Skip to main content

Full text of "Wie lebt und arbeitet man in den Vereinigten Staaten?"

See other formats


Wie  lebt  und  arbeitet  man 
in  den  Vereinigten  Staaten? 


Nordamerikanische  Reiseskizzen 


von 


Dr.  Hintrager 


Amtsrichter 


F.  Fontane  &  Co. 


Berlin 


1904 


Leipzigr 


Brentano's 
Chicago  —  New  York  —  W^ashing-ton 


E 


Alle  Rechte 

vor  allem  das  Recht  der  Übersetzung 

vorbehalten 


Meinem  Freunde 

C.    J.   HUMMEL 

in  Genua 


zugeeignet 


VOFAVOrt. 

Ein  anschauliches  Bild  des  Lebens  in  den  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika  zu  geben  ist  der  Zweck  dieses  Buches. 
Es  ist  das  Ergebnis  von  Aufzeichnungen  während  längerer 
Studienreisen  in  Nordamerika  in  den  Jahren  1894,  1895 
und  1899.  Zur  Veröffentlichung  derselben  veranlafst  mich 
der  Wunsch,  jetzt,  da  man  in  Deutschland  Amerika  noch 
einmal  zu  entdecken  sich  anschickt,  zum  Verständnis  dieses 
Landes  beizutragen ,  das  in  Deutschland  ebensowenig  ge- 
kannt, vielfach  ebenso  verkannt  ist,  als  es  gekannt  zu 
werden  verdient. 

Betrachtungen  und  Urteile  eines  Reisenden  sind 
schwerlich  ein  geeignetes  Mittel,  ein  Land  dem  Verständnis 
dessen  näher  zu  bringen,  der  es  nicht  gesehen  hat.  Auch 
hier  hat  wohl  dem  Urteil  voranzugehen  die  Feststellung 
des  Tatbestandes.  Dieser  soll  daher  mit  Ausnahme  des 
Schlusses  der  Inhalt  des  Buches  dienen  in  möglichst  vor- 
urteilsloser Darstellung  einzelner  Gelegenheitsbilder. 

Urach,  Mai  1904. 


Inhalt. 


Seite 

I.    Auf  der  Farm 1 

IL   In  der  Schule 18 

III.  Auf  dem  Bureau  des  Kechtsanwalts 44 

IV.  Im  Süden 63 

V.   Im  Gerichtssaal - 73 

VI.   In  den  Strafanstalten •    •     •  86 

VII.   Die  Kirchen 109 

VIII.  Eine  Woche  unter  Kommunisten       120 

IX.   Die  Amerikanerin 137 

X.    Die  Verfassung 158 

XI.    Parteien  und  Politik 168 

XII.   Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse 187 

XIII.  Das  Land  der  Arbeit 210 

XIV.  Schlufsbetrachtungen 227 


Erster  Anhang.    Die  Unabhängigkeitserklärung 236 

Zweiter  Anhang.    Die  Verfassung    der   Vereinigten    Staaten 

von  Amerika 242 

Dritter  Anhang.     Washingtons    Abschiedsadresse    an     das 

Volk  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 268 


I.  Auf  der  Farm. 

„Die  stärkste  Festung  einer  Nation 
ist  der  häusliche  Herd." 

Alexanders  Farm,  Farley,  Jowa. 

Seit  vier  Wochen  bin  ich  auf  einer  reizenden  Farm  im 
Staate  Jowa,  pflüge,  breche  Maiskolben  und  füttere  Schweine, 
etwa  200  schöne  schwarze  Schweine.  —  „Was  der  ganzen 
Menschheit  zugeteilt  ist,  will  ich  in  meinem  Innern  Selbst 
geniefsen."  So  etwas  war's  ja  auch,  was  mich  über  den 
Ozean  trieb. 

Es  wäre  unverzeihlich,  in  diesem  Lande  gewesen  zu 
sein,  ohne  das  Leben  des  Farmers  geteilt  und  die  ameri- 
kanische Landwirtschaft  ein  wenig  kennen  gelernt  zu  haben. 
Der  Farmer  ist  der  Grundstock  und  Kern  der  Bevölkerung 
der  Vereinigten  Staaten.  Er  hat  den  Boden  urbar  gemacht 
auf  der  grofsen  Wanderung  vom  Atlantischen  zum  Stillen 
Ozean.  Trotz  des  Aufschwungs  der  amerikanischen  Industrie 
und  des  Zugs  nach  den  Städten  stellt  der  Farmer  immer 
noch  den  zahlreichsten  Berufsstand  der  Bevölkerung  dar; 
der  landwirtschaftliche  Besitz  verhält  sich  zum  industriellen 
wie  2  : 1.  Über  5^2  Millionen  Farmen  enthält  dies  grofse 
Land ;  sie  bedecken  annähernd  die  Hälfte  des  Gesamtareals 
der  Union.  Auf  mehr  als  20  000  Millionen  Dollars  werden 
die  in  Farmen  steckenden  Werte  geschätzt. 

In  einem  englischen  Schulbuch  las  ich  einst  eine  Anek- 
dote aus  dem  Leben  Benjamin  Franklins.    Die  Amerikaner 

Hintrager.  1 


2  Hintrager. 

sind  sehr  wifsbegierige  Menschen,  hiefs  es  da;  daher  sagte 
Franklin,  wenn  er  auf  der  Wanderschaft  durch  die  Union 
nach  dem  Weg  fragte,  stets:  „Ich  heifse  Benjamin  Franklin, 
bin  ein  Buchdrucker,  ich  komme  da  und  da  her,  das  und 
das  ist  mein  Reisezweck,  und  ich  möchte  nach  dem  und 
dem  Platze.  Wo  ist  nun  mein  Weg?"  —  Ungefähr  nach 
diesem  Rezepte  mufste  ich,  mangels  jeglicher  Verbindungen 
mit  Landleuten  hier,  verfahren,  als  ich  in  diese  Gegend 
kam,  von  der  ich  nur  soviel  wufste,  dafs  hier  Farmer 
wohnen,  die  seit  Generationen  im  Lande  leben.  Zu  solchen, 
zu  echten  und  rechten  Amerikanern,  keinen  Eingewanderten, 
wollte  ich  eben,  trotz  des  mahnenden  Worts  eines  deutschen 
Freundes:  „Bedenke,  auf  viele  Meilen  im  Umkreis  keinen 
Tropfen  Bier."  In  New  York  und  den  anderen  Plätzen, 
wo  ich  seit  meiner  Landung  war,  hatte  ich  noch  viel  zu  viel 
europäische  Luft  geatmet. 

Auf  einer  nahe  der  Bahnstation  Epworth  gelegenen 
Farm  wurde  ich  hieher  gewiesen:  „Gehen  Sie  eine  Meile 
östlich,  dann  zwei  Meilen  südlich,  dann  wieder  etwa  eine 
Meile  östlich,  dann  sehen  Sie  ein  hübsches,  weifs  ange- 
strichenes Haus;  das  ist  Alexanders  Farm."  Die  Farmers- 
frau mufs  die  Wirkung  dieser  amerikanischen  Weg- 
beschreibung auf  meinem  Gesicht  gelesen  haben;  denn  so- 
fort sagte  sie:  „Mein  Sohn  wird  Sie  hinbringen."  Der 
Weg  und  die  Landschaft,  die  wir  durchfuhren,  bot  das  ein- 
förmige Bild  der  rechtwinkeligen  Linien,  das  auch  die 
Karte  der  Vereinigten  Staaten  charakterisiert.  Von  den 
Grenzen  der  einzelnen  Staaten  bis  zu  den  Grenzen  der 
kleinsten  Landverraessungs-Einheit,  der  eine  Quadratmeile 
(=  640  acres)  enthaltenden  Sektion  gehen  alle  Linien 
parallel  den  Länge-  und  Breitegraden,  abgesehen  von  den 
durch  Flüsse  oder  Seen  gebildeten  natürlichen  Staaten- 
grenzen.   Die  gruudbuchmäfsige  Beschreibung  eines  Grund- 


I.    Auf  der  Farm. 


Stücks  lautet  daher  ganz  ähnlich  der  Ortsbestimmung  des 
Oeographen.  Diese  überaus  einfache  Art  der  Landver- 
messung,  von  der  Schiller  wohl  nicht  gesungen  hätte: 

„Jene  Linien,  sieh,  die  des  Landmanns  Eigentum  scheiden, 
In  den  Teppich  der  Flur  hat  sie  Demeter  gewirkt" 

ist  charakteristisch  für  den  Amerikaner;  mit  grofsen  allge- 
meinen Regeln  verfügt  er  über  grofse  Räume  und  Massen. 
Da  dieses  sogenannte  Rektangularsystem  durch  ein  Gesetz 
vom  Jahre  1785  eingeführt  wurde,  haben  es  übrigens  die 
damals  schon  besiedelten  Staaten  des  Ostens  nicht. 

Als  ich  dem  alten  Mr.  Alexander,  aus  dessen  glatt- 
rasiertem Gesicht  die  Herzensgüte  leuchtet,  meinen  Wunsch, 
über  die  Erntezeit  auf  seiner  Farm  zu  wohnen  und  zu 
arbeiten,  gesagt  hatte,  erwiderteer  lächelnd:  „Ich  bin  ganz 
-damit  einverstanden,  aber  ich  mufs  erst  den  boss  (=  Herr, 
Prinzipal)  fragen.  Das  werden  Sie  doch  schon  gehört 
haben,  dafs  in  diesem  Lande  die  Frau  der  boss  ist?"  Er 
ging  und  rief  die  Farmerin  herbei,  eine  dicke,  behäbige 
Frau  von  etwa  50  Jahren,  die  mich  mit  ihren  lebhaften  Augen 
kritisch  betrachtete  und  nach  längerem  Ausfragen  schliefslich 
„ja"  sagte.  Nun  kam  die  zweite  Prüfung;  denn  Mr.  Alexander 
lud  mich  ein,  mit  ihm  einen  Rundgang  auf  der  Farm  zu 
machen  und  mich  einmal  am  Pflug  und  an  verschiedenen 
landwirtschaftlichen  Maschinen  zu  versuchen.  Das  Resultat 
meines  Pflügens  liefs  viel  zu  wünschen  übrig. 

Die  Farm  Alexanders  ist  eine  Durchschnittsfarm  des 
Mississippi-Tales,  320  acres  (also  V2  Sektion)  grofs,  an  der 
Landstrafse  von  Epworth  nach  Farley,  Jowa,  gelegen  und 
wie  üblich  in  Quadrate  von  je  40  acres  abgeteilt.  Alexander 
war  früher  ein  Neuenglandfarmer  gewesen.  Soviel  ihm 
bekannt,  waren  seine  Vorfahren  aus  England,  die  seiner 
Frau  aus  Deutschland  gekommen.  Als  der  Boden  im  Osten 
ausgesogen  war  und  die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten 

1* 


4  Hintrager. 

die  Ländereien  in  Jowa  zu  1  ,$  25  cts.  per  acre  abgab,  da 
verkaufte  er  und  zog,  wie  so  viele  andere,  hierher,  um  auf 
dem  jungfräulichen  Boden  des  fruchtbaren  Mississippi-Tales, 
des  gröfsten  Kornlandes  der  Welt,  mit  weniger  Mühe  mehr 
Ertrag  zu  erzielen. 

„Als  ich  hierher  kam,"  erzählte  der  alte  Farmer,  „da 
war  das  meiste  Land  noch  mit  Wald  bedeckt,  und  als  Wohn- 
haus diente  mir  ein  einfaches  Blockhaus,  wie  Sie  eines  ein 
paar  Meilen  südlich  von  hier  sehen  können,  das  einzige, 
das  in  der  ganzen  Gegend  noch  steht.  Ich  brachte  die 
Bäume  zum  Absterben  durch  Absägen  der  Kronen  und 
Gürteln,  d.  i.  Entfernen  der  Rinde,  und  brannte  das  dürr- 
gewordene Holz  nieder.  Nach  der  Tätigkeit  der  Axt  und 
des  Feuers  kam  das  Pflügen,  eine  harte  Arbeit!  Bis  vor 
etwa  15  Jahren  waren  da  und  dort  auf  meinem  Grunde 
noch  Steine  und  Felsstücke,  um  die  herumgepflügt  werden 
mufste,  wie  in  den  ersten  Jahren  um  die  stehengebliebenen 
Baumstümpfe." 

Seine  Arbeit  ward  reich  belohnt :  nur  mit  dem  geringen 
Erlös  von  dem  Verkauf  seiner  abgewirtschafteten  Neu- 
englandfarm war  er  hierhergekommen.  Heute  ist  sein 
Boden  50 — 100  Dollar  per  acre  wert  und  M'irft  ihm  eine 
Rente  ab,  die  ihm  eine  sehr  gute  Lebenshaltung  gestattet. 

Unter  solchen  Gesprächen  waren  wir  vom  Wohnhaus 
durch  die  kleine  Werkstatt  beim  Hause  in  die  grofse 
Scheune  gekommen,  in  der  sieh  auch  die  Stallungen  der 
acht  Pferde  und  des  Stiers  befinden.  Nur  diese  Tiere  und 
die  in  einem  eigenen  Stallgebäude  untergebrachten  Mutter- 
schweine mit  Familien  sind  unter  Dach;  die  andern,  die 
Mastschweine  und  die  30  Stück  Rindvieh  sind  Sommer  und 
Winter  und  Tag  und  Nacht  im  Freien. 

Als  wir  durch  das  erste  Quadrat  gingen,  eine  Weide, 
auf  der  die  Schweine  träge  herumlagen,  stoben  diese  unter 


I.    Auf  der  Farm. 


Orunzen  und  Quieksen  auseinander  und  davon.  Lachend 
sagte  der  alte  Farmer:  „Die  Schweine  glauben,  Sie  seien 
der  Agent  von  Chicago,  der  alle  sechs  Monate  kommt  und 
die  zum  Schlachten  reifen  mitnimmt  in  die  grofsen  Schlächte- 
reien der  dortigen  Gesellschaften." 

Das  nächste  grofse  Quadrat  lag  brach.  Das  dritte 
wurde  von  einem  alten  Farmarbeiter,  einem  Schottländer, 
gepflügt,  um  mit  Winterweizen,  dem  sogenannten  Cashcrop, 
bebaut  zu  werden.  Auf  allen  anderen  stand  üppiger  Mais. 
In  einem  der  Maisfelder  schnitt  der  23jährige  Farmerssohn 
Beecher  Alexander  mit  einer  von  ihm  selbst  erfundenen 
und  verfertigten  Maschine  Maisstauden,  um  das  Rindvieh 
damit  zu  füttern. 

Hier  waren  wir  angelangt,  als  vom  Wohnhaus  her 
das  Läuten  einer  Glocke  und  die  melodische  Stimme  der 
Farmersfrau  zum  Essen  einlud.  Wie  gut  die  Lebenshaltung 
hier  ist,  das  zeigen  vor  allem  die  Mahlzeiten  der  ländlichen 
Bevölkerung.  Der  amerikanische  Farmer  ifst  am  weifs- 
gedeckten  Tische,  und  seine  drei  täglichen  Mahlzeiten  sind 
ebenso  mannigfaltig  als  reichhaltig.  Die  süfse  Nachspeise 
fehlt  selten.  Auch  seine  durchaus  städtische  Wohnungs- 
einrichtung steht  weit  über  der  eines  reichen  Bauern  bei 
uns.  Die  Schaukelstühle  und  die  Bodenteppiche  fehlen 
auch  im  Farmhause  nicht. 

Die  Eisenbahnen ,  die  alles  gleichmachen ,  haben  das 
Land  erschlossen.  Darum  konnten  ländliche  Besonderheiten 
nur  in  geringem  Mafse  aufkommen.  Landleute  und 
Stadtleute  unterscheiden  sich  hierzulande  auch  in  Kleidung, 
ja  selbst  im  Aussehen  nur  wenig.  Es  fehlt  der  Bauern- 
typus. Noch  hat  sich  kein  Bauernstand  gebildet.  Denn 
hier  ist  alles  in  lebendigem  Flufs;  das  Land  ist  jung,  der 
Wechsel  des  Berufs  oder  Erwerbs  alltäglich. 

Ein  Tag  vergeht  ziemlich  gleich  dem  andern:    Kurz 


6  Hintrager. 

nach  Sonnenaufgang  poltert  der  alte  Farmer  die  Treppe 
vom  oberen  Stock  herab  in  das  Efszimmer,  wo  sich  bald 
alles  zum  Frühstück  versammelt.  Während  des  Frühstücks 
gibt  der  Alte  die  Order  für  den  Tag  aus,  die  besonders 
dem  jungen  Beecher  nicht  immer  angenehm  in  den  Ohren 
klingt.  Ihn  zieht  es  nach  der  Stadt,  und  manches  Feld- 
geschäft ist  ihm  zuwider.  Trotzdem  bricht  er  jeden  Morgen 
ohne  Widerrede  2  bis  3  Wagen  voll  Maiskolben  zur  Fütterung 
für  die  Schweine.  Schon  dieses  erste  einfache  Geschäft, 
an  dem  ich  mithalf,  zeigte  mir,  mit  welcher  Schnelligkeit 
und  Energie  in  diesem  Lande  auch  der  Farmer  arbeitet, 
und  ich  habe  das  seither  durchweg  beobachtet.  Jede  Arbeit 
macht  den  Eindruck,  als  ob  grofse  Eile  not  täte,  und 
das  ist  doch  bei  Feldgeschäften  für  die  Kegel  nicht  so. 
Das  Pflügen  z.  B.  geht  stets  in  lebhaftestem  Schritt  und 
ist  sehr  anstrengend,  weil  die  Pferde  unmittelbar  an  den 
Pflug  gespannt  werden.  Wer  pflügt,  mufs  gleichzeitig 
auch  die  Pferde  lenken.  Auch  das  Hufbeschlageu  wird 
nur  von  einem  Mann  besorgt.  Jede  Arbeit  wird  mit 
Einsetzung  der  ganzen  Kraft  getan ;  geschwatzt  oder 
geraucht  wird  dabei  nicht.  Während  der  Mittagsmahl- 
zeit, zu  der  man  sich  eine  Stunde  Zeit  nimmt,  pflegt 
der  alte  Farmer  zu  erzählen,  was  er  am  Morgen  in  dem 
nahen  Dorfe  Farley  an  Neuigkeiten  aus  Stadt  und  Land 
erfahren  hat.  Dorthin  fährt  er  fast  täglich,  um  seine  Post 
und  Zeitungen  zu  holen  und  etwaige  Einkäufe  zu  machen. 
Zwischen  fünf  und  sechs  ühr  abends  hört  die  Arbeit  auf. 
Die  schönste  Zeit  auf  der  Farm  ist  die  Stunde  nach  dem 
Abendessen.  An  Unterhaltung  fehlt  es  nicht.  Der  Farmer 
hält  aulser  zwei  Tageszeitungen  eine  Frauenzeituug  und  das 
über  die  ganze  Union  verbreitete  monatliche  ,, Farm- Journal", 
eine  sehr  gute  und  reichhaltige  illustrierte  Zeitschrift  für 
Landwirtschaft,  Viehzucht,  Haushalt  und  Familie  des  Far- 


I.    Auf  der  Farm. 


mers.  Die  Beiträge,  die  ich  in  dieser  Zeitschrift  von  der  Hand 
von  Farmern,  deren  Frauen  und  insbesondere  deren  Töchter  vv 
gelesen  habe,  sind  ein  glänzendes  Zeugnis  für  die  Strebsam- 
keit und  Bildung  dieser  Leute.  Vom  ersten  Tag  an,  seit- 
dem ich  „the  farming  Oscar"  spiele,  wie  der  alte  Alexander 
sagt,  ist  mir  nichts  so  sehr  aufgefallen,  als  der  Bildungs- 
grad, der  weite  Horizont  und  der  Bildungsdurst  der  Land- 
bevölkerung, mit  der  ich  hier  zusammenkomme.  Auch  die 
Farmarbeiter,  die  im  gesellschaftlichen  Verkehr  kaum  von 
den  Farmern  zu  unterscheiden  sind,  machen  hiervon  keine 
Ausnahme.  In  der  kleinen  Bibliothek  dieses  Hauses  ist 
neben  den  hervorragendsten  amerikanischen  Autoren  Shake- 
speare, die  kommentierte  Oxford-Bibel,  ein  Konversations- 
Lexikon,  das  grofse  statistische  Werk  „Die  Welt"  von  Frank 
Gilbert,  ja  sogar  Blackstones  Kommentar  des  englischen 
gemeinen  Rechts.  Letzterer  stammt  aus  der  College-Zeit 
des  jungen  Beecher.  Alexander  hat  seine  fünf  Kinder,  von 
denen  nur  noch  zwei  zu  Hause  sind,  nach  dem  Besuche 
der  allgemeinen  Volksschule  vom  15.  bis  18.  Jahre  in  ein 
College  geschickt,  wo  sie  einen  Unterricht  erhielten,  wie 
er  etwa  auf  unseren  Obergymnasien  erteilt  wird.  „A  good 
education"  gilt  hierzulande  gar  viel,  und  der  einfachste 
Mann  ist  bestrebt,  seine  Kinder  in  bessere  Schulen  zu 
senden. 

Ein  ziemlicher  Teil  der  Bibliothek  des  Farmers  besteht 
aus  den  Berichten  undVeröffentlichungen  des  Landwirtschafts- 
departements der  Vereinigten  Staaten,  welche  den  Farmern 
teils  unentgeltlich,  teils  spottbillig  übersandt  werden.  Die 
Tätigkeit  dieses  Departements  ist  wie  alles,  was  Uncle  Sam 
in  die  Hand  nimmt,  umfassend  und  reich.  Nicht  blofs  die 
Berichte  der  Beamten  der  über  die  ganze  Union  verbreiteten 
landwirtschaftlichen  Versuchsstationen,  sondern  auch  die- 
jenigen  der   über  die  ganze  Welt  versandten  Agenten  des 


8  Hintrager. 

Departements  halten  auf  diese  Weise  den  amerikanischen 
Farmer  mit  allem  auf  dem  Laufenden,  was  in  und  aufser- 
halb  seines  Landes  für  ihn  irgendwie  von  Interesse  sein 
mag.  Auch  Samen  versendet  das  Departement  kostenlos 
an  den  Farmer. 

Dafs  die  Amerikaner  wifsbegierige  Menschen  sind,  das 
haben  mir  die  Abendunterhaltungen  hier  des  öfteren  ge- 
zeigt. Welche  Fragen  über  Deutschland,  über  mein  Leben, 
ja  über  mein  Glaubensbekenntnis  hatte  ich  da  zn  beant- 
worten! Die  Farmerin  wollte  wissen,  wieviel  ich  für  den 
Meter  meines  Mantelstotfs  bezahlt  habe,  und  ob  ich  an  Gott 
glaube;  der  Farmer  fragte,  ob  ich  alles  tun  müsse,  was  der 
Kaiser  befiehlt,  wieviel  jährliches  „Salair"  der  Kaiser  habe, 
und  ob  ich  den  Kaiser  liebe  oder  nicht.  Der  Farmerssohn 
fragte  viel  nach  deutschem  Militär,  deutschem  Bauernleben 
und  deutschen  Gesetzen.  Einmal  fragte  er  ganz  unver- 
mittelt, wie  das  Autorrecht  in  Deutschland  geschützt  sei. 
Manche  Stunde  habe  ich  diesen  neugierigen  Ohren  Anek- 
doten aus  dem  Manöverleben  erzählt. 

Mit  den  brennenden  Fragen  ihres  eigenen  Landes  waren 
diese  aufgeweckten  Leute  sehr  wohl  vertraut.  Über  die 
amerikanische  Landwirtschaft  war  das  allgemeine  Urteil 
des  Farmers:  Die  schönen  Zeiten  des  Raubbaues  sind 
vorbei.  Es  zahlt  nicht  mehr;  ausgenommen  jene  grofsen 
Betriebe  des  Westens,  die  mit  Maschinen  in  gröfstem 
Mafsstab  arbeiten,  oder  wo  eine  Gegend  auf  Spezialitäten 
in  grofsen  Massen  sich  wirft,  wie  die  Pflaumen-,  Apfel-, 
Preiselbeer-,  Hühner-,  Wassermelonen-,  Pfefferminzfarmen 
und  andere. 

Früher  trug  derselbe  Boden  30  Jahre  hintereinander 
Frucht  in  üppiger  Fülle;  nun  ist  der  Boden  in  den  Ost- 
staaten ausgesogen,  und  in  den  mittleren,  selbst  in  Missouri, 
beginnen    die   Farmer    schon    mit   Brachliegenlassen    und 


I.    Atif  der  Farm.  9 


Düngen  des  Bodens.  Denn  auch  die  Fruchtbarkeit  wandert 
nach  Westen.  Der  Durchschnittsfarmer  hat  wohl  sein 
gutes  Auskommen.  Aber  die  Eisenbahngesellschaften,  die 
Ringe  der  Abnehmer  seiner  Produkte ,  Trusts ,  Börsen- 
schwindel und  der  allmählich  notwendig  werdende  Über- 
gang zu  intensivem  Betrieb  machen  es  ihm  von  Jahr  zu 
Jahr  weniger  leicht.  Die  Steuerlast  des  Farmers  ist  ziem- 
lich hoch.  Auch  für  Wege,  Brücken  und  Schulen  mufs 
er  Steuer  zahlen.  Der  Farmer,  der  etwas  Geld  auf  die 
Seite  gelegt  hat,  hat  das  freieste  Leben  in  diesem  Lande. 

„Ihre  deutschen  Landsleute,"  so  fuhr  der  Farmer  fort, 
„bringen  es  noch  am  weitesten  hier;  sie  können  so  gut 
sparen,  und  wir  Amerikaner  sind  so  verschwenderisch.  Wir 
sind  verwöhnt  worden  durch  die  Leichtigkeit  des  Geld- 
verdienens."  Wie  sehr  er  recht  hat:  auf  seiner  Farm  liegt 
so  viel  gutes  Holz  umher,  es  verfault ;  ganze  Wälder  brennt 
man  nieder.  Nur  das  beste  Land  wird  ausgenützt.  An 
Eiern  sucht  die  Farmerin  nur  soviel  im  Grase  zusammen, 
als  sie  in  der  Küche  gerade  braucht;  um  die  übrigen 
kümmert  sie  sich  nicht,  und  Millionen  von  Eiern  werden 
von  Kanada  importiert. 

Eines  Abends  entspann  sich  eine  Debatte  über  Schutz- 
zoll und  Freihandel,  die  besonders  lebhaft  wurde,  weil  der 
alte  Schottländer,  der  auf  der  Farm  über  die  Erntezeit  für 
75  cts.  täglich  und  Kost  und  Wohnung  half  —  nur  wenn 
sehr  viel  Arbeit  da  ist,  nimmt  der  Farmer  fremde  Hilfs- 
kräfte — ,  einen  anderen  politischen  Standpunkt  vertrat 
als  der  Farmer  und  sein  Sohn.  Die  Leute  kannten  das 
Werk  von  Henry  George  über  diesen  Gegenstand  und  zeigten 
erstaunliche  volkswirtschaftliche  Kenntnisse. 

Doch  vom  Besten  habe  ich  bis  jetzt  geschwiegen,  von 
der  reizenden  Laura,  des  Farmers  Tochter.  Als  ich  sie  zum 
ersten  Male  sah ,  verstand  ich,  warum  ich  vor  der  Mutter 


10  Hintiager. 

ein  so  schwieriges  Examen  zu  bestehen  hatte.  Wenn  ich 
sage,  dafs  diese  Farmerstochter  mit  dem  Klavier-  und 
Harmoniumspiel  vertraut  ist,  singt,  zur  Zeit  unter  meiner 
Anleitung  ihre  ersten  Versuche  auf  der  Violine  macht,  im 
College  Lateinisch  und  Deutsch  gelernt  hat,  auch  längere 
Zeit  Volksschullehrerin  gewesen  ist,  so  wird  das  genügen, 
um  sie  auch  dem  interessant  zu  machen,  der  nicht  in 
ihre  schönen  Augen  gesehen  hat.  Manchen  Abend  haben 
wir  zusammen  musiziert;  ich  werde  nie  vergessen,  mit 
wieviel  Wärme  sie  ihr  Lieblingslied,  den  seelenvollen  Sang 
von  Longfellow  „The  Bridge"  gesungen  hat. 

Eine  muntere  Abwechslung  boten  die  Sonntage,  an 
denen  die  ganze  Familie  in  der  Galakutsche  nach  Farley 
zur  Kirche  fährt ;  ich  sage  munter,  denn  auch  das  religiöse 
Leben  ist  heiterer  hierzulande  als  bei  uns  draufseu.  Hier 
hält  man  es  mit  dem  „Seid  fröhlich  mit  den  Fröhlichen"! 
Weinende  gibt  es  nicht  viele,  es  geht  den  Leuten  zu  gut. 

Die  Familie  Alexander  gehört  zu  einer  Presbyterianer- 
gemeinde,  die  aus  etwa  50  Farmersfamilien  der  Um- 
gebung besteht  und  in  Farley  eine  kleine  Kirche  und  ein 
Pfarrhaus  besitzt.  Die  Ausgaben,  vor  allem  der  Gehalt 
des  Pfarrers,  werden  von  den  Beiträgen  der  Mitglieder  be- 
stritten; denn  die  Kirchen  sind  hier  privatrechtliche 
Vereine.  Alexander  zahlt  z.  B.  einen  jährlichen  Beitrag 
von  60  Dollars.  Das  ist  viel  für  die  Befriedigung  des 
religiösen  Bedürfnisses.  Allein  das  Opfer  erscheint  nicht 
so  grofs,  wenn  man  in  Betracht  zieht,  dafs  die  Kirche 
hier  zugleich  die  Vermittlerin  und  Pflegerin  des  gesell- 
schaftlichen Lebens  ist. 

Wie  vor  den  meisten  Farmhäuseni,  so  ist  auch  vor 
der  Kirche  zu  Farley  eine  feststehende  Rampe  angebracht, 
um  den  Frauen  und  Töchtern  der  Farmer  das  Ein-  und 
Aussteigen  aus  dem  Wagen  möglichst  leicht  zu  machen.  Wenn 


I.    Auf  der  Farm.  11 


hier  die  Familien  der  Farmer  anfuhren  und  ausstiegen,  verriet 
nur  das  wettergebräunte  Gesicht  der  Männer  und  deren 
Hände  die  Landleute.  Mit  einem  „Hailoh,  wie  geht  es?" 
begrüfst  man  sich  gegenseitig,  und  bald  ist  eine  lebhafte 
Unterhaltung  im  Gange,  an  der  sich  auch  der  Geistliche 
und  dessen  Frau  beteiligen.  Diese  sind  die  ersten  in 
der  Kirche. 

Sind  alle  Mitglieder  versammelt,  so  beginnt  zunächst 
die  Sonntagsschulstunde,  in  der  die  Frau  Pfarrer  die  Kinder 
unterrichtet;  die  begabte  Laura  unterweist  die  Mädchen 
und  jungen  Frauen,  und  der  Pfarrer  legt  den  übrigen  in 
Frage  und  Antwort  biblische  Texte  aus.  Erst  hierauf  folgt 
der  eigentliche  Gottesdienst,  der  aus  Gesang,  Gebet, 
musikalischen  Vorträgen  und  sehr  modern  gehaltener  Predigt 
des  Pfarrers  besteht.  —  Jeden  Dienstag  findet  für  die  jungen 
Leute  in  der  Kirche  ein  Unterhaltungsabend  mit  Musikvor- 
trägen statt;  hierbei  hat  jedes  eine  Bibelstelle  zu  erklären. 
Alle  vierzehn  Tage  wird  ein  „Kirchenessen"  bei  den  Gemeinde- 
gliedern der  Reihe  nach  gehalten,  für  welches  ein  kleiner 
Betrag  bezahlt  wird,  der  in  die  Kirchenkasse  fliefst.  Auch 
in  der  Kirche  selbst  werden  gelegentlich  solche  Essen  ver- 
anstaltet. Im  Hause  des  Pfarrers,  der  mich,  ebenso  wie  die 
benachbarten  Farmer,  in  gastfreundlichster  Weise  zu  sich 
einlud,  sah  ich  etwas  echt  Amerkanisches :  eine  kleine  Buch- 
druckerei, in  der  der  Pfarrer  und  dessen  hübsche  junge  Frau 
die  „Kirchlichen  Nachrichten"  herstellten  und  herausgaben, 
ein  für  die  Gemeindeglieder  bestimmtes  Monatsblatt.  Vor 
einigen  Tagen  las  ich  in  einem  derselben  eine  reizende 
Begebenheit  aus  dem  Leben  der  Farmerstochter.  Zum  An- 
kauf einer  Kirchen glocke  hatten  die  jungen  Leute  an 
einem  der  Dienstagabende  verabredet,  je  1  $  beizusteuern, 
und  zwar  sollte  jedes  den  Dollar  selbst  verdienen  und  die  Art, 
wie  es  ihn  verdient  hat,  in  den  „Kirchlichen  Nachrichten" 


12  Hintrager. 

bekannt  geben.  Unter  den  verschiedenen  Gedichten,  die 
meist  von  Farmersfrauen  und  -töchtern  einliefen,  war  ent- 
schieden das  beste  das  von  Laura  Alexander.  Sie  erzählt 
darin,  wie  sie  ihrem  Vater  den  Wunsch,  einen  Dollar  zu 
verdienen,  vorgebracht,  und  dieser  an  einem  der  heifsesteu 
Sommertage  sie  angewiesen  habe,  das  Schleifsteinrad  zu 
treiben.  Als  dann  nach  und  nach  die  Schweifstropfen  ihr 
über  Stirne  und  Augenbrauen  gerollt  seien,  da  habe  sie  an 
die  Menschen  gedacht,  die  immer  keine  Zeit  haben,  und 
es  ist  doch  gerade  genug  Zeit  in  jeder  kleinen  Minute,  um 
der  Welt  und  den  Menschen  zu  dienen. 

„There's  quite  enough  time  in  each  small  minute 
To  suit  the  world  and  the  people  in  it." 

Doch  nun  genug  von  der  hübschen  Laura!  — 
Die  letzten  drei  Tage  war  in  dem  etwa  20  Meilen 
entfernten  Dorf  Cascade  eine  landwirtschaftliche  Aus- 
stellung des  Bezirks,  verbunden  mit  Kennen  und  einer  Art 
Volksfest.  Schon  lange  vorher  hatte  Beecher  während  der 
Mahlzeiten  vorsichtig  bei  seinem  Vater,  der  trotz  aller 
Herzensgüte  oft  puritanische  Strenge  zeigt,  um  Urlaub 
auf  die  „Cascade-Fair"  angeklopft  und  schliefslich  auch 
durch  meine  Vermittlung  erhalten.  Es  ist  geradezu  typisch, 
dafs  in  dieser  Familie  alle  mit  der  Einförmigkeit  des  Land- 
lebens etwas  unzufrieden  sind  bis  auf  den  alten  Farmer, 
der  dem  Zug  nach  der  Stadt  zielbewufst  entgegentritt; 
er  hat  auch  dem  Beecher,  der  jetzt  oft  noch  in  Blackstone 
liest,  den  Wunsch,  Rechtswissenschaft  zu  studieren,  ab- 
geschlagen. 

Die  „Fair",  die  alljährlich  von  der  Cascade-Renn-  und 
Ausstellungsgesellschaft  veranstaltet  wird,  hatte  gar  viele 
Farmer  herbeigelockt.  Um  den  Ausstellungsplatz  her 
standen  überall  Wagen  der  Farmersfamilien,  und  im  Grase 
safsen  die  Leute  bei  dem  mitgebrachten  Mahl.     Denn  hier 


I.    Auf  der  Farm.  13 


gab's  keine  Wirtschaftsbuden.  Das  Feilhalten  alkoholischer 
Getränke  innerhalb  einer  halben  Meile  von  einer  land- 
wirtschaftlichen Ausstellung  ist  verboten  (§  2448  des  Code 
of  Jowa).  Mit  einer  Beschreibung  der  Ausstellung  selbst 
will  ich  keine  Worte  verlieren.  Die  zahlreichen  landwirt- 
schaftlichen Maschinen,  denen  der  Amerikaner  mit  Vorliebe 
den  Beinamen  „wissenschaftlich"  (scientific)  gibt,  z.  B.  der 
wissenschaftliche  Kornschneider,  der  wissenschaftliche  Selbst- 
binder, sieht  man  ja  auch  in  der  alten  Welt  mehr  und  mehr. 
Sie  sind  sehr  charakteristisch  für  den  regsamen,  durch  keine 
Traditionen  beengten  Geist  dieses  Volkes.  Auch  sie  hat  in 
erster  Linie  das  Bedürfnis,  das  „Hilf  dir  selbst"  geschaffen : 
Es  galt,  ein  grofses  Land  zu  bebauen;  die  Bevölkerung 
war  dünn ,  Arbeitskräfte  mangelten  und  waren  daher 
teuer;  ein  jeder  war  Herr  oder  wollte  es  bald  sein  und 
wurde  es  auch.  So  kam  man  ganz  von  selbst  auf  die 
Maschine,  und  heute  bebaut  ein  Farmer  40—80  acres,  oft 
noch  mehr,  ohne  fremde  Hilfe.  Er  ist  auch  im  wesentlichen 
sein  eigener  Maschinentechniker.  Sehr  viele  von  den 
landwirtschaftlichen  Maschinen  sind  von  Farmern  selbst  er- 
funden, z.  B.  der  „Graber",  eine  Dampfmaschine,  die, 
einmal  losgelassen,  ohne  jede  Bedienung  schnurgerade 
Gräben  zieht. 

Die  Ausstellung  der  Bodenerzeugnisse ,  besonders  des 
Maises,  hier  „Korn"  genannt,  war  ein  beredtes  Zeugnis^ 
der  aufserordentlichen  Fruchtbarkeit  dieses  Landes  und 
machte  dem  Staate  Jowa,  einem  der  hervorragendsten 
Kornstaaten  der  Union,  alle  Ehre.  Der  Mais,  ursprünglich 
„Indianer-Korn"  genannt,  ist  ein  Urprodukt  des  ameri- 
kanischen Bodens.  Wie  einst  die  Indianer,  so  lebt  auch 
heute  noch  die  grofse  Masse  des  Volkes  von  Korn ;  in  den 
mannigfaltigsten  Formen  erscheint  es  auf  dem  amerikanischen 
Tische.     Als  ich  zum  ersten  Male  die  unreifen  gesottenen 


14  Hintrager. 

Maiskolben  auf  dem  Tische  sah,  war  ich  begierig,  wie 
diese  gegessen  würden;  der  Amerikaner  bestreicht  sie 
mit  Butter,  fafst  den  Kolben  an  beiden  Enden  und  nagt 
ihn  ab,  wie  das  Eichhörnchen.  Nur  sehr  wenig  Mais  wird 
exportiert.  Der  Mais  ist  für  Amerika,  was  der  Reis  den 
Chinesen.  Selbst  sein  Wachstum  hat  etwas  Amerikanisches : 
in  nur  drei  Monaten  schiefst  er  auf  vom  Samenkorn  zu  seiner 
ungeschlachten  Gröfse. 

Dafs  auch  die  amerikanische  Viehzucht  glänzende 
Proben  auf  die  Ausstellung  entsandt  hatte,  läfst  sich  denken. 
Man  sah  den  Tieren  an,  dafs  sie  ihre  Köpfe  nicht  in  Stall- 
ecken stecken.  Aber  das  kam  mir  unerwartet,  dafs 
die  Farmersfrauen  und  -Töchter  Handarbeiten,  Stickereien 
und  dergl.  ausgestellt  hatten.  Es  ist  dies  besonders  be- 
merkenswert, da  es  Dienstboten  auf  dem  Lande  nicht  gibt; 
nur  der  reiche  Städter  hat  solche.  Das  Los  der  Farmers- 
frauen und  -Töchter  ist,  den  ganzen  Tag  für  die  Haus- 
haltung zu  arbeiten.  Kein  Wunder,  dafs  der  gute  alte 
Alexander  oft  den  Tisch  deckt !  Er  besorgt  auch  das  Melken 
und  macht  morgens  Feuer  im  Herde. 

An  Lustbarkeiten  fehlte  es  natürlich  auch  nicht  auf 
der  Fair.  Besonders  fanden  alle  Arten  von  Glücksspielen 
Anklang  bei  den  stets  spiel-  und  wettlustigen  Amerikanern. 
Ist  doch  das  wirtschaftliche  Leben  hierzulande  in  gewissem 
Sinne  Spiel  und  Wette.  Hier  einige  amerikanische  Volks- 
belustigungen der  Fair:  Ein  Neger  streckt  seinen  Kopf 
durch  ein  Loch  in  einer  senkrecht  aufgespannten  Leinwand 
und  schneidet  Grimassen.  Das  Publikum  wirft  nach  seinem 
Kopf  mit  Eiern.  —  Ein  sehr  einfacher  amerikanischer 
Scherz  ist  der  Wundergarten :  Durch  einen  engen  Weg  tritt 
man  in  einen  hübschen  Palraenhain.  in  dem  das  Publikum 
auf  Schaukelstühlen  sitzt.  In  dem  Augenblick  des  Eintritts 
reifst  ein   hinter  dem  Gebüsch  versteckter  Ventilator  mit 


I.    Auf  der  Farm.  15 


Starkem  Liiftstrom  dem  Eintretenden  den  Hut  vom  Kopfe. 
Alles  freut  sich  über  Gesicht,  Gebärden  und  Laute  des 
armen  Opfers,  das  sofort  sich  auch  zu  den  Dasitzenden 
gesellt,  um  am  Anblick  der  nach  ihm  Hereinkommenden 
sich  zu  weiden.  —  Besonders  zahlreich  sind  die  Vergnüguugs- 
gelegenheiten  für  die  erwachsene  Jugend,  die  „boys  and 
girls",  die  hierzulande  stets  paarweise  geht.  Da  ist  das 
Liebesrad,  ein  Riesenrad  ohne  Boden,  in  dem  die  jungen 
Pärchen  auf  bequemen  Sitzen  festgeschnallt  werden.  Das 
Rad  wird  alsdann  eine  schiefe  Ebene  herabgerollt.  — 
Charakteristisch  für  den  auf  Kraftproben  und  Gefahren 
erpichten  Sinn  der  Amerikaner  ist  „der  fliegende  Engel" : 
Die  Mifs  besteigt  ein  etwa  10  Meter  hohes  Gerüste,  von  dem 
ein  Drahtseil  in  langer  schiefer  Linie  zur  Erde  gespannt 
ist;  sie  ergreift  die  beiden  im  Drahtseil  laufenden  Ringe, 
der  Manager  gibt  ihr  einen  Stofs,  und  sie  fliegt  durch  die 
Luft  herab  zur  Erde,  wo  ihr  „Freund"  sieh  aufgestellt  hat, 
um  den  Engel  in  seinen  Armen  aufzufangen. 

Weitaus  die  gröfste  Anziehungskraft  üben  übrigens  die 
Rennen  aus,  die  ich  mir  mit  dem  Farmerssohn  von  dem  grofsen 
Amphitheater  aus  ansah.  Dafs  der  Amerikaner  lieber  fährt 
als  reitet,  das  zeigten  auch  diese  Rennen,  von  denen  nur 
eines  geritten,  alle  übrigen  gefahren  wurden,  und  zwar 
meist  in  Trab,  dann  aber  auch  in  Pafsgang  und  in  fliegendem 
Pafs.  Grofsartig  waren  die  Leistungen  der  Tiere  im  Traben, 
was  ich  auch  sonst  bei  Fahrten  über  Land  schon  beobachtet 
habe.  Die  grofsen  Dimensionen  erziehen  Dauertraber. 
Berühmt  sind  die  Traber  von  Kentucky  und  Tennessee; 
sie  haben  sich  im  Bürgerkriege  als  Artilleriepferde  vor- 
züglich bewährt.  Den  I.  Preis  im  Trabrennen ,  eine  Börse 
mit  200  $,  erhielt  ein  Bundessenator  des  Staates  mit 
einer  englischen  Meile  in  2V2  Minuten ;  den  IL  (150  $)  eine 
Farmerstochter.    Die  meisten  Trabrennen  wurden  gefahren 


16  Hintrager. 

mit  den  bekannten  leichten,  fein  gefederten  Hickory-Zwei- 
rädern. 

Nachdem  die  Aufregung  der  Rennen  sich  gelegt  hatte, 
kam  der  Glanzpunkt  der  Schaustellungen:  ein  junger 
Trapezkünstler  flog  mit  einem  Heifsluftballon  in  schwin- 
delnde Höhen,  machte  an  seinem  Trapez  Kunststücke  und 
liefs  sich  dann  mit  einem  Fallschirm  herab.  Damit  endete 
die  Fair.  — 

Leider  bringen  es  die  Verhältnisse  mit  sich,  dafs  auch 
meine  Lehrzeit  auf  der  Farm  nun  bald  endet.  Ungern 
scheide  ich  von  diesen  Menschen,  die  mich  mehr  gelehrt 
haben,  als  sie  wohl  selbst  ahnen.  Diese  Farmer  sind  etwas 
ganz  anderes  als  unsere  deutschen  Bauern.  Es  ist  ein 
strebsamer,  intelligenter  und  selbstbewufster  Menschen- 
schlag. Kein  Vespern,  kein  Wirtshausleben,  keine  Roheit 
der  Manieren  und  Ausdrücke!  Von  ihnen  könnte  der 
Dichter  nicht  sagen,  dafs  „sie  noch  nicht  zur  Freiheit  er- 
wacht sind"  und  „dafs  ihre  Wünsche  der  Ernten  ruhiger 
Kreislauf  beschränke".  Wenn  auch  die  Familie  Alexander 
etwas  über  der  Durchschnittsbildung  der  Farmer  steht,  so 
ist  der  Unterschied  doch  nicht  sehr  erheblich ;  wie  sie,  so 
leben  fast  alle  ihre  Nachbarn.  Ich  freue  mich,  das  Leben 
des  Farmers,  des  Stammvaters  dieses  Volks  in  seinen 
kleinen  Zügen  kennen  gelernt  zu  haben.  Aus  ihm  hat 
sich  das  Leben  des  ganzen  Volkes,  zu  dessen  Studium  ich 
auszog,  entwickelt.  In  vielen  Punkten  läfst  es  das  allen 
kolonialen  Pionieren  Eigentümliche  wiedererkennen.  Allein 
aufserdem  zeigt  das  Leben  dieser  Farmersfamilie,  so  viel 
spezifisch  Amerikanisches:  die  Art  zu  arbeiten,  den  speku- 
lativen Sinn,  die  Strebsamkeit  und  Wifsbegierde,  die  höhere 
Durchschnittsbildung,  die  Stellung  der  Frau,  die  bessere 
Lebenshaltung  und  geringe  Sparsamkeit,  die  soziale  Gleich- 
heit und  so  fort. 


I.    Auf  der  Farm.  17 


Alexanders  Farm  1899. 
Fünf  Jahre  nach  dieser  schönen  Zeit  ritt  ich  an  einem 
sonnigen  Tage  wieder  hinaus  zu  Alexanders  Farm,  „Ach, 
warum  haben  Sie  nicht  vorher  geschrieben!"  rief  die 
Farmersfrau,  als  sie  mich  sah.  „Dann  hätten  wir  einen 
Truthahn  geschlachtet."  „Kommen  Sie,"  sagte  der  alte 
Alexander,  „wir  wollen  ein  wenig  schaukeln  und  vom 
Vaterland  sprechen  und  allem,  was  sich  seither  zugetragen 
hat,"  und  wir  legten  uns  zu  gemütlichem  Gespräche  auf 
die  grofse  Schaukel ,  die  er  gezimmert  und  zwischen  zwei 
selbstgepflanzten  Tannen  beim  Hause  angebracht  hatte. 
Gar  manches  hatte  sich  verändert.  Verschiedene  neue 
Maschinen  hatte  Alexander  sich  gekauft,  darunter  eine  vom 
Wind  getriebene  Wasserpumpe,  deren  leichtes  Eisengestell 
ein  Wahrzeichen  der  amerikanischen  Farmlandschaft  ist. 
Mit  Stolz  zeigte  er  mir  auch  eine  von  einem  benach- 
barten Farmer  patentierte  Erfindung,  die  den  Mechanismus 
des  Wasserklosetts  auf  einen  Schweinetrog  sinnreich  an- 
wandte: in  dem  Mafse,  wie  die  Schweine  saufen,  strömt 
Wasser  aus  dem  grofsen  Trog  des  Rindviehs  zu;  so  wird 
verhindert,  dafs  die  Schweine  das  Wasser  verunreinigen. 
Und  die  schöne  Laura,  die  mir  einst  eine  Neujahrskarte 
mit  Schweinchen  gesandt  hatte  mit  der  Aufschrift:  „Hoffent- 
lich wird  mich  der  Kaiser  nicht  verfolgen  wegen  Einfuhr 
amerikanischer  Schweine  in  Deutschland",  —  ach,  sie  war 
nicht  mehr  da!  Sie  hatte  einen  Zahnarzt  in  der  Stadt 
geheiratet. 


Hintrager. 


II.  In  der  Schule. 

„Wissen  ist  die   Seele  einer 
Beptiblik."  John  Jay. 

Dubuque,  Jowa. 
Wohl  der  beste  Beweis  für  die  Jugend  und  Zukunft 
dieses  Volkes  ist  die  allgemeine  Verbreitung  der  Über- 
zeugung, dafs  Wissen  Macht  ist.  Von  den  Anfängen  der 
Republik  bis  heute  haben  die  Leiter  des  Volks  immer 
wieder  diese  Überzeugung  ausgesprochen.  Sie  fand  ihren 
Ausdruck  in  der  Schulgesetzgebung  der  Union  und  der 
einzelnen  Staaten,  sie  findet  ihn  heute  noch  im  Bestreben 
der  Einzelnen,  „a  good  education"  sich  und  anderen,  ins- 
besondere den  Kindern  zu  verschaffen.  Jeder  Amerikaner 
hat  einen  Bildungsdurst,  der  ihn  selbst  in  der  Sommer- 
frische nicht  verläfst;  an  vielen  Badeplätzen  gibt  es  so- 
genannte Sommer-Universitäten.  Auch  die  Unbemittelten 
machen  keine  Ausnahme.  Für  sie  bestehen  in  allen 
grofsen  Städten  neben  den  ordentlichen  Schulen  reiche 
unentgeltliche  Bildungsgelegenheiten  der  verschiedensten 
Art.  Jedes  Städtchen  hat  seine  öffentliche  Bibliothek  und 
Lesehalle.  Schon  1785,  also  nicht  lange  nach  der  Un- 
abhängigkeitserklärung ,  erging  ein  Bundesgesetz ,  nach 
welchem  ein  bestimmter  Teil  des  Grund  und  Bodens  der 
fernerhin  als  Staaten  in  die  Union  aufzunehmenden  Terri- 
torien als  eine  Art  Sehulfonds  für  alle  Zeiten  reserviert 
bleiben  solle.  Ähnliche  Auflagen  wurden  in  der  Folge 
jedesmal  zur  Bedingung  der  Aufnahme  eines  neuen  Staats 


II.    In  der  Schule.  19 


gemacht;  so  bestimmt  z.  B.  das  Bundesgesetz  vom  30.  April 
1802,  betreffend  die  Aufnahme  Ohios  in  den  Bund,  dafs 
^86  der  ganzen  Grundfläche  —  nämlich  1  Section  =  1  Quadrat- 
meile pro  Township  als  Schulland  für  öffentliche  Unter- 
richtszwecke verwaltet  werden  solle.  Aufserdem  hat  die 
Bundesregierung  den  einzelnen  Staaten  von  Zeit  zu  Zeit 
bedeutende  Land  Schenkungen  für  Schulzwecke  gemacht, 
bis  1876  insgesamt  mehr  Land  als  England,  Schottland 
und  Irland  zusammen.  Ebenso  hat  sie  aus  den  chronischen 
Überschüssen  des  Staatsschatzes  immer  wieder  den  Einzel- 
staaten Beiträge  für  den  Schulfonds  überwiesen.  Die  Stadt 
New  York  gab  im  Jahre  1901  für  Schulzwecke  über  23  Mill. 
Dollars  aus. 

Allein  diese  Mittel  genügen  bei  weitem  nicht  zur 
Deckung  der  enormen  Ausgaben,  die  das  amerikanische 
Volk  für  seine  öffentlichen  Schulen  macht.  Die  schlechte 
Verwaltung  der  Schulländereien  durch  gewissenlose  Politiker 
hat  dazu  geführt,  dafs  der  gröfste  Teil  der  Ausgaben  für 
Unterrichtszwecke  durch  Schulsteuern  gedeckt  werden  mufs, 
die  einen  ganz  erheblichen  Prozentsatz  der  allgemeinen 
Steuern  bilden. 

Erhöht  wird  die  Bedeutung  der  Schule  durch  die 
republikanische  Verfassung.  Die  Macht,  welche  diese  dem 
einzelnen  gibt,  ist  gefährlich  in  der  Hand  des  Unwissenden. 
Zum  Glaubensbekenntnis  des  Amerikaners  gehört  der  Satz : 
„Ohne  ein  aufgeklärtes  Volk  kann  eine  Republik  nicht  be- 
stehen." In  allen  Verfassungen  der  Unionsstaaten  ist  zu 
lesen,  dafs  die  Gesetzgebung  verpflichtet  ist,  allen  Ein- 
wohnern vom  6.— 20.  oder  21.  Lebensjahr  kostenlosen 
Schulunterricht  zu  verschaffen,  da  eine  allgemeine  Ver- 
breitung von  Wissen  und  Intelligenz  wesentlich  sei  für  die 
Erhaltung  der  Rechte  und  Freiheiten  des  Volkes.  Zu  den 
Unwissenden,  speziell  in  amerikanischen  Dingen  Unwissen- 


20  Hintrager. 

den,  gehört  nun  aber  auch  ein  grofser  Teil  der  armen  Ein- 
gewanderten. Wenn  sie  nach  fünf  Jahren,  gelegentlich  auch 
auf  ungesetzlichem  Wege  früher,  Bürger  geworden  sind, 
bilden  sie  oft  Stimmvieh  in  den  Händen  der  gewandten 
Politiker.  Allein  diese  Gefahr  ist  nur  eine  vorübergehende,, 
dank  in  erster  Linie  der  Tätigkeit  der  öiTentlichen  Schulen. 
Denn  viel  gröfseres,  als  die  Assimilationskraft  amerikanischen 
Lebens  an  den  Eingewanderten  wirkt,  leistet  die  Schule 
und  ihr  Geist  an  ihren  Abkömmlingen.  Ihr  Hauptzweck 
ist,  gute  Bürger  heranzubilden.  Als  Kinder  deutscher^ 
italienischer,  norwegischer,  russischer  Eltern  gehen  jene  in 
die  Schule,  als  junge  Amerikaner  verlassen  sie  dieselbe 
und  kommen  heim  mit  anderen  Anschauungen  und  anderer 
Sprache.  Mit  einem  stolzen :  „Wir  sind  das  Volk!"  treten 
sie  brüsk  vor  die  europäischen  Eltern,  das  junge  Amerika 
vor  das  alte  Europa!  — 

Doch  nun  in  eine  Schule;  erwarten  wir  aber  nicht  zu 
viel  von  einem  flüchtigen  Besuche.  Das  Wundersamste 
hier,  wie  in  jedem  Lande,  ist  der  Geist  des  Lebens.  Er 
läfst  sich  nicht  fesseln  und  in  Worte  kleiden.  Ihn  mufs 
man  empfunden  haben  an  sich  selbst,  um  ein  Land  zu 
verstehen. 

Nicht  weit  von  Alexanders  Farm  steht  einsam  an  der 
Landstrafse  ein  schlichtes  rotes  Backsteinhaus,  über  welchem 
oft  das  Sternenbanner  weht.  Es  ist  das  Schulhaus  für  die 
Farmerskinder  des  Bezirks,  „der  Eckstein  der  Republik", 
wie  der  alte  Farmer  es  zu  nennen  pflegte.  Nicht  lange 
nach  den  ersten  Ansiedlungen  war  es  erbaut  worden,  lange 
ehe  eine  Kirche  in  der  ganzen  Gegend  zu  sehen  war.  Um 
das  Häuschen  stehen  die  Wagen  und  grasen  die  Pferde, 
mit  denen  die  Kinder  und  die  zwei  Lehrerinnen,  deren 
eine  selbst  eine  Farmerstochter  der  Gegend  ist,  von  allen 
Seiten  herbeigekommen  sind.    Da  es  in  der  Gegend  nicht 


II.    In  der  Schule.  21 


sehr  viele  Kinder  gibt  und  auch  diese  mangels  gesetzlichen 
Schulzwangs  fast  nie  alle  gleichzeitig  in  der  Schule  sind, 
genügt  die  Einteilung  in  zwei  Klassen ,  von  6 — 10  und 
11 — 14  Jahren,  die  je  etwa  20  Köpfe  zählen.  In  den  Städten 
dagegen  hat  jeder  Jahrgang  seine  eigene  Klasse  und 
Lehrerin.  Die  Lehrerin  hält  der  Amerikaner  für  geeigneter 
als  den  Lehrer,  und  zwar  bis  zu  dem  Alter,  in  welchem 
das  Kind  selbständig  zu  denken  anfängt.  In  den  niederen 
Schulen  sind  auch  weitaus  die  meisten  Lehrkräfte  weiblich. 
Folgen  wir  einige  Zeit  dem  Unterricht  der  älteren  Schüler 
und  Schülerinnen. 

Der  Unterricht  wird  stets  an  der  Hand  von  sogenannten 
Textbüchern  erteilt,  über  deren  erzieherischen  Wert  die 
Ansichten  in  den  Vereinigten  Staaten  sehr  geteilt  sind. 
Es  sind  dies  Darstellungen  des  Stoffs,  die  sich  zum  Aus- 
wendiglernen eignen  und  welchen  Fragen  und  Aufgaben 
beigefügt  sind,  auf  Grund  deren  die  Lehrerin  über  den  ge- 
lernten Gegenstand  prüft.  Mit  diesem  Textbuchsystem, 
das  wohl  in  dem  fortwährenden  Wechsel  des  Lehrpersonals 
seine  Begründung  findet  —  Ehefrauen,  die  früher  Lehrerinnen 
waren,  gibt  es  hier  viele  —  ist  es,  wie  mit  manchen  Ge- 
setzen dieses  Landes.  Das  System  ist  nicht  gut,  allein  der 
natürliche,  praktische  Sinn  dieses  Volkes  erzielt  doch  gute 
R  esultate  mür  demselben djy  -^ -+  • 

Dies  zeigte  sofort  der  Gegenstand  des  ersten  Unter- 
richts, dem  ich  in  der  Klasse  der  Älteren  folgte :  Geographie 
der  Vereinigten  Staaten.  Ausgehend  von  der  Lage  des 
Schulhauses  und  der  nächsten  Ortschaften  und  Flüsse  liefs 
die  Lehrerin  die  Kinder  nach  und  nach  ein  Bild  des  Staates 
Jowa  und  dann  der  ganzen  Union  entwerfen.  Die  Geographie 
anderer  Länder  wird  so  wenig  berührt,  dafs  mir  die  Ver- 
sicherung eines  amerikanischen  Freundes  durchaus  glaub- 
haft erscheint,  die  meisten  Leute   in  Amerika  haben  erst 


22  Hintrager. 

durch  Dewey  erfahren,  was  und  wo  die  Philippinen  sind. 
Um  den  Kindern  die  Oberflächengestaltung  der  Vereinigten 
Staaten  einzuprägen,  legte  die  Lehrerin  eine  Karte  auf  den 
Tisch,  bildete  mit  Sand  auf  derselben  die  Alleghenies  und 
das  Felsengebirge  und  fuhr  mit  einem  Pinsel  die  Täler 
nach.  Zur  Veranschaulichung  der  jeweils  beschriebenen 
Städte  und  Länder  klebte  die  Lehrerin  Bilder  in  die  Hefte 
der  Kinder;  es  gibt  für  diesen  Zweck  eigene  illustrierte 
Zeitschriften. 

Charakteristisch  ist  der  Geschichtsunterricht,  dem 
sehr  viel  Zeit  gewidmet  wird,  obwohl  die  Geschichte  für 
diese  glücklichen  Schulkinder  hier  mit  Columbus  oder 
eigentlich  erst  mit  dem  Unabhängigkeitskrieg  lieginnt.  Die 
Geschichte  anderer  Länder  wird  in  den  öff'entlichen  Schulen 
ganz  vernachlässigt,  aber  die  des  eigenen  Landes  wird 
gelehrt  in  einer  Weise,  als  ob  sie  nur  den  Zweck  hätte, 
für  das  Vaterland  zu  begeistern  und  gute  Patrioten  zu  er- 
ziehen^). Während  ich  dies  schreibe,  liegt  das  über  die 
Union  verbreitete  Textbuch  der  amerikanischen  Geschichte 
von  Anderson  vor  mir,  nach  welchem  auch  unsere  Lehrerin 
in  dem  kleinen  Schulhause  unterrichtete.  Es  enthält  eine 
geschickte  Zusammenstellung  und  Verbindung  von  kleinen 
Abschnitten  der  jeweils  besten  zeitgenössischen  Geschichts- 
schreiber, ausgewählt  für  jugendliche  begeisterungsfähige 
Gemüter.  Wie  ganz  anders  ist  dies  Buch  als  unsere  Schul- 
geschichtsbücher! Es  liest  sich  oft  wie  Dichtung,  mit 
solcher  Wärme  und  Anschaulichkeit  sind  die  grofsen  Männer 
der  Nation,  ihr  Leben  und  ihre  Taten  beschrieben.  Über 
Washingtons  letzte  Stunden  und  Worte  enthält  das  Buch 
allein  zwei  Seiten.   Die  Nationalhelden  und  die  Präsidenten, 


^)  Der  Übererlös    der  Schulpicknicks  wird    in    erster  Linie    zur 
Anschaffung  von  Fahnen  für  die  Schule  verwendet. 


II.    In  der  Schule.  23 

deren  Bilder  das  reich  illustrierte  Buch  enthält,  leben  vor 
dem  Geiste  der  wifsbegierigen  Jugend.  Das  Buch  ist  voll 
grofser  Gedanken  und  schöner  Gefühle  und  raufs  das 
amerikanische  Kind  für  sein  Vaterland  begeistern,  noch 
ehe  es  zu  einem  vollen  Verständnis  der  Segnungen  seines 
Landes  gelangt.  Auch  die  „Wirkung  der  geschichtlichen 
Ereignisse  auf  die  politischen  Parteien"  gehört  zum  Unter- 
richt in  der  Landesgeschichte. 

Gelehrt  wird  in  diesen  allgemeinen  öffentlichen  Schulen 
bis  zum  14,  Jahre  all  das,  was  ein  Mensch  zum  Leben  in 
dem  Landesteile  braucht,  in  welchem  die  Schule  sich  be- 
findet. Aufser  den  auch  bei  uns  in  den  Volksschulen  ge- 
lehrten Fächern  wird  in  allem,  was  zur  kaufmännischen 
Tätigkeit  gehört,  unterrichtet.  Die  Schüler  schreiben  kauf- 
männische Briefe,  Quittungen,  Wechsel  und  Checks,  die 
Mädchen  lernen  kochen  und  andere  häusliche  Arbeiten.  Jedes 
Kind  mufs  die  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten  aus- 
wendig lernen,  die  wichtigsten  Gesetze,  die  Unterschiede 
der  Parteien  und  die  Grundzüge  der  Volkswirtschaft  kennen. 
Endlich  wird  meist  auch  Physik,  Chemie,  Mechanik  und 
Naturgeschichte  gelehrt.  Eine  Lehrerin  erzählte  mir,  dafs 
sie  letzten  Winter  in  ihrer  Klasse  ein  auf  einer  benach- 
barten Farm  verendetes  Schwein  zu  Unterrichtszwecken 
seziert  habe.  Dies  sind  im  wesentlichen  die  Lehrgegen- 
stände der  ersten  zwei  Abteilungen  der  öffentlichen  Schulen, 
hier  Primär-  und  Grammarschools  genannt;  im  einzelnen 
bestehen  noch  lokale  Verschiedenheiten , ,  da ,  wie  gesagt, 
für  das  Leben,  nicht  für  die  Schule  gelernt  wird  und  die 
äufseren  und  inneren  Angelegenheiten  der  Schule  den  lokalen, 
aus  direkten  Wahlen  hervorgehenden  Schulverwaltungsbe- 
hörden unterstehen  und  nicht  etwa  in  den  Einzelstaaten 
oder  der  Union  einheitlich  geregelt  sind.  Einheitlich  in 
den  Verfassungen    festgelegt    ist    nur    der   Grundsatz    der 


24  Hintrager. 

Konfessionslosigkeit  der  öffentlichen  Schulen  und  der  Ver- 
pflichtung der  Gesamtheit,  allen  Einwohnern  (nicht  nur 
Bürgern)  bis  zum  20.  oder  21.  Lebensjahre  unentgeltlichen 
Schulunterricht  zu  gewähren.  Wie  streng  der  Grundsatz 
der  Konfessionslosigkeit  der  Schule  durchgeführt  wird, 
ist  daraus  zu  entnehmen,  dafs  viele  Schulverwaltungs- 
räte  den  Lehrerinnen  das  Lesen  von  Bibelabschnitten,  ja 
sogar  das  Sprechen  eines  Gebetes  untersagen,  da  dies  mit 
konfessioneller  Tendenz  geschehen  könnte. 

Dafs  in  den  Schulen  keine  körperlichen  Strafen  erlaul)t 
sind,  findet  man  hier  selbstverständlich.  Dem  Amerikaner 
widerstrebt  jede  Härte  gegen  ein  Kind,  und  wäre  es  auch 
noch  so  eigensinnig  und  unartig,  so  sehr,  dafs  auch  in  der 
Familie  das  Kind  fast  stets  seinen  Willen  hat,  und  dafs  es 
kaum  nötig  ist,  den  Lehrkräften  das  Schlagen  zu  verbieten. 
Hier  wird  das  Kind  überhaupt  sehr  früh  schon  wie  ein 
Erwachsenes  behandelt.  Man  lacht  über  den  preufsischen 
Schulmeister,  der  während  seiner  Amtstätigkeit  so  und 
soviel  tausend  Tatzen,  Ohrfeigen  und  so  fort  austeilt  und 
den  Kindern  das  Leben  schwer  macht.  In  diesem  Lande 
wird  immer  und  immer  wieder  —  ich  habe  das  oft  be- 
obachtet —  an  den  Ehrgeiz  des  Kindes  appelliert.  Nach 
der  allgemeinen  Erfahrung,  so  sagte  die  Lehrerin  in 
dem  kleinen  Schulhause,  genüge  dies  im  Zusammenhang 
mit  dem  hellsamen  Einflufs  der  beiden  Geschlechter  auf- 
einander. 

In  den  letzten  zwei  Wochen  bot  sich  mir  eine  günstige 
Gelegenheit,  einen  Einblick  in  die  Schulverhältnisse,  be- 
sonders den  Geist  der  Lehrerschaft  zu  bekommen.  Der 
Schulvorstand  des  Bezirks  hatte,  wie  dies  alljährlich  ge- 
schieht, einen  Kurs  (Normal  Institute)  für  die  Lehrerschaft 
der  öffentlichen  Schulen  des  Bezirks  in  der  Hauptstadt  an- 
geordnet.   Zweck  dieses  Normalinstitutes   ist ,    die   Lehrer 


II.    In  der  Schule.  25 


und  Lehrerinnen  mit  allen  neuen  Erscheinungen  und  Ge- 
danken auf  dem  Gebiet  des  Unterrichtswesens  bekannt  zu 
machen,  sie  in  Fühlung  zueinander  zu  bringen  und  zu 
neuem  Eifer  anzuregen.  In  der  Einladung,  die  der  Schul- 
vorstand an  die  Lehrerschaft  ergehen  liefs,  heifst  es  u.  a. : 

„Wir  brauchen  Stolz,  Harmonie  und  Einsicht,  um 
Fortschritte  in  unserer  Arbeit  zu  machen,  und  diese  wesent- 
lichen Eigenschaften  können  wir  auf  keine  bessere  Weise 
erreichen,  als  indem  wir  Begeisterung  in  unseren  Reihen 
und  ein  Gefühl  des  Interesses  für  unser  Land  wecken,  und 
so  dem  Publikum  näher  kommen,  seine  Achtung  und  sein 
Vertrauen  gewinnen."  .... 

„Lafst  darum  ehemalige  Lehrer  und  Lehrerinnen, 
Rektoren  und  alle,  die  sich  für  die  Schule  interessieren, 
mit  uns  zusammenkommen.  Wir  wünschen  miteinander 
zusammenzukommen,  einander  von  Herzen  die  Hand  zu 
drücken  mit  einem  freudigen:  „Wie  geht  es  Ihnen?"  für 
die,  welche  wir  von  früher  her  kennen,  und  einem:  „Ich 
freue  mich,  Sie  kennen  zu  lernen,"  für  die,  die  wir  noch 
nicht  kennen. 

„Mit  erneuter  Versicherung  der  Hochachtung  und  dem 
aufrichtigen  Wunsche  für  gute  Schulen  und  brüderliches 
Wohlwollen  bin  ich  Ihr  sehr  ergebener 

B.  J.  Horchem,  Schulsuperintendent," 

So  verkehrt  hier  der  Vorgesetzte  mit  seinen  Unter- 
gebenen. 

Ich  schrieb  mich  als  Teilnehmer  an  dem  Kurse  ein 
und  habe  ihn  auch  ziemlich  regelmäfsig  besucht.  Die  Vor- 
träge wurden  gehalten  von  den  Professoren  der  hiesigen 
Highschool ,  das  ist  einer ,  etwa  unseren  Gymnasien  ent- 
sprechenden ötfehtlichen  Schule,  welche  die  Kinder  vom 
14. — 20.  oder  21.  Jahre  besuchen.  Diese  Professoren  haben 
fast  durchweg  Universitätsbildung   und  sprechen  über  die 


26  Hintrager. 

in  den  Volksschulen  gelehrten  Gegenstände.  Aufserdem 
sprach  wiederholt  ein  Richter  des  hiesigen  Bundesbezirks- 
gerichts über  Verfassung,  über  Montesquieus  Lehre  von 
der  Dreiteilung  der  Gewalt,  über  Gerichtsorganisation,  ZoU- 
und  Steuerwesen  (Civil  Government),  über  die  rechtliche 
Stellung  der  Eltern,  Lehrer  und  Kinder;  ein  Arzt  redete 
über  die  schädlichen  Wirkungen  des  Alkohols.  Dies  gehört 
hier  nämlich  zu  den  gesetzlich  vorgeschriebenen  Unterrichts- 
gegenständen der  öffentlichen  Schulen. 

Jeden  Nachmittag  von  3  Uhr  ab  war  öffentliche  Dis- 
kussion über  Gegenstände,  die  für  die  Lehrerschaft  von 
gemeinsamem  Interesse  waren,  dann  und  wann  folgten 
auch  musikalische  Vorträge  und  Deklamationen.  Diese  Ver- 
sammlungen waren  immer  äul'serst  anregend.  Gegen  200 
Lehrerinnen .  und  5  Lehrer  aus  allen  Teilen  der  Grafschaft, 
aufserdem  viele  Besucher  aus  der  Stadt  kamen  zusammen ; 
die  Lehrerinnen,  meist  reizende,  jugendliche  Erscheinungen, 
sprachen  mit  grofsem  Eifer  und  selbstbewufster  Unbefangen- 
heit. Die  Furcht  vor  einer  solchen  Versammlung  mulste 
ihnen  fremd  sein.  Die  fünf  Lehrer  spielten  gar  keine 
Rolle.  Das  Feld  der  Erziehung  und  Bildung  gehört  hier 
der  Frau. 

In  der  Schlufsrede  des  Schulvorstandes,  die  ebenso 
kordial  gehalten  war  wie  die  eben  erwähnte  Einladung, 
hörte  ich  die  charakteristischen  Worte:  „Sie  müssen  alles 
so  interessant  und  anziehend  als  möglich  machen;  denn 
wenn  ein  Kind  nicht  aufmerkt,  so  wissen  Sie,  dafs  nach 
modernen  Erziehungsprinzipien  der  Fehler  immer  am 
Lehrer  liegt." 

Doch  ich  mufs  meine  Aufzeichnungen  hier  abbrechen. 
Mein  Freund  und  Führer,  ein  hiesiger  Rechtsanwalt,  kommt 
eben,  um  mich  abzuholen  zu  einem  Damenexerzieren  im 
Exerzierhaus  des  hiesigen  Milizregiments.    Eine  Abteilung 


II.    In  der  Schule.  27 


Mädchen  von  18 — 30  Jahren,  zum  Teil  aus  angesehenen 
Familien  der  Stadt,  soll  ich  da  mit  kleinen  Gewehren 
marschieren  und  exerzieren  sehen  unter  dem  Kommando 
eines  Offiziers  des  Milizregiments.  Ich  kleingläubiger 
Europäer  wollte  das  nicht  glauben. 


Dubuque,  Jowa. 
Gestern  habe  ich  der  Schlufsfeier  der  Dubuque  High- 
school  angewohnt.  Sie  gibt  ein  gutes  Bild  des  amerikanischen 
Schulwesens.  Schon  das  Thema  der  Feier  war  ungewöhnlich 
nach  unsern  deutschen  Schulbegriifen ;  es  lautete:  '„Die 
Vereinigten  Staaten  unter  der  Verfassung".  Doch  zunächst 
ein  paar  Worte  über  diese  Schule,  die  eine  Vereinigung 
eines  humanistischen  und  eines  Realgymnasiums  ist.  Schon 
vor  einigen  Tagen  habe  ich  in  der  Schule  einigen  Unter- 
richtsstunden in  Griechisch  und  Lateinisch  augewohnt; 
die  Lehrerin  des  letzteren  machte  grofse  Augen,  als  ich 
ihr  sagte,  dafs  wir  in  Deutschland  schon  von  früher  Jugend 
an  Lateinisch  lernen,  und  fügte  lachend  bei:  „Setzen  Sie 
sich  lieber  auf  den  Katheder.  Ich  lerne  erst  seit  vier 
Jahren  Lateinisch."  —  Jeden  Freitag  veranstalten  die  Schüler 
und  Schülerinnen  der  Oberklassen  für  jedermann  zugäng- 
liche Unterhaltungsabende  mit  Reden,  Diskussionen,  musi- 
kalischen und  deklamatorischen  Vorträgen.  Bei  einem  solchen 
Unterhaltungsabeude  —  es  war  am  „Gräberschmückungs- 
tage",  an  dem  im  ganzen  Lande  die  Gräber  der  im  Kriege 
umgekommenen  Soldaten  geschmückt  werden ,  —  hörte 
ich,  wie  zwei  Veteranen  des  Bürgerkriegs  patriotische  An- 
sprachen an  die  Schüler  und  Schülerinnen  hielten.  Ge- 
gründet wurde  diese  Schule  1858  mit  110  Schülern  und 
Schülerinnen.      Heute   hat  sie    deren    476   im   Alter   von 


28  Hintrager. 

14 — 20  Jahren ,  darunter  weitaus  die  Mehrzahl  Mädchen. 
Ein  Rektor,  sieben  Lehrer  und  fünf  Lehrerinnen  unter- 
richten, letztere  in  Latein,  Griechisch,  Algebra,  Geometrie, 
Englisch,  Französisch  und  Deutsch.  Gelehrt  werden,  ab- 
gesehen von  den  auf  unseren  humanistischen  und  realistischen 
Gymnasien  üblichen  Fächern,  noch :  Bürgerkunde,  National- 
ökonomie, Handelsgeographie,  Buchführung,  Zoologie  und 
Physiologie.  Die  Schüler  haben  die  Wahl  zwischen  dem 
humanistischen,  dem  realistischen  und  dem  gemischten  Kurse, 
wobei  die  fakultative  Teilnahme  an  einzelnen  Fächern 
eines  andern  Kurses  freisteht.  Der  Unterricht  ist  unent- 
geltlich. 

"Es  ist  abends  8  Uhr.  Das  grofse  Opernhaus  der  Stadt 
Dubuque  füllt  sich  mehr  und  mehr;  denn  das  Interesse 
des  Volks  an  den  Schulen  ist  lebhaft,  und  dergleichen  Ver- 
anstaltungen werden  in  den  Abendstunden  gehalten,  damit 
niemand  durch  Arbeit  abgehalten  ist,  zu  kommen.  Auch 
Museen ,  Bibliotheken ,  Sammlungen  sind  in  den  Abend- 
stunden geöffnet.  Der  Raum  ist  mit  Blumen,  Bändern  und 
Fähnlein  in  den  Farben  der  Abiturientenklasse  geschmückt, 
über  dem  Vorhang  steht  das  stolze  Motto  dieser  Klasse: 
„Tont  bien  ou  rien".  Die  Namen  der  Abiturienten  sowie 
derer,  die  an  den  einzelnen  Schulkursen  am  Streich- 
orchester und  am  Singchor  teilnehmen,  enthält  das  ge- 
schmackvoll in  den  Klassenfarben  ausgestattete  Programm, 
dessen  einzelne  Nummern  uns  bald  mit  den  Abiturienten 
und  ihren  Leistungen  bekannt  machen  sollen. 

Der  Vorhang  erhebt  sich  und  enthüllt  eine  malerische 
Gruppe:  die  Klasse  der  Abiturienten,  mit  Bändern  und 
Schleifen  in  den  Klassenfarben  geschmückt.  Es  sind 
16  Fräulein  und  vereinzelt  zwischen  ihrem  Unschuldweifs 
erblickt  man  fünf  Jünglinge.  So  ist  es  hier:  die  Knaben  ver- 
lassen   die  Schule   mit   14  Jahren    oder   noch   früher   und 


II.    In  der  Schule.  29 


wenden  sich  dem  Gelderwerb  zu,  die  Mädchen  sind  in  den 
Oberklassen  meist  in  der  Mehrzahl.  „We  cannot  keep  the 
boys,"  klagen  die  Lehrer. 

Ein  Geistlicher  eröffnet  mit  einem  kurzen  Gebet  die 
Feier,  das  Schulorchester  spielt  die  „Waldkönigin",  und 
hierauf  tritt  der  Abiturient  Keachie ,  das  Finanztalent  der 
Klasse  und  der  Schatzmeister  bei  sämtlichen  Veranstaltungen 
der  Schüler,  auf  die  Bühne  zu  einem  kurzen  Vortrag  über 
den  Ursprung  der  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten. 
Dieser  Vortrag,  der  wie  die  folgenden  und  wie  hier  üblich, 
frei  und  unbefangen ,  auch  nicht  hinter  Pult  oder  Tisch 
gehalten  wurde,  behandelte  einen  in  allen  öffentlichen 
Schulen  hier  gelehrten  Gegenstand  und  beschränkte  sich 
auf  eine  Darlegung  der  Verdienste  der  Gründer  der  Union 
um  das  Zustandekommen  des  schwierigen  Verfassungswerks, 
vor  allem  von  Washington ,  Franklin ,  Jefferson ,  Hamilton,. 
Madison  und  Jay. 

Den  nächsten  Vortrag  hielt  die  schöne  Dorothea 
Duncan,  in  der  Klasse  „Die  Königin  der  Gesellschaft"  ge- 
nannt, deren  höchstes  Ideal  nach  der  Klassenzeitung  ist: 
„Französisch  zu  sprechen".  Ihr  Thema  war:  „Die  Ver- 
fassung in  Wirksamkeit"  und  bezog  sich  auf  die  acht  Jahre 
der  Präsidentschaft  Washingtons,  des  Vaters  des  Vater- 
landes ,  die  äufsere  Politik  seines  Staatssekretärs  Jefferson 
und  die  Politik  seines  Finanzministers  Alexander  Hamilton. 
Diese  Rede,  nach  Form  und  Inhalt  sehr  gut  und  mit  feiner 
Würde  und  Anmut  von  der  selbstbewufsten  jungen  Dame 
frei  vorgetragen,  hat  einen  eigentümlichen  Eindruck  auf 
mich  gemacht.  Diese  Gedanken  aus  einem  weiblichen  Munde ! 
Es  kam  mir  unwillkürlich  der  Wunsch  in  den  Sinn,  es 
möchten  ejnige  unserer  Oberstudienräte   auch   hier  sitzen. 

Nach  einem  Klaviervortrag  zweier  Abiturientinnen  folgt 
eine   Deklamation   ausgewählter   Stellen   aus  Washingtons 


30  Hintrager. 

Abschiedsadresse  durch  die  schlanke  Abiturientin  Beulah 
Post  —  in  der  Klasse  genannt  „die  Fahnenstange"  — , 
die  sich  als  Chefredakteur  der  von  der  Oberprima  heraus- 
gegebenen Monatsschrift  „  DasEcho "  ^)besonders  ausgezeichnet 
hat.  Washingtons  Farewell- Address ,  dieses  denkwürdige 
Dokument,  wird  von  dem  Volk  der  Vereinigten  Staaten  in 
grofsen  Ehren  gehalten ;  ist  es  doch  das  politische  Testament 
dieses  Edlen,  von  dem  das  geflügelte  Wort  sagt,  dafs  er 
„der  Erste  im  Krieg,  der  Erste  im  Frieden  und  der  Erste 
im  Herzen  seiner  Landsleute"  gewesen  ist.  Dieses  Doku- 
ment ist  in  Schulbüchern  und  in  den  Gesetzessammlungen 
neben  der  Verfassung  und  der  Unabhängigkeitserklärung 
wörtlich  wiedergegeben.  Die  von  der  Abiturientin  vor- 
getragenen Stellen  waren  gewählt  mit  Beziehung  auf  die 
hier  zur  Zeit  schwebende,  allerorts  diskutierte  Frage,  ob 
die  Vereinigten  Staaten  die  Philippinen  behalten  sollen 
oder  nicht.  Washington  hält  in  seinem  Testament  seinen 
Mitbürgern  eindringlich  die  Vorteile  ihrer  territorialen 
Lage  vor  Augen  und  warnt  vor  kolonialen  Gelüsten, 
Allianzen  und  allem,  was  zu  Verwicklungen  mit  fremden 
Mächten  führen  könnte. 

Die  nächste  Nummer  des  Programms  war  ein  ge- 
schichtlicher Vortrag  eines  Abiturienten  über  das  territoriale 

')  Die  letzte  Nummer  dieser  Monatsschrift,  die  einen  sehr  netten 
Blick  hinter  die  Kulissen  gewährt,  enthält  u.  a.  eine  Klassenstatistik, 
•was  jedes  einzelne  vom  andern  Geschlecht  denkt,  was  ihm  fehlt,  was 
sein  höchstes  Ideal  ist  und  dergleichen.  Robert  Doremus  denkt, 
^Mädchen  sind  hübsche  Dinger,  von  denen  man  sich  fernhalten  mufs; 
•der  Beniah  Post  fehlt  nur  eines:  „Gewicht",  und  sie  sucht  wahre 
Freude  lieber  bei  dem  andern ,  als  bei  dem  eigenen  Geschlecht."  — 
Jede  Klasse  hat  ihre  Verbindung  und  ihre  Beamten,  sowie  ihren 
„Klassentag",  bei  welchem  jedoch  keine  geistigen  Getränke  genossen 
werden.  Ein  Schulvorstand  wurde  hier  einmal  entlassen,  weil  er  an 
•einem  Sonntag  an  einer  Bar  Bier  trank. 


IL    In  der  Schule.  31 


Wachstum  der  Vereinigten  Staaten,  ein  hinlänglich  be- 
kannter und  natürlich  hierzulande  sehr  beliebter  Gegen- 
stand. Diese  Westwanderung  von  Ozean  zu  Ozean,  die 
Ausbreitung  der  gleichen  Sprache  und  Kultur  über  einen 
Kontinent,  der  gröfser  ist  als  Europa,  ist  in  der  Tat  eine 
Leistung,  die  ein  Volk  mit  Stolz  und  Zuversicht  erfüllen 
mufs.  Die  Entfernung  New  York— St.  Louis  entspricht  etwa 
derjenigen  von  München  nach  Odessa,  die  Linie  St.  Louis — 
San  Francisco  derjenigen  Bordeaux  — Moskau.  Die  Entfernung 
von  Chicago  nach  dem  auf  dem  gleichen  Breitegrade  mit 
Cairo  liegenden  New  Orleans  ist  gröfser,  als  die  Entfernung 
Berlin — Neapel.  Solch  weite  Räume  erziehen  zu  Optimismus 
und  weitem  Gesichtskreis. 

Nunmehr  erschien  auf  der  Bühne  die  „Zephrina"  der 
Oberprima  oder,  wie  man  das  hier  nennt,  der  „Seniorites", 
Mifs  Gayle  Hamilton^),  eine  zarte  Erscheinung,  und 
trug  einen  Aufsatz  darüber  vor,  wie  sich  die  Einrichtung 
der  Sklaverei  im  Süden  festsetzte.  Dieser  Aufsatz  gibt 
ein  Muster  der  Leistungen  und  bietet  manches  zum  Ver- 
ständnis dieses  Landes.     Er  lautete: 

„In  der  frühen  Geschichte  der  Kolonien  bestanden  zwei 
verschiedene  wirtschaftliche  Systeme,  das  System  der  grofsen 
Stapelfarmen  im  Süden  und  das  der  kleinen  Farmen  und 
der  Hausindustrie  im  Norden.  Der  Unterschied  beider 
Systeme  war  begründet  in  der  Politik  Grofsbritanniens  so- 
wohl als  auch  in  physiologischen  Bedingungen.  England 
erzeugte  damals  viele  Brotstoffe  und  war  daher  ein  Feind 
der  Einfuhr  solcher  Produkte  aus  den  Kolonien.  Deshalb 
setzte  es  hohe  Zölle  auf  sie.  England  wünschte,  dafs  die 
Kolonien  einige  grofse  Stapelartikel  erzeugen  sollten,  die 
als   Rohmaterial    einen   guten   Markt    finden    würden.     In 


^)  Ihre  Meinung  vom  andern  Geschlecht:  „Unaussprechlich". 


32  Hintrager. 

dieser  Absicht  wurden  zahlreiche  Experimente  gemacht, 
um  die  Stapelartikel  zu  finden,  welche  sich  am  besten  für 
den  Boden  und  die  klimatischen  Verhältnisse  der  ver- 
schiedenen Kolonien  eigneten.  Tabak  wurde  der  Stapelartikel 
von  Virginia  und  Maryland,  während  Reis  und  Indigo  am 
besten  in  den  tropischen  Sumpfgegenden  von  Süd-Carolina 
und  Georgia  wuchsen.  Da  die  südlichen  Plantagen  sehr 
grofs  waren  und  das  Klima  der  Sümpfe  höchst  ungesund, 
wurde  die  Arbeiterfrage  von  grofser  Bedeutung  für  den 
Süden. 

Ganz  anders  lagen  die  Verhältnisse  im  Norden.  Hier 
verhinderten  Boden  und  Klima  das  Aufkommen  des 
Plantagensystems.  Vielmehr  war  das  Land  in  viele  kleine 
Farmen  geteilt,  welche  Brotstoffe  erzeugten.  Da  der 
Kolonist  des  Nordens,  dank  der  Handelspolitik  Englands, 
diese  Brotstoffe  nicht  gegen  Manufakturwaren  eintauschen 
konnte,  war  er  gezwungen,  diese  in  seinem  Hause  herzu- 
stellen. Die  Wolle  und  der  Flachs  seiner  Farm  wurden 
für  seinen  eigenen  Gebrauch  verarbeitet.  Diese  Tatsache 
erklärt  vielleicht  den  geübten  Handwerker  des  Nordens, 
der  dann  nachher  die  Textilindustrie  aufgebaut  hat.  Da 
der  Kolonist  des  Nordens  gezwungen  war,  irgendwo  anders 
als  in  England  einen  Markt  für  seine  Farmprodukte  zu 
finden,  brachte  er  dieselben  nach  dem  Süden  und  nach  den 
westindischen  Inseln.  Dort  wurden  sie  umgetauscht  gegen 
Zucker  und  Melasse,  aus  welchen  er  dann  Ptum  bereitete. 
Der  Rum  wurde  gebraucht,  um  in  Afrika  Sklaven  zu 
kaufen,  und  die  Sklaven  wurden  nach  den  südlichen  Kolonien 
gebracht.  Die  Plantagen  des  Südens  lagen  entweder  am 
Meer  oder  an  einem  der  zahlreichen  Ströme  jener  Gegenden ; 
viele  der  Plantagen  hatten  ihre  eigenen  Werften.  Dorthin 
wurden  die  Manufakturwaren  von  England  direkt  dem 
Pflanzer   gebracht   und   ausgetauscht   gegen  eine  Ladung 


II.   In  der  Schule.  33 

Reis,  Indigo  oder  Tabak.  So  kam  es,  dafs  die  Kolonisten 
des  Südens  bald  in  allem  vom  Mutterlande  abhingen ,  von 
den  Kleidungsgegenständen  bis  zu  den  Küchengeräten. 

Das  Wachstum  der  Stapelproduktion  im  Süden  er- 
zeugte ein  Verlangen  nach  billigen  Arbeitskräften  in  den 
ungesunden  Sumpfgegenden.  Die  Arbeiterfrage  war  von 
der  gröfsten  Bedeutung  für  die  Entwicklung  des  Südens. 
Als  der  Pflanzer  nach  Amerika  kam,  brachte  er  seine 
Dienstboten  mit  und  legte  damit  den  Grund  zu  einem 
Unterschied  der  Gesellschaftsklassen,  der  Patrizier  und  der 
Plebejer,  ähnlich  der  altgriechischen  und  römischen 
Zivilisation  und  entsprechend  den  beiden  Klassen  der 
damaligen  englischen  Gesellschaft,  den  „lords  of  the  manor" 
und  deren  Leibeigenen  und  Dienern.  Als  dann  die  Nach- 
frage nach  ungelernten  Arbeitskräften  zunahm,  suchte 
man  sich  zuerst  mit  gefangenen  Indianern  als  Sklaven 
zu  helfen.  Dieser  Versuch  schlug  fehl.  Hierauf  wurden 
kontraktlich  verpflichtete  weifse  Arbeiter  (Dienstboten)  ein- 
geführt. Dies  waren  Personen,  welche  in  fremden  Ländern 
gefangen  gewesen  waren,  meist  in  Schuldhaft,  und  das 
Versprechen  ihrer  Freilassung  erhalten  hatten,  wenn  sie 
sich  bereit  erklärten,  nach  Amerika  zu  gehen  und  einem 
Herrn  eine  bestimmte  Anzahl  von  Jahren  zu  dienen.  Sehr 
oft  wurden  auch  Leute  mit  Gewalt  entführt  und  als  solche 
Arbeiten  verkauft. 

Negersklaven  wurden  zum  ersten  Male  im  Jahre  1619 
nach  Virginia  gebracht;  es  wurden  jedoch  dann  50  Jahre 
lang  keine  mehr  eingeführt.  In  St.  Carolina  waren  die- 
selben eine  vorteilhafte  Kapitalanlage.  Ein  Negersklave 
kostete  etwa  40  $  und  konnte  sich  in  12  Monaten  mehr  als 
bezahlt  machen.  Da  die  Sklavenaufstände  mit  der  Zahl 
der  Sklaven  zunahmen,  wurden  die  Gesetze  für  die  Sklaven 
strenger.     Im   Norden   wurden    die   Sklaven   beinahe    aus- 

Hintrager.  3 


34  Hintrager. 

schliefslicli  als  häusliche  Dienstboten  verwendet.  In  den 
mittleren  Staaten  wurden  sie  hier  und  da,  aber  nicht  oft, 
als  Feldarbeiter  und  in  Pennsylvanien  in  den  Eisengiefsereien 
beschäftigt. 

Am  Ende  der  kolonialen  Periode  kam  etwa  1  Sklave 
auf  50  Weifse,  und  die  Stimmung  war  gegen  die  Sklaverei. 
Bis  1804  hatten  alle  Staaten  nördlich  von  Maryland  die 
Freilassung  ihrer  Sklaven  bestimmt.  Viele  der  leitenden 
Männer  der  damaligen  Zeit,  wie  Wasliington,  Madison  und 
Jefferson  waren  gegen  die  Einrichtung  der  Sklaverei,  aber 
bei  der  Bildung  der  Verfassung  waren  sie  zu  einem  Kom- 
promifs  mit  den  Sklavenbesitzern  genötigt. 

Während  der  kolonialen  Periode  und  in  den  ersten 
Zeiten  unter  der  Verfassung  waren  die  Interessen  des  mer- 
kantilen Neu-England  und  des  Reis  erzeugenden  Süd-Caro- 
lina dieselben  in  politischer  und  kommerzieller  Beziehung. 
Während  der  ersten  30  Jahre  des  10.  Jahrhunderts  änderte 
die  Anpflanzung  der  Baumwolle  im  Süden  und  das  Wachs- 
tum der  Textilindustrie  im  Norden  die  Haltung  dieser 
beiden  Landesteile.  Infolge  des  Gebrauchs  des  Dami)fes 
als  bewegende  Kraft  wurden  grofse  Verbesserungen  in  den 
Maschinen  für  Spinnen  und  Weben  gemacht.  Die  Erfindung 
des  Spinning  Gin  1767  und  des  Tower  loom  1785  ver- 
anlafsten  einen  bedeutenden  Aufschwung  der  Fabrikation 
von  Baumwollstoffen  in  England  und  erhöhten  die  Nach- 
frage nach  Baumwolle,  die  bis  dahin  von  Ägypten 
und  Indien  bezogen  wurde.  Seit  der  Mitte  des  17.  Jahr- 
hunderts hatten  die  südlichen  Kolonien  Baumwolle  in 
kleinen  Mengen  gebaut.  Die  Erfindung  des  Cotton  Gin 
1793  änderte  dies.  Bisher  war  das  grofse  Hindernis  für 
die  Baumwollerzeugung  die  aufserordentliche  Arbeit  ge- 
wesen, die  nötig  war,  um  die  Baumwollfaser  von  dem 
Samen  zu  trennen.     Die  vollständige  Trennung  von  einem 


IT.    In  der  Schule.  35 


Pfund  Baumwolle  war  die  Arbeit  von  durchschnittlich  einem 
^  Tage.  Daher  beschränkten  die  hohen  Kosten  der  Fertigstellung 
'iäer  Baumwolle  für  den  Markt  deren  Erzeugung  auf  Länder 
wie  Indien,  wo  die  Arbeit  sehr  billig  war.  Aber  durch 
den  Cotton  Gin  wurde  die  Fähigkeit  eines  Sklaven  in 
der  Reinigung  der  Baumwolle  um  das  300 fache  vergröfsert. 
Baumwolle  hing  mehr  vom  Klima  als  vom  Boden  ab;  dem- 
gemäfs  war  ein  grofser  Teil  des  Landes  zwischen  dem 
36  Grad  n.  Br.  und  dem  Golf  von  Mexiko  sehr  wohl  ge- 
eignet für  den  Baumwollbau.  Witney's  Erfindung  erschien 
im  günstigsten  Zeitpunkt;  denn  es  waren  Klagen  laut 
geworden ,  dafs  Reis  und  Indigo ,  die  Stapelartikel  von 
Süd-Carolina  und  Georgia,  wegen  der  niederen  Preise  nicht 
den  Anbau  lohnten. 

