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Full text of "Werk"

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alt 


t  m  a  n  0 


in    zwei    Banden 


Erster    Band 


492340 


1.9  2  2 


S.  FISCHER  /  VERLAG  /  BERLIN 


Ausgewahlt ,   ubertragen   und  eingeteitel   von 
Hans    Reisiger 


Mil    vier    Bildnissen 


?s 


Erste    bis    vierte    Anflage 
Alle    Rechte    vorbehalten 


EINLEITUNG 


.  .  .  Vor  all  meinen  hochfahrenden  Gedichten  steht  mein  wahres 
Ich  noch  irnmer  unberiihrt,  unausgesprochen, 

Weit  abseits,  meiner  spottend  mil  spottisch-begliickwiinschendem 
Neigen  und  Griifien, 

Mit  fernher  schallendem,  ironischem  Gelachter  iiber  jedes  Wort, 
das  ich  schrieb. 


ATLANTISCHE  WIEGE 

Paumanok 

Meerschbnheit !  hingestreckt,  besonnt! 

Die  eine  Seite  von  deinem  innern  Ozean  bespiilt,  voll  reichen  Handels,  Dampf- 

und  Segelschiffen, 
Die  andre  vom  atlantischen   Wind  gekiifit,  wild  oder  zart,  —  gewaltige  Riimpfe 

dunkel  gleitend  in  die  Feme; 

Eiland  voll  siifler  Quellen  trinkbaren  Wassers  —  Boden  und  Luft  gesund ! 
Eiland  der  salzigen  Kiiste,  Luft  und  Flut! 

Von  Montauk  Point 

Ich  stehe  wie  auf  eines  machtigen  Adlers  Schnabel, 
Ostwarts  die  See  einatmend,  schauend  (nichts  als  Himmel  und  See), 
Die  hiipfenden  Wellen,  Schaum,  die  Schiffe  in  der  Feme, 
Landsiichtige  Unrast  schneegekrauselter  Kronen, 
Die  ewiglich  die   Kiisten   suclit. 

Walt  Whitman  wurde  am  3i.  Mai  des  Jahres  1819  auf  der 
Farm  West  Hills  nahe  der  kleinen  Hafenstadt  Huntington  auf  der 
Insel  Long  Island  geboren.  Welcherart  war  das  Fleisch  und 
Blut,  in  dem  diese  neue  Seele  sich  inkarnierte?  und  welcherart 
die  irdische  Umgebung,  in  der  sie  die  Augen  aufschlug  und  heran- 
wuchs?  —  Die  Antwort  auf  beide  Fragen  umschliefit  ein  mehr- 
fach  und  stark  Gedoppeltes. 

Zwei  Blutstrome  tralen  sich  in  Walt  Whitman,  beide  pulsierend 
von  Auswandererlust,  von  Drang  nach  neuer  Welt,  beide  kraftig  her- 
vorsprudelnd  aus  gesicherter  Scholle,  gespeist  aus  reinen  und  tiefen 
Quellen  gesunder  Geschlechter.  Yon  England  her  der  eine :  Bauern- 
blut,  gereift  unter  den  freiheitlichen  Strahlen  der  elisabethanischen 
Sonne,  die  damals,  mit  dem  17.  Jahrhundert,  iiber  dem  Inselreich 
aufstieg  und  unter  deren  Jahrzehnte  wahrendem  Friedenslicht  die  bis- 
her  in  innerer  Zerrissenheit  vergeudeteii  Krafte  zum  erstenmal  in  freu- 
diger  Geschlossenheit  und  Tatkraft  nach  auBen  hin  gewandt  wurden. 

IX 


Getragen  und  geadelt  war  dieser  Drang  in  die  Welt  durch  den  starken 
und  geraden  Charakter  der  Generation.  Etwas  von  dem  jugendlichen 
Glanz  und  Uberschwang,  der  die  wandernden  Goten  umflugelte, 
war  mit  diesen  Mannern;  Kameradschaft,  Freigebigkeit,  Ruhm- 
liebe,  die  sicb  zu  kindlicher  Prahlsucht  steigerte,  gingen  laut  und 
frohlich  zusammen  mit  tiefer  Frommigkeit,  mit  gliihendem  Glauben 
an  die  freie  Menschennatur,  an  das  eigene  Ich  und  das  der  an- 
deren,  mit  einer  Hingabe  an  die  eigenen  Ideale  bis  in  den  Tod. 
Sie  gingen  mit  Lust  in  die  Welt,  weil  sie  ihre  eigene  Welt  mit 
sicb  trugen.  So  griindeten  sie  Virginia,  die  erste  Kolonie  zu  Ebren 
der  jungfraulichen  Konigin,  und  verpflanzten  die  Keime  zur  Wesens- 
art  des  spateren  und  heutigen  Amerikaners  in  die  Neue  Welt.  So 
wandte  sich  eine  ihrer  Scharen  aucb  weiter  nordlich  nach  Con- 
necticut. ,,True  Love",  ,,Treue  Liebe"  war  der  kindlich-schone 
Name  des  Scbiffes,  mit  dem  sie  iiber  den  Ozean  fubren,  und  einer 
der  Ihren  hiefi  Zachariab  Whitman  und  war  der  Sobn  des  alten, 
daheimgebliebenen  elisabetbanischen  Bauern  Abijah  Whitman.  Er 
wurde  Prediger  in  Milford,  Conn.,  denn  tatkraftige  Frommigkeit 
wobnte  in  ihnen  dicbt  neben  der  bandfesten  Abenteurerlust.  Sein 
Sobn  Joseph  Whitman  setzte  mit  vielen  anderen  um  1660  iiber 
den  schmalen  Sund  hiniiber  nach  der  Insel,  die  Long  Island  ge- 
tauft  wurde.  Dort  batten  Vorlaufer  bereits  ein  Gebiet  den  einge- 
borenen  Indianern  um  sechs  Rocke,  secbs  Paar  Schuhe,  sechs  Axte, 
Perlenschnuren  und  dergleichen  abgekauft  und  an  einer  der  tiefen 
Buchten  das  Hafenstadtchen  Huntington,  zu  deutsch  Jagerstadt, 
gegriindet.  Auf  den  Hugeln  siidlich  der  Stadt  waren  Farmen  an- 
gelegt  worden,  und  eine  von  ihnen,  die  Farm  West  Hills,  erwarb 
Joseph  Whitman. 

Wahrend  des  folgenden  Jahrhunderts  wtichs  diese  elisabetha- 
nische  Erobererrasse,  die  die  Weite  und  Freiheit  des  Atlantischen 
Ozeans  und  die  unbandige  Fruchtbarkeit  des  neuen  Kontinents  in 
der  Brust  trug,  zu  immer  stolzerem  Selbstgefiihl,  das  schlieBlich 
im  Unabhangigkeitskrieg  gegen  das  Mutterland  seinen  Ausdruck 
fand.  Nun  blitzen  die  Waften  und  donnern  die  Musketen  und 
Kanonen  in  das  Whitmansche  Blut.  Die  Romantik  der  Indepen- 
denten  schlagt  hinein.  Ein  Urenkel  Josephs  fallt  in  der  Schlacht 
bei  Brooklyn,  der  inzwischen  am  Westrande  der  Insel,  New  York 
gegenuber,  emporgewachsenen  Stadt;  die  Nacht  darauf  fiihrt 


Washington  den  Rest  seiner  geschlagenen  Truppen  im  Schutze  des 
Nebels  iiber  den  East  River.  Ein  anderer  Urenkel,  Jesse  Whitman, 
heiratet  die  Nichte  eines  der  gefiirchtetsten  Fiihrer  der  Indepen- 
denten,  des  Majors  Brush,  der  in  englischem  Kerker  verdorrt. 
Jesses  eigene  Mutter  reitet,  braun,  breit,  mannisch,  die  qualmende 
Tabakspfeife  zwischen  den  Zahnen,  auf  die  Schlachtfelder  mit  und 
fiihrt,  mit  Fliichen  nicht  sparend,  Biichse  und  Sabel.  Aber  nun 
gleitet  ein  sanfterer  Strom  in  das  Blut.  Jesses  Erwahlte  ist  ein  feines, 
damenbaftes  Madchen  von  stiller  Klugheit.  Eine  Lehrerin.  Sie  so- 
won!  als  ihr  Gatte  neigten  dem  Quakertum  zu,  und  beide  waren 
herzlich  befreundet  mit  dem  damaligen  Fiihrer  dieser  Sekte,  Elias 
Hicks.  Und  so  hielt  es  auch  Walter  Whitman,  einer  von  Jesses 
vielen  Sohnen,  der  Vater  Walt  Whitmans. 

Walter  Whitman,  1789  geboren,  erbte  die  Farm  West  Hills. 
Er  erlernte  jedoch  in  New  York  auch  das  Handvverk  eines  Zimmer- 
manns  und  baute  Holzhauser  und  Scheunen.  Er  war  ein  Riese  an 
Gestalt,  wortkarg,  ernst,  verschlossen,  von  kindlicher  Unbeholfen- 
heit  in  Umgang  und  Gesprach,  tiichtig  in  seiner  Arbeit,  aber 
nicht  gerade  von  gliicklicher  Hand  in  seinen  Geschaften,  eigen- 
sinnig  und  zuweilen  jahzornig.  Das  starke  Blut  seiner  Rasse  scheint 
in  ihm  zu  einem  gewissen  Stillstand  gekommen  zu  sein,  und  es 
bedurhe  eines  anderen,  heiBeren  und  tieferen  Zustroms,  um  die 
Mischung  zustande  zu  bringen,  aus  der  der  grofke  Dichter  und 
Verkiinder  einer  neuen  Welt  geboren  werden  konnte. 

Dieser  andere,  miitterliche  Strom  hatte  seine  gesunde  Quelle  in 
Holland.  Die  Hollander  batten  die  Stadt  New-Amsterdam,  das 
spatere  New  York,  gegriindet  und  waren,  ebenfalls  um  die  Mitte 
des  17.  Jahrhunderts,  auch  auf  die  Insel  Long  Island  hiniiber- 
gekommen  und  waren  so,  von  Westen  nach  Osten  vorriickend,  dem 
englisch-puritanischen  Einwandererstrom ,  der  von  Norden  her 
kam,  begegnet.  Ihre  Farmen  grenzten  an  die  Farmen  des  Gebietes 
von  Huntington,  und  der  Major  Cornelius  van  Velsor  war  der 
Nachbar  der  WThitmans  auf  West  Hills. 

Ein  belles  Licht  breiter  Behaglichkeit  liegt  uber  diesen  besitzes- 
frohen  Familien,  und  die  ganze  duftende  Frische  und  Sauberkeit 
Hollands.  In  ihren  schmucklos  freundlichen  Heimstatten  mit  den 
blankgescheuerten,  mit  weifiem  Sand  besireuten  Dielen,  mit  ihrem 
Zinngerat  und  ihren  beruhmten  Punschen  hausten  sie  auch  in  der 

XI 


neuen  Heimat  voll  unerschutterlicher  Ruhe,  Gesundheit,  Bedacht- 
samkeit  und  Tiichtigkeit,  in  rotbackigem  Selbstgefuhl  und  Eigen- 
sinn.  Hinter  unbewegten,  inassigen  Gesichtern  saugten  sie  mit 
stillen,  bellblauen,  kleinen  Augen  in  aller  Ruhe  die  Erscheinungen 
der  Welt  in  sich  und  verarbeiteten  sie  in  einem  Innern,  das  sich 
unerwarteterweise  gern  dem  Ubersinnlichen  offnete  —  ein  Zug,  der 
sich  bei  den  in  Amerika  geborenen  Hollandern  noch  verstarkte. 

Die  Staaten  New  York  und  Pennsylvania  sind  noch  heute  tief 
von  diesem  hollandischen  Blut  durchsetzt.  Es  bildete  den  tiich- 
tigen  Grundstoff,  mit  dem  sich  alle  die  just  in  diesen  Staaten  hin- 
zukommenden  unsteten  und  leidenschaftlichen  Elemente  zu  einer 
lebenskraftigen  Mischung  verbinden  konnten.  Zumal  in  den  dor- 
tigen  Landgemeinden  bildet  die  Bevolkerung  hollandischen  Blutes 
den  festen  Kern.  Und  in  den  8  tad  ten  New  York,  Brooklyn,  Albany 
gilt  hollandische  Abstammung  als  eine  Art  Adelsbrief. 

Der  Major  Cornelius  van  Velsor  war  ein  Urbild  des  Hollanders, 
wohlbeleibt,  behaglich,  rotbackig.  Wenn  er  mit  seiner  Tochter 
Louisa  durch  die  Felder  ritt,  so  konnte  sie  niemand  sehen,  ohne 
die  beiden  sogleich  an  Gestalt,  Gesicht  und  Farbe  als  Hollander 
zu  erkennen.  Und  dennoch  hatte  diese  Tochter  noch  ein  anderes, 
leidenschaftlicheres,  unruhigeres  Blut  in  sich. 

Die  Gattin  des  Majors  und  Mutter  Louisas  war  Naomi  Williams. 
Sie  war  ein  Kind  des  grofien  wallisischen  Geschlechts  der  Williams, 
das  seit  alters  der  Seefahrt  verschworen  war.  Ihr  Vater,  Kapitan 
John  Williams,  fand  seinen  Tod  in  der  See.  Ebenso  sein  einziger 
Sohn.  Die  Walliser  waren  von  jeher  eine  geistig  bewegte,  phantasie- 
volle  Rasse,  durch  deren  Sinn  und  Blut  das  Meer  sicherlich  mit 
ganz  anderem,  damonischerem  Wellenschlag  rauschte  als  durch 
das  der  schwergewichtigen  Hollander.  Und  vielleicht  wurde  in 
den  Seelentiefen  dieses  Geschlechts  der  erste  Funke  geschlagen  zu 
der  schopferischen  Flamme,  die  in  Walt  Whitmans  Brust  aus- 
brach.  Und  die  See,  deren  Rauschen  ihm  zwischen  Kindheit  und 
Mannheit  zu  so  gewaltiger,  mystischer  Stimme  anschwoll,  hatte 
vielleicht  in  noch  gebrochenen  Lauten  ihr  Geheimnis  von  Leben 
und  Tod  schon  in  diese  ruhelosen  Seelen  gelallt. 

Inbriinstiger  sicherlich  auch  als  die  von  alters  landsassigen  Whit- 
mans batten  diese  Williams  sich  dem  Quakertum  zugewandt,  und  die 
freie  Lehre  vom  ,,inneren  Licht"  mag  ihnen  in  den  Einsamkeiten 

XII 


Louisa  (Van  Velsor)  Whitman 


des  We 
wenngl 


des  Weltmeers  zu  einem  um  so  innigeren  Besitz  geworden  sein, 
wenngleich  der  Kapitan  John  Williams,  \\ahrscheinlich  wegen 
seiner  Heirat  mit  einer  Nicht-Quakerin,  aus  der  Sekte  austral. 

Vielleicht  war  es  zu  einem  Teil  die  gemeinsame  Neigung  zu 
dieser  Lehre,  die  den  stillen  Riesen  Walter  Whitman  mit  der 
Tochter  seines  Nachbarn,  der  a4jahrigen  Louisa  van  Velsor,  in 
tieferem  Sinne  zusammenfuhrte.  Er  vermahlte  sich  mit  ihr  im 
.Jahre  1816  und  hauste  zunachst  sieben  Jahre  lang  auf  seiner 
Farm.  Schon  \\ahrend  der  ersten  Jahre  baute  er,  unweit  von  dem 
alten  Whitmanschen  Stammhaus,  ein  neues  Wohnhaus,  das  noch 
heute  steht:  ein  kleines,  behagliches,  zweistockiges  Haus,  das  YOU 
den  freundlich  braunen  Scheunen  und  Schuppen  der  Farm  um- 
geben  ist.  Hier  wurde  ihm  nach  dreijahriger  Ehe  sein  zweiter 
Sohn  geboren,  der  nach  dem  Vater  Walter,  abgekiirzt  Walt,  ge- 
nannt  wurde. 

Walt  Whitman  war  einer  der  begnadeten  Menschen,  die  bis  in 
ihr  hohes  Alter  in  eine  starke  und  warme  Muttersphare  geborgen 
bleiben.  Inmitten  aller  wilden  und  herrlichen  Gesichte  und  Lei- 
denschaften  der  freien,  vielgestaltigen  Welt,  die  ihm  an  die  ein- 
same  Brust  stiirmten,  war  in  ihm  doch  allezeit  das  unsichtbare 
Kinderlacheln  der  Zugehorigkeit  zu  der  Wesenheit,  aus  der  er  ge- 
boren war  und  zu  der  er  sich  nur  zuriickzuwenden  brauchte,  um 
immer  wieder,  trotz  Furchen  im  Antlitz  und  grauem  Haar  und 
Bart,  wie  ein  Knablein  in  sie  einzugehen.  Die  Blutwarme  seiner 
freudigen  Verkiindung  einer  schonen ,  stolzen,  ,,athletischen", 
Melektrischen"  Menschheit,  die  keusch,  zartlich,  mitfiihlend  ware 
und  ,,stromend  wie  die  Natur",  stammt  gleichsam  unmittelbar  aus 
dem  Mutterschofi,  aus  dem  er  selber  ins  Leben  gehoben  worden : 
,,wohlgezeugt  und  aufgezogen  von  einer  vollkommenen  Mutter". 
Mutter  gebaren  Manner,  und  herrliche,  liebesstarke,  an  Seele  und 
Leib  wohlgestaltete  Mutter  zu  schaffen,  ist  ihm  das  Urgebot  einer 
neuen  Menschheit.  Der  Mutterschofi  ist  die  Pforte,  an  der  sich 
die  zahllosen  Keime  zu  neuen  Saaten  drangen,  und  in  alle  Welten- 
zukunft  hinein  ringt  sich  Geburt  aus  Geburt  und  Wiedergeburt, 
immer  neues  Sein  aus  Mutterspharen  hervor. 

Vor  der  Mutter  ist  das  Kleinste  groB  und  das  Grofite  und  Da- 
monischste  kindlich  schlicht  und  natiirlich  wie  ein  Blick  oder 
Kufi.  Vielleicht  stromt  ein  Teil  der  Kraft,  mit  der  Whitman  selber 

XIII 


alles  in  der  Welt,  Grofies  wie  Kleines,  umfafh  und  durch  die 
Macht  der  Liebe  lebendig  miteinander  verbriidert  und  gleichmacht 
-  vielleicht  stromt  ein  Teil  dieser  Kraft  aus  dem  Gliick  der  Gleich- 
berechtigung  aller  seiner  eigenen  Wesensseiten ,  Gedanken  und 
Werke  vor  der  miitterlicben  Liebe.  Und  seine  Zuriickweisung 
alles  Sichduckens  und  Schamens  in  den  Seelen  der  Menschen  war 
so  stark  und  ruhevoll  entschieden,  weil  er  selber  nie  in  seinem 
Leben  iiber  irgend  etwas,  was  in  ibm  sich  regte,  jene  blasse  und 
scheue  Zerknirscbung  zu  fiihlen  gebraucht,  die  dem  aufrechten 
Wachstum  so  sebr  schadet:  Denn  vor  dem  verstehenden  und  adeln- 
den  Blick  der  Mutter  hatte  es  immer  wie  ein  offenes  Buch  ge- 
legen.  Und  obwohl  nur  wenige  der  Psalmenstrophen  seiner  Gesange 
unmittelbar  an  seine  Mutter  gerichtet  sind,  lebt  docb  der  Gedanke 
reiner  und  hoher  Mutterschaft  so  stark  durch  sein  ganzes  Werk 
hindurch,  dafi  man  es  beinahe  in  seiner  Gesamtheit  als  ein  einziges 
groCes  Weihelied  an  die  Gebarerin  anseben  kann,  an  ,,das  har- 
monische  Wesensbild  der  Erde,  die  Vollendung,  uber  die  keine 
Philosophic  hinausgehen  kann,  noch  will,  die  rechte  Mutter  der 
Menschen  ft. 

Schauen  wir  so  klar  in  die  Tiefe  des  Wesentlichen,  so  will  es 
nicht  viel  bedeuten,  dafi  wir  nur  wenig  Einzelheiten  aus  dem 
Leben  von  Louisa  Whitman  wissen.  Die  sie  gekannt  haben,  schil- 
dern  sie  als  eine  iibermittelgroBe ,  sehr  wohlgebaute,  reiche  An- 
ziehungskraft  ausstromende  Frau,  allezeit,  bis  in  ihr  hohes  Alter, 
von  jenem  wundervollen,  unbestimmbaren  Hauch  reiner  Frische 
umgeben,  der  auch  Walt  Whitman  so  besonders  zu  eigen  war. 
Sie  vereinte  in  sich  die  ernste  Wiirde  und  Zuriickhaltung  ihrer 
Quakerin-Mutter  mit  der  vollbliitigen  Heiterkeit  des  alten  Majors 
Kate  (Cornelius)  van  Velsor.  Sie  war  eine  ausgezeichnete  Reiterin 
und  verstand  sich  gut  aufs  Erzahlen  und  Schildern,  wogegen  Lesen 
und  Schreiben  nicht  so  recht  ihre  Sache  war  und  ihr  Miihe  machte. 
Ihr  ovales,  von  dunklem  Haar  und  schneeweiBer  Haube  umrahmtes 
Gesicht  war  immer  von  einem  verhaltenen,  stillen  Humor  er- 
leuchtet.  Sie  schenkte  ihrem  Manne  acht  Kinder*  und  wurde 
nahezu  achtzig  Jahre  alt,  in  fast  vollkommener  Gesundheit,  in  alien 

*  Jesse,  geb.  1818,  Walt,  geb.  1819,  Mary  Elisabeth,  geb  i8ai,  Hannah 
Louisa,  geb.  1828  (Walts  Lieblingsschwester),  Andrew,  geb.  1827,  George,  geb.  1829, 
Thomas  Jefferson,  geb.  i833,  und  Edward,  geb.  i835. 

XIV 


Sorgen  und  erschiitterndem  Erleben  tatig  und  liebevoll  bis  an 
ihren  Tod  (1878). 

Die  Landschaft,  in  die  die  Augen  des  Kindes  blickten,  war  die 
einer  Insel  am  Rande  des  Weltmeers  und  am  Rande  einer  neuen 
Welt. 

Long  Island  streckt  sicb  von  der  Bucht  von  New  York  aus  von 
Westen  nacb  Osten  200  km  lang  und  durchschnittlich  20  km  breit 
in  den  Atlantischen  Ozean.  Es  ahnelt  der  Gestalt  eines  Fisches; 
,,fishshaped  Paumanok",  Bfischfbrmiges  Paumanok",  nennt  es  Whit- 
man selbst  mit  dem  seither  beriihmt  gewordenen  alien  indiani- 
schen  Namen :  das  westliche,  New  York  anblickende  Ende,  auf 
dem  Brooklyn  liegt,  stellt  den  Kopf  dar,  und  das  ostliche  Ende 
spaltet  sicb,  als  Schwanz,  in  zwei  Halbinseln,  deren  siidlicbe  der 
Auslaufer  der  Hiigelkette  ist,  die  sicb  als  Riickgrat  durcb  die  ganze 
Insel,  der  Nordkiiste  entlang,  hinziebt  und  in  einem  kiihnen  Vor- 
gebirge,  Montauk  Point,  ins  Meer  springt,  von  einem  Leucbtturm 
gekront. 

An  einer  der  zahlreichen  Buchten  dieser  hiigligen  Nordkiiste  liegt 
die  kleine  Stadt  Huntington  und  oberbalb  von  ihr,  auf  den  Hiigel- 
bangen,  die  Farm  West  Hills.  Hier  ist  das  Land  fruchtbar  und 
reich,  wahrend  nacb  Siiden  bin  die  Hohenkette  in  gelinde  ab- 
fallende  sandige  Flacben  verebbt,  die  zum  Teil  von  Kiefern  und 
kargem  Graswuchs  bedeckt  sind  und  in  breiten,  seichten  Lagunen 
enden,  die  die  Heimat  der  Heerscharen  von  Wasservogeln  und 
Fischen  sind.  Ibnen  vorgelagert  leucbtet  ein  schmaler  Streifen 
Sandes,  eine  Art  Lido,  aus  dem  Meere,  auf  den  die  atlantiscben 
Sturmwogen  berabdonnern.  Hier  an  den  Siidbucbten  der  Insel 
wohnt  eine  ozeaniscb  abgehartete  Rasse  von  Fiscbern,  die  aucb 
Hummern-,  Austern-  und  Muscbelfang  treiben. 

Vor  der  europaischen  Besiedelung  war  Paumanok  von  Rotbauten 
bewobnt,  die  in  den  Waldern  mit  den  Wolfen  um  die  WTette 
jagten.  Robben,  Scbildkroten,  Scbwertfische,  Pelikane  bevolkerten 
das  langgestreckte,  einsame  Gestade,  aus  den  atlantischen  Gewassern 
stiegen  die  Fontanen  der  Walfische,  und  Wracks  gestrandeter 
Scbiffe  moderten  in  den  sumpfigen  Bucbten. 

Mit  der  Triebkraft  der  Rassen  im  Blut,  die  sich  eine  neue  Welt 
sucbten  und  zahmten,  wucbs  Walt  Whitman  bier  unter  einem 
weitbin  freien  Meereshimmel  zwischen  Hiigeln  auf,  die  das  ewige 

XV 


atlantische  Rauschen  wie  Muscheln  in  sich,  fingen  -  -  auf  einer 
noch  von  Urfrische  betauten  Insel,  die  von  den  gliihenden  Sommer- 
sonnen  dieser  Zone  (Long  Island  liegt  auf  der  Breite  Neapels !)  be- 
strahlt  und  von  gewaltigen  Winlerslurmen  umbraust  wurde.  Wohl 
ein  Schauplatz  fiir  den  Neubeginn  einer  von  starkem,  frommern 
Staunen  iiber  ihr  eigenes  Erstlingsdasein  auf  dieser  wunderbaren 
Welt  bebenden  Seele;  ein  aus  der  wirren  Fiille  der  Alien  Welt 
abgeriickter  Vorposten  vor  neuen  Horizonten,  wohl  geeignet,  um 
von  ihm  aus  auf  beide  Wei  ten  und  auf  das  eine  grofie  Daseins- 
wunder  den  neugeborenen  Blick  Adams  zu  werfen  und  sicb  die 
Lungen  zu  fiillen  mit  der  Witterung  einer  neuen  Menschbeitsluft. 

Eine  iippige  Natur  drangte  sich  zwischen  den  ewig  brand enden 
Wassern  dem  Kinde  ans  Herz  mit  den  tausendfaltigen  Formen 
ihrer  belebten  und  unbelebten  Wesen.  Ein  Paradies  von  Blumen 
vvuchs  um  die  Wege  der  alien  Farm.  Eichen,  Kastanien,  Zedern, 
Akazien,  NuBbaume  umrauscblen  sie.  Kobl-  und  Maisfelder  leuch- 
teten  ibm  in  die  Augen.  Weinberge  gliihlen  auf  den  Hohen.  Zahl- 
lose  Grillen  geiglen,  Fiichse  schniirten  zwischen  den  Feldern,  hun- 
derl  Vogelarten  pfiffen  und  floielen  in  den  Hecken  und  Wipfeln. 

Auf  einem  wildbewachsenen  Hugel  nahe  dem  alien  Slammhaus 
lagen  die  grauen,  inschriftlosen  Grabsteine  der  Whitmans,  bei  denen 
der  Knabe  oflrnals  im  ersien  griinen  Dammer  des  Lebens  zwischen 
den  Denkmalern  des  Todes  saB. 

Long  Island  blieb  die  eigenlliche  Heimat  Walt  Whitmans  wah- 
rend  seines  ganzen  Lebens,  abgesehen  von  zwei  grb'Beren  Reisen 
in  das  Innere  Amerikas  und  von  den  Jahren  des  Sezessionskrieges, 
die  ihn  nach  Washington  und  auf  die  siidlichen  Schlachtfelder 
fiihrten.  Wahrend  dieses  78  jahrigen  Lebens  sah  er  die  zerstreuleri, 
durch  widerslrebende  Inleressen  zerrissenen  Slaalen  zu  einer  mach- 
tigen  Nation  zusammenwachsen,  deren  Bevolkerung  bei  seinern 
Tode  fast  siebenmal  so  grofi  war  wie  in  seiner  Kindheit.  Auf  seiner 
Insel  selber  durchleble  er  den  gewalligen  ProzeB  des  Herauswach- 
sens  der  amerikanischen  GroBstadt  aus  dem  Lande.  Er  sah  Brooklyn, 
in  seiner  Kinderzeit  eine  mitllere  Landstadt  am  Westende  von 
Long  Island,  wahrend  der  fblgenden  Jahre  anschwellen  und  sich 
mit  dem  gegeniiber,  jenseits  des  Easl  River,  liegenden  New  York 
zu  einer  menschenwimmelnden,  brausenden  Sladleinheil  von  nie 
gesehener  Lebens-  und  Arbeitskraft  zusammenschweiBen. 

XVI 


In  den  \verdenden  Stadten  Amerikas  atmete,  starker  als  in  euro- 
paischen  Stadten,  die  Kraft  des  Landes.  Keinerlei  driickende  Luft 
von  t)berlieferung  und  Vergangenheit  lag  auf  ihnen;  alles  war 
selbstgeschaffen  und  fur  jeden;  und  hier,  im  dichteren  Gedrange 
jugendlich  riicksichtslosen  materiellen  Wettstreits,  blitzte  die  eigen- 
tiimliche  amerikanische  Idealitat,  aus  freien  Horizonten  sich  zu- 
sammenballend,  nur  urn  so  blanker  und  leidenscbaftlicher  auf. 

In  der  starken  Brust  Walt  Whitmans  selber  \vurde  alle  Fiille 
stadtischen  Gewiihls  gleichsam  durch  das  reine,  gesunde  Gewebe 
landgeborner  Wesenheit  hindurchgefiltert.  Er  war  ein  lebendiges 
Teil  in  dem  gewaltigen  amerikanischen  Epos  von  Stadt  und  Land. 
Was  ihm  in  die  Obren  brauste  und  in  die  Augen  drangte,  drohnende 
Straften,  Tausende  von  Gesichtern  und  Gestalten,  von  Seelen,  die 
ihn  anblickten,  verbriiderte  sich  in  ihm  rnit  dem  nie  verstummenden 
Rauschen  von  See  und  Wald  und  dem  Licht  unendlichen  Himmels 
zu  dem  Gefiihl  von  dem  einen  freudigen  Wunder  alles  Lebens. 


II      Vthitmn 


ZWISCHEN  STADT  UND  LAND 

Maun  air  atta 

Rechter  und  edler  Name  meiner  Stack, 

Ureingeborener  Sehopf'ungsname  voller  Schbnheit,  dessen  Sinn  ist: 

Felsgegriindetes  Eiland, 

Kiisten,  wo  allzeit  frbhlich  schlagen  her  und  hin  die  hurtigen  Wogeii  der  See. 

Schon  im  Jahre  1828,  im  Mai,  kurz  vor  Walts  viertem  Geburts- 
tag,  gab  sein  Vater  die  Farm  West  Hills  auf  und  zog  mit  seiner 
Familie  nach  Brooklyn,  das  damals  noch  eine  rechte  Landstadt  mit 
grofien  Ulmen  an  den  Strafien  und  mit  Ziegel-  und  Holzhausern 
war.  Bereits  wahrend  des  ersten  Jahres,  das  die  Whitmans  dort 
verbrachten,  wuchs  die  Stadt  um  1 5o  Hauser,  an  deren  Bau  Walter 
Whitman  als  Zimmermann  sich  beteiligte. 

Ein  lebhaftes  Hin  und  Her  von  Fahrbooten  vermittelte  den  Ver- 
kehr  zwischen  Brooklyn  und  dem  gro'Beren  New  York,  mit  dem 
es  damals  noch  nicht  durch  die  beriihmten  beiden  riesigen  Briicken 
verbunden  war.  Hier  am  Wasser  trieb  sich  der  heranwachsende 
Knabe  mit  stiller,  schaulustiger  Begeisterung  herum,  und  bis  in 
sein  hohes  Alter  blieben  die  Fahren  eine  besondere  Liebe  Whit- 
mans, die  in  einem  seiner  schonsten  Gesange,  ,,Auf  der  Brooklyn- 
Fahre",  ihren  starken,  mystisch  durchleuchteten  Ausdruck  fand. 

Im  August  1824  feierten  die  beiden  Schwesterstadte  den  Besuch 
des  Generals  Lafayette,  und  es  wird  erzahlt,  da6  der  alte  Freiheits- 
held  bei  der  Grundsteinlegung  einer  Bibliothek  in  Brooklyn  den 
kleinen  Walt,  der  im  Gedrange  eingepfercht  stand,  hochgehoben 
und  gekiifit  habe. 

Mit  sechs  Jahren  besuchte  Walt  die  offentliche  Schule  in  Brook- 
lyn und  die  Sonntagsschule.  In  den  Sommerferien  verbrachte  er 
mit  seinen  Geschwistern  manche  Tage  auf  dem  Lande,  in  der  Um- 
gebung  der  alten  Heimat  West  Hills. 

XVIII 


Es  liegt  im  tiefsten  Wesen  Walt  Whitmans,  dafi  der  dammrige 
Wunderglanz  der  Kindheit,  der  Glanz  des  ersten  wonnigen  Staunens 
iiber  das  Sein  nie  in  ihm  erlosch;  dafi  sich  niemals  in  seiner  Seele 
die  Tore  schlossen,  die  den  meisten  Menschen,  ehe  sie  sich  noch 
dessen  versehen,  eines  Tages  mit  hafilichem  Alltagsknarren  die  Be- 
reiche  der  Friihe  versperren  und  sie  zu  Gefangenen  machen  in 
einer  entzauberten  Welt,  in  der  alle  Dinge  durch  die  furchtbare, 
zahe  Macht  der  Gewohnung  verdorren  und  die  Seele  nur  dumpf 
von  Augenblick  zu  Augenblick  hastet  oder  schleicht.  Inmitten 
eines  Daseins,  vor  dem  wir  stundlich  bis  ins  Herz  vor  Staunen 
beben  miiBten,  ringt  sich  diese  heilige  Kraft  nur  schwer  aus  den 
miBbrauchten  Seelen,  und  sie  wissen  den  Erstlingsglanz  nicht  mehr 
zu  fin den,  in  dem  ihnen  doch  einmal  Blume  oder  Vogel,  Wind 
oder  Stille,  Nahe  und  Weite,  das  Lebende  um  sie  her  und  ihr 
eigenes  Ich  erschien.  Die  Kraft  des  Staunens,  die  die  hochste  Kraft 
der  Menschenseele  und  die  Quelle  aller  Religion  und  alles  Schopfe- 
rischen  ist,  wuchs  in  W7alt  Whitman  ungebrochen  und  unverengt 
aus  dem  Blut  seiner  Kindheit  in  das  Blut  seiner  Mannheit;  dieses 
Staunen  der  Seele,  das  zugleich  Ruhe  und  Geborgenheit  just  im 
Unbegreiflichen  ist,  dem  man  doch  fiir  ewig  zugehort. 

So  fluten  auch  allenthalben  aus  der  Dichtung  Walt  Whitmans 
ungebrochene  Strahlen  in  die  wonnevollen  Dammergriinde  seiner 
Kindheit  zuriick,  und  die  ratlosen  Kindertranen,  die  der  Knabe 
vor  der  einsamen  Gewalt  der  Nacht  und  des  unendlichen,  finstern 
Meeres  bei  den  nur  halb  verstandenen  Liebes-  und  Todesklagen 
der  Drossel  geweint,  funkeln  wie  Tau  iiber  den  Gesangen  des  Mannes. 

Tief  und  reich  und  leidenschaftlich  ist  das  Erleben  jedes  Kindes, 
und  wem  es  nicht  spaterhin  durch  die  karge  Grellheit  des  Alltags 
ausgeloscht  wird,  dem  pulsiert  es  im  Blut  bis  in  den  Tod.  Und 
miifiig  die  Frage  herkommlicher  Lebensbetrachtung,  ,,ob  damals 
schon?"  und  dergleichen.  Kann  ich  von  meiner  Kindheit  in  Zungen 
reden,  so  bin  ich  Kind  und  Mann  in  einem,  eine  leibgewordene, 
ungebrochene  Seele. 

Es  war  ein  Kind,  das  ausging  jeden  Tag, 

Und  was  es  zuerst  erblickte,  das  wurde  es, 

Und  das  wurde  ein  Teil  von  ihm  fiir  den  Tag  oder  fiir  einen  Teil  des  Tags 

Oder  fiir  viele  Jahre  oder  weite  Kreise  von  Jahren. 

"•  XIX 


Der  friihe  Flieder  wurde  ein  Teil  dieses  Kinds, 

Und  Gras  und  weifie   und   rote  Winden   und  weifler   und   roter  Klee 

und  das  Lied  des  Phoebevogels, 
Und  die  Lammer  des  dritten  Monds  und  der   hellrosa  Wurf  der  Sau, 

das  Fohlen  der  Stute,  das  Kalb  der  Kuh, 
Und  die   larmende  Brut   im   Farmhof  oder  am   sumpfigen   Rand   des 

Teichs, 
Und  die  Fische,  die  so  seltsam  da  unten  schwebten,  und  das  schone, 

seltsame  Nafi, 
Und   die   Wasserpflanzen   mit   ihren   flachen   lieblichen   Kopfen,   alle 

wurden  sie  Teile  von  ihm. 

Die  sprieCende  Saat  des  vierten  und   fiinften  Monats  wurde  Teil  von 

ihm, 
Sprossen  der  Wintersaat  und  hellgelben  Korns  und  die  efibaren  Wur- 

zeln  im  Garten, 
Und  die  Apfelbaume,  bedeckt  mit  weifiem  Blust  und  die  Friichte  her- 

nach  und  Waldbeeren  und  das   gewohnlichste  Unkraut   am  Wege, 
Und  der  alte  Trinker,  der  aus  dem  Wirtshaus  nach  Hause  schwankte, 

wo  er  bis  spat  am  Abend  gehockt, 

Und  die  Schullehrerin,  die  vorbeiging  auf  ihrem  Weg  zur  Schule, 
Und  die  freundlichen  Knaben,  die  vorbeigingen,  und  die  zankischen 

Knaben, 
Und  die  saubern,  frischwangigen  Madchen  und  der  barfiiflige  Neger- 

knabe  mit  seiner  Schwester, 
Und  all  der  Wechsel  von  Stadt  und  Land,  wohin  immer  es  kam. 

Seine   eigenen  Eltern,    der   Vater,   der   es   erzeugt,    und   sie,  die   ihn 

empfangen  in  ihrem  SchoB  und  ihn  geboren, 
Sie  gaben  dem  Kinde  mehr  von  sich  selbst,  als  dies, 
Sie  gaben  ihm  auch  spater  noch   taglich   von   sich,   sie  wurden  Teil 

von  ihm. 

Die  Mutter  daheim,   die  die  Speisen  still  auf  den  Abendtisch   setzte, 
Die  Mutter  mit   milden  Worten,   mit   sauberer  Haube   und  sauberem 

Gewand,  der  frische  Duft,  der  von  ihr  und  ihren  Kleidern  wehte, 

wenn  sie  vorbeiging, 
Der  Vater,  stark,  selbstgeniigsam,  mannlich,  bose,  argerlich,  ungerecht, 

XX 


Der  Streit,  Has  schnelle,  laute  Wort,  Rede  und  Widerrede, 

Die   hauslichen   Gepflogenheiten,    die   Sprache,    die   Geseiligkeit,   der 

Hausrat,  das  sehnsiichlig  schwellende  Herz, 
Zartlichkeit,   die  sich   nicht  scheut,   sich  zu  zeigen;   die  Empfindung 

der  Wirklichkeit  und  der  Gedanke,  ob  sie  am  Ende  vielleicht  un- 

wirklich  sei, 
Die  Zvveifel  bei  Tag  und  die  Zweifel  bei  Nacht,   das  wunderliche  Ob 

und  Wie, 
Ob  das,   was  so  erscheint,   aucb  so  ist,  oder  sind   es  alles   nur  Blitze 

und  Flecken? 
Manner  und  Frauen,   die  schnell   in   den  StraBen   dra*ngen,   sind   sie 

nicht  Blitze  und  Flecken,  was  sind  sie  dann? 
Die  StraBen  selber  und  die  Fassaden  der  Hauser,  und   Waren  in  den 

Fenstern, 
Fahrzeuge,  Gespanne,  die  aus  schweren  Balken  gefiigten  Werften,  das 

gewaltige  Hin  und  Her  der  Fahren, 
Das  Dorf  auf  den  Hohen,  von  fernher  leuchtend  im  Sonnenuntergang 

der  FluB  dazwischen, 
Schatten,  Aureole  und  Dunst,   das  Licht,   das  auf  weiBe   und  braune 

Da'cher  und  Giebel  fallt,  zwei  Meilen  weit  entfernt, 
Der  Schoner  nabebei,   der  schlafrig   mit   der  Flut   treibt,   das   kleine 

Boot  dahinter  an  losem  Tau, 
Die  hurtigen,  sich  iiberstiirzenden  Wellen, 
Die   Schichten   buntfarbiger  Wolken,   der   lange   braunliche  Streifen 

einsam  fiir  sich,   das  Stuck   klaren  Himmels,   darin   er  regungslos 

liegt, 
Der  Band  des  Horizontes,  die  fliegendeSeekrahe,  derDuft  von  salziger 

Marsch  und  Uferschlamm, 
Sie  alle   wurden  Teil   des  Kinds,   das   ausging  jeden   Tag,    und  jetzt 

noch  geht,  und  gehn  wird  jeden  Tag  in  Ewigkeit. 

Starker  und  schlichter  als  in  den  letzten  Zeilen  dieses  Gesanges 
laGt  sich  die  fortlanfende  Einheit  staunenden  Schauens  durch  das 
ganze  Sein  hindurch  nicht  ausdriicken.  Das  Schauen  weitet  sich 
dem  Mann  iiber  die  Welt  der  Kindheit  hinaus,  umfaGt  die  ganze 
Erde  und  alle  Raume,  in  denen  andere  Sonnen  und  Erden  rollen, 
und  umfaBt  die  Unendlichkeit,  deren  Geheimnis  alles  Sichtbare 
durchdringt  und  tragt.  Aber  die  Seele  dieses  Schauens  bleibt 

XXI 


dieselbe  und  das  Allernachste  und  Alltaglichste  wird  nicht  wunder- 
loser,  sondern  immer  tiefer  eingebettet  in  das  Wunder  des  ganzen 
Seins.  Der  ratselhafte  Wesenshauch,  der  die  braunliche  Wolken- 
bank  im  klaren  Himmelssee  umwittert,  bleibt  derselbe  Hauch  Gottes, 
der  um  die  Toten  streicht,  die  das  Auge  des  Dichters  mitten  im  Ge- 
drange  des  Lebens  in  Schwarmen  schaut,  oder  der  um  die  heiBen 
Leiber  von  Mann  und  Weib  duftet,  die  sich  in  den  Schauern  der 
Zeugung  vereinen. 

Quakerinbrunst  erschutterte  auch  den  Knaben.  Seine  Eltern, 
obwobl  der  Sekte  der  ,,Freunde"  nicht  zugehorig,  standen  ihrer 
Lehre  doch  aus  freier  Neigung  jederzeit  nahe  und  bewahrten  ihrem 
damaligen  Oberhaupt,  Elias  Hicks,  die  Freundschaft,  die  schon  den 
GroBvater  Whitman  mit  ihm  verbunden  hatte.  Der  leidenschaft- 
liche  alte  Hicks  verteidigte  zu  jener  Zeit  die  alte,  voile  Freiheit  der 
Lehre  gegen  die  orthodoxere  Richtung  des  Quakertums.  Die  Bibel- 
lehren  und  die  Gestalt  Christi  selbst  nahm  er  nur  als  etwas  Ge- 
schichtliches,  das  erst  aus  dem  eigenen  Innern  einer  jeden  einzelnen 
Menschenseele  neugeboren  und  verwirklicht  werden  miisse.  In 
jedem  Menschen,  lehrte  er,  wohnt  Gott,  und  mu6  von  jedem  ins 
BewuBtsein  emporgehoben  werden.  Ein  jeder  mufi  sein  ,,inneres 
Licht"  zum  leuchten  bringen.  Aber  eben  dieses  in  kiihner  Freiheit 
von  alien  Dogmen  entzundete  Einzellicht  vereint  sich  dann  in  natiir- 
licher  Gemeinschaftskraft  mit  dem  Geisteslicht  a  Her  Wesen  und 
Dinge;  denn  der  Geist  ist  ein  und  derselbe  in  alien. 

Der  greise  Begeisterte  muBte  im  Jahre  1828  der  bibelstrengeren 
Richtung  weichen  und  wurde  aus  der  Sekte  ausgestoBen.  Kurz  da- 
nach,  etwa  drei  Monate  vor  seinem  Tode,  predigte  er  zum  letzten 
Male  im  Ballsaal  von  Worrisons  Hotel  auf  der  Brooklyn-Hohe  vor 
einer  dichtgedrangten  Menge,  unter  der  sich  auch  die  Eltern  Whit- 
mans und  er  selber,  der  neunjahrige  Knabe,  befanden. 

Es  ist  mehr  als  eine  anekdotische  Kuriositat,  wenn  sich  dem 
Knaben  die  Erscheinung  des  machtigen,  tiefbewegten  alten  Pre- 
digers  unvergeBlich  ins  Gedachtnis  pragte.  Indem  seine  des 
Schauens  schon  so  frohen  Augen  die  gebieterische,  in  Quakertracht 
gekleidete  Gestalt,  das  verziickte  Antlitz  mit  dem  glattgescheitelten 
langen  Haar,  der  hohen  Stirn  und  der  Habichtsnase  in  sich  tranken 
und  seine  Ohren  die,  wenn  auch  vielleicht  noch  unverstandenen, 
gliihenden  Worte  iiber  ,,die  Bestimmung  des  Menschen"  aufsogen, 

XXII 


wurde  ihm  zum  erstenmal  dunkel  und  feurig  das  Herz  erschiittert 
von  der  Personlichkeitsgewalt  eines  hohen  Menschen  und  von  dem 
Anspruch  letzter,  innigster  Freiheit  der  eigenen  Seele. 

In  vielen  unbewufiten  elektrischen  Stromen  geriet  tief  Verwandtes 
in  ilim  in  Schwingung;  Eigenschaften,  die  hernach  in  dem  Mann 
und  Greis  sich  offenbarten  als  die  Grundelemente  seiner  eigenen 
Lebenshaltung.  Er  selber  liebte  es,  in  spateren  Jahren  das  Quake- 
rische  in  sich  zu  betonen.  Das  Oinnere  Licht",  die  Intuition  der 
Seele,  blieb  ihm  der  Leitstern  alles  Tuns  und  Den  kens;  die  Selbst- 
achtung,  und  durch  sie  bedingt  die  Achtung  vor  jedem  Mitmenschen 
war  ihm  immerdar  Lebenselement,  die  Luft,  in  der  er  atmete; 
wenn  ihn  die  Erhohung  und  schauende  Einsamkeit  der  Individualitat 
nicht  zur  Vereinsamung,  sondern  zu  warmstem,  stromendem  Ge- 
meinschaftsgefiihl,  zu  jener  von  durchgeistigtem  Eros  gliihenden 
Kameradschaft  fiihrte  und  zu  dem  Begriff  wahrer  Demokratie,  als 
der  freien  Gemeinschaft  selbstfreudiger  und  selbstbeherrschter 
hb'chstentwickelter  Einzelrnenschen,  des  Mgottlichen  Durchschnitts" 
(ein  Leitmotiv  all  seiner  Dichtung),  so  schwingt  hier  der  alte  quake- 
rische  Grundton  von  der  geistigen  Einheit  und  Gleichheit  aller  ins 
GottesbewuBtsein  Eingetretenen  mit. 

Auch  in  seinem  personlichen  Verhalten  und  Sein  offenbarte  sich 
die  Rassengemeinschaft  mit  den  alten  tfFreunden";  wie  denn  wohl 
jedes  Ethos  die  Ziige  seiner  Rasse  tragt.  Seine  Aufrichtigkeit  und 
Schlichtheit,  seine  Gelassenheit,  seine  Sell weigsamkeit,  seine  Freund- 
lichkeit  gegen  Jedermann,  seine  Gleichgiiltigkeit  gegen  geltende 
Gesellschaftsregeln ,  —  all  das  waren  echte  Quakereigenschaften. 
Zumal  nachdem  das  vulkanische  Feuer  seiner  Mannesjahre  in  ge- 
waltigen  Gesangen  aus  ihm  hinausgeschleudert  war,  breitete  sich 
immer  mehr  die  Herrschaft  eines  milderen,  sternenhaften  Lichtes 
an  seinem  Himmel  aus.  Es  sei  jedoch  schon  hier  bemerkt,  daB  es 
ein  tiefer  Irrtum  ware,  sich  Whitman  auch  wahrend  der  Zeit  seines 
leidenschafllichsten  und  kiihnsten  SchafFens  etwa  als  eine  Art  Ge- 
waltmenschen  vorzustellen.  Das  tiefiste  Element  just  seiner  Wild- 
heit  ist  Stille,  und  er  vennag  das  Rucksichtsloseste  auszusprechen, 
well  in  seiner  Sprache  und  Stimme  immerdar  der  Klang  mystischer 
Zartheit  mitbebt,  der  Klang,  mit  dem  die  Seele  mit  sich  selber  ein- 
sanie  Zwiesprache  halt.  Jede  starke  Bekennerkraft  stammt  aus  den 
Regionen  des  Schweigens  und  der  Scheu.  Die  beruhmten  Worte 

XXIII 


Emersons,  mil  denen  er  ein  Exemplar  der  zweiten  Auflage  der 
,,Grashalme"  (i856)  an  Carlyle  schickte:  ,,Das  Buch  hat  furchtbare 
Augen  und  Biiffelstarke",  deuten  nur  auf  ein  Element  des  Werkes,das 
dem  allezeit  salonfahigen  Emerson  am  starksten  fiihlbar  wurde.  In 
Wahrheit  beben  auch  die  wildesten  Zeilen  dieser  Gesange  noch  von 
der  Jnbrunst,  mit  der  sie  dem  Schweigen  einer  schweren,  zarten, 
keuschen,  frommen  Natur  abgerungensind,  und  zwiscben  ihnen  blitzt 
immer  wieder  ein  seltsames,  lassig-wehes  Lacheln  auf,  der  Schatten 
einer  Handbewegung,  die  gleichsam  sageri  will:  Wozu  reden  wir? 
was  sind  Worte?  horst  du  nicht  die  Sprache  des  Lautlosen  allenthalben 
durch  sie  hindurch?  —  Wenn  Whitman  selber  etwa  am  SchluB  des 
wGesangs  von  mir  selbst"  von  seinem  ,,barbarischen  Raubvogelscbrei" 
spricht,  den  er  iiber  die  Dacher  der  Welt  scballen  laBt,  so  ist 
das  ein  dicbterisches  Stimmungsbild  im  Finale  dieser  gewaltigen 
Rhapsodic,  wo  ihm  gewissermafien  in  der  Fiille  des  Gefiihls  von 
Leben  und  Tod  der  Atem  ausgeht  und  er  nur  noch  stammelnd  am 
Rande  des  Sonneriuntergangs  steht,  wo  Korper-  und  Geisteswelt, 
Endlichkeit  und  Unendlichkeit  ihm  wie  in  flockigen,  gliihenden 
Wolkenfetzen  zerfliefien  und  irgendwo  in  seiner  Seele  etwas  so 
Einsam-Wehes  und  Seliges  schreit,  wie  es  wohl  wirklich  aus  dem 
abendlichen  Ruf  eines  Falken  tonen  mag.  (Mir  klingt  die  letzte 
Zeile  jenes  herrlichen  Gedichtes  von  Gottfried  Keller  im  Ohr:  ,,Fern, 
wild  und  weh  der  Falken  Stimmen  klangen".)  Die  Riicksichts- 
losigkeit  Whitmans  ist  ja  nichts  Gewolltes,  Erzwungenes,  Jahes; 
sondern  nur  das  ruhige,  natiirliche  Fortschreiten  in  dem  reinen 
Aussprechen  und  Anreden  aller  Dinge  und  Gefiihle,  und  just  die 
vielbefehdeten  Gesange,  die  der  Liebe  der  Geschlechter  und  der 
Yerherrlichung  des  Geschlechts  geweiht  sind,  strahlen  von  Einsam- 
keit,  Stille  und  Reinheit.  Eben  durch  dieses  Aussprechen,  durch 
diesen  lebendigen  Klang  einer  mannhaft  keuschen  Stimme  werden 
alle  diese  Gefiihle  geklart,  geheiligt  und  in  die  voile  Natihlichkeit 
des  Seins  emporgehoben.  Es  weht  ein  Duft  um  sie,  nicht  weniger 
frisch,  als  der  den  Knaben  aus  den  Gewandern  seiner  Mutter  streifte. 
Mit  elf  Jahren  wurde  der  kleine  Walt  in  das  Euro  eines  Rechts- 
anwalts  gesteckt.  Obwohl  sich  der  Chef  seiner  freundlich  annahm,  ja 
sogar  fur  ihn  bei  einer  Leihbibliothek  abonnierte,  hielt  der  Knabe  es 
nicht  lange  bei  ihm  aus.  Schon  im  nachsten  Jahre  fmden  wir  ihn  als 
Setzerlehrling  in  einer  Druckerei,  also  an  einem  Ort,  wo  hundert- 

XXIV 


faltige  Kunde  von  dem  Geschehen  jedes  Tages  ihn  streifte  und 
jenes  intime  Interesse  an  den  Freuden  und  Leiden  der  wachsenden 
Doppelstadt  Brooklyn-New  York  in  ihm  geweckt  und  genahrt  vvurde, 
das  ihn  fiir  die  koinrnenden  Jahre  so  recht  zu  einem  Grofistadter  und 
Burger  ,,seiner"  Stadt  machte.  Er  erlernte  das  Druckerhandwerk 
griindlich  und  fand  dabei  auch  im  Laufe  der  Zeit  Gelegenheit  zu 
allerhand  kleinen  Ergiissen  in  Versen  und  Prosa,  die  zum  Teil  in 
geachteten  Wochenblattern  gedruckt  wurden.  In  all  seinem  Tun  blieb 
ihm  eine  gevvisse  Lassigkeit  zu  eigen,  die  Gelassenheit  der  Naturen, 
deren  Bestes  nicht  in  Betriebsamkeit,  sondern  in  aufnehmender  Stille 
reift.  Bei  allem,  was  ihn  zum  Verweilen  lockte,  verweilte  er  mit 
pflanzlicher  Werderuhe,  und  die  hunderttausend  Zungen  stadtischen 
Lebens  rauschten  ihm  wie  Schilfgefluster  oder  wie  der  Donner  der 
See  in  die  Seele,  immerdar  als  Chor  innerhalb  der  groOen  Einheit 
alles  Seins.  Er  wehrt  sich  in  den  ,,Demokratischen  Ausblicken" 
einmal  ausdriicklich  gegen  dieTrennung  von  ,,Natur"  und  wStadt"; 
seine  Sinne  werden  nicht  abgestumpft  oder  iiberreizt  durch  das 
Treiben  der  Strafien,  sondern  sehen  es  mit  eben  der  Frische  an, 
wie  Meer,  Luft  und  Wald. 

Und  der  Pulsschlag  dieser  unbandig  sich  entfaltenden  Doppel- 
stadt war  wahrlich  kein  zahmer  und  friedlicher.  Alles  vibrierte 
von  Zukunft.  New  York  selber  zahlte  damals  schon  200000  Ein- 
wohner  und  wuchs  von  Jahr  zu  Jahr.  Menschen  aller  Rassen  strom- 
ten.  dem  herrlichsten  aller  Seehafen  zu  und  mischten  ihr  Blut  stiir- 
misch  mit  der  alten  englischen  Einwandererrasse.  Sonnenglut  und 
Winterkalte  dieser  kontrastreichen  Zone  leuchtete  und  schnob  durch 
die  StraBen.  Broadway  wimmelte  schon  damals  von  tausenderlei 
Fahrzeugen,  Postwagen,  Omnibussen,  Kutschen,  Reitern,  zum  Teil 
viel  farbiger  und  gestaltenreicher,  als  heute.  Breites  demokratisches 
Treiben  erfullte  ihn.  Das  Grau  gewaltiger  Steinbriicken,  die  Riesen- 
formen  der  Wolkenkratzer  fehlten  noch;  daftir  leuchteten  die  Back- 
steinbauten  farbiger  und  lustiger,  und  auch  das  gelegentliche  Wiiten 
der  Feinde  menschlicher  Siedelung  wurde  zum  furchtbaren  Fest. 
Der  Feuerruf  lockte  Tausende  mit  seinem  Getose  der  Glocken  und 
Homer  herbei  zu  der  flammenden  Arena,  wo  die  rotbcrockten  Feuer- 
wehrleute  inmitten  der  verschlungenen  Eingeweide  von  Spritzen- 
schlauchen,  Leitern,  Haken,  Stricken  ihre  Arbeit  auf  Leben  und 
Tod  verrichteten.  Im  Dezember  i835  brannten  aliein  i3  Morgen 

XXV 


alter  Gebaude  in  drei  Tagen  bis  auf  die  Grundmauern  ab.  Mehr 
als  einmal  horen  wir  in  Whitmans  Gesangen  den  Feuerlarm  gellen! 
Theater  offneten  sich  am  Abend,  vor  alien  das  riesige,  3ooo  Zu- 
schauer  fassende  Bowery-Theater,  wo  beriihmte  englische  Gaste 
vor  einer  kindlich  begeisterten,  tobenden  Volksmenge  von  Arbeitern 
und  Handwerkern  spiel  ten,  als  Gefeiertster  der  groBe  Booth,  den 
der  etwa  1 5  jahrige  Whitman  dort  zum  erstenmal  als  Richard  den 
Dritten  sah,  —  zum  erstenmal  durchschauert  von  der  Macht  kiinst- 
lerischen  Ausdrucks,  lebendigen  Worts,  beseelter  Gebarde.  Immei 
wieder  nur  riickblickend  konnen  wir  in  die  Erschutterungen  seiner 
Jugend  hineinleuchten,  —  konnen  wir  uns  vorstellen,  wie  die  Ge- 
walt  gesprochenen  Wortes  ihn  treffen  muBte,  der  bis  in  die  spaten 
Mannesjahre  hinein  fast  ebenso  stark  wie  zum  Dichter,  sich  zum 
Redner  berufen  glaubte,  zum  groBen  Volksredner,  der  ,,mit  mach- 
tiger  Zunge  Amerika  fiihren,  Amerika  bezwingen"  konnte! 

Unterhalb  des  gewaltigen  materiellen  Aufschwunges  der  jungen 
amerikanischen  Staaten  begannen  immerleidenschaftlicherdieGegen- 
satze  zu  branden,  von  deren  Ausgleich  letzten  Endes  alle  Zukunft 
der  Union  abhing.  Man  mufi  daran  denken,  in  wie  hohem  Grade 
die  politischen  Grundlagen  Amerikas  rein  ideell  und  doktrinar  waren. 
Zwei  Nanien,  Thomas  Jefferson  und  Alexander  Hamilton,  bezeich- 
nen  die  Gegensatzlichkeit  zweier  Grundanschauungen  aller  staat- 
lichen,  ja  iiberhaupt  jeder  Gemeinschaftsbildung.  Jefferson,  der 
Vater  der  demokratischen  Partei,  vom  Geiste  Rousseaus  erfullt, 
lehrte  die  Anwendung  des  Ideals  volliger  individueller  Freiheit  und 
Unbeschranktheit  auf  die  staatliche  Gemeinschaft.  Die  Einheit  der 
Union  diirfe  die  Rechte  der  Einzelstaaten  auch  nicht  um  ein  Jota 
verkiirzen,  genau  wie  jedes  einzelne  Individium  unabanderlich  frei 
und  souveran  sein  miisse.  Hamilton  dagegen  war  sozusagen  demo- 
kratischer  Aristokrat;  er  verachtete  das  ,,Volk"  an  sich  und  sah 
alles  Heil  nur  in  einer  starken  einheitlichen  Bindung,  in  der  Kraf- 
tigung  und  dem  Ausbau  der  Union,  des  Foderalismus.  Beide  Dok- 
trinen,  in  einer  rein  ideellen  Sphare  wohl  versohnbar,  losten  im 
lebendigen  Leben  der  Staaten  Fragen  aus,  die  stiirmisch  gegen- 
einander  prallten.  Und  zwar  wurden  diese  Fragen  immer  mehr  zu 
Kampfparolen  des  Siidens  gegen  den  Norden. 

Der  industrielle  Norden  wuchs  schneller  als  der  vorwiegend  Ge- 
treide  und  Baumwolle  pflanzende  Siiden.  Industrie  braucht  Schutz 

XXVT 


und  starken  Zusammenschlufi;  der  immer  starker  sich  entwickelnde 
Unionsgedanke  aufierte  sich  im  Norden  unter  anderem  durch  das 
Verlangen  nach  Schutzzoll.  Der  Siiden,  in  partikularistisch-agra- 
rischer  Gelassenheit  gegeniiber  dem  Unionsgedanken,  durchweg 
demokratisch  im  Sinne  Jeffersons,  vviinschte  keinerlei  Hindernisse 
fiir  seine  Ausfuhr.  Er  empfand  das  Verlangen  des  Nordens  nach 
einer  die  ganze  Union  umfassenden  Zollschranke  als  eine  fodera- 
listische  AnmaBung  gegeniiber  dem  natiirlichen  Recht  der  Einzel- 
staaten.  Dazu  kam  eine  andere  Frage,  an  sich  zweiten  Ranges,  aber 
vermoge  der  ihr  innewohnenden  rein  menschlichen  Wucht  ge- 
eignet,  zum  Schlagwort  zu  werden:  die  Sklavenfrage. 

Im  Grunde  widersprach  die  Sklaverei,  die  in  den  Siidstaaten  im 
Schwange  war,  dem  demokratischen  Grundsatz  von  der  Gleichheit 
aller  Individ uen,  und  in  der  Tat  wurde  diese  Frage  spaterhin  die 
Ursache  zu  einer  Spaltung  der  Demokratischen  Partei.  Das  Auf- 
bliihen  des  Baumwollhandels  hing  jedoch  so  wesentlich  —  wenig- 
stens  der  im  Siiden  landlaufigen  Meinung  nach  —  von  der  Bei- 
behaltung  der  Sklaverei  (oder  der  „ Institution",  wie  man  eupbe- 
mistisch  sagte)  ab,  daB  das  im  Norden  immer  lauter  werdende 
Verlangen  nach  „  Abolition",  nach  Abschaffung  der  Sklaverei  wie- 
derum  nur  als  Angriff  des  iibermiitigen  Nordens  gegen  die  Grund- 
rechte  des  Siidens  empf'unden  wurde.  Jedoch,  wie  gesagt,  ein 
grofier  Teil  der  Demokratischen  Partei  selber  war  zwar  fur  den 
Freihandel,  aber  dennoch  eben falls  gegen  die  Sklaverei.  Und  iiber- 
haupt  war  in  lebendigem  Wachstum  aller  Krafte  des  jungen 
Staatenbundes  das  Gefiihl  der  Zusammengehorigkeit  und  des 
Stolzes  auf  die  Zukunft  der  Union  dermafien  in  standigem  Zu- 
nehmen  begriffen,  dafi  vorlaufig  noch  jeder  Sezessionsgedanke 
zuriickgewiesen  wurde.  Es  kam  in  der  Tariffrage  ein  Kompromifi 
zustande,  und  Sud-Carolina,  das  allein  mit  Sezession  gedroht  hatte, 
unterwarf  sich  einem  etwas  gemilderten  Schutzzoll. 

Inmitten  all  dieser  lebendig  auf  ihn  eindringenden  Stromungen  war 
Walt  Whitman  zu  einem  langgliedrigen,  siebzehnjahrigen  Burschen 
herangewachsen,  der  sich  in  allerhand  journalistischer  Fedet  fertig- 
keit  geiibt  und  im  Umgang  mit  Menschen  sich  vielerlei  Erfahrung 
und  Bildung  angeeignet  hatte. 

Mit  einer  der  jahen  Wendungen,  die  in  seinem  Leben  nicht 
selten  sind,  kehrte  er  im  Jahre  i836,  im  Friihling,  der  Stadt  den 

XXVII 


Riicken  und  ging  in  die  atlantische  Stille  von  Long  Island  zuruck. 
Er  Heft  sich  zunachst  als  Dorfschulmeister  in  dem  kleinen  Stadt- 
chen  Babylon  nieder;  fiir  einen  jungen,  landgeborenen  Amerikaner 
der  damaligen  Zeit  eine  nicht  eben  sebr  erstaunliche  Berufsver- 
anderung.  Babylon  lag  an  der  groOen  Bucht  des  Siidgestades  der 
Insel,  von  wo  er  im  Norden  die  blaue  Hiigelkette  oberhalb  Hun- 
tingtons  sehen  konnte. 

Man  mag  in  dem  Entschlufi,  fiir  mehrere  Jahre  —  mit  Unter- 
brechung  —  den  Beruf  eines  Lehrers  auszuiiben,  die  Lust  an  per- 
sonlicher,  unmittelbarer  Wirkung  erkennen,  etwas  von  jenem  Eros, 
der  vielleicht  in  jeder  Neigung  zur  Padagogik  lebendig  ist.  Jeden- 
falls  kam  bei  Wbitmans  Lehrertum  das  Leibhaftige  seiner  Wesen- 
heit  nicht  zu  kurz;  alle  Aussagen  friiherer  Schiiler  von  ihm  sind 
sich  einig  darin,  daft  seine  eigentliche  erzieherische  Wirkung  in 
seiner  Personlichkeit  lag,  in  der  unbestimmbaren,  frischen,  reinen 
Anziehungskraft,  die  von  ihm  ausstromte,  in  voller  Gelassenheit 
und  Freundlichkeit,  unbeeintrachtigt  durch  schulmeisterliches  Ge- 
haben  und  Launen.  Seine  Stellung  zu  den  teilweise  mit  ihm  gleich- 
altrigen  Schiilern  war  eine  ungezwungene  Mischung  von  Ka- 
meradschaft  und  Autoritat.  In  den  freien  Stunden  trieb  er  sich 
mit  den  Madchen  und  Knaben  auf  der  Lagune  und  auf  See  herum, 
beim  Fisch-,  Krabben-  und  Muschelfang,  immer  umatmet  von 
dem  Tang-  und  Salzgeruch  und  der  vielbewegten  Weite  der  at- 
lantischen  Kiiste,  immer  im  Angesicht  der  ruhelosen  Unendlich- 
keit  des  Ozeans,  von  der  er  spater  selbst  sagte,  daB  sie  ihm  von 
friiher  Jugend  an  das  Gebot  zugerauscht  habe,  sie  nicht  nur  in 
einer  Dichtung  zu  verherrlichen,  sondern  eine  Dichtung  zu  schaffen, 
die  selber  so  wie  das  Meer  ware. 

Im  Friihling  des  Jahres  i838  finden  wir  ihn  wieder  in  Hunting- 
ton,  wo  er  eine  Wochenschrift  ,,Der  Long  Islander"  griindete,  die 
heute  noch  erscheint.  Er  war  Drucker,  Redakteur  und  Verleger 
zugleich.  Er  hatte  sich  eine  Presse  und  Typen  gekauft  und  seine 
Druckerei  in  der  oberen  Etage  eines  Gebaudes  eingerichtet,  das 
heute  ein  Stall  ist.  In  diesem  etwa  vier  Seiten  starken  Wochen- 
blatt  brachte  er  seine  politischen  und  moralischen  Anschauungen 
mit  Lebhaftigkeit  und  Scharfe  zum  Ausdruck.  Vor  allem  wandte 
er  sich  gegen  die  Sklaverei,  gegen  den  Alkohol  und  gegen  die 
Todesstrafe.  Eine  puritanische  Neigung  zum  Moralisieren  war 

XXVIII 


stark  ausgepriigt.  Er  selber  hatte  es  sich  damals  zum  Gesetz  ge- 
macht,  nicht  za  trinken,  zu  rauchen  und  zu  fluchen,  ebenso  kam 
ihm  schon  damals,  wie  sein  gaj^es  Leben  lang,  niemals  ein  schliipf- 
riges  Wort,  ein  zweideutiger  Witz  oder  dergleichen  iiber  die  Lippen. 
Sein  Gefiihl  fur  personliche  Wiirde  und  Beherrschtheit  war  alle- 
zeit  lebendig.  Das  hohe  Pathos  seiner  spateren  Dichtung  warf  sein 
klares  Licht  voraus;  dieses  Pathos,  das  so  gar  nicht  der  grofien 
Worte  bedurfte,  sondern  im  Gegenteil  die  ungezwungenste  All- 
tagssprache,  den  Stimmklang  des  eigenen  leibhaftigen  Fleisches 
und  Blutes  suchte. 

Er  hatte  sich  ein  Wagelchen  und  ein  Pferd  beschafft  und  fuhr 
damit  auf  der  Insel  umher,  urn  den  Lesern  sein  Wochenblatt  ins 
Haus  zu  bringen.  Alles  in  allein  eine  frohliche,  selbstandige,  leben- 
dige  Tatigkeit,  die  er  sich  so  immer  wieder  in  tastenden  Versuchen 
zu  schaffen  bemiiht  war.  Immer  aber  so  frei  von  aller  Betriebsam- 
keit  und  allem  wirklichen  Geschaftsgeist,  immer  so  dem  Ruhe- 
vollen,  \7erweilenden,  Lassigen,  Aufnehmenden  zugetan,  daB  ihm 
kein  rechter  auBerer  Erfolg  bliihen  wollte.  Das  Erscheinen  des 
Blattes  wurde  immer  unregelmaBiger,  bis  endlich  die  Abonnenten 
die  Geduld  verloren  und  ihn  im  Stich  lieBen,  so  daB  die  Redaktion 
geschlossen  wurde  und  der  ,,Long  Islander"  erst  nach  einem  Jahr 
wieder  unter  anderer  Leitung  erschien. 

Whitman  selber  war  wieder  Schulmeister  in  Babylon  geworden 
und  blieb  es  noch  zwei  Jahre  lang.  Der  Drang  nach  etwas  ande- 
rem,  breiter  und  starker  und  eigenartiger  Wirkendem,  trieb  ihn 
jedoch  auch  schon  wahrend  dieser  Zeit  zu  politischer  Betatigung. 
Er  trat  bei  der  Wahlversammlung  von  1840  selber  als  Redner  auf 
und  sprach  fur  die  Prasidentschaftskandidatur  van  Burens,  der 
von  der  Demokratischen  Partei  aufgestellt  war,  aber  derjenigen 
Richtung  angehorte,  die  die  Abschaffung  der  Sklaverei  verlangte. 
Es  zog  ihn  nun  immer  starker  in  die  bewegtere  Welt  zuriick, 
und  im  Sommer  1841  trat  er  in  die  Druckerei  der  ,,New  World" 
in  New  York  als  Setzer  und  Mitarbeiter  ein.  Er  gehorte  seit- 
dem  zwanzig  Jahre  lang  der  Genossenschaft  der  New  Yorker 
Drucker  an. 

Es  kam  nun  eine  lange  Zeit  vielfaltiger  journalistischer  Tatig- 
keit fur  Whitman.  Er  schrieb,  nachdem  er  seinen  ersten  Publi- 
kumserfolg  mit  einer  Novelle,  ,,Der  Tod  in  der  Schulstube",  die 

XXIX 


in  der  „  Tribune"  erschien,  errungen  hatte,  eine  lange  Reihe  kleiner 
Erzahlungen,  Skizzen  und  Gedichte,  die  in  allerhand  Tages-  und 
Wochenblattern  erschienen,  allesamt  ohne  dichterischen  Wert  und, 
obwohl  aus  jeweils  aufrichtigen  Oberzeugungen  entsprungen,  den- 
nocb  durchaus  sentimental  und  ohne  Eigenart  in  ibrer  Wirkung. 
Er  schwang  sich  sogar  zu  einem  groBen,  ziemlich  kiimmerlich  zu- 
sammengestoppelten  Tendenz-Roman  gegen  die  Trunksucbt  auf, 
„  Franklin  Evans"  benannt,  der  in  zwanzigtausend  Exemplaren  ge- 
druckt  werden  konnte  und  von  dem  er  spater  mit  lassiger  Ironic 
sagte,  er  babe  ihn  mit  Hilfe  schaumenden  Gerstensaftes  in  einer 
Bierstube  am  Broadway  geschrieben. 

Es  war,  als  ob  die  wahre  Natur  und  Sprache  Whitmans  sich  in 
diesen  sieben  Jahren  hatte  durchringen  miissen  durch  den  schemen- 
haften  Wust  der  wurzellosen  Schreibsprache  zweiten  und  dritten 
Aufgusses.  Hie  und  da  blitzte  in  einem  Aufsatz,  in  einem  Gedicht, 
in  einer  Novelle  ein  Wort  oder  Satz  auf,  der  von  einer  anderen, 
neuen,  unverfalschten  Natiirlichkeit  strahlte.  Aber  im  allgemeinen 
liefi  nichts  an  diesen  Erzeugnissen  den  wahren  Walt  Whitman 
ahnen.  Ja,  die  Probleme  von  Gut  und  Bose,  mit  denen  er  sich 
herumschlug  und  die  er  an  etwas  krampfhaft  konstruierten  Fallen 
demonstrierte,  gingen  ihm  zwar  offenbar  ehrlich  nahe,  blieben 
aber  dennoch  in  der  Spha're  eines  gewissen  leidigen  Moralisierens 
haften.  Trotz  alledem  lebte  in  der  Art,  wie  er  sich  diese  diisteren 
Zusammenhange  schuf,  die  das  Gute  im  Bosen  verstrickten,  etwas 
Kindlich-Demonstratives,  Missionshaft-Primitives ,  das  nicht  ganz 
ohne  Beziehung  zum  Tonfall  seiner  spateren  Gesange  war.  Jeden- 
f'alls  aber  waren  diese  wie  fiir  eine  puritanische  Fibel  geschaffenen 
Erzeugnisse  Schalen  um  den  wiirzigen,  langsam  reifenden  Kern 
seines  Wesens,  die  sich  leichter  abstreifen  lieCen,  als  etwa  lite- 
rarisch  raffinierte  Kunstprodukte. 

Irgendwie  blieb  er  damit  doch  in  der  Sphare  lebendiger  Wir- 
kung, und  das  leidenschaftlich  bewegte  politische  Leben  tat  das 
seine,  ihn  darin  zu  erhalten.  Er  kam  durch  seine  Beziehungen 
zur  „ Democratic  Review"  haufig  in  das  Hauptquartier  der  Demo- 
kratischen  Partei,  Tammany  Hall,  wo  er  mit  vielen  der  bedeutend- 
sten  Politiker  und  Schriftsteller  zusammentraf,  und  im  Jahre  1846 
wurde  er  zum  Herausgeber  der  grofien  demokratischen  Tages- 
zeitung  „ Brooklyn  Daily  Eagle"  ernannt. 

XXX 


Die  Druckerei  seiner  Zeitung  lag  in  der  Nahe  der  Fahre,  und 
dieser  Platz  an  der  ewig  pulsierenden  Schlagader,  die  die  beiden 
Seestadte  verband,  war  ihm  von  Herzen  recht. 

Denn  wenn  wir  auch  in  seiner  schriftstellerischen  Tatigkeit  dieser 
Jahre  etwas,  zwar  nicht  eigentlich  Abwegiges,  so  doch  noch 
Dumpfes,  Befangenes  empfinden,  so  blieb  sein  leibhaftiges  Wesen 
und  Sein  doch  in  stetem,  fruchtbarem  und  natiirlicbem  Wachstum 
begriffen.  Alle  die  tausend  Keime  der  Dinge,  die  er  in  sicb  auf- 
nahm,  scblugen  an  und  sproBten  in  der  Warme  seiner  Seele,  un- 
beeintrachtigt  von  der  Schreibarbeit  des  Tages.  Im  steten  Wechsel 
zwischen  Stadt  und  Land  —  denn  er  streifte  an  jedem  Wochen- 
ende  drauBen  in  Long  Island  herum  —  wuchsen  ihm  alle  Wesen- 
heiten  dieser  Erdenheimat  uppig  und  wunderbar  ineinunder,  und 
ob  er  sich  in  das  herbe  Gras  der  Kuste  schmiegte  oder  in  das  Ge- 
wimmel  der  StraBen  tauchte,  immer  geschah  es  mit  der  gleichen 
Lust  der  Zugehorigkeit ;  die  stumme  Umarmung  der  Natur  loste 
ebenso  wie  die  brausende  Nahe  seiner  Mitmenschen  die  Wonne 
seines  eigenen  Fleisches  und  Blutes  und  das  wohlige  Daseinsstaunen 
seiner  Seele  aus,  und  irgendwie  wuchs  lauilos  die  reine  Sprache, 
jenes  Ersilings-Anreden  aller  Dinge  in  ihm  immer  machtiger,  zu 
dem  er  sich  noch  erst  dunkel  berufen  fiihlte;  und  das  Antlitz  jener 
Gottheit,  die  er  mit  zarten  Worten  spa'ter  als  die  hochste  feierte, 
der  Wahrheit,  begann  sich  ihm  immer  klarer  zu  entschleiern.  Die 
hochste  Beseligung,  deren  der  Mensch  fahig  ist,  das  Gefiihl  des 
Behaustseins  im  eigenen  Ich,  im  Wunder  des  beschrankten  und 
doch  unendlichen  Raume  des  eigenen  Leibes  und  der  eigenen  Seele, 
entfaltete  sich  immer  bewuBter  in  ihm.  ,,In  unseren  besten  Stun- 
den",  sagt  er  spa'ter  in  den  ,,Demokratischen  Ausblicken",  Msteigt 
ein  BewuBtsein,  ein  Gedanke  in  uns  aul,  unabhangig,  hoch  iiber 
allem  anderen,  gelassen  wie  die  Sterne,  in  ewigem  Glanz.  Das  ist 
der  Gedanke  der  Identitat,  —  der  deinigen  fur  dich,  wer  du  auch 
seist,  wie  der  meinigen  fur  mich.  Wunder  der  Wunder,  iiber  alien 
Ausdruck  erhaben,  geistigster  und  duftigster  aller  Erdentraume, 
und  doch  die  festeste  Grundtatsache  und  der  Zugang  zu  allem  Ge- 
schehen.  In  solchen  andachtigen  Stunden,  inmitten  der  bedeut- 
samen  Wunder  von  Himmcl  und  Erde,  (bedeutsam  nur  wegen 
meines  Ich  im  Mittelpunkt),  fallen  alle  Glaubensbekenntnisse  und 
Ronventionen  ab  und  werden  belanglos  vor  dieser  einfachen  Idee. 

XXXI 


In  der  Erleuchtung  wirklichen  Schauens  nimmt  sie  allein  Besitz 
von  uns  und  hat  allein  Wert  fur  uns.  Wie  der  schattenhafte  Zwerg 
im  Marchen  dehnt  sie  sich,  einmal  entfesselt  und  erkannt,  iiber 
die  ganze  Erde  aus  und  reicht  bis  an  das  Dach  des  Himmels." 

Im  stetig  \verdendenGefiihl  dieser  ,,Grundtatsache"  in  der  eigenen 
Brust  und  im  lebendigen  Ausstromen  dieses  Gefuhls  durch  die  ge- 
sunde,  warme  Leibhaftigkeit  seines  Korpers  hindurch  schlenderte 
er  in  wacher,  elektriscb  bebender  Lassigkeit  durch  das  Getummel  der 
brausenden  Stadt,  iiberall  aufnehmend,  Licht,  Scbatten,  Laute,  Far- 
ben,  Gutes  und  Boses  wie  mit  empfindlichen  Antennen  in  sich  emp- 
fangend,  und  iiberall  Wohlgefiihl,  Sympathie,  Magnetismus  ver- 
schenkend,  an  geistige  Menschen  wie  an  das  einfache  Volk,  Freund 
mit  alien,  nicht  geschwatzig,  betriebsam,  sondern  schweigsam,  ge- 
lassen,  mehr  schauend,  als  redend,  und  alien,  bei  denen  er  halt 
machte  oder  denen  er  die  Hand  auf  die  Schulter  legte,  das  wohl- 
tuende  Gefiihl  der  Bedeutsamkeit  und  des  Sinnes  ihrer  Tatigkeit, 
ihres  Berufs  oder  Handwerks  vermittelnd.  Er  kannte  die  Kapitane 
und  Mannschaften  der  Fahrboote,  war  befreundet  mit  den  Omni- 
buskutschern  und  liebte  es  leidenschaftlich,  neben  ihnen  hoch  auf 
dem  Bock  sitzend  durch  das  vielgestaltige  Gewiihl  des  Broadway 
zu  fahren.  Er  ging  in  die  Theater,  den  Zirkus,  die  Bibliotheken 
und  Museen;  er  war  unter  der  Volksmenge,  die  im  Jahre  1842 
Dickens  bewillkommnete  oder  staunend  die  erste  Lokomotive  be- 
jubelte,  die  auf  dem  neuen  Schienenstrang  von  Buffalo  her  ankam. 
Er  besuchte  Gerichtssale,  Gefangnisse,  Bordells,  —  durch  keinen 
Schatten  irgendeines  Vorurteils  von  irgendeinem  Menschenwesen 
geschieden,  gar  keines  Vorurteils  fahig,  sondern  immer  nur  schauend, 
mitfiihlend,  aufnehmend,  im  stillen  Besitz  jenes  wunderbaren  Etwas, 
das  sich  in  keine  Dumpfheit  menschlichen  Fur  und  Widers  hinein- 
zerren  lafk,  sondern  durch  alles  hindurchgeht  wie  der  Geist  wach- 
gewordenen  Lebens  selber,  wahrend  sein  Herz  schon  in  stummer 
Sprache  die  Worte  redete,  die  er  noch  nicht  in  Laute  zu  iiber- 
setzen  vermochte,  —  ja  die  er  vielleicht  in  all  seinen  Gesangen, 
die  wie  keine  zuvor  die  transparente  Kraft  der  Andeutung  ent- 
falteten,  dennoch  niemals  ganz  iibersetzt  hat,  wie  er  denn  selber, 
in  dem  ,,Lied  von  der  rollenden  Erde",  die  Worte  preist,  die  keine 
Worte  der  Menschensprache  sind,  sondern  die  lautlos  in  Erde  und 
Himmel  und  Welten  wie  in  den  Ziigen  eines  Mundes  oder  in  einer 

XXXII 


(ichiirde  rulien.  Ja,  noch  in  spateren  Jahren  konnte  er  von  deni 
(Jefiihl  des  ewig  Unaussprechlichen  so  iiberwaltigt  werden,  dafi  er 
jene  weh-grimmigen,  vom  herrischen  Gelachter  aufierster  Einsain- 
kcit  durchschiitterten  Strophen  schrieb,  die  ich  dieser  Einleitung 
;ils  Motto  vorangestellt  habe,  •  Gelachter,  das  zu  horen  uns 
von  dem  wahren  Wesen  all  seines  Dichtens  mehr  offenbart,  als 
alle  wohlgeordnete  Betrachtung.  Denn  was  anderes  lacht  dariri, 
als  dieselbe  Kraft,  die  im  All  zugleich  schafft  und  zerstort,  die  nach 
Gestalt  ringt  und  in  der  Gestalt  selber,  ja  in  der  hochsten,  die  sie 
zu  bilden  vermochte,  der  leiblich-seelischen  Menscbengestalt  selber, 
jubelnd,  wild,  selig  das  Gestaltlose  griiBt?  Und  so  erst  verspiiren 
wir  jenen  von  tiefster  Bedingtheit  bebenden  Klang  in  Whitmans 
vvunderbarem  Alltagspathos,  der  aus  dem  Wagnis  stammt,  trotz- 
dem  Worte  zu  bilden,  in  Worte  das  UnfaDbare  zu  fassen. 

Wir  fu'hlen  im  Steigen  dieser  Werdejahre,  wie  die  Hiillen,  die 
die  starken,  saftstrotzenden  Knospen  seiner  Dichtung  noch  um- 
schlieBen,  von  verhaltener  Triebkraft  beben  und  bereit  sind,  iiber 
Nacht  aufzubrechen,  wenn  noch  die  letzte  warme  Zeugungswelle 
iiber  sie  haucht.  Und  sie  kam  mit  dem  Friihling  des  Jahres  1848. 


Ill     NM.ini.ju   I 


SCDLICHE  GLUT 

O   magnetischer  Suden! 

O  magnetischer  Siiden !  o  gleifiender  wiirziger  Siiden !  mein  Siideu ! 

O  feuriger  Sinn,  o  iippiges  Blut,  TrieLkraft    und    Liebe !    Bose    und  Gut ! 

O  mir  so  lieb !  .  .  . 
\Viederum  gleite  ich  in  Florida   auf  durchsichtigen    Seen,    ich    gleite    auf 

dem  Okeechobee,  ich  streife  durch  das    Hiigelland    oder    durch    lieb- 

liche  Lichtungen  oder  dichte  Forste, 
Ich  sehe  die  Papageien  in  Waldern,  ich  sehe  den  Melonenbaum  und  den 

bliihenden  Eisenholzbaum ; 
Wiederum,   an    Deck    meines    Kustenschoners,    segle    ich    an  Georgia    hin 

und  segle  an  Carolina  hin, 
Ich  sehe,  wo  die  immergriine  Eiche  wachst,  die  gelbe  Pinie,  der  duftende 

Lorbeerbaum,    die    Zitrone    und    Orange,    die    Zypresse,    die    zierliche 

Zwergpalme, 
Ich  fahre  an  rauhen  Vorgebirgen  vorbei  und  biege  in    den  Pamlico-Sund 

durch  schmale  Zufahrt  und  schaue  ins  Land  hinein ; 

O  die  Baumwollstaude !  Die  spriefienden  Reis-,  Zucker-  und  Hanffelder ! 
Die  dornenbewehrte  Kaktee,  der  Lorbeerbaum  mit  groGen  weiGen  Bliiten, 
Die  Bergkette  in  der  Feme,  die  unberiihrte  tlppigkeit,  die  alien  Walder, 

beladen  mit  Misteln  und  hangenden  Flechten, 
Der  Harzduft  und    das    ernste    Dunkel,    die    schauernde    Stille    der    Natur 

(hier  in  diesen  dichten  Siimpfen  tragt  der  Freibeuter  seine  Flinte  und 

hat  der  Fluchtling  seine  versteckte  Hiitte). 
O  der  fremde  Zauber  dieser  nur  halb  erforschten,  halb  undurchdringlichen 

Siimpfe,   durchwimmelt    von    Reptilen,    widerhallend    vom  Bellen    des 

Alligators,  von  den    traurigen  Lauten    der  Nachteule    und  Wildkatze, 

und  von  dem  Schnarren  der  Klapperschlange, 
Der  Spottvogel,    der  Gaukler  Amerikas,    der    den    ganzen  Vormittag   singt 

und  singt  durch  die  mondhelle  Nacht, 

Der  Kolibri,  der  wilde  Truthahn,  der  Waschbar,  das  Opossum; 
Ein  Kornfeld  in  Kentucky,    das  hohe,    geschmeidige,    langblattrige  Korn, 

schlank,  schvvankend,  hellgriin,  gefiedert,  mit  herrlichen  Ahren,   jede 

wohlgeborgen  in  ihrer  Hiilse ; 
O  rnein  Herz!    o  zartliche,  wilde  Schlage,    ich  kann    sie    nicht    aushalten, 

.ich  will  fort !  .  .  . 
O  unbezwingliche  Sehnsucht!  O  ich  will  wiederkehren  nach  Alt-Tennessee 

und  nie  wieder  wandern. 


XXXIV 


Obwohl  die  Eigentiimer  des  „ Daily  Eagle"  der  Richtung  der 
Demokratischen  Partei  angehorten,  die  die  Rechte  der  Einzelstaaten 
um  jeden  Preis  gewahrt  wissen  wollte  und  also  jeden  Eingriff  der 
Union  in  die  Sklavenfrage  als  eine  Herausforderung  des  Siidens  be- 
trachtete,  war  Whitman  dennoch  nicht  gewillt,  aus  seiner  Stellung 
zu  dieser  immer  brennender  \verdenden  Frage  ein  Hehl  zu  machen. 
Die  daraufhin  erfolgende  Kritik  der  Eigentiimer  der  Zeitung  an 
seiner  Gesinnung  beantwortete  er  mit  einer  Kiindigung,  so  \venig 
er  auch  materiell  in  der  Lage  war,  einen  sicberen  Posten  leicbtbin 
aufzugeben. 

Den  leidenschaftlichsten  und  dicbterisch  bedeutsamsten  Ausdruck 
batte  er  seinem  Abscbeu  gegen  die  Sklaverei  in  einem  Gedicht 
uBlutgeld"  gegeben,  das  in  der  „ Tribune"  erscbienen  war,  unter- 
zeichnet  ,,Paumanok".  Hier  loste  er  sich  zum  erstenmal  aus  her- 
kommlichen  Versmafien  und  goC  seinen  Grimm  in  freie  Rhyth- 
men,  und  zum  erstenmal  klingt  bier  ein  Stimmton,  der  die  kom- 
inende  Dichtung  Whitmans  verkiindet,  noch  ringend,  gleichsam 
mit  einer  schweren  Zunge,  die  erst  reden  lernt,  aber  doch  deutlicb 
vernehmbar.  Das  Gedicht  wurde  in  spateren  Jahren  in  den  Sammel- 
band  der  Prosaschriften  Whitmans,  in  einen  kleinen  Anhang  von 
Jugendarbeiten  aufgenommen.  Das  gliihende  Gefiihl  Whitmans 
fur  die  Leiden  der  Sklaven  kommt  in  den  ,,Grashalmen"  des  ofteren 
zu  leidenschaftlichem  Ausdruck,  dann  freilich  von  jedem  Beige- 
schmack  der  Aktualitat  befreit. 

Das  Gedicht  lautet: 


BLUTGELD 

,Schuldig  am  Leib  und  Blute  Christi' 


Einst,  als  die  Zeit  erfiillt  war, 

Dafi  der  wundervolle  Gott,  Jesus,  sein  Werk  auf  Erden  beenden  sollte, 

Ging  Judas  bin  und  verkaufte  den  jungen  Gottessohn 

Und  liefi  sich  bezahlen  fur  seinen  Leib. 

i»«  XXXV 


Fluck  traf  die  Tat,  nock  eke  der  SckweiC  der  krallenden  Hand  ver- 

trocknet  war, 

Und  Finsternis  furckte  sick  iiber  clem,  der  das  Ebenbild  Gottes  ver- 

sckackert, 

Wo  er  king  in  der  Luft,  als  sckleuderte  die  Erde  ihn  von  ikrer  Brust 

Und  wiese  der  Himmel  ikn  zuriick, 

Von  eigner  Hand  gekenkt. 

Mil  langen  Sckatten  sind  die  Kreislaufte  sckweigend  vorgeriickt 
Seit  jenen  alten  Tagen,  —  und  manck  ein  Beutel  sackte  indessen  ein 
Sein  Siindengeld,  gleick  jenem  fiir  Marias  Sokn. 

Und  immer  nock  zischt  die  Frage: 

,,Was  wollt  ihr  mir  geben,  so  will  ich  diesen  Menschen  an  euck  ver- 

raten  ?" 
Und  sie  sckliefien  den  Handel  und  zaklen  die  Silberlinge. 


Blick'  ker,  Erloser, 

Blick'  ker,  Auferstandener  von  den  Toten, 
Gber  die  Wipfel  des  Paradieses; 
Sieke  dick  selber  immer  nock  in  Banden, 
Miikselig  und  beladen  tragst  du  wiederum  Mensckengestalt, 
Du  vvirst  gesckmakt,  gegeifielt,  in  Ketten  gelegt, 
Geketzt  von  der  frecken  Herde  der  andern, 

Mil  Stangeii  und  Sckwertern  droken  die  willigen  Diener  der  Obrigkeit, 
Wieder  umringen  sie  dick,  toll  vor  teuflisckem  HaB ; 
Die  Hande  der  Merige  strecken  sick  aus   nack  dir,   wie  Geicrklauen, 
Die  Niedertracktigsten  speien  dir  ins  Gesickt,  sie  scklagen   dick   mil 

den  flachen  Ha'nden  ; 
Wand,  blutig  und  gefesselt  ist  dein  Leib, 
Zu  Tode  betriibt  ist  deine  Seele. 

Blutzeuge  der  Qual,  Bruder  von  Sklaven, 

Mil  deinem  Preis  ist  deines  Ebenbildes  Preis  nock  nickt  bezaklt, 

Und  immer  nock  sckachert  Isckariot. 

xxx^7I 


Iin  Janiiar  i(S{8  scliicd  Whitman  ;m>  sc.iiiem  Kedaktionsposten, 
und  iin  Februar  desselben  Jahres*  geschah  es,  dafi  er  eines  Abends 
im  Foyer  des  alien  Broadway-Theaters  einem  Herrn  aus  dem  Siiden 
vorgestellt  wurde,  der  ihm  von  der  Griindung  einer  neuen  Zeitung, 
deni  „  Crescent",  in  New  Orleans  sprach  und  ihn  kurzerhand  a  Is 
Mitherausgeber  engagierte. 

Je  wacher  und  leidenschaftlicher  in  Whitman  das  Geftihl  der 
Zugehorigkeit  zu  der  Rasse  seiner  Neuen  Welt  geworden  war  und 
die  alte,  nun  ins  Seelisch-Menschliche  ubertragene  Pionierlust,  in 
und  mit  dieser  Rasse  bier  auf  riesigem,  jungfraulichem  Kontinent 
das  Neuland  des  Menschen  zu  entdecken  und  zu  erobern,  aus 
diesem  vielgestaltig-kraftstrotzenden  Schopfungslehm  die  hoheren, 
vollkommenen  Sohne  und  Tochter  dieser  Neuen  Welt  und  somit 
der  ganzen  Erde  zu  schaffen,  um  so  starker  muBte  es  ihn  verlocken, 
nun  auch  jenen  so  ganz  andersartigen ,  machtigen  Teil  dieser 
amerikanischen  Heimat  kennenzulernen,  der  in  den  Siidstaaten  der 
Union  verkorpert  war. 

Je  mehr  ihm  durch  eben  jene  Kraft  des  Staunens  die  Welt  des 
Stoffs  zum  Si nn bi Id  wurde,  das  von  geistiger  Unendlichkeit  durch- 
leuchtet  ist,  das  heifit  mit  anderen  Worten,  je  defer  er  alle  Erschei- 
nungen  liebte  um  des  Wunders  ihrer  Existenz  willen,  je  ergreifender 
und  wonnevoller  ihm  alle  Wesen  und  Dinge  aufleuchteten  als 
traumhaft  farbige,  faGbare,  bewegte,  leidende  und  beseligte  Realitat 
inmitten  der  evvigen,  einigen  Realitat  des  Unsichtbaren,  —  um  so 
tiefer  mufite  ihn  ein  weiterer  Schritt  in  diese  leibhaftige  Erschei- 
nungswelt  erschiittern,  zumal  in  einen  Teil  dieser  Welt,  der  mit 
aller  bliihenden  Schopfungspracht,  mit  neuen  Farben  und  Du'ften, 
neuen  Klangen,  Gebarden  und  Charakteren,  mit  neuer  Sonnenkraft 
und  Zeugungsfulle  sich  vor  ihm  auftat. 

Denn  der  Siiden  der  \7ereinigten  Staaten  war  vom  Norden  ebenso 
weltverschieden,  wie  etwa  die  Lander  des  siidlichen  Mittelmeers 
von  Norddeutschland  sind,  ja  in  manchem  Sinne  wohl  noch 
mehr. 


*  Die  Jahreszahl  ist  uinstritten.  Whitman  selhst  ^ibt  in  seinen  autobiographischen 
Notizen  einmal  das  Jalir  1848,  eiumal  das  Jahr  1849  ''"'  sc'nen  Aufenthalt  in 
New  Orleans  an. 

XXXVII 


Whitman  fuhr  aus  dem  noch  rauhen  Februar  seiner  Zone  in  den 
iippigsten  Friihling  hinein. 

Es  bedarf  kaum  eines  Hinweises,  mit  wie  ganz  anderem  Ge* 
fiihl  ein  Mann  eine  eigene  Reise  iiber  einen  Teil  dieser  Erde 
empfindet,  der  gewohnt  ist,  sich  der  Weltraumslage  und  der  tag« 
lichen  und  jahrlichen  Bewegung  dieser  Erde  bewufit  zu  sein. 
Wenn  er  auf  dem  Ohio  entlang  durch  die  erst  neubesiedelten 
Staaten  Ohio,  Indiana,  Kentucky  und  Illinois,  die  noch  von  Ur- 
waldfrische  gleichsam  darnpften  und  dufteten,  in  den  Vater  der 
Gewasser,  den  Mississippi  hineinfuhr,  so  breitete  sich  das  ganze 
Leben  dieses  gewaltigen  Stromes  vor  seiner  Seele  aus,  der  mit  seinen 
reichen  Nebenstromen  das  Ackerland  von  halb  Amerika  bewassert 
und  den  er  als  die  wahre  Schlagader  der  Neuen  Welt  ansah,  um 
die  sich  das  innerste  Leben  einer  herrlichen  Menschenzukunft  grup- 
pieren  miiBte.  Die  geographische  GroBe  rief  ebenbiirtige  geistige  und 
dichterische  GroBe  zuerst  noch  dunkel  und  drangvoll  in  ihm  zum 
Wettstreit  auf,  —  irgend  etwas  ganz  Neues,  Unmittelbares,  Eroberer- 
starkes,  alle  alteren  Kulturen  Fortfiihrendes,  Vollendendes,  oder 
wenigstens  ihnen  Gleichwertiges. 

Mit  solcher  Werde-Unruhe  mischte  sich  andere  Bewegtheit,  per- 
sonlicher,  heifier,  dammriger:  vielleicht  altes  wallisisches  Blutsfieber 
von  den  Ahnen  her,  das  die  gelassene  Leidenschaftlichkeit  seiner 
Natur  zum  ersten  Mai  mit  heiBeren  Wiirzen  durchbrannte.  Die 
alles  Sein  lockende  und  losende  Kraft  des  Siidens  stromte  ihm 
entgegen.  Die  WTonnen,  die  starken  Naturen  mit  Wehen  nahen, 
verkiindeten  sich  seiner  Seele  von  ferae,  seiner  Seele,  die  nicht 
anders  konnte,  als  sich  allem  offnen,  was  von  drauBen  nach  EinlaB 
und  von  drinnen  nach  AuslaB  drangte.  Eine  Luft  schlug  ihm 
entgegen,  in  der  tausend  bisher  noch  nicht  entfaltete  Sprossen  und 
Triebe  sich  plotzlich  mit  unbandiger  Lust  regten  und  streckteri, 
und  in  der  ihn  die  Ahnung  von  der  Macht  iiberwaltigte,  die  ihm 
von  nun  an  das  Leben  alles  Lebens  werden  sollte,  die  Urkraft  des 
Weltalls,  das  beseelte  Mysterium  aller  Neugeburt,  die  Macht  des 
Geschlechtes,  der  Zeugung. 

Seine  Unruhe  fand  einen  noch  befangenen,  zahm  gereimten  und 
gewissermafien  lehrhaften  Ausdruck  in  einem  Gedicht,  das  er  wah- 
rend  der  Fahrt  auf  dem  Mississippi  schrieb  und  in  dem  er  den 
„ Strom  der  Jugend"  anruft  und  den  Steuermann,  der  auf  ihm 

XXXYUI 


das  Schiff  lenkt,  vor  iippigern  Erschlaffen  and  sorgloser  Wollust 
warnt. 

Im  schopferischen  Werdegang  offnen  sich  p lot/1  id i  Spharen,  die 
mil  einem  Male  eine  Heimatluft  um  den  Genius  atmen  und  in  denen 
alles,  was  sich  bisher  auf  keine  Weise  sagen  oder  gestalten  lieB, 
nun  mil  der  Erstlingsfrische  und  dem  geheimnisvollen,  vieldeutigen, 
herben  Zauber  Gestalt  annimmt,  mit  dem  es  im  Innersten  erabnt 
und  geschaut  wurde. 

Die  Dinge  bebalten  denselben  Namen,  aber  er  klingt  anders. 
,,Baum"  ist  nicht  mehr  ,,Baum",  ,,Hand  und  Mund"  nicht  mehr 
,,Hand  und  Mund",  ,,Herz"  nicht  mehr  ,,Herz";  Wonnen  der  Neu* 
geburt  beginnen  zu  waken. 

In  eine  solche  Sphare  trat  Whitman  offenbar  mit  diesem  Friih- 
ling  1848  ein. 

Sie  stand  unter  dem  Zeichen  einer  Liebe,  deren  Starke  und 
Glut  wir  nur  eben  aus  dieser  ihrer  Wirkung  auf  seine  Dichter- 
kraft  und  aus  einigen  wenigen  Anzeichen  ahnen  konnen,  da  er 
selbst  bis  an  seinen  Tod  den  Schleier  des  Geheimnisses  dariiber 
gebreitet  hat.  Weder  vor-  noch  nachher  ist  uns  von  einem  Herzens- 
erlebnis  Whitmans  etwas  bekannt,  und  es  scheint  in  der  Tat,  als 
ob  dies  die  einzige  groBe  Leidenschaft  seines  Lebens  gewesen  ist; 
wie  ja  denn  auch  das  Gesetz  der  Einmaligkeit  iiber  all  seinem 
Wesen  und  Schaffen  zu  walten  scheint:  der  allesumspannenden 
Einmaligkeit,  die  wie  in  einer  grofien  Umarmung  sich  mit  dem 
Dasein  vermahlt.  Denn  es  sei  schon  hier  gesagt,  daB  seine  Dich- 
tung,  nachdem  sie  einmal  ihre  Ausdrucksform  gefunden  hatte,  sich 
in  einem  machtigen  vulkanischen  Ausbruch  verschleuderte,  dem 
zwar  immer  wieder  noch  Feuerstrome  folgten,  die  jedoch  ebensogut 
nur  gleichartige  Teile  der  ersten  Glut  batten  sein  konnen.  Damit 
soil  nicht  gesagt  sein,  daB  wir  nicht  fruhere  und  spatere  Epochen 
an  seinen  Gesangen  gut  zu  unterscheiden  vermochten.  Jedoch  ge- 
hort  dazu  schon  eine  ziemlich  genaue  Kenntnis  Whitmans;  eine 
Einteilung  seines  Schaffens  in  verschiedene ,  jeweils  in  sich  ge- 
schlossene,  aufbauende  Ringe  und  Kreise,  wie  etwa  die  aus  Goethes 
Werk  sich  ergebende,  ist  bei  ihm  nicht  denkbar.  Die  Maschen 
seines  zuerst  nur  96  Seiten  starken  Buches  waren  so  weit  gewebt, 
daB  er  die  vielen  noch  folgenden  Gesange  in  sie  verteilen  konnte. 
Er  sang  das  eine  groBe,  freilich  vielfaltige  Thema,  das  im  Grunde 

XXXIX 


weder  Anfang  noch  Ende  hat.  So  konnte  er  denn  auch  etvva  an 
den  Schlufi  der  dritten  Auflage  von  1860  bereits  das  Gedicht  ,,Leb- 
wohl"  stellen,  das  wie  der  Abschied  eines  sterbenden  Greises  klingt, 
obwobl  er  es  als  Vierzigjahriger  schrieb,  und  das  er  aucb  in  den 
ganz  spaten  Auflagen  der  MGrashalme"  ohne  irgendeine  storende 
Wirkung  mit  Fug  wiederum  an  den  SchluB  stellen  durfte  und 
stellte.  Er  zog  die  Umrisse  seines  Werkes  von  vornherein  so  weit 
und  geraumig,  als  hatte  er  einen  visionaren  Vorausblick  iiber  sein 
gesamtes  Schaffen  gehabt. 

Das  New  Orleans  von  damals  war  ein  Gemisch  aus  Frankreich, 
Spanien,  \7enedig  und  Amerika. 

In  weicber,  iippiger  Luft  lag  es,  halb  modern,  halb  altertum* 
lich,  an  den  Golf  von  Mexiko  gedrangt,  mit  seiner  katholischen 
Kathedrale,  die  von  tausend  wirren  Ziegeldachern,  Galerien  und 
Hofen  umlagert  und  von  einer  Fiille  siidlandischer  Blumen  und 
Baume  umduftet  war.  Musik  und  Gesang,  weiche  kreolische 
Laute  lagen  in  der  Luft.  Priester  wandelten  in  langen  Gewandern 
durch  die  Strafien,  in  denen  sich  ein  Durcheinander  von  Pflanzern, 
Handlern,  Abenteurern  drangte.  In  strengerer  Abgesondertbeit 
schloB  sich  die  vornehmste  Aristokratie  der  Neuen  Welt  zusammen. 
Nirgends  in  den  Staaten  lebte  ein  so  feudaler  Kastengeist  wie 
hier,  —  gemildert  durch  die  Weichheit  der  Zone,  durch  die  all- 
gemeine  Frohlichkeit,  die  sich  in  hunter  Romantik  mit  Tanzen, 
Karnevals,  Duellen,  Liebesabenteuern  austobte.  In  der  Gesellschaft 
wurde  viel  franzosisch  gesprochen.  An  der  Seite  der  Stadt  je- 
doch,  die  nach  dem  Mississippi  bin  lag,  brodelte  das  SchifFer-  und 
Matrosenviertel,  mit  zahllosen  Spelunken,  Kneipen  und  Spiel- 
hollen,  eine  wilde,  von  Verbrechern  durchlungerte  Welt.  Und  bin 
und  her  in  der  Stadt  trieb  eine  verwegene  Kiinstler-  und  Literaten- 
boheme  ihr  leichtsinniges  Wesen. 

Aus  einigen  sparlichen  miindlichen  und  brieflichen  Andeutungen 
Whitmans  geht  nun  hervor,  daB  er  hier  in  dieser  bewegten, 
schonen  Stadt  eine  Fran  traf,  die  er  ebenso  leidenschaftlich  liebte 
wie  sie  ihn. 

Wer  es  war  und  in  welchen  Kreisen  er  sie  kennen  lernte,  ob 
in  der  Gesellschaft  oder  im  Volk,  wissen  wir  nicht.  Die  meisten 
Biographen  nahmen  bisher  an,  es  sei  eine  Dame  der  siidlichen 
Aristokratie  gewesen,  deren  Liebe  zu  einem  Journalisten  und 

XL 


Handwerker  aus  dein  Norden  ein  so  ungeheuerlicher  Bruch  mil 
den  Anschauungen  ihrer  Klasse  war,  daB  an  eine  Heirat  nicht  zn 
denkeri  war.  Whitman  reiste  nach  drei  Monaten  plotzlich  aus  New 
Orleans  ab  und  kehrte  in  den  Norden  zuru'ck;  und  diese  flucht- 
artige  Abkehr  wird  gedeutet  als  Folge  etwa  des  Einschreitens  der 
Verwandten  der  Dame,  denen  etwas  von  ihrem  Verhaltnis  zu  Whit- 
man zu  Ohren  gekommen  war.  Das  lebenslange  Schweigen  des 
Dichters  iiher  alle  Einzelheiten  dieses  tiefgreifenden  Erlebnisses, 
das  so  sehr  im  Widerspruch  steht  zu  seinem  sonstigen  freien  Aus- 
sprechen  aller  Dinge,  die  ihn  bewegten,  ware  dann  als  eine  viel- 
leicht  von  den  Verwandten  geforderte,  vielleicht  auch  freiwillige 
Riicksichtnahme  zu  erklaren.  Neuere  Biographen  glauben  keinen 
Grund  fur  eine  solche  Deutung  zu  sehen  und  meinen,  diese  Ge- 
liebte  habe  ebensogut  eine  Frau  aus  dem  Volk  sein  konnen,  die  ihn, 
wie  so  viele  Hunderte  in  New  York,  eben  nur  als  ,,Walt"  kannte 
und  ihn  liebte,  ohne  zu  fragen  und  etwas  anderes  von  ihm  zu  for- 
dern,  als  Gegenliebe.  Aus  dem  einen,  ja  wohl  einzigen  Gedicht 
Whitmans,  das  einem  personlichen,  besonderen  Liebeserlebnis  gilt 
und  das  zweifellos  auf  die  Zeit  in  New  Orleans  zu  deuten  ist,  nam- 
lich  dem  Gedicht  ,,Einst  kam  ich  durch  eine  volkreiche  Stadt"  (in 
den  ,,Kindern  Adams")  ergibt  sich  in  jener  Hinsicht  auch  keinerlei 
bestimmte  Deutung.  Es  spricht  nur  fur  die  Starke  seines  Gefiihls 
und  fast  noch  mehr  des  Gefiihls  der  Frau.  Es  gibt  ein  paar  AuBe- 
rungen  Whitmans,  die  mit  aller  Bestimmtheit  aussprechen,  daB  er 
noch  einige  Male  in  den  Siiden  zuru'ck  kehrte.  Nun  ist  uns  aber  sein 
Leben  nach  der  Veroffentlichung  der  ,,Grashalme"  (i855)  so  bis 
in  alle  Einzelheiten  bekannt,  daB  wir  von  diesen  Besuchen  wissen 
inuBten,  wenn  sie  nach  i855  stattgefunden  batten.  Wir  konnen 
sie  also  schlechterdings  nur  in  die  Jahre  zwischen  1 848  (49)  und  1 855 
unterbringen,  die  weniger  offen  vor  uns  liegen.  Da  es  unter  an- 
derem  auch  durch  Whitmans  eigene  Aussage  bekannt  ist,  daB  er  sechs 
Kinder  hatte,  nimmt  man  an,  daB  er  also  in  jenen  Jahren  des  6'fteren 
seine  Geliebte  wiedersah.  Ob  das  gerade  zu  jener  ersten  Deutung 
passen  wiirde,  es  habe  sich  um  eine  von  den  Verwandten  streng 
behiitete  Dame  der  Gesellschaft  gehandelt,  lasse  ich  dahingestellt. 
Neuere  Biographen  neigen  zu  der  Annahme,  diese  sechs  SproBlinge 
stammten  gewifi  nicht  von  derselben  Mutter.  Vor  allem  glauben  sie 
das  aus  der  Stelle  eines  Briefes  Whitmans  an  den  ihm  befreundeten 

XLI 


englischen  Kritiker  Addington  Symonds  zu  erkennen,  wo  Whit- 
man schreibt:  ,,Ich  habe  sechs  Kinder  gehabt  —  zwei  da  von  sind 
gestorben  —  babe  ein  lebendes  Enkelkind  im  Siiden,  einen  feinen 
Buberi,  der  mir  gelegentlich  scbreibt  —  Umstande  (Riicksichten  auf 
die  Vermogenslage  der  Kinder)  haben  uns  intimere  Beziebungen 
unmoglicb  gemacht."  Es  scbeint,  mit  anderen  Worten,  daB  den 
Kindern  ein  gewisses  Vermogen  entzogen  worden  ware,  wenn 
Whitmans  Vaterschaft  anerkannt  worden  ware;  ein Umstand,  der  zu- 
gleich  gewisse  torichte  Vorwiirfe  entkraftet,  Whitman  habe  sich, 
ahnlich  wie  Rousseau,  nicht  um  seine  Kinder  gekiimmert.  Aus  der 
Wendung  ,;habe  ein  Enkelkind  im  Siiden"  schlieBen  nun  jene  neueren 
Kritiker,  daB  er  auch  noch  andere  Enkelkinder  im  Norden  gehabt 
habe,  also  Kinder  von  einer  oder  mehreren  anderen  Frauen.  Andrer- 
seits  scheint  mir  grade  dieser  Hinweis  auf  Vermogensumstande 
denn  doch  sehr  stark  gegen  die  Annahme  zu  sprechen,  jene  Frau 
sei  irgendein  anonymes  Weib  aus  dem  Volke  gewesen. 

Wie  dem  auch  sei,  —  wer  immer  sich  defer  in  Whitmans  Werde- 
gang  einfuhlt,  wird  in  der  Liebe  zu  dieser  siidlichen  Frau  das 
eigentlich  einzige  erschiitternde  Herzenserlebnis  des  Dichters  emp- 
finden  miissen;  alles  iibrige  kann  getrost  weiterer  biographischer 
Forschung  iiberlassen  bleiben*. 

Whitman  verliefi  also  New  Orleans,  nachdem  er  das  ganze  viel- 
faltige  Leben  der  Stadt  in  sich  atifgenommen  hatte,  am  25.  Mai, 
zur  Freude  seines  funfzehnjahrigen  Bruders  Jeff,  den  er  als  Heifer 
in  der  Druckerei  mitgenommen  hatte  und  dem  das  siidliche  Klima 
schlecht  bekam. 

So  kurz  die  Zeit  gewesen  war,  so  fuhr  er  doch  als  ein  anderer 
wieder  den  Mississippi  hinauf  und  durch  den  Missouri,  dann  nach 
dem  jungen  Chikago,  durch  die  grofien  Seen  Michigan,  Huron 
und  Erie  bis  zum  Niagarafall  und  in  das  siidliche  Kanada,  und 
schliefilich  auf  dem  Hudson  wieder  nach  New  York  zuruck.  Die 
Fahrt  dauerte  fiinf  herrliche  Sommerwochen,  in  deren  Glanz  viele 
helle,  aufbliihende  Stadte  an  den  Ufern  an  ihm  voriiberzogen,  im 
Hintergrunde  immer  die  riesigen,  von  Fruchtbarkeit  strotzenden 
Siedellander. 


*  Wahrend  ich  diese  Zeilen  in  Druck  gebe,  wird  soeben  ein  Buch  des  New 
Yorker  Professors  Emmery  Holloway  angekiindigt,  das  neues  Material  zu  dieser 
Frage  bringen  soil.  Es  liegt  zur  Zeit  noch  nicht  vor. 

XLII 


Im  ganzen  war  er  fast  vier  Monate  von  New  York-Brooklyn 
weggewesen  und  hatte  siebzehn  Staaten  der  Union  mit  eigenen 
Augen  gesehen,  so  daB  sie  MTeil  von  ihm"  wurden,  gleichwie 
a  lies,  was  das  Kind  erblickte,  ,,das  ausging  jeden  Tag".  Mit 
der  unverganglichen  Nachglut  des  Siidens  im  Blut  kehrte  er  heim 
nach  Manhattan. 


FRUCHT 

Koinm,  sagte  meine  Seele, 

LaO  uns  nun  solche  Verse  schreiben  fur  meinen  Leib  (denn  vvir  sind  eins), 

DaB,  sollt'  ich  unsichtbar  nach  meinem  Tode  wiederkehren, 

Oder  in  andern  Spharen,  lange  lange  bin, 

Ich  ewiglich  mil  freudigem  Lacheln  weitersingen  mag, 

Fur  irgendeine  Schar  von  Freunden  neu  anstimmend 

(Im  Einklang  mit  der  Erde  Boden,  Baumen,  Winden,  stiirmischen  Wogen), 

Ewig  und  ewig  zu  meinen   Versen  inich  bekennend,  — 

Gleichwie  ich  jetzt  und  bier  zum  erstenmal, 

Zeichnend  fiir  Leib  und  Seele,  meinen  Namen  vor  sie  seize: 

Walt  Whitman. 

