollkommenheit  zurückgebracht, 
wie  es  in  Urzeiten  der  Menschheit  bei  Jedermann  am  Tage 
und  im  Wachen  gewesen  sein  mag.  Willkürlich  und 
verworren,  wie  es  ist,  verwechselt  es  fortwährend  die 
Dinge  auf  Grund  der  flüchtigsten  Ähnlichkeiten:  aber 
mit  derselben  Willkür  und  Verworrenheit  dichteten  die 
Völker  ihre  Mythologien,  und  noch  jetzt  pflegen  Reisende 
zu  beobachten,  wie  sehr  der  Wilde  zur  Vergesslichkeit 
neigt,  wie  sein  Geist  nach  kurzer  Anspannung  des  Ge- 
dächtnisses hin  und  her  zu  taumeln  beginnt  und  er,  aus 
blosser  Erschlaffung,  Lügen  und  Unsinn  hervorbringt. 
Aber  wir  Alle  gleichen  im  Traume   diesem  Wilden;  das 


—     27     — 

schlechte  Wiedererkennen  und  irrthümliche  Gleichsetzen 
ist  der  Grund  des  schlechten  Schliessens,  dessen  wir  uns 
im  Traume  schuldig  machen:  so  dass  wir,  bei  deutlicher 
Vergegenwärtigung  eines  Traumes,  vor  uns  erschrecken, 
weil  wir  so  viel  Narrheit  in  uns  bergen.  —  Die  voll- 
kommne  Deutlichkeit  aller  Traum -Vorstellungen,  welche 
den  unbedingten  Glauben  an  ihre  Realität  zur  Voraus- 
setzung hat,  erinnert  uns  wieder  an  Zustände  früherer 
Menschheit,  in  der  die  Hallucination  ausserordentlich 
häufig  war  und  mitunter  ganze  Gemeinden,  ganze  Völker 
gleichzeitig  ergrifif.  Also:  im  Schlaf  und  Traum  machen 
wir  das  Pensum  früheren  Menschenthums  noch  einmal 
durch. 

13. 

Logik  des  Traumes.  —  Im  Schlafe  ist  fort- 
während unser  Nervensystem  durch  mannichfache  innere 
Anlässe  in  Erregung,  fast  alle  Organe  secerniren  und 
sind  in  Thätigkeit,  das  Blut  macht  seinen  ungestümen 
Kreislauf,  die  Lage  des  Schlafenden  drückt  einzelne 
Glieder,  seine  Decken  beeinflussen  die  Empfindung  ver- 
schiedenartig, der  Magen  verdaut  und  beunruhigt  mit 
seinen  Bewegungen  andere  Organe,  die  Gedärme  win- 
den sich,  die  Stellung  des  Kopfes  bringt  ungewöhnhche 
Muskellagen  mit  sich,  die  Füsse,  unbeschuht,  nicht  mit 
den  Sohlen  den  Boden  drückend,  verursachen  das  Gefühl 
des  Ungewöhnlichen  ebenso  wie  die  andersartige  Be- 
kleidung des  ganzen  Körpers,  —  alles  diess,  nach  seinem 
täglichen  Wechsel  und  Grade,  erregt  durch  seine  Ausser- 
gewöhnlichkeit das  gesammte  System  bis  in  die  Gehirn- 
function  hinein:  und  so  giebt  es  hundert  Anlässe  für  den 
Geist,  um  sich  zu  verwundern  und  nach  Gründen 
dieser    Erregung    zu   suchen:    der   Traum   aber   ist   das 


28 

Suchen  und  Vorstellen  der  Ursachen  für  jene  er- 
regten Empfindungen,  das  heisst  der  vermeintlichen  Ur- 
sachen. Wer  zum  Beispiel  seine  Füsse  mit  zwei  Riemen 
umgürtet,  träumt  wohl,  dass  zwei  Schlangen  seine  Füsse 
umringein:  diess  ist  zuerst  eine  Hypothese,  sodann  ein 
Glaube,  mit  einer  begleitenden  bildlichen  Vorstellung  und 
Ausdichtung:  „diese  Schlangen  müssen  die  causa  jener 
Empfindung  sein,  welche  ich,  der  Schlafende  habe,"  — 
so  urtheilt  der  Geist  des  Schlafenden.  Die  so  erschlossene 
nächste  Vergangenheit  wird  durch  die  erregte  Phantasie 
ihm  zur  Gegenwart.  So  weiss  Jeder  aus  Erfahrung,  wie 
schnell  der  Träumende  einen  starken  an  ihn  dringenden 
Ton,  zum  Beispiel  Glockenläuten ,  Kanonenschüsse  in 
seinen  Traum  verflicht,  das  heisst  aus  ihm  hinterdrein 
erklärt,  so  dass  er  zuerst  die  veranlassenden  Umstände, 
dann  jenen  Ton  zu  erleben  meint.  —  Wie  kommt  es 
aber,  dass  der  Geist  des  Träumenden  immer  so  fehl 
greift,  während  derselbe  Geist  im  Wachen  so  nüchtern 
behutsam  und  in  Bezug  auf  Hypothesen  so  skeptisch  zu 
sein  pflegt?  so  dass  ihm  die  erste  beste  Hypothese  zur 
Erklärung  eines  Gefühls  genügt,  um  sofort  an  ihre  Wahr- 
heit zu  glauben?  (Denn  wir  glauben  im  Traume  an  den 
Traum,  als  sei  er  Realität,  das  heisst  wir  halten  unsre 
Hypothese  für  völlig  erwiesen.)  —  Ich  meine:  wie  jetzt 
noch  der  Mensch  im  Traume  schlicsst ,  schloss  die 
Menschheit  auch  im  Wachen  viele  Jahrtausende  hin- 
durch: die  erste  causa,  die  dem  Geiste  einfiel,  um  irgend 
Etwas,  das  der  Erklärung  bedurfte,  zu  erklären,  genügte 
ihm  und  galt  als  Wahrheit  (So  verfahren  nach  den  Er- 
zählungen der  Reisenden  die  Wilden  heute  noch.)  Im 
Traum  übt  sich  dieses  uralte  Stück  Menschenthum  in 
uns  fort,  denn  es  ist  die  Grundlage,  auf  der  die  höhere 
Vernunft  sich   entwickelte  und  in  jedem  Menschen   sich 


—      29      — 

noch  entwickelt:  der  Traum  bringt  uns  in  ferne  Zustände 
der  menschlichen  Cultur  wieder  zurück  und  giebt  ein 
Mittel  an  die  Hand,  sie  besser  zu  verstehen.  Das  Traum- 
denken wird  uns  jetzt  so  leicht,  weil  wir  in  ungeheuren 
Entwicklungsstrecken  der  Menschheit  gerade  auf  diese 
Form  des  phantastischen  und  wohlfeilen  Erklärens  aus 
dem  ersten  beliebigen  Einfalle  heraus  so  gut  eingedrillt 
worden  sind.  Insofern  ist  der  Traum  eine  Erholung  für  das 
Gehirn,  welches  am  Tage  den  strengern  Anforderungen 
an  das  Denken  zu  genügen  hat,  wie  sie  von  der  höheren 
Cultur  gestellt  werden.  —  Einen  verwandten  Vorgang 
können  wir  geradezu  als  Pforte  und  Vorhalle  des  Traumes 
noch  bei  wachem  Verstände  in  Augenschein  nehmen. 
Schliessen  wir  die  Augen,  so  producirt  das  Gehirn  eine 
Menge  von  Lichteindrücken  und  Farben,  wahrscheinlich 
als  eine  Art  Nachspiel  und  Echo  aller  jener  Licht- 
wirkungen, welche  am  Tage  auf  dasselbe  eindringen. 
Nun  verarbeitet  aber  der  Verstand  (mit  der  Phantasie  im 
Bunde)  diese  an  sich  formlosen  Farbenspiele  sofort  zu 
bestimmten  Figuren  Gestalten  Landschaften  belebten 
Gruppen.  Der  eigentliche  Vorgang  dabei  ist  wiederum 
eine  Art  Schluss  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache;  in- 
dem der  Geist  fragt:  woher  diese  Lichteindrücke  und 
Farben,  supponirt  er  als  Ursachen  jene  Figuren  Ge- 
stalten: sie  gelten  ihm  als  die  Veranlassungen  jener  Farben 
und  Lichter,  weil  er,  am  Tage,  bei  offenen  Augen,  ge- 
wohnt ist,  zu  jeder  Farbe,  jedem  Lichteindruck  eine  ver- 
anlassende Ursache  zu  finden.  Hier  also  schiebt  ihm  die 
Phantasie  fortwährend  Bilder  vor,  indem  sie  an  die  Ge- 
sichtseindrücke des  Tages  sich  in  ihrer  Production  anlehnt, 
und  gerade  so  macht  es  die  Traumphantasie:  —  das  heisst 
die  vermeintliche  Ursache  wird  aus  der  Wirkung  er- 
schlossen und  nach  der  Wirkung  vorgestellt:  alles  diess 


—  so- 
mit ausserordentlicher  Schnelligkeit,  so  dass  hier  wie  beim 
Taschenspieler  eine  Verwirrung  des  Urtheils  entstehen 
und  ein  Nacheinander  sich  wie  etwas  Gleichzeitiges,  selbst 
wie  ein  umgedrehtes  Nacheinander  ausnehmen  kann.  — 
Wir  können  aus  diesen  Vorgängen  entnehmen,  wie  spät 
das  schärfere  logische  Denken,  das  Strengnehmen  von 
Ursache  und  Wirkung  entwickelt  worden  ist,  wenn  unsere 
Vernunft-  und  Verstandesfiinctionen  jetzt  noch  unwill- 
kürlich nach  jenen  primitiven  Formen  des  Schliessens 
zurückgreifen  und  wir  ziemlich  die  Hälfte  unseres  Lebens 
in  diesem  Zustande  leben.  —  Auch  der  Dichter,  der 
Künstler  schiebt  seinen  Stimmungen  und  Zuständen 
Ursachen  unter,  welche  durchaus  nicht  die  wahren  sind; 
er  erinnert  insofern  an  älteres  Menschenthum  und  kann 
uns  zum  Verständnisse  desselben  verhelfen. 


14. 

Miterklingen.  —  Alle  stärkern  Stimmungen 
bringen  ein  Miterklingen  verwandter  Em.pfindungen  und 
Stimmungen  mit  sich:  sie  wühlen  gleichsam  das  Gedächt- 
niss  auf;  es  erinnert  sich  bei  ihnen  Etwas  in  uns  und 
wird  sich  ähnhcher  Zustände  und  deren  Herkunft  be- 
wusst.  So  bilden  sich  angewöhnte  rasche  Verbindungen 
von  Gefühlen  und  Gedanken,  welche  zuletzt,  wenn  sie 
blitzschnell  hinter  einander  erfolgen,  nicht  einmal  mehr 
als  Complexe,  sondern  als  Einheiten  empfunden  wer- 
den. In  diesem  Sinne  redet  man  vom  moralischen  Ge- 
fühle, vom  religiösen  Gefühle,  wie  als  ob  diess  lauter 
Einheiten  seien:  in  Wahrheit  sind  sie  Ströme  mit  hundert 
Quellen  und  Zuflüssen.  Auch  hier,  wie  so  oft,  ver- 
bürgt die.  Einheit  des  Wortes  Nichts  für  die  Einheit 
der  Sache. 


—     31     — 

15- 

Kein  Innen  und  Aussen  in  der  Welt.  —  Wie 
Demokrit  die  Begrifife  Oben  und  Unten  auf  den  unend- 
lichen Raum  übertrug,  wo  sie  keinen  Sinn  haben,  so 
die  Philosophen  überhaupt  den  Begriff  „Innen  und  Aussen" 
auf  Wesen  und  Erscheinung  der  Welt;  sie  meinen,  mit 
tiefen  Gefühlen  komme  man  tief  in's  Innre,  nahe  man 
sich  dem  Herzen  der  Natur.  Aber  diese  Gefühle  sind 
nur  insofern  tief,  als  mit  ihnen,  kaum  bemerkbar,  gewisse 
complicirte  Gedanken gruppen  regelmässig  erregt  werden, 
welche  wir  tief  nennen;  ein  Gefühl  ist  tief,  weil  wir  den 
begleitenden  Gedanken  für  tief  halten.  Aber  der  „tiefe" 
Gedanke  kann  dennoch  der  Wahrheit  sehr  ferne  sein,  wie 
zum  Beispiel  jeder  metaphysische;  rechnet  man  vom 
tiefen  Gefühle  die  beigemischten  Gedankenelemente  ab, 
so  bleibt  das  starke  Gefühl  übrig  und  dieses  verbürgt 
Nichts  für  die  Erkenntniss  als  sich  selbst,  ebenso  wie  der 
starke  Glaube  nur  seine  Stärke,  nicht  die  Wahrheit  des 
Geglaubten  beweist. 

i6. 

Erscheinung  und  Ding  an  sich.  —  Die  Philo- 
sophen pflegen  sich  vor  das  Leben  und  die  Erfahrung 
—  vor  Das,  was  sie  die  Welt  der  Erscheinung  nennen  — 
wie  vor  ein  Gemälde  hinzustellen,  das  Ein  für  alle  Mal 
entrollt  ist  und  unveränderlich  fest  denselben  Vorgang 
zeigt:  diesen  Vorgang,  meinen  sie,  müsse  man  richtig 
ausdeuten,  um  damit  einen  Schluss  auf  das  Wesen  zu 
machen,  welches  das  Gemälde  hervorgebracht  habe:  also 
auf  das  Ding  an  sich,  das  immer  als  der  zureichende 
Grund  der  Welt  der  Erscheinung  angesehen  zu  werden 
pflegt.     Dagegen  haben  strengere  Logiker,  nachdem  sie 


—     32     — 

den  Begriff  des  Metaphysischen  scharf  als  den  des 
Unbedingten,  folglich  auch  Unbedingenden  festgestellt 
hatten,  jeden  Zusammenhang  zwischen  dem  Unbedingten 
(der  metaphysischen  Welt)  und  der  uns  bekannten  Welt 
in  Abrede  gestellt:  so  dass  in  der  Erscheinung  eben 
durchaus  nicht  das  Ding  an  sich  erscheine,  und  von 
jener  auf  dieses  jeder  Schluss  abzulehnen  sei.  Von 
beiden  Seiten  ist  aber  die  Möglichkeit  übersehen,  dass 
jenes  Gemälde  —  Das,  was  jetzt  uns  Menschen  Leben 
und  Erfahrung  heisst  —  allmählich  geworden  ist,  ja 
noch  völlig  im  Werden  ist  und  desshalb  nicht  als  feste 
Grösse  betrachtet  werden  soll,  von  welcher  aus  man 
einen  Schluss  über  den  Urheber  (den  zureichenden  Grund) 
machen  oder  auch  nur  ablehnen  dürfte.  Dadurch,  dass 
wir  seit  Jahrtausenden  mit  moralischen,  ästhetischen, 
religiösen  Ansprüchen,  mit  blinder  Neigung,  Leidenschaft 
oder  Furcht  in  die  Welt  geblickt  und  uns  in  den  Unarten 
des  unlogischen  Denkens  recht  ausgeschwelgt  haben,  ist 
diese  Welt  allmählich  so  wundersam  bunt,  schrecklich, 
bedeutungstief,  seelenvoll  geworden,  sie  hat  Farbe 
bekommen,  —  aber  wir  sind  die  Coloristen  gewesen: 
der  menschliche  Intellect  hat  die  Erscheinung  erscheinen 
lassen  und  seine  irrthümlichen  Grundauffassungen  in 
die  Dinge  hineingetragen.  Spät,  sehr  spät  —  besinnt 
er  sich:  und  jetzt  scheinen  ihm  die  Welt  der  Erfahrung 
und  das  Ding  an  sich  so  ausserordentlich  verschieden  und 
getrennt,  dass  er  den  Schluss  von  jener  auf  dieses  ablehnt 

—  oder  auf  eine  schauerlich  geheimnissvolle  Weise  zum 
Aufgeben  unseres  Intellectes,  unseres  persönlichen  Willens 
auffordert:  um  dadurch  zum  Wesenhaften  zu  kommen, 
dass  man  wesenhaft  werde.  Wiederum  haben  Andere 
alle  charakteristischen  Züge  unserer  Welt  der  Erscheinung 

—  das  heisst  der  aus  intellectuellen  Irrthümern  heraus- 


—     33     — 

gesponnenen  und  uns  angeerbten  Vorstellung  von  der 
Welt  —  zusammengelesen  und,  statt  den  Intellect 
als  Schuldigen  anzuklagen,  das  Wesen  der  Dinge 
als  Ursache  dieses  thatsächlichen ,  sehr  unheimlichen 
Weltcharakters  angeschuldigt  und  die  Erlösung  vom 
Sein  gepredigt.  —  Mit  all  diesen  Auffassungen  wird  der 
stätige  und  mühsame  Process  der  Wissenschaft,  welcher 
zuletzt  einmal  in  einer  Entstehungsgeschichte  des 
Denkens  seinen  höchsten  Triumph  feiert,  in  entschei- 
dender Weise  fertig  werden,  dessen  Resultat  vielleicht 
auf  diesen  Satz  hinauslaufen  dürfte:  Das,  was  wir  jetzt 
die  Welt  nennen,  ist  das  Resultat  einer  Menge  von  Irr- 
thümern  und  Phantasien,  welche  in  der  gesammten  Ent- 
wicklung der  organischen  Wesen  allmählich  entstanden,  in 
einander  verwachsen  sind  und  uns  jetzt  als  aufgesammelter 
Schatz  der  ganzen  Vergangenheit  vererbt  werden,  —  als 
Schatz:  denn  der  Werth  unseres  Menschenthums  ruht 
darauf.  Von  dieser  Welt  der  Vorstellung  vermag  uns 
die  strenge  Wissenschaft  thatsächlich  nur  in  geringem 
Maasse  zu  lösen  —  wie  es  auch  gar  nicht  zu  wünschen 
ist  — ,  insofern  sie  die  Gewalt  uralter  Gewohnheiten  der 
Empfindung  nicht  wesentlich  zu  brechen  vermag:  aber 
sie  kann  die  Geschichte  der  Entstehung  jener  Welt  als 
Vorstellung  ganz  allmählich  und  schrittweise  aufhellen 
—  und  uns  wenigstens  für  Augenblicke  über  den  ganzen 
Vorgang  hinausheben.  Vielleicht  erkennen  wir  dann,  dass 
das  Ding  an  sich  eines  homerischen  Gelächters  werth  ist: 
dass  es  so  viel,  ja  Alles  schien  und  eigenthch  leer, 
nämlich  bedeutungsleer  ist. 

17. 

Metaphysische     Erklärungen.    —     Der    junge 
Mensch  schätzt  metaphysische  Erklärungen,  weil  sie  ihm 

Nietzsche,  Werke  Band  n  » 


—     34     — 

in  Dingen,  welche  er  unangenehm  oder  verächtlich  fand, 
etwas  höchst  Bedeutungsvolles  aufweisen;  und  ist  er  mit 
sich  unzufrieden,  so  erleichtert  sich  diess  Gefühl,  wenn 
er  das  innerste  Welträthsel  oder  Weltelend  in  Dem 
wiedererkennt,  was  er  so  sehr  an  sich  missbilligt.  Sich 
unverantwortlicher  fühlen  und  die  Dinge  zugleich  interes- 
santer finden  —  das  gilt  ihm  als  die  doppelte  Wohlthat, 
welche  er  der  Metaphysik  verdankt.  Später  freilich  be- 
kommt er  Misstrauen  gegen  die  ganze  metaphysische 
Erklärungsart;  dann  sieht  er  vielleicht  ein,  dass  jene 
Wirkungen  auf  einem  anderen  Wege  ebenso  gut  und 
wissenschaftlicher  zu  erreichen  sind:  dass  physische  und 
historische  Erklärungen  mindestens  ebenso  sehr  jenes 
Gefühl  der  Un Verantwortlichkeit  herbeiführen,  und  dass 
jenes  Interesse  am  Leben  und  seinen  Problemen  vielleicht 
noch  mehr  dabei  entflammt  wird. 


i8. 

Grundtragen  der  Metaphysik.  — Wenn  einmal 
die  Entstehungsgeschichte  des  Denkens  geschrieben  ist, 
so  wird  auch  der  folgende  Satz  eines  ausgezeichneten 
Logikers  von  einem  neuen  Lichte  erhellt  dastehen:  „Das 
ursprüngliche  allgemeine  Gesetz  des  erkennenden  Sub- 
jects  besteht  in  der  inneren  Nothwendigkeit,  jeden  Gegen- 
stand an  sich,  in  seinem  eigenen  Wesen  als  einen  mit 
sich  selbst  identischen,  also  selbstexistirenden  und  im 
Grunde  stäts  gleichbleibenden  und  unwandelbaren,  kurz 
als  eine  Substanz  zu  erkennen."  Auch  dieses  Gesetz, 
welches  hier  „ursprünglich"  genannt  wird,  ist  geworden: 
es  wird  einmal  gezeigt  werden,  wie  allmählich,  in  den 
niederen  Organismen,  dieser  Hang  enstoht:  wie  die 
blöden     Maulwurfsaugen     dieser    Organisationen    zuerst 


—     35     — 

Nichts  als  immer  das  Gleiche  sehen:  wie  dann,  wenn  die 
verschiedenen  Erregungen  von  Lust  und  Unlust  bemerk- 
barer werden,  allmählich  verschiedene  Substanzen  unter- 
schieden werden,  aber  jede  mit  Einem  Attribut,  das  heisst 
'  einer  einzigen  Beziehung  zu  einem  solchen  Organismus. 
—  Die  erste  Stufe  des  Logischen  ist  das  Urtheil:  dessen 
Wesen  besteht,  nach  der  Feststellung  der  besten  Logiker, 
im  Glauben.  Allem  Glauben  zu  Grunde  liegt  die  Em- 
pfindung des  Angenehmen  oder  Schmerzhaften 
in  Bezug  auf  das  empfindende  Subject.  Eine  neue  dritte 
Empfindung  als  Resultat  zweier  vorangegangenen  ein- 
zelnen Empfindungen  ist  das  Urtheil  in  seiner  niedrigsten 
Form.  —  Uns  organische  "Wesen  interessirt  ursprünglich 
Nichts  an  jedem  Dinge,  als  sein  Verhältniss  zu  uns  in 
Bezug  auf  Lust  und  Schmerz.  Zwischen  den  Momenten, 
wo  wir  uns  dieser  Beziehung  bewusst  werden,  den 
Zuständen  des  Empfindens,  liegen  solche  der  Ruhe,  des 
Nichtempfindens:  da  ist  die  Welt  und  jedes  Ding  für 
uns  interesselos,  wir  bemerken  keine  Veränderung  an 
ihm  (wie  jetzt  noch  ein  heftig  Interessirter  nicht  merkt, 
dass  Jemand  an  ihm  vorbeigeht).  Für  die  Pflanze  sind 
gewöhnlich  alle  Dinge  ruhig,  ewig,  jedes  Ding  sich  selbst 
gleich.  Aus  der  Periode  der  niederen  Organismen  her 
ist  dem  Menschen  der  Glaube  vererbt,  dass  es  gleiche 
Dinge  giebt  (erst  die  durch  höchste  Wissenschaft  aus- 
gebildete Erfahrung  widerspricht  diesem  Satze).  Der  Ur- 
glaube  alles  Organischen  von  Anfang  an  ist  vielleicht 
sogar,  dass  die  ganze  übrige  Welt  Eins  und  unbewegt 
ist.  —  Am  fernsten  liegt  für  jene  Urstufe  des  Logischen 
der  Gedanke  an  Causalität:  ja  jetzt  noch  meinen  wir 
im  Grunde,  alle  Empfindungen  und  Handlungen  seien 
Acte  des  freien  Willens;  wenn  das  fühlende  Individuum 
sich  selbst  betrachtet,  so  hält  es  jede  Empfindung,  jede 

3* 


-     3Ö     — 

Veränderung  für  etwas  Isolirtes,  das  heisst  Unbeding- 
tes, Zusammenhangloses:  es  taucht  aus  uns  auf,  ohne 
Verbindung  mit  Früherem  oder  Späterem.  "Wir  haben 
Hunger,  aber  meinen  ursprünglich  nicht,  dass  der  Orga- 
nismus erhalten  werden  will,  sondern  jenes  Gefühl  scheint 
sich  ohne  Grund  und  Zweck  geltend  zu  machen,  es 
isolirt  sich  und  hält  sich  für  willkürlich.  Also:  der 
Glaube  an  die  Freiheit  des  Willens  ist  ein  ursprünghcher 
Irrthum  alles  Organischen,  so  alt,  als  die  Regungen  des 
Logischen  in  ihm  existiren;  der  Glaube  an  unbedingte 
Substanzen  und  an  gleiche  Dinge  ist  ebenfalls  ein  ur- 
sprünglicher, ebenso  alter  Irrthum  alles  Organischen. 
Insofern  aber  alle  Metaphysik  sich  vornehmlich  mit  Sub- 
stanz und  Freiheit  des  Willens  abgegeben  hat,  so  darf 
man  sie  als  die  Wissenschaft  bezeichnen,  welche  von  den 
Grundirrthümern  des  Menschen  handelt  —  doch  so,  als 
wären  es  Grundwahrheiten. 


19. 

Die  Zahl.  —  Die  Erfindung  der  Gesetze  der  Zahlen 
ist  auf  Grund  des  ursprünglich  schon  herrschenden  Irr- 
thums  gemacht,  dass  es  mehrere  gleiche  Dinge  gebe 
(aber  thatsächlich  giebt  es  nichts  Gleiches),  mindestens 
dass  es  Dinge  gebe  (aber  es  giebt  kein  „Ding").  Die 
Annahme  der  Vielheit  setzt  immer  schon  voraus,  dass  es 
Etwas  gebe,  das  vielfach  vorkommt:  aber  gerade  hier 
schon  waltet  der  Irrthum,  schon  da  fingiren  wir  Wesen, 
Einheiten,  die  es  nicht  giebt.  —Unsere Empfindungen  von 
Raum  und  Zeit  sind  falsch,  denn  sie  führen,  consequent 
geprüft,  auf  logische  Widersprüche.  Bei  allen  wissen- 
schaftlichen Feststellungen  rechnen  wir  unvermeidlich 
immer   mit    einigen    falschen    Grössen:    aber   weil    diese 


—     37     — 

Grössen  wenigstens  constant  sind,  wie  zum  Beispiel 
unsere  Zeit-  und  Raumempfindung,  so  bekommen  die 
Resultate  der  Wissenschaft  doch  eine  vollkommene 
Strenge  und  Sicherheit  in  ihrem  Zusammenhange  mit 
einander;  man  kann  auf  ihnen  fortbauen  —  bis  an  jenes 
letzte  Ende,  wo  die  irrthümliche  Grundannahme,  jene 
Constanten  Fehler,  in  Widerspruch  mit  den  Resultaten 
treten,  zum  Beispiel  in  der  Atomenlehre.  Da  fühlen  wir 
uns  immer  noch  zur  Annahme  eines  „Dinges"  oder  stoff- 
lichen „Substrats",  das  bewegt  wird,  gezwungen,  während 
die  ganze  wissenschaftliche  Procedur  eben  die  Aufgabe 
verfolgt  hat,  alles  Dingartige  (Stoffliche)  in  Bewegungen 
aufzulösen:  wir  scheiden  auch  hier  noch  mit  unserer 
Empfindung  Bewegendes  und  Bewegtes  und  kommen 
aus  diesem  Cirkel  nicht  heraus,  weil  der  Glaube  an  Dinge 
mit  unserem  Wesen  von  Alters  her  verknotet  ist.  — 
Wenn  Kant  sagt  „der  Verstand  schöpft  seine  Gesetze 
nicht  aus  der  Natur,  sondern  schreibt  sie  dieser  vor",  so 
ist  diess  in  Hinsicht  auf  den  Begriff  der  Natur  völlig 
wahr,  welchen  wir  genöthigt  sind  mit  ihr  zu  verbinden 
( Natur  =  Welt  als  Vorstellung,  das  heisst  als  Irrthum), 
welcher  aber  die  Aufsummirung  einer  Menge  Irrthümer 
des  Verstandes  ist.  —  Auf  eine  Welt,  welche  nicht 
unsere  Vorstellung  ist,  sind  die  Gesetze  der  Zahl  völlig 
unanwendbar:  diese  gelten  allein  in  der  Menschen- Welt. 


20. 

Einige  Sprossen  zurück.  —  Die  eine,  gewiss  sehr 
hohe  Stufe  der  Bildung  ist  erreicht,  wenn  der  IMensch 
über  abergläubische  und  religiöse  Begriffe  und  Ängste 
hinauskommt  und  zum  Beispiel  nicht  mehr  an  die  lieben 
Englein   oder  die  Erbsünde  glaubt,  auch  vom  Heil   der 


-     38     — 

Seele  zu  reden  verlernt  hat:  ist  er  auf  dieser  Stufe  der 
Befreiung,  so  hat  er  auch  noch  mit  höchster  Anspannung 
seiner  Besonnenheit  die  Metaphysik  zu  überwinden.  Dann 
aber  ist  eine  rückläufige  Bewegung  nöthig:  er  muss 
die  historische  Berechtigung,  ebenso  die  psychologische 
in  solchen  Vorstellungen  begreifen,  er  muss  erkennen, 
wie  die  grösste  Förderung  der  Menschheit  von  dorther 
gekommen  sei  und  wie  man  sich,  ohne  eine  solche  rück- 
läufige Bewegung,  der  besten  Ergebnisse  der  bisherigen 
Menschheit  berauben  würde.  —  In  Betreff  der  philo- 
sophischen Metaphysik  sehe  ich  jetzt  immer  Mehrere, 
welche  an  das  negative  Ziel  (dass  jede  positive  Meta- 
physik Irrthum  ist)  gelangt  sind,  aber  noch  Wenige, 
welche  nun  wieder  einige  Sprossen  rückwärts  steigen; 
man  soll  nämlich  über  die  letzte  Sprosse  der  Leiter  wohl 
hinausschauen,  aber  nicht  auf  ihr  stehen  wollen.  Die  Auf- 
geklärtesten bringen  es  nur  so  weit,  sich  von  der  Meta- 
physik zu  befreien  und  mit  Überlegenheit  auf  sie  zurück- 
zusehen: während  es  doch  auch  hier,  wie  im  Hippodrom, 
noth  thut,  um  das  Ende  der  Bahn  herumzubiegen. 


21. 

Muthmaasslicher  Sieg  der  Skepsis.  —  Man  lasse 
einmal  den  skeptischen  Ausgangspunkt  gelten:  gesetzt, 
es  gäbe  keine  andere,  metaphysische  Welt  und  alle  aus 
der  Metaphysik  genommenen  Erklärungen  der  uns  einzig 
bekannten  Welt  wären  unbrauchbar  für  uns,  mit  welchem 
Blick  würden  wir  dann  auf  Menschen  und  Dinge  sehen? 
Diess  kann  man  sich  ausdenken,  es  ist  nützlich,  selbst 
wenn  die  Frage,  ob  etwas  Metaphysisches  wissenschaft- 
lich durch  Kant  und  Schopenhauer  bewiesen  sei,  einmal 
abgelehnt  würde.     Denn  es  ist    nach  historischer  Wahr- 


—     39     — 

scheinlichkeit  sehr  gut  möglich,  dass  die  Menschen 
einmal  in  dieser  Beziehung  im  Ganzen  und  Allgemeinen 
skeptisch  werden;  da  lautet  also  die  Frage:  wie  wird 
sich  dann  die  menschliche  Gesellschaft,  unter  dem  Ein- 
fluss  einer  solchen  Gesinnung  gestalten?  Vielleicht  ist 
der  wissenschaftliche  Beweis  irgend  einer  metaphy- 
sischen Welt  schon  so  schwierig,  dass  die  Menschheit 
ein  Misstrauen  gegen  ihn  nicht  mehr  los  wird.  Und 
wenn  man  gegen  die  Metaphysik  Misstrauen  hat,  so  giebt 
es  im  Ganzen  und  Grossen  dieselben  Folgen,  wie  wenn 
sie  direct  widerlegt  wäre  und  man  nicht  mehr  an  sie 
glauben  dürfte.  Die  historische  Frage  in  Betreff  einer 
unmetaphysischen  Gesinnung  der  Menschheit  bleibt  in 
beiden  Fällen  dieselbe. 


22, 

Unglaube  an  das  „inonumentuut  aere  peren- 
ntus".  —  Ein  wesentlicher  Nachtheil,  welchen  das  Auf- 
hören metaphysischer  Ansichten  mit  sich  bringt,  liegt 
darin,  dass  das  Individuum  zu  streng  seine  kurze  Lebens- 
zeit in's  Auge  fasst  und  keine  stärkeren  Antriebe  empfängt, 
an  dauerhaften,  für  Jahrhunderte  angelegten  Institutionen 
zu  bauen;  es  will  die  Frucht  selbst  vom  Baume  pflücken, 
den  es  pflanzt,  und  desshalb  mag  es  jene  Bäume  nicht 
mehr  pflanzen,  welche  eine  jahrhundertlange  gleichmässige 
Pflege  erfordern  und  welche  lange  Reihenfolgen  von 
Geschlechtern  zu  überschatten  bestimmt  sind.  Denn 
metaphysische  Ansichten  geben  den  Glauben,  dass  in 
ihnen  das  letzte  endgültige  Fundament  gegeben  sei, 
auf  welchem  sich  nunmehr  alle  Zukunft  der  Menschheit 
niederzulassen  und  anzubauen  genöthigt  sei;  der  Einzelne 
fördert  sein  Heil,  wenn  er  zum  Beispiel  eine  Kirche,  ein 


—     40     — 

Kloster  stiftet,  es  wird  ihm,  so  meint  er,  im  ewigen 
Fortleben  der  Seele  angerechnet  und  vergolten,  es  ist 
Arbeit  am  ewigen  Heil  der  Seele.  —  Kann  die  Wissen- 
schaft auch  solchen  Glauben  an  ihre  Resultate  erwecken? 
In  der  That  braucht  sie  den  Zweifel  und  das  Misstrauen 
als  treuesten  Bundesgenossen;  trotzdem  kann  mit  der 
Zeit  die  Summe  der  unantastbaren,  das  heisst  alle  Stürme 
der  Skepsis,  alle  Zersetzungen  überdauernden  Wahrheiten 
so  gross  werden  (zum  Beispiel  in  der  Diätetik  der  Ge- 
sundheit), dass  man  sich  darauf  hin  entschliesst,  „ewige" 
Werke  zu  gründen.  Einstweilen  wirkt  der  Contrast 
unseres  aufgeregten  Ephemeren-Daseins  gegen  die  lang- 
athmige  Ruhe  metaphysischer  Zeitalter  noch  zu  stark, 
weil  die  beiden  Zeiten  noch  zu  nahe  gestellt  sind;  der 
einzelne  Mensch  selber  durchläuft  jetzt  zu  viele  innere 
und  äussere  Entwicklungen,  als  dass  er  auch  nur  auf 
seine  eigene  Lebenszeit  sich  dauerhaft  und  Ein  für  alle 
Mal  einzurichten  wagt.  Ein  ganz  moderner  Mensch,  der 
sich  zum  Beispiel  ein  Haus  bauen  will,  hat  dabei  ein 
Gefühl,  als  ob  er  bei  lebendigem  Leibe  sich  in  ein 
Mausoleum  vermauern  wolle. 


23. 

Zeitalter  der  Vergleichung.  —  Je  weniger  die 
Menschen  durch  das  Herkommen  gebunden  sind,  um  so 
grösser  wird  die  innere  Bewegung  der  Motive,  um  so 
grösser  wiederum,  dem  entsprechend,  die  äussere  Unruhe, 
das  Durcheinanderfluthen  der  Menschen,  die  Polyphonie 
der  Bestrebungen.  Für  wen  giebt  es  jetzt  noch  einen 
strengen  Zwang,  an  einen  Ort  sich  und  seine  Nach- 
kommen anzubinden?  Für  wen  giebt  es  überhaupt  noch 
etwas  streng  Bindendes?    Wie  alle  Stilarten   der  Künste 


—     4^      — 

neben  einander  nachgebildet  werden,  so  auch  alle  Stufen 
und  Arten  der  ]\Ioralität,  der  Sitten,  der  Culturen.  — 
Ein  solches  Zeitalter  bekommt  seine  Bedeutung  dadurch, 
dass  in  ihm  die  verschiedenen  Weltbetrachtungen  Sitten 
Culturen  verglichen  und  neben  einander  durchlebt  werden 
können;  was  früher,  bei  der  immer  localisirten  Herrschaft 
jeder  Cultur,  nicht  möglich  war,  entsprechend  der  Ge- 
bundenheit aller  künstlerischen  Stilarten  an  Ort  und  Zeit, 
Jetzt  wird  eine  Vermehrung  des  ästhetischen  Gefühls 
endgültig  unter  so  vielen  der  Vergleichung  sich  dar- 
bietenden Formen  entscheiden:  sie  wird  die  meisten  — 
nämlich  alle,  welche  durch  dasselbe  abgewiesen  werden 
—  absterben  lassen.  Ebenso  findet  jetzt  ein  Auswählen 
in  den  Formen  und  Gewohnheiten  der  höheren  Sittlich- 
keit statt,  deren  Ziel  kein  anderes  als  der  Untergang 
der  niedrigeren  Sittlichkeiten  sein  kann.  Es  ist  das  Zeit- 
alter der  Vergleichung!  Das  ist  sein  Stolz  —  aber 
billigerweise  auch  sein  Leiden.  Fürchten  wir  uns  vor 
diesem  Leiden  nicht  1  Vielmehr  wollen  wir  die  Aufgabe, 
welche  das  Zeitalter  uns  stellt,  so  gross  verstehen,  als 
wir  nur  vermögen:  so  wird  uns  die  Nachwelt  darob 
segnen  —  eine  Nachwelt,  die  ebenso  sich  über  die  ab- 
geschlossnen  originalen  Volks-Culturen  hinaus  weiss,  als 
über  die  Cultur  der  Vergleichung,  aber  auf  beide  Arten 
der  Cultur  als  auf  verehrungswürdige  Alterthümer  mit 
Dankbarkeit  zurückblickt. 


24. 

Möglichkeit  des  Fortschritts.  —  Wenn  ein  Ge- 
lehrter der  alten  Cultur  es  verschwört,  nicht  mehr  mit 
Menschen  umzugehen,  welche  an  den  Fortschritt  glauben, 
so  hat  er  Recht     Denn  die  alte  Cultur  hat  ihre  Grösse 


—     42     — 

und  Güte  hinter  sich  und  die  historische  Bildung  zwingt 
Einen,  zuzugestehen,  dass  sie  nie  wieder  frisch  werden 
kann;  es  ist  ein  unausstehlicher  Stumpfsinn  oder  ebenso 
unleidliche  Schwärmerei  nöthig,  um  diess  zu  leugnen. 
Aber  die  Menschen  können  mit  Bewusstsein  be- 
schliessen,  sich  zu  einer  neuen  Cultur  fortzuentwickeln, 
während  sie  sich  früher  unbewusst  und  zufällig  ent- 
wickelten: sie  können  jetzt  bessere  Bedingungen  für  die 
Entstehung  der  Menschen,  ihre  Ernährung  Erziehung 
Unterrichtung  schaffen,  die  Erde  als  Ganzes  ökonomisch 
verwalten,  die  Kräfte  der  Menschen  überhaupt  gegen 
einander  abwägen  und  einsetzen.  Diese  neue  bewusste 
Cultur  tödtet  die  alte,  welche  als  Ganzes  angeschaut  ein 
unbewusstes  Thier-  und  Pflanzenleben  geführt  hat;  sie 
tödtet  auch  das  Misstrauen  gegen  den  Fortschritt  —  er 
ist  möglich.  Ich  will  sagen:  es  ist  voreilig  und  fast 
unsinnig,  zu  glauben,  dass  der  Fortschritt  nothwendig 
erfolgen  müsse;  aber  wie  könnte  man  leugnen,  dass  er 
möglich  sei?  Dagegen  ist  ein  Fortschritt  im  Sinne  und 
auf  dem  Wege  der  alten  Cultur  nicht  einmal  denkbar. 
Wenn  romantische  Phantastik  immerhin  auch  das  Wort 
„Fortschritt"  von  ihren  Zielen  (z.  B.  abgeschlossenen 
originalen  Volks-Culturen)  gebraucht:  jedenfalls  entlehnt 
sie  das  Bild  davon  aus  der  Vergangenheit;  ihr  Denken 
und  Vorstellen  ist  auf  diesem  Gebiete  ohne  jede  Origi- 
nalität. 

25- 

Privat-  und  Welt-Moral.  —  Seitdem  der  Glaube 
aufgehört  hat,  dass  ein  Gott  die  Schicksale  der  Welt 
im  Grossen  leite  und  trotz  aller  anscheinenden  Krüm- 
mungen im  Pfade  der  Menschheit  sie  doch  herrlich  hinaus- 
führe, müssen  die  Menschen  selber  sich  ökumenische,  die 


—     43     — 

ganze  Erde  umspannende  Ziele  stellen.  Die  ältere  Moral, 
namentlich  die  Kant's,  verlangt  vom  Einzelnen  Hand- 
lungen, welche  man  von  allen  Menschen  wünscht:  das  war 
eine  schöne  naive  Sache ;  als  ob  ein  Jeder  ohne  Weiteres 
wüsste,  bei  welcher  Handlungsweise  das  Ganze  der 
Menschheit  wohlfahre,  also  welche  Handlungen  überhaupt 
wünschenswerth  seien;  es  ist  eine  Theorie  wie  die  vom 
Freihandel,  voraussetzend,  dass  die  allgemeine  Harmonie 
sich  nach  eingebornen  Gesetzen  des  Besserwerdens  von 
selbst  ergeben  müsse.  Vielleicht  lässt  es  ein  zukünftiger 
ÜberbHck  über  die  Bedürfnisse  der  Menschheit  durchaus 
nicht  wünschenswerth  erscheinen,  dass  alle  Menschen 
gleich  handeln,  vielmehr  dürften  im  Interesse  ökumenischer 
Ziele  für  ganze  Strecken  der  Menschheit  specielle,  viel- 
leicht unter  Umständen  sogar  böse  Aufgaben  zu  stellen 
sein.  —  Jedenfalls  muss,  wenn  die  Menschheit  sich  nicht 
durch  eine  solche  bewusste  Gesammtregierung  zu  Grunde 
richten  soll,  vorher  eine  alle  bisherigen  Grade  über- 
steigende Kenntniss  der  Bedingungen  derCultur, 
als  wissenschaftlicher  Maassstab  für  ökumenische  Ziele, 
gefunden  sein.  Hierin  liegt  die  ungeheure  Aufgabe  der 
grossen  Geister  des  nächsten  Jahrhunderts. 

26. 

Die  Reaction  als  Fortschritt.  —  Mitunter 
erscheinen  schroffe  gewaltsame  und  fortreissende ,  aber 
trotzdem  zurückgebliebene  Geister,  welche  eine  vergangene 
Phase  der  Menschheit  noch  einmal  heraufbeschwören:  sie 
dienen  zum  Beweis,  dass  die  neuen  Richtungen,  welchen 
sie  entgegenwirken,  noch  nicht  kräftig  genug  sind,  dass 
Etwas  an  ihnen  fehlt:  sonst  würden  sie  jenen  Beschwörern 
besseren  Widerpart  halten.  So  zeugt  zum  Beispiel  Luthers 


—     44      — 

Reformation  dafür,  dass  in  seinem  Jahrhundert  alle 
Regungen  der  Freiheit  des  Geistes  noch  unsicher,  zart, 
jugendlich  waren;  die  Wissenschaft  konnte  noch  nicht  ihr 
Haupt  erheben.  Ja  die  gesammte  Renaissance  erscheint 
wie  ein  erster  Frühling,  der  fast  wieder  weggeschneit 
wird.  Aber  auch  in  unserem  Jahrhundert  bewies  Schopen- 
hauer's  Metaphysik,  dass  auch  jetzt  der  wissenschaftliche 
Geist  noch  nicht  kräftig  genug  ist:  so  konnte  die  ganze 
mittelalterlich  christliche  Weltbetrachtung  und  Mensch- 
Empfindung  noch  einmal  in  Schopenhauer's  Lehre  trotz 
der  längst  errungenen  Vernichtung  aller  christlichen 
Dogmen  eine  Auferstehung  feiern.  Viel  Wissenschaft 
klingt  in  seine  Lehre  hinein,  aber  sie  beherrscht  dieselbe 
nicht,  sondern  das  alte  wohlbekannte  „metaphysische  Be- 
dürfniss".  Es  ist  gewiss  einer  der  grössten  und  ganz 
unschätzbaren  Vortheile,  welche  wir  aus  Schopenhauer 
gewinnen,  dass  er  unsre  Empfindung  zeitweilig  in  ältere, 
mächtige  Betrachtungsarten  der  Welt  und  Menschen  zu- 
rückzwingt, zu  welchen  sonst  uns  so  leicht  kein  Pfad 
führen  würde.  Der  Gewinn  für  die  Historie  und  die 
Gerechtigkeit  ist  sehr  gross:  ich  glaube,  dass  es  jetzt 
Niemandem  so  leicht  gelingen  möchte,  ohne  Schopen- 
hauer's Beihülfe  dem  Christenthum  und  seinen  asiatischen 
Verwandten  Gerechtigkeit  widerfahren  zu  lassen:  was 
namentlich  vom  Boden  des  noch  vorhandenen  Christen- 
thums  aus  unmöglich  ist.  Erst  nach  diesem  grossen  Er- 
folge der  Gerechtigkeit,  erst  nachdem  wir  die 
historische  Betrachtungsart,  welche  die  Zeit  der  Auf- 
klärung mit  sich  brachte,  in  einem  so  wesentlichen  Punkte 
corrigirt  haben,  dürfen  wir  die  Fahne  der  Aufklärung  — 
die  Fahne  mit  den  drei  Namen:  Petrarca,  Erasmus,  Vol- 
taire —  von  Neuem  weiter  tragen.  Wir  haben  aus  der 
Reaction  einen  Fortschritt  gemacht. 


45     — 


27. 


Ersatz  der  Religion.  —  Man  glaubt  einer  Philo- 
sophie etwas  Gutes  nachzusagen,  wenn  man  sie  als 
Ersatz  der  Religion  für  das  Volk  hinstellt  In  der  That 
bedarf  es  in  der  geistigen  Ökonomie  gelegentlich  über- 
leitender Gedankenkreise;  so  ist  der  Übergang  aus  Re-  v/ 
ligion  in  wissenschaftliche  Betrachtung  ein  gewaltsamer 
gefährlicher  Sprung,  Etwas,  das  zu  widerrathen  ist.  In- 
sofern hat  man  mit  jener  Anempfehlung  Recht.  Aber 
endlich  sollte  man  doch  auch  lernen,  dass  die  Bedürfnisse, 
welche  die  ReMgion  befriedigt  hat  und  nun  die  Philo- 
sophie befriedigen  soll,  nicht  unwandelbar  sind;  diese 
selbst  kann  man  schwächen  und  ausrotten.  Man 
denke  zum  Beispiel  an  die  christliche  Seelennoth,  das 
Seufzen  über  die  innere  Verderbtheit,  die  Sorge  um  das 
Heil  —  alles  Vorstellungen,  welche  nur  aus  Irrthümern 
der  Vernunft  herrühren  und  gar  keine  Befriedigung, 
sondern  Vernichtung  verdienen.  Eine  Philosophie  kann 
entweder  so  nützen,  dass  sie  jene  Bedürfnisse  auch  be- 
friedigt oder  dass  sie  dieselben  beseitigt;  denn  es 
sind  angelernte,  zeitlich  begrenzte  Bedürfnisse,  welche 
auf  Voraussetzungen  beruhen,  die  denen  der  "Wissenschaft 
widersprechen.  Hier  ist,  um  einen  Übergang  zu  machen, 
die  Kunst  viel  eher  zu  benutzen,  um  das  mit  Empfin- 
dungen überladne  Gemüth  zu  erleichtern;  denn  durch 
sie  werden  jene  Vorstellungen  viel  weniger  unterhalten 
als  durch  eine  metaphysische  Philosophie.  Von  der  Kunst 
aus  kann  man  dann  leichter  in  eine  wirkHch  befreiende 
philosophische  Wissenschaft  übergehen. 


—     46      - 

28. 

Verrufene  Worte.  —  Weg  mit  den  bis  zum  Über- 
druss  verbrauchten  Wörtern  Optimismus  und  Pessimismus! 
Denn  der  Anlass  sie  zu  gebrauchen,  fehlt  von  Tag  zu 
Tag  mehr;  nur  die  Schwätzer  haben  sie  jetzt  noch  so 
unumgänglich  nöthig.  Denn  wesshalb  in  aller  Welt  sollte 
Jemand  Optimist  sein  wollen,  wenn  er  nicht  einen  Gott 
zu  vertheidigen  hat,  welcher  die  beste  der  Welten  ge- 
schaffen haben  muss,  falls  er  selber  das  Gute  und  Voll- 
kommene ist.  —  welcher  Denkende  hat  aber  die  Hypo- 
these eines  Gottes  noch  nöthig?  —  Es  fehlt  aber  auch  jeder 
Anlass  zu  einem  pessimistischen  Glaubensbekenntniss, 
wenn  man  nicht  ein  Interesse  daran  hat,  den  Advocaten 
Gottes,  den  Theologen  oder  den  theologisirenden  Philo- 
sophen, ärgerlich  zu  werden  und  die  Gegenbehauptung 
kräftig  aufzustellen:  dass  das  Böse  regiere,  dass  die 
Unlust  grösser  sei  als  die  Lust,  dass  die  Welt  ein  Mach- 
werk, die  Erscheinung  eines  bösen  Willens  zum  Leben  sei. 
Wer  aber  kümmert  sich  jetzt  noch  um  die  Theologen  — 
ausser  den  Theologen?  —  Abgesehen  von  aller  Theologie 
und  ihrer  Bekämpfung  liegt  es  auf  der  Hand,  dass  die 
Welt  nicht  gut  und  nicht  böse,  geschweige  denn  die 
beste  oder  die  schlechteste  ist,  und  dass  diese  Begriffe 
„gut"  und  „böse"  nur  in  Bezug  auf  Menschen  Sinn  haben, 
ja  vielleicht  selbst  hier,  in. der  Weise,  wie  sie  gewöhnlich 
gebraucht  werden,  nicht  berechtigt  sind:  der  schimpfenden 
und  verherrlichenden  Weltbetrachtung  müssen  wir  uns  in 
jedem  Falle  entschlagen. 

29. 

Vom  Dufte  der  Blüthen  berauscht  —  Das 
Schiff    der   Menschheit ,    meint    man ,    hat    einen    immer 


—     47      — 

stärkeren  Tiefgang,  je  mehr  es  belastet  wird;  man  glaubt, 
je  tiefer  der  Mensch  denkt,  je  zarter  er  fühlt,  je  höher 
er  sich  schätzt,  je  weiter  seine  Entfernung  von  den 
anderen  Thieren  wird  —  je  mehr  er  als  das  Genie  unter 
den  Thieren  erscheint  —  um  so  näher  werde  er  dem 
wirklichen  Wesen  der  Welt  und  deren  Erkenntniss 
kommen:  diess  thut  er  auch  wirklich  durch  die  Wissen- 
schaft, aber  er  meint  diess  noch  mehr  durch  seine 
Religionen  und  Künste  zu  thun.  Diese  sind  zwar  eine 
Blüthe  der  Welt,  aber  durchaus  nicht  der  Wurzel  der 
Welt  näher,  als  der  Stengel  ist:  man  kann  aus  ihnen 
das  Wesen  der  Dinge  gerade  gar  nicht  besser  verstehen, 
obschon  diess  fast  Jedermann  glaubt.  Der  Irrthum  hat 
den  Menschen  so  tief,  zart,  erfinderisch  gemacht,  eine 
solche  Blüthe,  wie  Religionen  und  Künste,  herauszutreiben. 
Das  reine  Erkennen  wäre  dazu  ausser  Stande  gewesen. 
Wer  uns  das  Wesen  der  Welt  enthüllte,  würde  uns 
Allen  die  unangenehmste  Enttäuschung  machen.  Nicht 
die  Welt  als  Ding  an  sich,  sondern  die  Welt  als  Vor- 
stellung (als  Irrthum)  ist  so  bedeutungsreich,  tief,  wunder- 
voll. Glück  und  Unglück  im  Schoosse  tragend.  Diess 
Resultat  führt  zu  einer  Philosophie  der  logischen 
Weltverneinung:  welche  übrigens  sich  mit  einer 
praktischen  Weltbejahung  ebenso  gut  wie  mit  deren 
Gegentheile  vereinigen   lässt. 


30. 

Schlechte  Gewohnheiten  im  Schliessen.  — 
Die  gewöhnlichsten  Irrschlüsse  der  Menschen  sind  diese: 
eine  Sache  existirt,  also  hat  sie  ein  Recht.  Hier  wird 
aus  der  Lebensfähigkeit  auf  die  Zweckmässigkeit,  aus  der 
Zweckmässigkeit    auf   die    Rechtmässigkeit    geschlossen. 


-      48     — 

Sodann:  eine  Meinung  beglückt,  also  ist  sie  die  wahre, 
ihre  Wirkung  ist  gut,  also  ist  sie  selber  gut  und  wahr. 
Hier  legt  man  der  Wirkung  das  Prädicat  beglückend, 
gut  im  Sinne  des  Nützlichen,  bei  und  versieht  nun  die 
Ursache  mit  demselben  Prädicat  gut,  aber  hier  im  Sinne 
des  Logisch-Gültigen.  Die  Umkehrung  der  Sätze  lautet: 
eine  Sache  kann  sich  nicht  durchsetzen,  erhalten,  also 
ist  sie  unrecht;  eine  Meinung  quält,  regt  auf,  also  ist 
sie  falsch.  Der  Freigeist,  der  das  Fehlerhafte  dieser  Art 
zu  schliessen  nur  allzu  häufig  kennen  lernt  und  an  ihren 
Folgen  zu  leiden  hat,  unterliegt  oft  der  Verführung,  die 
entgegengesetzten  Schlüsse  zu  machen,  welche  im  All- 
gemeinen natürlich  ebenso  sehr  Irrschlüsse  sind:  eine 
Sache  kann  sich  nicht  durchsetzen,  also  ist  sie  gut;  eine 
Meinung  macht  Noth,  beunruhig^,  also  ist  sie  wahr. 


31. 

Das  Unlogische  nothwendig. —  Zu  den  Dingen, 
welche  einen  Denker  in  Verzweiflung  bringen  können, 
gehört  die  Erkenntniss,  dass  das  Unlogische  für  den 
Menschen  nöthig  ist,  und  dass  aus  dem  Unlogischen 
vieles  Gute  entsteht.  Es  steckt  so  fest  in  den  Leiden- 
schaften, in  der  Sprache,  in  der  Kunst,  in  der  Religion 
und  überhaupt  in  Allem,  was  dem  Leben  Werth  verleiht, 
dass  man  es  nicht  herausziehen  kann,  ohne  damit  diese 
schönen  Dinge  heillos  zu  beschädigen.  Es  sind  nur  die 
allzu  naiven  Menschen,  welche  glauben  können,  dass  die 
Natur  des  Menschen  in  eine  rein  logische  verwandelt 
werden  könne;  wenn  es  aber  Grade  der  Annäherung  an 
dieses  Ziel  geben  sollte,  was  würde  da  nicht  Alles  auf 
diesem  Wege  verloren  gehen  müssen!  Auch  der  ver- 
nünftigste Mensch   bedarf  von    Zeit   zu   Zeit  •wieder   der 


—     49     — 

Natur,  das  heisst  seiner  unlogischen  Grundstellung 
zu  allen  Dingen. 

32. 
Ungerechtsein  nothwendig.  —  Alle  Urtheile 
über  den  Werth  des  Lebens  sind  unlogisch  entwickelt 
und  desshalb  ungerecht.  Die  Unreinheit  des  Urtheils 
liegt  erstens  in  der  Art,  wie  das  Material  vorliegt,  näm- 
lich sehr  unvollständig,  zweitens  in  der  Art,  wie  daraus 
die  Summe  gebildet  wird,  und  drittens  darin,  dass  jedes 
einzelne  Stück  des  Materials  wieder  das  Resultat  unreinen 
Erkennens  ist  und  zwar  diess  mit  voller  Nothwendigkeit. 
Keine  Erfahrung  zum  Beispiel  über  einen  Menschen, 
stünde  er  uns  auch  noch  so  nah,  kann  vollständig  sein, 
so  dass  wir  ein  logisches  Rec!it  zu  einer  Gesammt- 
abschätzung desselben  hätten;  alle  Schätzungen  sind 
voreilig  und  müssen  es  sein.  Endlich  ist  das  Maass, 
womit  wir  messen,  unser  Wesen,  keine  unabänderliche 
Grösse,  wir  haben  Stimmungen  und  Schwankungen,  und 
doch  müssten  wir  uns  selbst  als  ein  festes  Maass  kennen, 
um  das  Verhältniss  irgend  einer  Sache  zu  uns  gerecht 
abzuschätzen.  Vielleicht  wird  aus  alledem  folgen,  dass 
man  gar  nicht  urtheilen  sollte;  wenn  man  aber  nur 
leben  könnte,  ohne  abzuschätzen,  ohne  Abneigung  und 
Zuneigung  zu  haben!  —  denn  alles  Abgeneigtsein  hängt 
mit  einer  Schätzung  zusammen,  ebenso  alles  Geneigtsein. 
Ein  Trieb  zu  Etwas  oder  von  Etwas  weg,  ohne  ein 
Gefühl  davon,  dass  man  das  Förderliche  wolle,  dem 
Schädlichen  ausweiche,  ein  Trieb  ohne  eine  Art  von 
erkennender  Abschätzung  über  den  Werth  des  Zieles 
existirt  beim  Menschen  nicht.  Wir  sind  von  vornherein 
unlogische  und  daher  ungerechte  Wesen  und  können 
diess  erkennen:  diess  ist  eine  der  grössten  und  unauf- 
lösbarsten Disharmonien  des  Daseins. 

Nietzsche,  Werke  Band  Tl.  * 


—     50     — 

33. 

Der  Irrthum  über  das  Leben  zum  Leben 
nothwendig.  —  Jeder  Glaube  an  Werth  und  Würdig- 
keit des  Lebens  beruht  auf  unreinem  Denken;  er  ist 
allein  dadurch  möglich,  dass  das  Mitgefühl  für  das 
allgemeine  Leben  und  Leiden  der  Menschheit  sehr 
schwach  im  Individuum  entwickelt  ist.  Auch  die  selte- 
neren Menschen,  welche  überhaupt  über  sich  hinaus 
denken,  fassen  nicht  dieses  allgemeine  Leben,  sondern 
abgegrenzte  Theile  desselben  in's  Auge.  Versteht  man 
es ,  sein  Augenmerk  vornehmlich  auf  Ausnahmen ,  ich 
meine  auf  die  hohen  Begabungen  und  die  reichen  Seelen 
zu  richten,  nimmt  man  deren  Entstehung  zum  Ziel  der 
ganzen  Weltentwicklung  und  erfreut  sich  an  deren 
Wirken,  so  mag  man  an  den  Werth  des  Lebens  glauben, 
weil  man  nämlich  die  anderen  Menschen  dabei  über- 
sieht: also  unrein  denkt.  Und  ebenso,  wenn  man  zwar 
alle  Menschen  in's  Auge  fasst,  aber  in  ihnen  nur  eine 
Gattung  von  Trieben,  die  weniger  egoistischen,  gelten 
lässt  und  sie  in  Betreff  der  anderen  Triebe  entschuldigt: 
dann  kann  man  wiederum  von  der  Menschheit  im  Ganzen 
etwas  hoffen  und  insofern  an  den  Werth  des  Lebens 
glauben:  also  auch  in  diesem  Falle  durch  Unreinheit  des 
Denkens.  Mag  man  sich  aber  so  oder  so  verhalten, 
man  ist  mit  diesem  Verhalten  eine  Ausnahme  unter 
den  Menschen.  Nun  ertragen  aber  gerade  die  aller- 
meisten Menschen  das  Leben,  ohne  erheblich  zu  murren, 
und  glauben  somit  an  den  Werth  des  Daseins,  aber 
gerade  dadurch,  dass  sich  Jeder  allein  will  und  behauptet, 
und  nicht  aus  sich  heraustritt  wie  jene  Ausnahmen:  alles 
Ausserpersönliche  ist  ihnen  gar  nicht  oder  höchstens  als 
ein  schwacher  Schatten  bemerkbar.     Also  darauf  allein 


—     51     — 

beruht  der  Werth  des  Lebens  für  den  gewöhnlichen, 
alltäglichen  Menschen,  dass  er  sich  wichtiger  nimmt  als 
die  Welt  Der  grosse  Mangel  an  Phantasie,  an  dem  er 
leidet,  macht,  dass  er  sich  nicht  in  andere  Wesen  hinein- 
fOhlen  kann  und  daher  so  wenig  als  möglich  an  ihrem 
Loos  und  Leiden  theilnimmt  Wer  dagegen  wirklich 
daran  theilnehmen  könnte,  müsste  am  Werthe  des  Le- 
bens verzweifeln;  gelänge  es  ihm,  das  Gesammtbewusst- 
sein  der  Menschheit  in  sich  zu  fassen  und  zu  empfinden, 
er  würde  mit  einem  Fluche  gegen  das  Dasein  zusammen- 
brechen, —  denn  die  Menschheit  hat  im  Ganzen  keine 
Ziele,  folglich  kann  der  Mensch,  in  Betrachtung  des 
ganzen  Verlaufs,  nicht  darin  seinen  Trost  und  Halt 
finden,  sondern  seine  Verzweiflung.  Sieht  er  bei  Allem, 
was  er  thut,  auf  die  letzte  Ziellosigkeit  der  Menschen, 
so  bekommt  sein  eigenes  Wirken  in  seinen  Augen  den 
Charakter  der  Vergeudung.  Sich  aber  als  Menschheit 
(und  nicht  nur  als  Individuum)  ebenso  vergeudet  zu 
fühlen,  wie  wir  die  einzelne  Blüthe  von  der  Natur  ver- 
geudet sehen,  ist  ein  Gefühl  über  alle  Gefühle.  —  Wer 
ist  aber  desselben  fähig?  Gewiss  nur  ein  Dichter:  und 
Dichter  wissen  sich  immer  zu  trösten. 


34. 

Zur  Beruhigung.  —  Aber  wird  so  unsere  Philo- 
sophie nicht  zur  Tragödie?  Wird  die  Wahrheit  nicht  dem 
Leben,  dem  Besseren  feindlich?  Eine  Frage  scheint  uns 
die  Zunge  zu  beschweren  und  doch  nicht  laut  werden 
zu  wollen:  ob  man  bewusst  in  der  Unwahrheit  bleiben 
könne?  oder,  wenn  man  dies  müsse,  ob  da  nicht  der 
Tod  vorzuziehen  sei?  Denn  ein  Sollen  giebt  es  nicht 
mehr;  die  Moral,  insofern  sie  ein  Sollen  war,  ist  ja  durch 

4* 


—     5^     — 

unsere  Betrachtungsart  ebenso  vernichtet  wie  die  Religion, 
Die  Erkenntniss  kann  als  Motive  nur  Lust  und  Unlust, 
Nutzen  und  Schaden  bestehen  lassen:  wie  aber  werden 
diese  Motive  sich  mit  dem  Sinne  für  Wahrheit  ausein- 
andersetzen? Auch  sie  berühren  sich  ja  mit  Irrthümem 
(insofern  wie  gesagt  Neigung  und  Abneigung  und  ihre 
sehr  ungerechten  Messungen  unsere  Lust  und  Unlust 
wesentlich  bestimmen).  Das  ganze  menschliche  Leben  ist 
tief  in  die  Unwahrheit  eingesenkt:  der  Einzelne  kann 
es  nicht  aus  diesem  Brunnen  herausziehn,  ohne  dabei 
seiner  Vergangenheit  aus  tiefstem  Grunde  gram  zu 
werden,  ohne  seine  gegenwärtigen  Motive,  wie  die  der 
Ehre,  ungereimt  zu  finden  und  den  Leidenschaften, 
welche  zur  Zukunft  und  zu  einem  Glück  in  derselben 
hindrängen,  Hohn  und  Verachtung  entgegenzustellen. 
Ist  es  wahr,  bliebe  einzig  noch  eine  Denkweise  übrig, 
welche  als  persönliches  Ergebniss  die  Verzweiflung,  als 
theoretisches  eine  Philosophie  der  Zerstörung  nach  sich 
zöge?  —  Ich  glaube,  die  Entscheidung  über  die  Nach- 
wirkung der  Erkenntniss  wird  durch  das  Temperament 
eines  Menschen  gegeben:  ich  könnte  mir  ebenso  gut  wie 
jene  geschilderte  und  bei  einzelnen  Naturen  mögliche 
Nachwirkung  eine  andere  denken,  vermöge  deren  ein  viel 
einfacheres,  von  Affecten  reineres  Leben  entstünde,  als 
das  jetzige  ist:  so  dass  zuerst  zwar  die  alten  Motive 
des  heftigeren  Begehrens' noch  Kraft  hätten,  aus  alter 
vererbter  Gewöhnung  her,  allmählich  aber  unter  dem 
Einflüsse  der  reinigenden  Erkenntniss  schwächer  würden. 
Man  lebte  zuletzt  unter  den  Menschen  und  mit  sich 
wie  in  der  Natur,  ohne  Lob,  Vorwürfe,  Ereiferung,  an 
Vielem  sich  wie  an  einem  Schauspiel  weidend,  vor 
dem  man  sich  bisher  nur  zu  fürchten  hatte.  Man  wäre  die 
Emphasis  los  und  würde  die  Anstachelung  des  Gedankens, 


—     53     — 

dass  man  nicht  nur  Natur  oder  mehr  als  Natur  sei, 
nicht  weiter  empfinden.  Freilich  gehörte  hierzu,  wie 
gesagt,  ein  gutes  Temperament,  eine  gefestete,  milde  und 
im  Grunde  frohsinnige  Seele,  eine  Stimmung,  welche  nicht 
vor  Tücken  und  plötzlichen  Ausbrüchen  auf  der  Hut  zu 
sein  brauchte  und  in  ihren  Äusserungen  Nichts  von  dem 
knurrenden  Tone  und  der  Verbissenheit  an  sich  trüge  — 
jenen  bekannten  lästigen  Eigenschaften  alter  Hunde  und 
Menschen,  die  lange  an  der  Kette  gelegen  haben.  Viel- 
mehr muss  ein  Mensch,  von  dem  in  solchem  Maasse 
die  gewöhnlichen  Fesseln  des  Lebens  abgefallen  sind, 
dass  er  nur  desshalb  weiter  lebt,  um  immer  besser  zu 
erkennen,  auf  Vieles ,  ja  fast  auf  Alles ,  was  bei  den  an- 
deren Menschen  Werth  hat,  ohne  Neid  und  Verdruss 
verzichten  können,  ihm  muss  als  der  wünschenswertheste 
Zustand  jenes  freie,  furchtlose  Schweben  über  Menschen, 
Sitten,  Gesetzen  und  den  herkömmlichen  Schätzungen 
der  Dinge  genügen.  Die  Freude  an  diesem  Zustande 
theilt  er  gerne  mit  und  er  hat  vielleicht  nichts  Anderes 
mitzutheilen  —  worin  freilich  eine  Entbehrung,  eine  Ent- 
sagung mehr  liegt  Will  man  aber  trotzdem  mehr  von 
ihm,  so  wird  er  mit  wohlwollendem  Kopfschütteln  auf 
seinen  Bruder  hinweisen,  den  freien  Menschen  der  That, 
und  vielleicht  ein  wenig  Spott  nicht  verhehlen:  denn 
mit  dessen  „Freiheit"  hat  es  eine  eigene  Bewandniss. 


Zweites  Hauptstück: 

Zur  Geschichte  der  moraHschen 
Empfindungen. 


35. 
Vortheile  der  psychologischen  Beobachtung. 
—  Dass  das  Nachdenken  über  Menschliches,  Allzu- 
menschliches —  oder  wie  der  gelehrtere  Ausdruck  lautet: 
die  psychologische  Beobachtung  —  zu  den  Mitteln  gehöre, 
vermöge  deren  man  sich  die  Last  des  Lebens  erleichtern 
könne,  dass  die  Übung  in  dieser  Kunst  Geistesgegenwart 
in  schwierigen  Lagen  und  Unterhaltung  inmitten  einer 
langweiligen  Umgebung  verleihe,  ja  dass  man  den  dornen- 
vollsten und  unerfreulichsten  Strichen  des  eigenen  Lebens 
Sentenzen  abpflücken  und  sich  dabei  ein  wenig  wohler 
fühlen  könne:  das  glaubte  man,  wusste  man  —  in  früheren 
Jahrhunderten.  Warum  vergass  es  dieses  Jahrhundert, 
wo  wenigstens  in  Deutschland,  ja  in  Europa  die  Armuth 
an  psychologischer  Beobachtung  durch  viele  Zeichen  sich 
zu  erkennen  giebt?  Nicht  gerade  in  Roman  Novelle 
und  philosophischer  Betrachtung  —  diese  sind  das  "Werk 
von  Ausnahmemenschen ;  schon  mehr  in  der  Beurtheilung 
öflfentlicher  Ereignisse  und  Persönlichkeiten:  vor  Allem 
aber  fehlt  die  Kunst  der  psychologischen  Zergliederung 
und  Zusammenrechnung  in  der  Gesellschaft  aller  Stände, 
in  der  man  wohl  viel  über  LIenschen,  aber  gar  nicht 
über  den  Menschen  spricht.  Warum  doch  lässt  man 
sich  den  reichsten  und  harmlosesten  Stoff  der  Unterhal- 
tung   entgehen?    Warum    liest    man    nicht    einmal    die 


-     58     - 

grossen  Meister  der  psychologischen  Sentenz  mehr?  — 
denn,  ohne  jede  Übertreibung  gesprochen:  der  Gebildete 
in  Europa,  der  La  Rochefoucauld  und  seine  Geistes-  und 
Kunstverwandten  gelesen  hat,  ist  selten  zu  finden;  und 
noch  viel  seltener  Der,  welcher  sie  kennt  und  sie  nicht 
schmäht.  Wahrscheinlich  wird  aber  auch  dieser  unge- 
wöhnHche  Leser  viel  weniger  Freude  an  ihnen  haben, 
als  die  Form  jener  Künstler  ihm  geben  sollte;  denn 
selbst  der  feinste  Kopf  ist  nicht  vermögend,  die  Kunst 
der  Sentenzen-Schleiferei  gebührend  zu  würdigen,  wenn 
er  nicht  selber  zu  ihr  erzogen  ist,  in  ihr  ge wetteifert 
hat  Man  nimmt,  ohne  solche  praktische  Belehrung,  dieses 
Schaffen  und  Formen  für  leichter  als  es  ist,  man  fühlt 
das  Gelungene  und  Reizvolle  nicht  scharf  genug  heraus. 
Desshalb  haben  die  jetzigen  Leser  von  Sentenzen  ein 
verhältnissmässig  unbedeutendes  Vergnügen  an  ihnen, 
ja  kaum  einen  Mund  voll  Annehmlichkeit,  so  dass  es  ihnen 
ebenso  geht  wie  den  gewöhnlichen  Betrachtern  von 
Kameen:  als  welche  loben,  weil  sie  nicht  lieben  können 
und  schnell  bereit  sind  zu  bewundern,  schneller  aber 
noch,  fortzulaufen. 

36. 

Einwand.  —  Oder  sollte  es  gegen  jenen  Satz,  dass 
die  psychologische  Beobachtung  zu  den  Reiz-  Heil-  und 
Erleichterungs-Mitteln  des*  Daseins  gehöre,  eine  Gegen- 
rechnung geben?  Sollte  man  sich  genug  von  den  unan- 
genehmen Folgen  dieser  Kunst  überzeugt  haben,  um 
jetzt  mit  Absichtlichkeit  den  Blick  der  sich  Bildenden 
von  ihr  abzulenken?  In  der  That,  ein  gewisser  blinder 
Glaube  an  die  Güte  der  menschlichen  Natur,  ein  einge- 
pflanzter Widerwille  vor  der  Zerlegung  menschlicher 
Handlungen,   eine  Art   Schamhaftigkeit  in  Hinsicht   auf 


—     59     — 

die  Nacktheit  der  Seele  mögen  wirklich  für  das  gesammte 
Glück  eines  Menschen  wünschenswerthere  Dinge  sein 
als  jene  in  einzelnen  Fällen  hülfreiche  Eigenschaft  der 
psychologischen  Scharfsichtigkeit;  und  vielleicht  hat  der 
Glaube  an  das  Gute,  an  tugendhafte  Menschen  und 
Handlungen,  an  eine  Fülle  des  unpersönlichen  Wohl- 
wollens in  der  Welt  die  Menschen  besser  gemacht,  inso- 
fern er  dieselben  weniger  misstrauisch  machte.  Wenn  man 
die  Helden  Plutarch's  mit  Begeisterung  nachahmt  und 
einen  Abscheu  davor  empfindet,  den  Motiven  ihres  Han- 
delns anzweifelnd  nachzuspüren,  so  hat  zwar  nicht 
die  Wahrheit,  aber  die  Wohlfahrt  der  menschlichen  Ge- 
sellschaft ihren  Nutzen  dabei:  der  psychologische  Irrthum 
und  überhaupt  die  Dumpfheit  auf  diesem  Gebiete  hilft 
der  Menschlichkeit  vorwärts,  während  die  Erkenntniss 
der  Wahrheit  vielleicht  durch  die  anregende  Kraft  einer 
Hypothese  mehr  gewinnt,  wie  sie  La  Rochefoucauld  der 
ersten  Ausgabe  seiner  „Sentences  et  maximes  morales" 
vorangestellt  hat:  „Ce  que  le  monde  nomme  vertu  n'est 
d'ordtnatre  qu'unfa7it6me  formd  par  nos  passtons,  ä  qui 
on  donne  un  nom  honnete  pour  faire  impunSmefit  ce 
qu'on  veut."  La  Rochefoucauld  und  jene  anderen  fran- 
zösischen Meister  der  Seelenprüfung  (denen  sich  neuer- 
dings auch  ein  Deutscher,  der  Verfasser  der  „Psycholo- 
gischen Beobachtungen"  zugesellt  hat)  gleichen  scharf 
zielenden  Schützen,  welche  immer  und  immer  wieder 
in's  Schwarze  treffen  —  aber  in's  Schwarze  der  mensch- 
lichen Natur.  Ihr  Geschick  erregt  Staunen,  aber  endlich 
venvünscht  vielleicht  ein  Zuschauer,  der  nicht  vom  Geiste 
der  Wissenschaft  sondern  der  Menschenfreundlichkeit 
geleitet  wird,  eine  Kunst,  welche  den  Sinn  der  Ver- 
kleinerung und  Verdächtigung  in  die  Seelen  der  Men- 
schen zu  pflanzen  scheint. 


—     6o     — 


37- 


Trotzdem.  —  Wie  es  sich  nun  mit  Rechnung  und 
Gegenrechnung  verhalte:  in  dem  gegenwärtigen  Zustande 
einer  bestimmten  einzelnen  Wissenschaft  ist  die  Aufer- 
weckung  der  moralischen  Beobachtung  nöthig  geworden, 
und  der  grausame  Anblick  des  psychologischen  Secir- 
tisches  und  seiner  Messer  und  Zangen  kann  der  Menschheit 
nicht  erspart  bleiben.  Denn  hier  gebietet  jene  WissenschaÄ, 
welche  nach  Ursprung  und  Geschichte  der  sogenannten 
moralischen  Empfindungen  fragt  und  welche  im  Fort- 
schreiten die  verwickelten  sociologischen  Probleme  auf- 
zustellen und  zu  lösen  hat  —  die  ältere  Philosophie  kennt 
die  letzteren  gar  nicht  und  ist  der  Untersuchung  von 
Ursprung  und  Geschichte  der  moralischen  Empfindungen 
unter  dürftigen  Ausflüchten  immer  aus  dem  Wege 
gegangen.  Mit  welchen  Folgen:  das  lässt  sich  jetzt 
sehr  deutlich  überschauen,  nachdem  an  vielen  Beispielen 
nachgewiesen  ist,  wie  die  Irrthümer  der  grössten  Philo- 
sophen gewöhnlich  ihren  Ausgangspunkt  in  einer  falschen 
Erklärung  bestimmter  menschlicher  Handlungen  und 
Empfindungen  haben,  wie  auf  Grund  einer  irrthümlichen 
Analysis,  zum  Beispiel  der  sogenannten  unegoistischen 
Handlungen,  eine  falsche  Ethik  sich  aufbaut,  dieser  zu 
Gefallen  dann  wiederum  Religion  und  mythologisches 
Unwesen  zu  Hülfe  genommen  werden,  und  endlich  die 
Schatten  dieser  trüben  Geister  auch  in  die  Physik  und 
die  gesammte  Weltbetrachtung  hineinfallen.  Steht  es 
aber  fest,  dass  die  Oberflächlichkeit  der  psychologischen 
Beobachtung  dem  menschlichen  Urtheilen  und  Schliessen 
die  gefährlichsten  Fallstricke  gelegt  hat  und  fort- 
während von  Neuem  legt,  so  bedarf  es  jetzt  jener 
Ausdauer   der  Arbeit,   welche   nicht   müde   wird,   Steine 


—      6i      — 

auf  Steine,  Sternchen  auf  Steinchen  zu  häufen,  so 
bedarf  es  der  enthaltsamen  Tapferkeit,  um  sich  einer 
solchen  bescheidenen  Arbeit  nicht  zu  schämen  und 
jeder  Missachtung  derselben  Trotz  zu  bieten.  Es  ist 
wahr:  zahllose  einzelne  Bemerkungen  über  Menschliches 
und  Allzumenschliches  sind  in  Kreisen  der  Gesellschaft 
zuerst  entdeckt  und  ausgesprochen  worden,  welche  ge- 
wohnt waren,  nicht  der  wissenschaftlichen  Erkenntniss, 
sondern  einer  geistreichen  Gefallsucht  jede  Art  von  Opfer 
darzubringen;  und  fast  unlösbar  hat  sich  der  Duft  jener 
alten  Heimath  der  moralistischen  Sentenz  —  ein  sehr 
verführerischer  Duft  —  der  ganzen  Gattung  angehängt: 
so  dass  seinetwegen  der  wissenschaftliche  Mensch  un- 
willkürlich einiges  Misstrauen  gegen  diese  Gattung  und 
ihre  Ernsthaftigkeit  merken  lässt  Aber  es  genügt,  auf 
die  Folgen  zu  verweisen:  denn  schon  jetzt  beginnt  sich 
zu  zeigen,  welche  Ergebnisse  ernsthaftester  Art  auf  dem 
Boden  der  psychologischen  Beobachtung  aufwachsen. 
Welches  ist  doch  der  Hauptsatz,  zu  dem  einer  der  kühn- 
sten und  kältesten  Denker,  der  Verfasser  des  Buches 
„Über  den  Ursprung  der  moralischen  Empfindungen" 
vermöge  seiner  ein-  und  durchschneidenden  Analysen 
des  menschlichen  Handelns  gelangt?  „Der  moralische 
Mensch,  sagt  er,  steht  der  intelligiblen  (metaphysischen) 
"Welt  nicht  näher  als  der  physische  Mensch."  Dieser 
Satz,  hart  und  schneidig  geworden  unter  dem  Hammer- 
schlag der  historischen  Erkenntniss,  kann  vielleicht  ein- 
mal, in  irgendwelcher  Zukunft,  als  die  Axt  dienen,  welche 
dem  „metaphysischen  Bedürfniss"  der  Menschen  an  die 
Wurzel  gelegt  wird,  —  ob  mehr  zum  Segen  als  zum 
Fluche  der  allgemeinen  Wohlfahrt,  wer  wüsste  das  zu 
sagen?  —  aber  jedenfalls  als  ein  Satz  der  erheblichsten 
Folgen,  fruchtbar  und  furchtbar  zugleich,  und  mit  jenem 


—       62       — 

Doppelgesichte  in  die  Welt  sehend,  welches  alle  grossen 
Erkenntnisse  haben. 


38. 

Inwiefern  nützlich.  —  Also:  ob  die  psycholo- 
gische Beobachtung  mehr  Nutzen  oder  mehr  Nachtheil  über 
die  Menschen  bringe,  das  bleibe  immerhin  unentschieden; 
aber  fest  steht,  dass  sie  nothwendig  ist,  weil  die  Wissen- 
schaft ihrer  nicht  entrathen  kann.  Die  Wissenschaft  aber 
kennt  keine  Rücksichten  auf  letzte  Zwecke,  ebenso  wenig 
als  die  Natur  sie  kennt:  sondern  wie  diese  gelegentlich 
Dinge  von  der  höchsten  Zweckmässigkeit  zu  Stande 
bringt,  ohne  sie  gewollt  zu  haben,  so  wird  auch  die 
ächte  Wissenschaft,  als  die  Nachahmung  der  Natur 
in  Begriffen,  den  Nutzen  und  die  Wohlfahrt  der 
Menschen  gelegentlich,  ja  vielfach  fördern  und  das  Zweck- 
mässige erreichen  —  aber  ebenfalls,  ohne  es  gewollt 
zu  haben.  Wem  es  aber  bei  dem  Anhauche  einer  solchen 
Betrachtungsart  gar  zu  winterlich  zu  Muthe  wird,  der 
hat  vielleicht  nur  zu  wenig  Feuer  in  sich:  er  möge  sich 
indess  umsehen  und  er  wird  Krankheiten  wahrnehmen, 
in  denen  Eisumschläge  noth  thun,  und  Menschen,  welche 
so  aus  Gluth  und  Geist  „zusammengeknetet"  sind,  dass 
sie  kaum  irgendwo  die  Luft  kalt  und  schneidend  genug 
für  sich  finden.  Überdiess:  wie  allzu  ernste  Einzelne 
und  Völker  ein  Bedürfhiss  nach  Leichtfertigkeiten  haben, 
wie  andere,  allzu  Bewegliche  und  Erregbare  zeitweilig 
schwere  niederdrückende  Lasten  zu  ihrer  Gesundheit  nöthig 
haben:  sollten  wir,  die  geistigeren  Menschen  eines 
Zeitalters,  das  ersichtlich  immer  mehr  in  Brand  geräth, 
nicht  nach  allen  löschenden  und  külilenden  Mitteln, 
die    es    giebt,    greifen    müssen,    damit    wir    wenigstens 


-     63     - 

so  stätig,  harmlos  und  massig  bleiben,  als  wir  es  noch 
sind,  und  so  vielleicht  einmal  dazu  brauchbar  werden, 
diesem  Zeitalter  als  Spiegel  und  Selbstbesinnung  über 
sich  zu  dienen?  —  * 


39. 

Die  Fabel  von  der  intelligiblen  Freiheit.  — 
Die  Geschichte  der  Empfindungen,  vermöge  deren  wir 
Jemanden  verantwortHch  machen,  also  der  sogenannten 
moralischen  Empfindungen,  verläuft  in  folgenden  Haupt- 
phasen. Zuerst  nennt  man  einzelne  Handlungen  gut  oder 
böse  ohne  alle  Rücksicht  auf  deren  Motive,  sondern 
allein  der  nützlichen  oder  schädlichen  Folgen  wegen. 
Bald  aber  vergisst  man  die  Herkunft  dieser  Bezeichnungen 
und  wähnt,  dass  den  Handlungen  an  sich,  ohne  Rück- 
sicht auf  deren  Folgen,  die  Eigenschaft  „gut"  oder 
„böse"  innewohne:  mit  demselben  Irrthume,  nach  welchem 
die  Sprache  den  Stein  selber  als  hart,  den  Baum 
selber  als  grün  bezeichnet  —  also  dadurch,  dass  man, 
was  Wirkung  ist,  als  Ursache  fasst  Sodann  legt 
man  das  Gut-  oder  Böse-sein  in  die  Motive  hinein 
und  betrachtet  die  Thaten  an  sich  als  moralisch  zwei- 
deutig. Man  geht  weiter  und  giebt  das  Prädicat 
gut  oder  böse  nicht  mehr  dem  einzelnen  Motive, 
sondern  dem  ganzen  Wesen  eines  Menschen,  aus  dem 
das  Motiv,  wie  die  Pflanze  aus  dem  Erdreich,  heraus- 
wächst So  macht  man  der  Reihe  nach  den  Menschen 
für  seine  Wirkungen,  dann  für  seine  Handlungen,  dann 
für  seine  Motive  und  endlich  für  sein  Wesen  verant- 
wortHch. Nun  entdeckt  man  schliesslich,  dass  auch 
dieses  Wesen  nicht  verantwortlich  sein  kann,  insofern 
es   ganz   und   gar   nothwendige  Folge   ist   und   aus  den 


—     64     - 

Elementen  und  Einflüssen  vergangener  und  gegenwärtiger 
Dinge  concrescirt:  also  dass  der  Mensch  für  Nichts 
verantwortlich  zu  machen  ist,  weder  für  sein  Wesen, 
noch  seine  Motive,  noch  seine  Handlungen,  noch  seine 
Wirkungen.  Damit  ist  man  zur  Erkenntnis  gelangt, 
dass  die  Geschichte  der  moralischen  Empfindungen  die 
Geschichte  eines  Irrthums,  des  Irrthums  von  der 
Verantwortlichkeit  ist:  als  welcher  auf  dem  Irrthum 
von  der  Freiheit  des  Willens  ruht.  —  Schopenhauer 
schloss  dagegen  so:  weil  gewisse  Handlungen  Unmuth 
(„Schuldbewusstsein")  nach  sich  ziehen,  so  muss  es  eine 
Verantwortlichkeit  geben;  denn  zu  diesem  Unmuth  wäre 
kein  Grund  vorhanden,  wenn  nicht  nur  alles  Handeln 
des  Menschen  mit  Nothwendigkeit  verliefe  —  wie  es 
thatsächlich,  und  auch  nach  der  Einsicht  dieses  Philosophen, 
verläuft  — ,  sondern  der  Mensch  selber  mit  derselben 
Nothwendigkeit  sein  ganzes  Wesen  erlangte  —  was 
Schopenhauer  leugnet.  Aus  der  Thatsache  jenes  Un- 
muthes  glaubt  Schopenhauer  eine  Freiheit  beweisen 
zu  können,  welche  der  Mensch  irgendwie  gehabt  haben 
müsse,  zwar  nicht  in  Bezug  auf  die  Handlungen,  aber 
in  Bezug  auf  das  Wesen:  Freiheit  also  so  oder  so  zu 
sein,  nicht  so  oder  so  zu  handeln.  Aus  dem  esse, 
der  Sphäre  der  Freiheit  und  Verantwortlichkeit,  folgt 
nach  seiner  Meinung  das  pperari,  die  Sphäre  der  strengen 
Causalität,  Nothwendigkeit  und  Un  Verantwortlichkeit 
Jener  Unmuth  beziehe  sich  zwar  scheinbar  auf  das 
operari  —  insofern  sei  er  irrthümlich  — ,  in  Wahrheit 
aber  auf  das  esse,  welches  die  That  eines  freien  Willens, 
die  Grundursache  der  Existenz  eines  Individuums  sei: 
der  Mensch  werde  Das,  was  er  werden  wolle,  sein 
Wollen  sei  früher  als  seine  Existenz.  —  Hier  wird  der 
Fehlschluss  gemacht,  dass  aus  der  Thatsache  des  Unmuthes 


-     65     - 

die  Berechtigung,  die  vernünftige  Zulässigkeit  dieses 
Unmuthes  geschlossen  wird;  und  von  jenem  Fehlschluss 
aus  kommt  Schopenhauer  zu  seiner  phantastischen 
Consequenz  der  sogenannten  intelligiblen  Freiheit.  Aber 
der  Unmuth  nach  der  That  braucht  gar  nicht  vernünftig 
zu  sein:  ja  er  ist  es  gewiss  nicht,  denn  er  ruht  auf  der 
irrthümlichen  Voraussetzung,  dass  die  That  eben  nicht 
noth wendig  hätte  erfolgen  müssen.  Also:  weil  sich  der 
Mensch  für  frei  hält,  nicht  aber  weil  er  frei  ist, 
empfindet  er  Reue  und  Gewissensbisse.  —  Überdiess  ist 
dieser  Unmuth  Etwas,  das  man  sich  abgewöhnen  kann, 
bei  vielen  Menschen  ist  er  in  Bezug  auf  Handlungen 
gar  nicht  vorhanden,  bei  welchen  viele  andere  Menschen 
ihn  empfinden.  Er  ist  eine  sehr  wandelbare,  an  die 
Entwicklung  der  Sitte  und  Cultur  geknüpfte  Sache  und 
vielleicht  nur  in"  einer  verhältnissmässig  kurzen  Zeit  der 
Weltgeschichte  vorhanden.  —  Niemand  ist  für  seine 
Thaten  verantwortlich,  Niemand  für  sein  Wesen;  richten 
ist  soviel  als  ungerecht  sein.  Diess  gilt  auch,  wenn  das 
Individuum  über  sich  selbst  richtet.  Der  Satz  ist  so 
hell  wie  Sonnenücht  und  doch  geht  hier  Jedermann 
lieber  in  den  Schatten  und  die  Unwahrheit  zurück: 
aus  Furcht  vor  den  Folgen. 


40. 

Das  Über-Thier.  —  Die  Bestie  in  uns  will 
belogen  werden;  Moral  ist  Nothlüge,  damit  wir  von 
ihr  nicht  zerrissen  werden.  Ohne  die  Irrthümer,  welche 
in  den  Annahmen  der  Moral  liegen,  wäre  der  Mensch 
Thier  geblieben.  So  aber  hat  er  sich  als  etwas  Höheres 
genommen  und  sich  strengere  Gesetze  auferlegt.    Er  hat 

Nie  tische,  Werke  Band  II.  C 


—     66     — 

desshalb  einen  Hass  gegen  die  der  Thierheit  näher 
gebliebenen  Stufen:  woraus  die  ehemalige  Missachtung 
des  Sclaven,  als  eines  Nicht-Menschen,  als  einer  Sache 
zu  erklären  ist. 

41. 

Der  unveränderliche  Charakter.  —  Dass  der 
Charakter  unveränderlich  sei,  ist  nicht  im  strengen  Sinne 
wahr;  vielmehr  heisst  dieser  beliebte  Satz  nur  soviel, 
dass  während  der  kurzen  Lebensdauer  eines  Menschen 
die  einwirkenden  Motive  nicht  tief  genug  ritzen  können, 
um  die  aufgeprägten  Schriftzüge  vieler  Jahrtausende  zu 
zerstören.  Dächte  man  sich  aber  einen  Menschen  von 
achtzigtausend  Jahren,  so  hätte  man  an  ihm  sogar  einen 
absolut  veränderlichen  Charakter:  so  dass  eine  Fülle 
verschiedener  Individuen  sich  nach  und  nach  aus  ihm 
entwickelte.  Die  Kürze  des  menschlichen  Lebens  verleitet 
zu  manchen  irrthümlichen  Behauptungen  über  die  Eigen- 
schaften des  Menschen. 

42. 

Die  Ordnung  der  Güter  und  die  Moral.  — 
Die  einmal  angenommene  Rangordnung  der  Güter,  je 
nachdem  ein  niedriger  höherer  höchster  Egoismus  das 
Eine  oder  das  Andere  will,  entscheidet  jetzt  über  das 
Moralisch-sein  oder  Unmoralisch-sein.  Ein  niedriges  Gut 
(zum  Beispiel  Sinnengenuss)  einem  höher  geschätzten 
(zum  Beispiel  Gesundheit)  vorziehn  gilt  als  unmoralisch, 
ebenso  Wohlleben  der  Freiheit  vorziehn.  Die  Rang- 
ordnung der  Güter  ist  aber  keine  zu  allen  Zeiten  feste 
und  gleiche;  wenn  Jemand  Rache  der  Gerechtigkeit  vor- 
zieht, so  ist  er  nach  dem  Maassstabe  einer  früheren 
Cultur   moralisch,    nach    dem    der  jetzigen    unmoralisch. 


-     67     - 

„Unmoralisch"  bezeichnet  also,  dass  Einer  die  höheren 
feineren  geistigeren  Motive,  welche  die  jeweilen  neue 
Cultur  hinzugebracht  hat,  noch  nicht  oder  noch  nicht 
stark  genug  empfindet:  es  bezeichnet  einen  Zurückge- 
bliebenen, aber  immer  nur  dem  Gradunterschied  nach.  — 
Die  Rangordnung  der  Güter  selber  wird  nicht  nach 
moralischen  Gesichtspunkten  auf-  und  umgestellt;  wohl 
aber  wird  nach  ihrer  jedesmaligen  Festsetzung  darüber 
entschieden,  ob  eine  Handlung  morahsch  oder  un- 
moralisch sei. 

43. 
Grausame  Menschen  als  zurückgeblieben. 
—  Die  Menschen,  welche  jetzt  grausam  sind,  müssen  uns 
als  Stufen  früherer  Culturen  gelten,  welche  übrig 
geblieben  sind:  das  Gebirge  der  Menschheit  zeigt  hier 
einmal  die  tieferen  Formationen,  welche  sonst  versteckt 
liegen,  offen.  Es  sind  zurückgebliebene  Menschen,  deren 
Gehirn,  durch  alle  möglichen  Zufälle  im  Verlaufe  der 
Vererbung,  nicht  so  zart  und  vielseitig  fortgebildet 
worden  ist  Sie  zeigen  uns,  was  wir  Alle  waren,  und 
machen  uns  erschrecken:  aber  sie  selber  sind  so  wenig 
verantwortlich,  wie  ein  Stück  Granit  dafür,  dass  es 
Granit  ist.  In  unserem  Gehirne  müssen  sich  auch  Kinnen 
und  Windungen  finden,  welche  jener  Gesinnung  ent- 
sprechen, wie  sich  in  der  Form  einzelner  menschlicher 
Organe  Erinnerungen  an  Fischzustände  finden  sollen. 
Aber  diese  Rinnen  und  Windungen  sind  nicht  mehr  das 
Bett,  in  welchem  sich  jetzt  der  Strom  unserer  Empfin- 
dung wälzt 

44. 

Dankbarkeit  und  Rache.  —  Der  Grund,  wess- 
halb   der  Mächtige  dankbar  ist,  ist  dieser.     Sein  Wohl- 

5* 


—     68     — 

thäter  hat  sich  durch  seine  Wohlthat  an  der  Sphäre  des 
Mächtigen  gleichsam  vergriffen  und  sich  in  sie  ein- 
gedrängt: nun  vergreift  er  sich  zur  Vergeltung  wieder 
an  der  Sphäre  des  Wohlthäters  durch  den  Act  der  Dank- 
barkeit. Es  ist  eine  mildere  Form  der  Rache.  Ohne 
die  Genugthuung  der  Dankbarkeit  zu  haben,  würde  der 
Mächtige  sich  unmächtig  gezeigt  haben  und  fürderhin 
dafür  gelten.  Desshalb  stellt  jede  Gesellschaft  der  Guten, 
das  heisst  ursprünglich  der  Mächtigen,  die  Dankbarkeit 
unter  die  ersten  Pflichten.  —  Swift  hat  den  Satz  hin- 
geworfen, dass  Menschen  in  demselben  Verhältniss  dank- 
bar sind,  wie  sie  Rache  hegen. 


45- 

Doppelte  Vorgeschichte  von  Gut  und  Böse.  — 
Der  Begriff  gnt  und  böse  hat  eine  doppelte  Vorgeschichte : 
nämlich  einmal  in  der  Seele  der  herrschenden  Stämme 
und  Kasten.  Wer  die  Macht  zu  vergelten  hat,  Gutes 
mit  Gutem,  Böses  mit  Bösem,  und  auch  wirklich  Ver- 
geltung übt,  also  dankbar  und  rachsüchtig  ist,  der  %\'ird 
gut  genannt;  wer  unmächtig  ist  und  nicht  vergelten 
kann,  gilt  als  schlecht.  Man  gehört  als  Guter  zu  den 
„Guten",  einer  Gemeinde,  welche  Gemeingefühl  hat,  weil 
alle  Einzelnen  durch  den  Sinn  der  Vergeltung  mit  ein- 
ander verflochten  sind.  Man  gehört  als  Schlechter  zu 
den  „Schlechten",  zu  einem  Haufen  unterworfener,  ohn- 
mächtiger Menschen,  welche  kein  Gemeingefühl  haben. 
Die  Guten  sind  eine  Kaste,  die  Schlechten  eine  Masse 
wie  Staub.  Gut  und  schlecht  ist  eine  Zeitlang  so  viel 
wie  vornehm  und  niedrig,  Herr  und  Sclave.  Dagegen 
sieht  man  den  Feind  nicht  als  böse  an:  er  kann  ver- 
gelten.    Der    Troer   und    der   Grieche   sind  bei   Homer 


-     69     - 

beide  gut  Nicht  Der,  welcher  uns  Schädliches  rufQgt, 
sondern  Der,  welcher  verächtlich  ist,  gilt  als  schlecht 
In  der  Gemeinde  der  Guten  vererbt  sich  das  Gute;  es 
ist  unmöglich,  dass  ein  Schlechter  aus  so  gutem  Erdreiche 
hervorwachse.  Thut  trotzdem  Einer  der  Guten  etwas, 
das  der  Guten  unwürdig  ist,  so  verfallt  man  auf  Aus- 
flüchte; man  schiebt  zum  Beispiel  einem  Gott  die  Schuld 
zu,  indem  man  sagt:  er  habe  den  Guten  mit  Verblendung 
und  Wahnsinn  geschlagen.  —  Sodann  in  der  Seele  der 
Unterdrückten,  Machtlosen.  Hier  gilt  jeder  andere 
Mensch  als  feindlich,  rücksichtslos,  ausbeutend,  grausam, 
listig,  sei  er  vornehm  oder  niedrig.  Böse  ist  das  Charakter- 
wort far  Mensch,  ja  für  jedes  lebende  Wesen,  welches 
man  voraussetzt,  zum  Beispiel  für  einen  Gott;  mensch- 
lich, göttlich  gilt  so  viel  als  teuflisch,  böse.  Die  Zeichen 
der  Güte  Hülfbereitschaft  Mitleid  werden  angstvoll 
als  Tücke,  Vorspiel  eines  schrecklichen  Ausganges,  Be- 
täubung und  Überlistung  aufgenommen,  kurz  als  ver- 
feinerte Bosheit.  Bei  einer  solchen  Gesinnung  des  Ein- 
zelnen kann  kaum  ein  Gemeinwesen  entstehen,  höchstens 
die  roheste  Form  desselben:  so  dass  überall,  wo  diese 
Auffassung  von  Gut  und  Böse  herrscht,  der  Untergang 
der  Einzelnen,  ihrer  Stämme  und  Rassen  nahe  ist  — 
Unsre  jetzige  Sittlichkeit  ist  auf  dem  Boden  der  herr- 
schenden Stämme  und  Kasten  aufgewachsen. 


46. 

Mitleiden  stärker  als  Leiden.  —  Es  giebt  Fälle, 
wo  das  Mitleiden  stärker  ist  als  das  eigentliche  Leiden. 
Wir  empfinden  es  zum  Beispiel  schmerzlicher,  wenn 
einer  unserer  Freunde  sich  etwas  Schmähliches  zu  Schul- 
den kommen  lässt,  als  wenn  wir  selbst  es  thun.    Einmal 


—     70     —  ' 

nämlich  glauben  wir  mehr  an  die  Reinheit  seines  Charak- 
ters als  er;  sodann  ist  unsere  Liebe  zu  ihm,  wahrschein- 
lich eben  dieses  Glaubens  wegen,  stärker  als  seine 
Liebe  zu  sich  selbst.  Wenn  auch  wirklich  sein  Egoismus 
mehr  dabei  leidet  als  unser  Egoismus,  insofern  er  die 
üblen  Folgen  seines  Vergehens  stärker  zu  tragen  hat, 
so  wird  das  Unegoistische  in  uns  —  diess  Wort  ist  nie 
streng  zu  verstehen,  sondern  nur  eine  Erleichterung  des 
Ausdrucks  —  doch  stärker  durch  seine  Schuld  betroffen 
als   das  Unegoistische  in   ihm. 

47. 
Hypochondrie. —  Es  giebt  Menschen,  welche  aus 
Mitgefühl  und  Sorge  für  eine  andere  Person  hypochon- 
drisch werden;  die  dabei  entstehende  Art  des  Mitleidens 
ist  nichts  Anderes  als  eine  Krankheit.  So  giebt  es  auch 
eine  christliche  Hypochondrie,  welche  jene  einsamen 
religiös  bewegten  Leute  befällt,  die  sich  das  Leiden 
und  Sterben  Christi  fortwährend  vor  Augen  stellen. 

48. 
Ökonomie  der  Güte.  —  Die  Güte  und  Liebe 
als  die  heilsamsten  Kräuter  und  Kräfte  im  Verkehre  der 
Menschen  sind  so  kostbare  Funde,  dass  man  wohl 
wünschen  möchte,  es  werde  in  der  Verwendung  dieser 
balsamischen  Mittel  so  ökonomisch  wie  möglich  verfahren : 
doch  ist  diess  unmöglich.  Die  Ökonomie  der  Güte  ist 
der  Traum  der  verwegensten  Utopisten. 

49. 
Wohlwollen.  —   Unter  die  kleinen,   aber  zahllos 
häufigen  und  desshalb  sehr  wirkungsvollen  Dinge,  auf 


_     71      — 

welche  die  "Wissenschaft  mehr  Acht  zu  geben  hat  als 
auf  die  grossen  seltenen  Dinge,  ist  auch  das  Wohlwollen 
zu  rechnen;  ich  meine  jene  Äusserungen  freundlicher 
Gesinnung  im  Verkehr,  jenes  Lächeln  des  Auges,  jene 
Händedrücke,  jenes  Behagen,  von  welchem  für  gewöhnlich 
fast  alles  menschliche  Thun  umsponnen  ist.  Jeder  Lehrer, 
jeder  Beamte  bringt  diese  Zuthat  zu  dem,  was  für  ihn 
Pflicht  ist,  hinzu;  es  ist  die  fortwährende  Bethätigung 
der  MenschHchkeit,  gleichsam  die  Wellen  ihres  Lichtes, 
in  denen  Alles  wächst;  namentlich  im  engsten  Kreise, 
innerhalb  der  Familie,  grünt  und  blüht  das  Leben  nur 
durch  jenes  Wohlwollen.  Die  Gutmüthigkeit,  die  Freund- 
lichkeit, die  Höflichkeit  des  Herzens  sind  immerquellende 
Ausflüsse  des  unegoistischen  Triebes  und  haben  viel 
mächtiger  an  der  Cultur  gebaut,  als  jene  viel  berühmteren 
Äusserungen  desselben,  die  man  Mitleiden  Barmherzig- 
keit und  Aufopferung  nennt.  Aber  man  pflegt  sie  gering- 
zuschätzen, und  in  der  That:  es  ist  nicht  gerade  viel 
Unegoistisches  daran.  Die  Summe  dieser  geringen 
Dosen  ist  trotzdem  gewaltig,  ihre  gesammte  Kraft  gehört 
zu  den  stärksten  Kräften.  —  Ebenso  findet  man  viel 
mehr  Glück  in  der  Welt,  als  trübe  Augen  sehen:  wenn 
man  nämlich  richtig  rechnet  und  nur  alle  jene  Momente 
des  Behagens,  an  welchen  jeder  Tag  in  jedem,  auch  dem 
bedrängtesten  Menschenleben  reich  ist,  nicht  vergisst 


50- 

Mitleiden  erregen  wollen.  —  La  Rochefoucauld 
trifft  in  der  bemerkenswerthesten  Stelle  seines  Selbst- 
Portraits  (zuerst  gedruckt  1658)  gewiss  das  Rechte,  wenn 
er  alle  Die,  welche  Vernunft  haben,  vor  dem  Mitleiden 
warnt,  wenn  er  räth,  dasselbe  den  Leuten  aus  dem  Volke 


—     72     — 

zu  überlassen,  die  der  Leidenschaften  bedürfen  (weil  sie 
nicht  durch  Vernunft  bestimmt  werden),  um  so  weit 
gebracht  zu  werden,  dem  Leidenden  zu  helfen  und  bei 
einem  Unglück  kräftig  einzugreifen;  während  das  Mit- 
leiden, nach  seinem  (und  Plato's)  Urtheil,  die  Seele  ent- 
kräfte. Freilich  solle  man  Mitleid  bezeugen,  aber 
sich  hüten  es  zu  haben:  denn  die  Unglücklichen  seien 
nun  einmal  so  dumm,  dass  bei  ihnen  das  Bezeugen  von 
Mitleid  das  grösste  Gut  von  der  Welt  ausmache.  — 
Vielleicht  kann  man  noch  stärker  vor  diesem  Mitleid- 
haben warnen,  wenn  man  jenes  Bedürfniss  der  Unglück- 
lichen nicht  gerade  als  Dummheit  und  intellectuellen 
Mangel,  als  eine  Art  Geistesstörung  fasst,  welche  das 
Unglück  mit  sich  bringt  (und  so  scheint  es  ja  La  Roche- 
foucauld zu  fassen),  sondern  als  etwas  ganz  Anderes  und 
Bedenklicheres  versteht.  Vielmehr  beobachte  man  Kinder, 
welche  weinen  und  schreien,  damit  sie  bemitleidet 
werden,  und  desshalb  den  Augenblick  abwarten,  wo  ihr 
Zustand  in  die  Augen  fallen  kann;  man  lebe  im  Verkehr 
mit  Kranken  und  geistig  Gedrückten  und  frage  sich,  ob 
nicht  das  beredte  Klagen  und  Wimmern,  das  Zur -Schau- 
tragen des  Unglücks  im  Grunde  das  Ziel  verfolgt,  den 
Anwesenden  weh  zu  thun:  das  Mitleiden,  welches 
Jene  dann  äussern,  ist  insofern  eine  Tröstung  für  die 
Schwachen  und  Leidenden,  als  sie  daran  erkennen,  doch 
wenigstens  noch  Eine  Macht  zu  haben,  trotz  aller 
ihrer  Schwäche:  die  Macht,  wehe  zu  thun.  Der  Un- 
glückliche gewinnt  eine  Art  von  Lust  in  diesem  Gefühl 
der  Überlegenheit,  welches  das  Bezeugen  des  Mitleids 
ihm  zum  Bewusstsein  bringt;  seine  Einbildung  erhebt  sich, 
er  ist  immer  noch  wichtig  genug,  um  der  Welt  Schmerzen 
zu  machen.  Somit  ist  der  Durst  nach  Bemitleidet-werden 
ein  Durst   nach  Selbstgenuss,   und   zwar   auf  Unkosten 


—     73     — 

der  Mitmenschen;  es  zeigt  den  Menschen  in  der  ganzen 
Rücksichtslosigkeit  seines  eigensten  lieben  Selbst:  nicht 
aber  gerade  in  seiner  „Dummheit",  wie  La  Rochefoucauld 
meint.  —  Im  Zwiegespräche  der  Gesellschaft  werden 
Dreiviertel  aller  Fragen  gestellt,  aller  Antworten  ge- 
geben, um  dem  Unterredner  ein  klein  wenig  weh  zu 
thun;  desshalb  dürsten  viele  Menschen  so  nach  Gesell- 
schaft: sie  giebt  ihnen  das  Gefühl  ihrer  Kraft.  In  solchen 
unzähligen  aber  sehr  kleinen  Dosen,  in  welchen  die 
Bosheit  sich  geltend  macht,  ist  sie  ein  mächtiges  Reiz- 
mittel des  Lebens:  ebenso  wie  das  Wohlwollen,  in 
gleicher  Form  durch  die  Menschenwelt  hin  verbreitet, 
das  allezeit  bereite  Heilmittel  ist.  —  Aber  wird  es  viele 
Ehrliche  geben,  welche  zugestehen,  dass  es  Vergnügen 
macht,  weh  zu  thun?  dass  man  sich  nicht  selten  damit 
unterhält  —  und  gut  unterhält  — ,  anderen  Menschen 
wenigstens  in  Gedanken  Kränkungen  zuzufügen  und  die 
Schrotkömer  der  kleinen  Bosheit  nach  ihnen  zu  schiessen? 
Die  Meisten  sind  zu  unehrlich  und  ein  paar  Menschen 
sind  zu  gut,  um  von  diesem,  pudendum  Etwas  zu  wissen; 
diese  mögen  somit  immerhin  leugnen,  dass  Prosper 
Merimee  Recht  habe,  wenn  er  sagt:  „Sachez  ausst  qu'il 
n'y  a  rien  de  plus  commun  que  de  faire  le  mal  pour  le 
platstr  de  le  faire." 

51- 

Wie  der  Schein  zum  Sein  wird,  —  Der  Schau- 
spieler kann  zuletzt  auch  beim  tiefsten  Schmerz  nicht 
aufhören,  an  den  Eindruck  seiner  Person  und  den  ge- 
sammten  scenischen  Effect  zu  denken,  zum  Beispiel  selbst 
beim  Begräbniss  seines  Kindes;  er  wird  über  seinen 
eigenen  Schmerz  und  dessen  Äusserungen  weinen,  als 
sein    eigner    Zuschauer.     Der  Heuchler,  welcher   immer 


—     74     — 

ein  und  dieselbe  Rolle  spielt,  hört  zuletzt  auf  Heuchler 
zu  sein  —  zum  Beispiel  Priester,  welche  als  junge  Männer 
gewöhnlich  be-^nisst  oder  unbewusst  Heuchler  sind,  wer- 
den zuletzt  natürlich  und  sind  dann  wirkhch,  ohne  alle 
AfFectation,  eben  Priester;  oder  wenn  es  der  Vater  nicht 
so  weit  bringt,  dann  vielleicht  der  Sohn,  der  des  Vaters 
Vorsprung  benutzt,  seine  Gewöhnung  erbt.  Wenn  Einer 
sehr  lange  und  hartnäckig  Etwas  scheinen  will,  so 
wird  es  ihm  zuletzt  schwer,  etwas  Anderes  zu  sein. 
Der  Beruf  fast  jedes  Menschen,  sogar  der  des  Künstlers, 
beginnt  mit  Heuchelei,  mit  einem  Nachmachen  von  Aussen 
her,  mit  einem  Copiren  des  Wirkungsvollen.  Der,  welcher 
immer  die  Maske  freundlicher  Mienen  trägt,  muss  zuletzt 
eine  Gewalt  über  wohlwollende  Stimmungen  bekommen, 
ohne  welche  der  Ausdruck  der  Freundlichkeit  nicht  zu 
erzwingen  ist,  —  und  zuletzt  wieder  bekommen  diese 
über  ihn  Gewalt,  er  ist  wohlwollend. 


52. 

Der  Punkt  der  Ehrlichkeit  beim  Betrüge.  — 
Bei  allen  grossen  Betrügern  ist  ein  Vorgang  bemerkens- 
werth,  dem  sie  ihre  Macht  verdanken.  Im  eigentlichen 
Acte  des  Betrugs,  unter  all  den  Vorbereitungen,  dem 
Schauerlichen  in  Stimme  Ausdruck  Gebärden,  inmitten 
der  wirkungsvollen  Scenerie  überkommt  sie  der  Glaube 
an  sich  selbst:  dieser  ist  es,  der  dann  so  wunder  gleich 
und  bezwingend  zu  den  Umgebenden  spricht.  Die  Reli- 
gionsstifter unterscheiden  sich  dadurch  von  jenen  grossen 
Betrügern,  dass  sie  aus  diesem  Zustande  der  Selbsttäu- 
schung nicht  herauskommen:  oder  sie  haben  ganz  selten 
einmal  jene  helleren  Momente,  wo  der  Zweifel  sie  über- 
wältigt; gewöhnlich  trösten  sie  sich  aber,  diese  helleren 


—     75     — 

Momente  dem  bösen  Widersacher  zuschiebend.  Selbst- 
betrug muss  da  sein,  damit  Diese  und  Jene  grossartig 
wirken.  Denn  die  Menschen  glauben  an  die  Wahrheit 
alles  dessen,  was  ersichtlich  stark  geglaubt  wird. 


53. 

Angebliche  Stufen  der  Wahrheit.  —  Einer  der 
gewöhnlichen  Fehlschlüsse  ist  der:  weil  Jemand  wahr  und 
aufrichtig  gegen  uns  ist,  so  sagt  er  die  Wahrheit.  So 
glaubt  das  Kind  an  die  Urtheile  der  Eltern,  der  Christ 
an  die  Behauptungen  des  Stifters  der  Kirche.  Ebenso 
^vill  man  nicht  zugeben,  dass  alles  Jenes,  was  die  Men- 
schen mit  Opfern  an  Glück  und  Leben  in  früheren  Jahr- 
hunderten vertheidigt  haben.  Nichts  als  Irrthümer  waren: 
vielleicht  sagt  man,  es  seien  Stufen  der  Wahrheit  gewesen. 
Aber  im  Grunde  meint  man,  wenn  Jemand  ehrlich  an 
Etwas  geglaubt  und  für  seinen  Glauben  gekämpft  hat 
und  gestorben  ist,  wäre  es  doch  gar  zu  unbillig,  wenn 
eigentlich  nur  ein  Irrthum  ihn  beseelt  habe.  So  ein  Vor- 
gang scheint  der  ewigen  Gerechtigkeit  zu  widersprechen ; 
desshalb  decretirt  das  Herz  empfindender  Menschen  immer 
wieder  gegen  ihren  Kopf  den  Satz:  zwischen  moralischen 
Handlungen  und  intellectuellen  Einsichten  muss  durchaus 
ein  nothwendiges  Band  sein.  Es  ist  leider  anders;  denn 
es  giebt  keine  ewige  Gerechtigkeit 


54. 

Die  Lüge.  —  Wesshalb  sagen  zu  allermeist  die 
Menschen  im  alltäglichen  Leben  die  Wahrheit?  —  Gewiss 
nicht,  weil  ein  Gott  das  Lügen  verboten  hat.  Sondern 
erstens:  weil  es  bequemer  ist;    denn  die  Lüge  erfordert 


—     76     - 

Erfindung,  Verstellung  und  Gedächtniss.  (Wesshalb  Swift 
sagt:  wer  eine  Lüge  berichtet,  merkt  selten  die  schwere 
Last,  die  er  übernimmt;  er  muss  nämlich,  um  Eine  Lüge 
zu  behaupten,  zwanzig  andere  erfinden.)  Sodann:  weil 
es  in  schlichten  Verhältnissen  vortheilhaft  ist,  direct  zu 
sagen:  ich  will  diess,  ich  habe  diess  gethan,  und  der- 
gleichen; also  weil  der  Weg  des  Zwangs  und  der  Au- 
torität sicherer  ist  als  der  der  List.  —  Ist  aber  einmal 
ein  Kind  in  verwickelten  häuslichen  Verhältnissen  auf- 
gezogen worden,  so  handhabt  es  ebenso  natürlich  die 
Lüge  und  sagt  unwillkürlich  immer  Das,  was  seinem  In- 
teresse entspricht;  ein  Sinn  für  Wahrheit,  ein  Widerwille 
gegen  die  Lüge  an  sich  ist  ihm  ganz  fremd  und  unzu- 
gänglich, und  so  lügt  es  in  aller  Unschuld. 