Im  Jahre  1790  erstreckte  sich  der  „schwarze  Gürtel", 
wo  die  Sklaven  75 — 90%  der  Bevölkerung  bildeten,  über 
einen  Teil  der  Küstenregion  von  Süd-Carolina  und  Georgia. 
In  Virginia  und  längs  eines  grofsen  Teils  der  Floridaküste 
bildeten  die  Sklaven  50 — 75°/'o  der  Bevölkerung.  Im  Jahr 
1812  war  die  Sklavenbevölkerung  viel  dichter  und  erstreckte 
sich  bis  zum  Mississippi  und  selbst  jenseits  desselben. 

Das  Hinterland  der  Südstaaten  war  ein  grofser  Weizen- 
distrikt mit  seinen  Getreidemühlen,  und  glich  viel  mehr  dem 
Norden  als  dem  Süden.  Tatsächlich  war  es  besiedelt  worden 
von  dem  Überschufs  der  Bevölkerung  des  Nordens  und  von 
den  Einwanderern  direkt  aus  Europa.  Aber  nicht  lange 
nach  der  Einführung  der  Baumwolle  dehnte  sich  deren 
Kultur  hierher  aus  und  mit  ihr  auch  die  Sklaverei. 

Wir  haben  demnach  zwei  verschiedene  Typen  der  Zivili- 
sation: Das  Plantagensystem  des  Südens  mit  all  seinen 
Eigentümlichkeiten  und  das  Fabriksystem  des  Nordens 
mit  seiner  modernen  Farmwirtschaft,  seinen  mannig- 
faltigen  Erwerbszweigen  und   fortgeschrittenen  Transport- 


36  Hintrager. 

methoden;  das  eine  System  war  gegründet  auf  Sklaverei, 
das  andere  auf  freie  Arbeit.  Das  System  der  Sklaverei 
verurteilte  den  Süden  nicht  nur  dazu  beim  Ackerbau  zu 
bleiben,  sondern  auch  diesen  unter  riesiger  Verschwendung 
der  Hilfsquellen  des  Landes  zu  betreiben.  Es  war  dazu 
angetan,  einen  der  reichsten  und  fruchtbarsten  Teile  des 
Kontinents  zu  erschöpfen.  Das  System  der  Sklaverei  er- 
zeugte auch  die  unter  dem  Kamen  „die  armen  Weifsen" 
bekannte  Gesellschaftsklasse.  Diese  gehörten  weder  zur 
herrschenden  Klasse  noch  zu  den  Sklaven,  wurden  vielmehr 
von  beiden  verachtet.  Sie  waren  frei ,  aber  eben  deshalb 
aller  Hoffnung  beraubt,  sich  zur  Unabhängigkeit  zu  er- 
heben und  allgemeine  Achtung  sich  zu  sichern,  weil  es 
kein  System  der  Miete  freier  Arbeit  gab,  und  weil  bestimmte 
Arten  von  Arbeit  in  der  öffentlichen  Meinung  verächtlich 
geworden  waren.  Da  die  Würde  der  Arbeit  verschwand, 
war  wenig  Gelegenheit  geboten,  sein  Leben  auf  achtbare 
Weise  zu  fristen.  Unwissenheit  und  Armut  allein  genügten, 
um  den  einzelnen  zu  unterdrücken.  Kam  hierzu  noch  der 
Mangel  an  achtbarer  Arbeitsgelegenheit,  so  wird  das  Ent- 
stehen und  die  Fortdauer  der  Klasse  der  „armen  Weifsen"  wohl 
verständlich.  —  Ein  anderes  Resultat  des  Sklavereisystems 
war  die  Beschränkung  der  Bevölkerungszahl.  Im  Jahre  1800 
verteilten  sich  die  freien  weifsen  Einwohner  zwischen 
Norden  und  Süden  nach  dem  Verhältnis  25:13.  Im  Jahre 
1830  war  das  Verhältnis  etwa  dasselbe,  aber  der  Süden 
hatte  seine  Stellung  nur  durch  die  Erwerbung  von  Louisiana 
und  Florida  gehalten  und  durch  die  rapide  Besiedelung  der 
an  den  Golf  von  Mexiko  grenzenden  Staaten. 

Die  Einführung  verbesserter  Transportmethoden  und 
die  sonstige  Ermutigung  des  nördlichen  Gewerbefleifses 
mufste  notwendig  dazu  führen,  dafs  die  Gewerbe  des  Nordens 
sich  hoben,  Industrie-Centren  entstanden,  die  Auswanderung 


II.    In  der  Schule.  37 

dorthin  sich  lenkte  und  die  Industrie-  und  Handelscentren 
des  Nordosten  aufgebaut  wurden.  Die  Zeit  von  1830 — 40 
war  eine  Periode  von  grofsem  geistigem  und  materiellem 
Fortschritt  im  Norden,  und  die  Bevölkerung  nahm  rapid  zu. 
Aber  der  Süden  stand  still,  wie  in  materiellen  Angelegen- 
heiten, so  in  intellektueller  Hinsicht:  nicht  einer  der 
grofsen  Namen  von  Dichtern,  Geschichtsschreibern  oder 
Männern  der  Wissenschaft  kam  vom  Süden.  Im  Jahre  1840 
waren  63°/o  der  des  Lesens  und  Schreibens  unkundigen 
weifsen  Bevölkerung  im  Süden  zu  finden^  Die  Sklaven- 
halter waren  die  herrschende  Klasse,  und  sie  war  intelligent 
und  einflufsreich,  obwohl  gering  an  Zahl. 

Es  war  unmöglich,  dafs  zwei  so  verschiedene  Systeme  in 
Harmonie  unter  derselben  Regierung  existieren  konnten. 
Wie  Lincoln  sagte:  „Ein  Haus,  das  mit  sich  selbst  uneins 
ist,  kann  nicht  bestehen".  Es  hatte  sich  ein  nicht  unter- 
drückbarer Konflikt  der  Nation  aufgezwungen.  Der  Krieg, 
der  folgte,  hatte  zu  entscheiden,  welches  System  vom  ameri- 
kanischen Boden  verschwinden  sollte.  Zum  Glück  trium- 
phierte die  Sache  der  Freiheit  und  Menschlichkeit!" 

Damit  schlofs  Mifs  Hamilton.  Nach  einem  Sousa- Marsch 
des  Schulorchesters  folgte  ein  nicht  weniger  interessantes 
und  für  die  grofszügige  amerikanische  Denkweise  charakte- 
ristisches Essay  der  reizenden  Edna  Wootton,  der  „Tabitha" 
der  Abiturientenklasse.  Ihr  Vortrag  über  die  wirtschaft- 
liche Entwicklung  der  Vereinigten  Staaten  lautete: 

„In  dem  wirtschaftlichen  Entwicklungsgang  der  Ver- 
einigten Staaten  bestanden  fünf  bestimmt  zu  unterscheidende 
Stadien.  Diese  sind :  Das  Stadium  der  Jagd  und  Fischerei, 
der  Weidewirtschaft,  des  Ackerbaues,  des  Handwerks  und 
der  Industrie.  Diese  Entwicklungsphasen  sind  über  den 
Kontinent  hingegangen,  wie  eine  Welle  der  andern  folgend. 

Unsere  früheste  Geschichte  ist  die  Entwicklung  eng- 


38  Hintrager. 

lischer  Ideen  auf  amerikanischem  Boden.  Die  englischen 
Kolonisten  waren  unsere  ersten  Grenzleute.  Sie  fanden 
dieses  Land  als  eine  Wildnis,  im  Besitz  von  Indianern. 
Unter  diesen  Umständen  waren  sie  gezwungen,  Händler 
und  Jäger  zu  werden  und  die  Spuren  der  Indianer  in  die 
Wildnis  zu  verfolgen.  Die  Indianer  folgten  den  Spuren 
des  Büffels.  Mit  dem  Zug  nach  Westen  wurde  die  Grenze 
mehr  und  mehr  amerikanisch.  Wie  die  Zahl  der  Kolonisten 
zunahm  und  das  Wild  seltener  wurde,  zogen  die  Händler 
und  Jäger  nach  Westen.  Ihre  Plätze  wurden  bald  von  den 
Hirten  und  Herden  eingenommen.  Auch  diese  zogen  nach 
Westen,  sobald  ihrer  zu  viele  wurden,  und  ihnen  wiederum 
folgte  der  Farmer.  Dem  Farmer  folgte  mit  der  Zeit  der 
Kapitalist,  und  das  Dorf  wurde  eine  grofse,  unternehmende 
Stadt.  Dieser  Prozefs  spielte  sich  ab  von  Osten  nach 
Westen  bis  auf  den  heutigen  Tag,  da  wir  nach  dem  Census 
von  1890  eine  eigentliche  Grenze  in  dem  erwähnten  Sinne 
nicht  mehr  haben. 

In  dem  Stadium  der  Jagd  und  Fischerei  lebte  der 
Mensch  allein  von  dem,  was  er  finden  konnte,  nämlich 
Beeren,  Wurzeln,  Wild  und  Fischen.  Er  hatte  nur  wenige 
Werkzeuge  und  Waffen.  Die  Bevölkerung  war  dünn ,  da 
viel  Land  nötig  war,  um  einen  einzelnen  mit  Wild  und 
Fischen  zu  versehen.  Hungersnöte  waren  häufig,  und  es 
wurde  wenig  gekauft  und  verkauft,  da  alle  ungefähr  die 
gleichen  Sachen  erzeugten.  Ein  Beispiel  dieses  Stadiums 
sind  die  französischen  Fellhändler  längs  der  grofsen  Seen 
und  im  Mississippitale  während  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts,  und  bieten  heute  einige  Stämme  Alaskas. 

Das  Stadium  der  Weidewirtschaft  wurde  gekennzeichnet 
durch  die  Tatsache ,  dafs  die  Menschen  lernten ,  Tiere  zu 
zähmen  und  Viehherden  aufzuziehen,  und  dafs  sie  Nahrung 
und  Kleidung  von   diesen  bezogen.     Die  Bevölkerung  war 


IL    In  der  Schule.  39 


zerstreut,  und  die  Menschen  führten  ein  Nomadenleben.  Aber 
Krieg  war  seltener,  da  er  ihren  angesammelten  Besitz  zer- 
störte. Eine  Illustration  dieses  Stadiums  finden  wir  in 
den  Viehzüchtereien  unseres  Westens. 

Das  Stadium  des  Ackerbaues  zeigte  einen  bedeutsamen 
Fortschritt.  Man  gebrauchte  Pflanzen  für  den  Lebens- 
unterhalt. Dies  hatte  drei  wichtige  Folgen:  Einmal 
vergröfserte  sich  die  Bevölkerung  bedeutend,  sodann 
hörten  die  Menschen  auf  umherzuziehen,  und  siedelten 
sich  an  einem  Platze  an;  endlich  begann  das  Privateigentum 
am  Grund  und  Boden.  Anstatt  einer  rohen  Hütte  wie  in 
der  Weidezeit  bauten  die  Menschen  nun  Häuser  mit  Glas- 
fenstern und  Steinkaminen,  kauften  Land,  pflanzten  Obst- 
gärten, bauten  Schulhäuser  und  Kirchen  und  bildeten 
Dörfer.  Von  diesen  Dörfern  lebte  ein  jedes  von  sich  selbst 
und  bezog  wenig  Lebensbedürfnisse  von  andern  Orten. 
Der  Handel  war  zum  Teil  Tauschhandel.  Die  Sklaverei 
nahm  bedeutende  Proportionen  an.  In  diesem  Stadium  der 
Entwicklung  befand  sich  der  Süden  vor  dem  Bürgerkriege. 

Das  Stadium  des  Handwerks  war  die  nächste  Stufe 
unseres  Fortschritts.  Dieses  Stadium  hatte  seinen  Ursprung 
im  Haushalt.  Seifenmachen ,  Garnspinnen ,  Stoffweben, 
Schreinerei  und  Schmiedearbeit  wurde  ursprünglich  alles 
in  der  Familie  ausgeführt.  Nach  und  nach  widmeten  sich 
die  Leute  einem  einzelnen  Handwerk,  und  wir  haben  die 
kleinen  Werkstätten  mit  gelernten  Handwerkern.  Diese 
Leute  bildeten  Gesellschaften,  genannt  Zünfte,  welche  die 
Preise  und  die  Qualität  der  Waren  regelten.  Nun  wurden 
die  Leute  mehr  voneinander  abhängig.  Jährliche  Messen 
und  Märkte  wurden  abgehalten,  und  es  wurde  nötig,  für 
Transportmittel  zu  sorgen.  Die  Fufspfade  der  Indianer 
wurden  zu  Wegen  verbreitert,  welche  die  Städte  und  Graf- 
schaften bauten ,   wie  das  örtliche  Bedürfnis  es  erforderte. 


40  Hintrager. 

Die  Wegesteuer  wurde  in  Arbeit  bezahlt ,  nicht  in  Geld. 
und  daher  wurden  die  Wege  schlecht  gebaut.  Auf  den 
Flüssen  waren  hölzerne  Segelschiffe  in  Gebrauch.  Schiff- 
bau wurde  in  den  ersten  Jahren  der  kolonialen  Periode 
begonnen  und  war  die  erste  Industrie,  welche  in  den 
Kolonien  zu  einer  grofsen  Entwicklung  gelangte.  Durch 
ihn  wurde  das  Wachstum  eines  grofsen  und  einträglichen 
Handels  ermöglicht.  In  der  Herstellung  hölzerner  Segel- 
schiffe waren  die  amerikanischen  Schiffsbauer  unübertroffen. 
Geld  war  jetzt  eine  Notwendigkeit,  da  Tauschhandel  sich 
für  solch  allgemeinen  Wechsel  der  Güter  nicht  mehr  eignete. 
In  der  Kolonialzeit  diente  in  Virginia  Tabak  als  Geld, 
wurde  aber  bald  durch  Gold  und  Silber  ersetzt.  Aus  den 
Dörfern  des  Ackerbaustadiums  wurden  Städte,  da  die  Ge- 
werbe das  nähere  Zusammensein  der  Menschen  erforderlich 
machten. 

Das  5.  und  letzte  Stadium  unserer  wirtschaftlichen 
Entwicklung  ist  das  industrielle,  welches  zuerst  mit  einer 
Keihe  von  Erfindungen  in  der  Baumwoll-  und  Wollindustrie 
begann.  Dieses  Stadium  wurde  charakterisiert  durch  die 
Anwendung  mechanischer  Kraft  im  Gewerbebetrieb.  Dies 
vergröfserte  den  Gebrauch  des  Kapitals  bedeutend,  und  die 
Geschäfte  wurden  nach  einem  viel  gröferen  Mafsstab  ge- 
führt. Hausindustrie  wurde  ersetzt  durch  Fabriken.  Dies 
führte  zu  Klassenunterschieden  zwischen  den  Arbeitgebern 
und  Arbeitnehmern.  Unter  dem  früheren  System  waren 
alle  Meister,  jetzt  werden  es  nur  noch  Leute  von  hervor- 
ragender Tüchtigkeit.  In  dem  häuslichen  Gewerbebetrieb 
gehörte  dem  Manne,  was  er  machte,  und  er  verkaufte  es, 
so  gut  er  konnte ;  zudem  verfertigte  er  einen  ganzen  Artikel. 
Jetzt  dagegen  haben  wir  eine  grofse  Arbeitsteilung  und 
das  Lohnsystem.  Preise  werden  jetzt  durch  die  Konkurrenz 
geregelt,  anstatt  dafs  sie  durch  die  Gewohnheit  festgesetzt 


II.    In  der  Schule.  41 


und  durch  das  Gesetz  zur  Geltung  gebracht  werden.  Der 
Austausch  wird  mehr  durch  Kredit,  als  bar  Geld  ver- 
mittelt. 

Die  Transportverhältnisse  wurden  bedeutend  verbessert. 
An  Stelle  der  armseligen  kolonialen  Wege  treten  von 
Korporationen  erbaute  Wege  mit  Wegegeldern.  Nun  stehen  alle 
Wege  unter  öffentlicher  Kontrolle .  Nach  1 825  wurden  zahlreiche 
Kanäle  gebaut,  viele  von  den  Einzelstaaten.  Letztere  waren 
meist  keine  erfolgreichen  Unternehmungen,  wohl  aber  er- 
wiesen sich  andere  Kanäle,  insbesondere  der  Erie-Kanal, 
als  erfolgreiche  Konkurrenten  der  Eisenbahnen  und  wirkten 
auf  eine  Herabminderung  der  Eisenbahnfrachtsätze.  Eisen- 
bahnen erschienen  bald  nach  den  Kanälen.  Zuerst  waren 
dieselben  kleine  lokale  Angelegenheiten.  Zwischen  1850 
und  1860  wurden  sie  in  durchgehende  Linien  konsolidiert. 
Schliefslich  bildeten  sie  fünf  grofse  Hauptlinien,  welche  die 
Wege  von  Küste  zu  Küste  beherrschten.  Im  Jahre  1890 
wurde  ^8  der  Meilenzahl  aller  Bahnen  als  unter  einer 
Leitung  befindlich  angenommen. 

An  die  Stelle  der  hölzernen  Segelschiffe  traten  zuerst 
eiserne  und  dann  stählerne  Schiffe.  Heute  sind  die  in 
unserem  Lande  gebauten  Stahlschiffe  in  jeder  Hinsicht  un- 
übertroffen im  Vergleich  zu  Schiffsbauten  irgend  eines 
anderen  Landes  derWelt.  Selbst  unsere  eigene  Stadt  Dubuque 
hat  eine  Schiffswerft,  die  sich  rühmen  kann,  das  Kriegs- 
schiff „Ericson"  für  unseren  letzten  spanisch-amerikanischen 
Krieg  geliefert  zu  haben.  Sie  hat  auch  den  „Windom" 
gebaut,  einen  Zollkutter. 

Während  des  vergangenen  Jahrhunderts  hat  eine  merk- 
würdige Konzentration  der  .produktiven  Industrie  stattge- 
funden. Früher  war  der  Betrag  von  Kapital  und  Arbeit, 
die  in  einem  Durchschnittsgeschäft  steckten,   viel   kleiner 


42  Hintrager. 

als  heute.  An  die  Stelle  kleiner  Fabriken  sind  gigantische 
Unternehmungen  getreten. 

Unsere  Gewerbe  haben  viele  Veränderungen  erfahren. 
Zuerst  hatten  wir  die  Hausindustrie,  in  der  jeder  Artikel 
von  der  Familie  hergestellt  wurde.  Dann  kamen  die  kleinen 
Werkstätten  mit  unabhängigen  Eigentümern;  die  Leute 
setzten  ihre  Waren  auf  Märkten  und  jährlichen  Ausstellungen 
ab.  Dann  folgte  das  Fabrikwesen.  Unter  diesem  entwickelte 
sich  die  Arbeitsteilung,  das  Lohnsystem  und  die  Konkurrenz. 
Gegenwärtig  ist  eine  andere  Veränderung  im  Gange,  näm- 
lich die  Konzentration  aller  Teile  einer  einzelnen  Industrie 
in  ein  grofses  Etablissement.  Die  Konzentration  kleiner 
Unternehmungen  in  grofse  zeigt  sich  zuerst  bei  denjenigen 
Industrien,  welche  Bedarfsgegenstände  liefern,  die  nur  in 
unmittelbarer  Verbindung  mit  der  geschäftlichen  Anlage 
verbraucht  werden  können,  wie  Gas-,  Elektrizitäts-  und 
Wasserwerke.  Dies  ist  dem  Umstände  zuzuschreiben,  dafs 
eine  Gesellschaft  das  gleiche  Stück  Land  mit  sehr  viel 
geringerem  Aufwand  an  Schienengeleisen,  Gasröhren,  elek- 
trischen Drähten  bedienen  kann,  als  zwei  Gesellschaften 
nötig  hätten.  Daher  kann  es  die  eine  Gesellschaft  billiger 
machen  als  zwei.  Diese  Neigung  zur  Konzentration  ist 
zur  Zeit  in  allen  Industrien  in  ganz  auffallendem  Mafse 
vorhanden." 

Anschliefsend  hieran  trug  eine  Abiturientin  einen  Teil 
der  berühmten  Harvard  Commemoration-Ode  Lowells  vor, 
wohl  der  besten  Dichtung,  die  der  Bürgerkrieg  hervorrief. 
Nach  einem  Violinsolo  folgte  der  Glanzpunkt  des  Abends, 
zwei  Reden  über  das  Thema:  „Ist  Expansion  eine  weise 
Politik?"  Die  erste,  den  verneinenden  Standpunkt  ver- 
tretende Rede  hielt  ein  Abiturient,  die  andere  bejahende 
hielt  die  ebenso  begabte  als  anmutige  Abiturientin  Melinda 
Rider.     Sie   hatte   das   Abgangszeugnis   mit    den    „ersten 


II.    In  der  Schule.  43 


Ehren"  erhalten  und  führte  ihre  Aufgabe  so  glänzend  durch, 
dafs  langer  Beifall  sie  lohnte.  Ein  Teil  des  Beifalls  galt 
vielleicht  dem  „ja",  das  sie  vertrat;  denn  die  Majorität 
der  Anwesenden  war  wohl  für  die  MacKinleysche  Er- 
oberungspolitik. Aber  wie  dem  auch  sei,  die  18jährige 
„Linda"  war  ein  solch  guter  Anwalt  für  Kolonialpolitik, 
wie  ich  meinem  Vaterlande  recht  viele  wünschen  möchte. 
Die  Feier  schlofs  mit  der  Verteilung  der  Abgangs- 
zeugnisse und  einem  Gebet.  Die  Verteilung  der  Zeugnisse, 
die  auf  grofsen  Bogen  standen  und  je  mit  einem  seidenen 
Band  in  den  Klassenfarben  umschlungen  waren,  geschah 
durch  den  Vorstand  des  Schulrats,  der  aus  direkten  Wahlen 
hervorgehenden  Schulverwaltungsbehörde  des  Bezirks. 


III.  Auf  dem  Bureau  des  Reehts- 
anw^alts. 

„Guter  Humor  ist  immer  der  Erhalter 
unserer  Ruhe  und  unseres   Friedens." 
Jefferson. 

Dubuque,  Jowa. 

Mit  Befriedigung  blicke  ich  auf  eine  neue  Episode 
meiner  amerikanischen  Lehrzeit.  Ein  hiesiger  Rechtsanwalt 
gab  mir  Gelegenheit,  auf  seinem  Bureau  tätig  zu  sein. 
Der  vorübergehende  Aufenthalt  unter  einem  fremden  Volke 
kann  nur  mehr  oder  weniger  flüchtige  Einblicke  in  sein 
Leben  gewähren.  Aber  wenn  etwas  dazu  angetan  ist,  diese 
Einblicke  zu  vertiefen,  so  ist  es  die  Arbeit,  vor  allem  in 
diesem  Lande. 

Die  Anwaltsfirma,  auf  deren  Bureau  ich  mich  befinde, 
gehört  zu  den  ersten  am  hiesigen  Platze.  Utt,  der  ältere 
der  beiden  Junggesellen,  huldigt  anscheinend  der  Ansicht, 
dafs  Arbeit  eine  Unterhaltung  für  die  Toren  ist.  Er  be- 
sucht das  Bureau  sehr  unregelmäfsig.  Kommt  er,  so 
schlendert  er  herein  und  setzt  sich  an  die  Arbeit,  ohne 
den  Hut  abzunehmen.  Schlägt  er  etwas  nach,  so  lehnt  er 
sich  zurück  in  seinem  bequemen  Stuhle,  legt  die  Beine  auf 
den  Tisch  und  auf  diese  das  schwere  Gesetzbuch.  Nur 
einmal  sah  ich  ihn  eine  rasche  Bewegung  machen,  als 
eine  hübsche  junge  Witwe  auf  das  Bureau  kam  und,  da 
in  Geschäftslokalitäten  nicht  angeklopft  wird,  ihn  in  seiner 
gewöhnlichen  Positur  mit  den  Worten  überraschte:    „Ist 


in.   Auf  dem  Bureau  des  Rechtsanwalts.  45 

dazu  der  Tisch  da?"  Diese  Witwe  hatte  ihm  das  Mandat 
erteilt,  die  10000  $  betragende  Lebensversicherungssumme 
ihres  jüngst  verstorbenen  Mannes  von  einer  Versicherungs- 
gesellschaft beizutreiben,  und  besuchte  ihn  häufig.  Seit  er 
mit  dieser  Klage  durchgedrungen,  ist  er  nicht  mehr  auf 
das  Bureau  gekommen.  Das  Honorar,  das  er  mit  der 
Klientin  verabredet  hatte,  betrug  gegen  2000  $;  wäre  er 
im  Prozefs  unterlegen,  so  hätte  er  nichts  erhalten.  So  wird 
hier  gewöhnlich  die  Honorarvereinbarung  getroifen,  hinsicht- 
lich deren  völlige  gesetzliche  Freiheit  besteht.  „Wenn  er 
das  Geld  verbraucht  hat,  wird  er  wieder  kommen  und 
arbeiten,"  sagt  sein  Partner  Henry. 

Die  Seele  des  „Geschäftes"  ist  Henry,  ein  humorvoller 
Junggeselle  Mitte  der  30er  Jahre,  dessen  Gemüt  und 
Lebensphilosophie  das  deutsche  Blut  in  seinen  Adern  ver- 
rät. Er  ist  oft  in  Deutschland  gewesen  und  bewundert 
deutsche  Bildung,  deutsche  Rechtswissenschaft  und  Rechts- 
pflege, während  Utt  vom  deutschen  Rechte,  wie  überhaupt 
von  allem,  was  aus  der  alten  Welt  kommt,  mit  Gering- 
schätzung als  von  mittelalterlichen  Dingen  spricht. 

So  verschieden  wie  die  Denkart  der  beiden  ist  ihre 
Ausbildung  für  ihren  Beruf  gewesen.  Die  Zulassung  zur 
Rechtsanwaltschaft,  welche  zum  Auftreten  vor  allen  Ge- 
richten des  betreffenden  Staates  berechtigt  —  die  englische 
Unterscheidung  zwischen  Barrister  und  Solicitor  gibt  es 
hier  nicht  — ,  setzt  in  allen  Staaten  der  Union  das  Be- 
stehen einer  Prüfung  voraus,  die  gewöhnlich  vor  einem 
Gericht  mündlich  abgelegt  wird.  Die  Bedingung  der  Zu- 
lassung zu  dieser  Prüfung-  ist  entweder  ein  mehrjähriger 
Besuch  einer  Law  school  oder  eine  mehrjährige  praktische 
Tätigkeit  auf  einem  Anwaltsbureau.  Utt  hat  letztere 
Ausbildung  genossen  und  sich  dann  mit  seinem  älteren 
Bruder  (ebenfalls  Rechtsanwalt)  vereinigt;    er  trennte  sich 


46  Hintrager. 

jedoch  von  ihm,  als  dieser  sich  mit  einer  Rechtsanwältin 
verheiratete  und  mit  dieser  zusammen  die  Praxis  ausübte. 
Henry,  der  drei  Jahre  lang  die  Law  school  der  Staats- 
universität von  Jowa  besucht  hat,  assozierte  sich  mit  Utt, 
in  erster  Linie,  um  den  Vorteil  der  längeren  praktischen 
Erfahrung  und  der  reichen  Bibliothek  Utts  zu  geniefsen. 
Auf  weiteres  als  dies  und  die  Miete  gemeinschaftlicher 
Räumlichkeiten  erstreckt  sich  das  Gesellschaftsverhältnis 
der  Anwälte  hier  in  der  Regel  nicht.  Jeder  arbeitet  und 
rechnet  mit  seinen  eigenen  Klienten.  Nur  in  den  Grofs- 
städten  gibt  es  Anwaltsfirmen,  die  Geschäfts-  und  Gewinn- 
teilung haben.  Da  bei  den  Zulassungsprüfungen  keine 
grofsen  Anforderungen  gestellt  zu  werden  pflegen  und  der 
Anwaltsberuf,  besonders  auf  politischem  Gebiete ,  viele 
Aussichten  eröffnet,  gibt  es  hier  sehr  viele  Rechtsanwälte, 
und'  der  Geist  der  Zusammengehörigkeit  unter  denselben 
ist  schwach.  Dubuque,  eine  Stadt  von  etwa  45000  Ein- 
wohnern, hat  55  Rechtsanwälte.  Reklame  zu  machen  in 
Zeitungen  oder  durch  einen  Anschlag  am  Bureaufeuster 
(z.  B.  „Spezialität:  Billige  und  rasche  Ehescheidungen") 
ist  nichts  Seltenes  und  wird  von  der  öffentlichen  Meinung 
kaum  für  verwerflich  erachtet.  Wohl  haben  sich  in  den 
meisten  Staaten  Anwaltsvereine  gebildet ;  allein  deren  Ein- 
flufs  und  Tätigkeit  ist  mehr  auf  Herbeiführung  gesetz- 
geberischer Reformen  und  Schutz  der  Interessen  der  Mit- 
glieder als  auf  Mafsregelung  derselben  gerichtet.  Auch 
hier,  wie  überall  in  diesem  Lande,  ist  gröfste  persönliche 
Freiheit. 

Doch  nun  einiges  aus  der  Tätigkeit  der  letzten  Wochen. 
Es  ist  nicht  das  erste  Mal,  dafs  ich  den  Eindruck  bekam, 
dafs  hier  nicht  so  viel  gearbeitet  wird,  als  man  draufsen 
glaubt.  Henry  erhält  oft  Besuche,  die  nur  zur  Unter- 
haltung kommen.    Wir  macheu  oft  gleiche  Besuche,    be- 


III.    Auf  dem  Bureau  des  Rechtsanwalts.  47 

sonders  bei  hiesigen  Beamten,  die  auch  immer  Zeit  zu  haben 
scheinen  und  stets  zum  Wiederkommen  einladen.  Vor 
einigen  Tagen  kam  ein  alter  Anwalt  auf  das  Bureau,  auf 
dem  ich  gerade  allein  war.  Mit  dem  hier  auch  unter 
Damen  üblichen  heiteren  „Hallo I"  tritt  er  ein,  den  Hut 
auf  dem  Kopfe,  sieht  sich  um  und  fragt:  „Wo  sind  die 
Jungen?"  (So  lange  man  ledig  ist,  ist  man  hier  „Junge" 
oder  „Mädchen".)  An  schönen  sonnigen  Nachmittagen 
geht  Henry  oft  ans  Telephon  und  fragt  bei  einer  seiner 
zahlreichen  Freundinnen  an,  ob  sie  ihm  nicht  das  Vergnügen 
bereiten  wolle,  mit  ihm  spazieren  zu  fahren.  Erhält  er 
eine  Zusage,  so  bestellt  er  den  Wagen  und  überläfst  das 
Bureau  mir.  Und  trotzdem  tut  auch  er,  wie  alle  Menschen 
in  diesem  nervenreizenden  Klima ,  alles  mit  Unruhe  und 
Hast.  Er  rennt  vom  Bureau  zum  Lunch,  verschlingt  das 
Essen,  ohne  Hut  und  Überzieher  abzunehmen,  rennt  wieder 
zum  Bureau,  um  —  im  Schaukelstuhl  die  eben  eingelaufene 
Zeitung  zu  lesen.  Wird  dann  einmal  gearbeitet,  so  ge- 
schieht auch  dies  mit  Energie  und  Hast,  und  die  Arbeit 
lohnt.  Dafs  das  Honorar  des  Anwalts  hier  sehr  hoch  ist, 
ist  auch  in  Deutschland  bekannt.  Selbst  die  Schreib- 
gebühren sind  zehnmal  so  hoch  als  bei  uns.  Als  ich  Henry 
eine  Kostenrechnung  eines  deutschen  Anwalts  zeigte  und 
ihm  erklärte,  wie  das  Gericht  sie  bis  ins  einzelne  nach- 
prüft, da  sagte  er  ruhig:  „So  etwas  würden  wir  niemals 
ertragen."  Um  Kleinigkeiten  kümmert  man  sich  hier 
nicht.  Für  einen  kleinen  Rechtsrat  wird  nie  etwas  be- 
rechnet. 

So  viel  ich  bis  jetzt  gesehen  habe,  liegt  der  Schwer- 
punkt der  Tätigkeit  des  Anwalts  hier  nicht  auf  dem  Bureau, 
sondern  in  der  Vertretung  des  Mandanten  in  der  mündlichen 
Verhandlung  vor  Gericht.  Der  Prozefs  wird  sehr  wenig 
durch  Schriftsätze  vorbereitet.    Als  ich  Henry  fragte,  warum 


48  Hintrager. 

er  in  seinen  Schriftsätzen  nie  Beweismittel  bezeichne,  lachte 
er:  „Das  tut  hier  niemand.  Dann  würde  ich  meinen  ganzen 
Fall  weggeben!  Der  Gegner  mufs  überrascht  werden." 
Gerichtsverhandlungen  habe  ich  bis  jetzt  nur  wenigen  an- 
gewohnt, da  mich  meine  Tätigkeit  mehr  auf  dem  Bureau 
in  Anspruch  nahm.  Immerhin  aber  haben  mir  die  wenigen 
Verhandlungen,  bei  denen  ich  zugegen  war,  gezeigt,  dafs 
hier  der  Anwalt  alle  Minen  spielen  läfst  in  einer  Weise, 
wie  es  vor  einem  deutschen  Gerichte  niemals  geduldet 
würde. 

Dies  veranschaulicht  ein  Prozefs,  der  in  den  letzten 
Wochen  hier  grofses  Aufsehen  machte. 

Die  46jährige  Witwe  Sunnyside,  Inhaberin  einer  Pension 
hier,  klagte  gegen  den  hiesigen  Arzt  Dr.  Goody,  der  sich 
jüngst  verheiratete,  auf  lUOOO  $  Schadenersatz  wegen  Ver- 
löbnisbruchs. Die  Verhandlung  dieser  Sache  dauerte  sechs 
Tage,  trotzdem  nur  12  Zeugen  vernommen  wurden,  und 
war  ein  erbitterter  Kampf  vom  Anfang  bis  zum  Ende.  Die 
Bildung  der  Geschworenenbank,  welche  nach  englisch- 
amerikanischem Prozefsrecht  auch  bei  Entscheidung  von 
Zivilprozessen  mitwirkt,  nahm  den  ersten  Tag  in  Anspruch, 
da  die  Parteivertreter  jeden  einzelnen  Geschworenen  ein 
peinliches  Verhör  unter  Eid  bestehen  liefsen,  um  sich 
darüber  schlüssig  zu  machen,  ob  sie  denselben  ablehnen 
sollen  oder  nicht.  Die  beiden  folgenden  Tage  und  ein  Teil 
des  vierten  Tages  waren  ausgefüllt  durch  Vernehmung  der 
Zeugen  beider  Teile.  Sie  erfolgt,  wie  im  englischen 
Recht,  als  Kreuzverhör  durch  die  Parteivertreter.  Dies 
verlängert  an  sich  schon  die  Dauer  des  Verfahrens;  allein 
noch  mehr  geschieht  dies  durch  die  Einsprachen  der  ver- 
hörenden Anwälte  gegen  die  Zulässigkeit  einzelner  Fragen. 
Denn  jeder  sucht  die  Zeugen  des  Gegners  mit  aufser- 
ordentlicher  Gewandtheit  und  Schlauheit  zu  verwirren,  zu 


III.    Auf  dem  Bureau  des  Eechtsanwalts.  49 

bedrängen  und  in  Fallen  zu  locken,  oft  auch  durch  er- 
müdend langes  Fragen  zu  entkräften.  Wie  ein  Sekundant 
beim  Zweikampf  gefährliche  Hiebe  abzufangen  bestrebt  ist, 
so  achtet  der  Anwalt  hier  mit  Spannung  auf  jede  Frage 
des  Gegners  an  die  Zeugen  und  ruft  sofort:  „Ich  wider- 
spreche" ,  wenn  er  die  Frage  für  gefährlich  hält.  Über 
die  Zulässigkeit  der  Frage  entscheidet  dann  endgültig  der 
den  Vorsitz  führende  rechtsgelehrte  Richter,  nach  oder  ohne 
Anhörung  der  Parteien. 

Das  Ergebnis  der  Beweisaufnahme  war  im  wesentlichen 
folgendes: 

Verschiedene  Pensionäre  der  Klägerin  bezeugten  den 
wiederholten  Besuch  des  Beklagten  bei  der  Witwe  Sunnyside; 
ihr  Dienstmädchen  bekundete,  dafs  beide  öfters  zusammen 
ausfuhren,  einmal  im  Salon  sich  küfsten,  und  dafs  sie  auch 
sonst  Vertraulichkeiten  zwischen  ihnen  wahrgenommen  habe. 
Zum  Beweis  der  Intimität  des  Verhältnisses  wurden 
klägerischerseits  verschiedene  Aussteuergegenstände  vor- 
gelegt und  geltend  gemacht,  diese  habe  die  Witwe  sich  mit 
Rücksicht  auf  die  bevorstehende  Verheiratung  gefertigt. 
Ein  Handtuch  wurde  übergeben,  das  der  Beklagte  zum 
Gebrauch  in  seinem  Sprechzimmer  von  der  Klägerin  ent- 
lehnt hatte,  und  das  den  Namen  des  Beklagten  trug,  ohne 
dafs  jedoch  festgestellt  werden  konnte,  wer  den  Namen  in 
das  Tuch  gestickt  hatte.  Wiederholte  Liebeserklärungen 
und  Heiratsversprechen  des  Beklagten  bekundete  endlich 
die  Klägerin  selbst,  und  zwar  unter  Eid  ^).  Bei  ihrer  Ver- 
nehmung wurde  die  Klägerin  von  dem  Anwalt  des  Be- 
klagten in  ein  peinliches  mehrstündiges  Kreuzverhör,  ins- 
besondere über  ihr  Vorleben,  genommen,  das  nicht  zu  ihrem 

^)  Diese  Vernehmung  läfst  das  hiesige  Prozefsrecht  ohne  weiteres 
zu.    Zugeschobene  und  richterliche  Eide  kennt  dasselbe  nicht. 

Hintrager.  4 


50  Hintragei*. 

Vorteil  ausfiel.  Sie  wurde  in  Widersprüche  verwickelt, 
z.  B.  hinsichtlich  der  Geburtstage  ihrer  Kinder,  ihrer 
früheren  Verheiratung,  und  mufste  auch  bekennen,  dafs  sie 
schon  zweimal,  im  Staate  Ohio  und  New  York  verheiratet 
gewesen  war,  und  dafs  anläfslich  des  Todes  ihres  letzten 
Mannes  eine  gerichtliche  Leichenschau  wegen  Vergiftungs- 
erscheinungen stattgefunden  hatte.  All  dies  hatte  der 
Anwalt  des  Beklagten  erkundet,  was  in  diesem  grofsen 
Lande,  bei  dem  Fluktuieren  der  Bevölkerung  amd  dem 
Mangel  jeder  obrigkeitlichen  Registerführung  nicht  leicht  ist. 

Der  Beklagte  erklärt  unter  Eid  sämtliche  von  der 
Klägerin  behaupteten  Vertraulichkeiten  und  Heiratsver- 
sprechen für  unwahr,  erbrachte  verschiedene  Alibibeweise 
und  legte  Briefe  der  Klägerin  vor,  in  denen  sie  in  einer 
Weise  mit  Klage  droht,  die  nahe  an  Erpressung  grenzt. 

Am  vierten  Tage  endlich  begannen  die  Plaidoyers  der 
Parteivertreter,  deren  jede  Partei  in  diesem  Prozesse  zwei 
hatte,  wie  dies  hier  oft  bei  gröfseren  Sachen  der  Fall  ist. 
Diese  Plaidoyers  ^)  sind  der  Höhepunkt  des  Kampfes  der 
Parteien  und  die  Reklame  der  Anwälte. 

Zuerst  sprach  der  erste  Anwalt  der  Klägerin ,  ver- 
bal tnismäfsig  kurz,  nur  eine  Stunde.  Ihm  folgte  in  mehr- 
stündiger gewandter  Rede  der  erste  Anwalt  des  Beklagten, 
Mr.  Hurd.  Wie  es  hier  üblich  ist.  trat  er  unmittelbar  vor 
die  Geschworenenbank,  stellte  sich  bald  vor  diesen,  bald 
vor  jenen  Geschworenen  und  redete  mit  lebhaften  Be- 
wegungen und  rhetorischen  Effekten.  Zunächst  machte  er 
sich  über  Person  und  Vorleben  der  Klägerin  lustig  mit 
bissigem  Spott,  verdächtigte  sie  sogar  wegen  der  Ver- 
giftungserscheinungen an  der  Leiche  ihres  zweiten  Gatten. 


*)  Im  folgenden  nach  dem  Stenogramm  des  Gerichtsstenographen 
teilweise  wiedergegeben. 


III.   Auf  dem  Bureau  des  Rechtsanwalts.  51 

DanD  kritisierte  er  die  Beweismittel  der  Klägerin.  Plötzlich 
«rgreift  er  das  zu  Geriehtshanden  gegebene  Handtuch 
und  schwingt  es  vor  den  Geschworenen  unter  dem  Rufe: 
„Hier,  meine  Herren  Geschworenen,  hier  ist  die  Heirats- 
aussteuer! Hier  ist  die  Flagge  ihrer  Union!"  Stürmische 
Heiterkeit  folgte  dieser  Anspielung  auf  die  nationale  Flagge. 

„Meine  Herren,"  fährt  er  fort,  „ich  bin  kein  Arzt,  aber 
ich  bin  sicher,  ich  habe  die  richtige  Diagnose  in  diesem 
Fall.  Diese  Witwe  hat  eine  Krankheit,  die  aufrecht  steht, 
durch  das  Land  spaziert  und  Hosen  trägt.  Sie  heifst : 
,Der  Mann  in  dem  Gehirn'.  Sie  ist  verliebt  in  jeden 
Mann  und  glaubt,  jeder  Mann  sei  in  sie  verliebt."  Dann 
trägt  er  ein  längeres  witziges  Gedicht  über  die  verschiedenen 
Liebhaber  der  Witwe  vor,  die  im  Laufe  des  Rechtsstreits 
erwähnt  worden  waren. 

„Alle  diese,  meine  Herren  Geschworenen,  sind  jünger 
als  die  Klägerin.  Mein  Gegner  meint,  Dr.  Goody  hätte  in 
der  Witwe  keine  Hoffnungen  erwecken  sollen.  Allein  er 
sollte  wissen,  dafs  mein  Mandant  aus  dem  Dorfe  Sand  Springs 
kommt,  noch  wenig  von  den  Lichtern  und  Schatten  einer 
groi'sen  Stadt  wie  Dubuque  gesehen  und  keine  Ahnung  hat 
von  den  Netzen  einer  Witwe  und  den  Intrigen  einer 
Pension  in  der  Wilhelmsstrafse. 

Mein  Gegner  hat  Ihnen  zitiert:  ,Das  Weib,  das  du 
mir  gabst,  bot  mir  von  der  Frucht,  und  ich  afs'.  Aber 
mein  Gegner  hat  da  einen  Fehler  gemacht.  Hätte  er  seine 
biblischen  Studien  etwas  weiter  fortgesetzt,  so  wäre  er  zu 
der  Geschichte  von  Joseph  und  der  Frau  Potiphars  ge- 
kommen. Sie  erinnern  sieh,  meine  Herren  Geschworenen, 
dafs  Joseph  sich  nicht  verführen  liefs  und  darob  in  das 
Oefängnis  geworfen  wurde.  Aber  der  Herr  war  mit  ihm 
und  tröstete  ihn.  Meine  Herren  Geschworenen,  unser  Klient 
kämpft  in  diesem  Falle  den  Heldenkampf  Josephs. 


52  Hintrager. 

„Nun,  meine  Herren,  wird  in  Bälde  mein  Kollege  Lyon, 
der  andere  Anwalt  der  Klägerin ,  zu  Ihnen  sprechen.  Ei- 
lst der  gröfste  Jurist  der  Dubuquer  Anwaltschaft  und  der 
gröfste  Redner  im  Staate  Jowa,  und  er  gibt  dies  selbst  zu. 
Er  wird  versuchen,  Ihnen  Sand  in  die  Augen  zu  streuen,  und 
wir  bitten  Sie,  hüten  Sie  sich  vor  dem  Sande!  Ich  mufs 
Ihnen  eine  Geschichte  erzählen,  die  Ihnen  zeigen  wird,  wie 
sehr  Sie  sich  vor  Colonel  Lyon  in  acht  nehmen  müssen. 
Es  lebte  einmal  eine  alte  Dame,  welche  grofse  Bewunderung 
für  die  Predigten  eines  gewissen  Geistlichen  hatte.  Sie 
sagte,  er  bringe  sie  immer  zu  Tränen.  Ihr  Sohn,  der  nicht 
so  viel  von  dem  Geistlichen  hielt ,  sagte ,  er  könne  eine 
Geschichte  von  einer  Katze  erzählen,  wie  diese  eine  Maus 
jagte,  dafs  die  Mutter  auch  zu.  Tränen  gerührt  werde.  Sie 
forderte  ihn  auf,  zu  erzählen,  und  er  erzählte  die  Geschichte, 
wie  sie  sich  zugetragen  hatte.  Als  er  fertig  war  und  die 
Mutter  noch  nicht  weinte,  wiederholte  er  die  Geschichte 
immer  wieder,  jedesmal  mit  mehr  pathetischer  Stimme  als 
zuvor,  bis  die  Mutter  schliefslich  weinte.  ,Es  ist  nicht 
das,  was  er  sagt,'  erklärte  die  Mutter,  ,es  ist  seine 
himmlische  Stimme.'  So,  meine  Herren,  ist  es  mit  Colonel 
Lyon.  Hüten  Sie  sich  vor  ihm  und  seiner  himmlischen 
Stimme!'' 

Damit  schlofs  Colonel  Hurd,  den  sie  hier  „den 
springenden  Jack  der  Dubuquer  Anwaltschaft"  nennen. 
Aber  die  Plaidoyers  sind  damit  noch  nicht  zu  Ende.  Als 
ich  dem  Vorsitzenden  Richter,  der  trotz  der  langen  und  oft 
sehr  wenig  sachlichen  Ausführung  der  Anwälte  nicht  die 
geringste  Ungeduld  zeigte,  unsere  deutsche  Praxis  in  dieser 
Hinsicht  mitteilte,  meinte  er,  hierzulande  müsse  man  die 
Leute  gewähren  lassen.  —  Der  Hauptgrund  dieser  Er- 
scheinung liegt  wohl  darin,  dafs  die  Richter  auf  eine  be- 
stimmte  Anzahl   Jahre    aus    dem    Anwaltstande    gewählt 


III.    Auf  dem  Bureau  des  Rechtsanwalts.  53 

werden.  Der  Richter  will  sich  daher  nicht  unbeliebt 
machen. 

Der  nächste  Redner  war  der  zweite  Anwalt  des  Be- 
klagten, Jugde  Matthews,  ein  Rednertalent,  von  dem 
man  hier  sagt,  dafs  er  die  Freisprechung  eines  jeden  An- 
geklagten durchsetzt  und  jede  Geschworenenbank  durch 
seine  Rede  zur  Uneinigkeit  zu  bringen  vermag;  und  dafs 
er  einst  als  Staatsanwalt  so  gefürchtet  war,  dafs  die  An- 
geklagten ihm  vor  der  Verhandlung  oft  schrieben:  „Please 
don't!"  Er  selbst  erzählte  mir  aus  seiner  Praxis,  er  habe 
einmal  einen  Auftrag  erhalten,  gegen  täglich  100  $  Honorar 
einen  Mörder  in  Süd-Dakota  zu  verteidigen.  Die  Stimmung 
sei  so  erregt  gegen  den  Angeklagten  gewesen,  dafs  der- 
selbe beinahe  gelyncht  worden  wäre.  Als  er  sein  Plaidoyer 
damit  begonnen  habe,  den  Mann  gegen  das  allgemeine  Vor- 
urteil in  Schutz  zu  nehmen,  seien  Stimmen  aus  dem  Publi- 
kum ertönt:  „Lügner!  Sie  sind  ein  verdammter  Lügner!" 
Er  habe  aber  ruhig  weitergesprochen  und  dabei  stets  einen 
dicken ,  gut-  und  weichherzig  aussehenden  Geschworenen 
ins  Auge  gefafst,  den  er  schon  während  der  Verhandlung 
beobachtet  und  ausgesucht  habe,  Schliefslich  habe  dieser 
infolge  des  fortwährenden  Appells  an  sein  Mitgefühl  sein 
Taschentuch  gezogen  und  Tränen  abgewischt.  Bald  seien 
dann  auch  andere  seinem  Beispiel  gefolgt,  und  der  Mann 
wurde  freigesprochen.  ^) 

Matthews,  dessen  Auftreten  seine  ursprüngliche  Er- 
ziehung und  Bestimmung  für  die  Bühne  wohl  verriet,  sprach 
mit  Pathos;  seine  Rede  war  reich  an  Bildern  und  poetischen 
Vergleichen  und  schlofs  mit  folgenden  Worten :  „  Mein  Gegner 
Lyon  sieht  sehr  wohl,  wie  schwach  es  um  seine  Sache  steht. 
Darum  organisierte  er  seine  Kräfte  und  machte  eine  Sehlufs- 


*)'  Jedes  Verdikt  mufs  hier  einstimmig  sein. 


54  Hintrager. 

attacke  auf  die  Geschworenen.  Wie  die  französischen  Soldaten 
der  Feder  Heinrichs  von  Navarra  folgten,  wie  unsere 
Truppen  Sheridan  folgten  hinab  den  Weg  nach  W^inchester^ 
so  scharte  der  tapfere  Colonel  Lyon  seine  Kohorten  um 
sich ,  gefolgt  von  der  Witwe  auf  der  einen  Seite  und  dem 
Zeugen  Spillane  auf  der  anderen ,  mit  den  Zeugen  Fowler 
und  Marie  Riefe  an  der  Spitze  des  Hintertreifens;  so 
rannten  sie  die  Treppen  des  Justizpalastes  herauf  und 
stürmten  die  Gesehworenenbank,  über  deren  Haupt  das  alte 
Baumwollhandtuch,  gezeichnet  ,Goody',  schwingend  mit 
dem  Rufe  :     Auf  zum  Sieg !" 

Endlich  am  sechsten  Tage  begann  Lyon,  der  zweite 
Anwalt  der  Klägerin,  sein  Plaidoyer.  Er  eröffnete  es  mit 
heftigen  Angriffen  auf  Colonel  Hurd,  „der  ihn  zusammen 
mit  Matthews  während  der  letzten  48  Stunden  gekreuzigt 
habe."  Als  Hurd  ihn  immer  wieder  unterbrach  und  des- 
halb Lyon  den  Präsidenten  um  Schutz  bat,  bemerkte  der 
Präsident,  er  wolle  sehen,  dafs  er  nicht  mehr  unterbrochen 
werde.  Hierauf  sagte  Lyon  zum  Präsidenten :  „Wenn  Sie 
nicht  dafür  sorgen ,  so  werde  ich  es  unternehmen .  selbst 
dafür  zu  sorgen."  Alles  lachte,  auch  der  Präsident.  Lyon 
schlofs  seine  lange,  feurige  Rede,  während  deren  er  sich 
oft  den  Schweifs  von  der  Stirn  wischte,  mit  folgenden 
Worten:  „Skandalöse  Dinge  sind  hier  vor  Gericht  gebracht 
und  in  den  Zeitungen  gedruckt  worden ,  alle  darauf  be- 
rechnet, die  Aufmerksamkeit  der  Geschworenen  abzulenken 
von  den  Hauptpunkten,  um  die  es  sich  handelt,  nämlich, 
dafs  dieser  Beklagte  um  die  Klägerin  geworben  hat.  und 
dafs  er  ihr  Liebhaber  gewesen  ist  vier  Jahre  lang.  Alle  An- 
strengungen sind  gemacht  worden,  die  arme  Witwe  in  die 
kalten  Winterstürme  hinauszuwerfen,  einsam  und  freund- 
los. (Hier  weint  die  Klägerin.)  Niemals  in  meiner  Er- 
fahrung ist  mir  ein  solcher  Fall  vorgekommen.    Ich  habe 


III.   Auf  dem  Bureau  des  Rechtsanwalts.  55 

praktiziert ,  als  meine  Kollegen  Hurd  und  Matthews  noch 
in  der  Mutter  Schofs  spukten  und  aus  ihren  Betten  krochen 
in  Gewändern,  feucht  vom  Tau  der  Nacht,  und  niemals 
habe  ich  vor  Gericht  etwas  gesehen,  was  dieser  Niedrigkeit, 
diesen  gemeinen ,  miserablen  und  ungerechten  Methoden 
gleichkam,  wie  sie  in  diesem  Falle  gegen  die  arme  Klägerin 
angewandt  worden  sind.  Ich  habe  stets  die  Armen  und 
Hilflosen  verteidigt,  und  kein  schöneres  Denkmal  wünsche 
ich  meinem  Namen  als  die  Erinnerung  an  die  Treue  gegen 
diejenigen,  deren  Sache  ich  vertrat,  ob  arm  oder  reich. 
Freilich ,  da  sitzt  mein  Gegner,  ,der  springende  Jack',  der 
Don  Quixote,  der  gegen  Windmühlen  und  Strohmänner 
kämpft.  Er  ist  die  Hornisse  der  Dubuquer  Anwaltschaft, 
und  wie  alle  Hornissen  am  gröfsten  hinten.  Aber  auch 
er  kann  nicht  hinwegkommen  über  die  Tatsache,  dafs  dieser 
Dr.  Goody  der  Klägerin  vier  Jahre  lang  den  Hof  gemacht 
hat,  nicht  mit  einer  Musikkapelle  sondern  nach  der  Art 
der  guten  alten  Zeit,  in  Stille  und  Verschwiegenheit,  so 
wie  wir  alle  es  einst  gemacht  haben  in  den  Tagen  unserer 
Liebe.  Ich  erinnere  mich ,  als  ich  einst  in  Port  Elizabeth 
liebte,  wie  ich  in  der  Stille  über  alte  Verse  nachsann  und 
auch  selbst  den  Pegasus  bestieg,  wie  ich  einmal  das  Sonett 
schrieb  (frei  übersetzt)  an  Mifs  Daisy: 

Denkst  du  noch,  wie  du  und  ich, 
Safsen  beisammen  auf  dem  Estrich? 

Nun,  meine  Herren  von  der  Geschworenenbank,  mein 
Gegner  Hurd  hat  Ihnen  gesagt,  ich  sei  der  gröfste  Redner 
im  Staate  Jowa,  und  dafs  ich  dies  selbst  zugebe!  "Wohlan, 
hier  bin  ich,  meine  Herren,  hier  bin  ich !  Aber  im  Liebes- 
werben  hat  der  Beklagte  mich  weit  übertroffen.  Wir  haben 
den  Beweis,  dafs  er  meine  Klientin  in  einer  schönen  Mond- 
nacht abholte  und  mit  ihr  spazieren  fuhr  auf  verschwiegenen 
Wegen  nach  Asbury.    Asbury !    Es  liegt  etwas  Süfses  und 


56  Hintrager. 

Liebliches  in  diesem  Namen !  Und  die  Sterne  schienen,  als 
er  sanfte  Worte  der  Liebe  in  ihr  Ohr  lispelte,  und  selbst 
die  Kanalgräber  auf  dem  Mars  hörten  auf  mit  ihrer  Arbeit, 
um  herabzuschauen  auf  das  Kosen.  Denn  alle  Welt  liebt 
einen  Liebenden.  Und  der  Beklagte  war  damals  ein 
Liebender." 

Damit  endeten  die  Plaidoyers,  der  Präsident  instruierte 
die  Geschworenen  und  entliefs  sie  zur  Beratung.  Nach 
drei  Stunden  kehrten  sie  zurück  mit  der  Erklärung,  Ein- 
stimmigkeit sei  nicht  zu  erzielen.  Der  Präsident  schickte 
sie  wieder  zurück.  Als  sie  abends  8  Uhr  mit  derselben 
Erklärung  wieder  kamen,  entliefs  er  sie.  Damit  hatte  der 
Beklagte  gesiegt.  Die  Stimmen  standen  zuerst  neun  gegen 
drei ,  dann  elf  gegen  eine.  Dieser  eine ,  der  allein  zu 
Gunsten  der  Klägerin  stimmte,  war  ein  graubärtiger 
Farmer  aus  der  Gegend.  Er  erklärte,  er  werde  auf  der 
Seite  der  Witwe  stehen,  so  lange  die  Sonne  im  Osten 
aufgehe.  — 

Trotz  der  offenbaren  Grundlosigkeit  der  Klage  der 
Witwe  fanden  sich  Stimmen  für  sie.  In  diesem  Lande  ist  es 
nicht  leicht,  eine  Geschworenenbank  zur  Verurteilung  weib- 
licher Angeklagten  zu  bringen.  Auch  das  Gesetz  schützt 
die  Frau.  Es  kam  einmal  die  Frau  eines  irländischen 
Arbeiters  auf  das  Bureau  und  klagte  Mr.  Utt,  der  aus- 
nahmsweise gerade  auf  dem  Bureau  war,  dafs  ihr  Mann 
trinke.  Utt  schlug  den  §  2448  Z.  11  des  Code  of  Jowa 
auf,  wonach  keine  alkoholischen  Getränke  an  einen  Mann 
verkauft  werden  dürfen,  dessen  Frau  dies  durch  eine  Be- 
kanntmachung verboten  hat.  Solche  Bekanntmachungen 
kann  man  hier  gelegentlich  in  der  Zeitung  lesen.  Da  die 
Frau  eine  Bekanntmachung  in  der  Zeitung  nicht  wollte,  riet 
ihr  Utt,  die  Bekanntmachung  auf  Karten  gedruckt  an  die 
in  Betracht  kommenden  Wirte  zu  schicken.    Eine  Zuwider- 


in.    Auf  dem  Bureau  des  Rechtsanwalts.  57 

handlung  gegen  das  Verbot  ist  nach  dem  genannten  Gesetz 
mit  Geldstrafen  und  Schlufs  der  Wirtschaft  bedroht. 

Vor  einigen  Tagen  kam  ein  Deutscher,  Inhaber  eines 
hiesigen  Kolonialwarengeschäfts,  auf  das  Bureau,  um  sich 
wegen  ehelicher  Schwierigkeiten  Rats  zu  erholen.  Ich 
nahm  die  Instruktion  auf.  Der  Deutsche  erzählte  mir 
seine  Lebensgeschichte,  wozu  die  Eingewanderten  hier 
stets  bereit  sind.  Die  Menschen  haben  etwas  erlebt 
und  etwas  zu  erzählen.  Es  ist  nicht  wie  bei  uns,  wo  das 
Leben  des  einzelnen  in  geordneten  Bahnen  verläuft.  Hier 
hat  jeder  seinen  Weg  sich  erst  selbst  bahnen  müssen, 
meist  unter  harten  Kämpfen  und  Entbehrungen.  Die  Ge- 
schichte des  Deutschen  ist  typisch  bei  aller  ünscheinbar- 
keit.  Er  ist  nach  Ablegung  der  Einjährig-Freiwilligen- 
prüfung  herübergekommen  und  nun  seit  13  Jahren  im 
Lande. 

„Als  ich  in  New  York  landete,"  begann  er,  „nahm  ein 
Freund  meines  verstorbenen  Vaters  sich  eben  noch  recht- 
zeitig meiner  an ,  denn  schon  hatte  ein  sehr  verdächtig 
erscheinender  Fremder  mir  seine  Dienste  angeboten.  Jener 
reiste  mit  mir  hierher,  nahm  mich  in  seinem  Hause  auf 
und  verschaffte  mir  auch  bald  eine  Stelle  in  dem  Laden 
eines  Spezereihändlers.  Da  ich  nicht  englisch  sprechen 
konnte,  mufste  ich  die  niedrigsten  Dienste  verrichten,  den 
Laden  reinigen,  den  Stalldienst  besorgen,  Pakete  aus- 
tragen und  so  fort.  Es  war  eine  harte  Zeit.  Ein  warmes 
Mittagessen  bekam  ich  nie;  denn  nur  den  ersten  Clerk 
(Kommis)  nimmt  der  Chef  täglich  ins  Restaurant  mit,  den 
zweiten  nur  alle  zwei  Tage.  Ich  mufste  mir  im  Laden  meine 
Mahlzeiten  bereiten.  Meine  Schlafstelle  war  unter  dem 
Bett  des  Prinzipals.  In  dei*  Lage,  wie  ich  abends  hinunter- 
kroch, mufste  ich  die  ganze  Nacht  bleiben;  denn  um- 
drehen konnte  ich  mich  nicht.    Auch  der  Sonntag  brachte 


58  Hintrager. 

mir  nicht  viel  Erleichterung ;  morgens  und  abends  hatte  ich 
Stalldienste  zu  tun. 

Es  war  eine  gute  Schule.  Oft  schämte  ich  mich  der 
Arbeit  und  wollte  davonlaufen.  Aber  ich  war  doch  wenigstens 
aufgehoben,  erhielt  auch  neben  freier  Wäsche,  Kost  und 
Wohnung  3—4  $  monatlich.    Lehrlinge  gibt  es  hiei*  ja  nicht. 

Nach  zwei  Monaten  fragte  mich  der  Prinzipal .  ob  ich 
mir  getraue,  mit  den  Waren  zu  den  Kunden  zu  fahren. 
Ich  sage  ja ,  der  Prinzipal  heifst  mich  einspannen ,  setzt 
sich  neben  mich  auf  den  Wagen,  und  fort  geht  es.  Da  ich 
mich  in  den  vergangenen  zwei  Monaten  oft  heimlich  im 
Fahren  getlbt  hatte,  ging  es  ganz  gut.  Von  nun  an  durfte 
ich  mit  dem  Wagen  zu  den  Kunden  fahren.  Zu  diesem  Fort- 
schritt kam  bald  der  weitere,  dafs  der  Prinzipal  alle  Tage 
auch  mich  zu  einem  warmen  Essen  ins  Restaurant  mit- 
nahm. So  vergingen  sieben  Monate;  mein  Gehalt  hatte 
sich  unterdessen  auf  7  $  erhöht. 

Nun  wurde  ich  veranlafst,  in  ein  Bankgeschäft  ein- 
zutreten. Da  es  mir  dort  nicht  gefiel,  blieb  ich  nach 
vier  Wochen  weg,  arbeitete  dann  da  und  dort  einige  Zeit 
lang  und  bekam  schliefslich  eine  Stelle  als  zweiter  Clerk 
bei  dem  Kolonialwarenhändler  Schulz  hier.  Als  ich  bei 
diesem  um  die  Stelle  mich  bewarb,  war  gleichzeitig  ein 
Deutscher,  der  noch  nicht  lange  im  Land  war,  auch  als 
Bewerber  erschienen.  Schulz  hiefs  uns  einige  eben  ein- 
gelaufene Pakete  öffnen.  Der  andere  löste  sorgfältig  die 
Schnur  und  legte  die  Papiere  zusammen ,  wie  man  es  in 
Deutschland  macht.  Ich  zerschnitt  und  zerrifs  die  Ver- 
packung und  war  natürlich  in  weit  kürzerer  Zeit  fertig. 
Sofort  gab  Schulz  mir  die  Stelle.  Bald  nach  meinem  Ein- 
tritt gründete  Schulz  ein  Zweiggeschäft  in  einer  anderen 
Strafse,  wie  dies  hier  Sitte  ist.  Dorthin  geht  Schulz  mit  mir 
und  einem  weiteren  Clerk,  ohne  sich  darüber  zu  äufsern,  wem 


III.    Auf  dem  Bureau  des  Eechtsanwalts.  59 

er  die  Prokura  im  Zweiggeschäft  geben  will.  Ich  arbeite 
mit  aller  Kraft  und  tue  mein  Bestes.  Nach  fünf  Tagen  gab 
mir  Schulz  die  Stelle  des  Prokuristen  mit  einem  Anfangs- 
gehalt von  18  $  monatlich.  Vorher  hatte  er  durch 
Liegenlassen  von  kleinen  Geldbeträgen  meine  Ehrlichkeit 
geprüft. 

Nach  etwa  einem  Jahre  erhielt  ich  ein  kleines  Erbteil 
von  Deutschland  und  kaufte  nun  mit  einem  Freunde  zu- 
sammen das  Zweiggeschäft  um  8000  $.  Obwohl  wir  nur 
eine  Anzahlung  von  3000  $  machen  konnten,  wurde  nichts 
schriftlich  gemacht.  Schulz  verlangte  auch  keine  Sicher- 
heit. Er  sagte,  wir  sollen  bezahlen,  wenn  wir  können,  und 
nützte  unserem  Kredit  sehr,  indem  er  uns  seinen  bisherigen 
Lieferanten  empfahl  und  den  Kreditauskunftsbureaus  gegen- 
über angab,  wir  hätten  5000  $  Anzahlung  gemacht. 

Nicht  lange  darauf  etablierte  ein  Irländer  weiter  oben 
in  unserer  Strafse,  wo  alle  unsere  Kunden  herkamen,  auch 
einen  Kolonialwarenladen.  Das  war  ein  harter  Schlag. 
Schulz,  dem  ich  die  Sache  mitteilte,  riet  uns:  „Verkauft 
so  billig  als  möglich  und  haltet  euch ,  solange  ihr  könnt. 
Geht  es  nicht,  so  übernehme  ich  das  Geschäft  wieder,  und 
ihr  sollt  nichts  verloren  haben." 

Nun  folgte  ein  erbitterter  Kampf  um  Sein  oder  Nicht- 
sein, der  6  Monate  dauerte.  Wir  verkauften  spottbillig, 
ohne  jeden  Gewinn,  machten  riesige  Reklame,  setzten  den 
halben  Laden  auf  die  Strafse,  steckten  Zettel  an  alle  Waren, 
logen  die  Kunden  an,  —  kurz,  wir  arbeiteten  fieberhaft  und 
setzten  sehr  viel  um.  Der  Laden  war  immer  gefüllt,  an 
Samstagen  hatten  wir  oft  1200  $  Umsatz.  Aber  all  das 
war  ohne  Gewinn. 

Unser  Konkurrent,  der  Irländer,  hatte  nur  noch  wenige 
Kunden.  Samstagabends  sahen  wir  ihn  oft,  wie  er  über  der 
Strafse  drüben  stand  und  unseren  sehr  besuchten  Laden  be- 


60  Hintrager. 

trachtete.  Er  begann  nun  ein  anderes  System.  Er  dachte, 
wir  verkaufen  billig,  haben  also  minderwertige  Ware,  und 
verlegte  sich  daher  auf  bessere  Sachen  und  feinere  Sorten. 
Wir  hörten  von  den  Agenten  der  Verkäufer ,  dafs  er  diese 
und  jene  feinen  Sorten  Kaffee,  Kakao  etc.  bestellt  hatte. 
Sofort  bestellten  wir  sie  auch  und  bereiteten  das  Publikum 
auf  die  Ankunft  der  neuen  Waren  durch  Plakate  und 
Inserate  vor.  Da  wir  von  nun  an  durchweg  1  Cent  unter 
dem  Ankaufspreis  verkauften,  strömte  uns  alles  zu.  Wir 
schliefen  oft  auf  ganzen  Packen  von  Dollarbills  und  Geld, 
das  wir  abends  vor  Müdigkeit  nicht  mehr  zählen  konnten.  — 
Und  welche  Befriedigung!  Am  Abend  vor  Weihnachten 
schlofs  der  Irländer  seinen  Laden,  um  ihn  nie  wieder  zu 
öffnen.    Wir  hatten  gesiegt,  aber  mit  schweren  Opfern. 

Nun  mufsten  wir  unvermerkt  unsere  Preise  wieder  er- 
höhen. Hierfür  hatten  wir  verschiedene  Mittel,  haupt- 
sächlich andere  Namen  und  Marken  für  die  gleiche  Ware, 
Unsere  bisherige  beste  Kaffeesorte  verkauften  wir  als  neuen 
Caracas-Kaffee.  Wir  erfanden  auch  Namen,  —  kurz  in 
^li  Jahren  hatten  wir  es  so  weit  gebracht,  dafs  wir  an 
Schulz  weitere  3000  $  bezahlen  konnten.  Am  meisten  kam 
uns  zu  gute,  dafs  wir  durch  jene  Kampfzeit  aller  Augen 
auf  uns  gelenkt  hatten.  Heute  habe  ich  nun  in  diesem 
meinem  Hauptgeschäft  ein  Kapital  von  18  000  ,^1  und  in 
dem  seither  gegründeten  Zweiggeschäft  ein  solches  von 
7000  $.  Beide  gehen  sehr  gut.  Nur  in  meiner  Ehe,  die 
ich  vor  zwei  Jahren  mit  einer  Amerikanerin  eingegangen 
habe,  geht  es  mir  nicht  gut." 

Der  Deutsche  fuhr  dann  fort,  seinen  Fall,  der  in  seiner 
Art  hier  nicht  selten  vorkommen  soll,  zu  erzählen.  Als  er 
gestern  abend  hungrig  und  müde  vom  Geschäft  kam,  fand 
er  sein  vor  der  Stadt  gelegenes  Häuschen  verschlossen. 
Da  ihm  niemand  öffnete,  stieg  er  zu  einem  Fenster  hinein 


III.    Auf  dem  Bureau  des  Eechtsanwalts.  61 

und  fand,  dafs  seine  Frau  mit  all  ihrem  beigebrachten  Gut 
die  Wohnung  verlassen  hatte.  Von  einem  Nachbarn  hörte 
er,  die  Frau  habe  unter  Beihilfe  ihrer  beiden  Brüder  ihre 
Sachen  fortgeschafft.  Als  Grund  könne  er  sich  nur  denken, 
dafs  er  die  Frau  einmal  im  Zorn  geschlagen  habe.  Aber 
das  sei  schon  vor  einigen  Tagen  gewesen.  Zu  seinem 
Schwager,  bei  welchem  die  Frau  jedenfalls  sein  werde, 
könne  er  nicht  gehen,  da  dieser  ihm  das  Haus  verboten 
habe. 

Die  Lage  des  verlassenen  Ehemanns  zeigt,  was  hier 
die  Frau  dem  Manne  ist.  Da  er  nicht  zu  den  Reichen  ge- 
hört, die  Dienstboten  haben,  mufste  er  alle  häuslichen 
Arbeiten  allein  verrichten,  das  Haus  den  Tag  über  sich 
selbst  überlassen  und  seine  Mahlzeiten  im  Restaurant  teurer 
bezahlen  als  im  Haushalt.  Kein  Wunder,  dafs  er  erklärte, 
er  sei  zu  jeder  Konzession  bereit,  wenn  seine  Frau  wieder 
zu  ihm  komme.  In  einem  Sühnetermin  vor  dem  Friedens- 
richter wurde  dann  auch  wieder  Frieden  zwischen  den 
beiden  geschlossen ;  aber  erst  nachdem  der  Mann  alle  seine 
Sünden  von  der  Frau  sich  hatte  sagen  lassen  müssen,  um 
Verzeihung  gebeten  und  versprochen  hatte ,  seine  Frau 
stets  gut  zu  behandeln,  willigte  die  Frau  ein,  wieder  zurück- 
zukehren. Als  die  Frau  dem  Richter  sagte,  ihr  Mann 
habe  sie  geschlagen,  wies  dieser  den  Mann  zurecht  mit  den 
Worten:  „Wir  glauben  in  diesem  Lande  nicht,  dafs  das  die 
rechte  Art  ist,  eine  Frau  zu  behandeln." 


Chicago. 

Vor  einigen  Tagen  habe  ich  Dubuque,  die  reizende 
Sieben-Hügelstadt  am  Mississippi,  verlassen,  aber  nicht  um 
Rechtsanwalt  in  Chicago  zu  werden ,  wie  Mr.  Henry  mir 
beim  Abschied  riet. 


62  Hintrager. 

Charakteristisch  waren  die  Abschiedsworte  seines  Kol- 
legen Utt.  Als  ich  Mr.  Henry,  der  kurz  vorher  die  neuesten 
Zeitungsberichte  über  Sozialistengefahr  und  Umsturzge- 
setzesvorlagen in  Deutschland  vorgelesen  hatte ,  meinen 
Dank  ausdrückte  und  sagte,  ich  habe  viel  auf  seinem 
Bureau  gelernt,  bemerkte  Utt:  „Wenn  Sie  nur  ein  ganz 
klein  wenig  Gebrauch  davon  machen,  werden  Sie  Ihr  Vater- 
land retten." 

Wie  viel  mächtiger  pulsiert  das  Leben  hier  in  Chicago 
als  in  dem  konservativen  Dubuque !  Welche  Früchte  zeitigt 
der  Wettbewerb!  Ich  lernte  einen  deutschen  Anwalt  hier 
kennen,  der  mir  sagte:  „Ich  mufs  meine  Prozesse  suchen, 
■wenn  nicht  machen.  Wollte  ich  auf  meinem  Bureau  warten, 
bis  die  Klienten  zu  mir  kommen,  ich  wüfste  nicht,  wovon 
ich  leben  sollte."  Er  erzählte  mir,  wie  er  im  Nachlafsgericht 
die  Liste  der  mit  unbekannten  Erben  Verstorbenen  nach- 
sieht, dann  die  Erben  sucht  und  „aufjagt"  und  deren  Sache 
führt.  „Gewinne  ich  nicht,"  sagte  er,  „so  erhalte  ich  nichts 
für  meine  Arbeit.  Kürzlich  hing  der  ganze  Erfolg  einer 
Sache  daran,  ob  ein  näherer  Erbe  in  Australien  noch  lebt 
oder  nicht.  Ich  mufste  den  Mann  tot  machen ,  wollte  ich 
nicht  alles  verlieren.  Ich  weifs  wohl,  es  ist  eine  kleine 
Urkundenfälschung.  Aber  hier  heifst  es :  ,Vogel,  frifs  oder 
stirb'!" 


IV.  Im  Süden. 

„Keine  der  Gefahren,  denen  unsere  Nation 
bisher  begegnet  ist,  käme  denjenigen  gleich, 
die  sich  einstellen  würden,  falls  unser  halbes 
Vaterland  afrikanisiert  werden  sollte.'' 

Johnson. 

New  Orleans. 

In  diesem  grofsen  Kontinente  schätzt  man  die  Ent- 
fernungen gering.  Ich  habe  mich  rasch  entschlossen,  in  den 
sonnigen  Süden  zu  gehen,  das  Land  der  Baumwolle,  der 
Orangen  und  des  Zuckerrohrs.  Die  riesigen  Schlachthäuser 
und  Getreidespeicher  Chicagos,  seine  Strafsen  und  seine 
Menschen  bieten  ja  des  Interessanten  genug ;  aber  alles  ist 
neu  und  jung.    Es  erzeugt  Durst  nach  Geschichte. 

Wie  ganz  anders  ist  es  hier  als  im  Norden!  Man 
glaubt  in  einem  andern  Lande  zu  sein.  Im  Norden  ist 
verschwenderischer  Reichtum  und  rastlose  Tätigkeit,  hier 
Armut  und  träger  Schlendrian ;  hier  sind  keine  grofsartigen 
Läden,  keine  feinen  Hotels,  keine  schönen  öffentlichen  oder 
privaten  Gebäude.  Alles  ist  alt  und  schmutzig.  Im  Norden  ist 
Wissensdurst  und  Überflufs  an  Bildungsgelegenheiten;  hier, 
in  einer  Stadt  von  etwa  250000  Einwohnern,  befinden  sich  nur 
eine  unbedeutende  Bibliothek,  sehr  wenige  Buchhandlungen, 
ein  kleines  Museum  mit  Erinnerungen  an  den  Bürgerkrieg 
und  die  Helden  der  Südstaaten,  deren  Standbilder  auch 
der  einzige  Schmuck  der  Stadt  sind.  Arm  erscheint  die 
Tulane-Universität  hier  im.  Vergleich  zu  den  Bildungsstätten 
des  Nordens.  Der  Stadtpark  ist  eine  Wildnis.  Arm  ist 
auch    der   kleine    Badeort    am    nahen    See    Pontchartrain. 


64  Hiutrager. 

Hier  ist  Ignoranz  und  Klassengegensatz.  Hier  sind  Mauern 
und  Zäune,  sichtbare,  die  das  Eigentum,  und  unsichtbare, 
die  die  Mensehen  umgeben.  Die  Kultur  des  Nordens  kennt 
diese  Zäune  nicht  mehr.  Dort  tritt  der  Mensch  frei  zum 
Menschen,  und  auch  die  Einzäunung  des  Grundeigentums 
fällt  in  den  Städten  mehr  und  mehr.  Ein  reges,  öffent- 
liches Leben  herrscht  in  den  Städten  des  Nordens,  in 
Politik,  Wissenschaft  und  Religion.  Wie  wenig  von  alledem 
ist  hier  zu  sehen ! 

•  Und  —  last  not  least  —  hier  ist  der  Neger.  Der 
Neger,  den  ich  schon  da  und  dort  im  Norden  gesehen  hatte, 
hier  ist  er  in  Massen ;  unter  der  warmen  Sonne  des  Südens 
ist  gleichsam  sein  Heim  in  diesem  Lande.  Auch  er  ist 
etwas  anderes  hier  als  im  Norden.  Im  Norden  ist  er  der 
gewandte  Schuhputzer,  der  Diener  im  Schlafwagen,  der 
Kellner  mit  seinem  erstaunlichen  Personengedächtnis  und 
das  Spielzeug,  das  den  Weifsen  durch  seine  drollige 
Mischung  von  Naturkind  und  Kulturmensch  erfreut.  Seinen 
Kuchentanz  (Cakewalk)  und  seine  Lieder  kennt  jedes  Kind 
des  Nordens.  Hier  aber,  im  sogenannten  schwarzen  Gürtel, 
d.  h.  den  Staaten,  in  denen  die  Schwarzen  in  Massen, 
insbesondere  auf  dem  Lande,  wohnen,  ist  er  der  Gehafste, 
der  Verfolgte.  Hier  ist  der  Sitz  des  grofsen  Rassengegen- 
satzes, von  dem  man  in  Europa  nur  dann  und  wann  au- 
läfslich  eines  Aktes  der  Lynchjustiz  erfährt,  der  aber  dem 
Amerikaner  als  eines  der  bedeutendsten  Probleme  seiner 
Zukunft  erscheint. 

Zum  Verständnis  dieses  interessanten  Problems  und  der 
gegenwärtigen  Verhältnisse  des  Südens  überhaupt  ist  ein 
Blick  in  die  Vergangenheit  notwendig. 

Von  zwei  verschiedenen  Ausgangspunkten  zogen  zwei 
verschiedene  Arten  von  Kolonisten  westwärts  von  der  Küste 
in  diesen  Kontinent  hinein.    Im  Norden  siedelten  die  demo- 


IV.    Im  Süden.  65 


kratischen  Puritaner  der  Neuenglandstaaten  sich  an,  im 
Süden  die  aus  der  englischen  Aristokratie  sich  rekrutierenden 
Kolonisten  Virginias.  Bedeutsamer  als  der  Unterschied  in 
der  Person  der  Besiedler  war  von  vornherein  die  Verschieden- 
heit der  klimatischen  und  geographischen  Verhältnisse  des 
Südens  von  denen  des  Nordens,  wodurch  der  Erwerbstätigkeit 
verschiedene  Richtungen  vorgezeichnet  wurden.  Seit  den 
ersten  Jahrzehnten  des  19.  Jahrhunderts  stehen  sich  die 
wirtschaftlichen  Interessen  des  Südens  und  Nordens  schroff 
gegenüber.  Dies  zeigte  sich  in  erster  Linie  in  Fragen  der 
Zollpolitik  des  Bundes.  Der  Norden  fordert  Schutzzölle, 
der  Süden  Freihandel ' j.  Die  innere  Geschichte  der  Union 
von  1820—1860  weist  eine  Reihe  von  Versuchen  auf, 
diesen  unversöhnlichen  Streit  durch  Kompromisse  zu  er- 
ledigen oder  wenigstens  dessen  Entscheidung  hinaus- 
zuschieben. 

Schliefslich  hatte  das  Schwert  zu  entscheiden,  ob  die 
Interessen  des  Nordens  oder  des  Südens  für  die  Regierung 
des  Bundes  mafsgebend  sein  sollten.  Das  Resultat  des 
Bürgerkriegs  (1861  —  64),  dessen  gewaltige  Opfer  von  der 
Kraft  und  den  Hilfsquellen  des  jugendlichen  Volkes  Zeugnis 
ablegten,  war  der  Sieg  des  numerisch  und  wirtschaftlich 
stärkeren  Nordens,  der  Bourgeoisie  über  die  Aristokratie. 
Die  Erhaltung  der  Union  war  gesichert.  Es  folgte  das 
schwierige  Werk  der  Wiederaufrichtung  der  Südstaaten, 
das  sich  in  den  Jahren  1865 — 77  vollzog  und  in  erster 
Linie  die  Frage  zu  lösen  hatte,  wie  in  den  ehemaligen 
Rebellenstaaten  neue  Staatenregierungen  eingerichtet  werden 
sollten. 

Diese  12  Jahre,    in   welche  auch  die  Verleihung  des 


^)  Vergleiche  den  Vortrag  der  Abiturientin  G.  Hamilton  im  Ab- 
schnitt „In  der  Schule",  Seite  32  ff. 

Hintrager.  5 


66  Hintrager. 

Stimmrechts  an  die  ehemaligen  Negersklaven  fällt  (1868), 
gehören  zu  den  interessantesten  Kapiteln  der  inneren  Ge- 
schichte der  Union.  Sehr  schlimm  sind  die  Folgen  des 
Krieges  für  den  Süden  gewesen.  Es  macht  mir  den  Ein- 
druck, als  hätte  er  sich  heute  noch  nicht  ganz  davon  er- 
holt. Die  Blüte  der  männlichen  Bevölkerung  war  ver- 
nichtet, die  Plantagen,  die  Eisenbahnen,  ja  ganze  Städte 
und  Distrikte  zerstört  und  verwüstet,  die  Bewohner  durch- 
weg in  gröfster  Armut.  Dem  wirtschaftlichen  System  des 
Südens  war  die  Kraft  genommen:  die  Sklaven.  Denn  am 
1.  Januar  1863  hat  Lincoln  durch  seine  „Emanzipations- 
proklamation" die  Sklaverei  in  der  Union  abgeschafft. 
Aber  trotzdem  ergaben  sich  die  Südstaaten  mit  der  dem 
Amerikaner  eigenen  Fähigkeit,  eine  gegebene  Entscheidung 
anzunehmen ,  willig  und  ohne  den  Gedanken  an  Wieder- 
erhebung in  ihre  Lage.  Als  dann  mit  dem  Ende  der  so- 
genannten Kekonstruktionsperiode  .  die  Entdeckung  des 
Mineralreichtums  des  Südens ,  die  Erzeugung  von  Baum- 
wolle und  Früchten  und  die  Anlage  von  Winterkurorten 
nördliches  Kapital  in  den  Süden  zog,  da  begann  die  lang- 
same, wirtschaftliche  Hebung  des  Südens.  Viele  Weifse  des 
Nordens  gingen  in  den  Süden;  auch  ein  kleiner  Teil  der 
Einwanderung  wandte  und  wendet  sich  dorthin,  nachdem 
gutes  Land  im  Norden  seltener  geworden  und  im  Süden 
der  Arbeit  des  Weifsen  sich  viele  Möglichkeiten  eröffneten. 
Städte  entstanden  und  wuchsen.  Die  grofsen  Plantagen 
wurden  in  kleine  aufgeteilt;  die  Zahl  der  Eigentümer 
solcher  nahm  zu.  Auch  für  das  bis  zum  Kriege  so  sehr 
vernachlässigte  Schulwesen  geschah  etwas,  wenn  auch  bis 
heute  entfernt  nicht  so  viel  wie  in  den  Nordstaaten. 
Zwischen  1880  und  1900  stieg  der  Wert  des  südlichen 
landwirtschaftlichen  Grundbesitzes  um  72  ^'o,  der  der  land- 
wirtschaftlichen   Erzeugnisse    um    100  °/o.      Die    Kohlen- 


IV.    Im  Süden.  67 


erzeugung  des  Südens  hat  sich  in  dieser  Zeit  verzehnfacht. 
So  zeigt  der  Süden  Fortschritt  fast  überalh  Auch  eine 
ansehnliche  Industrie  ist  in  den  letzten  Jahrzehnten  im 
Süden  entstanden. 

Allein  ein  Hemmschuh  der  Entwicklung  des  Südens 
blieb  und  besteht  bis  heute:  Die  Anwesenheit  der  ehe- 
maligen Negersklaven,  der  nunmehr  freien,  stimmberechtigten 
Neger.  Am  Ende  des  Krieges  waren  es  etwa  4  Millionen. 
Zur  Zeit  sind  in  den  Vereinigten  Staaten  8,8  Millionen 
Neger,  —  also  llV2*^/o  der  ganzen  Bevölkerung  —  von 
denen  etwas  mehr  als  7  Millionen  in  den  alten  Sklaven- 
staaten wohnen.  In  zwei  Staaten,  Südkarolina  und  Mississippi, 
überwiegt  die  Negerbevölkerung  die  weifse.  In  dem  warmen 
Klima  des  schwarzen  Gürtels  gedeiht  der  Neger,  hier  hat 
er  auch  seit  dem  Kriege  in  ansehnlichem  Mafse  an  dem 
wirtschaftlichen  Aufschwung  teilgenommen.  Ebensosehr  wie 
der  Neger  in  der  Stadt  degeneriert,  macht  er  Fortschritte  auf 
dem  Lande.  Etwa  13  "/o  aller  selbständigen,  landwirtschaft- 
lichen Betriebe  sind  von  Negern  bewirtschaftet.  186328  Neger- 
farmer sind  Grundeigentümer,  etwa  550000  Pächter.  Vermehrt 
hat  sich  die  Negerbevölkerung  in  den  Jahren  1890—1900 
um  1,35  Millionen,  d.  h.  18,1  "/o ,  während  die  weifse  sich 
im  gleichen  Zeitraum  um  21,4  ^/o^)  vermehrte.  Diese  Ver- 
mehrungsziffern, welche,  was  die  Neger  betrifft,  diejenigen 
von  1880 — 1890  erheblich  übersteigen,  sprechen  eine  ebenso 
beredte  Sprache,  wie  der  Anblick,  der  sich  dem  Reisenden 
auf  dem  Wege  durch  das  Mississippital  in  den  Staaten 
Tennessee  und  Mississippi  so  oft  bietet:  Ein  primitives 
Holzhäuschen  inmitten  eines  kleinen  Stücks  schlecht  be- 
stellten Bodens ;  unter  der  Haustür^  sitzt  der  weifshaarige 
Negerpapa,   und   um   das  Haus   tummeln  sich  im  Grase, 


^)  Hierin  ist  die  Einwanderung  mitbegriffen. 


68  Hintrager. 

zusammen  mit  den  Schweinen  und  anderen  Haustieren, 
die  meist  nackten  Negerkinder,  selten  unter  einem  Dutzend 
an  der  Zahl. 

Es  war  verhängnisvoll  für  den  Süden ,  dafs  auf  den 
langen  Krieg  die  unerhörte  Mifswirtschaft  der  Rekon- 
struktionszeit folgte;  denn  sie  hat  zu  dem  Resultat  ge- 
führt, das  nun  die  ganze  Situation  des  Südens  beherrscht. 
Der  südliche  Weifse  fing  an,  den  Neger  zu  hassen,  zu  be- 
kämpfen; der  Rassengegensatz  wurde  Parteigegensatz.  In 
den  Tagen  der  Sklaverei  war  dies  anders  gewesen;  da 
bestand  eine  gewisse  Anhänglichkeit  zwischen  dem  Herrn 
und  Diener;  denn  beide  waren  aufeinander  angewiesen. 
Der  Herr  sorgte  für  seine  Schwarzen;  sie  waren  sein 
Kapital. 

Dies  änderte  sich ,  als  der  Sklave  frei  und  stimm- 
berechtigt geworden  war.  Unsaubere  Elemente  des  Nordens 
kamen  in  den  Süden  und  benützten  die  ungebildeten  Neger- 
massen und  ihr  Stimmrecht  zur  Ausbeutung  des  Landes 
in  grofsem  Stile.  Diese  Abenteurer,  die  wegen  der  geringen 
beweglichen  Habe,  mit  der  sie  in  das  Land  kamen,  Hand- 
taschenpolitiker (Carpetbaggers)  genannt  wurden,  herrschten 
mittels  der  Dummheit  der  Neger  über  die  Minderheit  der 
südlichen  Weifsen.  Nur  ein  paar  Beispiele,  wie  es  damals 
im  Süden  zuging,  seien  angeführt :  Hier  im  Staate  Louisiana 
kontrahierten  diese  Handtaschenpolitiker  staatliche  und 
kommunale  Schulden  im  Betrag  von  54  Mill.  $,  ohne  dafs 
eine  nennenswerte  Verbesserung  damit  getroffen  worden 
wäre;  alles  flofs  in  ihre  Taschen.  In  Süd-Karolina  ver- 
kaufte der  Gouverneur,  ein  Handtaschenpolitiker  namens 
Moses,  seine  Begnadigungen  mit  schamloser  Offenheit.  Die 
unteren,  nicht  einträglichen  Ämter  gab  man  Negern;  es 
amteten  Hunderte  von  schwarzen  Friedensrichtern,  die  nicht 
lesen   und  nicht  schreiben  konnten.    In  Süd-Karolina  er- 


IV.    Im  Süden.  69 


hielten  die  Abgeordneten  ein  paar  Dollars  für  jedes  Ge- 
setz, das  durchging.  —  Die  Folge  war,  dafs  in  dem  Geiste 
der  weifsen  Bevölkerung  des  Südens  sieh  der  Entschlufs 
immer  mehr  festsetzte,  unter  allen  Umständen  dem  Neger 
die  Macht  zu  nehmen,  ihn  nicht  über  sich  herrschen  zu 
lassen.  „Der  Neger  mufs  überstimmt  werden,"  war  die 
Losung.  Trotz  des  15.  Zusatzartikels  der  Bundesverfassung, 
der  den  Negern  das  Stimmrecht  sicherte,  brachten  sie  diesen 
Entschlufs  zur  Ausführung,  indem  sie  den  Neger  mit  allen 
Mitteln,  meist  mit  List  oder  Gewalt,  von  der  Wahlurne 
fernhielten.  Dies  geschah  und  geschieht  bis  auf  den 
heutigen  Tag.  Genügt  Geld  nicht  oder  Freibillette  für  einen 
Zirkus  oder  ein  Affentheater,  um  die  kindischen  Schwarzen 
von  Wahlversammlungen  und  Wahlorten  abzuhalten,  so 
greift  der  Weifse  des  Südens  zur  Drohung  mit  der  Waffe. 
Einzelne  Stidstaaten  haben  auch  durch  die  Aufstellung 
von  Bildungs Voraussetzungen  oder  durch  einen  komplizierten 
Wahlmechanismus  das  Wahlrecht  der  Neger  so  gut  wie 
abgeschafft.  Es  soll  auch  vorkommen,  dafs  die  von  Negern 
abgegebenen  Stimmzettel  nicht  gezählt  werden. 

Dafs  im  Norden  die  Verfechter  der  Rassengleichheit 
diese  Entwicklung,  die  ihnen  als  eine  Aufhebung  der 
Resultate  des  Krieges  erschien,  mit  Erbitterung  beobachteten, 
ist  natürlich.  Sie  betrachteten  die  Negerfrage  von  dem 
Standpunkt  völliger  Gleichberechtigung  beider  Rassen,  so- 
wohl in  politischer  und  wirtschaftlicher  als  auch  in  sozialer 
Hinsicht.  Ähnliche  ideale  Erwägungen  erfüllten  sie,  wie 
in  Deutschland  viele  Leute  von  den  Eingeborenen 
Afrikas  sie  hegen.  Je  mehr  der  Norden  diese  Ideen  dem 
„rebellischen"  Süden  aufzuzwingen  suchte,  desto  mehr  ver- 
fiel der  Süden  in  das  Extrem  der  Opposition ,  und  heute 
noch  sind  beide  Teile  fern  von  einer  Einigung  über  diesen 
für  das  Leben  der  Union  so  wichtigen  Punkt.     Erschwert 


70  Hintrager. 

wird  diese  Einigung  nicht  nur  durch  den  schon  erwähnten 
Umstand,  dafs  der  südliche  Weifse  den  Neger  anders  und 
wohl  meist  besser  kennt  als  der  des  Nordens,  der  nur 
vereinzelte  Neger  sieht,  sondern  auch  durch  das  Interesse 
der  republikanischen  Partei  an  dem  Stimmrecht  der  Neger; 
dafs  diese  für  die  Partei  ihrer  Befreier  stimmen,  ist  ebenso 
natürlich  wie  das  „solide"  Zusammengehen  der  südlichen 
Weifsen  auf  Seiten  der  demokratischen  Partei.  Dieser 
Umstand  war  auch  der  wesentlichste  Grund  der  Verleihung 
des  Stimmrechts  an  die  Neger  ^). 

Immerhin  macht  sich  zur  Zeit  eine  langsame  Veränderung 
der  Anschauungen  im  Norden  geltend ,  und  zwar  im  Zu- 
sammenhang damit,  dafs  die  Zunahme  der  Negerbevölkerung 
das  Rassenproblem  mehr  in  den  Vordergrund  rückt.  Wenn 
auch  der  Norden  immer  noch  an  der  Forderung  der  poli- 
tischen und  wirtschaftlichen  Gleichberechtigung  der  Neger 
festhält  und  höchstens  vereinzelte  Stimmen  laut  werden, 
welche  Bildungsnachweis  als  Voraussetzung  des  Neger- 
stimmrechts verlangen,  so  wird  der  Norden  doch  in  der 
Frage  der  sozialen  Gleichheit  mehr  und  mehr  geneigt,  dem 
Süden  Recht  zu  geben.  Tatsächlich  hat  der  Neger  auch 
im  Norden  keinen  Zutritt  in  Familie  und  Gesellschaft  des 
Weifsen,  wenngleich  nicht  so  viele  Schranken  zwischen  ihm 
und  dem  Weifsen  bestehen  wie  im  Süden.  Kein  besseres 
Hotel  des  Nordens  nimmt  Neger  auf.  Dafs  Präsident 
Roosevelt  den  gebildeten  Neger  Booker  T.  Washington^) 
zu  Tische  lud,  war  ein  vereinzelter  Akt,  der  wohl  in  erster 


')  Erst  neuerdings  hat  der  einflufsreiche  republikanische  Union- 
League-Club  in  New  York  wieder  die  Forderung  aufgestellt,  dafs  der 
Kongrefs  gegen  die  Südstaaten  vorgehen  solle,  welche  das  Neger- 
stimmrecht beschränken  oder  ausschliefsen. 

^)  Booker  T.  Washington  steht  an  der  Spitze  der  nicht  geringen 
Zahl  von  Negern,  die  durch  Bildung  die  Hebung  ihrer  Rasse  erstreben. 