Anlafilich  des  Krieges  gegen  Mexiko  hatte  sich  die  demokratische 
Partei  endgiiltig  gespalten;  die  Richtung,  die  gegen  Ausdehnung 
der  Sklaverei  auf  die  eroberten  mexikanischen  Gebiete  stimmte, 
war  ausgeschieden.  Ihre  Mitglieder,  zu  denen  auch  Whitman  ge- 
horte,  nannten  sich  jetzt  ,,Freiland-Demokraten".  Die  Grundsatze 
dieser  Richtung  vertrat  Whitman  in  einer  Tageszeitung,  „  Freeman", 
die  er  selber  griindete  und  in  Brooklyn  herausgab.  Sie  ging  aber 
schon  nach  einem  Jahr  wieder  ein,  wahrscheinlich  \veil  der  Heraus- 
geber  von  allzuviel  andersartigen  Ideen  erfiillt  war,  um  sie  erfolgreich 
zu  leiten.  So  entschlofi  Whitman  sich  kurzerhand,  die  journa- 
listische  Tagesarbeit  an  den  Nagel  zu  hangen,  und  da  sein  Vater 
just  um  diese  Zeit  zu  krankeln  anfing,  trat  er  in  sein  Geschaft  ein, 
das  darin  bestand,  kleine  Holzhauser  in  Brooklyn  ini  Rohbau  zu 
errichten  und  auf  Fertigstellung  zu  verkaufen.  Bei  dem  schnellen 
Wachstum  der  Stadt  war  das  ein  eintragliches  Geschaft,  und  Whit- 
man war  bald  auf  dem  Wege,  ein  reicher  Mann  zu  werden. 

Wenn  es  nun  zwar  wohl  auch  eine  etwas  verklarende  Deutung 
iibereifriger  Bewunderer  ist,  zu  sagen,  das  Geldverdienen  sei  ihm 
zuwider  gewesen,  und  er  habe,  urn  der  Armut  treu  zu  bleiben, 
seine  Bautatigkeit  bald  wieder  eingestellt,  so  ist  doch  soviel  wahr, 

XLIV 


daB  ein  hnhercs  Interesse  dieses  ersprieBliche  Handvverk  wahrend 
dcr  folgenden  Jahre  iminer  mehr  in  den  Hintergrund  drangte 
und  ihn  so  beanspruchte,  daB  er,  unbekiiminert  um  Gewinn  oder 
Verlust,  jederzeit  dem  Drang  nach  MuBe  und  Freiheit  nachgab, 
nicht  immer  zur  Freude  des  besorgten,  ein  wenig  verbitterten 
Vaters. 

Dieses  Interesse  war  nichts  Geringeres,  als  der  feste  EntschluB, 
dem  amerikanischen  Volke,  das  ihm  nun  auf  seiner  Heise  in  leib- 
haftiger  Breite,  Frische  und  \7ielfaltigkeit  nahe  gekommen  war, 
den  geistig-dichterischen  Ausdruck  zu  geben,  der  seiner  Eigenart 
und  Jugendkraft  gerecht  wurde  und  der  gleichsam  die  Bibel  einer 
durch  und  durch  modernen,  demokratischen  Menschheit  darstellen 
sollte.  Mit  alien  bewufken  Sinnen  richtete  er  die  Krafte  dieser 
sieben  Jahre,  die  nocb  bis  zum  Erscheinen  der  ,,Grashalme"  ver- 
gingen,  auf  dies  Ziel. 

Dieser  Drang,  die  Wesenheit  seines  Volkes  geistig  darzustellen 
und  gleichzeitig  durch  diese  Darstellung  die  hochsten  Krafte  in  ihm 
zu  erwecken,  war  die  natiirliche  Emanation  seines  starken,  nacli 
Ausdruck  ringenden  Gefiihls  von  dem  Wunder  und  der  Erstmalig- 
keit  seines  eigenen  Seins,  in  das  er  ja,  mit  verwandtem  Fleisch  und 
Blut,  alle  die  tausend  Erscheinungen  und  Regungen,  Freuden  und 
Leiden  der  Rasse  aufgesogen  hatte  und  immer  welter  Tag  fur  Tag 
aufsog. 

Der  heiBe  Adel  leidenschaftlicher  Liebe,  vielleicht  zugleich  mit 
der  Schwermut  der  Entsagung,  die  ihn  aber  nicht  niederdriickte, 
sondern  noch  hoher  in  die  Sphare  des  Allgemeinen  hob,  mag  ihn 
noch  urigeduldiger  aus  dem  Tagesbetrieb  der  Zeitungsredaktion 
hinausgedrangt  haben  durch  die  Fiille  der  neuerwachten  Empfin- 
dungen,  die  nach  Zeit  und  Ruhe  verlangten,  um  durchgefiihlt  und 
zur  Reife  gebracht  zu  werden.  Man  fiihlt,  wie  eine  Dichtung,  die 
so  ganz  aus  dem  Seienden,  Verweilenden  stammt,  in  diesen  sich 
zur  Erfiillung  steigernden  Jahren  alles  andere  an  sich  reiBen  und 
auftrinken  muBte.  Der  /imrnermannsberuf  brachte  schon  mehr 
MuBe  und  Beschaulichkeit;  die  feste,  schlichte  Gegenstandlichkeit 
der  Handarbeit,  der  Aufenthalt  in  frischer  Luft,  die  reale  Zugehorig- 
keit  zum  leiblichen  Leben  und  Werden  der  Stadt  selber,  die  er  be- 
dingte,  forderten  den  inneren  ZusammenschluB  des  Geriistes  der 
Gedanken.  Jedesmal,  wenn  ein  Hol/bau  fertig  war,  gonnte  sich 

XLV 


Whitman  eine  oft  wochenlange  Ferienzeit,  wahrend  der  er  sich  in 
die  Natur  zuriickzog,  um  auf  der  Insel  herumzustreifen  und  am 
Strande  in  der  Sonne  zu  liegen,  zu  baden,  zu  lesen  und  zu  dekla- 
mieren.  Hier  erprobte  er  die  ersten  Versuche  zu  seinen  Gesangen 
an  der  Natur  selber.  Er  suchte  in  ihnen  den  Rhythmus,  der  dem 
der  See  antwortete. 

Aucb  bei  der  Arbeit  hatte  er  immer  ein  Buch  oder  eine  Zeitschrift 
oder  Zeitung  in  der  Tasche.  Er  war  sein  Leben  lang  ein  eifriger 
Zeitungsleser.  Sie  vermittelte  ihm  das  Gefiihl  von  realer  Vielheit, 
von  lebendigem  Geschehen,  aus  ihr  horte  er  das  dumpfe  Brausen 
der  Menge  und  ibres  Ineinanderbrandens ,  das  er  so  liebte,  jenes 
,,enmasse",  dem  er  sicb  und  seine  Dichtung  verschwor.  Er  las 
die  alten  Klassiker,  Aschylos  und  Sopbokles,  Plato,  las  Dante  und 
Shakespeare  und  Ossian,  den  Don  Quichote  und  die  Nibelungen, 
und  was  ihm  sonst  an  Biichern  in  die  Hande  kam.  Von  fruher 
Jugend  an  waren  ihm  ,,Tausendundeine  Nacht"  und  die  Balladen 
Scotts  lieb  und  vertraut.  Er  selber  sagt,  er  sei  in  jiingeren  Jahren 
so  recht  ein  alles  verschlingender  Biicherfresser  gewesen;  eine  Fest- 
stellung,  die  vielleicht  ein  wenig  ubertrieben  ist. 

Gleichzeitig  las  er  eifrig,  wenn  auch  freilich  ohne  jedes  System, 
naturwissenschaftliche  und  philosophische  Werke.  Wissensehaft 
und  Philosophic  empfand  er  —  immer  aus  der  innersten  Sphare 
reiner  Daseinsschau  heraus  —  durchaus  nicht  als  Gegensatz  zur 
Poesie,  vielmehr  als  nahrend  und  fruchtbar  fur  sie.  Die  Wissen- 
sehaft machte  ihm  die  erschaute  Welt  nur  noch  reicher  und  viel- 
faltiger,  die  Philosophic  bedeutete  ihm  Vereinheitlichung  des  Viel- 
faltigen.  Die  Zweiheit  von  Selbst  und  Nichtselbst,  von  Subjekt  und 
Objekt  wurde  ihm  lebendig  zusammengehalten  durch  das  wahre 
wlch",  durch  den  Weltgeist,  der  Subjekt  und  Objekt  gleicherweise 
durchflutet.  In  diesem  Sinne  ist  die  sich  durch  seine  Gesange  hin- 
durchziehende  Dreiheit:  ,,Ich,  meine  Seele  und  mein  Leib",  ,,selt- 
sames  Trio",  zu  verstehen.  Fur  diese  aus  seinem  lebendigen  Seiri 
geborene  Anschauung  fand  Whitman  die  mit  Leidenschaft  begriiCte 
Bestatigung  in  dem  Kern  der  Philosophic  Hegels.  Das  innerste 
Prinzip  dieser  Philosophic  ist  die  Versohnung  der  Gegensatze.  Jedes 
endliche  Ding  ist  es  selbst  und  doch  nicht  es  selbst;  denn  dadurch, 
dafi  es  in  Beziehung  steht  zu  dem,  was  es  begrenzt,  tragt  es  das  Ele- 
ment seiner  Auflosung  in  sich.  Die  Seele  kann  nicht  durch  die 

XLVI 


Materie  vernichtet  werden,  denn  die  Materie  ist  nur  eine  Objek- 
tivation  der  Seele.  Das  Bose  ist  bose  nur  fiir  unsere  Anscbauung; 
fur  das  „  Absolute"  sind  Leid  und  Tod  nur  notwendige  Stufen  im 
ewigen  Fortschritt.  Das  Bose  ist  der  Schatten  des  Guten.  Die  ewige 
Wabrheit  tragt  es  mit  sich  fort,  um  es  endlich  ganz  im  Guten  auf- 
gehen  zu  lassen.  Im  Bereiche  der  Menschheit  sind  unsere  Ktirper 
nur  ein  Teil  der  objektiven  Inkarnation  Gottes.  Da  die  Seele  un- 
teilbar  ist,  ist  das,  was  unsern  Korper  und  Geist  beseelt,  zugleicb 
Allseele.  Dies  ist  bei  Whitman  gemeint  mit  der  mystischen  Inden- 
tifikation  seines  »Ich"  mit  dem  Absoluten;  und  hierin  liegt  der 
Grund  zu  der  Gleichstellung  von  Seele  und  Leib.  Seele  und  Leib, 
beide  Gott-Substanz,  bilden  im  Meere  der  Unendlichkeit  eine  Einzel- 
idee,  die  zugleicb  absolut  und  individual  ist. 

Diese  ganze  Anscbauung,  deren  weiterer  Verzweigung  ich  bier  nicbt 
nachgebe,  ist  bei  Whitman  durchaus  nicht  systematisch  ausgebaut; 
sie  blitzt  nur  im  groGen  Strom  seiner  Ich-Gesange  hie  und  da  in 
kronkreten  Worten  auf,  die  mit  unbekiimmerter  Unmittelbarkeit 
et\va  aus  Hegel  oder  Schelling  oder  griechischer  Philosophic  iiber- 
nommen  sind,  und  rauscht  nur  groB  und  weit  und  wortlos  hinter 
allem.  Denn  die  ,,verzehrende  Lust",  von  der  er  ,,rasend"  ist,  ist 
nicht  das  Verlangen,  einen  philosopbischen  Gedankenaufbau  zu  er- 
richten,  sondern  seine  Wesenheit  selber  mit  mystischer  Kraft  zum 
Ausdruck  zu  bringen,  in  der  die  Wirklicbkeit,  der  lebendige 
Traum  des  Seins  pulsiert.  Das  Wunder  der  ,,Identitat",  das  Wun- 
der  des  Absoluten,  des  ,,wahren  Ich"  im  individuellen  Ich,  der  in- 
einander  verscblungenen  Endlichkeit  und  Unendlichkeit  lebt  in 
ihm,  klopft  im  Herzschlag  jeder  Sekunde,  schaut,  hort,  fiihlt, 
riecht,  denkt,  jubelt,  leidet  in  ihm  und  alien  seinen  Sinnen.  Die 
Worte,  nach  denen  er  ringt,  sind  Andeutungen  auf  die  ewig  laut- 
losen,  ewig  wahren  Worte;  er  sucht  jedes  von  ihnen  so  ganz  mit 
dem  Arom  seiner  eigenen  stauneuden  Wesenheit  zu  durchtranken, 
dafi  durch  sie,  durch  ihr  leidenschaftliches  Gedrange  oder  durch 
ihre  zarteste,  bebende  Vereinsamung  in  irgendeinem  hingefliisterten 
Satz  die  Sphare  heraufbeschworen  werde,  in  der  allein  erst  das 
wahre  Verstehen  dessen,  was  er  meint,  moglich  ist:  die  Sphare 
einer  tief  naturlichen  Ekstase,  jener  Ekstase,  die  uns  alle  angesichts 
des  unerhorten  Wunders  unseres  Daseins  taglich  und  stundlich  in  Bann 
halten  miifite  und  von  der  aus  uns  jegliche  Alltagsgleichgultigkeit, 

XLVII 


jede  Beruhigtheit  in  der  Sphare  fragwurdiger  Vertrautheit  mit  heute 
und  morgen  eigentlich  als  das  groBte  und  dumpfste  Wunder  er- 
scheinen  muBte. 

Daher  auch  die  immerwahrende  Hindeutung  darauf,  dafi  er  ganz 
etwas  anderes  sei,  als  seine  Leser  vielleicht  znnachst  denken  mogen; 
daB  er  ihnen  standig  und  mit  jedern  Wort  entgleite,  aber  dennoch 
,,irgendwo"  ruhig  und  gelassen  auf  sie  warte.  Denn  das,  was  da 
wartet,  ist  eben  das  mystisch-natiirliche  BewuBtsein  vom  wahren, 
allgemeinen,  absoluten  Ich,  das  im  Leser  sowohl  wie  in  ihm  selber 
lebt  und  zu  dem  hinzufiihren  der  ganze  Sinn  seines  Dichtens  ist. 
Daher  ist  es  auch  so  schwer,  etwas  iiber  Whitman  auszusagen 
auBerhalb  der  Sphare,  die  er  selber  eben  erst  schafft  und  die  erst 
fiihlbar  macht,  worum  es  sich  eigentlich  handelt.  Daher  die  Trans- 
parenz  seiner  Worte,  das  seltsam  Erregende,  Erstmalige,  Neugeborene 
in  und  unter  ihnen.  Daher  auch  die  besondere,  erschiitternde  Ge- 
walt  des  Wortes  ,,Liebe",  das  alle  seine  Gesange  durchtont;  der 
Liebe,  die  nichts  anderes  ist,  als  eben  die  bebende  Warme  und  das 
alles  Zeugens  und  Gebarens  frohe  Zugehorigkeitsgefiihl  zu  der  im 
Unendlichen  schwebenden,  vom  Unendlichen  durchfluteten  Leib- 
haftigkeit,  das  sich  zu  seiner  hochsten,  zartesten,  feurigsten  Inten- 
sitat  steigert  im  Kameradschaftsgefuhl.  Der  bedeutende  englische 
Kritiker  und  Gelehrte  John  A.  Symonds  schrieb:  „  Whitman  ist  in 
der  Tat  im  hochsten  Grade  verwirrend  fur  die  Kritik.  Uber  ihn 
reden  ist  wie  iiber  das  Universum  reden  .  .  .  Er  gleicht  dem  Uni- 
versum,  nicht  nur,  weil  er  so  weit  und  umfassend  ist,  sondern  weil 
er  ungreifbar,  entweichend,  auf  den  ersten  Blick  widerspruchsvoll 
und  in  gewissem  Sinne  formlos  ist."  (,,Walt  Whitman",  Seite  33.) 
Alles  ist  ihm  die  Wesenheit,  das  Arom,  der  Daseinszauber  seines 
Buches;  am  liebsten  ware  es  ihm,  der  Leser,  der  Liebende,  der 
Kamerad  triige  es  bei  sich  in  der  Rocktasche,  so  daB  es  an  seiner 
IJiifte  ruhte  und  nur  recht  nahe  bei  ihm  ware;  denn  es  ist  kein 
Buch,  ,,wer  dies  beriihrt,  beriihrt  einen  Mann".  Es  ist  auch  nicht 
in  die  Zeit  eingeschlossen ;  Jahrhunderte  und  Jahrtausende,  rollende 
Kreislaufte  sind  wesenlos  im  ewig  seienden  Fluten  der  Wahrheit. 
Die  ewige  Wiederkehr  ist  die  ewige  Gegenwart. 

Dr.  Richard  M.  Bucke,  der  erste  und  immer  noch  grundlegende 
Biograph  Whitmans  (und  andere  Betrachter  nach  ihm)  mochte  es 
so  deuten,  als  ob  dieses  universale  Daseinsgefuhl  Whitman  um 

XLVIII 


diese  Zeit  in  jaher,  niystischer  Erleuchtung  eines  Tages  iiber- 
koinmen  hatte,  an  jenem  Sommermorgen  wahrscheinlich,  dessen 
Erleben  Whitman  im  fiinften  Satz  des  ,,Gesangs  von  mir  selbst" 
in  lachelndem  Zwiegesprach  mil  seiner  Seele  nachtastet,  zu  der 
er  redet: 

Ich    gedenke,    wie   einst   wir   lagen   an   solch    einem   durchsichtigen 

Sommermorgen, 
Wie  du  dein  Haupt  quer  iiber  meine  Lenden  legtest   und   dich    leise 

iiber  mich  kehrtest 
Und  das  Hemd  streiftest  von  meinem  Brustbein  und  tauchtest   deine 

Zunge  in  mein  entblofites  Herz 
Und  hinaufreichtest,  bis  du  meinen  Bart  fuhltest,  und  hinabreichtest, 

bis  du  meine  Fiifle  hieltest. 

Alsbald  erhob  und  breitete  sich  um  mich  der  Friede  und  das  \Vissen, 

das  hoher  ist  als  alle  Beweisgriinde  der  Erde, 
Und  ich  weiB,  da6   die   Hand  Gottes   die  Gewahr  fur  meine  eigene 

Hand  ist, 
Und    ich    weifi,    dafl   der    Geist   Gottes   der    Bruder  meines   eignen 

Geistes  ist, 
Und  daft  alle  Manner,  die  je  geboren,  auch  meine  Bruder  sind,  und 

die  Weiber  meine  Schwestern  und  Liebsten; 

Und  da6  der  Richtkiel  der  Schopfung  Liebe  ist, 
Und  zahllos  Halme  aufgerichtet  oder  geneigt  auf  den  Feldern, 
Und  Ameisen  braun  in  den  winzigen  Lochern  an  ihren  \Vurzeln, 
Und  moosiger  Schorf  der  Schlupfwinkel    von  Wiirmern,  Steinhaufen, 
Hollunder,  Ronigskerzen  und  Scharlachbeeren. 

Diese  Biographenart,  eine  solche  mit  dem  ganzen  Wesen  von 
Kind  aut  emporwachsende  Empfindungs-  und  Bewufitseinskraft  in 
eine  bestimmte  Stunde  der  Erleuchtung  zu  drangen,  scheint  mir 
jedoch  etwas  allzu  programmatisch,  selbst  wenn  man  es  so  deutet, 
daB  mit  dieser  Stunde  nicht  der  Inhalt,  wohl  aber  die  letzte  Inten- 
sitat  dieser  Offenbarung  geboren  worden  sei.  Die  Intensitat  Whit- 
mans ist  ein  Werden  von  Tag  zu  Tag,  in  ihrer  Einheit  immer 
lebendig,  nur  immer  weiter  ausgreifend,  in  sich  hinein  und  in  die 
Welt  umber;  und  die  Empfindungskraft  des  Kindes  angesichts  der 

IV     Whitman  I  XLIX 


nachtlichen  See  und  im  Lauschen  auf  den  Liebes-  und  Todes- 
gesang  des  Vogels  (,,Aus  der  ewig  schaukelnden  Wiege  .  .  ."), 
1st  an  VVesen  und  Starke  dieselbe,  wie  die  einer  solchen  sommer- 
lichen  Seelenstunde  des  Mannes.  Auch  daB  etwa  das  Erwachen 
der  Ausdruckskraft,  die  Geburt  der  Worte  in  diese  Stunde  zu  ver- 
legen  sei,  ware  eine  engherzige  Deutung ;  seine  eigenste  Sprache 
wuchs  Whitman  in  all  diesen  Jahren  langsam,  in  vielen  Versuchen 
und  Miihen  heran  und  war  kein  vom  Heiligen  Geist  jah  herab- 
geschicktes  Zungenlallen,  sondern  ein  in  strenger  Arbeit  errungenes 
Kunstmittel,  das  er  immer  wieder  und  wieder  dem,  was  er  inner- 
lich  klingen  horte,  immer  reiner  anzupassen  suchte. 

In  volliger  Verkennung  Whitmans  hat  man  auch  bei  uns  —  irre 
gefuhrt  durch  schlechte  Obertragungen  —  von  dem  ,,roben  Golde" 
geredet,  das  Whitman  gleichsam  wild  und  formlos  um  sich  her 
schleudere.  Wenn  er  selber  sagt,  er  bringe  nur  den  Stoff  zu  neuen 
Gesangen,  so  meint  er  natiirlich  etwas  ganz  anderes,  viel  Tieferes, 
nicht  etwa,  daB  er  diesen  Stoff  in  roher  Form  brachte.  Es  ist  ein 
rechtes  Armutszeugnis,  wenn  gewisse  Kritiker  es  fiir  notig  halten, 
darauf  hinzuweisen,  daB  Whitman  mit  friiheren,  wohlgereimteri 
Gedichten  und  auch  mit  einigen,  sich  metrischer  Form  wieder  an- 
nahernden  Altersgesangen  seine  Fahigkeit  zu  kunstgerechter  Form 
bewiesen  babe,  daB  also  doch  so  etwas  wie  Absicht  in  der  Freiheit 
seiner  Rhythmen  liegen  musse*.  Whitman  selber  weist  in  einem 
seiner  Prosaaufsatze  Reim  und  Metrik  als  Kunstmittel  fur  die  neue 
demokratisch-kosmische  Dichtung,  die  er  einleitet,  ausdriicklich 
zuriick,  da  nur  die  freie  rhythmische  Sprache  sich  der  unendlichen 
Bewegtheit  der  neuen  Themen  anzupassen  vermoge. 

Das  Werdende  in  ihm  erfiillte  Whitman  von  Jahr  zu  Jahr  aus- 
schlieBlicher.  Es  konnte  geschehen,  daB  er  lohnende  Bauauftrage 

*  Es  wiirde  hier  zu  weit  fiihren,  im  ganzen  und  einzelnen  auf  die  Frage  der 
Form  Whitmans  einzugehen.  Ich  hofFe,  soweit  es  iiberhaupt  mbglich  ist,  in 
meiner  Ubertragung  das  wunderbar  Atmende  im  Rhythmus  dieser  Gesange,  das 
jah  Hineilende,  Ubersturzte,  dann  wieder  wie  atemlos  Innehaltende,  in  zartem 
Verweilen  sich  dammrig-zartlich  bis  an  alle  Fernen  des  Seins  Ausbreitende,  und 
all  die  hundertfaltigen  Lautfarbungen,  Tonfaille  vom  Schrei  bis  zum  Fliistern 
einigermafien  unverdorben  wiedergegeben  zu  haben.  Ich  weise  im  iibrigen  hier 
nur  auf  die  ausgezeichnete  Kritik  von  Whitmans  Stil  und  Form  bin,  die  Basil 
de  SeMincourt  in  seinem  Buche  „  Walt  Whitman,  Eiue  kritische  Studie"  (London  1914) 
gegeben  hat. 


Bildnis  von  i855 
aus  der  Erstausgabe  der  ,,Grashalme" 


unberiicksichtigt  liefi  und  einfach  davonging,  seinen  Gedanken 
nach.  Die  Familie  lebte  in  auskommlichen,  aber  doch  knappen 
Verhaltnissen.  Die  Krankheit  des  Vaters  wurde  iinmer  ernster. 
Drei  der  Briider,  George,  JefF  und  Edward,  ha  If  en  mil  verdienen, 
und  die  Mutter  und  Walts  Lieblingssch wester  Hannah  schalteten 
im  Hause.  Der  alteste  Bruder  scheint  als  Arbeiter  auswarts  gelebt 
zu  haben,  und  die  zweite  Schwester  Mary  war  vermutlich  schon 
verheiratet.  Die  wachsende  Gleichgiiltigkeit  Walts  gegen  die  Be- 
diirfnisse  des  Tages  wird  sicherlich  oft  mit  Sorge  und  Onmut  be- 
trachtet  worden  sein,  wenn  auch  die  immer  gleicbe  Liebe  ihn  um- 
gab  und  man  immer  noch  in  den  meisten  Angelegenheiten  ihn 
um  Rat  fragte. 

Im  Jahre  i853,  zwei  Jahre  vor  dem  Tode  des  Vaters,  machte 
Whitman  mit  ihm  einen  Besuch  in  Huntington,  damit  er  dort  noch 
einmal  sein  altes  Heim  sahe. 

Im  Friihjahr  1 855  gab  er  die  Zimmerei  endgiiltig  auf,  um  sein 
Manuskript  abzuschlieOen,  und  im  Friihsommer  ging  er  in  eine 
kleine  Druckerei,  wo  er  es  mit  eigener  Hand  setzte.  Anfang  Juli, 
wenige  Tage  bevor  der  Vater  starb,  war  er  damit  fertig.  Am 
6.  Juli  zeigte  er  es  in  der  ,,New  York  Tribune"  an.  Es  kostete 
zwei  Dollars,  obwohl  es  nur  ein  schmaler  Band  von  95  Seiten 
war,  ziemlich  groB  irn  Format,  seegriin  gebunden,  mit  dem  gold- 
gedruckten  Titel  wGrashalme"  auf  dem  Einband.  Diese  Ausgabe 
gehort  heute  zu  den  kostbarsten  Seltenheiten. 

Die  Familie  kummerte  sich  um  das  Ereignis  nicht  sonderlich 
und  wurde  sich  auch  wohl  nicht  darum  gekiimmert  haben,  wenn 
der  Tod  des  Vaters  nicht  alle  Gedanken  und  Gefuhle  beherrscht 
hatte.  Man  kann  sich  die  Stimmnng  selbst  etwa  der  liebevollen 
Mutter  gegen  dieses  wWerk"  vorstellen,  dem  zuliebe  ihr  Walt 
wahrend  der  letzten  Monate  zu  einem  rechten  Faulenzer  geworden 
war,  der  am  Morgen  aufstand,  wann  es  ihm  paBte,  zum  Essen  zu 
spat  kam  und  oft  tagelang  kaiiin  zu  sehen  war. 

Das  Buch  bestand  aus  einem  langen  Vorwort  oder  Manifest  iiber 
die  neue  Dichtung  und  den  neuen  Dichter  (siehe  Prosaschriften !) 
und  zwolf  Gedichien  gleichsam  als  Beispielen  dafiir.  Der  Verfasser 
war  nicht  genannt,  nur  prangte  gegeniiber  dem  Titelblatt  das  seit- 
her  beriihmte  Bild,  auf  dem  Whitman  in  Giirtel  und  Hemd,  mit 
breitem  Schlapphut,  die  eine  Hand  in  der  Tasche,  die  andere  leicht 

tv*  LI 


in  die  Hiifte  gestiitzt,  in  lassiger  Haltung  zu  sehen  ist,  —  das 
,,rowdy-Portrat" ,  \vie  emporte  Kritiker  es  nannten.  Es  ware  ver- 
fehlt,  in  dieser  Aufmachung  des  Buches  eine  Pose  zu  sehen,  wie 
Unverstandige  es  getan  haben;  vielmehr  ist  sie  der  Ausdruck  einer 
amerikanisch-kindlichen  Unmittelbarkeit  und  Resolutheit,  vielleicht 
nicht  ganz  frei  von  einem  Beigeschmack  jener  dort  iiblichen  Art 
von  Reklame,  die  den  zu  tJberzeugenden  gleichsani  am  Rockknopf 
faBt  und  nicht  locker  laBt.  Liegt  ja  doch  auch  in  Whitmans  Dich- 
tung  selber  in  einem  unendlich  hoheren,  vergeistigten  Sinne  etwas 
von  diesem  unmittelbaren  ,,Herankriegen"  des  Horers,  von  diesem 
direkten  Anreden  im  allernatiirlichsten  Tonfall  der  Welt,  so  dafi 
zum  Beispiel  Basil  de  Selincourt  einen  gewissen  Kreis  dieser  Ge- 
sange  als  „ conversational  poems",  etwa  als  ,,Gesprachsgedichte" 
bezeichnet. 

Die  einzelnen  Gedichte  hatten  keine  Sondertitel.  Das  erste  und 
groBte,  in  der  nachsten  Auflage  ,,Walt  Whitman"  und  spaterhin 
MGesang  von  mir  selbst"  genannte,  bildete  den  wesentlichen  Haupt- 
teil  des  Buches.  Unter  den  iibrigen  waren  besonders  bedeutungs- 
voll  ,,Die  Schlafer",  die  ,,Gesichter"  und  ,,Es  war  ein  Kind,  das 
ausging  jeden  Tag".  Wir  sehen  hier  wiederum  jene  Weitmaschig- 
keit  der  ganzen  Anlage,  denn  die  zuletzt  genannten  Gesange 
riickten  spater  viel  weiter  hinter  neueingeschobene  zuriick. 

Whitman  hatte  erwartet,  sein  Buch  wiirde  als  Erfiillung  oder 
wenigstens  als  verheiBungsvoller  Versuch  zur  Erfiillung  der 
zweifellos  damals  lebendigen  Sehnsucht  nach  einem  ur-amerikani- 
schen  Dichter  begriiBt  werden,  als  Beginn  einer  Loslosung  von 
europaischer  Literatur,  der  Amerika  bisher  nichts  Eigenartiges  ent- 
gegenzustellen  hatte,  aufier  etwa  in  gewissem  Grade  die  Schriften 
und  Gedichte  Emersons,  der  aber  selbst  einmal,  als  man  ihn  als 
neuen  amerikanischen  Dichter  ansprach,  mit  den  Worten  abge- 
wehrt  hatte:  ,,Der  neue  amerikanische  Dichter  wird  ganz  anders 
aussehen ! " 

Wenn  also  Whitman  auch  auf  Widerspruch,  ja  Emporung  ge- 
wisser  Leute  gefaBt  war,  so  hatte  er  doch  eines  nicht  erwartet: 
Gleichgiiltigkeit.  Gerieten  nun  auch  einige  Zeitungskritiker  der- 
maBen  in  Wut  iiber  das  Buch,  daB  sie  den  Verfasser  als  ent- 
sprungenen  Tollhausler  bezeichneten ,  der  ofFentlich  gepeitscht 
werden  miisse,  und  anderes  mehr,  so  verharrten  die  meisten  doch 

LI1 


nurin  geringschatzigem  Schweigen,  und  das  Publikum  selber  kiim- 
merte  sich  kaum  uin  das  grasgriine  Monstrum. 

Die  Neue  Welt,  die  in  ihrer  Existenz  und  deren  Formen  selber 
einen  Komplex  neuer  Ideen  darstellt,  ist  dennoch  neuen  Ideen, 
wenigstens  geistigen,  nicht  giinstig  gesinnt.  Es  fehlt  ihr  an  einer 
Menschenklasse,  die  ihrem  Charakter  und  ihrer  Tradition  nacb 
auf  neue  Horizonte  begierig  ist  und  sich  mit  Lust  auf  den  Marsch 
begibt,  wenn  sie  von  irgendeinem  Sehenden  verkiindet  werden. 
Walt  Whitman  selber  wurde  in  breiterem  MaBe  und  mit  Leiden- 
schaft  erst  von  England  und  danach  von  Deutschland  und  Frank- 
reich  her  anerkannt,  und  noch  heute  hat  Amerika  im  groBen  und 
ganzen  nichts  Besseres  zu  tun  gewuBt,  als  ihn  durch  mechanische 
Verherrlichung  unschadlich  zu  machen. 

Es  ware  naturlich  ganz  verkehrt  und  kurzsichtig,  etwa,  wie  es 
geschehen  ist,  Whitman  einen  Vorwurf  daraus  zu  machen,  daB 
just  auch  das  breite  Volk,  an  das  er  seine  Dichtung  vor  allem  ge- 
richtet  wissen  will,  wohl  am  allerwenigsten  zu  seiner  Leserschaft 
zu  rechnen  ist.  Denn  das  Gewaltig-Volkstumliche,  an  das  er  sich 
wendet,  ist  ebensogut  ein  Teil  seines  Wesens,  und  bei  Schop- 
fungen  von  solchem  Ewigkeitsgehalt  kann  man  schlechterdings 
nicht  fragen :  wem  sind  sie  gesungen  oder  geschrieben?  sondern 
sie  entstehen  und  dauern  in  der  Welt  und  im  All  und  stromen 
ihre  Wirkung  aus,  wie  ein  Wehkorper  sein  Licht  ausstromt. 

Was  Whitman  an  Zukunftskraft  und  Jugendfrische  und  Stoff 
zu  erhohterDemokratie —  einer  Gemeinschaft  voll  entfalteter,  selbst- 
bewuBter  und  selbsibeherrschter,  liebevoller  Menschen  —  in 
Amerika  empBndet,  war  und  ist  zweifellos  vorhanden;  sonst  hatte 
das  Verwandle  in  ihm  nicht  mit  solcher  Inbrunst  sich  dieser 
Wesenheit  zugewendet.  DaB  er  in  seinem  Ich  etwas  zum  hochsten 
Menschlichen  Gesteigertes,  freudig  Gottbegeistertes  daraus  macht, 
was  zunachst  iiber  jene  Wesenheit  hinausgeht  und  von  ihr  nicht 
mit  der  briiderlichen  Lust  aufgenommen  wurde,  die  Whitman  er- 
wartet  hatte,  ist  eine  andere  Frage,  die  mit  dem  Wert  und  der 
Macht  seiner  Dichtung  nichts  zu  tun  hat.  Wir  diirfen  nicht  vergessen, 
daB  auch  der  Begriff  Amerika  fur  ihn  ein  Symbol,  oder  besser  ein 
,,Idol"  ist,  das  wahre  Urbild  der  leibhaftigen  Erscheinung  Amerika. 
Kaum  je  vor  ihm  hat  jemand  so  erbarmungslos  und  klar  die 
Schaden  und  Schwachen  Amerikas  erkannt  und  gebrandmarkt, 

LIU 


wie  er  etwa  in  seinen  ,,Demokratischen  Ausblicken".  Dennoch 
blieb  sein  Glaube  an  die  tieferen  Krafte  seiner  Rasse  unerschiittert, 
weil  er  selber  ja  dieser  Rasse  war  und  fiihlte,  daft  das  Neue,  Zu- 
kunfthafte  in  ihm  eben  doch  wieder  urspriinglich  amerikaniscb 
war.  Jeder  Genius  wirkt  in  und  mit  dem  Stoff  seiner  Rasse  und 
Zeit  und  erhebt  sicb  ins  Zeitlose  nur  aus  ihr  heraus. 

Dafi  vielleicht  die  Alte  Welt  das  Herrliche,  was  Whitman  aus 
dieser  Rasse  heraus  verkiindet,  zunachst  kraft  ihrer  Sehnsucht 
starker  und  deutlicher  empfand,  sagt  nichts  gegen  Amerika  und  ge- 
gen Whitmans  Amerika-Idealismus.  Wenn  auch  der  Landmann  viel- 
leicht die  Wesenheit  des  Landes  und  der  Natur  voller  verkorpert. 
so  lebt  doch  in  der  Sehnsucht  des  Stadters  nach  der  Natur  ein 
ebenbiirtiges  Element,  das  die  Herrlichkeit  der  Natur  von  an- 
derer  Seite  her  zum  Seelenerlebnis  macht.  Ahnlich  liegt  das  Ver- 
haltnis  der  Alten  Welt  zur  Neuen. 

Whitman  war  erfullt  von  dem  Gedanken,  dafi  der  wahre  Dichter, 
wie  er  ihn  begriff,  in  keinerlei  Gegensatz  zu  dem  lebendigen  Leben 
in  Fleisch  und  Blut  steht,  dafi  sein  Dichten  gar  nicht  etwa  mehr 
oder  wertvoller  ist,  als  das  reine  Dasein  gesunder,  froher,  tatiger, 
liebender  Menschenkinder  selbst  und  daB  er  sein  erhabenstes  Ge- 
dicht  und  seinen  reichsten  Wohllaut  im  eigenen  Korper,  in  den 
,,stummen  Linien  seiner  Lippen  und  seines  Gesichts  und  zwischen 
den  WTimpern  seiner  Augen  und  in  jedem  Gelenk  und  jeder  Be- 
wegung"  tragen  miisse.  War  freilich  auch  ein  lebhafter  Ehrgeiz 
und  Verlangen  nach  Anerkennung  in  ihm  lebendig,  das  ihn  sogar 
zu  manchem  ungeduldigen  Schritt  drangte,  den  er  besser  nicht 
getan  hatte,  so  gab  ihm  jene  Uberzeugung  doch  Ruhe  genug,  um 
die  literarischen  Kritiken  mit  Gleichmut  iiber  sich  ergehen  zu  lassen. 
,,Im  ganzen  bekannten  Universum",  sagt  er  in  der  herrlichen  Vorrede 
zur  Erstausgabe,  ,,lebt  ein  wahrhaft  Liebender,  und  das  ist  der 
grofite  Dichter.  Er  brennt  in  ewiger  Leidenschaft,  ist  unbekiimmert 
darum,  was  ihm  das  Schicksal  bringt,  Zufall,  Gluck  oder  Ungluck, 
und  empfangt  laglich  und  stiindlich  seinen  kostlichen  Lohn.ft 
-  ,,Als  mein  Buch",  erzahlte  er  in  spateren  Jahren  einem  Freunde, 
wallenthalben  einen  solchen  Sturm  von  Wut  und  Schmahungen 
wachrief,  machte  ich  mich  davon,  an  das  Ost-Ende  von  Long- 
Island  und  verbrachte  den  Spatsommer  und  den  ganzen  Herbst  - 
den  gliicklichsten  meines  Lebens  —  in  der  Nahe  von  Shelter 

LIV 


Island  und  Peconic  Bay.  Dann  ging  ich  wieder  nach  New  York 
zuriick  mil  dem  verstarkten  EntschluB,  in  dem  ich  auch  nie  wieder 
wankend  wurde,  mit  meinem  dichterischen  Unternehmen  auf 
meine  Weise  fortzufahren  und  es,  so  gut  ich  konnte,  zu  Ende  zu 
fiihren." 

Ein  Amerikaner  jedoch,  und  nicht  der  schlechteste,  wurde  so- 
gleich  von  dem  Geist  dieser  ,,Grashalme"  tief  ergriffen:  und  das 
war  Emerson:  Emerson,  der  selber  in  so  vieler  Uinsicht  ahnliche 
Gedanken  in  seinen  Schriften  zum  Ausdruck  gebracht  hatte,  wenn 
auch  nicht  mit  der  Kraft  personlicher  Verwirklichung  dessen,  was 
er  mit  Worten  klarzumachen  suchte.  Es  ist  wohl  kaum  zu  be- 
zweifeln,  daB  Emersons  Biicher  Whitman  den  letzten  Antrieb  zur 
Gestaltung  seiner  Ideen  gegeben  batten.  Im  einzelnen  auf  diese 
Wirkung  einzugehen,  wurde  hier  zu  weit  fiihren.  Genug,  zu  sagen, 
dafi  eben  jene  Kraft  Whitmans,  alien  seinen  Worten  die  geheim- 
nisvoll  erregende  Wirklichkeit  einzufloBen,  die  aus  dem  Zauber 
seines  Seins  kam,  Emerson  fehlte  und  durch  seine  mehr  intellek- 
tuelle  Art  nicht  ersetzt  werden  konnte. 

Emerson  also  richtete  aus  seinem  Heim  in  Concord  bei  Boston 
am  21.  Juli  1 855  jenen  beriihmten  Brief  an  Whitman,  der  so 
lautete: 

,,Werter  Herr,  --  ich  bin  nicht  blind  gegen  den  Wert  der 
wunderbaren  Gabe  Ihrer  MGrashalme".  Ich  hake  sie  fiir  die 
auBerordentlichste  Probe  von  Geist  und  Weisheit,  die  Amerika 
noch  je  beigebracht  hat.  Sie  zu  lesen,  macht  mich  sehr  gliick- 
lich,  denn  groBe  Kraft  macht  uns  gliicklich.  Das  Buch  begegnet 
sich  mit  der  Forderung,  die  ich  seit  jeher  gegen  unsere  anschei- 
nend  so  unfruchtbare  und  karge  Natur  erhebe,  in  dem  Sinne, 
daB  zuviel  Handarbeit  oder  ein  allzu  wassriges  Temperament 
unsern  westlichen  Geist  gedunsen  und  gemein  macht.  Ich  be- 
gluckwiinsche  Sie  zu  Ihren  freien  und  tapferen  Gedanken.  Ich 
habe  groBe  Freude  daran.  Ich  finde  unvergleichliche  Dinge  un- 
vergleichlich  gut  gesagt,  just  so,  wie  es  richtig  ist.  Ich  finde 
jene  Kiihnheit  der  Behandlung  darin,  die  uns  so  entziickt  und 
zu  der  nur  eine  starke  Empfindung  begeistern  kann. 

Ich  griiBe  Sie  zum  Beginn  eincr  grofien  Laufbahn,  hinter  der 
indessen  irgendwie  schon  ein  weites  Feld  der  Vorbereitung 
liegen  muB,  nach  solch  einem  Start  zu  urteilen.  Ich  rieb  meine 

LV 


Augen  ein  wenig,  um  zu  sehen,  ob  dieser  Sonnenstrahl  keine 
Tauschung  sei;  aber  der  solide  Geist  des  Buches  ist  eine  leib- 
haftige  GewiBheit.  Es  hat  das  Beste,  was  ein  Bucb  haben  kann, 
namlich  es  starkt  und  ermutigt. 

Ich  wu6te  bis  gestern  abend,  als  ich  es  in  einer  Zeitung  an- 
gezeigt  fand,  nicht,  ob  ich  den  Namen  als  wirklich  und  giiltig 
der  Post  anvertrauen  konnte.  Ich  babe  den  Wunsch,  meinen 
Wohltater  zu  sehen,  und  fiihlte  niich  lebhaft  versucht,  meine 
Arbeiten  zu  unierbrechen  und  nach  New  York  zu  kommen,  um 
Ihnen  meine  Wertschatzung  auszusprechen. 

R.  W.  Emerson." 

Emerson,  der  damals  62  Jahre  alt  war,  hatte  diesen  Brief  nicht 
in  einem  ersten  Impuls,  sondern  nach  reiflicher  Uberlegung  meh- 
rerer  Tage  geschrieben.  Er  schickte  auch  Leute,  die  ihn  in  Con- 
cord besuchten,  nach  Brooklyn,  um  Whitman  kennenzulernen, 
mil  den  Worten:  ,,Unter  uns  ist  ein  Mann  erstanden."  Ein  Wort, 
das  an  den  spateren  Ausspruch  Abraham  Lincolns  erinnert,  als  ihm 
Whitman  gezeigt  wurde:  ,,Well,  er  ist  ein  Mann." 

Einer  dieser  Sendlinge  Emersons,  Mr.  M.  Conway,  der  Whitman 
im  September  i855  auFsuchte,  hat  einen  Bericht  dariiber  fur  seine 
Freunde  geschrieben,  der  zwar  fiir  unseren  Geschmack  ein  wenig 
feuilletonistisch  ist,  aber  doch  ein  lebhaftes  und  durchaus  wahr- 
heitsgetreues  Bild  vermittelt. 

wEs  war",  erzahlt  Conway,  ,,eines  Sonntags  im  Hochsommer, 
als  ich  durch  die  nahezu  endlosen,  eintonigen  StraBen  pilgerte,  die 
in  das  ,,fischf6rmige  Paumanok"  hinausfiibrten,  und  der  Weg,  den 
man  mir  gewiesen  hatte,  fuhrte  zu  dem  allerletzten  Hause  vor  der 
groBen  Stadt,  —  einem  kleinen,  zweistockigen  Holzhaus.  Aufmein 
dreimaliges  Klopfen  offtiete  eine  stattliche  alte  Dame  die  Tiir,  just 
weit  genug,  um  mich  sorgfaltig  betrachten  zu  konnen,  und  fragte 
nach  meinem  Begehren.  Ich  hatte  sogleich  den  Eindruck,  daB  seine 
Mutter  —  denn  als  diese  gab  sie  sich  zu  erkennen  —  besorgt  war, 
es  handle  sich  um  einen  Polizeiagenten,  der  nach  ihrem  Sohn  suchte 
wegen  seines  verwegenen  Buches.  SchlieBlich  jedoch  deutete  sie 
nach  einer  offentlichen  Promenadenanlage  bin,  in  deren  Mitte  ein 
Hiigel  lag,  und  sagte  mir,  ich  wurde  ihren  Sohn  dort  finden.  Es 
war  ein  auBerordentlich  heiBer  Tag,  das  Thermometer  zeigte  fast 
1 00°  (Fahrenheit),  die  Sonne  gliihte  herab,  wie  sie  nur  auf  dem 

LVI 


sandigen  Long  Island  gliihen  kann.  Die  Anlage  hatte  keinen  ein- 
zigen  Bauni  oder  Schutz,  und  ich  dachte  bei  mir,  daB  wahrlich  nur 
ein  leidenschaftlicher  Feueranbeter  an  einem  solchen  Tage  bier  zu 
finden  sein  konne.  Zuerst  konnte  ich  nirgends  ein  menschliches 
Wesen  gewaliren;  aber  als  icb  mich  eben  wieder  zum  Weggeben 
\venden  wollte,  sail  ich,  auf  den  Riicken  gestreckt  und  gerade  in 
die  furchtbare  Sonne  hineinschauend,  den  Mann,  den  ich  suchte. 
Mit  seiner  grauen  Kleidung,  seinem  graublauen  Hemd,  seinem  eisen- 
grauen  Haar,  seinem  dunkeln,  sonnverbrannten  Gesicht  und  bloBen 
Hals  lag  er  auf  dem  braun-weiBen  Gras  —  denn  die  Sonne  hatte 
das  Griin  ausgebrannt  —  und  glich  so  der  Erde,  auf  der  er  ruhte, 
daB  er  wie  ein  Teil  von  ihr  aussah  und  von  einem  Voriibergehenden 
leicht  ubersehen  vverden  konnte.  Ich  naherte  mich  ihm,  nannte 
meinen  Namen  und  den  Grund,  weshalb  ich  ihn  hier  aufsuchte, 
und  fragte  ihn,  ob  er  die  Sonne  nicht  einigermaBen  heiB  fande?  - 
^Durchaus  nicht  zu  heiB,"  war  seine  Antwort;  und  er  gestand  mir, 
daB  dies  einer  seiner  Lieblingsplatze  und  seine  Lieblingslage  sei, 
um  MGedichte  zu  machen".  Er  ging  darauf  mit  mir  in  sein  Haus 
und  fiihrte  mich  durch  die  engen  Flure  in  sein  Zimmer.  Ein 
kleines  Zimmer,  ungefiihr  1 5  FuB  iin  Quadrat,  mit  einem  einzigen 
Fenster,  das  auf  die  ode  Einsamkeit  der  Insel  blickte;  ein  schmales 
Belt,  ein  Waschtisch  mit  einem  kleinen  Spiegel  dariiber,  ein  Tisch 
aus  Fichtenholz  mit  Feder,  Tinte  und  Papier  darauf;  ein  alter  Stich, 
Bacchus  darstellend,  hing  an  der  Wand,  und  gegeniiber  ein  ahn- 
licher  von  Silen:  dies  bildete  die  sichtbare  Umgebung  Walt  Whit- 
mans; offenbar  war  nicht  ein  einziges  Buch  in  dem  Zimmer  .  .  . 

Wir  verbrachten  den  Rest  des  Tages  damit,  auf  Staten  Island 
umherzustreifen  und  zu  ,,schlendern",  wo  wir  Schatten  und  einen 
meilenweiten,  herrlichen  Strand  batten.  Beim  Baden  wurde  ich 
durch  eine  gewisse  Eihabenheit  des  Mannes  beriihrt,  die  mich  an 
das  Bacchusbild  in  seinem  Zimmer  denken  lieB.  Ich  sah  jetzt,  daB 
die  Sonne  sein  Gesicht  und  seinen  Hals  rotbraun  uberzogen  hatte  und 
daB  sein  Korper  von  heller  Frische  war,  rein  und  edel,  die  Gestalt  auf- 
fallig  zugleich  durch  ihre  feinen  Linien  und  durch  jene  Anmut  der 
Bewegung,  deren  Trager  ein  wohlgebildeter  und  wohlgefugter 
Knochenbau  ist.  Sein  Ropf  war  ein  reines  Eirund;  sein  (braunes) 
Haar,  stark  mit  Grau  gemischt,  war  kurz  geschnitten  und  bildete 
saint  dem  Bart  einen  seltsamen  Gegensatz  zu  der  fast  kindlichen 

LVII 


Fiille  und  Heiterkeit  seines  Gesichts.  Diese  Heiterkeit  indessen  kam 
aus  den  stillen,  lichtblauen  Augen,  und  iiber  ihnen  zogen  sich  drei 
oder  vier  tiefe  Querfurchen,  die  das  Leben  gegraben  hatte.  Irgend- 
welche  Inbrunst  gewahrte  ich  erst  an  ihm,  als  er  ins  Wasser  kam, 
das  er  mit  der  Begeisterung  eines  Liebenden  umarmte.  Wenn  er 
iiber  Dinge  sprach,  die  ihn  tiefer  interessierten,  wurde  seine  immer 
milde  und  klare  Stimme  langsamer  und  seine  Lider  batten  die 
Neigung,  sich  iiber  seine  Augen  herabzusenken.  Man  konnte  durch- 
aus  in  jedem  Augenblick  die  Wirklichkeit  jedes  Wortes  und 
jeder  Bewegung  des  Mannes  fiihlen,  und  zugleich  das  iiberraschende 
Zartgefiihl  eines,  der  mit  seiner  Feder  freier  war,  als  selbst  Mon- 
taigne. 

Nachdem  ich  mich  mit  Walt  verabredet  hatte,  ihn  im  Laufe 
der  Woche  wiederzutreffen  und  mit  ihm  durch  die  StraBen 
New  Yorks  zu  schlendern,  ging  ich,  und  konnte  diese  Nacht  fast 
gar  nicht  schlafen  vor  lauter  Gedanken  an  meine  neue  Bekanntschaft. 
Er  hatte  mich  so  magnetisiert,  mich  so  mit  etwas  gleichsam  Un- 
definierbarem  erfullt,  daB  es  mir  damals  schien,  als  bestande  die 
einzige  Leben sweisheit  darin,  ein  blaues  Hemd  und  eine  Bluse  an- 
zuziehen  und  in  Mannahatta  und  Paumanok  umherzustreifen,  — 
vzu  schlendern  und  meine  Seele  zu  Gast  zu  laden",  um  die  Worte 
meines  neuen  Freundes  zu  gebrauchen.  Die  Zeit  wurde  mir  sehr 
lang  und  der  Anblick  der  glanzenden  Stadt  matt,  wahrend  ich  auf 
die  nachste  Zusammenkunft  wartete,  voll  Spannung,  ob  er  mir 
beim  Wiedersehen  noch  ebenso  groB  erscheinen  wurde,  Ich  fand 
ihn  an  dem  festgesetzten  Morgen  in  einer  Brooklyner  Druckerei 
beim  Setzen  eines  Aufsatzes  der  ,,Demokralischen  Revue",  der  fur 
die  Uberlegenheit  von  Walt  Whitmans  Dichtung  iiber  die  Tenny- 
sons  eintrat  und  den  er  (da  er  alles  Fur  und  Wider  ganz  tat)  als 
Anhang  zu  seiner  nachsten  Auflage  abdrucken  wollte.  Er  trug 
immer  noch  die  Arbeiterkleidung,  in  der  er,  wie  er  sagte,  aufge- 
wachsen  war  und  die  beizuhalten  er  bequem  fand.  Es  wurde  mir 
klar,  als  ich  mit  ihm  durch  die  StraGen  ging  und  auf  der  Fahre 
fuhr,  daB  er  ein  Fiirst  incognito  unter  seinen  Bekannten  der  nie- 
deren  Rlasse  war.  Alle  Augenblicke  kam  einer  auf  ihn  zu,  ergriffbe- 
geistert  seine  Hand  und  lachte  und  plauderte  (er  selber  aber  lachte 
nicht  ein  einziges  Mai,  ja  ich  habe  ihn  in  der  Tat  nie  auch  nur  lacheln 
sehen).  Da  ich  neugierig  war,  ob  Leute  dieser  Klasse  irgendwie 

LVIII 


seinen  Wert  zu  schatzen  wiifJten,  nahm  ich  einen  Arbeiter  in 
gerippten  Hosen  beiseite,  den  ich  in  it  ihm  hatte  sprechen  sehen,  und 
fragte  ihn:  ,,\Visseri  Sie,  vver  der  Mann  dort  ist?"  —  ,,Das  ist  Walt 
Whitman".  —  ,,Rennen  Sie  ihn  schon  lange?"  —  wViele  Jahre."  — 
,,\Vas  fiir  ein  Mensch  ist  das?"  —  ,,Ein  erstklassiger  Kerl  ist  Walt. 
Reiner  kennt  Walt,  aber  alle  habeti  ihn  gern."  .  .  .  Ich  fragte 
noch  mehrere  andere,  fand  aber  keinen,  der  irgend  etwas  von 
seinem  Buch  wufite,  obwohl  alle  stolz  darauf  waren,  mit  ihm  be- 
kannt  zu  sein.  Unvergleichlich  war  die  Mischung  von  Unbekiim- 
mertheit  und  scharfer  Beobachtung  in  ihm,  wahrend  wir  so  durch 
die  SiraBen  schlenderten. 

Im  Tombs-Gefangnis  besuchten  wir  die  Gefangenen,  und  das  Zu- 
trauen  und  die  Redseligkeit,  mit  der  sie  zu  ihm  kamen  und  ihm 
ihre  Kiimmernisse  ausschiitteten,  als  ob  er  ein  Mann  in  Amt  und 
Wiirden  ware,  war  ganz  seltsam.  An  einem  Fall  nahm  er  beson- 
deren  Anteil.  Der  Mann,  gegen  den  ein  Verfahren  wegen  eines 
geringfiigigen  Verbrechens  schwebte,  war  in  eine  sehr  schlechte  und 
ungesunde  Zelle  gesperrt  worden.  Nachdem  er  ihn  angehort  hatte, 
machte  Walt  kehrt  und  ging  geradenwegs  zu  dem  Gefangnisdirektor, 
erstattete  ihm  Bericht  und  schlofi:  ,,Nach  meiner  Meinung  ist  es 
eine  verdammte  Schande."  Der  Direktor  war  zuerst  verbliifft  iiber 
dieses  Auftreten  eines  hergelaufenen  Mannes  in  Arbeiterkleidung, 
dann  betrachtete  er  ihn  von  Kopf  bis  zu  Fu6,  als  iiberlegte  er,  ob 
er  ihn  verhaften  solle,  wobei  der  Anklager  ruhig  dastand  und  dem 
Direktor  mit  strengem  Freimut  in  die  Augen  sah.  Walt  siegte  in 
diesem  Blickduell,  und  ohne  ein  weiteres  Wort  rief  der  Direktor 
einen  Beamten  und  befahl  ihm,  den  Gefangenen  in  einen  besseren 
Raum  zu  bringen." 

Diese  Kameradschaft  Whitmans  mit  den  Gefangenen  von  New- 
York,  insbesondere  auch  des  grofien  Zuchthauses  Sing-Sing,  ist 
durchaus  eine  Tatsache.  Die  eigenartige  persdnliche  Macht,  die 
spater  wahrend  des  Krieges  auch  alle  Arzte  und  Lazarettbeamten 
bewog,  ihn  frei  und  nach  seinem  Belieben  iiberall  aus  und  ein 
gehen  zu  lassen,  obwohl  er  keinerlei  Amt  oder  Posten  hatte,  waltete 
von  jeher  in  ihm. 

Der  Lebensbeschreibung  Dr.  Buckes  entnehme  ich  noch  einige 
andere  personliche  Berichte  iiber  Whitmans  damalige  Art  und 
Erscheinung. 

LIX 


„  Whitmans  Erscheinung  pflegte  viel  Aufsehen  unter  den  Passa- 
gieren  zu  erregen,  wenn  er  auf  das  Fahrboot  kam.  Er  war  gute 
sechs  FuB  hoch,  mit  dem  Kcrperbau  eines  Gladiators,  ein  grauer, 
iippiger  Bart  mischte  sich  mit  dem  Haar  seiner  breiten,  leicht  ent- 
bloBten  Brust.  In  seinen  wohlgewascbenen,  karierten  Hemdsarmeln, 
die  Hosen  oft  in  die  Stiefelschafte  gesteckt,  den  edlen  Kopf  von 
einem  riesigen  schwarzen  oder  hellen  weichen  Filzhut  bedeckt,  ging 
er  einher  mit  angeboren  majestatischem  Schritt,  ein  echtes  Vor- 
bild  von  Natiirlichkeit  und  Unabhangigkeit.  Ich  glaube  kaum,  daB 
die  Art,  wie  er  sich  damals  kleidete,  absichtlich  exzeritrisch  war; 
er  hatte  einen  tiefen  Widerwillen  gegen  alles  Auffallige  und  alien 
Schein,  und  ich  kann  mir  denken,  daB  er  einfach  das  anzog,  was 
handlich,  sauber,  sparsam  und  bequem  war.  Seine  markante  Er- 
scheinung rief  indessen  trotzdem  die  verschiedensten  Fragen  bei  den 
Passagieren,  die  ihn  nicht  kannten,  wach." 

,,In  der  Pennsylvania  Avenue  oder  der  siebenten  oder  vierzehnten 
StraBe,  oder  vielleicht  an  einem  Sonntag  auf  dem  Vorstadtweg 
nach  Rock  Greek  oder  auf  den  Hiigeln  von  Arlington  oder  an  den 
Ufern  des  Potomac  kann  man  einer  kraftvollen  Gestalt  begegnen, 
die  mit  festem,  aber  gemachlichem  Schritt  einhergeht,  sechs  FuB 
hoch,  gekleidet  in  Blau  oder  Grau,  mit  gelbgrauem  Schlapphut, 
breitem  Hemdkragen,  grauweiBem,  vollem,  welligem  Bart,  mit 
einem  Gesicht,  rot  wie  ein  Apfel,  blauen  Augen  und  mit  einem 
Aussehen  von  animalischer  Gesundheit,  das  eher  auf  Jagd  und 
Schiffahrt  als  auf  ein  Amt  im  Ministerium  oder  auf  den  Arbeits- 
tisch  eines  Schriftstellers  schlieBen  laBt.  In  der  Tat,  der  Mann, 
den  wir  beschreiben,  holt  sich  in  seiner  Dichtung,  seinen  Lebens- 
formen,  ja  selbst  in  seiner  Philosophic  seine  Krafte  offenbar  aus 
einer  standiger  Beziehung  zu  den  Einflussen  von  Meer  und  Himmel, 
Waldern  und  Steppen  und  ihren  Gesetzeri  und  zu  Menschen,  die 
in  Einklang  mit  ihnen  leben,  wahrend  weder  die  iiblichen  Salons 
der  Gesellschaft  noch  die  Sphare  gelehrter  Bibliotheken  ihm  etwas 
anhaben  konnen." 

,,Walt  Whitmans  Rleidung  war  jederzeit  auBerst  einfach.  Er 
trug  gewohnlich  bei  gutem  Wetter  einen  hellgrauen  Anzug  aus 
guter  Wolle.  Das  einzig  Besondere  an  seiner  Kleidung  war,  daB 
er  niemals  eine  Kravatte  trug,  sondern  immer  Hemden  mit  sehr 
breitem  Umlegekragen,  deren  vorderer  Knopf  fiinf  oder  sechs  Zoll 

LX 


tiefer  als  iiblich  saG,  so  da6  die  Kehle  und  der  obere  Teil  der  Brust 
freiblieb.  Im  iibrigen  kleidete  er  sich  durcbaus  gediegen,  sauber, 
schhcht  und  unauffallig.  Alles,  was  er  trug,  und  iiberbaupt  alles 
an  ihm,  war  jederzeit  peinlich  sauber.  Seinen  Kleidern  niochte  man 
vielleicht  (wie  es  in  der  Tat  der  Fall  war)  ansehen,  dafi  sie  viel 
getragen  waren,  oder  sie  mochten  sogar  zerrissen  und  durch- 
gescheuert  sein,  aber  sie  waren  nie  schmutzig.  In  der  Tat,  ein  kost- 
liches  Arom  von  Sauberkeit  war  immer  eine  der  Besonderheiten 
des  Mannes;  es  war  seinen  Kleidern,  seinem  Atem,  seinem  ganzen 
Korper,  seinem  Essen  und  Trinken,  seinem  Gesprach  zu  eigen,  und 
jeder,  der  aucb  nur  eine  Stunde  mit  ihm  zusammen  war,  mufite 
spu'ren,  dafi  es  seinen  Geist  und  sein  Leben  durchdrang  und  in 
Wahrheit  der  Ausdruck  einer  Reinheit  war,  die  ebensogut  physisch 
wie  moral  isch  und  moraliscb  wie  physisch  war." 

,,Lethargisch  bei  einem  Interview,  passiv  und  aufnehmend,  ein 
bewundernswerter  Zuhorer,  niemals  in  Hast,  voll  der  Haltung 
eines,  der  MuCe  genug  hat,  allezeit  in  vollkommener  Ruhe,  schlicht 
und  geradezu  im  Umgang,  voll  Liebe  fur  das  einfache,  gewohnliche 
Volk,  „  einer,  der  Rohen  und  Gebildeten  auf  gleiche  Weise  begegnet", 
mafiig,  keusch,  milde,  liebevoll  und  herzlich,  von  vielen  Freunden 
geliebt,  mit  einer  sommerlich-vaterlichen  Seele,  die  aus  all  seinem 
Betragen  und  aus  jedem  Blick  hervorscheint,  ist  er  nicht  im  ge- 
ringsten  der  MBarbar",  fur  den  ihn  gewisse  Leute  so  gern  hielten. 
Peinlich  wie  ein  Brahmine  von  honer  Kaste  in  bezug  auf  seine 
Nahrung  und  seine  persbnliche  Sauberkeit  und  Ordnung,  gut  ge- 
kleidet,  mit  grauer,  offener  Brust,  mit  einer  tiefen,  sympathischen 
Stimme  und  einem  freundlichen,  lebhaften  Blick,  macht  er  den 
Eindruck  besten  Bluts  und  bester  Herkunft.  Er  erinnert  einen  an 
die  ,,ersten  Manner",  die  ,,Anfanger";  er  hat  das  primitive  Aussehen 
eines,  der  im  Freien  lebt,  —  nicht  so  sehr  durch  vielen  Aufenthalt 
in  frischer  Luft,  wie  durch  angeborene  Rasseneigenschaft,  —  ein  Aus- 
sehen, das  mit  Erde,  Meer  und  Gebirge  verwandt  ist,  und  er  wird, 
wie  jiingst  ein  Vorkampfer  seiner  Sache  schrieb,  ,,gewohnlich  fur 
einen  tiichtigen  Handwerker  oder  Giiterpacker  oder  Schiffer  oder 
sonst  irgendeinen  Arbeiter  von  Qualitat  genommen."  Seine  Phy- 
siognomic zeigt  hochst  ausgesprochene  Ziige,  Ziige  nach  wahrhaft 
antikem  Schnilt,  wie  sie  aus  modernen  Gesichtern  fast  verschvvunden 
sind,  erkennbar  an  dem  starken,  breiten  Ansatz  seiner  Nase,  seinen 

LXI 


hohen,  geschwungenen  Brauen  und  an  dem  Fehlen  jeglicher  Wol 
bung  seiner  Stirn,  —  ein  Gesicht,  das  sich  dem  Typus  griechischer 
Statuen  annahert.  Er  bedeutet  nicht  Intellekt  allein,  sondern 
Leben;  und  man  fiiblt,  daft  sein  SchafFen  sicb  mehr  durch  Ein- 
fiihlen  und  Aufsaugen,  als  durch  angestrengte  intellektuelle  Vor- 
gange  vollzieht,  —  durch  die  Ausstromung  von  Kraft  viel  mehr,  als 
durch  ihre  direkte  und  totale  Anwendung." 

,,JahreIang  haben  Tausende  von  Menschen  in  New  York,  Boston, 
New  Orleans  und  spater  in  Washington  einen  Mann  von  auffallen- 
der,  mannlicher  Schonheit  —  einen  Dichter  —  von  machtvoller  und 
ehrwiirdiger  Erscheinung  gesehen,  wie  ich  selber  ihn  vor  zwei 
Stunden  erst  gesehen  habe:  im  Einklang,  sozusagen,  mit  den  Stra- 
Cen  unserer  amerikanischen  Stadte  und  wie  geschaffen  fiir  diesen 
Hintergrund  und  diese  Umgebung  ihrer  flutenden  Bevolkerung  und 
ihrer  weiten  und  reichen  Fassaden;  einen  Mann,  groB,  gelassen, 
herrlich  gebaut;  meist  in  die  lassige,  grobe  und  immer  malerische 
Tracht  des  Volkes  gekleidet  .  .  .  und  mit  unbekummertem,  stolzem, 
Schritt  iiber  das  Pflaster  schreitend,  Sonnenlicht  und  Schatten  um 
sich  her.  Den  dunklen  Schlapphut,  den  er  meistens  tragt,  hielt  er, 
als  ich  ihn  sah,  in  der  Hand,  da  es  sehr  heiB  war;  reiches  Licht, 
wie  ein  Maler  es  gewahlt  haben  wurde,  lag  auf  seinem  bloBen, 
majestatischen,  homerisch  groBen  Haupt  und  auf  seinen  starken 
Schultern  und  gab  ihm  die  Erhabenheit  antiker  Skulpturen.  Ich 
sah  sein  Gesicht,  klar,  stolz,  froulich,  bluhend  und  zugleich  ernst; 
die  Brauen  von  edlen  Furchen  iiberschrieben;  die  Zu'ge  kraftig  und 
wohlgeformt,  mit  festblickenden,  blauen  Augen;  die  Brauen  und 
Lider  von  jener  reinen  Bogenform,  die  man  selten  sieht,  auGer  an 
den  antiken  Biisten;  das  reiche  Haar  und  der  wollige  Bart  ganz 
grau,  wodurch  das  jugendliche  Aussehen  des  erst  Funfundvierzig- 
jahrigen  einen  Anstrich  von  Alter  bekommt;  die  Einfachheit  und 
Reinheit  seiner  Kleidung,  die  billig  und  schlicht,  aber  fleckenlos 
ist,  von  dem  schneeweiBen,  umgeschlagenen  Hemdkragen  bis  zu 
den  blankgeputzten  Stiefeln,  und  einen  leisen,  frischen  Hauch  aus- 
stromt;  die  ganze  Gestalt  von  Mannlichkeit  wie  von  einem  Nimbus 
umgeben  und  in  ihrer  vollkommenen  Gesundheit  und  Kraft  den 
erhabenen  Zauber  eines  siarken  Menschen  atmend." 

Die  Wiederholung  derselben  Eindrucke  in  diesen  Berichten 
bezeugt  ihre  Sta'rke.  Manches  darin  mag  etwas  ubertrieben  betont 

LXII 


klingen.  Aber  solcherlei  Aussagen  iiber  einen  ergreifenden,  groBen 
Menschen  sind  eben  befeuert  von  dem  unaussprecblichen  Gefiihl 
der  in  Worten  nicht  zu  fassenden  Gewalt  der  Person,  und  wir 
inb'gen  daran  denken,  wie  wir  etwa  vor  einem  groBen  Kunstwerk, 
das  wir  bisher  nur  aus  bewundernden  Beschreibungen  kannten, 
von  seiner  Scblicbtbeit  und  Selbstverstandlichkeit  erscbiiitert  wer- 
den,  wenn  wir  ihm  leibhafiig  gegeniibersiehen.  In  uhnlicher  Weise 
miissen  wir  solche  Beschreibungen  in  die  Sphare  Whitmans  selber 
projizieren,  um  ein  wahres  Geftilil  seiner  Wesenheit  zu  bekommen. 

Aus  dieser  auGerordentlichen  Wirkung  seiner  Personlichkeit  her- 
aus,  an  die  er  seit  jeher  gewb'hnt  war  und  in  deren  Unmittelbarkeit 
und  taglichem  Verstromen  er  lebte,  miissen  wir  auch  die  kraftige 
Ungeduld  versteben,  die  ihn  angesichts  des  MiBerfolges  seines 
Buciies  dazu  drangte,  sich  gleicbsam  personlich  dafiir  ein/usetzen 
und  es  gewissermafien  dem  Publikum  in  die  Hand  zu  zwingen,  — 
so  gelassen  aucb  in  hoherem  Sinne  Whitman  dem  Schicksal  seine 
Dichtung  vertraute  und  seine  Zuhorerschaft  ebensogut  in  den  Jahr- 
bunderten  der  Zukunft  wuBte,  wie  in  der  Gegenwart.  Sein  ameri- 
kanisch-robustes  Tagesgefiihl  rief  die  Instinkte  personlicben  Ein- 
tretens  fiir  seine  Sacbe  wach,  die  ihm  ja  bewuBterweise  Sache  der 
Menschheit  war.  Ich  schickedies  vora us,  weil  Whitman  aus  der  Art,  wie 
er  im  Jahre  1866  die  zweite  Auflageauf  den  Markt  brachte,  in  einem 
trivialeren  Sinne  nicht  unberechtigte  Vorwurfe  gemacht  worden  sind. 

Die  neue  Ausgabe  war  um  zwanzig  Gesange  vermehrt.  Vor  allein 
erschien  darin  das  gewaltige  ,,BegruBungsgedicht'c  aller  Volker  der 
Erde,  ,,Salut  au  monde" ,  das  ,,Lied  von  der  rollenden  Erde", 
MGesang  bei  Sonnenuniergang",  der  MGesang  vom  Beil"  und  zwei 
Gesange,  die  den  Kern  der  in  den  nachsten  Jahren  voll  gestalteten 
^Kinder  Adams"  bildeten  und  zum  erstenmal  das  Thema  Geschlecht 
rait  aller  Kiihnheit  anschlugen. 

In  einem  Anhang  druckte  Whitman  jenen  Brief  Emersons  ab, 
und  zwar,  was  von  Gegnern  meist  verschwiegen  wurde,  auf  Dran- 
gen  von  C.  A.  Dana,  dem  Herausgeber  der  ,New  York  Sun",  einem 
nahen  Freunde  Emersons.  Ferner  fiigte  er  einen  offenen  Antvvort- 
brief  an  Emerson  bei,  der  freilich  zu  den  unglucklicbsten  AuBerungen 
Whitmans  gehort,  und  setzte  iiberdies  aut'die  Ruckseite  des  Buches 
die  Worte  Emersons:  MIch  begriiBe  Sie  zum  Beginn  einer  groBen 
Laufbahn.  —  R.  W.  Emerson." 

LXIII 


Alles  in  allem  eine  nicht  sehr  wiirdige  Art  von  Selbstankiindigung, 
die  denn  auch  aus  der  nachsten  Ausgabe  sofort  wieder  verschwand. 
Die  Behauptung,  Emerson  sei  dadurch  aufs  tiefete  verstimmt  ge- 
wesen,  ist  unrichtig.  Seine  Beziehung  zu  Whitman  blieb  bis  zuletzt 
sehr  herzlich;  er  besuchte  ihn  wiederholt  und  sprach  sich  freimiitig 
iiber  diejenigen  neuen  Gedichte  aus,  mit  denen  er  nicht  einver- 
standen  war. 

Die  Ausgabe  erregte  naturgemaB  viel  mehr  Aufsehen  und  auch 
einen  noch  viel  wilderen  Sturrn  der  Entriistung,  der  besonders 
jenen  Keimgesangen  der  „ Kinder  Adams"  gait.  Ursprunglich  war 
alles  fur  einen  groBen  Absatz  des  Buches  vorgesehen,  aber  die  New 
Yorker  Buchhandler  zogen  sich  vor  der  offentlichen  Meinung  zu- 
riick,  und  so  blieb  das  Buch,  nachdem  das  erste  Tausend  verkauft 
war,  vergriffen. 

In  seinem  natiirlichen  Drang  nach  Wirkung  auf  sein  Volk,  der 
aus  dem  Gefiihl  und  der  Erfahrung  von  der  Kraft  seiner  Person- 
lichkeit  entsprang,  stiegen  nun  alte  Gedanken  wieder  in  Whitman 
empor,  die  ihn  seit  dem  Erwachen  des  Sinns  fur  die  Gesamtheit 
der  amerikanischen  Staaten  bewegt  batten,  Gedanken,  die  darin 
gipfelten,  als  Redner  selber  vor  das  Volk  zu  treten,  frei  von  jeder 
Partei,  lediglich  als  Verk under  der  uramerikanischen  Wesenheit, 
die  ihm  der  Keim  der  Zukunftsmenschheit  war.  Die  politischen 
Wolken  waren  inzwischen  immer  finsterer  geworden;  die  Erschiitte- 
rungen,  die  die  ganze  Union  zu  zerreiBen  drohten,  machten  sich 
von  Tag  zu  Tag  drohender  fiihlbar.  Gegen  sie  die  ganze  einigende 
Macht  einer  lebendigen  amerikanischen  Personlichkeit  einzusetzen 
und  das  Ziel  mit  alien  Strahlen  seines  Geistes  und  Gefuhls  zu  be- 
leuchten,  um  dessentwillen  seinem  tiefen  Glauben  nach  diese  Neue 
Welt  in  die  Erscheinung  getreten  war,  —  das  mufite  einen  Mann 
seiner  Art  zu  einer  Zeit  und  in  einem  Volke,  wo  jeder,  der  sich  be- 
rufen  fiihlte,  nach  Fiihrerschaft  greifen  durfte,  im  Innersten  ver- 
locken.  Er  schrieb  damals,  nach  dem  Ausspruch  seiner  Mutter, 
ganze  StoBe  von  Vortragen  und  Betrachtungen  iiber  die  Redekunst, 
in  denen  er  ein  Bild  von  dem  groBen  Volksredner  entwarf,  das 
dem  gewaltigen  Bilde  des  wahren  Dichters  entsprach,  das  er  in  der 
Vorrede  zur  Erstausgabe  der  ,,Grashalme"  verkundet  hatte.  Der 
Redner  erscheint  bier  als  ein  Prophet,  von  Inspiration  durchgliiht, 
von  dem  Geist  des  Augenblicks  geschiittelt,  wie  die  alien  groBen 

LXIV 


Quakerprediger,  cleren  Macht  er  ja  als  Knabe  gespiirt  hatte;  die 
voile,  fast  hypnotische  Macht  der  Personlichkeit  selber  miisse  die 
Rede  vorbereiten  und  tragen  and  der  ganze  Korper  miisse  lautlos, 
rein  und  feurig  mitreden.  In  einem  dieser  Kntwiirfe  spielt  er  init 
Humor  auf  die  Gepflogenheit  an,  auf  sich  selber  aufmerksam  zu 
macben,  \vorin  er  ja  nicht  unerfabren  sei;  aber  anders  gebe  es  nun 
ofFenbar  einmal  nicbt,  wenn  er  das  Gehor  Amerikas  erzwingen  und 
es  znr  Selbsterkenntnis  fiihren  wolle. 

Unversehens  aber  wucbs  ibm  die  Welt  des  eigenen  Seins  in 
andere,  neue  Tiefen  und  auch  das  aufiere  Geschehen  fiihrte  ibn  zu 
iminer  siiBeren  und  starkeren  Geheimnissen  des  Daseinswunders, 
die  alle  seine  Krafte  in  ein  inneres  Verweilen  bannten. 


KAMERADSCHAFT  UND  KRIEG 

Lang,  zu  lang,  Amerika, 

Bist  du  auf  ebenen,  friedlichen  Wegen  gegangen  und  hast  nur  aus  deinen 

Freuden  und  deinem  Gedeihen  gelernt, 
Nun  aber,    o    nun  gilt  es,    aus  Todesangsten    zu   lernen,    vorwarts  immer, 

ringend  mil  Grauen  des  Schicksals,  ohne  zu  wanken, 
Und  zu  begreifen  nun  und  der  Welt  zu  zeigen,  was  deine  Kinder  en  masse 

in  Wahrheit  sind, 
(Denn  \ver  aufier  rair  hat  bis  jetzt  begriffen,  was    deine  Kinder    en  masse 

in  Wahrheit  sind?) 

Seit  dem  Jahre  1866  war  Abraham  Lincoln,  zuvor  Rechtsanwalt 
im  Staate  Illinois,  dann  Kandidat  fur  die  Senatorenwahl  dieses 
Staates,  als  Vorkampfer  der  neugegriindeten  Freilandpartei  immer 
mehr  in  den  Gesichtskreis  Amerikas  geriickt.  Obwohl  er  jedoch 
die  Sklaverei  fur  den  gefahrlichsten  Feind  der  Federation  hielt, 
war  er  doch  der  Ansicht,  daB,  gerade  um  der  Einheit  der  Staaten 
willen,  die  Stimmung  zugunsten  ihrer  Abschaffung  in  den  Siid- 
staaten  selber  geweckt  und  ein  gewaltsamer  Eingriff  vermieden 
werden  miisse;  und  als  im  Jahre  1869  John  Brown  seinen  be- 
ruhmten  Einfall  in  Virginia  machte,  um  die  Sklaven  gegen  ihre 
weifien  Herren  aufzuhetzen,  verurteilte  Lincoln  diesen  Gewalt- 
streich  durchaus  und  billigte  die  Hinrichtung  Browns.  Trotzdem 
wurde  Lincolns  Personlichkeit  eben  durch  das  leidenschaftliche 
Eintreten  fiir  die  Erhaltung  der  Union  immer  mehr  fur  die  Siid- 
staaten  die  Verkorperung  der  anmafienden  Anspriiche  des  Nordens, 
und  als  er  nach  mancherlei  wilden  Redeschlachten  endlich  im  No- 
vember 1860  zum  Prasidenten  gewahlt  wurde,  war  das  fiir  den 
Siiden  das  Signal  zur  Erklarung  der  Sezession,  und  zwar  unter  der 
Fiihrung  des  Staates  Rarolina,  der  von  jeher  der  Feind  der  fo'de- 
rativen  Macht  gewesen  war. 

LXVI 


Gegen  Ende  Februar  1861  zog  Lincoln,  von  einer  ungeheuren 
Mfuschenmenge  empfangen,  in  Washington  ein,  und  dabei  sah  ilm 
Whitman  zum  erstenmal. 

Kr  hatte  inzwischen  sein  gelassen-waches  GroBstadt-  und  Land- 
leben  weitergefiihrt.  Er  verkehrte  um  diese  Zeit  unter  anderem 
in  einem  Kreis  der  Boheme  New  Yorks,  deren  Hauptquartier  Pfatts 
Deutsches  Restaurant  am  Broadway  war,  wo  er  besondere  Freund- 
schaft  mit  der  geistvollen  und  schonen  wK6nigin"  dieses  Kreises,  Ada 
Clare,  schloB.  Beriihmte  Giiste  kamen,  um  ihn  kennenzulernen, 
unter  anderem Thoreau,  der  damals  sein  Werk  „  Walden"  veroffent- 
licht  hatte  und  von  Emerson  zu  Whitman  geschickt  worden  war. 
Der  kleine,  scheue  Mann,  dessen  Naturinbrunst  im  Grunde  Welt- 
llucht  war,  fuhlte  die  GroBe  Whitmans,  ohne  sich  in  seine  alles 
•Lrhrn  umfassende  Wirklichkeitsfreude  finden  zu  konnen ;  er  begrift* 
\Vliitmans  Liebe  zur  Masse,  zum  gewohnlichen  Volk  und  dem 
Gewiihl  der  Stadte  nicht.  Er  fand  ihn  nganz  auBer  dem  Bereich 
seiner  Erfahrung",  nverwirrend,  seltsam,  iiberraschend",  wirgend 
etwas  GroBes  und  Kolossales",  und  sagte  von  ihm:  ,,Er  ist  De- 
mokratie". 

Der  Mystiker  Bronson  Alcott  kam,  ebenfalls  von  Emerson  ge- 
schickt, und  wurde  von  Whitmans  Personlichkeit  ganz  und  gar 
uberwaltigt.  BEr  ist",  schrieb  er,  wder  leibhaftige  Gott  Pan." 

Die  zweite  Auflage  der  ,,Grashalmeft  war  nun  schon  seit  drei 
Jahren  vergrifFen,  und  Anfang  1860  trat  Whitman  mit  dem  jungen, 
tatkraftigen  Bostoner  Verlag  Thayer  &  Eldridge  in  Verbindung, 
um  die  dritte  Auflage  vorzubereiten,  da  inzwischen  wesentliche 
neue  Gesange  und  Zyklen  geschaften  waren.  Er  fuhr  selber  nach 
Boston,  um  die  Korrektur  zu  besorgen.  Wahrend  dieses  Aufent- 
halts  traf  er  haufig  mit  Emerson  zusammen,  mit  dem  er  herzliche 
Freundschaft  schloB.  Whitman  selber  hat  uns  (siehe  Prosaschriften) 
einen  kurzen  Bericht  iiber  das  denkwiirdige  Gesprach  hinterlassen, 
das  er  eines  Tages  im  Februar  im  Stadtpark  von  Boston,  unter  den 
alien  herrlichen  Ulmen  auf  und  ab  wandelnd,  mit  ihm  hatte  — 
und  das  den  Gedichten  gait,  die  in  der  zweiten  Auflage  soviel  Uii- 
willen  erregt  batten,  den  Gesangen  vom  ,,elektrischen  Leib",  die 
nun  in  der  neuen  Ausgabe,  zu  einem  grofien  Zyklus  „ Kinder  Adams" 
erweitert,  wieder  erscheinen  sollten.  Diese  neue  Ausgabe  sollte  die 
erste,  von  einem  groBen  Verlage  herausgebrachte  und  gewissermaBen 

v  IAVII 


das  endgiiltige  Bekenntnis  Whiimaus  fur  einen  viel  gro'Beren 
Leserkreis  urid  auf  Jahre  hinaus  werden.  Das  bestimmte  wahr- 
scheinlich  Emerson,  noch  einmal  alle  Griinde  der  Besonnenheit 
und  Skepsis  vvie  eine  \vohl  geordnete  Armee  gegen  den  Dichter 
ins  Feld  zu  fiihren,  um  ihn  von  der  \7erb'fFentlichung  dieser  Ge- 
siinge  abzubringen,  die  fur  viele  das  Buch  unlesbar  macben  wurderi. 
Als  er  endlich  nacb  zwei  Stunden  mit  der  Frage  schloB:  ,,Was 
baben  Sie  zu  alledem  zu  sagen?"  antwortete  Whitman:  ,,Nur, 
daB  icb  zwar  nichts  dagegen  ervvidern  kann,  aber  rnich  docb  eiit- 
scblossener  fiible  als  je,  an  meiner  eigenen  Tbeorie  festzuhalten 
und  sie  zu  betatigen."  —  „.  .  .  \\orauf  wir",  sagt  er  vergniiglicb, 
,,weggingen  und  em  gutes  Mittagessen  einnahmen."  — 

Die  dritte  Auflage,  als  Bostoner  Ausgabe  bekannt.  war  die  bis 
dato  am  schonsteii  und  wiirdigsten  ausgestattete.  Die  neu  hinzu- 
gekommenen  Gesange  waren  vor  allem  ,,Von  Paumanok  kom- 
mend",  ,,Aus  der  ewig  scbaukelnden  Wiege",  „  Kinder  Adams", 
„ Calamus"  und,  an  den  ScbluB  des  Bucbes  gestellt,  das  yLebwobl". 

Ohne  die  flutende  Einheit  Whitmans,  die  im  grenzenlosen  Gott- 
bevvuBtsein  lebt,  auf  eine  scbematische  Folter  strecken  zu  wollen, 
konnen  \vir  docb  das  ,,offene  Gebeimnis"  jener  Drei-Einheit  gleicb- 
sam  als  Index  iiber  sein  Werk  stellen,  die  er  in  dem  neuen  „ Pau- 
manok "-Gedicbt  zusammenfaBt : 

Mein  Kamerad! 

Zwei  Erhabenheiten  sollst  du  mit  mir  teilen,  und  eine  dritte,  die 
die  andere  umscbliefit  und  noch  leuchtender  ist,  als  sie: 

Die  Erhabenheit  der  Liebe  und  Demokratie,  und  die  Erhabenheit 
der  Religion. 

Liebe,  Demokratie  und  Religion  —  und,  sie  alle  trageiid,  ge- 
barend,  vervvirklichend,  das  ,,Icb",  das  MSelbst",  das  Ur-  und  Grund- 
vvunder  des  im  Einzelmenscben  verkorperten  Seins.  Eines  spiel t 
ins  andere  hiniiber,  gleicbwie  die  See  zugleicb  Vielheit  und  Ein- 
beit  ist.  Denn  anders  als  im  eigenen  Icb  erleben  wir  uns  selbst, 
die  andern  und  die  Welt  und  Gott  nicbt;  nicbts  im  ganzen  Uni- 
versum  kann  wichtiger  sein,  als  das  eigene  Selbst.  Es  ist,  um  ein 
Gleichnis  Whitmans  zu  gebrauchen,  sozusagen  die  Sehkraft. 

Nachdem  zum  erstenmal  das  Ich  in  dem  groBen,  gleichsam  mit 
dem  Wellenschlag  und  Rhythmus  der  Unendlichkeit  ergossenen 
,,Gesang  von  mir  selbst"  sich  in  aller  Fiille  ausgebreitet  hatte, 

LXV1II 


morgenfrisch  durchblit/t  von  allein,  was  nur  ein  Mensch  fiililcn 
nnd  schauen  kann,  voll  Erinnerung,  Gegenwart  und  ewiger  Zu- 
kunft,  hinausrauschend  bis  iiber  die  dunkle  Schranke  des  Todes  in 
das  allgegenwartig  Geistige,  —  nachdem  in  diesem  Traumgesang 
der  Wirklichkeit,  dessen  Worte  alle  \vie  von  der  Morgensonne  be- 
strahlte  Blatter  eines  miichtigen  und  in  Vielfaltigkeit  zarten  Baumes 
leuchten,  die  Sphare  geschafTen  war,  in  der  alles  in  Wahrheit  von 
jenem  unbescbreiblichen  Erstlingszauber  glanzte,  der  uns  in  hochsten 
Stunden  die  Welt  und  unser  Dasein  in  ihr  zu  Bewufitsein  bringt, 
hob  nun  Whitman  das  blutvollste  Wunder  in  diese  neugeschaffene 
Sphare  empor,  das  er  in  it  der  ganzen  Kraft  und  Frische  seines 
eigenen  Leibes  erlebt  hatte,  das  Wunder  des  Geschlechts,  der 
Xeugung,  der  Vater-  und  Mutterschaft.  \Vie  von  feierlich- 
|>aradiesischem  Orgelpraludium  umbraust,  hebt  er  an  und  steigt 
wie  Adam  in  den  Garten  Welt  aufs  neue  empor,  von  tausend 
Blitzen  frischesten  Gefiihls  umspielt,  eine  Geisterschar  herrlicher 
Jiinglinge  und  Madchen  ihm  voraus,  und  Eva  an  seiner  Seite  oder 
hinter  ihm.  Was  reine  und  frische  Leiber  von  Mann  und  Weib 
auf  dieser  Erde  am  heiflesten  und  begliickendsten  durchschauert, 
ist  auch  der  machtigste  Trager  des  Seelischen.  Was  den  Einzel- 
leib  gleichsam  zerschmilzt  mit  Lust  der  Hingabe  und  Empfang- 
nis,  ist  zugleich  hochstes  Icb-Geftihl  und  hochster  Gemeinschafts- 
drang.  Gleichwie  in  der  mystiscb-religiosen  Ekstase  sich,  just  durch 
die  innerste  Vertiefung  in  das  Selbst,  die  Schranken  des  Selbst 
zum  unendlichen  BewuBtsein  erweitern,  so  lost  sich  im  Wunder 
des  Geschlechts  der  zu  seiner  berauschendsten  Lust  gesteigerte 
Einzelwille  in  die  Lust  der  Vereinigung  mit  dem  leibhaftigen 
\Vunder  des  wDu".  Die  ganze  Welt  ist  bestrahlt  von  dieser  Lust, 
alle  Wesenbeiten,  sichtbar  und  unsichtbar,  stimmen  ein  in  dieses 
gewaltige,  innigste  Du,  alles  leuchtet  sicb  an,  schmiegt  sich  an- 
einander,  umarmt  sich ,  gibt  sicb  bin,  erobert  und  empfangt.  Der 
Himmel  spriiht  im  Sonnenaufgang  Zeugungsstrahlen  iiber  die  hin- 
gegebene  Erde,  die  Biene  taumelt  im  Duft  des  Samens  der  Bliite, 
der  Wind  streicht  liebkosend  iiber  den  hingestreckten,blo6en  Korper, 
Welle  der  See  schmiegt  sich  in  Welle,  Grashalm  driingt  sich  an 
Grashalm,  Friichte  duften  und  locken,  Tier  drangt  sicb  an  Tier, 
Vereinsamte  betten  sich  in  ihre  eigene  Sehnsucht  und  Glut,  eine 
blofie  Beriihrung  spriiht  Blitze,  Sonnen  kreisen  um  Sonnen,  das 

L\\\ 


Unsichtbare  umarmt  das  Sichtbare,  alle  Glieder  und  Teile  des  Korpers 
atmen  und  schwellen  im  Drang  ihres  innersten  Sinnes,  alle  so  heilig 
wie  Gebete,  alle  vom  Willen  des  ewigen  Wunders  erfiillt,  alle  mit- 
gerissen  in  der  warmen,  leuchtenden  Flut  des  Seins  und  Werdens,  alle 
berauschte  Llebende  uud  Kameraden  in  den  Mutterraumen  der  Uri- 
endlichkeit.  An  der  schmalen  Pforte  des  MutterschoBes  drangen 
sich  die  Keime  zu  neuen  Saaten  herrlicher  Mannheit  und  Weib- 
heit :  zu  den  neuen  Empfindenden,  Liebenden,  BewuBten,  in  denen 
die  Welt  zu  sich  selber  immer  wieder  in  Seelen-  und  Leibesschon- 
heit  erwacbt,  Augen  aufscblagt,  die  schauen  und  glanzen.  Alles 
ist  Geburt  und  wieder  Geburt.  In  herrlichen  Miittern  schwillt  die 
Zukunft  der  Erde  und  Menscbheit,  Blitze  der  Zeugungskraft  zucken 
iiber  eine  neue  Welt,  alles  Bose  fliegt  wie  Scbatten  mit,  der  im 
immer  wachsenden  Licbt  verweht,  —  boren  \vir  Marschtakte, 
Freudencbore  einer  alten  Welt,  feuertrunkene,  herbeikommen  und 
bruderlich  einmiinden? 

Aber  nicht  nur  bacchiscber  Taumel  dies,  verziickter  Tanz  zur 
Feier  der  Mysterien,  sondern  vollste  ,,Besonnenheit"  in  jedem 
Augenblick  des  Seins,  erwacbtes  Ruben  im  ,,Jetzt  und  Hier",  alle 
zartesten  und  wildesten  Empfindungen  vereint,  kein  triibes,  reuiges 
,,Morgen"  mebr,  kein  scbaler  Nachgescbmack  wie  nacb  gewalt- 
samer  Berauschtheit,  kein  Beiseitescbieben  der  scbnoden  Alltags- 
welt  um  des  Ideals  willen,  sondern  ein  Bejahen  alles  Seienden  und 
des  Adels  aller  Erd-  und  Naturgebundenheit,  ein  Scbreiten  und 
Wandeln  immer  fort  und  immer  defer  in  das  unverganglich  Wirk- 
liche  hinein:  ,,Du  mufit  dich  nun  an  das  Blenden  des  Licbts  und 
jedes  Augenblicks  deines  Lebens  gewohnen. "  Ekstase  wahrlich,  wenn 
anders  Ekstase  befreite  BevvuBtheit  beiBt,  Gefiihl  des  Wunders,  das 
uns  in  jeder  Sekunde  umgibt  und  erfiillt,  Erlosung  aus  dem  Schatten- 
bann  gespenstiscber  Wiinscbe,  Ziele,  Tatigkeiten,  Ebrgeize,  Sorgen, 
Vergniigungen :  MDu  bist!  —  mehr  nicbt!  —  jedwedem  bocbsten 
Gotte  ist  dies  genug." 

Und  diese  Lust  strablt  nicbt  nur  um  das  empfangende,  weib- 
licbe  ,,Du",  zu  dem  dicb  alle  magnetischen  Blitze  deines  Leibes 
/iehen,  sondern  aucb  um  das  ,,Du"  des  Mannes,  des  Kameraden, 
des  Gefahrten  im  ,,Garten  Welt";  auch  zu  ihm  strebt  der  Magnet, 
auch  ibm  legst  du  mit  tiefer  Lust  die  Hand  in  die  Hand  oder  auf 
dieSchulter  oder  um  die  Hiifte,  dem  reinen,  woblgestalteten, 

LXX 


I 


durchgeistigten  Freunde.  Nur  ,,atherischertt  noch ,  ,,gleichsam 
korperlos",  obwohl  immer  in  der  Wonne  der  Leiblichkeit;  gleich- 
sam  das  eigene  Wonder  der  Mannheit  im  gleichgeschaffenen  Adams- 
bruder  liebevoll  nocb  einmal  erlebend,  das  ,,Zeichen  der  Mannheit" 
mil  ihm,  im  frischen  Sinnbild  in  Waldestiefe  am  Sumpfrand  ge- 
pfliickter  Kalmuswurzel ,  kiihnen  Phallussymbols,  austauschend, 
in  naturbeseeltem  Rausch  der  All-Liebeskraf  t ,  in  gliihend-lacheln- 
der  Rameradschaft  der  hier  auf  Erden  gemeinschaftlich  Wandeln- 
den  und  Fiihlenden.  Tiefer  noch  als  im  Empfangnistaumel  des 
Weibes  lebt  hier  im  mitliebenden  Gefahrten  der  wache  Erostraum, 
das  Verstehen  der  Geistigkeit,  der  siiBen  und  wilden  Einsamkeit 
der  Seele  in  aller  Gemeinschaft,  der  Blutfiille  mannlichen  Gedankens, 
der  ewig  das  Unendliche  ruhelos-freudig  und  zartlich  umspielt. 

Daher  bliihen  diese  zart-feurigsten  Liebesgesange  Whitmans, 
iiber  denen  das  Zeichen  „ Calamus"  steht,  gerade  in  einer  Sphare 
keuschester  Einsamkeit.  Sie  klingen  wie  in  hoher,  stehender 
Sommerglut  von  den  kiihn  geschwungenen  Lippen  eines  panischen 
Gottes  den  Biischen  und  Blumen  zugefliistert.  Es  hiefie  sich  an 
diesen  Gedichten  versiindigen,  wenn  man,  wie  eifrige  Maulwiirfe 
es  versucht  haben,  den  Eros  aus  ihnen  hinwegdiskutieren  wollte; 
sie  sind  durch  und  durch  davon  durchbebt,  genau  so  gut,  wie  die 
stille  Luft  des  Nachmittags  vor  den  Toren  Athens,  als  Sokrates 
unter  der  Platane  am  Bach  mit  Phaidros  redete.  Und  dennoch 
anders.  Denn  hier  in  diesem  neuen  Garten  Welt  redet  ein  Mann, 
der  noch  eben  mit  Worten  von  niegehorter  Kiihnheit  und  Lust 
die  Zeugung  und  das  Weib  gefeiert  hat,  der  noch  mitten  aus 
diesen  Calamus-Gesangen  heraus  der  ,,testverankerten,  ewigen" 
Liebe  zum  Weib,  dem  ubermachtigen  Verlangen  nach  der  ,,Braut" 
seinen  leidenschaftlichen  GruB  zuruft,  dem  es  keinen  groBeren 
Stolz  gibt,  als  die  ,,Unbeflecktheit  des  Zeichens  seiner  Mannheit", 
dem  seine  eigenen  Gesange  sind  wie  ,,SproBlinge  seiner  Lenden", 
der  den  Samen  ausstreuen  will  zu  noch  viel  kiihneren  Republiken, 
der  das  Weib  als  Mutter  verherrlicht  hat,  wie  keiner  vor  ihm. 

Und  so  spiiren  wir  erst  die  wahre  Damonie  und  Macht  dieser 
teurig-geflusterten  Calamus-Lieder,  wenn  wir  uns  bewuBt  werden, 
daB  ihr  Sanger  in  ihnen  sich  aus  der  panischen  Stille  des  Waldes 
etwas  holen  will,  was  der  Lebensnerv  des  ganzen  Gemeinschafts- 
lebens  der  Zukunft  und  aller  Staaten  und  Stadte  sein  soil,  der 

LXXI 


Herzschlag  wahrer  Dernokratie,  das  elektrisch  zwischen  alien  eine 
\vahre  Gemeinscbaft  bildenden  Mannern  Spielende,  das  jeden  Ein- 
/elnen  aus  der  Verkrampftheit  der  Eigensucht,  Parteilichkeit,  Ge- 
hassigkeit  und  Stumpfheit  Erlosende,  wie  er  es  in  seinen  ,,Demokrati- 
schen  Ausblicken"  verkiindet:  ,,Inbriinstige  und  liebe voile  Kame- 
radscbaft  wird  dann  zu  vollem  Ausdruck  kommen,  personliche 
und  leidenscbaftlicbe  Liebe  von  Mann  zu  Mann,  die,  scbwer  defi- 
nierbar,  den  Lehren  und  Idealen  der  tiefsinnigen  Erloser  aller 
Lander  und  Zeiten  zugrunde  liegt,  und  die  vielleicbt  die  wesent- 
lichste  Sicberbeit  und  Hofftiung  fiir  die  Zukunft  unserer  Staaten 
zu  bilden  verspricbt,  wenn  sie  einmal  in  Sitte  und  Literatur  voll 
entwickelt,  gepflegt  und  anerkannt  sein  wird.  In  der  Entwicklung, 
dem  BewuBtwerden  und  der  allgemeinen  Geltung  dieser  feurigen 
Kameradscbaft  (der  Freundscbaftsliebe,  die  der  die  Literatur  jetzt 
beberrschenden  Geschlecbtsliebe  ebenbiirtig,  wenn  nicbt  iiberlegen 
ist)  erhoffe  icb  das  ausschlaggebende  Gegengewicht  und  die  Ver- 
geistigung  unserer  materialistiscben  und  vulgaren  amerikaniscben 
Demokratie.  Mancbe  werden  sagen,  das  sei  nur  ein  Traum  und 
werden  meinen  SchluBfolgerungen  nicbt  beistimmen :  icb  aber 
erwarte  zuversicbtlicb  eine  Zeit,  wo  durch  all  die  Myriaden  borbarer 
und  sichtbarer  weltlicber  Interessen  Amerikas  die  Faden  mannlicher 
Freundscbaft^  wie  ein  halbverborgener  Einscblag,  durcbschimmern 
werden,  warm  und  zartlicb,  rein  und  suB,  stark  und  lebenslang,  in 
bisber  unbekanntem  MaCe,  —  eine  Kameradschaft,  die  nicbt  nur  den 
individuellen  Cbarakter  bestimmen  und  ihn  gefuhlsreich,  muskulos, 
heroiscb  und  innig  machen,  sondern  aucb  auf  die  allgemeine  Politik 
den  nacbbaltigsten  EinfluC  ausiiben  wird.  Icb  bebaupte,  die  Demo- 
kratie bedingt  eine  solcbe  liebende  Kameradscbaft  als  ibr  unent- 
bebrlicbstes  Zwillingsgegenspiel,  ohne  welches  sie  unvollstandig 
und  unniitz  ist  und  unfahig  zu  dauern." 

So  durcbdringen  und  durchbluten  sich  die  zwei  jener  Dreiheit: 
Liebe  und  Demokratie,  und  in  ihnen  die  dritte,  „ Religion",  das  beifk 
nichts  anderes,  als  die  aus  der  staunenden,  freudevollen  BewuBt- 
heit  des  Selbst  geborene,  immer  wache  Beziebung  zuin  Unend- 
lichen,  die  ewige  Spiritualitat.  ,,Bibeln",  schreibt  Wbitman  in  den 
,,Demokratiscben  Ausblicken",  ,,mogen  Uberlieferung  bringen  und 
Priester  mogen  sie  auslegen,  aber  einzig  und  allein  dem  lautlosen 
Wirken  des  einsamen  Ich  ist  es  vergonnt,  in  den  reinen  Ather  der 

LXXII 


Anbetuiig  einzugehen,  die  Hohe  Gottes  /u  erreichen  und  mil  dein 
I'naiissprechlichen  Zwiesprache  zu  pflegen."  So  sehen  wir  die  drei 
,,Krhabenheiten"  in  einem  Herzschlag  vereint. 

Je  inbriinstiger  eine  Emptindung  ist,  uin  so  tiefer  vervvandelt 
sie  alle  fragwiirdige  VerlaBlichkeit  und  Gewohnung  in  Traum, 
in  Staunen  und  Wunder;  und  so  sind  gerade  diese  Calamus-Ge- 
dichte  durchsetzt  von  den  tiefen  Zeilen,  die  der  Traumbaftigkeit 
aller  Erscheirmngen  gelten,  und  gerade  in  ihnen  wird  alles  Er- 
leben  zur  transparenten  Farbigkeit  vor  der  ruhevoll,  warm  und 
groB  aufsteigenden  Dunkelheit  des  Todes: 

,,O  ich  glaube,  nicht   fiir   das   Leben   singe   ich   hier   mein   Lied   der 

Liebenden,  —  fiir  den  Tod  wohl  muB  es  sein ; 
Dt'im    \vic   ruhevoll,   feierlich   scbwillt    er   empor    in    das    Reich   der 

Liebenden, 
Tod  oder  Leben   erscheint   mir   dann   gleich,   meine   Seele   mag  sich 

nicht  entscheiden, 
(Obwolil  ungewiB,  glaube  ich  doch,  daB  die  hohe  Seele  der  Liebenden 

am  innigsten  den  Tod  willkommen  heiBt.)" 

,,Ich  will  die  Worte  sagen,  die  den  Tod  lustvoll  machen ; 

So  gib  mir  den  Ton  an,  o  Tod,  daB  ich  danach  stimme, 

Gib  mir  dich  selbst,  denn  ich  sehc,   daB  du  nun    mir   vor  alien  ge- 

horst,  und  daB  ihr  untrennbar  verschlungen  seicl, 

Tod  und  Liebe." 

Tod,  nicht  als  rubevoller  VVellenschlag  von  Sein  zu  Nicbtsein, 
sondern  in  verkrampfter  Gewaltsamkeit,  als  Fieberzuckung  ver- 
irrter  Menschheit  drohte  iiber  den  Staaten,  als  sich  diese  Gesangc 
aus  Whitmans  Herzen  losten,  und  er  selber  und  all  seine  Liebes- 
und  Lebenskraft  sollte  bald  Brust  an  Brust  mit  ihm  ringen. 

An  jenein  Tage  von  Lincolns  Einzug  in  Washington  lastete 
dumpfes  Schvveigen  iiber  der  begriiBenden  Menge.  Die  Sache  der 
Sudstaaten  hatte  ihre  Parteiganger  bis  tief  in  den  Norden  hinein 
in  den  Reihen  der  Demokratischen  Partei,  der  zum  Teil  immer 
noch  die  Souveranitiit  der  Einzelstaaten  als  hochstes  zu  erhalten- 
des  Gut  erschien.  Uberdies  war  man  sich  bewufit,  daB  der  Siiden 
militarisch  besser  vorbereitet  war;  das  Kriegsdepartement  der 
foderativen  Regierung  hatte  bisher  in  den  Handen  von  Siidlandern 

LXXIII 


gelegen.  Auch  war  an  sich  der  aristokratische  Siiden  mehr  an  Be- 
fehlen  und  Gehorchen  gewohnt.  Dagegen  hatte  der  Norden  frei- 
lich  ein  Element  einzusetzen,  das  gerade  in  Amerika  von  hochster 
Bedeutung  ist,  namlich  die  Idealitat  des  Gedankens  der  Union, 
die  seinen  ins  Feld  ziehenden  Sohnen  jene  fast  religiose,  kreuz- 
fahrerhafte  Inbrunst  niitgab,  ohne  die  der  amerikanische  Soldat 
seine  besten  Fahigkeiten  nicht  entfalten  za  konnen  scheint. 

Gegen  Mitternacht  des  i3.  April  1861  las  Whitman,  der  gerade 
aus  der  Oper  kam,  das  eben  ausgerufene  Extrablatt,  das  den  tat- 
lichen  Ausbruch  der  Feindseligkeiten  meldete.  Ein  Aufruf  des 
Prasidenten  zu  den  Waffen  erfolgte  am  nachsten  Tage,  und  die 
Jugend  New  Yorks  folgte  ihm  in  Scharen.  Unter  ihnen  auch 
George  Whitman,  Walts  um  10  Jahre  jungerer  Bruder,  der  spater 
Hauptmann  und  Oberst  wurde. 

Fur  Whitman,  wie  fur  viele  andere,  bedeutete  dieser  Krieg  die  Probe 
auf  die  Zukunft  und  Lebenskraft  der  Idee  Amerikas  und  seine  Einheit, 
fur  ihn  noch  in  dem  tieferen  Sinn  des  Glaubens  an  die  von  ihm 
verkiindete  Demokratie  der  Menschheit.  Die  Hingabe  vieler  tau- 
sender  bester  Sohne  des  Landes  um  eine  Idee  wurde  ihm  im  Laufe 
des  Krieges  immer  mehr  zum  Beweis  ihrer  Fahigkeit,  ein  solches 
mannliches  Ideal  wirklich  zu  erreichen.  Sein  Glaube,  dafi  die 
eigentliche  Kraft  Amerikas  in  der  unbekannten  Masse,  im  breiten 
Volk,  im  ygottlichen  Durchschnitt"  lebe,  wurde  durch  das  Massen- 
erlebnis  dieses  Krieges  genahrt  und  bestatigt. 

Das  Fallen  der  Schranken  individuellen  Lebens  bei  hochster  An- 
spannung  der  Einzelkrafte  war  ein  Element,  das  ihn  im  Tiefsten 
ergriff,  wenn  er  auch  freilich  jederzeit  den  Krieg  nur  als  ein  Fieber 
im  Leibe  der  Staatsgemeinschaft  empfand,  eine  Gewaltsamkeit,  die 
nur  ertraglich  wurde  durch  den  Glauben  an  eine  erhohte  Bliite 
wahrhaft  menschlichen  Friedens  und  Gedeihens,  die  ihm  folgen 
miifite.  Er  sah  im  Geist  eine  Menschengemeinschaft  so  hoher  und 
herrlicher  Art,  dafi  fur  sie  die  Probe  auf  den  Tod  nur  wie  der 
letzte,  hochste  Ausdruck  gegenseitiger  Liebe  und  kameradschaft- 
lichen  Zusammenhaltens  gegen  aufiere  Gewalten  sein  wurde,  aus 
Lust  aneinander.  Und  das  reale  Erlebnis  dieses  Krieges  mufite 
ihm  wie  ein  dumpferes  Vorspiel  zu  solcher  Gemeinschaft  erscheinen, 
in  dem  jene  hochste  Kameradschaft  ganz  befreiter  Menschen  nur  erst 
seine  dammrigen  Blitze  spann. 

LXXIV 


\V;is  aber  dkvser  Krieg  nicht  brachtc,  bracbte  er  selber  in  ihn 
init.  Die  ganze  Liebeskraft  seiner  Einsamkeit  trug  er  in  die  Qualen 
nnd  Angste  des  wilden  Bluthandels  hinein,  init  der  Hingebungs- 
kraft  eines  wahrhaft  grofien  Herzeus  sich  an  die  realen  Forde- 
rungen  des  Augenblicks  verschwendend.  Er  bereitete  sich  mit  fast 
sakraler  Inbrunst  auf  etwas  vor,  das  noch  dunkel  vor  ihm  lag, 
aber  dessen  opfervolle  GroBe  er  fuhlte.  Und  wenn  wir  wissen,  dafi 
cr  in  den  vier  Kriegsjahren  als  unablassiger  Troster,  Pfleger,  Lebens- 
und  Freudespender  alle  seine  bisber  unerschiitterliche  Gesundheit 
nnd  seinen  unvergleichlichen  lebendigen  Magnetismus  Tag  und 
Nacbt  an  die  Verwundeten  und  Sterbenden  verschenkte,  uni 
schlieBlich  als  ein  korperlich  Gebrochener  aus  diesen  furchtbaren 
Jabren  hervorzugeben,  so  werden  \vir  riickblickend  die  ergreifende 
Bedeutung  der  Zeilen  fiihlen,  die  er  am  16.  April  1861  in  sein 
Tagebucb  schrieb:  ,,Ich  babe  an  diesem  Tag,  in  dieser  Stunde, 
micb  entschlossen,  mir  einen  reinen,  vollkommenen,  wobltuenden, 
reinbliitigen,  starken  Leib  zu  schaffen,  indem  ich  alle  Getranke 
auBer  Wasser  und  reiner  Milcb  vermeide  und  auch  alle  iippigen 
Speisen  und  reicben  Mahlzeiten,  —  einen  edlen  Leib,  einen  ge- 
lauterten,  gereinigten,  vergeistigten,  ungeschwachten  Leib."  Fiihlen 
\\ir  bier  nicht  den  erschiitternden  Willen,  die  Fragwiirdigkeit  der 
Avirren  Geschehnisse  des  Lebens  durch  eigene,  bohere  Inkarnation 
zu  bezvvingen?  GroBe  und  Adel  und  Liebe  aus  der  dumpfen  Ver- 
krampftheit  der  Tatenwelt  herauszuringen  und  erlosend  in  die 
eigene  Brust  zu  nehmen? 

Wahrlich  nicht  in  der  Haltung  und  im  Geiste  eines,  der  sich 
Mopfert" !  sondern  mit  derselben  Lust,  mit  der  er  sich,  aus  seiner  un- 
gebrochenen,  alles  mitfuhlenden  Natur  heraus  an  die  von  Gut  und 
Bose  durchbrauste  Fiille  des  GroBstadtlebens  hingegeben  hatte; 
init  demselben  Liebesfeuer,  mit  dem  er  einsain  unter  Buschen  und 
Blumen  und  Geistern  von  Kameraden  im  Wald,  am  Teichrand  ge- 
\vandert  war  und  seine  heiBen  GriiBe  gefliistert  hatte;  mit  der  Lust 
am  Lebendigen  und  seinem  ratselhaften,  suBschaurigen  Sein  in- 
mitten  des  Unsichtbaren,  Unendlichen.  Mit  Opfergefuhlen  scbon 
darum  nicht,  weil  in  solchem  ,,Giirten  seiner  Lenden"  auch  das 
Sichriisten  zu  neuen  Gesangen,  zu  neuer,  gestalteter  Vergeistigung 
des  wirren  Geschehens  lag,  weil  er  sich  als  den  Einzigen  fuhlte, 
der  das  wahre,  geistige  Arom  dieses  Krieges  und  derer,  die  in  ihm 

LXXV 


stritten  und  litten,  in  unvergangliche  Worte  einzufangen  berufen 
sei,  seinen  Sinn  und  seine  Wesenheit  einzuweben  in  das  groBe  Ge- 
webe  der  Zukunft,  an  dem  er  spann. 

Wahrend  der  ersten  Monate  des  Krieges  blieb  Whitman  zu  Hause 
bei  der  Mutter.  In  dieser  Zeit  entstand  bereits  ein  Teil  der 
,,Trommelschlageft,  Gesange,  die  noch  nicht  das  Arom  personlichen 
Miterlebens  trugen,  sondern  mehr  ein  Widerhall  der  erschiitterten, 
ersten  Kriegsstimmung  waren,  des  Aufbrausens  jener  freilich  schnell- 
verrinnenden  Woge  von  Gemeinsamkeit,  Hingabe,  Begeisterung*. 
Als  im  Dezember  1862  George  Whitman  in  der  Schlacht  bei  Fre- 
dericksburg  verwundet  worden  war,  brach  Walt  an  die  Front  auF 
nnd  pflegte  ihn  zuerst  im  Feldlager  am  Rappahannok  und  spater 
in  einem  der  Washingtoner  Lazarette.  So  began n  die  Tatigkeit 
des  „  Wundpflegers",  die  bis  zum  Ende  dieses  iiberaus  blutigen  und 
wechselvollen  Krieges  und  noch  einige  Zeit  dariiber  hinaus  dauerte. 

Um  die  AusmaBe  dieses  Bruderkampfes  einer  zerrissenen  Nation 
nur  ungefahr  anzudeuten,  sei  gesagt,  daB  die  Armeen  der  Union 
zum  Beispiel  in  der  Schlacht  bei  Fredericksburg  i3ooo,  bei  Chan- 
cellersville  60000  und  auf  den  Schlachtfeldern  in  Virginia  wahrend 
des  letzten  Kriegsjahres  iiber  100000  Mann  verloren;  Zahlen,  die  an 
den  damaligen  Verhaltnissen  gemessen  auBerordentlich  hoch  sind. 
Dabei  waren  die  Kampfe  von  jener  Erbitterung  durchgliiht,  wie  sie 
just  in  Bruderkriegen  mit  besonderer  Wildheit  zu  toben  pflegt.  Mehr 
als  einmal  hing  das  Schicksal  des  Nordens  an  einem  Faderi,  bis  end- 
lich  Lincoln  in  General  Grant  den  Mann  fand,  der  die  Sache  der 
Union  zum  Siege  fiihrte.  Am  3.  April  i865  ergaben  sich  die  letzten 
Truppen  der  Siidstaaten  an  ihn.  Am  14.  April  wurde  Abraham 
Lincoln,  der  Amerika  durch  diese  vier  furchtbaren  Jahre  hindurch- 
gesteuert  hatte,  ermordet.  Er  ware  auch  ohne  diesen  tragischen 
Ausgang  nicht  wiedergewahlt  worden,  denn  trotz  des  Sieges  war 
das  MiBtrauen  der  grofien  Mehrheit  der  Amerikaner  gegen  eine 
tibermachtige  Zentralgewalt  allzu  elementar. 

„  Wahrend  meiner  zwei  Jahre  in  den  Lazaretten  und  im  Feld," 
schrieb  Whitman  1864,  ,,habe  ich  iiber  600  Krankenbesuche  ge- 
macht  und  bin  bei  etwa  18  bis  20000  \7erwundeten  und  Kranken 


*  Als  Beispiel  dieser  schwiicheren,  vom  Damon  weniger  gesegneten  Gesange 
habe  ich  in  Band  II  dieser  Ausgabe  nur  die  ,,Erzahlung  des  Hundertjahrigen" 
gebracht. 