55- 

Des  Glaubens  wegen  die  Moral  verdächtigen. 

—  Keine  Macht  lässt  sich  behaupten,  wenn  lauter  Heuchler 
sie  vertreten;  die  katholische  Kirche  mag  noch  so  viele 
„weltliche"  Elemente  besitzen,  ihre  Kraft  beruht  auf  jenen 
auch  jetzt  noch  zahlreichen  priesterlichen  Naturen,  welche 
sich  das  Leben  schwer  und  bedeutungstief  machen,  und 
deren  Blick  und  abgehärmter  Leib  von  Nachtwachen 
Hungern  glühendem  Gebete,  vielleicht  selbst  von  Geissei- 
hieben redet;  diese  erschüttern  die  Menschen  und  machen 
ihnen  Angst:  wie,  wenn  es  nöthig  wäre,  so  zu  leben? 

—  diess  ist  die  schauderhafte  Frage,  welche  ihr  Anblick 
auf  die  Zunge  legt.  Indem  sie  diesen  Zweifel  verbreiten, 
gründen  sie  immer  von  Neuem  wieder  einen  Pfeiler  ihrer 
Macht;  selbst  die  Freigesinnten  wagen  es  nicht,  dem 
derartig  Selbstlosen  mit  hartem  Wahrheitssinn  zu  wider- 
stehen und  zu  sagen:   „Betrogner  du,  betrüge  nicht!"  — 


•  -     77     - 

Nur  die  Differenz  der  Einsichten  trennt  sie  von  ihm, 
durchaus  keine  Differenz  der  Güte  oder  Schlechtigkeit; 
aber  was  man  nicht  mag,  pflegt  man  gewöhnlich  auch 
ungerecht  zu  behandeln.  So  spricht  man  von  der  Schlau- 
heit und  der  verruchten  Kunst  der  Jesuiten,  aber  über- 
sieht, welche  Selbstüberwindung  jeder  einzelne  Jesuit  sich 
auferlegt  und  wie  die  erleichterte  Lebenspraxis,  welche 
die  jesuitischen  Lehrbücher  predigen,  durchaus  nicht 
ihnen,  sondern  dem  Laienstande  zu  Gute  kommen  soll. 
Ja  man  darf  fragen,  ob  wir  Aufgeklärten  bei  ganz 
gleicher  Taktik  und  Organisation  ebenso  gute  Werk- 
zeuge, ebenso  bewundernswürdig  durch  Selbstbesiegung 
Unermüdlichkeit   Hingebung  sein  würden. 

56. 

Sieg  der  Erkenntniss  über  das  radicale  Böse. 
—  Es  trägt  Dem,  der  weise  werden  will,  einen  reich- 
lichen Gewinn  ein,  eine  Zeitlang  einmal  die  Vorstellung  vom 
gründlich  bösen  und  verderbten  Menschen  gehabt  zu 
haben:  sie  ist  falsch,  wie  die  entgegengesetzte;  aber 
ganze  Zeitstrecken  hindurch  besass  sie  die  Herrschaft, 
und  ihre  Wurzeln  haben  sich  bis  in  uns  und  unsere  Welt 
hinein  verästet  Um  uns  zu  begreifen,  müssen  wir  sie 
begreifen;  um  aber  dann  höher  zu  steigen,  müssen  wir 
über  sie  hinwegsteigen.  Wir  erkennen  dann,  dass  es 
keine  Sünden  im  metaphysischen  Sinne  giebt;  aber,  im 
gleichen  Sinne,  auch  keine  Tugenden;  dass  dieses 
ganze  Bereich  sittlicher  Vorstellungen  fortwährend  im 
Schwanken  ist,  dass  es  höhere  und  tiefere  Begriffe  von 
Gut  und  Böse,  Sittlich  und  Unsittlich  giebt.  Wer  nicht 
viel  mehr  von  den  Dingen  begehrt,  als  Erkenntniss  der- 
selben, kommt  leicht  mit  seiner  Seele  zur  Ruhe  und  wird 


-     78     - 

höchstens  aus  Unwissenheit,  aber  schwerlich  aus  Begehr- 
lichkeit fehlgreifen  (oder  sündigen,  wie  die  Welt  es  heisst). 
Er  wird  die  Begierden  nicht  mehr  verketzern  und  aus- 
rotten wollen;  aber  sein  einziges,  ihn  völlig  beherrschendes 
Ziel,  zu  aller  Zeit  so  gut  wie  möglich  zu  erkennen, 
wird  ihn  kühl  machen  und  alle  Wildheit  in  seiner  An- 
lage besänftigen.  Überdiess  ist  er  eine  Menge  quälen- 
der Vorstellungen  losgeworden,  er  empfindet  Nichts 
mehr  bei  dem  Worte  Höllenstrafen,  Sündhaftigkeit,  Un- 
fähigkeit zum  Guten:  er  erkennt  darin  nur  die  ver- 
schwebenden Schattenbilder  falscher  Welt-  und  Lebens- 
betrachtungen. 

57. 

Moral  als  Selbstzertheilung  des  Menschen.  — 
Ein  guter  Autor,  der  wirklich  das  Herz  für  seine  Sache 
hat,  wünscht,  dass  Jemand  komme  und  ihn  selber  da- 
durch vernichte,  dass  er  dieselbe  Sache  deutlicher  dar- 
stelle und  die  in  ihr  enthaltenen  Fragen  ohne  Rest  be- 
antworte. Das  liebende  Mädchen  wünscht,  dass  sie  die 
hingebende  Treue  ihrer  Liebe  an  der  Untreue  des  Ge- 
liebten bewähren  könne.  Der  Soldat  wünscht,  dass  er 
für  sein  siegreiches  Vaterland  auf  dem  Schlachtfeld  falle: 
denn  in  dem  Siege  seines  Vaterlandes  siegt  sein  höchstes 
Wünschen  mit.  Die  Mutter  giebt  dem  Kinde,  was  sie 
sich  selber  entzieht,  Schlaf,  die  beste  Speise,  unter  Um- 
ständen ihre  Gesundheit,  ihr  Vermögen.  —  Sind  diess  Alles 
aber  unegoistische  Zustände?  Sind  diese  Thaten  der 
Moralität  Wunder,  weil  sie  nach  dem  Ausdrucke 
Schopenhauer's  „unmöglich  und  doch  wirklich"  sind? 
Ist  es  nicht  deutlich,  dass  in  all  diesen  Fällen  der  Mensch 
Etwas  von  sich,  einen  Gedanken,  ein  Verlangen,  ein 
Erzeugniss  mehr  liebt   als  etwas  Anderes  von  sich. 


—     79     — 

dass  er  also  sein  Wesen  zertheilt  und  dem  einen  Theil 
den  anderen  zum  Opfer  bringt?  Ist  es  etwas  wesentlich 
Verschiedenes,  wenn  ein  Trotzkopf  sagt:  ,4ch  will  lieber 
über  den  Haufen  geschossen  werden,  als  diesem  Menschen 
da  einen  Schritt  aus  dem  Wege  gehn"?  —  Die  Neigung 
zu  Etwas  (Wunsch,  Trieb,  Verlangen)  ist  in  allen 
genannten  Fällen  vorhanden;  ihr  nachzugeben,  mit  allen 
Folgen,  ist  jedenfalls  nicht  „unegoistisch".  —  In  der 
Moral  behandelt  sich  der  Mensch  nicht  als  tndividmim, 
sondern  als  dividuum. 

58. 

Was  man  versprechen  kann.  —  Man  kann 
Handlungen  versprechen,  aber  keine  Empfindungen;  denn 
diese  sind  unwillkürlich.  Wer  Jemandem  verspricht,  ihn 
immer  zu  lieben  oder  immer  zu  hassen  oder  ihm  immer 
treu  zu  sein,  verspricht  Etwas,  das  nicht  in  seiner  Macht 
steht;  wohl  aber  kann  er  solche  Handlungen  versprechen, 
welche  zwar  gewöhnlich  die  Folgen  der  Liebe,  des 
Heisses,  der  Treue  sind,  aber  auch  aus  anderen  Motiven 
entspringen  können:  denn  zu  einer  Handlung  führen 
mehrere  Wege  und  Motive.  Das  Versprechen,  Jemanden 
immer  zu  lieben,  heisst  also:  so  lange  ich  dich  liebe, 
werde  ich  dir  die  Handlungen  der  Liebe  erweisen;  liebe 
ich  dich  nicht  mehr,  so  wirst  du  doch  dieselben  Hand- 
lungen, wenn  auch  aus  anderen  Motiven,  immerfort  von 
mir  empfangen:  so  dass  der  Schein  in  den  Köpfen  der 
Mitmenschen  bestehen  bleibt,  dass  die  Liebe  unverändert 
und  immer  noch  dieselbe  sei.  —  Man  verspricht  also 
die  Andauer  des  Anscheines  der  Liebe,  wenn  man 
ohne  Selbstverblendung  Jemandem  immerwährende  Liebe 
gelobt 


—     8o 


59. 


Intellect  und  Moral.  —  Man  muss  ein  gutes 
Gedächtniss  haben ,  um  gegebene  Versprechen  halten  zu 
können.  Man  muss  eine  starke  Klraft  der  Einbildung 
haben,  um  Mitleid  haben  zu  können.  So  eng  ist  die 
Moral  an  die  Güte  des  Intellects  gebunden. 

60. 

Sich  rächen  wollen  und  sich  rächen.  —  Einen 
Rachegedanken  haben  und  ausführen  heisst  einen  heftigen 
Fieberanfall  bekommen,  der  aber  vorübergeht:  einen 
Rachegedanken  aber  haben,  ohne  Kraft  und  Muth  ihn 
auszuführen,  heisst  ein  chronisches  Leiden,  eine  Vergiftung 
an  Leib  und  Seele  mit  sich  herumtragen.  Die  Moral, 
welche  nur  auf  die  Absichten  sieht,  taxirt  beide  Fälle 
gleich;  für  gewöhnlich  taxirt  man  den  ersten  Fall  als 
den  schlimmeren  (wegen  der  bösen  Folgen,  welche  die 
That  der  Rache  vielleicht  nach  sich  zieht).  Beide  Schätz- 
ungen sind  kurzsichtig. 

61. 

Warten-können.  —  Das  Warten -können  ist  so 
schwer,  dass  die  grössten  Dichter  es  nicht  verschmäht 
haben,  das  Nicht-warten-können  zum  Motiv  ihrer  Dich- 
tungen zu  machen.  So  Shakespeare  im  Othello,  Sophokles 
im  Ajax:  dessen  Selbstmord  ihm,  wenn  er  nur  einen  Tag 
noch  seine  Empfindung  hätte  abkühlen  lassen,  nicht  mehr 
nöthig  geschienen  hätte,  wie  der  Orakelspruch  andeutet; 
wahrscheinlich  würde  er  den  schrecklichen  Einflüsterungen 
der  verletzten  Eitelkeit  ein  Schnippchen  geschlagen  und 
zu  sich  gesprochen  haben:  wer  hat  denn  nicht  schon,  in 


—     8i      — 

meinem  Falle,  ein  Schaf  für  einen  Helden  angesehn? 
ist  es  denn  so  etwas  Ungeheures  ?  Im  Gegentheil,  es  ist 
nur  etwas  allgemein  Menschliches  —  Ajax  durfte  sich 
dergestalt  Trost  zusprechen.  Die  Leidenschaft  will  nicht 
warten;  das  Tragische  im  Leben  grosser  Männer  liegt 
häufig  nicht  in  ihrem  Conflicte  mit  der  Zelt  und  der 
Niedrigkeit  ihrer  Mitmenschen,  sondern  in  ihrer  Unfähig- 
keit, ein  Jahr,  zwei  Jahre  ihr  Werk  zu  verschieben;  sie 
können  nicht  warten.  —  Bei  allen  Duellen  haben  die 
zurathenden  Freunde  das  Eine  festzustellen,  ob  die  be- 
theiligten Personen  noch  warten  können:  ist  diess  nicht 
der  Fall,  so  ist  ein  Duell  vernünftig,  insofern  Jeder  von 
Beiden  sich  sagt:  „entweder  lebe  ich  weiter,  dann  muss 
Jener  augenblicklich  sterben,  oder  umgekehrt."  Warten 
hiesse  in  solchem  Falle  an  jener  furchtbaren  Marter  der 
verletzten  Ehre  angesichts  ihres  Verletzers  noch  länger 
leiden:  und  diess  kann  eben  mehr  Leiden  sein,  als  das 
Leben  überhaupt  werth  ist 


62. 

Schwelgerei  der  Rache.  —  Grobe  Menschen, 
welche  sich  beleidigt  fühlen,  pflegen  den  Grad  der  Be- 
leidigung so  hoch  als  möglich  zu  nehmen  und  erzählen 
die  Ursache  mit  stark  übertreibenden  Worten,  um  nur 
in  dem  einmal  erweckten  Hass-  und  Rachgefühl  sich 
recht  ausschwelgen  zu  können. 


63. 

Werth  der  Verkleinerung.  —  Nicht  wenige, 
vielleicht  die  allermeisten  Menschen  haben,  um  ihre  Selbst- 
achtung  und   eine   gewisse  Tüchtigkeit   im   Handeln  bei 

Nietzsche,  Werke  Band   II.  6 


—       Ö2       - 

sich  aufrecht  zu  erhalten,  durchaus  nöthig,  alle  ihnen 
bekannten  Menschen  in  ihrer  Vorstellung  herabzusetzen 
und  zu  verkleinern.  Da  aber  die  geringen  Naturen  in 
der  Überzahl  sind  und  es  sehr  viel  daran  liegt,  ob  sie 
jene  Tüchtigkeit  haben  oder  verlieren,  so  — 

64. 

Der  Aufbrausende.  —  Vor  Einem,  der  gegen 
uns  aufbraust,  soll  man  sich  in  Acht  nehmen  wie  vor 
Einem,  der  uns  einmal  nach  dem  Leben  getrachtet  hat: 
denn  dass  wir  noch  leben,  das  liegt  an  der  Abwesen- 
heit der  Macht  zu  tödten;  genügten  Blicke,  so  wäre  es 
längst  um  uns  geschehn.  Es  ist  ein  Stück  roher  Cultur, 
durch  Sichtbarwerdenlassen  der  physischen  Wildheit,  durch 
Furchterregen  Jemanden  zum  Schweigen  zu  bringen.  — 
Ebenso  ist  jener  kalte  Blick,  welchen  Vornehme  gegen 
ihre  Bedienten  haben,  ein  Überrest  jener  kastenmässigen 
Abgrenzungen  zwischen  Mensch  und  Mensch,  ein  Stück 
rohen  Alterthums;  die  Frauen,  die  Bewahrerinnen  des 
Alten,  haben  auch  diess  survtval  treuer  bewahrt. 


65. 

Wohin  die  Ehrlichkeit  führen  kann.  —  Jemand 
hatte  die  üble  Angewohnheit,  sich  über  die  Motive,  aus 
denen  er  handelte  und  die  so  gut  und  so  schlecht  waren 
wie  die  Motive  aller  Menschen,  gelegentlich  ganz  ehrlich 
auszusprechen.  Er  erregte  erst  Anstoss,  dann  Verdacht, 
wurde  allmählich  geradezu  verfehmt  und  in  die  Acht 
der  Gesellschaft  erklärt,  bis  endlich  die  Justiz  sich  eines 
so  verworfenen  Wesens  erinnerte ,  bei  Gelegenheiten ,  wo 
sie  sonst  kein  Auge  hatte,  oder  dasselbe  zudrückte.    Der 


-     83     - 

Mangel  an  Schweigsamkeit  über  das  allgemeine  Geheim- 
niss  und  der  unverantwortliche  Hang  zu  sehen,  was 
Keiner  sehen  will  —  sich  selber  — ,  brachten  ihn  zu 
Gefängniss  und  frühzeitigem  Tod. 


66. 

Sträflich,  nie  gestraft  —  Unser  Verbrechen 
gegen  Verbrecher  besteht  darin,  dass  wir  sie  wie  Schufte 
behandeln. 

67. 

Sancta  simplicitas  der  Tugend.  —  Jede  Tugend 
hat  Vorrechte :  zum  Beispiel  diess,  zu  dem  Scheiterhaufen 
eines  Verurtheilten  ihr  eigenes  Bündchen  Holz  zu  liefern. 


68. 

Moralität  und  Erfolg.  —  Nicht  nur  die  Zuschauer 
einer  That  bemessen  häufig  das  Morahsche  oder  Unmo- 
ralische an  derselben  nach  dem  Erfolge:  nein,  der  Thäter 
selbst  thut  diess.  Denn  die  Motive  und  Absichten  sind 
selten  deutlich  und  einfach  genug,  und  mitunter  scheint 
selbst  das  Gedächtniss  durch  den  Erfolg  der  That  getrübt, 
so  dass  man  seiner  That  selber  falsche  Motive  unter- 
schiebt oder  die  unwesentlichen  Motive  als  wesentliche 
behandelt.  Der  Erfolg  giebt  oft  einer  That  den  vollen 
ehrlichen  Glanz  des  guten  Gewissens,  ein  Misserfolg  legt 
den  Schatten  von  Gewissensbissen  über  die  achtungs- 
würdigste Handlung.  Daraus  ergiebt  sich  die  bekannte 
Praxis  des  Politikers,  welcher  denkt:  „gebt  mir  nur  den 
Erfolg:  mit  ihm  habe  ich  auch  alle  ehrlichen  Seelen  auf 
meine  Seite  gebracht  —  und  mich  vor  mir  selber  ehrlich 


-     84     - 

gemacht"  —  Auf  ähnliche  Weise  soll  der  Erfolg  die 
bessere  Begründung  ersetzen.  Noch  jetzt  meinen  viele 
Gebildete,  der  Sieg  des  Christenthums  über  die  griechi- 
sche Philosophie  sei  ein  Beweis  für  die  grössere  Wahr- 
heit des  ersteren  —  obwohl  in  diesem  Falle  nur  das 
Gröbere  und  Gewaltsamere  über  das  Geistigere  und  Zarte 
gesiegt  hat.  Wie  es  mit  der  grösseren  Wahrheit  steht, 
ist  daraus  zu  ersehen,  dass  die  erwachenden  Wissen- 
schaften Punkt  um  Punkt  an  Epikur's  Philosophie  ange- 
knüpft, das  Christenthum  aber  Punkt  um  Punkt  zurück- 
gewiesen haben. 

69. 

Liebe  und  Gerechtigkeit.  —  Warum  überschätzt 
man  die  Liebe  zu  Ungunsten  der  Gerechtigkeit  und 
sagt  die  schönsten  Dinge  von  ihr,  als  ob  sie  ein  viel 
höheres  Wesen  als  jene  sei?  Ist  sie  denn  nicht  ersicht- 
lich dümmer  als  jene?  —  Gewiss,  aber  gerade  desshalb 
um  so  viel  angenehmer  für  Alle.  Sie  ist  dumm  und 
besitzt  ein  reiches  Füllhorn;  aus  ihm  theilt  sie  ihre  Gaben 
aus,  an  Jedermann,  auch  wenn  er  sie  nicht  verdient,  ja 
ihr  nicht  einmal  dafür  dankt.  Sie  ist  unparteiisch  wie 
der  Regen,  welcher,  nach  der  Bibel  und  der  Erfahrung, 
nicht  nur  den  Ungerechten,  sondern  unter  Umständen 
auch  den  Gerechten  bis  auf  die  Haut  nass  macht 


70. 

Hinrichtung.  —  Wie  kommt  es,  dass  jede  Hin- 
richtung uns  mehr  beleidigt  als  ein  Mord?  Es  ist  die 
Kälte  der  Richter,  die  peinliche  Vorbereitung,  die  Ein- 
sicht, dass  hier  ein  Mensch  als  Mittel  benutzt  wird,  um 
andre  abzuschrecken.     Denn   die  Schuld   wird   nicht  be- 


_     85     - 

straft,  selbst  wenn  es  eine  gäbe:  diese  liegt  in  Erziehern 
Eltern  Umgebungen,  in  uns,  nicht  im  Mörder  —  ich 
meine  die  veranlassenden  Umstände. 


71. 

Die  Hoffnung.  —  Pandora  brachte  das  Fass  mit 
den  Übeln  und  öffnete  es.  Es  war  das  Geschenk  der 
Götter  an  die  Menschen,  von  Aussen  ein  schönes  ver- 
führerisches Geschenk  und  „Glücksfass"  zubenannt.  Da 
flogen  all  die  Übel,  lebendige  beschwingte  Wesen  heraus: 
von  da  an  schweifen  sie  nun  herum  und  thun  den 
^lenschen  Schaden  bei  Tag  und  Nacht.  Ein  einziges 
Übel  war  noch  nicht  aus  dem  Fass  herausgeschlüpft:  da 
schlug  Pandora  nach  Zeus'  Willen  den  Deckel  zu,  und 
so  blieb  es  darin.  Für  immer  hat  der  Mensch  nun  das 
Glücksfass  im  Hause  und  meint  Wunder  was  für  einen 
Schatz  er  in  ihm  habe;  es  steht  ihm  zu  Diensten,  er 
greift  darnach,  wenn  es  ihn  gelüstet;  denn  er  weiss 
nicht,  dass  jenes  Fass,  welches  Pandora  brachte,  das  Fass 
der  Übel  war,  und  hält  das  zurückgebliebene  Übel  für 
das  grösste  Glücksgut  -  -  es  ist  die  Hoffnung.  —  Zeus 
wollte  nämlich,  dass  der  Mensch,  auch  noch  so  sehr 
durch  die  anderen  Übel  gequält,  doch  das  Leben  nicht 
wegwerfe ,  sondern  fortfahre ,  sich  immer  von  Neuem 
quälen  zu  lassen.  Dazu  giebt  er  dem  Menschen  die 
Hoffnung:  sie  ist  in  Wahrheit  das  übelste  der  Übel,  weil 
sie  die  Qual  der  Menschen  verlängert. 

72. 
Grad   der  moralischen  Erhitzbarkeit  unbe- 
kannt  —   Daran  dass  man  gewisse  erschütternde  An- 
blicke und  Eindrücke  gehabt  oder  nicht  gehabt  hat,  zum 


—     86     — 

Beispiel  eines  unrecht  gerichteten,  getödteten  oder  ge- 
marterten Vaters,  einer  untreuen  Frau,  eines  grausamen 
feindlichen  Überfalls,  hängt  es  ab ,  ob  unsere  Leiden- 
schaften zur  Glühhitze  kommen  und  das  ganze  Leben 
lenken  oder  nicht.  Keiner  weiss,  wozu  ihn  die  Umstände, 
das  Mitleid,  die  Entrüstung  treiben  können,  er  kennt 
den  Grad  seiner  Erhitzbarkeit  nicht.  Erbärmliche  kleine 
Verhältnisse  machen  erbärmlich;  es  ist  gewöhnlich  nicht 
die  Quantität  der  Erlebnisse,  sondern  ihre  Qualität,  von 
welcher  der  niedere  und  höhere  Mensch  abhängt,  im 
Guten  und  Bösen. 

73. 
Der  Märtyrer  wider  Willen.  —  In  einer  Partei 
gab  es  einen  Menschen,  der  zu  ängstlich  und  feige  war, 
um  je  seinen  Kameraden  zu  widersprechen:  man  brauchte 
ihn  zu  jedem  Dienst,  man  erlangte  von  ihm  Alles,  weil 
er  sich  vor  der  schlechten  Meinung  bei  seinen  Gesellen 
mehr  als  vor  dem  Tode  fürchtete;  es  war  eine  erbärm- 
liche schwache  Seele.  Sie  erkannten  diess  und  machten 
auf  Grund  der  erwähnten  Eigenschaften  aus  ihm  einen 
Heros  und  zuletzt  gar  einen  Märtyrer.  Obwohl  der  feige 
Mensch  innerlich  immer  Nein  sagte,  sprach  er  mit  den 
Lippen  immer  Ja,  selbst  noch  auf  dem  Schaffot,  als  er 
für  die  Ansichten  seiner  Partei  starb:  neben  ihm  nämlich 
stand  einer  seiner  alten  .Genossen ,  der  ihn  durch  Wort 
und  Blick  so  tyrannisirte ,  dass  er  wirklich  auf  die  an- 
ständigste Weise  den  Tod  erlitt  und  seitdem  als  Märtyrer 
und  grosser  Charakter  gefeiert  wird. 

74. 
Alltags-Maassstab.    —    Man    wird    selten    irren, 
wenn    man    extreme    Handlungen    auf  Eitelkeit,    mittel- 


-     87     - 

massige  auf  Gewöhnung  und  kleinliche  auf  Furcht  zurück- 
führt. 

75. 

Missverständniss  über  die  Tugend.  —  Wer  die 
Untugend  in  Verbindung  mit  der  Lust  kennen  gelernt 
hat  —  wie  Der,  welcher  eine  genusssüchtige  Jugend  hinter 
sich  hat  —  bildet  sich  ein,  dass  die  Tugend  mit  der  Unlust 
verbunden  sein  müsse.  Wer  dagegen  von  seinen  Leiden- 
schaften und  Lastern  sehr  geplagt  worden  ist,  ersehnt 
in  der  Tugend  die  Ruhe  und  das  Glück  der  Seele. 
Daher  ist  es  möglich,  dass  zwei  Tugendhafte  einander 
gar  nicht  verstehen. 

76. 

Der  AskeL  —  Der  Asket  macht  aus  der  Tugend 
eine  Noth. 

77. 

Die  Ehre  von  der  Person  auf  die  Sache  über- 
tragen. —  Man  ehrt  allgemein  die  Handlungen  der 
Liebe  und  Aufopferung  zu  Gunsten  des  Nächsten,  wo 
sie  sich  auch  immer  zeigen.  Dadurch  vermehrt  man  die 
Schätzung  der  Dinge,  welche  in  jener  Art  geliebt 
werden  oder  für  welche  man  sich  aufopfert:  obwohl  sie 
vielleicht  an  sich  nicht  viel  werth  sind.  Ein  tapferes 
Heer  überzeugt  von  der  Sache,  für  welche  es  kämpft. 

78. 

Ehrgeiz  ein  Surrogat  des  moralischen  Ge- 
fühls, —  Das  moralische  Gefühl  darf  in  solchen  Naturen 
nicht    fehlen,   welche    keinen    Ehrgeiz  haben.     Die  Ehr- 


—     88     — 

geizigen  behelfen  sich  auch  ohne  dasselbe,  mit  fast 
gleichem  Erfolge.  —  Desshalb  werden  Söhne  aus  be- 
scheidenen, dem  Ehrgeiz  abgewandten  Familien,  wenn 
sie  einmal  das  moralische  Gefühl  verlieren,  gewöhnlich 
in  schneller  Steigerung  zu  vollkommenen  Lumpen. 


79- 

Eitelkeit  bereichert.  —  Wie  arm  wäre  der  mensch- 
liche Geist  ohne  die  Eitelkeit!  So  aber  gleicht  er  einem 
wohlgefüllten  und  immer  neu  sich  füllenden  Waaren- 
magazin,  welches  Käufer  jeder  Art  anlockt:  Alles  fast 
können  sie  finden,  Alles  haben,  vorausgesetzt  dass  sie 
die   gültige  Münzsorte  (Bewunderung)   mit  sich  bringen. 


So. 

GreisundTod.  —  Abgesehen  von  den  Forderungen, 
welche  die  ReUgion  stellt,  darf  man  wohl  fragen:  warum 
sollte  es  für  einen  altgewordenen  Mann,  welcher  die 
Abnahme  seiner  Kräfte  spürt,  rühmlicher  sein,  seine 
langsame  Erschöpfung  und  Auflösung  abzuwarten,  als 
ihr  mit  vollem  Bewusstsein  ein  Ziel  zu  setzen?  Die 
Selbsttödtung  ist  in  diesem  Falle  eine  ganz  natürliche 
naheliegende  Handlung,  welche  als  ein  Sieg  der  Vernunft 
billigerweise  Ehrfurcht  erwecken  sollte:  und  auch  erweckt 
hat,  in  jenen  Zeiten,  als  die  Häupter  der  griechischen 
Philosophie  und  die  wackersten  römischen  Patrioten 
durch  Selbsttödtung  zu  sterben  pflegten.  Die  Sucht  da- 
gegen, sich  mit  ängstlicher  Berathung  von  Ärzten  und 
peinUchster  Lebensart  von  Tag  zu  Tage  fortzufristen, 
ohne  Kraft,  dem  eigentlichen  Lebensziel  noch  näher  zu 
kommen,  ist   viel  weniger   achtbar.    —    Die   Religionen 


—     8q     — 

sind  reich  an  Ausflüchten  vor  der  Forderung  der  Selbst- 
tödtung:  dadurch  schmeicheln  sie  sich  bei  Denen  ein, 
welche  in  das  Leben  verliebt  sind. 


8i. 

Irrthümer  des  Leidenden  und  des  Thäters.  — 
Wenn  der  Reiche  dem  Armen  ein  Besitzthum  nimmt 
(zum  Beispiel  ein  Fürst  dem  Plebejer  die  Geliebte),  so 
entsteht  in  dem  Armen  ein  Irrthum;  er  meint,  Jener 
müsse  ganz  verrucht  sein,  um  ihm  das  Wenige,  was  er 
habe,  zu  nehmen.  Aber  Jener  empfindet  den  Werth  eines 
einzelnen  Besitzthums  gar  nicht  so  tief,  weil  er  gewöhnt 
ist  viele  zu  haben:  so  kann  er  sich  nicht  in  die  Seele 
des  Armen  versetzen  und  thut  lange  nicht  so  sehr  Un- 
recht, als  dieser  glaubt.  Beide  haben  von  einander  eine 
falsche  Vorstellung.  Das  Unrecht  des  Mächtigen,  welches 
am  meisten  in  der  Geschichte  empört,  ist  lange  nicht  so 
gross,  wie  es  scheint.  Schon  die  angeerbte  Empfindung, 
ein  höheres  Wesen  mit  höheren  Ansprüchen  zu  sein, 
macht  ziemlich  kalt  und  lässt  das  Gewissen  ruhig:  wir 
Alle  sogar  empfinden,  wenn  der  Unterschied  zwischen 
uns  und  einem  andern  Wesen  sehr  gross  ist,  gar  nichts 
mehr  von  Unrecht  und  tödten  eine  Mücke  zum  Beispiel 
ohne  jeden  Gewissensbiss.  So  ist  es  kein  Zeichen  von 
Schlechtigkeit  bei  Xerxes  (den  selbst  alle  Griechen  als 
hervorragend  edel  schildern),  wenn  er  dem  Vater  seinen 
Sohn  nimmt  und  ihn  zerstückeln  lässt,  weil  dieser  ein 
ängstliches,  ominöses  Misstrauen  gegen  den  ganzen  Heer- 
zug geäussert  hatte:  der  Einzelne  wird  in  diesem  Falle 
wie  ein  unangenehmes  Insect  beseitigt:  er  steht  zu  niedrig, 
um  länger  quälende  Empfindungen  bei  einem  Weltherr- 
scher  erregen  zu  dürfen.    Ja,  jeder   Grausame   ist  nicht 


—     90     — 

in  dem  Maasse  grausam,  als  es  der  Misshandelte  glaubt; 
die  Vorstellung  des  Schmerzes  ist  nicht  dasselbe  wie 
das  Erleiden  desselben.  Ebenso  steht  es  mit  dem  unge- 
rechten Richter,  mit  dem  Journalisten,  welcher  mit  kleinen 
Unredlichkeiten  die  öffentliche  Meinung  irreführt.  Ur- 
sache und  Wirkung  sind  in  allen  diesen  Fällen  von  ganz 
verschiedenen  Empfindungs-  und  Gedankengruppen  um- 
geben; während  man  unwillkürlich  voraussetzt,  dass 
Thäter  und  Leidender  gleich  denken  und  empfinden,  und 
gemäss  dieser  Voraussetzung  die  Schuld  des  Einen  nach 
dem  Schmerz  des  Andern  misst. 


82. 

Haut  der  Seele. — Wie  die  Knochen  Fleischstücke 
Eingeweide  und  Blutgefässe  mit  einer  Haut  umschlossen 
sind,  die  den  Anblick  des  Menschen  erträglich  macht, 
so  werden  die  Regungen  und  Leidenschaften  der  Seele 
durch  die  Eitelkeit  umhüllt:  sie  ist. die  Haut  der  Seele. 


83. 

Schlaf  der  Tugend.    —  Wenn    die   Tugend    ge- 
schlafen hat,  wird  sie  frischer  aufstehen. 


84. 

Feinheit  der  Scham.  —  Die  Menschen  schämen 
sich  nicht,  etwas  Schmutziges  zu  denken,  aber  wohl, 
wenn  sie  sich  vorstellen,  dass  man  ihnen  diese  schmutzigen 
Gedanken  zutraue. 


—     gi     -^ 

85. 

Bosheit  ist  selten.  —  Die  meisten  Menschen  sind 
viel  zu  sehr  mit  sich  beschäftigt,  um  boshaft  zu  sein. 

86. 

Das  Zünglein  an  der  Wage.  —  Man  lobt  oder 
tadelt,  je  nachdem  das  Eine  oder  das  Andre  mehr 
Gelegenheit  giebt,  unsre  Urtheilskraft  leuchten  zu  lassen. 

87. 

Lucas  18,14  verbessert.  —  Wer  sich  selbst  er- 
niedrigt, will  erhöhet  werden. 


88. 

Verhinderung  des  Selbstmordes.  —  Es  giebt 
ein  Recht,  wonach  wir  einem  Menschen  das  Leben 
nehmen,  aber  keines,  wonach  wir  ihm  das  Sterben  nehmen : 
diess  ist  nur  Grausamkeit 


89. 

Eitelkeit.  —  Uns  liegt  an  der  guten  Meinung  der 
Menschen,  einmal  weil  sie  uns  nützlich  ist,  sodann  weil 
wir  ihnen  Freude  machen  wollen  (Kinder  den  Eltern, 
Schüler  den  Lehrern  und  wohlwollende  Menschen  über- 
haupt allen  übrigen  Menschen).  Nur  wo  Jemandem  die 
gute  Meinung  der  Menschen  wichtig  ist,  abgesehn  vom 
Vortheil  oder  von  seinem  Wunsche,  Freude  zu  machen, 
reden  wir  von  Eitelkeit.     In   diesem   Falle   will   sich  der 


—     92     — 

Mensch  selber  eine  Freude  machen,  aber  auf  Unkosten 
seiner  Mitmenschen,  indem  er  diese  entweder  zu  einer 
falschen  Meinung  über  sich  verführt  oder  es  gar  auf 
einen  Grad  der  „guten  Meinung"  absieht,  wo  diese  allen 
Anderen  peinlich  werden  muss  (durch  Erregung  von 
Neid).  Der  Einzelne  will  gewöhnlich  durch  die  Meinung 
Anderer  die  Meinung,  die  er  von  sich  hat,  beglaubigen 
und  vor  sich  selber  bekräftigen;  aber  die  mächtige  Ge- 
wöhnung an  Autorität  —  eine  Gewöhnung,  die  so  alt 
als  der  Mensch  ist  —  bringt  Viele  auch  dazu,  ihren 
eigenen  Glauben  an  sich  auf  Autorität  zu  stützen,  also 
erst  aus  der  Hand  Anderer  anzunehmen:  sie  trauen  der 
Urtheilskraft  Anderer  mehr  als  der  eigenen.  —  Das  In- 
teresse an  sich  selbst,  der  Wunsch,  sich  zu  vergnügen 
erreicht  bei  dem  Eitlen  eine  solche  Höhe,  dass  er  die 
Anderen  zu  einer  falschen  allzu  hohen  Taxation  seiner 
selbst  verführt  und  dann  doch  sich  an  die  Autorität  der 
Anderen  hält:  also  den  Irrthum.  herbeiführt  und  doch 
ihm  Glauben  schenkt.  —  Man  muss  sich  also  eingestehen, 
dass  die  eitlen  Menschen  nicht  sowohl  Anderen  ge- 
fallen wollen  als  sich  selbst,  und  dass  sie  so  weit  gehen, 
ihren  Vortheil  dabei  zu  vernachlässigen:  denn  es  liegt 
ihnen  oft  daran,  ihre  Mitmenschen  ungünstig  feindlich 
neidisch,  also  schädlich  gegen  sich  zu  stimmen,  nur  um 
die  Freude  an  sich  selber,  den  Selbstgenuss  zu  haben. 


90. 

Grenze  der  Menschenliebe.  — Jeder,  welcher  sich 
dafür  erklärt  hat,  dass  der  Andere  ein  Dummkopf, 
ein  schlechter  Geselle  sei,  ärgert  sich,  wenn  Jener  schhess- 
lich  zeigt,  dass  er  es  nicht  ist 


—     93     — 

Moraltt^  larmoyante.  —  Wie  viel  Vergnügen 
macht  die  Moralität!  Man  denke  nur,  was  fiir  ein  Meer 
angenehmer  Thränen  schon  bei  Erzählungen  edler,  gross- 
müthiger  Handlungen  geflossen  ist!  —  Dieser  Reiz  des 
Lebens  würde  schwinden,  wenn  der  Glaube  an  die  völlige 
UnVerantwortlichkeit  überhand  nähme. 


Ursprung  der  Gerechtigkeit.  —  Die  Gerechtig- 
keit (BilHgkeit)  nimmt  ihren  Ursprung  unter  ungefähr 
gleich  Mächtigen,  wie  diess  Thukydides  (in  dem 
furchtbaren  Gespräche  der  athenischen  und  melischen 
Gesandten)  richtig  begriffen  hat:  wo  es  keine  deut- 
lich erkennbare  Übergewalt  giebt  und  ein  Kampf  zum 
erfolglosen  gegenseitigen  Schädigen  würde,  da  entsteht  der 
Gedanke,  sich  zu  verständigen  und  über  die  beiderseitigen 
Ansprüche  zu  verhandeln:  der  Charakter  des  Tausches 
ist  der  anfängliche  Charakter  der  Gerechtigkeit.  Jeder 
stellt  den  Andern  zufrieden,  indem  Jeder  bekommt,  was 
er  mehr  schätzt  als  der  Andre.  Man  giebt  Jedem,  was 
er  haben  will,  als  das  nunmehr  Seinige,  und  empfängt 
^^^g'^g'en  das  Gewünschte.  Gerechtigkeit  ist  also  Ver- 
geltung und  Austausch  unter  der  Voraussetzung  einer 
ungefähr  gleichen  Machtstellung:  so  gehört  ursprünglich 
die  Rache  in  den  Bereich  der  Gerechtigkeit,  sie  ist  ein 
Austausch.  Ebenso  die  Dankbarkeit  —  Gerechtigkeit 
geht  natürlich  auf  den  Gesichtspunkt  einer  einsichtigen 
Selbsterhaltung  zurück,  also  auf  den  Egoismus  jener 
Überlegung:  „wozu  sollte  ich  mich  nutzlos  schädigen 
und  mein  Ziel  vielleicht  doch  nicht  erreichen?"  —  Soviel 


—      94      — 

vom  Ursprung  der  Gerechtigkeit.  Dadurch  dass  die 
Menschen,  ihrer  intellectuellen  Gewohnheit  gemäss,  den 
ursprünglichen  Zweck  sogenannter  gerechter,  billiger 
Handlungen  vergessen  haben  und  namentlich,  weil 
durch  Jahrtausende  hindurch  die  Kinder  angelernt  worden 
sind,  solche  Handlungen  zu  bewundern  und  nachzuahmen, 
ist  allmählich  der  Anschein  entstanden,  als  sei  eine  ge- 
rechte Handlung  eine  unegoistische:  auf  diesem  Anschein 
aber  beruht  die  hohe  Schätzung  derselben,  welche  über- 
diess,  wie  alle  Schätzungen,  fortwährend  noch  im  Wachsen 
ist:  denn  etwas  Hochgeschätztes  wird  mit  Aufopferung 
erstrebt,  nachgeahmt,  vervielfältigt,  und  wächst  dadurch, 
dass  der  Werth  der  aufgewandten  Mühe  und  Beeiferung 
von  jedem  Einzelnen  noch  zum  Werthe  des  geschätzten 
Dinges  hinzugeschlagen  wird.  —  Wie  wenig  moralisch 
sähe  die  Welt  ohne  die  Vergesslichkeit  aus!  Ein  Dichter 
könnte  sagen,  dass  Gott  die  Vergesslichkeit  als  Thür- 
hüterin  an  die  Tempelschwelle  der  Menschenwürde  hin- 
gelagert habe. 

93. 

Vom  Rechte  des  Schwächeren.  —  Wenn  sich 
Jemand  unter  Bedingungen  einem  Mächtigeren  unter- 
wirft, zum  Beispiel  eine  belagerte  Stadt,  so  ist  die  Gegen- 
bedingung die,  dass  man  sich  vernichten,  die  Stadt  ver- 
brennen und  so  dem  Mächtigen  eine  grosse  Einbusse 
machen  kann,  Desshalb  entsteht  hier  eine  Art  Gleich- 
stellung, auf  Grund  welcher  Rechte  festgesetzt  werden 
können.  Der  Feind  hat  seinen  Vortheil  an  der  Er- 
haltung. —  Insofern  giebt  es  auch  Rechte  zwischen 
Sclaven  und  Herren,  das  heisst  genau  so  weit  als  der 
Besitz  des  Sclaven  seinem  Herrn  nützlich  und  wichtig 
ist.     Das  Recht   geht  ursprünglich   so   weit,  als  Einer 


—     95     — 

dem  Anderen  werthvoU  wesentlich  unverlierbar  unbesiegbar 
und  dergleichen  erscheint.  In  dieser  Hinsicht  hat  auch 
der  Schwächere  noch  Rechte,  aber  geringere.  Daher  das 
berühmte  unusqiiisque  tantum  juris  habet,  quantum 
fotentia  valet  (oder  genauer:  quantum  potentia  valere 
creditur). 

94. 

Die  drei  Phasen  der  bisherigen  Moralität.  — 
Es  ist  das  erste  Zeichen,  dass  das  Thier  Mensch  geworden 
ist,  wenn  sein  Handeln  nicht  mehr  auf  das  augenblick- 
liche Wohlbefinden,  sondern  auf  dauerndes  sich  be- 
zieht, der  Mensch  also  nützlich,  zweckmässig  wird: 
da  bricht  zuerst  die  freie  Herrschaft  der  Vernunft 
heraus.  Eine  noch  höhere  Stufe  ist  erreicht,  wenn  er 
nach  dem  Princip  der  Ehre  handelt;  vermöge  desselben 
ordnet  er  sich  ein,  unterwirft  sich  gemeinsamen  Em- 
pfindungen, und  das  erhebt  ihn  hoch  über  die  Phase,  in 
der  nur  die  persönlich  verstandene  Nützlichkeit  ihn 
leitete:  er  achtet  und  will  geachtet  werden,  das  heisst: 
er  begreift  den  Nutzen  als  abhängig  von  dem,  was 
er  über  Andere,  was  Andere  über  ihn  meinen.  Endlich 
handelt  er,  auf  der  höchsten  Stufe  der  bisherigen 
Moralität,  nach  seinem  Maassstabe  über  die  Dinge  und 
Menschen,  er  selber  bestimmt  für  sich  und  Andere,  was 
ehrenvoll,  was  nützlich  ist;  er  ist  zum  Gesetzgeber  der 
Meinungen  geworden,  gemäss  dem  immer  höher  ent- 
wickelten Begriff  des  Nützlichen  und  Ehrenhaften.  Die 
Erkenntniss  befähigt  ihn,  das  Nützlichste,  das  heisst  den 
allgemeinen  dauernden  Nutzen,  dem  persönlichen,  die 
ehrende  Anerkennung  von  allgemeiner  dauernder  Geltung 
der  momentanen  voranzustellen;  er  lebt  und  handelt  als 
CoUectiv-Individuum. 


-     96     - 

95- 

Moral  des  reifen  Individuums.  —  Man  hat 
bisher  als  das  eigentliche  Kennzeichen  der  moralischen 
Handlung  das  Unpersönliche  angesehn;  und  es  ist  nach- 
gewiesen, dass  zu  Anfang  die  Rücksicht  auf  den  allge- 
meinen Nutzen  es  war,  derentwegen  man  alle  unpersön- 
lichen Handlungen  lobte  und  auszeichnete.  Sollte  nicht 
eine  bedeutende  Umwandlung  dieser  Ansichten  bevor- 
stehen, jetzt  wo  immer  besser  eingesehn  wird,  dass 
gerade  in  der  möglichst  persönlichen  Rücksicht  auch 
der  Nutzen  für  das  Allgemeine  am  grössten  ist:  so  dass 
gerade  das  streng  persönliche  Handeln  dem  jetzigen 
Begriff  der  Moralität  (als  einer  allgemeinen  Nützlichkeit) 
entspricht?  Aus  sich  eine  ganze  Person  machen  und 
in  Allem,  was  man  thut,  deren  höchstes  Wohl  in's 
Auge  fassen  —  das  bringt  weiter  als  jene  mitleidigen 
Regungen  und  Handlungen  zu  Gunsten  Anderer.  Wir 
Alle  leiden  freilich  noch  immer  an  der  allzugeringen 
Beachtung  des  Persönlichen  an  uns,  es  ist  schlecht  aus- 
gebildet —  gestehen  wir  es  uns  ein:  man  hat  vielmehr 
unsern  Sinn  gewaltsam  von  ihm  abgezogen  und  dem 
Staat,  der  Wissenschaft,  dem  Hülfebedürftigen  zum  Opfer 
angeboten,  wie  als  ob  es  das  Schlechte  wäre,  das  ge- 
opfert werden  müsste.  Auch  jetzt  wollen  wir  für  unsere 
Mitmenschen  arbeiten,  afcer  nur  sow^eit,  als  wir  unsern 
eignen  höchsten  Vortheil  in  dieser  Arbeit  finden,  nicht 
mehr,  nicht  weniger.  Es  kommt  nur  darauf  an,  was 
man  als  seinen  Vortheil  versteht;  gerade  das  unreife, 
unentwickelte,  rohe  Individuum  wird  ihn  auch  am  rohesten 
verstehen. 


—     97 


96. 

Sitte  und  sittlich.  —  Moralisch  sittlich  ethisch 
sein  heisst  Gehorsam  gegen  ein  altbegründetes  Gesetz 
oder  Herkommen  haben.  Ob  man  mit  Mühe  oder  gern 
sich  ihm  unterwirft,  ist  dabei  gleichgültig,  genug  dass 
man  es  thut.  »Gut"  nennt  man  Den ,  welcher  wie  von 
Natur,  nach  langer  Vererbung,  also  leicht  und  gern  das 
Sittliche  thut,  je  nachdem  diess  ist  (zum  Beispiel  Rache 
übt,  wenn  Rache-üben  wie  bei  den  älteren  Griechen  zur 
guten  Sitte  gehört).  Er  wird  gut  genannt,  weil  er 
„wozu"  gut  ist;  da  aber  Wohlwollen  Mitleiden  und 
dergleichen  in  dem  Wechsel  der  Sitten  immer  als  „gut 
wozu",  als  nützlich  empfunden  wurde,  so  nennt  man 
jetzt  vornehmlich  den  Wohlwollenden  Hülfreichen  „gut". 
Böse  ist  „nicht  sittlich"  (unsittlich)  sein,  Unsitte  üben, 
dem  Herkommen  widerstreben,  wie  vernünftig  oder  dumm 
dasselbe  auch  sei;  das  Schädigen  des  Nächsten  ist  aber 
in  allen  den  Sittengesetzen  der  verschiednen  Zeiten 
vornehmlich  als  schädlich  empfunden  worden,  so  dass  wir 
jetzt  namentlich  bei  dem  Wort  „böse**  an  die  freiwillige 
Schädigung  des  Nächsten  denken.  Nicht  das  „Egoistische" 
und  das  „Unegoistische"  ist  der  Grundgegensatz,  welcher 
die  Menschen  zur  Unterscheidung  von  Sittlich  und 
Unsittlich,  Gut  und  Böse  gebracht  hat,  sondern: 
Gebundensein  an  ein  Herkommen,  Gesetz,  und  Lösung 
davon.  Wie  das  Herkommen  entstanden  ist,  das  ist 
dabei  gleichgültig,  jedenfalls  ohne  Rücksicht  auf  Gut 
und  Böse  oder  irgend  einen  immanenten  kategorischen 
Imperativ,  sondern  vor  Allem  zum  Zweck  der  Erhaltung 
einer  Gemeinde,  eines  Volkes:  jeder  abergläubische 
Brauch,    welcher    auf    Grund    eines    falsch    gedeuteten 

Nietzsche,  Werke  Band  H.  - 


-     98     - 

Zufalls  enstanden  ist,  erzwingt  ein  Herkommen,  dem 
zu  folgen  sittlich  ist;  sich  von  ihm  lösen  ist  nämlich 
gefährlich,  für  die  Gemeinschaft  noch  mehr  schädlich 
als  für  den  Einzelnen  (weil  die  Gottheit  den  Frevel 
und  jede  Verletzung  ihrer  Vorrechte  an  der  Ge- 
meinde und  nur  insofern  auch  am  Individuum  straft). 
Nun  wird  jedes  Herkommen  fortwährend  ehrwürdiger, 
je  weiter  der  Ursprung  abliegt,  je  mehr  dieser  ver- 
gessen ist;  die  ihm  gezollte  Verehrung  häuft  sich 
von  Generation  zu  Generation  auf,  das  Herkommen 
wird  zuletzt  heilig  und  erweckt  Ehrfurcht;  und  so 
ist  jedenfalls  die  Moral  der  Pietät  eine  viel  ältere 
Moral  als  die,  welche  unegoistische  Handlungen  ver- 
langt 


97. 

Die  Lust  in  der  Sitte.  —  Eine  wichtige 
Gattung  der  Lust  und  damit  der  Quelle  der  Moralität 
entsteht  aus  der  Gewohnheit.  Man  thut  das  Gewohnte 
leichter,  besser,  also  lieber,  man  empfindet  dabei  eine 
Lust,  und  weiss  aus  der  Erfahrung,  dass  das 
Gewohnte  sich  bewährt  hat,  also  nützlich  ist; 
eine  Sitte,  mit  der  sich  leben  lässt,  ist  als  heilsam, 
förderlich  bewiesen,  im  Gegensatz  zu  allen  neuen,  noch 
nicht  bewährten  Versuchen.  Die  Sitte  ist  demnach  die 
Vereinigung  des  Angenehmen  und  des  Nützlichen, 
überdiess  macht  sie  kein  Nachdenken  nöthig.  Sobald 
der  Mensch  Zwang  ausüben  kann  übt  er  ihn  aus, 
um  seine  Sitten  durchzusetzen  und  einzuführen, 
denn  für  ihn  sind  sie  die  bewährte  Lebensweisheit 
Ebenso  zwingt  eine  Gemeinschaft  von  Individuen  jedes 
einzelne  zur  selben  Sitte.     Hier  ist  der  Fehlschluss:  weil 


—     99     — 

man  sich  mit  einer  Sitte  wohl  fühlt  oder  wenigstens  weü 
man  vermittelst  derselben  seine  Existenz  durchsetzt,  so 
ist  diese  Sitte  nothwendig,  denn  sie  gilt  als  die  einzige 
Möglichkeit,  unter  der  man  sich  wohl  fühlen  kann;  das 
Wohlgefühl  des  Lebens  scheint  allein  aus  ihr  hervorzu- 
wachsen. Diese  Auffassung  des  Gewohnten  als  einer 
Bedingung  des  Daseins  wird  bis  auf  die  kleinsten  Einzel- 
heiten der  Sitte  durchgeführt:  da  die  Einsicht  in  die 
wirkliche  Causalität  bei  den  niedrig  stehenden  Völkern 
und  Culturen  sehr  gering  ist,  sieht  man  mit  aber- 
gläubischer Furcht  darauf,  dass  Alles  seinen  gleichen 
Gang  gehe;  selbst  wo  die  Sitte  schwer  hart  lästig  ist, 
wird  sie  ihrer  scheinbar  höchsten  Nützlichkeit  wegen  be- 
wahrt Man  weiss  nicht,  dass  derselbe  Grad  von  Wohl- 
befinden auch  bei  anderen  Sitten  bestehen  kann  und  dass 
selbst  höhere  Grade  sich  erreichen  lassen.  Wohl  aber 
nimmt  man  wahr,  dass  alle  Sitten,  auch  die  härtesten, 
mit  der  Zeit  angenehmer  und  milder  werden,  und  dass 
auch  die  strengste  Lebensweise  zur  Gewohnheit  und  damit 
zur  Lust  werden  kann. 


98. 
Lust  und  socialer  Instinct.  —  Aus  seinen  Bezieh- 
ungen zu  anderen  Menschen  gewinnt  der  Mensch  eine  neue 
Gattung  von  Lust  zu  jenen  Lustempfindungen  hinzu, 
welche  er  aus  sich  selber  nimmt;  wodurch  er  das  Reich 
der  Lustempfindung  überhaupt  bedeutend  umfänglicher 
macht.  Vielleicht  hat  er  mancherlei,  das  hierher  gehört, 
schon  von  den  Thieren  her  überkommen,  welche  er- 
sichtlich Lust  empfinden,  wenn  sie  mit  einander  spielen, 
namentlich  die  Mütter  mit  den  Jungen.  Sodann  gedenke 
man    der    geschlechthchen    Beziehungen ,    welche    jedem 


lOO 


Männchen  ungefähr  jedes  Weibchen  interessant  in  An- 
sehung der  Lust  erscheinen  lassen  und  umgekehrt.  Die 
Lustempfindung  auf  Grund  menschlicher  Beziehungen 
macht  im  Allgemeinen  den  Menschen  besser;  die  gemein- 
same Freude,  die  Lust  mitsammen  genossen  erhöht  die- 
selbe, sie  giebt  dem  Einzelnen  Sicherheit,  macht  ilin  gut- 
müthiger,  löst  das  Misstrauen,  den  Neid:  denn  man  fühlt 
sich  selber  wohl  und  sieht  den  Andern  in  gleicherweise 
sich  wohl  fühlen.  Die  gleichartigen  Äusserungen 
der  Lust  erwecken  die  Phantasie  der  Mitempfindung, 
das  Gefühl  etwas  Gleiches  zu  sein:  dasselbe  thun  auch 
die  gemeinsamen  Leiden,  dieselben  Unwetter  Gefahren 
Feinde.  Darauf  baut  sich  dann  wohl  das  älteste  Bünd- 
niss  auf:  dessen  Sinn  die  gemeinsame  Beseitigung  und 
Abwehr  einer  drohenden  Unlust  zum  Nutzen  jedes  Ein- 
zelnen ist.  Und  so  wächst  der  sociale  Instinct  aus  der 
Lust  heraus. 

99- 

Das  Unschuldige  an  den  sogenannten  bösen 
Handlungen.  — Alle  „bösen"  Handlimgen  sind  motivirt 
durch  den  Trieb  der  Erhaltung  oder,  noch  genauer,  durch 
die  Absicht  auf  Lust  und  Vermeiden  der  Unlust  des 
Individuums;  als  solchermaassen  motivirt  aber  nicht  böse. 
„Schmerz  bereiten  an  siph"  existirt  nicht,  ausser  im 
Gehirn  der  Philosophen,  ebensowenig  „Lust  bereiten  an 
sich"  (Mitleid  im  Schopenhauerischen  Sinne).  In  dem  Zu- 
stand vor  dem  Staate  tödten  wir  das  Wesen,  sei  es 
Affe  oder  Mensch,  welches  uns  eine  Frucht  des  Baumes 
vorwegnehmen  will,  wenn  wir  gerade  Hunger  haben 
und  auf  den  Baum  zulaufen:  wie  wir  es  noch  jetzt  bei 
Wanderungen  in  unwirthlichen  Gegenden  mit  dem  Thiere 
thun  würden.  —  Die  bösen  Handlungen,  welche  uns  jetzt 


lOI       

am  meisten  empören,  beruhen  auf  dem  Irrthume,  dass 
der  Andere,  welcher  sie  uns  zufügt,  freien  Willen  habe, 
also  dass  es  in  seinem  Belieben  gelegen  habe,  uns 
diess  Schlimme  nicht  anzuthun.  Dieser  Glaube  an  das 
Belieben  erregt  den  Hass,  die  Rachlust,  die  Tücke,  die 
ganze  Verschlechterung  der  Phantasie,  während  wir  einem 
Thiere  viel  weniger  zürnen,  weil  wir  diess  als  unverant- 
wortlich betrachten.  Leid  thun  nicht  aus  Erhaltungstrieb, 
sondern  zur  Vergeltung  —  ist  Folge  eines  falschen 
Unheils  und  desshalb  ebenfalls  unschuldig.  Der  Einzelne 
kann  im  Zustande,  welcher  vor  dem  Staat  liegt,  zur 
Abschreckung  andere  Wesen  hart  und  grausam  be- 
handeln: um  seine  Existenz  durch  solche  abschreckende 
Proben  seiner  Macht  sicher  zu  stellen.  So  handelt  der 
Gewaltthätige ,  Mächtige,  der  ursprüngliche  Staaten- 
gründer, welcher  sich  die  Schwächeren  unterwirft.  Er 
hat  dazu  das  Recht,  wie  es  jetzt  noch  der  Staat  sich 
nimmt;  oder  vielmehr:  es  giebt  kein  Recht,  welches  diess 
hindern  kann.  Es  kann  erst  dann  der  Boden  für  alle 
Moralität  zurecht  gemacht  werden,  wenn  ein  grösseres 
Individuum  oder  ein  Collectiv- Individuum,  zum  Beispiel 
die  Gesellschaft  der  Staat,  die  Einzelnen  unterwirft,  also 
aus  ihrer  Vereinzelung  herauszieht  und  in  einen  Verband 
einordnet.  Der  Moralität  geht  der  Zwang  voraus,  ja 
sie  selber  ist  noch  eine  Zeitlang  Zwang,  dem  man  sich, 
zur  Vermeidung  der  Unlust,  fügt.  Später  wird  sie  Sitte, 
noch  später  freier  Gehorsam,  endlich  beinahe  Instinct: 
dann  ist  sie  wie  alles  lang  Gewöhnte  und  Natürliche  mit 
Lust  verknüpft  —  und  heisst  nun  Tugend. 

lOO. 

Scham.  —  Die   Scham    existirt   überall,  wo   es  ein 
„Mysterium"  giebt;    diess   aber   ist   ein  religiöser  Begriff, 


I02       — 

welcher  in  der  altern  Zeit  der  menschlichen  Cultur  einen 
grossen  Umfang  hatte.  Überall  gab  es  umgrenzte  Gebiete, 
zu  welchen  das  göttliche  Recht  den  Zutritt  versagte 
ausser  unter  bestimmten  Bedingungen:  zu  allererst  ganz 
räumlich,  insofern  gewisse  Stätten  vom  Fusse  der  Un- 
eingeweihten nicht  zu  betreten  waren  und  in  deren  Nähe 
Diese  Schauder  und  Angst  empfanden.  Diess  Gefühl 
wurde  vielfach  auf  andere  Verhältnisse  übertragen ,  zum 
Beispiel  auf  die  geschlechtlichen  Verhältnisse,  welche  als 
ein  Vorrecht  und  Adyton  des  reiferen  Alters  den  Blicken 
der  Jugend,  zu  deren  Vortheil,  entzogen  werden  sollten: 
Verhältnisse,  zu  deren  Schutz  und  Heilighaltung  viele 
Götter  thätig  und  im  ehelichen  Gemache  als  Wächter 
aufgestellt  gedacht  wurden.  (Im  Türkischen  heisst  dess- 
halb  diess  Gemach  Harem  „Heiligthum",  wird  also  mit 
demselben  Worte  bezeichnet,  welches  für  die  Vorhöfe 
der  Moscheen  üblich  ist.)  So  ist  das  Königthum  als  ein 
Centrum,  von  wo  Macht  und  Glanz  ausstrahlt,  dem 
Unterworfenen  ein  Mysterium  voller  Heimlichkeit  und 
Scham:  wovon  viele  Nachwirkungen  noch  jetzt,  unter 
Völkern,  die  sonst  keineswegs  zu  den  verschämten  ge- 
hören, zu  fühlen  sind.  Ebenso  ist  die  ganze  Welt  innerer 
Zustände,  die  sogenannte  „Seele"  auch  jetzt  noch  für 
alle  Nicht- Philosophen  ein  Mysterium,  nachdem  diese 
endlose  Zeiten  hindurch  als  göttlichen  Ursprungs,  als  gött- 
lichen Verkehrs  würdig  geglaubt  wurde:  sie  ist  demnach 
ein  Adyton  und  erweckt  Scham. 


lOI. 

Richtet  nicht  —  Man  muss  sich  hüten,  bei  der 
Betrachtung  früherer  Perioden  nicht  in  ein  ungerechtes 
Schimpfen    zu    gerathen.     Die    Ungerechtigkeit    in    der 


—     I03     — 

Sclaverei,  die  Grausamkeit  in  der  Unterwerfung  von 
Personen  und  Völkern  ist  nicht  mit  unserem  Maasse  zu 
messen.  Denn  damals  war  der  Instinct  der  Gerechtigkeit 
noch  nicht  so  weit  gebildet.  Wer  darf  dem  Genfer  Cal- 
vin die  Verbrennung  des  Arztes  Servet  vorwerfen!  Es  war 
eine  consequente,  aus  seinen  Überzeugungen  fliessende 
Handlung,  und  ebenso  hatte  die  Inquisition  ein  gutes 
Recht;  nur  waren  die  herrschenden  Ansichten  falsch  und 
ergaben  eine  Consequenz,  welche  uns  hart  erscheint, 
weil  uns  jene  Ansichten  fremd  geworden  sind.  Was  ist 
übrigens  Verbrennen  eines  Einzelnen  im  Vergleich  mit 
ewigen  Höllenstrafen  für  fast  Alle !  Und  doch  beherrschte 
diese  Vorstellung  damals  alle  Welt,  ohne  mit  ihrer  viel 
grösseren  Schrecklichkeit  der  Vorstellung  von  einem 
Gotte  wesentHch  Schaden  zu  thun.  Auch  bei  uns  werden 
politische  Sectirer  hart  und  grausam  behandelt,  aber  weil 
man  an  die  Nothwendigkeit  des  Staates  zu  glauben  ge- 
lernt hat,  so  empfindet  man  hier  die  Grausamkeit  nicht 
so  sehr  wie  dort,  wo  wir  die  Anschauungen  verwerfen. 
Die  Grausamkeit  gegen  Thiere  bei  Kindern  und  Italiänern 
geht  auf  Unverständniss  zurück;  das  Thier  ist  namentlich 
durch  die  Interessen  der  kirchlichen  Lehre  zu  weit  hinter 
den  Menschen  zurückgesetzt  worden.  —  Auch  mildert 
sich  vieles  Schreckliche  und  Unmenschliche  in  der  Ge- 
schichte, an  welches  man  kaum  glauben  möchte,  durch 
die  Betrachtung,  dass  der  Befehlende  und  der  Ausführende 
andere  Personen  sind:  ersterer  hat  den  Anbhck  nicht 
und  daher  nicht  den  starken  Phantasie-Eindruck,  letzterer 
gehorcht  einem  Vorgesetzten  und  fühlt  sich  unverant- 
wortlich. Die  meisten  Fürsten  und  Militärchefs  erscheinen, 
aus  Mangel  an  Phantasie,  leicht  grausam  und  hart,  ohne 
es  zu  sein.  —  Der  Egoismus  ist  nicht  böse,  weil 
die  Vorstellung   vom  „Nächsten"  —  das  Wort  ist  christ- 


—      I04     — 

liehen  Ursprungs  und  entspricht  der  Wahrheit  nicht  — 
in  uns  sehr  schwach  ist,  und  wir  uns  gegen  ihn  beinahe 
wie  gegen  Pflanze  und  Stein  frei  und  unverantwortHch 
fühlen.  Dass  der  Andere  leidet,  ist  zu  lernen:  und 
völlig  kann  es  nie  gelernt  werden. 

I02. 

„Der  Mensch  handelt*  immer  gut."  —  Wir 
klagen  die  Natur  nicht  als  unmoralisch  an,  wenn  sie  uns 
ein  Donnerwetter  schickt  und  uns  nass  macht:  warum 
nennen  wir  den  schädigenden  Menschen  unmoraHsch? 
Weil  wir  hier  einen  willkürlich  waltenden  freien  Willen, 
dort  Nothwendigkeit  annehmen.  Aber  diese  Unter- 
scheidung ist  ein  Irrthum.  Sodann:  selbst  das  absicht- 
liche Schädigen  nennen  wir  nicht  unter  allen  Umständen 
unmoralisch;  man  tödtet  zum  Beispiel  eine  Mücke  unbe- 
denklich mit  Absicht,  bloss  weil  uns  ihr  Singen  missfällt, 
man  straft  den  Verbrecher  absichtlich  und  thut  ihm  Leid 
an,  um  uns  und  die  Gesellschaft  zu  schützen.  Im  ersten 
Falle  ist  es  das  Individuum,  welches,  um  sich  zu  erhalten 
oder  selbst  um  sich  keine  Unlust  zu  machen,  absichtUch 
Leid  thut;  im  zweiten  der  Staat.  Alle  Moral  lässt  ab- 
sichtliches Schadenthun  gelten  bei  Nothwehr:  das  heisst 
wenn  es  sich  um  die  Selbsterhaltung  handelt!  Aber 
diese  beiden  Gesichtspunkte  genügen,  um  alle  bösen 
Handlungen,  gegen  Mensqhen  von  Menschen  ausgeübt, 
zu  erklären:  man  wiU  für  sich  Lust  oder  will  Unlust 
abwehren;  in  irgend  einem  Sinne  handelt  es  sich  immer 
um  Selbst erhaltung.  Sokrates  und  Plato  haben  Recht: 
was  auch  der  Mensch  thue,  er  thut  immer  das  Gute,  das 
heisst:  Das  was  ihm  gut  (nützlich)  scheint,  je  nach  dem 
Grade  seines  Intellectes,  dem  jedesmaligen  Maasse  seiner 
Vernünftigkeit. 


-       I05     — 

I03. 

Das  Harmlose  an  der  Bosheit  • —  Die  Bosheit 
hat  nicht  das  Leid  des  Anderen  an  sich  zum  Ziele,  son- 
dern unsem  eigenen  Genuss,  zum  Beispiel  als  Rache- 
gefühl oder  als  stärkere  Nervenaufregung.  Schon  jede 
Neckerei  zeigt,  wie  es  Vergnügen  macht,  am  Anderen 
unsere  Macht  auszulassen  und  zum  lustvollen  Gefühle 
des  Übergewichts  zu  bringen.  Ist  nun  das  Unmoralische 
daran,  Lust  auf  Grund  der  Unlust  Andrer  zu 
haben?  Ist  Schadenfreude  teuflisch,  wie  Schopenhauer 
sagt?  Nun  machen  wir  uns  in  der  Natur  Lust  durch 
Zerbrechen  von  Zweigen,  Ablösen  von  Steinen,  Kampf 
mit  wilden  Thieren,  und  zwar  um  unserer  Kraft  dabei 
bewusst  zu  werden.  Das  Wissen  darum,  dass  ein 
Andrer  durch  uns  leidet,  soll  also  hier  dieselbe  Sache, 
in  Bezug  auf  welche  wir  uns  sonst  unverantwortlich 
fühlen,  unmoralisch  machen?  Aber  wüsste  man  diess 
nicht,  so  hätte  man  die  Lust  an  seiner  eigenen  Über- 
legenheit auch  nicht  dabei,  diese  kann  eben  sich  nur  im 
Leide  des  Andern  zu  erkennen  geben,  zum  Beispiel 
bei  der  Neckerei.  Alle  Lust  an  sich  selber  ist  weder 
gut  noch  böse;  woher  sollte  die  Bestimmung  kommen, 
dass  man,  um  Lust  an  sich  selber  zu  haben,  keine  Un- 
lust Anderer  erregen  dürfe?  Allein  vom  Gesichtspunkte 
des  Nutzens  her,  das  heisst  aus  Rücksicht  auf  die 
Folgen,  auf  eventuelle  Unlust,  wenn  der  Geschädigte 
oder  der  stellvertretende  Staat  Ahndung  und  Rache  er- 
warten lässt:  nur  Diess  kann  ursprünglich  den  Grund 
abgegeben  haben,  solche  Handlungen  sich  zu  versagen.  — 
Das  Mitleid  hat  ebensowenig  die  Lust  des  Andern  zum 
Ziele,  als  wie  gesagt  die  Bosheit  den  Schmerz  des 
Andern   an   sich.     Denn   es  birgt  mindestens  zwei  (viel- 


—     io6     — 

leicht  viel  mehr)  Elemente  einer  persönlichen  Lust  in 
sich  und  ist  dergestalt  Selbstgenuss :  einmal  als  Lust  der 
Emotion,  welcher  Art  das  Mitleid  in  der  Tragödie  ist, 
und  dann,  wenn  es  zur  That  treibt,  als  Lust  der  Be- 
friedigung in  der  Ausübung  der  Macht  Steht  uns  über- 
diess  eine  leidende  Person  sehr  nahe,  so  nehmen  wir 
durch  Ausübung  mitleidvoller  Handlungen  uns  selbst  ein 
Leid  ab.  —  Abgesehen  von  einigen  Philosophen,  so  haben 
die  Menschen  das  Mitleid  in  der  Rangfolge  moralischer 
Empfindungen  immer    ziemlich  tief  gestellt:    mit  Recht 


104. 

Nothwehr,  —  Wenn  man  überhaupt  die  Nothwehr 
als  moralisch  gelten  lässt,  so  muss  man  fast  alle  Äusser- 
ungen des  sogenannten  unmoralischen  Egoismus  auch 
gelten  lassen:  man  thut  Leid  an,  raubt  oder  tödtet,  um 
sich  zu  erhalten  oder  um  sich  zu  schützen,  dem  persön- 
lichen Unheil  vorzubeugen;  man  lügt,  wo  List  und 
Verstellung  das  richtige  Mittel  der  Selbsterhaltung  ist. 
Absichtlich  schädigen,  wenn  es  sich  um  unsere 
Existenz  oder  Sicherheit  (Erhaltung  unseres  Wohlbe- 
findens) handelt,  wird  als  moralisch  concedirt;  der  Staat 
schädigt  selber  unter  diesem  Gesichtspunkt,  wenn  er 
Strafen  verhängt.  Im  unabsichtlichen  Schädigen  kann 
natürlich  das  Unmoralische  nicht  liegen,  da  regiert 
der  Zufall.  Giebt  es  denn  eine  Art  des  absichtlichen 
Schädigens,  wo  es  sich  nicht  um  unsere  Existenz,  um 
die  Erhaltung  unseres  Wohlbefindens  handelt?  Giebt  es 
ein  Schädigen  aus  reiner  Bosheit,  zum  Beispiel  bei  der 
Grausamkeit?  Wenn  man  nicht  weiss,  wie  weh  eine 
Handlung  thut,  so  ist  sie  keine  Handlung  der  Bosheit; 
so   ist   das    Kind   gegen  das  Thier  nicht  boshaft,    nicht 


-       I07     — 

böse:  es  untersucht  und  zerstört  dasselbe  wie  sein  Spiel- 
zeug. Weiss  man  aber  je  völlig,  wie  weh  eine  Hand- 
lung einem  Andern  thut?  So  weit  unser  Nervensystem 
reicht,  hüten  wir  uns  vor  Schmerz:  reichte  es  weiter, 
nämlich  bis  in  die  Mitmenschen  hinein,  so  würden  wir 
Niemandem  ein  Leides  thun  (ausser  in  solchen  Fällen,  wo 
wir  es  uns  selbst  thun,  also  wo  wir  uns  der  Heilung  halber 
schneiden,  der  Gesundheit  halber  uns  mühen  und  an- 
strengen). Wir  seh  Hessen  aus  Analogie,  dass  etwas 
Jemandem  weh  thut,  und  durch  die  Erinnerung  und  die 
Stärke  der  Phantasie  kann  es  uns  dabei  selber  übel 
werden.  Aber  welcher  Unterschied  bleibt  immer  zwischen 
dem  Zahnschmerz  und  dem  Schmerze  (Mitleiden),  welchen 
der  Anblick  des  Zahnschmerzes  hervorruft !  Also :  bei  dem 
Schädigen  aus  sogenannter  Bosheit  ist  der  Grad  des 
erzeugten  Schmerzes  uns  jedenfalls  unbekannt;  insofern 
aber  eine  Lust  bei  der  Handlung  ist  (Gefühl  der  eignen 
Macht,  der  eignen  starken  Erregung),  geschieht  die 
Handlung,  um  das  Wohlbefinden  des  Individuums  zu  er- 
halten, und  fällt  somit  unter  einen  ähnlichen  Gesichts- 
punkt wie  die  Nothwehr,  die  Nothlüge.  Ohne  Lust  kein 
Leben;  der  Kampf  um  die  Lust  ist  der  Kampf  um  das 
Leben.  Ob  der  Einzelne  diesen  Kampf  so  kämpft,  dass 
die  Menschen  ihn  gut,  oder  so,  dass  sie  ihn  böse  nennen, 
darüber  entscheidet  das  Maass  und  die  Beschaffenheit 
seines  Intellects. 


105. 

Die  belohnende  Gerechtigkeit.  —  Wer  voll- 
standig  die  Lehre  von  der  völligen  Unverantwortlichkeit 
begriffen  hat,  der  kann  die  sogenannte  strafende  und  be- 
lohnende Gerechtigkeit  gar  nicht  mehr  unter  den  Begriff 


—     io8     — 

der  Gerechtigkeit  unterbringen:  falls  diese  darin  be- 
steht, dass  man  Jedem  das  Seine  giebt.  Denn  Der, 
welcher  gestraft  wird,  verdient  die  Strafe  nicht:  er  wird 
nur  als  Mittel  benutzt,  um  fürderhin  von  gewissen  Hand- 
lungen abzuschrecken;  ebenso  verdient  Der,  welchen 
man  belohnt,  diesen  Lohn  nicht:  er  konnte  ja  nicht 
anders  handeln,  als  er  gehandelt  hat.  Also  hat  der  Lohn 
nur  den  Sinn  einer  Aufmunterung  für  ihn  und  Andere, 
um  also  zu  späteren  Handlungen  ein  Motiv  abzugeben; 
das  Lob  wird  dem  Laufenden  in  der  Rennbahn  zugerufen, 
nicht  Dem,  welcher  am  Ziele  ist.  Weder  Strafe  noch 
Lohn  sind  Etwas,  das  Einem  als  das  Seine  zukommt; 
sie  werden  ihm  aus  Nützlichkeitsgründen  gegeben,  ohne 
dass  er  sie  mit  Gerechtigkeit  zu  beanspruchen  hätte. 
Man  muss  ebenso  sagen  „der  Weise  belohnt  nicht,  weil 
gut  gehandelt  worden  ist",  als  man  gesagt  hat  „der 
Weise  straft  nicht,  weil  schlecht  gehandelt  worden  ist, 
sondern  damit  nicht  schlecht  gehandelt  werde".  Wenn 
Strafe  und  Lohn  fortfielen,  so  fielen  die  kräftigsten  Motive, 
welche  von  gewissen  Handlungen  weg,  zu  gewissen 
Handlungen  hin  treiben,  fort;  der  Nutzen  der  Menschen 
erheischt  ihre  Fortdauer;  und  insofern  Strafe  und  Lohn, 
Tadel  und  Lob  am  empfindlichsten  auf  die  Eitelkeit 
wirken,  so  erheischt  derselbe  Nutzen  auch  die  Fortdauer 
der  Eitelkeit. 

io6. 

Am  Wasserfall.  —  Beim  Anblick  eines  Wasser- 
falls meinen  wir  in  den  zahllosen  Biegungen  Schlängel- 
ungen Brechungen  der  Wellen  Freiheit  des  Willens 
und  Belieben  zu  sehen;  aber  Alles  ist  nothwendig,  jede 
Bewegung  mathematisch  auszurechnen.  So  ist  es  auch 
bei    den    menschlichen    Handlungen;    man    müsste    jede 


—     log     — 

einzelne  Handlung  vorher  ausrechnen  können,  wenn  man 
allwissend  wäre,  ebenso  jeden  Fortschritt  der  Erkenntniss, 
jeden  Irrthum,  jede  Bosheit,  Der  Handelnde  selbst  steckt 
freilich  in  der  Illusion  der  Willkür ;  wenn  in  einem  Augen- 
blick das  Rad  der  Welt  still  stände  und  ein  allwissender 
rechnender  Verstand  da  wäre,  um  diese  Pause  zu  be- 
nützen, so  könnte  er  bis  in  die  fernsten  Zeiten  die 
Zukunft  jedes  Wesens  weitererzählen  und  jede  Spur 
bezeichnen,  auf  der  jenes  Rad  noch  rollen  wird.  Die 
Täuschung  des  Handelnden  über  sich,  die  Annahme  des 
freien  Willens  gehört  mit  hinein  in  diesen  auszu- 
rechnenden Mechanismus. 


107. 

UnVerantwortlichkeit  und  Unschuld.  —  Die 
völlige  UnVerantwortlichkeit  des  Menschen  für  seine 
Handlungen  und  sein  Wesen  ist  der  bitterste  Tropfen, 
welchen  der  Erkennende  schlucken  muss,  wenn  er  gewohnt 
war,  in  der  Verantwortlichkeit  und  der  Pflicht  den  Adelsbrief 
seines  Menschthums  zu  sehen.  Alle  seine  Schätzungen 
Auszeichnungen  Abneigungen  sind  dadurch  entwerthet 
und  falsch  geworden:  sein  tiefstes  Gefühl,  das  er  dem 
Dulder,  dem  Helden  entgegenbrachte,  hat  einem  Irrthume 
gegolten;  er  darf  nicht  mehr  loben,  nicht  tadeln,  denn 
es  ist  ungereimt,  die  Natur  und  die  Nothwendigkeit  zu 
loben  und  zu  tadeln.  So  wie  er  das  gute  Kunstwerk 
liebt,  aber  nicht  lobt,  weil  es  Nichts  für  sich  selber  kann, 
wie  er  vor  der  Pflanze  steht,  so  muss  er  vor  den  Hand- 
lungen der  Menschen,  vor  seinen  eignen  stehen.  Er  kann 
Kraft  Schönheit  Fülle  an  ihnen  bewundern,  aber  darf 
keine  Verdienste  darin  finden :  der  chemische  Process 
und  der  Streit  der  Elemente,  die  Qual  des  Ivranken,  der 


—     HO     — 

nach  Genesung  lechzt,  sind  ebenso  wenig  Verdienste  als 
jene  Seelenkämpfe  und  Nothzustände ,  bei  denen  man 
durch  verschiedene  Motive  hin-  und  hergerissen  wird, 
bis  man  sich  endlich  für  das  mächtigste  entscheidet  — 
wie  man  sagt  (in  Wahrheit  aber,  bis  das  mächtigste 
Motiv  über  uns  entscheidet).  Alle  diese  Motive  aber, 
so  hohe  Namen  wir  ihnen  geben,  sind  aus  denselben 
Wurzeln  gewachsen,  in  denen  wir  die  bösen  Gifte  woh- 
nend glauben;  zwischen  guten  und  bcsen  Handlungen 
giebt  es  keinen  Unterschied  der  Gattung,  sondern  höch- 
stens des  Grades.  Gute  Handlungen  sind  sublimirte  böse; 
böse  Handlungen  sind  vergröberte,  verdummte  gute.  Das 
einzige  Verlangen  des  Individuums  nach  Selbstgenuss 
(sammt  der  Furcht,  desselben  verlustig  zu  gehen)  befriedigt 
sich  unter  allen  Umständen,  der  Mensch  mag  handeln, 
wie  er  kann,  das  heisst  wie  er  muss:  sei  es  in  Thaten 
der  Eitelkeit,  Rache,  Lust,  NützHchkeit,  Bosheit,  List,  sei 
es  in  Thaten  der  Aufopferung,  des  Mitleids,  der  Erkennt- 
niss.  Die  Grade  der  Urtheilsfähigkeit  entscheiden,  wohin 
Jemand  sich  durch  diess  Verlangen  hinziehen  lässt;  fort- 
während ist  jeder  Gesellschaft,  jedem  Einzelnen  eine 
Rangordnung  der  Güter  gegenwärtig,  wonach  er  seine 
Handlungen  bestimmt  und  die  der  Anderen  beurtheilt. 
Aber  dieser  Maassstab  wandelt  sich  fortwährend,  viele 
Handlungen  werden  böse  genannt  und  sind  nur  dumm, 
weil  der  Grad  der  Intelligenz,  welche  sich  für  sie  ent- 
schied, sehr  niedrig  war.  Ja  in  einem  bestimmten  Sinne 
sind  auch  jetzt  noch  alle  Handlungen  dumm,  denn  der 
höchste  Grad  von  menschlicher  Intelligenz,  der  jetzt  er- 
reicht werden  kann,  ^vird  sicherlich  noch  überboten  wer- 
den: und  dann  wird,  bei  einem  Rückblick,  all  unser 
Handeln  und  Urtheilen  so  beschränkt  und  übereilt  er- 
scheinen, wie  uns  jetzt  das  Handeln  und  Urtheilen  zurück- 


—     III     — 

gebliebener  wilder  Völkerschaften  beschränkt  und  über- 
eilt vorkommt.  —  Diess  Alles  einzusehen  kann  tiefe 
Schmerzen  machen,  aber  darnach  giebt  es  einen  Trost: 
solche  Schmerzen  sind  Geburtswehen.  Der  Schmetterhng 
will  seine  Hülle  durchbrechen,  er  zerrt  an  ihr,  er  zerreisst 
sie:  da  blendet  und  verwirrt  ilin  das  unbekannte  Licht, 
das  Reich  der  Freiheit.  In  solchen  Menschen,  welche 
jener  Traurigkeit  fähig  sind  —  wie  wenige  werden  es 
sein !  — ,  wird  der  erste  Versuch  gemacht,  ob  die  Mensch- 
heit aus  einer  moralischen  sich  in  eine  weise  Mensch- 
heit umwandeln  könne.  Die  Sonne  eines  neuen 
Evangeliums  wirft  ihren  ersten  Strahl  auf  die  höchsten 
Gipfel  in  der  Seele  jener  Einzelnen:  da  ballen  sich  die 
Nebel  dichter  als  je,  und  neben  einander  lagert  der 
hellste  Schein  und  die  trübste  Dämmerung.  Alles  ist 
Nothwendigkeit  —  so  sagt  die  neue  Erkenntniss ;  und 
diese  Erkenntniss  selber  ist  Nothwendigkeit.  Alles  ist 
Unschuld:  und  die  Erkenntniss  ist  der  Weg  zur  Einsicht 
in  diese  Unschuld.  Sind  Lust,  Egoismus,  Eitelkeit  noth- 
wendig  zur  Erzeugung  der  moralischen  Phänomene 
und  ihrer  höchsten  Blüthe,  des  Sinnes  für  Wahrheit  und 
Gerechtigkeit  der  Erkenntniss,  war  der  Irrthum  und  die 
Verirrung  der  Phantasie  das  einzige  Mittel,  durch  welches 
die  Menschheit  sich  allmählich  zu  diesem  Grade  von 
Selbsterleuchtung  und  Selbsterlösung  zu  erheben  ver- 
mochte —  wer  dürfte  jene  Mittel  geringschätzen?  Wer 
dürfte  traurig  sein,  wenn  er  das  Ziel,  zu  dem  jene  Wege 
führen,  gewahr  wird?  Alles  auf  dem  Gebiete  der  Moral 
ist  geworden,  wandelbar,  schwankend,  Alles  ist  im  Flusse, 
es  ist  wahr:  —  aber  Alles  ist  auch  im  Strome:  nach 
Einem  Ziele  hin.  Mag  in  uns  die  vererbte  Gewohnheit 
des  irrthümhchen  Schätzens,  Liebens,  Hassens  immerhin 
fortwalten,  aber  unter  dem  Einfluss  der  wachsenden  Er- 


—       112       — 


kenntniss  wird  sie  schwächer  werden:  eine  neue  Gewohn- 
heit, die  des  Begreifens,  Nicht -Liebens,  Nicht- Hassens, 
Überschauens ,  pflanzt  sich  allmählich  in  uns  auf  dem- 
selben Boden  an  und  wird  in  Tausenden  von  Jahren  viel- 
leicht mächtig  genug  sein,  um  der  Menschheit  die  Kraft 
zu  geben,  den  weisen  unschuldigen  (unschuld-bewussten) 
Menschen  ebenso  regelmässig  hervorzubringen,  wie  sie 
jetzt  den  unweisen,  unbiUigen,  schuldbewussten  Menschen 
—  das  heisst  die  nothwendige  Vorstufe,  nicht  den 
Gegensatz  von  jenem  —  hervorbringt. 


Drittes  Hauptstück: 
Das  religiöse  Leben. 


Nietzsche,  Werke  Band  11. 


io8. 

Der  doppelte  Kampf  gegen  das  Übel.  — 
Wenn  uns  ein  Übel  trifft,  so  kann  man  entweder  so 
über  dasselbe  hinwegkommen,  dass  man  seine  Ursache 
hebt,  oder  so,  dass  man  die  Wirkung,  welche  es  auf 
unsere  Empfindung  macht,  verändert :  also  durch  ein  Um- 
deuten des  Übels  in  ein  Gut,  dessen  Nutzen  vielleicht 
erst  später  ersichtlich  sein  wird.  Religion  und  Kunst 
(auch  die  metaphysische  Philosophie)  bemühen  sich,  auf 
die  Änderung  der  Empfindung  zu  wirken,  theils  durch 
Änderung  unsres  Urtheils  über  die  Erlebnisse  (zum 
Beispiel  mit  Hülfe  des  Satzes:  „wen  Gott  lieb  hat,  den 
züchtigt  er"),  theils  diirch  Erweckung  einer  Lust  am 
Schmerz,  an  der  Emotion  überhaupt  (woher  die  Kunst 
des  Tragischen  ihren  Ausgangspunkt  nimmt).  Je  mehr 
Einer  dazu  neigt,  umzudeuten  und  zurechtzulegen,  um  so 
weniger  wird  er  die  Ursachen  des  Übels  in's  Auge  fassen 
und  beseitigen;  die  augenblickliche  Milderung  und  Nar- 
kotisirung,  wie  sie  zum  Beispiel  bei  Zahnschmerz  ge- 
bräuchlich ist,  genügt  ihm  auch  in  ernsteren  Leiden.  Je 
mehr  die  Herrschaft  der  Religionen  und  aller  Kunst  der 
Narkose  abnimmt,  um  so  strenger  fassen  die  Menschen 
die  wirkliche  Beseitigung  der  Übel  in's  Auge:  was 
fi*eilich  schlimm  für  die  Tragödiendichter  ausfällt  —  denn 
zur  Tragödie  findet  sich  immer  weniger  Stoff,  weil  das 
Reich    des    unerbittlichen      unbezwinglichen     Schicksals 

8* 


—        IIÖ       — 

immer  enger  wird  — ,  noch  schlimmer  aber  für  die 
Priester:  denn  diese  lebten  bisher  von  der  Narkotisirung 
menschlicher  Übel. 

109. 

Gram  ist  Erkenntniss.  —  Wie  gern  möchte  man 
die  falschen  Behauptungen  der  Priester,  es  gebe  einen 
Gott,  der  das  Gute  von  uns  verlange,  Wächter  und 
Zeuge  jeder  Handlung,  jedes  Augenblickes,  jedes  Ge- 
dankens sei,  der  uns  liebe,  in  allem  Unglück  unser 
Bestes  wolle,  —  wie  gern  möchte  man  diese  mit  Wahr- 
heiten vertauschen,  welche  ebenso  heilsam,  beruhigend 
und  wohlthuend  wären  wie  jene  Irrthümerl  Doch  solche 
Wahrheiten  giebt  es  nicht;  die  Philosophie  kann  ihnen 
höchstens  wiederum  metaphysische  Scheinbarkeiten  (im 
Grunde  ebenfalls  Unwahrheiten)  entgegensetzen.  Nun  ist 
aber  die  Tragödie  die,  dass  man  jene  Dogmen  der  Re- 
ligion und  Metaphysik  nicht  glauben  kann,  wenn  man 
die  strenge  Methode  der  Wahrheit  im  Herzen  und  Kopfe 
hat,  anderseits  durch  die  Entwicklung  der  Menschheit 
so  zart  reizbar  leidend  geworden  ist,  um  Heil-  und 
Trostmittel  der  höchsten  Art  nöthig  zu  haben;  woraus 
also  die  Gefahr  entsteht,  dass  der  Mensch  sich  an  der 
erkannten  Wahrheit  verblute.  Diess  drückt  Byron  in 
unsterblichen  Versen  aus: 

Sorrow  ts  knowledge:  they  who  know  the  most 
Must  mourn  the  deepest  o'er  the  fatal  truth, 
The  Tree  0/  Knowledge  ts  not  that  of  Life. 

Gegen  solche  Sorgen  hilft  kein  Mittel  besser,  als  den 
feierlichen  Leichtsinn  Horazens,  wenigstens  für  die 
schlimmsten  Stunden  und  Sonnenfinsternisse  der  Seele, 
heraufzubeschwören  und  mit  ihm  zu  sich  selber  zu  sagen: 


—     117     — 

quid  aeternis  minorenn 
consilüs  animum  f atigas? 

cur  non  sub  alta  vel  platano  vel  hac 
pinu  jacentes  — 

Sicherlich  aber  ist  Leichtsinn  oder  Schwermuth  jeden 
Grades  besser  als  eine  romantische  Rückkehr  und  Fahnen- 
flucht, eine  Annäherung  an  das  Christenthum  in  irgend 
einer  Form:  denn  mit  ihm  kann  man  sich,  nach  dem 
gegenwärtigen  Stande  der  Erkenntniss,  schlechterdings 
nicht  mehr  einlassen,  ohne  sein  intellectuales  Ge- 
wissen heillos  zu  beschmutzen  und  vor  sich  und  Anderen 
preiszugeben.  Jene  Schmerzen  mögen  peinlich  genug 
sein:  aber  man  kann  ohne  Schmerzen  nicht  zu  einem 
Führer  und  Erzieher  der  Menschheit  werden;  und  wehe 
Dem,  welcher  diess  versuchen  möchte  und  jenes  reine 
Gewissen  nicht  mehr  hätte! 

TIO. 

Die  Wahrheit  in  der  Religion.  —  In  der 
Periode  der  Aufklärung  war  man  der  Bedeutung  der 
Religionen  nicht  gerecht  geworden,  daran  ist  nicht  zu 
zweifeln:  aber  ebenso  steht  fest,  dass  man,  in  dem  darauf 
folgenden  Widerspiel  der  Aufklärung,  wiederum  um  ein 
gutes  Stück  über  die  Gerechtigkeit  hinausgieng,  indem 
man  die  Religionen  mit  Liebe,  selbst  mit  Verliebtheit  be- 
handelte und  ihnen  zum  Beispiel  ein  tieferes,  ja  das  alier- 
tiefste  Verständniss  der  Welt  zuerkannte;  welches  die 
Wissenschaft  nur  des  dogmatischen  Gewandes  zu  ent- 
kleiden habe,  um  dann  in  unmythischer  Form  die  „Wahr- 
heit" zu  besitzen.  Religionen  sollen  also  —  diess  war  die 
Behauptung  aller  Gegner  der  Aufklärung  —  sensu  alle- 
gorico,  mit  Rücksicht  auf  das  Verstehen  der  Menge,  jene 


—      ii8     — 

uralte  Weisheit  aussprechen,  welche  die  Weisheit  an  sich 
sei,  insofern  alle  wahre  Wissenschaft  der  neueren  Zeit 
immer  zu  ihr  hin,  statt  von  ihr  weg  geführt  habe:  so 
dass  zwischen  den  ältesten  Weisen  der  Menschheit  und 
allen  späteren  Harmonie,  ja  Gleichheit  der  Einsichten 
walte  und  ein  Fortschritt  der  Erkenntnisse  —  falls  man 
von  einem  solchen  reden  wolle  —  sich  nicht  auf  das 
Wesen,  sondern  die  Mittheilung  desselben  beziehe. 
Diese  ganze  Auffassung  von  Religion  und  Wissenschaft 
ist  durch  und  durch  irrthümlich;  und  Niemand  würde  jetzt 
noch  zu  ihr  sich  zu  bekennen  wagen,  wenn  nicht  Schopen- 
hauer's  Beredsamkeit  sie  in  Schutz  genommen  hätte: 
diese  laut  tönende  und  doch  erst  nach  einem  Menschen- 
alter ihre  Hörer  erreichende  Beredsamkeit.  So  gewiss 
man  aus  Schopenhauer's  religiös-moralischer  Menschen- 
und  Weltdeutung  sehr  viel  für  das  Verständniss  des, 
Christenthums  und  anderer  Religionen  gewinnen  kann 
so  gewiss  ist  es  auch,  dass  er  über  den  Werth  der 
Religion  für  die  Erkenntniss  sich  geirrt  hat.  Er 
selbst  war  darin  ein  nur  zu  folgsamer  Schüler  der 
wissenschaftlichen  Lehrer  seiner  Zeit,  welche  allesammt 
der  Romantik  huldigten  und  dem  Geiste  der  Aufklärung 
abgeschworen  hatten;  in  unsere  jetzige  Zeit  hineingeboren, 
hätte  er  unmöglich  vom  sensus  allegoricus  der  Reli- 
gion reden  können;  er  würde  vielmehr  der  Wahrheit 
die  Ehre  gegeben  haben,  wie  er  es  pflegte,  mit  dem 
Worte:  noch  nie  hat  eine  Religion,  weder  mittel- 
bar noch  unmittelbar,  weder  als  Dogma  noch 
als  Gleichniss,  eine  Wahrheit  enthalten.  Denn 
aus  der  Angst  und  dem  Bedürfniss  ist  eine  jede  ge- 
boren, auf  Irrgängen  der  Vernunft  hat  sie  sich  in's  Dasein 
geschlichen;  sie  hat  vielleicht  einmal,  im  Zustande  der 
Gefährdung   durch   die  Wissenschaft,   irgend   eine   philo- 


—     119     — 

sophische  Lehre  in  ihr  System  hineingelogen,  damit  man 
sie  später  darin  vorfinde:  aber  diess  ist  ein  Theologen- 
kunststück, aus  der  Zeit,  in  welcher  eine  Religion  schon 
an  sich  selber  zweifelt.  Diese  Kunststücke  der  Theologie 
(welche  freilich  im  Christenthum,  als  der  Religion  eines 
gelehrten,  mit  Philosophie  durchtränkten  Zeitalters,  sehr 
früh  schon  geübt  wurden)  haben  auf  jenen  Aberglauben 
vom  sensus  allegoricus  hingeleitet,  noch  mehr  aber  die 
Gewohnheit  der  Philosophen  (namentlich  der  Halbwesen, 
der  dichterischen  Philosophen  und  der  philosophirenden 
Künstler),  alle  die  Empfindungen,  welche  sie  in  sich 
vorfanden,  als  Grundwesen  des  Menschen  überhaupt  zu 
behandeln  und  somit  auch  ihren  eigenen  religiösen  Empfin- 
dungen einen  bedeutenden  Einfluss  auf  den  Gedankenbau 
ihrer  Systeme  zu  gestatten.  Weil  die  Philosophen  viel- 
fach unter  dem  Herkommen  religiöser  Gewohnheiten, 
oder  mindestens  unter  der  altvererbten  Macht  jenes  „meta- 
physischen Bedürfnisses"  philosophirten,  so  gelangten  sie 
zu  Lehrmeinungen,  welche  in  der  That  den  jüdischen 
oder  christlichen  oder  indischen  Religionsmeinungen  sehr 
ähnlich  sahen,  —  ähnlich  nämlich,  wie  Kinder  den 
Müttern  zu  sehen  pflegen:  nur  dass  in  diesem  Falle  die 
Väter  sich  nicht  über  jene  Mutterschaft  klar  waren,  wie 
diess  wohl  vorkommt  —  sondern  in  der  Unschuld  ihrer 
Verwunderung  von  einer  Familien-Ähnlichkeit  aller  Re- 
ligion und  Wissenschaft  fabelten.  In  der  That  besteht 
zwischen  den  Religionen  und  der  wirklichen  Wissenschaft 
nicht  Verwandtschaft,  noch  Freundschaft,  noch  selbst 
Feindschaft:  sie  leben  auf  verschiedenen  Sternen.  Jede 
Philosophie,  welche  einen  religiösen  Kometenschweif  in 
die  Dunkelheit  ihrer  letzten  Aussichten  hinaus  erglänzen 
lässt,  macht  Alles  an  sich  verdächtig,  was  sie  als 
Wissenschaft   vorträgst:    es    ist    diess    Alles    vermuthlich 


—        I20       

ebenfalls  Religion,  wenngleich  unter  dem  Aufputz  der 
Wissenschaft.  —  Übrigens:  wenn  alle  Völker  über  ge- 
wisse religiöse  Dinge,  zum  Beispiel  die  Existenz  eines 
Gottes,  übereinstimmten  (was  beiläufig  gesagt  in  Betreff 
dieses  Punktes  nicht  der  Fall  ist),  so  würde  diess  doch 
eben  nur  ein  Gegenargument  gegen  jene  behaupteten 
Dinge,  zum  Beispiel  die  Existenz  eines  Gottes,  sein:  der 
consensus  gentium  und  überhaupt  hominum  kann  billiger- 
weise nur  einer  Narrheit  gelten.  Dagegen  giebt  es 
einen  consensus  omnium  sapientium  gar  nicht,  in  Bezug 
auf  kein  einziges  Ding,  mit  jener  Ausnahme,  von  welcher 
der  Goethe'sche  Vers  spricht: 

Alle  die  Weisesten  aller  der  Zeiten 
Lächeln  und  winken  und  stimmen  mit  ein: 
Thöricht,  auf  Bess'rung  der  Thoren  zu  harrenl 
Kinder  der  Klugheit,  o  habet  die  Narren 
Eben  zum  Narren  auch,  wie  sich's  gehört  I 

Ohne  Vers  und  Reim  gesprochen  und  auf  unseren 
Fall  angewendet:  der  consensus  sapientium  besteht  darin, 
dass  der  consensus  gentium  einer  Narrheit  gilt. 

III. 

Ursprung  des  religiösen  Cultus.  —  Versetzen 
wir  uns  in  die  Zeiten  zurück,  in  welchen  das  religiöse 
Leben  am  kräftigsten  aufblühte,  so  finden  wir  eine  Grund- 
überzeugung vor,  welche  wir  jetzt  nicht  mehr  theilen 
und  derentwegen  wir  ein  für  alle  Mal  die  Thore  zum 
religiösen  Leben  uns  verschlossen  sehen:  sie  betrifft  die 
Natur  und  den  Verkehr  mit  ihr.  Man  weiss  in  jenen 
Zeiten  noch  nichts  von  Naturgesetzen;  weder  für  die 
Erde  noch  für  den  Himmel  giebt  es  ein  Müssen;  eine 
Jahreszeit,   der  Sonnenschein,   der  Regen  kann  kommen 


121       — 


oder  auch  ausbleiben.  Es  fehlt  überhaupt  jeder  Begriff 
der  natürlichen  Causalität.  Wenn  man  rudert,  ist  es 
nicht  das  Rudern,  was  das  Schiff  bewegt,  sondern 
Rudern  ist  nur  eine  magische  Ceremonie,  durch  welche 
man  einen  Dämon  zwingt,  das  Schiff  zu  bewegen.  Alle 
Erkrankungen,  der  Tod  selbst  ist  Resultat  magischer 
Einwirkungen.  Es  geht  bei  Krankwerden  und  Sterben 
nie  natürlich  zu;  die  ganze  Vorstellung  vom  „natürlichen 
Hergang"  fehlt,  —  sie  dämmert  erst  bei  den  älteren 
Griechen,  das  heisst  in  einer  sehr  späten  Phase  der 
Menschheit,  in  der  Conception  der  über  den  Göttern 
thronenden  Moira.  Wenn  Einer  mit  dem  Bogen  schiesst, 
so  ist  immer  noch  eine  irrationelle  Hand  und  Kraft  da- 
bei; versiegen  plötzlich  die  Quellen,  so  denkt  man  zuerst 
an  unterirdische  Dämonen  und  deren  Tücken;  der  Pfeil 
eines  Gottes  muss  es  sein,  unter  dessen  unsichtbarer 
Wirkung  ein  Mensch  auf  einmal  niedersinkt.  In  Indien 
pflegt  (nach  Lubbock)  ein  Tischler  seinem  Hammer, 
seinem  Beil  und  den  übrigen  Werkzeugen  Opfer  darzu- 
bringen; ein  Brahmane  behandelt  den  Stift,  mit  dem  er 
schreibt,  ein  Soldat  die  Waffen,  die  er  im  Felde  braucht, 
ein  Maurer  seine  Kelle,  ein  Arbeiter  seinen  Pflug  in 
gleicher  Weise.  Die  ganze  Natur  ist  in  der  Vorstellung 
religiöser  Menschen  eine  Summe  von  Handlungen  be- 
wusster  und  wollender  Wesen ,  ein  ungeheurer  Complex 
von  Willkürlichkeiten.  Es  ist  in  Bezug  auf  Alles 
was  ausser  uns  ist,  kein  Schluss  gestattet,  dass  irgend 
Etwas  so  und  so  sein  werde,  so  und  so  kommen 
müsse;  das  ungefähr  Sichere,  Berechenbare  sind  wir: 
der  Mensch  ist  die  Regel,  die  Natur  die  Regellosig- 
keit —  dieser  Satz  enthält  die  Grundüberzeugimg,  welche 
rohe,  religiös  productive  Urculturen  beherrscht.  Wir 
jetzigen  Menschen  empfinden  gerade  völlig  umgekehrt:  je 


—       122       — 

reicher  jetzt  der  Mensch  sich  innerlich  fühlt,  je  polyphoner 
sein  Subject  ist,  um  so  gewaltiger  wirkt  auf  ihn  das 
Gleichmaass  der  Natur;  wir  Alle  erkennen  mit  Goethe 
in  der  Natur  das  grosse  Mittel  der  Beschwichtigung 
für  die  moderne  Seele,  wir  hören  den  Pendelschlag 
der  grössten  Uhr  mit  einer  Sehnsucht  nach  Ruhe,  nach 
Heimisch-  und  Stillewerden  an,  als  ob  wir  dieses 
Gleichmaass  in  uns  hineintrinken  und  dadurch  zum  Genuss 
unser  selbst  erst  kommen  könnten.  Ehemals  war  es 
umgekehrt:  denken  wir  an  rohe,  frühe  Zustände  von 
Völkern  zurück  oder  sehen  wir  die  jetzigen  Wilden  in  der 
Nähe,  so  finden  wir  sie  auf  das  stärkste  durch  das  Gesetz, 
das  Herkommen  bestimmt:  das  Individuum  ist  fast 
automatisch  an  dasselbe  gebunden  und  bewegt  sich  mit 
der  Gleichförmigkeit  eines  Pendels.  Ihm  muss  die  Natur 
—  die  unbegrifFene  schreckliche  geheimnissvolle  Natur  — 
als  das  Reich  der  Freiheit,  der  Willkür,  der  höheren 
Macht  erscheinen,  ja  gleichsam  als  eine  übermenschliche 
Stufe  des  Daseins,  als  Gott.  Nun  aber  fühlt  jeder  Ein- 
zelne solcher  Zeiten  und  Zustände,  -wie  von  jenen  Will- 
kürlichkeiten der  Natur  seine  Existenz,  sein  Glück,  das 
der  Familie,  des  Staates,  das  Gelingen  aller  Unterneh- 
mungen abhängen:  einige  Naturvorgänge  müssen  zur 
rechten  Zeit  eintreten,  andere  zur  rechten  Zeit  ausbleiben. 
Wie  kann  man  einen  Einfluss  auf  diese  furchtbaren  Un- 
bekannten ausüben,  wie"  kann  man  das  Reich  der  Frei- 
heit binden?  so  fragt  er  sich,  so  forscht  er  ängstlich: 
giebt  es  denn  keine  Mittel,  jene  Mächte  ebenso  durch 
ein  Herkommen  und  Gesetz  regelmässig  zu  machen,  wie 
du  selber  regelmässig  bist?  —  Das  Nachdenken  der 
magie-  und  wundergläubigen  Menschen  geht  dahin, 
der  Natur  ein  Gesetz  aufzulegen  — :  und  kurz  ge- 
sagt, der  religiöse  Cultus  ist  das  Ergebniss  dieses  Nach- 


—     123     — 

denkens.  Das  Problem,  welches  jene  Menschen  sich 
vorlegen,  ist  auf  das  engste  verwandt  mit  diesem:  wie 
kann  der  schwächere  Stamm  dem  stärkeren  doch 
Gesetze  dictiren,  ihn  bestimmen,  seine  Handlungen  (im 
Verhalten  zum  schwächeren)  leiten?  Man  wird  zuerst  sich 
der  harmlosesten  Art  eines  Zwanges  erinnern,  jenes 
Zwanges,  den  man  ausübt,  wenn  man  Jemandes  Neigung 
erworben  hat.  Durch  Flehen  und  Gebete,  durch  Unter- 
werfung, durch  die  Verpflichtung  zu  regelmässigen  Ab- 
gaben und  Geschenken,  durch  schmeichelhafte  Verherr- 
lichungen ist  es  also  auch  möglich,  auf  die  Mächte  der 
Natur  einen  Zwang  auszuüben,  insofern  man  sie  sich 
geneigt  macht:  Liebe  bindet  und  wird  gebunden.  Dann 
kann  man  Verträge  schliessen,  wobei  man  sich  zu  be- 
stimmtem Verhalten  gegenseitig  verpflichtet,  Pfänder 
stellt  und  Schwüre  wechselt.  Aber  viel  wichtiger  ist 
eine  Gattung  gewaltsameren  Zwanges,  durch  Magie  und 
Zauberei.  Wie  der  Mensch  mit  Hülfe  des  Zauberers 
einem  stärkeren  Feind  doch  zu  schaden  weiss  und  ihn 
vor  sich  in  Angst  erhält,  wie  der  Liebeszauber  in  die 
Ferne  wirkt,  so  glaubt  der  schwächere  Mensch  auch  die 
mächtigeren  Geister  der  Natur  bestimmen  zu  können. 
Das  Hauptmittel  aller  Zauberei  ist,  dass  man  Etwas  in 
Gewalt  bekommt,  das  Jemandem  zu  eigen  ist,  Haare, 
Nägel,  etwas  Speise  von  seinem  Tisch,  ja  selbst  sein 
Bild,  seinen  Namen.  Mit  solchem  Apparate  kann  man 
dann  zaubern;  denn  die  Grundvoraussetzung  lautet:  zu 
allem  Geistigen  gehört  etwas  Körperliches;  mit  dessen 
Hülfe  vermag  man  den  Geist  zu  binden,  zu  schädigen, 
zu  vernichten;  das  Körperliche  giebt  die  Handhabe  ab, 
mit  der  man  das  Geistige  fassen  kann.  So  wie  nun  der 
Mensch  den  Menschen  bestimmt,  so  bestimmt  er  auch 
irgend    einen    Naturgeist;    denn    dieser    hat    auch    sein 


—        124  ' 

Körperliches,  an  dem  er  zu  fassen  ist.  Der  Baum  und, 
verglichen  mit  ihm,  der  Keim,  aus  dem  er  entstand,  — 
dieses  räthselhafte  Nebeneinander  scheint  zu  beweisen, 
dass  in  beiden  Formen  sich  ein  und  derselbe  Geist 
eingekörpert  habe,  bald  klein,  bald  gross.  Ein  Stein, 
der  plötzlich  rollt,  ist  der  Leib,  in  wechem  ein  Geist 
wirkt;  liegt  auf  einsamer  Haide  ein  ungeheurer  Block, 
so  erscheint  es  unmöglich,  an  Menschenkraft  zu  denken, 
die  ihn  hierher  gebracht  habe,  so  muss  also  der  Stein 
sich  selbst  hinbewegt  haben,  das  heisst:  er  muss  einen 
Geist  beherbergen.  Alles,  was  einen  Leib  hat,  ist  der 
Zauberei  zugänglich,  also  auch  die  Naturgeister,  Ist 
ein  Gott  geradezu  an  sein  Bild  gebunden,  so  kann 
man  auch  ganz  directen  Zwang  (durch  Verweigerung 
der  Opfernahrung,  Geissein,  In -Fesseln -legen  und 
Ähnliches)  gegen  ihn  ausüben.  Die  geringen  Leute  in 
China  umwinden,  um  die  fehlende  Gunst  ihres  Gottes 
zu  ertrotzen,  das  Bild  desselben,  der  sie  in  Stich 
gelassen  hat,  mit  Stricken,  reissen  es  nieder,  schleifen  es 
über  die  Strassen  durch  Lehm-  und  Düngerhaufen;  „du 
Hund  von  einem  Geiste,  sagen  sie,  wir  Hessen  dich  in 
einem  prächtigen  Tempel  wohnen,  wir  vergoldeten  dich 
hübsch,  wir  fütterten  dich  gut,  wir  brachten  dir  Opfer 
und  doch  bist  du  so  undankbar."  Ähnliche  Gewalt- 
maassregeln gegen  Heiligen-  und  Muttergottesbilder, 
wenn  sie  etwa  bei  Pestilenzen  oder  Regenmangel  ihre 
Schuldigkeit  nicht  thun  wollten,  sind  noch  während  dieses 
Jahrhunderts  in  katholischen  Ländern  vorgekommen.  — 
Durch  alle  diese  zauberischen  Beziehungen  zur  Natur 
sind  unzähHge  Ceremonien  in's  Leben  gerufen;  und  end- 
lich, wenn  der  Wirrwarr  derselben  zu  gross  geworden  ist, 
bemüht  man  sich,  sie  zu  ordnen,  zu  systematisiren ,  so 
dass  man  den  günstigen  Verlauf  des  gesammten  Ganges 


—     125     — 

der  Natur,  namentlich  des  grossen  Jahres-Kreislaufs,  sich 
durch  einen  entsprechenden  Verlauf  eines  Proceduren- 
Systems  zu  verbürgen  meint.  Der  Sinn  des  religiösen 
Cultus  ist,  die  Natur  zu  menschlichem  Vortheil  zu  be- 
stimmen und  zu  bannen,  also  ihr  eine  Gesetzlichkeit 
einzuprägen,  die  sie  von  vornherein  nicht  hat; 
während  in  der  jetzigen  Zeit  man  die  Gesetzlichkeit  der 
Natur  erkennen  will,  um  sich  in  sie  zu  schicken. 
Kurz,  der  religiöse  Cultus  ruht  auf  den  Vorstellungen 
der  Zauberei  zwischen  Mensch  und  Mensch;  und  der 
Zauberer  ist  älter  als  der  Priester.  Aber  ebenso  ruht 
er  auf  anderen  und  edleren  Vorstellungen;  er  setzt  das 
sympathische  Verhältniss  von  Mensch  zu  Mensch,  das 
Dasein  von  Wohlwollen,  Dankbarkeit,  Erhörung  Bitten- 
der, von  Verträgen  zwischen  Feinden,  von  Verleihung 
der  Unterpfänder,  von  Anspruch  auf  Schutz  des  Eigen- 
thums  voraus.  Der  Mensch  steht  auch  in  sehr  niederen 
Culturstufen  nicht  der  Natur  als  ohnmächtiger  Sclave 
gegenüber,  er  ist  nicht  nothwendig  der  willenlose  Knecht 
derselben:  auf  der  griechischen  Stufe  der  Rehgion,  be- 
sonders im  Verhalten  zu  den  olympischen  Göttern,  ist 
sogar  an  ein  Zusammenleben  von  zwei  Kasten,  einer 
vornehmeren,  mächtigeren  und  einer  weniger  vornehmen 
zu  denken;  aber  beide  gehören  ihrer  Herkunft  nach 
irgendwie  zusammen  und  sind  Einer  Art,  sie  brauchen 
sich  vor  einander  nicht  zu  schämen.  Das  ist  das  Vor- 
nehme in  der  griechischen  Religiosität. 


112. 

Beim  Anblick  gewisser  antiker  Opfergeräth- 
schaften.  —  Wie  manche  Empfindungen  uns  verloren 
gehen,  ist  zum  Beispiel  an  der  Vereinigung  des  Possen- 


126       

haften,  selbst  des  Obscönen  mit  dem  religiösen  Gefühl 
zu  sehen:  die  Empfindung  für  die  Möglichkeit  dieser 
Mischung  schwindet,  wir  begreifen  es  nur  noch  historisch, 
dass  sie  existirte,  bei  den  Demeter-  und  Dionysosfesten, 
bei  den  christlichen  Osterspielen  und  Mysterien:  aber 
auch  wir  kennen  noch  das  Erhabene  im  Bunde  mit 
dem  Burlesken  und  dergleichen,  das  Rührende  mit  dem 
Lächerlichen  verschmolzen:  was  vielleicht  eine  spätere 
Zeit  auch  nicht  mehr  verstehen  wird. 


113. 

Christenthum  als  Alterthum.  —  "Wenn  wir  eines 
Sonntag  Morgens  die  alten  Glocken  brummen  hören,  da 
fragen  wir  uns:  ist  es  nur  möglich!  diess  gilt  einem  vor 
zwei  Jahrtausenden  gekreuzigten  Juden,  welcher  sagte,  er 
sei  Gottes  Sohn.  Der  Beweis  für  eine  solche  Behauptung 
fehlt.  —  Sicherlich  ist  innerhalb  unserer  Zeiten  die 
christliche  Religion  ein  aus  ferner  Vorzeit  hereinragendes 
Alterthum,  und  dass  man  jene  Behauptung  glaubt  — 
während  man  sonst  so  streng  in  der  Prüfung  von 
Ansprüchen  ist  — ,  ist  vielleicht  das  älteste  Stück  dieses 
Erbes.  Ein  Gott,  der  mit  einem  sterblichen  Weibe 
Kinder  erzeugt;  ein  Weiser,  der  auffordert,  nicht  mehr 
zu  arbeiten,  nicht  mehr  Gericht  zu  halten,  aber  auf  die 
Zeichen  des  bevorstehenden  Weltuntergangs  zu  achten; 
eine  Gerechtigkeit,  die  den  Unschuldigen  als  stell- 
vertretendes Opfer  annimmt;  Jemand,  der  seine  Jünger 
sein  Blut  trinken  heisst;  Gebete  um  Wunderein  griffe;  Sün- 
den an  einem  Gotte  verübt,  durch  einen  Gott  gebüsst; 
Furcht  vor  einem  Jenseits,  zu  welchem  der  Tod  die  Pforte 
ist ;  die  Gestalt  des  Kreuzes  als  Symbol  inmitten  einer  Zeit, 
welche   die  Bestimmung  und  die  Schmach   des  Kreuzes 


—       127       — 

nicht  mehr  kennt  —  wie  schauerlich  weht  uns  diess 
Alles,  wie  aus  dem  Grabe  uralter  Vergangenheiten  an! 
Sollte  man  glauben,  dass  so  Etwas  noch  geglaubt  wird? 


114. 

