Wie lebt und arbeitet man
in den Vereinigten Staaten?
Nordamerikanische Reiseskizzen
von
Dr. Hintrager
Amtsrichter
F. Fontane & Co.
Berlin
1904
Leipzigr
Brentano's
Chicago — New York — W^ashing-ton
E
Alle Rechte
vor allem das Recht der Übersetzung
vorbehalten
Meinem Freunde
C. J. HUMMEL
in Genua
zugeeignet
VOFAVOrt.
Ein anschauliches Bild des Lebens in den Vereinigten
Staaten von Amerika zu geben ist der Zweck dieses Buches.
Es ist das Ergebnis von Aufzeichnungen während längerer
Studienreisen in Nordamerika in den Jahren 1894, 1895
und 1899. Zur Veröffentlichung derselben veranlafst mich
der Wunsch, jetzt, da man in Deutschland Amerika noch
einmal zu entdecken sich anschickt, zum Verständnis dieses
Landes beizutragen , das in Deutschland ebensowenig ge-
kannt, vielfach ebenso verkannt ist, als es gekannt zu
werden verdient.
Betrachtungen und Urteile eines Reisenden sind
schwerlich ein geeignetes Mittel, ein Land dem Verständnis
dessen näher zu bringen, der es nicht gesehen hat. Auch
hier hat wohl dem Urteil voranzugehen die Feststellung
des Tatbestandes. Dieser soll daher mit Ausnahme des
Schlusses der Inhalt des Buches dienen in möglichst vor-
urteilsloser Darstellung einzelner Gelegenheitsbilder.
Urach, Mai 1904.
Inhalt.
Seite
I. Auf der Farm 1
IL In der Schule 18
III. Auf dem Bureau des Kechtsanwalts 44
IV. Im Süden 63
V. Im Gerichtssaal - 73
VI. In den Strafanstalten • • • 86
VII. Die Kirchen 109
VIII. Eine Woche unter Kommunisten 120
IX. Die Amerikanerin 137
X. Die Verfassung 158
XI. Parteien und Politik 168
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse 187
XIII. Das Land der Arbeit 210
XIV. Schlufsbetrachtungen 227
Erster Anhang. Die Unabhängigkeitserklärung 236
Zweiter Anhang. Die Verfassung der Vereinigten Staaten
von Amerika 242
Dritter Anhang. Washingtons Abschiedsadresse an das
Volk der Vereinigten Staaten von Amerika 268
I. Auf der Farm.
„Die stärkste Festung einer Nation
ist der häusliche Herd."
Alexanders Farm, Farley, Jowa.
Seit vier Wochen bin ich auf einer reizenden Farm im
Staate Jowa, pflüge, breche Maiskolben und füttere Schweine,
etwa 200 schöne schwarze Schweine. — „Was der ganzen
Menschheit zugeteilt ist, will ich in meinem Innern Selbst
geniefsen." So etwas war's ja auch, was mich über den
Ozean trieb.
Es wäre unverzeihlich, in diesem Lande gewesen zu
sein, ohne das Leben des Farmers geteilt und die ameri-
kanische Landwirtschaft ein wenig kennen gelernt zu haben.
Der Farmer ist der Grundstock und Kern der Bevölkerung
der Vereinigten Staaten. Er hat den Boden urbar gemacht
auf der grofsen Wanderung vom Atlantischen zum Stillen
Ozean. Trotz des Aufschwungs der amerikanischen Industrie
und des Zugs nach den Städten stellt der Farmer immer
noch den zahlreichsten Berufsstand der Bevölkerung dar;
der landwirtschaftliche Besitz verhält sich zum industriellen
wie 2 : 1. Über 5^2 Millionen Farmen enthält dies grofse
Land ; sie bedecken annähernd die Hälfte des Gesamtareals
der Union. Auf mehr als 20 000 Millionen Dollars werden
die in Farmen steckenden Werte geschätzt.
In einem englischen Schulbuch las ich einst eine Anek-
dote aus dem Leben Benjamin Franklins. Die Amerikaner
Hintrager. 1
2 Hintrager.
sind sehr wifsbegierige Menschen, hiefs es da; daher sagte
Franklin, wenn er auf der Wanderschaft durch die Union
nach dem Weg fragte, stets: „Ich heifse Benjamin Franklin,
bin ein Buchdrucker, ich komme da und da her, das und
das ist mein Reisezweck, und ich möchte nach dem und
dem Platze. Wo ist nun mein Weg?" — Ungefähr nach
diesem Rezepte mufste ich, mangels jeglicher Verbindungen
mit Landleuten hier, verfahren, als ich in diese Gegend
kam, von der ich nur soviel wufste, dafs hier Farmer
wohnen, die seit Generationen im Lande leben. Zu solchen,
zu echten und rechten Amerikanern, keinen Eingewanderten,
wollte ich eben, trotz des mahnenden Worts eines deutschen
Freundes: „Bedenke, auf viele Meilen im Umkreis keinen
Tropfen Bier." In New York und den anderen Plätzen,
wo ich seit meiner Landung war, hatte ich noch viel zu viel
europäische Luft geatmet.
Auf einer nahe der Bahnstation Epworth gelegenen
Farm wurde ich hieher gewiesen: „Gehen Sie eine Meile
östlich, dann zwei Meilen südlich, dann wieder etwa eine
Meile östlich, dann sehen Sie ein hübsches, weifs ange-
strichenes Haus; das ist Alexanders Farm." Die Farmers-
frau mufs die Wirkung dieser amerikanischen Weg-
beschreibung auf meinem Gesicht gelesen haben; denn so-
fort sagte sie: „Mein Sohn wird Sie hinbringen." Der
Weg und die Landschaft, die wir durchfuhren, bot das ein-
förmige Bild der rechtwinkeligen Linien, das auch die
Karte der Vereinigten Staaten charakterisiert. Von den
Grenzen der einzelnen Staaten bis zu den Grenzen der
kleinsten Landverraessungs-Einheit, der eine Quadratmeile
(= 640 acres) enthaltenden Sektion gehen alle Linien
parallel den Länge- und Breitegraden, abgesehen von den
durch Flüsse oder Seen gebildeten natürlichen Staaten-
grenzen. Die gruudbuchmäfsige Beschreibung eines Grund-
I. Auf der Farm.
Stücks lautet daher ganz ähnlich der Ortsbestimmung des
Oeographen. Diese überaus einfache Art der Landver-
messung, von der Schiller wohl nicht gesungen hätte:
„Jene Linien, sieh, die des Landmanns Eigentum scheiden,
In den Teppich der Flur hat sie Demeter gewirkt"
ist charakteristisch für den Amerikaner; mit grofsen allge-
meinen Regeln verfügt er über grofse Räume und Massen.
Da dieses sogenannte Rektangularsystem durch ein Gesetz
vom Jahre 1785 eingeführt wurde, haben es übrigens die
damals schon besiedelten Staaten des Ostens nicht.
Als ich dem alten Mr. Alexander, aus dessen glatt-
rasiertem Gesicht die Herzensgüte leuchtet, meinen Wunsch,
über die Erntezeit auf seiner Farm zu wohnen und zu
arbeiten, gesagt hatte, erwiderteer lächelnd: „Ich bin ganz
-damit einverstanden, aber ich mufs erst den boss (= Herr,
Prinzipal) fragen. Das werden Sie doch schon gehört
haben, dafs in diesem Lande die Frau der boss ist?" Er
ging und rief die Farmerin herbei, eine dicke, behäbige
Frau von etwa 50 Jahren, die mich mit ihren lebhaften Augen
kritisch betrachtete und nach längerem Ausfragen schliefslich
„ja" sagte. Nun kam die zweite Prüfung; denn Mr. Alexander
lud mich ein, mit ihm einen Rundgang auf der Farm zu
machen und mich einmal am Pflug und an verschiedenen
landwirtschaftlichen Maschinen zu versuchen. Das Resultat
meines Pflügens liefs viel zu wünschen übrig.
Die Farm Alexanders ist eine Durchschnittsfarm des
Mississippi-Tales, 320 acres (also V2 Sektion) grofs, an der
Landstrafse von Epworth nach Farley, Jowa, gelegen und
wie üblich in Quadrate von je 40 acres abgeteilt. Alexander
war früher ein Neuenglandfarmer gewesen. Soviel ihm
bekannt, waren seine Vorfahren aus England, die seiner
Frau aus Deutschland gekommen. Als der Boden im Osten
ausgesogen war und die Regierung der Vereinigten Staaten
1*
4 Hintrager.
die Ländereien in Jowa zu 1 ,$ 25 cts. per acre abgab, da
verkaufte er und zog, wie so viele andere, hierher, um auf
dem jungfräulichen Boden des fruchtbaren Mississippi-Tales,
des gröfsten Kornlandes der Welt, mit weniger Mühe mehr
Ertrag zu erzielen.
„Als ich hierher kam," erzählte der alte Farmer, „da
war das meiste Land noch mit Wald bedeckt, und als Wohn-
haus diente mir ein einfaches Blockhaus, wie Sie eines ein
paar Meilen südlich von hier sehen können, das einzige,
das in der ganzen Gegend noch steht. Ich brachte die
Bäume zum Absterben durch Absägen der Kronen und
Gürteln, d. i. Entfernen der Rinde, und brannte das dürr-
gewordene Holz nieder. Nach der Tätigkeit der Axt und
des Feuers kam das Pflügen, eine harte Arbeit! Bis vor
etwa 15 Jahren waren da und dort auf meinem Grunde
noch Steine und Felsstücke, um die herumgepflügt werden
mufste, wie in den ersten Jahren um die stehengebliebenen
Baumstümpfe."
Seine Arbeit ward reich belohnt : nur mit dem geringen
Erlös von dem Verkauf seiner abgewirtschafteten Neu-
englandfarm war er hierhergekommen. Heute ist sein
Boden 50 — 100 Dollar per acre wert und M'irft ihm eine
Rente ab, die ihm eine sehr gute Lebenshaltung gestattet.
Unter solchen Gesprächen waren wir vom Wohnhaus
durch die kleine Werkstatt beim Hause in die grofse
Scheune gekommen, in der sieh auch die Stallungen der
acht Pferde und des Stiers befinden. Nur diese Tiere und
die in einem eigenen Stallgebäude untergebrachten Mutter-
schweine mit Familien sind unter Dach; die andern, die
Mastschweine und die 30 Stück Rindvieh sind Sommer und
Winter und Tag und Nacht im Freien.
Als wir durch das erste Quadrat gingen, eine Weide,
auf der die Schweine träge herumlagen, stoben diese unter
I. Auf der Farm.
Orunzen und Quieksen auseinander und davon. Lachend
sagte der alte Farmer: „Die Schweine glauben, Sie seien
der Agent von Chicago, der alle sechs Monate kommt und
die zum Schlachten reifen mitnimmt in die grofsen Schlächte-
reien der dortigen Gesellschaften."
Das nächste grofse Quadrat lag brach. Das dritte
wurde von einem alten Farmarbeiter, einem Schottländer,
gepflügt, um mit Winterweizen, dem sogenannten Cashcrop,
bebaut zu werden. Auf allen anderen stand üppiger Mais.
In einem der Maisfelder schnitt der 23jährige Farmerssohn
Beecher Alexander mit einer von ihm selbst erfundenen
und verfertigten Maschine Maisstauden, um das Rindvieh
damit zu füttern.
Hier waren wir angelangt, als vom Wohnhaus her
das Läuten einer Glocke und die melodische Stimme der
Farmersfrau zum Essen einlud. Wie gut die Lebenshaltung
hier ist, das zeigen vor allem die Mahlzeiten der ländlichen
Bevölkerung. Der amerikanische Farmer ifst am weifs-
gedeckten Tische, und seine drei täglichen Mahlzeiten sind
ebenso mannigfaltig als reichhaltig. Die süfse Nachspeise
fehlt selten. Auch seine durchaus städtische Wohnungs-
einrichtung steht weit über der eines reichen Bauern bei
uns. Die Schaukelstühle und die Bodenteppiche fehlen
auch im Farmhause nicht.
Die Eisenbahnen , die alles gleichmachen , haben das
Land erschlossen. Darum konnten ländliche Besonderheiten
nur in geringem Mafse aufkommen. Landleute und
Stadtleute unterscheiden sich hierzulande auch in Kleidung,
ja selbst im Aussehen nur wenig. Es fehlt der Bauern-
typus. Noch hat sich kein Bauernstand gebildet. Denn
hier ist alles in lebendigem Flufs; das Land ist jung, der
Wechsel des Berufs oder Erwerbs alltäglich.
Ein Tag vergeht ziemlich gleich dem andern: Kurz
6 Hintrager.
nach Sonnenaufgang poltert der alte Farmer die Treppe
vom oberen Stock herab in das Efszimmer, wo sich bald
alles zum Frühstück versammelt. Während des Frühstücks
gibt der Alte die Order für den Tag aus, die besonders
dem jungen Beecher nicht immer angenehm in den Ohren
klingt. Ihn zieht es nach der Stadt, und manches Feld-
geschäft ist ihm zuwider. Trotzdem bricht er jeden Morgen
ohne Widerrede 2 bis 3 Wagen voll Maiskolben zur Fütterung
für die Schweine. Schon dieses erste einfache Geschäft,
an dem ich mithalf, zeigte mir, mit welcher Schnelligkeit
und Energie in diesem Lande auch der Farmer arbeitet,
und ich habe das seither durchweg beobachtet. Jede Arbeit
macht den Eindruck, als ob grofse Eile not täte, und
das ist doch bei Feldgeschäften für die Kegel nicht so.
Das Pflügen z. B. geht stets in lebhaftestem Schritt und
ist sehr anstrengend, weil die Pferde unmittelbar an den
Pflug gespannt werden. Wer pflügt, mufs gleichzeitig
auch die Pferde lenken. Auch das Hufbeschlageu wird
nur von einem Mann besorgt. Jede Arbeit wird mit
Einsetzung der ganzen Kraft getan ; geschwatzt oder
geraucht wird dabei nicht. Während der Mittagsmahl-
zeit, zu der man sich eine Stunde Zeit nimmt, pflegt
der alte Farmer zu erzählen, was er am Morgen in dem
nahen Dorfe Farley an Neuigkeiten aus Stadt und Land
erfahren hat. Dorthin fährt er fast täglich, um seine Post
und Zeitungen zu holen und etwaige Einkäufe zu machen.
Zwischen fünf und sechs ühr abends hört die Arbeit auf.
Die schönste Zeit auf der Farm ist die Stunde nach dem
Abendessen. An Unterhaltung fehlt es nicht. Der Farmer
hält aulser zwei Tageszeitungen eine Frauenzeituug und das
über die ganze Union verbreitete monatliche ,, Farm- Journal",
eine sehr gute und reichhaltige illustrierte Zeitschrift für
Landwirtschaft, Viehzucht, Haushalt und Familie des Far-
I. Auf der Farm.
mers. Die Beiträge, die ich in dieser Zeitschrift von der Hand
von Farmern, deren Frauen und insbesondere deren Töchter vv
gelesen habe, sind ein glänzendes Zeugnis für die Strebsam-
keit und Bildung dieser Leute. Vom ersten Tag an, seit-
dem ich „the farming Oscar" spiele, wie der alte Alexander
sagt, ist mir nichts so sehr aufgefallen, als der Bildungs-
grad, der weite Horizont und der Bildungsdurst der Land-
bevölkerung, mit der ich hier zusammenkomme. Auch die
Farmarbeiter, die im gesellschaftlichen Verkehr kaum von
den Farmern zu unterscheiden sind, machen hiervon keine
Ausnahme. In der kleinen Bibliothek dieses Hauses ist
neben den hervorragendsten amerikanischen Autoren Shake-
speare, die kommentierte Oxford-Bibel, ein Konversations-
Lexikon, das grofse statistische Werk „Die Welt" von Frank
Gilbert, ja sogar Blackstones Kommentar des englischen
gemeinen Rechts. Letzterer stammt aus der College-Zeit
des jungen Beecher. Alexander hat seine fünf Kinder, von
denen nur noch zwei zu Hause sind, nach dem Besuche
der allgemeinen Volksschule vom 15. bis 18. Jahre in ein
College geschickt, wo sie einen Unterricht erhielten, wie
er etwa auf unseren Obergymnasien erteilt wird. „A good
education" gilt hierzulande gar viel, und der einfachste
Mann ist bestrebt, seine Kinder in bessere Schulen zu
senden.
Ein ziemlicher Teil der Bibliothek des Farmers besteht
aus den Berichten undVeröffentlichungen des Landwirtschafts-
departements der Vereinigten Staaten, welche den Farmern
teils unentgeltlich, teils spottbillig übersandt werden. Die
Tätigkeit dieses Departements ist wie alles, was Uncle Sam
in die Hand nimmt, umfassend und reich. Nicht blofs die
Berichte der Beamten der über die ganze Union verbreiteten
landwirtschaftlichen Versuchsstationen, sondern auch die-
jenigen der über die ganze Welt versandten Agenten des
8 Hintrager.
Departements halten auf diese Weise den amerikanischen
Farmer mit allem auf dem Laufenden, was in und aufser-
halb seines Landes für ihn irgendwie von Interesse sein
mag. Auch Samen versendet das Departement kostenlos
an den Farmer.
Dafs die Amerikaner wifsbegierige Menschen sind, das
haben mir die Abendunterhaltungen hier des öfteren ge-
zeigt. Welche Fragen über Deutschland, über mein Leben,
ja über mein Glaubensbekenntnis hatte ich da zn beant-
worten! Die Farmerin wollte wissen, wieviel ich für den
Meter meines Mantelstotfs bezahlt habe, und ob ich an Gott
glaube; der Farmer fragte, ob ich alles tun müsse, was der
Kaiser befiehlt, wieviel jährliches „Salair" der Kaiser habe,
und ob ich den Kaiser liebe oder nicht. Der Farmerssohn
fragte viel nach deutschem Militär, deutschem Bauernleben
und deutschen Gesetzen. Einmal fragte er ganz unver-
mittelt, wie das Autorrecht in Deutschland geschützt sei.
Manche Stunde habe ich diesen neugierigen Ohren Anek-
doten aus dem Manöverleben erzählt.
Mit den brennenden Fragen ihres eigenen Landes waren
diese aufgeweckten Leute sehr wohl vertraut. Über die
amerikanische Landwirtschaft war das allgemeine Urteil
des Farmers: Die schönen Zeiten des Raubbaues sind
vorbei. Es zahlt nicht mehr; ausgenommen jene grofsen
Betriebe des Westens, die mit Maschinen in gröfstem
Mafsstab arbeiten, oder wo eine Gegend auf Spezialitäten
in grofsen Massen sich wirft, wie die Pflaumen-, Apfel-,
Preiselbeer-, Hühner-, Wassermelonen-, Pfefferminzfarmen
und andere.
Früher trug derselbe Boden 30 Jahre hintereinander
Frucht in üppiger Fülle; nun ist der Boden in den Ost-
staaten ausgesogen, und in den mittleren, selbst in Missouri,
beginnen die Farmer schon mit Brachliegenlassen und
I. Atif der Farm. 9
Düngen des Bodens. Denn auch die Fruchtbarkeit wandert
nach Westen. Der Durchschnittsfarmer hat wohl sein
gutes Auskommen. Aber die Eisenbahngesellschaften, die
Ringe der Abnehmer seiner Produkte , Trusts , Börsen-
schwindel und der allmählich notwendig werdende Über-
gang zu intensivem Betrieb machen es ihm von Jahr zu
Jahr weniger leicht. Die Steuerlast des Farmers ist ziem-
lich hoch. Auch für Wege, Brücken und Schulen mufs
er Steuer zahlen. Der Farmer, der etwas Geld auf die
Seite gelegt hat, hat das freieste Leben in diesem Lande.
„Ihre deutschen Landsleute," so fuhr der Farmer fort,
„bringen es noch am weitesten hier; sie können so gut
sparen, und wir Amerikaner sind so verschwenderisch. Wir
sind verwöhnt worden durch die Leichtigkeit des Geld-
verdienens." Wie sehr er recht hat: auf seiner Farm liegt
so viel gutes Holz umher, es verfault ; ganze Wälder brennt
man nieder. Nur das beste Land wird ausgenützt. An
Eiern sucht die Farmerin nur soviel im Grase zusammen,
als sie in der Küche gerade braucht; um die übrigen
kümmert sie sich nicht, und Millionen von Eiern werden
von Kanada importiert.
Eines Abends entspann sich eine Debatte über Schutz-
zoll und Freihandel, die besonders lebhaft wurde, weil der
alte Schottländer, der auf der Farm über die Erntezeit für
75 cts. täglich und Kost und Wohnung half — nur wenn
sehr viel Arbeit da ist, nimmt der Farmer fremde Hilfs-
kräfte — , einen anderen politischen Standpunkt vertrat
als der Farmer und sein Sohn. Die Leute kannten das
Werk von Henry George über diesen Gegenstand und zeigten
erstaunliche volkswirtschaftliche Kenntnisse.
Doch vom Besten habe ich bis jetzt geschwiegen, von
der reizenden Laura, des Farmers Tochter. Als ich sie zum
ersten Male sah , verstand ich, warum ich vor der Mutter
10 Hintiager.
ein so schwieriges Examen zu bestehen hatte. Wenn ich
sage, dafs diese Farmerstochter mit dem Klavier- und
Harmoniumspiel vertraut ist, singt, zur Zeit unter meiner
Anleitung ihre ersten Versuche auf der Violine macht, im
College Lateinisch und Deutsch gelernt hat, auch längere
Zeit Volksschullehrerin gewesen ist, so wird das genügen,
um sie auch dem interessant zu machen, der nicht in
ihre schönen Augen gesehen hat. Manchen Abend haben
wir zusammen musiziert; ich werde nie vergessen, mit
wieviel Wärme sie ihr Lieblingslied, den seelenvollen Sang
von Longfellow „The Bridge" gesungen hat.
Eine muntere Abwechslung boten die Sonntage, an
denen die ganze Familie in der Galakutsche nach Farley
zur Kirche fährt ; ich sage munter, denn auch das religiöse
Leben ist heiterer hierzulande als bei uns draufseu. Hier
hält man es mit dem „Seid fröhlich mit den Fröhlichen"!
Weinende gibt es nicht viele, es geht den Leuten zu gut.
Die Familie Alexander gehört zu einer Presbyterianer-
gemeinde, die aus etwa 50 Farmersfamilien der Um-
gebung besteht und in Farley eine kleine Kirche und ein
Pfarrhaus besitzt. Die Ausgaben, vor allem der Gehalt
des Pfarrers, werden von den Beiträgen der Mitglieder be-
stritten; denn die Kirchen sind hier privatrechtliche
Vereine. Alexander zahlt z. B. einen jährlichen Beitrag
von 60 Dollars. Das ist viel für die Befriedigung des
religiösen Bedürfnisses. Allein das Opfer erscheint nicht
so grofs, wenn man in Betracht zieht, dafs die Kirche
hier zugleich die Vermittlerin und Pflegerin des gesell-
schaftlichen Lebens ist.
Wie vor den meisten Farmhäuseni, so ist auch vor
der Kirche zu Farley eine feststehende Rampe angebracht,
um den Frauen und Töchtern der Farmer das Ein- und
Aussteigen aus dem Wagen möglichst leicht zu machen. Wenn
I. Auf der Farm. 11
hier die Familien der Farmer anfuhren und ausstiegen, verriet
nur das wettergebräunte Gesicht der Männer und deren
Hände die Landleute. Mit einem „Hailoh, wie geht es?"
begrüfst man sich gegenseitig, und bald ist eine lebhafte
Unterhaltung im Gange, an der sich auch der Geistliche
und dessen Frau beteiligen. Diese sind die ersten in
der Kirche.
Sind alle Mitglieder versammelt, so beginnt zunächst
die Sonntagsschulstunde, in der die Frau Pfarrer die Kinder
unterrichtet; die begabte Laura unterweist die Mädchen
und jungen Frauen, und der Pfarrer legt den übrigen in
Frage und Antwort biblische Texte aus. Erst hierauf folgt
der eigentliche Gottesdienst, der aus Gesang, Gebet,
musikalischen Vorträgen und sehr modern gehaltener Predigt
des Pfarrers besteht. — Jeden Dienstag findet für die jungen
Leute in der Kirche ein Unterhaltungsabend mit Musikvor-
trägen statt; hierbei hat jedes eine Bibelstelle zu erklären.
Alle vierzehn Tage wird ein „Kirchenessen" bei den Gemeinde-
gliedern der Reihe nach gehalten, für welches ein kleiner
Betrag bezahlt wird, der in die Kirchenkasse fliefst. Auch
in der Kirche selbst werden gelegentlich solche Essen ver-
anstaltet. Im Hause des Pfarrers, der mich, ebenso wie die
benachbarten Farmer, in gastfreundlichster Weise zu sich
einlud, sah ich etwas echt Amerkanisches : eine kleine Buch-
druckerei, in der der Pfarrer und dessen hübsche junge Frau
die „Kirchlichen Nachrichten" herstellten und herausgaben,
ein für die Gemeindeglieder bestimmtes Monatsblatt. Vor
einigen Tagen las ich in einem derselben eine reizende
Begebenheit aus dem Leben der Farmerstochter. Zum An-
kauf einer Kirchen glocke hatten die jungen Leute an
einem der Dienstagabende verabredet, je 1 $ beizusteuern,
und zwar sollte jedes den Dollar selbst verdienen und die Art,
wie es ihn verdient hat, in den „Kirchlichen Nachrichten"
12 Hintrager.
bekannt geben. Unter den verschiedenen Gedichten, die
meist von Farmersfrauen und -töchtern einliefen, war ent-
schieden das beste das von Laura Alexander. Sie erzählt
darin, wie sie ihrem Vater den Wunsch, einen Dollar zu
verdienen, vorgebracht, und dieser an einem der heifsesteu
Sommertage sie angewiesen habe, das Schleifsteinrad zu
treiben. Als dann nach und nach die Schweifstropfen ihr
über Stirne und Augenbrauen gerollt seien, da habe sie an
die Menschen gedacht, die immer keine Zeit haben, und
es ist doch gerade genug Zeit in jeder kleinen Minute, um
der Welt und den Menschen zu dienen.
„There's quite enough time in each small minute
To suit the world and the people in it."
Doch nun genug von der hübschen Laura! —
Die letzten drei Tage war in dem etwa 20 Meilen
entfernten Dorf Cascade eine landwirtschaftliche Aus-
stellung des Bezirks, verbunden mit Kennen und einer Art
Volksfest. Schon lange vorher hatte Beecher während der
Mahlzeiten vorsichtig bei seinem Vater, der trotz aller
Herzensgüte oft puritanische Strenge zeigt, um Urlaub
auf die „Cascade-Fair" angeklopft und schliefslich auch
durch meine Vermittlung erhalten. Es ist geradezu typisch,
dafs in dieser Familie alle mit der Einförmigkeit des Land-
lebens etwas unzufrieden sind bis auf den alten Farmer,
der dem Zug nach der Stadt zielbewufst entgegentritt;
er hat auch dem Beecher, der jetzt oft noch in Blackstone
liest, den Wunsch, Rechtswissenschaft zu studieren, ab-
geschlagen.
Die „Fair", die alljährlich von der Cascade-Renn- und
Ausstellungsgesellschaft veranstaltet wird, hatte gar viele
Farmer herbeigelockt. Um den Ausstellungsplatz her
standen überall Wagen der Farmersfamilien, und im Grase
safsen die Leute bei dem mitgebrachten Mahl. Denn hier
I. Auf der Farm. 13
gab's keine Wirtschaftsbuden. Das Feilhalten alkoholischer
Getränke innerhalb einer halben Meile von einer land-
wirtschaftlichen Ausstellung ist verboten (§ 2448 des Code
of Jowa). Mit einer Beschreibung der Ausstellung selbst
will ich keine Worte verlieren. Die zahlreichen landwirt-
schaftlichen Maschinen, denen der Amerikaner mit Vorliebe
den Beinamen „wissenschaftlich" (scientific) gibt, z. B. der
wissenschaftliche Kornschneider, der wissenschaftliche Selbst-
binder, sieht man ja auch in der alten Welt mehr und mehr.
Sie sind sehr charakteristisch für den regsamen, durch keine
Traditionen beengten Geist dieses Volkes. Auch sie hat in
erster Linie das Bedürfnis, das „Hilf dir selbst" geschaffen :
Es galt, ein grofses Land zu bebauen; die Bevölkerung
war dünn , Arbeitskräfte mangelten und waren daher
teuer; ein jeder war Herr oder wollte es bald sein und
wurde es auch. So kam man ganz von selbst auf die
Maschine, und heute bebaut ein Farmer 40—80 acres, oft
noch mehr, ohne fremde Hilfe. Er ist auch im wesentlichen
sein eigener Maschinentechniker. Sehr viele von den
landwirtschaftlichen Maschinen sind von Farmern selbst er-
funden, z. B. der „Graber", eine Dampfmaschine, die,
einmal losgelassen, ohne jede Bedienung schnurgerade
Gräben zieht.
Die Ausstellung der Bodenerzeugnisse , besonders des
Maises, hier „Korn" genannt, war ein beredtes Zeugnis^
der aufserordentlichen Fruchtbarkeit dieses Landes und
machte dem Staate Jowa, einem der hervorragendsten
Kornstaaten der Union, alle Ehre. Der Mais, ursprünglich
„Indianer-Korn" genannt, ist ein Urprodukt des ameri-
kanischen Bodens. Wie einst die Indianer, so lebt auch
heute noch die grofse Masse des Volkes von Korn ; in den
mannigfaltigsten Formen erscheint es auf dem amerikanischen
Tische. Als ich zum ersten Male die unreifen gesottenen
14 Hintrager.
Maiskolben auf dem Tische sah, war ich begierig, wie
diese gegessen würden; der Amerikaner bestreicht sie
mit Butter, fafst den Kolben an beiden Enden und nagt
ihn ab, wie das Eichhörnchen. Nur sehr wenig Mais wird
exportiert. Der Mais ist für Amerika, was der Reis den
Chinesen. Selbst sein Wachstum hat etwas Amerikanisches :
in nur drei Monaten schiefst er auf vom Samenkorn zu seiner
ungeschlachten Gröfse.