LXXVI 


/jewesen  uud  habe  ihnen  Seele  und  Leib,  wenigstens  in  einigem  ge- 
ringen  MaBe,  in  der  Stunde  der  Not  gestiirkt."  Er  hatte  keinerlei 
Amt  und  Stellung  bei  den  Lazaretten.  Er  \\ohnte  in  Washington 
l>ci  der  befreundeten  Familie  O'Connor  und  brachte  das  Geld,  das 
er  brauchte,  notdiirftig  durch  Zeitungsbeitriige  auf.  Das  meiste  da- 
\un  verwendete  er  darauf,  allerhand  Erfriscbungen,  Biicher,  Schreib- 
papier,  Tabak  u.  s.  f.  fur  seine  Pfleglinge  zu  kaufen,  aucb  warb  er 
bei  Freunden  eifrig  urn  Beitriige  fiir  diesen  Zvveck.  Die  Arzte  und 
Lazarettbeamten  sahen,  daB  seine  Gegenwart  den  Verwundeten 
\\  ohltat  und  lieBen  ihn  frei  gewiihren.  Auf  seine  Besuche  pflegte  er 
sich  sorgfaltig  vorzubereiten.  Er  vvuBte,  daB  seine  wesentlicbe  Heil- 
wirkung  auf  der  Gesundheit  und  reinen  Ausstrablung  seiner  ganzen 
Personlichkeit  beruhte,  daB  seine  bloBe,  gelassene,  liebeverstromende 
Gegenwart  etwas  war,  was  die  armen  Burschen  mebr  starkte  und 
ermunterte,  als  irgend  etwas  sonst.  Er  kraftigte  sicb  in  der  freien 
Zeit  durch  lange  Spaziergange  in  der  Natur,  nahin  jedesmal  vor 
den  Besuchen  ein  Bad  und  aB  kraftig,  wenn  auch  sonst  seine  Nahrung 
nur  sehr  sparsam  und  bescheiden  war.  ,,Walt,  komm  wieder!"  war 
der  GruB,  der  ihm  in  mancher  Nachtstunde  nachgerufen  oder  -ge- 
Hiistert  wurde.  Die  ziirtliche  und  feurige  Kameradschaft,  die  er  in 
einer  bliiheiiden  Menschengemeinschaft  der  Zukunft  innerlich  er- 
schaut  hatte,  iibte  er  hier  in  der  zerstorten,  leidvollen  Wirklichkeit. 
,,lch  glaube  nicht,"  schrieb  er  an  seine  Mutter  nach  Brooklyn, 
MdaB  sich  Menschen  je  so  geliebt  ha  ben,  wie  ich  und  diese  armen 
Verwundeten  und  Sterbenden  uns  lieben."  Er  saB  bei  ihnen,  legte 
Verbande  an,  wusch  Wunden  aus,  las  ihnen  aus  der  Bibel  voi\ 
schrieb  Briefe  in  die  Heimat  fur  sie  und  half  ihnen  in  der  letzten 
Stunde.  Tag  fiir  Tag  und  in  vielen  Nachteu.  Er  fiihrte  iiber  seine 
Pfleglinge  genau  Buch  und  notierte  die  Bediirfnisse  und  kleiuen 
Lieblingswiinsche  eines  jeden.  Und  was  mehr  als  alles  war:  aus  jeder 
seiner  Gaben,  seiner  Beriihrungen,  jedem  seiner  Worte  stromte  die 
Zartheit  und  Liebe,  die  nur  aus  der  Ganzheit  und  Reinheit  von 
Leib  und  Seele  stromen  kann.  In  der  Nahe  des  Todes  bliiht  das 
Liebenswerte  am  Menschen  mil  geheimnisvoller  Losgelostheit  auf, 
und  \vir  fiihlen  gleichsam  die  Strome  weher  und  lustvoller  magne- 
tischer  Kraft,  mil  der  >Y hitman  sich  iiber  diese  Leidenslager 
beugte;  fiihlen  das  ,,duftende  Gras  seiner  Brust",  das  aus  Kraft  und 
Freude  gesproBt  war,  sich  in  zartlich-miitterlichem  Hauch  zum 

LXXVU 


Leiden  und  zur  Schwachheit  neigen.  Ohne  Schwachlichkeit  selber, 
ohne  Sentimentalitat,  gelassen,  lind,  und  so  ,,elektrisch",  wie  nur 
je  eine  AuBerung  seiner  hochsten  Lust. 

Das  Tiefste  dieser  innigen  Gemeinschaft  mogen  wir  vielleicht 
almungsweise  begreifen,  \venn  wir  uns  darauf  besinnen,  daB  alles 
Verlangen  Whitmans  nach  hoherer,  liebevollerer  Menschheit  und 
die  dammrigen  Gestalten  solcher  Menschheit  im  Grunde  in  seiner 
Brust  lebten,  eingehiillt  in  die  leuchtende  Sphare  seines  eigenen 
Seins  und  seiner  eigenen  Dichterkraft;  und  daB  nun  bier  in  der 
absondernden,  durch  den  Tod  von  aller  Herkommlichkeit  gelosten 
Sphare  des  Nur-Menschseins,  des  Nur-Liebebediirfens  ein  Etwas 
waltete,  das,  obwohl  gewandelt,  doch  jener  eirisamen  Sphare  der 
eigenen  Innerlichkeit  verwandt  war.  Der  tiefe  Drang  Whitmans 
zu  natiirlichster  Unmitte  Ibarkeit,  der  sich  schon  in  seinem  vorherigen 
Leben  und  in  dem  ganzen,  gradezu  gerichteten  Sprechton  seiner 
Dichtung  ausdriickte,  fand  hier  in  den  durch  Leiden  gelosten  und 
kindlich  gemachten  Seelen  Widerhall  und  begierige  Aufnahme.  - 
Whitman  selber  war  weit  von  jener  Gesinnung  entfernt,  die  um 
dieser  Samariterdienste  willen  spaterhin  eine  Art  Heiligenschein  um 
ihn  verbreiten  wollte:  er  wies  all  solche  Verherrlichung  iibereifriger 
Freunde  scharf  zuriick  und  weigerte  sich  noch  in  Alter  und  Krank- 
heit,  einem  Gesuch  um  eine  staatliche  Rente  fur  diese  Tatig- 
keit  in  den  Lazaretten  zuzustimmen.  Ebenso  verfalscht  ist  die 
salbungsvolle  Befriedigung,  die  einige  angelsachsische  Kritiker  iiber 
diese  seine  Selbstaufopferung  bezeigen,  gleich  als  habe  er  dadurch 
seine  vorherige  ,,Ich-Besessenheit"  und  Unbandigkeit  wieder  gut 
gemacht  und  den  AblaB  durch  sie  verdient.  Diese  tatigen  Liebes- 
dienste  waren  ihm  wehe  Lust  und  waren  eine  natiirliche  Bliite 
seines  ganzen,  ungebrochenen  Seins. 

Wahrend  all  dieser  Jahre  fand  er  immer  noch  Zeit,  regelinaBig 
an  seine  Mutter  zu  schreiben.  A  us  diesen  Brie  fen  fiihlen  wir,  wie 
tief  und  unablassig  er  mit  ihr  verbunden  war.  Der  iiber  Vierzig- 
jahrige  spricht  in  ihnen  wie  ein  Kind,  das  zum  erstenmal  von  Hause 
weg  ist,  er  beichtet  der  Mutter  alle  seine  kleinen  und  kleinsteri 
Note  und  Angelegenheiten,  beschreibt  ihr  etwa  genau  den  Zustand 
seiner  Kleider,  die  Locher  und  schadhaften  Stellen,  irgendwelche 
Neuanschaffungen,  oder  berichtet,  unter  Entschuldigungen,  daB 
er  es  nicht  friiher  getan  habe,  von  dem  Verkauf  eines  alten  Rockes, 

LXXVIII 


den  er  nicht  inehr  habe  tragen  koniieu,  erzahlt,  was  er  morgens, 
inittags  und  abends  zu  sich  nimmt,  mit  wem  er  verkehrt  u.  s.  1. 
Er  verfehlt  auch  nie,  sich  nach  den  Sorgen  der  Mutter  zu  erkun- 
digen,  nach  den  Geschwistern,  den  Geldangelegenheiten,  und  gibt 
Uatschlage  bei  Krankheitsfallen  usw.  Ein  zartlicher  Humor  leuchtet 
durch  diese  Briefe.  Ab  und  zu  sind  Klagen  vernehmbar  iiber  seine 
eigene  Gesundheit,  die  allmahlich  durch  die  tJberanstrengung  und 
durch  den  vielen  Aufenthalt  in  einer  vergifteten  Atmosphare  zu 
leiden  begann.  Einmal  zog  er  sich  eine  schwere  Blutvergiftung  an 
der  Hand  zu,  die  ihm  fast  den  ganzen  Arm  gekostet  hatte.  Erste 
leichte  Schwindelanfalle  und  voriibergehende  Lahmungen  beun- 
ruhigten  den  bisher  an  keinerlei  Krankheit  oder  Schwache  Gewohn- 
ten.  Er  litt  schwer  unter  dem  Malariaklima  und  der  unmaBigen 
Hitze  Washingtons.  An  besonders  gliihenden  Tagen  ging  er  mit 
Sonnenschirm  und  Facher  aus.  Die  Leiden  des  Krieges  quollen  im 
Sommer  1864  noch  einmal  in  fmsteren  Giftwolken  schwerer  denn 
je  in  die  von  Verwundeten  iiberfullte  Stadt.  Es  war  das  Jahr, 
in  dem  General  Grant  zum  letzten  Ringen  den  Oberbefehl  iiber- 
nahm.  —  ,,O  Mutter,"  schreibt  Whitman  in  diesen  Tagen,  ,,zu  den- 
ken,  daB  wir  nun  bald  wieder  hier  haben  werden,  was  ich  nun 
schon  so  oft  gesehen  habe,  die  schmerzbeladenen  Fuhren  und  Ziige 
und  Bootsfrachten  von  armen,  blutigen,  bleichen,  verwundeten 
jungen  Mannern  .  .  Es  ist  schrecklich,  daran  zu  denken  .  .  Was  fur 
ein  furchtbares  Ding  ist  der  Krieg!  Mutter,  es  scheinen  keine 
Menschen  zu  sein,  sondern  ein  Haufen  von  Teufeln  und  Metzgern, 
die  einander  hinschlachten."  Und  eine  Woche  spater:  ,,Ich  er- 
schrecke  wirklich  vor  der  Welt  .  .  .  Ich  bin  zwei  Monate  lang  zwi- 
schen  Leiden  und  Tod  gewesen,  schlimmer  als  je.  Das  einzige  Gute 
ist,  daB  ich  ihren  Qualen,  ihren  getriibten  Seelen  und  ihren  Lei- 
bern  ein  paar  Sonnenblicke  bringen  konnte.  —  O  es  ist  furchtbar 
und  wird  noch  schlimmer,  schlimmer,  schlimmer!"  — Dazu  kam 
die  standige  Sorge  um  seinen  Bruder  George,  der  in  alien  groBeren 
Schlachten  dieses  blutigen  Endkampfes  mitfocht,  und  um  den  er  dop- 
pelt  bangle  im  Gedanken  an  die  Mutter.  Die  Zahl  der  Verwun- 
deten, die  irrsinnig  wurden,  stieg  immer  mehr.  Freunde  und  Arzte 
driingten  Whitman,  fur  einige  Zeit  im  Norden  Erholung  zu  suchen. 
Er  weigerte  sich.  Er  schrieb  an  die  Mutter,  er  konne  den  Gedan- 
ken nicht  ertragen,  nicht  da  zu  sein,  wenn  etwa  George  verwundet 

IAXIX 


nach  Washington  gebracht  wiirde.  Endlich  aber  warf  ihn  der 
gliihende  Mittsommer  1 864  so  darnieder,  daft  er  seinen  Posten  ver- 
lassen  muBte.  Er  kehrte  nach  Hause  zuriick,  \vo  er  sechs  Monate 
lang  blieb. 

Wahrend  dieser  Zeit  legte  er  die  letzte  Hand  an  die  ,,Trommel- 
schlage",  die  im  folgenden  Sommer  in  New  York  als  Sonderausgabe 
gedruckt  wurden.  Die  dritte,  Bostoner  Ausgabe  der  ,,Grashalme" 
von  1860  war  in  etwa  fimftausend  Exemplaren  verkauft  und  dies- 
mal  nicht  mit  einem  solchen  Entriistungssturm  aufgenommen  wor- 
den.  Aber  der  Kriegsausbruch  hatte  den  jungen  Verlag  gezwungen, 
seine  Tatigkeit  einzustellen. 

Auch  in  Brooklyn  und  New  York  konnte  sich  Whitman  nicht 
enthalten,  die  Lazarette  zu  besuchen,  und  imDezember  1864  kehrte 
er  nach  Washington  zuriick,  vor  allem,  um  etwas  fur  seinen  Bruder 
zu  unternehmen,  der  inzwischen  gefangen  genommen  worden  war 
und  in  dem  grausigen  Wintergefangnis  von  Dannville  schmachtete. 
Durch  ein  Gesuch  an  General  Grant  gelang  es  ihm,  George  zu  be- 
freien,  der  dann  im  Fruhjahr  trotz  aller  Leiden  wohlbehalten  nach 
Hause  zuriickkehrte. 

Im  Februar  i865  erhielt  Whitman  eine  kleine,  leidlich  bezahite 
Beamtenstelle  im  indianischen  Biiro  des  Departements  des  Innern, 
wo  ihm  der  Umgang  mit  den  Eingeborenen  viel  Freude  machte. 

Am  14.  April,  kurz  nach  FriedensschluB  und  nach  dem  Einzug 
der  Truppen,  wurde  Lincoln  im  Theater  ermordet.  Whitman  war 
zu  der  Zeit  auf  Besuch  zu  Hause  und  erfuhr  den  genauen  Hergang 
des  Ereignisses  durch  einen  befreundeten  Augenzeugen. 

Wahrscheinlich  hatte  Whitman  den  Prasidenten  nie  personlich 
kennengelernt.  Aber  er  war  ihm  in  Washington  oft  begegnet  und 
hatte  jedesmal  Griifie  einer  besonderen,  gegenseitigen  Sympathie 
mit  ihm  ausgetauscht.  Eine  tiefe,  vergeistigte  Liebe  zu  dem  hage- 
ren,  ernsten  Mann  hatte  Whitman  seit  langem  erfiillt,  in  dessen 
gramzerfurchten  Ziigeri  sein  Seherblick  das  kindliche  Leuchten  der 
Idealitat  erkannte.  Nun  hatte  der  vielbefehdete  Fiihrer,  der  das 
Opfer  des  Hasses  gegen  eine  allzustarke  Verkorperung  der  Uber- 
macht  des  Nordens  und  des  Gedankens  der  Oberhoheit  der  Union 
iiber  die  Einzelstaaten  ge worden  war,  mit  seinem  Tode  gleichsam 
die  schwer  errungene  Einheit  von  Norden  und  Siiden  besiegelt. 
Fur  ganz  Amerika  erhielt  seine  Gestalt  durch  dieses  tragische 

LXXX 


Knde  Hie  Weilir  CMK-S  Sinnbildes,  die  sic  fur  Whitman  langst  geh;il>t 
luittc. 

Aus  dcr  alinungsvollen  Unruhe  dieser  Friihjahrstage  und  -nachte 
heraus,  die  der  Ermordung  Lincolns  in  der  empfindlichen  Seele 
Whitmans  vorausgingen,  aus  dem  weh-beseligenden  Wissen  um 
die  Wirklichkeit  des  „  allesumhiillenden  Todes"  und  aus  der 
mystisch-siiBen  Liebe  zu  der  so  im  Dunkeln  aufleuchtenden  Welt 
der  Lebenden  heraus  sang  nun  der  selber  im  Innersten  seiner 
freudestarken  Wesenheit  Erschiitterte  dem  Ermordeten  jene  zart- 
gewaltige  Nanie,  die  einer  seiner  beriihmtesten  Gesange  wurde: 
das  ,,Andenken  an  President  Lincoln",  worin  er  das  schmerzlich- 
einsame  Lied  der  Hermitdrossel,  die  in  den  Sumpfzedern  schlagt, 
und  das  holde  Wunder  des  bliihenden  Flieders  und  den  bleichen 
traurigen  Glanz  des  Venusgestirns  zu  einern  Weihelied  fur  die 
,,siifieste,  weiseste  Seele  aller  Volker  und  Lander"  verwebt  und 
/ugleich  zu  einem  Loblied  auf  den  Tod,  so  voll  bebender  Natur- 
kraft  und  geheimnisvoll  in  die  Nacht  geschmiegter  Innigkeit,  daB 
wir,  wie  kaum  irgendwo  in  aller  Dichtung  der  Welt,  gleichsam 
das  Arom  alles  Seins  und  Vergehens  wie  einen  feucht-wiirzigen 
Seeufergeruch  atmen. 

Hier,  wie  auch  in  den  letzten  Gesangen  der  ,,Trommelschlage", 
schwingt  ein  Ton,  der  bisher  nur  hie  und  da,  am  deutlichsten  in 
den  verwandten  „ Calamus "-Liedern,  aufgeklungen  war:  ein  ge- 
stillter,  schmerzlich-wonnevoller  Ton,  wie  unter  Sternen  ange- 
schlagen,  in  duftenden  Nachten  tiefster,  schweigender  Einsamkeit. 

Weh,  das  in  aller  Lust  Whitmans  immer  vibriert  hatte  und  das 
nur  stumpfere  Ohren  nicht  herausgehort  batten,  mannlich-starkes 
Weh,  das  in  jeder  wahren  Lust  am  Wunder  des  Daseins  lebt,  tonte 
nun  voller  und  inniger  mit.  Es  scheint,  daB  in  jener  Zeit  die  Saiten 
der  Seele  Whitmans  so  zum  ZerreiBen  gespannt  waren,  daB  er  sie 
nur  unter  Schmerzen  beriihren  konnte.  Freunde  haben  erzahlt,  sie 
batten  ihn  wohl  von  der  Strafie  in  irgendeine  Alice  oder  unter 
einen  Torbogen  treten  sehen,  wo  er  dann  ein  Papier  hervorzog  und 
schrieb,  wahrend  ihm  die  Tranen  iiber  das  Gesicht  liefen.  \Venn 
solche  Berichte  auch  Ubertreibungen  Begeisterter  sein  mogen,  so 
*ind  sie  doch  Auswirkungen  der  Schwingung  einer  Realitat. 

Um  Whitmans  immer  wachsende  Neigung  zum  Ubersinnlichen, 
wie  sie  sich  in  den  Gedichten  der  letzten  Epoche  seines  Lebens 


VI     Whin..:,,,  I 


LXXXI 


offenbart,  voll  zu  verstehen,  miissen  wir  uns  immer  aufs  neue  gegen- 
wartig  halten,  daB  ihm  das  Ubersinnliche  nicht  weniger  wirklich 
war,  als  irgendeine  sogenannte  Wirklich keit.  Wenn  er  eiwa  in 
dem  Gedicht  an  einen  Freund,  den  er  im  Traum  gestorben  glaubte, 
ausspricht,  die  Toten  seien  iiberall  gegenwartig,  die  Stadt  Manna- 
hatia,  Boston,  Chikago,  Philadelphia  sei  von  Toten  so  voll  wie  von 
Lebenden,  ja  vielmals  voller  als  von  Lebenden,  so  ist  ihm  das  eine 
Wahrheit,  nicht  weniger  gewifi  als  seine  Hand  oder  sein  Auge. 
Oder  wenn  er,  das  Getriebe  der  Boote,  Dampf-  und  Segelschiffe 
von  der  Brooklyn-Fahre  aus  beschauend,  sich  selber  als  leibhaftigen 
Gefahrten  einer  bier  an  deiselben  Stelle  nach  hundert  Jahren  ebenso 
wimmeJnden  Menschheit  erblickt  und  voraussagt,  so  ist  ihm  das 
Wirklichkeit.  ,,Ich  steige",  ruft  er  im  ,,Leb  wohl",  ,,empor  aus  meiner 
Menschwerdung,  wieder  neuen  Formen  zu!"  Eine  ewigeStufenfolge 
zieht  sich  durch  alles  Sein,  und  zugleich  lebt  das  voile  Wunder 
des  Seins  in  jedem  Zustand  der  sich  bewuBt  werdenden  Seele. 
Den  Getriibten  tauscht  das  Wirrsal  von  Gut  und  Bose,  von  Ver- 
ganglichkeit  und  Ewigkeit,  aber  der  Reine  sieht  die  Wahrheit. 

DaG  in  solchem  Schauen  dennoch  die  Seele  auch  in  Schmerzen 
erzittern  kann,  ja  in  Schmerzen,  die  tiefer  erschuttern,  als  dumpfes 
Leid  der  im  Alitag  Gebundenen,  von  Schmerzen,  die  gleichsam 
iiberpersonlich  an  sich  selber  das  tlberwinden  des  Verganglichen 
vollziehen,  ist  kein  Widerspruch  zur  Wahrheit.  In  welchem  Sinne 
eine  Seele  leidet,  das  ist  immer  wieder  das  Stigma  ihrer  Erloser- 
kraft  an  sich  und  anderen.  ,,Denke  an  die  Seele,  nahre  die  Seele, 
iibe  die  Seele",  ob  in  Leid  oder  Lust,  ist  vor  dem  Unendlichen  und 
inmitten  des  Unendlichen  eines.  Die  ,,Freude",  die  Whitman  ver- 
kiindet,  ist  nichts  anderes,  als  das  iminer  Starker-Werden  der  Seele 
in  A llcm,  was  durch  sie  hindurchflutet. 

Der  letzte  Teil  seines  Lebens  ist  das  Beispiel  solchen  Glaubens, 
nicht  mehr  oder  weniger,  als  seine  Jugend  und  Manneszeit  es  war; 
nur  stiller,  an  eigenes  Leiden  geschmiegter  und  daher  vielleicht 
nocb  weihevoller. 

In  die  Zeit  jenes  gespannten  Zustandes  seiner  Seele  fiel  ein  klein- 
lich-brutales  Ereignis,  das  Whitman  freilich  auBerlich  mit  voller 
Gelassenheit  hinnahm.  Der  neu  ernannte  Chef  seines  Departements, 
Mr.  Harlan,  fand  in  Whitmans  Pult,  wahrscheinlich  aufmerksam 
gemacbt  durch  einen  boswilligen  Kollegen,  das  Manuskript  fiir  die 

LXXXII 


neue  Ausgabe  der  ,,Grashalme",  die  Whitman  vorbereitete.  Harlan 
war  Methodist,  und  man  kann  es  begreifen,  dafi  er  iiber  den  In- 
halt  gewisser  Gesange  so  emport  war,  dafi  er  sich  zur  sofortigen 
Entlassung  des  Verfassers  entschied.  Die  Entlassung  lautete  ohne 
Begriindung  kurz:  ,,Der  Dienst  Walter  Whitmans  aus  New  York 
als  Beamier  im  Indianischen  Biiro  ist  von  diesem  Datum  ab  auf- 
gehoben.  —  3o.  Juni  i865." 

Der  edelmiitig-hitzige  Freund  Whitmans,  O'Connor,  ging  sogleich 
zu  dem  ihm  bekannien  Kronanwalt  Ashton,  und  dieser  bewog 
Harlan  zwar  nicht,  den  Dichter  in  seinem  Amte  zu  lassen,  aber 
doch,  ihn  an  Ashtons  Departement  zu  iiberweisen.  Auch  sonst 
schadete  das  scharfe  Vorgehen  Harlans  Whitman  nicht,  da  er  in 
Washington  iiberall  bekannt  und  beliebt  war,  seine  wGrashalme" 
aber  so  gut  wie  niemand  gelesen  hatte.  Journalisten  und  Mit- 
beamte  traten  fur  ihn  ein,  und  O'Connor  selber  veroffentlichte  seine 
bekannte  Schrift  MTheGood  Gray  Poet"  (,,Der  gute  graue  Dichter"), 
in  der  er  Harlan  aufs  scharfste  angrifF.  Einige  Zeit  spater  gab  ein 
anderer  Freund,  John  Burroughs,  die  erste  biographische  Studie 
iiber  Walt  Whitman  heraus.  Whitman  selber  bereitete  fur  das 
Jahr  1867  eine  neue,  die  vierte  Auflage  der  yGrashalme"  vor,  die 
im  Oktober  dieses  Jahres  erschien.  Sie  enthielt  wenig  Neues,  die 
,,Trommelschlage"  waren  noch  nicht  in  sie  aufgenommen;  geringe 
Anderungen  waren  vorgenommen,  Whitman  schrieb  an  seine  Mutter, 
er  habe  einige  iibertriebene  Redewendungen  und  zwei  oder  drei 
ganze  Stellen  weggelassen. 

In  England  hatte  sich  inzwischen  W.  M.  Rossetti  zum  warmen 
Fiirsprecher  Whitmans  gemacht  und  veroffentlichte  nun  einen  Aus- 
wahlband  der  ,,Grashalmea,  den  Whitman  nach  einigen  Bedenken 
gegen  eine  gekiirzte  Ausgabe  seines  in  alien  Teilen  organisch  ge- 
wachsenen  Werkes  dennoch  gel  ten  lie(3.  Diese  Ausgabe  gewann 
ihm  einen  ansehnlichen  Kreis  von  Verehrern  im  Mutterland,  zu 
denen  Manner  wie  Tennyson,  Dante  Gabriel  Rossetti,  Swinburne, 
J.  A.  Symonds  u.  a.  zahlten.  Vor  allem  eroberte  sie  ihm  das  Herz 
einer  der  bedeutendsten  Frauen  des  damaligen  England,  der  Witwe 
von  Alexander  Gilchrist,  des  beriihmten  Biographen  von  William 
Blacke,  Anne  Gilchrist,  die  sich  sogleich  von  Rossetti  ein  Exemplar 
des  vollstandigen  Werkes  geben  lieB  und  in  einem  leidenschaftlich- 
warmen  Essav,  ,,A  womans  estimate  of  Walt  Whitman" 


im 


VI' 


LXXXIII 


besonderen  fur  die  verfehmten  „  Kinder  Adams"  eintrat,  wozu  fiir  eine 
englische  Frau  nicht  wenig  Mut  gehorte.  Sie  trat  auch  in  Brief- 
wechsel  mit  Whitman  selber  (der  allerdings  fast  ausschlieBlich  von 
ihrer  Seite  bestritten  wurde)  und  siedelte  spater  mit  ihren  Kindern 
(im  Jahre  1876)  nach  Philadelphia  iiber,  um  in  der  personlichen 
Nahe  des  verehrten  Mannes  zu  leben. 

Abgesehen  von  einer  ganzen  Reihe  von  Besuchern,  die  ihm  sein 
wachsender  Ruhm  zufuhrte,  lebte  Whitman  still  und  einfach  in 
dem  kleinen  Kreis  gelehrter  und  hochgebildeter  Freunde,  durch 
den  er  sich  jedoch  nicht  an  seiner  alten  Gewohnheit  hindern  lieB, 
mit  schlichten  Menschen  aus  dem  Volk  freundschaftlich  zu  ver- 
kehren.  Vor  allem  datiert  aus  dieser  Zeit  seine  bis  an  das  Ende 
seines  Lebens  dauernde,  innige,  vaterlich-zartliche  Kameradschaft 
mit  dem  jungen  Irisch-Amerikaner  Peter  Doyle,  der  nach  dem 
Kriege,  in  dem  er  verwundet  worden  war,  eine  Stelle  als  Pferde- 
bahnschaffner  auf  der  Pennsylvania  Avenue  erhalten  hatte.  Whit- 
man lernte  ihn  in  einer  stiirmischen  Winternacht  kennen.  Er  kam 
grade  von  Burroughs  und  saB,  in  eine  groBe,  weiBwollene  Decke 
gewickelt,  als  einziger  Fahrgast  im  Wagen.  Der  junge  Schaffner, 
der  drauBen  frierend  und  einsam  stand,  fiihlte  sich  angezogen  durch 
den  Mann  mit  dem  grauen  Bart  und  dem  sonngebraunten  Gesicht, 
trat  in  den  Wagen  und  setzte  sich  zu  ihm.  Und  Whitman  fuhr, 
anstatt  auszusteigen,  die  ganze  Strecke  noch  einmal  mit  ihm,  da 
sie  soviel  miteinander  zu  reden  batten.  Seitdem  kam  Peter  taglich 
nach  beendeter  Fahrt  vor  das  Schatzhaus,  in  dem  Whitmans  Biiro 
lag,  und  holte  ihn  zu  Spaziergangen  ab,  bei  denen  sich  oft  die 
anderen  Freunde  anschlossen.  Der  junge  Mensch  war  durch  die 
Kriegsereignisse  innerlich  aus  dem  Gleichgewicht  gebracht;  er  schlug 
sich  mit  Selbstmordgedanken  und  dergleichen  Gespenstern  herum, 
und  fand  in  Whitmans  Warme  und  Liebe  den  Halt  seines  Lebens 
wieder.  Die  Briefe  Whitmans  an  ihn,  die  er  spater,  als  er  Washing- 
ton verlassen  hatte,  an  ihn  schrieb,  fiillen  einen  ganzen  Band  und 
sind  unter  dem  alten  Gedichttitel  „ Calamus"  erschienen.  In  dieser 
innigen  Freundschaft  bebte  der  starke  vaterlich-mannliche  Eros  fort, 
der  Whitman  dazu  befahigt  hatte,  die  beste  Kraft  seines  Lebens  an  die 
Hunderte  undTausende  leidender  Opfer  des  Krieges  zu  verstromen. 

Die  politische  Entwicklung  der  Nachkriegsjahre  war  fiir  Whit- 
man eine  tiefe  Enttauschung.  Grant  war  zum  Prasidenten  gewahlt 

LXXXIV 


worden,  und  der  militarisch  verdiente  General  erwies  in  den  acht 
Amtsjahren  seine  vollige  UnFahigkeit  als  Politiker.  Anstatt,  wie  es 
in  Whitmans  Geist  gewesen  ware,  die  Herzen  des  Siidens  zu  ge- 
winnen  und  nun  die  \vahre,  innere  Einheit  der  Union  zu  schaffen, 
wurde  in  radikal-republikanischer  Obertreibung  den  aufstandischen 
WeiBen  das  Stimmrecht  entzogen  und  den  dafiir  ganzlich  unreifen 
Negern  verliehen,  wobei  Stimmenkauf  und  Korruption  jeder  Art 
ein  immer  schamloseres  Wesen  trieben.  Wir  konnen  uns  vorstellen, 
mit  welchem  Widerwillen  der  von  der  Idee  einer  Gemeinschaft 
freier,  selbstbeherrschter,  liebesstarker  Menschen  erfullte  Dich- 
ter  etwa  die  Scbaren  der  Schwarzen  initansah,  die  nach  einem 
Wahlsieg  ,,\vie  ebensoviel  losgelassene  wilde  Bestien"  unter  Waffen 
durch  die  StraBen  tobten.  Seit  1868  arbeitete  er  an  einer  Schrift, 
in  der  er  die  Umrisse  wahrer  Demokratie  und  somit  wahrer  Mensch- 
licbkeit  zu  entwerfen  unternabm,  jene  gewaltige  Bilanz  der  Ge- 
dankenfiille,  die  ihm  im  Kriege  gereift  war  und  die  schlieBlich  im 
Jahr  1871  als  Sonderbroschiire  unter  dem  Titel  „ Demokratische 
Ausblicke"  erschien.  Trotz  schneidendster  Kritik  an  dem  gegen- 
wartigen  Zustand  Amerikas,  an  seinem  Diinkel,  seiner  geistigen 
und  seelischen  llohlheit,  seinem  alle  edle  Besinnung  erstickenden 
Materialismus,  seiner  kiimmerlichen  Literatur  baut  er  dennoch  auf 
die  unerlosten  Krafte  in  der  breiten,  gesunden  Masse  und  fordert 
und  verkiindet  den  groBen  Dichter,  der  den  geistigen  Ausdruck 
bringen  soil  fur  die  Scharen  edler,  kraftvoller,  stolzer  Manner  und 
tiicbtiger  Weiber,  die  allenthalben,  unabhangig  von  dem  korrupten 
Staats-,  Gesellscbafts-  und  Literaturbetriebe,  anzutreffen  sind,  wenn 
man  nur  Augen  hat,  zu  sehen.  Der  grofie  Dichter  soil  selber  nur 
ein  Teil  der  Masse  sein,  mit  ihr  leben,  mit  machtvollen,  schlichten 
Menschen  aus  dem  Volke  umgehen,  ihre  robuste  Wesen heit  in  sich 
verkorpern  und  gestalten;  frei  von  feudaler  und  kirchlicher  Auto- 
ritat  und  Tradition,  genahrt  von  der  modernen  Wissenschaft,  leib- 
hattig  erfiillt  von  der  Gleichheit  des  Geistes  Gottes  in  alien,  soil  er 
Angesicht  zu  Angesicht  der  herrlichen,  frischen  Welt  der  Menschen 
und  Dinge  gegeniibertreten  und  sie  deuten  und  neu  schaffen  und 
die  Seele  in  Allen  beriihren,  sie  alle  zu  dem  einzig  begliickenden 
BewuBtsein  ihrer  Seele  erwecken,  ihres  einmaligen,  wunderbaren 
Selbst,  das  ins  Ewige  verkettet  ist.  Seine  Sprache  soil  die  der  hoch- 
sten  Natiirlichkeit  sein,  ebenbiirtig  der  Natur  selber,  ebenbiirtig 

LXXXV 


dem  Unaussprechlichen.  Den  Menschen  zu  ziichten,  —  das  ist  die 
Losung  des  grofien,  jedoch  nur  scheinbaren  Widerspruchs  zwischen 
Individualismus  und  Gemeinschaft.  Alle  politischen  Recbte  und 
Freiheiten  sind  nichts,  wenn  nicht  der  freie,  vollentfaltete  Mensch 
geschaffen  wird,  der  sie  tragt  und  ausiibt  und  dem  Gesetz,  das  die  De- 
mokratie  verkorpert,  dem  Gesetz  der  Entwicklung,  die  innere  Freiheit 
gibt  und  warmen  Glanz  gegenseitiger,  lebendiger  Liebe  und  Kamerad- 
schaft.  Die  Demokratie  soil  nichts  Geringeres  sein,  als  die  mensch- 
liche  Sphare,  in  der  ihre  Einzelnen  miteinander  leben,  eine  neue 
Erdenluft,  die  alle  Umgangsformen,  Sitten,  Handlungen  bestimmt 
und  Wohlgefuhl,  Kraft,  Schonheit,  Giite,  Gastlichkeit,  Duldsamkeit 
lebendig  zwischen  Allen  und  von  Allen  zu  Allen  fluten  lafit. 

Da  alle  Neuschopfung  in  Kunst  und  Leben  nur  aus  der  beson- 
deren  Wesenheit  ihrer  Rasse  und  ihres  Volkes  moglich  ist,  so  mu6 
aus  Amerika  das  hochste  Amerikanische  entwickelt  werden.  ,,Das 
Hochste  aber  und  die  Kronung  der  Demokratie  ist,  daB  sie  allein 
alle  Nationen,  alle  Menschen  noch  so  verschiedener  und  entfernter 
Lander  zu  einer  Bruderschaft,  einer  Farnilie  vereinen  kann  und 
immer  zu  vereinen  bestrebt  ist.  Sie  ist  der  alte,  immer  wieder 
neue  Traum  der  Erde,  der  Traum  ihrer  altesten  und  jiingsten  Vol- 
ker  und  liebsten  Philosophen  und  Dichter.  Nicht  nur  das  halbe 
Ziel  des  Individualismus,  der  isoliert;  sondern  auch  die  andere 
Halfte,  die  da  ist  Zusammengehorigkeit  und  Liebe,  die  ver- 
schmilzt,  bindet  und  einigt  und  alle  Rassen  zu  Kameraden  und 
Briidern  macht.  Beide  mussen  lebendig  gemacht  werden  durch  die 
Religion  (die  einzige,  wiirdigste  Erhoherin  von  Mensch  und  Staat), 
die  in  die  stolzen  Gewebe  der  Materie  den  A  tern  des  Lebens  h audit. 
Denn  im  Herzen  der  Demokratie  ruht  letzten  Endes  das  religiose 
Element.  Alle  Religionen,  alte  wie  neue,  wohnen  dort.  Und  die 
Idee  der  Demokratie  kann  sich  nicht  eher  in  strahlender  Schonheit 
und  Gewalt  verwii  klichen,  als  bis  jene,  die  die  beste  und  letzte, 
die  geistige  Frucht  tragen,  in  voile  Erscheinung  getreten  sind." 

,,Im  Herzen  der  Demokratie  ruht  das  religiose  Element*1:  denn 
eben  die  einzig  und  allein  aus  stillster  Einsamkeit  und  tiefster  Ver- 
senkung  der  Einzelseele  geborene  mystische  Einheit  mit  der  gott- 
lichen  Allgegenwart,  mit  der  Allseele  wird  in  der  erhohten  Ge- 
meinschaft gleich  ehrfurchtig-freier  Seelen  zu  lebendiger  Liebe  und 
Freude,  strahlend  und  widergestrahlt. 

LXXXVI 


Der  ganze  gewaltige  materielle  Aufschwung  Amerikas  ist  dazu 
verurteilt,  der  furchtbarste  Fehlschlag  aller  Zeiten  zu  werden,  wenn 
uicht  aus  ihm  sich  solche  Vergeistigung  und  Veredlung  des  Men- 
schen  emporringt;  lieber  in  Niederlagen  und  Verlusten  zur  Er- 
kenntnis  der  Seele  gefiihrt  werden,  als  die  Welt  mil  alien  Gewalten 
der  Materie  beherrschen  und  seellos  sein. 

Freilich  ist  Whitman  der  letzte,  nicht  anzuerkennen,  daB  in 
einem  verniinftigen,  gesunden  auBeren  Gedeihen  und  maBvollem 
Wohlstand,  der  aber  moglichst  Allen  zugute  kommen  mufi,  das 
physische  Erdreich  sozusagen  liegt,  auf  dem  der  Typus  von  Men- 
schen  nach  seinem  Herzen  sich  am  freiesten  entwickeln  kann.  Ver- 
flucht  aber  die  irrsinnige,  Seele  und  Leib  um  ihr  Bestes  betriigende 
Hast  nach  Gewinn,  das  Zappeln  in  niedertrachtig  verzerrten  Be- 
ziehungen  von  Mensch  zu  Mensch,  das  Herumhetzen  in  Geschafts- 
hausern,  Salons,  Klubs,  Bb'rsen  u.  s.  f.,  das  auch  noch  die  Nachte 
zu  schlaflosen  Hollen  macht  und  schlieBlich  im  graBlichen  Zahne- 
klappern  eines  Todes  ohne  Wiirde  und  Majestat  endet. 

Der  Krieg  und  seine  eigenen  tiefsten  Erfahrungen  inmitten  der 
ungenannten  Tausende  sind  ihm  die  Gewahr  fur  das  Vorhandensein 
einer  stiimmen,  freudigen  Opferkraft  in  der  breiten  Masse  dieses 
Volkes,  die  zu  hoherem  BewuBtsein  zu  erwecken  eben  die  heilige 
Aufgabe  des  wahren  Dichters,  Redners,  Fiihrers  ist,  der  den 
innersten  Sinn  der  Demokratie,  des  wgottlichen  Durchschnitts"  er- 
kannt  hat. 

Kiihne,  strenge  und  bluhende  Verkiindung!  Wohin  gesprochen 
und  von  wem  gehort?  Von  Amerika  bislang  sicherlich  nicht. 


DUNKELHEIT  UND  HELLER  ABEND 

Willkommen,  unaussprechliche  Anmut  sterbender  Tage ! 

Und  ich  selber,  o  Tod,  habe  geatmet  rait  jeglichem  Atemzug 
In  deiner  Nahe  und  in  dem  stummen  Gedanken  an  dich. 

Gleichzeitig  mit  den  „  Demokratischen  Ausblicken"  war  die 
fiinfte  Auf  lag  e  der  ,,Grashalme"  erschienen,  in  die  nun  auch  die 
yTrommelschlage"  eingereiht  waren,  und  zwar  waren  sie,  gleich- 
sam  zum  Zeichen,  in  welchem  tiefen  Sinne  Whitman  die  Erleb- 
nisse  des  Krieges  betrachtet  wissen  wollte,  als  Angelpunkt  des 
ganzen  Buches  in  die  Mitte  gestellt.  Daneben  veroffentlichte  er 
ein  kleines,  120  Seiten  starkes  Bandchen,  das  u.  a.  die  Nanie  auf 
Lincolns  Tod  enthielt  und  nacb  einem  der  schonsten  und  bedeu- 
tungsvollsten  Gedichte  ,,Durchfahrt  nach  Indien"  betitelt  war. 
Hier  deutete  er  den  Plan  an,  gleichsam  als  rein  spirituelles  Seiten- 
stiick  zu  den  ,,Grashalmenft  ein  Buch  Gesange  vom  Ubersinnlichen 
zu  schreiben,  und  an  anderer  Stelle*  verkiindete  er,  dafi  er  sich 
nun  gereift  fuhle,  die  Gedichte  zu  schaffen,  die  das  Programm  der 
„  Demokratischen  Ausblicke"  verwirklichen  und  alle  Staaten 
Amerikas  Hand  in  Hand  ,,in  den  ungebrochenen  Kreis  eines  Ge- 
sanges"  fiihren  sollten. 

Aus  solchen  kiihnen  Planen  rifi  ihn  der  vollige  Zusammenbruch 
seiner  Gesundheit  gewaltsam  heraus. 

Er  hatte  sich  seit  der  Lazarettzeit  nie  wieder  ganz  erholt.  In 
der  letzten  Zeit  batten  sich  die  Anwandlungen  von  Schwache, 


*  In  der  Vorrede  zu  dem  Sonderabdruck  eines  Gedichtes  ,,Wie  ein  starker 
Vogel  auf  Schwingen  frei",  das  er  auf  Einladung  der  Vereinigten  literarischen 
Gesellschaften  von  Dartmouth  College  im  Sommer  1872  b'ffentlich  sprach.  Derlei 
Einladungen  war  er  bereits  einige  Male  gefolgt  und  tat  es  spater  nocli  wieder- 
holt,  bis  in  seine  allerletzten  Jahre. 

LXXXVHI 


Scliwindel  und  leichtere  Erkrankungen  bedenklich  gemehrt.  Am 
28.  Januar  1878  hatte  er  noch  bis  spat  in  den  Abend  hinein  am 
Ofen  in  der  Bibliothek  des  Schatzhauses  gelesen,  und  sein  schlechtes 
Aussehen  war  dem  Pfortner  aufgefallen.  Nachdem  er  sich  in  seiner 
gegeniiberliegenden  Wohnung  zu  Belt  begeben  hatte,  wachte  er 
/wischen  drei  und  vier  Uhr  morgens  auf  und  fiihlte,  da6  er  Arm 
und  Bein  seiner  linken  Seite  nicht  bewegen  konnte.  Er  blieb  ruhig 
liegen,  bis  am  Morgen  Freunde  kamen  und  den  Arzt  hoi  ten.  Er 
hatte  einen  Schlaganfall  erlitten. 

Da  die  Zeitungen  seinen  Zustand  iibertrieben,  schrieb  er  sogleich 
an  seine  Mutter,  um  sie  zu  beruhigen ;  er  sei  auf  dem  Wege  zur 
Besserung  und  werde  in  ein  paar  Tagen  wieder  an  seinem  Puke 
sitzen.  Als  er  sich  bei  der  Pflege  seiner  Freunde  kaum  etwas  er- 
holt  hatte,  bekam  er  die  Nachricht  vom  Tode  der  Frau  seines 
Bruders  Jefferson,  Martha,  die  er  besonders  geliebt  hatte.  Trotz- 
dem  konnte  er  Ende  Marz  sich  wieder  an  seine  Buroarbeit  be- 
geben, obwohl  lahm  und  von  Schwachezustanden  des  Kopfes 
geplagt.  Eine  elektrische  Kur  tat  ihm  gut.  Anfang  Mai  jedoch  er- 
krankte  seine  Mutter,  die  von  Brooklyn  nach  der  kleinen  Arbeiter- 
vorstadt  Gamden  zu  ihrem  Sohn,  dem  Obersten  George  Whitman, 
und  dessen  Frau  umgesiedelt  war.  Da  es  mit  ihr  nicht  besser 
wurde,  machte  er  sich,  so  leidend  er  selber  war,  am  20.  Mai  auf 
und  fuhr  nach  Gamden.  Am  28.  schon  starb  Louisa  Whitman. 
Walt  war  bis  zum  letzten  Augeriblick  bei  ihr. 

Er  wurde  von  diesem  Schlage  bis  ins  innerste  Herz  getroffen. 
Als  er  voll  Unrast  sich  wenige  Tage  spater  an  die  Kiiste  begeben 
wollte,  wohl  zu  der  alten,  geliebten  Mutter  See,  hatte  er  einen 
schweren  Riickfall  und  mufite  sofort  in  das  Haus  seines  Bruders 
zuriickgebracht  werden,  —  in  dieses  Stadtchen,  das  er  nun,  ab- 
gesehen  von  einer  spateren  Reise,  bis  an  sein  Ende  nicht  wieder 
verlassen  sollte. 

Seine  Freunde  in  Washington  sorgten  dafur,  dafi  ihm  sein 
Biiroposten  zunachst  belassen  wurde  unter  der  Bedingung,  dafi  er 
einen  Ersatzmann  stellte.  Er  erholte  sich  auch  wieder  so  weit,  daB 
er  wenigstens  zeitweise  das  Zimmer  verlassen  konnte.  Aber  da- 
zwischen  kamen  immer  wieder  die  langen,  dunkeln  Tage  und 
Wochen,  in  denen  er  sich  nicht  von  der  Stelle  riihren  konnte 
und  in  denen  sein  Kopf  jedes  klare  Denken  und  jede  Fiihrung 

L  XXXIX 


versagte  und  die  gra'Blichen  Schatten  geistiger  Umnachtung  um  ihn 
die  Fliigel  regten.  Die  Freunde,  die  ihm  batten  helfen  konnen, 
waren  fern.  Bei  seinem  Bruder  und  dessen  Frau  fand  er  zwar 
liebevolle  Fiirsorge,  aber  keinerlei  geistige  Labung.  Er  muBte  die 
Segel  des  Geistesscbiffs,  mit  dem  er  just  auf  die  ,,See  des  Unbe- 
kannten"  kiihn  wie  ein  Kolumbus  der  Seele  batte  hinausfahren 
wollen,  streichen.  Er,  der  gewohnt  war,  seine  eigene  Fiille  und 
Kraft  zu  verstromen,  muBte  sich  nun  mit  letzten  inneren  Kraften 
an  das  bedrohlich  schwindende  BewuBtsein  klammern,  um  sicb 
iiber  den  Tiefen  der  Finsternis  zu  balten.  Nur  wer  je  in  sicb 
selber  in  auBerster  Not,  Einsamkeit  und  Schwache  um  Seelenkraft 
und  -bait  gerungen  hat,  wird  die  pathetiscbe  GroBe  jenes  ,,Den- 
nocb"  begreifen,  zu  dem  sicb  Wbitman  in  diesen  furcbtbaren 
Jabren  immer  wieder  emporrang. 

Der  Gedanke  an  die  Mutter  verlieB  ihn  nie.  ,,Piet,  mein  liebster 
Sohn",  schreibt  er  an  Peter  Doyle,  ,,ich  denke  immer  noch,  ich 
werde  durchkommen,  aber  die  Zeit  allein  kann  das  entscbeiden. 
Mutters  Tod  liegt  mir  noch  immer  auf  der  Seele,  die  Zeit  liiftet 
diese  Wolke  nicht  von  mir."  Und  einen  Monat  spa'ter:  ,,Ich  habe 
das  Gefiihl,  als  ob  ich  wieder  kraftiger  werde  und  freier  im  Ropf 

—  beinabe  so,  wie  ich   vor   Mutters   Tod   war,  —  aber  ich   kann 
micb  damit  noch  nicht  versohnen  —  es  ist  die  groBe  Wolke  meines 
Lebens  —  nichts,  was  je  vorher  geschah,  hat  mich   so  getroffen." 

—  „ Nichts,  was  je  vorher  geschah"  —  wenn  wir  das,  nach  diesem 
gedrangten  Bericht  iiber  sein  Leben,  durchdenken,  werden  wir  die 
unendliche  Kindesliebe  spiiren,  die  hier  in  verzweifelter  Ohnmacht 
ringt.   Nach  Jahren  setzte  er  gleicbsam  als  Gedenkstein  dieses  Ge- 
dicht  in  die  MGrashalme" : 

Gleichsam  an  deinen  Toren  selber,  Tod, 

Am  Eingang  zu  den  grenzenlosen  Dammergriinden  deiner  Herrschaft, 

Fiir    das    Gedachtnis   meiner   Mutter,    fur    die   heilige   Einheit   der 

Mutterschaft, 
Fiir  sie,  begraben  und  hingeschieden,  doch  nicht  begraben,  nicht  ge- 

scliieden  von  mir 
(Ich  sehe  wieder  das  stille,   giitige  Antlitz,   noch   immer   frisch   und 

schon, 
Ich  sitze  bei  der  Gestalt  im  Sarg, 

XC 


Ich  kiisse  und  kiisse  wiederum  krampfhaft  die  lieben  alten  Lippen, 
die  Wangen,  die  geschlossenen  Augen  im  Sarg): 

Fur  sie,  das  vollkommene  Weib,  tatig,  geistig,  mir  von  aller  Erde, 
von  Leben  und  Liebe  das  Teuerste, 

Grabe  ich  eine  Inschrift  hier,  bevor  ich  scbeide,  inmitten  dieser 
Gesange, 

Und  seize  einen  Grabstein  hier. 

Im  Sommer  1874  wurde  Whitman  von  einem  neuen  Chef  seines 
bescheidenen  Postens  in  Washington  enthoben,  was  freilich  vom 
Standpunkt  der  Behorde  aus  zu  begreifen  war,  da  er  nun  seit  acht- 
zehn  Monaten  krank  war  und  keine  Aussicht  bestand,  daB  er  in 
absehbarer  Zeit  sein  Amt  wieder  wiirde  iibernehmen  kb'nnen. 

Seine  materielle  Lage,  die  an  sich  bescheiden  genug  gewesen 
war,  wurde  dadurch  bedenklich.  Er  hatte  einige  geringe  Erspar- 
nisse  zuruckgelegt,  aber  sie  gingen  nun  rasch  auf  die  Neige.  Er 
war  jetzt  in  klareren  Stunden  damit  beschaftigt,  seine  Kriegstage- 
biicher  zur  Herausgabe  vorzubereiten,  und  schrieb  auch  kleine 
Aufsatze  fiir  Zeitungen  und  Zeitschriften,  —  ein  Verdienst  so  recht 
von  der  Hand  in  den  Mund.  Der  Ertrag  der  ^Grashalme"  blieb 
immer  noch  sehr  gering,  und  selbst  um  ihn  wurde  er,  wie  es  zu 
jener  Zeit  noch  moglich  war,  von  den  Buchhandlern  zum  Teil 
betrogen. 

Trotz  allem  und  allem  aber  rang  er  sich  zu  zwei  seiner  er- 
schiitterndsten  Gediclite  durch,  in  denen  er  das  Leid  in  sinnbildliche 
Gestalt  zwang:  zu  dem  MGebet  des  Kolumbus"  und  dem  MGesang 
vom  Rotholzbaum",  die  das  Vertrauen  auf  den  gottlichen  Plan  und 
das  wwahre  Licht"  und  den  freudigen  Untergang  desGegenwartigen 
um  des  vollkommeneren  Zukiinftigen  willen  verherrlichen. 

Im  Friihjahr  1876  begann  sich  der  furchtbare  Bann,  der  iiber 
ihm  lag,  allmahlich  zu  losen.  Am  i3.  Marz  war  in  der  englischen 
Zeitung  „ Daily  News"  ein  Brief  von  Robert  Buchanan  erschienen, 
der  die  Vereinsamung  und  Verarmung  des  kranken  Dicbters  warm 
und  eindringlich  beschrieb  und  weitgehende  Teilnahme  wachrief. 
Rossetti  wandte  sich  an  Whitman  mit  einer  Anfrage,  auf  welche 
Weise  seine  englischen  Freunde  ihm  am  besten  helfen  konnten. 
Er  antwortete  wiirdig  und  schlicht  und  teilte  mit,  daB  er  eben 
eine  neue  A  ullage,  die  sogenannte  Zentenarausgabe  der  „  Grashalme " , 

XCI 


vorbereite,  und  wenri  die  Freunde  ihm  helfen  wollten,  so  konn- 
ten  sie  es  am  besten  dadurch,  dafi  sie  das  Bucb  kauften.  Dar- 
auf  traf  sofort  eine  iiberaus  herzliche  Antwort  ein,  samt  einem 
groBeren  Barbetrag  und  der  Liste  zahlreicher  Subskribentea.  Das 
war  eine  gute  Medizin,  wie  Whitman  selber  schrieb.  Vor  allem 
jedoch  fand  er  in  diesem  Friihjahr  den  Weg  zu  dem  Arzt,  der  ihn 
in  Wahrheit,  wenigstens  soweit  es  nocb  moglich  war,  heilen  sollte: 
zur  Natur.  Seine  Gesundheit  hatte  sicb  so  gebessert,  daB  er  gegen 
Ende  April  aufs  Land  fabren  konnte,  auf  die  Farm  einer  befreun- 
deten  Familie  Stafford,  und  bier  sog  er  wahrend  sechs  Jahren,  in 
immer  wiederholten  Besuchen  von  Camden  her,  die  Heilkraft  der 
Stille  und  der  Gemeinschaft  mit  Baumen,  Vogeln,  Himmel  und 
Bach  in  seinen  noch  immer  halb  gelahmten  Korper  ein.  Von 
1876  bis  1882  schrieb  er  hier  jene  von  kindlich-panischer  Einheit 
mit  der  Natur  sanft  leuchtenden  Tagebuchblatter  im  Freien  nieder, 
iiber  denen  das  Wort  Mark  Aurels  stehen  konnte :  Tugend  ist  eine 
lebendige,  begeisterte  Sympathie  mit  der  Natur.  Hier  an  dem 
klaren  Timberbach,  von  Grillen  umzirpt,  von  Schmetterlingen 
und  Vogeln  umflogen,  saB,  lag  oder  badete  er  in  der  Sonne,  rang 
mit  den  scblanken  jungen  Baumstammen,  wie  mit  lebendigen 
Wesen,  und  nahm  ihre  elastische  Kraft  in  sich  auf.  Klare  Sternen- 
nachte,  erhellt  von  den  geliebten  Fixsternbildern,  die  er  alle  bei 
Namen  kannte,  und  von  den  wandelnden  Planeten,  gingen  iiber 
ihm  auf  und  atmeten  ihm  die  alte,  vertraute  Luft  der  Unendlich- 
keit  zu.  Das  reine  Vertrauen  zum  Wunder  der  Wirklichkeit  bliihte 
wieder  voll  in  ihm  auf. 

Es  ware  falsch,  sich  Whitman  in  dieser  Spatzeit  seines  Lebens 
etwa  als  einen  durch  Leiden  Gezahmten,  Resignierten  zu  denken. 
Das  Kindliche  in  ihm,  das  immer  ein  starker  Einschlag  seines 
Wesens  war,  offenbarte  sich  vielleicht  jetzt  noch  unmittelbarer  in 
der  sanften  Lockerung  des  Alters.  Aber  allezeit  blieb  in  ibm  ein 
mannlich  Machtvolles,  ein  geheimnisvolles  Feuer  panischer  Art, 
eine  im  Untergrund  brennende  Flamme  einsamer  Wildheit  und 
GroBe,  die  auf  alle  Besucher  dieser  Zeit  eine  irgendwie  er- 
schutternde  Wirkung  iibte.  Noch  eben  hatte  er  selber  in  der  Vor- 
rede  zur  Zentenarausgabe  von  der  ,,furchtbaren,  unwiderstehlichen 
Begier  nach  Sympathie"  gesprochen,  die  ihn  durchgliihte.  Der 
glanzende  junge  englische  Gelehrte  Edward  Carpenter,  der  ihn 

XCII 


aufsuchte,  schilderte  ihn  als  hoflich  und  von  groBer  personlicher 
Anmut,  aber  doch  elementar  und  ,,adamitischa  von  Gharakter: 
dreifach  sich  offenbarend,  ini  magnetisch  ausstrahlenden  Geist  dcs 
Mannes,  in  der  umfassenden,  in  unsicbtbaren  Bereichen  wohnen- 
den  Weite  der  Seele  und  zugleich  in  einer  Art  von  furchtbarer 
Majestat,  tfals  ob  in  ihin  das  Gericht  sich  offenbarte  —  eine  zeus- 
gleiche  Erscheinung  voll  Donners".  Mrs.  Gilchrist,  die  1876  nach 
Philadelphia  iibergesiedelt  und  in  deren  Heim  Whitman  ein 
haufiger  Gast  war,  selber  eine  herrliche,  feurige  Frau,  sagte,  wen 
dieses  Element  in  Whitmans  Wesen  einmal  erfaBt  habe,  fiir  den 
gebe  es  kein  Verbergen  mehr  vor  der  schrecklichen  Flamme  dieser 
Personlichkeit.  Dr.  R.  M.  Bucke,  selber  ein  Mann  voll  hochster 
Tatkraft  und  Energie,  der  nach  einer  abenteuerlichen  Jugend  ein 
bedeutender  Arzt  und  Leiter  einer  Irrenanstalt  geworden  war  und 
spater  die  erste  grundlegende  Biographic  Whitmans  schrieb,  schil- 
derte seinen  ersten  Eindruck  von  Whitman  als  eine  Art  von  >,gei- 
stigem  Rausch",  der  auf  Monate  hinaus  in  ihm  nachwirkte  und 
ihm  die  Gestalt  des  greisen  Dichters  uber  menschliche  Erschei- 
nung hinaushob. 

Whitmans  Lebenskraft  nahm  in  diesen  Jahren  standig  wieder 
zu;  er  ging  in  die  Theater,  besuchte  Freunde  und  trug  u.  a.  im 
Jahre  1879  m  der  Steck  Hall  in  New  York  sein  wAndenken  an 
Lincoln"  vor.  Und  Mitte  September  desselben  Jahres  entschloB  er 
sich,  mit  einigen  Freunden  eine  groBe,  sechzehnwochige  Reise  uber 
den  Mississippi  hinaus  in  den  Westen  bis  zu  den  Rocky  Mountains 
zu  unternehmen.  Er  freute  sich  wie  ein  unbandiges  Kind  an  der  Fahrt 
in  dem  bequem-imposanten  Schlafwagenzug  und  an  der  unermiid- 
lichen  Lokomotive,  die  sie  durch  die  riesigen  Strecken  hinfuhrte 
und  der  er  schon  vorher  den  feurigen  Gesang  ihrer  Wesenheit,  ,,An 
eine  Lokomotive  im  Winter",  gedichtet  hatte: 

Dich  fiir  mein  Rezitativ! 

Dich  in  dem  treibenden  Sturm,   wie  jetzt,  der  Schnee,   der  sinkende 

Wintertag, 
Dich    in    all   deiner   Riistung,    dein    regelmafiiger   Doppelpulsschla};, 

dein  zuckendes  Pochen, 
Dein    schwarz  zylindrischer   Leib,   goldenes    Messing    und    silbriger 

Stahl, 

XCHI 


Dein  schweres  Seitengestange,  gleichlaufendes  Zwillingsgestange,  wir- 

belnd,  hin  und  her  schieBend  an  deinen  Flanken, 
Dein  metrisches  Keuchen  und  Brausen,  bald  schwellend,  bald  in  die 

Feme  verhallend, 

Dein  grofies,  vorspringendes  Licht  ganz  vorn, 
Deine    langen,    bleiclien,    schwebenden    Dampfwimpel,    von   zartem 

Purpur  durchhaucht, 

Die  dicken,  finsteren  Wolken,  aus  deinem  Schornstein  gespieen, 
Dein  vielverklammerter  Leib,  deine  Ventile  und  Federn,  der  bebende 

Blitz  deiner  Bader, 
Der  Zug  dahinter,  bald  jab,  bald   schlaff,   doch   unablassig  vorwarts 

getragen ; 
Urbild  der  neuen  Zeit  —  Sinnbild  von  Kraft  und  Bewegung  —  Puls 

du  des  Kontinents, 
Einmal  nur  komm  und  diene   der  Muse   und   tauch    in    Gesang,   so 

wie  ich  dicb  bier  leibhaftig  sehe, 

Mit  Sturm  und  schiittelnden  Windstofien  und  wirbelndem  Schnee, 
Bei  Tag  mil  warnender,  lautender  Glocke  laut, 
Bei  Nacbt  mit  schwingender  Lampen  stummem  Signal. 

Bauh-kehlige  Scbonheit! 

Bolle  durch  meinen  Gesang  mit  all  deiner  unbandigen  Musik,  deinen 

schwingenderi  Lampen  bei  Nacht, 
Deinem   tollen   Pfeifengelacbter,   widerhallend,   scbiitternd   wie  Erd- 

beben,  alles  aufstorend  ringsumber, 

Gesetz  in  dir  selber  ganz,  fest  deine  eigene  Spur  verfolgend, 
(Nicht  schwachliche  SiiCe   tranenseliger   Harfe   in   dir   noch    glattes 

Piano,) 

Deine  Trillerschreie  von  Felsen  und  Hiigeln  erwidert, 
Hingejagt  iiber  die  Steppen  weit  und  iiber  die  Seen, 
Zu  den  freien  Himmeln  uneingepfercht  und  frob  und  stark. 

Noch  einmal  tauchte  Whitman  auf  dieser  Reise  in  weite,  ihm 
bisher  unbekannte,  aber  wie  aus  innerer  Schau  langst  vertraute 
Bereiche  der  Neuen  Welt.  Fast  in  alien  Stadten,  in  die  er  kam, 
fand  er  alte  Freunde  aus  der  Kriegszeit,  junge  Manner,  die  er 
selber  in  den  Lazaretten  und  Feldlagern  gepflegt  hatte  und  die 
inzwischen  zu  tuchtigen  Handwerkern  oder  Farmern  herangereift 

XCIV 


waren.  Die  zwei  gewaltigsten  Erlebnisse  dieser  Fahrt  waren  ihm 
die  westlichen  Prarien  und  das  wilde,  phantastisch  zerkliiftete 
Felsgebirge.  Empfend  er  in  der  unter  riesigen  Luftraumen  schwei- 
genden  Weite  der  Steppen  das  Element  tiefsten,  amerikanischen 
Charakters,  ein  Sinnbild  ruhender  Verschmelzung  des  Idealen  und 
Realen,  so  rief  sein  Herz  beim  ersten  Anblick  des  in  vielgestaltiger 
Fiille  gedrangten  Hochgebirges,  dafi  er  bier  gleicbsam  die  Land- 
scbaft  seiner  Seele  und  das  Gesetz  seiner  eigenen  Gesange  gefunden 
babe.  Diese  in  einer  riesigen  Einheit  briiderlicb  emporgeschichtete 
Mannigfaltigkeit,  in  der  doch  immer  dieselben  Formen,  Felswand, 
Gipfel,  Wildstrom,  Schneefeld,  sich  unermiidlich  wiederbolten,  war 
ihm  das  Abbild  der  Welt,  die  er  selber  geschaffen  und  in  der  er 
dieselben  Gedanken  immer  \vieder  in  bundertfacher  Form  wie  ein- 
tonigen  Adlerschrei  wiederholt  hatte.  In  St.  Louis,  im  Herzen 
des  Kontinents  und  des  machtigen  Mississippitals,  nahm  er  langeren 
Aufenthalt  im  Heim  seines  dorthin  iibersiedelten  Bruders  Jefferson. 
Hier  scbrieb  er  jene  Tagebuchzeilen  iiber  eine  ,,Literatur  des  Mis- 
sissippitals", die  dieses  wVaters  der  Gewasser"  und  dieses  Tales  wiir- 
dig  ware,  das  sicb  breit,  fruchlbar  und  nach  Menscben  rufend  in 
die  Zukunft  offnete.  Er  war  des  fast  religiosen  Glaubens,  daft  bier 
das  wahre  Zentrum  neuer  amerikanischer  Menschheit  sei,  und  pro- 
phezeite,  daB  in  wenigen  Jahrzebnten  bier  die  wahre  Hauptstadt  der 
Union  sich.tiirmen  wiirde.  Wir  iiihlen  in  all  seinen  Tagebuchblattern 
dieser  Zeit  den  Atem  der  wie  Champagner  berauscbenden,  klaren 
und  leichten  Luft  dieser  gliicklichen  Zone.  In  St.  Louis  besucbte 
er  mit  Vorliebe  die  Kindergarten,  wie  er  denn  zeit  seines  Lebens 
die  Kinder  vor  alien  liebte;  und  der  riesige,  weiBbartige  Mann  mit 
dem  frischen  Gesicht  war  bald  unter  dem  Namen  ,,Kris  Kringle", 
was  etwa  soviel  wie  „  Weihnachtsmann"  ist,  bei  den  kleinen 
Leuten  bekannt  und  geliebt. 

Neujahr  1880  kehrte  er  nach  Camden  zuriick,  immer  wieder  bei 
jeder  Gelegenheit  auf  die  geliebte  Staffordfarm  hinausfliichtend,  an 
den  Timberbach,  dessen  Platschern  ihm  in  die  ersten  Jahre  der 
Gesundung  geschwatzt  hatte.  Er  besuchte  Dr.  Bucke  und  die  von 
ihm  geleitete  Irrenanstalt  in  Siidkanada  und  machte  von  da  aus 
noch  eine  zweite  kiirzere  Reise  in  dieses  Land.  Den  Winter  ver- 
brachte  er  wieder  in  Camden  und  auf  dem  Lande  und  ging 
im  Friihjahr  nach  Boston,  wo  er  am  14.  April  wiederum  sein 

xcv 


,,Andenken  an  Lincoln"  offentlich  vortrug.  Er  beschloB,  von  nun  ab 
jedes  Jahr  eine  solche  Erinnerungsfeier  an  den  Retter  der  Union 
zu  halten,  und  fiihrte  das  auch,  mit  wenigen  Unterbrechungen, 
bis  zuletzt  aus.  Im  Hause  Emersons  verlebte  er  in  einem  der  edel- 
sten  geistigen  Kreise  Bostons  viele  Stunden.  Es  war  sein  letztes 
Zusammensein  mit  dem  Philosophen  von  Concord,  der  im  Jahre 
darauf  starb. 

Die  Bostoner  Verlagsfirroa  Osgood  and  Co.  trat  an  ihn  heran 
mit  Vorschlagen  zu  einer  neuen,  umfassenden  (siebenten)  Auflage 
der  yGrashalme".  Auf  diese  Ausgabe  setzte  Whitman  groBe  Hoff- 
nungen.  Er  vereinte  in  ihr  den  gesamten  dichterischen  Stoff  der 
vorigen  Ausgabe  sowie  der  Broschiiren,  vor  allem  der  „  Durch- 
fahrt  nach  Indien",  die  u.  a.  das  ,,Andenken  an  Lincoln"  ent- 
halten  hatte.  Es  wurde,  abgesehen  von  der  Ausgabe  von  1860,  die 
erste  auBerlich  wiirdige  Ausgabe  seines  Werkes.  Im  Winter  1881 
wurden  etwa  2000  Exemplare  abgesetzt.  Anfang  1882  jedocb  spielte 
ihm  amerikanische  Engherzigkeit  wiederum  einen  argen  Streich: 
der  Distriktsanwalt  von  Boston  verbot  die  Veroffentlichung  auf 
Ersuchen  einiger  Agenten  der  ,,Gesellschaft  zur  Unterdriickung 
des  Lasters",  falls  nicht  eirie  Reihe  beanstandeter  Stellen  ausge- 
merzt  wiirde.  Da  sich  Whitman  energisch  widersetzte,  zogen  Os- 
good and  Co.  am  9.  April  die  Ausgabe  wieder  ein,  was  ihnen  aller- 
dingsheftige  literarische  Angriffe  eintrug.  Sie  stellten  jedoch  Whit- 
man die  gedruckten  Bogen  und  die  Flatten  zur  Verfiigung,  die  er 
im  Sommer  der  Philadelphier  Firma  David  McKay  iibergab,  die 
unverweilt  eine  neue,  achte  Auflage  herausbrachte.  Sie  wurde  in 
einem  Tage  verkauft  und  auch  weitere  Neudrucke  fanden  so  viel 
Nachfrage,  da6  Whitman  am  Jahresende  einen  Ertrag  von 
5oo  Dollar  daraus  hatte.  Derselbe  Verlag  veroffentlichte  noch  im 
gleichen  Jahre  die  gesammelten  Tagebiicher. 

Weihnachten  1882  brachte  ihm  die  besonders  innige  Freundschaft 
einer  Quakerfamilie  aus  Philadelphia,  der  Familie  des  reichen  und 
frommen  Glashandlers  Pearsall  Smith.  Dessen  Tochter  Mary  war  von 
der  Universitat  Neu-England  mit  dem  begeisterten  EntschluB  nach 
Hause  gekommen,  Whitman  personlich  kennenzulernen ,  obwohl 
ihre  Eltern,  denen  Whitman  bis  dahin  nur  der  Verfasser  eines  un- 
moralischen  Buches  war,  sich  einigermaBen  entsetzt  dariiber 
zeigten.  Der  alte  Smith  fuhr  jedoch  mit  dem  Freimut  des  Quakers 

XCV1 


tmies  Tages  mil  seiner  Tochter  in  seiner  schonen  Equipage  nacii 
Camden  hinaus  und  besuchte  Whitman  kurzerhand,  und  die  Folge 
war  ein  jahrelanger,  herzlicher  Verkehr  zwischen  ihnen.  Whitman 
nannte  spater  MiB  Mary  nachst  der  i885  verstorbenen  Mrs.  Gil- 
christ  seine  ,,treueste,  lebende  Freundin".  Das  warme  Licht  jugend- 
licher  Verehrung  eines  schonen  Madchens  war  wohl  angetan, 
seinem  alten,  immer  jangen  Herzen  wohlzutun,  wie  denn  allezeit 
viel  junges  Volk  karneradschaftlich  mit  ihm  umging. 

Die  Ertrage  der  beiden  Philadelphia-Ausgaben  ermoglichten  ilun 
im  Marz  1884,  einen  alten  Lieblingsplan  zu  verwirklichen  und 
sich  ein  bescheidenes  zweistockiges  Hauschen  in  der  Mickle-Street 
in  (lamden,  nahe  dem  Hause  seines  Bruders,  zu  kaufen.  Mrs.  Mary 
Davis,  eine  brave  Witwe,  fiihrte  ihm  die  Wirtschaft  und  schuf 
ihm  die  behagliche  Atmosphare,  die  Whitman  im  Grunde  so  liebte. 
Ks  war  seit  jeher  viel  hollandische  Art  in  ihm  und,  bei  aller  Riick- 
sichtslosigkeit  gegen  materielle  Interessen,  wenn  es  sich  um  Gei- 
stiges  handelte,  dennoch  viel  natiirliche  Neigung  dazu,  ein  ordent- 
licher  Haushalter  seines  Leibes  zu  sein.  Er  war  fur  seine  Person 
inuner  sparsam  gewesen,  so  freigebig  er  auch  immer  fur  andere 
bis  an  sein  Ende  blieb.  Bis  zuletzt  fuhrte  er  ganze  Listen  von 
Hilfsbediirftigen,  denen  er  mit  seinen  kleinen  Ersparnissen  allezeit 
beisprang,  mit  der  Selbstverstandlichkeit  und  Kameradschaft,  die 
jede  Demiitigung  ausschloB,  wie  er  selber  auch  Gaben  seiner 
Freunde  immer  mit  reinster  Freude  und  Natiirlichkeit  annahm. 

Der  lange,  still  leuchtende  Abend  seines  Lebeiis,  der  bis  in  das 
Friihjahr  1892  hineinglomm,  ist  arm  an  aufieren  Ereignissen,  ob- 
wohl  gerade  jetzt  die  Berichte  iiber  sein  Leben  anschwellen  und 
fast  jeden  Tag  und  jede  Stunde  verzeichnen  *.  Was  er  fur  das 
auflere  Leben  als  wiinschenswert  und  geniigend  erklart  hatte,  be- 
safi  er  nun :  vier  eigene  Wande  und  ein  Dach  auf  amerikanischem 
Boden,  die  geringen  Einkunfte,  die  fur  die  Notdurft  des  Lebens 
unerlafilich  sind,  und  einen  Sparpfennig  auf  der  Bank.  Bei  standig 


*  Ich  verweise  auf  die  breite  und  gewissenhafte  Biographic  von  Henry  Bryan 
Binns,  die  einzige  bisher  ins  Deutsche  iibertragene  (II.  Haessel  Verlag,  Leipzig  1907, 
iibersetzt  von  Johannes  Schlaf).  Es  wiirde  den  f\ahmen  dieser  kurzen  Darstellung 
iiberschreiten,  die  Hunderte  von  kleinen  Erzahlungen,  Erinnerungen,  Anekdoten 
\viederzugeb«n,  die  alle  sich  in  das  Bild  des  greisen  Whitman  fugen  —  das 
Hild,  in  d»'in  er  volkstiiinliclieni  (reclenken  so  r«cht  eijjcntlicli  erscheint. 

VII      Whitman   I  \CVII 


sinkenden  Kraften  des  Leibes  blieb  er  geistig  rege,  las  viel,  vor 
allem  jetzt  Carlyles  Schriften,  und  nahm  in  kleineren  Aufsatzen  leb- 
haft  Stellung  dazu.  Nachdem  er  einen  Sonnensticb  erlitten  hatte 
und  fast  gar  nicht  mehr  ausgehen  konnte,  schenkten  seine  Freunde 
ihm  ein  Wagelchen  und  Pferd.  Das  Fahren  hatte  er  von  jeher  ge- 
liebt,  und  so  kutschierte  er  nun  taglich  auf  dem  Lande  umher, 
freilich  nicbt  wie  ein  gemachlicher  Greis,  sondern  immer  in  schnell- 
ster  Karriere.  Er  vertauschte  das  erste  Pferd,  das  ihm  zu  langsam 
lief,  mit  einem  feurigeren.  Seine  Geburtstage  pflegten  die  Freunde 
mit  besonderen  Festmahlzeiten  zu  feiern,  bei  denen  er  selber  aus 
seinen  Gedichten  vorzutragen  liebte  und  dabei  auch  jetzt  mit 
besonderem  GenuB  und  kraftig  dem  Champagner  zusprach.  Er 
straubte  sich  allezeit  dagegen,  lebendigen  Leibes  etwa  als  eine 
Art  von  Heiligem  mumifiziert  zu  werden.  ,,Sprecht  von  mir", 
trug  er  einigen  jungen  Besuchern  aus  England  auf,  „ nicht  als 
von  einem  Heiligen  oder  iiberhaupt  etwas  irgendwie  endgiiltig  Fer- 
tigem."  Das  BewuBtsein  der  elementaren,  Fiille  und  Gegensatzlich- 
keit  in  der  Tiefe  seines  Wesens  war  bis  zuletzt  in  ihm  lebendig,  jene 
naturhafte  Vieldeutigkeit,  die  ihn  von  jeher  gedrangt  hatte  zu  den 
immer  wiederhol ten  Warnungsrufen  seiner  Gesange,  er  sei  nicht  das, 
als  was  er  vielleicht  erscheine,  er  wirke  vielleicht  ebensoviel  Boses 
wie  Gutes,  ^ein  wahres  Ich  stehe  hinter  all  seinen  Worten:  jene 
Bedingtheit,  trotz  der  wahre  GroBe  etwas  auszusagen  wagt.  Der 
von  damonischem  Wissen  um  die  Vielspaltigkeit  der  Menschen- 
seele  zerkliiftete,  freilich  nicht  naturhaft  wiederum  zusammenge- 
schlossene,  groBe  danische  Denker  Kierkegaard  schreibt :  „  In  einem 
Leben  von  siebzig  Jahren  alle  moglichen  Wesenheiten  gehabt  zu 
haben  und  sein  Leben  wie  ein  Musterbuch  zu  hinterlassen,  das 
man  zur  gefalligen  Auswahl  aufschlagen  kann,  ist  nicht  so  schwierig. 
Aber  die  eine  Wesenheit  voll  und  reich  und  dabei  zugleich  die 
entgegengesetzte  zu  haben  und,  indem  man  der  einen  Wesenheit 
das  Wort  und  das  Pathos  gibt,  da  hinterlistig  die  entgegengesetzte 
unterzuschieben :  das  ist  schwierig. "  —  „  Hinterlistig  unterzuschieben" 
ist  charakteristisch  fiir  Kierkegaard ;  fur  Whitman  gilt,  daB  in  ihm 
sich  die  verschiedenen  Wesenheiten  naturhaft  als  Eines  ineinander- 
fugten,  mit  kindhaft  elementarer  Selbstverstandlichkeit,  immer  in 
warmer,  Kraft  und  Liebe  ausstromender  Einheit  des  ,Seins,  die 
immer  wieder  und  bis  in  die  letzten  Tage  jene  oft  angedeutete, 

XGVIII 


wunderbare  Erregung  in  den  Besuchern  wachrief.  Der  englische 
Gelehrte  Dr.  Johnston  schreibt,  nach  einer  eingehenden  Schilde- 
rung  der  Erscheinung  des  greisen,  in  seinem  Armstuhl  majestatisch 
sitzenden  Dichters:  ,,Aber  sein  Zauber  lag  nicbt  so  sehr  in  diesen 
Einzelziigen  als  in  seinem  Gesamtwesen  und  in  dem  unwidersteh- 
lichen  Magnetismus  seiner  milden,  aromatischen  Gegenwart,  die 
Gesundheit,  Reinheit  und  Natiirlicbkeit  auszustromen  scbien  und 
eine  Anziehung  auf  mich  iibte,  die  mich  in  Wahrheit  erstaunte, 
und  eine  Exaltation  von  Geist  und  Seele  in  mir  wachrief,  wie 
keines  Menschen  Erscheinung  je  zuvor.  Ich  fiihlte,  daB  ich  hier 
Angesicht  zu  Angesicht  war  mit  der  lebendigen  Verkorperung  alles 
dessen,  was  gut,  edel  und  liebenswert  an  der  Menschheit  ist." 

Im  November  1888  wurde  Whitman  aufs  neue  von  einem  Schlag- 
anfall  betroffen,  der  ihn  dem  Tode  nahebrachte.  Er  verlor  zum 
erstenmal  fur  eine  Zeitlang  die  Sprache.  Mitten  in  dieser  Rrise 
fand  er  jedoch  noch  die  Kraft,  ein  neues  Bandchen,  aus  Gedichten 
und  Prosa  gemischt,  die  ,,Novemberzweige",  zu  redigieren,  kurze 
Gedichte,  die  alle  Mim  friihen  Kerzenlicht  des  Alters"  seine  Ver- 
trautheit  mit  Tod  und  Unendlichkeit  in  gestilltem  Tonfall  spiegeln. 
Alles,  was  er  jetzt  anriihrte,  bekam  diese  stille  Transparenz  und 
diesen  Jenseitsschimmer.  Im  Jahr  darauf  war  er  noch  einmal  so 
weit  gekraftigt,  daB  er  dem  Diner,  das  zu  Ehren  seines  siebzigsten 
Geburtstages  in  einem  groGen  Camdener  Saal  gegeben  wurde,  bei- 
wohnen  konnte,  hinter  einem  riesigen  BlumenstrauB  fast  verborgen 
und  sich  an  seinem  Champagner  erfreuend.  Im  Oktober  1891 
hielt  der  Philosoph  Oberst  Ingersoll  in  Philadelphia  vor  zwei- 
tausend  Menschen  einen  Vortrag  u'ber  Whitman,  dessen  Ertrag  fur 
den  Dichter  bestimmt  war.  Whitman  war  in  seinem  Rollstuhl  da- 
bei,  und  als  Ingersolls  Rede  beendet  und  der  machtige  Beifall  ver- 
rauscht  war,  wandte  er  sich  im  Sitzen  selber  mit  ein  paar  in  ihrer 
Unmittelbarkeit  wunderbaren  Worten  an  die  Zuhorer:  ,,Da  letzten 
Endes,  meine  Freunde/  sagte  er  mit  seiner  merkwiirdig  jungen 
und  wohllautenden  Stimme,  ,,das  Wesentliche  in  dem  seltsamen 
Zeugnis  Hegt,  das  wir  personliche  Gegenwart  und  Begegnung  von 
Angesicht  zu  Angesicht  nennen,  so  bin  ich  hierher  gekommen,  um 
bei  Ihnen  zu  sein  und  mich  Ihnen  zu  zeigen  und  Ihnen  mit  meiner 
lebenden  Stimme  fiir  Ihr  Kommen  und  Robert  Ingersoll  fur  seine 
Worte  zu  danken.  Und  so,  mit  diesem  kurzen  Zeugnis  meines 

vii-  XCIX 


Hierseins,  und  in  solchem  guten  Willen  und  Dankbarkeit  biete  ich 
Ihnen  meinen  Grufi  und  Lebewohl. " 

Das  letzte  Geburtstagsfest  wurde  in  des  Dichters  eigenem  Hause 
im  Jahre  1891  gefeiert,  bei  dein  Whitman  einen  Gedenktoast  auf 
Emerson  ausbrachte  und  trotz  grofiter  korperlicher  Schwache  sich 
lebhaft  an  einem  politischen  Gesprach  beteiligte,  das  seine  nie  er- 
loschene  Teilnahme  am  Schicksal  Amerikas  bezeugt.  Er  verurteilte 
darin  aufs  heftigste  die  protektionistische  Doktrin  );Amerika  den 
Amerikanern"  und  spracb  fur  den  Gedanken  der  gegenseitigen 
Abhangigkeit  aller  Volker,  die  einander  in  geistigem  und  wirt- 
schaftlichem  Austausch  offenstehen  sollten,  da  sie  nichts  anderes 
waren,  als  eine  einzige  Schiffsmannschaft  an  Bord.  ,,Die  letzte  Wahr- 
heit  von  der  menschlichen  Rasse",  sagte  er,  ,,ist  die  Solidaritat  der 
Interessen."  -  -  ,,Nach  diesen  Worten  rief  er  nach  seinem  Rock 
und  seinem  Warter,  segnete  alle  und  stieg  langsam  die  Treppe 
hinauf."  (H.  B.  Binns.) 

Im  Dezember  veroffentlichte  er  das  kleine  gemischte  Bandchen 
,,Ade,  Phantasie!"  sein  ,,letztes  Gezirp",  wie  er  es  nannte  (spater 
in  den  „  Grashalmen <c  und  ,,Prosaschriften"  entbalten),  und  end- 
lich  die  zehnte  Auflage  der  ,,Grashalme",  deren  Druckbogen  er 
auf  dem  Sterbebette  las.  Im  Januar  1892  erschienen  die  ,,Ge- 
sammelten  Prosaschriften".  Vor  ,,Ade,  Pbantasie"  war  das  Bildnis 
wiedergegeben ,  das  Whitman  als  Zweiundsiebzigjahrigen  zeigt,  — 
,,das  Bildnis  eines  Patriarchen,  gebeugt  unter  einer  Weltwucht  von 
Erfahrungen"  (H.  B.  Binns). 

Neben  diesen  abschliefienden  Arbeiten  an  seinem  dichterischen 
Werk  widmete  er  sich  dem  Gedanken  an  sein  eigenes  Grabmal. 
Er  selber  machte  den  Entwurf  dazu  nach  einer  Zeichnung  Blakes 
und  liefi  es  im  Herbst  1801  auf  einem  neuen  Friedhof  in  der  Nahe 

«y 

vonCamden  unter  jungen  Buchen  und  NuCbaumen  auf  seine  Kosten 
errichten  und  liefi  auch  dieGebeine  seiner  Eltern  herbeischaffen,  die 
ihm  zur  Seite  ruhen  sollten. 

Die  Wintertage  des  neuen  Jahres  1892  brachten  ihm  die  letzte, 
mit  immer  gleicher  Geduld  ertragene  Leidenszeit  inmitten  lieb- 
reicher  Pflege  seines  Bruders  und  seiner  Freunde,  vor  allem  des 
jungen,  ihm  innig  ergebenen  Horace  Traubel,  der  spater  der  Ver- 
walter  seines  literarischen  Nachlasses  und  Begriinder  des  ,,\Valt 
Whitman-Bundes"  wurde  und  von  dem  Whitman  sagte,  dafi  er 

C 


\Y  hitman  im  zvveiundsiebzigsten  Lebensjahre 


ill  111  ,unaussprechlich  treu"  sei.  In  einer  der  letzten  Nachte  beugte 
Mth  Traubel  iiber  ihn,  kiiflte  ihn  und  sagte:  ,,Geliebter  Walt,  du 
kannst  dir  nicbt  vorstellen,  was  du  uns  gewesen  bist",  und  er  er- 
\\iderte  schwach :  ,,Noch  ihr,  was  ibr  mir  gewesen  seid."  Er  vvurde 
zu  seiner  Krleichterung  in  ein  \Vasserbett  gebracht  und  macbte 
einen  Versuch  zu  lacheri,  als  er  sich  darin  umwandte  und  das 
Wasser  platscherte.  Wahrend  drauBen  kalter,  grauer,  tief  ver- 
schneiter  Winter  alles  uinklarninerte,  liiste  sich  sein  Leiden  in  der 
letzten  \Vohligkeit  des  nahen  Todes,  und  endlich,  am  26.  Marz,  in 
der  siebenten  Stunde  des  Nachmittags,  glitt  er,  Traubels  Hand  in 
der  seinen  haltend,  ruhevoll  und  still  in  das  Unbekannte  hin- 
weg.  - 

Am  3o.  Marz  vvurde  Walt  Whitman  zu  Grabe  getragen.  Ohne 
kirchliche  Zeremonie  —  aber  in  der  stillen  Erhabenheit  der  Teil- 
nahme  Tausender.  Als  die  Leiche  noch  aufgebahrt  in  dem  kleinen 
Haus  in  der  Mickle-Street  lag,  zog  von  elf  Uhr  friih  bis  zwei  Uhr 
nachmittags  ein  Strom  von  Menschen  an  ihr  vor iiber,  die  dieses 
Antlitz  noch  einmal  sehen  wollten,  einfeche  Leute  aus  dem  Volk 
zumeist;  iihnlich  wie,  in  einer  tragischeren  Sphare,  die  russischen 
Bauern  jenes  einsameri  Dorfes  und  von  weither  an  der  Leiche  Leo 
Tolstois  stuinin  voriiberzogen ;  der  Weg  zum  Friedhof  war  von 
trauernden  Menschen  gesaumt,  und  auf  dem  Friedhof  selber,  iiber 
den  Hiigel  bin  und  bis  an  den  Teich  hinab,  der  ihn  begrenzte, 
stand  eine  zahllose  Menge,  um  den  Worten  Ingersolls  und  der 
anderen  Freunde  zu  lauschen,  die  ihm  den  Grufi  der  ,,Liebe,  die 
das  Ratsel  der  Sterblichkeit  iiberwindet",  nachsandten. 


PROSASCHRIFTEN 


VORBEMERKUNG 

Walt  Whitman  pflegte  seine  Prosaschriften  zum  Teil  in  die  Ge- 
dichtbandchen  aufzunehmen,  aus  denen  sich  die  ,,Grashalme"  in 
ihrer  jetzigen  Gestalt  und  der  —  nunmehr  von  ihnen  getrennte  - 
Prosaband  der  Standardausgabe  1891/92  entwickelten,  die  Whitman 
noch  auf  seinem  Sterbebett  redigierte  und  die  in  Philadelphia  bei 
McKay  erschien.  Nach  seinem  Tode  ging  sein  Werk  in  den  Verlag 
von  Small,  Maynard  &  Comp.,  Boston,  uber,  wo  1897/98  die  elfte 
Auflage  der  ,,Grashalme"  und  der  „ Prosaschriften"  erschien. 

Whitmans  erste  bedeutungsvolle  Prosaschrift,  die  Vorrede  zur 
Erstausgabe  der  ,,Grashalme"  (i855,  Selbstverlag,  Brooklyn,  New 
York)  verschwand  bereits  wieder  in  der  zweiten  Ausgabe  von  i856 
(New  York,  Selbstverlag),  da  ihr  Inhalt  groBtenteils  als  MSteinbruch 
fiir  neue  Gedichte"  verwendet  worden  war. 

1871  veroffentlichte  Whitman  seine  umfangreichste  und  beriihm- 
teste  Prosaschrift,  die  ,,Democratic  Vistas"  (wDemokratische  Aus- 
blicke"),  zunachst  als  Sonderbroschiire  (Washington,  Selbstverlag), 
dann  im  selben  Jahr  innerhalb  derfiinften  Auflage  der  ,,Grashalme" 
(Washington,  Selbstverlag). 

1876  erschien  gleichzeitig  mit  der  sechsten  Auflage  der  MGras- 
halme"  ein  Bandchen,  »Two  Rivulets"  (,,Zwei  Bachlein"),  aus 
Gedichten  und  Prosa  gemischt  (Camden,  Selbstverlag).  Die  darin 
enthaltenen  Aufsatze  gingen  mit  iiber  in  den  1882  erscheinenden, 
lediglich  Prosa  enthahenden  Band  „ Specimen  Days  and  Collect" 
^Tagebuchblatter"  oder  eigentlich  etwa  „  Mustertage  und  Ge- 
sammeltes";  Philadelphia,  McKay).  In  ,,Collect"  vvaren  nun  auch 
die  wDemokratic  Vistas"  sowie  jene  Vorrede  zur  Erstausgabe  mit- 
aufgenommen. 

i      Whitman  I  I 


1 888  erschien  em  wiederum  aus  Poesie  und  Prosa  gemischtes  Band- 
chen,  „ November  Boughs"  (Novemberzweige";  Philadelphia,  Me  Kay), 
und  im  gleichen  Jahr,  von  Whitman  selbst  verlegt  und  vertrieben, 
ein  Band  „ Complete  Poems  and  Prose".  Endlich  1891,  im  Winter 
vor  seinem  Todesjahr,  das  gleichfalls  gemischte  Bandchen  „  Good- 
bye my  Fancy"  (,,Ade,  Phantasie" ;  Philadelphia,  McKay). 

Unmittelbar  vor  seinem  Tode  redigierte  Whitman  dann  die  zehnte 
Auflage  der  ,,Grashalme"  (1891,  Philadelphia,  McKay)  und  der 
,,Gesammelten  Prosaschriften "  (1892,  ebenda)  in  je  einem  Band. 
Am  26.  Marz  1892  starb  er. 

Diese  Ausgabe  letzter  Hand  enthalt  die  Prosaschriften  in  dieser 
Reihenfolge:  ,,Specimen  Days",  „  Collect",  MNovember  Boughs"  und 
„ Good-bye  my  Fancy". 

Ich  babe  die  zeitlich  jiingste  Schrift,  die  Vorrede  zur  Erstausgabe, 
an  den  Anfang  dieses  ausgewahlten  Bandes  gestellt  und  darauf  gleich 
die  ,,Demokratischen  Ausblicke"  folgen  lassen,  um  diese  kiihn  um- 
rissene  Gedankenwelt  von  Anfang  an  einheitlich  und  in  aller  Breite 
und  Fiille  wirken  zu  lassen. 

Darauf  folgen  die  Tagebuchblatter,  zunachst  die  aus  dem  Se- 
zessionskriege  (1862 — 64)  und  danach  die  aus  den  Jahren  1876 — 82, 
die  Whitman  als  halb  Gelahmter  auf  Long  Island,  seiner  Heimat, 
wahrend  langsamer  seelischer,  wenn  auch  korperlich  nie  volliger 
Gesundung  im  Wald,  am  Bach,  an  der  atlantischen  Kiiste  und  zum 
Teil  auch  wahrend  einer  Reise  in  die  Weststaaten  niederschrieb. 

Den  BeschluB  bilden  einige  Stiicke  aus  den  ,,Novemberzweigen" 
und  ,,Ade,  Phantasie",  —  nur  wenige,  da  die  meisten  der  in  diesen 
beiden  Bandchen  enthaltenen  Aufzeichnungen  Themen  behandeln, 
die  uns  ferner  liegen,  wie  etwa  eine  Studie  iiber  Robert  Burns,  den 
Quaker  Elias  Hicks,  iiber  das  spanische  Element  in  Amerika  oder 
personliche  Erinnerungen  des  greisen  Whitman  an  Brooklyner  und 
New  Yorker  Jugendeindriicke,  wie  etwa  an  das  alte  Bowery-Theater 
in  New  York  u.  a.  m. 

In  die  Kriegstagebiicher  habe  ich  Ausziige  aus  zwei  Berichten 
Whitmans  an  den  ,,Brooklyn  Eagle"  und  die  ,,New  York  Times" 
aufgenommen,  sowie  aus  den  Briefen,  die  er  wahrend  dieser  Zeit  an 
seine  Mutter  schrieb.  Sie  sind  dem  Bande  ,,The  Wound  Dresser" 
(MDer  Wundpfleger")  entnommen,  den  Dr.  R.  M.  Buke  1898  bei 
Small,  Maynard  &  Comp.,  Boston,  herausgab.  H.  R. 


ORREDE    ZUR    ERSTAUSGABE    DER   GRASHALME 
BROOKLYN,  N.  Y.,  i855 

Amerika  verschlieBt  sich  nicht  gegen  die  Vergangenheit  und 
gegen  das,  was  sie  unter  anderen  Formen  und  politischen  Zustanden 
hervorgebracht  hat,  auch  nicht  gegen  die  Idee  der  Raste  oder  die 
alien  Religionen,  —  es  hort  gelassen  an,  was  die  Vergangenheit  ihm 
zu  sagen  hat,  —  es  ist  nicht  ungeduldig,  weil  die  trage  Masse  in 
der  Literatur  noch  an  Anschauungen  und  Formen  hangt,  aus  denen 
das  Leben,  das  sie  einst  erftillte,  geschwunden  und  in  ein  neues 
Leben  in  neuen  Formen  iibergegangen  ist,  —  es  ist  sehr  wohl  ge- 
wahr,  daB  der  Leichnam  allgemach  aus  den  EG-  und  Schlafzimmern 
des  Hauses  hinausgetragen  wird,  —  daB  er  just  in  der  Tur  noch 
ein  wenig  verweilt,  —  daB  er  fur  seine  Zeit  der  Rechte  war,  —  daB 
seine  Tatkraft  iibergegangen  ist  auf  den  starken,  wohlgestalten  Erben, 
der  jetzt  naht  und  der  fur  seine  Zeit  der  Rechte  sein  soil. 

Die  Amerikaner  haben  von  alien  Volkern  aller  Zeiten  der  Erde 
wahrscheinlich  die  vollste  dichterische  Natur.  Die  Vereinigten 
Staaten  selbst  sind  im  Grunde  das  grofite  Gedicht.  Die  umfang- 
reichsten  und  unternehmungslustigsten  Staaten  in  der  bisherigen 
Geschichte  der  Erde  erscheinen  zahm  und  ruhig  neben  ihrem  viel 
grofieren  Umfang  und  Unternehmungsgeist.  Hier  endlich  ist  im 
Tun  der  Menschen  etwas,  was  mit  den  gewaltigen  Vorgangen  von 
Tag  und  Nacht  sich  messen  kann.  Hier  ist  Tatkraft,  aller  Fesseln 
ledig,  notwendigerweise  blind  fiir  Besonderheiten  und  Einzelheiten, 
aber  voll  machtigen  Antriebs  auf  die  Massen.  Hier  ist  Gastlich- 
keit  immer  das  Merkrnal  heroischen  Geistes.  Hier  breitet  sich  die 
Fiille  des  Lebens,  alles  Kleinliche  verachtend,  unvergleichlich  in 
der  gewaltigen  Kuhnheit  ihrer  Menschenanhaufung,  in  ungehemmter 


und  flutender  Weite  aus  und  verstroint  ihren  fruchtbaren,  herr- 
lichen  UberfluB.  Diesem  Lande  gehoren  die  Schatze  von  Winter 
und  Sommer,  und  es  kann  niemals  zugrunde  gehen,  solange  Korn 
aus  dem  Boden  wachst  und  Friichte  von  den  Obstbaumen  fallen 
und  Fiscbe  in  den  Buchten  scbwimmen  und  Manner  mit  Frauen 
Kinder  zeugen. 

Andere  Staaten  sind  verkorpert  in  ibren  fiihrenden  Mannern,  — 
aber  der  Genius  der  Vereinigten  Staaten  offenbart  sich  nicht  am 
besten  oder  reichsten  in  ihren  Exekutiv-  oder  Legislativgewalten, 
nocb  in  ibren  Gesandten  oder  Scbriftstellern,  Universitaten,  Kirchen 
oder  Salons,  aucb  nicht  in  ihren  Zeitungen  oder  in  ihren  Erfindern, 
—  sondern  immer  und  zumeist  im  gewohnlichen  Volk  aller  Staaten 
des  Nordens,  Siidens,  Ostens  und  Westens,  auf  ihrem  ganzen  mach- 
tigen  Gebiet.  Die  GroBe  der  Nation  ware  indessen  nur  ein  Mon- 
strum  ohne  eine  entsprechende  GroBe  und  GroBmut  des  Geistes 
ihrer  Burger.  Weder  dichtbewohnte  Staaten,  noch  StraBen  und 
Dampfschiffe,  noch  bliihender  Handel,  noch  Farmen,  Kapital  und 
Schulen  konnen  dem  idealen  Mann  geniigen,  —  und  konnen  auch 
dem  Dichter  nicht  geniigen.  Ebensowenig  konnen  Traditionen  ge- 
niigen. Eine  lebendige  Nation  kann  sich  allezeit  selber  ihr  tiefstes 
Geprage  geben  und  kann  sich  die  hochste  Autoritat  auf  dem  ein- 
fachsten  Wege  schaffen:  namlich  aus  ihrer  eigenen  Seele  heraus. 
(Als  ob  es  notig  ware,  den  Weg  der  Uberlieferung  des  Ostens  Gene- 
ration um  Generation  zuriickzutrotten!  Als  ob  die  Schonheit  und 
Heiligkeit  des  gegenwartig  Vorhandenen  hinter  der  des  Mythischen 
zuriicktreten  miiBte !  Als  ob  die  Menschen  nicht  in  jeder  Zeit  sich 
ihr  eigenes  Geprage  geben  konnten!  Als  ob  die  ErschlieBung  des 
westlichen  Kontinents  durch  Entdecker  und  das,  was  aus  Nord- 
und  Siidamerika  geworden  ist,  geringer  ware  als  der  kleine  Schau- 
platz  der  Antike  oder  das  ziellose  Schlafwandeln  des  Mittelalters!) 
Der  Stolz  der  Vereinigten  Staaten  kehrt  dem  Wohlstand  und  der 
Verfeinerung  der  Stadte,  alien  Segnungen  von  Handel  und  Land- 
wirtschaft  und  aller  geographischen  GroBe  und  dem  Glanz  auBerer 
Siege  den  Riicken,  um  sich  zu  weiden  an  dem  Anblicke  von  leib- 
haftigen,  vollentfalteten  Menschen,  oder  eines  vollentfalteten,  un- 
bezwinglichen,  einfachen  Menschen. 

Die  amerikanischen  Dichter  miissen  Altes  und  Neues  umschlieBen, 
denn  Amerika  ist  die  Rasse  der  Rassen.  Die  Ausdrucksform  des 


amerikanischen  Dichters  rnuB  transzendent  und  neu  sein.  Sie  mufi 
indirekt  sein,  nicht  direkt  oder  beschreibend  oder  erzahlend.  Seine 
Kraft  ist  auf  viel  Hoheres  gerichtet.  Mogen  die  Zeiten  und  Kriege 
anderer  Volker  besungen  und  ihre  Geschichte  und  ihre  Cbaraktere 
dargestellt  und  in  Verse  gebracht  werden.  Anders  der  groBe  Psalm 
der  Republik.  Hier  ist  das  Tbema  schopferisch  und  voll  von  Ausblicken 
in  die  Zukunft.  Mag  alles  in  flacher  Gewohnheit,  in  Geborsam  und 
Gesetz  erstarren,  —  der  groBe  Dichter  erstarrt  nie.  Gehorsam  knebelt 
ihn  niclit,  er  ist  Herr  dariiber.  Unerreichbar  hoch  steht  er  und 
sendet  die  Strahlen  eines  konzentrierten  Lichtes  in  die  Runde,  - 
er  lenkt  sie  mit  seinem  Finger,  —  er  siegt  im  Stehen  iiber  die 
schnellsten  Laufer  und  iiberholt  und  iiberwaltigt  sie  leicht.  Er 
bait  die  Zeit,  die  auf  den  Wegen  der  Unglaubigkeit,  AuBerlich- 
keit  und  Spottsucht  irrt,  durch  seinen  festen  Glauben  zuriick.  Glaube 
ist  das  Antiseplikum  der  Seele,  —  er  durchdringt  das  einfacbe  Volk 
und  schiitzt  es;  —  das  Volk  hort  niemals  auf,  zu  glauben,  zu  hoffen 
und  zu  vertrauen.  Es  liegt  eine  unbeschreibliche  Friscbe  und  Un- 
bevvuBtbeit  iiber  einem  ungebildeten  Menschen,  die  die  Macht  des 
stolzesten  gestaltenden  Genies  demiitigt  und  ihrer  spottet.  Der 
Dichter  erkennt  mit  unzweifelhafter  GewiBheit,  daB  einer,  obne 
ein  groBer  Kiinstler  zu  sein,  doch  ebenso  geheiligt  und  vollkommen 
sein  kann,  wie  der  groBe  Kiinstler. 

Der  groBte  Dichter  iibt  oft  seine  Macht,  zu  zerstoren  und  neu 
zu  gestalten,  aus,  aber  nur  selten  die  Macht  des  Angriffs.  Was  ver- 
gangen  ist,  ist  vergangen.  Wenn  er  nicht  neue,  hohere  Vorbilder 
aufstellt  und  sich  nicht  selber  beweist  durch  jeden  Schritt,  den  er 
tut,  so  ist  er  nicht,  was  er  sein  soil.  Die  bloBe  Gegenwart  des  groBen 
Dichters  bezwingt,  —  kein  Verhandeln,  Streiten  oder  sonst  welche 
absichtlichen  Bemiihungen.  Hier  ist  er  vorbeigegangen !  Sieh  ihm 
nach!  Da  ist  keine  Spur  von  Verzweiflung  oder  MenschenhaB  zu 
sehen,  oder  von  List,  oder  Hochmut,  oder  von  Schande  der  Ab- 
stammung  oder  Farbe,  kein  Wahnbild  von  Holle,  kein  Bediirfnis 
nach  einer  Holle:  —  sondern  hinfort  soil  kein  Mensch  wegen  seiner 
Unwissenheit  oder  Schwachheit  oder  Siinde  verachtet  werden.  Der 
groBte  Dichter  kennt  nichts  Kleinliches  und  Gemeines.  Wenn  er 
in  etwas,  das  vorher  als  klein  gait,  seinen  Atem  blast,  so  fiillt  es 
sich  an  mit  der  GroBe  und  Lebenskraft  des  Universums.  Er  ist  ein 
Seher,  —  er  ist  individuell,  —  er  ist  vollkommen  in  sich  selbst,  - 


die  andern  sind  ebensogut  wie  er,  nur,  er  sieht  es,  und  sie  nicht. 
Er  gehort  nicht  zum  Chorus,  er  macht  nicht  halt  vor  irgendeiner 
Vorschrift,  er  gibt  Vorschriften.  Was  die  Sehkraft  fur  die  andern 
Sinne  ist,  das  ist  er  fiir  die  andern  Menschen.  Wer  kennt  das 
wunderbare  Geheimnis  der  Sehkraft?  Die  andern  Sinne  bekraftigen 
sich  einander,  aber  sie  ist  jedem  Beweis,  als  nur  dem  durch  sich 
selbst,  entriickt  und  ist  ein  Vorlaufer  der  Identitaten  der  geistigen 
Welt.  Ein  einziger  Blick  von  ihr  spottet  aller  Forschungen  der 
Menschen,  aller  Instrumente  und  Biicher  der  Erde  und  alien  Ver- 
standes.  Was  ist  noch  wunderbar,  was  noch  unwahrscheinlich, 
unmoglich,  grundlos  oder  vag,  —  nachdem  du  einmal  durch  einen 
Spalt  deiner  Lider,  nicht  gro'Ber  als  die  Narbe  eines  Pfirsichs,  alle 
Nahe  und  Feme  in  dich  aufgenommen  hast  und  der  Sonnenuntergang 
und  alle  Dinge  in  dich  eingedrungen  sind  mit  elektrischer  Schnelle, 
zart  und  in  aller  Ordnung,  ohne  Verwirrung,  StoBen  oder  Drangen? 
Land  und  Meer,  die  Tiere,  Fische  und  Vogel,  der  Himmel  und 
seine  Weltkugeln,  die  Walder,  Gebirge  und  Fliisse  sind  keine 
kleinen  Themen,  —  aber  die  Menschen  erwarten  von  dem  Dichter 
mehr,  als  daB  er  nur  die  Schonheit  und  Wiirde  weist,  die  alien 
stummen,  leibhaftigen  Dingen  zu  eigen  sind,  —  sie  erwarten  von 
ihm,  daB  er  den  Pfad  weise  zwischen  der  Wirklichkeit  und  ihren 
Seelen.  Manner  und  Frauen  gewahren  die  Schonheit  sehr  wohl,  — 
vielleicht  ebensogut  wie  er.  Die  leidenschaftliche  Ausdauer  von 
Jagern,  Waldlern,  Fruhaufstehern,  Garten-,  Obst-  und  Feldbauern, 
die  Liebe  gesunder  Frauen  zur  mannlichen  Gestalt,  die  Lust  an 
der  Seefahrt,  am  Pferdelenken,  die  Leidenschaft  fiir  Licht  und 
Luft,  —  all  das  ist  ein  altes,  inannigfaltiges  Merkmal  des  unfehlbaren 
Schonheitssinnes  und  einer  dichterischen  Uranlage  in  Menschen, 
die  im  Freien  leben.  Sie  brauchen  nicht  die  Hilfe  des  Dichters,  um 
wahrzunehmen.  Das  Wesen  der  Dichtkunst  liegt  nicht  in  Reim 
oder  GleichmaB  oder  in  abstrakter  Anrede  der  Dinge,  noch  in 
melancholischen  Klagen  oder  guten  Lehren,  sondern  es  ist  das  Leben 
solcher  Menschen  und  noch  viel  mehr  und  liegt  in  der  Seele.  Der 
Vorteil  des  Reimes  ist,  daB  er  die  Saat  eines  noch  lieblicheren  und 
iippigeren  Reimes  ausstreut,  und  der  Vorteil  des  GleichmaBes,  daB 
es  sich  selbst  in  seine  eigenen  Wurzeln  iibertragt,  die  in  unsicht- 
barem  Grunde  ruhen.  Der  Reim  und  das  GleichmaB  vollkomrnener 
Gedichte  zeigen  das  freie  Wachstum  metrischer  Gesetze  an  und 


sprossen  aus  ihnen  so  unfehlbar  und  ungezwungen  wie  Flieder- 
bliiten  und  Rosen  aus  einem  Busch,  und  nehmen  Formen  an  so 
fest  wie  die  Formen  von  Kastanien  und  Orangen,  Melonen  und 
Birnen,  und  verstromen  ihren  Duft,  der  sich  nicht  in  Form  fassen 
laBt.  Der  Wohllaut  und  die  Form  der  schonsten  Dichtungen, 
Kompositionen,  Reden  oder  Vortrage  ist  nicht  unbedingt,  sondern 
bedingt.  Alle  Schonheit  kommt  aus  schonem  Blut  und  einem 
schonen  Gehirn.  Wenn  alles,  was  grofi  ist,  in  einem  Mann  oder 
einer  Frau  sich  zusammenfindet,  so  ist  es  genug,  und  diese  Tatsache 
wird  durch  das  ganze  Weltall  bin  in  Geltung  bleiben;  aber  die 
Kiinsteleien  und  Vergoldungen  von  Millionen  Jahren  werden  nicht 
in  Geltung  bleiben.  Wer  sich  Sorge  darum  macht,  daB  seine  Ge- 
dichte  reich  verziert  sind  und  schon  klingen,  ist  verloren.  Was  du 
tun  sol  1st,  ist  dies:  Liebe  die  Erde,  die  Sonne  und  die  Tiere,  ver- 
achte  Reichtiimer,  gib  Almosen  jedem,  der  dich  darum  bittet,  stehe 
auf  fur  die  Unwissenden  und  Bloden,  gib  dein  Einkommen  und 
deine  Arbeit  anderen,  hasse  Tyrannen,  streite  nicht  iiber  Gott,  habe 
Geduld  und  Nachsicht  mit  den  Menschen,  nimm  deinen  Hut  vor 
nichts  Bekanntem  oder  Unbekanntem  ab  und  vor  keinem  Menschen 
und  keiner  Anzahl  von  Menschen,  —  verkehre  frei  mit  starken, 
schlichten  Menschen  aus  dem  Volke  und  mit  jungen  Leuten  und 
mit  Miittern  von  Familien,  -  -  priife  alles  nach,  was  du  in  der 
Schule  oder  Kirche  oder  aus  irgendeinem  Buche  gelernt  hast,  und 
verwirf  alles,  was  deiner  eigenen  Seele  zuwider  ist;  und  dein  leib- 
haftiges  Fleisch  und  Blut  soil  ein  erhabenes  Gedicht  sein  und  den 
reichsten  Wohllaut  haben,  -nicht  nur  in  Worten,  sondern  in  den 
stummen  Linien  deiner  Lippen  und  deines  Gesichts,  und  zwischen 
den  Wimpern  deiner  Augen,  und  in  jeder  Bewegung  und  jedem 
Gelenk  deines  Korpers.  Der  Dichter  soil  seine  Zeit  nicht  auf  un- 
niitze  Arbeit  verschwenden.  Er  soil  wissen,  dafi  der  Boden  bereits 
gepfliigt  und  gediingt  ist;  andere  mogen  es  nicht  wissen,  aber  er 
soil  es  wissen.  Er  soil  geradenwegs  an  die  Schopfung  herangehen. 
Sein  Vertrauen  soil  das  Vertrauen  aller  Dinge,  die  er  beriihrt,  und 
alle  Neigung  an  sich  heranziehen. 

Im  ganzen  bekannten  Universum  lebt  ein  wahrbaft  Liebender, 
und  das  ist  der  groBte  Dichter.  Er  brennt  in  ewiger  Leidenschaft, 
ist  unbekiimmert  darum,  was  ihm  das  Schicksal  bringt,  Zufall, 
Gliick  oder  Ungluck,  und  empfangt  taglich  und  stiindlich  seinen 


kostlichen  Lohn.  Was  andere  hemmt  oder  zerbricht,  1st  ihm  nur 
Nahrung  fiir  das  Feuer  seines  Suchens  nach  Vereinigung  und 
Liebeslust.  Niemand  in  der  Welt  hat  eine  solche  Fahigkeit  zur 
Freude  wie  er.  Alles,  was  man  nur  vom  Himmel  oder  von  dem 
Hochsten  erwarten  kann,  empfangt  er  innig  im  Anblick  der  Mor- 
gendammerung  oder  des  Winterwaldes  oder  in  der  Gegenwart 
spielender  Kinder  oder  wenn  er  seinen  Arm  um  den  Nacken  eines 
Mannes  oder  Weibes  legt.  Seine  Liebe  hat  vor  aller  andern  Liebe 
Mu6e  und  Raum  noch  iiber  ihn  selbst  hinaus.  Er  ist  kein  zag- 
hafter  oder  argwohnischer  Liebhaber  —  er  ist  zuversichtlich  —  er 
spottet  der  Entfernung.  Seine  Erfahrung,  seine  Schauer  und  Er- 
schiitterungen  sind  nicht  umsonst.  Nichts  kann  ihn  wankend 
machen,  weder  Leiden  noch  Finsternis,  weder  Tod  noch  Furcht. 
Fiir  ihn  sind  Klage,  Eifersucht  und  Neid  Leichen,  begraben  und 
verfault  in  der  Erde,  —  er  sah  sie  in  die  Grube  fahren.  Das  Meer 
ist  der  Kiiste  und  die  Kiiste  des  Meeres  nicht  sicherer,  als  er  des 
Genusses  seiner  Liebe  und  aller  Vollkommenheit  und  Schonheit 
sicher  ist. 

Der  Genuft  der  Schonheit  ist  kein  Spiel  auf  Verlust  oder  Ge- 
winn,  —  er  ist  so  unvermeidlich  wie  das  Leben,  so  streng  gesetz- 
mafiig  wie  die  Gravitation.  Hinter  dem  Sehen  liegt  ein  anderes 
Sehen  und  hinter  dem  Horen  ein  anderes  Horen  und  hinter  der 
Stimme  eine  andere  Stimme,  die  in  Ewigkeit  suchen  nach  der 
Harmonic  der  Dinge  mit  dem  Menschen.  Diese  verstehen  das  Ge- 
setz  der  Vollkommenheit  in  allem,  was  auf  Erden  flutet  und  ruht, 
und  wissen,  daft  es  verschwenderisch  und  gerecht  ist,  da6  es  in 
jeder  Minute  von  Licht  und  Dunkelheit  und  in  jedem  FuCbreit 
Erde  oder  Meer  lebt,  und  in  jeder  Himmelsrichtung,  und  in  jedem 
Geschaft  oder  Beruf  und  in  allem,  was  auf  Erden  geschieht.  Das 
ist  der  Grund,  weshalb  dem  richtigen  Ausdruck  von  Schonheit 
Bestimrntheit  und  Gleichgewicht  zu  eigen  ist.  Ein  Teil  mu6  nicht 
iiber  den  andern  gestellt  werden.  Der  beste  Sanger  ist  nicht  der, 
der  das  geschmeidigste  und  machtigste  Organ  hat.  Die  wahre  Lust 
an  Gedichten  wird  nicht  durch  die  erweckt,  die  das  beste  Versmafi 
haben  und  am  schonsten  klingen. 

Ohne  Anstrengung  und  ohne  dafi  man  im  geringsten  merkt, 
wie  es  geschieht,  wirkt  der  groBie  Dichter  durch  den  Geist  eines 
oder  aller  Ereignisse  und  Leidenschaften,  Szenen  und  Personen, 

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die  er  schildert,  mehr  oder  weniger  auf  den  individtiellen  Charakter 
dessen  ein,  der  ihn  hort  oder  liest.  Das  in  der  rechten  Art  zu  tun, 
heiBt  mit  den  Gesetzen  wetteifern,  die  der  Zeit  nachstreben  und 
folgen.  Hierin  muB  aller  Zweck  und  derSchliissel  zu  allem  liegen,— 
und  der  leiseste  Hinweis  ist  der  beste  und  letzten  Endes  der  klarste. 
Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  sind  nicht  getrennt,  son- 
dern  vereint.  Der  groBte  Dichter  gestaltet  das,  was  sein  wird, 
folgerichtig  aus  dem,  was  ist  und  war.  Er  ziebt  die  Toten  aus 
ihren  Sargen  und  stellt  sie  wieder  auf  ihre  FiiBe.  Er  sagt  zur  Ver- 
gangenheit:  Siehe  auf  und  wandle  vor  mir,  daB  ich  dich  erkenne! 
Er  lernt  von  ihr,  —  er  stellt  sich  dorthin,  wo  die  Zukunft  zur 
Gegenwart  wird.  Der  groBte  Dichter  wirft  nicht  nur  seine  Strahlen 
iiber  Charaktere,  Szenen  und  Leidenschaften,  —  er  steigt  zum 
SchluB  hoher  und  vollendet  alles,  —  er  laBt  die  hochsten  Zinnen 
sehen,  von  denen  niemand  sagen  kann,  wozu  sie  da  sind  oder  was 
jenseits  von  ihnen  liegt,  —  er  erscheint  einen  Augenblick  leuchtend 
auf  dem  auBersten  Rand.  Wundervoll  ist  sein  letztes  halb  verbor- 
genes  Lacheln  oder  Stirnrunzeln;  durch  diesen  Blitz  im  Augenblick 
des  Scheidens  wird  der,  der  ihn  sieht,  noch  fur  viele  Jahre  spater 
ermutigt  oder  erschreckt.  Der  groBte  Dichter  predigt  nicht  Moral 
und  gibt  keine  Regeln  fur  die  Anwendung  von  Moral;  er  kennt 
die  Seele.  Die  Seele  ist  von  dem  grenzenlosen  Stolz  erfiillt,  niemals 
eine  Lehre  oder  Erfahrung  anzuerkennen,  als  nur  ihre  eigene. 
Aber  ebenso  grenzenlos  wie  ihr  Stolz  ist  auch  ihr  Mitgefiihl,  eines 
gleicht  das  andere  aus,  und  keines  von  beiden  kann  jemals  iibers 
Ziel  schieBen,  solange  es  mit  dem  andern  vereint  ist.  Die  innersten 
Geheimnisse  der  Kunst  schlummern  in  diesem  Zwillingsbunde.  Der 
groBte  Dichter  hat  dicht  zwischen  ihnen  beiden  gelegen,  und  sie 
leben  in  seinem  Stil  und  in  seinen  Gedanken. 

Die  Kunst  der  Kiinste,  der  Ruhm  der  Darstellung  und  der 
Sonnenschein  der  Literatur  ist  Einfachheit.  Nichts  ist  besser  als 
Einfechheit,  -  -  nichts  kann  Cbertreibung  oder  Unbestimmtheit 
wieder  gutmachen. 