Das  Ungriechische  im  Christenthum.  —  Die 
Griechen  sahen  über  sich  die  homerischen  Götter  nicht 
als  Herren  und  sich  unter  ihnen  nicht  als  Knechte,  wie 
die  Juden.  Sie  sahen  gleichsam  nur  das  Spiegelbild  der 
gelungensten  Exemplare  ihrer  eignen  Kaste ,  also  ein 
Ideal,  keinen  Gegensatz  des  eignen  Wesens.  Man  fühlt 
sich  mit  einander  verwandt,  es  besteht  ein  gegenseitiges 
Interesse,  eine  Art  Symmachie.  Der  Mensch  denkt  vor- 
nehm von  sich,  wenn  er  sich  solche  Götter  giebt,  und 
stellt  sich  in  ein  Verhältniss,  wie  das  des  niedrigeren 
Adels  zum  höheren  ist;  während  die  italischen  Völker 
eine  rechte  Bauern -Religion  haben,  mit  fortwährender 
Ängstlichkeit  gegen  böse  und  launische  Machtinhaber 
und  Quälgeister.  Wo  die  olympischen  Götter  zurück- 
traten, da  war  auch  das  griechische  Leben  düsterer  und 
ängstlicher.  —  Das  Christenthum  dagegen  zerdrückte 
und  zerbrach  den  Menschen  vollständig  und  versenkte 
ihn  wie  in  tiefen  Schlamm:  in  das  Gefühl  völliger  Ver- 
worfenheit Hess  es  dann  mit  Einem  Male  den  Glanz 
eines  göttlichen  Erbarmens  hineinleuchten,  so  dass  der 
Überraschte,  durch  Gnade  Betäubte  einen  Schrei  des 
Entzückens  ausstiess  und  für  einen  Augenblick  den 
ganzen  Himmel  in  sich  zu  tragen  glaubte.  Auf  diesen 
krankhaften  Excess  des  Gefühls,  auf  die  dazu  nöthige 
tiefe  Kopf-  und  Herz-Corruption  wirken  alle  psycholo- 
gischen Erfindungen  des  Christenthums  hin:  es  will  ver- 
nichten, zerbrechen,  betäuben,  berauschen,  es  will   nur 


—        128       -- 

Eins  nicht:   das  Maass,   und  desshalb   ist  es  im  tiefsten 
Verstände  barbarisch,  asiatisch,  unvornehm,  ungriechisch. 


115- 

Mit  Vortheil  religiös  sein.  —  Es  giebt  nüchterne 
und  gewerbstüchtige  Leute,  denen  die  Religion  wie  ein 
Saum  höheren  Menschthums  angestickt  ist:  diese  thun 
sehr  wohl,  religiös  zu  bleiben,  es  verschönert  sie.  —  Alle 
Menschen,  welche  sich  nicht  auf  irgend  ein  Waffenhand- 
werk verstehen  —  Mund  und  Feder  als  Waffen  einge- 
rechnet — ,  werden  servil:  für  solche  ist  die  christliche 
Religion  sehr  nützlich,  denn  die  Servilität  nimmt  dann 
den  Anschein  christlicher  Tugenden  an  und  wird  er- 
staunlich verschönert.  —  Leute,  welchen  ihr  tägliches 
Leben  zu  leer  und  eintönig  vorkommt,  werden  leicht 
religiös:  diess  ist  begreiflich  und  verzeihlich;  nur  haben 
sie  kein  Recht,  Religiosität  von  Denen  zu  fordern,  denen 
das  tägliche  Leben  nicht  leer  und  eintönig  verfliesst. 


ii6. 

Der  Alltags-Christ.  —  Wenn  das  Christenthum 
mit  seinen  Sätzen  vom  rächenden  Gotte,  der  allgemeinen 
Sündhaftigkeit,  der  Gnadenwahl  und  der  Gefahr  einer 
ewigen  Verdammniss  Recht  hätte,  so  wäre  es  ein  Zeichen 
von  Schwachsinn  und  Charakterlosigkeit,  nicht  Priester 
Apostel  oder  Einsiedler  zu  werden  und  mit  Furcht  und 
Zittern  einzig  am  eignen  Heile  zu  arbeiten;  es  wäre  un- 
sinnig, den  ewigen  Vortheil  gegen  die  zeitliche  Bequem- 
lichkeit so  aus  dem  Auge  zu  lassen.  Vorausgesetzt  dass 
überhaupt  geglaubt  wird,  so  ist  der  Alltags-Christ  eine 
erbärmliche   Figrir,    ein    Mensch,  der  wirklich   nicht   bis 


—        129       — 

drei  zählen  kann ,  und  der  übrigens ,  gerade  wegen 
seiner  geistigen  Unzurechnungsfähigkeit,  es  nicht  ver- 
diente, so  hart  bestraft  zu  werden,  wie  das  Christenthum 
ihm  verheisst. 

117. 

Von  der  Klugheit  des  Christenthums.  —  Es 
ist  ein  Kunstgriif  des  Christenthums,  die  völlige  Unwür- 
digkeit,  Sündhaftigkeit  und  Verächtlichkeit  des  Menschen 
überhaupt  so  laut  zu  lehren,  dass  die  Verachtung  der 
Mitmenschen  dabei  nicht  mehr  möglich  ist.  „Er  m.ag 
sündigen,  wie  er  wolle,  er  unterscheidet  sich  doch  nicht 
wesentlich  von  mir:  ich  bin  es,  der  in  jedem  Grade  un- 
würdig und  verächtlich  ist,"  —  so  sagt  sich  der  Christ. 
Aber  auch  dieses  Gefühl  hat  seinen  spitzigsten  Stachel 
verloren,  weil  der  Christ  nicht  an  seine  individuelle  Ver- 
ächtlichkeit glaubt:  er  ist  böse  als  Mensch  überhaupt 
und  beruhigt  sich  ein  wenig  bei  dem  Satze:  wir  Alle 
sind  Einer  Art. 

118. 

Personenwechsel.  —  Sobald  eine  Religion 
herrscht,  hat  sie  alle  Die  zu  ihren  Gegnern,  welche 
ihre  ersten  Jünger  gewesen  wären. 


119. 

Schicksal  des  Christenthums.  —  Das  Christen- 
thum entstand,  um  das  Herz  zu  erleichtern;  aber  jetzt 
muss  es  das  Herz  erst  beschweren,  um  es  nachher  er- 
leichtern zu  können.    Folglich  wird  es  zu  Grunde  gehen. 

Nietrsclie.   Werke  Band  H.  Q 


—      I30 


I20. 


Der  Beweis  der  Lust.  —  Die  angenehme  Meinung 
wird  als  wahr  angenommen:  diess  ist  der  Beweis  der 
Lust  (oder,  wie  die  Kirche  sagt,  der  Beweis  der  Kraft), 
auf  welchen  alle  Religionen  so  stolz  sind,  während  sie 
sich  dessen  doch  schämen  sollten.  Wenn  der  Glaube 
nicht  selig  machte,  so  würde  er  nicht  geglaubt  werden: 
wie  wenig  wird  er  also  wertli  seinl 


121. 

Gefährliches  Spiel.  —  Wer  jetzt  der  religiösen 
Empfindung  wieder  in  sich  Raum  giebt,  der  muss  sie 
dann  auch  wachsen  lassen,  er  kann  nicht  anders.  Da 
verändert  sich  allmählich  sein  Wesen,  es  bevorzugt  das 
dem  religiösen  Element  Anhängende  Benachbarte,  der 
ganze  Umkreis  des  Urtlieilens  und  Empfindens  wird  um- 
wölkt, mit  religiösen  Schatten  überflogen.  Die  Empfin- 
dung kann  nicht  still  stehen;  man  nehme  sich  also 
in  Acht. 

122. 

Die  blinden  Schüler.  —  So  lange  Einer  sehr 
gut  die  Stärke  und  Schwäche  seiner  Lehre,  seiner  Kunst- 
art, seiner  Religion  kennt,  ist  deren  Kraft  noch  gering. 
Der  Schüler  und  Apostel,  welcher  für  die  Schwächep  der 
Lehre,  der  Religion  und  so  weiter,  kein  Auge  hat,  ge- 
blendet durch  das  Ansehen  des  Meisters  und  durch  seine 
Pietät  gegen  ihn,  hat  desshalb  gewöhnlich  mehr  Macht 
als  der  Meister.  Ohne  die  blinden  Schüler  ist  noch  nie 
der  Einfluss  eines  Mannes  und  seines  Werkes  gross  ge- 
worden.    Einer  Erkenntniss  zum  Siege  verhelfen  heisst 


—      131      — 

oft  nur:  sie  so  mit  der  Dummheit  verschwistem ,  dass 
das  Schwergewicht  der  letzteren  auch  den  Sieg  für  die 
erstere  erzwingt. 

123. 

Abbruch  der  Kirchen.  —  Es  ist  nicht  genug  an 
Rehgion  in  der  Welt,  um  die  ReUgionen  auch  nur  zu 
vernichten. 

124. 

Sündlosigkeit  des  Menschen.  —  Hat  man 
begrififen,  wie  „die  Sünde  in  die  Welt  gekommen"  ist, 
nämhch  durch  Irrthümer  der  Vernunft,  vermöge  deren 
die  Menschen  unter  einander,  ja  der  einzelne  Mensch 
sich  selbst  für  viel  schwärzer  und  böser  nimmt,  als  es 
thatsächlich  der  Fall  ist,  so  wird  die  ganze  Empfindung 
sehr  erleichtert,  und  Menschen  und  Welt  erscheinen  mit- 
unter in  einer  Glorie  von  Harmlosigkeit,  dass  es  Einem 
von  Grund  aus  wohl  dabei  wird.  Der  Mensch  ist  in- 
mitten der  Natur  immer  das  Klind  an  sich.  Diess  Kind 
träumt  wohl  einmal  einen  schweren  beängstigenden  Traum ; 
wenn  es  aber  die  Augen  aufschlägt,  so  sieht  es  sich  immer 
wieder  im  Paradiese. 

125. 

Irreligiosität  der  Künstler.  —  Homer  ist  unter 
seinen  Göttern  so  zu  Hause  und  hat  als  Dichter  ein 
solches  Behagen  an  ihnen,  dass  er  jedenfalls  tief  un- 
religiös gewesen  sein  muss;  mit  Dem,  was  der  Volks- 
glaube ihm  entgegenbrachte  —  einen  dürftigen,  rohen, 
zum  Theil  schauerlichen  Aberglauben  — ,  verkehrte  er  so 
frei,  wie  der  Bildhauer  mit  seinem  Thon,  also  mit  der- 
selben Unbefangenheit,  welche  Äschylus  und  Aristophanes 

9* 


—      132     — 

besassen  und  durch  welche  sich  in  neuerer  Zeit  die 
grossen  Künstler  der  Renaissance,  sowie  Shakespeare 
und  Goethe  auszeichneten. 

126. 

Kunst  und  Kraft  der  falschen  Interpreta- 
tion. —  Alle  die  Visionen  Schrecken  Ermattungen 
Entzückungen  des  Heiligen  sind  bekannte  Krankheits- 
Zustände ,  welche  von  ihm ,  auf  Grund  eingewurzelter 
religiöser  und  psychologischer  Irrthümer,  nur  ganz  anders, 
nämlich  nicht  als  Krankheiten,  gedeutet  werden.  — 
So  ist  vielleicht  auch  das  Dämonion  des  Sokrates  ein 
Ohrleiden,  das  er  sich  gemäss  seiner  herrschenden 
moralischen  Denkungsart  nur  anders,  als  es  jetzt  ge- 
schehen würde,  auslegt.  Nicht  anders  steht  es  mit  dem 
Wahnsinn  und  Wahnreden  der  Propheten  und  Orakel- 
priester; es  ist  immer  der  Grad  von  Wissen,  Phantasie, 
Bestrebung,  Moralität  in  Kopf  und  Herz  der  Inter- 
preten, welcher  daraus  so  vi^  gemacht  hat.  Zu  den 
grössten  Wirkungen  der  Menschen,  welche  man  Genies 
und  Heilige  nennt,  gehört  es,  dass  sie  sich  Interpreten 
erzwingen,  welche  sie  zum  Heile  der  Menschheit  mi ss- 
verstehen. 

127. 

Verehrung  des  Wahnsinns.  —  Weil  man  be- 
merkte, dass  eine  Erregung  häufig  den  Kopf  heller 
machte  und  glückliche  Einfälle  hervorrief,  so  meinte  man, 
durch  die  höchsten  Erregungen  werde  man  der  glück- 
lichsten Einfälle  und  Eingebungen  theilhaftig:  und  so 
verehrte  man  den  Wahnsinnigen  als  den  Weisen  und 
Orakelgebenden.  Hier  liegt  ein  falscher  Schluss  zu 
Grunde. 


^    133    — 


128. 


Verheissun  gen  der  Wissenschaft.  —  Die 
moderne  Wissenschaft  hat  als  Ziel:  so  wenig  Schmerz 
wie  möglich,  so  lange  Leben  als  möghch  —  also  eine 
Art  von  ewiger  SeUgkeit,  freilich  eine  sehr  bescheidene 
in  Vergleich    mit  den  Verheissungen  der  Religionen. 


129. 

Verbotene  Freigebigkeit.  —  Es  ist  nicht  genug 
Liebe  und  Güte  in  der  Welt,  um  noch  davon  an  ein- 
gebildete Wesen  wegschenken  zu  dürfen. 


130. 

Fortleben  des  religiösen  Cultus  im  Gemüth.  — 
Die  katholische  Kirche,  und  vor  ihr  aller  antike  Cultus, 
beherrschte  das  ganze  Bereich  von  Mitteln,  durch  welche 
der  Mensch  in  ungewöhnliche  Stimmungen  versetzt  wird 
und  der  kalten  Berechnung  des  Vortheils  oder  dem  reinen 
Vernunft-Denken  entrissen  wird.  Eine  durch  tiefe  Töne 
erzitternde  Kirche,  dumpfe,  regelmässige,  zurückhaltende 
Anrufe  einer  priesterlichen  Schaar,  welche  ihre  Spannung 
unwillkürlich  auf  die  Gemeinde  überträgt  und  sie  fast 
angstvoll  lauschen  lässt,  wie  als  wenn  eben  ein  Wunder 
sich  vorbereitete,  der  Anhauch  der  Architektur,  welche 
als  Wohnung  einer  Gottheit  sich  in's  Unbestimmte  aus- 
reckt und  in  allen  dunklen  Räumen  das  Sich-Regen  der- 
selben fürchten  lässt  —  wer  wollte  solche  Vorgänge  den 
Menschen  zurückbringen,  wenn  die  Voraussetzungen  dazu 
nicht  mehr  geglaubt  werden?  Aber  die  Resultate  von 
dem  Allen  sind  trotzdem  nicht  verloren:  die  innere  Welt 


—     134     — 

der  erhabenen  gerührten  ahnungsvollen  tiefzerknirschten 
hoffnungsseligen  Stimmungen  ist  den  Menschen  vornehm- 
lich durch  den  Cultus  eingeboren  worden ;  was  jetzt  davon 
in  der  Seele  existirt,  wurde  damals,  als  er  keimte,  wuchs 
und  blühte,  gross  gezüchtet 


131- 

Religiöse  Nachwehen.  —  Glaubt  man  sich  noch 
so  sehr  der  Religion  entwöhnt  zu  haben,  so  ist  es  doch 
nicht  in  dem  Grade  geschehen,  dass  man  nicht  Freude 
hätte,  religiösen  Empfindungen  und  Stimmungen  ohne 
begrifflichen  Inhalt  zu  begegnen,  zum  Beispiel  in  der 
Musik;  und  wenn  eine  Philosophie  uns  die  Berechtigung 
von  metaphysischen  Hoffnungen,  von  dem  dorther  zu 
erlangenden  tiefen  Frieden  der  Seele  aufzeigt  und  zum 
Beispiel  von  „dem  ganzen  sicheren  Evangelium  im  Blick 
der  Madonna  bei  Raffael"  spricht,  so  kommen  wir  solchen 
Aussprüchen  und  Darlegungen  mit  besonders  herzlicher 
Stimmung  entgegen:  der  Philosoph  hat  es  hier  leichter, 
zu  beweisen,  er  entspricht  mit  Dem,  was  er  geben  will, 
einem  Herzen,  welches  gern  nehmen  will.  Daran  be- 
merkt man,  wie  die  weniger  bedachtsamen  Freigeister 
eigentlich  nur  an  den  Dogmen  Anstoss  nehmen,  aber 
recht  wohl  den  Zauber  dpr  religiösen  Empfindung  kennen ; 
es  thut  ihnen  wehe,  letztere  fahren  zu  lassen,  um  der 
ersteren  willen.  —  Die  wissenschaftliche  Philosophie  muss 
sehr  auf  der  Hut  sein,  nicht  auf  Grund  jenes  Bedürf- 
nisses —  eines  gewordenen  und  folglich  auch  vergäng- 
lichen Bedürfnisses  —  Irrthümer  einzuschmuggeln:  selbst 
Logiker  sprechen  von  „Ahnungen"  der  Wahrheit  in 
Moral  und  Kunst  (zum  Beispiel  von  der  Ahnung,  „dass 
das  Wesen   der  Dinge   Eins  ist"):  was  ihnen  doch  ver- 


-      135     — 

boten  sein  sollte.  Zwischen  den  sorgsam  erschlossenen 
Wahrheiten  und  solchen  „geahnten"  Dingen  bleibt  un- 
überbrückbar die  Kluft,  dass  jene  dem  Intellect,  diese 
dem  Bedürfniss  verdankt  werden.  Der  Hunger  beweist 
nicht,  dass  es  zu  seiner  Sättigung  eine  Speise  giebt, 
aber  er  wünscht  die  Speise.  „Ahnen"  bedeutet  nicht  das 
Dasein  einer  Sache  in  irgend  einem  Grade  erkennen, 
sondern  dasselbe  für  möglich  halten,  insofern  man  sie 
wünscht  oder  fürchtet;  die  „Ahnung"  trägt  keinen  Schritt 
weit  in's  Land  der  Gewissheit.  —  Man  glaubt  unwill- 
kürlich, die  religiös  gefärbten  Abschnitte  einer  Philo- 
sophie seien  besser  bewiesen  als  die  anderen;  aber  es 
ist  im  Grunde  umgekehrt,  man  hat  nur  den  inneren 
Wunsch,  dass  es  so  sein  möge,  also  dass  das  Beseligende 
auch  das  Wahre  sei.  Dieser  Wunsch  verleitet  uns. 
schlechte  Gründe  als  gute  einzukaufen. 


132. 

Von  dem  christlichen  Erlösungsbedürfniss. 
—  Bei  sorgsamer  Überlegung  muss  es  möglich  sein,  dem 
Vorgang  in  der  Seele  eines  Christen,  welchen  man  Er- 
lösungsbedürfniss nennt,  eine  Erklärung  abzugewinnen, 
die  frei  von  Mythologie  ist:  also  eine  rein  psychologische. 
Bis  jetzt  sind  freilich  die  psychologischen  Erklärungen 
religiöser  Zustände  und  Vorgänge  in  einigem  Verrüfe 
gewesen,  insoweit  eine  sich  frei  nennende  Theologie  auf 
diesem  Gebiete  ihr  unerspriessliches  Wesen  trieb:  denn 
bei  ihr  war  es  von  vornherein,  so  wie  es  der  Geist  ihres 
Stifters,  Schleiermacher's,  vermuthen  lässt,  auf  die  Er- 
haltung der  christlichen  Religion  und  das  Fortbestehen 
der  christlichen  Theologie  abgesehn;  als  welche  in  den 
psychologischen    Analysen    der    religiösen    „Thatsachen" 


-     136     - 

einen  neuen  Ankergrund  und  vor  Allem  eine  neue 
Beschäftigung  gewinnen  sollte.  Unbeirrt  von  solchen 
Vorgängern  wagen  wir  folgende  Auslegung  des  bezeich- 
neten Phänomens.  Der  Mensch  ist  sich  gewisser  Hand- 
lungen bewusst,  welche  in  der  gebräuchlichen  Rangord- 
nung der  Handlungen  tief  stehen,  ja  er  entdeckt  in  sich 
einen  Hang  zu  dergleichen  Handlungen,  der  ihm  fast  so 
unveränderlich  wie  sein  ganzes  Wesen  erscheint.  Wie 
gern  versuchte  er  sich  in  jener  andern  Gattung  von 
Handlungen,  welche  in  der  allgemeinen  Schätzung  als 
die  obersten  und  höchsten  anerkannt  sind,  wie  gern 
fühlte  er  sich  voll  des  guten  Bewusstseins,  welches  einer 
selbstlosen  Denkweise  folgen  soll!  Leider  aber  bleibt  es 
eben  bei  diesem  Wunsche:  die  Unzufriedenheit  darüber, 
demselben  nicht  genügen  zu  können,  kommt  zu  allen 
übrigen  Arten  von  Unzufriedenheit  hinzu,  welche  sein 
Lebensloos  überhaupt  oder  die  Folgen  jener  böse  ge- 
nannten Handlungen  in  ihm  erregt  haben;  so  dass  eine 
tiefe  Verstimmung  entsteht,  mit  dem  Ausblick  nach 
einem  Arzte,  der  diese  und  alle  ihre  Ursachen  zu  heben 
vermöchte.  —  Dieser  Zustand  würde  nicht  so  bitter 
empfunden  werden,  wenn  der  Mensch  sich  nur  mit 
andern  Menschen  unbefangen  vergliche:  dann  nämlich 
hätte  er  keinen  Grund,  mit  sich  in  einem  besondern 
Maasse  unzufrieden  zu  sein,  er  trüge  eben  nur  an  der 
allgemeinen  Last  der  menschlichen  Unbefriedigung  und 
Unvollkommenheit.  Aber  er  vergleicht  sich  mit  einem 
Wesen,  welches  allein  jener  Handlungen  fähig  ist,  die 
unegoistisch  genannt  werden,  und  im  fortwährenden 
Bewusstsein  einer  selbstlosen  Denkweise  lebt,  mit  Gott; 
dadurch  dass  er  in  diesen  hellen  Spiegel  schaut, 
erscheint  ihm  sein  Wesen  so  trübe,  so  ungewöhnlich 
verzerrt.     Sodann  ängstigt  ihn  der  Gedanke  an  dasselbe 


—     137     — 

Wesen,  insofern  dieses  als  strafende  Gerechtigkeit  vor 
seiner  Phantasie  schwebt:  in  allen  möglichen  kleinen  und 
grossen  Erlebnissen  glaubt  er  seinen  Zorn,  seine  Droh- 
ungen zu  erkennen,  ja  die  Geisseischläge  seines  Richter- 
und Henkerthums  schon  vorzuempfinden.  Wer  hilft  ihm 
in  dieser  Gefahr,  welche  durch  den  Hinblick  auf  eine 
unermessliche  Zeitdauer  der  Strafe  an  Grässliclikeit  alle 
anderen  Schrecknisse  der  Vorstellung  überbietet? 


133- 

Bevor  wir  diesen  Zustand  in  seinen  weiteren  Folgen 
uns  vorlegen,  wollen  wir  uns  doch  eingestehen,  dass  der 
Mensch  in  diesen  Zustand  nicht  durch  seine  „Schuld" 
und  „Sünde",  sondern  durch  eine  Reihe  von  Irrtliümern 
der  Vernunft  gerathen  ist,  dass  es  der  Fehler  des  Spiegels 
war,  wenn  ihm  sein  Wesen  in  jenem  Grade  dunkel  und 
hassenswerth  vorkam,  und  dass  jener  Spiegel  sein  Werk, 
das  sehr  unvollkommene  Werk  der  menschlichen  Phan- 
tasie und  Urtheilskraft  war.  Erstens  ist  ein  Wesen, 
welches  einzig  rein  unegoistischer  Handlungen  fähig 
wäre,  noch  fabelhafter  als  der  Vogel  Phönix;  es  ist  deut- 
lich nicht  einmal  vorzustellen,  schon  desshalb  weil  der 
ganze  Begriff  „unegoistische  Handlung"  bei  strenger 
Untersuchung  in  die  Luft  verstiebt.  Nie  hat  ein  Mensch 
Etwas  gethan,  das  allein  für  Andere  und  ohne  jeden 
persönlichen  Beweggrund  gethan  wäre;  ja  wie  sollte  er 
Etwas  thun  können,  das  ohne  Bezug  zu  ihm  wäre, 
also  ohne  innere  Nöthigung  (welche  ihren  Grund  doch 
in  einem  persönlichen  Bedürfniss  haben  müsste)?  Wie 
vermöchte  das  ego  ohne  ego  zu  handeln?  —  Ein 
Gott,  der  dagegen  ganz  Liebe  ist,  wie  gelegentlich 
angenommen   wird,   wäre  keiner  einzigen  unegoistischen 


—      138     - 

Handlung  fähig:  wobei  man  sich  an  einen  Gedanken 
Lichtenberg's,  der  freiHch  einer  etwas  niedrigeren  Sphäre 
entnommen  ist,  erinnern  sollte:  „Wir  können  unmöglich 
für  Andere  fühlen,  wie  man  zu  sagen  pflegt;  wir  fühlen 
nur  für  uns.  Der  Satz  klingt  hart,  er  ist  es  aber  nicht, 
wenn  er  nur  recht  verstanden  wird.  Man  liebt  weder 
Vater,  noch  Mutter,  noch  Frau,  noch  Künd,  sondern  die 
angenehmen  Empfindungen,  die  sie  uns  machen",  oder  wie 
La  Rochefoucauld  sagt:  „si  on  croit  aivier  sa  maitresse 
p07ir  l'amour  d'elle,  on  est  bien  troinp^."  Wesshalb  Hand- 
lungen der  Liebe  höher  geschätzt  werden  als  andere, 
nämlich  nicht  ihres  Wesens,  sondern  ihrer  Nützlichkeit 
halber,  darüber  vergleiche  man  die  schon  vorher  er- 
wähnten Untersuchungen  „über  den  Ursprung  der  mora- 
lischen Empfindungen".  Sollte  aber  ein  Mensch  wünschen, 
ganz  wie  jener  Gott  Liebe  zu  sein.  Alles  für  Andre, 
Nichts  für  sich  zu  thun  und  zu  wollen,  so  ist  letzteres 
schon  desshalb  unmöglich,  weil  er  sehr  Viel  für  sich 
thun  muss,  um  überhaupt  Anderen  Etwas  zu  Liebe 
thun  zu  können.  Sodann  setzt  es  voraus,  dass  der 
Andre  Egoist  genug  ist,  um  jene  Opfer,  jenes  Leben  für 
ihn,  immer  und  immer  wieder  anzunehmen:  so  dass  die 
Menschen  der  Liebe  und  Aufopferung  ein  Interesse  an  dem 
Fortbestehen  der  liebelosen  und  aufopferungsunfähigen 
Egoisten  haben,  und  die  höchste  Moralität,  um  bestehn 
zu  können,  förmlich  die  Existenz  der  Unmoralität  er- 
zwingen müsste  (wodurch  sie  sich  fi-eilich  selber  auf- 
heben würde).  —  Weiter:  die  Vorstellung  eines  Gottes 
beunruhigt  und  demüthigt  so  lange,  als  sie  geglaubt 
wird,  aber  wie  sie  entstanden  ist,  darüber  kann  bei 
dem  jetzigen  Stande  der  völkervergleichenden  Wissen- 
schaft kein  Zweifel  mehr  sein;  und  mit  der  Einsicht  in 
diese  Entstehung  fällt  jener  Glaube  dahin.    Es  geht  dem 


—      139     — 

Christen,  welcher  sein  Wesen  mit  dem  Gottes  vergleicht, 
so  wie  dem  Don  Quixote,  der  seine  eigene  Tapferkeit 
unterschätzt,  weil  er  die  Wunderthaten  der  Helden  aus 
den  Ritterromanen  im  Kopfe  hat:  der  Maasstab,  mit 
dem  in  beiden  Fällen  gemessen  wird,  gehört  in's  Reich 
der  Fabel.  —  Fällt  aber  die  Vorstellung  Gottes  weg,  so 
auch  dcis  Gefühl  der  „Sünde"  als  eines  Vergehens 
gegen  götthche  Vorschriften,  als  eines  Fleckens  an  einem 
gottgeweihten  Geschöpfe.  Dann  bleibt  wahrscheinlich 
noch  jener  Unmuth  übrig,  welcher  mit  der  Furcht  vor 
Strafen  der  weltlichen  Gerechtigkeit  oder  vor  der  Miss- 
achtung der  Menschen  sehr  verwachsen  und  verwandt 
ist,  der  Unmuth  der  Gewissensbisse:  der  schärfste  Stachel 
im  Gefühl  der  Sünde  ist  immerhin  abgebrochen,  wenn 
man  einsieht,  dass  man  sich  durch  seine  Handlungen 
wohl  gegen  menschliches  Herkommen,  menschliche  Satz- 
ungen und  Ordnungen  vergangen  habe,  aber  damit  doch 
nicht  das  „ewige  Heil  der  Seele"  und  ihre  Beziehung  zur 
Gottheit  gefährdet  habe.  Gelingt  es  dem  Menschen  zu- 
letzt noch,  die  philosophische  Überzeugung  von  der 
unbedingten  Nothwendigkeit  aller  Handlungen  und  ihrer 
völligen  UnVerantwortlichkeit  zu  gewinnen  und  in  Fleisch 
und  Blut  aufzunehmen,  so  verschwindet  auch  jener  Rest 
von  Gewissensbissen. 

134. 

Ist  nun  der  Christ,  wie  gesagt,  durch  einige  Irr- 
thümer  in  das  Gefühl  der  Selbstverachtung  gerathen,  also 
durch  eine  falsche  unwissenschaftliche  Auslegung  seiner 
Handlungen  und  Empfindungen,  so  muss  er  mit  höchstem 
Erstaunen  bemerken,  wie  jener  Zustand  der  Verachtung, 
der  Gewissensbisse,  der  Unlust  überhaupt,  nicht  anhält, 
wie  gelegentlich  Stunden  kommen,  wo  ihm   diess  Alles 


—      I40     — 

von  der  Seele  weggeweht  ist  und  er  sich  wieder  frei  und 
muthig  fühlt.  In  Wahrheit  hat  die  Lust  an  sich  selber, 
das  Wohlbehagen  an  der  eigenen  Kraft,  im  Bunde  mit 
der  nothwendigen  Abschwächung  jeder  tiefen  Erregung 
den  Sieg  davongetragen:  der  Mensch  liebt  sich  wieder, 
er  fühlt  es,  —  aber  gerade  diese  Liebe,  diese  neue 
Selbstschätzung  kommt  ihm  unglaublich  vor,  er  kann 
in  ihr  allein  das  gänzlich  unverdiente  Herabströmen 
eines  Gnadenglanzes  von  Oben  sehen.  Wenn  er  früher 
in  allen  Begebnissen  Warnungen,  Drohungen,  Strafen 
und  jede  Art  von  Anzeichen  des  göttlichen  Zornes  zu 
erblicken  glaubte,  so  deutet  er  jetzt  in  seine  Erfahrungen 
die  göttliche  Güte  hinein:  diess  Ereigniss  kommt  ihm 
liebevoll,  jenes  wie  ein  hülfreicher  Fingerzeig,  ein  drittes 
und  namentlich  seine  ganze  freudige  Stimmung  als  Be- 
weis vor,  dass  Gott  gnädig  sei.  Wie  er  früher  im  Zu- 
stande des  Unmuthes  namentlich  seine  Handlungen 
falsch  ausdeutete,  so  jetzt  namentlich  seine  Erlebnisse; 
die  getröstete  Stimmung  fasst  er  als  Wirkung  einer 
ausser  ihm  waltenden  Macht  auf,  die  Liebe,  mit  der  er 
sich  im  Grunde  selbst  liebt,  erscheint  als  göttliche  Liebe; 
Das,  was  er  Gnade  und  Vorspiel  der  Erlösung  nennt, 
ist  in  Wahrheit  Selbstbegnadigung,  Selbsterlösnng. 


•    135- 

Also:  eine  bestimmte  falsche  Psychologie,  eine  ge- 
wisse Art  von  Phantastik  in  der  Ausdeutung  der  Motive 
und  Erlebnisse  ist  die  nothwendige  Voraussetzung  davon, 
dass  Einer  zum  Christen  werde  und  das  Bedürfniss  der 
Erlösung  empfinde.  Mit  der  Einsicht  in  diese  Verirrung 
der  Vernunft  und  Phantasie  hört  man  auf,  Christ  zu  sein. 


—      141      — 

136. 
Von  der  christlichen  Askese  und  Heiligkeit 
So  sehr  einzelne  Denker  sich  bemüht  haben,  in  den 
seltenen  Erscheinungen  der  Moralität,  welche  man  As- 
kese und  Heiligkeit  zu  nennen  pflegt,  ein  Wunderding 
hinzustellen,  dem  die  Leuchte  einer  vernünftigen  Er- 
klärung in's  Gesicht  zu  halten  beinahe  schon  Frevel 
und  Entweihung  sei:  so  stark  ist  hinwiederum  die  Ver- 
führung zu  diesem  Frevel.  Ein  mächtiger  Antrieb  der 
Natur  hat  zu  allen  Zeiten  dazu  geführt,  gegen  jene 
Erscheinungen  überhaupt  zu  protestiren;  die  Wissen- 
schaft, insofern  sie  wie  gesagt  eine  Nachahmung  der 
Natur  ist,  erlaubt  sich  wenigstens  gegen  die  behauptete 
Unerklärbarkeit ,  ja  Unnahbarkeit  derselben  Einsprache 
zu  erheben.  Freilich  gelang  es  ihr  bis  jetzt  nicht:  jene 
Erscheinungen  sind  immer  noch  unerklärt,  zum  grossen 
Vergnügen  der  erwähnten  Verehrer  des  moralisch -Wun- 
derbaren. Denn,  allgemein  gesprochen:  das  Unerklärte 
soll  durchaus  unerklärlich,  das  Unerklärliche  durchaus 
unnatürlich,  übernatürlich,  wunderhaft  sein  —  so  lautet 
die  Forderung  in  den  Seelen  aller  Religiösen  und  Meta- 
physiker  (auch  der  Künstler,  falls  sie  zugleich  Denker 
sind);  während  der  wissenschaftliche  Mensch  in  dieser 
Forderung  das  „böse  Princip"  sieht.  —  Die  allgemeine 
erste  Wahrscheinlichkeit,  auf  welche  man  bei  Betrachtung 
von  Heiligkeit  und  Askese  zuerst  geräth,  ist  diese,  dass 
ihre  Natur  eine  complicirte  ist:  denn  fast  überall, 
innerhalb  der  physischen  Welt  sowohl  wie  in  der  mora- 
lischen, hat  man  mit  Glück  das  angeblich  Wunderbare 
auf  das  Complicirte,  mehrfach  Bedingte  zurückgeführt. 
Wagen  wir  es  also,  einzelne  Antriebe  aus  der  Seele  der 
Heiligen  und  Asketen  zunächst  zu  isoliren  und  zum 
Schluss  sie  uns  in  einander  verwachsen  zu  denken. 


142 


137. 


Es  giebt  einen  Trotz  gegen  sich  selbst,  zu 
dessen  sublimirtesten  Äusserungen  manche  Formen  der 
Askese  gehören.  Gewisse  Menschen  haben  nämlich  ein 
so  hohes  Bedürfniss,  ihre  Gewalt  und  Herrschsucht  aus- 
zuüben, dass  sie,  in  Ermangelung  anderer  Objecte  oder 
weil  es  ihnen  sonst  immer  misslungen  ist,  endlich  darauf 
verfallen,  gewisse  Theile  ihres  eigenen  Wesens,  gleichsam 
Ausschnitte  oder  Stufen  ihrer  selbst  zu  tyrannisiren.  So 
bekennt  sich  mancher  Denker  zu  Ansichten,  welche  er- 
sichtlich nicht  dazu  dienen,  seinen  Ruf  zu  vermehren 
oder  zu  verbessern;  Mancher  beschwört  förmlich  die 
Missachtung  Anderer  auf  sich  herab,  während  er  es  leicht 
hätte,  einfach  durch  Stillschweigen,  ein  geachteter  Mann 
zu  bleiben;  Andere  widerrufen  frühere  Meinungen  und 
scheuen  es  nicht,  fürderhin  inconsequent  genannt  zu 
werden:  im  Gegentheil,  sie  bemühen  sich  darum  und  be- 
nehmen sich  wie  übermüthige  Reiter,  welche  das  Pferd, 
erst  wenn  es  wild  geworden ,  mit  Schweiss  bedeckt, 
scheu  gemacht  ist,  am  liebsten  mögen.  So  steigt  der 
Mensch  in  gefährlichen  Wegen  auf  die  höchsten  Gebirge, 
um  über  seine  Ängstlichkeit  und  seine  schlotternden 
Kniee  Hohn  zu  lachen;  so  bekennt  sich  der  Philosoph 
zu  Ansichten  der  Askese,  Demuth,  Heiligkeit,  in  deren 
Glänze  sein  eigenes  Bild  auf  das  ärgste  verhässlicht 
wird.  Dieses  Zerbrechen  seiner  selbst,  dieser  Spott  über 
die  eigene  Natur,  dieses  spernere  se  sperni,  aus  dem  die 
Religionen  so  viel  gemacht  haben,  ist  eigentlich  ein  sehr 
hoher  Grad  der  Eitelkeit.  Die  ganze  Moral  der  Berg- 
predigt gehört  hierher:  der  Mensch  hat  eine  wahre 
Wollust,  sich  durch  übertriebene  Ansprüche  zu  verge- 
waltigen und  dieses  tyrannisch  fordernde  Etwas  in  seiner 


—     143     — 

Seele  nachher  zu  vergöttern,  —  In  jeder  asketischen  Moral 
betet  der  Mensch  einen  Theil  von  sich  als  Gott  an  und 
hat  dazu  nöthig,  den  übrigen  Theil  zu  diabolisiren. 

138. 

Der  Mensch  ist  nicht  zu  allen  Stunden  gleich  mora- 
lisch, diess  ist  bekannt:  beurtheilt  man  seine  Moralität 
nach  der  Fähigkeit  zu  grosser  aufopfernder  Entschliessung 
und  Selbstverleugnung  (welche,  dauernd  und  zur  Gewohn- 
heit geworden,  Heiligkeit  ist),  so  ist  er  im  Affect  am 
moralischsten;  die  höhere  Erregung  reicht  ihm  ganz  neue 
Motive  dar,  welcher  er,  nüchtern  und  kalt  wie  sonst,  viel- 
leicht nicht  einmal  fähig  zu  sein  glaubte.  Wie  kommt 
diess?  Wahrscheinlich  aus  der  Nachbarschaft  alles  Grossen 
und  Hocherregenden:  ist  der  Mensch  einmal  in  eine 
ausserordentHche  Spannung  gebracht,  so  kann  er  ebenso- 
wohl zu  einer  furchtbaren  Rache,  als  zu  einer  furchtbaren 
Brechung  seines  Rachebedürfnisses  sich  entschliessen. 
Er  will,  unter  dem  Einflüsse  der  gewaltigen  Emotion, 
jedenfalls  das  Grosse  Gewaltige  Ungeheure,  und  wenn 
er  zufällig  merkt,  dass  ihm  die  Aufopferung  seiner  selbst 
ebenso  oder  noch  mehr  genugthut  als  die  Opferung  des 
Anderen,  so  wählt  er  sie.  EigentHch  liegt  ihm  also  nur 
an  der  Entladung  seiner  Emotion;  da  fasst  er  wohl, 
um  seine  Spannung  zu  erleichtern,  die  Speere  der  Feinde 
zusammen  und  begräbt  sie  in  seine  Brust.  Dass  in  der 
Selbstverleugnung,  und  nicht  nur  in  der  Rache,  etwas 
Grosses  liege,  musste  der  Menschheit  erst  in  langer 
Gewöhnung  anerzogen  werden;  eine  Gottheit,  welche 
sich  selbst  opfert,  war  das  stärkste,  wirkungsvollste 
Symbol  dieser  Art  von  Grösse.  Als  die  Besiegung  des 
schwerst  zu  besiegenden  Feindes,  die  plötzliche  Bemei- 


—      144      — 

sterung  eines  Affectes  —  als  Diess  erscheint  diese 
Verleugnung  und  insofern  gilt  sie  als  der  Gipfel  des 
Moralischen.  In  Wahrheit  handelt  es  sich  dabei  nur  um 
die  Vertauschung  der  einen  Vorstellung  mit  der  andren, 
während  das  Gemüth  seine  gleiche  Höhe,  seinen 
gleichen  Fluthstand  behält.  Ernüchterte,  vom  Affect 
ausruhende  Menschen  verstehen  die  Moralität  jener  Augen- 
blicke nicht  mehr,  aber  die  Bewunderung  Aller,  die  jene 
miterlebten,  hält  sie  aufrecht;  der  Stolz  ist  ihr  Trost, 
wenn  der  Affect  und  das  Verständniss  ihrer  That  weicht. 
Also:  im  Grunde  sind  auch  jene  Handlungen  der  Selbst- 
verleugnung nicht  moralisch,  insofern  sie  nicht  streng 
in  Hinsicht  auf  Andere  gethan  sind;  vielmehr  giebt 
der  Andre  dem  hochgespannten  Gemüth  nur  eine 
Gelegenheit,  sich  zu  erleichtern,  durch  jene  Verleugnung. 


139- 

Auch  der  Asket  sucht  sich  das  Leben  leicht  zu 
machen:  und  zwar  gewöhnlich  durch  die  vollkommene 
Unterordnung  unter  einen  fremden  Willen  oder  unter 
ein  umfängliches  Gesetz  und  Ritual;  etwas  in  der  Art,  wie 
der  Brahmane  durchaus  Nichts  seiner  eigenen  Be- 
stimmung überlässt  und  sich  in  jeder  Minute  durch 
eine  heilige  Vorschrift  bestimmt.  Diese  Unterordnung 
ist  ein  mächtiges  Mittel,  um  über  sich  Herr  zu  werden; 
man  ist  beschäftigt,  also  ohne  Langeweile,  und  hat 
doch  keine  Anregung  des  Eigenwillens  und  der  Leiden- 
schaften dabei:  nach  vollbrachter  That  fehlt  das  Gefühl 
der  Verantwortung  und  damit  die  Qual  der  Reue.  Man 
hat  ein  für  alle  Mal  auf  eigenen  Willen  verzichtet,  und 
diess  ist  leichter,  als  nur  gelegentlich  einmal  zu  ver- 
zichten; so  wie  es  auch  leichter  ist,  einer  Begierde  ganz 


—     145     — 

zu  entsagen  als  in  ihr  Maass  zu  halten.  Wenn  wir  uns 
der  jetzigen  Stellung  des  Mannes  zum  Staat  erinnern, 
so  finden  wir  auch  da,  dass  der  unbedingte  Gehorsam 
bequemer  ist  als  der  bedingte.  Der  Heilige  also  erleich- 
tert sich  durch  jenes  vöUige  Aufgeben  der  Persönlichkeit 
sein  Leben,  und  man  täuscht  sich,  wenn  man  in  jenem 
Phänomen  das  höchste  Heldenstück  der  Moralität  be- 
wundert Es  ist  in  jedem  Falle  schwerer,  seine  Persön- 
lichkeit ohne  Schwanken  und  Unklarheit  durchzusetzen, 
als  sich  von  ihr  in  der  erwähnten  Weise  zu  lösen ;  über- 
diess  verlangt  es  viel  mehr  Geist  und  Nachdenken. 


140. 

Nachdem  ich  in  vielen  der  schwerer  erklärbaren 
menschlichen  Handlungen  Äusserungen  jener  Lust  an  der 
Emotion  an  sich  gefunden  habe,  möchte  ich  auch  in 
Betreff  der  Selbstverachtung,  welche  zu  den  Merkmalen 
der  Heiligkeit  gehört,  und  ebenso  in  den  Handlungen 
der  Selbstquälerei  (durch  Hunger  und  Geisseischläge,  Ver- 
renkungen der  Glieder,  Erheuchelung  des  Wahnsinns  usw.) 
ein  Mittel  erkennen,  durch  welches  jene  Naturen  gegen  die 
allgemeine  Ermüdung  ihres  Lebenswillens  (ihrer  Nerven) 
ankämpfen:  sie  bedienen  sich  der  schmerzhaftesten  Reiz- 
mittel und  Grausamkeiten,  um  für  Zeiten  wenigstens  aus 
jener  Dumpfheit  und  Langeweile  aufzutauchen,  in  welche 
ihre  grosse  geistige  Indolenz  und  jene  geschilderte  Unter- 
ordnung unter  einen  fremden  Willen  sie  so  häufig  ver- 
fallen lässt 

141. 

Das  gewöhnlichste  Mittel,  welches  der  Asket  und 
Heilige  anwendet,  um  sich  das  Leben  doch  noch  erträg- 

Nietxsche,   Werke  Band  H.  lO 


—      146     — 

lieh  und  unterhaltend  zu  machen,  besteht  in  gelegent- 
lichem Kriegführen  und  in  dem  Wechsel  von  Sieg  und 
Niederlage.  Dazu  braucht  er  einen  Gegner  und  findet 
ihn  in  dem  sogenannten  .inneren  Feinde".  Namentlich 
nützt  er  seinen  Hang  zur  Eitelkeit,  Ehr-  und  Herrsch- 
sucht, sodann  seine  sinnlichen  Begierden  aus,  um  sein 
Leben  wie  eine  fortgesetzte  Schlacht  und  sich  wie  ein 
Schlachtfeld  ansehen  zu  dürfen,  auf  dem  gute  und  böse 
Geister  mit  wechselndem  Erfolge  ringen.  Bekanntlich 
wird  die  sinnliche  Phantasie  durch  die  Regelmässigkeit 
des  geschlechtlichen  Verkehrs  gemässigt,  ja  fast  unter- 
drückt; umgekehrt  durch  Enthaltsamkeit  oder  Unordnung 
im  Verkehre  entfesselt  und  wüst.  Die  Phantasie  vieler 
christlicher  Heiligen  war  in  ungewöhnlichem  Maasse 
schmutzig;  vermöge  jener  Theorie,  dass  diese  Begierden 
wirkliche  Dämonen  seien,  die  in  ihnen  wütheten,  fühlten 
sie  sich  nicht  allzusehr  verantwortlich  dabei:  diesem  Ge- 
fühle verdanken  wir  die  so  belehrende  Aufrichtigkeit 
ihrer  Selbstzeugnisse.  Es  war  in  ihrem  Interesse,  dass 
dieser  Kampf  in  irgend  einem  Grade  immer  unterhalten 
wurde,  weil  durch  ihn  wie  gesagt  ihr  ödes  Leben  unter- 
halten wurde.  Damit  der  Kampf  aber  wichtig  genug 
erscheine,  um  andauernde  Theilnahme  und  Bewunderung 
bei  den  Nicht-Heiligen  zu  erregen,  musste  die  Sinnlich- 
keit immer  mehr  verketzert  und  gebrandmarkt  werden, 
ja  die  Gefahr  ewiger  Verdammniss  wurde  so  eng  an 
diese  Dinge  geknüpft,  dass  höchst  wahrscheinlich  ganze 
Zeitalter  hindurch  die  Christen  mit  bösem  Gewissen  Kinder 
zeugten,  wodurch  gewiss  der  Menschheit  ein  grosser  Schade 
angethan  worden  ist.  Und  doch  steht  hier  die  Wahrheit 
ganz  auf  dem  Kopfe:  was  für  die  Wahrheit  besonders 
unschicklich  ist.  Zwar  hatte  das  Christenthum  gesagt:  jeder 
Mensch  sei  in  Sünden  empfangen  und  geboren,  und 


—     147     — 

im  unausstehlichen  Superlativ-Christenthum  des  Calderon 
erscheint  dieser  Gedanke  noch  einmal  zusammen  geknotet 
und  verschlungen,  als  die  verdrehteste  Paradoxie,  die  es 
giebt,  in  dem  bekannten  Verse: 

die  grösste  Schuld  des  Menschen 

ist,  dass  er  geboren  wa-rd. 
In  allen  pessimistischen  Religionen  wird  der  Zeugnngsact 
als  schlecht  an  sich  empfunden,  aber  keineswegs  ist  diese 
Empfindung  eine  allgemein-menschliche,  selbst  nicht  einmal 
das  Urtheil  aller  Pessimisten  ist  sich  hierin  gleich.  Empedokles 
zum  Beispiel  weiss  gar  nichts  vom  Beschämenden  Teuflischen 
Sündhaften  in  allen  erotischen  Dingen;  er  sieht  vielmehr 
auf  der  grossen  Wiese  des  Unheils  nur  eine  einzige  heil- 
und  hoffnungsvolle  Erscheinung,  die  Aphrodite;  sie  gilt  ihm 
als  Bürgschaft,  dass  der  Streit  nicht  ewig  herrschen,  sondern 
einem  milderen  Dämon  einmal  das  Scepter  überreichen 
werde.  Die  christlichen  Pessimisten  der  Praxis  hatten,  wie 
gesagt,  ein  Interesse  daran,  dass  eine  andere  Meinung  in 
der  Herrschaft  blieb;  sie  brauchten  für  die  Einsamkeit  und 
die  geistige  Wüstenei  ihres  Lebens  einen  immer  lebendigen 
Feind:  und  einen  allgemein  anerkannten  Feind,  durch  dessen 
Bekämpfung  und  Überwältigung  sie  dem  Nicht-Heiligen 
sich  immer  von  Neuem  wieder  als  halb  unbegreifliche, 
übernatürliche  Wesen  darstellten.  Wenn  dieser  Feind  endlich, 
in  Folge  ihrer  Lebensweise  und  ihrer  zerstörten  Gesundheit, 
die  Flucht  für  immer  ergriff,  so  verstanden  sie  es  sofort,  ihr 
Inneres  mit  neuen  Dämonen  bevölkert  zu  sehen.  Das 
Auf-  und  Niederschwanken  der  Wagschalen  Hochmuth 
und  Demuth  unterhielt  ihre  grübelnden  Köpfe  so  gut 
wie  der  Wechsel  von  Begierde  und  Seelenruhe.  Damals 
diente  die  Psychologie  dazu,  alles  Menschliche  nicht  nur 
zu  verdächtigen,  sondern  zu  lästern,  zu  geisscln,  zu 
kreuzigen :  man  wollte  sich  möglichst  schlecht  und  böse 


—    148    — 

finden,  man  suchte  die  Angst  um  das  Heil  der  Seele, 
die  Verzweiflung  an  der  eigenen  Kraft.  Alles  Natürliche, 
an  welches  der  Mensch  die  Vorstellung  des  Schlechten, 
Sündhaften  anhängt  (wie  er  es  zum  Beispiel  noch  jetzt 
in  Betreff  des  Erotischen  gewöhnt  ist),  belästigt,  ver- 
düstert die  Phantasie,  giebt  einen  scheuen  Blick,  lässt 
den  Menschen  mit  sich  selber  hadern  und  macht 
ihn  unsicher,  vertrauenslos  gegen  sich  selbst.  Selbst 
seine  Träume  bekommen  einen  Beigeschmack  des  ge- 
quälten Gewissens.  Und  doch  ist  dieses  Leiden  am 
Natürlichen  in  der  Realität  der  Dinge  völlig  unbegrün- 
det: es  ist  nur  die  Folge  von  Meinungen  über  die  Dinge. 
Man  erkennt  leicht,  wie  die  Menschen  dadurch  schlechter 
werden,  dass  sie  das  Unvermeidlich-Natürliche  als  schlecht 
bezeichnen  und  später  immer  als  so  beschaffen  empfinden. 
Es  ist  der  Kunstgriff  der  Religionen  und  Metaphysiken, 
welche  den  Menschen  als  böse  und  sündhaft  von  Natur 
wollen,  ihm  die  Natur  zu  verdächtigen  und  so  ihn  selber 
schlecht  zu  machen:  denn  so  lernt  er  sich  als  schlecht 
empfinden,  da  er  das  Kleid  der  Natur  nicht  ausziehn 
kann.  Allmählich  fühlt  er  sich,  bei  einem  langen  Leben 
im  Natürlichen,  von  einer  solchen  Last  von  Sünden  be- 
drückt, dass  übernatürliche  Mächte  nö!hig  werden,  um  diese 
Last  heben  zu  können:  und  damit  ist  das  schon  besprochene 
Erlösungsbedürfniss  auf  den  Schauplatz  getreten, 
welches  gar  keiner  wirklichen,  sondern  nur  einer  einge- 
bildeten Sündhaftigkeit  entspricht.  Man  gehe  die  einzelnen 
moralischen  Aufstellungen  der  Urkunden  des  Christenthums 
durch  und  man  wird  überall  finden,  dass  die  Anforderungen 
überspannt  sind,  damit  der  Mensch  ihnen  nicht  genügen 
könne:  die  Absicht  ist  nicht,  dass  er  moralischer 
werde,  sondern  dass  er  sich  möglichst  sündhaft 
fühle.     Wenn  dem   Menschen   diess  Gefühl  nicht  ange- 


—     149     — 

nehm  gewesen  wäre  —  wozu  hätte  er  eine  solche 
Vorstellung  erzeugt  und  sich  so  lange  an  sie  gehängt? 
Wie  in  der  antiken  Welt  eine  unermessliche  Kraft  von 
Geist  und  Erfindungsgabe  verwendet  worden  ist,  um  die 
Freude  am  Leben  durch  festliche  Culte  zu  mehren:  so 
ist  in  der  Zeit  des  Christenthums  ebenfalls  unermesslich 
viel  Geist  einem  anderen  Streben  geopfert  worden:  der 
Mensch  sollte  auf  alle  Weise  sich  sündhaft  fühlen  und 
dadurch  überhaupt  erregt,  belebt,  beseelt  werden. 
Erregen,  beleben,  beseelen,  um  jeden  Preis  —  ist  das  nicht 
das  Losungswort  einer  erschlafften  überreifen  übercul- 
tivirten  Zeit?  Der  Kreis  aller  natürlichen  Empfindungen 
war  hundertmal  durchlaufen,  die  Seele  war  ihrer  müde 
geworden:  da  erfanden  der  Heilige  und  der  Asket  eine 
neue  Gattung  von  Lebensreizen.  Sie  stellten  sich  vor 
Aller  Augen  hin,  nicht  eigentlich  zur  Nachahmung  für 
Viele,  sondern  als,  schauderhaftes  und  doch  entzückendes 
Schauspiel,  welches  an  jenen  Grenzen  zwischen  Welt  und 
Überwelt  aufgeführt  wurde,  wo  Jedermann  damals  bald 
himmlische  Lichtblicke  bald  unheimliche,  aus  der  Tiefe 
lodernde  Flammenzungen  zu  erblicken  glaubte.  Das  Auge 
des  Heiligen,  hingerichtet  auf  die  in  jedem  Betracht  furcht- 
bare Bedeutung  des  kurzen  Erdenlebens,  auf  die 
Nähe  der  letzten  Entscheidungen  über  endlose  neue  Lebens- 
strecken, dieses  verkohlende  Auge  in  einem  halb  ver- 
nichteten Leibe  machte  die  Menschen  der  alten  Welt  bis 
in  alle  Tiefen  erzittern;  hinblicken,  schaudernd  weg- 
blicken, von  Neuem  den  Reiz  des  Schauspiels  spüren, 
ihm  nachgeben,  sich  an  ihm  ersättigen,  bis  die  Seele  in 
Gluth  und  Fieberfrost  bebt,  —  das  war  die  letzte  Lust, 
welche  das  Alterthum  erfand,  nachdem  es  selbst 
gegen  den  Anblick  von  Thierhetzen  und  Menschen- 
kämpfen stumpf  geworden  war. 


—      I50     — 

142. 

Um  das  Gesagte  zusammenzufassen:  jener  Seelen- 
zustand,  dessen  sich  der  Heilige  oder  Heiligwerdende 
erfreut,  setzt  sich  aus  Elementen  zusammen,  welche  wir 
Alle  recht  wohl  kennen,  nur  dass  sie  sich  unter  dem 
Einflüsse  anderer  als  religiöser  Vorstellungen  anders  ge- 
färbt zeigen  und  dann  den  Tadel  der  Menschen  ebenso 
stark  zu  erfahren  pflegen,  wie  sie,  in  jener  Verbrämung 
mit  Religion  und  letzter  Bedeutsamkeit  des  Daseins,  auf 
Bewunderung,  ja  Anbetung  rechnen  dürfen,  —  mindestens 
in  früheren  Zeiten  rechnen  durften.  Bald  übt  der  Heihge 
jenen  Trotz  gegen  sich  selbst,  der  ein  naher  Verwandter 
der  Herrschsucht  um  jeden  Preis  ist  und  auch  dem  Ein- 
samsten noch  das  Gefühl  der  Macht  giebt;  bald  springt 
seine  angeschwellte  Empfindung  aus  dem  Verlangen,  seine 
Leidenschaften  dahinschiessen  zu  lassen,  über  in  das  Ver- 
langen, sie  wie  wilde  Rosse  zusammenstürzen  zu  machen, 
unter  dem  mächtigen  Druck  einer  stolzen  Seele;  bald  will 
er  ein  völliges  Aufhören  aller  störenden  quälenden  reizen- 
den Empfindungen,  einen  wachen  Schlaf,  ein  dauerndes 
Ausruhen  im  Schoosse  einer  dumpfen,  thier-  und  pflanzen- 
haften Indolenz;  bald  sucht  er  den  Kampf  und  entzündet 
ihn  in  sich,  weil  ihm  die  Langeweile  ihr  gähnendes  Ge- 
sicht entgegenhält:  er  geisselt  seine  Selbst  Vergötterung 
mit  Selbstverachtung  und  Grausamkeit,  er  freut  sich  an 
dem  wilden  Aufruhr  seiner  Begierden,  an  dem  scharfen 
Schmerz  der  Sünde,  ja  an  der  Vorstellung  des  Verloren- 
seins; er  versteht  es,  seinen  Affecten,  zum  Beispiel  dem 
der  äussersten  Herrschsucht,  einen  Fallstrick  zu  legen, 
so  dass  er  in  den  der  äussersten  Erniedrigung  übergeht 
und  seine  aufgehetzte  Seele  durch  diesen  Contrast  aus  allen 
Fugen    gerissen    wird;    und    zuletzt:    wenn    es    ihn    gar 


—     151     — 

nach  Visionen,  Gesprächen  mit  Todten  oder  göttlichen 
Wesen  gelüstet,  so  ist  es  im  Grunde  eine  seltene  Art 
von  Wollust,  welche  er  begehrt,  aber  vielleicht  jene  Wol- 
lust, in  der  alle  anderen  in  einen  Knoten  zusammen- 
geschlungen sind.  Novalis,  eine  der  Autoritäten  in 
Fragen  der  Heiligkeit  durch  Erfahrung  und  Instinct, 
spricht  das  ganze  Geheimniss  einmal  mit  naiver  Freude 
aus:  „Es  ist  wunderbar  genug,  dass  nicht  längst  die 
Association  von  Wollust,  Religion  und  Grausamkeit  die 
Menschen  aufmerksam  auf  ihre  innige  Verwandtschaft 
und  gemeinschaftliche  Tendenz  gemacht  hat." 


143- 

Nicht  Das,  was  der  Heilige  ist,  sondern  Das,  was 
er  in  den  Augen  der  Nicht-Heiligen  bedeutet,  giebt 
ihm  seinen  welthistorischen  Werth.  Dadurch  dass  man 
sich  über  ihn  irrte,  dass  man  seine  Seelenzustände  falsch 
auslegte  und  ihn  von  sich  so  stark  als  möglich  abtrennte, 
als  etwas  durchaus  Unvergleichliches  und  Fremdartig- 
Übermenschliches  —  dadurch  gewann  er  die  ausserordent- 
liche Kraft,  mit  welcher  er  die  Phantasie  ganzer  Völker, 
ganzer  Zeiten  beherrschen  konnte.  Er  selbst  kannte 
sich  nicht;  er  selbst  verstand  die  Schrift  seiner  Stim- 
mungen Neigungen  Handlungen  nach  einer  Kunst  der 
Interpretation,  welche  ebenso  überspannt  und  künstlich 
war,  wie  die  pneumatische  Interpretation  der  Bibel.  Das 
Verschrobene  und  Kranke  in  seiner  Natur,  mit  ihrer 
Zusammenkoppelung  von  geistiger  Armuth,  schlechtem 
Wissen,  verdorbener  Gesundheit,  überreizten  Nerven, 
blieb  seinem  Blick  ebenso  wie  dem  seiner  Beschauer 
verborgen.  Er  war  kein  besonders  guter  Mensch,  noch 
weniger  ein  besonders  weiser  Mensch:    aber  er  bedeu- 


—     152     — 

tete  etwas,  das  über  menschliches  Maass  in  Güte  und 
Weisheit  hinausreiche.  Der  Glaube  an  ihn  unterstützte 
den  Glauben  an  Göttliches  und  Wunderhaftes,  an  einen 
religiösen  Sinn  alles  Daseins,  an  einen  bevorstehenden 
letzten  Tag  des  Gerichtes.  In  dem  abendlichen  Glänze 
einer  Weltuntergangs-Sonne,  welche  über  die  christüchen 
Völker  hinleuchtete,  wuchs  die  Schattengestalt  des  Heili- 
gen in's  Ungeheure:  ja  bis  zu  einer  solchen  Höhe,  dass 
selbst  in  unserer  Zeit,  die  nicht  mehr  an  Gott  glaubt,  es 
noch  Denker  giebt,  welche  an  den  Heihgen  glauben. 


144. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  dieser  Zeichnung 
des  Heiligen,  welche  nach  dem  Durchschnitt  der  ganzen 
Gattung  entworfen  ist,  manche  Zeichnung  entgegen- 
gestellt werden  kann,  welche  eine  angenehmere  Em- 
pfindung hervorbringen  möchte.  Einzelne  Ausnahmen 
jener  Gattung  heben  sich  heraus,  sei  es  durch  grosse 
Milde  und  Menschenjfreundlichkeit ,  sei  es  durch  den 
Zauber  ungewöhnHcher  Thatkraft;  andere  sind  im  höch- 
sten Grade  anziehend,  weil  bestimmte  Wahnvorstellungen 
über  ihr  ganzes  Wesen  Lichtströme  ausgiessen:  wie  es 
zum  Beispiel  mit  dem  berühmten  Stifter  des  Christenthums 
der  Fall  ist,  der  sich  für  den  eingebornen  Sohn  Gottes 
hielt  und  desshalb  sich  sündlos  fühlte;  so  dass  er  durch 
eine  Einbildung  —  die  man  nicht  zu  hart  beurtheilen 
möge,  weil  das  ganze  Alterthum  von  Göttersöhnen  wim- 
melt —  dasselbe  Ziel  erreichte,  das  Gefühl  völliger 
Sündlosigkeit,  völliger  Unverantwortlichkeit,  welches  jetzt 
durch  die  Wissenschaft  Jedermann  sich  erwerben  kann! 
—  Ebenfalls  habe  ich  abgesehn  von  den  indischen 
Heiligen,  welche  auf  einer  Zwischenstufe   zwischen   dem 


—     153     — 

christlichen  Heiligen  und  dem  griechischen  Philosophen 
stehen  und  insofern  keinen  reinen  Typus  darstellen:  die 
Erkenntniss,  die  Wissenschaft  —  soweit  es  eine  solche 
gab  — ,  die  Erhebung  über  die  anderen  Menschen  durch 
die  logische  Zucht  und  Schulung  des  Denkens  wurde 
bei  den  Buddhisten  als  ein  Kennzeichen  der  Heiligkeit 
ebenso  gefordert,  wie  dieselben  Eigenschaften  in  der 
christlichen  Welt,  als  Kennzeichen  der  Unheiligkeit,  ab- 
gelehnt und  verketzert  werden. 


Viertes  Hauptstück: 

Aus  der  Seele 
der  Künstler  und  Schriftsteller 


145- 
Das  Vollkommene  soll  nicht  geworden  sein. 
—  Wir  sind  gewöhnt,  bei  allem  Vollkommenen  die  Frage 
nach  dem  Werden  zu  unterlassen:  sondern  uns  des 
Gegenwärtigen  zu  freuen,  wie  als  ob  es  auf  einen  Zauber- 
schlag aus  dem  Boden  aufgestiegen  sei.  Wahrscheinlich 
stehen  wir  hier  noch  unter  der  Nachwirkung  einer  ur- 
alten mythologischen  Empfindung.  Es  ist  uns  beinahe 
noch  so  zu  Muthe  (zum  Beispiel  in  einem  griechischen 
Tempel  wie  der  von  Pästum),  als  ob  eines  Morgens  ein 
Gott  spielend  aus  solchen  ungeheuren  Lasten  sein  Wohn- 
haus gebaut  habe:  andere  Male,  als  ob  eine  Seele  urplötz- 
lich in  einen  Stein  hineingezaubert  sei  und  nun  durch  ihn 
reden  wolle.  Der  Künstler  weiss,  dass  sein  Werk  nur 
voll  wirkt,  wenn  es  den  Glauben  an  eine  Improvisation, 
an  eine  wundergleiche  Plötzlichkeit  der  Entstehung  erregt; 
und  so  hilft  er  wohl  dieser  Illusion  nach  und  führt  jene 
Elemente  der  begeisterten  Unruhe,  der  blind  greifenden 
Unordnung,  des  aufhorchenden  Träumens  beim  Beginn 
der  Schöpfung  in  die  Kunst  ein,  als  Trugmittel,  um  die 
Seele  des  Schauers  oder  Hörers  so  zu  stimmen,  dass  sie 
an  das  plötzliche  Hervorspringen  des  Vollkommenen 
glaubt  —  Die  Wissenschaft  der  Kunst  hat  dieser  Illusion, 
wie  es  sich  von  selbst  versteht,  auf  das  bestimmteste  zu 
widersprechen   und  die  Fehlschlüsse  und  Verwöhnungen 


"     158     - 

des    Intellects     aufzuzeigen,     vermöge     deren    er     dem 
Künstler  in  das  Netz  läuft. 


146. 

Der  Wahrheitssinn  des  Künstlers.  —  Der 
Künstler  hat  in  Hinsicht  auf  das  Erkennen  der  Wahr- 
heiten eine  schwächere  Moralität  als  der  Denker;  er  will 
sich  die  glänzenden,  tiefsinnigen  Deutungen  des  Lebens 
durchaus  nicht  nehmen  lassen  und  wehrt  sich  gegen 
nüchterne,  schlichte  Methoden  und  Resultate.  Scheinbar 
kämpft  er  für  die  höhere  Würde  und  Bedeutung  des 
Menschen;  in  Wahrheit  will  er  die  für  seine  Kunst  wir- 
kungsvollsten Voraussetzungen  nicht  aufgeben,  also 
das  Phantastische  Mythische  Unsichere  Extreme,  den 
Sinn  für  das  Symbolische,  die  Überschätzung  der  Person, 
den  Glauben  an  etwas  Wunderartiges  im  Genius:  er 
hält  also  die  Fortdauer  seiner  Art  des  Schaffens  für 
wichtiger  als  die  wissenschaftliche  Hingebung  an  das 
Wahre  in  jeder  Gestalt,  erscheine  diese  auch  noch  so 
schlicht. 

147. 

Die  Kunst  als  Todtenbeschwörerin.  —  Die 
Kunst  versieht  nebenbei  die  Aufgabe  zu  conserviren, 
auch  wohl  erloschene  Verblichene  Vorstellungen  ein 
wenig  wieder  aufzufärben;  sie  flicht,  wenn  sie  diese 
Aufgabe  löst,  ein  Band  um  verschiedene  Zeitalter  und 
macht  deren  Geister  wiederkehren.  Zwar  ist  es  nur  ein 
Scheinleben  wie  über  Gräbern,  welches  hierdurch  ent- 
steht, oder  wie  die  Wiederkehr  geliebter  Todten  im 
Traume,  aber  wenigstens  für  Augenblicke  wird  die  alte 
Empfindung  noch  einmal  rege  und  das  Herz  klopft  nach 


—     159     -- 

einem  sonst  vergessenen  Tacte.  Nun  muss  man  wegen 
dieses  allgemeinen  Nutzens  der  Kunst  dem  Künstler 
selber  es  nachsehen,  wenn  er  nicht  in  den  vordersten 
Reihen  der  Aufklärung  und  der  fortschreitenden  Ver- 
männlichung  der  Menschheit  steht:  er  ist  zeitlebens 
ein  Kind  oder  ein  Jüngling  geblieben  und  auf  dem 
Standpunkt  zurückgehalten,  auf  welchem  er  von  seinem 
Kunsttriebe  überfallen  wurde;  Empfindungen  der  ersten 
Lebensstufen  stehen  aber  zugestandener  Maassen  denen 
früherer  Zeitläufte  näher  als  denen  des  gegenwärtigen 
Jahrhunderts.  Unwillkürlich  wird  es  zu  seiner  Aufgabe, 
die  Menschheit  zu  verkindlichen:  diess  ist  sein  Ruhm 
und  seine  Begrenztheit 

148. 

Dichter  als  Erleichterer  des  Lebens.  —  Die 
Dichter,  sofern  auch  sie  das  Leben  der  Menschen  er- 
leichtern woUen,  wenden  den  Blick  entweder  von  der 
mühseligen  Gegenwart  ab  oder  verhelfen  der  Gegenwart 
durch  ein  Licht,  das  sie  von  der  Vergangenheit  her- 
strahlen machen,  zu  neuen  Farben.  Um  diess  zu  können, 
müssen  sie  selbst  in  manchen  Hinsichten  rückwärts  ge- 
wendete Wesen  sein:  so  dass  man  sie  als  Brücken  zu 
ganz  fernen  Zeiten  und  Vorstellungen,  zu  absterbenden 
oder  abgestorbenen  Religionen  und  Culturen  gebrauchen 
kann.  Sie  sind  eigentlich  immer  und  nothwendig  Epi- 
gonen. Es  ist  freilich  von  ihren  Mitteln  zur  Erleichterung 
des  Lebens  einiges  Ungünstige  zu  sagen:  sie  beschwich- 
tigen und  heilen  nur  vorläufig,  nur  für  den  Augenblick; 
sie  halten  sogar  die  Menschen  ab,  an  einer  wirklichen 
Verbesserung  ihrer  Zustände  zu  arbeiten,  indem  sie 
gerade  die  Leidenschaft  der  Unbefriedigten,  welche  zur 
That  drängen,  aufheben  und  palliativisch  entladen. 


—      i6o 


149- 


Der  langsame  Pfeil  der  Schönheit  —  Die 
edelste  Art  der  Schönheit  ist  die,  welche  nicht  auf  ein- 
mal hinreisst,  welche  nicht  stürmische  und  berauschende 
Angriffe  macht  (eine  solche  erweckt  leicht  Ekel),  sondern 
jene  langsam  einsickernde,  welche  man  fast  unbemerkt 
mit  sich  fortträgt  und  die  Einem  im  Traum  einmal 
wiederbegegnet,  endlich  aber,  nachdem  sie  lange  mit 
Bescheidenheit  an  unserem  Herzen  gelegen,  von  uns  ganz 
Besitz  nimmt,  unser  Auge  mit  Thränen,  unser  Herz  mit 
Sehnsucht  füllt.  —  Wonach  sehnen  wir  uns  beim  An- 
blick der  Schönheit?  Darnach,  schön  zu  sein:  wir  wähnen, 
es  müsse  viel  Glück  damit  verbunden  sein.  —  Aber  das 
ist  ein  Irrthum. 

150. 

Beseelung  der  Kunst.  —  Die  Kunst  erhebt  ihr 
Haupt,  wo  die  Religionen  nachlassen.  Sie  übernimmt 
eine  Menge  durch  die  Religion  erzeugter  Gefühle  und 
Stimmungen,  legt  sie  an  ihr  Herz  und  wird  jetzt  selber 
tiefer,  seelenvoller,  so  dass  sie  Erhebung  und  Begeisterung 
mitzutheilen  vermag,  was  sie  vordem  noch  nicht  konnte. 
Der  zum  Strome  angewachsene  Reichthum  des  religiösen 
Gefühls  bricht  immer  wieder  aus  und  will  sich  neue 
Reiche  erobern:  aber  die  wachsende  Aufklärung  hat  die 
Dogmen  der  Religion  erschüttert  und  ein  gründliches 
Misstrauen  eingeflösst:  so  wirft  sich  das  Gefühl,  durch 
die  Aufklärung  aus  der  religiösen  Sphäre  hinausgedrängt, 
in  die  Kunst ;  in  einzelnen  Fällen  auch  auf  das  politische 
Leben,  ja  selbst  direct  auf  die  Wissenschaft.  Überall,  wo 
man  an  menschlichen  Bestrebungen  eine  höhere  düstere 
Färbung  wahrnimmt,  darf  man  vermuthen ,  dass  Geister- 


—     i6i     — 

grauen,  Weihrauchduft  und  Kirchenschatten  daran  hängen 
geblieben  sind. 

151- 

AVodurch  das  Metrum  verschönert.  —  Das 
Metrum  legt  Flor  über  die  Realität;  es  veranlasst  einige 
Künstlichkeit  des  Geredes  und  Unreinheit  des  Denkens; 
durch  den  Schatten,  den  es  auf  den  Gedanken  wirft, 
verdeckt  es  bald,  bald  hebt  es  hervor.  Wie  Schatten 
nöthig  ist,  um  zu  verschönern,  so  ist  das  „Dumpfe" 
nöthig,  um  zu  verdeutlichen.  —  Die  Kunst  macht  den 
Anblick  des  iebens  erträglich,  dadurch  dass  sie  den  Flor 
des  unreinen  Denkens  über  dasselbe  legt 


152- 

Kunst  der  hässlichen  Seele.  —  Man  zieht  der 
Kunst  viel  zu  enge  Schranken,  wenn  man  verlangt,  dass 
nur  die  geordnete,  sittlich  im  Gleichgewicht  schwebende 
Seele  sich  in  ihr  aussprechen  dürfe.  Wie  in  den  bildenden 
Künsten  so  auch  giebt  es  in  der  Musik  und  Dichtung 
eine  Kunst  der  hässUchen  Seele,  neben  der  Kunst  der 
schönen  Seele;  und  die  mächtigsten  Wirkungen  der 
Kunst,  das  Seelen-Brechen  Steine-Bewegen  und  Thiere- 
Vermenschlichen  ist  vielleicht  gerade  jener  Kunst  am 
meisten  gelungen. 

153- 

Die  Kunst  macht  dem  Denker  das  Herz 
schwer.  —  Wie  stark  das  metaphysische  Bedürfniss  ist, 
und  wie  sich  noch  zuletzt  die  Natur  den  Abschied  von 
ihm  schwer  macht,  kann  man  daraus  entnehmen,  dass 
noch  im   Freigeiste,  wenn   er  sich  alles  Metaphysischen 

Nietzsche,  Werke  Band  n.  II 


102       

entschlagen  hat,  die  höchsten  Wirkungen  der  Kunst  leicht 
ein  Miterklingen  der  lange  verstummten,  ja  zerrissenen 
metaphysischen  Saite  hervorbringen,  sei  es  zum  Bei- 
spiel, dass  er  bei  einer  Stelle  der  neunten  Symphonie 
Beethoven's  sich  über  der  Erde  in  einem  Sternendome 
schweben  fühlt,  mit  dem  Traume  der  Unsterblichkeit 
im  Herzen:  alle  Sterne  scheinen  um  ihn  zu  flimmern 
und  die  Erde  immer  tiefer  hinabzusinken.  —  Wird  er 
sich  dieses  Zustandes  bewusst,  so  fühlt  er  wohl  einen 
tiefen  Stich  im  Herzen  und  seufzt  nach  dem  Menschen, 
welcher  ihm  die  verlorene  Geliebte,  nenne  man  sie  nun 
Religion  oder  Metaphysik,  zurückführe.  •  In  solchen 
Augenblicken  wird  sein  intellectualer  Charakter  auf  die 
Probe  gestellt. 

154- 

Mit  dem  Leben  spielen.  —  Die  Leichtigkeit  und 
Leichtfertigkeit  der  homerischen  Phantasie  war  nöthig, 
um  das  übermässig  leidenschaftliche  Gemüth  und  den 
überscharfen  Verstand  der  Griechen  zu  beschwichtigen 
und  zeitweilig  aufzuheben.  Spricht  bei  ihnen  der  Ver- 
stand: wie  herbe  und  grausam  erscheint  dann  das  Leben! 
Sie  täuschen  sich  nicht,  aber  sie  umspielen  absichtlich  das 
Leben  mit  Lügen.  Simonides  rieth  seinen  Landsleuten, 
das  Leben  wie  ein  Spiel  zu  nehmen ;  der  Ernst  war  ihnen 
als  Schmerz  allzubekannt  (das  Elend  der  Menschen  ist 
ja  das  Thema,  über  welches  die  Götter  so  gern  singen 
hören),  und  sie  wussten,  dass  einzig  durch  die  Kunst 
selbst  das  Elend  zum  Genüsse  werden  könne.  Zur  Strafe 
für  diese  Einsicht  waren  sie  aber  von  der  Lust  zu  fabu- 
liren  so  geplagt,  dass  es  ihnen  im  Alltagsleben  schwer 
wurde,  sich  von  Lug  und  Trug  frei  zu  halten,  wie  alles 
Poetenvolk  eine  solche  Lust  an  der  Lüge  hat  und  oben- 


-      i63     - 

drein  noch  die  Unschuld  dabei.    Die  benachbarten  Völker 
fanden  das  wohl  mitunter  zum  Verzweifeln. 


155. 

Glaube  an  Inspiration,  —  Die  Künstler  haben 
ein  Interesse  daran,  dass  man  an  die  plötzlichen  Ein- 
gebungen, die  sogenannten  Inspirationen  glaubt;  als  ob 
die  Idee  des  Kunstwerks ,  der  Dichtung ,  der  Grund- 
gedanke einer  Philosophie  wie  ein  Gnadenschein  vom 
Himmel  herableuchte.  In  Wahrheit  producirt  die  Phan- 
tasie des  guten  Künstlers  oder  Denkers  fortwährend, 
Gutes,  Mittelmässiges  und  Schlechtes,  aber  seine  Ur- 
theilskraft,  höchst  geschärft  und  geübt,  verwirft,  wählt 
aus,  knüpft  zusammen;  wie  man  jetzt  aus  den  Notiz- 
büchern Beethoven's  ersieht,  dass  er  die  herrlichsten  Melo- 
dien allmählich  zusammengetragen  und  aus  vielfachen 
Ansätzen  gewissermaassen  ausgelesen  hat.  Wer  weniger 
streng  scheidet  und  sich  der  nachbildenden  Erinnerung 
gern  überlässt,  der  wird  unter  Umständen  ein  grosser 
Improvisator  werden  können ;  aber  die  künstlerische 
Improvisation  steht  tief  im  Verhältniss  zum  ernst  und 
mühevoll  erlesenen  Kunst gedanken.  Alle  Grossen  waren 
grosse  Arbeiter,  unermüdlich  nicht  nur  im  Erfinden,  son- 
dern auch  im  Verwerfen,  Sichten,  Umgestalten,  Ordnen. 

156. 

Nochmals  die  Inspiration.  —  Wenn  sich  die 
Productionskraft  eine  Zeitlang  angestaut  hat  und  am 
Ausfliessen  durch  ein  Hemmniss  gehindert  worden  ist, 
dann  giebt  es  endlich  einen  so  plötzlichen  Ergiiss,  als 
ob  eine  unmittelbare  Inspiration,  ohne  vorhergegangenes 


—      104      — 

innres  Arbeiten,  also  ein  Wunder  sich  vollziehe.  Diess 
macht  die  bekannte  Täuschung  aus,  an  deren  Fort- 
bestehen, wie  gesagt,  das  Interesse  aller  Künstler  ein 
wenig  zu  sehr  hängt.  Das  Capital  hat  sich  eben  nur 
angehäuft,  es  ist  nicht  auf  Ein  Mal  vom  Himmel  ge- 
fallen. Es  giebt  übrigens  auch  anderwärts  solche  schein- 
bare Inspiration,  zum  Beispiel  im  Bereiche  der  Güte,  der 
Tugend,  des  Lasters. 

157- 

Die  Leiden  des  Genius  und  ihr  Werth.  — 
Der  künstlerische  Genius  will  Freude  machen ,  aber 
wenn  er  auf  einer  sehr  hohen  Stufe  steht,  so  fehlen  ihm 
leicht  die  Geniessenden;  er  bietet  Speisen,  aber  man 
will  sie  nicht.  Das  giebt  ihm  ein  unter  Umständen 
lächerlich  -  rührendes  Pathos;  denn  im  Grunde  hat  er 
kein  Recht,  die  Menschen  zum  Vergnügen  zu  zwingen. 
Seine  Pfeife  tönt,  aber  Niemand  will  tanzen:  kann  das 
tragisch  sein?  Vielleicht  doch.  —  Zuletzt  hat  er  als 
Compensation  für  diese  Entbehrung  mehr  Vergnügen 
beim  Schaffen,  als  die  übrigen  Menschen  bei  allen  andern 
Gattungen  der  Thätigkeit  haben.  Man  empfindet  seine 
Leiden  übertrieben,  weü  der  Ton  seiner  Klage  lauter, 
sein  Mund  beredter  ist;  und  mitunter  sind  seine  Leiden 
wirklich  sehr  gross,  aber  nur  desshalb,  weil  sein  Ehr- 
geiz, sein  Neid  so  gross  i-st.  Der  wissende  Genius,  wie 
Kepler  und  Spinoza,  ist  für  gewöhnlich  nicht  so  begehr- 
lich und  macht  von  seinen  wirklich  grösseren  Leiden 
und  Entbehrungen  kein  solches  Aufheben.  Er  darf  mit 
grösserer  Sicherheit  auf  die  Nachwelt  rechnen  und  sich 
der  Gegenwart  entschlagen;  während  ein  Künstler,  der 
diess  thut,  immer  ein  verzweifeltes  Spiel  spielt,  bei  dem 
ihm   wehe    um's   Herz   werden   muss.     In    ganz   seltenen 


-     i65     - 

Fällen  —  dann,  wenn  im  selben  Individuum  der  Genius 
des  Könnens  und  des  Erkennens  und  der  moralische 
Genius  sich  verschmelzen  —  kommt  zu  den  erwähnten 
Schmerzen  noch  die  Gattung  von  Schmerzen  hinzu, 
welche  als  die  absonderlichsten  Ausnahmen  in  der  Welt 
zu  nehmen  sind:  die  ausser-  und  überpersönlichen,  einem 
Volke,  der  Menschheit,  der  gesammten  Cultur,  allem 
leidenden  Dasein  zugewandten  Empfindungen:  welche 
ihren  Werth  durch  die  Verbindung  mit  besonders  schwie- 
rigen und  entlegenen  Erkenntnissen  erlangen  (Mitleid 
an  sich  hat  wenig  Werth).  —  Aber  welchen  Maassstab, 
welche  Goldwage  giebt  es  für  deren  Ächtheit?  Ist  es 
nicht  fast  geboten,  misstrauisch  gegen  Alle  zu  sein, 
welche  von  Empfindungen  dieser  Art  bei  sich  reden? 

158- 
Verhängniss  der  Grösse.  —  Jeder  grossen 
Erscheinung  folgt  die  Entartung  nach,  namentlich  im 
Bereiche  der  Kunst.  Das  Vorbild  des  Grossen  reizt  die 
eitleren  Naturen  zum  äusserlichen  Nachmachen  oder  zum 
Überbieten;  dazu  haben  alle  grossen  Begabungen  das 
Verhängniss  volle  an  sich,  viele  schwächere  Kräfte  und 
Keime  zu  erdrücken  und  um  sich  herum  gleichsam  die 
Natur  zu  veröden.  Der  glücklichste  Fall  in  der  Ent- 
wicklung einer  Kunst  ist  der,  dass  mehrere  Genie's  sich 
gegenseitig  in  Schranken  halten;  bei  diesem  Kampfe 
wird  gewöhnlich  den  schwächeren  und  zarteren  Naturen 
auch  Luft  und  Licht  gegönnt     _ 

159- 
Die  Kunst   dem  Künstler  gefährlich.  —  Wenn 
die  Kunst   ein  Individuum   gewaltig  ergreift,    dann  zieht 


—     i66     — 

es  dasselbe  zu  Anschauungen  solcher  Zeiten  zurück,  wo 
die  Kunst  am  kräftigsten  blühte,  sie  wirkt  dann  zurück- 
bildend. Der  Künstler  kommt  immer  mehr  in  eine 
Verehrung  der  plötzlichen  Erregungen,  glaubt  an  Götter 
und  Dämonen,  durchseelt  die  Natur,  hasst  die  Wissen- 
schaft, wird  wechselnd  in  seinen  Stimmungen  wie  die 
Menschen  des  Alterthums  und  begehrt  einen  Umsturz 
aller  Verhältnisse,  welche  der  Kunst  nicht  günstig  sind, 
und  zwar  diess  mit  der  Heftigkeit  und  Unbilligkeit 
eines  Kindes.  An  sich  ist  nun  der  Künstler  schon  ein 
zurückbleibendes  Wesen,  weil  er  beim  Spiel  stehen  bleibt, 
welches  zur  Jugend  und  Kindheit  gehört:  dazu  kommt 
noch,  dass  er  allmählich  in  andere  Zeiten  zurückgebildet 
wird.  So  entsteht  zuletzt  ein  heftiger  Antagonismus 
zwischen  ihm  und  den  gleichalterigen  Menschen  seiner 
Periode  und  ein  trübes  Ende;  so  wie,  nach  den  Erzäh- 
lungen der  Alten ,  Homer  und  Äschylus  in  Melancholie 
zuletzt  lebten  und  starben. 


1 60. 

Geschaffene  Menschen.  —  Wenn  man  sagt,  der 
Dramatiker  (und  der  Künstler  überhaupt)  schaffe  -wirk- 
lich Charaktere,  so  ist  diess  eine  schöne  Täuschung  und 
Übertreibung,  in  deren  Dasein  und  Verbreitung  die 
Kunst  einen  ihrer  ungewollten,  gleichsam  überschüssigen 
Triumphe  feiert  In  der  That  verstehen  wir  von  einem 
wirklichen  lebendigen  Menschen  nicht  viel  und  gene- 
ralisiren  sehr  oberflächKch,  wenn  wir  ihm  diesen  und 
jenen  Charakter  zuschreiben:  dieser  unsrer  sehr  un- 
vollkommenen Stellung  zum  Menschen  entspricht 
nun  der  Dichter,  indem  er  ebenso  oberflächliche  Ent- 
würfe  zu   Menschen   macht   (in   diesem   Sinne   „schafft"). 


-      i67     — 

als  unsere  Erkenntniss  der  Menschen  oberflächlich  ist. 
Es  ist  viel  Blendwerk  bei  diesen  geschaffenen  Charak- 
teren der  Künstler;  es  sind  durchaus  keine  leibhaftigen 
Naturproducte ,  sondern  ähnlich  wie  die  gemalten  Men- 
schen ein  wenig  allzu  dünn,  sie  vertragen  den  Anblick 
aus  der  Nähe  nicht.  Gar  wenn  man  sagt,  der  Charakter 
des  gewöhnlichen  lebendigen  Menschen  widerspreche 
sich  häufig,  der  vom  Dramatiker  geschaffene  sei  das 
Urbild,  welches  der  Natur  vorgeschwebt  habe,  so  ist 
diess  ganz  falsch.  Ein  wirklicher  ISIensch  ist  etwas  ganz 
und  gar  Noth wendiges  (selbst  in  jenen  sogenannten 
Widersprüchen),  aber  wir  erkennen  diese  Nothwendigkeit 
nicht  immer.  Der  erdichtete  Mensch,  das  Phantasma, 
will  etwas  Nothwendiges  bedeuten,  doch  nur  vor  Solchen, 
welche  auch  einen  wirklichen  Menschen  nur  in  einer 
rohen,  unnatürlichen  Simplification  verstehen:  so  dass 
ein  paar  starke,  oft  wiederholte  Züge,  mit  sehr  viel  Licht 
darauf  und  sehr  viel  Schatten  und  Halbdunkel  herum, 
ihren  Ansprüchen  vollständig  genügen.  Sie  sind  also 
leicht  bereit,  das  Phantasma  als  wirkHchen,  nothwendigen 
Menschen  zu  behandeln,  weil  sie  gewöhnt  sind,  beim 
wirkHchen  Menschen  ein  Phantasma,  einen  Schattenriss, 
eine  willkürliche  Abbreviatur  für  das  Ganze  zu  nehmen.  — 
Dass  gar  der  Maler  und  der  Bildhauer  die  „Idee"  des 
Menschen  ausdrücke,  ist  eitel  Phantasterei  und  Sinnen- 
trug: man  wird  vom  Auge  tyrannisirt,  wenn  man  so 
etwas  sagt,  da  dieses  vom  menschlichen  Leibe  selbst 
nur  die  Oberfläche,  die  Haut  sieht;  der  innere  Leib  ge- 
hört aber  eben  so  sehr  zur  Idee.  Die  bildende  Kunst 
will  Charaktere  auf  der  Haut  sichtbar  werden  lassen;  die 
redende  Kunst  nimmt  das  Wort  zu  demselben  Zwecke, 
sie  bildet  den  Charakter  im  Laute  ab.  Die  Kunst  geht 
von  der  natürlichen  Unwissenheit  des  Menschen  über 


i68 


sein  Innres    (in  Leib    und  Charakter)   aus:    sie    ist  nicht 
für  Physiker  und  Philosophen  da. 


i6i. 

Selbstüberschätzung  im  Glauben  an  Künstler 
und  Philosophen.  —  Wir  Alle  meinen,  es  sei  die 
Güte  eines  Kunstwerks,  eines  Künstlers  bewiesen,  wenn 
er  uns  ergreift,  erschüttert.  Aber  da  müsste  doch  erst 
unsre  eigne  Güte  in  Urtheil  und  Empfindung 
bewiesen  sein:  was  nicht  der  Fall  ist.  Wer  hat  mehr 
im  Reiche  der  bildenden  Kunst  ergriffen  und  entzückt 
als  Bernini,  wer  mächtiger  gewirkt  als  jener  nachdemo- 
sthenische  Rhetor,  welcher  den  asianischen  Stil  einführte 
und  durch  zwei  Jahrhunderte  zur  Herrschaft  brachte? 
Diese  Herrschaft  über  ganze  Jahrhunderte  beweist  Nichts 
für  die  Güte  und  dauernde  Gültigkeit  eines  Stils;  dess- 
halb  soll  man  nicht  zu  sicher  in  seinem  guten  Glauben 
an  irgend  einen  Künstler  sein:  ein  solcher  ist  ja  nicht 
nur  der  Glaube  an  die  Wahrhaftigkeit  unserer  Empfin- 
dung, sondern  auch  an  die  Unfehlbarkeit  unseres  Urtheils, 
während  Urtheil  oder  Empfindung  oder  beides  selber 
zu  grob  oder  zu  fein  geartet,  überspannt  oder  roh  sein 
können.  Auch  die  Segnungen  und  Beseligungen  einer 
Philosophie,  einer  Religion  beweisen  für  ihre  Wahrheit 
nichts:  ebensowenig  als  'das  Glück,  welches  der  Irr- 
sinnige von  seiner  fixen  Idee  her  geniesst,  etwas  für 
die  Vemünftigkeit  dieser  Idee  beweist 


162. 

Cultus  des  Genius  aus  Eitelkeit.  —  Weil  wir 
gut  von  uns  denken,  aber  doch  durchaus  nicht  von  uns 


—     169     — 

erwarten,  dass  wir  je  den  Entwurf  eines  RafFaelischen 
Gemäldes  oder  eine  solche  Scene  wie  die  eines  Shake- 
speare'schen  Drama's  machen  könnten,  reden  wir  uns  ein, 
das  Vermögen  dazu  sei  ganz  übermässig  wunderbar,  ein 
ganz  seltner  Zufall  —  oder,  wenn  wir  noch  religiös  eth- 
pfinden,  eine  Begnadigung  von  Oben.  So  fördert  unsere 
Eitelkeit,  unsere  Selbstliebe  den  Cultus  des  Genius:  denn 
nur  wenn  dieser  ganz  fem  von  uns  gedacht  ist,  als  ein 
finraculum,  verletzt  er  nicht  (selbst  Goethe,  der  Neidlose, 
nannte  Shakespeare  seinen  Stern  der  fernsten  Höhe; 
wobei  man  sich  jenes  Verses  erinnern  mag:  „die  Sterne 
die  begehrt  man  nicht").  Aber  von  jenen  Einflüsterungen 
unserer  Eitelkeit  abgesehen,  so  erscheint  die  Thätigkeit 
des  Genie's  durchaus  nicht  als  etwas  Grundverschiedenes 
von  der  Thätigkeit  des  mechanischen  Erfinders,  des  astro- 
nomischen oder  historischen  Gelehrten,  des  Meisters  der 
Taktik.  Alle  diese  Thätigkeiten  erklären  sich,  wenn 
man  sich  Menschen  vergegenwärtigt,  deren  Denken  in 
Einer  Richtung  thätig  ist,  die  Alles  als  Stoff  benützen, 
die  immer  ihrem  inneren  Leben  und  dem  Anderer  mit 
Eifer  zusehen,  die  überall  Vorbilder  Anreizungen  er- 
blicken, die  in  der  Combination  ihrer  Mittel  nicht  müde 
werden.  Das  Genie  thut  auch  nichts,  als  dass  es  erst 
Steine  setzen,  dann  bauen  lernt,  dass  es  immer  nach 
Stoff  sucht  und  immer  an  ihm  herumformt.  Jede  Thätig- 
keit des  Menschen  ist  zum  Verwundem  complicirt,  nicht 
nur  die  des  Genie's:  aber  keine  ist  ein  „Wunder".  — 
Woher  nun  der  Glaube,  dass  es  allein  beim  Künstler 
Redner  und  Philosophen  Genie  gäbe?  dass  nur  sie  „In- 
tuition" haben?  (womit  man  ihnen  eine  Art  von  Wunder- 
Augenglas  zuschreibt,  mit  dem  sie  direct  in's  „Wesen" 
sehen!)  Die  Menschen  sprechen  ersichtlich  dort  allein 
von  Genius,   wo   ihnen    die  Wirkungen  des   grossen  In- 


—     I70     — 

tellects  am  angenehmsten  sind  und  sie  wiederum  nicht 
Neid  empfinden  wollen.  Jemanden  „göttlich"  nennen 
heisst:  „hier  brauchen  wir  nicht  zu  wetteifern".  Sodann: 
alles  Fertige  Vollkommene  wird  angestaunt,  alles  Wer- 
dende unterschätzt.  Nun  kann  Niemand  beim  Werk 
des  Künstlers  zusehen,  wie  es  geworden  ist;  das  ist 
sein  Vortheil,  denn  überall,  wo  man  das  Werden  sehen 
kann,  wird  man  etwas  abgekühlt.  Die  vollendete  Kunst 
der  Darstellung  weist  alles  Denken  an  das  Werden  ab; 
es  tyrannisirt  als  gegenwärtige  Vollkommenheit.  Dess- 
halb  gelten  die  Künstler  der  Darstellung  vornehmlich  als 
genial,  nicht  aber  die  wissenschaftlichen  Menschen.  In 
Wahrheit  ist  jene  Schätzung  und  diese  Unterschätzung 
nur  eine  Kinderei  der  Vernunft. 


163. 

Der  Ernst  des  Handwerks.  —  Redet  nur  nicht 
von  Begabung,  angeborenen  Talenten!  Es  sind  grosse 
Männer  aller  Art  zu  nennen,  welche  wenig  begabt  waren. 
Aber  sie  bekamen  Grösse,  wurden  „Genies"  (wie  man 
sagt),  durch  Eigenschaften,  von  deren  Mangel  Niemand 
gern  redet,  der  sich  ihrer  bewusst  ist:  sie  hatten  Alle 
jenen  tüchtigen  Handwerker-Ernst,  welcher  erst  lernt,  die 
Theile  vollkommen  zu  bilden,  bis  er  es  wagt,  ein  grosses 
Ganzes  zu  machen ;  sie  gaben  sich  Zeit  dazu,  weil  sie  mehr 
Lust  am  Gutmachen  des  Kleinen,  Nebensächlichen  hatten 
als  an  dem  Effecte  eines  blendenden  Ganzen.  Das  Re- 
cept  zum  Beispiel,  wie  Einer  ein  guter  Novellist  werden 
kann,  ist  leicht  zu  geben,  aber  die  Ausfuhrung  setzt 
Eigenschaften  voraus,  über  die  man  hinwegzusehen  pflegt, 
wenn  man  sagt  „ich  habe  nicht  genug  Talent".  Man 
mache    nur   hundert    und    mehr   Entwürfe    zu    Novellen, 


—     lyi     — 

keinen  länger  als  zwei  Seiten,  doch  von  solcher  Deutlich- 
keit, dass  jedes  Wort  darin  nothwendig  ist;  man  schreibe 
täglich  Anekdoten  nieder,  bis  man  es  lernt,  ihre  präg- 
nanteste, wirkungsvollste  Form  zu  finden;  man  sei  uner- 
müdlich im  Sammeln  und  Ausmalen  menschlicher  Typen 
und  Charaktere;  man  erzähle  vor  Allem  so  oft  es  möglich 
ist  und  höre  erzählen,  mit  scharfem  Auge  und  Ohr  für 
die  Wirkung  auf  die  anderen  Anwesenden;  man  reise 
wie  ein  Landschaftsmaler  und  Costümzeichner;  man  ex- 
cerpire  sich  aus  einzelnen  Wissenschaften  alles  Das,  was 
künstlerische  Wirkungen  macht,  wenn  es  gut  dargestellt 
wird;  man  denke  endlich  über  die  Motive  der  mensch- 
lichen Handlungen  nach,  verschmähe  keinen  Fingerzeig 
der  Belehrung  hierüber  und  sei  ein  Sammler  von  der- 
gleichen Dingen  bei  Tag  und  Nacht.  In  dieser  mannich- 
fachen  Übung  lasse  man  einige  zehn  Jahre  vorübergehen: 
was  dann  aber  in  der  Werkstätte  geschaffen  wird,  darf 
auch  hinaus  in  das  Licht  der  Strasse.  —  Wie  machen  es 
dagegen  die  Meisten?  Sie  fangen  nicht  mit  dem  Theile, 
sondern  mit  dem  Ganzen  an.  Sie  thun  vielleicht  einmal 
einen  gnten  Griff,  erregen  Aufmerksamkeit  und  thun  von 
da  an  immer  schlechtere  Griffe,  aus  guten  natürlichen 
Gründen.  —  Mitunter,  wenn  Vernunft  und  Charakter 
fehlen,  um  einen  solchen  künstlerischen  Lebensplan  zu 
gestalten,  übernimmt  das  Schicksal  und  die  Noth  die 
Stelle  derselben  und  führt  den  zukünftigen  Meister 
schrittweise   durch   alle  Bedingungen  seines   Handwerks. 

164. 

Gefahr  und  Gewinn  im  Cultus  des  Genius.  — 
Der  Glaube  an  grosse,  überlegene,  fruchtbare  Geister  ist 
nicht  nothwendig,  aber  sehr  häufig  noch  mit  jenem  ^kt\z- 


—        172       — 

oder  halbreligiösen  Aberglauben  verbunden,  dass  jene 
Geister  übermenschlichen  Ursprungs  seien  und  gewisse 
wunderbare  Vermögen  besässen,  vermittelst  deren  sie 
ihrer  Erkenntnisse  auf  ganz  anderem  Wege  theilhaftig 
würden  als  die  übrigen  Menschen.  Man  schreibt  ihnen 
wohl  einen  unmitttelbaren  Bhck  in  das  Wesen  der  Welt, 
gleichsam  durch  ein  Loch  im  Mantel  der  Erscheinung, 
zu  und  glaubt,  dass  sie  ohne  die  Mühsal  und  Strenge  der 
Wissenschaft,  vermöge  dieses  wunderbaren  Seherblickes, 
etwas  Endgültiges  und  Entscheidendes  über  Mensch  und 
Welt  mittheilen  könnten.  So  lange  das  Wunder  im 
Bereiche  der  Erkenntniss  noch  Gläubige  findet,  kann 
man  vielleicht  zugeben,  dass  dabei  für  die  Gläubigen 
selber  ein  Nutzen  herauskomme,  insofern  diese,  durch 
ihre  unbedingte  Unterordnung  unter  die  grossen  Geister, 
ihrem  eigenen  Geiste  für  die  Zeit  der  Entwickelung  die 
beste  Disciplin  und  Schule  verschaffen.  Dagegen  ist 
mindestens  fraglich,  ob  der  Aberglaube  vom  Genie,  von 
seinen  Vorrechten  und  Sondervermögen  für  das  Genie 
selber  von  Nutzen  sei,  wenn  er  in  ihm  sich  einwurzelt 
Es  ist  jedenfalls  ein  gefährliches  Anzeichen,  wenn  den 
Menschen  jener  Schauder  vor  sich  selbst  überfällt,  sei 
es  nun  jener  berühmte  Cäsaren -Schauder  oder  der  hier 
in  Betracht  kommende  Genie-Schauder;  wenn  der  Opfer- 
duft, welchen  man  billigerweise  allein  einem  Gotte  bringt, 
dem  Genie  in's  Gehirn  dringt,  so  dass  er  zu  schwanken 
und  sich  für  etwas  Übermenschliches  zu  halten  beginnt. 
Die  langsamen  Folgen  sind:  das  Gefühl  der  Unverant- 
wortlichkeit,  der  exceptionellen  Rechte,  der  Glaube,  schon 
durch  seinen  Umgang  zu  begnadigen,  wahnsinnige  Wuth 
bei  dem  Versuche,  ihn  mit  Anderen  zu  vergleichen  oder 
gar  ihn  niedriger  zu  taxiren,  das  Verfehlte  seines 
Werkes  in's  Licht  zu  setzen.     Dadurch    dass  er  aufhört. 


—     173     — 

Kritik  gegen  sich  selbst  zu  üben,  fällt  zuletzt  aus  seinem 
Gefieder  eine  der  Schwungfedern  nach  der  anderen  aus: 
jener  Aberglaube  gräbt  die  Wurzeln  seiner  Kraft  an 
und  macht  ihn  vielleicht  gar  zum  Heuchler,  nachdem 
seine  Kraft  von  ihm  gewichen  ist.  Für  grosse  Geister 
selbst  ist  es  also  wahrscheinlich  nützlicher,  wenn  sie  über 
ihre  Kraft  und  deren  Herkunft  zur  Einsicht  kommen, 
wenn  sie  also  begreifen,  welche  rein  menschlichen  Eigen- 
schaften in  ihnen  zusammengeflossen  sind,  welche  Glücks- 
umstände  hinzutraten:  also  einmal  anhaltende  Energfie, 
entschlossene  Hinwendung  zu  einzelnen  Zielen,  grosser 
persönlicher  Muth,  sodann  das  Glück  einer  Erziehung, 
welche  die  besten  Lehrer  Vorbilder  Methoden  frühzeitig 
darbot.  Freilich,  wenn  ihr  Ziel  ist,  die  grösstmögliche 
Wirkung  zu  machen,  so  hat  die  Unklarheit  über  sich 
selbst  und  jene  Beigabe  eines  halben  Wahnsinns  immer 
viel  gethan;  denn  bewundert  und  beneidet  hat  man  zu 
allen  Zeiten  gerade  jene  Kraft  an  ihnen,  vermöge  deren 
sie  die  Menschen  willenlos  machen  und  zum  Wahne  fort- 
reissen,  dass  übernatürliche  Führer  vor  ihnen  her  giengen. 
Ja,  es  erhebt  und  begeistert  die  Menschen,  Jemanden  im 
Besitz  übernatürlicher  Kräfte  zu  glauben:  insofern  hat 
der  Wahnsinn,  wie  Plato  sagt,  die  grössten  Segnungen 
über  die  Menschen  gebracht.  —  In  einzelnen  seltenen 
Fällen  mag  dieses  Stück  Wahnsinn  wohl  auch  das  Mittel 
gewesen  sein,  durch  welches  eine  solche  nach  allen  Seiten 
hin  excessive  Natur  fest  zusammengehalten  wurde:  auch 
im  Leben  der  Individuen  haben  die  Wahnvorstellungen 
häufig  den  Werth  von  Heilmitteln,  welche  an  sich  Gifte 
sind;  doch  zeigt  sich  endlich,  bei  jedem  „Genie",  das  an 
seine  Göttlichkeit  glaubt,  das  Gift  in  dem  Grade,  als  das 
„Genie"  alt  wird:  man  möge  sich  zum  Beispiel  Napoleon's 
erinnern,    dessen  Wesen   sicherlich  gerade  durch  seinen 


—     174     — 

Glauben  an  sich  und  seinen  Stern  und  durch  die  aus 
ihm  fliessende  Verachtung  der  Menschen  zu  der  mäch- 
tigen Einheit  zusammenwuchs,  welche  ihn  aus  allen 
modernen  Menschen  heraushebt,  bis  endlich  aber  dieser 
selbe  Glaube  in  einen  fast  wahnsinnigen  Fatalismus  über- 
gieng,  ihn  seines  Schnell-  und  Scharfblicks  beraubte 
und  die  Ursache  seines  Unterganges  wurde. 


165. 

Das  Genie  und  das  Nichtige.  —  Gerade  die 
originellen,  aus  sich  schöpfenden  Köpfe  unter  den 
Künstlern  können  unter  Umständen  das  ganz  Leere  und 
Schaalehervorbringen,während  die  abhängigeren  Naturen, 
die  sogenannten  Talente,  voller  Erinnerungen  an  alles 
mögliche  Gute  stecken  und  auch  im  Zustand  der  Schwäche 
etwas  Leidliches  produciren.  Sind  die  Originellen  aber 
von  sich  selber  verlassen,  so  giebt  die  Erinnerung  ihnen 
keine  Hülfe:  sie  werden  leer. 


166. 

Das  Publicum.  —  Von  der  Tragödie  begehrt  das 
Volk  eigentlich  nicht  mehr,  als  recht  gerührt  zu  werden, 
um  sich  einmal  ausweinen  zu  können ;  der  Artist  dagegen, 
der  die  neue  Tragödie  -sieht,  hat  seine  Freude  an  den 
geistreichen  technischen  Erfindungen  und  Kunstgriffen, 
an  der  Handhabung  und  Vertheilung  des  Stoffes,  an  der 
neuen  Wendung  alter  Motive,  alter  Gedanken.  Seine 
Stellung  ist  die  ästhetische  Stellung  zum  Kunstwerk,  die 
des  Schaffenden;  die  erstbeschriebene,  mit  alleiniger 
Rücksicht  auf  den  Stoff,  die  des  Volkes.  Von  dem 
Menschen  dazwischen   ist   nicht  zu   reden,   er  ist  weder 


—     175     — 

Volk   noch  Artist   und   weiss   nicht,  was   er  will:  so  ist 
auch  seine  Freude  unklar  und  gering. 


167. 

Artistische  Erziehung  des  Publicums.  — Wenn 
dasselbe  Motiv  nicht  hundertfältig  durch  verschiedene 
Meister  behandelt  wird,  lernt  das  Publicum  nicht  über 
das  Interesse  am  Stofif  hinauskommen;  aber  zuletzt 
wird  es  selbst  die  Nuancen,  die  zarten  neuen  Erfindungen 
in  der  Behandlung  dieses  Motivs  fassen  und  geniessert, 
wenn  es  also  das  Motiv  längst  aus  zahlreichen  Be- 
arbeitungen kennt  und  dabei  keinen  Reiz  der  Neuheit, 
der  Spannung  mehr  empfindet 


Der  Künstler  und  sein  Gefolge  müssen  Schritt 
halten.  —  Der  Fortgang  von  einer  Stufe  des  Stils 
zur  anderen  muss  so  langsam  sein,  dass  nicht  nur  die 
Künstler,  sondern  auch  die  Zuhörer  und  Zuschauer  ihn 
mitmachen  und  genau  wissen,  was  vorgeht.  Sonst  ent- 
steht auf  einmal  jene  grosse  Kluft  zwischen  dem  Künstler, 
der  auf  abgelegener  Höhe  seine  Werke  schafft,  und  dem 
Publicum,  welches  nicht  mehr  zu  jener  Höhe  hinaufkann 
und  endlich  missmuthig  wieder  tiefer  hinabsteigt.  Denn 
wenn  der  Künstler  sein  Publicum  nicht  mehr  hebt,  so 
sinkt  es  schnell  abwärts,  und  zwar  stürzt  es  um  so  tiefer 
und  gefährlicher,  je  höher  es  ein  Genius  getragen  hat, 
dem  Adler  vergleichbar,  aus  dessen  Fängen  die  in  die 
Wolken  hinaufgetragene  Schildkröte  zu  ilirem  Unheil 
hin  abfällt 


—     176    — 

lög. 

Herkunft  des  Komischen.  —  Wenn  man  erwägt, 
dass  der  Mensch  manche  hunderttausend  Jahre  lang  ein 
im  höchsten  Grade  der  Furcht  zugängliches  Thier  war, 
und  dass  alles  Plötzliche  Unerwartete  ihn  kampfbereit, 
vielleicht  todesbereit  sein  hiess,  ja  dass  selbst  später,  in 
socialen  Verhältnissen,  alle  Sicherheit  auf  dem  Erwarteten, 
auf  dem  Herkommen  in  Meinung  und  Thätigkeit  beruhte, 
so  darf  man  sich  nicht  wundern,  dass  bei  allem  Plötz- 
lichen Unerwarteten,  in  Wort  und  That,  wenn  es  ohne 
Gefahr  und  Schaden  hereinbricht,  der  Mensch  ausgelassen 
wird,  in's  Gegentheil  der  Furcht  übergeht:  das  vor  Angst 
zitternde  zusammengekrümmte  Wesen  schnellt  empor, 
entfaltet  sich  weit  —  der  Mensch  lacht.  Diesen  Über- 
gang aus  momentaner  Angst  in  kurzdauernden  Über- 
muth  nennt  man  das  Komische.  Dagegen  geht  im 
Phänomen  des  Tragischen  der  Mensch  schnell  aus  grossem, 
dauerndem  Übermuth  in  grosse  Angst  über;  da  aber 
unter  Sterblichen  der  grosse  dauernde  Übermuth  viel 
seltener  als  der  Anlass  zur  Angst  ist,  so  giebt  es  viel 
mehr  des  Komischen  als  des  Tragischen  in  der  Welt; 
man  lacht  viel  öfter,  als  dass  maii  erschüttert  ist 


170. 

Künstler-Ehrgeiz.  —  Die  griechischen  Künstler, 
zum  Beispiel  die  Tragiker,  dichteten,  um  zu  siegen ;  ihre 
ganze  Kunst  ist  nicht  ohne  Wettkampf  zu  denken:  die 
hesiodische  gute  Eris,  der  Ehrgeiz,  gab  ihrem  Genius 
die  Flügel.  Nun  verlangte  dieser  Ehrgeiz  vor  Allem, 
dass  ihr  Werk  die  höchste  Vortrefiflichkeit  vor  ihren 
eigenen  Augen  erhalte,  sowie  sie  also  die  Vortrefflich- 


—     177     — 

keit  verstanden,  ohne  Rücksicht  auf  einen  herrschenden 
Geschmack  und  die  allgemeine  Meinung  über  das  Vor- 
trefFHche  an  einem  Kunstwerk;  und  so  blieben  Aschylus 
und  Euripides  lange  Zeit  ohne  Erfolg,  bis  sie  sich  endlich 
Kunstrichter  erzogen  hatten,  welche  ihr  Werk  nach  den 
Maassstäben  würdigten,  welche  sie  selber  anlegten.  So- 
mit erstreben  sie  den  Sieg  über  Nebenbuhler  nach  ihrer 
eigenen  Schätzung,  vor  ihrem  eigenen  Richterstuhl,  sie 
wollen  wirkhch  vortrefflicher  sein;  dann  fordern  sie  von 
Aussen  her  Zustimmung  zu  dieser  eignen  Schätzung, 
Bestätigung  ihres  Urtheils.  Ehre  erstreben  heisst  hier 
„sich  überlegen  machen  und  wünschen,  dass  es  auch 
öffentlich  so  erscheine".  Fehlt  das  Erstere  und  wird  das 
Zweite  trotzdem  begehrt,  so  spricht  man  von  Eitelkeit. 
Fehlt  das  Letztere  und  wird  es  nicht  vermisst,  so  redet 
man  von  Stolz. 

171. 

Das  Nothwendige  am  Kunstwerk.  —  Die, 
welche  so  viel  von  dem  Nothwendigen  an  einem  Kunst- 
werke reden,  übertreiben,  wenn  sie  Künstler  sind,  in 
majorem  artts  gloriain,  oder  wenn  sie  Laien  sind,  aus 
Unkenntniss.  Die  Formen  eines  Kunstwerks,  welche 
seine  Gedanken  zum  Reden  bringen,  also  seine  Art  zu 
sprechen  sind,  haben  immer  etwas  Lässliches,  wie  alle 
Art  Sprache.  Der  Bildhauer  kann  viele  kleine  Züge 
hinzuthun  oder  weglassen:  ebenso  der  Darsteller,  sei  es 
ein  Schauspieler  oder,  in  Betreff  der  Musik,  ein  Virtuos 
oder  Dirigent.  Diese  vielen  kleinen  Züge  und  Ausfeilungen 
machen  üim  heut  Vergnügen,  morgen  nicht,  sie  sind 
mehr  des  Künstlers  als  der  Kunst  wegen  da,  denn  auch 
er  bedarf,  bei  der  Strenge  und  Selbstbezwingung,  welche 
die   Darstellung    des    Hauptgedankens    von    ihm    fordert, 

Nietzsche,  Werke  Band  11.  12 


—      178     — 

gelegentlich   des    Zuckerbrods  und  der  Spielsachen,   um 
nicht  mürrisch  zu  werden. 

172. 

Den  Meister  vergessen  machen.  —  Der  Ciavier- 
spieler, der  das  Werk  eines  Meisters  zum  Vortrag  bringt, 
wird  am  besten  gespielt  haben,  wenn  er  den  Meister 
vergessen  Hess  und  wenn  es  so  erschien,  als  ob  er  eine 
Geschichte  seines  Lebens  erzähle  oder  jetzt  eben  Etwas 
erlebe.  Freilich:  wenn  er  nichts  Bedeutendes  ist,  wird 
Jedermann  seine  Geschwätzigkeit  verwünschen,  mit  der 
er  uns  aus  seinem  Leben  erzählt.  Also  muss  er  verstehen, 
die  Phantasie  des  Hörers  für  sich  einzunehmen.  Daraus 
wiederum  erklären  sich  alle  Schwächen  und  Narrheiten 
des  „Virtuosenthums". 

173- 
Corriger  la  fortune.  —  Es  giebt  schlimme  Zu- 
fälligkeiten im  Leben  grosser  Künstler,  welche  zum 
Beispiel  den  Maler  zwingen,  sein  bedeutendstes  Bild  nur 
als  flüchtigen  Gedanken  zu  skizziren  oder  zum  Beispiel 
Beethoven  zwangen,  uns  in  manchen  grossen  Sonaten 
(wie  in  der  grossen  B-dur)  nur  den  ungenügenden  Ciavier- 
auszug einer  Symphonie  zu  hinterlassen.  Hier  soll  der 
späterkommende  Künstler  das  Leben  der  Grossen  nach- 
träglich zu  corrigiren  suchen:  was  zum  Beispiel  Der  thun 
würde,  welcher,  als  ein  Meister  aller  Orchester  Wirkungen, 
uns  jene,  dem  Ciavier  -  Schein  tode  verfallne  Symphonie 
zum  Leben  erweckte. 