Dafs auch die amerikanische Viehzucht glänzende
Proben auf die Ausstellung entsandt hatte, läfst sich denken.
Man sah den Tieren an, dafs sie ihre Köpfe nicht in Stall-
ecken stecken. Aber das kam mir unerwartet, dafs
die Farmersfrauen und -Töchter Handarbeiten, Stickereien
und dergl. ausgestellt hatten. Es ist dies besonders be-
merkenswert, da es Dienstboten auf dem Lande nicht gibt;
nur der reiche Städter hat solche. Das Los der Farmers-
frauen und -Töchter ist, den ganzen Tag für die Haus-
haltung zu arbeiten. Kein Wunder, dafs der gute alte
Alexander oft den Tisch deckt ! Er besorgt auch das Melken
und macht morgens Feuer im Herde.
An Lustbarkeiten fehlte es natürlich auch nicht auf
der Fair. Besonders fanden alle Arten von Glücksspielen
Anklang bei den stets spiel- und wettlustigen Amerikanern.
Ist doch das wirtschaftliche Leben hierzulande in gewissem
Sinne Spiel und Wette. Hier einige amerikanische Volks-
belustigungen der Fair: Ein Neger streckt seinen Kopf
durch ein Loch in einer senkrecht aufgespannten Leinwand
und schneidet Grimassen. Das Publikum wirft nach seinem
Kopf mit Eiern. — Ein sehr einfacher amerikanischer
Scherz ist der Wundergarten : Durch einen engen Weg tritt
man in einen hübschen Palraenhain. in dem das Publikum
auf Schaukelstühlen sitzt. In dem Augenblick des Eintritts
reifst ein hinter dem Gebüsch versteckter Ventilator mit
I. Auf der Farm. 15
Starkem Liiftstrom dem Eintretenden den Hut vom Kopfe.
Alles freut sich über Gesicht, Gebärden und Laute des
armen Opfers, das sofort sich auch zu den Dasitzenden
gesellt, um am Anblick der nach ihm Hereinkommenden
sich zu weiden. — Besonders zahlreich sind die Vergnüguugs-
gelegenheiten für die erwachsene Jugend, die „boys and
girls", die hierzulande stets paarweise geht. Da ist das
Liebesrad, ein Riesenrad ohne Boden, in dem die jungen
Pärchen auf bequemen Sitzen festgeschnallt werden. Das
Rad wird alsdann eine schiefe Ebene herabgerollt. —
Charakteristisch für den auf Kraftproben und Gefahren
erpichten Sinn der Amerikaner ist „der fliegende Engel" :
Die Mifs besteigt ein etwa 10 Meter hohes Gerüste, von dem
ein Drahtseil in langer schiefer Linie zur Erde gespannt
ist; sie ergreift die beiden im Drahtseil laufenden Ringe,
der Manager gibt ihr einen Stofs, und sie fliegt durch die
Luft herab zur Erde, wo ihr „Freund" sieh aufgestellt hat,
um den Engel in seinen Armen aufzufangen.
Weitaus die gröfste Anziehungskraft üben übrigens die
Rennen aus, die ich mir mit dem Farmerssohn von dem grofsen
Amphitheater aus ansah. Dafs der Amerikaner lieber fährt
als reitet, das zeigten auch diese Rennen, von denen nur
eines geritten, alle übrigen gefahren wurden, und zwar
meist in Trab, dann aber auch in Pafsgang und in fliegendem
Pafs. Grofsartig waren die Leistungen der Tiere im Traben,
was ich auch sonst bei Fahrten über Land schon beobachtet
habe. Die grofsen Dimensionen erziehen Dauertraber.
Berühmt sind die Traber von Kentucky und Tennessee;
sie haben sich im Bürgerkriege als Artilleriepferde vor-
züglich bewährt. Den I. Preis im Trabrennen , eine Börse
mit 200 $, erhielt ein Bundessenator des Staates mit
einer englischen Meile in 2V2 Minuten ; den IL (150 $) eine
Farmerstochter. Die meisten Trabrennen wurden gefahren
16 Hintrager.
mit den bekannten leichten, fein gefederten Hickory-Zwei-
rädern.
Nachdem die Aufregung der Rennen sich gelegt hatte,
kam der Glanzpunkt der Schaustellungen: ein junger
Trapezkünstler flog mit einem Heifsluftballon in schwin-
delnde Höhen, machte an seinem Trapez Kunststücke und
liefs sich dann mit einem Fallschirm herab. Damit endete
die Fair. —
Leider bringen es die Verhältnisse mit sich, dafs auch
meine Lehrzeit auf der Farm nun bald endet. Ungern
scheide ich von diesen Menschen, die mich mehr gelehrt
haben, als sie wohl selbst ahnen. Diese Farmer sind etwas
ganz anderes als unsere deutschen Bauern. Es ist ein
strebsamer, intelligenter und selbstbewufster Menschen-
schlag. Kein Vespern, kein Wirtshausleben, keine Roheit
der Manieren und Ausdrücke! Von ihnen könnte der
Dichter nicht sagen, dafs „sie noch nicht zur Freiheit er-
wacht sind" und „dafs ihre Wünsche der Ernten ruhiger
Kreislauf beschränke". Wenn auch die Familie Alexander
etwas über der Durchschnittsbildung der Farmer steht, so
ist der Unterschied doch nicht sehr erheblich ; wie sie, so
leben fast alle ihre Nachbarn. Ich freue mich, das Leben
des Farmers, des Stammvaters dieses Volks in seinen
kleinen Zügen kennen gelernt zu haben. Aus ihm hat
sich das Leben des ganzen Volkes, zu dessen Studium ich
auszog, entwickelt. In vielen Punkten läfst es das allen
kolonialen Pionieren Eigentümliche wiedererkennen. Allein
aufserdem zeigt das Leben dieser Farmersfamilie, so viel
spezifisch Amerikanisches: die Art zu arbeiten, den speku-
lativen Sinn, die Strebsamkeit und Wifsbegierde, die höhere
Durchschnittsbildung, die Stellung der Frau, die bessere
Lebenshaltung und geringe Sparsamkeit, die soziale Gleich-
heit und so fort.
I. Auf der Farm. 17
Alexanders Farm 1899.
Fünf Jahre nach dieser schönen Zeit ritt ich an einem
sonnigen Tage wieder hinaus zu Alexanders Farm, „Ach,
warum haben Sie nicht vorher geschrieben!" rief die
Farmersfrau, als sie mich sah. „Dann hätten wir einen
Truthahn geschlachtet." „Kommen Sie," sagte der alte
Alexander, „wir wollen ein wenig schaukeln und vom
Vaterland sprechen und allem, was sich seither zugetragen
hat," und wir legten uns zu gemütlichem Gespräche auf
die grofse Schaukel , die er gezimmert und zwischen zwei
selbstgepflanzten Tannen beim Hause angebracht hatte.
Gar manches hatte sich verändert. Verschiedene neue
Maschinen hatte Alexander sich gekauft, darunter eine vom
Wind getriebene Wasserpumpe, deren leichtes Eisengestell
ein Wahrzeichen der amerikanischen Farmlandschaft ist.
Mit Stolz zeigte er mir auch eine von einem benach-
barten Farmer patentierte Erfindung, die den Mechanismus
des Wasserklosetts auf einen Schweinetrog sinnreich an-
wandte: in dem Mafse, wie die Schweine saufen, strömt
Wasser aus dem grofsen Trog des Rindviehs zu; so wird
verhindert, dafs die Schweine das Wasser verunreinigen.
Und die schöne Laura, die mir einst eine Neujahrskarte
mit Schweinchen gesandt hatte mit der Aufschrift: „Hoffent-
lich wird mich der Kaiser nicht verfolgen wegen Einfuhr
amerikanischer Schweine in Deutschland", — ach, sie war
nicht mehr da! Sie hatte einen Zahnarzt in der Stadt
geheiratet.
Hintrager.
II. In der Schule.
„Wissen ist die Seele einer
Beptiblik." John Jay.
Dubuque, Jowa.
Wohl der beste Beweis für die Jugend und Zukunft
dieses Volkes ist die allgemeine Verbreitung der Über-
zeugung, dafs Wissen Macht ist. Von den Anfängen der
Republik bis heute haben die Leiter des Volks immer
wieder diese Überzeugung ausgesprochen. Sie fand ihren
Ausdruck in der Schulgesetzgebung der Union und der
einzelnen Staaten, sie findet ihn heute noch im Bestreben
der Einzelnen, „a good education" sich und anderen, ins-
besondere den Kindern zu verschaffen. Jeder Amerikaner
hat einen Bildungsdurst, der ihn selbst in der Sommer-
frische nicht verläfst; an vielen Badeplätzen gibt es so-
genannte Sommer-Universitäten. Auch die Unbemittelten
machen keine Ausnahme. Für sie bestehen in allen
grofsen Städten neben den ordentlichen Schulen reiche
unentgeltliche Bildungsgelegenheiten der verschiedensten
Art. Jedes Städtchen hat seine öffentliche Bibliothek und
Lesehalle. Schon 1785, also nicht lange nach der Un-
abhängigkeitserklärung , erging ein Bundesgesetz , nach
welchem ein bestimmter Teil des Grund und Bodens der
fernerhin als Staaten in die Union aufzunehmenden Terri-
torien als eine Art Sehulfonds für alle Zeiten reserviert
bleiben solle. Ähnliche Auflagen wurden in der Folge
jedesmal zur Bedingung der Aufnahme eines neuen Staats
II. In der Schule. 19
gemacht; so bestimmt z. B. das Bundesgesetz vom 30. April
1802, betreffend die Aufnahme Ohios in den Bund, dafs
^86 der ganzen Grundfläche — nämlich 1 Section = 1 Quadrat-
meile pro Township als Schulland für öffentliche Unter-
richtszwecke verwaltet werden solle. Aufserdem hat die
Bundesregierung den einzelnen Staaten von Zeit zu Zeit
bedeutende Land Schenkungen für Schulzwecke gemacht,
bis 1876 insgesamt mehr Land als England, Schottland
und Irland zusammen. Ebenso hat sie aus den chronischen
Überschüssen des Staatsschatzes immer wieder den Einzel-
staaten Beiträge für den Schulfonds überwiesen. Die Stadt
New York gab im Jahre 1901 für Schulzwecke über 23 Mill.
Dollars aus.
Allein diese Mittel genügen bei weitem nicht zur
Deckung der enormen Ausgaben, die das amerikanische
Volk für seine öffentlichen Schulen macht. Die schlechte
Verwaltung der Schulländereien durch gewissenlose Politiker
hat dazu geführt, dafs der gröfste Teil der Ausgaben für
Unterrichtszwecke durch Schulsteuern gedeckt werden mufs,
die einen ganz erheblichen Prozentsatz der allgemeinen
Steuern bilden.
Erhöht wird die Bedeutung der Schule durch die
republikanische Verfassung. Die Macht, welche diese dem
einzelnen gibt, ist gefährlich in der Hand des Unwissenden.
Zum Glaubensbekenntnis des Amerikaners gehört der Satz :
„Ohne ein aufgeklärtes Volk kann eine Republik nicht be-
stehen." In allen Verfassungen der Unionsstaaten ist zu
lesen, dafs die Gesetzgebung verpflichtet ist, allen Ein-
wohnern vom 6.— 20. oder 21. Lebensjahr kostenlosen
Schulunterricht zu verschaffen, da eine allgemeine Ver-
breitung von Wissen und Intelligenz wesentlich sei für die
Erhaltung der Rechte und Freiheiten des Volkes. Zu den
Unwissenden, speziell in amerikanischen Dingen Unwissen-
20 Hintrager.
den, gehört nun aber auch ein grofser Teil der armen Ein-
gewanderten. Wenn sie nach fünf Jahren, gelegentlich auch
auf ungesetzlichem Wege früher, Bürger geworden sind,
bilden sie oft Stimmvieh in den Händen der gewandten
Politiker. Allein diese Gefahr ist nur eine vorübergehende,,
dank in erster Linie der Tätigkeit der öiTentlichen Schulen.
Denn viel gröfseres, als die Assimilationskraft amerikanischen
Lebens an den Eingewanderten wirkt, leistet die Schule
und ihr Geist an ihren Abkömmlingen. Ihr Hauptzweck
ist, gute Bürger heranzubilden. Als Kinder deutscher^
italienischer, norwegischer, russischer Eltern gehen jene in
die Schule, als junge Amerikaner verlassen sie dieselbe
und kommen heim mit anderen Anschauungen und anderer
Sprache. Mit einem stolzen : „Wir sind das Volk!" treten
sie brüsk vor die europäischen Eltern, das junge Amerika
vor das alte Europa! —
Doch nun in eine Schule; erwarten wir aber nicht zu
viel von einem flüchtigen Besuche. Das Wundersamste
hier, wie in jedem Lande, ist der Geist des Lebens. Er
läfst sich nicht fesseln und in Worte kleiden. Ihn mufs
man empfunden haben an sich selbst, um ein Land zu
verstehen.
Nicht weit von Alexanders Farm steht einsam an der
Landstrafse ein schlichtes rotes Backsteinhaus, über welchem
oft das Sternenbanner weht. Es ist das Schulhaus für die
Farmerskinder des Bezirks, „der Eckstein der Republik",
wie der alte Farmer es zu nennen pflegte. Nicht lange
nach den ersten Ansiedlungen war es erbaut worden, lange
ehe eine Kirche in der ganzen Gegend zu sehen war. Um
das Häuschen stehen die Wagen und grasen die Pferde,
mit denen die Kinder und die zwei Lehrerinnen, deren
eine selbst eine Farmerstochter der Gegend ist, von allen
Seiten herbeigekommen sind. Da es in der Gegend nicht
II. In der Schule. 21
sehr viele Kinder gibt und auch diese mangels gesetzlichen
Schulzwangs fast nie alle gleichzeitig in der Schule sind,
genügt die Einteilung in zwei Klassen , von 6 — 10 und
11 — 14 Jahren, die je etwa 20 Köpfe zählen. In den Städten
dagegen hat jeder Jahrgang seine eigene Klasse und
Lehrerin. Die Lehrerin hält der Amerikaner für geeigneter
als den Lehrer, und zwar bis zu dem Alter, in welchem
das Kind selbständig zu denken anfängt. In den niederen
Schulen sind auch weitaus die meisten Lehrkräfte weiblich.
Folgen wir einige Zeit dem Unterricht der älteren Schüler
und Schülerinnen.
Der Unterricht wird stets an der Hand von sogenannten
Textbüchern erteilt, über deren erzieherischen Wert die
Ansichten in den Vereinigten Staaten sehr geteilt sind.
Es sind dies Darstellungen des Stoffs, die sich zum Aus-
wendiglernen eignen und welchen Fragen und Aufgaben
beigefügt sind, auf Grund deren die Lehrerin über den ge-
lernten Gegenstand prüft. Mit diesem Textbuchsystem,
das wohl in dem fortwährenden Wechsel des Lehrpersonals
seine Begründung findet — Ehefrauen, die früher Lehrerinnen
waren, gibt es hier viele — ist es, wie mit manchen Ge-
setzen dieses Landes. Das System ist nicht gut, allein der
natürliche, praktische Sinn dieses Volkes erzielt doch gute
R esultate mür demselben djy -^ -+ •
Dies zeigte sofort der Gegenstand des ersten Unter-
richts, dem ich in der Klasse der Älteren folgte : Geographie
der Vereinigten Staaten. Ausgehend von der Lage des
Schulhauses und der nächsten Ortschaften und Flüsse liefs
die Lehrerin die Kinder nach und nach ein Bild des Staates
Jowa und dann der ganzen Union entwerfen. Die Geographie
anderer Länder wird so wenig berührt, dafs mir die Ver-
sicherung eines amerikanischen Freundes durchaus glaub-
haft erscheint, die meisten Leute in Amerika haben erst
22 Hintrager.
durch Dewey erfahren, was und wo die Philippinen sind.
Um den Kindern die Oberflächengestaltung der Vereinigten
Staaten einzuprägen, legte die Lehrerin eine Karte auf den
Tisch, bildete mit Sand auf derselben die Alleghenies und
das Felsengebirge und fuhr mit einem Pinsel die Täler
nach. Zur Veranschaulichung der jeweils beschriebenen
Städte und Länder klebte die Lehrerin Bilder in die Hefte
der Kinder; es gibt für diesen Zweck eigene illustrierte
Zeitschriften.
Charakteristisch ist der Geschichtsunterricht, dem
sehr viel Zeit gewidmet wird, obwohl die Geschichte für
diese glücklichen Schulkinder hier mit Columbus oder
eigentlich erst mit dem Unabhängigkeitskrieg lieginnt. Die
Geschichte anderer Länder wird in den öff'entlichen Schulen
ganz vernachlässigt, aber die des eigenen Landes wird
gelehrt in einer Weise, als ob sie nur den Zweck hätte,
für das Vaterland zu begeistern und gute Patrioten zu er-
ziehen^). Während ich dies schreibe, liegt das über die
Union verbreitete Textbuch der amerikanischen Geschichte
von Anderson vor mir, nach welchem auch unsere Lehrerin
in dem kleinen Schulhause unterrichtete. Es enthält eine
geschickte Zusammenstellung und Verbindung von kleinen
Abschnitten der jeweils besten zeitgenössischen Geschichts-
schreiber, ausgewählt für jugendliche begeisterungsfähige
Gemüter. Wie ganz anders ist dies Buch als unsere Schul-
geschichtsbücher! Es liest sich oft wie Dichtung, mit
solcher Wärme und Anschaulichkeit sind die grofsen Männer
der Nation, ihr Leben und ihre Taten beschrieben. Über
Washingtons letzte Stunden und Worte enthält das Buch
allein zwei Seiten. Die Nationalhelden und die Präsidenten,
^) Der Übererlös der Schulpicknicks wird in erster Linie zur
Anschaffung von Fahnen für die Schule verwendet.
II. In der Schule. 23
deren Bilder das reich illustrierte Buch enthält, leben vor
dem Geiste der wifsbegierigen Jugend. Das Buch ist voll
grofser Gedanken und schöner Gefühle und raufs das
amerikanische Kind für sein Vaterland begeistern, noch
ehe es zu einem vollen Verständnis der Segnungen seines
Landes gelangt. Auch die „Wirkung der geschichtlichen
Ereignisse auf die politischen Parteien" gehört zum Unter-
richt in der Landesgeschichte.
Gelehrt wird in diesen allgemeinen öffentlichen Schulen
bis zum 14, Jahre all das, was ein Mensch zum Leben in
dem Landesteile braucht, in welchem die Schule sich be-
findet. Aufser den auch bei uns in den Volksschulen ge-
lehrten Fächern wird in allem, was zur kaufmännischen
Tätigkeit gehört, unterrichtet. Die Schüler schreiben kauf-
männische Briefe, Quittungen, Wechsel und Checks, die
Mädchen lernen kochen und andere häusliche Arbeiten. Jedes
Kind mufs die Verfassung der Vereinigten Staaten aus-
wendig lernen, die wichtigsten Gesetze, die Unterschiede
der Parteien und die Grundzüge der Volkswirtschaft kennen.
Endlich wird meist auch Physik, Chemie, Mechanik und
Naturgeschichte gelehrt. Eine Lehrerin erzählte mir, dafs
sie letzten Winter in ihrer Klasse ein auf einer benach-
barten Farm verendetes Schwein zu Unterrichtszwecken
seziert habe. Dies sind im wesentlichen die Lehrgegen-
stände der ersten zwei Abteilungen der öffentlichen Schulen,
hier Primär- und Grammarschools genannt; im einzelnen
bestehen noch lokale Verschiedenheiten , , da , wie gesagt,
für das Leben, nicht für die Schule gelernt wird und die
äufseren und inneren Angelegenheiten der Schule den lokalen,
aus direkten Wahlen hervorgehenden Schulverwaltungsbe-
hörden unterstehen und nicht etwa in den Einzelstaaten
oder der Union einheitlich geregelt sind. Einheitlich in
den Verfassungen festgelegt ist nur der Grundsatz der
24 Hintrager.
Konfessionslosigkeit der öffentlichen Schulen und der Ver-
pflichtung der Gesamtheit, allen Einwohnern (nicht nur
Bürgern) bis zum 20. oder 21. Lebensjahre unentgeltlichen
Schulunterricht zu gewähren. Wie streng der Grundsatz
der Konfessionslosigkeit der Schule durchgeführt wird,
ist daraus zu entnehmen, dafs viele Schulverwaltungs-
räte den Lehrerinnen das Lesen von Bibelabschnitten, ja
sogar das Sprechen eines Gebetes untersagen, da dies mit
konfessioneller Tendenz geschehen könnte.
Dafs in den Schulen keine körperlichen Strafen erlaul)t
sind, findet man hier selbstverständlich. Dem Amerikaner
widerstrebt jede Härte gegen ein Kind, und wäre es auch
noch so eigensinnig und unartig, so sehr, dafs auch in der
Familie das Kind fast stets seinen Willen hat, und dafs es
kaum nötig ist, den Lehrkräften das Schlagen zu verbieten.
Hier wird das Kind überhaupt sehr früh schon wie ein
Erwachsenes behandelt. Man lacht über den preufsischen
Schulmeister, der während seiner Amtstätigkeit so und
soviel tausend Tatzen, Ohrfeigen und so fort austeilt und
den Kindern das Leben schwer macht. In diesem Lande
wird immer und immer wieder — ich habe das oft be-
obachtet — an den Ehrgeiz des Kindes appelliert. Nach
der allgemeinen Erfahrung, so sagte die Lehrerin in
dem kleinen Schulhause, genüge dies im Zusammenhang
mit dem hellsamen Einflufs der beiden Geschlechter auf-
einander.
In den letzten zwei Wochen bot sich mir eine günstige
Gelegenheit, einen Einblick in die Schulverhältnisse, be-
sonders den Geist der Lehrerschaft zu bekommen. Der
Schulvorstand des Bezirks hatte, wie dies alljährlich ge-
schieht, einen Kurs (Normal Institute) für die Lehrerschaft
der öffentlichen Schulen des Bezirks in der Hauptstadt an-
geordnet. Zweck dieses Normalinstitutes ist , die Lehrer
II. In der Schule. 25
und Lehrerinnen mit allen neuen Erscheinungen und Ge-
danken auf dem Gebiet des Unterrichtswesens bekannt zu
machen, sie in Fühlung zueinander zu bringen und zu
neuem Eifer anzuregen. In der Einladung, die der Schul-
vorstand an die Lehrerschaft ergehen liefs, heifst es u. a. :
„Wir brauchen Stolz, Harmonie und Einsicht, um
Fortschritte in unserer Arbeit zu machen, und diese wesent-
lichen Eigenschaften können wir auf keine bessere Weise
erreichen, als indem wir Begeisterung in unseren Reihen
und ein Gefühl des Interesses für unser Land wecken, und
so dem Publikum näher kommen, seine Achtung und sein
Vertrauen gewinnen." ....
„Lafst darum ehemalige Lehrer und Lehrerinnen,
Rektoren und alle, die sich für die Schule interessieren,
mit uns zusammenkommen. Wir wünschen miteinander
zusammenzukommen, einander von Herzen die Hand zu
drücken mit einem freudigen: „Wie geht es Ihnen?" für
die, welche wir von früher her kennen, und einem: „Ich
freue mich, Sie kennen zu lernen," für die, die wir noch
nicht kennen.
„Mit erneuter Versicherung der Hochachtung und dem
aufrichtigen Wunsche für gute Schulen und brüderliches
Wohlwollen bin ich Ihr sehr ergebener
B. J. Horchem, Schulsuperintendent,"
So verkehrt hier der Vorgesetzte mit seinen Unter-
gebenen.
Ich schrieb mich als Teilnehmer an dem Kurse ein
und habe ihn auch ziemlich regelmäfsig besucht. Die Vor-
träge wurden gehalten von den Professoren der hiesigen
Highschool , das ist einer , etwa unseren Gymnasien ent-
sprechenden ötfehtlichen Schule, welche die Kinder vom
14. — 20. oder 21. Jahre besuchen. Diese Professoren haben
fast durchweg Universitätsbildung und sprechen über die
26 Hintrager.
in den Volksschulen gelehrten Gegenstände. Aufserdem
sprach wiederholt ein Richter des hiesigen Bundesbezirks-
gerichts über Verfassung, über Montesquieus Lehre von
der Dreiteilung der Gewalt, über Gerichtsorganisation, ZoU-
und Steuerwesen (Civil Government), über die rechtliche
Stellung der Eltern, Lehrer und Kinder; ein Arzt redete
über die schädlichen Wirkungen des Alkohols. Dies gehört
hier nämlich zu den gesetzlich vorgeschriebenen Unterrichts-
gegenständen der öffentlichen Schulen.
Jeden Nachmittag von 3 Uhr ab war öffentliche Dis-
kussion über Gegenstände, die für die Lehrerschaft von
gemeinsamem Interesse waren, dann und wann folgten
auch musikalische Vorträge und Deklamationen. Diese Ver-
sammlungen waren immer äul'serst anregend. Gegen 200
Lehrerinnen . und 5 Lehrer aus allen Teilen der Grafschaft,
aufserdem viele Besucher aus der Stadt kamen zusammen ;
die Lehrerinnen, meist reizende, jugendliche Erscheinungen,
sprachen mit grofsem Eifer und selbstbewufster Unbefangen-
heit. Die Furcht vor einer solchen Versammlung mulste
ihnen fremd sein. Die fünf Lehrer spielten gar keine
Rolle. Das Feld der Erziehung und Bildung gehört hier
der Frau.
In der Schlufsrede des Schulvorstandes, die ebenso
kordial gehalten war wie die eben erwähnte Einladung,
hörte ich die charakteristischen Worte: „Sie müssen alles
so interessant und anziehend als möglich machen; denn
wenn ein Kind nicht aufmerkt, so wissen Sie, dafs nach
modernen Erziehungsprinzipien der Fehler immer am
Lehrer liegt."
Doch ich mufs meine Aufzeichnungen hier abbrechen.
Mein Freund und Führer, ein hiesiger Rechtsanwalt, kommt
eben, um mich abzuholen zu einem Damenexerzieren im
Exerzierhaus des hiesigen Milizregiments. Eine Abteilung
II. In der Schule. 27
Mädchen von 18 — 30 Jahren, zum Teil aus angesehenen
Familien der Stadt, soll ich da mit kleinen Gewehren
marschieren und exerzieren sehen unter dem Kommando
eines Offiziers des Milizregiments. Ich kleingläubiger
Europäer wollte das nicht glauben.
Dubuque, Jowa.
Gestern habe ich der Schlufsfeier der Dubuque High-
school angewohnt. Sie gibt ein gutes Bild des amerikanischen
Schulwesens. Schon das Thema der Feier war ungewöhnlich
nach unsern deutschen Schulbegriifen ; es lautete: '„Die
Vereinigten Staaten unter der Verfassung". Doch zunächst
ein paar Worte über diese Schule, die eine Vereinigung
eines humanistischen und eines Realgymnasiums ist. Schon
vor einigen Tagen habe ich in der Schule einigen Unter-
richtsstunden in Griechisch und Lateinisch augewohnt;
die Lehrerin des letzteren machte grofse Augen, als ich
ihr sagte, dafs wir in Deutschland schon von früher Jugend
an Lateinisch lernen, und fügte lachend bei: „Setzen Sie
sich lieber auf den Katheder. Ich lerne erst seit vier
Jahren Lateinisch." — Jeden Freitag veranstalten die Schüler
und Schülerinnen der Oberklassen für jedermann zugäng-
liche Unterhaltungsabende mit Reden, Diskussionen, musi-
kalischen und deklamatorischen Vorträgen. Bei einem solchen
Unterhaltungsabeude — es war am „Gräberschmückungs-
tage", an dem im ganzen Lande die Gräber der im Kriege
umgekommenen Soldaten geschmückt werden , — hörte
ich, wie zwei Veteranen des Bürgerkriegs patriotische An-
sprachen an die Schüler und Schülerinnen hielten. Ge-
gründet wurde diese Schule 1858 mit 110 Schülern und
Schülerinnen. Heute hat sie deren 476 im Alter von
28 Hintrager.
14 — 20 Jahren , darunter weitaus die Mehrzahl Mädchen.
Ein Rektor, sieben Lehrer und fünf Lehrerinnen unter-
richten, letztere in Latein, Griechisch, Algebra, Geometrie,
Englisch, Französisch und Deutsch. Gelehrt werden, ab-
gesehen von den auf unseren humanistischen und realistischen
Gymnasien üblichen Fächern, noch : Bürgerkunde, National-
ökonomie, Handelsgeographie, Buchführung, Zoologie und
Physiologie. Die Schüler haben die Wahl zwischen dem
humanistischen, dem realistischen und dem gemischten Kurse,
wobei die fakultative Teilnahme an einzelnen Fächern
eines andern Kurses freisteht. Der Unterricht ist unent-
geltlich.
"Es ist abends 8 Uhr. Das grofse Opernhaus der Stadt
Dubuque füllt sich mehr und mehr; denn das Interesse
des Volks an den Schulen ist lebhaft, und dergleichen Ver-
anstaltungen werden in den Abendstunden gehalten, damit
niemand durch Arbeit abgehalten ist, zu kommen. Auch
Museen , Bibliotheken , Sammlungen sind in den Abend-
stunden geöffnet. Der Raum ist mit Blumen, Bändern und
Fähnlein in den Farben der Abiturientenklasse geschmückt,
über dem Vorhang steht das stolze Motto dieser Klasse:
„Tont bien ou rien". Die Namen der Abiturienten sowie
derer, die an den einzelnen Schulkursen am Streich-
orchester und am Singchor teilnehmen, enthält das ge-
schmackvoll in den Klassenfarben ausgestattete Programm,
dessen einzelne Nummern uns bald mit den Abiturienten
und ihren Leistungen bekannt machen sollen.