Auf  der  Woge  der  Leidenschaft  hinzutreiben,  in  gedankliche 
Tiefen  zu  tauchen  und  alien  Gegenstanden  Ausdruck  zu  verleihen, 
das  sind  weder  sehr  gewohnliche  noch  sehr  ungewohnliche  Gaben. 
Aber  in  der  Literatur  mit  der  vollkommenen  Geradheit  und  Un- 
bekiimmertheit  der  Bewegungen  von  Tieren,  mit  der  Unantastbarkeit 


der  Stimmung  VOD  Baumen  im  Wald,  von  Gras  am  Wege  zu 
sprechen,  das  ist  der  vollkommene  Triumph  der  Kunst.  Hast  du 
einen  gesehen,  dem  das  gelungen  ist,  dann  hast  du  einen  Meister 
unter  den  Kiinstlern  aller  Volker  und  Zeiten  geschaut.  Nicht  den 
Plug  der  grauen  Move  iiber  der  Bucht,  noch  die  feurige  Ungeduld 
des  Vollblutes,  noch  Sonnenblumen,  die  sich  vom  hohen  Stengel 
neigen,  noch  die  Erscheinung  der  Sonne  in  ihrem  Lauf  am  Himmel 
hin,  noch  die  Erscheinung  des  Mondes  danach  wirst  du  mit  grofierem 
Wohlgefallen  betrachten  als  ihn.  Der  groCe  Dichter  hat  eigentlich 
keinen  ausgesprochenen  Stil,  vielmehr  ist  er  der  Kanal  von  Gedanken 
und  Dingen  ohne  Zugabe  oder  Verkiirzung  und  der  freie  Kanal 
seiner  selbst.  Er  schwort  seiner  Kunst:  Ich  will  mich  nicht  auf- 
drangen,  noch  will  ich  in  meinen  Arbeiten  Glatte  oder  Effekt- 
hascherei  oder  Originalitat  haben,  die  wie  ein  Vorhang  zwischen 
mir  und  den  andern  hinge.  Ich  will  nichts  zwischen  uns  haben, 
nicht  den  iippigsten  Vorhang.  Was  ich  sage,  bedeutet  genau  das, 
was  ich  sage.  Meinetwegen  mogen  andere  begeistern,  verbliiffen, 
bezaubern  oder  schmeicheln,  —  meine  Zwecke  sollen  sein  wie  die 
von  Gesundheit  oder  Hitze  oder  Schnee  und  sich  ebensowenig  wie 
sie  um  Beobachtung  kiimmern.  Was  ich  erlebe  oder  schildere,  soil 
aus  meiner  Arbeit  hervorgehen,  ohne  eine  Spur  meines  Arbeitens. 
Du  sollst  bei  mir  stehen  und  mit  mir  in  den  Spiegel  schauen. 

Das  alte  rote  Blut  und  der  reine  Adel  grofier  Dichter  erweist  sich 
durch  ihre  Zwanglosigkeit.  Ein  heroischer  Mensch  ubergeht  und 
verlaCt  unbekiimmert  Sitte  oder  Vorbild  oder  Autoritat,  die  ihm 
nicht  passen.  Unter  den  Kennzeichen  der  Bruderschaft  von  Schrift- 
stellern,  Gelehrten,  Musikern,  Erfindern  und  Kiinstlern  erstenBanges 
ist  keines  schoner,  als  der  schweigsame  Trotz,  der  von  neuen,  freien 
Formen  aus  vorwarts  schreitet.  Wo  man  Dichtungen,  Philosophic, 
Politik,  Mechanik,  Naturwissenschaft,  Sitte,  Kunsttechnik,  wiirdige 
Nationaloper,  Schiffbaukunst  oder  eine  andere  Kunst  braucht,  da 
wird  immer  und  ewig  derjenige  der  groGte  sein,  der  das  grofite 
urspriingliche  praktische  Vorbild  gibt.  Die  reinste  Ausdrucksform 
ist  die,  die  keine  ihrer  wiirdige  Sphare  findet  und  sich  eine  schafft. 

Die  Botschaft  groBer  Dichtungen  an  alle  Menschen  ist  die:  Kommt 
als  Gleichberechtigte  zu  uns,  nur  dann  konnt  ihr  uns  verstehen. 
Wir  sind  nicht  besser  als  ihr,  was  wir  enthalten,  enthaltet  ihr;  was 
wir  genieBen,  konnt  ihr  genieBen.  Habt  ihr  gemeint,  es  konne  nur 


10 


einen  Hochsten  geben?  VVir  behaupten,  daB  es  zahlreiche  Hdchste 
geben  kann,  und  daB  der  eine  den  anderen  ebensowenig  ersetzt 
als  ein  Auge  das  andere,  und  daB  die  Menschen  nur  durch  das 
BewuBtsein  ibrer  eigenen  Hoheit  gut  und  groB  sein  konnen.  —  Stiirme 
und  Zerstorungen,  die  todlic'bsten  Scblachten  und  Schiffbriiche,  die 
wildeste  Wut  der  Elemente,  die  Gewalt  des  Meeres,  der  Rreislauf 
derlNatur,  das  Web  menschlichen  Sehnens,  Wiirde,  HaB  und  Liebe, 
-  worin  glaubt  ihr,  liegt  die  GroBe  von  all  dem?  Es  ist  jenes  Etwas 
in  der  Seele,  das  sagt:  Wiite  fort,  wirble  fort,  ich  wandle  als  Herr 
bier  und  iiberall  —  Herr  iiber  die  Zuckungen  des  Himmels  und 
den  Anprall  der  See,  Jlerr  iiber  Natur  und  Leidenschaft  und  Tod 
und  alle  Schrecknisse  und  Schmerzen. 

Die  amerikanischen  Dichter  sollen  sich  auszeichnen  durcb  GroB- 
mut  und  Liebe  und  Ermutigung  von  Mitstrebenden.  Sie  sollen  Kos- 
mos  sein,  ohne  Monopol  oder  Geheimnis,  mit  Freuden  alles  weiter- 
geben  —  hung  rig  nacb  Ebenbiirtigen  Tag  und  Nacht.  Sie  sollen  sich 
nicht  um  Reichtiimer  kiimmern  und  Privilegien,  —  sie  sollen  selbst 
Reichtiimer  und  Privilegien  sein.  Sie  sollen  wissen,  wer  der  reichste 
Mann  ist.  Der  reichste  Mann  ist  der,  der  aller  Pracht,  die  er  sieht, 
Gleichwertiges  aus  dem  groBeren  Vorrat  seines  eigenen  Selbst  ent- 
gegenstellt.  Der  amerikanische  Dichter  soil  keine  Raste  schildern, 
noch  eine  oder  zwei  Interessenspharen,  noch  vorwiegend  Liebe,  noch 
vorwiegend  Wahrheit,  noch  vorwiegend  die  Seele,  noch  vorwiegend 
den  Rorper,  —  auch  soil  er  fur  die  ostlichen  Staaten  nicht  mehr 
sein  als  fur  die  westlichen,  noch  fur  die  siidlichen  Staaten  mehr  als 
fur  die  nordlichen. 

Exakte  Wissenschaft  und  ihre  praktische  Entwicklung  ist  fur  den 
groBten  Dichter  kein  Hindernis,  sondern  immer  eine  Ermutigung 
und  Stiitze.  Anfange  und  Erinnerungen  sind  dort,  —  dort  die  Arme, 
die  ihn  zuerst  emporhoben  und  ihn  am  besten  hielten,  —  dorthin 
kehrt  er  nach  all  seinem  Gehen  und  Rommen  zuriick.  Der  Seemann 
und  Reisende  —  der  Anatom,  Chemiker,  Astronom,  Geolog,  Phreno- 
log,  Spiritualist,  Mathematiker,  Historiker,  Lexikograph  sind  keine 
Dichter,  aber  sie  sind  die  Gesetzgeber  der  Dichter,  und  ihr  Bau  liegt 
dem  Bau  jedes  vollkommenen  Gedichtes  zugrunde.  Gleichgiiltig, 
was  emporwachst  oder  ans  Tageslicht  kommt,  sie  gaben  den  Samen 
zur  Ronzeption,  —  aus  ihnen  kommen  oder  bei  ihnen  stehen  die 
sichtbaren  Zeichen  von  Seelen.  Wenn  Liebe  und  Eintracht  sein  soil 

ii 


zwischen  Vater  und  Sohn,  und  wenn  die  GroCe  des  Sohns  die  Aus- 
strahlung  VOQ  der  GroGe  des  Vaters  ist,  dann  soil  auch  Liebe  bestehen 
zwischen  dem  Dichter  und  dem  Mann  der  exakten  Wissenschaft. 
Die  Schonheiten  der  Dichtung  sollen  kiinftig  den  Schmuck  urid  die 
letzte  freudige  Bestatigung  der  Wissenschaft  bilden. 

GroB  ist  der  Glaube  an  das  Gedeihen  der  Wissenschaft  und  an 
die  Erforschung  der  Tiefen  von  Eigenschaften  und  Dingen.  Hier  zu 
weilen,  hier  sich  zu  bewegen,  begeistert  die  Seele  des  Dichters,  und 
doch  bleibt  sie  stets  Herrin  ihrer  selbst.  Die  Tiefen  sind  unergriind- 
lich  und  deshalb  ruhig.  Unschuld  und  Nacktheit  kehren  wieder,  — 
sie  sind  weder  anstandig  noch  unanstandig.  Die  ganze  Theorie  vom 
tlbernaturlichen  und  alles,  was  damit  verkniipft  oder  daraus  ab- 
geleitet  ist,  schwindet  wie  ein  Traum.  Was  je  geschehen  ist,  was 
geschieht  und  was  geschehen  kann  und  soil:  die  Naturgesetze 
schlieflen  alles  in  sich.  Sie  geniigen  fiir  jeden  einzelnen  Fall,  — 
keiner  darf  iibereilt  oder  verzogert  werden,  —  fiir  besondere  Wun- 
der  an  Dingen  oder  Menschen  ist  kein  Raum  in  dem  weiten  klaren 
System,  wo  jede  Bewegung  und  jeder  Grashalm  und  die  Korper  und 
Geister  von  Mannern  und  Weibern  und  alles,  was  sie  betrifft,  un- 
aussprechlich  vollkommene  Wunder  sind,  alle  unter  sich  zusammen- 
hangend  und  doch  jedes  gesondert  und  an  seinem  Platz.  Auch  laBt 
sich  die  Annahme,  als  gabe  es  in  dem  uns  bekannten  Universum 
etwas  Gottlicheres  als  Manner  und  Weiber,  nicht  vereinen  mit  der 
Realitat  der  Seele. 

Manner  und  Weiber  und  die  Erde  und  alles,  was  darauf  ist, 
miissen  so  genommen  werden,  wie  sie  sind,  und  die  Erforschung 
ihrer  Vergangenheit  und  Gegenwart  und  Zukunft  soil  nicht  unter- 
brochen  werden  und  soil  mit  volliger  Unbefangenheit  geschehen. 
Auf  dieser  Basis  spekuliert  die  Philosophic,  immer  im  Hinblick  auf 
den  Dichter,  immer  mit  Rucksicht  auf  das  ewige  Streben  aller  nach 
Gliick,  niemals  im  Gegensatz  zu  dem,  was  fiir  die  Sinne  und  fiir 
die  Seele  klar  ist.  Denn  das  ewige  Streben  aller  nach  Gliick  bildet 
den  einzigen  Kern  gesunder  Philosophic.  Was  weniger  umfafk  als 
das,  —  was  weniger  ist  als  die  Gesetze  von  Licht  und  astronomischer 
Bewegung  —  oder  weniger  als  die  Gesetze,  die  den  Dieb,  den  Liigner, 
den  Fresser,  den  Saufer  in  diesem  und  zweifellos  auch  in  jenem  Leben 
verfolgen  —  oder  was  weniger  ist  als  weite  Zeitraume  oder  langsame 
Verdichtung  oder  geduldiges  Aufeinanderlagern  von  Erdschichten, 

I  2 


-  das  hat  keinen  Wert.  Alles,  was  Gott  in  eine  Dichtung  oder  in 
ein  philosophisches  System  bringen  will,  gleichwie  als  ein  Geschopf 
oder  einen  EinfluB,  der  bekiimpft  wird,  hat  gleichfalls  keinen  Wert. 

Gesundheit  und  Einheitlichkeit  charakterisieren  den  groBen  Mei- 
ster,  —  wird  in  einem  Prinzip  gefehlt,  so  ist  alles  verfehlt.  Der  groBe 
Meister  hat  mit  Wundern  nichts  zu  tun.  Er  sieht  seine  eigene 
Gesundheit  in  der  Gemeinschaft  mit  der  Masse,  —  er  sieht  einen 
Mangel  in  hesonderem  Hervorragen.  Vollkommene  Gestalt  wachst 
auf  allgemeinem  Boden.  Unter  dem  allgemeinen  Gesetz  zu  stehen, 
ist  groB,  denn  das  heiBt  damit  harmonieren.  Der  Meister  weifi, 
daB  er  unbeschreiblich  groB  ist,  und  daB  alle  unbeschreiblich  groB 
sind,  —  daB  zum  Beispiel  nichts  groBer  ist,  als  Kinder  zu  empfangen 
und  gut  zu  erziehen  —  daB  Sein  gerade  so  groB  ist  wie  Beobachten 
oder  Erzahlcn. 

Fur  das  Werden  groBer  Meister  ist  die  Idee  der  politischen  Frei- 
heit  unerlaBlich.  Freiheit  findet  Helden  als  Anhanger,  wo  inimer 
Manner  und  Frauen  leben,  —  aber  sie  findet  keine  treueren  An- 
hanger und  kein  freudigeres  Willkommen  als  bei  den  Dichtern. 
Sie  sind  die  Stimme  und  die  Verkorperung  der  Freiheit.  Sie  sind 
seit  Urzeiten  dieser  groBen  Idee  wiirdig,  ihnen  ist  sie  anvertraut, 
und  sie  miissen  sie  bewahren.  Nichts  hat  den  X^orrang  vor  ihr,  und 
nichts  kann  sie  entstellen  oder  erniedrigen. 

Da  die  Eigenschaften  der  Dichter  des  Kosmos  in  ihrem  leibhaf- 
tigen  Korper  verdichtet  sind  und  in  der  Lust  an  den  Dingen,  so 
besitzen  sie  den  Vorteil  der  Echtheit  vor  aller  Erfindung  und 
Romantik.  Wenn  sie  sich  verstromen,  so  werden  alle  Dinge  von 
Schauern  Lichts  iiberflossen,  —  das  Tageslicht  wird  von  fliegenderem 
Glanze  erleuchtet,  —  die  Tiefe  zwischen  Sonnenauf-  und  -untergang 
wird  vielmals  liefer.  Jeder  bestimmte  Gegenstand,  jeder  Zustand, 
jede  Kombination,  jeder  Vorgang  entfaltet  eine  besondere  Schon- 
heit,  —  das  Einmaleins  die  seine,  —  das  Alter  die  seine,  —  das  Zim- 
mermannshandwerk  die  seine,  —  die  GroBe  Oper  die  ihre,  —  der 
riesige,  scharfgeschnittene  New  Yorker  Klipper  auf  See  unter  Dampf 
oder  vollen  Segeln  leuchtet  in  unvergleichlicher  Schonheit,  —  die 
weiten,  ineinander  wirkenden  Kreise  der  Regierung  Amerikas  leuch- 
ten  in  gleicher  Schonheit,  —  und  die  gewohnlichsten  klaren  Ent- 
schliisse  und  Handlungen  in  gleicher  Schonheit.  Die  Dichter  des  Kos- 
mos schreiten  durch  alle  Hindernisse  und  Barrikaden  und  Unruhen 


und  Kriegslisten  hindurch  zu  den  Hauptprinzipien.  Sie  stiften 
Nutzen,  —  sie  erlosen  die  Armut  von  ihrer  Not  und  die  Reichen 
von  ihrem  Hochmut.  Du  stolzer  Besitzender,  sagen  sie,  sollst  nicht 
mehr  gewinnen  und  geniefien  als  irgendein  anderer.  Der  Eigen- 
tiimer  der  Bibliothek  1st  nicht  der,  der  einen  Rechtsanspruch  auf 
sie  hat,  weil  er  sie  gekauft  und  bezahlt  hat.  Jedweder,  Mann  oder 
Weib,  ist  Eigen turner  der  Bibliothek,  der  all  die  verschiedenen 
Zungen,  Themen  und  Stilarten  zu  lesen  vermag  und  sie  ohne  Miihe 
in  sich  aufnimmt.  und  den  sie  geschmeidig,  stark,  reich  und  weit 
machen. 

Diese  amerikanischen  Staaten,  stark,  gesund  und  vollkommen, 
sollen  kein  Vergniigen  an  Verzerrungen  der  natiirlichen  Vorbilder 
haben  und  durfen  sie  nicht  zulassen.  In  Gemalden,  Bildwerken  oder 
Schnitzereien  in  Stein  oder  Holz,  in  Illustrationen  von  Biichern  und 
Zeitungen,  in  den  Mustern  von  Geweben,  in  allem,  was  Raume, 
Mobel  oder  Kleider  schmiicken  oder  auf  Gesimsen  oder  Denkmalern 
stehen  soil  oder  auf  dem  Bug  von  Schiffen  oder  sonst  irgendwo  vor 
Menschenaugen  im  Haus  oder  drauBen,  ist  alles,  was  die  recht- 
schaffene  Form  verzerrt  oder  unirdische  Wesen,  Ortlichkeiten  oder 
Umstande  darstellt,  ein  abscheulicher  Unfug.  Die  menschliche 
Gestalt  vor  allem  ist  so  erhaben,  daB  sie  niemals  ins  Lacherliche 
gezogen  werden  sollte.  Ubertriebene  Ornamente  zu  einem  Werk 
durfen  nicht  geduldet  werden,  sondern  nur  die,  die  den  vollkom- 
menen  Erscheinungsformen  der  freien  Natur  entsprechen  und  un- 
widerstehlich  aus  der  Natur  des  Werkes  selber  quellen  und  zu  seiner 
Vollendung  notig  sind.  Die  meisten  Schopfungen  sind  am  schb'nsten 
ohne  Ornament.  Ubertreibungen  rachen  sich  an  der  Physiologic 
des  Menschen.  Reine  und  starke  Kinder  werden  nur  in  den  Ge- 
meinwesen  erzeugt  und  ernpfangen,  wo  die  Vorbilder  natiirlicher 
Formen  am  Licht  jedes  Tages  stehen.  Der  groBe  Genius  und  das 
Volk  dieser  unserer  Staaten  darf  nicht  ins  Romanhafte  erniedrigt 
werden.  Wenn  wirkliche  Geschehnisse  richtig  erzahlt  werden,  be- 
darf  es  keiner  Romane  mehr. 

Die  groBen  Dichter  sind  kenntlich  an  dem  Wegfall  aller  Kunst- 
griffe  und  an  der  Offenbarung  vollkommener  personlicher  Lauter- 
keit.  Hinfort  soil  keiner  von  uns  mehr  lugen,  denn  wir  haben 
erkannt,  daB  Aufrichtigkeit  die  innere  und  aufiere  Welt  gewinnt, 
ohne  jede  Ausnahme,  und  daB  noch  nie,  seit  unsere  Erde  sich  zur 

i-4 


Weltkugel  geballt  hat,  Betrug,  Ranke  und  Verschlagenheit  aucb 
nur  ein  Kornchen  von  ihr,  auch  nur  den  Hauch  eines  Schattens 
an  sich  zu  ziehen  vermochten,  —  und  dafi  ein  falscher,  kriecherischer 
Mensch  sich  auch  hinter  dem  Reichtum  und  der  Macht  eines  Staates 
oder  der  ganzen  Staatenrepublik  nicht  zu  verbergen  vermag,  son- 
dern  entdeckt  und  der  Verachtung  ausgeliefert  wird,  —  und  dafi  die 
Seele  sich  niemals  narren  lafit  und  nicht  genarrt  werden  kann,  - 
und  dafi  Wohlstand  ohne  die  liebende  Zustimmung  der  Seele  nur 
eine  stinkende  Blahung  ist,  —  und  dafi  es  noch  nie  ein  Wesen  ge- 
geben  hat,  das  von  Natur  die  Wahrheit  hafit:  auf  alien  Kontinenten 
dieser  Erde  nicht  und  auf  keinem  Planeten  und  Satelliten,  nicht  in 
der  Dunkelheit  vor  der  Geburt,  noch  irgendwann  im  Wechsel  des 
Lebens,  noch  irgendwo  im  Verborgenen  oder  im  lebhaftesten  Treiben, 
noch  in  irgendeiner  Gestalt  oder  Umgestaltung. 

Hochste  Vorsicht  und  Klugheit,  festeste  organische  Gesundheit, 
starke  Hoffnungskraft,  Liebe  zu  Frauen  und  Kindern,  die  Kraft, 
aus  allem  Nahrung  zu  ziehen,  Storendes  zu  vernichten,  Sinn  fur 
Kausalitat  und  fiir  die  vollkommene  Einheit  der -Natur,  und  die 
Fahigkeit,  diesen  selberi  Sinn  auch  auf  die  menschlichen  Angelegen- 
heiten  anzuwenden,  —  all  das  wird  an  die  Oberflache  des  Welt- 
bewufitseins  heraufbeschworen,  um  Teil  des  grofiten  Dichters  zu 
werden,  von  seiner  Geburt  aus  Mutterleib  und  von  der  Geburt 
seiner  Mutter  aus  Mutterleib  an.  Klugheit  geht  selten  weit  genug. 
Man  hielt  den  Burger  fiir  klug,  der  auf  soliden  Gewinn  bedacht 
war  und  fiir  sich  und  seine  Familie  gut  sorgte  und  ein  ehrbares 
Leberi  fiihrte  ohne  Schuld  und  Vergehen.  Der  grofite  Dichter  sieht 
und  wiirdigt  diese  haushalterischen  Notwendigkeiten,  wie  er  die 
Notwendigkeit  von  Essen  und  Schlafen  sieht,  aber  er  hat  einen 
hoheren  Begriff  von  Klugheit  und  begniigt  sich  nicht  damit,  nur  die 
Hand  auf  die  Klinke  der  Pforte  zu  legen.  Das  wahre  Wesen  der 
Lebensklugheit  besteht  nicht  darin,  dafi  man  sich  das  Leben  behag- 
lich  gestaltet  und  zu  Reife  und  Ernte  fiihrt.  Es  geniigt,  dafi  man, 
um  unabhangig  zu  sein,  eine  kleine  Summe  als  Sterbegeld  auf  die 
Seite  legt,  ein  paar  Balken  um  sich  her  und  ein  paar  Schindeln 
iiber  dem  Kopfe  hat  auf  einem  eigenen  Fleckchen  amerikanischer 
Erde  und  die  paar  Dollars  verdient,  die  man  jahrlich  zur  Kleidung 
und  Nahrung  braucht.  Aber  eine  traurige  Lebensklugheit  ist  es, 
ein  so  erhabenes  Wesen,  wie  den  Menschen,  an  die  jahrelange, 

i5 


bleiche  Hast  des  Gelderwerbes  hinzuwerfen,  mit  all  ihren  sengen- 
den  Tagen  und  eisigen  Nachten,  all  ihren  wiirgenden  Enttau- 
schungen  und  heimlichen  Ranken,  mit  ihrerewigen  Hetzjagd  durch 
Geschaftsraume  und  Salons,  oder  schamlosem  Prassen,  wenn  andere 
verhungern;  mit  all  ihrer  Gefiihllosigkeit  fur  Bliite  und  Duft  der 
Erde,  fiir  Blumen  und  Luft  und  Meer,  fiir  die  wahre  Freude  an 
den  Frauen  und  Mannern,  denen  du  begegnest  oder  mit  denen  du 
zu  tun  hast,  in  Jugend  und  mittlerem  Alter,  und  mit  Krankheit 
und  verzweifeltem  Ekel  am  Ende  eines  Lebens  ohne  Erhebung  und 
Unschuld  (magst  du  es  auch  zu  einer  Rente  von  zehntausend  Dollars 
im  Jahre  oder  zu  einem  Sitz  im  KongreB  oder  in  der  Regierung 
gebracht  haben),  und  schlieBlich  mit  dem  grafilichen  Zahneklappen 
eines  Todes  ohne  Heiterkeit  und  Majestat.  Das  ist  der  grofie  Selbst- 
betrug  in  der  modernen  Zivilisation  und  ihrem  Streben,  der  die 
Oberflache  und  die  unleugbar  an  sich  bedeutende  Erscheinungs- 
form  der  Zivilisation  entstellt  und  ihre  riesigen  Ziige,  die  immer 
schneller  und  schneller  wachsen,  mit  Tranen  feuchtet,  da  noch 
die  Kiisse  der  Seele  sie  nicht  erreichen  konnen. 

Noch  ist  die  rechte  Erklarung  nicht  gegeben,  was  Klugheit  sei. 
Die  Klugheit  bloBer  Wohlhabenheit  und  Ehrbarkeit  eines  hoch- 
geachteten  Lebens  ist  zu  schwach  erkennbar  fiir  das  Auge,  um 
iiberhaupt  beurteilt  zu  werden,  da  alle  Mafie  von  klein  oder  grofi 
spurlos  verschwinden  bei  dem  Gedanken  an  die  Klugheit,  die  die 
rechte  ist  fur  die  Unsterblichkeit.  Was  ist  die  Weisheit,  die  den 
sparlichen  Raum  eines  Jahres  oder  von  siebzig  oder  achtzig  Jahren 
ausfiillt,  verglichen  mit  der  Weisheit,  die  durch  Jahrtausende  sich 
breitet  und  zu  bestimmten  Zeiten  rnit  gewal tiger  Verstarkung  und 
reicher  Gegenwart  wiederkehrt,  mit  den  hellen  Gesichteuji  von 
Hochzeitsgasten,  die  von  iiberallher,  soweit  du  sehen  kannst,  frohlich 
auf  dich  zu  eilen?  Nur  die  Seele  ist  selbstherrlich,  —  alles  andere 
steht  in  Beziehung  zu  dem,  was  nachfolgt.  Alles,  was  ein  Mensch 
tut  oder  denkt,  hat  seine  Folgen.  Klein  oder  groB,  gebildet  oder 
ungebildet,  weiB  oder  schwarz,  gesetzlich  oder  ungesetzlich,  krank 
oder  gesund,  —  alles  was  ein  Mann  oder  Weib,  vom  ersten  Atem- 
zug  bis  zum  letzten,  Kraftvolles,  Giitiges,  Wahrhaftiges  tut,  ist 
sicherlich  fiir  ihn  oder  sie  von  Nutzen  in  der  unerschiitterlichen 
Ordnung  des  Weltalls  in  alle  Ewigkeit.  Die  Klugheit  des  groBten 
Dichters  antwortet  letzten  Endes  der  Sehnsucht  der  iibervollen 

16 


Seele,  weist  nicbts  von  sich,  iibergeht  nichts  aus  Riicksicht  auf  sich 
oder  andere,  kennt  keinen  besondern  Sabbat  oder  Gerichtstag, 
scheidet  die  Lebenden  nicht  von  den  Toten  oder  die  Gerechten 
von  den  Ungerechten,  ist  zufrieden  mit  dem  Gegenwartigen,  fiigt 
zu  jedem  Gedanken  und  jeder  Tat  das  entsprechende  Gegenteil 
und  kennt  weder  Vergebung  noch  BuBe! 

Die  Probe  darauf,  ob  er  er  der  gro'Bte  Dichter  ist,  muB  er  jetzt 
und  heute  bestehen.  Wenn  er  sich  nicht  von  der  unmittelbaren 
Gegenwart  wie  von  gewaltiger  Meerflut  durchstromen  laBt,  —  wenn 
er  nicht  selbst  die  Gegenwart  in  ubertragener  Form  ist  und  wenn 
ihm  die  Ewigkeit  nicht  offen  steht,  die  alle  Epochen,  Schauplatze 
und  Vorgange,  alle  belebten  und  unbelebten  Formen  miteinander 
verschmilzt,  die  alle  Zeiten  umschliefit,  die  aus  ihrer  unfaBbaren 
Unbestimmtheit  und  Grenzenlosigkeit  in  die  dahingleitenden  Er- 
scheinungsformen  des  „  Heute"  emportaucht  und  von  den  lenksamen 
Ankern  des  Lebens  festgehalten  wird,  die  das  Fleckchen  Gegenwart 
zum  tJbergang  macht  von  dem,  was  war,  zu  dem,  was  sein  wird, 
und  sich  in  der  Welle  just  dieser  Stunde  und  just  dieses  einen  von 
den  sechzig  schonen  Kindern  dieser  Stunde  offenbart,  —  so  mag 
er,  der  der  groBte  Dichter  sein  wollte,  noch  einmal  untertauchen 
in  den  allgemeinen  Strom  und  seine  Entwicklung  abwarten. 

Der  letzte  Priifstein  jeder  Dichtung,  jedes  Charakters  oder  Werks 
bleibt  immer  derselbe.  Der  vorausschauende  Dichter  versetzt  sich 
selbst  um  Jahrhunderte  voraus  und  beurteilt  alles  Vollbringen 
unabhangig  vom  Wechsel  der  Zeit.  Uberlebt  er  sie?  Dauert  er 
ungeschmalert  fort?  Wird  derselbe  Stil  und  das  Streben  des  Genius 
nach  solchen  Zielen  auch  dann  noch  geniigen?  Ist  der  Marsch  von 
/rim,  hundert  und  Tausenden  von  Jahren  willig  nach  rechts  oder 
links  abgewichen  um  seinetwillen?  Wird  er  noch  lange  nach 
seinem  Tode  geliebt?  Denkt  der  junge  Mann  und  das  junge  Weib 
oft  an  ihn?  und  denken  die  Reifen  und  die  Alten  an  ihn? 

Eine  grofie  Dichtung  ist  fur  alle  Zeiten  Gemeingut  und  fur  alle 
Stande  und  Rassen,  alle  Klassen  und  Sekten,  und  fur  das  Weib 
ebenso  wie  fur  den  Mann  und  fur  den  Mann  ebenso  wie  fur  das 
Weib.  Eine  groBe  Dichtung  ist  kein  AbschluB  fur  Mann  oder  Weib, 
sondern  ein  Anfang.  Hat  sich  jemand  gedacht,  er  konne  sich  endlich 
unter  einer  unanfechtbaren  Autoritat  niederlassen,  sich  bei  ihren 
Krklarungen  beruhigen,  diese  sich  zu  eigen  machen  und  vollig 

•2     Whitman    I  I  1 


befriedigt  sein?  Zu  keinem  solchen  Ziel  fiihrt  der  groBte  Dichter  - 
er  bringt  weder  AbschluB  noch  behagliches  Ausruhen  und  Fett- 
werden.  Sein  EinfluB  aufiert  sich,  wie  der  der  wirkenden  Natur. 
Wen  er  mit  sich  nimmt,  den  fiihrt  er  mit  festem,  sicherem  Griff 
in  lebendige,  bis  dahin  unerreichte  Regionen,  —  von  nun  an  gibt 
es  keine  Ruhe  mehr,  —  sie  sehen  den  Raum  und  unaussprechlichen 
Glanz,  der  die  alten  Platze  und  Lichter  in  tote  Leeren  verwandelt. 
Nun  soil  ein  Mensch  entstehen  aus  Aufruhr  und  Chaos,  --  der 
iiltere  ermutigt  den  jiingeren  und  unterweist  ihn,  —  die  zwei 
sollen  furchtlos  zusammen  ausziehen,  bis  die  neue  Welt  sich  selbst 
eine  Himmelsbahn  schafft,  selbstbewufit  auf  die  kleineren  Sternen- 
bahnen  schaut  und  durch  die  endlosen  Kreise  schwingt,  um  nie 
wieder  stillzustehn. 

Bald  wird  es  keine  Priester  mehr  geben.  Sie  haben  ihre  Arbeit 
getan.  Ein  neuer  Orden  wird  kommen,  und  seine  Mitglieder  sollen 
Menschenpri ester  sein  und  jeder  Mensch  soil  sein  eigener  Priester 
sein.  Sie  sollen  ihre  Inspiration  in  den  realen  Objekten  von  heute 
finden,  die  die  Symptome  der  Vergangenheit  und  Zukunft  sind.  Sie 
sollen  nicht  die  Unsterblichkeit  oder  Gott  verteidigen  wollen  oder 
die  Vollkommenheit  der  Dinge  oder  die  Freiheit  oder  die  kostliche 
Schonheit  und  Wirklichkeit  der  Seele.  Sie  sollen  aus  Amerika 
hervorgehen  und  Widerhall  finden  in  aller  Welt. 

Die  englische  Sprache  ist  der  groBen  amerikanischen  Ausdrucks- 
form  giinstig,  —  sie  ist  sehnig  genug  und  geschmeidig  und  voll- 
standig  genug.  Auf  dem  /alien  Stamm  einer  Rasse  gewachsen,  die 
durch  alien  Wechsel  der  Verhaltnisse  nie  ohne  den  Gedanken  poli- 
tischer  Freiheit,  den  Lebensodem  aller  Freiheit,  gewesen  ist,  hat 
sie  Bestandteile  von  feineren,  anmutigeren,  zarteren  und  glatteren 
Sprachen  in  sich  aufgenommen.  Sie  ist  die  machtige  Sprache  des 
Trotzes,  —  sie  ist  das  Idiom  des  gesunden  Menschenverstandes.  Sie 
ist  die  Sprache  der  stolzen  und  melancholischen  Rassen  und  aller, 
die  vorwartsstreben.  Sie  ist  die  auserwahlte  Sprache,  um  Entwick- 
lung  auszudriicken  und  Glauben,  Selbstachtung,  Freiheit,  Recht, 
Gleichheit,  Freundlichkeit,  Fiille,  Klugheit,  Entschiedenheit  und 
Mut.  Sie  ist  das  Mittel,  das  das  Unaussprechliche  annahernd  aus- 
driicken  soil. 

Keine  groBe  Literatur,  keine  Stil-  oder  Redekunst,  keine  Um- 
gangssitten,  kein  gesellschaftlicher  Verkehr  oder  Haushalt  oder 

18 


offentliche  Einrichtungen  oder  das  Verhalten  von  Arbeitgebern 
gegen  ihre  Angestellten,  kein  Vorgang  in  der  Exekutive  oder  in 
Heer  und  Flotte,  in  Gesetzgebung  oder  Recbtsprechung,  keine 
Polizei,  Schule  oder  Arcbitektur  nocb  Lieder  und  Vergniigungen 
konnen  auf  dieDauer  dem  eifernden  und  leidenschaftlichen  Instinkt 
des  amerikanischen  Grundgefiihls  entgehen.  Mag  es  vom  Munde 
des  Volkes  ausgesprochen  werden  oder  nicbt,  —  es  klopft  im  Herzen 
jedes  freien  Mannes  und  VVeibes  als  lebendige  Frage  nacb  dem, 
was  verganglich  ist  oder  was  bestimmt  ist,  zu  dauern.  1st  es  gleich- 
bedeutend  mit  meinem  Lande?  t)bt  es  seine  Wirkungen  ohne 
scbandlicbe  Parteilichkeit  aus?  Ist  es  bestimmt  fur  die  immer 
wacbsende  Gemeinschaft  von  Briidern  und  Geliebten,  groB,  fest 
vereint,  stolz,  edelmiitig  wie  keine  je  zuvor?  Ist  es  etwas  friscb 
aus  den  Feldern  Gewachsenes  oder  aus  der  See  Gefiscbtes,  fur  mich 
bier  und  beute?  Icb  weiB:  was  fur  micb,  einen  Amerikaner,  in 
Texas,  Ohio,  Kanada  antwortet,  muB  aucb  fiir  jedes  Individuum 
und  jede  Nation  antworten,  die  mit  zu  meinem  Stoff  geboren.  Ist 
das  eine  Antwort?  Ist  es  bestimmt,  die  Jungen  der  Republik  zu 
saugen?  Lost  es  sich  willig  auf  in  der  suBen  Milcb  der  Briiste  der 
Mutter  vieler  Kinder? 

Amerika  riistet  sicb  in  ruhiger  Haltung  und  Wohlwollen  fur  die 
Besucber,  die  sicb  angesagt  baben.  Nicht  Intellekt  wird  ihre  Be- 
glaubigung  sein  und  sie  willkommen  machen.  Der  Begabte,  der 
Kiinstler,  der  Erfinder,  der  Verleger,  der  Staatsmann,  der  Gelehrte, 
-  sie  alle  werden  nicht  gering  geschatzt,  —  sie  kommen  an  ibren 
recbten  Platz  und  verricbten  ihr  Werk.  Auch  die  Seele  der  Nation 
verrichtet  ihr  Werk.  Sie  weist  keinen  zuriick,  laBt  alle  zu.  Aber 
nur  denen,  die  ihresgleichen  sind,  wird  sie  auf  halbem  Wege  ent- 
gegengehen.  Ein  einzelner  Menscb  ist  so  herrlicb  wie  eine  Nation, 
wenn  er  die  Eigenschaften  hat,  die  eine  herrliche  Nation  schaffen. 
Die  Seele  der  groBten,  reichsten  und  stolzesten  Nation  mag  wohl 
auf  halbem  Wege  der  ihrer  Dicbter  entgegengeben. 


DEMOKRATISGHE   AUSBLICKE 

Die  gewaltigste  Lehre  der  Natur  im  ganzen  Weltall  1st  vielleicht 
die  Lehre  von  der  Vielfaltigkeit  und  der  Freiheit;  tmd  so  mu6  sie  auch 
fur  Politik  und  Fortschritt  derNeuen  Weltgelten.  Wenn jemandzum 
Beispiel  gefragt  wiirde,  welches  die  wesentlichen  Unterscheidungs- 
merkmale  zwischen  dem  politischen  und  allgemeinen  Leben  Euro- 
pas  und  Amerikas  seien  gegenuber  der  alten  asiatischen  Kultur, 
wie  sie  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  in  China  und  der  Tiirkei 
fortgeerbt  hat,  so  konnte  er  die  Antwort  in  John  Stuart  Mills  tiefem 
Essay  uber  ,,  Freiheit  in  der  Zukunft"  fin  den,  wo  zwei  Haupt- 
bestandteile  oder  Grundlagen  fur  eine  wahrhaft  grofie  Nation  ge- 
fordert  werden:  erstens  eine  reiche  Vielfaltigkeit  des  Charakters, 
und  zwei  tens  freier  Spielraum  fur  die  menschliche  Natur,  um  sich 
in  zahllosen,  ja  widerstreitenden  Richtungen  zu  entfalten  (was  fur 
die  ganze  Menschheit  vielleicht  etwas  Ahnliches  bedeutet  wie  die 
Einfliisse,  die,  auf  grenzenlosem  Feld,  jene  immerwahrende  Heil- 
wirkung  der  Luft  bewirken,  die  wir  das  Wetter  nennen:  jene  un- 
endliche  Zahl  von  Stromungen  und  Kraften,  Einfliissen,  Tempera- 
turen,  sich  kreuzenden  Wirkungen,  deren  unablassiges  Gegenspiel 
bestandige  Neubelebung  und  Vitalitat  bringt).  Mit  diesem  Gedanken 
und  allem,  was  notwendigerweise  aus  ihm  folgt,  will  ich  meine 
Betrachtungen  beginnen. 

Amerika,  das  die  Gegenwart  mit  den  gewaltigsten  Taten  und 
Problemen  erfiillt  und  die  Vergangenheit  samt  dem  Feudalismus 
frohen  Mutes  in  sich  aufnimmt  (da  in  der  Tat  ja  die  Gegenwart 
nur  der  gesetzliche  Erbe  der  Vergangenheit  ist,  den  Feudalismus 
inbegriffen),  —  Amerika  zahlt  meines  Erachtens  fur  seine  Recht- 
fertigung  und  seinen  Erfolg  (denn  wer  diirfte  jetzt  schon  von 

20 


Erfolg  sprechen?)  fast  ausschlieBlich  auf  die  Zukunft.  Diese  seine 
Hoffnung  ist  nicht  unberechtigt.  Wir  sehen  heute  vor  uns,  wenn 
auch  erst  in  ahnungsvollem  Dammer,  eine  zahlreiche,  gesunde, 
gigantische  Nachkommenschaft.  Ich  hake  alles,  was  unsere  Neue 
Welt  bisher  geleistet  hat  und  was  sie  jetzt  ist,  fiir  wesentlich  un- 
wichtiger  als  das,  was  sie  in  Zukunft  erreichen  wird.  Als  einzige 
von  alien  Nationen  haben  diese  Staaten  den  Versuch  unternommen, 
die  lang,  lang  hinausgeschobenen  moralisch-politischen  Gedanken 
von  Jahrhunderten,  das  republikanisch-demokratische  Prinzip  und 
die  Theorie  von  Entwicklung  und  Vervollkommnung  durch  frei- 
willige  Einrichtungen  und  Selbstvertrauen  in  Formen  von  dauern- 
der  Macht  und  Brauchbarkeit  zu  bringen,  und  zwar  auf  Gebieten, 
die  an  Weite  mit  den  MaBen  des  physikalischen  Kosmos  wetteifern. 
Wer  iii  der  Tat  auBer  den  Vereinigten  Staaten  hat  je  in  der  Ge- 
schichte  sich  diese  Gedanken  in  unbekummertem  Glauben  zu  eigen 
gemacht  und  steht  auf  ihnen,  handelt  nach  ihnen  und  setzt  sich 
fiir  sie  ein  so  wie  sie? 

Doch  genug  des  Vorspiels.  LaBt  mich  nunmehr  den  Grundton 
der  folgenden  Melodic  anschlagen.  Vorausschicken  will  ich  nur 
noch  dies:  Wenngleich  die  einzelnen  Teile  dieser  Schrift  zu  ganz 
verschiedenen  Zeiten  niedergeschrieben  wurden  und  mir  vielleicht 
vorgeworfen  werden  kann,  dafi  sie  teilweise  einander  widersprechen, 
—  denn  die  groBe  Frage  der  Demokratie  hat,  wie  alle  groBen 
Fragen,  ihre  verschiedenen  Seiten,  —  so  fuhle  ich  diese  Teile  doch 
in  meinem  eigenen  BewuBtsein  und  in  meinen  Uberzeugungen 
harmonisch  verschmolzen  und  mochte  sie  nur  aus  solcher  Einheit 
heraus  verstanden  wissen,  jede  Seite,  jede  Forderung,  jede  Be- 
hauptung  bedingt  und  gemaBigt  durch  die  anderen.  Man  vergesse 
auch  nicht,  daB  sie  nicht  das  Ergebnis  eines  Studiums  politischer 
Okonomie  sind,  sondern  des  schlichten  Menschenverstandes  und 
vieler  Beobachtungen  und  Wanderungen  unter  Menschen  in  diesen 
Staaten,  in  Krieg  und  Frieden  dieser  aufwiihlenden  Jahre. 

Ich  will  nicht  herumreden  um  die  furchtbaren  Gefahren  des 
allgemeinen  Wahlrechts  in  den  Vereinigten  Staaten.  In  der  Tat, 
ich  schreibe,  um  diesen  Gefahren,  die  ich  zugebe,  ins  Auge  zu 
sehen.  Ich  schreibe  fiir  die,  in  deren  Geist  die  wechsel voile  Schlacht 
tobt  zwischen  den  demokratischen  Uberzeugungen  und  Bestrebun- 
gen  und  dem  BewuBtsein  von  der  Roheit,  Lasterhaftigkeit  und 


21 


Launenhaftigkeit  des  Volkes.  Ich  werde  die  Worte  Amerika  und 
Demokratie  als  gleichbedeutende  Ausdriicke  gebrauchen.  Das  Er- 
gebnis,  um  das  es  sich  handelt,  ist  kein  geringes.  Die  Vereinigten 
Staaten  sind  bestimmt,  entweder  iiber  die  glanzvolle  Geschichte  des 
Feudalismus  hinauszukommen  oder  sich  als  den  furchtbarsten 
Fehlscblag  aller  Zeiten  zu  erweisen.  Nicht  die  mindeste  Sorge  babe 
ich  um  die  Aussichten  fiir  ibren  materiellen  Erfolg.  Ihren  geo- 
graphischen,  Geschafts-  und  Produktionsmoglichkeiten  ist  eine 
triumphale  Zukunft  gewiC.  In  dieser  Hinsicht  wird  die  Republik 
sicherlich  bald  (wenn  es  nicht  jetzt  schon  der  Fall  ist)  alle  bisber 
bekannten  Beispiele  iiberholen  und  die  Welt  beberrscben. 

All  das  zugegeben,  auch  den  unschatzbaren  Wert  unserer  poli- 
tischen  Institutionen  und  des  allgemeinen  Wahlrecbts  (iiberhaupt 
sollen  grundsatzlich  alle  Tiiren  so  weit  wie  moglich  geoffnet  wer- 
den!),  sage  icb  dennoch  aus  einer  viel  grofieren  Tiefe  heraus:  um 
aus  unserer  westlicben  Welt  eine  Nation  zu  scbaffen,  die  alien  bis- 
her  bekannten  iiberlegen  ist  und  alle  Vergangenheit  iiberwindet, 
braucben  wir  vor  all  em  eine  starke,  doch  unbeargwohnte  Literatur, 
vollkommene  Personlichkeiten  und  Gesellschaftsformen,  die  ur- 
spriinglicb  und  transzendental  und  der  Ausdruck  der  Demokratie 
und  des  modernen  Lebens  sind,  —  ein  Ausdruck,  der  bisher  iiber- 
haupt noch  nicht  gefunden  worden  ist.  Aus  ihnen  heraus  muB 
zugleich  eine  neue  Rasse  von  Lehrern  und  von  vollkommenen 
Frauen  entstehen,  unerlaBlich  als  Stamm  fiir  die  Fortpflanzung 
einer  Neuen  Welt.  Denn  Feudalismus,  Kastengeist  und  die  kirch- 
liche  Uberlieferung  schwinden  zwar  merklich  aus  unsern  politischen 
Institutionen,  aber  halten  die  wichtigeren  Gebiete  der  Erziehung, 
des  sozialen  Lebens  und  der  Literatur,  die  die  wahre  Grundlage 
der  Nation  sind,  auch  in  diesem  Lande  geistig  in  festem  Besitz. 

Ich  sage,  dafi  die  Demokratie  sich  nicht  selber  einwandfrei  recht- 
fertigen  kann,  ehe  sie  nicht  ihre  eigenen  Formen  von  Kunst,  Dich- 
tung,  Erziehung  und  Theologie  findet  und  in  einer  gewissen  Fiille 
entfaltet  und  alles  Bestehende,  alles,  was  irgendwo  in  der  Ver- 
gangenheit unter  entgegengesetzten  Einfliissen  entstanden  ist, 
ausschaltet.  Es  erstaunt  mich,  dafi  so  viele  Stimmen,  Federn, 
Geister  in  der  Presse,  in  Horsalen,  in  unserm  KongreB  usf.  intellek- 
tuelle  Themen  diskutieren,  Finanzschwierigkeiten,  Probleme  der 
Gesetzgebung,  Stimmrecht,  Tarif-  und  Arbeiterfragen  und  all  die 


Geschafts-  und  Wohlfahrtsbediirfnisse  Amerikas  nebst  Vorschlagen 
zur  Abhilfe,  die  oft  ernster  Beachtung  wert  sind,  —  wahrend  ein 
Bediirfnis,  eine  tiefste  Liicke  besteht,  die  kein  Auge  zu  bemerken, 
keine  Stimme  zu  nennen  scbeint.  Unser  Grundbediirfnis  in  den 
Vereinigten  Staaten  von  beute,  im  engsten,  umfassendsten  AnschluB 
an  die  gegenwartigen  Verhaltnisse  und  an  die  Zukunft,  ist  eine 
Klasse  und  die  klare  Idee  einer  Klasse  von  einheimiscben  Autoren, 
eine  Literatur,  ganz  anders  und  viel  hoher  geartet  als  alle  bisber 
bekannten:  priesterlicb,  modern,  fahig,  sich  zu  messen  mil  den 
Moglichkeiten  unserer  Lander,  die  ganze  Fiille  amerikaniscber 
Mentalitat,  amerikanischen  Geschmacks  und  Glaubens  durchdrin- 
gend  und  ihr  einen  neuen  Odem  einhaucbend,  ihr  Entscheidungs- 
kraft  verleihend;  eine  Literatur,  die  auf  die  Politik  eine  tiefere 
Wirkung  ausiibt  als  das  oberflachliche  Volkswahlrecbt  und  letzten 
Endes  auch  von  innen  her  und  indirekt  die  Wahlen  der  Prasidenten 
und  Kongresse  beeinfluBt,  —  die  nacb  alien  Ricbtungen  ausstrablt, 
wiirdige  Lehrer,  Schulen,  Umgangsformen  erzeugt  und  als  groBtes 
Ergebnis  das  schafft,  was  weder  die  Schulen  nocb  die  Kirchen  und  ihr 
Klerus  bisher  geschaffen  haben  und  ohne  das  diese  Nation  ebensowenig 
dauernd  und  fest  stehen  kann  wie  ein  Haus  ohne  Grundmauern: 
namlich  einen  religiosen  und  moralischen  Charakter  unterhalb  der 
politischen,  wirtschaftlichen  und  intellektuellen  Grundlagen  der  Ver- 
einigten  Staaten.  Denn,  nicht  wahr,  lieber,  ernsthafter  Leser?  —  die 
Bewohner  unseres  Landes  mogen  allesamt  lesen  und  schreiben  konnen 
und  allesamt  das  Wahlrecht  besitzen,  und  doch  kann  es  ihnen  an 
der  Hauptsache  ganzlich  fehlen  —  und  diese  will  ich  bier  andeuten. 
Das  Problem  der  Menschheit  in  der  ganzen  zivilisierten  Welt 
von  heute  ist,  von  genugend  hoher  Warte  aus  betrachtet,  sozial 
und  religios  und  muB  letzten  Endes  von  der  Literatur  in  Angriff 
genommen  und  behandelt  werden.  Nie  war  ein  solches  Bediirfnis 
nach  etwas  vorhanden  wie  bier  in  den  Staaten  nach  dem  Dichter 
der  Moderne  oder  dem  groBen  Literatus  der  Moderne.  Zu  alien 
Zeiten  vielleicht  ist  der  Kernpunkt  jeder  Nation,  von  dem  aus  sie 
am  starksten  gelenkt  wird  und  andere  lenkt,  ihre  nationale  Lite- 
ratur, besonders  ihre  urtiimlichen  Dichtungen.  Vor  alien  alteren 
Landern  wird  in  Amerika  eine  grofie  originale  Literatur  sicherlich 
die  Rechtfertigung  und  Biirgschaft  (in  mancher  Hinsicbt  die  ein- 
zige  Biirgschaft)  der  Demokratie  werden. 

23 


Nur  wenige  erkennen,  wie  die  grofie  Literatur  alles  durchdringt, 
allem  Farbe  gibt,  Vielheiten  und  Individuen  gestaltet  und  auf 
feinsten  Wegen  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  nach  ihrem  Willen 
aufbaut,  erhalt  oder  zerstort.  Warum  ragen  in  der  Erinnerung 
iiber  alien  Nationen  der  Erde  zwei  besondere  Lander  empor,  win- 
zig  an  sicb  und  doeh  unsagbar  gigantiscb,  schonheitstrahlend, 
saulenhaft?  Unsterblich  lebt  Juda,  und  Griechenlarid  unsterblich, 
in  ein  paar  Gedichten. 

Naher  als  das.  Es  ist  nicht  alien  bewufit,  aber  es  ist  vvabr,  daB, 
wie  der  Genius  Griechenlands  samt  aller  Gesellscbafts-  und  Person- 
lichkeitsbildung,  aller  Politik  und  Religion  dieser  wunderbaren 
Staaten  auf  ihrer  Literatur  und  Asthetik  beruhte,  daB,  sageicb,  ebenso 
spaterhin  die  Literatur  der  Haupttrager  des  europaischen  Rittertums, 
der  feudalen,  geistlichen,  dynastischen  Welt  dort  driiben  war,  ihr 
Knochenbau,  der  sie  auf  Hunderte  und  Tausende  von  Jahren  zu- 
sammenhielt,  ihr  Fleisch  und  ihre  Bliite  trug,  ibr  Form  und  Rich- 
tung  gab,  sie  abrundete  und  sie  bewufit  und  unbewuBt,  in  Blut, 
Rasse  und  Glauben  ihrer  Menschen,  so  durchtrankte,  daB  sie  bis 
auf  den  heutigen  Tag  ihre  Vorherrschaft  erhalten  hat,  dem  mach- 
tigen  Wechsel  der  Zeit  zum  Trotz,  —  die  Literatur,  die  bis  ins 
Mark  drang,  vor  allem  ihr  bedeutendster  Teil,  ihre  bezaubernden 
Lieder,  Balladen  und  Gedichte. 

Die  Einfliisse,  die  nach  dem  blofien  Urteil  der  Sinne  und  Augen 
die  Weltgeschichte  pragen,  sind,  ich  weiB  es  wohl,  vor  allem  die 
Kriege,  das  Aufsteigen  uud  Sinken  der  Dynastien,  die  Verschie- 
bungen  des  Handels,  wichtige  Erfindungen,  Schiffahrt,  militarische 
und  biirgerliche  Regierungen,  das  Erscheinen  machtvoller  Person- 
lichkeiten,  Eroberer  usf.  All  das  spielt  natiirlich  eine  Rolle;  und 
doch  wird  vielleicht  ein  einziger  neuer  Gedanke,  eine  Idee,  ein 
abstraktes  Prinzip,  ja,  eine  literarische  Stilform,  die  fur  ihre  Zeit 
paBt  und  von  einem  groBen  Autor  in  Form  gebracht  und  in  die 
Menschheit  geworfen  wird,  im  rechten  Augenblick  Veranderungen, 
Werden  und  Vergehen  bewirken,  weit  starker  als  die  langsten  und 
blutigsten  Kriege  oder  der  gewaltigste  lediglich  politische,  dynastische 
oder  kommerzielle  Umsturz. 

Kurz  gesagt:  wie  es  auBer  allem  Zweifel  ist,  -  -  wenn  es 
auch  nicht  alle  sehen,  —  daB  eine  Handvoll  Dichter,  Philosophen 
und  Autoren  ersten  Ranges  der  gesamten  Religion,  Erziehung, 


Gesetzgebung,  Gesellschaftsordnung  usf.  der  zivilisierten  Welt  im 
wesentlichen  Form  und  Bestand  gegeben  haben,  indem  sie  die  Atmo- 
sphere bestimmten  und  schufen,  aus  der  heraus  jene  entstanden 
sind,  —  so  muB  auch  der  innere,  wahre  demokratische  Aufbau  des 
amerikaniscben  Kontinents  heute  und  in  Zukunft  von  solchen 
Mannern  gepragt  werden,  und  zwar  mehr  als  je.  Dabei  ist  eines 
wichtigen  Unterschiedes  zu  gedenken:  wahrend  im  Altertum  und 
Mittelalter  die  hochsten  Gedanken  und  Ideale  sich  aus  sich  selbst 
heraus  verwirklichten  und  Ausdruck  und  Verbreitung  ebensosehr 
und  vielleicht  mehr  durch  andere  Kunste  fanden,  als  durch  die 
Literatur  im  eigentlichen  Sinne,  die  der  Masse  der  Menschen,  ja 
sogar  auch  den  meisten  hervorragenden  Menschen,  verschlossen 
war,  ist  im  Gegenteil  die  Literatur  unserer  Tage  nicht  allein  inni- 
ger  mit  den  Anforderungen  der  Zeit  verbunden,  sondern  hat  sich 
zu  dem  einzigen  und  allgemeinen  Mittel  zur  moralischen  Beein- 
flussung  der  Welt  entwickelt.  Malerei,  Bildhauerei  und  Theater 
spielen  offenbar  keine  unersetzliche  oder  auch  nur  wichtige  Rolle 
mehr  in  den  Auswirkungen  und  der  Mittlerschaft  des  Intellekts, 
der  lebendigen  Nikzlichkeit  und  selbst  der  hohen  Asthetik.  Die 
Architektur  hat  zweifellos  noch  gewisse  Fahigkeiten  und  eine 
wirkliche  Zukunft.  Die  Musik,  die  grofie  Verkniipferin,  das  Ver- 
geistigtste  und  zugleich  Sinnlichste,  was  es  gibt,  eine  Gottin,  aber 
doch  ganz  menschlich,  schreitet  fort  und  behalt  ihre  hohe  Stellung; 
in  einem  gewissen  Bereich  gibt  sie,  was  nichts  aufier  ihr  zu  geben 
vermag.  Aber  es  ist  unleugbar,  dafi  in  der  Zivilisation  von  heute 
vor  alien  anderen  Kiinsten  die  Literatur  die  Herrscherin  ist,  die 
lebendigen  Nutzen  wirkt,  die  den  Charakter  von  Kirche  und  Schule 
gestaltet  oder  wenigstens  fahig  ware,  es  zu  tun.  Rechnet  man  die 
wissenschaftliche  Literatur  hinzu,  so  ist  ihr  Wirkungskreis  in  der 
Tat  ohnegleichen. 

Ehe  ich  weitergehe,  ist  es  vielleicht  von  Bedeutung,  gewisse 
Punkte  klarzustellen.  Die  Literatur  baut  ihren  Weizen  auf  vielen 
Feldern,  und  die  einen  mogen  gedeihen,  wahrend  die  andern  zu- 
riickbleiben.  Was  ich  in  diesen  Ausblicken  sage,  gilt  hauptsachlich 
fiir  die  imaginative  Literatur,  die  Dichtung  besonders,  die  der 
Grundstock  aller  Literatur  ist.  Im  Bereich  der  Wissenschaft  und 
auf  dem  Sondergebiet  des  Journalism  us  sind  in  diesen  Staaten  viel- 
versprechende  Anzeichen,  ja  vielleicht  schon  Erfiillungen  voll 

25 


hochsten  Erustes,  voll  Wirklichkeitskraft  und  Leben  zu  erkennen. 
Diese  sind  natiirlich  modern.  Aber  in  dem  Bereich  der  Einbildungs- 
kraft  und  innersten  Wesenheit  besteht  fur  unser  Zeitalter  und  unser 
Land  das  gebieterische  Bedurfnis  nach  schopferischer  Kraft.  Denn 
es  1st  nicht  nur  nicbt  genug,  daB  das  neue  Blut,  der  neue  innere 
Bau  der  Demokratie  lediglich  durch  politische  Mittel,  oberflacb- 
liches  Wahlrecht,  Gesetzgebung  usw.  belebt  und  zusammengehalten 
wird,  sondern  es  ist  mir  vollig  klar,  da6  seine  Kraft  unzureichend, 
sein  Wachstum  fraglich  und  sein  wesentlicher  Zauber  unentfaltet 
bleiben  muB,  wenn  dieses  Neue  nicbt  tiefer  geht,  nicht  mindestens 
ebenso  fest  und  warm  in  den  Menscbenherzen  und  ihrem  Fiihlen 
und  Glauben  Wurzel  faBt,  wie  der  Feudalismus  oder  die  Kirchlich- 
keit  zu  ihrer  Zeit,  und  wenn  es  nicbt  seine  eigenen  ewigen  Quellen 
eroffnet,  die  je  und  je  aus  dem  Mittelpunkt  fluten.  Daher  halte 
icb  es  fiir  moglich,  daB,  wenn  zwei  oder  drei  Dichter  (oder  auch 
Kiinstler  oder  Redner)  wirklich  amerikaniscben  Ursprungs  am 
Horizont  aufsteigen  wiirden  wie  Planeten,  Sterne  erster  GroBe,  die 
durcb  ihre  tlberlegenheit  alles,  was  die  einzelnen  Rassen  und  Lander 
zu  geben  haben,  zusammenschweiBen  wiirden,  —  daB  diese  den  Ver- 
einigten  Staaten  mehr  Zusammenbalt  und  moralische  Einbeit  (die 
Eigenschaft,  die  uns  heute  am  notigsten  ist)  geben  wiirden,  als  alle 
ihre  Verfassungen,  alle  Bande  der  Gesetzgebung  und  Rechtsprechung, 
alle  bisherigen  politiscben,  kriegerischen  oder  materiellen  Erfah- 
rungen.  Es  ware  von  groBtem  Nutzen  fiir  die  Staaten  mit  all  ihrer 
Verschiedenheit  des  Klimas,  ihrer  Stadte  und  Lebensformen  usw., 
einen  alien  gemeinsamen,  fiir  alle  typiscben  Besitzstand  an  Helden, 
Gharakteren,  groBen  Taten,  Leiden,  Gliick  und  Ungliick,  Ruhm 
und  Schmach  zu  haben;  noch  viel  wichtiger  aber  ware  es  fiir  sie, 
eine  geschlossene  Gruppe  machtvoller  Dichter,  Kiinstler  und  Lehr- 
meister  zu  besitzen,  die  fur  uns  passen  und  der  Nation  Ausdruck 
verleihen  und  alles  das  in  sich  vereinen  und  wieder  ausstromen 
wiirden,  was  allgemeingiiltig,  eingeboren  und  alien  gemeinsam  ist, 
im  Binnenland  und  an  den  Kiisten,  in  Nord  und  Siid.  Die  Ge- 
schicbtschreiber  sagen  von  dem  alten  Griechenland  mit  seinen 
ewig  eifersiichtigen  Selbstregierungen,  Stadten  und  Staaten,  daB 
die  einzige  positive  Einheit,  die  es  je  besafi  oder  empfing,  die  trau- 
rige  Einheit  einer  schlieBlichen  gemeinsamen  Unterwerfung  unter 
fremde  Eroberer  war.  Unterwerfung,  ZusammenscbluB  solcher 

26 


Art  ist  fur  Amerika  undenkbar;  aber  die  Furcht  vor  unversohn- 
baren  Konflikten  im  Innern  und  vor  dem  Mangel  an  einem  ge- 
meinsamen  Gerippe,  dasallezusammenhalt,  verfolgt  micb  bestandig. 
Jedenfalls  liegt  fur  eine  lange  Periode  der  Zukunft  die  Notwendig- 
keit  deutlich  zutage,  die  Staaten  in  der  einzig  zuverlassigen  Einbeit, 
der  moralischen  und  kiinstlerischen,  zu  verschmelzen.  Denn  ich 
sage:  die  wahre  Nationalitat  der  Staaten,  die  ecbte  Union  im  Falle 
einer  moralischen  Krisis,  ist  und  wird  letzten  Endes  weder  das  ge- 
schriebene  Gesetz  sein,  noch  (wie  man  gewohnlich  glaubt)  Selbst- 
erbaltungstrieb  oder  gemeinsame  finanzielle  oder  materielle  Inter- 
essen,  —  sondern  die  Glut  und  Macht  der  Idee,  die  alles  andere 
unwidersteblicb  in  sich  verschmilzt  und  alle  untergeordneten, 
beschrankten  Unterschiede  in  der  umfassenden,  unbeschrankten 
Gewalt  von  Geist  und  Gefiihl  lost. 

Man  mag  einwenden  (und  ich  gebe  die  Starke  dieses  Einwandes 
zu),  daB  ein  allgemeines  physisches  Gedeihen  und  eine  werktiichtige 
Bevolkerung,  die  sich  alien  materiellen  Komfort  des  Lebens  schafft, 
die  Hauptsache  und  geniigend  sei.  Man  mag  ins  Feld  fuhren,  dafi 
unsere  Republik  durch  ihre  Taten  in  Wahrheit  heute  die  gewal- 
tigsten  Kunstwerke,  Gedichte  usw.  hervorbringt,  indem  sie  die 
Wildnis  in  fruchtbare  Farmen  verwandelt  und  Eisenbahnen,  Schiffe, 
Maschinen  usw.  schafft.  Und  man  mag  fragen:  Ist  all  das  nicht 
in  der  Tat  besser  fur  Amerika  als  irgend  welche  AuBerungen  des 
Rhapsoden,  Riinstlers  oder  Literaten? 

Auch  ich  griiBe  diese  Leistungen  mit  Freude  und  Stolz:  und 
antworte  dann,  daB  die  Seele  des  Menschen  nicht  durch  solche 
Dinge  allein  —  nein,  iiberhaupt  nicht  durch  solche  Dinge  end- 
giiltig  befriedigt  werden  kann,  sondern  nur  auf  ihnen  und  alien 
Dingen  steht,  wie  die  FiiBe  auf  dem  Boden  stehen  und  einzig  dessen 
wahrhaft  bedarf,  was  sich  auf  das  Hochste:  auf  sie  selbst  allein 
richtet. 

A  us  solchen  Erwagungen,  solchen  Wahrheiten  heraus  erhebt 
sich  als  Gegenstand  dieser  Ausblicke  die  wichtige  Frage  nach  dem 
Charakter,  nach  einer  ur-amerikanischen  Personlichkeit,  fur  die  die 
Kunst  und  Literatur  Ausdruck  und  Echo  ist  und  die,  in  Grenzen, 
die  alien  gemeinsam  sind,  mit  alien  in  Wechselwirkung  steht. 
Diesem  Hauptpunkt  haben  die  Denker  der  Vereinigten  Staaten, 
sonst  so  scharfsinnig,  entweder  nur  sehr  schwache  Beobachtung 


geschenkt,  oder  sie  verharrten  und  verharren  ihm  gegeniiber  in 
Schlafsucht. 

Ich  fur  meinen  Teil  mochte  auch  die  Politiker  und  Geschafts- 
leute  unter  meinen  Lesern  aufs  eindringlichste  warnen  vor  dem 
herrschenden  Wahn,  daB  die  Begriindung  freier  politischer  Ein- 
richtungen  und  eine  hochentwickelte,  rein  verstandesinaBige  Ge- 
schicklichkeit  samt  allgemeiner  Ordnung,  materieller  Fiille,  Ge- 
werbefleiB  usw.  (so  wiinschenswerte  und  kostbare  Giiter  sie  auch 
sein  mogen)  an  sich  schon  geniige,  um  unserem  demokratiscben 
Experiment  den  Erfolg  zu  sicbern.  Obwohl  die  Union  sicb  im 
vollen  oder  nabezu  vollen  Besitz  aller  dieser  Vorteile  sieht  und 
eben  erst  siegreicb  aus  dem  Kampf  mit  den  einzigen  Feinden  her- 
vorgegangen  ist,  die  sie  iiberbaupt  zu  furchten  braucht,  namlich 
denen  in  ibrem  eigenen  Innern,  —  ist  dennoch  die  Gesellscbaft  der 
Vereinigten  Staaten  angefault,  unreif,  aberglaubisch  und  verderbt. 
Und  zwar  die  politische,  durcb  Gesetze  geschaffene  Gesellschaft 
ebenso  wie  die  private,  freiwillige.  In  jeglicber  AuBerung  ihrer 
Energie  scheint  mir  das  Wichtigste,  das  Riickgrat  von  Staat  oder 
Einzelmensch,  das  moralische  Gewissen,  entweder  ganzlich  zu  feblen 
oder  doch  bedenklich  gescbwacbt  oder  unentwickelt  zu  sein. 

Ich  meine,  wir  taten  am  besten,  unserer  Zeit  und  unserem  Lande 
scharf  ins  Gesicht  zu  blicken,  wie  ein  Arzt,  der  die  Diagnose  einer 
tiefen  Krankheit  stellt.  Nie  vielleicht  gab  es  so  viel  Herzenshohlheit, 
wie  jetzt  in  den  Vereinigten  Staaten.  Der  Erstlingsglaube  scheint 
uns  verlassen  zu  haben.  Wir  glauben  nicht  mehr  ehrlich  an  das 
Grundprinzip  der  Staaten  (trotz  aller  hektischen  Begeisterung  und 
melodramatischem  Geschrei),  noch  an  die  Menschheit  iiberhaupt. 
Welches  durchdringende  A uge  sahe  nicht  iiberall  durch  diese  Maske 
hindurch?  Es  ist  ein  erschreckendes  Schauspiel.  Wir  leben  durch- 
weg  in  einer  Atmosphare  von  Heuchelei.  Die  Manner  glauben  nicht 
an  die  Frauen  und  die  Frauen  nicht  an  die  Manner.  Eine  An- 
mafiung  ohne  Ehrfurcht  herrscht  in  der  Literatur.  Das  Bestreben 
aller  ,,Literaten"  ist  es,  etwas  zu  finden,  womit  sie  ihren  SpaB 
treiben  konnen.  Ein  Haufen  Kirchen,  Sekten  usw.,  die  traurigsten 
Phantasmen,  die  ich  kenne,  maBt  sich  den  Namen  Religion  an.  Unter- 
baltung  ist  Geschwatz.  Die  Unwahrheit  im  Geist,  die  Mutter  aller 
falschen  Taten,  hat  bereits  unabsehbare  Folgen  gezeitigt.  Eine  scharf- 
sinnige  und  aufrichtige  Personlichkeit  aus  dem  Zoll-Departement 

28 


in  Washington,  die  ihr  Amt  zu  regelmaBigen  Besuchen  in  die 
Stadte  des  Nordens,  Siidens  und  VVestens  fiihrt,  um  Betriigereien 
auf  die  Spur  zu  kommen,  hat  viel  mit  mir  iiber  ihre  Entdeckungen 
gesprochen.  Die  Verderbtheit  unserer  Geschaftskreise  ist  nicht  ge- 
ringer,  sondern  unendlich  viel  grofier,  als  man  angenommen  hatte. 
Die  nationalen,  staatlichen  und  stadtischen  Behorden  Amerikas  in 
alien  ihren  Zweigen  und  Abteilungen,  die  Gerichte  ausgenommen, 
sind  durch  und  durch  zersetzt  von  Korruption,  Bestechung,  Unehr- 
lichkeit,  MiBwirtschaft;  und  auch  die  Gerichte  sind  bereits  ange- 
fressen.  Die  Rauberei  und  Schurkerei  in  den  GroBstadten,  ob  aufier- 
lich  anstandig  oder  nicht,  stinkt  zum  Himmel.  Geschwatzigkeit, 
laue  Liebeshandel,  schwachliche  Treulosigkeit,  diirftige  Ziele  oder 
iiberhaupt  keine  Ziele  in  der  eleganten  Welt.  In  der  Geschaftswelt 
(Geschaft,  —  dieses  allesverschlingende  moderne  WTort!)  ist  das 
einzige  Ziel,  mit  alien  Mittel  Geld  zu  machen.*  Die  Schlange  des 
Zauberers  im  Marchen  fraB  alle  anderen  Schlangen  auf;  Geldgier 
ist  unsere  Zauberschlange,  die  heute  allein  das  Feld  behauptet.  Die 
beste  Klasse,  die  wir  aufzuweisen  haben,  ist  nur  ein  Haute  von 
elegant  gekleideten  Spekulanten  und  Pobel.  Wahr  ist  freilich,  daB 
hinter  dieser  phantastischen  Posse,  die  sich  auf  der  Schaubiihne  der 
Gesellschaft  abspielt,  solide  Dinge  und  erstaunliche  Arbeitsleistungen 
erkennbar  sind,  noch  in  rohen  Formen  und  im  Hintergrund,  aber 
bereit,  nach  vorn  zu  kommen  und  fur  sich  selber  zu  zeugen,  wenn 
ihre  Zeit  gekommen  ist.  Aber  die  Wahrheit  ist  darum  nicht  weniger 
furchtbar.  Ich  sage,  daB  die  Demokratie  unserer  Neuen  Welt,  - 
mit  so  groBem  Erfolge  sie  auch  die  Massen  aus  ihrem  Sumpf  empor- 
gehoben  und  materiellen  Fortschritt  und  Produktionskraft  und  eine 
gewisse,  freilich  hochst  triigerische,  oberflachliche  Volks-Intelligenz 
geschaffen  hat,  --  dennoch,  so  weit  man  sieht,  ein  fast  volliger 
Fehlschlag  in  sozialer  Hinsicht  und  in  Hinsicht  wahrhaft  grofier 
religioser,  moralischer  und  literarischer  Ergebnisse  ist.  Vergebens 
marschieren  wir  in  nie  gesehenem  Sturmschritt  auf  die  Bildung 
eines  Reiches  zu,  kolossaler  als  die  des  Altertums,  als  das  Reich 
Alexanders  und  die  stolzeste  Entfaltung  Roms.  Vergebens  haben 
wir  Texas,  Kalifornien,  Alaska  annektiert  und  langen  im  Norden 
nach  Kanada  und  im  Siiden  nach  Kuba.  Es  ist,  als  waren  wir  mit 
einem  riesigen,  immer  vollstandiger  sich  auswachsenden  Korper 
ausgestattet,  und  es  bliebe  uns  nur  eine  kleine  oder  gar  keine  Seele. 

29 


Ich  mochte  meine  Behauptungen  noch  mil  weiteren  Beobach- 
tungen,  Lokalbeispielen  usw.  belegen.  Der  Gegenstand  1st  wichtig 
und  vertragt  Wiederholungen.  Nach  einiger  Abwesenheit  bin  ich 
jetzt  (September  1870)  wieder  fiir  ein  paar  Ferienwochen  in  New 
York  und  Brooklyn.  Der  Glanz,  die  maleriscbe  Erscheinung  und 
die  ozeaniscbe  Weite  und  Belebtheit  dieser  beiden  grofien  Stadte, 
die  unvergleichliche  Lage,  die  Fliisse  und  die  Bai,  die  glitzernde 
See,  kostspielige,  stolze,  neue  Gebaude,  Fassaden  aus  Marmor  und 
Eisen  von  eigenartiger  GroBe  und  eleganter  Zeicbnung,  dazu  eine 
Menge  heiterer  Farben,  vorwiegend  weifi  und  blau,  webende  Flaggen, 
zabllose  Schiffe,  die  brausenden  StraBen,  Broadway,  das  schwere, 
tiefe,  musikalische  Drohnen,  das  kaum  jemals  aussetzt,  auch  nicht 
bei  Nacht;  die  Hauser  der  Makler,  die  reichen  Laden,  die  Werften, 
der  groBe  Zentralpark  und  Brooklyn-Park  auf  dem  Hiigel  (wo  icb 
in  diesem  wundervollen  Herbstwetter  spaziere,  nacbdenklich,  beob- 
achtend,  alles  in  micb  aufnehmend),  —  die  Versammlungen  der 
Burger  in  Gruppen,  zur  Unterhaltung,  beim  Handel,  bei  den  Abend- 
vergniigungen  oder  vor  ihren  Quartieren,  —  all  das,  sage  icb,  und 
Ahnliches  befriedigt  vollkommen  meinen  Sinn  fiir  Macht,  Fiille, 
Bewegung  usw.  und  versetzt  mich,  durch  diese  meine  Sinne  und 
Neigungen  und  mein  asthetisches  BewuBtsein,  in  eine  bestandige 
Gebobenheit  und  in  das  Gefiibl  absoluter  Erfiillung.  Ich  fabre  iiber 
die  Fliisse  im  Osten  und  Norden,  auf  den  Fahren  oder  mit  den 
Lotsen  in  ihren  Lotsenhausern,  oder  verbringe  eine  Stunde  in  Wall- 
street  oder  in  der  Goldborse:  und  immer  mehr  und  mehr  wird  es 
mir  bewuBt,  daB  (wenn  wir  iiberhaupt  eine  solche  Zweiteilung 
zugeben)  die  Natur  groB  ist  nicht  all  ein  in  ihren  Bereichen  der 
Freiheit  und  der  frischen  Luft,  in  ihren  Stiirmen,  in  den  Herr- 
lichkeiten  von  Tag  und  Nacht,  den  Bergen,  Waldern  und  Meeren, 
—  sondern  ebenso  groB  in  den  kiinstlichen  Schopfungen  der  Men- 
schen,  —  in  dieser  Uberfiille  wimmelnder  Menschheit,  —  in  diesen 
sinnreichen  Erfindungen,  diesen  StraBen,  Giitern,  Hausern,  Schiffen, 
-  diesen  hastenden,  fiebernden,  elektrischen  Menschenmassen  und 
ihrem  komplizierten  Geschaftsgenius  (nicht  dem  geringsten  unter 
den  Geniussen)  und  all  diesem  machtigen,  vielverstrickten  Wohl- 
stand  und  GewerbefleiB,  der  bier  vereinigt  ist. 

Aber  wenn  wir  unsere  Augen  vor  dem  Glanz  und  der  Grb'Be 
des  allgemeinen  oberflachlichen  Eindrucks  schliefien,  ihn  streng 

3o 


ausschalten  und  uns  in  sorgfaltiger  Priifung  an  das  halten,  was 
allein  von  wirklicher  Bedeutung  ist,  an  die  Personlichkeiten, 
so  forschen  und  fragen  wir:  gibt  es  bei  uns  Manner,  die  wiirdig 
dieses  Namens  sind?  athletische  Manner?  Gibt  es  vollkommene 
Frauen,  die  der  verschwenderischen  materiellen  LJppigkeit  gewachsen 
sind?  Ist  eine  alles  durchdringende  Atmosphare  edler  Sitten  vor- 
handen?  Gibt  es  ein  Wachstum  schoner junger  und  majestatischer 
alter  Menschen?  Gibt  es  Kiinste,  wiirdig  der  Freiheit  und  eines 
reichen  Volkes?  Gibt  es  eine  groBe  moralische  und  religiose  Kultur, 
-  die  einzige  Recbtfertigung  einer  groBen  materiellen  Kultur?  Man 
muB  mir  zugeben,  daB  vor  strengen  Augen,  die  die  Menscbheit 
unter  das  moralische  Mikroskop  nebmen,  eine  Art  von  diirrer  und 
flacber  Sahara  erscheint:  diese  unsere  Stadte,  dicbt  gefiillt  mit 
klaglichen  Zerrbildern,  MiBgestalten,  Phantomen,  die  sinnlosePossen 
reiBen.  Man  mu6  mir  zugeben,  daB  allenthalben,  im  Verkaufs- 
laden,  auf  der  StraBe,  in  Kirche,  Theater,  Restaurant  und  Amts- 
zimmer,  Geschwatzigkeit  und  Gemeinheit,  niedrige  Verschlagenbeit 
und  Treulosigkeit  herrschen,  —  allenthalben  eine  schwachliche, 
freche,  gezierte,  friihreife  Jugend,  —  allenthalben  eine  unnormale 
Liisternheit,  ungesunde  Erscheinungen,  mannliche  wie  weibliche, 
geschminkt,  wattiert,  gefarbt,  frisiert,  mit  unreiner  Gesichtsfarbe 
und  schlechtem  Blut,  —  die  Befahigung  zu  gesunder  Mutterschaft 
iiberall  verkiimmert  oder  schon  ganzlich  geschwunden,  hohle  Be- 
griffe  von  Schonheit  und  dazu  eine  Art  von  Umgangsformen  oder 
vielmehr  Mangel  an  Umgangsformen,  wie  sie  (bedenkt  man  die 
gebotenen  Vorteile)  wohl  kaum  gemeiner  in  der  Welt  zu  sehen 
sind*. 

*  Von  diesen  kurz  angedeuteten  Obeln  scheinen  mir  zwei  die  bedenkliclisten 
zu  si-iii :  erstens  der  Zustand  oder  das  Fehlen  oder  vielleicht  besser  das  seltsame 
Ausgeschaltetsein  des  moralischen  Gewissensnervs  in  der  gesamten  amerikaniscben 
Gesellschaft;  und  zweitens  die  erschreckende  Erschbpfung  der  Frauen  in  ihrer 
Fahigkeit  zu  gesunder,  athletischer  Mutterschaft,  der  Eigenschaft,  die  die  Kro- 
nung  ihres  Seins  ist  und  die  das  Weib  fur  ewig  in  hochster  Sphare  iiber  den 
Mann  erhebt. 

Ich  habe  inanchmal  in  der  Tat  gedacht,  daB  der  einzige  Weg  und  das  einzige 
Mittei  zum  Wiederaufbau  der  Gesellschaft  in  allererster  Linie  die  Neugeburt, 
Aufzucht,  Entfaltung  und  Kraftigung  von  Frauen  ware,  die  fur  kiinftige  Rassen 
(da  die  Bedingungen,  die  der  Geburt  vorangehen,  von  entscheidender  Bedeutung 
sind)  eine  vollkommene  Mutterschaft  gewahrleisten.  Grofi,  groO,  wahrlich,  viel 
grbBer,  als  sie  selbst  wissen,  ist  die  Sphare  der  Frauen. 


Und  nun  sage  ich:  Urn  in  all  diese  beklagenswerten  Zustande 
den  beilkraftigen  Atem  gesunden,  heroischen  Lebens  zu  blasen, 
brauchen  wir  eine  auf  neuem  Boden  gegriindete  Literatur!  —  eine 
Literatur,  die  nicbt  nur  die  vorhandenen  Oberflachen  der  Erscbei- 
nungen  kopiert  und  spiegelt  oder  sich  zur  Kupplerin  des  sogenannten 
Geschmacks  macbt;  die  nicbt  nur  zum  Amusement  und  Zeitver- 
treib  da  ist  und  das  Schone,  Verfeirierte ,  der  Vergangenheit  An- 
geborige  feiert  oder  techniscbe,  rhytbmische  und  grammatische 
Geschicklicbkeit  zur  Scbau  stellt,  —  sondern  eine  Literatur,  die  dem 
Leben  zugrunde  liegt,  die  religios  ist  und  in  festem  Zusammenhang 
mit  der  Wissenschaft  steht,  die  die  Elemente  und  Krafte  mit  eben- 
biirtiger  Gewalt  handbabt,  die  eine  Lebrerin  und  Erzieberin  von 
Mannern  ist  und  berufen,  das  Allerwichtigste  zu  vollenden:  die 
vollige  Erlb'sung  der  Frau  aus  diesen  unglaublicben  Scblingen  und 
Geweben  einer  albernen  Putzmacherwelt  und  aller  Art  von  dys- 
peptischer  Erschlaffung,  —  um  so  den  Staaten  eine  starke  und 
holde  weiblicbe  Rasse  zu  sichern,  eine  Rasse  vollkommener  Mutter. 

Und  nun,  in  vollem  BewuBtsein  dieser  Tatsachen  und  Gesichts- 
punkte  und  aller  Fur  und  Wider,  die  sie  einschliefien ,  in  noch 
immer  unerscbiittertem  Glauben  an  die  Urstoffe  in  den  amerika- 
niscben  Massen,  in  beiden  Geschlechtern,  aucb  als  Individuen  be- 
trachtet,  und  in  der  Erkenntnis,  daB  sie  die  breiteste  Grundlage  fur 
die  beste  literariscbe  und  astbetische  Wiirdigung  sind,  fahre  icb 
mit  meinen  Betracbtungen,  meinen  Ausblicken  fort. 

Zuerst  wollen  wir  seben,  was  sicb  aus  einer  kurzen,  allgemeinen, 
gefublsmaBigen  Betracbtung  der  politiscben  Demokratie  uod  ihres 
Ursprungs  ergibt,  mit  Riicksicbt  auf  einige  ibrer  allgemeinen  Eigen- 
schaften  als  Aggregat  und  als  Basis  fur  unsere  zukiinftige  Literatur 
und  Autorschaft.  Wir  werden  allerdirigs  bald  finden,  daB  die  Ur- 
Idee  des  Einzelseins  des  Menschen,  Individualismus,  sicb  allent- 
halben  geltend  macbt  und  sogar  aus  den  entgegengesetzten  Ideen 
herausspringt.  Aber  die  Masse,  der  Gesamtcharakter  muB  dennoch 
aus  gebieteriscben  Griinden  stets  sorgfaltig  in  Erwagung  gezogen, 
im  Sinne  behalten  und  beriicksichtigt  werden*. 

*  Die  hier  angedeutete  Frage  kann  die  Zeit  allein  beantworten.  MuB  nicht 
die  Tugend  des  modernen  Individualismus,  der  bestandig  wachst  und  alles  er- 
greift,  in  Amerika  die  alte  Tugend  des  Patriotismus,  der  gliihenden,  ausschlieO- 
lichen  Liebe  zu  dem  ganxen  Lande  ernstlich  beeintracbtigen  und  vielleicbt  vbllig 


Die  politische  Geschichte  der  Vergangenheit  ist  alles  in  allem 
hervorgewachsen  aus  clem,  was  den  Worten  wOrdnung",  ,,Sicher- 
heit",  ,,Kaste"  zugrunde  liegt,  und  besonders  ans  dem  Bediirfnis 
nach  einer  prompt  entscheidenden  Autoritat  und  einem  Zusammen- 
halt  auf  alle  Fiille.  Wir  iiberspringen  eine  Zeit  und  kommen  zu 
der  Periode,  die  noch  in  dem  Gedachtnis  der  heutigen  Volker  lebt 
und  in  der,  \vie  aus  einer  Hohle,  in  der  sie  geschlummert  und  Wut 
in  sich  aufgespeichert  batten,  jene  larmenden  Emporungen  und 
bilderstiirmerischen  Ausbriiche  voll  leidenschaftlichen  Gef'iibls  fiir 
alles  Unrecbt  aufsprangen,  die  nocb  heute  nachwirken  (von  1790 
bis  zur  Gegenwart,  1870)  und  die  die  Form  der  Staaten  veranderten, 
wohlbekannt  aus  der  Geschichte  der  alten  Welt,  von  vielem  Blut 
befleckt  und  begleitet  von  dem  wilden  Geschrei  und  den  Forde- 
rungen  der  Reaktion.  Fast  alle  diese  Bewegungen  entsprangen  einem 
innersten  Bediirfnis. 

Denn  wenn  alles  andere  gesagt  ist,  --  wenn  alle  die  voriiber- 
gehend  oder  dauernd  gultigen  Lehren  von  Unterordnung,  Erfahrung, 
Besitzrecht  usw.  angehort  und  anerkannt  wurden,  —  wenn  die 
wertvolle  und  wohlbegriindete  Regelung  unserer  Pflichten  und 
Beziehungen  innerhalb  der  Gesellschaft  sorgfaltig  durchdacht  und 
erschopft  ist,  —  dann  erhebt  sich  das  Verlangen,  alles  dies  fort- 
zuentwickeln  und  umzugestalten  nach  der  Idee  jenes  Etwas,  das 
ein  Mensch  ist  (letzter  kostbarer  Trost  des  geplagten  armen  Volkes), 
und  das  abseits  von  allem  andern  steht,  gottlich  aus  eigenem  Recht, 
gleichviel  ob  Mann  oder  Weib,  einsam  und  unantastbar  fiir  alle 
Kanonen  und  alle  Obrigkeit  der  Welt  und  fiir  jegliche  Satzung, 
die  aus  der  Vergangenheit,  aus  der  Staatsraison  und  den  Akten  der 
Gesetzgebung  hergeleitet  ist  oder  selbst  aus  dem,  was  sich  Religion, 
Demut  oder  Kiinst  nennt.  Die  Ausstrahlungen  aus  dieser  Wahr- 
heit  sind  derSchliissel  zu  den  bedeutungsvollsten  Tatenderjiingsten 
drei  Jahrhunderte  und  haben  das  politische  Werden  und  Leben 
Amerikas  geschaffen.  Sie  schreitet  sichtbar  und  noch  viel  mehr 
unsichtbar  fort.  Unterhalb  der  Stromungen  der  Gesellschaftsbildung 
sowohl  wie  unterhalb  der  Bewegungen  der  Politik  der  fiihrenden 

ersticken?  Ich  selbst  zweifle  nicht,  dafi  beide  ineinander  aufgehen  und  gegenseitig 
Kraft  und  Nutzen  aus  sich  ziehen  werden  und  dafi  aus  ihnen  ein  grofieres  drittes 
Ergebnis  erwachsen  wird.  Aber  ich  fiihle  wohl,  dafi  sie  beide  und  ihr  Wider- 
streit  ein  ernstes  Problem  und  Paradox  fiir  die  Vereinigten  Staaten  bilden. 


3     Whitman  1 


33 


Nationeri  der  Welt  sehen  vvir,  selbst  inmitten  der  machtigsten  Ten- 
denzen  zur  Gemeinschaft ,  dieses  Bild  der  Vollkommenheit  in  der 
Vereinzelung  standig  vordringen  und  an  Starke  zunehmen,  dieses 
Bild  individueller  personlicher  Wiirde  eines  Einzelmenschen,  Mann 
oder  Weib,  im  wesentlichen  charakterisiert  nicht  durch  auBerlich 
Erworbenes  und  auBere  Stellung,  sondern  durch  den  eigenen  Stolz; 
und  aller  Weisheit  endgultiger  SchluB  ist  die  einfache  Idee,  daB 
das  Letzte  und  Beste,  worauf  man  sich  verlassen  kann,  die  Mensch- 
heit  selber  ist  und  ihre  eingeborenen,  natiirlicben,  vollentfalteten 
Eigenschaften,  ohne  irgendwelche  aberglaubischen  Hilfsmittel ;  denn 
andernfalls  ware  die  gesamte  Ordnung  der  Dinge  ziellos,  ein  Be- 
trug,  ein  Zusammenbruch.  Diese  Idee  des  vollkommenen  Indivi- 
dualismus  ist  es  in  der  Tat,  die  der  Idee  der  Gemeinschaft  am 
tiefsten  Charakter  und  Farbe  gibt.  Denn  wir  begunstigen  eine 
starke  Vergemeinschaftung  und  einen  starken  ZusammenschluB 
hauptsachlich  oder  ausschlieBlich  deshalb,  um  die  Unabhangigkeit 
des  Einzelmenschen  zu  starken,  gleichwie  wir  auf  der  Einheit  der 
Union  unter  alien  Umstanden  bestehen,  um  den  Rechten  der  Ein- 
zelstaaten  die  vollste  Lebensfahigkeit  und  Freiheit  zu  sichern,  deren 
jedes  genau  so  wichtig  ist  wie  das  Recht  der  Nation,  der  Union. 
Die  Demokratie,  die  den  alien  Glauben  an  die  notwendige  Un- 
umschranktheit  der  bestehenden  dynastischen  Herrschaft  auf  welt- 
lichem,  geistlichem  und  scholastischem  Gebiet  als  an  die  einzige 
Sicherung  gegen  Chaos,  Verbrechen  und  Unwissenheit  verdrangt, 
hat  das  Ziel,  durch  viele  Umwandlungen  hindurch  und  inmitten 
endloser  Torheiten,  Streitigkeiten  und  offensichtlicher  Fehlschlage 
um  jeden  Preis  jene  Theorie  oder  Doktrin  zu  beweisen,  daB  der 
in  gesundester,  vollster  Freiheit  erzogene  Mensch  zu  seinem  eigenen 
Gesetz  werden  kann  und  muB,  das  seine  Wirkungen  auf  ihn  selbst 
und  seine  eigene  Disziplin  sowie  auf  alle  seine  Beziehungen  zu  den 
anderen  Individuen  und  zum  Staat  ausiibt;  und  daB,  wie  andere 
Theorien  sich  in  der  bisherigen  Geschichte  der  Volker  als  weise 
genug  und  vielleicht  unerlaBlich  fur  die  damaligen  Verhaltnisse 
erwiesen  haben,  diese  Theorie  in  dem  augenblicklichen  Zustand 
unserer  zivilisierten  Welt  das  einzige  Ideal  ist,  fur  das  zu  wirken 
es  sich  lohnt,  weil  sie  Ergebnisse  gewahrleistet,  die  den  Natur- 
gesetzen  entsprechen  und  denen  man  zutrauen  kann,  daB  sie,  einmal 
zur  Geltung  gebracht,  aus  sich  selbst  heraus  weiterwachsen  werden. 

34 


Was  das  politische  Gebiet  der  Demokratie  angeht,  das  Weg  und 
Boden  r'iir  andere,  umfassendere  Gebiete  vorbereitet,  so  gibt  es  wahr- 
scheinlich  selbst  in  diesen  republikanischen  Staaten  nur  wenige 
Geister,  die  das  Zutreffende  des  Satzes  begreifen,  den  uns  Abraham 
Lincoln  hinterlassen  bat:  ,,Die  Regierung  iiber  das  Yolk,  durch 
das  Volk,  fiir  das  Volk";  eine  Formel,  deren  Fassung  wie  ein  simp- 
les Wortspiel  klingt,  deren  Sinn  aber  die  Gesamtheit  und  alle  Ein- 
zelheiten  der  Theorie  umfafk. 

Das  Volk!  Gleichwie  unsere  riesige  Erde  selber  fiir  einen  ge- 
wohnlichen  Betrachter  voller  brutaler  Widerspriiche  und  Argernis 
ist,  so  hat  auch  der  Mensch,  als  Masse  betrachtet,  etwas  Abstofien- 
des  und  ist  ein  bestandiges  Ratsel  und  eine  Herausforderung  fiir 
die  gebildeten  Klassen.  Nur  der  seltene,  kosmisch  fiihlende  Kiinstler- 
geist,  der  vom  Licht  der  Unendlichkeit  erleuchtet  ist,  vermag  den 
mannigfachen,  ozeangleichen  Eigenschaften  der  Masse  gegeniiber- 
zutreten,  —  aber  Geschmack,  Intelligenz  und  Bildung  (so  genannt!) 
sind  ihr  immer  feindlich  gewesen  und  werden  es  immer  sein.  Es 
liegt  immer  noch  ein  gewisser  Glanz  auch  iiber  den  verruchtesten 
Verbrechen  und  tierischsten  Gemeinbeiten  der  feudalen  und  dyna- 
stischen  alten  Welt  mit  ihrem  Ensemble  so  schongekleideter  und 
stattlicher  Lords,  Koniginnen  und  Hofe.  Aber  das  Volk  ist  unge- 
bildet,  ungepflegt,  und  seine  Siinden  sind  hager  und  schlecht  ernahrt. 

Die  Literatur  hat  sich,  streng  genornmen,  niemals  um  das  Volk 
gekummert,  und  sie  tut  es  auch  heute  nicht,  was  immer  man  sagen 
mag.  Allgemein  gesprochen  haben  die  bisherigen  Tendenzen  der 
Literatur  nur  dazu  gedient,  kritische  und  unzufriedene  Menschen 
zu  schaffen.  Es  scheint,  als  bestande  bis  dato  ein  natiirlicher  Wider- 
wille  zwischen  einem  literarischeu  oder  beruflichen  Dasein  und 
dem  rauhen,  starken  Geist  der  Demokratie.  Zwar  ist  in  der  jiingeren 
Literatur  haufig  genug  eine  gewisse  wohlwollende  Haltung  und 
geschaftige  Nachstenliebe  zu  finden;  aber  ich  weifi  nichts,  was, 
selbst  in  unserem  Lande,  seltener  ware  als  eine  wissenschaftliche 
Wertung  und  ehrfiirchtige  Schatzung  des  Volkes  und  seines  un- 
ermeClichen  Reichtums  an  verborgenen  Kraften  und  Fahigkeiten, 
seiner  ungeheuern,  kiinstlerischen  Kontraste  von  Licht  und  Schatten, 
seiner  absoluten  VerlaBlichkeit  in  alien  Notfallen  (zumal  in  Amerika) 
und  eines  gewissen  Hauchs  von  geschichtlicher  GroBe  in  Krieg  und 
Frieden,  die  alle  vielgeriihmten  Beispiele  der  Heldenbiicher,  alle 

3*  35 


hochtonenden  Oberlieferungen  aller  Koterien  der  Welt  weit  iiber- 
trifft. 

Die  Ereignisse  des  verflossenen  Sezessionskrieges  und  ihre  Ergeb- 
nisse  erweisen  fiir  jeden,  der  sie  sorgfaltig  studiert  und  versteht, 
daB  die  volkstiimlicbe  Demokratie  trotz  all  ihren  Mangeln  und 
Gefahren  sich  praktisch  durch  sich  selbst  rechtfertigt,  weit  iiber  die 
stolzesten  Forderungen  und  wildesten  Hoffnungen  ihrer  begeistertsten 
Vorkampfer  hinaus.  Vielleicht  wird  keine  Zukunft  es  je  wissen,  aber 
ich  weiB  es  wobl,  daB  der  Kernpunkt  dieser  grimmigsten  und  ent- 
schlossensten  aller  kriegerischen  Unternehmungen  der  Welt  aus- 
schliefilicb  in  der  namenlosen,  unbekannten  Truppe  lag,  und  daB 
ihre  heiBe  Blutarbeit  in  jeder  wesentlichen  Hinsicht  freiwillig  war. 
Das  Volk  kampfte  und  starb  aus  eigener  Wahl,  fiir  seine  eigenen 
Ideen  gegen  den  ubermiitigen  Angriff  der  Vormacht  der  Sklaverei, 
die  seine  eigene  innerste  Existenz  bedrohte.  In  alle  Einzelheiten 
taucbend,  bei  alien  Armeen,  im  personlichen  Umgang  mit  den 
Soldaten,  babe  icb  die  erhabensten  Eindriicke  erlebt.  Ich  babe  die 
Bereitwilligkeit  geseben,  mit  der  das  eingeborene  amerikaniscbe 
Volk,  die  friedlichste  und  gutmiitigste  Rasse  der  Welt,  die  person- 
lich  unabhangigste  und  intelligenteste,  die  am  wenigsten  geeignet 
ist,  sicb  all  dem  erbitternden  VerdruB  militarischer  Disziplin  zu 
unterwerfen,  beim  ersten  Trommelschlag  zu  den  Waffen  sprang,  — 
nicht  fur  Gewinn  noch  Rubm,  noch  um  eine  Invasion  zuriick- 
zuscblagen,  —  sondern  fiir  ein  Sinnbild,  eine  bloBe  Abstraktion,  - 
fiir  das  Leben  und  die  Sicberheit  der  Flagge.  Ich  babe  die  Gelehrig- 
keit  und  den  Gehorsam  ohnegleichen  dieser  Soldaten  gesehen.  Ich 
habe  sie  durch  lange  Zeiten  hindurch  unter  dem  Druck  von  Hoff- 
nungslosigkeit,  schlechter  Fiihrung  und  Niederlagen  gesehen;  habe 
die  unglaubliche  Schlachterei  gesehen,  in  die  sich  die  Armeen  (wie 
zuerst  bei  Fredericksburg  und  spater  in  der  Wildnis)  irnmer  wieder 
ohne  Zogern  stiirzten,  wenn  der  Befehl  zum  Vorgehen  kam.  Ich 
habe  sie  im  Schiitzengraben  gesehen  oder  hinter  Brustwehren 
kauernd  oder  durch  tiefen  Schmutz  marschierend,  oder  in  stro- 
mendem  Regen  oder  dichtem  Schneegestober,  oder  auf  Eilmarschen 
im  heiBesten  Sommer  (wie  auf  dem  Marsch  nach  Getysbury),  - 
ungeheure,  erdriickende  Massen,  Divisionen,  Armeekorps,  jeder 
einzelne  Mann  so  schmierig  und  schwarz  von  SchweiB  und  Staub, 
daB  seine  eigene  Mutter  ihn  nicht  erkannt  haben  wiirde,  —  die 

36 


ganze  Uniform  schmutzig,  blutbefleckt  und  zerrissen,  stinkend  nach 
altem  saurem  SchweiB, —  manch  ein  Kamerad,  vielleicht  ein  Bruder 
vom  Hitzschlag  getroffen,  aus  Reih  und  Glied  beiseite  wankend 
und  vor  Erschoptung  am  Wege  sterbend,  —  aber  die  groBe  Masse 
unbeirrt  weitermarschierend,  guten  Muts,  von  Hunger  ausgehohlt, 
aber  stahlern  in  unbesiegbarer  Entschlossenheit. 

Ich  babe  diese  Rasse  in  ihrer  Gesamtheit  nocb  furchtbarere, 
wenn  aucb  einformigere  Priifungen  bestehen  sehen:  —  die  Ver- 
wundungen,  die  Amputationen,  die  zerschmetterten  Gesicbter  und 
Glieder,  das  schleichende  Fieber,  das  lange  ungeduldige  Liegen  im 
Belt  und  alle  die  Arten  von  Verstiimmelung,  Operationen  und 
Krankheit.  Ach,  ich  sah  Amerika  noch  in  seiner  friihen  Jugend 
schon  ins  Lazarett  gescbleppt!  Dort  babe  ich  diese  Soldaten  be- 
obachtet,  viele  von  ihnen  erst  Knaben  an  Jahren,  und  ihren  Anstand, 
ihre  religiose  Natur  und  Tapferkeit  und  ibre  liebevolle  Herzlicbkeit. 
Wirklich  in  ibrer  Gesamtheit.  Denn  an  der  Front  und  in  alien 
Lagern  standen  in  zahllosen  Zelten  die  Regiments-,  Brigade-  und 
Divisionslazarette,  wahrend  zugleich  iiberall  im  Lande,  in  oder  bei 
den  Stadten,  sich  Scharen  von  riesigen,  weiBgewaschenen,  iiber- 
fiillten,  einstockigen  Holzbaracken  erhoben;  und  dort  schlich  der 
Tod  bei  Tag  und  Nacht  durch  die  schmalen  Gange  zwischen  den 
Reihen  der  Feldbetten  oder  an  den  Matratzen  am  Boden  vorbei  und 
beriihrte  leise  manch  einen  armen  Dulder,  oft  mit  gesegneter,  will- 
kommener  Hand. 

Ich  weiB  nicht,  ob  man  mich  verstehen  wird,  aber  ich  bin  mir 
bewuBt,  daB  ich  letzten  Endes  diese  Zeilen  hier  schreibe  aus  dem 
heraus,  was  ich  lernte,  indem  ich  personlich  solchen  Szenen  bei- 
wohnte.  Eines  Nachts  wahrend  der  diistersten  Zeit  des  Krieges,  im 
Lazarett  des  Patentamts  von  Washington,  als  ich  am  Bett  eines 
Soldaten  aus  Pennsylvania  stand,  der  im  vollen  BewuBtsein  des 
ganz  nahen  Todes  vollkommen  ruhig  dalag,  mit  edlem,  vergeistigtem 
Anstand,  sagte  der  erfahrene  Wundarzt,  beiseite  gewendet,  zu  mir, 
daB  er  viele,  viele  Male  Zeuge  des  Sterbens  von  Soldaten  gewesen 
sei,  und  daB  er  bei  Bull  Run,  Antjetam,  Fredericksburg  usw.  tatig 
gewesen  sei,  aber  daB  er  noch  nie  auch  nur  in  einem  einzigen  Fall 
gesehen  habe,  daB  ein  Mann  oder  Bursch  die  nahende  Auflosung 
mit  feiger  Schwache  oder  Angst  erwartet  hatte.  Meine  eigene  Be- 
obachtung  bestatigte  diese  Bemerkung  voll. 

3? 


Was  haben  wir  hier,  wenn  nicht,  hoch  iiber  allem  Gerede  und 
alien  Streitfragen,  die  vollgiiltige,  letzte  Probe  auf  die  Demokratie, 
offenbart  in  ihren  Personlichkeiten?  Seltsam  genug:  diese  Probe 
bat  der  Siiden  in  alien  Stiicken  genau  so  bestanden  wie  der  Norden. 
Obwohl  icb  nur  von  dem  letzteren  sprach,  schlieBe  icb  doch  beide 
mit  voller  Uberlegung  ein.  Grof3er,  gemeinsamer  Stamm !  Fiir  micb 
die  vollendete,  uberzeugende  Gewahr  fur  die  Zukunft:  unleugbarer 
Beweis,  auch  fiir  das  scharfste  Urteil,  von  vollkommener  Schonheit, 
Zartheit  und  Tapferkeit,  die  kein  feudaler  Lord  nocb  die  griechische 
oder  romische  Rasse  je  iibertroffen  bat.  Keine  Zunge  soil  jemals 
geringschatzig  von  den  Rassen  Amerikas,  Nord  oder  Siid,  sprechen 
zu  einem,  der  den  Krieg  in  den  grofien  Armeelazaretten  durch- 
gemacbt  hat. 

Indessen  freilich  ist  die  Menschheit  im  allgemeinen  auf  alien 
Gebieten  immer  voller  verstockter  Bosheit  gewesen  und  ist  es  noch. 
In  Stunden  der  Niedergeschlagenheit  meint  die  Seele,  das  werde 
ewig  so  bleiben,  —  aber  sie  erholt  sich  scbnell  von  solchen  schwacb- 
licben  Stimmungen.  Icb  selbst  sehe  deutlich  genug,  was  in  alien 
Scbichten  des  gemeinen  Volkes  nocb  unreif  und  mangelhaft  ist; 
die  grofie  Zabl  der  Unwissenden,  Leichtglaubigen,  der  Untauglicben 
und  Ungeschickten  und  der  ganz  niedrig  Stebenden  und  Armen. 
Eine  hervorragende  Personlichkeit  des  Auslands*  fragt  spottisch, 
ob  wir  die  Politik  einer  Nation  zu  erhohen  und  zu  verbessern  ge- 
denken,  indem  wir  all  diese  morbiden  Elemente  saint  ibren  Eigen- 
scbaften  absorbieren.  Die  Frage  ist  in  der  Tat  furchtbar,  und  es 
wird  zweifellos  immer  eine  groBe  Zahl  solider  und  denkender 
Burger  geben,  die  nie  dariiber  hinwegkommen  werden.  Unsere 
Antwort  ist  allgemein  und  in  dem  Zweck  und  Sinn  dieses  Essays 
enthalten.  Wir  glauben,  da6  die  hohere  Aufgabe  politiscber  und 
sonstiger  Regierung  (nachdem  sie  natiirlich  zunachst  fiir  Polizei, 
Sicberbeit  des  Lebens  und  Eigentums  und  fiir  die  grundlegende 
Satzung  und  das  allgemeine  Gesetz  und  seine  Anwendung  gesorgt 
hat)  im  iibrigen  darin  besteht,  nicht  nur  zu  herrschen,  Unordnung 
zu  bekampfen  usw.,  sondern  die  Moglichkeiten  aller  wohltatigen, 
mannlichen  Entfaltung,  alien  Strebens  nach  Unabhangigkeit  und 
den  Stolz  und  die  Selbstachtung,  die  in  alien  Charakteren  schlum- 
mern,  zu  entwickeln,  auszubilden  und  zu  ermutigen. 

*  Garlyle  in  seinem  Aufsatz  „ Shooting  Niagara". 

38 


Ich  sage,  die  Mission  eiuer  Regierting  in  zivilisierten  Landern 
besteht  hinfbrt  nicht  allein  mehr  in  Unterdriickung  und  nicht  allein 
in  Wahrung  der  Autoritat,  selbst  nicht  der  des  Gesetzes,  noch,  - 
inn  das  Lieblingsargument  jenes  hervorragenden  Autors  zu  nennen, 
-  in  der  Aufrichtung  der  Herrschaft  der  besten  Manner,  der  ge- 
borenen  Helden  und  Fiihrer  der  Rasse  (als  ob  diese  je,  oder  aucb 
nur  einmal  unter  hundert,  an  die  hochsten  Stellen  kiimen,  sei  es 
durch  Wahl  oder  Erbrecht),  --  sondern  darin,  Gemeinwesen  in 
alien  ihren  Entwicklungsstufen  zu  ziichten,  beginnend  mit  Indi- 
viduen  und  wiederum  endend  bei  Individuen,  die  alsdann  —  hoher 
als  die  hochste  Willkiirherrschaft  -  -  iiber  sich  selber  herrschen 
sollen.  Die  Lehre,  um  derentvvillen,  auf  moralisch-geistigem  Gebiet, 
Cbristus  fur  die  Menschheit  erscbien,  namlich  die  Lehre,  daB  in 
der  absoluten  Seele,  die  jedem  Individuum  zu  eigen  ist,  etwas  so 
Transzendentes,  so  iiber  alle  Abstufungen  Erhabenes  liegt,  daB  in 
dieser  Hinsicht  alle  Wesen  auf  derselben  gleichen  Hohe  stehen  und 
alle  Unterschiede  von  Intellekt,  Tugend,  Stellung  oder  iiberhaupt 
irgendwelcher  Hohe  oder  Tiefe  vollig  belanglos  sind,  —  diese  Lehre 
hat  ihr  Seitenstiick  in  dem  Grundsatz  der  Demokratie,  daB  die 
Nation,  als  eine  Gemeinschaft  lebendiger  Einzelexistenzen,  jedem 
ihrer  Angehorigen  den  Anspruch  auf  Freiheit,  auf  irdisches  Ge- 
deihen  und  Gliick,  auf  Forderung  seines  Wachstums  und  burger- 
lichen  Schutz  gewahren  muB,  und  daB  daher  die  Menschen,  zum 
mindesten  in  Hinsicht  des  politischen  Wahl-  und  Stimmrechts,  aber 
auch  dariiber  hinaus  im  einzelnen  und  allgemeinen  auf  eine  breite, 
elementare,  universelle,  gemeinsame  Plattform  gestellt  werden 
miissen. 

Diese  Wirkung  ist  nicht  immer  direkt,  sondern  vielleicht  zumeist 
indirekt.  Denn  die  Demokratie  rechtfertigt  sich  nicht  erschopfend 
in  sich  selbst,  ja  vielleicht  iiberhaupt  nicht,  gleich  der  Natur.  Sie 
ist  nur,  sovveit  wir  sehen,  das  beste,  vielleicht  einzige  wirklich 
geeignete  Mittel,  die  einzige  Bildnerin,  Erweckerin,  Erzieherin  fur 
die  Millionen,  und  zwar  nicht  nur  fiir  groBe  Personlichkeiten  von 
Fleisch  und  Blut,  sondern  fur  unsterbliche  Seelen.  Sein  Wahlrecht 
zusammen  mit  alien  andern  auszuiiben,  ist  nicht  so  viel;  und  diese 
Institution  wird,  wie  jede  andere,  immer  ihre  Unvollkommenheiten 
haben.  Aber  ein  freier  Mensch  zu  werden  und  nun,  da  alle  Schranken 
gefallen  sind,  ohne  Demiitigung  und  ebenbiirtig  alien  anderen 


dazustehen  und  den  Weg  frei  zu  haben,  um  das  grofie  Experiment 
der  Entwicklung  zu  beginnen,  deren  Ziel  (vielleicht  erst  nach 
mehreren  Generationen)  die  Erschaffung  des  vollentfalteten  Mannes 
oder  Weibes  ist,  —  das  ist  etwas! 

Wir  begriinden  das  nicht  (oder  wenigstens  ich  begriinde  es  nicbt) 
mit  der  besonderen  Verstandigkeit  oder  Vortrefflichkeit  des  Volkes, 
der  Massen,  selbst  der  besten,  noch  auch  mitihren  Rechten;  sondern 
damit,  dafi,  ob  gut  oder  scblecbt,  im  Recht  oder  nicht  im  Recbt, 
die  demokratiscbe  Formel  die  einzige  Sicherheit  und  der  einzige 
Schutz  fur  kommende  Zeiten  ist.  Wir  geben  den  Massen  das 
Wablrecbt  um  ihrer  selbst  willen,  zweifellos;  aber  vielleicht  noch 
viel  mehr,  von  einem  anderen  Gesichtspunkt  aus,  um  der  Gemein- 
schaft  willen.  Alles  andere  uberlassen  wir  den  Schwarmern:  uns 
geniigt  es,  die  Freiheit  von  ihrer  wissenschaftlichen  Seite  zu  zeigen, 
kalt  wie  Eis,  verstandesmafiig,  logisch,  klar  und  leidenschaftslos 
wie  Kristall. 

Auch  die  Demokratie  bedeutet  Gesetz,  und  zwar  im  strengsten, 
weitesten  Sinn.  Viele  glauben  (und  oft  herrscht  dieser  Irrtum  in 
ihren  eigenen  Reihen),  dafi  sie  Abschaffung  des  Gesetzes  und  Auf- 
ruhr  bedeute.  Sie  ist,  kurz  gesagt,  das  hohere  Gesetz  des  Geistes, 
das  das  Gesetz  der  physischen  Kraft,  des  Korpers,  verdrangt.  Gesetz 
bedeutet  die  unerschiitterliche,  ewige  Ordnung  des  Universums;  und 
das  Gesetz,  das  iiber  alien  anderen  steht,  das  Gesetz  der  Gesetze, 
ist  das  der  Aufeinanderfolge,  welches  besagt,  dafi  das  hohere  Gesetz 
zu  seiner  Zeit  das  niedrigere  allmahlich  ersetzt  und  iiberwindet. 
Fur  hochstrebende  Seelen  ist  auch  die  asthetische  Seite  der  Frage, 
die  in  jedem  Falle  wichtig  ist,  von  Bedeutung:  im  allgemeinen 
besteht  der  Ehrgeiz,  sich  aus  der  Masse  herauszuheben,  um  eine 
privilegierte  Sonderstellung  zu  gewinnen.  Der  wahre  Meister  des 
Lebens  aber  sieht  Grofie  und  Gedeihlichkeit  darin,  nur  ein  Teil 
der  Masse  zu  sein;  nichts  tut  so  gut  als  ein  gemeinsamer  Grund 
und  Boden.  Willst  du  das  gottliche,  grofie,  allgemeine  Gesetz  in 
dir  haben?  So  tauche  in  ihm  unter! 

Das  Hochste  aber  und  die  Kronung  der  Demokratie  ist,  dafi  sie 
allein  alle  Nationen,  alle  Menschen  noch  so  verschiedener  und 
entfernter  Lander  zu  einer  Bruderschaft,  einer  Familie  vereinen 
kann  und  immer  zu  vereinen  bestrebt  ist.  Sie  ist  der  alte,  immer 
wieder  neue  Traum  der  Erde,  der  Traum  ihrer  altesten  und  jiingsten 

40 


Volker  und  liebsten  Philosophen  und  Dichter.  Nicht  nur  das  halbe 
Ziel  des  Individualismus,  der  isoliert;  sondern  auch  die  andere 
Halfte,  die  da  ist  Zusammengehorigkeit  und  Liebe,  die  verschmilzt, 
bindet  und  einigt  und  alle  Rassen  zu  Kameraden  und  Briidern 
inacht.  Beide  miissen  lebendig  gemacht  werden  durch  die  Religion 
(die  einzige,  wiirdigste  Erhoherin  von  Menscb  und  Staat),  die  in  die 
stolzen  Gewebe  der  Materie  den  Atem  des  Lebens  haucht.  Denn 
im  Herzen  der  Demokratie  ruht  letzten  Endes  das  religiose  Element. 
Alle  Religionen,  alte  wie  neue,  wohnen  dort.  Und  die  Idee  der 
Demokratie  kann  sicb  nicht  eber  in  strahlender  Schonheit  und 
Gewalt  verwirklichen,  als  bis  jene,  die  die  beste  und  letzte,  die 
geistige  Frucht  tragen,  in  voile  Erscheinung  getreten  sind. 

Ich  mochte  einige  Worte  nicbt  so  sebr  fur  unser  Land,  sondern 
mit  Bezug  auf  Europa  sagen,  besonders  den  britischen  Teil  von 
Europa.  Aber  die  ganze  Frage  ist  zusamrnenhangend  und  umfafit 
alle  Volker.  Der  Liberale  von  heute  bat  vor  Antike  und  Mittelalter 
den  Vorteil  voraus,  dafi  seine  Doktrin  nicht  allein  zu  individualisieren, 
sondern  zu  universalisieren  sucbt.  Das  grofie  Wort  Solidaritat  ist 
gesprochen.  Unter  beutigen  Verhaltnissen  kann  es  unter  alien 
Gefahren  fiir  eine  Nation  keine  grofiere  geben,  als  dafl  gewisse 
Volksteile  von  den  iibrigen  durch  einen  Trennungsstrich  geschieden 
sind,  daB  sie  nicht  die  gleichen  Rechte  wie  die  andern  haben, 
sondern  degradiert,  erniedrigt  sind  und  gar  nicht  in  Betracht  ge- 
zogen  werden.  in  Gott  —  wenn  ich  so  sagen  darf  —  zu  wirken 
und  von  ihm  und  seinem  gottlicheu  Gemeinschaftsgebilde,  dem 
Volk,  zu  zeugen  (oder  meinetwegen  auch  von  dem  leibhaftigen, 
gehornten  und  geschwanzten  Teufel  und  seinem  Gebilde,  wenn 
einige  krampf haft  darauf  bestehen !),  —  das,  sage  ich,  ist  der  Sinn 
der  Demokratie;  und  das  ist,  was  unser  Amerika  bedeutet  und 
vollbringt,  —  darf  ich  nicht  sagen,  schon  vollbracht  hat?  Andernfalls 
vviirde  es  nicht  rnehr  bedeuten  und  vollbringen  als  jedes  beliebige 
andere  Land.  Und  gleichwie  der  Magen  der  Natur,  dank  seiner 
kosmisch-antiseptischen  Kraft,  vollkommen  stark  genug  ist,  nicht 
nur  alle  ihm  bestandig  zugefiihrten  Krankheitsstoffe  zu  verdauen, 
ihnen  nicht  auszuweichen,  sondern  eher  vielleicht  sie  ganz  besonders 
bereitwillig  in  sich  aufzunehmen,  um  sie  in  Nahrstoffe  fiir  die 
hochsten  Zwecke  und  fiir  neues  Leben  zu  verwandeln,  —  so  auch 
die  Demokratie  Amerikas.  Das  ist  die  Lehre,  die  wir  Heutigen  zu 


den  europaischen  Landern  hiniibersenderi,  mil  jedem  Hauch  des 
Westwinds. 