174. 
Verkleinern.    —   Manche  Dinge,  Ereignisse  oder 
Personen    vertragen    es    nicht,    im   kleinen    Maassstabe 


~    179    — 

behandelt  zu  werden.  Man  kann  die  Laokoon  -  Gruppe 
nicht  zu  einer  Nippesfigur  verkleinern;  sie  hat  Grösse 
nothwendig.  Aber  viel  seltener  ist  es,  dass  etwas  von 
Natur  Kleines  die  Vergrösserung  verträgt;  wesshalb  es 
Biographen  immer  noch  eher  gelingen  wird,  einen  grossen 
Mann  klein  darzustellen,  als  einen  kleinen  gross. 

175- 
Sinnlichkeit  in  der  Kunst  der  Gegenwart.  — 
Die  Künstler  verrechnen  sich  jetzt  häufig,  wenn  sie  auf 
eine  sinnliche  Wirkung  ihrer  Kunstwerke  hinarbeiten; 
denn  ihre  Zuschauer  oder  Zuhörer  haben  nicht  mehr  ihre 
vollen  Sinne  und  gerathen,  ganz  wider  die  Absicht  des 
Künstlers ,  durch  sein  Kunstwerk  in  eine  „Heiligkeit" 
der  Empfindung,  welche  der  Langweiligkeit  nahe  ver- 
wandt ist.  —  Ihre  Sinnlichkeit  fängt  vielleicht  dort  an, 
wo  die  des  Künstlers  gerade  aufhört,  sie  begegnen  sich 
also  höchstens  an  Einem  Punkte. 

176. 
Shakespeare  als  Moralist.  —  Shakespeare  hat 
über  die  Leidenschafl;en  viel  nachgedacht  und  wohl  von 
seinem  Temperamente  her  zu  vielen  einen  sehr  nahen 
Zugang  gehabt  (Dramatiker  sind  im  Allgemeinen  ziemlich 
böse  Menschen).  Aber  er  vermochte  nicht,  wie  Montaigne, 
darüber  zu  reden,  sondern  legte  die  Beobachtungen  über 
die  Passionen  den  passionirten  Figuren  in  den  Mund: 
was  zwar  wider  die  Natur  ist,  aber  seine  Dramen  so 
gedankenvoll  macht,  dass  sie  alle  anderen  leer  erscheinen 
lassen  und  leicht  einen  allgemeinen  Widerwillen  gegen 
sie  erwecken.  —  Die  Sentenzen  Schiller's  (welchen  fast 
immer    falsche    oder    unbedeutende    Einfälle    zu    Grunde 


—     i8o     — 

liegen)  sind  eben  Theatersentenzen  und  wirken  als  solche 
sehr  stark:  während  die  Sentenzen  Shakespeare's  seinem 
Vorbilde  Montaigne  Ehre  machen  und  ganz  ernsthafte 
Gedanken  in  geschliffener  Form  enthalten,  desshalb  aber 
für  die  Augen  des  Theaterpublicums  zu  fem  und  zu  fein, 
also  unwirksam  sind, 

177- 
Sich  gut  zu  Gehör  bringen.  —  Man  muss  nicht 
nur  verstehen  gut  zu  spielen,  sondern  auch  sich  gut  zu 
Gehör  zu  bringen.  Die  Geige  in  der  Hand  des  grössten 
Tileisters  giebt  nur  ein  Gezirp  von  sich,  wenn  der  Raum 
zu  gross  ist ;  man  kann  da  den  Meister  mit  jedem  Stümper 
verwechseln. 

178. 
Das  Unvollständige  als  das  Wirksame.  — 
Wie  Relieffiguren  dadurch  so  stark  auf  die  Phantasie 
wirken,  dass  sie  gleichsam  auf  dem  Wege  sind,  aus  der 
Wand  herauszutreten  und  plötzlich,  irgendwodurch  ge- 
hemmt, Halt  machen:  so  ist  mitunter  die  reliefartig  un- 
vollständige Darstellung  eines  Gedankens,  einer  ganzen 
Philosophie  wirksamer  als  die  erschöpfende  Ausführung: 
man  überlässt  der  Arbeit  des  Beschauers  mehr,  er  wird 
aufgeregt.  Das  was  in  so  starkem  Licht  und  Dunkel  vor 
ihm  sich  abhebt,  fortzubilden,  zu  Ende  zu  denken  und 
jenes  Hemmnis  selber  zu  überwinden,  welches  ihrem 
völligen  Heraustreten  bis  dahin  hinderlich  war. 

179. 
Gegen  die  Originalen.  —  Wenn  die  Kunst  sich 
in  den  abgetragensten  Stoff  kleidet,  erkennt  man  sie  am 
besten  als  Kunst 


—    Ibl    — 


i8o. 


Collectivgeist.  —  Ein  guter  Schriftsteller  hat 
nicht  nur  seinen  eignen  Geist,  sondern  auch  noch  den 
Geist  seiner  Freunde. 

i8i. 

Zweierlei  Verkenn ung.  —  Das  Unglück  scharf- 
sinniger und  klarer  Schriftsteller  ist,  dass  man  sie  für 
flach  nimmt  und  desshalb  ihnen  keine  Mühe  zuwendet: 
und  das  Glück  der  unklaren,  dass  der  Leser  sich  an 
ihnen  abmüht  und  die  Freude  über  seinen  Eifer  ihnen 
zu  Gute  sclireibt. 

182. 

Verhältniss  zur  Wissenschaft.  —  Alle  Die 
haben  kein  wirkliches  Interesse  an  einer  Wissenschaft, 
welche  erst  dann  anfangen  für  sie  warm  zu  werden, 
wenn  sie  selbst  Entdeckungen  in  ihr  gemacht  haben. 


183. 

Der  Schlüssel.  —  Der  Eine  Gedanke,  auf  den  ein 
bedeutender  Mensch,  zum  Gelächter  und  Spott  der  Un- 
bedeutenden, grossen  Werth  legt,  ist  für  ihn  ein  Schlüssel 
zu  verborgenen  Schatzkammern,  für  jene  nicht  mehr  als 
ein  Stück  alten  Eisens. 

184. 

Unübersetzbar.  —  Es  ist  weder  das  Beste,  noch 
das  Schlechteste  an  einem  Buche,  was  an  ihm  unüber- 
setzbar ist. 


—      l82      -- 

185. 

Paradoxien    des    Autors.    —   Die    sogenannten 

Paradoxien   des  Autors,   an   welchen   ein  Leser  Anstoss 

nimmt,  stehen  häufig  gar   nicht  im   Buche  des  Autors, 

sondern  im  Kopfe  des  Lesers. 

# 

186. 

Wi  t  z.  —  Die  witzigsten  Autoren  erzeugen  das  kaum 
bemerkbare  Lächeln. 

187. 

Die  Antithese.  —  Die  Antithese  ist  die  enge 
Pforte,  durch  welche  sich  am  liebsten  der  Irrthum  zur 
Wahrheit  schleicht 


Denker  als  Stilisten.  —  Die  meisten  Denker 
schreiben  schlecht,  weil  sie  uns  nicht  nur  ihre  Gredanken, 
sondern  auch  das  Denken  der  Gedanken  mittheilen. 

189. 

Gedanken  im  Gedicht.  —  Der  Dichter  führt 
seine  Gedanken  festlich .  daher,  auf  dem  Wagen  des 
Rhythmus:  gewöhnhch  desshalb,  weil  diese  zu  Fuss  nicht 
gehen  können. 

190. 

Sünde  wider  den  Geist  des  Lesers.  —  Wenn 
der  Autor  sein  Talent  verleugnet,  bloss  um  sich  dem  Leser 
gleich  zu  stellen,  so  begeht  er  die  einzige  Todsünde, 
welche  ihm  Jener    nie  verzeiht:    falls  er  nämlich  etwas 


davon  merkt.  Man  darf  dem  Menschen  sonst  alles  Böse 
nachsagen:  aber  in  der  Art,  wie  man  es  sag^,  muss  man 
seine  Eitelkeit  wieder  aufzurichten  wissen. 


191. 

Grenze  der  Ehrlichkeit.  —  Auch  dem  ehrlich- 
sten Schriftsteller  entfällt  ein  Wort  zu  viel,  wenn  er  eine 
Periode  abrunden  will. 

192. 

Der  beste  Autor.  —  Der  beste  Autor  wird  der 
sein,  welcher  sich  schämt,  Schriftsteller  zu  werden. 

193. 
Drakonisches  Gesetz  gegen  Schriftsteller. 
—  Man  sollte  einen  Schriftsteller  als  einen  Missethäter 
ansehen,  der  nur  in  den  seltensten  Fällen  Freisprechung 
oder  Begnadigung  verdient:  das  wäre  ein  Mittel  gegen 
das  Überhandnehmen  der  Bücher. 


194. 
Die  Narren  der  modernen  Cultur.  —  Die  Narren 
der  mittelalterlichen  Höfe  entsprechen  unsern  Feuille- 
tonisten;  es  ist  dieselbe  Gattung  Menschen,  halbvernünftig, 
witzig,  übertrieben,  albern,  mitunter  nur  dazu  da,  das 
Pathos  der  Stimmung  durch  Einfälle,  durch  Geschwätz 
zu  mildern  und  den  allzu  schweren,  feierlichen  Glocken- 
klang grosser  Ereignisse  durch  Geschrei  zu  übertäuben; 
ehemals  im  Dienste  der  Fürsten  und  Adligen,  jetzt  im 
Dienste  von  Parteien  (wie  in  Partei -Sinn  und  Partei- 
Zucht  ein  guter  Theil  der  alten  Unterthänigkeit  im  Ver- 


—    184    — 

kehr  des  Volks  mit  dem  Fürsten  jetzt  noch  fortlebt). 
Der  ganze  moderne  Litteratenstand  steht  aber  den 
Feuilletonisten  sehr  nahe,  es  sind  die  „Narren  der  mo- 
dernen Cultur",  welche  man  milder  beurtheilt,  wenn  man 
sie  als  nicht  ganz  zurechnungsfähig  nimmt.  Schrift- 
stellerei  als  Lebensberuf  zu  betrachten,  sollte  billiger- 
weise als  eine  Art  Tollheit  gelten. 

195. 
Den  Griechen  nach.  —  Der  Erkenntniss  steht 
es  gegenwärtig  sehr  im  Wege,  dass  alle  Worte  durch 
hundertjährige  Übertreibung  des  Gefülils  dunstig  und 
aufgeblasen  geworden  sind.  Die  höhere  Stufe  der  Cultur, 
welche  sich  unter  die  Herrschaft  (wenn  auch  nicht  unter 
die  Tyrannei)  der  Erkenntniss  stellt,  hat  eine  grosse  Er- 
nüchterung des  Gefühls  und  eine  starke  Concentration 
aller  Worte  von  Nöthen;  worin  uns  die  Griechen  im  Zeit- 
alter des  Demosthenes  vorangegangen  sind.  Das  Über- 
spannte bezeichnet  alle  modernen  Schriften;  und  selbst 
wenn  sie  einfach  geschrieben  sind,  so  werden  die  Worte 
in  denselben  noch  zu  excentrisch  gefühlt.  Strenge 
Überlegung,  Gedrängtheit,  Kälte,  Schlichtheit,  selbst  ab- 
sichtlich bis  an  die  Grenze  hinab,  überhaupt  An -sich- 
halten des  Gefühls  und  Schweigsamkeit  —  das  kann 
allein  helfen.  —  Übrigen»  ist  diese  kalte  Schreib-  und 
Gefühlsart,  als  Gegensatz,  jetzt  sehr  reizvoll:  und  darin 
liegt  freilich  eine  neue  Gefahr.  Denn  die  scharfe  Kälte 
ist  so  gut  ein  Reizmittel  als  ein  hoher  Wärmegrad. 

196. 

Gute  Erzähler  schlechte  Erklärer.  —  Bei  guten 
Erzählern  steht  oft  eine   bewunderungswürdige  psycho- 


-     i85     - 

logische  Sicherheit  und  Consequenz,  soweit  diese  in  den 
Handlungen  ihrer  Personen  hervortreten  kann,  in  einem 
geradezu  lächerlichen  Gegensatz  zu  der  Ungeübtheit 
ihres  psychologischen  Denkens:  so  dass  ihre  Cultur  in 
dem  einen  Augenblicke  ebenso  ausgezeichnet  hoch  als 
im  nächsten  bedauerlich  tief  erscheint.  Es  kommt  gar 
zu  häufig  vor,  dass  sie  ihre  eigenen  Helden  und  deren 
Handlungen  ersichtlich  falsch  erklären,  —  es  ist  daran 
kein  Zweifel,  so  unwahrscheinlich  die  Sache  klingt.  Viel- 
leicht hat  der  grösste  Ciavierspieler  nur  wenig  über  die 
technischen  Bedingungen  und  die  specielle  Tugend  Un- 
tugend Nutzbarkeit  und  Erziehbarkeit  jedes  Fingers 
(daktylische  Ethik)  nachgedacht  und  macht  grobe  Fehler, 
wenn  er  von  solchen  Dingen  redet. 


197. 

Die  Schriften  von  Bekannten  und  ihre 
Leser.  —  Wir  lesen  Schriften  von  Bekannten  (Freunden 
und  Feinden)  doppelt ,  insofern  fortwährend  unsere  Er- 
kenntniss  daneben  flüstert:  „das  ist  von -ihm,  ein  Merkmal 
seines  innerenWesens,  seiner  Erlebnisse,  seiner  Begabung", 
und  wiederum  eine  andere  Art  Erkenntniss  dabei  fest- 
zustellen sucht,  was  der  Ertrag  jenes  Werkes  an  sich  ist, 
welche  Schätzung  es  überhaupt,  abgesehn  von  seinem 
Verfasser,  verdient,  welche  Bereicherung  des  Wissens  es 
mit  sich  bringt.  Diese  beiden  Arten  des  Lesens  und 
Erwägens  stören  sich,  wie  es  sich  von  selbst  versteht, 
gegenseitig.  Auch  eine  Unterhaltung  mit  einem  Freunde 
wird  dann  erst  gute  Früchte  der  Erkenntniss  zeitigen, 
wenn  Beide  endUch  nur  noch  an  die  Sache  denken  und 
vergessen,  dass  sie  Freunde  sind. 


—     i86     — 

198. 

Rhythmische  Opfer.  —  Gute  Schriftsteller  ver- 
ändern den  Rhythmus  mancher  Periode  bloss  desshalb, 
weil  sie  den  gewöhnlichen  Lesern  nicht  die  Fähigkeit 
zuerkennen,  den  Tact,  welchem  die  Periode  in  ihrer 
ersten  Fassung  folgte,  zu  begreifen:  desshalb  erleichtem 
sie  es  ihnen,  indem  sie  bekannteren  Rhythmen  den  Vor- 
zug geben.  —  Diese  Rücksicht  auf  das  rhythmische  Un- 
vermögen der  jetzigen  Leser  hat  schon  manche  Seufzer 
entlockt,  denn  ihr  ist  Viel  schon  zum  Opfer  gefallen.  — 
Ob  es  guten  Musikern  nicht  ähnlich  ergeht? 

199. 

Das  Unvollständige  als  künstlerisches  Reiz- 
mittel. —  Das  Unvollständige  ist  oft  wirksamer  als  die 
Vollständigkeit,  so  namentlich  in  der  Lobrede:  für  ihren 
Zweck  braucht  man  gerade  eine  anreizende  Unvoll- 
ständigkeit,  als  ein  irrationales  Element,  welches  der 
Phantasie  des  Hörers  ein  Meer  vorspiegelt  und  gleich 
einem  Nebel  diei  gegenüberliegende  Küste  also  die 
Begrenztheit  des  zu  lobenden  Gegenstandes  verdeckt. 
Wenn  man  die  bekannten  Verdienste  eines  Menschen 
erwähnt  und  dabei  ausführlich  und  breit  ist,  so  lässt  diess 
immer  den  Arg-wohn  aufkommen,  es  seien  die  einzigen 
Verdienste.  Der  vollständig  Lobende  stellt  sich  über 
den  Gelobten,  er  scheint  ihn  zu  übersehen.  Desshalb 
wirkt  das  Vollständige  abschwächend. 

200. 

Vorsicht  im  Schreiben  und  Lehren.  —  Wer 
erst  geschrieben  hat  und  die  Leidenschaft  des  Schreibens 


-     i87     - 

in  sich  fühlt,  lernt  fast  aus  Allem,  was  er  treibt  und 
erlebt,  nur  Das  noch  heraus,  was  schriftstellerisch  mit- 
theilbar ist.  Er  denkt  nicht  mehr  an  sich,  sondern  an 
den  Schriftsteller  und  sein  Publicum:  er  will  die  Einsicht, 
aber  nicht  zum  eigenen  Gebrauche.  Wer  Lehrer  ist,  ist 
meistens  unfähig,  etwas  Eigenes  noch  für  sein  eigenes 
Wohl  zu  treiben,  er  denkt  immer  an  das  Wohl  seiner 
Schüler,  und  jede  Erkenntniss  erfreut  ihn  nur,  so  weit  er 
sie  lehren  kann.  Er  betrachtet  sich  zuletzt  als  einen 
Durchweg  des  Wissens  und  überhaupt  als  Mittel,  so  dass 
er  den  Ernst  für  sich  verloren  hat. 


20T. 

Schlechte  Schrift  steller  noth  wendig.  —  Es 
wird  immer  schlechte  Schriftsteller  geben  müssen,  denn 
sie  entsprechen  dem  Geschmack  der  unentwickelten 
unreifen  Altersclassen ;  diese  haben  so  gut  ihr  Bedürfniss 
wie  die  reifen.  Wäre  das  menschliche  Leben  länger, 
so  würde  die  Zahl  der  reif  gewordenen  Individuen  über- 
wiegend oder  mindestens  gleich  gross  mit  der  der  un- 
reifen sein ;  so  aber  sterben  bei  weitem  die  Meisten 
zu  jung,  das  heisst  es  giebt  immer  viel  mehr  unent- 
wickelte Intellecte  mit  schlechtem  Geschmack.  Diese 
begehren  überdiess  mit  der  grösseren  Heftigkeit  der 
Jugend  nach  Befriedigung  ihres  Bedürfnisses:  und  sie 
erzwingen  sich  schlechte  Autoren. 


202. 

Zu  nah  und  zu  fern.  —  Der  Leser  und  der  Autor 
verstehen  sich  häufig  desshalb  nicht,  weil  der  Autor  sein 
Thema  zu   gut  kennt  und  es  beinahe  langweilig  findet, 


so  dass  er  sich  die  Beispiele  erlässt,  die  er  zu  Hunderten 
weiss;  der  Leser  aber  ist  der  Sache  fremd  und  findet 
sie  leicht  schlecht  begründet,  wenn  ihm  die  Beispiele 
vorenthalten  werden. 

203. 

Eine  verschwundene  Vorbereitung-  zur  Kunst. 
—  An  Allem,  was  das  Gymnasium  trieb,  war  das  Werth- 
vollste  die  Übung  im  lateinischen  Stil:  diese  war  eben 
eine  Kunstübung,  während  alle  andren  Beschäftigungen 
nur  das  Wissen  zum  Zweck  hatten.  Den  deutschen 
Aufsatz  voranzustellen  ist  Barbarei :  denn  wir  haben 
keinen  mustergültigen ,  an  öfFentUcher  Beredsamkeit 
emporgewachsenen  deutschen  Stil;  will  man  aber  durch 
den  deutschen  Aufsatz  die  Übung  im  Denken  fördern, 
so  ist  es  gewiss  besser,  wenn  man  einstweilen  von  Stil 
dabei  überhaupt  absieht,  also  zwischen  der  Übung  im 
Denken  und  der  im  Darstellen  scheidet.  Letztere  sollte 
sich  auf  mannichfache  Fassung  eines  gegebenen  Inhalts 
beziehen  und  nicht  auf  selbständiges  Erfinden  eines 
Inhalts.  Die  blosse  Darstellung  bei  gegebenem  Inhalte 
war  die  Aufgabe  des  lateinischen  Stils,  für  welchen  die 
alten  Lehrer  eine  längst  verloren  gegangene  Feinheit 
des  Gehörs  besassen.  Wer  ehemals  gut  in  einer  mo- 
dernen Sprache  schreiben,  lernte,  verdankte  es  dieser 
Übung  (jetzt  muss  man  sich  nothgedrungen  zu  den 
älteren  Franzosen  in  die  Schule  schicken).  Aber  noch 
mehr:  er  bekam  einen  Begriff  von  der  Hoheit  und 
Schwierigkeit  der  Form  überhaupt  und  wurde  für  die 
Kunst  auf  dem  einzig  richtigen  Wege  vorbereitet,  durch 
Praxis. 


—     i89     — 

204. 

Dunkles  und  Überhelles  neben  einander.-- 
Schriftsteller,  welche  im  Allgemeinen  ihren  Gedanken 
keine  Deutlichkeit  zu  geben  verstehen,  werden  im  Ein- 
zelnen mit  Vorliebe  die  stärksten  übertriebensten  Be- 
zeichnungen und  Superlative  wählen:  dadurch  entsteht 
eine  Lichtwirkung,  wie  bei  Fackelbeleuchtung  auf  ver- 
worrenen Waldwegen. 

205. 

Schriftstellerisches  Malerthum.  —  Einen  be- 
deutenden Gegenstand  wird  man  am  besten  darstellen, 
wenn  man  die  Farben  zum  Gemälde  aus  dem  Gegen- 
stande selber  wie  ein  Chemiker  nimmt  und  sie  dann 
wie  ein  Artist  verbraucht:  so  dass  man  die  Zeichnung 
aus  den  Grenzen  und  Übergängen  der  Farben  erwachsen 
lässt.  So  bekommt  das  Gemälde  Etwas  von  dem  hin- 
reissenden Naturelement,  welches  den  Gegenstand  selber 
bedeutend  macht 

206. 

Bücher,  welche  tanzen  lehren.  —  Es  giebt 
Schriftsteller,  welche  dadurch,  dass  sie  Unmögliches  als 
möglich  darstellen  und  vom  Sittlichen  und  Genialen  so 
reden,  als  ob  beides  nur  eine  Laune,  ein  Belieben  sei, 
ein  Gefühl  von  übermüthiger  Freiheit  hervorbringen,  wie 
wenn  der  Mensch  sich  auf  die  Fussspitzen  stellte  und 
vor  innerer  Lust  durchaus  tanzen  müsste. 


207. 

Nicht  fertig  gewordene  Gedanken.  —  Ebenso 
wie  nicht  nur  das  Mannesalter,  sondern  auch  Jugend  und 


—       IQO       — 

Kindheit  einen  Werth  an  sich  haben  und  gar  nicht  nur 
als  Durchgänge  und  Brücken  zu  schätzen  sind,  so  haben 
auch  die  nicht  fertig  gewordenen  Gedanken  ihren  Werth. 
Man  muss  desshalb  einen  Dichter  nicht  mit  subtiler 
Auslegung  quälen  und  sich  an  der  Unsicherheit  seines 
Horizontes  vergnügen;  wie  als  ob  der  Weg  zu  mehreren 
Gedanken  noch  offen  sei.  Man  steht  an  der  Schwelle; 
man  wartet  wie  bei  der  Ausgrabung  eines  Schatzes:  es 
ist  als  ob  ein  Glücksfund  von  Tiefsinn  eben  gemacht 
werden  sollte.  Der  Dichter  nimmt  Etwas  von  der  Lust 
des  Denkers  beim  Finden  eines  Hauptgedankens  vorweg 
und  macht  uns  damit  begehrlich,  so  dass  wir  nach  diesem 
haschen :  der  aber  gaukelt  an  unserem  Kopf  vorüber  und 
zeigt  die  schönsten  Schmetterlingsflügel  —  und  doch 
entschlüpft  er  uns. 

208. 

Das  Buch  fast  zum  Menschen  geworden.  — 
Jeden  Schriftsteller  überrascht  es  von  Neuem,  wie  das 
Buch,  sobald  es  sich  von  ihm  gelöst  hat,  ein  eignes 
Leben  für  sich  weiterlebt;  es  ist  ihm  zu  Muthe,  als  wäre 
der  eine  Theil  eines  Insectes  losgetrennt  und  gienge  nun 
seinen  eigenen  Weg  weiter.  Vielleicht  vergisst  er  es  fast 
ganz,  vielleicht  erhebt  er  sich  über  die  darin  nieder- 
gelegten Ansichten,  vielleicht  selbst  versteht  er  es  nicht 
mehr  und  hat  jene  Schwingen  verloren,  auf  denen  er 
damals  flog,  als  er  jenes  Buch  aussann:  währenddem 
sucht  es  sich  seine  Leser,  entzündet  Leben,  beglückt, 
erschreckt,  erzeugt  neue  Werke,  wird  die  Seele  von 
Vorsätzen  und  Handlungen  —  kurz:  es  lebt  wie  ein  mit 
Geist  und  Seele  ausgestattetes  Wesen  und  ist  doch  kein 
Mensch.  —  Das  glücklichste  Los  hat  der  Autor  ge- 
zogen, welcher,  als  alter  Mann,  sagen  kann,  dass  Alles, 


—       IQI       — 

was  von  lebenzeugenden  kräftigenden  erhebenden  auf- 
klärenden Gedanken  und  Gefühlen  in  ihm  war,  in  seinen 
Schriften  noch  fortlebe, und  dass  er  selber  nur  noch  die 
graue  Asche  bedeute,  während  das  Feuer  überallhin 
gerettet  und  weiter  getragen  sei.  —  Erwägt  man  nun 
gar,  dass  jede  Handlung  eines  Menschen,  nicht  nur  ein 
Buch,  auf  irgend  eine  Art  Anlass  zu  anderen  Handlungen 
Entschlüssen  Gedanken  wird,  dass  Alles,  was  geschieht, 
unlösbar  fest  sich  mit  Allem,  was  geschehen  wird,  ver- 
knotet, so  erkennt  man  die  wirkhche  Unsterblichkeit, 
die  es  giebt,  die  der  Bewegung:  was  einmal  bewegt  hat, 
ist  in  dem  Gesammtverbande  alles  Seienden,  wie  in  einem 
Bernsteine  ein  Insekt,  eingeschlossen  und  verewigt. 

209. 

Freude  im  Alter.  —  Der  Denker  und  ebenso  der 
Künstler,  welcher  sein  besseres  Selbst  in  Werke  ge- 
flüchtet hat,  empfindet  eine  fast  boshafte  Freude,  wenn 
er  sieht,  wie  sein  Leib  und  Geist  langsam  von  der  Zeit 
angebrochen  und  zerstört  werden,  als  ob  er  aus  einem 
Winkel  einen  Dieb  an  seinem  Geldschranke  arbeiten 
sähe,  während  er  weiss,  dass  dieser  leer  ist  und  alle 
Schätze  gerettet  sind. 

210. 

Ruhige  Fruchtbarkeit.  —  Die  geborenen  Aristo- 
kraten des  Geistes  sind  nicht  zu  eifrig;  ihre  Schöpfungen 
erscheinen  und  fallen  an  einem  ruhigen  Herbstabend 
vom  Baume,  ohne  hastig  begehrt,  gefördert,  durch  Neues 
verdräng^  zu  werden.  Das  unablässige  Schaffenwollen 
ist  gemein  und  zeigt  Eifersucht  Neid  Ehrgeiz  an. 
Wenn  man  Etwas  ist,  so  braucht  man  eigenthch  Nichts 


—     igz     — 

zu   machen    —  und  thut  doch  sehr  Viel.     Es  giebt  über 
dem  „productiven"  Menschen  noch  eine  höhere  Gattung. 


21  I. 

Achilles  und  Homer.  —  Es  ist  immer  wie 
zwischen  Achilles  und  Homer:  der  Eine  hat  das  Er- 
lebniss,  die  Empfindung,  der  Andre  beschreibt  sie. 
Ein  wirklicher  Schriftsteller  giebt  dem  Affect  und  der 
Erfahrung  Anderer  nur  Worte,  er  ist  Künstler,  um  aus 
dem  Wenigen,  was  er  empfunden  hat,  Viel  zu  errathen. 
Künstler  sind  keineswegs  die  Menschen  der  grossen 
Leidenschaft,  aber  häufig  geben  sie  sich  als  solche,  in 
der  unbewussten  Empfindung,  dass  man  ihrer  gemalten 
Leidenschaft  mehr  traut,  wenn  ihr  eignes  Leben  für  ihre 
Erfahrung  auf  diesem  Gebiete  spricht  Man  braucht  sich 
ja  nur  gehen  zu  lassen,  sich  nicht  zu  beherrschen,  seinem 
Zorn,  seiner  Begierde  offenen  Spielraum  zu  gönnen:  so- 
fort schreit  alle  Welt:  wie  leidenschaftlich  ist  er!  Aber 
mit  der  tief  wühlenden,  das  Individuum  anzehrenden  und 
oft  verschlingenden  Leidenschaft  hat  es  etwas  auf  sich: 
wer  sie  erlebt,  beschreibt  sie  gewiss  nicht  in  Dramen, 
Tönen  oder  Romanen.  Künstler  sind  häufig  zügel- 
lose Individuen,  soweit  sie  eben  nicht  Künstler  sind: 
aber  das  ist  etwas  Anderes. 


212. 

Alte  Zweifel  über  die  Wirkung  der  Kunst.  — 
Sollten  Mitleid  und  Furcht  wirklich,  wie  Aristoteles  will, 
durch  die  Tragödie  entladen  werden,  so  dass  der  Zuhörer 
kälter  und  ruhiger  nach  Hause  zurückkehre?  Sollten 
Geistergeschichten  weniger  furchtsam  und  abergläubisch 


—     193     — 

machen?  Es  ist  bei  einigen  physischen  Vorgängen,  zum 
Beispiel  bei  dem  Liebesgenuss,  wahr,  dass  mit  der  Be- 
friedigung eines  Bedürfnisses  eine  Lindenmg  und  zeit- 
weilige Herabstimmung  des  Triebes  eintritt.  Aber  die 
Furcht  und  das  Mitleid  sind  nicht  in  diesem  Sinne  Be- 
dürfnisse bestimmter  Organe,  welche  erleichtert  werden 
wollen.  Und  auf  die  Dauer  wird  selbst  jeder  Trieb 
durch  Übung  in  seiner  Befriedigung  gestärkt,  trotz 
jener  periodischen  Linderungen.  Es  wäre  möglich,  dass 
Mitleid  und  Furcht  in  jedem  einzelnen  Falle  durch  die 
Tragödie  gemildert  und  entladen  würden :  trotzdem 
könnten  sie  im  Ganzen  durch  die  tragische  Einwirkung 
überhaupt  grösser  werden,  und  Plato  behielte  doch  Recht, 
wenn  er  meint,  dass  man  durch  die  Tragödie  insgesammt 
ängstlicher  und  rührseliger  werde.  Der  tragische  Dichter 
selbst  würde  dann  nothwendig  eine  düstere  furchtvolle 
Weltbetrachtung  und  eine  weiche  reizbare  thränen- 
süchtige  Seele  bekommen;  auch  würde  es  zu  Plato's 
Meinung  stimmen,  wenn  die  tragischen  Dichter  und 
ebenso  die  ganzen  Stadtgemeinden,  welche  sich  be- 
sonders an  ihnen  ergötzen,  zu  immer  grösserer  Maass- 
und Zügellosigkeit  ausarten.  —  Aber  welches  Recht  hat 
unsre  Zeit  überhaupt,  auf  die  grosse  Frage  Plato's  nach 
dem  moralischen  Einfluss  der  Kunst  eine  Antwort  zu 
geben?  Hätten  wir  selbst  die  Kunst  —  wo  haben  wir 
den  Einfluss,  irgend  einen  Einfluss  der  Kunst? 


213. 

Freude  am  Unsinn.  —  Wie  kann  der  Mensch 
Freude  am  Unsinn  haben  ?  So  weit  nämlich  auf  der  Welt 
gelacht  wird,  ist  diess  der  Fall;  ja  man  kann  sagen,  fast 
überall  wo  es  Glück  g^ebt,  giebt  es  Freude  am  Unsinn. 

Nietzfche,  Werke  Band  H.  jt 


—      T94      — 

Das  Umwerfen  der  Erfahrung  in's  Gegenthcil,  des  Zweck- 
mässigen in's  Zwecklose,  des  Nothwendigen  in's  Beliebige, 
doch  so,  dass  dieser  Vorgang  keinen  Schaden  macht 
und  nur  einmal  aus  Übermuth  vorgestellt  wird,  ergetzt, 
denn  es  befreit  uns  momentan  von  dem  Zwange  des 
Nothwendigen,  Zweckmässigen  und  Erfahrungsgemässen, 
in  denen  wir  für  gewöhnlich  unsere  unerbittUchen  Herren 
sehn;  wir  spielen  und  lachen  dann,  wenn  das  Erwartete 
(das  gewöhnlich  bange  macht  und  spannt)  sich  ohne  zu 
schädigen  entladet.  Es  ist  die  Freude  der  Sclaven  am 
Saturnalienfeste. 

214. 

Veredelung  der  Wirklichkeit.  —  Dadurch, 
dass  die  Menschen  in  dem  aphrodisischen  Triebe  eine 
Gottheit  sahen  und  ihn  mit  anbetender  Dankbarkeit  in 
sich  wirkend  fühlten,  ist  im  Verlaufe  der  Zeit  jener 
Affect  mit  höheren  Vorstellungsreihen  durchzogen  und 
dadurch  thatsächlich  sehr  veredelt  worden.  So  haben 
sich  einige  Völker,  vermöge  dieser  Kunst  des  Idealisirens, 
aus  Krankheiten  grosse  Hülfsmächte  der  Cultur  ge- 
schaffen: zum  Beispiel  die  Griechen,  welche  in  früheren 
Jahrhunderten  an  grossen  Nerven-Epidemien  (in  der  Art 
der  Epilepsie  und  des  Veitstanzes)  litten  und  daraus  den 
herrlichen  Typus  der  Bacchantin  herausgebildet  haben.  — 
Die  Griechen  besassen  "nämlich  nichts  weniger  als  eine 
vierschrötige  Gesundheit;  —  ihr  Geheimniss  war,  auch 
die  Krankheit,  wenn  sie  nur  Macht  hatte,  als  Gott  zu 
verehren. 

215. 
Musik.  —  Die  Musik  ist  nicht  an  und  für  sich  so 
bedeutungsvoll   für  unser  Innres,  so  tief  erregend,    dass 
sie  als  unmittelbare  Sprache  des  Gefühls  gelten  dürfte; 


—     195     — 

sondern  ihre  uralte  Verbindung  mit  der  Poesie  "hat  so 
viel  Symbolik  in  die  rhythmische  Bewegung,  in  Stärke 
und  Schwäche  des  Tones  gelegt,  dass  wir  jetzt  wähnen, 
sie  spräche  direct  zum  Innern  und  käme  aus  dem 
Innern.  Die  dramatische  Musik  ist  erst  möglich,  wenn 
sich  die  Tonkunst  ein  ungeheures  Bereich  symbolischer 
Mittel  erobert  hat,  durch  Lied  Oper  und  hundertfältige 
Versuche  der  Tonmalerei.  Die  „absolute  !Musik"  ist  ent- 
weder Form  an  sich,  im  rohen  Zustand  der  Musik,  wo 
das  Erklingen  in  Zeitmaass  und  verschiedener  Stärke 
überhaupt  Freude  macht,  oder  die  ohne  Poesie  schon 
zum  Verständniss  redende  Symbolik  der  Formen,  nach- 
dem in  langer  Entwicklung  beide  Künste  verbunden 
waren  und  endlich  die  musikalische  Form  ganz  mit  Be- 
griffs- und  Gefühlsfäden  durchsponnen  ist.  Menschen, 
welche  in  der  Entwicklung  der  Musik  zurückgeblieben 
sind,  können  dasselbe  Tonstück  rein  formalistisch  em- 
pfinden, wo  die  Fortgeschrittenen  Alles  symbohsch  ver- 
stehen. An  sich  ist  keine  Musik  tief  und  bedeutungsvoll, 
sie  spricht  nicht  vom  „Willen",  vom  „Dinge  an  sich"; 
das  konnte  der  Intellect  erst  in  einem  Zeitalter  wähnen, 
welches  den  ganzen  Umfang  des  inneren  Lebens  für  die 
musikalische  Symbolik  erobert  hatte.  Der  Intellect  selber 
hat  diese  Bedeutsamkeit  erst  in  den  Klang  hinein- 
gelegt: wie  er  in  die  Verhältnisse  von  Linien  und 
Massen  bei  der  Architektur  ebenfalls  Bedeutsamkeit  ge- 
legt hat,  welche  aber  an  sich  den  mechanischen  Gesetzen 
ganz  fremd  ist 

216. 

Gebärde  und  Sprache.  —  Alter  als  die  Sprache 
ist  das  Nachmachen  von  Gebärden,  welches  unwillkürlich 
vor  sich  geht  und  jetzt   noch,  bei  einer  allgemeinen  Zu- 

13* 


—     ig6     — 

rückdrängung  der  Gebärdensprache  und  gebildeten  Be- 
herrschung der  Muskeln,  so  stark  ist,  dass  wir  ein  be- 
wegtes Gesicht  nicht  ohne  Innervation  unseres  Gesichtes 
ansehen  können  (man  kann  beobachten,  dass  fingirtes 
Gähnen  bei  Einem,  der  es  sieht,  natürliches  Gähnen  her- 
vorruft). Die  nachgeahmte  Gebärde  leitete  Den,  der 
nachahmte,  zu  der  Empfindung  zurück,  welche  sie  im 
Gesicht  oder  Körper  des  Nachgeahmten  ausdrückte.  So 
lernte  man  sich  verstehn:  so  lernt  noch  das  Kind  die 
JMutter  verstehn.  Im  Allgemeinen  mögen  schmerzhafte 
Empfindungen  wohl  auch  durch  Gebärden  ausgedrückt 
worden  sein,  welche  Schmerz  ihrerseits  verursachen 
(zum  Beispiel  durch  Haarausraufen,  Die-Brust-schlagen, 
gewaltsame  Verzerrung  und  Anspannung  der  Gesichts- 
muskeln). Umgekehrt:  Gebärden  der  Lust  waren  selber 
lustvoll  und  eigneten  sich  dadurch  leicht  zum  Mittheilen 
des  Verständnisses  (Lachen  als  Äusserung  des  Gekitzelt- 
werdens, welches  lustvoll  ist,  diente  wiederum  zum  Aus- 
druck anderer  lustvoller  Empfindungen).  —  Sobald  man 
sich  in  Gebärden  verstand,  konnte  wiederum  eine  Sym- 
bolik der  Gebärde  entstehen:  ich  meine,  man  konnte 
über  eine  Tonzeichensprache  sich  verständigen,  so  zwar, 
dass  man  zuerst  Ton  und  Gebärde  (zu  der  er  symbolisch 
hinzutrat),  später  nur  den  Ton  hervorbrachte.  —  Es 
scheint  sich  da  in  früher  Zeit  Dasselbe  oftmals  ereignet 
zu  haben,  was  jetzt  vor  unseren  Augen  und  Ohren  in 
der  Entwicklung  der  Musik,  namentlich  der  dramatischen 
Musik,  vor  sich  geht:  während  zuerst  die  Musik,  ohne 
erklärenden  Tanz  und  Mimus  (Gebärdensprache),  leeres 
Geräusch  ist,  wird  durch  lange  Gewöhnung  an  jenes 
Nebeneinander  von  Musik  und  Beweg-ung  das  Ohr  zur 
sofortigen  Ausdeutung  der  Tonfiguren  eingeschult  und 
kommt  endlich  auf  eine   Höhe  des   schnellen  Verstand- 


—     197     — 

nisses,  wo  es  der  sichtbaren  Bewegung  gar  nicht  mehr 
bedarf  und  den  Tondichter  ohne  dieselbe  versteht. 
Man  redet  dann  von  absoluter  Musik,  das  heisst  von 
Musik,  in  der  Alles  ohne  weitere  Beihülfe  sofort  sym- 
bolisch verstanden  wird. 

217. 

Die  Entsinnlichung  der  höheren  Kunst.  — 
Unsere  Ohren  sind,  vermöge  der  ausserordentlichen  Übung 
des  Intellects  durch  die  Kunstentwicklung  der  neuen 
Musik,  immer  intellectualer  geworden.  Desshalb  ertragen 
wir  jetzt  viel  grössere  Tonstärke,  viel  mehr  „Lärm",  weil 
wir  viel  besser  eingeübt  sind,  auf  die  Vernunft  in  ihm 
hinzuhorchen,  als  unsere  Vorfahren.  Thatsächlich  sind  nun 
alle  unsere  Sinne  eben  dadurch,  dass  sie  immer  gleich 
nach  der  Vernunft,  also  nach  dem  „es  bedeutet"  und 
nicht  mehr  nach  dem  „es  ist"  fragen,  etwas  abgestumpft 
worden:  wie  sich  eine  solche  Abstumpfung  zum  Beispiel 
in  der  unbedingten  Herrschaft  der  Temperatur  der  Töne 
verräth;  denn  jetzt  gehören  Ohren,  welche  die  feineren 
Unterscheidungen,  zum  Beispiel  zwischen  eis  und  des, 
noch  machen,  zu  den  Ausnahmen.  In  dieser  Hinsicht  ist 
unser  Ohr  vergröbert  worden.  Sodann  ist  die  hässliche, 
den  Sinnen  ursprünglich  feindselige  Seite  der  Welt  für 
die  Musik  erobert  worden;  ihr  Machtbereich  namentlich 
zum  Ausdruck  des  Erhabenen  Furchtbaren  Geheimniss- 
vollen hat  sich  damit  erstaunlich  erweitert:  unsere  Musik 
bringt  jetzt  Dinge  zum  Reden,  welche  früher  keine  Zunge 
hatten.  In  ähnlicher  Weise  haben  einige  Maler  das 
Auge  intellectualer  gemacht  und  sind  weit  über  Das 
hinausgegangen,  was  man  früher  Farben-  und  Formen- 
freude nannte.  Auch  hier  ist  die  ursprünglich  als  hässlich 
geltende  Seite  der  Welt  vom  künstlerischen  Verstände 


—     ig8     — 

erobert  worden.  —  Was  ist  von  alledem  die  Consequenz? 
Je  gedankenfähiger  Auge  und  Ohr  werden,  um  so  mehr 
kommen  sie  an  die  Grenze,  wo  sie  unsinnlich  werden; 
die  Freude  wird  in's  Gehirn  verlegt,  die  Sinnesorgane 
selbst  werden  stumpf  und  schwach,  das  Symbolische  tritt 
immer  mehr  an  Stelle  des  Seienden  —  und  so  gelangen 
wir  auf  diesem  Wege  so  sicher  zur  Barbarei,  wie  auf 
irgend  einem  anderen.  Einstweilen  heisst  es  noch:  die 
Welt  ist  hässlicher  als  je,  aber  sie  bedeutet  eine  schönere 
Welt,  als  je  gewesen.  Aber  je  mehr  der  Ambraduft  der 
Bedeutung  sich  zerstreut  und  verflüchtigt,  um  so  seltener 
werden  Die,  welche  ihn  noch  wahrnehmen:  und  die 
Übrigen  bleiben  endlich  bei  dem  Hässlichen  stehen  und 
suchen  es  direct  zu  geniessen,  was  ihnen  aber  immer 
misslingen  muss.  So  giebt  es  in  Deutschland  eine 
doppelte  Strömung  der  musikalischen  Entwicklung:  hier 
eine  Schaar  von  Zehntausend  mit  immer  höheren  zarteren 
Ansprüchen  und  immer  mehr  nach  dem  „es  bedeutet" 
hinhörend,  und  dort  die  ungeheure  Überzahl,  welche 
alljährlich  immer  unfähiger  wird,  das  Bedeutende  auch 
in  der  Form  der  sinnlichen  Hässlichkeit  zu  verstehen 
und  desshalb  nach  dem  an  sich  Hässlichen  und  Ekel- 
haften, das  heisst  dem  niedrig  Sinnlichen,  in  der  Musik 
mit  immer  mehr  Behagen  greifen  lernt 

218. 

Der  Stein  ist  mehr  Stein  als  früher.  —  Wir 
verstehen  im  Allgemeinen  Architektur  nicht  mehr,  wenig- 
stens lange  nicht  in  der  Weise,  wie  wir  Musik  verstehen. 
Wir  sind  aus  der  Symbolik  der  Linien  und  Figuren 
herausgewachsen,  wie  wir  der  Klangwirkungen  der  Rhe- 
torik entwöhnt   sind,  und  haben  diese  Art  von   Mutter- 


—      199     — 

milch  der  Bildung  nicht  mehr  vom  ersten  Augenblick 
unseres  Lebens  an  eingesogen.  An  einem  griechischen 
oder  christlichen  Gebäude  bedeutete  ursprünglich  Alles 
etwas,  und  zwar  in  Hinsicht  auf  eine  höhere  Ordnung 
der  Dinge:  diese  Stimmung  einer  unausschöpf liehen  Be- 
deutsamkeit lag  um  das  Gebäude  gleich  einem  zauber- 
haften Schleier.  Schönheit  kam  nur  nebenbei  in  das 
System  hinein,  ohne  die  Grundempfindung  des  Unheimlich- 
Erhabenen,  des  durch  Götternähe  und  Magie  Geweihten 
wesentlich  zu  beeinträchtigen;  Schönheit  milderte  höch- 
stens das  Grauen  —  aber  dieses  Grauen  war  überall 
die  Voraussetzung.  —  Was  ist  uns  jetzt  die  Schönheit 
eines  Gebäudes?  Dasselbe  wie  das  schöne  Gesicht  einer 
geistlosen  Frau:    etwas  Maskenhaftes. 


219. 

Religiöse  Herkunft  der  neueren  Musik.  — 
Die  seelenvolle  Musik  entsteht  in  dem  wiederherge- 
stellten Katholicismus  nach  dem  Tridentiner  Concil,  durch 
Palestrina,  welcher  dem  neu  erwachten  innigen  und  tief 
bewegten  Geiste  zum  Klange  verhalf;  später,  mit  Bach, 
auch  im  Protestantismus,  soweit  dieser  durch  die  Pietisten 
vertieft  und  von  seinem  ursprünglichen  dogmatischen 
Grundcharakter  losgebunden  worden  war.  Voraussetzung 
und  nothwendige  Vorstufe  für  beide  Entstehungen  ist  die 
Befassung  mit  Musik,  wie  sie  dem  Zeitalter  der  Renaissance 
und  Vor-Renaissance  zu  eigen  war,  namentlich  jene  ge- 
lehrte Beschäftigung  mit  Musik,  jene  im  Grunde  wissen- 
schaftliche Lust  an  den  Kunststücken  der  Harmonik  und 
Stimmführung.  Andererseits  musste  auch  die  Oper  vor- 
hergegangen sein:  in  welcher  der  Laie  seinen  Protest 
gegen    eine    zu    gelehrt    gewordene    kalte    Musik   zu   er- 


—       200       

kennen  gab  und  der  Polyhymnia  wieder  eine  Seele 
schenken  wollte.  —  Ohne  jene  tiefreligiöse  Umstimmung, 
ohne  das  Ausklingen  des  innerlichst  -  erregten  Gemüths 
wäre  die  Musik  gelehrt  oder  opernhaft  geblieben;  der 
Geist  der  Gegenreformation  ist  der  Geist  der  modernen 
Musik  (denn  jener  Pietismus  in  Bach's  Musik  ist  auch 
eine  Art  Gegenreformation).  So  tief  sind  wir  dem  reli- 
giösen Leben  verschuldet.  —  Die  Musik  war  die  Gegen- 
renaissance im  Gebiete  der  Kunst;  zu  ihr  gehört  die 
spätere  Malerei  der  Carracci,  zu  ihr  vielleicht  auch  der 
Barockstil:  mehr  jedenfalls  als  die  Architektur  der  Re- 
naissance oder  des  Alterthums,  Und  noch  jetzt  dürfte 
man  fragen :  wenn  unsere  neuere  Musik  die  Steine  bewe- 
gen könnte,  würde  sie  diese  zu  einer  antiken  Architektur 
zusammensetzen?  Ich  zweifle  sehr.  Denn  Das,  was  in 
dieser  Musik  regiert,  der  Affect,  die  Lust  an  erhöhten 
weitgespannten  Stimmungen,  das  Lebendig- werden- wollen 
um  jeden  Preis,  der  rasche  Wechsel  der  Empfindung, 
die  starke  Reliefwirkung  in  Licht  und  Schatten,  die 
Nebeneinanderstellung  der  Ekstase  und  des  Naiven, 
—  das  hat  Alles  schon  einmal  in  den  bildenden  Künsten 
regiert  und  neue  Stilgesetze  geschaffen:  —  es  war  aber 
weder  im  Alterthum   noch  in   der  Zeit  der  Renaissance. 


220. 

Das  Jenseits  in  der  Kunst.  —  Nicht  ohne  tiefen 
Schmerz  gesteht  man  sich  ein,  dass  die  Künstler  aller 
Zeiten  in  ihrem  höchsten  Aufschwünge  gerade  jene 
Vorstellungen  zu  einer  himmlischen  Verklärung  hinauf- 
getragen haben,  welche  wir  jetzt  als  falsch  erkennen:  sie 
sind  die  Verherrlicher  der  religiös-philosophischen  Irr- 
thümer  der  Menschheit,  und  sie   hätten   diess   nicht  sein 


20I        

können  ohne  den  Glauben  an  die  absolute  Wahrheit 
derselben.  Nimmt  nun  der  Glaube  an  eine  solche  Wahr- 
heit überhaupt  ab,  verblassen  die  Regenbogenfarben  um 
die  äussersten  Enden  des  menschlichen  Erkennens  und 
Wähnens:  so  kann  jene  Gattung  von  Kunst  nie  wieder 
aufblühen,  welche  wie  die  dtvina  commedia ,  die  Bilder 
Raffael's,  die  Fresken  Michelangel o's .  die  gothischen 
Münster  nicht  nur  eine  kosmische  sondern  auch  eine 
metaphysische  Bedeutung  der  Kunstobjecte  voraussetzt. 
Es  wird  eine  rührende  Sage  daraus  werden,  dass  es 
eine  solche  Kunst,  einen  solchen  Künstlerglauben  ge- 
geben habe. 

221. 

Die  Revolution  in  der  Poesie.  —  Der  strenge 
Zwang,  welchen  sich  die  französischen  Dramatiker  auf- 
erlegten, in  Hinsicht  auf  Einheit  der  Handlung,  des 
Ortes  und  der  Zeit,  auf  Stil,  Vers-  und  Satzbau,  Auswahl 
der  Worte  und  Gedanken,  war  eine  so  wichtige  Schule, 
wie  die  des  Contrapunkts  und  der  Fuge  in  der  Entwick- 
lung der  modernen  Musik  oder  wie  die  Gorgianischen 
Figuren  in  der  griechischen  Beredsamkeit.  Sich  so  zu 
binden  kann  absurd  erscheinen;  trotzdem  giebt  es  kein 
anderes  Mittel,  um  aus  dem  Naturalisiren  herauszukommen, 
als  sich  zuerst  auf  das  allerstärkste  (vielleicht  allerwill- 
kürlichste)  zu  beschränken.  Man  lernt  so  allmählich  mit 
Grazie  selbst  auf  den  schmalen  Stegen  schreiten,  welche 
schwindelnde  Abgründe  überbrücken,  und  bringt  die 
höchste  Geschmeidigkeit  der  Bewegung  als  Ausbeute 
mit  heim:  wie  die  Geschichte  der  Musik  vor  den  Augen 
aller  Jetztlebenden  beweist.  Hier  sieht  man,  wie  Schritt 
für  Schritt  die  Fesseln  lockerer  werden,  bis  sie  endlich 
ganz   abgeworfen   scheinen    können:    dieser  Schein   ist 


—       202       — 


das  höchste  Ergebniss  einer  nothwendigen  Entwicklung 
in  der  Kunst.  In  der  modernen  Dichtkunst  gab  es  keine 
so  glückliche  allmähliche  Herauswicklung  aus  den  selbst- 
gelegten Fesseln.  Lessing  machte  die  französische  Form, 
das  heisst  die  einzige  moderne  Kunstform,  zum  Gespött 
in  Deutschland  und  verwies  auf  Shakespeare;  und  so 
verlor  man  die  Stätigkeit  jener  Entfesselung  und  machte 
einen  Sprung  in  den  Naturalismus  —  das  heisst  in  die 
Anfänge  der  Kunst  zurück.  Aus  ihm  versuchte  sich 
Goethe  zu  retten,  indem  er  sich  immer  von  Neuem 
wieder  auf  verschiedene  Art  zu  binden  wusste;  aber 
auch  der  Begabteste  bringt  es  nur  zu  einem  fortwähren- 
den Experimentiren,  wenn  der  Faden  der  Entwicklung 
einmal  abgerissen  ist.  Schiller  verdankt  die  ungefähre 
Sicherheit  seiner  Form  dem  unwillkürlich  verehrten,  wenn 
auch  verleugneten  Vorbilde  der  französischen  Tragödie 
und  hielt  sich  ziemlich  unabhängig  von  Lessing  (dessen 
dramatische  Versuche  er  bekanntlich  ablehnte).  Den 
Franzosen  selber  fehlten  nach  Voltaire  auf  einmal  die 
grossen  Talente,  welche  die  Entwicklung  der  Tragödie 
aus  dem  Zwange  zu  jenem  Scheine  der  Freiheit  fort- 
geführt hätten;  sie  machten  später  nach  deutschem  Vor- 
bilde auch  den  Sprung  in  eine  Art  von  Rousseau'schem 
Naturzustand  der  Kunst  und  experimentirten.  Man  lese 
nur  von  Zeit  zu  Zeit  Voltaire's  Mahomet,  um  sich  klar 
vor  die  Seele  zu  stellen,. was  durch  jenen  Abbruch  der 
Tradition  ein  für  alle  Mal  der  europäischen  Cultur  ver- 
loren gegangen  ist.  Voltaire  war  der  letzte  der  grossen 
Dramatiker,  welcher  seine  vielgestaltige,  auch  den  grössten 
tragischen  Gewitterstürmen  gewachsene  Seele  durch 
griechisches  Maass  bändigte,  —  er  vermochte  Das,  was 
noch  kein  Deutscher  vermochte,  weil  die  Natur  des 
Franzosen    der    griechischen  viel  verwandter  ist  als  die 


—       203       — 

Natur  des  Deutschen  — ;  wie  er  auch  der  letzte  grosse 
Schriftsteller  war,  der  in  der  Behandlung  der  Prosa-Rede 
griechisches  Ohr,  griechische  Künstler-Gewissenhaftigkeit, 
griechische  Schlichtheit  und  Anmuth  hatte;  ja  wie  er  einer 
der  letzten  Menschen  gewesen  ist ,  welche  die  höchste 
Freiheit  des  Geistes  und  eine  schlechterdings  unrevolu- 
tionäre Gesinnung  in  sich  vereinigen  können,  ohne  in- 
consequent  und  feige  zu  sein.  Seitdem  ist  der  moderne 
Geist  mit  seiner  Unruhe,  seinem  Hass  gegen  Maass  und 
Schranke,  auf  allen  Gebieten  zur  Herrschaft  gekommen, 
zuerst  entzügelt  durch  das  Fieber  der  Revolution  und 
dann  wieder  sich  Zügel  anlegend,  wenn  ihn  Angst  und 
Grauen  vor  sich  selber  anwandelte,  —  aber  die  Zügel  der 
starren  Logik,  nicht  mehr  die  des  künstlerischen  Maasses. 
Zwar  geniessen  wir  durch  jene  Entfesselung  eine  Zeitlang 
die  Poesien  aller  Völker,  alles  an  verborgenen  Stellen 
Aufgewachsene,  Urwüchsige,  Wildblühende,  Wunderlich- 
Schöne  und  Riesenhaft -Unregelmässige,  vom  Volksliede 
an  bis  zum  „grossen  Barbaren"  Shakespeare  hinauf;  wir 
schmecken  die  Freuden  der  Localfarbe  und  des  Zeit- 
costüms,  die  allen  künstlerischen  Völkern  bisher  fremd 
waren;  wir  benutzen  reichlich  die  „barbarischen  Avan- 
tagen"  unserer  Zeit,  welche  Goethe  gegen  Schiller  geltend 
macht,  um  die  Formlosigkeit  seines  Faust  in  das  gün- 
stigste Licht  zu  stellen.  Aber  auf  wie  lange  noch?  Die 
hereinbrechende  Fluth  von  Poesien  aller  Stile  aller  Völker 
muss  ja  allmählich  das  Erdreich  wegschwemmen,  auf 
dem  ein  stilles  verborgenes  Wachsthum  noch  möglich 
gewesen  wäre;  alle  Dichter  müssen  ja  experimentirende 
Nachahmer,  wagehalsige  Copisten  werden,  mag  ihre  Kraft 
von  Anbeginn  noch  so  gross  sein.  Das  Publicum  endlich, 
welches  verlernt  hat,  in  der  Bändigung  der  darstellen- 
den Kraft,  in  der  organisirenden  Bewältigung  aller  Kunst- 


204       — 

mittel  die  eigentliche  künstlerische  That  zu  sehn,  muss 
immer  mehr  die  Kraft  um  der  Kraft  willen,  die  Farbe 
um  der  Farbe  willen,  den  Gedanken  um  des  Gedankens 
willen,  die  Inspiration  um  der  Inspiration  willen  schätzen, 
es  wird  demgemäss  die  Elemente  und  Bedingungen 
des  Kunstwerks  gar  nicht,  wenn  nicht  isolirt,  ge- 
messen und  zu  guterletzt  die  natürliche  Forderung 
stellen,  dass  der  Künstler  sie  ihm  auch  isolirt  darreichen 
müsse.  Ja,  man  hat  die  „unvernünftigen"  Fesseln  der 
französisch- griechischen  Kunst  abgeworfen,  aber  unver- 
merkt sich  daran  gewöhnt,  alle  Fesseln,  alle  Beschrän- 
kung unvernünftig  zu  finden;  —  und  so  bewegt  sich  die 
Kunst  ihrer  Auflösung  entgegen  und  streift  dabei  — 
was  freilich  höchst  belehrend  ist  —  alle  Phasen  ihrer 
Anfänge,  ihrer  Kindheit,  ihrer  Unvollkommenheit,  ihrer 
einstmaligen  Wagnisse  und  Ausschreitungen:  sie  inter- 
pretirt,  im  Zu-Grunde-gehen,  ihre  Entstehung,  ihr  Werden. 
Einer  der  Grossen,  auf  dessen  Instinct  man  sich  wohl 
verlassen  kann  und  dessen  Theorie  nichts  weiter  als  ein 
dreissig  Jahre  Mehr  von  Praxis  fehlte,  —  Lord  Byron 
hat  einmal  ausgesprochen:  „Was  die  Poesie  im  Allge- 
meinen anlangt,  so  bin  ich,  je  mehr  ich  darüber  nach- 
denke, immer  fester  der  Überzeugung,  dass  wir  alle- 
sammt  auf  dem  falschen  Wege  sind,  Einer  wie  der 
Andere.  Wir  folgen  Alle  einem  innerlich  falschen  revo- 
lutionären System  —  unserö  oder  die  nächste  Generation 
wird  noch  zu  derselben  Überzeugung  gelangen."  Es  ist 
diess  derselbe  Byron,  welcher  sagt:  „Ich  betrachte 
Shakespeare  als  das  schlechteste  Vorbild,  wenn  auch  als 
den  ausserordentlichsten  Dichter."  Und  sagt  im  Grunde 
Goethe's  gereifte  künstlerische  Einsicht  aus  der  zweiten 
Hälfte  seines  Lebens  nicht  genau  Dasselbe?  —  jene 
Einsicht,   mit  welcher  er  einen  solchen  Vorsprung  über 


—      205      — 

eine  Reihe  von  Generationen  gewann,  dass  man  im 
Grossen  Ganzen  behaupten  kann,  Goethe  habe  noch 
gar  nicht  gewirkt  und  seine  Zeit  werde  erst  kommen? 
Gerade  weil  seine  Natur  ihn  lange  Zeit  in  der  Bahn  der 
poetischen  Revolution  festhielt,  gerade  weil  er  am  gründ- 
lichsten auskostete,  was  Alles  indirect  durch  jenen  Ab- 
bruch der  Tradition  an  neuen  Funden,  Aussichten, 
Hülfsmitteln  entdeckt  und  gleichsam  unter  den  Ruinen 
der  Kunst  ausgegraben  worden  war,  so  wiegt  seine 
spätere  Umwandelung  und  Bekehrung  so  Viel:  sie  be- 
deutet, dass  er  das  tiefste  Verlangen  empfand,,  die 
Tradition  der  Kunst  wieder  zu  gewinnen  und  den  stehen 
gebliebenen  Trümmern  und  Säulengängen  des  Tempels 
mit  der  Phantasie  des  Auges  wenigstens  die  alte  Voll- 
kommenheit und  Ganzheit  anzudichten,  wenn  die  Kraft 
des  Arms  sich  viel  zu  schwach  erweisen  sollte,  zu 
bauen,  wo  so  ungeheure  Gewalten  schon  zum  Zerstören 
nöthig  waren.  So  lebte  er  in  der  Kunst  ds  in  der  Er- 
innerung an  die  walire  Kunst:  sein  Dichten  war  zum 
Hülfsmittel  der  Erinnerung,  des  Verständnisses  alter 
längst  entrückter  Kunstzeiten  geworden.  Seine  For- 
derungen waren  zwar  in  Hinsicht  auf  die  Kraft  des 
neuen  Zeitalters  unerfüllbar;  der  Schmerz  darüber  wurde 
aber  reichlich  durch  die  Freude  aufgewogen,  dass  sie 
einmal  erfüllt  gewesen  sind  und  dass  auch  wir  noch 
an  dieser  Erfüllung  theilnehmen  können.  Nicht  Indivi- 
duen, sondern  mehr  oder  weniger  idealische  Masken; 
keine  Wirklichkeit,  sondern  eine  allegorische  Allgemein- 
heit; Zeitcharaktere,  Localfarben  zum  fast  Unsichtbaren 
abgedämpft  und  mythisch  gemacht;  das  gegenwärtige 
Empfinden  und  die  Probleme  der  gegenwärtigen  Ge- 
sellschaft auf  die  einfachsten  Formen  zusammengedrängt, 
ihrer  reizenden  spannenden  pathologischen  Eigenschaften 


■ —      2o6      

entkleidet,  in  jedem  andern  als  dem  artistischen  Sinn 
wirkungslos  gemacht;  keine  neuen  Stoffe  und  Charak- 
tere, sondern  die  alten  längstgewohnten  in  immerfort 
währender  Neubeseelung  und  Umbildung:  das  ist  die 
Kunst,  so  wie  sie  Goethe  später  verstand,  so  wie  sie 
die  Griechen,  ja  auch  die  Franzosen  übten. 


222. 

Was  von  der  Kunst  übrig  bleibt.  —  Es  ist 
wahr,  bei  gewissen  metaphysischen  Voraussetzungen  hat 
die  Kunst  viel  grösseren  Werth,  zum  Beispiel  wenn  der 
Glaube  gilt,  dass  der  Charakter  unveränderlich  sei  und 
das  Wesen  der  Welt  sich  in  allen  Charakteren  und 
Handlungen  fortwährend  ausspreche:  da  wird  das  Werk 
des  Künstlers  zum  Bild  des  ewig  Beharrenden, 
während  für  unsere  Auffassung  der  Künstler  seinem 
Bilde  immer  nur  Gültigkeit  für  eine  Zeit  geben  kann, 
weil  der  Mensch  im  Ganzen  geworden  und  wandelbar 
und  selbst  der  einzelne  Mensch  nichts  Festes  und  Be- 
harrendes ist.  —  Ebenso  steht  es  bei  einer  andern  meta- 
physischen Voraussetzung:  gesetzt  dass  unsere  sichtbare 
Welt  nur  Erscheinung  wäre,  wie  es  die  Metaphysiker 
annehmen,  so  käme  die  Kunst  der  wirklichen  Welt  ziem- 
lich nahe  zu  stehen:  denn  zwischen  der  Erscheinungswelt 
und  der  Traumbild- Welt  des  Künstlers  gäbe  es  dann  gar 
zu  viel  Ähnliches;  und  die  übrigbleibende  Verschieden- 
heit stellte  sogar  die  Bedeutung  der  Kunst  höher  als  die 
Bedeutung  der  Natur,  weil  die  Kunst  das  Gleichförmige, 
die  Typen  und  Vorbilder  der  Natur  darstellte.  —  Jene 
Voraussetzungen  sind  aber  falsch:  welche  Stellung  bleibt 
nach  dieser  Erkenntniss  jetzt  noch  der  Kunst  ?  Vor  Allem 
hat  sie  durch  Jahrtausende  hindurch  gelehrt,  mit  Interesse 


-       207       — 

und  Lust  auf  das  Leben  in  jeder  Gestalt  zu  sehen  und 
unsere  Empfindung  so  weit  zu  bringen ,  dass  wir  endlich 
rufen:  „wie  es  auch  sei,  das  Leben,  es  ist  gutl"  Diese 
Lehre  der  Kunst,  Lust  am  Dasein  zu  haben  und  das 
Menschenleben  wie  ein  Stück  Natur,  ohne  zu  heftige  Mit- 
bewegung, als  Gegenstand  gesetzmässigcr  Entwicklung 
anzusehen,  —  diese  Lehre  ist  in  uns  hineingewachsen, 
sie  kommt  jetzt  als  allgewaltiges  Bedürfniss  des  Er- 
kennens  wieder  an's  Licht.  Man  könnte  die  Kunst  auf- 
geben, würde  damit  aber  nicht  die  von  ihr  gelernte 
Fähigkeit  einbüssen:  ebenso  wie  man  die  Religion  auf- 
gegeben hat,  nicht  aber  die  durch  sie  erworbenen  Ge- 
müths-Steigerungen  und  Erhebungen.  Wie  die  bildende 
Kunst  und  die  Musik  der  Maassstab  des  durch  die 
Religion  wirkhch  erworbenen  und  hinzugewonnenen  Ge- 
fühls-Reichthums  ist,  so  würde  nach  einem  Verschwinden 
der  Kunst  die  von  ihr  gepflanzte  Intensität  und  Vielartig- 
keit der  Lebensfreude  immer  noch  Befriedigung  fordern. 
Der  wissenschaftliche  Mensch  ist  die  Weiterentwicklung 
des  künstlerischen. 

223. 

Abendröthe  der  Kunst.  —  Wie  man  sich  im 
Alter  der  Jugend  erinnert  und  Gedächtnissfeste  feiert,  so 
steht  bald  die  Menschheit  zur  Kunst  im  Verhältniss  einer 
rührenden  Erinnerung  an  die  Freuden  der  Jugend. 
Vielleicht  dass  niemals  früher  die  Kunst  so  tief  und 
seelenvoll  erfasst  wurde  als  jetzt,  wo  die  Magie  des 
Todes  dieselbe  zu  umspielen  scheint.  Man  denke  an  jene 
griechische  Stadt  in  Unteritalien,  welche  an  Einem  Tage 
des  Jahres  noch  ihre  griechischen  Feste  feierte,  unter 
Wehmuth  und  Thränen  darüber,  dass  immer  mehr  die 
ausländische    Barbarei    über    ihre    mitgebrachten    Sitten 


—       208       — 

triumphire;  niemals  hat  man  wohl  das  Hellenische  so 
genossen,  nirgendswo  diesen  goldenen  Nektar  mit  solcher 
Wollust  geschlürft  als  unter  diesen  absterbenden  Helle- 
nen, Den  Künstler  wird  man  bald  als  ein  herrliches 
Überbleibsel  ansehen  und  ihm,  wie  einem  wunderbaren 
Fremden,  an  dessen  Kraft  und  Schönheit  das  Glück 
früherer  Zeiten  hieng,  Ehren  erweisen,  wie  wir  sie  nicht 
leicht  Unsersgleichen  gönnen.  Das  Beste  an  uns  ist 
vielleicht  aus  Empfindungen  früherer  Zeiten  vererbt,  zu 
denen  wir  jetzt  auf  unmittelbarem  Wege  kaum  mehr 
kommen  können;  die  Sonne  ist  schon  hinuntergegangen, 
aber  der  Himmel  unseres  Lebens  glüht  und  leuchtet 
noch  von  ihr  her,  ob  wir  sie  schon  nicht  mehr  sehen. 


Fünftes  Hauptstück: 

Anzeichen  höherer  und  niederer 
Cultur. 


Niftuche,   Werkp   Band  11. 


'4 


224. 

Veredelung  durch  Entartung.  —  Aus  der  Ge- 
schichte ist  zu  lernen,  dass  der  Stamm  eines  Volkes 
sich  am  besten  erhält,  in  dem  die  meisten  Menschen 
lebendigen  Gemeinsinn  in  Folge  der  Gleichheit  ihrer 
gewohnten  und  undiscutirbaren  Grundsätze,  also  in  Folge 
ihres  gemeinsamen  Glaubens  haben.  Hier  erstarkt  die 
gute,  tüchtige  Sitte,  hier  wird  die  Unterordnung  des 
Individuums  gelernt  und  dem  Charakter  Festigkeit  schon 
als  Angebinde  gegeben  und  nachher  noch  anerzogen. 
Die  Gefahr  dieser  starken,  auf  gleichartige  charaktervolle 
Individuen  gegründeten  Gemeinwesen  ist  die  allmählich 
durch  Vererbung  gesteigerte  Verdummung,  welche  nun 
einmal  aller  Stabilität  wie  ihr  Schatten  folgt.  Es  sind 
die  ungebundeneren,  viel  unsichereren  und  morahsch 
schwächeren  Individuen,  an  denen  das  geistige  Fort- 
schreiten in  solchen  Gemeinwesen  hängt:  es  sind 
die  Menschen,  die  Neues  und  überhaupt  Vielerlei  ver- 
suchen. Unzählige  dieser  Art  gehen,  ihrer  Schwäche 
wegen,  ohne  sehr  ersichtliche  Wirkung  zu  Grrunde;  aber 
im  Allgemeinen,  zumal  wenn  sie  Nachkommen  haben, 
lockern  sie  auf  und  bringen  von  Zeit  zu  Zeit  dem  sta- 
bilen Elemente  eines  Gemeinwesens  eine  Wunde  bei. 
Gerade  an  dieser  wunden  und  schwach  gewordenen 
Stelle  wird  dem  gesammten  Wesen  etwas  Neues  gleich- 

14* 


212       

sam  inoculirt;  seine  Kraft  im  Ganzen  muss  aber  stark 
genug  sein,  um  dieses  Neue  in  sein  Blut  aufzunehmen 
und  sich  zu  assimiliren.  Die  abartenden  Naturen  sind 
überall  da  von  höchster  Bedeutung,  wo  ein  Fortschritt 
erfolgen  soll;  jedem  Fortschritt  im  Grossen  muss  eine 
theilweise  Schwächung  vorhergehen.  Die  stärksten  Na- 
turen halten  den  Typus  fest,  die  schwächeren  helfen 
ihn  fortbilden.  —  Etwas  Ähnliches  ergiebt  sich  für 
den  einzelnen  Menschen;  selten  ist  eine  Entartung,  eine 
Verstümmelung,  selbst  ein  Laster  und  überhaupt  eine 
körperliche  oder  sittliche  Einbusse  ohne  einen  Vortheil 
auf  einer  andern  Seite.  Der  kränkere  Mensch  zum 
Beispiel  wird  vielleicht,  inmitten  eines  kriegerischen  und 
unruhigen  Stammes,  mehr  Veranlassung  haben,  für  sich 
zu  sein  und  dadurch  ruhiger  und  weiser  zu  werden,  der 
Einäugige  wird  Ein  stärkeres  Auge  haben,  der  Blinde 
wird  tiefer  in's  Innere  schauen  und  jedenfalls  schärfer 
hören.  Insofern  scheint  mir  der  berühmte  Kampf  um's 
Dasein  nicht  der  einzige  Gesichtspunkt  zu  sein,  aus  dem 
das  Fortschreiten  oder  Stärkerwerden  eines  Menschen, 
einer  Rasse  erklärt  werden  kann.  Vielmehr  muss  zweierlei 
zusammen  kommen:  einmal  die  Mehrung  der  stabilen 
Kraft  durch  Bindung  der  Geister  im  Glauben  und  Ge- 
meingefühl; sodann  die  Möglichkeit  zu  höheren  Zielen 
zu  gelangen,  dadurch  dass  entartende  Naturen  und,  in 
Folge  derselben,  theilweise  Schwächungen  und  Verwun- 
dungen der  stabilen  Kraft  vorkommen;  gerade  die 
schwächere  Natur,  als  die  zartere  und  freiere,  macht 
alles  Fortschreiten  überhaupt  möglich.  Ein  Volk,  das 
irgendwo  anbröckelt  und  schwach  wird,  aber  im  Ganzen 
noch  stark  und  gesund  ist,  vermag  die  Infection  des 
Neuen  aufzunehmen  und  sich  zum  Vortheil  einzuverleiben. 
Bei  dem  einzelnen  Menschen  lautet  die  Aufgabe  der  Er- 


—      213      — 

Ziehung  so:  ihn  so  fest  und  sicher  hinzustellen,  dass  et 
als  Ganzes  gar  nicht  mehr  aus  seiner  Bahn  abgelenkt 
werden  kann.  Dann  aber  hat  der  Erzieher  ihm  Wunden 
beizubringen  oder  die  Wunden,  welche  das  Schicksal 
ihm  schlägt,  zu  benutzen,  und  wenn  so  der  Schmerz  und 
das  Bedürfniss  entstanden  sind,  so  kann  auch  in  die  ver- 
wundeten Stellen  etwas  Neues  und  Edles  inoculirt  werden. 
Seine  gesammte  Natur  wird  es  in  sich  hinein  nehmen  und 
später,  in  ihren  Früchten,  die  Veredelung  spüren  lassen. 
—  Was  den  Staat  betrifft,  so  sagt  Macchiavelli,  dass 
„die  Form  der  Regierungen  von  sehr  geringer  Bedeutung 
ist,  obgleich  halbgebildete  Leute  anders  denken.  Das 
grosse  Ziel  der  Staatskunst  sollte  Dauer  sein,  welche 
alles  Andere  aufwiegt,  indem  sie  weit  werthvoUer  ist 
als  Freiheit".  Nur  bei  sicher  begründeter  und  verbürgter 
grösster  Dauer  ist  stätige  Entwickelung  und  veredelnde 
Inoculation  überhaupt  möglich.  Freilich  wird  gewöhnlich 
die  gefahrliche  Genossin  aller  Dauer,  die  Autorität,  sich 
dagegen  wehren. 

225. 

Freigeist  ein  relativer  Begriff.  —  Man  nennt 
Den  einen  Freigeist,  welcher  anders  denkt,  als  man  von 
ihm  auf  Grund  seiner  Herkunft  Umgebung,  seines 
Standes  und  Amtes  oder  auf  Grund  der  herrschenden 
Zeitansichten  erwartet  Er  ist  die  Ausnahme,  die  ge- 
bundenen Geister  sind  die  Regel;  diese  werfen  ihm  vor, 
dass  seine  freien  Grundsätze  ihren  Ursprung  entweder 
in  der  Sucht  aufzufallen  haben,  oder  gar  auf  freie  Hand- 
lungen, das  heisst  auf  solche,  welche  mit  der  gebundenen 
Moral  unvereinbar  sind,  schliessen  lassen.  Bisweilen  sagt 
man  auch,  diese  oder  jene  freien  Grundsätze  seien  aus 
Verschrobenheit  und  Überspanntheit  des  Kopfes   herzu- 


214       — 

leiten;  doch  spricht  so  nur  die  Bosheit,  welche  selber  an 
Das  nicht  glaubt,  was  sie  sagt,  aber  damit  schaden  will: 
denn  das  Zeugniss  für  die  grössere  Güte  und  Schärfe 
seines  Intellects  ist  dem  Freigeist  gewöhnlich  in's  Ge- 
sicht geschrieben,  so  lesbar,  dass  es  die  gebundenen 
Geister  gut  genug  verstehen.  Aber  die  beiden  andern 
Ableitungen  der  Freigeisterei  sind  redlich  gemeint;  in 
der  That  entstehen  auch  viele  Freigeister  auf  die  eine 
oder  die  andere  Art  Desshalb  könnten  aber  die  Sätze, 
zu  denen  sie  auf  jenen  Wegen  gelangten,  doch  wahrer 
und  zuverlässiger  sein  als  die  der  gebundenen  Geister. 
Bei  der  Erkenntniss  der  Wahrheit  kommt  es  darauf  an, 
dass  man  sie  hat,  nicht  darauf,  aus  welchem  Antriebe 
man  sie  gesucht,  auf  welchem  Wege  man  sie  gefunden 
hat.  Haben  die  Freigeister  Recht,  so  haben  die  ge- 
bundenen Geister  Unrecht,  gleichgültig,  ob  die  ersteren 
aus  Unmoralität  zur  Wahrheit  gekommen  sind,  die  an- 
deren aus  Moralität  bisher  an  der  Unwahrheit  festge- 
halten haben.  —  Übrigens  gehört  es  nicht  zum  Wesen 
des  Freigeistes,  dass  er  richtigere  Ansichten  hat,  sondern 
vielmehr  dass  er  sich  von  dem  Herkömmlichen  gelöst 
hat,  sei  es  mit  Glück  oder  mit  einem  Misserfolge.  Für 
gewöhnlich  wird  er  aber  doch  die  Wahrheit  oder  min- 
destens den  Geist  der  Wahrheitsforschung  auf  seiner  Seite 
haben:  er  fordert  Gründe,  die  Anderen  Glauben. 


226. 

Herkunft  des  Glaubens.  —  Der  gebundene  Geist 
nimmt  seine  Stellung  nicht  aus  Gründen  ein,  sondern  aus 
Gewöhnung;  er  ist  zum  Beispiel  Christ,  nicht  weil  er  die 
Einsicht  in  die  verschiednen  Religionen  und  die  Wahl 
zwischen  ihnen  gehabt  hätte,  er  ist  Engländer,  nicht  weil 


21 


er  sich  für  England  entschieden  hat.  sondern  er  fand  das 
Christenthum  und  das  Engländerthum  vor  und  nahm  sie 
an  ohne  Gründe,  wie  Jemand,  der  in  einem  Weinlande 
geboren  wurde,  ein  Weintrinker  wird.  Später,  als  er 
Christ  und  Engländer  war,  hat  er  vielleicht  auch  einige 
Gründe  zu  Gunsten  seiner  Gewöhnung  ausfindig  ge- 
macht; man  mag  diese  Gründe  umwerfen,  damit  wirft 
man  ihn  in  seiner  ganzen  Stellung  nicht  um.  Man 
nöthige  zum  Beispiel  einen  gebundenen  Geist,  seine 
Gründe  gegen  die  Bigamie  vorzubringen,  dann  wird  man 
erfahren,  ob  sein  heiliger  Eifer  für  die  Monogamie  auf 
Gründen  oder  auf  Angewöhnung  beruht.  Angewöhnung 
geistiger  Grundsätze  ohne  Gründe  nennt  man  Glauben. 


227. 

Aus  den  Folgen  auf  Grund  und  Ungrund 
zurückgeschlossen.  —  Alle  Staaten  und  Ordnungen 
der  Gesellschaft:  die  Stände,  die  Ehe,  die  Erziehung,  das 
Recht,  alles  diess  hat  seine  Kraft  und  Dauer  allein  in 
dem  Glauben  der  gebundenen  Geister  an  sie»  —  also  in 
der  Abwesenheit  der  Gründe,  mindestens  in  der  Abwehr 
des  Fragens  nach  Gründen.  Das  wollen  die  gebundenen 
Geister  nicht  gern  zugeben  und  sie  fohlen  wohl,  dass  es 
ein  pudendum  ist.  Das  Christenthum,  das  sehr  unschuldig 
in  seinen  intellectuellen  Einfällen  war,  merkte  von  diesem 
pudendum  Nichts,  forderte  Glauben  und  Nichts  als 
Glauben  und  wies  das  Verlangen  nach  Gründen  mit 
Leidenschaft  ab;  es  zeigte  auf  den  Erfolg  des  Glaubens 
hin:  ihr  werdet  den  Vortheil  des  Glaubens  schon  spüren, 
deutete  es  an,  ihr  sollt  durch  ihn  selig  werden.  That- 
sächlich  verfährt  der  Staat  ebenso,  und  jeder  Vater  erzieht 
in  gleicher  Weise  seinen  Sohn:  halte  diess  nur  für  wahr, 


—       2l6       — 

sagt  er,  du  wirst  spüren,  wie  gnt  diess  thut.  Diess  be- 
deutet aber,  dass  aus  dem  persönlichen  Nutzen,  den 
eine  Meinung  einträgt,  ihre  Wahrheit  erwiesen  werden 
soll;  die  Zuträglichkeit  einer  Lehre  soll  für  die  intellec- 
tuelle  Sicherheit  und  Begründetheit  Gewähr  leisten.  Es 
ist  diess  so,  wie  wenn  der  Angeklagte  vor  Gericht 
spräche;  mein  Vertheidiger  sag^  die  ganze  Wahrheit, 
denn  seht  nur  zu,  was  aus  seiner  Rede  folgt:  ich  werde 
freigesprochen.  —  Weil  die  gebundenen  Geister  ihre 
Grundsätze  ihres  Nutzens  wegen  haben,  so  vermuthen 
sie  auch  beim  Freigeist,  dass  er  mit  seinen  Ansichten 
ebenfalls  seinen  Nutzen  suche  und  nur  Das  für  wahr 
halte,  was  ihm  gerade  frommt.  Da  ihm  aber  das  Ent- 
gegengesetzte von  dem  zu  nützen  scheint,  was  seinen 
Landes-  oder  Standesgenossen  nützt,  so  nehmen  diese 
an,  dass  seine  Grundsätze  ihnen  gefährlich  sind;  sie 
sagen  oder  fühlen:  er  darf  nicht  Recht  haben,  denn  er 
ist  uns  schädlich. 

228. 

Der  starke,  gute  Charakter.  —  Die  Gebundenheit 
der  Ansichten,  durch  Gewöhnung  zum  Instinct  geworden, 
führt  zu  Dem,  was  man  Charakterstärke  nennt.  Wenn 
Jemand  aus  wenigen,  aber  immer  aus  den  gleichen  Mo- 
tiven handelt,  so  erlangen  seine  Handlungen  eine  grosse 
Energie;  stehen  diese  Handlungen  im  Einklänge  mit 
den  Grundsätzen  der  gebundenen  Geister,  so  werden  sie 
anerkannt  und  erzeugen  nebenbei  in  Dem,  der  sie  thut, 
die  Empfindung  des  guten  Gewissens.  Wenige  Motive, 
energisches  Handeln  und  gutes  Gewissen  machen  Das 
aus,  was  man  Charakterstärke  nennt.  Dem  Charakter- 
starken  fehlt  die  Kenntniss  der  vielen  Möglichkeiten  und 
Richtungen   des  Handelns;   sein  Intellect  ist  unfrei,   ge- 


—       217       — 

bunden,  weil  er  ihm  in  einem  gegebenen  Falle  vielleicht 
nur  zwei  Möglichkeiten  zeigt;  zwischen  diesen  muss  er 
jetzt,  gemäss  seiner  ganzen  Natur,  mit  Nothwendigkeit 
wählen,  und  er  thut  diess  leicht  und  schnell,  weil  er 
nicht  zwischen  fünfzig  Möglichkeiten  zu  wählen  hat  Die 
erziehende  Umgebung  will  jeden  Menschen  unfrei  machen, 
indem  sie  ihm  immer  die  geringste  Zahl  von  Möglich- 
keiten vor  Augen  stellt.  Das  Individuum  wird  von  seinen 
Erziehern  behandelt,  als  ob  es  zwar  etwas  Neues  sei, 
aber  eine  Wiederholung  werden  solle.  Erscheint  der 
Mensch  zunächst  als  etwas  Unbekanntes ,  nie  Dage- 
wesenes, so  soll  er  zu  etwas  Bekanntem,  Dagewesenem 
gemacht  werden.  Einen  guten  Charakter  nennt  man  an 
einem  Kinde  das  Sichtbarwerden  der  Gebundenheit  durch 
das  Dagewesene;  indem  das  Kind  sich  auf  die  Seite 
der  gebundenen  Geister  stellt,  bekundet  es  zuerst  seinen 
erwachenden  Gemeinsinn;  auf  der  Grundlage  dieses  Ge- 
meinsinns aber  wird  es  später  seinem  Staate  oder  Stande 
nützhch. 

229. 

Maass  der  Dinge  bei  den  gebundenen 
Geistern.  —  Von  vier  Gattungen  der  Dinge  sagen  die 
gebundenen  Geister,  sie  seien  im  Rechte.  Erstens:  alle 
Dinge,  welche  Dauer  haben,  sind  im  Recht;  zweitens: 
alle  Dinge,  welche  uns  nicht  lästig  fallen,  sind  im  Recht; 
drittens:  alle  Dinge,  welche  uns  Vortheil  bringen,  sind 
im  Recht;  viertens:  alle  Dinge,  für  welche  wir  Opfer 
gebracht  haben,  sind  im  Recht.  Letzteres  erklärt  zum 
Beispiel,  wesshalb  ein  Krieg,  der  wider  Willen  des  Volkes 
begonnen  wurde,  mit  Begeisterung  fortgeführt  wird,  so- 
bald erst  Opfer  gebracht  sind.  —  Die  Freigeister,  welche 
ihre    Sache    vor    dem    Forum    der    gebundenen    Geister 


—       2l8       — 

führen,  haben  nachzuweisen,  dass  es  immer  Freigeister 
gegeben  hat,  also  dass  die  Freigeisterei  Dauer  hat,  so- 
dann, dass  sie  nicht  lästig  fallen  wollen,  und  endlich, 
dass  sie  den  gebundenen  Geistern  im  Ganzen  Vortheil 
bringen ;  aber  weil  sie  von  diesem  Letzten  die  gebundenen 
Geister  nicht  überzeugen  können,  nützt  es  ihnen  nichts, 
den  ersten  und  zweiten  Punkt  bewiesen  zu  haben. 


230. 

Esprit  fort.  — Verglichen  mit  Dem,  welcher  das 
Herkommen  auf  seiner  Seite  hat  und  keine  Gründe  für 
sein  Handeln  braucht,  ist  der  Freigeist  immer  schwach, 
namentlich  im  Handeln;  denn  er  kennt  zu  viele  Motive 
und  Gesichtspunkte  und  hat  desshalb  eine  unsichere, 
ungeübte  Hand.  Welche  Mittel  giebt  es  nun,  um  ihn 
doch  verhältnissmässig  stark  zu  machen,  so  dass  er 
sich  wenigstens  durchsetzt  und  nicht  wirkungslos  zu 
Grunde  geht?  Wie  entsteht  der  starke  Geist  (esprit  fort)? 
Es  ist  diess  in  einem  einzelnen  Falle  die  Frage  nach  der 
Erzeugung  des  Genius.  Woher  kommt  die  Energie,  die 
unbeugsame  Kraft,  die  Ausdauer,  mit  welcher  der  Ein- 
zelne, dem  Herkommen  entgegen,  eine  ganz  individuelle 
Erkenntniss  der  Welt  zu  erwerben  trachtet? 


231. 

Die  Entstehung  des  Genie's.  —  Der  Witz  des 
Gefangenen,  mit  welchem  er  nach  Mitteln  zu  seiner  Be- 
freiung sucht,  die  kaltblütigste  und  langwierigste  Be- 
nützung jedes  kleinsten  Vortheils  kann  lehren,  welcher 
Handhabe  sich  mitunter  die  Natur  bedient,  um  das  Genie 
—    ein  Wort,    das   ich  bitte,  ohne  allen   mythologischen 


219      — 

und  religiösen  Beigeschmack  zu  verstehen  —  zu  Stande 
zu  bringen:  sie  fängt  es  in  einen  Kerker  ein  und  reizt 
seine  Begierde,  sich  zu  befreien,  auf  das  äusserste.  — 
Oder  mit  einem  anderen  Bilde:  Jemand,  der  sich  auf 
seinem  Wege  im  Walde  völlig  verirrt  hat,  aber  mit  un- 
gemeiner Energie  nach  irgend  einer  Richtung  hin  in's 
Freie  strebt,  entdeckt  mitunter  einen  neuen  Weg,  welchen 
Niemand  kennt:  so  entstehen  die  Genies,  denen  man 
Originalität  nachrühmt.  —  Es  wurde  schon  erwähnt,  dass 
eine  Verstümmelung,  Verkrüppelung ,  ein  erheblicher 
Mangel  eines  Organs  häufig  die  Veranlassung  dazu  giebt, 
dass  ein  anderes  Organ  sich  ungewöhnlich  gut  entwickelt, 
weil  es  seine  eigene  Function  und  noch  eine  andere  zu 
versehen  hat.  Hieraus  ist  der  Ursprung  mancher  glän- 
zenden Begabung  zu  errathen.  —  Aus  diesen  allge- 
meinen Andeutungen  über  die  Entstehung  des  Genius 
mache  man  die  Anwendung  auf  den  speciellen  Fall,  die 
Entstehung  des  vollkommenen  Freigeistes. 


232. 

Vermuthung  über  den  Ursprung  der  P>ei- 
geisterei.  —  Ebenso  wie  die  Gletscher  zunehmen,  wenn 
in  den  Äquatorialgegenden  die  Sonne  mit  grösserer  Gluth 
als  früher  auf  die  Meere  niederbrennt,  so  mag  auch 
wohl  eine  sehr  starke,  um  sich  greifende  Freigeisterei 
Zeugniss  dafür  sein,  dass  irgendwo  die  Gluth  der  Em- 
pfindung ausserordentlich  gewachsen  ist 


233- 

Die  Stimme  der  Geschichte.  —  Im  Allgemeinen 
scheint  die  Geschichte  über  die  Erzeugung  des  Genius 


220       — 

folgende  Belehrung  zu  geben:  Misshandelt  und  quält  die 
Menschen  —  so  ruft  sie  den  Leidenschaften  Neid,  Hass 
und  Wetteifer  zu  —  treibt  sie  zum  Äussersten,  den  Einen 
wider  den  Andern,  das  Volk  gegen  das  Volk,  und  zwar 
durch  Jahrhunderte  hindurch!  Dann  flammt  vielleicht, 
gleichsam  aus  einem  bei  Seite  fliegenden  Funken  der 
dadurch  entzündeten  furchtbaren  Energie,  auf  Ein  Mal  das 
Licht  des  Genius  empor;  der  Wille,  wie  ein  Ross  durch 
den  Sporn  des  Reiters  wild  gemacht,  bricht  dann  aus 
und  springt  auf  ein  anderes  Gebiet  über.  —  Wer  zum 
Bewusstsein  über  die  Erzeugung  des  Genius  käme  und 
die  Art,  wie  die  Natur  gewöhnlich  dabei  verfährt,  auch 
praktisch  durchführen  wollte,  würde  gerade  so  böse  und 
rücksichtslos  wie  die  Natur  sein  müssen.  —  Aber  viel- 
leicht haben  wir  uns  verhört. 


234- 

Werth  der  Mitte  des  Wegs.  —  Vielleicht  ist 
die  Erzeugung  des  Genius  nur  einem  begrenzten  Zeit- 
räume der  Menschheit  vorbehalten.  Denn  man  darf  von 
der  Zukunft  der  Menschheit  nicht  zugleich  alles  Das  er- 
warten, was  ganz  bestimmte  Bedingungen  irgend  welcher 
Vergangenheit  allein  hervorzubringen  vermochten;  zum 
Beispiel  nicht  die  erstaunlichen  Wirkungen  des  religiösen 
Gefühls.  Dieses  selbst  hat  seine  Zeit  gehabt  und  vieles 
sehr  Gute  kann  nie  wieder  wachsen,  weil  es  allein  aus 
ihm  wachsen  konnte.  So  wird  es  nie  wieder  einen  reli- 
giös umgrenzten  Horizont  des  Lebens  und  der  Cultur 
geben.  Vielleicht  ist  selbst  der  Typus  des  Heiligen  nur 
bei  einer  gewissen  Befangenheit  des  Intellectes  möglich, 
mit  der  es,  wie  es  scheint,  für  alle  Zukunft  vorbei  ist 
Und  so  ist  die  Höhe  der  Intelligenz  vielleicht  einem  ein- 


—       221 


zelnen  Zeitalter  der  Menschheit  aufgespart  gewesen:  sie 
trat  hervor  —  und  tritt  hervor,  denn  wir  leben  noch  in 
diesem  Zeitalter,  —  als  eine  ausserordentliche,  lang  an- 
gesammelte Energie  des  Willens  sich  ausnahmsweise  auf 
geistige  Ziele  durch  Vererbung  übertrug.  Es  wird 
mit  jener  Höhe  vorbei  sein,  wenn  diese  Wildheit  und 
Energie  nicht  mehr  gross  gezüchtet  werden.  Die  Mensch- 
heit kommt  vielleicht  auf  der  Mitte  ihres  Weges,  in  der 
mittleren  Zeit  ihrer  Existenz,  ihrem  eigentlichen  Ziele 
näher  als  am  Ende.  Es  könnten  Kräfte,  durch  welche 
zum  Beispiel  die  Kunst  bedingt  ist,  geradezu  aussterben; 
die  Lust  am  Lügen,  am  Ungenauen,  am  Symbolischen, 
am  Rausche,  an  der  Ekstase  könnte  in  Missachtung 
kommen.  Ja,  ist  das  Leben  erst  im  vollkommenen  Staate 
geordnet,  so  ist  aus  der  Gegenwart  gar  kein  Motiv  zur 
Dichtung  mehr  zu  entnehmen,  und  es  würden  allein  die 
zurückgebliebenen  Menschen  sein,  welche  nach  dichter- 
ischer Unwirklichkeit  verlangten.  Diese  würden  dann 
jedenfalls  mit  Sehnsucht  rückwärts  schauen,  nach  den 
Zeiten  des  unvollkommenen  Staates,  der  halb-barbarischen 
Gesellschaft,  nach  unseren  Zeiten. 


235. 

Genius  und  idealer  Staat  in  Widerspruch.  — 
Die  Socialisten  begehren  für  möglichst  Viele  ein  Wohl- 
leben herzustellen.  Wenn  die  dauernde  Heimath  dieses 
Wohllebens,  der  vollkommene  Staat,  wirklich  erreicht 
wäre,  so  würde  durch  dieses  Wohlleben  der  Erdboden, 
aus  dem  der  grosse  Intellect  und  überhaupt  das  mächtige 
Individuum  wächst,  zerstört  sein:  ich  meine  die  starke 
Energie.  Die  Menschheit  würde  zu  matt  geworden  sein, 
wenn  dieser  Staat  erreicht  ist,  um  den  Genius  noch  er- 


222 


zeugen  zu  können.  Alüsste  man  somit  nicht  wünschen, 
dass  das  Leben  seinen  gewaltsamen  Charakter  behalte 
und  dass  immer  von  Neuem  wieder  wilde  Kräfte  und 
Energien  hervorgerufen  würden?  Nun  will  das  warme, 
mitfühlende  Herz  gerade  die  Beseitigung  jenes  gewalt- 
samen und  wilden  Charakters,  und  das  wärmste  Herz, 
das  man  sich  denken  kann,  würde  eben  darnach  am 
leidenschaftlichsten  verlangen:  während  doch  gerade  seine 
Leidenschaft  aus  jenem  wilden  und  gewaltsamen  Charak- 
ter des  Lebens  ihr  Feuer,  ihre  Wärme,  ja  ihre  Existenz 
genommen  hat;  das  wärmste  Herz  will  also  Beseitigung 
seines  Fundamentes,  Vernichtung  seiner  selbst,  das  heisst 
doch:  es  will  etwas  Unlogisches,  es  ist  nicht  intelligent. 
Die  höchste  Intelligenz  und  das  wärmste  Herz  können 
nicht  in  Einer  Person  beisammen  sein,  und  der  Weise, 
welcher  über  das  Leben  das  Urtheil  spricht,  stellt  sich 
auch  über  die  Güte  und  betrachtet  diese  nur  als  Etwas, 
das  bei  der  Gesammtrechnung  des  Lebens  mit  abzu- 
schätzen ist.  Der  Weise  muss  jenen  ausschweifenden 
Wünschen  der  unintelligenten  Güte  widerstreben,  weil 
ihm  an  dem  Fortleben  seines  Typus  und  an  dem  end- 
lichen Entstehen  des  höchsten  Intellects  gelegen  ist; 
mindestens  wird  er  der  Begründung  des  „vollkommenen 
Staates"  nicht  förderlich  sein,  insofern  in  ihm  nur  ermattete 
Individuen  Platz  haben.  Christus  dagegen,  den  wir  uns 
einmal  als  das  wärmste  Herz  denken  wollen ,  förderte 
die  Verdummung  der  Menschen,  stellte  sich  auf  die  Seite 
der  geistig  Armen  und  hielt  die  Erzeugung  des  grössten 
Intellectes  auf:  und  diess  war  consequent.  Sein  Gegen- 
bild, der  vollkommene  Weise  —  diess  darf  man  wohl 
vorhersagen  —  wird  ebenso  nothwendig  der  Erzeugung 
eines  Christus  hinderlich  sein.  —  Der  Staat  ist  eine  kluge 
Veranstaltung    zum   Schutz    der    Individuen    gegen    ein- 


-        223        — 

ander:  übertreibt  man  seine  Veredelung,  so  wird  zuletzt 
das  Individuum  durch  ihn  geschwächt,  ja  aufgelöst  — 
also  der  ursprüngliche  Zweck  des  Staates  am  gründ- 
lichsten vereitelt 

236. 

Die  Zonen  der  Cultur.  —  Man  kann  gleichniss- 
weise sagen,  dass  die  Zeitalter  der  Cultur  den  Gürteln 
der  verschiedenen  Klimata  entsprechen,  nur  dass  diese 
hinter  einander  und  nicht,  wie  die  geographischen  Zonen, 
neben  einander  liegen.  In  Vergleich  mit  der  gemässigten 
Zone  der  Cultur ,  in  welche  überzugehen  unsere  Aufgabe 
ist,  macht  die  vergangene  im  Ganzen  Grossen  den  Ein- 
druck eines  tropischen  Klima's.  Gewaltsame  Gegen- 
sätze, schroffer  Wechsel  von  Tag  und  Nacht,  Gluth  und 
Farbenpracht,  die  Verehrung  alles  Plötzlichen  Geheim- 
nissvollen Schrecklichen,  die  Schnelligkeit  der  herein- 
brechenden Unwetter,  überall  das  verschwenderische 
Überströmen  der  Füllhörner  der  Natur:  und  dagegen, 
in  unserer  Cultur,  ein  heller,  doch  nicht  leuchtender 
Himmel,  reine  ziemlich  gleich  verbleibende  Luft,  Schärfe, 
ja  Kälte  gelegentlich:  so  heben  sich  beide  Zonen  gegen 
einander  ab.  Wenn  wir  dort  sehen,  wie  die  wüthendsten 
Leidenschaften  durch  metaphysische  Vorstellungen  mit 
unheimlicher  Gewalt  niedergerungen  und  zerbrochen  wer- 
den, so  ist  es  uns  zu  Muthe,  als  ob  vor  unseren  Augen 
in  den  Tropen  wilde  Tiger  unter  den  Windungen  unge- 
heurer Schlangen  zerdrückt  würden ;  unserem  geistigen 
Klima  fehlen  solche  Vorkommnisse,  unsre  Phantasie  ist 
gemässigt,  selbst  im  Traume  kommt  uns  Das  nicht  bei, 
was  frühere  Völker  im  Wachen  sahen.  Aber  sollten  wir 
über  diese  Veränderung  nicht  glücklich  sein  dürfen,  selbst 
zugegeben,   dass   die   Künstler  durch   das  Verschwinden 


—       224       — 

der  tropischen  Cultur  wesentlich  beeinträchtigt  sind  und 
uns  Nicht-Künstler  ein  wenig  zu  nüchtern  finden?  Inso- 
fern haben  Künstler  wohl  das  Recht,  den  „Fortschritt" 
zu  leugnen,  denn  in  der  That:  ob  die  letzten  drei  Jahr- 
tausende in  den  Künsten  einen  fortschreitenden  Verlauf 
zeigen,  das  lässt  sich  mindestens  bezweifeln;  ebenso  wird 
ein  metaphysischer  Philosoph  wie  Schopenhauer  keinen 
Anlass  haben  den  Fortschritt  zu  erkennen,  wenn  er  die 
letzten  vier  Jahrtausende  in  Bezug  auf  metaphysische 
Philosophie  und  Religion  überblickt.  —  Uns  gilt  aber 
die  Existenz  der  gemässigten  Zone  der  Cultur  selbst 
als  Fortschritt. 

237- 

Renaissance  und  Reformation.  —  Die  italiä- 
nische  Renaissance  barg  in  sich  alle  die  positiven  Ge- 
walten, welchen  man  die  moderne  Cultur  verdankt:  also 
Befreiung  des  Gedankens,  Missachtung  der  Autoritäten, 
Sieg  der  Bildung  über  den  Dünkel  der  Abkunft,  Be- 
geisterung für  die  Wissenschaft  und  die  wissenschaftliche 
Vergangenheit  der  Menschen,  Entfesselung  des  Indivi- 
duums, eine  Gluth  der  Wahrhaftigkeit  und  Abneigung 
gegen  Schein  und  blossen  Effect  (welche  Gluth  in  einer 
ganzen  Fülle  künstlerischer  Charaktere  hervorloderte,  die 
Vollkommenheit  in  ihren  Werken  und  Nichts  als  Voll- 
kommenheit mit  höchster  sittlicher  Reinheit  von  sich 
forderten);  ja  die  Renaissance  hatte  positive  Kräfte, 
welche  in  unserer  bisherigen  modernen  Cultur  noch 
nicht  wieder  so  mächtig  geworden  sind.  Es  war  das 
goldene  Zeitalter  dieses  Jahrtausends,  trotz  allen  Flecken 
und  Lastern.  Dagegen  hebt  sich  nun  die  deutsche  Refor- 
mation ab  als  ein  energischer  Protest  zurückgebliebener 
Geister,  welche  die  Weltanschauung  des  Mittelalters  noch 


—       225       — 

keineswegs  satt  hatten  und  die  Zeichen  seiner  Auflösung, 
die  ausserordentliche  Verflachung  und  Veräusserlichung 
des  religiösen  Lebens,  statt  mit  Frohlocken,  wie  sich 
gebührt,  mit  tiefem  Unmuthe  empfanden.  Sie  warfen  mit 
ihrer  nordischen  Kraft  und  Halsstarrigkeit  die  Menschen 
wieder  zurück ,  erzwangen  die  Gegenreformation ,  das 
heisst  ein  katholisches  Christenthum  der  Nothwehr,  mit 
den  Gewaltsamkeiten  eines  Belagerungszustandes,  und 
verzögerten  um  zwei  bis  drei  Jahrhunderte  ebenso  das 
völlige  Erwachen  und  Herrschen  der  Wissenschaften,  als 
sie  das  völlige  In-Eins- Verwachsen  des  antiken  und  des 
modernen  Geistes  vielleicht  für  immer  unmöglich  machten. 
Die  grosse  Aufgabe  der  Renaissance  konnte  nicht  zu 
Ende  gebracht  werden,  der  Protest  des  inzwischen  zurück- 
gebliebenen deutschen  Wesens  (welches  im  Mittelalter 
Vernunft  genug  gehabt  hatte ,  um  immer  und  immer 
wieder  zu  seinem  Heile  über  die  Alpen  zu  steigen) 
verhinderte  diess.  Es  lag  in  dem  Zufall  einer  ausser- 
ordentlichen Constellation  der  Politik,  dass  damals  Luther 
erhalten  blieb  und  jener  Protest  Kraft  gewann:  denn 
der  Kaiser  schützte  ihn,  um  seine  Neuerung  gegen  den 
Papst  als  Werkzeug  des  Druckes  zu  verwenden,  und 
ebenfalls  begünstigte  ihn  im  Stillen  der  Papst,  um  die 
protestantischen  Reichsfürsten  als  Gegengewicht  gegen 
den  Kaiser  zu  benutzen.  Ohne  diess  seltsame  Zusammen- 
spiel der  Absichten  wäre  Luther  verbrannt  worden  wie 
Huss  —  und  die  Morgenröthe  der  Aufklärung  vielleicht 
etwas  früher  und  mit  schönerem  Glänze,  als  wir  jetzt 
ahnen  können,  aufgegangen. 

238. 
Gerechtigkeit  gegen   den   werdenden  Gott 
—  Wenn  sich  die  ganze  Geschichte  der  Cultur  vor  den 

Nietzsche.   Wprkp  B.in  I   H.  [p 


226       

Blicken  aufthut,  als  ein  Gewirr  von  bösen  und  edlen, 
wahren  und  falschen  Vorstellungen,  und  es  Einem  beim 
Anblick  dieses  Wellenschlags  fast  seekrank  zu  Muthe 
wird,  so  begreift  man,  was  für  ein  Trost  in  der  Vorstellung 
eines  werdenden  Gottes  liegt:  dieser  enthüllt  sich 
immer  mehr  in  den  Verwandlungen  und  Schicksalen 
der  Menschheit,  es  ist  nicht  Alles  blinde  Mechanik,  sinn- 
und  zweckloses  Durcheinanderspielen  von  Kräften.  Die 
Vergottung  des  Werdens  ist  ein  metaphysischer  Aus- 
blick —  gleichsam  von  einem  Leuchtthurm  am  Meere 
der  Geschichte  herab  — ,  an  welchem  eine  allzuviel 
historisirende  Gelehrtengeneration  ihren  Trost  fand;  dar- 
über darf  man  nicht  böse  werden,  so  irrthümlich  jene 
Vorstellung  auch  sein  mag.  Nur  wer  wie  Schopenhauer 
die  Entwicklung  leugnet,  fühlt  auch  Nichts  von  dem 
Elend  dieses  historischen  Wellenschlags  und  darf  dess- 
halb,  weil  er  von  jenem  werdenden  Gotte  und  dem 
Bedürfniss  seiner  Annahme  Nichts  weiss,  Nichts  fühlt, 
billigerweise  seinen  Spott  auslassen. 


239. 

Die  Früchte  nach  der  Jahreszeit.  —  Jede  bessere 
Zukunft,  welche  man  der  Menschheit  anwünscht,  ist  noth- 
wendi gerweise  auch  in  manchem  Betracht  eine  schlechtere 
Zukunft:  denn  es  ist  Schwärmerei  zu  glauben,  dass  eine 
höhere  neue  Stufe  der  Menschheit  alle  die  Vorzüge 
früherer  Stufen  in  sich  vereinigen  werde  und  zum  Bei- 
spiel auch  die  höchste  Gestaltung  der  Kunst  erzeugen 
müsse.  Vielmehr  hat  jede  Jahreszeit  ihre  Vorzüge  und 
Reize  für  sich  und  schliesst  die  der  anderen  aus.  Das, 
was  aus  der  Religion  und  in  ihrer  Nachbarschaft  ge- 
wachsen  ist,   kann    nicht   wieder   wachsen,    wenn    diese 


227        

zerstört  ist;  höchstens  können  verirrte,  spät  kommende 
Absenker  zur  Täuschung  darüber  verleiten,  ebenso  wie 
die  zeitweilig  ausbrechende  Erinnerung  an  die  alte  Kunst: 
ein  Zustand,  der  wohl  .das  Gefühl  des  Verlustes,  der 
Entbehnmg  verräth,  aber  kein  Beweis  für  die  Kraft  ist, 
aus  der  eine  neue  Kunst  geboren  werden  könnte. 

240. 

Zunehmende  Severität  der  Welt  —  Je  höher 
die  Cultur  eines  Menschen  steigt,  um  so  mehr  Gebiete 
entziehen  sich  dem  Scherze,  dem  Spotte.  Voltaire  war 
für  die  Erfindung  der  Ehe  und  der  Kirche  von  Herzen 
dem  Himmel  dankbar:  als  welcher  damit  so  gut  für 
unsere  Aufheiterung  gesorgt  habe.  Aber  er  und  seine 
Zeit,  und  vor  ihm  das  sechzehnte  Jahrhundert,  haben 
diese  Themen  zu  Ende  gespottet;  es  ist  Alles,  was  jetzt 
Einer  auf  diesem  Gebiete  noch  witzelt,  verspätet  und 
vor  Allem  gar  zu  wohlfeil,  als  dass  es  die  Käufer  be- 
gehrlich machen  könnte.  Jetzt  fragt  man  nach  den 
Ursachen;  es  ist  das  Zeitalter  des  Ernstes.  Wem  liegt 
jetzt  noch  daran,  die  Differenzen  zwischen  Wirklichkeit 
und  anspruchsvollem  Schein,  zwischen  dem,  was  der 
Mensch  ist  und  was  er  vorstellen  will,  in  scherzhaftem 
Lichte  zu  sehen;  das  Gefühl  dieser  Contraste  wirkt  als- 
bald ganz  anders,  wenn  man  nach  den  Grründen  sucht. 
Je  gründUcher  Jemand  das  Leben  versteht,  um  so  weniger 
wird  er  spotten,  nur  dass  er  zuletzt  vielleicht  noch  über 
die  „Gründlichkeit  seines  Verstehens"  spottet 

241. 
Genius  der  Cultur.  —  Wenn  Jemand  einen  Genius 
der  Cultur  imaginiren  wollte,  wie  würde  dieser  beschaffen 

»5* 


—       228       — 

sein?  Er  handhabt  die  Lüge,  die  Gewalt,  den  rücksichts- 
losesten Eigennutz  so  sicher  als  seine  Werkzeuge,  dciss 
er  nur  ein  böses  dämonisches  Wesen  zu  nennen  wäre; 
aber  seine  Ziele,  welche  hier  und  da  durchleuchten,  sind 
gross  und  gut.  Es  ist  ein  Centaur,  halb  Thier,  halb 
Mensch,  und  hat  noch  Engelsflügel  dazu  am  Haupte. 


242. 

Wunder-Erziehung.  —  Das  Interesse  an  der  Er- 
ziehung wird  erst  von  dem  Augenblick  an  grosse  Stärke 
bekommen,  wo  man  den  Glauben  an  einen  Gott  und 
seine  Fürsorge  aufgiebt:  ebenso  wie  die  Heilkunst  erst 
erblühen  konnte,  als  der  Glaube  an  Wunderkuren  auf- 
hörte. Bis  jetzt  glaubt  aber  alle  Welt  noch  an  die 
Wunder -Erziehung:  aus  der  grössten  Unordnung,  Ver- 
worrenheit der  Ziele,  Ungunst  der  Verhältnisse  sah  man 
ja  die  fruchtbarsten  mächtigsten  Menschen  erwachsen: 
wie  konnte  diess  doch  mit  rechten  Dingen  zugehen?  — 
Jetzt  wird  man  bald  auch  in  diesen  Fällen  näher  zu- 
sehen, sorgsamer  prüfen:  Wunder  wird  man  dabei 
niemals  entdecken.  Unter  gleichen  Verhältnissen  gehen 
fortwährend  zahlreiche  Menschen  zu  Grunde,  das  ein- 
zelne gerettete  Individuum  ist  dafür  gewöhnlich  stärker 
geworden,  weil  es  diese*  schlimmen  Umstände  vermöge 
unverwüstlicher  eingeborener  Kraft  ertrug  und  diese 
Kraft  noch  geübt  und  vermehrt  hat:  so  erklärt  sich  das 
Wunder.  Eine  Erziehung,  welche  an  kein  Wunder  mehr 
glaubt,  wird  auf  dreierlei  zu  achten  haben:  erstens,  wie 
viel  Energie  ist  vererbt?  zweitens,  wodurch  kann  noch 
neue  Energie  entzündet  werden?  drittens,  wie  kann  das 
Individuum  jenen  so  überaus  vielartigen  Ansprüchen  der 
Cultur  angepasst  werden,  ohne  dass  diese  es  beunruhigen 


■  -       229       — 

und  seine  Einartigkeit  zersplittern  —  kurz,  wie  kann 
das  Individuum  in  den  Contrapunkt  der  privaten  und 
öffentlichen  Cultur  eingereiht  werden,  wie  kann  es  zu- 
gleich die  Melodie  führen  und  als  Melodie  begleiten? 


243- 

Die  Zukunft  des  Arztes.  —  Es  giebt  jetzt  keinen 
Beruf,  der  eine  so  hohe  Steigerung  zuliesse,  wie  der  des 
Arztes;  namentlich  nachdem  die  geistlichen  Ärzte,  die 
sogenannten  Seelsorger,  ihre  Beschwöiningskünste  nicht 
mehr  unter  öffentlichem  Beifalle  treiben  dürfen  und  ein 
Gebildeter  ihnen  aus  dem  Wege  geht.  Die  höchste 
geistige  Ausbildung  eines  Arztes  ist  jetzt  nicht  erreicht, 
wenn  er  die  besten  neuesten  Methoden  kennt  und  auf 
sie  eingeübt  ist  und  jene  fliegenden  Schlüsse  von  Wir- 
kungen auf  Ursachen  zu  machen  versteht,  derentwegen 
die  Diagnostiker  berühmt  sind;  er  muss  ausserdem  eine 
Beredsamkeit  haben,  die  sich  jedem  Individuum  anpasst 
und  ihm  das  Herz  aus  dem  Leibe  zieht,  eine  Männlich- 
keit, deren  Anblick  schon  den  ICleinmuth  (den  Wurmfrass 
aller  Kranken)  verscheucht,  eine  Diplomaten-Geschmeidig- 
keit im  Vermitteln  zwischen  Solchen,  welche  Freude  zu 
ihrer  Genesung  nöthig  haben  und  Solchen,  die  aus  Ge- 
sundheitsgründen Freude  machen  müssen  (und  es  können), 
die  Feinheit  eines  Polizeiagenten  und  Advocaten,  die  Ge- 
heimnisse einer  Seele  zu  verstehen,  ohne  sie  zu  ver- 
rathen,  —  kurz  ein  guter  Arzt  bedarf  jetzt  der  Kunst- 
griffe und  Kunstvorrechte  aller  anderen  Berufsclassen :  so 
ausgerüstet  ist  er  dann  im  Stande,  der  ganzen  Gesell- 
schaft ein  Wohlthäter  zu  werden,  durch  Vermehrung 
guter  Werke,  geistiger  Freude  und  Fruchtbarkeit,  durch 
Verhütung  von  bösen  Gedanken  Vorsätzen  Schurkereien 


—       230       — 

(deren  ekler  Quell  so  häufig  der  Unterleib  ist),  durch 
Herstellung  einer  geistig-leiblichen  Aristokratie  (als  Ehe- 
stifter und  Eheverhinderer),  durch  wohlwollende  Ab- 
schneidung aller  sogenannten  Seelenqualen  und  Ge- 
wissensbisse: so  erst  wird  er  aus  einem  „Medicinmann" 
ein  Heiland  und  braucht  doch  keine  Wunder  zu  thun; 
hat  auch  nicht  nöthig,  sich  kreuzigen  zu  lassen. 