IV.   Im  Süden.  71 


Linie  von  der  Rücksicht  auf  die  Stimmen  der  Neger  diktiert 
war  und  auch  im  Norden  durchaus  nicht  allgemeine  Billigung 
fand.  Die  ganze  Bedeutung  dieser  Seite  der  Sache  zeigt 
sich,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  dafs  das  natürliche 
Resultat  der  gesellschaftlichen  Gleichheit  beider  Rassen 
Mischehen  und  Blutvermischungen  sind.  Würde  eine  gesell- 
schaftliche Gleichstellung  beider  Rassen  auch  nur  annähernd 
erreicht,  so  wäre  der  Union  eine  Verschmelzung  der 
schwarzen  und  weifsen  Rasse  aufser  der  Verschmelzung  der 
verschiedenen  europäischen  Nationalitäten  zur  Aufgabe  ge- 
stellt. Dies  wird  von  vielen  Amerikanern  als  das  wahr- 
scheinliche Resultat  der  Entwicklung  angesehen,  und  man 
ist  versucht  ihnen  Recht  zu  geben,  wenn  man  in  den 
Städten  der  Union  die  zahlreichen  Mischlinge  mit  Haut- 
farben in  allen  Schattierungen  sieht.  Allein  diese  Mischungen, 
die  übrigens  immer  seltener  Verden  sollen,  sind  im  wesent- 
lichen beschränkt  auf  die  Städte  und  den  Norden.  Hier 
ist  der  Neger  von  der  Kultur  beeinflufst;  in  kindischer 
Eitelkeit  sucht  er  den  weifsen  Mann  nachzuahmen;  im 
häuslichen  und  industriellen  Dienste  des  Weifsen  lernt  er. 
Im  Süden  dagegen  bildet  er  entweder  das  Proletariat 
der  Städte,  wie  mau  es  hier  in  New  Orleans  in  den  Strafsen 
und  am  Hafen  sieht,  oder  er  lebt  in  Massen  auf  dem  Lande, 
ohne  Verkehr  mit  der  Aufsenwelt,  sorglos,  ohne  mehr  zu 
arbeiten,  als  was  er  durchaus  nötig  hat  um  sein  Leben  zu 
fristen.  Wo  der  Raum  die  beiden  Rassen  nicht  trennt,  da 
trennt  sie  die  Kluft,  die  seit  dem  Bürgerkrieg  zwischen 
ihnen  mit  jedem  Jahre  tiefer  geworden  ist.  Nicht  nur  der 
Weifse,  auch  die  jüngere  Generation  der  Neger  ist  ver- 
bittert geworden  durch  die  gesellschaftliche  Verbannung 
und  politische  Vergewaltigung.  Oft  endet  eine  Missetat 
eines  Farbigen  mit  einem  blutigen  Kampfe  in  der  betreffenden 
Gemeinde.     Fälle  von  Lynchjustiz  nehmen  eher  zu  als  ab. 


72  Hintrager. 

Da  und  dort  werden  farbige  Bundesbeamte  im  Süden  be- 
lästigt und  terrorisiert.  Immer  wieder  berichten  die 
Zeitungen  von  kleinen  lokalen  Kassenkämpfen  aus  allen 
Teilen  des  Südens,  die  gewöhnlich  damit  enden,  dafs  alle 
Farbigen  aus  der  betreffenden  Stadt  oder  Gegend  vertrieben 
werden.  Die  weifsen  Frauen  des  Südens  sind  oft  die  An- 
führerinnen in  solchen  Kämpfen ;  sie  sind  die  erbittertsten 
Gegner  der  Gleichberechtigung  der  Farbigen.  Da  und  dort 
ist  eine  Tendenz  der  örtlichen  Zusammendrängung  der 
Farbigen  in  ausschliefslich  von  ihnen  bewohnte  Distrikte 
zu  erkennen.  Auch  die  Verfolgung  führt  zu  engerem  Zu- 
sammenschlufs.  Die  Konzentration  der  Farbigen  in  eine 
Art  Negerreservationen  nach  dem  Vorgange  der  Indianer 
erscheint  mir  daher  das  wahrscheinlichste  Resultat  der 
gegenwärtigen  Entwicklung.  Solche  Reservationen  werden 
auch  von  vielen  gefordert.  Der  Lincolnsche  Vorschlag,  die 
Farbigen  nach  Afrika  zurück  zu  verpflanzen,  findet  heute  nur 
noch  wenig  gläubige  Vertreter.  Hier  im  Süden  hört  man 
zwar  zuweilen  die  Ansicht,  die  Bundesregierung  habe 
die  Verpflichtung,  die  Neger  aus  dem  Lande  zu  schaffen; 
allein  die  Ausführbarkeit  dieses  Gedankens  wird  wohl  mit 
Recht  bezweifelt 

Diese  8,8  Millionen  Neger  erscheinen  wie  ein  grofser 
schwarzer  Tintenklex  auf  der  schönen  Karte  der  Vereinigten 
Staaten.  So  lange  die  natürliche  Vermehrung  der  weifsen 
Bevölkerung  und  die  Einwanderung  in  der  bisherigen  Weise 
anhält,  ist  er  nicht  gefährlich.  Ihn  zu  entfernen,  wird  ohne 
Blutvergiefsen  wohl  nicht  möglich  sein ;  die  Schwarzen  und 
die  Weifsen  haben  hier  schon  zu  oft  aufeinander  geschossen. 
Oft  hörte  ich  das  Wort:  „Wir  werden  einen  Negerkrieg 
bekommen." 


V.  Im  Geriehtssaal. 

„Alle  unsere  Einrichtungen  sind  von 
dem  Geiste  durchdrungen,  die  Menschen 
SU  heben."  Lincoln. 

New  York. 

Schon  die  ersten  Tage  in  diesem  Lande  verbrachte  ich 
zum  gröfsten  Teile  in  dem  New  Yorker  Justizpalast  in 
Centrestreet.  Seitdem  habe  ich  in  verschiedenen  Städten 
Gerichtsverhandlungen  angewohnt  und  dank  der  ganz  aufser- 
ordentlichen  Zuvorkommenheit  der  amerikanischen  Kollegen, 
die  mir  viele  Stunden  ihrer  kostbaren  Zeit  gewidmet  haben, 
konnte  ich  manchen  lehrreichen  Vergleich  ziehen  und  inter- 
essante Einblicke  in  Leben  und  Gesetzgebung  gewinnen.  Ich 
kann  in  der  Tat  diese  Zuvorkommenheit  nicht  genug  rühmen. 
Hätten  die  Richter  und  Staatsanwälte  hier  mir  nicht  stets 
einen  Platz  unmittelbar  neben  dem  ihrigen  angeboten,  um 
mir  im  Laufe  der  Verhandlung  die  nötigen  Erklärungen 
geben  zu  können,  so  wäre  es  mir  bei  der  Schnelligkeit 
und  Formlosigkeit  des  amerikanischen  Prozefsverfahrens 
kaum  möglich  gewesen  zu  folgen. 

Zuerst  begab  ich  mich  in  das  etwa  unserem  Schöffen- 
gerichte entsprechende  sogenannte  „Magistratsgericht"  von 
New  York,  in  welchem  Einzelrichter  entscheiden.  Eine  der 
Abteilungen  ist  besetzt  mit  Richter  Endlich  (früher  Rechts- 
anwalt, Gehalt:  7500  $)  und  Gerichtssekretär  Thoma  (Ge- 
halt: 3500  $),  zwei  ehrenwerten,  angesehenen  Deutschen, 
mit  welchen   ich   am  Tage  meiner  Landung  in  einer  Aus- 


74  Hintrager. 

schufssitzung  für  die  Carl  Schurz-Feier  bekannt  geworden 
war.  Beide  sind  bei  der  letzten  Wahl  von  der  Keform- 
partei  im  Kampf  gegen  Tammany  Hall  in  ihre  Stellungen 
gebracht  worden. 

Richter  Kudlich  betritt  den  Gerichtssaal  und  begibt 
sich  an  den  durch  ein  Geländer  vom  Publikum  getrennten 
Richtertisch,  rechts  und  links  neben  ihm  sitzen  verschiedene 
Gerichtsseh reiber,  in  dem  Raum  vor  dem  Geländer  befinden 
sich  Rechtsanwälte,  Publikum  und  Polizisten.  Letztere 
bezw.  die  durch  die  Straftat  Verletzten  vertreten  die  An- 
klage, da  es  Amtsanwälte  nicht  gibt.  Das  Verfahren  ist 
in  hohem  Grade  formlos,  mündlich  und  schnell.  Der  Richter 
hört  zuerst  die  Anklage,  dann  den  regelmäfsig  verhafteten 
Angeklagten  und  die  Zeugen.  Hierauf  entscheidet  er  sofort 
mündlich.    Alles  spielt  sich  sehr  rasch  ab. 

Ein  Polizist  führt  einen  älteren  Mann  vor  und  erklärt, 
er  habe  ihn  diese  Nacht  betrunken  auf  der  Strafse  ge- 
funden^). Der  Alte  bittet  den  Richter:  „0,  geben  Sie  mir 
noch  einmal  eine  Chance!"  Richter:  „Sie  sind  zu  alt,  Sie 
können  es  nicht  mehr  lassen!  Haben  Sie  Frau  und  Kinder?" 
Als  der  Angeklagte  dies  bejaht,  gibt  ihm  der  Richter  ein- 
dringliche Ermahnungen,  sein  Geld  für  Frau  und  Kinder 
zu  verwenden,  nicht  für  Alkohol.  Er  entscheidet  dann: 
„Ich  will  Sie  dieses  Mal  noch  gehen  lassen,"  und  sagte 
zu  mir:  „Wenn  ich  ihn  einsperre,  sind  nur  Frau  und 
Kinder  gestraft." 

Ein  Offizier  der  Heilsarmee  wird  vorgeführt,  der  zwei 
ebenfalls  erschienene  Zeugen  mittels  eines  Schlagringes 
mifshandelt  hat.  Der  Richter  hört  kurz  die  Zeugen,  setzt 
den  Angeklagten  gegen  eine  Sicherheitsleistung  von  500  $ 


')  Trunkenheit  ist  in  sehr  vielen  Unionstaaten  strafbar. 


V.    Im   Gerichtssaal.  *  75 

auf  freien  Fufs  und  verweist  den  Fall  wegen  Unzuständig- 
keit an  das  höhere  Gericht. 

Eine  Frau  erscheint  mit  ihrem  Manne  und  klagt,  er 
gebe  ihr  kein  oder  nur  ungenügend  Geld  zum  Unterhalt. 
Der  Richter  verurteilt  den  Mann  auf  Grund  des  Zeugnisses 
der  Frau,  welche  selbst  3  $  pro  Woche  verdient,  ihr 
wöchentlich  8  ^  von  seinem  Verdienste  zu  geben.  Das 
Geld  hat  der  Mann  jeweils  dem  Vorstand  des  städtischen 
Wohltätigkeitsamtes  zu  verabfolgen;  bei  diesem  kann  die 
Frau  es  in  Empfang  nehmen. 

Eine  verlassene  Braut  bittet  um  Erlassung  eines  Haft- 
befehls gegen  ihren  Bräutigam;  sie  erzählt  die  Geschichte 
ihrer  Liebe  und  erklärt  u.  a.,  sie  verlange  die  50  $  zurück, 
die  sie  ihrem  Bräutigam  geliehen  habe.  Da  der  Tat- 
bestand nicht  genügend  aufgeklärt  ist,  ordnet  der  Richter 
lediglich  eine  Vorladung  des  Bräutigams  an. 

Eine  Frau  klagt,  sie  werde  von  ihrem  Manne  öfters 
geschlagen.  Der  Mann,  der  vorgeladen  und  erschienen  ist, 
leugnet.  Sein  Verteidiger  macht  geltend,  die  Gröfse  und 
Stärke  der  Frau  im  Vergleich  zu  dem  schwachen  kleinen 
Angeklagten  lasse  die  Anklage  wenig  glaubhaft  erscheinen. 
Lächelnd  bemerkt  der  kleine  Richter  Kudlich  zu  dem  An- 
walt, der  eine  stattliche  Gröfse  hat:  „Das  ist  kein  Beweis. 
Ich  wollte  Sie  auch  ganz  hübsch  zurichten,"  Der  Mann 
erhält  auf  das  eidliche  Zeugnis  der  Frau  hin  eine  Geld- 
strafe von  20  $  und  hat  für  die  Dauer  von  sechs  Monaten 
eine  Sicherheit  von  200  $  zu  leisten.  Diese  ist  verwirkt, 
falls  er  innerhalb  der  genannten  Zeit  einer  Körperverletzung 
zum  Nachteil  seiner  Frau  überführt  wird. 

Ein  Franzose  wird  von  einem  Polizisten  wegen  groben 
Unfugs  vorgeführt.  Der  Polizist  erklärt,  der  Angeklagte 
habe  sieh  in  der  fünften  Avenue  aufgestellt  und  die  vor- 
übergehenden Damen   durch  Blicke  belästigt;    eine  Dame 


76  Hintrager. 

habe  sich  darüber  beschwert.  Der  Richter  warnt  ihn  und 
sagt:  „Dieses  Mal  will  ich  Sie  noch  frei  ausgehen  lassen; 
aber  das  nächste  Mal  werde  ich  Sie  bestrafen." 

Ein  etwas  zigeunerhaft  aussehendes  Mädchen,  das  wegen 
Trunkenheit  im  Rückfall  vorgeführt  wird,  empfängt  der 
Richter  mit  den  Worten :  „Wo  kommen  Sie  schon  wieder 
her,  Mary?"  Zornig  erwidert  die  Angeklagte:  „Gerade 
herunter  vom  Himmel.  Ich  rutschte  herab  auf  einem 
Regenbogen."  Kaltblütig  bemerkt  der  Richter:  „So,  da 
werden  Sie  Spreifsen  beim  Herabrutschen  bekommen  haben ; 
ich  will  Ihnen  deshalb  sechs  Monate  geben,  dafs  Sie  sie 
wieder  herausbekommen. " 

Ein  Polizist  führt  ein  Ehepaar  vor  mit  der  Erklärung, 
er  habe  dasselbe  die  Nacht  zuvor  verhaftet,  da  es  durch 
einen  Streit  auf  der  Strafse  die  Ruhe  gestört  habe;  die 
Frau  habe  einen  Wagen  nehmen  wollen,  um  nach  Hause 
zu  fahren,  und  dies  habe  der  Mann  nicht  bewilligt.  Der 
Richter  entläfst  das  Paar  und  sagt  zu  dem  Polizisten: 
„Sie  bringen  mir  immer  Leute  ohne  genügenden  Nachweis 
einer  strafbaren  Handlung.  Das  taugt  nichts!  Sie  lieben 
wohl  Ihre  Beschäftigung  nicht?" 

Heiter  war  der  nächste  Fall.  Zwei  Frauen  erscheinen 
unter  heftigem,  kreischendem  Gezanke.  Jede  wirft  der 
anderen  so  viele  Untaten  vor,  dafs  ihre  Aburteilung  einen 
deutschen  Amtsrichter  ein  paar  Tage  lang  beschäftigt  hätte. 
Nachdem  die  Frauen  sich  einige  Minuten  lang  zum  allge- 
meinen Ergötzen  gegenseitig  beschimpft  hatten,  sagte 
Richter  Kudlich:  „Jede  von  Ihnen  erhält  eine  Geldstrafe 
von  10  $.  So,  jetzt  gehen  Sie  und  halten  Sie  den  Mund!" 
—  Kann  die  Geldstrafe  nicht  sofort  bezahlt  oder  ihre 
Zahlung  nicht  durch  Bürgschaft  sichergestellt  werden ,  so 
hat  der  Verurteilte  je  für  einen  Dollar  einen  Tag  Freiheits- 
strafe zu  verbüfsen. 


V.    Im  Gerichtssaal.  77 

Ein  14jähriger  Taschendieb  wird  vorgeführt.  Der 
Polizist  erzählt  kurz  den  Diebstahl  und  bemerkt,  dafs  der 
Angeklagte  gestehe.  Der  Richter  sagt:  „Ja,  Knabe,  was 
soll  ich  mit  dir  anfangen?"  Ein  Beamter  der  Guerry 
Society,  einer  Wohltätigkeitsgesellschaft,  die  in  der  Für- 
sorge für  verkommene  Kinder  Bedeutendes  leistet  und  stets 
Beamte  in  die  Gefängnisse  und  Gerichtsverhandlungen  ent- 
sendet, bemerkt,  er  habe  den  Fall  untersucht;  die  Schuld 
an  dem  schlechten  Lebenswandel  des  Knaben  liege  in  den 
traurigen  häuslichen  Verhältnissen,  und  er  halte  Einweisung 
des  Angeklagten  in  die  Erziehungsanstalt  der  Gesellschaft 
für  angezeigt.     Auf  diese  erkennt  der  Richter. 

Ein  etwa  20 jähriges  Mädchen  klagt,  ein  anderes 
Mädchen  habe  ihr  auf  einem  Balle  ihren  Regenschirm  ge- 
nommen. Die  Angeklagte,  die  auf  Ladung  erschienen  ist, 
macht  geltend,  als  sie  morgens  4  Uhr  von  dem  Balle  habe 
nach  Hause  gehen  wollen ,  sei  ihr  Schirm  nicht  mehr  da- 
gewesen ;  sie  habe  daher  einen  andern  mitgenommen ,  den 
sie  nun  zu  Hause  habe.  Der  Richter  entscheidet:  „Sie 
geben  der  Klägerin  den  Schirm  zurück,  und  Sie,  Klägerin, 
geben  das  nächste  Mal ,  wenn  Sie  wieder  auf  einen  Ball 
gehen,  besser  auf  Ihren  Schirm  acht  oder  lassen  den 
Schirm  zu  Hause."  „Well,"  erwiderte  die  hübsche  Klägerin, 
„ich  meine,  das  gehört  nicht  zu  der  Sache  von  dem 
Schirme.  Der  Schirm  gehört  mir."  —  „Sie  sehen,"  sagt 
der  Richter  lächelnd  zu  mir,  „wie  selbständig  unser  Volk 
ist."  — 

Auf  diese  Weise  entscheidet  der  amerikanische  Straf- 
richter der  untersten  Instanz.  Er  ist  glücklicher  als  seine 
deutschen  Kollegen ;  denn  er  hat  fast  nichts  zu  schreiben, 
insbesondere  keine  Urteilsgründe,  und  erledigt  gelegentlich 
30 — 40  Fälle  in  der  Stunde.  Seine  Urteile  werden  selten 
angefochten;    denn  der  Amerikaner  ist  stets  geneigt,   vom 


78  Hintrager. 

Nebenmenschen,  so  auch  vom  Richter  anzunehmen,  dafs  er 
sein  „Geschäft"  verstehe.  Wird  Berufung  eingelegt,  so 
wird  die  ganze  Sache  neu  verhandelt.  Das  Gericht  hat 
täglich  öffentliche  Sitzung,  und  hier  werden  sämtliche 
Geschäfte  desselben  erledigt.  Ein  schriftliches  Vorverfahren 
in  unserem  Sinne  gibt  es  nicht.  Da  für  die  Herbeischaffung 
der  Zeugen  der  Anzeigende  (regelmäfsig  die  Polizei)  und 
der  Angeklagte  zu  sorgen  haben,  und  da  es  nur  den  Ge- 
richtsstand der  begangenen  Tat  gibt,  kommen  die  meisten, 
namentlich  die  kleineren  Straffälle  am  ersten  oder  zweiten 
Tage  nach  der  Tat  zur  Verhandlung  und  Entscheidung. 
Eine  so  wenig  vorbereitete,  beinahe  improvisierte  Haupt- 
verhandlung ist  naturgemäfs  formlos.  Ich  habe  bei  diesen 
Gerichtsverhandlungen  immer  den  Eindruck  gewonnen, 
dafs  hier  in  buntem  Durcheinander  die  Kinder  des  Volkes 
sich  zum  Richtertische  drängen,  um  dem  Richter  wie  einem 
Vater  ihre  Leiden  und  Klagen  vorzutragen  und  Abhilfe  zu 
suchen.  Erhöht  wird  die  Formlosigkeit  der  Gerichts- 
verhandlungen durch  die  naive  Denkweise  des  Amerikaners, 
der  wenig  nach  Formen  und  Prinzipien,  um  so  mehr  nach 
praktischen  Rücksichten  fragt.  Der  Richter  fragt  nie  nach 
der  Legitimation  des  Rechtsanwalts,  mit  dem  eine  Partei 
erscheint.  Er  kümmert  sich  nicht  um  die  Namen  der 
Parteien.  Das  ist  Sache  des  Gerichtsschreibers,  sie  in  das 
kurze,  nach  kaufmännischer  Art  geführte  Gerichtsprotokoll- 
buch einzutragen.  Der  Richter  fragt  wenig  nach  den 
näheren  Umständen  dieser  kleinen  Straffälle;  oft  spricht 
er  seine  Entscheidung  aus,  ohne  den  Angeklagten  angehört 
zu  haben.  Der  Richter  trägt  auch  kein  Bedenken,  aus 
praktischen  Gründen  ein  Gesetz  nicht  anzuwenden. 

Es  war  Mittag  geworden,  bis  der  Gerichtssaal  sich 
geleert  und  damit  die  Tagesarbeit  des  Gerichts  ihr  Ende 
gefunden  hatte.     In  der  Kanzlei  des  Richters,   in  der  ich 


V.    Im  Gerichtssaal.  79 

mich  vergeblich  nach  Akten  umsah,  verbrachte  ich  noch 
einige  Zeit  in  heiterer  Unterhaltung  mit  Richter  Endlich 
und  Craine  und  Gerichtssekretär  Thoma.  Letzterer  zeigte 
mir  die  praktischen  Kanzleieinrichtungen  des  Gerichts  und 
liefs  es  sich  nicht  nehmen,  mir  zum  Andenken  verschiedene 
Gebrauchsgegenstände  des  Gerichts  mitzugeben ,  darunter 
einige  Bleistifte  mit  dem  Aufdruck  „Eigentum  der  Stadt 
New  York".  Diese  Aufschrift  war  nötig,  meinte  Mr.  Thoma, 
um  zu  verhindern,  dafs  unsere  Leute  Handel  damit  treiben. 
Nach  Beendigung  der  Studien  im  Magistratsgericht 
besuchte  ich  das  Strafgericht  höherer  Instanz,  „Court  of 
Special  Sessions",  in  New  York,  dessen  Zuständigkeit  etwa 
derjenigen  der  Strafkammern  unserer  Landgerichte  ent- 
spricht. Es  entscheidet  in  der  Besetzung  von  drei  Richtern ; 
den  Vorsitz  führt  der  energische  und  feingebildete  Richter 
Jerome,  an  den  ein  amerikanischer  Freund  mich  empfohlen 
hat.  Manche  Stunde  hat  mir  Richter  Jerome  gewidmet, 
und  die  Unterhaltung  mit  ihm  war  mir  um  so  wertvoller, 
als  er  auch  mit  deutschen  Verhältnissen  vertraut  ist. 
„Sehen  Sie,"  sagte  er  bei  unserer  ersten  Unterhaltung,  als 
ich  das  Wort  „Juristen"  mit  Beziehung  auf  amerikanische 
Verhältnisse  gebrauchte,  „Juristen  in  Ihrem  Sinne  gibt 
es  eigentlich  hier  gar  nicht.  Wir  haben  Richter,  die 
früher  alle  möglichen  anderen  Berufe  gehabt  haben.  Und 
doch  mufs  ich  zugeben,  dafs  das  System  im  allgemeinen  gut 
arbeitet  und  im  grofsen  und  ganzen  Gerechtigkeit  waltet, 
dank  vor  allem  der  grofsen  Anpassungsfähigkeit  und  dem  ge- 
sunden Menschenverstand  unserer  Leute.  Unsere  Gerechtig- 
keit ist  oberflächlicher  als  die  Ihrige.  Unschuldige  werden 
wohl  ebensowenig  verurteilt,  dagegen  entgehen  mehr 
Schuldige  der  Strafe.  Es  scheint  mir  aber  trotzdem  sehr 
fraglich,  ob  Ihre  Gründlichkeit  und  bureaukratische  Er- 
ziehung nicht  mehr  Nachteile  hat  als  Vorteile." 


80  Hintrager. 

Unsere  Unterhaltung  in  der  Kanzlei  des  Richters 
Jerome  wurde  unterbrochen  durch  das  Eintreten  von  etwa 
zwölf  Herren,  die  sieh  als  Vertreter  verschiedener  New 
Yorker  Zeitungen  vorstellten  und  Richter  Jerome  wegen 
seiner  Entscheidung  im  sogenannten  Tenderloin-Falle  zu 
sprechen  wünschten.  Tenderloin  ist  der  Name  eines  ge- 
wissen Stadtteils  von  New  York.  Der  Herausgeber  eines 
unter  diesem  Namen  erschienenen  illustrierten  Witzblattes 
wurde  von  dem  Gerichte  unter  dem  Vorsitze  des  Richters 
Jerome  zu  einer  Geldstrafe  von  200  $  wegen  des  un- 
sittlichen Inhalts  des  Blattes  verurteilt.  Nun  kamen  dessen 
Kollegen  von  der  Presse,  um  das  Gericht  zu  bewegen,  das 
Urteil  zu  mildern  oder  aufzuheben,  da  der  Verurteilte  arm 
und  zudem  nur  Strohmann  sei.  Obwohl  die  Vertreter  der 
mächtigen  Presse  zäh  auf  ihrem  Wunsche  beharrten,  auch 
die  beiden  Kollegen  Jeromes  sich  zum  Nachgeben  geneigt 
zeigten,  blieb  Jerome  bei  seiner  Entscheidung.  Wiederholt 
erklärte  er,  er  finde  vor  sich  selbst  keine  Rechtfertigung 
für  eine  Änderung  des  Urteils,  sei  aber  mit  Rücksicht  auf 
die  Vermögensverhältnisse  des  Verurteilten  ganz  gerne 
bereit,  sich  an  einer  für  ihn  etwa  veranstalteten  Kollekte 
mit  einem  Beitrag  von  25  $  zu  beteiligen.  Nachdem  die 
Vertreter  der  Presse  unverrichteter  Sache  gegangen  waren, 
erklärte  mir  Judge  Jerome  die  grofse  Freiheit  der  richter- 
lichen Entscheidung  in  Strafsachen.  Dem  amerikanischen 
Richter  läfst  das  Gesetz  eine  aufserordentliche  Bewegungs- 
freiheit. Er  kann  nicht  nur  eine  getroffene  Entscheidung 
innerhalb  des  betreffenden  Quartals  noch  ändern,  sondern 
auch  die  Vollstreckung  der  getroffenen  Entscheidung  bedingt 
(meist  auf  Wohl  verhalten)  oder  unbedingt  „suspendieren", 
so  lange  er  will.  Ein  sehr  charakteristischer  und  ein- 
facher Weg,  eine  weniger  wichtige  Strafsache  zu  erledigen, 
ist  die  in   der  amerikanischen  Rechtssprache   oft  wieder- 


V.    Im  Gerichtssaal.  81 

kehrende  Verfügung,  „to  put  the  case  on  file",  das  heifst, 
den  Fall  ad  acta  zu  legen.  Der  stets  zum  Scherz  auf- 
gelegte Amerikaner  sagt  hiervon:  „Der  Fall  geht  in  den 
Taubenschlag."  In  die  einem  Taubenschlag  ähnlichen  Akten- 
fächer der  Gerichtsschreiberei  wandern  die  Akten,  mit  oder 
auch  ohne  den  Vermerk  des  Staatsanwalts :  n.  p.  (=  nolo 
prosequi)  und  bleiben  dort,  bis  die  Sache  verjährt  ist. 

Die  erste  Gerichtssitzung  des  Court  of  Special  Sessions, 
zu  der  Kichter  Jerome  mich  einlud,  war  am  sogenannten 
„Bastardy-cases-day ",  dem  Tag  der  Bastardfälle.  Die  grofsen 
Gerichte  setzen  für  die  Verhandlung  gleichartiger  Fälle  be- 
stimmte Tage  fest.  Die  Verhandlungen  dieses  Tages  gehörten 
zum  Interessantesten,  was  ich  in  hiesigen  Gerichtssälen  erlebt 
habe.  Die  verhafteten  Väter,  die  in  einer  besonderen  Ab- 
teilung des  Saals  des  Aufrufs  harren,  der  Anblick  und  das 
zeitweilige  Geschrei  der  Säuglinge,  die  gewöhnlich  von  den 
Müttern  mitgebracht  werden ,  das  sprachlich  und  mensch- 
lich bunte  Bild  der  Vernehmung  der  Mütter,  die  —  be- 
zeichnenderweise meist  Ausländerinnen  —  mit  ihren  Babies 
auf  dem  Zeugenstand  erscheinen,  der  Vertreter  der  An- 
klage endlich,  der  die  eventuell  alimentationspflichtige 
Gemeinde  vertritt  und  sich  oft  redlich  Mühe  gibt,  das  be- 
treffende Paar  zur  Heirat  zu  bestimmen,  —  all  das  bot 
ein  lebendiges  Bild  der  Tragik  und  Komik  des  New  Yorker 
Grofsstadtlebens.  — 

Auch  vor  Judge  Jeromes  Gericht  ist  das  Verfahren 
sehr  rasch  und  formlos.  Ein  Sichzurückziehen  des  Gerichts 
zur  Beratung  kommt  nur  sehr  selten  vor.  Wie  sehr  dem 
amerikanischen  Richter  die  Zweckmäfsigkeit  über  der  Ge- 
rechtigkeit steht,  mag  aus  folgenden  Fällen  entnommen 
werden,  die  ich  mir  aus  meinen  Besuchen  in  Richter 
Jeromes  Gerichte  aufgezeichnet  habe: 

Ein  18 jähriges  Dienstmädchen  wird  vorgeführt;  sie  ge- 

Hintrager.  6 


82  Hintrager. 

steht,  ihre  Herrschaft  wiederholt  bestohlen  zu  haben.  Der 
Kichter  erklärt:  „Sie  sind  des  Diebstahls  schuldig.  Aber 
was  sollen  wir  nun  mit  Ihnen  machen?"  Letztere  Frage 
ist  dem  Richter  hier  so  wichtig,  dafs  er  auf  die  Entscheidung 
derselben  oft  mehr  Zeit  verwendet ,  als  auf  alles  Vorher- 
gehende. Oft  vertagt  er  eine  Sache  nach  der  Schuldig- 
sprechung, nur  um  sich  schlüssig  zu  machen,  was  für  ein 
Strafmittel  anzuwenden  ist.  Ich  erinnere  mich  folgender 
Worte  eines  Richters  an  einen  kranken  Angeklagten,  dessen 
ärztliche  Untersuchung  der  Richter  nach  der  Schuldig- 
sprechung angeordnet  hatte:  „Ich  habe  die  Wahl,  Sie  in 
das  Zuchthaus  oder  in  das  Grafschaftsgefängnis  zu  senden. 
Ich  tue  das  letztere,  da  Sie  ein  unheilbares  Leiden  haben 
und  im  Zuchthaus  wahrscheinlich  sterben  würden.  Falls 
Sie  im  Gefängnis  ernstlich  krank  werden  sollten,  ist  der 
Gefängnisaufseher  angewiesen,  Sie  nach  Hause  zu  bringen, 
damit  Sie  nicht  im  Gefängnis  sterben."  Als  in  dem  Falle 
des  Dienstmädchens  Richter,  Staatsanwalt.  Verteidiger  und 
Angeklagte  in  zwangloser  Unterhaltung  über  das  an- 
zuwendende Strafmittel  sich  berieten,  mischte  sich  —  was 
im  amerikanischen  Gericht  nichts  Ungewöhnliches  ist  — 
eine  dabeistehende  Frau  in  die  Unterhaltung  mit  der  Bitte, 
ihr  zu  gestatten,  den  Fall  zu  untersuchen.  Es  war  dies 
eine  in  den  New  Yorker  Gerichten  und  Gefängnissen  wohl- 
bekannte Dame,  Frau  Foster,  im  Volksmunde  „der  Gefängnis- 
engel" genannt.  Nachdem  diese  Frau,  die  aus  Menschen- 
freundlichkeit sich  ihrer  auf  Abwege  geratenen  Schwestern 
annimmt,  auch  ein  Heim  für  dieselben  in  New  York  unterhält, 
die  Angeklagte  eine  Zeitlang  auf  die  Seite  genommen  hatte, 
erklärte  sie,  sie  glaube,  dafs  es  zum  Besten  der  Angeklagten 
sein  würde,  wenn  sie  bis  auf  weiteres  in  ihr  Heim  ein- 
gewiesen würde.  So  erkannte  auch  das  Gericht  unter 
Aufschub  der  Strafvollstreckung,  trotzdem  die  Angeklagte 


V.   Im  Gerichtssaal.  83 

sagte,  man  solle  sie  bestrafen,  sie  wolle  von  niemand  eine 
Gnade  annehmen. 

Auch  dieser  Fall  zeigt,  dafs  die  amerikanische  Justitia 
mehr  in  die  Zukunft  schaut  als  in  die  Vergangenheit. 
Ein  Gesetz  des  Staates  New  York  macht  es  dem  Richter 
zur  Pflicht,  die  Freiheitsstrafe  so  zu  bemessen,  dafs  der 
Verurteilte  nicht  im  Winter  zur  Entlassung  gelangt.  Ein 
ISjähriger  Jüngling  hatte  60  Tage  Gefängnis  wegen  Dieb- 
stahls erhalten  und  drei  Monate  Strafaufschub.  Nach  Ab- 
lauf des  letzteren  erscheint  er  vor  Gericht  in  Begleitung 
eines  alten  Herrn,  welcher  erklärt,  dafs  er  ihn  in  seinem 
Geschäft  angestellt  habe,  mit  ihm  zufrieden  sei  und  für  sein 
ferneres  Wohlverhalten  bürge.  Der  Fall  geht  „in  den 
Taubenschlag". 

Von  Juni  1898  bis  Mai  1899  hat  der  Court  of  Special 
Sessions  unter  dem  Vorsitz  Richter  Jeromes  etwas  mehr 
als  12000  Strafsachen  erledigt.  Ein  Beispiel  wird  diese 
Geschwindigkeit  erklären. 

Als  in  einem  Körperverletzungsfalle  die  Vernehmung 
des  ersten  Belastungszeugen  nur  ungenügenden  Beweis  er- 
geben hatte ,  fragt  der  Vorsitzende  den  Staatsanwalt : 
„Sind  dies  alle  Beweismittel  des  Staates?"  —  Lächelnd 
erwidert  der  Staatsanwalt:  „Ich  habe  zwar  noch  einen 
Zeugen;  aber  der  Angeklagte  hat  zwei,  die  das  Gegenteil 
beschwören.  „Freigesprochen!"  erklärt  der  Vorsitzende, 
stempelt  den  entsprechenden  Vermerk  auf  die  Akten  und 
wirft  diese  auf  den  Platz  des  Gerichtsschreibers.  — 

Die  Vorbereitung  der  Strafsachen  für  die  Haupt- 
verhandlung liegt  in  viel  gröfserem  Umfange  in  den  Händen 
der  Polizei  als  bei  uns.  Die  Regel  ist,  dafs  der  Polizist 
den  Täter  festnimmt  und  mit  demselben,  sowie  den  zur 
Überführung  nötigen  Beweismitteln  am  folgenden  Tage  vor 
Gericht    erscheint,   wo    alsdann   der   Fall   verhandelt   und 

6* 


84  Hintrager. 

entschieden  wird.  Diesen  höheren  Anforderungen  an 
Selbständigkeit  und  Intelligenz  erweisen  sich,  soviel  ich 
hier  höre,  im  allgemeinen  die  amerikanischen  Polizisten 
als  gewachsen.  Wenn  auch  bei  der  Anstellung  der  Poli- 
zisten politische  Rücksichten  in  den  amerikanischen  Städten 
vielfach  mafsgebend  sind  und  es  dann  und  wann  vorkommt, 
dafs  die  Polizei  trotz  der  guten  Bezahlung^)  mit  den 
Missetätern  gemeinsame  Sache  macht,  so  geniefst  doch  die 
Polizei  als  öffentliches  Sicherheitsorgan  grofse  Achtung, 
wie  man  dies  oft  in  den  amerikanischen  Städten  beobachten 
kann.  Voraussetzung  der  Anstellung  als  Polizist  ist  neben 
einem  bestimmten  Gewicht,  bestimmter  Gröfse  und  einem 
gewissen  Alter  ^),  der  Nachweis  eines  ziemlich  hohen 
Bildungsgrades  und  grofser  Körperkraft;  die  Polizisten 
müssen  schwere  Gewichte  stemmen,  sich  vom  Boden  ohne 
Hilfe  der  Arme  erheben  können  und  dergleichen.  Ein  erfolg- 
reicher "Widerstand  gegen  diese  Staatsgewalt  ist  nicht  leicht. 
Wiederholt  habe  ich  hier  die  Ruhe  und  Gewandtheit  der 
Polizei  in  der  Behandlung  von  Massen  bei  Aufläufen  und  Un- 
ruhen bewundert.  Richter  Jerome,  der  sich  sehr  für  die  Tätig- 
keit der  Polizei  interessierte  —  zurzeit  tut  er  dies  als  Staats- 
anwalt —  erwähnte  mir  eine  charakteristische  Praxis  der 
New  Yorker  Polizei,  über  die  Dauer  von  Festen  und  anderen 
grofsen  Menschenansammlungen  die  gemeingefährlichen 
Subjekte  festzunehmen  und  den  weniger  gefährlichen  Vor- 
bestraften den  Aufenthalt  in  der  Stadt  bei  Gefahr  der  Fest- 
nahme zu  verbieten.  — 

Trotz  der  Erwählung  der  Richter,  und  trotzdem  die 
Gehalte  der  einzelstaatlichen  Richter  so  niedrig  bemessen 
sind,  dafs  hervorragende  Rechtsanwälte  sich  nicht  um  eine 


*)  Anfangsgehalt  in  New  York  800  $. 

2)  In  St.  Louis  z.  B.  nicht  unter  5  Fufs  8  inches,  in  den  Haupt- 
strafsen  nicht  unter  6  Fuls,  Alter  nicht  unter  30  Jahren. 


V.    Im  Gerichtssaal.  85 


Richterwahl  zu  bemühen  pflegen,  ist  die  Stellung  des 
Richters  im  allgemeinen  eine  sehr  angesehene.  Ehrfurcht, 
wie  sie  dem  englischen  Richter  entgegengebracht  wird, 
geniefst  freilich  der  amerikanische  Richter  nicht.  Immer- 
hin aber  ist  „Richter"  ein  Ehrentitel,  den  jeder  für  immer 
behält,  der  auch  nur  einmal  zum  Richter  erwählt  worden 
ist.  Dafs  Richter  bestechlich  oder  sonst  unehrenhaft  seien, 
wird  wohl  gelegentlich  behauptet  und  ist  wohl  auch  da 
und  dort  wahr.  So  hörte  ich  in  glaubhafter  Weise,  dafs 
ein  Richter  des  Westens  auffallend  vielen  seiner  Angeklagten 
das  Strafmafs  so  bestimmte,  dafs  sie  die  Strafe  im  Bezirks- 
gefängnis zu  verbüfsen  hatten.  Schliefslich  stellte  sich 
heraus,  dafs  er  zusammen  mit  dem  Gefängnisleiter  sich 
dadurch  zu  bereichern  wufste.  Es  ist  auch  kaum  daran 
zu  zweifeln,  dafs  manche  New  Yorker  Richter,  die  unter 
der  Herrschaft  von  Tammany  Hall  ihre  Wahl  geradezu 
erkauften,  während  ihrer  Amtszeit  in  wenig  gewissenhafter 
Weise  auf  ihre  Bereicherung  bedacht  waren.  Allein  dies 
sind  vereinzelte  Fälle  und  dürfen  nicht  zu  einem  allge- 
meinen Urteil  veranlassen.  Allgemeine  Urteile  sind  über- 
haupt bei  einem  Lande  dieser  Gröfse  und  Mannigfaltigkeit 
etwas  Gewagtes.  Mein  Eindruck  ist  fast  durchweg  über- 
einstimmend mit  den  oben  erwähnten  Worten  Richter  Jeromes 
gewesen.  Die  Rechtspflege  ist  viel  besser,  als  man  bei 
dem  System  der  freien  Richterwahl ,  das  übrigens  da  und 
dort  an  Anhängern  verliert  ^),  erwarten  sollte.  Ihre  Mängel 
liegen  weniger  in  der  Person  der  Richter  als  in  dem  ver- 
alteten Prozefsrecht ,  dessen  zahlreiche  Formvorschriften 
(technicalities)  Verschleppungen  ins  Endlose  ermöglichen. 


^)  Im  Staate  Massachussetts   z.  B.   ernennt    der  Gouverneur  die 
Richter  auf  Lebenszeit. 


VI.  In  den  Strafanstalten. 

„Es  ist  billiger,  die  Zahl  der  Ver- 
brechen  zu  verringern,  als  Gefäng- 
nisse zu  bauen."  Garfield. 

Pittsburg. 

Nicht  nur  im  Gerichtssaal,  auch  bei  der  Strafvoll- 
streckung schaut  die  amerikanische  Justitia  in  erster  Linie 
vorwärts,  in  die  Zukunft.  Die  Losung  „Vorwärts!"  ist  ja 
eines  der  wesentlichen  Merkmale  der  Neuen  Welt  und  einer 
der  grundlegenden  Unterschiede  ihres  Lebens  von  dem 
Leben  der  Bewohner  der  Alten  Welt,  deren  Schritte  das 
Gewicht  des  Alters,  der  Geschichte  hemmt. 

Das  Studium  gewisser  Reformen  auf  dem  Gebiet  des 
Strafvollzugs  führte  mich  in  die  bedeutenderen  Straf- 
anstalten der  Staaten  New  York,  Massachussetts,  Pennsyl- 
vania und  Illinois  und  gab  mir  reichliche  Gelegenheit  zu 
Einblicken  in  das  amerikanische  Gefängniswesen,  das  einst 
durch  sein  Auburnsches  und  Pennsylvanisches  System  uns 
vorbildlich  war.  ^) 

Bei  Beginn  dieser  Studien  stellte  mir  die  New  Yorker 
Gefängnisgesellschaft  ihre  reiche  Bibliothek  und  ein  Arbeits- 
zimmer zur  Verfügung.  Dort  arbeitete  ich  die  ersten  zwei 
Wochen  und  entwarf  den  Reiseplan.  So  sehr  fand  ich  von 
allen  Seiten  Unterstützung,   dafs  ich  beim  Verlassen  New 


^)  Hierüber  ausführlicher:  Hintrager,  Amerikanisches  Gefängnis- 
und  Strafenwesen,  Tübingen  1900. 


VI.    In  den  Strafanstalten.  87 

Yorks  Empfehlungsbriefe  an  alle  in  Betracht  kommenden 
mafsgebenden  Persönlichkeiten  im  Staate  New  York  hatte, 
auch  an  den  damaligen  Gouverneur  des  Staates  New  York, 
Theodore  Roosevelt.  Mit  solchen  Empfehlungsbriefen  ist 
der  Amerikaner  sehr  freigebig. 

Mein  erstes  Ziel  war  die  bekannte  Straf-  und  Besserungs- 
anstalt zu  Elmira ,  New  York ,  wo  ich  mich  einen  Monat 
lang  aufhielt,  „die  längste  Zeit,  die  je  ein  Mensch  freiwillig 
dort  zubrachte",  wie  eine  dortige  Zeitung  bemerkte.  Hier 
schon  sollten  die  Überraschungen  beginnen.  Es  war  an 
einem  Samstag,  als  ich  in  Elmira  ankam.  In  der  Anstalt, 
die  auf  einem  Hügel  vor  der  Stadt  liegt  und  den  Eindruck 
einer  grofsen,  reichen  Unterrichtsanstalt  macht  —  man 
nennt  sie  oft  „College  on  the  Hill"  — ,  lud  mich  der  Vor- 
stand zu  einem  Rundgang  ein ,  welcher  vor  Sonnenunter- 
gang im  grofsen  Exerzierhaus  der  Anstalt  endigte.  Hier 
fand  die  tägliche  Parade  statt,  ein  interessantes  militärisches 
Schauspiel.  Etwa  800  uniformierte  Gefangene,  mit  Holz- 
giewehren  bewaffnet,  machten  gute  Gewehrgriffe  und  einen 
Parademarsch,  der  ihrem  Oberbefehlshaber,  einem  alten 
Subalternoffizier  der  Unionsarmee ,  Ehre  machte.  Dieser 
Mann ,  der  mit  Begeisterung  von  deutscher  Disziplin  und 
dem  deutschen  Exerzierreglement  sprach,  hatte  der  „Elmira- 
Parade"  einen  Namen  in  der  Gegend  zu  verschaffen  ge- 
wufst,  wie  der  Anstaltsvorstand  seiner  Anstalt  im  ganzen 
Lande.  Die  Parademärsche  der  Musikkapelle,  die  Parole- 
ausgabe unter  dem  Feuer  einer  Kanone  im  Gefängnishof, 
das  ganze  Schauspiel  hatte  auch  heute  zahlreiche,  ins- 
besondere weibliche  Besucher  in  die  Anstalt  gelockt.  Mit 
Stolz  zeigte  der  Vorstand  sein  Werk.  Hat  er  doch  für 
Besucher  ein  eigenes  Wartezimmer,  dessen  Wände  mit 
photographischen  Aufnahmen  aus  dem  Leben  der  Anstalt 
geschmückt  sind. 


88  Hintrager, 

Der  folgende  Tag  brachte  die  Ausgabe  der  von  den 
Gefangenen  gedruckten  und  redigierten  Anstalts-Wochen- 
zeitung,  in  der  auch  des  deutschen  „Gastes"  Erwähnung 
geschah,  ferner  einen  Gottesdienst,  in  welchem  ein  Damen- 
chor aus  der  Stadt  Elmira  den  Gefangenen  sang.  Abends 
war  für  die  Gefangenen  der  beiden  oberen  Grade  Vortrag 
und  daran  anschliefsend  Diskussion.  Dafs  ich  auch  einmal 
den  Vortrag  übernehmen  mufste,  dafs  ich  überhaupt  kaum 
eine  Anstalt  verliefs,  ohne  die  Aufforderung  erhalten  zu 
haben,  „ein  paar  Worte  zu  den  Jungen  zu  sagen",  ist  hier 
etwas  ganz  Selbstverständliches. 

Wie  reich  dies  Land  ist,  davon  gab  auch  Elmira 
Zeugnis.  In  der  Kochschule  der  Anstalt  wurde  oft  mangels 
Verwendung  weggeworfen,  was  die  Kochkunst  der  Ge- 
fangenen hergestellt  hatte.  Als  ich  den  Vorstand  um 
einige  Jahresberichte  bat,  erklärte  er  mir:  „Ich  werde 
Ihnen  sämtliche  Jahresberichte  seit  Bestehen  der  Anstalt 
(1877)  portofrei  nach  Deutschland  senden  lassen."  ^) 

In  Rochester,  New  York,  lud  mich  der  Vorstand  der 
Strafanstalt  für  Jugendliche  ein,  während  meines  dortigen 
Aufenthaltes  Gast  in  seinem  Hause  zu  sein ,  zeigte  mir 
alle  Sehenswürdigkeiten  der  Stadt  und  Umgebung  und 
tat  alles,  meinen  Aufenthalt  angenehm  zu  macheu.  Und 
an  ihn  hatte  ich  kein  Empfehlungsschreiben  gehabt.  Hier 
war  die  Parade  noch  imposanter  als  in  Elmira.  Die  700 
Gefangenen  hatten  eine  Fahne  in  den  Landesfarben  und 
aufgepflanzte  Seitengewehre;  der  Putz  wurde  auf  das 
peinlichste  nachgesehen.    Am   Sonntagabend  gab  die  Ge- 

')  Die  gebundenen  und  reich  illustrierten  Berichte  fand  ich  hei 
meiner  Rückkehr  vor,  ebenso  die  Berichte  der  letzten  zehn  Jahre 
über  die  Verhandlungen  des  Vereins  der  Strafanstaltsbeamten  der 
Union,  deren  Zusendung  ich  dem  verdienten  Sekretär,  Mr.  Milligan, 
verdanke. 


VI.    In  den  Strafanstalten.  89 

fängniskapelle  ein  Konzert,  der  Vorstand  hielt  eine  An- 
sprache zu  Ehren  des  deutschen  Gastes  und  liefs  dann  die 
„Wacht  am  Rhein"  spielen  und  singen,  und  zwar  den  ersten 
Vers  in  deutscher  Sprache.  Leider  waren  so  viele  böse 
Buben  deutscher  Abstammung  da,  dafs  dies  möglich  war. 

Einige  Erlebnisse,  die  ich  auf  dieser  Reise  in  dem 
Bildungsstaate  Massachusetts  hatte,  sagen  mehr  vom  ameri- 
kanischen Leben  als  lange  Abhandlungen.  Mein  täglicher 
Aufenthalt  in  den  Gerichten  Bostons  hatte  mich  mit  zahl- 
reichen Richtern  und  Rechtsanwälten  bekannt  gemacht. 
Bei  einem  Diner,  zu  dem  mich  der  erste  Bostoner  Anwalts- 
verein „Abstract-Club"  zusammen  mit  einigen  Richtern 
eingeladen  hatte,  erhob  sich  ein  Anwalt,  den  ich  in  dem 
gastfreundlichen  Hause  des  Chief  justice  Brown  kennen 
gelernt  hatte,  toastete  auf  den  deutschen  Kollegen  und 
forderte  die  anwesenden  Richter  auf,  ihre  Erfahrungen 
und  Ansichten  über  das  im  Staate  bestehende  System  des 
Strafaufschubs  mit  Aussicht  auf  Begnadigung,  zu  dessen 
Studium  der  deutsche  Gast  gekommen  sei ,  kundzugeben. 
Bereitwilligst  folgten  die  Richter  der  Aufforderung  in 
längeren  Reden,  die  von  grofsem  Wert  für  meine  Studien 
waren. 

Sehr  unterhaltende  Stunden  erlebte  ich  in  der  auf  der 
Hirschinsel  im  Hafen  von  Boston  gelegenen  Strafanstalt, 
von  der  die  Bostoner  sagen,  sie  sei  wegen  ihrer  schönen 
Lage  eine  beliebte  Sommerfrische.  Der  oberste  Beamte 
der  Strafanstalten  Bostons  und  der  Vorstand  der  Anstalt, 
die  mit  mir  durch  die  Anstalt  gingen,  waren  beide  geneigt, 
das  Angenehme  mit  dem  Nützlichen  zu  verbinden.  In  dem 
Billardzimmer  der  Krankenpflegerinnen  spielten  wir  eine 
Partie.  Dafs  diese  Damen  bei  ihrem  harten  Berufe  ein 
Billard  und  andere  Zerstreuungen  haben  müssen,  findet  der 
Amerikaner  ebenso  selbstverständlich,  wie  dafs  die  Berufs- 


90  Hintrager. 

feuerwehr  Spiel-,  Lesezimmer  und  Bibliothek  in  ihren 
Wacht gebäuden  hat.  Als  wir  von  dem  Anstaltsarzt  in 
dessen  Salon  geführt  wurden,  safsen  hier  drei  Gefangene, 
die  alsbald  mit  Couplets,  Negerliedern  und  Opern- 
melodien ein  Konzert  improvisierten. ,  In  der  Anstalt  für 
Jugendliche  in  Westboro  (Mass.),  die  wie  die  meisten 
neueren  Anstalten  dieser  Art  keine  Mauern  hat  und  nach 
dem  sogenannten  Familiensystem  angelegt  ist,  zeigte  mir 
der  Vorstand  von  seiner  Veranda  aus  den  Parademarsch 
der  Anstaltsmusikkapelle  und  bemerkte:  „Die  Buben  üben 
sich  ein  für  die  Feier  des  Gräberschmückungstages  in  einer 
nahen  Ortschaft.  Dort  haben  sie  keine  Musikkapelle  und 
baten  mich,  ihnen  die  unsere  zu  leihen."  In  derselben  An- 
stalt backen  die  14 — 15  jährigen  Knaben  das  Brot  im  grofsen 
Anstaltsbackofen  unter  Aufsicht  einer  Matrone,  die  ich  mit 
einer  Handarbeit  im  Schaukelstuhl  sitzend  in  der  Back- 
stube antraf.  Welch  ein  Wetteifer  herrscht  in  all  diesen 
Anstalten,  besonders  in  denen  für  Jugendliche.  „Wir  wollen 
nicht  strafen  sondern  erziehen,"  sagte  mir  der  Vorstand 
der  musterhaften  Anstalt  für  Jugendliche  in  Glen  mills 
bei  Philadelphia,  die  über  eine  Million  Dollars  privater 
Stiftungen  besitzt.  In  all  diesen  Anstalten  gibt  es  „Ehren- 
grade"  und  Medaillen  als  Auszeichnung.  In  Glen  mills 
wetteifern  die  verschiedenen  Abteilungen  der  Gefangenen 
bei  der  alljährlich  stattfindenden  Paradevorstellung  um  die 
Ehre,  die  seidene  Fahne  tragen  zu  dürfen.  Ein  Offizier  der 
Unionsarmee  pflegt  der  Preisrichter  zu  sein. 

Überraschungen  anderer  Art  sollten  mir  in  einigen 
Grafschaftsgefängnissen  des  Staates  Pennsylvanien  zuteil 
werden:  Gefangene,  die  in  ihren  Zellen  Kanarienvögel, 
Teppiche  und  Schaukelstühle  haben,  die  Zeitungen  und 
Bücher  erhalten,  soviel  sie  wollen.  In  dem  Grafschafts- 
gefängnis von  Holmesburg  sagte  mir  der  Vorstand,  dafs  er 


VI.    In  den  Strafanstalten.  91 

aus  Sparsamkeitsrücksichten,  und  um  den  Sträflingen  „eine 
Chance  zu  geben",  die  meisten  vor  Ablauf  ihrer  ganzen 
Strafzeit  entlasse.  Aufserdem  zeigte  mir  dieser  gütige 
Mann  eine  Rubrik:  „0.  R."  in  den  Büchern  der  Anstalt; 
das  sind  diejenigen ,  die  auf  ihr  eigenes  Ersuchen  (own 
request)  wegen  Mangel  eines  Unterkommens  oder  aus  ähn- 
lichen Gründen  über  ihre  Strafzeit  hinaus  in  der  Anstalt 
Aufnahme  finden.  — 

Viel  Licht  und  Schatten  liegt  in  diesen  aus  dem 
Zusammenhang  der  Reise  herausgegriffenen  Gelegenheits- 
bildern. Wenn  sie  auch  keine  Vorstellung  von  dem  Leben 
der  amerikanischen  Strafgefangenen  gewähren,  so  sind  sie 
doch  geeignet ,  die  Verschiedenheit  der  amerikanischen 
Kultur  von  der  unseren  zu  zeigen. 

Ein  zusammenhängendes  und  verständliches  Bild  von 
jenem  zu  entwerfen  ist  nur  möglich  unter  Berücksichtigung 
des  Lebens  aufserhalb  der  Gefängnismauern.  Die  ameri- 
kanischen Strafgefangenen  haben  es  im  allgemeinen  besser 
als  die  deutschen.  Sie  haben  bessere  Verpflegung,  mehr 
Annehmlichkeiten  und  mehr  Freiheit.  Sie  erhalten  nicht  nur 
täglich  Fleisch,  sondern  in  den  meisten  Staaten  auch  Kau- 
tabak und  Zuckersirup  für  die  reizbedürftigen  Nerven.  Für 
die  Pflege  des  Körpers  sorgen  gute  Badeeinrichtungen  mit 
Wannen-  und  Douchebädern ,  in  einzelnen  Anstalten  für 
Jugendliche  sogar  Schwimmbäder.  Ich  habe  keine  Anstalt 
getroffen,  in  der  nicht  jeder  Gefangene  mindestens  ein  Bad 
in  der  Woche  nahm.  Die  meisten  Strafanstalten  haben  ferner 
reich  ausgestattete  Turnhallen,  wie  sie  bei  uns  nicht  viele 
freie  Anstalten  besitzen.  Helle,  grofse  Räume,  Dampf- 
heizung, elektrisches  Licht,  Aborte  mit  Spülvorrichtung  in 
den  Zellen,  kostspielige  Ventilationsapparate  und  vor  allem 
eine  grofse  Reinlichkeit,  welche  überhaupt  in  der  Union 
verbreiteter   ist   als    bei    uns,    geben   der   amerikanischen 


92  Hiiitrager. 

Strafanstalt  nicht  die  schlechte  Atmosphäre,  die  man  in 
unseren  Anstalten  häufig  findet.  Als  ich  in  einer  Anstalts- 
küche den  fleckenlos  weifs  gefegten  Küchentisch  bewunderte, 
wurde  mir  erwidert:  „Reinlichkeit  ist  das  Allererste,  was 
wir  verlangen."  In  vielen  Anstalten  ist  aus  diesem  Grunde 
weifser  Anstrich  verwendet.  In  den  Arbeitssälen  sind 
stets  Einrichtungen,  die  mehreren  Personen  gleichzeitig 
das  Waschen  ermöglichen. 

Auch  in  geistiger  Hinsicht  geniefst  der  Gefangene  mehr 
Annehmlichkeiten  und  mehr  Freiheit.  Die  Anstaltsbiblio- 
theken sind  zum  Teil  sehr  reichhaltig;  die  Anstalt  zu 
Elmira  z.  B.  hat  etwa  4000,  zu  Charlestown  (Mass.)  über 
7000,  zu  Joliet  bei  Chicago  16000  Bände,  darunter  alle 
deutschen  Klassiker  in  deutscher  und  englischer  Sprache. 
In  der  Bibliothek  des  New  Yorker  Staatsgefängnisses  zu 
Auburn  ist  Sybels  „Gründung  des  Deutschen  Reiches"  und 
die  Engelhornsche  Romansammlung.  Der  in  der  Anstalts- 
druckerei hergestellte  Katalog  pflegt  in  jeder  Zelle  zu 
hängen,  und  der  Gefangene  schreibt  das  gewünschte  Buch 
auf  eine  Schiefertafel  oder  einen  Zettel.  Schreibmaterialien 
haben  die  Gefangenen  in  Händen,  vornehmlich  um  ihnen 
zu  jeder  Zeit  den  unvermittelten  Verkehr  mit  dem  Anstalts- 
vorstande oder  dem  Anstaltsgeistlichen  zu  ermöglichen.  Diese 
beiden  Beamten  haben  zu  diesem  Zweck  in  der  Anstalt 
an  Stellen,  wo  die  Gefangenen  vorbeizukommen  pflegen, 
Briefschalter,  zu  welchen  nur  sie  den  Schlüssel  besitzen. 
In  den  New  Yorker  Staatsgefängnissen  haben  die  Gefangenen 
auch  das  Recht  der  persönlichen  Unterredung  mit  dem  all- 
monatlich die  Staatsgefängnisse  besuchenden  Vertreter  der 
höchsten  Gefängnisaufsichtsbehörde.  Von  diesem  Recht 
der  persönlichen  Unterredung  mit  den  höheren  Anstalts- 
beamten wird  viel  Gebrauch  gemacht,  und  dasselbe  erweist 
sich   als   ein   gutes    Mittel   der   Kantrolle   des    Aufseher- 


VI.    In  den  Strafanstalten.  9S 

Personals.  Auch  der  Sonntag  im  amerikanischen  Gefängnis 
bietet  mehr  Annehmlichkeiten  und  Freiheit.  Ausser  der 
meist  modern  gehaltenen  Rede  des  Geistlichen  und  all- 
gemeinen Gesängen  besteht  der  Gefängnisgottesdienst  aus 
Vorträgen  des  Gefangenensingchors  oder  der  Gefangenen- 
kapelle oder  Solis  einzelner  Gefangenen.  Hier  und  da 
kommt  auch  ein  Kirchenchor,  darunter  hübsche  Mädchen 
aus  der  Stadt  oder  Umgebung,  und  trägt  den  Gefangenen 
etwas  vor.  Kein  Wunder,  dafs  die  protestantischen  Ge- 
fangenen aufser  ihrem  Gottesdienst  auch  den  der  katholischen 
Gefangenen  und  umgekehrt  zu  besuchen  pflegen;  ein  Zwang 
zum  Kirchgang  besteht  in  keiner  Anstalt.  Neben  den 
Gottesdiensten  der  verschiedenen  Konfessionen  bietet  der 
Anstaltssonntag  auch  wohl  noch  kleine  Konzerte  oder  Auf- 
führungen und  gewöhnlich  einen  Vortrag  weltlichen  In- 
halts, an  den  sich  in  einzelnen  Anstalten  freie  Diskussion 
der  Zuhörer  anschliefst. 

Am  Sonntag  gelangt  gewöhnlich  auch  die  Anstalts- 
wochenzeitung zur  Verteilung,  welche  mehr  und  mehr 
Eingang  in  die  Strafanstalten  der  Union  gewinnt;  ist  doch 
die  Zeitung  das  Morgen-  und  Abendgebet  auch  des  freien 
Amerikaners.  Sie  wird  in  der  Anstaltsdruckerei  von  Ge- 
fangenen gedruckt  und  redigiert:  sie  unterliegt  natürlich 
jeweils  der  Genehmigung  des  Vorstands  und  enthält  zu- 
nächst Wiedergaben  von  Berichten  anderer  Zeitungen 
über  die  wichtigeren  Vorkommnisse  in-  und  aufserhalb  der 
Vereinigten  Staaten,  insbesondere  Vorkommnisse  auf  dem 
Gebiete  des  Gefängniswesens;  sodann  allgemein  bildende 
Notizen  und  Aufsätze  ethischen ,  national-ökonomischen 
und  —  je  nach  dem  in  dieser  Beziehung  in  der  Anstalt 
herrschenden  Ton  —  auch  religiösen  Inhalts.  Ein  zweiter 
Teil  beschäftigt  sich  meist  mit  den  Vorkommnissen  in  der 
Anstalt  selbst,  dem  Gefangenenstand,  den  Aufnahmen  und 


94  Hintrager. 

Entlassungen,  den  Promotionen  und  Degradationen:  er 
bringt  ferner,  welche  Arbeiten  gerade  in  den  verschiedenen 
Abteilungen  gemacht  werden,  Lob  und  Tadel  der  Lehrer 
und  Beamten ,  die  Bekanntmachungen  des  Vorstands  und 
der  Beamten,  die  Ergebnisse  von  Prüfungen  in  der  Anstalt, 
Berichte  über  Vorkommnisse  in  anderen  Anstalten,  An- 
fragen und  Gedankenaustausch  Gefangener  und  dergleichen. 
Die  Anstaltszeitung  dient  besonders  auch  dazu,  die  Ge- 
fangenen aufzurütteln,  ihr  Interesse  und  eventuell  auch 
ihren  Ehrgeiz  zu  wecken.  „Auf!  Auf!  Auf!"  so  lautete  z.  B. 
die  Überschrift  eines  Artikels  in  der  sehr  gut  redigierten 
Zeitung  der  Anstalt  zu  Elmira,  welcher  eine  Aufforderung 
enthielt,  sieh  gut  zu  führen,  da  an  Weihnachten  wieder 
eine  Amnestie  für  Disziplinarvergehen  zu  erwarten  sei. 
Dieselbe  Zeitung  pflegt  durch  Abdruck  eines  kleinen 
Eisenbahnfahrplans  die  Gefangenen  ganz  besonders  an  die 
süfse  Freiheit  zu  erinnern. 

Nach  dem  Gesagten  sollte  man  glauben,  dafs  das 
amerikanische  Gefängnis  eher  anziehend  als  abschreckend 
wirkt.  Darüber  ist  kein  Zweifel,  und  dies  wird  auch  in 
der  Union  viel  beklagt,  dafs  man  das  Leben  in  den  Ge- 
fängnissen zu  angenehm  mache.  In  der  Strafanstalt  für 
Jugendliche  zu  Huntingdon  (Pennsylvanien)  sind  in  den 
Arbeitssälen  der  Gefangenen  elektrische  Fächer,  um  den- 
selben bei  der  Arbeit  in  den  heifsen  Sommermonaten 
Kühlung  zu  verschaffen.  Dergleichen  Dinge  treten  be- 
sonders da  zutage,  wo  Damen  im  Gefängnishaudwerk 
dillettantieren.  So  sollen  im  Staate  Massachusetts  wohl- 
tätige Frauen  sich  allen  Ernstes  darüber  beklagt  haben, 
dafs  die  Gefangenen  keine  Schaukelstühle  in  den  Zellen  haben. 

Und  doch  sind  die  amerikanischen  Gefängnisse  nicht 
gesucht,  und  die  Gefangenen  singen  nicht:  „Der  Ehrliche 
hat  Sorg  und  Müh',   Fein  Kost  han  wir  und  frei  Logis;" 


VI.    In  den  Strafanstalten.  95 

denn  auch  der  Freie  lebt  in  den  Vereinigten  Staaten  besser 
als  bei  uns.  Selbst  der  Arbeiter  hat  eine  Mannigfaltigkeit 
und  Reichhaltigkeit  von  Speisen  auf  seinem  Tisch,  wie  sie 
bei  uns  unter  bürgerlichen  Familien  nicht  die  Regel  ist. 
Als  anläfslich  des  grofsen  Eisenbahnarbeiterstreiks  (1894) 
in  Chicago  und  Umgebung  ein  Geistlicher  in  der  Arbeiter- 
stadt des  Eisenbahnkönigs  Pullmann  einen  Aufruf  zu  wohl- 
tätigen Gaben  erliefs,  um  der  „Not  in  Pullmannstadt"  abzu- 
helfen, war  in  dem  Aufruf  u.  a.  zu  lesen:  „Es  sind  ganze 
Familien  in  Pullmann,  welche  seit  Monaten  keine  Butter 
auf  ihrem  Brot  gesehen  haben" ,  und  ein  Besuch  in  Pull- 
mann hat  mir  die  Relativität  der  Begriffe  Wohlstand  und 
Armut  deutlich  gezeigt.  Man  wohnt  auch  besser  in  den 
Vereinigten  Staaten.  Der  Arbeiter,  der  namentlich  im 
Westen  meist  sein  eigenes  Heim  hat,  hält  es  durchaus 
nicht  für  Luxus,  Bodenteppiche,  Dauerbrandöfen,  bequeme 
Möbel ,  besonders  viele  Schaukelstühle  zu  haben.  Seine 
Frau  kleidet  sich  nach  der  Mode.  Frauen  ohne  Hüte 
findet  man  in  der  Union  ebensowenig,  wie  Männer  mit 
Handkarren  oder  schweren  Lasten.  Was  dem  Europa  be- 
suchenden Amerikaner  zuerst  aufzufallen  pflegt,  sind  die 
armen ,  zerlumpten ,  mit  Handkarren  die  Strafsen  durch- 
ziehenden Leute  in  grofsen  Städten;  und  der  Europäer, 
der  durch  die  Vereinigten  Staaten  reist,  wundert  sich 
darüber,  die  Frauen  und  Töchter  der  Cowboys  und  der 
Minenarbeiter  des  Westens  ebenso  elegant  und  modern  ge- 
kleidet zu  sehen  wie  die  Frau  des  Minenbesitzers ,  und 
Unterhaltungs-  und  Modezeitschriften  in  den  Händen  von 
Fabrik-  und  Ladenmädchen  zu  erblicken.  Ich  nahm  ein- 
mal auf  Einladung  eines  Wohltätigkeitsausschusses  an 
einem  für  die  armen  Negerkinder  der  Stadt  St.  Louis 
veranstalteten  Dampfbootausflug  auf  dem  Mississippi  teil. 
Es   war    ein   schöner,    warmer    Sommertag.     Als    ich   die 


9Ö  Hintrager. 

Negerkinder  und  ihre  Angehörigen  in  hübschen,  hellen 
Kleidern  und  mit  Hüten  auf  dem  Kopfe  auf  dem  Schiffe 
sich  tummeln  sah,  fragte  ich  eine  Dame  des  Ausschusses, 
ob  denn  diese  Leute  wirklich  arm  seien.  „Ja,  so  viel  Geld, 
um  sich  sauber  zu  kleiden,  haben  sie  immer  noch."  Wenn 
man  durch  die  schönen  "Wälder  des  Mississippitales  fährt, 
erblickt  man  rechts  und  links  vom  Zuge  die  Baumriesen 
dahin  gestreckt;  sie  liegen  da,  wie  sie  einst  bei  dem  Bau 
der  Bahn  gefällt  wurden  und  verfaulen,  wie  überhaupt 
das  meiste  Fallholz  der  Wälder,  selbst  in  der  Nähe  der 
Städte.  Um  kleine  Dinge  kümmert  man  sich  hier  nicht, 
und  Sparsamkeit  wird  höchstens  von  Eingewanderten  ge- 
übt. Die  Richter  und  Geschworenen  haben  durch  Elek- 
trizität bewegte  Fächer  im  Gerichtssaal  in  ihrer  Nähe, 
die  ihnen  an  heifsen  Tagen  Kühlung  geben;  der  Rechts- 
anwalt nimmt  sich  nach  Lust  Papier,  Schreibutensilien 
und  Formulare  auf  der  Gerichtsschreiberei.  Kleinigkeiten 
stiehlt  man  auch  nicht  in  einem  Lande,  wo  das  ganze  Leben 
in  so  grofsem  Mafsstabe  sich  abspielt.  In  den  amerikanischen 
Städten,  selbst  den  Grofsstädten,  sieht  man  auf  den  Brief- 
schaltern all  das  obenauf  gelegt,  was  durch  die  Einwurf- 
spalte des  Schalters  nicht  hineingeht.  Treu  und  Glauben  in 
kleinen  Dingen  ist  sehr  grofs;  aber  die  Bankgewölbe  kann 
man  nicht  fest  genug  bauen  und  hohe  Wertsendungen  der 
Bahnpost  nicht  genug  schützen. 

Dieser  allgemeine  Reichtum  und  Wohlstand,  dem  natur- 
gemäfs  die  bessere  Lebensführung  des  einzelnen  entspricht, 
zeigt  sich  auch  in  den  amerikanischen  Gefängnissen,  die 
schon  von  aufsen  oft  wenig  gefängnisartig  aussehen.  Er 
macht  andererseits  aber  auch  die  Freiheit  schätzenswerter. 

Wem  es  gut  geht,  der  pflegt  zu  Scherz  und  Freude 
aufgelegt  zu  sein.  So  der  Amerikaner,  welchem  überdies 
die  grofse  persönliche  Freiheit  und  die  Jugend  des  Landes 


VI.    In  den  Strafanstalten.  97 

auch  eine  jugendliche,  oft  naive  Denkungsart  gegeben 
haben.  In  diesem  Lande  wird  sehr  viel  gelacht.  Ein  fröh- 
licher, oft  ausgelassener  Ton  durchzieht  das  ganze  Leben, 
das  so  grofsen  Wechsel  und  so  viele  Möglichkeiten  bietet. 

Im  amerikanischen  Gefängnis  sieht  man  daher  auch 
mehr  heitere  Gesichter  und  frohe  Tage.  Dafs  in  den  An- 
stalten für  Jugendliche  die  sich  gut  Führenden  regel- 
mäfsig  ihre  Spiele  im  Freien  machen,  findet  man  selbst- 
verständlich. In  der  Anstalt  für  Jugendliche  zu  Rochester 
(New  York)  ist  in  der  Kapelle  eine  vollständige  Theater- 
einrichtung für  Aufführungen.  Sehr  viele  Anstalten,  be- 
sonders die  für  jüngere  Verurteilte  haben  Gefangenen- 
orchester oder  Gefangenenkapellen.  Oft  haben  diese  mir  die 
Freude  gemacht,  ein  deutsches  Lied  zu  spielen.  Auch  der 
oberste  Strafanstaltenbeamte  verschmäht  es  nicht,  sich  ge- 
legentlich einer  amtlichen  Visitation  ein  heiteres  Konzert 
von  den  Gefangenen  geben  zu  lassen.  Als  in  der  Anstalt 
zu  Elmira  einst  ein  Deutscher  über  die  Ausbildung  im 
deutschen  Heere  sprach  und  u.  a,  auch  beschrieb,  wie  die 
Infanterie  hohe  Hindernisse,  Mauern  und  dergleichen  nimmt, 
sagte  der  Anstaltsvorstand  in  seinen  Dankesworten  zu  den 
Gefangenen,  er  hoffe,  sie  werden  den  Vortrag  des  Redners 
über  die  Vorzüge  der  deutschen  militärischen  Erziehung 
beherzigen,  „abgesehen  von  dem  verdammten  deutschen 
Trick,  wie  man  über  die  Mauern  steigt." 

Diese  heitere  Lebensauffassung,  welche  oft  den  Ernst 
der  Sache  vermissen  läfst,  hat  andererseits  auch  die  Ein- 
führung vieler  Reformen  begünstigt  und  gefördert.  Man 
nimmt  es  hier  nicht  schwer,  zu  reformieren  und  hat  vor 
allem  wenig  prinzipielle  Bedenken.  So  haben  die  beiden 
Reformen,  die  sogenannte  bedingte  und  unbestimmte  Be- 
urteilung, deren  Studium  meine  Reise  vornehmlich  gewidmet 
war,  im  letzten  Grunde  ihre  Einführung  dem  Umstände  zu 

Hintrager.  7 


98  Hintrager. 

verdanken,  dafs  die  gesetzgebenden  Faktoren  sich  über  alle 
Bedenken  wegsetzten  mit  dem  Entschlüsse :  „Man  probiert 
es  einmal!"  und  in  dem  guten  Glauben,  dafs  diejenigen,  die 
das  Gesetz  auszulegen  und  anzuwenden  haben,  verständig 
genug  sein  werden,  um  dessen  etwaige  Mängel  zu  mildern. 
\ii.  Die  Vorstände  der  Strafanstalten  sind  nicht  etwa  Per- 
sonen mit  juristischer  Vorbildung,  sondern  weisen  eine  grofse 
Mannigfaltigkeit  hinsichtlich  ihrer  früheren  Laufbahn  auf, 
wie  dies  natürlich  ist  in  einem  Lande,  in  dem  jedem  alle 
Wege  offen  stehen.  In  der  Regel  sind  die  Anstaltsvorstände 
frühere  Pädagogen  oder  Anstaltsbeamte,  Männer  mit  gründ- 
lichen, praktischen  Kenntnissen.  Ein  tüchtiger  Aufseher 
kann  Anstaltsvorstand  werden. 

Hiermit  und  mit  der  praktischen  Veranlagung  der 
Amerikaner  hängt  es  zusammen .  dafs  die  amerikanischen 
Gefängnisse  mehr  Industrieanlagen  gleichen.  Über  die 
meisten  ragt  ein  hoher  Schornstein  empor,  und  Dampf- 
kessel, elektrische  Anlagen,  eigene  Gasherstellung,  umfang- 
reichste Verwendung  von  Maschinen  im  Arbeitsbetrieb  geben 
der  Anstalt  das  Bild  einer  grofsen  Fabrik.  Die  Folge  der 
durch  den  Fabrikationseifer  der  Anstaltsvorstände  noch  ge- 
steigerten Arbeitsentfaltung  war  eine  solche  Konkurrenz 
gegen  die  freie  Arbeit,  dafs  die  Arbeitervereine  dagegen 
auftraten.  Ihrer  starken  Organisation,  ihrer  grofsen  Zahl 
und  dem  Umstände,  dafs  die  Parteien  in  den  Vereinigten 
Staaten  eher  mit  dem  Arbeiter  liebäugeln  als  ihn  be- 
kämpfen, ist  es  zuzusehreiben,  dafs  die  produktive  Arbeit 
in  den  Strafanstalten  gesetzlich  mehr  und  mehr  eingeschränkt 
wurde.  Dies  geschah  gewöhnlich  in  der  Weise,  dafs  nur 
ein  bestimmter  kleiner  Prozentsatz  der  jeweils  in  der  An- 
stalt befindlichen  Gefangenen  in  bestimmten  Industrie- 
zweigen tätig  sein  darf.  Solche  Gesetze  bestehen  zurzeit 
in  sehr  vielen  Staaten;  in  anderen  gingen  Gesetze  durch, 


VI.    In  den  Strafanstalten.  99 

welche  den  Verkauf  von  Gefängnisarbeitsprodukten  über- 
haupt verboten,  da  im  gesetzgebenden  Körper  nur  wenige 
gegen  den  arbeiterfreundlichen  Antrag  zu  stimmen  wagten. 
Für  die  durch  solche  Gesetze  geschaifenen  haltlosen  Zu- 
stände fanden  dann  die  östlichen  Staaten  eine  Abhilfe, 
welche  sich  seit  Jahren  gut  bewährt  und  immer  mehr  Ver- 
breitung findet.  Danach  dürfen  in  den  Strafanstalten  nur 
solche  Gegenstände  hergestellt  werden,  die  sonst  unmittel- 
bar mit  öffentlichen  Mitteln  angeschafft  werden  müfsten. 
Demgemäfs  wird  in  erster  Linie  alles,  was  die  Anstalt 
selbst  braucht,  durch  die  Gefangenen  hergestellt.  Vom 
Gefängnisneubau  bis  auf  die  Kleider  und  Schuhe  der  Ge- 
fangenen wird  alles  von  diesen  selbst  gemacht;  sie  bauen 
ihr  eigenes  Korn,  sie  stellen  die  Dampfkessel  der  Anstalt 
her,  sie  erzeugen  ihr  eigenes  Gas  oder  die  elektrische 
Kraft.  In  zweiter  Linie  wird  für  staatliche  und  kommunale 
Behörden  gearbeitet;  es  werden  Schulbänke  und  Schul- 
utensilien, amtliche  Formulare,  Kanzleimöbel,  Betten  und 
Kleidungsgegenstände  für  Krankenhäuser  und  dergleichen 
hergestellt. 

Infolge  der  Einschränkung  der  Gefängnisarbeit  griff 
man  zur  Einrichtung  von  Gewerbe-  und  Industrieschulen, 
sowie  zu  turnerischen  und  militärischen  Übungen.  Beides 
entspricht  der  zurzeit  hier  herrschenden  Auffassung  von 
den  Aufgaben  des  Strafvollzugs.  Weniger  um  das  Strafen 
ist  es  dem  Anstaltsbeamten  hier  zu  tun ,  als  darum ,  den 
Gefangenen  körperlich  und  geistig  für  den  Konkurrenz- 
kampf so  gut  als  möglich  auszustatten.  Der  Gedanke  an 
die  Zukunft  des  Verbrechers  ist  für  die  Gestaltung  des 
Strafvollzugs  mehr  und  mehr  mafsgebend  geworden.  Die 
Vorteile  und  Annehmlichkeiten,  welche  die  praktische 
Durchführung  dieser  Ideen  für  den  Gefangenen  im  Gefolge 

haben  ,   werden  durch  eine  strenge  Disziplin  ausgeglichen. 

7* 


100  Hintrager. 

Viele  Anstalten  haben  eine  völlig  militärische  Organisation 
und  militärische  Disziplin  eingeführt.  Nicht  blofs,  dafs 
dem  Gefangenen  im  Arbeitssaale  sein  Standort,  seine  Front 
und  Haltung  ganz  genau  vorgeschrieben  ist  und  es  ge- 
ahndet wird,  wenn  er  nur  seit-  oder  rückwärts  schaut,  aus 
der  Linie  oder  Deckung  kommt,  es  ist  ihm  z.  B.  auch  be- 
fohlen, in  welche  Hand  er  beim  Marsch  in  den  Speisesaal 
die  Mütze  zu  nehmen  hat.  In  der  Anstalt  für  Jugendliche 
zu  Rochester  erfolgt  selbst  das  Auskleiden  und  Zubettgehen 
der  Gefangenen  auf  Kommando  und  ebenso  geordnet  in 
Linie  und  Deckung,   wie  die  Betten  selbst  gestellt  sind. 

Diese  strenge  Disziplin,  welche  mittels  weniger  Auf- 
seher aufrecht  erhalten  wird  und  zu  den  sonst  gewährten 
Freiheiten  in  eigentümlichem  Gegensatze  steht,  ist  es,  was 
zusammen  mit  dem  Arbeitszwang  die  amerikanischen  Ge- 
fängnisse trotzdem  nicht  begehrenswert  macht;  denn  um 
strikte  Disziplin  aufrecht  zu  erhalten,  greift  der  Anstalts- 
vorstand gelegentlich  zu  energischen  Strafen,  die  Prügel- 
strafe nicht  ausgenommen ,  bis  er  eines  Tages  sich  selbst 
und  seine  Taten  in  den  Tageszeitungen  in  Wort  und  Bild 
erblickt  und  den  Angriffen  der  Presse  seinen  Tribut  be- 
zahlen mufs.  Derartige  Gefängnisskandale  sind  immer 
wieder  in  den  amerikanischen  Zeitungen  zu  lesen,  da  die 
Presse  sich  gerne  als  die  wachsame  Hüterin  der  Volks- 
rechte darstellt  und  aus  sensationellen  Neuigkeiten  Nutzen 
zieht. 

Die  Anstalten  für  jugendliche  Verbrecher  tragen  ent- 
sprechend der  erwähnten  Auffassung  von  den  Aufgaben 
des  Strafvollzuges  allgemein  den  Charakter  von  Rettungs-» 
nicht  von  Strafanstalten.  Nichts  ist  mehr  dazu  angetan  zu 
zeigen,  wieviel  Gemüt  und  Güte  der  Amerikaner  hat,  als 
die  Art,  wie  er  die  auf  Abwege  geratene  Jugend  behandelt, 
und  der  Aufwand  an  Liebe,  Arbeit  und  Geld,  den  er  machte 


VI.    In  den  Strafanstalten.  101 

um  sie  zu  guten  Bürgern  zu  erziehen.  Ein  Beispiel  hier- 
von ist  die  seit  1890  bei  Freeville  im  Staate  New  York 
bestehende  George  junior  Republic,  zu  deren  Besuch  mich 
Mr.  T.  M.  Osborne,  ein  angesehener  Fabrikant  in  Auburn, 
New  York,  einlud. 

Diese  durch  private  Wohltätigkeit  ins  Leben  gerufene 
Kinderrepublik  ist  ursprünglich  eine  Ferienkolonie  für  ver- 
wahrloste New  Yorker  Kinder  gewesen.  Heute  ist  es  ein 
ansehnliches  Gemeinwesen  von  etwa  200  Knaben  und 
Mädchen  von  8 — 16  Jahren,  welche  teils  aus  Mitleid,  teils 
infolge  Richterspruchs  hier  aufgenommen  worden  sind  und 
nun  auf  eine  ebenso  originelle  als  praktische  Weise  zu 
guten  Bürgern  gemacht  werden  sollen.  Die.  Kinder,  die 
sich  hier  unter  der  Oberaufsicht  des  Gründers  „George", 
eines  amerikanischen  „Vater  Werner"  befinden,  regeln  fast 
alle  ihre  Angelegenheiten  selbst.  Sie  haben  sich  ihre 
eigene  Verfassung  und  Gesetze  gegeben,  sie  erwählen  ihre 
eigenen  Beamten,  sie  haben  ihre  Gerichte,  ihre  Polizei, 
ihre  Gefängnisse.  Sie  haben  ihr  eigenes  Geld,  eine  Bank, 
ein  Postamt,  einen  Laden,  eine  Schreinerei,  eine  kleine 
Farm  usw.,  —  kurz,  sie  bilden  eine  Gesellschaft,  die,  so 
weit  als  nach  der  Natur  der  Dinge  möglich,  der  grofsen 
Republik  nachgebildet  ist,  die  sie  umgibt.  Vor  allem  hin- 
sichtlich des  einen  Grundsatzes:  „Kein  Verdienst  ohne 
Arbeit!"  Aufser  dem  Gründer  und  dessen  Gattin,  sowie 
dem  Lehrpersonal  sind  keine  Erwachsenen  in  der  Republik. 

Als  wir  an  den  Fufs  des  Hügels  kamen,  auf  dessen 
Höhe  die  vereinzelten  Gebäude  der  Kinderrepublik  liegen, 
sprang  ein  Knabe  über  die  Felder  herab  auf  uns  zu  und 
umarmte  Mr.  Osborne ,  der  ihn  herzlich  an  sich  drückte. 
Während  dieser  erste  kleine  „Bürger"  uns  auf  den  Hügel 
begleitete,  erzählte  er  uns  von  den  neuesten  Begebenheiten 
in  der  Republik  i   Es  haben  einige  Bürger  einen  Gesetzes- 


102  Hintrager. 

antrag  eingebracht,  das  Alter  der  Volljährigkeit  von  12 
auf  13  Jahre  hinaufzurücken.  Auch  eine  neue  Partei  habe 
sich  gebildet,  die  für  freie  Zinnprägung  sei,  „die  Freizinn- 
partei" (analog  der  free-silver  Partei  in  den  Vereinigten 
Staaten).  Heute  sei  Gerichtsverhandlung ;  es  seien  gestern 
einige  Bürger  verhaftet  worden. 

Auf  der  Höhe  machten  wir,  von  Mr.  George  geleitet, 
einen  Rundgang  durch  die  verschiedenen  Gebäulichkeiten; 
in  der  Waschanstalt  waren  unter  Leitung  einer  14jährigen 
Waschdirektrice  emsig  waschende  kleine  Mädchen;  die  mit 
einem  grofsen  Schlüsselbund  versehene  16jährige  Gefängnis- 
dienerin schlofs  uns  das  Gefängnis  für  die  weiblichen  Ge- 
fangenen auf.  Im  Laden,  in  der  Küche,  in  den  Schul-  und 
Arbeitslokalen,  überall  war  rege  Tätigkeit,  überall  zeigten 
sich  heitere  Kindergesichter.  An  Arbeit  wurde  natürlich  vom 
einzelnen  nicht  zuviel  verlangt.  Auch  die  Schule  zählte 
als  Arbeit,  um  den  Grundsatz  durchzuführen,  dafs  jedes 
Kind  sich  durch  Arbeit  seinen  Lebensunterhalt  selbst  ver- 
dienen mufs.  Es  war  eine  Freude  zu  sehen,  welch  heiterer, 
froher  Geist  hier  waltete,  wie  glücklich  und  wohl  die 
durchweg  ordentlich  gekleideten  Kinder,  die  aus  New  Yorks 
schlimmsten  Quartieren  kamen,  dreinschauten  und  wie  sie 
Mr.  Osborne  zujubelten.  Er  schien  ihnen  allen  wohl- 
bekannt zu  sein,  kannte  auch  viele  von  ihnen  von  seinen 
häufigen  Besuchen  näher.  Er  hat  in  seiner  Maschinen- 
fabrik und  anderwärts  manchen  entlassenen  Bürger  dieser 
Kinderrepublik  untergebracht;  er  korrespondiert  mit 
einzelnen  der  Kinder  hier;  jeden  Samstagabend  finden 
in  seinem  Hause  in  Auburn  dortige  frühere  „Bürger"  sich 
zusammen.  Wie  viel  mehr  als  seine  hohen  Geldbeiträge 
wirkt  dieser  persönliche  Verkehr!  —  Dieser  feingebildete 
Mann,  ein  Angehöriger  einer  alten  amerikanischen  Familie, 
ist  ein  Typus  amerikanischen  Gemeinsinns.    Einen  Einblick 


VI.    In  den  Strafanstalten.  103 

in  seine  Denkweise  und  zugleich  in  die  Kinderrepublik 
gewährt  ein  Vortrag,  den  er  jüngst  in  einer  Gesellschaft 
in  Boston  hielt,  und  in  dem  er  unter  anderem  folgendes 
sagte :  . 

„Wie  sich  denken  läfst,  haben  die  meisten  Kinder,  die 
in  die  Republik  aufgenommen  werden,  keine  Idee  von  der 
Arbeit.  Sie  sind  Taugenichtse,  träge  und  oft  lasterhaft. 
Wenn  sie  sich  überhaupt  einen  Gedanken  über  unser  Land 
gemacht  haben,  so  ist  es  der,  dafs  es  dazu  da  ist,  darin 
herumzulungern  und  sich  ernähren  zu  lassen.  Da  kommt 
ein  hartes  Erwachen.  Der  neue  Bürger  findet  sich  in 
einer  Gemeinschaft,  in  der  kein  Platz  für  die  Drohne  ist» 
Beharrt  er  darauf,  untätig  zu  sein,  so  mufs  er  die  Strafe 
leiden;  will  er  nicht  arbeiten,  so  kann  er  nicht  essen.  Der 
neue  Bürger  steht  erstaunt  und  schweigend  da  und  be- 
trachtet seine  kleinen  Mitbürger,  wie  sie  einer  nach  dem 
anderen  in  die  Restaurants  zum  Essen  gehen.  Er  kann 
nichts  bekommen,  denn  er  hat  kein  Geld.  Er  hat  nicht 
gearbeitet.  Da  taucht  langsam  ein  neuer  Gedanke  in  ihm 
auf,  dafs  im  wirklichen  Leben  Arbeit  eine  Notwendigkeit 
für  alle  ist;  und  bald  geht  er  einen  Schritt  weiter  und 
entdeckt,  dafs  die  Arbeit  ein  gut  Ding  ist  für  den,  der  sie 
tut.  Er  erfafst  die  Idee  von  der  wahren  Würde  der  Arbeit. 
Er  findet  in  dem  kleinen  Gemeinwesen,  dafs  der  Bürger; 
der  nicht  arbeiten  will,  der  zwischen  dem  billigen  Restaurant 
und  dem  Arbeitshaus  hin-  und  hertreibt,  auch  derjenige 
ist,  der  am  wenigsten  Achtung  bei  seinen  Mitbürgern  ge- 
niefst.  Und  wer  von  uns  erinnert  sich  nicht  an  die  ge- 
waltige Macht  der  öffentlichen  Meinung  in  der  Kindheit? 
Der  Bürger,  welcher  arbeitet,  spart  und  denkt,  ist  es,  der 
sich  die  beste  Wohnung  und  die  besten  Mahlzeiten  sichert, 
der  als  Gesetzgeber  oder  Richter  Dienste  leistet,  der  von 
Mitbürgern  und  Fremden  gleich  geachtet  wird.    Die  erste 


104  Hintrager. 

grofse  Lektion  ist  gelernt :    Die  Lektion  von  der  Notwendig- 
keit und  Würde  der  Arbeit. 

Nun  kommt  die  zweite  Lektion.  Wenn  der  neue  Bürger 
unserer  kleinen  Republik  ein  aufgeweckter,  intelligenter 
Knabe  ist,  dann  war  er  wohl  in  der  Stadt  Mitglied  einer 
Bande  von  Taugenichtsen,  und  wenn  es  sein  gutes  Glück 
war,  einmal  vor  das  Polizeigericht  gebracht  zu  werden,  kam 
er  sich  wie  ein  Held  in  den  Augen  seiner  Kameraden  vor. 
Je  übermütiger  seine  Streiche,  desto  gewisser  wurde  er 
zum  Rädelsführer.  In  der  Kinderrepublik  angekommen, 
strebt  er  nach  der  Führerschaft  auch  hier.  Begeht  er 
dann  einen  Rechtsbruch,  so  wird  er  sofort  festgenommen, 
in  Haft  gesteckt  und  bald  darauf  von  den  jugendlichen 
Polizisten  dem  jugendlichen  Richter  vorgeführt.  In  diesem 
kleinen  Gerichtssaale  schwindet  alle  Glorie  seines  Rechts- 
bruchs dahin.  Er  wird  verurteilt  von  einer  Geschworenen- 
bank, auf  der  seine  eigenen  Gespielen  sitzen ;  und  wenn  der 
jugendliehe  Richter  seine  Strafe  ausspricht,  dann  bricht  er  in 
Tränen  aus  wie  ein  kleines  Kind.  Ein  anderer  Knabe  aus 
der  Grofsstadt,  der  schon  einmal  im  Gefängnis  war,  glaubt, 
er  könne  sich  zu  einem  Helden  in  den  Augen  seiner  kleinen 
Mitbürger  machen,  wenn  er  sich  seiner  grofsen  Erfahrungen 
im  Stehlen  rühmt.  Sobald  nun  etwas  in  der  Republik  abhanden 
kommt,  wird  er  natürlich  als  verdächtig  verhaftet.  Er  hat 
sich  als  Dieb  gerühmt,  nun  sieht  er  zu  seinem  Erstaunen, 
dafs  seine  Kameraden  sich  gegen  ihn  schützen.  So  bildet  sich 
eine  neue  Auffassung  vom  Gesetze  in  seinem  Geiste :  das 
Gesetz  ist  nicht  mehr  die  Maschine  eines  fernen  und  nur 
dunkel  vorgestellten  Staats,  sondern  eine  natürliche  mensch- 
liche Einrichtung  zum  Schutz  der  Individuen.  Es  ist  der 
Ausdruck  des  Gewissens  und  der  Bedürfnisse  der  Gesell- 
schaft ,  von  der  er  selbst  ein  Teil  ist.  Das  Gesetz  ist 
sein  Gesetz,  denn  er  half  es  zu  machen;  und  es  existiert 


VI.    In  den  Strafanstalten.  105 

für  seinen  Schutz  und  seine  Bedürfnisse  ebensosehr,  wie 
für  die  seiner  Nachbarn.  So  lernt  der  neue  Bürger  der 
Republik  die  Achtung  vor  dem  Gesetze  noch  schneller,  als 
er  seine  erste  grofse  Lektion  erfafst  hat. 

Die  dritte  grofse  Lektion  der  Republik  liegt  in  den 
Pflichten  und  der  Verantwortlichkeit,  die  das  Bürgerrecht 
mit  sich  bringt.  Ich  kenne  keine  Schule,  in  der  dies  wirk- 
samer gelehrt  wird,  als  in  der  Kinderrepublik,  —  nicht 
durch  Schlüsse  vom  Abstrakten  ins  Konkrete,  wie  die 
meisten  von  uns  diese  Lektion  gelernt  haben,  sondern  durch 
die  Erfahrungen  des  konkreten  Lebens  selbst.  Auf  jeden 
Bürger  ist  die  Last  der  Verantwortlichkeit  gelegt,  und  das 
Gemeinwesen  ist  klein  genug,  dafs  er  dies  empfindet.  Er 
sieht,  dafs  der  Staat  nur  eine  organisierte  Vielheit  von 
Individuen,  und  dafs  er  selbst  eines  derselben  ist.  Er  hat 
die  Gelegenheit  zu  fühlen ,  dafs  er  selbst,  wenigstens  teil- 
weise, verantwortlich  ist  für  mangelhafte  Gesetze,  für 
schlechte  Verwaltung  und  für  unfähige  Beamte.  Zudem 
bekommt  er  praktische  Erfahrung  in  den  Pflichten  eines 
Beamten.  Er  dient  als  Mitglied  des  gesetzgebenden  Körpers, 
als  Polizeichef,  als  Staatsanwalt,  als  Richter  oder  in  einem 
anderen  Amte. 

Nach  und  nach  gewinnt  das  Strafsenkind  der  Grofs- 
stadt  eine  klare,  gesunde  Ansicht  über  sein  ganzes  Ver- 
hältnis zur  menschlichen  Gesellschaft.  Da  ist  kein  Ge- 
heimnis :  Seine  Pflichten  als  Bürger,  seine  neue  Auffassung 
von  der  Arbeit,  seine  Achtung  vor  dem  Gesetze,  all  dies 
zeigt  sich  klar  und  deutlich.  Das  Kind  lernt  durch 
praktische  Erfahrung,  die  einzig  richtige  Lehrerin  für 
solche  Kinder.  Und  dadurch,  dafs  es  früh  im  Leben  diese 
grofsen  Lektionen  aus  Erfahrung  lernt,  scheidet  es  die 
schlechten  Eigenschaften  aus,  die  Abstammung  und  Um- 
gebung in   ihm   haben   entstehen   lassen.    Nun   haben  wir 


106  Hintrager. 

einen  Stoff,  aus  dem  gute  Bürger  gemacht  sind:  ehrbare 
Arbeiter,  Menschen,  die  ehrlich  stimmen  und  Achtung 
vor  dem  Gesetze  haben.  Von  diesen  Prämissen  müssen 
wir  zu  dem  rechten  Schlüsse  kommen,  wenn  das  Herz  des 
Kindes  gesund  wird  und  die  etwa  vorhandenen  ver- 
brecherischen Triebe  verschwinden. 