Was  man  auch  in  abstrakten  Argumenten  fur  oder  gegen  die 
Theorie  umfassenderer  Demokratisierung  in  irgendeinem  Lande 
sagen  mag,  sicher  ist,  daB  alle  europaischen  Lander  sich  viele  Un- 
ruhen  ersparen  konnten,  wenn  sie  die  handgreifliche  Tatsache  (denn 
sie  ist  handgreiflich)  erkennen  wiirden,  daB  eine  solche  Demokra- 
tisierung  in  irgendeiner  Form  so  ziemlich  das  einzige  Hilfsmittel 
ist,  das  sie  noch  haben.  Dies,  —  oder  weitere  chronische  Unzu- 
friedenheit,  von  Jahr  zu  Jahr  lauter  werdendes  Murren,  bis  zu  der 
unvermeidlicben,  in  den  meisten  Fallen  sehr  schnell  herannahenden 
Krisis,  dem  Zusammenbrucb  und  dynastischen  Ruin.  Eine  Staats- 
kunst,  die  so  genannt  zu  werden  verdient,  erortert  heutzutage  nicbt 
mebr,  ob  sie  baltmachen,  sicb  auf  die  Vergangenheit  stutzen  und 
die  Monarchic  verteidigen,  oder  ob  sie  in  die  Zukunft  blicken  und 
demokratisieren  solle,  —  sondern  nur  noch,  wie  und  in  welchem 
Grad  und  welcher  Folge  sie  am  weisesten  demokratisieren  konne. 
Und  ich  meine,  daB  sich  in  der  Alten  Welt  unter  den  Schiilern  und 
Adepten  des  Fortschritts  und  alien  Mannern  von  einigem  gesunden 
Verstand  Trager  einer  solchen  Staatskunst  finden  miiBten. 

Die  eifrigen  und  oft  uniiberlegten  Forderungen  von  Reformern 
und  Revolutionaren  sind  unentbehrlich,  um  die  Tragheit  und  Ver- 
steinerung,  der  ein  so  groBer  Teil  der  menschlichen  Einrichtungen 
verfallt,  auszugleichen.  Diese  letzteren  werden  stets  fur  sich  selber 
sorgen,  —  die  Gefahr  ist  nur,  daB  sie  geeignet  sind,  uns  sehr  rasch 
zu  verknochern.  Jene  aber  miissen  mit  Nachsicht,  ja  mit  Achtung 
behandelt  werden.  Was  Zirkulation  fur  die  Luft,  das  ist  Agitation 
und  ein  reichliches  MaB  spekulativer  Willkiir  fur  die  politische 
und  moralische  Gesundheit.  Indirekt,  aber  sicher  erwachsen  Giite, 
Tugend,  Gesetz  (und  zwar  das  allerbeste)  aus  der  Freiheit.  Diese 
sind  fur  die  Demokratie,  was  der  Kiel  fur  das  SchifF  ist,  oder  das 
Salz  fur  den  Ozean. 

Der  Liberalismus  wird  in  den  Vereinigten  Staaten  seine  rechte 
Schwerkraft  durch  eine  allgemeinere  Teilnahme  am  Besitz,  an 
Wohnstatten  und  Komfort,  —  durch  eine  weite,  bindende  Veraste- 
lung  des  Wohlstands  gewinnen.  Wie  der  menschliche  Korper,  und 
iiberhaupt  alle  Dinge  in  diesem  vielfaltigeii  Universum,  am  besten 
zusammengehalten  wird  durch  das  eintache  Wunder  seiner  eigenen 

42 


Koliiision  und  ihrer  Nutzanwendung,  so  wird  auch  eine  groBf, 
mannigfache  Volksgemeinschaft,  die  sich  iiber  Millionen  Quadrat- 
meilen  erstrcckt,  am  festesten  gehalten  und  verbunden  durch  das 
Prinzip  der  Sicherheit  und  Dauerhaftigkeit  des  Zusammenhalts  ihrer 
mittleren  Besilzstande :  so  daB,  anders  herum  gesehen,  die  Demo- 
kratie,  so  hart  und  deni  zuvor  Gesagten  widersprechend  es  auch 
klingen  mag,  mil  mifkrauischen,  unzufriedenen  Augen  auf  die  ganz 
Armen,  Unwissenden  und  Ervverbslosen  blickt.  Sie  verlangt  nach 
Mannern  und  Frauen,  die  einen  Beruf  haben  und  in  guten  Ver- 
haltnissen  sirid,  nach  Eigentumern  von  Haus  und  Grund,  mil  Geld 
auf  der  Bank,  —  und  auch  mit  einem  gewissen  Bediirfnis  nach 
Literatur;  sie  braucht  sie  und  beeilt  sich,  sie  zu  schaffen.  Zum 
Gliick  ist  die  Saat  bereits  gesat  und  hat  unausrottbare  Wurzeln 
geschlagen. 

In  ein  paar  Jahren  wird  das  Herrschaftszentrum  Amerikas  tief 
im  Inland,  nach  Westen  zu,  liegen.  Unsere  Bundeshauptstadt  der 
Zukunft  wird  vielleicht  anderswo  zu  finden  sein,  wie  die  gegen- 
wartige.  Es  ist  moglich,  nein,  wahrscheinlich,  da6  sie  in  weniger 
als  funfzig  Jahren  ein-  oder  zweitausend  Meilen  weiter  wandern  und 
neugegriindet  werden  wird,  und  daB  alles,  was  zu  ihr  gehort,  nach 
einem  ganz  anderen,  ureigenen  und  viel  stolzeren  Plan  wieder 
aufgebaut  werden  wird.  Das  soziale  und  politische  Hauptriickgrat 
der  Staaten  wird  wahrscheinlich  entlang  dem  Ohio,  Missouri  und 
Mississippi  laufen  und  westlich  und  nordlich  von  ihrien,  einschliefi- 
lich  Kanada.  Diese  Gebiete,  samt  den  machtigen  Bruderstaaten  nach 
dem  Pazifik  bin  (zur  Herrschaft  iiber  diesen  Ozean  und  seine  zahl- 
losen  Inselparadiese  bestimmt),  werden  alle  Wesensziige  Amerikas 
zusammenschlieBen  und  -halten,  auch  alle  von  friiher  her  bewahr- 
ten,  die  aber  nun,  zur  reicheren  Entfaltung,  auf  einen  neuen, 
kiihneren,  rein  einheimischen  Stamm  gepfropft  sein  werden.  Ein 
ungeheures  Wachstum,  verwurzelt  in  alien,  genahrt  von  alien,  in 
sich  aufnehmend  alle,  um  sie  in  Herrlichkeit  zu  verwandeln:  voin 
Norden  Verstand,  die  Sonne  aller  Dinge,  und  unbeugsamen  Gerech- 
tigkeitssinn,  den  Anker  in  den  letzten,  wildesten  Stiirmen;  vom 
Siiden  die  lebendige  Seele,  das  Gefiihl  fiir  gut  und  bose,  so  stolz, 
daB  es  keine  andere  Uberzeugung  gel  ten  laBt,  als  die  seine;  und  vom 
Westen  selber  die  feste  Personlichkeit,  warmbliitig  und  nervig  und 
mit  der  tiefen  Fahigkeit  zu  alles  in  sich  aufnehmender  Verschnielzung. 

43 


Politische  Demokratie  in  ihrer  gegenwartigen  Form  und  Wirkung 
in  Amerika  ist,  trotz  all  ihren  bedrohlichen  Ubelstanden,  eine  Schule 
zur  Ziichtung  erstklassiger  Menschen.  Sie  ist  das  Gymnasion  des 
Lebens  in  alien  Dingen.  Trotz  Fehlschlagen  versuchen  wir  es  immer 
wieder  aufs  neue.  Wagemutige  Lust  erfullt  diese  Arena,  so  recbt 
nach  dem  Herzen  der  Vorkampfer  fur  die  Freiheit,  und  gewahrt 
tiefe  Befriedigung  an  sich,  unabhangig  von  Erfolg.  Mogen  wir  vieles 
nicht  erreichen,  eines  erreichen  wir  sicherlicb:  Erfahrungim  Kampf, 
Abhartung  vor  dem  Feind.  Wir  pulsieren  im  Strom  der  Entwick- 
lung.  Die  Zeit  ist  grenzenlos.  Mogen  die  Sieger  nach  uns  kommen. 
Es  hat  sicherlich  seinen  Grurid,  daB  das  Schlechte  noch  Macht  unter 
uns  hat.  Nach  den  Hauptabschnitten  der  Weltgeschichte  zu  ur- 
teilen,  ist  die  Gerechtigkeit  jederzeit  in  Gefahr,  der  Friede  ist 
stiindlich  von  Fallstricken  umgeben,  von  Sklaverei,  Elend,  Gemein- 
heit,  Tyrannenlist  und  Leichtglaubigkeit  des  Volkes  in  irgendeiner 
ihrer  proteischen  Formen;  niemand  kann  ja  sagen,  sie  seien  iiber- 
wunden.  Die  Wolken  zerreiBen  ein  wenig,  und  die  Sonne  scheint 
hervor,  —  aber  bald  und  unausbleiblich  senkt  sich  die  Finsternis 
wieder  herab,  gleich  als  wie  fur  ewig.  Aber  dennoch  lebt  injeder 
gesunden  Seele  ein  unsterblicher  Mut  und  eine  prophetische  Ahnung, 
die  unter  keinen  Umstanden  kapitulieren  kann  und  darf.  Vivat  dem 
Angriff!  —  dem  ewigen  Sturmlauf !  —  Vivat  der  bedrangten  Sache, 
—  dem  Geist,  der  kiihne  Ziele  hat,  —  dem  unermiidlichen  Streben 
inmitten  aller  Feindschaft  des  Gewohnten! 

Friiher,  vor  dem  Kriege  (ach,  ich  wage  nicht  zu  sagen,  wie  oft!) 
war  auch  ich  von  Zweifel  und  Triibsinn  erfiillt.  Ein  Auslander, 
ein  scharfblickender,  edler  Mann,  sagte,  eigentlich  nur  meine  eigenen 
Beobachtungen  in  Worte  fassend,  sehr  eindrucksvoll  zu  mir:  ,,Ich 
bin  viel  in  den  Vereinigten  Staaten  gereist,  habe  ihre  Politiker  beob- 
achtet,  den  Reden  der  Kandidaten  zugehort,  die  Zeitungen  gelesen, 
die  offentlichen  Gebaude  besucht  und  den  Gesprachen  von  Mannern 
gelauscht,  die  sich  unbeobachtet  glaubten.  Und  ich  habe  Ihr  ge- 
riihmtes  Amerika  von  Kopf  bis  zu  FuB  durchlochert  gefunden  von 
Treulosigkeit,  sogar  gegen  sich  selbst  und  das  eigene  Programm. 
Ich  habe  die  frechen  Hollenfratzen  der  Sezession  und  Sklaverei 
herausfordernd  aus  alien  Fenstern  und  Tiiren  grinsen  sehen.  Ich 
habe  iiberall  an  erster  Stelle  Diebe  und  Schalksgesindel  die  Besetzung 
der  Amter  bestimmen  und  zuweilen  selber  die  Amter  fullen  sehen. 

44 


Ich  fand  den  Norden  genau  so  voller  GiftstofFe  wie  den  Siiden. 
Was  die  Inhaber  offentlicher  Amter,  nationaler,  staatlicher  und 
kommunaler,  angeht,  so  habe  ich  gefunden,  daG  nicht  einer  unter 
hundert  durch  freiwillige  Wahl  der  AuGenseiter,  des  Volkes  gewahlt 
worden  ist,  sondern,  daB  alle  durch  kleine  oder  groGe  Schiebungen 
der  Berufspolitiker  nominiert  und  durchgebracht  worden  sind  und 
ihre  Stellung  erhalten  baben  nicbt  durch  Fahigkeit  und  Verdienst, 
sondern  durch  korrupte  Cliquen  und  Wahlmanover.  Ich  habe  ge- 
sehen,  wie  auf  diese  Weise  die  Millionen  biederer  Farmer  und 
Handvverker  nur  die  hilflosen  Gummipuppen  einer  verhaltnismafiig 
kleinen  Anzahl  von  Politikern  sind;  und  habe  mehr  und  mehr  das 
beunruhigende  Schauspiel  wahrgenommen,  daB  die  Parteien  sich 
der  Regierung  bemachtigen  und  sie  offen  und  schamlos  fiir  ihre 
Parteizwecke  ausbeuten." 

Traurige,  ernste,  tiefe  Wahrheiten.  Dennoch  bestehen  andere, 
noch  tiefere,  entgegengesetzte,  beherrschende  Wahrheiten.  tlber 
diese  Politiker  und  groGen  und  kleinen  Cliquen  und  all  ihre 
Frechheit  und  Tucke  und  iiber  die  miichtigsten  Parteien  er- 
hebt  sich  eine  Macht,  die,  wenn  auch  vielleicht  ein  wenig  zu 
trage,  dennoch  alle  Entscheidungen  und  Beschliisse  in  der  Hand 
halt,  bereit,  sie  in  strengem  Verfahren  durchzufiihren,  sobald  es 
wirklich  notig  ist,  und  zuzeiten  die  machtigsten  Parteien  summa- 
risch  in  A  tome  zu  zerschmettern,  vielleicht  just  in  der  Stunde  ihres 
Triumphes. 

In  zuversichtlicheren  Stunden  sehen  sich  diese  Dinge  alles  in  allem 
ganz  anders  an  als  auf  den  ersten  Blick.  Obschon  es  zweifellos 
wichtig  ist,  wer  zum  Gouverneur,  Biirgermeister  oder  Gesetzgeber 
erwahlt  wird  (und  unheilvoll,  wenn  Unfahige  oder  Schurken  ge- 
wahlt werden,  wie  es  zuweilen  vorkommt),  so  gibt  es  doch  andere, 
stillere,  unendlich  viel  wichtigere  Tatsachen.  Falschheit  und  der- 
gleichen  wird  sich  wie  der  Schaum  des  Meeres  immer  nur  an  der 
Oberflache  zeigen;  genug,  wenn  tiefes  und  klares  Wasser  darunter 
ist.  Genug,  daB  die  verborgene  Kette  und  Einschlag  des  Gewebes 
echt  und  ewig  dauerhaft  sind,  mag  auch  die  mit  Stickerei  uber- 
ladene  Pracht,  die  sich  dem  oberflachlichen  Auge  darbietet,  nur 
Schund  sein.  Genug  kurzum,  daG  die  Rasse,  das  Land,  das  eine 
solche  Rebellion  wie  die  jiingst  erlebte,  hervorbringen  konnte,  sie 
auch  niederzuschlagen  vermochte. 

45 


DerDurchschuittsmeiisch  einesLandes  ist  letzten  Endes  das  einzig 
Wichtige.  Er  bleibt  in  diesen  Staaten  der  unsterbliche  Eigentiimer 
und  Meister.  Eine  Nation  wie  die  unsrige,  die  sich  in  einer  Art 
geologischen  Werdezustands  befindet  und  bestandig  neue  Experi- 
mente  macht,  neue  Abordnungen  erwahlt,  zieht  Nutzen  riicht  nur 
aus  den  Diensten  der  besten  Manner,  sondern  manchmal  noch  mehr 
aus  denen,  die  sie  herausfordern,  und  aus  den  Kampfen,  die  sie  da- 
durch  verursacben.  In  solcbem  Sinne  ist  nationale  Wut,  Hafi,  Streit 
usf.  besser  als  Zufriedenheit.  Und  in  solchem  Sinne  sind  auch  jene 
Warnungssignale  unschatzbar  fur  spatere  Zeiten. 

So  taucht  immer  wieder  wie  ein  Leitmotiv  der  Gedanke  auf,  der 
diesen  Seiten  Ton  und  Echo  gibt.  Wenn  ich  im  Geist  bin  und  ber 
reise  durch  verschiedene  Breiten,  verschiedene  Jabreszeiten  und  das 
Gedrange  der  grofien  Stadte  iiberschaue,  New  York,  Boston,  Phila- 
delphia, Cincinnati,  Chicago,  St.  Louis,  San  Francisko,  New  Orleans, 
Baltimore,  —  wenn  ich  untertauche  in  diese  endlosen  Schwarme 
lebhafter,  ungestiimer,  gutherziger,  freiheitliebender  Burger,  Hand- 
werker,  Schreiber  und  jungen  \7olks,  —  so  befallt  mich  bei  dem 
Gedanken  an  diese  Masse  so  frischer  und  freier,  so  liebender  und 
stolzer  Manner  eine  sonderbare  Ehrfurcht.  Ich  fiihle  mit  Nieder- 
geschlagenheit  und  Verwunderung,  dafi  unter  unseren  genialen  oder 
talentierten  Schriftstellern  oder  Rednern  bisher  nur  wenige  oder 
gar  keiner  wirklich  zu  diesem  Volke  gesprochen  oder  ihm  ein  ein- 
ziges,  vorbildliches  Werk  geschaffen  oder  seinen  innersten  Geist  und 
seine  eigenste  Gedanken  welt  in  sich  aufgenommen  hat,  die  infolge- 
dessen  bislang  in  der  hochsten  Sphare  noch  gar  keinen  Ausdruck, 
keine  Verherrlichung  gefunden  hat. 

Stark  ist  die  Herrschaft  des  Leibes,  starker  die  Herrschaft  des 
Geistes.  Was  bisher  unseren  Intellekt,  unsere  Phantasie  ausgefiillt 
hat  und  sie  noch  heute  ausfullt  und  ihre  Normen  bestimmt,  kommt 
aus  dem  Ausland.  Die  grofien  Dichtungen,  Shakespeare  inbegriffen, 
sind  Gift  fur  die  Idee  von  Stolz  und  Wiirde  des  gewohnlichen 
Volkes,  die  das  Lebensblut  der  Demokratie  ist.  Die  Vorbilder 
unserer  Literatur,  wie  wir  sie  von  anderen  Landern  iiber  das  Meer 
her  beziehen,  sind  an  Fiirstenhofen  geboren  und  im  Sonnenschein 
von  Schlossern  erwarmt  und  herangewachsen;  alles  riecht  nach 
Fiirstengunst.  Wir  haben  zwar  eine  ganze  Menge  einer  gewissen 
Sorte  von  Handwerkern  der  Literatur,  die  sich  auf  ihre  Art 

46 


beiniihen;  viele  elegant,  viele  gelehrt,  alle  gefallig.  Aber  von  dem 
nationalen  Priifstein  beruhrt  oder  an  dem  MaBstab  demokratiscber 
Personlichkeit  gemessen,  welken  sie  zn  Asche.  Ich  bebaupte,  daB 
ich  keinen  einzigen  Schriftsteller,  Kiinstler,  Redner  oder  was  sonst 
geseben  babe,  der  sich  mit  dem  stummen,  aber  stets  aufrecbten 
und  tatigen,  alles  durchdringenden,  allem  zugrunde  liegenden 
\Villen  und  typiscben  Streben  des  Landes  in  wesensverwandtem 
Geiste  auseinandergesetzt  batte.  Soil  man  diese  feinen  Kreaturchen 
amerikaniscbe  Dichter  nennen?  Soil  man  diese  evvige  kleinliche 
Kleistertopfarbeit  als  amerikanische  Kunst,  als  das  Drama,  die  Lyrik, 
die  Asthetik  Amerikas  bezeicbnen?  Es  ist  mir,  als  horte  ich  von 
einem  Berggipfel  im  fernen  Westen  ber  das  Hobngelachter  des 
Genius  unserer  Staaten. 

Die  Demokratie  wartet  ibre  Zeit  ab  in  scbweigendem  Sinnen 
iiber  ihr  eigenstes  Ideal,  nicht  allein  in  Literatur  und  Kunst,  - 
aucb  nicht  im  Mann  aliein,  sondern  ebenso  im  Weibe:  das  Ideal- 
bild  der  amerikanischen  Frau  (befreit  von  dem  Dunst,  von  der 
stockenden,  ungesunden  Luft,  die  um  das  Wort  „  Dame"  hangt), 
entvvickelt,  erhoben  zur  starken,  gleichberechtigten  Mitarbeiterin 
des  Mannes,  auch  bei  praktischen  und  politischen  Entscheidungen, 
—  grofier  als  der  Mann  vielleicht  durch  ihre  gottliche  Mutterschaft, 
ihr  ewig  erhabenes,  sinnbildliches  Eigen,  —  jedenfalls  aber  ebenso- 
groB  \vie  der  Mann,  in  jeder  Hinsicht;  oder  besser  gesagt,  fahig 
ebensogroB  zu  sein,  sobald  sie  sich  dessen  bewuBt  wird  und  es  iiber 
sicb  vermag,  alien  Tand  und  Schein  aufzugeben  und,  gleich  den 
Mannern,  mitten  in  das  vvirkliche,  unabhangige,  stiirmische  Leben 
zu  treten. 

Glaubtest  auch  du,  o  Freund,  Demokratie  sei  nur  eine  Wabl- 
parole  und  politisches  Schlagwort  und  Name  fur  eine  Partei?  Als 
solche  kann  sie  nur  von  Nutzen  sein,  wenn  sie  sich  zu  ihrer  vollen 
Bliite  und  Frucht  entwickelt  in  der  gesamten  Lebenshaltung,  in 
den  hochsten  Formen  des  Umgangs  von  Merischen  miteinander 
und  ihrer  Uberzeugungen,  —  in  Religion,  Literatur  und  Scbule,  - 
Demokratie  im  gesamten  offentlichen  und  privaten  Leben,  auch  in 
Heer  und  Flotte.  Ich  habe  angedeutet,  daB  sie,  als  oberster  Grund- 
satz,  bisher  nur  geringe  oder  gar  keine  Verwirklichung  oder  glau- 
bige  Anhangerschaft  gefunden  hat.  Sovveit  ich  sehe,  hat  sie  bis- 
her auch  keine  nennenswerte  Hilfe  durch  die  Propaganda  ihrer 

47 


Vorkampfer  gehabt,  die  ihr  im  Gegenteil  oft  nur  geschadet  haben. 
Sie  wurde  und  wird  gefordert  durch  alle  Krafte  der  Moral  und 
durch  Handel,  Finanzwirtschaft,  Maschinen,  Verkehr  und  alien 
Fortschritt  der  Geschichte  und  kann  ebensowenig  wie  die  Gezeiten 
des  Meeres  oder  die  Erde  in  ihrem  Kreislauf  aufgehalten  werden. 
Aucb  herrscbt  sie  zweifellos,  noch  unentfaltet  und  verborgen,  tief 
in  den  Herzen  des  guten  Durchscbnitts  des  amerikaniscb  geborenen 
Volkes,  vor  allem  in  den  ackerbauenden  Gebieten.  Aber  sie  ist 
weder  dort  nocb  sonstwo  das  mit  vollem  BewuBtsein  angenommene, 
leidenschaftliche,  absolute  Glaubensbekenntnis. 

Ich  glaube  daber,  daB  die  Bliitezeit  der  Demokratie  in  der  Zu- 
kunft  liegt.  Gleichwie  wir,  bei  tiefer  und  umfassender  Betrachtung, 
die  reicbgegliederte  Feudalwelt  als  das  in  langen  Jahrbunderten 
erreicbte  Ergebnis  eines  tiefen,  ibr  innewobnenden,  menschlich- 
gottlichen  Prinzips  erblicken,  oder  einer  Quelle,  aus  der  Gesetze, 
Kirche,  Umgangsformen,  Einricbtungen,  Sitten,  Personlichkeiten 
und  (bisber  unerreichte)  Dicbtungen  entsprangen,  —  so  soil  aucb 
nacb  langen  Jabrbunderten  dem  berufenen  riickschauenden  Histo- 
riker  und  Rritiker  das  demokratische  Prinzip  ein  ebensolches  Bild 
bieten,  in  der  reichen  Fiille  seiner  Ergebnisse,  — .  wenn  es  erst 
einrnal  mit  unumscbrankter  Macht  und  lange  Zeit  die  Menscbheit 
beherrschl  hat,  —  Ursprung  und  Priifstein  aller  moralischen, 
asthetischen,  sozialen,  politischen  und  religiosen  Formen  und  Ein- 
richtungen  gewesen  ist,  —  sie  in  Geist  und  Gestalt  erzeugt  und  zu 
ibrer  hochsten  Kobe  gefuhrt  hat,  —  wenn  es  vielleicht  seine 
Ordensbruder  und  Asketen  gehabt  hat,  zahlreicher  und  inbrun- 
stiger  als  die  Monche  und  Priester  aller  friiheren  Glaubensbekennt- 
nisse,  —  wenn  es  ganze  Zeitalter  mit  einer  klaren  GroBziigigkeit 
beherrscht  hat,  die  mit  der  der  Natur  wetteifert,  und  in  seinem 
eigensten  Interesse  und  mit  unvergleichlichem  Erfolge  eine  neue 
Erde,  einen  neuen  Menschen  geschaffen  und  nach  seinem  Plan  zu 
einem  triumphierenden  Ende  gefuhrt  hat. 

So  wagen  wir  es  also,  iiber  Dinge  zu  schreiben,  die  noch  nicht 
ins  Dasein  getreten  sind,  und  an  Hand  von  Landkarten  zu  reisen, 
die  noch  unbeschrieben  und  leer  sind.  Aber  die  Wehen  der  Neu- 
geburt  schiitteln  uns,  und  wir  haben  den  Vorteil  der  Zeiten  starker 
Neugestaltung,  Ahnung,  UngewiBheit  fur  uns,  namlich  den  Geistes- 
hauch  solcher  Aufgaben,  der  uns  umweht;  und  unsere  Sprache, 

48 


heiB  von  Kampf  und  Aufruhr  ringsum,  ohne  wohlgeglatteten  Zu- 
sammenhang  zwar  und  verfehlt  nach  dem  MaBstab  der  sogenann- 
ten  Kritik,  bricht  dennoch  aus  uns  hervor,  so  wirklich  wie  die 
Blitze. 

Nachdem  wir  nun  so  viel  beigebracht  baben,  was  wohl  iiberlegt 
werden  und  helfen  soil,  unser  Gebaude,  unsere  geplante  Idee  vor- 
zubereiten  und  stark  zu  machen,  geben  wir  nocb  weiter  und  geben 
dem  Bau  nach  einer  andern  Seite  bin  vielleicbt  seine  Hauptfassade. 
Denn  mit  der  Demokratie,  der  Ausgleicherin,  dem  unnachgiebigen 
Prinzip  des  Durcbschnitts,  ist  ohne  Zweifel  ein  anderes  Prinzip 
verbunden,  ebenso  unnachgiebig,  dem  ersten  auf  dem  Fufie  folgend, 
ihm  unentbehrlich,  entgegengesetzt  (so  wie  die  Geschlechter  ein- 
ander  entgegengesetzt  sind),  ein  Prinzip,  das  dem  andern  entgegen- 
wirkt  und  es  modifiziert,  und  dennoch  ohne  das  andere  niemals 
zu  seiner  hochsten  Geltung  kommen  kann  und  das  zu  unserer 
weltgrofien  Politik  und  den  aufsteigenden  todlicben  Gefahren  der 
Republik  jenes  Gegengewicht  gibt,  mit  dem  die  Natur  die  ur- 
spriingliche,  furchtbare  Unbarmherzigkeit  aller  ihrer  obersten  Ge- 
setze  mildert.  Dieses  zweite  Prinzip  ist  der  Individualismus,  die 
stolze,  zentripetale  Isoliertheit  des  menschlichen  Wesens  in  sich 
selbst,  —  Identitat,  —  Personlichkeit.  Wie  immer  man  es  nennen 
mag,  seine  innige  Verschmelzung  mit  der  gesamten  Organisation 
politischer  Gemeinschaft,  die  jetzt  wie  mit  Strahlen  der  Morgenrote 
uber  alle  Welt  emporsteigt,  ist  von  hochster  Bedeutung,  wie  denn 
iiberhaupt  dieses  Prinzip  an  sich  eine  Lebensnotwendigkeit  ist.  Es 
stellt  gewissermaBen  das  Schwungrad  dar,  das  der  so  erfolgreich 
arbeitenden  Maschinerie  des  Gemeinlebens  Amerikas  das  Gleich- 
gewicht  gibt. 

Und  wenn  wir  es  richtig  bedenken,  worauf  ruht  die  Zivilisation 
selber,  und  welchen  andern  Zweck  hat  sie  und  alle  ihre  Religionen, 
Kiinste,  Schulen  usw.,  als  einzig  und  allein  die  Zuchtung  reicher, 
iiberquellender,  vielfaltiger  Personlichkeiten?  Darauf  zielt  alles  bin; 
und  weil  die  Demokratie  allein  im  gegenwartigen  Stand  der  Ent- 
wicklung  um  dieses  Zieles  willen  das  unendliche  Brachfeld  der 
Menschheit  aufpfliigt  und  die  Saat  hineinpflanzt  und  ihr  freies 
Wachstum  gibt,  deshalb  allein  gehen  ihre  Anspriiche  alien  anderen 
vor.  Literatur,  Dichtuug,  Asthetik  eines  Landes  sind  hauptsachlich 
deshalb  von  Bedeutung,  weil  sie  den  Frauen  und  Mannern  dieses 


4     Whitman 


49 


Landes  Stoff  und  Anregung  zur  Persftnlichkeitsbildung  geben,  auf 
tausenderlei  wirksame  Weise.  Gleichwie  fiir  eine  starke  Festigung 
der  Nationalitat  unserer  Einzelstaaten  der  oberste  Grundsatz  gilt, 
dafi  nur  ein  so  machtvoller  Zusammenschlufi  ihnen  den  vollen, 
freien  Spielraum  innerhalb  ihrer  eigenen  Sphare  gewahrleisten 
kann,  so  wird  auch  der  Individualismus  in  ungehemmter  Verzwei- 
gung  am  reichsten  bliihen  unter  gebieteriscb  republikaniscben  For- 
men.  Das  Wort  Demokratie  ist  oft  gedruckt  worden.  Aber  icli  kann 
nicht  oft  genug  wiederholen,  dafi  sein  Wesenskern  nocb  unerweckt 
schlummert,  ungeacbtet  des  Widerballs  und  der  vielen  wiitenden 
Stiirme,  unter  denen  seine  Silben  von  Feder  oder  Zunge  gebraucht 
wurden.  Es  ist  ein  groBes  Wort,  dessen  Geschichte  meines  Er- 
acbtens  noch  ungeschrieben  ist,  weil  sie  nocb  nicbt  Ereignis  ge- 
worden  ist.  Es  ist  in  gewissem  Sinne  der  jiingere  Bruder  eines 
anderen  oft  gebrauchten  Wortes,  Natur,  dessen  Geschichte  ebenfalls 
noch  seines  Schreibers  wartet.  Nach  meiner  Beobachtung  ist  die 
Tendenz  unserer  Zeit  in  den  Staaten  auf  jene  weitumfassenden 
Bewegungen  und  Einfliisse  der  Menschheitsidee  gerichtet,  moralische 
wie  physische,  die  jetzt  und  immer  iiber  den  Planeten  laufen  mit 
der  Triebkraft  von  Elementen.  Daher  ist  es  gut,  die  ganze  Frage 
auf  die  Betrachtung  des  einzelnen  Ich  eines  Mannes  oder  Weibes 
und  somit  auf  ihre  ewige  Grundlage  zuriickzufiihren.  Selbst  bei 
der  Betrachtung  des  Universellen,  in  Politik,  Metaphysik  und  allem 
andern,  kommen  wir  friiher  oder  spater  auf  die  einzelne,  einsame 
Seele  zuriick. 

In  unsern  besten  Stunden  steigt  ein  Bewufitsein,  ein  Gedanke  in 
uns  auf,  unabhangig,  hoch  iiber  allem  andern,  gelassen  wie  die 
Sterne,  in  ewigem  Glanz.  Das  ist  der  Gedanke  der  Identitat  —  der 
deinigen  fiir  dich,  wer  du  auch  seist,  wie  der  meinigen  fiir  mich. 
Wunder  der  Wunder,  iiber  alien  Ausdruck  erhaben,  geistigster  und 
duftigster  aller  Erdentraume,  und  doch  die  festeste  Grundtatsache 
und  der  einzige  Zugang  zu  allem  Geschehen.  In  solchen  andach- 
tigen  Stunden,  inmitten  der  bedeutsamen  Wunder  von  Himmel 
und  Erde  (bedeutsam  nur  wegen  meines  Ich  im  Mittelpunkt),  fallen 
alle  Glaubensbekenntnisse  und  Konventionen  ab  und  werden  be- 
langlos  vor  dieser  einfachen  Idee.  In  der  Erleuchtung  wirklichen 
Schauens  nimmt  sie  allein  Besitz  von  uns  und  hat  allein  Wert  fiir 
uns.  Wie  der  schattenhafte  Zwerg  im  Marchen  dehnt  sie  sich, 

5o 


einmal  entfesselt  und  erkannt,  iiber  die  ganze  Erde  aus  und  reicht 
bis  ans  Dach  des  Himmels. 

Die  Eigenschaft  des  MSeins"  im  eigenen  Selbst,  entsprechend 
seiner  eigenen  zentralen  Idee  und  Bestimmung,  und  wie  \vir  aus 
ihr  und  fur  sie  wachsen  mogen,  ohne  jede  Kritik  nach  andern 
Mafistaben  und  jede  Anpassung  an  sie,  —  das  lehrt  uns  die  Natur. 
GewiB,  der  vollentwickelte  Mensch  sammelt,  sucht,  absorbiert 
weislich;  \ver  sicb  aber  unverhaltnismaBig  viel  damit  abgibt  und 
die  kostbare  Idiokrasie,  die  Urbestimmung,  zu  der  er  geboren  ist, 
namlich  das  eigene  Ich,  die  Hauptsache,  ubersieht  oder  unterdruckt, 
hat  seine  Bestimmung  verfeblt,  so  umfassend  aucb  seine  Allgemein- 
bildung  sein  mag.  So  bemiibt  man  sich  beute  um  Bildung  und 
Verfeinerung  nicht  nur  vollauf  zur  Geniige,  sondern  diese  droben 
uns  aufzufressen  wie  ein  Krebsgeschwiir.  Scbon  beobachtet  der 
demokratische  Genius  diese  Tendenz  mit  MiBfallen.  Ein  biBcben 
gesunde  Roheit,  wilde  Tuchtigkeit,  Bewahrung  dessen,  was  man 
im  eigenen  Icb  hat,  sei  es  was  es  wolle:  das  tut  uns  not.  Negative 
Eigenschaften,  sogar  Mangel,  waren  eine  Erleichterung.  Verein- 
zelung,  normale  Einfachheit  und  Una*bhangigkeit  inmitten  dieses 
mehr  und  mehr  komplizierten,  mehr  und  mehr  verkiinstelten  Zu- 
standes  der  Gesellschaft,  —  wie  sehnen  wir  uns  in  Gedanken  danach ! 
wie  ware  uns  ihre  Wiederkehr  willkommen! 

Amerika  hat  moralisch  und  kiinstlerisch  noch  nichts  Eigenes 
zustande  gebracht.  Es  scheint  sich  seltsamerweise  dessen  nicht  be- 
wufit  zu  sein,  dafi  die  Vorbilder  von  Personlichkeiten,  Biichern, 
Lebensformen  usw.,  die  friiheren  Verhaltnissen  und  europaischen 
Landern  naturgemSlB  waren,  bier  nur  Fremdlinge  im  Exil  sind. 
Keine  einzige  Stromung  seines  Lebens,  soweit  sie  sich  an  der  Ober- 
flache  seiner  sogenannten  Gesellschaft  zeigt,  nimmt,  sozial  oder 
asthetisch,  den  demokratischen  Gedanken  in  sich  auf  oder  miindet 
in  ihn;  vielmehr  laufen  alle  Stromungen  ihm  geradenwegs  zuwider. 
Niemals  war  in  der  Alten  Welt  sorgfaltig  aufgepolsterter  auBerer 
Schein,  in  geistiger  und  anderer  Hinsicht  (lediglich  beruhend  auf 
der  Idee  der  Kaste  und  der  Hinlanglichkeit  von  rein  auBerlich  Er- 
worbenem),  -  -  niemals  war  Zungenfertigkeit  und  bloBer  Wort- 
intellekt  in  hoherem  Grade  der  Priifstein  alles  Strebens  und  das 
hochste  Ziel  und  Beispiel  als  an  der  Oberflache  unserer  republi- 
kanischen  Staaten  von  heute.  Die  Schriftsteller  jeder  Epoche  nennen 

4'  5i 


das  Motto  ihrer  Gotter.  Das  Wort  der  Moderne,  sagen  diese  Stim- 
men,  1st  das  Wort  Kultur. 

Hier  stehen  wir  plotzlich  dicht  an  feindlichem  Gebiet.  Dieses 
Wort  Kultur  oder  der  Sinn,  den  es  angenommen  hat,  enthalt  als 
Gegensatz  unser  ganzes  Thema  und  ist  in  der  Tat  der  Ansporn 
gewesen,  der  mich  zum  Angriff  getrieben  hat.  Bestimmte  Fragen 
erheben  sich.  Erzeugen  nicht  die  Fortschritte  der  Kultur,  nach 
allem,  was  wir  jetzt  nachgewiesen  und  ausgefiihrt  haben,  in  kiirzester 
Zeit  eine  Klasse  von  oberflachlichen  Zweiflern,  die  an  nichts  mehr 
glauben?  Soil  ein  Mensch  sich  selber  in  hundertfaltiger  Anpassung 
verlieren  und  aus  Riicksicht  auf  dies  und  das  und  jenes  so  umge- 
modelt  werden,  dafl  alles  Einfach-Gute,  Gesunde  und  Starke  an 
ihm  verdrangt  und  beschnitten  wird  wie  Buchsbaumhecken  in 
einem  Garten?  Man  kann  Getreide  und  Rosen  und  Obstbaume 
kultivieren,  —  aber  wer  will  die  Berggipfel,  das  Meer  und  die  ge- 
ballte  Pracht  der  Wolken  kultivieren?  Und  endlich:  ist  die  schnell 
bereite  Antwort,  dafi  Kultur  nur  helfen,  ordnen  und  die  Elemente 
von  Fruchtbarkeit  und  Kraft  gehorig  verteileji  will,  eine  giiltige 
Antwort? 

Ich  babe  nichts  gegen  den  Namen  oder  das  Wort,  aber  ich  wiirde 
unbedingt,  um  des  Endzwecks  dieser  Staaten  willen,  auf  einem 
radikalen  W7echsel  der  Klasse  bei  der  Verteilung  des  Erbes  der 
Vergangenheit  bestehen.  Ich  wiirde  ein  Kulturprogramm  fordern, 
das  nicht  fur  eine  einzelne  Klasse  oder  fur  die  Salons  und  Horsale 
entworfen  ware,  sondern  mit  Verstandnis  fur  das  praktische  Leben, 
fur  den  Westen,  fur  das  arbeitende  Volk,  fur  Farmer,  Hand  wer  ker 
und  Ingenieure  und  fur  die  breite  Masse  der  Frauen  auch  aus  den 
mittleren  und  arbeitenden  Schichten  und  mit  Riicksicht  auf  die 
vollige  Gleichheit  der  Frauen  und  der  erhabenen,  machtigen  Mutter- 
schaft.  Ich  wiirde  von  diesem  Programm  oder  dieser  Theorie  einen 
Gesichtskreis  fordern,  weitherzig  genug,  um  das  ganze  Areal  der 
Menschheit  zu  umfassen.  Sein  Hauptziel  mu6  die  Bildung  eines 
typischen  Personlichkeitscharakters  sein,  der  fur  den  guten  Durch- 
schnitt  der  Menschen  erreichbar  und  nicht  durch  Bedingungen 
beschrankt  ist,  die  ihn  fur  die  Massen  unerreichbar  machen.  Die 
beste  Kultur  wird  immer  die  der  mannlichen,  tapferen  Instinkte, 
liebender  Aufnahmefahigkeit  und  Selbstachtung  sein,  bestrebt,  iiber 
diesen  ganzen  Kontinent  hin  eine  universelle  Idiokrasie  zu  schaffen, 

52 


die  als  echtes  Kind  Amerikas  zur  Freude  seiner  Mutter  in  ihrein 
eigenen  Geist  zu  ihr  zuriickkehren  und  ihr  Myriaden  von  Nach- 
kommen  bringen  wird,  tiichtig,  natiirlich,  aufnahmefahig,  duld- 
sam,  voll  frommen  Glaubens  an  sie,  die  Mutter  Amerika,  und  klar 
bewufit,  warum  und  wofiir  sie,  die  umfassendste,  gewaltigste  Neu- 
schopfung  der  Geschichte,  erstanden  ist  und,  jetzt  und  hier,  mil 
herrlichem  Schritt  durch  die  Zeit  schreitet  .  .  . 

Wenn  wir  es,  obwohl  nur  in  roben  Umrissen,  versuchen  wollen, 
ein  grundlegendes  Vorbild  oder  Portrat  wahrer  Personlichkeit  zum 
allgemeinen  Gebrauch  fiir  die  Mannheit  der  Vereinigten  Staaten 
zu  entwerfen  (und  zweifellos  wird  dasjenige  am  nutzlichsten  sein, 
das  am  einfochsten  und  fiir  alle  verstandlich  und  nicht  zu  hoch 
gegriffen  ist),  so  sollten  wir  zuvor  die  Leinwand  gut  vorbereiten. 
Die  Abstammung  miifite  zuerst  in  Betracht  gezogen  werden.  (Wird 
wohl  die  Zeit  bald  kommen,  wo  Vater-  und  Mutterscbaft  eine 
Wissenschaft,  und  zwar  die  vornehmste  Wissenschaft,  sein  wird?) 
Fiir  unser  Vorbild  ist  eine  reinbliitige,  kraftvolle  physiscbe  Grund- 
lage  unerlaBlich;  die  Fragen  des  Essens  und  Trinkens,  der  Luft, 
der  korpcrlichen  Ubung,  der  Anpassungsfahigkeit  und  Verdauung 
diirfen  nie  aufier  acht  gelassen  werden.  Aus  diesen  Vorbedingungen 
heraus  denken  wir  uns  eine  woblgeschaffene  Selbstbeit,  —  in  der 
Jugend  frisch,  feurig,  gefiihlsstark,  hochstrebend,  voll  Abenteuer- 
lust;  in  der  Reife  tapfer,  urteilsfahig,  selbstbeberrscbt,  weder  allzu 
redselig  nocb  allzu  verscblossen ,  weder  vorlaut  noch  verdrossen; 
in  ibrer  korperlichen  Erscheinung  von  anmutigen  Bewegungen,  die 
Gesichtsfarbe  von  reinstem  Blut  belebt,  leicht  durchgliiht,  die  Brust 
breit,  die  Haltung  aufrecht,  eine  Stimme,  deren  Klang  wohllauten- 
der  ist  als  Musik,  ruhig  und  fest  blickende  Augen,  die  aber  auch 
fahig  sind,  Blitze  zu  schleudern,  —  ein  Auftreten  alles  in  allem, 
das  auch  in  Gesellschaft  der  Hochsten  seine  Eigenart  zu  bewahren 
weifi.  (Denn  angeborene  Personlichkeit  allein  befahigt  einen  Mann, 
auch  vor  Prasidenten  und  Generalen  oder  in  sonst  welchem  her- 
vorragenden  Kreis  mit  Gelassenheit  zu  stehen,  --  und  nicht  die 
yKultur"  oder  irgendwelche  Bildung  oder  irgend welches  Wissen.) 

Was  die  geistige  Erziehung  unseres  Vorbildes  angeht,  die  Ent- 
wicklung  seines  Intellekts,  die  Bereicherung  seines  rein  verstandes- 
mafiigen  Wissens  usw.,  so  sind  alle  Bemuhungen  unserer  Zeit,  be- 
sonders  in  Amerika,  so  sehr  darauf  gerichtet  und  tun  sich  so  viel 

53 


zugute  darauf,  fiir  diesen  Teil  der  Erziehung  ausgiebig  zu  sorgen, 
daB  wir,  so  wichtig  und  notig  er  auch  ist,  unsererseits  nichts  dazu 
zu  bemerken  braucben,  —  aufier  vielleicbt  ein  Wort  der  Warnung 
und  Einschrankung.  Aucb  bei  den  Umgangsformen  und  Sitten 
braucben  wir  uns  bier  nicht  aufzuhalten.  Sie  sind,  ebenso  wie 
Schonheit,  Anmut  usf.,  lediglicb  Folgeerscbeinungen.  Wenn  die 
Ursacben,  die  wesentlichen  Dinge  beachtet  werden,  so  folgen  die 
rechten  Umgangsformen  unfeblbar  nach.  Viel  ist  unter  Kiinstlern 
geredet  worden  von  dem  ,,hoben  Stil",  als  ob  er  ein  Ding  fiir  sicb 
ware.  Wenn  ein  Mann,  ein  Kiinstler  oder  sonst  jemand,  Gesund- 
heit,  Stolz,  scharfe  Sinne  und  ein  edles  Streben  bat,  so  hat  er  die 
Grundelemente  des  hochsten  Stils.  Alles  iibrige  ist  nur  eine  Frage 
der  Anwendung  (freilich  aucb  nicbts  Geringes).  Icb  iibergehe  eine 
ganze  Reihe  wesentlicher  Ziige,  die  ein  Vorbild  der  amerikanischen 
Zukunftspersonlichkeit  haben  muB,  und  muB  nur,  wieder  und 
immer  wieder,  einen  erwahnen,  der  vielleicht  im  modernen  Leben 
am  wenigsten  beachtet  wird,  —  einen  Mangel,  der  vielleicht  die 
diistersten  Folgen  fiir  unsere  Nachkommen  haben  wird.  Ich  meine 
das  einfache,  unverfalschte  Gewissen,  das  Urelement  aller  Moral. 
Wiirde  ich  gefragt,  wo  nach  meiner  Arisicht  der  Grund  zu  der 
schwarzesten  Befiirchtung  fiir  das  Amerika,  das  wir  erhoffen,  liege, 
so  miifite  ich  auf  diesen  besonderen  Punkt  hinweisen.  Ich  miiBte 
die  unwandelbare  Anwendung  dieser  alten,  ewig-wahren  Grund- 
regel  aller  Menschen,  Zeiten  und  Volker  auf  den  Individualismus 
fordern,  heute  und  immerdar.  Unsere  triumphierende  moderne 
Zivilisation  mit  all  ihrer  Erziehungskunst  und  all  ihren  wunder- 
vollen  Vorrichtungen  wird  sich  dennoch  als  bloBes  Stuck  werk  er- 
weisen ,  wenn  dieser  Mangel  bestehen  bleibt.  Schon  jetzt  ist  (um 
einen  etwas  hoffnungsvolleren  Ton  anzuschlagen)  von  der  Welt 
des  amerikanischen  Westens  zu  sagen,  daB  einzig  und  allein  ihre 
alles  durchdringende  Religiositat  das  Riickgrat  einer  mannlichen 
oder  weiblichen  Personlichkeitsbildung  sein  kann  und  hoffentlich 
auch  sein  wird. 

Es  ist  zweifellos  eine  der  Hauptaufgaben  des  Individualismus, 
wahre  Religion  zur  Reife  zu  bringen;  eine  Aufgabe,  zu  der  keine 
Organisation  oder  Kirche  imstande  ist.  Gleichwie  die  Geschichte 
nur  zu  einem  kiimmerlichen  Teil  in  dem,  was  die  Fachleute  Ge- 
schichte nennen,  enthalten  ist  und  sich  nicht  aus  ihren  Biichern 

54 


offenbart,  auBer  wenn  der  Leser  in  sich  selbst  den  Sinn  fur  die 
eigentliche,  noch  nie  geschriebene  und  vielleicht  nie  zu  schreibende 
Geschichte  hat,  --so  ist  auch  die  Religion  nur  in  einer  gewissen 
zufalligen  Form  in  den  Kirchen  und  Glaubensbekenntnissen  ent- 
halten  und  festgelegt  und  in  Wahrheit  ganz  unabhangig  von  ibnen; 
vielmehr  ist  sie  ein  Teil  der  ihres  Seins  bewuBten  Seele,  die  auf 
ihrer  hochsten  Stufe  keine  Bibeln  im  alten  Sinn,  sondern  in  einem 
neuen  Sinn  kennt,  —  der  ihres  Seins  bewuBten  Seele,  die  erst  dann 
wahrer  Religion  gegeniiberzutreten  vermag,  wenn  sie  sich  ganzlich 
von  allem  Kirchenglauben  befreit  hat. 

[ndividualismus  schlieBt  das  ein  und  fordert  es.  Icb  mochte  in 
der  Tat  behaupten,  daB  einzig  in  der  vollkommenen,  unbefleckten 
Einsamkeit  der  Individ ualitiit  die  eigentliche  Geistigkeit  der  Religion 
wirklich  in  Erscheinung  zu  treten  vermag.  Nur  in  ihr  ist  tiefe 
Betrachtung,  andachtige  Ekstase  und  Aufschwung  der  Seele  mog- 
lich;  nur  in  ihr  eine  wahre  Kommunion  mit  den  Mysterien,  den 
ewigen  Ratseln  des  Woher?  und  Wohin?  A  us  einsamer,  andach- 
tiger  Versenkung  in  das  Gefuhl  der  Identitat  schwingt  sich  die 
Seele  empor,  und  alle  Satzungen,  Kirchen,  Predigten  verwehen  wie 
Dunst.  In  einsamen,  schweigenden  Gedanken  der  Ehrfurcht  und 
Sehnsucht  laBt  das  innere  BewuBtsein  seine  wunderbaren  Linien, 
gleichwie  eine  bisher  unsichtbare  Schrift  in  magischer  Tinte,  auf- 
leuchten  fiir  den  Geist.  Bibeln  mogen  Cberlieferung  bringen  und 
Priester  mogen  sie  auslegen,  aber  einzig  und  allein  dem  lautlosen 
Wirken  des  einsamen  Ich  ist  es  vergonnt,  in  den  reinen  Ather  der 
Anbetung  einzugehen,  die  Hohe  Gottes  zu  erreichen  und  mit  dem 
Unaussprechlichen  Zwiesprache  zu  pflegen.  — 

Eine  wichtige  Seite  des  amerikanischen  Individualismus  ist  die 
Beteiligung  an  der  Politik.  Jedem  jungen  Mann  in  Nord  und  Slid, 
der  sich  ernstlich  in  diese  Fragen  vertieft,  mochte  ich  hier,  als 
ein  Gegengewicht  zu  meinen  friiheren  AuBerungen,  sagen,  daB, 
von  einem  hochsten  Standpunkt  aus  betrachtet,  letzten  Endes  das 
politische  (vielleicht  auch  das  literarische  und  soziale)  Amerika  in 
seiner  Entwicklung  am  besten  seine  eigenen  Wege  geht,  so  bedenk- 
lich  sie  auch  einer  bloB  zeitlichen  Beurteilung  erscheinen  mogen. 
Es  ist  jetzt  bei  Dilettanten  und  Gecken  Mode  (und  vielleicht  bin  ich 
selbst  nicht  frei  von  Schuld),  die  gesamte  Form,  die  die  aktive 
Politik  Amerikas  angenommen  hat,  als  hoffnungslos  zu  verrufen 

55 


und  als  etwas,  wovon  man  sich  sorgfaltig  fernhalten  miisse.  Sieh 
zu,  dafi  nicht  auch  du  diesem  Irrtum  verfallst.  Vielleicht  ist  Amerika 
doch  alles  in  allem  auf  dem  rechten  Wege,  trotz  all  dieser  Possen 
seiner  Parteien  und  Parteif  iihrer ,  diesen  schwachkopfigen  Nomi- 
nierten,  diesem  unwissenden  Stimmvieh  und  all  den  untauglichen 
Gewahlten.  Die  Dilettanten  und  alle,  die  sich  vor  ihrer  Pflicht 
driicken,  sind  nicht  auf  dem  rechten  Wege.  [ch  rate  dir,  dich  im 
Gegenteil  noch  viel  lebhafter  an  der  Politik  zu  beteiligen.  Jedem 
jungen  Manne  rate  ich  das.  Informiere  dich  immer  selbst;  tue 
immer  dein  moglichstes;  iibe  immer  dein  Wahlrecht  aus.  Mache 
dich  los  von  Parteien.  Sie  waren  von  Nutzen  und  sind  es  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  heut  noch;  aber  die  freie  Masse  der  unbe- 
einflufiten  Wahler:  Farmer,  Schreiber,  Mechaniker,  die  iiber  den 
Parteien  stehen,  alles  iiberschauen  und  den  Ausschlag  geben,  ob 
der  Sieg  sich  auf  die  oder  jene  Seite  neigen  soil,  —  das  sind  die 
Manner,  die  die  Gegenwart  und  die  Zukunft  am  notigsten  braucht. 
Was  Amerika  angeht,  so  kann  es,  falls  iiberhaupt  die  Moglichkeit 
eines  Niedergangs  und  Ruins  besteht,  nur  von  innen  her  bedroht 
werden,  nicht  von  aufien;  denn  es  ist  mir  klar,  daB  auch  das  ver- 
einte  Ausland  es  nicht  niederzwingen  konnte.  Aber  diese  wilden, 
wolfischen  Parteien  beunruhigen  mich.  Sie  kennen  kein  anderes 
Gesetz  als  ihren  eigenen  Willen  und  werden  immer  streitsiichtiger 
und  immer  unduldsamer  gegen  den  Gedanken  der  Gemeinschaft 
und  Briiderlichkeit  aller  und  der  vollkommenen  Gleichheit  unserer 
Staaten,  diesen  Gedanken,  der  ganz  Amerika  ewig  iiberwolbt.  Daher 
darfst  du  dich  nicht  unbedingt  einer  Partei  verschreiben  und  dich 
nicht  blindlings  ihren  Diktatoren  unterwerfen,  sondern  mu6t  un- 
beirrt  selber  Richter  und  Herr  iiber  sie  bleiben. 

So  viel  (in  Eile,  das  meiste  bleibt  noch  ungesagt)  iiber  ein  Ideal- 
bild,  oder  Andeutungen  fur  ein  Idealbild  amerikanischer  Mannlich- 
keit.  Aber  auch  das  andere  Geschlecht  bedarf  in  unserem  Lande 
zum  mindesten  einiger  grundsatzlicher  Winke. 

Ich  habe  ein  junges  amerikanisches  Madchen  gesehen,  eine  von 
den  vielen  Tochtern  einer  Familie,  die  vor  mehreren  Jahren  aus 
ihrem  armlichen  Landheim  in  eine  der  Stadte  des  Nordens  aus- 
wanderte,  um  sich  ihren  Lebensunterhalt  zu  verdienen.  Sie  wurde 
bald  eine  tiichtige  Naherin,  aber  da  sie  diesen  Beruf  zu  ungesund 
und  wenig  eintraglich  fand,  begann  sie  mutig,  in  fremdem  Dienst 

56 


/u  arbeiten,  als  Wirtschafterin,  Kochin,  Haushalterin  usw.  Nach- 
dem  sie  es  in  mehreren  Stellungen  versucht  hatte,  erhielt  sie  schliefi- 
lich  eine,  die  ihr  zusagte.  Sie  sagte  mir,  dafi  sie  nichts  Erniedrigendes 
in  dieser  Stellung  findet;  sie  sei  nicht  unvereinbar  mit  personlicher 
Wiirde,  Selbstachtung  und  der  Achtung  der  anderen.  Sie  leistet 
etwas  und  empfangt  daher  Gegenleistungen.  Sie  ist  gesund;  ihre 
blofie  Gegenwart  ist  starkend  und  gesund;  ihr  Gharakter  ist  raakel- 
los;  sie  hat  sich  durchgesetzt  und  bewahrt  ihre  Unabhangigkeit 
und  konnte  ihren  Eltern  helfen  und  fiir  Erziehung  und  Anstellung 
ihrer  Schwestern  sorgen.  Ihr  Leben  bietet  ihr  auch  Moglichkeiten 
zu  geistiger  Fortbildung  und  zu  viel  ruhigem,  einfachem  Gliick 
und  Liebe. 

Ich  habe  eine  andere  Frau  gesehen,  die,  aus  Neigung  und  Not 
zugleich,  in  das  praktische  Leben  eingetreten  ist  und  ein  Mecha- 
nikergeschaft  betreibt.  Sie  arbeitet  teilvveise  selbst  darin  und  gerat 
immer  mehr  und  mehr  in  das  wirkliche,  harte  Leben.  Sie  lafit  sich 
nicht  zuriickschrecken  durch  die  Rauheit  seiner  Beriihrung,  ver- 
steht  es,  zugleich  standhaft  und  schweigsam  zu  sein,  wahrt  ihre 
Stellung  mit  unveranderlichem  Gleichmut  und  Anstand  und  kann 
es  jederzeit  aufnehmen  mit  den  tiichtigsten  Zimmerleuten,  Farmern, 
ja  selbst  Schiffern  und  Kutschern.  Bei  alledem  hat  sie  den  Zauber 
der  weiblichen  Natur  nicht  verloren,  sondern  bewahrt  und  iibt  ihn 
ungeschmalert  auch  unter  so  rauhen  Verhaltnissen. 

Dann  ist  da  die  Frau  eines  Mechanikers,  Mutter  zweier  Kinder, 
eine  Frau  von  nur  mittelmafiiger  englischer  Erziehung,  aber  voll 
feinen  Verstandes,  mit  all  der  Anmut  und  Feinfuhligkeit  ihres 
Geschlechts;  in  der  Tat  eine  so  edle  weibliche  Person lichkeit,  dafi 
ich  glucklich  bin,  sie  hier  erwahnen  zu  konnen.  Niemals  ihre  eigene 
Unabhangigkeit  verleugnend,  sondern  sie  immer  heiter  bewahrend 
samt  allem,  was  dazu  gehort,  —  Kochen,  Waschen,  Kinderpflegen, 
Haushalten,  —  strahlt  sie  Sonnenschein  aus  auf  all  diese  Pflichten 
und  verklart  sie.  Korperlich  frisch  und  gesund,  arbeitsliebend, 
praktisch,  weifi  sie  doch,  dafi  es  ab  und  zu  auch  Ruhepausen  geben 
mufi,  die  der  Erholung,  der  Musik,  der  Mufie  und  Gastlichkeit 
gewidmet  sind,  und  sorgt  fur  solche  Ruhepausen.  Was  sie  auch 
tut  und  wo  sie  auch  ist,  ist  dieser  Zauber,  dieser  unbeschreibliche 
Duft  echter  Weiblichkeit  um  sie  her,  begleitet  sie  und  strb'mt  von 
ihr  aus,  der  von  Rechts  wegen  dem  ganzen  weiblichen  Geschlecht 


zu  eigen  ist  und  der  die  unveranderliche  Atmosphare  und  gemein- 
same  Aureole  aller  alten  und  jungen  Frauen  ist  oder  sein  sollte. 

Meine  liebe  Mutter  beschrieb  mir  einmal  eine  wundervolle  Person, 
driiben  in  Long  Island,  die  sie  in  ihrer  Jugend  kannte.  Sie  war 
bekannt  unter  dem  Namen  der  ,,Friedensstifterin".  Sie  war  gut 
etwa  acbtzig  Jabre  alt,  von  gliicklicher,  sonniger  Gemiitsart,  batte 
immer  auf  einer  Farm  gelebt  und  war  eine  vortrefflicbe  Nachbarin, 
verstandig  und  verscbwiegen,  bei  alien  immer  gleicb  willkommen 
und  beliebt,  besonders  bei  jungverheirateten  Frauen.  Sie  batte 
zahlreicbe  Kinder  und  Enkelkinder.  Sie  war  ungebildet,  besaB  aber 
eine  angeborene  Wiirde.  Sie  war  im  ganzen  Lande  die  stillschweigend 
anerkannte  hausliche  Ordnungstifterin ,  Ricbterin,  Helferin,  Hirtin 
und  Versohnerin  geworden.  Sie  war  eine  Erscheinung,  die  alle 
Blicke  anzog,  mit  ihrer  groBen  Gestalt,  ihrem  vollen,  scbneeweifien 
Haar  (das  nie  von  einer  Kopfbedeckung  verbiillt  war),  ihren  dunklen 
Augen,  ihrer  reinen  Gesichtsfarbe,  ihrem  frischen  Atem  und  be- 
sonderem  personlichen  Magnetismus. 

Ich  gebe  zu,  daB  diese  Frauenbilder  unendlich  verschieden  sind 
von  jenen  importierten  Modellen  weiblicher  Personlichkeit,  —  den 
iiblichen  Frauencharakteren  der  gangbaren  Romanschreiber  oder 
der  hofischen  Dichtungen  des  Auslands  mit  all  ihren  Ophelias, 
Prinzessinnen  und  Ladys,  die  die  neidischen  Traume  so  mancher 
armen  Madchen  erfullen  und  auch  von  unsern  Mannern  als  hochste 
begehrenswerte  Ideale  weiblicher  Vortrefflichkeit  hingenommen 
werden.  Aber  ich  biete  die  meinigen  einmal  zur  Abwechslung  an. 

Es  machen  sich  iiberdies  Anzeichen  von  etwas  noch  Revolutio- 
narerem  bemerkbar  (wir  wollen  uns  jetzt  nicht  dabei  aufhalten, 
sie  zu  beriicksichtigen,  aber  sie  miissen  beriicksichtigt  werden). 
Der  Tag  ist  im  Anzug,  wo  die  tiefe  Frage  des  Eintritts  der  Frauen 
in  die  Arena  des  praktischen  Lebens,  der  Politik,  des  Wahlrechts  usw. 
nicht  nur  rings  um  uns  her  erortert,  sondern  vielleicht  zur  Ent- 
scheidung  gebracht  und  praktisch  erprobt  werden  wird. 

Natiirlich  miissen  wir  in  den  Vereinigten  Staaten,  hinsichtlich 
der  Manner  sowohl  wie  der  Frauen,  die  Typen  hochster  Personlich- 
keit ganzlich  umformen,  die  uns  die  ostliche,  feudale,  ekklesiastische 
Welt  vermacht  hat  und  die  noch  heute  malerisch  und  melodrama- 
tisch  die  Einbildungskraft  und  den  Geschmack  der  Vereinigten  Staaten 
beherrschen  und  die  zwar  fur  Studienzwecke  von  Nutzen  sind,  aber  im 

58 


Leben  eine  traurige  Wirkung  ausiiben  und  einen  wunderlichen  Ana- 
chronismus  zu  den  Erscheinungen  und  Bediirfnissen  um  uns  her 
bilden.  Die  alten,  unsterblichen  Elemente  bleiben  natiirlicb  bestehen. 
Die  Aufgabe  ist,  sie  den  neuen  Bedingungen  unserer  Tage  erfolgreich 
anzupassen.  Das  ist  auch  nicht  etwas  so  Unglaubliches.  Ich  kann 
mir  ein  Gemeinwesen  denken,  heute  und  bier,  wo,  auf  ausreichender 
Grundlage,  die  vollkommenen  Persb'nlichkeiten  obne  grofies  Auf- 
heben  sich  zusammenfinden;  sagen  \vir,  in  irgendeiner  biibschen 
Ansiedlung  oder  Stadt  des  Westens,  wo  ein  paar  hundert  der 
besten  Manner  und  Frauen,  aus  alien  moglichen  gewohnlichen 
Stellungen,  durcb  giinstige  Umstande  vereint  worden  sind,  Menscben 
ohne  irgend  welches  besondere  Genie  oder  besonderen  Reichtum, 
aber  tiicbtig,  keusch,  fleifiig,  frohlich,  entschlossen,  kameradschaft- 
licb  und  ehrfiircbtig.  Icb  kann  mir  ein  solches  Gemeinwesen  regel- 
recbt  organisiert  denken,  mit  rechtmaOig  eingesetzter  Obrigkeit, 
und  so,  dafi  fur  Landbau,  Hauserbau,  Handel,  Gerichtswesen,  Post, 
Schulen  und  Wablen  gesorgt  ist,  und  alles  sonstige  Leben,  die 
Hauptsache,  sich  in  jedem  Individuum  frei  entfaltet  und  Bliiten 
treibt  und  goldene  Friichte  tragt.  Ich  kann  mir  so,  in  jedem  jungen 
und  alten  Mann  nach  seiner  Eigenart  und  in  jedem  Weibe  nach 
seiner  Art,  eine  wahre  Personlichkeit  denken,  vollentfaltet  und 
gleichmaBig  entwickelt  an  Korper,  Verstand  und  Geist.  Ich  kann 
mir  eine  solche  Moglichkeit  denken,  nicht  nur  als  eine  Ausnahme 
oder  als  etwas  besonders  Schwieriges,  sondern  in  heiterem  Einklang 
mit  den  stadtischen  und  allgemeinen  Bediirfnissen  unserer  Zeit. 
Und  ich  kann  sie  mir  vorstellen  als  hochste  Entfaltung  von  etwas, 
was  besser  ist  als  aller  herkommliche  Glanz  der  Geschichte  und 
Dichtung.  Vielleicht  existiert  —  unbesungen,  in  keinem  Drama 
verherrlicht,  unerwahnt  in  Essays  oder  Biographien  —  vielleicht 
existiert  sogar  bereits  ein  solches  Gemeinwesen,  in  Ohio,  Illinois, 
Missouri  oder  sonstwo,  in  praktischer  Erfiillung  und  iibertrifft  so 
bereits,  im  gewohnlichsten  einfachen  Leben,  alles,  was  je  bisher  in 
den  schonsten  Idealbildern  ausgemalt  wurde. 

Um  kurz  zusammenzufassen:  Will  Amerika  sich  daran  machen, 
formgebend  zu  wirken  (und  es  ist  hohe  Zeit,  von  bloBen  windigen 
Versprechen  zu  soliderer  Leistung  iiberzugehen),  so  mu6  es, 
um  seine  Zwecke  zu  erreichen,  zunachst  einmal  aufhoren,  eine 
Auffassung  von  Charakter  anzuerkennen,  die  aus  den  teudalen 

59 


Aristokratien  erwachsen  oder  lediglich  durch  literarische  MaBstabe 
oder  irgendwelche  von  driiben  kommende,  fixundfertige  Formeln  fiir 
Kultur,  Schliff,  Kaste  usw.  gebildet  ist.  Es  muB  streng  seinen  eigenen, 
neuen  Mafistab  einfiihren,  der  im  Grunde  sehr  alt  ist  und  die  alten, 
einzigen  Elemente  enthalt  und  sie  in  Gruppen  und  Einheiten  faBt, 
die  fiir  die  moderne  Welt,  die  Demokratie,  den  Westen  passen  und 
fiir  die  praktiscben  Verhaltnisse  und  Bediirfnisse  unserer  eigenen 
Stadte  und  ackerbauenden  Distrikte.  Das  Wertvollste  liegt  allezeit 
im  Allgemeinen.  Die  frische  Luft  von  Feld,  Hugel  oder  See  ist 
allezeit  besser,  als  alles  Facheln  mit  Fachern,  mb'gen  sie  auch  aus 
Elfenbein  sein  und  nach  Parfiim  duften;  die  Luft  ist  besser  als  das 
kostbarste  Parfiim. 

Und  nun,  um  nicht  mifiverstaiiden  zu  werden,  wollen  wir  nicht 
unterlassen,  uns  Absolution  zu  erbitten  von  alledem,  was  wahrhafte 
Kultur  oder  Begleiterscheinung  von  ihr  ist.  Vergib  uns,  ehrwiirdiger 
Schatten,  wenn  wir  scheinbar  leicbtfertig  von  deiner  Aufgabe 
gesprochen  huben !  Die  gesamte  Zivilisation  der  Erde  mit  all  ibrem 
Ruhm  und  Licht  ist,  wir  wissen  es  wohl,  dein  Werk.  Es  gescbiebt 
in  der  Tat  in  deinem  Geiste  und  in  dem  Bestreben,  mit  deinen 
erhabensten  Lehren  zu  wetteifern,  wenn  wir  diese  bescheidenen 
AuBerungen  wagen.  Denn  auch  du,  machtige  Priesterin!  wisse, 
daB  es  etwas  Grofieres  gibt,  als  dich,  namlich  die  frischen,  ewigen 
Krafte  des  Seins.  Aus  ibnen  und  durcb  sie  beschworen  wir  — 
gleichwie  du  selbst  in  deinen  besten  Zeiten  —  die  letzte,  notwendige 
Hilfe  herbei,  um  unser  Land  und  unsere  Zeit  zu  beleben.  Daher 
reden  wir  nicht  so  sehr  gegen  das  Prinzip  der  Kultur;  wir  beauf- 
sichtigen  es  nur  und  verbreiten  zugleich  mit  ihm  ein  ebenso  tiefes, 
vielleicht  tieferes  Prinzip.  Wie  wir  gezeigt  haben,  da6  die  Neue 
Welt  in  sich  das  alles  ausgleichende  Gemeinschaftsprinzip  der 
Demokratie  enthalt,  so  zeigen  wir  auch,  daB  sie  das  allfaltige,  all- 
gewahrende,  allfreie  Theorem  des  Individualismus  enthalt  und  somit 
ein  hochragendes,  bislang  noch  unbenutztes  Geriist  oder  eine  Platt- 
form  errichtet,  breit  genug  fiir  alle,  zuganglich  fiir  jeden  Farmer 
und  Arbeiter  —  fur  Manner  und  Weiber  —  eine  erhabene  Selbst- 
heit,  die  nicht  allein  physisch  vollkommen  ist,  nicht  befriedigt  allein 
mit  den  Schatzen  des  Geistes  und  Wissens,  sondern  religios  und  von 
der  Idee  des  Unendlichen  erfiillt  (dem  sicheren  Steuer  und  KompaB 
auf  dieser  ruhelosen  Reise  des  Fortschritts  von  Mensch  und  Volk 

60 


uber  schwarzeste,  wildeste  Wogen  und  durch  gefahrlichste  Stiirme), 
—  und  die  sich  vor  allem  andern  dessen  bewufit  ist,  dafi  Menschen- 
tum  im  tiefsten  Sinne  und  soweit  wir  es  kennen,  ehrlicbe  Treue  zu 
sich  selber  ist  um  jenseitiger  Ziele  willen,  —  und  daB  letzten  Endes 
das  Personlichkeitsgefiihl  des  sterblichen  Lebens  seine  grofite  Be- 
deutung  erst  in  Beziehung  auf  die  Unsterblichkeit  hat,  auf  das 
Unbekannte,  Geistige,  die  einzig  dauernde  Wirklichkeit,  die,  \vie 
der  Ozean  auf  seine  Strome  wartet  und  sie  in  sich  aufnimmt,  auf 
jeden  und  alle  von  uns  wartet. 

Vieles  andere  noch  miifiten  wir  in  diesen  ,,Ausblicken"  ausfiihren 
oder  wenigstens  im  Umrifi  andeuten,  nicht  allein  iiber  diese  Gegen- 
stande,  sondern  auch  iiber  andere,  noch  nicht  erwahnte.  Wir  konn- 
ten  in  der  Tat  ein  Leben  lang  iiber  diese  Materie  reden  und  sie 
ausspinnen.  Aber  wir  miissen  zu  unserm  urspriinglichen  Ausgangs- 
punkt  zuriickkehren.  In  dieser  Hinsicht  miissen  wir  noch  einmal 
ausdriicklich  bekennen,  dafi  alle  objektive  Grofie  der  Welt  im  hoch- 
sten  Sinn  allein  auf  Geistigkeit  beruht  und  von  ihr  abhangt.  Hier, 
und  hier  allein,  liegt  das  Gleichgewicht  und  der  Ruhepunkt  von 
allein.  Denn  der  Geist,  der  allein  das  dauernde  Gebaude  baut,  baut 
es  stolz  fiir  sich  selbst.  Durch  ihn  und  was  aus  ihm  folgt,  werden 
dem  sterblichen  Sinn  die  Hohepunkte  des  Materiellen,  des  Bekann- 
ten  vermittelt  und  Ahnung  des  Unbekannten.  Ausdruck  und  Ver- 
korperung  zu  finden,  eine  Literatur  mit  erhabenen,  urtypischen 
Vorbildern  zu  versehen,  —  alle  Empfanglichen  mit  Stolz  und  Liebe 
zu  erfiillen,  soviel  sie  nur  fassen  konnen,  geistige  Ziele  zu  vollenden 
und  die  Zukunft  fiihlbar  zu  machen,  —  dies,  und  dies  allein,  be- 
friedigt  die  Seele.  Wir  sagen  kein  Wort  gegen  die  reale  Materie; 
aber  die  Weisen  wissen,  dafi  sie  nicht  eher  wahrhaft  real  wird,  als 
bis  Gefiihl  und  Geist  sie  beriihrt  haben.  Ist  nicht  Geist  etwas  Un- 
wagbares?  O  wir  wollen  lieber  sorgen,  dafi  der  zarteste  Ton  eines 
Liedes,  die  zahllosen  fliichtigen  Regungen  der  Leidenschaften,  die 
von  Rednern  oder  Erzahlern  erweckt  werden,  mehr  Dichtigkeit 
und  Gewicht  haben,  als  die  Maschinen  dort  in  den  grofien  Fabriken 
oder  die  Granitblocke  in  ihren  Fundamenten. 

Indem  wir  uns  so  den  Bereichen  nahern,  die  der  eigentliche 
Gegenstand  dieser  Betrachtungen  sind,  und  im  Hinblick  auf  eine 
neue  und  hohere  Personlichkeitsbildung  die  Bediirfnisse  und  Mog- 
lichkeiten  schopferischer  amerikanischer  Literatur  im  Lichte  dessen, 

61 


was  wir  zuvor  besprochen  haben,  betrachten,  wird  sogleich  offen- 
bar  sein,  dafi  eine  tiefe  Kluft  den  gegenwartig  anerkannten  Zustand 
dieser  Bereiche  samt  allem,  was  sich  in  ihnen  regt,  von  einem  Zu- 
stand trennt,  der  der  Welt,  dem  Amerika  wirklich  angepafit  ware, 
nacb  dem  im  gegenwartigen  Zustand  nur  getastet  wird,  und  an- 
gepafk  der  Fiille  von  Rassen  vollkommener  Manner  und  Frauen, 
die  in  diesen  Ausblicken  mit  groben  Strichen  entworfen  ist.  Es  ist 
in  gewissem  Sinne  kein  geringerer  Unterschied  als  zwischen  dem 
langandauernden,  nebelformigen,  gestaltlosen  Zustand  der  astrono- 
mischen  Weltkorper  und  dem  darauf  folgenden  Zustand,  den  end- 
giiltig  geformten  Weltkugeln  selbst,  nacbdem  sie  sich  gehorig  ver- 
dichtet  und  in  Systeme  geordnet  haben  und  nun  dort  droben  hangen, 
Kronleucbter  des  Weltalls,  verbunden  und  erleuchtet  durch  ihr 
gegenseitiges  Licht,  als  fester  Grund  fur  alles  Stoffliche  und  zur 
Benutzung  fur  das  gewohnlichste  Leben,  aber  noch  mebr  als  unver- 
gangliche  Kette  und  Staffel  aller  geistigen  Schau  und  Offenbarung. 
Ein  grenzenloses  Feld  ist  auszufiillen !  Eine  neue  Schopfung  ersehnter 
Werke,  ausgesendet  wie  Weltkorper,  um  in  freien,  gesetzmaBigen 
Umlaufen  zu  kreisen,  in  sich  selbst  ruhend  durch  den  Ather  zu 
wandeln  und  wie  des  Himmels  Sonnen  selber  zu  scheinen!  Nichts 
Geringeres  als  dies  meinen  wir,  wenn  wir  von  der  Literatur  der 
Neuen  Welt  reden,  die  sich  aus  diesen  Staaten  in  inniger  Einheit  mit 
ihnen  erheben  soil,  zur  rechten  Zeit  sich  verkundend. 

Was  verstehen  wir  indessen  genauer  unter  Literatur  der  Neuen 
Welt?  Tun  wir  hier  nicht  schon  des  Guten  genug?  Haben  die  Ver- 
einigten  Staaten  heute  nicht  mehr  Setzer  und  Pressen  in  eifrigem 
Betrieb  als  irgendein  anderes  Land?  Veroffentlichen  und  verbrauchen 
sie  nicht  mehr  Gedrucktes  als  andere  Lander?  Werden  unsere  Ver- 
leger  nicht  schneller  und  griindlicher  fett?  —  Sicherlich  sind  viele 
in  dieser  Tauschung  befangen,  aber  es  ist  meine  Absicht,  sie  zu  zer- 
storen.  Ich  behaupte,  eine  Nation  mag  ganze  Strome  und  Ozeane 
von  sehr  lesenswerten  Druckschriften  haben  und  in  Umlauf  bringen, 
Zeitungen,  Zeitschriften,  Romane,  Leihbibliotheken,  ,,Poesie"  usf., 
—  wie  sie  die  Vereinigten  Staaten  heute  in  der  Tat  besitzen  und  in 
Umlauf  bringen,  —  von  unbestreitbarem  Nutzen  und  Wert,  —  hundert 
neue  Biicher,  die  jedes  Jahr  geschrieben  und  herausgebracht  werden, 
sehr  anerkennenswert,  uniibertroffen  an  Konnen  und  Wissen,  —  und 
noch  Hunderte  oder  gar  Millionen  mehr,  die  durch  Raubverlage 

62 


auf  den  Markt  geworfen  werden,  —  imd  dennoch  wird  vielleicht, 
trotz  alledem,  besagte  Nation  streng  genommen  viberhaupt  keine 
Literatur  besitzen. 

Was  also  —  wiederholen  wir  —  verstehen  wir  unter  wahrer  Lite- 
ratur? im  besonderen  unter  der  demokratiscben  Literatur  der  Zu- 
kunft?  Schwierige  Fragen!  Die  Ant  wort  kann  nur  indirekt  gegeben 
werden  und  weist  uns  an  die  Vergangenheit.  Im  besten  Fall  konnen 
wir  nur  Andeutungen,  Vergleicbe  auf  Umwegen  geben. 

Es  muB  als  die  tiefste  Lehre  der  Zeit  und  der  Geschichte  um  des 
Zweckes  dieser  Aufzeichnungen  willen  nochmals  wiederbolt  werden, 
dafi  alles,  was  eine  Nation  oder  Epoche  an  politischen  und  mate- 
riellen  Errungenschaften,  heroischen  Personlichkeiten,  militarischer 
Machtentfaltung  usw.  hervorbringt,  bei  genauer,  tiefgehender  Be- 
trachtting  unvollkommen  bleibt  und  nur  hemmend  wirkt,  ebe  es 
nicbt  durch  nationale,  urwiicbsige  Wesensvorbilder  in  der  Literatur 
mit  wabrem  Leben  erfullt  wird.  Sie  allein  gestalten  die  Nation, 
bringen  alles  letztgiiltig  zum  Ausdruck,  beweisen,  vollenden  alles  und 
geben  allem  Bestand.  Zweifellos:  einige  der  bliihendsten,  macbtig- 
sten  und  volkreichsten  Gemeinwesen  der  antiken  Welt  und  einige 
der  groBten  Personlichkeiten  und  Ereignisse  haben  der  Nachwelt 
bis  auf  heute  keinerlei  Erbschaft  binterlassen.  Zweifellos  waren  unter 
diesen  Landern  Heldentaten,  Personlichkeiten,  von  denen  uns  nicbts 
iiberliefert  ist,  nicht  einmal  Name,  Zeit  oder  Ort,  solche,  die  groBer 
waren  als  alle  uns  iiberlieferten.  Andere  wieder  sind  heil  angelangt 
wie  von  Reisen  iiber  jahrhundertweite  Meere.  Die  kleinen  Schiffe, 
die  Wunderdinger,  die  sie  trugen  und  durch  unerhorte  Gliicksfalle 
wohlbehalten  zu  uns  brachten  (oder  wenigstens  das  Beste  von  ihnen, 
ihren  Sinn  und  Extrakt)  iiber  weite  Einoden  bin,  durch  Finsternis, 
Stumpfheit,  Unwissenheit  usw.,  —  diese  kleinen  Schiffe  waren  ein 
paar  Schriften,  —  ein  paar  unsterbliche  Dichtungen,  gering  an  Um- 
fang,  doch  voll  welcher  unermeBlichen  Werte  der  Erinnerung, 
voller  Charaktere,  Sitten,  Sprachen  und  Glauben  ihrer  Zeit,  voll 
tiefster  Beziehungen,  Hinweise,  Gedanken,  genug,  um  den  alten,  ewig 
neuen  Korper  und  die  alte,  ewig  neue  Seele  innig  zu  verschmelzen ! 
Sie!  und  noch  einmal  sie!  —  die  diese  so  teure  Fracht  zu  uns  trugen, 
teurer  als  Stolz,  teurer  als  Liebe!  Alle  kostbarste  Erfahrung  der 
Menschheit,  in  kleinsten  Raum  gefaltet,  haben  sie  gerettet  und  zu 
uns  gebracht.  Einige  dieser  winzigen  Schiffe  nennen  wir  Altes  und 

63 


Neues  Testament,  Homer,  Aschylos,  Plato,  Juvenal  usf.  —  Kostbare 
Winzigkeiten !  Ich  glaube,  wenn  wir  wahlen  rmifiten,  so  wiirden 
wir  es  eher  ertragen,  so  furchtbar  es  ware,  alle  wirklichen  Scbiffe, 
die  heute  auf  Werften  liegen  oder  auf  See  schwimmen,  zu  verlieren 
und  mit  ihrer  ganzen  Fracbt  leek  in  die  Tiefe  sinken  zu  sehen,  als 
euch  und  euresgleicben  und  was  zu  euch  gehort  und  aus  eucb  er- 
wacbsen  ist,  vernichtet  und  ausgeloscht  zu  sehen. 

Zusammengefafit  durch  die  Genies  einer  Stadt,  Rasse  oder  Epoche 
und  durcb  sie  in  die  hochste  aller  kiinstlerischen  Formen,  die  lite- 
rarische,  gebracht,  ist  die  besondere  Wesens-  und  Erscheinungsart 
dieser  Stadt,  Rasse  oder  Epoche,  ihre  besondere  Verkorperung  der 
allgemein  menschlichen  Eigenschaften  und  Leidenschaften,  ihr 
Glaube,  ihre  Helden,  Liebenden  und  Gotter,  ihre  Kriege,  Uberliefe- 
rungen,  Unruhen,  \7erbrechen,  Erregungen,  Freuden  (oder  doch 
der  geistige  Hauch  von  alledem)  auf  uns  gekommen,  um  unser 
eigenes  Sein  und  seine  Erfahrungen  zu  erleuchten.  Wiirde  das,  was 
sie  uns  geben,  all  dieses  nicht  mehr  Entbehrliche,  Hochste  uns  ge- 
nommen,  so  konnte  nichts  anderes  im  ganzen  grenzenlosen  Vorrats- 
speicher  der  Welt  uns  einen  Ersatz  dafiir  bieten. 

Fur  uns  ragen  diese  Denkmaler  entlang  den  groCen  Heerstrafien 
der  Zeit,  —  diese  Gebilde  der  Hoheit  und  Schonheit.  Fiir  uns  brennen 
diese  Leuchtfeuer  durch  alle  Nachte.  Unbekannte  Agypter,  Hiero- 
glyphen  grabend;  Hindus  mit  ihren  Hymnen,  Weisheitsspriichen 
und  endlosen  Epen ;  hebraischer  Prophet,  vom  Geist  erleuchtet  wie 
in  Blitzen,  mit  einem  Gewissen  wie  rotgliihendes  Eisen,  mit  Klage- 
liedern  und  Racheschreien  gegen  Tyrannen  und  Sklaverei;  Christus 
mit  geneigtem  Haupt,  wie  eine  Taube  briitend  iiber  Liebe  und 
Frieden;  der  Grieche,  ewige  Gestalten  schaffend  voll  EbenmaB  des 
Korpers  und  Gefiihls;  der  Romer,  der  Herr  der  Satire,  des  Schwerts 
und  Gesetzbuchs;  einige  der  Gestalten  fern  und  im  Dammer,  andere 
naher  und  sichtbar;  Dante,  einherschreitend  mit  magerer  Gestalt, 
nichts  als  Sehnen,  kein  Gran  uberflussigen  Fleisches;  Angelo  und 
die  groBen  Maler,  Baumeister,  Musiker ;  der  reiche  Shakespeare,  ver- 
schwenderisch  wie  die  Sonne,  Gestalter  und  Sanger  des  Feudalismus 
in  seinem  Sonnenuntergang,  mit  all  seinen  gliihenden  Farben,  iiber 
die  er  mit  souveraner  Willkiir  verfiigt;  und  so  zu  den  Deutschen 
Kant  und  Hegel,  die,  obwohl  nahe  bei  uns,  so  doch  wiederum,  Zeit- 
alter  iiberspringend ,  leidenschaftslos  und  unerschiitterlich  sitzen 

64 


\vie  die  agyptischen  Goiter.  1st  es  nun  wirklich  zu  viel,  wenn  wir 
von  diesen  und  ihresgleichen  wieder  auf  unser  Lieblingsbild  zuriick- 
kommen  und  sie  sehen  wie  Weltkorper  und  Systeme  von  Welt- 
kb'rpern,  die  auf  freien  Bahnen  durch  die  Raume  jenes  zweiten 
Himmels,  des  kosmischen  Geistes,  der  Seele,  wandeln? 

Ihr  Gewaltigen  und  Strahlenden!  Ihr  seid,  in  euren  Bereichen, 
nicht  fiir  Amerika  erwachsen,  sondern  eher  fiir  seine  Feinde,  das  Feu- 
dale  und  Alte,  —  wahrend  unser  Genius  demokratisch  und  modern 
ist.  Und  doch,  —  o  konntet  ihr  euern  Lebensodem  in  die  Niistern 
unserer  Neuen  Welt  blasen,  —  nicht  um  uns,  wie  jetzt,  zu  ver- 
sklaven,  sondern  um  in  uns  und  fiir  uns  einen  Geist  zu  erwecken 
gleich  dem  euern,  —  vielleicht  (wagen  wir  es  auszusprechen?)  um 
zu  iiberwinden,  ja  zu  zerstoren,  was  ihr  selbst  hinterlassen  habt! 
Auf  eurer  Ho'he,  nicht  defer,  sondern  eher  noch  hoher  und  weiter, 
miissen  wir  uns  treffen  und  messen,  heute  und  hier.  Ich  fordere 
Rassen  von  Sangern,  die  mit  der  Macht  von  Weltkorpern  unbeirrt 
und  sicher  ihre  Bahn  fliegen.  Erscheint,  ihr  siifien  demokratischen 
Beherrscher  des  Westens! 

Durch  Hinweise  wie  diese  deuten  wir  mittelbar  an,  was  wir  unter 
wahrer  Literatur  eines  Landes  oder  Volkes  verstehen.  Und  so  ver- 
glichen  und  gemessen  an  den  erhabensten  Schopfungen  allein,  was 
stellen  unsere  reichen  Mengen  von  Druckschriften,  die  in  mannig- 
fachen  Formen  die  Vereinigten  Staaten  bedecken,  Besseres  dar  als 
vergleichsweise  jene  iiber  gewisse  Strecken  des  Meeres  verbreiteten, 
bin  und  her  wogenden  Ansammlungen  von  Tintenfischen,  die  der 
mit  halb  emporgetauchtem  Kopf  hindurchschwimmende  Wai  ver- 
schlingt? 

Zwar  mag  unsere  landlaufige  sogenannte  Literatur  (gleichsam 
wie  ein  unendlicher  Vorrat  von  kleiner  Miinze)  einen  gewissen 
Nutzen  haben,  vielleicht  sogar  gerade  das  bieten,  was  unsere  Zeit 
braucht  (eine  Vorbereitung,  ahnlich  wie  Kinder  lernen  miissen  zu 
buchstabieren).  Jedermann  liest  und  nahezu  jedermann,  in  der  Tat, 
schreibt,  seien  es  Biicher,  sei  es  fiir  die  Zeitschriften  und  Zeitungen. 
In  gewissem  Sinn  hat  auch  dieser  Zustand  seine  Grofiziigigkeit. 
Aber  bringt  er  Fortschritt?  oder  hat  er  seit  langem  irgendwelchen 
Fortschriu  gebracht?  Es  liegt  etwas  Imponierendes  in  den  riesigen 
Auflagen  der  Tageszeitungen  und  Wochenschriften,  den  Bergen 
weifien  Papiers,  die  in  den  Gewolben  der  Druckereien  aufgestapelt 

-,     Whitman   I  65 


sind  und  in  den  stolzeri,  drohnenden  Zehn-Zylinder-Pressen,  vor 
denen  ich  jederzeit  stundenlang  stehen  kann,  um  ihnen  zuzuschauen. 
Auch  wird  (obwohl  die  Vereinigten  Staaten  auf  dem  Gebiete  der 
Phantasie  nicht  ein  einziges  Werk  ersten  Ranges,  nicht  einen  ein- 
zigen  grofien  Schriftstelleraufzuweisen  haben)  der  Hauptzweckimmer 
noch  erreicht,  und  immer  wieder  bis  ins  Unendliche,  namlich  zu 
amiisieren,  zu  kitzeln,  die  Zeit  zu  vertreiben,  Neuigkeiten  und  Ge- 
riichte  von  Neuigkeiten  in  Umlauf  zu  bringen  und  Verse  zu  reimen 
fur  den  Geschmack  der  Leser.  Heutzutage  gehort  bei  all  dem 
Biicherschreiben  und  dem  Wetteifer  der  Schriftsteller,  insbesondere 
der  Romanschriftsteller,  der  (sogenannte)  Erfolg  demjenigen  oder 
derjenigen,  die  den  Geschmack  des  gemeinen,  flachen  Durchschnitts 
treffen,  die  sensationelle  Gier  nach  Aufreizung,  Geschehnis,  Satire  usf., 
und  die  das  sinnliche,  aufiere  Leben  gewohnlichen  Schlages  be- 
schreiben.  Fiir  Autoren  solcher  Art  oder  wenigstens  fur  die  gliick- 
lichsten  von  ihnen  ist,  soviel  wir  sehen,  die  Zuhorerschaft  unbegrenzt 
und  gewinnbringend;  aber  sie  schwindet  bald.  Wahrend  heute  und 
jederzeit  fur  die,  die  das  innere  oder  spirituelle  Leben  darzustellen 
suchen,  die  Zuhorerschaft  begrenzt  ist  und  oft  nur  zogernd  sich 
bildet,  aber  fur  ewig  bestehen  bleibt. 

Verglichen  mit  der  Vergangenheit  hat  unsere  rnoderne  Wissen- 
schaft  einen  hohen  Aufschwung  genommen  und  erfiillen  unsere 
Zeitungen  einen  niitzlichen  Zweck,  —  aber  die  ideelle  Literatur, 
oder  auch  nur  die  gewohnliche  Romanliteratur,  macht  meines  Er- 
achtens  keine  wesentlichen  Fortschritte.  Man  sehe  sich  die  frucht- 
baren  Erzeugnisse  des  zeitgenossischen  Romans,  der  Novelle,  des 
Dramas  usw.  an.  Dasselbe  endlose  Gespinst  verwickelter,  iiber- 
triebener  Liebesgeschichten,  die  offenbar  von  den  Amadissen  und 
Palmerins  des  dreizehnten,  vierzehnten  und  fiinfzehnten  Jahrhun- 
derts  driiben  in  Europa  herstammen.  Die  Kostume  und  alles  son- 
stige  Zubehor  auf  moderne  Form  gebracht,  die  Wiirze  heifier  und 
abwechslungsreicher,  die  Drachen  und  Menschenfresser  weggelassen, 

—  aber  der  eigentliche  Inhalt,  meine  ich,  ist  nicht  fortgeschritten, 

—  ist  just  so  sensationell,  just  so  verrenkt  und  so  ziemlich  der- 
selbe  geblieben,  nicht  mehr  und  nicht  weniger. 

Was  ist  der  Grund,  daB  wir  in  unserer  Zeit,  in  unserem  Lande 
keinen  frisch  aus  unserer  Umgebung  geborenen  Mut,  keine  eigene 
gesunde  Kraft,  —  nicht  den  Mississippi,  die  handfesten  Manner  des 

66 


I 


Westens,  des  Siidens,  keine  geistigen  und  physischen  Tatsachen  usf. 
in  der  Gesamtheit  unserer  Literatur,  zumal  in  ihrem  dichterischen 
Teil,  sehen,  —  sondern  anstatt  dessen  immer  nur  eine  kleine 
Minderheit  von  Dandys  und  Blasierten,  feine  Herrchen,  die  vom 
Ausland  importiert  sind  im  fiinfhundertsten  Aufgufi  und  uns  iiber- 
fluten  mit  ihren  diinnen  Salongefiihlen,  die  sich  an  Sonrienschirmen, 
Schmachtliedern  und  Reimgeklingel  erregen,  -  -  oder  die  iiber 
irgend  etwas  winseln  und  flennen,  von  einem  fehlgeborenen  Einfall 
zum  andern  jagen  und  ewig  beschaftigt  sind  mit  irgendeiner  dys- 
peptischen  Verliebtheit  in  dyspeptische  Frauenzimmer.  Wahrend, 
in  niegesehenem  Strom,  die  groBten  Ereignisse  und  Umwalzungen, 
die  stiirmischsten  Leidenscbaften  der  Gescbichte  heute  mit  unver- 
gleichlicher  Schnelligkeit  und  GroBartigkeit  sicb  auf  dem  Schau- 
platz  unseres  und  aller  Kontinente  kreuzen,  neuen  Stoff  darbieten, 
neue  Ausblicke  voll  neuer  Bediirfnisse  eroffnen  und  kiihn  auf- 
springende  Schopfungen  der  Literatur  herausfordern,  die,  begeistert 
durch  sie,  sicb  in  hochste  Hohen  aufscbwingen  und  der  Kunst  in 
aller  ihrer  Erhabenheit  dienen  (was  nur  ein  anderer  Name  ist  fur 
,,Gott  dienen"  oder  ,,der  Menschbeit  dienen").  Wo  ist  der  Mann 
der  Literatur,  wo  ist  das  Buch,  dem  ein  edleres  Ziel  vorschwebt, 
als  im  alten  Geleise  zu  trotten,  langst  Gesagtes  zu  wiederbolen 
und  —  hochster  Triumph!  —  gut  gekauft  zu  werden  und  gelehrt 
und  elegant  zu  sein? 

Man  betrachte  die  Wege  des  Fortschritts,  die  diese  Staaten  zu- 
riickgelegt  haben,  bis  sie  nun  beute  frei,  gleichberechtigt  fur  immer, 
fest  zusammengefiigt  fiir  immer  an  ibrem  Platze  steben.  Europaische 
Abenteuer?  Die  Antike?  Asien  und  Afrika?  Alte  Gescbichte  — 
Wunder-Romantik?  —  Nein,  unsere  eigenen  unanzweifelbaren  wirk- 
lichen  Taten!  Sie  jagen  einander,  unerhort,  strahlend  wie  Feuer! 
Wenn  ich  ihre  Geschichte  lese,  von  den  Taten  und  Tagen  des 
Kolumbus  an  bis  auf  die  Gegenwart  und  einschlieBlich  der  Gegen- 
wart  —  vor  allem  den  letzten  Sezessionskrieg,  —  so  ist  mir  bei 
jeder  Seite  zumute,  als  iniiBte  ich  innehalten  und  mich  besinnen, 
ob  ich  mich  nicht  geirrt  habe  und  unter  die  leuchtenden  Phantasie- 
bilder  eines  Traums  geraten  bin.  Aber  es  ist  kein  Traum.  Wir 
stehen,  leben,  bewegen  uns  in  dem  ungeheuren  Strom  des  Materia- 
lismus  und  Spiritualismus  unseres  Zeitalters.  Das  positivste  aller 
Reiche  ist  fiir  uns  gegriindet  worden.  Die  Griinder  sind  in  andere 

67 


Spharen  iibergegangen,  —  aber  welches  sind  die  furchtbaren  Pflicb- 
ten,  die  sie  uns  binterlassen  baben? 

Ibre  Politik  haben  die  Vereinigten  Staaten  meines  Eracbtens, 
trotz  all  ihren  Feblern,  bereits  im  wesentlichen  und  ein  fur  allemal 
auf  ibre  eigenen,  eingeborenen,  gesunden,  weit  vorausschauenden 
Grundsatze  gegriindet,  die  nie  wieder  urngestiirzt  werden  konneii 
und  ein  sicberes  Fundament  fur  alles  iibrige  bilden.  Zusammen 
mil  ibr  miissen  natiirlich  auch  ibre  zukiinftigen  religioseii  Formen, 
ibre  Soziologie,  Literatur,  ihre  Lebrer,  Scbulen,  die  Art  der  aufie- 
ren  Erscbeinung  usw.  ein  geschlossenes  einheitlicbes  Ganzes  bildeii, 
auf  ebensolchen  Grundsatzen.  Denn  \vie  konnten  wir  so  zerspalten, 
so  uns  selbst  widersprechend  bleiben,  wie  jetzt?  Icb  sage,  wir 
konnen  Harmonic  und  Bestandigkeit  erlangen,  indem  wir  die  Ein- 
beit  aller  Dinge  und  die  etbischen  Inhalte  beriicksichtigen  und 
vertrauensvoll  auf  ibneri  weiterbauen.  Icb  sebe  in  der  Tat,  daft 
fur  die  Neue  Welt  nach  zwei  Epocben  vorbereitender  Schicbtungen 
jetzt  eine  dritte  Epocbe,  obne  die  die  andern  beiden  nutzlos  waren, 
bereit  steht  und  sicb  in  unverkennbaren  Zeicben  ankiindigt.  Die 
Erste  Epocbe  war  der  Entwurf  und  die  Festlegung  der  politiscbeu 
Grundrechte  fur  ungebeure  Volksmassen,  ja  fiir  alles  Yolk,  in  der 
Organisation  republikaniscber  National-,  Staats-  und  Kommunal- 
regierungen,  alle  aufgebaut  in  Beziebung  zu  jeder  einzelnen  und 
jede  einzelne  in  Beziehung  zu  alien.  Dies  ist  das  amerikanische 
Programm,  nicbt  fiir  Klassen,  sondern  fiir  den  Menscben  im  all- 
gemeinen,  und  ist  verkorpert  in  den  Grundsatzen  der  Unabhangig- 
keitserklarung  und,  in  seiner  spateren  Entwicklung,  in  der  Bun- 
desverfassung  sowie  in  den  Regierungen  der  Einzelstaaten  mit  all 
ibren  inneren  Angelegenbeiten  und  dem  allgemeinen  Wablrecbt; 
die  Bedeutung  all  dieser  Grundlagen  liegt  nicht  nur  in  dem,  was 
sie  selbst  entbalten,  begriinden  und  pflanzen,  sondern  auch  in  allem, 
was  mit  Notwendigkeit  aus  ihnen  folgt.  Die  Zweite  Epoche  ist  die 
des  materiellen  Gedeihens  und  Wohlstandes,  die  Epoche  der  Pro- 
duktion,  der  arbeitsparenden  Maschinen,  des  Eisens,  der  Baum- 
wolle,  der  lokalen,  staatlichen  und  kontinentalen  Eisenbahnen,  des 
Verkehrs  und  Handels  mit  alien  Landern,  der  Dampfschiffe,  Gruben, 
des  Arbeitsmarkts,  der  Organisation  der.  GroCstadte,  der  Verbilli- 
gung  des  Komforts,  zahlloser  technischer  Lehranstalten,  Biicher, 
Zeitungen,  der  Wahrung  fiir  den  Geldumlauf  usf.  Die  Dritte 

68 


Epoche,  die  aus  den  vorhergehenden  beiden  sich  erhebt,  um  sie 
tind  alles  zu  verklaren,  verkiinde  ich  nun  hier,  als  einer  fiir  viele. 
Ich  verkiinde  den  eingeborenen  Geist,  der  Ausdruck  und  Form  an- 
niinint  fiir  diese  Staaten,  gereift,  vergeistigt,  selbstbeherrscht,  ver- 
scbieden  von  alien  anderen,  expansiver,  reicher,  freier,  —  einen 
Geist,  der  durch  urspriingliche  Autoren  und  Dichter  der  Zukunft 
dargestellt  werden  soil,  durch  amerikanische  Personlichkeiten,  deren 
viele,  Manner  und  Frauen,  bereits  ungekannt  (iberall  in  den  Staaten 
leben;  —  und  durch  eine  viel  herrlichere,  einheimische  Entfaltung 
von  Sprache,  Gesangen,  Opern,  Reden,  Vorlesungen,  Bauten  —  und 
durch  eine  erhabene,  feierliche  religiose  Demokratie,  die  ent- 
schlossen  die  Herrschaft  ergreift,  das  Alte  auflost,  alle  Oberflachen 
abschalt  und  aus  ihrem  eigenen  inneren  Lebensprinzip  heraus  die 
Gesellschaft  neu  aufbaut  und  demokratisiert. 

Nur  wenige  ahnen,  wie  tief,  wie  tief  die  Bedeutung  Amerikas 
ist,  des  Vorbildes  alien  Fortschritts  und  wahren  Glaubens  an  den 
Menschen,  trotz  aller  Irrtiimer  und  Bosheit.  Die  Welt  glaubt 
offenbar,  und  auch  wir  haben  offenbar  geglaubt,  da6  die  Vereinig- 
ten  Staaten  nur  dazu  da  seien,  um  die  Gleichheit  der  Gerechtsamen 
Aller  und  eine  Wahlregierung  durchzufiihren,  —  um  die  Wiirde 
der  Arbeit  einzuweihen  und  eine  Nation  praktisch  tatiger,  den  Ge- 
setzen  gehorsamer,  ordentlicher  und  wohlhabender  Menschen  zu 
werden.  Ja,  dies  sind  in  der  Tat  Teile  der  Aufgabe  Amerikas; 
aber  sie  erschopfen  nicht  nur  nicht  den  Begriff  von  Fortschritt, 
sondern  sind  dariiber  hinaus  auch  die  Vermittler  eines  viel  tieferen, 
hoheren  Fortschritts,  mit  dem  sie  schwanger  gehen.  Tochter  einer 
physischen  Revolution,  —  Mutter  der  wahren  Revolutionen,  nam- 
licb  der  des  inneren  Lebens  und  der  Kunst.  Denn  solange  der 
Geist  sich  nicht  wandelt,  ist  jeder  Wandel  der  Erscheinung  be- 
langlos. 

Ich  erinnere  mich,  als  ich  ein  Knabe  war,  sprachen  die  alten 
Leute  immer  von  amerikanischer  Unabhangigkeit.  Was  ist  Unab- 
hangigkeit?  Freiheit  von  alien  Gesetzen  und  Schranken,  auBer 
denen  des  eigenen  Ich,  die  von  denen  des  Universums  beherrscht 
werden.  Was  ist  Landern,  Mannern,  Frauen  letzten  Endes  zu  eigen, 
als  einzig  und  allein  ihre  innewohnende  Seele,  Ursprunglichkeit, 
ihr  Sein  in  sich  selbst,  frei,  im  hochsten  Gleichgewicht,  sich  auf- 
schwingend  zu  eigenem  Fluge,  sich  selbst  getreu? 


Gegenwartig  werden  die  Vereinigten  Staaten  in  ihrer  Theologie 
und  ihren  sozialen  Anschauungen  (die  wichtiger  als  ihre  politisohen 
Institutionen  sind)  ganzlich  von  fremden  Landern  beherrscht.  Wir 
sehen,  wie  die  Sohne  und  Tochter  der  Neuen  Welt,  ihres  Genius 
nicht  bewufit,  das  Einheimische,  Universelle,  Nahe  noch  nicht  ent- 
deckt  haben,  sondern  immer  noch  das  Entlegene,  Partielle,  Tote 
importieren.  Wir  sehen  London,  Paris,  Italien  —  nicht  in  urspriing- 
licher  Schonheit  wie  dort,  wohin  sie  gehoren,  sondern  aus  zweiter 
Hand  hier,  wo  sie  nicht  hingehoren.  Wir  sehen  die  Brocken  der 
Juden,  Romer,  Griechen;  aber  wo  sehen  wir,  auf  seinem  eigenen 
Boden,  in  irgendwelcher  getreuen,  hochsten,  stolzen  Verkorperung 
Amerika  selbst?  Ich  frage  mich  manchmal,  ob  ihm  auch  nur  ein 
Winkel  im  eigenen  Hause  gehort. 

Nicht  als  ob  in  einem  gewissen  Sinne,  und  zwar  in  einem  sehr 
hohen,  wahre  Theologie,  wahre  Kunst  und  wahre  Literatur  nicht 
gewisse  Ziige  gemeinsam  hatten.  Sie  sind  verbriidert  und  binden  die 
Rassen  untereinander,  sie  sind  in  vielen  Einzelheiten,  unter  Gesetzen, 
die  auf  alle  unterschiedslos  anwendbar  sind,  unabhangig  von  Klima 
und  Zeit  und  wenden  sich,  aus  welcher  Quelle  sie  auch  stammen 
mogen,.  an  Gefuhle,  —  Stolz,  Liebe,  Geistigkeit,  —  die  dem  Men- 
schengeschlecht  gemeinsam  sind.  Nichtsdestoweniger  beriihren  sie 
selbst  da  einen  Menschen  arn  innigsten  (oder  vielleicht  iiberhaupt 
nur),  wenn  sie  ihren  Ausdruck  finden  durch  die  autochthonen 
Lichter  und  Schatten  hindurch,  durch  den  Geschmack,  die  Vorlie- 
ben,  Abneigungen,  besonderen  Ereignisse  und  Eigenheiten  hin- 
durch, die  aus  der  eigenen  Nationalitat,  Geographic,  Umgebung, 
Uberlieferung  usw.  dieses  Menschen  geboren  sind.  Geist  und  Form 
sind  eins  und  hangen  viel  mehr,  als  man  glaubt,  von  Gemeinschaft, 
Identitat  und  Ort  ab. 

Mit  der  Korperlichkeit  und  Personlichkeit  eines  Landes,  einer 
Rasse  --  teutonisch,  tiirkisch,  kalifornisch  oder  was  sonst  —  ist 
immer  ein  Etwas  verwoben  —  ich  kann  schwerlich  sagen,  was  es 
ist  —  die  Geschichte  beschreibt  nur  seine  Ergebnisse  —  es  ist  das- 
selbe  wie  der  unaussprechliche  Ausdruck  mancher  Menschen- 
gesichter.  Auch  die  Natur  in  ihren  stumpferen  Formen  ist  voll 
davon,  —  aber  fur  die  meisten  ist  es  da  ein  Geheimnis.  Dieses 
Etwas  ist  verwurzelt  in  den  unsichtbaren  Wurzeln,  in  dem  tiefsten 
Sinn  dieses  Ortes,  dieser  Rasse  oder  Nationalitat;  und  es  in  sich 

70 


aufzunehiiKMi  und  wieder  auszustromen,  Worte  und  Werke  aus 
seinem  innersten  Kern  heraus  zu  gestalten  und  in  hochste  Bereiche 
7ii  tragen,  das  ist  die  Aufgabe  oder  ein  Hauptteil  der  Aufgabe  der 
wahren  Schriftsteller,  Dichter,  Historiker,  Gelehrten  und  vielleicht 
sogar  Priester  und  Philosophen  eines  jeden  Landes.  Hier,  und  hier 
allein,  sind  die  Grundelemente  fiir  eine  wirklich  wertvolle  und 
dauerhafte  lyrische  und  dramatische  Kunst  Amerikas. 

Aber  gegenwartig  sind  all  die  Schwarme  von  Gedichten,  von 
literarischen  Zeitschriften,  Theaterstiicken,  die  bislang  dem  ameri- 
kanischen  Intellekt  und  unseren  besten  Ideen  entsprungen  sind, 
zwecklos  und  ein  Hohn,  wenn  man  sie  beurteilt  nach  einem 
hoheren  MaBstab  als  dem,  der  die  Hauptzwecke  des  Daseins 
darin  sieht,  wahrend  der  einen  Halfte  des  Lebens  fieberbaft  Geld 
zu  macben  und  wahrend  der  andern  vielleicht  durcb  „  Amuse- 
ment", Reisen  ins  Ausland  und  Geschwatz  die  Zeit  totzuschlagen, 
—  wenn  man  sie  beurteilt  im  Hinblick  auf  die  Ziele  von  Patrio- 
tismus,  Gesundheit,  edler  Person licbkeit,  Religion  und  demokra- 
tischer  Kultur!  Sie  starken  und  nahren  keinen,  bringen  nicbts 
Charakteristisches  zum  Ausdruck,  geben  niemandem  Richtung  und 
Ziel  und  befriedigen  nur  den  niedrigsten  Geschmack  hohler 
Geister  .  .  . 

Amerika  braucht  eine  Poesie,  die  kiihn,  modern,  allumfassend 
und  kosmiscb  ist,  wie  es  selbst.  Diese  Poesie  darf  in  keiner  Hin- 
sicbt  die  Wissenscbaft  und  das  Moderne  ignorieren,  sondern  muB 
aus  der  Wissenscbaft  und  dem  Modernen  Inspiration  schopfen. 
Sie  muB  mehr  in  die  Zukunft  als  in  die  Vergangenheit  scbauen. 
Wie  Amerika,  muB  auch  sie  sicb  von  den  Vorbildern  der  Ver- 
gangenheit, und  waren  es  die  hochsten,  freimachen  und,  bei  aller 
Achtung  vor  ihnen,  den  vollen  Glauben  an  sich  selbst  und  an  die 
Erzeugnisse  ihres  eigenen,  demokratischen  Geistes  haben.  Wie 
Amerika,  muB.auch  sie  das  Banner  des  gottlichen  SelbstbewuBt- 
seins  (der  tiefsten  Grundlage  der  neuen  Religion)  in  das  Vorder- 
treffen  stellen  und  unter  alien  Umstanden  hochhalten.  Lange  ge- 
nug  hat  das  Yolk  Dichtungen  angehort,  worin  die  Durchschnitts- 
menschheit  sich  unterwiirfig  duckt  und  demiitig  Hohere  iiber  sich 
anerkennt.  Amerika  aber  hort  nicht  auf  solche  Dichtungen.  Auf- 
recht,  von  stolzer  Selbstachtung  geschwellt  sei  der  Gesang,  dann 
vvird  ihm  Amerika  mit  Wohlgefallen  lauschen. 


Das  echte  Gold,  die  Edelsteine  werden,  wenn  sie  endlich  ans 
Licht  kommen  werden,  wahrscheinlich  nicht  aus  den  Bereichen 
stammen,  von  denen  man  sie  heute  fiir  gewohnlich  erwartet.  Der 
unmiindige  Genius  amerikanischer  Dichterkraft  schlummert  heute 
zweifellos  in  weiter  Feme,  zum  Gliick  unentdeckt  und  unbehelligt 
von  den  Koterien  der  Kunstschreiber,  der  Schwatzer  und  Kritiker 
der  Salons  oder  der  Sprecher  in  Horsalen,  —  schlummert  abseits, 
seiner  selbst  nicht  bewufit,  in  irgendeinem  Dialekt  des  Westens, 
in  irgendeiner  einheimischen  Ausdrucksweise  in  Michigan  oder 
Tennessee,  oder  in  irgendeiner  landlichen  Wahlrede  —  oder  in 
Kentucky,  Georgia  oder  auf  den  Karolinen  —  oder  in  dem  Slang 
oder  Volkslied  oder  einer  Redensart  der  Arbeiter  von  Manhattan  *, 
Boston,  Philadelphia  oder  Baltimore  —  oder  oben  in  den  Waldern 
von  Maine  —  oder  fern  in  der  Hiitte  des  kalifornischen  Goldgrabers 
oder  in  den  Rocky  Mountains  oder  langs  der  pazifischen  Bahn  — 
oder  in  der  Brust  der  jungen  Farmer  des  Nordwestens  oder  in 
Kanada  oder  der  Fischer  auf  den  Seen.  Rauhe  und  grobe  Wiegen 
dies!  Aber  einzig  aus  solchen  Anfangen  und  eingeborenen  Stammen 
werden  vielleicht  Bliiten  von  echt  amerikanischem  Arom  aufbrechen 
und  sprieBen,  wenn  ihre  Zeit  da  ist,  und  Friichte,  die  wahrhaft  und 
voll  unser  eigen  sind  .  .  . 

Lange  vor  unserer  zweiten  Jahrhundertfeier  werden  wir  einige 
vierzig  oder  fiinfzig  groOe  Staaten  haben,  darunter  Ranada  und 
Kuba.  Am  Ende  des  gegenwartigen  Jahrhunderts  wird  unsere  Be- 
volkerung  sechzig  oder  siebzig  Millionen  betragen.  Der  Pazifische 
Ozean  wird  uns  ganz  und  der  Atlantische  groBtenteils  gehoren. 
Wir  werden  in  taglicher  elektrischer  Verbindung  sein  mit  alien 
Teilen  des  Globus.  Was  fiir  ein  Zeitalter!  Was  fiir  ein  Land!  Wo 
sonst  ein  so  grofies?!  Die  Individualitat  einer  einzelnen  Nation  mu6 
dann,  wie  immer,  die  Welt  leiten.  Kann  es  zweifelhaft  sein,  wer 
der  Fiihrer  sein  sollte?  Man  bedenke  aber,  daB  immer  nur  die 
machtigste,  urspriinglichste,  ungeknechtete  Seele  in  Wahrheit  und 
glorreich  gefiihrt  hat  und  je  fiihren  kann.  (Diese  Seele  —  ihr  an- 
derer  Name  in  diesen  Ausblicken  ist  Literatur.) 

In  einem  schonen  Traum  wollen  wir  diese  hundert  Jahre  iiber- 
springen  und  die  Schopfungen,  Gedichte  und  Philosophien  Amerikas 


*  New  York.     (Anmerkung  des  Cbersetzers.) 


iiberschauen,  vvenn  sie  alle  Prophezeiungen  erfiilit  uiul  hochsten 
Idealen  endgiiltige  Gestalt  gegeben  haben  werden.  Vieles,  was  wir 
jem  noch  nicht  ahnen,  wird  dann  vielleicht  in  iippigem  Wachstuin 
dastehen,  Reichtum  und  Kraft  literarischer  und  kiinstlerischer  Dar- 
stellung,  wobei  Charakter  als  Hauptelement  gelten  wird  und  nicht 
blofie  Bildung  und  Eleganz. 

Inbriinstige  und  liebevolle  Kameradschaft  wird  dann  zu  vollein 
Ausdruck  kommen,  personliche  und  leidenschaftliche  Liebe  von 
Mann  zu  Mann,  die,  schwer  definierbar,  den  Lehren  und  Idealen 
der  tiefsinnigen  Erloser  aller  Lander  und  Zeiten  zugrunde  liegt, 
und  die  vielleicht  die  wesentlichste  Sicherheit  und  Hoffnung  fiir 
die  Zukunf't  unserer  Staaten  zu  bilden  verspricht,  wenn  sie  einmal 
in  Sitte  und  Literatur  voll  entwickelt,  gepflegt  und  anerkannt  sein 
wird. 