Der Vorhang erhebt sich und enthüllt eine malerische
Gruppe: die Klasse der Abiturienten, mit Bändern und
Schleifen in den Klassenfarben geschmückt. Es sind
16 Fräulein und vereinzelt zwischen ihrem Unschuldweifs
erblickt man fünf Jünglinge. So ist es hier: die Knaben ver-
lassen die Schule mit 14 Jahren oder noch früher und
II. In der Schule. 29
wenden sich dem Gelderwerb zu, die Mädchen sind in den
Oberklassen meist in der Mehrzahl. „We cannot keep the
boys," klagen die Lehrer.
Ein Geistlicher eröffnet mit einem kurzen Gebet die
Feier, das Schulorchester spielt die „Waldkönigin", und
hierauf tritt der Abiturient Keachie , das Finanztalent der
Klasse und der Schatzmeister bei sämtlichen Veranstaltungen
der Schüler, auf die Bühne zu einem kurzen Vortrag über
den Ursprung der Verfassung der Vereinigten Staaten.
Dieser Vortrag, der wie die folgenden und wie hier üblich,
frei und unbefangen , auch nicht hinter Pult oder Tisch
gehalten wurde, behandelte einen in allen öffentlichen
Schulen hier gelehrten Gegenstand und beschränkte sich
auf eine Darlegung der Verdienste der Gründer der Union
um das Zustandekommen des schwierigen Verfassungswerks,
vor allem von Washington , Franklin , Jefferson , Hamilton,.
Madison und Jay.
Den nächsten Vortrag hielt die schöne Dorothea
Duncan, in der Klasse „Die Königin der Gesellschaft" ge-
nannt, deren höchstes Ideal nach der Klassenzeitung ist:
„Französisch zu sprechen". Ihr Thema war: „Die Ver-
fassung in Wirksamkeit" und bezog sich auf die acht Jahre
der Präsidentschaft Washingtons, des Vaters des Vater-
landes , die äufsere Politik seines Staatssekretärs Jefferson
und die Politik seines Finanzministers Alexander Hamilton.
Diese Rede, nach Form und Inhalt sehr gut und mit feiner
Würde und Anmut von der selbstbewufsten jungen Dame
frei vorgetragen, hat einen eigentümlichen Eindruck auf
mich gemacht. Diese Gedanken aus einem weiblichen Munde !
Es kam mir unwillkürlich der Wunsch in den Sinn, es
möchten ejnige unserer Oberstudienräte auch hier sitzen.
Nach einem Klaviervortrag zweier Abiturientinnen folgt
eine Deklamation ausgewählter Stellen aus Washingtons
30 Hintrager.
Abschiedsadresse durch die schlanke Abiturientin Beulah
Post — in der Klasse genannt „die Fahnenstange" — ,
die sich als Chefredakteur der von der Oberprima heraus-
gegebenen Monatsschrift „ DasEcho " ^)besonders ausgezeichnet
hat. Washingtons Farewell- Address , dieses denkwürdige
Dokument, wird von dem Volk der Vereinigten Staaten in
grofsen Ehren gehalten ; ist es doch das politische Testament
dieses Edlen, von dem das geflügelte Wort sagt, dafs er
„der Erste im Krieg, der Erste im Frieden und der Erste
im Herzen seiner Landsleute" gewesen ist. Dieses Doku-
ment ist in Schulbüchern und in den Gesetzessammlungen
neben der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung
wörtlich wiedergegeben. Die von der Abiturientin vor-
getragenen Stellen waren gewählt mit Beziehung auf die
hier zur Zeit schwebende, allerorts diskutierte Frage, ob
die Vereinigten Staaten die Philippinen behalten sollen
oder nicht. Washington hält in seinem Testament seinen
Mitbürgern eindringlich die Vorteile ihrer territorialen
Lage vor Augen und warnt vor kolonialen Gelüsten,
Allianzen und allem, was zu Verwicklungen mit fremden
Mächten führen könnte.
Die nächste Nummer des Programms war ein ge-
schichtlicher Vortrag eines Abiturienten über das territoriale
') Die letzte Nummer dieser Monatsschrift, die einen sehr netten
Blick hinter die Kulissen gewährt, enthält u. a. eine Klassenstatistik,
•was jedes einzelne vom andern Geschlecht denkt, was ihm fehlt, was
sein höchstes Ideal ist und dergleichen. Robert Doremus denkt,
^Mädchen sind hübsche Dinger, von denen man sich fernhalten mufs;
•der Beniah Post fehlt nur eines: „Gewicht", und sie sucht wahre
Freude lieber bei dem andern , als bei dem eigenen Geschlecht." —
Jede Klasse hat ihre Verbindung und ihre Beamten, sowie ihren
„Klassentag", bei welchem jedoch keine geistigen Getränke genossen
werden. Ein Schulvorstand wurde hier einmal entlassen, weil er an
•einem Sonntag an einer Bar Bier trank.
IL In der Schule. 31
Wachstum der Vereinigten Staaten, ein hinlänglich be-
kannter und natürlich hierzulande sehr beliebter Gegen-
stand. Diese Westwanderung von Ozean zu Ozean, die
Ausbreitung der gleichen Sprache und Kultur über einen
Kontinent, der gröfser ist als Europa, ist in der Tat eine
Leistung, die ein Volk mit Stolz und Zuversicht erfüllen
mufs. Die Entfernung New York— St. Louis entspricht etwa
derjenigen von München nach Odessa, die Linie St. Louis —
San Francisco derjenigen Bordeaux — Moskau. Die Entfernung
von Chicago nach dem auf dem gleichen Breitegrade mit
Cairo liegenden New Orleans ist gröfser, als die Entfernung
Berlin — Neapel. Solch weite Räume erziehen zu Optimismus
und weitem Gesichtskreis.
Nunmehr erschien auf der Bühne die „Zephrina" der
Oberprima oder, wie man das hier nennt, der „Seniorites",
Mifs Gayle Hamilton^), eine zarte Erscheinung, und
trug einen Aufsatz darüber vor, wie sich die Einrichtung
der Sklaverei im Süden festsetzte. Dieser Aufsatz gibt
ein Muster der Leistungen und bietet manches zum Ver-
ständnis dieses Landes. Er lautete:
„In der frühen Geschichte der Kolonien bestanden zwei
verschiedene wirtschaftliche Systeme, das System der grofsen
Stapelfarmen im Süden und das der kleinen Farmen und
der Hausindustrie im Norden. Der Unterschied beider
Systeme war begründet in der Politik Grofsbritanniens so-
wohl als auch in physiologischen Bedingungen. England
erzeugte damals viele Brotstoffe und war daher ein Feind
der Einfuhr solcher Produkte aus den Kolonien. Deshalb
setzte es hohe Zölle auf sie. England wünschte, dafs die
Kolonien einige grofse Stapelartikel erzeugen sollten, die
als Rohmaterial einen guten Markt finden würden. In
^) Ihre Meinung vom andern Geschlecht: „Unaussprechlich".
32 Hintrager.
dieser Absicht wurden zahlreiche Experimente gemacht,
um die Stapelartikel zu finden, welche sich am besten für
den Boden und die klimatischen Verhältnisse der ver-
schiedenen Kolonien eigneten. Tabak wurde der Stapelartikel
von Virginia und Maryland, während Reis und Indigo am
besten in den tropischen Sumpfgegenden von Süd-Carolina
und Georgia wuchsen. Da die südlichen Plantagen sehr
grofs waren und das Klima der Sümpfe höchst ungesund,
wurde die Arbeiterfrage von grofser Bedeutung für den
Süden.
Ganz anders lagen die Verhältnisse im Norden. Hier
verhinderten Boden und Klima das Aufkommen des
Plantagensystems. Vielmehr war das Land in viele kleine
Farmen geteilt, welche Brotstoffe erzeugten. Da der
Kolonist des Nordens, dank der Handelspolitik Englands,
diese Brotstoffe nicht gegen Manufakturwaren eintauschen
konnte, war er gezwungen, diese in seinem Hause herzu-
stellen. Die Wolle und der Flachs seiner Farm wurden
für seinen eigenen Gebrauch verarbeitet. Diese Tatsache
erklärt vielleicht den geübten Handwerker des Nordens,
der dann nachher die Textilindustrie aufgebaut hat. Da
der Kolonist des Nordens gezwungen war, irgendwo anders
als in England einen Markt für seine Farmprodukte zu
finden, brachte er dieselben nach dem Süden und nach den
westindischen Inseln. Dort wurden sie umgetauscht gegen
Zucker und Melasse, aus welchen er dann Ptum bereitete.
Der Rum wurde gebraucht, um in Afrika Sklaven zu
kaufen, und die Sklaven wurden nach den südlichen Kolonien
gebracht. Die Plantagen des Südens lagen entweder am
Meer oder an einem der zahlreichen Ströme jener Gegenden ;
viele der Plantagen hatten ihre eigenen Werften. Dorthin
wurden die Manufakturwaren von England direkt dem
Pflanzer gebracht und ausgetauscht gegen eine Ladung
II. In der Schule. 33
Reis, Indigo oder Tabak. So kam es, dafs die Kolonisten
des Südens bald in allem vom Mutterlande abhingen , von
den Kleidungsgegenständen bis zu den Küchengeräten.
Das Wachstum der Stapelproduktion im Süden er-
zeugte ein Verlangen nach billigen Arbeitskräften in den
ungesunden Sumpfgegenden. Die Arbeiterfrage war von
der gröfsten Bedeutung für die Entwicklung des Südens.
Als der Pflanzer nach Amerika kam, brachte er seine
Dienstboten mit und legte damit den Grund zu einem
Unterschied der Gesellschaftsklassen, der Patrizier und der
Plebejer, ähnlich der altgriechischen und römischen
Zivilisation und entsprechend den beiden Klassen der
damaligen englischen Gesellschaft, den „lords of the manor"
und deren Leibeigenen und Dienern. Als dann die Nach-
frage nach ungelernten Arbeitskräften zunahm, suchte
man sich zuerst mit gefangenen Indianern als Sklaven
zu helfen. Dieser Versuch schlug fehl. Hierauf wurden
kontraktlich verpflichtete weifse Arbeiter (Dienstboten) ein-
geführt. Dies waren Personen, welche in fremden Ländern
gefangen gewesen waren, meist in Schuldhaft, und das
Versprechen ihrer Freilassung erhalten hatten, wenn sie
sich bereit erklärten, nach Amerika zu gehen und einem
Herrn eine bestimmte Anzahl von Jahren zu dienen. Sehr
oft wurden auch Leute mit Gewalt entführt und als solche
Arbeiten verkauft.
Negersklaven wurden zum ersten Male im Jahre 1619
nach Virginia gebracht; es wurden jedoch dann 50 Jahre
lang keine mehr eingeführt. In St. Carolina waren die-
selben eine vorteilhafte Kapitalanlage. Ein Negersklave
kostete etwa 40 $ und konnte sich in 12 Monaten mehr als
bezahlt machen. Da die Sklavenaufstände mit der Zahl
der Sklaven zunahmen, wurden die Gesetze für die Sklaven
strenger. Im Norden wurden die Sklaven beinahe aus-
Hintrager. 3
34 Hintrager.
schliefslicli als häusliche Dienstboten verwendet. In den
mittleren Staaten wurden sie hier und da, aber nicht oft,
als Feldarbeiter und in Pennsylvanien in den Eisengiefsereien
beschäftigt.
Am Ende der kolonialen Periode kam etwa 1 Sklave
auf 50 Weifse, und die Stimmung war gegen die Sklaverei.
Bis 1804 hatten alle Staaten nördlich von Maryland die
Freilassung ihrer Sklaven bestimmt. Viele der leitenden
Männer der damaligen Zeit, wie Wasliington, Madison und
Jefferson waren gegen die Einrichtung der Sklaverei, aber
bei der Bildung der Verfassung waren sie zu einem Kom-
promifs mit den Sklavenbesitzern genötigt.
Während der kolonialen Periode und in den ersten
Zeiten unter der Verfassung waren die Interessen des mer-
kantilen Neu-England und des Reis erzeugenden Süd-Caro-
lina dieselben in politischer und kommerzieller Beziehung.
Während der ersten 30 Jahre des 10. Jahrhunderts änderte
die Anpflanzung der Baumwolle im Süden und das Wachs-
tum der Textilindustrie im Norden die Haltung dieser
beiden Landesteile. Infolge des Gebrauchs des Dami)fes
als bewegende Kraft wurden grofse Verbesserungen in den
Maschinen für Spinnen und Weben gemacht. Die Erfindung
des Spinning Gin 1767 und des Tower loom 1785 ver-
anlafsten einen bedeutenden Aufschwung der Fabrikation
von Baumwollstoffen in England und erhöhten die Nach-
frage nach Baumwolle, die bis dahin von Ägypten
und Indien bezogen wurde. Seit der Mitte des 17. Jahr-
hunderts hatten die südlichen Kolonien Baumwolle in
kleinen Mengen gebaut. Die Erfindung des Cotton Gin
1793 änderte dies. Bisher war das grofse Hindernis für
die Baumwollerzeugung die aufserordentliche Arbeit ge-
wesen, die nötig war, um die Baumwollfaser von dem
Samen zu trennen. Die vollständige Trennung von einem
IT. In der Schule. 35
Pfund Baumwolle war die Arbeit von durchschnittlich einem
^ Tage. Daher beschränkten die hohen Kosten der Fertigstellung
'iäer Baumwolle für den Markt deren Erzeugung auf Länder
wie Indien, wo die Arbeit sehr billig war. Aber durch
den Cotton Gin wurde die Fähigkeit eines Sklaven in
der Reinigung der Baumwolle um das 300 fache vergröfsert.
Baumwolle hing mehr vom Klima als vom Boden ab; dem-
gemäfs war ein grofser Teil des Landes zwischen dem
36 Grad n. Br. und dem Golf von Mexiko sehr wohl ge-
eignet für den Baumwollbau. Witney's Erfindung erschien
im günstigsten Zeitpunkt; denn es waren Klagen laut
geworden , dafs Reis und Indigo , die Stapelartikel von
Süd-Carolina und Georgia, wegen der niederen Preise nicht
den Anbau lohnten.
Im Jahre 1790 erstreckte sich der „schwarze Gürtel",
wo die Sklaven 75 — 90% der Bevölkerung bildeten, über
einen Teil der Küstenregion von Süd-Carolina und Georgia.
In Virginia und längs eines grofsen Teils der Floridaküste
bildeten die Sklaven 50 — 75°/'o der Bevölkerung. Im Jahr
1812 war die Sklavenbevölkerung viel dichter und erstreckte
sich bis zum Mississippi und selbst jenseits desselben.
Das Hinterland der Südstaaten war ein grofser Weizen-
distrikt mit seinen Getreidemühlen, und glich viel mehr dem
Norden als dem Süden. Tatsächlich war es besiedelt worden
von dem Überschufs der Bevölkerung des Nordens und von
den Einwanderern direkt aus Europa. Aber nicht lange
nach der Einführung der Baumwolle dehnte sich deren
Kultur hierher aus und mit ihr auch die Sklaverei.
Wir haben demnach zwei verschiedene Typen der Zivili-
sation: Das Plantagensystem des Südens mit all seinen
Eigentümlichkeiten und das Fabriksystem des Nordens
mit seiner modernen Farmwirtschaft, seinen mannig-
faltigen Erwerbszweigen und fortgeschrittenen Transport-
36 Hintrager.
methoden; das eine System war gegründet auf Sklaverei,
das andere auf freie Arbeit. Das System der Sklaverei
verurteilte den Süden nicht nur dazu beim Ackerbau zu
bleiben, sondern auch diesen unter riesiger Verschwendung
der Hilfsquellen des Landes zu betreiben. Es war dazu
angetan, einen der reichsten und fruchtbarsten Teile des
Kontinents zu erschöpfen. Das System der Sklaverei er-
zeugte auch die unter dem Kamen „die armen Weifsen"
bekannte Gesellschaftsklasse. Diese gehörten weder zur
herrschenden Klasse noch zu den Sklaven, wurden vielmehr
von beiden verachtet. Sie waren frei , aber eben deshalb
aller Hoffnung beraubt, sich zur Unabhängigkeit zu er-
heben und allgemeine Achtung sich zu sichern, weil es
kein System der Miete freier Arbeit gab, und weil bestimmte
Arten von Arbeit in der öffentlichen Meinung verächtlich
geworden waren. Da die Würde der Arbeit verschwand,
war wenig Gelegenheit geboten, sein Leben auf achtbare
Weise zu fristen. Unwissenheit und Armut allein genügten,
um den einzelnen zu unterdrücken. Kam hierzu noch der
Mangel an achtbarer Arbeitsgelegenheit, so wird das Ent-
stehen und die Fortdauer der Klasse der „armen Weifsen" wohl
verständlich. — Ein anderes Resultat des Sklavereisystems
war die Beschränkung der Bevölkerungszahl. Im Jahre 1800
verteilten sich die freien weifsen Einwohner zwischen
Norden und Süden nach dem Verhältnis 25:13. Im Jahre
1830 war das Verhältnis etwa dasselbe, aber der Süden
hatte seine Stellung nur durch die Erwerbung von Louisiana
und Florida gehalten und durch die rapide Besiedelung der
an den Golf von Mexiko grenzenden Staaten.
Die Einführung verbesserter Transportmethoden und
die sonstige Ermutigung des nördlichen Gewerbefleifses
mufste notwendig dazu führen, dafs die Gewerbe des Nordens
sich hoben, Industrie-Centren entstanden, die Auswanderung
II. In der Schule. 37
dorthin sich lenkte und die Industrie- und Handelscentren
des Nordosten aufgebaut wurden. Die Zeit von 1830 — 40
war eine Periode von grofsem geistigem und materiellem
Fortschritt im Norden, und die Bevölkerung nahm rapid zu.
Aber der Süden stand still, wie in materiellen Angelegen-
heiten, so in intellektueller Hinsicht: nicht einer der
grofsen Namen von Dichtern, Geschichtsschreibern oder
Männern der Wissenschaft kam vom Süden. Im Jahre 1840
waren 63°/o der des Lesens und Schreibens unkundigen
weifsen Bevölkerung im Süden zu finden^ Die Sklaven-
halter waren die herrschende Klasse, und sie war intelligent
und einflufsreich, obwohl gering an Zahl.
Es war unmöglich, dafs zwei so verschiedene Systeme in
Harmonie unter derselben Regierung existieren konnten.
Wie Lincoln sagte: „Ein Haus, das mit sich selbst uneins
ist, kann nicht bestehen". Es hatte sich ein nicht unter-
drückbarer Konflikt der Nation aufgezwungen. Der Krieg,
der folgte, hatte zu entscheiden, welches System vom ameri-
kanischen Boden verschwinden sollte. Zum Glück trium-
phierte die Sache der Freiheit und Menschlichkeit!"
Damit schlofs Mifs Hamilton. Nach einem Sousa- Marsch
des Schulorchesters folgte ein nicht weniger interessantes
und für die grofszügige amerikanische Denkweise charakte-
ristisches Essay der reizenden Edna Wootton, der „Tabitha"
der Abiturientenklasse. Ihr Vortrag über die wirtschaft-
liche Entwicklung der Vereinigten Staaten lautete:
„In dem wirtschaftlichen Entwicklungsgang der Ver-
einigten Staaten bestanden fünf bestimmt zu unterscheidende
Stadien. Diese sind : Das Stadium der Jagd und Fischerei,
der Weidewirtschaft, des Ackerbaues, des Handwerks und
der Industrie. Diese Entwicklungsphasen sind über den
Kontinent hingegangen, wie eine Welle der andern folgend.
Unsere früheste Geschichte ist die Entwicklung eng-
38 Hintrager.
lischer Ideen auf amerikanischem Boden. Die englischen
Kolonisten waren unsere ersten Grenzleute. Sie fanden
dieses Land als eine Wildnis, im Besitz von Indianern.
Unter diesen Umständen waren sie gezwungen, Händler
und Jäger zu werden und die Spuren der Indianer in die
Wildnis zu verfolgen. Die Indianer folgten den Spuren
des Büffels. Mit dem Zug nach Westen wurde die Grenze
mehr und mehr amerikanisch. Wie die Zahl der Kolonisten
zunahm und das Wild seltener wurde, zogen die Händler
und Jäger nach Westen. Ihre Plätze wurden bald von den
Hirten und Herden eingenommen. Auch diese zogen nach
Westen, sobald ihrer zu viele wurden, und ihnen wiederum
folgte der Farmer. Dem Farmer folgte mit der Zeit der
Kapitalist, und das Dorf wurde eine grofse, unternehmende
Stadt. Dieser Prozefs spielte sich ab von Osten nach
Westen bis auf den heutigen Tag, da wir nach dem Census
von 1890 eine eigentliche Grenze in dem erwähnten Sinne
nicht mehr haben.
In dem Stadium der Jagd und Fischerei lebte der
Mensch allein von dem, was er finden konnte, nämlich
Beeren, Wurzeln, Wild und Fischen. Er hatte nur wenige
Werkzeuge und Waffen. Die Bevölkerung war dünn , da
viel Land nötig war, um einen einzelnen mit Wild und
Fischen zu versehen. Hungersnöte waren häufig, und es
wurde wenig gekauft und verkauft, da alle ungefähr die
gleichen Sachen erzeugten. Ein Beispiel dieses Stadiums
sind die französischen Fellhändler längs der grofsen Seen
und im Mississippitale während des 17. und 18. Jahr-
hunderts, und bieten heute einige Stämme Alaskas.
Das Stadium der Weidewirtschaft wurde gekennzeichnet
durch die Tatsache , dafs die Menschen lernten , Tiere zu
zähmen und Viehherden aufzuziehen, und dafs sie Nahrung
und Kleidung von diesen bezogen. Die Bevölkerung war
IL In der Schule. 39
zerstreut, und die Menschen führten ein Nomadenleben. Aber
Krieg war seltener, da er ihren angesammelten Besitz zer-
störte. Eine Illustration dieses Stadiums finden wir in
den Viehzüchtereien unseres Westens.
Das Stadium des Ackerbaues zeigte einen bedeutsamen
Fortschritt. Man gebrauchte Pflanzen für den Lebens-
unterhalt. Dies hatte drei wichtige Folgen: Einmal
vergröfserte sich die Bevölkerung bedeutend, sodann
hörten die Menschen auf umherzuziehen, und siedelten
sich an einem Platze an; endlich begann das Privateigentum
am Grund und Boden. Anstatt einer rohen Hütte wie in
der Weidezeit bauten die Menschen nun Häuser mit Glas-
fenstern und Steinkaminen, kauften Land, pflanzten Obst-
gärten, bauten Schulhäuser und Kirchen und bildeten
Dörfer. Von diesen Dörfern lebte ein jedes von sich selbst
und bezog wenig Lebensbedürfnisse von andern Orten.
Der Handel war zum Teil Tauschhandel. Die Sklaverei
nahm bedeutende Proportionen an. In diesem Stadium der
Entwicklung befand sich der Süden vor dem Bürgerkriege.
Das Stadium des Handwerks war die nächste Stufe
unseres Fortschritts. Dieses Stadium hatte seinen Ursprung
im Haushalt. Seifenmachen , Garnspinnen , Stoffweben,
Schreinerei und Schmiedearbeit wurde ursprünglich alles
in der Familie ausgeführt. Nach und nach widmeten sich
die Leute einem einzelnen Handwerk, und wir haben die
kleinen Werkstätten mit gelernten Handwerkern. Diese
Leute bildeten Gesellschaften, genannt Zünfte, welche die
Preise und die Qualität der Waren regelten. Nun wurden
die Leute mehr voneinander abhängig. Jährliche Messen
und Märkte wurden abgehalten, und es wurde nötig, für
Transportmittel zu sorgen. Die Fufspfade der Indianer
wurden zu Wegen verbreitert, welche die Städte und Graf-
schaften bauten , wie das örtliche Bedürfnis es erforderte.
40 Hintrager.
Die Wegesteuer wurde in Arbeit bezahlt , nicht in Geld.
und daher wurden die Wege schlecht gebaut. Auf den
Flüssen waren hölzerne Segelschiffe in Gebrauch. Schiff-
bau wurde in den ersten Jahren der kolonialen Periode
begonnen und war die erste Industrie, welche in den
Kolonien zu einer grofsen Entwicklung gelangte. Durch
ihn wurde das Wachstum eines grofsen und einträglichen
Handels ermöglicht. In der Herstellung hölzerner Segel-
schiffe waren die amerikanischen Schiffsbauer unübertroffen.
Geld war jetzt eine Notwendigkeit, da Tauschhandel sich
für solch allgemeinen Wechsel der Güter nicht mehr eignete.
In der Kolonialzeit diente in Virginia Tabak als Geld,
wurde aber bald durch Gold und Silber ersetzt. Aus den
Dörfern des Ackerbaustadiums wurden Städte, da die Ge-
werbe das nähere Zusammensein der Menschen erforderlich
machten.
Das 5. und letzte Stadium unserer wirtschaftlichen
Entwicklung ist das industrielle, welches zuerst mit einer
Keihe von Erfindungen in der Baumwoll- und Wollindustrie
begann. Dieses Stadium wurde charakterisiert durch die
Anwendung mechanischer Kraft im Gewerbebetrieb. Dies
vergröfserte den Gebrauch des Kapitals bedeutend, und die
Geschäfte wurden nach einem viel gröferen Mafsstab ge-
führt. Hausindustrie wurde ersetzt durch Fabriken. Dies
führte zu Klassenunterschieden zwischen den Arbeitgebern
und Arbeitnehmern. Unter dem früheren System waren
alle Meister, jetzt werden es nur noch Leute von hervor-
ragender Tüchtigkeit. In dem häuslichen Gewerbebetrieb
gehörte dem Manne, was er machte, und er verkaufte es,
so gut er konnte ; zudem verfertigte er einen ganzen Artikel.
Jetzt dagegen haben wir eine grofse Arbeitsteilung und
das Lohnsystem. Preise werden jetzt durch die Konkurrenz
geregelt, anstatt dafs sie durch die Gewohnheit festgesetzt
II. In der Schule. 41
und durch das Gesetz zur Geltung gebracht werden. Der
Austausch wird mehr durch Kredit, als bar Geld ver-
mittelt.
Die Transportverhältnisse wurden bedeutend verbessert.
An Stelle der armseligen kolonialen Wege treten von
Korporationen erbaute Wege mit Wegegeldern. Nun stehen alle
Wege unter öffentlicher Kontrolle . Nach 1 825 wurden zahlreiche
Kanäle gebaut, viele von den Einzelstaaten. Letztere waren
meist keine erfolgreichen Unternehmungen, wohl aber er-
wiesen sich andere Kanäle, insbesondere der Erie-Kanal,
als erfolgreiche Konkurrenten der Eisenbahnen und wirkten
auf eine Herabminderung der Eisenbahnfrachtsätze. Eisen-
bahnen erschienen bald nach den Kanälen. Zuerst waren
dieselben kleine lokale Angelegenheiten. Zwischen 1850
und 1860 wurden sie in durchgehende Linien konsolidiert.
Schliefslich bildeten sie fünf grofse Hauptlinien, welche die
Wege von Küste zu Küste beherrschten. Im Jahre 1890
wurde ^8 der Meilenzahl aller Bahnen als unter einer
Leitung befindlich angenommen.
An die Stelle der hölzernen Segelschiffe traten zuerst
eiserne und dann stählerne Schiffe. Heute sind die in
unserem Lande gebauten Stahlschiffe in jeder Hinsicht un-
übertroffen im Vergleich zu Schiffsbauten irgend eines
anderen Landes derWelt. Selbst unsere eigene Stadt Dubuque
hat eine Schiffswerft, die sich rühmen kann, das Kriegs-
schiff „Ericson" für unseren letzten spanisch-amerikanischen
Krieg geliefert zu haben. Sie hat auch den „Windom"
gebaut, einen Zollkutter.
Während des vergangenen Jahrhunderts hat eine merk-
würdige Konzentration der .produktiven Industrie stattge-
funden. Früher war der Betrag von Kapital und Arbeit,
die in einem Durchschnittsgeschäft steckten, viel kleiner
42 Hintrager.
als heute. An die Stelle kleiner Fabriken sind gigantische
Unternehmungen getreten.
Unsere Gewerbe haben viele Veränderungen erfahren.
Zuerst hatten wir die Hausindustrie, in der jeder Artikel
von der Familie hergestellt wurde. Dann kamen die kleinen
Werkstätten mit unabhängigen Eigentümern; die Leute
setzten ihre Waren auf Märkten und jährlichen Ausstellungen
ab. Dann folgte das Fabrikwesen. Unter diesem entwickelte
sich die Arbeitsteilung, das Lohnsystem und die Konkurrenz.
Gegenwärtig ist eine andere Veränderung im Gange, näm-
lich die Konzentration aller Teile einer einzelnen Industrie
in ein grofses Etablissement. Die Konzentration kleiner
Unternehmungen in grofse zeigt sich zuerst bei denjenigen
Industrien, welche Bedarfsgegenstände liefern, die nur in
unmittelbarer Verbindung mit der geschäftlichen Anlage
verbraucht werden können, wie Gas-, Elektrizitäts- und
Wasserwerke. Dies ist dem Umstände zuzuschreiben, dafs
eine Gesellschaft das gleiche Stück Land mit sehr viel
geringerem Aufwand an Schienengeleisen, Gasröhren, elek-
trischen Drähten bedienen kann, als zwei Gesellschaften
nötig hätten. Daher kann es die eine Gesellschaft billiger
machen als zwei. Diese Neigung zur Konzentration ist
zur Zeit in allen Industrien in ganz auffallendem Mafse
vorhanden."
Anschliefsend hieran trug eine Abiturientin einen Teil
der berühmten Harvard Commemoration-Ode Lowells vor,
wohl der besten Dichtung, die der Bürgerkrieg hervorrief.
Nach einem Violinsolo folgte der Glanzpunkt des Abends,
zwei Reden über das Thema: „Ist Expansion eine weise
Politik?" Die erste, den verneinenden Standpunkt ver-
tretende Rede hielt ein Abiturient, die andere bejahende
hielt die ebenso begabte als anmutige Abiturientin Melinda
Rider. Sie hatte das Abgangszeugnis mit den „ersten
II. In der Schule. 43
Ehren" erhalten und führte ihre Aufgabe so glänzend durch,
dafs langer Beifall sie lohnte. Ein Teil des Beifalls galt
vielleicht dem „ja", das sie vertrat; denn die Majorität
der Anwesenden war wohl für die MacKinleysche Er-
oberungspolitik. Aber wie dem auch sei, die 18jährige
„Linda" war ein solch guter Anwalt für Kolonialpolitik,
wie ich meinem Vaterlande recht viele wünschen möchte.