Wird  das  Herz  des  Kindes  gesund?  —  Dafs  dies  ge- 
schieht, ist  von  allem  das  am  meisten  Überraschende.  Er- 
klären Sie  es,  wie  Sie  wollen,  sei  es  aus  der  liebenden 
Hand,  die  viele  von  diesen  Kindern  zum  ersten  Male  auf 
ihren  Schultern  ruhen  fühlen,  oder  aus  der  natürlichen 
Neigung  der  Kindesnatur,  unter  den  richtigen  Verhältnissen 
das  Lasterhafte  abzustofsen,  wie  die  Ärzte  sagen,  dafs  der 
Körper  das  Krankhafte  ausscheidet,  oder  erklären  Sie  es 
aus  einem  Zusammenwirken  von  beidem.  Aber  es  ist  da. 
Offenheit,  Wahrhaftigkeit,  Ehrlichkeit  und  Reinheit  der 
Sprache  sucht  man  nicht  bei  den  Kindern  der  schlechtesten 
Stadtteile  der  Grofsstädte.  Sie  finden  es  unter  dem  Schutze 
der  öffentlichen  Meinung  in  überraschendem  Mafse  in  der 
Kinderrepublik," 

Doch  setzen  wir  nun  unsern  Rundgang  durch  die 
Republik  fort!  Als  wir  vor  dem  Gerichtsgebäude  anlangten, 
waren  wir  eben  noch  Zeugen  der  Vergebung  einiger  gemein- 
nützigen Arbeiten  im  öffentlichen  Aufstreich.  Im  Gerichts- 
gebäude selbst  besichtigten  wir  den  Sitzungssaal,  das  Be- 
ratungszimmer, das  Gefängnis  und  das  Zimmer  der  gesetz- 
gebenden Versammlung,  in  dem  eine  grofse  Flagge  der 
Vereinigten  Staaten  an  der  Wand  hing  und  die  Bundes- 
verfassung und  die  Gesetze  des  Staates  New  York  auf- 
lagen. Im  Gerichtssaale  war  schon  ein  zahlreiches  jugend- 
liches Publikum  versammelt,  unter  welchem  wir  uns  auf 
den  Kinderbänken  des  Zuschauerraumes  niederliefsen.  Was 
entwickelte  sich  nun  da  vor  unseren  Augen!    Eine  regel- 


VI.    In  den  Strafanstalten.  107 

rechte  Gerichtsverhandlung,  bis  in  Einzelheiten  gleich  den- 
jenigen der  Gerichte  des  Staates  New  York;  ein  15 jähriger 
Staatsanwalt,  der  mit  der  der  amerikanischen  Jugend 
eigenen  Unbefangenheit  seine  Sache  gut  zu  führen  wufste, 
ein  14 jähriger  aufserordentlich  redegewandter  Verteidiger 
eines  11  jährigen  Angeklagten,  und  ein  17  jähriger  Richter^ 
der  der  jugendlichen  Geschworeneubank  in  seiner  Rechts- 
belehrung eine  korrekte  Darlegung  des  Grundsatzes  „ne 
bis  in  idem"  gab.  Welch  eigentümliche  Erscheinung!  Ich 
sah  mich  im  Gerichtssaale  um  und  betrachtete  mir  die  Ge- 
sichter der  Kinder.  Sie  alle  waren  ernst  und  bei  der 
Sache.  Es  war  ihnen  keine  Spielerei  und  kein  Theater. 
Dafs  es  Ernst  war,  zeigte  vor  allem  das  Gesicht  des  An- 
geklagten. 

Inzwischen  ging  der  Tag  zur  Neige.  Wir  afsen  das 
Abendbrot  mit  einigen  der  jugendlichen  Bürger  und  den 
Lehrerinnen,  unter  denen  natürlich  auch  eine  Deutsche 
nicht  fehlte.  Jedes  Kind  hatte  für  die  Mahlzeit  20  cts. 
in  dem  Zinngelde  der  Republik  zu  bezahlen.  Als  die  Zeit 
zum  Abschied  kam,  gingen  wir  mit  vielen  der  jugendlichen 
Bürger  in  ein  Schulzimmer.  Mr.  Osborne  setzte  sich  ans 
Klavier  und  rief:  „Lafst  uns  noch  ein  schönes  Lied  zum 
Abschied  singen!"  Er  spielte  „Die  Wacht  am  Rhein",  und 
alles  stimmte  begeistert  ein.  Vor  dem  zweiten  Verse  rief 
er:  „Silentium  für  den  deutschen  Doktor."  Zu  mancher 
Stegreifrede  war  ich,  wie  dies  hier  Sitte  ist,  schon  auf- 
gefordert worden,  aber  zum  Singen  glücklicherweise  noch 
nie.  Ich  sang  —  und  dachte  an  meinen  Singlehrer  in  der 
Schule,  der  bei  meinen  Probegesängen  schon  beim  dritten 
Tone  zu  sagen  pflegte:  „'s  ist  gut,  's  ist  gut". 

Unter  dem  stürmischen  „Yell"  der  Bürger  der  jugend- 
lichen Republik  fuhren  wir  den  Hügel  hinab.  — 

Diese  Kinderrepublik  ist  ein  kleines  Abbild  der  grofsen 


108  Hintrager. 

jugendlichen  Kepiiblik  der  Vereinigten  Staaten.  Solche 
Lektionen,  wie  sie  der  Bürger  dieses  Kinderstaates  lernen 
mufs,  gibt  das  Leben  hier  jedem  Einwanderer. 

Nicht  allein  die  Ehre  der  Arbeit,  der  Bürgersinn,  die 
Auffassung  von  Gesetz  und  Obrigkeit  und  die  Macht  der 
öffentlichen  Meinung  in  der  Kinderrepublik  sind  gleichsam 
Miniaturbilder  des  Lebens  in  der  Union,  sondern  auch  die 
kindliche  Naivität,  der  Frohsinn  und  der  unverwüstliche 
Optimismus,  der  ebensosehr  eine  Voraussetzung  der  kleinen 
Republik  des  Mr.  George  als  der  grofsen  Republik  des 
Onkel  Sam  bildet. 


VII.  Die  Kirchen. 

„Die  Vereinigten  Staaten  sind  der 
erste  Staat  gewesen,  der  es  gewagt 
hat,  die  Kirche  und  den  Staat  auch 
in  der  Wirklichkeit  voneinander  zu 
scheiden."  Robert  Mohl. 

St.  Louis  (Mo.). 
Zu  den  mancherlei  Überraschungen,  die  dem  Fremden 
hier  zuteil  werden,  gehört  auch  die,  dafs  er  ein  bewegtes 
religiöses  Leben  in  diesem  Lande  findet ,  in  welchem  die 
Menschen  nach  der  herkömmlichen  Meinung  nur  nach  dem 
Dollar  jagen.  Mit  einer  dem  Europäer  unbekannten  Naivität 
stellen  die  Menschen  hier  Fragen  über  die  wichtigsten 
Prinzipien ,  debattieren  frei  über  religiöse  Fragen,  die  wir 
nur  mit  Vertrauten  besprechen.  Dafs  das  religiöse  Interesse 
lebhaft  ist,  das  ersieht  man  schon  daraus,  dafs  es  hier  so 
überaus  viele  Kirchen  und  religiöse  Vereinigungen  gibt, 
obwohl  weder  Staat  noch  politische  Gemeinde  dieselben 
irgendwie  unterstützen.  Hier  gibt  es  Städte,  in  denen  auf 
1000  Einwohner  eine  Kirche  kommt.  Nach  dem  Census 
von  1890  kam  in  der  ganzen  Union  eine  Kirche  auf  370 
Köpfe.  Das  amerikanische  Städtebild  ist  daher  auch  ein 
anderes.  Hier  hat  jede  Stadt  zu  viele  religiöse  Gemein- 
schaften, als  dafs  jede  eine  alles  überragende  Kirche  er- 
stellen könnte.  In  den  Grofsstädten  überragen  die  „Himmels- 
kratzer" der  Zeitungen  und  des  Grofskapitals  die  Kirch- 
türme. 


110  Hintrager. 

Es  gibt  in  der  Union  weit  über  100  verschiedene 
religiöse  Bekenntnisse  („denominations"),  und  ihre  Zahl 
wächst  immer  noch.  Denn  jede  Idee,  und  ist  sie  auch  noch 
so  absurd,  findet  unter  diesem  unruhigen  Volke  rasch  An- 
hänger und  fanatische  Vertreter.  Die  meisten  Mitglieder 
haben  die  katholische,  die  methodistische  und  die  baptistiche 
Kirche,  Vertreten  sind  hier  auch  die  religiösen  An- 
schauungen des  Orients,  dessen  heilige  Bücher  hier  in  jeder 
öffentlichen  Bibliothek  zu  finden  sind,  und  mit  dessen  Leben 
hier  dank  dem  Stillen  Ozean  mehr  Fühlung  besteht  als  bei 
uns.  Jüngst  hörte  ich  in  einer  öffentlichen  Versammlung 
einer  Sekte,  die  an  Seelenwanderung  glaubt,  einen  Mann  im 
Ernste  erzählen,  er  erinnere  sich,  wie  er  zum  letzten  Male 
auf  der  Welt  gewesen  sei  und  den  Sturm  auf  die  Bastille 
mit  angesehen  habe.  —  Und  niemand  lachte. 

Das  religiöse  Leben  der  Familie,  in  welcher  ich  mich 
hier  befinde,  gibt  ein  kleines  Bild  der  Verhältnisse.  Sie 
bewohnt  ein  schönes  Haus  in  bester  Lage  der  Stadt,  das 
die  fürsorglichen  deutschen  Eltern  der  jüngsten  Tochter 
Louise  hinterlassen  haben.  Von  den  erwachsenen  Mit- 
gliedern der  Familie,  zu  der  auch  die  Vettern  Fred  und 
Charley  gezählt  werden,  hat  fast  jedes  ein  anderes 
•Glaubensbekenntnis.  George,  der  älteste  Sohn  des  Hauses, 
ein  gutherziger,  biederer  Junggeselle,  ist  Mitglied  einer 
der  zahlreichen  Freimaurerlogen.  Sein  Bekenntnis  ist: 
Tue  recht  und  scheue  niemand,  und  seine  Tat  stimmt  da- 
mit überein.  Gegen  keine  Kirche,  ausgenommen  die 
katholische,  ist  er  feindlich  gesinnt.  Im  Gegenteil,  er  be- 
sucht gelegentlich  eine  Predigt,  wenn  Redner  oder  Thema 
ihn  anzieht.  Am  Sonnabend  pflegt  er  die  langen  Spalten 
der  kirchlichen  Nachrichten  in  der  Zeitung  zu  überfliegen, 
welche  die  Prediger  der  etwa  400  Kirchengemeinden  der 
Stadt  und  ihre  Themata  für  den  Sonntag  ankündigen.  Was 


Vn.    Die  Kirchen.  111 


hier  in  der  Kirche  geboten  wird,  mag  aus  folgender  kleinen 
Auswahl  der  Predigtthemata  vom  letzten  Sonntage  ent- 
nommen werden  :  „Die  Bibel  in  der  Literatur."  „Unsterblich- 
keit in  den  Werken  von  Robert  Browning."  „Skandal." 
„Martin  Luther  und  die  Gegenwart."  „Wahre  Weisheit 
und  wie  man  zu  ihr  gelangt."  „Das  Trinken."  „Charakter 
und  Geld."  „Die  Religion  und  Politik  Johannes  des 
Täufers."  „Warum  die  Mädchen  nicht  heiraten."  „Sozial- 
reform." „Ehe  und  Scheidung."  „Bürgerpflichten  für  die 
nächste  Wahl."  „Gustav  Adolf  und  sein  Monument  bei 
Lützen."  „Wie  ein  Missionar  Oregon  den  Vereinigten  Staaten 
rettete."  „Das  weibliche  Ideal,"  Wie  in  der  Schule  und 
Presse,  so  herrscht  auch  hier  das  Bestreben,  alles  möglichst 
interessant  und  anziehend  zu  gestalten.  Man  kann  sich 
denken,  wie  besucht  die  Kirche  ist,  wenn  ein  interessanter 
Prediger  über  den  „Heiratsmarkt"  spricht  oder  eine 
Pfarrerin  über  „Das  weibliche  Ideal".  Die  biblischen  Texte 
spielen  eine  verhältnismäfsig  geringe  Rolle. 

Doch  nun  wieder  zu  unserer  Familie.  Ein  ausgesprochener 
Atheist  ist  Vetter  Fred;  er  bekannte  eines  Abends  offen: 
„Ich  kann  an  keinen  Gott  glauben,  namentlich  an  keinen 
Gott  der  Liebe.  Ich  sehe  zu  viel  Ungerechtigkeiten  im 
Leben."  Freds  Ideal  ist  Ingersoll,  der  typische,  blendende 
Vertreter  des  Unglaubens  in  diesem  Lande.  Die  älteste 
Tochter  des  Hauses,  Tante  Anna,  war  mit  einem  deutschen 
lutherischen  Geistlichen  hier  verheiratet  gewesen  und  ist 
diesem  Bekenntnisse  auch  nach  dem  Tode  ihres  Mannes 
treu  geblieben.  Sie  ist  im  Ausschufs  vieler  Wohltätigkeits- 
komitös,  eine  Christin  der  Tat.  Mit  ihr  ging  ich  einmal 
in  die  deutsch-lutherische  Kirche  hier,  in  der  ihr  Schwager, 
ein  sehr  angesehener  Geistlicher,  predigt.  Auch  diese 
Predigt,  die  erste,  die  ich  in  deutscher  Sprache  hier  hörte, 
zeigte  mir  den  Unterschied  des  Tons  des  religiösen  Lebens 


1 12  Hintrager. 

hier.  Der  Pfarrer  sprach  populär  und  modern ,  niclit 
biblisch  und  weihevoll.  Er  zitierte  Goethe ,  Schiller  und 
andere  deutsche  Autoren,  sprach  über  Tagesfragen  und 
machte  gelegentlich  einen  Scherz.  Sein  bester  Freund  ist 
der  Rabbiner  der  hiesigen  Israelitengemeinde,  für  den  er 
dann  und  wann  in  der  Synagoge  predigt,  während  der 
Rabbi  in  der  lutherischen  Kirche  den  Gottesdienst  abhält: 
ein  Austausch,  wie  er  hierzulande  nicht  selten  bei  den 
verschiedensten  Bekenntnissen  vorkommt  und  von  den 
Kirchenmitgliedern  willkommen  geheifsen  wird. 

Mifs  Louisa,  die  liebenswürdige  junge  Herrin  des 
Hauses,  und  Vetter  Charley  sind  Mitglieder  der  Gesellschaft 
für  ethische  Kultur.  Louisa,  welche  die  Musik  sehr  liebt, 
geht  hier  und  da  in  den  Gottesdienst  in  der  Synagoge,  da 
dort  aufser  der  Predigt  ein  gutes  Orgelkonzert  geboten  wird. 
Ihre  gemütvolle  Schwester  Julia  ist  Anhängerin  der  so- 
genannten „Christlichen  Wissenschaft",  die  zur  Zeit  hier 
viel  von  sich  reden  macht.  Seit  ich  das  Leben  dieser 
Familie  teile,  gehe  ich  oft  zur  Kirche  und  zu  religiösen 
Vorträgen;  denn  sie  alle  wollen  mich  bekehren;  ein  jedes 
wünscht,  dafs  ich  seinen  Prediger  einmal  höre.  Vor  mir 
liegen  Schriften  über  die  christliche  Wissenschaft  und  Vor- 
träge aus  der  Gesellschaft  für  ethische  Kultur.  Selbst 
einem  „Treatment"  in  christlicher  Wissenschaft  konnte  ich 
nicht  entgehen. 

Und  alle  diese  Menschen,  die  mangels  jeden  Religions- 
unterrichts in  den  öffentlichen  Schulen  von  der  Bibel  zum 
Teil  sehr  wenig  wissen,  leben  in  bester  Harmonie;  Fred, 
der  Atheist,  ist  der  hilfsbereiteste  Mensch  im  Hause. 
Wiederholt  kam  das  Gespräch  auf  religiöse  Fragen;  nie 
gab  es  eine  Reibung.  Die  Unterschiede  in  den  religiösen 
Überzeugungen    scheinen    ihnen    so    selbstverständlich    zu 


VII.    Die  Kirchen.  113 


V 


sein,  wie  die  Verschiedenheit  von  Ansicht  und  Geschmack 
in   wissenschaftlichen  und  künstlerischen  Angelegenheiten. 

Wie  in  diesem  Hause,  so  leben  in  dem  grofsen  Lande 
die  christlichen  und  anderen  Religionsgemeinschaften  fried- 
lich nebeneinander.  Ermöglicht  ist  dies  in  erster  Linie 
durch  die  Trennung  von  Kirche  und  Staat.  Sie 
hat  hier  die  Rivalität  der  Konfessionen  gemindert  in  dem 
Mafse,  als  denselben  gleiche  Rechte  und  Bewegungsfreiheit 
gegeben  wurde.  Dieser  Punkt  bildet  einen  der  wesent- 
lichsten Unterschiede  des  Lebens  diesseits  und  jenseits  des 
Atlantischen  Ozeans. 

Die  alten  Kolonien,  aus  denen  sich  die  Vereinigten 
Staaten  entwickelt  haben,  hatten  gröfstenteils  religiöse 
Grundlagen.  In  den  Neu-Englandstaaten  hatten  die  Puritaner 
eine  Art  theokratischer  Gemeinwesen  geschaffen,  in  denen 
der  Geist  der  Askese  und  der  Unduldsamkeit  herrschte. 
Nur  Mitglieder  der  religiösen  Gemeinschaft  hatten  Bürger- 
rechte, Andersgläubige  wurden  als  Ketzer  verfolgt.  In 
Virginien  war  die  englische  Hochkirche  die  Staatskirche; 
in  Maryland  herrschten  die  Katholiken,  die  sich  wegen 
der  Verfolgungen  in  England  dorthin  geflüchtet  hatten. 
Pennsylvanien  gründeten  die  Quäker  unter  William  Penn. 
Zu  diesen  Bekenntnissen  kamen  noch  manche  andere  der 
zahlreichen  europäischen  Sekten  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts, so  dafs  zur  Zeit  der  Unabhängigkeitserklärung 
der  13  Kolonien  schon  eine  ziemliche  Mannigfaltigkeit  von 
Kirchen  und  religiösen  Gemeinschaften  bestand.  Bei  den 
Beratungen  über  den  Entwurf  der  Bundesverfassung  wurde 
daher  auch  die  Frage  des  Verhältnisses  des  Bundes  zu 
den  Kirchen  lebhaft  erörtert;  vor  allem  auf  Betreiben 
Jeffersons,  des  Vertreters  der  Rechte  des  Individuums 
und  der  Einzelstaaten ,  wurde  beschlossen ,  dafs  der  Bund 
als   solcher   überhaupt  in  kein  Verhältnis  zu  irgend  einer 

Hintrager.  8 


114  Hintrager. 

religiösen  Gemeinschaft  tritt.  Die  Union  ist  nach  der 
Verfassung  ein  religionsloser  Staat.  Die  Verfassung,  die 
das  Wort  „Gott"  selbst  bei  der  Formulierung  des  Präsidenten- 
eides vermeidet,  bringt  dies  zum  Ausdruck  durch  die  Be- 
stimmung (Zusatzartikel  I),  dafs  der  Koogrefs  kein  Gesetz 
erlassen  darf,  das  die  freie  Ausübung  einer  Religion  ver- 
bietet oder  „an  establishment  of  religion"  betrifft,  sowie  die 
weitere  Bestimmung,  dafs  die  Fähigkeit  zur  Bekleidung 
eines  Bundesamtes  nicht  von  einem  religiösen  Bekenntnis 
abhängig  gemacht  werden  darf  (Art.  VI.  Abs.  3).  Der 
Bund  überläfst  es  daher  seinen  Beamten  und  den  Kongrefs- 
raitgliedern,  an  Stelle  des  Eides  lediglich  eine  Versicherung 
abzugeben.  Dies  Recht  hat  also  auch  der  Präsident  der 
Vereinigten  Staaten,  der  gemäfs  der  Verfassung  ebensogut 
Buddhist  oder  Atheist  wie  Christ  sein  kann. 

Diese  Stellung  hat  die  Bundesregierung  konsequent 
festgehalten,  obwohl  die  katholische  Kirche  sie  wiederholt 
zu  ändern  versucht  hat.  Die  Union  hat  keinen  Vertreter 
beim  Papste  und  tritt  auch  mit  dem  zurzeit  in  Washington 
residierenden  apostolischen  Delegaten  für  die  Vereinigten 
Staaten  nicht  in  Beziehung. 

Nicht  so  einfach  haben  sich  die  Verhältnisse  in  den 
Einzelstaaten  der  Union  entwickelt.  Da  die  Bundesver- 
fassung diesen  in  der  Regelung  des  Verhältnisses  von  Staat 
und  Kirche  keine  Beschränkung  auferlegte,  so  ist  hier  der 
Boden,  auf  welchem  sich  in  den  ersten  50  Jahren  des  Be- 
stehens der  Union  der  Entwicklungsprozefs  abspielte,  der 
zu  der  jetzigen  Trennung  von  Staat  und  Kirche  geführt 
hat.  Langsam,  ohne  Anstrengung  und  ohne  Kampf  vollzog 
sich  die  Loslösung,  in  den  meisten  Staaten  ausgehend  von 
der  gesetzlichen  Gleichstellung  aller  Bekenntnisse,  Aus- 
scheidung   des   Kirchenvermögens   und    Abschaffung  jeder 


VII.    Die  Kirchen.  11  ■ 


staatlichen  oder  kommunalen  Unterstützung  der  Kirchen  ^'). 
Das  Resultat  der  Entwicklung  ist  keineswegs  ein  einheit- 
liches; allein  die  Verfassungen  der  Einzelstaaten  enthalten 
durchweg  ähnliche  Bestimmungen  wie  die  Bundesverfassung, 
einige  auch  weitergehende.  Die  meisten  bestimmen,  jeder 
dürfe  Gott  nach  seinem  eigenen  Gewissen  verehren,  niemand 
andere  hierbei  stören ,  niemand  gezwungen  werden ,  eine 
Kirche  zu  besuchen  oder  zu  unterstützen ;  keiner  Kirche 
dürfe  ein  Vorzug  vor  einer  andern  gegeben  werden,  keine 
öffentlichen  Mittel  dürfen  für  Kirchen  oder  konfessionelle 
Schulen  verwendet  werden.  Einzelne  Staaten  lassen  übrigens 
Atheisten  zu  einem  Amte  nicht  zu.  Wichtiger  aber  und 
einschneidender  als  alle  diese  Bestimmungen  ist  der  in 
allen  Einzelstaatsverfassungen  niedergelegte  Grundsatz,  dafs 
die  einzelneu  Kirchengemeinden,  nicht  die  Gesamtkirchen 
privatrechtliche  Korporationen  sind,  die  unter  denselben 
Voraussetzungen  Rechtsfähigkeit  erlangen  und  denselben 
Gesetzen  unterstehen,  wie  jeder  nicht  Erwerbszwecken 
dienende  Verein.  Für  den  Staat  und  die  Gesetzgebung 
existiert  nicht  die  „Gesamtkirche"  als  geschlossene  Gröfse, 
sondern  nur  die  einzelne  kirchliche  Gemeinde  als  ein- 
getragener Verein.  Die  meisten  Staaten  erklären  Grund- 
eigentum der  Kirchen,  wenn  für  kirchliche  Zwecke  benützt, 
bis  zu  etwa  160  acres  steuerfrei ,  bestimmen  jedoch  eine 
Maximalgrenze  für  testamentarische  Zuwendungen  an 
Kirchen  und  für  deren  Recht  zur  Erwerbung  von  Grund- 
eigentum. 

Dieses  Resultat,  an  dem  übrigens  nicht  in  allen  Unions- 
staaten konsequent  festgehalten  wird,  entspricht  ganz  den 
Grundanschauungen  dieses  selbständigen  und  aufgeklärten 


')  Der    Staat   Massachussetts   z.   B.    hatte    bis    1811    noch    eine 
Kirchensteuer. 

8* 


116  Hintrager. 

Volkes.  Der  Amerikaner  will  gröfstmögliche  Freiheit  des 
Individuums  und  wacht  eifersüchtig  darüber,  dafs  die 
Rechte  des  Einzelneu  durch  Staat  oder  Kirche  nicht  be- 
schränkt werden. 

Daher  sind  auch  alle  Teile  mit  der  Lösung  des  Problems 
zufrieden.  Zwar  haben  anfänglich  manche  Neu-England- 
Geistliche  gegen  die  Lostrennung  der  Kirchen  vom  Staate  ge- 
eifert, allein  heute  freuen  sich  doch  alle,  auch  die  Katholiken, 
der  Freiheit  und  Autonomie.  An  Geld  fehlt  es  den  Kirchen 
nicht,  dank  der  Wohlhabenheit  und  Opferwilligkeit  der  Be- 
völkerung. Die  Gehalte  der  Geistlichen  sind  durchschnittlich 
besser  als  in  Deutschland,  und  ihre  Stellung  ist  sehr  ange- 
sehen und  einflufsreich.  Der  Staat  anderseits  fährt  auch 
wohl  bei  der  friedlichen  Scheidung.  Er  hat  wenig  zu 
fürchten;  denn  keine  der  vielen  Kirchen  ist  sehr  mächtig. 
Er  kann  sich  sogar  die  Inkonsequenz  erlauben,  Geistliche 
für  die  Gebete  in  den  Parlamenten  zu  halten,  aus  den  ge- 
ringsten Anlässen  Eide  abzunehmen,  Sonntagsschutzgesetze 
zu  erlassen  und  einen  Danksagungstag  alljährlich  für  die 
ganze  Nation  festzusetzen. 

Um  die  praktischen  Resultate  dieser  Trennung  von 
Staat  und  Kirche  für  die  letztere  und  für  das  kirchliche 
Leben  im  allgemeinen  beurteilen  zu  können,  dazu  sind  wohl 
Jahre  der  Beobachtung  erforderlich.  Aber  immerhin  bieten 
auch  die  flüchtigen  Beobachtungen  des  Reisenden  Anhalts- 
punkte in  der  genannten  Richtung. 

"Wie  ich  schon  auf  der  Farm  gesehen  hatte,  leben  die 
Christen  hier  mehr  nach  dem  Worte:  „Seid  fröhlich  mit 
den  Fröhlichen"  als  nach  dem:  „Weinet  mit  den  Weinenden." 
Ein  froher,  optimistischer  Zug  geht  durch  das  ganze  Leben. 
Auch  das  religiöse  Leben  macht  hierin  keine  Ausnahme. 
Die  grofse  St.  Patricks-Prozession  der  katholischen  Kirche 
hier  gleicht  mehr  einem  Maifestumzuge  als  dem ,  was  wir 


VII.    Die  Kirchen.  117 


unter  einer  Prozession  verstehen.  Die  heiteren,  für  deutschen 
Geschmack  oft  zu  lustigen  Melodien  der  amerikanischen 
Kirchenlieder  sind  allgemein  bekannt.  Aber  weniger  be- 
kannt ist,  dafs  fast  alle  Kirchen  hier  Nebenräume  für  ge- 
sellschaftliche Veranstaltungen,  Vorträge,  Konzerte,  Lotte- 
rien, Basare,  ja  sogar  Bälle  haben.  Besonders  die  Damen 
lieben  es,  derartige  Unterhaltungen  zugunsten  der  Kirchen- 
kasse zu  veranstalten. 

Schon  in  den  ersten  Wochen  auf  der  Farm  wurde  ich 
zu  einem  „Kirchenessen"  eingeladen,  das  die  weiblichen 
Mitglieder  bereiteten  und  auftrugen.  Die  reizenden  Mädchen 
in  ihren  schönen  Kleidern  bürgen  dafür,  dafs  der  Ton, 
der  an  dieser  Tafel  waltete,  nicht  sehr  kirchlich  war.  In 
einer  der  hiesigen  Presbyterianer-Kirchen  veranstaltete 
kürzlich  der  Klub  der  „13"  eine  musikalische  Abendunter- 
haltung mit  13  Programmnummern,  13  cts.  Eintrittsgeld 
und  so  fort.  Als  ich  einmal  mit  einem  Richter  über  Land 
fuhr,  sahen  wir  in  der  Nähe  eines  kleinen  Städtchens  eine 
Abteilung  15 — 18 jähriger  Jünglinge  in  der  Uniform  der 
Infanterie  der  Vereinigten  Staaten  mit  Gewehren  exerzieren. 
Auf  meine  Frage,  was  dies  zu  bedeuten  habe,  sagte  der 
Richter  wörtlich:  „Es  ist  der  Baptistenkirchen-Drill."  In 
der  ersten  Strafanstalt  des  Staates  New  York  für  Jugend- 
liche zu  Rochester  ist  in  der  Anstaltskapelle  eine  voll- 
ständige Theatereinrichtung;  der  Altar  läuft  auf  Schienen, 
um,  falls  Theateraufführungen  stattfinden,  von  der  Bühne 
hinter  die  Kulissen  gefahren  werden  zu  können.  Hierin 
findet  niemand  etwas  Anstössiges, 

In  den  Augen  des  Deutschen  sind  diese  Dinge  An- 
zeichen einer  gewissen  Äufserlichkeit  und  geringer  Tiefe 
des  religiösen  Fühlens.  Sie  sind,  abgesehen  von  der 
Jugendlichkeit  des  ganzen  Volkes  und  seiner  Kultur,  aus 
der    Trennung   von    Staat   und   Kirche    zu   erklären.    Die 


118  Hintrager. 

Kirchen  müssen  sich  selbst  unterhalten,  sie  müssen  danach 
trachten,  dafs  sie  möglichst  viele  Mitglieder  gewinnen  und 
sich  erhalten.  Hierauf  ist  die  angenehme  Ausstattung  des 
Gotteshauses  wie  des  Gottesdienstes  in  erster  Linie  be- 
rechnet. Hieraus  erklären  sich  die  Kirchenessen ,  die 
derwischartigen  Erweckungsversammlungen  und  die  weifse 
Flagge  an  der  Kirche,  die  in  reklamehaften  Buchstaben 
verkündet,  dafs  heute  abend  in  „illuminierter"  Kirche  das 
Evangelium  in  Bildern  dargestellt  werde,  anderseits  aber 
auch  die  viel  regere  und  freiere  Tätigkeit  der  religiösen 
Gemeinschaften  und  ihrer  Prediger.  Würde  hier  ein 
Geistlicher  in  der  bei  uns  auf  dem  Lande  üblichen  Weise 
predigen,  er  hätte  in  kurzer  Zeit  Zuhörer  und  Stellung 
verloren.  Auch  der  Pfarrer  hat  sich  hier  in  erster  Linie 
nach  dem  Volke  zu  richten. 

Dafs  der  Wille  des  Volkes  das  oberste  Gesetz  in  diesem 
Lande  ist,  hatte  insbesondere  die  katholische  Kirche  wieder- 
holt zu  erfahren.  Drüben  über  dem  Mississippi  in  Ost- 
St.  Louis  ist  zurzeit  die  ganze  irisch-katholische  Gemeinde 
in  Aufruhr  gegen  den  Bischof.  Der  Bischof  hat  zum 
Geistlichen  dieser  Gemeinde  einen  Deutschen  ernannt,  die 
Gemeinde  verlangt  jedoch  einen  irländischen  Geistlichen 
und  bezahlt  nun  seit  sechs  Wochen  eine  bewaffnete  Wach- 
mannschaft von  zwölf  Mann  (ä  2.50  $  pro  Tag),  die  das 
Pfarrhaus  umstellt  hat ,  um  das  Aufziehen  des  deutschen 
Geistlichen  eventuell  mit  Gewalt  zu  verhindern.  Die  welt- 
liche Obrigkeit  läfst  sie  natürlich  gewähren,  und  niemand 
zweifelt  daran,  dafs  der  Bischof  schliefslich  nachgeben  mufs. 
—  Selbst  die  römische  Kirche  hat,  um  ich  anzupassen, 
einen  so  liberalen  Ton  hier  angeschlagen,  dafs  der  Papst 
Veranlassung  nahm,  gegen  den  „Amerikanismus"  in  der 
katholischen  Kirche  einzuschreiten.  Ihr  Hauptaugenmerk 
richtet  die  katholische  Kirche  auf  die  Schulen,     Sie  hat 


VII.    Die  Kirchen.  119 


sehr  schöne  und  gute  Privatschulen,  über  deren  Vorzüge 
selbst  hohe  kirchliche  Würdenträger  gelegentlich  Zeitungs- 
artikel veröffentlichen.  Den  unentgeltlichen  öffentlichen 
Schulen  hat  sie  aber  bis  jetzt  kaum  Eintrag  zu  tun  ver- 
mocht, und  auch  die  gelegentlichen  Versuche,  an  der  Kon- 
fessionslosigkeit  der  öffentlichen  Schulen  zu  rütteln,  haben 
bisher  keinen  Erfolg  gehabt. 


VIII.  Eine  Woche  unter  Kommu- 
nisten. 

„  Wir  müssen  die  menschliche  Natur 
nehmen,  wie  tcir  sie  finden.  Voll- 
kommenheit ist  Sterblichen  nicht  be- 
schieden." G.  Washington. 

Arnana,  Jowa. 

Etwa  eine  halbe  Tagereise  westlich  vom  Mississippi 
im  Staate  Jowa  liegt  ein  Stück  deutschen  Lebens,  wenig 
bekannt  und  doch  kennenswert,  ein  stilles  Eiland  im  be- 
wegten Ozean  amerikanischer  Entwicklung.  Etwas  mehr 
als  2000  Deutsche  leben  hier  der  Verwirklichung  eines 
hohen  Ideals,  der  Wiederherstellung  des  Lebens  der  ersten 
Christengemeinde  nach  dem  Wort  der  Apostelgeschichte 
(4,32):  „Keiner  sagte  von  seinen  Gütern,  dafs  sie  sein 
wären,  sondern  es  war  ihnen  alles  gemein".  In  sieben 
Dörfern  angesiedelt,  haben  sie  sich  von  der  Aufsenwelt  ab- 
geschlossen durch  eine  unsichtbare  Mauer,  und  wer  sie  be- 
sucht, wird  deutsche  Sitten,  deutsche  Sprache,  deutsche 
Ordnung,  deutschen  Haushalt,  ja  selbst  deutsche  Kleidung 
dort  finden,  alles  so  wie  es  im  Mutterlande  war  zur  Zeit, 
da  sie  es  verlassen  haben. 

Unter  den  zahlreichen  religiösen  Sekten,  die  im 
18.  Jahrhundert  über  ganz  Deutschland  zerstreut  waren  und 
bis  in  unser  Jahrhundert  hinein  so  viel  unter  der  Unduld- 
samkeit von  Regierungen   und  Kirchen  zu  leiden  hatten, 


VIII.    Eine  Woche  unter  Kommunisten.  121 

war  eine  mit  dem  Namen  „Wahre  Inspiiationsgemeinde". 
Sie  wurde  im  Jahre  1714  gegründet  von  zwei  Württem- 
bergern, Bernhard  Ludwig  Gruber  und  Johann  Friedrich 
Rock,  die  ihres  Glaubens  wegen  aus  Württemberg  aus- 
gewiesen worden  waren.  Freilich  waren  ihre  Ideen,  die 
sie  mit  Begeisterung  in  ihren  Versammlungen  ver- 
kündeten, so  ungewöhnlich,  dafs  sie  auch  heute  noch  die 
Kritik  herausfordern.  Machen  wir  gleich  die  Probe;  denn 
der  Glaube  dieser  Menschen  hat  zu  ihrer  Gütergemeinschaft 
geführt  und  hält  sie  heute  noch.  Sie  sind  Christen,  aber 
nicht  Christen  einer  bestimmten  Konfession ;  sie  wollen  sich 
über  den  Streit  der  Konfessionen  stellen,  der  so  unchrist- 
liehe  Früchte  zeitigt.  Nicht  das  Dogma,  nicht  diese  oder 
jene  Form  religiöser  Gebräuche  und  Einrichtungen,  lediglich 
die  Gesinnung  und  die  Tat  ist  es,  was  sie  anerkennen. 
Hier  aber  sind  sie  streng.  Jede  Form  in  Glaubenssachen 
erscheint  ihnen  unnütz,  ja  gefährlich.  Darum  leugnen  sie  die 
Berechtigung  der  Taufe :  nur  die  Feuer-  und  Geistestaufe, 
von  der  Christus  sprach,  ändert  den  Menschen,  aber  nicht 
eine  äufserliche  und  daher  überflüssige  Zeremonie.  Als 
ein  Zeichen  der  Aufnahme  in  einen  kirchlichen  Verband 
hat  die  Taufe  nach  dem  Gesagten  vollends  keinen  Platz 
in  der  „Wahren  Inspirationsgemeinde".  Eine  berufsmäfsige 
Ausübung  des  Predigtamts  kennen  sie  nicht ;  jeder,  so  sagen 
sie ,  ist  berufen ,  zu  lehren  und  zu  zeugen  von  Gott ,  der 
doch  in  allen  wohnt.  Auch  heute  noch  giefst  Gott  seinen 
Geist  aus  über  seine  Jünger,  und  seinem  Geist  allein,  der 
unvermittelt  zu  uns  spricht,  wollen  wir  folgen.  Darum 
müssen  wir  streng  an  uns  arbeiten,  uns  zu  reinen  Gefäfsen 
des  göttlichen  Geistes  zu  bilden  und  zu  erhalten.  Mit 
diesen  Sätzen  hängt  eben  der  Name  der  Gemeinde  zu- 
sammen ;  sie  glauben  an  eine  Inspiration ,  die  auch  heute 
noch  Gott   dem  Begnadeten   zuteil  werden  läfst.     Ähnlich 


122  Hintrager. 

wie  über  die  Taufe  denken  sie  auch  über  das  Abendmahl. 
Besonders  charakteristisch  und  folgenschwer  sind  ihre  An- 
schauungen über  Liebe  und  Ehe.  Sie  sagen  mit  Paulus: 
Heiraten  ist  gut,  Ledigbleiben  ist  besser.  Wer  Gott  sein 
Leben  weiht,  mufs  frei  sein  von  Erdenbanden.  Wie  könnte 
auch  ein  Mensch  zwei  Herren  dienen,  der  heiligen  und  der 
profanen  Liebe !  Die  24  Lebensregeln  Grubers,  die  gleich- 
sam zum  Glaubensbekenntnis  der  Inspirationisten  gehören, 
enthalten  die  Mahnung,  den  Umgang  mit  dem  Frauenvolk 
als  einen  „sehr  gefährlichen  Magneten  und  magnetisches 
Feuer"  zu  fliehen.  Ein  Weib  anschauen,  ihrer  zu  begehren, 
ist  schon  der  erste  Schritt  zum  Fall ;  und  wer  gar  heiratet, 
der  ist  der  Versuchung  erlegen,  den  hat  zur  Erde  die 
Begier  gezogen.  Er  kann  von  nun  an  nicht  mehE  der 
göttlichen  Inspiration  teilhaftig  werden,  sein  Leib  ist  be- 
fleckt; erst  lange,  ernste  Bufse  vermag  ihn  wieder  zu 
reinigen.  Und  auch  dann  kehrt  die  Gabe  der  Inspiration 
erst  wieder  in  den  Jahren,  in  denen  das  Blut  nicht 
mehr  so  munter  in  den  Adern  springt.  So  hat  die  in 
der  Geschichte  der  Gemeinde  grofs  dastehende  Barbara 
Heinemann  (1795  bis  1883),  die  von  Gottes  Geist  in 
hohem  Grade  erleuchtet  war,  und  deren  Schriften  bei 
den  Inspirationisten  hochgeschätzt  sind,  mit  ihrer  Ver- 
heiratung auch  die  Gabe  der  Inspiration  verloren  und  sie 
erst  in  hohem  Alter  wiedergewonnen.  Dies  sind  die 
Grundlinien  des  Glaubens  der  Wahren  Inspirationsgemeinde, 
wie  er  heute  noch  von  deren  Mitgliedern  bekannt  wird. 
In  dieser  Lebensauffassung  liegt  schon  der  Keim  zum 
Kommunismus. 

Um  diesem  Glauben  ganz  sich  hinzugeben ,  ein  Leben 
zu  führen  in  der  Welt,  aber  nicht  von  der  Welt,  dazu  war 
ein  Land  nötig,  wo  keine  Obrigkeit,  kein  religiöser  Zwie- 
spalt, kein   unduldsamer  Nachbar  den  einzelnen  hinderte, 


VIII.    Eine  Woche  unter  Kommunisten.  123 

nach  seiner  tJberzeugung  zu  handeln.  Daher  lenkten  sich 
die  Blicke  der  Inspirationisten ,  die  nirgends  geduldet 
wurden  und  schliefslich  in  den  20er  Jahren  des  vorigen 
Jahrhunderts  nach  vielen  Ausweisungen  in  ein  paar  Ge- 
meinden in  Hessen  und  im  Elsafs  sich  niedergelassen 
hatten ,  nach  dem  Lande  der  Freiheit  jenseits  des  Ozeans. 
Dorthin  wiesen  auch  die  einzelnen  unter  ihnen  gewordenen 
göttlichen  Offenbarungen.  Im  Jahre  1842  berichtete  eine 
Kommission  von  vier  Männern,  die  sie  aus  ihrer  Mitte  zur 
Erkundung  der  Verhältnisse  in  Nordamerika  und  zum 
Ankauf  von  Land  hinübergeschickt  hatten,  dafs  sie  in  der 
Nähe  von  Buffalo  ein  grofses  Stück  Landes  gekauft  habe.f 
Ein  paar  Hundert  der  eifrigsten  Anhänger  gingen  sofort 
hinüber;  im  Laufe  der  nächsten  Jahre  folgten  die  übrigen, 
und  unter  dem  Namen  Ebenezer  gründete  sich  die  damals 
etwa  1200  Seelen  starke  Gemeinde.  Hart  war  die  Arbeit 
der  ersten  Jahre ;  der  Boden  war  noch  nie  gepflügt  worden, 
Wohnstätten  waren  zu  errichten ,  oft  auch  Haus  und  Hof 
gegen  den  Indianer  der  nahen  Reservation  zu  schützen. 
Aber  deutsche  Ausdauer  war  von  Erfolg  gekrönt,  und  von 
dem  emporschiefsenden  jungen  Lande  getragen,  wurden  die 
Verhältnisse  der  Kolonisten  immer  besser.  —  Jedoch  was 
war  äufserer  Wohlstand  für  diese  Männer  des  Glaubens, 
die  kein  Band  an  die  Erde  fesseln  durfte!  Was  wollten 
sie  von  Geld  und  Gut!  Ist  nicht  das  Gold  die  Wurzel 
alles  Übels?  Wer  hat  in  seinem  Dienst  die  Seele  rein 
bewahrt?  So  entschlossen  sich  die  Kolonisten,  auch  auf 
wirtschaftlichem  Gebiet  ihrem  hohen  Vorbild,  der  ersten 
Christengemeinde,  nachzuleben,  sie  beschlossen  Güter- 
gemeinschaft. Das  war  der  Schlufsstein  des  Gebäudes,  die 
letzte  praktische  Konsequenz  ihres  Glaubens.  Welche 
Aufgabe  haben  sich  die  Inspirationisten  damit  gestellt! 
Und   sie    haben    sie    gelöst!     Die   Ältesten  der   Gemeinde 


124  Hintrager. 

haben  ein  kommunistisches  System  aufgebaut,  dessen 
Durchführung  und  Ergebnisse  sehr  lehrreich  sind. 

Im  Jahre  1854  zog  die  junge  Kommunistengemeinde 
gen  Westen  und  siedelte  sich  in  ihren  heutigen  Sitzen  nahe 
Ceder  Rapids,  Jowa,  unter  dem  Namen  Amana-Gesellschaft 
an  (Amana  ist  entnommen  Hohel.  4,  8).  Die  Amana-Gesell- 
schaft ist  von  den  zahlreichen  im  Laufe  des  vorigen  Jahr- 
hunderts in  N.-A.  gegründeten  kommunistischen  Gemein- 
wesen das  einzige,  welches  seinen  Gründer  überlebt  hat 
und  heute  noch  blüht.  Die  andern  haben  meist  kein  Jahr- 
zehnt gelebt ;  so  ist  die  bekannte  Brook-Farm,  ein  lediglich 
auf  Vernunftgrundsätze  basierter  Kommunismus,  schon  nach 
fünf  Jahren  in  die  Brüche  gegangen.  Ebenso  erging  es 
den  Rappisten  in  Pennsylvania  vor  wenigen  Jahren.  Die 
Perfektionisten  in  Oneida  haben  sich  in  eine  Aktiengesell- 
schaft umgewandelt,  und  die  ebenfalls  kommunistischen 
Separatisten  zu  Zoar  bei  Cleveland  tragen  sich  lebhaft  mit 
diesem  Gedanken.  Die  Amana-Gesellschaft  dagegen  hat 
nicht  allein  ihre  Mitgliederzahl  nicht  unwesentlich  ver- 
mehrt, sondern  sie  hatte  sich  auch  eines  steten  wirtschaft- 
lichen Gedeihens  zu  erfreuen.  Die  Gesellschaft,  der  als 
Amana-Society  die  Rechte  einer  juristischen  Person  ver- 
liehen sind,  zählt  heute  etwas  über  2000  Mitglieder  und 
hat  einen  zusammenhängenden  Grundbesitz  von  25000  acres 
(1  acre  =  40,47  ar). 

Die  Leitung  und  Verwaltung  aller  Angelegenheiten  der 
Gesellschaft  liegt  in  den  Händen  von  13  Ältesten,  Trustees, 
die  jährlich  aus  der  Zahl  der  älteren  Gesellschaftsmitglieder 
gewählt  wei'den.  Die  Trustees  wählen  aus  ihrer  Mitte  den 
Vorsteher,  der  aber  nur  primus  inter  pares  ist.  Diesen 
Trustees  hat  nach  Artikel  5  der  Verfassung  der  Amana- 
Gesellschaft  jedes  Mitglied  bei  seiner  Aufnahme  sein  ganzes 
Vermögen,  bewegliches  und  unbewegliches,  für  die  gemein- 


VIII.    Eine  Woche  unter  Kommunisten.  125 

schaftliche  Kasse  ohne  Vorbehalt  zu  übergeben.  Es  ist 
weiter  verpflichtet,  seine  ganze  Arbeitskraft  in  den  Dienst 
der  Gesellschaft  zu  stellen,  nicht  mehr  für  sich  selbst, 
sondern  für  die  Gesellschaft  zu  arbeiten.  Der  Artikel  6 
der  Verfassung  fährt  nun  fort: 

„Jedes  Glied  dieser  Gesellschaft  ist  aufser  der  freien 
Kost  und  Wohnung ,  sowie  auch  der  ihm  zugesicherten 
Verpflegung  und  Versorgung  im  Alter  oder  in  Krankheit 
und  Gebrechlichkeit  zu  einer  jährlichen  ünterhaltungssumme 
für  sich  selbst,  Kinder  und  Angehörige  in  der  Gesellschaft 
aus  der  gemeinschaftlichen  Gesellschaftskasse  berechtigt, 
und  dieses  Unterhaltungsgeld  soll  jedem  Glied,  sei  es  ledig, 
einzeln  oder  familienweise,  von  den  Trustees  nach  Recht 
und  Billigkeit  bestimmt  und  von  Zeit  zu  Zeit  geprüft  und 
aufs  neue  berichtigt  werden  nach  einem  darüber  zu  halten- 
den Verzeichnis.  Und  in  Anbetracht  dieses  Genusses  der 
Segnungen  im  Gemeinschaftsband  verzichten  wir  unter- 
schriebene Glieder  dieser  Gesellschaft  freiwillig  für  uns 
selbst,  unsere  Kinder,  Erben  und  Administratoren  auf  alle 
anderen  Ansprüche  von  Lohn,  Zinsen  von  unsern  Ein- 
schüssen, Einkommen  oder  Errungenschaft,  sowie  überhaupt 
auf  einen  vom  Ganzen  abgetrennten  Anteil  an  dem  gemein- 
schaftlichen Gut  und  Eigentum." 

Diese  Gedanken  sind  im  Leben  in  folgender  Weise 
durchgeführt:  Die  Arbeit  wird  den  Mitgliedern  von  den 
Ältesten  zugewiesen  und  hierbei  die  Fähigkeit,  die  Anlagen 
(Schulzeugnisse)  und  Wünsche  des  einzelnen  tunlichst  be- 
rücksichtigt. Ermöglicht  wird  dies  durch  eine  ziemliche 
Vielseitigkeit  der  Beschäftigung;  denn  die  Gesellschaft 
macht  natürlich  möglichst  alles  selbst,  was  sie  braucht.  Da 
ist  vor  allem  Ackerbau  und  Viehzucht ,  welche  sie  mit 
Lebensmitteln  versehen;  die  Spinnereien  und  Webereien 
der  Gesellschaft  decken   nicht   allein   die   Bedürfnisse  der 


126  Hintrager. 

Gesellschaft,  sondern  sind  auch  in  den  Vereinigten  Staaten 
bekannt  wegen  der  Güte  ihrer  Produkte.  Den  Taba4^,  den 
sie  rauchen ,  den  Wein ,  den  sie  trinken ,  bauen  sie  selbst. 
Da  sind  weiter  Gerbereien,  Säge-  und  Getreidemühlen, 
Schreinereien,  Schlossereien  usw.,  auch  eine  Buchdruckerei 
fehlt  nicht.  An  den  —  übrigens  unter  staatlicher  Aufsicht 
stehenden  —  Schulen  der  Gesellschaft  gibt  es  Stellen  für 
Lehrer  und  Lehrerinnen;  endlich  bietet  der  Verwaltungs- 
mechanismus des  ganzen  Gemeinwesens  Gelegenheit  genug 
für  die  Begabteren,  tätig  zu  werden  und  auch  höhere 
Stufen  zu  ersteigen.  Denn  es  ist  natürlich  kein  Mitglied 
an  das  ihm  zugeteilte  Arbeitsfeld  für  immer  gebunden.  Es 
kann  steigen  und  fallen,  je  nach  seinen  Leistungen,  die 
der  Vorstand  des  betreffenden  Departements,  meist  einer 
der  Ältesten,  wohl  zu  schätzen  in  der  Lage  ist.  So  kommt 
der  Tüchtige  an  seinen  Platz,  der  Lässige  und  Dumme 
bleibt  zurück;  so  dienen  sie  sich  untereinander,  ein  jeg- 
licher mit  der  Gabe,  die  er  empfangen  hat.  Als  Gegen- 
leistung gleichsam  ist  nun  jedem  einzelnen,  selbst  jedem 
Kinde,  nach  dem  Ermessen  der  Ältesten  eine  jährliche 
Unterhaltungssumme,  deren  Höhe  von  Zeit  zu  Zeit  geprüft 
und  verändert  wird,  ausgesetzt.  Diese  Summe  erhält  das 
Mitglied  am  Anfang  jedes  Jahres.  In  Geld?  Bewahre! 
Geld  gibt  es  nicht  in  Amana.  Nein!  In  Gestalt  eines 
Guthabenbüchleins.  Jede  Teilgemeinde  hat  ihr  Warenhaus 
(störe),  in  dem  alles  zu  haben  ist,  was  die  täglichen  Be- 
dürfnisse der  Menschen  verlangen.  Da  kommen  nun  die 
Mitglieder  mit  ihren  Büchlein,  holen,  was  sie  brauchen, 
und  der  Storeverwalter  schreibt  ihnen  den  Betrag  an 
ihrem  Guthaben  ab.  In  diesem  Laden  gibt's  natürlich 
kein  Handeln,  das  hätte  ja  keinen  Sinn;  ebensowenig  An- 
und  Verkaufs-  und  Nettopreise,  vielmehr  nur  einen,  und 
wie    ich   mich    überzeugte,    sehr    niederen   Preis   für  jede 


Vin.    Eine  Woche  unter  Kommunisten.  127 

Ware.  Da  war  kein  Nutzen  des  Rohstofflieferanten,  des 
Fabrikanten  und  des  eventuellen  Grossisten  zuzuschlagen. 
Die  Gesellschaft  macht  alles,  wie  sollte  sie  an  sich  selbst 
einen  Nutzen  nehmen!  Kost  und  Wohnung  erhält  jedes 
Mitglied  frei;  das  Haus  ist  Eigentum  der  Gesamtheit. 
Während  die  dem  öffentlichen  Interesse  in  beonderer 
Weise  gewidmeten  Häuser  (Schule,  störe  etc.)  meist  aus 
Backsteinen  gebaut  sind,  sind  die  Wohnhäuser  in  Amana 
durchweg  Fachwerkhäuser;  sie  liegen  alle  in  kleinen 
Gärten  und  geben  ein  Bild  der  Ordnung  zu  beiden  Seiten 
der  breiten,  sauberen  Strafsen.  Die  Mahlzeiten  werden 
gemeinschaftlich  in  den  Speisehäusern  eingenommen.  Sie 
sind  musterhaft  in  Ordnung  gehalten  von  fleifsiger  Frauen- 
hand; denn  wie  in  einer  grofsen  Familie  wechseln 
die  weiblichen  Glieder  der  je  zu  einem  Speisehaus  ge- 
hörigen Familien  unter  sich  ab  mit  dem  Kochen,  Tisch- 
decken und  den  übrigen  Arbeiten  im  Speisehaus.  Die 
Mahlzeiten  sind  reichlich  und  gut;  schon  auf  dem  Früh- 
stückstisch prangt  die  Fleischspeise.  Das  Fleisch  kommt 
von  der  Schlächterei,  deren  es  nur  eine  in  jedem  Dorfe 
gibt.  Dorthin  wird  der  tägliche  Bedarf  an  Tieren  von  dem 
Viehzuchtdepartement  überwiesen,  und  vom  Schlachthaus 
hinwiederum  wird  das  Fleisch  in  die  verschiedenen  Speise- 
häuser gefahren.  Entsprechend  geht  es  auch  mit  den 
Früchten  des  Feldes:  alles  geht  nach  den  Zentralen,  und 
von  dort  fliefst  es  wieder  nach  allen  Seiten,  wie  das  Blut 
vom  Herzen.  Die  Amanisten  waren  weise,  das  Leben  in 
getrennten  kleinen  Dörfern  zu  erwählen ;  denn  die  Einfach- 
heit und  der  gute  Überblick  über  das  einzelne  Gemein- 
wesen erleichtert  die  Verwaltung.  Wird  ein  Amanist  krank, 
so  steht  ihm  die  Hilfe  eines  der  Gesellschaftsärzte  unent- 
geltlich zur  Verfügung.  Der  Arzt  schreibt  das  Rezept, 
die    Gesellschaftsapotheke    bereitet    es    umsonst;     nichts 


128  Hintrager. 

kostet  etwas,  selbst  nicht  das  Begräbnis.  Kein  Wunder, 
dafs  hier  die  Menschen  durchschnittlich  älter  werden  als 
sonst  in  den  Vereinigten  Staaten.  Da  gibt  es  wenig 
Streit  und  Hader,  der  am  Lebensmark  zehrt;  denn  es 
fehlt  ja  die  Hauptursache  des  Streits.  Da  gibt  es  keine 
Gläubiger,  keine  Wucherer,  keine  Doktor-  und  Apotheker- 
rechnungen —  welch  ein  Elysium!  Jedem  gehört  alles 
und  nichts.  Alles  ist  umsonst,  sogar  das  Heiraten.  Jeder 
Vogel  mufs  sein  Nest  bauen;  nicht  so  der  Amanist.  Wenn 
er  heiratet,  bekommt  er  die  eingerichtete  Wohnung  frei. 
Die  Ehen  werden  nur  aus  Liebe  geschlossen;  es  gibt  ja 
keine  Mitgift.  Die  Frau  hat  keine  Haushaltungssorgen; 
sie  braucht  nicht  heidnisch  sich  —  oder  gar  ihren  Mann  — 
zu  fragen:  was  werden  wir  essen?  was  werden  wir 
trinken?  Zum  Essen  geht  man  ja  in  das  Speisehaus. 
Mitgiften  gibt  es  nicht,  wohl  aber  Aussteuern.  Aber  das 
sind  keine  Aussteuern  in  unserem  Sinn ;  sie  sind  nicht  von 
den  Eltern,  sondern  von  der  Gesellschaft  gegeben.  Und 
die  Gesellschaft  behandelt  ihre  Kinder  alle  gleich;  darum 
gibt  es  auch  keinen  Neid  in  Amana,  wenigstens  keinen 
solchen  um  Besitz  von  Geld  und  Gut.  Welch  ein  Dasein 
ohne  den  Brotneid,  ohne  den  Unterschied  von  hoch  und 
nieder,  ein  reich  und  arm!  Und  endlich:  In  Amana  gibt 
es  auch  wenig  Verbrecher;  es  fehlt  der  mächtigste  Anreiz 
zum  Verbrechen.    Welch  ein  Friede! 

Aber  sind  denn  diese  Amanisten  Engel?  Haben  sie 
alle  Selbstliebe  aufgegeben,  damit  das  Ganze  gedeihe? 
In  den  Annalen  der  Gesellschaft  sind  harte  Kämpfe  ver- 
zeichnet, die  das  junge  Gemeinwesen  in  Ebenezer  (bei 
Buffalo)  durchzumachen  hatte.  Es  waren  das  Kämpfe  gegen 
den  immer  und  immer  wieder  sich  erhebenden  Egoismus 
der  einzelnen.  Noch  waren  die  Mitglieder  nicht  an  die 
Entsagung,  die  Selbstverleugnung  gewöhnt,  die  das  kom- 


Vlir.    Eiue  Woche  unter  Kommunisten.  129 

munistische  Leben  erheischte.  Es  waren  Mafsregelungen 
notwendig,  Verweisungen  Ungetreuer  auf  längere  oder 
kürzere  Zeit  aus  der  Gemeinde  oder  gar  Ausweisungen  für 
immer.  Man  hatte  auf  Mittel  zu  sinnen,  einen  Zwang  auf 
renitente  Mitglieder  auszuüben,  und  da  war  es  ganz  selbst- 
verständlich, dafs  die  Amanisten  zum  Grundgedanken  ihres 
Systems  griffen,  zur  Religion.  Ein  strenger  Glaube,  sagt 
der  Amanist,  ermöglicht  allein  die  Durchführung  der  Güter- 
gemeinschaft. Immer  wieder  werden  in  den  Versammlungs- 
häusern der  Amanisten  die  Schriften  der  alten  Gründer 
und  Gröfsen  der  Gemeinden  verlesen,  vor  allem  jene  strengen 
Regeln  Grubers ;  die  Säumigen  werden  zur  Selbstlosigkeit 
ermahnt,  und  das  einzelne  Glied  wird  durch  selbsttätige 
Teilnahme  am  Gottesdienst  (lautes  Beten  des  einzelnen)  ge- 
zwungen zur  Einkehr  in  sich  selbst,  zur  Aufgabe  des  Ich. 
Aber  das  war  nicht  genug;  es  bedurfte  stärkerer  Mittel. 
So  kamen  die  Amanisten,  entgegen  der  christlichen  Gleich- 
heit und  Brüderlichkeit,  auf  der  sie  sich  gründeten  und 
die  sich  heute  noch  in  der  allgemeinen  Anrede  mit  „du" 
und  „Bruder"  und  „Schwester"  äufsert,  zu  einer  strengen 
Klasseneinteilung.  In  der  höchsten  Klasse  sind  die  80 
Ältesten,  die  Junggesellen  und  die  alten  Jungfern,  deren 
es  eine  stattliche  Anzahl  in  Amana  gibt.  Es  sind  dies  die 
Heiligen,  die  Gottesfürchtigen ,  die  weltlichen  Wünschen 
entsagt  haben,  die  sich  ausgezeichnet  haben  durch  einen 
streng  christlichen  und  daher ,  im  Sinne  der  Amanisten, 
auch  ehelosen  Lebenswandel.  In  der  zweiten  Klasse  sind 
diejenigen  Verheirateten,  deren  Ehen  aufgehört  haben, 
fruchtbar  zu  sein.  Sie  sind ,  so  ist  der  Gedanke ,  der 
irdischen  Liebe  zum  Opfer  gefallen;  aber  nun,  da  die 
Gewalt  der  Leidenschaft  sich  gelegt  hat,  mögen  auch  sie 
die  verlorene  Reinheit  wiedergewinnen.  So  lange  die  Ver- 
heirateten Kinder  bekommen,  sind  sie  in  der  dritten,  der 

Hintrager.  9 


130  Hintrager. 

untersten  Klasse,  der  Klasse  derer,  die  noch  nicht  durch- 
gedrungen sind  zur  christlichen  Selbstverleugnung.  In 
dieser  sind  aufser  ihnen  auch  die  Kinder  und  die  jungen 
Ledigen. 

Die  Verheirateten  bilden  die  Mehrzahl  unter  den 
Amanisten.  Daher  ist  auch  die  Zahl  der  Amanisten  bis  jetzt 
immer  langsam  gestiegen.  Grund  und  Tendenz  der  Klassen- 
einteilung ergibt  sich  ohne  weiteres.  Nun  war  ein  Hebel 
geschaffen,  der  gegen  den  Selbstsüchtigen  wirkte,  welcher 
sich  nicht  dem  Wohl  des  Ganzen  ausschliefslich  hingab. 
Nun  winkt  dem  Selbstlosesten  der  Rang  besonderer  Heilig- 
keit, dem  Egoisten  droht  die  Strafe  der  Versetzung  in 
eine  niedere  Klasse;  der  Arzt  z.  B.,  der  über  Land  zu 
einem  Nichtmitglied  gerufen  wird  und  sein  Honorar  nicht 
ganz  an  die  Gemeinschaftskasse  abgibt,  oder  wer  mit  seiner 
jährlichen  Unterhaltungssumme  nicht  reicht,  gewärtigt 
Degradation.  Wer  dagegen  sein  Guthaben  nicht  ganz  auf- 
braucht und  auf  den  Rest  zugunsten  der  Gesamtheit  ver- 
zichtet, hat  besondere  Ehre  zu  erwarten.  Aber  auch  dieses 
System  zur  Erweckung  eines  selbstlosen  Gemeinsinns  hat 
die  Amanisten  nicht  abzuhalten  vermocht  von  den  Freuden 
der  Ehe.  Ist  doch  das  Heiraten  so  einfach,  so  leicht,  wo 
die  Gesamtheit  die  Familie  unterhält.  So  war  man  ge- 
zwungen, der  Heiratslust  einen  weiteren  Riegel  vor- 
zuschieben; dem  jungen  Paar,  das  mit  seinem  W^unsche  vor 
die  Trustees  tritt,  wird  eine  Prüfungszeit  für  seine  Treue 
und  seinen  Glauben  auferlegt,  während  welcher  es  getrennt, 
entweder  beide  oder  nur  der  eine  Teil  aufserhalb  der  Ge- 
meinde, zu  leben  hat.  Diese  Mafsregeln  gegen  das 
Heiraten  waren  in  der  Geschichte  der  Amanisten  strenger 
oder  weniger  streng,  je  nachdem  die  Heiratslust  stieg  oder 
fiel  oder,  mit  anderen  Worten,  je  nachdem  die  Gefahr  sich 
erhöhte,   mehr  Konsumenten    oder   mehr  Produzenten    im 


VIII.    Eine  Woche  unter  Kommunisten.  131 

Gemeinwesen  zu  bekommen,  als  eine  gesunde  Wirtschaft 
erlaubt.  In  den  ersten  Jahrzehnten  des  Bestehens  der  Ge- 
meinde waren  die  Schwierigkeiten,  die  der  damals  be- 
sonders starken  Heiratslust  gemacht  wurden,  so  energische, 
dafs  oft  Streit  entstand.  Zurzeit  ist  die  innere  Politik 
der  Gesellschaft  in  dieser  Hinsicht  liberaler. 

Wohl  mag  man  an  der  Möglichkeit  der  Durchführung 
des  geschilderten  Systems  zweifeln;  denn  die  menschliche 
Natur  ist  zu  sehr  jeder  Vernichtung  des  Unterschieds  von 
Mein  und  Dein  entgegen.  Dies  haben  auch  die  Gründer 
der  Amanagesellschaft  erkannt,  und  das  Geheimnis  ihres 
bisherigen  Gedeihens  liegt  wohl  mit  darin,  dafs  sie  in 
-weiser  Berücksichtigung  der  menschlichen  Natur  die  Kon- 
sequenzen ihrer  Grundgedanken  nicht  auf  die  Spitze  trieben. 
Sie  haben  ein  Sondereigentum  im  kleinen!  An  dem,  was 
der  Einzelne  sich  aus  der  jährlichen  Unterhaltungssumme 
anschafft,  hat  er  Sondereigentum.  Dies  sind  nun  freilich 
in  der  Hauptsache  nur  Gebrauchsgegenstände  des  täglichen 
Lebens,  allein  da  der  Amanist  das  Recht  hat,  über  den 
etwa  von  ihm  nicht  gebrauchten  Rest  seines  Guthabens 
nach  Belieben  zu  verfügen,  so  ist  eine  Ungleichheit  des 
Besitzes  unter  den  Mitgliedern  die  Folge.  Dieser  hat  sich 
eine  kleine  Bibliothek  angeschaff"t,  jener  Spielzeuge  für 
seine  Kinder  usw.  Diese  Ungleichheit  ist  natürlich  eine 
grofse  Gefahr.  Sie  erregt  den  Neid.  Um  diesem  vor- 
zubeugen, war  es  notwendig,  vorzuschreiben,  welche  Arten 
von  Sachen  die  einzelnen  sich  anschaffen  dürfen.  Und  dies 
geschah  wiederum  entsprechend  der  strengen  Lebens- 
anschauung der  Amanisten  in  der  Weise,  dafs  Luxusgegen- 
stände, als  vor  allem  den  Neid  herausfordernd,  verboten 
sind.  Ein  Luxusgegenstand  ist  für  den  Amanisten  im 
wesentlichen  das,  was  im  Store  nicht  zu  haben  ist,  und  hier 
ist  nur  vorhanden,  was  wirklich  im  Auge  eines  einfachen 

9  * 


132  Hintrager. 

Bürgers  ein  Lebensbedürfnis  genannt  werden  kann.  Es 
würde  zu  weit  führen,  das  alles  aufzuzählen.  Bezeichnend 
ist,  dafs  eigentliche  Kunstgegenstände  und  damit  auch 
weiblicher  Schmuck  fehlen.  Das  Auge  soll  nichts  sehen, 
was  den  Neid,  diesen  gefährlichen  Feind,  erwecken  könnte. 
Darum  gleichen  sich  auch  die  Häuser  der  Amanisten  aufsen 
und  innen  sehr,  die  Mitglieder  kleiden  sich  fast  ganz  gleich, 
die  Frauen  nach  der  in  Hessen  zur  Zeit  ihrer  Auswanderung 
üblichen  Kleidungsweise.  Selbst  die  Gräber  sind  eines  wie 
das  andere:  ein  einfacher  Hügel,  und  am  Kopfende  kleine, 
hölzerne,  durchweg  gleichgeformte  Tafeln  mit  Namen,  Ge- 
burts-  und  Todestag  der  Verstorbenen.  So  liegen  sie  da, 
Mann  neben  Mann,  in  trauriger  Einförmigkeit,  Wie  könnte 
auch  die  Gesellschaft  verschiedene  Gedenktafeln  errichten, 
ohne  sofort  Neid  zu  erregen? 

So  haben  die  Amanisten  alles  vermieden,  was  den 
scheelen  Blick  des  Nachbars  auf  den  Nachbarn  richtet. 
Wie  sehr  das  notwendig  ist,  mögen  folgende  Geschicht- 
chen zeigen,  die  ich  in  Amana  hörte:  Am  Kanal,  der 
die  Wasserkraft  des  Jowa-Flusses  der  Gesellschaft  dienst- 
bar macht,  waren  Ausbesserungen  nötig.  Mehreren  jungen 
Leuten  von  Amana  und  Süd -Amana  waren  diese  Arbeiten 
zugewiesen  worden.  Da  nun  die  Arbeiter  von  Süd-Amana 
^'2  Stunde  später  am  Ort  der  Arbeit  ankamen  als  die  von 
Amana,  erklärten  die  letzteren,  nun  auch  V2  Stunde  früher 
aufhören  zu  w^ollen.  Als  seiner  Zeit  Jowa  Temperenzstaat 
wurde  und  die  Bierbrauerei  der  Amana-Gesellschaft  auf- 
hören mufste,  da  wurden  neben  manchem  schmerzlichem 
Bedauern  auch  gegenteilige  Stimmen  laut:  nun  sei  wieder 
ein  Ärgernis  weniger  da,  sagten  viele;  denn  so  mancher 
habe  gedacht,  er  bekomme  zu  wenig  und  sein  Bruder  zu 
viel  von  dem  Bier!  —  Dafs  es  für  die  Amanisten  von  un- 
endlicher Wichtigkeit  ist,   sich   gegen  die  Aufsenwelt  ab- 


VIII.    Eine  Woche  unter  Kommunisten.  133 

zuschliefsen ,  erhellt  aus  dem  Gesagten.  Wie  könnte  ein 
Amanist,  der  einmal  das  kosmopolitische  Leben  der  Yer- 
■einigten  Staaten  gekostet  hat,  in  der  Kolonie  sich  glücklich 
fühlen?  Daher  schliefsen  sich  die  Amanisten  bewufst  von 
der  Aufsenwelt  ab,  was  am  wirksamsten  dadurch  geschieht, 
dafs  sie  die  englische  Sprache  nicht  unter  sich  aufkommen 
lassen.  In  den  Schulen  wird  zwar  englisch  gelehrt, 
dies  verlangt  die  Regierung;  aber  es  wird  in  der  Kolonie 
nur  deutsch  gesprochen,  daher  können  die  wenigsten 
Üiefsend  englisch  sprechen. 

Sind  diese  Mensehen  glücklich?  —  Ja!  wird 
der  Amanist  auf  diese  Frage  antworten;  denn  wäre  ich 
unglücklich ,  so  würde  ich  gehen.  Jedem  Mitglied  steht 
jederzeit  der  Austritt  aus  dem  Gemeinwesen  frei ,  für 
welchen  Fall  das  eventuell  eingeschossene  Vermögen  dem- 
selben zurück  bezahlt  wird.  Allein  wir  wollen  uns  mit  dieser 
Antwort  des  Amanisten  nicht  begnügen. 

Der  Freundlichkeit  eines  der  Ältesten,  Charles  Mörsehel, 
an  den  mich  der  Agent  der  Gesellschaft  in  Cedar  Rapids 
empfohlen  hatte,  dankte  ich  es,  dafs  ich  mit  ver- 
schiedenen Mitgliedern ,  darunter  auch  dem  Vorstand  der 
Gemeinde,  Dr.  Winzenried,  persönlich  in  Berührung  kam. 
Ich  suchte  sie  bei  der  Arbeit  und  in  ihren  Wohnungen  auf. 
Manchen  Sohn  Schwabens  habe  ich  da  getroffen.  Schon 
auf  der  Strafse  waren  mir  diese  Amanisten  aufgefallen. 
Über  ganz  Amana  liegt  eine  eigentümliche  Stille.  Ich 
Trennte  mich  des  Gefühls,  auf  einem  Kirchhof  zu  sein,  oft 
nicht  erwehren.  Nur  um  die  Mahlzeiten  und  zu  den  Ver- 
sammlungsstunden belebten  sich  die  Strafsen  ein  wenig. 
Da  wandeln  diese  Kommunisten  dahin,  alle  mit  derselben 
Ruhe,  das  Auge  entweder  zu  Boden  oder  gradeaus  gerichtet, 
unbekümmert  um  die  Umgebung.  Ihr  Gang  ist  langsam 
und   eigentümlich  kraftlos  und  —  sonderbar   —   bei  allen 


134  Hintrager. 

gleich.  Aber  noch  merkwürdiger!  Gleich  ist  auch  ihr 
Blick !  Ihr  Auge  hat  etwas  Weltverlorenes,  als  ob  es  ver- 
lernt hätte,  auf  den  Dingen  der  Aufsenwelt  mit  Interesse 
zu  haften ;  keine  Neugier,  kein  Feuer,  keine  Kraft !  Das- 
selbe Bild  bietet  ihre  Arbeit.  Ich  habe  in  der  Weberei 
zu  Amana  lange  den  arbeitenden  Brüdern  zugesehen: 
schwer  und  langsam  brachte  der  eine  den  Stoff  an  die 
Maschine,  gleichgültig  und  müde  drehte  der  zweite  das 
Rad.  Es  war  ein  Bild  der  Arbeit,  zu  der  kein  Sporn,  kein 
Interesse  den  Arbeiter  treibt.  Und  was  reden  sie?  Meist 
nichts.  Schweigsamere  Menschen  kann  man  sich  kaum  vor- 
stellen. War  nicht  Veranlassung  zu  sprechen,  wenn  ein 
Landsmann  kommt  vom  lieben,  alten  Vaterland?  Auch 
unter  sich  habe  ich  sie  gleich  schweigsam  gesehen.  Nur  mit 
wenigen  war  es  mir  überhaupt  möglich,  eine  fortlaufende 
Unterhaltung  zu  führen.  Sie  schienen  an  nichts  ein 
Interesse  zu  nehmen.  Nur  der  „Glaube"  erfüllte  ihre 
Seelen  und  war  stets  auf  ihrer  Zunge.  Immer  wieder  habe 
ich  die  Worte  gehört  fast  von  jedem:  „Ja!  dazu  gehört 
Glaube!  Ohne  Glauben  geht  das  nicht!  (nämlich  die  Güter- 
gemeinschaft).    Man  mufs  stark  sein  im  Glauben"  usw. 

Ich  werde  diese  Menschen  nicht  vergessen.  Das  also 
war  der  Einflufs  dieses  Lebens.  Ihnen  fehlte  gerade  das 
eine:  das  Leben.  Sie  waren  nicht  mehr  Menschen, 
Menschen  mit  Kräften  und  Leidenschaften,  mit  Freuden 
und  Schmerzen.  Ihr  Ziel  war  zu  himmlisch,  darum  starben 
sie  ab  für  diese  Welt,  an  die  kein  süfser  Wunsch 
sie  fesseln  durfte.  Sie  haben  nie  zu  kämpfen  gehabt  um 
ihr  tägliches  Brot.  Wie  sollten  sie  erfahren,  was  Sorge 
heifst?  Sie  konnten  nie  dem  Triebe  folgen,  etwas  für  sich, 
für  Weib  und  Kind  zu  eigen  zu  erwerben.  Wie  sollten  sie 
empfinden,  was  Erleichterung  von  Sorge  ist?  Ewig  gleich 
fliefst  ihr  Leben  dahin.    Da  ist  kein  Ringen  um  den  Besitz, 


VIII.    Eine  Woche  unter  Kommunisten.  135 

das  Tugenden  und  Laster  hervorbrächte,  kein  Steigen  und 
Fallen  auf  des  Glückes  Welle,  kein  weltlich  Heldentum, 
kein  Diehtersang  von  Lust  und  Leid.  Denn  alle  diese 
setzen  Kampf  voraus  und  Gegensätze.  Kampf  ist  das  Leben, 
und  dieser  fehlt  in  Amana.  So  sehr  vermeidet  der  Amanist 
den  Kampf  der  Welt,  dafs  die  Gesellschaft,  die  als 
juristische  Person  mit  der  Aufsenwelt  in  Verkehr  treten 
mufs,  einen  amerikanischen  Rechtsanwalt  mit  festem  Gehalt 
bezahlt,  dessen  Tätigkeit  in  der  Verhinderung  von  Rechts- 
streiten besteht.  Wird  die  Amanagesellsehaft  in  einen 
Prozefs  verwickelt,  so  werden  die  Gehaltzahlungen  gekürzt 
oder  sistiert.  Nach  alledem  ist  es  erklärlich,  dafs  in  der 
Geschichte  der  Amanagemeinde  die  meisten  Mitglieder, 
die  einmal  aus  der  Gemeinde  schieden,  sei  es  freiwillig, 
sei  es  gezwungen,  bald  wieder  zurückgekehrt  sind.  Sie 
besafsen  die  Kraft  nicht,  im  heifsen  Konkurrenzkampf  des 
nordamerikanischen  Lebens  standzuhalten,  sie,  die  ihre 
Kräfte  nie  geübt  hatten,  die  nie  gelernt  hatten,  für  sieh 
selbst  zu  denken,  zu  sorgen  und  zu  kämpfen.  Hier  war 
es  also  greifbar  und  lebendig,  was  von  den  Kathedern  ge- 
predigt wird ,  dafs  im  Kommunistenstaat  die  Menschen 
nicht  mehr  Menschen,  das  Leben  nicht  mehr  wert  zu 
leben  wäre.  Wenn  etwas  einen  überzeugten  Sozialisten 
wankend  machen  kann  in  seinem  Glauben,  so  ist  es  ein 
Besuch  in  Amana.  Ich  zahlte  meine  Rechnung  an  meinen 
Gastwirt,  den  frommen  Junggesellen  Haas.  Ihm  war  der 
Ausnahmeposten  als  Verwalter  desjenigen  Speisehauses,  in 
dem  auch  Fremde  Unterkunft  finden,  zuteil  geworden.  Er 
bekam  Geld  zu  sehen  und  zu  fühlen;  er  kam  mit  Nicht- 
mitgliedern  in  häufige  Berührung,  daher  mufste  er  be- 
sonders stark  sein  im  Glauben.  Als  ich  ihm  mein  Geld 
reichte  —  das  er  natürlich  an  die  Gemeinschaftskasse  ab- 
zuliefern hatte  — ,  dachte  ich:    Glücklicher,    für  dich  gibt 


130  Hintrager. 

es  Versuchungen,  für  dich  gibt  es  Tugend !  Auf  den  Bahn- 
hof begleitete  mich  Bruder  Mörschel.  Von  allen,  die  ich 
sah,  war  er  der  einzige,  der  ein  lebendiges  Interesse  am 
Leben  sich  bewahrt  hatte.  Er  hatte  viel  gelesen,  und  wir 
sprachen  oft  und  viel  zusammen.  Über  das  Buch  Bellamys 
„Rückblick  aus  dem  Jahr  2000"  sagte  er:  „Bellamy  hat  in 
vielen  Punkten  eine  getreue  Schilderung  unserer  inneren 
Organisation  gegeben,  nur  das  Wichtigste  hat  er  weg- 
gelassen, die  religiöse  Grundlage.  Er  stellt  es  dar,  als 
ob  ein  kommunistisches  Gemeinwesen  aufgebaut  werden 
könnte  auf  blofser  Vernunft  und  Nützlichkeitsgrundsätzen. 
Das  ist  aber  unmöglich.  Nur  eine  tiefe  Religiosität  vermag 
die  Selbstverleugnung  der  einzelnen  zu  erzielen ,  die  ein 
kommunistisches  Gemeinwesen  erfordert." 

Nach  einem  herzlichen  Abschied  von  Bruder  Mörschel 
kehrte  ich  nach  Cedar-Rapids  zurück.  Hier  suchte  ich  den 
Agenten  auf,  der  mich  gebeten  hatte,  ihm  meine  Eindrücke 
und  Erlebnisse  mitzuteilen.  „Nicht  wahr,"  so  empfing  mich 
der  Amerikaner,  „das  sind  merkwürdige  Menschen?  So 
etwas  können  nur  Deutsche  machen." 


IX.  Die  Amerikanerin. 

„Der  Mutter  Herz  ist  des  Kindes 
Schulzimmer." 

H.  W.  Beecher. 

Boston. 
Im  Laufe  einer  Unterhaltung  mit  dem  ehrwürdigen 
Anstaltsgeistlichen  des  New  Yorker  Staatsgefäugnisses  zu 
Auburn ,  Horatio  Yates ,  kamen  wir  auf  die  auffallend  ge- 
ringe Zahl  der  in  den  amerikanischen  Strafanstalten  be- 
findlichen weiblichen  Gefangenen  zu  sprechen.  Zwar  stellt 
in  allen  Kulturstaaten  der  Mann  den  gröfseren  Prozentsatz 
der  Gesetzesübertreter;  allein  in  den  Vereinigten  Staaten 
sind  nur  verschwindend  wenig  Frauen  in  Strafanstalten. 
„Nun,  was  denken  Sie,  ist  der  Grund  dieser  Tatsache?" 
fragte  Yates.  Ich  sagte,  ich  erkläre  es  mir  in  erster 
Linie  aus  der  bevorzugten  Stellung  der  Frau  hier;  sie  hat 
alle  Rechte,  und  die  amerikanischen  Richter  und  Ge- 
schworenen lassen  sie  in  den  meisten  Fällen  straffrei  aus- 
gehen. „Das  erklärt  es  wohl  zum  Teil,"  erwiderte  der 
greise  Pfarrer,  „aber  das  ist  nicht  das  Wesentliche.  Ich 
will  Ihnen  sagen,  was  der  Grund  ist:  Die  Frauen  sind 
besser,  sie  sind  reiner  von  Natur;  Gott  hat  sie  besser 
gemacht  als  den  Mann."  —  Ich  glaube,  es  ist  nicht  zu 
weit  gegangen,  wenn  ich  sage,  so  denkt  die  Mehrzahl  der 
amerikanischen  Männer.  Wie  wir  schon  auf  der  Farm, 
in  der  Schule,  im  Rechtsleben  gesehen  haben:  in  diesem 
Lande   herrscht,  die  Frau.    Wenn   die   Stellung  der   Frau 


138  Hintrager. 

ein  Mafsstab  ist  für  die  Höhe  der  Kulturentwicklung 
eines  Volkes,  dann  stehen  die  Vereinigten  Staaten  an  der 
Spitze  der  Kulturnationen.  Das  Weib  ist  ein  hervor- 
ragender Faktor  im  Leben  dieses  Volkes,  wie  schon  ein 
Blick  in  eine  Tageszeitung  zeigt.  Auch  im  Adel ,  der 
Diplomatie  und  der  Gesellschaft  der  Alten  Welt  spielt  ja 
die  Amerikanerin  nachgerade  eine  Rolle. 

Eine  der  ersten  Vertreterinnen  amerikanischer  Weiblich- 
keit, die  ich  kennen  lernte,  war  die  hübsche  Mifs  Daisy 
D.  Barbee,  mit  welcher  ich  gleichzeitig  die  juristischen 
Vorlesungen  an  der  Washington-Universität  in  St.  Louis 
besuchte.  Sie  ist  die  Tochter  eines  Farmers  aus  dem 
westlichen  Staate  Washington,  hat  in  ihrer  Jugend  mit 
Pferden  und  Schiefsgewehren  umzugehen  gelernt,  dafs  sie 
es  hierin  mit  jedem  Studenten  der  Law-sehool  aufnimmt, 
und  ist  schliefslich ,  wie  so  viele  strebsame  Mädchen  hier, 
Lehrerin  geworden.  Mit  etwa  23  Jahren  entsehlofs 
sie  sich,  Rechtsanwältin  zu  werden,  und  besuchte  zwei  Jahre 
lang  die  Universität  in  St.  Louis.  Sie  hatte  eine  ent- 
schieden juristische  Begabung,  das  zeigten  bei  den  praktischen 
Übungen  ihre  Antworten,  die  meist  die  besten  waren.  Sie 
hatte  auch  das  beste  Schlufsexamen  ihrer  Promotion  ge- 
macht. Es  war  mir  stets  ein  Genufs,  mich  mit  ihr  über 
juristische  Fragen  zu  unterhalten,  um  so  mehr,  als  sonst 
das  Leben  der  Studenten  wenig  von  den  Reizen  bot,  die 
uns  Deutsche  am  akademischen  Leben  erfreuen.  Die 
Studenten  waren  mehr  unseren  Obergymnasisten  zu  ver- 
gleichen :  sie  kamen  in  die  Vorlesungen,  wo  ihre  Anwesen- 
heit durch  Aufruf  kontrolliert  und  sie  auch  abgefragt 
wurden,  und  dann  ging  jeder  wieder  seiner  Wege  und 
arbeitete  fleifsig  zu  Hause.  Nur  einmal  in  der  Woche 
kamen  sie  abends  zusammen,  aber  nicht  zum  Singen  und 
Trinken,    sondern   zu   juristischen   Diskussionen   und    Ab- 


IX.    Die  Amerikanerin.  139 

haltuüg  von  nachgeahmten  Gerichtsverhandlungen  (moot- 
courts),  bei  denen  dann  und  wann  ein  Professor  oder  ein 
Richter  den  Vorsitz  führte.  Mit  besonderer  Freude  be- 
grtifste  ich  daher  die  schöne  Unbefangenheit  und  Freiheit, 
die  hier  im  Verkehr  der  Jugend  beider  Geschlechter  besteht, 
und  wiederholt  gab  mir  Mifs  Daisy  —  wie  man  hier  sagt  — 
„die  Ehre  und  das  Vergnügen  ihrer  Gesellschaft".  Als 
eine  Ehre  betrachtet  das  der  Mann  hier,  für  welche  er 
sich  durch  den  Abschied  von  manchem  Dollar  erkenntlich 
zeigt.  An  einem  schönen  Nachmittag  ritten  wir  zusammen 
spazieren.  Eine  Stunde  vor  der  Stadt  kamen  wir  an  einem 
Privatgestüt  vorüber,  auf  dessen  grofse  Rennbahn  die  Sonno 
freundlich  niederschien.  „Wollen  wir  nicht  ein  wenig  hier 
galoppieren?"  rief  meine  Begleiterin  und  bog  in  den  zum 
Gestüte  führenden  Privatweg  ein.  Als  wir  uns  dem  Ein- 
gangstore näherten ,  machte  ich  bescheiden  die  Bemerkung, 
die  Rennbahn  werde  wohl  Privateigentum  sein.    Sie  lächelte 

—  es  war  das  Lächeln ,  das  ich  Europäer  hier  so  manch- 
mal über  mich  ergehen  sehe  — ,  gab  ihrem  Pferd  den 
Sporn,  und  ehe  sie  nur  zu  den  Gestütsangestellten  am  Tore 
gesagt  hatte,  sie  würden  wohl  nichts  dagegen  haben,  dafs 
wir  die  Rennbahn  benützen,  hatten  diese  mit  ehrerbietiger 
Verbeugung  das  Tor  geöffnet.  „Sehen  Sie,  so  ist  es  in 
unserem  Lande,  wenn  ein  Mädchen  fragt,"  bemerkte 
schelmisch  die  schmucke  Reiterin,  und  nun  ging's  im  Sturm 
hinweg  über  die  herrliche  Bahn.  Schon  von  Anfang  an  war 
es  mir  aufgefallen,  dafs  unsere  Pferde  stets  dicht  neben- 
einander gingen,  in  einer  für  Rofs  und  Reiter  vertraulichen 
Nähe.  Als  ijiich  nachher  der  Leihstallbesitzer  fragte,  wie  ich 
mit  den  Pferden  zufrieden  gewesen  sei ,  und  ich  ihm  dies 
sagte,  lachte  er:  „Ich  sehe,  Sie  sind  noch  nicht  lange  im 
Lande.    Die  beiden  Pferde  werden  stets  von  Paaren  geritten." 

—  Das   Spazierenfahren    und   -Reiten   ist  in  der  Tat  der 


140  Hintrager. 

Lieblingssport  der  Jugend  hierzulande.  Täglich,  insbesondere 
an  Sonntagen,  begegnet  man  jungen  Leuten  in  den  Städten 
und  auf  den  Landstrafsen  in  den  leichten  Hickory-Fahr- 
zeugen. Selbst  die  kleinste  amerikanische  Stadt  hat 
mindestens  einen  Leihstall,  deren  Besitzer  verständnis- 
voll zu  lächeln  pflegt,  wenn  ein  Herr  ein  Buggy  für  zwei 
Personen  und  „ein  ruhiges  Pferd"  verlangt. 

Bald  war  die  begabte  Mifs  Daisy  ein  angesehenes 
Mitglied  der  St.  Louiser  Anwaltschaft  geworden.  Da  sie 
der  erste  weibliche  Rechtsanwalt  in  der  Stadt  war,  hatte 
ihr  Auftreten  seinerzeit  viel  Neugierde  und  Aufmerksam- 
keit erregt.  In  Zeitungen  hatte  ich  von  ihr  gelesen,  von 
ihren  Erfolgen  vor  Gericht,  von  ihrem  einfachen,  be- 
scheidenen Auftreten,  das  ihr  bald  viele  Freunde  gewonnen 
hatte.  Ich  war  begierig,  sie  wieder  zu  sehen  und  zu  hören, 
wie  es  ihr  ergangen  war.  In  ihrem  Bureau,  im  zehnten 
Stocke  eines  der  Himmelskratzer,  traf  ich  sie,  ganz  noch 
die  einstige,  stets  zu  Scherz  und  Disputation  aufgelegte, 
offene  Daisy.  Besonders  interessierte  mich  zu  hören,  wie 
sie  über  ihren  Beruf  sich  äufserte:  „In  meinem  Berufe  ver- 
gesse ich  ganz,  dafs  ich  ein  Weib  bin ;  dem  Arzte  geht  es 
ja  ebenso.  Ich  sehe  nicht  ein,  warum  ein  Weib  nicht  die- 
selben Berufe  ergreifen  sollte  wie  ein  Mann.  Wir  haben 
in  Nebraska  eine  Staatsanwältin,  die  sehr  tüchtig  ist.  Eine 
meiner  Kolleginnen  in  Illinois  gibt  eine  juristische  Zeit- 
schrift heraus  mit  bestem  Erfolge.  In  Wyoming  haben  die 
Frauen  das  aktive  und  passive  Wahlrecht,  und  in  Colorado 
sitzen  drei  Frauen  in  der  gesetzgebenden  Versammlung  des 
Staates;  eine  derselben  ist  Mutter  von  fünf  Kin(\,eru.  Hören 
Sie  einiges  aus  der  letzten  Wahlkampagne  in  Denver, 
Colorado."  Mifs  Barbee  ergriff  eine  Zeitung  und  las  mir 
folgendes  vor:  „Die  Kandidaten  für  nachstehende  Ämter 
sind   sämtlich  Frauen:  .  .  .  (folgt    Aufzählung).     Nur   die 


IX.    Die  Amerikanerin.  141 

Lehrerinnenveieine  haben  sich  gegen  einen  weiblichen 
Superintendenten  der  Staatsschulen  ausgesprochen.  Die 
Regsamkeit  der  Frauen  hat  die  Männer  einfach  verblüift. 
Jedermann  weifs,  dafs  Männer  politische  Kämpfe  nach 
Pickwickierart  betrachten  und  sich  trösten  mit  der  auf 
Erfahrung  und  Niederlagen  gegründeten  Überzeugung,  dafs 
die  Sonne  am  Tag  nach  der  Wahl  wie  gewöhnlich  aufgeht, 
wenn  auch  der  verhafste  Gegner  gesiegt  hat.  Die  Frauen 
scheinen  die  Wahl  als  das  letzte  Ende  der  Dinge  zu  be- 
trachten; darum  haben  sie  sich  mit  einer  Kraft  und  einer 
unermüdlichem  Energie  in  den  Kampf  geworfen,  die  die 
Besten  der  Männer  in  den  Schatten  stellt.  Natürlich  in- 
trigieren und  manipulieren  die  Männer  bei  Angelegenheiten, 
wie  Nominationen  und  Aufstellung  der  Wählerlisten,  auf  eine 
Weise,  die  die  Frauen  nicht  ganz  verstehen.  Frauen  er- 
heben sich  gelegentlich  bei  Versammlungen,  und  mit  Tränen 
in  ihren  glänzenden  Augen  verlangen  sie  zu  wissen,  wie  es 
kommt,  dafs  die  Flugblätter  des  Gegners  nicht  die  Wahr- 
heit sagen,  und  wie  es  kommt,  dafs  der  boss  des  16.  Distrikts, 
der  noch  eine  Woche  zuvor  auf  ihrer  Seite  war,  so  bar 
jeglichen  Gewissens  sein  könne,  sich  jetzt  mit  dem  Gegner 
zu  verbünden." 

„Freilich,"  fuhr  sie  in  ihrer  offenen  Klarheit  fort,  „was 
meinen  Beruf  betrifft,  mufs  ich  sagen,  das  Weib  taugt 
nach  meiner  Überzeugung  und  Erfahrung  nicht  gut  zum 
Rechtsanwalt.  Wir  nehmen  alles  zu  leicht  persönlich  und 
stofsen  und  halten  uns  oft  an  Kleinigkeiten.  Ich  hatte  oft 
und  habe  noch  oft  in  diesem  Punkte  mit  mir  zu  kämpfen, 
und,  glauben  Sie  mir,  ich  wäre  nicht  Rechtsanwalt  ge- 
blieben, wenn  ich  nicht  meine  Mutter  und  meinen  kranken 
Bruder  erhalten  müfste." 

„Ein  anderer  Nachteil  ist  für  die  Frau  der,  dafs  sie 
sich  nie  ganz  und  gar  dem  Berufe  hingibt;   denn  der  Ge- 


142  Hintrager. 

danke  an  die  Heirat  ist  stets  im  Hintergrunde.  Ich  leugne 
gar  nicht,  dafs  es  mir  gerade  so  geht,"  setzte  sie  lächelnd 
hinzu.  „Ich  fühle  mich  auch  durchaus  nicht  weniger 
weiblich,  wie  damals,  als  ich  noch  im  Staate  Washington 
meine  Sehulkinder  unterrichtete.  Sehen  Sie,  ich  habe  auch 
meine  Freunde,  die  mich  einladen  zu  Theater  und  Konzerten, 
mit  denen  ich  spazieren  fahre  und  manchen  Abend  ver- 
plaudere. Ich  fühle,  dafs  ich  vor  Gericht  einen  natürlichen 
Vorteil  vor  allen  meinen  Gegnern  habe,  eben  weil  ich  ein 
Weib  bin;  trotzdem  ich  mich  für  die  Gerichtsverhandlungen 
absichtlich  sehr  einfach  kleide,  auch  nicht  gestikuliere  und 
Phrasen  mache,  merke  ich  doch  gleich,  dafs  die  Ge- 
schworenen mir  mehr  glauben  als  meinem  Gegner.  Kürz- 
lich hatte  ich  eine  Verteidigung  zu  führen;  die  Schuld 
meiner  Klientin  lag  auf  der  Hand,  wir  hatten  auch  keinen 
einzigen  Entlastungszeugen.  Trotzdem  sprachen  die  Ge- 
schworenen frei,    woran  ich  nicht  entfernt  gedacht  hatte." 

Regelmäfsig  aus  Gründen  wirtschaftlicher  Notwendig- 
keit haben  sich  die  Frauen  in  ein  Berufsfeld  nach  dem 
andern  gedrängt,  so  dafs  heute  die  Zahl  der  ihren  Unterhalt 
ganz  oder  teilweise  verdienenden  Frauen  auf  etwa  20*^/o 
der  ganzen  weiblichen  Bevölkerung  der  Union  geschätzt 
wird.  Die  Mehrzahl  der  Familienväter  hier  kommt  nicht 
dazu,  Ersparnisse  zu  machen,  und  Pensionen  für  Witwen 
und  Waisen  gibt  es  nicht. 