244. 

In  der  Nachbarschaft  des  Wahnsinns.  —  Die 
Summe  der  Empfindungen  Kenntnisse  Erfahrungen,  also 
die  ganze  Last  der  Cultur,  ist  so  gross  geworden,  dass 
eine  Überreizung  der  Nerven-  und  Denkkräfte  die  all- 
gemeine Gefahr  ist,  ja  dass  die  cultivirten  Classen  der 
europäischen  Länder  durchweg  neurotisch  sind  und  fast 
jede  ihrer  grösseren  Familien  in  einem  Gliede  dem  Irr- 
sinn nahe  gerückt  ist.  Nun  kommt  man  zwar  der  Ge- 
sundheit jetzt  auf  alle  Weise  entgegen;  aber  in  der 
Hauptsache  bleibt  eine  Verminderung  jener  Spannung 
des  Gefühls,  jener  niederdrückenden  Cultur- Last  von 
Nöthen,  welche,  wenn  sie  selbst  mit  schweren  Einbussen 
erkauft  werden  sollte,  uns  doch  zu  der  grossen  Hoffnung 
einer  neuen  Renaissance  Spielraum  giebt.  Man  hat 
dem  Christenthum ,  den  Philosophen  Dichtern  Musikern 
eine  Überfülle  tief  erregender  Empfindungen  zu  danken: 
damit  diese  uns  nicht  überwuchern,  müssen  wir  den  Geist 
der  Wissenschaft  beschwören,  welcher  im  Ganzen  etwas 
kälter  und  skeptischer  macht  und  namentlich  den  Gluth- 
strom  des  Glaubens  an  letzte  endgültige  Wahrheiten  ab- 
kühlt; er  ist  vornehmlich  durch  das  Christenthum  so  wild 
geworden. 


231 


245- 
Glockenguss  der  Cultur.  —  Die  Cultur  ist  ent- 
standen wie  eine  Glocke,  innerhalb  eines  Mantels  von 
gröberem  gemeinen  Stoffe:  Unwahrheit  Gewaltsamkeit, 
unbegrenzte  Ausdehnung  aller  einzelnen  Ich's,  aller 
einzelnen  Völker,  waren  dieser  Mantel.  Ist  es  an  der 
Zeit,  ihn  jetzt  abzunehmen?  Ist  das  Flüssige  erstarrt, 
sind  die  guten  nützlichen  Triebe,  die  Gewohnheiten  des 
edleren  Gemüthes  so  sicher  und  allgemein  geworden, 
dass  es  keiner  Anlehnung  an  Metaphysik  und  die  Irr- 
thümer  der  Religionen  mehr  bedarf,  keiner  Härten  und 
Gewaltsamkeiten  als  mächtigster  Bindemittel  zwischen 
Mensch  und  Mensch,  Volk  und  Volk?  —  Zur  Beant- 
wortung dieser  Frage  ist  kein  Wink  eines  Gottes  uns 
mehr  hülfreich:  unsere  eigne  Einsicht  muss  da  ent- 
scheiden. Die  Erdregierung  des  Menschen  im  Grossen 
hat  der  Mensch  selber  in  die  Hand  zu  nehmen,  seine 
„Allwissenheit"  muss  über  dem  weiteren  Schicksal  der 
Cultur  mit  scharfem  Auge  wachen. 

246.  • 

Die  Cyclopen  der  Cultur.  —  Wer  jene  zerfurchten 
Kessel  sieht,  in  denen  Gletscher  gelagert  haben,  hält  es 
kaum  für  möglich,  dass  eine  Zeit  kommt,  wo  an  der- 
selben Stelle  ein  Wiesen-  und  Waldthal  mit  Bächen  darin 
sich  hinzieht.  So  ist  es  auch  in  der  Geschichte  der 
^lenschheit;  die  wildesten  Kräfte  brechen  Bahn,  zunächst 
zerstörend,  aber  trotzdem  war  ihre  Thätigkeit  nöthig, 
damit  später  eine  mildere  Gesittung  hier  ihr  Haus  auf- 
schlage. Die  schrecklichen  Energien  —  Das,  was  man 
das  Böse  nennt  —  sind  die  cyclopischen  Architekten 
und  Wegebauer   der  Humanität. 


232 


247- 

Kreislauf  des  Menschenthums.  —  Vielleicht 
ist  das  ganze  Menschthum  nur  eine  Entwicklungsphase 
einer  bestimmten  Thierart  von  begrenzter  Dauer:  so 
dass  der  Mensch  aus  dem  Affen  geworden  ist  und 
wieder  zum  Affen  werden  wird,  während  Niemand  da 
ist,  der  an  diesem  verwunderlichen  Komödien -Ausgang 
irgend  ein  Interesse  nehme.  So  wie  mit  dem  Verfallo 
der  römischen  Cultur  und  seiner  wichtigsten  Ursache,  der 
Ausbreitung  des  Christenthums,  eine  allgemeine  Verhäss- 
lichung  des  Menschen  innerhalb  des  römischen  Reiches 
überhand  nahm,  so  könnte  auch  durch  den  einstmaligen 
Verfall  der  allgemeinen  Erdcultur  eine  viel  höher  ge- 
steigerte Verhässlichung  und  endlich  Verthierung  des 
Menschen,  bis  in's  Affenhafte,  herbeigeführt  werden.  — 
Gerade  weil  wir  diese  Perspective  in's  Auge  fassen 
können,  sind  wir  vielleicht  im  Stande,  einem  solchen 
Ende  der  Zukunft  vorzubeugen. 

•  248. 

Trostrede  eines  desperaten  Fortschritts.  — 
Unsere  Zeit  macht  den  Eindruck  eines  Interim-Zustandes ; 
die  alten  Weltbetrachtungen,  die  alten  Culturen  sind  noch 
theilweise  vorhanden,  die*  neuen  noch  nicht  sicher  und 
gewohnheitsmässig  und  daher  ohne  Geschlossenheit  und 
Consequenz.  Es  sieht  aus,  als  ob  Alles  chaotisch  würde, 
das  Alte  verloren  gienge,  das  Neue  nichts  tauge  und 
immer  schwächlicher  werde.  Aber  so  geht  es  dem  Sol- 
daten, welcher  marschieren  lernt:  er  ist  eine  Zeit  lang 
unsicherer  und  unbeholfener  als  je,  weil  die  Muskeln 
bald  nach  dem  alten  System   bald    nach  dem  neuen  be- 


—      233     — 

wegt  werden  und  noch  keins  entscliieden  den  Sieg  be- 
hauptet. Wir  schwanken,  aber  es  ist  nötlüg,  dadurch 
nicht  ängstlich  zu  werden  und  das  Neu-Errungene  etwa 
preiszugeben.  Überdiess  können  wir  in's  Alte  nicht 
zurück,  wir  haben  die  Schiffe  verbrannt;  es  bleibt  nur 
übrig,  tapfer  zu  sein ,  mag  nun  dabei  diess  oder  jenes 
herauskommen.  —  Schreiten  wir  nur  zu,  kommen  wir 
nur  von  der  Stelle!  Vielleicht  sieht  sich  unser  Gebahren 
doch  einmal  wie  Fortschritt  an;  wenn  aber  nicht,  so 
mag  Friedrich's  des  Grossen  Wort  auch  zu  uns  gesagt 
sein  und  zwar  zum  Tröste:  Ak,  mon  eher  Sulzer,  vous 
ne  connaissez  pas  assez  cette  race  maudite,  ä  laquelle 
nous  appartenons. 

249. 

An  der  Vergangenheit  der  Cultur  leiden.  — 
Wer  sich  das  Problem  der  Cultur  klar  gemacht  hat, 
leidet  dann  an  einem  ähnlichen  Gefühle  wie  Der,  welcher 
einen  durch  unrechtmässige  Mittel  erworbenen  Reich- 
thum  ererbt  hat,  oder  wie  der  Fürst,  der  durch  Gewalt- 
that  seiner  Vorfahren  regiert.  Er  denkt  mit  Trauer  an 
seinen  Ursprung  und  ist  oft  beschämt,  oft  reizbar.  Die 
ganze  Summe  von  Kraft,  Lebenswillen,  Freude,  welche 
er  seinem  Besitze  zuwendet,  balancirt  sich  oft  mit  einer 
tiefen  Müdigkeit:  er  kann  seinen  Ursprung  nicht  ver- 
gessen. Die  Zukunft  sieht  er  wehmüthig  an:  seine  Nach- 
kommen, er  weiss  es  voraus,  werden  an  der  Vergangenheit 
leiden  wie  er. 

250. 

Manieren.  —  Die  guten  Manieren  verschwinden  in 
dem  Maasse,  in  welchem  der  Einfluss  des  Hofes  und  einer 
abgeschlossenen  Aristokratie  nachlässt;  man   kann    diese 


—      234      — 

Abnahme  von  Jahrzehend  zujahrzehend  deutlich  beobachten, 
wenn  man  ein  Auge  für  die  öffentlichen  Acte  hat:  als 
welche  ersichtlich  immer  pöbelhafter  werden.  Niemand 
versteht  mehr,  auf  geistreiche  Art  zu  huldigen  und  zu 
schmeicheln;  daraus  ergiebt  sich  die  lächerliche  Thatsachc, 
dass  man  in  Fällen,  wo  man  gegenwärtig  Huldigungen 
darbringen  muss  (zum  Beispiel  einem  grossen  Staats- 
manne  oder  Künstler),  die  Sprache  des  tiefsten  Gefülils, 
der  treuherzigen  ehrenfesten  Biederkeit  borgt  —  aus 
Verlegenheit  und  Mangel  an  Geist  und  Grazie.  So  er- 
scheint die  öffentliche  festliche  Begegnung  der  IVIenschen 
immer  ungeschickter,  aber  gefühlvoller  und  biederer, 
ohne  diess  zu  sein.  —  Sollte  es  aber  mit  den  Manieren 
immerfort  bergab  gehen?  Es  scheint  mir  vielmehr,  dass 
die  Manieren  eine  tiefe  Curve  machen  und  wir  uns 
ihrem  niedrigsten  Stande  nähern.  Wenn  erst  die  Ge- 
sellschaft ihrer  Absichten  und  Principien  sicherer  ge- 
worden ist,  so  dass  diese  formbildend  wirken  (während 
jetzt  die  angelernten  Manieren  früherer  formenbiidender 
Zustände  immer  schwächer  vererbt  und  angelernt  werden), 
so  Avird  es  Manieren  des  Umgangs,  Gebärden  und  Aus- 
drücke des  Verkehrs  geben,  welche  so  nothwendig  und 
schhcht  natürlich  erscheinen  müssen,  als  es  diese  Ab- 
sichten und  Principien  sind.  Die  bessere  Vertheilung 
der  Zeit  und  Arbeit,  die  zur  Begleiterin  jeder  schönen 
Mussezeit  umgewandelte  gymnastische  Übung,  das  ver- 
mehrte und  strenger  gewordene  Nachdenken,  welches 
selbst  dem  Körper  Klugheit  und  Geschmeidigkeit  giebt, 
bringt  diess  Alles  mit  sich.  —  Hier  könnte  man  nun 
freilich  mit  einigem  Spotte  unserer  Gelehrten  gedenken, 
ob  denn  sie,  die  doch  Vorläufer  jener  neuen  Cultur  sein 
wollen,  sich  in  der  That  durch  bessere  Manieren  aus- 
zeichnen?    Es  ist  diess  wohl  nicht  der  Fall,  obgleich  ihr 


Geist  willig  genug  dazu  sein  mag:  aber  ihr  Fleisch  ist 
schwach.  Die  Vergangenheit  derCultur  ist  noch  zu  mächtig 
in  ihren  Muskeln:  sie  stehen  noch  in  einer  unfreien  Stel- 
lung und  sind  zur  Hälfte  weltliche  Geistliche,  zur  Hälfte 
abhängige  Erzieher  vornehmer  Leute  und  Stände,  und 
überdiess  durch  Pedanterie  der  Wissenschaft,  durch  ver- 
altete geistlose  Methoden  verkrüppelt  und  unlebendig 
gemacht.  Sie  sind  also,  jedenfalls  ihrem  Körper  nach 
und  oft  auch  zu  Dreiviertel  ihres  Geistes,  immer  noch 
die  Höflinge  einer  alten,  ja  greisenhaften  Cultur  und  als 
solche  selber  greisenhaft;  der  neue  Geist,  der  gelegentüch 
in  diesen  alten  Gehäusen  rumort,  dient  einstweilen  nur 
dazu,  sie  unsicherer  und  ängstlicher  zu  machen.  In  ihnen 
gehen  sowohl  die  Gespenster  der  Vergangenheit  als 
die  Gespenster  der  Zukunft  um:  was  Wunder,  wenn  sie 
dabei  nicht  die  beste  Miene  machen,  nicht  die  gefälligste 
Haltung  haben? 

251. 

Zukunft  der  Wissenschaft.  —  Die  Wissenschaft 
giebt  Dem,  welcher  in  ihr  arbeitet  und  sucht,  viel  Ver- 
gnügen, Dem,  welcher  ihre  Ergebnisse  lernt,  sehr  we- 
nig. Da  allmähUch  aber  alle  wichtigen  Wahrheiten  der 
Wissenschaft  alltäghch  und  gemein  werden  müssen,  so 
hört  auch  dieses  wenige  Vergnügen  auf:  so  wie  wir 
beim  Lernen  des  so  bewunderungswürdigen  Einmaleins 
längst  aufgehört  haben,  uns  zu  freuen.  Wenn  nun  die 
Wissenschaft  immer  weniger  Freude  durch  sich  macht 
und  immer  mehr  Freude,  durch  Verdächtigung  der  tröst- 
Hchen  Metaphysik  Religion  und  Kunst,  nimmt:  so  ver- 
armt jene  grösste  Quelle  der  Lust,  welcher  die  Menschheit 
fast  ihr  gesammtes  Menschthum  verdankt.  Desshalb 
muss  eine  höhere  Cultur  dem  Menschen  ein  Doppelgehirn, 


—     236     — 

gleichsam  zwei  Hirnkammern  geben,  einmal  um  Wissen- 
schaft, sodann  um  Nicht -Wissenschaft  zu  empfinden: 
neben  einander  liegend,  ohne  Verwirrung,  trennbar,  ab- 
schliessbar;  es  ist  diess  eine  Forderung  der  Gesundheit. 
Im  einen  Bereiche  liegt  die  Kraftquelle,  im  anderen  der 
Regulator:  mit  Illusionen  Einseitigkeiten  Leidenschaften 
muss  geheizt  werden,  mit  Hülfe  der  erkennenden  Wissen- 
schaft muss  den  bösartigen  und  gefährlichen  Folgen 
einer  Überheizung  vorgebeugt  werden.  —  Wird  dieser 
Forderung  der  höheren  Cultur  nicht  genügt,  so  ist  der 
weitere  Verlauf  der  menschlichen  Entwicklung  fast  mit 
Sicherheit  vorherzusagen:  das  Interesse  am  Wahren 
hört  auf,  je  weniger  es  Lust  gewährt;  die  Illusion,  der 
Irrthum,  die  Phantastik  erkämpfen  sich  Schritt  um  Schritt, 
weil  sie  mit  Lust  verbunden  sind,  ihren  ehemals  behaup- 
teten Boden:  der  Ruin  der  Wissenschaften,  das  Zurück- 
sinken in  Barbarei  ist  die  nächste  Folge;  von  Neuem 
muss  die  Menschheit  wieder  anfangen,  ihr  Gewebe  zu 
weben,  nachdem  sie  es,  gleich  Penelope,  des  Nachts  zer- 
stört hat.  Aber  wer  bürget  uns  dafür,  dass  sie  immer 
wieder  die  ICraft  dazu  findet? 


252. 

Die  Lust  am  Erkennen.  —  Wesshalb  ist  das  Er- 
kennen, das  Element  des  Forschers  und  Philosophen,  mit 
Lust  verknüpft?  Erstens  und  vor  Allem,  weil  man  sich 
dabei  seiner  ICraft  bewusst  wird,  also  aus  demselben 
Grunde,  aus  dem  gymnastische  Übungen,  auch  ohne  Zu- 
schauer, lustvoll  sind.  Zweitens,  weil  man,  im  Verlauf 
der  Erkenntniss,  über  ältere  Vorstellungen  und  deren 
Vertreter  hinauskommt,  Sieger  wird  oder  wenigstens  es 
zu  sein  glaubt.    Drittens,  weil  wir  uns  durch  eine  noch  so 


—     257     — 

kleine  neue  Erkenntniss  über  Alle  erhaben  und  uns 
als  die  Einzigen  fühlen,  welche  hierin  das  Richtige 
wissen.  Diese  drei  Gründe  zur  Lust  sind  die  wichtigsten, 
doch  giebt  es,  je  nach  der  Natur  des  Erkennenden,  noch 
viele  Nebengründe.  —  Ein  nicht  unbeträchtliches  Ver- 
zeichniss  von  solchen  giebt,  an  einer  Stelle,  wo  man  es 
nicht  suchen  würde,  meine  paränetische  Schrift  über 
Schopenhauer:  mit  deren  Aufstellungen  sich  jeder  er- 
fahrene Diener  der  Erkenntniss  zufrieden  geben  kann, 
sei  es  auch,  dass  er  den  ironischen  Anflug,  der  auf  jenen 
Seiten  zu  liegen  scheint,  weg"wünschen  wird.  Denn  wenn 
es  wahr  ist,  dass  zum  Entstehen  des  Gelehrten  „eine 
Menge  sehr  menschlicher  Triebe  und  Triebchen  zu- 
sammengegossen werden  muss",  dass  der  Gelehrte  zwar 
ein  sehr  edles,  aber  kein  reines  Metall  ist  und  „aus  einem 
verwickelten  Geflecht  sehr  verschiedener  Antriebe  und 
Reize  besteht":  so  gilt  doch  dasselbe  ebenfalls  von  Ent- 
stehung und  Wesen  des  Künstlers  Philosophen  mora- 
lischen Genie's  —  und  wie  die  in  jener  Schrift  glorificirten 
grossen  Namen  lauten.  Alles  Menschliche  verdient  in 
Hinsicht  auf  seine  Entstehung  die  ironische  Betrach- 
tung: desshalb  ist  die  Ironie  in  der  Welt  so  überflüssig. 


253.       , 

Treue  als  Beweis  der  Stichhaltigkeit  —  Es 
ist  ein  vollkommenes  Zeichen  für  die  Güte  einer  Theorie, 
wenn  ihr  Urheber  vierzig  Jahre  lang  kein  Misstrauen 
gegen  sie  bekommt;  aber  ich  behaupte,  dass  es  noch 
keinen  Philosophen  gegeben  hat,  welcher  auf  die  Philo- 
sophie, die  seine  Jugend  erfand,  nicht  endlich  mit  Gering- 
schätzung —  mindestens  mit  Argwohn  —  herabgesehen 
hätte.  —  Vielleicht  hat  er  aber  nicht  öfientlich  von  dieser 


—     238     — 

Umstimmung  gesprochen ,  aus  Ehrsucht  oder  —  wie 
es  bei  edlen  Naturen  wahrscheinlicher  ist  —  aus  zarter 
Schonung  seiner  Anhänger. 


254. 

Zunahme  des  Interessanten.  —  Im  Verlaufe 
der  höhern  Bildung  wird  dem  Menschen  Alles  interessant, 
er  weiss  die  belehrende  Seite  einer  Sache  rasch  zu  finden 
und  den  Punkt  anzugeben,  wo  eine  Lücke  seines  Den- 
kens mit  ihr  ausgefüllt  oder  ein  Gedanke  durch  sie  be- 
stätigt werden  kann.  Dabei  verschwindet  immer  melir 
die  Langeweile,  dabei  auch  die  übermässige  Erregbarkeit 
des  Gemüths.  Er  geht  zuletzt,  wie  ein  Naturforscher 
unter  Pflanzen,  so  unter  Menschen  herum  und  nimmt 
sich  selber  als  ein  Phänomen  wahr,  welches  nur  seinen 
erkennenden  Trieb  stark  anregt. 


255- 

Aberglaube  im  Gleichzeitigen.  —  Etwas 
Gleichzeitiges  hängt  zusammen,  meint  man.  Ein  \'er- 
wandter  stirbt  in  der  Ferne,  zu  gleicher  Zeit  träumen 
wir  von  ihm  —  also!  Aber  zahllose  Verwandte  sterben 
und  wir  träumen  nicht"  von  ihnen.  Es  ist  wie  bei  den 
Schiffbrüchigen,  welche  Gelübde  thun :  man  sieht  später 
im  Tempel  die  Votivtafeln  Derer,  welche  zu  Grunde 
giengen,  nicht.  —  Ein  Mensch  stirbt,  eine  Eule  krächzt, 
eine  Uhr  steht  still,  alles  in  Einer  Nachtstunde:  sollte  da 
nicht  ein  Zusammenhang  sein?  Eine  solche  Vertraulich- 
keit mit  der  Natur,  wie  diese  Ahnung  sie  annimmt, 
schmeichelt  den  Menschen.  —  Diese  Gattung  des  Aber- 
glaubens findet  sich  in  verfeinerter  Form  bei  Historikern 


—     239     — 

und  Culturmalern  wieder,  welche  vor  allem  sinnlosen 
Nebeneinander,  an  dem  doch  das  Leben  der  Einzelnen 
und  der  Völker  so  reich  ist,  eine  Art  Wasserscheu  zu 
haben  pflegen. 

256. 

Das  Können,  nicht  das  Wissen,  durch  die 
Wissenschaft  geübt.  —  Der  Werth  davon,  dass  man 
zeitweilig  eine  strenge  Wissenschaft  streng  betrieben 
hat,  beruht  nicht  gerade  in  deren  Ergebnissen:  denn 
diese  werden,  im  Verhältniss  zum  IMeere  des  Wissens- 
werthen,  ein  verschwindend  kleiner  Tropfen  sein.  Aber 
es  ergiebt  einen  Zuwachs  an  Energie,  an  Schlussver- 
mögen ,  an  Zähigkeit  der  Ausdauer ;  man  hat  gelernt, 
einen  Zweck  zweckmässig  zu  erreichen.  Insofern 
ist  es  sehr  schätzbar,  in  Hinsicht  auf  Alles,  was  man 
später  treibt,  einmal  ein  wissenschaftlicher  JMensch  ge- 
wesen zu  sein. 

257- 

Jugendreiz  der  Wissenschaft.  —  Das  Forschen 
nach  Wahrheit  hat  jetzt  noch  den  Reiz,  dass  sie  sich 
überall  stark  gegen  den  grau  und  langweilig  gewordenen 
Irrthum  abhebt;  dieser  Reiz  verliert  sich  immer  mehr. 
Jetzt  zwar  leben  wir  noch  im  Jugendzeitalter  der 
Wissenschaft  und  pflegen  der  Wahrheit  wie  einem 
schönen  Mädchen  nachzugehen;  wie  aber,  wenn  sie 
eines  Tages  zum  ältlichen,  mürrisch  blickenden  Weibe 
geworden  ist?  Fast  in  allen  Wissenschaften  ist  die 
Grundeinsicht  entweder  erst  in  jüngster  Zeit  gefunden 
oder  wird  noch  gesucht;  wie  anders  reizt  diess  an,  als 
wenn  alles  Wesentliche  gefunden  ist  und  nur  noch  eine 
kümmerliche  Herbstnachlcse   dem  Forscher   übrig  bleibt 


—       240       — 

(welche  Empfindung  man  in  einigen  historischen  Disciplinen 
kennen  lernen  kann). 

258. 

Die  Statue  der  Menschheit.  —  Der  Genius  der 
Cultur  verfährt  wie  CeUini,  als  dieser  den  Guss  seiner 
Perseus- Statue  machte:  die  flüssige  Masse  drohte  nicht 
auszureichen,  aber  sie  sollte  es:  so  warf  er  Schüsseln 
und  Teller  und  was  ihm  sonst  in  die  Hände  kam,  hinein. 
Und  ebenso  wirft  jener  Genius  Irrthümer  Laster  Hoff- 
nungen Wahnbilder  und  andere  Dinge  von  schlechterem 
wie  von  edlerem  Metalle  hinein,  denn  die  Statue  der 
Menschheit  muss  herauskommen  und  fertig  werden;  was 
liegt  daran,  dass  hier  und  da  geringerer  Stoff  verwendet 
wurde  ? 

259. 

Eine  Cultur  der  Männer.  —  Die  griechische 
Cultur  der  classischen  Zeit  ist  eine  Cultur  der  Männer. 
Was  die  Frauen  anlangt,  so  sagt  Perikles  in  der  Grabrede 
Alles  mit  den  Worten:  sie  seien  am  besten,  wenn  unter 
Männern  so  wenig  als  möglich  von  ihnen  gesprochen 
werde.  —  Die  erotische  Beziehung  der  Männer  zu  den 
Jünglingen  war  in  einem  unserem  Verständniss  unzugäng- 
lichen Grade  die  nothwendige ,  einzige  Voraussetzung 
aller  männlichen  Erziehung  (ungefähr  wie  lange  Zeit 
alle  höhere  Erziehung  der  Frauen  bei  uns  erst  durch 
die  Liebschaft  und  Ehe  herbeigeführt  wurde);  aller 
Idealismus  der  Kraft  der  griechischen  Natur  warf  sich 
auf  jenes  Verhältniss ,  und  wahrscheinlich  sind  junge 
Leute  niemals  wieder  so  aufmerksam,  so  liebevoll,  so 
durchaus  in  Hinsicht  auf  ihr  Bestes  (virtus)  behandelt 
worden  wie  im  sechsten  und  fünften  Jahrhundert  —  also 


—       241       — 

gemäss  dem  schönen  Spruche  Hölderlin's  „denn  hebend 
giebt  der  Sterbhche  vom  Besten".  Je  höher  dieses  Ver- 
hältniss  genommen  wurde,  um  so  tiefer  sank  der  Verkehr 
mit  der  Frau:  der  Gesichtspunkt  der  Kandererzeugung 
und  der  Wollust  —  Nichts  weiter  kam  hier  in  Betracht; 
es  gab  keinen  geistigen  Verkehr,  nicht  einmal  eine  eigent- 
liche Liebschaft.  Erwägt  man  femer,  dass  sie  selbst  vom 
Wettkampfe  und  Schauspiele  jeder  Art  ausgeschlossen 
waren  so  bleiben  nur  die  rehgiösen  Culte  als  einzige 
höhere  Unterhaltung  der  Weiber.  —  Wenn  man  nun 
allerdings  in  der  Tragödie  Elektra  und  Antigone  vor- 
führte, so  ertrug  man  diess  eben  in  der  Kunst,  obschon 
man  es  im  Leben  nicht  mochte:  so  wie  wir  jetzt  alles 
Pathetische  im  Leben  nicht  vertragen,  aber  in  der  Kunst 
gern  sehen,  —  Die  Weiber  hatten  weiter  keine  Aufgabe 
als  schöne  machtvolle  Leiber  hervorzubringen,  in  denen 
der  Charakter  des  Vaters  möglichst  ungebrochen  weiter 
lebte,  und  damit  der  überhand  nehmenden  Nervenüber- 
reizung einer  so  hochentwickelten  Cultur  entgegenzu- 
wirken. Diess  hielt  die  griechische  Cultur  verhältniss- 
mässig  so  lange  jung;  denn  in  den  griechischen  Müttern 
kehrte  immer  wieder  der  griechische  Genius  zur  Natur 
zurück. 

260. 

Das  Vorurtheil  zu  Gunsten  der  Grösse.  —  Die 
Menschen  überschätzen  ersichtlich  alles  Grosse  und  Her- 
vorstechende. Diess  kommt  aus  der  bewussten  oder  un- 
bewussten  Einsicht  her,  dass  sie  es  sehr  nützlich  finden, 
wenn  Einer  alle  Kraft  auf  Ein  Gebiet  wirft  und  aus  sich 
gleichsam  Ein  monströses  Organ  macht.  Sicherlich  ist 
dem  Menschen  selber  eine  gleichmässige  Ausbildung 
seiner  Kräfte  nützlicher  und  glückbringender;  denn  jedes 

Nietzsche,  Werke  Band  11.  16 


242        

Talent  ist  ein  Vampyr,  welcher  den  übrig-en  Kräften 
Blut  und  Kraft  aussaugt,  und  eine  übertriebene  Produc- 
tion  kann  den  begabtesten  Menschen  fast  zur  Tollheit 
bringen.  Auch  innerhalb  der  Künste  erregen  die  extremen 
Naturen  viel  zu  sehr  die  Aufmerksamkeit;  aber  es  ist 
auch  eine  viel  geringere  Cultur  nöthig,  um  von  ihnen 
sich  fesseln  zu  lassen.  Die  Menschen  unterwerfen  sich 
aus  Gewohnheit  Allem,  was  Macht  haben  will. 


261. 

Die  Tyrannen  des  Geistes.  —  Nur  wohin  der 
Strahl  des  Mythus  fällt,  da  leuchtet  das  Leben  der 
Griechen;  sonst  ist  es  düster.  Nun  berauben  sich  die 
griechischen  Philosophen  eben  dieses  Mythus:  ist  es 
nicht,  als  ob  sie  aus  dem  Sonnenschein  sich  in  den 
Schatten,  in  die  Düsterkeit  setzen  wollten?  Aber  keine 
Pflanze  geht  dem  Lichte  aus  dem  Wege;  im  Grunde 
suchten  jene  Philosophen  nur  eine  hellere  Sonne,  der 
Mythus  war  ihnen  nicht  rein,  nicht  leuchtend  genug 
Sie  fanden  diess  Licht  in  ihrer  Erkenntniss,  in  dem,  was 
Jeder  von  ihnen  seine  „Wahrheit"  nannte.  Damals  aber 
hatte  die  Erkenntniss  noch  einen  grösseren  Glanz ;  sie 
war  noch  jung  und  wusste  noch  wenig  von  allen 
Schwierigkeiten  und  Gefahren  ihrer  Pfade;  sie  konnte 
damals  noch  hoffen,  mit  einem  einzigen  Sprung  an  den 
Mittelpunkt  alles  Seins  zu  kommen  und  von  dort  aus 
das  Räthsel  der  Welt  zu  lösen.  Diese  Philosophen  hatten 
einen  handfesten  Glauben  an  sich  und  ihre  „Wahrheit" 
und  warfen  mit  ihr  alle  ihre  Nachbarn  und  Vorgänger 
nieder;  Jeder  von  ihnen  war  ein  streitbarer  gewaltthätiger 
Tyrann.  Vielleicht  war  das  Glück  im  Glauben  an  den 
Besitz  der  Wahrheit  nie  grösser  in  der  Welt,  aber  auch 


—      243      — 

nie  die  Härte,  der  Übermuth,  das  Tyrannische  und  Böse 
eines  solchen  Glaubens.  Sie  waren  Tyrannen,  also  Das, 
was  jeder  Grieche  sein  wollte  und  was  jeder  war,  wenn 
er  es  sein  konnte.  Vielleicht  macht  nur  Solon  eine 
Ausnahme;  in  seinen  Gedichten  sagt  er  es,  wie  er  die 
persönliche  Tyrannis  verschmäht  habe.  Aber  er  that  es 
aus  Liebe  zu  seinem  Werke,  zu  seiner  Gesetzgebung; 
und  Gesetzgeber  sein  ist  eine  sublimirtere  Form  des 
Tyrannenthums.  Auch  Parmenides  gab  Gesetze,  wohl 
auch  Pythagoras  und  Empedokles;  Anaximander  grün- 
dete eine  Stadt.  Plato  war  der  fleischgewordne  Wunsch, 
der  höchste  philosophische  Gesetzgeber  und  Staaten- 
gTünder  zu  werden;  er  scheint  schrecklich  an  der  Nicht- 
erfüllung seines  Wesens  gelitten  zu  haben,  und  seine 
Seele  wurde  gegen  sein  Ende  hin  voll  der  schwärzesten 
Galle.  Je  mehr  das  griechische  Phüosophenthum  an 
Macht  verlor,  um  so  mehr  litt  es  innerlich  durch  diese 
Galligkeit  und  Schmähsucht;  als  erst  die  verschiedenen 
Secten  ihre  Wahrheiten  auf  den  Strassen  verfochten,  da 
waren  die  Seelen  aller  dieser  Freier  der  Wahrheit  durch 
Eifer-  und  Geifersucht  völlig  verschlammt,  das  tyrannische 
Element  wüthete  jetzt  als  Gift  in  ihrem  eigenen  Körper. 
Diese  vielen  kleinen  Tyrannen  hätten  sich  roh  fressen 
mögen;  es  war  kein  Funke  mehr  von  Liebe  und  allzu- 
wenig Freude  an  ihrer  eigenen  Erkenntniss  in  ihnen  übrig 
geblieben.  —  Überhaupt  gilt  der  Satz,  dass  Tyrannen 
meistens  ermordet  werden  und  dass  ihre  Nachkommen- 
schaft kurz  lebt,  auch  von  den  Tyrannen  des  Geistes. 
Ihre  Geschichte  ist  kurz,  gewaltsam,  ihre  Nachwirkung 
bricht  plötzlich  ab.  Fast  von  allen  grossen  Hellenen 
kann  man  sagen,  dass  sie  zu  spät  gekommen  scheinen, 
so  von  Äschylus,  von  Pindar,  von  Demosthenes,  von 
Thukydides;   ein  Geschlecht  nach  ihnen  —  und  dann  ist 

i6* 


—     244     — 

es  immer  völlig  vorbei.  Das  ist  das  Stürmische  und 
Unheimliche  in  der  griechischen  Geschichte.  Jetzt  zwar 
bewundert  man  das  Evangelium  der  Schildkröte.  Ge- 
schichtlich denken  heisst  jetzt  fast  so  viel,  als  ob  zu  allen 
Zeiten  nach  dem  Satze  Geschichte  gemacht  worden  wäre: 
„möglichst  wenig  in  möglichst  langer  Zeit!"  Ach,  die 
griechische  Geschichte  läuft  so  rasch!  Es  ist  nie  wieder 
so  verschwenderisch,  so  maasslos  gelebt  worden.  Ich 
kann  mich  nicht  überzeugen,  dass  die  Geschichte  der 
Griechen  jenen  natürlichen  Verlauf  genommen  habe, 
der  so  an  ihr  gerühmt  wird.  Sie  waren  viel  zu  mannich- 
fach  begabt  dazu,  um  in  jener  schrittweisen  Manier 
allmählich  zu  sein,  wie  es  die  Schildkröte  im  Wettlauf 
mit  Achilles  ist:  und  das  nennt  man  ja  natürhche  Ent- 
wicklung. Bei  den  Griechen  geht  es  schnell  vorwärts, 
aber  eben  so  schnell  abwärts;  die  Bewegung  der  ganzen 
Maschine  ist  so  gesteigert,  dass  ein  einziger  Stein,  in  ihre 
Räder  geworfen ,  sie  zerspringen  macht.  Ein  solcher 
Stein  war  zum  Beispiel  Sokrates;  in  einer  Nacht  war  die 
bis  dahin  so  wunderbar  regelmässige,  aber  freihch  allzu 
schleunige  Entwicklung  der  philosophischen  Wissenschaft 
zerstört.  Es  ist  keine  müssige  Frage,  ob  nicht  Plato, 
von  der  sokratischen  Verzauberung  frei  geblieben,  einen 
noch  höheren  Typus  des  philosophischen  Menschen  ge- 
funden hätte,  der  uns  auf  immer  verloren  ist.  Man  sieht 
in  die  Zeiten  vor  ihm  wie  in  eine  Bildner -Werkstätte 
solcher  Typen  hinein.  Das  sechste  und  fünfte  Jahrhundert 
scheint  aber  doch  noch  mehr  und  Höheres  zu  verheissen, 
als  es  selber  hervorgebracht  hat;  aber  es  blieb  bei  dem 
Verheissen  und  Ankündigen.  Und  doch  giebt  es  kaum 
einen  schwereren  Verlust  als  den  Verlust  eines  Typus, 
einer  neuen,  bis  dahin  unentdeckt  gebliebenen  höchsten 
Möglichkeit  des  philosophischen  Lebens.    Selbst 


-     245     — 

von  den  älteren  Typen  sind  die  meisten  schlecht  über- 
liefert; es  scheinen  mir  alle  Philosophen  von  Thaies  bis 
Demokrit  ausserordentlich  schwer  erkennbar;  wem  es 
aber  gelingt  diese  Gestalten  nachzuschafFen,  der  wandelt 
unter  Gebilden  von  mächtigstem  und  reinstem  Typus. 
Diese  Fähigkeit  ist  freilich  selten,  sie  fehlte  selbst  den 
späteren  Griechen,  welche  sich  mit  der  Kunde  der  älteren 
Philosophie  befassten ;  Aristoteles  zumal  scheint  seine 
Augen  nicht  im  Kopfe  zu  haben,  wenn  er  vor  den  Be- 
zeichneten steht.  Und  so  scheint  es,  als  ob  diese  herr- 
lichen Philosophen  umsonst  gelebt  hätten,  oder  als  ob 
sie  gar  nur  die  streit-  und  redelustigen  Schaaren  der 
sokratischen  Schulen  hätten  vorbereiten  sollen.  Es  ist 
hier  wie  gesagt  eine  Lücke,  ein  Bruch  in  der  Ent- 
wicklung; irgend  ein  grosses  Unglück  muss  geschehen 
sein,  und  die  einzige  Statue,  an  welcher  man  Sinn  und 
Zweck  jener  grossen  bildnerischen  Vorübung  erkannt 
haben  würde,  zerbrach  oder  misslang:  was  eigentlich  ge- 
schehen ist,  ist  für  immer  ein  Geheimniss  der  Werkstätte 
geblieben.  —  Das,  was  bei  den  Griechen  sich  ereignete 
—  dass  jeder  grosse  Denker  im  Glauben  daran,  Besitzer 
der  absoluten  Wahrheit  zu  sein,  zum  Tyrannen  wurde,  so 
dass  auch  die  Geschichte  des  Geistes  bei  den  Griechen 
jenen  gewaltsamen  übereilten  und  gefährHchen  Charakter 
bekommen  hat,  den  ihre  politische  Geschichte  zeigt  — , 
diese  Art  von  Ereignissen  war  damit  nicht  erschöpft:  es 
hat  sich  vieles  Gleiche  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  be- 
geben, obwohl  allmählich  seltener  und  jetzt  schwerlich 
mehr  mit  dem  reinen  naiven  Gewissen  der  griechischen 
Philosophen.  Denn  im  Ganzen  redet  jetzt  die  Gegenlehre 
und  die  Skepsis  zu  mächtig,  zu  laut  Die  Periode  der 
Tyrannen  des  Geistes  ist  vorbei.  In  den  Sphären  der 
höheren   Cultur  wird   es   freilich    immer    eine    Herrschaft 


—     246     — 

geben  müssen  —  aber  diese  Herrschaft  liegt  von  jetzt 
ab  in  den  Händen  der  OHgarchen  des  Geistes.  Sie 
bilden,  trotz  aller  räumlichen  und  politischen  Trennung, 
eine  zusammengehörige  Gesellschaft,  deren  Mitglieder  sich 
erkennen  und  anerkennen,  was  auch  die  öffentliche 
Meinung  und  die  Urtheile  der  auf  die  Masse  wirkenden 
Tages-  und  Zeitschriftsteller  für  Schätzungen  der  Gunst 
und  Abgunst  in  Umlauf  bringen  mögen.  Die  geistige 
Überlegenheit,  welche  früher  trennte  und  verfeindete, 
pflegt  jetzt  zu  binden:  wie  könnten  die  Einzelnen  sich 
selbst  behaupten  und  auf  eigener  Bahn,  allen  Strömungen 
entgegen,  durch  das  Leben  schwimmen,  wenn  sie  nicht 
ihres  Gleichen  hier  und  dort  unter  gleichen  Bedingungen 
leben  sähen  und  deren  Hand  ergriffen,  im  Kampfe  eben- 
so sehr  gegen  den  ochlokratischen  Charakter  des  Halb- 
geistes und  der  Halbbildung,  als  gegen  die  gelegentlichen 
Versuche,  mit  Hülfe  der  Massenwirkung  eine  Tyrannei 
aufzurichten?  Die  OHgarchen  sind  einander  nöthig,  sie 
haben  an  einander  ihre  beste  Freude,  sie  verstehen  ihre 
Abzeichen  —  aber  trotzdem  ist  ein  Jeder  frei,  er  kämpft 
und  siegt  an  seiner  Stelle  und  geht  lieber  unter,  als 
sich  zu  unterwerfen. 


262. 

Homer.  —  Die  grösste  Thatsache  in  der  griechischen 
Bildung  bleibt  doch  die,  dass  Homer  so  frühzeitig  pan- 
hellenisch wurde.  Alle  geistige  und  menschliche  Freiheit, 
die  die  Griechen  erreichten,  geht  auf  diese  Thatsache 
zurück.  Aber  zugleich  ist  es  das  eigentliche  Verhängniss 
der  griechischen  Bildung  gewesen,  denn  Homer  ver- 
flachte, indem  er  centrahsirte,  und  löste  die  ernsteren 
Instincte    der    Unabhängigkeit    auf.     Von    Zeit    zu    Zeit 


—      247      — 

erhob  sich  aus  dem  tiefsten  Grunde  des  Hellenischen 
der  Widerspruch  gegen  Homer;  aber  er  blieb  immer 
siegreich.  Alle  grossen  geistigen  Mächte  üben  neben 
ihrer  befreienden  Wirkung  auch  eine  unterdrückende  aus; 
aber  freilich  ist  es  ein  Unterschied,  ob  Homer  oder  die 
Bibel   oder   die  Wissenschaft  die   Menschen  tyrannisiren. 

• 
263. 

Begabung.  —  In  einer  so  hoch  entwickelten  Mensch- 
heit, wie  die  jetzige  ist,  bekommt  von  Natur  Jeder  den 
Zugang  zu  vielen  Talenten  mit;  jeder  hat  angeborenes 
Talent,  aber  nur  Wenigen  ist  der  Grad  von  Zähigkeit 
Ausdauer  Energie  angeboren  und  anerzogen,  so  dass  er 
wirklich  ein  Talent  wird,  also  wird,  was  er  ist,  das 
heisst:  es  in  Werken  und  Handlungen  entladet 

264. 

Der  Geistreiche  entweder  überschätzt  oder 
unterschätzt.  —  Unwissenschaftliche  aber  begabte 
Menschen  schätzen  jedes  Anzeichen  von  Geist,  sei  es 
nun,  dass  er  auf  wahrer  oder  falscher  Fährte  ist;  sie 
wollen  vor  Allem,  dass  der  Mensch,  der  mit  ihnen  ver- 
kehrt, sie  gut  mit  seinem  Geist  unterhalte,  sie  ansporne, 
entflamme,  zu  Ernst  und  Scherz  fortreisse  und  jedenfalls 
vor  der  Langenweile  als  kräftigstes  Amulet  schütze.  Die 
wissenschaftlichen  Naturen  wissen  dagegen,  dass  die  Be- 
gabung, allerhand  Einfälle  zu  haben,  auf  das  strengste 
durch  den  Geist  der  Wissenschaft  gezügelt  werden  müsse; 
nicht  Das,  was  glänzt  scheint  erregt,  sondern  die  oft 
unscheinbare  Wahrheit  ist  die  Frucht,  welche  er  vom 
Baume   der  Erkenntniss  zu   schütteln   wünscht     Er  darf 


—      248     — 

wie  Aristoteles,  zwischen  „Langweiligen"  und  „Geist- 
reichen" keinen  Unterschied  machen,  sein  Dämon  führt 
ihn  durch  die  Wüste  ebenso  wie  durch  tropische  Vege- 
tation, damit  er  überall  nur  an  dem  Wirklichen  Halt- 
baren Ächten  seine  Freude  habe.  —  Daraus  ergiebt  sich, 
bei  unbedeutenden  Gelehrten,  eine  Missachtung  und  Ver- 
dächtigung des  Geistreichen  überhaupt,  und  wiederum 
haben  geistreiche  Leute  häufig  eine  Abneigrmg  gegen 
die  Wissenschaft;  wie  zum  Beispiel  fast  alle  Künstler. 


265. 

Die  Vernunft  in  der  Schule.  —  Die  Schule  hat 
keine  wichtigere  Aufgabe,  als  strenges  Denken,  vor- 
sichtiges Urtheilen,  consequentes  Schliessen  zu  lehren: 
desshalb  hat  sie  von  allen  Dingen  abzusehen,  die  nicht 
für  diese  Operationen  tauglich  sind,  zum  Beispiel  von  der 
Religion.  Sie  kann  ja  darauf  rechnen,  dass  menschliche 
Unklarheit,  Gewöhnung  und  Bedürfniss  später  doch 
wieder  den  Bogen  des  allzustraffen  Denkens  abspannen. 
Aber  so  lange  ihr  Einfluss  reicht,  soll  sie  Das  erzwingen, 
was  das  Wesentliche  und  Auszeichnende  am  Menschen 
ist:  „Vernunft  und  Wissenschaft,  des  Menschen  aller- 
höchste Kraft"  —  wie  wenigstens  Goethe  urtheilt  — 
Der  grosse  Naturforscher  von  Baer  findet  die  Überlegen- 
heit aller  Europäer  im  Vergleich  zu  Asiaten  in  der  ein- 
geschulten Fähigkeit,  dass  sie  Gründe  für  Das,  was  sie 
glauben,  angeben  können,  wozu  diese  aber  völlig  unfähig 
sind.  Europa  ist  in  die  Schule  des  consequenten  und 
kritischen  Denkens  gegangen,  Asien  weiss  immer  noch 
nicht  zwischen  Wahrheit  und  Dichtung  zu  unterscheiden 
und  ist  sich  nicht  bewusst,  ob  seine  Überzeugungen  aus 
eigener  Beobachtung  und  regelrechtem  Denken   oder   aus 


—      249     — 

Phantasien  stammen.  —  Die  Vernunft  in  der  Schule  hat 
Europa  zu  Europa  gemacht:  im  Mittelalter  war  es  auf 
dem  Wege,  wieder  zu  einem  Stück  und  Anhängsel 
Asiens  zu  werden  —  also  den  wissenschaftlichen  Sinn, 
welchen  es  den  Griechen  verdankte,  einzubüssen." 


266. 

Unterschätzte  Wirkung  des  gymnasialen 
Unterrichts.  —  Man  sucht  den  Werth  des  Gym- 
nasiums selten  in  den  Dingen,  welche  wirklich  dort  ge- 
lernt und  von  ihm  unverlierbar  heimgebracht  werden, 
sondern  in  denen,  welche  man  lehrt,  welche  der  Schüler 
sich  aber  nur  mit  Widerwillen  aneignet,  um  sie  so 
schnell  er  darf  von  sich  abzuschütteln.  Das  Lesen  der 
Classiker  —  das  giebt  jeder  Gebildete  zu  —  ist  so,  wie 
es  überall  getrieben  wird,  eine  monströse  Procedur:  vor 
jungen  Menschen,  welche  in  keiner  Beziehung  dazu  reif 
sind,  von  Lehrern,  welche  durch  jedes  Wort,  oft  durch 
ihr  Erscheinen  schon  einen  Mehlthau  über  einen  guten 
Autor  legen.  Aber  darin  liegt  der  Werth,  der  gewöhn- 
lich verkannte  —  dass  diese  Lehrer  die  abstracte 
Sprache  der  höheren  Cultur  reden,  schwerfällig  und 
schwer  zum  Verstehen,  wie  sie  ist,  aber  eine  hohe 
Gymnastik  des  Kopfes;  dass  Begriffe  Kunstausdrücke 
Methoden  Anspielungen  in  ihrer  Sprache  fortwährend 
vorkommen,  welche  die  jungen  Leute  im  Gespräche  ihrer 
Angehörigen  und  auf  der  Gasse  fast  nie  hören.  Wenn 
die  Schüler  nur  hören,  so  wird  ihr  Intellect  zu  einer 
wissenschafthchen  Betrachtungsweise  unwillkürlich  prä- 
formirt.  Es  ist  nicht  möglich,  aus  dieser  Zucht,  völlig 
unberührt  von  der  Abstraction,  als  reines  Naturkind 
herauszukommen. 


—        2ÖO       — 
267. 

Viele  Sprachen  lernen.  —  Viele  Sprachen 
lernen  füllt  das  Gedächtniss  mit  Worten  statt  mit  That- 
sachen  und  Gedanken,  während  diess  ein  Behältniss  ist, 
welches  bei  jedem  Menschen  nur  eine  bestimmt  be- 
grenzte Masse  von  Inhalt  aufnehmen  kann.  Sodann 
schadet  das  Lernen  vieler  Sprachen,  insofern  es  den 
Glauben,  Fertigkeiten  zu  haben,  erweckt  und  thatsächlich 
auch  ein  gewisses  verführerisches  Ansehen  im  Verkehr 
verleiht;  es  schadet  sodann  auch  indirect,  dadurch  dass 
es  dem  Erwerben  gründlicher  Kenntnisse  und  der  Ab- 
sicht, auf  redliche  Weise  die  Achtung  der  Menschen  zu 
verdienen,  entgegenwirkt.  Endlich  ist  es  die  Axt,  welche 
dem  feineren  Sprachgefühl  innerhalb  der  Muttersprache 
an  die  Wurzel  gelegt  wird:  diess  wird  dadurch  unheilbar 
beschädigt  und  zu  Grunde  gerichtet.  Die  beiden  Völker, 
welche  die  grössten  Stilisten  erzeugten,  Griechen  und 
Franzosen,  lernten  keine  fremden  Sprachen.  —  Weil  aber 
der  Verkehr  der  Menschen  immer  kosmopolitischer  werden 
muss  und  zum  Beispiel  ein  rechter  Kaufmann  in  London 
jetzt  schon  sich  in  acht  Sprachen  schriftlich  und  mündlich 
verständlich  zu  machen  hat,  so  ist  freilich  das  Viele- 
Sprachen  -  lernen  ein  nothwendiges  Übel;  weiches  aber, 
zuletzt  zum  Äussersten  kommend,  die  Menschheit  zwingen 
wird,  ein  Heilmittel  zu  finden:  und  in  irgend  einer  fernen 
Zukunft  wird  es  eine  neue  Sprache,  zuerst  als  Handels- 
sprache dann  als  Sprache  des  geistigen  Verkehrs 
überhaupt,  für  Alle  geben,  so  gewiss  als  es  einmal 
Luft-Schifffahrt  giebt.  Wozu  hätte  auch  die  Sprachwissen- 
schaft ein  Jahrhundert  lang  die  Gesetze  der  Sprachen 
studiert  und  das  Nothwendige  Werthvolle  Gelungene 
an  jeder  einzelnen  Sprache  abgeschätzt! 


2.S1 


268. 


Zur  Kriegsgeschichte  des  Individuums.  — 
Wir  finden  in  ein  einzelnes  Menschenleben,  welches  durch 
mehrere  Culturen  geht,  den  Kampf  zusammengedrängt, 
welcher  sich  sonst  zwischen  zwei  Generationen,  zwischen 
Vater  und  Sohn,  abspielt:  die  Nähe  der  Verwandtschaft 
verschärft  diesen  Kampf,  weil  jede  Partei  schonungslos 
das  ihr  so  gut  bekannte  Innre  der  anderen  Partei  mit 
hineinzieht;  und  so  wird  dieser  Kampf  im  einzelnen 
Individuum  am  erbittertsten  sein ;  hier  schreitet  jede  neue 
Phase  über  die  frühere  mit  grausamer  Ungerechtigkeit 
und  Verkennung  von  deren   Mitteln  und  Zielen  hinweg. 

269. 

Um  eine  Viertelstunde  früher.  ■ —  Man  findet 
gelegentlich  Einen,  der  mit  seinen  Ansichten  über  seiner 
Zeit  steht,  aber  doch  nur  um  so  viel,  dass  er  die  Vulgär- 
ansichten des  nächsten  Jahrzehends  vorwegnimmt.  Er  hat 
die  öffentliche  Meinung  eher,  als  sie  öffentlich  ist,  das 
heisst:  er  ist  einer  Ansicht,  die  es  verdient  trivial  zu 
werden,  eine  Viertelstunde  eher  in  die  Arme  gefallen 
als  Andere.  Sein  Ruhm  pflegt  aber  viel  lauter  zu  sein 
als   der  Ruhm  der  wirklichen  Grossen  und  Überlegenen. 


270. 

Die  Kunst  zu  lesen.  —  Jede  starke  Richtung  ist 
einseitig;  sie  nähert  sich  der  Richtung  der  geraden 
Linie  und  ist  wie  diese  ausschliessend ;  das  heisst  sie 
berührt  nicht  viele  andere  Richtungen,  wie  dies  schwache 
Parteien   und   Naturen    in  ihrem    wellenhaften    Hin-  und 


—       252         — 

Hergehen  thun:  das  muss  man  also  auch  den  Philo- 
logen nachsehen,  dass  sie  einseitig  sind.  Herstellung  und 
Reinhaltung  der  Texte  nebst  der  Erklärung  derselben, 
in  einer  Zunft  jahrhundertlang  fortgetrieben,  hat  endlich 
jetzt  die  richtigen  Methoden  finden  lassen;  das  ganze 
Alittelalter  war  tief  unfähig  zu  einer  streng  philologischen 
Erklärung,  das  heisst  zum  einfachen  Verstehenwollen 
dessen,  was  der  Autor  sagt,  —  es  war  etwas,  diese 
Methoden  zu  finden,  man  unterschätze  es  nicht!  Alle 
Wissenschaft  hat  dadurch  erst  Continuität  und  Stätigkeit 
gewonnen,  dass  die  Kunst  des  richtigen  Lesens,  das 
heisst  die  Philologie,  auf  ihre  Höhe  kam. 


271. 

Die  Kunst  zu  schliessen.  —  Der  grösste  Fort- 
schritt, den  die  Menschen  gemacht  haben,  liegt  darin, 
dass  sie  richtig  schliessen  lernen.  Das  ist  gar  nicht 
so  etwas  Natürliches,  wie  Schopenhauer  annimmt,  wenn 
er  sagt:  „zu  schliessen  sind  Alle,  zu  urtheilen  Wenige 
fähig",  sondern  ist  spät  erlernt  und  jetzt  noch  nicht  zur 
Herrschaft  gelangt.  Das  falsche  Schliessen  ist  in  älteren 
Zeiten  die  Regel:  und  die  Mythologie  aller  Völker,  ihre 
Magie  und  ihr  Aberglaube,  ihr  religiöser  Cultus,  ihr 
Recht  sind  die  unerschöpflichen  Beweis-Fundstätten  für 
diesen  Satz. 

272. 

Jahresringe  der  individuellen  Cultur.  —  Die 
Stärke  und  Schwäche  der  geistigen  Productivität  hängt 
lange  nicht  so  an  der  angeerbten  Begabung,  als  an  dem 
mitgegebenen  Maasse  von  Spannkraft.  Die  meisten 
jungen  Gebildeten  von  dreissig  Jahren   gehen    um  diese 


—     253     — 

Fruhsonnenwende  ihres  Lebens  zurück  und  sind  für  neue 
geistige  Wendungen  von  da  an  unlustig.  Desshalb  ist 
dann  gleich  wieder  zum  Heile  einer  fort  und  fort  wach- 
senden Cultur  eine  neue  Generation  nöthig,  die  es  nun 
aber  ebenfalls  nicht  weit  bringt:  denn  um  die  Cultur  des 
Vaters  nachzuholen,  muss  der  Sohn  die  an  geerbte 
Energie,  welche  der  Vater  auf  jener  Lebensstufe,  als  er 
den  Sohn  zeugte,  selber  besass,  fast  aufbrauchen;  mit 
dem  kleinen  Überschuss  kommt  er  weiter  (denn  weil 
hier  der  Weg  zum  zweiten  Male  gemacht  wird,  geht  es 
ein  wenig  leichter  und  schneller  vorwärts;  der  Sohn  ver- 
braucht, um  dasselbe  zu  lernen,  was  der  Vater  wusste,  nicht 
ganz  so  viel  Kraft).  Sehr  spannkräftige  Männer  wie  zum 
Beispiel  Goethe  durchmessen  so  viel,  als  kaum  vier  Gene- 
rationen hinter  einander  vermögen;  desshalb  kommen  sie 
aber  zu  schnell  voraus ,  so  dass  die  anderen  Menschen 
sie  erst  in  dem  nächsten  Jahrhundert  einholen,  vielleicht 
nicht  einmal  völlig,  weil  durch  die  häufigen  Unterbrech- 
ungen die  Geschlossenheit  der  Cultur,  die  Consequenz 
der  Entwicklung  geschwächt  worden  ist.  —  Die  gewöhn- 
lichen Phasen  der  geistigen  Cultur,  welche  im  Verlauf 
der  Geschichte  errungen  ist,  holen  die  Menschen  immer 
schneller  nach.  Sie  beginnen  gegenwärtig  in  die  Cultur 
als  religiös  bewegte  Kinder  einzutreten  und  bringen  es 
vielleicht  im  zehnten  Lebensjahre  zur  höchsten  Lebhaftig- 
keit dieser  Empfindungen,  gehen  dann  in  abgeschwäch- 
tere Formen  (Pantheismus)  über,  während  sie  sich  der 
Wissenschaft  nähern;  kommen  über  Gott  Unsterblichkeit 
und  dergleichen  ganz  hinaus,  aber  verfallen  den  Zaubern 
einer  metaphysischen  Philosophie.  Auch  diese  wird  ihnen 
endlich  unglaubwürdig;  die  Kunst  scheint  dagegen  immer 
mehr  zu  gewähren,  so  dass  eine  Zeitlang  die  Meta- 
physik   kaum    noch    in    einer   Umwandlung    zur    Kunst 


—     254     — 

oder  als  künstlerisch  verklärende  Stimmung  übrig  bleibt 
und  fortlebt.  Aber  der  wissenschaftliche  Sinn  wird  immer 
gebieterischer  und  führt  den  Mann  hin  zur  Naturwissen- 
schaft und  Historie  und  namentlich  zu  den  strengsten 
Methoden  des  Erkennens,  während  der  Kunst  eine  immer 
mildere  und  anspruchslosere  Bedeutung  zufällt.  Diess 
Alles  pflegt  sich  jetzt  innerhalb  der  ersten  dreissig  Jahre 
eines  Mannes  zu  ereignen.  Es  ist  die  Recapitulation 
eines  Pensums,  an  welchem  die  Menschheit  vielleicht 
dreissigtausend  Jahre  sich  abgearbeitet  hat. 


273. 

Zurückgegangen,  nicht  zurückgeblieben.  — 
Wer  gegenwärtig  seine  Entwicklung  noch  aus  religiösen 
Empfindungen  heraus  anhebt  und  vielleicht  längere  Zeit 
nachher  in  Metaphysik  und  Kunst  weiterlebt,  der  hat 
sich  allerdings  ein  gutes  Stück  zurückbegeben  und  be- 
ginnt sein  Wettrennen  mit  anderen  modernen  Menschen 
unter  ungünstigen  Voraussetzungen:  er  verliert  scheinbar 
Raum  und  Zeit.  Aber  dadurch,  dass  er  sich  in  jenen 
Bereichen  aufhielt,  wo  Gluth  und  Energie  entfesselt 
werden  und  fortwährend  Macht  als  vulcanischer  Strom 
aus  unversiegter  Quelle  strömt,  kommt  er  dann,  sobald 
er  sich  nur  zur  rechten  Zeit  von  jenen  Gebieten  getrennt 
hat,  um  so  schneller  vorwärts,  sein  Fuss  ist  beflügelt, 
seine  Brust  hat  ruhiger  länger  ausdauernder  athmen  ge- 
lernt. —  Er  hat  sich  nur  zurückgezogen,  um  zu  seinem 
Sprunge  genügenden  Raum  zu  haben:  so  kann  selbst 
etwas  Fürchterliches  Drohendes  in  diesem  Rückgange 
liegen. 


—     255     - 

274- 

Ein  Ausschnitt  unseres  Selbst  als  künst- 
lerisches Object.  —  Es  ist  ein  Zeichen  überlegener 
Cultur,  gewisse  Phasen  der  Entwicklung,  welche  die 
geringeren  Menschen  fast  gedankenlos  durchleben  und 
von  der  Tafel  ihrer  Seele  dann  wegwischen,  mit  Be- 
wusstsein  festzuhalten  und  ein  getreues  Bild  davon  zu 
entwerfen:  diess  ist  die  höhere  Gattung  der  Maler- 
kunst, welche  nur  Wenige  verstehen.  Dazu  wird  es 
nöthig,  jene  Phasen  künstlich  zu  isoliren.  Die  historischen 
Studien  bilden  die  Befähigung  zu  diesem  Malerthum 
aus,  denn  sie  fordern  uns  fortwährend  auf,  bei  Anlass 
eines  Stückes  Geschichte  —  eines  Volkes  oder  Menschen- 
lebens —  uns  einen  ganz  bestimmten  Horizont  von  Ge- 
danken, eine  bestimmte  Stärke  von  Empfindungen,  das 
Vorwalten  dieser,  das  Zurücktreten  jener  vorzustellen. 
Darin,  dass  man  solche  Gedanken-  und  Gefühlssysteme 
aus  gegebenen  Anlässen  schnell  reconstruiren  kann, 
wie  den  Eindruck  eines  Tempels  aus  einigen  zufällig 
stehen  gebliebenen  Säulen  und  Mauerresten,  besteht 
der  historische  Sinn.  Das  nächste  Ergebniss  desselben 
ist,  dass  wir  unsere  Mitmenschen  als  ganz  bestimmte 
solche  Systeme  und  Vertreter  verschiedener  Cultviren 
verstehen,  das  heisst  als  nothwendig,  aber  als  verän- 
derlich. Und  wiederum:  dass  wir  in  unserer  eigenen  Ent- 
wicklung Stücke  heraustrennen  und  selbständig  hinstellen 
können. 

275- 

Cyniker  und  Epikureer.  —  Der  Cyniker  er- 
kennt den  Zusammenhang  zwischen  den  vermehrten  und 
stärkeren  Schmerzen  des  höher  cultivirten  Menschen  und 


—    256    — 

der  Fülle  von  Bedürfnissen;  er  begreift  also,  dass  die 
Menge  von  Meinungen  über  das  Schöne  vSchickliche 
Geziemende  Erfreuende  ebenso  sehr  reiche  Genuss-, 
aber  auch  Unlustquellen  entspringen  lassen  musste. 
Gemäss  dieser  Einsicht  bildet  er  sich  zurück,  indem  er 
viele  dieser  Meinungen  aufgiebt  und  sich  gewissen  An- 
forderungen der  Cultur  entzieht;  damit  gewinnt  er  ein 
Gefühl  der  Freiheit  und  der  Kräftigung,  und  allmählich, 
wenn  die  Gewohnheit  ihm  seine  Lebensweise  erträglich 
macht,  hat  er  in  der  That  seltnere  und  schwächere 
Unlustempfindungen  als  die  cultivirten  Menschen  und 
nähert  sich  dem  Hausthier  an;  überdiess  empfindet  er 
Alles  im  Reiz  des  Contrastes  und  —  schimpfen  kann  er 
ebenfalls  nach  Herzenslust:  so  dass  er  dadurch  wieder 
hoch  über  die  Empfindungswelt  des  Thieres  hinaus- 
kommt. —  Der  Epikureer  hat  denselben  Gesichtspunkt 
wie  der  Cyniker;  zwischen  ihm  und  Jenem  ist  gewöhn- 
lich nur  ein  Unterschied  des  Temperamentes.  Sodann 
benutzt  der  Epikureer  seine  höhere  Cultur,  um  sich  von 
den  herrschenden  Meinungen  unabhängig  zu  machen;  er 
erhebt  sich  über  dieselben,  während  der  Cyniker  nur  in 
der  Negation  bleibt.  Er  wandelt  gleichsam  in  wind- 
stillen wohlgeschützten  halbdunklen  Gängen,  während 
über  ihm,  im  Winde,  die  Wipfel  der  Bäume  brausen  und 
ihm  verrathen,  wie  heftig  bewegt  da  draussen  die  Welt 
ist.  Der  Cyniker  dagegen  geht  gleichsam  nackt  draussen 
im  Windeswehen  umher  und  härtet  sich  bis  zur  Gefühl- 
losigkeit ab. 

276. 

Mikrokosmus  und  Makrokosmus  der  Cultur. 
—  Die  besten  Entdeckungen  über  die  Cultur  macht  der 
Mensch  in   sich  selbst,  wenn   er  darin   zwei  heterogene 


—     2S7     — 

Mächte  waltend  findet.  Gesetzt,  es  lebe  Einer  ebenso- 
sehr in  der  Liebe  zur  bildenden  Kunst  oder  zur  Musik, 
als  er  vom  Geiste  der  Wissenschaft  fortgerissen  wird, 
und  er  sehe  es  als  unmöglich  an ,  diesen  Widerspruch 
durch  Vernichtung  der  einen  und  volle  Entfesselung  der 
anderen  Macht  aufzuheben:  so  bleibt  ihm  nur  übrig,  ein 
so  grosses  Gebäude  der  Cultur  aus  sich  zu  gestalten, 
dass  jene  beiden  Mächte,  wenn  auch  an  verschiedenen 
Enden  desselben,  in  ihm  wohnen  können,  während 
zwischen  ihnen  versöhnende  Mittelmächte,  mit  überwie- 
gender Kraft,  um  nöthigenfalls  den  ausbrechenden  Streit 
zu  schlichten,  ihre  Herberge  haben.  Ein  solches  Ge- 
bäude der  Cultur  im  einzelnen  Individuum  wird  aber  die 
grösste  Ähnlichkeit  mit  dem  Culturbau  in  ganzen  Zeit- 
perioden haben  und  eine  fortgesetzte  analogische  Be- 
lehrung über  denselben  abgeben.  Denn  überall,  wo 
sich  die  grosse  Architektur  der  Cultur  entfaltet  hat,  war 
ihre  Aufgabe,  die  einander  widerstrebenden  Mächte  zur 
Eintracht  vermöge  einer  übermächtigen  Ansammlung 
der  weniger  unverträglichen  übrigen  Mächte  zu  zwingen, 
ohne  sie  desshalb  zu  unterdrücken  und  in  Fesseln  zu 
schlagen. 

277. 

Glück  und  Cultur.  —  Der  Anblick  der  Um- 
gebungen unserer  Kindheit  erschüttert  uns:  das  Garten- 
haus ,  die  Kirche  mit  den  Gräbern ,  den  Teich  und  den 
Wald  —  diess  sehen  wir  immer  als  Leidende  wieder. 
Mitleid  mit  uns  selbst  ergreift  uns,  denn  was  haben  wir 
seitdem  Alles  durchgelitten!  Und  hier  steht  Jegliches 
noch  so  still,  so  ewig  da:  nur  wir  sind  so  anders,  so 
bewegt;  selbst  etliche  Menschen  finden  wir  wieder,  an 
welchen    die   Zeit    nicht    mehr     ihren    Zahn   gewetzt  hat 

Ni  etliche,  Werke  Band  II.  I7 


-     258     - 

als  an  einem  Eichbaume:  Bauern,  Fischer.  "VValdbewohncr 
—  sie  sind  dieselben.  —  Erschütterung,  Selbstmitleid 
im  Angesichte  der  niederen  Cultur  ist  das  Zeichen  der 
höheren  Cultur;  woraus  sich  ergiebt,  dass  durch  diese 
das  Glück  jedenfalls  nicht  gemehrt  worden  ist.  Wer 
eben  Glück  und  Behagen  vom  Leben  ernten  will,  der 
mag  nur  immer  der  höheren  Cultur  aus  dem  Wege 
gehen.  ^ 

278. 

Gleichniss  vom  Tanze.  —  Jetzt  ist  es  als  das 
entscheidende  Zeichen  grosser  Cultur  zu  betrachten, 
wenn  Jemand  jene  Kraft  und  Biegsamkeit  besitzt,  um 
ebenso  rein  und  streng  im  Erkennen  zu  sein  als,  in 
anderen  Momenten,  auch  befähigt,  der  Poesie  Religion 
und  Metaphysik  gleichsam  hundert  Schritt  vorzugeben 
und  ihre  Gewalt  und  Schönheit  nachzuempfinden.  Eine 
solche  Stellung  zwischen  zwei  so  verschiedenen  An- 
sprüchen ist  sehr  schwierig,  denn  die  Wissenschaft 
drängt  zur  absoluten  Herrschaft  ihrer  Methode,  und 
wird  diesem  Drängen  nicht  nachgegeben,  so  entsteht 
die  andere  Gefahr  eines  schwächlichen  Auf-  und  Nieder- 
schwankens zwischen  verschiedenen  Antrieben.  Indessen: 
um  wenigstens  mit  einem  Gleichniss  einen  Bhck  auf  die 
Lösung  dieser  Schwierigkeit  zu  eröffnen,  möge  man  sich 
doch  daran  erinnern,  dass  der  Tanz  nicht  dasselbe  wie 
ein  mattes  Hin-  und  Hfertaumeln  zwischen  verschiedenen 
Antrieben  ist.  Die  hohe  Cultur  wird  einem  kühnen 
Tanze  ähnlich  sehen:  wesshalb,  wie  gesagt,  viel  Kraft 
und  Geschmeidigkeit  noth  thut. 

279. 
Von    der   Erleichterung   des   Lebens.  —  Ein 
Hauptmittel,    um    sich  das  Leben  zu  erleichtern,   ist  das 


—     259     — 

Idealisiren  aller  Vorgänge  desselben;  man  soll  sich  aber 
aus  der  Malerei  recht  deutlich  machen,  was  idealisiren 
heisst  Der  Maler  verlangt,  dass  der  Zuschauer  nicht 
zu  genau,  zu  scharf  zusehe,  er  zwingt  ihn  in  eine  ge- 
wisse Feme  zurück,  damit  er  von  dort  aus  betrachte; 
er  ist  genöthigt,  eine  ganz  bestimmte  Entfernung  des 
Betrachters  vom  Bilde  vorauszusetzen;  ja  er  muss  sogar 
ein  ebenso  bestimmtes  Maass  von  Schärfe  des  Auges 
bei  seinem  Betrachter  annehmen;  in  solchen  Dingen 
darf  er  durchaus  nicht  schwanken.  Jeder  also,  der  sein 
Leben  idealisiren  will,  muss  es  nicht  zu  genau  sehen 
wollen  und  seinen  Blick  immer  in  eine  gewisse  Ent- 
fernung zurückbannen.  Dieses  Kunststück  verstand  zum 
Beispiel  Goethe. 

280. 

Erschwerung  als  Erleichterung  und  umge- 
kehrt —  Vieles,  was  auf  gewissen  Stufen  des  Menschen 
Erschwerung  des  Lebens  ist,  dient  einer  höheren  Stufe 
als  Erleichterung,  weil  solche  Menschen  stärkere  Er- 
schwerungen des  Lebens  kennen  gelernt  haben.  Ebenso 
kommt  das  Umgekehrte  vor:  so  hat  zum  Beispiel  die 
Religion  ein  doppeltes  Gesicht,  je  nachdem  ein  Mensch 
zu  ihr  hinaufbückt,  um  von  ihr  sich  seine  Last  und  Noth 
abnehmen  zu  lassen,  oder  auf  sie  hinabsieht,  wie  auf  die 
Fessel,  welche  ihm  angelegt  ist,  damit  er  nicht  zu  hoch 
in  die  Lüfte  steige. 

281. 

Die  höhere  Cultur  wird  nothwendig  miss- 
verstanden. —  Wer  sein  Instrument  nur  mit  zwei 
Saiten  bespannt  hat,  wie  die  Gelehrten,  welche  ausser 
dem  Wissenstriebe  nur  noch  einen  anerzogenen  reli- 

17* 


—     26o     -- 

giösen  haben,  der  versteht  solche  Menschen  nicht, 
welche  auf  mehr  Saiten  spielen  können.  Es  liegt  im 
Wesen  der  höheren,  vielsaitigeren  Cultur,  dass  sie 
von  der  niederen  immer  falsch  gedeutet  wird;  wie  diess 
zum  Beispiel  geschieht,  wenn  die  Kunst  als  eine  ver- 
kappte Form  des  Religiösen  gilt.  Ja  Leute,  die  nur 
religiös  sind,  verstehen  selbst  die  Wissenschaft  als  Suchen 
des  religiösen  Gefühls,  so  wie  Taubstumme  nicht  wissen, 
was  Musik  ist,  wenn  nicht  sichtbare  Bewegung. 


2^2. 

Klagelied.  —  Es  sind  vielleicht  die  Vorzüge  unserer 
Zeiten,  welche  ein  Zurücktreten  und  eine  gelegentliche 
Unterschätzung  der  vtta  contemplativa  mit  sich  bringen. 
Aber  eingestehen  muss  man  es  sich,  dass  unsere  Zeit 
arm  ist  an  grossen  Moralisten ,  dass  Pascal ,  Epiktet, 
Seneca,  Plutarch  wenig  noch  gelesen  werden,  dass  Arbeit 
und  Fleiss  —  sonst  im  Gefolge  der  grossen  Göttin  Ge- 
sundheit —  mitunter  wie  eine  Krankheit  zu  wüthen 
scheinen.  Weil  Zeit  zum  Denken  und  Ruhe  im  Denken 
fehlt,  so  erwägt  man  abweichende  Ansichten  nicht  mehr: 
man  begnügt  sich  sie  zu  hassen.  Bei  der  ungeheuren 
Beschleunigung  des  Lebens  wird  Geist  und  Auge  an  ein 
halbes  oder  falsches  Sehen  und  Urtheilen  gewöhnt,  und 
Jedermann  gleicht  den  Reisenden,  welche  Land  und  Volk 
von  der  Eisenbahn  aus  kennen  lernen.  Selbständige  und 
vorsichtige  Haltung  der  Erkenntniss  schätzt  man  beinahe 
als  eine  Art  Verrücktheit  ab;  der  Freigeist  ist  in  Verruf 
gebracht,  namentlich  durch  Gelehrte,  welche  an  seiner 
Kunst,  die  Dinge  zu  betrachten,  ihre  Gründlichkeit  und 
ihren  Ameisenfleiss  vermissen  und  ihn  gern  in  einen 
einzelnen   Winkel     der  Wissenschaft    bannen     möchten 


—        201        — 

Während  er  die  ganz  andere  und  höhere  Aufgabe  hat, 
von  einem  einsam  gelegenen  Standorte  aus  den  ganzen 
Heerbann  der  wissenschaftUchen  und  gelehrten  Menschen 
zu  befehligen  und  ihnen  die  Wege  und  Ziele  der  Cultur 
zu  zeigen.  —  Eine  solche  Klage,  wie  die  eben  abge- 
sungene, wird  wahrscheinlich  ihre  Zeit  haben  und  von 
selber  einmal,  bei  einer  gewaltigen  Rückkehr  des  Genius 
der  Meditation,  verstummen. 

2S3. 

Hauptmangel  der  thätigen  Menschen.  —  Den 
Thätigen  fehlt  gewöhnlich  die  höhere  Thätigkeit:  ich 
meine  die  individuelle.  Sie  sind  als  Beamte  Kaufleute 
Gelelirte,  das  heisst  als  Gattungswesen  thätig,  aber  nicht 
als  ganz  bestimmte  einzelne  und  einzige  Menschen;  in 
dieser  Hinsicht  sind  sie  faul.  —  Es  ist  das  Unglück  der 
Thätigen,  dass  ihre  Thätigkeit  fast  immer  ein  wenig 
unvernünftig  ist.  Man  darf  zum  Beispiel  bei  dem  geld- 
sammelnden Banquier  nach  dem  Zweck  seiner  rastlosen 
Thätigkeit  nicht  fragen:  sie  ist  unvernünftig.  Die  Thätigen 
rollen,  wie  der  Stein  rollt,  gemäss  der  Dummheit  der 
Mechanik.  —  Alle  Menschen  zerfallen,  wie  zu  allen  Zeiten 
so  auch  jetzt  noch,  in  Sclaven  und  Freie;  denn  wer  von 
seinem  Tage  nicht  zwei  Drittel  für  sich  hat,  ist  ein  Sclave, 
er  sei  übrigens  wer  er  wolle;  Staatsmann  Kaufmann 
Beamter   Gelehrter. 

284. 

Zu  Gunsten  der  Müssigen.  —  Zum  Zeichen 
dafür,  dass  die  Schätzung  des  beschaulichen  Lebens 
abgenommen  hat,  wetteifern  die  Gelehrten  jetzt  mit  den 
thätigen   Menschen   in   einer  Art  von   hastigem   Genüsse, 


202       — 

SO  dass  sie  also  diese  Art.  zu  geniessen,  höher  zu  schätzen 
scheinen  als  die,  welche  ihnen  eigentlich  zukommt  und 
welche  in  der  That  viel  mehr  Genuss  ist.  Die  Gelehrten 
schämen  sich  des  otiiivi.  Es  ist  aber  ein  edel  Ding  um 
Müsse  und  Müssiggehen.  —  Wenn  Müssiggang  wirklich 
der  Anfang  aller  Laster  ist,  so  befindet  er  sich  also 
wenigstens  in  der  nächsten  Nähe  aller  Tugenden ;  der 
müssige  Mensch  ist  immer  noch  ein  besserer  Mensch 
als  der  thätige.  —  Ihr  meint  doch  nicht,  dass  ich  mit 
Müsse  und  Müssiggehen  auf  euch  ziele,  ihr  Faulthiere?  — 

285. 

Die  moderne  Unruhe.  —  Nach  dem  Westen  zu 
wird  die  moderne  Bewegtheit  immer  grösser,  so  dass 
den  Amerikanern  die  Bewohner  Europa's  insgesammt 
sich  als  ruheliebende-  und  geniessende  Wesen  darstellen, 
während  diese  doch  selbst  wie  Bienen  und  Wespen 
durcheinander  fliegen.  Diese  Bewegtheit  wird  so  gross, 
dass  die  höhere  Cultur  ihre  Früchte  nicht  mehr  zeitigen 
kann:  es  ist,  als  ob  die  Jahreszeiten  zu  rasch  auf  ein- 
ander folgten.  Aus  Mangel  an  Ruhe  läuft  unsre  Civili- 
sation  in  eine  neue  Barbarei  aus.  Zu  keiner  Zeit  haben 
die  Thätigen,  das  heisst  die  Ruhelosen,  mehr  gegolten. 
Es  gehört  desshalb  zu  den  nothwendigen  Correcturen, 
welche  man  am  Charakter  der  Menschheit  vornehmen 
muss,  das  beschauliche  Element  in  grossem  Maasse  zu 
verstärken.  Doch  hat  schon  jeder  Einzelne,  welcher  in 
Herz  und  Kopf  ruhig  und  stetig  ist,  das  Recht  zu 
glauben,  dass  er  nicht  nur  ein  gutes  Temperament, 
sondern  eine  allgemein  nützliche  Tugend  besitze  und 
durch  die  Bewahrung  dieser  Tugend  sogar  eine  höhere 
Aufgabe  erfülle. 


—       203 


286. 


Inwiefern  der  Thätige  faul  ist.  —  Ich  glaube, 
dass  Jeder  über  jedes  Ding,  über  welches  Meinungen 
möglich  sind,  eine  eigene  Meinung  haben  muss,  weil  er 
selber  ein  eigenes  nur  einmaliges  Ding  ist,  das  zu  allen 
andern  Dingen  eine  neue ,  nie  dagewesene  Stellung 
einnimmt.  Aber  die  Faulheit,  welche  im  Grunde  der  Seele 
des  Thätigen  liegt,  verhindert  den  Menschen,  das  Wasser 
aus  seinem  eigenen  Brunnen  zu  schöpfen.  —  Mit  der 
Freiheit  der  Meinungen  steht  es  wie  mit  der  Gesundheit: 
beide  sind  individuell,  von  beiden  kann  kein  allgemein 
gültiger  Begriff  aufgestellt  werden.  Das,  was  das  eine 
Individuum  zu  seiner  Gesundheit  nöthig  hat,  ist  für  ein 
anderes  schon  Grund  zur  Erkrankung,  und  manche 
]\Iittel  und  Wege  zur  Freiheit  des  Geistes  dürfen  höher 
entwickelten  Naturen  als  Wege  und  Mittel  zur  Unfreiheit 
gelten. 

287. 

Censor  vitae.  —  Der  Wechsel  von  Liebe  und  Hass 
bezeichnet  für  eine  lange  Zeit  den  inneren  Zustand  eines 
Menschen,  welcher  frei  in  seinem  Urtheil  über  das 
Leben  werden  will;  er  vergisst  nicht  und  trägt  den 
Dingen  Alles  nach,  Gutes  und  Böses.  Zuletzt,  wenn  die 
ganze  Tafel  seiner  Seele  mit  Erfahrungen  voll  ge- 
schrieben ist,  wird  er  das  Dasein  nicht  verachten  und 
hassen,  aber  es  auch  nicht  lieben,  sondern  über  ihm 
liegen,  bald  mit  dem  Auge  der  Freude  bald  mit  dem  der 
Trauer,  und  wie  die  Natur  bald  sommerlich  bald  herbst- 
lich gesinnt  sein. 


204       — 

288. 
Nebenerfolg.  —  Wer  ernstlich  frei  werden  will, 
wird  dabei  ohne  allen  Zwang  die  Neigung  zu  Fehlern 
und  Lastern  mit  verlieren ;  auch  Ärger  und  Verdruss 
werden  ihn  immer  seltener  anfallen.  Sein  Wille  nämlich 
will  Nichts  angelegentlicher  als  erkennen  und  das  Mittel 
dazu,  das  heisst:  den  andauernden  Zustand,  in  dem  er  am 
tüchtigsten  zum  Erkennen  ist. 

289. 

Werth  der  Krankheit.  —  Der  Mensch,  der  krank 
zu  Bette  liegt,  kommt  mitunter  dahinter,  dass  er  für 
gewöhnlich  an  seinem  Amte  Geschäfte  oder  an  seiner 
Gesellschaft  krank  ist  und  durch  sie  jede  Besonnenheit 
über  sich  verloren  hat:  er  gewinnt  diese  Weisheit  aus  der 
Müsse,  zu  welcher  ihn  seine  Krankheit  zwingt. 

290. 

Empfindung  auf  dem  Lande.  —  Wenn  man 
nicht  feste,  ruhige  Linien  am  Horizonte  seines  Lebens 
hat ,  Gebirgs-  und  Waldlinien  gleichsam ,  so  wird  der 
innerste  Wille  des  Menschen  selber  unruhig,  zerstreut 
und  begehrlich  wie  das  Wesen  des  Städters:  er  hat  kein 
Glück  und  giebt  kein  Glück. 

291. 

Vorsicht  der  freien  Geister.  —  Freigesinnte,  der 
Erkenntniss  allein  lebende  Menschen  werden  ihr  äusser- 
liches  Lebensziel,  ihre  endgültige  Stellung  zu  Gesellschaft 
und  Staat  bald  erreicht  finden  und  zum  Beispiel  mit 
einem   kleinen  Amte   oder  einem  Vermögen,  das  gerade 


—    265    — 

zum  Leben  ausreicht,  gerne  sich  zufrieden  geben;  denn 
sie  werden  sich  einrichten  so  zu  leben,  dass  eine  grosse 
Verwandlung  der  äusseren  Güter,  ja  ein  Umsturz  der 
politischen  Ordnungen  ihr  Leben  nicht  mit  umwirft.  Auf 
alle  diese  Dinge  verwenden  sie  so  wenig  wie  möglich 
an  Energie,  damit  sie  mit  der  ganzen  angesammelten 
Kraft  und  gleichsam  mit  einem  langen  Athem  in  das 
Element  des  Erkennens  hinabtauchen.  So  können  sie 
hoffen,  tief  zu  tauchen  und  auch  wohl  auf  den  Grund  zu 
sehen.  —  Von  einem  Ereigniss  wird  ein  solcher  Geist 
gerne  nur  einen  Zipfel  nehmen,  er  liebt  die  Dinge  in  der 
ganzen  Breite  und  Weitschweifigkeit  ihrer  Falten  nicht: 
denn  er  will  sich  nicht  in  diesen  verwickeln.  —  Auch 
er  kennt  die  Wochentage  der  Unfreiheit,  der  Abhängig- 
keit, der  Dienstbarkeit.  Aber  von  Zeit  zu  Zeit  muss  ihm 
ein  Sonntag  der  Freiheit  kommen,  sonst  wird  er  das 
Leben  nicht  aushalten.  —  Es  ist  wahrscheinlich,  dass 
selbst  seine  Liebe  zu  den  Menschen  vorsichtig  und  etwas 
kurzathmig  sein  wird,  denn  er  will  sich  nur,  so  weit 
es  zum  Zweck  der  Erkenntniss  nöthig  ist,  mit  der  Welt 
der  Neigungen  und  der  Blindheit  einlassen.  Er  muss 
darauf  vertrauen,  dass  der  Genius  der  Gerechtigkeit  et- 
was für  seinen  Jünger  und  Schützling  sagen  wird,  wenn 
anschuldigende  Stimmen  ihn  arm  an  Liebe  nennen  soll- 
ten. —  Es  giebt  in  seiner  Lebens-  und  Denkweise  einen 
verfeinerten  Heroismus,  welcher  es  verschmäht,  sich 
der  grossen  Massen- Verehrung,  wie  sein  gröberer  Bruder 
es  thut,  anzubieten,  und  still  durch  die  Welt  und  aus  der 
Welt  zu  gehen  pflegt.  Was  für  Labyrinthe  er  auch  durch- 
wandert, unter  welchen  Felsen  sich  auch  sein  Strom 
zeitweilig  durchgequält  hat  —  kommt  er  an's  Licht,  so 
geht  er  hell,  leicht  und  fast  geräuschlos  seinen  Gang  und 
lässt  den  Sonnenschein  bis  in  seinen  Grund  hinab  spielen. 


266 


2Q2. 

Vorwärts.  —  Und  damit  vorwärts  auf  der  Bahn 
der  Weisheit,  guten  Schrittes,  guten  Vertrauens!  Wie 
du  auch  bist,  so  diene  dir  selber  als  Quell  der  Erfahrung! 
Wirf  das  Missvergnügen  über  dein  Wesen  ab,  verzeihe 
dir  dein  eignes  Ich,  denn  in  jedem  Falle  hast  du  an 
dir  eine  Leiter  mit  hundert  Sprossen,  auf  welchen  du 
zur  Erkenntniss  steigen  kannst.  Das  Zeitalter,  in  welches 
du  dich  mit  Leidwesen  geworfen  fühlst,  preist  dich  selig 
dieses  Glückes  wegen;  es  ruft  dir  zu,  dass  dir  jetzt  noch 
an  Erfahrungen  zu  Theil  werde,  was  Menschen  späterer 
Zeiten  vielleicht  entbehren  müssen.  Missachte  es  nicht, 
noch  religiös  gewesen  zu  sein;  ergründe  es  völlig,  wie  du 
noch  einen  ächten  Zugang  zur  Kunst  gehabt  hast.  Kannst 
du  nicht  gerade  mit  Hülfe  dieser  Erfahrungen  ungeheuren 
Wegstrecken  der  früheren  Menschheit  verständnissvoller 
nachgehen?  Sind  nicht  gerade  auf  dem  Boden,  welcher 
dir  mitunter  so  missfällt,  auf  dem  Boden  des  unreinen 
Denkens,  viele  der  herrlichsten  Früchte  älterer  Cultur  auf- 
gewachsen? Man  muss  Religion  und  Kunst  wie  Mutter 
und  Amme  geliebt  haben  —  sonst  kann  man  nicht 
weise  werden.  Aber  man  muss  über  sie  hinaus  sehen, 
ihnen  entwachsen  können;  bleibt  man  in  ihrem  Banne, 
so  versteht  man  sie  nicht.  Ebenso  muss  dir  die  Historie 
vertraut  sein  und  das  vorsichtige  Spiel  mit  den  Wag- 
schalen: „einerseits  —  andererseits."  Wandle  zurück,  in  die 
Fussstapfen  tretend,  in  welchen  die  Menschheit  ihren 
leidvollen  grossen  Gang  durch  die  Wüste  der  Vergangen- 
heit machte:  so  bist  du  am  gewissesten  belehrt,  wohin 
alle  spätere  Menschheit  nicht  wieder  gehen  kann  oder 
darf  Und  indem  du  mit  aller  Kraft  voraus  erspähen 
willst,  wie  der  Knoten  der  Zukunft  noch  geknüpft  wird, 


~  267  - 

bekommt  dein  eigenes  Leben  den  Werth  eines  Werk- 
zeuges und  Mittels  zur  Erkenntniss.  Du  hast  es  in  der 
Hand  zu  erreichen,  dass  all  dein  Erlebtes:  die  Versuche 
Irrwege  Fehler  Täuschungen  Leidenschaften,  deine  Liebe 
und  deine  Hoffnung,  in  deinem  Ziele  ohne  Rest  auf- 
gehen. Dieses  Ziel  ist,  selber  eine  nothwendige  Kette 
von  Cultur-Ringen  zu  werden  und  von  dieser  Noth- 
wendigkeit  aus  auf  die  Nothwendigkeit  im  Gange  der 
allgemeinen  Cultur  zu  schliessen.  Wenn  dejn  Blick  stark 
genug  geworden  ist,  den  Grund  in  dem  dunklen  Brunnen 
deines  Wesens  und  deiner  Erkenntnisse  zu  sehen,  so 
werden  dir  vielleicht  auch  in  seinem  Spiegel  die  fernen 
Sternbilder  zukünftiger  Culturen  sichtbar  werden.  Glaubst 
du,  ein  solches  Leben  mit  einem  solchen  Ziele  sei  zu 
mühevoll,  zu  ledig  aller  Annehmlichkeiten?  So  hast  du 
noch  nicht  gelernt,  dass  kein  Honig  süsser  als  der  der 
Erkenntniss  ist,  und  dass  die  hängenden  Wolken  der 
Trübsal  dir  noch  zum  Euter  dienen  müssen,  aus  dem  du 
die  Milch  zu  deiner  Labung  melken  wirst  Kommt  das 
Alter,  so  merkst  du  erst  recht,  wie  du  der  Stimme  der 
Natur  Gehör  gegeben,  jener  Natur,  welche  die  ganze 
Welt  durch  Lust  beherrscht:  dasselbe  Leben,  welches 
seine  Spitze  im  Alter  hat,  hat  auch  seine  Spitze  in  der 
Weisheit,  in  jenem  milden  Sonnenglanz  einer  beständigen 
geistigen  Freudigkeit;  beiden,  dem  Alter  und  der  Weis- 
heit, begegnest  du  auf  Einem  Bergrücken  des  Lebens: 
so  wollte  es  die  Natur.  Dann  ist  es  Zeit  und  kein  An- 
lass  zum  Zürnen,  dass  der  Nebel  des  Todes  naht.  Dem 
Lichte  zu  —  deine  letzte  Bewegung;  ein  Jauchzen  der 
Erkenntniss  —  dein  letzter  Laut. 


Sechstes  Hauptstück; 
Der  Mensch  im  Verkehr. 


293- 
Wohlwollende    Verstellung.    —    Es    ist  häufig 
im  Verkehre  mit  Menschen  eine  wohlwollende  Verstellung 
nöthig,    als    ob   wir    die   Motive    ihres   Handelns    nicht 
durchschauten. 

294. 

Copien.  —  Nicht  selten  begegnet  man  Copien 
bedeutender  Menschen;  und  den  Meisten  gefallen,  wie 
bei  Gemälden  so  auch  hier,  die  Copien  besser  als  die 
Originale. 

295. 
Der  Redner.  —  Man   kann  höchst  passend  reden 
und  doch  so,  dass  alle  Welt  über  das  Gegentheil  schreit: 
nämlich  dann,  wenn  man  nicht  zu  aller  Welt  redet 

296. 

Mangel  an  Vertraulichkeit.  —  Mangel  an 
Vertraulichkeit  unter  Freunden  ist  ein  Fehler,  der  nicht 
gerügt  werden  kann,  ohne  unheilbar  zu  werden. 

297. 
Zur  Kunst   des  Schenkens.   —   Eine  Gabe  aus- 
schlagen .zu  müssen,  bloss  weil   sie  nicht   auf  die  rechte 
Weise  angeboten  wurde,  erbittert  gegen  den  Geber. 


272 


298. 

Der  gefährlichste  Parteimann.  —  In  jeder 
Partei  ist  Einer,  der  durch  sein  gar  zu  gläubiges  Aus- 
sprechen der  Partei  grün  dsätze  die  Übrigen  zum  Ab- 
fall reizt. 

299. 

Rathgeber  des  Kranken.  —  Wer  einem  Kran- 
ken seine  Rathschläge  giebt,  erwirbt  sich  ein  Gefühl  von 
Überlegenheit  über  ihn,  sei  es  dass  sie  angenommen 
oder  dass  sie  verworfen  werden.  Desshalb  hassen  reiz- 
bare und  stolze  Kranke  die  Rathgeber  noch  mehr  als 
ihre  Krankheit 

300. 

Doppelte  Art  der  Gleichheit.  —  Die  Sucht 
nach  Gleichheit  kann  sich  so  äussern,  dass  man  ent- 
weder alle  Anderen  zu  sich  hinunterziehn  möchte  (durch 
Verkleinern  Secretiren  Beinstellen)  oder  sich  mit  Allen 
hinauf  (durch  Anerkennen  Helfen  Freude  an  fremdem 
Gelingen). 

301. 

Gegen  Verlegenheit.  —  Das  beste  Mittel,  sehr 
verlegenen  Leuten  zu  Hülfe  zu  kommen  und  sie  zu  be- 
ruhigen, besteht  darin,  dass  man  sie  entschieden  lobt 

302. 

Vorliebe  für  einzelne  Tugenden.  —  Wir  legen 
nicht  eher  besondern  Werth  auf  den  Besitz  einer  Tu- 
gend, bis  wir  deren  völlige  Abwesenheit  an  unserem 
Gegner  wahrnehmen. 


^73 


303- 


Warum  man  widerspricht.  —  Man  widerspricht 
oft  einer  Meinung-,  während  uns  eigentlich  nur  der  Ion, 
mit  dem  sie  vorgetragen  wurde,  unsympathisch  ist. 


304. 

Vertrauen  und  Vertraulichkeit.  —  Wer  die 
Vertraulichkeit  mit  einer  anderen  Person  geflissentlich 
zu  erzwingen  sucht,  ist  gewöhnlich  nicht  sicher  darüber, 
ob  er  ihr  Vertrauen  besitzt.  Wer  des  Vertrauens  sicher 
ist,  legt  auf  Vertraulichkeit  wenig  Werth. 


305- 

Gleichgewicht  der  Freundschaft,  —  Manch- 
mal kehrt,  im  Verhältniss  von  uns  zu  einem  andern 
Menschen,  das  rechte  Gleichgewicht  der  Freundschaft 
zurück,  wenn  wir  in  unsre  eigne  Wagschale  einige  Gran 
Unrecht  legen. 

306. 

Die  gefährlichsten  Ärzte.  —  Die  gefährlichsten 
Arzte  sind  die,  welche  es  dem  geborenen  Arzte  als  ge- 
borene Schauspieler  mit  vollkommener  Kunst  der  Täu- 
schung nachmachen. 

307. 

Wann  Paradoxien  am  Platze  sind.  —  Geist- 
reichen Personen  braucht  man  mitunter,  um  sie  für  einen 
Satz  zu  gewinnen,  denselben  nur  in  der  Form  einer  un- 
geheuerUchen  Paradoxie  vorzulegen. 

Nietzsche,  Werke  Band  11.  lg 


—       274       — 

3o8. 

Wie  muthige  Leute  gewonnen  werden.  — 
Muthige  Leute  überredet  man  dadurch  zu  einer  Hand- 
lung, dass  man  dieselbe  gefährlicher  darstellt  als  sie  ist, 

309- 

Artigkeiten.  —  Unbeliebten  Personen  rechnen 
wir  die  Artigkeiten,  welche  sie  uns  erweisen,  zum  Ver- 
gehen an. 

310. 

Warten  lassen.  —  Ein  sicheres  Mittel,  die  Leute 
aufzubringen  und  ihnen  böse  Gedanken  in  den  Kopf  zu 
setzen,  ist:  sie  lange  warten  zu  lassen.  Diess  macht  un- 
moralisch. 

311- 

Gegen  die  Vertraulichen.  —  Leute,  welche  uns 
ihr  volles  Vertrauen  schenken,  glauben  dadurch  ein  Recht 
auf  das  unsrige  zu  haben.  Diess  ist  ein  Fehlschluss; 
durch  Geschenke  erwirbt  man  keine  Rechte. 

312. 

Ausgleichsmittel.  —  Es  genügt  oft,  einem  Andern, 
dem  man  einen  Nachtheil  zugefügt  hat,  Gelegenheit  zu 
einem  Witz  über  uns  zu  geben,  um  ihm  persönliche 
Genugthuung  zu  schaffen,  ja  um  ihn  für  uns  gut  zu 
stimmen. 

313- 
Eitelkeit    der   Zunge.   —   Ob  der  Mensch   seine 
schlechten   Eigenschaften   und   Laster  verbirgt    oder  mit 


—     275     — 

Offenheit  sie  eing"esteht,  so  wünscht  doch  in  beiden 
Fällen  seine  Eitelkeit  einen  Vortheil  dabei  zu  habfen: 
man  beachte  nur.  wie  fein  er  unterscheidet,  vor  wem  er 
jene  Eigenschaften  verbirg^,  vor  wem  er  ehrlich  und  offen- 
herzig wird. 

3M. 
Rücksichtsvoll     —     Niemanden    kränken.    Nie- 
manden   beeinträchtigen    wollen    kann    ebensowohl    das 
Kennzeichen  einer  gerechten  als  einer  ängstlichen  Sinnes- 
art sein. 

315. 
Zum  Disputiren  erforderlich.  —  Wer  seine  Ge- 
danken   nicht   auf  Eis   zu   legen  versteht,   der   soll   sich 
nicht  in  die  Hitze  des  Streites  begeben. 

316. 
Umgang  und  Anmaassung.  —  Man  verlernt  die 
Anmaassung,  wenn  man  sich  immer  unter  verdienten 
Menschen  weiss;  allein  sein  pflanzt  Übermuth.  Junge 
Leute  sind  anmaassend,  denn  sie  gehen  mit  Ihresgleichen 
um,  welche  alle  nichts  sind,  aber  gerne   viel   bedeuten. 

317. 
Motiv  des  Angriffs.  —  Man   greift   nicht  nur  an, 
um  Jemandem   weh   zu  thun,  ihn   zu   besiegen,   sondern 
vielleicht   auch    nur,    um    sich   seiner   Kraft   bewusst    zu 
werden. 

318. 
Schmeichelei.   —  Personen,  welche  unsere  Vorsicht 
im   Verkehr   mit    ihnen    durch    Schmeicheleien    betäuben 

i8* 


—     276     — 

wollen,  wenden  ein  gefährliches  Mittel  an,  g-leicbsam 
ein^n  Schlaftrunk,  welcher,  wenn  er  nicht  einschlätert, 
nur  um  so  mehr  wach  erhält 


319. 

Guter  Briefschreiber.  —  Der,  welcher  keine 
Bücher  schreibt,  viel  denkt  und  in  unzureichender  Gesell- 
schaft lebt,  wird  gewöhnlich  ein  guter  Briefschreiber  sein. 

320. 

Am  hässlichsten.  —  Es  ist  zu  bezweifeln,  ob  ein 
Vielgereister  irgendwo  in  der  Welt  hässlichere  Gegenden 
gefunden  hat  als  im  menschlichen  Gesichte. 

321. 
Die  Mitleidigen.  —  Die  mitleidigen,  im  Unglück 
jederzeit  hülfreichen  Naturen  sind  selten  zugleich  die  sich 
mitfreuenden:  beim  Glück  der  Anderen  haben  sie  Nichts 
zu  thun,  sind  überflüssig,  fühlen  sich  nicht  im  Besitz  ihrer 
Überlegenheit  und  zeigen  desshalb  leicht  Missvergnügen. 

322. 
Verwandte  eines  Selbstmörders.  —  Verwandte 
eines  Selbstmörders  rechnen  es  ihm  übel  an,  dass  er  nicht 
aus  Rücksicht  auf  ihren  Ruf  am  Leben  geblieben  ist 

323- 

Undank  vorauszusehen.  —  Der,  welcher  etwas 
Grosses  schenkt ,  findet  keine  Dankbarkeit ;  denn  der 
Beschenkte  hat  schon  durch  das  Annehmen  zu  viel  Last 


—     277     — 

324- 
In   geistloser  Gesellschaft.  —  Niemand  dankt 
dem  geistreichen  Menschen  die  Höflichkeit,  wenn  er  sich 
einer  Gesellschaft  gleichstellt,  in  der  es  nicht  höflich  ist, 
Geist  zu  zeigen. 

325. 
Gegenwart  von  Zeugen.  —  Man  springt  einem 
Menschen,  der  in's  Wasser  fällt,   noch   einmal   so   gern 
nach,  wenn  Leute  zugegen  sind,  die  es  nicht  wagen. 

326. 

Schweigen.  —  Die  für  beide  Parteien  unange- 
nehmste Art,  eine  Polemik  zu  erwidern,  ist,  sich  ärgern 
und  schweigen:  denn  der  Angreifende  erklärt  sich  das 
Schweigen  gewöhnlich  als  Zeichen  der  Verachtung. 

327. 
Das    Geheimniss    des    Freundes.    —    Es   wird 
Wenige  geben,  welche,  wenn  sie  um  Stoff  zur  Unter- 
haltung verlegen  sind,  nicht  die  geheimeren  Angelegen- 
heiten ihrer  Freunde  preisgeben. 

328. 

Humanität  —  Die  Humanität  der  Berühmtheiten 
des  Geistes  besteht  darin,  im  Verkehre  mit  Unberühmten 
auf  eine  verbindliche  Art  Unrecht  zu  behalten. 

329- 
Der   Befangene.    —    Menschen,    die   sich   in    der 
Gesellschaft  nicht  sicher  fühlen,  benutzen  jede  Gelegen- 


—    278    — 

heit,  um  an  einem  Nahegestellten,  dem  sie  überlegnen 
sind,  diese  Überlegenheit  öffentlich,  vor  der  Gesellschaft, 
zu  zeigen,  zum  Beispiel  durch  Neckereien. 

330- 
Dank.  —  Eine  feine  Seele  bedrückt  es,  sich  Jeman- 
den   zum  Dank  verpflichtet  zu  wissen;  eine  grobe,  sich 
Jemandem. 

331- 
Merkmal  der  Entfremdung.  —  Das  stärkste 
Anzeichen  von  Entfremdung  der  Ansichten  bei  zwei 
Menschen  ist  diess,  dass  beide  sich  gegenseitig  einiges 
Ironische  sagen,  aber  keiner  von  beiden  das  Ironische 
daran  fühlt. 

332. 

Anmaassung  bei  Verdiensten.  — Anmaassung 
bei  Verdiensten  beleidigt  noch  mehr  als  Anmaassung 
von  Menschen  ohne  Verdienst :  denn  schon  das  Verdienst 
beleidigt. 

333. 
Gefahr   in   der  Stimme.  —  Mitunter  macht  uns 
im    Gespräch,  der    Klang   der    eignen   Stimme   verlegen 
und   verleitet    uns    zu    Behauptungen,   welche   gar    nicht 
unsern  Meinungen  entsprechen. 

334. 
Im   Gespräche.    —   Ob   man   im    Gespräche   dem 
Andern  vornehmlich  Recht  giebt  oder  Unrecht,  ist  durch- 
aus   die    Sache    der   Angewöhnung:    das    Eine    wie   das 
Andre  hat  Sinn. 


79 


335. 

Furcht  vor  dem  Nächsten.  —  Wir  furchten  die 
feindsehge  Stimmung  des  Nächsten,  weil  wir  befürchten, 
dass  er  durch  diese  Stimmung  hinter  unsere  HeimHch- 
keiten  kommt 

336. 

Durch  Tadel  auszeichnen.  —  Sehr  angesehene 
Personen  ertheilen  selbst  ihren  Tadel  so,  dass  sie  uns 
damit  auszeichnen  wollen.  Es  soU  uns  aufmerksam 
machen,  wie  angelegentlich  sie  sich  mit  uns  beschäftigen. 
Wir  verstehen  sie  ganz  falsch,  wenn  wir  ihren  Tadel 
sachlich  nehmen  und  uns  gegen  ihn  vertheidigen ;  wir 
ärgern  sie  dadurch  und  entfremden  uns  ihnen. 

337. 

Verdruss  am  Wohlwollen  Anderer,  —  Wir 
irren  uns  über  den  Grad,  in  welchem  wir  uns  gehasst, 
gefürchtet  glauben:  weil  wir  selber  zwar  gut  den  Grad 
unserer  Abweichung  von  einer  Person  Richtung  Partei 
kennen,  jene  Andern  aber  uns  sehr  oberflächlich  kennen 
und  desshalb  auch  nur  oberflächhch  hassen.  Wir  be- 
gegnen oft  einem  Wohlwollen,  welches  uns  unerklärlich 
ist;  verstehen  wir  es  aber,  so  beleidigt  es  uns,  weil  es 
zeigt,  dass  man  uns  nicht  ernst,  nicht  wichtig  genug 
nimmt. 

338. 

vSich  kreuzende  Eitelkeiten.  —  Zwei  sich  begeg- 
nende Personen,  deren  Eitelkeit  gleich  gross  ist,  behalten 
hinterdrein  von  einander  einen  schlechten  Eindruck,  weil 
jede  so  mit  dem  Eindruck  beschäftigt  war,  den   sie  bei 


—      28o     — 

dem  Anderen  hervorbrin gen  wollte,  dass  der  Andere  auf 
sie  keinen  Eindruck  machte;  beide  merken  endlich,  dass 
ihr  Bemühen  verfehlt  ist,  und  schieben  dem  Anderen  die 
Schuld  zu. 

339. 

Unarten  als  gute  Anzeichen.  —  Der  überlegene 
Geist  hat  an  den  Tactlosigkeiten  Anmaassungen ,  ja 
Feindseligkeiten  ehrgeiziger  Jünglinge  gegen  ihn  sein 
Vergnügen;  es  sind  die  Unarten  feuriger  Pferde,  welche 
noch  keinen  Reiter  getragen  haben  und  doch  in  Kurzem 
so  stolz  sein  werden,  ihn  zu  tragen. 


3-40. 

Wann  es  rathsam  ist,  Unrecht  zu  behalten.  — 
Man  thut  gut,  gemachte  Anschuldigungen,  selbst  wenn 
sie  uns  Unrecht  thun,  ohne  Widerlegung  hinzunehmen, 
im  Fall  der  Anschuldigende  darin  ein  noch  grösseres 
Unrecht  unserseits  sehen  würde,  wenn  wir  ihm  wider- 
sprächen und  etwa  gar  ihn  widerlegten.  Freilich  kann 
Einer  auf  diese  Weise  immer  Unrecht  haben  und  immer 
Recht  behalten  und  zuletzt  mit  dem  besten  Gewissen 
von  der  Welt  der  unerträglichste  Tyrann  und  Quälgeist 
werden;  und  was  vom  Einzelnen  gilt,  kann  auch  bei 
ganzen  Classen  der  Gesellschaft  vorkommen. 


341. 

Zu  wenig  geehrt.  —  Sehr  eingebildete  Personen, 
denen  man  Zeichen  von  geringerer  Beachtung  gegeben 
hat,  als  sie  erwarteten,  versuchen  lange  sich  selbst  und 
Andere   darüber  irre  zu  führen   und  werden  spitzfindige 


—       28l       — 


Psychologiker,  um  heraus  zu  bekommen,  dass  der  Andere 
sie  doch  genügend  geehrt  hat:  erreichen  sie  ihr  Ziel 
nicht,  reisst  der  Schleier  der  Täuschung,  so  geben  sie 
sich  einer  um  so  grösseren  Wuth  hin. 


342. 

Urzustände  in  der  Rede  nachklingend.  — 
In  der  Art,  wie  jetzt  die  Männer  im  Verkehre  Behaup- 
tungen aufstellen,  erkennt  man  oft  einen  Nachklang  der 
Zeiten,  wo  dieselben  sich  besser  auf  Waffen  als  auf 
irgend  Etwas  verstanden:  sie  handhaben  ihre  Behaup- 
tungen bald  wie  zielende  Schützen  ihr  Gewehr ,  bald 
glaubt  man  das  Sausen  und  Kllirren  der  Klingen  zu 
hören;  und  bei  einigen  Männern  poltert  eine  Behauptung 
herab  wie  ein  derber  Knüttel.  —  Frauen  dagegen 
sprechen  so  wie  Wesen,  welche  Jahrtausende  lang  am 
Webstuhl  Sassen  oder  die  Nadel  führten  oder  mit  Kindern 
kindisch  waren. 

343- 

Der  Erzähler.  —  Wer  Etwas  erzählt,  lässt  leicht 
merken,  ob  er  erzählt,  weil  ihn  das  Factum  interessirt, 
oder  weil  er  durch  die  Erzählung  interessiren  will.  Im 
letzteren  Falle  wird  er  übertreiben,  Superlative  ge- 
brauchen und  Ähnliches  thun.  Er  erzählt  dann  gewöhn- 
lich schlechter,  weil  er  nicht  so  sehr  an  die  Sache  als 
an  sich  denkt. 

344. 

Der  Vorleser.  —  Wer  dramatische  Dichtungen 
vorliest,  macht  Entdeckungen  über  seinen  Charakter:  er 
findet  für  gewisse  Stimmungen  und  Scenen  seine  Stimme 


—       2>i2       — 

natürlicher  als  für  andere,  etwa  für  alles  Pathetische 
oder  für  das  Scurrile,  während  er  vielleicht  im  gewöhn- 
lichen Leben  nur  nicht  Gelegenheit  hatte,  Pathos  oder 
Scurrilität  zu  zeigen. 

345. 

Eine  Lustspiel-Scene,  welche  im  Leben 
vorkommt.  —  Jemand  denkt  sich  eine  geistreiche 
Meinung  über  ein  Thema  aus,  um  sie  in  einer  Gesell- 
schaft vorzutragen.  Nun  würde  man  im  Lustspiel  an- 
hören und  ansehen,  wie  er  mit  allen  Segeln  an  den 
Punkt  zu  kommen  und  die  Gesellschaft  dort  einzuschiffen 
sucht,  wo  er  seine  Bemerkung  machen  kann:  wie  er 
fortwährend  die  Unterhaltung  nach  Einem  Ziele  schiebt, 
gelegentlich  die  Richtung  verliert,  sie  wiedergewinnt, 
endlich  den  Augenblick  erreicht:  fast  versagt  ihm  der 
Athem  —  und  da  nimmt  ihm  Einer  aus  der  Gesellschaft 
die  Bemerkung  vom  Munde  weg.  Was  wird  er  thun? 
Seiner  eigenen  Meinung  opponiren? 

346. 

Wider  Willen  u nhöflich.  —  Wenn  Jemand  wider 
Willen  einen  Andern  unhöflich  behandelt,  zum  Beispiel 
nicht  grüsst,  weil  er  ihn -nicht  erkennt,  so  wurmt  ihn 
diess,  obschon  er  nicht  seiner  Gesinnung  einen  Vorwurf 
machen  kann;  ihn  kränkt  die  schlechte  Meinung,  welche 
er  bei  dem  Andern  erzeugt  hat,  oder  er  fürchtet  die  Folgen 
einer  Verstimmung,  oder  ihn  schmerzt,  den  Andern  ver- 
letzt zu  haben  —  also  Eitelkeit,  Furcht  oder  Mitleid 
können  rege  werden,  vielleicht  auch  alles  zusammen. 


-     283     - 

347- 

Verräther-Meisterstück.  —  Gegen  den  !Mitver- 
schworenen  den  kränkenden  Argw^ohn  zu  äussern,  ob 
man  nicht  von  ihm  verrathen  werde,  und  diess  gerade 
in  dem  Augenblick,  wo  man  selbst  Verrath  übt,  ist  ein 
Meisterstück  der  Bosheit,  weil  es  den  Andern  persönlich 
occupirt  und  ihn  zwingt,  eine  Zeitlang  sich  sehr  unver- 
dächtig und  offen  zu  benehmen:  so  dass  der  wirkliche 
Verräther  sich  freie  Hand  gemacht  hat. 

348. 

Beleidigen  und  beleidigt  werden.  —  Es  ist 
weit  angenehmer,  zu  beleidigen  und  später  um  Ver- 
zeihung zu  bitten,  als  beleidigt  zu  werden  und  Ver- 
zeihung zu  gewähren.  Der,  welcher  das  Erste  thut,  giebt 
ein  Zeichen  von  Macht  und  nachher  von  Güte  des 
Charakters.  Der  Andre,  wenn  er  nicht  als  inhuman 
gelten  will,  muss  schon  verzeihen;  der  Genuss  an  der 
Demüthigung  des  Andern  ist  dieser  Nöthigung  wegen 
gering. 

349- 
Im  Disput.  —  "Wenn  man  zugleich  einer  anderen 
Meinung  widerspricht  und  dabei  seine  eigene  entwickelt, 
so  verrückt  gewöhnlich  die  fortwährende  Rücksicht  auf 
die  andere  Meinung  die  natürliche  Haltung  der  eigenen: 
sie  erscheint  absichtlicher  schärfer,  vielleicht  etwas  über- 
trieben. 

350. 

Kunstgriff.  —  Wer  etwas  Schwieriges  von  einem 
Anderen  erlangen  will,  muss  die  Sache  überhaupt  nicht 


.  —    284     — 

als  Problem  fassen,  sondern  schlicht  seinen  Plan  hinlegen, 
als  sei  er  die  einzige  Möglichkeit;  er  muss  es  verstehen, 
wenn  im  Auge  des  Gegners  der  Einwand ,  der  Wider- 
spruch dämmert,  schnell  abzubrechen  und  ihm  keine  Zeit 
zu.  geben. 

351- 
Gewissensbisse  nach  Gesellschaften.  — 
Warum  haben  wir  nach  gewöhnlichen  Gesellschaften 
Gewissensbisse?  Weil  wir  wichtige  Dinge  leicht  ge- 
nommen haben,  weil  wir  bei  der  Besprechung  von  Per- 
sonen nicht  mit  voller  Treue  gesprochen  oder  weil  wir 
geschwiegen  haben,  wo  wir  reden  sollten,  weil  ^wir  ge- 
legentlich nicht  aufgesprungen  und  fortgelaufen  sind, 
—  kurz,  weil  wir  uns  in  der  Gesellschaft  benahmen,  als 
ob  wir  zu  ihr  gehörten. 