Die Feier schlofs mit der Verteilung der Abgangs-
zeugnisse und einem Gebet. Die Verteilung der Zeugnisse,
die auf grofsen Bogen standen und je mit einem seidenen
Band in den Klassenfarben umschlungen waren, geschah
durch den Vorstand des Schulrats, der aus direkten Wahlen
hervorgehenden Schulverwaltungsbehörde des Bezirks.
III. Auf dem Bureau des Reehts-
anw^alts.
„Guter Humor ist immer der Erhalter
unserer Ruhe und unseres Friedens."
Jefferson.
Dubuque, Jowa.
Mit Befriedigung blicke ich auf eine neue Episode
meiner amerikanischen Lehrzeit. Ein hiesiger Rechtsanwalt
gab mir Gelegenheit, auf seinem Bureau tätig zu sein.
Der vorübergehende Aufenthalt unter einem fremden Volke
kann nur mehr oder weniger flüchtige Einblicke in sein
Leben gewähren. Aber wenn etwas dazu angetan ist, diese
Einblicke zu vertiefen, so ist es die Arbeit, vor allem in
diesem Lande.
Die Anwaltsfirma, auf deren Bureau ich mich befinde,
gehört zu den ersten am hiesigen Platze. Utt, der ältere
der beiden Junggesellen, huldigt anscheinend der Ansicht,
dafs Arbeit eine Unterhaltung für die Toren ist. Er be-
sucht das Bureau sehr unregelmäfsig. Kommt er, so
schlendert er herein und setzt sich an die Arbeit, ohne
den Hut abzunehmen. Schlägt er etwas nach, so lehnt er
sich zurück in seinem bequemen Stuhle, legt die Beine auf
den Tisch und auf diese das schwere Gesetzbuch. Nur
einmal sah ich ihn eine rasche Bewegung machen, als
eine hübsche junge Witwe auf das Bureau kam und, da
in Geschäftslokalitäten nicht angeklopft wird, ihn in seiner
gewöhnlichen Positur mit den Worten überraschte: „Ist
in. Auf dem Bureau des Rechtsanwalts. 45
dazu der Tisch da?" Diese Witwe hatte ihm das Mandat
erteilt, die 10000 $ betragende Lebensversicherungssumme
ihres jüngst verstorbenen Mannes von einer Versicherungs-
gesellschaft beizutreiben, und besuchte ihn häufig. Seit er
mit dieser Klage durchgedrungen, ist er nicht mehr auf
das Bureau gekommen. Das Honorar, das er mit der
Klientin verabredet hatte, betrug gegen 2000 $; wäre er
im Prozefs unterlegen, so hätte er nichts erhalten. So wird
hier gewöhnlich die Honorarvereinbarung getroifen, hinsicht-
lich deren völlige gesetzliche Freiheit besteht. „Wenn er
das Geld verbraucht hat, wird er wieder kommen und
arbeiten," sagt sein Partner Henry.
Die Seele des „Geschäftes" ist Henry, ein humorvoller
Junggeselle Mitte der 30er Jahre, dessen Gemüt und
Lebensphilosophie das deutsche Blut in seinen Adern ver-
rät. Er ist oft in Deutschland gewesen und bewundert
deutsche Bildung, deutsche Rechtswissenschaft und Rechts-
pflege, während Utt vom deutschen Rechte, wie überhaupt
von allem, was aus der alten Welt kommt, mit Gering-
schätzung als von mittelalterlichen Dingen spricht.
So verschieden wie die Denkart der beiden ist ihre
Ausbildung für ihren Beruf gewesen. Die Zulassung zur
Rechtsanwaltschaft, welche zum Auftreten vor allen Ge-
richten des betreffenden Staates berechtigt — die englische
Unterscheidung zwischen Barrister und Solicitor gibt es
hier nicht — , setzt in allen Staaten der Union das Be-
stehen einer Prüfung voraus, die gewöhnlich vor einem
Gericht mündlich abgelegt wird. Die Bedingung der Zu-
lassung zu dieser Prüfung- ist entweder ein mehrjähriger
Besuch einer Law school oder eine mehrjährige praktische
Tätigkeit auf einem Anwaltsbureau. Utt hat letztere
Ausbildung genossen und sich dann mit seinem älteren
Bruder (ebenfalls Rechtsanwalt) vereinigt; er trennte sich
46 Hintrager.
jedoch von ihm, als dieser sich mit einer Rechtsanwältin
verheiratete und mit dieser zusammen die Praxis ausübte.
Henry, der drei Jahre lang die Law school der Staats-
universität von Jowa besucht hat, assozierte sich mit Utt,
in erster Linie, um den Vorteil der längeren praktischen
Erfahrung und der reichen Bibliothek Utts zu geniefsen.
Auf weiteres als dies und die Miete gemeinschaftlicher
Räumlichkeiten erstreckt sich das Gesellschaftsverhältnis
der Anwälte hier in der Regel nicht. Jeder arbeitet und
rechnet mit seinen eigenen Klienten. Nur in den Grofs-
städten gibt es Anwaltsfirmen, die Geschäfts- und Gewinn-
teilung haben. Da bei den Zulassungsprüfungen keine
grofsen Anforderungen gestellt zu werden pflegen und der
Anwaltsberuf, besonders auf politischem Gebiete , viele
Aussichten eröffnet, gibt es hier sehr viele Rechtsanwälte,
und' der Geist der Zusammengehörigkeit unter denselben
ist schwach. Dubuque, eine Stadt von etwa 45000 Ein-
wohnern, hat 55 Rechtsanwälte. Reklame zu machen in
Zeitungen oder durch einen Anschlag am Bureaufeuster
(z. B. „Spezialität: Billige und rasche Ehescheidungen")
ist nichts Seltenes und wird von der öffentlichen Meinung
kaum für verwerflich erachtet. Wohl haben sich in den
meisten Staaten Anwaltsvereine gebildet ; allein deren Ein-
flufs und Tätigkeit ist mehr auf Herbeiführung gesetz-
geberischer Reformen und Schutz der Interessen der Mit-
glieder als auf Mafsregelung derselben gerichtet. Auch
hier, wie überall in diesem Lande, ist gröfste persönliche
Freiheit.
Doch nun einiges aus der Tätigkeit der letzten Wochen.
Es ist nicht das erste Mal, dafs ich den Eindruck bekam,
dafs hier nicht so viel gearbeitet wird, als man draufsen
glaubt. Henry erhält oft Besuche, die nur zur Unter-
haltung kommen. Wir macheu oft gleiche Besuche, be-
III. Auf dem Bureau des Rechtsanwalts. 47
sonders bei hiesigen Beamten, die auch immer Zeit zu haben
scheinen und stets zum Wiederkommen einladen. Vor
einigen Tagen kam ein alter Anwalt auf das Bureau, auf
dem ich gerade allein war. Mit dem hier auch unter
Damen üblichen heiteren „Hallo I" tritt er ein, den Hut
auf dem Kopfe, sieht sich um und fragt: „Wo sind die
Jungen?" (So lange man ledig ist, ist man hier „Junge"
oder „Mädchen".) An schönen sonnigen Nachmittagen
geht Henry oft ans Telephon und fragt bei einer seiner
zahlreichen Freundinnen an, ob sie ihm nicht das Vergnügen
bereiten wolle, mit ihm spazieren zu fahren. Erhält er
eine Zusage, so bestellt er den Wagen und überläfst das
Bureau mir. Und trotzdem tut auch er, wie alle Menschen
in diesem nervenreizenden Klima , alles mit Unruhe und
Hast. Er rennt vom Bureau zum Lunch, verschlingt das
Essen, ohne Hut und Überzieher abzunehmen, rennt wieder
zum Bureau, um — im Schaukelstuhl die eben eingelaufene
Zeitung zu lesen. Wird dann einmal gearbeitet, so ge-
schieht auch dies mit Energie und Hast, und die Arbeit
lohnt. Dafs das Honorar des Anwalts hier sehr hoch ist,
ist auch in Deutschland bekannt. Selbst die Schreib-
gebühren sind zehnmal so hoch als bei uns. Als ich Henry
eine Kostenrechnung eines deutschen Anwalts zeigte und
ihm erklärte, wie das Gericht sie bis ins einzelne nach-
prüft, da sagte er ruhig: „So etwas würden wir niemals
ertragen." Um Kleinigkeiten kümmert man sich hier
nicht. Für einen kleinen Rechtsrat wird nie etwas be-
rechnet.
So viel ich bis jetzt gesehen habe, liegt der Schwer-
punkt der Tätigkeit des Anwalts hier nicht auf dem Bureau,
sondern in der Vertretung des Mandanten in der mündlichen
Verhandlung vor Gericht. Der Prozefs wird sehr wenig
durch Schriftsätze vorbereitet. Als ich Henry fragte, warum
48 Hintrager.
er in seinen Schriftsätzen nie Beweismittel bezeichne, lachte
er: „Das tut hier niemand. Dann würde ich meinen ganzen
Fall weggeben! Der Gegner mufs überrascht werden."
Gerichtsverhandlungen habe ich bis jetzt nur wenigen an-
gewohnt, da mich meine Tätigkeit mehr auf dem Bureau
in Anspruch nahm. Immerhin aber haben mir die wenigen
Verhandlungen, bei denen ich zugegen war, gezeigt, dafs
hier der Anwalt alle Minen spielen läfst in einer Weise,
wie es vor einem deutschen Gerichte niemals geduldet
würde.
Dies veranschaulicht ein Prozefs, der in den letzten
Wochen hier grofses Aufsehen machte.
Die 46jährige Witwe Sunnyside, Inhaberin einer Pension
hier, klagte gegen den hiesigen Arzt Dr. Goody, der sich
jüngst verheiratete, auf lUOOO $ Schadenersatz wegen Ver-
löbnisbruchs. Die Verhandlung dieser Sache dauerte sechs
Tage, trotzdem nur 12 Zeugen vernommen wurden, und
war ein erbitterter Kampf vom Anfang bis zum Ende. Die
Bildung der Geschworenenbank, welche nach englisch-
amerikanischem Prozefsrecht auch bei Entscheidung von
Zivilprozessen mitwirkt, nahm den ersten Tag in Anspruch,
da die Parteivertreter jeden einzelnen Geschworenen ein
peinliches Verhör unter Eid bestehen liefsen, um sich
darüber schlüssig zu machen, ob sie denselben ablehnen
sollen oder nicht. Die beiden folgenden Tage und ein Teil
des vierten Tages waren ausgefüllt durch Vernehmung der
Zeugen beider Teile. Sie erfolgt, wie im englischen
Recht, als Kreuzverhör durch die Parteivertreter. Dies
verlängert an sich schon die Dauer des Verfahrens; allein
noch mehr geschieht dies durch die Einsprachen der ver-
hörenden Anwälte gegen die Zulässigkeit einzelner Fragen.
Denn jeder sucht die Zeugen des Gegners mit aufser-
ordentlicher Gewandtheit und Schlauheit zu verwirren, zu
III. Auf dem Bureau des Eechtsanwalts. 49
bedrängen und in Fallen zu locken, oft auch durch er-
müdend langes Fragen zu entkräften. Wie ein Sekundant
beim Zweikampf gefährliche Hiebe abzufangen bestrebt ist,
so achtet der Anwalt hier mit Spannung auf jede Frage
des Gegners an die Zeugen und ruft sofort: „Ich wider-
spreche" , wenn er die Frage für gefährlich hält. Über
die Zulässigkeit der Frage entscheidet dann endgültig der
den Vorsitz führende rechtsgelehrte Richter, nach oder ohne
Anhörung der Parteien.
Das Ergebnis der Beweisaufnahme war im wesentlichen
folgendes:
Verschiedene Pensionäre der Klägerin bezeugten den
wiederholten Besuch des Beklagten bei der Witwe Sunnyside;
ihr Dienstmädchen bekundete, dafs beide öfters zusammen
ausfuhren, einmal im Salon sich küfsten, und dafs sie auch
sonst Vertraulichkeiten zwischen ihnen wahrgenommen habe.
Zum Beweis der Intimität des Verhältnisses wurden
klägerischerseits verschiedene Aussteuergegenstände vor-
gelegt und geltend gemacht, diese habe die Witwe sich mit
Rücksicht auf die bevorstehende Verheiratung gefertigt.
Ein Handtuch wurde übergeben, das der Beklagte zum
Gebrauch in seinem Sprechzimmer von der Klägerin ent-
lehnt hatte, und das den Namen des Beklagten trug, ohne
dafs jedoch festgestellt werden konnte, wer den Namen in
das Tuch gestickt hatte. Wiederholte Liebeserklärungen
und Heiratsversprechen des Beklagten bekundete endlich
die Klägerin selbst, und zwar unter Eid ^). Bei ihrer Ver-
nehmung wurde die Klägerin von dem Anwalt des Be-
klagten in ein peinliches mehrstündiges Kreuzverhör, ins-
besondere über ihr Vorleben, genommen, das nicht zu ihrem
^) Diese Vernehmung läfst das hiesige Prozefsrecht ohne weiteres
zu. Zugeschobene und richterliche Eide kennt dasselbe nicht.
Hintrager. 4
50 Hintragei*.
Vorteil ausfiel. Sie wurde in Widersprüche verwickelt,
z. B. hinsichtlich der Geburtstage ihrer Kinder, ihrer
früheren Verheiratung, und mufste auch bekennen, dafs sie
schon zweimal, im Staate Ohio und New York verheiratet
gewesen war, und dafs anläfslich des Todes ihres letzten
Mannes eine gerichtliche Leichenschau wegen Vergiftungs-
erscheinungen stattgefunden hatte. All dies hatte der
Anwalt des Beklagten erkundet, was in diesem grofsen
Lande, bei dem Fluktuieren der Bevölkerung amd dem
Mangel jeder obrigkeitlichen Registerführung nicht leicht ist.
Der Beklagte erklärt unter Eid sämtliche von der
Klägerin behaupteten Vertraulichkeiten und Heiratsver-
sprechen für unwahr, erbrachte verschiedene Alibibeweise
und legte Briefe der Klägerin vor, in denen sie in einer
Weise mit Klage droht, die nahe an Erpressung grenzt.
Am vierten Tage endlich begannen die Plaidoyers der
Parteivertreter, deren jede Partei in diesem Prozesse zwei
hatte, wie dies hier oft bei gröfseren Sachen der Fall ist.
Diese Plaidoyers ^) sind der Höhepunkt des Kampfes der
Parteien und die Reklame der Anwälte.
Zuerst sprach der erste Anwalt der Klägerin , ver-
bal tnismäfsig kurz, nur eine Stunde. Ihm folgte in mehr-
stündiger gewandter Rede der erste Anwalt des Beklagten,
Mr. Hurd. Wie es hier üblich ist. trat er unmittelbar vor
die Geschworenenbank, stellte sich bald vor diesen, bald
vor jenen Geschworenen und redete mit lebhaften Be-
wegungen und rhetorischen Effekten. Zunächst machte er
sich über Person und Vorleben der Klägerin lustig mit
bissigem Spott, verdächtigte sie sogar wegen der Ver-
giftungserscheinungen an der Leiche ihres zweiten Gatten.
*) Im folgenden nach dem Stenogramm des Gerichtsstenographen
teilweise wiedergegeben.
III. Auf dem Bureau des Rechtsanwalts. 51
DanD kritisierte er die Beweismittel der Klägerin. Plötzlich
«rgreift er das zu Geriehtshanden gegebene Handtuch
und schwingt es vor den Geschworenen unter dem Rufe:
„Hier, meine Herren Geschworenen, hier ist die Heirats-
aussteuer! Hier ist die Flagge ihrer Union!" Stürmische
Heiterkeit folgte dieser Anspielung auf die nationale Flagge.
„Meine Herren," fährt er fort, „ich bin kein Arzt, aber
ich bin sicher, ich habe die richtige Diagnose in diesem
Fall. Diese Witwe hat eine Krankheit, die aufrecht steht,
durch das Land spaziert und Hosen trägt. Sie heifst :
,Der Mann in dem Gehirn'. Sie ist verliebt in jeden
Mann und glaubt, jeder Mann sei in sie verliebt." Dann
trägt er ein längeres witziges Gedicht über die verschiedenen
Liebhaber der Witwe vor, die im Laufe des Rechtsstreits
erwähnt worden waren.
„Alle diese, meine Herren Geschworenen, sind jünger
als die Klägerin. Mein Gegner meint, Dr. Goody hätte in
der Witwe keine Hoffnungen erwecken sollen. Allein er
sollte wissen, dafs mein Mandant aus dem Dorfe Sand Springs
kommt, noch wenig von den Lichtern und Schatten einer
groi'sen Stadt wie Dubuque gesehen und keine Ahnung hat
von den Netzen einer Witwe und den Intrigen einer
Pension in der Wilhelmsstrafse.
Mein Gegner hat Ihnen zitiert: ,Das Weib, das du
mir gabst, bot mir von der Frucht, und ich afs'. Aber
mein Gegner hat da einen Fehler gemacht. Hätte er seine
biblischen Studien etwas weiter fortgesetzt, so wäre er zu
der Geschichte von Joseph und der Frau Potiphars ge-
kommen. Sie erinnern sieh, meine Herren Geschworenen,
dafs Joseph sich nicht verführen liefs und darob in das
Oefängnis geworfen wurde. Aber der Herr war mit ihm
und tröstete ihn. Meine Herren Geschworenen, unser Klient
kämpft in diesem Falle den Heldenkampf Josephs.
52 Hintrager.
„Nun, meine Herren, wird in Bälde mein Kollege Lyon,
der andere Anwalt der Klägerin , zu Ihnen sprechen. Ei-
lst der gröfste Jurist der Dubuquer Anwaltschaft und der
gröfste Redner im Staate Jowa, und er gibt dies selbst zu.
Er wird versuchen, Ihnen Sand in die Augen zu streuen, und
wir bitten Sie, hüten Sie sich vor dem Sande! Ich mufs
Ihnen eine Geschichte erzählen, die Ihnen zeigen wird, wie
sehr Sie sich vor Colonel Lyon in acht nehmen müssen.
Es lebte einmal eine alte Dame, welche grofse Bewunderung
für die Predigten eines gewissen Geistlichen hatte. Sie
sagte, er bringe sie immer zu Tränen. Ihr Sohn, der nicht
so viel von dem Geistlichen hielt , sagte , er könne eine
Geschichte von einer Katze erzählen, wie diese eine Maus
jagte, dafs die Mutter auch zu. Tränen gerührt werde. Sie
forderte ihn auf, zu erzählen, und er erzählte die Geschichte,
wie sie sich zugetragen hatte. Als er fertig war und die
Mutter noch nicht weinte, wiederholte er die Geschichte
immer wieder, jedesmal mit mehr pathetischer Stimme als
zuvor, bis die Mutter schliefslich weinte. ,Es ist nicht
das, was er sagt,' erklärte die Mutter, ,es ist seine
himmlische Stimme.' So, meine Herren, ist es mit Colonel
Lyon. Hüten Sie sich vor ihm und seiner himmlischen
Stimme!''
Damit schlofs Colonel Hurd, den sie hier „den
springenden Jack der Dubuquer Anwaltschaft" nennen.
Aber die Plaidoyers sind damit noch nicht zu Ende. Als
ich dem Vorsitzenden Richter, der trotz der langen und oft
sehr wenig sachlichen Ausführung der Anwälte nicht die
geringste Ungeduld zeigte, unsere deutsche Praxis in dieser
Hinsicht mitteilte, meinte er, hierzulande müsse man die
Leute gewähren lassen. — Der Hauptgrund dieser Er-
scheinung liegt wohl darin, dafs die Richter auf eine be-
stimmte Anzahl Jahre aus dem Anwaltstande gewählt
III. Auf dem Bureau des Rechtsanwalts. 53
werden. Der Richter will sich daher nicht unbeliebt
machen.
Der nächste Redner war der zweite Anwalt des Be-
klagten, Jugde Matthews, ein Rednertalent, von dem
man hier sagt, dafs er die Freisprechung eines jeden An-
geklagten durchsetzt und jede Geschworenenbank durch
seine Rede zur Uneinigkeit zu bringen vermag; und dafs
er einst als Staatsanwalt so gefürchtet war, dafs die An-
geklagten ihm vor der Verhandlung oft schrieben: „Please
don't!" Er selbst erzählte mir aus seiner Praxis, er habe
einmal einen Auftrag erhalten, gegen täglich 100 $ Honorar
einen Mörder in Süd-Dakota zu verteidigen. Die Stimmung
sei so erregt gegen den Angeklagten gewesen, dafs der-
selbe beinahe gelyncht worden wäre. Als er sein Plaidoyer
damit begonnen habe, den Mann gegen das allgemeine Vor-
urteil in Schutz zu nehmen, seien Stimmen aus dem Publi-
kum ertönt: „Lügner! Sie sind ein verdammter Lügner!"
Er habe aber ruhig weitergesprochen und dabei stets einen
dicken , gut- und weichherzig aussehenden Geschworenen
ins Auge gefafst, den er schon während der Verhandlung
beobachtet und ausgesucht habe, Schliefslich habe dieser
infolge des fortwährenden Appells an sein Mitgefühl sein
Taschentuch gezogen und Tränen abgewischt. Bald seien
dann auch andere seinem Beispiel gefolgt, und der Mann
wurde freigesprochen. ^)
Matthews, dessen Auftreten seine ursprüngliche Er-
ziehung und Bestimmung für die Bühne wohl verriet, sprach
mit Pathos; seine Rede war reich an Bildern und poetischen
Vergleichen und schlofs mit folgenden Worten : „ Mein Gegner
Lyon sieht sehr wohl, wie schwach es um seine Sache steht.
Darum organisierte er seine Kräfte und machte eine Sehlufs-
*)' Jedes Verdikt mufs hier einstimmig sein.
54 Hintrager.
attacke auf die Geschworenen. Wie die französischen Soldaten
der Feder Heinrichs von Navarra folgten, wie unsere
Truppen Sheridan folgten hinab den Weg nach W^inchester^
so scharte der tapfere Colonel Lyon seine Kohorten um
sich , gefolgt von der Witwe auf der einen Seite und dem
Zeugen Spillane auf der anderen , mit den Zeugen Fowler
und Marie Riefe an der Spitze des Hintertreifens; so
rannten sie die Treppen des Justizpalastes herauf und
stürmten die Gesehworenenbank, über deren Haupt das alte
Baumwollhandtuch, gezeichnet ,Goody', schwingend mit
dem Rufe : Auf zum Sieg !"
Endlich am sechsten Tage begann Lyon, der zweite
Anwalt der Klägerin, sein Plaidoyer. Er eröffnete es mit
heftigen Angriffen auf Colonel Hurd, „der ihn zusammen
mit Matthews während der letzten 48 Stunden gekreuzigt
habe." Als Hurd ihn immer wieder unterbrach und des-
halb Lyon den Präsidenten um Schutz bat, bemerkte der
Präsident, er wolle sehen, dafs er nicht mehr unterbrochen
werde. Hierauf sagte Lyon zum Präsidenten : „Wenn Sie
nicht dafür sorgen , so werde ich es unternehmen . selbst
dafür zu sorgen." Alles lachte, auch der Präsident. Lyon
schlofs seine lange, feurige Rede, während deren er sich
oft den Schweifs von der Stirn wischte, mit folgenden
Worten: „Skandalöse Dinge sind hier vor Gericht gebracht
und in den Zeitungen gedruckt worden , alle darauf be-
rechnet, die Aufmerksamkeit der Geschworenen abzulenken
von den Hauptpunkten, um die es sich handelt, nämlich,
dafs dieser Beklagte um die Klägerin geworben hat. und
dafs er ihr Liebhaber gewesen ist vier Jahre lang. Alle An-
strengungen sind gemacht worden, die arme Witwe in die
kalten Winterstürme hinauszuwerfen, einsam und freund-
los. (Hier weint die Klägerin.) Niemals in meiner Er-
fahrung ist mir ein solcher Fall vorgekommen. Ich habe
III. Auf dem Bureau des Rechtsanwalts. 55
praktiziert , als meine Kollegen Hurd und Matthews noch
in der Mutter Schofs spukten und aus ihren Betten krochen
in Gewändern, feucht vom Tau der Nacht, und niemals
habe ich vor Gericht etwas gesehen, was dieser Niedrigkeit,
diesen gemeinen , miserablen und ungerechten Methoden
gleichkam, wie sie in diesem Falle gegen die arme Klägerin
angewandt worden sind. Ich habe stets die Armen und
Hilflosen verteidigt, und kein schöneres Denkmal wünsche
ich meinem Namen als die Erinnerung an die Treue gegen
diejenigen, deren Sache ich vertrat, ob arm oder reich.
Freilich , da sitzt mein Gegner, ,der springende Jack', der
Don Quixote, der gegen Windmühlen und Strohmänner
kämpft. Er ist die Hornisse der Dubuquer Anwaltschaft,
und wie alle Hornissen am gröfsten hinten. Aber auch
er kann nicht hinwegkommen über die Tatsache, dafs dieser
Dr. Goody der Klägerin vier Jahre lang den Hof gemacht
hat, nicht mit einer Musikkapelle sondern nach der Art
der guten alten Zeit, in Stille und Verschwiegenheit, so
wie wir alle es einst gemacht haben in den Tagen unserer
Liebe. Ich erinnere mich , als ich einst in Port Elizabeth
liebte, wie ich in der Stille über alte Verse nachsann und
auch selbst den Pegasus bestieg, wie ich einmal das Sonett
schrieb (frei übersetzt) an Mifs Daisy:
Denkst du noch, wie du und ich,
Safsen beisammen auf dem Estrich?
Nun, meine Herren von der Geschworenenbank, mein
Gegner Hurd hat Ihnen gesagt, ich sei der gröfste Redner
im Staate Jowa, und dafs ich dies selbst zugebe! "Wohlan,
hier bin ich, meine Herren, hier bin ich ! Aber im Liebes-
werben hat der Beklagte mich weit übertroffen. Wir haben
den Beweis, dafs er meine Klientin in einer schönen Mond-
nacht abholte und mit ihr spazieren fuhr auf verschwiegenen
Wegen nach Asbury. Asbury ! Es liegt etwas Süfses und
56 Hintrager.
Liebliches in diesem Namen ! Und die Sterne schienen, als
er sanfte Worte der Liebe in ihr Ohr lispelte, und selbst
die Kanalgräber auf dem Mars hörten auf mit ihrer Arbeit,
um herabzuschauen auf das Kosen. Denn alle Welt liebt
einen Liebenden. Und der Beklagte war damals ein
Liebender."
Damit endeten die Plaidoyers, der Präsident instruierte
die Geschworenen und entliefs sie zur Beratung. Nach
drei Stunden kehrten sie zurück mit der Erklärung, Ein-
stimmigkeit sei nicht zu erzielen. Der Präsident schickte
sie wieder zurück. Als sie abends 8 Uhr mit derselben
Erklärung wieder kamen, entliefs er sie. Damit hatte der
Beklagte gesiegt. Die Stimmen standen zuerst neun gegen
drei , dann elf gegen eine. Dieser eine , der allein zu
Gunsten der Klägerin stimmte, war ein graubärtiger
Farmer aus der Gegend. Er erklärte, er werde auf der
Seite der Witwe stehen, so lange die Sonne im Osten
aufgehe. —
Trotz der offenbaren Grundlosigkeit der Klage der
Witwe fanden sich Stimmen für sie. In diesem Lande ist es
nicht leicht, eine Geschworenenbank zur Verurteilung weib-
licher Angeklagten zu bringen. Auch das Gesetz schützt
die Frau. Es kam einmal die Frau eines irländischen
Arbeiters auf das Bureau und klagte Mr. Utt, der aus-
nahmsweise gerade auf dem Bureau war, dafs ihr Mann
trinke. Utt schlug den § 2448 Z. 11 des Code of Jowa
auf, wonach keine alkoholischen Getränke an einen Mann
verkauft werden dürfen, dessen Frau dies durch eine Be-
kanntmachung verboten hat. Solche Bekanntmachungen
kann man hier gelegentlich in der Zeitung lesen. Da die
Frau eine Bekanntmachung in der Zeitung nicht wollte, riet
ihr Utt, die Bekanntmachung auf Karten gedruckt an die
in Betracht kommenden Wirte zu schicken. Eine Zuwider-
in. Auf dem Bureau des Rechtsanwalts. 57
handlung gegen das Verbot ist nach dem genannten Gesetz
mit Geldstrafen und Schlufs der Wirtschaft bedroht.
Vor einigen Tagen kam ein Deutscher, Inhaber eines
hiesigen Kolonialwarengeschäfts, auf das Bureau, um sich
wegen ehelicher Schwierigkeiten Rats zu erholen. Ich
nahm die Instruktion auf. Der Deutsche erzählte mir
seine Lebensgeschichte, wozu die Eingewanderten hier
stets bereit sind. Die Menschen haben etwas erlebt
und etwas zu erzählen. Es ist nicht wie bei uns, wo das
Leben des einzelnen in geordneten Bahnen verläuft. Hier
hat jeder seinen Weg sich erst selbst bahnen müssen,
meist unter harten Kämpfen und Entbehrungen. Die Ge-
schichte des Deutschen ist typisch bei aller ünscheinbar-
keit. Er ist nach Ablegung der Einjährig-Freiwilligen-
prüfung herübergekommen und nun seit 13 Jahren im
Lande.