Ich  verliefs  das  Bureau  meiner  ebenso  begabten  als 
liebenswürdigen  Kollegin  und  betrat  den  je  nach  zehn 
Stockwerken  haltenden  Aufzug,  nahm  den  Hut  ab,  wie  dies 
hier  Sitte  ist,  wenn  Damen  im  Lift  sind,  und  mit  grofser 
Schnelligkeit  ging  es  hinab  ins  Erdgeschofs.  Die  Strafse 
bot  das  übliche  Bild  der  Geschäftsviertel  amerikanischer 
Grofsstädte:  ein  enormer  Wagenverkehr,  eine  Masse 
Menschen  in   schnellem  Gange  und   viel   Schmutz,   «ßkh- 


IX,    Die  Amerikanerin.  143 

letztei'er  jeden  hier  bald  daran  gewöhnt,  die  Strafsen  nur 
im  rechten  Winkel  und  an  den  Strafsenkreuzungen  zu 
übersehreiten.  Oft  habe  ich  an  belebten  Übergängen 
gesehen,  dafs  Männer,  Polizisten,  ja  selbst  Knaben  eine 
Dame  am  Arme  über  die  Strafse  führten  und  sich  dann 
nach  ihrem  Ritterdienste  mit  höflichem  Grufse  verab- 
schiedeten. 

Ich  war  nicht  lange  durch  die  Strafsen  dahingeschlendert, 
da  und  dort  beobachtend,  wie  ich  dies  hier  so  gerne  tue, 
da  hörte  ich  meinen  Vornamen  und  ein  munteres  „Hallo!" 
von  einer  bekannten  Stimme  neben  mir.  Es  war  meine 
Freundin  Louise.  Nach  Taschentuch  und  Geldtäschchen  zu 
schliefsen,  das  sie  graziös  in  der  Hand  hielt,  ging  sie  in  Läden, 
„Shopping" ,  wie  die  Damen  hier  dies  Vergnügen  nennen. 
Dafs  man  auch  dies  sich  hier  recht  angenehm  und  zum 
Vergnügen  macht,  das  sollte  Mifs  Louise  bald  mich  lehren. 
Sie  lud  mich  ein,  sie  zu  begleiten.  Wir  gingen  durch  ver- 
schiedene der  gewaltigen  Kaufhäuser  und  liefsen  uns  bald 
dies,  bald  jenes  zeigen.  Kaufzwang  gibt  es  hier  nirgends. 
Nachdem  wir  uns  in  der  Musikalienabteilung  eines  Kauf- 
hauses von  der  Klavierspielerin,  die  hier  ständig  zum  Vor- 
spielen der  Noten  für  die  Kunden  angestellt  ist,  ein  kleines 
Konzert  hatten  geben  lassen,  auch  die  zur  Reklame  im 
Kaufhause  veranstaltete  Gemäldeausstellung  besichtigt 
hatten,  setzten  wir  uns  in  die  ebenfalls  im  Kaufhaus  be- 
findliche Konditorei,  um  zu  plaudern.  Die  Amerikanerin 
ist  die  Gesellschafterin  par  excellence.  Über  was  konnte 
meine  Freundin  nicht  alles  sprechen!  Für  was  hatte  sie 
nicht  alles  Interesse !  Sie  hatte  mit  ihren  Freundinnen  zu- 
sammen einen  Klub,  der  jeden  Winter  ein  anderes  Thema 
zum  Studium  sich  wählte.  Im  einen  Winter  war  es  Kunst- 
geschichte gewesen,  im  andern  Ethik,  Psychologie,  Literatur- 
geschichte.   Zurzeit  hatten   sie  Nationalökonomie   in    Be- 


144  Hintrager. 

hancllung;  ein  Universitätsprofessor  gab  ihnen  einen  Leit- 
faden; eines  der  Mitglieder  hatte  regelmäfsig  das  Referat 
zu  übernehmen.  Heute  hatte  Mifs  Louise  das  Referat  über 
„Schutzzoll  und  Freihandel".  Darum  drängte  sie  nach 
Hause,  und  bald  war  ich  meinen  Betrachtungen  über  diese 
Mädchen  überlassen,  denen  erlaubt  ist,  was  ihnen  gefällt. 
In  einem  hiesigen  Witzblatt  las  ich  jüngst  einen  hübschen 
Scherz  voll  charakteristischer  Mischung  von  Wahrheit  und 
Dichtung:  „Unsere  Mädchen  in  Bildern!"  16  Jahre  alt, 
verteilt  sie  Almosen  unter  arme  Negerkinder  und  bringt 
dem  Mörder  Blumen  in  die  Zelle.  Mit  17  Jahren  gibt  sie 
den  Chinesen  Sonntagsschulunterricht  im  Christentum. 
18  Jahre  alt,  kleidet  sie  sich  wie  ein  Herr.  Mit  19  Jahren 
verheiratet  sie  sich,  und  mit  20  läfst  sie  sich  scheiden 
und  geht  auf  die  andere  Seite  des  Wassers,  um  alles  noch 
einmal  von  vorne  anzufangen.  Und  dafs  dieser  Scherz 
nicht  einmal  allzusehr  übertreibt,  beweist  die  Tatsache, 
dafs  es  hier  Damenklubs  gibt,  die  in  Uniform  mit  Waffen 
exerzieren.  Ich  sah  in  St.  Louis  einmal  eine  weifshaarige 
Dame  in  Knickerbockers  an  einem  Damenschauturuen  teil- 
nehmen, und  in  der  Turnhalle  des  christlichen  Jünglings- 
vereins zu  Dubuque,  Jowa,  hielten  lange  die  Damen  der 
besten  Gesellschaft  ihre  „Kicking-exercises",  d.  h.  sie  traten 
nach  einem  in  Schulterhöhe  aufgehängten  Ball.  —  Kürz- 
lich brachte  eine  ledige  junge  Dame  der  besten  hiesigen 
Gesellschaft  eine  Negerfamilie  hierher  aus  Süd-Carolina, 
von  wo  diese  Familie  anläfslich  eines  Falls  von  Lynchjustiz 
flüchten  mufste.  Dafs  eine  Dame  einen  Fuhrmann ,  der 
sein  Pferd  mifshandelt,  auf  der  Stelle  züchtigt,  ist  hier 
wiederholt  vorgekommen. 

So  absonderlich  diese  Dinge  in  dem  kleinen  Europa 
draufsen  erscheinen  mögen,  so  sind  sie  es  kaum  in  der  freien 
Luft  der  grofsen  Räume  hier  und  angesichts  der  tausend 


IX.    Die  Amerikanerin.  145 

Möglichkeiten  des  Lebens  dieser  Neuen  Welt.  Es  ist  ein 
freier  Geist  in  diesem  Lande.  Auch  das  Familienleben 
zeigt  dies,  wie  ich  es  dank  der  grofsen  Gastfreundschaft 
hier  kennen  lernte.  Da  wird  kein  Kind  scharf  angefafst, 
kaum  ihm  etwas  verboten.  Die  Achtung  der  Rechte  und 
Freiheit  des  einzelnen,  das  Gewährenlassen  ist  eines  der 
ungeschriebenen  Gesetze  auch  im  Familienleben.  Die 
kleine  Gerty,  meine  Tischnachbarin  an  einem  amerikanischen 
Familientische ,  afs  oft  nur  von  einem  Gerichte ,  das  auf 
den  Tisch  kam ;  dies  wurde  als  etwas  ganz  Natürliches  hin- 
genommen. Sie  war  kaum  sechs  Jahre  alt,  genofs  aber  alle 
Rechte  eines  Erwachsenen.  Nur  einmal  sah  ich  sie  weinen, 
als  ein  Gast  vergafs,  sich  von  ihr  zu  verabschieden.  „Schlagt 
ihn  aus  der  Schöpfung,  schlagt  ihn  aus  dem  Weltall  hin- 
aus!" rief  sie  oft  beim  Krocketspiel  im  Garten  am  Hause, 
wenn  meine  Kugel  in  die  Gewalt  des  Gegners  kam.  Ihrer 
achtjährigen  Schwester  und  ihren  Gespielinnen  wehrte  nie- 
mand, als  sie  sich  damit  vergnügten,  an  einem  Seile  in  ein 
etwa  7  Meter  hoch  angebrachtes  Fenster  ihrer  Turnhalle 
hineinzuklettern.  Ihre  Mutter,  mit  der  ich  zusah,  be- 
ruhigte meine  europäischen  Bedenken  mit  den  Worten : 
„0,  wenn  sie  sich  nicht  stark  genug  fühlen,  bleiben  sie 
schon  weg."     So  erzieht  dieses  Land  seine  Kinder. 

Einst  war  ich  zu  Tisch  gebeten  in  einer  amerikanischen 
Familie  in  St.  Louis,  bei  der  die  schöne,  hier  nicht  seltene 
Sitte  besteht,  stets  ein  weiteres  Gedeck  für  einen  eventuell 
kommenden  Gast  aufzulegen.  Die  sonst  grofse  Tafel  der 
zahlreichen  Familie  war  heute  klein.  Wie  der  Vater,  ein 
angesehener  Grofskaufmann ,  mir  sagte,  war  die  jüngste 
Tochter  Etta  mit  einem  Freunde  auf  den  Flufs  gegangen 
zu  einer  Kahnfahrt;  eine  andere  Tochter  und  ein  Sohn 
waren  zurzeit  mit  einer  Gesellschaft  von  Freunden  und 
Freundinnen    ,camping   out'    einige    Meilen    oberhalb    am 

Hintrager.  10 


146  Hintrager. 

Mississippi,  d.  h.  sie  lebten  in  Zelten,  jagten,  fischten  und 
amüsierten  sich  in  der  freien  Natur.  So  waren  aufser  den 
Eltern  nur  der  älteste  Sohn  und  die  älteste  Tochter  bei 
Tische.  Mir  gegenüber  auf  dem  Platz  des  Sohnes  lag  ein 
schwerer  Brief,  „Ah,  Freundin  Alice  läfst  wieder  'mal 
etwas  von  sich  hören,"  sagte  er,  als  er  den  Brief  erblickte. 
„Nicht  wahr,  Sie  können  in  Deutschland  nicht  wohl  mit 
einer  jungen  Dame  korrespondieren?"  fragte  mich  die 
Tochter,  die  einst  mit  einer  Freundin  zusammen  eine 
Reise  durch  Deutschland  gemacht  hatte.  Als  ich  er- 
widerte: „Gewifs,  nur  mufs  man  sich  vorher  beinahe  ver- 
loben," bemerkte  der  Sohn  mit  Lachen:  „0,  wir  haben 
keine  Geheimnisse.  Bitte,  lesen  Sie  den  Brief,"  und  gab 
mir  den  uneröffneten  Brief.  Mit  Erlaubnis  des  Adressaten 
gebe  ich  den  Inhalt  wieder  ohne  Indiskretion  gegen  die 
liebenswürdige  Schreiberin,  eine  23jährige  Tochter  des 
Staates  Missouri,  die  andere  ja  nicht  erraten  werden. 

„Lieber  Teddy,"  begann  sie,  „wenn  Gedanken  Briefe 
wären,  hätten  Sie  schon  viele  erhalten.  Ich  sehe,  es  ist 
schon  einen  Monat  her,  dafs  ich  Ihnen  nicht  mehr  ge- 
schrieben habe.  Allein  wir  hatten  keine  Hilfe  (Dienst- 
boten), und  was  wir  jetzt  haben,  ist  nichts  Hervorragendes. 
Vor  zwei  Wochen  bin  ich  von  der  Farm  zurückgekehrt. 
Ach,  ich  wäre  so  gern  noch  geblieben.  Das  Landleben 
hat  mir  so  gut  gefallen.  Die  letzte  Woche  halfen  wir 
beim  Dreschen.  Das  bedeutet  aber  nicht,  dafs  wir  blofs 
dastanden  und  zusahen,  sondern  zur  allgemeinen  Über- 
raschung gingen  wir  zu  Nachbar  Prior  und  bestanden 
darauf,  dafs  Frau  Prior  uns,  d.  h.  Mifs  L. ,  mich,  meine 
Schwester  und  Tante  Lucy  alles  Kochen  und  das  Servieren 
bei  Tische  besorgen  liefs.  Diese  Leute  dachten,  wir  seien 
so  'ne  Art  Stadtdamen,  die  zu  nichts  nütze  sind  (good  for 


IX.    Die  Amerikanerin.  147 

nothing-girls) ,  und  wir  freuten  uns,  dafs  wir  etwas  zu 
zeigen  hatten.  Als  Herr  Prior  in  die  Küche  trat,  machte 
er  eine  Minute  lang  grofse  Augen  beim  Anblick  der  neuen 
Köchin,  dann,  als  er  mich,  die  Händen  im  Biskuitteig,  er- 
kannte, sagte  er:  ,Well,  Potz  Blitz!'  Wir  kochten  für  22 
Drescher,  und  ich  sage  Ihnen,  wir  hatten  uns  zu  sputen. 
Nach  dem  Essen  fuhren  wir  aufs  Feld  hinaus  und  machten 
einige  Momentaufnahmen  von  den  Dreschern.  K.s  haben 
zwei  tadellose  schwarze  Diener,  und  Tante  L.  macht  sich 
«in  Vergnügen  daraus,  uns  zu  Tode  zu  füttern.  Sie  werden 
mich  kaum  mehr  kennen,  wenn  Sie  mich  sehen;  ich  habe 
um  sechs  Pfund  zugenommen  und  fühle  mich  besser  als 
je  in  meinem  Leben.  Meine  Schwester  ist  noch  auf  der 
Farm.  Sie  schreibt :  ,Wir  haben  die  ganze  jeunesse  doree 
(dudes)  des  nahen  Städtchens  N.  am  Schürzenband  und 
mehr  Verehrer  (beaux),  als  wir  ohne  Gefahr  leiten  (manage) 
können.'  In  N.  ist  eine  allerliebste  Gesellschaft  von  jungen 
Kerls  (fellows).  Sie  brachten  die  Hälfte  ihrer  Zeit  auf  der 
Farm  bei  uns  zu,  brachten  uns  Lieder,  Tanzmusik  und 
—  werden  Sie  es  glauben  —  Günthers  Chicago  Zucker- 
backwerk. 0,  sie  sind  all  right.  Wir  haben  auch  gefischt 
und  gejagt.  Ich  glaube,  ich  könnte  keinen  Elefanten 
schiefsen,  wenn  ich  es  versuchte.  Dafs  Herr  G.  hier  durch- 
reisen wird,  freut  mich  sehr.  Ich  hoffe,  er  wird  mich  be- 
suchen. Ich  möchte  ihn  gerne  wiedersehen.  In  unserem 
Red  Rose  Pleasure-Club  lesen  wir  jetzt  Spinoza  und  Hegel. 
Ich  selbst  habe  in  letzter  Zeit  sehr  wenig  gelesen,  kam 
oft  kaum  dazu,  einen  Blick  in  die  Zeitung  zu  werfen.  Am 
16.  hatten  wir  eine  totale  Mondfinsternis.  Es  war  eine 
schöne  helle  Nacht.  Es  war  sehr  interessant.  Sonst 
regnet  es  hier  gewöhnlich,  wenn  eine  Mondfinsternis  ist. 
Aber  diesmal  war  es  schön  klar.  Letzten  Sonntag  hatten 
wir  einen  schrecklichen  Hagelsturm,  der  die  dicksten  Glas- 

10* 


148  Hintrager. 

platten  auf  den  Dächern  durchschlug.  Glücklicherweise 
war  er  nur  kurz,  aber  der  Schaden  war  doch  sehr  grofs. 
Es  ist  gegenwärtig  so  heifs,  dafs  man  den  ganzen  Tag  ein 
türkisches  Bad  hat.  Ich  wollte,  Sie  wären  hier  gewesen 
letzten  Montag  bei  unserer  Exkursion.  Wir  hatten  viele 
Waisenhauskinder  und  die  410  Kinder  von  dem  Heim  für 
Verwahrloste  (House  of  Refuge).  Wir  hatten  über  2000 
Personen  und  hatten  Schinkenbrote  für  alle  zu  richten,^ 
aufser  Tee,  Kaffee,  Milch  und  Crackers.  Auch  Ice-Cream 
gab's.  Die  Familien  L.  und  W.  zahlten  die  Exkursion. 
Hier  dreht  sich  alles  um  die  Bürgermeisterwahl.  F.  ist 
bei  dem  N.-Komitee,  R.  bei  dem  für  die  republikanischen 
Kandidaten.  Beides  gute  Leute.  Ich  sende  Ihnen  einige 
der  kleinen  Abzeichen,  die  die  Republikaner  tragen.  Ich 
finde  sie  sehr  geschmackvoll. 

Nach  den  Zeitungen  regen  sich  die  fremden  Mächte 
darüber  auf,  dafs  wir  die  Philippinen  behalten  wollen.  Es 
scheint  mir  noch  sehr  fraglich,  ob  wir  sie  behalten  werden. 
Aber  jedenfalls  werden  wir  uns  von  keiner  fremden  Macht 
etwas  diktieren  lassen.  Ich  glaube,  die  Europäer  haben 
nun  gesehen,  dafs  die  Amerikaner  patriotisch  und  imstande 
sind,  ihre  Flagge  zu  schützen.  Ihre  Handelsinteressen 
sollten  doch,  meine  ich,  die  fremden  Zeitungen  verhindern^ 
diese  feindlichen  Gefühle  zu  äufsern.  Unsere  Regierung 
macht  ja  gewifs  viele  Fehler.  Aber  Freiheit  und  Gerechtig- 
keit werden  am  Ende  doch  triumphieren.  Denn  unser 
Volk  ist  im  Grunde  seines  Herzens  all  right. 

Doch  ich  mufs  schlielsen,  es  ist  Zeit  zum  Essen,  und 
ich  glaube,  Sie  werden  auch  denken,  dafs  es  Zeit  ist. 
Geben  Sie  meine  Liebe  (give  my  love)  Ihren  Ange- 
hörigen,  besonders    dem    lieben    kleinen    Gharley^),    und 

')  Ist  22  Jahre  alt. 


IX.    Die  Amerikanerin.  149 

denken  Sie  daran ,  wie  sehr  es  erfreut ,  wenn  der  Postbote 
kommt  und  einen  Brief  bringt. 
Herzlichen  Grufs 

Ihre  aufrichtige  Freundin 
Alice." 

Solche  Briefe ,   nicht  unter   acht  Seiten  lang ,    erhält 
man,  wenn  man  mit  Töchtern  dieses  Landes  korrespondiert. 

Es  scheint  mir  sehr  bezeichnend,  dafs  die  Lady  hier 
«0  viel  zusammen  mit  dem  Kinde  genannt  wird.  Die 
„Ladies  and  Children"  sind  der  Gegenstand  der  be- 
sonderen Sorgfalt  und  Liebe  der  Nation.  Im  Stadtpark  von 
New  Orleans  hängen  Schaukeln  von  den  Zweigen  der 
schönen  südländischen  Bäume  herab,  und  am  Stamme  ist 
zu  lesen:  „Diese  Schaukeln  sind  ausschliefslich  reserviert 
für  Ladies  and  Children."  Ungütig  (unkind)  zu  sein  gegen 
Frauen  oder  Kinder  ist  eine  Todsünde  hier,  wie  mir  die 
exemplarischen  Strafdrohungen  und  Strafen  für  Verbrechen 
gegen  dieselben  da  und  dort  gezeigt  haben.  Verlöbnisbruch 
ist  in  manchen  Staaten  kriminell  strafbar.  Th.  Roosevelt 
tat  als  Gouverneur  von  New  York  den  Ausspruch ,  er  sei 
für  Wiedereinführung  des  Schandpfahls  und  der  Prügel- 
strafe, und  zwar  als  Strafe  für  die,  die  ein  Weib  schlagen. 
Einst  hörte  ich  einen  Vortrag  des  geistreichen  Redners 
Ingersoll  über  die  Bibel.  Von  all  seinen  Argumenten 
gegen  die  Bibel,  ihre  Inspiration  und  ihren  Inhalt  legte 
er  auf  keines  mehr  Wert  und  machte  mit  keinem  mehr 
Eindruck  als  mit  dem  Hinweise  darauf,  dafs  es  im  Willen 
des  Judengottes  lag,  dafs  ein  ganzer  Stamm  der  Feinde 
des  auserwählten  Volkes  erschlagen  wurde.  „Ich  will 
keine  Worte  verlieren  von  den  Männern.  Sie  stehen  mitten 
inne  im  Kampfe  der  Interessen.  Sie  laden  Hafs  auf  sich 
und   Schuld.     Aber   die   armen   unschuldigen   Frauen   und 


150  Hintrager. 

Kinder!  Ist  das  ein  Gott  der  Liebe,  in  dessen  Ratschlufs^ 
solches  liegt?"  So  sprach  IngersoU,  dessen  Rednertalent 
und  edle  Gesinnung  ganz  Amerika  bewunderte  trotz  seines 
Unglaubens.  —  In  Kansas  City  brachen  zwei  Fuhrmanns- 
frauen einen  Streik  der  Fuhrleute.  Sie  fuhren  für  ihra 
Männer.    Niemand  wagte  ihnen  entgegenzutreten. 

Und  doch,  trotzdem  das  Weib  hier  alle  Rechte  hat, 
trotzdem  Gesetz,  Gericht  und  öffentliche  Meinung  stets 
auf  ihrer  Seite  sind,  gibt  es  auch  hier  eine  Frauen- 
emanzipation. Man  ist  versucht,  zu  fragen:  Was  ist  noch 
zu  emanzipieren  in  einem  Lande,  in  dem  nach  dem  Ge- 
setze die  Ehefrau  ganz  wie  ein  fremdes,  selbständiges 
Rechtssubjekt  ihrem  Mann  gegenübersteht,  wo  die  Damen 
ihre  eigenen  Bahnhof- Wartesäle,  Hoteleingänge,  auf  Post- 
ämtern ihren  eigenen  Raum  für  postlagernde  Briefe  haben,, 
wo  ein  Mädchen  allein,  selbst  in  der  Grofsstadt,  sicherer 
reist  und  geht  als  ein  Mann ,  wo  Gouverneure  junge 
Studentinnen  zu  Ehrenmitgliedern  von  Ausstellungs- 
kommissionen ernennen  V 

Das  Feld  der  Tätigkeit  der  Emanzipationsbewegung 
ist  naturgemäfs  ein  beschränktes.  Auf  dem  Gebiete  der 
Berufstätigkeit  kann  die  Frau  hier  kaum  mehr  etwas 
begehren,  was  sie  nicht  schon  hat;  gibt  es  doch  längst 
weibliche  Staatsanwälte,  Lotsen,  Apotheker,  Pfarrer,  Re- 
porter, Architekten  usw.  Ein  grofser  Teil  des  Kanzlei- 
personals der  Gerichte  und  Behörden  ist  weiblich.  Auch 
die  Bundesbehörden  machen  hiervon  keine  Ausnahme. 
Im  Bundesschatzamt  in  Washington  sind  zum  Zählen 
des  Papiergeldes  fast  nur  weibliche  Arbeitskräfte  ver- 
wendet. „Sehen  Sie  jene  grauhaarige  Lady,"  sagte  mir 
der  Beamte,  der  mich  durch  das  Schatzamt  führte,  „sie 
ist  ein  Expert;  sie  zählt  in  der  Stunde  so  und  soviel 
tausend  Dollarbills.    Die  Frauen  können  viel  mehr  Bills 


IX.    Die  Amerikanerin.  151 

zählen  als  die  Männer.  Sie  haben  feinere  Finger,  auch 
stehlen  sie  weniger." 

Das  Feld  der  öffentlichen  Wohltätigkeit  gehört  nahe- 
zu ausschliefslich  der  Frau.  Nicht  nur  alle  privaten 
Wohltätigkeitsorganisationen  sind  in  ihren  Händen,  sondern 
auch  staatliche  und  kommunale  Ämter ,  mit  welchen 
eine  Tätigkeit  dieser  Art  verbunden  ist.  Jedes  Polizei- 
bureau hat  seine  Matrone;  in  den  staatlichen  Straf- 
anstalten-Kollegien, in  den  staatlichen  und  städtischen 
Wohltätigkeitsämtern  (boards  of  Charity),  welche  be- 
zeichnenderweise oft  mit  jenen  eine  Behörde  bilden,  sind 
Frauen  vertreten. 

So  bleiben,  wenn  wir  zunächst  von  der  Frauenbildung 
absehen,  in  der  Hauptsache  zwei  Gegenstände,  die  hier  die 
Vertreter  und  Vertreterinnen  der  Frauenbewegung  be- 
schäftigen: das  Frauenstimmrecht  und  alles  das,  was  mit 
„Temperenz"  gemeint  ist.  Seit  den  Kämpfen  für  Ab- 
schaffung der  Sklaverei,  an  denen  die  Frauen  sich  lebhaft 
beteiligten,  gibt  es  fast  in  allen  Staaten  der  Union  Gesell- 
schaften für  Frauenstimmrecht  (woman  suffrage-societies). 
Sie  erstreben,  zurzeit  freilich  ohne  Aussicht,  eine  Ab- 
änderung der  Staatsverfassungen  und  der  Bundesverfassung 
dahin,  dafs  weiblichen  Bürgern  aktives  und  passives  Wahl- 
recht wie  den  männlichen  zustehen  soll,  also  einschliefslich 
der  Wählbarkeit  zum  Präsidenten  der  Union.  Was  sie 
erreicht  haben,  mag,  neben  dem  eingangs  Erwähnten,  aus 
folgenden  wenigen  Daten  ersehen  weiden.  In  vielen 
Staaten  haben  die  Frauen  aktives  und  passives  Wahlrecht 
in  Schulangelegenheiten;  in  Colorado  ist  eine  Frau  staat- 
licher Schulsuperintendent.  Im  Staate  Kansas  haben  sie 
aktives  und  passives  Wahlrecht  bei  allen  städtischen 
Wahlen;  der  letzte  Oberbürgermeister  von  Kansas  City 
war  eine   Frau.     Jn   Wyoming   waren   Frauen   lange   Zeit 


152  Hintrager. 

Geschworene.  In  einigen  wenigen  Staaten,  z.  B.  Arkansas, 
haben  die  Frauen  das  Stimmrecht  bei  den  lokalen  Ab- 
stimmungen über  die  Frage,  ob  eine  Wirtschaftskonzession 
erteilt  werden  soll  oder  nicht.  Die  Mitwirkung  der  Frau 
bei  der  Behandlung  der  Alkoholfrage  ist  es  vor  allem, 
was  die  Frauenstimmrechtler  wollen.  Die  Frauen  stehen 
zusammen  mit  den  Kirchen,  die  naturgemäfs  auch  für 
Frauenstimmrecht  sind ,  auf  Seiten  der  Prohibition  und 
haben  ihre  Überzeugungen  mit  der  in  der  Union  dem  In- 
dividuum eigenen  Initiative  und  Energie  gelegentlich  so 
sehr  zum  Ausdruck  gebracht,  dafs  die  kampfreiche  Ge- 
schichte der  Vereinigten  Staaten  auch  einen  „Frauen- 
"Whiskey-Krieg"  zu  verzeichnen  hat.  Nicht  nur  in  mächtigen, 
wohlorganisierten  Verbänden,  wie  es  z.  B.  die  über  das  ganze 
Land  sich  erstreckende  Womens  Christian  Temperance 
Union  ist,  wird  dieser  Kampf  geführt,  sondern  auch  von 
einzelnen  Frauen  mit  grofsem  Eifer.  Ich  war  Zeuge,  wie 
eine  Dame  der  ersten  Gesellschaft  der  Stadt  Dubuque  vor 
dem  Gerichtsgebäude  vorfuhr  und  den  Gerichtsvollzieher 
photographierte ,  als  dieser  gerade  Wein  im  Zwangs- 
vollstreckungswege öffentlich  versteigerte.  Sie  wollte  den 
Beweis  festhalten,  dafs  in  einem  Temperenzstaate,  in  dem 
das  Gesetz  den  Verkauf  alkoholischer  Getränke  verbietet, 
ein  Beamter  Wein  versteigerte.  Nicht  lange  darauf  war 
das  Ereignis  in  Wort  und  Bild  allgemein  verbreitet.  Die 
meisten  Gesetzgebungen  verbieten  hier  weibliche  Bedienung 
in  W^irtschaften.  Letztere  spielen  überhaupt  keine  so 
grofse  Rolle,  da  der  Amerikaner  abends  nicht  im  Wirts- 
haus sitzt.  In  der  Stadt  Kokomo,  Ind.  (16000  Einwohner), 
führte  eine  Dame  die  Schliefsung  von  16  Wirtschaften 
herbei,  die  dem  Gesetz  zuwider  betrieben  wurden.  Ein 
Richter  im  Staate  Jowa  erzählte  mir,  dafs  er  einst  auf 
der   Strafse   von   einer  Dame,   die  Mitglied   der  obenge- 


IX.    Die  Amerikanerin.  153 

nannten  Temperance  Union  war,  wegen  eines  Urteilsspruchs 
in  einer  Wirtschaftsfrage  zur  Eede  gestellt  wurde.  „Ja," 
meinte  er,  „mit  unseren  Frauen  ist  nicht  zu  spafsen.  Sie 
gehen  selbst  ins  Parlament  und  verfechten  ihre  Sache  mit 
einem  Eifer,  gegen  den  man  nichts  tun  kann."  In  der  Tat 
habe  ich  im  gesetzgebenden  Körper  des  Staates  New  York 
viele  Damen  im  Sitzungssaal  (nicht  auf  den  Tribünen)  den 
Sitzungen  anwohnen  sehen.  Dem  Einflufs  der  Frauen  war 
es  hauptsächlich  zuzuschreiben,  dafs  der  Mormonensenator 
Roberts  aus  dem  Kongrefs  ausgeschlossen  wurde,  weil  er 
mehrere  Frauen  hatte.  Abgesehen  von  den  berührten  Ge- 
bieten nimmt  übrigens  die  Frau  hier  an  der  Politik  nicht 
tätigen  Anteil. 

Man  sieht,  an  Regsamkeit  und  Streben  fehlt  es  diesen 
Amerikanerinnen  wahrlich  nicht.  Sie  sind  so  unruhig  wie 
ihr  Lieblingsmöbel,  der  Schaukelstuhl.  Aber  wie  steht  es 
mit  ihrer  Tätigkeit  im  Hause,  da,  wo  sie  in  erster 
Linie  hingehört?  —  Soviel  ich  davon  sah  und  verstehe, 
leistet  die  Amerikanerin  viel  und  Tüchtiges,  wenn  auch 
nicht  so  gründlich  gearbeitet  wird  wie  in  Deutschland. 
Da  ich  aber  weniger  meine  Ansichten  als  vielmehr  eine 
Feststellung  des  Tatbestandes  geben  möchte,  so  will  ich  die 
Frage  auch  mit  ein  paar  Tatsachen  beantworten.  In  jener 
Familie,  deren  religiöses  Leben  ich  in  den  Aufzeichnungen 
über  die  Kirche  geschildert  habe,  begann  jeden  Montag 
früh  4  Uhr  ein  Wäschefest,  bei  dem  aufser  den  Dienst- 
boten sämtliche  weiblichen  Mitglieder  der  Familie  so  tätig 
sich  beteiligten,  dafs  abends  4  Uhr  die  Wäsche  fertig  wieder 
an  ihrem  Platze  war.  Dann  machten  die  Damen  Toilette. 
Wenn  nach  der  Abendmahlzeit  Tante  Anna  von  Literatur 
und  Politik  sprach,  wer  hätte  da  gedacht,  dafs  sie  die  Seife 
für  das  Wäschefest  selbst  herzustellen  pflegt!  —  Nur  reiche 
Leute  können  sich  hier  Dienstboten  halten.    Die  Dienst- 


154  Hintrager. 

boten  wollen  hier  wie  Damen  behandelt  sein  und  tun  keine 
niedere  Arbeit.  Daher  stammen  die  zahlreichen  praktischen 
Einrichtungen  für  den  Haushalt,  die  nach  und  nach  auch 
nach  Europa  kommen,  aus  diesem  Lande.  Nach  der 
Statistik  des  Patentamtes  in  Washington  sind  sie  zu  einem 
grofsen  Teil  von  Frauen  erfunden.  Wie  der  biedere  Farmer 
Alexander  seiner  Frau  dieses  oder  jenes  Geschäft  im  Haus- 
halt abnimmt,  so  ist  es  hier  in  den  meisten  Haus- 
haltungen üblich.  — 

Ich  will  nicht  die  Umstände  aufzählen,  aus  denen  die 
bevorzugte  Stellung  der  Amerikanerin  erklärt  zu  werden 
pflegt.  Nur  auf  ein  Moment,  das  in  dieser  Richtung  be- 
sonders beachtet  zu  werden  verdient,  möchte  ich  die  Auf- 
merksamkeit noch  lenken :  Die  Bildung  der  amerikanischen 
Frau.  Aus  ihr  erklärt  sich  das  meiste.  Wie  bekannt, 
stehen  dem  Mädchen  hier  dieselben  Bildungsgelegenheiten 
offen  wie  dem  Knaben.  Je  höher  die  Altersstufen  steigen, 
desto  mehr  Mädchen  sitzen  auf  der  Schulbank.  Selbst  auf 
den  Universitäten  gibt  es  Kurse,  in  denen  die  weiblichen 
Zuhörer  zahlreicher  sind  als  die  männlichen.  Das  Weib 
teilt  die  allgemein  amerikanische  Lern-  und  Wifsbegierde 
in  solchem  Mafse,  dafs  sie  in  gewissen  Gegenständen  und 
Altersstufen  den  Mann  an  Eifer  übertrifft.  Während 
der  Mann  jung  dem  Erwerbsleben  sich  zuwendet  und  für 
unverwertbare  Wissenschaft  wenig  Sinn  und  Mufse  zu 
haben  pflegt,  setzt  die  Amerikanerin  den  Schulbesuch  in  der 
Regel  bis  zum  18.  oder  19.  Jahre  fort  und  pflegt  auch 
nachher  noch  Wissenschaft  und  Kunst.  Viel  zu  wissen  ist 
ihr  Stolz,  ihr  Ruhm.  Sie  liest  sehr  viel.  Einst  sagte  mir 
auf  dem  Wege  durch  die  Strafsen  einer  Stadt  mittlerer 
Gröfse  meine  amerikanische  Begleiterin:  „Sehen  Sie,  in 
diesem  Hause  wohnt  die  gescheiteste  und  gelehrteste 
Dame  der  Stadt."    In  St.  Louis  kennt  jedes  Kind  die  ehr- 


IX.    Die  Amerikanerin,  155 

Würdige  Bibliothekarin ,  von  der  man  sagt ,  dafs  sie  alles 
weifs.  In  einer  kleinen  Stadt  hörte  ich, »dafs  Damen  sich 
gelegentlich  fremde  Essays  kaufen,  um  bei  ihren  literarischen 
Soireen  mit  denselben  zu  glänzen.  Hier  in  Boston  kann 
man  täglich  im  Museum  der  bildenden  Künste  Mädchen 
aller  Altersstufen  sehen,  die  die  klassischen  Statuen  des 
griechischen  und  römischen  Altertums  abzeichnen  oder  nach- 
bilden. In  allen  gelehrten  Berufen  mehren  sich  die  Frauen. 
Schriftstellerinnen  gibt  es  sehr  viele.  Selbst  Mädchen  der 
Arbeiterklassen  haben  ihre  Klubs  für  Zwecke  der  Gesellig- 
keit und  Bildung.  Kurz,  die  Frau  ist  im  allgemeinen  dem 
Mann  an  Geistesbildung  überlegen,  —  eine  bedeutsame 
Tatsache,  die  nicht  zum  wenigsten  von  gebildeten  Männern 
des  Landes  beklagt  wird.  Kenner  der  Union  erblicken  in 
der  Entwicklung  der  letzten  Jahrzehnte  eine  Gefahr  der 
Verweiblichung  der  amerikanischen  Kultur. 

Th.  Koosevelt  hat  einmal  dem  amerikanischen  Weibe 
den  Vorwurf  gemacht,  sie  sei  zu  selbstsüchtig,  zu  wenig 
zu  Opfern  bereit.  Auch  dem  nur  flüchtigen  Besucher 
dieses  Landes  kann  es  nicht  entgehen,  dafs  viele  des  Wissens 
Gut  mit  dem  Herzen  zahlen.  Viele  verschmähen  die  Ehe 
oder  entziehen  sich  in  der  Ehe  den  Pflichten  derselben.  Von 
den  zahlreichen  Ehescheidungen  erfolgt  die  Mehrzahl  auf 
Antrag  der  Frau.  Da  und  dort  trifft  man  Familien,  die 
in  Hotels  oder  Pensionen  leben.  Manche,  besonders  unter 
den  Töchtern  des  Westens,  machen  von  ihrer  Freiheit  und 
ihren  Rechten  einen  sehr  weitgehenden  Gebrauch. 

Auf  der  Reise  vom  Westen  hierher  besuchte  ich  das 
bekannte  Smith-College  in  Northampton,  Mass.  Es  ist 
das  eine  der  ausschlief slich  für  Damen  bestimmten  höheren 
Lehranstalten,  deren  es  in  den  alten  Staaten  des  Ostens 
mehrere  gibt.  Mit  dem  sonst  überall  in  der  Union 
hochgehaltenen  Grundsatz   der  Coeducation,    d.  h.  der  ge- 


156  Hintrager. 

meinschaftlichen  Erziehung  beider  Geschlechter,   hat  man 
hier,    auf  dem  Boden  der  alten,   euroi)aähnlichen  Kultur, 
gebrochen.     „So  viel    auch  die  Jungeus    bei  Coeducation 
gewinnen  mögen,    die   Mädchen   verlieren   immer   dabei," 
sagte   mir   eine   Schulvorsteherin    im  Laufe  einer   Unter- 
haltung über  diesen  Gegenstand.    Dieselbe  Frau  tat  auch 
von  ihrem  College   den   vielsagenden  Ausspruch:    „Wenn 
die  Jünglinge  allein  in  die  Stadt  gehen,   bin  ich  immer 
in    Sorge.     Wenn    die   Mädchen    mitgehen,    bin   ich    ganz 
ruhig."     Eine  der  Collegegirls,  die  ich  in  grofser  Zahl  in 
den  Gängen  und  auf  den  Treppen  eines  der  Lehrgebäude 
der  Anstalt  traf,  führte  mich  zu  dem  Professor  der  Natur- 
wissenschaften, den  ich  besuchen  wollte.    In  seinem  Zimmer 
empfing    mich    seine    Assistentin,    eine    etwa    26jährige 
Doktorin',  deren  Anmut  zu  den  Skeletten  und  Präparaten 
um  uns  her  in  eigentümlichem  Gegensatz   stand.    Um  mir 
die  Zeit    des  Wartens    auf   den   abwesenden  Professor   zu 
verkürzen,  lud  mich  die  Assistentin  ein,  einer  Vorlesung 
anzuwohnen ,    die    sie   nun   zu    geben    habe.     Da   sprach 
nun    die    liebenswürdige    Dame    vor    einer    Zuhörerschaft 
von    17 — 2.3jährigen  Mädchen   über    die   Entwicklung   der 
Knochenbildung  beim  Menschen,    und   zwar   schon  bei  der 
Frucht  im  Mutterleib  beginnend.    Und   auf  dem  Podium 
neben   ihr   stand   ein  Skelett.  —  Als   der  Professor,    ein 
Mann  in  den  30  er  Jahren,  kam  und  wir  in  seinem  Zimmer 
alte     Erinnerungen     austauschten,     traten     zwei     junge 
Mädchen  herein   zu   ihm   mit   der  Frage:    „Herr  Wilder, 
wann    werden    wir    unsere    Katzen    bekommen?"  —  „Die 
Frau  ist  nicht  gekommen,  die  sie  bringen  sollte,"  erwiderte 
der  Professor;    „allein    in   der  Kiste   im  Erdgeschofs   sind 
noch  ein  paar  Ratten;  nehmen  Sie  einstweilen  diese."    Es 
waren  dies   die  Objekte  für  Sektionen  und  Vivisektionen. 
Auf  unserem  Piundgaug   durch   die  Anstalt  sah  ich  denn 


IX.    Die  Amerikanerin.  157 

auch  bald  die  sezierenden  Damen  mutig  an  der  Arbeit. 
Eine  derselben  war  eben  beschäftigt,  ein  blendend  weifses, 
schön  präpariertes  Eattenskelett  auf  Samt  aufzunähen. 
—  Sie  hatten  durchweg  deutsche  anatomische  und 
mikroskopische  Instrumente,  und  die  Mehrzahl  ihrer 
wissenschaftlichen  Bücher  war  deutsch.  Nach  einer  Be- 
sichtigung des  eleganten  Schwimmbads  und  der  reich 
ausgestatteten  Turnhalle,  in  der  auch  eine  Eennbahn  für 
Dauerlauf  angelegt  war,  nahm  ich  auf  Einladung  des 
Professors  das  Mittagessen  an  der  gemeinschaftlichen  Tafel 
der  unverheirateten  Lehrerschaft  ein.  Den  Vorsitz  führte 
die  Professorin  der  Astronomie,  eine  weifshaarige ,  ernste 
Dame;  dann  kamen  nacheinander  die  Professorinnen  der 
alten  und  neuen  Sprachen,  der  Mathematik,  Geschichte  und 
Geographie,  die  Doktorinnen  und  Assistentinnen,  und  ganz 
unten,  bescheiden  und  stille,  safsen  die  zwei  einzigen  unver- 
heirateten Professoren  des  College.  Als  auf  dem  Wege 
zum  Bahnhofe  Professor  Wilder  davon  sprach,  was  hier 
die  Frau  in  der  Schule  und  für  die  Schule  leistet,  dafs  im 
Staate  Massachussets  z.  B.  neunmal  soviel  Lehrerinnen  sind 
als  Lehrer,  da  mufste  ich  wiederum  denken:  Man  merkt 
es  dem  ganzen  Volke  an,  dafs  es  zu  den  Frauen  in  die 
Schule  geht. 


X.  Die  Verfassung". 

„Kein  Mensch  ist  gut  genug,  über 
einen  andern  ohne  dessen  Zustimmung 
zu  herrschen."  Lincoln. 

Philadelphia. 
„Zu  bezweifeln  ist,  ob  je  eine  Bundesverfassung  merk- 
würdiger war  als  die  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika, 
und  je  ein  Staat  zum  Nachdenken  des  Staatsmanns  taug- 
licher, als  dieses  Wunder  unserer  Zeit.  Ich  rede  hier  nicht 
von  der  Riesenmacht,  zu  welcher  dieses  Land,  noch  gestern 
ein  kaum  am  Saume  der  "Wildnis  angebauter  Pflanzort, 
heranwuchs  und  täglich  noch  weiter  heranwächst;  ich  rede 
nicht  von  dem  Phänomen  einer  vor  unseren  Augen  in  noch 
nie  gekannten  Verhältnissen  sich  vermehrenden  rastlosen 
Bevölkerung,  vor  deren  Nahen  die  seit  der  Schöpfung 
brachliegende  Wildnis  und  ihre  Bewohner  zurückweichen; 
ich  rühme  nicht  die  wohltätige  Geschicklichkeit  seiner 
Maschinen,  welche  jene  ungeheuren  Ströme  mit  Handel 
und  Leben  bedecken;  ich  erinnere  nicht  an  den  unermefs- 
lichen  Umfang  seines  Gebietes,  welches,  nur  dem  russischen 
Reiche  nachstehend,  von  einem  Weltmeer  bis  zum  andern 
durch  beinahe  alle  Himmelsstriche  sich  erstreckt.  Mit 
einem  Worte,  es  ist  hier  nicht  die  Rede  von  dem  politischen 
Gewichte,  von  den  Hilfsquellen,  vom  Handel  und  Gedeihen 
des  Landes,  —  es  sind  dieses  Gegenstände,  deren  Be- 
trachtung und  Würdigung  der  Staatsweisheit  und  der 
Staatenkunde    zustehen.    —  Allein    wir    treffen    bei    Be- 


X.    Die  Verfassimg.  159 


trachtung  der  Vereinigten  Staaten  auf  zwei  Gegenstände, 
welche  nicht  weniger  würdig  sind,  unsere  ganze  Aufmerksam- 
keit in  Anspruch  zu  nehmen,  als  jene  Beweise  einer  grofsen 
politischen  Bedeutsamkeit;  ich  meine  das  Verhältnis  des 
Bundes  zu  seinen  Gliedern,  die  Bundesverfassung  selbst, 
und  das  Prinzip,  auf  welchem  das  ganze  Gebäude  der  Ver- 
einigten Staaten  ruht." 

So  schrieb  im  Jahre  1824  der  württembergische  Staats- 
rechtslehrer Robert  Mohl,  und  seine  Worte  treffen  im 
wesentlichen  heute  noch  zu.  Der  Bedeutung  seiner  staat- 
lichen Einrichtungen  ist  sich  das  amerikanische  Volk  sehr 
wohl  bewufst.  Mit  Stolz  und  Neugier  fragt  der  Amerikaner 
und  auch  die  Amerikanerin  den  Fremden  hier:  „Was  denken 
Sie  von  unserer  Verfassung?  Was  denken  Sie  von  unseren 
Einrichtungen?"  Die  Bundesverfassung  ist  das  politische 
Glaubensbekenntnis,  welches  schon  das  Schulkind  (auch  das 
Mädchen)  verstehen  und  auswendig  lernen  mufs.  Die 
Bundesverfassung  zusammen  mit  der  Unabhängigkeits- 
erklärung und  Washingtons  politischem  Testament  ist  gleich- 
sam die  Bibel  in  diesem  religionslosen  Staate  ^).  Die  Ver- 
fassung heilig  zu  halten,  war  die  Abschiedsmahnung 
Washingtons  an  sein  Volk. 

Hier  in  Philadelphia  ist  der  Geburtsort  der  Verfassung 
der  Vereinigten  Staaten,  die,  wie  jede  Verfassung,  in  erster 
Linie  aus  ihrer  Entstehungsgeschichte  verstanden  sein  will. 
Schon  1774,  also  zwei  Jahre  vor  Ausbruch  des  Unabhängig- 
keitskrieges, tagte  in  dem  alten  Pennsylvania-Staatshause  hier 
der  sogenannte  „kontinentale  Kongrefs",  eine  revolutionäre 
Körperschaft,  in  welcher  jede  der  13  Kolonien  eine  Stimme 
hatte ,  die  aber  nur  beschliefsen ,  nicht  vollziehen  konnte. 


^)  Die  genannten  drei  Urkunden   sind  im  Anhang  in  wörtlicher 
Übersetzung  wiedergegeben. 


160  Hintrager. 

Aus  der  Mitte  dieses  Kongresses,  der  sich  vornehmlich  mit 
der  Beratung  der  Mafsnahmen  beschäftigte,  die  das  ge- 
trübte Verhältnis  zum  Mutterlande  angezeigt  erscheinen 
liefs,  ging  die  Unabhängigkeitserklärung  hervor,  von 
Jefferson,  dem  feurigen  Vertreter  Virginias,  entworfen. 
Damit  waren  „die  guten  Leute  dieser  Kolonien"  zu  Re- 
bellen geworden.  Schiefsen  und  Glockengeläute  ver- 
kündeten im  ganzen  Lande  am  4.  Juli  177(3  die  Erklärung 
der  Unabhängigkeit.  Bis  heute  ist  dieser  Geburtstag  der 
Freiheit  der  höchste  nationale  Festtag  geblieben,  dessen 
Feier  man  hier  einmal  mit  erlebt  haben  mufs,  um  einen 
Begriff  von  der  Begeisterungsfähigkeit  dieses  jugendlichen 
Volkes  zu  bekommen. 

Im  Jahre  1776  war  in  dem  kontinentalen  Kongrefs  ein 
Ausschufs  eingesetzt  worden,  der  eine  Form  finden  sollte, 
in  welcher  die  13  nunmehr  für  unabhängig  erklärten 
Staaten  in  ein  engeres  Verhältnis  zueinander  treten  könnten. 
Dieser  Ausschufs  legte  1777,  also  im  zweiten  Jahre  des 
Freiheitskrieges,  dem  Kongresse  die  sog.  „Konföderations- 
artikel"  vor,  die  vom  Kongrefs  und  den  Regierungen  der 
Einzelstaaten  angenommen  wurden  und  die  rechtliche 
Grundlage  des  Bundesverhältnisses  der  13  Staaten  bis  1789 
bildeten.  Man  mufs  sich  vor  Augen  halten,  dafs  damals 
weitaus  die  Mehrzahl  der  amerikanischen  Kolonialbe- 
völkerung aus  Bauern  auf  Einzelhöfen  bestand,  um  zu  er- 
messen, wie  viel  Eigensinn,  Mifstrauen  und  Kirchturm- 
politik bei  ihren  Erwägungen  mitsprachen.  Trotz  des  ge- 
meinsamen Feindes  war  es  nicht  möglich  gewesen,  in  den 
Konföderationsartikeln  mehr  zu  verwirklichen ,  als  einen 
losen  Freundschaftsbund  der  13  Staaten,  einen  Bund,  dessen 
Macht  oder  Ohnmacht  von  dem  Belieben  der  einzelnen 
Mitglieder  abhing.  Schon  die  erste  Bestimmung  der 
Artikel  ist   charakteristisch   für  die   Eifersucht,   mit  der 


X.    Die  Verfassung.  161 


diese  kleinen  Bauernstäätchen  ihre  Rechte  hüteten:  „Jeder 
Staat  behält  seine  Souveränität,  Freiheit  und  Unabhängig- 
keit, sowie  jede  Gewalt  und  jedes  Recht,  das  nicht  aus- 
drücklich dem  Kongrefs  verliehen  ist."  Gewalten  aber 
wurden  dem  Kongrefs  überhaupt  keine  verliehen ;  er  konnte 
wohl  beschliefsen ,  aber  die  Ausführung  seiner  Beschlüsse 
hing  völlig  von  dem  Belieben  der  13  Staatsregierungen 
ab.  Ebensowenig  wie  eine  Bundesexekutive  gab  es  eine 
Bundesgerichtsbarkeit.  Wiederholt  und  vergeblich  schrieb 
Oberbefehlshaber  Washington  während  der  Freiheitskämpfe 
an  den  Kongrefs  um  Geld ,  um  Kleider ,  ja  um  Truppen, 
wenn  um  die  Erntezeit  die  Reihen  seiner  Farmersoldaten 
sich  lichteten.  Der  Kongrefs  war  machtlos.  Dafs  in  den 
Konföderationsartikeln  dem  Unabhängigkeitssinn  der  ein- 
zelnen Staaten  viel  zu  grofse  Zugeständnisse  gemacht 
worden  waren ,  das  zeigte  sich  insbesondere ,  als  1783  die 
Unabhängigkeit  erkämpft  war  und  nun  die  Regelung  der 
im  Kriege  eingegangenen  hohen  Schulden  und  des  Ver- 
hältnisses des  Bundes  nach  aufsen  in  den  Vordergrund  trat. 
Jetzt  verlangten  die  Einsichtigeren  eine  Revision  der  Kon- 
föderationsartikel. Im  Mai  1787  trat  dann  auch  eine 
Konvention  von  Vertretern  der  einzelnen  Staaten  unter 
dem  Vorsitz  Washingtons  hier  in  Philadelphia  zusammen. 
Nicht  unter  günstigen  Auspizien:  Das  ebenso  kleine  als 
eigensinnige  Rhode  Island  weigerte  sich ,  die  Konvention 
zu  beschicken,  und  unter  den  übrigen  Vertretern  erhoben 
sich  die  gröfsten  Schwierigkeiten.  Die  einzelnen  Staaten 
waren  an  Flächeninhalt  und  Einwohnerzahl  zu  ver- 
schieden; die  kleinen  fürchteten,  von  den  grofsen  ver- 
gewaltigt zu  werden;  die  Interessen  der  Sklavenhalter 
des  Südens  machten  sich  gebieterisch  geltend.  Zu  dem 
allem  kam  ein  eingefleischtes  Mifstrauen  gegen  alle  Obrig- 
keit und  eine  tiefe  Unlust,  neue  finanzielle  Lasten  zu  über- 

Hintrager.  11 


162  Hintrager. 

nehmen.  Dies  zeigt  ein  Ereignis  jener  Tage :  Als  der 
Kongrefs  700  Mann  stehendes  Militär  forderte,  bis  die 
Engländer  das  amerikanische  Gebiet  gänzlich  geräumt 
hätten,  schlugen  die  Staaten  dies  ab  als  gefährlich  für  die 
Freiheit  und  bewilligten  als  ganze  bewaffnete  Macht 
80  Mann  und  einen  Hauptmann.  Heftige  Kämpfe  gab  es 
in  den  Beratungen,  die  auf  Washingtons  Vorschlag  von 
vornherein  auf  eine  Neuschöpfung  und  nicht  auf  eine  blofse 
Revision  der  Konföderationsartikel  gerichtet  wurden,  und 
manchmal  schien  das  Verfassungswerk  aussichtslos. 

Im  September  1787  legte  schliefslich  die  Konvention 
den  Entwurf  der  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika  dem  Kongresse  vor  „als  ein  Ergebnis  eines 
Geistes  der  Freundschaft  und  des  wechselseitigen  Entgegen- 
kommens". 

Noch  war  es  zweifelhaft,  ob  die  Verfassungskonventionen 
der  einzelnen  Staaten  nun  auch  die  Verfassung  annehmen 
würden.  Sie  sollte  in  Kraft  treten,  wenn  neun  Staaten  sie 
ratifiziert  hatten,  und  zwar  nur  für  die  ratifizierenden 
Staaten.  In  der  Presse,  in  den  Legislaturen  und  in  Volks- 
versammlungen wurde  der  Entwurf  der  lebhaftesten  Kritik 
unterworfen,  aber  doch  nach  und  nach  von  allen  Staaten 
angenommen,  zuletzt  1790  von  dem  eigensinnigen  „Little 
Rhody". 

Das  weiträumige  Gebäude  war  errichtet,  unter  dessen 
Dach  die  künftigen  Staaten  und  Generationen  Nordamerikas 
leben  sollten.  Mit  welchem  Geiste  die  Väter  der  Ver- 
fassung das  Zustandekommen  des  grofsen  Werks  betrachteten, 
zeigt  das  Wort  des  geistreichen  Alexander  Hamilton ,  des 
späteren  Bundesfinanzministers  unter  Washington:  „Die 
Festsetzung  einer  Verfassung  in  Zeiten  tiefen  Friedens 
durch  die  freiwillige  Zustimmung  eines  ganzen  Volkes  ist 
ein  Wunder,  dessen  Vollendung   ich  mit  zitternder  Sorge 


X.    Die  Verfassung.  163 


entgegensehe."  —  „Wir  haben  nur  die  Wahl  zwischen  An- 
nahme der  Verfassung  und  Anarchie,"  hatte  Washingtons 
einflufsreiche  Stimme  gemahnt. 

Bis  jetzt  hat  das  Werk  seinen  Schöpfern  Ehre  gemacht. 
Zwar  wurden  in  den  ersten  Jahren  des  Bestehens  der  Union 
der  Verfassung  zehn  Zusätze  hinzugefügt ,  die  sogenannte 
amerikanische  „Deklaration  der  Rechte".  Durch  sie  werden 
dem  einzelnen  Bürger  gewisse  Rechte  gesichert  und  dem 
Kongrefs  gewisse  Dinge  verboten.  Dies  ausdrücklich  in 
der  Verfassung  niederzulegen  hatten  die  jeder  Autorität 
mifstrauenden  freien  Farmer  des  kolonialen  Landes  für 
notwendig  befunden.  Weitere  drei  Amendements  von  Be- 
deutung hat  die  kriegerische  Entscheidung  der  Sklaverei- 
frage veranlafst,  die  man  einst  bei  der  Verfassungsgründung 
zu  berühren  ängstlich  vermieden  hatte.  Allein  abgesehen 
von  den  wenigen  Zusätzen,  ist  die  Bundesverfassung  der 
Union  bis  heute  unverändert  geblieben.  Ja,  sie  ist  nicht 
nur  vielen  Republiken  des  übrigen  Amerika,  sondern  auch 
•der  letzten  Bundesverfassung  der  Schw^eiz  zum  Vorbild 
geworden. 

Und  welche  Veränderungen  hat  Land  und  Volk  der 
Vereinigten  Staaten  unter  dieser  Verfassung  durchgemacht! 
Schon  1803  kaufte  die  junge  Union  das  grofse,  fruchtbare 
Mississippital  bis  zum  Felsengebirge  von  Frankreich  (der 
sogenannte  Louisianakauf),  nicht  ohne  vorher  Napoleon  I. 
für  den  Fall  der  Weigerung  mit  einem  Bündnis  der  Union 
mit  England  bedroht  zu  haben.  Im  Jahre  1813,  während 
des  Krieges  mit  dem  Mutterlande,  besetzte  die  Union  die 
spanische  Kolonie  Florida  militärisch,  1819  mufste  Spanien 
Florida  abtreten.  Die  30  er  Jahre  waren  erfüllt  von 
Indianerkriegen.  1846  begann  der  durch  die  Annexion  von 
Texas  veranlafste  Krieg  der  Union  gegen  Mexiko,  der  in 
den  folgenden  Jahren   zur  Annexion   von  Californien   und 

11* 


164  Hintrager. 

den  anderen  an  Mexiko  grenzenden  Gebieten  führte.  Nun 
war  das  Meer  erreicht.  1852  wurde  England  zur  Auf- 
gabe seiner  Ansprüche  auf  Oregon  gezwungen,  1876  Alaska 
von  Rufsland  gekauft,  1898  Hawaii,  die  Philippinen  und 
Porto-Rico  annektiert  und  die  Spanier  aus  Cuba  verdrängt, 
dessen  Eroberung  schon  Präsident  Pierce  1854  angedroht 
hatte.  Aus  dem  kleinen  Gebiet  der  13  Kolonien  war  in 
einem  Jahrhundert  ein  Kontinental  reich  entstanden,  an- 
nähernd so  grofs  als  ganz  Europa,  und  gleichzeitig  waren 
schwere  Krisen  im  Innern  überwunden  worden.  Von 
3,9  Millionen  im  Jahre  1790  ist  die  Einwohnerzahl  auf 
über  86  Millionen  gestiegen,  denen  trotz  des  weiten  Flächen- 
raums das  Mutterland  schon  zu  eng  zu  werden  beginnt. 
Dem  ganzen  Kontinente  mit  den  mannigfaltigsten  Raum- 
und  Klimaverhältnissen  und  der  gemischten  Bevölkerung 
ist  der  Stempel  einer  im  wesentlichen  einheitlichen  Kultur 
aufgedrückt  worden. 

Dafs  dies  alles  geschehen  konnte  ohne  wesentliche 
Änderungen  des  Staatsgrundgesetzes,  ist  nicht  so  sehr  dem 
Umstände  zuzuschreiben ,  dafs  Verfassungsänderungen 
ziemlich  schwer  gemacht  sind,  als  der  Kompromifsnatur 
der  Verfassung  selbst.  Die  Verschiedenheit  der  Interessen 
der  13  alten  Staaten ,  ihr  Verlangen  nach  Selbständigkeit 
innerhalb  des  Bundes  hatte  in  vielen  Punkten  zur  Fest- 
setzung von  Kompromissen  und  allgemeinen,  dehnbaren 
Bestimmungen  geführt.  Schon  die  Einteilung  des  gesetz- 
gebenden Körpers  in  zwei  Häuser  war  ein  Vergleich. 
Das  Repräsentantenhaus,  auf  dem  Boden  des  demo- 
kratischen Zahlenprinzips  ruhend,  war  eine  Forderung  der 
grofsen  Staaten.  Seine  alle  zwei  Jahre  neugewählten  Mit- 
glieder gehen  hervor  aus  direkten  Wahlen  der  Bevölkerung 
nach  Mafsgabe  ihrer  Verteilung  über  die  Staaten.  Eine 
Forderung  der  kleinen  Staaten  ist  der  Senat  gewesen,   in 


X.    Die  Verfassung.  165 

welchem  jeder  Staat  durch  zwei  von  der  Legislatur  des 
betreffenden  Staates  auf  sechs  Jahre  gewählte  Senatoren 
vertreten  ist.  Er  ist  die  konservative  Kraft  im  Staate, 
das  Gegengewicht  gegen  das  demokratische  Kepräsentanten- 
haus.  Zur  Gesetzgebungskompetenz  des  aus  Senat  und 
Repräsentantenhaus  bestehenden  Bundeskongresses  gehört 
nur  das,  was  ihm  durch  die  Verfassung  ausdrücklich 
zugeteilt  ist.  Es  ist  dies  im  wesentlichen  das  Verhältnis 
der  Einzelstaaten  untereinander  (Binnenhandel,  Land-  und 
Wasserstrafsen,  Rechtshilfe),  ferner  das  Verhältnis  zu  aus- 
wärtigen Mächten  (Handel,  Krieg,  Völkerrechtliches)  und 
gewisse  gemeinsame  Angelegenheiten,  wie  Post,  Münzen, 
Mafse,  Gewichte,  Heer  und  Flotte,  Bundesverwaltung, 
-Finanzen  und  -Gerichtsbarkeit.  In  allen  anderen  Dingen 
sind  die  Einzelstaaten  völlig  selbständig;  sie  haben  ihre 
eigene  gesetzgebende,  vollziehende  und  richterliche  Gewalt. 
Allein  die  Bundesverfassung  legt  ihnen  die  Beobachtung 
gewisser  Grundsätze  auf  hinsichtlich  des  Schutzes  des 
Wahlrechts,  der  religiösen  und  bürgerlichen  Freiheit  des 
einzelnen.  Sie  schreibt  im  Interesse  der  Homogenität  der 
Bundesmitglieder  vor,  dafs  die  Einzelstaaten  republikanische 
Regierungsformen  haben  müssen.  Die  Verfassungen  der 
einzelnen  Staaten  sind  einander  sehr  ähnlich,  die  der 
neueren  sind  denjenigen  der  alten  Staaten  nachgebildet. 
Die  vollziehende  Gewalt  des  Bundes  ruht  in  den  Händen 
des  verantwortlichen  Präsidenten ,  der  auf  vier  Jahre  vom 
Volke  mittels  Wahlmänner  gewählt  wird.  Kein  Mitglied 
des  Kongresses  und  kein  Beamter  der  Vereinigten  Staaten 
kann  Wahlmann  werden,  eine  Bestimmung,  die  Hamilton 
einen  Grundpfeiler  der  Verfassung  nennt.  Nach  einem 
seit  Washington  beobachteten  Herkommen  wird  der 
Präsident  ein  drittes  Mal  nicht  wiedergewählt.  Die 
Gerichtsbarkeit     in     Bundesangelegenheiten      haben     die 


166  Hintrager. 

Bundesgerichte,  deren  Richter  der  Präsident  auf  Lebenszeit 
ernennt. 

Das  Verhältnis  von  Präsident  und  Kongrefs  ist  in  der 
Verfassung  durch  mehrfache  gegenseitige  Kontrollbefugnisse 
in  vorsichtiger  Weise  geregelt.  Die  Väter  der  Verfassung 
haben  fast  jede  Machtbefugnis,  die  sie  dem  einen  gaben, 
durch  ein  Gegengewicht  in  der  Wagschale  der  Rechte  des 
andern  auszugleichen  gesucht.  Nur  einige  Beispiele  hiervon 
seien  angeführt.  Der  Kongrefs  kann  zwar  von  dem  Präsi- 
denten in  der  Gesetzgebung  nicht  beeinflufst  werden;  der 
Präsident  kann  höchstens  Anregungen  zu  Gesetzen  geben, 
aber  keine  einbringen;  kein  Minister  kann  im  Kongrefs 
erscheinen,  da  kein  Kongrefsmitglied  ein  öiTentliches  Amt 
haben  darf.  Wohl  aber  wird  der  Kongrefs  in  der  Aus- 
übung seiner  Gesetzgebungsgewalt  sehr  wesentlich  kon- 
trolliert durch  das  sogenannte  Vetorecht  des  Präsidenten. 
Sendet  der  Präsident  dem  Kongrefs  ein  Gesetz  mit  seinem 
Veto  zurück,  so  wird  es  nur  Gesetz,  wenn  es  nun  eine 
Zweidrittel-Majorität  der  Anwesenden  in  beiden  Häusern 
eilangt. 

Die  Macht  des  Präsidenten  andererseits,  die  infolge 
seines  Oberbefehls  über  Heer  und  Flotte  und  seines  Er- 
nennungsrechts für  die  zahlreichen  Bundesämter  sehr  grofs 
ist,  haben  die  Urheber  der  Verfassung  dadurch  beschränkt, 
dafs  zu  allen  Ernennungen  und  zu  Verträgen  mit  fremden 
Mächten  der  Präsident  der  Zustimmung  des  Senats  bedarf. 
Krieg  erklärt  der  Kongrefs,  Frieden  schliefst  der  Präsi- 
dent, aber  sein  Friedensvertrag  bedarf  der  Zustimmung 
des  Senats.  Um  den  Präsidenten  wiederum  vom  Senate 
nicht  zu  sehr  abhängig  zu  machen,  ist  bestimmt,  dafs 
nur  das  Repräsentantenhaus  den  Präsidenten  in  Anklage- 
zustand  versetzen  kann.  — 

Die  Bundesverfassung  ist  der  schriftlieh  fixierte  Wille 


X.    Die  Verfassung.  167 

des  souveränen  Volkes,  der  über  allem  steht.  „Nach  diesen 
Grundsätzen  will  ich  regiert  werden,"  hat  gleichsam  das 
Volk  bei  Festsetzung  der  Verfassung  gesagt.  Dafs  das 
Volk  der  Souverän  ist,  von  dem  alle  Gewalt  der  Regierung 
abgeleitet  wird,  und  dafs  die  Regierung  nur  so  viel  Macht 
hat,  als  das  Volk  ihr  in  der  Verfassungsurkunde  aus- 
drücklich übertragen  hat,  das  sind  Grundsätze,  die  hier 
jedes  Kind  in  der  Schule  lernt.  Aus  dem  Gesagten  folgt, 
dafs  jedes  Gesetz,  das  im  Widerspruch  mit  der  Bundes- 
verfassung steht,  nichtig  ist.  Es  bedarf  deshalb  in  zweifel- 
haften Fällen  eines  Auslegers  der  Verfassung.  Dies  ist 
der  oberste  Bundesgerichtshof  der  Vereinigten  Staaten  in 
Washington,  der  angesehenste  Gerichtshof,  dessen  Mit- 
glieder vom  Präsidenten  mit  Zustimmung  des  Senats  auf 
Lebenszeit  ernannt  werden.  Vor  dieses  Gericht,  das  sich 
als  ein  zuverlässiger  Hüter  der  Bundesverfassung  sowohl 
gegenüber  dem  Kongrefs  als  den  Legislaturen  der  Einzel- 
staaten bewährt  hat,  werden  Verfassungsfragen  durch 
Test-cases  gebracht.  — 

Dies  ist  der  Rahmen,   innerhalb  dessen  die  Kräfte  im 
Staatswesen  wirken. 


XI.  Parteien  und  Politik. 

„Es  ist  ein  Land  der  Gegensätze, 
voll  blendenden  Lichts  und  tiefer 
Schatten."     Kaiser  Wilhelm  IL  » 

Washington. 

Als  ich  das  erste  Mal  hierher  kam,  war  Cleveland 
Präsident  (1895).  Noch  ist  es  mir,  als  wäre  es  gestern 
gewesen,  dafs  ich  am  Morgen  durch  die  Strafsen  dieser 
schönen  Stadt  ging  und  dem  Präsidenten  begegnete, 
der  mit  Frau  Cleveland  in  einem  einfachen  Einspänner 
durch  die  Pennsylvania  Avenue  fuhr.  Er  lenkte  das  Pferd 
selbst,  niemand  schenkte  ihm  besondere  Beachtung,  und  als 
er  an  einen  Brunnen  kam,  hielt  er  an,  gab  Frau  Cleveland 
die  Zügel,  stieg  ab,  um  dem  Pferd  den  Aufsatzzügel 
abzunehmen  und  es  zu  tränken,  wie  dies  hier  üblich 
ist.  Mein  junges  Herz  war  entzückt  ob  dieser  Einfach- 
heit; ich  dachte  an  Jefferson,  den  dritten  Präsidenten,  der 
einst  zu  seiner  Beeidigung  allein  nach  dem  Capitol  ritt 
und  dort  sein  Pferd  an  einen  Zaun  band.  Aber  nicht 
lange  sollte  meine  Freude  währen.  Ich  war  auf  dem 
Wege  zum  Capitol;  was  ich  in  dessen  Räumen  hörte,  war 
nicht  dazu  angetan,  meine  Stimmung  zu  erheben.  Mit 
den  Gemütsstimmungen  geht  es  wie  mit  der  Lufttemperatur 
und  den  meisten  Dingen  hier:  alles  wechselt  rasch  und 
schroff. 

Im  Repräsentantenhause  sprach  ich  zunächst  den  be- 


XI.    Parteien  und  Politik.  169 

kannten  Col.  Henderson,  den  nachmaligen  Sprecher  des 
Hauses,  an  den  Freund  Henry,  der  Rechtsanwalt,  mir  ein 
Empfehlungsschreiben  mitgegeben  hatte.  „Hier  werden 
Sie  nicht  viel  hören  oder  vielmehr  zu  viel,"  meinte  Col. 
Henderson;  „der  Raum  und  die  Zahl  der  Mitglieder  (356) 
ist  zu  grofs,  und  die  boys  sind  so  laut.  Eine  Debatte  ist 
unmöglich."  So  war  es.  Ein  Lärm  und  ein  Durcheinander 
herrschte,  der  kaum  das  eigene  Wort  verstehen  liefs.  Ein 
erheblicher  Schaden  ist  das  übrigens  nicht.  Denn  da  auch 
hier  die  meisten  Parlamentsreden  „zum  Fenster  hinaus" 
gehalten  werden ,  sind  die  praktischen  Amerikaner  längst 
auf  das  einfache  Mittel  gekommen,  die  grofsen  Reden  gar 
nicht  mehr  zu  halten,  sondern  lediglich  in  den  steno- 
graphischen Berichten  als  gehalten  wiederzugeben.  Diese 
ungehaltenen  Reden  wandern  dann  hinaus  über  das  ganze 
Land,  der  Redner  schickt  auch  wohl  ein  paar  hundert 
Exemplare  in  seinen  Wahlbezirk,  und  jedermann  ist  zu- 
frieden: die  Abgeordneten  darüber,  dafs  sie  die  Wahlrede 
ihres  Kollegen  nicht  anhören  mufsten ,  dieser ,  dafs  er  sie 
nicht  halten  mufste  und  die  Wähler  darüber,  dafs  ihr 
Kandidat  eine  so  schöne  Rede  gehalten  hat.  ^  Doch 
kehren  wir  zurück  in  das  Repräsentantenhaus. 

In  den  mannigfaltigsten,  zum  Teil  sehr  ungezwungenen 
Stellungen  safsen  oder  lagen  die  Repräsentanten ,  alles 
rauchte  und  sprach,  und  der  neben  jedem  Platze  aufgestellte 
Spucknapf  fand  die  übliche  Würdigung.  Auch  der  jeweilige 
Redner  widmete  ihm  gelegentlich  mitten  im  Satze  eine 
wohlgezielte  Abschweifung.  Der  ganze  Anblick  erinnerte 
an  eine  hier  in  letzter  Zeit  bekannt  gewordene  Äufserung 
der  Susan  B.  Anthony,  der  Führerin  der  Bewegung  für 
Frauenstimmrecht.  Als  jemand  sie  fragte,  was  sie  sich 
von  der  Wählbarkeit  von  Frauen  in  den  Kongrefs  ver- 
spreche, erwiderte  sie:  „Die  Spucknäpfe  neben  jedem  Sitz 


170  Hintrager. 

Würden  verschwinden,  die  beiden  Häuser  wären  nicht  mehr 
von  dickem  Tabaksqualm  erfüllt,  die  Pulte  würden  nicht 
mehr  als  Fufsschemel  benützt;  Schicklichkeit  und  Ordnung 
würden  in  der  Diskussion  herrschen;  Gerechtigkeit  würde 
in  der  Gesetzgebung  walten  und  nicht  Käuflichkeit  und 
Handel."  — 

Meine  Betrachtungen  von  der  Galerie  desKepräsentanten- 
hauses  wurden  bald  dadurch  unterbrochen,  dafs  eine  Pause 
gemacht  und  diese  von  den  Abgeordneten  durch  Singen 
nationaler  Lieder  ausgefüllt  wurde.  Ich  begab  mich  daher 
in  den  Senat,  der  in  dem  anderen  Flügel  des  Capitols 
tagt.  Hier,  in  dem  Oberhaus  des  Bundes,  herrschte  so 
viel  Ruhe,  dafs  man  leicht  dem  Gang  der  Verhandlungen 
folgen  konnte.  Zuerst  kamen  zwei  Vetobotschaften  des 
Präsidenten  Cleveland  zur  Verlesung.  Die  erste  betraf  ein 
Gesetz,  durch  das  einer  Eisenbahngesellschaft  die  weit- 
gehendsten Rechte  eingeräumt  wurden.  Der  Präsident  be- 
gründete sein  Veto  nicht  nur  mit  der  völligen  Aufseracht- 
lassung  der  Interessen  der  Allgemeinheit,  sondern  auch 
damit,  dafs  das  Gesetz  im  einzelnen  viel  zu  unbestimmt  sei. 
Das  Gesetz  war  von  einem  Senator,  vermutlich  auf  Ver- 
anlassung der  betreffenden  Eisenbahngesellschaft,  entworfen 
und  eingebracht  worden.  Das  zweite  Veto  betraf  eine 
Pensionsbewilligung  an  einen  angeblichen  Invaliden  des 
Bürgerkriegs,  namens  Rhea.  Diese  Pensionsbewilligungen 
sind  aus  naheliegenden  Gründen  bei  beiden  Parteien  so 
beliebt,  dafs  dieselben  anstatt  ab-  stetig  zunehmen  und 
zurzeit  über  140  Millionen  Dollars  jährlich  ausmachen. 
Rhea  hatte  1871  eine  Pension  bewilligt  erhalten,  die  aber 
1892  aufgehoben  wurde,  da  es  sich  herausgestellt  hatte, 
dafs  sie  durch  Betrug  und  Meineid  erlangt  war.  Nun 
hatte  der  Kongrefs  demselben  Rhea  dieselbe  Pension  wieder 
bewilligt.    In   der   Begründung  seines  Vetos  sagte  Cleve- 


XI.    Parteien  und  Politik.  171 

land:  „Icli  kann  nicht  verstehen,  wie  der  Kongrefs  es 
rechtfertigen  kann,  diesen  Mann  wieder  auf  die  Pensions- 
liste zu  bringen,  angesichts  der  dem  Kongrefs  bekannten 
Tatsachen,  die  zur  Aufhebung  jenes  Gesetzes  führten,  auf 
Grund  dessen  Rhea  beinahe  22  Jahre  lang  unrechtmäfsiger- 
weise  eine  Pension  bezogen  hat." 

Von  seinem  Vetorechte  macht  der  Präsident  insbesondere 
dann  Gebrauch,  wenn  er  dadurch  an  Popularität  zu  ge- 
winnen überzeugt  ist;  denn  dem  amerikanischen  Volke 
imponiert  Kraft  und  ein  starkes  Rückgrat  über  alles.  Cleve- 
land  hat  sehr  viele  Freunde  auch  in  den  Reihen  seiner 
politischen  Gegner  gewonnen  dadurch,  dafs  er  dem  oft  ge- 
wissenlosen Kongrefs  rücksichtslos  die  Gesetze  mit  seinem 
Veto  zurückschickte. 

Der  nächste  Gegenstand  der  Verhandlungen  waren 
zwei  Gesetze,  die  Pensionen  bewilligten,  und  ein  Gesetz,  das 
sämtlichen  Angestellten  des  Kongresses,  einschliefslieh  der 
Privatsekretäre  der  Kongrefsmitglieder,  für  Extra  arbeit  einen 
Monatsgehalt  zubilligte.  Alles  ging  ohne  Widerspruch 
durch.  Es  folgte  ein  Gesetz,  betreifend  die  Verleihung 
von  Rechten  an  eine  Eisenbahn gesellschaft  im  Distrikt 
Columbia ,  welches  mit  der  darin  gelegenen  Hauptstadt 
Washington  direkt  und  ausschliefslich  der  Gesetzgebung 
des  Kongresses  untersteht.  Kaum  hatte  der  Senator,  der 
die  Bill  eingebracht  hatte,  geschlossen,  da  rief  Senator  Hill 
(New  York):  „Ich  mufs  widersprechen."  Nach  der  Ge- 
schäftsordnung durfte  nämlich  in  die  Beratung  nur  solcher 
Gesetze  eingetreten  werden ,  gegen  die  ein  Widerspruch 
nicht  erhoben  wurde.  Der  Antragsteller  wandte  sich  nun 
an  Senator  Hill  mit  der  Bitte,  doch  seinen  Widerspruch 
zurückzunehmen,  da  die  Bill  sehr  wichtig  sei  und  durchaus 
bona  fide  eingebracht.  Hill  erwiderte:  „Ich  mufs  der  Be- 
ratung   dieses    Gesetzes    widersprechen    und    tue    es    im 


172  Hiutrager. 

Interesse  ehrlichen  Spiels  („fair  play")."  Der  Antragsteller 
bemerkte:  „Das  bezieht  sich  nicht  auf  mich,"  und  das 
Gesetz  wurde  beiseite  gelegt.  Als  dann  etwa  eine  Stunde 
nachher  Senator  Hill  den  Senat  verlassen  hatte,  wurde 
dasselbe  Gesetz  auf  Antrag  eines  anderen  Senators  vom 
Vorsitzenden  wieder  aufgerufen;  niemand  widersprach, 
und  es  ging  durch.  —  Wieder  kam  eine  „Railroad-Bill" 
diesmal  zwecks  Verleihung  gewisser  Rechte  an  sämtliche 
Eisenbahngesellschaften  des  Landes.  Da  diese  wie  die 
andern  grofsen  Kapitalgesellschaften  ihre  eigenen  „legis- 
lative agents"  am  Sitz  der  gesetzgebenden  Versammlungen 
unterhalten  und  durch  diese  die  Gesetzgebung  zu  be- 
einflussen bemüht  sind,  war  die  Debatte  erregt  und 
lang.  Gleich  zu  Beginn  sagte  Senator  Gorman:  „Ich 
widerspreche,  und  ich  wünsche  zu  sagen,  Mr.  Präsident, 
dafs  ich  unter  meinen  besten  Freunden  Eisenbahn- 
magnaten habe.  Sie  waren  hier  und  bedrängten  mich, 
wie  sie  fast  jeden  anderen  Senator  gedrückt  und  bedrängt 
haben.  Ich  wurde  überhäuft  mit  Telegrammen  hier  und 
in  meinem  Hause.  Es  sind  gar  viele  Leute,  die  ein 
Interesse  an  diesem  Gesetze  haben.  Sie  haben  gebettelt, 
sie  haben  gefordert;  einzelne  sind  auch  mit  Drohungen 
gekommen."  Es  folgte  eine  lebhafte  Debatte  der  Sena- 
toren Gallinger  und  Hill,  zwischen  welchen  schon  vorher 
eine  gereizte  Stimmung  bestand,  da  jeder  der  Beratung 
der  von  dem  andern  eingebrachten  Gesetzanträge  wider- 
sprach. Gallinger:  „Der  Senator  von  New  York  (Hill) 
hat,  wie  ich  höre,  ein  Interesse  an  der  Suburban  Railway- 
Bill.  Er  bat  um  Zustimmung  zur  Beratung  dieses  Gesetzes, 
trotzdem  dasselbe  von  der  Hälfte  der  Kommissionsmitglieder 
verworfen  worden  war.  Der  Beratung  dieses  Gesetzes 
konnten  wir  unmöglich  zustimmen.  Weil  nun  gegen  dieses 
Gesetz  Widerspruch  erhoben  wurde,   hat  der  Senator  von 


XI.    Parteien  und  Politik.  173 

New  York  seither  jedem  andern  derartigen  Gesetz  wider- 
sprochen. Mr.  Präsident,  wenn  dieser  Kurs  des  Senators 
von  New  York  die  Regel  hier  sein  soll,  dann  können  wir 
sofort  aufhören  mit  unserer  Arbeit.  Ich  bin  für  ehrliches 
Spiel;  das  ist  alles,  um  was  ich  bitte."  Hill  erwiderte:  „Was 
die  Suburban  Railway-Bill  betrifft,  so  wurde  mir  schon  vor 
der  Sitzung  gesagt,  dafs  sie  "Widerspruch  begegnen  würde. 
Es  haben  auch  mehrere  Senatoren  sich  bemüht,  sich  da- 
gegen zu  erklären,  und  zwar,  wie  ich  glaube,  nicht  sowohl 
deshalb,  weil  sie  mit  dem  Inhalt  des  Gesetzes  nicht  einig 
gehen,  als  deshalb,  weil  sie  andere  Gesetze  einbringen 
wollen ,  bei  denen  sie  ein  gewisses  Interesse  haben.  Ich 
nehme  an,  der  Senator  will  nicht  behaupten,  dafs  ich  irgend 
ein  Interesse  an  der  Suburban  Railway-Bill  habe,  ab- 
gesehen von  dem  Interesse  einiger  Freunde  von  mir.  Das 
ist  alles." 

Gallinger:  „Natürlich  will  ich  das  nicht  sagen;  aber 
ich  meine,  der  Senator  sollte  seine  Andeutung  zurück- 
nehmen, dafs  wir  möglicherweise  ein  weitergehendes 
Interesse  an  anderen  Gesetzen  haben." 

Hill :  „Ich  sagte  nur  —  " 

Gallinger:  „Ich  werde  ein  offenes  Wort  mit  dem 
Senator  reden." 

Hill:  „Ich  weifs  nichts  von  des  Senators  Interesse,  und 
ich  nehme  an,  er  hat  keines." 

Gallinger:  „Das  ist  gut."  — 

Hierauf  erhob  sich  der  Senator  Quay,  der  sich  durch 
die  Bemerkung  Hills  offenbar  getroffen  fühlte:  „Auch  ich 
wünsche  für  meinen  Teil  zu  sagen,  dafs  ich  kein  Interesse 
und  keinen  Anteil  an  irgend  einem  Eisenbahngesetz  in 
diesem  Hause  habe." 

Hill:    „Der  Senator  hat   mir  offen   gesagt,    dafs  das 


174  Hintrager. 

Philadelphia-Syndikat  die  Leute  sind,  für  welche  er  Ein- 
sprache erhob." 

Quay:  „Das  sagte  ich  nicht." 

Hill:  „Und  zwar  deshalb,  weil  das  Gesetz  gewisse 
Vorrechte  wegnahm,  die  das  Syndikat  bekommen  wollte." 

Quay:  „Ich^habe  das  Philadelphia-Syndikat  nicht  er- 
wähnt.   Das  ist  eine  Erfindung  des  Senators." 

Hill:  „Gewifs,  weil  es  allgemein  bekannt  ist.  Der 
Senator  leugnet  auch  jetzt  nicht  ab,  dafs  er  für  das  Phila. 
delphia-Syndikat  sprach.  Durchaus  nicht.  Er  ist  ein 
offener  Mann."  — 

Unter  solchen  Debatten,  die  ich  hier  nach  dem  offiziellen 
Stenogramm  (Congressional  Record)  widergebe,  verstrich 
die  Zeit.  Schon  war  es  gegen  10  Uhr  abends,  aber  immer 
noch  gingen  die  Aufzüge  im  Capitol,  die  Zuschauertribünen 
waren  immer  noch  besetzt,  nicht  zum  kleinsten  Teil  von 
Damen,  und  die  Bills  folgten  aufeinander,  als  wollte  es  kein 
Ende  nehmen.  Es  war  die  letzte  Woche  des  Kongresses 
unter  Cleveland;  da  wollte  jeder  noch  schnell  ein  Gesetz 
durchbringen,  das  ihm  nützen  sollte. 

Als  ich  am  folgenden  Morgen  eine  Zeitung  zur  Hand 
nahm  —  damit  beginnt  hier  jedermann  den  Tag  — ,  fiel 
mein  Blick  auf  die  Überschrift  eines  Artikels:  „Es  war 
der  Tag  der  Diebe!"  „Der  53.  Kongrefs,"  so  begann  der 
Artikel,  „wird  in  der  Geschichte  als  die  Versammlung  der 
Billion-Dollars-Verschwender  ^)  dastehen.  Um  die  Habgier 
einiger  Zuckerpflanzer  und  sonstiger  Interessenten  zu  be- 
friedigen, werfen  sie  das  Geld  des  Volkes  mit  ebenso 
grofser  als  grundloser  Generosität  hinaus.  Hat  eine  Manie 
den  Geist  der  Senatoren  erfafst,  dafs  sie  so  mit  den  Rechten 


^)  Der  53.  Kongrefs  hat  insgesamt  beinahe  eine  Billion  Dollars 
bewilligt. 


XI.    Parteien  und  Politik.  175 

des  Volkes  spielen  ?  Zwar  ist  es  erfreulich,  dafs  der  Senat 
den  kleinen  Trick  des  Mr.  Livingston  und  anderer  aufheben 
will,  wonach  den  angeblichen  Privatsekretären  der  Repräsen- 
tanten ein  monatliches  Extrasalär  von  100  $  bewilligt  werden 
soll.  Es  ist  genug  am  übrigen.  Wie  jedermann  weifs,  ist 
die  Tätigkeit  der  Angestellten  des  Kongresses  durchweg 
zu  hoch  bezahlt,  viele  der  Stellen  sind  Sinecuren.  Das 
Schlimmste  an  dem  50  000  »gl  Diebstahl  für  die  Angestellten 
von  Haus  und  Senat  am  Ende  jeder  Session  ist  die  Art, 
wie  dieses  Amendement  durch  den  Kongrefs  „gelobbyt"  wird. 
Alle  Sekretäre,  Clerks  usw.  stehen  um  den  Tisch  des 
Hauses  herum ,  um  den  zu  notieren ,  der  den  Mut  hat, 
gegen  die  Extra-Salär-Bill  zu  stimmen.  Es  ist  ein  öffeut-  - 
lieber  Skandal !  Kein  Wunder,  denn  einzelne,  wie  der  voll- 
bärtige Senator  von  Kansas,  haben  Familienangehörige  als 

Angestellte  des  Senats,  also  ein  direktes  Interesse 

Sie  denken,"  so  schlofs  der  Artikel,  „es  sei  nicht  so  schlimm, 
wenn  sie  vor  Torschlufs  noch  ein  wenig  stehlen."  — 

Dieses  Augenblicksbild  zeigt  einige  wesentliche  Eigen- 
tümlichkeiten der  amerikanischen  Gesetzgebungsmaschine. 
Da  nicht  der  Regierung,  sondern  nur  den  Mitgliedern  der 
gesetzgebenden  Körper  das  Recht  zusteht,  Gesetzentwürfe 
einzubringen,  so  werden  sehr  viele  solche  eingebracht. 
Jeder  Abgeordnete  bringt  eine  grofse  Zahl  Gesetze  ein, 
nur  um  seinen  Wählern  einen  Gefallen  zu  erweisen.  Er 
erwartet  selbst  nicht,  dafs  sie  alle  durchgehen.  Denn  der 
Geschäftsbetrieb  der  Legislaturen  erinnert  in  dieser  Hin- 
sicht an  das,  was  ich  einst  in  den  Gerichten  gesehen 
habe:  Was  nicht  wichtig  ist,  was  nicht  ernstlich  vertreten 
und  verfochten  wird,  das  „geht  in  den  Taubenschlag"  auf 
Nimmerwiedersehen.  Dieser  Ausdruck  der  Gerichtssprache 
ist  auch  im  parlamentarischen  Sprachgebrauch  üblich.  Oft 
sagt  man  auch  weniger  verblümt,  das  Gesetz  wird  „in  der 


176  Hintragei". 

Kommission  tot  gemacht"  (killed  in  the  Commitee).  Allein 
trotzdem  man  annimmt,  dafs  nur  etwa  Vao  aller  Gesetz- 
entwürfe zu  Gesetzen  werden,  wird  doch  mit  solcher  Eile 
gearbeitet,  dafs  die  amerikanischen  Gesetzbücher  einen 
ganz  aufserordentlichen  Umfang  zeigen  und  die  Rechts- 
beflissenen es  längst  aufgegeben  haben,  mit  der  Gesetz- 
gebungsmaschine Schritt  zu  halten.  Als  ich  einst  meinem 
Freunde  Henry  das  deutsche  Bürgerliche  Gesetzbuch  nach 
Dubuque  sandte,  da  brachten  alle  Zeitungen  der  Stadt 
lange  Artikel  über  das  wunderbar  kleine  Gesetzbuch,  und 
täglich,  so  schrieb  mir  Henry,  kämen  Leute  auf  sein 
Bureau,  um  den  Codex  zu  sehen,  den  man  in  die  Tasche 
stecken  könne.  Unsere  Politiker,  so  war  das  allgemeine 
Urteil  der  Zeitungen,  könnten  sich  ein  Beispiel  nehmen 
an  dieser  klaren,  präzisen  Sprache  und  vor  allem  an  der 
Kürze  des  Werkes,  an  welchem  deutsche  Gesetzgeber  viele 
Jahre  lang  gearbeitet  haben. 

Dafs  die  amerikanischen  Gesetze  an  Klarheit  und 
Präzision  oft  sehr  viel  zu  wünschen  übrig  lassen,  ist  nach 
der  Art  ihrer  Entstehung  wohl  erklärlich.  Eine  Ausnahme 
machen  diejenigen  Gesetze,  die  aus  dem  Schofse  von 
Anwaltsvereinen  hervorgehen.  Die  Anwaltsvereine  der 
meisten  Staaten  haben  ihre  Abteilung  für  Gesetzesreform. 
Allein  soweit  die  einzelnen  Abgeordneten  entweder  selbst 
oder  mit  Hilfe  ihrer  Rechtsbeistände  die  Gesetze  entwerfen, 
werden  oft  merkwürdige  Gesetzgebungsblüten  gezeitigt. 
In  Missouri  und  Texas  erging  jüngst  im  Interesse  des 
Schutzes  der  reichen  Mädchen  ein  Gesetz,  das  jeden  im 
Staate  sich  aufhaltenden  fremden  Adeligen  als  solchen  be- 
steuert. In  Missouri  brachte  ein  Senator  einen  Gesetz- 
entwurf ein  gegen  das  Flirten;  ein  Gesetz,  das  die 
Fabrikation  von  Kleidern  in  Mietskasernen  wegen  Infektions- 
gefahr verbot,   ging  durch.     Die  bösliche  Verlassung  der 


XI.    Parteien  und  Politik.  177 

Ehefrau  seitens  des  Mannes  ist  in  vielen  Staaten  eine 
strafbare  Handlung.  In  Illinois  erging  ein  Gesetz,  wonach 
nicht  mehr  als  sechs  Personen  in  einem  Zimmer  schlafen 
dürfen.  Das  bei  dem  ruhelosen  Volke  so  beliebte  Spucken 
ist  da  und  dort  auf  Strafsen  und  öffentlichen  Plätzen  ver- 
boten. In  Massachussetts  ist  es  verboten ,  mit  kleinen 
Kindern  auf  einem  Zweirad  zu  fahren,  wegen  der  für  das 
Kind  damit  verknüpften  Gefahr.  Im  gleichen  Staate  hat 
das  Bestreben ,  der  Trunksucht  zu  steuern ,  zu  der  ge- 
setzlichen Bestimmung  geführt,  dafs  die  Wirte  in  den 
Bar-Räumen  Sitzgelegenheit  und  Efswaren  gratis  geben 
müssen ,  da  man  hoffte ,  der  sitzende  Gast  werde  nicht  so 
schnell  trinken  und  der  essende  nicht  so  schnell  betrunken 
sein.  Gesetze,  die  immer  und  immer  wieder  eingebracht 
werden,  aber  zum  gröfsten  Teil  in  den  Taubenschlag 
wandern,  sind  arbeiterfreundliche  Gesetze,  gegen  die  im 
Plenum  niemand  zu  sprechen  wagt,  und  Gesetze  gegen 
Korporationen  und  Trusts. 

Das  Wort:  „Wir  müssen  ein  Gesetz  machen  gegen  das 
und  das"  hört  man  hier  gar  oft.  Da  nun  vor  diesen 
Wünschen  der  Weg  so  eben  liegt,  so  gibt  es  hier,  im 
„süfsen  Lande  der  Freiheit",  eine  Menge  Gesetze,  die  ganz 
aufserordentliche  Eingriffe  in  Privatangelegenheiten  und 
die  Freiheit  des  einzelnen  statuieren.  Und  doch  ist  es 
das  Land  der  Freiheit,  insofern  diese  Gesetze  einfach  nicht 
beachtet  werden.  Zu  einer  strengen  Durchführung  der 
Gesetze  fehlen  viele  Voraussetzungen,  namentlich  der  von 
Volkswahlen  nicht  abhängige  Beamte.  Gelegentlich  kommt 
es  auch  vor,  dafs  ein  Gesetz  in  Kraft  tritt,  ohne  dafs  zu 
dessen  Durchführung  irgendwelche  Vorkehrungen  getroffen 
sind.  Es  gibt  hier  manche  Staaten,  welche  Herstellung 
und  Verkauf  alkoholischer  Getränke  verbieten;   aber  auch 

Hintrager.  12 


178  Hintrager. 

in  diesen  Staaten  brauen  und  trinken  die  Deutscheu  un- 
gestört ihr  Bier. 
I  Auch  hier  liegt  der  Schwerpunkt  der  Tätigkeit  der 
J  gesetzgebenden  Körper  in  den  Kommissionen.  Diese  haben 
I  nicht  nur  das  Recht,  jedermann,  dessen  Auskunft  ihnen 
wünschenswert  erscheint,  insbesondere  Beamte,  vorzuladen 
und  zu  vernehmen,  sondern  auch  das  Recht,  alle  diejenigen 
vorzulassen  und  zu  hören,  die  ein  Interesse  am  Zustande- 
kommen oder  Fallen  des  Gesetzes  haben.  Der  Vertreter 
(legislative  agent)  einer  Eisenbahngesellschaft,  eines  Trusts, 
der  ein  ihm  nachteiliges  Gesetz  verhindern  will,  der  Mann, 
der  eine  Konzession,  eine  Pension  wünscht,  der  Minister, 
der  seinen  Etat  für  sein  Departement  gerne  erhöht  sehen 
möchte,  sie  alle  erscheinen  vor  der  Kommission  und 
plädieren  für  ihre  Sache.  Selbst  Strafanstaltsvorstände 
habe  ich  kennen  gelernt,  die  in  die  Hauptstadt 
reisten  und  die  Konimissionsmitglieder  bearbeiteten,  wenn 
der  Etat  ihrer  Anstalt  in  der  Kommission  zur  Be- 
ratung kam. 