352. 
Man  wird  falsch  beurtheilt.  —  Wer  immer  dar- 
nach hinhorcht,  wie  er  beurtheilt  wird,  hat  immer  Ärger. 
Denn  wir  werden  schon  von  Denen,  welche  uns  am 
nächsten  stehen  („am  besten  kennen"),  falsch  beurtheilt. 
Selbst  gute  Freunde  lassen  ihre  Verstimmung  mitunter 
in  einem  missgüustigen  Worte  aus;  und  würden  sie 
unsre  Freunde  sein,  wenn  sie  uns  genau  kennten?  — 
Die  Urtlieile  der  Gleichgültigen  thun  sehr  weh,  weil  sie 
so  unbefangen,  fast  sachlich  klingen.  Merken  wir  aber 
gar,  dass  Jemand,  der  uns  feind  ist,  uns  in  einem  geheim 
gehaltenen  Punkte  so  gut  kennt,  wie  wir  uns,  wie  gross 
ist  dann  erst  der  Verdrussl 

353- 
Tyrannei  des  Portraits.  —  Künstler  und  Staats- 
männer, die  schnell  aus  einzelnen  Zügen  das  ganze  Bild 


-     285     - 

eines  Menschen  oder  Ereignisses  combiniren,  sind  am 
meisten  dadurch  ungerecht,  dass  sie  hinterdrein  ver- 
langen, das  Ereigniss  oder  der  Mensch  müsse  wirklich 
so  sein,  wie  sie  es  malten;  sie  verlangen  geradezu,  dass 
Einer  so  begabt,  so  verschlagen,  so  ungerecht  sei,  wie  er 
in  ihrer  Vorstellung  lebt. 

354- 

Der  Verwandte  als  der  beste  Freund.  —  Die 
Griechen,  die  so  gut  wussten,  was  ein  Freund  sei  —  sie 
allein  von  allen  Völkern  haben  eine  tiefe,  vielfache  philo- 
sophische Erörterung  der  Freundschaft;  so  dass  ihnen 
zuerst,  und  bis  jetzt  zuletzt,  der  Freund  als  ein  lösens- 
werthes  Problem  erschienen  ist  — ,  diese  selben  Griechen 
haben  die  Verwandten  mit  einem  Ausdrucke  bezeich- 
net, welcher  der  Superlativ  des  Wortes  „Freund"  ist. 
Diess  bleibt  mir  unerklärlich. 

355. 

Verkannte  Ehrlichkeit.  —  Wenn  Jemand  im  Ge- 
spräche sich  selber  citirt  („ich  sagte  damals",  „ich  pflege 
zu  sagen"),  so  macht  diess  den  Eindruck  der  Anmaassung, 
während  es  häufig  gerade  aus  der  entgegengesetzten 
Quelle  hervorgeht,  mindestens  aus  Ehrlichkeit,  welche 
den  Augenblick  nicht  mit  den  Einfällen  schmücken  und 
herausputzen  wiU,  welche  einem  früheren  Augenblicke 
angehören. 

356. 

Der  Parasit.  —  Es  bezeichnet  einen  völligen 
Mangel  an  vornehmer  Gesinnung,  wenn  Jemand  lieber 
in    Abhängigkeit,    auf   Andrer    Kosten    leben    will,    um 


—     286     — 

nur  nicht  arbeiten  zu  müssen,  gewöhnlich  mit  einer  heim- 
lichen Erbitterung  gegen  Die,  von  denen  er  abhängt.  — 
Eine  solche  Gesinnung  ist  viel  häufiger  bei  Frauen  als 
bei  Männern,  auch  viel  verzeihlicher  (aus  historischen 
Gründen). 

357- 

Auf  dem  Altar  der  Versöhnung.  —  Es  giebt 
Umstände,  wo  man  eine  Sache  von  einem  Menschen 
nur  so  erlangt,  dciss  man  ihn  beleidigt  und  sich  ver- 
feindet: dieses  Gefühl,  einen  Feind  zu  haben,  quält  ihn 
so,  dass  er  gern  das  erste  Anzeichen  einer  milderen 
Stimmung  zur  Versöhnung  benützt  und  jene  Sache  auf 
dem  Altar  dieser  Versöhnung  opfert,  an  der  ihm  früher 
so  viel  gelegen  war,  dass  er  sie  um  keinen  Preis  geben 
wollte. 

358. 

Mitleid  fordern  als  Zeichen  der  Anmaassung. 
—  Es  giebt  Menschen,  welche,  wenn  sie  in  Zorn  gerathen 
und  die  Anderen  beleidigen,  dabei  erstens  verlangen, 
dass  man  ihnen  Nichts  übel  nehme,  und  zweitens,  dass 
man  mit  ihnen  Mitleid  habe,  weil  sie  so  heftigen  Paroxys- 
men  unterworfen  sind:  so  weit  geht  die  menschliche 
Anmaassung. 

359- 

Köder.  —  „Jeder  Mensch  hat  seinen  Preis"  —  das 
ist  nicht  wahr.  Aber  es  findet  sich  wohl  für  Jeden  ein 
Köder,  an  den  er  anbeissen  muss.  So  braucht  man, 
um  manche  Personen  für  eine  Sache  zu  gewinnen,  dieser 
Sache  nur  den  Glanz  des  Menschenfreundlichen  Edlen 
Mildthätigen     Aufopfernden    zu   geben    —   und   welcher 


—     28;     — 

Sache  könnte  man  ihn  nicht  geben!  — :  es  ist  das 
Zuckerwerk  und  die  Näscherei  ihrer  Seele;  andere 
haben   anderes. 

360. 

Verhalten  beim  Lobe.  —  Wenn  gute  Freunde 
die  begabte  Natur  loben,  so  wird  sie  sich  öfters  aus 
Höflichkeit  und  Wohlwollen  darüber  erfreut  zeigen,  aber 
in  Wahrheit  ist  es  ihr  gleichgültig.  Ihr  eigentliches 
Wesen  ist  ganz  träge  dagegen  und  um  keinen  Schritt 
dadurch  aus  der  Sonne  oder  dem  Schatten,  in  dem  sie 
liegt,  herauszuwälzen;  aber  die  Menschen  wollen  durch 
Lob  eine  Freude  machen  und  man  würde  sie  betrüben, 
wenn  man  sich  über  ihr  Lob  nicht  freute. 

361. 

Die  Erfahrung  des  Sokrates.  —  Ist  man  in 
einer  Sache  Meister  geworden ,  so  ist  man  gewöhnlich 
eben  dadurch  in  den  meisten  anderen  Sachen  ein  völliger 
Stümper  geblieben;  aber  man  urtheilt  gerade  umgekehrt, 
wie  diess  schon  Sokrates  erfuhr.  Diess  ist  der  Übelstand, 
welcher  den  Umgang  mit  Meistern  unangenehm  macht 

362. 

Mittel  der  Vertheidigung.  —  Im  Kampf  mit  der 
Dummheit  werden  die  billigsten  und  sanftesten  Menschen 
zuletzt  brutal.  Sie  sind  damit  vielleicht  auf  dem  rechten 
Wege  der  Vertheidigung;  denn  an  die  dumme  Stirn 
gehört,  als  Argument,  von  Rechtswegen  die  geballte 
Faust.  Aber  weil,  wie  gesagt,  ihr  Charakter  sanft  und 
billig  ist,  so  leiden  sie  durch  diese  Mittel  der  Nothwehr 
hiehr,  als  sie  Leid  zufügen. 


363. 

Neugierde.  —  "Wenn  die  Neugierde  nicht  wäre, 
würde  wenig  für  das  Wohl  des  Nächsten  gethan  werden. 
Aber  die  Neugierde  schleicht  sich  unter  dem  Namen  der 
Pflicht  oder  des  Mitleidens  in  das  Haus  des  Unglücklichen 
und  Bedürftigen.  —  Vielleicht  ist  selbst  an  der  vielbe- 
rühmten Mutterliebe  ein  gut  Stück  Neugierde. 


364. 

Verrechnung  in  der  Gesellschaft  —  Dieser 
wünscht  interessant  zu  sein  durch  seine  Urtheile,  Jener 
durch  seine  Neigungen  und  Abneigungen,  der  Dritte 
durch  seine  Bekanntschaften,  ein  Vierter  durch  seine  Ver- 
einsamung —  und  sie  verrechnen  sich  Alle.  Denn  Der, 
vor  dem  das  Schauspiel  aufgeführt  wird,  meint  selber 
dabei  das  einzig  in  Betracht  kommende  Schauspiel  zu  sein. 


365. 

Duell.  —  Zu  Gunsten  aller  Ehrenhändel  und  Duelle 
ist  zu  sagen,  dass,  wenn  Einer  ein  so  reizbares  Gefühl 
hat,  nicht  leben  zu  wollen,  wenn  Der  und  Der  das  und 
das  über  ihn  sagt  oder  denkt,  er  ein  Recht  hat,  die 
Sache  auf  den  Tod  des  Einen  oder  des  Anderen  ankom- 
men zu  lassen.  Darüber,  dass  er  so  reizbar  ist,  ist  gar 
nicht  zu  rechten,  damit  sind  wir  die  Erben  der  Ver- 
gangenheit, ihrer  Grösse  sowohl  wie  ihrer  Übertrei- 
bungen, ohne  welche  es  nie  eine  Grösse  gab.  Existirt 
nun  ein  Ehrenkanon,  welcher  Blut  an  Stelle  des  Todes 
gelten  lässt,  so  dass  nach  einem  regelmässigen  Duell  das 
Gemüth  erleichtert  ist,  so  ist  diess  eine  grosse  Wohlthat. 


—    289    — 

weil  sonst  viele  Menschenleben  in  Gefahr  wären.  —  So 
eine  Institution  erzieht  übrigens  die  Menschen  in  Vor- 
sicht auf  ihre  Äusserungen  und  macht  den  Umgang  mit 
ihnen  möglich. 

366. 

Vornehmheit  und  Dankbarkeit.  —  Eine  vor- 
nehme Seele  wird  sich  gern  zur  Dankbarkeit  verpflichtet 
fühlen  und  den  Gelegenheiten,  bei  denen  sie  sich  ver- 
pflichtet, nicht  ängstlich  aus  dem  Wege  gehen;  ebenso 
wird  sie  nachher  gelassen  in  den  Äusserungen  der  Dank- 
barkeit sein;  während  niedere  Seelen  sich  gegen  alles 
Verpflichtetwerden  sträuben  oder  nachher  in  den  Äusser- 
ungen ihrer  Dankbarkeit  übertrieben  und  allzu  sehr  be- 
flissen sind.  Letzteres  kommt  übrigens  auch  bei  Personen 
von  niederer  Herkunft  oder  gedrückter  Stellung  vor: 
eine  Gunst,  ihnen  erwiesen,  deucht  ihnen  ein  Wunder 
von  Gnade. 

367- 

Die  Stunden  der  Beredsamkeit  —  Der  Eine 
hat  um  gut  zu  sprechen  Jemanden  nöthig,  der  ihm  ent- 
schieden und  anerkannt  überlegen  ist,  der  Andere  kann 
nur  vor  Einem,  den  er  überragt,  völlige  Freiheit  der 
Rede  und  glückliche  Wendungen  der  Beredsamkeit 
finden:  in  beiden  Fällen  ist  es  derselbe  Grund;  Jeder 
von  ihnen  redet  nur  gut,  wenn  er  sans  gene  redet,  der 
Eine,  weil  er  vor  dem  Höheren  den  Antrieb  der  Con- 
currenz,  des  Wettbewerbs  nicht  fühlt,  der  Andere  eben- 
falls desshalb,  angesichts  des  Niederen.  —  Nun  giebt  es 
eine  ganz  andere  Gattung  von  Menschen,  die  nur 
gut  reden,  wenn  sie  im  Wetteifer,  mit  der  Absicht  zu 
siegen,  reden.  Welche  von  beiden  Gattungen  ist  die  ehr- 

Nietzsche,  Werke  UanJ  II.  lg 


—      290     — 

geizigere:  die,  welche  aus  erregter  Ehrsucht  gut,  oder 
die,  welche  aus  eben  diesem  Motive  schlecht  oder  gar 
nicht  spricht? 

368. 

Das  Talent  zur  Freundschaft.  —  Unter  den 
Menschen,  welche  eine  besondere  Begabung  zur  Freund- 
schaft haben,  treten  zwei  Typen  hervor.  Der  Eine  ist  in 
einem  fortwährenden  Aufsteigen  und  findet  für  jede 
Phase  seiner  Entwicklung  einen  genau  zugehörigen 
Freund.  Die  Reihe  von  Freunden,  welche  er  auf  diese 
Weise  erwirbt,  ist  unter  sich  selten  in  Zusammenhang, 
mitunter  in  Misshelligkeit  und  Widerspruch:  ganz  dem 
entsprechend,  dass  die  späteren  Phasen  in  seiner  Ent- 
wicklung die  früheren  Phasen  aufheben  oder  beein- 
trächtigen. Ein  solcher  Mensch  mag  im  Scherz  eine 
Leiter  heissen.  —  Den  anderen  Typus  vertritt  Der, 
welcher  eine  Anziehungskraft  auf  sehr  verschied  ne 
Charaktere  und  Begabungen  ausübt,  so  dass  er  einen 
ganzen  Eüreis  von  Freunden  gewinnt;  diese  aber  kommen 
dadurch  selber  unter  einander  in  freundschaftliche  Be- 
ziehung, trotz  aller  Verschiedenheit.  Einen  solchen  Men- 
schen nenne  man  einen  Kreis:  denn  in  ihm  muss  jene 
Zusammengehörigkeit  so  verschiedener  Anlagen  und 
Naturen  irgendwie  vorgebildet  sein.  —  Übrigens  ist  die 
Gabe,  gute  Freunde  zu  Haben,  in  manchem  Menschen 
viel  grösser  als  die  Gabe,  ein  guter  Freund  zu  sein. 

369. 

Taktik  im  Gespräch.  —  Nach  einem  Gespnäch 
mit  Jemandem  ist  man  am  besten  auf  den  Mitunter- 
redner zu  sprechen,  wenn  man  Gelegenheit  hatte,  seinen 


291       — 

Geist,  seine  Liebenswürdigkeit  vor  ihm  im  ganzen  Glänze 
zu  zeigen.  Diess  benutzen  kluge  Menschen,  welche  Je- 
manden sich  günstig  stimmen  wollen,  indem  sie  bei  der 
Unterredung  ihm  die  besten  Gelegenheiten  zu  einem 
guten  Witz  und  dergleichen  zuschieben.  Es  wäre  ein 
lustiges  Gespräch  zwischen  zwei  sehr  Klugen  zu  denken, 
welche  sich  gegenseitig  günstig  stimmen  wollen  und  sich 
desshalb  die  schönen  Gelegenheiten  im  Gespräch  hin 
und  her  zuwerfen,  während  keiner  sie  annimmt:  so  dass 
das  Gespräch  im  Ganzen  geistlos  und  unliebenswürdig 
verhefe,  weil  Jeder  dem  Anderen  die  Gelegenheit  .zu 
Geist  und  Liebenswürdigkeit  zumese. 

370- 

Entladung  des  Unmuths,  —  Der  Mensch,  dem 
etwas  misslingt,  führt  diess  Missling^n  lieber  auf  den 
bösen  Willen  eines  Anderen  als  auf  den  Zufall  zurück. 
Seine  gereizte  Empfindung  wird  dadurch  erleichtert,  eine 
Person  und  nicht  eine  Sache  sich  als  Grund  seines  Miss- 
lingens  zu  denken;  denn  an  Personen  kann  man  sich 
rächen,  die  Unbilden  des  Zufalls  muss  man  hinunter- 
würgen. Die  Umgebung  eines  Fürsten  pflegt  desshalb, 
wenn  diesem  etwas  misslungen  ist,  einen  einzelnen 
Menschen  als  angebliche  Ursache  ihm  zu  bezeichnen  und 
im  Interesse  aller  Höflinge  aufzuopfern;  denn  der  Miss- 
muth  des  Fürsten  würde  sich  sonst  an  ihnen  Allen  aus- 
lassen, da  er  ja  an  der  Schicksalsgöttin  selber  keine 
Rache  nehmen  kann. 

371- 

Die  Farbe  der  Umgebung  annehmen.  — 
Warum  ist  Neigung  und  Abneigung  so  ansteckend,  dass 

19* 


—     292     — 

man  kaum  in  der  Nähe  einer  stark  empfindenden  Person 
leben  kann,  ohne  wie  ein  Gefäss  mit  ihrem  Für  und 
Wider  angefüllt  zu  werden?  Erstens  ist  die  völlige  Ent- 
haltung des  Urtheils  sehr  schwer,  mitunter  für  unsere 
Eitelkeit  geradezu  unerträglich ;  sie  trägt  da  gleiche 
Farbe  mit  der  Gedanken-  und  Empfindungsarmuth  oder 
mit  der  Ängstlichkeit,  der  Unmännlichkeit:  und  so  werden 
wir  wenigstens  dazu  fortgerissen,  Partei  zu  nehmen,  viel- 
leicht gegen  die  Richtung  unserer  Umgebung,  wenn  diese 
Stellung  unserem  Stolze  mehr  Vergnügen  macht.  Gewöhn- 
lich aber  —  das  ist  das  Zweite  —  bringen  wir  uns  den 
Übergang  von  Gleichgültigkeit  zu  Neigung  oder  Ab- 
neigung gar  nicht  zum  Bewusstsein,  sondern  allmählich 
gewöhnen  wir  uns  an  die  Empfindungsweise  unserer  Um- 
gebung, und  weil  sympathisches  Zustimmen  und  Sich- 
verstehen so  angenehm  ist,  tragen  wir  bald  alle  Zeichen 
und  Parteifarben  dieser  Umgebung. 


372. 

Ironie.  —  Die  Ironie  ist  nur  als  pädagogisches 
Mittel  am  Platze,  von  Seiten  eines  Lehrers  im  Verkehr 
mit  Schülern  irgend  welcher  Art:  ihr  Zweck  ist  De- 
müthigung  Beschämung,  aber  von  jener  heilsamen  Art, 
welche  gute  Vorsätze  erwachen  lässt  und  Dem,  welcher 
uns  so  behandelte,  Verehrung  Dankbarkeit  als  einem 
Arzte  entgegenbringen  heisst.  Der  Ironische  stellt  sich 
unwissend  und  zwar  so  gut,  dass  die  sich  mit  ihm  unter- 
redenden Schüler  getäuscht  sind  und  in  ihrem  guten 
Glauben  an  ihr  eigenes  Besserwissen  dreist  werden  und 
sich  Blossen  aller  Art  geben;  sie  verlieren  die  Behutsam- 
keit und  zeigen  sich,  wie  sie  sind,  —  bis  in  einem  Augen- 
blick die  Leuchte,  die  sie  dem  Lehrer  in's  Gesicht  hielten. 


—     293     — 

ihre  Strahlen  sehr  demüthigend  auf  sie  selbst  zurück- 
fallen lässt.  —  Wo  ein  solches  Verhältniss,  wie  zwischen 
Lehrer  und  Schüler,  nicht  stattfindet,  ist  sie  eine  Un- 
art, ein  gemeiner  Affect.  Alle  ironischen  Schriftsteller 
rechnen  auf  die  alberne  Gattung  von  Menschen,  welche 
sich  gerne  allen  Anderen  mit  dem  Autor  zusammen  über- 
legen fühlen  wollen,  als  welchen  sie  für  das  Mundstück 
ihrer  Anmaassung  ansehen.  —  Die  Gewöhnung  an  Ironie, 
ebenso  wie  die  an  Sarkasmus  verdirbt  übrigens  den 
Charakter,  sie  verleiht  allmähhch  die  Eigenschaft  einer 
schadenfrohen  Überlegenheit:  man  ist  zuletzt  einem 
bissigen  Hunde  gleich ,  der  noch  das  Lachen  gelernt 
hat,  ausser  dem  Beissen. 


373. 

Anmaassung,  —  Vor  Nichts  soll  man  sich  so 
hüten  als  vor  dem  Aufwachsen  jenes  Unkrauts,  welches 
Anmaassung  heisst  und  uns  jede  gute  Ernte  verdirbt; 
denn  es  giebt  Anmaassung  in  der  Herzlichkeit,  in  den 
Ehrenbezeigxingen,  in  der  wohlwollenden  Vertraulichkeit, 
in  der  Liebkosung,  im  freundschaftlichen  Rathe,  im  Ein- 
gestehen von  Fehlern,  in  dem  Alitleiden  für  Andere,  und 
alle  diese  schönen  Dinge  erregen  Widerwillen,  wenn 
jenes  Kraut  dazwischen  wächst.  Der  Anmaassende,  das 
heisst  Der,  welcher  mehr  bedeuten  will  als  er  ist  oder 
gilt,  macht  immer  eine  falsche  Berechnung.  Zwar  hat 
er  den  augenblicklichen  Erfolg  für  sich ,  insofern  die 
Menschen,  vor  denen  er  anmaassend  ist,  ihm  gewöhnlich 
das  Maass  von  Ehre  geben,  welches  er  fordert,  aus  Angst 
oder  Bequemlichkeit;  aber  sie  nehmen  eine  schlimme 
Rache  dafür,  insofern  sie  ebensoviel,  als  er  über  das 
Maass  forderte,  von  dem  Werthe  subtrahiren,  den  sie  ihm 


294  — 

bis  jetzt  beilegten.  Es  ist  Nichts,  was  die  Menschen  sich 
theurer  bezahlen  lassen,  als  Demüthigung.  Der  An- 
maassende  kann  sein  wirkliches  grosses  Verdienst  so  in 
den  Augen  der  x\nderen  verdächtigen  und  kleinmachen, 
dass  man  mit  staubigen  Füssen  darauf  tritt.  Selbst 
ein  stolzes  Benehmen  sollte  man  sich  nur  dort  erlauben, 
wo  man  ganz  sicher  sein  kann,  nicht  missverstanden  und 
als  anmaassend  betrachtet  zu  werden,  zum  Beispiel  vor 
Freunden  und  Gattinnen.  Denn  es  giebt  im  Verkehre 
mit  Menschen  keine  grössere  Thorheit  als  sich  den  Ruf 
der  Anmaassung  zuzuziehn;  es  ist  noch  schlimmer,  als 
wenn  man  nicht  gelernt  hat,  höflich  zu  lügen. 


374- 
Zwiegespräch.  —  Das  Zwiegespräch  ist  das  voll- 
kommene Gespräch,  weil  Alles,  was  der  Eine  sagt,  seine 
bestimmte  Farbe,  seinen  Klang,  seine  begleitende  Ge- 
bärde in  strenger  Rücksicht  auf  den  Anderen, 
mit  dem  gesprochen  wird,  erhält,  also  dem  entsprechend, 
was  beim  Brief  verkehre  geschieht,  dass  ein  und  derselbe 
zehn  Arten  des  seelischen  Ausdrucks  zeigt,  je  nachdem 
er  bald  an  Diesen,  bald  an  Jenen  schreibt.  Beim  Zwie- 
gespräch giebt  es  nur  eine  einzige  Strahlenbrechung  des 
Gedankens:  diese  bringt  der  Mitunterredner  hervor  als 
der  Spiegel,  in  welchem  wir  unsere  Gedanken  möglichst 
schön  wiedererblicken  wollen.  Wie  aber  ist  es  bei  zweien, 
bei  dreien  und  mehr  Mitunterrednern  ?  Da  verliert  noth- 
wendig  das  Gespräch  an  individualisirender  Feinlieit,  die 
verschiedenen  Rücksichten  kreuzen  sich,  heben  sich  auf; 
die  Wendung,  welche  dem  Einen  wohltut,  ist  nicht  nach 
der  Sinnesart  des  Anderen.  Desshalb  wird  der  IMensch 
im    Verkehr    mit    Mehreren    gezwungen,    sich    auf    sich 


—     295     — 

zurückzuziehen.,  die  Thatsachen  hinzustellen,  wie  sie  sind, 
aber  jenen  spielenden  Äther  der  Humanität  den  Gegen- 
ständen zu  nehmen,  welcher  ein  Gespräch  zu  den  ange- 
nehmsten Dingen  der  Welt  macht.  Man  höre  nur  den 
Ton,  in  welchem  IMänner  im  Verkehre  mit  ganzen  Gruppen 
von  Männern  zu  reden  pflegen,  es  ist  als  ob  der  Grund- 
bass  aller  Rede  der  sei:  „das  bin  ich,  das  sage  ich, 
nun  haltet  davon,  was  ihr  wollt!"  Diess  ist  der  Grund, 
wesshalb  geistreiche  Frauen  bei  Dem,  welcher  sie  in  der 
Gesellschaft  kennen  lernte,  meistens  einen  befremdenden, 
peinlichen,  abschreckenden  Eindruck  hinterlassen:  es. ist 
das  Reden  zu  Vielen ,  vor  Vielen ,  welches  sie  aller 
geistigen  Liebenswürdigkeit  beraubt  und  nur  das  be- 
wusste  Beruhen  auf  sich  selbst,  ihre  Taktik  und  die 
Absicht  auf  öffentlichen  Sieg  in  grellem  Lichte  zeigt: 
während  dieselben  Frauen  im  Zwiegespräche  wieder  zu 
Weibern  werden  und  ihre  geistige  Anmuth  wiederfinden. 


375. 

Nachruhm.  —  Auf  die  Anerkennung  einer  fernen 
Zukunft  hoffen  hat  nur  Sinn,  wenn  man  die  Annahme 
macht,  dass  die  Menschheit  wesenthch  unverändert  bleibe 
und  dass  alles  Grosse  nicht  für  Eine,  sondern  für  alle 
Zeiten  als  gross  empfunden  werden  müsse.  Diess  ist 
aber  ein  Irrthum;  die  Menschheit,  in  allem  Empfinden 
und  Urtheilen  über  Das,  was  schön  und  gut  ist,  ver- 
wandelt sich  sehr  stark :  es  ist  Phantasterei,  von  sich  zu 
glauben,  dass  man  eine  Meile  Wegs  voraus  sei  und  dass 
die  gesammte  Menschheit  unsere  Strasse  ziehe.  Zudem: 
ein  Gelehrter,  der  verkannt  wird,  darf  jetzt  bestimmt 
darauf  rechnen,  dass  seine  Entdeckung  von  Anderen 
auch  gemacht   wird   und   dass   ihm    besten    Falls    einmal 


—     296     — 

spät  von  einem  Historiker  zuerkannt  wird,  er  habe  diess 
und  jenes  auch  schon  gewusst,  sei  aber  nicht  im  Stande 
gewesen,  seinem  Satze  Glauben  zu  verschaffen.  Nicht- 
anerkannt-werden  wird  von  der  Nachwelt  immer  als 
Mangel  an  Kraft  ausgelegt.  —  Kurz,  man  soll  der  hoch- 
müthigen  Vereinsamung  nicht  so  leicht  das  Wort  reden. 
Es  giebt  übrigens  Ausnahmefälle;  aber  gewöhnlich  sind 
es  unsere  Fehler  Schwächen  und  Narrheiten,  welche  die 
Anerkennung  unserer  grossen  Eigenschaften  verhindern. 


376. 

Von  den  Freunden.  —  Überlege  nur  mit  dir 
selber  einmal,  wie  verschieden  die  Empfindungen,  wie 
getheilt  die  Meinungen,  selbst  unter  den  nächsten  Be- 
kannten sind;  wie  selbst  gleiche  Meinungen  in  dem 
Kopf  deiner  Freunde  eine  ganz  andere  Stellung  oder 
Stärke  haben  als  in  deinem;  wie  hundertfältig  der  An- 
lass  kommt  zum  Missverstehen,  zum  feindseligen  Aus- 
einanderfliehen. Nach  alledem  wirst  du  dir  sagen:  wie 
unsicher  ist  der  Boden,  auf  dem  alle  unsere  Bündnisse 
und  Freundschaften  ruhen,  wie  nahe  sind  kalte  Regen- 
güsse oder  böse  Wetter,  wie  vereinsamt  ist  jeder  Mensch! 
Sieht  Einer  diess  ein  und  noch  dazu,  dass  alle  Meinungen 
und  deren  Art  und  Stärke  bei  seinen  Mitmenschen  ebenso 
nothwendig  und  unverantwortlich  sind  wie  ihre  Hand- 
lungen, gewinnt  er  das  Auge  für  diese  innere  Noth  wendig- 
keit der  Meinungen  aus  der  unlösbaren  Verflechtung 
von  Charakter  Beschäftigung  Talent  Umgebung  —  so 
wird  er  vielleicht  die  Bitterkeit  und  Schärfe  der  Em- 
pfindung los,  mit  der  jener  Weise  rief:  „Freunde,  es 
giebt  keine  Freunde!"  Er  wird  sich  vielmehr  ein- 
gestehen: ja   es   giebt   Freunde,   aber   der   Irrthum,    die 


207       — 

Täuschung  über  dich  führte  sie  dir  zu;  und  Schweig-en 
müssen  sie  gelernt  haben,  um  dir  Freund  zu  bleiben; 
denn  fast  immer  beruhen  solche  menschliche  Beziehungen 
darauf,  dass  irgend  ein  paar  Dinge  nicht  gesagt  werden, 
ja  dass  an  sie  nie  gerührt  wird:  kommen  diese  Steinchen 
aber  in's  Rollen,  so  folgt  die  Freundschaft  hinterdrein 
und  zerbricht.  Giebt  es  Menschen,  welche  nicht  tödtlich 
zu  verletzen  sind,  wenn  sie  erführen,  was  ihre  vertrautesten 
Freunde  im  Grunde  von  ihnen  wissen?  —  Indem  wir 
uns  selbst  erkennen  und  unser  Wesen  selber  als  eine 
wandelnde  Sphäre  der  Meinungen  und  Stimmungen  an- 
sehen, und  somit  ein  wenig  geringschätzen  lernen,  bringen 
wir  uns  wieder  in's  Gleichgewicht  mit  den  Übrigen.  Es 
ist  wahr,  wir  haben  gute  Gründe,  jeden  unserer  Be- 
kannten, und  seien  es  die  grössten,  gering  zu  achten ; 
aber  ebenso  gute,  diese  Empfindung  gegen  uns  selber 
zu  kehren.  —  Und  so  wollen  wir  es  mit  einander  aus- 
halten, da  wir  es  ja  mit  uns  aushalten;  und  vielleicht 
kommt  Jedem  auch  einmal  die  freudigere  Stunde,  wo 
er  ruft: 

„Freunde,  es  giebt  keine  Freunde!"  so  rief  der 
sterbende  Weise; 

„Feinde,  es  giebt  keinen  Feind!"  —  ruf  ich,  der 
lebende  Thor. 


Siebentes  Hauptstück: 
Weib  und  Kind. 


377- 

Das  vollkommene  Weib.  —  Das  vollkommene 
Weib  ist  ein  höherer  Typus  des  Menschen  als  der  voll- 
kommene Mann:  auch  etwas  viel  Seltneres.  —  Die 
Naturwissenschaft  der  Thiere  bietet  ein  Mittel,  diesen 
Satz  wahrscheinlich  zu  machen. 

378. 
Freundschaft    und    Ehe.    —    Der  beste   Freund 
wird    wahrscheinlich   die   beste    Gattin    bekommen,   weil 
die  gute  Ehe   auf  dem  Talent   zur  Freundschaft  beruht 

379. 
Fortleben    der    Eltern.    • —    Die    unaufgelösten 
Dissonanzen  im  Verhältniss  von  Charakter  und  Gesinnung 
der  Eltern  klingen  in  dem   Wesen  des   Kindes   fort   und 
machen  seine  innere  Leidensgeschichte  aus. 

380. 

Von  der  Mutter  her.  —  Jedermann  trägt  ein 
Bild  des  Weibes  von  der  Mutter  her  in  sich:  davon  wird 
er  bestimmt,  die  Weiber  überhaupt  zu  verehren  oder  sie 
geringzuschätzen  oder  gegen  sie  im  Allgemeinen  gleich- 
gültig zu  sein. 


—       i02       ~- 
381. 

Die  Natur  corrigiren.  —  Wenn  man  keinen 
guten  Vater  hat,  so  soll  man  sich  einen  anschaffen. 

382. 

Väter  und  Söhne.  —  Väter  haben  viel  zu  thun, 
um  es  wieder  gut  zu  machen,  dass  sie  Sohne  haben. 

383. 

Irrthum  vornehmer  Frauen.  —  Die  vornehmen 
Frauen  denken,  dass  eine  Sache  gar  nicht  da  ist,  wenn 
es  nicht  möglich  ist,  von  ihr  in  der  Gesellschaft  zu 
sprechen. 

384- 

Eine  Männer-Krankheit.  —  Gegen  die  Männer- 
Krankheit  der  Selbstverachtung  hilft  es  am  sichersten, 
von  einem  klugen  Weibe  geliebt  zu  werden. 

385. 

Eine  Art  der  Eifersucht  —  Mütter  sind  leicht 
eitersüchtig  auf  die  Freunde  ihrer  Söhne,  wenn  diese  be- 
sondere Erfolge  haben.  Gewöhnlich  liebt  eine  Mutter 
sich  mehr  in  ihrem  Sohne    als  den  Sohn  selber. 

386. 

Vernünftige  Unvernunft.  —  In  der  Reife  des 
Lebens  und  des  Verstandes  überkommt  den  Menschen 
das  Gefühl,  dass  sein  Vater  Unrecht  hatte,  ihn  zu  zeugen. 


—     303     — 

38?. 
Mütterliche    Güte.    —    Manche    Mutter   braucht 
glückliche  geehrte    Kinder,  manche   unglückliche:    sonst 
kann  sich  ihre  Güte  als  Mutter  nicht  zeigen. 

388. 

Verschiedene  Seufzer.  —  Einige  Männer  haben 
über  die  Entführung  ihrer  Frauen  geseufzt,  die  meisten 
darüber,  dass  Niemand  sie  ihnen  entführen  wollte. 

389. 
Liebesheirathen.  —  Die  Ehen,  welche  aus  Liebe 
geschlossen    werden    (die    sogenannten    Liebesheirathen), 
haben  den  Irrthum  zum  Vater  und  die  Noth  (das  Bedürf- 
niss)  zur  Mutter. 

390- 
Frauenfreundschaft.    —    Frauen    können    recht 
gut  mit  einem  Manne  Freundschaft  schliessen;   aber  um 
diese  aufrecht  zu  erhalten  —  dazu  muss  wohl  eine  kleine 
physische  Antipathie  mithelfen. 

391- 
Langeweile.    —    Viele    Menschen ,    namentlich 
Frauen,  empfinden  die  Langeweile  nicht,  weil  sie  niemals 
ordentlich  arbeiten  gelernt  haben. 

392. 
Ein    Element    der   Liebe.   —  In  jeder  Art  der 
weiblichen    Liebe    kommt   auch   etwas   von    der    mütter- 
Uchen  Liebe  zum  Vorschein. 


—     304 

393- 

Die  Einheit  des  Orts  und  das  Drama.  — Wenn 
die  Ehegatten  nicht  beisammen  lebten,  würden  die  guten 
Ehen  häufiger  sein. 

394. 

Gewöhnliche  Folgen  der  Ehe.  ^  Jeder  Um- 
gang, der  nicht  hebt,  zieht  nieder  und  umgekehrt;  dess- 
halb  sinken  gewöhnlich  die  Männer  etwas,  wenn  sie 
Frauen  nehmen,  während  die  F"rauen  etwas  gehoben 
werden.  Allzu  geistige  Männer  bedürfen  ebenso  sehr 
der  Ehe  als  sie  ihr  wie  einer  widrigen  Medicin  wider- 
streben. 

395- 

Befehlen  lehren.  —  Kinder  aus  bescheidnen 
Familien  muss  man  ebenso  sehr  das  Befehlen  durch  Er- 
ziehung lehren    wie  andere  Kinder  das  Gehorchen. 

396. 

Verliebt  werden  wollen.  —  Verlobte,  welche 
die  Convenienz  zusammengefügt  hat,  bemühen  sich  häufig, 
verliebt  zu  werden,  um  über  den  Vorwurf  der  kalten, 
berechnenden  Nützlichkeit  hinwegzukommen.  Ebenso 
bemühen  sich  Solche,  die  ihres  Vortheils  wegen  zum 
Christenthum  umlenken,  wirklich  fromm  zu  werden;  denn 
so  wird  das  religiöse  Mienenspiel  ihnen  leichter. 

397. 

Kein  Stillstand  in  der  Liebe.  —  Ein  Musiker, 
der   das    langsame   Tempo    liebt,  wird    dieselben   Ton- 


—     305     — 

stücke  immer  langsamer  nehmen.     So  giebt  es  in  keiner 
Liebe  ein  Stillstehen. 

398. 

Schamhaftigk  eit     —     Mit    der    Schönheit    der 
Frauen  nimmt  im  Allgemeinen  ihre  Schamhaftigkeit  zu. 


3Q9- 

Ehe  von  gutem  Bestand.  —  Eine  Ehe,  in  der 
Jedes  durch  das  Andere  ein  individuelles  Ziel  erreichen 
will,  hält  gut  zusammen,  zum  Beispiel  wenn  die  Frau 
durch  den  Mann  berühmt,  der  Mann  durch  die  Frau  be- 
liebt werden  wilL ' 

400. 

Proteus-Natur.  —  Weiber  werden  aus  Liebe  ganz 
zu  dem,  als  was  sie  in  der  Vorstellung  der  Männer,  von 
denen  sie  geliebt  werden,  leben. 

401. 

Lieben  und  besitzen.  —  Frauen  lieben  meistens 
einen  bedeutenden  Mann  so,  dass  sie  ihn  allein  haben 
wollen.  Sie  würden  ihn  gern  in  Verschluss  legen,  wenn 
nicht  ihre  Eitelkeit  widerriethe:  diese  will,  dass  er  auch 
vor  Anderen  bedeutend  erscheine. 


402. 

Probe  einer  guten  Ehe.  —  Die  Güte  einer  Fhe 
bewährt  sich  dadurch,  dass  sie  einmal  eine  „Ausnahme" 
verträgt. 

Nietzsche,  Werke  Band  Tl.  20 


—     2,ob 


403. 


Mittel,  Alle  zu  Allem  zu  bringen.  —  Man 
kann  Jedermann  so  durch  Unruhen  Ängste  Überhäufung 
von  Arbeit  und  Gedanken  abmatten  und  schwach  machen, 
dass  er  einer  Sache,  die  den  Schein  des  Complicirten  hat, 
nicht  mehr  widersteht,  sondern  ihr  nachgiebt,  —  das 
wissen  die  Diplomaten  und  die  Frauen. 


404. 

Ehrbarkeit  und  Ehrlichkeit.  —  Jene  Mädchen, 
welche  allein  ihrem  Jugendreize  die  Versorgung  für's 
ganze  Leben  verdanken  wollen  und  deren  Schlauheit  die 
gewitzigten  Mütter  noch  souffliren,  wollen  ganz  Dasselbe 
wie  die  Hetären,  nur  dass  sie  klüger  und  unelirlicher 
als  diese  sind. 

405. 

Masken.  —  Es  giebt  Frauen,  die,  wo  man  bei 
ihnen  auch  nachsucht,  kein  Inneres  haben,  sondern  reine 
Masken  sind.  Der  Mann  ist  zu  beklagen,  der  sich  mit 
solchen  fast  gespenstischen,  nothwendig  unbefriedigenden 
Wesen  einlässt,  aber  gerade  sie  vermögen  das  Verlangen 
des  Mannes  auf  das  stärkste  zu  erregen:  er  sucht  nach 
ihrer  Seele  —  und  sucht 'immerfort. 


406. 

Die  Ehe  als  langes  Gespräch.  —  Man  soll 
sich  beim  Eingehen  einer  Ehe  die  Frage  vorlegen: 
glaubst  du,  dich  mit  dieser  Frau  bis  in's  Alter  hinein 
gut  zu  unterhalten?    Alles  Andere  in  der  Ehe  ist  transi- 


—     307     —  • 

torisch,   aber  die   meiste   Zeit   des  Verkehrs  gehört  dera 
Gespräche  an. 

407. 
Mädchenträume.  —  Unerfahrene  Mädchen  schmei- 
cheln sich  mit  der  Vorstellung,  dass  es  in  ihrer  Macht 
stehe,  einen  Mann  glücklich  zu  machen;  später  lernen 
sie,  dass  es  so  viel  heisst  als:  einen  Mann  geringschätzen, 
wenn  man  annimmt,  dass  es  nur  eines  Mädchens  be- 
dürfe, um  ihn  glücklich  zu  machen.  —  Die  Eitelkeit  der 
Frauen  verlangt,  dass  ein  Mann  mehr  sei  als  ein  glück- 
licher Gatte. 

408. 

Aussterben  von  Faust  und  Gretchen.  —  Nach 
der  sehr  einsichtigen  Bemerkung  eines  Gelehrten  ähneln 
die  gebildeten  Männer  des  gegenwärtigen  Deutschlands 
einer  Mischung  von  Mephistopheles  und  Wagner,  aber 
durchaus  nicht  Fausten:  welchen  die  Grossväter  (in  ihrer 
Jugend  wenigstens)  in  sich  rumoren  fühlten.  Zu  ihnen 
passen  also  —  um  jenen  Satz  fortzusetzen  —  aus  zwei 
Gründen  die  Gretchen  nicht  Und  weil  sie  nicht  mehr 
begehrt  werden,  so  sterben  sie,  scheint  es,  aus. 

409. 

Mädchen  als  Gymnasiasten.  —  Um  Alles  in 
der  Welt  nicht  noch  unsere  Gymnasialbildung  auf  die 
Mädchen  übertragen!  Sie,  die  häufig  aus  geistreichen 
wissbegierigen  feurigen  Jungen  —  Abbilder  ihrer  Lehrer 
macht  I 

410. 

Ohne  Nebenbuhlerinnen.  —  Frauen  merken 
es  einem  Manne  leicht  an,  ob  seine  Seele  schon  in  licbitz 


—     3o8     — 

genommen  ist;  sie  wollen  ohne  Nebenbuhlerinnen  geliebt 
sein  und  verargen  ihm  die  Ziele  seines  Ehrgeizes,  seine 
politischen  Aufgaben,  seine  Wissenschaften  und  Künste, 
wenn  er  eine  Leidenschaft  zu  solchen  Sachen  hat.  Es 
sei  denn,  dass  er  durch  diese  glänze,  —  dann  erhoffen 
sie,  im  Falle  einer  Liebesverbindung  mit  ihm,  zugleich 
einen  Zuwachs  ihres  Glanzes;  wenn  es  so  steht,  be- 
günstigen sie  den  Liebhaber. 


411. 

Der  weibliche  Intellect.  —  Der  Intellect  der 
"Weiber  zeigt  sich  als  voUkommne  Beherrschung,  Gegen- 
wärtigkeit des  Geistes ,  Benutzung  aller  Vortheile.  Sie 
vererben  ihn  als  ihre  Grundeigenschaft  auf  ihre  KJnder, 
und  der  Vater  giebt  den  dunkleren  Hintergrund  des 
Willens  dazu.  Sein  Einfiuss  bestimmt  gleichsam  Rhyth- 
mus und  Harmonie,  mit  denen  das  neue  Leben  abgespielt 
werden  soll;  aber  die  Melodie  desselben  stammt  vom 
Weibe.  —  Für  Solche  gesagt,  welche  etwas  sich  zurecht 
zu  legen  wissen:  die  Weiber  haben  den  Verstand,  die 
Männer  das  Gemüth  und  die  Leidenschaft.  Dem  wider- 
spricht nicht,  dass  die  Männer  thatsächlich  es  ifÜt  ihrem 
Verstände  so  viel  weiter  bringen:  sie  haben  die  tieferen, 
gewaltigeren  Antriebe;  diese  tragen  ihren  Verstand,  der 
an  sich  etwas  Passives  ist,  so  weit.  Die  Weiber  wundern 
sich  im  Stillen  oft  über  die  grosse  Verehrung,  welche 
die  Männer  ihrem  Gemüthe  zollen.  Wenn  die  Männer 
vor  Allem  nach  einem  tiefen,  gemüthvollen  Wesen,  die 
Weiber  aber  nach  einem  klugen,  geistesgegenwärtigen 
und  glänzenden  Wesen  bei  der  Wahl  ihres  Ehegenossen 
suchen,  so  sieht  man  im  Grunde  deutlich,  wie  der  Mann 
nach  dem  idealisirten  Manne,  das  Weib  nach  dem  ideali- 


—     309     — 

sirten  Weibe  sucht,  also  nicht  nach  Ergänzung,  sondern 
nach  Vollendung  der  eigenen  Vorzüge. 

412. 

Ein  Urtheil  Hesiod's  bekräftigt.  —  Ein  Zeichen 
für  die  Klugheit  .der  Weiber  ist  es,  dass  sie  es  fast 
überall  verstanden  haben ,  sich  ernähren  zu  lassen ,  wie 
Drohnen  im  Bienenkorbe.  Man  erwäge  doch  aber,  was 
das  ursprünglich  bedeuten  will  und  warum  die  Männer 
sich  nicht  von  den  Frauen  ernähren  lassen.  Gewiss  weil 
die  männliche  Eitelkeit  und  Ehrsucht  grösser  als  die 
weibliche  Klugheit  ist;  denn  die  Frauen  haben  es  ver- 
standen ,  sich  durch  Unterordnung  doch  den  über- 
wiegenden Vortheil,  ja  die  Herrschaft  zu  sichern.  Selbst 
das  Pflegen  der  Kinder  könnte  ursprünglich  von  der 
Klugheit  der  Weiber  als  Vorwand  benutzt  sein,  um  sich 
der  Arbeit  möghchst  zu  entziehen.  Auch  jetzt  noch 
verstehen  sie,  wenn  sie  wirklich  thätig  sind,  zum  Bei- 
spiel als  Haushälterinnen,  davon  ein  sinneverwirrendes 
Auflieben  zu  machen:  so  dass  von  den  Männern  das 
Verdienst  ihrer  Thätigkeit  zehnfach  überschätzt  zu  werden 
pflegt 

413. 
Die  Kurzsichtigen  sind  verliebt.  —  Mitunter 
genügt  schon  eine  stärkere  Brille,  um  den  Verliebten  zu 
heilen;  und  wer  die  Kraft  der  Einbildung  hätte,  um  ein 
Gesicht,  eine  Gestalt  sich  zwanzig  Jahre  älter  vorzustellen, 
gienge  vielleicht  sehr  ungestört  durch  das  Leben. 

414. 

Frauen  im  Ilass.  —  Im  Zustande  des  Hasses 
sind   Frauen   gefährlicher    als   Männer;    einmal   weil    sie 


—     3IO     — 

durch  keine  Rücksicht  auf  Billigkeit  in  ihrer  einmal 
erregten  feindseligen  Empfindung  gehemmt  werden, 
sondern  ungestört  ihren  Hass  bis  zu  den  letzten  Con- 
sequenzen  anwachsen  lassen,  sodann  weil  sie  darauf 
eingeübt  sind,  wunde  Stellen  (die  jeder  Mensch,  jede 
Partei  hat)  zu  finden  und  dorthinein  zu  stechen:  wozu 
ihnen  ihr  dolchspitzer  Verstand  treffliche  Dienste  leistet 
(während  die  Männer  beim  Anblick  von  Wunden  zurück- 
haltend, oft  grossmüthig  und  versöhnüch  gestimmt 
werden). 

415. 

Liebe.  —  Die  Abgötterei,  welche  die  Frauen  mit 
der  Liebe  treiben,  ist  im  Grund  und  ursprünglich  eine 
Erfindung  der  Klugheit,  insofern  sie  ihre  Macht  durch 
alle  jene  Idealisirungen  der  Liebe  erhöhen  und  sich  in 
den  Augen  der  Männer  als  immer  begehrenswerther  dar- 
stellen. Aber  durch  die  jahrhundertelange  Gewöhnung 
an  diese  übertriebene  Schätzung  der  Liebe  ist  es  ge- 
schehen, dass  sie  in  ihr  eignes  Netz  gelaufen  sind  und 
jenen  Ursprung  vergessen  haben.  Sie  selber  sind  jetzt 
noch  mehr  die  Getäuschten  als  die  Männer,  und  leiden 
desshalb  auch  mehr  an  der  Enttäuschung,  welche  fast 
nothwendig  im  Leben  jeder  Frau  eintreten  wird  —  sofern 
sie  überhaupt  Phantasie  und  Verstand  genug  hat,  um 
getäuscht  und  enttäuscht  werden  zu  können. 


416. 

Zur  Emancipation  der  Frauen.  —  Können  die 
Frauen  überhaupt  gerecht  sein,  wenn  sie  so  gewohnt 
sind  zu  lieben,  gleich  für  oder  wider  zu  empfinden? 
Daher    sind    sie    auch    seltener    für    Sachen,    mehr    für 


—     311     — 

Personen  eingenommen:  sind  sie  es  aber  für  Sachen,  so 
werden  sie  sofort  deren  Parteigänger  und  verderben 
damit  die  reine  unschuldige  Wirkung  derselben.  So 
entsteht  eine  nicht  geringe  Gefahr,  wenn  ihnen  die  Politik 
und  einzelne  Theile  der  Wissenschaft  anvertraut  werden 
(zum  Beispiel  Geschichte).  Denn  was  wäre  seltener  als 
eine  Frau,  welche  wirklich  wüsste,  was  Wissenschaft  ist? 
Die  besten  nähren  sogar  im  Busen  gegen  sie  eine  heim- 
liche Geringschätzung,  als  ob  sie  irgend  wodurch  ihr 
überlegen  wären.  Vielleicht  kann  diess  Alles  anders 
werden,  einstweilen  ist  es  so. 


417. 

Die  Inspiration  im  Urtheile  der  Frauen.  — 
Jene  plötzlichen  Entscheidungen  über  das  Für  oder 
Wider ,  welche  Frauen  zu  geben  pflegen ,  die  blitz- 
schnellen Erhellungen  persönlicher  Beziehungen  durch 
ihre  hervorbrechenden  Neigungen  und  Abneigungen, 
kurz  die  Beweise  der  weiblichen  Ungerechtigkeit  sind 
von  liebenden  Männern  mit  emem.  Glanz  amgeben 
worden,  als  ob  alle  Frauen  Inspirationen  von  Weisheit 
hätten,  auch  ohne  den  delphischen  Kessel  und  die  Lor- 
beerbinde :  und  ihre  Aussprüche  werden  noch  lange 
nachher  wie  sibyllinische  Orakel  interpretirt  und  zurecht- 
gelegt. Wenn  man  aber  erwägt,  dass  für  jede  Person, 
für  jede  Sache  sich  etwas  geltend  machen  lässt,  aber 
ebenso  gut  auch  etwas  gegen  sie,  dass  alle  Dinge  nicht 
nur  zwei-,  sondern  drei-  und  vierseitig  sind,  so  ist  es 
beinahe  schwer,  mit  solchen  plötzhch^n  Entscheidungen 
gänzlich  fehl  zu  greifen;  ja  man  könnte  sagen:  die  Natur 
der  Dinge  ist  so  eingerichtet,  dass  die  Frauen  immer 
Recht  behalten. 


i^2 


418. 

Sich  lieben  lassen.  —  Weil  die  eine  von  zwei 
liebenden  Personen  gewöhnlich  die  liebende,  die  andere 
die  geliebte  Person  ist,  so  ist  der  Glaube  entstanden,  es 
gäbe  in  jedem  Liebeshandel  ein  gleichbleibendes  Maass 
von  Liebe:  je  mehr  eine  davon  an  sich  reisse,  um  so 
weniger  bleibe  für  die  andere  Person  übrig.  Ausnahms- 
weise kommt  es  vor,  dass  die  Eitelkeit  jede  der  beiden 
Personen  überredet,  sie  sei  die,  welche  geliebt  werden 
müsse;  so  dass  sich  beide  lieben  lassen  wollen:  woraus 
sich  namentlich  in  der  Ehe  mancherlei  halb  drollige  halb 
absurde  Scenen  ergeben. 


419- 

Widersprüche  in  weiblichen  Köpfen.  —  Weil 
die  Weiber  so  viel  mehr  persönlich  als  sachhch  sind, 
vertragen  sich  in  ihrem  Gedankenkreise  Richtungen,  die 
logisch  mit  sich  im  Widerspruche  sind:  sie  pflegen  sich 
eben  für  die  Vertreter  dieser  Richtungen  der  Reihe 
nach  zu  begeistern  und  nehmen  deren  Systeme  in  Bausch 
und  Bogen  an;  doch  so,  dass  überall  dort  eine  todte 
Stelle  entsteht,  wo  eine  neue  Persönlichkeit  später  das 
Übergewicht  bekommt.  Es  kommt  vielleicht  vor,  dass 
die  ganze  Philosophie  im'  Kopf  einer  alten  Frau  aus 
lauter  solchen  todten  Stellen  besteht 


420. 

Wer  leidet  mehr?  —  Nach  einem  persönlichen 
Zwiespalt  und  Zanke  zwischen  einer  Frau  und  einem 
Manne  leidet   der  eine  Theil  am   meisten   bei   der  Vor- 


—     313     — 

Stellung,  dem  anderen  wehe  gethan  zu  haben;  während 
jener  am  meisten  bei  der  Vorstellung  leidet,  dem  anderen 
nicht  genug  wehe  gethan  zu  haben,  wesshaib  er  sich 
bemüht,  durch  Thränen,  Schluchzen  und  verstörte  Mienen, 
ihm  noch  hinterdrein  das  Herz  schwer  zu  machen. 


421. 

Gelegenheit  zu  weiblicher  Grossmuth. —  Wenn 
man  sich  über  die  Ansprüche  der  Sitte  einmal  in  Ge- 
danken hinwegsetzt,  so  könnte  man  wohl  erwägen ^  ob 
nicht  Natur  und  Vernunft  dea  Mann  auf  mehrfache  Ver- 
heirathung  nach  einander  anweist,  etwa  in  der  Gestalt, 
dass  er  zuerst  im  Alter  von  zweiundzwanzig  Jahren 
ein  älteres  Mädchen  heirathet,  das  ihm  geistig  und 
sittlich  überlegen  ist  und  seine  Führerin  durch  die 
Gefahren  der  zwanziger  Jahre  (Ehrgeiz  Hass  Selbstver- 
achtung, Leidenschaften  aller  Art)  werden  kann.  Die 
Liebe  Dieser  würde  später  ganz  in  das  iMütterliche  über- 
treten, und  sie  ertrüge  es  nicht  nur,  sondern  förderte 
es  auf  die  heilsamste  Weise,  wenn  der  Mann  in  den 
dreissiger  Jahren  mit  einem  ganz  jungen  Mädchen  eine 
Verbindung  eingienge,  dessen  Erziehung  er  selber  in  die 
Hand  nähme.  —  Die  Ehe  ist  für  die  zwanziger  Jahre  ein 
nöthiges,  für  die  dreissiger  ein  nützliches,  aber  nicht 
nöthiges  Institut:  für  das  spätere  Leben  wird  sie  oft 
schädlich  und  befördert  die  geistige  Rückbildung  des 
Mannes. 

422. 

Tragödie  der  Kindheit.  —  Es  kommt  vielleicht 
nicht  selten  vor,  dass  edel-  und  hochstrebende  Menschen 
iliren    härtesten    Kampf   in    der    Kindheit    zu    bestehen 


—     314     — 

haben:  etwa  dadurch,  dass  sie  ihre  Gesinnung  gegen 
einen  niedrig  denkenden,  dem  Schein  und  der  Lügnerei 
ergebenen  Vater  durchsetzen  oder  fortwährend,  wie  Lord 
Byron,  im  Kampfe  mit  einer  kindischen  und  zornwüthigen 
Mutter  leben  müssen.  Hat  man  so  etwas  erlebt,  so 
wird  man  sein  Leben  lang  es  nicht  verschmerzen,  zu 
wissen,  wer  Einem  eigentlich  der  grösste,  der  gefähr- 
lichste Feind  gewesen  ist. 


423- 

Eltern-Thorheit.  —  Die  gröbsten  Irrthümer  in  der 
Beurtheilung  eines  Menschen  werden  von  dessen  Eltern 
gemacht:  diess  ist  eine  Thatsache,  aber  wie  soll  man  sie 
erklären?  Haben  die  Eltern  zu  viele  Erfahrung  von  dem 
Kinde  und  können  sie  diese  nicht  mehr  zu  einer  Einheit 
zusammenbringen?  Man  bemerkt,  dass  Reisende  unter 
fremden  Völkern  nur  in  der  ersten  Zeit  ihres  Aufent- 
haltes die  allgemeinen  unterscheidenden  Züge  eines  Volkes 
richtig  erfassen;  je  mehr  sie  das  Volk  kennen  lernen, 
desto  mehr  verlernen  sie,  das  Typische  und  Unter- 
scheidende an  ihm  zu  sehen.  Sobald  sie  nah  -  sichtig 
werden,  hören  ihre  Augen  auf  fern -sichtig  zu  sein. 
Sollten  die  Eltern  desshalb  falsch  über  das  Kind  urtheilen, 
weil  sie  ihm  nie  fern  genug  gestanden  haben?  —  Eine 
ga,nz  andere  Erklärung  wäre  folgende:  die  Menschen 
pflegen  über  das  Nächste,  was  sie  umgiebt,  nicht  mehr 
nachzudenken,  sondern  es  nur  hinzunehmen.  Vielleicht 
ist  die  gewohnheitsmässige  Gedankenlosigkeit  der  Eltern 
der  Grund,  wesshalb  sie,  einmal  genöthigt  über  ihre 
Kinder  zu  urtheilen,  so  schief  urtheilen. 


315 


424. 

Aus  der  Zukunft  der  Ehe.  —  Jene  edlen  frei- 
gesinnten Frauen,  welche  die  Erziehung  und  Erhebung 
des  weiblichen  Geschlechts  sich  zur  Aufgabe  stellen, 
sollen  Einen  Gesichtspunkt  nicht  übersehen:  die  Ehe  in 
ihrer  höheren  Auffassung  gedacht,  als  Seelenfreundschaft 
zweier  Menschen  verschiedenen  Geschlechts,  also  so,  wie 
sie  von  der  Zukunft  erhofft  wird,  zum  Zweck  der  Er- 
zeugung und  Erziehung  einer  neuen  Generation  ge- 
schlossen, —  eine  solche  Ehe,  welche  das  Sinnliche 
gleichsam  nur  als  ein  seltnes  gelegentliches  Mittel  für 
einen  grössern  Zweck  gebraucht,  bedarf  wahrscheinlich, 
wie  man  besorgen  muss,  einer  natürlichen  Beihülfe,  des 
Concubinats.  Denn  wenn  aus  Gründen  der  Gesundheit 
des  Mannes  das  Eheweib  auch  zur  alleinigen  Befriedigung 
des  geschlechtlichen  Bedürfnisses  dienen  soll,  so  wird  bei 
der  Wahl  einer  Gattin  schon  ein  falscher,  den  ange- 
deuteten Zielen  entgegengesetzter  Gesichtspunkt  maass- 
gebend  sein:  die  Erzielung  der  Nachkommenschaft  wird 
zufällig,  die  glückliche  Erziehung  höchst  unwahrscheinlich. 
Eine  gute  Gattin,  welche  Freundin,  Gehülfin,  Gebärerin, 
Mutter,  Familienhaupt,  Verwalterin  sein  soll,  ja  vielleicht 
abgesondert  von  dem  Manne  ihrem  eigenen  Geschäft  und 
Amt  vorzustehen  hat  —  kann  nicht  zugleich  Concubine 
sein:  es  hiesse  im  Allgemeinen  zu  viel  von  ihr  verlangen. 
Somit  könnte  in  Zukunft  das  Umgekehrte  dessen  ein- 
treten, was  zu  Perikles'  Zeiten  in  Athen  sich  begab,  die 
Männer,  welche  damals  an  ihren  Eheweibern  nicht  viel 
mehr  als  Concubinen  hatten,  wandten  sich  nebenbei  zu 
den  Aspasien,  weil  sie  nach  den  Reizen  eine;  köpf-  und 
herzbefreienden  Geselligkeit  verlangten  wie  eine  solche 
nur   die   Anmuth   und    geistige   Biegsamkeit   der  Frauen 


—     Sid     — 

zu  schaffen  vermag.  Alle  menschlichen  Institutionen, 
wie  die  Ehe,  gestatten  nur  einen  massigen  Grad  \'on 
praktischer  Idealisirung,  widrigenfalls  sofort  grobe  Re- 
meduren  nöthig  werden. 

425- 
Sturm-  und  Drangperiode  der  Frauen.  — 
Man  kann  in  den  drei  oder  vier  civilisirten  Ländern 
Europa's  aus  den  Frauen  durch  einige  Jahrhunderte  von 
Erziehung  Alles  machen,  was  man  will,  selbst  Männer, 
freilich  nicht  in  geschlechtlichem  Sinne,  aber  doch  in 
jedem  anderen  Sinne.  Sie  werden  unter  einer  solchen 
Einwirkung  einmal  alle  männlichen  Tugenden  und  Stär- 
ken angenommen  haben,  dabei  allerdings  auch  deren 
Schwäclien  und  Laster  mit  in  den  Kauf  nehmen  müssen: 
so  viel,  wie  gesagt,  kann  man  erzwingen.  Aber  wie 
werden  wir  den  dadurch  herbeigeführten  Zwischenzustand 
aushalten,  welcher  vielleicht  selber  ein  paar  Jahrhunderte 
dauern  kann,  während  denen  die  weiblichen  Narrheiten 
und  Ungerechtigkeiten,  ihr  uraltes  Angebinde,  noch  die 
Übermacht  über  alles  Hinzugewonnene,  Angelernte  be- 
haupten? Diese  Zeit  wird  es  sein,  in  welcher  der  Zorn 
den  eigentlich  männlichen  Afifect  ausmacht,  der  Zorn 
darüber,  dass  alle  Künste  und  Wissenschaften  durch 
einen  unerhörten  Dilettantismus  überschwemmt  und  ver- 
schlammt sind,  die  Philosophie  durch  sinnverwirrendes 
Geschwätz  zu  Tode  geredet,  die  Politik  phantastischer 
und  parteiischer  als  je,  die  Gesellschaft  in  voUer  Auf- 
lösung ist,  weil  die  Bewahrerinnen  der  alten  Sitte  sich 
selber  lächerlich  geworden  und  in  jeder  Beziehung  ausser 
der  Sitte  zu  stehen  bestrebt  sind.  Hatten  nämlich  die 
Frauen  ihre  grösste  Macht  in  der  Sitte,  wonach  werden 
sie  greifen  müssen,  um   eine   ähnliche  Fülle  der  Macht 


—     317     — 

wiederzugewinnen,    nachdem    sie    die    Sitte    aufgegeben 
haben? 

426. 

Freigeist  und  Ehe.  —  Ob  die  Freigeister  mit 
Frauen  leben  werden?  Im  Allgemeinen  glaube  ich,  dass 
sie,  gleich  den  wahrsagenden  Vögeln  des  Alterthums, 
als  die  Wahrdenkenden,  Wahrheit-Redenden  der  Gegen- 
wart es  vorziehen  müssen,  allein  zu  fliegen. 

427. 

Glück  der  Ehe.  —  Alles  Gewohnte  zieht  ein 
immer  fester  werdendes  Netz  von  Spinneweben  um  uns 
zusammen;  und  alsobald  merken  wir,  dass  die  Fäden  zu 
Stricken  geworden  sind  und  dass  wir  selber  als  Spinne 
in  der  Mitte  sitzen,  die  sich  hier  gefangen  hat  und  von 
ihrem  eignen  Blute  zehren  muss.  Desshalb  hasst  der 
Freigeist  alle  Gewöhnungen  und  Regeln,  alles  Dauernde 
und  Definitive,  desshalb  reisst  er,  mit  Schmerz,  das  Netz 
um  sich  immer  wieder  auseinander:  wiewohl  er  in  Folge 
dessen  an  zahlreichen  kleinen  und  grossen  Wunden 
leiden  wird  —  denn  jene  Fäden  muss  er  von  sich, 
von  seinem  Leibe,  seiner  Seele  abreissen.  Er  muss 
dort  lieben  lernen,  wo  er  bisher  hasste:  und  umgekehrt. 
Ja  es  darf  für  ihn  nichts  Unmöghches  sein,  auf  dasselbe 
Feld  Drachenzähne  auszusäen,  auf  welches  er  vorher 
die  Füllhörner  seiner  Güte  ausströmen  liess.  —  Daraus 
lässt  sich  abnehmen,  ob  er  für  das  Glück  der  Ehe  ge- 
schaffen ist 

428. 

Zu  nahe.  —  Leben  wir  zu  nahe  mit  einem  Men- 
schen zusammen,  so  geht  es  uns  so,  wie  wenn  wir  einen 


—     3IÖ     - 

guten  Kupferstich  immer  wieder  mit  blossen  Fingern 
anfassen:  eines  Tages  haben  wir  schlechtes  beschmutztes 
Papier  und  nichts  weiter  mehr  in  den  Händen.  Auch 
die  Seele  eines  Menschen  wird  durch  beständiges  An- 
greifen endlich  abgegriffen;  mindestens  erscheint  sie 
uns  endlich  so  —  wir  sehen  ihre  ursprüngliche  Zeich- 
nung und  Schönheit  nie  wieder.  —  Man  verliert  hnmer 
durch  den  allzuvertraulichen  Umgang  mit  Frauen  und 
Freunden ;  und  mitunter  verliert  man  die  Perle  seines 
Lebens  dabei. 

429. 

Die  goldene  Wiege.  —  Der  Freigeist  wird  immer 
aufathmen,  wenn  er  sich  endlich  entschlossen  hat,  jenes 
mutterhafte  Sorgen  und  Bewachen,  mit  welchem  die 
Frauen  um  ihn  walten,  von  sich  abzuschütteln.  Was 
schadet  ihm  denn  ein  rauherer  Luftzug,  den  man  so 
ängstlich  von  ihm  wehrte,  was  bedeutet  ein  wirklicher 
Nachtheil,  Verlust,  Unfall,  eine  Erkrankung  Verschuldung 
Bethörung  mehr  oder  weniger  in  seinem  Leben,  verglichen 
mit  der  Unfreiheit  der  goldncn  Wiege,  des  Pfauen- 
schweif-Wedels und  der  drückenden  Empfindung,  noch 
dazu  dankbar  sein  zu  müssen,  weil  er  wie  ein  Säugling 
gewartet  und  verwöhnt  wird?  Desshalb  kann  sich  ihm 
die  Milch,  welche  die  mütterliche  Gesinnung  der  ihn  um- 
gebenden Frauen  reicht,  so  leicht  in  Galle  verwandeln. 


430. 

Freiwilliges  Opferthier.  —  Durch  Nichts  erleich- 
tern bedeutende  Frauen  ihren  Männern,  falls  diese  berühmt 
und  gross  sind,  das  Leben  so  sehr,  als  dadurch  dass  sie 
gleichsam   das  Gefäss  der  allgemeinen  Ungunst  und  ge- 


—     319      — 

legentlichen  Verstimmung-  der  übrigen  Menschen  werden. 
Die  Zeitgenossen  pflegen  ihren  grossen  Männern  viel 
Fehlgriffe  und  Narrheiten,  ja  Handlungen  grober  Unge- 
rechtigkeit nachzusehen,  wenn  sie  nur  Jemanden  finden, 
den  sie  als  eigentliches  Opferthier  zur  Erleichterung  ihres 
Gemüthes  misshandeln  und  schlachten  dürfen.  Nicht 
selten  findet  eine  Frau  den  Ehrgeiz  in  sich,  sich  zu  dieser 
Opferung  anzubieten,  und  dann  kann  freilich  der  Mann 
sehr  zufrieden  sein,  —  falls  er  nämlich  Egoist  genug  ist, 
um  sich  einen  solchen  freiwilligen  Blitz-  Sturm-  und 
Regenableiter  in  seiner  Nähe  gefallen  zu  lassen, 

431. 
Angenehme  Widersacher.  —  Die  naturgemässe 
Neigung  der  Frauen  zu  ruhigem,  gleichmässigem,  glück- 
Uch  zusammenstimmenden  Dasein  und  Verkehren,  das 
ölgleiche  und  Beschwichtigende  ihrer  Wirkungen  auf 
dem  Meere  des  Lebens  arbeitet  unwillkürlich  dem  hero- 
ischeren inneren  Drange  des  Freigeistes  entgegen.  Ohne 
dass  sie  es  merken,  handeln  die  Frauen  so,  als  wenn 
man  dem  wandernden  Mineralogen  die  Steine  vom  Wege 
nimmt,  damit  sein  Fuss  nicht  daran  stosse  —  während 
er  gerade  ausgezogen  ist,  um  daran  zu  stossen. 

432. 
Missklang  zweier  Consonanzen.  —  Die  Frauen 
wollen  dienen  und  haben  darin  ihr  Glück:  und  der  Frei- 
geist will  nicht  bedient  sein  und  hat  darin  sein  Glück. 

433. 
Xanthippe.  —  Sokrates  fand  eine  Frau,  wie  er  sie 
brauchte    —    aber   auch   er  hätte  sie  nicht  gesucht,  falls 


—       320      — 

er  sie  gut  genug  gekannt  hätte:  so  weit  wäre  auch  der 
Heroismus  dieses  freien  Geistes  nicht  gegangen.  That- 
sächlich  trieb  ihn  Xanthippe  in  seinen  eigenthümlichen 
Beruf  immer  mehr  hinein,  indem  sie  ihm  Haus  und  Heim 
unhäuslich  und  unheimlich  machte:  sie  lehrte  ihn,  auf 
den  Gassen  und  überall  dort  zu  leben,  wo  man  schwätzen 
und  müssig  sein  konnte,  und  bildete  ihn  damit  zum 
grössten  athenischen  Gassen-Dialektiker  aus:  der  sich  zu- 
letzt selber  mit  einer  zudringlichen  Bremse  vergleichen 
musste,  welche  dem  schönen  Pferde  Athen  von  einem 
Gotte  auf  den  Nacken  gesetzt  sei,  um  es  nicht  zur  Ruhe 
kommen  zu  lassen. 

434- 

Für  die  Ferne  blind.  —  Ebenso  wie  die  Mütter 
eigentlich  nur  Sinn  und  Auge  für  die  äugen-  und  sinn- 
fälligen Schmerzen  ihrer  Kinder  haben,  so  vermögen  die 
Gattinnen  hoch  strebender  Männer  es  nicht  über  sich  zu 
gewinnen,  ihre  Ehegenossen  leidend,  darbend  und  gar  miss- 
achtet zu  'sehen,  —  während  vielleicht  alles  diess  nicht 
nur  die  Wahrzeichen  einer  richtigen  Wahl  ihrer  Lebens- 
haltung, sondern  schon  die  Bürgschaften  dafür  sind,  dass 
ihre  grossen  Ziele  irgendwann  einmal  erreicht  werden 
müssen.  Die  Frauen  intriguiren  im  Stillen  immer  gegen 
die  höhere  Seele  ihrer  Männer;  sie  wollen  dieselbe  um 
ihre  Zukunft,  zu  Gunsten  "einer  schmerzlosen,  behaglichen 
Gegenwart,  betrügen. 

435- 

Macht  und  Freiheit.  —  So  hoch  Frauen  ihre 
^länner  ehren,  so  ehren  sie  doch  die  von  der  Gesellschaft 
anerkannten  Gewalten  und  Vorstellungen  noch  mehr:  sie 
sind  seit  Jahrtausenden  gewohnt,  vor  allem  Herrschenden 


—     321     — 

gebückt,  die  Hände  auf  die  Brust  gefaltet,  einherzugehen 
und  missbilligen  alle  Auflehnung  gegen  die  öffentliche 
Macht.  Desshalb  hängen  sie  sich,  ohne  es  auch  nur  zu 
beabsichtigen,  vielmehr  wie  aus  Instinct,  als  Hemmschuh 
in  die  Räder  eines  freigeisterischen  unabhängigen  Stre- 
bens  und  machen  unter  Umständen  ihre  Gatten  auf's 
Höchste  ungeduldig,  zumal  wenn  diese  sich  noch  vor- 
reden, dass  Liebe  es  sei,  was  die  Frauen  im  Grunde 
dabei  antreibe.  Die  Mittel  der  Frauen  missbilligen  und 
grossmüthig  die  Motive  dieser  Mittel  ehren  —  das  ist 
Männer- Art  und  oft  genug  Männer -Verzweiflung. 

436. 

Cetenivi  censeo.  —  Es  ist  zum  Lachen,  wenn  eine 
GeseDschaft  von  Habenichtsen  die  Abschaffung  des  Erb- 
rechts decretirt,  und  nicht  minder  zum  Lachen  ist  es, 
wenn  Kinderlose  an  der  praktischen  Gesetzgebung  eines 
Landes  arbeiten:  —  sie  haben  ja  nicht  genug  Schwer- 
gewicht in  ihrem  Schiffe,  um  sicher  in  den  Ocean  der 
Zukunft  hineinsegeln  zu  können.  Aber  ebenso  ungereimt 
erscheint  es,  wenn  Der,  welcher  die  allgemeinste  Er- 
kenntniss  und  die  Abschätzung  des  gesammten  Daseins 
zu  seiner  Aufgabe  erkoren  hat,  sich  mit  persönlichen 
Rücksichten  auf  dne  Familie,  auf  Ernährung,  Sicherung, 
Achtung  von  Weib  und  I<jnd,  belastet  und  vor  sein 
Teleskop  jenen  trüben  Schleier  aufspannt,  durch  welchen 
kaum  einige  Strahlen  der  fernen  Gestirnwelt  hindurch- 
zudringen vermögen.  So  komme  auch  ich  zu  dem  Satze, 
dass  in  den  Angelegenheiten  der  höchsten  philosophi- 
schen Art  alle  Verheiratheten  verdächtig  sind. 


Nietzsche,  Werke  Band  Tl. 


—       322       

437- 

Zuletzt.  —  Es  giebt  mancherlei  Arten  von  Schier- 
ling, und  gewöhnlich  findet  das  Schicksal  eine  Gelegen- 
heit, dem  Freigeiste  einen  Becher  dieses  Giftgetränkes 
an  die  Lippen  zu  setzen  —  um  ihn  zu  „strafen",  wie 
dann  alle  Welt  sagt.  Was  thuen  dann  die  Frauen  um 
ihn?  Sie  werden  schreien  und  wehklagen  und  vielleicht 
die  Sonnenuntergangs-Ruhe  des  Denkers  stören:  wie  sie 
es  im  Gefängniss  von  Athen  thaten.  „O  Kriton,  heisse 
doch  Jemanden  diese  Weiber  da  fortführen  1"  sagte  end- 
lich Sokrates.  — 


Achtes  Hauptstück: 


Ein  Blick  auf  den  Staat. 


438. 

Um  das  Wort  bitten.  —  Der  demagogische 
Charakter  und  die  Absicht,  auf  die  Massen  zu  wirken, 
ist  gegenwärtig  allen  politischen  Parteien  gemeinsam: 
sie  alle  sind  genöthigt,  der  genannten  Absicht  wegen, 
ihre  Principien  zu  grossen  Alfresco-Dummheiten  umzu- 
wandeln und  sie  so  an  die  Wand  zu  malen.  Daran  ist 
nichts  mehr  zu  ändern,  ja  es  ist  überflüssig,  auch  nur 
einen  Finger  dagegen  aufzuheben;  denn  auf  diesem 
Gebiete  gilt,  was  Voltaire  sagt:  qtiand  la  populace  se 
mele  de  raisonner ,  tottt  est  perdu.  Seitdem  diess  ge- 
schehn  ist ,  muss  man  sich  den  neuen  Bedingungen 
fügen,  wie  man  sich  fügt,  wenn  ein  Erdbeben  die  alten 
Grenzen  und  Umrisse  der  Bodengestalt  verrückt  und 
den  Werth  des  Besitzes  verändert  hat.  Überdiess:  wenn 
es  sich  nun  einmal  bei  aller  Politik  darum  handelt,  mög- 
lichst Vielen  das  Leben  erträglich  zu  machen,  so  mögen 
immerhin  diese  Möglichst -Vielen  auch  bestimmen,  was 
sie  unter  einem  erträglichen  Leben  verstehen;  trauen  sie 
sich  den  Intellect  zu,  auch  die  richtigen  Mittel  zu  diesem 
Ziele  zu  finden,  was  hülfe  es  daran  zu  zweifeln?  Sie 
wollen  nun  einmal  ihres  Glücks  und  Unglücks  eigene 
Schmiede  sein;  und  wenn  dieses  Gefühl  der  Selbstbe- 
stimmung, der  Stolz  auf  die  fünf  sechs  Begriffe,  welche 
ihr  Kopf  birgt  und  zu  Tage  bringt,  ihnen   in  der  That 


—     326     — 

das  Leben  so  angenehm  macht,  dass  sie  die  fatalen 
Folgen  ihrer  Beschränktheit  gern  ertragen:  so  ist  wenig 
einzuwenden,  vorausgesetzt  dass  die  Beschränktheit  nicht 
so  weit  geht,  zu  verlangen,  es  solle  Alles  in  diesem 
Sinne  zur  Pohtik  werden,  es  solle  Jeder  nach  solchem 
Maassstabe  leben  und  wirken.  Zuerst  nämlich  muss  es 
Einigen  mehr  als  je  erlaubt  sein,  sich  der  Pohtik  zu 
enthalten  und  ein  wenig  bei  Seite  zu  treten:  dazu  treibt 
auch  sie  die  Lust  an  der  Selbstbestimmung;  und  auch 
ein  kleiner  Stolz  mag  damit  verbrnden  sein,  zu  schweigen, 
wenn  zu  Viele  oder  überhaupt  nur  Viele  reden.  Sodann 
muss  man  es  diesen  Wenigen  nachsehen,  wenn  sie  dcis 
Glück  der  Vielen,  verstehe  man  nun  darunter  Völker 
oder  Bevölkerungsschichten,  nicht  so  v/ichtig  nehmen 
und  sich  hier  und  da  eine  ironische  Miene  zu  Schulden 
kommen  lassen;  denn  ihr  Ernst  liegt  anderswo,  ihr  Glück 
ist  ein  anderer  Begriif,  ihr  Ziel  ist  nicht  von  jeder 
plumpen  Hand,  welche  eben  nur  fünf  Finger  hat,  zu 
umspannen.  Endlich  kommt  —  was  ihnen  gewiss  am 
schwersten  zugestanden  wird,  aber  ebenfalls  zugestanden 
werden  muss  —  von  Zeit  zu  Zeit  ein  Augenblick,  wo 
sie  aus  ihrer  schweigsamen  Vereinsamung  heraustreten 
und  die  Kraft  ihrer  Lungen  wieder  einmal  versuchen: 
dann  rufen  sie  nämlich  einander  zu  wie  Verirrte  in  einem 
Walde,  um  sich  einander  zu  erkennen  zu  geben  und  zu 
ermuthigen;  wobei  freilich  Mancherlei  laut  wird,  was  den 
Ohren,  für  welche  es  nicht  bestimmt  ist,  übel  klingt.  — 
Nun,  bald  darauf  ist  es  wieder  stille  im  Walde,  so  stille, 
dass  man  das  Schwirren  Summen  und  Flattern  der 
zahllosen  Insecten,  welche  in,  über  und  unter  ilim  leben, 
wieder  deutlich  vernimmt.  — 


—     327     — 

439- 

Cultur  und  Kaste.  —  Eine  höhere  Cultur  kann 
allein  dort  entstehen,  wo  es  zwei  unterschiedene  Kasten 
der  Gesellschaft  giebt:  die  der  Arbeitenden  und  die  der 
Müssigen,  zu  wahrer  Müsse  Befähigten;  oder  mit  stär- 
kerem Ausdruck:  die  Kaste  der  Zwangs- Arbeit  und  die 
Kaste  der  Frei-Arbeit  Der  Gesichtspunkt  der  Vertheilung 
des  Glücks  ist  nicht  wesentlich,  wenn  es  sich  um  die 
Erzeugung  einer  höheren  Cultur  handelt;  jedenfalls  aber 
ist  die  Kaste  der  Müssigen  die  leidensfähigere  leiden- 
dere, ihr  Behagen  am  Dasein  ist  geringer,  ihre  Aufgabe 
grösser.  Findet  nun  gar  ein  Austausch  der  beiden 
Kasten  statt,  so,  dass  die  stumpferen,  ungeistigeren 
Familien  und  Einzelnen  aus  der  oberen  Kaste  in  die 
niedere  herabgesetzt  werden  und  wiederum  die  freieren 
Menschen  aus  dieser  den  Zutritt  zur  höheren  erlangen: 
so  ist  ein  Zustand  erreicht,  über  den  hinaus  man  nur 
noch  das  offene  Meer  unbestimmter  Wünsche  sieht.  — 
So  redet  die  verkUngende  Stimme  der  alten  Zeit  zu  uns; 
aber  wo  sind  noch  Ohren,  sie  zu  hören? 


440. 

Von  Geblüt.  —  Das,  was  Männer  und  Frauen  von 
Geblüt  vor  Anderen  voraus  haben  und  was  ihnen  un- 
zweifelhaftes Anrecht  auf  höhere  Schätzung  giebt,  sind 
zwei  durch  Vererbung  immer  mehr  gesteigerte  Künste: 
die  Kunst,  befehlen  zu  können,  und  die  Kunst  des 
stolzen  Gehorsams.  —  Nun  entsteht  überall,  wo  das  Be- 
fehlen zum  Tagesgeschäft  gehört  (wie  in  der  grossen 
Kaufmanns-  und  Industrie -Welt),  etwas  Ahnliches  wie 
jene  Geschlechter  „von  Geblüt",  aber  ihnen  fehlt  die  vor- 


-     328     - 

nehme  Haltung  im  Gehorchen,  welche  bei  jenen  eine 
Erbschaft  feudaler  Zustände  ist  und  die  in  unserm 
Cultur- Klima  nicht  mehr  wachsen  will. 


441. 

Subordination.  —  Die  Subordination,  welche  im 
Alilitär-  und  Beamtenstaate  so  hoch  geschätzt  wird,  wird 
uns  bald  ebenso  unglaublich  werden,  wie  die  geschlossene 
Taktik  der  Jesuiten  es  bereits  geworden  ist;  und  wenn 
diese  Subordination  nicht  mehr  möglich  ist,  lässt  sich 
eine  Menge  der  erstaunlichsten  Wirkungen  nicht  mehr 
erreichen,  und  die  Welt  wird  ärmer  sein.  Sie  muss 
schwinden,  denn  ihr  Fundament  schwindet:  der  Glaube 
an  die  unbedingte  Autorität,  an  die  endgültige  Wahrheit; 
selbst  in  Militärstaaten  ist  der  physische  Zwang  nicht 
ausreichend;  sie  hervorzubringen,  sondern  die  angeerbte 
Adoration  vor  dem  Fürstlichen  wie  vor  etwas  Über- 
menschlichem, —  In  freieren  Verhältnissen  ordnet  man 
sich  nur  auf  Bedingungen  unter,  in  Folge  gegenseitigen 
Vertrags,  also  mit  allen  Vorbehalten  des  Eigennutzes. 


442. 

Volks  beere.  —  Der  grösste  Nachtheil  der  jetzt 
so  verherrlichten  Volksheere  besteht  in  der  Vergeudung 
von  Menschen  der  höchsten  Civihsation;  nur  durch  die 
Gunst  aller  Verhältnisse  giebt  es  deren  überhaupt  —  wie 
sparsam  und  ängstlich  sollte  man  mit  ihnen  umgehen, 
da  es  grosser  Zeiträume  bedarf,  um  die  zufälligen  Be- 
dingungen zur  Erzeugung  so  zart  organisirter  Gehirne  zu 
schaffen  1  Aber  wie  die  Griechen  in  Griechenblut  wüthe- 
ten,   so   die  Europäer  jetzt   in  Europäerblut;  und  zwar 


—     329     — 

werden  relativ  am  meisten  immer  die  Höchstgebildeten 
zum  Opfer  gebracht,  Die  welche  eine  reichliche  und  gute 
Nachkommenschaft  verbürgen:  Solche  nämlich  stehen  im 
Kampfe  voran,  als  Befehlende,  und  setzen  sich  überdiess, 
ihres  höheren  Ehrgeizes  wegen,  den  Gefahren  am  meisten 
aus.  —  Der  grobe  Römer-Patriotismus  ist  jetzt,  wo  ganz 
andere  und  höhere  Aufgaben  gestellt  sind  als  patrta 
und  honos,  entweder  etwas  Unehrliches  oder  ein  Zeichen 
der  Zurückgebliebenheit. 

443. 

Hoffnung  als  Anmaassung.  —  Unsere  gesell- 
schaftliche Ordnung  wird  langsam  wegschmelzen,  wie 
es  alle  frühere  Ordnungen  gethan  haben,  sobald  die 
Sonnen  neuer  Meinungen  mit  neuer  Gluth  über  die 
Menschen  hinleuchteten.  Wünschen  kann  man  diess 
Wegschmelzen  nur,  indem  man  hofft:  und  hoffen  darf 
man  vernünftigerweise  nur,  wenn  man  sich  und  seines- 
gleichen mehr  Kraft  in  Herz  und  Kopf  zutraut  als  den 
Vertretern  des  Bestehenden.  Gewöhnlich  also  wird  diese 
Hoffnung  eine  Anmaassung,  eine  Überschätzung 
sein. 

444. 

Krieg.  —  Zu  Ungunsten  des  Kriegs  kann  man 
sagen:  er  macht  den  Sieger  dumm,  den  Besiegten  bos- 
haft. Zu  Gunsten  des  Krieges:  er  barbarisirt  in  beiden 
eben  genannten  Wirkungen  und  macht  dadurch  natür- 
licher; er  ist  für  die  Cultur  Schlaf  oder  Winterszeit,  der 
Mensch  kommt  kräftiger  zum  Guten  und  Bösen  aus  ihm 
heraus. 


—     330     — 

445- 
Im  Dienste  des  Fürsten.  —  Ein  Staatsmann  wird, 
um  völlig  rücksichtslos  handeln  zu  können,  am  besten 
thun,  nicht  für  sich,  sondern  für  einen  Fürsten  sein  Werk 
auszuführen.  Vom  Glänze  dieser  allgemeinen  Uneigen- 
nützigkeit  wird  das  Auge  des  Beschauers  geblendet,  so 
dass  er  jene  Tücken  und  Härten,  welche  das  Werk  des 
Staatsmannes  mit  sich  bringt,  nicht  sieht. 


446. 

Eine  Frage  der  Macht,  nicht  des  Rechts.  — 
Für  Menschen,  welche  bei  jeder  Sache  den  höheren 
Nutzen  in's  Auge  fassen,  giebt  es  bei  dem  Socialismus, 
falls  er  wirklich  die  Erhebung  der  Jahrtausende  lang 
Gedrückten  Niedergehaltenen  gegen  ihre  Unterdrücker 
ist,  kein  Problem  des  Rechts  {mit  der  lächerlichen 
weichlichen  Frage:  „wie  weit  soll  man  seinen  Forder- 
ungen nachgeben?"),  sondern  nur  ein  Problem  der 
Alacht  („wie  weit  kann  man  seine  Forderungen  be- 
nutzen?"); also  wie  bei  einer  Naturmacht,  zum  Beispiel 
dem  Dampfe,  welcher  entweder  von  dem  Menschen  in 
seine  Dienste,  als  Maschinengott,  gezwungen  wird  oder, 
bei  Fehlern  der  Maschine  das  heisst  Fehlern  der  mensch- 
Hchen  Berechnung  im  Bau  derselben,  sie  und  den 
Menschen  mit  zertrümmert.  Um  jene  Machtfrage  zu 
lösen,  muss  man  wissen,  wie  stark  der  Socialismus  ist, 
in  welcher  Modification  er  noch  als  mächtiger  Hebel 
innerhalb  des  jetzigen  politischen  Kräftespiels  benutzt 
werden  kann;  unter  Umständen  müsste  man  selbst 
Alles  thun,  ihn  zu  kräftigen.  Die  Menschheit  muss  bei 
jeder   grossen  Kraft  —  und  sei   sie  die  gefährlichste  — 


—     331     — 

daran  denken,  aus  ihr  ein  Werkzeug  ihrer  Absichten 
zu  machen.  —  Ein  Recht  gewinnt  sich  der  Sociahsmus 
erst  dann,  wenn  es  zwischen  den  beiden  Mächten,  den 
\^eitretern  des  Alten  und  Neuen,  zum  Kriege  gekommen 
zu  sein  scheint,  wenn  aber  dann  das  kluge  Rechnen 
auf  möglichste  Erhaltung  und  Zuträglichkeit  auf  Seiten 
beider  Parteien  das  Verlangen  nach  einem  Vertrag  ent- 
stehen lässt.  Ohne  Vertrag  kein  Recht.  Bis  jetzt  giebt 
es  aber  auf  dem  bezeichneten  Gebiete  weder  Krieg  noch 
Verträge,  also  auch  keine  Rechte,  kein  „Sollen". 


447- 

Benutzung  der  kleinsten  Unredlichkeit.  — 
Die  Macht  der  Presse  besteht  darin,  dass  jeder  Einzelne, 
der  ihr  dient,  sich  nur  ganz  wenig  verpflichtet  und  ver- 
bunden fühlt.  Er  sagt  für  gewöhnlich  seine  Meinung, 
aber  sagt  sie  einmal  auch  nicht,  um  seiner  Partei 
oder  der  Politik  seines  Landes  oder  endlich  sich  selber 
zu  nützen.  Solche  kleine  Vergehen  der  Unredhchkeit 
oder  vielleicht  nur  einer  unredlichen  Verschwiegenheit 
sind  von  dem  Einzelnen  nicht  schwer  zu  tragen,  doch 
sind  die  Folgen  ausserordentlich,  weil  diese  kleinen  Ver- 
gehen von  Vielen  zu  gleicher  Zeit  begangen  werden. 
Jeder  von  Diesen  sagt  sich:  „für  so  geringe  Dienste 
lebe  ich  besser,  kann  ich  mein  Auskommen  finden; 
durch  den  Mangel  solcher  kleinen  Rücksichten  mache 
ich  mich  unmöglich."  Weil  es  beinahe  sittlich  gleich- 
gültig erscheint,  eine  Zeile,  noch  dazu  vielleicht  ohne 
Naroensur^rschrift,  mehr  zu  schreiben  oder  nicht  zu 
schreiben,  so  kann  Einer,  der  Geld  und  Einfluss  hat,  jede 
Meinung  zur  öffentlichen  machen.  Wer  da  weiss,  dass 
die  meisten  Menschen  in  Kleinigkeiten  schwach  sind,  und 


—     332     — 

seine  eigenen  Zwecke  durch  sie  erreichen  will,   ist  immer 
ein  gefährlicher  Mensch. 

448. 
Allzu  lauter  Ton  bei  Beschwerden.  —  Da- 
durch dass  ein  Nothstand  (zum  Beispiel  die  Gebrechen 
einer  Verwaltung,  Bestechhchkeit  und  Gunstwillkür  in 
politischen  oder  gelehrten  Körperschaften)  stark  über- 
trieben dargestellt  wird,  verliert  zwar  die  Darstellung  bei 
den  Einsichtigen  ihre  Wirkung,  aber  wirkt  um  so  stärker 
auf  die  Nichteinsichtigen  (welche  bei  einer  sorgsamen 
maassvollen  Darlegung  gleichgültig  geblieben  wären). 
Da  diese  aber  bedeutend  in  der  Mehrzahl  sind  und 
stärkere  Willenskräfte,  ungestümere  Lust  zum  Handeln 
in  sich  beherbergen,  so  wird  jene  Übertreibung  zum 
Anlass  von  Untersuchungen  Bestrafungen  Versprechen 
und  Reorganisationen.  —  Insofern  ist  es  nützlich,  Noth- 
stände  übertreibend  darzustellen. 

449. 
Die  anscheinenden  Wettermacher  der  Politik. 
—  Wie  das  Volk  bei  Dem,  welcher  sich  auf  das  Wetter 
versteht  und  es  um  einen  Tag  voraussagt,  im  Stillen 
annimmt,  dass  er  das  Wetter  mache,  so  legen  selbst 
Gebildete  und  Gelehrte  mit  einem  Aufwand  von  aber- 
gläubischem Glauben  grossen  Staatsmännern  alle  die 
wichtigen  Veränderungen  und  Conjuncturen ,  welche 
während  ihrer  Regierung  eintraten,  als  deren  eigenstes 
Werk  bei,  wenn  es  nur  ersichtlich  ist,  dass  Jene  etwas 
davon  eher  wussten  als  Andere  und  ihre  Berechnung 
darnach  machten:  sie  werden  also  ebenfalls  als  Wetter- 
macher genommen  —  und  dieser  Glaube  ist  nicht  das 
geringste  Werkzeug  ihrer  Macht. 


333 


450- 

Neuer  und  alter  Begriff  der  Regierung.  — 
Zwischen  Regierung  und  Volk  so  zu  scheiden,  als  ob 
hier  zwei  getrennte  Machtsphären,  eine  stärkere  höhere 
mit  einer  schwächeren  niederen,  verhandelten  und  sich 
vereinbarten,  ist  ein  Stück  vererbter  politischer  Empfin- 
dung, welches  der  historischen  Feststellung  der  Macht- 
verhältnisse in  den  meisten  Staaten  noch  jetzt  genau 
entspricht.  Wenn  zum  Beispiel  Bismarck  die  constitutio- 
nelle  Form  als  einen  Compromiss  zwischen  Regierung 
und  Volk  bezeichnet,  so  redet  er  gemäss  einem  Princip, 
welches  seine  Vernunft  in  der  Geschichte  hat  (ebendaher 
freilich  auch  den  Beisatz  von  Unvernunft,  ohne  den  nichts 
Menschliches  existiren  kann).  Dagegen  soll  man  nun 
lernen  —  gemäss  einem  Princip,  welches  rein  aus  dem 
Kopfe  entsprungen  ist  und  erst  Geschichte  machen 
soll  — ,  dass  Regierung  nichts  als  ein  Organ  des  Volkes 
sei,  nicht  ein  vorsorgliches,  verehrungswürdiges  „Oben" 
im  Verhältniss  zu  einem  an  Bescheidenheit  gewöhnten 
„Unten".  Bevor  man  diese  bis  jetzt  unhistorische  und 
willkürliche,  wenn  auch  logischere  Aufstellung  des  Be- 
griffs Regierung  annimmt,  möge  man  doch  ja  die  Folgen 
erwägen:  denn  das  Verhältniss  zwischen  Volk  und  Re- 
gierung ist  das  stärkste  vorbildliche  Verhältniss,  nach 
dessen  Muster  sich  unwillkürlich  der  Verkehr  zwischen 
Lehrer  und  Schüler,  Hausherrn  und  Dienerschaft,  Vater 
und  Familie,  Heerführer  und  Soldat,  Meister  und  Lehr- 
ling bildet.  Alle  diese  Verhältnisse  gestalten  sich  jetzt, 
unter  dem  Einflüsse  der  herrschenden  constitutionellen 
Regierungsform,  ein  wenig  um:  sie  werden  Compro- 
misse.  Aber  wie  müssen  sie  sich  verkehren  und  ver- 
schieben,   Namen    und    Wesen    wechseln,     wenn    jener 


—     334      — 

allerneuste  Begriff  überall  sich  der  Köpfe  bemeistert 
hat!  —  wozu  es  aber  wohl  ein  Jahrhundert  noch  brau- 
chen dürfte.  Hierbei  ist  Nichts  mehr  zu  wünschen  als 
Vorsicht  und  langsame  Entwicklung. 


451- 

Gerechtigkeit  als  Parteien-Lockruf. — Wohl 
können  edle  (wenn  auch  nicht  gerade  sehr  einsichtsvolle) 
Vertreter  der  herrschenden  Classe  sich  geloben:  wir 
wollen  die  Menschen  als  gleich  behandeln,  ihnen  gleiche 
Rechte  zugestehen.  Insofern  ist  eine  socialistische 
Denkungsweise,  welche  auf  Gerechtigkeit  ruht,  mög- 
lich; aber  wie  gesagt  nur  innerhalb  der  herrschenden 
Classe ,  welche  in  diesem  Falle  die  Gerechtigkeit  mit 
Opfern  und  Verleugnungen  übt.  Dagegen  Gleichheit 
der  Rechte  fordern,  wie  es  die  Socialisten  der  unter- 
worfenen Kaste  tliun,  ist  nimmermehr  der  Ausfluss  der 
Gerechtigkeit,  sondern  der  Begehrlichkeit.  —  Wenn  man 
der  Bestie  blutige  Fleischstücke  aus  der  Nähe  zeigt  und 
wieder  wegzieht,  bis  sie  endlich  brüllt:  meint  ihr,  dass 
diess  Gebrüll  Gerechtigkeit  bedeute? 


452. 

Besitz  und  GerecTitigkeit.  —  Wenn  die  Socia 
listen  nachweisen ,  dass  die  Eigenthums-Vertheilung  in 
der  gegenwärtigen  Menschheit  die  Consequenz  zahlloser 
Ungerechtigkeiten  und  Gewaltsamkeiten  ist ,  und  in 
summa  die  Verpflichtung  gegen  etwas  so  unrecht  Be- 
gründetes ablehnen:  so  sehen  sie  nur  et\vas  Einzelnes. 
Die  ganze  Vergangenheit  der  alten  Cultur  ist  aut  Gewalt 
Sclaverei    Betrug    Irrthum  aufgebaut;   wir   können   aber 


—     335     — 

uns  selbst,  die  Erben  aller  dieser  Zustände,  Ja  die  Con- 
crescenzen  aller  jener  Vergangenheit,  nicht  wegdecre- 
tiren  und  dürfen  nicht  ein  einzelnes  Stück  herausziehn 
wollen.  Die  ungerechte  Gesinnung  steckt  in  den  Seelen 
der  Nicht-Besitzenden  auch,  sie  sind  nicht  besser  als  die 
Besitzenden  und  haben  kein  moralisches  Vorrecht,  denn 
irgend  wann  sind  ihre  Vorfahren  Besitzende  gewesen. 
Nicht  gewaltsame  neue  Vertheilungen  sondern  allmäh- 
liche UmschafiFungen  des  Sinnes  thun  noth,  die  Gerechtig- 
keit muss  in  Allen  grösser  werden,  der  gewaltthätige 
Instinct  schwächer. 

.    453. 

Der  Steuermann  der  Leidenschaften.  —  Der 
Staatsmann  erzeugt  öffentliche  Leidenschaften,  um  den 
Gewinn  von  der  dadurch  erweckten  Gegenleidenschaft 
zu  haben.  Um  ein  Beispiel  zu  nehmen :  so  weiss  ein 
deutscher  Staatsmann  wohl,  dass  die  katholische  Kirche 
niemals  mit  Russland  gleiche  Pläne  haben  wird,  ja  sich 
viel  lieber  mit  den  Türken  verbünden  würde  als  mit 
ihm;  ebenso  weiss  er,  dass  Deutschland  alle  Gefahr  von 
einem  Bündnisse  Frankreichs  mit  Russland  droht.  Kann 
er  es  nun  dazu  bringen,  Frankreich  zum  Herd  und 
Hort  der  katholischen  Kirche  zu  machen,  so  hat  er  diese 
Gefahr  für  eine  lange  Zeit  beseitigt.  Er  hat  demnach 
ein  Interesse  daran,  Hass  gegen  die  Katholiken  zu  zeigen 
und  durch  Feindseligkeiten  aller  Art  die  Bekenner  der 
Autorität  des  Papstes  in  eine  leidenschaftliche  politische 
Macht  zu  verwandeln ,  welche  der  deutschen  Politik 
feindlich  ist  und  sich  naturgemäss  mit  Frankreich  als 
dem  Widersacher  Deutschland's  verschmelzen  muss:  sein 
Ziel  ist  ebenso  nothwendig  die  Katholisirung  Frank- 
reichs,   als    Mirabeau    in    der    Dekatholisirung   das    Heil 


—     336     — 

seines  Vaterlandes  sah.  —  Der  eine  Staat  will  also  die 
Verdunkelung  von  Millionen  Köpfen  eines  anderen  Staates, 
um  seinen  Vortheil  aus  dieser  Verdunkelung  zu  ziehen. 
Es  ist  diess  dieselbe  Gesinnung,  welche  die  republi- 
canische  Regierungsform  des  nachbarlichen  Staates  — 
le  däsordre  orga7iis6,  wie  Merimee  sagt  —  aus  dem 
alleinigen  Grunde  unterstützt,  weil  sie  von  dieser  an- 
nimmt, dass  sie  das  Volk  schwächer,  zerrissener  und 
kriegsunfähiger  mache. 

454. 

Die  Gefährlichen  unter  den  Umsturz-Geistern. 
Man  theile  Die,  welche  auf  einen  Umsturz  der  Gesell- 
schaft bedacht  sind,  in  Solche  ein,  welche  für  sich  selbst, 
und  in  Solche,  welche  für  ihre  Kinder  und  Enkel  etwas 
erreichen  wollen.  Die  Letzteren  sind  die  Gefährlicheren; 
denn  sie  haben  den  Glauben  und  das  gute  Gewissen  der 
Uneigennützigkeit.  Die  Anderen  kann  man  abspeisen: 
dazu  ist  die  herrschende  Gesellschaft  immer  noch  reich 
und  klug  genug.  Die  Gefahr  beginnt,  sobald  die  Ziele 
unpersönlich  werden;  die  Revolutionäre  aus  unpersön- 
lichem Interesse  dürfen  alle  Vertheidiger  des  Bestehenden 
als  persönlich  interessirt  ansehen  und  sich  d  esshalb  ihnen 
überlegen  fühlen. 

455- 

Politischer  Werth  der  Vaterschaft.  —  Wenn 
der  Mensch  keine  Söhne  hat,  so  hat  er  kein  volles  Recht, 
über  die  Bedürfnisse  eines  einzelnen  Staatswesens  mit- 
zureden. Man  muss  selber  mit  den  Anderen  sein  Liebstes 
daran  gewagt  haben:  das  erst  bindet  an  den  Staat  fest; 
man    muss    das   Glück    seiner   Nachkommen    in's  Auge 


—     337     — 

fassen,  also  vor  Allem  Nachkommen  haben,  um  an  allen 
Institutionen  und  deren  Veränderung  rechten  natürlichen 
Antheil  zu  nehmen.  Die  Entwicklung  der  höheren  Moral 
hängt  daran,  dass  Einer  Söhne  hat;  diess  stimmt  ihn 
unegoistisch,  oder  richtiger:  es  erweitert  seinen  Egoismus 
der  Zeitdauer  nach  und  lässt  ihn  Ziele  über  seine  indi- 
viduelle Lebenslänge  hinaus  mit  Ernst  verfolgen. 

456. 

Ahnenstolz.  —  Auf  eine  ununterbrochene  Reihe 
guter  Ahnen  bis  zum  Vater  herauf  darf  man  mit  Recht 
stolz  sein  —  nicht  aber  auf  die  Reihe;  denn  diese  hat 
Jeder.  Die  Herkunft  von  guten  Ahnen  macht  den  ächten 
Geburtsadel  aus;  eine  einzige  Unterbrechung  in  jener 
Kette ,  Ein  böser  Vorfahr  also,  hebt  den  Geburtsadel  auf. 
Man  soll  Jeden,  welcher  von  seinem  Adel  redet,  fragen: 
hast  du  keinen  gewaltthätigen  habsüchtigen  ausschwei- 
fenden boshaften  grausamen  Menschen  unter  deinen 
Vorfahren?  Kann  er  darauf  in  gutem  Wissen  und  Ge- 
wissen mit  Nein  antworten,  so  bewerbe  man  sich  um 
seine  Freundschaft 

457. 

Sclaven  und  Arbeiter.  —  Dass  \v\t  mehr  Werth 
auf  Befriedigung  der  Eitelkeit  als  auf  alles  übrige  Wohl- 
befinden (Sicherheit,  Unterkommen,  Vergnügen  aller  Art) 
legen,  zeigt  sich  in  einem  lächerlichen  Grade  daran,  dass 
Jedermann  (abgesehen  von  politischen  Gründen)  die  Auf- 
hebung der  Sclaverei  wünscht  und  es  aufs  Ärgste  ver- 
abscheut, Menschen  in  diese  Lage  zu  bringen:  während 
Jeder  sich  sagen  muss,  dass  die  Sclaven  in  allen  Be- 
ziehungen sicherer  und  glücklicher  leben  als  der  moderne 

Nietische,  Werke  Rand  II.  22 


—     338     - 

Arbeiter,  dass  Sclavenarbeit  sehr  wenig-  Arbeit  im  Ver- 
hältniss  zu  der  des  „Arbeiters"  ist.  Man  protestirt  im 
Namen  der  „Menschenwürde":  das  ist  aber,  schlichter 
ausgedrückt,  jene  Hebe  Eitelkeit,  welche  das  Nicht-gleich- 
gestellt -  sein,  das  öffentlich -niedriger -geschätzt -werden 
als  das  härteste  Loos  empfindet.  —  Der  Cyniker  denkt 
anders  darüber,  weil  er  die  Ehre  verachtet:  —  und  so 
war  Diogenes  eine  Zeitlang  Sclave  und  Hauslehrer. 


458. 

Leitende  Geister  und  ihre  Werkzeuge.  — 
Wir  sehen  grosse  Staatsmänner  und  überhaupt  alle  Die, 
welche  sich  vieler  Menschen  zur  Durchführung  ihrer 
Pläne  bedienen  müssen,  bald  so  bald  so  verfahren:  ent- 
weder wählen  sie  sehr  fein  uud  sorgsam  die  zu  ihren 
Plänen  passenden  Menschen  aus  und  lassen  ihnen  dann 
verhältnissmässige  grosse  Freiheit,  weil  sie  wissen,  dass 
die  Natur  dieser  Ausgewählten  sie  eben  dahin  treibt, 
wohin  sie  selber  Jene  haben  wollen;  oder  sie  wählen 
schlecht,  ja  nehmen,  was  ihnen  unter  die  Hand  kommt, 
formen  aber  aus  jedem  Thone  etwas  für  ihre  Zwecke 
Taugliches.  Diese  letzte  Art  ist  die  gewaltsamere,  sie 
begehrt  auch  unterwürfigere  Werkzeuge;  ihre  Menschen- 
kenntniss  ist  gewöhnlich  viel  geringer,  ihre  Menschen- 
verachtung grösser  als  bei  den  erstgenannten  Geistern, 
aber  die  Maschine,  welche  sie  construiren,  arbeitet  ge- 
meinhin besser  als  die  Alaschine  aus  der  Werkstätte 
jener. 

459- 

Willkürliches  Recht  nothwendig.  —  Die 
Juristen  streiten,  ob  das  am  vollständigsten  durchgedachte 


—     339     — 

Recht  oder  das  am  leichtesten  zu  verstehende  in  einem 
Volke  zum  Siege  kommen  solle.  Das  erste,  dessen 
höchstes  Muster  das  römische  ist,  erscheint  dem  Laien 
als  unverständlich  und  desshalb  nicht  als  Ausdruck  seiner 
Rechtsempfindung.  Die  Volksrechte,  zum  Beispiel  die 
germanischen,  waren  grob  abergläubisch  unlogisch, 
zum  Theil  albern,  aber  sie  entsprachen  ganz  bestimmten 
vererbten  heimischen  Sitten  und  Empfindungen.  —  Wo 
aber  Recht  nicht  mehr,  wie  bei  uns,  Herkommen  ist,  da 
kann  es  nur  befohlen.  Zwang  sein;  wir  haben  Alle 
kein  herkömmliches  Rechtsgefühl  mehr,  desshalb  müssen 
wir  uns  Willkürsrechte  gefallen  lassen,  die  der  Aus- 
druck der  Nothwendigkeit  sind,  dass  es  ein  Recht  geben 
müsse.  Das  logischste  ist  dann  jedenfalls  das  annehm- 
barste, weil  es  das  unparteilichste  ist:  zugegeben 
selbst,  dass  in  jedem  Falle  die  kleinste  Maasseinheit  im 
Verhältniss  von  Vergehen  und  Strafe  willkürhch  ange- 
setzt ist. 

460. 

Der  grosse  ISIann  der  Masse.  —  Das  Recept 
zu  dem,  was  die  Masse  einen  grossen  Mann  nennt,  ist 
leicht  gegeben.  Unter  allen  Umständen  verschaffe  man 
ihr  etwas,  das  ihr  sehr  angenehm  ist,  oder  setze  ihr  erst 
in  den  Kopf,  dass  diess  und  jenes  sehr  angenehm  wäre, 
und  gebe  es  ihr  dann.  Doch  um  keinen  Preis  sofort: 
sondern  man  erkämpfe  es  mit  grösster  Anstrengung 
oder  scheine  es  zu  erkämpfen.  Die  Masse  muss  den 
Eindruck  haben,  dass  eine  mächtige,  ja  unbezwingliche 
Willenskraft  da  sei;  mindestens  muss  sie  da  zu  sein 
scheinen.  Den  starken  Willen  bewundert  Jedermann, 
weil  Niemand  ihn  hat  und  Jedermann  sich  sagt,  dass, 
wenn  er  ihn  hätte,  es  für  ihn  und  seinen  Egoismus  keine 


—      340     — 

Grenze  mehr  gäbe.  Zeigt  sich  nun,  dass  ein  solcher 
starker  Wille  etwas  der  Masse  sehr  Angenehmes  be- 
wirkt, statt  auf  die  Wünsche  seiner  Begehrlichkeit  zu 
hören,  so  bewundert  man  noch  einmal  und  wünscht  sich 
selber  Glück.  Im  Übrigen  habe  er  alle  Eigenschaften 
der  Masse:  um  so  weniger  schämt  sie  sich  vor  ihm,  um 
so  mehr  ist  er  populär.  Also:  er  sei  gewaltthätig  nei- 
disch ausbeuterisch  intrigant  schmeichlerisch  kriechend 
aufgeblasen,  je  nach  Umständen  Alles. 

461. 

Fürst  und  Gott.  —  Die  Menschen  verkehren  mit 
ihren  Fürsten  vielfach  in  ähnlicher  Weise  wie  mit  ihrem 
Gotte,  wie  ja  vielfach  auch  der  Fürst  der  Repräsentant 
des  Gottes,  mindestens  sein  Oberpriester  war.  Diese  fast 
unheimliche  Stimmung  von  Verehrung  und  Angst  und 
Scham  war  und  ist  viel  schwächer  geworden,  aber  mit- 
unter lodert  sie  auf  und  heftet  sich  an  mächtige  Personen 
überhaupt.  Der  Cultus  des  Genius  ist  ein  Nachklang 
dieser  Götter- Fürsten -Verehrung.  Überall,  wo  man  sich 
bestrebt,  einzelne  Menschen  in  das  Übermenschliche  hin- 
autzuheben,  entsteht  auch  die  Neigung,  ganze  Schichten 
des  Volkes  sich  roher  und  niedriger  vorzustellen,  als  sie 
wirklich  sind. 

462. 

Meine  Utopie.  —  In  einer  besseren  Ordnung  der 
Gesellschaft  wird  die  schwere  Arbeit  und  Noth  des 
Lebens  Dem  zuzumessen  sein,  welcher  am  wenigsten 
durch  sie  leidet,  also  dem  Stumpfsten,  und  so  schritt- 
weise aufwärts  bis  zu  Dem,  welcher  für  die  höchsten 
sublimirtesten  Gattungen  des  Leidens  am  empfindlichsten 


—     341      — 

ist  und    desshalb   selbst  noch  bei   der   grössten   Erleich- 
terung des  Lebens  leidet 

463. 

Ein  Wahn  in  der  Lehre  vom  Umsturz.  —  Es 
giebt  politische  und  sociale  Phantasten,  welche  feurig 
und  beredt  zu  einem  Umsturz  aller  Ordnungen  auf- 
fordern, in  dem  Glauben,  dass  dann  sofort  das  stolzeste 
Tempelhaus  schönen  Menschenthums  gleichsam  von  selbst 
sich  erheben  werde.  In  diesem  gefährlichen  Traume 
klingt  noch  der  Aberglaube  Rousseau's  nach,  welcher 
an  eine  wundergleiche  ursprüngliche,  aber  gleichsam 
verschüttete  Güte  der  menschlichen  Natur  glaubt  und 
den  Institutionen  der  Cultur,  in  Gesellschaft  Staat  Er- 
ziehung, alle  Schuld  jener  Verschüttung  beimisst.  Leider 
weiss  man  aus  historischen  Erfahrungen,  dass  jeder  solche 
Umsturz  die  wildesten  Energien  als  die  längst  begrabenen 
Furchtbarkeiten  und  Maasslosigkeiten  fernster  Zeitalter 
von  Neuem  zur  Auferstehung  bringt:  dass  also  ein  Um- 
sturz wohl  eine  Kraftquelle  in  einer  matt  gewordenen 
Menschheit  sein  kann,  nimmermehr  aber  ein  Ordner, 
Baumeister,  Künstler,  Vollender  der  menschlichen  Natur.  — 
Nicht  Voltaire 's  maassvolle,  dem  Ordnen  Reinigen 
und  Umbauen  zugeneigte  Natur,  sondern  Rousseau's 
leidenschaftliche  Thorheiten  und  Halblügen  haben  den 
optimistischen  Geist  der  Revolution  wachgerufen,  gegen 
den  ich  rufe:  „Acrasez  V infame!"  Durch  ihn  ist  der 
Geist  der  Aufklärung  und  der  fortschreitenden 
Entwicklung  auf  lange  verscheucht  worden:  sehen 
wir  zu  —  ein  Jeder  bei  sich  selber  —  ob  es  möglich 
ist,  ihn  wieder  zurückzurufen! 


—     342      — 

464. 

Maass.  —  Die  volle  Entschiedenhei?Nles  Denkens 
und  Forschens,  also  die  Freigeisterei  zur  Eigenschaft 
des  Charakters  geworden,  macht  im  Handeln  massig: 
denn  sie  schwächt  die  Begehrlichkeit,  zieht  viel  von  der 
vorhandenen  Energie  an  sich,  zur  Förderung  geistiger 
Zwecke,  und  zeigt  das  Halbnützliche  oder  Unnütze  und 
Gefährliche  aller  plötzlichen  Veränderungen. 


465. 

Auferstehung  des  Geistes.  —  Auf  dem  poli- 
tischen Kränkenbette  verjüngt  ein  Volk  gewöhnlich  sich 
selbst  und  findet  seinen  Geist  wieder,  den  es  im  Suchen 
und  Behaupten  der  Macht  allmählich  verlor.  Die  Cultur 
verdankt  das  Allerhöchste  den  politisch  geschwächten 
Zeiten. 

466. 

Neue  Meinungen  im  alten  Hause.  —  Dem 
Umsturz  der  Meinungen  folgt  der  Umsturz  der  Institu- 
tionen nicht  sofort  nach,  vielmehr  wohnen  die  neuen 
Meinungen  lange  Zeit  im  verödeten  und  unheimlich  ge- 
wordenen Hause  ihrer  Vorgängerinnen  und  conserviren 
es  selbst,  aus  Wohnungshoth. 

467. 

Schulwesen.  —  Das  Schulwesen  wird  in  grossen 
Staaten  immer  höchstens  mittelmässig  sein,  aus  dem- 
selben Grunde,  aus  dem  in  grossen  Küchen  besten  Falls 
mittelmässig  gekocht  wird. 


—     343     -- 


468. 


Unschuldige  Corruption.  —  In  allen  Instituten, 
in  welche  nicht  die  scharfe  Luft  der  öffentlichen  Kritik 
hineinweht,  wächst  eine  unschuldige  Corruption  auf,  wie 
ein  Pilz  (also  zum  Beispiel  in  gelehrten  Körperschaften 
und  Senaten). 

469. 