„Als ich in New York landete," begann er, „nahm ein
Freund meines verstorbenen Vaters sich eben noch recht-
zeitig meiner an , denn schon hatte ein sehr verdächtig
erscheinender Fremder mir seine Dienste angeboten. Jener
reiste mit mir hierher, nahm mich in seinem Hause auf
und verschaffte mir auch bald eine Stelle in dem Laden
eines Spezereihändlers. Da ich nicht englisch sprechen
konnte, mufste ich die niedrigsten Dienste verrichten, den
Laden reinigen, den Stalldienst besorgen, Pakete aus-
tragen und so fort. Es war eine harte Zeit. Ein warmes
Mittagessen bekam ich nie; denn nur den ersten Clerk
(Kommis) nimmt der Chef täglich ins Restaurant mit, den
zweiten nur alle zwei Tage. Ich mufste mir im Laden meine
Mahlzeiten bereiten. Meine Schlafstelle war unter dem
Bett des Prinzipals. In dei* Lage, wie ich abends hinunter-
kroch, mufste ich die ganze Nacht bleiben; denn um-
drehen konnte ich mich nicht. Auch der Sonntag brachte
58 Hintrager.
mir nicht viel Erleichterung ; morgens und abends hatte ich
Stalldienste zu tun.
Es war eine gute Schule. Oft schämte ich mich der
Arbeit und wollte davonlaufen. Aber ich war doch wenigstens
aufgehoben, erhielt auch neben freier Wäsche, Kost und
Wohnung 3—4 $ monatlich. Lehrlinge gibt es hiei* ja nicht.
Nach zwei Monaten fragte mich der Prinzipal . ob ich
mir getraue, mit den Waren zu den Kunden zu fahren.
Ich sage ja , der Prinzipal heifst mich einspannen , setzt
sich neben mich auf den Wagen, und fort geht es. Da ich
mich in den vergangenen zwei Monaten oft heimlich im
Fahren getlbt hatte, ging es ganz gut. Von nun an durfte
ich mit dem Wagen zu den Kunden fahren. Zu diesem Fort-
schritt kam bald der weitere, dafs der Prinzipal alle Tage
auch mich zu einem warmen Essen ins Restaurant mit-
nahm. So vergingen sieben Monate; mein Gehalt hatte
sich unterdessen auf 7 $ erhöht.
Nun wurde ich veranlafst, in ein Bankgeschäft ein-
zutreten. Da es mir dort nicht gefiel, blieb ich nach
vier Wochen weg, arbeitete dann da und dort einige Zeit
lang und bekam schliefslich eine Stelle als zweiter Clerk
bei dem Kolonialwarenhändler Schulz hier. Als ich bei
diesem um die Stelle mich bewarb, war gleichzeitig ein
Deutscher, der noch nicht lange im Land war, auch als
Bewerber erschienen. Schulz hiefs uns einige eben ein-
gelaufene Pakete öffnen. Der andere löste sorgfältig die
Schnur und legte die Papiere zusammen , wie man es in
Deutschland macht. Ich zerschnitt und zerrifs die Ver-
packung und war natürlich in weit kürzerer Zeit fertig.
Sofort gab Schulz mir die Stelle. Bald nach meinem Ein-
tritt gründete Schulz ein Zweiggeschäft in einer anderen
Strafse, wie dies hier Sitte ist. Dorthin geht Schulz mit mir
und einem weiteren Clerk, ohne sich darüber zu äufsern, wem
III. Auf dem Bureau des Eechtsanwalts. 59
er die Prokura im Zweiggeschäft geben will. Ich arbeite
mit aller Kraft und tue mein Bestes. Nach fünf Tagen gab
mir Schulz die Stelle des Prokuristen mit einem Anfangs-
gehalt von 18 $ monatlich. Vorher hatte er durch
Liegenlassen von kleinen Geldbeträgen meine Ehrlichkeit
geprüft.
Nach etwa einem Jahre erhielt ich ein kleines Erbteil
von Deutschland und kaufte nun mit einem Freunde zu-
sammen das Zweiggeschäft um 8000 $. Obwohl wir nur
eine Anzahlung von 3000 $ machen konnten, wurde nichts
schriftlich gemacht. Schulz verlangte auch keine Sicher-
heit. Er sagte, wir sollen bezahlen, wenn wir können, und
nützte unserem Kredit sehr, indem er uns seinen bisherigen
Lieferanten empfahl und den Kreditauskunftsbureaus gegen-
über angab, wir hätten 5000 $ Anzahlung gemacht.
Nicht lange darauf etablierte ein Irländer weiter oben
in unserer Strafse, wo alle unsere Kunden herkamen, auch
einen Kolonialwarenladen. Das war ein harter Schlag.
Schulz, dem ich die Sache mitteilte, riet uns: „Verkauft
so billig als möglich und haltet euch , solange ihr könnt.
Geht es nicht, so übernehme ich das Geschäft wieder, und
ihr sollt nichts verloren haben."
Nun folgte ein erbitterter Kampf um Sein oder Nicht-
sein, der 6 Monate dauerte. Wir verkauften spottbillig,
ohne jeden Gewinn, machten riesige Reklame, setzten den
halben Laden auf die Strafse, steckten Zettel an alle Waren,
logen die Kunden an, — kurz, wir arbeiteten fieberhaft und
setzten sehr viel um. Der Laden war immer gefüllt, an
Samstagen hatten wir oft 1200 $ Umsatz. Aber all das
war ohne Gewinn.
Unser Konkurrent, der Irländer, hatte nur noch wenige
Kunden. Samstagabends sahen wir ihn oft, wie er über der
Strafse drüben stand und unseren sehr besuchten Laden be-
60 Hintrager.
trachtete. Er begann nun ein anderes System. Er dachte,
wir verkaufen billig, haben also minderwertige Ware, und
verlegte sich daher auf bessere Sachen und feinere Sorten.
Wir hörten von den Agenten der Verkäufer , dafs er diese
und jene feinen Sorten Kaffee, Kakao etc. bestellt hatte.
Sofort bestellten wir sie auch und bereiteten das Publikum
auf die Ankunft der neuen Waren durch Plakate und
Inserate vor. Da wir von nun an durchweg 1 Cent unter
dem Ankaufspreis verkauften, strömte uns alles zu. Wir
schliefen oft auf ganzen Packen von Dollarbills und Geld,
das wir abends vor Müdigkeit nicht mehr zählen konnten. —
Und welche Befriedigung! Am Abend vor Weihnachten
schlofs der Irländer seinen Laden, um ihn nie wieder zu
öffnen. Wir hatten gesiegt, aber mit schweren Opfern.
Nun mufsten wir unvermerkt unsere Preise wieder er-
höhen. Hierfür hatten wir verschiedene Mittel, haupt-
sächlich andere Namen und Marken für die gleiche Ware,
Unsere bisherige beste Kaffeesorte verkauften wir als neuen
Caracas-Kaffee. Wir erfanden auch Namen, — kurz in
^li Jahren hatten wir es so weit gebracht, dafs wir an
Schulz weitere 3000 $ bezahlen konnten. Am meisten kam
uns zu gute, dafs wir durch jene Kampfzeit aller Augen
auf uns gelenkt hatten. Heute habe ich nun in diesem
meinem Hauptgeschäft ein Kapital von 18 000 ,^1 und in
dem seither gegründeten Zweiggeschäft ein solches von
7000 $. Beide gehen sehr gut. Nur in meiner Ehe, die
ich vor zwei Jahren mit einer Amerikanerin eingegangen
habe, geht es mir nicht gut."
Der Deutsche fuhr dann fort, seinen Fall, der in seiner
Art hier nicht selten vorkommen soll, zu erzählen. Als er
gestern abend hungrig und müde vom Geschäft kam, fand
er sein vor der Stadt gelegenes Häuschen verschlossen.
Da ihm niemand öffnete, stieg er zu einem Fenster hinein
III. Auf dem Bureau des Eechtsanwalts. 61
und fand, dafs seine Frau mit all ihrem beigebrachten Gut
die Wohnung verlassen hatte. Von einem Nachbarn hörte
er, die Frau habe unter Beihilfe ihrer beiden Brüder ihre
Sachen fortgeschafft. Als Grund könne er sich nur denken,
dafs er die Frau einmal im Zorn geschlagen habe. Aber
das sei schon vor einigen Tagen gewesen. Zu seinem
Schwager, bei welchem die Frau jedenfalls sein werde,
könne er nicht gehen, da dieser ihm das Haus verboten
habe.
Die Lage des verlassenen Ehemanns zeigt, was hier
die Frau dem Manne ist. Da er nicht zu den Reichen ge-
hört, die Dienstboten haben, mufste er alle häuslichen
Arbeiten allein verrichten, das Haus den Tag über sich
selbst überlassen und seine Mahlzeiten im Restaurant teurer
bezahlen als im Haushalt. Kein Wunder, dafs er erklärte,
er sei zu jeder Konzession bereit, wenn seine Frau wieder
zu ihm komme. In einem Sühnetermin vor dem Friedens-
richter wurde dann auch wieder Frieden zwischen den
beiden geschlossen ; aber erst nachdem der Mann alle seine
Sünden von der Frau sich hatte sagen lassen müssen, um
Verzeihung gebeten und versprochen hatte , seine Frau
stets gut zu behandeln, willigte die Frau ein, wieder zurück-
zukehren. Als die Frau dem Richter sagte, ihr Mann
habe sie geschlagen, wies dieser den Mann zurecht mit den
Worten: „Wir glauben in diesem Lande nicht, dafs das die
rechte Art ist, eine Frau zu behandeln."
Chicago.
Vor einigen Tagen habe ich Dubuque, die reizende
Sieben-Hügelstadt am Mississippi, verlassen, aber nicht um
Rechtsanwalt in Chicago zu werden , wie Mr. Henry mir
beim Abschied riet.
62 Hintrager.
Charakteristisch waren die Abschiedsworte seines Kol-
legen Utt. Als ich Mr. Henry, der kurz vorher die neuesten
Zeitungsberichte über Sozialistengefahr und Umsturzge-
setzesvorlagen in Deutschland vorgelesen hatte , meinen
Dank ausdrückte und sagte, ich habe viel auf seinem
Bureau gelernt, bemerkte Utt: „Wenn Sie nur ein ganz
klein wenig Gebrauch davon machen, werden Sie Ihr Vater-
land retten."
Wie viel mächtiger pulsiert das Leben hier in Chicago
als in dem konservativen Dubuque ! Welche Früchte zeitigt
der Wettbewerb! Ich lernte einen deutschen Anwalt hier
kennen, der mir sagte: „Ich mufs meine Prozesse suchen,
■wenn nicht machen. Wollte ich auf meinem Bureau warten,
bis die Klienten zu mir kommen, ich wüfste nicht, wovon
ich leben sollte." Er erzählte mir, wie er im Nachlafsgericht
die Liste der mit unbekannten Erben Verstorbenen nach-
sieht, dann die Erben sucht und „aufjagt" und deren Sache
führt. „Gewinne ich nicht," sagte er, „so erhalte ich nichts
für meine Arbeit. Kürzlich hing der ganze Erfolg einer
Sache daran, ob ein näherer Erbe in Australien noch lebt
oder nicht. Ich mufste den Mann tot machen , wollte ich
nicht alles verlieren. Ich weifs wohl, es ist eine kleine
Urkundenfälschung. Aber hier heifst es : ,Vogel, frifs oder
stirb'!"
IV. Im Süden.
„Keine der Gefahren, denen unsere Nation
bisher begegnet ist, käme denjenigen gleich,
die sich einstellen würden, falls unser halbes
Vaterland afrikanisiert werden sollte.''
Johnson.
New Orleans.
In diesem grofsen Kontinente schätzt man die Ent-
fernungen gering. Ich habe mich rasch entschlossen, in den
sonnigen Süden zu gehen, das Land der Baumwolle, der
Orangen und des Zuckerrohrs. Die riesigen Schlachthäuser
und Getreidespeicher Chicagos, seine Strafsen und seine
Menschen bieten ja des Interessanten genug ; aber alles ist
neu und jung. Es erzeugt Durst nach Geschichte.
Wie ganz anders ist es hier als im Norden! Man
glaubt in einem andern Lande zu sein. Im Norden ist
verschwenderischer Reichtum und rastlose Tätigkeit, hier
Armut und träger Schlendrian ; hier sind keine grofsartigen
Läden, keine feinen Hotels, keine schönen öffentlichen oder
privaten Gebäude. Alles ist alt und schmutzig. Im Norden ist
Wissensdurst und Überflufs an Bildungsgelegenheiten; hier,
in einer Stadt von etwa 250000 Einwohnern, befinden sich nur
eine unbedeutende Bibliothek, sehr wenige Buchhandlungen,
ein kleines Museum mit Erinnerungen an den Bürgerkrieg
und die Helden der Südstaaten, deren Standbilder auch
der einzige Schmuck der Stadt sind. Arm erscheint die
Tulane-Universität hier im. Vergleich zu den Bildungsstätten
des Nordens. Der Stadtpark ist eine Wildnis. Arm ist
auch der kleine Badeort am nahen See Pontchartrain.
64 Hiutrager.
Hier ist Ignoranz und Klassengegensatz. Hier sind Mauern
und Zäune, sichtbare, die das Eigentum, und unsichtbare,
die die Mensehen umgeben. Die Kultur des Nordens kennt
diese Zäune nicht mehr. Dort tritt der Mensch frei zum
Menschen, und auch die Einzäunung des Grundeigentums
fällt in den Städten mehr und mehr. Ein reges, öffent-
liches Leben herrscht in den Städten des Nordens, in
Politik, Wissenschaft und Religion. Wie wenig von alledem
ist hier zu sehen !
• Und — last not least — hier ist der Neger. Der
Neger, den ich schon da und dort im Norden gesehen hatte,
hier ist er in Massen ; unter der warmen Sonne des Südens
ist gleichsam sein Heim in diesem Lande. Auch er ist
etwas anderes hier als im Norden. Im Norden ist er der
gewandte Schuhputzer, der Diener im Schlafwagen, der
Kellner mit seinem erstaunlichen Personengedächtnis und
das Spielzeug, das den Weifsen durch seine drollige
Mischung von Naturkind und Kulturmensch erfreut. Seinen
Kuchentanz (Cakewalk) und seine Lieder kennt jedes Kind
des Nordens. Hier aber, im sogenannten schwarzen Gürtel,
d. h. den Staaten, in denen die Schwarzen in Massen,
insbesondere auf dem Lande, wohnen, ist er der Gehafste,
der Verfolgte. Hier ist der Sitz des grofsen Rassengegen-
satzes, von dem man in Europa nur dann und wann au-
läfslich eines Aktes der Lynchjustiz erfährt, der aber dem
Amerikaner als eines der bedeutendsten Probleme seiner
Zukunft erscheint.
Zum Verständnis dieses interessanten Problems und der
gegenwärtigen Verhältnisse des Südens überhaupt ist ein
Blick in die Vergangenheit notwendig.
Von zwei verschiedenen Ausgangspunkten zogen zwei
verschiedene Arten von Kolonisten westwärts von der Küste
in diesen Kontinent hinein. Im Norden siedelten die demo-
IV. Im Süden. 65
kratischen Puritaner der Neuenglandstaaten sich an, im
Süden die aus der englischen Aristokratie sich rekrutierenden
Kolonisten Virginias. Bedeutsamer als der Unterschied in
der Person der Besiedler war von vornherein die Verschieden-
heit der klimatischen und geographischen Verhältnisse des
Südens von denen des Nordens, wodurch der Erwerbstätigkeit
verschiedene Richtungen vorgezeichnet wurden. Seit den
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stehen sich die
wirtschaftlichen Interessen des Südens und Nordens schroff
gegenüber. Dies zeigte sich in erster Linie in Fragen der
Zollpolitik des Bundes. Der Norden fordert Schutzzölle,
der Süden Freihandel ' j. Die innere Geschichte der Union
von 1820—1860 weist eine Reihe von Versuchen auf,
diesen unversöhnlichen Streit durch Kompromisse zu er-
ledigen oder wenigstens dessen Entscheidung hinaus-
zuschieben.
Schliefslich hatte das Schwert zu entscheiden, ob die
Interessen des Nordens oder des Südens für die Regierung
des Bundes mafsgebend sein sollten. Das Resultat des
Bürgerkriegs (1861 — 64), dessen gewaltige Opfer von der
Kraft und den Hilfsquellen des jugendlichen Volkes Zeugnis
ablegten, war der Sieg des numerisch und wirtschaftlich
stärkeren Nordens, der Bourgeoisie über die Aristokratie.
Die Erhaltung der Union war gesichert. Es folgte das
schwierige Werk der Wiederaufrichtung der Südstaaten,
das sich in den Jahren 1865 — 77 vollzog und in erster
Linie die Frage zu lösen hatte, wie in den ehemaligen
Rebellenstaaten neue Staatenregierungen eingerichtet werden
sollten.
Diese 12 Jahre, in welche auch die Verleihung des
^) Vergleiche den Vortrag der Abiturientin G. Hamilton im Ab-
schnitt „In der Schule", Seite 32 ff.
Hintrager. 5
66 Hintrager.
Stimmrechts an die ehemaligen Negersklaven fällt (1868),
gehören zu den interessantesten Kapiteln der inneren Ge-
schichte der Union. Sehr schlimm sind die Folgen des
Krieges für den Süden gewesen. Es macht mir den Ein-
druck, als hätte er sich heute noch nicht ganz davon er-
holt. Die Blüte der männlichen Bevölkerung war ver-
nichtet, die Plantagen, die Eisenbahnen, ja ganze Städte
und Distrikte zerstört und verwüstet, die Bewohner durch-
weg in gröfster Armut. Dem wirtschaftlichen System des
Südens war die Kraft genommen: die Sklaven. Denn am
1. Januar 1863 hat Lincoln durch seine „Emanzipations-
proklamation" die Sklaverei in der Union abgeschafft.
Aber trotzdem ergaben sich die Südstaaten mit der dem
Amerikaner eigenen Fähigkeit, eine gegebene Entscheidung
anzunehmen , willig und ohne den Gedanken an Wieder-
erhebung in ihre Lage. Als dann mit dem Ende der so-
genannten Kekonstruktionsperiode . die Entdeckung des
Mineralreichtums des Südens , die Erzeugung von Baum-
wolle und Früchten und die Anlage von Winterkurorten
nördliches Kapital in den Süden zog, da begann die lang-
same, wirtschaftliche Hebung des Südens. Viele Weifse des
Nordens gingen in den Süden; auch ein kleiner Teil der
Einwanderung wandte und wendet sich dorthin, nachdem
gutes Land im Norden seltener geworden und im Süden
der Arbeit des Weifsen sich viele Möglichkeiten eröffneten.
Städte entstanden und wuchsen. Die grofsen Plantagen
wurden in kleine aufgeteilt; die Zahl der Eigentümer
solcher nahm zu. Auch für das bis zum Kriege so sehr
vernachlässigte Schulwesen geschah etwas, wenn auch bis
heute entfernt nicht so viel wie in den Nordstaaten.
Zwischen 1880 und 1900 stieg der Wert des südlichen
landwirtschaftlichen Grundbesitzes um 72 ^'o, der der land-
wirtschaftlichen Erzeugnisse um 100 °/o. Die Kohlen-
IV. Im Süden. 67
erzeugung des Südens hat sich in dieser Zeit verzehnfacht.
So zeigt der Süden Fortschritt fast überalh Auch eine
ansehnliche Industrie ist in den letzten Jahrzehnten im
Süden entstanden.
Allein ein Hemmschuh der Entwicklung des Südens
blieb und besteht bis heute: Die Anwesenheit der ehe-
maligen Negersklaven, der nunmehr freien, stimmberechtigten
Neger. Am Ende des Krieges waren es etwa 4 Millionen.
Zur Zeit sind in den Vereinigten Staaten 8,8 Millionen
Neger, — also llV2*^/o der ganzen Bevölkerung — von
denen etwas mehr als 7 Millionen in den alten Sklaven-
staaten wohnen. In zwei Staaten, Südkarolina und Mississippi,
überwiegt die Negerbevölkerung die weifse. In dem warmen
Klima des schwarzen Gürtels gedeiht der Neger, hier hat
er auch seit dem Kriege in ansehnlichem Mafse an dem
wirtschaftlichen Aufschwung teilgenommen. Ebensosehr wie
der Neger in der Stadt degeneriert, macht er Fortschritte auf
dem Lande. Etwa 13 "/o aller selbständigen, landwirtschaft-
lichen Betriebe sind von Negern bewirtschaftet. 186328 Neger-
farmer sind Grundeigentümer, etwa 550000 Pächter. Vermehrt
hat sich die Negerbevölkerung in den Jahren 1890—1900
um 1,35 Millionen, d. h. 18,1 "/o , während die weifse sich
im gleichen Zeitraum um 21,4 ^/o^) vermehrte. Diese Ver-
mehrungsziffern, welche, was die Neger betrifft, diejenigen
von 1880 — 1890 erheblich übersteigen, sprechen eine ebenso
beredte Sprache, wie der Anblick, der sich dem Reisenden
auf dem Wege durch das Mississippital in den Staaten
Tennessee und Mississippi so oft bietet: Ein primitives
Holzhäuschen inmitten eines kleinen Stücks schlecht be-
stellten Bodens ; unter der Haustür^ sitzt der weifshaarige
Negerpapa, und um das Haus tummeln sich im Grase,
^) Hierin ist die Einwanderung mitbegriffen.
68 Hintrager.
zusammen mit den Schweinen und anderen Haustieren,
die meist nackten Negerkinder, selten unter einem Dutzend
an der Zahl.
Es war verhängnisvoll für den Süden , dafs auf den
langen Krieg die unerhörte Mifswirtschaft der Rekon-
struktionszeit folgte; denn sie hat zu dem Resultat ge-
führt, das nun die ganze Situation des Südens beherrscht.
Der südliche Weifse fing an, den Neger zu hassen, zu be-
kämpfen; der Rassengegensatz wurde Parteigegensatz. In
den Tagen der Sklaverei war dies anders gewesen; da
bestand eine gewisse Anhänglichkeit zwischen dem Herrn
und Diener; denn beide waren aufeinander angewiesen.
Der Herr sorgte für seine Schwarzen; sie waren sein
Kapital.
Dies änderte sich , als der Sklave frei und stimm-
berechtigt geworden war. Unsaubere Elemente des Nordens
kamen in den Süden und benützten die ungebildeten Neger-
massen und ihr Stimmrecht zur Ausbeutung des Landes
in grofsem Stile. Diese Abenteurer, die wegen der geringen
beweglichen Habe, mit der sie in das Land kamen, Hand-
taschenpolitiker (Carpetbaggers) genannt wurden, herrschten
mittels der Dummheit der Neger über die Minderheit der
südlichen Weifsen. Nur ein paar Beispiele, wie es damals
im Süden zuging, seien angeführt : Hier im Staate Louisiana
kontrahierten diese Handtaschenpolitiker staatliche und
kommunale Schulden im Betrag von 54 Mill. $, ohne dafs
eine nennenswerte Verbesserung damit getroffen worden
wäre; alles flofs in ihre Taschen. In Süd-Karolina ver-
kaufte der Gouverneur, ein Handtaschenpolitiker namens
Moses, seine Begnadigungen mit schamloser Offenheit. Die
unteren, nicht einträglichen Ämter gab man Negern; es
amteten Hunderte von schwarzen Friedensrichtern, die nicht
lesen und nicht schreiben konnten. In Süd-Karolina er-
IV. Im Süden. 69
hielten die Abgeordneten ein paar Dollars für jedes Ge-
setz, das durchging. — Die Folge war, dafs in dem Geiste
der weifsen Bevölkerung des Südens sieh der Entschlufs
immer mehr festsetzte, unter allen Umständen dem Neger
die Macht zu nehmen, ihn nicht über sich herrschen zu
lassen. „Der Neger mufs überstimmt werden," war die
Losung. Trotz des 15. Zusatzartikels der Bundesverfassung,
der den Negern das Stimmrecht sicherte, brachten sie diesen
Entschlufs zur Ausführung, indem sie den Neger mit allen
Mitteln, meist mit List oder Gewalt, von der Wahlurne
fernhielten. Dies geschah und geschieht bis auf den
heutigen Tag. Genügt Geld nicht oder Freibillette für einen
Zirkus oder ein Affentheater, um die kindischen Schwarzen
von Wahlversammlungen und Wahlorten abzuhalten, so
greift der Weifse des Südens zur Drohung mit der Waffe.
Einzelne Stidstaaten haben auch durch die Aufstellung
von Bildungs Voraussetzungen oder durch einen komplizierten
Wahlmechanismus das Wahlrecht der Neger so gut wie
abgeschafft. Es soll auch vorkommen, dafs die von Negern
abgegebenen Stimmzettel nicht gezählt werden.
Dafs im Norden die Verfechter der Rassengleichheit
diese Entwicklung, die ihnen als eine Aufhebung der
Resultate des Krieges erschien, mit Erbitterung beobachteten,
ist natürlich. Sie betrachteten die Negerfrage von dem
Standpunkt völliger Gleichberechtigung beider Rassen, so-
wohl in politischer und wirtschaftlicher als auch in sozialer
Hinsicht. Ähnliche ideale Erwägungen erfüllten sie, wie
in Deutschland viele Leute von den Eingeborenen
Afrikas sie hegen. Je mehr der Norden diese Ideen dem
„rebellischen" Süden aufzuzwingen suchte, desto mehr ver-
fiel der Süden in das Extrem der Opposition , und heute
noch sind beide Teile fern von einer Einigung über diesen
für das Leben der Union so wichtigen Punkt. Erschwert
70 Hintrager.
wird diese Einigung nicht nur durch den schon erwähnten
Umstand, dafs der südliche Weifse den Neger anders und
wohl meist besser kennt als der des Nordens, der nur
vereinzelte Neger sieht, sondern auch durch das Interesse
der republikanischen Partei an dem Stimmrecht der Neger;
dafs diese für die Partei ihrer Befreier stimmen, ist ebenso
natürlich wie das „solide" Zusammengehen der südlichen
Weifsen auf Seiten der demokratischen Partei. Dieser
Umstand war auch der wesentlichste Grund der Verleihung
des Stimmrechts an die Neger ^).
Immerhin macht sich zur Zeit eine langsame Veränderung
der Anschauungen im Norden geltend , und zwar im Zu-
sammenhang damit, dafs die Zunahme der Negerbevölkerung
das Rassenproblem mehr in den Vordergrund rückt. Wenn
auch der Norden immer noch an der Forderung der poli-
tischen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung der Neger
festhält und höchstens vereinzelte Stimmen laut werden,
welche Bildungsnachweis als Voraussetzung des Neger-
stimmrechts verlangen, so wird der Norden doch in der
Frage der sozialen Gleichheit mehr und mehr geneigt, dem
Süden Recht zu geben. Tatsächlich hat der Neger auch
im Norden keinen Zutritt in Familie und Gesellschaft des
Weifsen, wenngleich nicht so viele Schranken zwischen ihm
und dem Weifsen bestehen wie im Süden. Kein besseres
Hotel des Nordens nimmt Neger auf. Dafs Präsident
Roosevelt den gebildeten Neger Booker T. Washington^)
zu Tische lud, war ein vereinzelter Akt, der wohl in erster
') Erst neuerdings hat der einflufsreiche republikanische Union-
League-Club in New York wieder die Forderung aufgestellt, dafs der
Kongrefs gegen die Südstaaten vorgehen solle, welche das Neger-
stimmrecht beschränken oder ausschliefsen.
^) Booker T. Washington steht an der Spitze der nicht geringen
Zahl von Negern, die durch Bildung die Hebung ihrer Rasse erstreben.
IV. Im Süden. 71
Linie von der Rücksicht auf die Stimmen der Neger diktiert
war und auch im Norden durchaus nicht allgemeine Billigung
fand. Die ganze Bedeutung dieser Seite der Sache zeigt
sich, wenn man sich vergegenwärtigt, dafs das natürliche
Resultat der gesellschaftlichen Gleichheit beider Rassen
Mischehen und Blutvermischungen sind. Würde eine gesell-
schaftliche Gleichstellung beider Rassen auch nur annähernd
erreicht, so wäre der Union eine Verschmelzung der
schwarzen und weifsen Rasse aufser der Verschmelzung der
verschiedenen europäischen Nationalitäten zur Aufgabe ge-
stellt. Dies wird von vielen Amerikanern als das wahr-
scheinliche Resultat der Entwicklung angesehen, und man
ist versucht ihnen Recht zu geben, wenn man in den
Städten der Union die zahlreichen Mischlinge mit Haut-
farben in allen Schattierungen sieht. Allein diese Mischungen,
die übrigens immer seltener Verden sollen, sind im wesent-
lichen beschränkt auf die Städte und den Norden. Hier
ist der Neger von der Kultur beeinflufst; in kindischer
Eitelkeit sucht er den weifsen Mann nachzuahmen; im
häuslichen und industriellen Dienste des Weifsen lernt er.
Im Süden dagegen bildet er entweder das Proletariat
der Städte, wie mau es hier in New Orleans in den Strafsen
und am Hafen sieht, oder er lebt in Massen auf dem Lande,
ohne Verkehr mit der Aufsenwelt, sorglos, ohne mehr zu
arbeiten, als was er durchaus nötig hat um sein Leben zu
fristen. Wo der Raum die beiden Rassen nicht trennt, da
trennt sie die Kluft, die seit dem Bürgerkrieg zwischen
ihnen mit jedem Jahre tiefer geworden ist. Nicht nur der
Weifse, auch die jüngere Generation der Neger ist ver-
bittert geworden durch die gesellschaftliche Verbannung
und politische Vergewaltigung. Oft endet eine Missetat
eines Farbigen mit einem blutigen Kampfe in der betreffenden
Gemeinde. Fälle von Lynchjustiz nehmen eher zu als ab.