Hier  in  der  Kommission  ist  daher  der  Boden,  wo  die 
Versuchungen  an  die  amerikanischen  Gesetzgeber  heran- 
treten. Dafs  sie  ihnen  nur  zu  oft  unterliegen ,  ist  auch 
aufserhalb  der  Union  wohl  bekannt.  Ein  Arzt  im  Staate 
New  York,  ein  ernster,  durchaus  glaubwürdiger  Mann,  er- 
zählte mir  einst  folgende  Geschichte:  In  den  achtziger 
Jahren  wurde  in  der  Legislatur  des  Staates  New  York  ein 
Gesetz  eingebracht,  wonach  in  Zukunft  die  Approbation 
als  Arzt  auch  zur  Voraussetzung  haben  sollte,  dafs  der 
Kandidat  bei  seinem  Zulassungsexamen  zur  Universität 
auch  in  der  griechischen  Sprache  geprüft  worden  war  und 
bestanden  hatte.  Da  nun  bei  vielen  damals  im  Staate 
New  York  Medizin  Studierenden  diese  Voraussetzung  nicht 
zutraf,  beschlossen  die  Studenten,  in  der  Legislatur  vor- 


XI.    Parteien  und  Politik.  179 

stellig  zu  werden,  dafs  man  das  Gesetz  nicht  auf  die- 
jenigen Anwendung  finden  lassen  solle,  die  sich  zur  Zeit 
des  Inkrafttretens  des  Gesetzes  schon  auf  den  Hochschulen 
des  Staats  New  York  befinden.  Diesen  Wunsch  trugen  die 
Vertreter  der  Studenten  dem  Vorsitzenden  der  Kommission 
vor,  an  welche  das  Gesetz  verwiesen  worden  war.  „Sie 
müssen  eine  Petition  einreichen,"  war  dessen  Bescheid. 
Als  die  Studenten  dann  ihre  ausführlich  begründete  und 
mit  einigen  tausend  Unterschriften  versehene  Petition  ein- 
gereicht hatten,  erhielt  der  Vertreter  der  Studenten  von 
<Iem  Sekretär  des  Vorsitzenden  ein  Schreiben,  in  welchem 
u.  a.  gesagt  wurde ,  dafs  eine  Petition ,  wenn  sie  durch 
nichts  unterstützt  sei ,  nicht  auf  Berücksichtigung  seitens 
der  Kommission  rechnen  könne,  dafs  schon  das  Lesen  der 
langen  Petition  eine  ziemliche  Arbeit  sei,  und  dafs  jeder- 
mann mit  Recht  erwarten  dürfe,  einen  Lohn  für  seine 
Arbeit  zu  sehen.  Diesem  deutlichen  Winke  folgend,  ver- 
-anstalteten  die  Studenten  eine  Sammlung  und  sandten  das 
Ergebnis  derselben ,  einen  1000  Dollar-Scheck,  an  den  ge- 
nannten Vorsitzenden.  Das  Geld  und  das  Gesetz  ver- 
schwand ,  ohne  dafs  die  Studenten  je  wieder  etwas  davon 
hörten.   — 

Diese  Begebenheit  ist  ein  kleines  Musterbeispiel,  wie  es 
gemacht  wird.  Wie  diese  Studenten  im  kleinen,  so  beein- 
flussen die  Kapitalisten  im  grofsen  die  Gesetzgeber.  Die  in 
den  Wandelgängen  der  Parlamentsgebäude  sich  tummelnden 
Vertreter  des  Grofskapitals  werden  schlechtweg  die  „Lobby" 
genannt;  zu  ihr  gehören  auch  die  berufsmäfsig  mit  der 
Vermittlung  solcher  Geschäfte  sich  befassenden  „Lobbyisten". 
„Die  Lobby  herrscht!"  so  rief  jüngst  der  Sprecher  des 
Repräsentantenhauses  des  Staates  Missouri  während  einer 
Sitzung.  Es  ist  noch  nicht  lange  her,  dafs  im  gleichen 
Staate  drei  Senatoren  wegen  Bestechung  angeklagt  wurden. 

12* 


180  Hintrager. 

Dies  kommt  immer  wieder  da  und  dort  vor.  Die  Haupt- 
verhaudlung  ergab,  dafs  der  „Gesetzgebungsagent"  der 
Vereinigten  Strafsenbahn-Gesellschaften  150000  Dollar,  in 
das  Futter  seines  Rocks  eingenäht,  in  die  Hauptstadt 
nahm  und  dort  unter  die  professionellen  Lobbyisten  ver- 
teilte, dafs  ein  Senator  nach  einer  Kommissionssitzung 
verschiedene  Tausend  -  Dollarscheine  bei  einer  Bank  de- 
ponierte u.  dergl. 

Derartige  Vorkommnisse  sind  nicht  etwa  auf  den 
Kreis  der  Mitglieder  gesetzgebender  Versammlungen  be- 
schränkt; sie  kommen  ebenso  vor  bei  städtischen  Vertretern 
wie  unter  den  staatlichen  und  kommunalen  Beamten.  Die 
Stadtverwaltung  von  New  York  z.  B.  hat  in  dieser 
Hinsicht  eine  auch  über  die  Grenzen  der  Union  hinaus- 
gehende Berühmtheit  erlangt.  Die  in  Chicago  erscheinende 
„Illinois-Staatszeitung"  brachte  vor  einiger  Zeit  folgendes 
Gedicht : 

AneinenAlderman^). 

0  stiehl,  so  lang'  du  stehlen  kannst! 
Stiehl  alles,  was  du  kriegst,  geschwind  — 
Die  Stunde  kommt,  die  Stunde  kommt. 
Wo  wieder  neue  Wahlen  sind. 

0  stiehl,  so  lang'  du  stehlen  kannst, 
Und  schlage  fromm  die  Augen  auf, 
Dann  nennt  man  dich  den  Biedermann, 
Und  Ehren  häuft  man  auf  dich  auf. 

0  stiehl,  so  lang'  du  stehlen  kannst  — 
Die  Ehrlichkeit  ist  eitler  Wahn; 
Zwei  Jahr  nur  bist  du  Alderman, 
Dann  kommen  wieder  andre  dran. 


^)  =  Gemeinderat. 


XI.    Parteien  und  Politik.  181 

0  stiehl,  so  lang'  du  stehlen  kannst, 
Denn  was  nicht  du  stiehlst,  nimmt  sich  dann 
Doch  der,  der  dir  im  Amte  folgt  — 
Auch  so  ein  braver  Biedermann ! 

0  stiehl,  so  lang'  du  stehlen  kannst  — 
Genier'  dich  nicht,  nur  zugefafst! 
Die  Stunde  kommt,  wo  du  beklagst, 
Dafs  du  nichts  mehr  zu  stehlen  hast! 

Öffentliche  Gebäude  und  Arbeiten  kosten  daher  ganz 
enorme  Summen.  Das  Capitol  des  Staats  New  York  zu 
Albany ,  das  Rathaus  der  Stadt  St.  Louis ,  das  County- 
Court-Haus  zu  Carlin ville,  Illinois,  haben  skandalöse  Er- 
bauungsgeschichten. —  Noch  viele  Beispiele  wären  anzu- 
führen ;  allein  ich  will  mich  darauf  beschränken ,  diese 
wenigen  typischen  Tatsachen  aus  der  Fülle  des  im  einzelnen 
nicht  Feststellbaren  zu  erwähnen.  — 

Woher  kommt  diese  Verdorbenheit,  und  was  sagt  das 
Volk  dazu  ? 

Die  gesetzliche  Notwendigkeit  von  häufigen  Wahlen  für 
zahlreiche  Stellen  und  Ämter  barg  von  vornherein  die  Ge- 
fahr des  Entstehens  einer  Menschenklasse  in  sich,  die  mit 
den  Wahlen  und  der  inneren  Politik  berufsmäfsig  sich  be- 
fafst,  da  die  Masse  der  Bürger  nicht  so  viel  Zeit  für  diese 
Dinge  hat.  Eine  solche  Menschenklasse  besteht  in  der 
Union  schon  seit  langer  Zeit,  die  „Politiker"  (politicians). 
Zu  dieser  Klasse  gesellte  sich  etwa  seit  der  Präsidentschaft 
Jacksons  (1829)  noch  eine  schlimme  Gesellschaft,  die 
„Stellen-  und  Ämterjäger".  Jacksons  Anhang  gab  nämlich 
die  jedem  Kinde  hier  bekannte  Losung  aus:  „Dem  Sieger 
die  Beute!",  d.  h.  alle  Ämter  vergibt  die  im  Wahlgang 
siegende  Partei.  Seit  Jackson  ist  auch  die  sogenannte 
Rotation  im  Amte  üblich  geworden,  d.  i.  die  Neubesetzung 
der  Ämter  nach  der  neuen  Wahl,  ein  Grundsatz,  der  heute 


182  Hintrager. 

noch  von  vielen  einsichtigen  Amerikanern  vertreten  wird. 
Der  Mangel  an  Geschäftsroutine  und  Erfahrung  im  Amte, 
so  wird  geltend  gemacht,  sei  unter  allen  Umständen  ein  ge- 
ringeres Übel  als  der  Bureaukratismus. 

Dieses  Beutesystem  erzeugte  die  „Ringe",  d.  h.  die 
geschlossenen  Gruppen  aller  derer,  denen  die  Politik  nichts 
weiter  ist  als  die  Jagd  nach  Ämtern.  Ihr  gemeinsames 
Interesse  am  Sieg  ihrer  Partei  verbindet  und  einigt  sie, 
meist  unter  strenger  Führung  eines  schlauen  Kopfes 
(boss),  da  der  bestorganisierte  und  disziplinierte  Ring 
naturgemäfs  am  mächtigsten  zu  wirken  vermag.  „Weshalb 
anders  sind  wir  hier,  als  wegen  der  Ämter?"  rief  einst 
ein  Mitglied  eines  solchen  Ringes  auf  einer  Partei- 
versammlung. Das  ist  der  Geist  dieser  Leute  und  zur- 
zeit auch  im  wesentlichen  der  Geist,  der  im  Kampfe 
der  Parteien  waltet.  Denn  die  zwei  grofsen,  an  Zahl 
ziemlich  gleichen  Parteien ,  die  republikanische  und  die 
demokratische,  neben  'denen  die  kleineren  verschwinden, 
haben  aufgehört,  prinzipielle  Gegensätze  in  bestimmten 
Fragen  zu  bilden.  Ihre  Programme,  meist  inhaltlose  all- 
gemeine Phrasen,  vermeiden  es,  eine  bestimmte  Haltung  in 
irgend  einer  Frage  einzunehmen.  Bei  beiden  Parteien  sind, 
wenn  man  das  ganze  Land  in  Betracht  zieht,  Schutzzöllner 
und  Freihändler,  bei  beiden  sind  die  arbeitenden  Klassen, 
bei  beiden  die  Bemittelten  und  die  Unbemittelten  ver- 
treten. Einst  war  der  Gegensatz  der  zentrifugalen  und 
zentripetalen  Kräfte,  der  schon  bei  Gründung  des  Bundes 
eine  so  grolVe  Rolle  gespielt  hatte,  das,  was  auch  die 
Haltung  der  zwei  grofsen  Parteien  bestimmte.  Mit  dem 
Sieg  derUnionisten  (Republikaner)  über  die  sezessionierenden 
Staatenrechtler  (Demokraten)  im  Bürgerkriege  ist  vorerst 
dieser  Gegensatz  in  den  Hintergrund  getreten,  und  zur- 
zeit  haben   die   Parteien  im   wesentlichen  nur  noch   Tra- 


XI.    Parteien  und  Politik.  183 

ditionen.      Ihr    Hauptprogramm    ist    „die    Patronage    der 
Regierung",  wie  man  es  hier  nennt. 

Die  Wirksamkeit  der  Politiker,  die  der  Amerikaner 
bezeichnenderweise  „die  Maschine"  nennt,  ist  ein  fein  aus- 
gedachter Wahlmechanismus,  ein  zu  einer  Art  Wissenschaft 
ausgebildetes  System  der  Wahlbearbeitung.  Die  Art,  wie 
hier  eine  Wahl  gemacht  wird,  wie  hier  der  Kandidat  dem 
Publikum  auf  jede  Weise  näher  gebracht  wird ,  zeugt  von 
einem  auf  Erfahrung  gegründeten,  tiefen  Verständnis  der 
Masseninstinkte,  neben  welchem  unsere  heimische  Tätigkeit 
in  dieser  Richtung  nur  als  ein  schüchterner  Versuch  er- 
scheint. Schon  für  die  ja  oft  ausschlaggebende  Auswahl 
der  Kandidaten  wird  der  ganze  Apparat  der  Maschine  in 
Bewegung  gesetzt.  Beginnt  der  eigentliche  W^ahlkampf, 
so  wird  der  ganze  Wahlbezirk  durch  die  bienenartige 
Emsigkeit  der  Politiker  in  Unruhe  gebracht.  In  jedem 
Stadtteil  und  Landl)ezirk  werden  Leute  aufgestellt,  die  mit 
allen  Mitteln  die  Wähler  zu  beeinflussen  haben.  Er- 
scheint dann  der  Boden  hinreichend  vorbereitet,  um  mit 
Erfolg  in  der  Öffentlichkeit  auftreten  zu  können ,  dann 
kommen  jene  grofsen  Demonstrationen,  die  dem  Sinn  {und 
der  Empfänglichkeit  für  kaufmännische  Reklame  ent- 
sprechen: Kolossale  Massenversammlungen,  stundenlange 
Paraden  und  Massenumzüge  mit  Musik  und  Radau  aller 
Art,  Fackelzüge,  Plakatwagen,  Transparente  —  davon  sind 
die  Strafsen  erfüllt  Tag  und  Nacht.  Reklame  für  die 
eigenen  und  Hohn  für  die  gegnerischen  Kandidaten  ist  das 
Feldgeschrei,  das  stark  genug  ist,  um  selbst  die  Trägsten 
aufzurütteln.  Die  Presse  und  —  nicht  zuletzt  —  der 
Kandidat  selbst  wirken  mit  aufserordentlicher  Emsigkeit 
mit.  In  Chicago  sandte  jüngst  ein  Kandidat  für  eine 
Gerichtsschreiberstelle  an  alle  Wähler  seines  Bezirks  sein 
Bild   mit   Lebenslauf  und   ein  ausführliches  Schreiben,   in 


184  Hintrager. 

dem  er  sieh  warm  empfahl.  Mit  steigender  Erregung 
stellen  sich  auch  die  unlauteren  Mittel  des  Kampfes  ein : 
Nicht  nur  Wahllügen,  sondern  auch  Naturalisations- 
fälschungen, falsche  Registrierung  von  Stimmberechtigten, 
„Kolonisation"  von  Wählern  im  Wahldistrikt,  Bestechung 
u.  dergl.  werden  angewendet.  Auch  die  sogenannte  „Wahl- 
geometrie" ,  d.  h.  die  für  die  Partei  günstige  Einteilung 
der  Wahlbezirke,  ist  ein  beliebtes  Mittel.  Wie  der  kauf- 
männische Konkurrenzkampf,  so  wird  auch  der  Wahlkampf 
geführt,  heifs,  rücksichts-  und  gewissenlos. 

Wer  in  diesem  Kampf  Dienst  tut,  wird  bezahlt,  ent- 
weder mit  Geld  aus  dem  von  den  Kandidaten  und  den 
Parteimitgliedern  aufgebrachten  Campagnefonds  oder 
durch  ein  Amt  oder  eine  Stellung.  Dafs  jemand  ohne  Lohn 
arbeitet,  und  wäre  es  auch  für  allgemeine  Zwecke,  das 
erwartet  in  diesem  Lande  niemand.  Dies,  im  Zusammen- 
hang mit  der  Natur  der  zu  leistenden  Dienste,  erklärt, 
dafs  sich  die  Klasse  der  Politiker  im  grofsen  und  ganzen, 
namentlich  in  gröfseren  Städten,  aus  Menschen  rekrutiert, 
mit  denen  der  gute  Teil  der  Bürger  nichts  zu  tun  haben 
will,  und  dafs  der  zum  Beamten  gewählte  Politiker  im 
Amt  darauf  zu  sehen  pflegt,  wie  er  zum  mindesten 
seine  Wahlunkosten  decke.  Der  Name  „Politician"  hat 
etwas  Anrüchiges.  Die  guten  Bürger  halten  sich  von 
der  Politik  ziemlich  fem,  pflegen  insbesondere  nicht  nach 
öfi'entlichen  Ämtern  zu  trachten.  Das  Leben  aufserhalb 
der  politischen  Sphäre  bietet  mehr  anziehende  Möglich- 
keiten als  die  meist  mittelmäfsig  bezahlten  Ämter.  Auch 
lassen  die  Politiker  einen  Ehrlichen  nicht  leicht  auf- 
kommen. 

Dafs  das  Volk  diese  Zustände  erträgt,  und  schon  lange 
erträgt ,  gehört  zu  den  Dingen ,  die ,  glaube  ich ,  nur  der 
versteht ,    der  lange   im  Lande  gelebt  hat ,    und  die  auch 


XI.    Parteien  und  Politik.  185 

nur  dieser  ganz  wird  erklären  können.  Nicht  als  ob  die 
Korruption,  die  übrigens  nicht  überall  im  gleichen  Mafse 
vorhanden  ist,  nur  im  stillen  arbeitete!  Im  Gegenteil,  sie 
ist  allgemein  bekannt,  und  der  einzelne  Fall  bleibt  bei 
der  Öffentlichkeit  aller  Verhältnisse  selten  lange  geheim. 
Immer  wieder  bringt  die  Presse  neue  Skandale  dieser  Art; 
Tageszeitungen  und  Witzblätter  überbieten  sich  an  Dar- 
stellungen des  unlauteren  Treibens  von  Volksvertretern 
und  Beamten.  Wohl  arbeiten  schon  seit  Jahrzehnten 
die  besseren  Elemente,  namentlich  der  gewissenhafte 
Deutsche  hier,  dem  Übel  entgegen  (Civil  Service  Reform- 
bewegung, Good  Government  Clubs  usw.).  Es  ist  auch 
manches  gebessert,  schon  manches  Amt  dem  Zugriff  der  Poli- 
tiker entzogen  worden.  Allein  noch  ist  es  nicht  gelungen, 
wesentliche  Änderungen  herbeizuführen.  Der  einzelne 
Bürger  schaut  dem  Treiben  der  Politiker  zu,  meist  mit 
lächelndem  Optimismus;  er  hat  nicht  Zeit,  sich  auch  noch 
um  diese  Dinge  zu  kümmern,  er  sagt  wohl  auch,  wie  ich 
hier  oft  hörte :  „Das  ist  das  Geschäft  der  Politiker  und 
nicht  das  meinige",  und  huldigt  einer  fatalistischen  Unter- 
werfung unter  die  Majorität,  die  nach  Jefferson  das  Lebens- 
prinzip der  Republiken  ist.  Er  beruhigt  sich  mit  dem 
Gedanken,  dafs  im  Grunde  das  Volk  selbst  die  Schuld  an 
allem  trägt,  da  es  ja  ehrliche  Männer  wählen  kann.  Vor 
allem  aber:  er  spürt  die  Mifswirtschaft,  die  mit  den  öffent- 
lichen Mitteln  getrieben  wird,  nicht  oder  kaum  am  eigenen 
Beutel.  Im  reichen  Hause  können  die  Dienstboten  viel 
stehlen,  bis  es  dem  Hausherrn  wehe  tut.  Dazu  kommt, 
dafs  fast  nur  das  sichtbare,  also  vor  allem  das  unbeweg- 
liche Vermögen,  richtig  fatiert  zu  werden  pflegt,  während 
das  bewegliche  Eigentum  in  weitestem  Umfang  der  Be- 
steuerung entzogen  wird. 

Nur  dann  und  wann,  wenn  das  Treiben  der  Politiker 


18(3  Hintrager. 

gar  zu  bunt  wird,  regt  sich  das  Volk.  Dann  zeigt  es, 
dafs  von  ihm  alle  Macht  im  Staate  hergeleitet  wird.  Ein 
oft  plötzlicher  Umschwung  der  öffentlichen  Meinung 
stürzt  den  Beamten;  wie  im  Sturm  fegt  eine  Wahl  den 
boss  und  seine  Söldner  weg.  Dann  ist  die  Luft  wieder 
geklärt,  und  der  Kampf  des  Guten  und  des  Bösen  beginnt 
von  neuem. 


XII.  Die  öirentliche  Meinung*  und 
die  Presse. 

„Mit  der  öffentlichen  Meinung  für 
sich  gelingt  alles;  mit  der  öffent- 
lichen Meinung  gegen  sich  gelingt 
nichts."  Lincoln. 

Atlantic  City. 

Auch  Amerika  hat  seinen  Zaren;  er  heifst  öffentliche 
Meinung.  Sie  regiert,  sie  erhebt  zur  Macht,  sie  stürzt 
den  Höchsten  über  Nacht.  Sie  ist  die  unsichtbare  Macht, 
der  jeder  huldigen  mufs,  welcher  Erfolge  haben  will.  Sie 
steht  über  Präsident  und  Kongrefs,  über  den  Staats- 
gouverneuren und  Legislaturen.  Alle  schauen  auf  sie 
und,  was  das  Wunderbare  ist,  alle  glauben  an  sie, 
glauben  daran,  dafs  sie  am  Ende  stets  das  Gute  und  das 
Rechte  treffe.  Lincoln ,  der  zweite  im  Herzen  des  Volkes 
nach  Washington,  hat  diesem  Glauben  den  charakteristischen 
Ausdruck  gegeben,  der  ebenso  wie  der  oben  zitierte  Aus- 
spruch zu  den  geflügelten  Worten  hier  gehört:  „Alle  Leute 
kann  man  eine  Zeitlang  zu  Narren  haben  (fool),  einige 
Leute  kann  man  allezeit  zu  Narren  haben.  Aber  alle 
Leute  allezeit  zu  Narren  haben,  das  kann  man  nicht." 

Wie  die  Verfassung,  so  ist  auch  die  öffentliche  Meinung 
der  Ausdruck  des  Willens  des  souveränen  Volkes.  In  der 
Verfassung  hat  das  Volk  seinen  Willen  im  allgemeinen 
niedergelegt,  hat  gewisse,  für  alle  Zeiten  bestimmte  Regeln 
und  Grundsätze  aufgestellt,  nach  denen  es  regiert  sein 
will.    Durch  die  öffentliche  Meinung  bringt  das  Volk  seinen 


188  Hintrager. 

Willen  im  einzelnen  Fall  zum  Ausdruck,  fordert  gleich- 
sam: In  diesem  konkreten  Falle  soll  das  und  das  geschehen. 
Die  öffentliche  Meinung  hat  also  eine  wichtige  Funktion 
im  gesamten  Staatsorganismus.  Sie  ist  der  oberste  Schieds- 
richter, wenn  Konflikte  und  Zweifel  in  öffentlichen  An- 
gelegenheiten entstehen,  insbesondere  bei  Parteikonflikten. 
Weil  alle  Macht  vom  Volke  hergeleitet  ist,  beugen  sich 
vor  seinem  Willen  alle,  vornehmlich  die,  die  Macht  haben 
oder  begehren.  Es  bindet  sie  die  Rücksicht  auf  die 
nächste  Wahl. 

Einige  Beispiele  aus  dem  Leben  werden  diese  Herrschaft 
der  öffentlichen  Meinung  veranschaulichen. 

Als  der  Bürgerkrieg  mit  dem  völligen  Sieg  des 
republikanischen  Nordens  über  den  demokratischen  Süden 
geendigt  hatte  und  sich  die  schwierige  Frage  der  Be- 
handlung der  Sezessionsstaaten  erhob,  verlangte  die 
republikanische  Partei  die  Anwendung  äufserster  Strenge. 
Die  meisten  Republikaner  wollten  die  Südstaaten  als  er- 
obertes Gebiet  behandelt  sehen ,  Jefferson  Davis  und  Lee 
sollten  gehängt  und  die  anderen  Rebellenführer  exemplarisch 
bestraft  werden.  Eine  Zeitlang  wurden  auch  strenge  Mafs- 
regeln  ergriffen;  die  republikanische  Partei  hatte  die 
Herrschaft  im  Kongrefs.  Aber  bald  erhoben  sich  Stimmen 
dagegen,  immer  lauter  und  einstimmiger  verlangte  das 
Volk  Nachsicht,  Vergeben  und  Vergessen  der  Feindselig- 
keiten, und  die  republikanische  Partei  wurde,  trotz  ihres 
bedeutenden  Übergewichtes,  durch  die  Rücksicht  auf  die 
eigene  Popularität  gezwungen,  dem  Süden  gegenüber  gröfste 
Milde  walten  zu  lassen.  Dafs  dies  sehr  gut  war,  hat  die 
Geschichte  gezeigt. 

Als  sich  während  des  spanisch-amerikanischen  Krieges 
herausstellte,  dafs  einzelne  Armeelieferauten  schlechtes 
Konservenfleisch  geliefert  hatten,  erhob  sich  ein  Sturm  der 


XII.    Die  öflfentliche  Meinung  und  die  Presse.         189 

Entrüstung  im  ganzen  Lande,  dem  als  erster  der  Kriegs- 
minister  Mc.  Kinleys,  Alger,  zum  Opfer  fiel.  Ohne  die 
Frage  seiner  Schuld  zu  prüfen ,  machte  die  öffentliche 
Meinung  ihn  verantwortlich,  die  gesamte  Presse  fiel  über  ihn 
mit  amerikanischer  Freiheit  her,  und  Mc.  Kinley  mufste 
ihn  entlassen ,  wollte  er  nicht  selbst  seine  Popularität 
riskieren.  Ein  hiesiges  Witzblatt  stellte  damals  den  grofsen, 
hageren  Uncle  Sam  dar,  der  zu  dem  wie  ein  Liliputaner 
vor  ihm  stehenden  Mc.  Kinley  mit  warnend  erhobenem 
Finger  sagt:  „Wenn  du  mir  diesen  Algerbuben  nicht  fort- 
schickst, werden  wir  Schwierigkeiten  miteinander  haben." 
Im  Hintergrunde  des  Bildes  safs  der  Kriegsminister  Alger 
auf  einer  grofsen  Konservenbüchse  mit  der  Aufschrift: 
„Einbalsamiertes  Ochsenfleisch". 

Die  öffentliche  Meinung  trieb  Mc.  Kinley  zum  Krieg 
mit  Spanien ,  wie  sie  einst  den  Präsidenten  Grant  ver- 
hinderte, San  Domingo  zu  annektieren. 

Anschaulicher  ist  ihre  Wirksamkeit  im  kleineren 
Kreise:  Der  Gemeinderat  der  Stadt  New  York  gab  vor 
einigen  Jahren  einer  Strafsenbahngesellschaft  das  Recht, 
in  der  Amsterdam- Avenue  ein  viertes  Geleise  zu  legen. 
Die  schon  in  Angriff  genommene  Legung  des  Geleises 
mufste  unterbleiben,  da  die  ganze  Bevölkerung  der  Stadt 
wie  ein  Mann  sich  dagegen  erklärte.  Selbst  in  den 
Kirchen  wurde  dagegen  gearbeitet,  und  auch  die  Presse 
mufste  der  allgemeinen  Stimmung  folgen.  In  einer  Zeitung 
las  ich  damals  unter  den  kirchlichen  Nachrichten  einen 
langen  Artikel  mit  der  Überschrift:  „In  den  Kirchen  der 
Ostseite  wird  gegen  das  vierte  Geleise  in  Amsterdam- 
Avenue  gepredigt." 

Ebenso  erging  es  einem  Asche-  und  Abfalldepositorium, 
das  an  der  Strafse  Riverside  Drive  in  New  York  errichtet 
werden  sollte.    Hier  waren  e^  vor  allem  die  Frauen,  welche 


190  Hintrager. 

Opposition  machten  und  den  Strom  der  öffentlichen  Meinung 
dagegen  lenkten. 

Ein  New  Yorker  Richter  machte  sich  durch  eine  Ent- 
scheidung so  unbeliebt,  dafs  nicht  einmal  seine  eigene 
Partei  es  wagte,  ihn  wieder  als  Richterkandidaten  vorzu- 
schlagen. Einem  von  Hause  nicht  vermöglichen  Kongrefs- 
mitglied,  das  sich  in  Washington  ein  sehr  elegantes  Haus 
gekauft  hatte,  erging  es  ebenso,  als  eines  Tages  alle 
Blätter  Bild  und  Kaufpreis  seines  Hauses  und  die  ver- 
hältnismäfsig  geringe  Summe  seiner  Bezüge  als  Kongrefs- 
mitglied  brachten. 

In  einer  Stadt  des  jungen  Westens,  wo  die  Verehrung 
der  Frau  in  dem  Mafse  steigt,  als  sie  seltener  wird,  schlug 
ein  Mann  seine  Frau.  Die  öffentliche  Meinung  erhob  sich 
so  einmütig  gegen  ihn,  dafs  sämtliche  Tageszeitungen  der 
Stadt  ihm  ankündigten,  dafs  er  im  Wiederholungsfalle  die 
Stadt  verlassen  müsse. 

Gewifs  ist  auch  bei  uns  in  Deutschland  die  öffentliche 
Meinung  eine  Macht.  Wo  in  der  Welt  nimmt  man  nicht 
Rücksicht  darauf,  „was  die  Leute  sagen"?  Das  Gefühl, 
das  von  Mund  zu  Munde  geht,  berücksichtigt  auch  bei 
uns  der  einzelne  meist  aus  politischen  oder  wirtschaftlichen 
Gründen.  Allein  in  keinem  modernen  Staate  hat  die 
öffentliche  Meinung  eine  so  bedeutende  Macht  wie  in  der 
Union.  Nirgends  kann  sie  so  wohl  studiert  werden.  Hier 
schauen  die  jeweils  Regierenden,  die  Inhaber  der  gesetz- 
gebenden, der  ausführenden  und  auch  der  richterlichen 
Gewalt,  fortwährend  auf  Äufserungen  der  öffentlichen 
Meinung  und  richten  sich  nach  ihr.  Das  Volk  übt  eine 
wachsame  Aufsicht  aus  über  alle  öffentlichen  Angelegen- 
heiten. Es  betrachtet  sich  als  den  Herrscher  und  die  Re- 
gierenden als  seine  Diener.  Darin  liegt  der  fundamentale 
Unterschied  des  Lebens  dies-  und  jenseits  des  Atlantischen 


XII.    Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse.        191 

Ozeans,  den  jeder  Europäer  alsbald  empfindet,  wenn  er 
amerikanische  Luft  atmet,  die  lebhafte  Anteilnahme  des 
Volks  an  allen  öifentlichen  Angelegenheiten  sieht  und  eine 
Zeitung  liest.  Dafs  der  einzelne  an  der  Bildung  der 
eigenen  Meinung  arbeitet  und  dadurch  mitwirkt  bei  der 
Bildung  der  öffentlichen  Meinung,  dazu  führt  und  zwingt 
ihn  der  Geist  des  Lebens  hin.  Ergreift  dieser  doch  den 
Eingewanderten  bald  mit  solcher  Macht,  dafs  auch  er  an 
diesem  subtilen  Prozesse  Anteil  nimmt,  lange  ehe  seine 
Meinung  durch  das  Stimmrecht  praktischen  Wert  erlangt. 
Die  Schule ,  die  in  allererster  Linie  zu  amerikanischen 
Bürgern  erziehen  will;  der  immer  noch  mehr  oder  weniger 
koloniale  Typus  des  Lebens,  den  Selbständigkeit  und 
Selbstvertrauen  des  einzelneu  charakterisiert;  die  lange 
Übung  der  Selbstregierung,  die  durch  häufig  wiederkehrende 
Wahlen  in  dem  Individuum  immer  wieder  das  Gefühl 
weckt:  „Ich  habe  mitzuentscheiden";  endlich  die  grofsen 
Anforderungen  des  wirtschaftlichen  Konkurrenzkampfes  und 
eine  überaus  tätige  Presse,  die  alles  an  die  Öffentlichkeit 
zieht,  —  alles  wirkt  dahin,  eine  Masse  rein  praktischen 
Wissens  im  Kopfe  des  einzelnen  anzusammeln.  Welche 
Früchte  das  Zusammenleben  solcher  Individuen  zeitigt,  das 
habe  ich  in  meinen  bisherigen  Schilderungen  des  amerika- 
nischen Lebens  zu  zeigen  versucht. 

Nicht  als  ob  die  öffentliche  Meinung  hier  eine  Summe 
wohlüberlegter  Ansichten  wäre,  von  aufgeklärten  Individuen 
selbständig  gebildet.  Wohl  ist  es  wahr,  dafs  das 
amerikanische  Volk  ein  sehr  hohes  Durchschnittsmafs 
praktischer  Kenntnisse  und  grofse  politische  Keife  besitzt. 
Allein  auch  hier  ist  die  öffentliche  Meinung  eine  Mischung 
von  Verständnis  und  Unsinn,  von  Vorurteil  und  Ge- 
rechtigkeit, von  Schwachheit  und  Zeitungsklatsch.  Auch 
hier   entscheidet   die   Masse   mehr   nach   dem  Gefühl   als 


192  Hintrager. 

nach  dem  Verstände;  das  Interesse,  der  Vorteil  bestimmt 
meist  Meinung  und  Tat.  Der  einzelne  hört  oder  liest 
von  einer  Begebenheit,  er  spricht  mit  anderen  darüber,  er 
liest  die  Urteile  der  Presse,  er  bewegt  wohl  auch  die  An- 
gelegenheit mehr  oder  weniger  in  seinem  Innern,  —  und 
wie  wenig  von  alledem,  was  dann  als  eigene  Meinung  er- 
scheint, ist  in  Wahrheit  eigenes  Erzeugnis!  Wie  wenige 
haben  Zeit  und  Lust  und  Wissen,  sich  ein  Urteil  zu 
bilden!  Wie  oft  fehlt  die  Möglichkeit,  auch  nur  die  Vor- 
aussetzung des  Urteils  festzustellen,  den  Tatbestand! 

Und  trotzdem  ist  hier  die  öffentliche  Meinung  eine 
solche  Macht  Nicht  die  Weisheit  hat  sie  für  sich,  aber 
die  Kraft;  denn  in  diesem  jungen  Lande  ist  sie  nicht  die 
Meinung  von  Klassen,  sondern  die  Meinung  der  Masse,  des 
ganzen  Volkes.  Noch  ist  das  Land,  von  verhältnismäfsig 
geringen  Ansätzen  im  Osten  abgesehen,  frei  von  Klassen- 
bildung und  Klassengegensätzen.  Alles  ist  noch  in 
lebendigem  Flusse;  der  Arbeiter  ist  morgen  Arbeitgeber, 
der  Arme  morgen  reich  und  umgekehrt,  der  Beamte  bald 
wieder  Privatmann.  Daher  ergreift  der  Eindruck  des 
Augenblicks  viel  gröfsere  Massen  des  Volkes  in  gleicher 
Weise,  als  in  alten  Kulturstaaten.  Und  diese  Massen  ent- 
scheiden mit  dem  Stimmzettel  über  die  Wahl  des 
Präsidenten  sowohl  als  irgend  eines  Gerichtsvollziehers. 
Endlich,  —  und  das  ist  ein  wesentlicher  Grund  der  Macht 
der  öffentlichen  Meinung  —  alles  glaubt  an  sie.  Alles  ver- 
traut auf  die  Richtigkeit  ihrer  Entscheidung.  Der  Glaube, 
dafs  niemand  auf  die  Dauer  das  Volk  täuschen  könne,  dafs 
am  Ende  das  Volk  stets  das  Richtige  finden  werde,  ist 
allgemein.  Wohl  mögen  da  und  dort  einzelne  sein ,  die 
anders  denken,  die  mit  Elisabeth  in  Schillers  „Maria 
Stuart"  fühlen:  „0  Sklaverei  des  Volksdienstes!"  Allein 
sie  werden  sich  hüten,  das  zu  sagen.    Wie  der  einzelne 


XII.    Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse.  193 

Amerikaner  voll  Zuversicht  und  Selbstvertrauen  ist,  so 
sind  es  auch  die  Massen  in  naturgemäfs  erhöhtem  Grade. 
Nicht  vom  „Staate"  reden  sie,  der  dies  gemacht  hat  und 
jenes  machen  wird  oder  soll,  sondern  von:  „wir". 

Zu  den  Folgen  der  Macht  der  öffentlichen  Meinung 
gehört  vor  allem  das  Buhlen  um  die  Volksgunst.  „Dem 
Volke  wird  geschmeichelt  wie  einem  Herrscher"  (Aristo- 
teles), Je  mehr  einer  vom  Volke  zu  erwarten  hat,  desto  mehr 
schmeichelt  er  ihm.  Macht  der  Präsident  eine  Popularitäts- 
reise, so  sagt  er  den  Farmern  in  Süd -Dakota,  was  die 
Bundesregierung  für  die  Landwirtschaft  getan  habe, 
tue  und  tun  werde;  den  Arbeitern  in  einem  Industrie- 
bezirke hält  er  eine  Rede  über  ihre  hervorragende  Tüchtigkeit 
und  kündigt  die  Erlassung  von  Mustergesetzen  zugunsten 
der  Arbeiter  im  Distrikt  of  Columbia  an ,  und  in  Jowa 
bewundert  und  küfst  er  Hunderte  von  Babies,  um  der 
Mütter  Gunst  nicht  zu  verscherzen.  Der  gefeierte  Grant 
sagte  vor  seiner  Wahl  zum  Präsidenten :  „Dem  Präsidenten 
als  einem  blofsen  Verwaltungsbeamten  liegt  es  stets  ob, 
den  Willen  des  Volkes  zur  Geltung  zu  bringen,"  und 
Buchanan  versprach  gar  dem  Volke  vor  seiner  Wahl  zum 
Präsidenten  die  Annexion  von  Cuba.  Journalisten,  Redner, 
Beamte,  Politiker,  alle  sagen  dem  Volke,  was  es  gerne 
hört.  In  der  Einleitung  seiner  Botschaft  an  den  Kongrefs 
vom  Dezember  1902  sagte  der  Präsident  z.  B.  folgendes: 
„Diese  Nation  wohnt  auf  einem  Kontinent  zwischen 
zwei  grofsen  Meeren.  Sie  setzt  sich  zusammen  aus  den 
Nachkommen  von  Pionieren  oder,  in  gewissem  Sinne,  aus 
Pionieren  selbst;  aus  Männern,  welche  gleichsam  ausgesiebt 
wurden  aus  den  Völkern  der  Alten  Welt  durch  die 
Energie,  Kühnheit  und  Abenteuerlust,  die  sich  in  ihren 
stürmischen  Herzen  fand.  Eine  solche  Nation  auf  einem 
solchen  Boden    mufs  dem  Schicksal  den  Erfolg  abringen. 

Hintrager.  13 


/ 


194  Hintrager. 

/  —  Als  ein  Volk  haben  wir  eine  grofse  Rolle  in  der  Welt 
gespielt,  und  wir  sind  im  Zuge,  unsere  Zukunft  noch 
gröfser  zu  gestalten  als  die  Vergangenheit.  Insbesondere 
haben  die  Ereignisse  der  letzten  vier  Jahre  endgültig  ent- 
schieden, dafs  unsere  Stellung  grofs  sein  mufs  unter  den 
Nationen.  Mögen  wir  grofse  Mifserfolge  haben  oder  grofse 
Erfolge,  wir  können  den  Aufgaben  nicht  aus  dem  Wege 
gehen,  von  denen  grofse  Erfolge  oder  Mifserfolge  kommen 
müssen.  Selbst  wenn  wir  wollten,  wir  können  keine  kleine 
Rolle  spielen.  Sollten  wir  es  versuchen,  die  Folge  würde 
nur  die  sein,  dafs  wir  eine  grofse  Rolle  schlecht  und  ohne 
Ehren  spielen  würden. 

Aber  unser  Volk ,  die  Söhne  der  Männer  des  Bürger- 
kriegs, die  Söhne  von  Männern,  die  Eisen  in  ihrem  Blute 
hatten,  freut  sich  der  Gegenwart  und  schaut  in  die  Zu- 
kunft mit  gehobenem  Herzen  und  starkem  Willen.  Das 
Bekenntnis  des  Schwächlings  und  des  Feigen  ist  nicht  das 
unsrige ;  unser  ist  das  Evangeliuin  der  Hoffnung  und  trium- 
phierenden Strebens.  Wir  schrecken  nicht  zurück  vor  dem 
Kampfe  vor  uns.  Viele  Probleme  liegen  vor  uns  am  An- 
fang des  20.  Jahrhunderts,  —  ernste  Probleme,  besonders 
im  Innern;  aber  wir  wissen,  dafs  wir  sie  gut  lösen  können, 
vorausgesetzt,  dafs  wir  ihrer  Lösung  die  Eigenschaften 
von  Kopf  und  Herz  entgegenbringen,  welche  jene  Männer 
besafsen,  die  in  den  Tagen  Washingtons  diese  Regierung 
gründeten  und  in  den  Tagen  Lincolns  sie  erhielten. 

Kein  Land  hat  jemals  einen  höheren  Grad  materieller 
Wohlfahrt  erreicht  als  das  unsrige  gegenwärtig.  Diese 
Wohlfahrt  ist  nicht  plötzlichen  oder  zufälligen  Ursachen 
zuzuschreiben,  sondern  dem  Spiel  der  wirtschaftlichen 
Kräfte  in  diesem  Lande  seit  mehr  als  100  Jahren,  unseren 
Gesetzen,  unserer  konstanten  Politik  und  vor  allem  der 
durchschnittlich    hohen   politischen  Reife  unserer  Bürger." 


XII.    Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse.  195 

In  dieser  Weise  werben  die  Führer  um  die  Gunst  der 
«ifentlichen  Meinung,  um  welche  gelegentlich  auch  fremde 
Mächte  sich  bemühen. 

Am  mächtigsten  spricht  die  Stimme  des  amerikanischen 
Zaren  durch  die_  Presse.  Wohl  haben  auch  öffentliche 
Versammlungen,  Wahlen,  Reden  und  Aussprüche  hervor- 
ragender Menschen  als  Organe  der  öffentlichen  Meinung 
ihre  Bedeutung.  Allein  ihr  einflufsreichstes  Organ  ist  die 
Presse.  Sie  ist  hier  ein  überaus  wichtiger  Faktor  des 
Lebens  und  zugleich  etwas  so  spezifisch  Amerikanisches, 
dafs  man  sagen  kann,  das  Verständnis  einer  amerikanischen 
Zeitung  ist  geradezu  ein  Mafsstab  des  Verständnisses  des 
ganzen  Landes  und  Volkes.  Schon  von  alters  her  spielt 
die  Presse  hier  eine  grofse  Rolle,  und  sie  hat  sich  wegen 
der  zwischen  ihr  und  der  öffentlichen  Meinung  bestehenden 
Wechselwirkung  zu  einer  Macht  entwickelt,  gröfser  als  in 
irgend  einem  andern  Lande.  Kein  Land  hat  so  viele 
Zeitungen  wie  die  Vereinigten  Staaten.  Sie  haben  über 
20000  Zeitungen  und  Zeitschriften,  auf  der  ganzen  Welt 
gibt  es  deren  (nach  Rowells  Zeitungsalmanach)  zurzeit 
etwa  50  000.  Sie  bestehen  dank  der  grofsen  Reklame, 
die  hier  als  ein  Zeichen  guten  Geschäftssinnes  gilt,  und 
dank  ihrer  Massenverbreitung.  Ich  bin  in  kein  amerika- 
nisches Haus  gekommen,  in  dem  nur  eine  Tageszeitung, 
von  Zeitschriften,  Wochenschriften  u.  dergl.  abgesehen,  zu 
finden  gewesen  wäre,  selbst  Alexanders  Farm  nicht  aus- 
genommen. Kirchen,  Schulen,  Strafanstalten  haben  ihre 
eigenen  Zeitungen ;  auf  Mississippi-Dampfern  gibt  es  solche. 
Wie  der  Amerikaner  den  Tag  mit  Zeitungslesen  beginnt 
und  beschliefst ,  davon  weifs  jeder  zu  erzählen ,  der  auch 
nur  kurze  Zeit  in  diesem  Lande  war.  Nirgends  bieten 
auch  die  Zeitungen  so  viel  wie  hier.  Betrachten  wir  ein- 
mal in  behaglicher  Ruhe  eine  hiesige   Tageszeitung    mit 

13* 


196  Hintrager. 

ihrem  grofsen  Umfang,  ihren  schreienden  Artikelüberschriften 
und  ihrem  mannigfaltig  zugerichteten,  reich  illustrierten 
Stoif  I  Sie  enthält  alles  Erfindliche  und  Unerfindliche,  was 
nur  irgend  jemand  interessieren  kann.  Und  alles  ist  im 
Interesse  des  Massenabsatzes  dem  Sinn  und  Geschmack 
der  Massen  angepafst. 
1  Da  ist   zunächst   eine  Fülle  von  Auslandsnachrichten, 

[  spaltenlange  Telegramme,  die  den  einzelnen  Zeitungen 
1  durch  die  an  allen  bedeutenderen  Orten  der  Welt  be- 
1  findlichen  Vertreter  der  „Assoziierten  Presse"  zugehen;  sie 
berichten  über  die  Kaisertage  in  Kopenhagen,  über  Pariser- 
klatsch, über  die  Stimmung  in  den  Balkanstaaten ,  über 
das,  was  an  irgend  einem  Platze  der  Welt  geschieht, 
ebenso  ausführlich  wie  über  die  Dinge  in  den  Vereinigten 
Staaten  und  meist  mehr  ins  einzelne  gehend  als  die 
europäische  Presse.  Denn  das  amerikanische  Publikum 
will  alles  bis  ins  einzelne  wissen,  es  hungert  nach  Neuig- 
keiten und  begnügt  sich  nicht  mit  kurzer  Wiedergabe 
nackter  Tatsachen,  vor  allem,  wenn  es  sich  um  Dinge 
handelt,  die  die  Interessen  der  Vereinigten  Staaten  irgend- 
wie berühren.  „Unsere  Flagge  wird  in  vielen  Ländern 
geehrt.  Überall  feiern  die  Fremden  mit  uns  den  Geburts- 
tag der  Nation",  so  lauten  die  grofsen  Überschriften  der 
seitenlangen  telegraphisehen  Berichte  darüber,  wie  der 
4.  Juli,  der  Tag  der  Unabhängigkeitserklärung,  in  allen 
bedeutenden  Städten  der  Welt  gefeiert  wurde.  „Frank- 
reich ist  uns  herzlich  wohlgesinnt" ,  steht  über  dem  Tele- 
gramm aus  Paris,  das  die  Teilnahme  der  Pariser  Gesell- 
schaft an  der  Feier  beschreibt.  „Die  amerikanische 
\  Diplomatie  ist  der  Gesprächsgegenstand  der  Zeit.  Die 
meisterhafte  Erledigung  der  Venezuela  -  Angelegenheit  ist 
der  gröfste  diplomatische  Erfolg  seit  Jahren".  Mit  diesen 
Überschriften     werden    Berichte     aus    London,     Berlin, 


XII.    Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse.  197 

Paris  usw.  über  diesen  Gegenstand  eingeleitet.  Nicht  allein 
grofse  Ereignisse,  wie  z.  B.  die  Schlacht  von  Sedan,  deren 
genaue  Beschreibung  schon  am  Morgen  nach  der  Schlacht 
in  allen  amerikanischen  Zeitungen  zu  lesen  war,  sondern 
auch,  dafs  die  Zarin  bei  einem  Ball  eine  „Drei  Millionen- 
Dollar-Kleidung"  trug,  dafs  „das  merkwürdige  Benehmen 
der  Prinzessin  von  Wales  gegen  ihren  Gatten  in  ganz 
Europa  Aufsehen  macht" ,  dafs  „der  Deutsche  Kaiser  in 
Kopenhagen  lange  mit  dem  sozialistischen  Bürgermeister 
sich  unterhielt,  und  dafs  er  den  einsamen  Mädchen  von 
Krefeld  zuliebe  ein  Husarenregiment  dorthin  in  Garnison 
schickt" ,  all  das  ist  in  der  Zeitung  hier  zu  lesen.  Von 
allen  Fürstlichkeiten  Europas,  für  die  der  Amerikaner  ein 
besonderes  Interesse  hegt ,  ist  keine  so  sehr  der  Gegen- 
stand der  Neugier  als  unser  Kaiser,  den  Volk  und  Presse 
hier  schlechthin  „the  Kaiser"  nennen.  Über  sein  Leben 
mufs  die  Zeitung  dem  amerikanischen  Volke  immer  von 
Zeit  zu  Zeit  in  Wort  und  Bild  berichten;  da  ist  ausführlich 
zu  lesen,  dafs  er  keine  englischen  Austern  mehr  auf  seinem 
Tische  haben  will ,  sondern  nur  holländische  und  dänische, 
wie  die  kaiserliche  Prinzessin  in  ihrer  eigenen  Küche  ihre 
erste  Omelette  zubereitete,  wie  der  Kaiser  auf  seiner 
Nordlandreise  sich  mit  seiner  Begleitung  amüsierte.  Unter 
der  Überschrift  „Amerikanische  Manieren  für  den  künftigen 
Kaiser"  las  ich  einst,  dafs  der  Kaiser  sich  von  der  Gräfin 
Waldersee  (geborene  Amerikanerin)  habe  versprechen 
lassen ,  dafs  sie  sieh  des  Kronprinzen  annehme ,  wenn  er 
nach  Hannover  auf  die  Reitschule  komme. 

Weitaus  den  gröfsten  Teil  der  Zeitungen  nehmen  die 
zahlreichen  Telegramme  aus  Stadt  und  Land  ein.  Wie  ein 
Spürhund,  der  alles  aufstöbert,  berichtet  die  Presse  zu- 
nächst über  jede  Kleinigkeit,  die  in  irgendeinem  öffent- 
lichen  Amte  und  Institute  geschieht.      Da  ist  zu  lesen, 


198  Hintrager. 

was  der  Pfarrer  Dawson  gegen  das  Radfahren  in  der 
Kirche  gesagt  hat,  welche  Verfügungen  der  Staatsanwalt 
in  einem  Prozesse  getroffen  hat,  dafs  die  Schüler  und 
Schülerinnen  des  Gymnasiums  am  Freitagabend  einen 
Diskussionsabend  über  Schutzzoll  und  Freihandel  hatten. 
Nichts  unter  der  Sonne  ist  sicher  davor,  dafs  nicht  eines 
Tages  ein  Vertreter  der  Presse  es  in  Augenschein  nimmt 
und  an  die  Öffentlichkeit  bringt.  „Arbeitsszenen  und 
Arbeitsmethoden  in  unserem  Postamte,  unserem  Amts- 
gerichte, unseren  Strafanstalten,  bei  unserer  Feuerwehr" 
bringen  das  Ergebnis  von  Besuchen  eines  Prefsvertreters, 
dessen  Augen  scharf  sind  und  dessen  Fragen  tausendfach. 
Selbst  im  Kriege  kann  man  in  den  Zeitungen  innere  Ver- 
fügungen der  Heeresorgane  schon  vor  der  Ausführung 
lesen.  Die  Findigkeit  der  Presse  führt  oft  zur  Entdeckung 
von  Verbrechen  und  Verbrechern ;  denn  sie  wirkt  mit  ihren 
Illustrationen  und  genauen  Berichten  als  wie  ein  aus- 
führliches Fahndungsblatt.  „Die  Polizei  sucht  nach 
Barrington" ,  —  Bild  und  Handschriftfaksimile  ist  bei- 
gefügt, —  „Wie  der  Strafanstaltsvorstand  Brockway  seine 
Gefangenen  behandelt",  „Der  schwere  Dienst  unserer 
Feuerwehrleute,  sie  wachen  für  uns",  „Wie  Dr.  Runge 
seine  Kranken  in  der  Irrenanstalt  nach  modernen  Prin- 
zipien behandelt",  „Was  unsere  Truppen  im  Felde  zu 
essen  bekommen",  „Admiral  Dewey  hat  grofse  Flotten- 
pläne, er  hat  Fehler  unserer  Schiffe  beim  Manövrieren 
entdeckt",  „Die  Bewohner  unseres  Altenheims  erleben  fried- 
liche Tage';  sie  haben  wenig  Vergnügen,  aber  die  wohl- 
verdiente Ruhe  nach  vielen  Jahren  des  Kampfs" :  Das 
sind  Beispiele  von  Inhaltsangaben,  wie  ich  sie  hier  über 
Zeitungsartikeln  gelesen  habe.  Und  der  Inhalt  solcher 
Artikel  ist  stets  ein  sehr  persönlicher.  Die  Bilder  und 
Lebensläufe   der  betreffenden  Personen  und  was  sie  dem 


XII.    Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse.  199 

Berichterstatter  sagten,  wird  wiedergegeben  meist  mit  irgend 
einer  schmeichelhaften  Bemerkung.  Niemand  ist  hier  so 
unbedeutend,  dafs  er  nicht  bälder  oder  später  einmal  in  der 
Zeitung  seines  Orts  eine  Rolle  spielte.  Aber  neben  diesen 
kleinen  Liebenswürdigkeiten,  die  sich  wohl  bezahlt  machen, 
findet  sich  schärfste  Kritik  und  rücksichtsloseste  Publizität 
überall  da,  wo  die  Presse  die  öffentliche  Meinung  hinter 
sich  zu  haben  glaubt.  Eine  St.  Louiser  Zeitung  brachte 
eines  Tages  einen  Artikel  mit  der  Überschrift:  „Nehmt 
Euch  vor  dem  Schulsuperintendenten  Carrington  in  acht! 
Er  schreibt  allen  Lehrern  und  Lehrerinnen  Briefe,  dafs 
sie  eine  Petition  für  ein  gewisses  Gesetz  unterzeichnen 
sollen,  das  sie  nie  gesehen  haben".  Eine  andere  Zeitung 
schrieb  von  den  Stadträten  von  St.  Louis:  „Sie  handeln 
wie  Narren ;  einige  werden  wahrscheinlich  ins  Gefängnis 
wandern  wegen  Unterschlagung",  und  von  den  Mitgliedern 
des  Kongresses:  „Der  Fabrikation  des  ,Grösser  New  York' 
kommt  nur  gleich  das  Verlangen  einzelner  Kongrefs- 
mitglieder  nach  einem  gröfseren  Diebstahl".  In  den  Blättern 
sind  Bilder  und  Namen  von  Senatoren  zu  finden  mit  der 
Überschrift:  „Angeklagt  wegen  Bestechung!"  —  „Ein Ver- 
treter unserer  Zeitung  findet  die  Polizei,  wie  sie  dem  ver- 
botenen Glücksspiel  zusieht.  Der  Sohn  des  Polizeichefs 
Kelly  spielt  mit.  Viele  Zeugen  sagen,  sie  mufsten  sich 
ihre  Straflosigkeit  von  der  Polizei  erkaufen",  „Der  Straf- 
anstaltsdirektor Brockway  prügelt  seine  Gefangenen",  „Der 
Napoleon  Mc.  Kinley  soll  für  seine  Aufstellung  als  Kan- 
didat teuer  bezahlt  haben" :  also  bellt  der  Wachthund 
„Presse". 

Nicht  minder  grofs  ist  die  Publizität  aller  Verhältnisse 
im  wirtschaftlichen  Leben,  das  hier  auch  in  der  Presse 
eine  gröfsere  Rolle  spielt  als  in  alten  Kulturländern.  Die 
Zeitungen  geben  die    monatlichen  Ein-  und  Ausfuhrziffern 


200  Hintrager. 

wieder,  den  am  ersten  jeden  Monats  vorhandenen  Bar- 
vorrat an  Gold  und  Silber  im  Staatsschatze  und  den  Be- 
trag der  Staatsschuld  (Public  debt  Statement),  sowie  all- 
jährlich die  Handelsbilanz  der  Nation.  Aufser  diesen 
regelmäfsig  wiederkehrenden  Daten  veröffentlichen  sie  eine 
Masse  Einzelheiten  aus  dem  wirtschaftlichen  Leben  der 
Union  und  des  Auslandes:  dafs  die  Oststaaten  nach  Münze 
verlangen;  welche  Pläne  der  Finanzminister  hat,  um  das 
Problem  zu  lösen;  dafs  in  London  ein  grofser  Handel  in 
United  States  Bonds  ist,  und  dafs  die  Eisenbahngesellschaften 
des  Landes  sich  der  Besteuerung  nach  Kräften  entziehen. 
Ein  Kaufmann  erhält  einen  Brief  aus  Chemnitz ,  der  An- 
gaben über  die  Löhne  von  Arbeitern  in  dortigen  Schuh- 
fabriken enthält.  Ein  Berichterstatter  einer  schutz- 
zöllnerischen  Zeitung  hört  hiervon  und  macht  aus  dem 
Brief  einen  langen  Artikel ,  der  mit  dem  Argument 
endigt:  Dank  unserem  Schutzzoll  haben  unsere  Arbeiter 
bessere  Löhne  als  die  deutschen.  Eine  bildliche  Darstellung 
all  dessen,  was  in  den  verschiedenen  Distrikten  eines 
Staates  produziert  wird,  Statistisches  über  die  Entwicklung 
von  Bevölkerung,  Handel  und  Reichtum  der  Kulturmächte 
ist  von  Zeit  zu  Zeit  in  der  Zeitung  zu  lesen. 

Ein  sehr  ergiebiges  Feld  der  Tätigkeit  der  Presse  ist 
das  Privatleben  und  der  Lokalklatsch,  der  ja  überall  für 
die  Massen  von  besonderem  Interesse  ist.  Hier  ist  niemand 
vor  einem  Reporter  sicher,  und  lebe  er  auch  noch  so 
zurückgezogen.  Kommen  doch  die  Reporter  schon  vor  der 
Landung  an  Bord  der  Dampfer  um  festzustellen,  wer  da 
kommt,  woher,  wozu  er  kommt,  wohin  er  geht  u.  s.  f.  Wer 
einen  Berichterstatter  abweist,  kann  erleben,  dafs  er  bald 
etwas  ihm  Unangenehmes  in  der  Zeitung  liest.  Sein 
Schweigen  mag  gegen  ihn  gedeutet  werden.  Das  Volk 
kann  die  Geheimnisse  nicht  leiden.     Als  dei-  südstaatliche 


XII.    Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse.  201 

General  Lee  in  Washington  den  ihn  belagernden  Vertretern 
der  Presse  hartnäckig  ein  Interview  verweigerte,  las  er  als- 
bald in  allen  Blättern :  „Gespräche  mit  General  Lee".  Die 
Leute  wollten  von  ihm  etwas  lesen,  daher  raufste  die  Zeitung 
etwas  bringen.  Als  ich  in  Boston  in  Begleitung  eines 
Strafanstaltsvorstandes  durch  ein  Gefängnis  ging  und  jener 
einige  Fragen  an  einen  Gefangenen  richtete,  antwortete 
dieser  mit  einem  Blick  auf  mich:  „0  bitte,  bringt  mich 
nicht  in  der  Zeitung!"  (Er  hatte  mich  für  einen  Reporter 
gehalten.)  Denn  auch  der  Verbrecher  wird  „interviewed". 
„Er  findet  sein  jetziges  Leben  sehr  verschieden  von  dem 
Leben  früher,  da  er  noch  mit  Geld  gefüllte  Koffer  hatte", 
berichtet  dann  die  Zeitung.  Als  der  junge  Rockefeller 
sich  einst  auf  dem  Wege  zu  seiner  Sonntagsschulklasse  von 
zwei  Detektiven  begleiten  liefs,  brachte  die  New  Yorker 
Presse  dies  mit  folgendem  Kommentar:  „Ist  das  sein  Ver- 
hältnis zum  Nebenmenschen?  Meint  er,  mit  Furcht  und 
Argwohn  werde  er  je  glücklich  werden?"  Und  als  er  in 
der  Sonntagsschule  das  Wort  Christi  an  den  reichen  Jüng- 
ling auf  seine  Art  erklärte ,  brachten  tags  darauf  die 
Zeitungen  eine  Unterredung  ihres  Vertreters  mit  Tolstoi 
über  Rockefellers  Erklärung. 

Eine  Zeitungsblütenlese  wird  diese  Seite  und  Art  der 
Prefstätigkeit  veranschaulichen : 

„Ella  Seifert,  Zimmermädchen  im  Madison-Hotel,  fand 
im  Hotel  4000  $  und  gab  sie  dem  Eigentümer  zurück. 
Dieser,  Mr.  Bradley,  bedankte  sich  nicht."  Dem  eine 
Spalte  langen  Artikel  ist  das  Bild  des  ehrlichen  Mädchens 
beigefügt. 

„Bild  und  Beschreibung  des  Schuhs,  der  in  St.  Louis 
für  die  Frau  des  chinesischen  Weltausstellungskommissars 
gemacht  wurde." 

„Die  Studentinnen   von   Harvard    veranstalten    Diners 


202  Hintrager. 

in  Nachtgewändern;  ein  Angriif  der  Studenten  wird  mutig 
zurückgesehlagen." 

„Unsere  neuerwählten  Beamten  in  Stadt  und  Bezirk." 
Es  folgen  Bilder  und  Lebensläufe  derselben. 

„Dem  Friedrich  Heer  gingen  die  Esel  durch,  als  er 
nach  der  Kirche  fuhr;  er  brach  den  Arm." 

„Unsere  beste  Schwimmerin  in  der  Stadt,  Mifs  Etta 
Wilson.  Sie  gibt  Ratschläge,  wie  man  schwimmen  lernen 
soll."  Dem  Artikel  ist  ihr  Bild  im  Schwimmanzuge  bei- 
gefügt. 

„Rechtsanwalt  Michel  in  der  sechsten  Strafse  hat 
sieben  Stenographinnen  und  liebkost  sie  alle;  er  ist  nicht 
wählerisch,  denn  sie  sind  alle  nett;  die  Hausmieter  be- 
klagen sich  und  meinen,  er  brauche  eine  Frau,  die  nach 
ihm  sieht." 

„Der  fürchterliche  Brand  des  Windsor-Hotel."  Wenige 
Stunden  nach  dem  Brande  bringen  die  Zeitungen  hierüber 
schon  eine  ganze  Seite  mit  Bildern. 

„Wie  unsere  jungen  Leute  das  Geld  verdienen,  um  an 
der  Washington-Universität  zu  studieren",  so  ist  ein  Auf- 
satz überschrieben,  der  die  Studenten  rühmend  aufzählt, 
die  durch  Stundengeben,  Schreiben,  landwirtschaftliche  und 
häusliche  Dienste  ihre  Studiengelder  verdienen. 

„Bei  einer  Parade  wird  der  ledige  Gouverneur  von 
Kansas  von  Mädchen  der  Stadt  St.  Louis  attackiert: 
, Sagen  Sie,  Gouverneur,'  rufen  sie,  ,haben  Sie  immer  noch 
keine  Frau  gefunden?  Warum  kommen  Sie  nicht  nach 
St.  Louis?" 

„Wie  Onkel  Sam  im  New  Yorker  Hafen  der  Frau 
Dulles  ihre  28000  $  Diamanten  nahm,  die  sie  in  Paris 
gekauft  hatte  und  einschmuggeln  wollte."  So  ist  ein 
ganzer  Diamantenroman  überschrieben ,  der  in  Paris  be- 
ginnt, wo  ein  Geheimpolizist  des  Bundeszoll amtes  die  Mrs. 


XII.    Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse.  203 

Dulles  den  fraglichen  Diamantenschmuck  kaufen  sah.  Der 
über  eine  Seite  einnehmenden  Darstellung  des  Verlaufs  ist 
u.  a.  ein  grofses  Bild  beigefügt,  wie  die  Hand  eines  Zoll- 
beamten am  Hals  der  Mrs.  Dulles  das  eingeschmuggelte 
Halsband  ergreift. 

Ein  Pastor  in  Illinois,  dessen  Frau  gelegentlich  für 
ihn  predigt,  wird  „interviewed".  Das  Ergebnis  ist  ein 
langer  Aufsatz  über  Leben  und  Treiben  im  genannten 
Pfarrhaus  und  Pfarramt.  „Ich  helfe  ihr  in  der  Küche  und  sie 
mir  im  Amte.  Meine  Frau  ist  30  Jahre  alt.  Ich  hätte 
gute  Lust,  gegen  die  Zeitung,  die  meiner  Frau  Alter  als 
40  angab,  zu  klagen,"  —  so  erklärte  der  Pfarrer  dem 
Berichterstatter  u.  a.  Über  dem  Artikel  ist  ein  Bild,  wie 
die  Frau  Pfarrer  auf  der  Kanzel  predigt,  und  daneben  ein 
zweites  des  Herrn  Pfarrer,  der  in  der  Küche  sitzt,  die 
Kaffeemühle  zwischen  den  Beinen  haltend. 

Dafs  der  Pastor  David  von  Brockton  an  den  Präsidenten 
eine  Bibelstelle  und  „wir  beten  für  Sie  in  dieser  Krisis" 
telegraphierte,  ist  ebenso  in  der  Zeitung  zu  lesen,  wie  der 
Wortlaut  des  Antwortbriefes  des  Präsidenten. 

„Herr  Stetson  kommt  soeben  von  Hawaii  und  erzählt 
sehr  interessant  von  dort;  obwohl  er  sagt,  er  habe  auf  der 
Insel  keine  wichtigere  Stellung  als  die  eines  Buchhalters 
einer  Plantage,  ist  es  sehr  wohl  bekannt,  dafs  er  jüngst 
sehr  viel  Geld  in  Plantagen  dort  angelegt  hat."  Dieser 
Einleitung  folgt  die  von  Herrn  Stetson  dem  Reporter  ge- 
gebene Auskunft  über  Land  und  Leute  auf  Hawaii. 

Ein  Vertreter  der  Presse  erfährt,  dafs  ein  deutscher 
Postbeamter  auf  Besuch  in  St.  Louis  weilt.  Sofort  fragt  er 
ihn  aus  über  deutsches  Postwesen  und  bringt  am  folgenden 
Tage  einen  Aufsatz  hierüber  mit  der  Überschrift:  „Was  der 
deutsche  Postbeamte  Schulze  vom  Postwesen  in  Deutsch- 
land erzählt.     Die   deutschen  Postämter  haben   noch  nicht 


204  Hintrager. 

die  Weisheit  erkannt,  den  Zeitungen  Konzessionen  zu 
machen.  Dort  zahlen  Zeitungen  im  allgemeinen  denselben 
Tarif  wie  das  Publikum." 

Dafs  ich  am  Tage  nach  meiner  Landung  in  New  York 
im  Jahre  1899  einer  Gerichtsverhandlung  angewohnt  hatte, 
las  ich  am  gleichen  Tage  nachmittags  2  Uhr  schon  in  der 
New  Yorker  Staatszeitung.  Bald  kamen  auch  die  Reporter 
und  wollten  wissen,  was  ich  von  amerikanischer  Rechts- 
pflege und  amerikanischen  Gefängnissen  und  vom  ganzen 
Lande  denke.  — 

Einen  grofsen  Teil  des  lokalen  Zeitungsklatsches 
machen  die  sogen.  Society-News,  die  Neuigkeiten  „aus  der 
Gesellschaft"  aus.  Hier  ist  das  Gebiet  der  weiblichen 
Reporters  und  Redakteure.  Wer  bei  Frau  Mc  Carty 
zum  Tee  eingeladen  war,  in  welchen  Toiletten  die 
Damen  erschienen,  welche  Verdienste  die  Damen  der 
„Frische  Luft -Mission"  um  die  armen  Kinder  der  Stadt 
sich  erwarben,  wie  die  schönsten  Masken  beim  letzten 
Maskenballe  aussahen,  dafs  das  Brautpaar  Soundso  am 
Krankenbett  des  Bräutigams  getraut  wurde,  dafs  die  Braut 
des  Dr.  Curtis  am  Abend  vor  der  Hochzeit  floh,  —  all 
das  und  noch  viel  mehr  wird  ausführlich  in  Wort  und 
Bild  berichtet.  Diese  Abteilung  gehört  zum  Witzigsten, 
was  die  amerikanische  Zeitung  enthält.  Der  ohnehin  über- 
mütige und  ausgelassene  Ton  des  freien  gesellschaftlichen 
Lebens  wird  von  der  Presse  durchaus  nicht  gedämpft. 
Jüngst  sah  ich  in  einer  St.  Louiser  Zeitung  neun  Bilder 
von  Junggesellen  aus  der  Gesellschaft,  gut  karikiert  und 
mit  der  Überschrift:  „Diese  neun  Jungen  unserer  Stadt 
sind  bereit,  Heiratsanträge  in  diesem  Jahre  anzunehmen". 
In  einem  Schaltjahr,  sagt  man,  haben  die  Damen  das 
Recht  des  Antrags.  In  der  gleichen  Zeitung  stand  auch 
ein  äufserst  unterhaltender  langer   Aufsatz:   „Liebesfreud 


XII.    Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse.  205 

und  Liebesleid  in  Clayton".  Fünf  Paare,  so  wurde  unter 
Angabe  der  einzelnen  Namen  erzählt,  wallfahrteten  gestern 
nach  Clayton  zu  dem  bekannten  Friedensrichter  Greens- 
felder.  (Dieser  Kichter  ist  bei  der  heiratslustigen  Jugend 
der  Gegend  als  Standesbeamter  sehr  beliebt.)  Alle  möglichen 
Einzelheiten  der  Trauungen  wurden  da  berichtet,  meist 
heiterer  Art.  Denn  man  nimmt  auch  das  Heiraten  nicht 
so  ernst  hier.  Ein  Pärchen,  so  schlofs  der  Artikel,  zog 
enttäuscht  wieder  ab,  da  das  Mädchen  noch  minderjährig 
war  und  deshalb  die  Heiratserlaubnis  der  Eltern  beizu- 
bringen hatte.  Dafs  auch  die  Presse  den  Frauen  alles  zu- 
liebe tut,  ist  selbstverständlich.  „Die  Königinnen  der  Ge- 
sellschaft unserer  Stadt",  „Schöne  Frauen  unseres  Staates", 
„Eine  neue  Blüte  von  Kentucky- Schönheiten"  —  so  werden 
ganze  Seiten  von  Bildern  von  hübschen  Frauen  und 
Mädchen  vorgeführt,  meist  mit  einigen  schmeichelnden 
Personalnotizen. 

Die  meisten  Zeitungen  haben  ihre  eigene  Seite  für 
Frauen,  enthaltend:  Mode,  Kochrezepte,  Preisaufgaben 
über  Kindererziehung,  Ratschläge,  wie  man  schlank  wird 
und  eine  schöne  Hautfarbe  erhält  und  dergleichen. 

An  die  „Frauenecke"  schliefst  sich  die  „Seite  für  die 
Kinder".  Anleitungen  für  Spiele,  Rätsel,  Schulnachrichten, 
Naturgeschichtliches  und  ähnliches  füllen  diese  Seite.  Die 
Kinder,  die  die  reichsten  Eltern  haben,  die  die  besten  Schul- 
zeugnisse erhielten,  die  am  letzten  Sonntag  den  Kuchen- 
tanz am  schönsten  tanzten,  —  sie  kann  man  alle  in  dieser 
Abteilung  der  Zeitung  abgebildet  sehen.  — 

All  dies  ist  nur  ein  kleiner  Teil  von  dem,  was  eine 
gelegentlich  bis  zu  100  Seiten  haltende  Tageszeitung  hier 
bringt.  In  ebenso  buntem  Durcheinander  steht  es  in  der 
eiligst    hergestellten   Zeitung;    jedermann    betrachtet    die 


206  Hintrager. 

Bilder  und  die  Überschriften  und  liest  nur  das,  was  ihn 
interessiert. 

Die  Fülle  des  Stoffs  sowohl  als  die  Wahl  und  die  Form 
desselben  ist  in  erster  Linie  aus  dem  Bestreben  der 
Zeitungen  zu  verstehen,  einen  möglichst  grofsen  Massen- 
absatz zu  erzielen.  Daher  wird  so  viel  geboten,  um  jedem 
etwas  zu  bieten ;  daher  wird  dem  einzelnen  wie  dem  ganzen 
Volke  so  freigebig  die  Freude  gemacht,  sich  in  der  Zeitung 
gelobt  zu  sehen ;  daher  spielt  sich  die  Presse  bei  jeder  Ge- 
legenheit als  die  Beschützerin  der  Rechte  des  Volkes,  der 
Armen  und  Unterdrückten  auf^);  daher  rührt  endlich  der 
auf  die  Masseninstinkte  berechnete  Ton  der  meisten  Tages- 
blätter. Die  Zeitung  mufs  gemeinverständlich,  sensationell 
und  grob  im  Tone  sein,  soll  sie  die  Massen  interessieren. 
Der  Bericht  über  einen  Strafsenbahnarbeiterstreik  in  Chicago 
wird  überschrieben:  „Chicago  mufs  zu  Fufs  gehen!"  ein 
solcher  über  die  Wiederwahl  dreier  Senatoren:  „Drei  alte 
Streitrosse  wieder  im  Kongrefs!"  Ein  Parlamentsbericht 
erhält  die  Überschrift:  „Viel  Geschrei,  aber  wenig  Wolle 
in  unserer  Legislatur!"  Die  Nachricht  von  einem  Mord 
wird  eingeführt  mit:  „War  ihr  Haus  eine  Mördergrube?" 
Die  Meldung  von  der  Eröffnung  der  Weltausstellung  lautet : 
„Sesam,  öffne  dich!  spricht  unser  Präsident,  und  die  Tore 
der  Ausstellung  öffnen  sich  der  Welt.  Unbeschreiblich 
grofsartiger  Anblick!"  In  dieser  Art  von  Sensation  und 
Geschrei  leistet  die  sogenannte  „gelbe  Presse"  ganz  Aufser- 
ordentliches.  — 

Dafs  die  Zeitungen  auch  hier  in  erster  Linie  sich 
rentieren  müssen,  das  darf  man  nicht  aus  dem  Auge  ver- 


*)  Die  Zeitungen  leisten  Hervorragendes  in  der  Unterstützung 
von  Armen  und  Kranken,  in  der  Förderung  gemeinnütziger  Zwecke 
durch  Aussetzen  von  Preisen  und  dergleichen. 


XII.    Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse.         207 

lieren  bei  Beurteilung  der  Frage,  inwieweit  die  Presse  die 
öifentliche  Meinung  macht  und  beeinflufst.  Auf  diese 
Frage  eine  allgemeine  Antwort  zu  geben ,  erscheint  mir 
sehr  gewagt.  Bryce  sagt  in  seinem  klassischen  Werke 
hierüber,  in  den  Vereinigten  Staaten  nehmen  an  der 
Wechselwirkung  zwischen  den  Massen  und  deren  Leitern 
bei  Bildung  der  öffentlichen  Meinung  die  letzteren  etwa 
zu  ein  Viertel,  die  Massen  zu  dreiviertel  Anteil;  in  Europa 
sei  es  etwa  gerade  umgekehrt.  Immerhin  wird  man  sagen 
können,  dafs  die  Macht  der  amerikanischen  Presse,  die  im 
Interesse  der  Publizität  aller  Verhältnisse,  der  raschen 
Verbreitung  und  derVolksaufklärung  Beförderungsprivilegien 
bei  der  Post  geniefst,  ein  ganz  erhebliches  Gegengewicht 
findet  in  der  grofsen  Selbständigkeit  des  einzelnen  Lesers. 
Was  die  Zeitungen  sagen,  überhaupt  was  gedruckt  wird, 
geniefst  hier  bei  weitem  nicht  die  Achtung,  die  ihm  in 
Deutschland  zuteil  wird;  der  einzelne  schwatzt  der  Zeitung 
nicht  viel  nach.  Daher  kann  man  hier  oft  beobachten,  wie 
die  Presse  vorsichtig  dem  Publikum  den  Puls  fühlt, 
sondiert,  was  die  Stimmung  der  Massen  ist,  um  nicht  durch 
Aussprechen  einer  anderen  Ansicht  sich  zu  schaden.  Die 
Presse  achtet  auf  das  Publikum,  dieses  schaut  wiederum 
auf  die  Presse  —  so  wächst  und  bildet  sich  nach  und  nach 
das,  was  man  öffentliche  Meinung  nennt,  einer  Wind- 
richtung gleich,  die  von  der  Wetterfahne  „Presse"  an- 
gezeigt wird.  Glaubt  die  Presse  einmal  mit  Sicherheit  die 
öffentliche  Meinung  hinter  sich  zu  haben,  dann  ist  sie  eine 
Macht,  gegen  die  es  keinen  Widerstand  gibt.  Der  Richter 
Peabody  in  St.  Louis,  der  eines  Tages  eine  Blütenlese 
seiner  Urteile  mit  der  Überschrift:  „Gauls -Verstands- 
Entscheidungen  des  Richters  Peabody"  in  der  Zeitung  las, 
der  Kriegsminister  Mc.  Kinleys,  Alger,  der  einst  so  sehr 
gefeierte   Sieger  von   Manila,  sie  und  noch   viele  andere, 


208  Hintrager. 

Schuldige  und  Unschuldige,  verschwanden  vom  Schauplatze, 
als  plötzlich  der  Wind  gegen  sie  ging.  Schon  einige  Jahre 
vor  Ausbruch  des  spanisch-amerikanischen  Krieges  brachten 
die  amerikanischen  Zeitungen  immer  wieder  Bilder  und 
Beschreibungen  der  Grausamkeiten  der  Spanier  auf  Cuba 
und  des  Elends  der  dortigen  Bevölkerung.  Illustrationen, 
wie  Präsident  Cleveland  (1892 — 1890)  und  sein  Staats- 
sekretär Olney  untätig  der  Folterung  des  Mädchens 
„Cuba"  durch  den  spanischen  General  Weyler  zuschauen, 
kehrten  immer  wieder,  bis  schliefslich  die  allgemeine 
Stimmung  dahin  ging:  das  mufs  ein  Ende  nehmen.  Diese 
Stimmung  wurde  —  besonders  nachdem  einmal  das:  „Ge- 
denke der  Maine!"  Schlagwort  geworden  war  —  so  stark, 
das  Clevelands  Nachfolger,  Mc.  Kinley,  nicht  mehr  untätig 
bleiben  konnte.  Zeitungen  boten  öffentlich  Wetten  an, 
dafs  in  drei  Monaten  Krieg  mit  Spanien  sein  werde, 
im  Kongrefs  und  in  Versammlungen  machten  die  Demo- 
kraten ihre  am  Ruder  befindlichen  Gegner  für  die  Zu- 
stände auf  Cuba  verantwortlich  und  benützten  die  all- 
gemeine Stimmung  mit  aller  Macht  gegen  die  republikanische 
Partei.  Wollten  die  Republikaner  am  Ruder  bleiben,  so 
mufsten  sie  eine  Änderung  schaffen. 

Die  Art  der  Herbeiführung  des  spanisch-amerikanischen 
Krieges  zeigt  die  Gefahren  des  Regierens  nach  Mafsgabe 
der  öffentlichen  Meinung.  Zwar  darf  man  es  für  ausge- 
schlossen ansehen ,  dafs  die  Zeitungen  zur  Kriegshetze  ge- 
kauft waren;  dieses  plumpe  Mittel  haben  mir  viele  Ameri- 
kaner, die  heftige  Gegner  dieses  Krieges  waren,  für  un- 
möglich erklärt,  da  es  nicht  geheim  zu  halten  gewesen 
wäre.  Allein  wer  einen  schlauen  Herrscher  nach  seinem 
Willen  leiten  will,  mufs  seine  Sache  schlau  angreifen.  Das 
amerikanische  Volk  ist  ein  schlauer  Souverän,  aber  auch 
er  kann  gelenkt  werden,  ohne  dafs  er  es  weifs.    Ich  kann 


XII.    Die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse.  209 

nicht  sagen ,  dafs  dies  bei  Herbeiführung  des  genannten 
Krieges  der  Fall  gewesen  ist.  Aber  möglich  erscheint  es 
mir;  denn  die  immerwährende  Wiederholung  einer  Be- 
hauptung mufs  schliefslich  auf  jeden  Menschen  wirken. 

So  kühn  und  fest  ist  das  Vertrauen  des  Amerikaners 
im  Anerkennen  und  Befolgen  der  öffentlichen  Meinung, 
dafs  er  diese  und  die  mancherlei  anderen  Gefahren  und 
Nachteile  gering  achtet.  Er  schaut  auch  hier  mehr  auf 
die  Lichtseiten :  die  heilsamen  Wirkungen  der  Öffentlichkeit 
und  freien  Diskussion,  die  Leichtigkeit,  mit  der  jede  hervor- 
ragende Persönlichkeit  sich  Achtung  verschafft  und  die  Er- 
ziehung und  Anregung  des  einzelnen  zur  Teilnahme  an 
öffentlichen  Angelegenheiten.  Ein  berechtigter  Optimismus 
im  Hinblick  auf  die  Geschichte  der  Union,  die  keinen 
korrupten  Präsidenten  aufweist  und  zeigt,  dafs  das  Volk 
selbst  grofse,  lang  geduldete  Übel  immer  wieder  überwand, 
und  vor  allem  im  Hinblick  darauf,  dafs  die  öffentliche 
Meinung  in  der  Union  im  allgemeinen  eine  gesunde  ist. 
Trotz  allen  Übels  durchzieht  ein  Hauch  jugendlichen, 
frischen,  gesunden  Geistes  das  Leben  hier.  Noch  leben 
über  2/8  des  Volkes  auf  dem  Lande,  nicht  in  Städten.  Der 
einzelne  ist  sehr  aufgeweckt,  vorurteilslos  und  patriotisch ; 
er  weifs,  was  das  Land  braucht;  in  der  Achtung  jeder 
ehrlichen  Arbeit  und  in  dem  Wunsch  der  Gröfse  des  Vater- 
lands sind  alle  einig.  Wie  im  Kriege  im  gesunden  Körper, 
so  liegt  im  Frieden  im  gesunden  Sinn  der  einzelnen  die 
Hauptkraft  einer  Nation.  In  der  Gesundheit  der  öffent- 
lichen Meinung  liegt  die  Hauptstärke  des  ganzen  amerika- 
nischen Regierungssystems. 


Hintrager.  14 


XIII.  Das  Land  der  Arbeit. 

„Der  Arbeitsamkeit  gibt  Gott 
alle  Dinge." 

Benj.  Franklin. 

New  York. 
Wer  hat  nicht  den  hageren  Onkel  Sam  schon  im  Bilde 
gesehen,  wie  er  auf  einem  Schaukelstuhle  sitzt,  die  Füfse 
auf  den  Tisch  gelegt,  und  an  einem  Stückchen  Holze 
Späne  schnitzelt?  —  Dies  ist  der  Amerikaner,  wie  er  sich 
erholt.  Er  kann  nicht  untätig  sein.  Unter  den  ersten 
Dingen,  die  mir  einst  nach  meiner  Ankunft  hier  ins  Auge 
fielen,  war  die  Gleichheit  der  Kleidung  der  Männer  und 
der  Arbeitsfanatismus,  der  geradezu  in  der  Luft  liegt. 
Hier  arbeitet  alles.  Wer  hier  etwas  sehen  und  lernen 
will,  der  mufs  sich  hineinstellen  in  den  Kampf,  mufs  mit- 
arbeiten, so  habe  ich  mir  damals  gesagt.  Privatiers  gibt 
es  hier  nicht.  Wer  etwas  erreicht  hat,  setzt  das  Erreichte 
von  neuem  ein,  um  noch  mehr  zu  gewinnen.  Vorwärts  zu 
kommen  strebt  jeder;  keiner  steht  stille  und  wird  fett. 
Wer  nicht  arbeitete,  hätte  bald  alle  Fühlung  mit  dem 
Leben  hier  verloren.  Nach  dem  „Geschäft"  —  ein  gar  oft 
gehörtes  Wort !  —  richtet  sich  alles.  Hier  kann  man  nicht 
nur  den  Bürgersteig,  sondern  gelegentlich  die  halbe  Strafsen- 
breite  mit  Waren,  Kisten,  Verladerampen  und  dergleichen 
verbarrikadiert  finden;  der  Fufsgänger  macht  seinen  Um- 
weg, und  die  Obrigkeit  findet  nicht,  dafs  man  dem  Ge- 
schäfte  ein   Hemmnis   in   der   freien   Entfaltung   bereiten 


XIII.    Das  Land  der  Arbeit.  211 

sollte.  Auch  die  Sitten  richten  sich  nach  der  Arbeit.  Die 
Besuchszeit,  die  Zeit  für  alle  öffentlichen  Sammlungen  und 
Veranstaltungen  ist  abends  nach  der  Abendmahlzeit.  Die 
Tageszeitung  hat  ihre  grofse  Abteilung  für  Arbeit  und 
Arbeiter.  Die  ganze  Nation  hat  einen  nationalen  Festtag, 
„Arbeitstag"  (Labor-day)  genannt,  an  dem  mit  grofsen  Um- 
zügen und  Paraden  das  Volk,  vom  Präsidenten  bis  zum 
Strafsenkehrer,  die  Arbeit  als  solche  feiert. 

Manchmal  wurde  ich  auf  der  Reise  von  den  stets 
frage-  und  unterhaltungslustigen  Bewohnern  dieses  Landes 
gefragt:  .,In  was  für  einem  Geschäfte  sind  Sie?"  —  Was 
sollte  ich  antworten?  Dafs  jemand  in  diesem  Kontinente 
reist,  ohne  in  einem  „Geschäfte"  zu  sein,  das  ist  den 
meisten  hier  ebenso  merkwürdig,  als  dafs  jemand  still  und 
untätig  im  Eisenbahnwagen  oder  im  Restaurant  sitzen 
kann.  Noch  ist  das  Land  zu  jung,  um  viele  historische 
Sehenswürdigkeiten,  Denkmäler  der  Kunst  und  des  Alterr 
tums  zu  besitzen.  Diese  Dinge  sucht  der  Amerikaner  in 
■der  Alten  Welt.  Die  Sehenswürdigkeiten  seines  Landes 
sind  neu;  es  sind  die  Denkmäler  des  Geschäftssinns,  der 
Technik,  des  kaufmännischen  Unternehmungsgeistes.  Diese 
zeigt  er  mit  berechtigtem  Stolze  dem  Fremden.  So  viele 
Fabriken  und  Geschäfte  habe  ich  in  Jahren  nicht  gesehen, 
wie  hier  in  wenigen  Monaten.  In  jener  gastfreundlichen 
Familie  in  St.  Louis  wurde  ich  fast  täglich  zum  Besuch 
einer  neuen  Fabrik  eingeladen.  So  kam  ich  in  die  ver- 
schiedenartigsten geschäftlichen  Anlagen,  und  freue  mich  in 
4em  Gedanken  an  die  aufserordentliche  Liebenswürdigkeit 
dieser  geschäftigen  Amerikaner,  die  mir  viel  Zeit  widmeten, 
«tets  die  Maschinen  erklärten  und  oft  auch  einen  Gegenstand 
von  Anfang  bis  zu  Ende  vor  meinen  Augen  herstellen 
liefsen.  Grofse  Firmen  haben  meist  eigene  Angestellte,  um 
Besucher  herumzuführen. 

U* 


212  Hintrager. 

Übrigens  hat  wiederholt  nicht  viel  gefehlt,  dafs  ich 
auf  die  Frage  nach  meinem  „Geschäfte"  eine  Antwort 
hätte  geben  können,  wie  etwa  der  Frager  sie  erwartet 
hatte.  An  Versuchungen  fehlte  es  nicht.  Verlockende 
Gelegenheiten  boten  sich,  darunter  manche,  bei  denen  die 
hier  hochgeachtete  deutsche  Bildung  gewinnbringender  zu 
verwerten  war,  als  dies  wohl  je  in  der  Heimat  der  Fall 
sein  kann.  Das  erste  Geld,  das  ich  in  meinem  Leben  ver- 
diente, habe  ich  in  diesem  Lande  verdient,  und  zwar  ohne 
dafs   ich    die    Arbeit    (eine  Übersetzung)    gesucht    hatte. 

Diese  kleinen  Erlebnisse  zeigen,  welche  Menge  von 
Möglichkeiten  dieses  Land  bietet.  Darin  liegt  die  grofse 
Anziehungskraft,  die  dieses  Land  immer  noch  für  die  Aus- 
wanderung hat.  Hier  sucht  die  Arbeit  geradezu  den 
Mann;  er  hat  kaum  nötig,  sie  zu  suchen.  Das  grofse  Land 
braucht  Menschen,  in  erster  Linie  zur  Besiedlung  des 
Bodens.  Zwar  hat  dies  Volk  schon  etwa  ein  Viertel  alles 
bebauten  Areals  unserer  Erde  in  Kultur  genommen;  die 
besten,  fruchtbarsten  Strecken  sind  besiedelt.  Aber  immer 
noch  hat  Onkel  Sam  ilber  500  Millionen  Acres  an  öffent- 
lichen Ländereien  zur  Ansiedlung  zu  vergeben,  immer 
noch  ist  Raum  und  Nahrung  für  viele  Millionen  Menschen. 
Private  Tätigkeit  und  die  günstigen  Bedingungen  des 
Bundesgesetzes,  betreifend  die  Heimstätten,  arbeiten  zu- 
sammen der  Überzeugung  gemäfs,  dafs  jede  weitere  Hand 
das  Nationalvermögen  vermehrt  und  den  Markt  vergröfsert,. 
ohne  den  anderen  ihr  gutes  Auskommen  zu  beeinträchtigen. 
In  diesen  glücklichen  Siedlungsgegenden,  die  nun  in  die 
Mitte  und  mehr  noch  in  den  Westen  des  Kontinents  vor- 
gerückt sind,  ist  der  Fremde  nicht  der  Feind.  Der  Neu- 
ankömmling ist  nicht  der  Konkurrent,  der  den  Platz  an 
der  Sonne  verringert.  Diese  Auffassung,  die  die  Kultur- 
entwicklung der  Alten  Welt  seit  Jahrhunderten  beherrscht,. 


XIIL    Das  Land  der  Arbeit.  213 

und  bis  in  die  kleinsten  Kreise  zu  verspüren  ist,  hat  hier, 
von  dem  dichter  besiedelten  Osten  abgesehen,  noch  keinen 
Boden.  Hieraus  ist  wohl  zu  einem  grofsen  Teil  die  ameri- 
kanische Zuvorkommenheit  gegenüber  dem  Fremden  zu  er- 
klären und  das  Gefühl ,  das  jedermann  in  diesem  Lande 
empfindet,  dafs  der  Mensch  dem  Menschen  hier  mit  offenem 
Wohlwollen  gegenübertritt. 

In  zweiter  Linie  braucht  dies  Land  Menschenkräfte 
zur  Hebung  der  Schätze  des  Bodens,  mit  denen  es  in  ver- 
schwenderischer Fülle  gesegnet  ist.  Noch  ist  es  sehr  dünn 
besiedelt,  und  schon  findet  man  die  Erzeugnisse  seines 
Bodens  fast  überall  auf  der  Welt.  Seine  Ausfuhr  hat 
selbst  die  Englands  überflügelt.  Etwa  ^k  dieser  Ausfuhr 
sind  Bodenerzeugnisse.  Von  der  landwirtschaftlichen  Pro- 
duktion ganz  abgesehen,  sind  die  Vereinigten  Staaten  in 
wenigen  Jahrzehnten  in  der  Kohlenförderung  wie  in  der 
Erzeugung  von  Gold,  Silber,  Eisen,  Stahl,  Kupfer,  Blei 
und  Quecksilber  an  die  erste  Stelle  getreten;  in  anderen 
Zweigen  sind  sie  nicht  mehr  ferne  von  diesem  Ziele. 

In  dritter  Linie  verlangt  dies  Land  nach  Arbeitern 
für  seine  Fabriken.  Auch  die  Industrie  hat  einen  den 
übrigen  Riesenzahlen  entsprechenden  Aufschwung  ge- 
nommen. 

Der  Mangel  an  Arbeitskräften  im  Verhältnis  zu  der 
Gröfse  und  den  tausend  Möglichkeiten  des  Landes  war 
von  Anfang  an  ein  wesentlicher  Faktor  in  der  wirtschaft- 
lichen Entwicklung  der  Union  und  ist  es  heute  noch. 
Dieser  Umstand  im  Zusammenhang  mit  der  Natur  des 
Landes  hat  insbesondere  die  Art  bestimmt,  wie  der 
Amerikaner  arbeitet.  Zwar  habe  ich  schon  manche  Szenen 
der  Arbeit  skizziert,  allein  einige  weitere  Beobachtungen 
in  dieser  Richtung  werden  dazu  beitragen,  das  wirtschaft- 
liche Leben  hier  zu  erklären. 


'214  Hintrager. 

Eine  Fahrt  mit  der  Eisenbahn  zeigt  viele  charakte- 
ristische Eigentümlichkeiten  der  amerikanischen  Arbeits- 
methode. Nur  ein  Kondukteur  begleitet  den  Zug.  Seine 
tadellose  Kleidung  und  sein  Benehmen  zeigen  sofort, 
dafs  er  gut  bezahlt  ist.  Die  Tätigkeit  des  Kondukteurs 
erfordert  sehr  viel  Aufmerksamkeit,  besonders  wenn  aus- 
nahmsweise viele  Reisende  im  Zuge  sind.  Es  geht  ihm 
wie  der  grofsen  Lokomotive  vor  dem  Zuge;  sie  mufs 
allen  Anforderungen,  auch  den  aufsergewöhnlichsten ,  ge- 
nügen; denn  mehr  als  eine  wird  nicht  verwendet.  Dafs 
die  Kraft  des  einzelnen  nach  Möglichkeit  ausgenützt  wird, 
findet  man  hier  selbstverständlich.  Ein  Amerikaner,  dem 
auf  der  Reise  durch  Deutschland  die  grofse  Zahl  des  Zug- 
personals auffiel,  erklärte  es  sich  damit,  dafs  die  Regierung 
angesichts  der  Übervölkerung  für  die  Untertanen  Stellungen 
schaffe.  Mit  ausnehmender  Höflichkeit  begegnet  der 
Kondukteur  dem  Publikum.  Die  Fahrkartenkontrolle  voll- 
zieht sich  mit  der  denkbar  geringsten  Belästigung  des 
Fahrgastes.  Er  nimmt  die  Karte  vom  Hute  des  sich  Unter- 
haltenden und  steckt  sie  wieder  dorthin  oder  an  die  bei 
den  Sitzen  angebrachten  Befestigungsvorrichtungen,  wo  ihm 
die  Karte  stets  sichtbar  bleibt.  Auf  einer  Fahrt,  die  eine 
Zeitlang  durch  kanadisches  Gebiet  führte,  sah  ich  einmal, 
wie  der  Kondukteur  die  Handtaschen  der  durchreisenden 
Fahrgäste  bei  der  Zollrevision  emporhob  und  der  Bundes- 
zollbeamte das  gegen  die  kanadische  Zollrevision  schützende 
kleine  Zollplakat  auf  den  Boden  der  Taschen  klebte,  damit 
diese  nicht  verunziert  werden.  Die  meist  mit  Landkarten 
versehenen    Fahrpläne   erhält   man    überall    unentgeltlich. 

Bekannt  ist  die  amerikanische  Liebe  für  Komfort.  Ist 
der  Bahnhof  nicht  zu  ebener  Erde,  so  will  das  Publikum 
«inen  Aufzug.  Im  Zuge  ist  fast  alles  zu  haben,  was  man 
bei  uns  nur  auf  den  gröfsereu  Bahnhöfen  zu  finden  pflegt. 