Gelehrte  als  Politiker.  —  Gelehrten,  welche 
Pohtiker  werden,  wird  gewöhnlich  die  komische  Rolle 
zugetheilt,  das  gute  Gewissen  einer  Politik  sein  zu 
müssen. 

470. 

Der  Wolf  hinter  dem  Schafe  versteckt  ■ — 
Fast  jeder  Politiker  hat  unter  gewissen  Umständen  ein- 
mal einen  ehrlichen  Mann  so  nöthig,  dass  er  gleich 
einem  heisshungrigen  Wolfe  in  einen  Schafstall  bricht: 
nicht  aber,  um  dann  den  geraubten  Widder  zu  fressen, 
sondern  um  sich  hinter  seinen  wolligen  Rücken  zu 
verstecken. 

471. 

Glückszeiten.  —  Ein  glückliches  Zeitalter  ist  dess- 
halb  gar  nicht  möglich,  weil  die  Menschen  es  nur 
wünschen  wollen,  aber  nicht  haben  wollen,  und  jeder 
Einzelne,  wenn  ihm  gute  Tage  kommen,  förmlich  um 
Unruhe  und  Elend  beten  lernt.  Das  Schicksal  der  Men- 
schen ist  auf  glückliche  Augenblicke  eingerichtet  — 
jedes  Leben  hat  solche  — ,  aber  nicht  auf  glückhche 
Zeiten.  Trotzdem  werden  diese  als  „das  Jenseits  der 
Bercre"  in  der   Phantasie  des  Menschen  bestehen  bleiben. 


—     344     — 

als  Erbstück  der  Urväter;  denn  man  hat  wohl  den  Be- 
griflf  des  Glückszeitalters  seit  uralten  Zeiten  her  jenem 
Zustand  entnommen,  in  dem  der  Mensch,  nach  ge- 
waltiger Anstrengung  durch  Jagd  und  Krieg,  sich  der 
Ruhe  übergiebt,  die  Glieder  streckt  und  die  Fittige  des 
Schlafes  um  sich  rauschen  hört.  Es  ist  ein  falscher 
Schluss,  wenn  der  Mensch  jener  alten  Gewöhnung  ge- 
mäss sich  vorstellt,  dass  er  nun  auch  nach  ganzen 
Zeiträumen  der  Noth  und  Mühsal  jenes  Zustandes  des 
Glücks  in  entsprechender  Steigerung  und  Dauer 
theilhaftig  werden  könne. 


472. 

Religion  und  Regierung.  —  So  lange  der  Staat 
oder,  deutlicher,  die  Regierung  sich  als  Vormund  zu 
Gunsten  einer  unmündigen  Menge  bestellt  weiss  und  um 
ihretwillen  die  Frage  erwägt,  ob  die  Religion  zu  erhalten 
oder  zu  beseitigen  sei:  wird  sie  höchst  wahrscheinlich 
sich  immer  für  die  Erhaltung  der  Religion  entscheiden. 
Denn  die  Religion  befriedigt  das  einzelne  Gemüth  in 
Zeiten  des  Verlustes,  der  Entbehrung,  des  Schreckens, 
des  Misstrauens,  also  da,  wo  die  Regierung  sich  ausser 
Stande  fühlt,  direct  etwas  zur  Linderung  der  seelischen 
Leiden  des  Privatmanns  zu  thun:  ja  selbst  bei  allge- 
meinen unvermeidlichen  und  zunächst  unabwendbaren 
Übeln  (Hungersnöthen  Geldkrisen  Kriegen)  gewährt  die 
Religion  eine  beruhigte  abwartende  vertrauende  Haltung 
der  Menge.  Überall,  wo  die  nothwendigen  oder  zu- 
fälligen Mängel  der  Staatsregierung  oder  die  gefährlichen 
Consequenzen  dynastischer  Interessen  dem  Einsichtigen 
sich  bemerklich  machen  und  ihn  widerspänstig  stimmen, 
werden    die    Nicht  -  Einsichtigen    den    Finger    Gottes    zu 


—     345     — 

sehen  meinen  und  sich  in  Geduld  den  Anordnungen  von 
Oben  (in  welchem  Begriff  göttliche  und  menschliche 
Regierungsweise  gewöhnlich  verschmelzen)  unterwerfen: 
so  wird  der  innre  bürgerliche  Friede  und  die  Conti- 
nuität  der  Entwicklung  gewahrt.  Die  Macht,  welche  in 
der  Einheit  der  Volksempfindung,  in  gleichen  Meinungen 
und  Zielen  für  Alle  liegt,  wird  durch  die  Religion  be- 
schützt und  besiegelt,  jene  seltnen  Fälle  abgerechnet, 
wo  eine  Priesterschaft  mit  der  Staatsgewalt  sich  über 
den  Preis  nicht  einigen  kann  und  in  Kampf  t^iitt.  Für 
gewöhnlich  wird  der  Staat  sich  die  Priester  zu  gewinnen 
wissen,  weil  er  ihrer  allerprivatesten  verborgenen  Er- 
ziehung der  Seelen  benöthigt  ist  und  Diener  zu  schätzen 
weiss,  welche  scheinbar  und  äusserlich  ein  ganz  anderes 
Interesse  vertreten.  Ohne  Beihülfe  der  Priester  kann 
auch  jetzt  noch  keine  Macht  „legitim"  werden:  wie 
Napoleon  begriff.  —  So  gehen  absolute  vormundschaft- 
liche Regierung  und  sorgsame  Erhaltung  der  Religion 
noth wendig  zusammen.  Dabei  ist  vorauszusetzen,  dass 
die  regierenden  Personen  und  Classen  über  den  Nutzen, 
welchen  ihnen  die  Religion  gewährt,  aufgeklärt  werden 
und  somit  bis  zu  einem  Grade  sich  ihr  überlegen  fühlen, 
insofern  sie  dieselbe  als  Mittel  gebrauchen:  wesshalb  hier 
die  Freigeisterei  ihren  Ursprung  hat.  —  Wie  aber,  wenn 
jene  ganz  verschiedene  Auffassung  des  Begriffes  der 
Regierung,  wie  sie  in  demokratischen  Staaten  gelehrt 
wird,  durchzudringen  anfängt?  Wenn  man  in  ihr  Nichts 
als  das  Werkzeug  des  Volkswillens  sieht,  kein  Oben  im 
Vergleich  zu  einem  Unten,  sondern  lediglich  eine  Func- 
tion des  alleinigen  Souverains,  des  Volkes?  Hier  kann 
auch  nur  dieselbe  Stellung,  welche  das  Volk  zur  Reli- 
gion einnimmt,  von  der  Regierung  eingenommen  werden ; 
jede  Verbreitung  von  Aufklärung  wird  bis  in  ihre  Ver- 


—     346     — 

treter  hineinklingen  müssen,  eine  Benutzung  und  Aus- 
beutung der  religiösen  Triebkräfte  und  Tröstungen  zu 
staatlichen  Zwecken  wird  nicht  so  leicht  möglich  sein 
(es  sei  denn,  dass  mächtige  Parteiführer  zeitweilig  einen 
Einfluss  üben,  welcher  dem  des  aufgeklärten  Despotismus 
ähnlich  sieht).  Wenn  aber  der  Staat  keinen  Nutzen  mehr 
aus  der  Religion  selber  ziehen  darf  oder  das  Volk  viel 
zu  mannichfach  über  religiöse  Dinge  denkt,  als  dass  es 
der  Regierung  ein  gleichartiges  einheitliches  Vorgehen 
bei  religiösen  Maassregeln  gestatten  dürfte,  —  so  wird 
nothwendig  sich  der  Ausweg  zeigen,  die  Religion  als 
Privatsache  zu  behandeln  und  dem  Gewissen  und  der 
Gewohnheit  jedes  Einzelnen  zu  überantworten.  Die  Folge 
ist  zu  allererst  diese,  dass  das  religiöse  Empfinden  ver- 
stärkt erscheint,  insofern  versteckte,  und  unterdrückte 
Regungen  desselben,  welchen  der  Staat  unwillkürlich 
oder  absichtlich  keine  Lebensluft  gönnte,  jetzt  hervor- 
brechen und  bis  in's  Extrem  ausschweifen;  später  er- 
weist sich,  dass  die  Religion  von  Secten  überwuchert 
wird  und  dass  eine  Fülle  von  Drachenzähnen  in  dem 
Augenblick  gesäet  worden  ist,  als  man  die  Religion  zur 
Privatsache  machte.  Der  Anblick  des  Streites,  die  feind- 
selige Blosslegung  aller  Schwächen  religiöser  Bekennt- 
nisse lässt  endlich  keinen  Ausweg  mehr  zu,  als  dass 
jeder  Bessere  und  Begabtere  die  Irreligiosität  zu  seiner 
Privatsache  macht:  als  \vielche  Gesinnung  nun  auch  in 
dem  Geiste  der  regierenden  Personen  die  Überhand  be- 
kommt und,  fast  wider  ihreil  "Willen,  ihren  Maassregeln 
einen  rehgionsfeindlichen  Charakter  giebt.  Sobald  diess 
eintritt ,  wandelt  sich  die  Stimmung  der  noch  religiös 
bewegten  Menschen,  welche  früher  den  Staat  als  etwas 
halb  oder  ganz  Heihges  adorirten ,  in  eine  entschieden 
staatsfeindliche  um;  sie  lauern  den  Maassregeln  der 


—     347      — 

Regierung  auf,  suchen  zu  hemmen,  zu  kreuzen,  zu  be- 
unruhigen so  viel  sie  können,  und  treiben  dadurch  die 
Gegenparteien,  die  irreligiösen,  durch  die  Hitze  ihres  "Wider- 
spruchs in  eine  fast  fanatische  Begeisterung  für  den 
Staat  hinein;  wobei  im  Stillen  noch  mitwirkt,  dass  in 
diesen  Kreisen  die  Gemüther  seit  der  Trennung  von  der 
Religion  eine  Leere  spüren  und  sich  vorläufig  durch  die 
Hingebung  an  den  Staat  einen  Ersatz,  eine  Art  von 
Ausfüllung  zu  schaffen  suchen.  Nach  diesen  vielleicht 
lange  dauernden  Übergangskämpfen  entscheidet  es  sich 
endlich,  ob  die  religiösen  Parteien  noch  stark  genug  sind, 
um  einen  alten  Zustand  heraufzubringen  und  das  Rad 
zurückzudrehen:  in  welchem  Falle  unvermeidlich  der 
aufgeklärte  Despotismus  (vielleicht  weniger  aufgeklärt 
und  ängstlicher  als  früher)  den  Staat  in  die  Hände  be- 
kommt, —  oder  ob  die  religionslosen  Parteien  sich  durch- 
setzen und  die  Fortpflanzung  ihrer  Gegnerschaft,  einige 
Generationen  hindurch,  etwa  durch  Schule  und  Erziehung, 
untergraben  und  endlich  unmöglich  machen.  Dann  aber 
lässt  auch  bei  ihnen  jene  Begeisterung  für  den  Staat 
nach:  immer  deutlicher  tritt  hervor,  dass  mit  jener  reli- 
giösen Adoration ,  für  welche  er  ein  Mysterium ,  eine 
überweltliche  Stiftung  ist ,  auch  das  ehrfürchtige  und 
pietätvolle  Verhältniss  zu  ihm  erschüttert  ist.  Fürderhin 
sehen  die  Einzelnen  immer  nur  die  Seite  an  ihm,  wo  er 
ihnen  nützlich  oder  schädlich  werden  kann,  und  drängen 
sich  mit  allen  Mitteln  heran,  um  Einfluss  auf  ihn  zu  be- 
kommen. Aber  diese  Concurrenz  wird  bald  zu  gross, 
die  Menschen  und  Parteien  wechseln  zu  schnell,  stürzen 
sich  gegenseitig  zu  wild  vom  Berge  wieder  herab,  nach- 
dem sie  kaum  oben  angelangt  sind.  Es  fehlt  allen 
Maassregeln,  welche  von  einer  Regierung  durchgesetzt 
werden,    die    Bürgschaft    ihrer    Dauer;    man    scheut   vor 


.       —     348      — 

Unternehmungen  zurück,  welche  auf  Jahrzehende,  Jahr- 
hunderte hinaus  ein  stilles  Wachsthum  haben  müssten, 
um  reife  Früchte  zu  zeitigen.  Niemand  fühlt  mehr  eine 
andere  Verpflichtung  gegen  ein  Gesetz  als  die,  sich  augen- 
blicklich der  Gewalt,  welche  ein  Gesetz  einbrachte,  zu 
beugen:  sofort  geht  man  aber  daran,  es  durch  eine  neue 
Gewalt,  eine  neu  zu  bildende  Majorität  zu  unterminiren. 
Zuletzt  —  man  kann  es  mit  Sicherheit  aussprechen  — 
muss  das  Misstrauen  gegen  alles  Regierende,  die  Einsicht 
in  das  Nutzlose  und  Aufreibende  dieser  kurzathmigcn 
Kämpfe  die  Menschen  zu  einem  ganz  neuen  Entschlüsse 
drängen:  zur  Abschaffung  des  Staatsbegriifs ,  zur  Auf- 
hebung des  Gegensatzes  „privat  und  öffentlich".  Die 
Privatgesellschaften  ziehen  Schritt  vor  Schritt  die  Staats- 
geschäfte in  sich  hinein:  selbst  der  zäheste  Rest,  welcher 
von  der  alten  Arbeit  des  Regierens  übrig  bleibt  (jene 
Thätigkeit  zum  Beispiel,  welche  die  Privaten  gegen  die 
Privaten  sicher  stellen  soll),  wird  zu  allerletzt  einmal 
durch  Privatunternehmer  besorgt  werden.  Die  Miss- 
achtung, der  Verfall  und  der  Tod  des  Staates,  die 
Entfesselung  der  Privatperson  (ich  hüte  mich  zu  sagen: 
des  Individuums)  ist  die  Consequenz  des  demokratischen 
Staatsbegriffs;  hier  liegt  seine  Mission.  Hat  er  seine 
Aufgabe  erfüllt  —  die  wie  alles  Menschliche  viel  Ver- 
nunft und  Unvernunft  im  Schosse  trägt  — ,  sind  alle 
Rückfälle  der  alten  Krankheit  überwunden,  so  wird  ein 
neues  Blatt  im  Fabelbuche  der  Menschheit  entrollt,  auf 
dem  man  allerlei  seltsame  Historien  und  vielleicht  auch 
einiges  Gute  lesen  wird.  —  Um  das  Gesagte  noch  einmal 
kurz  zu  sagen:  das  Interesse  der  vormundschaftlichen 
Regierung  und  das  Interesse  der  Religion  gehen  mit 
einander  Hand  in  Hand,  so  dass,  wenn  letztere  abzu- 
sterben   beginnt,    auch    die    Grundlage    des    Staates    er- 


—     349     — 

schütten  wird.  Der  Glaube  an  eine  göttliche  Ordnung 
der  politischen  Dinge,  an  ein  Mysterium  in  der  Existenz 
des  Staates  ist  religiösen  Ursprungs:  schwindet  die  Re- 
ligion, so  wird  der  Staat  unvermeidlich , seinen  alten  Isis- 
schleier verlieren  und  keine  Ehrfurcht  mehr  erwecken. 
Die  Souverainetät  des  Volkes,  in  der  Nähe  gesehen,  dient 
dazu,  auch  den  letzten  Zauber  und  Aberglauben  auf  dem 
Gebiete  dieser  Empfindungen  zu  verscheuchen;  die  mo- 
derne Demokratie  ist  die  historische  Form  vom  Verfall 
des  Staates.  —  Die  Aussicht,  welche  sich  durch  diesen 
sichern  Verfall  ergiebt,  ist  aber  nicht  in  jedem  Betracht 
eine  unglückselige:  die  Klugheit  und  der  Eigennutz  der 
Menschen  sind  von  allen  ihren  Eigenschaften  am  besten 
ausgebildet;  wenn  den  Anforderungen  dieser  Kräfte  der 
Staat  nicht  mehr  entspncht,  so  wird  am  wenigsten  das 
Chaos  eintreten,  sondern  eine  noch  zweckmässigere  Er- 
findung, als  der  Staat  es  war,  zum  Siege  über  den  Staat 
kommen.  Wie  manche  organisirende  Gewalt  hat  die 
Menschheit  schon  absterben  sehen:  —  zum  Beispiel  die 
der  Geschlechtsgenossenschaft,  als  welche  Jahrtausende 
lang  viel  mächtiger  war  als  die  Gewalt  der  Familie,  ja 
längst,  bevor  diese  bestand,  schon  waltete  und  ordnete. 
Wir  selber  sehen  den  bedeutenden  Rechts-  und  Macht- 
gedanken der  Familie ,  welcher  einmal ,  so  weit  wie 
römisches  Wesen  reichte,  die  Herrschaft  besass,  immer 
blasser  und  ohnmächtiger  werden.  So  wird  ein  späteres 
Geschlecht  auch  den  vStaat  in  einzelnen  Strecken  der 
Erde  bedeutungslos  werden  sehen  —  eine  Vorstellung, 
an  welche  viele  Menschen  der  Gegenwart  kaum  ohne 
Angst  und  Abscheu  denken  können.  An  der  Verbreitung 
und  Verwirkhchung  dieser  Vorstellur.g  zu  arbeiten,  ist 
freilich  ein  ander  Ding:  man  muss  sehr  anmaassend  von 
seiner  Vernunft   denken    und   die   Geschichte  kaum   halb 


—     350     —    • 

verstehen,  um  schon  jetzt  die  Hand  an  den  Pflug  zu 
legen,  —  während  noch  Niemand  die  Samenkörner  auf- 
zeigen kann,  welche  auf  das  zerrissene  Erdreich  nachher 
gestreut  werden  sollen.  Vertrauen  wir  also  „der  Klug- 
heit und  dem  Eigennutz  der  Menschen",  dass  jetzt  noch 
der  Staat  eine  gute  Weile  bestehen  bleibt  und  zerstöre- 
rische Versuche  übereifriger  und  voreiliger  Halbwisser 
abgewiesen  werden! 

473- 

Der  Socialismus  in  Hinsicht  auf  seine 
Mittel.  —  Der  Socialismus  ist  der  phantastische  jüngere 
Bruder  des  fast  abgelebten  Despotismus,  den  er  beerben 
will;  seine  Bestrebungen  sind  also  im  tiefsten  Verstände 
reactionär.  Denn  er  begehrt  eine  Fülle  der  Staatsge- 
walt, wie  sie  nur  je  der  Despotismus  gehabt  hat,  ja  er 
überbietet  alles  Vergangene  dadurch,  dass  er  die  förm- 
liche Vernichtung  des  Individuums  anstrebt:  als  welches 
ihm  wie  ein  unberechtigter  Luxus  der  Natur  vorkommt 
und  durch  ihn  in  ein  zweckmässiges  Organ  des  Ge- 
meinwesens umgebessert  werden  soll.  Seiner  Ver- 
wandtschaft wegen  erscheint  er  immer  in  der  Nähe  aller 
excessiven  Machtentfaltungen,  wie  der  alte  typische 
Socialist  Plato  am  Hofe  des  sicilischen  Tyrannen;  er 
wünscht  (und  befördert  unter  Umständen)  den  cäsarischen 
Gewaltstaat  dieses  Jahrhunderts,  weil  er,  wie  gesagt,  sein 
Erbe  werden  möchte.  Aber  selbst  diese  Erbschaft  würde 
für  seine  Zwecke  nicht  ausreichen ,  er  braucht  die  aller- 
unterthänigste  Niederwerfung  aller  Bürger  vor  dem 
unbedingten  Staat,  wie  niemals  etwas  Gleiches  existirt 
hat;  und  da  er  nicht  einmal  auf  die  alte  religiöse  Pietät 
gegen  den  Staat  mehr  rechnen  darf,  vielmehr  an  deren 
Beseitigung  unwillkürlich  fortwährend  arbeiten   muss  — 


—     351     — 

nämlich  weil  er  an  der  Beseitigung  aller  bestehenden 
Staaten  arbeitet  — ,  so  kann  er  sich  nur  auf  kurze 
Zeiten,  durch  den  äussersten  Terrorismus,  hier  und  da 
einmal  auf  Existenz  Hoffnung  machen.  Desshalb  be- 
reitet er  sich  im  Stillen  zu  Schreckensherrschaften  vor 
und  treibt  den  halbgebildeten  Massen  das  Wort  „Ge- 
rechtigkeit" wie  einen  Nagel  in  den  Kopf,  um  sie  ihres 
Verstandes  völlig  zu  berauben  (nachdem  dieser  Ver- 
stand schon  durch  die  Halbbildung  sehr  gelitten  hat) 
und  ihnen  für  das  böse  Spiel,  das  sie  spielen  sollen/ein 
gutes  Gewissen  zu  schaffen.  —  Der  Socialismus  kann 
dazu  dienen,  die  Gefahr  aller  Anhäufungen  von  Staats- 
gewalt recht  brutal  und  eindringlich  zu  lehren  und  in- 
sofern vor  dem  Staate  selbst  Misstrauen  einzuflössen. 
Wenn  seine  rauhe  Stimme  in  das  Feldgeschrei:  „soviel 
Staat  wie  möglich"  einfällt,  so  wird  dieses  zunächst 
dadurch  lärmender  als  je:  aber  bald  dringt  auch  das 
entgegengesetzte  mit  um  so  grösserer  Kraft  hervor:  „so 
wenig  Staat  wie  möglich". 


474. 

Die  Entwicklung  des  Geistes  vom  Staate 
gefürchtet.  —  Die  griechische  Polis  war,  wie  jede 
organisirende  politische  Macht,  ausschli essend  und  miss- 
trauisch  gegen  das  Wachsthum  der  Bildung;  üir  ge- 
waltiger Grundtrieb  zeigte  sich  fast  nur  lähmend  und 
hemmend  für  dieselbe.  Sie  wollte  keine  Geschichte,  kein 
Werden  in  der  Bildung  gelten  lassen;  die  in  dem  Staats- 
gesetz festgestellte  Erziehung  sollte  alle  Generationen 
verpflichten  und  auf  Einer  Stufe  festhalten.  Nicht  anders 
wollte  es  später  auch  noch  Plato  für  seinen  idealen  Staat. 
Trotz    der    Polis    entwickelte    sich    also    die    Bildung: 


—     352     — 

indirect  freilich  und  wider  Willen  half  sie  mit,  weil  die 
Ehrsucht  des  Einzelnen  in  der  Polis  auf's  Höchste  ang-e- 
reizt  wurde,  so  dass  er,  einmal  auf  die  Bahn  geistiger 
Ausbildung  gerathen,  auch  in  ihr  bis  in's  letzte  Extrem 
fortgieng.  Dagegen  soll  man  sich  nicht  auf  die  Ver- 
herrlichungsrede des  Perikles  berufen:  denn  sie  ist  nur 
ein  grosses  optimistisches  Trugbild  über  den  angeblich 
nothwendigen  Zusammenhang  von  Polis  und  athenischer 
Cultur;  Thukydides  lässt  sie,  unmittelbar  bevor  die  Nacht 
über  Athen  kommt  (die  Pest  und  der  Abbruch  der  Tra- 
dition), noch  einmal  wie  eine  verklärende  Abendröthe 
aufleuchten,  bei  der  man  den  schlimmen  Tag  vergessen 
soll,  der  ihr  vorangieng. 


475. 

Der  europäische  Mensch  und  die  Vernich- 
tung der  Nationen.  —  Der  Handel  und  die  Industrie, 
der  Bücher-  und  Briefverkehr,  die  Gemeinsamkeit  aller 
höheren  Cultur,  das  schnelle  Wechseln  von  Haus  und 
Landschaft,  das  jetzige  Nomadenleben  aller  Nicht -Land- 
besitzer —  diese  Umstände  bringen  nothwendig  eine 
Schwächung  und  zuletzt  eine  Vernichtung  der  Nationen, 
mindestens  der  europäischen,  mit  sich:  so  dass  aus  ihnen 
allen,  in  Folge  fortwährender  Kreuzungen,  eine  Misch- 
rasse, die  des  europäischen  Menschen,  entstehen  muss. 
Diesem  Ziele  wirkt  jetzt,  bewusst  oder  unbewusst,  die 
Abschliessung  der  Nationen  durch  Erzeugung  nationaler 
Feindseligkeiten  entgegen,  aber  langsam  geht  der  Gang 
jener  Mischung  dennoch  vorwärts,  trotz  jenen  zeitweiligen 
Gegenströmungen:  dieser  künstliche  Nationalismus  ist 
übrigens  so  gefährlich,  wie  der  künstliche  Katholicismus 
es  gewesen  ist,  denn  er  ist  in  seinem  Wesen  ein  gewalt- 


—     353     — 

sanier  Noth-  und  Belagerungszustand,  welcher  von 
Wenigen  über  Viele  verhängt  ist,  und  braucht  List 
Lüge  und  Gewalt,  um  sich  in  Ansehen  zu  halten.  Nicht 
das  Interesse  der  Vielen  (der  Völker),  wie  man  wohl 
sagt,  sondern  vor  Allem  das  Interesse  bestimmter  Fürsten- 
dynastien, sodann  das  bestimmter  Classen  des  Handels 
und  der  Gesellschaft,  treibt  zu  diesem  Nationalismus;  hat 
man  diess  einmal  erkannt,  so  soll  man  sich  nur  unge- 
scheut  als  guten  Europäer  ausgeben  und  durch  die 
That  an  der  Verschmelzung  der  Nationen  arbeiten:  wo- 
bei die  Deutschen  durch  ihre  alte  bewährte  Eigenschaft, 
Dolmetscher  und  Vermittler  der  Völker  zu  sein, 
mitzuhelfen  vermögen.  —  Beiläufig:  das  ganze  Problem 
der  Juden  ist  nur  innerhalb  der  nationalen  Staaten  vor- 
handen, insofern  hier  überall  ihre  Thatkräftigkeit  und 
höhere  Intelligenz,  ihr  in  langer  Leidensschule  von  Ge- 
schlecht zu  Geschlecht  angehäuftes  Geist-  und  Willens- 
Capital  in  einem  neid-  und  hass erweckenden  Maasse 
zum  Übergewicht  kommen  muss,  so  dass  die  litterarische 
Unart  fast  in  allen  jetzigen  Nationen  überhand  nimmt  — 
und  zwar  je  mehr  diese  sich  wieder  national  gebärden  — , 
die  Juden  als  Sündenböcke  aller  möglichen  öffentlichen  und 
inneren  Übelstände  zur  Schlachtbank  zu  führen.  Sobald 
es  sich  nicht  mehr  um  Conservirung  von  Nationen, 
sondern  um  die  Erzeugung  einer  möglichst  kräftigen 
europäischen  Mischrasse  handelt,  ist  der  Jude  als 
Ingredienz  ebenso  brauchbar  und  erwünscht  als  irgend 
ein  anderer  nationaler  Rest.  Unangenehme,  ja  ge- 
fährliche Eigenschaften  hat  jede  Nation,  jeder  Mensch: 
es  ist  grausam  zu  Verlagen,  dass  der  Jude  eine  Aus- 
nahme machen  solle.  Jene  Eigenschaften  mögen  sogar 
bei  ihm  in  besonderem  Maasse  gefährlich  und  ab- 
schreckend sein ;  und  vielleicht  ist  der  jugendliche  Börsen- 

Nietzscbe,  Werke  Band  11.  „ 


—     354     — 

Jude  die  widerlichste  Erfindung  des  Menschengeschlechtes 
überhaupt.  Trotzdem  möchte  ich  wissen,  wie  viel  man 
bei  einer  Gesammtabrechnung  einem  Volke  nachsehen 
muss,  welches,  nicht  ohne  unser  Aller  Schuld,  die  leid- 
vollste Geschichte  unter  allen  Völkern  gehabt  hat,  und 
dem  man  den  edelsten  Menschen  (Christus),  den  reinsten 
Weisen  (Spinoza),  das  mächtigste  Buch  und  das 
wirkungsvollste  Sittengesetz  der  Welt  verdankt.  Über- 
diess:  in  den  dunkelsten  Zeiten  des  Mittelalters,  als  sich  die 
asiatische  Wolkenschicht  schwer  über  Europa  gelagert 
hatte,  waren  es  jüdische  Freidenker,  Gelehrte  und  Arzte, 
welche  das  Banner  der  Aufklärung  und  der  geistigen 
Unabhängigkeit  unter  dem  härtesten  persönlichen  Zwange 
festhielten  und  Europa  gegen  Asien  vertheidigten ;  ihren 
Bemühungen  ist  es  nicht  am  wenigsten  zu  danken,  dass 
eine  natürlichere,  vernunftgemässere  und  jedenfalls  un- 
m)rthische  Erklärung  der  Welt  endlich  wieder  zum  Siege 
kommen  konnte  und  dass  der  Ring  der  Cultur,  welcher 
uns  jetzt  mit  der  Aufklärung  des  griechisch-römischen 
Alterthums  zusammenknüpft,  unzerbrochen  blieb.  Wenn 
das  Christenthum  Alles  gethan  hat,  um  den  Occident  zu 
Orientalisiren,  so  hat  das  Judenthum  wesentHch  mit  dabei 
geholfen,  ihn  immer  wieder  zu  occidentalisiren:  was  in 
einem  bestimmten  Sinne  so  viel  heisst,  als  Europa's 
Aufgabe  und  Geschichte  zu  einer  Fortsetzung  der 
griechischen  zu  machen. 


47Ö. 

Scheinbare  Überlegenheit  des  Mittelalters.  — 
Das  Mittelalter  zeigt  in  der  Kirche  ein  Institut  mit  einem 
ganz  universalen,  die  gesammte  Menschheit  in  sich  be- 
greifenden Ziele,   noch  dazu  einem  solchen,  welches  den 


—     355     — 

—  vermeintlich  —  höchsten  Interessen  derselben  galt: 
dagegen  gesehen  machen  die  Ziele  der  Staaten  und 
Nationen,  welche  die  neuere  Geschichte  zeigt,  einen  be- 
klemmenden Eindruck;  sie  erscheinen  kleinlich,  niedrig, 
materiell,  räumhch  beschränkt.  Aber  dieser  verschiedne 
Eindruck  auf  die  Phantasie  soll  unser  Urtheil  ja  nicht 
bestimmen;  denn  jenes  universale  Institut  entsprach  er- 
künstelten, auf  Fictionen  beruhenden  Bedürfnissen,  welche 
es,  wo  sie  noch  nicht  vorhanden  waren,  erst  erzeugen 
musste  (Bedürfniss  der  Erlösung);  die  neuen  Institute 
helfen  wirklichen  Nothzuständen  ab;  und  die  Zeit  kommt, 
wo  Institute  entstehen ,  um  den  gemeinsamen  wahren 
Bedürfnissen  aller  Menschen  zu  dienen  und  das  phan- 
tastische Urbild,  die  katholische  Kirche,  in  Schatten  und 
Vergessenheit  zu  stellen. 


477. 

Der  Krieg  unentbehrlich.  —  Es  ist  eitel  Schwär- 
merei und  Schönseelenthum,  von  der  Menschheit  noch 
viel  (oder  gar:  erst  recht  viel)  zu  erwarten,  wenn  sie 
verlernt  hat  Kriege  zu  führen.  Einstweilen  kennen  wir 
keine  anderen  Mittel,  wodurch  »mattwerdenden  Völkern 
jene  rauhe  Energie  des  Feldlagers,  jener  tiefe  unper- 
sönliche Hass,  jene  Mörder- Kaltblütigkeit  mit  gutenj 
Gewissen,  jene  gemeinsame  organisirende  Gluth  in  der 
Vernichtung  des  Feindes ,  jene  stolze  Gleichgültigkeit 
gegen  grosse  Verluste,  gegen  das  eigene  Dasein  und  das 
der  Befreundeten,  jenes  dumpfe  erdbebenhafte  Erschüttern 
der  Seele  ebenso  stark  und  sicher  mitgetheilt  werden 
könnte,  wie  dicss  jeder  grosse  Krieg  thut:  von  den  hier 
hervorbrechenden  Bächen  und  Strömen,  welche  freilich 
Steine   und   Unrath    aller  Art   mit   sich   wälzen    und   die 

23* 


-     356     - 

Wiesen  zarter  Culturen  zu  Grunde  richten,  werden  nach- 
her unter  günstigen  Umständen  die  Räderwerke  in  den 
Werkstätten  des  Geistes  mit  neuer  Kraft  umgedreht 
Die  Cultur  kann  die  Leidenschaften,  Laster  und  Bosheiten 
durchaus  nicht  entbehren.  —  Als  die  kaiserlich  geword- 
nen Römer  der  Kriege  etwas  müde  wurden,  versuchten 
sie  aus  Thierhetzen,  Gladiatorenkämpfen  und  Christen- 
verfolgnngen  sich  neue  Kraft  zu  gewinnen.  Die  jetzigen 
Engländer,  welche  im  Ganzen  auch  dem  Kriege  abgesagt 
zu  haben  scheinen,  ergreifen  ein  andres  Mittel,  um  jene 
entschwindenden  Kräfte  neu  zu  erzeugen:  jene  gefähr- 
lichen Entdeckungsreisen,  Durchschiffungen,  Erkletter- 
ungen, zu  wissenschaftlichen  Zwecken,  wie  es  heisst. 
unternommen,  in  Wahrheit,  um  überschüssige  Kraft  aus 
Abenteuern  und  Gefahren  aller  Art  mit  nach  Hause  zu 
bringen.  Man  wird  noch  vielerlei  solche  Surrogate  des 
Krieges  ausfindig  machen,  aber  vielleicht  gerade  durch  sie 
immer  mehr  einsehen,  dass  eine  solche  hoch  cultivirte 
und  daher  nothwendig  matte  Menschheit,  wie  die  jetzige 
Europa's,  nicht  nur  der  Kriege,  sondern  der  grössten  und' 
furchtbarsten  Kriege  —  also  zeitweiliger  Rückfälle  in 
die  Barbarei  —  bedarf,  um  nicht  an  den  Mitteln  der 
Cultur  ihre  Cultur  und  ihr  Dasein  selber  einzubüssen. 


.  478. 

Fleiss  im  Süden  und  Norden.  —  Der  Fleiss  ent- 
steht auf  zwei  ganz  verschiedne  Arten.  Die  Hand- 
werker im  Süden  werden  fleissig,  nicht  aus  Erwerbstrieb, 
sondern  aus  der  beständigen  Bedürftigkeit  der  Andern. 
Weil  immer  Einer  kommt,  der  ein  Pferd  beschlagen, 
einen  Wagen  ausbessern  lassen  will,  so  ist  der  Schmied 
fleissig.     Käme  Niemand,   so   würde   er  auf  dem  Meirkte 


—     357     — 

herumlungern.  Sich  zu  ernähren,  das  hat  in  einem  frucht- 
baren Lande  wenig  Noth,  dazu  brauchte  er  nur  ein  sehr 
geringes  Maass  von  Arbeit,  jedenfalls  keinen  Fleiss; 
schliesslich  würde  er  betteln  und  zufrieden  sein.  —  Der 
Fleiss  englischer  Arbeiter  hat  dagegen  den  Erwerbssinn 
hinter  sich:  er  ist  sich  seiner  selbst  und  seiner  Ziele  be- 
wusst  und  will  mit  dem  Besitz  die  Macht,  mit  der 
Macht  die  grösstmögliche  Freiheit  und  individuelle  Vor- 
nehmheit. 

479- 

Reichthum  als  Ursprung  eines  Geblütsadels. 
Der  Reichthum  erzeugt  nothwendig  eine  Aristokratie 
der  Rasse,  denn  er  gestattet  die  schönsten  Weiber  zu 
wählen,  die  besten  Lehrer  zu  besolden,  er  gönnt  dem 
Menschen  Reinlichkeit,  Zeit  zu  körperlichen  Übungen 
und  vor  Allem  Abwendung  von  verdumpfender  körper- 
licher Arbeit.  Soweit  verschafft  er  alle  Bedingungen, 
um,  in  einigen  Generationen,  die  Menschen  vornehm  und 
schön  sich  bewegen,  ja  selbst  handeln  zu  machen:  die 
grössere  Freiheit  des  Gemüths,  die  Abwesenheit  des 
Erbärmlich -Kleinen,  der  Erniedrigung  vor  Brodgebern, 
der  Pfennig  -  Sparsamkeit.  —  Gerade  diese  negative 
Eigenschaften  sind  das  reichste  Angebinde  das  Glücks 
für  einen  jungen  Menschen ;  ein  ganz  Armer  richtet  sich 
gewöhnlich  durch  Vornehmheit  der  Gesinnung  zu  Grunde, 
er  kommt  nicht  vorwärts  und  erwirbt  nichts,  seine  Rasse 
ist  nicht  lebensfähig.  —  Dabei  ist  aber  zu  bedenken, 
dass  der  Reichthum  fast  die  gleichen  Wirkungen  ausübt, 
wenn  Einer  dreihundert  Thaler  oder  dreissigtausend  jähr- 
lich verbrauchen  darf:  es  giebt  nachher  keine  wesentliche 
Progression  der  begünstigenden  Umstände  mehr.  Aber 
weniger  zu  haben,  als  Knabe  zu  betteln  und  sich  zu  er- 


358 

niedrigen,  ist  furchtbar:  obwohl  für  Solche,  welche  inr 
Glück  im  Glänze  der  Höfe,  in  der  Unterordnung  unter 
Mächtige  und  Einflussreiche  suchen  oder  welche  Kirchen- 
häupter werden  wollen,  es  der  rechte  Ausgangspunkt 
sein  mag.  ( —  Es  lehrt,  gebückt  sich  in  die  Höhlen- 
gänge der  Gunst  einzuschleichen.) 

480. 
Neid  und  Trägheit  in  verschiedener  Richtung. 
—  Die  beiden  gegnerischen  Parteien,  die  socialistische  und 
die  nationale  —  oder  wie  die  Namen  in  den  verschiedenen 
Ländern  Europa's  lauten  mögen  — ,  sind  einander  würdig: 
Neid  und  Faulheit  sind  die  bewegenden  Mächte  in  ihnen 
beiden.  In  jenem  Heerlager  will  man  so  wenig  als  mög- 
lich mit  den  Händen  arbeiten,  in  diesem  so  wenig  als 
möglich  mit  dem  Kopf;  in  letzterem  hasst  und  neidet 
man  die  hervorragenden,  aus  sich  wachsenden  Einzelnen, 
welche  sich  nicht  gutwillig  in  Reih  und  Glied  zum 
Zwecke  einer  Massenwirkung  stellen  lassen;  in  ersterem 
die  bessere,  äusserlich  günstiger  gestellte  Kaste  der  Ge- 
sellschaft, deren  eigentliche  Aufgabe,  die  Erzeugung  der 
höchsten  Culturgüter,  das  Leben  innerlich  um  so  viel 
schwerer  und  schmerzensreicher  macht.  Gelingt  es  frei- 
lich, jenen  Geist  der  Massenwirkung  zum  Geiste  der 
höheren  Classen  der  Gesellschaft  zu  machen,  so  sind  die 
socialistischen  Schaaren  ganz  im  Rechte,  wenn  sie  auch 
äusserlich  zwischen  sich  und  jenen  zu  nivelliren  suchen, 
da  sie  ja  innerlich,  in  Kopf  und  Herz,  schon  mit  ein- 
ander nivellirt  sind.  —  Lebt  als  höhere  Menschen  und 
thut  immerfort  die  Thaten  der  höheren  Cultur,  —  so 
gesteht  euch  Alles,  was  da  lebt,  euer  Recht  zu,  und  die 
Ordnung  der  Gesellschaft,  deren  Spitze  ihr  seid,  ist 
gegen  jeden  bösen  Blick  und  Griff  gefeit! 


—     359     -- 

48i. 

Grosse  Politik  und  ihre  Einbussen,  —  Ebenso 
wie  ein  Volk  die  grössten  Einbussen,  welche  Krieg  und 
I^egsbereitschaft  mit  sich  bringt,  nicht  durch  die 
Unkosten  des  Kriegs ,  die  Stauungen  in  Handel  und 
Wandel  erleidet,  ebenso  nicht  durch  die  Unterhaltung 
der  stehenden  Heere  —  so  gross  diese  Einbussen  auch 
jetzt  sein  mögen,  wo  acht  Staaten  Europa's  jährlich  die 
Summe  von  zwei  bis  drei  Milliarden  darauf  verwenden  — , 
sondern  dadurch,  dass  Jahr  aus  Jahr  ein  die  tüchtigsten 
kräftigsten  arbeitsamsten  Männer  in  ausserordentlicher 
Anzahl  ihren  eigentlichen  Beschäftigungen  und  Berufen 
entzogen  werden,  um  Soldaten  zu  sein:  ebenso  erleidet 
ein  Volk,  welches  sich  anschickt  grosse  Politik  zu  treiben 
und  unter  den  mächtigsten  Staaten  sich  eine  entschei- 
dende Stimme  zu  sichern,  seine  grössten  Einbussen  nicht 
darin,  worin  man  sie  gewöhnlich  findet  Es  ist  wahr, 
dass  es  von  diesem  Zeitpunkte  ab  fortwährend  eine 
Menge  der  hervorragendsten  Talente  auf  dem  „Altar  des 
Vaterlandes"  oder  der  nationalen  Ehrsucht  opfert,  während 
früher  diesen  Talenten,  welche  jetzt  die  Politik  ver- 
schling^, andere  Wirkungskreise  offen  standen.  Aber  ab- 
seits von  diesen  öffentlichen  Hekatomben,  und  im  Grunde 
viel  grauenhafter  als  diese,  begiebt  sich  ein  Schauspiel, 
welches  fortwährend  in  hunderttausend  Acten  gleichzeitig 
sich  abspielt:  jeder  tüchtige  arbeitsame  geistvolle  stre- 
bende Mensch  eines  solchen  nach  politischen  Ruhmes- 
kränzen lüsternen  Volkes  wird  von  dieser  Lüsternheit 
beherrscht  und  gehört  seiner  eigenen  Sache  nicht  mehr 
wie  früher  völlig  an :  die  täglich  neuen  Fragen  und 
Sorgen  des  öffentlichen  Wohls  verschUngen  eine  täg- 
liche Abgabe  von    dem    Kopf-    und  Herz-Capitale  jedes 


—    360    — 

Bürgers:  die  Summe  aller  dieser  Opfer  und  Einbussen  an 
individueller  Energie  und  Arbeit  ist  so  ungeheuer,  dass 
das  politische  Aufblühen  eines  Volks  eine  geistige  Ver- 
armung und  Ermattung,  eine  geringere  Leistungsfähigkeit 
zu  Werken,  welche  grosse  Concentration  und  Einseitigkeit 
verlangen,  fast  mit  Nothwendigkeit  nach  sich  zieht^  Zu- 
letzt darf  man  fragen:  lohnt  sich  denn  alle  diese  Blüthe 
und  Pracht  des  Ganzen  (welche  ja  doch  nur  als  Furcht 
der  anderen  Staaten  vor  dem  neuen  Coloss  und  als 
dem  Auslande  abgerungene  Begünstigung  der  nationalen 
Handels-  und  Verkehrs -Wohlfahrt  zu  Tage  tritt),  wenn 
dieser  groben  und  buntschillernden  Blume  der  Nation 
alle  die  edleren  zarteren  geistigeren  Pflanzen  und  Ge- 
wächse, an  welchen  ihr  Boden  bisher  so  reich  war,  zum 
Opfer  gebracht  werden  müssen? 

482. 

Und  nochmals  gesagt.  —  Öffentliche  Meinungen 
—  private  Faulheiten. 


Neuntes  Hauptstück: 


Der  Mensch  mit  sich  allein. 


a83. 

Feinde  der  Wahrheit.  —  Überzeugungen  sind 
gefährhchere  Feinde  der  Wahrheit  als  Lügen. 

484. 

Verkehrte  Welt  —  Man  kritisirt  einen  Denker 
schärfer,  wenn  er  einen  uns  unangenehmen  Satz  hinstellt; 
und  doch  wäre  es  vernünftiger,  diess  zu  thun,  wenn  sein 
Satz  uns  angenehm  ist. 

485. 
Charaktervoll.     —     Charaktervoll     erscheint    ein 
Mensch   weit  häufiger,   weil   er  immer  seinem  Tempera- 
ment, als  weil  er  immer  seinen  Principien  tolgt. 

486. 

Das  Eine,  was  noth  thut.  —  Eins  muss  man 
haben:  entweder  einen  von  Natur  leichten  Sinn  oder 
einen  durch  Kunst  und  Wissen  erleichterten  Sinn. 

487. 

Die  Leidenschaft  für  Sachen.  —  Wer  seine 
Leidenschaft  auf  Sachen  .{Wissenschaften  Staatswohl 
Culturinteressen   Künste)   richtet,    entzieht  seiner  Leiden- 


—   364    — 

Schaft  für  Personen  viel  Feuer  (selbst  wenn  sie  Ver- 
treter jener  Sachen  sind,  wie  Staatsmänner,  Philosophen, 
Künstler  Vertreter  ihrer  Schöpfungen  sind). 

488. 

Die  Ruhe  in  der  That.  —  Wie  ein  Wasserfall 
im  Sturz  langsamer  und  schwebender  wird,  so  pflegt 
der  grosse  Mensch  der  That  mit  mehr  Ruhe  zu  han- 
deln, als  seine  stürmische  Begierde  vor  der  That  es 
erwarten  Hess. 

489. 

Nicht  zu  tief.  —  Personen,  welche  eine  Sache  in 
aller  Tiefe  erfassen,  bleiben  ihr  selten  auf  immer  treu. 
Sie  haben  eben  die  Tiefe  an's  Licht  gebracht:  da  giebt 
es  immer  viel  Schümmes  zu  sehen. 

490. 

Wahn  der  Idealisten.  —  Alle  Idealisten  bilden 
sich  ein,  die  Sachen,  welchen  sie  dienen,  seien  wesent- 
lich besser  als  die  andern  Sachen  in  der  Welt,  und 
wollen  nicht  glauben,  dass  wenn  ihre  Sache  überhaupt 
gedeihen  soll,  sie  genau  desselben  übel  riechenden 
Düngers  bedarf,  welchen '  alle  andern  menschlichen  Un- 
ternehmungen nöthig  haben. 

491. 

Selbstbeobachtung.  -  Der  Mensch  ist  gegen 
sich  selbst,  gegen  Auskundschaftung  und  Belagerung 
durch  sich  selber  sehr  gut  vertheidigt,  er  vermag  ge- 
wöhnlich   nicht    mehr   von    sich    als   seine   Aussenwerke 


-     365     - 

Avahrzunehmen.  Die  eigentliche  Festung  ist  ihm  unzu- 
gänglich, selbst  unsichtbar,  es  sei  denn,  dass  Freunde 
und  Feinde  die  Verräther  machen  und  ihn  selber  auf 
geheimem  Wege  hineinführen. 


492. 

Der  richtige  Beruf.  —  Männer  halten  selten 
einen  Beruf  aus,  von  dem  sie  nicht  glauben  oder  sich 
einreden,  er  sei  im  Grunde  wichtiger  als  alle  anderen. 
Ebenso  geht  es  Frauen  mit  ihren  Liebhabern. 


493. 

Adel  der  Gesinnung.  —  Der  Adel  der  Ge- 
sinnung besteht  zu  einem  grossen  Theil  aus  Gutmüthig- 
keit  und  Mangel  an  Misstrauen  und  enthält  also  gerade 
Das,  worüber  sich  die  gewinnsüchtigen  und  erfolgreichen 
Menschen  so  gerne  mit  Überlegenheit  und  Spott  er- 
gehen. 

494. 

Ziel  und  Wege.  — Viele  sind  hartnäckig  in  Bezug 
auf  den  einmal  eingeschlagnen  Weg,  Wenige  in  Bezug 
auf  das  Ziel. 

495. 

Das  Empörende  an  einer  individuellen 
Lebensart.  —  Alle  sehr  individuellen  Maassregeln  des 
Lebens  bringen  die  Menschen  gegen  Den,  der  sie  er- 
greift, auf;  sie  fühlen  sich  durch  die  aussergewöhnliche 
Behandlung,  welche  Jener  sich  angedeihen  lässt,  er- 
niedrigt, als  gewöhnliche  Wesen. 


—     366     ^ 

496. 

Vorrecht   der  Grösse.  —  Es  ist  das  Vorrecht  der 
Grösse,  mit  geringen  Gaben  hoch  zu  beglücken. 


497- 

Unwillkürlich  vornehm.  — .  Der  Mensch  beträgt 
sich  unwillkürlich  vornehm,  wenn  er  sich  gewöhnt  hat, 
von  den  Menschen  Nichts  zu  wollen  und  ihnen  immer 
zu  geben. 

498. 

Bedingung  des  Heroenthums.  —  Wenn  Einer 
zum  Helden  werden  will,  so  muss  die  Schlange  vorher 
zum  Drachen  geworden  sein,  sonst  fehlt  ihm  sein  rechter 
Feind. 

499. 

Freund.  —  Mitfreude,  nicht  Mitleiden,  macht  den 
Freund. 

500. 

Ebbe  und  Fluth  zu  benutzen.  —  Man  muss 
zum  Zwecke  der  Erkenntniss,  jene  innere  Strömung  zu 
benutzen  wissen,  welche  uns  zu  einer  Sache  hinzieht,  und 
wiederum  jene,  welche  uns,  nach  einer  Zeit,  von  der 
Sache  fortzieht. 

501. 

Freude  an  sich.  —  „Freude  an  der  Sache"  so  sagt 
man:  aber  in  Wahrheit  ist  es  Freude  an  sich  vermittelst 
einer  Sache. 


—     36?     — 

502. 

Der  Bescheidene.  —  Wer  gegen  Personen  be- 
scheiden ist ,  zeigt  gegen  Sachen  (Stadt  Staat  Gesell- 
schaft Zeit  Menschheit)  um  so  stärker  seine  Anmaassung. 
Das  ist  seine  Rache. 

503. 

Neid  und  Eifersucht.  —  Neid  und  Eifersucht  sind 
die  Schamtheile  der  menschlichen  Seele.  Die  Vergleichung 
kann  vielleicht  fortgesetzt  werden. 

504- 

Der  vornehmste  Heuchler.  —  Gar  nicht  von 
sich  zu  reden,  ist  eine  sehr  vornehme  Heuchelei. 

505- 

Verdruss.  —  Der  Verdruss  ist  eine  körperliche 
Krankheit,  welche  keineswegs  dadurch  schon  gehoben 
ist,  dass  die  Veranlassung  zum  Verdrusse  hinterdrein  be- 
seitigt wird. 

506. 

Vertreter  der  Wahrheit.  —  Nicht  wenn  es 
gefährlich  ist  die  Wahrheit  zu  sagen ,  findet  sie  am 
seltensten  Vertreter,  sondern  wenn  es  langweilig  ist 

507- 

Beschwerlicher  noch  als  Feinde.  —  Die 
Personen,  von  deren  sympathischem  Verhalten  wir  nicht 
unter    allen    Umständen    überzeugt    sind ,    während    uns 


-     368     - 

irgend  ein  Grund  (z.  B.  Dankbarkeit)  verpflichtet,  den 
Anschein  der  unbedingten  Sympathie  unserseits  auf- 
recht zu  erhalten,  quälen  unsere  Phantasie  viel  mehr  als 
unsere  Feinde. 

508. 

Die    freie   Natur.    —   Wir    sind  so  gerne  in    der 
freien  Natur,  weil  diese  keine  Meinung  über  uns  hat 


509- 

Jeder  in  Einer  Sache  überlegen. —  In  civilisirten 
Verhältnissen  fühlt  sich  Jeder  jedem  Andern  in  Einer 
Sache  wenigstens  überlegen:  darauf  beruht  das  allge- 
meine Wohlwollen,  insofern  Jeder  einer  ist,  der  unter 
Umständen  helfen  kann  und  desshalb  sich  ohne  Scham 
helfen  lassen  darf. 

510. 

Trostgründe.  —  Bei  einem  Todesfall  braucht  man 
zumeist  Trostgründe,  nicht  sowohl  um  die  Gewalt  des 
Schmerzes  zu  lindern,  als  um  zu  entschuldigen,  dass 
man  sich  so  leicht  getröstet  fühlt 


511. 

Die  Überzeugungstreuen.  —  Wer  viel  zu  thun 
hat,  behält  seine  allgemeinen  Ansichten  und  Standpunkte 
fast  unverändert  bei.  Ebenso  Jeder,  der  im  Dienst  einer 
Idee  arbeitet:  er  wird  die  Idee  selber  nie  mehr  prüfen, 
dazu  hat  er  keine  Zeit  mehr;  ja  es  geht  gegen  sein 
Interesse,  sie  überhaupt  noch  für  discutirbar  zu  halten. 


—     3^9     -- 

512. 
Moralität  und  Quantität  —  Die  höhere  Moralität 
des  einen  Menschen  im  Vergleich  zu  der  eines  anderen 
liegt  oft  nur  darin ,  dass  die  Ziele  quantitativ  grösser 
sind.  Jenen  zieht  die  Beschäftigung  mit  dem  Kleinen, 
im  engen  Kreise,  nieder. 

513. 

Das  Leben  als  Ertrag  des  Lebens.  —  Der 
Mensch  mag  sich  noch  so  weit  mit  seiner  Erkenntriiss 
ausrecken,  sich  selber  noch  so  objectiv  vorkommen: 
zuletzt  trägt  er  doch  nichts  davon  als  seine  eigne  Bio- 
graphie. 

514. 
Die    eherne    Nothwendigkeit.    —    Die    eherne 
Nothwendigkeit  ist  ein  Ding,  von  dem  die  Menschen  im 
Verlauf  der  Geschichte    einsehen,   dass   es  weder    ehern 
noch  nothwendig  ist 

515- 
Aus    der    Erfahrung.    —    Die    Unvernunft    einer 
Sache    ist   kein  Grund    gegen   ihr  Dasein,  vielmehr  eine 
ßedingxmg  desselben. 

516. 

Wahrheit  —  Niemand  stirbt  jetzt  an  tödtlichen 
Wahrheiten:   es  giebt  zu  viele  Gegengifte. 

517. 

Grundeinsicht  —  Es  gicbt  keine  prästabilirte 
Harmonie  zwischen  der  Förderung  der  Wahrheit  und 
dem  Wohle  der  Menschheit 

Nietzsche,  Werke  Band  Tl.  24 


—     370     — 

5i8. 

Menschenloos.  —  Wer  tiefer  denkt,  weiss,  dass 
er  immer  Unrecht  hat,  er  mag  handeln  und  urtheilen, 
wie  er  will. 

519. 

Wahrheit  als  Circe.  —  Der  Irrthum  hat  aus 
Thieren  Menschen  gemacht;  sollte  die  Wahrheit  im 
Stande  sein,  aus  dem  Menschen  wieder  ein  Thier  zu 
machen  ? 

520. 

Gefahr  unsrer  Cultur.  —  Wir  gehören  einer 
Zeit  an,  deren  Cultur  in  Gefahr  ist,  an  den  Mitteln  der 
Cultur  zu  Grunde  zu  gehen. 


521. 

Grösse  heisst:  Richtung-geben.  —  Kein  Strom 
ist  durch  sich  selber  gross  und  reich:  sondern  dass  er 
so  viele  Nebenflüsse  aufnimmt  und  fortführt,  das  macht 
ilin  dazu.  So  steht  es  auch  mit  allen  Grössen  des  Geistes. 
Nur  darauf  kommt  es  an,  dass  Einer  die  Richtung  an- 
giebt,  welcher  dann  so  viele  Zuflüsse  folgen  müssen ;  nicht 
darauf,  ob  er  von  Anbeginn  arm  oder  reich  begabt  ist 


522. 

Schwaches  Gewissen.  —  ^Menschen,  welche  von 
ihrer  Bedeutung  für  die  Menschheit  sprechen,  haben  in 
Bezug  auf  gemeine  bürgerliche  Rechtlichkeit,  im  Halten 
von  Verträgen  Versprechungen  ein  schwaches  Gewissen. 


—     371     — 

523- 

Geliebt  sein  wollen.  —   Die  Forderung,  geliebt 
zu  werden,  ist  die  grösste  der  Anmaassungen, 


524- 

Menschen  Verachtung.  —  Das  unzweideutigste 
Anzeichen  von  einer  Geringschätzung  der  Menschen  ist 
diess,  dass  man  Jedermann  nur  als  Mittel  zu  seinem 
Zwecke  oder  gar  nicht  gelten  lässt. 


525. 

Anhänger  aus  Widerspruch.  —  Wer  die  Men- 
schen zur  Raserei  gegen  sich  gebracht  hat,  hat  sich 
immer  auch  eine  Partei  zu  seinen  Gunsten  erworben. 


526. 

Erlebnisse  vergessen.  —  Wer  viel  denkt,  und 
zwar  sachhch  denkt,  vergisst  leicht  seine  eigenen  Erleb- 
nisse, aber  nicht  so  die  Gedanken,  welche  durch  jene 
hervorgerufen  wurden. 

527. 

Festhalten  einer  Meinung.  —  Der  Eine  hält  eine 
Meinung  fest,  weil  er  sich  etwas  darauf  einbildet,  von 
selbst  auf  sie  gekommen  zu  sein ,  der  Andre ,  weil  er 
sie  mit  Mühe  gelernt  hat  und  stolz  darauf  ist,  sie  be- 
griffen zu  haben:  Beide  also  aus  Eitelkeit 


24* 


-'      372     — 

528. 

Das  Licht  scheuen.  —  Die  gute  That  scheut 
ebenso  ängstUch  das  Licht  als  die  böse  That:  diese 
fürchtet,  durch  das  Bekanntwerden  komme  der  Schmerz 
(als  Strafe),  jene  fürchtet,  durch  das  Bekanntwerden 
schwinde  die  Lust  (jene  reine  Lust  an  sich  selbst  näm- 
lich ,  welche  sofort  aufhört ,  sobald  eine  Befriedigung 
der  Eitelkeit  hinzutritt). 

529. 

Die  Länge  des  Tages.  —  Wenn  man  viel  hinein- 
zustecken hat,  so  hat  ein  Tag  hundert  Taschen. 


530. 

Tyrannengenie.  —  Wenn  in  der  Seele  eine  un- 
bezwingliche  Lust  dazu  rege  ist,  sich  tyrannisch  durch- 
zusetzen, und  das  Feuer  beständig  unterhält,  so  wird 
selbst  eine  geringe  Begabung  (bei  Politikern  Künstlern) 
allmählich   zu   einer   fast   unwiderstehlichen    Naturgewalt. 


531. 

Das  Leben  des  Feindes.  —  Wer  davon  lebt, 
einen  Feind  zu  bekämpfen,  hat  ein  Interesse  daran,  dass 
er  am  Leben  bleibt. 

532- 

Wichtiger.  —  Man  nimmt  die  unerklärte  dunkle 
Sache  wichtiger  als  die  erklärte  helle. 


373 


533- 

Abschätzung  erwiesener  Dienste.  —  Dienst- 
leistungen, die  uns  Jemand  erweist,  schätzen  wir  nach 
dem  Werthe,  den  Jener  darauf  legt,  nicht  nach  dem, 
welchen  sie  für  uns  haben. 

534. 
Unglück.  —  Die  Auszeichnung,  welche  im  Unglück 
liegt  (als  ob  es  ein  Zeichen  von  Flachheit  Anspruchs- 
losigkeit Gewöhnlichkeit  sei,  sich  glückhch  zu  fühlen), 
ist  so  gross,  dass  wenn  Jemand  Einem  sagt:  „aber  wie 
glücklich  Sie  sindl"   —  man  gewöhnlich  protestirt. 

535- 
Phantasie  der  Angst.  —  Die  Phantasie  der  Angst 
ist  jener  böse  äffische  Kobold,  der  dem  Menschen  gerade 
dann   noch  auf  den  Rücken  springt,  wenn  er  schon  am 
schwersten  zu  tragen  hat. 

536- 

Werth  abgeschmackter  Gegner.  —  Man  bleibt 
mitunter  einer  Sache  nur  desshalb  treu,  weil  ihre  Gegner 
nicht  aufhören    abgeschmackt  zu  sein. 

527- 

Werth  eines  Berufs.  —  Ein  Beruf  macht  ge- 
dankenlos; darin  liegt  sein  grösster  Segen.  Denn  er  ist 
eine  Schutzwehr,  hinter  welche  man  sich,  wenn  Bedenken 
und  Sorgen  allgemeiner  Art  Einen  anfallen,  erlaubter- 
maassen  zurückziehen  kann. 


—     374     — 

538. 
Talent.  —  Das  Talent  manches  Menschen  erscheint 
geringer,  als  es  ist,  weil  er  sich   immer  zu  grosse  Auf- 
gaben gestellt  hat. 

539- 
Jugend.   —  Die  Jugend  ist  unangenehm;   denn  in 
ihr  ist  es  nicht  möglich  oder  nicht  vernünftig,   productiv 
zu  sein,  in  irgend  einem  Sinne. 

540. 

Zu  grosse  Ziele.  —  Wer  sich  öffentlich  grosse 
Ziele  stellt  und  hinterdrein  im  Geheimen  einsieht,  dass 
er  dazu  zu  schwach  ist,  hat  gewöhnlich  auch  nicht 
Kraft  genug,  jene  Ziele  öffentlich  zu  widerrufen,  und 
wird  dann  unvermeidlich  zum  Heuchler. 

541. 
Im  Strome.  —  Starke  Wasser  reissen  viel  Gestein 
und  Gestrüpp  mit  sich  fort,  starke  Geister  viel  dumme 
und  verworrene  Köpfe. 

542. 
Gefahren   der  geistigen   Befreiung.  —  Bei   der 
ernstlich   gemeinten  geistigen  Befreiung  eines  Menschen 
hoifen    im    Stillen    auch    seine   Leidenschaften   und   Be- 
gierden, sich  ihren  Vortheil  zu  ersehen. 

543- 
Verkörperung  des  Geistes.  —  Wenn  Einer  viel 
und   klug   denkt,   so    bekommt    nicht    nur  sein   Gesicht, 
sondern  auch  sein  Körper  ein  kluges  Aussehen. 


—      375     — 

544- 
Schlecht   sehen   und   schlecht  hören.    —  Wer 
wenig   sieht,    sieht  immer   weniger;   wer    schlecht    hört, 
hört  immer  Einiges  noch  dazu. 

545. 

Selbstgenuss  in  der  Eitelkeit.  —  Der  Eitle  will 
nicht  sowohl  hervorragen,  als  sich  hervorragend  fühlen, 
desshalb  verschmäht  er  kein  Mittel  des  Selbstbetrugs 
und  der  Selbstüberlistung.  Nicht  die  Meinung  der  An- 
deren, sondern  seine  Meinung  von  Deren  Meinung  liegt 
ihm  am  Herzen. 

546. 

Ausnahmsweise  eitel.  —  Der  für  gewöhnlich 
Selbstgenugsame  ist  ausnahmsweise  eitel  und  für  Ruhm 
und  Lobsprüche  empfänglich,  wenn  er  körperlich  krank 
ist.  In  dem  Maasse,  in  welchem  er  sich  verliert,  muss 
er  sich  aus  fremder  Meinung,  von  Aussen  her,  wieder  zu 
gewinnen  suchen. 

547. 

Die  „Geistreichen".  —  Der  hat  keinen  Geist, 
welcher  den  Geist  sucht 

543. 

Wink  für  Parteihäupter.  —  Wenn  man  die 
Leute  dazu  treiben  kann,  sich  öffentlich  für  etwas  zu 
erklären,  so  hat  man  sie  meistens  auch  dazu  gebracht, 
sich  innerlich  dafür  zu  erklären;  sie  wollen  fürderhin  als 
consequent  erfunden  werden. 


376 


549- 

Verachtung.  —  Die  Verachtung-  durch  Andere  ist 
dem  Menschen   empfindlicher    als    die   durch  sich  sellDst. 


550. 

Schnur  der  Dankbarkeit.  —  Es  giebt  sclavische 
Seelen,  welche  die  Erkenntlichkeit  für  erwiesene  Wohl- 
thaten  so  weit  treiben,  dass  sie  sich  mit  der  Schnur  der 
Dankbarkeit  selbst  erdrosseln. 


551- 

Kunstgriff  des  Propheten.  —  Um  die  Hand- 
lungsweise gewöhnlicher  Menschen  im  Voraus  zu  er- 
rathen,  muss  man  annehmen,  dass  sie  immer  den  min- 
desten Aufwand  an  Geist  machen,  um  sich  aus  einer 
unangenehmen  Lage  zu  befreien. 


552. 

Das  einzige  Menschenrecht.  —  Wer  vom  Her- 
kömmlichen abweicht,  ist  das  Opfer  des  Aussergewöhn- 
lichen;  wer  im  Herkömmlichen  bleibt,  ist  der  Sclave 
desselben.    Zu  Grunde  gerichtet  wird  man  auf  jeden  Fall 

553. 

Unter  das  Thier  hinab.  —  Wenn  der  Mensch 
vor  Lachen  wiehert,  übertrifft  er  alle  ihiere  durch  seme 
Gemeinheit. 


—     577     — 

554. 

Halbwissen.  —  Der,  welcher  eine  fremde  Sprache 
wenig  spricht,  hat  mehr  Freude  daran  als  Der,  welcher 
sie  gnt  spricht  Das  Vergnügen  ist  bei  den  Halb- 
wissenden. 

555- 

Gefährliche  Hülfbereitschaft.  —  Es  giebt  Leute, 
welche  das  Leben  den  Menschen  erschweren  wollen,  aus 
keinem  andern  Grunde,  als  um  ihnen  hinterdrein  ihre 
Recepte  zur  Erleichterung  des  Lebens,  zum  Beispiel  ihr 
Christenthum,  anzubieten. 


556. 

Fleiss  und  Gewissenhaftigkeit,  —  Fleiss  und 
Gewissenhaftigkeit  sind  oftmals  dadurch  Antagonisten, 
dass  der  Fleiss  die  Früchte  sauer  vom  Baume  nehmen 
will,  die  Gewissenhaftigkeit  sie  aber  zu  lange  hängen 
lässt,  bis  sie  herabfallen  und  sich  zerschlagen. 


557. 

Verdächtigen.   —   Menschen,   welche   man    nicht 
leiden  kann,  sucht  man  sich  zu  verdächtigen. 


558. 

Die  Umstände  fehlen.  —  Viele  Menschen  warten 
ihr  Leben  lang  auf  die  Gelegenheit,  auf  ihre  Art  gut 
zu  sein. 


—     37Ö     — 


559- 


Mangel  an  Freunden.  —  Der  Mangel  an  Freunden 
lässt  auf  Neid  oder  Anmaassung  schliessen.  Mancher 
verdankt  seine  Freunde  nur  dem  glücklichen  Umstände, 
dass  er  keinen  Anlass  zum  Neide  hat. 


560. 

Gefahr  in  der  Vielheit.  —  Mit  einem  Talente  mehr 
steht  man  oft  unsicherer,  als  mit  einem  weniger:  wie 
der  Tisch  besser  auf  drei  als  auf  vier  Füssen  steht. 


561. 

Den  Andern  zum  Vorbild.  —  Wer  ein  gutes 
Beispiel  geben  will,  muss  seiner  Tugend  ein  Gran  Narr- 
heit zusetzen:  dann  ahmt  man  nach  und  erhebt  sich  zu- 
gleich über  den  Nachgeahmten,  —  was  die  Menschen 
lieben, 

562. 

Zielscheibe  sein.  —  Die  bösen  Reden  Anderer 
über  uns  gelten  oft  nicht  eigentlich  uns,  sondern  sind 
die  Äusserungen  eines  Argers,  einer  Verstimmung  aus 
ganz  anderen  Gründen. 

563. 

Leicht  resignirt.  —  Man  leidet  wenig  an  ver- 
sagten Wünschen,  wenn  man  seine  Phantasie  geübt  hat, 
die  Vergangenheit  zu  verhässlichen. 


—     379     — 

564- 
In  Gefahr.  —  IMan  ist  am  meisten  in  Gefalir,  über- 
fahren  zu  werden,  wenn   man   eben  einem  Wagen  aus- 
gewichen ist. 

565. 

Je  nach  der  Stimme  die  Rolle.  —  Wer  ge- 
zwungen  ist  lauter  zu  reden,  als  er  gewohnt  ist  (etwa 
vor  einem  Halb -Tauben  oder  vor  einem  grossen  Audi- 
torium), übertreibt  gewöhnlich  die  Dinge,  welche  er 
mitzutheilen  hat.  —  Mancher  wird  zum  Verschwörer, 
böswilligen  Nachredner,  Intriganten,  bloss  weil  seine 
Stimme  sich  am  besten  zu  einem  Geflüster  eignet. 

566. 

Liebe  und  Hass.  —  Liebe  und  Hass  sind  nicht 
blind,  aber  geblendet  vom  Feuer,  das  sie  selber  mit  sich 
tragen. 

567. 
Mit  Vortheil  angefeindet  —  Menschen,  welche 
der  Welt  ihre  Verdienste  nicht  völlig  deutlich  machen 
können,  suchen  sich  eine  starke  Feindschaft  zu  erwecken. 
Sie  haben  dann  den  Trost,  zu  denken,  dass  diese  zwischen 
ihren  Verdiensten  und  deren  Anerkennung  stehe  —  und 
dass  mancher  Andere  dasselbe  vermuthe:  was  sehr  vor- 
theilhaft  für  ihre  Geltung  ist 

568. 

Beichte.  —  Man  vergisst  seine  Schuld,  wenn  man 
sie  einem  Andern  gebeichtet  hat,  aber  gewöhnlich  ver- 
gisst  der  Andere  sie  nicht 


—     38o     — 

569. 

Selbstgenüg-samkeit.  —  Das  goldene  Vliess  der 
Selbstgenügsamkeit  schützt  gegen  Prügel,  aber  nicht 
gegen  Nadelstiche. 

570. 

Schatten  in  der  Flamme.  —  Die  Flamme  ist 
sich  selber  nicht  so  hell  als  den  Andern,  denen  sie 
leuchtet:   so  auch  der  Weise. 


571. 

Eigene  Meinungen.  —  Die  erste  Meinung,  welche 
vms  einfällt,  wenn  wir  plötzlich  über  eine  Sache  befragt 
werden,  ist  gewöhnlich  nicht  unsere  eigene,  sondern  nur 
die  landläufige,  unsrer  Kaste,  Stellung,  Abkunft  zuge- 
hörige; die  eignen  Meinungen  schwimmen   selten  obenauf. 


572. 

Herkunft  des  Muthes.  —  Der  gewöhnliche  Mensch 
ist  muthig  und  unverwundbar  wie  ein  Held,  wenn  er 
die  Gefahr  nicht  sieht,  für  sie  keine  Augen  hat.  Um- 
gekehrt: der  Held  hat  die  einzig  verwundbare  Stelle  auf 
dem  Rücken,  also  dort,  wo  er  keine  Augen  hat. 


573- 

Gefahr   im    Arzte.  —  Man   muss   für  seinen  Arzt 
geboren  sein,  sonst  geht  man  an  seinem  Arzt  zu  Grunde. 


-     38i     — 

574- 
Wunderliche  Eitelkeit.  —  Wer  dreimal  mit 
Dreistigkeit  das  Wetter  prophezeit  hat  und  Erfolg  hatte, 
der  glaubt  im  Grunde  seiner  Seele  ein  wenig  an  seine 
Prophetengabe.  Wir  lassen  das  Wunderliche  Irrationelle 
gelten,  wenn  es  unserer  Selbstschätzung  schmeichelt. 

575. 
Beruf.  —  Ein  Beruf  ist  das  Rückgrat  des  Lebens. 

576. 
Gefahr  persönlichen  Einflusses.  —  Wer  fühlt, 
dass  er  auf  einen  Andern  einen  grossen  innerlichen 
Einfluss  ausübt,  muss  ihm  ganz  freie  Zügel  lassen,  ja 
gelegentliches  Widerstreben  gern  sehen  und  selbst  her- 
beiführen: sonst  wird  er  unvermeidlich  sich  einen  Feind 
machen. 

577. 
Den  Erben  gelten  lassen.  —  Wer  etwas  Grosses 
in  selbstloser  Gesinnung  begründet  hat,  sorgt  dafür,  sich 
Erben  zu  erziehen.  Es  ist  das  Zeichen  einer  tyrannischen 
und  unedlen  Natur,  in  allen  möglichen  Erben  seines 
Werks  seine  Gegner  zu  sehen  und  gegen  sie  im  Stande 
der  Nothwehr  zu  leben. 

578. 
Halbwissen.  —  Das  Halbwissen  ist  siegreicher  al? 
das  Ganzwis3en:   es   kennt    die   Dinge    einfacher,    als   sie 
sind,    und    macht    daher    seine    Meinung    fasslichcr    und 
überzeugender. 


—       302       — 

579- 
Nicht    geeignet    zum   Parteimann.  —  Wer   viel 
denkt,   eignet  sich  nicht  zum  Parteimann:  er  denkt  sich 
zu  bald  durch  die  Partei  hindurch. 

580. 
Schlechtes    Gedächtniss.    —   Der   Vortheil    des 
schlechten  Gedächtnisses   ist,   dass   man  dieselben    guten 
Dinge  mehrere  Male  zum  ersten  Mal  geniesst 

581. 
Sich  Schmerzen  machen.  —  Rücksichtslosigkeit 
des  Denkens  ist  oft  das  Zeichen  einer  unfriedHchen  inneren 
Gesinnung,  welche  Betäubung  begehrt. 

582. 

Märtyrer.  —  Der  Jünger   eines   Märtyrers   leidet 
mehr  als  der  Märtyrer. 

5S3. 
Rückständige  Eitelkeit.  —  Die  Eitelkeit  mancher 
Menschen,  die  es  nicht  nöthig  hätten  eitel  zu  sein,  ist 
die  übrig  gebliebene  und  gross  gewachsene  Gewohnheit 
aus  der  Zeit  her,  wo  sie  noch  kein  Recht  hatten,  an  sich 
zu  glauben,  und  diesen  Glauben  erst  von  Anderen  in 
kleiner  Münze  einbettelten. 

584- 
Punctum  salicns  der  Leidenschaft.  —  Wer  im 
Begriff  ist,  in  Zorn   oder  in  einen  heftigen  LiebesafFect 


-      383     - 

zu  gerathen,  erreicht  einen  Punkt,  wo  die  Seele  voll  ist 
wie  ein  Gefäss:  aber  doch  muss  ein  Wassertropfen  noch 
hinzukommen,  der  gnte  Wille  zur  Leidenschaft  (den  man 
gewöhnlich  auch  den  bösen  nennt).  Es  ist  nur  diess 
Pünktchen  nötliig,  dann  läuft  das  Gefäss  über. 


585. 

Gedanke  desUnmuths.  — Es  ist  mit  den  Menschen 
wie  mit  den  Kohlenmeilern  im  Walde.  Erst  wenn  die 
jungen  Menschen  ausgeglüht  haben  und  verkohlt  sind 
gleich  jeneu,  dann  werden  sie  nützlich.  So  lange  sie 
dampfen  und  rauchen,  sind  sie  vielleicht  interessanter,  aber 
unnütz  und  gar  zu  häufig  unbequem.  —  Die  Menschheit 
verwendet  schonungslos  jeden  Einzelnen  als  Material  zum 
Heizen  ihrer  grossen  Maschinen:  aber  wozu  dann  die 
Maschinen,  wenn  alle  Einzelnen  (das  heisst  die  Mensch- 
heit) nur  dazu  nützen,  sie  zu  unterhalten?  Maschinen, 
die  sich  selbst  Zweck  sind  —  ist  das  die  umana  commediaf 


586. 

Vom  Stundenzeiger  des  Lebens.  —  Das  Leben 
besteht  aus  seltenen  einzelnen  Momenten  von  höchster 
Bedeutsamkeit  und  unzählig  vielen  Intervallen,  in  denen 
uns  besten  Falls  die  Schattenbilder  jener  Momente  um- 
schweben. Die  Liebe,  der  Frühling,  jede  schöne  Me- 
lodie, das  Gebirge,  der  Mond,  das  Meer  —  Alles  redet 
nur  einmal  ganz  zum  Herzen:  wenn  es  überhaupt  je 
ganz  zu  Worte  kommt.  Denn  viele  Menschen  haben 
jene  Momente  gar  nicht  und  sind  selber  Intervalle  und 
Pausen  in  der  Symphonie  des  wirklichen  Lebens. 


—  384   — 

587. 

Angreifen  oder  eingreifen.  —  Wir  machen 
häufig  den  Fehler,  eine  Richtung  oder  Partei  oder  Zeit 
lebhaft  anzufeinden,  weil  wir  zufällig  nur  ihre  veräusser- 
lichte  Seite,  ihre  Verkümmerung  oder  die  ihnen  noth- 
wendig  anhaftenden  „Fehler  ihrer  Tugenden"  zu  sehen 
bekommen,  —  vielleicht  weil  wir  selbst  an  diesen  vor- 
nehmlich theilgenommen  haben.  Dann  wenden  wir  ihnen 
den  Rücken  und  suchen  eine  entgegengesetzte  Richtung; 
aber  das  Bessere  wäre,  die  starken  guten  Seiten  aufzu- 
suchen oder  an  sich  selber  auszubilden.  Freilich  gehört 
ein  kräftigerer  Blick  und  besserer  Wille  dazu,  das  Wer- 
dende und  Unvollkommene  zu  fördern,  als  es  in  seiner 
Unvollkommenheit  zu  durchschauen   und  zu  verleugnen. 


588. 

Bescheidenheit.  —  Es  giebt  wahre  Bescheiden- 
heit (das  heisst  die  Erkenntniss,  dass  wir  nicht  unser 
eigenes  Werk  sind);  und  recht  wohl  geziemt  sie  dem 
grossen  Geiste,  weil  gerade  er  den  Gedanken  der  völligen 
UnVerantwortlichkeit  (auch  für  das  Gute,  was  er  schafft) 
fassen  kann.  Die  Unbescheidenheit  des  Grossen  hasst 
man  nicht,  insofern  er  seine  Kraft  fülilt,  sondern  weil  er 
seine  Kraft  dadurch  erst  erfahren  will,  dass  er  die  An- 
deren verletzt,  herrisch  behandelt  und  zusieht,  wie  weit 
sie  es  aushalten.  Gewöhnlich  beweist  diess  sogar  den 
Mangel  an  sicherem  Gefühl  der  Kraft  und  macht  somit 
die  Menschen  an  seiner  Grösse  zweifeln.  Insofern  ist 
Unbescheidenheit  vom  Gesichtspunkte  der  Ivlugheit  aus 
sehr  zu  widerrathen. 


-     385     - 

589. 
Des  Tages  erster  Gedanke.  —  Das  beste  Mittel, 
jeden  Tag  gut  zu  beginnen,  ist:  beim  Erwachen  daran 
zu  denken,  ob  man  nicht  wenigstens  Einem  Menschen 
an  diesem  Tag  eine  Freude  machen  könne.  Wenn  diess 
als  ein  Ersatz  für  die  religiöse  Gewöhnung  des  Gebetes 
gelten  dürfte,  so  hätten  die  Mitmenschen  einen  Vortheil 
bei  dieser  Änderung. 

590. 
Anmaassung  als  letztes  Trostmittel.  —  Wenn 
man  ein  Missgeschick,  seinen  intellectueUen  Mangel,  sein« 
Kj-ankheit  sich  so'  zurecht  legt,  dass  man  hierin  sein 
vorgezeichnetes  Schicksal,  seine  Prüfung  oder  die  ge- 
heimnissvolle Strafe  für  früher  Begangenes  sieht,  so 
macht  man  sich  sein  eignes  Wesen  dadurch  interessant 
und  erhebt  sich  in  der  Vorstellung  über  seine  Mitmen- 
schen. Der  stolze  Sünder  ist  eine  bekannte  Figur  in 
allen  kirchlichen  Secten. 

591. 
Vegetation  des  Glücks.  —  Dicht  neben  dem 
Wehe  der  Welt,  und  oft  auf  seinem  vulcanischen  Boden, 
hat  der  Mensch  seine  kleinen  Gärten  des  Glücks  ange- 
legt. Ob  man  das  Leben  mit  dem  Blicke  dessen  be- 
trachtet, der  vom  Dasein  Erkenntniss  allein  will,  oder 
Dessen,  der  sich  ergiebt  und  resignirt,  oder  Dessen,  der 
an  der  überwundenen  Schwierigkeit  sich  freut,  —  überall 
wird  er  etwas  Glück  neben  dem  Unheil  aufgesprosst 
finden  —  und  zwar  um  so  mehr  Glück,  je  vulcanischer 
der  Boden  war;  nur  wäre  es  lächerlich,  zu  sagen,  dass 
mit  diesem  Glück  das  Leiden  selbst  gerechtfertigt  sei. 

Nietzsche,  Werke  Band  II.  je 


—     386     — 

592. 

Die  Strasse  der  Vorfahren.  —  Es  ist  vernünftig, 
wenn  Jemand  das  Talent,  auf  welches  sein  Vater  oder 
Grossvater  Mühe  verwendet  hat,  an  sich  selbst  weiter 
ausbildet  und  nicht  zu  etwas  ganz  Neuem  umschlägt; 
er  nimmt  sich  sonst  die  Möglichkeit,  zur  Vollkommenheit 
in  irgend  einem  Handwerk  zu  gelangen.  Desshalb  sagt 
das  Sprüchwort:  „Welche  Strasse  sollst  du  reiten?  —  die 
deiner  Vorfahren." 

593- 

Eitelkeit  und  Ehrgeiz  als  .Erzieher.  —  So 
lange  Einer  noch  nicht  zum  Werkzeug  des  allgemeinen 
menschlichen  Nutzens  geworden  ist,  mag  ihn  der  Ehr- 
geiz peinigen;  ist  jenes  Ziel  aber  erreicht,  arbeitet  er  mit 
Nothwendigkeit  wie  eine  Maschine  zum  Besten  Aller,  so 
mag  dann  die  Eitelkeit  kommen;  sie  wird  ihn  im  Klei- 
nen vermenschlichen,  geselliger  erträglicher  nachsichtiger 
machen,  dann  wenn  der  Ehrgeiz  die  grobe  Arbeit  (ihn 
nützlich  zu  machen)  an  ihm  vollendet  hat 


594. 

Philosophische  Neulinge.  —  Hat  man  die  Weis- 
heit eines  Philosophen  eben  eingenommen,  so  geht  man 
durch  die  Strassen  mit  dem  Gefühle,  als  sei  man  umge- 
schaffen und  ein  grosser  Mann  geworden;  denn  man 
findet  lauter  Solche,  welche  diese  Weisheit  nicht  kennen, 
hat  also  über  Alles  eine  neue  unbekannte  Entscheidung 
vorzutragen:  weil  man  ein  Gesetzbuch  anerkennt,  meint 
man  jetzt  auch  sich  als  Richter  gebärden  zu  müssen. 


-     387     - 

595- 

Durch  Missfallen  gefallen.  —  Die  Menschen, 
welche  lieber  auffallen  und  dabei  missfallen  wollen,  be- 
gehren dasselbe  wie  Die,  welche  nicht  auffallen  und 
gefallen  wollen,  nur  in  einem  viel  höheren  Grade  und 
indirect,  vermitteist  einer  Stufe,  durch  welche  sie  sich 
scheinbar  von  ihrem  Ziele  entfernen.  Sie  wollen  Einfluss 
und  Macht,  und  zeigen  desshalb  ihre  Überlegenheit,  selbst 
so,  dass  sie  unangenehm  empfunden  wird;  denn  sie 
wissen,  dass  Der,  welcher  endlich  zur  Macht  gelangt  ist, 
fast  in  Allem  was  er  thut  und  sagt,  gefällt  und  dass 
selbst,  wo  er  missfällt,  er  doch  noch  zu  gefallen  scheint.  — 
Auch  der  Freigeist,  und  ebenso  der  Gläubige,  wollen 
Macht,  um  durch  sie  einmal  zu  gefallen;  wenn  ihnen 
ihrer  Lehre  wegen  ein  übles  Schicksal,  Verfolgung 
Kerker  Hinrichtung  droht,  so  freuen  sie  sich  des  Ge- 
dankens, dass  ihre  Lehre  auf  diese  Weise  der  Menschheit 
eingeritzt  und  eingebrannt  wird;  sie  nehmen  es  hin  als 
ein  schmerzhaftes  aber  kräftiges,  wenngleich  spät  wir- 
kendes Mittel,  um  doch  noch  zur  Macht  zu  gelangen. 

596. 

Casus  bellt  und  Ahnliches.  —  Der  Fürst,  wel- 
cher zu  dem  gefassten  Entschlüsse,  Krieg  mit  dem  Nach- 
bar zu  führen,  einen  casus  belli  ausfindig  macht,  gleicht 
dem  Vater,  der  seinem  Kinde  eine  Mutter  unterschiebt, 
welche  fürderhin  als  solche  gelten  soll.  Und  sind  nicht 
fast  alle  öffentlich  bekannt  gemachten  Motive  unserer 
Handlungen  solche  untergeschobene  Mütter? 


25* 


~   388   — 
597. 

Leidenschaft  und  Recht.  —  Niemand  spricht 
leidenschaftHcher  von  seinem  Rechte  als  Der,  welcher 
im  Grunde  seiner  Seele  einen  Zweifel  an  seinem  Rechte 
hat.  Indem  er  die  Leidenschaft  auf  seine  Seite  zieht, 
will  er  den  Verstand  und  dessen  Zweifel  betäuben:  so 
gewinnt  er  das  gute  Gewissen  und  mit  ihm  den  Erfolg 
bei  den  Mitmenschen. 

598. 

Kunstgriff  des  Entsagenden.  —  Wer  gegen 
die  Ehe  protestirt,  nach  Art  der  kathohschen  Priester, 
wird  diese  nach  ihrer  niedrigsten  gemeinsten  Auffassung 
zu  verstehen  suchen.  Ebenso  wer  die  Ehre  bei  den 
Zeitgenossen  von  sich  abweist,  wird  deren  Begriff  niedrig 
fassen;  so  erleichtert  er  sich  die  Entbehrung  und  den 
Kampf  dagegen.  Übrigens  wird  Der,  welcher  sich  im 
Ganzen  viel  versagt,  sich  im  Kleinen  leicht  Indulgenz 
geben.  Es  wäre  möglich,  dass  Der,  welcher  über  den 
Beifall  der  Zeitgenossen  erhaben  ist,  doch  die  Befriedi- 
gung kleiner  Eitelkeiten  sich  nicht  versagen  will. 

599- 

Lebensalter  der  Anmaassung.  —  Zwischen  dem 
sechsundzwanzigsten  und  dem  dreissigsten  Jahre  liegt  bei 
begabten  Menschen  die  eigentliche  Periode  der  Anmaass- 
ung; es  ist  die  Zeit  der  ersten  Reife,  mit  einem  starken 
Rest  von  Säuerlichkeit.  Man  fordert  auf  Grund  dessen, 
was  man  in  sich  fühlt,  von  Menschen,  welche  nichts 
oder  wenig  davon  sehen,  Ehre  und  Demüthigung,  und 
rächt  sich,   weil  diese  zunächst  ausbleiben,   durch  jenen 


-  389  - 

Blick,  jene  Gebärde  der  Anmaassung,  jenen  Ton  der 
Stimme,  die  ein  feines  Ohr  und  Auge  an  allen  Produc- 
tionen  jenes  Alters,  seien  es  Gedichte,  Philosophien  oder 
Bilder  und  Musik,  wiedererkennt.  Altere  erfahrene 
Männer  lächeln  dazu  und  mit  Rührung  gedenken  sie 
dieses  schönen  Lebensalters,  in  dem  man  böse  über  das 
Geschick  ist,  so  viel  zu  sein  und  so  wenig  zu  scheinen. 
Später  scheint  man  wirklich  mehr  —  aber  man  hat 
vielleicht  den  guten  Glauben  verloren,  viel  zu  sein:  man 
bleibe  denn  zeitlebens  ein  unverbesserlicher  Narr  der 
Eitelkeit. 

600. 

Trügerisch  und  doch  haltbar.  —  Wie  man, 
um  an  einem  Abgrund  vorbeizugehen  oder  einen  tiefen 
Bach  auf  einem  Balken  zu  überschreiten,  eines  Geländers 
bedarf,  nicht  um  sich  daran  festzuhalten  —  denn  es 
würde  sofort  mit  Einem  zusammenbrechen  —  sondern  um 
die  Vorstellung  der  Sicherheit  für  das  Auge  zu  erwecken: 
so  bedarf  man  als  Jüngling  solcher  Personen,  welche 
uns  unbewusst  den  Dienst  jenes  Geländers  erweisen.  Es 
ist  wahr,  sie  würden  uns  nicht  helfen,  wenn  wir  uns 
wirklich  in  grosser  Gefahr  auf  sie  stützen  wollten,  aber 
sie  geben  die  beruhigende  Empfindung  des  Schutzes  in 
der  Nähe  (zum  Beispiel  Väter  Lehrer  Freunde,  wie  sie, 
aUe  drei,  gewöhnlich  sind). 


601. 

Lieben  lernen.  —  Man  muss  lieben  lernen,  gtltig 
sein  lernen,  und  diess  von  Jugend  auf;  wenn  Erziehung 
und  Zufall  uns  keine  Gelegenheit  zur  Übung  dieser 
Empfindungen  geben,  so  wird  unsere  Seele  trocken  und 


—     390     — 

selbst  zum  Verständniss  jener  zarten  Erfindungen  liebe- 
voller Menschen  ungeeignet.  Ebenso  muss  der  Hass 
gelernt  und  genährt  werden,  wenn  Einer  ein  tüchtiger 
Hasser  werden  will:  sonst  wird  auch  der  Keim  dazu 
allmählich  absterben. 

Ö02. 

Die  Ruine  als  Schmuck.  —  Solche,  die  viele 
geistige  Wandlungen  durchmachen,  behalten  einige  An- 
sichten und  Gewohnheiten  früherer  Zustände  bei,  welche 
dann  wie  ein  Stück  unerklärlichen  Alterthums  und 
grauen  Mauerwerks  in  ihr  neues  Denken  und  Handeln 
hineinragen:  oft  zur  Zierde  der  ganzen  Gegend. 

003. 

Liebe  und  Ehre.  —  Die  Liebe  begehrt,  die  Furcht 
meidet  Daran  liegt  es,  dass  man  nicht  zugleich  von 
derselben  Person,  wenigstens  in  demselben  Zeiträume, 
geliebt  und  geehrt  werden  kann.  Denn  der  Ehrende 
erkennt  die  Macht  an,  das  heisst  er  fürchtet  sie:  sein 
Zustand  ist  Ehr-furcht.  Die  Liebe  aber  erkennt  keine 
Macht  an.  Nichts  was  trennt,  abhebt,  über-  und  unter- 
ordnet. Weil  sie.  nicht  ehrt,  so  sind  ehrsüchtige  Menschen 
insgeheim  oder  öffentlich  gegen  das  Geliebtwerden  wider- 
spänstig. 

604. 

Vorurtheil  für  die  kalten  Menschen.  — 
Menschen,  welche  rasch  Feuer  fangen,  werden  schnell 
kalt  und  sind  daher  im  Ganzen  unzuverlässig.  Desshalb 
giebt  es  für  alle  Die,  welche  immer  kalt  sind  oder  so 
sich  stellen,  das  günstige  Vorurtheil,    dass   es   besonders 


—     391     — 

vertrauenswerthe  zuverlässige  Menschen  seien:  man  ver- 
wechselt sie  mit  Denen,  welche  langsam  Feuer  fangen 
und  es  lange  festhalten. 

605. 

Das  Gefährliche  an  freien  Meinungen.  — Das 
leichte  Befassen  mit  freien  Meinungen  giebt  einen  Reiz, 
wie  eine  Art  Jucken;  giebt  man  ihm  mehr  nach,  so 
fängt  man  an,  die  Stellen  zu  reiben;  bis  zuletzt  eine 
ofEhe  schmerzende  Wunde  entsteht,  das  heisst:  bis  die 
freie  Meinung  uns  in  unserer  Lebensstellung,  unsern 
menschhchen  Beziehungen  zu  stören,  zu  quälen  beginnt. 


606. 

Begierde  nach  tiefem  Schmerz.  —  Die  Leiden- 
schaft lässt,  wenn  sie  vorüber  ist,  eine  dunkle  Sehnsucht 
nach  sich  selber  zurück  und  wirft,  im  Verschwinden  noch, 
uns  einen  verführerischen  Blick  zu.  Es  muss  doch  eine 
Art  von  Lust  gewährt  haben,  mit  ihrer  Geissei  geschlagen 
worden  zu  sein.  Die  massigeren  Empfindungen  er- 
scheinen dagegen  schaal;  man  will,  wie  es  scheint,  die 
heftigere  Unlust  immer  noch  lieber  als  die  matte  Lust 

607. 

Unmuth  über  Andere  und  die  Welt.  —  Wenn 
wir,  wie  so  häufig,  unseren  Unmuth  an  Andern  aus- 
lassen, während  wir  ihn  eigentlich  über  uns  empfinden,  er- 
streben wir  im  Grunde  eine  Umnebelung  und  Täuschung 
unseres  Urtheils:  wir  wollen  diesen  Unmuth  a  posteriori 
motiviren,  durch  die  Versehen,  Mängel  der  Anderen,  und 


—     392     — 

uns  selber  so  aus  den  Augen  verlieren.  —  Die  religiös 
strengen  Menschen,  welche  gegen  sich  selber  unerbitt- 
liche Richter  sind,  haben  zugleich  am  meisten  Übles  der 
Menschheit  überhaupt  nachgesagt:  ein  Heiliger,  welcher 
sich  die  Sünden  und  den  Anderen  die  Tugenden  vor- 
behält, hat  nie  gelebt:  ebensowenig  wie  Jener,  welcher 
nach  Buddha's  Vorschrift  sein  Gutes  vor  den  Leuten  ver- 
birgt und  ihnen  sein  Böses  allein  sehen  lässt 


608. 

Ursache  und  Wirkung  verwechselt.  —  Wir 
suchen  unbewusst  die  Grundsätze  und  Lehrmeinungen, 
welche  unserem  Temperamente  angemessen  sind,  so  dass 
es  zuletzt  so  aussieht,  als  ob  die  Grundsätze  und  Lehr- 
meinungen unsern  Charakter  geschaffen,  ihm  Halt  und 
Sicherheit  gegeben  hätten:  während  es  gerade  umgekehrt 
zugegangen  ist.  Unser  Denken  und  Urtheilen  soll  nach- 
träglich, so  scheint  es,  zur  Ursache  unseres  Wesens  ge- 
macht werden:  aber  thatsächlich  ist  unser  Wesen  die 
Ursache,  dass  wir  so  und  so  denken  und  urtheilen.  — 
Und  was  bestimmt  uns  zu  dieser  fast  unbewussten  Ko- 
mödie? Die  Trägheit  und  Bequemlichkeit  und  nicht  am 
wenigsten  der  Wunsch  der  Eitelkeit,  durch  und  durch 
als  consistent,  in  Wesen  und  Denken  einartig  erfunden 
zu  werden:  denn  diess  erwirbt  Achtung,  giebt  Vertrauen 
und  Macht. 

609. 

Lebensalter  und  Wahrheit.  —  Junge  Leute 
lieben  das  Interessante  und  Absonderliche,  gleichgültig 
wie  wahr  oder  falsch  es  ist.  Reifere  Geister  lieben  Das 
an   der  Wahrheit,  was  an  ihr  interessant  und  absonder- 


—     393     — 

lieh  ist  Ausgereifte  Köpfe  endlich  lieben  die  Wahrheit 
auch  in  Dem,  wo  sie  schlicht  und  einfältig  erscheint 
und  dem  gewöhnlichen  Menschen  Langeweile  macht, 
weil  sie  gemerkt  haben,  dass  die  Wahrheit  das  Höchste 
an  Geist,  was  sie  besitzt,  mit  der  Miene  der  Einfalt  zu 
sagen  pflegt 

6io. 

Die  Menschen  als  schlechte  Dichter.  —  So 
wie  schlechte  Dichter  im  zweiten  Theil  des  Verses  zum 
Reime  den  Gedanken  suchen,  so  pflegen  die  Menschen 
in  der  zweiten  Hälfte  des  Lebens,  ängstlicher  geworden, 
die  Handlungen,  Stellungen,  Verhältnisse  zu  suchen, 
welche  zu  denen  ihres  früheren  Lebens  passen,  so  dass 
äusserlich  Alles  wohl  zusammenklingt:  aber  ihr  Leben 
ist  nicht  mehr  von  einem  starken  Gedanken  beherrscht 
und  immer  wieder  neu  bestimmt,  sondern  an  die  Stelle 
desselben  tritt  die  Absicht,  einen  Reim  zu  finden. 


6ii. 

Langeweile  und  Spiel.  —  Das  Bedürfniss  zwingt 
uns  zur  Arbeit,  mit  deren  Ertrage  das  Bedürfniss  ge- 
stillt wird;  das  immer  neue  Erwachen  der  Bedürfnisse 
gewöhnt  uns  an  die  Arbeit.  In  den  Pausen  aber,  in 
welchen  die  Bedürfnisse  gestillt  sind  und  gleichsam 
schlafen,  überfällt  uns  die  Langeweile.  Was  ist  diese? 
Es  ist  die  Gewöhnung  an  Arbeit  überhaupt,  welche 
sich  jetzt  als  neues,  hinzukommendes  Bedürfniss  geltend 
macht;  sie  wird  um  so  stärker  sein,  je  stärker  Jemand 
gewöhnt  ist  zu  arbeiten,  vielleicht  sogar,  je  stärker  Jemand 
an  Bedürfnissen  gelitten  hat.  Um  der  Langenweile  zu 
entgehen,  arbeitet  der  Mensch  entweder  über  das  Maass 


—     394     — 

seiner  sonstigen  Bedürfnisse  hinaus  oder  er  erfindet  das 
Spiel,  das  heisst  die  Arbeit,  welche  kein  anderes  Be- 
dürfniss  stillen  soll  als  das  nach  Arbeit  überhaupt.  Wer 
des  Spieles  überdrüssig  geworden  ist  und  durch  neue 
Bedürfnisse  keinen  Grund  zur  Arbeit  hat,  den  überfällt 
mitunter  das  Verlangen  nach  einem  dritten  Zustand, 
welcher  sich  zum  Spiel  verhält  wie  Schweben  zum  Tanzen, 
wie  Tanzen  zum  Gehen  —  nach  einer  seligen  ruhigen  Be- 
wegtheit: es  ist  die  Vision  der  Künstler  und  Philosophen 
von  dem  Glück. 

612. 

Lehre  aus  Bildern.  —  Betrachtet  man  eine  Reihe 
Bilder  von  sich  selber,  von  den  Zeiten  der  letzten  Kind- 
heit bis  zu  der  der  Mannesreife,  so  findet  man  mit  einer 
angenehmen  Verwunderung,  dass  der  Mann  dem  Kinde 
ähnlicher  sieht  als  der  Mann  dem  Jünglinge:  dass  also 
wahrscheinlich,  diesem  Vorgange  entsprechend,  inzwischen 
eine  zeitweilige  Alienation  vom  Grundcharakter  einge- 
treten ist,  über  welche  die  gesammelte  geballte  Kraft 
des  Mannes  wieder  Herr  wurde.  Dieser  Wahrnehmung 
entspricht  die  andre,  dass  alle  die  starken  Einwirkungen 
von  Leidenschaften  Lehrern  politischen  Ereignissen, 
welche  in  dem  Jünglingsalter  uns  herumziehen,  später 
wieder  auf  ein  festes  Maass  zurückgeführt  erscheinen: 
gewiss,  sie  leben  und  wirken  in  uns  fort,  aber  das 
Grundempfinden  und  Grundmeinen  hat  doch  die  Über- 
macht und  benutzt  sie  wohl  als  Kraftquellen,  nicht  aber 
mehr  als  Regulatoren,  wie  diess  wohl  in  den  zwanziger 
Jahren  geschieht.  So  erscheint  auch  das  Denken  und 
Empfinden  des  Mannes  dem  seines  kindlichen  Lebens- 
alters wieder  gemässer  —  und  diese  innere  Thatsache 
spricht  sich  in  der  erwähnten  äusseren  aus. 


—     395     — 

6i3. 
Stimmklang  der  Lebensalter.  —  Der  Ton, 
in  dem  Jünglinge  reden  loben  tadeln  dichten,  missfällt 
dem  Ältergewordenen,  v/eil  er  zu  laut  ist,  und  zwar 
zugleich  dumpf  und  undeutlich  wie  der  Ton  in  einem 
Gewölbe,  der  durch  die  Leerheit  eine  solche  Schallkraft 
bekommt;  denn  das  Meiste,  was  Jünglinge  denken,  ist 
nicht  aus  der  Fülle  ihrer  eigene;  i  Natur  herausgeströmt, 
sondern  ist  Anklang,  Nachklang  von  dem,  was  in  ihrer 
Nähe  gedacht  geredet  gelobt  getadelt  worden  ist.  Weil 
aber  die  Empfindungen  (der  Neigung  und  Abneigung) 
viel  stärker  als  die  Gründe  für  jene  in  ihnen  nachklingen, 
so  entsteht,  wenn  sie  ihre  Empfindung  wieder  laut  werden 
lassen ,  jener  dumpfe  hallende  Ton ,  welcher  für  die 
Abwesenheit  oder  die  Spärlichkeit  von  Gründen  das 
Kennzeichen  abgiebt.  Der  Ton  des  reiferen  Alters  ist 
streng,  kurz  abgebrochen,  massig  laut,  aber,  wie  alles 
deutlich  Articulirte,  sehr  weit  tragend.  Das  Alter  endlich 
bringt  häufig  eine  gewisse  Müde  und  Nachsicht  in  den 
Klang  und  verzuckert  ihn  gleichsam:  in  manchen  Fällen 
freilich  versäuert   sie  ihn  auch. 

614. 
Zurückgebliebene  und  vorwegnehmende 
Menschen.  —  Der  unangenehme  Charakter,  welcher 
voller  Misstrauen  ist,  alles  glückliche  Gelingen  der 
Mitbewerbenden  und  Nächsten  mit  Neid  fühlt,  gegen  ab- 
weichende Meinungen  gewaltthätig  und  aufbrausend  ist, 
zeigt,  dass  er  einer  frühem  Stufe  der  Cultur  zugehört, 
also  ein  Überbleibsel  ist:  denn  die  Art,  in  welcher  er  mit 
den  Menschen  verkehrt,  war  die  rechte  und  zutreffende 
für  die   Zustände   eines   Faustrecht -Zeitalters;    es   ist   ein 


—     39Ö     — 

zurückgebliebener  Mensch.  Ein  anderer  Charakter,  welcher 
reich  an  Mitfreude  ist,  überall  Freunde  gewinnt,  alles 
Wachsende  und  Werdende  liebevoll  empfindet,  alle 
Ehren  und  Erfolge  Anderer  mitgeniesst  und  kein  Vor- 
recht, das  Wahre  allein  zu  erkennen,  in  Anspruch  nimmt, 
sondern  voll  eines  bescheidenen  Misstrauens  ist,  —  das 
ist  ein  vorwegnehmender  Mensch,  welcher  einer  höheren 
Cultur  der  Menschen  entgegenstrebt.  Der  unangenehme 
Charakter  stammt  aus  den  Zeiten,  wo  die  rohen  Funda- 
mente des  menschlichen  Verkehrs  erst  zu  bauen  waren, 
der  andere  lebt  auf  deren  höchsten  Stockwerken,  mög- 
lichst entfernt  von  dem  wilden  Thier,  welches  in  den 
Kellern,  unter  den  Fundamenten  der  Cultur  einge- 
schlossen, wüthet  und  heult. 

615. 

Trost  für  Hypochonder.  —  Wenn  ein  grosser 
Denker  zeitweilig  hypochondrischen  Selbstquälereien 
unterworfen  ist,  so  mag  er  sich  zum  Tröste  sagen:  „es 
ist  deine  eigene  grosse  Kraft ,  von  der  dieser  Parasit 
sich  nährt  und  wächst;  wäre  sie  geringer,  so  würdest 
du  weniger  zu  leiden  haben."  Ebenso  mag  der  Staats- 
mann sprechen,  wenn  Eifersucht  und  Rachegefühl,  über- 
haupt die  Stimmung  des  bellum  omniuvi  contra  omnes, 
zu  der  er  als  Vertreter  einer  Nation  nothwendig  eine 
starke  Begabung  haben  muss,  sich  gclegentUch  auch  in 
seine  persönlichen  Beziehungen  eindrängt  und  ihm  das 
Leben  schwer  macht, 

616. 

Der  Gegenwart  entfremdet.  —  Es  hat  grosse 
Vortheile,  seiner  Zeit  sich  einmal  in  stärkerem  Maasse 


—     397     — 

zu  entfremden  und  gleichsam  von  ihrem  Ufer  zurück 
in  den  Ocean  der  vergangnen  Weltbetrachtungen  ge- 
trieben zu  werden.  Von  dort  aus  nach  der  Küste  zu 
blickend,  überschaut  man  wohl  zum  ersten  Male  ihre 
gesammte  Gestaltung  und  hat,  wenn  man  sich  ihr  wieder 
nähert,  den  Vortheil,  sie  besser  im  Ganzen  zu  verstehen 
als  Die,  welche  sie  nie  verlassen  haben. 


617. 

Auf  persönlichen  Mängeln  säen  und  ernten.  — 
Menschen  wie  Rousseau  verstehen  es,  ihre  Schwächen 
Lücken  Laster  gleichsam  als  Dünger  ihres  Talentes  zu 
benutzen.  Wenn  Jener  die  Verdorbenheit  und  Ent- 
artung der  Gesellschaft  als  leidige  Folge  der  Cultur 
beklagt,  so  liegt  hier  eine  persönliche  Erfahrung  zu 
Grunde;  deren  Bitterkeit  giebt  ihm  die  Schärfe  seiner 
allgemeinen  Verurtheilung  und  vergiftet  die  Pfeile,  mit 
denen  er  schiesst;  er  entlastet  sich  zunächst  als  In- 
dividuum und  denkt  ein  Heilmittel  zu  suchen,  das 
direct  der  Gesellschaft,  aber  indirect  und  vermittelst 
jener,  auch  ihm  zu  Nutze  ist. 


618. 

Philosophisch  gesinnt  sein.  —  Gewöhnlich 
strebt  man  darnach,  für  alle  Lebenslagen  und  Ereignisse 
eine  Haltung  des  Gemüths,  eine  Gattung  von  An- 
sichten zu  erwerben,  —  das  nennt  man  vornehmlich 
philosophisch  gesinnt  sein.  Aber  für  die  Bereicherung 
der  Erkenntniss  mag  es  höheren  Werth  haben,  nicht  in 
dieser  Weise  sich  zu  uniformiren,  sondern  auf  die  leise 
Stimme  der  verschiednen    Lebenslagen   zu  hören;    diese 


-     398     - 

bringen  ihre  eigenen  Ansichten  mit  sich.  So  nimmt  man 
erkennenden  Antheil  am  Leben  und  Wesen  Vieler,  in- 
dem man  sich  selber  nicht  als  starres  beständiges  Eines 
Individuum  behandelt. 

619. 

Im  Feuer  der  Verachtung.  —  Es  ist  ein  neuer 
Schritt  zum  Selbständigwerden ,  wenn  man  erst  An- 
sichten zu  äussern  wagt ,  die  als  schmählich  für  Den 
gelten,  welcher  sie  hegt;  da  pflegen  auch  die  Freunde 
und  Bekannten  ängsthch  zu  werden.  Auch  durch  dieses 
Feuer  muss  die  begabte  Natur  hindurch;  sie  gehört  sich 
hinterdrein  noch  viel  mehr  selber  an. 

620. 

Aufopferung.  —  Die  grosse  Aufopferung  wird, 
im  Falle  der  Wahl,  einer  kleinen  Aufopferung  vorge- 
zogen: weil  wir  für  die  grosse  uns  durch  Selbstbewun- 
derung entschädigen ,  was  uns  bei  der  kleinen  nicht 
möglich  ist. 

621. 

Liebe  als  Kunstgriff  —  Wer  etwas  Neues  wirk- 
lich kennen  lernen  will  (sei  es  ein  Alensch,  ein  Ereig- 
niss,  ein  Buch),  der  thut  gut,  dieses  Neue  mit  aller 
möglichen  Liebe  aufzunehmen,  von  Allem,  was  ihm  daran 
feindlich  anstössig  falsch  vorkommt,  schnell  das  Auge 
abzuwenden,  ja  es  zu  vergessen:  so  dass  man  zum  Bei- 
spiel dem  Autor  eines  Buches  den  grössten  Vorsprung 
giebt  und  geradezu ,  wie  bei  einem  Wettrennen ,  mit 
klopfendem  Herzen  danach  begehrt,  dass  er  sein  Ziel 
erreiche.     Mit  diesem  Verfaliren  dringt  man  nämlich  der 


—     399     — 

neuen  Sache  bis  an  ihr  Herz  bis  an  ihren  bewegenden 
Punkt:  und  diess  heisst  eben  sie  kennen  lernen.  Ist 
man  so  weit,  so  macht  der  Verstand  hinterdrein  seine 
Restrictionen ;  jene  Überschätzung,  jenes  zeitweilige  Aus- 
hängen des  kritischen  Pendels  war  eben  nur  der  Kunst- 
griff, die  Seele  einer  Sache  herauszulocken. 

622. 

Zu  gut  und  zu  schlecht  von  der  Welt  denken. 
Ob  man  zu  gut  oder  zu  schlecht  von  den  Dingen  denkt, 
man  hat  immer  den  Vortheil  dabei,  eine  höhere  Lust  ein- 
zuernten: denn  bei  einer  vorgefsissten  zu  guten  Meinung 
legen  wir  gewöhnlich  mehr  Süssigkeit  in  die  Dinge  (Er- 
lebnisse) hinein,  als  sie  eigentlich  enthalten.  Eine  vor- 
gefasste  zu  schlechte  Meinung  verursacht  eine  angenehme 
Enttäuschung:  das  Angenehme,  das  an  sich  in  den 
Dingen  lag,  bekommt  einen  Zuwachs  durch  das  An- 
genehme der  Überraschung.  —  Ein  finsteres  Tempera- 
ment wird  übrigens  in  beiden  Fällen  die  umgekehrte 
Erfahrung  machen. 

623. 

Tiefe  Menschen.  —  Diejenigen,  welche  ihre 
Stärke  in  der  Vertiefung  der  Eindrücke  haben  —  man 
nennt  sie  gewöhnlich  tiefe  Menschen  — ,  sind  bei  allem 
Plötzlichen  verhältnissmässig  gefasst  und  entschlossen: 
denn  im  ersten  Augenblick  war  der  Eindruck  noch  flach, 
er  wird  dann  erst  tief.  Lange  vorhergesehene,  erwartete 
Dinge  oder  Personen  regen  aber  solche  Naturen  am 
meisten  auf  und  machen  sie  fast  unfähig,  bei  der  end- 
lichen Ankunft  derselben  noch  Gegenwärtigkeit  des 
Geistes  zu  haben.  ' 


400 


624. 

Verkehr  mit  dem  höheren  Selbst.  —  Ein  Jeder 
hat  seinen  gnten  Tag,  wo  er  sein  höheres  Selbst  findet; 
und  die  wahre  Humanität  verlangt,  Jemanden  nur  nach 
diesem  Zustande  und  nicht  nach  den  Werktagen  der 
Unfreiheit  und  Knechtung  zu  schätzen.  Man  soll  zum 
Beispiel  einen  Maler  nach  seiner  höchsten  Vision,  die  er 
zu  sehen  und  darzustellen  vermochte,  taxiren  und  ver- 
ehren. Aber  die  Menschen  selber  verkehren  sehr  ver- 
schieden mit  diesem  ihrem  höheren  Selbst  und  sind 
häufig  ihre  eigenen  Schauspieler,  insofern  sie  Das,  was 
sie  in  jenen  Augenblicken  sind,  später,  immer  wieder 
nachmachen.  Manche  leben  in  Scheu  und  Demuth  vor 
ihrem  Ideale  und  möchten  es  verleugnen :  sie  furchten 
ihr  höheres  Selbst,  weil  es,  wenn  es  redet,  anspruchsvoll 
redet.  Dazu  hat  es  eine  geisterhafte  Freiheit,  zu  kommen 
und  fortzubleiben  wie  es  will;  es  wird  desswegen  häufig 
eine  Gabe  der  Götter  genannt,  während  eigentlich  alles 
Andere  Gabe  der  Götter  (des  Zufalls)  ist:  jenes  aber  ist 
der  Mensch  selber. 

625. 

Einsame  Menschen.  —  Manche  Menschen  sind 
so  sehr  an  das  Alleinsein  •  mit  sich  selber  gewöhnt,  dass 
sie  sich  gar  nicht  mit  Anderen  vergleichen,  sondern  in 
einer  ruhigen  freudigen  Stimmung,  unter  gnten  Ge- 
sprächen mit  sich,  ja  mit  Lachen  ihr  monologisches  Leben 
fortspinnen.  Bringt  man  sie  aber  dazu,  sich  mit  Anderen 
zu  vergleichen,  so  neigen  sie  zu  einer  grübelnden  Unter- 
schätzung ihrer  selbst:  so  dass  sie  gezwungen  werden 
müssen ,  eine  gute  gerechte  Meinung  über  sich  erst 
von   Andern  wieder   zu  lernen:    und  auch   von  dieser 


—     40I     — 

erlernten  Meinung  werden  sie  immer  wieder  etwas  ab- 
ziehen und  abhandeln  wollen,  —  Man  muss  also  gewissen 
Menschen  ihr  Alleinsein  gönnen  und  nicht  so  albern 
sein,  wie  es  häufig  geschieht,  sie  desswegen  zu  bedauern. 


626. 

Ohne  Melodie.  —  Es  giebt  ^lenschen,  denen  ein 
stätiges  Beruhen  in  sich  selbst  und  ein  harmonisches 
Sich-zurecht-legen  aller  ihrer  Fähigkeiten  so  zu  eigen 
ist,  dass  ihnen  jede  Ziele  setzende  Thätigkeit  widerstrebt. 
Sie  gleichen  einer  Musik,  welche  aus  lauter  langge- 
zogenen harmonischen  Accorden  besteht,  ohne  dass  je 
auch  nur  der  Ansatz  zu  einer  gegliederten  bewegten 
Melodie  sich  zeigte.  Alle  Bewegung  von  Aussen  her 
dient  nur,  dem  Kahne  sofort  wieder  sein  neues  Gleich- 
gewicht auf  dem  See  harmonischen  Wohlklangs  zu  geben. 
Moderne  Menschen  werden  gewöhnlich  auf's  Ausserste 
ungeduldig,  wenn  sie  solchen  Naturen  begegnen,  aus 
denen  Nichts  wird,  ohne  dass  man  von  ihnen  sagen 
dürfte,  dass  sie  Nichts  sind.  Aber  in  einzelnen  Stim- 
mungen erregt  ihr  Anblick  jene  ungewöhnliche  Frage: 
wozu  überhaupt  Melodie?  Warum  genügt  es  uns  nicht, 
wenn  das  Leben  sich  ruhevoll  in  einem  tiefen  See 
spiegelt?  —  Das  Mittelalter  war  reicher  an  solchen  Na- 
turen als  unsere  Zeit.  Wie  selten  trifft  man  noch  auf 
Einen,  der  so  recht  froh  und  friedlich  mit  sich  auch  im 
Gedränge  fortleben  kann,  zu  sich  redend  wie  Goethe: 
„das  Beste  ist  die  tiefe  Stille,  in  der  ich  gegen  die  Welt 
lebe  und  wachse,  und  gewinne,  was  sie  mir  mit  Feuer 
und  Schwert  nicht  nehmen  können." 