72 Hintrager.
Da und dort werden farbige Bundesbeamte im Süden be-
lästigt und terrorisiert. Immer wieder berichten die
Zeitungen von kleinen lokalen Kassenkämpfen aus allen
Teilen des Südens, die gewöhnlich damit enden, dafs alle
Farbigen aus der betreffenden Stadt oder Gegend vertrieben
werden. Die weifsen Frauen des Südens sind oft die An-
führerinnen in solchen Kämpfen ; sie sind die erbittertsten
Gegner der Gleichberechtigung der Farbigen. Da und dort
ist eine Tendenz der örtlichen Zusammendrängung der
Farbigen in ausschliefslich von ihnen bewohnte Distrikte
zu erkennen. Auch die Verfolgung führt zu engerem Zu-
sammenschlufs. Die Konzentration der Farbigen in eine
Art Negerreservationen nach dem Vorgange der Indianer
erscheint mir daher das wahrscheinlichste Resultat der
gegenwärtigen Entwicklung. Solche Reservationen werden
auch von vielen gefordert. Der Lincolnsche Vorschlag, die
Farbigen nach Afrika zurück zu verpflanzen, findet heute nur
noch wenig gläubige Vertreter. Hier im Süden hört man
zwar zuweilen die Ansicht, die Bundesregierung habe
die Verpflichtung, die Neger aus dem Lande zu schaffen;
allein die Ausführbarkeit dieses Gedankens wird wohl mit
Recht bezweifelt
Diese 8,8 Millionen Neger erscheinen wie ein grofser
schwarzer Tintenklex auf der schönen Karte der Vereinigten
Staaten. So lange die natürliche Vermehrung der weifsen
Bevölkerung und die Einwanderung in der bisherigen Weise
anhält, ist er nicht gefährlich. Ihn zu entfernen, wird ohne
Blutvergiefsen wohl nicht möglich sein ; die Schwarzen und
die Weifsen haben hier schon zu oft aufeinander geschossen.
Oft hörte ich das Wort: „Wir werden einen Negerkrieg
bekommen."
V. Im Geriehtssaal.
„Alle unsere Einrichtungen sind von
dem Geiste durchdrungen, die Menschen
SU heben." Lincoln.
New York.
Schon die ersten Tage in diesem Lande verbrachte ich
zum gröfsten Teile in dem New Yorker Justizpalast in
Centrestreet. Seitdem habe ich in verschiedenen Städten
Gerichtsverhandlungen angewohnt und dank der ganz aufser-
ordentlichen Zuvorkommenheit der amerikanischen Kollegen,
die mir viele Stunden ihrer kostbaren Zeit gewidmet haben,
konnte ich manchen lehrreichen Vergleich ziehen und inter-
essante Einblicke in Leben und Gesetzgebung gewinnen. Ich
kann in der Tat diese Zuvorkommenheit nicht genug rühmen.
Hätten die Richter und Staatsanwälte hier mir nicht stets
einen Platz unmittelbar neben dem ihrigen angeboten, um
mir im Laufe der Verhandlung die nötigen Erklärungen
geben zu können, so wäre es mir bei der Schnelligkeit
und Formlosigkeit des amerikanischen Prozefsverfahrens
kaum möglich gewesen zu folgen.
Zuerst begab ich mich in das etwa unserem Schöffen-
gerichte entsprechende sogenannte „Magistratsgericht" von
New York, in welchem Einzelrichter entscheiden. Eine der
Abteilungen ist besetzt mit Richter Endlich (früher Rechts-
anwalt, Gehalt: 7500 $) und Gerichtssekretär Thoma (Ge-
halt: 3500 $), zwei ehrenwerten, angesehenen Deutschen,
mit welchen ich am Tage meiner Landung in einer Aus-
74 Hintrager.
schufssitzung für die Carl Schurz-Feier bekannt geworden
war. Beide sind bei der letzten Wahl von der Keform-
partei im Kampf gegen Tammany Hall in ihre Stellungen
gebracht worden.
Richter Kudlich betritt den Gerichtssaal und begibt
sich an den durch ein Geländer vom Publikum getrennten
Richtertisch, rechts und links neben ihm sitzen verschiedene
Gerichtsseh reiber, in dem Raum vor dem Geländer befinden
sich Rechtsanwälte, Publikum und Polizisten. Letztere
bezw. die durch die Straftat Verletzten vertreten die An-
klage, da es Amtsanwälte nicht gibt. Das Verfahren ist
in hohem Grade formlos, mündlich und schnell. Der Richter
hört zuerst die Anklage, dann den regelmäfsig verhafteten
Angeklagten und die Zeugen. Hierauf entscheidet er sofort
mündlich. Alles spielt sich sehr rasch ab.
Ein Polizist führt einen älteren Mann vor und erklärt,
er habe ihn diese Nacht betrunken auf der Strafse ge-
funden^). Der Alte bittet den Richter: „0, geben Sie mir
noch einmal eine Chance!" Richter: „Sie sind zu alt, Sie
können es nicht mehr lassen! Haben Sie Frau und Kinder?"
Als der Angeklagte dies bejaht, gibt ihm der Richter ein-
dringliche Ermahnungen, sein Geld für Frau und Kinder
zu verwenden, nicht für Alkohol. Er entscheidet dann:
„Ich will Sie dieses Mal noch gehen lassen," und sagte
zu mir: „Wenn ich ihn einsperre, sind nur Frau und
Kinder gestraft."
Ein Offizier der Heilsarmee wird vorgeführt, der zwei
ebenfalls erschienene Zeugen mittels eines Schlagringes
mifshandelt hat. Der Richter hört kurz die Zeugen, setzt
den Angeklagten gegen eine Sicherheitsleistung von 500 $
') Trunkenheit ist in sehr vielen Unionstaaten strafbar.
V. Im Gerichtssaal. * 75
auf freien Fufs und verweist den Fall wegen Unzuständig-
keit an das höhere Gericht.
Eine Frau erscheint mit ihrem Manne und klagt, er
gebe ihr kein oder nur ungenügend Geld zum Unterhalt.
Der Richter verurteilt den Mann auf Grund des Zeugnisses
der Frau, welche selbst 3 $ pro Woche verdient, ihr
wöchentlich 8 ^ von seinem Verdienste zu geben. Das
Geld hat der Mann jeweils dem Vorstand des städtischen
Wohltätigkeitsamtes zu verabfolgen; bei diesem kann die
Frau es in Empfang nehmen.
Eine verlassene Braut bittet um Erlassung eines Haft-
befehls gegen ihren Bräutigam; sie erzählt die Geschichte
ihrer Liebe und erklärt u. a., sie verlange die 50 $ zurück,
die sie ihrem Bräutigam geliehen habe. Da der Tat-
bestand nicht genügend aufgeklärt ist, ordnet der Richter
lediglich eine Vorladung des Bräutigams an.
Eine Frau klagt, sie werde von ihrem Manne öfters
geschlagen. Der Mann, der vorgeladen und erschienen ist,
leugnet. Sein Verteidiger macht geltend, die Gröfse und
Stärke der Frau im Vergleich zu dem schwachen kleinen
Angeklagten lasse die Anklage wenig glaubhaft erscheinen.
Lächelnd bemerkt der kleine Richter Kudlich zu dem An-
walt, der eine stattliche Gröfse hat: „Das ist kein Beweis.
Ich wollte Sie auch ganz hübsch zurichten," Der Mann
erhält auf das eidliche Zeugnis der Frau hin eine Geld-
strafe von 20 $ und hat für die Dauer von sechs Monaten
eine Sicherheit von 200 $ zu leisten. Diese ist verwirkt,
falls er innerhalb der genannten Zeit einer Körperverletzung
zum Nachteil seiner Frau überführt wird.
Ein Franzose wird von einem Polizisten wegen groben
Unfugs vorgeführt. Der Polizist erklärt, der Angeklagte
habe sieh in der fünften Avenue aufgestellt und die vor-
übergehenden Damen durch Blicke belästigt; eine Dame
76 Hintrager.
habe sich darüber beschwert. Der Richter warnt ihn und
sagt: „Dieses Mal will ich Sie noch frei ausgehen lassen;
aber das nächste Mal werde ich Sie bestrafen."
Ein etwas zigeunerhaft aussehendes Mädchen, das wegen
Trunkenheit im Rückfall vorgeführt wird, empfängt der
Richter mit den Worten : „Wo kommen Sie schon wieder
her, Mary?" Zornig erwidert die Angeklagte: „Gerade
herunter vom Himmel. Ich rutschte herab auf einem
Regenbogen." Kaltblütig bemerkt der Richter: „So, da
werden Sie Spreifsen beim Herabrutschen bekommen haben ;
ich will Ihnen deshalb sechs Monate geben, dafs Sie sie
wieder herausbekommen. "
Ein Polizist führt ein Ehepaar vor mit der Erklärung,
er habe dasselbe die Nacht zuvor verhaftet, da es durch
einen Streit auf der Strafse die Ruhe gestört habe; die
Frau habe einen Wagen nehmen wollen, um nach Hause
zu fahren, und dies habe der Mann nicht bewilligt. Der
Richter entläfst das Paar und sagt zu dem Polizisten:
„Sie bringen mir immer Leute ohne genügenden Nachweis
einer strafbaren Handlung. Das taugt nichts! Sie lieben
wohl Ihre Beschäftigung nicht?"
Heiter war der nächste Fall. Zwei Frauen erscheinen
unter heftigem, kreischendem Gezanke. Jede wirft der
anderen so viele Untaten vor, dafs ihre Aburteilung einen
deutschen Amtsrichter ein paar Tage lang beschäftigt hätte.
Nachdem die Frauen sich einige Minuten lang zum allge-
meinen Ergötzen gegenseitig beschimpft hatten, sagte
Richter Kudlich: „Jede von Ihnen erhält eine Geldstrafe
von 10 $. So, jetzt gehen Sie und halten Sie den Mund!"
— Kann die Geldstrafe nicht sofort bezahlt oder ihre
Zahlung nicht durch Bürgschaft sichergestellt werden , so
hat der Verurteilte je für einen Dollar einen Tag Freiheits-
strafe zu verbüfsen.
V. Im Gerichtssaal. 77
Ein 14jähriger Taschendieb wird vorgeführt. Der
Polizist erzählt kurz den Diebstahl und bemerkt, dafs der
Angeklagte gestehe. Der Richter sagt: „Ja, Knabe, was
soll ich mit dir anfangen?" Ein Beamter der Guerry
Society, einer Wohltätigkeitsgesellschaft, die in der Für-
sorge für verkommene Kinder Bedeutendes leistet und stets
Beamte in die Gefängnisse und Gerichtsverhandlungen ent-
sendet, bemerkt, er habe den Fall untersucht; die Schuld
an dem schlechten Lebenswandel des Knaben liege in den
traurigen häuslichen Verhältnissen, und er halte Einweisung
des Angeklagten in die Erziehungsanstalt der Gesellschaft
für angezeigt. Auf diese erkennt der Richter.
Ein etwa 20 jähriges Mädchen klagt, ein anderes
Mädchen habe ihr auf einem Balle ihren Regenschirm ge-
nommen. Die Angeklagte, die auf Ladung erschienen ist,
macht geltend, als sie morgens 4 Uhr von dem Balle habe
nach Hause gehen wollen , sei ihr Schirm nicht mehr da-
gewesen ; sie habe daher einen andern mitgenommen , den
sie nun zu Hause habe. Der Richter entscheidet: „Sie
geben der Klägerin den Schirm zurück, und Sie, Klägerin,
geben das nächste Mal , wenn Sie wieder auf einen Ball
gehen, besser auf Ihren Schirm acht oder lassen den
Schirm zu Hause." „Well," erwiderte die hübsche Klägerin,
„ich meine, das gehört nicht zu der Sache von dem
Schirme. Der Schirm gehört mir." — „Sie sehen," sagt
der Richter lächelnd zu mir, „wie selbständig unser Volk
ist." —
Auf diese Weise entscheidet der amerikanische Straf-
richter der untersten Instanz. Er ist glücklicher als seine
deutschen Kollegen ; denn er hat fast nichts zu schreiben,
insbesondere keine Urteilsgründe, und erledigt gelegentlich
30 — 40 Fälle in der Stunde. Seine Urteile werden selten
angefochten; denn der Amerikaner ist stets geneigt, vom
78 Hintrager.
Nebenmenschen, so auch vom Richter anzunehmen, dafs er
sein „Geschäft" verstehe. Wird Berufung eingelegt, so
wird die ganze Sache neu verhandelt. Das Gericht hat
täglich öffentliche Sitzung, und hier werden sämtliche
Geschäfte desselben erledigt. Ein schriftliches Vorverfahren
in unserem Sinne gibt es nicht. Da für die Herbeischaffung
der Zeugen der Anzeigende (regelmäfsig die Polizei) und
der Angeklagte zu sorgen haben, und da es nur den Ge-
richtsstand der begangenen Tat gibt, kommen die meisten,
namentlich die kleineren Straffälle am ersten oder zweiten
Tage nach der Tat zur Verhandlung und Entscheidung.
Eine so wenig vorbereitete, beinahe improvisierte Haupt-
verhandlung ist naturgemäfs formlos. Ich habe bei diesen
Gerichtsverhandlungen immer den Eindruck gewonnen,
dafs hier in buntem Durcheinander die Kinder des Volkes
sich zum Richtertische drängen, um dem Richter wie einem
Vater ihre Leiden und Klagen vorzutragen und Abhilfe zu
suchen. Erhöht wird die Formlosigkeit der Gerichts-
verhandlungen durch die naive Denkweise des Amerikaners,
der wenig nach Formen und Prinzipien, um so mehr nach
praktischen Rücksichten fragt. Der Richter fragt nie nach
der Legitimation des Rechtsanwalts, mit dem eine Partei
erscheint. Er kümmert sich nicht um die Namen der
Parteien. Das ist Sache des Gerichtsschreibers, sie in das
kurze, nach kaufmännischer Art geführte Gerichtsprotokoll-
buch einzutragen. Der Richter fragt wenig nach den
näheren Umständen dieser kleinen Straffälle; oft spricht
er seine Entscheidung aus, ohne den Angeklagten angehört
zu haben. Der Richter trägt auch kein Bedenken, aus
praktischen Gründen ein Gesetz nicht anzuwenden.
Es war Mittag geworden, bis der Gerichtssaal sich
geleert und damit die Tagesarbeit des Gerichts ihr Ende
gefunden hatte. In der Kanzlei des Richters, in der ich
V. Im Gerichtssaal. 79
mich vergeblich nach Akten umsah, verbrachte ich noch
einige Zeit in heiterer Unterhaltung mit Richter Endlich
und Craine und Gerichtssekretär Thoma. Letzterer zeigte
mir die praktischen Kanzleieinrichtungen des Gerichts und
liefs es sich nicht nehmen, mir zum Andenken verschiedene
Gebrauchsgegenstände des Gerichts mitzugeben , darunter
einige Bleistifte mit dem Aufdruck „Eigentum der Stadt
New York". Diese Aufschrift war nötig, meinte Mr. Thoma,
um zu verhindern, dafs unsere Leute Handel damit treiben.
Nach Beendigung der Studien im Magistratsgericht
besuchte ich das Strafgericht höherer Instanz, „Court of
Special Sessions", in New York, dessen Zuständigkeit etwa
derjenigen der Strafkammern unserer Landgerichte ent-
spricht. Es entscheidet in der Besetzung von drei Richtern ;
den Vorsitz führt der energische und feingebildete Richter
Jerome, an den ein amerikanischer Freund mich empfohlen
hat. Manche Stunde hat mir Richter Jerome gewidmet,
und die Unterhaltung mit ihm war mir um so wertvoller,
als er auch mit deutschen Verhältnissen vertraut ist.
„Sehen Sie," sagte er bei unserer ersten Unterhaltung, als
ich das Wort „Juristen" mit Beziehung auf amerikanische
Verhältnisse gebrauchte, „Juristen in Ihrem Sinne gibt
es eigentlich hier gar nicht. Wir haben Richter, die
früher alle möglichen anderen Berufe gehabt haben. Und
doch mufs ich zugeben, dafs das System im allgemeinen gut
arbeitet und im grofsen und ganzen Gerechtigkeit waltet,
dank vor allem der grofsen Anpassungsfähigkeit und dem ge-
sunden Menschenverstand unserer Leute. Unsere Gerechtig-
keit ist oberflächlicher als die Ihrige. Unschuldige werden
wohl ebensowenig verurteilt, dagegen entgehen mehr
Schuldige der Strafe. Es scheint mir aber trotzdem sehr
fraglich, ob Ihre Gründlichkeit und bureaukratische Er-
ziehung nicht mehr Nachteile hat als Vorteile."
80 Hintrager.
Unsere Unterhaltung in der Kanzlei des Richters
Jerome wurde unterbrochen durch das Eintreten von etwa
zwölf Herren, die sieh als Vertreter verschiedener New
Yorker Zeitungen vorstellten und Richter Jerome wegen
seiner Entscheidung im sogenannten Tenderloin-Falle zu
sprechen wünschten. Tenderloin ist der Name eines ge-
wissen Stadtteils von New York. Der Herausgeber eines
unter diesem Namen erschienenen illustrierten Witzblattes
wurde von dem Gerichte unter dem Vorsitze des Richters
Jerome zu einer Geldstrafe von 200 $ wegen des un-
sittlichen Inhalts des Blattes verurteilt. Nun kamen dessen
Kollegen von der Presse, um das Gericht zu bewegen, das
Urteil zu mildern oder aufzuheben, da der Verurteilte arm
und zudem nur Strohmann sei. Obwohl die Vertreter der
mächtigen Presse zäh auf ihrem Wunsche beharrten, auch
die beiden Kollegen Jeromes sich zum Nachgeben geneigt
zeigten, blieb Jerome bei seiner Entscheidung. Wiederholt
erklärte er, er finde vor sich selbst keine Rechtfertigung
für eine Änderung des Urteils, sei aber mit Rücksicht auf
die Vermögensverhältnisse des Verurteilten ganz gerne
bereit, sich an einer für ihn etwa veranstalteten Kollekte
mit einem Beitrag von 25 $ zu beteiligen. Nachdem die
Vertreter der Presse unverrichteter Sache gegangen waren,
erklärte mir Judge Jerome die grofse Freiheit der richter-
lichen Entscheidung in Strafsachen. Dem amerikanischen
Richter läfst das Gesetz eine aufserordentliche Bewegungs-
freiheit. Er kann nicht nur eine getroffene Entscheidung
innerhalb des betreffenden Quartals noch ändern, sondern
auch die Vollstreckung der getroffenen Entscheidung bedingt
(meist auf Wohl verhalten) oder unbedingt „suspendieren",
so lange er will. Ein sehr charakteristischer und ein-
facher Weg, eine weniger wichtige Strafsache zu erledigen,
ist die in der amerikanischen Rechtssprache oft wieder-
V. Im Gerichtssaal. 81
kehrende Verfügung, „to put the case on file", das heifst,
den Fall ad acta zu legen. Der stets zum Scherz auf-
gelegte Amerikaner sagt hiervon: „Der Fall geht in den
Taubenschlag." In die einem Taubenschlag ähnlichen Akten-
fächer der Gerichtsschreiberei wandern die Akten, mit oder
auch ohne den Vermerk des Staatsanwalts : n. p. (= nolo
prosequi) und bleiben dort, bis die Sache verjährt ist.
Die erste Gerichtssitzung des Court of Special Sessions,
zu der Kichter Jerome mich einlud, war am sogenannten
„Bastardy-cases-day ", dem Tag der Bastardfälle. Die grofsen
Gerichte setzen für die Verhandlung gleichartiger Fälle be-
stimmte Tage fest. Die Verhandlungen dieses Tages gehörten
zum Interessantesten, was ich in hiesigen Gerichtssälen erlebt
habe. Die verhafteten Väter, die in einer besonderen Ab-
teilung des Saals des Aufrufs harren, der Anblick und das
zeitweilige Geschrei der Säuglinge, die gewöhnlich von den
Müttern mitgebracht werden , das sprachlich und mensch-
lich bunte Bild der Vernehmung der Mütter, die — be-
zeichnenderweise meist Ausländerinnen — mit ihren Babies
auf dem Zeugenstand erscheinen, der Vertreter der An-
klage endlich, der die eventuell alimentationspflichtige
Gemeinde vertritt und sich oft redlich Mühe gibt, das be-
treffende Paar zur Heirat zu bestimmen, — all das bot
ein lebendiges Bild der Tragik und Komik des New Yorker
Grofsstadtlebens. —
Auch vor Judge Jeromes Gericht ist das Verfahren
sehr rasch und formlos. Ein Sichzurückziehen des Gerichts
zur Beratung kommt nur sehr selten vor. Wie sehr dem
amerikanischen Richter die Zweckmäfsigkeit über der Ge-
rechtigkeit steht, mag aus folgenden Fällen entnommen
werden, die ich mir aus meinen Besuchen in Richter
Jeromes Gerichte aufgezeichnet habe:
Ein 18 jähriges Dienstmädchen wird vorgeführt; sie ge-
Hintrager. 6
82 Hintrager.
steht, ihre Herrschaft wiederholt bestohlen zu haben. Der
Kichter erklärt: „Sie sind des Diebstahls schuldig. Aber
was sollen wir nun mit Ihnen machen?" Letztere Frage
ist dem Richter hier so wichtig, dafs er auf die Entscheidung
derselben oft mehr Zeit verwendet , als auf alles Vorher-
gehende. Oft vertagt er eine Sache nach der Schuldig-
sprechung, nur um sich schlüssig zu machen, was für ein
Strafmittel anzuwenden ist. Ich erinnere mich folgender
Worte eines Richters an einen kranken Angeklagten, dessen
ärztliche Untersuchung der Richter nach der Schuldig-
sprechung angeordnet hatte: „Ich habe die Wahl, Sie in
das Zuchthaus oder in das Grafschaftsgefängnis zu senden.
Ich tue das letztere, da Sie ein unheilbares Leiden haben
und im Zuchthaus wahrscheinlich sterben würden. Falls
Sie im Gefängnis ernstlich krank werden sollten, ist der
Gefängnisaufseher angewiesen, Sie nach Hause zu bringen,
damit Sie nicht im Gefängnis sterben." Als in dem Falle
des Dienstmädchens Richter, Staatsanwalt. Verteidiger und
Angeklagte in zwangloser Unterhaltung über das an-
zuwendende Strafmittel sich berieten, mischte sich — was
im amerikanischen Gericht nichts Ungewöhnliches ist —
eine dabeistehende Frau in die Unterhaltung mit der Bitte,
ihr zu gestatten, den Fall zu untersuchen. Es war dies
eine in den New Yorker Gerichten und Gefängnissen wohl-
bekannte Dame, Frau Foster, im Volksmunde „der Gefängnis-
engel" genannt. Nachdem diese Frau, die aus Menschen-
freundlichkeit sich ihrer auf Abwege geratenen Schwestern
annimmt, auch ein Heim für dieselben in New York unterhält,
die Angeklagte eine Zeitlang auf die Seite genommen hatte,
erklärte sie, sie glaube, dafs es zum Besten der Angeklagten
sein würde, wenn sie bis auf weiteres in ihr Heim ein-
gewiesen würde. So erkannte auch das Gericht unter
Aufschub der Strafvollstreckung, trotzdem die Angeklagte
V. Im Gerichtssaal. 83
sagte, man solle sie bestrafen, sie wolle von niemand eine
Gnade annehmen.
Auch dieser Fall zeigt, dafs die amerikanische Justitia
mehr in die Zukunft schaut als in die Vergangenheit.
Ein Gesetz des Staates New York macht es dem Richter
zur Pflicht, die Freiheitsstrafe so zu bemessen, dafs der
Verurteilte nicht im Winter zur Entlassung gelangt. Ein
ISjähriger Jüngling hatte 60 Tage Gefängnis wegen Dieb-
stahls erhalten und drei Monate Strafaufschub. Nach Ab-
lauf des letzteren erscheint er vor Gericht in Begleitung
eines alten Herrn, welcher erklärt, dafs er ihn in seinem
Geschäft angestellt habe, mit ihm zufrieden sei und für sein
ferneres Wohlverhalten bürge. Der Fall geht „in den
Taubenschlag".
Von Juni 1898 bis Mai 1899 hat der Court of Special
Sessions unter dem Vorsitz Richter Jeromes etwas mehr
als 12000 Strafsachen erledigt. Ein Beispiel wird diese
Geschwindigkeit erklären.
Als in einem Körperverletzungsfalle die Vernehmung
des ersten Belastungszeugen nur ungenügenden Beweis er-
geben hatte , fragt der Vorsitzende den Staatsanwalt :
„Sind dies alle Beweismittel des Staates?" — Lächelnd
erwidert der Staatsanwalt: „Ich habe zwar noch einen
Zeugen; aber der Angeklagte hat zwei, die das Gegenteil
beschwören. „Freigesprochen!" erklärt der Vorsitzende,
stempelt den entsprechenden Vermerk auf die Akten und
wirft diese auf den Platz des Gerichtsschreibers. —
Die Vorbereitung der Strafsachen für die Haupt-
verhandlung liegt in viel gröfserem Umfange in den Händen
der Polizei als bei uns. Die Regel ist, dafs der Polizist
den Täter festnimmt und mit demselben, sowie den zur
Überführung nötigen Beweismitteln am folgenden Tage vor
Gericht erscheint, wo alsdann der Fall verhandelt und
6*
84 Hintrager.
entschieden wird. Diesen höheren Anforderungen an
Selbständigkeit und Intelligenz erweisen sich, soviel ich
hier höre, im allgemeinen die amerikanischen Polizisten
als gewachsen. Wenn auch bei der Anstellung der Poli-
zisten politische Rücksichten in den amerikanischen Städten
vielfach mafsgebend sind und es dann und wann vorkommt,
dafs die Polizei trotz der guten Bezahlung^) mit den
Missetätern gemeinsame Sache macht, so geniefst doch die
Polizei als öffentliches Sicherheitsorgan grofse Achtung,
wie man dies oft in den amerikanischen Städten beobachten
kann. Voraussetzung der Anstellung als Polizist ist neben
einem bestimmten Gewicht, bestimmter Gröfse und einem
gewissen Alter ^), der Nachweis eines ziemlich hohen
Bildungsgrades und grofser Körperkraft; die Polizisten
müssen schwere Gewichte stemmen, sich vom Boden ohne
Hilfe der Arme erheben können und dergleichen. Ein erfolg-
reicher "Widerstand gegen diese Staatsgewalt ist nicht leicht.
Wiederholt habe ich hier die Ruhe und Gewandtheit der
Polizei in der Behandlung von Massen bei Aufläufen und Un-
ruhen bewundert. Richter Jerome, der sich sehr für die Tätig-
keit der Polizei interessierte — zurzeit tut er dies als Staats-
anwalt — erwähnte mir eine charakteristische Praxis der
New Yorker Polizei, über die Dauer von Festen und anderen
grofsen Menschenansammlungen die gemeingefährlichen
Subjekte festzunehmen und den weniger gefährlichen Vor-
bestraften den Aufenthalt in der Stadt bei Gefahr der Fest-
nahme zu verbieten. —
Trotz der Erwählung der Richter, und trotzdem die
Gehalte der einzelstaatlichen Richter so niedrig bemessen
sind, dafs hervorragende Rechtsanwälte sich nicht um eine
*) Anfangsgehalt in New York 800 $.
2) In St. Louis z. B. nicht unter 5 Fufs 8 inches, in den Haupt-
strafsen nicht unter 6 Fuls, Alter nicht unter 30 Jahren.
V. Im Gerichtssaal. 85
Richterwahl zu bemühen pflegen, ist die Stellung des
Richters im allgemeinen eine sehr angesehene. Ehrfurcht,
wie sie dem englischen Richter entgegengebracht wird,
geniefst freilich der amerikanische Richter nicht. Immer-
hin aber ist „Richter" ein Ehrentitel, den jeder für immer
behält, der auch nur einmal zum Richter erwählt worden
ist. Dafs Richter bestechlich oder sonst unehrenhaft seien,
wird wohl gelegentlich behauptet und ist wohl auch da
und dort wahr. So hörte ich in glaubhafter Weise, dafs
ein Richter des Westens auffallend vielen seiner Angeklagten
das Strafmafs so bestimmte, dafs sie die Strafe im Bezirks-
gefängnis zu verbüfsen hatten. Schliefslich stellte sich
heraus, dafs er zusammen mit dem Gefängnisleiter sich
dadurch zu bereichern wufste. Es ist auch kaum daran
zu zweifeln, dafs manche New Yorker Richter, die unter
der Herrschaft von Tammany Hall ihre Wahl geradezu
erkauften, während ihrer Amtszeit in wenig gewissenhafter
Weise auf ihre Bereicherung bedacht waren. Allein dies
sind vereinzelte Fälle und dürfen nicht zu einem allge-
meinen Urteil veranlassen. Allgemeine Urteile sind über-
haupt bei einem Lande dieser Gröfse und Mannigfaltigkeit
etwas Gewagtes. Mein Eindruck ist fast durchweg über-
einstimmend mit den oben erwähnten Worten Richter Jeromes
gewesen. Die Rechtspflege ist viel besser, als man bei
dem System der freien Richterwahl , das übrigens da und
dort an Anhängern verliert ^), erwarten sollte. Ihre Mängel
liegen weniger in der Person der Richter als in dem ver-
alteten Prozefsrecht , dessen zahlreiche Formvorschriften
(technicalities) Verschleppungen ins Endlose ermöglichen.
^) Im Staate Massachussetts z. B. ernennt der Gouverneur die
Richter auf Lebenszeit.
VI. In den Strafanstalten.
„Es ist billiger, die Zahl der Ver-
brechen zu verringern, als Gefäng-
nisse zu bauen." Garfield.
Pittsburg.
Nicht nur im Gerichtssaal, auch bei der Strafvoll-
streckung schaut die amerikanische Justitia in erster Linie
vorwärts, in die Zukunft. Die Losung „Vorwärts!" ist ja
eines der wesentlichen Merkmale der Neuen Welt und einer
der grundlegenden Unterschiede ihres Lebens von dem
Leben der Bewohner der Alten Welt, deren Schritte das
Gewicht des Alters, der Geschichte hemmt.
Das Studium gewisser Reformen auf dem Gebiet des
Strafvollzugs führte mich in die bedeutenderen Straf-
anstalten der Staaten New York, Massachussetts, Pennsyl-
vania und Illinois und gab mir reichliche Gelegenheit zu
Einblicken in das amerikanische Gefängniswesen, das einst
durch sein Auburnsches und Pennsylvanisches System uns
vorbildlich war. ^)
Bei Beginn dieser Studien stellte mir die New Yorker
Gefängnisgesellschaft ihre reiche Bibliothek und ein Arbeits-
zimmer zur Verfügung. Dort arbeitete ich die ersten zwei
Wochen und entwarf den Reiseplan. So sehr fand ich von
allen Seiten Unterstützung, dafs ich beim Verlassen New
^) Hierüber ausführlicher: Hintrager, Amerikanisches Gefängnis-
und Strafenwesen, Tübingen 1900.