In  der  Entwicklung,  dem  Bewufitwerden  und  der  allgemeinen 
Geltung  dieser  feurigen  Kameradschaft  (der  Freundschaftsliebe,  die 
der  die  Literatur  jetzt  beherrschenden  Geschlechtsliebe  ebenbiirtig, 
wenn  nicht  iiberlegen  ist)  erhoffe  ich  das  ausschlaggebende  Gegen- 
gewicht  und  die  Vergeistigung  unserer  materialistischen  und  vul- 
garen  amerikanischen  Demokratie.  Manche  werden  sagen,  das  sei 
nur  ein  Traum,  und  werden  meinen  SchluBfolgerungen  nicht  bei- 
stimmen:  ich  aber  erwarte  zuversichtlich  eine  Zeit,  wo  durch  all 
die  Myriaden  horbarer  und  sichtbarer  weltlicher  Interessen  Amerikas 
die  Faden  mannlicher  Freundschaft,  wie  ein  halbverborgener  Ein- 
schlag,  durchschimmern  werden,  warm  und  zartlich,  rein  und  suB, 
stark  und  lebenslang,  in  bisher  unbekanntem  MaBe  —  eine  Kamerad- 
schaft, die  nicht  nur  den  individuellen  Charakter  bestimmen  und 
ihn  gefiihlsreich,  muskulos,  heroisch  und  innig  machen,  sondern 
auch  auf  die  allgemeine  Politik  den  nachhaltigsten  EinfluB  aus- 
iiben  wird.  Ich  behaupte,  die  Demokratie  bedingteine  solche  liebende 
Kameradschaft  als  ihr  unentbehrlichstes  Zwillingsgegenspiel,  ohne 
welches  sie  unvollstandig  und  unniitz  ist  und  unfahig  zu  dauern. 

Starkherzige  Frohlichkeit  und  Glaubigkeit  und  Sinn  fiir  Gesund- 
heit  al  fresco  soil  eine  der  Vorbedingungen  edlen  amerikanischen 
Schrifttums  der  Zukunft  sein.  Eines  der  Merkmale  des  groBen 
Schrifts tellers  soil  sein,  daB  ihm  der  Sinn  fehlt  fiir  das  Verschleierte, 
Diistere,  Bose,  den  Teufel,  die  von  den  Puritanern  ererbten  grim- 
migen  Vorurteile,  Holle,  angeborene  Verderbtheit  und  desgleichen. 


Der  groBe  Schriftsteller  wird  vor  alien  andern  kenntlich  sein  an  seiner 
heiteren  Einfachheit,  seinem  Festhalten  an  natiirlichen  MaBstaben, 
seinem  unbegrenzten  Glauben  an  Gott,  seiner  Ehrfurcht  und  daran, 
daB  in  ihm  kein  Raum  ist  fiir  Zweifel,  Blasiertheit,  Possen,  Spott- 
sucht  oder  irgendwelche  unnatiirliche  und  fliichtige  Mode. 

Icb  darf  nicbt  verfehlen,  unermiidlicb  immer  wieder  und  wieder 
und  noch  deutlicher  als  bisher  auf  das  erhabene  Ziel  zuriickzu- 
kommen,  sicherlich  das  stolzeste  und  reinste,  in  dessen  Dienst  der 
Schriftsteller  der  Zukunft,  auf  welchem  Gebiete  immer,  freudig 
wirken  mag.  (O  mochte  doch  in  der  Tat  ein  solcher  Fernblick, 
wie  wir  ihn  traumen,  uns  aucb  dieses  Ideal  zu  seiner  Zeit  verwirk- 
licht  sehen  lassen !)  Das  Gegengewicht  zu  der  materiellen  Zivilisation 
unserer  Rasse,  unserer  Nation,  ihres  Wohlstands,  ihrer  Territorien, 
Fabriken,  Bevolkerung,  Erzeugnisse,  ibres  Handels  und  ihrer  Heeres- 
und  Seemacht  und  der  lebendige  Atem,  der  durch  all  das  atmet, 
muB,  wie  gesagt,  ihre  moralische  Zivilisation  sein  —  deren  For- 
mulierung,  Darstellung  und  Forderung  die  hochste  Aufgabe  der 
Literatur  ist.  Der  hochste  Gipfel  dieser  erhabenen  Hohe  der  Zivili- 
sation, die  sich  iiber  alle  Herrlichkeiten  und  Schatze  von  Wohl- 
stand,  Intellekt,  Macht  und  Kunst  als  solcher  erhebt,  —  ja  sogar 
iiber  Theologie  und  religiosen  Eifer,  —  muB  ihre  Entwicklung 
zum  absoluten  Gewissen,  zu  moralischer  Gesundheit  und  Gerechtig- 
keit  sein,  als  deren  Verkorperung  sie  aus  ewigen  Tiefen  empor- 
taucht.  Selbst  in  religiosem  Eifer  liegt  noch  ein  Hauch  anima- 
lischer  Glut.  Aber  moralische  Gewissenhaftigkeit  —  kristallklar, 
fleckenlos,  nicht  nur  gottgleich,  sondern  vollkommen  menschlich 
—  weckt  ewig  Ehrfurcht  und  Entziicken.  Grofi  ist  fiihlende  Liebe, 
selbst  in  der  Ordnung  des  rationalen  Universums.  Aber  wenn  wir 
Abstufungen  machen  sollen,  so  bin  ich  iiberzeugt,  daB  es  noch 
etwas  GroBeres  gibt.  Kraft,  Liebe,  Verehrung,  Wohlstand,  Genie, 
Schonheit:  sie  alle  versagen  irgendwie  bei  scharfster  Betrachtung 
und  Untersuchung  in  klarsten  Stunden,  werden  irgendwie  nichtig. 
Alsdannkommtgerauschlos,  mit  schwebenden  Schritten,  die  hochste 
Herrin,  die  Sonne,  das  letzte  Ideal.  Mit  den  Namen  Recht,  Ge- 
rechtigkeit,  Wahrheit  deuten  wir  sie  nur  an,  aber  beschreiben  sie 
nicht.  Fiir  die  Welt  der  Menschen  bleibt  sie  ein  Traum,  eine  Idee, 
wie  sie  es  nennen.  Aber  kein  Traum  ist  sie  dem  Weisen,  —  son- 
dern das  Stolzeste,  fast  das  einzig  VerlaBliche  und  Dauernde  in 

7/1 


aller  Welt.  Ihre  Analogic  im  materiellen  Universum  ist  dasjenige, 
was  diese  Welt  und  alle  Dinge  auf  ihr  zusammenhalt  und  ihre 
Krafte  ewig  sicher  und  wohlbehalten  vorwarts  tragt.  Weil  sie  im 
Leben,  in  der  Soziologie,  Literatur,  Politik,  im  Geschaftsleben  und 
selbst  im  Gottesdienst  fehlt  und  man  ihr,  heute  \vie  je,  bestandig 
ausweicht,  —  daber  der  Abgrund,  die  todliche  Kluft  und  der  schwarze 
Fleck,  der  der  Zivilisation  von  heute  mit  all  ihren  unbestreitbaren 
Triumphen  und  iiberhaupt  aller  bisher  bekannten  Zivilisation 
Hohn  spricht. 

Die  Literatur  der  Gegenwart  ist,  obwohl  sie  gewisse  populare 
Anspriiche  vortrefflich  und  mit  einer  Fiille  von  Sachkenntnis  und 
Wortgewandtheit  erfiillt,  dennoch  im  tiefsten  Grunde  verfalscht 
und  ungesund,  und  selbst  ihre  Frohlichkeit  ist  angekrankelt.  Es 
tut  ihr  not,  den  Einklang  mit  der  Natur  und  dem  (Jeist  der  Natur 
zu  finden  und  ihn  wiederzugeben  und  seine  Gesetze  zu  erkennen 
und  zu  befolgen.  Ich  behaupte,  die  Frage  der  Natur,  im  grofien 
gesehen,  schlieBt  die  Fragen  der  Asthetik,  des  Gefuhls  und  der 
Religion  in  sich,  und  schliefk  Gliickseligkeit  in  sich.  Eine  gesund 
geborene  und  auferzogene  Rasse,  aufvvachsend  im  Haus  und  im 
Freien  unter  den  rechten  harmonischen  Bedingungen  fur  Tatigkeit 
undEntvvicklung,  wiirde  \vahrscheinlich,  infolge  dieser  Bedingungen, 
Geniige  darin  finden,  zu  leben,  —  und  wiirde  in  ihren  Beziehungen 
zu  Himmel,  Luft,  Wasser,  Baumen  usw.  und  zu  all  dem  Zahllosen, 
was  es  an  jedem  Tag  zu  sehen  gibt,  und  in  der  Tatsache  des  Lebens 
selber  Gliickseligkeit  entdecken  und  genieBen,  —  und  dies  ihr  Sein 
ware  Tag  und  Nacht  durchflutet  von  gesunder  Entziickung,  weit 
iiber  alien  Freuden,  die  Reichtum,  Verguiigungen  oder  selbst 
befriedigter  Intellekt,  Bildung  oder  Sinn  fur  Kunst  zu  gewahren 
vermogen. 

Wer  meine  Betrachtungen  liest,  wird  ihren  Hauptgehalt  nicht 
erfassen,  wenn  er  nicht  den  Punkt  wohl  beachtet,  daB  eine  neue 
Literatur,  vielleicht  auch  eine  neue  Metaphysik,  sicherlich  eine  neue 
Poesie  meines  Erachtens  die  einzig  festen  und  wiirdigen  Stiitzen 
und  Ausdrucksmittel  der  amerikanischen  Demokratie  sein  konnen. 
In  der  Zukunftsliteratur  dieser  Staaten  muB  daher  vor  alien  Dingen 
die  lang  vernachlassigte  Natur,  die  echte  Natur,  die  wahre  Idee  der 
Natur  wieder  vollig  zur  Geltung  und  Herrschaft  gelangen,  den 
Dichtungen  die  alles  durchdringende  Atmosphare  einhauchen  und 

75 


den  MaBstab  bilden  far  alle  hervorragenden  literariscben  und  as- 
thetischen  Schopfungen. 

Ich  meine  nicht  die  glatteri  Wege,  gestutzten  Hecken,  Bosketts 
und  Nachtigallen  der  englischen  Poeten,  sondern  den  ganzen  Erd- 
ball  mit  seiner  geologischen  Geschichte,  den  Kosmos,  wie  er  Feuer 
und  Schnee  tragt  und  durch  den  grenzenlosen  Raum  rollt,  leicht 
wie  eine  Feder  und  doch  Billionen  Tonnen  schwer.  Ferner  —  da 
das,  was  wir  gegenwartig  unvollkommen  als  Natur  bezeichnen, 
hochstens  soviel  bedeutet,  wie  von  dem  physischen  Gewissen,  dem 
Sinn  fiir  Materie  und  animalische  Gesundbeit  erfafit  werden  kann 
—  so  mufi  dariiber  binaus  entscbieden  das  BewuBtsein  gepflanzt 
und  entwickelt  werden,  daB  der  Mensch  etwas  unendlicb  Hoheres 
besitzt,  als  das  pbysische  Gewissen,  namlich  das  etbische  und  geistige 
Gewissen,  das  ibn  auf  seine  Bestimmung  jenseits  des  Sichtbaren, 
Sterblichen  hinweist. 

Indem  wir  nun  wirklich  zu  den  Hoben  einer  solcben  Natur- 
anschauung  emporsteigen,  scbreiten  wir,  reinste  Luft  atmend,  in 
den  Betracbtungen  dieser  unserer  MAusblicke"  fort. 

Hohepunkt  und  Endziel  literarisch-kiinstlerischen  Ausd rucks  und 
seine  tiefsten  GenuBquellen  fiir  die  Menschenseele  liegen  in  der 
Metaphysik,  die  die  Mysterien  der  Geisteswelt,  der  Seele  selbst,  der 
Frage  nach  der  ewigen  Fortdauer  unserer  Identitat  in  sicb  schlieBt. 
Zu  alien  Zeiten  war  der  menschlicbe  Geist  auf  diese  Hohen  gericbtet 
und  wird  es  immer  sein.  Hier  wenigstens  stehen  wir  auf  gemein- 
samem  Boden,  welcher  Rasse  oder  Epoche  wir  aucb  angehoren. 
Aucb  der  Beifall  ist  einmiitig,  handle  es  sicb  um  Altertum  oder 
Neuzeit.  Die  Autoren,  die  auf  diesem  Gebiet  Gutes  leisten,  werden 
der  Menscbheit  am  liebsten  sein,  und  ibre  Werke  werden  immer 
geschatzt  bleiben,  sie  mogen  asthetiscb  noch  so  unvollkommen  sein, 
-  mag  auch  der  aufiere  Erfolg  statt  in  einem  scbonen  Prozentsatz 
oder  Honorar  einfach  in  dem  Lorbeerkranz  der  Sieger  bei  den  groBen 
Olympischen  Spielen  bestehen. 

Der  Gipfel  der  Literatur  und  Poesie  ist  immer  die  Religion  gewesen 
und  wird  es  immer  sein.  Die  indiscben  Vedas,  die  Nackas  Zoroasters, 
der  jiidische  Talmud,  das  Alte  Testament,  das  Evangelium  Cbristi 
und  seiner  Jiinger,  Platos  Werke,  Mobammeds  Koran,  Snorres  Edda 
und  so  fort  bis  auf  unsere  Zeit,  bis  auf  Swedenborg  und  die  unscbatz- 
baren  Scbopfungen  von  Leibniz,  Kant  und  Hegel,  —  diese  sowie 


solche  Dichtungen,  worin  zwar  Menschen  und  Dinge,  die  mensch- 
lichen  Leidenschaften  und  die  Erscheinungen  des  stofflichen  Uni- 
versums  besungen  werden,  worin  aber  der  religiose  Grundton,  das 
BewuBtsein  vom  Mystischen,  die  Anerkennung  der  Zukunft,  des 
Unbekannten,  der  gbttlichen  Allgegenwart  und  des  gottlichen  Planes 
nie  fehlt,  sondern  indirekt  allem  die  Farbung  gibt,  —  solche  Werke 
allein  stellen  die  wirklichen  Hohen  und  Gipfel  der  Literatur  dar 
und  ragen  empor  wie  die  groBen  Berge  der  Erde. 

Wenn  wir  auf  diesem  Grunde  stehen  —  dem  letzten,  bochsten, 
einzig  dauernden  Grund  —  und  von  da  aus  alle  Werke  der  lite- 
rariscben  und  sonstigen  Kunst  streng  beurteilen,  mu'ssen  wir  jedes 
pratentiose  Werk  --  seine  asthetiscben  oder  intellektuellen  Fein- 
heiten  mogen  noch  so  groB  sein  —  entscbieden  ablehnen,  wenn  es 
die  gottliche  Zentralidee  vom  All  verletzt  oder  ignoriert  oder  aucb 
nur  nicbt  preist,  —  die  Idee,  die  das  Universum  durchflutet  mit 
einer  ewigen  Stufenfolge  von  Zweck  in  der,  wenn  auch  nocb  so 
langsamen  Entwicklung  des  physischen,  moralischen  und  geistigen 
Kosmos. 

Ich  sage,  wer  dieses  einfacbe  BewuOtsein  und  diesen  Glauben 
nicbt  in  sicb  aufgenommen  hat,  der  hat  vergeblich  philosophiert 
und  studiert,  wie  groB  auch  seine  aufiere  Bildung  sein  mag.  Dieser 
Gedanke  ist  nicht  ganz  neu,  —  aber  es  ist  die  Aufgabe  der  Demo- 
kratie,  ibn  auszufuhren  und  dafiir  zu  sorgen,  daB  er  mit  entschiedener 
Konsequenz  weiter  ausgebaut  wird.  Uber  den  Tu'ren  alles  Unter- 
richts  muB  die  Inschrift  stehen:  ,,Obschon  man  wenig  oder  nichts 
absolut  wissen  oder  erkennen  kann,  auBer  von  einem  verganglichen 
Gesichtspunkte  aus,  so  wissen  wir  doch  ein  Dauerndes,  namlich 
daB  Raum  und  Zeit  nach  dem  Willen  Gottes  fortlaufende  Ketten, 
Vollendungen  materieller  Geburten  und  Anfange  bilden,  alien 
Widerspruch,  Zweifel  und  Furcht  losen  und  schliefilich  Gliick- 
seligkeit  bringen  —  und  daB  die  Verkundigung  dieser  Geburten  als 
der  Reime  geistiger  Friichte  den  wirklichen  Verbindungsbogen 
spannt  liber  alien  Unterricht,  alle  Wissenschaft. " 

Die  ortlich  bedingten  Anschauungen  von  Siinde,  Krankheit,  Mifi- 
gestalt,  Unwissenheit,  Tod  usw.  und  ihre  Beurteilung  durch  den 
oberflachlichen  Verstand,  durcb  gewohnliche  Gesetzgebung  und 
Theologie  mussen  bekampft  werden  durch  eine  Wissenschaft,  die 
jenen  Glauben  ku'hn  annimmt,  verbreitet  und  den  Samen  pflanzt 

77 


fur  hohere  Gesetze  —  t'iir  die  Erklarung  des  physischen  Universums 
durch  das  geistige  —  und  die  den  Weg  bahnt  fiir  eine  Religion, 
siifi  und  unanfechtbar  gleichermaBen  fiir  kleine  Kinder  wie  fiir 
groBe  Gelehrte. 

Die  erhebenden  und  vergeistigenden  Ideen  voni  Unbekannten 
und  Unwirklichen  miissen  mit  Nachdruck  zur  Geltung  gebracht 
werden,  da  sie  die  legitimen  Erben  des  Bekannten  und  Wirklichen 
und  mindestens  ebenso  groB  wie  ibre  El  tern  sind.  Obne  Furcht 
vor  Spott  und  vor  der  prahlerischen  Wirklichkeit  wollen  wir  auf 
unserrn  Platz  und  festen  Grunde  stehen  und  ihn  niemals  verlassen 
und  dem  wachsenden  UbermaB  und  Ubermut  dieser  Wirklichkeit 
die  Stirn  bieten.  Dem  zur  Zeit  triumphierenden  Schrei  der  Sinnen- 
welt,  der  Wissenschaft,  des  Fleiscbes,  —  dem  Schrei,  der  die  Herrlich- 
keiten  von  Reichtum,  Handel  und  Landwirtschaft,  von  Logik,  In- 
tellekt  und  Beweisfiihrung,  von  unverganglichen  Werken,  Bauten 
aus  Stein  und  Eisen  oder  selbst  die  wundervolle  Wirklichkeit  von 
Baumen,  Erde,  Felsen  usw.  verkundet,  —  fiirchtet  euch  nicht,  meine 
Briider  und  Schwestern,  diesem  Schrei  mit  ebenso  zuversichtlicher 
Stimme  die  Uberzeugung  entgegenzurufen,  die  im  tiefsten  Innern 
jeder  erleuchteten  Seele  lebt:  ,,Ihr  alle  seid  nichts  als  Illusionen! 
Erscheinungen !  Traume!"  —  Sicherlich  diirfen  wir  die  Wirklich- 
keit nicht  verdammen  oder  vb'llig  leugnen,  da  der  in  ihr  liegende 
Sinn  unerlaBlich  ist;  aber  wie  klar  erkennen  wir,  daB  sie  durch 
die  Seele  hindurch  auf  ein  Ziel  bin  wandert,  das  wir  von  hoheren, 
geistigen  Gesichtspunkten  aus  bereits  wahrnehmen  konnen;  und 
daB  sie,  so  greifbar  sie  unter  gegenwartigen  Verhaltnissen  erscheinen 
mag,  mit  allem,  was  zu  ihr  gehort,  vielleicht,  nein  sicherlich  ver- 
sinken  und  verschwinden  wird. 

Ich  griifie  mit  Freuden  die  ozeangleiche,  vielfaltige,  hochgespannte 
praktische  Energie,  das  Verlangen  nach  Tatsachen  und  selbst  den 
Geschaftsmaterialismus  unseres  Zeitalters,  unserer  Staaten.  Aber 
wehe  dem  Zeitalter  oder  Lande,  in  dem  diese  Dinge  und  Entwick- 
lungen  bei  sich  selber  haltmachen  und  nicht  nach  Ideen  streben. 
Wie  Brennstoff  in  die  Flamme  und  Flamme  in  den  Himmel  ver- 
geht,  so  muB  Wohlstand,  Wissenschaft,  Materialismus,  —  ja  auch 
diese  Demokratie,  auf  die  wir  uns  so  viel  zugute  tun,  —  unfehlbar 
aufgehen  in  die  hochste  Geistigkeit,  die  Seele.  Unendlicher  Flug! 
Unergriindliches  Geheimnis!  Der  Mensch,  so  winzig,  schwillt  iiber 

7» 


das  wahrnehmbare  Universuin  hinaus  und  iiberwindet  mid  iiber- 
wolbt  Ruum  und  Zeit,  \venn  er  auch  nur  iiber  eine  groBe  Idee 
uachsinnt.  So,  und  nur  so,  vermag  ein  menschlicbes  VVesen,  sein 
Geist,  fiber  die  objektive  Natur  sicli  zu  erheberi  und  sie  zu  recht- 
fertigen,  sie,  die  vielleicbt  an  sich  ein  bloBes  Nichts,  aber  bierin 
iiber  alles  Verstehen  und  in  gottlichem  Sinne  dienlich,  unent- 
behrlich  und  wicbtig  ist.  Und  wie  der  Sinn  der  objektiven  Natur 
/vveifellos  irgendwie  hierin  gefaltet  und  verborgen  liegt,  —  und  wie 
irgendwie  bierin  der  Daseinszweck  dieses  Erdballs  und  seiner 
mannigfachen  Formen  und  des  Tageslichts  und  der  Finsternis  der 
Nacbt  liegt,  —  so  muB  auch  der  groBe  Schriftsteller,  und  vor  allem 
der  Dicbter,  hieraus  seine  Inspiration  und  den  Pulsschlag  seines 
Blutes  bolen.  Daun  mogen  wir  zu  einer  Dicbtung  gelangen,  die 
der  unsterblicben  Seele  des  Menscben  wtirdig  sein  wird;  die  alle 
Materie  und  alle  Schau  der  Natur  in  ihrem  eigenen  Sinne  in  sich 
aufnehmen  und  dennoch,  iiber  all  das  hinaus,  mittelbar  und  un- 
mittelbar  einen  befreienden,  losenden,  erweiternden,  religiosen 
Charakter  haben  wird,  —  eine  Dichtung,  die  mil  der  Wissenschaft 
frohlocken,  die  moralischen  Krafte  befruchten  und  das  Trachten 
nach  dem  Unbekannten  und  die  geistige  Versenkung  in  das  Un- 
bekanrite  beleben  wird  .  .  . 

,,Die  wesentlicbe  Frage",  sagte  der  Bibliotbekar  des  Kongresses 
in  einem  Vortrag  vor  der  sozialwissenschaftlichen  Vereinigung  in 
New  York,  Oktober  1869,  ,,die  wesentliche  Frage  bei  der  Beur- 
teilung  eines  Buches  ist:  Hat  es  irgendeiner  Menschenseele 
geholfen?"  —  Darin  liegt  der  Priifstein  nicht  nur  fur  jeden  groBen 
Schriftsteller  und  sein  Bach,  sondern  fur  jeden  groBen  Kiinstler. 
Mag  sein,  daB  alle  Kunstwerke  in  erster  Linie  nach  ihren  kiinst- 
lerischen  Qualitaten  beurteilt  werden  miissen,  nach  ihrer  Gestaltungs- 
kraft,  ihren  dramatischen  oder  rnalerischen  Fahigkeiten,  ihrer 
Kunst,  eine  Handlung  zu  schiirzen,  oder  ihrem  Wohllaut  usw. 
Aber  wenn  sie  den  Anspruch  erheben,  Werke  ersten  Ranges  zu 
sein,  so  miissen  sie  streng  und  scharf  danach  beurteilt  werden,  ob 
sie,  im  hochsten  Sinn  und  immer  nur  mittelbar,  in  den  ethischen 
Prinzipien  wurzeln  und  deren  Ausstrahlung  sind,  und  ob  sie  die 
Kraft  haben,  zu  befreien,  zu  erheben,  zu  erweitern. 

Gleichwie  im  Wirken  des  Kosmos  eine  sittliche  Tendenz  lebt, 
eine  sichtbare  oder  unsichtbare,  allem  zugrunde  liegende  Absicht, 


deren  Ergebnis  und  Rechtfertigung  wir  geduldig  abwarten  miissen 
und  die  alle  Meteorologie,  alle  Fiille  der  Erscheinungen  in  Mineral-, 
Pflanzen-  und  Tierreich  belebt,  —  all  das  physische  Wacbstum  und 
, Warden  des  Menschen  und  die  gesamte  Geschichte  der  Rassen  in 
Politik,  Religion,  Krieg  usw.,  —  so  aucb  in  dem  Werk,  in  der  Fiille 
der  Werke  des  groGten  Schriftstellers.  Dies  ist  der  letzte,  tiefste 
MaGstab  und  Priifstein  einer  literarischen  oder  kiinstlerischen 
Leistung  ersten  Ranges,  der,  wenn  richtig  verstanden  und  ange- 
wendet,  sicberlich  zu  Werken  und  fiiichern  fiihren  muB,  edler  als 
alle  bisher  bekannten.  Sieh  auf  die  Natur  (dieses  einzige  voll- 
kommene,  wirkliche  Gedicht),  die  so  gelassen  inmitten  des  gottlichen 
Planes  ruht,  allumfassend,  zufrieden,  unbekiimmert  um  alle  Eintags- 
kritik  und  alle  die  endlosen,  wortreicben  Schwatzer.  Und  bore  auf 
das  BewuGtsein  der  Seele,  die  ewige  Identitat,  den  Gedanken,  das 
Etwas,  vor  dem  selbst  die  Bedeutung  von  Demokratie,  Kunst, 
Literatur  usw.  zusammenscbrumpft  und  partiell  und  meGbar  wird, 
-  das  Etwas,  das  vollkommen  befriedigt  (was  jene  nicbt  tun). 
Dieses  Etwas  ist  das  All  und  das  BewuGtsein  des  Alls,  zugleich 
mit  dem  BewuGtsein  der  Ewigkeit  und  dem  BewuGtsein  der  Seele 
von  sicb  selbst,  die,  immerdar  unzerstorbar,  frohlich  obenauf  durch 
den  Raum  segelt  zu  alien  Bereichen  bin  wie  ein  Scbiff  auf  See. 
Und  nochmals  bore  auf  den  Herzschlag  in  aller  Materie  und  allem 
Geist,  wie  er  unablassig  klopft,  —  die  ewigen  Pulsschlage,  die  ewige 
Systole  und  Diastole  des  Lebens  in  den  Dingen,  —  daran  ich  fiihle 
und  erkenne,  daG  Tod  nicht,  wie  man  glaubte,  das  Ende  ist,  sondern 
der  wabre  Anfang,  —  und  daG  nicbts  je  verloren  gegangen  ist  oder 
verloren  gehen  und  sterben  kann,  weder  Seele  noch  Stoff. 

In  der  Zukunft  dieser  Staaten  miissen  unermeGlich  groGere  Dicbter 
ersteben,  die  die  groGen  Gedichte  des  Todes  schaffen.  Die  Gedichte 
des  Lebens  sind  groG,  aber  wir  brauchen  die  Gedichte  vom  Zweck 
des  Lebens  nicbt  nur  in  ibm  selbst,  sondern  iiber  es  hinaus.  Ich 
habe  Homer  gepriesen,  die  heiligen  Sanger  des  Judentums,  Aschy- 
lus,  Juvenal,  Shakespeare  usw.  und  ihreii  unschatzbaren  Wert  an- 
erkannt.  Aber  ich  sage  (vielleicht  mit  Ausnahme  der  zweitgenannten, 
in  mancher,  nicht  jeder  Hinsicht):  es  miissen,  fur  die  Zwecke  der 
Zukunft  und  der  Demokratie,  Dichter  erscheinen  (wage  ich  es  aus- 
zusprechen?)  von  hoherem  Rang  als  jene  alle,  —  Dichter,  die  nicht 
nur  von  der  religiosen  Glut  und  Hingabe  Jesaias  erfiillt  sind  oder 

80 


von  dem  Reichtum  des  epischen  Talents  Homers  oder  der  stolzen 
(lharaktere  Shakespeares,  sondern  die  auch  mil  den  Prinzipien  der 
Philosophic  Hegels  und  mit  moderner  Wissenschaft  in  Einklang 
stehen.  Amerika  und  die  Welt  braucht  ein  Geschlecht  von  Sangern, 
die  jetzt  und  immerdar  das  nationale  physische  Sein  des  Menschen 
mit  der  Gesamtheit  von  Zeit  und  Raum,  mit  der  vielfaltigen  Er- 
scheinungsfiille  der'  Natur,  die  ihn  umgibt  und  ihn  ewig  beun- 
ruhigt,  da  sie  zugleich  ein  Teil  von  ihm  und  docb  kein  Teil  von 
ihm  ist,  so  verkniipfen  und  in  Einklang  bringen,  daft  sie  ihn  mit 
volliger  Harmonic,  Befriedigung  und  Ruhe  erfullen. 

Uralter  Glaube,  den  die  Wissenschaft  jetzt  verscheucht  hat,  muB 
wiederhergestellt,  durch  dieselbe  Macht,  die  sein  Schwinden  ver- 
ursachte,  wiedergebracht  werden  —  wiederhergestellt  zu  neuem 
Schwung,  tiefer,  weiter,  hoher  als  je.  Wahrlich,  diese  allgemeine 
Blasiertheit,  diese  feige  Angstlichkeit,  dieses  Schaudern  vor  dem  Tode, 
diese  niedrigen,  entwiirdigenden  Anschauungen  diirfen  den  Geist, 
der  die  zukiinftige  Gesellschaft  durchdringen  soil,  nicht  auf  immer 
beherrschen,  wie  es  in  der  Vergangenheit  der  Fall  war  und  jetzt 
ist.  Was  der  Romer  Lukretius  in  edelster  Absicht,  aber  allzu  blind- 
lings  fur  seine  und  die  folgende  Zeit  negativ  zu  tun  versuchte, 
muB  positiv  von  einem  groBen,  kunftigen  Schriftsteller,  besonders 
Dichter  geleistet  werden,  der,  immer  ganz  Dichter  bleibend,  dennoch 
zugleich  alle  Erkenntnisse  der  Wissenschaft  in  seine  Geistigkeit  auf- 
nehmen  und  aus  beiden  Elementen  und  seinem  eigenen  Genius  heraus 
das  groBe  Gedicht  vom  Tode  schaffen  wird.  Dann  wird  der  Mensch 
in  Wahrheit  der  Natur  und  Raum  und  Zeit  wissenschaftlich  und 
liebend  zugleich  gegeniibertreten  und  seinen  richtigen  Platz  ein- 
nehmen,  geriistet  furs  Leben,  Herr  iiber  Gliick  und  Ungliick.  Und 
dann  wird  das  lang  Ersehnte  erfiillt  sein  und  das  Schiffeinen  Anker 
haben,  der  ihm  auf  all  seinen  friiheren  Fahrten  gefehlt  hat. 

Noch  andere  Normen  und  Weisungen  gibt  es  fur  die  Werke 
groBer  Schriftsteller.  Das,  was  in  Wahrheit  die  soziale  und  poli- 
tische  Welt  im  Gleichgewicht  erhalt,  ist  nicht  so  sehr  Gesetzgebung, 
Polizei,  Vertrage  und  Furcht  vor  Strafe,  sondern  der  heimliche, 
ewige,  intuitive  Sinn  der  Menschheit  fur  Redlichkeit,  Mannlichkeit, 
Anstand  usf.  Diese  bestandige  Regulierung,  Kontrolle  und  Aufsicht 
auf  dem  Wege  der  Selbsthilfe  ist  in  der  Tat  die  conditio  sine  qua 
non  der  Demokratie;  und  eines  der  hochsten  und  wichtigsten  Ziele 

6     Whitman  I 


demokratischer  Literatur  ware  es,  diesen  Sinn  in  Individuen  und 
Gesellschaft  zu  entwickeln,  zu  pflegen  und  zu  starken.  Eine  starke 
Meisterschaft  des  iiberlegenen  Ich  iiber  die  schwachere  Allgemein- 
heit  muB  durch  die  Schriftsteller  unterstiitzt  und  sichergestellt 
werden,  wenn  auch  nur  indirekt  dadurch,  daB  er  in  seinen  Werken 
fiir  die  demokratischen  Individualitaten  sowohl  wie  fiir  die  demo- 
kratische  Gemeinschaft  das  Vorbild  erhabener,  leidenschaftlicher 
Korperlichkeit  und  in  und  mit  ihr  das  eines  erhabenen,  gebiete- 
rischen  Geistes  schafft. 

Ich  gehe  noch  weiter  und  blicke  —  fur  alle  Falle  —  der  Tat- 
sache  in  die  Augen,  daB  die  Vereinigten  Staaten  macbtvolle  ein- 
heimische  Pbilosophen,  Redner  und  Dichter  braucben  werden  als 
zusammenhaltende  Krafte  in  kommenden  Zeiten  der  Gefahr,  zum 
Schutz  gegen  Zerstorung  und  Zerfall.  Denn  die  Gescbicbte  ist  lang, 
lang,  lang.  Man  mag  die  Moglichkeiten  drehen  und  wenden  wie 
man  will,  das  Problem  der  Zukunft  Amerikas  ist  in  gewissen  Be- 
ziebungen  ebenso  dunkel  wie  umfangreicb.  Stolz,  Wettbewerb, 
Sonderinteressen,  frevelhafter  Eigensinn  und  beispiellose  Willkiir 
briiten  scbon  iiber  uns.  Wer  soil  das  schwerfallige  Ungeheuer  - 
wer  soil  Bebemotb  aufhalten?  wer  Leviathan  ziigeln?  —  Wir  mogen 
es  bemanteln,  wie  wir  wollen,  quer  iiber  den  Wegen  unseres  Fort- 
schritts  erhebt  sich  riesig  und  dammerig  die  UngewiBheit  und  furcht- 
bares,  drohendes  Dunkel.  Es  ist  zwecklos,  es  zu  leugnen :  die  Demo- 
kratie  treibt  in  geiler  Fiille  die  dichtesten,  todlichsten  Giftpflanzen 
und  -friichte  von  alien,  lockt  immer  schlimmere  und  schlimmere 
Eindringlinge  herbei  —  und  braucht  neuere,  reichere,  starkere, 
kiihnere  Verteidiger  und  Bezwinger.  Unsere  Lander,  die  so  viel  um- 
fassen  (die  in  der  Tat  alle  aufnehmen  und  keinen  zuruckweisen), 
tragen  in  ihrer  Brust  auch  die  Flamme,  die  fahig  ist,  sie  selber  zu 
verzehren  und  uns  alle.  So  kurz  auch  die  Spanne  unseres  natio- 
nalen  Daseins  erst  ist,  so  sind  doch  schon  Tod  und  Niedergang  bis 
in  dichteste  Nahe  iiber  uns  gekommen,  und  werden  wiederum 
kommen,  ohne  Zweifel,  wenn  sie  auch  jetzt  abgewehrt  sind.  Kiinf- 
tige  Geschlechter  werden  vielleicht  nie  wissen,  aber  ich  weiB,  mit 
wie  knapper  Not  im  verflossenen  Sezessionskrieg  unsere  National- 
einheit  (in  der,  wie  in  einem  Schiff  im  Sturm,  all  unser  bestes  Sein, 
Hoffen  und  Konnen  auf  Gedeih  oder  Verderb  verfrachtet  war  und 
noch  verfrachtet  ist)  mehr  als  einmal  und  mehr  als  zwei-  und 

82 


clreimal  just  um  ein  Haar  der  Vernichtung  entging.  Ach,  daran 
zu  denken!  an  die  Todesangst  und  den  blutigen  Schweift  mancher 
dieser  Stunden!  an  diese  grausamen,  scharfen,  hangenden  Ent- 
scheidungsstunden ! 

Und  heute?  wo  es  inmitten  dieser  Wirbelstiirme  von  unglaub- 
licher  Schwatzerei,  blinder  Parteiwut,  Unglauben  vollig  an  Kapi- 
tanen  und  Fiihrern  ersten  Ranges  fehlt,  bei  hochster  Gemeinheit 
und  Niedrigkeit  der  sich  an  der  Oberflache  breitmacbenden  Massen, 
und  wo  jenes  furchtbare  Problem,  die  Arbeiterfrage,  sicb  wie  eine 
gahnende  Kluft  zu  6'ffnen  beginnt,  die  mit  jedem  Jahr  zusehends 
weiter  wird  —  was  fiir  Aussichten  haben  wir  da?  Wir  segeln  auf 
einer  gefahrlichen  See  voll  kochender,  sich  kreuzender  Strome  und 
Unterstrome  und  Strudel  —  alle  so  finster  und  unerprobt  —  und 
wobin  ><•! Iru  wir  wenden?  Es  ist,  als  hatte  der  Allmachtige  vor 
diese  Nation  Seekarten  gebreitet,  um  ihr  die  Wege  zu  weisen  zu 
einem  Herrscherschicksal,  strahlend  wie  die  Sonne,  aber  voll  defer 
innerer  Schwierigkeiten  und  schwarender  Leiden  menscblicher  Un- 
vollkommenheit  --  als  wollte  er  sagen:  Hab  acbt!  die  einzigen 
Wege,  die  dich  zur  Entwicklung  frihren,  sind  lang,  voll  mannig- 
facber  furchtbarer  Hindernisse  und  Stiirme!  -  -  Ihr  spracht,  o 
Lander  Amerikas,  in  eurer  Seele  zu  euch:  Wir  wollen  das  Reich 
aller  Reiche  sein,  wir  wollen  alles  andere,  Vergangenes  und  Gegen- 
wartiges,  iiberschatten  und  die  Geschichte  der  Dynastien  der  Alien 
Welt  und  ihre  Eroberungen  als  etwas  Uberwundenes  hinter  uns 
lassen  —  wir  wollen  eine  neue  Geschichte  machen,  eine  Geschichte 
der  Demokratie,  neben  der  die  alte  Geschichte  zwergenhaft  er- 
scheinen  soil  — ,  wir  allein  wollen  der  Beginn  von  etwas  viel  Um- 
fassenderem  und  die  Kronung  unserer  Zeit  sein.  Wenn  das,  ihr 
Lander  Amerikas,  der  Entschlufi  eurer  Seele  ist  und  der  Preis,  um 
den  ihr  ringt,  dann  sei  es  so!  Aber  bedenkt,  was  es  euch  kosten 
wird  und  schon  jetzt  kostet.  Glaubtet  ihr,  dafi  Grofie  fiir  euch 
reifen  wiirde  wie  eine  Birne?  Wollt  ihr  Grofie  erlangen,  so  wisset, 
daB  ihr  sie  erobern  miiGt  durch  Generationen  und  Jahrhunderte 
hindurch  —  dafi  ihr  dafiir  bezahlen  miifit  mit  einem  entsprechenden 
Preis.  Auch  euer  wie  aller  Lander  Teil  ist  Kampf  und  Verrat, 
Unehrlichkeit  der  Amter,  innerlich  fauler  Wohlstand,  Ubersatti- 
gung  im  Reichtum,  der  Damon  der  Gier,  die  Holle  der  Leiden- 
schaft,  Verfall  des  Glaubens,  ermiidender  Aufschub,  versteinerte 

83 


Tragheit,  immer  neue,  unvermeidlicheRevolutionen,  Heilsverkiinder, 
Gewitter,  Tode  und  Geburten,  immer  neuer  Aufschwung  zu  immer 
starkeren  Ideen  und  Menschen. 

Und  dennoch  —  versunken  in  das  dunkel-verworrene  Ratsel 
unserer  Zukunft,  dessen  langwierige  Losung  sich  geheimnisvoll 
durch  die  Zeiten  erstreckt  —  habe  ich  von  einer  kleinen  oder  viel- 
leicht  schon  grofieren  Schar  getraumt,  ja  sie  bereits  in  Andeutungen 
geschildert  —  eine  Schar  von  Tapferen  und  Wahrhaftigen,  wie  die 
Welt  sie  noch  nicht  sah  —  voll  gewappnet  und  geriistet  —  vielleicht 
getrennt  durcb  verschiedene  Zeiten  und  Staaten,  im  Siiden,  Norden, 
Osten  oder  Westen  —  an  der  pazifischen  oder  atlantischen  Kiiste,  in 
den  Siidstaaten  oder  in  Kanada  —  in  dem  einen  Jahr  oder  Jahrhundert 
hier,  in  anderen  Jahrhunderten  dort  —  aber  immer  in  Einheit,  in 
seelischer  Geschlossenheit,  mit  wacbem  Gewissen  und  Gott-BewuBt- 
sein,  erleuchtete  Vollbringer,  nicht  nur  in  der  Literatur,  der  grofiten 
Kunst,  sondern  in  jeder  Kunst  —  ein  neuer  unsterblicher  Orden, 
eine  neue  Dynastic,  von  Generation  zu  Generation  iiberliefert  - 
eine  Schar,  eine  Klasse,  mindestens  ebenso  fahig,  sich  mit  den  Ge- 
fahren  und  Noten  unserer  Zeit  zu  messen,  wie  jene,  die  zu  ihrer 
Zeit  so  lange  und  erfolgreich  in  Harnisch  oder  Kutte  die  feudale 
oder  priesterliche  Welt  aufrechthielten  und  ruhmvoll  machten.  Im 
Gegensatz  zum  Rittertum  und  all  den  geschwundenen,  zahllosen 
hofischen  Helden,  alten  Altaren,  Abteien,  Priestern  vergangener 
Geschlechter  und  Reihen  von  Geschlechtern  ruft  heute  eine  viel 
ritterlichere  und  heiligere  Sache  in  einer  Neuen  Welt  zu  groBerer, 
erhabenerer  Tat,  die  sie  auch  vollbringen  wird,  und  die  mehr  sein 
wird  als  das  blofie  Widerspiel  oder  Seitenstiick  dazu. 

Nachdem  wir  nun  endgiiltig  auf  einem  Hohepunkt  dieser  „  Aus- 
blicke"  angelangt  sind,  gestehe  ich,  daB  die  Verkiindigung  einer 
solchen  Klasse  und  Institution  —  eines  neuen  und  groBeren  Ordens 
der  Literatur  —  und  der  Glaube  an  sie  und  ihre  Moglichkeit  (nein, 
GewiBheit)  all  diesen  Spekulationen  zugrunde  liegt,  und  daB  alles 
iibrige,  all  ihre  andern  Teile,  darauf  aufgebaut  und  gegriindet 
sind.  Die  Schopfung  einer  solchen  Institution  erscheint  mir  in 
der  Tat  als  die  Vorbedingung  nicht  nur  fur  unsere  kiinftige  natio- 
nale  und  demokratische  Entwicklung,  sondern  iiberhaupt  fur  unsern 
dauernden  Bestand.  Die  hochst  verkiinstelten ,  materialistischen 
Grundlagen  der  modernen  Zivilisation  mit  ihren  entsprechenden 

84 


Lebenseinrichtungen  und  -methoden,  mit  ihrer  iibermaBigen  Geltung 
boCen  Intellekts,  mit  den  verderblichen  Einfliissen  von  Reichtum 
sowohl  wie  Armut  und  dem  Fehlen  aller  hohen  Charakterideale, 
-  mit  all  der  Fiille  von  Tendenzen  und  Lebensformen,  denen  zu 
widerstehen  nur  wenige  stark  genug  sind  und  die  jetzt  mit  maschinen- 
hafter  Gescbwindigkeit  die  Menschengeschlechter  nur  noch  ein- 
formig  wie  guBeiBerne  Ware  auszuformen  scheinen,  —  und  die  wir 
doch  alles  in  allem,  im  VTergleich  zum  feudalen  Zeitalter,  schlieB- 
lich  hinnebmen  und  willkommen  heiBen  miissen  und  aus  denen 
wir  das  Beste  macben  miissen  um  ibrer  ozeangleichen  realen  GroB- 
artigkeit  willen  und  weil  sie  die  Massen  im  groBen  und  ganzen 
unwiderstehlich  durchkneten,  —  icb  sage,  all  diese  furchtbare  Herr- 
schaft  lediglich  materialistiscber  Einfliisse  auf  das  jetzige  Leben  der 
Vereinigten  Staaten  mit  all  ihren  bereits  sicbtbaren  Ergebnissen, 
die  sich  immer  mehr  haufen  und  weit  in  die  Zukunft  hinein  wirken, 
—  all  das  muB  entweder  durcb  mindestens  ebenso  subtile  und  mach- 
tige  Einfliisse  wettgemacht  werden,  die  auf  Vergeistigung,  reines 
Gewissen,  echtes  Schonheitsgefiihl  und  unabhangige,  erstlingsfrische 
Mannheit  und  Weibheit  abzielen;  --  oder  aber  unsere  moderne 
Zivilisation  mit  all  ihren  Errungenschaften  ist  umsonst,  und  wir 
sind  auf  dem  Wege  zu  einem  Scbicksal,  einem  Zustand,  der,  in 
dieser  ihrer  realen  Welt,  dem  der  Verdammten  des  Fabelreichs 
gleicht. 

Wenn  wir  so  auf  die  kommenden,  in  aller  Gelassenheit  nahen- 
den  Zeiten  blicken  und  auf  diesen  neuen  Orden,  der  in  ihnen  er- 
wachsen  soil,  und  auf  die  endlose  Kette  von  Heranbildung,  Ent- 
wicklung,  Entfaltung  in  Nation  und  Mensch,  die  der  Sinn  des  Lebens 
ist,  so  sehen  wir,  in  Vorzeichen,  inmitten  dieser  Ausblicke  und  HofF- 
nungen,  neue  gesetzschaffende  Kraftegesprochener  und  geschriebener 
Sprache,  —  nicbt  nur  padagogischer  Formen,  korrekt,  regelrecht, 
in  aller  Uberlieterung  bewandert,  geschaffen  fiir  auBere  Richtig- 
keit,  schone  Worte,  endgiiltig  gepragte  Gedanken,  —  sondern  eine 
Sprache,  die  umweht  ist  vom  Hauch  der  Natur,  die  Sprunge  macht 
kopfiiber,  der  es  vor  allem  auf  Impuls  und  Wirkung  ankommt  und 
auf  das  Wachstum  dessen,  was  sie  pflanzen  und  zu  starker  Ent- 
wicklung  bringen  will,  —  die  mit  Leben  und  Charakter  wetteifert 
und  die  Dinge  nicht  so  sehr  ausspricht,  als  andeutet  und  zu  ihnen 
hinzwingt.  In  der  Tat,  eine  neue  Theorie  literarischen  Schaffens 

85 


fur  hochste  Werke  der  Einbildungskraft,  besonders  fur  hochste  Dich- 
tung,  ist  der  einzige  Weg,  der  den  Vereinigten  Staaten  offen  ist. 
Biicher  miissen  verlangt  und  beschafft  werden  von  der  Voraussetzung 
aus,  daB  Lesen  kein  Halbschlaf  ist,  sondern  im  hochsten  Sinn  eine 
Geistesiibung,  ein  gymnastisches  Ringen;  daB  der  Leser  selbst  etwas 
dabei  tun  muB,  daB  er  wachsam  sein  muB,  daB  er  oder  sie  in  der 
Tat  selbst  das  Gedicbt,  die  Beweisfiihrung,  die  Geschichte,  den 
metaphysiscben  Essay  mit  aufbauen  muB  und  der  Text  nur  die  An- 
deutungen,  den  Schliissel,  den  Ausgangspunkt  oder  das  Gerippe 
gibt.  Nicht  so  sehr  das  Bucb  muB  komplett  sein,  sondern  der  Leser. 
Auf  solcbe  Weise  konnte  eine  Nation  geschmeidiger  und  athletischer 
Geister  sich  bilden,  wohl  trainiert,  intuitiv,  gewohnt,  sich  auf  sich 
selber  zu  verlassen  und  nicht  auf  ein  paar  Koterien  von  Schrift- 
stellern. 

Wenn  wir  diesem  Gedanken  nachgehen,  so  sehen  wir,  nicbt  daB 
alle  unsere  ererbten  Bibliotbeken ,  all  die  zabllosen  Biicber  in 
Scbranken,  alle  die  Urkunden  usw.  etwas  Geringes  sind,  —  son- 
dern wie  groB  die  Gefahr  ist,  sicb  ganz  von  ihnen  abhangig  zu 
machen,  von  den  Adern  ohne  Blut,  den  Muskeln  obne  Nerv,  der 
falschen  Anwendung  aus  zweiter  und  dritter  Hand.  Wir  sehen,  daB 
das  wahre  Interesse  dieses  unseres  Volkes  an  der  Theologie,  Ge- 
scbicbte,  Dichtung,  Politik  und  den  personlichen  Vorbildern  der  Ver- 
gangenheit  (der  britischen  Inseln  zum  Beispiel,  aber  iiberhaupt  der 
gesamten  Vergangenheit)  nicht  notwendig  darin  liegt,  uns  selbst  oder 
unsere  Literatur  nach  ihnen  zu  niodeln,  sondern  uns  mit  ihnen, 
als  mit  etwas  Abgeschlossenem ,  Giiltigerem,  zu  vergleichen,  ihre 
Warnungen  zu  horen  und  durch  sie  einen  Einblick  in  uns  selbst, 
in  unsere  eigene  Gegenwart  und  unsere  viel  groBere,  andersartige 
Geschichte,  Religion  und  Gesellschaftsform  der  Zukunft  zu  gewinnen. 
Wir  seben,  daB  fast  alles,  was  bisher  mit  bezug  auf  die  Mensch- 
heit  unter  der  Herrschaft  der  feudalen  und  ostlichen  Institutionen 
und  Religionen  und  fur  andere  Lander  geschrieben,  gesungen  oder 
festgestellt  worden  ist,  von  neuem  geschrieben,  gesungen  und  fest- 
gestellt  werden  mufi  in  Ausdrucksformen,  die  der  Institution  dieser 
unserer  Staaten  entsprechen  und  sich  ihr  gehorsam  einfiigen  und 
anpassen. 

Gleichwie  im  physischen  Kosmos  nach  meteorologischen,  pflanz- 
lichen  und  tierischen  Zeitaltern  zuletzt  der  Mensch  sich  erhebt, 

86 


der  aus  ihnen  geboren  ist  und  bestimmt,  sie  zu  erproben,  in  sich 
/u  konzentrieren,  mit  Staunen  und  Liebe  auf  sie  zu  blicken,  iiber 
sie  zu  herrschen,  sie  zu  kronen  und  sie  in  hohere  Reiche  empor- 
zutragen,  --so  sehen  wir  auch  aus  den  sozialen  und  politischen 
Zeitaltern  der  Vergangenheit  jetzt  diese  Staaten  sich  erheben.  Wir 
sehen,  dafi  nicht,  wie  viele  meinten, alles  bereits  erreicht  und  vollendet 
ist,  sondern  dafi  in  Wahrheit  das  Grofke  immer  noch  zu  tun  bleibt, 
und  wir  entdecken,  daB  das  Werk  der  Neuen  Welt  nicht  beendigt, 
sondern  nur  eben  erst  begonnen  ist. 

Wir  sehen  unser  Land,  Amerika  und  seine  Literatur,  Asthetik 
usf.  im  wesentlichen  an  als  die  vverdende  Ausdrucksform  oder  als 
die  breiteste  Oftenbarung  der  tiefsten  Grundelemente  und  der  hoch- 
sten  Endziele  der  Geschichte  und  des  Menschen  —  als  die  Bildnerin 
unserer  eigensten  Physiognomic  (nach  den  ewigen  Gesetzen  und 
Bedingungen  der  Schonheit),  die  subjektive  Bindung  und  den  Aus- 
druck  des  Objektiven,  hervorgehend  aus  unserer  besonderen  Zu- 
sammensetzung,  Uberlieferung  und  Anschauung  —  und  als  Nieder- 
schlag  und  Zusammenfassung  der  nationalen  Mentalitat,  Charakter- 
eigenart,  Berufung,  der  nationalen  Heldentaten,  Kampfe  und  Frei- 
heiten  -  -  wo  alles  das  in  einer  einheimischen  literarischen  und 
kiinstlerischen  Formulierung  seinen  hochsten  Ausdruck  findet,  der 
unsere  Nation  davor  bewahren  \vird,  ziellos  herumzutappen  und 
all  ihre  materielle  Grofie,  so  imposant  und  gewaltig  sie  ist,  nach 
fliichtigem  Glanze  schwinden  zu  sehen,  sondern  der  Amerika  dazu 
verhelfen  wird,  sich  selbst  zu  verstehen,  hochherzig  zu  leben  und 
aus  seiner  Fiille  zu  spenden  und  eine  vollgestaltete  Welt  zu  werden, 
die,  sicher  in  sich  selber  ruhend,  erleuchtet  und  erleuchtend,  ihre 
Bahn  durchlauft,  —  gottliche  Mutter  nicht  allein  korperlicher,  son- 
dern geistiger  anderer  Welten,  in  endloser  Nachfolge  durch  die 
Zeiten  —  gegriindet  immer  auf  das  eine,  Wesentliche:  den  Durch- 
schnitt,  das  leibhaftig  konkrete,  demokratische  Volkstiimliche,  auf 
dem  aller  Aufbau  der  Zukunft  fur  alle  Zeiten  ruhen  muG. 


TAGEBUCH  1862-1864 

An  der  Front 

Falmouth,  Virginia,  gegeniiber  Fredericksburg 

21.  Dezember  1862. 

Beginne  mit  meinen  Besuchen  in  den  Feldlazaretten  der  Potomac- 
Armee.  Verbringe  einen  grofien  Teil  des  Tages  in  einem  geraumigen 
Backsteingebaude  amUfer  des  Rappahannock,  das  seit  derSchlacbt* 
als  Lazarett  dient;  scbeint,  dafi  nur  die  am  schwersten  Verwundeten 
hier  aufgenommen  sind.  DrauCen  unter  einem  Baum,  zehn  Schritt 
von  der  Front  des  Hauses,  bemerke  ich  einen  Haufen  amputierter 
Fiifie,  Beine,  Arme,  Hande  usw.,  eine  voile  Ladung  fur  einen  ein- 
spannigen  Karren.  Mehrere  Tote  liegen  dabei,  jeder  mit  seiner 
braunwollenen  Decke  zugedeckt.  Im  Hof,  gegen  den  FluB  hmab, 
sind  frische  Graber,  meistens  von  Offizieren;  die  Namen  auf  FaB- 
dauben  oder  Holzlatten,  die  in  den  scbmutzigen  Boden  gesteckt  sind. 
(Die  meisten  dieser  Leicben  wurden  spater  ausgegraben  und  zu 
ihren  Angehorigen  nacb  Norden  gescbafft.)  Das  groBe  Gebaude  ist 
im  unteren  und  oberen  Stockwerk  gedrangt  voll ;  alles  improvisiert, 
kein  System,  alles  ziemlich  schlecht,  aber  zweifellos  so  gut,  als  es 
sich  eben  macben  lafit;  alle  Wunden  sebr  schwer,  einige  furcbtbar; 
die  Leute  noch  in  ibren  vertragenen  Uniformen,  schmutzig  und 
blutig.  Unter  den  Verwundeten  sind  auch  gefangene  Rebellen,  Sol- 
daten  und  Offiziere.  Mit  einem  von  ihnen,  einem  Mississippier, 
einem  Hauptmann,  der  einen  bosen  SchuB  im  Bein  hatte,  unter- 
hielt  ich  mich  eine  Zeitlang;  er  bat  micb  um  Zeitungen,  die  icb 
ibm  gab.  (Icb  sah  ihn  ein  Vierteljahr  nachber  in  Washington;  das 

*  Bei  Fredericksburg.     (Anmerkung  des  0bersetzers.) 

88 


Bein  war  amputiert;  sonst  ging  es  ilim  gut.)  Ich  ging  durch  die 
unteren  und  oberen  Zimmer.  Einige  von  den  Leuten  lagen  im 
Sterben.  Ich  hatte  bei  diesem  Besuch  nichts  zu  verschenken,  son- 
dern  scbrieb  nur  im  Auftrag  der  Verwundeten  ein  paar  Briefe  an 
Verwandte  zu  Hause,  Mutter  usw.  Sprach  auch  mit  dreien  oder 
vieren,  die  am  empfanglichsten  schienen  und  es  notig  batten. 

23.  bis  3i.  Dezember. 

Die  Folgen  der  letzten  Schlacht  sind  hierberum  (iberall  wahr- 
zunehmen,  an  Tausenden  von  Fallen  (Hunderte  sterben  taglich)  in 
den  Feld-,  Brigade-  und  Divisionslazaretten.  Das  sind  nur  Zelte,  und 
zvvar  zum  Teil  sebr  armliche.  Die  Verwundeten  liegen  am  Boden, 
gliicklicb,  wenn  ihre  Decken  auf  Schicbten  von  Tannen-  oder  Fich- 
tenzweigen  oder  kleinen  Blattern  ausgebreitet  sind.  Keine  Betten; 
selten  auch  nur  eine  Matratze.  Es  ist  ziemlicb  kalt.  Der  Boden  ist 
hart  gefroren  und  es  schneit  mitunter.  Ich  gehe  von  einem  zum 
andern.  Ich  weiB  nicht,  ob  ich  diesen  Verwundeten  und  Sterbenden 
viel  helfe;  aber  ich  kann  sie  nicht  verlassen.  Dann  und  wann  halt 
sich  ein  junger  Mensch  krampfhaft  an  mir  fest,  und  ich  tue  fur  ihn, 
was  ich  kann;  auf  jeden  Fall  bleibe  ich  bei  ihm  und  sitze  stunden- 
lang  neben  ihm,  wenn  er  es  haben  will. 

Da  liegen  sie  auf  einem  freien  Platz  im  Walde,  zwei-  bis  drei- 
hundert  arme  Kerls  —  das  Achzen  und  Schreien  —  der  Blutgeruch 
vermischt  mit  dem  frischen  Duft  der  Nacht,  des  Grases,  der  Bauine 
-  dieses  Schlachthaus!  Oh,  gut  ist  es,  dafi  ihre  Mutter,  ihre  Schwe- 
stern  sie  nicht  sehen  konnen,  —  dafi  sie  sich  das  nicht  vorstellen 
konnen,  nie  vorgestellt  haben.  Ein  Mann  ist  von  einem  Granat- 
splitter  getroffen,  ins  Bein  und  in  einen  Arm  —  beide  sind  ampu- 
tiert —  da  liegen  die  abgetrennten  Glieder.  Andern  sind  die  Beine 
abgeschossen  —  andere  haben  Kugeln  in  der  Brust  —  andere  un- 
beschreiblich  fiirchterliche  Wunden  im  Gesicht  oder  im  Kopf,  alle 
verstummelt,  ekelerregend ,  zerfleischt,  aufgerissen,  —  manche  im 
Unterleib  —  manche  sind  noch  Knaben  —  viele  Rebellen  dabei, 
schwer  verletzt  —  die  Reihe  kommt  an  sie  wie  an  die  iibrigen  - 
die  Arzte  behandeln  sie  gerade  so.  So  sieht  es  im  Verwundetenlager 
aus  —  ein  Fragment,  ein  entfernter  Widerschein  der  blutigen  Szene 
-  wahrend  iiber  das  Ganze  der  klare  groBe  Mond  bin  und  wieder 
sein  weiches,  ruhiges  Licht  ausgiefit.  Mitten  im  Walde  diese  Szene 

89 


fliehender  Seelen  —  unter  dem  Knattern  und  Krachen  und  gellenden 
Geschrei  —  der  leise  Duft  des  Waldes  —  und  doch  der  beifiende, 
erstickende  Rauch  —  der  Glanz  des  Mondes,  der  immer  wieder  so 
friedlich  vom  Himmel  herabblickt  —  das  Gewolbe  so  himmlisch  — 
das  Helldunkel  dort  oben,  diese  schwimmenden  oberen  Meere  — 
einige  grofie,  friedlicbe  Sterne  dahinter,  die  scbweigend  und  ge- 
lassen  hervorkommen  und  dann  \erschwinden  —  die  melancholische, 
verhangte  Nacht  droben  und  ringsumher.  Und  dort,  aufden  Wegen, 
den  Feldern  und  in  den  Waldern  dieser  Kampf  —  niemals  und 
nirgends  ein  so  erbitterter  —  beide  Parteien  jetzt  in  voller  Wucht  - 
Massen  —  kein  Scheingefecht,  kein  balbes  Spiel,  sondern  grimmige, 
wilde  Damonen  kampfen  hier  —  Tapferkeit  und  Todesverachtung 
die  Regel,  Ausnahmen  so  gut  wie  keine. 

Welche  Geschichte  kann  je  —  denn  wer  weifi  alles  —  das  wiitend 
entschlossene  Ringen  der  Arnieen  in  all  ihren  einzelnen  grofien  und 
kleinen  Abteilungen  darstellen  —  wo,  wie  bier,  jede  von  Kopf  bis 
Fuf3  in  verzweifelten,  todlichen  Willen  getaucht  ist?  Wer  weiB 
etwas  von  den  Nabkampfen,  von  den  vielen  Kampfen  im  Dunkeln, 
in  diesen  scbattenverwobenen,  mondstrahlendurcbblitzten  Waldern 
—  die  bin  und  her  wogenden  Gruppen  und  Rotten  —  das  Scbreien, 
der  Larm,  das  Knattern  der  Gewehre  und  Pistolen  --  der  ferae 
Kanonendonner  —  Hurrarufen,  Scbreie,  Drohungen  und  die  schreck- 
liche  Musik  der  Fliicbe  —  das  unbeschreibliche  Durcheinander  - 
Befeble,  Ansporn  und  Zuspruch  der  Offiziere  --  alle  Teufel  im 
menschlichen  Herzen  losgelassen  —  der  starke  Ruf :  „  Vorwarts,  Leute ! 
Vorwarts ! "  —  das  Blitzen  des  bloBen  Sabels  und  Gewiihl  von  Flam- 
men  und  Qualm?  Und  noch  immer  der  klare,  wolkenumzogene 
Himmel  und  nocb  immer  wieder  das  Mondlicht,  das  silbrig  weich 
seine  strahlenden  Lichtflecken  u'ber  alles  giefit.  Wer  will  die  Szene 
malen,  die  plotzliche  teilweise  Panik  am  Nacbmittag  in  der  Dam- 
merung  ?  Wer  den  unwiderstehlichen  Vormarsch  der  zweiten,  plotz- 
licb  herbefohlenen  Division  des  dritten  Korps  unter  Hooker  selbst  — 
diese  rascb  aufriickenden  Phantome  durch  die  Walder  bin?  Wer 
zeigt,  was  sicb  da  im  Schatten  beranbewegt,  flieOend  und  fest  — 
die  Ehre  der  Armee,  vielleicht  der  Nation  zu  retten?  —  Und  es  war 
die  Rettung.  Dort  behaupten  die  Veteranen  das  Feld. 


Ungenannt  bleibt  der  tapferstc  Soldat 

Wer  schreibt,  sage  ich,  wer  kann  die  Geschichte  solcher  Szenen 
schreiben?  Wer  erzahlt  von  den  vielen  Dutzenden  —  nein  Tausenden 
ungenannter  Helden  aus  Norden  und  Siiden,  unbekannten  Helden- 
taten,  unglaublicher,  spontaner,  auBersterVerzweiflungskraft?  Keine 
Geschichte,  kein  Gedicht  verherrlicht,  kein  Lied  besingt  cliese  Tapfer- 
sten  von  alien  —  diese  Taten.  Kein  offizieller  Generalstabsbericht,  kein 
Bibliothekbuch,  keine  Zeitungsspalte  weiht  dem  Tapfersten  aus 
Nord  oder  Siid,  Ost  oder  West  den  Nachruf.  Ungenannt,  unbekannt 
bleiben  fiir  immer  die  tapfersten  Soldaten.  Unsere  Mannlichsten  — 
unsere  Jungen  —  unsere  kiihnen  Lieblinge:  in  keinem  Bilde  leben 
sie  fort.  Ihr  Urbild  (ohne  Zweifel  gibt  es  Hunderte,  Tausende  wie 
er)  kriecht  vielleicht  zur  Seite  unter  einen  Strauch  oder  Farrenbusch, 
zu  Tode  getroffen  —  sucht  dort  Obdach  fiir  kurze  Zeit  —  trankt 
Wurzeln,  Gras  und  Boden  mit  rotem  Blut  —  die  Schlacht  riickt 
vor,  kehrt  wieder,  huscht  von  der  Szene,  fegt  vorbei  —  und  dort, 
vielleicht  unter  Schmerz  und  Qual  (doch  geringer,  weit  geringer  als 
man  denkt)  windet  sich  die  letzte  Lethargic  wie  eine  Schlange  um 
ihn  —  die  Augen  verglasen  imTod  —  niemand  kiimmert  sich  darum  — 
vielleicht  lassen  eine  Woche  spater  bei  Waffenruhe  die  Begrabnis- 
kommandos  den  abgelegenen  Platz  undurchsucht  —  und  dort  zer- 
fallt  endlich  der  tapferste  Soldat  zu  Erde,  unbegraben  und  un- 
bekannt. 


Meine  Vorbereitung  fiir  Besuche 

Bei  meinen  Besuchen  in  den  Lazaretten  habe  ich  gehinden,  da6 
ich  durch  die  bloGe  Tatsache  meiner  personlichen  Gegenwart,  durch 
die  Ausstromung  von  einfachem  Frohsinn  und  Magnetismus  mehr 
Erfolg  hatte  und  nutzte  als  durch  arztliche  Pflege  oder  Lecker- 
bissen  oder  Geldgeschenke  oder  irgend  etwas  anderes.  Wahrend  des 
Krieges  besaB  ich  vollkommene  korperliche  Gesundheit.  Es  war 
meine  Gewohnheit,  wenn  es  sich  machen  liefi,  mich  auf  jeden  meiner 
taglichen  oder  nachtlichen  Rundgange,  die  zwei  bis  vier  oder  fiinf 
Stunden  dauerten,  dadurch  vorzubereiten,  daB  ich  mich  zuvor  durch 
Ruhe,  Baden,  frische  Kleidung,  eine  gute  Mahlzeit  und  ein  moglichst 
heiteres  Aussehen  starkte. 

9» 


Aus  einem  Bericht  im  ,,Brooklyn  Eagle",    19.  Marz  i863 

So  werde  ich  besser  vertraut  mit  den  einzelnen  Fallen  und  lerne 
jeden  Tag  einen  besonderen,  interessanten  Gharakter  kennen  und 
komme  in  ein  vertrautes  und  oft  zartliches  Verhaltnis  zu  edlen 
jungen  amerikaniscben  Mannern;  und  dann  erst  beginnt  das  eigent- 
liche  Gute,  das  man  tun  kann.  Und  dann  erst,  das  gestehe  ich 
egoistiscberweise,  bin  icb  so  recht  in  meinem  Element.  Selbst  vom 
arztlicben  Standpunkt  aus  ist  das  von  gro6ter  Bedeutung ;  ich  kann 
bezeugen,  dafi  Freundschaft  buchstablich  ein  Fieber  und  die  Arznei 
taglicher  Zartlichkeit  eine  schlimme  Wunde  geheilt  hat.  In  dem, 
was  ich  da  sage,  liegt  das  letzte  Geheimnis  einer  erfolgreichen  Tatig- 
keit  als  Krankenpfleger  unserer  Soldaten,  und  ich  spreche  es  aus 
fur  die,  die  es  verstehen  konnen. 

Washington,  3o.  Juni  i863. 
Liebste  Mutter! 

Ich  habe  die  letzten  Tage  bis  gestern  Abend  mit  einem  ziemlichen 
Anfall  von  Halskatarrh  und  Kopfweh  zu  tun  gehabt;  aber  heute 
fuhle  ich  mich  beinahe  wieder  ganz  wohl.  Ich  war  fast  wie  sonst 
in  der  Stadt  —  in  den  Lazaretten  usw.  meine  ich.  Man  sagt  mir, 
daC  ich  mich  zu  viel  an  den  Krankenbetten  aufhalte,  bei  Fieber- 
kranken,  eiternden  Wunden  usw.  Einen  Soldaten,  der  schwer  typhus- 
krank  vor  etwa  vierzehn  Tagen  hierhergebracht  wurde,  habe  ich 
in  meine  ganz  besondere  Obhut  genommen,  da  ich  ihn  in  einem 
Zustand  fand,  der  nahe  am  Sterben  war,  infolge  von  Vernachlas- 
sigung  und  einer  furchtbaren  Reise  von  vierzig  Meilen,  schlechten 
Wegen  und  schnellem  Fahren;  und  dann  wurde  er,  als  er  hierher 
kam,  ebenfalls  vernachlassigt,  da  er  ein  einfacher  Junge  vom  Lande 
ist,  sehr  scheu  und  schweigsam  und  sich  nie  beklagte.  Ich  machte 
den  Arzt  auf  ihn  aufmerksam,  setzte  die  Pflegerinnen  in  Bewegung, 
lieC  ihn  mit  Spiritus  waschen,  gab  ihm  Stiicke  Eis  zu  schlucken 
und  Eis  auf  den  Kopf .  .  .  Er  war  sehr  ruhig,  ein  sehr  verniinftiger 
Mensch,  altmodisch;  er  wollte  nicht  sterben,  und  ich  mufite  ihn 
fortwahrend  beliigen,  denn  er  glaubte,  ich  wisse  alles.  Und  ich  tat 
natiirlich,  als  ob  ich  ihm  stets  die  voile  Wahrheit  sagte  und  es  ihm 
mitteilen  und  nicht  verheimlichen  wurde,  wenn  es  einmal  gefahrlich 
um  ihn  stehen  sollte.  Schwer  Fieberkranke  werden  in  der  Regel 

92 


aus  den  allgemeinen  Salen  in  eine  besondere  Baracke  geschafft,  und 
wie  mir  der  Arzt  sagte,  sollte  er  auch  dorthin  gebracht  werden.  Ich 
brachte  es  ihm  schonend  bei,  aber  der  arme  Junge  bildete  sich  sofort 
ein,  daft  er  als  hoffnungslos  aufgegeben  sei  und  deshalb  dorthin 
gebracht  werde.  Dieser  Gedanke  erschiitterte  ihn;  und  obwohl  ich 
ihm  diesmal  die  Wahrheit  sagte,  hatte  ich  damit  weniger  Erfolg  als 
vorher  mit  ineinem  Flunkern.  Ich  iiberredete  den  Arzt,  ihn  dazu- 
lassen.  Drei  Tage  lang  schwebte  er  zwischen  Leben  und  Tod,  eher 
noch  naher  dem  Tode.  Um  es  aber  endlich  kurz  zu  machen,  Hebe 
Mutter,  er  ist  jetzt  iiber  die  groBte  Gefahr  hinaus.  Die  ganze  Zeit 
iiber  war  er  bei  vollem  BewuBtsein.  —  Jetzt  beginnt  er  ein  wenig 
Nahrung  zu  sich  zu  nehmen  (eine  Woche  lang  afi  er  nichts;  ich 
muBte  ihn  zwingen,  dann  und  wann  eine  Viertel-Orange  zu  nehmen), 
und,  mag  man  es  nun  AnmaBung  nennen  oder  nicht,  ich  mochte 
sagen,  daB,  wenn  er  \vieder  aufkommt  und  gesund  wird,  ich  ihm 
das  Leben  gerettet  babe. 

Mutter,  wie  ich  Dir  schon  schrieb,  Du  kannst  Dir  keine  Vor- 
stellung  davon  machen,  wie  diese  kranken  und  sterbenden  Jiinglinge 
sich  an  einen  anschliefien  und  wie  bezaubernd  das  ist,  trotz  all  dem 
Traurigen,  trotz  Schrecken  und  Tod,  die  einen  hier  umgeben.  In 
diesem  selben  Lazarett,  wo  dieser  Kavallerist  liegt,  habe  ich  noch 
etwa  fiinfzehn  oder  zwanzig  Falle,  um  die  ich  mich  besonders  kiim- 
mere  und  zum  Teil  nicht  weniger  als  um  ihn.  Es  sind  zwei  von 
East  Brooklyn  da  ...  Beide  sind  ziemlich  schwer  verwundet,  beides 
Jiinglinge  unter  neunzehn  Jahren.  O  Mutter,  wenn  ich  so  durch 
die  Bettreihen  gehe,  scheint  es  mir,  als  ware  es  ein  Unrecht,  diese 
Kinder  ins  Heer  aufzunehmen  und  sie  so  vorzeitigen  Erfahrungen 
auszusetzen.  Ich  widme  mich  hauptsachlich  dem  Armory-Square- 
Lazarett,  weil  hier  bei  weitem  die  schlimmsten  Falle,  die  entsetz- 
lichsten  Wunden,  das  groBte  Leiden  zu  finden  ist,  weil  hier  Trost 
am  meisten  nottut.  Ich  gehe  jeden  Tag  ohne  Ausnahme  und  oft 
bei  Nacht  —  bleibe  manchmal  sehr  lange.  Niemand  legt  mir  etwas 
in  den  Weg,  weder  Wachtposten,  Warter,  Arzte  noch  sonst  jemand. 
Man  lafit  mir  vollstandig  freie  Hand. 

Washington,  8.  September  i863. 

Ich  gehe  jeden  Tag  und  jede  Nacht  in  die  Lazarette  —  ich  glaube 
nicht,  daB  sich  Menschen  je  so  liebten,  wie  ich  und  einige  dieser 

93 


armen  verwundeten,  kranken  und  sterbenden  Manner  einander 
lieben.  —  Mutter,  ich  bin  wirklich  stolz  darauf,  Dir  zu  sagen,  daB 
ich  mir  bewuBt  bin,  eine  ganze  Anzahl  von  Leben  zu  retten,  da- 
durch,  daB  ich  sie  davor  bewabre,  sich  selber  aufzugeben,  und  daB 
ich  so  viel  wie  moglich  bei  ihnen  bin;  die  Leute  sagen,  es  sei  so, 
und  die  Arzte  sagen,  es  sei  so  —  und  ich  kann  mit  gutem  Gewissen 
bekennen,  daB  es  wahr  ist,  obwohl  ich  es  von  mir  selber  sage.  Ich 
weiB,  Du  wirst  es  gern  horen,  Mutter,  deshalb  sage  ich  es  Dir. 

Washington,  2.  Marz  1864. 

Oh,  ich  wiinschte,  Du,  Mutter  —  oder  iiberhaupt  Frauen  wie  Du 
und  Mat*  —  waren  hier,  so  viele  wie  moglich,  als  Hausmutter  fur 
die  armen  kranken  und  verwundeten  Manner.  Eure  bloBe  Gegen- 
wart  wurde  schon  geniigen  —  oh,  wie  gut  wurde  es  ihnen  tun. 
Mutter,  es  macht  mich  krank,  zu  sehen,  welche  Art  von  Menschen 
hier  mit  ihrer  Pflege  betraut  sind  —  so  kalt  und  formlich,  sie 
fiirchten  sich,  sie  anzufassen. 

Washington,  3.  Juni  1864. 

Du  weifit  nicht,  wie  sehr  ich  mich  danach  sehne,  nach  Hause 
zu  kommen  und  euch  alle  wiederzusehen ;  Dich,  Hebe  Mutter,  und 
Jeff  und  Mat  und  alle.  Ich  glaube,  ich  habe  Heimweh  —  ein 
neues  Gefuhl  fur  mich  —  dazu  kommt,  dafi  ich  alles  Grauen  des 
Soldatenlebens  gesehen  habe,  ohne  jedoch  das  kriegerische  Erleben 
mitzumachen,  das  mich  abgelenkt  hatte.  Es  ist  schrecklich,  so  viel 
zu  sehen  und  nicht  helfen  zu  konnen. 

Ein  New  Yorker  Soldat 

Heute  Nachmittag,  am  22.  Juli,  blieb  ich  lange  bei  Oskar  F.Wil- 
bur, KompagnieG,  164  Rgt.  New  York,  der  an  Dysenteric  und  auch 
einer  schlimmen  Wunde  daniederliegt.  Er  bat  mich,  ihm  ein 
Kapitel  aus  dem  Neuen  Testament  vorzulesen.  Ich  willigte  ein 
und  fragte  ihn,  was  ich  lesen  solle.  Er  sagte:  ,,Wahle  selbst!"  Ich 
schlug  den  SchluB  eines  der  ersten  Evangelien  auf  und  las  die 
Kapitel  vor,  worin  die  letzten  Stunden  Christi  und  die  Vorgange 

*  W.'s  Schwagerin,  Frau  seines  drittjiingsten  Bruders  Thomas  Jefferson  W. 
(Anmerkung  des  Cbersetzers.) 

94 


bei  der  Kreuzigung  beschrieben  sind.  Der  arme  verfallene  junge 
Mensch  bat  mich,  auch  das  folgende  Kapitel  vorzulesen,  wo  Cbristus 
wieder  auferstand.  Ich  las  sehr  langsam,  denn  Oskar  war  schwach. 
Es  gefiel  ihm  sehr  gut,  aber  dieTranen  standen  ihm  in  den  Augen. 
Kr  fragte  mich,  ob  ich  auf  Religion  etwas  halte.  Ich  sagte:  ,,Viel- 
leicht  nicht  in  der  Weise,  wie  du  meinst,  mein  Lieber,  und  doch 
koinmt  es  wohl  auf  dasselbe  hinaus."  Er  sagte:  ,,Sie  ist  mein 
ganzer  Trost."  Er  sprach  vom  Tode  und  sagte,  er  fiirchte  ihn 
nicht.  Ich  sagte:  ,,Wie,  Oskar,  glaubst  du  denn  nicht,  daB  du  wie- 
der gesund  wirst?"  Er  sagte:  ,,Mag  sein;  aber  wahrscheinlich  ist 
es  nicht."  Er  sprach  mit  Fassung  von  seinem  Zustand.  Die  Wunde 
war  sehr  schlimm,  sie  eiterte  stark.  Dann  hatte  ihn  die  Dysenteric 
sehr  mitgenommen,  und  ich  fiihlte,  dafi  er  schon  in  diesem  Augen- 
blick  so  gut  wie  im  Sterben  lag.  Seine  Haltung  war  sehr  mann- 
haft  und  zartlich.  Den  Kufl,  den  ich  ihm  beim  Abschied  gab,  er- 
widerte  er  vierfach.  Er  gab  mir  die  Adresse  seiner  Mutter.  Ich 
war  ofter  so  mit  ihm  zusammen.  Er  starb  wenige  Tage  nach  dem 
eben  Beschriebenen. 


Bescheidenheit  der  Soldaten 

Ich  kann  mich  immer  wieder  nicht  genug  dariiber  wundern, 
unter  diesen  altjungen  amerikanischen  Soldaten  so  wenig  Prahler 
und  Prahlerei  zu  finden.  Ich  babe  Leute  gefunden,  die  seit  Beginn 
des  Krieges  in  jeder  Schlacht  gewesen  sind,  und  habe  mit  ihnen 
iiber  alle  Schlachten  in  den  verschiedensten  Gegenden  der  Ver- 
einigten  Staaten  und  iiber  viele  Gefechte  auf  den  Fliissen  und  in 
den  Hafen  gesprochen.  Ich  finde  hier  Leute  aus  alien  Staaten  der 
Union,  ohne  Ausnahme.  (Es  gibt  in  der  Unionsarmee  mehr  Siid- 
lander,  besonders  aus  den  Grenzstaaten,  als  man  gewohnlich  an- 
nimmt.)  Ich  bezweifle  jetzt,  ob  man  eine  richtige  Vorstellung  von 
dem  bekommen  hat,  was  dieser  Krieg  in  Wirklichkeit  ist,  oder 
was  das  eigentliche  Amerika  und  sein  Charakter  ist,  ohne  solche 
Erfahrungen,  wie  ich  sie  jetzt  mache. 

Virginia 

Zerstort,  schutzlos,  vom  Krieg  zerstampft,  wie  Virginia  ist,  werde 
ich  doch  iiberall,  wohin  ich  komme,  von  Oberraschung  und 

95 


Bewunderung  iiberwaltigt.  Welche  Moglichkeiten  sind  hier  fiir  Land- 
bau,  Verbesserungen,  menschliches  Leben,  Ernahrung  und  Ent- 
wicklung.  Der  Boden  ist  noch  immer  weit  iiber  dem  Durchschnitt 
aller  Nordstaaten.  Und  die  Landschaft,  wie  weitraumig,  iiberall 
Gebirge  in  der  Ferae,  iiberall  giinstig  gelegene  Strome.  Auch  jetzt 
noch  Walder  in  Fiille  und  Reichtum  an  Blumen,  Obst  und  Friichten 
aller  Art.  Himmel  und  Luft  voller  Leuchtkraft  und  sicherlich  ini 
allgemeinen  sehr  gesund.  Etwas  Reiches,  Elastisches  ist  iiberall  bei 
Tag  und  Nacht  zu  fiihlen.  Die  Sorine,  ihrer  Kraft  froh,  strablt  und 
brennt  und  ist  doch,  wenigstens  fiir  mich,  niemals  lastig  und 
ermiidend.  Es  ist  nicht  die  lecbzende  tropische  Hitze,  sondern 
eine  starkende  Glut.  Der  Nordwind  mafiigt  sie.  Die  Nachte  sind 
oft  unvergleicblicb.  Gestern  abend  (8.  Februar)  sab  icb  zum  ersten- 
mal  den  neuen  Mond,  mit  dem  klaren  Umrifi  der  vollen  Scheibe; 
Himmel  und  Luft  so  klar,  so  durchsichtige  Farbungen,  es  war 
mir,  als  hatte  icb  den  Neumond  nie  zuvor  wirklicb  geseben.  Die 
Sichel  war  ganz,  ganz  scbmal.  Sie  hing  zart  grade  iiber  dem  diistern 
Scbatten  der  Blauen  Berge.  Acb,  mochte  sie  ein  gutes  Omen  fiir 
diesen  ungliicklichen  Staat  bedeuten. 

Sommer  1864 

Ich  bin  wieder  in  Washington  und  mache  meine  taglichen  und 
nachtlichen  Rundgange.  Allenthalben  in  den  Lazaretten  gibt  es 
Falle,  wo  arme  Burschen  schon  lange  liegen  und  an  hartnackigen 
Wunden  leiden  oder  schwach  und  mutlos  sind  von  Typhus  und 
dergleichen  und  besondere,  mitfiihlende  Pflege  brauchen.  Zu  diesen 
setze  ich  mich  ans  Bett  und  plaudere  mit  ihnen  oder  troste  sie 
schweigend.  Sie  haben  das  ungeheuer  gern  (und  ich  auch).  Jeder 
Fall  hat  seine  Besonderheit  und  verlangt  neue  Anpassung.  Ich 
habe  gelernt,  mich  darauf  einzurichten  —  ich  habe  ein  gut  Teil 
Lazarettweisheit  gelernt.  Manche  unter  den  jungen  Burschen,  die 
zum  erstenmal  im  Leben  von  Hause  fort  sind,  hungern  und 
diirsten  nach  Zartlichkeit;  das  ist  oft  das  einzige,  was  ihnen  hilft. 
Die  Leute  wollen  gern  Bleistifte  haben  und  Schreibpapier.  Ich 
habe  ihnen  biliige  Taschenbiicher  gegeben  und  Kalender  fiir  das 
Jahr  1864,  die  mit  leerem  Papier  durchschossen  sind.  Zum  Lesen 
bringe  ich  gewohnlich  ein  paar  alte  illustrierte  Zeitschriften  oder 

96 


Geschichtenbiicher  --  sie  sind  immer  beliebt.  Auch  die  Morgen- 
und  Abendblatter  der  Tageszeitungen.  Die  besten  Bucher  ver- 
schenke  icb  nicht,  sondern  leihe  sie  im  ganzen  Lazarett  herum  aus.  Die 
Leute  sind  immer  sebr  piinktlich  mil  dem  Zuriickgeben.  In  diesen 
Lazaretten  oder  auf  freiem  Feld  mache  ich  so  bestandig  die  Runde; 
ich  babe  gelernt,  mich  jedem  Bediirfnis  anzupassen  nacb  seiner 
Art  und  Weise  und  werde  jedem  gerecht  nach  seinen  Umstanden, 
so  trivial  oder  feierlich  sie  sein  mogen  —  nicbt  nur  Besucbe  und 
erheiternde  Gesprache  und  kleine  Gaben  —  nicht  nur  Waschen 
und  Verbinden  von  Wunden  (icb  babe  einige  Falle,  wo  der  Patient 
es  von  keinem  andern  getan  haben  will,  als  von  mir)  —  sondern 
ich  lese  auch  Stellen  aus  der  Bibel  vor,  erklare  sie,  bete  mit  ihnen 
am  Bett,  spreche  iiber  die  christliche  Lehre  mit  ihnen  usw.  (Ich 
glaube,  ich  sehe  meine  Freunde  iiber  dieses  Gestandnis  lacheln, 
aber  ich  war  nie  im  Leben  ernster.)  Im  Lager  und  iiberall  hatte 
ich  die  Gewohnheit,  vorzulesen  oder  den  Leuten  etwas  vorzutragen. 
Sie  batten  das  sehr  gern  und  liebten  deklamatoriscbe  poetische 
Stiicke.  Wir  riickten  claim,  nach  dem  Abendbrot,  in  einer  groGen 
Gruppe  zusammen  und  vertrieben  uns  die  Zeit  mit  solchen  Vor- 
lesungen  oder  mit  Gesprachen  oder  auch  mit  einem  unterhaltenden 
Spiel,  genannt  das  Spiel  der  ^Zwanzig  Fragen". 

Aus  einem  Bericht  in  den    ,,New  York  Times", 
11.  Dezember  1864 

Fur  viele  von  den  Verwundeten  und  Kranken,  besonders  unter 
den  jiingsten  Leuten,  liegt  in  personlicher  Liebe  und  Liebkosung, 
in  der  magnetischen  Ausstromung  von  Sympathie  und  Freund- 
schaft  etwas,  was  in  seiner  Weise  mehr  Gutes  tut  als  alle  Arznei 
der  Welt.  Ich  sprach  von  meinen  regelmaGigen  Gaben :  Leckerbissen, 
Geld,  Tabak,  bestimmten  Nahrungsmitteln,  allerhand  Kleinigkeiten 
usw.  usw.  —  aber  ich  fand  immer  mehr  und  mehr,  dafi  ich  in  einer 
merkwiirdig  groBen  Zahl  von  Fallen  am  meisten  durch  jene  hier 
angedeuteten  Mittel  helfen  und  die  Wagschale  zugunsten  der  Hei- 
lung  beeinflussen  konnte.  Der  amerikanische  Soldat  ist  voller 
Zartlichkeit  und  liebebediirftig.  Und  er  ist  wundersam  dankbar 
dafiir,  wenn  dieses  Bediirfnis  gestillt  wird,  wahrend  er  fern  von 
Hause,  unter  Fremden,  mit  schmerzhaften  Wunden  daniederliegt. 


7     Whitman  1 


97 


Viele  werden  das  nur  fur  Sentimentalitat  halten,  aber  ich  weiB, 
es  ist  Tatsache.  Ich  glaube,  daB  die  bloBe  Anwesenheit  und  das 
Umhergehen  einer  herzhaften,  gesunden,  reinen,  starken,  edel- 
miitigen  Personlichkeit,  Mann  oder  Weib,  unter  den  Verwundeten 
und  im  Lazarett  bestandige,  unsichtbare  Strome  aussendet  und 
dadurcb  den  Kranken  und  Verwundeten  uriermeBlich  wohltut. 


Abraham  Lincoln 

Ich  sehe  den  Prasidenten  fast  taglich,  da  ich  zufallig  dort  wohne, 
wo  er  auf  dem  Hin-  und  Riickweg  zu  seinem  Landhaus  vor  der 
Stadt  vorbeikommt  .  .  .  Ich  sah  ihn  heute  morgen  gegen  halb  neun 
Uhr  hereinkommen  und  die  Vermont  Avenue  entlangreiten.  Er 
hat  immer  ein  Gefolge  von  26  bis  3o  Mann  Kavallerie,  mit  ge- 
zogenen  Sabeln  iiber  den  Schultern.  Man  sagt,  diese  Garde  ist 
gegen  seinen  personlichen  Wunsch,  aber  er  laBt  seine  Rate  ge- 
wahren.  Weder  ihre  Uniformen  noch  ihre  Pferde  sind  sonderlich 
stattlich.  Mr.  Lincoln  reitet  gewohnlich  ein  gut  aussehendes,  leicht 
gehendes  graues  Pferd,  ist  in  schlichtes  Schwarz  gekleidet,  einiger- 
mafien  abgetragen  und  staubig,  tragt  einen  steifen  schwarzen  Hut 
und  sieht  alles  in  allem  so  einfach  aus,  wie  der  gewohnlichste 
Mann  .  .  .  Ich  sehe  ganz  deutlich  Abraham  Lincolns  dunkelbraunes 
Gesicht  mit  den  tiefgefurchten  Linien,  mit  den  Augen,  in  deren 
Ausdruck  fur  mein  Gefiihl  immer  eine  tiefe  verborgene  Trauer 
liegt.  Wir  sind  so  weit  gekommen,  dafi  wir  GriiBe  miteinander 
tauschen,  und  zwar  sehr  herzliche.  Manchmal  fahrt  der  Prasident 
in  einer  offenen  Equipage  .  .  .  Sie  kamen  einmal  sehr  nahe  an  mir 
vorbei,  und  ich  blickte  dem  Prasidenten  voll  ins  Gesicht,  als  sie 
langsam  voriiberfuhren,  und  sein  Blick,  obwohl  abwesend,  war  zu- 
fallig  unverwandt  in  meine  Augen  gerichtet.  Er  verbeugte  sich 
und  lachelte,  doch  tief  hinter  diesem  Lacheln  bemerkte  ich  wohl 
jenen  Ausdruck,  den  ich  andeutete.  Kein  Kiinstler  hat  in  seinen 
Portrats  den  tiefen,  obwohl  zarten  und  mdirekten  Ausdruck  des 
Gesichts  dieses  Mannes  festgehalten.  Da  ist  noch  etwas  ganz  anderes. 
Einer  der  grofien  Bildnismaler  des  vorigen  oder  vorvorigen  Jahr- 
hunderts  miiBte  das  malen. 


Prasident  Lincolns  Tod 

1 6.  April  1 865. 

Er  hinterlaBt  den  Geschichtschreibern  und  Biographen  Amerikas 
nicht  allein  die  dramatischste  Erinnerung  unseres  Landes,  —  son- 
dern,  nach  meiner  Dberzeugung,  die  grb'Bte,  beste,  eigenartigste, 
kiinstlerischste  und  moralischste  Personlichkeit.  Nicht  als  ob  er 
keine  Fehler  gehabt  und  wahrend  seiner  Prasidentschaft  begangen 
hatte;  aber  Rechtlicbkeit,  Giite,  Scbarfsinn,  Gewissenhaftigkeit  und 
(eine  neue  Tugend,  unbekannt  in  anderen  Landern  und  auch  bei 
uns  kaum  noch  wahrhaft  bekannt,  aber  der  Grund  und  das  Hand, 
das  alles  zusammenhalt,  wie  die  Zukunft  im  groBten  MaBstab  er- 
weisen  \vird)  Unionism  U9  im  wahrsten  und  weitesten  Sinne  bil- 
deten  das  Riickgrat  seines  Charakters.  Das  besiegelte  er  mil  seinem 
Tode.  Der  tragische  Glanz  seines  Todes  wirft,  alles  lauternd  und 
verklarend,  um  seine  ganze  Gestalt  und  sein  Haupt  eine  Aureole, 
die  dauern  und  durch  die  Zeit  nur  noch  leuchtender  werden  wird, 
da  die  Geschichte  lebt  und  die  Liebe  des  Landes  nicht  vergeht. 
Viele  haben  mitgeholfen,  diese  Union  zu  schaffen;  aber  wenn  ein 
Name,  ein  Mann  besonders  genannt  sein  soil,  so  ist  er  vor  alien 
ihr  Bewahrer  fur  die  Zukunft.  Er  wurde  ermordet  —  aber  die 
Union  ist  nicht  ermordet  —  ca  ira!  Der  eine  fallt  und  der  andere 
fallt.  Der  Soldat  bricht  zusammen  und  sinkt  wie  eine  Welle  — 
aber  die  Wogenreihen  des  Ozeans  drangen  ewig  nach.  Der  Tod 
verrichtet  sein  Werk,  loscht  Hunderte,  Tausende  aus  —  Prasident, 
General,  Kapitan  und  jedermann  —  aber  die  Nation  ist  unsterblich. 


TAGEBUCH  1876-1882 

Mai,  Juni  1876. 

Ich  finde,  da6  der  Wald  im  spa' ten  Mai  und  friihen  Juni  mein 
bester  Aufenthalt  zum  Schreiben  ist.  Dort  zeichnete  icb  mir  fast 
alles  auf,  was  nun  folgt,  auf  Baumstammen  oder  -stumpfen  sitzend 
oder  auf  Zaunen  hockend. 

Wobin  icb  auch  gebe  im  Winter  oder  Sommer,  in  Stadt  oder 
Land,  allein  zu  Haus  oder  auf  Reisen,  —  iiberall  muB  icb  Notizen 
machen;  es  ist  meine  vorherrschende  Leidenschaft  in  der  Zeit  des 
Alters  und  der  korperlicben  Schwacbe. 

Wenn  icb  so  die  t-Stricbe  und  die  i-Punkte  gewisser  beschrank- 
ter  Bewegungen  der  letzten  Jahre  nacbmale,  so  will  es  mir  scbeinen, 
als  stecke  in  den  folgenden  Auszijgen  so  recht  das  Abe  einer  neu- 
gelernten  Lektion.  Wenn  du  ausgekostet  hast,  was  auszukosten 
war  in  Geschaft,  Politik,  Geselligkeit,  Liebe  und  so  fort,  —  und 
fandest,  daB  keines  von  diesen  restlos  befriedigt  oder  auf  die  Dauer 
taugt,  —  was  bleibt  dann?  Die  Natur  bleibt  und  ihre  Kraft,  aus 
dumpfer  Verborgenheit  hervorzulocken,  was  in  Mann  oder  Weib 
an  Verwandtem  steckt  mit  freier  Luft,  mit  Baum  und  Feld,  mit 
dem  Wecbsel  der  Jahreszeiten  —  dern  Sonnenschein  bei  Tage  — 
dem  Sternenbimmel  bei  Nacbt.  Von  dieser  Uberzeugung  wollen 
wir  ausgehen.  Die  Literatur  fliegt  so  hocb  und  ist  so  heiB  gewiirzt, 
daB  unsere  Aufzeicbnungen  vielleicbt  nur  erscheinen  werden  wie 
ein  paar  Atemziige  gewobnlicher  Luft  oder  ein  paar  Ziige  frischen 
Wassers.  Aber  das  gehort  zu  unserer  Lektion. 

Teure,  berubigende,  gesunde  Stunden  der  Erholung  —  nach  drei 
Kerkerjahren  der  Lahmung  —  nacb  dem  langen  Druck  des  Krieges, 
seinen  Wunden,  seinem  Sterben. 

100 


Wer  weifi,  vielleicht  (ich  traume  und  wiinsche  es  mir)  bringen 
die  folgenden  Seiten  Sonnenstrahl  oder  Gras-  und  Weizengeruch, 
oder  Vogelruf,  Sternflimmer  bei  Nacbt,  Schneeflockenfall  frisch  und 
mystiscb  irgendeinem  Bewohner  schwiilen  Stadthauses  oder  miidem 
Arbeiter  oder  Arbeiterin?  —  oder  aucb  in  ein  Krankenzimmer  oder 
Gefangnis,  —  als  kuhlenden  Hauch  oder  Arom  der  Natur  fiir  einen 
fiebernden  Mund  oder  matten  Pulsscblag. 


Beim   Betreten  eines  langen  Farmweges 

Jeder  hat  sein  Steckenpferd,  meines  ist  ein  richtiger  Farmweg, 
eingezaunt  mit  altem  graugriinen,  moos-  und  flecbtenbewacbsenen 
Kastanienholzwerk,  reicblicbes  Unkraut  und  Gestrauch  fleckenweis 
zwischen  den  Steinen,  die,  bier  und  da  angehauft,  das  Gelander 
stiitzen:  —  regellos  ausgetretene  Pfade  dazwischen,  Ro6-  und  Rin- 
derfahrten,  -  -  alle  Merkmale  jeglicher  Jabreszeit  sichtbar  und 
duftend  ringsumber  in  der  Nachbarschaft.  —  Apfelbliite  im  friihen 
April  —  Schweine,  Gefliigel,  ein  Buchweizenfeld  im  August,  ein 
andres  voll  langer,  wehender  Maisbiischel  —  und  schliefilich  der 
Teicb  (die  Erweiterung  des  Baches),  der  verborgen-schone,  mit 
jungen  und  alten  Baumen  und  was  fiir  Schlupfwinkeln  und  Aus- 
blicken ! 

Zu  Quelle  und  Bach 

So  schlendere  ich  immer  weiter,  bis  zu  der  Quelle  unter  den 
Weiden  —  die,  musikalisch  wie  zartes  Glaserklingen,  einen  kraftigen 
Schwall  ergiefit.  Dort,  \vo  das  Ufer  iiberhangt  wie  eine  grofie 
braune,  struppige  Augenbraue  oder  Oberlippe,  stromt  sie  aus  der 
Offnung,  so  dick  wie  mein  Hals,  rein  und  klar.  Gluckst  und  gluckst 
in  einem  fort  —  meint  etwas,  sagt  etwas,  zweifellos!  (konnte  man 
es  nur  iibersetzen)  —  gluckst  dort  immer,  das  ganze  Jahr  hindurch 
—  setzt  nie  aus;  —  Unmengen  von  Pfefferminze,  von  Brombeeren 
im  Sommer,  —  Licht  und  Schatten  nach  Belieben  —  just  der  rechte 
Platz  fiir  meine  Juli-Sonnenbader  und  auch  Wasserbader;  — -  aber 
vor  allem  immer  dies  unnachahmliche,  weichionende  Glucksen, 
wenn  ich  an  heiBen  Nachmittagen  hier  sitze.  Wie  dies  und  alles 
in  mich  hineinwachst,  Tag  um  Tag,  —  alles  so  einheitlich  —  der 

101 


wilde,  eben  spiirbare  Duft,  die  sprenkeligen  Blatterschatten  und  die 
ganzen  naturheilkriiftigen,  elementar-moralischen  Einfliisse  dieses 
Platzes. 

Plaudre  weiter,  o  Bach,  in  dieser  deiner  Sprache!  Auch  ich  will 
aussprechen,  was  ich  in  meinen  Tagen  und  auf  meinen  Wegen,  den 
heimischen,  unterirdischen,  verflossenen  —  in  mich  aufgenommen 
habe  —  und  nun  dich.  Hiipfe,  winde  deinen  Weg  —  ich  begleite 
dich  wenigstens  ein  Weilchen.  Ich  besuche  dich  so  haufig,  Jahr 
um  Jahr,  und  du  weiBt,  ahnst  nichts  von  mir,  (doch  warum  dies 
behaupten?  wer  kann  es  wissen?)  —  aber  ich  will  von  dir  lernen,  bei 
dir  verweilen,  von  dir  empfangen,  dir  nachahmen,  von  dir  abschreiben. 

Erwachen  an  einem  friihen  Sommermorgen 

Hinweg  denn,  den  gottlichen  Bogen  gelost,  entspannt  den  so 
lange  gestrafften!  Hinweg  von  Vorhang,  Teppich,  Sofa,  Buch  — 
von  ,,Gesellschaft"  —  von  Stadthaus,  StraBe,  modernen  Bequem- 
lichkeiten  und  Luxus,  —  fort  zu  meinem  frei  sich  windeaden  Bach 
mit  seinem  ungestutzten  Gebiisch  und  grasigen  Ufern  —  fort  von 
Binden,  engen  Stiefeln  Knopfen,  dem  ganzen  guBeisernen  zivilisier- 
ten  Leben  —  von  der  Umgebung  kiinstlicher  Laden,  Maschinen, 
Ateliers,  Bureaus,  Empfangsraume  —  von  Schneiderherrschaft  und 
Modekleidern  —  am  besten  vielleicht  von  jeglicher  Rleidung,  jetzt 
bei  der  steigenden  Sommerglut,  hier  in  der  wasserfrischen,  schatti- 
gen  Einsamkeit.  Hinweg,  du  Seele  (laB  mich,  lieber  Leser,  dich 
einzeln  beiseitenehmen  und  ganz  frei,  lassig,  vertraulich  zu  dir 
reden),  und  kehre  zumindest  fur  einen  Tag  und  eine  Nacht  zuriick 
zu  unser  aller  nackter  Lebensquelle,  an  die  Brust  der  groBen, 
schweigenden,  ungezahmten,  allempfangenden  Mutter.  Ach!  wie 
viele  von  uns  sind  so  verhartet  —  wie  viele  so  weit  hinweggewan- 
dert  —  daB  eine  Umkehr  fast  unmoglich  ist. 

Was  meine  Notizen  betrifft  —  die  nehme  ich,  wie  sie  kommen, 
aus  dem  Haufen,  ohne  eigentliche  Reihenfolge.  Es  ist  wenig  Zu- 
sammenhang  in  den  Daten.  Sie  erstrecken  sich  wahllos  iiber  fiinf, 
sechs  Jahre.  Alle  sind  nachlassig  aufgezeichnet,  im  Freien  —  an 
Ort  und  Stelle.  Dies  werden  die  Drucker  vielleicht  zu  ihrem  Arger 
gewahr  werden,  denn  ihr  Manuskript  besteht  zum  groBen  Teil  aus 
diesen  schnell  gekritzelten  ersten  Zetteln. 

102 


Zugvogel   urn   Mitternacht 

Hast  du  je  den  Mitternachtsflug  von  Vogeln  belauscht,  wenn  sie 
in  zahllosen  Heerscharen  durch  Luft  und  Dunkelheit  droben  dahin- 
ziehen,  inn  ihren  friihen  oder  spaten  Somrnerwohnsitz  zu  wechseln? 
Das  ist  etwas,  was  man  nicht  vergifit.  Ein  Freund  weckte  mich 
vorige  Nacht  knrz  nach  zwolf,  urn  das  eigenartige  Gerausch  un- 
gewohnlich  grofier  Fliige  zu  beobachten,  die  nach  Norden  zogen 
(etwas  spat  dies  Jahr).  In  der  Stille,  dem  Schatten  und  dem  kost- 
lichen  VVohlgeruch  jener  Stunde,  (dem  natiirlichen  Duft,  der  der 
Nacht  allein  eigen  ist),  schien  es  mir  wundersame  Musik.  Man 
konnte  die  charakteristische  Bewegung  horen  —  ein  paar  Mai  das 
,,Brausen  mach  tiger  Schwingen",  aber  oft  ein  langgedehntes, 
samtenes  Rauschen  —  zuweilen  ganz  nah  -  -  mit  andauerndem 
R  u  fen  und  Zwitschern  und  ein  paar  Tonen  Gesang.  Das  Ganze 
dauerte  von  zwolf  bis  nach  drei.  Einzelne  Male  war  die  Gattung 
deutlich  zu  unterscheiden,  ich  konnte  den  Paperlink  erkennen,  den 
Tangar,  die  Wilson-Drossel  -  -  den  weiBkopfigen  Sperling,  und 
manchmal  kam  hoch  aus  den  Luften  der  Ruf  des  Regenpfeifers. 


Hummeln 

Monat  Mai  —  der  Monat  der  schwarmenden,  singenden,  paaren- 
den  Vogel  —  der  Monat  der  Hummeln  —  Fliedermonat  —  (und 
auch  mein  eigner  Geburtsmonat).  Diesen  Abschnitt  kritzle  ich 
im  Freien,  kurz  nach  Sonnenaufgang,  auf  dem  Weg  zum  Bach. 
Die  Lichter,  Diifte,  Melodien,  die  Blaumeisen,  Grasmiicken  und 
Rotkehlchen  in  jeder  Richtung,  dies  larmende,  vielstimmige  Natur- 
konzert!  Als  Untertone  das  Klopfen  eines  nahen  Spechtes  auf  seinem 
Baum  und  ferner  Hahnenschrei.  Und  dann  der  frische  Erdgeruch 
-  die  Farben,  das  zarte  Graugelb  und  diinne  Blau  des  Horizontes. 
Das  leuchtende  Griin  des  Grases  ist  noch  leuchtender  geworden 
durch  die  Milde  und  Feuchtigkeit  der  letzten  zwei  Tage.  Wie 
steigt  die  Sonne  schweigend  in  den  weiten,  klaren  Himmel  auf 
ihrem  Tagesweg!  Wie  baden  die  warmen  Strahlen  alles  —  und 
kommen  kiissend  und  beinahe  heiB  iiber  mein  Gesicht  gestromt. 

Vor  noch  gar  nicht  langer  Zeit  kam  das  erste  Quaken  aus  den 
I'Ynschteichen  und  zeigte  sich  das  erste  Wei6  der  bliihenden  Kornel- 
kirsche.  Jetzt  ist  der  Boden  iiberall  besat  von  der  endlosen  Uppigkeit 

io3 


des  Lowenzahnes.  Die  weifien  Kirschen-  und  Birnenbliiten  — 
die  wilden  Veilchen,  die  mit  ihren  blauen  Augen  aufsehen  und 
sich  vor  meinen  Fiifien  verneigen,  wie  ich  am  Waldrand  entlang- 
schlendere  —  der  rosa  Hauch  auf  den  knospenden  Apfelbaumen  — 
das  leuchtendhelle  Smaragdgriin  der  Weizenfelder  —  das  dunklere 
Griin  des  Roggens  —  eine  warme  Spannkraft  in  der  Luft  —  die 
Zederbiische  iiber  und  iiber  bedeckt  mit  ihren  kleinen,  braunen 
Friicbten  —  der  Sommer,  voll  erwacbend  —  die  Amselgesellschaft, 
ein  ganzer  gescbwatziger  Haufen  auf  irgendeinem  Baume  ver- 
sammelt,  den  Raum  mit  Larm  erfullend  und  die  Stunde,  da  icb 
bier  sitze. 

Spater. 

Die  Natur  scbreitet  in  Marschordnung  vorwarts,  in  Sektionen, 
wie  ein  Armeekorps.  Jede  hat  viel  fur  mich  getan  und  tut  es  noch. 
Aber  in  den  letzten  zwei  Tagen  war  es  die  groCe,  wilde  Biene,  die 
Hummel  (oder  Brummelbiene,  wie  die  Kinder  sie  nennen).  Wenn 
ich  vom  Farmhaus  zum  Bach  hinuntergehe  oder  humple,  komme 
ich  durch  den  vorhin  erwahnten  Weg  mit  seiner  Einfassung  von 
rissigen,  splitterigen,  briichigen,  zerlocherten  alten  Latten,  dem 
Lieblingsaufenthalt  dieser  summenden,  haarigen  Insekten.  Auf  und 
nieder,  neben  und  zwischen  diesen  Latten,  schwarmen,  schiefien 
und  fliegen  sie  in  unzahlbaren  Myriaden.  Bei  meinem  langsamen 
Schlendern  begleiten  sie  mich  oftmals  gleich  einer  beweglichen 
Wolke.  Sie  spielen  eine  Hauptrolle  auf  meinen  Streifziigen,  mor- 
gens,  mittags  und  bei  Sonnenuntergang,  und  beherrschen  oft  die 
Landschaft  in  einer  Weise,  die  ich  mir  nie  hatte  traumen  lassen  — 
fullen  den  langen  Weg  nicht  nur  in  Scharen  von  vielen  hundert, 
nein  zu  Tausenden.  GroB,  lebhaft  und  geschwind,  mit  wunder- 
barer  Triebkraft  und  einem  andauernden,  lauten,  schwellenden 
Summen,  das  zeitweilig  durch  einen  Laut,  fast  wie  ein  Schrei, 
unterbrochen  wird,  schiefien  sie  bin  und  her,  schnell  wie  der  Blitz, 
jagen  einander  und  vermitteln  mir  (so  winzige  Dinger  sie  sind) 
ein  neues,  ganz  bestimmtes  Gefuhl  von  Kraft,  Schonheit,  Vitalitat 
und  Bewegung.  1st  es  ihre  Paarungszeit?  Oder  was  bedeutet  diese 
Fulle,  Schnelle,  Emsigkeit,  dieser  Aufwand?  Beim  Gehen  glaubte 
ich,  mir  folge  ein  besonderer  Schwarm,  aber  bei  naherer  Betrach- 
tung  waren  es  rasch  aufeinanderfolgende,  wechselnde  Sch warme. 

104 


Ich  habe  mich  zum  Schreiben  unter  einen  groBen,  wilden  Kirsch- 
baum  gesetzt  —  die  Warme  des  Tages  ist  durch  einige  Wolken 
und  eine  frische  Brise  gemildert;  nicbt  zu  heiB  und  nicht  zu  kiihl 
-  und  bier  sitze  ich  lange  und  immer  langer,  eingehiillt  in  das 
tiefe  musikalische  Gedrohn  dieser  Hummeln,  die  zu  Hunderten  ura 
mich  herumgleiten,  schweben,  sausen  —  grofie  Burschen,  mil  hell- 
gelber  Jacke,  groBem  glanzendem  scbwellendem  Rumpf,  plumpen> 
Kopf  und  baucbdiinnen  Fliigeln,  und  ihrem  unausgesetzten  uppigen, 
weicben  Gebrumm.  (Ware  das  nicht  ein  Vorwurf  zu  einer  Ton- 
dichtung,  zu  der  es  den  Hintergrund  geben  konnte?  Einer  Art 
Hummelsymphonie?  — ) 

Wie  nahrt  mich  dies  alles,  lullt  mich  ein,  just  in  der  Art,  wie 
ich  es  brauche:  die  frische  Luft,  die  Roggenfelder,  die  Apfelgarten. 
Die  beiden  letzten  Tage  waren  makellos  schon  an  Sonne,  Windr 
Temperatur  und  allem  —  nie  erlebte  ich  zwei  vollkommenere  Tage, 
und  ich  habe  sie  unendlich  genossen.  Mein  Befinden  ist  etwas  besser, 
und  meine  Seele  hat  Rube.  (Und  doch  ist  der  Jahrestag  von  meines 
Lebens  schwerstem  Verluste  und  Schmerz  ganz  nah*.) 

Wieder  eine  Aufzeichnung,  wieder  ein  vollkommener  Tag:  Vor- 
mittag  von  sieben  bis  neun,  zwei  Stunden  ganz  eingehiillt  in  den 
Klang  von  Hummelgebrumm  und  Vogelmusik.  Driiben  in  den 
Apfelbaumen  und  in  einer  hohen  nahen  Zeder  safien  drei  oder  vier 
rotriickige  Drosseln.  Jede  sang  ihr  bestes  Lied  und  schmetterte 
die  Laufe,  wie  ich  sie  schoner  niemals  horte.  Zwei  Stunden  lang 
bore  ich  ihnen  zu,  dem  Lauschen  hingegeben  und  lassig  die  Land- 
schaft  in  mich  aumehmend.  Fast  jeder  Vogel,  habe  ich  bemerkt, 
hat  seine  bestimmte  Zeit  im  Jahr  —  manchmal  sind  es  nur  em 
paar  Tage  —  wo  er  am  schbnsten  singt;  und  jetzt  ist  die  Zeit  dieser 
Rotriicken.  Gleichzeitig  wegauf,  wegab  die  bin  und  her  schieBenden, 
drohnenden  musikalischen  Hummeln.  Auf  dem  Heimweg  umgibt 
mich  ein  grofier  Schwarm  als  Hofstaat,  zieht  mit  mir  wie  zuvor. 

Sommerbilder  —  Sommerfaulheit 

Nichts  kann  die  stille  Pracht  und  Frische  iibertreffen,  die  mich 
bier  am  Bach,  abends  halb  sechs  Uhr,  beim  Schreiben  umgibt. 
Mittags  batten  wir  einen  heftigen  Regenschauer,  mit  kurzem  Donner 

*Der  Todestag  seiner  Mutter,  i3.  Mai   1878.    (Anmerkung  des  Cbersetzers.) 

io5 


und  Blitz;  und  danach  nun  dieser  nicht  auBergewohnliche  aber 
(im  Ganzen,  nicht  in  Form  oder  Einzelheit)  unbeschreibliche  Himmel 
vom  klarsten  Blau,  mit  rundgeballten,  silberumsaumten  Wolken 
und  blendend  reiner  Sonne.  Unten  Baume  in  der  Fiille  zarten 
Laubes  —  von  Wasser  und  Rohricht  kommende,  langgedehnte 
Vogelstimmen  —  am  deutlichsten  das  jammerliche  Miauen  eines 
klagenden  Katzenvogels  und  das  vergniigliche  Krahen  von  zwei 
Eisvogeln.  Die  letzteren  babe  ich  jetzt  eine  halbe  Stunde  bei  ihrem 
iiblichen  Abendspiel  iiber  und  in  dem  Wasser  beobachtet;  offen- 
bar  ein  herrlicher  SpaB.  Sie  jagen  einander,  wirbeln  und  kreisen 
rundberum,  oft  frohlich  ins  Wasser  hinunter,  wobei  der  Giscbt  in 
Diamanten  zerspriiht,  —  und  dann  schieBen  sie  weg,  mit  schragen 
Fliigeln,  in  anmutigem  Fluge,  manchmal  so  nab  an  mir  vorbei, 
dafi  ich  ihre  dunkelgrau  gefiederten  Leiber  und  ihre  milchweiBen 
Halse  deutlich  sehen  kann. 

Als  ich  mich  zum  Heimgehen  erhebe,  verweile  ich  noch  und 
lausche  lange  einem  kostlichen  Sanges-Epilog  (ist  es  die  Einsiedler- 
drossel?).  Aus  einem  der  buschigen  Verstecke  driiben  am  Moor 
kommt  es  —  langsam  und  traumerisch,  wieder  und  immer  wieder. 
Und  dazu  die  Ringelspiele  der  Schwalben,  die  zu  Dutzenden  in 
konzentrischen  Kreisen  durch  die  letzten  Strahlen  des  Abendrots 
flitzen  —  wie  Blitze  eines  Luftrads. 


Ein  Julinachmittag  am  Teich 

Hitze,  intensiv,  doch  um  vieles  ertraglicher  in  so  reiner  Luft  — 
weiBe  und  rosa  Teichblumen  mit  groBen,  herzformigen  Blattern  — 
glasklares  Wasser  in  der  Bucht,  Ufer  mit  dichtem  Gebiisch  und 
malerischen  Buchen,  —  Schatten,  —  Rasen;  aus  Schlupfwinkeln 
hervor  der  tremolierende,  schwirrende  Ruf  irgendeines  Vogels,  der 
die  warme,  trage,  fast  wolliistige  Stille  zerreiBt;  —  gelegentlich 
eine  WTespe,  eine  Hornisse,  eine  Biene  oder  Hummel  (die  fliegen 
mir  um  Gesicht  und  Hande,  storen  mich  aber  nicht,  und  ich  sie 
auch  nicht;  denn  es  scheint,  als  untersuchten  sie  mich,  fanden  aber 
nichts,  und  —  fort  sind  sie!)  —  der  Himmel  iiber  mir  so  weit  und  klar, 
und  der  Bussard  dort  oben,  der  seinen  langsamen  Flug  in  majestati- 
schen  Spiralen  und  Kreisen  zieht  —  gerade  iiber  dem  Wasserspiegel 
zwei  groBe,  schieferfarbene  Wasserjungfern  mit  Hauchfliigeln,  sie 

1 06 


kreisen  und  schiefien  dahin  und  stehen  manchmal  regungslos  im 
Gleichgewicht,  nur  ihre  Fliigel  zittern  leise  ohrie  Unterlafi  (pro- 
duzieren  sie  sich  zu  meinem  Vergniigen?).  —  Der  Teich  selber,  mil 
dem  schwertformigen  Kalmus;  — Wasserschlangen  —  zuweilen  eine 
Amsel,  rote  Tupfen  auf  den  Schultern,  schrag  vorbeifliegend ;  — 
Gerausche,  die  in  Einsamkeit,  Warme,  Licht  und  Schatteri  liorbar 
werden  —  das  Scbnattern  einer  Teichente  —  (die  Grillen  und  Gras- 
hiipfer  sind  verstummt  in  der  Mittagshitze,  doch  bore  ich  das  Lied 
der  ersten  Zikaden;)  —  dann,  in  ziemlicher  Entfernung,  das  Rasseln 
und  Schwirren  einer  Mahmaschine,  die,  am  anderen  Uler  der  Bucbt, 
in  raschem  Tempo  von  Pferden  durch  ein  Roggenfeld  gezogen 
wird  —  (was  war  das  fur  ein  gelber  oder  bellbrauner  Vogel,  so 
groG  wie  ein  junges  Huhn,  mil  kurzem  Hals  und  langgestreckten 
Beinen,  den  ich  eben  in  flatterndem,  ungeschicktem  Plug  driiben 
zwischen  den  Baumen  sab?)  —  in  meiner  Nase  der  stetige,  /arte, 
docb  intensive,  wiirzige  Gras-  und  Kleeduft.  Und  alles  deckend, 
alles  umfassend,  fiir  Auge  und  Seele  der  freie  Himinel,  durchsichtig 
und  blau  —  und  driiben  im  Westen  geballt,  ein  Haufen  weiGgrauer 
Schafchenwolken,  die  der  Seemann  yMakreelenziige"  nennt.  Mit 
silbernem  Gekrausel,  gleich  wirren  Locken,  breitet,  debnt  sich  der 
Himmel  —  ein  weites,  lautloses,  gestaltloses  Trugbild  —  und  doch, 
vielleicht  die  wirklichste  Wirklicbkeit  und  der  Gestalter  aller  Dinge 
—  wer  weifi  — ? 