XIII.    Das  Land  der  Arbeit.  215 

Nicht  allein  der  Fahrgast  geniefst  die  Bequemlichkeiten 
der  oft  luxuriös  eingerichteten  Eisenbahnzüge ,  auch  der 
Kondukteur  hat  sie ;  denn  niemand  erwartet  von  ihm,  dafs 
er  auf  der  Plattform  sich  aufhalte.  Hat  doch  selbst  der 
Lokomotivführer  seinen  gepolsterten  Sitz  auf  der  Maschine. 

Das  Gebot  „look  out!",  das  dem  Ankömmling  zuerst 
hier  eingeschärft  zu  werden  pflegt,  lehren  auch  die 
Eisenbahnen.  Da  sind  keine  Bahnwärter  und  keine 
schützenden  Schranken.  Wohl  aber  befindet  sich  da  und 
dort  eine  Warnungstafel  und  an  der  Lokomotive  eine  Vor- 
richtung, die  den  bezeichnenden  Namen  „Kuhfänger"  führt 
und  Tiere  und  Menschen  von  den  Schienen  wegfegt.  Ge- 
legentlich auch  Menschen,  denn  Spaziergänge  werden  oft 
auf  Bahnlinien  gemacht,  da  die  Landstrafsen  bei  der 
Jugend  des  Landes  meist  noch  sehr  viel  zu  wünschen  übrig 
lassen.  Da  ist  wohl  auch  an  den  Wagentüren  zu  lesen : 
„Passagiere,  die  auf  der  Plattform  stehen,  tun  dies  auf  ihre 
eigene  Gefahr".  Auf  der  Fahrt  durch  Städte  kann  man  oft 
sehen,  wie  Reisende  jeweils  da  aus  dem  fahrenden  Zuge 
springen,  wo  sie  den  nächsten  Weg  zu  ihrem  Ziele  haben. 
Jeder  hilft  sich  selbst  und  hat  die  Folgen  selbst  zu  tragen. 
Niemand  sorgt  für  den  Reisenden;  dieser  soll  alles 
wissen;  denn  der  Kondukteur  ist,  wie  überhaupt  der 
Amerikaner  bei  der  Arbeit ,  sehr  schweigsam.  Mit  Hand- 
und  Laternenzeichen  werden  Züge  rangiert,  nicht  mit 
Pfeifen  oder  Rufen. 

Dafs,  wie  die  Statistik  der  Eisenbahnunfälle  zeigt, 
die  Sicherheit  auf  den  Bahnen  hier  viel  geringer  ist  als 
in  Europa ,  das  beunruhigt  die  Menschen  wenig  in  einem 
Lande,  in  dem  das  Leben  überhaupt  „ein  ewiges 
Schwanken  und  Schwingen  und  Schweben  auf  der  steigenden 
fallenden  Welle  des  Glücks"  ist.  Auch  die  Eisenbahnaktien 
teilen  dieses  Schwanken.   Wir  wollen  daher  den  unsicheren 


216  Hintrager. 

Zug  verlassen  und,  auf  festem  Boden  stehend,  unsere  Be- 
obachtungen fortsetzen. 

Als  mich  einst  der  freundliche  Vorstand  der  Straf- 
anstalt zu  Huntingdon,  Pa.,  zu  einer  Spazierfahrt  einlud, 
lenkte  er  die  Pferde  in  solch  flottem  Trabe  auf  sein  ge- 
schlossenes Hoftor  zu,  dafs  es  schien,  als  müfsten  sie  dem- 
nächst die  Köpfe  daran  einrennen.  Obwohl  man  dergleichen 
Ängstlichkeiten  in  diesem  Lande,  in  dem  alles  möglich  ist, 
verlernt,  war  ich  doch  nicht  wenig  begierig,  wie  dies  enden 
werde.  Als  wir  noch  eine  Pferdelänge  von  dem  Tore  ent- 
fernt waren ,  sprangen  beide  Flügel  desselben  von  selbst 
auf,  wir  fuhren  durch,  und  das  Tor  schlofs  sich  in  gleicher 
Weise  hinter  uns.  Die  automatische  Vorrichtung  war  je 
mittels  eines  am  Boden  angebrachten  Bügels,  über  den 
das  Rad  des  Wagens  fuhr,  in  Tätigkeit  gesetzt  worden. 
Menschliche  Arbeit  leicht  zu  machen  und  durch  Maschinen- 
kraft zu  ersetzen  ist  geradezu  eine  Liebhaberei  des 
Amerikaners.  Jeder  Knabe  ist  hier  ein  kleiner  Maschinen- 
konstrukteur. Diesem  Streben  wird  oft  in  einer  Weise  ge- 
huldigt, dafs  es  als  Bequemlichkeit  oder  Spielerei  erscheint. 
Ich  habe  hier  Kaffee-  und  Teelöffel  mit  so  langen  Stielen 
gesehen,  dafs  man  sie  bequem  benützen  konnte,  ohne  irgend 
etwas  aufser  dem  Handgelenk  zu  bewegen.  Der  Lastwagen- 
fuhrmann —  Handkarren  gibt  es  nicht  —  hat  eine  winden- 
ähnliche Vorrichtung  unter  seinem  Kutschersitz,  mittels 
deren  er  die  Kisten  und  Ballen  von  hinten  her  leicht 
auf  seinen  Wagen  zieht,  ohne  sie  dabei  anzufassen.  Eisen- 
bahnschienen werden  mit  hebelarmigen  Scheren  auf- 
gehoben, um  auf  einen  Wagen  geladen  zu  werden.  Bretter- 
beigen in  Holzsägereien  werden  aufgebeigt,  ohne  dafs  eine 
Menschenhand  sie  berührt.  In  den  Stallungen  der  Unions- 
kavallerie fährt  der  Futter  wagen  auf  Schienen  in  der 
Stallgasse,  und  eine  kleine  Misteisenbahn  besorgt  das,  was 


XIII.   Das  Land  der  Arbeit.  217 

bei  uns  die  Stallwache  mit  der  bekannten  Wanne  tut.  Auf 
statistischen  Buieaux  und  auf  Banken  werden  gröfsere  Be- 
rechnungen mit  Maschinen  gemacht.  In  Boston  war  ich  in 
einem  Hotel  mit  einer  Art  „Tischlein-deck-dich  "-Einrichtung : 
In  jedem  Zimmer  war  eine  grofse  Tafel,  auf  welcher  für 
jeden  nur  denkbaren  Wunsch  je  ein  elektrischer  Drücker 
angebracht  war,  im  ganzen  fünfzig.  In  Boston  sah  ich 
auch  ein  Restaurant,  in  welchem  die  Speisen  auf  der 
Speisekarte  numeriert  waren.  Ein  Druck  auf  den  mit 
der  betreffenden  Nummer  versehenen  elektrischen  Drücker 
auf  dem  Tische  bestellte  die  Speise  in  der  Küche.  — 
Weitere  Beispiele  brauche  ich  wohl  nicht  anzuführen,  da 
ja  viele  der  arbeitsparenden  Maschinen  des  Amerikaners 
auch  in  Deutschland  Eingang  gefunden  haben ;  nur  das 
möchte  ich  nicht  unerwähnt  lassen,  dafs  hier  nicht  nur 
Weberei  und  Spinnerei,  sondern  auch  Maurerei,  Schlosserei, 
Schreinerei,  Schuh-,  Hut-  und  Kleidermacherei ,  Fischerei 
und  Gärtnerei  längst  zum  maschinellen  Grofsbetriebe  über- 
gegangen sind. 

Dafs  Eile  ein  sehr  wesentlicher  Faktor  bei  der 
amerikanischen  Arbeit  ist,  ist  bekannt.  Man  denke  an 
den  Richter,  der  30—40  Straffälle  in  der  Stunde  erledigt. 
Am  Fenster  eines  Restaurants  einer  kleinen  Stadt  des 
Westens  las  ich  einst  die  Aufschrift:  „Das  schnellste 
Mittagessen  in  der  Stadt" !  Der  Amerikaner  betreibt 
nicht  ein  Geschäft,  er  „rennt"  es  (run  a  business);  daher 
fliefst  ihm  auch  der  gewaltige  Mississippi  selbst  im  Ober- 
lauf zu  langsam:  Dampf  boote  bewegen  die  Flöfse  strom- 
abwärts. Ein  dreistöckiges  Haus  ist  in  einem  Monat 
unter  Dach, 

Das  Streben  nach  Eile  und  möglichster  Ausnutzung 
der  Kraft  des  einzelnen  hat  auch  zu  der  weitgehenden 
Teilung  der  Arbeit  geführt,  die  insbesondere  dem  amerika- 


218  Hintrager. 

uischen  Fabrikbetriebe  eigentümlich  ist.  Jeder  Arbeiter 
ist  gleichsam  Spezialist.  Er  versieht  jahraus  jahrein  die- 
selbe Arbeit,  die  oft  in  nur  wenigen  Griffen  besteht,  und 
gewinnt  dadurch  eine  hervorragende  Fertigkeit.  Ein  Back- 
steinsetzer tut  hier  keine  andere  Maurerarbeit,  setzt  2500 
bis  3000  Steine  per  Tag,  verdient  leicht  50  Cents  in  der 
Stunde,  und  seiner  Mauer  sieht  man  es  sofort  an,  dafs  sie 
von  einem  Spezialisten  gesetzt  ist.  Man  stelle  sich  vor, 
dafs  an  Stelle  von  ein  oder  zwei  Mann  einige  Dutzend  die 
zum  Schlachten  und  Zerlegen  eines  Schweins  nötigen 
Einzelhandlungen  vornehmen,  dafs  jeder  nur  einen  oder 
zwei  Griffe  macht,  dann  das  in  Rollen  und  Schienen 
hängende  Tier  seinem  Nebenmann  zustöfst,  um  hierauf  so- 
fort dieselbe  Arbeit  an  einem  ihm  inzwischen  in  gleicher 
Weise  zugeschobenen  Tier  zu  tun  und  so  weiter,  so  hat 
man  ein  kleines  Bild  von  dem  Kreislauf  der  Arbeit  in 
einer  der  Riesenschlächtereien  Chicagos.  In  einem  eigen- 
tümlichen Gegensatze  hierzu  steht  der  Mangel  an  Spezialisten- 
tum in  denjenigen  Berufen,  zu  welchen  nach  unserer  Auf- 
fassung besondere  Sachkunde  nötig  ist.  Von  den  zahl- 
reichen Stellen ,  die  durch  Wahlen  besetzt  werden ,  sei 
hierbei  ganz  abgesehen,  ebenso  von  Erscheinungen,  wie  sie  in 
allen  jungen  Ländern  zu  finden  sind,  dafs  jemand  zugleich 
Musikdirektor,  Barbier  und  öffentlicher  Notar  ist.  Allein 
in  diesem  Lande  kann  ein  Rechtsanwalt  zum  Chef  der 
Marine,  ein  Kaufmann  zum  Kriegsminister,  ein  Zeitungs- 
redakteur zum  Gesandten  oder  General  ernannt  werden. 
Und  trotz  alledem  gedeiht  das  Land ,  und  die  Ämter 
werden  leidlich  gut  versehen,  Wohl  werden  viele  Fehler 
gemacht,  wohl  mufs  gelegentlich  ein  Offizier  wegen 
politischen  Sprechens  oder  Tuns  gerügt  werden,  und  der 
Mangel  an  staatsmännischer  oder  diplomatischer  Fach- 
kenntnis mag  an    mancher   Stelle  sich   sehr   unangenehm 


Xm.    Das  Land  der  Arbeit.  219 

fühlbar  machen.    Allein  der  praktische  Sinn  des  einzelnen 
ersetzt  vieles. 

Praktisch  zu  sein  bei  aller  Arbeit  ist  das  oberste 
Gesetz.  Die  Arbeit  mufs  sich  lohnen.  Alle  andern  Er- 
wägungen, Rücksichten  der  Sicherheit,  der  Schönheit,  der 
Genauigkeit  und  der  Gründlichkeit,  kommen  erst  in  zweiter 
Linie.  Ein  Gesetz  des  Staats  Missouri  bestimmt  die  Höhe 
des  Schadenersatzes  bei  Tötung  eines  Menschen  durch 
eine  unerlaubte  Handlung  schlechthin  auf  5000  Dollars, 
bei  Verstümmlung  auf  10000  Dollars.  Die  Berechnung 
der  Freiheitsstrafen  geschieht  in  keinem  Falle  von  Augen- 
blick zu  Augenblick;  auf  ein  paar  Stunden  mehr  oder 
weniger  an  Strafzeit  kommt  es  nicht  an.  Was  Geschäfts- 
sinn und  kaufmännische  Reklame  auf  Kosten  der  Schön- 
heit zu  sündigen  vermögen,  kann  man  hier  überall  sehen. 
Manche  amerikanische  Maschine  ist  ebenso  praktisch  als 
gefährlich. 

Der  schöne  Zug  der  Vorurteilslosigkeit  und  des  Wohl- 
wollens gegen  den  Nebenmenschen  zeigt  sich  in  sehr 
sympathischer  Weise  auch  bei  der  Arbeit.  Hier  nahm  ich 
einmal  an  einer  Ausschufssitzung  für  die  Vorbereitung  der 
Carl  Schurz -Feier  (1899)  teil;  der  Gerichtsschreiber 
des  Magistratsgerichts  führte  den  Vorsitz  in  einer  Ver- 
sammlung, die  in  jeder  Hinsicht  die  Elite  des  hiesigen 
Deutschtums  repräsentierte.  —  Auf  Kegelbahnen  traf  ich 
gelegentlich  den  Prinzipal  mit  seinem  jüngsten  Angestellten 
bei  derselben  Kegelgesellschaft.  Auch  das  Alter  als. 
solches  gibt  keine  Vorrechte.  In  Illinois  erhielt  ein  Knabe 
mit  15  Jahren  die  Konzession  zur  Ausübung  des  Gewerbes 
eines  „embalmers",  das  er  mit  Erfolg  ausübt;  es  ist  dies 
das  hier  allgemeine  übliche  Einbalsamieren  der  Leichen. 
In  Dubuque,  Jowa,  lernte  ich  einen  Sohn  deutscher  Eltern 
kennen,    der  ohne  jede  technische  Schulbildung  mit  dem 


220  Hintrager. 

Verdienste  seiner  sechsjährigen  praktischen  Arbeit  in 
Maschinenfabriken  im  Alter  von  22  Jahren  „sein  Schild 
heraushängte"  als  Fabrikant  von  Motorbooten.  Einer 
seiner  ersten  Erfolge  seines  nun  gut  gehenden  Geschäfts 
war,  dafs  die  Bundesregierung  für  ihre  Arbeiten  auf  dem 
Mississippi  ein  Boot  bei  ihm  bestellte.  Abgesehen  von 
dem  Gewerbe  der  Wirte  und  der  Politiker,  die  wenig 
Achtung  geniefsen  —  das  Wirtsgewerbe  wird  von  den 
Gesetzgebungen  der  meisten  Staaten  schlecht  behandelt  — , 
kann  man  nicht  sagen,  dafs  ein  Gewerbe  mehr  geachtet 
werde  als  ein  anderes.  Oft  habe  ich  mich  wundern  müssen, 
wieviel  Zeit  die  Menschen  hier  für  Gefälligkeitsdienste 
und  für  wohltätige  oder  gemeinnützige  Zwecke  übrig 
haben.  In  fast  jeder  Stadt,  in  der  eine  Strafanstalt  oder 
ein  Heim  für  Verwahrloste  ist,  habe  ich  auch  ein  paar 
Männer  und  Frauen  gefunden,  die  aus  freiem  Antriebe, 
lediglich  aus  Mitleid,  die  Insassen  besuchten  und  sich 
ihrer  annahmen.  Auch  in  den  Gerichten  traf  ich  oft  solche 
Menschenfreunde.  Der  Umfang  der  privaten  Wohltätigkeit 
verdient  angesichts  des  Reichtums  des  Landes  wohl  nicht  so 
sehr  Beachtung  als  die  Art,  wie  die  Wohltätigkeit  entfaltet 
wird.  Ein  typisches  Beispiel  hierfür  ist  die  hiesige  Ge- 
fängnisgesellschaft. Schon  die  Gesetzgebung  geht  hier  sehr 
weit  in  der  Fürsorge  für  entlassene  Strafgefangene.  Sie 
erhalten  fast  durchweg  Bargeld  und  neue  Kleider  bei 
der  Entlassung.  Die  Mädchen  in  der  Strafanstalt  für 
Jugendliche  zu  Rochester,  N.  Y. ,  bekommen  bei  der  Ent- 
lassung alle  Kleidungsstücke  doppelt  und  ein  Sonntags- 
kleid. Ein  Gesetz  des  Staates  New  York  macht  es  den 
Gerichten  zur  Pflicht,  die  Strafzeit  nach  Möglichkeit  so  zu 
bemessen,  dafs  der  Gefangene  nicht  im  Winter  zur  Ent- 
lassung kommt.  Geschieht  letzteres  trotzdem,  so  erhält  er 
einen   Winterüberzieher    mit.     Noch   mehr   aber    als    der 


XITI.    Das  Land  der  Arbeit.  221 

Staat  leistet  die  mit  reichen  Mitteln  ausgestattete  New 
Yorker  Gefängnisgesellschaft.  Sie  hat  trotz  des  Vorurteils 
und  trotz  des  regelmäfsigen  Zuflusses  billiger  Arbeitskräfte 
aus  Europa  im  Februar  1899  von  46  entlassenen  Straf- 
gefangenen 39  in  dauernde  Arbeitsstellungen  gebracht.  Da 
auf  schriftlichem  Wege  nur  schwer  solche  Gelegenheiten 
zu  finden  waren,  begannen  die  Beamten  der  Gesellschaft 
die  Praxis,  mit  den  Entlassenen  persönlich  zu  den  Arbeit- 
gebern zu  gehen  und  diese  durch  Bitten  zu  bewegen,  es 
mit  dem  Betreffenden  einmal  zu  versuchen.  Diejenigen 
Arbeitgeber,  bei  denen  solche  Versuche  gut  ausfielen,  über- 
wanden nach  und  nach  das  Vorurteil  gegen  den  Sträfling. 
Mit  ihrer  Einwilligung  trug  die  Gesellschaft  sie  in  eine 
geheime  Liste  ein,  die  im  Februar  1899  400  Arbeitgeber 
zählte.  An  diese  wenden  sich  die  Beamten  der  Gesellschaft 
im  Bedürfnisfalle  und  meist  mit  Erfolg. 

Ein  Beweis  der  wenig  bekannten  Gutherzigkeit  des 
Amerikaners  ist  auch  die  Geduld  der  Massen  hier.  Um 
diese  zu  ermessen,  mufs  man  beobachtet  haben,  wie  der 
Riesenverkehr  über  die  grofse  Brooklyner  Brücke  um 
die  Zeit  des  Geschäftsschlusses  sich  abspielt.  Mit  Engels- 
geduld werden  Verkehrsstockungen  ertragen.  Ich  safs 
einmal  in  einem  Strafsenbahnwagen ,  der  wegen  eines  auf 
den  Schienen  umgefallenen  Wagens  nicht  weiterfahren 
konnte.  Über  zehn  Minuten  dauerte  der  Aufenthalt; 
niemand  murrte.  Nur  ein  Gast  begann  schliefslich  seinem 
Unmut  energisch  Luft  zu  machen,  —  und  dieser  eine  war 
ein  Deutscher.  Geneigtheit  zu  Kritik  und  Protest  ist  eine 
Eigentümlichkeit  des  Deutschen.  Sehr  oft  habe  ich  be- 
obachtet, wie  ein  Redner  die  Geduld  der  Zuhörerschaft  in 
einer  Weise  in  Anspruch  nahm,  die  ein  deutsches  Publikum 
niemals  ertragen  hätte. 

Nur    in    einem    Falle    hört     die    Gutherzigkeit    de& 


222  Hintrager. 

Amerikaners  stets  auf:  Wenn  ihm  jemand  im  wirtschaft- 
lichen oder  nationalen  Kampfe  in  den  Weg  tritt.  Denn  er 
ist  ein  geborener  Kämpfer.  Wetten,  Kraftmessungen  und 
Kampfspiele  sind  ihm  ein  Genufs.  Bei  Volksfesten  bildet 
selbst  das  „Ehefrauen -Rennen"  eine  beliebte  Programm- 
nummer. Das  amerikanische  Nationalspiel  (Baseball)  ist 
ein  sehr  anstrengendes  Ballschlagspiel,  das  nicht  nur  für  die 
Mitwirkenden,  sondern  auch  für  die  Zuschauer  gefährlich 
ist.  Bei  seiner  Vorliebe  für  eine  offene  Aussprache  wird 
der  Amerikaner  zwar  gewöhnlich  vor  dem  Kampfe,  be- 
sonders dem  wirtschaftlichen,  gütlichen  Ausgleich  suchen. 
Schlägt  dies  fehl ,  dann  wird  er  mit  gröfster  Rücksichts- 
losigkeit und  oft  auch  mit  der  Gewissenlosigkeit  des 
Tätigen  seine  Interessen  verfechten.  Ebenso  hals- 
abschneiderisch wie  seine  Konkurrenz  wird  nachher  seine 
Güte  gegen  den  geschlagenen  Gegner  sein.  Das  Kleinliche 
hat  wenig  Raum  im  Leben  der  Menschen,  die  in  so  grofsen 
Verhältnissen  aufwachsen.  Dafs  hier  oft  Postsachen  auf 
die  Briefschalter  gelegt  werden,  habe  ich  schon  erwähnt. 
Auf  den  Stationen  der  Hochbahn  hier  nimmt  man  sich  die 
Zeitung  vom  Zeitungsstand  und  legt  das  Geld  in  das  offen 
dastehende  -Oeldschüsselchen ;  niemand  kontrolliert  den 
Verkauf,  ausgenommen  die  Öffentlichkeit.  Im  amerika- 
nischen Privathause  wird  sehr  wenig  verschlossen. 

Dies  sind  Gelegenheitsbilder  der  Arbeitsmethoden  des 
Volkes,  dessen  Tätigkeit  zu  dem  beispiellosen  wirtschaft- 
lichen Aufschwung  der  Vereinigten  Staaten  geführt  hat. 
So  gut  ist  die  Lebenshaltung  des  einzelnen,  dafs  mit 
Recht  schon  Hackländer  auf  die  amerikanische  „Armut 
mit  Kuchen"  hingewiesen  hat.  Das  Leben  zeigt  hier  oft 
die  übermütige  Art  gesunder  Kinder,  die  jedes  Verlangen 
erfüllt  sehen.  Von  Leiden  und  Entsagen  will  niemand 
etwas  wissen:  Genufs  und  Rechte  begeJirt  jedennann,  und 


XIII.    Das  Land  der  Arbeit.  223 

die  Wünsche  dieser  Menschen  kennen  kein  Ziel.  Ihre 
Unternehmungslust  schreckt  vor  nichts  zurück,  ein  fehl- 
geschlagenes Beginnen  entmutigt  sie  nicht,  das  unmöglich 
Scheinende  machen  sie  möglich.  Ihre  Städte  sehen  aus 
wie  von  einem  Riesenknaben  mit  dem  Baukasten  erbaut; 
für  diesen  Knaben  hat  das  Haus  längst  aufgehört,  eine 
unbewegliche  Sache  zu  sein.  Ihr  Witz  ist  das  Groteske 
und  die  grandiose  Übertreibung.  Sie  spielen  oft  mit 
Dingen ,  die  jeder  ernst  nimmt ,  für  den  das  Leben  Be- 
deutung gewonnen  hat. 

Es  ist  wohl  begründet,  dafs  auf  dem  Gebiet  der  Wohl- 
tätigkeit hier  so  viel  geleistet  wird.  Denn  sehr  grofs  ist 
die  Zahl  derer,  die  aus  dem  Kampf  nicht  unversehrt 
hervorgehen.  Das  amerikanische  Leben  ist  eine  fort- 
währende Spannung,  eine  harte  Auslese  der  Starken.  Das 
Schlagwort  „Selection  of  the  fittest"  hört  man  hier  oft. 
Mehr  als  die  zahlreichen  Bankrotte  und  mehr  als  die 
vielen  Unglücksfälle  redet  die  Tatsache,  dafs  auch  hin- 
sichtlich der  Zahl  der  Geisteskranken  die  Vereinigten 
Staaten  an  erster  Stelle  stehen.  Allein  im  Staate  New 
York  befanden  sich  im  April  1899,  wie  mir  der  Direktor 
der  Irrenanstalt  bei  Rochester  N.  Y.  angabt  rund  22000 
Menschen  in  Irrenhäusern.  Sehr  viele  davon  sind  Ein- 
gewanderte, deren  Kräfte  den  Anforderungen  des  amerika- 
nischen Lebens  nicht  gewachsen  waren. 

Und  es  hat  nicht  den  Anschein ,  als  ob  der  Kampf 
dieses  Lebens  in  ruhigere  Bahnen  kommen  wollte.  Die 
wirtschaftlichen  Gegensätze  verschärfen  sich  mehr  und  mehr. 
Der  Kampf  zwischen  der  Arbeit  und  dem  Kapital  hat  schon 
grofse  Dimensionen  angenommen.  Beide  Teile  sind  wohl- 
organisiert. Die  Arbeiterschaft  der  Vereinigten  Staaten 
ist  organisiert  in  lokale  Gewerkschaften  (Labor-Unions),  die 


224  Hintrager. 

wiederum  eine  gemeinsame,  über  die  ganze  Union  sich  er- 
streckende Organisation  in  der  American  Federation  of 
Labor  haben.  Ihr  gehören  zurzeit  etwa  1400  Gewerk- 
schaften mit  annähernd  zwei  Millionen  Arbeitern  an.  Ob- 
wohl übrigens  der  gröfste  Teil  der  Arbeiterschaft  noch 
nicht  organisiert  ist,  so  haben  doch  die  organisierten 
Arbeiter  schon  sehr  viele  Erfolge  aufzuweisen,  vor  allem 
ein  seit  Jahrzehnten  andauerndes  Steigen  der  Löhne.  Im 
Jahre  1900  war  der  Durchschnittsjahreslohn  eines  er- 
wachsenen männlichen  Arbeiters  491  $.  Wie  gut  sie 
wohnen,  essen  und  sich  kleiden,  habe  ich  bei  anderer 
Gelegenheit  schon  erwähnt.  Gleichzeitig  ist  die  Zahl  der 
täglichen  Arbeitsstunden  stetig  herabgesetzt  worden.  Der 
Bund  und  manche  Staaten  haben  gesetzlich  den  Acht- 
stundentag. In  den  Neuenglandstaaten  haben  die  Labor- 
Unions  das  Lehrlingswesen  beseitigt.  Die  Arbeiter- 
vereiuigungen  spielen  eine  grofse  Rolle  im  Leben  einer 
amerikanischen  Stadt.  Da  sie  nach  Berufszweigen 
organisiert  sind,  ist  ihre  Zahl  sehr  grofs.  Bei  nationalen 
oder  kirchlichen  Umzügen  und  Festlichkeiten  nehmen  sie 
stets  einen  stattlichen  Raum  ein.  Ihre  Programme 
heben  als  ihr  Hauptziel  die  Hebung  der  Lage  ihres 
Standes  und  der  Stellung  des  einzelnen  Mitglieds  her- 
vor und  sind  fast  durchweg  sehr  gemälsigt.  Viele  er- 
klä)en  Mäfsigkeit  und  Sittlichkeit  als  die  erste  Pflicht.  Die 
Union  der  Lokomotivführer  z.  B.  hat  die  Devise:  „Was 
ihr  wollt,  dafs  euch  die  Leute  tun  sollen,  das  tut  ihr 
ihnen."  Unter  den  Mitteln,  mit  denen  sie  ihre  Ziele  ver- 
folgen, steht  auch  hier  der  Streik  obenan:  In  den  1901 
vorangehenden  20  Jahren  hatten  die  Vereinigten  Staaten 
22793  Streike.  Ein  Mitglied  der  Genossenschaft  der 
Eisen-  und  Stahlarbeiter  zahlt  monatlich  25  Cents  allein 
in  den  Streikfond.    Das  Streben  nach  einer  besseren  Lebens- 


XIII.    Das  Land  der  Arbeit.  225 

haltung  veranlafst  in  der  Regel  den  Streik.  Ist  einmal  der 
Streik  da,  so  wird  vor  Gewalt  nicht  zurückgeschreckt.  In 
Cleveland,  Ohio,  wurde  der  Strafsenbahnverkehr  bei  dem 
grofsen  Streik  der  Strafsenbahnangestellten  dadurch  er- 
möglicht, dafs  auf  jedem  Wagen  einige  Polizisten  mitfuhren 
und  unter  die  Menge  mit  Revolvern  schössen,  wenn  ein  An- 
griff auf  den  Wagen  gemacht  wurde.  Ein  anderes  Kampf- 
mittel sind  die  Gewerkschaftsetiketten  (Labels):  Das  Ge- 
werkschaftsmitglied darf  nur  solche  Dinge  kaufen,  die  diese 
Labels  tragen,  d.  h.  in  einem  nur  Gewerkschaftsarbeiter  ver- 
wendenden Betriebe  hergestellt  sind  (Union-made).  Eine 
politische  Partei  haben  die  amerikanischen  Arbeiter  bis 
jetzt  nicht  gebildet.  Jede  Partei  schmeichelt  ihnen,  bringt 
arbeiterfreundliche  Gesetze  ein  und  verspricht  ihnen  alles, 
was  sie  wünschen. 

Der  organisierten  Arbeit  steht  gegenüber  das  organi- 
sierte Kapital.  Hierzu  gehören  die  in  der  ganzen  Union 
existierenden  Verbände  der  Arbeitgeber  (Employers-Asso- 
ciations) ,  die  der  gemeinsame  Feind ,  die  Gewerkschaften, 
geeinigt  hat,  und  insbesondere  alle  die  zahlreichen  Kapital- 
vereinigungen ,  die  mit  Recht  und  mit  Unrecht  Trusts  ge- 
nannt werden.  Die  innere  Organisation  dieser  modernen 
Formen  des  kapitalistischen  Grofsbetriebs  ist  noch  wenig 
bekannt;  aucii  über  deren  Grundlagen  sind  die  Meinungen 
sehr  verschieden.  Die  1899  in  Chicago  abgehaltene  so- 
genannte Trustkonferenz,  auf  welcher  Kongrefsmitglieder, 
Richter,  Eisenbahnmagnaten,  Bankpräsidenten,  Vertreter 
der  Arbeiterorganisationen,  der  Landwirtschaft,  der  Wissen- 
schaft und  viele  Gouverneure  einzelner  Staaten  in  freier 
Diskussion  ihre  Meinungen  über  diese  Frage  austauschten, 
hat  im  wesentlichen  nur  die  Erkenntnis  gezeitigt,  dafs  die 
Frage  noch  lange  nicht  reif  ist.  Immerhin  ist  das  unbe- 
stritten,  dafs  viele   dieser  Vereinigungen  in  grofsem  Um- 

Hintrager.  15 


226  Hintrager. 

fange  mit  fiktiver  Kapitalisation  und  schwindelhafter  Wert- 
papierfabrikation (watered  Stocks)  arbeiteten  und  arbeiten, 
und  dafs  sie  ihre  Macht  gegen  das  Volk  und  gegen  dessen 
Vertreter  in  rücksichtsloser  Weise  gebrauchen.  Das  Wort 
„das  Publikum  soll  der  Teufel  holen !"  (the  public  be 
damned)  wird  einem  der  gröfsten  dieser  „Könige"  nach- 
gesagt, die  die  Marktpreise  bestimmen,  die  Wahlen  und 
Kongrefsleute  mit  grofsem  Geldaufwand  beeinflussen,  die 
auch  Orden  und  Vergünstigungen  austeilen  in  Gestalt  von 
Freikarten,  Preisermäfsigungen  und  dergleichen.  Viele 
Gesetze  sind  in  den  letzten  Jahren  gegen  alle  trustartigen 
Organisationen  ergangen,  jedoch  meist  mit  geringem  Er- 
folge. In  der  Politik  ist  diese  Angelegenheit  ein  wunder 
Punkt,  den  die  Politiker  nicht  gerne  berühren.  Denn 
noch  ist  die  allgemeine  wirtschaftliche  Lage  eine  so 
günstige,  dafs  der  einzelne  den  Druck  nicht  schwer 
empfindet.  Die  öffentliche  Meinung  hat  sich  daher  auch 
noch  nicht  geklärt.  Der  Ausgang  dieses  inneren  Kampfes 
dürfte  das  Geschick  der  Vereinigten  Staaten  für  lange 
Zeit  bestimmen. 


XIV.  Sehlursbetraelitung'en. 

„Der  Prüfstein  der  Zivilisation 
ist  nicht  der  Zensus,  nicht  die 
Gröfse  der  Städte  und  der 
lernten,  sondern  die  Art  von 
Menschen,  die  ein  Land  hervor- 
bringt." Emerson. 

New  York. 
Der  Deutsche ,  der  seine  nationale  Eigenart  kennen, 
sein  Vaterland  schätzen  lernen  und  geschätzt  sehen  will, 
gehe  nach  den  Vereinigten  Staaten.  Seit  Jahrzehnten 
haben  viele  Tausende  von  Deutschen,  denen  das  Vaterland 
zu  eng  oder  zu  streng  Avar,  in  den  weiten  Räumen  dieses 
Landes  eine  neue  Heimat  sich  geschaffen.  So  schwer  es 
ist,  ihren  Anteil  an  der  Zusammensetzung  des  ameri- 
kanischen Völkergemisches  auch  nur  annähernd  ziflfernmäfsig 
zvL  bestimmen,  so  läfst  sich  doch  auf  Grund  der  Zensus- 
listen der  Union  feststellen,  dafs  im  Jahre  1900  von  6,2 
Millionen  Einwohnern  beide  Eltern,  und  von  1,5  Millionen 
ein  Elternteil  in  Deutschland  geboren  war,  und  dafs  von 
der  eingewanderten  Bevölkerung  die  deutsche  den  gröfsten 
Prozentsatz  ausmacht.  Grofses  haben  die  Deutschen  hier 
geleistet,  Grofses  hat  auch  das  Land  an  ihnen  vollbracht, 
was  das  enge  Vaterland  nicht  hatte  vollbringen  können. 
Zu  den  schönsten  Früchten ,  die  die  Schule  des  amerika- 
nischen Lebens  in  ihnen  reifen  liefs,  gehört  die  Liebe  zum 
iilten   Vaterlande,    das   die   meisten   von   ihnen   aus   Un- 

15* 


228  Hintrager. 

Zufriedenheit  mit  dessen  wirtschaftlichen,  politischen,  so- 
zialen oder  kirchlichen  Verhältnissen  verlassen  haben.  So 
uneinig  auch  hier  im  allgemeinen  die  Deutschen  sind,  so 
eins  sind  sie  in  dem  Gefühl  der  Liebe  zur  alten  Heimat, 
die  selbst  der  Amerikaner  „the  Vaterland"  zu  nennen 
liebt.  Sie  sind  bessere  Deutsche  geworden ,  als  sie  es  in 
Deutschland  gewesen  waren.  Als  zu  Beginn  des  deutsch- 
französischen Krieges  die  hiesige  Presse,  die  hinsichtlich 
Kabelnachrichten  sehr  von  England  beeinflufst  ist,  das  Ge- 
fecht bei  Saarbrücken  als  eine  grofse  Niederlage  der  Deutschen 
darstellte,  weinte  mancher  starke  deutsche  Mann  hier.  Wie 
grofs  die  Freude  über  die  deutschen  Siege  und  die  Betätigung 
der  Teilnahme  an  dem  Kriege  durch  Sammlungen  war,  davon 
wissen  die  Deutschen  hier  zu  erzählen.  Mit  dem  Auf- 
schwung des  geeinten  Deutschen  Reichs  wuchs  die  Liebe 
und  kam  der  Stolz.  Früher  war  der  deutsche  Michel 
ebenso  mifsachtet  als  bescheiden.  Nun  kam  ihm  zum  Be- 
wufstsein,  was  Deutsche  im  Unabhängigkeitskampfe  und  im 
Bürgerkriege  geleistet  hatten,  welchen  Anteil  der  deutsche 
Bauer  und  der  deutsche  Ingenieur  an  dem  Fortschritt  der 
Union  haben.  Nun  erinnerten  sich  die  Deutschen  hier, 
dafs  die  ersten  Bibeln  und  die  ersten  Schulbücher  dieses 
Landes  von  den  Deutschen  Pennsylvaniens  gedruckt  worden 
waren,  und  dafs  die  Deutschen  immer  das  gediegene ,  solide 
Element  im  wirtschaftlichen  und  politischen  Leben  des 
Landes  gewesen  sind.  Nun  wurden  sie  stolz,  Deutsche  zu 
sein:  der  deutsche  Michel  hatte  sich  selbst  entdeckt. 

Aber  auch  der  Amerikaner  entdeckte  nun  den 
Deutschen.  Ihm,  dem  der  Erfolg  über  alles  geht,  imponierte 
der  Sieg  der  deutschen  Waffen  nicht  weniger  als  Deutsch- 
lands Leistungen  in  Handel  und  Industrie.  Er  kam  zu 
uns  in  die  Schule,  um  deutsche  Technik,  deutsche  Wissen- 
schaft   und    Kunst,     deutsche    Musik    zu    lernen.      Dem 


XIV.    Schlufsbetrachtungen.  229 

Deutschen,  der  durch  dies  Land  reist,  macht  es  das  Herz 
höher  schlagen,  wenn  er  aus  dem  Munde  des  Amerikaners 
immer  wieder  hört:  „Die  Deutschen  sind  unsere  besten 
Bürger",  und  wenn  er  sieht,  welchen  Raum  deutsche  Ge- 
sittung im  Leben  dieses  Volkes  einnimmt.  In  Fröbels 
„Kindergarden"  geniefst  Amerikas  Jugend  die  erste  Er- 
ziehung. Deutsche  Bücher  bilden  einen  bedeutenden  Teil 
des  amerikanischen  Bücherschatzes.  Unsere  grofsen 
Männer  sind  hier  gar  wohl  bekannt.  Die  „gemütliche" 
deutsche  Geselligkeit  und  vor  allem  das  deutsche  Lied 
sind  Bestandteile  der  Gesittung  dieses  Landes  geworden. 
Die  Gewissenhaftigkeit  und  Gründlichkeit  des  Deutschen 
erscheint  dem  gebildeten  Amerikaner  vorbildlich.  Oft 
wurde  ich  hier  schriftlich  und  mündlich  um  Auskunft  dar- 
über gebeten ,  wie  diese  oder  jene  Frage  in  der  Gesetz- 
gebung Deutschlands  geregelt  sei,  und  ich  freue  mich, 
wiederholt  Gelegenheit  gehabt  zu  haben,  diesem  Lande  zu 
dienen,  dessen  Gastfreundschaft  ich  genossen  habe.  Der 
Staat  Massachussetts  hat  im  Jahre  1900  verschiedene  Be- 
stimmungen aus  dem  deutschen  Strafprozefsrecht  über^ 
uommen ;  im  Staate  Pennsylvanien  hat  in  neuester  Zeit  die 
von  der  Pennsylvania  State -Bar -Association  eingesetzte 
Kommission  für  Gesetzgebungsreform  den  Entwurf  einer 
Grundbuchordnung  für  den  Staat  Pennsylvanien  aus- 
gearbeitet, der  sich  in  allen  wesentlichen  Punkten  an  das 
Vorbild  der  deutschen  Grundbuchorduung  hält. 

Nicht  mit  gleicher  Vorurteilslosigkeit  wie  der 
Amerikaner  uns  sind  wir  ihm  begegnet.  Es  gab  eine 
Zeit,  da  man  in  Deutschland  die  bösen  Buben  nach 
Amerika  schickte,  und  da  ein  schwäbischer  Dorfschultheifs 
ein  Zeugnis  dahin  ausstellte:  „Leumund  nicht  gut;  war 
schon  in  Amerika!"  Da  waren  wir  geneigt,  manchen 
heimgekehrten  Parvenue  als  Repräsentanten   des  amerika- 


230  Hintrager. 

nischen  Volkes  zu  nehmen.     Mehr  als  von  denen,  welchen 
es  drüben  gut  gegangen  war,  hörten  wir  von   denen,   die 
i     keine   Erfolge    hatten    und    mifsmutig    heimkehrten    oder 
I    in     Briefen   ihrem     enttäuschten    Herzen    Luft    machten. 
I    Unsere  Presse    pflegte    uns    mit    den    Auswüchsen    und 
I    Extremen  des  amerikanischen  Lebens  bekannt  zu   machen, 
/    nicht    mit   dem    gewöhnlichen   Lauf   der   Dinge.     So   ge- 
wannen wir  eine  falsche   Vorstellung  des   Lebens  in   der 
Union.    Mit  ein  paar  Schlagworten  richteten  wir   ebenso 
rasch  als  ungerecht. 

Doch  die  Vorurteile  schwinden  mehr  und  mehr.  Der 
Anfang  einer  neuen  Ära  in  unserm  Verhältnis  zu  den 
Vereinigten  Staaten  ist  gekommen :  Wir  haben  angefangen, 
Amerika  noch  einmal  zu  entdecken.  Unser  Kaiser  ging 
voran,  und  die  Nation  folgt  ihm.  Amerika  und 
Amerikanisches  ist  mehr  als  je  ein  Gegenstand  unserer 
/  Betrachtung  und  unseres  Studiums.  Mit  dem  Verständnis 
/_     schwinden  die  Gegensätze. 

~^Äuch  die  Vereinigten  Staaten  wollen  in  erster  Linie 
aus  sich  selbst  heraus  verstanden  werden.  Land  und  Volk 
sind  noch  jung.  In  vielen  Beziehungen  trägt  das  Leben 
trotz  aller  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Technik  noch 
kolonialen  Typus.  Vor  allem  natürlich  im  Westen.  Die 
Landschaft  zeigt  noch  lange  nicht  die  tausendfältigen 
Spuren  menschlicher  Tätigkeit,  nicht  die  Poesie  und  die 
Geschichte,  die  die  alten  Kulturlandschaften  aufweisen. 
Mit  Axt  und  Pflug  mufsteu  die  Siedler  hier  beginnen  und 
beginnen  sie  noch  immer.  Sind  sie  gleich  Kinder  des 
alten  zivilisierten  Europa ,  so  zwingt  sie  doch  die  un- 
gepflügte  Scholle  zur  Natur  zurückzukehren.  Gleich  Robinson 
Crusoe  müssen  sie  sozusagen  die  menschliche  Kultur- 
entwicklung wieder  von  den  Anfängen  an  beginnen.  So 
werden  sie  selbst   wieder  kindlich   und  lernen   einfach  zu 


XIV.    Schlufsbetrachtungen.  231 

denken  und  zu  fühlen.  Jeder  einzelne  ist  auf  sich  selbst 
gestellt;  kein  Nachbar  hindert  ihn  oder  hilft  ihm.  Jeder 
hat  an  sich  selbst  zu  denken,  jeder  will  bald  Herr  über 
ein  Stück  der  Erdoberfläche  sein.  Da  ist  keine  Zeit  für 
Feder  und  Pinsel,  kein  Ort  für  beschauliche  Mufse,  kein 
Sinn  für  Sentimentalität  und  Naturschwärmerei.  Koloni- 
sationsarbeit ist  das  Los  aller.  Keiner ,  empfindet  es  er- 
niedrigend, irgendeine  Arbeit  zu  tun;  denn  er  sieht,  wie 
alle  andern  sie  tun.  Nur  das  Nichtstun  ist  eine  Schande. 
Ein  demokratischer  Zug  geht  durch  das  Ganze;  denn  vor 
der  Natur  und  ihren  Gesetzen  sind  alle  gleich.  Ein  ge- 
wisser roher  Durchschnitt  herrscht  in  allem. 

Ungeheuer  ist  der  Raum,  über  den  der  Menschenstrom 
sich  ergofs  und  noch  sich  ergiefst.  Daher  besetzt  jeder  ein 
grofses  Stück  Landes  und  nimmt  zunächst  die  Teile  darin 
in  Angriff,  die  ihm  den  besten  Ertrag  versprechen.  Ober- 
flächlich und  verschwenderisch  mufs  die  Wirtschaft  werden; 
man  kann  sich  unmöglich  um  jedes  Fleckchen  Erde 
kümmern.  Der  grofse  Raum  ist  auch  dem  Freiheitssinn 
des  Pioniers  willkommen.  Da  ist  viel  Reibung  und  viel 
Streit  vermieden ;  man  braucht  wenig  Regierung.  Alle 
Regierung  ist  dem  Pionier  zuwider;  keiner  will  eigene 
Interessen  um  des  Ganzen  willen  aufgeben. 

Und  die  Kulturarbeit  dieser  Pioniere  war  und  ist  von 
anhaltendem  Erfolge  begleitet,  denn  das  Land  ist  un- 
ermefslich  reich.  Wer  stets  Erfolg  hat,  wem  es  stets  gut 
geht,  der  wird  nicht  vertieft;  er  wird  der  Eigenschaften 
entbehren ,  die  Leiden  und  Entsagen  im  Menschen  erzeugen. 
Der  Optimismus  Amerikas  ist  die  frohe  Zuversicht  des 
reichen  Jünglings,  der  sich  keinen  Wunsch  versagen  mufs 
und  ein  grofses  Feld  der  Willensbetätigung  vor  sich  sieht. 
Nichts    erscheint    ihm    grofs    oder   schwer   angesichts    der 


232  Hintrager. 

Gröfse  seines  Landes  und  angesichts  der  unbegrenzten 
Möglichkeiten,  die  es  bietet. 

Solche  Pioniere  oder  ihre  Kinder  in  einer  der  ersten 
Generationen  sind  die  Bewohner  der  Vereinigten  Staaten. 
Ihr  Leben  ist  nicht  geeignet,  das  hervorzubringen,  was 
man  in  Deutschland  in  Verkennung  der  Gesetze  der 
Kulturentwicklung  an  dem  Amerikaner  oft  vermifst. 

Ein  wesentlich  anderes  Bild  freilich  bietet  heute  schon 
der  ältere  Osten  des  Landes.  Hier  ist  dichtere  Besiedlung 
mit  allen  ihren  Folgen  für  die  Entwicklung  menschlicher 
Kultur:  Die  gröfsere  Reibung  führt  zum  Zusammenschlufs 
gleicher  Interessen  und  Gesinnungen.  Die  Gegensätze  ver- 
schärfen sich.  Klassenbildung  hat  begonnen.  Die  Ziele 
werden  höher  gesteckt.  Gediegener  ist  der  Ton  des 
Lebens.  Ernster  werden  seine  Aufgaben  genommen.  Die 
Pflege  von  Kunst  und  "Wissenschaft  hat  ein  Heim  auf  dem 
Boden  angesammelten  Besitzes.  Das  Leben  hat  an  Be- 
deutung gewonnen.  Mit  einem  Worte:  der  Osten  wird 
Europa  ähnlich. 

Allein  der  Osten  ist  ein  verhältnismäfsig  kleiner  Teil 
der  Union.  Zwar  liegt  in  ihm  das  finanzielle  und  kulturelle 
Schwergewicht  des  Landes;  aber  die  Menschen,  mit  denen 
die  Mitte  und  der  Westen  besiedelt  sind  und  werden,  sind 
so  verschiedenartiger  Abstammung,  dafs  man  noch  nicht 
sagen  kann,  welcher  nationale  Typus  aus  dem  ganzen 
Schmelztiegel  hervorgehen  wird.  Das  amerikanische  Volk 
ist  noch  im  Werden;  schon  deshalb  gehört  ihm  die  Zukunft. 
Wie  viele  Millionen  Mensehen  mag  dies  Land  einst  er- 
nähren, das  mehr  als  16  mal  so  grofs  ist  als  Deutschland 
und  jetzt  nur  86,8  Millionen  Einwohner^)  zählt!    Gladstone 


')  8,8  Einwohner  per  Quadratkilometer  gegenüber  104  Einwohner 
per  Quadratkilometer  in  Deutschland. 


XIV.    Schlufsbetrachtuiigen.  233 

hat  gesagt,  die  Vereinigten  Staaten  werden  die  erste  Grofs- 
macht  der  Zukunft  sein.  Der  unermefsliche  Reichtum 
des  Landes,  der  Geist  und  die  Zunahme  seiner  Bewohner, 
sowie  die  Geschichte  der  Union  deuten  darauf  hin,  dafs 
diese  Weissagung  in  Erfüllung  gehen  wird.  Westindien, 
Canada  und  Zentralamerika  hat  schon  die  wirtschaftliche 
Annexion  ergriffen ,  die  der  politischen  Annexion  in  der 
Geschichte  der  Vereinigten  Staaten  gewöhnlich  voran- 
gegangen ist.  Wirtschaftlich  und  politisch  greift  Onkel 
Sam  schon  über  die  Meere.  Seine  stürmischen  Erfolge 
erscheinen  geradezu  als  eine  Gefahr. 

Aber  die  Bäume  wachsen  nicht  in  den  Himmel.  Die 
Zeit  wird  kommen,  da  die  Vereinigten  Staaten  mehr  als 
je  mit  sich  selbst  beschäftigt  sein  werden.  Die  Probleme, 
die  ihrer  im  Innern  harren ,  sind  so  grofs ,  dafs  neben 
ihnen  die  inneren  Aufgaben  der  europäischen  Kulturstaaten 
klein  erscheinen.  Die  gebildeten  Amerikaner  geben  sich 
keinen  Illusionen  darüber  hin,  dafs  ihnen  die  Sonne  des 
Glücks  in  wunderbarer  Weise  gelächelt  hat  und  dafs  die 
Tage  der  Prüfungen  und  der  grofsen  Aufgaben  noch  im 
Schofse  der  Zukunft  liegen. 

Als  die  nächsten  Probleme  erscheinen  ihnen  die  Neger-  h 
frage  und  die  Anhäufung  der  Geldmacht  in  wenigen  V 
Händen.  Wird  der  Neger  verschmolzen  werden  mit  der 
weifsen  Rasse,  oder  wird  er  erdrückt  werden  wie  der 
Indianer?  Oder  sollte  es  möglich  sein,  einen  modus 
vivendi  mit  den  Millionen  Negern  im  Lande  zu  finden?  — 
Wozu  wird  der  Kampf  zwischen  den  modernen  Feudal- 
herren des  Grofskapitals  und  den  Massen  führen?  Solange 
die  Massen  hier  immer  noch  mehr  um  Komfort  kämpfen 
als  um  das  Dasein ,  solange  ist  dieser  Kampf  noch  nicht 
auf  seiner  Höhe.  Er  wird  erst  dann  zu  seinem  vollen 
Ernst  gelangen ,   wenn   die  Bevölkerung   dichter  geworden 


234  Hintrager. 

ist.  Mit  der  gröfseren  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  wird 
die  Freiheit  des  einzelnen  vermindert.  Dem  Interesse  des 
Lebensunterhalts  mufs  der  Mensch  vieles  opfern.  Armut 
und  Beschränktheit  werden  kommen.  Der  einzelne  wird  an 
Selbständigkeit  und  Selbstvertrauen  verlieren.  Wird  es  dann 
möglich  sein,  das  zu  erhalten,  was  als  das  wesentliche  Ge- 
heimnis des  amerikanischen  Erfolgs  bezeichnet  wird:  Die 
politische  Gleichberechtigung  aller  und  das  hohe  Durch- 
schnittsmafs  freier  Intelligenz?  Die  gröfsere  Reibung  der 
Interessen  wird  den  Zwang  steigern,  und  eine  kräftigere, 
schwerfälligere  Regierungsmaschine  wird  nötig  werden.  Man 
wird  präzise  Gesetze  brauchen  und  gewissenhafte  Beamte 
für  ihre  Durchführung.  Man  wird  sparen  lernen  müssen 
im  öffentlichen  wie  im  privaten  Haushalt.  Die  schon  jetzt 
bedeutend  vorgeschrittene  Machtkonzentration  wird,  gestützt 
auf  Armut  und  Beschränktheit,  bedrohlich  werden.  — 
Dann  erst  werden  die  wirtschaftlichen  und  staatlichen 
Grundlagen  der  Vereinigten  Staaten  die  Feuerprobe  zu  be- 
stehen haben,  die  jeder  Mensch  und  jedes  Volk  bestehen 
mufs:  Den  Kampf  gegen  Beschränktheit,  Schwachheit  und 
Schlechtigkeit  im  eigenen  Innern.  Niemand  hat  alle  diese 
Aufgaben  und  Gefahren  dem  amerikanischen  Volke  ein- 
dringlicher vor  Augen  geführt  als  der  Vater  de&  Vater- 
landes, Washington,  in  seinem  politischen  Testament  (An- 
hang III). 

Aber  höher  als  die  Lösung  dieser  im  Leben  eines 
Volkes  doch  nur  vorübergehenden  Aufgaben  steht  die 
Schaffung  eines  Gutes,  das  den  Bestand  einer  Nation  über- 
dauert, das  der  ganzen  Menschheit  dient  und  das  einst 
die  Geschichte  von  dem  gesegneten  Volke  der  Vereinigten 
Staaten  in  erster  Linie  fordern  wird:  Die  Schaffung  einer 
nationalen  Kultur.  —  Der  geistvolle  Emerson  hat  seine 
Landsleute    ermahnt,    auch    in   geistiger    Hinsicht    selb- 


XIV.    Schlufsbetrachtungen.  235 

ständig  und  unabhängig  zu  werden.  Grofse  Anfänge  einer 
eigenen  Kultur  haben  die  Vereinigten  Staaten  aufzuweisen; 
das  zeigt  ein  auch  nur  flüchtiger  Blick,  wie  ihn  diese 
lückenhaften  Gelegenheitsbilder  amerikanischen  Lebens 
gewähren.  Wer  wollte  angesichts  dieser  Anfänge  zweifeln, 
dafs  auch  die  Fortsetzung  grofs  sein  wird? 


Erster  Anhang. 
Die  ünabhängigkeitserklärung 

vom  4.  Juli  1776. 

Wenn  es  im  Laufe  menschlicher  Ereignisse  für  ein 
A^olk  notwendig  wird,  die  staatlichen  Bande  zu  lösen, 
welche  es  mit  einem  anderen  verknüpft  haben ,  und  unter 
den  Mächten  der  Erde  die  abgesonderte  und  gleich- 
berechtigte Stellung  einzunehmen,  zu  der  es  die  Gesetze 
der  Natur  und  des  Gottes  der  Natur  berechtigen,  so  ver- 
langt eine  gebührende  Achtung  vor  dem  Urteil  der  Mensch- 
heit, dafs  das  Volk  die  Ursachen  darlege,  welche  es  zu 
der  Trennung  zwingen. 

Wir  halten  es  für  selbstverständliche  Wahrheiten, 
dafs  alle  Menschen  einander  ebenbürtig  geschaffen  sind; 
dafs  sie  von  ihrem  Schöpfer  mit  bestimmten,  unveräufser- 
lichen  Rechten  ausgestattet  sind  und  dafs  zu  diesen  Leben, 
Freiheit  und  das  Streben  nach  Glück  gehört;  dafs  zum 
Schutze  dieser  Rechte  unter  den  Menschen  Regierungen  ein- 
gesetzt sind,  die  ihre  rechtmäfsigen  Gewalten  von  der  Zu- 
stimmung der  Regierten  ableiten ;  dafs,  so  oft  eine  Regierungs- 
form diesen  Endzwecken  verderblich  wird,  das  Volk  das 
Recht  hat,  sie  zu  ändern  oder  abzuschaffen,  eine  neue  Re- 
gierung einzusetzen  und  diese  auf  solche  Prinzipien  zu 
gründen  und  ihre  Gewalt  in  solche  Formen  zu  kleiden, 
welche  die  Sicherheit  und  das  Glück  des  Volkes  gewähr- 
leisten. Wohl  gebietet  die  Klugheit,  dafs  lange  be- 
stehende   Regierungen    nicht   um    leichter    und    vorüber- 


Erster  Anhang.  237 

gehender  Ursachen  willen  geändert  werden  sollten,  und 
alle  Erfahrung  hat  gezeigt,  dafs  die  Menschen  eher  bereit 
sind  zu  leiden,  so  lange  die  Übelstände  erträglich  sind, 
als  sich  selbst  Recht  zu  schaffen  durch  Zerstörung  ge- 
wohnter Formen.  Aber  wenn  eine  lange  Reihe  von  Mifs- 
bräuchen  und  Anmafsungen,  die  unveränderlich  dasselbe  Ziel 
verfolgen,  die  Absicht  erweist,  sie  unter  einen  vollkommenen 
Despotismus  zu  zwingen,  so  ist  es  ihr  Recht,  ja  ihre  Pflicht, 
eine  solche  Regierung  zu  entfernen  und  neue  Wächter  ihrer 
künftigen  Sicherheit  zu  bestellen.  Also  sind  die  geduldig 
ertragenen  Leiden  dieser  Kolonien  gewesen,  und  daher 
zwingt  sie  jetzt  die  Notwendigkeit,  ihr  bisheriges  Regierungs- 
system zu  ändern.  Die  Geschichte  des  gegenwärtigen  Königs 
von  Grofsbritannien  ist  eine  Geschichte  fortgesetzter  Krän- 
kungen und  Anmafsungen,  die  alle  die  Errichtung  einer 
vollkommenen  Tyrannei  über  diese  Staaten  zum  Ziele  haben. 

Zum  Beweise  hierfür  lafst  uns  der  ehrlichen  Mitwelt 
Tatsachen  unterbreiten: 

Er  hat  seine  Zustimmung  zu  den  heilsamsten  und  für 
die  öffentliche  Wohlfahrt  notwendigsten  Gesetzen  verweigert. 

Er  hat  seinen  Statthaltern  verboten,  Gesetze  von  un- 
mittelbarer und  dringender  Wichtigkeit  zu  erlassen,  es  sei 
denn,  dafs  ihr  Inkrafttreten  hinausgeschoben  werde  bis  zur 
Einholung  seiner  Zustimmung;  und  wenn  diese  eingeholt 
werden  sollte,  hat  er  einfach  sich  nicht  darum  ge- 
kümmert. 

Er  hat  sich  geweigert,  andere  Gesetze  für  die  Be- 
siedlung grofser  Bezirke  zu  erlassen,  es  sei  denn,  dafs  die 
Bevölkerung  dieser  Bezirke  auf  das  Recht  verzichte,  in 
der  gesetzgebenden  Versammlung  vertreten  zu  sein ;  ein 
Recht,  unschätzbar  für  sie,  schreckhaft  allein  für  die 
Tyrannen. 

Er    hat    die    gesetzgebenden    Körperschaften    an    un- 


238  Hintrager. 

gewöhnliehen,  unbequemen  und  von  dem  Aufbewahrungsort 
ihrer  öffentlichen  Akten  entfernten  Plätzen  zusammen- 
berufen,  lediglich  zu  dem  Zwecke,  sie  durch  Ermtldung 
zur  schliefslichen  Zustimmung  zu  seinen  Mafsregeln  zu 
bringen. 

Er  hat  die  Volksvertretungen  wiederholt  aufgelöst, 
weil  sie  sich  mit  männlicher  Festigkeit  seinen  Angriffen 
auf  die  Volksrechte  widersetzten. 

Er  hat  es  nach  solchen  Auflösungen  lange  Zeit  ab- 
gelehnt, Neuwahlen  anzuordnen,  wodurch  die  gesetzgebenden 
Gewalten,  die  niemand  vernichten  kann,  an  das  Volk  im 
ganzen  zur  Ausübung  zurückgefallen  sind,  während  der 
Staat  in  der  Zwischenzeit  allen  Gefahren  äufserer  Angriffe 
und  innerer  Verwicklungen  ausgesetzt  blieb. 

Er  hat  die  Vermehrung  der  Bevölkerung  dieser 
Staaten  dadurch  zu  hindern  gesucht,  dafs  er  die  Gesetze 
betreffend  die  Naturalisation  von  Ausländern  hintertrieb 
und  sich  weigerte ,  andere  Gesetze  zuzulassen ,  welche  die 
Einwanderung  hierher  befördern  sollten,  und  endlich  da- 
durch, dafs  er  die  Bedingungen  zum  Erwerbe  von  Ländereien 
erschwerte. 

Er  hat  die  Rechtspflege  gehemmt,  indem  er  Gesetzen 
seine  Zustimmung  versagte,  die  die  Schaffung  richterlicher 
Gewalten  zum  Zweck  hatten. 

Er  hat  Richter  ernannt,  die  hinsichtlich  der  Dauer 
ihrer  Anstellung,  des  Betrags  und  der  Zahlung  ihrer  Ge- 
hälter allein  von  seinem  Willen  abhängig  sind. 

Er  hat  eine  Menge  neuer  Ämter  errichtet  und  eine 
Masse  von  Beamten  hierher  geschickt,  um  unser  Volk  zu 
plagen  und  auszusaugen. 

Er  hat  in  Friedenszeiten  ohne  Zustimmung  unserer 
gesetzgebenden  Versammlungen  stehende  Heere  unter  uns 
gehalten. 


Erster  Anhang.  239 

Er  hat  danach  getrachtet,  die  militärische  Gewalt 
von  der  bürgerlichen  unabhängig  zu  machen  und  ihr  über- 
zuordnen. 

Er  hat  sich  mit  anderen  verbunden,  uns  einer  Gerichts- 
barkeit zu  unterwerfen ,  die  im  Widerspruche  zu  unserer 
Verfassung  steht  und  durch  unsere  Gesetze  nicht  an- 
erkannt ist. 

Er  hat  ferner  seine  Zustimmung  zu  Mafsregeln  einer 
angemafsten  Gesetzgebung  erteilt, 

um  grofse  Truppenkörper  bei  uns  einzuquartieren, 

um  diese  durch  ein  Scheinverfahren  vor  der  Bestrafung 
wegen  irgend  eines  Mords  zu  schützen,  den  sie  an  den  Ein- 
wohnern dieser  Staaten  begehen  würden, 

um  unseren  Handel  nach  allen  Teilen  der  Welt  hin 
abzuschneiden, 

um  uns  Steuern  ohne  unsere  Zustimmung  aufzuerlegen, 

um  uns  in  vielen  Fällen  der  Wohltaten  des  Ge- 
schworenen-Gerichts zu  berauben, 

um  uns  zur  Aburteilung  wegen  angeblich  strafbarer 
Handlungen  über  die  Meere  zu  schleppen, 

um  die  freiheitliche  Ordnung  englischer  Gesetze  in 
einer  benachbarten  Provinz  abzuschaffen  durch  Errichtung 
einer  willkürlichen  Regierung  daselbst  und  durch  Er- 
weiterung der  Grenzen  derselben  in  der  Absicht,  diese 
Regierung  gleichzeitig  zu  einem  Beispiel  und  zum  geschickten 
Werkzeug  der  Einführung  der  gleichen  unumschränkten 
Herrschaft  in  diesen  Kolonien  zu  macheu, 

um  unsere  Freibriefe  zu  beseitigen,  unsere  wichtigsten 
Gesetze  abzuschaffen  und  die  Grundformen  unserer  Re- 
gierungen abzuändern,  endlich 

um  unsere  eigenen  gesetzgebenden  Versammlungen 
aufser  Wirksamkeit  zu  setzen  und  sich  selbst  im  Besitze  der 
gesetzgebenden  Gewalt  über  uns  in  allen  Fällen  zu  erklären. 


240  Hintrager. 

Er  liat  es  aufgegeben  hier  zu  regieren,  indem  er  uns 
aufserhalb  seines  Schutzes  erklärte  und  Krieg  gegen  uns 
anfing. 

Er  hat  unsere  Meere  geplündert,  unsere  Küsten  ver- 
heert, unsere  Städte  verbrannt  und  viel  Blut  unseres 
Volkes  vergossen. 

Er  ist  jetzt  daran,  grofse  Heere  fremder  Söldner 
herbeizuschaffen,  um  das  schon  begonnene  Werk  des  Todes, 
der  Verwüstung  und  der  Tyrannei  zu  vollbringen,  und 
zvf&Y  mit  einer  Grausamkeit  und  Treulosigkeit,  die  in  den 
Zeiten  der  gröfsten  Barbarei  kaum  ihresgleichen  hat  und 
des  Oberhauptes  einer  gesitteten  Nation  gänzlich  un- 
würdig ist. 

Er  hat  unsere  Mitbürger,  die  er  auf  hoher  See  ge- 
fangen nahm,  gezwungen,  die  Waffen  gegen  ihr  Vaterland 
zu  tragen  und  die  Henker  ihrer  Freunde  und  Brüder  zu 
werden  oder  selbst  durch  deren  Hände  zu  fallen. 

Er  hat  Aufstände  im  Innern  gegen  uns  erregt  und 
versucht,  auf  die  Bewohner  unserer  Grenzen  die  er- 
barmungslosen, wilden  Indianer  zu  hetzen,  deren  bekannte 
Kriegsweise  die  Vernichtung  aller  ist ,  ohne  Unterschied 
von  Alter  und  Geschlecht. 

In  jedem  Stadium  dieser  Bedrückungen  haben  wir  in 
den  ehrerbietigsten  Ausdrücken  um  Abhilfe  gebeten,  aber 
unsere  wiederholten  Bitten  wurden  lediglich  mit  wieder- 
holten Kränkungen  beantwortet.  Ein  Fürst,  dessen 
Charakter  durch  tyrannische  Handlungsweise  in  dieser  Art 
gekennzeichnet  ist,  ist  nicht  geeignet,  der  Herrscher  eines 
freien  Volkes  zu  sein. 

An  Rücksicht  gegen  unsere  britischen  Brüder  haben 
wir  es  gewifs  nicht  fehlen  lassen.  Wir  haben  sie  von  Zeit 
zu  Zeit  vor  den  Versuchen  ihrer  gesetzgebenden  Gewalt 
gewarnt,  eine  unberechtigte  Gerichtsbarkeit  über  uns  zu 


Erster  Anhang.  241 


schaifen.  Wir  haben  sie  an  die  Umstände  erinnert,  unter 
denen  wir  ausgewandert  sind,  und  uns  hier  niedergelassen 
haben.  Wir  haben  ihren  angeborenen  Gerechtigkeitssinn 
und  ihre  Grofsmut  angerufen ,  und  wir  haben  sie  bei  den 
Banden  unserer  gemeinsamen  Verwandtschaft  beschworen, 
gegen  diese  Anmafsungen  aufzutreten,  die  unvermeidlich 
unser  Einvernehmen  und  unsere  Beziehungen  stören  müfsten. 
Aber  auch  sie  sind  taub  gegen  die  Stimmen  der  Oerechtig- 
keit  und  der  Blutsgemeinschaft  gewesen.  Wir  konnten 
daher  nicht  anders,  als  uns  trennen,  und  betrachten  sie  wie 
die  übrige  Menschheit  im  Kriege  als  Feinde,  im  Frieden 
als  Freunde. 

Wir,  die  Vertreter  der  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika,  im  allgemeinen  Kongrefs  versammelt,  rufen  da- 
her den  höchsten  Richter  der  Welt  als  Zeugen  an  für  die 
Lauterkeit  unserer  Absichten  und  verkünden  und  erklären 
im  Namen  und  kraft  der  Machtvollkommenheit  des  guten 
Volkes  dieser  Kolonien  feierlich ,  dafs  diese  Vereinigten 
Kolonien  freie  und  unabhängige  Staaten  sind  und  von 
Rechts  wegen  sein  sollen ,  dafs  sie  von  jeder  Untertanen- 
pflicht zur  britischen  Krone  befreit  sind,  und  dafs  jedes 
staatliche  Band  zwischen  ihnen  und  dem  Staate  von  Grofs- 
britannien  gänzlich  gelöst  ist  und  sein  soll,  und  dafs  sie 
als  freie  und  unabhängige  Staaten  volle  Gewalt  haben, 
Krieg  zu  führen ,  Frieden  zu  schliefsen ,  Verträge  einzu- 
gehen, den  Handel  zu  regeln  und  all  das  zu  tun,  was  un- 
abhängige Staaten  von  Rechts  wegen  tun  dürfen.  Und 
mit  festem  Vertrauen  auf  den  Schutz  der  göttlichen  Vor- 
sehung verpfänden  wir  zur  Bekräftigung  dieser  Erklärung 
uns  gegenseitig  unser  Leben,  unser  Vermögen  und  unsere 
heilige  Ehre. 
(Unterzeichnet  von  Vertretern  der  dreizehn  ursprünglichen  Staaten. 

Hintrager.  16 


Zweiter  Anhang. 
Die  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 

(1787). 

Wir,  das  Volk  der  Vereinigten  Staaten,  beschliefsen 
und  begründen  hiermit  in  der  Absicht,  eine  vollkommenere 
Union  zu  bilden,  Gerechtigkeit  walten  zu  lassen,  die  Ruhe 
im  Innern  sicherzustellen ,  für  die  Landesverteidigung  zu 
sorgen,  die  allgemeine  Wohlfahrt  zu  fördern  und  die 
Segnungen  der  Freiheit  uns  und  unseren  Nachkommen  zu 
sichern,  diese 

Verfassung  für  die   Vereinigten   Staaten 
von  Amerika. 

Artikel  I.    Die  gesetzgebende  Gewalt. 
Abschnitt  I. 

Alle  gesetzgebende  Gewalt,  die  in  dieser  Verfassung 
bewilligt  ist,  liegt  in  den  Händen  eines  Kongresses  der 
Vereinigten  Staaten,  welcher  aus  einem  Senat  und  einem 
Hause  der  Repräsentanten  bestehen  soll. 

Abschnitt  II. 

§  1.  Das  Haus  der  Repräsentanten  soll  aus  Mitgliedern 
zusammengesetzt  sein,  welche  alle  zwei  Jahre  vom  Volke 
der  einzelnen  Staaten  erwählt  werden,  und  die  Wähler  in 
jedem  Staate  sollen  diejenigen  Eigenschaften  haben,  welche 
für  die  Wähler  der  zahlreichsten  Kammer  der  Gesetzgebung 
des  Staates  erforderlich  sind. 


Zweiter  Anhang.  243 


§  2.  Niemand  darf  Mitglied  des  Repräsentantenhauses 
«ein,  der  nicht  das  25.  Lebensjahr  vollendet  hat  und  seit 
«ieben  Jahren  Bürger  der  Vereinigten  Staaten  gewesen  ist, 
und  der  nicht  zurzeit  seiner  Erwählung  ein  Bewohner  des 
Staates  ist,  in  welchem  er  erwählt  wurde. 

§  3.  Die  Zahl  der  Repräsentanten  und  die  direkten 
Steuern  werden  zwischen  den  einzelnen  Staaten  im  Ver- 
hältnis zu  ihrer  Bevölkerung  verteilt  in  der  Weise,  dafs 
der  ganzen  Anzahl  freier,  männlicher  Personen,  ein- 
schliefslich  derer,  die  auf  eine  bestimmte  Zeit  von  Jahren 
zu  dienen  verpflichtet  sind,  und  ausschliefslich  der  nicht 
besteuerten  Indianer,  drei  Fünftel  aller  andern  Personen 
zugerechnet  werden.  Die  Zählung  soll  innerhalb  drei 
Jahren  nach  der  ersten  Versammlung  des  Kongresses  der 
Vereinigten  Staaten  stattfinden  und  innerhalb  eines  jeden 
darauffolgenden  Zeitraums  von  zehn  Jahren  in  der  Art  und 
Weise,  wie  es  der  Kongrefs  durch  Gesetz  bestimmen  wird. 
Die  Zahl  der  Repräsentanten  soll  einen  auf  je  30000 
Einwohnern  nicht  überschreiten,  doch  soll  jeder  Staat 
wenigstens  einen  Repräsentanten  haben. 

Bis  eine  Zählung  vorgenommen  ist,  soll  der  Staat 
New -Hampshire  3  Repräsentanten  zu  wählen  berechtigt 
sein;  Massachussetts  8;  Rhode -Island  und  Providence- 
Plantations  1;  Connecticut  5 ;  New  York  6;  New  Jersey  4; 
Pennsylvania  8;  Delaware  1;  Maryland  6;  Virginia  10; 
North-Carolina  5;  South-Carolina  5  und  Georgia  3. 

§  4.  Wenn  in  der  Vertretung  irgend  eines  Staates  ein 
Mandat  erledigt  ist,  soll  die  vollziehende  Gewalt  desselben 
zur  Wiederbesetzung  der  erledigten  Stelle  Neuwahlen  aus- 
schreiben. 

§  5.  Das  Haus  der  Repräsentanten  wählt  seinen 
Sprecher   und   seine  anderen  Beamten  und   hat  das  aus- 

16* 


244  Hintrager. 

schliefsliche  Recht  der  politischen  Anklage  gegen  Bundes- 
beamte. 

Abschnitt  III. 

§  1.  Der  Senat  der  Vereinigten  Staaten  soll  aus  je 
zwei  Senatoren  von  jedem  der  Staaten  bestehen,  welche 
durch  deren  gesetzgebende  Versammlungen  auf  sechs 
Jahre  zu  erwählen  sind ,  und  jeder  Senator  soll  eine 
Stimme  haben. 

§  2.  Unmittelbar  nach  der  ersten  Wahl  soll  der  Senat 
versammelt  und  so  gleichmäfsig  als  möglich  in  drei 
Klassen  geschieden  werden.  Die  Sitze  der  Senatoren  der 
ersten  Klasse  sollen  nach  Ablauf  des  zweiten  Jahres,  die 
der  zweiten  Klasse  nach  Ablauf  des  vierten  und  die  der 
dritten  Klasse  nach  Ablauf  des  sechsten  Jahres  erledigt 
sein,  so  dafs  ein  Drittel  derselben  alle  zwei  Jahre  durch 
Neuwahl  ersetzt  wird.  Wenn  Mandate  durch  Verzicht  oder 
auf  andere  Weise  sieh  erledigen,  während  die  gesetzgebende 
Versammlung  eines  Staates  nicht  beisammen  ist,  so  soll 
die  vollziehende  Gewalt  desselben  vorläufige  Ernennungen 
bis  zum  nächsten  Zusammentritt  der  gesetzgebenden  Ver- 
sammlung eintreten  lassen;  diese  hat  dann  die  erledigten 
Stellen  wieder  zu  besetzen. 

§  3.  Niemand  darf  zum  Senator  ernannt  werden,  der 
nicht  das  30.  Lebensjahr  vollendet  hat  und  seit  neun  Jahren 
Bürger  der  Vereinigten  Staaten  ist,  und  der  nicht  zurzeit 
seiner  Erwählung  ein  Einwohner  desjenigen  Staates  war,, 
von  welchem  er  erwählt  wurde. 

§  4.  Der  Vizepräsident  der  Vereinigten  Staaten  soll 
Präsident  des  Senats  sein ,  jedoch  keine  Stimme  haben,: 
aufser  bei  Stimmengleichheit. 

§  5.  Der  Senat  soll  seine  andern  Beamten  selbst  er- 
wählen und  ebenso  einen  zeitweiligen  Präsidenten,  der  den 
Vorsitz    führt    in   Abwesenheit    des  Vizepräsidenten    oder 


Zweiter  Anhang.  245 


für  den  Fall,  dafs  dieser  das  Amt  des  Präsidenten  der 
Vereinigten  Staaten  zu  bekleiden  hat. 

§  6.  Der  Senat  soll  das  ausschliefsliche  Recht  haben, 
auf  politische  Anklagen  des  Repräsentantenhauses  das  Ur- 
teil zu  fällen.  Wenn  der  Senat  zu  diesem  Zwecke 
Sitzungen  hält ,  sollen  die  Senatoren  durch  Eid  oder  Ver- 
sicherung an  Eidesstatt  verpflichtet  werden.  Sollte  der 
Präsident  der  Vereinigten  Staaten  in  Anklagestand  versetzt 
werden,  so  soll  der  Oberrichter  den  Vorsitz  führen;  nie- 
mand soll  für  schuldig  erklärt  werden  ohne  die  Zu- 
stimmung von  zwei  Dritteln  der  anwesenden  Senatoren. 

§  7.  Das  Urteil  darf  in  solchen  Fällen  nur  auf  Amts- 
entsetzung und  auf  Unfähigkeit  zur  Bekleidung  eines  be- 
soldeten oder  eines  Ehrenamts  oder  zum  Genufs  eines  Ein- 
kommens unter  der  Hoheit  des  Bundes  lauten;  doch  soll 
der  Verurteilte  nichtsdestoweniger  vor  den  ordentlichen 
Oerichten  dem  Gesetze  gemäfs  in  Untersuchung  gezogen, 
angeklagt,  verurteilt  und  bestraft  werden  können. 

Abschnitt  IV. 

§  1.  Zeit,  Ort  und  Art  der  Erwählung  der  Senatoren 
und  Repräsentanten  sollen  in  jedem  Staate  von  der  gesetz- 
gebenden Versammlung  desselben  bestimmt  werden;  doch 
darf  der  Kongrefs  zu  jeder  Zeit  durch  Gesetze  derartige 
Bestimmungen  ändern ,  mit  Ausnahme  der  zur  Wahl  der 
Senatoren  bestimmten  Orte. 

§  2.  Der  Kongrefs  soll  sich  wenigstens  einmal  im 
Jahre  versammeln,  und  diese  Versammlung  soll  am  ersten 
Montag  des  Dezember  stattfinden,  wofern  nicht  durch  Ge- 
setz ein  anderer  Tag  dafür  bestimmt  wird. 

Abschnitt  V. 

§  1.  Jedem  Hause  steht  die  Entscheidung  über  die 
Gültigkeit  der  Wahlen,   der  Wahlprotokolle  und  über  die 


246  Hintrager. 

Wahlfähigkeit  seiner  eigenen  Mitglieder  zu.  Jedes  Haus 
ist  beschhifsfähig,  wenn  die  Mehrzahl  der  dem  Hause  an- 
gehörenden Mitglieder  anwesend  ist;  eine  kleinere  Zahl 
soll  sich  von  einem  Tage  zum  andern  vertagen  können 
und  berechtigt  sein,  das  Erscheinen  abwesender  Mitglieder 
in  der  Art  und  durch  solche  Strafen  zu  erzwingen,  wie 
es  von  jedem  Haus  festgesetzt  wird. 

§  2.  Jedes  Haus  darf  seine  "Geschäftsordnung  selbst 
bestimmen,  seine  Mitglieder  wegen  ordnungswidrigen  Be- 
nehmens bestrafen  und  durch  Beschlufs  einer  Zweidrittel- 
Mehrheit  ein  Mitglied  ausschliefsen. 

§  3.  Jedes  Haus  soll  ein  Protokoll  seiner  Ver- 
handlungen führen  und  dasselbe  von  Zeit  zu  Zeit  ver- 
öffentlichen ,  mit  Ausnahme  solcher  Teile ,  die  nach  der 
Entscheidung  des  Hauses  Geheimhaltung  erfordern.  Bei 
Abstimmungen  sind  die  Stimmen  der  Mitglieder  eines  jeden 
Hauses  auf  Verlangen  des  fünften  Teiles  der  gegen- 
wärtigen Mitglieder  in  dem  Protokoll  zu  vermerken. 

§  4.  Keines  der  Häuser  darf  während  der  Dauer  des 
Kongresses  ohne  die  Zustimmung  des  anderen  sich  auf 
länger  als  drei  Tage  vertagen  noch  an  einem  andern  Orte 
tagen  als  demjenigen,  an  dem  beide  Häuser  ihre  Sitzungen 
abhalten. 

Abschnitt  VI. 

§  1.  Die  Senatoren  und  Repräsentanten  sollen  eine 
Entschädigung  für  ihre  Dienstleistungen  erhalten,  die 
durch  Gesetz  bestimmt  und  aus  der  Staatskasse  der  Ver- 
einigten Staaten  bezahlt  wird.  Sie  dürfen  in  keinem  Falle, 
ausgenommen  bei  Hochverrat,  mit  Todesstrafe  bedrohten 
Verbrechen  und  Verletzungen  der  öffentlichen  Ordnung, 
während  ihrer  Teilnahme  an  den  Sitzungen  des  betreffenden 
Hauses,  sowie  während  der  Hin-  und  Rückreise  verhaftet 
werden,  auch  dürfen  sie  wegen  einer  Rede  oder  Äufserung 


Zweiter  Anhang.  247 


in   einem  der  beiden  Häuser  an  einem  andern  Orte  nicht 
zur  Verantwortung  gezogen  werden. 

§  2.  Kein  Senator  oder  Repräsentant  darf  während 
der  Zeit,  für  die  er  gewählt  worden  ist,  für  ein  unter  der 
Hoheit  der  Vereinigten  Staaten  stehendes  bürgerliches 
Amt  ernannt  werden  ,  das  erst  geschaffen  worden  ist  oder 
dessen  Einkünfte  während  der  genannten  Zeit  erhöht 
worden  sind.  Niemand,  der  irgend  ein  Amt  unter  der 
Hoheit  der  Vereinigten  Staaten  bekleidet,  darf  während 
seiner  Amtsdauer  Mitglied  eines  der  beiden  Häuser  sein. 

Abschnitt  VII. 

§  1.  Gesetzesentwürfe  über  die  Beschaffung  von 
Staatseinkünften  können  nur  von  dem  Hause  der  Re- 
präsentanten ausgehen,  doch  kann  der  Senat,  wie  bei 
andern  Gesetzesentwürfen,  Zusätze  oder  Abänderungen  be- 
schliefsen. 

§  2.  Jeder  Gesetzentwurf,  der  in  dem  Hause  der  Re- 
präsentanten und  im  Senat  durchgegangen  ist,  soll,  bevor 
er  zum  Gesetz  wird,  dem  Präsidenten  der  Vereinigten 
Staaten  vorgelegt  werden;  billigt  er  denselben,  so  hat  er 
ihn  zu  unterzeichnen;  andernfalls  sendet  er  ihn  mit  seinen 
Einwendungen  dem  Hause  zurück,  aus  welchem  er  hervor- 
gegangen ist.  Dieses  Haus  vermerkt  die  Einwendungen 
ausführlich  im  Sitzungsprotokoll  und  hat  den  Entwurf 
nochmaliger  Beratung  zu  unterwerfen.  Wenn  dann  nach 
solcher  Wiederberatung  zwei  Drittel  des  Hauses  be- 
schliefsen ,  den  Entwurf  anzunehmen ,  wird  er  samt  den 
Einwendungen  des  Präsidenten  dem  andern  Hause  zu- 
gesendet. Dieses  unterzieht  den  Entwurf  gleichfalls  einer 
neuen  Beratung.  Wird  der  Entwurf  von  einer  Zweidrittel- 
Mehrheit  dieses  Hauses  genehmigt,  so  wird  er  Gesetz.  In 
allen  solchen  Fällen  aber  sollen  die  Stimmen  beider  Häuser 


248  Hintrager. 

durch  Ja  und  Nein  abgegeben  und  die  Namen  derer,  die 
für  oder  gegen  den  Entwurf  gestimmt  haben,  in  das 
Sitzungsprotokoll  eingetragen  werden.  Wenn  ein  Entwurf 
vom  Präsidenten  nicht  innerhalb  zehn  Tagen  (Sonntage 
nicht  gerechnet)  zurückkommt,  nachdem  er  demselben 
übergeben  worden  ist,  so  soll  er  ebenso  Gesetzeskraft  er- 
halten, als  ob  er  vom  Präsidenten  unterzeichnet  wäre,  es 
sie  denn ,  der  Kongrefs  verhindere  durch  seine  Vertagung 
deren  Rückkunft.  In  diesem  Falle  wird  der  Entwurf 
nicht  Gesetz. 

§  3.  Jede  Anordnung,  jeder  Beschlufs  oder  jede  Ab- 
stimmung, zu  der  die  Zusammenwirkung  von  Senat  und 
Repräsentantenhaus  notwendig  ist  (ausgenommen  wenn  es 
sich  um  Vertagungsbeschlüsse  handelt),  mufs  dem  Präsi- 
denten der  Vereinigten  Staaten  vorgelegt  werden  und  er- 
langt erst  Wirksamkeit,  wenn  er  sie  genehmigt  hat.  Ver- 
sagt er  die  Genehmigung,  so  kann  die  Wiederannahme 
durch  eine  Zweidrittelmehrheit  des  Senats  und  des  Re- 
präsentantenhauses erfolgen,  übereinstimmend  mit  den  für 
Gesetzentwürfe  vorgeschriebeneu  Bestimmungen. 

Abschnitt  VTII. 

Der  Kongrefs  ist  zuständig: 

§  1.  Abgaben,  Zölle,  Auflagen  und  Steuern  fest- 
zusetzen und  beizutreiben,  um  die  Staatsschulden  zu  be- 
^ahleji  und  für  die  gemeinsame  Verteidigung  und  allge- 
meine Wohlfahrt  der  Vereinigten  Staaten  Fürsorge  zu 
treffen ;  aber  alle  Zölle ,  Auflagen  und  Steuern  sollen 
durchaus  gleich  im  ganzen  Gebiet  der  Vereinigten 
Staaten  sein. 

§  2.  Anleihen  auf  den  Kredit  der  Vereinigten  Staaten 
aufzunehmen. 


Zweiter  Anhaue:.  249 


§  3.  Den  Handel  mit  fremden  Nationen  und  zwischen 
den  einzelnen  Staaten  und  mit  den  Indianerstämmen  zu  regeln. 

§4.  Gleichförmige  Vorschriften  über  die  Naturalisation 
und  gleichförmige  Gesetze  über  den  Bankerott  zu  erlassen. 

§  5.  Münzen  zu  prägen,  deren  Wert  sowie  den  Wert 
fremden  Geldes  zu  bestimmen  und  das  Mafs-  und  Gewichts- 
system zu   ordnen. 

§  6*  Bestimmungen  zu  treffen  für  die  Bestrafung  der 
Fälschung  von  Papier-  und  Metallgeld  der  Vereinigten 
Staaten. 

§  7.  Postämter  zu  errichten  und  Poststrafsen  an- 
zulegen. 

§  8.  Den  Fortschritt  von  Kunst  und  Wissenschaft  da- 
durch zu  fördern,  dafs  er  den  Schriftstellern  und  Erfindern 
das  ausschliefsliche  Recht  ihrer  Schriften  und  Entdeckungen 
auf  bestimmte  Zeit  sichert. 

§  9.  Gerichtshöfe  zu  errichten,  die  dem  obersten  Ge- 
richtshof untergeordnet  sind. 

§  10.  Strafbestimmungen  gegen  Seeräuberei  und  auf 
hoher  See  begangene  Verbrechen,  sowie  gegen  Verletzungen 
des  Völkerrechts  zu  erlassen. 

§  11.  Krieg  zu  erklären,  Kaperbriefe  auszustellen  und 
hinsichtlich  der  Prisen  zu  Land  und  zu  Wasser  Vorschriften 
zu  erlassen. 

§  12.  Heere  auszuheben  und  zu  unterhalten;  doch 
dürfen  Geldmittel  zu  diesem  Zweck  nicht  für  einen  längeren 
Zeitraum  als  auf  zwei  Jahre  bewilligt  werden. 

§  13.    Eine  Flotte  zu  schaffen  und  zu  unterhalten. 

§  14.  Bestimmungen  über  die  Leitung  und  Verwaltung 
der  Seemacht  zu  treffen. 

§  15.  Vorschriften  über  das  Aufgebot  der  Miliz  zu 
erlassen,  um  die  Gesetze  der  Union  zu  vollstrecken,  Auf- 
stände zu  unterdrücken  und  feindliche  Einfälle  abzuwehren. 


250  Hintrager. 

§  16.  Fürsorge  zu  treffen  für  die  Organisierung,  Be- 
waff'nung  und  Ausbildung  der  Miliz  und  für  die  Be- 
fehligung  desjenigen  Teiles  derselben ,  der  im  Dienst  der 
Vereinigten  Staaten  verwendet  wird,  vorbehaltlich  des 
Rechts  der  einzelnen  Staaten,  die  Offiziere  zu  ernennen 
und  die  Miliz  nach  den  von  dem  Kongrefs  gegebenen  Vor- 
schriften auszubilden. 

§  17.  In  allen  Fällen  die  ausschliefsliche  Gesetzgebung 
über  einen  Distrikt  (der  nicht  zehn  Quadratmeilen  über- 
schreiten soll)  auszuüben ,  der  durch  Cession  einzelner 
Staaten  und  durch  Genehmigung  des  Kongresses  Sitz 
der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  werden  soll,  und 
die  gleiche  Hoheit  über  alle  Plätze  auszuüben,  die  mit 
Zustimmung  der  gesetzgebenden  Versammlung  des  be- 
treff'enden  Staats  für  die  Errichtung  von  Festungen, 
Magazinen ,  Zeughäusern ,  Schiff'swerften  und  anderen  not- 
wendigen Baulichkeiten  erworben  worden  sind ;  und 

§  18  alle  Gesetze  zu  erlassen ,  welche  notwendig  und 
geeignet  sind,  die  vorstehenden  und  alle  anderen  Befugnisse 
auszuüben,  die  durch  diese  Verfassung  der  Regierung  der 
Vereinigten  Staaten  oder  irgend  einem  Departement  oder 
Beamten  derselben  zustehen. 

Abschnitt  IX. 

§  1.  Die  Einwanderung  oder  Einführung  von  Personen, 
die  zuzulassen  einer  der  jetzt  bestehenden  Staaten  für 
zweckmäfsig  hält,  soll  von  dem  Kongrefs  vor  dem  Jahr  1808 
nicht  verhindert  werden.  Es  kann  aber  auf  diese  Ein- 
führung eine  Steuer  oder  Abgabe  gelegt  werden,  welche 
10  $  für  die  Person  nicht  überschreiten  soll. 

§  2.  Das  Vorrecht  der  Habeas-Corpus-Akte  soll  nicht 
aufgehoben  werden,  es  sei  denn,  dafs  in  Fällen  eines  Auf- 
ruhrs oder  feindlichen  Einfalls  die  öff"entliche  Sicherheit 
es  fordere. 


Zweiter  Anhang.  251 


§  3.  Gesetze,  die  eine  strafgerichtliche  Verurteilung 
enthalten,  und  Gesetze  mit  rückwirkender  Kraft  dürfen 
nicht  erlassen  werden. 

§  4.  Keine  Kopfsteuer  oder  andere  direkte  Steuer 
darf  auferlegt  werden,  die  nicht  im  Verhältnis  zur  Be- 
völkerungszahl oder  der  weiter  oben  verfügten  Berechnung 
der  Bevölkerung  auf  die  Staaten  verteilt  wird. 

§  5.  Auf  Gegenstände,  die  von  einem  Staate  aus- 
geführt werden,  dürfen  Zölle  oder  Abgaben  nicht  gelegt 
werden. 

§  6.  Die  Häfen  des  einen  Staats  dürfen  durch  handels- 
politische Mafsnahmen  oder  Zollgesetze  vor  denen  eines 
anderen  nicht  bevorzugt  werden ,  noch  dürfen  Schiffe ,  die 
von  oder  zu  einem  Staate  fahren,  gezwungen  werden,  in 
einem  anderen  Staate  anzulaufen,  zu  löschen  oder  Abgaben 
zu  entrichten. 

§  7.  Gelder  dürfen  nur  infolge  gesetzlicher  Bewilligung 
aus  dem  Staatsschatz  genommen  werden;  eine  Zusammen- 
stellung der  Einnahmen  und  Ausgaben  an  öffentlichen 
Geldern  ist  von  Zeit  zu  Zeit  zu  veröffentlichen. 

§  8.  Die  Vereinigten  Staaten  dürfen  keinen  Adel  ver- 
leihen. Niemand,  der  unter  der  Hoheit  der  Vereinigten 
Staaten  eine  besoldete  oder  eine  Ehrenstelle  bekleidet,  darf 
ohne  Genehmigung  des  Kongresses  Geschenke,  Bezüge, 
Ämter  oder  Titel  irgend  welcher  Art  von  einem  Könige, 
Fürsten  oder  fremden  Staate  annehmen. 

Abschnitt  X, 

§  1.  Dem  einzelnen  Staat  ist  es  verboten,  in  irgend 
ein  Vertrags-  oder  Bundesverhältnis  zu  treten  oder  Bünd- 
nisse untereinander  zu  schliefsen ,  Kaperbriefe  zu  erteilen, 
Münzen  zu  prägen,  Staatspapiere  in  Umlauf  zu  setzen  oder 
ein   anderes  Zahlungsmittel   als  Gold-  und  Silbergeld  zur 


252  Hintrager. 

Bezahlung  von  Schulden  zu  verwenden.  Ferner  darf  kein 
Staat  ein  Gesetz,  das  eine  strafgerichtliche  Verurteilung 
enthält,  oder  ein  solches  mit  rückwirkender  Kraft  erlassen 
oder  durch  ein  Gesetz  die  Verbindlichkeit  von  Verträgen 
mindern  oder  Adel  verleihen. 

§  2.  Kein  Staat  darf  ohne  Zustimmung  des  Kongresses 
Zölle  oder  Abgaben  auf  Ein-  und  Ausfuhr  legen ,  aus- 
genommen insoweit  dies  zur  Durchführung  seiner  Kontroll- 
gesetze durchaus  notwendig  ist.  Der  Reinertrag  aller  Ab- 
gaben und  Zölle,  die  in  irgend  einem  Staate  auf  Ein-  oder 
Ausfuhr  gelegt  sind,  fiiefst  in  den  Staatsschatz  der 
Vereinigten  Staaten.  Alle  diese  Kontrollgesetze  sind  der 
Abänderung  seitens  des  Kongresses  unterworfen. 

§  3.  Kein  Staat  darf  ohne  Zustimmung  des  Kongresses 
Tonnengeld  auferlegen ,  Truppen  oder  Kriegsschiffe  in 
Friedenszeiten  halten,  irgend  eine  Übereinkunft  oder  einen 
Vertrag  mit  einem  anderen  Staate  oder  mit  einer  fremden 
Macht  festsetzen  oder  in  einen  Krieg  sich  einlassen,  es 
sei  denn,  er  würde  tatsächlich  angegriffen  oder  es  drohe 
ihm  eine  so  augenscheinliche  Gefahr,  dafs  kein  Verzug 
zulässig  ist. 

Artikel  II.    Die  vollziehende  Gewalt. 
Abschnitt  I. 

§  1.  Die  vollziehende  Gewalt  ruht  in  den  Händen 
eines  Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika. 
Er  bekleidet  sein  Amt  auf  die  Dauer  von  vier  Jahren  und 
wird  zugleich  mit  dem  Vizepräsidenten,  der  für  den 
gleichen  Zeitraum  gewählt  wird,  in  folgender  Art  gewählt : 

§  2.  Jeder  Staat  ernennt  auf  eine  von  seiner  gesetz- 
gebenden Versammlung  zu  bestimmende  Art  eine  Anzahl 
von  Wahlmännern,  die  der  ganzen  Zahl  der  Senatoren  und 
Repräsentanten  gleichkommt,  zu  der  der  Staat  im  Kongrefs 


Zweiter  Anhang.  253 


berechtigt  ist.  Ein  Semitor  oder  Repräsentant  oder  eine 
Person,  welche  ein  einträgliches  oder  Ehrenamt  unter  der 
Hoheit  der  Vereinigten  Staaten  bekleidet,  darf  zum  Wahl- 
mann nicht  ernannt  werden. 

§  3.  (Dieser  Paragraph  ist  1804  durch  Zusatzartikel  12 
ersetzt  worden.) 

§  4.  Der  Kongrefs  hat  die  Zeit  für  die  Wahl  der 
Wahlmänner  und  den  Tag  zu  bestimmen,  an  welchem  sie 
ihre  Stimmen  abzugeben  haben.  Dieser  Tag  soll  ein  und 
derselbe  in  der  ganzen  Union  sein. 