VI. In den Strafanstalten. 87
Yorks Empfehlungsbriefe an alle in Betracht kommenden
mafsgebenden Persönlichkeiten im Staate New York hatte,
auch an den damaligen Gouverneur des Staates New York,
Theodore Roosevelt. Mit solchen Empfehlungsbriefen ist
der Amerikaner sehr freigebig.
Mein erstes Ziel war die bekannte Straf- und Besserungs-
anstalt zu Elmira , New York , wo ich mich einen Monat
lang aufhielt, „die längste Zeit, die je ein Mensch freiwillig
dort zubrachte", wie eine dortige Zeitung bemerkte. Hier
schon sollten die Überraschungen beginnen. Es war an
einem Samstag, als ich in Elmira ankam. In der Anstalt,
die auf einem Hügel vor der Stadt liegt und den Eindruck
einer grofsen, reichen Unterrichtsanstalt macht — man
nennt sie oft „College on the Hill" — , lud mich der Vor-
stand zu einem Rundgang ein , welcher vor Sonnenunter-
gang im grofsen Exerzierhaus der Anstalt endigte. Hier
fand die tägliche Parade statt, ein interessantes militärisches
Schauspiel. Etwa 800 uniformierte Gefangene, mit Holz-
giewehren bewaffnet, machten gute Gewehrgriffe und einen
Parademarsch, der ihrem Oberbefehlshaber, einem alten
Subalternoffizier der Unionsarmee , Ehre machte. Dieser
Mann , der mit Begeisterung von deutscher Disziplin und
dem deutschen Exerzierreglement sprach, hatte der „Elmira-
Parade" einen Namen in der Gegend zu verschaffen ge-
wufst, wie der Anstaltsvorstand seiner Anstalt im ganzen
Lande. Die Parademärsche der Musikkapelle, die Parole-
ausgabe unter dem Feuer einer Kanone im Gefängnishof,
das ganze Schauspiel hatte auch heute zahlreiche, ins-
besondere weibliche Besucher in die Anstalt gelockt. Mit
Stolz zeigte der Vorstand sein Werk. Hat er doch für
Besucher ein eigenes Wartezimmer, dessen Wände mit
photographischen Aufnahmen aus dem Leben der Anstalt
geschmückt sind.
88 Hintrager,
Der folgende Tag brachte die Ausgabe der von den
Gefangenen gedruckten und redigierten Anstalts-Wochen-
zeitung, in der auch des deutschen „Gastes" Erwähnung
geschah, ferner einen Gottesdienst, in welchem ein Damen-
chor aus der Stadt Elmira den Gefangenen sang. Abends
war für die Gefangenen der beiden oberen Grade Vortrag
und daran anschliefsend Diskussion. Dafs ich auch einmal
den Vortrag übernehmen mufste, dafs ich überhaupt kaum
eine Anstalt verliefs, ohne die Aufforderung erhalten zu
haben, „ein paar Worte zu den Jungen zu sagen", ist hier
etwas ganz Selbstverständliches.
Wie reich dies Land ist, davon gab auch Elmira
Zeugnis. In der Kochschule der Anstalt wurde oft mangels
Verwendung weggeworfen, was die Kochkunst der Ge-
fangenen hergestellt hatte. Als ich den Vorstand um
einige Jahresberichte bat, erklärte er mir: „Ich werde
Ihnen sämtliche Jahresberichte seit Bestehen der Anstalt
(1877) portofrei nach Deutschland senden lassen." ^)
In Rochester, New York, lud mich der Vorstand der
Strafanstalt für Jugendliche ein, während meines dortigen
Aufenthaltes Gast in seinem Hause zu sein , zeigte mir
alle Sehenswürdigkeiten der Stadt und Umgebung und
tat alles, meinen Aufenthalt angenehm zu macheu. Und
an ihn hatte ich kein Empfehlungsschreiben gehabt. Hier
war die Parade noch imposanter als in Elmira. Die 700
Gefangenen hatten eine Fahne in den Landesfarben und
aufgepflanzte Seitengewehre; der Putz wurde auf das
peinlichste nachgesehen. Am Sonntagabend gab die Ge-
') Die gebundenen und reich illustrierten Berichte fand ich hei
meiner Rückkehr vor, ebenso die Berichte der letzten zehn Jahre
über die Verhandlungen des Vereins der Strafanstaltsbeamten der
Union, deren Zusendung ich dem verdienten Sekretär, Mr. Milligan,
verdanke.
VI. In den Strafanstalten. 89
fängniskapelle ein Konzert, der Vorstand hielt eine An-
sprache zu Ehren des deutschen Gastes und liefs dann die
„Wacht am Rhein" spielen und singen, und zwar den ersten
Vers in deutscher Sprache. Leider waren so viele böse
Buben deutscher Abstammung da, dafs dies möglich war.
Einige Erlebnisse, die ich auf dieser Reise in dem
Bildungsstaate Massachusetts hatte, sagen mehr vom ameri-
kanischen Leben als lange Abhandlungen. Mein täglicher
Aufenthalt in den Gerichten Bostons hatte mich mit zahl-
reichen Richtern und Rechtsanwälten bekannt gemacht.
Bei einem Diner, zu dem mich der erste Bostoner Anwalts-
verein „Abstract-Club" zusammen mit einigen Richtern
eingeladen hatte, erhob sich ein Anwalt, den ich in dem
gastfreundlichen Hause des Chief justice Brown kennen
gelernt hatte, toastete auf den deutschen Kollegen und
forderte die anwesenden Richter auf, ihre Erfahrungen
und Ansichten über das im Staate bestehende System des
Strafaufschubs mit Aussicht auf Begnadigung, zu dessen
Studium der deutsche Gast gekommen sei , kundzugeben.
Bereitwilligst folgten die Richter der Aufforderung in
längeren Reden, die von grofsem Wert für meine Studien
waren.
Sehr unterhaltende Stunden erlebte ich in der auf der
Hirschinsel im Hafen von Boston gelegenen Strafanstalt,
von der die Bostoner sagen, sie sei wegen ihrer schönen
Lage eine beliebte Sommerfrische. Der oberste Beamte
der Strafanstalten Bostons und der Vorstand der Anstalt,
die mit mir durch die Anstalt gingen, waren beide geneigt,
das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. In dem
Billardzimmer der Krankenpflegerinnen spielten wir eine
Partie. Dafs diese Damen bei ihrem harten Berufe ein
Billard und andere Zerstreuungen haben müssen, findet der
Amerikaner ebenso selbstverständlich, wie dafs die Berufs-
90 Hintrager.
feuerwehr Spiel-, Lesezimmer und Bibliothek in ihren
Wacht gebäuden hat. Als wir von dem Anstaltsarzt in
dessen Salon geführt wurden, safsen hier drei Gefangene,
die alsbald mit Couplets, Negerliedern und Opern-
melodien ein Konzert improvisierten. , In der Anstalt für
Jugendliche in Westboro (Mass.), die wie die meisten
neueren Anstalten dieser Art keine Mauern hat und nach
dem sogenannten Familiensystem angelegt ist, zeigte mir
der Vorstand von seiner Veranda aus den Parademarsch
der Anstaltsmusikkapelle und bemerkte: „Die Buben üben
sich ein für die Feier des Gräberschmückungstages in einer
nahen Ortschaft. Dort haben sie keine Musikkapelle und
baten mich, ihnen die unsere zu leihen." In derselben An-
stalt backen die 14 — 15 jährigen Knaben das Brot im grofsen
Anstaltsbackofen unter Aufsicht einer Matrone, die ich mit
einer Handarbeit im Schaukelstuhl sitzend in der Back-
stube antraf. Welch ein Wetteifer herrscht in all diesen
Anstalten, besonders in denen für Jugendliche. „Wir wollen
nicht strafen sondern erziehen," sagte mir der Vorstand
der musterhaften Anstalt für Jugendliche in Glen mills
bei Philadelphia, die über eine Million Dollars privater
Stiftungen besitzt. In all diesen Anstalten gibt es „Ehren-
grade" und Medaillen als Auszeichnung. In Glen mills
wetteifern die verschiedenen Abteilungen der Gefangenen
bei der alljährlich stattfindenden Paradevorstellung um die
Ehre, die seidene Fahne tragen zu dürfen. Ein Offizier der
Unionsarmee pflegt der Preisrichter zu sein.
Überraschungen anderer Art sollten mir in einigen
Grafschaftsgefängnissen des Staates Pennsylvanien zuteil
werden: Gefangene, die in ihren Zellen Kanarienvögel,
Teppiche und Schaukelstühle haben, die Zeitungen und
Bücher erhalten, soviel sie wollen. In dem Grafschafts-
gefängnis von Holmesburg sagte mir der Vorstand, dafs er
VI. In den Strafanstalten. 91
aus Sparsamkeitsrücksichten, und um den Sträflingen „eine
Chance zu geben", die meisten vor Ablauf ihrer ganzen
Strafzeit entlasse. Aufserdem zeigte mir dieser gütige
Mann eine Rubrik: „0. R." in den Büchern der Anstalt;
das sind diejenigen , die auf ihr eigenes Ersuchen (own
request) wegen Mangel eines Unterkommens oder aus ähn-
lichen Gründen über ihre Strafzeit hinaus in der Anstalt
Aufnahme finden. —
Viel Licht und Schatten liegt in diesen aus dem
Zusammenhang der Reise herausgegriffenen Gelegenheits-
bildern. Wenn sie auch keine Vorstellung von dem Leben
der amerikanischen Strafgefangenen gewähren, so sind sie
doch geeignet , die Verschiedenheit der amerikanischen
Kultur von der unseren zu zeigen.
Ein zusammenhängendes und verständliches Bild von
jenem zu entwerfen ist nur möglich unter Berücksichtigung
des Lebens aufserhalb der Gefängnismauern. Die ameri-
kanischen Strafgefangenen haben es im allgemeinen besser
als die deutschen. Sie haben bessere Verpflegung, mehr
Annehmlichkeiten und mehr Freiheit. Sie erhalten nicht nur
täglich Fleisch, sondern in den meisten Staaten auch Kau-
tabak und Zuckersirup für die reizbedürftigen Nerven. Für
die Pflege des Körpers sorgen gute Badeeinrichtungen mit
Wannen- und Douchebädern , in einzelnen Anstalten für
Jugendliche sogar Schwimmbäder. Ich habe keine Anstalt
getroffen, in der nicht jeder Gefangene mindestens ein Bad
in der Woche nahm. Die meisten Strafanstalten haben ferner
reich ausgestattete Turnhallen, wie sie bei uns nicht viele
freie Anstalten besitzen. Helle, grofse Räume, Dampf-
heizung, elektrisches Licht, Aborte mit Spülvorrichtung in
den Zellen, kostspielige Ventilationsapparate und vor allem
eine grofse Reinlichkeit, welche überhaupt in der Union
verbreiteter ist als bei uns, geben der amerikanischen
92 Hiiitrager.
Strafanstalt nicht die schlechte Atmosphäre, die man in
unseren Anstalten häufig findet. Als ich in einer Anstalts-
küche den fleckenlos weifs gefegten Küchentisch bewunderte,
wurde mir erwidert: „Reinlichkeit ist das Allererste, was
wir verlangen." In vielen Anstalten ist aus diesem Grunde
weifser Anstrich verwendet. In den Arbeitssälen sind
stets Einrichtungen, die mehreren Personen gleichzeitig
das Waschen ermöglichen.
Auch in geistiger Hinsicht geniefst der Gefangene mehr
Annehmlichkeiten und mehr Freiheit. Die Anstaltsbiblio-
theken sind zum Teil sehr reichhaltig; die Anstalt zu
Elmira z. B. hat etwa 4000, zu Charlestown (Mass.) über
7000, zu Joliet bei Chicago 16000 Bände, darunter alle
deutschen Klassiker in deutscher und englischer Sprache.
In der Bibliothek des New Yorker Staatsgefängnisses zu
Auburn ist Sybels „Gründung des Deutschen Reiches" und
die Engelhornsche Romansammlung. Der in der Anstalts-
druckerei hergestellte Katalog pflegt in jeder Zelle zu
hängen, und der Gefangene schreibt das gewünschte Buch
auf eine Schiefertafel oder einen Zettel. Schreibmaterialien
haben die Gefangenen in Händen, vornehmlich um ihnen
zu jeder Zeit den unvermittelten Verkehr mit dem Anstalts-
vorstande oder dem Anstaltsgeistlichen zu ermöglichen. Diese
beiden Beamten haben zu diesem Zweck in der Anstalt
an Stellen, wo die Gefangenen vorbeizukommen pflegen,
Briefschalter, zu welchen nur sie den Schlüssel besitzen.
In den New Yorker Staatsgefängnissen haben die Gefangenen
auch das Recht der persönlichen Unterredung mit dem all-
monatlich die Staatsgefängnisse besuchenden Vertreter der
höchsten Gefängnisaufsichtsbehörde. Von diesem Recht
der persönlichen Unterredung mit den höheren Anstalts-
beamten wird viel Gebrauch gemacht, und dasselbe erweist
sich als ein gutes Mittel der Kantrolle des Aufseher-
VI. In den Strafanstalten. 9S
Personals. Auch der Sonntag im amerikanischen Gefängnis
bietet mehr Annehmlichkeiten und Freiheit. Ausser der
meist modern gehaltenen Rede des Geistlichen und all-
gemeinen Gesängen besteht der Gefängnisgottesdienst aus
Vorträgen des Gefangenensingchors oder der Gefangenen-
kapelle oder Solis einzelner Gefangenen. Hier und da
kommt auch ein Kirchenchor, darunter hübsche Mädchen
aus der Stadt oder Umgebung, und trägt den Gefangenen
etwas vor. Kein Wunder, dafs die protestantischen Ge-
fangenen aufser ihrem Gottesdienst auch den der katholischen
Gefangenen und umgekehrt zu besuchen pflegen; ein Zwang
zum Kirchgang besteht in keiner Anstalt. Neben den
Gottesdiensten der verschiedenen Konfessionen bietet der
Anstaltssonntag auch wohl noch kleine Konzerte oder Auf-
führungen und gewöhnlich einen Vortrag weltlichen In-
halts, an den sich in einzelnen Anstalten freie Diskussion
der Zuhörer anschliefst.
Am Sonntag gelangt gewöhnlich auch die Anstalts-
wochenzeitung zur Verteilung, welche mehr und mehr
Eingang in die Strafanstalten der Union gewinnt; ist doch
die Zeitung das Morgen- und Abendgebet auch des freien
Amerikaners. Sie wird in der Anstaltsdruckerei von Ge-
fangenen gedruckt und redigiert: sie unterliegt natürlich
jeweils der Genehmigung des Vorstands und enthält zu-
nächst Wiedergaben von Berichten anderer Zeitungen
über die wichtigeren Vorkommnisse in- und aufserhalb der
Vereinigten Staaten, insbesondere Vorkommnisse auf dem
Gebiete des Gefängniswesens; sodann allgemein bildende
Notizen und Aufsätze ethischen , national-ökonomischen
und — je nach dem in dieser Beziehung in der Anstalt
herrschenden Ton — auch religiösen Inhalts. Ein zweiter
Teil beschäftigt sich meist mit den Vorkommnissen in der
Anstalt selbst, dem Gefangenenstand, den Aufnahmen und
94 Hintrager.
Entlassungen, den Promotionen und Degradationen: er
bringt ferner, welche Arbeiten gerade in den verschiedenen
Abteilungen gemacht werden, Lob und Tadel der Lehrer
und Beamten , die Bekanntmachungen des Vorstands und
der Beamten, die Ergebnisse von Prüfungen in der Anstalt,
Berichte über Vorkommnisse in anderen Anstalten, An-
fragen und Gedankenaustausch Gefangener und dergleichen.
Die Anstaltszeitung dient besonders auch dazu, die Ge-
fangenen aufzurütteln, ihr Interesse und eventuell auch
ihren Ehrgeiz zu wecken. „Auf! Auf! Auf!" so lautete z. B.
die Überschrift eines Artikels in der sehr gut redigierten
Zeitung der Anstalt zu Elmira, welcher eine Aufforderung
enthielt, sieh gut zu führen, da an Weihnachten wieder
eine Amnestie für Disziplinarvergehen zu erwarten sei.
Dieselbe Zeitung pflegt durch Abdruck eines kleinen
Eisenbahnfahrplans die Gefangenen ganz besonders an die
süfse Freiheit zu erinnern.
Nach dem Gesagten sollte man glauben, dafs das
amerikanische Gefängnis eher anziehend als abschreckend
wirkt. Darüber ist kein Zweifel, und dies wird auch in
der Union viel beklagt, dafs man das Leben in den Ge-
fängnissen zu angenehm mache. In der Strafanstalt für
Jugendliche zu Huntingdon (Pennsylvanien) sind in den
Arbeitssälen der Gefangenen elektrische Fächer, um den-
selben bei der Arbeit in den heifsen Sommermonaten
Kühlung zu verschaffen. Dergleichen Dinge treten be-
sonders da zutage, wo Damen im Gefängnishaudwerk
dillettantieren. So sollen im Staate Massachusetts wohl-
tätige Frauen sich allen Ernstes darüber beklagt haben,
dafs die Gefangenen keine Schaukelstühle in den Zellen haben.
Und doch sind die amerikanischen Gefängnisse nicht
gesucht, und die Gefangenen singen nicht: „Der Ehrliche
hat Sorg und Müh', Fein Kost han wir und frei Logis;"
VI. In den Strafanstalten. 95
denn auch der Freie lebt in den Vereinigten Staaten besser
als bei uns. Selbst der Arbeiter hat eine Mannigfaltigkeit
und Reichhaltigkeit von Speisen auf seinem Tisch, wie sie
bei uns unter bürgerlichen Familien nicht die Regel ist.
Als anläfslich des grofsen Eisenbahnarbeiterstreiks (1894)
in Chicago und Umgebung ein Geistlicher in der Arbeiter-
stadt des Eisenbahnkönigs Pullmann einen Aufruf zu wohl-
tätigen Gaben erliefs, um der „Not in Pullmannstadt" abzu-
helfen, war in dem Aufruf u. a. zu lesen: „Es sind ganze
Familien in Pullmann, welche seit Monaten keine Butter
auf ihrem Brot gesehen haben" , und ein Besuch in Pull-
mann hat mir die Relativität der Begriffe Wohlstand und
Armut deutlich gezeigt. Man wohnt auch besser in den
Vereinigten Staaten. Der Arbeiter, der namentlich im
Westen meist sein eigenes Heim hat, hält es durchaus
nicht für Luxus, Bodenteppiche, Dauerbrandöfen, bequeme
Möbel , besonders viele Schaukelstühle zu haben. Seine
Frau kleidet sich nach der Mode. Frauen ohne Hüte
findet man in der Union ebensowenig, wie Männer mit
Handkarren oder schweren Lasten. Was dem Europa be-
suchenden Amerikaner zuerst aufzufallen pflegt, sind die
armen , zerlumpten , mit Handkarren die Strafsen durch-
ziehenden Leute in grofsen Städten; und der Europäer,
der durch die Vereinigten Staaten reist, wundert sich
darüber, die Frauen und Töchter der Cowboys und der
Minenarbeiter des Westens ebenso elegant und modern ge-
kleidet zu sehen wie die Frau des Minenbesitzers , und
Unterhaltungs- und Modezeitschriften in den Händen von
Fabrik- und Ladenmädchen zu erblicken. Ich nahm ein-
mal auf Einladung eines Wohltätigkeitsausschusses an
einem für die armen Negerkinder der Stadt St. Louis
veranstalteten Dampfbootausflug auf dem Mississippi teil.
Es war ein schöner, warmer Sommertag. Als ich die
9Ö Hintrager.
Negerkinder und ihre Angehörigen in hübschen, hellen
Kleidern und mit Hüten auf dem Kopfe auf dem Schiffe
sich tummeln sah, fragte ich eine Dame des Ausschusses,
ob denn diese Leute wirklich arm seien. „Ja, so viel Geld,
um sich sauber zu kleiden, haben sie immer noch." Wenn
man durch die schönen "Wälder des Mississippitales fährt,
erblickt man rechts und links vom Zuge die Baumriesen
dahin gestreckt; sie liegen da, wie sie einst bei dem Bau
der Bahn gefällt wurden und verfaulen, wie überhaupt
das meiste Fallholz der Wälder, selbst in der Nähe der
Städte. Um kleine Dinge kümmert man sich hier nicht,
und Sparsamkeit wird höchstens von Eingewanderten ge-
übt. Die Richter und Geschworenen haben durch Elek-
trizität bewegte Fächer im Gerichtssaal in ihrer Nähe,
die ihnen an heifsen Tagen Kühlung geben; der Rechts-
anwalt nimmt sich nach Lust Papier, Schreibutensilien
und Formulare auf der Gerichtsschreiberei. Kleinigkeiten
stiehlt man auch nicht in einem Lande, wo das ganze Leben
in so grofsem Mafsstabe sich abspielt. In den amerikanischen
Städten, selbst den Grofsstädten, sieht man auf den Brief-
schaltern all das obenauf gelegt, was durch die Einwurf-
spalte des Schalters nicht hineingeht. Treu und Glauben in
kleinen Dingen ist sehr grofs; aber die Bankgewölbe kann
man nicht fest genug bauen und hohe Wertsendungen der
Bahnpost nicht genug schützen.
Dieser allgemeine Reichtum und Wohlstand, dem natur-
gemäfs die bessere Lebensführung des einzelnen entspricht,
zeigt sich auch in den amerikanischen Gefängnissen, die
schon von aufsen oft wenig gefängnisartig aussehen. Er
macht andererseits aber auch die Freiheit schätzenswerter.
Wem es gut geht, der pflegt zu Scherz und Freude
aufgelegt zu sein. So der Amerikaner, welchem überdies
die grofse persönliche Freiheit und die Jugend des Landes
VI. In den Strafanstalten. 97
auch eine jugendliche, oft naive Denkungsart gegeben
haben. In diesem Lande wird sehr viel gelacht. Ein fröh-
licher, oft ausgelassener Ton durchzieht das ganze Leben,
das so grofsen Wechsel und so viele Möglichkeiten bietet.
Im amerikanischen Gefängnis sieht man daher auch
mehr heitere Gesichter und frohe Tage. Dafs in den An-
stalten für Jugendliche die sich gut Führenden regel-
mäfsig ihre Spiele im Freien machen, findet man selbst-
verständlich. In der Anstalt für Jugendliche zu Rochester
(New York) ist in der Kapelle eine vollständige Theater-
einrichtung für Aufführungen. Sehr viele Anstalten, be-
sonders die für jüngere Verurteilte haben Gefangenen-
orchester oder Gefangenenkapellen. Oft haben diese mir die
Freude gemacht, ein deutsches Lied zu spielen. Auch der
oberste Strafanstaltenbeamte verschmäht es nicht, sich ge-
legentlich einer amtlichen Visitation ein heiteres Konzert
von den Gefangenen geben zu lassen. Als in der Anstalt
zu Elmira einst ein Deutscher über die Ausbildung im
deutschen Heere sprach und u. a, auch beschrieb, wie die
Infanterie hohe Hindernisse, Mauern und dergleichen nimmt,
sagte der Anstaltsvorstand in seinen Dankesworten zu den
Gefangenen, er hoffe, sie werden den Vortrag des Redners
über die Vorzüge der deutschen militärischen Erziehung
beherzigen, „abgesehen von dem verdammten deutschen
Trick, wie man über die Mauern steigt."
Diese heitere Lebensauffassung, welche oft den Ernst
der Sache vermissen läfst, hat andererseits auch die Ein-
führung vieler Reformen begünstigt und gefördert. Man
nimmt es hier nicht schwer, zu reformieren und hat vor
allem wenig prinzipielle Bedenken. So haben die beiden
Reformen, die sogenannte bedingte und unbestimmte Be-
urteilung, deren Studium meine Reise vornehmlich gewidmet
war, im letzten Grunde ihre Einführung dem Umstände zu
Hintrager. 7
98 Hintrager.
verdanken, dafs die gesetzgebenden Faktoren sich über alle
Bedenken wegsetzten mit dem Entschlüsse : „Man probiert
es einmal!" und in dem guten Glauben, dafs diejenigen, die
das Gesetz auszulegen und anzuwenden haben, verständig
genug sein werden, um dessen etwaige Mängel zu mildern.
\ii. Die Vorstände der Strafanstalten sind nicht etwa Per-
sonen mit juristischer Vorbildung, sondern weisen eine grofse
Mannigfaltigkeit hinsichtlich ihrer früheren Laufbahn auf,
wie dies natürlich ist in einem Lande, in dem jedem alle
Wege offen stehen. In der Regel sind die Anstaltsvorstände
frühere Pädagogen oder Anstaltsbeamte, Männer mit gründ-
lichen, praktischen Kenntnissen. Ein tüchtiger Aufseher
kann Anstaltsvorstand werden.
Hiermit und mit der praktischen Veranlagung der
Amerikaner hängt es zusammen . dafs die amerikanischen
Gefängnisse mehr Industrieanlagen gleichen. Über die
meisten ragt ein hoher Schornstein empor, und Dampf-
kessel, elektrische Anlagen, eigene Gasherstellung, umfang-
reichste Verwendung von Maschinen im Arbeitsbetrieb geben
der Anstalt das Bild einer grofsen Fabrik. Die Folge der
durch den Fabrikationseifer der Anstaltsvorstände noch ge-
steigerten Arbeitsentfaltung war eine solche Konkurrenz
gegen die freie Arbeit, dafs die Arbeitervereine dagegen
auftraten. Ihrer starken Organisation, ihrer grofsen Zahl
und dem Umstände, dafs die Parteien in den Vereinigten
Staaten eher mit dem Arbeiter liebäugeln als ihn be-
kämpfen, ist es zuzusehreiben, dafs die produktive Arbeit
in den Strafanstalten gesetzlich mehr und mehr eingeschränkt
wurde. Dies geschah gewöhnlich in der Weise, dafs nur
ein bestimmter kleiner Prozentsatz der jeweils in der An-
stalt befindlichen Gefangenen in bestimmten Industrie-
zweigen tätig sein darf. Solche Gesetze bestehen zurzeit
in sehr vielen Staaten; in anderen gingen Gesetze durch,
VI. In den Strafanstalten. 99
welche den Verkauf von Gefängnisarbeitsprodukten über-
haupt verboten, da im gesetzgebenden Körper nur wenige
gegen den arbeiterfreundlichen Antrag zu stimmen wagten.
Für die durch solche Gesetze geschaifenen haltlosen Zu-
stände fanden dann die östlichen Staaten eine Abhilfe,
welche sich seit Jahren gut bewährt und immer mehr Ver-
breitung findet. Danach dürfen in den Strafanstalten nur
solche Gegenstände hergestellt werden, die sonst unmittel-
bar mit öffentlichen Mitteln angeschafft werden müfsten.
Demgemäfs wird in erster Linie alles, was die Anstalt
selbst braucht, durch die Gefangenen hergestellt. Vom
Gefängnisneubau bis auf die Kleider und Schuhe der Ge-
fangenen wird alles von diesen selbst gemacht; sie bauen
ihr eigenes Korn, sie stellen die Dampfkessel der Anstalt
her, sie erzeugen ihr eigenes Gas oder die elektrische
Kraft. In zweiter Linie wird für staatliche und kommunale
Behörden gearbeitet; es werden Schulbänke und Schul-
utensilien, amtliche Formulare, Kanzleimöbel, Betten und
Kleidungsgegenstände für Krankenhäuser und dergleichen
hergestellt.
Infolge der Einschränkung der Gefängnisarbeit griff
man zur Einrichtung von Gewerbe- und Industrieschulen,
sowie zu turnerischen und militärischen Übungen. Beides
entspricht der zurzeit hier herrschenden Auffassung von
den Aufgaben des Strafvollzugs. Weniger um das Strafen
ist es dem Anstaltsbeamten hier zu tun , als darum , den
Gefangenen körperlich und geistig für den Konkurrenz-
kampf so gut als möglich auszustatten. Der Gedanke an
die Zukunft des Verbrechers ist für die Gestaltung des
Strafvollzugs mehr und mehr mafsgebend geworden. Die
Vorteile und Annehmlichkeiten, welche die praktische
Durchführung dieser Ideen für den Gefangenen im Gefolge
haben , werden durch eine strenge Disziplin ausgeglichen.
7*
100 Hintrager.
Viele Anstalten haben eine völlig militärische Organisation
und militärische Disziplin eingeführt. Nicht blofs, dafs
dem Gefangenen im Arbeitssaale sein Standort, seine Front
und Haltung ganz genau vorgeschrieben ist und es ge-
ahndet wird, wenn er nur seit- oder rückwärts schaut, aus
der Linie oder Deckung kommt, es ist ihm z. B. auch be-
fohlen, in welche Hand er beim Marsch in den Speisesaal
die Mütze zu nehmen hat. In der Anstalt für Jugendliche
zu Rochester erfolgt selbst das Auskleiden und Zubettgehen
der Gefangenen auf Kommando und ebenso geordnet in
Linie und Deckung, wie die Betten selbst gestellt sind.
Diese strenge Disziplin, welche mittels weniger Auf-
seher aufrecht erhalten wird und zu den sonst gewährten
Freiheiten in eigentümlichem Gegensatze steht, ist es, was
zusammen mit dem Arbeitszwang die amerikanischen Ge-
fängnisse trotzdem nicht begehrenswert macht; denn um
strikte Disziplin aufrecht zu erhalten, greift der Anstalts-
vorstand gelegentlich zu energischen Strafen, die Prügel-
strafe nicht ausgenommen , bis er eines Tages sich selbst
und seine Taten in den Tageszeitungen in Wort und Bild
erblickt und den Angriffen der Presse seinen Tribut be-
zahlen mufs. Derartige Gefängnisskandale sind immer
wieder in den amerikanischen Zeitungen zu lesen, da die
Presse sich gerne als die wachsame Hüterin der Volks-
rechte darstellt und aus sensationellen Neuigkeiten Nutzen
zieht.