4-  August,  nachmittags  sechs  Uhr. 

Lichter,  Schatten  und  seltene  Wirkungen  auf  Laub  und  Gras  — , 
durchsichtiges  Griin,  Grau  usw.,  alles  in  der  Pracht  und  Glut  des 
Sonnenuntergangs.  Die  klaren  Strahlen  fallen  jetzt  auf  viele  neue 
Stellen,  auf  die  faltigen,  rissigen,  bronzebraunen  unteren  Buum- 
stamme,  die  zu  jeder  anderen  Stunde  im  Schatten  stehen  —  baden 
die  alten  und  jungen  knorrigen  Saulen  in  starkem  Licht,  enthiillen 
mir  neue,  wundersame  Ziige  stummer,  rauher  Anmut,  die  starke 
Rinde,  den  Ausdruck  leidloser  Unberiihrbarkeit,  dazu  viele  nie 
zuvor  bemerkte  Knorren  und  Zapfen.  In  der  Oifenbarung  solchen 
Lichtes,  solch  ungewobnlicher  Stunde,  solcher  Stimmung,  wundert 
man  sich  nicht  mehr  iiber  die  alten  Fabeln  (ja,  warum  denn  Fabeln?) 
von  Menschen,  die  krank  wurden  aus  Liebe  zu  Baumen  und  in 
Verziickung  gerieten  iiber  die  mystische  Wirklichkeit  der  stummen 

107 


unwiderstehlichen  Kraft  in  ihnen,  —  Kraft,   die  am  Ende  viel- 
leicht  die  letzte,  vollkommenste,  hochste  Schonheit  ist. 


Heuschrecken  und  Grillen 

22.  August. 

Schnarrender,  einformiger  Laut  von  Heuschrecken  oder  Grillen, 
diese  hore  ich  bei  Nacht,  jene  so  nachts  wie  tags.  Der  Morgen- 
und  Abendgesang  der  Vogel  hat  mich  von  je  entziickt;  aber  ich 
merke,  daB  ich  mit  ebensoviel  Freude  diesen  seltsamen  Insekten 
lauschen  kann.  Jetzt  um  die  Mittagszeit,  eben  da  ich  schreibe,  laBt 
eine  einzelne  Heuschrecke  sich  horen,  aus  200  Schritt  Entfernung 
von  einem  Baum  herab,  ein  langanhaltendes  Schwirren,  gehorig 
laut,  abgestuft  in  verschiedene  Wirbel  oder  Schwingungskreise, 
die  an  Kraft  und  Schnelligkeit  wachsen  bis  zu  einem  gewissen 
Punkt,  —  und  dann  ein  flatterndes,  sanft  auslaufendes  Sinken.  Jede 
Strophe  dauert  ein  bis  zwei  Minuten.  Das  Lied  der  Heuschrecke 
paBt  vortrefflich  zu  dieser  Landschaft  —  es  hat  Fiille,  Ausdruck 
und  Mannlichkeit;  es  ist  wie  ein  feiner  alter  Wein,  nicht  suB,  aber 
weit  besser  als  siiB. 

Aber  die  Grille  —  wie  soil  ich  ihre  reizvollen  Laute  beschreiben? 
Eine  singt  in  einem  Weidenbaum,  nur  20  Meter  von  meinem 
offenen  Schlaffenster  entfernt,  seit  vierzehn  Tagen  singt  sie  mich  jede 
klare  Nacht  in  Schlaf.  Neulich  abends  fuhr  ich  wohl  einen  halben 
Kilometer  weit  durch  den  Wald  und  hb'rte  Myriaden  von  Grillen 
auf  einmal  —  ein  eigenartiger  Eindruck;  jedoch  gefallt  mir  rnein 
einzelner  Nachbar  auf  dem  Baume  besser. 

LaBt  mich  jedoch  iiber  den  Gesang  der  Heuschrecken  noch  mehr 
sagen,  wenn  ich  mich  auch  wiederhole;  ein  langes,  chromatisches, 
tremolierendes  Crescendo,  wie  von  einer  ehernen  Scheibe,  die,  im 
Kreise  geschwungen,  Schallwelle  auf  Schallwelle  hervorbringt,  be- 
ginnend  mit  einem  gewissen  maBigen  Takt  oder  Rhythm  us,  der  schnell 
an  Tempo  und  Inbrunst  zunimmt,  einen  hohen  Grad  von  Energie 
und  Ausdruckskraft  erreicht  —  und  dann  rasch  und  grazios  sinkt 
und  erlischt.  Nicht  die  Melodic  des  Singvogels  —  weit  davon  — ; 
dem  Durchschnittsmusikanten  wiirde  dieser  Gesang  vielleicht  jeder 
Melodic  bar  erscheinen,  doch  hat  er  fur  das  feinere  Ohr  gewiB 
seine  eigene  Harmonic;  eintonig  zwar  —  doch  welch  ein  Schwung 

1 08 


in  diesem  ehernen  Drohnen,   um  und  urn,  wie  Zymbeln  oder  \vie 
das  Schwingen  eherner  Wurfscheiben. 

Was  uns  ein  Baum  zu  sagen  hat 

i .  September. 

Ich  mochte,  um  das  zu  erklaren,  weder  den  groBten  noch  den 
malerischsten  Baum  wahlen.  Hier  vor  mir  steht  einer  meiner  Lieb- 
linge  —  eine  schone,  kerzengerade  gelbe  Pappel,  etwa  90  FuB  hocb 
und  vier  FuB  breit  an  der  Wurzel.  Wie  stark,  lebendig,  dauerhaft! 
Wie  wortlos  beredt:  Wie  vermittelt  sie  das  Gefiibl  von  Unbeirrbar- 
keit  und  Sein,  im  Gegensatz  zu  der  Menscbenart  des  bloBen 
Scheinens.  Dann  die  nahezu  seelischen,  fiihlbar  kunstlerischen, 
heroiscben  Eigenschaften  eines  Baumes;  so  unschuldig  und  harmlos 
und  doch  so  wild.  Er  ist,  aber  er  sagt  nicbts.  Wie  beschamt  er 
mit  seiner  zahen,  gleichmaBigen  Heiterkeit  in  jedem  Wetter  dieses 
flatterhafte  Wichtchen  Mensch,  das  beim  geringsten  bificben  Regen 
und  Scbnee  unter  Dacb  eilt!  Die  Wissenschaft  (oder  besser  Halb- 
wissenschaft)  spottet  iiber  den  Gedanken  an  Dryaden,  Hamad ryaden 
und  sprechende  Baume.  Aber  wenn  sie  aucb  nicbt  sprecben,  so 
tun  sie  docb  etwas,  das  gerade  so  gut  ist  wie  das  meiste  Reden 
und  Scbreiben,  Dicbten  und  Predigen  —  oder  nocb  viel  besser. 
Icb  mochte  wirklicb  sagen,  daB  die  alten  Dryadengeschichten  so 
wahr  sind  wie  nur  irgendwelche  und  tiefer  als  die  meisten  Uber- 
lieferungen.  (,,Schneide  dies  a  us,"  wie  der  Quacksalber  sagt  — 
wund  bewahre  es  auf.w)  Geb  und  setze  dich  in  einen  Hain  oder 
Wald  zu  einem  oder  mehreren  dieser  stummen  Gefahrten  und  lies 
das  Gesagte  und  denke  nacb. 

Eine  Lebre,  die  die  Verschwisterung  mit  einem  Baum  —  viel- 
leicbt  iiberbaupt  die  groBte  moraliscbe  Lehre,  die  Erde,  Felsen 
und  Tiere  uns  geben  konnen,  ist  eben  diese  Lebre  des  Eigenwesens, 
des  Seins  ohne  die  geringste  Riicksicht  auf  das,  was  der  Zuscbauer 
(der  Kritiker)  meint  oder  sagt  und  ob  es  ihm  gefallt  oder  nicbt. 
Welcbe  schlimmere,  welche  verbreitetere  Krankheit  durcbseucbt  uns 
alle,  unsere  Literatur,  unsere  Erziehung,  unser  Verhalten  zuein- 
ander  (ja  zu  uns  selbst),  als  eine  ungesunde  Sorge  um  den  Schein 
(nocb  dazu  meist  ganz  Hiicbtigen  Schein)?  Und  gleichzeitig  kiimmern 
wir  uns  gar  nicht  oder  kaum  um  die  gesunden,  langsam  reifenden, 

109 


iiberdauernden,  wirklichen  Seiten  von  Charakter,  Biichern,  Freund- 
schaft,  Ehe  —  die  unsichtbaren  Grundlagen  und  Haften  der  Mensch- 
heit!  (Denn  die  gemeinsame  Basis,  der  Nerv,  der  groBe  Sympathi- 
kus,  das  Plenum  der  Menschheit,  das  jedem  Dinge  sein  Geprage 
gibt,  ist  notwendigerweise  unsichtbar.) 

Der  Himmel.    Tage  und  Nachte.    Gliick 

20.  Oktober. 

Ein  heller,  klarer,  frostiger  Tag  —  trockne  und  frische  Luft  voll 
Sauerstoff.  Von  all  den  gesunden,  schweigenden,  ko'stlichen  Wun- 
dern,  die  micb  umgeben  und  durchdringen  —  (Baume,  Wasser, 
Gras,  Sonnenlicht,  erster  Frost)  —  ist  es  der  Himmel,  den  ich  heute 
am  meisten  betrachte.  Er  zeigt  das  zarte,  durchsichtige  Blau,  das 
dern  Herbste  eigen  ist,  mit  nur  weiBen  Wolken,  kleinen  und  gro'Beren, 
die  der  groBen  Halbkugel  ihre  stille,  seelenhafte  Bewegung  verleihen. 
Den  ganzen  Morgen  iiber  (sagen  wir  von  sieben  bis  elf  Uhr),  behalt  er 
dieses  klare,  doch  intensive  Blau.  Doch  wie  der  Mittag  heranriickt, 
wird  die  Farbe  heller  —  zwei,  drei  Stunden  lang  ganz  grau  —  dann 
noch  um  einen  Schein  blasser  bis  zum  Sonnenuntergang,  dessen 
blendende  Pracht  ich  durch  die  Lichtungen  einer  Gruppe  groBer 
Baume  hindurch  beschaue:  —  Feuerzungen  und  eine  iippige  Ent- 
faltung  von  Hellgelb,  Violett  und  Rot,  mit  einem  weiten  Silber- 
glanz  schrag  iiber  dem  Wasser;  —  die  durchsichtigen  Schatten, 
Lichtstreifen,  Blitze  und  lebhaften  Farben  iibertreffen  weit  alle 
Gemalde  der  Welt. 

Ich  weiB  nicht  warum  und  wieso,  doch  mir  scheint,  als  verdankte 
ich  hauptsachlich  diesen  Himmeln  (und  manchmal  will  mich  dun- 
ken,  obwohl  ich  den  Himmel  naturlich  jeden  Tag  meines  Lebens 
sah,  als  hatte  ich  ihn  zuvor  nie  wirklich  erblickt)  in  diesem  Herbste 
manche  wunderbar  zufriedene,  fast  mochte  ich  sagen  vollkommen 
gliickliche  Stunde.  Ich  las  einmal,  dafi  Byron  kurz  vor  seinem 
Tode  einem  Freunde  erzahlte,  er  babe  in  seinem  ganzen  Leben 
nur  drei  gliickliche  Tage  gekannt.  Auch  gibt  es  die  alte  deutsche 
Legende  von  des  Konigs  Glocke,  die  auf  das  gleiche  hinzielt.  Wie 
ich  da  drauBen  im  Walde  das  wundervolle  Abendrot  durch  die 
Baume  erblickte,  fielen  Byrons  Worte  und  die  Glockengeschichte 
mir  ein,  und  es  erwachte  in  mir  das  BewuBtsein,  daB  ich  eine 

no 


gliicklicheStunde  erlebte.  (Meine  besten  Augenblicke  jedoch  bringe 
ich  wohl  nie  zu  Papier;  wenn  sie  iiber  micb  kommen,  mag  icb 
nicht  durch  Aufeeichnungen  den  Zauber  zerstoren.  Dann  gebe  icb 
micli  nur  ganz  der  Stimmung  bin  und  lasse  mich  auf  den  Fluten 
ibrer  stillen  Entziickung  tragen.) 

Was  ist  iiberhaupt  Gliick?  1st  dies  eine  seiner  Stunden  oder  ihm 
ahnlich?  So  unfafibar  —  ein  blofier  Hauch,  ein  verschwindender 
Lichtschein?  Ich  bin  nicht  sicher  —  so  laftt  mir  die  Wohltat  der 
Ungewiflheit.  Hast  du,  Durchsichtiger,  in  deinen  azurblauen  Tiefen 
Arznei  fiir  Kranke,  wie  mich?  (Oh,  die  korperiiche  Zerriittung  und 
seelische  LJnruhe  der  letzten  drei  Jahre!)  Und  traufelst  du  sie  nun, 
leise,  mystisch,  unsichtbar  durch  die  Luft  auf  mich  herab? 

Ein  Wintertag  am  Meeresstrand 

Jiingst  verbrachte  ich  einen  schonen  Dezembermittag  an  der 
Seekiiste  von  New  Jersey,  die  ich  durch  eine  kaum  mehr  als  ein- 
stiindige  Eisenbahnfahrt  iiber  Old  Camden  und  Atlantic  erreichte. 
Ich  war  zeitig  aufgebrochen,  gestarkt  durch  schonen,  starken  Kaffee 
und  ein  gutes  Friihstiick  (von  geliebten  Handen,  von  meiner  lieben 
Schwester  Lou  zubereitet  —  wie  viel  besser  schmecken  doch  dann 
die  Speisen,  und  wie  viel  besser  iiahren  und  starken  sie  einen  und 
machen  vielleicht  noch  den  ganzen  Tag  angenehm.) 

Mindestens  fiinf  bis  sechs  Meilen  liefen  unsere  Geleise  durch  weit- 
gedehnte  Wiesen  von  Diinengras,  dazwischen  kleine  Lagunen  und 
Rinnsale  iiberall.  Der  Schilfgeruch  —  meiner  Nase  eine  Wonne  — 
brachte  Erinnerungen  an  die  Siidbucht  meiner  Heimatinsel.  Ich 
ware  gern  noch  bis  zur  Nacht  durch  diese  flachen,  duftenden  See- 
prarien  gereist.  Von  halb  zwolf  bis  zwei  Uhr  war  ich  fast  standig 
nahe  am  Strand  oder  in  Sehweite  des  Ozeans,  lauschte  seinem  hei- 
seren  Murmeln,  trank  die  willkommene,  belebende  Brise.  Zuerst 
eine  schnelle  Wagenfahrt  iiber  fiinf  Meilen  harten  Sand  —  unsere 
Rader  hinterliefien  kaum  eine  Spur;  —  dann  nach  Tisch,  da  noch 
zwei  Stunden  iibrig  waren,  ging  ich  zu  FuB  in  einer  anderen  Hich- 
tung  —  (sah  und  traf  kaum  jemand)  —  ergriff  Besitz  von  etwas,  das 
wohl  einst  der  Gesellschaftsraum  von  einer  alten  Badehausanlage 
gewesen  sein  mochte  und  hatte  einen  weiten  Ausblick  —  reizvoll, 
erquickend,  unbegrenzt  —  ganz  fiir  mich  allein.  (Jnmittelbar  vor 

I  il 


und  neben  mir  eine  diirre  Strecke  Schilf  und  indisches  Gras  —  und 
Weite,  einfache,  schmucklose  Weite.  Feme  Boote  und  von  weither 
eben  noch  sichtbar  die  schleppende  Rauchwolke  eines  heimkehren- 
den  Dampfers;  etwas  deutlicher  Schiffe,  Briggs,  Schoner;  die 
meisten  batten  alle  Segel  vor  dem  steifen,  stetigen  Wind  gesetzt. 

Wie  anziehend,  wie  fesselnd  sind  doch  Meer  und  Strand!  Wie 
verliert  man  sicb  in  ihre  Einfacbheit,  ja  in  ihre  Leere! 

Was  ist  das  in  uns,  da6  durch  diese  Richtungslosigkeiten  und 
Richtungen  geweckt  wird?  Dieser  Wellenschlag,  dieser  grauweiBe, 
salzige,  eintonige,  leblose  Strand  —  diese  ganzliche  Abwesenbeit 
von  Kunst,  Biichern,  Unterbaltung,  Eleganz  —  wie  unbeschreib- 
lich  wohltuend,  selbst  an  einem  Wintertag  wie  heut:  rauh  und 
doch  so  zart  anzuschauen,  so  vergeistigt,  an  unfafibare  Tiefen  des 
Gefuhls  riihrend,  inniger  als  alle  Gedichte,  Gemalde,  Musik,  die 
ich  je  gelesen,  gesehen,  gehort.  (Docb  will  icb  gerecbt  sein  —  viel- 
leicht  ist  es  nur  deshalb  so,  weil  ich  diese  Gedichte  gelesen,  diese 
Musik  gehort  habe.) 

Strandtraume 

Schon  als  Knabe  hatte  ich  den  Gedanken,  den  Wunsch,  etwas, 
ein  Gedicht  vielleicht,  iiber  die  Seekiiste  zu  schreiben,  —  iiber  diese 
vielsagende  Trennungslinie,  die  zugleich  Beriihrung  und  Verbindung 
ist  und  das  Feste  mit  dem  Fliissigen  vermahlt,  —  dieses  seltsame, 
lauernde  Etwas,  (als  welches  zweifellos  jede  objektive  Form  schlieG- 
lich  einmal  dem  subjektiven  Geiste  erscheint,)  das  weit  mehr  be- 
deutet,  als  sein  bloCer,  erster  Anblick  verrat,  ist  er  auch  noch  so 
grofiartig,  und  Reales  und  Ideales  verschmilzt  und  jedes  zu  einem 
Teil  des  anderen  macht.  In  meiner  Jugend  und  fruhem  Mannes- 
alter  auf  Long  Island  streifte  ich  stunden-  und  tagelang  an  den 
Kiisten  von  Rockaway  und  Conney  Island  entlang,  oder  ostwarts 
nach  Hampton  oder  Montauk.  Einmal,  an  dem  letzteren  Ort  (beim 
alten  Leuchtturm:  'in  jeder  Richtung,  soweit  das  Auge  reichte, 
nichts  als  wogende  See)  fiihlte  ich  — ,  ich  weiO  es  noch  genau  — , 
dafi  ich  eines  Tages  ein  Buch  schreiben  musse,  das  diesem  flu- 
tenden,  mystischen  Thema  Ausdruck  verliehe.  Ich  erinnere  mich, 
wie  mir's  dann  spater  kam,  da6  die  Seekiiste  nicht  das  Thema 
eines  bestimmten,  lyrischen,  epischen  oder  literarischen  Versuches, 

4  12 


sondern  vielmehr  ein  unsichtbarer  EinfluB  werden  sollte,  ein  alles 
durchdringendes  MaB  und  ^7orbild  mir  und  meiner  Dichtung.  (Ich 
mochte  hier  jungen  Schriftstellern  einen  Wink  geben.  Ich  glaube, 
icb  babe  die  gleiche  Regel  unbewuBt  aucb  auf  andere  Machte  als 
Meer  und  Kuste  angewandt,  —  ich  babe  es  vermieden,  sie  nach 
einer  toten  Schablone  zu  bedichten,  da  sie  mir  zu  groB  fiir  bloB 
formale  Behandlung  vvaren ,  und  war  zufrieden,  wenn  icb  indirekt 
zeigen  konnte,  daB  wir  einander  kennengelernt  und  durcbdrungen 
haben,  wenn  auch  nur  einmal,  so  doch  zur  Geniige,  —  dafi  wir 
wiiklich  ineinander  aufgegangen  sind  und  einander  verstanden 
baben.) 

Ein  Traum,  ein  Bild  taucht  seit  Jahren  von  Zeit  zu  Zeit  (mancb- 
mal  lange  nicbt,  aber  ganz  sicber  immer  wieder  einmal)  leise  vor 
mir  auf  und  hat,  glaube  ich,  obwohl  es  nur  eine  \7orstellung  ist, 
mein  praktisches  Leben  stark  beeinfluBt,  —  sicherlich  meine  Schriften, 
denen  es  Form  und  Farbe  gegeben  hat.  Es  ist  nichts  mehr  und 
nichts  weniger  als  eine  unermefiliche  Strecke  weiBbraunen  Sandes, 
hart  und  glatt  und  breit;  der  Ozean  rollt  unablassig  majestatisch 
darauf  zu,  mit  langsamem,  abgemessenem  Schwung,  mit  Rauschen 
und  Zischen  und  Schaumen  und  dumpfen  StoBen  dazwischen  wie 
von  tiefen  Pauken.  Die  Szene,  dieses  Bild,  steigt,  wie  gesagt,  seit 
Jahren  von  Zeit  zu  Zeit  vor  mir  auf.  Manchmal  erwache  ich  bei 
Nacht  und  kann  es  deutlich  horen  und  sehen. 


Friihlingsvor  spiel,  Wiedergeburt 

10.  Februar  1877. 

Heute  das  erste  Zwitschern,  fast  Singen  eines  Vogels.  Dann  sah 
ich  am  offenen  Fenster  in  der  Sonne  zwei  Honigbienen  herumflitzen 
und  summen. 

1 1 .  Februar. 

An  diesem  wundervollen  Abend,  in  dem  sanften  Rosa  und  blassen 
Gold  des  schwindenden  Lichtes,  hb'rte  ich  das  erste  Wispern  und 
Sich-Regen  des  erwachenden  Friihlings  —  ganz  leise  —  ich  weifi  nicht, 
ob  aus  Erdboden  oder  Wurzeln,  oder  von  der  Bewegung  von  In- 
sekten,  —  docb  war  es  horbar,  wie  ich  so  an  einen  Zaun  gelehnt 
stand  und  lange  in  den  westlichen  Horizont  sah.  Im  Osten  erschien 
der  Sirius,  als  die  Schatten  wuchsen,  in  blendender  Pracht.  Und 

8     Whitiu-u   I  I  |  3 


der  groBe  Orion;  und  ein  bifichen  nach  Nordosten  der  GroBe  Bar, 
kop  fab  warts. 

20.  Februar. 

Sonnenuntergang.  Eineeinsame,  lustigeSttmdeamTeich;  ichiibe 
Arme,  Brust,  meinen  ganzen  Korper  an  einer  zahen,  jungen  Eiche 
(faustdick,  1 2  FuB  hoch),  ziebe  und  stemme  und  atme  die  gute  Luft. 
Nachdem  ich  eine  Weile  mit  dem  Baum  gerungen  babe,  kann  icb 
spiiren,  wie  sein  junger  Saft  und  seine  Lebenskraft  aus  dem  Boden 
quillt  und  micb  vom  Scbeitel  bis  zur  Soble  durchgliibt  wie  Wein 
der  Gesundheit.  Zur  Abwecbslung,  als  Dreingabe,  lasse  icb  dann 
laute  Stimmiibungen  vom  Stapel.  Deklamatorisches,  Sentimentales, 
Scbmerz,  Zorn  aus  dem  Vorrat  unserer  Dichter  und  Dramatiker  — 
oder  fiille  meine  Lungen  und  singe  wilde  Lieder  und  Kebrreime, 
die  ich  bei  den  Scbwarzen  im  Siiden  horte,  —  oder  patriotische 
Lieder,  die  ich  von  den  Soldaten  lernte.  Ich  lasse  das  Echo  drohnen, 
kann  ich  euch  sagen!  Zwischen  zwei  derartigen  Kraftausbriichen, 
im  sinkenden  Zwielicht,  schrie  ein  Kauzchen  am  anderen  Ufer  der 
Bucht  vier-,  funfmal  hintereinander  sein  tu-u-u-u  —  leise,  nach- 
denklich  (wie  mir  schien,  auch  ein  wenig  spottisch)  entweder  als 
Applaus  fur  die  Negerlieder  oder  vielleicht  als  ironischen  Kommen- 
tar  zu  dem  Schmerz,  Zorn  oder  Stil  unserer  Dichter. 

Eine  der  Wunderlichkeiten  des  Menschen 

Wie  koinint  es,  daB  man  in  all  der  heiteren,  verlassenen  Einsam- 
keit,  allein,  tief  in  diesem  Waldesschweigen,  —  oder,  wie  ich  fand, 
in  der  wilden  Prarie,  in  der  Bergesstille  —  nie  ganz  frei  ist  von 
dem  Instinkt  (ich  verliere  ihn  nie,  und  andere  sagen  mir  im  Ver- 
trauen  das  gleiche  von  sich),  sich  umzuschauen,  ob  nicht  jemand 
erscheinen,  aus  dem  Boden  wachsen,  oder  hinter  einem  Baum, 
einem  Felsen  hervortreten  werde?  Ist  das  ein  unterbewuBtes,  ver- 
erbtes  tjberbleibsel  von  der  Ur-Wachsamkeit  des  Menschen,  das 
von  den  wilden  Tieren  herstammt?  oder  von  seinen  wilden  Vor- 
fahren  von  einst?  Es  ist  durchaus  weder  Nervositat  noch  Angst. 
Es  ist,  als  lauere  vielleicht  etwas  Unbekanntes  in  diesen  Biischen 
und  einsamen  Orten.  Nein,  ganz  sicherlich  ist  da  irgend  etwas 
lebendig  unsichtbar  Gegen wartimes. 


Ein  Nachmittagsbild 

22.  Februar. 

Gestern  Nacht  und  heute  schwer  und  regnerisch,  bis  zum  halben 
Nachmittag,  wo  der  Wind  sich  plotzlich  drehte,  die  Wolken  wie 
Vorhange  rasch  fortzogen  und  der  klare  Himmel  durchkam  and 
mit  ihm  zugleich  der  schonste,  erhabenste  wunderbarste  Regen- 
bogen,  den  ich  jemals  sah;  ganz  vollstandig,  sebr  farbig  an  seinen 
Erdenenden  und  in  der  Hohe  nach  alien  Richtungen  einen  leuch- 
tenden  violetten,  gelben,  griinen  Dunst  ausstrahlend,  durch  den  die 
Sonne  leucbtete  --  ein  unbeschreiblicher  Licbt-  und  Farbenaus- 
bruch,  so  iippig  und  docb  so  zart,  wie  ich  es  nie  zuvor  erblickte. 
Dann  das  Nacbspiel:  eine  voile  Stunde  verging,  ebe  das  letzte  dieser 
Erdenenden  verscbwand.  Dahinter  der  Himmel :  ein  durcbsicbtiges 
Blau,  mit  vielen  kleinen  weiBen  Wolken  und  Flocken.  Dazu  ein 
Abendrot,  das  alle  Sinne  der  Seele  verscbwenderisch,  zartlich,  voll 
erfiillte  und  beberrscbte.  Ich  schlieBe  diese  Zeilen  am  Teich;  durch 
die  Abendschatten  fallt  eben  noch  genug  Licht,  um  den  westlichen 
Widerschein  auf  dem  Wasserspiegel  zu  sehen,  mit  dem  umgekehrten 
Bild  der  Baurne.  Hin  und  wieder  bore  ich  das  klatschende  Gerausch 
eines  Hechtes,  der  herausspringt  und  das  Wasser  krauselt. 

Die  Tore  offnen  sich 

6.  April. 

Ich  fiihle  leibhaftig  den  Friihling,  oder  doch  seine  Vorboten.  Ich 
sitze  im  hellen  Sonnenschein,  am  Rande  des  Baches,  der  Wind 
krauselt  leise  das  Wasser.  Nichts  als  Einsamkeit,  Morgenfrische, 
Lassigkeit.  Meine  zwei  Eisvogel  leisten  mir  Gesellschaft,  segeln, 
wenden,  stoBen,  tauchen,  manchmal  launisch  getrennt,  und  gleich 
wieder  vereint.  Wieder  und  wieder  hore  ich  ihre  zwitschernden 
Kehllaute;  eine  ganze  Zeit  lang  nichts  als  diesen  eigenartigen  Ton. 
Gegen  Mittag  werden  auch  audere  Vogel  warm;  ich  bore  die  schnar- 
renden  Laute  des  Rotkehlchens  und  eine  Musik  zweier  Stimmen, 
da  von  eine  ein  kostliches,  belles  Glucksen,  und  mehrere  andere 
Vogel,  die  ich  nicht  unterzubringen  weiB.  Dazu  kommt  noch  von 
Zeit  zu  Zeit  (ja,  eben  bore  ich's)  ein  leises  Quarren  von  ein  paar 
ungeduldigen  Froschen  am  Rande  des  Teiches.  Hie  und  da  rauscht 


zischenci  ein  ziemlich  starker  Wind  durch  die  Baume.  Ein  armes, 
kleines  totes  Blatt,  lang  vom  Frost  gefesselt,  wirbelt  plotzlich  von 
irgendwoher  im  wilden  Taumel  neuer  Freiheit  hoch  in  die  Lu'fte, 
in  Raum  und  Sonnenlicht,  und  stiirzt  dann  plotzlich  hinab  aufs 
Wasser,  wo  es  festgehalten  wird  und  bald  versinkend  dem  Blick 
entschwindet.  Nocb  sind  Biische  und  Baume  kahl,  doch  haben  die 
Buchen  nocb  zum  groBen  Teil  die  verschrumpelten,  gelben  Blatter 
vom  vorjahrigen  Laube,  viele  Zedern  und  Ficbten  sind  nocb  griin, 
und  das  Gras  zeigt  scbon  Spuren  kommender  Uppigkeit.  Und  iiber 
dem  Ganzen  ein  wundervoller  Dom  vom  reinsten  Blau,  ein  Spiel 
von  kommeiidem  und  gebendem  Licht,  und  groBe  Herden  von 
weiBen,  still  dahinschwimmenden  Wolken. 

Der  gewohnliche  Erdboden 

Aucb  der  Erdboden  —  lafit  andere  See  und  Luft  bescbreiben  - 
(wie  ich  es  zuweilen  versucbe)  —  docb  ich  will  nun  den  einfachen 
Erdboden  zum  Tbema  nehmen,  und  weiter  nicbts.  Dieser  braune 
Boden  bier,  just  zwischen  Winterende  und  Friihlingsanfang  und 
Wacbstum  —  der  Regenscbauer  des  Nachts  und  der  frische  Duft 
am  nachsteu  Morgen  —  die  roten  Wurmer,  die  sicb  aus  dem  Boden 
bervorwinden  —  die  toten  Blatter,  das  keimende  Gras  und  das  heim- 
liche  Leben  darunter  —  der  Wille  zu  neuem  Beginn  —  an  geschiitzten 
Stellen  bereits  einzelne  kleine  Blumen  —  der  feme  Smaragdglanz 
des  Winterweizens  und  der  Roggenfelder  —  die  noch  nackten  Baume 
mit  hellen  Durchblicken,  die  im  Sommer  verdeckt  sind,  —  das  zahe 
Bracbfeld,  das  Pflug-Gespann,  der  kraftige  Burscb,  der  seinen  Pferden 
aufmunternd  zupfeift  —  und  dort,  in  langen,  schrag  aufgeworfenen 
Streifen,  die  dunkle,  fette  Erde. 

Vogel,  Vogel,  Vogel 

Etwas  spater.    Strahlendes  Wetter. 

Ungewobnlicb  sangesreich  sind  in  diesen  Tagen  (den  letzten  des 
April,  den  ersten  des  Mai)  die  Amseln;  iiberhaupt  schwirren,  pfeifen 
und  hocken  alle  moglichen  Vogel  bocb  in  den  Baumen.  Nie  sab 
und  hb'rte  ich  sie  so,  war  so  mitten  unter  ihnen,  so  von  ihnen  und 
ihrem  Treiben  umdrangt,  uberschwemmt,  wie  in  diesem  Monat. 

116 


Lafit  mich  aufzahlen,  was  ich  hier  finde:  Amseln  (in  Mengen), 
Ringeltauben,  Eulen,  Spechte,  Konigsvogel,  Krahen  (in  Mengen), 
Wachteln,  Eisvogel,  Hiihnerhabichte,  Gelbvogel  (auch  Beutelstare 
genannt),  Bussarde,  Zaunkonige,  Drosseln,  Rohrdommeln,  Feld- 
lerchen  (in  Mengen),  Kuckucke,  Teichschnepfen,  Rotkehlchen, 
Raben,  Grauschnepfen,  Adler,  Fischreiher,  Waldtauben. 

Schon  friih  kamen  Blaukehlchen,  Killdeer,  Regenpfeifer,  Rot- 
kehlchen, Waldschnepfen,  Feldlerchen,  weiBbauchige  Schwalben, 
Sandpfeifer,  Wilson-Drosseln. 


Sternhelle  Niichte 

2 1 .  Mai. 

Wieder  bricht  eine  jener  ungewohnlich  durchsichtigen,  schwarz- 
blauen  Sternennachte  an,  die  gleichsam  zeigen  wollen,  daB,  so  strah- 
lend  und  prachtig  der  Tag  sein  mag,  dennoch  dem  Nicht-Tag  etwas 
zu  eigen  bleibt,  was  ihn  iibertrifft.  Das  seltenste,  schb'nste  Beispiel 
eines  langanhaltenden  Helldunkels  von  Sonnenuntergang  bis  neun 
Uhr.  Ich  ging  zum  Delaware  hinunter  und  fuhr  immer  wieder  hin- 
iiber  und  heriiber.  Venus  wie  leuchtendes  Silber  hoch  im  Westen. 
Die  groBe,  diinne,  blasse  Sichel  des  Neumonds,  eine  halbe  Stunde 
hoch,  langsam  hinter  eine  diistere  Wolkenwand  sinkend  und  dann 
wieder  hervortauchend.  Arktur  gerade  iiber  mir.  Ein  leiser,  wiir- 
ziger  Meeresduft  von  Siiden  her.  Die  dammerige  milde  Ruble;  jede 
Einzelheit  der  unbeschreiblich  beruhigenden  und  starkenden  Sze- 
nerie  deutlich  zu  erkennen;  —  eine  jener  Stunden,  die  der  Seele  zu- 
raunen,  was  sich  nicht  in  Worte  fassen  laBt.  (Oh,  wo  fa'nde  Geistig- 
keit  ihre  Nahrung  ohne  Nacht  und  Sterne?)  Die  gestaltlose  Weite 
der  Luft  und  das  verschleierte  Blau  des  Himmels  schienen  Wunder 
genug. 

Als  die  Nacht  vorriickte,  wandelte  sich  ihr  Geist  und  Kleid  zu 
noch  umfassenderer  Pracht.  Ich  wurde  mir  fast  einer  deutlich  be- 
stimmten  Gegenwart  bewufit:  der  schweigenden  Nahe  der  Natur. 
Das  grofie  Sternbild  der  Wasserschlange  streckte  seine  Windungen 
iiber  mehr  als  den  halben  Himmel.  Der  Schvvan  flog  mit  aus- 
gebreiteten  Schwingen  die  Milchstrafie  hinab.  Die  nordliche  Krone, 
der  Adler,  die  Leier,  alle  an  ihrem  Platz  dort  oben.  Aus  dem  ganzen 
Gewolbe  schossen  Lichtblitze,  GriiBe  an  mich,  durch  das  klare 

117 


Blauschwarz  herab.  Jedes  gewohnliche  Bewufitsein  von  Bewegung, 
jedwedes  animalische  Leben  schien  ausgeschaltet,  schien  ein  Traum ; 
eine  seltsame  Macht,  gleich  der  gelassenen  Ruhe  agyptischer  Gott- 
heiten,  ergriff  die  Herrschaft,  durch  ihre  Unfafibarkeit  um  nichts 
weniger  gewaltig.  Zuvor  batte  ich  viele  Fledermause  gesehen,  die 
sich  in  dem  hellen  Zwielicht  wiegten  und  ibre  scbwarzen  Gestalten 
bin  und  her  iiber  den  FluB  schnellten;  doch  jetzt  waren  sie  ganz 
verschwunden.  Der  Abendstern  und  der  Mond  waren  fort.  Regsam- 
keit  und  Friede  waren  ruhig  beisammengelagert  in  den  flutenden 
Schatten  des  Alls. 

26.  August. 

Hell  war  der  Tag,  und  mein  Geist  gleich  falls  im  ,,sforzando". 
Nun  kommt  die  Nacht,  ganz  anders,  unsagbar  nachdenklich  mit 
ihrer  eigenen,  zarten  und  milden  Pracht.  Venus  verharrt  im  Westen 
mit  einem  wolliistigen  Glanze,  wie  sie  ihn  im  ganzen  Sommer  noch 
nicht  zeigte.  Mars  geht  friih  auf,  und  der  duster-rote  Mond,  zwei 
Tage  nach  Vollmond;  Jupiter  im  nachtlichen  Meridian,  und  der 
lange,  gekriimmte  Skorpion  dehnt  sich  voll  sichtbar  im  Siiden,  den 
Antares  am  Halse.  Mars  durchschreitet  jetzt  als  oberster  Herrscher 
den  Himmel;  den  ganzen  Monat  iiber  gehe  ich  nach  dem  Abend- 
essen  hinaus,  um  ihn  zu  beobachten ;  rnanchmal  stehe  ich  um  Mitter- 
nacht  auf,  um  noch  einmal  einen  Blick  auf  seinen  unvergleichlichen 
Glanz  zu  werfen.  (Ich  lese,  daC  kiirzlich  ein  Astronom  durch  das 
neue  Teleskop  von  Washington  feststellte,  dafi  der  Mars  jedenfalls 
einen  Mond,  vielleicht  sogar  zwei,  hat.*)  BlaB  und  fern,  doch  im 
Himmelsraum  nahe,  geht  Saturn  ihm  voran. 

Konigskerzen 

GroBe,  sanfte  Konigskerzen,  von  samtenem  Gewebe  und  heller, 
braunlich-griiner  Farbe,  wachsen  iiberall  auf  den  Feldern,  je  weiter 
der  Sommer  vorriickt.  Anfangs,  wenn  sie  noch  niedrig  und  unent- 
faltet  sind,  wirken  sie  mit  ihren  breiten  Blattern  (acht,  zehn,  zwanzig 
Blatter  an  jeder  Pflanze)  wie  Rosetten  auf  dem  Erdboden.  Auf  den 
zwanzig  Morgen  Brachland,  am  Ende  des  Feldweges,  und  besonders 
in  den  Furchen  langs  der  Zaune,  stehen  sie  in  Menge,  erst  dicht 


*  A.  Hall   im  Jahre   1877.     (Anmerkung  des  Ubersetzers.) 

118 


iiber  dem  Boden,  doch  bald  schieBen  sie«hoch,  schon  sind  die  Stengel 
vier,  fiinf,  ja  sieben  und  acht  FuB  hoch;  die  Blatter  so  breit,  vrie 
meine  Hand,  die  untersten  doppelt  so  lang  —  so  frisch  und  tauig 
in  der  Friihe.  Ich  bore,  daB  der  Farmer  die  Konigskerze  fiir  ein 
gemeines,  nutzloses  Unkraut  bait;  doch  mir  ist  sie  lieb  geworden. 
Jedes  Ding  enthalt  seine  Lehre,  in  der  der  Hinweis  auf  alle  anderen 
Dinge  entbalten  ist  —  und  in  letzter  Zeit  scbeint  mir's  manchmal, 
als  konzentriere  sicb  fiir  mich  alles  in  diesem  wetterharten,  gelb- 
blumigen  Unkraut.  Wenn  ich  am  friihen  Morgen  den  Feldweg 
daherkomme,  verweile  ich  stets  vor  ihrem  weichen,  wolligen  Vlies, 
ihren  Stengeln  und  breiten  Blattern,  die  von  zahllosen  Diamanten 
glitzern.  Zusammen  kehren  wir,  sie  und  ich,  nun  seit  drei  Jahren 
in  jedem  Sommer  schweigend  zuriick;  nach  so  langen  Pausen  stehe 
oder  sitze  ich  immer  wieder  bei  ihnen  und  traume  —  verwoben 
mit  all  den  andern  Stunden  und  Stimmungen  der  Erholung  meines 
gesunden  oder  kranken  Geistes,  der  bier  dem  Frieden  so  nahe  ist,  wie 
nur  moglich. 

Feme  Gerausche 

Die  Axt  des  Holzhauers  —  der  gleichmaBige  Fall  eines  einzelnen 
Dreschflegels  --  das  Krahen  des  Hahnes  im  Huhnerhof  (mit  den 
unvermeidlichen  Antworten  aus  anderen  Hiihnerhofen)  —  das  Briillen 
der  Kinder  —  doch  vor  allem,  fern  und  nah,  der  Wind  —  hoch  in 
den  Baumwipfeln,  tief  in  den  Biischen,  oder  aufGesicht  und  Handen 
so  leise  streichelnd,  in  diesem  mild-leuchtenden  Mittag,  dem  kiihlsten 
seit  langer  Zeit  (2.  Sept.);  —  ich  will  es  nicht  Seufeer  nennen,  denn 
fiir  mich  hat  der  Wind  immer  einen  festen,  gesunden,  frohlichen 
Ausdruck,  abwechslungsreich  bei  aller  Einformigkeit,  bald  rasch, 
bald  langsam,  bald  rauh,  bald  zart.  Wie  zischelt  der  Wind  in 
dem  Fichtenwaldchen  dort  driiben.  Oder  auf  See,  —  ich  kann  mir 
im  Augenblicke  vergegenwartigen,  wie  er  die  Wogen  peitscht,  wie 
weithin  Schaumgeister  spritzen,  und  das  freie  Pfeifen  und  den  Salz- 
geruch,  —  und  dieses  weite  groBe  Paradoxon,  das  bei  all  seiner 
Bewegung  und  Rastlosigkeit  ein  Gefiihl  von  ewiger  Buhe  vermittelt. 

Andere  Begleiter 

Sonne  und  Mond  jedoch,  hier  und  zu  dieser  Zeit!  Nie  schien  das 
prachtige,  konigliche  Gestirn  am  Tage  so  wunderbar,  so  grofi,  so 

"9 


gluhend  und  liebevoll,  —  nie  bei  Nacht  ein  so  blendender  Mond, 
wie  gerade  in  den  letzten  drei,  vier  Nachten. 

Ein  Sonnenbad.    Nacktheit 

Sonntag,  27.  August. 

Wieder  ein  Tag  ganz  frei  von  ausgesprochner  Hinfalligkeit  und 
Schmerzen.  Es  scheint  wirklich,  als  flb'sse  ungesehen  Friede  und 
Starkung  auf  mich  herab,  wie  ich  so  langsam  in  der  guten  Luft 
durch  diese  Wiesenwege  und  Felder  humple  —  wie  ich  bier  einsam 
mit  der  Natur  sitze  —  der  offenen,  stummen,  mystischen,  fernen, 
doch  fiiblbaren,  beredten  Natur.  Ich  lasse  mich  versinken  in  die 
Landschaft,  in  den  vollkommenen  Tag.  Ich  hocke  an  dem  klaren 
Wasserlauf  und  trinke  die  Ruhe,  —  hier  aus  seinem  leisen  Glucksen, 
dort  aus  dem  tieferen  Rauschen  seines  drei  FuB  hohen  Wasserfalls. 
—  Kommt,  oh,  ihr  Trostlosen,  wenn  noch  EntschluBkraft  in  euch 
schlummert,  —  kommt  zu  der  unfehlbaren  Heilkraft  von  Bachufer, 
Wald  und  Feld.  Zwei  Monate  lang  (Juli  und  August  77)  hab'  ich 
sie  nun  in  mich  aufgenommen,  und  sie  beginnen  einen  neuen 
Menschen  aus  mir  zu  machen.  Jeden  Tag  Einsamkeit  —  jeden 
Tag  mindestens  zwei  oder  drei  Stunden  Freiheit,  Bad,  kein 
Geschwatz,  keine  Fesseln,  keine  Kleider,  keine  Biicher,  kein 
,,Benehmena! 

Soil  ich  dir  sagen,  Leser,  worauf  ich  meine  schon  fast  wieder- 
hergestellte  Gesundheit  zuruckfuhre?  Darauf,  daft  ich  seit  fast 
zwei  Jahren,  mit  wenigen  Unterbrechungen,  ohne  Arzneimittel  und 
taglich  in  der  frischen  Luft  bin.  Vorigen  Sommer  fand  ich  eine 
besonders  geschiitzte  kleine  Schlucht,  etwas  abseits  von  meinem 
Bach;  urspriinglich  eine  groBe,  ausgeschachtete  Mergelgrube,  nun 
verlassen  und  ausgefiillt  von  Biischen,  Baumen,  Gras,  einer  Weiden- 
gruppe,  einer  einzelnen  Erhohung  und  einer  Quelle  mit  kostlichem 
Wasser,  die  mitten  hindurch  flieBt  mit  zwei  oder  drei  kleinen 
Wasserfallen.  Hierher  fliichtete  ich  mich  an  jedem  heiBen  Tage, 
und  so  mache  ich  es  auch  in  diesem  Sommer.  Hier  begreife  ich, 
was  jener  Alte  meinte,  der  sagte,  er  sei  selten  weniger  allein,  als 
wenn  er  allein  sei.  Nie  zuvor  kam  ich  der  Natur  so  nahe,  noch  sie 
so  nahe  zu  mir.  Eine  Stunde  oder  so  nach  dem  Friihstiick  schlenderte 
ich  zu  der  Verborgenheit  besagter  Schlucht  hinab,  die  ich  und 

I9.O 


einige  Drosseln  usw.  ganz  fiir  uns  allein  hatten.  Ein  leichter  Siid- 
west  blies  durch  die  Wipfel.  Es  \var  just  der  Ort  und  die  Stunde 
fiir  mein  adamitisches  Luftbad  nebst  Biirsten  des  Korpers  von  Kopf 
bis  Fu6.  So  hing  icb  denn  die  Kleider  auf  einen  nahen  Zaun, 
behielt  den  alten,  breitrandigen  Strohhut  auf  dem  Kopf  und  be- 
queme  Schuhe  an  den  FiiOen  und  batte  zwei  herrliche  Stunden! 
Zuerst  Arme,  Brust  und  Seiten  mit  den  steif-elastischen  Borsten 
gebiirstet,  bis  sie  feuerrot  waren  —  dann  ein  teilweises  Bad  im 
klaren  Wasser  des  rinnenden  Baches  —  alles  sehr  gemachlich,  mit 
vielen  Ruhepausen  —  alle  paar  Minuten  barfuB  herumgelaufen  im 
nahen,  schwarzen  Schlamm,  als  tettes  Moorbad  fur  meine  FiiBe,  — 
ein  zweites  und  drittes  Mai  in  dem  kristallklaren  Wasserlauf  kurz 
abgespiilt  —  mit  dem  duftenden  Handtuch  abgerubbelt  —  langsame, 
lassige  Promenaden  auf  dem  Rasen  auf  und  ab  in  der  Sonne,  ab- 
wechselnd  mit  Ruhepausen  und  dann  wieder  Abreibungen  mit  der 
Biirste.  Manchmal  nehme  ich  meinen  Feldstuhl  von  Ort  zu  Ort 
mit,  da  mein  Bereich  hier  ziemlich  ausgedehnt  ist  (fast  hundert 
Ruten)  und  ich  mich  ganz  sicher  fiihle  vor  Storungen  (und  das 
wiirde  mich  auch  keineswegs  aus  der  Fassung  bringen,  wenn  es 
zufallig  einmal  vorkame). 

Wie  ich  langsam  iiber  das  Gras  ging,  schien  die  Sonne  hell  genug, 
daB  ich  meinen  mitgehenden  Schatten  sehen  konnte.  Irgendwie 
schien  es  mir,  als  wiirde  ich  eins  mit  all  und  jedem  Ding  um  mich 
her,  je  nach  seinem  Wesen.  Die  Natur  war  nackt  und  ich  auch. 
Es  war  eine  zu  Iassige,  einschlafernde,  wonnige  und  ausgeglichene 
Stimmung,  um  dariiber  nachzugriibeln.  Doch  mag  ich  mir  etwa 
diefolgenden  Gedanken  gemacht  haben:  Vielleicht  ist  unser  innerer, 
nie  verlorner  Zusammenhang  mit  Erde,  Licht,  Luft,  Baumen  usw. 
nicht  durch  Augen  und  Gemiit  allein  zu  erfassen,  sondern  mit  dem 
ganzen  fleischlichen  Korper,  den  ich  ebenso  wenig  wie  die  Augen 
geblendet  und  verbunden  haben  will.  Siifie,  gesunde  stille  Nackt- 
heit  in  der  Natur!  --  oh,  konnte  die  arme,  kranke,  geile  Stadt- 
inenschheit  dich  nur  einmal  wieder  wirklich  kennenlernen!  —  Ist 
also  Nacktheit  nicht  unanstandig?  —  Nein,  an  sich  nicht.  Eure 
Gedanken,  cure  Heuchelei,  cure  Furcht,  euer  Ehrbartun:  die  sind 
das  Unanstandige.  Es  kommen  Stimmungen,  wo  diese  unsere  Klei- 
dung  nicht  nur  zu  lastig  wird  zum  Tragen,  sondern  in  sich  selbst 
nnanstandig.  Vielleicht  hat  der  Mann  oder  das  Weib,  die  das  freie 

121 


heitere  Hochgefuhl  der  Nacktheit  in  der  Natur  nie  kennenlernen 
durften  (und  wie  viele  Tausende  sind  das!),  nie  wirklich  gewuBt, 
was  Reinheit  ist  —  noch  was  Glauben,  Kunst  und  Gesundheit 
eigentlich  ist.  (Wahrscheinlich  entsprang  der  ganze  Schatz  an 
hochster  Philosophic,  Schonheit,  Heroismus,  Form,  wie  die  alte 
hellenische  Rasse  ihn  aufweist,  —  die  hochste  Hohe  und  tiefste 
Tiefe,  die  die  Kultur  auf  diesen  Gebieten  kennl,  —  aus  ihrer  natiir- 
lichen  und  religiosen  Idee  der  Nacktheit.) 


Die  Eichen  und  ich 

5.  September  77. 

Ich  schreibe  dies,  elf  Uhr  vormittags,  unter  einer  dicht  belaubten 
Eiche  am  Ufer,  unter  der  ich  vor  plb'tzlichem  Regen  Schutz  suchte. 
Ich  kam  hierher  (es  war  den  ganzen  Morgen  triib  und  regnerisch, 
doch  vor  einer  Stunde  horte  es  etwas  auf)  zu  der  schon  erwahnten, 
taglichen,  einfachen  Leibesiibung,  die  ich  so  liebe:  um  an  diesem 
jungen  Eichbaumchen  hier  zu  ziehen  und  von  ihm  gezogen  zu 
werden,  mitzuschwingen  mit  der  zahen  Geschmeidigkeit  seines  auf- 
rechten  Stammes,  —  vielleicht  etwas  von  seiner  elastischen  Faser, 
seinem  klaren  Safte  in  meine  alten  Sehnen  hineinzubekommen.  Ich 
stehe  auf  dem  Rasen  und  iibe  dies  Gesundheitsstemmen  maBig 
schnell  und  mit  Unterbrechungen  fast  eine  Stunde  lang,  und  atme 
dabei  die  frische  Luft  in  tiefen  Ziigen.  An  dem  Bach  entlang  habe 
ich  drei  oder  vier  von  Natur  giinstige  Ruheplatze  —  auBerdem 
trage  ich  einen  Stuhl  mit  mir  und  beniitze  ihn  fur  bedachtsamere 
Gelegenheiten.  An  anderen  geeigneten  Stellen  habe  ich,  auBer  dem 
eben  erwahnten  Eichbaumchen,  in  bequemer  Reich weite  starke 
und  geschmeidige  Stamme  von  Buchen  und  Stechpalmen  ausgesucht 
zu  meiner  Naturgymnastik  fur  Arm-,  Brust-  und  Rumpfmuskeln. 
Bald  fuhle  ich  Saft  und  Kraft  in  mir  aufsteigen,  wie  Quecksilber 
in  der  Warme.  Dort  in  Sonne  und  Schatten  halte  ich  Aste  oder 
schlanke  Stamme  zartlich  umfaBt,  ringe  mit  ihrer  harmlosen  Starke 
und  weiB,  daB  die  Lebenskraft  von  ihnen  auf  mich  iibergeht. 
(Oder  vielleicht  ist  es  ein  Austausch  zwischen  uns  —  vielleicht  ge- 
wahren  die  Baume  von  alldem  mehr,  als  ich  mir  je  traumen  lieB.) 

Nun  aber  in  vergniiglicher  Gefangenschaft  hier  unter  der  groBen 
Eiche  —  der  Regen  stromt,  der  Himmel  ist  mit  bleiernen  Wolken 

19,2 


bedeckt  —  auf  tier  einen  Seite  nichts  als  der  Teich,  auf  der  andern 
ein  Grasflecken,  besat  mit  den  weifien  Bluten  der  wilden  Mohre  - 
Axtklange  von  einem  fernen  Holzschlag  her:  —  warum  bin  icb  so 
(beinahe)  gliicklich,  ganz  allein  hier  in  dieser  nichtssagenden  Um- 
gebung  (wie  die  meisten  Leute  es  nennen  wiirden)?  Warum  wiirde 
jede  Storung  —  selbst  durch  Leute,  die  icb  gern  babe,  --  den 
Zauber  vernichten?  Aber  bin  ich  denn  allein?  Zweifellos  kommt 
eine  Zeit  —  vielleicbt  ist  sie  fur  mich  gekommen  —  wo  man  mit 
seinem  ganzen  Wesen,  vornebmlich  im  Gemiit,  jene  Identical  fiiblt 
zwiscben  dem  subjektiven  Ich  und  der  objektiven  Natur,  die 
Schelling  und  Fichte  so  gerne  betonen.  Wie  es  ist,  weifi  ich  nicht, 
aber  oft  werde  ich  mir  hier  einer  Gegenwart  bewuGt  —  in  klaren 
Stimmungen  bin  ich  mir  ihrer  gewifi,  und  weder  Chemie  noch 
Logik  noch  Asthetik  kann  die  geringste  Erklarung  dafiir  geben. 
Die  ganzen  beiden  letzten  Sommer  hat  sie  meinen  kranken  Leib 
und  meine  kranke  Seele  gestarkt  und  genahrt,  wie  nie  zuvor. 
Dank,  unsichtbarer  Arzt,  fur  deine  stumme,  kostliche  Arznei, 
deinen  Tag  und  deine  Nacht,  deine  Wasse**  uod  deine  Liifte,  fur 
die  Ufer,  das  Gras,  die  Baume  und  sogar  fur  das  Unkraut! 

Schmetterlinge 

20.  August  1878. 

Schmetterlinge,  nichts  als  Schmetterlinge  flattern  bestandig  bin 
und  her  (statt  der  Hummeln  der  letzten  drei  Monate,  die  ganz  ver- 
schwunden  sind)  —  alle  Arten,  weifie,  gelbe,  braune,  purpurne  - 
bin  und  wieder  glitzert  ein  prachtiger  Bursche  lassig  vorbei  auf 
Fliigeln,  getupft  mit  alien  Farben  wie  die  Paletten  der  Maler. 
Uber  der  Brust  des  Teiches  sehe  ich  viele  weiBe  kreuz  und  quer 
ihren  miiBigen,  launischen  Flug  verfolgen.  Nah  dem  Platz,  wo  ich 
sitze,  wachst  ein  hochstengeliges  Kraut,  verschwenderisch  gekront 
mit  tiefroten  Bliiten,  auf  die  die  schneeigen  Insekten  sich  nieder- 
lassen  und  verweilen,  manchmal  vier  oder  fiinf  zur  selben  Zeit. 
Dann  besucht  sie  ein  Kolibri  und  ich  beobachte  ihn,  wie  er  kommt 
und  fortfliegt,  zierlich  sich  wiegt  und  vorbeischimmert.  Diese  weifien 
Schmetterlinge  geben  neue,  schone  Rontraste  zu  dem  reinen  Griin 
des  Augustlaubs  (wir  haben  kiirzlich  reichlichen  Regen  gehabt) 
und  zu  der  gleifienden  Bronze  des  Wasserspiegels.  Man  kann  sogar 


manche  von  diesen  Insekten  zahmen;  ich  habe  da  einen  groBen, 
schonen  Falter,  der  kennt  mich  und  kommt  zu  mir  und  hat  es  gern, 
wenn  ich  ihn  auf  meiner  ausgestreckten  Hand  halte. 

Ein  anderes  Mai,  spater 

Ein  zwolf  Morgan  groBes  Feld  reifer  Kohlkopfe  mit  ihrer  vor- 
herrschenden  Farbe  von  Malachitgriin;  und  dariiber  und  dazwischen 
schweben  und  fliegen  nach  alien  Richtungen  Myriaden  dieser 
weiBen  Schmetterlinge.  Als  ich  heute  den  Feldweg  heraufkam, 
sah  ich  eine  lebendige  Kugel  aus  ihnen,  drei  oder  vier  FuB  im 
Durchmesser,  viele  Dutzende  zusammengeballt,  die  rollten,  immer 
ihre  Kugelform  bewahrend,  durch  die  Luft,  sechs  bis  acht  FuB 
iiber  dem  Erdboden. 


Erinnerung  aus  einer  Nacht 

2  5.  August,  neun  bis  zehn  Uhr  vorm. 

ich  sitze  am  Teich,  alles  ist  still,  die  breite,  glanzende  Flache 
liegt  vor  mir.  —  Das  Blau  des  Himmels  und  die  weiBen  Wolken 
spiegeln  sich  darin  —  dariiber  huscht  hie  und  da  der  Schatten  eines 
fliegenden  Vogels.  Letzte  Nacht  war  ich  hier  unten  mit  einem 
Freund  bis  nach  Mitternacht;  alles  ein  Wunder  an  Glanz  —  die 
Pracht  der  Sterne  und  der  vollkommen  runde  Mond  —  die  ziehenden 
Wolken,  Silber  und  lichtes  Gelbbraun  —  manchrnal  Massen  von 
dunstig  erleuchtetem  Windgewolk  —  und  schweigend  an  meiner 
Seite  mein  lieber  Freund.  Die  Schatten  der  Baume  und  Streifen 
Mondlichts  auf  dem  Gras  —  die  leicht  bewegte  Luft  und  der  kaum 
spiirbare  Duft  des  nahen  reifenden  Kornes,  die  unbewegte  durch- 
geistigte  Nacht,  unaussprechlich  reich,  zartlich,  inhaltvoll  —  alles 
in  allem  etwas,  das  die  Seele  durchdringt  und  noch  lange  nachher 
die  Erinnerung  starkt,  nahrt  und  beruhigt. 

Wilde  Blumen 

Das  war,  und  ist  noch,  eine  Festzeit  fiir  wilde  Blumen;  ganze 
Meere  von  ihnen  stehen  an  den  Wegen  durch  die  Walder,  saumen 
die  Rander  der  Bache,  wachsen  an  all  den  alten  Zaunen  entlang 

194 


und  sind  verschwenderisch  iiber  die  Felder  verstreut.  Eine  acht- 
blattrige,  goldgelbe  Bliite,  hell  und  licht,  mit  einem  braunen 
Biischel  in  der  Mitte,  fast  so  groB  wie  ein  silbernes  Halbdollarstiick, 
ist  sehr  verbreitet;  auf  einer  langen  Fabrt  gestern  sah  icb  sie  in 
Massen  an  den  Ufern  jedes  Baches  stehen.  Dann  gibt  es  ein  schones, 
initblauenBliiten  bed  ecktes  Kraut  (von  demBlau  der  alien  chinesischen 
Teetassen,  die  unsere  Grofitanten  sammelten),  bei  dem  ich  immer 
stehenbleibe,  um  es  zu  bewundern;  es  ist  ein  wenig  groBer  als  ein 
Zehncentstiick  und  sehr  verbreitet.  WeiB  jedoch  ist  die  vor- 
herrschende  Farbe.  Von  den  wilden  Mohren  habe  ich  gesprochen  ; 
auch  von  dem  wohlriechenden  Immergriin.  Aber  alle  Farben  und 
Schonheiten  sind  vertreten  besonders  an  den  oft  vorkommenden 
Strecken  sprossender  Zvvergeichen  und  Zwergzedern  hier  herum. 
\\'ilde  Astern  in  alien  Farben.  Trotz  des  Frosthauchs  halten  sich 
die  abgeharteten  kleinen  Dinger  in  all  ihrer  Bliitenpracht.  Ebenso 
die  Blatter  der  Baume,  manche  fangen  an,  gelb  oder  braun  oder 
graugriin  zu  werden.  Die  tiefe  Weinfarbe  der  Farberbaume  und 
Gummibaume  laBt  sich  schon  sehen  und  das  Strohgelb  der  Birke. 


Der  Delaware  —  Tage  und   Nachte 

5.  April  1879. 

Mit  der  Riickkehr  des  Friihlings  zu  den  Wolken,  den  Liiften, 
den  Wassern  des  Delaware  kommen  auch  die  Seemowen  wieder. 
Ich  werde  es  niemals  miide,  ihrem  weitausladenden,  leichten, 
spiralenfb'rmigen  Flug  zuzusehen  oder  wie  sie  schweben  mit  lang- 
samen,  unbewegten  Flugeln  oder  herunteraugen  mit  ihrem  ge- 
bogenen  Schnabel  oder  nach  Nahrung  ins  Wasser  tauchen.  Die 
Krahen,  deren  es  iibergenug  den  Winter  hindurch  gab,  sind  mit 
dem  Eise  verschwunden.  Nicht  eine  ist  jetzt  zu  sehen.  Die  Dampf- 
boote  sind  wieder  zum  Vorschein  gekommen  --  stattlich  daher- 
schnaufend,  frisch  bemalt  fur  die  Sommerarbeit. 

Aber  laBt  mich  das  Ganze  zusammenfassen  und  aurzahlen:  — 
den  FluB  selbst,  den  ganzen  Weg  vom  Meer  her  —  Cape  Island 
auf  einer  Seite  und  Henlopen-Leuchtturm  auf  der  anderen,  die 
breite  Bucht  hinauf  nach  Norden,  und  so  bis  Philadelphia  und 
weiter  bis  Trenton;  —  die  Gegenden,  die  ich  am  besten  kenne  (da 
ich  einen  grofien  Teil  der  Zeit  in  Camden  zubringe,  sehe  ich  die 


Dinge  von  diesem  Aussichtspunkt)  —  die  grofien,  hochmiitigen, 
schwerbeladenen  Ozeandampfer,  die  ein-  oder  auslaufen  —  die 
machtige  Breite  hier  zwischen  den  zwei  Stadten,  durchschnitten 
von  dem  Windmiihleneiland  —  gelegentlich  ein  Kriegsschiff,  manch- 
mal  ein  fremdes,  vor  Anker,  mil  seinen  Geschiitzen  und  Stiick- 
pforten,  und  die  Boote  und  braungebrannten  Schiffer,  und  die 
regelmafiigen  Ruderschlage,  und  die  frohlichen  Schwarme  von 
Ausfliiglern  --  die  haufigen  groBen,  schonen  Dreimaster,  einige 
neu  und  sehr  schmuck  mit  ihren  weiBgrauen  Segeln  und  gelbem 
Fichtengestange  —  die  Schaluppen,  die  mit  giinstigem  Wind  daher- 
rauschen  —  (ich  sehe  eben  eine,  wie  sie  herbeikommt  mit  breiten 
Segeln,  ihr  Gaffeltoppsegel  leuchtet  in  der  Sonne,  hoch  und  malerisch 
—  wie  schon  zwischen  Himinel  und  Wasser!)  —  die  wimmelnden 
Werften  und  Anlegeplatze  die  Stadt  entlang  —  die  Flaggen  der 
verschiedenen  Nationen,  das  starke,  englische  Kreuz  auf  seinem 
Grund  von  Blut,  die  franzosische  Trikolore,  das  Banner  des  groBen 
deutschen  Kaiserreicbes  und  die  itaiieniscben  und  spaniscben  Far- 
ben;  —  manchmal  am  Nacbmittag  die  ganze  Szenerie  belebt  von 
einer  Flotte  von  Yachten,  die  mit  halber  Fahrt  langsam  vom  Ren- 
nen  in  Gloucester  heimkebren,  und,  wenn  man  den  Blick  nord- 
warts  wendet,  die  langen  Streifen  weiBflockigen  Dampfes  oder 
schmutzigscbwarzen  Ranches  von  der  Kiiste  von  Kensington  oder 
Richmond  her,  facherformig,  schrag  sich  heriiberziehend  im  West- 
siidwestwind. 


Szenen  auf  Fiihre  und  Flufl  --  Winternachte 

Dann  die  Camdenfahre!  Welche  Frohlichkeit,  Abwechslung, 
Belebtbeit,  Geschaftigkeit  bei  Tag.  Was  fur  beruhigende,  schwei- 
gende,  wunderbare  Stunden  bei  Nacht,  wenn  ich  im  Boot  iiber- 
fahre,  fast  niemand  aufier  mir  darin,  und  allein  auf  dem  Deck 
bin  und  her  gehe,  vorn  oder  achtern.  Welche  Zwiesprache  mit 
dem  Wasser,  der  Luft,  dem  kostlichen  chiaroscuro  —  der  Himmel 
und  die  Sterne,  die  nichts,  kein  Wort  zu  dem  Intellekt  sprechen, 
und  doch  so  beredt,  so  mitteilsam  zu  der  Seele  sind.  Und  die  Fahr- 
leute  —  wie  wenig  wissen  sie,  was  sie  mir  gewesen  sind,  Tag  und 
Nacbt,  —  wie  viele  Wolken  von  Verdrossenheit,  Langerweile, 
Schwache  sie  in  ihrer  rauhen  Art  mir  vertrieben  ha  ben.  Und  die 

126 


Lotsen  —  die  Kapitane  Hand,  Walton  und  Giberson  am  Tag;  und 
Kapitan  Olive  nachts;  Eugeri  Crosby,  der  inich  rait  seinen  starken 
jungen  Armen  so  oft  stutzte,  umfing,  sicher  aufdas  Schiff  geleitete 
iiber  die  Locher  auf  der  Briicke,  iiber  alle  Hindernisse. 

Icb  babe  von  den  Krahen  gesprochen.  Icb  beobachte  sie  immer 
vom  Boot  aus.  Ihre  scbwarzen  Flecken  beben  sich  gegen  Scbnee 
und  Eis  in  dieser  Jahreszeit  uberall  ab  —  fliegend  und  flatternd 
oder  auf  kleinen  oder  groBeren  Schollen  den  Strom  binauf  und 
hinab  schwimmend.  An  einem  Tag  war  der  FluB  beinabe  eisfrei 
-  nur  eine  einzige  lange  Scholle  abgebrochenen  Eises  bildete  einen 
scbmalen  Streifen,  der  schnell  die  Stromung  hinunterschwamm, 
iiber  eine  Meile  weit.  Auf  diesem  weifien  Streifen  waren  die  Krahen 
versammelt,  Hunderte  von  ibnen  —  eine  spaBige  Fabrt. 

Dann  der  Warteraum,  ein  genaues  Bild  des  Lebens.  Nachmittags, 
gegen  halb  vier  Uhr;  es  beginnt  zu  scbneien.  Im  Theater  hat  eine 
Nachmittagsvorstellung  stattgefunden,  von  halb  fiinf  bis  fiinf  Uhr 
koniint  der  Strom  der  heimkehrenden  Damen.  Ich  habe  niemals 
in  dem  geraumigen  Zimmer  eine  frohere,  lebendigere  Szene  sich 
abspielen  sehen  —  schone,  gutgekleidete  Frauen  und  Madchen  aus 
Jersey,  Dutzende  von  ibnen,  die  eine  Stunde  lang  hereinstromen, 
mit  hellen  Augen  und  gliihenden  Gesichtern,  aus  der  frischen  Luft 
kommend  —  ein  paar  Stern  chen  Schnee  auf  den  Rleidern  und 
Hiiten,  wenn  sie  eintreten.  —  Die  Wartezeit  von  fiinf  oder  zehn 
Minuten  —  das  Plaudern  und  Lachen  —  (Frauen  konnen  sich 
kostlich  untereinander  amiisieren,  mit  vielen  witzigen  Einfallen,  in 
frohlicher  Hingegebenheit)  —  dazu  die  Laute  der  Glockenzeichen, 
der  Dampfpfeifen  der  abfabrenden  Schiffe  mit  ihren  rhythmischen 
Pausen  und  Untertonen,  --  die  vertraulichen  Bilder,  Mutter  mit 
ihrer  Scbar  Tochter  (ein  reizender  Anblick),  Kinder,  Bauern,  - 
die  Bahnbeamten  mit  ihren  blauen  Rocken  und  Kappen  —  alle  die 
verschiedenen  Charaktere  aus  Stadt  und  Land  dargestellt  oder  an- 
gedeutet.  Dann  draufien  ein  verspateter  Reisender,  der  sinnlos  dem 
Boot  nachrennt,  nachspringt.  Gegen  sechs  Uhr  verdichtet  sich  der 
menschliche  Strom  allmahlich  -  -  jetzt  ein  Gedrange  von  Fuhr- 
werken,  Karren,  aufgehauften  Kisten,  jetzt  ein  Zug  Rindvieh,  der 
grofie  Aufregung  hervorruft,  die  Treiber  mit  schweren  Stocken, 
mit  denen  sie  die  dampfenden  Flanken  der  verangstigten  Tiere 
bearbeiten. 

127 


Eine  Januarnacht 

Schone  Fahrten  iiber  den  breiten  Delaware  heute  nacht.  Der 
FluB  kurz  nach  acht  Uhr  voll  von  grofitenteils  aufgebrochenem 
Eis,  aber  ein  paar  groBe  Schollen  macben  unser  stark  gebautes 
Dampf  boot  drohnen  und  erzittern,  als  es  gegen  sle  stoBt.  Im  klaren 
Mondlicht  breiten  sie  sich  aus,  seltsam,  unirdisch,  silberig,  matt- 
glanzend,  so  weit  ich  sehen  kann.  StoBend,  zitternd,  mancbmal 
wie  tausend  Scblangen  zischend,  gibt  die  steigende  Flut,  wie  wir 
mit  ihr  oder  durcb  sie  hindurchfahren,  einen  machtigen  Grundton, 
im  Einklang  mit  dem  ganzen  Bild.  Die  Pracbt  zu  Haupten  droben 
ist  unbeschreiblicb ;  aber  es  ist  etwas  Hochmiitiges,  fast  Anmafien- 
des  in  der  Nacht,  niemals  nocb  bin  ich  mir  so  des  verborgenen 
Gefiihls,  ich  mochte  beinahe  sagen  der  Leidenschaftlichkeit 
der  schweigenden,  unendlichen  Sterne  da  oben  bewuBt  geworden. 
In  solcher  Nacht  kann  man  verstehen,  warum  seit  den  Tagen  der 
Pharaonen  oder  des  Hiob  in  dem  mit  Planeten  besaten  Himmels- 
dom  die  feinste,  tiefste  Kritik  am  menschlichen  Stolz,  Ruhm,  Ehr- 
geiz  empfunden  wurde. 

Eine  andere  Wintemacht 

Ich  kenne  nichts  MErfiillenderesft,  als  in  einer  klaren,  kiihlen 
Mondnacht  auf  dem  weiten,  festen  Verdeck  eines  starken  Schiffes 
zu  stehen,  das  stolz  und  unwiderstehlich  durch  dieses  dicke,  mar- 
morne,  glanzende  Eis  stoBt.  Der  ganze  FluB  ist  jetzt  davon  be- 
deckt  —  einige  ungeheure  Schollen.  Es  liegt  etwas  so  "Verzau- 
bertes  iiber  der  Szene  —  zum  Teil  durch  die  Art  des  blaulichen 
Lichtes,  des  Mondzwielichtes;  —  nur  die  groBen  Sterne  konnen  sich 
in  dem  Leuchten  des  Mondes  durchsetzen.  Die  Luft  ist  scharf,  an- 
genebm  fiir  Bewegung,  trocken,  voll  Sauerstoff.  Und  das  Gefiihl 
von  Kraft  —  der  feste,  zornige,  gebieterische  Eifer  unserer  starken, 
neuen  Maschine,  irides  sie  ihren  Weg  durch  die  groBen  und  kleinen 
Schollen  pfliigt! 

Eine  andere 

Zwei  Stunden  lang  fuhr  ich  iiber  den  FluB,  bin  und  her, 
nur  zum  Vergniigen  —  zu  stiller  Erregung.  Himmel  und  FluB 

128 


veriinderten  sich  ofters.  Der  Himmel  hielt  eine  Zeitlang  zwei  groBe 
Facher  heller  Wolken  ausgebreitet,  durch  die  der  Mond  hindurch- 
ging,  leuchtend  jetzt  und  eine  Aureole  von  durchsichtigem  Gelb- 
braun  mil  sich  r'iihrend,  und  jetzt  die  ganze  Weite  in  it  hellem, 
dunstigem  Lichtgriin  iiberflutend,  durch  das  er,  \vie  durch  einen 
erleuchteten  Lichtschleier,  mit  gemessener,  frauenhafter  Bewegung 
zog.  Dann  bei  einer  anderen  Fahrt  ist  der  Himmel  vollkommen 
klar  und  Luna  in  all  ihrem  Glanz.  Der  GroBe  Wagen  im  Norden 
mit  dem  Doppelstern  an  der  Deichsel,  viel  deutlicher  als  gewohnlich. 
Dann  die  glanzige  Lichtspur  auf  dem  Wasser,  tanzend  und  sich 
krauselnd.  Verwandlungen,  Bilder,  Gedichte  —  unnachahmlich. 


Eine  andere 

Ich  studiere  bei  der  Oberfahrt  heute  nacht  die  Sterne  unter 
giinstigen  Umstanden.  Es  ist  spat  im  Februar  und  wieder  beson- 
ders  klar.  Hoch  im  Westen  die  Plejaden,  zitternd  mit  feinem  Ge- 
funkel  im  sanften  Himmel  —  der  Aldebaran,  der  die  V-formigen 
Hyaden  fiihrt  —  und  droben  im  Suden  die  Capella  mit  ihren  Zick- 
lein.  In  voller  Entfaltung  im  hohen  Siiden  der  majestatischste  VOQ 
alien,  Orion,  weit  ausgebreitet,  machtig,  der  Hauptakteur  auf  die- 
ser  Biihne,  mit  der  blitzenden,  gelben  Rosette  an  seiner  Schulter 
und  seinen  drei  Konigen  —  und  etwas  gegen  Westen  Sirius,  voll 
ruhigen  Stolzes,  der  wunderbarste  Einzelstern.  Ich  ging  spat  an 
Land  (ich  konnte  mich  von  der  Schonheit  und  Lindigkeit  der 
Nacht  nicht  trennen)  und  wahrend  ich  herumstand  oder  langsam 
weiterwanderte,  horte  ich  die  hallenden  Rufe  der  Bahnleute  in  dem 
Hof  des  Westjersey  Depots,  das  Schieben  und  Rangieren  der  Ziige, 
Lokomotiven  usw.  inmitten  der  allgemeinen  Stille,  und  ein  Etwas 
in  der  akustischen  Beschaffenheit  der  Luft,  musikalische,  ergreifende 
Effekte,  wie  ich  sie  nie  zuvor  wahrgenommen.  Ich  verweilte  lange, 
lange  und  lauschte. 

Nacht  vom    18.   Marz   1879. 

Eine  jener  ruhigen,  angenehm  kiihlen,  kostlich  klaren  und 
wolkenlosen  ersten  Friihlingsnachte  —  die  Atmosphare  wieder  von 
dem  seltsamen,  glasernen  Blauschwarz,  das  den  Astronomen  so 
willkommen  ist.  Genau  acht  Uhr  abends;  die  Szenerie  droben  von 


129 


feierlichster,  unvergleichlicher  Schonheit.  Venus  fast  an  ten  im 
Westen,  von  einer  GroBe  und  einem  Glanz,  als  wollte  sie  sich  vor 
ihrem  Untergehen  selbst  ubertreffen.  Schwellender,  miitterlicher 
Himmelskorper,  —  ich  nehnie  dich  wieder  in  mich  auf.  Ich  denke 
zuriick  an  jenen  Friihling  vor  Abraham  Lincolns  Ermordung,  als 
ich  ruhelos  die  Ufer  des  Potomac  um  Washington  durchstreifte 
und  dich  beobachtete,  hoch  dort  oben,  schwermiitig  wie  ich  selbst : 

,,Als  wir  wanderten  auf  und  ab  in  dem  mystischen  Dunkelblau, 

Als  wir  in  Schweigen  wanderten  in  der  durchsichtigen,  schattigen  Nacht, 

Als    ich    sah,    du    habest    mir    etwas  xu  sagen,  da  du  Nacht  fiir  Nacht  dich  mir 

neigtest, 
Da    du    dich    tief   vom   Himmel  herniedersenktest   als   wie   an    meine  Seite   (indes 

die  anderen  Sterne  alle  zuschauten), 
Da  wir  miteinander  wanderten  in  der  feierlichen  Nacht." 

Mit  der  scheidenden  Venus,  groB  bis  zuletzt  und  bis  zum  Rande 
des  Horizontes  leuchtend,  welch  ein  Schauspiel  bietet  das  weite 
Gewolbe  in  diesem  Augenblick!  Merkur  war  just  nach  Sonnen- 
untergang  sichtbar  —  ein  seltener  Anblick.  Arkturus  ist  jetzt  auf- 
gegangen,  genau  im  Nordosten.  In  ruhiger  Pracht  strahlen  alle  die 
Sterne  des  Orion  an  ihrem  Platz  im  Meridian  gegen  Siiden  mit 
dem  Sternbild  des  Hundes  ein  wenig  links.  Und  jetzt  steigt  eben 
Spica  auf,  spat,  tief  und  leicht  verschleiert.  Castor,  Regulus  und 
die  iibrigen  alle  leuchten  ungewohnlich  hell  (weder  Mars  noch 
Jupiter  noch  Mond  bis  zum  Morgen).  Am  Rand  des  Flusses  blin- 
ken  viele  Lichter  —  zwei  oder  drei  ungeheure  Schlote  zwei  Meilen 
aufwarts,  die  dicke  Schmelzflammen  ausstoBen,  vulkanartig,  die 
ganze  Umgebung  erleuchtend  -  -  und  manchmal  ein  elektrisches 
oder  Karbidlicht  mit  dantesken  Infernostrahlen,  weitausgereckten 
Speichen,  furchtbar,  geisterhaft  machtig. 

Zwei  Stadtteile 

New  York,  24.  Mai  1879. 

Kein  Viertel  dieser  Stadt  bietet  an  diesen  schonen  Mainachmit- 
tagen  ein  glanzenderes,  lebhafteres,  gedrangteres  Menschenschau- 
spiel  als  die  Gegend,  die  die  14.  StraBe  (besonders  das  kurze  Stiick 
zwischen  Broadway  und  5.  Avenue)  samt  Union  Square  und  Um- 
gebung umfaBt.  Alle  die  StraBen  sind  hier  breit  und  die  Platze 

i3o 


groB  und  frei  —  jetzt  iiberflutet  vom  iliissigen  Gold  des  machtvollen 
Sonnenscheins  der  letzten  zwei  Nachmittagsstunden.  Gegen  fiinf 
Uhr  muB  der  ganze  Stadtteil  an  den  Tagen  meiner  Beobachtung 
3o  bis  4oooo  schb'n  gekleidete  Menscben  entbalten  haben,  alle  in 
Bewegung,  viele  gut  aussehend,  viel  schone  Frauen,  oft  junges  Volk 
und  Kinder,  die  letzteren  in  Gruppen  mit  ihren  Bonnen  —  die  Trot- 
toirs  iiberall  gedrangt  voll  dichten  Gewiihls  (aber  keine  Zusammen- 
sto'Be,  keine  Storung),  voll  Massen  leuchtender  Farben,  Bewegung, 
geschmackvollen  Toiletten  (die  Frauen  kleiden  sich  zweifellos  besser 
als  friiher  und  ebenso  die  Manner).  Es  ist,  als  ob  New  York  an 
diesen  Nachmittagen  zeigen  wollte,  was  es  an  erlesenen  mensch- 
lichen  Gestalten  und  Physiognomien,  an  unnacbahmlicher  Versch wen- 
dung  von  Fahrzeugen,  Waren,  Glanz,  Magnetismus  und  Gliick  zu 
bieten  hat. 

Ein  anderes  Bild,  ebenfalls  von  fiinf  bis  sieben  Ubr  nacbmittags. 
Die  ganze  5.  Avenue  entlang  und  den  ganzen  Weg  von  den  Aus- 
gangen  des  Zentralparks  in  der  69.  StraBe  bis  hinunter  zur  i4-  ein 
Mississippi  von  Pferden  und  reicben  Fahrzeugen,  nicht  ein  oder 
zwei  Dutzende,  sondern  Hunderte  und  Tausende.  Die  breite  StraBe 
ist  von  ihnen  erfiillt  und  vollgepfropft  —  ein  regsames,  blendendes, 
hastiges  Gewiihl,  mehr  als  zwei  Meilen  lang.  (Ich  mochte  wissen, 
ob  es  nie  ins  Stocken  kommt,  aber  ich  glaube,  das  geschieht  nie.) 
All  dies  zusammen  ist  fur  mich  das  marchenhafte  Bild  von  New 
York.  Ich  liebe  es,  einen  der  Omnibusse  in  der  5.  Avenue  zu  be- 
steigen  und  der  reiBenden  Prozession  entgegenzufahren.  Ich  glaube 
nicht,  dafi  London  oder  Paris  oder  irgendeine  andere  Stadt  der  Welt 
einen  derartigen  Wagenkorso  aufzuweisen  hat,  wie  ich  ihn  bier 
fiinf-  oder  sechsmal  an  diesen  schonen  Mainachmittagen  gesehen 
babe. 


Kin  schoner  Nachmittag  von   vier  bis  sechs  Uhr 

Zehntausend  Fahrzeuge  eilen  durch  den  Park  an  diesem  voll- 
kommenen  Nachmittag.  Welch  ein  Schauspiel!  Und  ich  babe  alles 
gesehen  und  genau  und  mit  Mufie  beobachtet.  Privatkaleschen , 
Droschken  und  Coupes,  schone  Pferde,  SchoBhunde,  Bediente, 
modische  Kleider,  Auslander,  Kokarden  an  Hiiten,  Federbiische  - 
die  ganze  ozeangleiche  Flut  von  New  Yorks  Reichtum  und  ,,Adel". 


Es  war  ein  imposanter,  reicher,  endloser  Zirkus  in  gro'Btem  MaB- 
stab,  voll  Bewegung  und  Farbe  in  der  Schonheit  des  Tages,  in  der 
klaren  Sonne  und  milden  Luft.  Familiengruppen,  Paare,  einzelne 
Fahrer  —  natiirhch  ineist  elegant  gekleidet  —  viel  Stil  (aber  viel- 
leicht  wenig  oder  nichts,  selbst  hierin,  durch  sicb  selbst  voll  gerecht- 
fertigt).  Durch  die  Fenster  von  zwei  oder  drei  der  vornehmsten 
Wagen  sab  ich  Gesicbter,  fast  leichenhaft,  so  ascbfarben  und  schlaff. 
In  der  Tat  lieB  die  ganze  Angelegenheit  in  Geist  und  Haltung 
weniger  vom  echten  Amerika  erkennen,  als  icb  von  einem  so  er- 
lesenen  Massenscbauspiel  erwartet  hatte.  Ich  glaube,  daB  es  als 
Bevveis  fiir  den  grenzenlosen  Reichtum  und  Luxus  des  schon  erwahn- 
ten  Adels  iiberwaltigend  war.  Aber  das,  was  ich  in  diesen  Stunden 
sah,  ich  benutzte  zwei  andere  Gelegenheiten,  zwei  andere  Nachmit- 
tage,  um  dieselbe  Szene  zu  beobachten),  bestarkte  mich  in  einem 
Gedanken,  der  bei  jedem  neuen  Blick,  den  ich  auf  die  hochsten 
Schichten  unserer  reichen  und  vornehmen  Welt  werfe,  immer  wieder 
in  mir  auftaucht  —  namlich  der  Gedanke,  daB  sie  sich  nicht  behag- 
lich  fiihlen,  daB  sie  sich  ihrer  selbst  zu  bewuBt  sind,  in  viel  zu  viele 
Wachshiillen  eingeschlossen  und  weit  davon  entfernt,  gliicklich  zu 
sein, —  daB  nichts  in  ihnen  ist,  worum  wir,  die  wir  arm  und  einfach 
sind,  sie  zu  beneiden  brauchen,  und  daB  sie  statt  des  ewigfrischen 
Duftes  von  Gras  und  Wald  und  Kiiste  immer  nur  den  Geruch  von 
Seifen  und  Parfiim  atmen,  der,  so  erlesen  er  sein  mag,  doch  an  den 
Friseurladen  erinnert,  —  an  etvvas,  das  irgenwie  in  wenigen  Stunden 
schal  und  dumpfig  wird. 

Schwalben  am  FluB 

3.  September. 

Bewolkt  und  nafi  und  Ostwind,  die  Luft  ohne  sichtbaren  Nebel, 
aber  sehr  schwer  von  Feuchtigkeit.  Als  ich  vormittags  iiber  den 
Delaware  fuhr,  sah  ich  eine  ungewohnliche  Menge  fliegender  Schwal- 
ben, kreisend,  bin  und  her  schieBend,  anmutig  iiber  jede  Beschrei- 
bung,  dicht  iiberm  Wasser.  In  dichten  Schwarmen  flogen  sie  um 
den  Bug  des  Fahrbootes,  als  es  an  seinem  Tau  festgebunden  lag, 
und  als  wir  losfuhren,  beobachtete  ich  ihre  flink  wendenden,  sich 
schneidenden  und  kreuzenden  Schleifenfliige  iiber  den  Landungs- 
pfeilern  und  bin  und  her  iiber  dem  breiten  Strom  und  bis  dicht  an 


in  herab.  Obwohl  ich  Schwalben  mein  Leben  lang  gesehen  hatte, 
war  es  rnir,  als  hatte  ich  mir  nie  zuvor  ihre  besondere  Schb'nheit 
ind  Eigenart  in  der  Landschaft  klar  gemacht.  Als  ich  vor  einiger 
jit  in  einer  riesigen  alien  Scheune  eineStunde  lang  den  Flug  dieser 
rogel  beobachtete,  wurde  ich  an  das  22.  Buch  der  Odyssee  erinnert, 
Odysseus,  sich  offenbarend,  die  Freier  erschlagt  und  Minerva 
Gestalt  einer  Schwalbe  sich  durch  die  Hb'he  der  Halle  empor- 
ihwingt,  hoch  oben  auf  einem  Balken  sitzt,  wohlgefallig  auf  das 
jmetzel  blickt  und  sich  in  ihrem  Element  fiihlt,  frohlockend, 
sudig. 

Die  Prarien 
(Rede  vor  einer  Volksversammlung  in  Topeka,  Kansas) 

Wenn  euch  daran  liegt,  ein  Wort  von  mir  zu  horen,  will  ich 
iiber  diese  cure  Prarien  zu  euch  sprechen;  sie  machen  mir  den  tief- 
sten  Eindruck  von  all  den  Bildern,  die  ich  auf  diesem  meinem  ersten 
leibhaftigen  Besuch  im  Westen  sehe  oder  gesehen  habe.  Als  ich  in 
rasendem  Tempo  hierher  fuhr,  mehr  als  tausend  Meilen  weit,  durch 
das  schone  Ohio,  durch  das  brotspendende  Indiana  und  Illinois, 
durch  das  weite  Missouri,  das  alles  hervorbringt,  was  es  nur  gibt; 
als  ich  cure  reizende  Stadt  teilweise  in  den  letzten  zwei  Tagen 
durchforschte  und  als  ich  auf  dem  Oreadenhiigel  bei  der  tJniver- 
sitat  stand  und  meine  Augen  iiber  weite  Flachen  lebendigen  Griins 
nach  alien  Richtungen  bin  schweifen  lieB  —  war  ich  tief  ergriffen, 
sage  ich,  und  werde  es  fiir  den  Rest  meines  Lebens  bleiben,  von 
diesem  Wesenszug  der  Topographic  eurer  westlichen  zentralen  Welt 
—  diesem  ungeheuren  Etwas,  das  sich  nach  seinen  eigenen  unbe- 
grenzten  MaGen  unbeschrankt  ausstreckt  und  das  in  diesen  Prarien 
lebendig  ist  und,  schon  wie  Traume,  das  Reale  und  Ideale  mitein- 
ander  vereint. 

Ich  frage  mich,  ob  die  Menschen  dieses  kontinentalen  inneren 
Westens  wissen,  wieviel  Kunst  sie  in  diesen  Prarien  haben  —  wie 
urwiichsig  und  ganz  euer  eigen  —  wieviel  Einwirkung  auf  die  Bil- 
dung  eines  Charakters  fur  euer  zukiinftiges  Menschentum,  breit, 
itriotisch,  heroisch  und  neu?  wie  ganz  sie  zu  der  Grb'Ge  und 
)lzen  Monotonie  des  Himmels  und  zu  dem  Ozean  mit  seinen 
rassern  passen?  wie  befreiend,  beruhigend,  nahrend  sie  fiir  die 
;le  sind? 

i33 


Denn  sind  nicht  sie  es  eigentlich,  die  uns  unsere  fiihrenderi  mo- 
dernen  Amerikaner  gegeben  haben,  Lincoln  und  Grant?  —  Manner 
aus  dem  breiten  Durchschnitt,  im  Vordergrunde  ihres  Charakters 
ganz  praktisch  und  real,  aber  dennoch  (fur  diejenigen,  die  Augen 
haben  zu  sehen)  mit  den  feinsten  Untergriinden  eines  Ideals,  das 
sich  so  hoch  wie  nur  irgendeines  erhebt.  Und  sehen  wir  in  ihnen 
nicht  die  vorausgeworfenen  Schatten  der  zukiinftigen  Rassen,  die 
diese  Prarien  fiillen  werden? 

Nicht  als  ob  die  Yankee-  und  Atlantischen  Staaten  und  jeder 
andere  Teilstaat  —  Texas  und  die  Staaten  im  Siidosten  und  am 
Golf  von  Mexiko,  das  Reich  an  der  pazifischen  Kiiste,  die  Territorien 
und  Seen  im  kanadischen  Grenzstrich  (noch  ist  der  Tag  nicht,  an 
dem  ganz  Kanada  dazu  gehort,  aber  er  wird  kommen)  —  nicht,  als 
ob  sie  alle  nicht  ebenbiirtige,  ungeteilte  und  untrennbare  Glieder 
dieser  Nation  waren,  die  conditio  sine  qua  non  der  menschlichen, 
politischen  und  kommerziellen  Neuen  Welt.  Aber  dieses  bevorzugte 
zentrale  Flachland  von  rund  2000  Meilen  im  Geviert  scheint  vom 
Schicksal  bestimmt  zu  sein,  die  Heimat  von  dem  zu  werden,  was 
ich  Amerikas  charakteristische  Idealitat  und  charakteristische  Reali- 
tat  nennen  mo'chte. 


Ein  egoistischer  ,,Fund" 

,,Ich  habe  das  Gesetz  meiner  eigenen  Gedichte  gefunden",  war 
das  unausgesprochene,  aber  immer  entschiedenere  Gefiihl,  das  in 
mir  erwachte,  als  ich  Stunde  um  Stunde  durch  all  diese  grimme, 
doch  freudige,  elementare  Einsamkeit  fuhr  —  diese  Fulle  von  Stoff, 
diese  vollige  Abwesenheit  von  Kunst,  dieses  fessellose  Spiel  urwiich- 
siger  Natur  —  Spalt,  Schlucht  und  kristallener  Bergstrom  zahllose 
Male  wiederholt,  auf  hunderte  von  Meilen  bin  —  die  Breite  und 
absolute  Ungebundenheit,  mit  der  alles  gefugt  ist  —  die  phantastischen 
Formen,  gebadet  in  durchsichtigem  Braun,  zarten  Rots  und  Graus, 
manchmal  tausend,  manchmal  zwei-  oder  dreitausend  FuB  hoch 
emporragend  —  auf  ihren  Gipfeln  sind  zuweilen  riesige  Massen  ge- 
lagert,  in  die  Wolken  tauchend,  blofi  ihre  Umrisse  aus  dunstigem 
Lila  zu  erkennen.  —  (,,Inmitten  der  erhabensten  Bilder  der  Natur," 
sagt  ein  alter  hollandischer  geistlicher  Schriftsteller,  ,,inmitten  der 
Tiefen  des  Ozeans,  wenn  das  moglich  ware,  oder  unter  den  zahllosen 

,34 


rollemlen  Welten  droben  in  der  Nacht  denkt  der  Mensch  an  sie 
und  beurteilt  sie  nicht  abstrakt  an  sich,  sondern  immer  mil  Be- 
ziehung  auf  seine  eigene  Personlichkeit  und  darauf,  wie  sie  etwa 
auf  ihn  einwirken  oder  sein  Schicksal  bestimmen  konnten.") 

K  iinsllerischer  Gharakter  der   Landschaft 

Kedet  niir  noch  einmal  da  von,  nach  Europa  zu  gehen,  um  die 
Ruinen  feudaler  Burgen  oder  die  (Jberreste  des  Kolosseums  oder  die 
Sclilb'sser  von  Konigen  zu  besuchen,  wenn  ihr  bier  her  kommen 
konnt!  Auch  Abwechslung  gibt  es  bier;  nach  den  tausend  Meilen 
weiten  Prarien  von  Illinois  und  Kansas  —  sanftem,  ergiebigem  Flach- 
land  fur  Korn  und  Weizen  von  zebn  Millionen  demokratischer 
Farmen  der  Zukunft  —  tiirmen  sich  hier  in  alien  nur  denkbaren 
Formen  diese  gar  nicht  nutzbaren  Bergriesen  auf,  sich  in  den  Him- 
melsraum  wolbend,  Schonheit,  Schrecken,  Macht  ausstromend,  mehr 
als  Dante  oder  Angelo  jemals  ahnten.  Ja,  ich  meine,  der  Milchsaft 
einer  Dichtung,  Malerei,  Beredsamkeit,  ja  selbst  einer  Metaphysik 
und  einer  Musik,  die  fur  die  Neue  Welt  passen  soil,  muft  erst  aus 
dem  Anblick  dieser  Berge  seine  Jiraft  ziehen,  ehe  er  endgiiltig  stark 
genug  wird. 

Bergstrome 

Die  spirituelle  Belebtheit  und  Durchgeistigung  dieser  ganzen 
Region  besteht  fur  mich  groBenteils  in  ihren  eigenartigen  Stromen, 
denen  man  uberall  begegnet,  da  der  Schnee  der  unzuganglichen 
oberen  Gebiete  bestandig  schmilzt  und  durch  die  Schluchten  herab- 
fliefit.  Nicht  wie  die  Gewasser  landlicher  Ebenen  oder  Bache  mit 
bewaldeten  Ufern  und  Rasen  oder  dergleichen.  Die  Formen,  die 
das  Element  des  Wassers  auf  der  Erdkugel  annimmt,  konnen  erst 
dann  von  einem  Kiinstler  voll  verstanden  werden,  wenn  er  diese 
einzigartigen  Bergstrome  studiert  hat. 

Arherische  Eindriicke 

Aber  der  seltsamste  Eindruck,  wenn  ich  mich  umschaue,  liegt 
vielleicht  in  den  atmospharischen  Farbtonen.  Die  Prarien,  durch 
die  ich  auf  meiner  Reise  hierher  fuhr,  und  diese  Berge  und  Wai  der 

1 35 


scheinen  mir  neue  Lichter  und  Schatten  hervorzubringen.  tlberall 
diese  unnachahmliche  Luft  —  Abstufungen  und  Himmelstonungen; 
noch  nirgends  sab  ich  solche  durchsichtigen  Lilas  und  Graus.  Icb 
konnte  mir  einen  hervorragenden  Landscbaftsmaler  denken,  einen 
feinen  Koloristen,  der,  nachdem  er  eine  Zeitlang  bier  gezeichnet 
hatte,  seine  ganze  friihere  Arbeit  (das  Entziicken  der  iiblichen  Aus- 
stellungsbesucher)  als  schmutzig,  rob  und  gekiinstelt  verwerfen 
wiirde.  Dichtvor  unseren  Augendebntsicheine  unendliche  Mannig- 
faltigkeit  aus,  boch  droben  das  nackte  WeiBbraun,  iiber  der  Baum- 
grenze;  fern  an  mancben  Stellen  Schneeflecken  das  ganze  Jabr 
iiber  (keine  Baume,  keine  Blumen,  keine  Vb'gel  in  diesen  eisigen 
Hohen).  Wahrend  ich  schreibe,  sehe  ich  den  Snowy  Range  durch  den 
blauen  Duft,  herrlich  und  fern.  Ich  sehe  deutlich  seine  Schneefelder. 

Eine  Literatur  des  Mississippitales 

Herbst  1879. 

Als  ich  an  einem  Regentag  in  Missouri  lag  und  ausruhte,  nach- 
dem ich  lange  umhergelaufen  war,  um  mir  alles  anzuschauen,  ge- 
riet  ich  iiber  ein  dickes  Buch,  das  ich  da  fand,  „  Milton,  Young. 
Gray,  Beattie  and  Collins",  hatte  aber  bald  genug  davon,  erfreute 
mich  indessen,  wie  schon  so  oft,  eine  Weile  an  W.  Scotts  Dich- 
tungen  ,,Lay  of  the  last  Minstrel",  ,,Marmion"  usw.,  —  horte  dann 
auf,  legte  das  Buch  weg  und  beschaftigte  mich  mit  dem  Gedanken 
an  eine  Poesie,  die  im  Lauf  der  Zeit  der  fruchtbaren  Gegend,  in 
deren  Mitte  ich  mich  befand,  Ausdruck  und  Nahrung  geben  konnte. 
tlberall  in  den  Vereinigten  Staaten  braucht  es  nur  einen  Augen- 
blick  Uberlegung,  um  klar  zu  erkennen,  daB  all  die  popularen 
Buch-  und  Bibliothekdichter,  wie  sie  entweder  von  England  impor- 
tiert  werden  oder  hierzulande  ihre  Nachahmer  und  Doppelganger 
finden,  unseren  Staaten  fremd  sind,  soviel  sie  auch  von  uns  alien 
gelesen  werden.  Um  abervollig  zu  verstehen,  wie  absolut  im  Gegen- 
satz  zu  unserer  Zeit  und  unserem  Land,  und  wie  kleinlich  und 
beschrankt  sie  sind  und  welche  Anachronismen  und  Absurditaten 
sie  —  vom  amerikanischen  Standpunkt  aus  —  vielfach  enthalten, 
muB  man  eine  Zeitlang  in  Missouri,  Kansas  und  Colorado  wohnen 
oder  reisen  und  mit  Land  und  Volk  dieser  Staaten  in  Fiihlung 
kommen. 

1 36 


Wird  je  der  Tag  kommen  —  gleichgiiltig  vvie  spat  — ,  da  diese 
Modelle  und  Gliederpuppen  von  den  britischen  Inseln,  ja  auch  die 
kostbaren  Traditionen  der  Klassiker,  nur  Reminiszenzen,  Studien- 
objekte  sein  vverden?  Der  reine  Atem,  die  Urspriinglichkeit,  die 
grenzenlose  Fruchtbarkeit  und  Weite,  die  seltsame  Mischung  von 
Zartheit  und  Kraft  und  MaBigung,  von  Realem  und  Idealem,  von 
all  den  eigentiimlichen  und  tiichtigen  Elementen  in  diesen  Prarien, 
den  Rocky  Mountains,  dem  Mississippi  und  Missouri  —  wird  das 
alles  je  in  unserer  Poesie  und  Kunst  Gestalt  erlangen  und  irgend- 
wie  zum  MaBstab  werden? 

Vor  kurzem  war  ich  auf  einem  Dampfer  im  New  Y'orker  Hafen, 
sab  den  Sonnenuntergang  iiber  den  dunkelgrunen  Hiigeln  von 
Navesink  und  betracbtete  den  unvergleichlichen  Kranz  von  Kiiste, 
Hafen  und  Meer  um  Sandy  Hook.  Aber  kaum  eine  oder  zwei 
Wochen,  und  mein  Blick  fallt  auf  die  dunklen  Gipfelkonturen  der 
„ Spanish  Peaks".  In  dem  mehr  als  2000  Meilen  weiten  Zwischen- 
rauin  findet  trotz  einer  unendlichen  und  widerspruchsvollen  Mannig- 
faltigkeit  zweifellos  eine  merkwiirdige,  vollige  Verschmelzung  statt, 
in  der  nacb  und  nach  alles  ausgegliiht,  verdicbtet  und  vereinheit- 
licht  wird.  Aber  eindringlicber,  umfassender  und  dauerbafter  als 
durch  die  Gesetzgebung  der  Einzelstaaten  oder  den  gemeinsamen 
Boden  des  Kongresses  und  des  hochsten  Gerichtshofe  oder  durcb 
die  grausame  SchweiBung  unserer  Nationalkriege  oder  durcb  die 
Stablbande  unserer  Eisenbabnen  oder  durch  alle  Verkittungs-  und 
Scbmelzprozesse  unserer  materiellen  und  kommerziellen  Gescbichte 
in  Vergangenheit  und  Gegenwart  wiirde  meines  Eracbtens  eine 
solche  Verdichtung  durch  eine  groBe,  pulsierende,  lebenskraftige 
Dichtung  oder  eine  Reihe  von  Dichtungen  oder  eine  ganze  Literatur 
erzielt  werden.  Die  Ebenen,  die  Prarien  und  der  Mississippistrom 
mit  der  ganzen  Weite  seines  vielgestaltigen  Tales  miiBten  den  kon- 
kreten  Hintergrund  dieser  Literatur  bilden.  Und  Amerikas  Bevol- 
kerung,  Leidenscbaften^  Kampfe,  Hoffnungen  —  wie  sie  sind  — 
miiBten  die  lodernde  Flamme,  das  Ideal  dazu  sein. 

Amerikas   GroBe 

Die  Oberlegenbeit  und  Lebenskraft  unseres  Amerika  liegt  in 
der  Masse  des  Volkes,  nicht  in  einer  Aristokratie,  wie  in  der  alien 

•  37 


Welt.  Die  GroBe  unseres  Heeres  wahrend  des  Biirgerkrieges  lag 
in  der  Linie;  und  so  ist  es  auch  bei  der  Nation.  Andere  Lander 
ziehen  ihre  Lebenskraft  aus  Wenigen,  aus  einer  Klasse,  wir  aber 
aus  der  Gesamtheit  des  Volkes.  Unsere  Fiihrer  sind  nicht  gerade 
bedeutend  und  sind  es  nie  gewesen;  aber  der  Durchschnitt  des 
Volkes  ist  gewaltiger  als  alles  in  der  bisherigen  Gescbicbte.  Icb 
denke  manchmal,  daB  sich  unsere  Uberlegenheit  auf  alien  Gebieten, 
einschliefilich  Literatur  und  Kunst,  in  dieser  Weise  zeigen  wird: 
Wir  werden  keine  groBen  Individuen  haben,  aber  ein  groBes,  un- 
vergleichlich  groBes  Durchschnittsvolk. 

Die  Frauen  des  Westens 

Kansas  City. 

Von  dem,  was  icb  von  den  Frauen  der  Prariestadte  zu  sehen 
bekomme,  bin  icb  nicbt  so  befriedigt.  Icb  schreibe  dies,  wahrend 
icb  gemiitlich  in  einem  Laden  an  der  HauptstraBe  von  Kansas 
sitze  und  ein  Menschenstrom  auf  den  Trottoirs  an  mir  voriiber- 
flutet.  Die  Damen  (ebenso  wie  in  Denver)  sind  alle  elegant  ge- 
kleidet  und  erscheinen  vornehm  an  Gesicbt,  Benehmen  und  Tun, 
aber  sie  haben  weder  in  Gestalt  noch  Geistigkeit  eine  irgendwie 
in  ibrer  Art  hohe  angeborene  Eigenart  (wie  die  Manner  sie  zweifel- 
los  in  ihrer  Art  haben).  Sie  sehen  ,,intellektuellw  und  elegant,  aber 
dyspeptisch  und  im  groBen  Ganzen  puppenhaft  aus.  Sie  haben  offen- 
bar  den  Ehrgeiz,  ihre  Sch western  im  Osten  zu  kopieren.  Etwas 
ganz  anderes  und  Hoheres  muB  kommen,  um  mit  der  herrlichen 
Mannlichkeit  des  Westens  zu  wetteifern,  sie  zu  erganzen,  zu  er- 
halten  und  fortzupflanzen. 

Das  Boston  von   heute 

In  den  interessanten  aber  fragwiirdigen  Briefen  Dr.  Schliemanns 
iiber  seine  Ausgrabungen  aus  der  alten  homerischen  Zeit  lese  ich, 
daB  die  Stadte,  Ruinen  usw. ,  die  er  aus  ihren  Grabern  schaufelt, 
zweifellos  in  Schichten  gelagert  sind,  -  -  das  heifit,  daB  auf  den 
Fundamenten  eines  alten,  sehr  tief  gelegenen  Komplexes  immer 
eine  zweite  Stadt  oder  ein  zweiter  Ruinenkomplex  und  iiber  diesem 
wieder  ein  anderer  ruht  —  und  zuweilen  noch  ein  anderer  dariiber 

i38 


-  cleren  jeder  das  Ergebnis  einer  langen  oder  auch   rapiden  Ent- 
wicklung  darstellt,  die  von  der  vorigen  verschieden  ist,   aber  un- 
/weifelhaft  aus  ihr  hervorgewacbsen  ist  und  auf  ihr  ruht.   In  der 
moralischen,  gefuhlsmaGigen,  heroisch-menschlichen  Entwicklung 
(die  nach  meiner  Meinung   das  Wesentliche  einer  Basse  ist)  hat 
etwas  Ahnliches  sicherlich  in  Boston  stattgefunden.  Wie  die  Metro- 
pole  Neu-Englands  heute  ist,  kann  man  sie  als  sonnig  beschreiben, 
als  heiter,  aufnahmefahig,  voll  Glut  und  Glanz,  mit  einem  gewissen 
Element  von  Sehnsucht,   von  groGartiger  Toleranz,  mit  der  sich 
aber  nicht  spafien  laGt.  Man  liebt  bier  gut  zu  essen  und  zu  trinken 

-  die  auGere  Erscheinung  so  kostbar,  als  es  die  Mittel  erlauben. 
An  Hausern,  StraGen,  Menschen  ist  in  ihrem  besten  Durchscbnitt 
jenes  feine  Etwas   (gewohnlich  dem  Klima   zugeschrieben ;  es  ist 
aber  nicht  das  —  es  ist  etwas  Undefinierbares  in  der  Basse,  im 
Verlauf  ihrer  Entwicklung),  das  hinter  all  dem  Trubel  von  Tatig- 
keit,  Studium,  Geschaft  einen  gliicklichen  und  frohen,  im  Gegen- 
satz  zu  einem  schwerfalligen  und  finsteren  Gemeingeist  ausstromt. 
Es  erinnert  mich  an  die  Leuchtkraft,  die  von  den  altgriechischen 
Stadten  zu  uns  kommt.   In  der  Tat  ist  sehr  viel  Hellenisches  in 
Boston,   und   die  Menschen   werden  auch  stattlicher,   voller,   mit 
freieren  Bewegungen   und  Farbe  im  Gesicht.   Ich  habe  nirgends 
(dies  ist  nun  zwar  nicht  griechisch)  so  viele  scheme  grauhaarige 
Frauen  gesehen.   Wahrend   meines  Vortrages   ertappte   ich   mich 
mehr  als  einmal  dabei,  daG  ich  eine  Pause  machte,  um  sie  mir  an- 
zusehen.  Es  waren  viele  unter  den  Zuhorern,  —  gesund,  frauenhaft 
und  miitterlich,  wunderbar  anmutig  und  schon  —  so,  wie  sie,  glaube 
ich,  keine  Zeit  und  kein  Land  auOer  dem  unsrigen  aufzuweisen  hat. 

Millets  Gemalde 

1 8.  April. 

Besuchte  das  Haus  von  Quincy  Shaw,  drei  oder  vier  Meilen  weit, 
um  eine  Sammlung  von  J.  F.  Millets  Gemalden  zu  sehen.  Zwei 
Stunden  der  Entziickung.  Noch  nie  war  ich  so  iiberwaltigt  von 
solcher  Ausdrucksform.  Ich  stand  lange,  lange  vor  dem  ,,Saemann". 
Ich  glaube  die  Kunsthandler  nennen  das  Bild  den  MErsten  Sae- 
mann",  da  der  Kiinstler  noch  eine  oder  zwei  Kopien  da  von  machte 
und,  wie  manche  meinen,  sich  in  jeder  wieder  vervollkommnete. 

189 


Ich  bezweifle  es  aber.  Es  ist  etwas  darin,  das  kaum  \vieder  zu  er- 
reichen  sein  diirfte,  eine  erhabene  Dusterkeit  und  urwiichsige  ge- 
bundene  Wildheit.  Aufier  diesem  Meisterstiick  waren  noch  viele 
andere  da  (ich  werde  die  einfache  Abendszene,  ,,Tranken  der  Kuh", 
nie  vergessen),  alle  unvergleichlich,  alle  vollkommen  als  Bilder,  als 
Kunstwerke  an  sich;  und  dann  glaubte  ich  jenen  undefinierbaren 
etbischen  Endzweck  des  Kiinstlers  (ihm  selbst  wahrscbeinlicb  un- 
bewuBt)  darin  zu  entdecken,  wonacb  ich  immer  suche.  Mir  er- 
zahlten  sie  alle  die  ganze  Vorgeschichte  und  die  Ursache  der  groBen 
franzosischen  Revolution,  das  vorherige  lange  An-die-Erde-Driicken 
der  Massen  eines  heroischen  Volkes  zu  elendem  Hungern  und  Darben 

—  die  Vorenthaltung  aller  Rechte,  den  Versuch,  die  Menschheit 
um  Generationen  zuriickzuhalten   —  und   doch  die   Naturgewalt, 
titanisch,  nur  um  so  starker  und  zaher  durch  solche  Unterdriickung 

—  furchtbar  lauernd,  um  hervorzubrechen,  rachebriilend  —  der 
Druck  gegen  die  Damme,   das  endliche  Bersten,   die  Erstiirmung 
der  Bastille  —  die  Hinrichtung  des  Konigs  und  der  Konigin  —  der 
Wettersturm  von  Mord  und  Blut.   Doch  wer  wird  sich  wundern? 

wKbnnten  wir  die  Menschheit  anders  wiinschen? 
Wollen  wir  ein  Volk  von  Holz  und  Stein? 
Keine  Gerechtigkeit  in  Schicksal  und  Zeit?" 

Das  echte  Frankreich,  sein  Grundelement,  lebt  sicherlich  in  diesen 
Bildern  .  .  .  Abgesehen  von  allem  anderen  werde  ich  meines  kurzen 
Aufenthalts  in  Boston  immer  gedenken,  weil  er  mir  die  Neue  Welt 
von  Millets  Bildern  eroffnete.  Wird  Amerika  je  einen  solchen  Kiinst- 
ler  haben,  der  aus  des  Landes  eigenstem  Lebenskern,  aus  seinem 
Korper  und  seiner  Seele  hervorginge? 

Vogel  —  und  eine  Warnung 

i4.  Mai  1881. 

Wieder  daheim;  auf  eine  Weile  unten  in  den  Waldern  von  Jersey. 
Zwischen  acht  und  neun  Uhr  vormittags  ein  ganzes  Vogelkonzert, 
von  alien  Seiten  her,  zusammenklingend  mit  dem  frischen  Duft, 
dem  Frieden,  der  Naturlichkeit  rings  um  mich  her.  Seit  kurzem 
sehe  ich  die  Rotdrossel,  von  der  GroBe  des  Rotkehlchens*,  oder  ein 

*  Das  amerikanische  Rotkehlchen  ist  etwa  dreimal  so  groG  wie  das  unsrige. 
(Anmerkung  des  t)bersetzers.) 

140 


bifichen  kleiner,  Brust  und  Schultern  hell,  mil  unregelmafiigen 
dunklen  Streifen,  langem  Schwanz,  —  sie  kauert  zur  Zeit  stunden- 
lang  oben  auf  einem  hoben  Busch  oder  einem  Baurn,  lustig  singend. 
Icb  gehe  oft  nabe  zu  ibr  bin  und  bore  ihr  zu,  da  sie  nicbt  scheu 
zu  sein  scheint.  Ich  liebe  es,  zuzusehen,  wie  ihr  Schnabel  und  ihre 
Keble  arbeitet,  wie  der  Korper  sich  seitwarts  bin  und  her  bewegt 
und  der  lange  Schwanz  wippt.  —  Icb  bore  den  Specht;  bei  Nacht 
und  am  friihen  Morgen  das  Weben  des  Ziegenmelkers  —  mittags 
das  kostlicbe  Gurgeln  der  Drossel  und  das  Mio-o-o  des  Katzenvogels. 
Viele  kann  ich  nicht  mit  Namen  nennen;  ich  erkundige  mich  aber 
aucb  nicht  besonders  danach.  Man  darf  nicht  zu  viel  wissen  oder 
zu  genau  und  wissenschaftlich  sein  bei  Vogeln  und  Baumen  und 
Blumen  und  Gewassern;  eine  gewisse  Freiheit,  ja  sogar  Unbestimmt- 
heit,  vielleicht  Unwissenheit,  Glaubigkeit  erhoht  die  Freude  an 
diesen  Dingen  .und  an  dern  Gefiibl  fur  Vogel,  Wald,  FluB  und  See 
iiberhaupt.  Ich  wiederhole  es  —  man  soil  nicht  alles  zu  genau 
wissen  wollen  oder  die  Griinde,  warum.  Meine  eigenen  Aufzeich- 
nungen  sind  aus  dem  Stegreif  hingescbrieben  unter  der  Breite  von 
Mittel-New  Jersey.  Wenn  sie  auch  bescbreiben,  was  ich  sab,  was 
mir  vor  Augen  kam,  so  diirfte  doch  der  gelernte  Ornuhologe,  Bota- 
niker  oder  Entomologe  mebr  als  einen  Scbnitzer  darin  entdecken. 


Boston  Common*  —  Emerson 

10.  bis  1 3.  Oktober. 

An  diesen  schonen  Tagen  und  Nachten  verbringe  ich  ein  gut 
Teil  meiner  Zeit  im  Stadtpark  —  jeden  Mittag  von  halb  zwolf  bis 
gegen  eins  —  und  fast  an  jedem  Abend  bei  Sonnenuntergang  noch 
eine  Stunde.  Ich  kenne  all  die  grofien  Baume,  besonders  die  alten 
Ulmen  an  der  Tremont-  und  Beacon- StraBe,  und  habe  mit  den 
meisten  eine  schweigend-vertraute  Freundschaft  geschlossen,  wah- 
rend  ich  so  in  der  durchsonnten,  aber  ziemlich  kiihlen  Luft  auf 
den  weiten  ungepflasterten  Wegen  umhergehe. 