Nietzsche,  Werke  Band  11.  26 


--       402        — 


627. 


Leben  und  Erleben.  —  Sieht  man  zu,  wie  Ein- 
zelne mit  ihren  Erlebnissen  —  ihren  unbedeutenden  all- 
täglichen Erlebnissen  —  umzugehen  wissen,  so  dass 
diese  zu  einem  Ackerland  werden,  das  dreimal  des  Jahres 
Frucht  trägt;  während  Andere  —  und  wie  Viele!  — 
durch  den  Wogenschlag  der  aufregendsten  Schicksale,  der 
mannichfaltigsten  Zeit-  und  Volksströmungen  hindurch- 
getrieben werden  und  doch  immer  leicht,  immer  oben- 
auf, wie  Kork,  bleiben:  so  ist  man  endlich  versucht,  die 
Menschheit  in  eine  Minorität  (Minimalität)  Solcher  ein- 
zutheilen,  welche  aus  Wenigem  Viel  zu  machen  ver- 
stehen, und  in  eine  Majorität  Derer,  welche  aus  Vielem 
Wenig  zu  machen  verstehen;  ja  man  trifft  auf  jene  um- 
gekehrten Hexenmeister ,  welche ,  statt  die  Welt  aus 
Nichts,  aus  der  Welt  ein  Nichts  schaffen. 


628. 

Ernst  im  Spiele.  —  In  Genua  hörte  ich  zur  Zeit 
der  Abenddämmerung  von  einem  Thurme  her  ein  langes 
Glockenspiel:  das  wollte  nicht  enden  und  klang  wie 
unersättlich  an  sich  selber ,  über  das  Geräusch  der 
Gassen  in  den  Abendhimmel  und  die  Meerluft  hinaus,  so 
schauerlich,  so  kindisch  zugleich,  so  wehmuthsvoll.  Da 
gedachte  ich  der  Worte  Plato's  und  fühlte  sie  auf  Ein 
Mal  im  Herzen:  alles  Menschliche  insgesammt 
ist  des  grossen  Ernstes  nicht  werth;  trotz- 
dem —  — 


—     403     — 

62g. 

Von  der  Überzeugung  und  der  Gerechtigkeit 
—  Das,  was  der  Mensch  in  der  Leidenschaft  sagt,  ver- 
spricht, beschhesst,  nachher  in  Kälte  und  Nüchternheit  zu 
vertreten  —  diese  Forderung  gehört  zu  den  schwersten 
Lasten,  welche  die  Menschheit  drücken.  Die  Folgen  des 
Zornes,  der  aufflammenden  Rache,  der  begeisterten  Hin- 
gebung in  alle  Zukunft  hin  anerkennen  zu  müssen  — 
das  kann  zu  einer  um  so  grösseren  Erbitterung  gegen 
diese  Empfindungen  reizen,  je  mehr  gerade  mit  ihnen 
allerwärts  und  namentlich  von  den  Künstlern  ein  Götzen- 
dienst getrieben  wird.  Diese  züchten  die  Schätzung 
der  Leidenschaften  gross  und  haben  es  immer 
gethan;  freilich  verherrlichen  sie  auch  die  furchtbaren 
Genugthuungen  der  Leidenschaft,  welche  Einer  an  sich 
selber  nimmt,  jene  Racheausbrüche  mit  Tod,  Ver- 
stümmelung, freiwilliger  Verbannung  im  Gefolge,  und  jene 
Resignation  des  zerbrochnen  Herzens.  Jedenfalls  halten 
sie  die  Neugierde  nach  den  Leidenschaften  wach,  es  ist 
als  ob  sie  sagen  wollten:  „ihr  habt  ohne  Leidenschaften 
gar  Nichts  erlebt".  —  Weil  man  Treue  geschworen,  viel- 
leicht gar  einem  rein  fingirten  Wesen  wie  einem  Gotte, 
weil  man  sein  Herz  hingegeben  hat,  einem  Fürsten, 
einer  Partei,  einem  Weibe,  einem  priesterlichen  Orden, 
einem  Künstler,  einem  Denker,  im  Zustande  eines  ver- 
blendeten Wahnes,  welcher  Entzückung  über  uns  legte 
und  jene  Wesen  als  jeder  Verehrung,  jedes  Opfers 
würdig  erscheinen  Hess  —  ist  man  nun  unentrinnbar 
fest  gebunden?  Ja,  haben  wir  uns  denn  damals  nicht 
selbst  betrogen?  War  es  nicht  ein  hypothetisches  Ver- 
sprechen, unter  der  freilich  nicht  laut  gewordnen  Vor- 
aussetzung,  dass  jene  Wesen,   denen   wir   uns   weihten, 

26* 


—      404      — 

wirklich  die  Wesen  sind,  als  welche  sie  in  unserer  Vor- 
stellung erschienen?  Sind  wir  verpflichtet,  unseren  Irr- 
thümern  treu  zu  sein,  selbst  mit  der  Einsicht,  dass  wir 
durch  diese  Treue  an  unserm  höhern  Selbst  Schaden 
stiften?  —  Nein,  es  giebt  kein  Gesetz,  keine  Verpflich- 
tung der  Art;  wir  müssen  Verräther  werden,  Untreue 
üben,  unsere  Ideale  immer  wied^-  preisgeben.  Aus  einer 
Periode  des  Lebens  in  die  andere  schreiten  wir  nicht, 
ohne  diese  Schmerzen  des  Verraths  zu  machen  und  auch 
daran  wieder  zu  leiden.  Wäre  es  nöthig,  dass  wir  uns, 
um  diesen  Schmerzen  zu  entgehen,  vor  den  Aufwallungen 
unserer  Empfindung  hüten  müssten?  Würde  dann  die 
Welt  nicht  zu  öde,  zu  gespenstisch  für  uns  werden? 
Vielmehr  wollen  wir  uns  fragen,  ob  diese  Schmerzen  bei 
einem  Wechsel  der  Überzeugung  noth wendig  sind 
oder  ob  sie  nicht  von  einer  irrthümlichen  Meinung 
und  Schätzung  abhängen.  Warum  bewundert  man  Den, 
welcher  seiner  Überzeugung  treu  bleibt,  und  verachtet 
Den,  welcher  sie  wechselt?  Ich  fürchte,  die  Antwort 
muss  sein:  weil  Jedermann  voraussetzt,  dass  nur  Motive 
gemeineren  Vortheils  oder  persönliche  Angst  einen 
solchen  Wechsel  veranlassen.  Das  heisst:  man  glaubt 
im  Grunde,  dass  Niemand  seine  Meinungen  verändert, 
so  lange  sie  ihm  vortheilhaft  sind,  oder  wenigstens  so 
lange  sie  ihm  keinen  Schaden  bringen.  Steht  es  aber 
so,  so  liegt  darin  ein  schlimmes  Zeugniss  über  die  in- 
tellectuelle  Bedeutung  aller  Überzeugungen.  Prütien 
wir  einmal,  wie  Überzeugungen  entstehen,  und  sehen 
wif  zu,  ob  sie  nicht  bei  weitem  überschätzt  werden: 
dabei  wird  sich  ergeben,  dass  auch  der  Wechsel  von 
Überzeugungen  unter  allen  Uniständen  nach  falschem 
Maasse  bemessen  wird  und  dass  wir  bisher  zu  viel  an 
diesem  Wechsel  zu  leiden  pflegten. 


—      405     — 

630. 

Überzeugung  ist  der  Glaube,  in  irgend  einem  Punkte 
der  Erkenntniss  im  Besitz  der  unbedingten  Wahrheit 
zu  sein.  Dieser  Glaube  setzt  also  voraus,  dass  es  un- 
bedingte Wahrheiten  gebe;  ebenfalls,  dass  jene  voll- 
kommenen Methoden  gefunden  seien,  um  zu  ihnen  zu 
gelangen;  endlich,  dass  Jeder,  der  Überzeugungen  habe, 
sich  dieser  vollkommenen  Methoden  bediene.  Alle  drei 
Aufstellungen  beweisen  sofort,  dass  der  Mensch  der 
Überzeugungen  nicht  der  Mensch  des  wissenschaftlichen 
Denkens  ist;  er  steht  im  Alter  der  theoretischen  Un- 
schuld vor  uns  und  ist  ein  Klind,  wie  erwachsen  er 
auch  sein  mag.  Ganze  Jahrtausende  aber  haben  in  jenen 
kindlichen  Voraussetzungen  gelebt,  und  aus  ihnen  sind 
die  mächtigsten  Kraftquellen  der  Menschheit  hervor- 
geströmt. Jene  zahllosen  Menschen,  welche  sich  für  ihre 
Überzeugungen  opferten,  meinten  es  für  die  unbedingte 
Wahrheit  zu  thun.  Sie  Alle  hatten  Unrecht  darin:  wahr- 
scheinlich hat  noch  nie  ein  Mensch  sich  für  die  Wahrheit 
geopfert;  mindestens  wird  der  dogmatische  Ausdruck  seines 
Glaubens  unwissenschaftlich  oder  halbwissenschaftlich  ge- 
wesen sein.  Aber  eigentlich  wollte  man  Recht  behalten, 
weil  man  meinte.  Recht  haben  zu  müssen.  Seinen 
Glauben  sich  entreissen  lassen,  das  bedeutete  vielleicht 
seine  ewige  Seligkeit  in  Frage  stellen.  Bei  einer  Ange- 
legenheit von  dieser  äussersten  Wichtigkeit  war  der 
„Wille"  gar  zu  hörbar  der  Souffleur  des  Intellects.  Die 
Voraussetzung  jedes  Gläubigen  jeder  Richtung  war,  nicht 
widerlegt  werden  zu  können;  erwiesen  sich  die  Gegen- 
gründe als  sehr  stark,  so  blieb  ihm  immer  noch  übrig, 
die  Vernunft  überhaupt  zu  verlästern  und  vielleicht  gar 
das  „credo  quia  absurdum  est"  als  Fahne  des  äussersten 


—     4o6     — 

Fanatismus  aufzupflanzen.  Es  ist  nicht  der  Kampf  der 
Meinungen,  welcher  die  Geschichte  so  gewaltthätig  ge- 
macht hat,  sondern  der  Kampf  des  Glaubens  an  die 
Meinungen,  das  heisst  der  Überzeugungen.  Wenn  doch 
alle  Die,  welche  so  gross  von  ihrer  Überzeugung  dachten, 
Opfer  aller  Art  ihr  brachten  und  Ehre,  Leib  und  Leben 
in  ihrem  Dienste  nicht  schonten,  nur  die  Hälfte  ihrer 
Kraft  der  Untersuchung  gewidmet  hätten,  mit  welchem 
Rec;At3  sie  an  dieser  oder  jener  Überzeugung  hiengen, 
auf  welchem  Vv''ege  sie  zu  ihr  gekommen  seien:  wie 
friedfertig  sähe  die  Geschichte  der  Menschheit  aus! 
Wieviel  mehr  des  Erkannten  würde  es  geben!  Alle  die 
grausamen  Scenen  bei  der  Verfolgung  der  Ketzer  jeder 
Art  wären  uns  aus  zwei  Gründen  erspart  geblieben: 
einmal  weil  die  Inquisitoren  vor  Allem  in  sich  selbst  in- 
quirirt  hätten  und  über  die  Anmaassung,  die  unbedingte 
Wahrheit  zu  vertheidigen ,  hinausgekommen  wären;  so- 
dann weil  die  Ketzer  selber  so  schlecht  begründeten 
Sätzen,  wie  die  Sätze  aller  religiösen  Sectirer  und 
„Rechtgläubigen"  sind,  keine  weitere  Theilnahme  ge- 
schenkt haben  würden,  nachdem  sie  dieselben  untersucht 
hätten. 

631. 

Aus  den  Zeiten  her,  «in  welchen  die  Menschen  daran 
gewöhnt  waren,  an  den  Besitz  der  unbedingten  Wahr- 
heit zu  glauben,  stammt  ein  tiefes  Missbehagen  an 
allen  skeptischen  und  relativistischen  Stellungen  zu  irgend- 
welchen Fragen  der  Erkenntniss;  man  zieht  meistens  vor, 
sich  einer  Überzeugung,  welche  Personen  von  Autorität 
haben  (Väter  Freunde  Lehrer  Fürsten),  auf  Gnade  und 
Ungnade  zu  ergeben,  und  hat,  wenn  man  diess  nicht 
thut,    eine   Art   von   Gewissensbissen.      Dieser   Hang   ist 


—     407     — 

ganz  begreiflich  und  seine  Folgen  geben  kein  Recht  zu 
heftigen  Vorwürfen  gegen  die  Entwicklung  der  mensch- 
lichen Vernunft.  Allmähhch  muss  aber  der  wissenschaft- 
hche  Geist  im  Menschen  jene  Tugend  der  vorsichtigen 
Enthaltung  zeitigen,  jene  weise  Mässigung,  welche  im 
Gebiet  des  praktischen  Lebens  bekannter  ist  als  im 
Gebiet  des  theoretischen  Lebens,  und  welche  zum  Beispiel 
Goethe  im  Antonio  dargestellt  hat,  als  einen  Gegen- 
stand der  Erbitterung  für  alle  Tasso's,  das  heisst  für  die 
unwissenschaftlichen  und  zugleich  thatlosen  Naturen.  Der 
Mensch  der  Überzeugungen  hat  in  sich  ein  Recht,  jenen 
Menschen  des  vorsichtigen  Denkens,  den  theoretischen 
Antonio,  nicht  zu  begreifen ;  der  wissenschaftliche  Mensch 
hinwiederum  hat  kein  Recht,  jenen  desshalb  zu  tadeln, 
er  übersieht  ihn  und  weiss  ausserdem,  im  bestimmten 
Falle,  dass  Jener  sich  an  ihn  noch  anklammem  wird,  so 
wie  es  Tasso  zuletzt  mit  Antonio  thut. 


632. 

Wer  nicht  durch  verschiedene  Überzeugungen  hin- 
durchgegangen ist,  sondern  in  dem  Glauben  hängen 
bleibt,  in  dessen  Netz  er  sich  zuerst  verfieng,  ist  unter 
allen  Umständen,  eben  wegen  dieser  Unwandelbarkeit, 
ein  Vertreter  zurückgebliebener  Culturen;  er  ist 
gemäss  diesem  Mangel  an  Bildung  (welche  immer  Bild- 
barkeit  voraussetzt)  hart,  unverständig,  unbelehrbar,  ohne 
Milde,  ein  ewiger  Verdächtiger,  ein  Unbedenklicher,  der 
zu  allen  Mitteln  greift  seine  Meinung  durchzusetzen,  weil 
er  gar  nicht  begreifen  kann,  dass  es  andre  Meinungen 
geben  müsse;  er  ist,  in  solchem  Betracht,  vielleicht  eine 
Kraftquelle  und  in  allzu  frei  und  schlaff"  gewordenen 
Culturen  sogar  heilsam,  aber  doch   nur,   weil   er  kräftig 


—     4o8     — 

anreizt,  ihm  Widerpart  zu  halten:  denn  dabei  wird  das 
zartere  Gebilde  der  neuen  Cultur,  welche  zum  Kampf 
mit  ihm  gezwungen  ist,  selber  stark. 


Ö33- 

Wir  sind  im  Wesentlichen  noch  dieselben  Menschen, 
wie  die  des  Reformations-Zeitalters:  wie  sollte  es  auch 
anders  sein?  Aber  dass  wir  uns  einige  Mittel  nicht 
mehr  erlauben,  um  mit  ihnen  unserer  Meinung  zum  Siege 
zu  verhelfen,  das  hebt  uns  gegen  jene  Zeit  ab  und  be- 
weist, dass  wir  einer  höheren  Cultur  angehören.  Wer  jetzt 
noch,  in  der  Art  der  Reformations-Menschen,  Meinungen 
mit  Verdächtigungen,  mit  Wuthausbrüchen  bekämpft  und 
niederwirft,  verräth  deutlich,  dass  er  seine  Gegner  ver- 
brannt haben  würde ,  falls  ,  er  in  anderen  Zeiten  gelebt 
hätte,  und  dass  er  zu  allen  Mitteln  der  Inquisition  seine 
Zuflucht  genommen  haben  würde,  wenn  er  als  Gegner 
der  Reformation  gelebt  hätte.  Diese  Inquisition  war 
damals  vernünftig,  denn  sie  bedeutete  nichts  Anderes 
als  den  allgemeinen  Belagerungszustand,  welcher  über 
den  ganzen  Bereich  der  Kirche  verhängt  werden  musste 
und  der,  wie  jeder  Belagerungszustand,  zu  den  äussersten 
Mitteln  berechtigte,  unter  der  Voraussetzung  nämlich 
(welche  wir  jetzt  nicht  mehr  mit  jenen  Menschen  theilen), 
dass  man  die  Wahrheit,  in  der  Kirche,  habe  und  um 
jeden  Preis  mit  jedem  Opfer,  zum  Heile  der  Menschheit, 
bewahren  müsse.  Jetzt  aber  giebt  man  Niemandem  so 
leicht  mehr  zu,  dass  er  die  Wahrheit  habe:  die  strengen 
Methoden  der  Forschung  haben  genug  Misstrauen  und 
Vorsicht  verbreitet,  so  dass  Jeder,  welcher  gewaltthätig 
in  Wort  und  Werk  Meinungen  vertritt,  als  ein  Feind 
unserer  jetzigen  Cultur,    mindestens    als    ein    Zurückge- 


—     409     — 

bliebener  empfunden  wird.  In  der  That:  das  Pathos. 
dass  man  die  Wahrheit  habe,  gilt  jetzt  sehr  wenig  im 
Verhältniss  zu  jenem  freilich  milderen  und  klangloseren 
Pathos  des  Wahrheit-Suchens,  welches  nicht  müde  wird, 
umzulernen  und  neu  zu  prüfen. 

634. 

Übrigens  ist  das  methodische  Suchen  der  Wahrheit 
selber  das  Resultat  jener  Zeiten,  in  denen  die  Über- 
zeugungen mit  einander  in  Fehde  lagen.  Wenn  nicht 
dem  Einzelnen  an  seiner  „Wahrheit",  das  heisst  an 
seinem  Rechtbehalten  gelegen  hätte,  so  gäbe  es  über- 
haupt keine  Methode  der  Forschung;  so  aber,  bei  dem 
ewigen  Kampf  der  Ansprüche  verschiedener  Einzelner 
auf  unbedingte  Wahrheit,  gieng  man  Schritt  für  Schritt 
weiter,  um  unumslössliche  Principien  zu  finden,  nach 
denen  das  Recht  der  Ansprüche  geprüft  und  der  Streit 
geschlichtet  werden  könne.  Zuerst  entschied  man  nach 
Autoritäten,  später  kritisirte  man  sich  gegenseitig  die 
Wege  und  Mittel,  mit  denen  die  angebhche  Wahrheit 
gefunden  worden  war;  dazwischen  gab  es  eine  Periode, 
wo  man  die  Consequenzen  des  gegnerischen  Satzes  zog 
und  vielleicht  sie  als  schädlich  und  unglücklich  machend 
erfand:  woraus  dann  sich  für  Jedermanns  Urtheil  er- 
geben sollte,  dass  die  Überzeugung  des  Gegners  einen 
Irrthum  enthalte.  Der  persönliche  Kampf  der 
Denker  hat  schliesslich  die  Methoden  so  verschärft, 
dass  wirklich  Wahrheiten  entdeckt  werden  konnten  und 
dass  die  Irrgänge  früherer  Methoden  vor  Jedermanns 
Blicken  biosgelegt  sind, 


—     4^o     — 

635. 

Im  Ganzen  sind  die  wissenschaftlichen  Methoden 
mindestens  ein  ebenso  wichtiges  Ergebniss  der  Forschung 
als  irgend  ein  sonstiges  Resultat:  denn  auf  der  Einsicht 
in  die  Methode  beruht  der  wissenschaftliche  Geist,  und 
alle  Resultate  der  Wissenschaft  könnten,  wenn  jene 
Methoden  verloren  giengen ,  ein  erneutes  Überhand- 
nehmen des  Aberglaubens  und  des  Unsinns  nicht  ver- 
hindern. Es  mögen  geistreiche  Leute  von  den  Ergeb- 
nissen der  Wissenschaft  lernen,  so  viel  sie  wollen : 
man  merkt  es  immer  noch  ihrem  Gespräche  und  nament- 
lich den  Hypothesen  in  demselben  an,  dass  ihnen  der 
wissenschaftliche  Geist  fehlt:  sie  haben  nicht  jenes  in- 
stinctive  Misstrauen  gegen  die  Abwege  des  Denkens, 
welches  in  der  Seele  jedes  wissenschaftlichen  Menschen 
in  Folge  langer  Übung  seine  Wurzeln  eingeschlagen 
hat.  Ihnen  genügt  es,  über  eine  Sache  überhaupt  irgend- 
eine Hypothese  zu  finden,  dann  sind  sie  Feuer  und 
Flamme  für  dieselbe  und  meinen,  damit  sei  es  gethan. 
Eine  Meinung  haben  heisst  bei  ihnen  schon:  dafür  sich 
fanatisiren  und  sie  als  Überzeugung  fürderhin  sich  an's 
Herz  legen.  Sie  erhitzen  sich  bei  einer  unerklärten 
Sache  für  den  ersten  Einfall  ihres  Kopfes,  der  einer 
Erklärung  derselben  ähnlich  sieht:  woraus  sich,  nament- 
lich auf  dem  Gebiete  der  Politik,  fortwährend  die 
schlimmsten  Folgen  ergeben.  —  Desshalb  sollte  jetzt 
Jedermann  mindestens  eine  Wissenschaft  von  Grund  aus 
kennen  gelernt  haben :  dann  weiss  er  doch,  was  Methode 
heisst  und  wie  nöthig  die  äusserste  Besonnenheit  ist. 
Namentlich  ist  den  Frauen  dieser  Rath  zu  geben;  als 
welche  jetzt  rettungslos  die  Opfer  aller  Hypothesen  sind, 
zumal   wenn  diese  den  Eindruck  des  Geistreichen    Hin- 


—     4"     — 

reissenden  Belebenden  Kräftigenden  machen.  Ja  bei  g& 
nauerem  Zusehen  bemerkt  man,  dass  der  allergrösste  Theil 
aller  Gebildeten  noch  jetzt  von  einem  Denker  Über- 
zeugungen und  Nichts  als  Überzeugungen  begehrt, 
und  dass  allein  eine  geringe  Minderheit  Gewissheit 
will.  Jene  wollen  stark  fortgerissen  werden,  um  dadurch 
selber  einen  Kraftzuwachs  zu  erlangen;  diese  Wenigen 
haben  jenes  sachliche  Interesse,  welches  von  persönhchen 
Vortheilen,  auch  von  dem  des  erwähnten  Kraftzuwachses 
absieht.  Auf  jene  bei  weitem  überwiegende  Classe 
wird  überall  dort  gerechnet,  wo  der  Denker  sich  als 
Genie  benimmt  und  bezeichnet,  also  wie  ein  höheres 
Wesen  dreinschaut,  welchem  Autorität  zukommt  Inso- 
fern das  Genie  jener  Art  die  Gluth  der  Überzeugungen 
unterhält  und  Misstrauen  gegen  den  vorsichtigen  und 
bescheidenen  Sinn  der  Wissenschaft  weckt,  ist  es  ein 
Feind  der  Wahrheit,  und  wenn  es  sich  auch  noch  so 
sehr  als  deren  Freier  glauben  sollte. 

636. 
Es  giebt  freilich  auch  eine  ganz  andre  Gattung  der 
Genialität,  die  der  Gerechtigkeit;  und  ich  kann  mich  durch- 
aus nicht  entschhessen ,  dieselbe  niedriger  zu  schätzen 
als  irgend  eine  philosophische,  politische  oder  künstle- 
rische Genialität.  Ihre  Art  ist  es,  mit  herzhchem  Un- 
willen Allem  aus  dem  Wege  zu  gehen,  was  das  Urtheil 
über  die  Dinge  blendet  und  verwirrt;  sie  ist  folglich 
eine  Gegnerin  der  Überzeugungen,  denn  sie  will 
Jedem,  sei  es  ein  Belebtes  oder  Todtes,  Wirkliches  oder 
Gedachtes,  das  Seine  geben  —  und  dazu  muss  sie  es 
rein  erkennen;  sie  stellt  daher  jedes  Ding  in  das  beste 
Licht  und  geht  um  dasselbe  mit  sorgsamem  Auge  herum. 
Zuletzt  wird  sie  selbst  ihrer  Gegnerin,  der  blinden  oder 


—      412      — 


kurzsichtigen  „Überzeugung"  (wie  Männer  sie  nennen: 
—  bei  Weibern  heisst  sie  „Glaube"),  geben,  was  der 
Überzeugung  ist  —  um  der  Wahrheit  willen. 


637. 

Aus  den  Leidenschaften  wachsen  die  Meinungen; 
die  Trägheit  des  Geistes  lässt  diese  zu  Überzeu- 
gungen erstarren.  —  Wer  sich  aber  freien,  rastlos 
lebendigen  Geistes  fühlt,  kann  durch  beständigen  Wechsel 
diese  Erstarrung  verhindern;  und  ist  er  gar  insgesammt 
ein  denkender  Schneeballen,  so  wird  er  überhaupt  nicht 
Meinungen,  sondern  nur  Gewissheiten  und  genau  be- 
messene Wahrscheinlichkeiten  in  seinem  Kopfe  haben.  — 
Aber  wir,  die  wir  gemischten  Wesens  sind  und  bald  vom 
Feuer  durchglüht,  bald  vom  Geiste  durchkältet  sind, 
wollen  vor  der  Gerechtigkeit  knien,  als  der  einzigen 
Göttin,  welche  wir  über  uns  anerkennen.  Das  Feuer 
in  uns  macht  uns  für  gewöhnlich  ungerecht  und,  im 
Sinne  jener  Göttin,  unrein;  nie  dürfen  wir  in  diesem  Zu- 
stande ihre  Hand  fassen,  nie  liegt  dann  das  ernste 
Lächeln  ihres  Wohlgefallens  auf  uns.  Wir  verehren  sie 
als  die  verhüllte  Isis  unseres  Lebens;  beschämt  bringen 
wir  ihr  unsern  Schmerz  als  Busse  und  Opfer  dar,  wenn 
das  Feuer  uns  brennt  und  verzehren  wiU.  Der  Geist 
ist  es,  der  uns  rettet,  dass  wir  nicht  ganz  verglühen  und 
verkohlen;  er  reisst  uns  hier  und  da  fort  von  dem  Opfer- 
altare der  Gerechtigkeit  oder  hüUt  uns  in  ein  Gespinnst 
aus  Asbest.  Vom  Feuer  erlöst,  schreiten  wir  dann,  durch 
den  Geist  getrieben,  von  Meinung  zu  Meinung,  durch 
den  Wechsel  .der  Parteien,  als  edle  Verräther  aller 
Dinge,  die  überhaupt  verrathen  werden  können,  —  und 
dennoch  ohne  ein  Gefühl  von  Schuld. 


413 


638. 

Der  Wanderer.  —  Wer  nur  einigermaassen  zur 
Freiheit  der  Vernunft  gekommen  ist,  kann  sich  auf 
Erden  nicht  anders  fühlen  denn  als  Wanderer,  —  wenn 
auch  nicht  als  Reisender  nach  einem  letzten  Ziele: 
denn  dieses  giebt  es  nicht.  Wohl  aber  will  er  zusehen 
und  die  Augen  dafür  offen  haben,  was  Alles  in  der  Welt 
eigentlich  vorgeht;  desshalb  darf  er  sein  Herz  nicht 
allzufest  an  alles  Einzelne  anhängen;  es  muss  in  ihm 
selber  etwas  Wanderndes  sein,  das  seine  Freude  an  dem 
Wechsel  und  der  Vergänglichkeit  habe.  Freilich  werden 
einem  solchen  Menschen  böse  Nächte  kommen,  wo  er 
müde  ist  und  das  Thor  der  Stadt,  welche  ihm  Rast 
bieten  sollte,  verschlossen  findet;  vielleicht,  dass  noch 
dazu,  wie  im  Orient,  die  Wüste  bis  an  das  Thor  reicht, 
dass  die  Raubthiere  bald  ferner  bald  näher  her  heulen, 
dass  ein  starker  Wind  sich  erhebt,  dass  Räuber  ihm 
seine  Zugthiere  wegführen.  Dann  sinkt  für  ihn  wohl  die 
schreckliche  Nacht  wie  eine  zweite  Wüste  auf  die  Wüste, 
und  sein  Herz  wird  des  Wanderns  müde.  Geht  ihm 
dann  die  Morgensonne  auf,  glühend  wie  eine  Gottheit 
des  Zorns,  öffnet  sich  die  Stadt,  so  sieht  er  in  den  Ge- 
sichtern der  hier  Hausenden  vielleicht  noch  mehr  Wüste, 
Schmutz,  Trug,  Unsicherheit  als  vor  den  Thoren  —  und 
der  Tag  ist  fast  schlimmer  als  die  Nacht.  So  mag  es 
wohl  einmal  dem  Wanderer  ergehen;  aber  dann  kommen, 
als  Entgelt ,  die  wonnevollen  Morgen  anderer  Gegenden 
und  Tage,  wo  er  schon  im  Grauen  des  Lichtes  die 
Musenschwärme  im  Nebel  des  Gebirges  nahe  an  sich 
vorübertanzen  sieht,  wo  ihm  nachher,  wenn  er  still,  in 
dem  Gleichmaass  der  Vormittagsseele,  unter  Bäumen  sich 
ergeht,    aus  deren  Wipfeln    und    Laub  verstecken  heraus 


—      4M      — 

lauter  gute  und  helle  Dinge  zugeworfen  werden,  die  Gre- 
schenke  aller  jener  freien  Geister,  die  in  Berg,  Wald  und 
Einsamkeit  zu  Hause  sind  und  welche,  gleich  ihm,  in 
ihrer  bald  fröhlichen  bald  nachdenklichen  Weise,  Wanderer 
und  Philosophen  sind.  Geboren  aus  den  Geheimnissen 
der  Frühe,  sinnen  sie  darüber  nach,  wie  der  Tag  zwischen 
dem  zehnten  und  zwölften  Glockenschlage  ein  so  reines, 
durchleuchtetes,  verklärt-heiteres  Gesicht  haben  könne;  — 
sie  suchen  die  Philosophie  des  Vormittages. 


Unter  Freunden. 


Ein  NachsoieL 


I. 


Schön  ist's,  mit  einander  schweigen, 
Schöner,  mit  einander  lachen,  — 
Unter  seidenem  Himmels-Tuche 
Hingelehnt  zu  Moos  und  Buche 
Lieblich  laut  mit  Freunden  lachen 
Und  sich  weisse  Zähne  zeigen. 

Macht'  ich's  gut,  so  woll'n  wir  schweigen; 
Macht'  ich's  schlimm  — ,  so  woll'n  wir  lachen 
Und  es  immer  schlimmer  machen, 
Schlimmer  machen,  schlimmer  lachen, 
Bis  wir  in  die  Grube  steigen. 

Freunde!  Ja!   So  soll's  geschehn?  — 
Amen!    Und  auf  Wiedersehn  1 


Nietische,  Werke  Band  n.  fj 


2. 


Kein  Entschuld'genl     Kein  Verzeihen! 
Gönnt  ihr  Frohen,  Herzens -Freien 
Diesem  unvernünft'gen  JJuche 
Ohr  und  Herz  und  Unterkunft! 
Glaubt  mir,  Freunde,  nicht  zum  Fluche 
"Ward  mir  meine  Unvernunft! 

Was  ich  finde,  was  ich  suche  — . 

Stand  das  je  in  einem  Buche? 

Ehrt  in  mir  die  Narren -Zunft! 

Lernt  aus  diesem  Narrenbuche, 

Wie  Vernunft  kommt  —  „zur  Vernunft"! 

Also,  Freunde,  soll's  g-eschehn?  — 
Amen!    Und  auf  Wiedersehn  1 


Aphorismen  -  Register, 
Nachbericht,  Lesarten -Verzeichniss. 


Aphorismen-Register. 


I.    Von   den   ersten 

SdU 

Chemie    der    Begriffe   und    Em- 
pfindungen   17 

Erbfehler  der  Philosophen  .  .18 
Schätzung     der     unscheinbaren 

Wahrheiten 19 

Astrologie  und  Verwandtes  .  .21 
Missverständniss  des  Traumes  .  21 
Der    Geist   der  Wissenschaft   im 

Theil,  nicht  im  Ganzen  mächtig  22 
Der   Störenfried   in  der  Wissen- 
schaft       23 

Pneimiatische  Erklärung  der  Natur  23 
Metaphysische  Welt  ....  23 
Harmlosigkeit  der  Metaphysik  in 

der  Zukunft     .  ....  24 

Die  Sprache  als  vermeintliche 

Wissenschaft 25 

Traum  und  Cultur 26 

Logik  des  Traumes      .     .     .     .27 

Miterklingen 30 

Kein  Innen  und  Aussen   in  der 
Welt 31 


und   letzten    Dingen. 

8«I«i 

Erscheinung  und  Ding  an  sich  .  31 
Metaphysische  Erklärungen  .  .33 
Grundfragen  der  Metaphysik       .  34 

Die  Zahl 36 

Einige  Sprossen  zurück  .  .  .37 
Miithmaasslicher  Sieg  der  Skepsis  38 
Unglaube  an  das  „monumentum 

aere  perennius" 39 

Zeitalter  der  Vergleichung  .  .  40 
Möglichkeit  des  Fortschritts  .  .41 
Privat-  und  Welt-Moral  ...  42 
Die  Reaction  als  Fortschritt  .  43 
Ersatz  der  Religion      ...     .45 

Verrufene  Worte 46 

Vom  Dufte  der  Blüthen  berauscht  46 
Schlechte  Gewohnheiten  im 

Schliessen 47 

Das  Unlogische  nothwendig  .  .  48 
Ungerechtsein  nothwendig  .  .  49 
Der  Irrthum  über  das  Leben  zum 

Leben  nothwendig  ....  50 
Zur  Beruhigung 51 


IL    Zur  Geschichte  der  moralischen   Empfindungen. 

Der  unveränderliche  Charakter  .  66 
Die    Ordnung    der    Güter    und 

die  Moral 66 

Grausame  Menschen   als   zurück- 
gebliebene     67 

Dankbarkeit  und  Rache    ...  67 
Doppelte  Vorgeschichte  von  Gut 
und  Böse 68 


Vortheile   der  psychologischen 
Beobachtung    ....  .57 

Einwand 58 

Trotzdem 60 

Inwiefern  nützlich 62 

Die  Fabel   von    der  intelligiblen 

Freiheit 63 

Das  Über-Thier 65 


422       — 


Mitleiden  stärker  als  Leiden 

Hypochondrie 

Ökonomie  der  Güte      .... 

Wohlwollen 

Mitleiden  erregen  wollen  .  . 
Wie  der  Schein  zum  Sein  wird 
Der  Punkt  der  Ehrlichkeit  beim 

Betrüge 

Angebliche  Stufen  der  Wahrheit 

Die  Lüge 

Des  Glaubens   wegen   die  Moral 

verdächtigen 

Sieg    der    Erkenntniss  über  das 

radicale  Böse 

Moral   als   Selbstzerthailung   des 

Menschen 

Was  man  versprechen  kann 
Intellect  und  Moral       .... 
Sich  rächen  wollen  und  sich  rächen 

Warten -können 

Schwelgerei  der  Rache  .  .  , 
Werth  der  Verkleinerung       .     . 

Der  Aufbrausende 

Wohin    die    Ehrlichkeit    führen 

kann 

Sträflich,  nie  gestraft    .... 
San  da  simplicitas   der  Tugend 
Moralität  und  Erfolg     .... 
Liebe  und  Gerechtigkeit    .     .     . 

Hinrichtung 

Die  Hoffnung 

Grad  der  moralischen  Erhitzbar- 

keit  unbekannt 

Der  Äfärtyrer  wider  Willen  .     . 

Alltags-Maassstab 

Missverständniss  über  die  Tugend 
Der  Asket 


Die  Ehre  von  der  Person  auf  die 

Sache   übertragen 87 

Ehrgeiz    ein   Surrogat  des  mora- 
lischen Gefühls 87 

Eitelkeit  bereichert 88 

Greis  und  Tod 88 

Irrthümer    des     Leidenden    und 

des  Thäters 89 

Haut  der  Seele 90 

Schlaf  der  Tugend 90 

Feinheit  der  Scham       ....  90 

Bosheit  ist  selten 91 

Das  Zünglein  an  der  Wage  .  .91 
Lucas  18,  14  verbessert  .  .  .91 
Verhinderung    des    Selbstmordes  91 

Eitelkeit 91 

Grenze  der  Menschenliebe  .  .  92 
Moraliti  larmoyante  ....  93 
Ursprung  der  Gerechtigkeit  .  .  93 
Vom  Rechte  des  Schwächeren  .  94 
Die   drei    Phasen    der  bisherigen 

Moralität 95 

Moral  des  reifen  Individuums     .  96 

Sitte  und  sittlich 97 

Die  Lust  in   der  Sitte       ...  98 
Lust  und  socialer  Instinct      .     .  99 
Das    Unschuldige    an    den    so- 
genannten bösen  Handlungen   100 

Scham 10 1 

Richtet  nicht! 102 

„Der  Mensch  handelt  immer  gut"  104 
Das  Harmlose   an    der   Bosheit    105 

Nothwehr 106 

Die  belohnende  Gerechtigkeit  .   I07 

Am  Wasserfall 108 

UnVerantwortlichkeit    und    Un  - 
schuld 109 


IIL    Das  religiöse  Leben. 


Der  doppelte  Kampf  gegen  das 

Übel 115 

Gram  ist  Erkenntniss      .     .     .116 
Die  Wahrheit  in   der  Religion   1 1 7 


Ursprung  des  religiösen   Cultus   120 
Beim  Anblick  gewisser   antiker 

Opfergeräthschaften      .     .     .125 
Christenthum  als  Alterthum      .   i  26 


Das  Ungriechische  im  Christen- 
thum 

Mit  Vortheil  religiös   sein    .     . 

Der  Alltags-Christ 

Von  der  Klugheit  des  Christen- 
thums 

Personenwechsel 

Schicksal  des  Christenthums 

Der  Beweis  der  Lust  .     .     .     . 

Gefährhches  Spiel 

Die  blinden  Schüler    .     .     .     . 

Abbruch   der  Kirchen      .     .     . 

Sündiosigkeit  des  Menschen     . 


127 
128 
128 

129 
129 
129 
130 
130 

130 
131 
131 


SelU 

Irreligiosität  der  Künstler  .  .131 
Kunst    und  Kraft   der  falschen 

Interpretation 132 

Verehrung  des  Wahnsinns  .  .132 
Verheissungen  der  Wissenschaft  133 
Verbotene  Freigebigkeit  .  .  -133 
Fortleben   des  religiösen  Cultus 

im  Gemüth 133 

Religiöse  Nach  wehen  .  .  .134 
Von  dem  christlichen  Erlösungs- 

bedürfniss 135 

Von  der  christlichen  Askese  und 

Heiligkeit 141 


IV.    Aus  der  Seele  der  Künstler  und  Schriftsteller. 


Das  Vollkommene  soll  nicht  ge- 
worden sein 157 

Der  Wahrheitssinn  des  Künstlers   1 58 

Die  Kunst  als  Todtenbeschwö 
rerin 

Dichter     als     Erleichterer     des 
Lebens       

Der  langsame  Pfeil  der  Schön 
heit 

Beseelimg  der  Kunst .     .     . 

Wodurch     das      Metrum      ver 
»chönert 

Kunst    der   hässlichen    Seele 

Die  Kunst  macht  dem  Denke 
das    Herz    schwer    . 

Mit  dem  Leben  spielen  . 

Glaube  an   Inspiration 

Nochmals  die  Inspiration 

Die    Leiden     des    Genius 
ihr  Werth      .... 

Verhängniss  der  Grösse  . 

Die    Kunst    dem    Künstler 
fährlich 

Geschaffene  Menschen 

Selbstüberschätmni;  im  Glauben 
an  Künstler  und  Philosophen    168 

Cultus  des  Genius  aus  Eitelkeit  168 

Der  Ernst  des  Handwerks  .      .170 


und 


ge- 


158 

159 

160 

160 

161 
161 

161 
162 
163 
163 

164 
165 

«65 
166 


Gefahr   und  Gewinn  im  Cultus 

des  Genius 171 

Das  Genie  und  das  Nichtige    .   174 

Das  Publicum 174 

Artistische  Erziehung  des  Publi- 

cums 175 

Der  Künstler  und  sein  Gefolge 

müssen  Schritt  halten     .    .    .175 
Herkunft  des  Komischen     .     .176 

Künstler- Ehrgeiz 176 

Das    Nothwendige    am    Kunst- 
werk      177 

Den  Meister  vergessen  machen  178 
Corriger  la  fortune  .      .      .      .178 

Verkleinem 178 

Sinnlichkeit   in    der  Kunst    der 

Gegenwart 179 

Shakespeare  als  Moralist  .  .179 
Sich  gut  zu  Gehör  bringen  .  180 
Das     Unvollständige     als     das 

Wirksame 180 

Gegen  die  Originalen       .     .     .180 

Collectivgeist 181 

Zweierlei  Verkennung  .  .  .181 
VerhSltniss  zur  Wissenschaft    .    181 

Der  Schlüssel i8| 

Unübersetzbar 181 

Paradoxien  des  Autors    .     ,     .    1S2 


424     - 


Wit2 

Die  Antithese 

Denker  als  Stilisten  .  .  .  . 
Gedanken  im  Gedicht  .  .  , 
Sünde  wider  den  Geist  des  Lesers 
Grenze  der  Ehrlichkeit   .     . 

Der  beste  Autor 

Drakonisches      Gesetz       gegen 

Schriftsteller 

Die  Narren  der  modernen  Cultur 
Den  Griechen  nach  .  .  .  . 
Grute  Erzähler  schlechte  Erklärer 
Die    Schriften    von    Bekannten 

und  ihre  Leser  .... 
Rhythmische  Opfer  .  .  , 
Das    Unvollständige   als   küust 

lerisches  Reizmittel      .     . 
Vorsicht  im  Schreiben  und  Leh  ren 
Schlechte     Schriftsteller     noth 

wendig 

Zu  nah  und  zu  fern  .     .     . 
Eine    verschwundene  Vorberei 

tung  zur  Kunst  .  .  . 
Dunkles  und  Überhelles  neben 

einander  ...... 


8elt« 
182 

182 

182 

X82 

182 

183 
183 

183 
183 

184 

184 

185 

186 

186 
186 

187 

187 

188 
189 


Schriflstellerisches  Malerthum   .  189 

Bücher,  welche  tanzen  lehren  .  189 

Nicht  fertig  gewordene  Gedanken  189 
Das  Buch    fast   zum    Menschen 

geworden 190 

Freude    im  Alter 191 

Ruhige  Fruchtbarkeit  .  .  .191 
Achilles  und  Homer  .  .  .  .192 
Alte  Zweifel  über  die  Wirkung 

der   Kunst 192 

Freude    am    Unsinn    ....  193 

Veredelung  der  Wirklichkeit    .  194 

Musik 194 

Gebärde  und  Sprache  .  .  .195 
Die  Entsinnlichung  der  höheren 

Kunst 197 

Der    Stein    ist   mehr  Stein    als 

früher 198 

Religiöse  Herkunft  der  neueren 

Musik 199 

Das  Jenseits  in  der  Kunst  .     ,  200 

Die  Revolution  in  der  Poesie.  201 

Was  von  der  Kunst  übrig  bleibt  206 

Abendröthe  der  Kunst   .     .     .  207 


V.    Anzeichen  höherer  und  niederer  Cultur. 


Veredelung  durch  Entartung  .211 
Freigeist  ein  relativer  Begriff  .  213 
Herkunft  des  Glaubens  .  .  .214 
Aus  den  Folgen  auf  Grund  und 

Ungrund  zurückgeschlossen  .  215 
Der  starke,  gute  Charakter  .     .210 
Maass   der   Dinge   bei   den  ge- 
bundenen Geistern  .     .     .     .217 

Esprit  fort 218 

Die  Entstehimg  des  Genie's  .  218 
Vermuthung  über  den  Ursprung 

der   Freigeisterei      .     .     .     .219 

Die  Stimme   der   Geschichte     .  219 

Werth  der  Mitte  des  Wegs    .  220 

Genius    und    idealer    Staat    in 

Widerspruch 221 


Die  Zonen  der  Cultur     .     .     .223 
Renaissance  und  Reformation  .  224 
Gerechtigkeit    gegen    den    wer- 
denden Gott 225 

Die  Früchte  nach  der  Jahreszeit  226 
Zunehmende  Severität  der  Welt  227 

Genius  der  Cultur 227 

Wunder -Erziehung     .     .     .     .228 
Die  Zukunft  des  Arztes.     .     .229 
In  der  Nachbarschaft  des  Wahn- 
sinns      230 

Glockenguss  der  Cullur  .     .     .231 
Die  Cyclopen  der  Cultur     .     .231 
KrcisKiuf  des  MenscheiUhums  .  232 
Trostrede  eines  desperaten  Fort- 
schritts       232 


4-25 


An  derVerganpenheit  der  Cultur 

leiden 233 

Manierea 233 

Zukunft  der  Wissenschaft    .     .235 
Die  Lust  am  Erkennen  .     .     .  236 
Treue  als  Beweis  der  Stichhaltig- 
keit  237 

Zunahme  des  Interessanten  .  .  238 
Aberglaube  im  Gleichzeitigen  .  238 
Das  Können,  nicht  das  Wissen, 

durch  die  Wissenschaft  geübt  239 
Jugendreiz  der  Wissenschaft  .  239 
Die  Statue  der  Menschheit  .  240 
Eine  Cultur  der  Männer  ,  .240 
Das  Vorurtheil  zu  Gunsten  der 

Grösse 241 

Die  Tyrannen  des  Geistes    .     .242 

Homer 246 

Begabung 247 

Der  Geistreiche  entweder  über- 
schätzt oder  unterschätzt  .     .  247 
Die  Vernunft  in  der  Schule      .  248 
Unterschätzte  Wirkung  des  gym- 
nasialen Unterrichts      .     .     .249 
Viele  Sprachen  lernen      .     .     .250 
Zur  Kriegsgeschichte   des  Indi- 
viduums      251 

Um  eine  Viertelstunde  früher  .  251 
Die  Kunst  zu  lesen  .  .  .  .251 
Die  Kunst  zu  seh  Hessen      .     .252 


Jahresringe     der     individuellen 

Cultur 252 

Zurückgegaugen ,    nicht   zurück- 
geblieben   254 

Ein   Ausschnitt   unseres   Selbst 

als  künstlerisches  Object  .  .255 
Cyniker  und  Epikureer  .  .  .255 
Mikrokosmus  und  Mal^rokosmus 

der  Cultur 256 

Glück  und  Cultur 257 

Gleichniss  vom  Tanze  .  .  .  258 
Von      der     Erleichterung     des 

Lebens 258 

Erschwerung    als    Erleichterung 

und  umgekehrt 259 

Die   höhere   Cultur    wird    noth- 
wendig  missverstanden      .     .259 

Klagelied 260 

Hau[)tmangel  der  tbätigen  Men- 
schen     261 

Zu  Gunsten  der  Mü-:sigen  .  .261 
Die  moderne  Unruhe  .  .  .  .262 
Inwiefern   der  Thätige    faul    ist   263 

Censor    vitae 263 

Nebenerfolg 264 

Werth  der  Krankheit  .  .  .  264 
Empfindung  auf  dem  l^nde  .  264 
Vorsicht  der  freien  Geister  .  .  264 
Vorwärts 2b6 


VI.    Der  Mensch  im  Verkehr. 


Wohlwollende  Verstellung  .     .271 

Copien 271 

Der  Redner 271 

Mangel  an  Vertraulich.keit  .  .271 
Zur  Kunst  des  Schenkens  .  .271 
Der  gefährlichste  Parteimann  .  272 
Rathgeber  des  Kianken .  .  .272 
Doppelte  Art  der  Gleichheit  .  272 
Gegen  Verlegenheit  .  .  .  .272 
Verhebe  für  einzelne  Tugenden  272 
Warum  man  widerspricht    .     .273 


Vertrauen  und  Vertraulichkeit .  273 
Gleichgewicht  der  P>eundschaft  273 
Die  gefährhchsten  Ärzte  .  .273 
Wann  Paradoxien  am  Platze  sind  273 
Wie  muthige   Leute   gewonnen 

werden 274 

Artigkeiten 274 

Warten  lassen 274 

Gegen  die  Vertraulichen .     .     .274 

Ausgleichsmittel 274 

j   EitcUceit  der  Zunge    ....  274 


—     426     — 


Balt« 

Rücksichtsvoll 275 

Zum  Disputiren  erforderlich  .  275 
Umgang  und  Anmaassung  .  .275 
Motiv   des   Angriffs    .     .     .     .275 

Schmeichelei 275 

Guter  Briefschreiber    .     .     .     .276 

Am  hässlichsten 276 

Die   Mitleidigen 276 

Ver\vandte  eines  Selbstmörders  276 
Undank  vorauszusehen  .  .  .  276 
In  geistloser  Gesellschaft  .  -  2';j 
Gegenwart  von  Zeugen   .     .     .277 

Schweigen 277 

Das   Geheimniss   des   Freundes  277 

Humanität 277 

Der  Befangene 277 

Dank 278 

Merkmal  der  Entfremdung  .  .278 
Anmaassung  bei  Verdiensten  .  278 
Gefahr   in   der  Stimme    .     .     .  278 

Im  Gespräche 278 

Furcht  vor  dem  Nächsten  .  .279 
Durch  Tadel  auszeichnen  .  .  279 
Verdruss  am  Wohlwollen  Anderer  279 
Sich  kreuzende  Eitelkeiten  .  .279 
Unarten  als  gute  Anzeichen  .  280 
Wann  es  rathsam  ist,  Unrecht 

zu  behalten 280 

Zu  wenig  geehrt 280 

Urzustände   in  der  Rede  nach- 
klingend     281 

Der  Erzähler 281 

Der  Vorleser 281 

Eine  Lustspiel-Scene,  welche  im 
Leben  vorkommt    ....  282 


Wider  Willen  unhöflich  .  .282 
Verräther -Meisterstück  .  .  .  283 
Beleidigen  und  beleidigt  werden   283 

Im  Disput 283 

Kunstgriff 283 

Gewissensbisse     nach     Gesell  - 

Schäften 284 

Man  wird  falsch  beurtheilt  .  284 
Tyrannei  des  Portraits  .  .  .  284 
Der   Verwandte   als    der    beste 

Freund 285 

Verkannte  Ehrlichkeit     .     .     .  285 

Der  Parasit 285 

Auf  dem  Altar  der  Versöhnung  286 
Mitleid  fordern  als  Zeichen  der 

Anmaassung 286 

Köder 286 

Verhalten  beim  Lobe  .  .  .287 
Die  Erfahrung  des  Sokrates  .  287 
Mittel  der  Vertheidigung     .     .287 

Neugierde 288 

Verrechnung  in  der  Gesellschaft  288 

Duell 288 

Vornehmheit  und  Dankbarkeit  289 
Die  Stunden  der  Beredsamkeit  289 
Das  Talent  zur  Freundschaft  .  290 
Taktik  im  Gespräch  ....  290 
Entladung  des  Unmuths  .  .291 
Die  Farbe  der  Umgebung  an- 
nehmen       291 

Ironie 292 

Anmaassung .   293 

Zwiegespräch      ......   294 

Nachruhm 295 

Von    den  Freunden   ....  296 


VII.    Weib  und  Kind. 


Das  vollkommene   W'cib 

.     .  301 

Irrthum  vornehmer  Frauen 

.  302 

Freundschaft  und  Ehe 

.     .  301 

Eine  Männer-Krankheit 

.  302 

Fortleben  der  Eltern 

.     .  301 

Eine  Art  der  Eifersucht 

.  302 

Von  der  Mutter  her  •.     . 

.     .  301 

Vernünftige  Unvernunft 

.  302 

Die  Natur  corrigiren  .     . 

.     .  302 

Mütterliche  Güte    .     .     . 

.  303 

Väter  und  Sühne  .     .     . 

.     .  302 

Verschiedene  Seufzer  .     . 

.  30.^ 

Liebesheirathen 

Frauenfreundschaft       .     .     .     . 

Langeweile 

Ein  Element  der  Liebe  .  .  . 
Die  Einheit   des  Orts  und   das 

Drama 

Gewöhnliche  Folgen  der  Ehe  . 

Befehlen    lehren 

Verliebt  werden  wollen  .     . 
Kein  Stillstand   in  der  Liebe   . 

Scham  haftigkeit 

Ehe  von  gutem  Bestand      .     . 

Proteus-Natur 

Lieben  und  besitzen  .  .  .  . 
Probe  einer  guten  Ehe  .  .  . 
Mittel,  Alle  zu  Allem  zu  bringen 
Ehrbarkeit  rmd  Ehrlichkeit  .     . 

Masken 

Die  Ehe  als  langes  Gespräch    . 

Mädchenträume 

Ausslerben     von    Faust    und 

Gretcben 

Mädchen  als  Gymnasiasten 
Ohne  Nebenbuhlerinnen  .  . 
Der  weibliche  Intellect  .  .  . 
Ein  Urtheil  Hesiod's  bekräftigt 
Die  Kurzsichtigen  sind  verhebt 
Frauen  im  Hass 


■     4^7 

SelU 

303 
303 

303 

304 
304 
304 
304 
304 
305 
305 
305 
305 
305 
306 
306 
306 
306 
307 

307 
307 
307 
308 

309 
309 


Liebe 310 

Zur  Emancipation  der  Frauen  .  310 
Die  Inspiration  im  Urtheile  der 

Frauen 311 

Sich   lieben  lassen 312 

Widersprüche    in    weiblichen 

Köpfen 312 

Wer  leidet  mehr?  .  .  .  .312 
Gelegenheit  zu  weiblicher  Gross- 

muth 313 

Tragödie  der  Kindheit    .     .     .313 

Elterii-Thorheit 314 

Aus  der  Zukunft  der  Ehe  ,  .315 
Sturm-  und   Drangperiode    der 

Frauen 316 

Freigeist  und  Ehe      .     .     .     .317 

Glück  der  Ehe 317 

Zu  nahe 317 

Die  goldene  Wiege  .  .  .  -318 
FreiwilUges  Opferthier  .  .  .318 
Angenehme  Widersacher  .  .319 
Missklang    zweier  Consonanzen  319 

Xanthippe 319 

Für  die  Ferne  blind  .  .  .  .320 
Macht  und  Freiheit    .     .     .     .320 

Ceterutn  censeo 321 

Zuletzt 322 


VIIL    Ein  Blick  auf  den  Staat 


Um  das  Wort  bitten       .     .     .325 

Cultur  und  Kaste 327 

Von  Geblüt 327 

Subordination     .     .  .     .     .328 

Volksheere 328 

Hoffnung  als  Anmaassung   .     .329 

Krieg 329 

Im  Dienste  des  Fürsten       .     .330 
Eine    Frage    der    Macht,    nicht 

des  Rechts 330 

Benutzung  der  kleinsten  Unred- 
lichkeit       331 

Allzu  lauter  Ton  bei  Beschwerden  332 


Die  anscheinenden  Wettermacher 
der  Politik 332 

Neuer  und  alter  Begriff  der 
Regierung 333 

Gerechtigkeit  als  Parteien -Lock- 
ruf   334 

Besitz  und  Gerechtigkeit      .     .334 

Der  Steuermann  der  Leiden- 
schaften       335 

Die  Gefährlichen  unter  den  Um- 
sturz-Geistern       336 

Politischer Werlh  der  Vaterschaft  336 

Ahnenstolz 337 


Sclaven  und  Arbeiter      .     . 
Leitende  Geister  und  ihre  Werk- 
zeuge     338 

Willkürliches  Recht  nothwendig  338 
Der  grosse  Mann  der  Masse  .  339 
Fürst  und  Gott      .     .     ^     .     .  340 

Meine  Utopie 340 

Ein  Wahn   in   der   Lehre  vom 

Umsturz 341 

Maass 342 

Auferstehung  des  Geistes  .  .  342 
Neue    Meinungen    im    alten 

Hause 342 

Schulwesen 342 

Unschuldige  Corruption  .     .     .  343 
Gelehrte  als  Politiker       .     .     .  343 
Der   Wolf   hinter    dem    Schafe 
versteckt 343 


—      428      — 

Srtt» 

.  337 


Glückszeiten 343 

Religion  und  Regierung       .     .  344 
Der  Socialismus  in  Hinsicht  auf 

seine  Mittel 350 

Die    Entwicklung    des    Geistes 

vom  Staate  gefürchtet       .     .351 
Der    europäische    Mensch     und 

die  Vernichtung  der  Nationen  352 
Scheinbare    Überlegenheit     des 

Mittelalters 354 

Der  Krieg  unentbehrhch      .     .  355 

Fleiss  im  Süden  und  Norden  .  356 
Reichthum   als  Ursprung  eines 

Geblütsadels 357 

Neid  und  Trägheit  in  verschie- 
dener Richtung 358 

Grosse  Politik  und  ihre  Einbussen  359 

Und  nochmals  gesagt      .     .     .  360 


IX.    Der  Mensch  mit  sich  allein. 


Feinde  der  Wahrheit      .     .     .363 

Verkehrte  Welt 363 

Charaktervoll 363 

Das  Eine,  was  noth  thut  .  .  363 
Die  Leidenschaft  für  Sachen  .  363 
Die  Ruhe  in  der  That   .     .     .  3f'4 

Nicht  zu  tief 364 

Wahn  der  Idealisten  .     .     .     .364 

Selbstbeobachtung 364 

Der  richtige  Beruf  ....  365 
Adel  der  Gesinnung    .     .     .     .  3(j5 

Ziel  und  Wege 365 

Das  Empörende    an  einer  indi- 
viduellen Lebensart      .     .     .365 
Vorrecht  der  Grösse  .     .     .     .366 
Unwillkürlich  vornehm    .     .     .  366 
Bedingung  des  Heroenthums    .  366 

Freund 366 

Ebbe  und  Fluth  zu  benutzen  .  366 

Freude  an  sich 306 

Der  Bescheidene 367 

Neid  und  Eifersucht  .  .  .  .367 
Der  vornehmste  Heuchler    .     .  367 


Verdruss 367 

Vertreter  der  Wahrheit  .  .  .  367 
Beschwerlicher  noch  als  Feinde  367 

Die  freie  Natur 368 

Jeder  in  Einer  Sache  überlegen  368 

Trostgründe 368 

Die  Überzeugungstreuen  .  .  368 
Moralität  und  Quantität  .  .  .  369 
Das  Leben  als  Ertrag  des  Lebens  369 
Die  eherne  Nothwendigkeit  .  369 
Aus  der  Erfahrung      ....  369 

Wahrheit 369 

Grundeinsicht 369 

Menschenloos 370 

Wahrheit  als  Circe  .  .  .  .370 
Gefahr  unserer  Cultur  .  .  .370 
Grösse  heisst:  Rirhtung-geben  370 
Schwaches  Gewissen  ....  370 
Geliebt  sein  wollen  .  .  .  .371 
Menschenverachtung  .  .  .  .371 
Anhänger  aus  Widerspruch  .  371 
Erlebnisse  vergessen  .  .  .  .371 
Festhalten  einer  Meinung    .     .371 


—     4 

Balte 

Das  Licht  scheuen  .  .  .  .372 
Die  Länge  des  Tages       ,     .     .372 

Tyrannengenie 372 

Das  Leben  des  Feindes  .     .     .372 

Wichtiger 372 

Abschätzung  erwiesener  Dienste  373 

Unglück 373 

Phantasie  der  Angst  .  .  .  .373 
Werth  abgeschmackter  Gegner  373 
Werth  eines  Berufs    ....  373 

Talent 374 

Jugend 374 

Zu  grosse  Ziele 374 

Im  Strome 374 

Gefahren  der  geistigen  Befreiung  374 
Verkörperung  des  Geistes  .  .374 
Schlecht  sehen  und  schlecht  hören  375 
Selbstgenuss  in  der  Eitelkeit  .  375 
Ausnahmsweise  eitel  .  .  .  »375 
Die  „Geistreichen"  .  .  .  -375 
"Wink  für  Parteihäupter  .     .     -375 

Verachtung 376 

Schnur  der  Dankbarkeit  .  .  376 
Kunstgriff  des  Propheten  .  .376 
Das  einzige  Menschen  recht  .  376 
Unter  das  Thier  hinab    .     .     .376 

Halbwissen 377 

Gefährliche  Hülfbereitschaft  .  377 
Fleiss  und  Gewissenhaftigkeit  .  377 

Verdächtigen 377 

Die  Umstände  fehlen  .  .  .  377 
Mangel  an  Freunden  ,  .  .378 
Gefahr  In  der  Vielheit  .  .  .378 
Den  Andern  zum  Vorbild    .     .378 

Zielscheibe  sein 378 

Leicht  resignirt 378 

In  Gefahr 379 

Je    nach  der  Stimme  die  Rolle  379 

Liebe  und  Hass 379 

Mit  Vortheil  angefeindet      .     .379 

Beichte 379 

Selbstgenügsamkeit  ....  3S0 
Schatten  in  der  Flamme      .     .  3S0 


29       — 

Sdte 

I    Eigene  Meinuugen      ....  380 
Herkunft  des  Muihes      .     .     .380 

Gefahr  im  Arzte 380 

Wunderliche  Eitelkeit      .     .     .381 

Beruf 381 

Gefahr  persönlichen  Einflusses  381 
Den  Erben  gelten   lassen      .     .381 

Halbwissen 381 

Nicht  geeignet  zum  Parteimann  382 
Schlechtes  Gedächtniss  .  .  .382 
Sich  Schmerzen  machen  .     .     .382 

Märtyrer 382 

Rückständige  Eitelkeit  .  .  .382 
Punctum saliens  derLeidenschaft-382 
Gedanke  des  Unmuths  .  .  .  383 
Vom  Stundenzeiger  des  Lebens  383 
Angreifen  oder  eingreifen     .     .  384 

Bescheidenheit 384 

Des  Tages  erster  Gedanke  .     .  385 
Anmaassung   als    letztes    Trost- 
mittel     385 

Vegetation  des  Glücks     .     .     .385 
Die  Strasse  der  Vorfahren  .     .386 
Eitelkeit    und    Ehrgeiz   als    Er- 
zieher     386 


Philosophische  Neulinge  , 
Durch  2^1issfallen  gefallen  . 
Casus  belli  und  Ähnliches  . 
Leidenschaft  und  Recht  .  . 
Kunstgriff  des  Entsagenden 
Lebensalter  der  Anmaassung 
Trügerisch  und  doch  haltbar 

Lieben    lernen 389 

Die  Ruine  als  Schmuck .     .     .  390 

Liebe  und  Ehre 390 

Vorurtheil  für  die  kalten  Men- 
schen      

Das  Gefährliche  an  freien  Mein- 
ungen     

nach    tiefem    Schmerz  391 
über  Andere    und  die 


386 
387 
387 
388 
388 
388 
389 


390 


391 


Begierde 

Unmuth 

Welt 

Ursache 


und     Wirkung     ver- 


391 


wechselt 39» 


430     — 

Seite 


Seite 


Lebensalter  und  Wahrheit  .     . 
Die     Menscheu     als     schlechte 

Dichter 

Langeweile    und   Spiel     . 
Lehre  aus  Bildern  .... 
Stimmklang  der  Lebensalter 
Zurückgebliebene    und    vorweg 

nehmende  Menschen    . 
Trost  für  Hypochonder  . 
Der  Gegenwart  entfremdet  . 
Auf  persönlichen  Mängeln  säen 

und  ernten 

Philosophisch  gesinnt  sein  . 
Im  Feuer  der  Verachtung  . 


392 

393 
393 
394 
395 

395 
396 
396 

397 
397 
398 


Aufopferung 398 

Liebe  als  Kunstgriff  ....  398 
Zu  gut  und  zu  schlechN  von  der 

Welt  denken 399 

Tiefe   Menschen 399 

Verkehr  mit  dem  höheren  Selbst  400 
Einsame   Menschen     ....  400 

Ohne  Melodie 401 

Leben  und  Erleben    ....  402 

Ernst   im  Spiele 402 

Von  der  Überzeugung  und  der 

Gerechtigkeit 403 

Der  Wanderer 413 


Nachbericht. 


Wer  das  allmähliche  Erscheinen  von  Nietzsche's  Schriften  miterlebt 
hat,  wird  sich  entsinnen,  welches  Befremden  1878  Menschliches,  Allzu- 
menschliches erregte.  Man  wollte  Nietzsche  kaum  wiedererkennen,  man 
sah  in  diesem  Buch  einen  Bruch  mit  Nietzsche's  eigner  Vergangenheit. 
Gleichwohl  hängt  dies  Buch  mit  den  vorhergehenden  zusammen,  es  wächst 
aus  ihnen,  ja  in  ihm  leben  die  Rudimente  einer  schon  1873  mitgeplanten 
Unzeitgemässen  Betrachtung  fort,  dsren  Titel  „Der  Weg  zur  Freiheit", 
später  „Der  Freigeist"  lautete  (siehe  Bd.  X,  S.  475,  477). 

Mit  dieser  Betrachtung  sollte  nach  Nietzsche's  ursprünglicher  Absicht 
der  auf  mindestens  13  Nummern  angelegte  Cyklus  der  Unzeitgemässen  ge- 
krönt werden.  Nietzsche's  Entwicklung  lief  aber  rascher,  als  die  Zeit, 
welche  er  bei  seinem  mühevollen  Amt  und  seiner  wechselnden  Gesundheit 
für  die  Ausarbeitung  der  ganzen  Reihe  erübrigen  konnte:  er  gedachte  jähr- 
lich zwei  solcher  Betrachtungen  zu  fertigen,  der  Cyklus  würde  ihn  demnach 
bis  1879  in  Anspruch  genommen  haben.  Thatsächlich  sind  auch  die  ersten 
drei  Unzeitgemässen  in  ungefähr  halbjährigen  Fristen  geschrieben;  aber 
über  der  Ausarbeitung  vertieften  und  weiteten  sich  die  Themen  mehr,  als 
von  Anfang  an  abzusehen  war  (schon  die  dritte  erfuhr  im  Lauf  der  Nieder- 
schrift wichtige  Umge-iaitungen),  sodass  die  als  vierte  geplante  „Wir  Philo- 
logen" iheils  wegen  ihres  reichen  und  schwer  zu  bewältigenden  Materials, 
theils  aus  äusseren  Gründen  (s.  die  Anmerkung  zu  S.  309  des  i.  Bandes 
der  Ges.  Briefe  Nietzsche's,  3.  Aufl.)  nicht  zu  Stande  kam  und  die  jetzige 
vierte  (Rieh.  Wagner  in  Bayreuth)  aus  ähnlichen  und  anderen  Gründen 
gleichfalls  beinahe  ohne  Abschluss  geblieben  wäre,  wenn  nicht  Aufmunte- 
rung und  Anlässe  von  Aussen  diesen  doch  noch  herbeigeführt  hätten. 

Im  Frühjahr  1876  notirt  sich  N.  abermals  zwei  Titel -Verzeichnisse 
der   noch   zu   schreibenden   Unzeitgemässen   (gedruckt   in    Bd.  X,   S.  477). 


—     432     — 

überschaut  man  dieselben,  so  erkennt  man  in  ihnen  zum  Theil  die  Auf- 
schriften der  neun  Hauptstücke  von  Menschliches,  Alizumenschliches  wieder, 
zum  Theil  auch  Capitelüberschriften  aus  dem  Aphorismenheft  „Die  Pflug- 
schar" (Bd.  XI,  S.  396).  Der  Inhalt  dieses  Heftes  („Die  Pflugschar")  ist 
mir  von  Nietzsche  vor  und  nach  seiner  Rückkehr  von  den  ersten  Bay- 
reuther Nibelungen-Aufführungen,  im  Juni,  Juli  und  September  1876  dictirt 
worden.  Die  dort  erlebte  Erschütterung  seines  Glaubens  an  Wagner's 
Ideal,  welcher  eine  ähnliche  Erschütterung  bereits  im  Januar  1874  voraus- 
gegangen war  (s.  Bd.  X,  S.  5 18  f.),  hatte  ihn  zu  einer  umfassenden  Neu- 
prüfting  seiner  Gedanken  über  alle  menschlichen  Dinge  gedrängt.  Und  so 
kam  während  des  nun  folgenden  Urlaubsjahres  in  Sorrent  und  in  den  Alpen 
jene  umfangreiche  Sammlung  fragmentarischer  Aufzeichnungen  zu  Stande, 
welche  den  ganzen  Kreis  von  Nietzsche's  nunmehr  antiromantischem  und 
übernationalem  Denken  umschreibt.  Alle  Themen  der  noch  geplanten  Un- 
zeitgemässen  klingen  darin  auf  Einmal  an,  in  einer  Sprache,  die  man  an 
Nietzsche  nicht  gewohnt  war,  die  aber  als  Vorstufe  seines  späteren  Stiles 
nicht  wegzudenken  ist. 

Genauere  und  ausführliche  Angaben  über  die  ersten  Notizbücher,  Hefte, 
Pläne  und  sonstigen  Niederschriften  zu  Menschliches,  AUzumenschüches 
(„Sorrentiner  Papiere"  u.  s.  w.)  enthält  der  Nachbericht  zum  XL  Band 
der  Gesammtausgabe,  welcher  Band  eine  Fülle  bedeutender  Nachträge  zu 
M.  A.  I  und  II  bringt.  Ueber  die  innere  Geschichte  der  Wandlung 
Nietzsche's  um  das  Jahr  1876  wolle  man  „Das  Leben  Friedr.  N.'s"  von 
Elisabeth  Förster-Nietzsche  II.  Band  S.   245 — 315  nachlesen. 

Als  Nietzsche  am  31.  August  1877  von  seinem  einjährigen  Urlaub 
nach  Basel  zurückgekehrt  war,  übernahm  ich  sofort  die  Abschrift  der  in 
den  mitgebrachten  Manuscripten  kenntlich  gemachten  Aphorismen  und  Sen- 
tenzen. Hierauf  begann  eine  mehrere  Wochen  dauernde  gemeinsame  Re- 
vision des  Textes  und  die  Betitelung  der  Aphorismen,  Die  endgültige 
Einreihung  der  Stücke  unter  neun  Capitel-Überschriften  erfolgte  gegen  Mitte 
Januar  1878.  Am  28.  Januar  ging  das  Manuscript  an  Nietzsche's  damaligen 
Verleger  Ernst  Schmeitzner  in  Schloss-Chemnitz  ab.  Das  Titelblatt  der 
ersten  Ausgabe  trug  folgenden  Zusatz 

„Dem  Andenken  Voltaire's 

geweiht 

zur  Gedächtniss-Feier  seines  Todestages, 

des  30.  Mai   1778." 

Auf  der  Rückseite  des  Titelblattes  war  mit  kleinen  Lettern  gedruckt: 

„Dieses  monologische  Buch,  welches  in  Sorrent  während  eines  Winter- 
aufenthaltes (1876  auf  1877)  entstand,  würde  jetzt  der  Öffentlichkeit 
nicht   übergeben    werden,    wenn    nicht  die  Nähe  des  30.  Mai   1878  den 


—     433     — 

"Wunsch  allzu  lebhaft  erregt  hätte,  einem  der  grSssten  Befreier  des  Geistes 
xar  rechten  Stunde  eine  persönliche  Huldigung  darzubringen." 

Im  Buche  selbst  kommt  Voltaire  nur  in  Aph.  221,  240,  438  und  463 
vor.  Ein  (dem  gegenwärtigen  Band  in  Facsimile  beigefügter)  als  Epilog 
des  Buches  gedachter  Aphorismus,  der  nochmals  an  Voltaire's  Sterbetag 
anknüpft,  wurd«  von  Nietzsche  beiseite  gelegt.  Sodann  war  hinter  dem 
Titelblatt  der  ersten  Ausgabe  folgende  Seite  aus  Descartes'  Meditattones 
de  prima  philosophia  eingeschaltet: 

„An  Stelle  einer  Vorrede. 

„ —  eine  Zeit  lang  erwog  ich  die  verschiedenen  Beschäftigungen,  denen 
^sich  die  Menschen  in  diesem  Leben  überlassen,  und  machte  den  Ver- 
„such,  die  beste  von  ihnen  auszuwählen.  Aber  es  thut  nicht  noth,  hier 
„zu  erzählen,  auf  was  für  Gedanken  ich  dabei  kam:  genug,  dass  für  meinen 
„Tbeil  mir  nichts  besser  erschien,  als  wenn  ich  streng  bei  meinem  Vor- 
nhaben verbliebe,  das  heisst:  wenn  ich  die  ganze  Frist  des  Lebens  dar- 
„auf  verwendete,  meine  Vernunft  auszubilden  und  den  Spuren  der  Wahr- 
„heit  in  der  Art  und  Weise,  welche  ich  mir  vorgesetzt  hatte,  nachzugehen. 
„Denn  die  Früchte,  welche  ich  auf  diesem  Wege  schon  gekostet  hatte, 
„waren  derart,  dass  nach  meinem  Urtheile  in  diesem  Leben  nichts  An- 
ngenehmeres, nichts  UnschuliHgeres  gefunden  werden  kann;  zudem  Hess 
„mich  jeder  Tag,  seit  ich  jene  Art  der  Betrachtung  zu  Hülfe  nahm,  etwas 
„Neues  entdecken,  das  immer  von  einigem  Gewichte  und  durchaus  nicht 
„allgemein  bekannt  war.  Da  wurde  endlich  meine  Seele  so  voll  von 
„Freudigkeit,  dass  alle  übrigen  Dinge  ihr  nichts  mehr  anthun  konnten. 
Aus  dem  Lateinischen  des  Cartesius." 

Diese  herrliche  Stelle,  wie  auch  die  "Widmung  zu  Voltaire's  Gedächtniss 
und  der  Vorvermerk,  fiel  weg,  als  Nietzsche  im  Jahre  1886  eine  neue 
Ausgabe  des  Buches  bei  E.  W.  Fritzsch  in  Leipzig  veranstaltete  und  sie 
mit  der  jetzigen,  psychologisch  so  wichtigen  Vorrede  und  dem  Schluss- 
gedicht „Unter  Freunden"  bereicherte. 

Der  gegenwärtige  Druck  (10. — 12.  Tausend)  giebt  den  Text  in  der 
Fassung  wieder,  wie  ihn  die  Urausgabe  enthielt.  Zwar  existiren  zwei 
Handexemplare  mit  vielerlei  Bleistift- Eintragungen  Nietzsche's,  von  der 
Aufnahme  dieser  Änderungen  hat  man  jedoch  abgesehen  und  dafür  im 
Folgenden  ein  Verzeichniss  derselben  aufgestellt.  Maassgebend  für  dies  Ver- 
fahren waren  folgende  Gesichtspunkte. 

Die  Änderungen  in  beiden  Handexemplaren  gehören  verschiedenen 
Zeiten  und  Entwicklungsstadien  Nietzsche's  an,  sie  sind  zum  Theil  beim 
absichtslosen  Wiederlesen,  zum  Theil  aber  auch  im  Hinblick  auf  eine  radi- 
kale "Umgestaltung  des  Buches  vorgenommen.  An  eine  solche  Umgestaltung 
Nietische,  Werke  Band  II.  28 


—     434     — 

dachte  Nietzsche  vorübergehend  z.  B.  im  Herbst  1885,  als  er  das  damals 
schon  fertig  vorliegende  „Jenseits  von  Gut  und  Böse"  (welches,  wiederum 
verändert,  erst  1886  gedruckt  wurde)  mit  dem  Inhalte  des  „Menschlichen" 
verquicken  und  als  Ein  Buch  herausgeben  wollte.  Noch  im  jetzt  vorliegen- 
den „Jenseits"  behandeln  die  ersten  Aphorismen  dieselben  Themen  wie  die 
ersten  Aphorismen  des  „Menschlichen".  Der  Aphorismus  2  des  „Jenseits" 
z.  B.  (mit  der  Frage:  „wie  könnte  etwas  aus  seinem  Gegensatz  entstehen?") 
weist  ganz  auf  den  Aphorismus  i  des  „Menschlichen"  und  ist  sicher  das 
Ergebniss  erneuter  Befassung  mit  den  Problemen  des  „Menschlichen",  wie 
andrerseits  die  unten  S.  432  f.)  unter  C  abgedruckten  Umarbeitungen  der 
ersten  drei  Aphorismen  von  „Menschliches"  für  das  im  erwähnten  Sinne 
geplante  „Jenseits"  bestimmt  waren. 

Unmöglich  aber  konnte  Nietzsche  bei  diesem  Vorhaben  verweilen; 
die  Menge  neu  zuströmender  Gedanken  war  zu  gross,  als  dass  er  sich  mit 
der  Umformung  eines  älteren  Werkes  hätte  lange  aufhalten  dürfen.  Und 
so  Hess  er  das  Angefangene  liegen,  wissend  dass  sein  Werk,  auch  wenn 
es  seinem  eigenen  litterarischen  Geschmack  hie  und  da  nicht  mehr  genügen 
mochte,  doch  als  Dokument  einer  entscheidenden  Epoche  seines  Denker- 
lebens auch  in  seiner  ersten  Gestalt  von  bleibendem  Werth  sein  werde. 

Demgemäss,  und  weil  die  Grenze  zwischen  den  etwa  aufzunehmenden 
und  den  nicht  aufzunehmenden  Änderungen  Nietzsche's  unmöglich  zu  ziehen 
war,  hat  man  das  Werk  von  den  Änderungen  getrennt  gehalten. 

Weimar,  September   1905. 

Peter  Gast 


Lesarten -Verzeichniss. 

(Seiten  und  Zeilen  sind  nach  der  vorliegenden  Ausgabe  angegeben. 
Cursivdruck  bezeichnet  die  neu  eingesetzten  oder  unterstrichenen 
Wörter, die  Streichungen,  [  ]  die  Zusätze  des  Herausgebers.) 

'   A. 

Textänderungen  Nietzsche's 
in  einem  Exemplar  der  ersten  Ausgabe  von   1878. 

S.   18  f.: 

2. 

Erbfehler  der  Philosophen.  —  Alle  Philosophen  haben  den 
gemeinsamen  Fehler  an  sich,  dass  sie  vom  gegenwärtigen  Menschen 
ausgehen  und  durch  eine  Prüfung  und  Zerlegung  desselben  an's  Ziel 
aller  Menschenkenntniss  zu  kommen  meinen.  Unwillkürlich  schwebt 
ihnen    „der  Mensch"    als   eine   aeterna  veritas,    als  ein  Gleichbleibendes 


—     435     — 

in  allem  Strudel  des  Werdens,  als  ein  sichres  Maass  der  Dinge  vor. 
Zuletzt  ist  aber  Alles,  was  der  Philosoph  über  „den  Menschen"  aussagt, 
.  .  im  Grunde  nicht  mehr,  als  ein  Zeugniss  über  den  Menschen  eines  .  . 
beschränkten  Zeitraums  —  und  vielleicht  eines  noch  beschränkteren 
Erd'lVinkels?  Mangel  an  historischem  Sinn  war  bisher  .  .  der  Erb- 
fehler aller  Philosophen;  auch  heute  noch  nehmen  sie  unversehens  die 
allerjüngste  Gestaltung  des  europäischen  Menschen,  wie  eine  solche  unter 
dem  Eindruck  und  Druck  ....  bestimmter  politischer  und  wirthschaft- 
licher  Ereignisse  entstanden  ist  und  entsteht,  als  die  feste  Form,  von 
der  man  ausgehen  müsse  .  .  .  ,;  während  ....  alles  Wesentliche 
der  menschlichen  Entwicklung  in  Urzeiten  vor  sich  gegangen  ist,  lange 
vor  jenen  4000  Jahren,  die  wir  ungefähr  kennen;  in  diesen  mag  sich 
der  Mensch  nicht  wesentlich  mehr  verändert  haben.  Umgekehrt  urtheilt 
der  Philosoph:  er  nimmt  „Instincte"  am  gegenwärtigen  Menschen  wahr 
und  nimmt  sofort  an,  dass  alles  Instinctive  zu  den  unveränderlichen 
Thatsachen  des  Menschen  gehöre  und  insofern  einen  Schlüssel  zum  Ver- 
ständniss  des  Daseins  überhaupt  abgeben  müsse:  die  ganze  Teleologie 
ist  darauf  gebaut,  dass  man  vom  Menschen  der  letzten  vier  Jahrtausende 
als  von  einem  ewigen  redet,  zu  welchem  hin  alle  Dinge  in  der  Welt 
von  ihrem  Anbeginne  eine  natürliche  Richtung  haben.  Aber  Alles  ist 
geworden;  es  giebt  gar  keine  ewisen  Thatsachen:  weshalb  es  auch 
keine  ewigen  Wahrheiten  giebt.  —  Demnach  ist  Geschichte  für  den 
Philosophen  von  jetzt  ab  nöthig  und  mit  der  Geschichte  die  Tugend  des 
Historikers:  Pescheidenheit. 

S.   20  Z.  5  v.  u. :  jener  Ernst  im  Symbolischen 

S,  21    Z.   5  v.  o.:  der  geistreiche  innige  Blick 

S.  21  Z.  10  f.  V.  c:  des  religiösen,  moralischen,  .  .  aesthelischen  und  l^ 
gischen  Empfindens 

S.  31  f.: 

16. 

Erscheinung  und  Ding  an  sich.  —  Die  Philosophen  pflegen 
sich  vor  das  Leben  und  die  Erfahrung  —  vor  das,  was  sie  die  Welt 
der  Erscheinung  nennen  —  wie  vor  ein  Gemälde  hinzustellen,  das  Ein 
für  alle  Mal  entrollt  ist  und  unveränderlich  fest  denselben  Vorgang  zeigt: 
diesen  Vorgang,  meinen  sie,  müsse  man  richtig  ausdeuten,  um  damit 
einen  Schluss  auf  das  AVesen  zu  machen,  welches  das  Gemälde  hervor- 
gebracht habe:  aus  jener  Wirkung  also  auf  diese  Ursache^  auf  das 
Unbedingte,  das  immer  als  der  zureichende  Grund  der  Welt  der  Er- 
scheinung angesehen  zu  werden  pflegt.  Dagegen  muss  man,  [indem  man] 
den  Begriff  des  Metaphysischen  scharf  als  den  des  Unbedingten,  y«/^- 
lich  auch  Unbedingenden  hinstellt,  umgekehrt  gerade  jeden  Zu- 
sammenhang zwischen  dem  Unbedingten  (der  metaphysischen  Welt)  und 

28* 


—     436     — 

der  uns  bekannten  "Welt  in  Abrede  stellm:  so  dass  in  der  Erscheinung 
eben  durchaus  nicht  das  Ding  an  sich  erscheint,  und  von  jener  auf 
dieses  jeder  Schluss  abzulehnen  \ist\.  Von  der  ersten  Seite  wird  der 
Thatbesta7id  ignorirt,  dass  jenes  Gemälde  —  das,  was  jetzt  uns  Menschen 
Leben  und  Erfahrung  heisst  —  allmählich  geworden  ist,  ja  noch  völlig 
im  Werden  ist  und  deshalb  nicht  als  feste  Grösse  betrachtet  werden 
sollte,  von  welcher  aus  man  einen  Schluss  über  den  Urheber  (den  zu- 
reichenden Grund)  machen  oder  auch  nur  ablehnen  dürfte.  Dadurch,  dass 
wir  seit  Jahrtausenden  mit  moralischen,  aesthetischen,  religiösen  An- 
sprüchen, mit  blinder  Neigung,  Leidenschaft  oder  Furcht  in  die  "Welt 
geblickt  und  uns  in  den  Unarten  des  unlogischen  Denkens  recht  aus- 
geschwelgt haben,  ist  diese  Welt  allmählich  so  wundersam  bunt,  schreck- 
lich, bedeutungstief,  seelenvoll  geworden,  sie  hat  Farbe  bekommen,  — 
aber  wir  sind  die  Coloristen  gewesen:  der  menschliche  Intellect,  auf 
Grund  der  Tnenschlichen  Bedürfnisse ,  der  menschlichen  Affecte,  hat 
diese  „Erscheinung"  erscheinen  lassen  und  seine  irrthümlichen  Grund- 
auffassungen   in   die  Dinge  hineingetragen.     [Zweite  Hälfte  unverändert.] 

S.  34  Z.  14  V.  o. :  Gefühl  der  Unverantwortlichkeit,  der  persönlichen  Ent- 
lastung  herbeiführen, 

S.  50  Z.  2  V.  u. :  ist  ihnen  .  .  höchstens  als  ein  schwacher  Schatten  be- 
merkbar. 

S.  51  f.:  [Im  Aphorismus  34  sind  folgende  Theile  eingeklammert:  S.  51 
Z.  7  V.  u.  „Wird"  bis  Z.  6  v.  u.  „feindlich?".  Z.  3  v.  u.  „oder,"  bis 
Z.  2  V.  u.  „sei?"  Z.  2  V.  u.  „Denn"  bis  S.  52  Z.  8  v.  o.  „bestimmen)." 
Z.   I2f.  „  ,  wie  der  Ehre,".] 

S.   52  Z.  9  V.  o.:  tief  in  die   Unwahrkeit  eingesenkt; 

S.  52  Z.  16  und  15  V.  u.:  eine  Philosophie  der  Auflösung,  Auseinander' 
lösung.  Selbst -Vernichtung  nach  sich  zöge? 

S.  57f.: 

35. 
Von  der  moralistischen  Oberflächlichkeit  in  Deutsch- 
land. —  Dass  das  Nachdenket  über  Menschliches,  Allzumenschliches 
,  .  .zu  den  Mitteln  gehöre,  vermöge  deren  man  sich  die  Last  des 
Lebens  erleichtern  könne,  dass  die  Übimg  in  dieser  Kunst  Geistesgegen- 
wart in  schwierigen  Lagen  und  Unterhaltung  inmitten  einer  langweiligen 
Umgebung  verleihe,  ja  dass  man  den  dornenvollsten  und  unerfreulichsten 
Strichen  des  eigenen  Lebens  Sentenzen  abpflücken  und  sich  dabei  ein 
wenig  wohler  fühlen  könne:  das  glaubte  man,  wusste  man  —  in  früheren 
Jahrhunderten.  Warum  vergass  es  dieses  Jahrhundert,  wo  wenigstens  in 
Deutschland  ....  die  moralistische  Armseligkeit  durch  viele  Zeichen 
sich  zu  erkennen  giebt?  Ja,  man  möchte  zweifeln,  ob  Deutschland  über- 
haupt  bisher  schon   „moralisirt"'    hat Man  gebe   Acht  auf  die 


—     437     — 

Beiirtheilung  öffentlicher  Ereignisse  und  Persönlichkeiten:  man  erwäge 
den  Erfolg,  welchen  lächerlich-enge,  altjiingfernhafte  Bücher  (zum 
Beispiel  Vilmar's  Litteraturgeschichte  ocUr  Janssen  [haben,]  vor  Allem 
aber  gestehe  man  sich  ein,  wie  die  Kunst  und  auch  die  Lust  der  psy- 
chologischen Zergliederung  und  Zusamraeurechnung  in  der  Gesellschaft 
aller  deutschen  Stände  fehlt,  in  der  man  wohl  viel  über  Menschen, 
aber  gar  nicht  über  den  Menschen  spricht.  Warum  doch  lässt  man 
sich  den  reichsten  und  harmlosesten  Stoff  der  Unterhaltung  entgehen? 
Warum  liest  man  nicht  einmal  die  grossen  Meister  der  psychologischen 
Sentenz  mehr?  —  denn,  ohne  jede  Übertreibung  gesprochen:  der  Ge- 
bildete in  Deutschland,  der  Larochefoucauld  und  seine  Geistes-  und  Kunst- 
verwandten bis  hin  zum  letzten  grossen  Moralisten  Stendhal  gelesen 
hat,  ist  selten  zu  finden;  und  noch  viel  seltener  der,  welcher  sie  kennt 
und  sie  nicht  schmäht.  Wahrscheinlich  wird  aber  auch  dieser  ungewöhn- 
liche Leser  viel  weniger  Freude  an  ihnen  haben,  als  die  Form  jener 
Künstler  ihm  geben  sollte;  denn  selbst  der  feinste  Kopf  ist  nicht  ver- 
mögend, die  Kunst  der  Sentenzen-Schleiferei  gebührend  zu  würdigen, 
wenn  er  nicht  selber  zu  ihr  erzogen  ist,  in  ihr  gewetteifert  hat  —  gleich 
mir:  man  vergebe  mir  den  Anspruch,  unter  Deutschen  eine  Ausnahme 
tu  sein.  Man  nimmt,  ohne  solche  praktische  Belehrung,  dieses  Schaffen 
und  Formen  für  leichter  als  es  ist,  man  fühlt  das  Gelungene  und  Reiz- 
volle nicht  scharf  genug  heraus.  Deshalb  haben  die  deutschen  Leser 
von  Sentenzen  ein  verhältnissmässig  unbedeutendes  Vergnügen  an  ihnen, 
ja  kaum  einen  Mund  voll  Annehmlichkeit,  so  dass  es  ihnen  ebenso  geht 
wie  den  gewöhnlichen  Betrachtern  von  Kameen:  als  welche  loben,  weil 
sie  nicht  lieben  können,  und  schnell  bereit  sind  zu  bewundem,  schneller 
aber  noch,  fortzulaufen. 

S.  59   unten   ist  als  Schluss  des  Aphorismus  36  angefügt  (vgl.  S.  61    Z.  4 
bis  15  V.  0.): 

Zuletzt  ist  auch  das  noch  wahr:  zahllose  einzelne  Bemerkungen  über 
Menschliches  und  Allzumenschiiches  sind  in  Kreisen  der  Gesellschaft  zu- 
erst entdeckt  und  ausgesprochen  worden,  welche  gewohnt  waren,  nicht 
der  wissenschaftlichen  Erkenntniss,  sondern  einer  geistreichen  Gefallsucht 
jede  Art  von  Opfern  darzubringen;  und  fast  unlösbar  hat  sich  der  Duft 
jener  alten  Heimat  der  moralistischen  Sentenz  —  ein  sehr  verführerischer 
Duft  —  der  ganzen  Gattung  angehängt:  so  dass  seinetwegen  der  wissen- 
schaftliche Mensch  unwillkürlich  einiges  Misstrauen  gegen  diese  Gattung 
und  ihre  Ernsthaftigkeit  merken  lässt. 

S.  60  f. 

37- 
Trotzdem.  —  Wie  es  sich  nun  mit  Rechnung  und  Gegenrechnung 
verhalte:    in    dem    gegenwärtigen  Zustande    der  Philosophie   ist  die  Auf- 


-     438     _ 

erweckung  der  tnoralistischen  Beobachtung  nöthig  .  .,  und  der  grausame 
Anblick  des  psychologischen  Secirtisches  und  seiner  Messer  und  Zangen 
kann  der  Menschheit  nicht  erspart  bleiben Z)ie  ältere  Philo- 
sophie ....  ist  der  Untersuchung  von  Ursprung  und  Geschichte  der 
vtenschlichen  Werthschätzungen  unter  dürftigen  Ausflüchten  immer  aus 
dem  Wege  gegangen.  Mit  welchen  Folgen:  das  lässt  sich  jetzt  sehr 
deutlich  überschauen,  nachdem  an  vielen  Beispielen  nachgewiesen  ist,  wie 
die  Irrthümer  der  grössten  Philosophen  gewöhnlich  ihren  Ausgangspunkt 
in  einer  falschen  Erklärung  bestimmter  menschlicher  Handlungen  und 
Empfindungen  haben,  wie  auf  Grund  einer  irrthümlichen  Analysis,  zum 
Beispiel  der  sogenannten  unegoistischen  Handlungen,  eine  falsche  Ethik 
sich  aufbaut,  dieser  zu  Gefallen  dann  wiedenmi  Religion  und  mytho- 
logisches Unwesen  zu  Hülfe  genommen  werden,  und  endlich  die  Schatten 
dieser  trüben  Geister  auch  in  die  Physik  und  die  gesammte  Weltbetrach- 
tung hineinfallen.  Steht  es  aber  fest,  dass  die  moralistische  Oberflächlich- 
keit dem  menschlichen  Urtheilen  und  Schliessen  bisher  die  gefahrlichsten 
Fallstricke  gelegt  hat  vmd  fortwährend  von  Neuem  legt,  so  bedarf  es 
jetzt  jener  Ausdauer  der  Arbeit,  welche  nicht  müde  wird.  Steine  auf 
Steine,  Steinchen  auf  Steinchen  zu  häufen,  so  bedarf  es  der  enthaltsamen 
Tapferkeit,  um  sich  einer  solchen  bescheidenen  Arbeit  nicht  zu  schämen 
und  jeder  Missachtung  derselben  Trotz  zu  bieten.  .  .  . 

[Am  rechten  Rande  steht  hier  Allmählich  hat  sich  mir  —  Diese 
vier  Worte  sind  der  Anfang  des  Aphor.  6  in  „Jenseits  v.  G.  u.  B.", 
woraus  zu  entnehmen  ist,  dass  die  von  Nietzsche  gemachten  Änderungen 
und  Ein  klammer  ungen  (s.  zu  S.  62  u.  63)  sich  wahrscheinlich  auf  die 
S.  424  erwähnte  Verquickung  des  Inhalts  von  „Menschl.,  Allzum."  und 
„Jenseits"  zu  einem  neuen  Buche,  beziehen.] 

S.  62  f.:  Aphorismus  38  ist  vom  zweiten  Satze  an  eingeklammert  und 
durchgestrichen.  Der  erste  Satz  sollte  anscheinend  (mit  der  Variante 
„nicht  fnehr  enlrathen  kann"  am  Schlüsse)  an  den  Anfang  des  vorher- 
gehenden Aphorismus  gestellt  werden,  ist  dann  aber  auch  gestrichen.] 

S.  63  Z.  12  V.  o.:  der  nützlichen  oder  schädlichen  Folgen  wegen,  welche 
sie  für  die  Gemeinde,  haben.  [Dieser  Zusatz  ist,  anscheinend  nachträg- 
lich, eingeklammert.] 

S.  63  Z,  14  f.  V.  u.:  —  also  dadurch,  dass  man,  was  Folge  ist,  als  Ur- 
sache fasst. 

S.  64  Z.  6  f.  V.  o.:  dass  die  Geschichte  der  moralischen  Werthschätzungen 
zugleich  die  Geschichte  eines  Irrthums, 

S.  64  Z.  14 — 18  V.  o.;  —  wie  es  doch  auch  nach  der  Meinung  dieses 
Philosophen  verläuft  —  sondern  der  Mensch  selber  mit  derselben  Noth- 
wendigkeit  gerade  dieser  Mensch  wäre,  der  er  ist  —  was  Schopenhauer 
leugnet. 


—     439     — 

S.  64  Z.  2  V.  u.  bis  S.  65  Z.  10  V.  o. :  Hier  wird,  abgesehen  von  der 
eigffitlichen  Tollheit  der  letztgegebenen  Behauptung,  der  Fehlschluss  ge- 
macht, dass  aus  der  Thatsache  des  Unmuthes  schon  die  Berechtigung, 
die  vernünftige  Zulässigkeit  dieses  Unmuthes  geschlossen  wird;  erst 
von  jenem  Fehlschluss  aus  kommt  Schopenhauer  zu  seiner  phantastischen 
Consequenz  der  sogenanuten  intelligiblen  Freiheit.  (An  der  Entstehung 
dieses  Fabelwesens  sind  Plato  und  Kant  zu  gleichen  Theilen  mitschuldig.) 
Aber  der  ünmuth  nach  der  That  braucht  noch  gar  nicht  vernünftig  zu 
sein:  ja  er  ist  es  gewiss  nicht,  denn  er  ruht  auf  der  irrthümlichen  Vor- 
aussetzung, dass  die  That  eben  nicht  nothwendig  hätte  erfolgen  müssen. 
Also:  nur  weil  sich  der  Mensch  für  frei  hält,  nicht  aber  weil  er  frei 
ist,  empfindet  er  Reue  und  Gewissensbisse.  — 

[Der  Schluss  des  Aphorismus  von  „Aber  der  Unmuth"  (S.  65  Z.  4) 
an  ist  eingeklammert.] 

S.  66  Z.  3  V.  o.:  als  eines  A'bcrÄ-Nicht-Menschen ,  [der  Schluss  des  Apho- 
rismus von  „woraus"  (S.  66  Z.  2)  an  ist  eingeklammert.] 

S.  66  Z.    10  v.  o. :  die  einwirkenden  netten  Motive 

S.  67  Z.  6  f.  V.  o.:  wird  nicht  nach  moralischen  Gesichtspunkten  auf- 
und  umgestellt; 

S.  96:  [Die  Nummer  des  Aphorismus  95  ist  eingeklammert.] 

S.  97: 

96. 

Sitte  und  sittlich.  —  Moralisch,  sittlich,  tugendhaft  sein  heisst 
Gehorsam  gegen  ein  altbegründetes  Gesetz  und  Herkommen  üben.  Ob 
man  mit  Mühe  oder  gern  sich  ihm  unterwirft,  ist  dabei  lange  Zeit  gleich- 
gültig, genug  dass  man  es  thut.  „Gut"  nennt  man  endlich  den,  welcher 
wie  von  Natur,  nach  langer  Vererbung,  also  leicht  und  gern  das  Sitt- 
liche thut,  je  nachdem  dies  ist  (zum  Beispiel  Rache  übt,  wenn  Rache- 
üben, wie  bei  den  älteren  Griechen,  zur  guten  Sitte  gehört).  Er  wird 
gut  genannt,  weil  et  „wozu"  gut  ist;  da  aber  Wohlwollen,  Mitleiden, 
Rücksicht,  Mässigung  und  dergleichen  in  dem  Wechsel  der  Sitten  zu- 
letzt immer  als  „gut  wo^u",  als  nützlich  empfunden  wurde,  so  nennt 
man  später  vornehmlich  den  Wohlwollenden ,  Hülfreichen  „gut"  — 
anfänglich  standen  andere  und  wichtigere  Arten  des  Nützlichen  in  [oder 
im  —  von  Nietzsche  nicht  beendet].  Böse  ist  „nicht  sittlich"  (un- 
sittlich) sein,  Unsitte  üben,  dem  Herkommen  widerstieben,  wie  ver- 
nünftig oder  dumm  dasselbe  auch  sei;  das  Schädigen  der  Gemeinde  (und 
des  in  ihr  begriffenen  „Nächsten'y  ist  aber  in  allen  den  Sittengesetzen 
der  verschiedenen  Zeiten  vornehmlich  als  die  eigentliche  „Unsitte" 
empfunden  worden,  so  dass  wir  jetzt  .  .  bei  dem  Wort  „böse"  zuerst 
an  die  freiwillij^e  Schädigung  des  Nächsten  und  deit  Gemeinschaf t  denken. 
Nicht  das    „Egoistische"    und    das  „Unegoistische''  ist  der  Grundgegen- 


—     44^     — 

satz,  welcher  die  Menschen  zur  Unterscheidung  von  Sittlich  und  Un- 
sittlich, Gut  und  Böse  gebracht  hat,  sondern:  Gebundensein  an  ein 
Herkommen,  Gesetz,  und  Lösung  davon.  Wie  das  Herkommen 
entstanden  ist,  das  ist  dabei  gleichgültig,  jedenfalls  ohne  Rücksicht 
auf  Gut  und  Böse  oder  irgend  einen  immanenten  kategorischen  Imperativ, 
sondern  vor  Allem  zum  Zweck  der  Erhaltung  einer  Gemeinde,  einer 
Geschlechtsgenossenschaft,  eines  Volkes; 

[Der   Schluss    ist    unverändert.     Der    zweite    Satz    des    Aphorismus, 
Ton  „„Gut"  bis  „gehört)."  ist  eingeklammert.] 

S.  IOC  f.:  [Der  Aphorismus  99  ist  theilweise  eingeklammert:  zunächst  vom 
Titel  bis  zum  Gedankenstrich  S.  100  Z.  i  v.  u.,  sodann  von  diesem 
Gedankenstrich    an   bis    zum  "Worte    „unschuldig."     S.   lOl   Z.   10  v.  0.] 

S.   loi   Z.   13  V.  u.r  wenn  ein  stärkeres  Individuum 

S.   103  Z.   17  und   16  V.  u.:    zu  glauben  gewohnt  \isi\,    so  empfindet  man 

S.  103  f.:  [Der  Schluss  des  Aphorismus  loi  ist  von  „Der  Egoismus" 
S.   103  Z.   2  V.  u.  an  eingeklammert.] 

S.   104:  [Die  Nummer  des  Aphorismus   io2  ist  eingeklammert.] 

S.  107:  [Der  Schluss  des  Aphorismus  104  ist  von  „Ohne  Lust"  an  ein- 
geklammert.] 

S.    116  Z.  6  V.  o. :  die  falschen  Behauptungen  der  homines  religiosi, 

S.  116  Z.  10  und  9  V.  u. :  dass  der  Mensch  sich  an  der  erkannten  Wahr- 
heit,  richtiger:  am  durchschauten  Irrthum  verblute. 

S.  120  Z.  12  V.  u. :  dass  der  consensus  gentium  nur  einer  Narrheit  gelten 
kann. 

S.  121  Z.  2  V.  u.  bis  S.  122  Z.  9  V.  o. :  Wir  jetzigen  Menschen  emp- 
finden gerade  .  .  umgekehrt:  je  reicher  jetzt  der  Mensch  sich  innerlich 
fühlt,  je  polyphoner  die  Musik  und  der  Lärm  seiner  Seele  ist,  um  so 
gewaltiger  wirkt  auf  ihn  das  Gleichmaass  der  Natur;  wir  Alle  erkennen 
mit  Goethe  in  der  Natur  das  grosse  Mittel  der  Beschwichtigimg  für  die 
moderne  Seele,  wir  hören  den  Pendelscblag  dieser  grössten  Uhr  mit  einer 
Sehnsucht  nach  Ruhe,  nach  Heimisch-  und  Stillewerden  an,  als  ob  wir 
dieses  Gleichmaass  in  uns  hineintrinken  und  dadurch  erst  zum  Genuss 
unser  selbst  .  .  kommen  könnten. 

S.  126  Z.  15 — 12  V.  u. :  ein  aus  einer  sehr  fernen  Vorzeit  hereinragendes 
Alterthum,  und  dass  man  ihrer  Behauptung  überhaupt  yioch  glaubt  — 
während  man  sonst  so  streng  in  der  Prüfung  von  Ansprüchen  geworden 
ist  — , 

S.  136  Z.  6  und  5  v.  u.:  welches  allein  jener  Handlungen  fÄhig  sein  soll, 
die  unegoistisch  genannt  werden, 

S.  137  Z.  5  und  4  v.  u. :  (welche  ihren  Grund  doch  immer  in  einem  per- 
sönlichen BedürfnftS  haben  mussj? 

S.   137  Z.  2  und   I  V.  u.:   wie  ein  solcher  gelegentlich  angenommen  wird, 


—     441      — 

S.    138  Z.   II — 15  V.  o. :  [Der  Satz  über  R^e  ist  eingel<lammert.] 

S.    138  Z.    16  V.  u.:  so  ist  letzteres  auch  noch  aus  dem  Grunde  unmöglich, 

S.   141   Z.   16  und   15  V.  u.:  soll  durchaus  unerklärlich, 

S.  143  Z.  8  f.  V.  o, :  (welche,  dauernd  und  zur  Gewohnheit  geworden, 
Heiligkeit  heisst), 

S.  237  Z.  I  f.  V.  o.:  über  Alle  erheben  und  uns  nunrnehr  als  die  Ein- 
zigen fühlen, 

S.  347  Z.   2  V.  u.:  von  einer  solchen  Regierung 

S.  348  Z.  9  V.  o. ;  gegen  alles  dergestalt  Regierende, 

S.  353  Z.  10 — 8  V.  u. :  Sobald  es  sich  nicht  mehr  um  Conservirung  (oder 
Errichtung  — )  von  Nationen,  sondern  um  die  Erzeugung  und  Züchtung 
einer  möglichst  kräftigen  europäischen  Mischrasse  handelt, 

S.  354  S.  6v.  o.:  den //<fÄfz^o//!lf/tf»  Menschen  (Christus),  den  r*tA/jcAa^<f«j/«/ 
Weisen  (Spinoza), 

S.  410  Z.  9  V.  o.:  Es  mögen  seihst  geistreiche  Leute 

S.  410  Z.  14 — II  V.  u.:  Eine  Meinung  haben  heisst  bei  ihnen  schon: 
sofort  auch  sich  für  sie  fanatisiren  und  sie  endlich  als  Überzeugung  .  . 
sich  an's  Herz  legen. 

S.  413  erster  Satz:  Wer  nur  einigermaassen  zur  Freiheit  der  Vernunft 
kommen  will,  darf  sich  auf  Erden  lange  Zeit  nicht  anders  fühlen  denn 
als  Wanderer  —  und  nicht  einmal  als  Reisender  nach  einem  letzten 
Ziele:  denn  dieses  giebt  es  nicht. 

B. 

Textänderungen  Nietzsche's 
in   einem  Exemplar  der  Neuen  Ausgabe  von    1886. 

S.    17   Z.  5  V.  o. :  aus  seinem   Gegensatz 

S.    17   Z.  8  f .  V.  o. :  Leben  für  Andere  aus  Selbstsucht, 

S.  17  Z.  9 — 15:  Die  metaphysische  Philosophie  half  sich  bisher  über  diese 
Schwierigkeit  hinweg,  insofern  sie  einfach  die  Entstehung  des  Einen 
aus  dem  Andern  leugnete  und  für  die  höher  gewertheten  Dinge  einen 
eigenen  Ursprung  annahm,  unmittelbar  aus  dem  An-sich  der  Dinge  her- 
aus.    Die  Philosophie  des   Werdens  dagegen, 

S.  140  Z.  3 — 5  Z.  o.:  im  Bunde  mit  der  nothwendigen  Abschwächung 
jeder  tiefen  Erregung  durch  die  Zeit,  den  Sieg  davongetragen: 

S.   225  Z.  6  und  5  V,  u. :  Huss,  — 

S.  228  Z.  8  und  7  V.  u. :  und  diese  Kraft  dabei  noch  geübt  und  ver- 
mehrt bat: 

S.  290  Z.  6  und  5  T.  u.;  in  manchem  Menschen  .   .  .  grösser 

S.  359  Z.  8  f.  V.  0.:  die  Summe  von  fünf  Milliarden 


—     442      — 

C. 

Anfang 

einer  geplanten  Totalumarbeitung 

aus  dem  Herbst  1885. 

I. 

Chemie  der  Begriffe  und  Werthgefühle.  —  Die  philo- 
sophischen Probleme  nehmen  jetzt  wieder  fast  in  allen  Stücken  dieselbe 
Form  der  Frage  an,  wie  vor  zweitausend  Jahren:  wie  kann  etwas  aus 
seinem  Gegensatz  entstehen,  zum  Beispiel  Vernünftiges  aus  Ver- 
nunftlosem, Empfindendes  aus  Todtem,  Logik  aus  Unlogik,  interesseloses 
Anschauen  aus  begehrlichem  Wollen,  Leben  für  Andere  aus  Selbstsucht, 
Wahrheit  aus  Irrthümern?  Die  metaphysische  Philosophie  half  sich  bis- 
her über  diese  Schwierigkeit  hinweg,  insofern  sie  einfach  die  Entstehung 
des  Einen  aus  dem  Andern  leugnete  und  für  die  höher  gewertheten 
Dinge  einen  eigenen  Ursprung  annahm,  unmittelbar  aus  dem  An-sich 
der  Dinge  heraus.  Eine  umgekehrte  Philosophie  dagegen,  ....  die 
allerjüngste  und  radikalste ,  die  es  bisher  gegeben  hat,  eine  eigentliche 
Philosophie  des  Werdens,  welche  an  ein  „An-sick^^  überhaupt  nicht 
glaubt  und  folglich  ebensowohl  dem  Begriffe  „Sein"  als  dem  Begriffe 
„Ersclieimcng^^  das  Bürgerrecht  verweigert :  eine  solche  antitnetaphy- 
sische  Philosophie  hat  mir  in  einzelnen  Fällen  wahrscheinlich  gemacht 
( —  und  vermuthlich  wird  dies  in  allen  ihr  Ergebniss  sein),  dass  jene 
Fragestellung  falsch  ist,  dass  es  jene  Gegensätze  gar  nicht  giebt, 
an  welche  die  bisherige  Philosophie  geglaubt  hat,  verführt  durch  die 
Sprache  und  die  in  ihr  gebietende  Nützlichkeit  der  Ver grober unsr  und 
Vereinfachung,  kurz,  dass  man  vorerst  eine  Chemie  der  Grund- 
begriffe nöthig  hat,  diese  als  ge-vorden  und  noch  werdend  voraus- 
gesetzt. Um  mit  solchen  groben  und  viereckigen  Gegenüberstellungen 
wie  „egoistisch"  und  „unegoistisch",  „Begierde"  und  „Geistigkeit", 
„lebendig"  und  „todt",  „  Wahrheit"  und  „Irrthum",  ein  für  alle  Mal 
fertig  zu  werden,  bedarf  es  einer  mikroskopischen  Psychologie  ebenso- 
sehr als  einer  Geübtlieit  in  aller  Art  historischer  Perspektiven-Optik, 
wie  eine  solche  bisher  noch  nicht  da  war  und  nicht  einmal  erlaubt 
war.  Philosophie,  so  wie  ich  sie  will  und  verstehe,  hatte  bisher  das 
Gewissen  gegen  sich:  die  moralischen,  religiösen  und  ästhetischen 
Imperative  sagten  Nein  zu  einer  Methodik  der  Forschung,  welche  hier 
verlangt  wird.  Man  muss  sich  vorerst  von  diesen  Imperativen  gelöst 
haben:  man  muss,  wider  sein  Gewissen,  sein  Gewissen  selbst 
secirt  haben  ...  Die  Historie  der  Begriffe  uud  der  Begriffs -Venvand- 
lung  unter  der   Tyrannei  der  Werthgefühle  —  versteht  ihr  das?     Wer 


—     443     -- 

hat  Ltist  und  Muth  genng,  solchen  Untersuchungen  zu  folgen?  Jetzt,  wo 
es  vielleicht  zur  Höhe  der  erreichten  Vermenschlichung  selbst  gehört, 
dass  der  Mensch  einen  Widerstand  fühlt  gegen  die  Geschichte  setner 
Anfänge,  dass  er  kein  Auge  haben  will  gegen  alle  Art  pudenda  origo: 
muss  man  nicht  beinahe  unmenschlich  sein,  nm  gerade  in  der  umge- 
kehrten Richtung  sehen,  suchen,  entdecken  zu  wollen?  — 


Der  Erbfehler  der  Philosophen.  —  Bisher  litten  die  Philo- 
sophen allesammt  an  dem  gleichen  Gebrechen,  —  sie  dachten  unhisto- 
risch, widerhistorisch.  Sie  giengen  vom  .  .  Menschen  aus,  den  ihre 
Zeit  und  Umgebung  ihnen  darbot,  am  liebsten  sogar  von  sich  und  von 
sich  allein;  sie  glaubten  schon  durch  eine  Selbst-Analysis  zum  .Ziel 
zu  kommen,  zu  einer  Kenntniss  „des  Menschen".  Ihre  eigenen  Werth- 
gefühle  (oder  die  ihrer  Kaste,  Rasse,  Religion,  Gesundheit)  galten  ihnen 
als  unbedingtes  Werthmaass ;  nichts  war  ihnen  fremder  und  wider- 
licher als  jene  Selbstentsagung  des  eigentlich  wissenschaftlichen 
Gewissens:  als  welches  in  einer  wohlwollenden  Verachtung  der  Person, 
jeder  Person,  jeder  Personal-Perspektive  seine  Freilieit  geniesst.  Diese 
Philosophen  waren  vorallererst  Personen;  jeder  sogar  empfand  bei  sich 
„ich  bin  die  Person  selber",  gleichsam  die  aeterno  veritas  vom 
Menschen,  „Mensch  afi  sich".  Aus  dieser  unhistorischen  Optik,  die  sie 
gegen  sich  selber  übten,  ist  die  grösste  Zahl  ihrer  Irrthiimer  abzu- 
leiten, —  vor  allem  der  Grundirrthiim,  überall  das  Seiende  zu  suchen, 
überall  Seiendes  voratiszusetzen,  überall  IVechsel,  Wandel,  Widerspruch 
mit  Geringschätzung  zu  behandeln.  Selbst  unter  dem  Druck  einer  von 
der  Historie  beherrschten  Cultur  ( —  wie  es  die  deutsche  Cultur 
an  der  Wende  des  Jahrhunderts  war)  wird  sich  der  typische 
Philosoph  mindestens  noch  als  Ziel  des  ganzen  Werdens,  auf  welches 
alle  Dinge  von  Anbeginn  ihre  Richtung  nehmen,  präsentiren: 
dies  war  das  Schauspiel,  welches  seiner  Zeit  Hegel  dem  erstaunten 
Europa  bot. 


Schätzung  der  unscheinbaren  Wahrheiten.  —  Es  ist  das 
Merkmal  eines  stärkeren  und  stolzeren  Geschmacks,  so  leicht  es  sich 
auch  als  dessen  Gegentheil  ausnimmt,  die  kleinen  unscheinbaren  vor- 
sichtigen Wahrheiten,  welche  mit  strenger  Methode  gefunden  wurden, 
höher  zu  schätzen  als  jene  weiten  sch'vebenden  umschleiernden  Allgemein- 
heiten ,  nach  denen  das  Bedürfniss  religiöser  oder  künstlerischer 
Zeitalter  greift.  Menscfien,  deren  intellektuelle  Zucht  zurückgeblieben 
ist  oder,    aus  guten   Gründen,    zurückgehalten    werden    muss    ( —    der 


—     444     — 

Fall  der  IVeiber)  haben  gegen  jene  kleinen  Gewissheiten  etwas  wie 
Hohn  auf  den  Lippen;  einem  Künstler  zum  Beispiel  sagt  eine  physio- 
logische Entdeckung  nichts:  Grund  genug  für  ihn,  gering  von  ihr 
zu  denken.  Solche  Rückständige ,  welche  gelegentlich  die  Richter  tu 
spielen  sich  beikommen  lassen  ( —  die  drei  Rückständigsten  grossen 
Stils,  welche  unsere  Zeit  aufzuweisen  hat,  haben  es  alle  drei  gethan: 
Victor  Hugo  für  Frankreich,  Carlyle  für  England ^  Wagner  für 
Deutschland),  weisen  mit  Ironie  darauf  hin 
[bricht  ab]. 


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