§  5.  Niemand  als  ein  eingeborener  Bürger  oder  jemand, 
der  zurzeit  der  Annahme  dieser  Verfassung  Bürger  der 
Vereinigten  Staaten  war,  ist  zum  Präsidenten  wählbar. 
Auch  kann  niemand  zu  diesem  Amt  erwählt  werden ,  der 
nicht  das  35.  Lebensjahr  vollendet  und  seit  14  Jahren  in 
den  Vereinigten  Staaten  seinen  Wohnsitz  hat. 

§  6.  Im  Fall  der  Amtsentsetzung  des  Präsidenten, 
seines  Todes,  seines  Rücktritts  oder  seiner  Unfähigkeit,  die 
Rechte  und  Pflichten  seines  Amtes  wahrzunehmen,  hat  der 
Vizepräsident  sein  Amt  zu  versehen.  Für  den  Fall  der 
Amtsentsetzung,  des  Todes,  des  Verzichts  oder  der  Unfähig- 
keit des  Präsidenten  sowohl  als  des  Vizepräsidenten  ist 
der  Kongrefs  zuständig,  durch  Gesetz  zu  bestimmen,  welcher 
Beamte  alsdann  die  Befugnisse  des  Präsidenten  ausüben 
soll.  Dieser  Beamte  hat  demgemäfs  das  Amt  des  Präsidenten 
zu  führen,  bis  die  Unfähigkeit  beseitigt  oder  ein  Präsident 
gewählt  sein  wird. 

§  7.  Der  Präsident  erhält  zu  bestimmten  Zeiten  für 
seine  Dienste  eine  Entschädigung,  die  während  der  Zeit, 
für  welche  er  erwählt  ist,  weder  erhöht  noch  verringert 
werden  darf.  Innerhalb  dieser  Zeit  darf  er  weder  von  den 
Vereinigten  Staaten  noch  von  einem  einzelnen  Staate  irgend 
welche  andere  Einkünfte  beziehen. 


254  Hintrager. 

§  8.  Bevor  er  sein  Amt  antritt,  hat  er  einen  Eid  oder 
ein  Gelöbnis  dahin  abzulegen: 

„Ich  schwöre  (oder  gelobe)  feierlich,  dafs  ich  das 
Amt  des  Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten  getreulich 
ausüben  und  nach  meinen  besten  Kräften  die  Ver- 
fassung der  Vereinigten  Staaten  erhalten,  schützen 
und  verteidigen  werde." 

Abschnitt  II. 

§  1.  Der  Präsident  ist  Oberbefehlshaber  der  Streit- 
kräfte der  Vereinigten  Staaten  zu  Wasser  und  zu  Lande, 
sowie  der  Miliz  der  einzelnen  Staaten ,  wenn  diese  zur 
Dienstleistung  für  die  Vereinigten  Staaten  einberufen  wird ; 
er  kann  von  den  leitenden  Beamten  jeder  Abteilung  über 
alle  Gegenstände,  die  sich  auf  die  Obliegenheiten  der  be- 
treffenden Abteilung  beziehen ,  eine  schriftliche  Äufserung 
einverlangen.  Auch  hat  er  das  Recht,  Strafaufschub  und 
Begnadigung  bei  strafbaren  Handlungen  gegen  die  Ver- 
einigten Staaten  zu  gewähren,  ausgenommen  im  Falle  eines 
Strafverfahrens  vor  dem  Senat  auf  Grund  einer  Anklage 
des  Repräsentantenhauses. 

§  2.  Er  hat  das  Recht,  unter  Beirat  und  mit  Zu- 
stimmung des  Senats  Verträge  zu  schliefsen,  vorausgesetzt, 
dafs  zwei  Drittel  der  gegenwärtigen  Senatoren  zustimmen. 
Ebenso  hat  er  unter  Beirat  und  mit  Zustimmung  des 
Senats  Botschafter,  andere  diplomatische  Vertreter,  die 
Konsuln,  die  Richter  des  höchsten  Gerichtshofs  und  alle 
anderen  Beamten  der  Vereinigten  Staaten  zu  ernennen, 
deren  Anstellung  nicht  auf  andere  Weise  in  dieser  Ver- 
fassung geregelt  ist.  Der  Kongrefs  kann  jedoch  gesetzlich 
die  Anstellung  aller  unteren  Beamten  dem  Präsidenten 
allein   oder  den  Gerichten   oder  den  Vorständen   der  ver- 


Zweiter  Anhang.  255 


schiedeneu  Abtei lungeu  überlassen,    insoweit   er   dies   für 
zweckmäfsig  erachtet. 

•  §  3.  Der  Präsident  hat  das  Recht ,  alle  Stellen ,  die 
während  der  Unterbrechung  der  Senatssitzungen  erledigt 
werden,  vorläufig  zu  besetzen.  Diese  Bestallungen  treten 
jedoch  am  Schlüsse  der  nächsten  Sitzungsperiode  des 
Senats  aufser  Kraft. 

Abschnitt  III. 

Der  Präsident  hat  dem  Kongrefs  von  Zeit  zu  Zeit 
Nachricht  über  die  Lage  der  Union  zu  geben  und  dessen 
Erwägung  solche  Mafsregeln  zu  empfehlen,  die  er  für  not- 
wendig und  zweckdienlich  hält;  er  darf  bei  aufserordentlichen 
Gelegenheiten  beide  Häuser  oder  eines  derselben  zusammen- 
berufen; im  Falle  von  Uneinigkeit  unter  ihnen  bezüglich 
der  Zeit  der  Vertagung  kann  er  sie  auch  so  lange  ver- 
tagen, als  es  ihm  nützlich  erscheint. 

Er  hat  Botschafter  und  andere  diplomatische  Vertreter 
zu  empfangen,  hat  Sorge  für  den  ordnungsmäfsigen  Vollzug 
der  Gesetze  zu  tragen  und  die  Bestallungen  aller  Beamten 
der  Vereinigten  Staaten  auszufertigen. 

Abschnitt  IV. 

Der  Präsident,  der  Vizepräsident  und  alle  bürgerlichen 
Beamten  der  Vereinigten  Staaten  werden  ihrer  Ämter  ent- 
setzt, wenn  sie  wegen  Hochverrats,  Bestechung  oder  anderer 
schwerer  Verbrechen  oder  Vergehen  vor  dem  Senat  an- 
geklagt und  von  demselben  verurteilt  werden. 

Artikel  III.    Die  richterliche  Gewalt. 
Abschnitt  I. 

Die  richterliche  Gewalt  der  Vereinigten  Staaten  liegt 
in  den  Händen  eines  obersten  Gerichtshofs  und  so  vieler 
Untergerichte  als  der  Kongrefs  von  Zeit  zu  Zeit  einsetzen 


256  Hintrager. 

will.  Die  Richter  des  obersten  Gerichtshofes  sowohl  als 
der  Untergerichte  werden  auf  Lebenszeit  ernannt.  Zu 
festgesetzten  Zeiten  erhalten  sie  für  ihre  Dienste  eine  Ent- 
schädigung, die  während  ihrer  Amtsdauer  nicht  verringert 
werden  darf. 

Abschnitt  II. 

§  1.  Die  richterliche  Gewalt  soll  sich  auf  alle  Fälle 
von  Gesetzesreeht  und  Billigkeitsrecht  erstrecken,  die  unter 
dieser  Verfassung,  unter  den  Gesetzen  der  Vereinigten 
Staaten  und  unter  den  Verträgen  entstehen,  die  unter  der 
Hoheit  derselben  geschlossen  sind;  auf  alle  Fälle,  welche 
Botschafter,  andere  diplomatische  Vertreter  oder  Konsuln 
betreifen,  auf  alle  Fälle  der  Admiralität  und  Seegerichts- 
barkeit; auf  Streitigkeiten,  in  denen  die  Vereinigten 
Staaten  Partei  sind;  auf  Streitigkeiten  zwischen  zwei  und 
mehreren  Staaten,  zwischen  einem  Staate  und  den  Bürgern 
eines  anderen  Staats ,  zwischen  Bürgern  verschiedener 
Staaten,  zwischen  Bürgern  desselben  Staats  über  Ansprüche 
auf  Land  auf  Grund  von  Rechtstiteln,  die  in  verschiedenen 
Staaten  erworben  wurden,  und  zwischen  einem  Staate  oder 
dessen  Bürgern  und  fremden  Staaten  oder  deren  Bürgern. 

§  2.  In  allen  Fällen ,  welche  Botschafter ,  andere 
diplomatische  Vertreter  und  Konsuln  betreffen,  und  in 
solchen,  in  welchen  ein  Staat  Partei  ist,  entscheidet  der 
oberste  Gerichtshof  in  erster  und  letzter  Instanz.  In  allen 
anderen  oben  erwähnten  Fällen  aber  entscheidet  der  oberste 
Gerichtshof  in  der  Berufungsinstanz  sowohl  in  Rechts-  als 
Tatfragen ,  und  zwar  mit  den  Ausnahmen  und  unter  An- 
wendung der  Prozefsordnung,  die  der  Kongrefs  festsetzt. 

§  3.  Die  Aburteilung  aller  Verbrechen,  mit  Ausnahme 
der  Anklagefälle  vor  dem  Senat,  erfolgt  durch  Geschworenen- 
gerichte, und  zwar  in  demjenigen  Staate,  in  dem  das  Ver- 
brechen  begangen    wurde.    Liegt  der  Begehungsort   nicht 


Zweiter  Anhang.  257 


in  einem  der  einzelnen  Staaten,  so  bestimmt  der  Kongrefs 
das  zuständige  Gericht. 

Abschnitt  III. 

§  1.  Hochverrat  gegen  die  Vereinigten  Staaten  besteht 
allein  in  der  Herbeiführung  eines  Krieges  gegen  dieselben 
oder  in  der  Gewährung  von  Hilfe  und  Unterstützung  an 
die  Feinde  derselben.  Niemand  darf  des  Hochverrats 
schuldig  erklärt  werden  ohne  die  eidliche  Aussage  zweier 
Zeugen  über  dieselbe  Tat,  ausgenommen  im  Falle  eines 
gerichtlichen  Geständnisses. 

§  2.  Der  Kongrefs  ist  zuständig,  die  Strafe  des  Hoch- 
verrats zu  bestimmen.  Mit  der  Verurteilung  wegen  Hoch- 
verrats darf  jedoch  der  Verlust  der  Rechtsfähigkeit  oder 
die  Vermögenseinziehung  auf  keine  längere  Zeit  verbunden 
werden  als  die  Lebensdauer  des  Verurteilten. 

Artikel  IT.    Verschiedene  Bestimmungen. 
Abschnitt  I. 

Öifentliche  Akten  und  Urkunden,  insbesondere  ge- 
richtliche Urkunden  eines  Staates,  sollen  in  jedem  anderen 
Staate  vollen  Glauben  haben.  Der  Kongrefs  kann  durch 
allgemeine  Gesetze  die  Art  der  Prüfung  und  die  Beweis- 
kraft solcher  Akten  und  Urkunden  bestimmen. 

Abschnitt  II. 

§  1.  Die  Bürger  eines  jeden  Staates  geniefsen  alle 
Vorrechte  und  Freiheiten  der  Bürger  in  den  verschiedenen 
Staaten. 

§  2.  Eine  Person,  die  in  einem  Staate  wegen  Hoch- 
verrats oder  eines  anderen  Verbrechens  verfolgt  wird, 
flüchtig  ist  und  in  einem  anderen  Staate  ergriffen  wird, 
soll  auf  Antrag  der  vollziehenden  Gewalt  des  Staates,  aus 

Hintrager.  17 


258  Hintrager. 

dem  sie  geflüchtet,  ausgeliefert  und  in  den  Staat  zurück- 
gebracht werden,  dem  die  Aburteilung  zusteht. 

§  3.  Niemand,  der  in  einem  Staate  zu  Dienst  oder 
Arbeit  nach  den  Gesetzen  gehalten  ist  und  in  einen 
anderen  entflieht,  soll  dort  infolge  irgend  eines  Gesetzes  oder 
einer  Bestimmung  von  diesem  Dienst  oder  dieser  Arbeit 
befreit  werden,  vielmehr  auf  Antrag  desjenigen,  dem  er 
jenen  Dienst  oder  jene  Arbeit  zu  leisten  verpflichtet  ist, 
ausgeliefert  werden. 

Abschnitt  m. 

§  1,  Neue  Staaten  können  durch  den  Kongrefs  in  die 
Union  aufgenommen  werden;  aber  es  darf  kein  neuer 
Staat  innerhalb  des  Hoheitsgebietes  eines  anderen  Staates 
gebildet  oder  errichtet  werden;  auch  darf  kein  Staat 
durch  Vereinigung  von  zwei  oder  mehr  Staaten  ge- 
bildet werden  ohne  die  Zustimmung  der  gesetzgebenden 
Versammlungen  der  betreifenden  Staaten  sowohl  als  des 
Kongresses. 

§  2.  Der  Kongrefs  ist  zuständig,  hinsichtlich  der 
Territorien  und  des  anderen  Eigentums  der  Vereinigten 
Staaten  Verfügungen  zu  treffen  und  diesbezügliche  An- 
ordnungen und  Bestimmungen  zu  erlassen.  Keine  Be- 
stimmung dieser  Verfassung  darf  so  ausgelegt  werden, 
dafs  dadurch  den  Ansprüchen  der  Vereinigten  Staaten  oder 
irgendeines  besonderen  Staates  Eintrag  geschehen  kann. 

Abschnitt  IV. 

Die  Vereinigten  Staaten  gewährleisten  jedem  Staat  in 
der  Union  eine  republikanische  Regierungsform ;  sie 
schützen  einen  jeden  derselben  gegen  feindliche  Angriffe 
und  auf  Ansuchen  der  gesetzgebenden  Versammlung  oder 
der  vollziehenden  Gewalt  (falls  jene  nicht  zusammenberufen 
werden  kann)  auch  gegen  Aufstände  im  Innern. 


Zweiter  Anhang.  259 


Artikel  Y.    Verfassungsänderung. 

Der  Kongrefs  hat,  wenn  zwei  Drittel  beider  Häuser  es 
für  notwendig  erachten,  Zusätze  zu  dieser  Verfassung  vor- 
zuschlagen oder  auf  das  Ansuchen  der  gesetzgebenden 
Versammlungen  von  zwei  Drittel  der  einzelnen  Staaten 
einen  Konvent  zu  diesem  Zwecke  zusammenzurufen.  In 
beiden  Fällen  gelten  diese  Abänderungen  ihrem  ganzen  In- 
halt und  Zwecke  nach  als  Teile  dieser  Verfassung,  sobald 
sie  durch  die  gesetzgebenden  Versammlungen  von  drei 
Vierteln  der  einzelnen  Staaten  oder  von  drei  Vierteln  der 
Mitglieder  der  Konvention  genehmigt  worden  sind,  je  nach- 
dem eine  oder  die  andere  Art  der  Genehmigung  vom 
Kongrefs  bestimmt  ist;  vorbehalten  wird,  dafs  keine  Ver- 
besserung, die  vor  dem  Jahre  1808  gemacht  wird,  den 
«rsten  und  vierten  Satz  im  neunten  Abschnitt  des  ersten 
Artikels  irgendwie  verletzen,  und  dafs  kein  Staat  ohne 
«eine  Einwilligung  seines  gleichen  Stimmrechtes  im  Senat 
beraubt  werden  darf. 

Artikel  VI.    Staatsschulden  u.  a. 

§  1.  Alle  vor  der  Annahme  dieser  Verfassung  ein- 
gegangenen Verbindlichkeiten  sollen  ebenso  gültig  gegen- 
über den  unter  dieser  Verfassung  vereinigten  Staaten  sein, 
wie  sie  es  unter  den  Konföderationsartikeln  waren. 

§  2.  Diese  Verfassung  und  alle  Gesetze  der  Ver- 
einigten Staaten ,  welche  gemäfs  derselben  erlassen 
werden,  und  alle  unter  Hoheit  der  Vereinigten  Staaten  ge- 
schlossenen oder  noch  zu  schliefsenden  Verträge  sollen  das 
oberste  Gesetz  des  Landes  sein,  und  die  Richter  eines  jeden 
Staates  sollen  durch  sie  gebunden  sein,  ungeachtet  aller 
etwa  entgegenstehenden  Bestimmungen  in  der  Verfassung 
oder  den  Gesetzen  irgend  eines  einzelnen  Staates. 

17* 


260  Hintrager. 

§  3.  Die  vorerwähnten  Senatoren  und  Repräsentanten, 
die  Mitglieder  der  gesetzgebenden  Versammlungen  der 
einzelnen  Staaten  und  alle  "Verwaltuugs-  und  richterlichen 
Beamten  der  Vereinigten  Staaten  sowohl  als  der  einzelnen 
Staaten  werden  durch  Eid  oder  Gelöbnis  zur  Aufrecht- 
erhaltung der  Verfassung  verpflichtet.  Doch  soll  ein 
religiöses  Bekenntnis  niemals  zur  Vorbedingung  für  die 
Bekleidung  eines  Amts  oder  einer  öffentlichen  Vertrauens- 
stellung unter  der  Hoheit  der  Vereinigten  Staaten  gemacht 
werden. 

Artikel  TU.    Annahme  der  Verfassung. 

Die  Annahme  seitens  neun  Staaten  ist  zur  Errichtung 
dieser  Verfassung  zwischen  den  annehmenden  Staaten  hin- 
reichend. 

Zusätze  und  Abänderungen. 

Artikel  I. 

Der  Kongrefs  darf  kein  Gesetz  erlassen,  welches  die 
Einführung  einer  Religion  bezweckt,  oder  die  freie  Aus- 
übung einer  Religion  hindert ,  oder  die  Freiheit  der  Rede 
oder  der  Presse  oder  das  Recht  des  Volkes  verkürzt,  sich 
friedlich  zu  versammeln  und  bei  der  Regierung  um  Abhilfe 
von  Beschwerden  nachzusuchen. 

Artikel  II. 

Da  eine  wohleingerichtete  Miliz  zur  Sicherheit  eines 
freien  Staates  notwendig  ist,  darf  das  Recht  des  Volkes, 
Waffen  zu  tragen,  nicht  beschränkt  werden. 

Artikel  III. 

Kein  Soldat  darf  in  Friedenszeiten  ohne  Zustimmung 
des   Eigentümers   in    ein   Haus   einquartiert   werden.     In 


Zweiter  Anhang.  261 


Kriegszeiten  darf  dies  nur  in  der  gesetzlich  vorgeschriebenen 
Weise  geschehen. 

Artikel  IT. 

Das  Recht  des  einzelnen ,  hinsichtlich  seiner  Person, 
seines  Hauses,  seiner  Papiere  und  seines  Eigentums  gegen 
unbegründete  Durchsuchungen  und  Beschlagnahmen  sicher 
zu  sein,  darf  nicht  verletzt  werden.  Ein  Haftbefehl  darf 
nur  erlassen  werden ,  wenn  ein  hinreichender,  durch  Eid 
oder  Gelöbnis  unterstützter  Verdachtsgrund  vorhanden  ist. 
Der  zu  durchsuchende  Ort  und  die  zu  verhaftenden  Per- 
sonen oder  zu  beschlagnahmenden  Gegenstände  sind  im 
Haftbefehl  zu  bezeichnen. 

Artikel  T. 

Niemand  soll  wegen  eines  todeswürdigen  oder  eines 
anderen  entehrenden  Verbrechens  zur  Verantwortung  ge- 
zogen werden,  es  sei  denn  auf  Grund  eines  Beschlusses 
oder  einer  Anklage  der  Grofsgeschworenen.  Ausgenommen 
ist  der  Fall  einer  Straftat  bei  der  Land-  oder  Seemacht 
oder  der  Miliz,  wenn  diese  in  Zeiten  des  Krieges  und  öffent- 
licher Gefahr  im  Dienst  sich  befindet.  Niemand  darf 
wegen  derselben  Straftat  zweimal  zur  Verantwortung  ge- 
zogen oder  genötigt  werden  ,  in  einer  Strafsache 
Zeugnis  gegen  sich  selbst  abzulegen,  oder  anders  als  auf 
dem  ordentlichen  Prozefswege  des  Lebens,  der  Freiheit 
oder  des  Eigentums  beraubt  werden.  Privateigentum  darf 
nur  gegen  gerechte  Entschädigung  für  öffentliche  Zwecke 
entzogen  werden. 

Artikel  VI. 

In  allen  Strafsachen  hat  der  Angeklagte  ein  Recht 
auf  eine  baldige  und  öffentliche  Verhandlung  vor  einer 
unparteiischen  Geschworenenbank  des  Staates  und  Bezirkes, 


26^  Hintrager. 

innerhalb  dessen  das  Verbrechen  begangen  wurde;  das  zu- 
ständige Gericht  mufs  vorher  gesetzlich  bestimmt  sein. 
Der  Angeklagte  ist  mit  dem  Gegenstand  und  Grund  der 
Anklage  bekannt  zu  machen  und  den  gegen  ihn  auftretenden 
Zeugen  gegenüber  zu  stellen;  er  kann  verlangen,  dafs  von 
Amts  wegen  Entlastungszeugen  geladen  werden,  und  dafs 
ihm  ein  rechtsgelehrter  Verteidiger  beigeordnet  wird. 

Artikel  TU. 

In  Sachen  des  bürgerlichen  Rechtes,  in  denen  der 
Streitwert  20  Dollars  übersteigt,  besteht  ein  Anspruch  auf 
Entscheidung  durch  Geschworene.  Keine  von  einem 
Schwurgericht  festgestellte  Tatsache  darf  von  irgend  einem 
Gerichtshof  der  Vereinigten  Staaten  auf  andere  Weise 
einer  Nachprüfung  unterzogen  werden  als  nach  den  Regeln 
des  gemeinen  Rechts. 

Artikel  VIII. 

Übermäfsige  Bürgschaften  dürfen  nicht  gefordert,  noch 
übermäfsige  Geldbufsen  auferlegt,  noch  grausame  und  un- 
gewöhnliche Strafen  verhängt  werden, 

Artikel  IX. 

Die  Aufzählung  bestimmter  Rechte  in  der  Verfassung 
soll  nicht  dahin  ausgelegt  werden,  dafs  dadurch  andere, 
dem  Volke  gebührende  Rechte  ausgeschlossen  oder  be- 
einträchtigt werden. 

Artikel  X. 

Die  Gewalten,  welche  den  Vereinigten  Staaten  durch 
die  Verfassung  nicht  übertragen  sind,  noch  durch  dieselbe 
den  Staaten  entzogen  wurden ,  sind  den  einzelnen  Staaten 
oder  dem  Volke  vorbehalten. 


Zweiter  Anhang.  263 


Artikel  XI. 

Die  richterliche  Gewalt  der  Vereinigten  Staaten  er- 
streckt sich  nicht  auf  Prozesse ,  die  nach  Gesetzesrecht 
oder  Billigkeitsrecht  zu  beurteilen  sind,  und  die  gegen 
einen  Staat  der  Vereinigten  Staaten  von  Bürgern  eines 
anderen  Staates,  oder  von  Bürgern  oder  Untertanen  irgend- 
eines fremden  Staates  anhängig  gemacht  werden. 

Artikel  XII. 

§  1.  Die  Wahlmänner  versammeln  sich  in  ihren 
Staaten  und  geben  Stimmzettel  für  den  Präsidenten  und 
Vizepräsidenten  ab,  von  denen  einer  wenigstens  kein  Ein- 
wohner ihres  eigenen  Staates  sein  darf.  Sie  bezeichnen 
auf  dem  einen  Stimmzettel  die  Person,  welche  sie  zum 
Präsidenten ,  und  auf  dem  andern  die  Person ,  welche  sie 
zum  Vizepräsidenten  wählen.  Ferner  legen  sie  getrennte 
Listen  über  alle  Personen  vor,  welche  zum  Präsidenten, 
und  über  alle,  welche  zum  Vizepräsidenten  Stimmen  erhielten, 
und  über  die  Zahl  der  für  jeden  abgegebenen  Stimmen,  welche 
Listen  sie  dann  unterzeichnen  und  versiegelt  nach  dem 
Sitz  der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  an  den  Präsi- 
denten des  Senats  schicken.  Der  Präsident  des  Senats 
öffnet  alsdann  in  Gegenwart  des  Senats  und  des  Hauses 
der  Repräsentanten  die  versiegelten  Urkunden.  Hierauf 
werden  die  Stimmen  gezählt.  Die  Person ,  welche  die 
gröfste  Zahl  der  für  den  Präsidenten  abgegebenen  Stimmen 
hat,  ist  Präsident,  wenn  diese  Zahl  die  Mehrheit  aller 
Wahlmänner  in  sich  schliefst.  Falls  jedoch  niemand  eine 
solche  Mehrheit  erhält,  so  wählt  sofort  das  Repräsentanten- 
haus durch  Stimmzettel  den  Präsidenten  aus  den  drei 
Personen,  welche  nach  der  Liste  die  meisten  Stimmen  als 
Präsident  erhalten  haben.     Bei  der  Wahl  des  Präsidenten 


264  Hintrager. 

werden  in  diesem  Falle  die  Stimmen  nach  Staaten  ab- 
gegeben ,  und  die  Vertretung  eines  jeden  Staates  hat  eine 
Stimme.  Die  beschlufsfähige  Stimmenzahl  besteht  zu  diesem 
Zwecke  aus  zwei  Dritteln  aller  Staaten.  Die  Mehrheit 
aller  Staaten  ist  zur  Wahl  notwendig.  Sollte  aber  im  ge- 
nannten Falle  das  Repräsentantenhaus  den  Präsidenten 
nicht  vor  dem  vierten  Tag  des  nächstfolgenden  März 
wählen,  so  versieht  der  Vizepräsident  das  Amt  des  Präsi- 
denten wie  im  Falle  des  Todes  oder  einer  anderen  ver- 
fassungsmäfsigen  Verhinderung  des  Präsidenten. 

§  2.  Die  Person,  welche  die  gröfste  Zahl  der  für  den 
Vizepräsidenten  abgegebenen  Stimmen  erhalten  hat,  ist  Vize- 
präsident, wenn  diese  Zahl  die  Mehrheit  aller  Wahlmänner 
in  sich  begreift.  Wenn  niemand  eine  solche  Mehrheit  er- 
halten hat,  so  wählt  der  Senat  den  Vizepräsidenten  aus 
den  beiden  Personen  auf  der  Liste,  für  die  die  meisten 
Stimmen  abgegeben  sind.  Die  zu  diesem  Zwecke  nötige 
Stimmenzahl  besteht  in  zwei  Dritteln  der  ganzen  Zahl  der 
Senatoren,  und  die  Mehrheit  aller  Senatoren  ist  zur  Wahl 
notwendig. 

§  3.  Niemand,  der  verfassungsmäfsig  zum  Amte  eines 
Präsidenten  nicht  wählbar  ist,  kann  zum  Vizepräsidenten 
•der  Vereinigten  Staaten  erwählt  werden. 

Artikel  XIII. 

§  1.  In  den  Vereinigten  Staaten  oder  in  einem  Ge- 
biete, das  ihrer  Hoheit  unterworfen  ist,  darf  weder 
Sklaverei  noch  unfreiwillige  Dienstbarbeit  bestehen,  aus- 
genommen als  Strafe  für  ein  Verbrechen,  dessen  die  be- 
treffende Person  im  ordentlichen  Verfahren  überführt 
worden  ist. 

§  2.  Der  Kongrefs  ist  zuständig,  diesen  Artikel  durch 
geeignete  Gesetze  zur  Durchführung  zu  bringen. 


Zweiter  Aubang.  265 


Artikel  XIY. 

-"  Abschnitt  I. 

Alle  Personen,  die  in  den  Vereinigten  Staaten  ge- 
boren oder  naturalisiert  und  ihrer  Hoheit  unterworfen 
sind,  sind  Bürger  der  Vereinigten  Staaten  und  des  Staates, 
in  welchem  sie  ihren  Wohnsitz  haben.  Kein  Staat  darf 
ein  Gesetz  erlassen  oder  durchführen,  welches  die  Vor- 
rechte oder  Freiheiten  der  Bürger  der  Vereinigten  Staaten 
schmälern  könnte;  auch  darf  kein  Staat  eine  Person  des 
Lebens,  der  Freiheit  oder  des  Eigentums  ohne  gesetzlichen 
Prozefs  berauben,  oder  irgend  einer  Person  innerhalb  seiner 
Gerichtsbarkeit  den  gleichen  Schutz  der  Gesetze  ver- 
weigern. 

Abschnitt  II. 

Die  Zahl  der  Repräsentanten  wird  den  einzelnen 
Staaten  nach  ihrer  Bevölkerungszahl  zugeteilt,  wobei  die 
volle  Zahl  der  in  einem  Staate  lebenden  Personen  mit 
Ausnahme  der  unbesteuerten  Indianer  gezählt  wird.  Wenn 
aber  bei  einer  Wahl  von  Wahlmännern  für  den  Präsidenten 
und  Vizepräsidenten  der  Vereinigten  Staaten,  bei  der  Wahl  der 
Repräsentanten  zum  Kongrefs,  oder  von  Verwaltungsbeamten 
und  richterlichen  Beamten,  oder  von  Mitgliedern  der  gesetz- 
gebenden Versammlung  eines  Staates  irgendwelchen  männ- 
lichen Bewohnern  eines  solchen  Staates,  die  21  Jahre  alt 
und  Bürger  der  Vereinigten  Staaten  sind,  das  Stimmrecht 
entzogen  oder  irgendwie  verkürzt  wird,  so  wird,  sofern 
dies  nicht  wegen  Beteiligung  an  einem  Aufstande  oder 
einem  anderen  Verbrechen  geschehen  ist,  die  Zahl  der 
Repräsentanten  dieses  Staates  verringert  nach  Mafsgabe 
des  Verhältnisses,  in  welchem  die  Zahl  solcher  männlicher 
Bürger  zu  der  ganzen  Zahl  einundzwanzigjähriger  Bürger 
in  dem  betreffenden  Staate  steht. 


266  Hintrager. 

Abschnitt  III. 

Niemand  darf  Kongrefsmitglied  oder  Wahlmann  für 
den  Präsidenten  oder  Vizepräsidenten  sein,  oder  irgend  ein 
bürgerliches  oder  militärisches  Amt  im  Dienste  der  Ver- 
einigten Staaten  oder  eines  einzelnen  Staates  bekleiden, 
der  —  sei  es  als  Mitglied  des  Kongresses  oder  als  Be- 
amter der  Vereinigten  Staaten  oder  als  Mitglied  der  ge- 
setzgebenden Versammlung  oder  als  Verwaltungs-  oder 
richterlicher  Beamter  eines  Einzelstaates  —  einen  Eid  auf 
die  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten  abgelegt  und  hier- 
auf an  einer  Empörung  oder  einem  Aufstande  gegen  sie 
teilgenommen  oder  ihren  Feinden  Beistand  geleistet  hat. 
Der  Kongrefs  kann  jedoch  durch  Beschlufs  einer  Zwei- 
drittelmehrheit eines  jeden  Hauses  diesen  Ausschliefsungs- 
grund  beseitigen. 

Abschnitt  IV. 

Die  Gültigkeit  der  öffentlichen,  in  gesetzlicher  Weise 
gemachten  Schulden  der  Vereinigten  Staaten ,  mit  Ein- 
schlufs  der  Schulden,  die  zur  Zahlung  von  Pensionen  und 
Belohnungen  für  Dienste  bei  Unterdrückung  von  Aufstand 
und  Rebellion  eingegangen  worden  sind,  darf  nicht  in 
Frage  gestellt  werden.  Dagegen  dürfen  weder  die  Ver- 
einigten Staaten  noch  ein  Einzelstaat  irgend  eine  Schuld 
übernehmen  oder  zahlen,  welche  zur  Förderung  von  Auf- 
ruhr oder  Rebellion  gegen  die  Vereinigten  Staaten  ein- 
gegangen worden  ist;  ebensowenig  eine  Forderung,  welche 
für  den  Verlust  oder  die  Freilassung  eines  Sklaven  er- 
hoben wird.  Alle  derartigen  Schulden ,  Verpflichtungen 
und  Forderungen  sind  als  ungesetzlich  und  nichtig  anzu- 
sehen. 

Abschnitt  V. 

Der  Kongrefs  ist  zuständig,  durch  geeignete  Gesetze 
die  Bestimmungen  dieses  Artikels  durchzuführen. 


Zweiter  Anhang.  267 


Artikel  XV. 

Das  Stimmrecht  eines  Bürgers  der  Vereinigten  Staaten 
darf  weder  von  den  Vereinigten  Staaten  noch  von  einem 
Einzelstaate  wegen  seiner  Abstammung,  Hautfarbe,  oder 
weil  er  vorher  ein  Sklave  war,  entzogen  oder  verkürzt 
werden. 

Der  Kongrefs  wird  ermächtigt,  die  Bestimmungen 
dieses  Artikels  durch  geeignete  Gesetzgebung  durch- 
zuführen. 


Dritter  Anhang. 

Washingtons  Absehiedsadresse  an  das  Volk  der 
Vereinigten  Staaten  von  Amerika. 

Freunde  und  Mitbürger! 

Da  die  Periode  für  die  Neuwahl  eines  Bürgers,  der 
die  vollziehende  Gewalt  der  Vereinigten  Staaten  aus- 
zuüben hat,  nicht  ferne  und  die  Zeit  schon  gekommen  ist, 
da  eure  Gedanken  sich  damit  beschäftigen  müssen,  die 
Person  zu  bestimmen,  welche  mit  diesem  wichtigen  Amte 
betraut  werden  soll,  so  scheint  es  mir  angezeigt,  besonders 
weil  es  zu  einem  bestimmteren  Ausdruck  der  öffentlichen 
Meinung  führen  dürfte,  dafs  ich  euch  Kenntnis  gebe  von 
meinem  Entschlüsse,  nicht  unter  der  Zahl  derjenigen  in 
Betracht  kommen  zu  wollen,  unter  denen  gewählt  werden  soll. 

Gleichzeitig  bitte  ich  euch,  mir  die  Gerechtigkeit 
widerfahren  zu  lassen,  die  Versicherung  anzunehmen,  dafs 
dieser  Entschlufs  nicht  gefafst  worden  ist  ohne  eine 
strikte  Rücksicht  auf  alle  Pflichten  eines  seinem  Lande 
treuen  Bürgers,  und  dafs  ich  —  was  Schweigen  in  meiner 
Lage  vermuten  lassen  könnte  —  bei  Zurückziehung  des 
Angebots  meiner  Dienste  nicht  beeinflufst  bin  durch  eine 
Verringerung  des  Eifers  für  euer  künftiges  Wohl,  auch 
nicht  durch  einen  Mangel  an  dankbarer  Anerkennung  der 
von  euch  erfahrenen  Güte;  ich  bin  vielmehr  erfüllt  von  der 


Dritter  Anhang.  269 


Überzeugung,  dafs  dieser  Schritt  sich  mit  meinem  Eifer 
„und  meiner  Dankbarkeit  vereinigen  läfst. 

Die  Annahme  und  die  Ausübung  des  Amtes,  zu  dem 
eure  Stimmen  mich  zweimal  berufen  haben,  war  für  mich 
ein  stetes  Aufopfern  meiner  Neigung  für  das  Pflichtgefühl 
und  die  Hingabe  an  das,  was  mir  als  euer  Wunsch  er- 
schien. 

Ich  hoffte  immer,  es  werde  früher  in  meiner  Macht 
liegen,  mich  wieder  in  die  Zurückgezogenheit  zu  begeben, 
der  ich  wider  meinen  Willen  entrissen  worden  bin.  So 
stark  ist  dieser  Wunsch  vor  der  letzten  Wahl  gewesen, 
dafs  er  zur  Ausarbeitung  einer  Adresse  führte,  um  ihn 
euch  zu  erklären ;  aber  die  reifliche  Erwägung  des  damals 
kritischen  Standes  unserer  Beziehungen  zu  fremden 
Völkern  und  der  einstimmige  Rat  von  Menschen ,  die  ein 
Recht  auf  mein  Vertrauen  haben ,  zwangen  mich  den  Ge- 
danken aufzugeben.  Ich  freue  mich,  dafs  die  Lage  eurer 
äufseren  und  inneren  Angelegenheiten  mir  es  nicht  länger 
unmöglich  macht ,  Neigung  und  Pflichtgefühl  in  Einklang 
zu  bringen ,  und  ich  bin  überzeugt,  dafs  ihr  bei  der  gegen- 
wärtigen Lage  unseres  Landes  meinen  Entschlufs,  mich 
zurückzuziehen,  nicht  mifsbilligen  werdet. 

Die  Gefühle,  mit  denen  ich  einst  zum  ersten  Male 
dies  schwere  Amt  übernahm ,  habe  ich  bei  der  geeigneten 
Gelegenheit  dargelegt.  In  der  Bekleidung  desselben  habe 
ich  mit  den  besten  Absichten  und  mit  den  Kräften,  deren 
ein  sehr  fehlbares  Urteil  fähig  ist,  bei  der  Organisation 
und  Verwaltung  unseres  Staatswesens  mitgewirkt.  Von 
vornherein  war  ich  mir  der  Mangelhaftigkeit  meiner 
Fähigkeiten  bewufst;  Erfahrung  hat  in  mir  —  vielleicht 
noch  mehr  als  in  anderen  —  die  Gründe  verstärkt,  mir 
selbst  zu  mifstrauen ,  und  täglich  mahnt  mich  das 
wachsende  Gewicht  der  Jahre  mehr  und  mehr  daran,  dafs 


270  Hintrager. 

der  Schatten  der  Zurückgezogeüheit  ebenso  notwendig  für 
mich  ist ,  als  er  mir  willkommen  sein  wird.  Ich  weifs, 
dafs,  wenn  irgendwelche  Umstände  meinen  Diensten  be- 
sonderen Wert  verliehen  haben,  diese  vorübergehend  waren, 
und  ich  tröste  mich  in  dem  Glauben,  dafs  die  Liebe  zum 
Vaterland  meinen  Abschied  vom  politischen  Leben  nicht 
verbietet,  zu  dem  Neigung  und  Klugheit  mich  einladen. 

So  sehr  ich  auch  den  Augenblick  herbeisehne,  in  dem 
die  Laufbahn  meines  öffentlichen  Lebens  enden  soll ,  so 
läfst  mein  Gefühl  mich  doch  keinen  Augenblick  die  Schuld 
der  Dankbarkeit  vergessen  für  die  vielen  Ehren,  die  mein 
geliebtes  Vaterland  auf  mich  gehäuft  hat,  mehr  noch  für 
das  stetige  Vertrauen ,  das  es  mir  entgegenbrachte ,  und 
für  die  Gelegenheiten,  deren  ich  mich  erfreute,  meine  un- 
wandelbare Liebe  zu  zeigen  durch  treue  und  ausdauernde 
Dienste,  deren  Nützlichkeit  nicht  meinem  Eifer  gleichkam. 
Wenn  diese  Dienste  unserem  Lande  genützt  haben,  so  lafst 
es  zu  eurem  Lobe  und  als  ein  lehrreiches  Beispiel  in 
unserer  Geschichte  gesagt  sein,  dafs  —  inmitten  der  Er- 
regung irreführender  Leidenschaften,  inmitten  von  zweifel- 
haften, oft  entmutigenden  Erscheinungen  des  wandelbaren 
Schicksals,  inmitten  von  Situationen,  in  denen  oft  der 
Mangel  an  Erfolg  den  Geist  der  Kritik  ermutigte  —  eure 
stetige  Unterstützung  allein  es  gewesen  ist,  die  die 
Richtigkeit  der  verfolgten  Pläne  bewies  und  deren  Aus- 
führung garantierte.  Dieser  Gedanke,  von  dem  ich  tief 
durchdrungen  bin,  wird  mich  bis  ins  Grab  begleiten 
als  ein  starker  Anreiz  für  die  unablässigen  Wünsche: 
dafs  der  Himmel  euch  auch  fernerhin  mit  seinen  besten 
Gaben  segne;  dafs  eure  Union  und  eure  brüderliche 
Zuneigung  immer  bestehe;  dafs  die  freie  Verfassung, 
die  das  Werk  eurer  Hände  ist,  heilig  gehalten  werde; 
dafs    eure    Regierung     in    allen    Teilen    gekennzeichnet 


Dritter  Anhang.  271 


sein  möge  durch  Weisheit  und  Tugend,  mit  einem  Worte, 
.dafs  unter  den  Auspizien  der  Freiheit  das  Glück  des 
Volkes  dieser  Staaten  vollkommen  werde  durch  eine 
solch  vorsichtige  Wahrung  und  einen  solch  weisen  Gebrauch 
der  Segnungen  der  Freiheit,  dafs  dies  Volk  den  Ruhm 
haben  möge,  allen  Nationen,  denen  diese  Segnungen  noch 
fremd  sind,  als  ein  empfehlenswertes,  nachahmungswtirdiges 
Vorbild  zu  erscheinen. 

Hier  sollte  ich  vielleicht  schliefsen;  allein  die  Sorge 
für  euer  Wohl,  die  nur  mit  meinem  Leben  enden  kann, 
und  die  daraus  entspringende  Ahnung  von  Gefahren 
drängen  mich ,  bei  dieser  Gelegenheit  euch  zu  ernster, 
häufiger  Erwägung  einige  Gedanken  zu  empfehlen,  die  das 
Resultat  von  viel  Überlegung  und  nicht  unbedeutsamer 
Beobachtungen  sind,  und  die  mir  überaus  wesentlich  er- 
scheinen für  die  Dauer  eures  nationalen  Glücks.  Ich 
biete  sie  euch  dar  mit  um  so  gröfserer  Freiheit,  als  ihr 
in  denselben  nur  die  uneigennützigen  Warnungen  eines 
scheidenden  Freundes  erblicken  könnt,  der  unmöglich  aus 
persönlichen  Gründen  in  seinem  Rate  parteiisch  sein  kann. 
Auch  ermutigt  mich  die  Erinnerung  an  die  nachsichtige 
Aufnahme,  die  der  Ausdruck  meiner  Gefühle  bei  einer 
früheren,  ähnlichen  Gelegenheit  bei  euch  gefunden  hat. 

Da  jede  Faser  eurer  Herzen  durchdrungen  ist  von  der 
Liebe  zur  Freiheit,  bedarf  es  keiner  Empfehlung  meiner- 
seits, diese  Liebe  in  euch  zu  stärken  und  zu  festigen. 

Die  Einheit  der  Regierung,  die  euch  zu  einem  Volke 
macht,  ist  euch  nunmehr  ebenfalls  teuer.  Mit  Recht, 
denn  sie  ist  eine  Hauptstütze  des  Gebäudes  eurer  wirklichen 
Unabhängigkeit,  —  die  Stütze  eurer  Ruhe  im  Innern  und 
eures  Friedens  nach  aufsen,  eurer  Wohlfahrt,  eben  dieser 
eurer  Freiheit,   die   ihr  so  hoch  schätzet.     Allein  es  ist 


272  Hintrager. 

leicht  vorauszusehen,  dafs  aus  verschiedenen  Gründen  und 
von  verschiedenen  Seiten  viele  Versuche  und  Anstrengungen 
gemacht  werden ,  um  in  eurem  Geiste  die  Überzeugung 
von  dieser  Wahrheit  zu  schwächen.  Hier  liegt  der 
Punkt  in  eurer  politischen  Festung,  gegen  welchen  die 
Batterien  eurer  inneren  und  äufseren  Feinde  unablässig 
ihre  wohl  oft  verborgene  und  hinterlistige  Wirksamkeit 
richten  werden.  Daher  ist  es  von  unendlicher  Bedeutung, 
dafs  ihr  den  ungeheuren  Wert  eurer  nationalen  Union  für 
euer  Glück  als  Volk  und  als  Individuen  richtig  zu  schätzen 
wisset,  dafs  ihr  dies  Band  mit  unveränderlicher 
Liebe  pflegt,  dafs  ihr  euch  daran  gewöhnt,  von  ihm  zu 
denken  und  zu  sprechen  als  dem  Palladium  eurer  poli- 
tischen Sicherheit  und  Wohlfahrt,  dafs  ihr  für  ihre  Er- 
haltung wachet  mit  eifersüchtiger  Sorgfalt  und  allem 
entgegentretet,  was  auch  nur  den  Verdacht  erregen  mag, 
die  Einheit  könnte  je  verloren  gehen,  und  dafs  ihr  mit 
Entrüstung  auch  den  leisesten  Versuch  zurückweiset,  einen 
Teil  eures  Landes  dem  übrigen  zu  entfremden  oder  die  ge- 
heiligten Bande  zu  schwächen ,  die  jetzt  die  verschiedenen 
Teile  zusammenhalten. 

Diesen  Weg  weist  euch  ebenso  sehr  Neigung  als  Vor- 
teil. Auf  das  gemeinsame  Vaterland,  dessen  Bürger  ihr 
seid  durch  Geburt  oder  Wahl,  mufs  mit  Recht  eure  Liebe 
sich  konzentrieren.  Der  Name  „Amerikaner",  der  euch  in 
eurer  Eigenschaft  als  Nation  gehört,  mufs  stets  den  ge- 
rechten Stolz  der  Vaterlandsliebe  mehr  erheben  als  irgend- 
ein Appell,  der  sich  auf  lokale  Unterscheidungen  gründet. 
Von  geringen  Schattierungen  abgesehen,  habt  ihr  die 
gleiche  Religion,  die  gleichen  Sitten,  Gewohnheiten  und 
politischen  Prinzipien.  Ihr  habt  zusammen  gekämpft  und 
triumphiert  in  einer  gemeinsamen  Sache ;  die  Unabhängigkeit 
und  Freiheit,  die  ihr  besitzt,  ist  das  Resultat  gemeinsamer 


Dritter  Anhang.  273 


•  Beratungen    und   Anstrengungen,    gemeinsamer  Gefahren, 
Leiden  und  Erfolge. 

Allein  so  mächtig  auch  diese  Betrachtungen  auf  euer 
Gemüt  wirken  mögen,  sie  werden  an  Gewicht  weit  über- 
troffen von  Erwägungen,  die  sich  unmittelbar  an  euren 
Vorteil  wenden;  hierin  findet  jeder  Teil  unseres  Landes 
die  am  stärksten  gebietenden  Motive  dafür,  die  Einheit 
des  Ganzen  sorgfältig  zu  bewachen  und  zu  bewahren. 

Der  Norden,  unbeschränkt  im  Handel  mit  dem  Süden 
und  geschützt  durch  die  gleichen  Gesetze  einer  gemein- 
samen Regierung,  findet  in  den  Erzeugnissen  des  Südens 
bedeutende  neue  Hilfsquellen  für  Handels-  und  Schiffahrts- 
unternehmungen und  wertvolle  Rohstoffe  für  seine  Industrie. 
Der  Süden  zieht  in  gleicher  Weise  aus  der  Tätigkeit  des 
Nordens  Vorteil ,  sieht  seine  Landwirtschaft  wachsen  und 
seinen  Handel  sich  ausdehnen.  Die  Seeleute  des  Nordens 
finden  ihre  Schiffahrt  durch  die  des  Südens  gehoben;  und 
da  der  Süden  auf  verschiedene  Weise  zur  Blüte  und 
Hebung  der  gesamten  nationalen  Schiffahrt  beiträgt, 
wünscht  er  sich  selbst  den  Schutz  einer  nationalen  See- 
macht. Der  Osten  findet  in  dem  Handel  mit  dem  Westen 
einen  wertvollen  Absatz  für  alle  Waren ,  die  er  vom  Aus- 
land bringt  oder  selbst  herstellt,  und  er  wird  diesen  bei 
der  fortschreitenden  Entwicklung  unserer  inneren  Ver- 
bindungsmittel zu  Lande  und  zu  Wasser  mehr  und  mehr 
finden.  Der  Westen  bezieht  vom  Osten  alles,  was  er  für 
sein  Wachstum  und  seine  Bequemlichkeit  braucht,  und  — 
was  vielleicht  noch  gröfsere  Folgen  hat  —  er  ist  ge- 
zwungen, den  sicheren  Genufs  des  unentbehrlichen  Ab- 
satzes seiner  eigenen  Erzeugnisse  dem  Gewicht,  dem  Ein- 
flufs  und  der  Seestärke  der  atlantischen  Seite  der  Union 
zu  verdanken;  hierauf  weist  die  unauflösliche  Interessen- 
gemeinschaft  der  Nation.     Jede  andere  Art,   auf  die  der 

Hintrager.  ^  18 


274  Hintrager. 

Westen   diesen    wesentlichen  Vorteil    sich   erhalten    kann,  . 
mufs  in  sich  unsicher  sein,  sei  es,  dafs  er  sich  allein  auf 
seine   Stärke   stützen   oder  diese  in  einer  treulosen,   un- 
natürlichen Verbindung  mit  einer  fremden   Macht   suchen 
wollte. 

Wenn  also  jeder  Teil  unseres  Landes  ein  unmittel- 
bares und  besonderes  Interesse  an  der  Union  hat,  so 
müssen  notwendig  alle  Teile  in  der  V^ereinigung  der  Mittel 
und  Kräfte  gröfsere  Stärke,  gröfsere  Hilfsquellen,  ver- 
hältnismäfsig  gröfsere  Sicherheit  gegen  äufsere  Gefahren 
und  seltenere  Störung  ihres  Friedens  durch  fremde  Völker 
finden;  und  —  was  von  unschätzbarem  Werte  ist  —  sie 
verdanken  der  Union  die  Freiheit  von  jenen  Unruhen  und 
Kriegen  unter  sich  selbst,  die  so  häufig  benachbarte, 
nicht  unter  derselben  Regierung  befindliche  Länder  treffen, 
und  die  durch  ihre  eigene  Rivalität  zwar  sehr  wohl  er- 
zeugt werden  können,  aber  durch  fremde  Bündnisse, 
Neigungen  und  Intrigen  verstärkt  und  erbittert  würden. 
Aus  demselben  Grunde  werden  sie  auch  der  Notwendigkeit 
entgehen,  jene  übergrofsen  militärischen  Schutzmafsregeln 
zu  ergreifen,  die  unter  jeder  Regierungsform  kein  Glück 
für  die  Freiheit  sind,  und  die  der  republikanischen  Frei- 
heit besonders  gefährlich  zu  erachten  sind.  In  diesem 
Sinne  sollte  eure  Union  als  eine  Hauptstütze  eurer  Frei- 
heit angesehen  werden,  und  die  Liebe  zu  dieser  sollte  euch 
die  Erhaltung  jener  ans  Herz  legen. 

Diese  Erwägungen  sprechen  eine  überzeugende  Sprache 
für  jeden  klugen  und  tugendhaften  Sinn,  und  sie  lassen 
die  Erhaltung  der  Union  als  den  ersten  Gegenstand 
unserer  patriotischen  Wünsche  erscheinen.  Besteht  ein 
Zweifel,  ob  eine  Regierung  ein  solch  grofses  Gebiet 
umfassen  kann?  Lafst  die  Erfahrung  diesen  Zweifel  lösen! 
In  einem  solchen  Falle   blofsen  Spekulationen  das  Ohr   zu 


Dritter  Anhang.  275 


schenken,  wäre  verbrecherisch.  Wir  haben  ein  Recht,  zu 
hoffen,  dafs  eine  passende  Organisation  des  Ganzen  mit 
Hilfe  der  Tätigkeit  der  Regierungen  der  einzelnen  Unter- 
abteilungen dem  Experiment  einen  glücklichen  Ausgang 
verschaffen  werden.  Es  lohnt  sich  wohl,  das  Experiment 
^ut  und  ganz  zu  machen.  Angesichts  solch  mächtiger  und 
klarer,  für  alle  Landesteile  bestehenden  Gründe  für  die 
Union  und  angesichts  der  Tatsache,  dafs  die  Erfahrung  die 
Unausführbarkeit  nicht  gezeigt  hat,  wird  man  stets  Ver- 
anlassung haben,  an  der  Vaterlandsliebe  derer  zu  zweifeln, 
■die  ihre  Bande  in  irgendeinem  Teile  zu  schwächen  be- 
strebt sind. 

Wenn  wir  die  Ursachen  betrachten,  die  zu  einer  Störung 
imseres  Bundes  führen  mögen,  so  fällt  als  eine  Angelegen- 
heit ernster  Art  die  Möglichkeit  ins  Auge,  dafs  die  Charakte- 
risierung von  Parteien  durch  geographische  Unterscheidungen 
—  nördliche  und  südliche,  atlantische  und  westliche  —  je 
Boden  finden  sollte,  ein  Umstand,  den  ränkesüchtige 
Menschen  zur  Erzeugung  des  Glaubens  benützen  mögen, 
4afs  in  Wirklichkeit  Unterschiede  lokaler  Interessen  und 
Anschauungen  bestehen.  Eines  der  Mittel  einer  Partei, 
um  in  bestimmten  Bezirken  Einflufs  zu  gewinnen,  ist,  die 
Meinungen  und  Ziele  anderer  Bezirke  zu  entstellen.  Ihr 
könnt  euch  nicht  genug  gegen  die  Eifersüchteleien  und 
Übel  schützen,  die  aus  solchen  Entstellungen  hervorgehen ; 
sie  führen  zur  gegenseitigen  Entfremdung  derer,  die 
brüderliche  Liebe  verbinden  sollte.  Die  Einwohner  unserer 
westlichen  Landesteile  haben  kürzlich  eine  heilsame 
Lektion  dieser  Art  gehabt;  sie  haben  in  dem  Abschlufs 
des  Vertrags  mit  Spanien,  in  dessen  einstimmiger  Rati- 
fizierung durch  den  Senat  und  in  der  allgemeinen  Be- 
friedigung, die  dieses  Ereignis  im  ganzen  Lande  hervorrief, 
«inen   deutlichen  Beweis  dafür  erblickt ,   wie  .  unbegründet 

18* 


276  Hintrager. 

die  unter  ihnen  ausgestreuten  Verdächtigungen  waren,  als 
ob  die  Bundesregierung  oder  die  atlantischen  Staaten  eine 
ihrer  Interessen  unfreundliche  Politik  verfolgten;  sie  sind 
Zeugen  des  Abschlusses  zweier  Verträge  gewesen,  mit 
Grofsbritannien  und  mit  Spanien,  die  ihnen  alles  sichern, 
was  sie  hinsichtlich  unserer  auswärtigen  Beziehungen  für 
ihr  Gedeihen  nur  wünschen  konnten.  Werden  sie  nun  nicht 
künftig  so  weise  sein,  die  Erhaltung  dieser  Vorteile  bei  der 
Union  zu  suchen,  die  sie  ihnen  verschaffte?  Werden  sie 
nicht  künftig  taub  für  etwaige  Ratgeber  sein,  die  sie  von 
ihren  Brüdern  trennen  und  mit  Fremden  verbinden 
möchten  ? 

Für  die  Wirksamkeit  und  die  Dauerhaftigkeit  eurer 
Union  ist  eine  Regierung  für  das  Ganze  unentbehrlich. 
Keine  Allianz  der  einzelnen  Teile,  so  strikt  sie  auch  sein 
möge,  vermag  die  Union  ganz  zu  ersetzen;  denn  sie 
müfste  die  Verletzungen  und  Unterbrechungen  erfahren, 
unter  denen  Allianzen  zu  allen  Zeiten  gelitten  haben.  In 
der  Erkenntnis  dieser  wichtigen  Wahrheit  habt  ihr  euren 
ersten  Versuch  verbessert  durch  die  Annahme  einer  Ver- 
fassung, welche  besser  als  eure  frühere,  einen  innigen 
Bund  und  die  zweckentsprechende  Besorgung  eurer  gemein- 
samen Angelegenheiten  garantiert.  Diese  Regierung,  die 
das  Ergebnis  unserer  eigenen ,  unbeeinflufsten  und  un- 
beengten Wahl  ist,  die  angenommen  wurde  nach  gründlicher 
Untersuchung  und  reiflicher  Überlegung,  die  völlig  frei- 
heitlich ist  in  ihren  Grundsätzen  und  in  der  Verteilung^ 
ihrer  Gewalten,  die  Sicherheit  mit  Kraft  vereinigt  und  eine 
Bestimmung  für  ihre  eigene  Verbesserung  vorsieht,  — 
diese  Regierung  hat  einen  gerechten  Anspruch  auf  euer 
Vertrauen  und  eure  Unterstützung.  Achtung  vor  ihrer 
Autorität,  Gehorsam  gegen  ihre  Gesetze,  Fügsamkeit  gegen 
ihre    Anordnungen   sind  Pflichten ,   die  die  grundlegenden, 


Dritter  Anhang.  277 


Prinzipien  wahrer  Freiheit  auferlegen.  Die  Basis  unseres 
politischen  Systems  ist  das  Recht  des  Volks,  seine  Ver- 
fassungen zu  machen  und  zu  ändern ;  aber  die  Verfassung, 
die  einmal  besteht,  soll  heilig  gehalten  werden  von  allen, 
bis  sie  durch  einen  ausdrücklichen  und  authentischen 
Willensakt  des  ganzen  Volks  geändert  ist.  Gerade  die 
Idee  der  Macht  und  des  Rechts  des  Volks,  eine  Regierung 
einzusetzen,  setzt  die  Pflicht  des  einzelnen  Individuums 
voraus,  der  eingesetzten  Regierung  zu  gehorchen. 

Alle  Hemmnisse,  die  dem  Vollzug  der  Gesetze  bereitet 
werden,  alle  Kombinationen  und  Vereinigungen,  die,  so  un- 
verfänglich sie  auch  erscheinen  mögen,  zum  wahren  Ziele 
haben ,  die  ordnungsmäfsigen  Erwägungen  und  Ent- 
schliefsungen  der  gesetzlichen  Autoritäten  zu  leiten,  zu 
hindern  oder  durch  Furcht  zu  beschränken,  laufen  diesem 
Grundprinzip  zuwider  und  haben  eine  unheilvolle  Tendenz. 
Sie  dienen  dazu,  Parteien  zu  organisieren,  diesen  eine 
künstliche  und  aufserordentliche  Macht  zu  geben,  an  Stelle 
des  Willens  der  Nation  den  Willen  einer  Partei  zu  setzen, 
die  oft  eine  kleine,  aber  ränkevolle  und  unternehmende 
Minorität  des  Gemeinwesens  ist;  und  sie  machen,  je  nach 
dem  wechselnden  Siege  der  verschiedenen  Parteien,  die 
Staatsverwaltung  eher  zum  Spiegel  unharmonischer  und 
widersprechender  Parteiprojekte  als  zum  Organ  überein- 
stimmender und  gesunder  Pläne,  die  gemeinsame  Be- 
ratungen hervorgebracht,  und  entgegengesetzte  Interessen 
modifiziert  haben. 

Wohl  mögen  dann  und  wann  Kombinationen  und  Ver- 
einigungen der  genannten  Art  allgemeine  Zwecke  fördern; 
allein  sie  pflegen  im  Laufe  der  Zeit  und  Dinge  mächtige 
Maschinen  zu  werden,  mittels  deren  schlaue,  ehrgeizige 
und  gewissenlose  Menschen  die  Macht  des  Volkes  stürzen, 
um  selbst  die  Zügel  der  Regierung  in  die  Hand  zu  nehmen ; 


278  Hintrager. 

und  dann  zerstören   sie   eben   diese  Maschine,  die  sie  zu 
ihrer  ungerechten  Herrschaft  emporgehoben  hat. 

Für  die  Erhaltung  eurer  Regierung  und  für  den  Be- 
stand eurer  gegenwärtigen  glücklichen  Lage  ist  es  nicht 
allein  nötig,  dafs  ihr  jeder  ordnungswidrigen  Opposition 
gegen  ihre  gesetzliche  Autorität  konsequent  entgegentretet, 
sondern  auch  dafs  ihr  mit  Vorsicht  dem  Geiste  prinzipieller 
Neuerungen  widerstehet,  so  richtig  auch  seine  Yorwände 
erscheinen  mögen.  Eine  Art  des  Angriffs  mag  darin  be- 
stehen, dafs  auf  verfassungsmäfsigem  Wege  Änderungen 
herbeigeführt  werden,  welche  die  Kraft  des  Systems 
schwächen  und  so  das  untergraben,  was  nicht  unmittelbar 
umgestürzt  werden  kann.  Bei  allen  Änderungen .  zu 
denen  ihr  veranlafst  werden  möget,  behaltet  stets  im  Auge, 
dafs  Zeit  und  Gewohnheit  zur  Bildung  des  wahren 
Charakters  einer  Regierung  mindestens  ebenso  notwendig 
ist,  als  zur  Bildung  anderer  menschlicher  Einrichtungen, 
dafs  Erfahrung  der  sicherste  Mafsstab  ist,  um  die  wahre 
Tendenz  der  bestehenden  Verfassung  eines  Landes  zu  be- 
stimmen ,  dafs  die  Leichtigkeit  der  Änderung  zu  fort- 
währendem Wechsel  nach  Mafsgabe  von  Ansichten  und 
Meinungen  führt.  Und  behaltet  insbesondere  das  im  Auge, 
dafs  zur  wirksamen  Wahrung  eurer  gemeinsamen  Interessen 
in  einem  Lande  von  der  Ausdehnung  des  unserigen  eine 
Regierung  unentbehrlich  ist,  die  so  viel  Kraft  besitzt,  als 
sich  mit  der  vollkommenen  Sicherheit  der  Freiheit  ver- 
einbaren läfst.  Die  Freiheit  selbst  wird  in  einer  solchen 
Regierung,  deren  Gewalten  richtig  verteilt  und  bemessen 
sind,  den  sichersten  Wächter  finden.  Sie  ist  in  der  Tat 
kaum  etwas  anderes  als  ein  leerer  Name  da,  wo  die 
Regierung  zu  schwach  ist,  um  den  Unternehmungen  der 
Parteien  zu  widerstehen,  um  jedes  Glied  der  Gesellschaft 
in  den  gesetzlich  vorgeschriebenen  Grenzen  zu  halten  und 


Dritter  Anhang.  279 


allen    den   sicheren   und   ruhigen   Genufs   der  Rechte   der 
Person   und  der  Vermögensrechte  zu  gewährleisten. 

Ich  habe  euch  schon  auf  die  Gefahren  von  Parteien 
im  Staate  hingewiesen ,  mit  besonderer  Beziehung  auf 
geographische  Unterscheidungen  als  Grundlage  derselben. 
Nun  lafst  mich  an  eine  umfassende  Betrachtung  dieses 
Gegenstandes  gehen  und  euch  auf  das  ernstlichste  vor  den 
unheilvollen  Wirkungen  des  Parteigeistes  im  allgemeinen 
warnen. 

Unglücklicherweise  ist  dieser  Geist  untrennbar  von 
unserer  Natur;  denn  er  hat  die  stärksten  Leidenschaften 
des  menschlichen  Geistes  zur  Wurzel.  Er  existiert  in  ver- 
schiedenen Formen  unter  allen  Regierungen,  mehr  oder 
weniger  gedämpft,  geleitet  oder  unterdrückt;  aber  unter 
republikanischer  Regierungsform  erscheint  er  in  seiner 
gröfsten  Üppigkeit  und  ist  in  Wahrheit  ihr  schlimmster 
Feind. 

Die  abwechselnde  Herrschaft  einer  Partei  über  die 
andere,  die  durch  den  alle  Parteigegensätze  naturgemäfs 
beseelenden  Rachegeist  verschärft  wird  —  ein  Geist ,  der 
in  verschiedenen  Zeiten  und  Ländern  zu  den  entsetzlichsten 
Ausschreitungen  führte  — ,  ist  nichts  anderes  als  eine 
schreckliche  Despotie,  die  schliefslich  zu  einer  dauernden 
wird.  Die  Unordnungen  und  Leiden,  welche  folgen,  machen 
den  Geist  der  Menschen  nach  und  nach  geneigt,  Sicherheit 
und  Ruhe  in  der  absoluten  Macht  eines  Individuums  zu 
suchen;  und  früher  oder  später  benützt  der  Leiter  einer 
führenden  Partei,  der  fähiger  oder  glücklicher  ist  als  seine 
Gegner,  diese  Geneigtheit  zu  dem  Zwecke,  sich  selbst  auf 
den  Ruinen  der  Freiheit  des  V^olkes  zu  erheben. 

Aber  auch  wenn  wir  an  diese  äufserste  Folge  nicht 
denken    wollen    (die   übrigens  nicht  völlig  aufser  acht  ge- 


280  Hintrager. 

lassen  werden  sollte),  so  sind  doch  die  gewöhnlichen  und 
dauernden  Übel  des  Parteigeistes  grofs  genug,  um  es  einem 
weisen  Volke  im  eigensten  Interesse  zur  Pflicht  zu  machen, 
jenen  Geist  zu  entmutigen  und  zu  beschränken. 

Er  bewirkt  stets  eine  Zersplitterung  der  öffentlichen 
Körperschaften  und  eine  Schwächung  der  Regierung.  Er 
erregt  das  Gemeinwesen  durch  grundlose  Eifersüchteleien 
und  falschen  Lärm.  Er  pflegt  die  Feindseligkeit  des  einen 
Teils  gegen  den  andern.  Er  schürt  gelegentlich  Aufruhr 
und  Erhebung.  Er  öfi"net  fremden  Einflüssen  und  der 
Korruption  die  Türe;  diese  finden  durch  die  Kanäle  der 
Parteileidenschaften  leicht  Zutritt  selbst  zu  der  Regierung. 
So  wird  die  Politik  und  der  Wille  eines  Landes  denen 
eines  anderen  unterworfen. 

Man  hört  wohl  die  Ansicht,  dafs  Parteien  in  freien 
Ländern  nützliche  Beschränkungen  der  Staatsregierung 
sind  und  dazu  dienen,  den  Geist  der  Freiheit  wachzuhalten. 
Dies  mag  bis  zu  einem  gewissen  Grade  wahr  sein,  und  in 
Ländern  mit  monarchischer  Regierungsform  mag  der 
Patriot  mit  Nachsicht,  wenn  nicht  mit  Gunst,  auf  den 
Parteigeist  schauen.  Aber  unter  demokratischen  Regierungs- 
formen, da  wo  die  Wahlen  allein  die  Regierung  bestimmen, 
darf  der  Parteigeist  nicht  ermutigt  werden.  Sicher  wird 
stets  genug  davon  für  jeden  heilsamen  Zweck  vorhanden 
sein ;  das  liegt  in  ihrer  Natur.  Vielmehr  sollte  angesichts 
der  steten  Gefahr  der  Ausschreitung  das  Bestreben  dahin 
gehen,  den  Parteigeist  durch  die  Kraft  der  öfl'entlichen 
Meinung  zu  besänftigen  und  zu  beruhigen.  Er  ist  ein 
nicht  zu  erstickendes  Feuer;  daher  ist  stete  Wachsamkeit 
nötig,  um  zu  verhindern,  dafs  es  aufflamme  und  verzehre, 
anstatt  zu  wärmen. 

Ebenso  wichtig  ist  es,  dafs  die  in  einem  freien  Lande 
bestehende   Art  zu   denken  die  Regierenden  zur  Vorsicht 


Dritter  Anhang-.  281 


mahne,  sich  streng  innerhalb  ihrer  verfassungsmäfsigen 
Grenzen  zu  halten  und  in  der  Ausübung  der  Gewalten 
eines  Departements  nicht  in  ein  anderes  überzugreifen. 
Der  Geist  des  Übergriffs  führt  zur  Konsolidierung  der 
Gewalten  aller  Departements  in  eines  und  erzeugt,  wie 
auch  die  Regierungsform  sein  mag,  eine  wirkliche  Allein- 
herrschaft. Dafs  dem  so  ist,  zeigt  schon  ein  erster  Blick 
darauf,  wie  sehr  die  Menschen  die  Macht  lieben  und  ge- 
neigt sind ,  sie  zu  mifsbrauchen.  Dafs  es  notwendig  ist, 
die  Ausübung  politischer  Gewalt  wechselseitig  zu  be- 
schränken (reciprocal  checks),  indem  dieselbe  getrennt  und 
in  verschiedenen  Depositorien  verteilt  und  jedes  der- 
selben zum  Wächter  des  öffentlichen  Wohls  gegen  Angriffe 
der  anderen  gemacht  wird,  das  hat  die  Erfahrung  in 
alter  und  neuer  Zeit  gelehrt,  zum  Teil  in  unserem 
eigenen  Lande  und  unter  unseren  eigenen  Augen.  Diese 
Sehranken  zu  erhalten  ist  ebenso  notwendig,  als  sie  zu  er- 
richten. Wenn  nach  der  Ansicht  des  Volkes  die  Verteilung 
und  Gestaltung  der  verfassungsmäfsigen  Gewalten  in 
irgend  einer  Hinsicht  falsch  ist,  dann  lafst  sie  verbessert 
werden  auf  dem  in  der  Verfassung  vorgesehenen  Wege. 
Aber  duldet  keine  Änderungen  durch  Usurpation;  denn 
obwohl  dies  in  einem  einzelnen  Falle  ein  Mittel  zum 
Guten  sein  mag,  so  ist  es  doch  die  gewöhnliehe  Waffe, 
mit  welcher  freie  Regierungen  zerstört  werden.  Ein 
solcher  Präzedenzfall  wird  stets  mehr  dauernd  schaden, 
als  er  vorübergehend  nützen  kann. 

Unentbehrliche  Stützen  aller  Anlagen  und  Gewohn- 
heiten, die  zu  politischem  Gedeihen  führen,  sind  Religion 
und  Moral.  Vergebens  wird  der  seine  Vaterlandsliebe  ge- 
priesen wünschen ,  der  daran  arbeitete ,  diese  starken 
Säulen  menschlichen  Glücks  zu  untergraben,  diese  festesten 
Stützen    der   Pflichten    der    Menschen    und    Bürger.      Der 


282  Hintraojer. 

reine  Politiker  wie  der  fromme  Mensch  raufs  sie  gleich 
achten  und  pflegen.  Bände  würden  nicht  genügen ,  alle 
ihre  Verknüpfungen  mit  dem  Glück  des  einzelnen  und  der 
Gesamtheit  nachzuweisen.  Lafst  uns  nur  einmal  die  Frage 
aufwerfen:  Wo  bleibt  die  Sicherheit  für  Eigentum,  für 
Ehre ,  für  Leben ,  wenn  das  Gefühl  einer  religiösen  Ver- 
pflichtung den  Eid  verläfst,  der  das  Mittel  der  Wahrheits- 
erforschung vor  Gericht  ist?  Die  Annahme  wollen  wir 
mit  Vorsicht  dahingestellt  sein  lassen,  dafs  Moral  aufrecht- 
erhalten werden  könne  ohne  Religion.  So  grofs  auch  der 
Einflufs  höherer  Bildung  auf  besonders  veranlagte  Naturen 
sein  mag,  Vernunft  und  Erfahrung  verbieten  uns  zu  er- 
warten, dafs  die  Moral  eines  Volkes  unter  Ausschlufs 
religiöser  Grundlagen  bestehen  kann. 

Es  ist  im  wesentlichen  wahr,  dafs  Tugendhaftigkeit 
und  Sittlichkeit  zur  Lebenskraft  einer  Volksregierung  ge- 
hören. Dies  trifft  fürwahr  mehr  oder  weniger  für  jede 
freie  Regierungsform  zu.  Wie  sollte  ein  aufrichtiger 
Freund  derselben  gleichgültig  einem  Versuche  zusehen,  das 
Fundament  des  Gebäudes  zu  erschüttern? 

Ein  Gegenstand  ganz  besonderen  Anliegens  sei  euch 
die  Förderung  aller  Einrichtungen  zur  allgemeinen  Ver- 
breitung von  Wissen.  In  dem  Mafse,  als  die  Struktur 
einer  Regierung  der  öffentlichen  Meinung  Kraft  gibt,  ist 
es  wesentlich ,  dafs  die  öffentliche  Meinung  aufgeklärt  ist. 

Als  eine  sehr  wichtige  Quelle  der  Kraft  und  der 
Sicherheit  pfleget  den  öffentlichen  Kredit.  Eine  Art,  ihn 
zu  erhalten,  ist,  ihn  so  sparsam  als  möglich  zu  gebrauchen, 
durch  Pflege  des  Friedens  Veranlassungen  zu  Ausgaben  zu 
vermeiden,  aber  auch  dessen  eingedenk  zu  sein,  dafs  durch 
rechtzeitige  Ausgaben  zur  Vorbereitung  für  die  Gefahr 
oft  viel  gröfsere  Ausgaben  zu  ihrer  Abwehr  erspart 
werden.     Vermeidet    grofse    Schulden    anzuhäufen,    nicht 


Dritter  Anhang.  ,  283 


allein  dadurch,  dafs  ihr  keine  Gelegenheiten  zu  Ausgaben 
schaift,  sondern  auch  dadurch,  dafs  ihr  euch  nach  Kräften 
bemüht,  in  Friedenszeiten  die  Schulden  unvermeidlicher 
Kriege  zu  tilgen,  anstatt  in  kleinlicher  Weise  auf  die 
Nachkommenschaft  eine  Last  zu  wälzen ,  die  wir  selbst 
tragen  sollten.  Zwar  liegt  die  Ausführung  dieser  Grund- 
sätze in  den  Händen  eurer  Vertreter,  allein  es  ist  not- 
wendig, dafs  die  öffentliche  Meinung  dabei  mitwirke.  Um 
ihnen  die  Erfüllung  ihrer  Pflicht  zu  erleichtern,  ist  es 
wesentlich,  dafs  ihr  euch  stets  vergegenwärtigt,  dafs  zur 
Tilgung  von  Schulden  Einkünfte  da  sein  müssen,  dafs  man, 
um  Einkünfte  zu  haben ,  Steuern  auferlegen  mufs ,  dafs 
keine  Steuern  erfindlich  sind,  die  nicht  mehr  oder  weniger 
unbequem  und  unangenehm  sind,  und  dafs  die  un- 
vermeidlichen Schwierigkeiten  bei  der  Wahl  der  zu  be- 
isteuernden Gegenstände  ein  dringender  Grund  dafür  sein 
sollte,  das  Verhalten  der  Regierung  in  dieser  Angelegenheit 
mit  Billigkeit  und  Wohlwollen  zu  beurteilen  und  sich  den 
Mafsregeln  zu  fügen,  die  das  öifentliche  Interesse  zur  Be- 
schaffung von  Einkünften  erheischen  mag. 

Beobachtet  Treu  und  Glauben  und  Gerechtigkeit  gegen 
alle  Nationen,  pfleget  Frieden  und  Eintracht  mit  allen. 
Religion  und  Moral  machen  dies  zur  Pflicht;  und  ist  es 
möglich,  dafs  eine  gute  Politik  diese  Pflicht  nicht  eben- 
falls auferlegt?  Es  wird  einer  freien,  aufgeklärten  und 
in  nicht  ferner  Zeit  auch  grofsen  Nation  würdig  sein,  der 
Menschheit  das  hochherzige  und  neue  Beispiel  eines  Volks 
zu  geben ,  das  stets  von  Gerechtigkeit  und  Wohlwollen  ge- 
leitet wird.  Wer  wollte  zweifeln,  dafs  die  Früchte  eines 
solchen  Tuns  im  Lauf  der  Zeiten  und  Dinge  reichlich  all 
den  Verlust  an  vorübergehenden  Vorteilen  ersetzen  werden, 
die  die  Treue  für  jene  Prinzipien  mit  sich  bringen  mag? 
Ist  es  möglich,   dafs  die  Vorsehung  das  dauernde  Glück 


284  Hintrager. 

einer  Nation  nicht  mit  ihrer  Tugend  verknüpft  hat? 
Jedes  Gefühl,  das  die  menschliche  Natur  veredelt,  empfiehlt 
das  Experiment.  Sollten  ihre  Laster  es  unmöglich 
machen  ? 

Zur  Ausführung  eines  solchen  Planes  ist  nichts 
wesentlicher ,  als  dafs  dauernde ,  eingefleischte  Antipathien 
gegen  einzelne  Nationen  ebenso  ausgeschlossen  sind  wie 
leidenschaftliche  Sympathien  für  andere,  dafs  vielmehr 
gerechte  und  freundschaftliche  Gefühle  gegen  alle  gehegt 
werden.  Die  Nation,  die  gegen  eine  andere  gewohnheitsmäfsig 
Hafs  oder  Liebe  empfindet,  ist  in  gewissem  Sinne  ein  Sklave. 
Sie  ist  ein  Sklave  ihrer  Feindseligkeit  oder  ihrer  Liebe; 
denn  die  eine  wie  die  andere  genügt,  sie  vom  Wege  ihrer 
Pflicht  und  ihresVorteils  abzulenken.  Herrscht  bei  einemVolke 
Antipathie  gegen  ein  anderes,  so  ist  jedes  leicht  geneigt, 
das  andere  zu  beleidigen  und  zu  verletzen,  sich  an  gering- 
fügige Verdachtsgründe  zu  halten,  hochmütig  und  un- 
zugänglich zu  sein,  wenn  zufällige  oder  geringe  Anlässe 
zu  Differenzen  sich  einstellen.  Daher  häufige  Kollisionen, 
eigensinnige,  erbitterte  und  blutige  Kämpfe.  Das  Volk, 
das  sich  von  Übelwollen  und  Erbitterung  leiten  läfst, 
zwingt  oft  die  Regierung  zum  Kriege  entgegen  den  Er- 
wägungen einer  guten  Politik.  Die  Regierung  nimmt  oft 
auch  Teil  an  der  Voreingenommenheit  des  Volkes  und  tut 
aus  Leidenschaft,  was  Vernunft  verwerfen  würde;  sie  stellt 
gelegentlich  auch  die  Erregung  des  Volkes  in  den  Dienst 
kriegerischer  Projekte,  die  Stolz,  Ehrgeiz  und  andere  ver- 
derbliche Motive  erzeugt  haben.  Oft  ist  der  Friede,  hier 
und  da  wohl  auch  die  Freiheit  einer  Nation  das  Opfer  ge- 
wesen. 

In  gleicher  Weise  erzeugt  eine  leidenschaftliche  Zu- 
neigung eines  Volkes  zu  einem  anderen  mancherlei  Übel. 
Die  Sympathie  für  die  begünstigte  Nation  erzeugt  leicht 


Dritter  Anhang.  285 


die  Illusion  eingebildeter  gemeinsamer  Interessen  in 
Fällen,  in  denen  solche  nicht  vorhanden  sind,  und  über- 
trägt die  Feindschaften  des  einen  Volkes  auf  das  andere; 
sie  verleitet  das  eine  zur  Teilnahme  an  den  Streitigkeiten 
und  Kriegen  des  anderen,  ohne  dafs  hierzu  ein  hinreichender 
Grund  geboten  wäre.  Sie  führt  auch  dazu ,  dafs  der  be- 
günstigten Nation  Privilegien  gewährt  werden,  die  man 
anderen  versagt,  und  dafs  hierdurch  in  zweifacher  Weise 
die  gewährende  Nation  Schaden  nimmt:  einmal,  indem  sie 
unnötigerweise  das  aufgibt,  was  sie  hätte  behalten  sollen, 
sodann  dadurch,  dafs  sie  Eifersucht,  Mifsgunst  und  den 
Wunsch  der  Vergeltung  in  denen  erregt,  denen  die 
Privilegien  vorenthalten  werden.  Sie  gewährt  ferner  ehr- 
geizigen, schlechten  und  irregeführten  Bürgern  Gelegenheit, 
die  Interessen  ihres  Vaterlands  zu  verraten  oder  preis- 
zugeben ,  —  was  ohne  Hafs ,  gelegentlich  sogar  mit 
Popularität  geschehen  mag,  —  und  unter  dem  Deckmantel 
ehrlicher  Schulderfüllung,  löblicher  Fügsamkeit  gegenüber 
der  öffentlichen  Meinung  und  dem  guten  Eifer  für  das  all- 
gemeine Wohl  die  niedrigen  oder  törichten  Machinationen 
des  Ehrgeizes,  der  Verdorbenheit  und  der  Dummheit  zu 
verbergen. 

Für  den  wahrhaft  aufgeklärten  und  unabhängigen 
Vaterlandsfreund  sind  solche  Verbindungen  mit  fremden 
Nationen  ein  Gegenstand  besonderer  Beunruhigung,  da  sie 
fremdem  Einflufs  unzählige  Wege  öffnen.  Wie  viele  Ge- 
legenheiten bieten  sie,  in  die  Parteiangelegenheiten  sich 
einzumischen,  die  Kunst  der  Verführung  zu  üben,  die 
öffentliche  Meinung  irrezuleiten,  die  Ratgeber  des  Volks 
zu  beeinflussen  oder  zu  bedrohen!  Besteht  eine  solche 
Verbindung  zwischen  einer  kleinen,  schwachen  mit  einer 
grofsen ,  starken  Nation ,  so  verdammt  sie  jene  dazu ,  der 
Trabant  der  letzteren  zu  sein. 


286  Hintrager. 

Gegen  die  Ränke  und  Nachstellungen  fremder  Einflüsse 
—  ich  beschwöre  euch  Mitbürger,  mir  zu  glauben  — 
mufs  die  Eifersucht  eines  freien  Volkes  stets  auf  der 
Hut  sein;  denn  Geschichte  und  Erfahrung  beweisen,  dafs 
fremder  Einflufs  einer  der  gefährlichsten  Feinde  einer 
republikanischen  Regierung  ist.  Aber  diese  Eifersucht 
mufs  unparteiisch  sein,  wenn  sie  nützlich  sein  soll;  andern- 
falls wird  sie  zum  Werkzeug  eben  dieses  Einflusses,  anstatt 
ihn  abzuwehren.  Zu  grofse  Parteilichkeit  für  eine  fremde 
Nation  und  zu  grofse  Abneigung  gegen  eine  andere  lassen 
diejenigen,  die  davon  beseelt  sind,  die  Gefahr  nur  auf  einer 
Seite  sehen  und  dienen  dazu,  auf  der  anderen  die  Künste 
der  Beeinflussung  zu  verdecken  oder  gar  zu  unterstützen. 
Wahre  Patrioten,  die  den  Intrigen  des  Günstlings  wider- 
stehen möchten,  werden  verdächtigt  und  verhafst.  während 
dessen  Werkzeuge  und  die  Getäuschten  das  Vertrauen  und 
den  Beifall  des  Volkes  dafür  finden,  dafs  sie  seine  Interessen 
preisgeben. 

Die  grofse  Verhaltungsmafsregel  im  Verkehr  mit 
fremden  Völkern  ist  für  uns  die,  unsere  Handelsbeziehungen 
auszudehnen,  allein  so  wenig  als  möglich  in  politische  Be- 
ziehungen zu  ihnen  zu  treten.  Soweit  wir  schon  Ver- 
pflichtungen eingegangen  haben,  lafst  uns  nach  Treu  und 
Glauben  sie  erfüllen.     Allein  hier  lafst  uns  halten. 

Europa  hat  eine  Anzahl  wesentlicher  Interessen,  die 
für  uns  keine  oder  nur  sehr  geringe  Bedeutung  haben. 
Daher  mufs  Europa  häufig  in  Diff'erenzen  verwickelt 
werden,  deren  Gründe  unseren  Angelegenheiten  im  wesent- 
lichen fremd  sind.  Es  wäre  deshalb  unklug,  wollten  wir 
uns  durch  künstliche  Bande  in  die  regelmäfsigen  Ver- 
änderungen seiner  Politik  oder  in  die  Kombinationen  und 
Kollisionen  seiner  Bündnisse  und  Feindschaften  verwickeln. 

Unsere   getrennte    und   entfernte   Lage   rät   und    er- 


Dritter  Anhang.  287 


möglicht  uns,  einen  anderen  Kurs  zu  verfolgen.  Wenn  wir 
ein  Volk  unter  einer  starken  Regierung  bleiben,  so  ist  die 
Zeit  nicht  mehr  ferne,  da  wir  von  äufseren  Feinden  nicht 
mehr  viel  zu  fürchten  brauchen ;  da  wir  eine  solche  Haltung 
einnehmen  können ,  dafs  unsere  Neutralität ,  falls  wir  sie 
zu  irgend  einer  Zeit  beschliefsen ,  wohl  geachtet  wird; 
da  kriegerische  Nationen  sich  wohl  hüten  werden,  uns 
herauszufordern,  und  da  wir  zwischen  Frieden  und  Krieg 
wählen  können,  wie  unser  Interesse,  geleitet  von  Ge- 
rechtigkeit, uns  rät. 

Warum  sollten  wir  die  Vorteile  einer  solch  eigen- 
artigen Lage  aufgeben?  Warum  unseren  Boden  verlassen, 
um  auf  fremdem  zu  stehen?  Warum  sollten  wir  unser 
Schicksal  mit  dem  irgend  eines  Teils  Europas  verknüpfen 
und  dadurch  unseren  Frieden  und  unsere  Wohlfahrt  in  die 
Netze  des  Ehrgeizes,  der  Rivalitäten  und  Interessen,  der 
Stimmungen  und  Launen  Europas  verwickeln? 

Die  richtige  Politik  für  uns  ist,  frei  von  dauernden 
Allianzen  mit  irgend  einem  Teil  der  fremden  Welt  zu 
steuern.  Ich  meine  das  natürlich  nur,  insoweit  wir  zur  Zeit 
die  Freiheit  haben,  dies  zu  tun,  denn  ich  möchte  nicht  dahin 
verstanden  werden,  als  predigte  ich  Untreue  gegen  be- 
stehende Verbindlichkeiten.  Daher  wiederhole  ich:  Haltet 
bestehende  Verträge  in  ihrem  wahren  Sinne.  Aber  meines 
Erachtens  ist  es  unnötig  und  wäre  es  unklug,  sie  aus- 
zudehnen. 

Wenn  wir  darauf  bedacht  sind,  unsere  Landesver- 
teidigung mit  geeigneten  Mitteln  in  einem  Achtung  ge- 
bietenden Stande  zu  halten ,  so  können  wir  in  aufser- 
ordentlichen  Notfällen  zu  vorübergehenden  Bündnissen 
getrost  unsere  Zuflucht  nehmen, 

Politik,  Menschlichkeit  und  Vorteil  empfehlen  in 
gleicher  Weise  Eintracht  und  einen   freien  Verkehr    mit 


288  Hintrager. 

allen  Völkern.  Aber  selbst  unsere  Handelspolitik  sollte 
einen  stets  gleichmäfsigen,  unparteiischen  Kurs  verfolgen; 
sie  sollte  ausschliefsliche  Begünstigungen  oder  Vorzüge 
weder  gewähren  noch  suchen ,  bei  dem  natürlichen  Gang 
der  Dinge  Rats  sich  erholen  und  durch  sanfte  Mittel,  nicht 
durch  Gewalt,  die  Handelswege  teilen  und  vervielfältigen. 
Sie  sollte  mit  fremden  Mächten  die  hergebrachten  Regeln 
des  Verkehrs  festsetzen ,  um  dem  Handel  einen  stetigen 
Kurs  zu  geben,  die  Rechte  unserer  Kaufleute  zu  bestimmen 
und  die  Regierung  in  den  Stand  zu  setzen ,  sie  zu  unter- 
stützen; und  diese  Regeln  sollten  auf  Zeit,  so  gut  als  Um- 
stände und  Meinungsunterschiede  es  immer  gestatten,  fest- 
gesetzt und  von  Zeit  zu  Zeit  aufgegeben  oder  geändert 
werden ,  je  nachdem  Erfahrung  und  Verhältnisse  dies  ge- 
bieten. Unsere  Handelspolitik  soll  stets  im  Auge  behalten, 
dafs  es  eine  Torheit  ist,  wenn  ein  Volk  uneigennützige 
Vergünstigungen  von  einem  anderen  erwartet,  dafs  ein  Volk, 
was  es  auch  in  dieser  Art  empfangen  möge,  mit  einem 
Teil  seiner  Unabhängigkeit  bezahlen  mufs,  und  dafs  es  da- 
durch in  die  Lage  kommen  mag,  wahre  Werte  für  schein- 
bare Vergünstigungen  hingegeben  zu  haben  und  dazu  noch 
des  Undanks  geziehen  zu  werden.  Keinen  gröfseren  Irrtum 
kann  es  geben,  als  darauf  zu  warten  oder  zu  rechnen,  dafs 
eine  Nation  einer  andern  wahre  Vergünstigungen  erzeige. 
Dies  ist  eine  Illusion,  die  die  Erfahrung  beseitigen  mufs, 
und  die  ein  gerechter  Stolz  aufgeben  sollte. 

Wenn  ich  euch,  meine  Landsleute,  diese  Ratschläge 
eines  alten,  liebenden  Freundes  darbiete,  so  wage  ich  nicht 
zu  hoffen,  dafs  sie  den  tiefen  und  dauernden  Eindruck 
machen  werden,  den  ich  wünschen  möchte,  dafs  sie  den 
üblichen  Sturm  der  Leidenschaften  bezähmen  oder  dafs  sie 
verhindern  werden,  dafs  unsere  Nation  die  Bahn  wandeln 
wird,  die  bisher  die  Bestimmung  der  Völker  gewesen  ist, 


Dritter  Anhaoor.  289 


Aber  wenn  ich  mir  auch  nur  damit  schmeicheln  darf,  dafs 
diese  Ratschläge  teilweise  und  gelegentlich  von  Nutzen 
sein  mögen,  dafs  sie  dann  und  wann  hervortreten,  um  das 
Wüten  des  Parteigeistes  zu  mäfsigen,  vor  fremden  Intrigen 
zu  warnen  und  gegen  die  Täuschungen  angeblicher 
Vaterlandsliebe  zu  schützen,  so  werde  ich  in  dieser  Hoffnung 
den  vollen  Lohn  für  all  die  Sorge  um  euer  Wohl  finden, 
die  mir  diese  Zeilen  diktiert  hat. 

Inwieweit  ich  in  der  Erfüllung  meiner  Amtspflichten 
von  den  dargelegten  Grundsätzen  mich  leiten  liefs,  das 
müssen  die  Staatsdokumente  und  andere  Beweismittel 
meines  Verhaltens  euch  und  der  Welt  zeigen.  Mich  selbst 
versichert  mein  Gewissen,  dafs  ich  wenigstens  geglaubt 
habe,  von  diesen  Grundsätzen  geleitet  zu  sein. 

Was  den  immer  noch  dauernden  Krieg  in  Europa  be- 
trifft, so  enthält  meine  Proklamation  vom  22.  April  1793 
meinen  Standpunkt.  Der  Geist  dieser  Mafsregel ,  die  ihr 
und  eure  Vertreter  in  beiden  Häusern  des  Kongresses  ge- 
billigt habt,  hat  mich  stets  beherrscht,  unbeeinflufst  durch 
irgendwelche  Versuche,  mich  davon  abzubringen. 

Nach  sorgfältiger  Prüfung  und  mit  Hilfe  der  besten 
Aufklärung,  die  ich  erhalten  konnte,  habe  ich  die  Über- 
zeugung gewonnen,  dafs  unser  Land  nach  Lage  der  Sache 
nicht  nur  ein  Recht  hatte,  eine  neutrale  Stellung  ein- 
zunehmen, sondern  dafs  auch  Pflicht  und  Interesse  dies 
geboten.  War  diese  Stellung  einmal  genommen,  so  be- 
schlofs  ich,  sie  mit  Mäfsigkeit,  Ausdauer  und  Festigkeit 
zu  behalten,  insoweit  dies  von  mir  abhängt. 

Es  ist  nicht  nötig,  die  Erwägungen  im  einzelnen 
wiederzugeben,  die  diesen  Standpunkt  berechtigt  erscheinen 
lassen.  Nur  das  will  ich  bemerken,  dafs  meines  Wissens  dieses 
Recht  nicht  nur  von  keiner  der  kriegführenden  Mächte  be- 
stritten, dafs  es  vielmehr  von  allen  zugestanden  worden  ist. 

Hintrager.  19 


290  Hintrager. 

Schon  ein  Umstand  allein  heifst  uns  neutral  bleiben, 
nämlich  die  Verpflichtung,  welche  Gerechtigkeit  und 
Menschlichkeit  jeder  Nation  auferlegen ,  Friede  und 
Freundschaft  mit  anderen  Nationen  nach  Möglichkeit  zu 
bewahren. 

Die  Gründe  des  eigenen  Vorteils  für  unser  Verhalten 
tiberlasse  ich  am  besten  eurer  eigenen  Erwägung  und  Er- 
fahrung. Für  mich  lag  ein  Hauptmotiv  darin,  dafs  wir 
für  unser  Land  Zeit  gewinnen  müssen,  um  seine  noch 
jungen  Einrichtungen  zu  festigen  und  auszugestalten,  und 
sich  ohne  Unterbrechung  zu  dem  Grade  von  Stärke  und 
innerem  Halt  zu  entwickeln,  der  notwendig  ist,  um  es 
—  menschlich  gesprochen  —  zum  Herrn  seines  Schicksals 
zu  machen. 

Obwohl  ich  bei  dem  Gedanken  an  meine  Amtsführung 
keiner  absichtlichen  Fehler  mir  bewufst  bin,  so  empfinde 
ich  doch  meine  Mängel  zu  sehr,  als  dafs  ich  es  nicht  für 
wahrscheinlich  halten  sollte,  dafs  ich  viele  Fehler  gemacht 
habe.  Welche  dies  auch  sein  mögen,  so  bitte  ich  den 
Allmächtigen  inbrünstig,  dafs  er  die  Übel  abwende  oder 
lindere,  zu  denen  jene  Fehler  führen  mögen.  Auch  werde 
ich  mich  der  Hoffnung  hingeben,  dafs  mein  Land  auf  sie 
immer  mit  Nachsicht  schauen  wird,  und  dafs,  nachdem  ich 
45  Jahre  meines  Lebens  mit  redlichem  Eifer  seinem 
Dienste  geweiht  habe,  die  Mängel  ungenügender  Fähig- 
keiten vergessen  werden,  wie  ich  selbst  bald  zur  ewigen 
Ruhe  eingehen  werde. 

In  dieser  wie  auch  in  anderer  Hinsicht  baue  ich  auf  die 
Güte  meines  Vaterlandes.  Beseelt  von  der  ebenso  innigen 
als  natürlichen  Liebe  zu  ihm,  in  welchem  meine  und 
meiner  Ahnen  Wiege  stand,  geniefse  ich  jetzt  schon  das 
Vorgefühl  von  jener  Zurückgezogenheit,  von  der  ich  mir 
das   reine,    süfse   Glück   verspreche,    unter   meinen   Mit- 


Dritter  Anhang.  291 


bürgein  den  wohltätigen  Einflufs  guter  Gesetze  unter  einer 
freien  Regierung  zu  empfinden  —  was  stets  der  Lieblings- 
gegenstand meines  Herzens  gewesen  ist  — ,  und  an  dem 
herrlichen  Lohne  unserer  gemeinsamen  Sorgen ,  Mühen 
und  Gefahren  teilzunehmen. 

Vereinigte  Staaten,  den  17.  September  1796. 

George  Washington. 


19* 


Pierersche  Hof buchdruckerei  Stephan  Geibel  &  Co.  in  Altenljurc 


18111 

DATE  DUE 

JüNl 

5'c8 

1 

KECD  Jür: 

LC  19G9 

GAYLORD 

PRINTED  IN  US   A. 

UC  SOUTHERN  REGIONAL  LIBRARY  FACtLITY 


A     000  495  800     5