In  dieser  Gegend  an  der  Beacon-Strafie,  zwiscben  denselben  alten 
Ulmen,  ging  ich  vor  einundzwanzig  Jahren  an  einem  klaren,  kalteu 
Februarmittag  mit  Emerson  zwei  Stunden  lang  auf  und  ab.  Er 


*  Der  Stadtpark  in  Boston.     (Anmerkung  des  Ubersetzer*.) 


141 


war  clamals  im  besten  Alter,  scharf,  physisch  urid  moralisch  magne- 
tisch,  gegen  alles  gewaffnet  urid  liefi,  wenn  er  wollte,  das  Seelische 
ebenso  wirkungsvoll  wie  das  Intellektuelle  spielen.  Wahrend  jener 
zwei  Stunden  war  er  der  Sprecher  und  ich  der  Zuhorer.  Es  war 
eine  Beweisfiihrung,  ein  Auskundschaften,  Besichtigen,  Angreifen, 
Bedrangen  (ein  Armeekorps  in  Schlachtordnung,  Artillerie,  Ka- 
vallerie,  Infanterie)  von  allem,  was  gegen  jenen  Teil  (einen  Haupt- 
teil)  in  der  Komposition  meiner  Gedichte,  die  „ Kinder  Adams", 
vorgebracht  werden  konnte.  Fur  micb  kostbarer  als  Gold,  diese 
Abhandlung,  —  sie  gab  mir  fur  alle  Zukunft  die  seltsame  und 
widerspruchsvolle  Lehre:  jeder  einzelne  Punkt  von  Emersons  Be- 
weisfiihrung war  unwiderleglich ;  keines  Richters  Anklagerede  je 
vollstandiger  und  iiberzeugender;  ich  konnte  die  Beweise  nie  besser 
formulieren  horen  —  und  dann  fiihlte  ich  auf  dem  Grund  meiner 
Seele  die  klare  und  unverkennbare  Uberzeugung,  dafi  ich  allem 
trotzen  und  meinen  eigenen  Weg  gehen  musse.  ,,Was  haben  Sie 
nun  auf  das  alles  zu  sagen?"  sagte  Emerson,  als  er  schlieClich  inne- 
hielt.  ,,Nur,  dafi  ich  zwar  nichts  dagegen  erwidern  kann,  aber  mich 
doch  entschlossener  fiihle  als  je,  an  meiner  eigenen  Theorie  fest- 
zuhalten  und  sie  zu  betatigen",  war  meine  freimutige  Antwort. 
Worauf  wir  weggingen  und  ein  gutes  Mittagessen  im  „  American 
House"  einnahmen.  Und  von  da  an  schwankte  oder  zweifelte  ich 
nie  mehr  (wie  es,  offen  gestanden,  vorher  zwei-  oder  dreimal  der 
Fall  gewesen  war). 

Nur  ein  neues  Fahrboot 

12.  Januar. 

Ein  solcher  Anblick,  wie  ihn  der  Delaware  gestern  abend  eine 
Stunde  vor  Sonnenuntergang  hot,  auf  der  ganzen  Strecke  zwischen 
Philadelphia  und  Camden,  ist  der  Aufzeichnung  wert.  Es  war 
Flutzeit,  eine  gute  Brise  von  Siidwest,  das  Wasser  blaB,  lohfarben 
und  gerade  genug  bewegt,  um  alles  frisch  und  frohlich  zu  beleben; 
ein  beginnender  Sonnenuntergang  von  ungewohnlichem  Glanz,  ein 
breites  Wolkengewiihl  ganz  in  goldenem  Dunst,  aus  dem  blendende 
Lichtstrahlen  hervorschossen.  Mitten  in  alledem,  in  dem  klaren 
Graugelb  des  Abendlichtes,  dampfte  das  grofie  neue  Boot  den 
Flufi  herauf,  die  ,,Wenonah",  so  schon,  wie  man  sich  nur  etwas 

142 


vorslelleii  kann;  leichl  undschnell  dahcrschuumend,  ganz blank  uml 
vveifi,  voll  leuchtend  roter  und  blauer  Flaggen,  die  in  der  Brise 
flatterten.  Nur  ein  neues  Fahrboot,  und  doch  in  seiner  Zvveck- 
mafiigkeit  dem  Schonsten,  was  die  Geschicklichkeit  der  Natur 
hervorbringt,  vergleichbar  und  ebenbiirtig.  Hoch  oben  im  unsicht- 
baren  Ather  wiegten  sich  und  kreisten  vier  oder  fiinf  groOe  See- 
falken  anmutig,  vvahrend  hier  unten,  inmitten  der  malerischeu 
Pracht  von  Himmel  und  FluB,  diese  Schopfung  technischer  Scbon- 
heit,  Bewegung  und  Kraft  schvvamm,  in  ihrer  Art  nicht  weniger 
vollkommen. 


Nach  dem   Versuch,  ein  gewisses  Buch  zu  lesen 

Ich  babe  versucbt,  ein  prachtvoll  gedrucktes  und  gelebrtes  Bucb 
iiber  die  ,,Theorie  der  Dichtkunst"  zu  lesen,  das  icb  heute  friih 
von  England  zugeschickt  bekam,  —  babe  es  aber  scblieBlicb  als 
verlorene  Miibe  aufgegeben.  Hier  ein  paar  willkurliche  Notizen, 
die  sich  daraus  ergaben,  die  ich  daraufhin  niederschrieb,  wie  ich 
sie  eben  in  meinen  Papieren  finde: 

In  der  Jugend  und  im  Mannesalter  sind  alle  Gedicbte  angefiillt 
mit  Sonnenscbein  und  mit  dem  wecbselreichen  Prunk  des  Tages. 
Wie  aber  das  Seelische  mebr  und  mehr  die  Oberhand  gewinnt  (das 
Sinnlicbe  immer  nocb  dabei),  wird  die  Dammerung  die  Atmosphare 
des  Dichters.  Aucb  ich  babe  die  strahlende  Sonne  gesucht  und 
suche  sie  noch  immer  und  mache  meine  Gedichte  entsprechend. 
Aber  jetzt,  da  ich  alt  werde,  bedeuten  die  Halblichter  des  Abends 
viel  mehr  fiir  mich. 

Das  Spiel  der  Einbildungskraft  mit  den  sinnlichen  Gegenstanden 
der  Natur  als  Symbolen  —  mit  Glauben,  Liebe  und  Stolz  als  dem 
unsichtbaren  Antrieb,  den  Bewegkraften  von  allem  — ,  daraus  setzt 
sich  das  seltsame  Schachspiel  eines  Gedichts  zusammen. 

Die  gewohnlichen  Lehrer  oder  Kritiker  fragen  immer  f  ,,Was 
bedeutet  es?"  Eine  schone  Musiksymphonie  oder  ein  Sonnenunter- 
gang  oder  Meerwogen,  die  sich  auf  den  Strand  walzen  —  was  be- 
deuten sie?  GewiB,  im  innerlichst-unfaCbaren  Sinn  bedeuten  sie 
etwas  —  wie  Liebe  und  Religion  und  das  beste  Gedicht  auch;  aber 

•  43 


wer  kanri  diese  Bedeutung  ergriinden  und  definieren?  Dies  soil 
kein  Freibrief  sein  fiir  Willkiir  und  verriickte  Eskapaden  —  es  soil 
riur  die  Tatsache  rechtfertigen,  daB  die  Seele  sich  haufig  iiber 
etwas  freut,  was  fiir  Vernunft  und  Uberlegung  unerklarlich  bleibt. 

Im  besten  Fall  ist  eine  Lebre  der  Poetik  so  viel,  als  von  einer 
Unterhaltung  ferner  oder  verborgener  Sprecher  im  Dunkeln  zu 
horen  ist,  von  der  wir  nur  ein  abgebrochenes  Gemurmel  ver- 
nehinen  konnen.  Was  nicht  zu  uns  dringt,  ist  weit  rnebr,  vielleicbt 
die  Hauptsache. 

Erbabenste  Stellen  von  Dichtungen  sind  nur  in  freiem  Abstand 
zu  genieBen,  wie  wir  manchmal  bei  Nacht  nach  Sternen  schauen, 
nicbt  indem  wir  direkt  auf  sie  blicken,  sondern  etwas  zur  Seite. 

(Einem  poetischen  Schiller- und  Freund.)  —  Icb  versuche  nur, 
dicb  in  Beziebung  zur  Dicbtkunst  zu  bringen.  Dein  eigenes  Hirn, 
Herz  und  deine  eigene  Fortentwicklung  muB  die  Sacbe  nicht  nur 
verstehen,  sondern  selbst  reichlich  dazu  beitrageu. 

Ich  habe  mir  Meer,  Tageslicht,  Berg  und  Wald  vorgestellt,  daB 
ihr  Wesen  Richter  sei  iiber  unsere  Literatur.  Ich  habe  mir  eine 
entkorperte  Menschenseele  vorgestellt,  daB  sie  ihr  Urteil  dariiber 
spreche. 

Edgar  Poes  Bedeutung 

i.  Januar  1880. 

Wenn  ich  die  Krankheit  diagnostiziere,  die  ,,Menschheit"  ge- 
nannt  ist  —  (um  einmal  aus  der  Geistesverfassung  heraus  zu 
sprechen,  die  die  beherrschende  in  der  Personlichkeit  und  den 
Schriften  des  Mannes  zu  sein  scheint,  von  dem  ich  rede)  —  so  will 
es  mir  scheinen,  daB  die  Dichter  irgendwie  ihre  ausgepragtesten 
Symptome  sind.  Wenn  wir  die  Kiinstler  —  Musiker,  Maler,  Schau- 
spieler  usw.  als  ein  Ganzes  nehmen  und  sie  allesamt  als  Aus- 
strahlnngen  oder  Speichen  dieses  wild  wirbelnden  Rades  betracb- 
ten  und  die  Dichtung  als  Mittelpunkt  und  Achse  des  Ganzen,  — 
wo  in  der  Tat  konnten  wir  besser  als  hier  die  Urbeweggriinde, 
Triebkrafte  und  Merkmale  unserer  Zeit,  den  Krankheitsfall  unserer 
Epoche  studieren? 

i44 


Kach  einstimmigein  Urteil  gibt  es  nichts  Besseres  fiir  einen 
Mann  oder  ein  Weib,  als  ein  vollkommenes,  edles  Leben,  moralisch 
fleckenlos,  mit  einem  gliicklichen  GleichmaB  von  Tatigkeit,  phy- 
sisch  gesund  und  rein,  ein  Leben,  das  auch  dem  sympathischen, 
inenschlich-gefuhlsmaBigen  Element  sein  Recht  und  nicht  mehr 
als  sein  Recht  gewahrt,  —  ein  Leben  bei  alledem,  das  weder  hastet 
noch  ruht  noch  ermiidet  bis  ans  Ende.  Und  dennoch  gibt  es  noch 
eine  andere  Form  von  Personlichkeit,  die  dem  kiinstlerischen  Sinn 
weit  lieber  ist  (da  er  das  Spiel  der  starksten  Lichter  und  Scbatten 
liebt),  —  die  den  hochstvollkommenen  Charakter,  das  Gute,  Hero- 
ische,  zwar  niemals  erreicht,  aber  dennoch  nie  aus  dem  Auge  ver- 
liert,  sondern  durch  Fehlschlage,  Sorgen,  zeitweiligen  Zusammen- 
bruch  hindurch  immer  wieder  zu  ihm  zuriickkehrt  und  —  mag  sie 
auch  oft  dagegen  siindigen  —  leidenschaftlich  danach  ringt,  solange 
Geist,  Muskeln  und  Stimme  der  Kraft  gehorchen,  die  wir  Willen 
nennen.  Diese  Art  von  Personlichkeiten  sehen  wir  mehr  oder 
weniger  in  Burns,  Byron,  Schiller  und  George  Sand.  Aber  nicht 
in  Edgar  Poe.  Dagegen  liegt  der  Dienst,  den  Poe  dem  zuerst  be- 
zeichneten  Charakter  erweist,  sicherlich  darin,  daB  er  einen  abso- 
luten  Kontrast  und  Widerspruch  dazu  schafft,  was  beinahe  ebenso 
wertvoll  ist,  als  wenn  er  ein  vollkommenes  Beispiel  da  von  dar- 
stellen  wiirde. 

Beinahe  ohne  jede  Spur  von  einem  moralischen  Prinzip  oder  von 
dem  Realen  und  seiner  Grofie  oder  von  den  einfacheren  Herzens- 
regungen,  weisen  die  Gedichte  Poes  ein  intensives  Talent  fiir  tech- 
nische  und  abstrakte  Schonheit  auf,  mit  einer  bis  zum  tlbermafi 
getriebenen  Reimkunst,  einer  unverbesserlichen  Vorliebe  fiir  Nacht- 
motive,  einem  damonischen  Unterton  hinter  jeder  Seite,  —  und  das 
Endurteil  iiber  sie  wird  wahrscheinlich  sein,  daB  sie  zu  den  elek- 
trischen  Lichtern  der  phantastischen  Literatur  gehoren,  glanzend 
und  blendend,  aber  ohne  Warme  .  .  . 

Lange  Zeit  und  bis  vor  kurzem  fand  ich  keinen  Geschmack  an 
Poes  Schriften.  Ich  wollte  und  will  noch,  daB  in  der  Dicbtung  die 
klare  Sonne  scheint  und  frische  Luft  weht  —  daB  Kraft  und  Ge- 
sundheit  auch  in  den  stiirmischsten  Leidenschaften  waltet,  nicht 
Delirium  —  und  daB  die  ewigen  Sittengesetze  hinter  allem  stehen. 
Obwohl  Poes  Genius  diese  Forderungen  nicht  erfiillt,  so  hat  er  es 
doch  zu  einer  Anerkennung  seiner  Eigenart  gebracht,  und  auch 

i«   wi.ii,,,,,,  i  1 45 


ich  bin   dahin   gelangt,  diese  Anerkennung  zu  billigen  und  seinen 
Wert  zu  schatzen. 

In  einem  Traum,  den  ich  einmal  hatte,  sah  ich  ein  Schiff  auf 
See  im  Sturm  um  Mitternacht.  Es  war  kein  grofies,  vollgetakeltes 
Schiff  noch  stolzer  Dampfer,  der  sicher  durch  das  Geheul  steuerte, 
sondern  es  schien  eine  jener  wundervollen  kleinen  Schonerjachten 
zu  sein,  die  ich  oft  so  munter  hiipfend  im  Hafen  von  New  York 
oder  im  Long  Island-Sund  hatte  vor  Anker  liegen  sehen,  —  und 
die  jetzt  steuerlos,  mit  zerfetzten  Segeln  und  geknickten  Spieren 
durch  die  wilden  SchloBen  und  Winde  und  Wellen  der  Nacht 
dahinflog.  An  Deck  stand  eine  schlanke,  zarte,  schb'ne  Gestalt,  ein 
dunkler  Mann,  der  offenbar  all  das  Grausen,  die  Finsternis  und 
Zerstorung  mit  Lust  genoB,  deren  Mittelpunkt  und  Opfer  er  war. 
Diese  Gestalt  meines  diisteren  Traumes  mag  ein  Bild  Edgar  Poes 
sein,  seines  Geistes,  seines  Geschicks  und  seiner  Dichtungen,  die 
selber  allesamt  diistere  Traume  sind. 

Ein  Wink  der  wilden  Natur 

1 3.  Februar. 

A  Is  ich  heute  iiber  den  Delaware  fuhr,  sah  ich  einen  grofien 
Flug  wilder  Ganse,  gerade  iiber  mir,  nicht  sehr  hoch,  in  V-Form 
geordnet,  sich  abhebend  gegen  die  hell  rauchfarbenen  Mittags- 
wolken.  Ich  sah  sie  ganz  deutlich,  obwohl  nur  einen  Augenblick,  und 
wie  sie  dann  weiterflogen  nach  Siidosten,  bis  sie  allmahlich  ver- 
schwanden.  —  Seltsame  Gedanken  losten  sich  in  mir  in  diesen 
kaum  zwei  oder  drei  Minuten,  als  ich  diese  Geschopfe  durch  den 
Himmel  ziehen  sah  —  durch  das  weite,  luftige  Reich  —  uberall 
nur  dieses  Rauchgrau  ohne  Sonne  —  das  Wasser  unten  —  der 
rapide  Flug  der  Vogel,  just  fur  einen  Augenblick  auftauchend  - 
mir  einen  Wink  zublitzend  von  der  ganzen  Weite  der  Natur  mit 
ihrer  ewigen,  unverfalschten  Frische,  ihren  nie  von  Menschen 
besuchten  Bereichen  von  See,  Himmel  und  Kiiste  —  und  dann 
verschwindend  in  der  Feme. 

Garlyle  von  amerikanischen  Gesichtspunkten  aus  beurteilt 

Es  besteht  gegenwartig  sicher  eine  unerklarliche  Wechsel- 
beziehung  —  ob  sie  nun  andauert  oder  nicht,  ist  gleichgiiltig  - 

146 


zwischen  diesem  verstorbenen  Autor  und  unsern  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika.  In  dem  Mafie,  \vie  wir  Westler  endgiiltige  Gestalt 
annehmen  und  bisher  unbekannte  Formen  und  Ergebnisse  erzielen, 
1st  es  interessant,  zu  beobachten,  mil  welch  neuen  Sinnen  wir  auf 
representative  Personlichkeiten  und  Ereignisse  blicken,  die  aus  der 
Alten  Welt  erwachsen  sind.  Ohne  Frage  ist  seit  Carlyles  Tode 
nicht  nur  das  Interesse  an  seinen  Biicbern,  sondern  an  jeder  per- 
sonlichen  Einzelheit,  die  den  beriihmten  Schotten  betrifft,  heute  in 
unserem  Lande  lebhafter  und  allgemeiner  als  in  seiner  eigenen 
Heimat.  Ob  es  mir  nun  gelingt  oder  nicht,  —  auch  ich  mochte  iiber 
den  Ozean  reichen,  die  dunkeln  Wahrsagungen  des  Mannes  iiber 
Menschheit  und  Politik  priifen  und  alles  (das  ist  die  Idee,  die  mir 
kommt)  widerlegen  durch  einen,  der  diesen  Fragen  viel  griindlicher 
das  Horoskop  gestellt  hat  —  G.  F.  Hegel.* 

.  .  .  Es  war  das  grausame  Schicksal  Carlyles,  das  Kreifien  und 
die  Wehen  einer  alien  Ordnung  mitzuerleben  und  in  hohem  Mafie 
selbst  zu  verkorpern,  die  inmitten  einer  erstickenden  Fiille  von 
Morbiditat  eine  neue  Ordnung  gebar  .  .  .  Aber  man  stelle  sich  vor, 
dafi  er,  oder  seine  Eltern  vor  ihm,  nach  Amerika  gekommen,  durch 
die  aufmunternden  Wirklichkeiten  und  die  Tatkraft  unseres  Lan- 
des  und  Volkes  erfrischt  worden  ware,  —  dafi  er  unter  uns,  beson- 
ders  im  Westen,  aufgewachsen  ware  und  Auge  in  Auge  mit  dem 
Leben  gerungen  hatte,  —  dafi  er  die  unbegrenzte  Luft,  die  schran- 
kenlosen  Moglichkeiten  bei  uns  ein-  und  ausgeatmet  hatte,  geistig 
hingegeben  an  die  Theorien  und  Entwicklungen  unserer  Republik, 
inmitten  praktischer  Tatsachen,  wie  sie  einem  in  Kansas,  Missouri, 
Illinois,  Tennessee  oder  Louisiana  entgegentreten.  Ich  sage  Tat- 
sachen, Dinge,  denen  man  Auge  in  Auge  gegenubersteht,  so  ver- 
schieden  von  Biichern  und  von  all  den  Bagatellen  und  blofien 
Berichten  in  den  Bibliotheken,  von  denen  der  Mann  beinahe  ganz 


*  Besonders  erwahnenswert  ist  hierbei  (vielleicht  ein  Fall  jenes  Humors,  womit 
Geschichte  und  Vorsehung  ihren  Ernst  zu  kontrastieren  pflegen),  dafi,  obwohl 
keine  meiner  groflen  Autoritaten  zu  ihren  Lebzeiten  die  Vereinigten  Staaten  ernst- 
licher  Erwahnung  wiirdigte,  alle  Hauptwerke  beider  heute  mit  Fug  und  Recht 
gesammelt  und  unter  dem  fettgedruckten  Titel  zusammengebunden  werden  kbnn- 
ten:  BSpekulationen  fiir  den  Gebrauch  Nordamerikas  und  der  dortigen  Demokratie 
in  ihren  Beziehungen  zur  Metaphysik,  einschliefilich  Lehreu  und  Warnungen 
(auch  Ermutigungen,  und  zwar  im  weitesten  Sinne)  von  der  Alten  Welt  fiir  die 
Neue." 

1 47 


zehrte,  und  die  selbst  sein  starker  und  lebendiger  Geist,  wenn  es 
hoch  kommt,  nur  reflektierte.  (Ein  Witzwort  sagte  iiber  den  Drei- 
fiigjahrigen,  dafi  es  in  Schottland  niemand  gabe,  der  so  viel  auf- 
gelesen  und  so  wenig  gesehen  babe.)  .  .  . 

Carlyles  Schaffen  auf  dem  Gebiete  der  Literatur  gleicbt  nacb 
Anlage  und  Ausfuhrung  in  ein  oder  zwei  Hauptpunkten  dem 
Wirken  Immanuel  Rants  auf  dem  Gebiete  der  spekulativen  Philo- 
sophic. Aber  der  Schotte  hatte  nichts  von  dem  magenstarken 
Phlegma  und  der  unerschiitterlichen  Gelassenheit  des  Konigsberger 
Weisen;  auch  erkannte  er  nicht  wie  dieser  seine  eigenen  Grenzen, 
vor  denen  er  haltgemacht  hatte.  Er  schafft  Gestriipp,  Giftranken 
und  Gestrauch  weg  —  wenigstens  haut  er  tapfer  darauf  ein  und 
schlagt  alles  kurz  und  klein.  Kant  tat  etwas  Ahnliches  auf  seinem 
Gebiete,  und  das  war  auch  alles,  was  er  tun  wollte;  seine  Arbeit 
hat  den  Boden  fur  immer  vollig  geebnet  —  und  wahrscheinlich 
hat  kein  anderer  Sterblicher  der  Menschheit  je  einen  grofieren 
Dienst  erwiesen.  Der  schmerzlichste  Fehler  Carlyles  aber  scheint 
mir  darin  zu  bestehen,  dafi  er  offenbar  inmitten  einesWirbels  von 
Nebel,  Leidenschaft  und  sich  kreuzenden  Absichten  immer  fest 
glaubte,  er  besitze  zur  Heilung  der  Weltiibel  ein  Universalmittel, 
und  es  sei  sein  Lebensberuf,  es  zu  verbreiten. 

Carlyle  hatte  zwei  Anker,  oder  Riistanker,  um  sein  Schiff  iin 
aufiersten  Notfall  im  Gleichgewicht  zu  erhalten.  Von  dem  einen 
wird  sogleich  des  Naheren  die  Rede  sein.  Den  anderen,  vielleicht 
den  wichtigeren,  konnte  er  nur  in  einer  ausgesprochenen  Form 
personlicher  Energie,  in  einem  aufierordentlichen  Grade  von  ent- 
scheidender  Willens-  und  Tatkraft  finden,  in  Menschen,  die  ,,zum 
Herrschen  geboren"  sind.  Wahrscheinlich  flofi  dem  Schotten  in 
alien  Adern  ein  Element,  das  sich  fur  diese  Art  Gharakter  vor 
allem  andern  in  der  Welt  erwarmte  und  das  ihn  meines  Erach- 
tens  zum  Hauptverherrlicher  und  -verkiinder  solcher  Charaktere 
in  der  Literatur  machte,  —  mehr  als  Plutarch  und  Shakespeare.  Die 
grofien  Massen  der  Menschheit  sind  ihm  nichts,  wenigstens  nichts 
weiter  als  chaotisches  Rohmaterial;  fur  ihn  gelten  nur  die  grofien 
Planeten  und  glanzenden  Sonnen !  Gegen  Ideen  fast  unveranderlich 
gleichgiiltig  und  kalt,  wurde  er  unfehlbar  durch  eine  kraftvolle 
Personlichkeit  ersten  Ranges  zu  leidenschaftlichen  Lobpreisungen 
und  wildem  Entziicken  hingerissen.  In  solchem  Falle  wurde  auch 

148 


der  Anspruch  an  Pflichterfullung  herabgeschraubt  und  vertuscht. 
Alles,  was  man  unter  den  Worten  Republikanismus  und  Demo- 
kratie  versteht,  war  von  Anfang  an  nicht  nach  seinem  Geschmack 
und  wurde  ibm  bei  zunehmendem  Alter  verhaBt  und  zum  Abscheu. 
Bei  einem  so  zweifellos  aufrichtigen  und  gewissenhaften  Geist  wie 
dem  seinen  ist  es  erstaunlich,  vvelche  wichtigen  Faktoren  er  hart- 
nackig  ignorierte. 

Zum  Beispiel  die  Aussicht,  nein  GewiBheit,  daB  das  demokratiscbe 
Prinzip  jedem  einzelnen  Staate  der  heutigen  Welt  nicht  sowohl  zu 
vollkommenen  Gesetzgebern  und  Beamten  verhelfen  wird,  sondern 
dafi  es  das  einzig  wirksame  Mittel  ist,  um  sicher,  wenn  aucb  noch 
so  langsam,  das  Volk  im  groBen  MaBstabe  zu  freiwilliger  Selbst- 
regierung  und  Selbstverwaltung  zu  erziehen  (das  Endziel  der  poli- 
tischen  und  aller  iibrigen  Entwicklung),  das  ,,Regieren"  allmahlich 
auf  ein  Minimum  zu  beschranken  und  die  ganze  Bureaukratie  und 
all  ihr  Tun  den  Teleskopen  und  Mikroskopen  von  Parteien  und 
Komitees  zu  unterwerfen  —  und,  was  das  GroBte  von  allem  ist, 
jenen  Gewassern  der  groBen  Tiefe,  die  offenbar  ein  fiir  allemal  ihre 
alten  Schranken  durchbrochen  haben,  eine  umfassende,  gesunde, 
immer  wiederkehrende  Bewegung  von  Ebbe  und  Flut  zu  ermog- 
lichen,  nicbt  Stagnation  und  gehorsame  Geniigsamkeit,  mit  der  man 
bei  dem  Feudalismus  und  Klerikalismus  der  antiken  und  mittel- 
alterlichen  Welt  auskam,  —  daran  scheint  Carlyle  nie  gedacbt  zu 
haben.  Es  war  prachtvoll,  wie  er  bis  zuletzt  jeden  KompromiB 
ablehnte.  Er  war  merkwiirdig  antik.  Seine  barsche,  malerische, 
hochst  machtvolle  Erscheinung  und  Stimme  versetzt  einen  aus  dem 
England  der  Gegenwart  um  mehr  als  2000  Jahre  zuriick  in  die 
Gegend  zwischen  Jerusalem  und  Tarsus  .  .  . 

Der  zweite  Hauptpunkt  in  Carlyles  Lehre  war  die  Idee  der  Pflicht- 
erfiillung. (Das  ist  einfach  ein  neues  Kodizill  —  wenn  es  besonders 
neu  ist,  was  keineswegs  feststeht  —  des  altehrwiirdigen  Vermacht- 
nisses  der  Monarchic,  der  vermoderten  Gesetze  von  Legitimitat  und 
Konigtum.)  Er  scheint  sich  manchmal  bis  zum  Wahnsinn  aufgeregt 
zu  haben,  wenn  Leute,  die  mindestens  ebenso  tief  dachten  wie  er, 
ihn  darauf  aufmerksam  machten,  daB  diese  Formel  zwar  wertvoll, 
aber  ziemlich  vage  sei,  und  daB  es  fiir  philosophische  Betrachtung 
auf  jedem  Gebiet,  sei  es  Weltgeschichte  oder  individuelle  Angelegen- 
heiten,  noch  viele  andere  Gesichtspunkte  gebe  .  .  . 


Es  gibt,  abgesehen  vom  blofien  Intellekt,  im  Wesen  jeder  hervor- 
ragenden  menschlichen  Identitat  (in  ihrer  moralischen  Gesamtheit, 
einheitlich  betrachtet,  nicht  nur  im  eigentlichen  moralischen  Sinn, 
sondern  als  Ganzes  einschlieBlicb  des  Korpers)  ein  wunderbares 
Etwas,  das  ohne  Beweis,  haufig  ohne  sogenannte  Bildung  (es  ware 
zwar  das  Ziel  und  die  Krone  aller  Bildung,  die  diesen  Namen  ver- 
diente)  zu  einer  Abnung  der  absoluten  Ausgleichung  in  Raum  und 
Zeit  gelangt,  der  Ausgleichung  dieses  ganzen  vielgestaltigen  rasen- 
den  Chaos  von  Falschheit,  Frivolitat,  Geilheit,  —  dieser  Narren- 
schwarmerei,  unglaublichen  Heuchelei  und  allgemeinenUnbestandig- 
keit,  die  wir  ,,die  Welt"  nennen;  ein  inneres  Schauen  jenes  gott- 
lichen  Fadens  und  unsichtbaren  Bandes,  das  das  gesamte  Wirrsal 
der  Dinge,  die  ganze  Geschichte  und  Zeit,  alles  Geschehen,  sei  es 
noch  so  trivial  oder  noch  so  wichtig,  wie  einen  angekoppelten  Hund 
an  der  Hand  des  Jagers  festhalt.  Eine  solche  innere  Schau,  ein 
solches  tiefes  geistiges  Zentrum  —  bloBer  Optimismus  erklart  nur 
die  Oberflache  oder  den  aufieru  Rand  der  Sache  —  fehlte  Carlyle 
groBenteils,  vielleicht  ganz.  Er  scheint  vielmehr  im  Spiel  seiner 
Geistesfunktionen  von  einem  Gespenst,  das  er  wahrend  seines  ganzen 
Lebens  nicht  bannen  konnte,  verfolgt  worden  zu  sein  —  griechische 
Philologen  finden,  glaube  ich,  dieselbe  phantastische  Trugerschei- 
nung  bei  Aristophanes  in  seinen  Komodien  —  von  dem  Gespenst  des 
Weltuntergangs. 

Wie  hochster  Triumph  oder  groBtes  MiBlingen  im  Menschen- 
leben,  in  Krieg  oder  Frieden,  von  einem  kleinen,  verborgenen  Zentral- 
punkt,  kaum  mehr  als  ein  Blutstropfen,  einem  Pulsschlag  oder 
Lufthauch  abhangen  kann !  Es  ist  sicher,  daB  alle  diese  gewichtigen 
Fragen,  Demokratie  in  Amerika,  Carlyleismus  und  der  Drang  zu 
tiefster,  politischer  oder  literarischer  Forschung  sich  um  einen  ein- 
fachen  Punkt  in  der  spekulativen  Philosophic  drehen. 

Das  tiefste  Problem,  das  den  Menschengeist  beschaftigen  kann, 
auf  dessen  Losung  Wissenschaft,  Kunst,  die  Grundlagen  und  Be- 
strebungen  von  Nationen  und  iiberhaupt  alles  verniinftige  Menschen- 
gliick  (heute  1882  hier  in  New  York,  Texas,  Kalifornien  ebenso  wie 
zu  alien  Zeiten  in  alien  Landern)  im  innersten  und  letzten  Grunde 
beruht  und  wovon  alles  ausgehen  muB,  sofern  es  entscheidende  Be- 
weiskraft  haben  soil  —  dieses  Problem  liegt  ohne  Zweifel  in  der 
Frage:  Was  ist  die  alles  verschmelzende  Erklarung,  das  Band,  das 

i5o 


Verhaltnis  von  dem  (radikalen  demokratischen)  Ich,  der  mensch- 
lichen  Identitat  von  Verstand,  Gemiit,  Geist  usw.  einerseits,  zu  dem 
(konservativen)  Nicht-Ich,  zu  der  Gesamtheit  des  materiellen,  objek- 
tiven  Universums  und  seiner  Gesetze  samt  ihrer  letzten  Ursache  in 
Raum  und  Zeit  andererseits  ? 

Immanuel  Kant  hat  diese  Frage  offen  gelassen,  obschon  er  die 
Gesetze  der  menschlichen  Vernunft  erklarte,  oder,  kann  man  aucb 
sagen,  teilvveise  erklarte.  Schellings  Antwort  oder  Andeutung  einer 
Antwort  (sehr  wertvoll  und  wichtig,  soweit  sie  geht)  ist  die:  Die 
gleiche,  allgemeine  Vernunft,  Leidenschaft,  ja  auch  die  MaBstabe 
von  Recht  und  Unrecht,  die  bewuBt  und  ausgesprochen  im  Menschen 
leben,  existieren  unbewuBt  oder  als  wahrnehmbare  Analogien  aucb 
im  ganzen  Universum  der  aufieren  Natur,  in  all  ihren  Gegenstan- 
den,  groB  oder  klein,  und  in  all  ihren  Bewegungen  oder  Prozessen,  — 
so  daB  also  der  ungreifbare  Menschengeist  und  die  konkrete  Natur, 
trotz  Dualitat  und  Trennung,  im  innersten  und  wesentlichen  gleich- 
bedeutend  und  eins  waren. 

Aber  G.F.Hegels  umfassendere  Darstellung  derSache  bleibt  wohl 
das  letzte  und  beste  Wort,  das  bis  jetzt  dariiber  gesagt  worden  ist. 
Er  iibernimmt  in  der  Hauptsache  das  eben  auszugsweise  erwahnte 
System,  aber  er  fiihrt  es  aus,  befestigt  es,  bring t  alles  darin  unter, 
wobei  er  gewisse  ernstliche  Liicken  jetzt  zum  erstenmal  ausfullt,  so 
daB  es  ein  zusammenhangendes  metaphysisches  System  \vird,  eine 
wirkliche  Antwort,  (soweit  es  iiberhaupt  eine  Antwort  geben  kann), 
auf  die  obige  Frage,  ein  System,  das,  wie  ich  entschieden  zugebe, 
durch  zukiinftige  Gehirne  erweitert,  revidiert  und  sogar  ganz  neu 
aufgebaut  werden  mag,  das  aber  auf  jeden  Fall,  als  Ganzes  betrach- 
tet,  heute  in  hellem  Glanze  erstrahlt,  den  Gedanken  des  Universums 
erleuchtet  und  sein  Geheimnis  dem  menschlichen  Geist  deutet  — 
mit  trostlicherer  wissenschaftlicher  Sicherheit  als  irgendein  friiheres 
System. 

Nach  Hegel  ist  die  ganze  Erde  mit  ihrer  unendlichen  Mannig- 
faltigkeit  —  Vergangenheit:  gegenwartige  Zustande,  zukiinftige  Ge- 
schehnisse,  die  Gegensatze  von  Materiellem  und  Spirituellem,  von 
Natiirlichem  und  Kiinstlichem  —  all  das  sind  nach  der  Anschauung 
des  Kollektivisten  nur  notwendige  Seiten  und  Entfaltungen,  verschie- 
dene  Stufen  und  Glieder  in  dem  endlosen  ProzeB  der  schopferischen 
Idee,  die  trotz  unzahliger  scheinbarer  MiBerfolge  und  Widerspriiche 


durch  eine  zentrale  und  ununterbrochene  Einheit  zusammen- 
gehalten  wird  —  es  gibt  iiberhaupt  keine  Widerspriiche  oder  Mifi- 
erfolge,  sondern  nur  Ausstrahlungen  eines  einheitlichen ,  folge- 
richtigen  und  ewigen  Zwecks.  Die  gesamte  Masse  des  Seins  strebt 
und  flieBt  stetig,  unbeirrbar  dem  dauernden  Utile  und  Morale  zu, 
wie  die  Fliisse  zum  Meer.  Wie  das  Leben  das  Allgesetz  und  das 
unaufhorliche  Wirken  des  sichtbaren  Universums,  der  Tod  aber  nur 
die  andere  oder  unsicbtbare  Seite  desselben  ist,  so  sind  das  „ Utile", 
die  Wahrbeit  und  die  Gesundbeit  die  zusammenhangend-unver- 
anderlichen  Gesetze  des  moralischen  Universums,  und  Laster  und 
Krankbeit  mit  all  ihren  Storungen  nur  voriibergebende,  wenn  auch 
noch  so  vorberrschende  Erscheinungsformen. 

Auf  die  Politik  wendet  Hegel  iiberall  den  gleichen  alles  umfassen- 
den  Mafistab  und  Glauben  an.  Nicht  eine  einzelne  Partei  oder  eine 
einzelne  Regierungsform  ist  absolut  und  ausschliefilich  die  wahre. 
Die  Wahrheit  beruht  in  dem  ricbtigen  Verhaltnis  der  Dinge  zuein- 
ander.  Eine  Mehrheit  oder  Demokratie  kann  so  schmahlich  regieren 
und  so  viel  Unheil  anrichten  wie  eine  Oligarchic  oder  wie  Despo- 
tismus,  —  wenn  aucb  mit  weit  weniger  Wabrscbeinlicbkeit.  Das 
grofie  Ubel  ist  aber  eine  Verletzung  entweder  des  eben  erwahnten 
Verhaltnisses  oder  des  Moral prin zips.  Das  Triigerische,  Ungerecbte, 
Grausame  und  sogenannte  Unnatiirliche  ist  —  obwohl  in  einem 
gewissen  Sinne  zugelassen  (wie  Scbatten  zum  Licht)  und  unvermeid- 
lich  im  gottlichen  Plane  —  im  Gesamtsinne  dieses  Planes  nur  par- 
tiell,  unwesentlich,  zeitweilig  und  trotz  noch  so  grofiem  scheinbaren 
Ubergewicht  sicherlich  bestimmt,  zugrunde  zu  gehen,  nachdem  es 
viele  grofie  Leiden  verursacht  hat. 

Die  Theologie  iibertragt  Hegel  in  die  Wissenschaft.  Alle  schein- 
baren Widerspriiche  in  der  Auffassung  des  gottlichen  Wesens  durch 
verschiedene  Zeitalter,  Nationen,  Kirchen,  Anschauungen  sind  nur 
unvollstahdige  und  unvollkommene  Darstellungen  einer  einzigen 
Wesenseinheit,  von  der  alle  ausgehen,  —  robe  Versuche  oder  aus- 
einandergezogene  Teile,  die  zugleich  als  unter  sich  verschieden  und 
zusammengehorig  betrachtet  werden  miissen.  Kurz  (um  es  in  unserer 
eigenen  Sprache  auszudriicken  oder  zusammenzufassen),  der  Denker 
oder  Analytiker  oder  Betrachter,  der  infolge  einer  unerforschlichen 
Verbindung  von  geschulter  Weisheit  und  natiirlicher  Intuition  die 
moralische  Einheit  und  Wohlbeschaffenheit  des  Schopfungsplanes  in 

1 5  a 


Geschichte,  Wissenschaft,  in  allein  Leben  aller  Zeit,  Gegenvvart  und 
Ziikunft  am  uneingeschranktesten  und  in  vollkommenem  Glauben 
annimmt,  der  ist  der  wahrste  Kosmosanbeter  und  der  Fromme  und 
der  tiefste  Philosopb  zugleich.  Wer  aber  unter  dem  Bann  seiner 
selbst  und  seiner  Verhaltnisse  in  dem  gesamten  Walten  der  gott- 
lichen  Vorsehung  Dunkelheit  und  Verzweiflung  sieht,  und  \ver  in 
dieser  Beziebung  leugnet  oder  Ausfliichte  sucht,  der  ist  der  argste 
Sunder  und  Unglaubige,  gleicbgiiltig,  wieviel  Frommigkeit  auf  seinen 
Lippen  gaukelt. 

Icb  fuble  mich  um  so  mehr  berechtigt,  Hegel  bier  ein  wenig  frei 
zu  zitieren*,  als  ich  damit  nicbt  nur  Geist  und  Buchstaben  Carlyles 
widerlegen  und  mit  Wurzel  und  Boden  im  Ganzen  und  Einzelnen 
ausrotten,  sondern  auch  den  Lehrsatzen  der  Evolutionisten  das 
Gleichgewicht  halten  kann,  nachdem  Darwin  kiirzlicb  gestorben 
und  verdientermafien  verherrlicht  worden  ist.  So  unaussprechlich 
wertvoll  diese  Lehrsatze  fiir  die  Biologic  und  so  unentbehrlicb  sie 
einem  zielbewuBten  Studium  fiir  alle  Zukunft  aucb  sind,  sie  um- 
fassen  und  erklaren  durchaus  nicbt  alles  —  und  das  letzte  Wort 
oder  Flustern  ist  noch  iiber  keinen  Mund  gekommen,  das  auf  die 
hochsten  jener  Satze  folgen  und  immerdar  bocb  u'ber  ihnen  und 
iiber  technischer  Metaphysik  scbweben  muB.  GewiB,  die  Schatze, 
die  von  den  Deutschen  Kant,  Fichte,  Schelling  und  Hegel  und  auch 
von  dem  Englander  Darwin  auf  seinem  Gebiet  der  Menschheit  ver- 
erbt  wurden,  sind  fiir  die  Heranbildung  von  Amerikas  Zukunft 
unentbehrlicb.  Und  doch  mochte  ich  behaupten,  daB  ihnen  alien, 
auch  den  besten,  im  Vergleiche  zu  den  leuchtenden  Blitzen  und  dem 
hohen  Schwunge  der  alten  Propheten  und  Seher,  der  geistlichen 
Dichter  und  Dichtungen  aller  Lander  (wie  in  der  hebraischen  Bibel) 
etwas  zu  fehlen  scheint,  nein  sicherlich  fehlt.  Es  ist  ihnen  eine 


*  Ich  habe  absichtlich  alles  wiederholt,  nicht  nur  um  den  ewig  lauernden  Pessi- 
misinus  und  Weltschmerz  Carlyles  zu  widerlegen,  sondern  well  es  die  amerika- 
nischsten  Gesichtspunkte  sind,  die  ich  kenne.  Meines  Erachtens  sind  die 
obigen  Grundsatze  Hegels  eine  wesentliche  und  kronende  Rechtfertigung  der 
Demokratie  der  Neuen  Welt  in  den  schbpferischen  Gebieteu  von  Itanin  und  Zeit. 
Sie  haben  das  Element  in  sich,  das  anscheinend  nur  die  Grb'De,  die  Mannigfaltig- 
keit  und  Lebenskraft  Amerikas  zu  fassen,  auf  breitem  Raum  zu  verkbrpern  oder  zu 
assimilieren  oder  auch  nur  hervorzubringen  vermag.  Es  scheint  inir  merkwiirdig, 
dafi  sie  in  Deutschland  oder  iiberhaupt  in  der  Alten  Welt  entstanden;  wahrend  ein 
C.arlyle,  mbchte  ich  sagen,  ganz  das  zu  erwartende,  legitime  Produkt  Europas  ist. 

l53 


gewisse  Kalte  eigen,  ein  Unbefriedigtlassen  des  innersten  Gemiits, 
ein  Mangel  an  lebendiger  Glut,  Liebe,  Warme,  wie  sie  von  den  alten 
Sehern  und  Dichtern  ausstromt  und  von  der  bei  den  scharfsinnigsten 
modernen  Philosophen  bis  jetzt  nicbts  zu  spuren  ist. 

Carlyles  Name  ist  fiir  unsere  Zwecke  im  groflen  ganzen  der  Reibe 
der  eben  genannten  hervorragendsten  Sittenarzte  unserer  Zeit  bei- 
zuzahlen,  —  mit  Emerson  und  noch  zwei  oder  drei  anderen,  —  wenn 
aucb  sein  Rezept  drastisch  ist  und  vielleicht  zerstorend  wirkt,  wah- 
rend  das  der  anderen  assimilierend  und  auf  naturliche  Weise  starkend 
ist.  Feudalistisch  im  Innersten,  wie  seine  Werke  sind,  geistige 
Erzeugnisse  und  Ausstrahlungen  des  Feudalismus,  enthalten  sie 
doch  fiir  das  demokratische  Amerika  ewig  wertvolle  Lebren  und 
Beziebungen.  Nationen  oder  Individuen,  wir  lernen  sicherlich  am 
griindlicbsten  von  Ungleichartigem,  von  einem  aufrichtigen  Gegner, 
von  dem  Licbt,  das,  wenn  auch  aus  Verachtung,  auf  gewisse  wunde 
Punkte  und  Verpflicbtungen  geworfen  wird. 

In  vielen  Einzelheiten  war  Carlyle  in  der  Tat  einem  der  hebra- 
iscben  Propbeten  der  Vorzeit  vergleichbar ,  ein  neuer  Micha  oder 
Habakuk.  Seine  Reden  sprudeln  manchmal  hervor  aus  abgrund- 
tiefer  Inspiration.  Immer  wertvoll,  solcbe  Manner;  jetzt  so  wert- 
voll  wie  je.  Seine  rauhen,  polternden,  hohnischen,  widersprucbs- 
vollen  Tone,  —  was  tate  mehr  Not  unter  den  geschmeidigen,  ab- 
geschliffenen ,  goldanbetenden ,  Jesus  und  Judas  gleichsetzenden, 
stimmrecbt-ubermutigen  Lauten  des  heutigen  Amerika.  Er  hat 
unser  19.  Jahrbundert  mit  dem  Licbte  eines  machtigen,  durch- 
dringenden  und  vollkommen  ebrlichen  Intellektes  erster  Ordnung 
erhellt,  das  er  auf  Politik,  soziales  Leben,  Literatur  und  hervor- 
ragende  Personlichkeiten  Englands  und  des  Kontinents  warf,  —  tief 
unzufrieden  mit  allem  und  erbarmungslos  das  Kranke  an  allem 
enthiillend.  Wahrend  er  aber  die  Krankheit  bezeichnet  und  dariiber 
tobt  und  schimpft,  ist  er  selbst  in  der  gleichen  Atmosphare  ge- 
boren  und  aufgewacbsen ,  ein  cbarakteristisches  Symptom  dieser 
Krankheit. 

Natur  und  Demokratie 

Demokratie  ist  vor  allem  andern  mit  der  frischen  Luft  verwandt, 
ist  sonnig  und  stark  nur  in  Verbindung  mit  der  Natur  —  genau 
so  wie  die  Kunst.  Etwas  ist  erforderlicb ,  um  beide  zu  maGigen, 

164 


sie  im  Zaum  zu  halten  imd  sie  vor  Ausschreitung  und  Verfall  zu 
bewahren.  Ich  wollte  zum  SchluG  Zeugnis  ablegen  fiir  eine  sehr 
alte  Weisheit  und  Notwendigkeit.  Die  amerikanische  Demokratie 
mit  ihren  Myriaden  von  Einzelpersonlichkeiten,  mil  ihren  Fabriken, 
Werkstatten,  Laden,  Bureaus,  mit  all  den  dichtgedrangten  StraCen 
und  Hausern  ihrer  Stadte  und  all  ihren  mannigfachen  verkiinstelten 
Lebensbedingungen  muB  entweder  gestarkt  und  belebt  werden 
durch  regelmaBigen  Kontakt  mit  Licht,  Luft  und  Wachstum  unter 
freiem  Himmel,  mit  Landleben,  Tieren,  Feldern,  Baumen,  Vogeln, 
Sonnenwarme  und  weiten  Raumen  droben,  oder  sie  wird  sicberlicb 
verdorren  und  verblassen.  Wir  konnen  keine  starken  Rassen  von 
Handwerkern  und  Arbeitern  und  keine  wabre  Gemeinschaft  (der 
einzige  eigenste  Zweck  Amerikas)  haben,  wenn  diese  Bedingung 
nicht  erfullt  wird.  Icb  kann  mir  keine  bliibenden,  heroiscben, 
demokratischen  Krafte  in  den  Vereinigten  Staaten  oder  iiberbaupt 
keine  dauerhafte  Demokratie  denken,  ohne  da6  die  Naturkrafte 
einen  ihrer  Hauptbestandteile  bilden,  die  die  Quelle  aller  Gesundheit 
und  Schonheit  sind  und  aller  Politik,  Wohlfahrt,  Religion  und 
Kunst  der  Neuen  Welt  zugrunde  liegen. 


GESAMMELTES 

Aus  der  Vorrede  zu: 
,,Wie  ein  starker  Vogel  auf  Schwingen  frei  .  .  ." 

,872 

Als  ich  vor  Jahren  den  Plan  zu  meinen  Gedichten  auszuarbeiten 
begann  und  ihn  lange  Zeit  (vom  28.  bis  35.  Lebensjabr)  immer 
wieder  iiberdachte  und  umgestaltete,  wobei  ich  viel  experimentierte, 
niederschrieb  und  vieles  wieder  fallen  lieB,  lag  allem  andern  ein 
tiefes  Motiv  zugrunde  und  hat  dem  Plan  und  seiner  Ausfiihrung 
seither  zugrunde  gelegen,  --  das  religiose.  Trotz  vieler  Wechsel 
und  obwohl  die  Ausdrucksform  ganz  andere  Gestalt  angenommen 
hat,  als  ich  sie  mir  urspriinglich  gedacht  hatte,  bin  ich  in  der  Aus- 
arbeitung  meiner  Gedichte  von  diesem  Grundmotiv  nie  abgewichen. 
Selbstverstandlich  nicht,  um  es  in  der  hergebrachten  Weise  zur 
Schau  zu  stellen  oder  etwa  mit  einem  Blick  auf  die  Kirchensitze 
Hymnen  oder  Psalmen  zu  schreiben  oder  konventionellem  Pietismus 
und  dem  krankhaften  Schmacht  von  Frommlern  Ausdruck  zu 
geben,  —  vielmehr  auf  neue  Art,  abzielend  auf  die  breitesten  Grund- 
lagen  und  Gebiete  der  Menschheit,  in  Einklang  mit  der  frischen 
Luft  von  Meer  und  Land.  Ich  will  sehen,  sagte  ich  zu  mir,  ob  fur 
meine  dichterischen  Zwecke  in  der  Durchschnittsmenschheit,  wenig- 
stens  in  deren  rnoderner  Entwicklung  bei  uns,  in  dem  kraftigen 
Gemeingefiihl ,  in  den  eingeborenen  Sehnsiichten  und  Elementen 
nicht  eine  Religion,  ein  gesunder  religioser  Keim  liegt,  —  tiefer  und 
grofier  und  fruchtbarer  als  alle  bloBen  Sekten  und  Kirchen,  —  so 
grenzenlos,  freudig  und  lebenskraftig  wie  die  Natur  selbst,  —  ein 
Keim,  der  zu  lange  ohne  Pflege,  unbesungen,  beinahe  unbekannt 

1 56 


geblieben  ist.  Mil  dem  Aufbliihen  der  Wissenschaft  beginnt  er- 
sicbtlich  die  alte  Theologie  des  Ostens,  schon  langst  kindiscb  ge- 
worden,  zu  sterben  und  zu  verscbwinden.  Die  Wissenscbaft  aber 
-  und  das  wird  sich  vielleicht  als  ihr  Hauptverdienst  erweisen  - 
bereitet  ebenso  ersichtlich  den  Weg  fiir  ein  unbeschreiblich  Hoheres, 
—  fiir  den  jungen,  aber  vollkommenen  SproBling  der  Zeit  —  dw 
neue  Theologie  —  Erbin  des  Westens  —  stark  und  liebevoll  und 
uunderbar  berrlicb. 

Fiir  Amerika,  und  fiir  jetzt  und  allezeit,  ist  die  hocbste  und  ab- 
schlieBende  Wissenschaft  die  von  Gott,  —  und  was  wir  Wissen- 
schaft nennen,  ist  nur  ihr  Diener,  vvie  es  aucb  die  Demokratie  ist 
oder  sein  soil.  Und  ein  Dichter  Amerikas  (sagte  ich  zu  mir)  muB 
sich  mit  solchen  Gedanken  erfiillen  und  sein  Allerbestes  aus  ihnen 
heraus  singen.  —  Gleichwie  es  meines  Erachtens  keine  gesunde 
und  vollkommene  Personlichkeit  noch  eine  groBe  elektrische  Natio- 
nalitat  gibt,  wenn  nicbt  die  Religion  als  Grundelement  alle  anderen 
Elemente  durchdringt  (vvie  die  Warme  in  der  Ghemie,  selbst  un- 
sichtbar,  dennoch  das  Leben  alles  sichtbaren  Lebens  ist,  so  kann 
es  keine  Poesie  geben,  die  dieses  Namens  wiirdig  ware,  ohne  da6 
jenes  Element  allem  zugrunde  liegt.  Sicherlich  ist  die  Zeit  ge- 
kommen,  wo  die  Religionsidee  in  den  Vereinigten  Staaten  entlastet 
wird  von  bloBem  Klerikalismus,  von  Sonntagsheiligung  und  Kirchen 
und  Kirchenbesuch ,  und  wo  ihr  jene  allgemeine,  wichtigste,  uii- 
entbehrlichste  und  heitersteStellung  zugewiesen  wird,  der  sicb  alles 
anzupassen  hat,  Charakter,  Bildung  und  Tun  der  Menschen. 

Das  Volk,  besonders  die  jungen  Manner  und  Frauen  Amerikas, 
miissen  anfangen  zu  lernen,  dafi  Religion  wie  Poesie  etwas  ganz, 
ganz  anderes  ist,  als  sie  dachten.  Sie  ist  in  der  Tat  fiir  die  Macht 
und  Fortdauer  der  neuen  Welt  zu  wichtig,  als  daB  sie  noch  langer 
den  Kirchen,  alten  oder  ueuen,  katholischen  oder  protestantischen, 
dieses  Heiligen  oder  jenes,  iiberlassen  werden  diirfte.  Sie  mufi  von 
nun  an  der  Demokratie  en  masse  und  der  Literatur  iiberantwortet 
werden.  Sie  muB  in  die  Dichtungen  der  Nation  eingehen.  Sie 
muB  die  Nation  erschaffen. 


Eine  Notiz  auf  gut  Gliick 
(Zuerst  veroffentlicht  in  der  ,,North  American  Review"    1881) 

Soil  die  Erwahnung  von  Dingen,  wie  ich  sie  kurz,  aber  deut- 
lich  und  entschlossen  in  dem  Kapitel  „  Kin  der  Adams"  meiner 
,,Grashalme"  zur  Sprache  gebracht  habe,  in  Poesie  und  Literatur 
erlaubt  sein?  Sollte  die  Neuerung  nicht  vielmehr  durch  Kritik 
und  offentliche  Meinung  verurteilt  werden?  Und  wenn  das  nichts 
niitzt,  durch  den  Staatsanwalt?  —  Zweifellos,  obne  jenes  Kapitel 
mit  einzuschliefien,  konnte  ich  nicht  ein  Werk  verfassen,  das  er- 
klartermafien,  wie  nie  zuvor,  die  vollstandige  menschliche  Identitat, 
die  physische,  moralische,  seelische  und  intellektuelle,  behandelte 
(in  gewissem  Sinne  gab  ich  der  physischen  den  Vorrang  und  die 
Fiihrung) ;  auch  hatte  ich  sonst  nicht  die  bona  fides,  die  Lauterkeit 
und  Vollstandigkeit  der  Darstellung  erreichen  konnen,  die  zu 
meinem  Plane  gehorte.  Aber  ich  mb'chte  meinen  Standpunkt  noch 
mehr  als  bisher  befestigeri  und  erweitern.  Und  wenn  ich  auch  von 
niemandem  verlange,  meiner  Theorie  beizupflichten,  liegt  mir  doch 
offen  gestanden  etwas  daran,  meine  dichterischen  Versuche  und 
meine  Prinzipien  von  ihrem  eigenen  Boden  aus  wenigstens  teil- 
weise  verstanden  zu  wissen.  Es  scheint  mir  am  besten,  der  Frage 
mit  volligem  Freimut  gegeniiberzutreten. 

Es  gibt,  allgemein  gesprochen,  zwei  Gesichtspunkte,  nach  denen 
sich  die  Welt  zu  diesen  Dingen  verhalt.  Der  erste,  der  konven- 
tionelle  biederer  Leute  und  biederer  Literatur  iiberall,  unterdriickt 
jede  direkte  Benennung  und  macht  nur  ganz  verbliimte  Andeu- 
tungen  —  (wie  es  die  Griechen  mit  dem  Tod  machten,  der  in  der 
gebildeten  Gesellschaft  Griechenlands  nicht  gerade  heraus  benannt, 
sondern  euphemistisch  umschrieben  wurde).  In  der  heutigen  Ge- 
sellschaft hat  dies  Verhalten  —  ohne  auf  die  Argumente  und  Ein- 
zelheiten,  die  zahlreich,  verschiedenartig  und  verwirrend  sind, 
naher  einzugehen  —  zu  einem  Zustand  von  Unwissenheit,  Ver- 
tuschung,  verborgen  gehaltener  Krankheit  und  Schwache  gefiihrt, 
der  sicherlich  einen  Hauptfaktor  des  Weltiibels  bildet.  Diesem 
unwissenschaftlichen ,  unasthetischen  und  durchaus  unreligiosen 
Verhalten,  das  uns  die  Vergangenheit  vererbt  hat  (die  Ursachen 
sind  verschieden;  eine  liegt  in  uralten  Lehren  menschenfreund- 
licher  Weiser,  die  damit  die  herrschende  Roheit  und  Animalitat 

168 


des  Nomadenzeitalters  bandigen  wollten;  eine  andere  im  Puritaner- 
tum  oder  vielleicht  Protestantismus  selbst;  eine  dritte  wird  am 
SchluB  dieser  Ausfiihrungen  bezeichnet  werden)  —  diesem  Ver- 
balten  sind  vvohl  grofkenteils  die  Miflgeburten,  die  ungeniigende 
Reife,  der  frivole  Sinnenkitzel  und  jenes  patbologiscbe  Hinsiechen 
und  Krankeln  der  Menscben  zu  verdanken,  das  meines  Erachtens 
der  Grund  und  Ursprung  jeder  Art  von  tlbel  und  Kranklichkeit 
ist.  Sein  Geruch,  \vie  von  etwas  Scbleicbendem,  Tiickischem,  Pest- 
artigem  scheint  nach  und  nacb  alle  moderne  Literatur,  Konver- 
sation  und  Sitte  zu  durchseucben. 

Der  zweite  Gesichtspunkt,  und  zwar  der  weit  umfassendere  - 
wie  denn  die  Welt  im  Werktagskleid  die  in  Salontoilette  an  Zabl 
weit  ubertrifft  —  ist  der  des  gewohnlichen  Lebens,  von  den  altesten 
Zeiten  ber  und  besonders  in  England  (vgl.  die  ersten  Kapitel  von 
Taines  Englischer  Literaturgescbicbte  und  Sbakespeare  beinahe 
iiberall) ;  ein  Gesicbtspunkt,  den  unser  heutiges  Zeitalter  von  einem 
lachlustigen  Geschlecht  ererbt  bat  in  dem  Witz  (oder  was  als  Witz 
gilt)  in  Mannergesellschaft,  in  den  erotischen  Gescbicbten  und  Ge- 
sprachen,  die  jene  bloB  lusterne  Sinnlicbkeit,  die  nach  Viktor  Hugo 
die  allgemeinste  Eigenscbaft  aller  Zeiten  und  Lander  ist,  erregen, 
ausdriicken  und  ausmalen  sollen.  Dieser  zweite  Zustand,  so  scblimm 
er  ist,  gleicbt  wenigstens  einer  Krankbeit,  die  zum  Vorschein  kommt 
und  desbalb  weniger  gefahrlich  ist  als  eine  verheimlichte. 

Mir  scheint  fur  eine  weitere  Stufe,  einen  dritten  Gesichtspunkt, 
die  Zeit  gekommen  und  Amerika  der  Platz  dafiir  zu  sein.  Derselbe 
Freimut,  Glaube  und  Ernst,  den  nach  Jahrhunderten  von  Ablehnung, 
Kampf,  Unterdriickung  und  Martyrertum  die  Gegenwart  der  Be- 
handlung  von  Politik  und  Religion  entgegenbringt,  muft  fur  diese 
Frage  einen  Plan  und  Mafistab  scbaffen,  nicht  so  sehr  im  Hinblick 
auf  das,  was  man  Gesellschaft  nennt,  als  auf  nachdenklichste  Manner 
und  Frauen  und  auf  gedankenreichste  Literatur.  Denselben  Geist, 
der  in  dieser  Beziehung  den  physiologischen  Schriftsteller  und 
Demonstrator  auf  seinem  wichtigen  Gebiet  charakterisiert,  glaubte 
ich  einmal  auf  einem  gewiB  nicht  weniger  wichtigen  Gebiet  be- 
k  unden  zu  miissen. 

In  der  vorliegenden  Notiz  wage  icb  diesen  Plan  und  diese 
Anscbauung  nur  anzudeuten,  fur  die  ich  mich  in  ineiner  eige- 
nen  literarischen  Tatigkeit  schon  vor  mehr  als  zwanzig  Jahren 

•  59 


entschieden  und  die  ich  in  meinen  gedruckten  Gedichten  deutlich 
formuliert  habe  (wie  denn  Bacon  sagt,  eine  abstrakte  Idee  oder 
Theorie  sei  wertlos,  wenn  sie  nicht  zu  einer  Tat  oder  einem  Werk 
als  konkretem  Beispiel  fiihre)  —  die  Anschauung  namlich,  dafi  der 
Geschlechtstrieb  an  sich,  solange  er  normal  und  gesund  bleibt, 
seinem  Wesen  nach  zu  Recbt  bestebt,  anerkannt  werden  muC  und 
kein  unbedingt  unpassendes  Thema  fur  den  Dicbter  ist,  ebensowenig 
wie  zugestandenermaBen  fur  den  Naturforscber;  —  daft  ferner,  was 
den  ganzen  Aufbau,  den  Organismus  und  Endzweck  der  ,,Grasbalme" 
anbelangt,  alles  auf  einer  scbwacben  oder  gar  keiner  Grundlage 
beruhen  wiirde,  wenn  ich  jenem  Thema  ausgewichen  ware  und 
mich  nicht  offen  dazu  bekannt  hatte,  als  zu  der  alles  umfassenden 
Basis  (die  gesunde  Natiirlichkeit  von  allem  sollte  ja  die  Atmosphare 
der  Gedichte  sein).  Ich  mochte  also  die  Frage  im  bedeutsamsten 
Sinne  stellen  und  auf  ihre  auCerste  Konsequenz  bin,  so  anmaBend 
das  auch  erscheinen  mag. 

Kurz  gesagt,  wie  die  Anerkennung  der  gesunden  Natiirlichkeit 
von  Geburt,  Natur  und  Menschheit  der  Schliissel  ist  zu  jeder  wahren 
Theorie  voni  Leben  und  Universum,  wenigstens  der  einzigen 
Theorie,  aus  der  heraus  ich  geschrieben  habe,  so  ist  sie  auch, 
und  zwar  unbedingt,  der  einzige  Schliissel  zu  den  ,,Grashalmen" 
und  zu  jedem  einzelnen  Teil  derselben.  Das  ist  der  Grund,  warum 
ich  gerade  fur  diese  Gedichte  zwanzig  Jahre  lang  eingetreten  bin 
und  sie  bis  zum  heutigen  Tage  aufrecht  erhalte.  Das  ist  es,  was 
ich  im  innersten  Geist  und  Gemiit  fiihlte,  als  ich  unter  den  alten 
Ulmen  des  Bostoner  Stadtparkes  auf  Emersons  heftige  Argumente 
nur  mit  Stillschweigen  antwortete. 

In  der  Tat,  sollte  nicht  jeder  Physiologe  und  jeder  gute  Arzt 
dafiir  beten,  dafi  diese  Frage,  die  bisher  dem  Geschwatz  und  Ge- 
schreibsel  von  Schuften  iiberantwortet  war,  aus  ihrer  Verbannung 
erlost  und  wenigstens  einmal,  wenn  nicht  6'fter,  kiihn  in  den  Be- 
reich  der  Poesie  und  Gesundheit  gestellt  werde  —  als  etwas,  das 
nicht  an  sich  unanstandig  und  unrein,  sondern  mit  edelster  Mann- 
lichkeit  und  Weiblichkeit  durchaus  vereinbar  und  beiden  unent- 
behrlich  ist?  Sollte  nicht  jede  Gattin  und  Mutter  und,  wenn  es 
moglich  ware,  jeder  Saugling,  der  auf  die  Welt  kommt,  und  jede  Ehe 
(das  Fundament  und  die  conditio  sine  qua  non  des  Kulturstaates) 
loben  und  danken  dafiir,  wenn  gezeigt  oder  als  selbstverstandlich 

160 


angesehen  wiirde,  daB  Mutterschaft,  Vaterschaft,  Geschlechtlichkeit 
und  alles,  was  dazu  gehort,  ofFen,  freudig,  stolz,  ohne  daB  man 
sich  schamt  oder  zu  schamen  braucht,  von  den  hochsten  kiinst- 
lerischen  und  menschlichen  Gesichtspunkten  aus  bekraftigt  werden 
kann,  wo  immer  es  darauf  ankommt?  Ja,  in  aller  Ehrfurcht  sei  es 
gesagt,  sollte  nicht  auch  die  Schopferkraft  selbst  sich  herablassen, 
auf  einen  solchen  Versuch,  die  Basis  und  den  Anfang  des  ganzen 
goti  lichen  Planes  in  der  Menscbheit  zu  rechtfertigen,  mil  einem 
Beifallslacheln  zu  blicken? 

In  der  Bewegung  fur  die  Befahigung  und  die  Zulassung  der 
Frauen  zu  neuen  Gebieten  des  Geschaftswesens,  der  Politik  und  des 
Stimmrechts  bildet  die  berrschende  Lusternheit  und  Konvention 
in  der  Behandlung  des  Gescblechtlicben  das  furchtbare  Haupt- 
bindernis.  Die  wacbsende  Flut  der  Frauenbewegung,  die  von  Jabr 
zu  Jahr  mehr  anscbwillt  und  weiter  vorriickt,  weicbt  bestiirzt  davor 
zuruck.  Meines  Erachtens  wird  es  in  dieser  Bewegung  keinen  all- 
gemeinen  Fortscbritt  geben,  bis  eine  verniinftige,  pbilosopbische, 
demokratiscbe  Behandlungsweise  an  die  Stelle  jener  Konvention 
getreten  ist. 

Die  ganze  Frage,  die  viel,  sebr  viel  tiefer  geht,  als  die  meisten 
denken  (und  zweifellos  ist  auf  jeder  Seite  etwas  zu  sagen),  ist  von 
besonderer  Wichtigkeit  fur  die  Kunst,  —  es  ist  erstens  eine  etbiscbe 
und  dann  nocb  mebr  eine  asthetische  Frage  .  .  . 

Nicht  das  Gemalde  oder  die  nackte  Statue  oder  der  Text  ist 
unanstandig,  sofern  der  kiinstlerische  Zweck  ein  lauterer  ist,  es  ist 
viel  mebr  des  Beschauers  eigener  Gedanke,  seine  eigene  verzerrte 
Auffassung.  Wahre  Sittsamkeit  ist  eine  der  kostlichsten  Eigen- 
scbaften,  ja  Tugenden;  aber  in  nichts  liegt  mebr  Heucbelei,  mebr 
Falschheit,  als  wenn  sie  iiberfliissigerweise  betont  wird.  Infolge 
von  Erziehung  und  Selbsterkenntnis  weiB  der  Menscb  scbon  lange 
genug,  wie  schlecbt  er  ist.  Icb  inocbte  dieses  BewuBtsein  nicht 
sowohl  storen  oder  vernichten,  vielmehr  nur  wieder  auf  die  innerste 
Bedeutung  des  Schriftwortes  binweisen  und  es  unwiderleglich 
daneben  stellen:  ,,Und  Gott  sab  an  alles,  was  er  gemacht  hatte", 
(samt  dem  Gipfelpunkt  des  Ganzen  --  der  Menschbeit  mit  ihren 
Elementen,  Leidenschaften,  Begierden),  ,,und  siebe,  es  war  sehr  gut." 

Wird  die  Schopfung  nicbt  durcb  alles,  was  jenen  dritten  Ge- 
sichtspunkt  nicht  gelten  laBt,  von  Anfang  an  negiert,  —  wenn  man 

ii     Whitman  I  1  b  | 


sich  die  Sache  ernstlich  und  von  alien  Seiten  iiberlegt?  Lebt  die 
in  diesen  Gesichtspunkten  liegende  IJberzeugung,  so  verdunkelt  und 
ihrer  selbst  unbewufit  sie  sein  mag,  in  der  Tat  nicht  ewig  im 
Zentrum  der  ganzen  Gesellschaft,  der  Geschlechter  und  der  Ebe? 
1st  sie  in  Wabrheit  nicbt  eine  Intuition  des  Menschengeschlecbts? 
Denn  so  alt  die  Welt  ist  und  so  unbeschreiblich  die  unzahligen  und 
glanzenden  Friichte  ihrer  Kultur  und  Evolution,  —  vielleicbt  die 
besten  und  friihesten  und  reinsten  Intuitionen  des  Menschen- 
geschlechtes  miissen  sich  erst  noch  entwickeln. 

Emersons  Werke  (ihre  Schatten) 

Die  Regionen,  die  wir  Natur  nennen,  die  iiber  alles  MaB  hinaus- 
ragen,  von  unendlicher  Ausdehnung,  unendlicher  Tiefe  und  Hohe, 
—  diese  Regionen,  einschlieBlich  des  Menschen  in  seinen  sozialen, 
historischen  und  moralisch-gefuhlsmafiigen  Beziehungen,  —  einen 
wie  geringen  Teil  von  ihnen  (das  kam  mir  heute  zum  BewuBtsein) 
hat  die  Literatur  wirklich  dargestellt,  —  selbst  wenn  man  ihre  Er- 
zeugnisse  aller  Zeiten  summiert.  Sie  erscheint  im  besten  Fall  wie 
eine  kleine  Flotte  von  Schiffen,  die  sich  an  die  Kiisten  einer  unend- 
lichen  See  schmiegen  und  sich  niemals  hinauswagen,  um  zu 
erforschen,  was  noch  nicht  auf  Karten  verzeichnet  ist,  —  nie 
kolumbusgleich  nach  neuen  Welten  aussegeln,  um  die  Rundung 
des  Erdballs  zu  durchmesseu. 

Emerson  schreibt  oft  aus  solchem  Gedankenkreis  heraus.  Seine 
Biicher  berichten  das  eine  oder  das  andere  eben  aus  jenem  Meeres- 
und  Luftraum ;  und  richten  sich  verstandlicher  an  unsere  Zeit  und 
an  das  amerikanische  Staatswesen  als  die  Schriften  irgendeines 
Mannes  vor  ihm.  Aber  ich  will  damit  beginnen,  daB  ich  seine 
Schwachen  hervorhebe  —  und  so  beweisen,  daB  ich  fur  seine  tiefsten 
Lehren  nicht  unempfanglich  bin.  Ich  will  seine  Werke  vom  derno- 
kratischen  und  westlichen  Gesichtspunkt  aus  betrachten.  Ich  will 
die  Schatten  der  sonnigen  Raume  bezeichnen  .  .  . 

Erstens  also:  diese  Schriften  sind  vielleicht  zu  vollkommen,  zu 
konzentriert.  (Wie  gut  ist  z.  B.  gute  Butter,  guter  Zucker.  Aber 
immer  nur  Zucker  und  Butter!  Mogen  sie  noch  so  gut  sein!)  Und 
obschon  der  Autor  viel  zu  sagen  weiB  von  Freiheit  und  Ungebunden- 
heit  und  Einfachheit  und  Selbstherrlichkeit,  so  war  doch  noch  nie 

162 


ein  Werk  mehr  auf  kiinstliche  Gelehrsamkeit  und  Wohlanstandig- 
keit  irn  dritten  oder  vierten  Aufgufi  (er  nennt  es  Bildung)  gegriindet 
und  darauf  aufgebaut.  Ks  ist  immer  etwas  Gemachtes,  nie  ein  un- 
bewufit  Gewachsenes.  Es  1st  die  Porzellanfigur  oder  Statuette  eines 
Lowen  oder  Hirsches  oder  indianischen  Jagers  —  freilich  von  vor- 
ziiglicher  Arbeit  -  -  fur  den  Rosenholz-  oder  Marmorstander  in 
Salon  oder  Bibliothek;  nie  das  Tier  oder  der  Jager  selbst.  Wer 
will  aucb  das  Tier  oder  den  Jager?  Was  lieBe  sich  damit  anfangen 
inmitten  von  Astrallicht  und  Nippes  und  Gobelins  und  Damen  und 
Herren,  die  mit  gedampften  Stimmen  von  Browning  und  Long- 
fellow und  Runst  sprecben?  Vor  dem  geringsten  Verdacht  eines 
wirklichen  Bullen  oder  Indianers  oder  sich  selbst  auswirkender 
Naturkraft  wiirden  all  diese  guten  Leute  in  panischem  Schrecken 
davonlaufen. 

Emerson  ist  meines  Eracbtens  nicht  als  Dichter  oder  Kiinstler 
oder  Lehrer  am  bedeutendsten,  obwohl  wertvoll  in  alledem.  Sein 
Bestes  gibt  er  in  der  Kritik  oder  Diagnose.  Nicht  Leidenschaft  oder 
Phantasie  oder  Nebeninteresse  oder  Schwache  oder  irgendein  aus- 
gesprochenes  Motiv  oder  eine  besondere  Vorliebe  beherrscht  ihn. 
(Ich  weifl,  Feuer,  Gemiit,  Liebe,  Selbstheit  gliihen  tief  und  unver- 
ganglich  in  ihm,  wie  in  alien  Neu-Englandern,  aber  die  Fassade 
verbirgt  sie  vollig,  es  ist  nichts  von  ihnen  zu  merken.)  Er  sieht 
oder  ergreift  nicht  nur  oder  vorwiegend  eine  Seite,  eine  Ansicbt 
(wie  alle  Dichter  oder  die  meisten  guten  Schriftsteller  iiberbaupt), 
er  sieht  alle  Seiten.  Seine  Schiiler  horen  unter  seinem  Einflufi 
schliefilich  auf,  irgend  etwas  zu  verehren,  ja  beinahe  an  irgend 
etwas  zu  glauben,  was  aufierhalb  ihrer  selbst  ist.  Emersons  Werke 
fiillen  gewisse  Lebensperioden  und  Entwicklungsstufen  aus,  und 
zwar  gut,  —  sie  sind  (wie  die  Lehre  oder  Theologie  des  Autors, 
die  er  als  junger  Mann  predigte)  unbeschreiblich  wertvoll  und 
kostbar  als  Durchgangsstadium.  Aber  im  Alter  oder  in  reizbaren 
oder  feierlichsten  Stunden  oder  im  Sterben,  wenn  man  die  ungreif- 
bar  beruhigenden  und  belebenden  Einflusse  abgrundtiefer  Natur 
oder  naturahnliche  Elemente  in  der  Literatur  und  menschlichen 
Gesellschaft  braucht  und  die  Seele  das  scharfste  bloB  verstandes- 
mafiige  Erkennen  ablehnt,  wird  man  nicht  nach  ihnen  verlangen. 

Emerson  hat  eine  fur  einen  Philosophen  seltsam  stutzerhafte 
Anstandstheorie.  Er  scheint  keine  Ahnung  davon  zu  haben,  dafi 

i63 


auCere  Manieren  einfach  die  Zeichen  sind,  an  denen  der  Chemiker 
oder  Metallurg  seine  Metalle  erkennt.  Fur  den  bedeutenden  Forscher 
sind  alle  Metalle  bedeutend,  so  wie  sie  es  auch  wirklich  sind.  Der 
Unbedeutende  wird,  wie  die  konventionelle  Welt,  nur  auf  Gold 
und  Silber  viel  halten.  Dem  wirklichen  Menschheitsbildner  also 
erscheinen  sogenannte  scblechte  Manieren  oft  am  malerischsten  und 
bedeutsamsten.  Man  stelle  sich  vor,  Emersons  Werke  wiirden  ab- 
sorbiert  als  dauernder  Lebenssaft  des  amerikanischen  Charakters 
im  allgemeinen  und  besonderen,  —  was  fur  eine  wohlgewaschene 
und  grammatische,  aber  blut-  und  bilflose  Rasse  wiirden  wir  dann 
werden!  Nein,  nein,  lieber  Freund;  die  Staaten  brauchen  zwar  ohne 
Frage  Gelehrte  und  vielleicht  auch  Darnen  und  Herren,  die  haufig 
baden  und  nie  laut  lacben  oder  unrichtig  sprechen,  aber  sie  brauchen 
nicht  Gelehrte  oder  Damen  und  Herren  auf  Rosten  alles  iibrigen. 
Sie  brauchen  gute  Farmer,  Seeleute,  Handwerker,  Beamte,  Burger, 
—  gesunde  geschaftliche  und  soziale  Verhaltnisse,  —  vollkommene 
Vater  und  Mutter.  Wenn  wir  nur  solche  oder  annahernd  solche 
haben  konnten,  in  Fiille,  schon  und  stattlich  und  gesund  und 
groBmiitig  und  patriotisch,  so  konnten  sie  ihre  Verba  und  Nomi- 
nativa  falsch  konstruieren  und  wie  Musketensalven  lachen,  wenn 
es  ihnen  SpaB  machen  wiirde.  Solche  Menschen  sind  natiirlich 
nicht  alles,  was  Amerika  braucht,  aber  sie  miissen  wir  uns  vor 
alien  Dingen  in  grofier  Anzahl  verschaffen.  Und  trotz  fiirchter- 
licher  Fehler  und  Irrgange  scheint  der  Instinkt  der  Staaten  wesent- 
lich  und  bauptsachlich  darauf  gerichtet  zu  sein  und  abzuzielen.  Das 
Streben  nach  einer  erlesenen,  iiberfeinerten ,  von  alien  anderen 
abgegrenzten  Rlasse,  das  Streben  der  Lander  und  Literaturen  der 
Alien  Welt,  ist  nicht  sowohl  an  sich,  als  well  es  unser  eigenes 
Streben  erstickt  und  in  der  Tat  sein  Tod  ist,  zu  tadeln.  Was  eine 
solche  abgesonderte  Kaste  betrifft,  so  konnen  die  Vereinigten  Staaten 
den  glanzvollen  Beispielen  der  ersten  Nationen  Europas  in  Ver- 
gangenheit  und  Gegenwart  (weit,  weit  iiber  allem  Vergleich  und 
Wettbewerb  mit  uns)  niemals  etwas  Gleichwertiges  gegeniiberstellen. 
Aber  eine  ungeheure  und  eigenartige,  iiber  unser  weites  und  mannig- 
faltiges  Gebiet,  West  und  Ost,  Siid  und  Word,  ausgebreitete  Gemein- 
schaft  —  in  der  Tat  zum  erstenmal  in  der  Geschichte  ein  groBes, 
zusammengeschlossenes,  wirkliches  Volk,  das  diesen  Namen  ver- 
dient  und  das  aus  vollentwickelten  heroischen  Individualitaten 

1 64 


beiderlei  Geschlechtes  besteht,  —  das  ist  Amerikas  wichtigster, 
vielleicht  einziger  Daseinsgrund.  Wenn  wir  dieses  Ziel  erreichen, 
so  wird  es  mindestens  ebensosehr  (seit  kurzem  denke  ich,  zwei- 
mal  mehr)  das  Ergebnis  einer  fiir  uns  passenden  demokratischen 
Soziologie,  Literatur  und  Kunst  sein,  --  wenn  wir  die  je  baben 
werden,  —  als  unserer  demokratischen  Politik. 

Zeitweilig  babe  ich  daran  gezweifelt,  ob  Emerson  wirklich  weiB 
oder  fiihlt,  was  Poesie  hochster  Art  ist,  wie  z.  B.  in  der  Bibel  oder 
in  Homer  oder  Shakespeare.  Ich  sehe,  daB  er  heimlich  oder  offen 
hochstvollendete  F'ormglatte  oder  das,  was  alt  oder  seltsam  ist,  be- 
vorzugt,  —  Wallers  MGo  lovely  rose"  oder  Lovelaces  Verse  an 
,,Lacusta",  die  sonderbaren  Einfalle  der  altfranzosischen  Barden 
und  ahnliches.  Fiir  Kraft  scheint  er  die  Bewunderung  eines  Gentle- 
man zu  haben,  —  aber  in  seinem  innersten  Herzen  stehen  ihm 
kunstvolle  Versformen,  geistreiche  Einfalle,  elegante  Schnorkel  und 
Worte  immer  hoher  als  die  erhabensten  Eigenschaften  Gottes  und 
der  Dichter. 

DaB  ich,  wie  die  meisten  jungen  Leute,  vor  Jahren  einen  be- 
ginnenden  Anfall  (spat  zwar  und  nur  an  der  Obertlache)  von 
Emersonmanie  hatte,  —  daB  ich  seine  Schriften  ehrfiirchtig  las  und 
ihn  in  den  meinen  als  ,,Meister"  anredete  und  ihn  einen  Monat 
lang  oder  so  auch  dafiir  hielt,  —  daran  erinnere  ich  mich  nicht 
nur  mit  Gelassenheit,  sondern  mit  wirklicher  Genugtuung.  Ich 
habe  bemerkt,  daB  die  meisten  jungen  Leute  von  strebsamem  Geist 
durch  derlei  Ubungsstadien  hindurch  miissen. 

Das  beste  am  Ernersonianismus  ist,  daB  er  den  Riesen  erzeugt, 
der  sich  selbst  vernichtet.  ,,Wer  will  bloBer  Epigone  eines  Mannes 
sein?"  —  diese  Frage  lauert  hinter  jeder  Seite.  Nie  hat  es  einen 
Lehrer  gegeben,  der  so  dafiir  gesorgt  hatte,  daB  seine  Schiiler 
selbstandig  werden,  —  nie  einen  echteren  Evolutionisten. 

Neue  Poesie  --  Kalifornien,  Kanada,  Texas 

Meiner  Ansicht  nach  ist  die  Zeit  gekommen,  um  die  formalen 
Schranken  zwischen  Prosa  und  Poesie  ganzlich  niederzubrechen. 
Ich  behaupte,  die  letztere  muB  von  nun  an  ohne  Riicksicht  auf 
den  Reim  und  die  rhythmischen  Regeln  von  Jambus,  Spondaeus, 
Dactylus  usw.  ihren  Charakter  gewinnen  und  wahren.  Mag  auch 

1 65 


der  Reim  samt  den  genannten  MaBen  fiir  geringere  Schriftsteller  und 
Themen  weiterhin  als  Ausdrucksmittel  dienen  (besonders  fiir  Paro- 
distisches  und  Komisches,  da  der  Reim  an  sich  und  iiberhaupt  fur 
den  vollendeten  Geschmack  in  Zukunft  etwas  unvermeidlich  Komi- 
sches zu  haben  scheint),  echteste  und  erhabenste  Poesie  (innerlich 
und  notwendigervveise  zwar  immer  rhythmisch  und  leicht  genug 
von  Prosa  zu  unterscheiden)  kann  in  der  engliscben  Sprache  nie 
wieder  in  willkiirlicher  und  reimender  Stropbenform  Ausdruck 
find  en,  ebensowenig  wie  die  groBte  Beredsamkeit  oder  die  echteste 
Kraft  und  Leidenschaft.  Zwar  gebe  ich  zu,  daB  die  ehrwiirdigen 
und  himmlischen  Formen  melodischen  Versbaues  zu  ihrer  Zeit 
eine  groBe  und  angemessene  Rolle  gespielt  haben,  —  daB  schwer- 
miitige  Klage,  Balladen,  Kriege,  Liebesgeschichten,  Sagen  Europas 
usw.  vielfach  unnachahmlich  schon  in  Reim  und  Strophe  dar- 
gestellt  worden  sind,  —  daB  es  sehr  hervorragende  Dichter  ge- 
geben  hat,  deren  Gestalten  wundervoll  und  passend  der  Mantel 
solcher  \7ersform  umhiillte  und  daB  dieser  ihr  Mantel  vielleicht  in 
noch  groBerer  Schon heit  auf  einige  Dichter  unserer  Zeit  gefallen 
ist.  Trotz  alledem  glaube  ich  sicher,  daB  die  Zeit  solchen  Reimes 
zu  Ende  ist.  In  Amerika  jedenfalls  und  als  Mittel  hochsten  asthe- 
tischen,  praktischen  oder  geistigen  Ausdrucks,  in  Gegenwart  und 
Zukunft,  versagt  er  offenbar  und  muB  versagen. 

Die  Muse  der  Prarien  von  Kalifornien,  Kanada,  Texas  und  der 
Berggipfel  Kolorados  entledigt  sich  sowohl  der  literarischen  als 
sozialen  Etikette  des  transatlantischen  Feudalismus  und  Kasten- 
wesens,  dehnt  sich  frohlich  aus,  macht  sich  bereit,  den  Umfang  des 
ganzen  Volkes  zu  umfassen,  samt  dem  freien  Spiel  aller  Gefiihle, 
Stolz,  Leidenschaften ,  Erfahrungen,  die  zu  ihm  in  Korper  und 
Geist  gehoren,  —  den  ganzen  Erdball  zu  umfassen  und  all  seine 
astronomischen  Beziehungen,  wie  sie  uns  von  den  Gelehrten  ge- 
schildert  werden,  —  das  moderne,  geschaftige  19.  Jahrhundert  (so 
erhaben  poetisch  wie  je  eines,  nur  anders)  mit  seinen  Dampf- 
schiffen,  Eisenbahnen,  Fabriken,  Telegraphen,  Zylinderpressen,  — 
den  Gedanken  von  der  Solidaritat  der  Nationen  und  von  der  Briider- 
schaft  und  der  Schwesterschaft  der  ganzen  Erde,  —  die  Wiirde  und 
den  Heroismus  der  praktischen  Arbeit  in  Farmen,  Fabriken,  GieBe- 
reien,  Werkstatten,  Bergwerken  oder  auf  Schiffen,  Seen  und  Fliissen. 
Diese  Muse  wahlt  jenes  andere,  geschmeidigere,  angemessenere 

1 66 


Ausdrucksmittel  und  schwingt  sich  empor  zu  dem  freien,  weiten, 
gottlicheren  Himmel  der  Prosa. 

Bei  Gedichten  dritter  oder  vierter  Ordnung  (vielleicht  sogar  bei 
manchen  zweiter  Ordnung),  hat  es  wenig  oder  gar  nichts  zu  besagen, 
\ver  sie  verfaBt,  —  sie  sind  gut  genug,  so  wie  sie  sind;  auch  brauchen 
sie  nicht  tatsachliche  Ausstromungen  von  Personlichkeit  und  Leben 
der  Verfasser  zu  sein.  Das  gerade  Gegenteil  wirkt  manchmal  reiz- 
voll.  Aber  Dichtungen  erster  Ordnung  (Gedichte  der  Tiefe  im 
Unterschied  von  Gedichten  der  Oberflache)  sind  streng  an  den 
Dichtern  selbst  zu  messen,  an  ihrer  Personlichkeit  und  ihrem  Leben 
zu  priifen.  Wer  will  Verherrlichung  von  Mut  und  mannlichem 
Trotz  aus  dem  Munde  eines  Feiglings  oder  Schleichers?  Wer 
ein  Lied  auf  Mildtatigkeit  oder  Keuschheit  von  einem  verseschreiben- 
den  Knicker  oder  einem  unziichtigen,  schliipfrigen  Roue? 

In  diesen  Staaten  wird  es  die  Poesie  iiber  alles  bisher  Dagewesene 
hinaus  mit  den  wirklichen  Tatsachen  zu  tun  haben,  mit  den  kon- 
kreten  Staaten  und  —  denn  wir  sind  nicht  viel  weiter  als  am  An- 
fang  —  mit  der  endgiiltigen  Ausgestaltung  der  Union.  Manchmal 
denke  ich  sogar,  sie  allein  wird  die  Union  gestalten  miissen  (d.  h. 
ihr  kiinstlerischen  Charakter,  Geistigkeit,  Wiirde  geben  miissen). 
Was  der  amerikanischen  Bevolkerung  am  gefahrlichsten  ist,  das 
ist  das  UbermaB  von  Wohlstand,  Geschaft,  Weltlichkeit,  Mate- 
rialismus;  was  am  meisten  fehlt,  in  Ost,  West,  Nord,  Siid,  das  ist 
ein  warmes  und  gliihendes  Nationalgefiihl,  ein  Patriotismus,  der 
alle  Teile  zu  einem  Ganzen  vereinigt.  Wer  anders  kann  jene  Ge- 
fahr  in  Zukunft  abwehren,  diesen  Mangel  ausfiillen,  als  eine  Klasse 
erhabenster  Dichter? 

Obgleich  die  Vereinigten  Staaten  noch  keine  Dichter  von  irgend- 
wie  iiberragender  GroBe  hervorgebracht  haben,  so  importieren, 
drucken  und  lesen  sie  doch  mehr  Poesie  als  eine  gleich  groBe 
Anzahl  Menschen  sonstwo  —  ja  wahrscheinlich  mehr  als  die  ganze 
iibrige  Welt  zusammengenommen. 

Die  Poesie  ist  (wie  eine  groBe  Personlichkeit)  die  Frucht  vieler 
Generationen  —  des  seltenen  Zusammentreffens  vieler  Umstande. 

Um  groBe  Dichter  zu  haben,  braucht  es  auch  eine  groBe  Zu- 
horerschaft. 


,67 


Darwinismus  —  dann  Weiteres 

Durch  die  vorgeschichtlichen  Zeiten  bis  herein  in  die  Morgen- 
dammerung  unserer  Uberlieferungen,  die  Theologie  begriindend, 
die  Literatur  durchdringend  und  so  immer  weiter  verbreitet,  er- 
scheinen  die  ehrwiirdigen  Anspriicbe  auf  Abstammung  von  Gott 
selbst  oder  von  Gottern  und  Gottinnen,  auf  Abkunft  von  gott- 
licben  Wesen,  die  groBere  Schonheit,  Gestalt  und  Macbt  besafien 
als  wir.  (Dieser  Glaube  bildet  gewissermaBen  Wirbelsaule  und 
MarkallerantikenRassen  und  Lander,  Agyptens,  Indiens,  Griechen- 
lands,  Roms,  Chinas,  Judaas  usw.,  und  gibt  ihrer  Kunst,  Dichtung 
und  Politik  wie  auch  ihrem  Rirchenwesen  (von  all  dem  haben 
wir  mehr  oder  weniger  geerbt)  Form  und  Farbe.  In  der  neuesten 
Zeit  aber  lehrt  diejenige  Abstammungstheorie,  die  die  tiefste  Wir- 
kung  ausgeiibt  zu  haben  scheint  (in  seltsamem  Gegensatz  zur  an- 
tiken),  daB  wir  von  Affen,  von  Pavianen  herkommen  und  uns  aus 
ihnen  entwickelt  haben,  —  eine  Theorie,  deren  indirekte  Wirkungen 
oder  Konsequenzen  vielleicht  wichtiger  sind  als  sie  selbst.  (Diese 
zwei  Theorien,  so  griindverschieden  sie  zu  sein  scheinen  und  so 
heftig  ihre  widerstreitenden  Fiirsprecher  heute  einander  bekampfen, 
—  lieBen  sie  sich  nicht  vielleicht  miteinander  versohnen,  ja  sogar 
verschmelzen?  Konnen  wir  denn  eine  da  von  entbehren?  Besser 
noch:  wird  sich  nicht  aus  beiden  noch  eine  dritte,  die  wahre,  oder 
eine  die  wahre  andeutende  Theorie  herausbilden?) 

Die  alte  Theorie  von  der  Evolution,  wie  sie  von  Darwin  mit 
verdreifachter  Wucht,  mit  wahrhaftalles  absorbierenden  Anspriichen 
neu  aufgestellt  worden  ist,  enthalt  so  viel  und  ist  so  notwendig  als 
Gegengewicht  gegen  den  noch  weitverbreiteten  und  unsagbar  zahen, 
entnervenden  Aberglauben,  —  sie  ist  von  dem  neuen  Mann  in  so 
groBartigen,  bescheidenen,  wahrhaft  wissenschaftlichen  Folgerungen 
ausgepragt  worden,  da6  die  Welt  ethischer  und  physikalischer 
Forschung  durch  das  Erscheinen  des  Darwinismus  in  ihren  Speku- 
lationen  schliefilich  vervollkommnet  und  erweitert  werden  muB. 
Und  doch  ist  das  Problem  des  menschlichen  und  sonstigen  Ur- 
sprungs  der  Losung  um  keinen  Zoll  naher  gekommen.  Mit  der 
Zeit  wird  die  Evolutionstheorie  ihre  Heftigkeit  mildern  miissen, 
sie  darf  nicht  alles  andere  beherrschen,  sie  wird  ihren  Platz  als 
ein  Segment  des  Kreises,  der  ganzen  Masse,  einnehmen  miissen, 

168 


als  nur  eine  von  vielen  Theorien,  von  vielen  Ideen  tiefsten  Gehalts, 
-  sie  wird  vieles  zu  berichtigen  und  zu  differenzieren   haben  und 
doch  die  gottlichen  Geheimnisse  ebenso  unerklarlich  und  unerreich- 
bar  lassen  wie  zuvor,  —  vielleicht  nocb  mehr. 

Dann  Weiteres 

Was  letzten  Endes  von  Priestern  oder  Dichtern,  und  nur  von- 
Priestern  oder  Dichtern  vollbracht  werden  mufi,  —  trotz  all  der 
erstaunlicben  und  blendenden  Errungenschaften  unseres  Jahr- 
hunderts,  dem  Auftreten  Amerikas,  der  Naturwissenschaft  und 
der  Demokratie,  —  das  bleibt  nach  wie  vor  unentbebrlicb,  nacb 
alien  Leistungen  der  grofien  Astronomen,  Chemiker,  Linguisten, 
Historiker,  Forscher  und  der  wunderbaren  deutscben  und  sonstigea 
Metaphysiker  in  den  letzten  hundert  Jahren  —  und  es  wird  ein  Be- 
diirfnis  bleiben,  bier  in  Amerika  genau  so  wie  in  der  Welt  Europas 
oder  Asiens  vor  hundert,  tausend  oder  mehreren  tausend  Jahren,  — 
ich  glaube  sogar,  es  wird  notwendiger  sein  als  je,  um  unseren- 
beutigen  Anschauungen  Ausdruck  zu  verleihen,  aus  dem  erweiterten. 
Hintergrund  und  dem  unbeschreiblich  grofieren  Ausblick  der  Jetzt- 
zeit  heraus.  Einzig  den  Priestern  und  Dichtern  der  Neuzeit,  die 
mindestens  ebenso  erhaben  sind  wie  die  der  Vergangenheit,  ist  es 
in  der  Tat  vorbehalten,  die  Ergebnisse  der  Vergangenheit,  der  Ge- 
meinschaft  aller  Menschen  und  Zeiten  in  sicb  aufzunehmen,  zu 
wiirdigen  und  das  alte  Metall,  das  bereits  gestaltete  Material,  um- 
zugieBen  in  neue  zeitgemafie  Formen  und  Bildungen.  (Die  Haupt- 
resultate  sind  bereits  gegeben,  denn  es  gibt  vielleicht  nichts  Neues, 
jedenfalls  nicht  viel  eigentlich  Neues,  nur  wichtigere  moderne  Kom- 
binationen  und  neue  entsprechende  Anpassungen.) 

Mittlerweile  warten  die  hochsten  und  feinsten  und  umfassendsten 
Wahrbeiten  der  modernen  Wissenschaft  —  wie  auch  die  Demo- 
kratie —  auf  ihre  wahre  Aufgabe  und  die  letzten  lebendigen  Licht- 
blitze  durch  grofie  Metaphysiker  und  spekulative  Philosophen,  die 
die  Fundamente  und  Grundlagen  bauen  fur  jene  neuen,  umfassen- 
deren,  harmoniscberen,  melodischeren ,  freieren  amerikanischen 
Dichtungen. 


•69 


Unser  wirklicher  Hohepunkt 

Der  Hohepunkt  in  der  Entwicklung  dieser  groBen  und  viel- 
gestaltigen  Republik  wird  in  der  Schaffung  und  dauerhaften  Be- 
griindung  von  Millionen  behaglicher  Stadtheimstatten  und  maBig 
grofier  Farmen  bestehen,  gesund  und  unabhangig,  in  abgesondertem 
Einzelbesitz  mit  Eigentumsrecht,  wohlfeil  versorgt  mit  allem,  was 
man  zum  Leben  braucht,  und  fiir  alle  erwerbbar.  AuBergewohn- 
HcherReichtum,Prunk,  zablloselndustrien,  ein  UbermaB  von  Export, 
Riesenkapitale  und  -kapitalisten,  vollbesetzte  Fiinf-Dollar-Hotels, 
kiinstlicher  Komfort,  ja  selbst  Biicher,  Universitaten  und  das  Wabl- 
recht  —  all  das  bildet  an  sich,  in  mancher  Hinsicht  (so  hart  es 
auch  klingen  mag,  und  scharf  wie  das  Messer  eines  Chirurgen), 
mehr  oder  weniger  eine  Art  antidemokratischer  Krankheit  und 
Ungeheuerlichkeit  und  scheint  mir  in  der  Hauptsache  nur  von 
Wert  oder  von  Bedeutung  zu  sein,  sofern  es  zu  jenem  Hohepunkt 
Beziehungen  hat  und  auf  seltsamen  Umwegen  dazu  beitragt,  da6 
er  erreicht  wird. 

In  dem  gewohnlichen  Erdboden,  in  Getreide,  Vieh,  Luft,  Baumen 
usw.  und  darin,  dafi  man  a  us  erster  Hand  mit  ihnen  zu  tun  hat, 
liegt  ein  subtiles  Etwas,  das  das  einzige  reinigende  und  dauernde 
Element  fiir  Individuen  und  Gesellschaft  bildet.  Ich  mufi  gestehen, 
es  ware  mein  Wunsch,  dafi  in  Amerika  die  Beschaftigung  mit  der 
Landwirtschaft  aus  erster  Hand  immer  allgemeiner  wiirde.  Ihre 
Ertrage  sind  die  einzigen,  auf  denen  das  Lacheln  Gottes  zu  ruhen 
scheint.  Welche  anderen  —  welches  Geschaft,  welcher  Profit  und 
Reichtum  ist  ohne  Makel?  Welche  Gliicksgiiter  sonst  sind  nicht,  in 
jedem  Dollar,  mehr  oder  weniger  Zeichen  und  Frucht  von  Betrug, 
Luge,  Unnatur? 


AUS   WNOVEMBERZWEIGE« 
UND   ,,ADE,   PHANTASIE" 

Die  Arbeitslosen-  und  Streikfrage 

Zwei  grimmige  und  gespenstische  Gefahren  —  gefahrlich  fur 
Frieden,  Gesundheit,  Fortschritt  und  soziale  Sicherheit,  den 
Regierungen  der  Alien  Welt  langst  leibhaftig  bekannt,  denn  sie 
spielten  dort  mehr  als  einmal  bei  dynastischen  Umstiirzen,  Blut- 
badern,  in  Tagen  und  Monaten  des  Schreckens  eine  Rolle,  — 
scheinen  sich  seit  einigen  Jabren  der  Neuen  Welt  zu  nahern,  ja 
sich  allmahlich  bei  uns  einzunisten.  Was  wollen  diese  Pbantome 
bier?  (Icb  personifiziere  sie  in  dichteriscber  Form,  aber  sie  sind 
sehr  real.)  Soil  das  frische  und  weite  Gebiet  Amerikas  ihnen  aucb 
Standort  und  Herberge  und  dauernden  Wohnsitz  geben? 

Was  im  Untergrunde  der  ganzen  politiscben  Welt  beute  am 
meisten  drangt  und  verwirrt  und  die  wichtigsten  Folgen  fur  die 
Zukunft  bat,  ist  nicbt  die  abstrakte  Frage  der  Demokratie,  sondern 
die  Frage  sozialer  und  vvirtscbaftlicher  Organisation,  die  Behand- 
lung  der  Arbeiter  durch  die  Arbeitgeber  und  alles,  was  bier  her- 
einspielt  --  nicht  nur  die  Lohnfrage,  sondern  ein  gewisser  Geist 
und  ein  gewisses  Prinzip,  wodurch  die  Verbaltnisse  neu  belebt 
werden  miissen  — ,  alle  die  Fragen  von  Fortschritt,  Leistungsfahig- 
keit,  Tarif,  Finanzen  usw.,  die  in  Wirklichkeit  mebr  oder  weniger 
direkt  aus  der  Armutsfrage  hervorgehen.  Ich  will  zunachst  den 
Leser  auf  einen  Gedanken  iiber  diese  Angelegenheit  aufmerksam 
machen,  der  ihm  bisher  vielleicbt  noch  nicht  zum  Bewufhsein  ge- 
kommen  ist:  —  Der  Reicbttim  der  zivilisierten  Welt  im  Gegensatz 
zu  ihrer  Armut  —  woraus  ist  er  berzuleiten?  und  was  stellt  er 

171 


dar?  Ein  Reicher  sollte  eigentlich  einen  guten  Magen  haben.  Wie 
in  Europa  der  Reichtum  von  heute  in  der  Hauptsache  das  Ergebnis 
und  die  Frucht  ist  von  Raub,  Mord,  Gewalttat,  Verrat,  Habgier 
vergangener  Jabrhunderte  und  immer  so  fort,  so  auch  in  Amerika, 
unter  demselben  Zeicben  —  (vielleicht  noch  nicbt  so  schlimm  oder 
wenigstens  nicht  so  fiiblbar;  —  wir  existieren  noch  nicht  lange  genug, 
aber  wir  tun  offenbar  alles,  um  Europas  Vorsprung  einzuholen). 

So  seltsam  es  klingt,  gerade  in  den  sogenannten  armlicbsten, 
niedrigsten  Gharakteren  wird  man  zuweilen,  nein  gewohnlich, 
Lichtseiten  erhabenster  Tugenden,  Begabungen,  Heroismen  finden. 
Es  ist  also  zweifelhaft,  ob  der  Staat  in  den  langen,  einformigen 
Zeiten  der  Entwicklung  oder  in  furchtbaren  besonderen  Krisen 
nur  durcb  seine  guten  Burger  erbalten  wird.  Wenn  der  Sturm 
am  todlichsten  und  die  Rrankbeit  am  drohendsten  ist,  kommt  die 
Hilfe  oft  aus  merkwiirdigen  Gegenden  —  (man  erinnere  sicb  an 
den  homoopathischen  Spruch :  „  Heile  den  Bifi  mit  einem  Haar  vom 
selben  Hund")  .  .  . 

Wenn  aucb  die  Vereinigten  Staaten,  ebenso  wie  die  Lander  der 
Alten  Welt,  groBe  Massen  von  Armen,  Verzweifelten,  Unzufriede- 
nen,  Heimatlosen,  Scblechtbezahlten  bervorbringen  sollten,  wie  es 
uns  seit  einigen  Jabren  zu  drohen  scheint,  die  stetig,  wenn  aucb 
langsam,  sich  in  sie  hineinfressen  wie  ein  Krebs  in  Magen  und 
Lungen,  —  dann  ist  unser  republikanisches  Experiment  trotz  all 
seiner  aufieren  Erfolge  im  Kern  nicht  lebensfahig  und  ein  Fiasko. 

Februar  1879. 

Ich  sab  heute  ein  Bild,  das  ich  noch  nie  zuvor  geseben  habe, 
und  es  bestiirzte  mich  und  machte  mich  ernst.  Drei  recht  statt- 
liche  amerikanische  Manner  von  ehrbarer  Erscheinung,  zwei  da  von 
jung,  trugen  Lumpensacke  auf  den  Schultern  und  die  iiblichen 
langen  Eisenhaken  in  den  Handen  und  trotteten  die  StraGe  entlang, 
die  Augen  auf  den  Boden  gerichtet,  um  nach  Brocken,  Lumpen, 
Knochen  usw.  zu  spahen. 

Wer  bekommt  die  Beute? 

Die  Protektionisten  blenden  die  Augen  des  Publikums  gern  mit 
der  glanzenden  Vorspiegelung  grofier  Einkiinfte  aus  Industrie, 

172 


Bergbau,  kiinstlich  hochgetriebenem  Export:  so  viele  Millionen  aus 
dieser  Quelle  und  so  viele  aus  jener,  —  welch  verfiihrerisches,  un- 
widerlegliches  Lockbild:  ein  ungeheurer  jahrlicher  Barertrag  aus 
Eisen-,  Baumwoll-,  Woll-,  Lederwaren  und  hundert  anderen 
Dingen,  alles  aufgepappelt  durch  ,,Schutzzoll" !  Aber  der  wirklich 
wir.htige  Punkt  bei  all  dem  ist:  in  wessen  Tascben  flieBt 
diese  Beute  eigentlich?  Es  wiirde  einige  Entschuldigung  und 
Befriedigung  gewahren,  wenn  aucb  nur  ein  angemessener  Teil  den 
Arbeitermassen  zugute  kame,  —  wenn  daraus  Heimstatten  fiir 
Manner,  Frauen  und  Kinder  entstiinden,  Myriaden  wirklicher 
Heimstatten  mit  Eigentuinsrecht  in  jedem  Staat,  —  nicht  das  tau- 
scbende  Gescbrei  von  dem  erstaunlicben  Reichtum,  wie  er  in  Zen- 
sur,  Statistik  und  Zeitungslisten  prangt,  sondern  eine  ehrliche  Ver- 
teilung  und  ein  anstandiger  Durchschnitt  fiir  Arbeiter  und  Arbei- 
terinnen:  —  das  ware  etwas.  In  Wahrheit  ist  es  aber  ganz  anders. 
Den  Profit  vom  ,,Schutzzollw  baben  nur  ein  paar  Dutzend  Bevor- 
zugte,  die  durcb  Protektion  von  KongreB,  Landtag,  Banken  und 
durch  andere  Sondervorteile  eine  vulgare  Aristokratie  bilden,  genau 
so  schlimm  wie  die  englischen  und  kontinentalen  Adelskasten  oder 
Dynastien  der  Vergangenheit.  Wie  Sismondi  gezeigt  hat,  besteht 
das  wahre  Gedeihen  eines  Volkes  nicht  in  dem  groBen  Reichtum 
einer  einzelnen  Klasse,  sondern  kann  nur  vervvirklicht  werden, 
wenn  die  groBe  Masse  des  Volkes  mit  Heimstatten  und  Land  ver- 
sorgt  wird,  an  denen  es  Eigentumsrecht  hat.  Das  mag  nicht  das 
glanzendste  Schauspiel  sein,  aber  es  ist  die  beste  Wirklichkeit. 

Fiihrer  aus  dem  wirklichen  Volk 

.  .  .  Keine  Gemeinschaft  von  Mannern  ist  fahig,  Prasidenten, 
Richter  und  Heerfiihrer  zu  ernennen,  wenn  sie  nicht  aus  sich  selbst 
heraus  die  besten  Muster  hervorbringen  kann;  und  bringt  sie  ein 
oder  zwei  solcher  Muster  hervor,  so  ist  die  ganze  Gemeinschaft 
dadurch  auf  tausend  Jahre  ausgezeichnet.  Ich  hoffe  eine  Zeit  zu 
erleben,  wo  alles,  was  so  aussieht,  wie  unser  jetziges  Personal  von 
Regierungsbeamten,  —  Unions-,  Staats-,  Stadt-,  Militar- und  Marine- 
beamten,  —  nur  noch  zum  Gespott  dient,  und  wo  bewahrte  Hand- 
werker  und  junge  Manner  in  den  KongreB  und  zu  anderen  amt- 
lichen  Stellungen  beruten  werden,  im  Arbeitsanzug,  frisch  von 

.73 


Hobelbank  und  Werkzeug  weg,  wohin  sie  wieder  in  Ehren  zuriick- 
kehren.  Die  jungen  Manner  miissen  sich  darauf  vorbereiten,'  einer 
solchen  Bestimmung  Ebre  zu  machen,  denn  das  Zeug  dazu  haben 
sie.  Nichts  anderem,  das  bedenke  man,  gebiihrt  je  der  Vorrang, 
als  blanker  Uberlegenheit. 

In  den  Handwerkern  und  jungen  Mannern  Amerikas  steckt 
gegenwartig  mehr  raube  und  unentwickelte  Tiichtigkeit,  Kamerad- 
schaftsgefiibl,  Pflichttreue,  klarer  Blick  und  praktische  Begabung 
fur  jede  Art  von  Tatigkeit,  selbst  die  hochste  und  umfassendste, 
als  unter  all  unseren  Staatsbeamten  in  Legislative,  Exekutive, 
Rechtsprechung,  Heer  und  Flotte  und  aucb  mehr,  als  unter  alien 
literarischen  Persbnlichkeiten.  Es  ware  mir  eine  grofie  Freude, 
wenn  icb  irgendeinen  beroischen,  klugen,  wohlunterricbteten,  ge- 
sunden,  bartigen  amerikanischen  Grobschmied  oder  Schiffer  mittle- 
ren  Alters  seben  wiirde,  der  vom  Westen  her  iiber  die  Alleghanies 
kame  und  die  Prasidentschaft  antrate,  mit  einem  reinlichen 
Arbeitsanzug  bekleidet,  Gesicht,  Brust  und  Arme  gebraunt.  Ich 
wiirde  sicher  einem  solchen  Manne,  der  die  erforderlichen  Eigen- 
schaften  besafie,  vor  jedem  anderen  Kandidaten  meine  Stimme 
geben. 

Dafi  Arbeiter  und  Handwerker  von  ihrem  Beruf  weg  —  Lincoln, 
Johnson,  Grant,  Garfield  —  aus  den  Massen  emporgehoben  wur- 
den,  die  Prasidentschaft  iibernahmen  und  die  gewaltige  Macht  des 
Amtes  mit  fester  Hand  ausiibten,  tatsachlich  mit  grofierer  Kraft 
und  Tiichtigkeit  als  irgendein  Konig  der  Geschichte:  —  erkennen 
wir  nicht,  dafi  diese  Tatsachen  eine  Bedeutung  haben,  weit,  weit 
iiber  politische  und  Parteiinteressen  hinaus? 

Letzte  Aufzeichnungen 

Auf  ihrer  hochsten  Warte  und  in  ihren  erhabensten  Schopfungen 
ist  echte  Poesie  der  Ausdruck  und  die  Begleiterscheinung  echter 
Religion,  —  war  und  ist  eine  bessere  Helferin  wahrer  Religion  und 
hat  sie  mehr  gefordert  (es  gibt  natiirlich  auch  eine  falsche,  und  mehr 
als  genug)  als  alle  Priester  urid  Glaubensbekenntnisse  und  Kirchen, 
die  heute  existieren  oder  jemals  existiert  haben,  —  trotzdem  die 
heutzutage  herrschende  Theorie  und  Praxis  der  Poesie  ganz  ein- 
seitig  und  nur  ornamental  und  elegant  ist,  —  ein  Liebesseufzer,  ein 


Juwel,  eine  feudalistisclie  Liebhaberei,  eine  geistreich  ersonnene 
Geschichte  oder  eine  intellektuelle  Finesse,  angepafh  dem  niedrigen 
Gescbmack  und  Maftstab,  der  immer  so  ziernlich  allgemein  gelten 
\vird  —  (notwendige  Vorstufe  zu  etwas  Hoherem). 


Alle  die  Sekten,  Kirchen  und  Doktrinen,  Tollheiten,  Verbrechen, 
Fanatismus  der  Masse  und  der  Einzelnen,  so  haufig  in  aller  Ge- 
schicbte,  sind  in  ihrer  Art  ebenfalls  Beweise  von  der  Urspriinglich- 
keit  und  Allgemeinheit  des  unzerstorbaren  Elementes  menscblicher 
Religiositat  und  sind  nur  die  Kehrseite  davon.  Genau  so  wie 
Krarikheit  der  Beweis  der  Gesundheit  und  ihre  Kebrseite  ist  .  .  . 
Die  Philosophic  Griechenlands  lehrte  die  Natiirlichkeit  und  Schon- 
heit  des  Lebens.  Das  Christentum  lehrt  Krankheit  und  Tod  er- 
dulden.  Ich  babe  mich  besonnen,  ob  sich  nicbt  eine  dritte  Philo- 
sophic entwerfen  lieCe,  die  beide  verschmelzen  und  beiden  vollig 
gerecht  werden  wiirde. 


Die  Natur  schien  mich  lange  Zeit  zu  gebrauchen,  —  als  ich  selbst 
gesund,  tiichtig,  stark  und  gliicklich  war,  —  damit  ich  Kraft,  Frei- 
heit,  Gesundheit  darstelle.  Seit  einiger  Zeit  aber  scheint  sie  zu 
glauben,  ich  konne  das  alles  vielleicht  besser  sehen  und  verstehen, 
wenn  ich  dessen  groBtenteils  beraubt  ware 


Wie  schwierig  ist  es,  die  Literatur  mit  irgend  etwas  Neuem  zu 
bereichern  —  und  wie  unbefriedigend  fur  einen  ernsten  Geist,  nur 
dem  Vergniigen  der  Menge  zu  dienen!  (Es  scheint  mir  sogar,  sagte 
H.  Heine,  erfrischender,  etwas  Schlechtes  zu  vollbringen,  als  etwas 
Nichtiges.) 

* 

Der  Hochste  sagte:  LaB  uns  nicht  so  weit  unten  beginnen,  —  ist 
unser  Grund  nicht  zu  rauh,  zu  grob?  -  -  Die  Seele  antwortete: 
Nein,  nicht,  wenn  wir  bedenken,  wozu  das  alles  dient,  —  das  Ziel, 
in  Raum  und  Zeit  verborgen. 


•75 


Im  Grunde  sind  meine  Veroffentlichungen,  alle  meine  Werke, 
zweifellos  nur  Stegreifaufierungen  spontaner  Personlichkeit,  blind- 
lings  dem  unerforschlichen  Rufe  folgend,  von  dieser  Personlichkeit 
beherrscht  —  nur  undeutlich,  doch  entschieden  —  und  fast  ohne 
alle  Planmafiigkeit,  Kunst,  Bildung  usw.  Wenn  ich  mich  ent- 
schlossen  babe,  die  Ziigel,  die  Leitung  in  der  Hand  zu  behalten, 
so  geschah  es  hauptsachlich,  um  den  unsichtbaren  Rosseii  die 
Richtung,  den  Antrieb,  den  Weg  zu  geben.  (Ich  wollte  sehen,  wie 
ein  Mensch  in  Amerika  in  der  letzten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts 
erscheinen  wiirde,  aber  ganz  frei  und  ehrlich,  in  wahrhaftigem 
Abbild.) 


IN  HALT 

Einleitung  . IX 

Vorbemerkung i 

Vorrede  zur  Erstausgabe  der  ,,Grashalmea 3 

Demokratische  Ausblicke 20 

Tagebucb  1862—1864  .     .     .     .     .   • 88 

Tagebuch  1876—1882 100 

Gesammeltes 

Aus    der    Vorrede    zu:     »Wie    ein    starker    Vogel    auf 

Schwingen  frei" 1 56 

Eine  Notiz  auf  gut  Gliick 1 58 

Emersons  Werke  (ihre  Schatten) 162 

Neue  Poesie  —  Kalifornien,  Kanada,  Texas 1 65 

Darwinismus  —  dann  Weiteres 168 

Dann  Weiteres 169 

Unser  wirklicber  Hobepunkt 170 

Aus  ,,Novemberzweige"  und  ,,Ade,  Pbantasie" 

Die  Arbeitslosen-  und  Streikfrage 171 

Wer  bekommt  die  Beute 172 

Fiihrer  aus  dem  wirklicben  Volk .     .  178 

Letzte  Aufzeichriungen 174 


Druck     tier    Spamerschen     Buchdruckerei     in     Leipzig 


PS 
3205 


Whitman,  Walt 
Werk 


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