Die Anstalten für jugendliche Verbrecher tragen ent-
sprechend der erwähnten Auffassung von den Aufgaben
des Strafvollzuges allgemein den Charakter von Rettungs-»
nicht von Strafanstalten. Nichts ist mehr dazu angetan zu
zeigen, wieviel Gemüt und Güte der Amerikaner hat, als
die Art, wie er die auf Abwege geratene Jugend behandelt,
und der Aufwand an Liebe, Arbeit und Geld, den er machte
VI. In den Strafanstalten. 101
um sie zu guten Bürgern zu erziehen. Ein Beispiel hier-
von ist die seit 1890 bei Freeville im Staate New York
bestehende George junior Republic, zu deren Besuch mich
Mr. T. M. Osborne, ein angesehener Fabrikant in Auburn,
New York, einlud.
Diese durch private Wohltätigkeit ins Leben gerufene
Kinderrepublik ist ursprünglich eine Ferienkolonie für ver-
wahrloste New Yorker Kinder gewesen. Heute ist es ein
ansehnliches Gemeinwesen von etwa 200 Knaben und
Mädchen von 8 — 16 Jahren, welche teils aus Mitleid, teils
infolge Richterspruchs hier aufgenommen worden sind und
nun auf eine ebenso originelle als praktische Weise zu
guten Bürgern gemacht werden sollen. Die. Kinder, die
sich hier unter der Oberaufsicht des Gründers „George",
eines amerikanischen „Vater Werner" befinden, regeln fast
alle ihre Angelegenheiten selbst. Sie haben sich ihre
eigene Verfassung und Gesetze gegeben, sie erwählen ihre
eigenen Beamten, sie haben ihre Gerichte, ihre Polizei,
ihre Gefängnisse. Sie haben ihr eigenes Geld, eine Bank,
ein Postamt, einen Laden, eine Schreinerei, eine kleine
Farm usw., — kurz, sie bilden eine Gesellschaft, die, so
weit als nach der Natur der Dinge möglich, der grofsen
Republik nachgebildet ist, die sie umgibt. Vor allem hin-
sichtlich des einen Grundsatzes: „Kein Verdienst ohne
Arbeit!" Aufser dem Gründer und dessen Gattin, sowie
dem Lehrpersonal sind keine Erwachsenen in der Republik.
Als wir an den Fufs des Hügels kamen, auf dessen
Höhe die vereinzelten Gebäude der Kinderrepublik liegen,
sprang ein Knabe über die Felder herab auf uns zu und
umarmte Mr. Osborne , der ihn herzlich an sich drückte.
Während dieser erste kleine „Bürger" uns auf den Hügel
begleitete, erzählte er uns von den neuesten Begebenheiten
in der Republik i Es haben einige Bürger einen Gesetzes-
102 Hintrager.
antrag eingebracht, das Alter der Volljährigkeit von 12
auf 13 Jahre hinaufzurücken. Auch eine neue Partei habe
sich gebildet, die für freie Zinnprägung sei, „die Freizinn-
partei" (analog der free-silver Partei in den Vereinigten
Staaten). Heute sei Gerichtsverhandlung ; es seien gestern
einige Bürger verhaftet worden.
Auf der Höhe machten wir, von Mr. George geleitet,
einen Rundgang durch die verschiedenen Gebäulichkeiten;
in der Waschanstalt waren unter Leitung einer 14jährigen
Waschdirektrice emsig waschende kleine Mädchen; die mit
einem grofsen Schlüsselbund versehene 16jährige Gefängnis-
dienerin schlofs uns das Gefängnis für die weiblichen Ge-
fangenen auf. Im Laden, in der Küche, in den Schul- und
Arbeitslokalen, überall war rege Tätigkeit, überall zeigten
sich heitere Kindergesichter. An Arbeit wurde natürlich vom
einzelnen nicht zuviel verlangt. Auch die Schule zählte
als Arbeit, um den Grundsatz durchzuführen, dafs jedes
Kind sich durch Arbeit seinen Lebensunterhalt selbst ver-
dienen mufs. Es war eine Freude zu sehen, welch heiterer,
froher Geist hier waltete, wie glücklich und wohl die
durchweg ordentlich gekleideten Kinder, die aus New Yorks
schlimmsten Quartieren kamen, dreinschauten und wie sie
Mr. Osborne zujubelten. Er schien ihnen allen wohl-
bekannt zu sein, kannte auch viele von ihnen von seinen
häufigen Besuchen näher. Er hat in seiner Maschinen-
fabrik und anderwärts manchen entlassenen Bürger dieser
Kinderrepublik untergebracht; er korrespondiert mit
einzelnen der Kinder hier; jeden Samstagabend finden
in seinem Hause in Auburn dortige frühere „Bürger" sich
zusammen. Wie viel mehr als seine hohen Geldbeiträge
wirkt dieser persönliche Verkehr! — Dieser feingebildete
Mann, ein Angehöriger einer alten amerikanischen Familie,
ist ein Typus amerikanischen Gemeinsinns. Einen Einblick
VI. In den Strafanstalten. 103
in seine Denkweise und zugleich in die Kinderrepublik
gewährt ein Vortrag, den er jüngst in einer Gesellschaft
in Boston hielt, und in dem er unter anderem folgendes
sagte : .
„Wie sich denken läfst, haben die meisten Kinder, die
in die Republik aufgenommen werden, keine Idee von der
Arbeit. Sie sind Taugenichtse, träge und oft lasterhaft.
Wenn sie sich überhaupt einen Gedanken über unser Land
gemacht haben, so ist es der, dafs es dazu da ist, darin
herumzulungern und sich ernähren zu lassen. Da kommt
ein hartes Erwachen. Der neue Bürger findet sich in
einer Gemeinschaft, in der kein Platz für die Drohne ist»
Beharrt er darauf, untätig zu sein, so mufs er die Strafe
leiden; will er nicht arbeiten, so kann er nicht essen. Der
neue Bürger steht erstaunt und schweigend da und be-
trachtet seine kleinen Mitbürger, wie sie einer nach dem
anderen in die Restaurants zum Essen gehen. Er kann
nichts bekommen, denn er hat kein Geld. Er hat nicht
gearbeitet. Da taucht langsam ein neuer Gedanke in ihm
auf, dafs im wirklichen Leben Arbeit eine Notwendigkeit
für alle ist; und bald geht er einen Schritt weiter und
entdeckt, dafs die Arbeit ein gut Ding ist für den, der sie
tut. Er erfafst die Idee von der wahren Würde der Arbeit.
Er findet in dem kleinen Gemeinwesen, dafs der Bürger;
der nicht arbeiten will, der zwischen dem billigen Restaurant
und dem Arbeitshaus hin- und hertreibt, auch derjenige
ist, der am wenigsten Achtung bei seinen Mitbürgern ge-
niefst. Und wer von uns erinnert sich nicht an die ge-
waltige Macht der öffentlichen Meinung in der Kindheit?
Der Bürger, welcher arbeitet, spart und denkt, ist es, der
sich die beste Wohnung und die besten Mahlzeiten sichert,
der als Gesetzgeber oder Richter Dienste leistet, der von
Mitbürgern und Fremden gleich geachtet wird. Die erste
104 Hintrager.
grofse Lektion ist gelernt : Die Lektion von der Notwendig-
keit und Würde der Arbeit.
Nun kommt die zweite Lektion. Wenn der neue Bürger
unserer kleinen Republik ein aufgeweckter, intelligenter
Knabe ist, dann war er wohl in der Stadt Mitglied einer
Bande von Taugenichtsen, und wenn es sein gutes Glück
war, einmal vor das Polizeigericht gebracht zu werden, kam
er sich wie ein Held in den Augen seiner Kameraden vor.
Je übermütiger seine Streiche, desto gewisser wurde er
zum Rädelsführer. In der Kinderrepublik angekommen,
strebt er nach der Führerschaft auch hier. Begeht er
dann einen Rechtsbruch, so wird er sofort festgenommen,
in Haft gesteckt und bald darauf von den jugendlichen
Polizisten dem jugendlichen Richter vorgeführt. In diesem
kleinen Gerichtssaale schwindet alle Glorie seines Rechts-
bruchs dahin. Er wird verurteilt von einer Geschworenen-
bank, auf der seine eigenen Gespielen sitzen ; und wenn der
jugendliehe Richter seine Strafe ausspricht, dann bricht er in
Tränen aus wie ein kleines Kind. Ein anderer Knabe aus
der Grofsstadt, der schon einmal im Gefängnis war, glaubt,
er könne sich zu einem Helden in den Augen seiner kleinen
Mitbürger machen, wenn er sich seiner grofsen Erfahrungen
im Stehlen rühmt. Sobald nun etwas in der Republik abhanden
kommt, wird er natürlich als verdächtig verhaftet. Er hat
sich als Dieb gerühmt, nun sieht er zu seinem Erstaunen,
dafs seine Kameraden sich gegen ihn schützen. So bildet sich
eine neue Auffassung vom Gesetze in seinem Geiste : das
Gesetz ist nicht mehr die Maschine eines fernen und nur
dunkel vorgestellten Staats, sondern eine natürliche mensch-
liche Einrichtung zum Schutz der Individuen. Es ist der
Ausdruck des Gewissens und der Bedürfnisse der Gesell-
schaft , von der er selbst ein Teil ist. Das Gesetz ist
sein Gesetz, denn er half es zu machen; und es existiert
VI. In den Strafanstalten. 105
für seinen Schutz und seine Bedürfnisse ebensosehr, wie
für die seiner Nachbarn. So lernt der neue Bürger der
Republik die Achtung vor dem Gesetze noch schneller, als
er seine erste grofse Lektion erfafst hat.
Die dritte grofse Lektion der Republik liegt in den
Pflichten und der Verantwortlichkeit, die das Bürgerrecht
mit sich bringt. Ich kenne keine Schule, in der dies wirk-
samer gelehrt wird, als in der Kinderrepublik, — nicht
durch Schlüsse vom Abstrakten ins Konkrete, wie die
meisten von uns diese Lektion gelernt haben, sondern durch
die Erfahrungen des konkreten Lebens selbst. Auf jeden
Bürger ist die Last der Verantwortlichkeit gelegt, und das
Gemeinwesen ist klein genug, dafs er dies empfindet. Er
sieht, dafs der Staat nur eine organisierte Vielheit von
Individuen, und dafs er selbst eines derselben ist. Er hat
die Gelegenheit zu fühlen , dafs er selbst, wenigstens teil-
weise, verantwortlich ist für mangelhafte Gesetze, für
schlechte Verwaltung und für unfähige Beamte. Zudem
bekommt er praktische Erfahrung in den Pflichten eines
Beamten. Er dient als Mitglied des gesetzgebenden Körpers,
als Polizeichef, als Staatsanwalt, als Richter oder in einem
anderen Amte.
Nach und nach gewinnt das Strafsenkind der Grofs-
stadt eine klare, gesunde Ansicht über sein ganzes Ver-
hältnis zur menschlichen Gesellschaft. Da ist kein Ge-
heimnis : Seine Pflichten als Bürger, seine neue Auffassung
von der Arbeit, seine Achtung vor dem Gesetze, all dies
zeigt sich klar und deutlich. Das Kind lernt durch
praktische Erfahrung, die einzig richtige Lehrerin für
solche Kinder. Und dadurch, dafs es früh im Leben diese
grofsen Lektionen aus Erfahrung lernt, scheidet es die
schlechten Eigenschaften aus, die Abstammung und Um-
gebung in ihm haben entstehen lassen. Nun haben wir
106 Hintrager.
einen Stoff, aus dem gute Bürger gemacht sind: ehrbare
Arbeiter, Menschen, die ehrlich stimmen und Achtung
vor dem Gesetze haben. Von diesen Prämissen müssen
wir zu dem rechten Schlüsse kommen, wenn das Herz des
Kindes gesund wird und die etwa vorhandenen ver-
brecherischen Triebe verschwinden.
Wird das Herz des Kindes gesund? — Dafs dies ge-
schieht, ist von allem das am meisten Überraschende. Er-
klären Sie es, wie Sie wollen, sei es aus der liebenden
Hand, die viele von diesen Kindern zum ersten Male auf
ihren Schultern ruhen fühlen, oder aus der natürlichen
Neigung der Kindesnatur, unter den richtigen Verhältnissen
das Lasterhafte abzustofsen, wie die Ärzte sagen, dafs der
Körper das Krankhafte ausscheidet, oder erklären Sie es
aus einem Zusammenwirken von beidem. Aber es ist da.
Offenheit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Reinheit der
Sprache sucht man nicht bei den Kindern der schlechtesten
Stadtteile der Grofsstädte. Sie finden es unter dem Schutze
der öffentlichen Meinung in überraschendem Mafse in der
Kinderrepublik,"
Doch setzen wir nun unsern Rundgang durch die
Republik fort! Als wir vor dem Gerichtsgebäude anlangten,
waren wir eben noch Zeugen der Vergebung einiger gemein-
nützigen Arbeiten im öffentlichen Aufstreich. Im Gerichts-
gebäude selbst besichtigten wir den Sitzungssaal, das Be-
ratungszimmer, das Gefängnis und das Zimmer der gesetz-
gebenden Versammlung, in dem eine grofse Flagge der
Vereinigten Staaten an der Wand hing und die Bundes-
verfassung und die Gesetze des Staates New York auf-
lagen. Im Gerichtssaale war schon ein zahlreiches jugend-
liches Publikum versammelt, unter welchem wir uns auf
den Kinderbänken des Zuschauerraumes niederliefsen. Was
entwickelte sich nun da vor unseren Augen! Eine regel-
VI. In den Strafanstalten. 107
rechte Gerichtsverhandlung, bis in Einzelheiten gleich den-
jenigen der Gerichte des Staates New York; ein 15 jähriger
Staatsanwalt, der mit der der amerikanischen Jugend
eigenen Unbefangenheit seine Sache gut zu führen wufste,
ein 14 jähriger aufserordentlich redegewandter Verteidiger
eines 11 jährigen Angeklagten, und ein 17 jähriger Richter^
der der jugendlichen Geschworeneubank in seiner Rechts-
belehrung eine korrekte Darlegung des Grundsatzes „ne
bis in idem" gab. Welch eigentümliche Erscheinung! Ich
sah mich im Gerichtssaale um und betrachtete mir die Ge-
sichter der Kinder. Sie alle waren ernst und bei der
Sache. Es war ihnen keine Spielerei und kein Theater.
Dafs es Ernst war, zeigte vor allem das Gesicht des An-
geklagten.
Inzwischen ging der Tag zur Neige. Wir afsen das
Abendbrot mit einigen der jugendlichen Bürger und den
Lehrerinnen, unter denen natürlich auch eine Deutsche
nicht fehlte. Jedes Kind hatte für die Mahlzeit 20 cts.
in dem Zinngelde der Republik zu bezahlen. Als die Zeit
zum Abschied kam, gingen wir mit vielen der jugendlichen
Bürger in ein Schulzimmer. Mr. Osborne setzte sich ans
Klavier und rief: „Lafst uns noch ein schönes Lied zum
Abschied singen!" Er spielte „Die Wacht am Rhein", und
alles stimmte begeistert ein. Vor dem zweiten Verse rief
er: „Silentium für den deutschen Doktor." Zu mancher
Stegreifrede war ich, wie dies hier Sitte ist, schon auf-
gefordert worden, aber zum Singen glücklicherweise noch
nie. Ich sang — und dachte an meinen Singlehrer in der
Schule, der bei meinen Probegesängen schon beim dritten
Tone zu sagen pflegte: „'s ist gut, 's ist gut".
Unter dem stürmischen „Yell" der Bürger der jugend-
lichen Republik fuhren wir den Hügel hinab. —
Diese Kinderrepublik ist ein kleines Abbild der grofsen
108 Hintrager.
jugendlichen Kepiiblik der Vereinigten Staaten. Solche
Lektionen, wie sie der Bürger dieses Kinderstaates lernen
mufs, gibt das Leben hier jedem Einwanderer.
Nicht allein die Ehre der Arbeit, der Bürgersinn, die
Auffassung von Gesetz und Obrigkeit und die Macht der
öffentlichen Meinung in der Kinderrepublik sind gleichsam
Miniaturbilder des Lebens in der Union, sondern auch die
kindliche Naivität, der Frohsinn und der unverwüstliche
Optimismus, der ebensosehr eine Voraussetzung der kleinen
Republik des Mr. George als der grofsen Republik des
Onkel Sam bildet.
VII. Die Kirchen.
„Die Vereinigten Staaten sind der
erste Staat gewesen, der es gewagt
hat, die Kirche und den Staat auch
in der Wirklichkeit voneinander zu
scheiden." Robert Mohl.
St. Louis (Mo.).
Zu den mancherlei Überraschungen, die dem Fremden
hier zuteil werden, gehört auch die, dafs er ein bewegtes
religiöses Leben in diesem Lande findet , in welchem die
Menschen nach der herkömmlichen Meinung nur nach dem
Dollar jagen. Mit einer dem Europäer unbekannten Naivität
stellen die Menschen hier Fragen über die wichtigsten
Prinzipien , debattieren frei über religiöse Fragen, die wir
nur mit Vertrauten besprechen. Dafs das religiöse Interesse
lebhaft ist, das ersieht man schon daraus, dafs es hier so
überaus viele Kirchen und religiöse Vereinigungen gibt,
obwohl weder Staat noch politische Gemeinde dieselben
irgendwie unterstützen. Hier gibt es Städte, in denen auf
1000 Einwohner eine Kirche kommt. Nach dem Census
von 1890 kam in der ganzen Union eine Kirche auf 370
Köpfe. Das amerikanische Städtebild ist daher auch ein
anderes. Hier hat jede Stadt zu viele religiöse Gemein-
schaften, als dafs jede eine alles überragende Kirche er-
stellen könnte. In den Grofsstädten überragen die „Himmels-
kratzer" der Zeitungen und des Grofskapitals die Kirch-
türme.
110 Hintrager.
Es gibt in der Union weit über 100 verschiedene
religiöse Bekenntnisse („denominations"), und ihre Zahl
wächst immer noch. Denn jede Idee, und ist sie auch noch
so absurd, findet unter diesem unruhigen Volke rasch An-
hänger und fanatische Vertreter. Die meisten Mitglieder
haben die katholische, die methodistische und die baptistiche
Kirche, Vertreten sind hier auch die religiösen An-
schauungen des Orients, dessen heilige Bücher hier in jeder
öffentlichen Bibliothek zu finden sind, und mit dessen Leben
hier dank dem Stillen Ozean mehr Fühlung besteht als bei
uns. Jüngst hörte ich in einer öffentlichen Versammlung
einer Sekte, die an Seelenwanderung glaubt, einen Mann im
Ernste erzählen, er erinnere sich, wie er zum letzten Male
auf der Welt gewesen sei und den Sturm auf die Bastille
mit angesehen habe. — Und niemand lachte.
Das religiöse Leben der Familie, in welcher ich mich
hier befinde, gibt ein kleines Bild der Verhältnisse. Sie
bewohnt ein schönes Haus in bester Lage der Stadt, das
die fürsorglichen deutschen Eltern der jüngsten Tochter
Louise hinterlassen haben. Von den erwachsenen Mit-
gliedern der Familie, zu der auch die Vettern Fred und
Charley gezählt werden, hat fast jedes ein anderes
•Glaubensbekenntnis. George, der älteste Sohn des Hauses,
ein gutherziger, biederer Junggeselle, ist Mitglied einer
der zahlreichen Freimaurerlogen. Sein Bekenntnis ist:
Tue recht und scheue niemand, und seine Tat stimmt da-
mit überein. Gegen keine Kirche, ausgenommen die
katholische, ist er feindlich gesinnt. Im Gegenteil, er be-
sucht gelegentlich eine Predigt, wenn Redner oder Thema
ihn anzieht. Am Sonnabend pflegt er die langen Spalten
der kirchlichen Nachrichten in der Zeitung zu überfliegen,
welche die Prediger der etwa 400 Kirchengemeinden der
Stadt und ihre Themata für den Sonntag ankündigen. Was
Vn. Die Kirchen. 111
hier in der Kirche geboten wird, mag aus folgender kleinen
Auswahl der Predigtthemata vom letzten Sonntage ent-
nommen werden : „Die Bibel in der Literatur." „Unsterblich-
keit in den Werken von Robert Browning." „Skandal."
„Martin Luther und die Gegenwart." „Wahre Weisheit
und wie man zu ihr gelangt." „Das Trinken." „Charakter
und Geld." „Die Religion und Politik Johannes des
Täufers." „Warum die Mädchen nicht heiraten." „Sozial-
reform." „Ehe und Scheidung." „Bürgerpflichten für die
nächste Wahl." „Gustav Adolf und sein Monument bei
Lützen." „Wie ein Missionar Oregon den Vereinigten Staaten
rettete." „Das weibliche Ideal," Wie in der Schule und
Presse, so herrscht auch hier das Bestreben, alles möglichst
interessant und anziehend zu gestalten. Man kann sich
denken, wie besucht die Kirche ist, wenn ein interessanter
Prediger über den „Heiratsmarkt" spricht oder eine
Pfarrerin über „Das weibliche Ideal". Die biblischen Texte
spielen eine verhältnismäfsig geringe Rolle.
Doch nun wieder zu unserer Familie. Ein ausgesprochener
Atheist ist Vetter Fred; er bekannte eines Abends offen:
„Ich kann an keinen Gott glauben, namentlich an keinen
Gott der Liebe. Ich sehe zu viel Ungerechtigkeiten im
Leben." Freds Ideal ist Ingersoll, der typische, blendende
Vertreter des Unglaubens in diesem Lande. Die älteste
Tochter des Hauses, Tante Anna, war mit einem deutschen
lutherischen Geistlichen hier verheiratet gewesen und ist
diesem Bekenntnisse auch nach dem Tode ihres Mannes
treu geblieben. Sie ist im Ausschufs vieler Wohltätigkeits-
komitös, eine Christin der Tat. Mit ihr ging ich einmal
in die deutsch-lutherische Kirche hier, in der ihr Schwager,
ein sehr angesehener Geistlicher, predigt. Auch diese
Predigt, die erste, die ich in deutscher Sprache hier hörte,
zeigte mir den Unterschied des Tons des religiösen Lebens
1 12 Hintrager.
hier. Der Pfarrer sprach populär und modern , niclit
biblisch und weihevoll. Er zitierte Goethe , Schiller und
andere deutsche Autoren, sprach über Tagesfragen und
machte gelegentlich einen Scherz. Sein bester Freund ist
der Rabbiner der hiesigen Israelitengemeinde, für den er
dann und wann in der Synagoge predigt, während der
Rabbi in der lutherischen Kirche den Gottesdienst abhält:
ein Austausch, wie er hierzulande nicht selten bei den
verschiedensten Bekenntnissen vorkommt und von den
Kirchenmitgliedern willkommen geheifsen wird.
Mifs Louisa, die liebenswürdige junge Herrin des
Hauses, und Vetter Charley sind Mitglieder der Gesellschaft
für ethische Kultur. Louisa, welche die Musik sehr liebt,
geht hier und da in den Gottesdienst in der Synagoge, da
dort aufser der Predigt ein gutes Orgelkonzert geboten wird.
Ihre gemütvolle Schwester Julia ist Anhängerin der so-
genannten „Christlichen Wissenschaft", die zur Zeit hier
viel von sich reden macht. Seit ich das Leben dieser
Familie teile, gehe ich oft zur Kirche und zu religiösen
Vorträgen; denn sie alle wollen mich bekehren; ein jedes
wünscht, dafs ich seinen Prediger einmal höre. Vor mir
liegen Schriften über die christliche Wissenschaft und Vor-
träge aus der Gesellschaft für ethische Kultur. Selbst
einem „Treatment" in christlicher Wissenschaft konnte ich
nicht entgehen.
Und alle diese Menschen, die mangels jeden Religions-
unterrichts in den öffentlichen Schulen von der Bibel zum
Teil sehr wenig wissen, leben in bester Harmonie; Fred,
der Atheist, ist der hilfsbereiteste Mensch im Hause.
Wiederholt kam das Gespräch auf religiöse Fragen; nie
gab es eine Reibung. Die Unterschiede in den religiösen
Überzeugungen scheinen ihnen so selbstverständlich zu
VII. Die Kirchen. 113
V
sein, wie die Verschiedenheit von Ansicht und Geschmack
in wissenschaftlichen und künstlerischen Angelegenheiten.
Wie in diesem Hause, so leben in dem grofsen Lande
die christlichen und anderen Religionsgemeinschaften fried-
lich nebeneinander. Ermöglicht ist dies in erster Linie
durch die Trennung von Kirche und Staat. Sie
hat hier die Rivalität der Konfessionen gemindert in dem
Mafse, als denselben gleiche Rechte und Bewegungsfreiheit
gegeben wurde. Dieser Punkt bildet einen der wesent-
lichsten Unterschiede des Lebens diesseits und jenseits des
Atlantischen Ozeans.
Die alten Kolonien, aus denen sich die Vereinigten
Staaten entwickelt haben, hatten gröfstenteils religiöse
Grundlagen. In den Neu-Englandstaaten hatten die Puritaner
eine Art theokratischer Gemeinwesen geschaffen, in denen
der Geist der Askese und der Unduldsamkeit herrschte.
Nur Mitglieder der religiösen Gemeinschaft hatten Bürger-
rechte, Andersgläubige wurden als Ketzer verfolgt. In
Virginien war die englische Hochkirche die Staatskirche;
in Maryland herrschten die Katholiken, die sich wegen
der Verfolgungen in England dorthin geflüchtet hatten.
Pennsylvanien gründeten die Quäker unter William Penn.
Zu diesen Bekenntnissen kamen noch manche andere der
zahlreichen europäischen Sekten des 17. und 18. Jahr-
hunderts, so dafs zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung
der 13 Kolonien schon eine ziemliche Mannigfaltigkeit von
Kirchen und religiösen Gemeinschaften bestand. Bei den
Beratungen über den Entwurf der Bundesverfassung wurde
daher auch die Frage des Verhältnisses des Bundes zu
den Kirchen lebhaft erörtert; vor allem auf Betreiben
Jeffersons, des Vertreters der Rechte des Individuums
und der Einzelstaaten , wurde beschlossen , dafs der Bund
als solcher überhaupt in kein Verhältnis zu irgend einer
Hintrager. 8
114 Hintrager.
religiösen Gemeinschaft tritt. Die Union ist nach der
Verfassung ein religionsloser Staat. Die Verfassung, die
das Wort „Gott" selbst bei der Formulierung des Präsidenten-
eides vermeidet, bringt dies zum Ausdruck durch die Be-
stimmung (Zusatzartikel I), dafs der Koogrefs kein Gesetz
erlassen darf, das die freie Ausübung einer Religion ver-
bietet oder „an establishment of religion" betrifft, sowie die
weitere Bestimmung, dafs die Fähigkeit zur Bekleidung
eines Bundesamtes nicht von einem religiösen Bekenntnis
abhängig gemacht werden darf (Art. VI. Abs. 3). Der
Bund überläfst es daher seinen Beamten und den Kongrefs-
raitgliedern, an Stelle des Eides lediglich eine Versicherung
abzugeben. Dies Recht hat also auch der Präsident der
Vereinigten Staaten, der gemäfs der Verfassung ebensogut
Buddhist oder Atheist wie Christ sein kann.
Diese Stellung hat die Bundesregierung konsequent
festgehalten, obwohl die katholische Kirche sie wiederholt
zu ändern versucht hat. Die Union hat keinen Vertreter
beim Papste und tritt auch mit dem zurzeit in Washington
residierenden apostolischen Delegaten für die Vereinigten
Staaten nicht in Beziehung.
Nicht so einfach haben sich die Verhältnisse in den
Einzelstaaten der Union entwickelt. Da die Bundesver-
fassung diesen in der Regelung des Verhältnisses von Staat
und Kirche keine Beschränkung auferlegte, so ist hier der
Boden, auf welchem sich in den ersten 50 Jahren des Be-
stehens der Union der Entwicklungsprozefs abspielte, der
zu der jetzigen Trennung von Staat und Kirche geführt
hat. Langsam, ohne Anstrengung und ohne Kampf vollzog
sich die Loslösung, in den meisten Staaten ausgehend von
der gesetzlichen Gleichstellung aller Bekenntnisse, Aus-
scheidung des Kirchenvermögens und Abschaffung jeder
VII. Die Kirchen. 11 ■
staatlichen oder kommunalen Unterstützung der Kirchen ^').
Das Resultat der Entwicklung ist keineswegs ein einheit-
liches; allein die Verfassungen der Einzelstaaten enthalten
durchweg ähnliche Bestimmungen wie die Bundesverfassung,
einige auch weitergehende. Die meisten bestimmen, jeder
dürfe Gott nach seinem eigenen Gewissen verehren, niemand
andere hierbei stören , niemand gezwungen werden , eine
Kirche zu besuchen oder zu unterstützen ; keiner Kirche
dürfe ein Vorzug vor einer andern gegeben werden, keine
öffentlichen Mittel dürfen für Kirchen oder konfessionelle
Schulen verwendet werden. Einzelne Staaten lassen übrigens
Atheisten zu einem Amte nicht zu. Wichtiger aber und
einschneidender als alle diese Bestimmungen ist der in
allen Einzelstaatsverfassungen niedergelegte Grundsatz, dafs
die einzelneu Kirchengemeinden, nicht die Gesamtkirchen
privatrechtliche Korporationen sind, die unter denselben
Voraussetzungen Rechtsfähigkeit erlangen und denselben
Gesetzen unterstehen, wie jeder nicht Erwerbszwecken
dienende Verein. Für den Staat und die Gesetzgebung
existiert nicht die „Gesamtkirche" als geschlossene Gröfse,
sondern nur die einzelne kirchliche Gemeinde als ein-
getragener Verein. Die meisten Staaten erklären Grund-
eigentum der Kirchen, wenn für kirchliche Zwecke benützt,
bis zu etwa 160 acres steuerfrei , bestimmen jedoch eine
Maximalgrenze für testamentarische Zuwendungen an
Kirchen und für deren Recht zur Erwerbung von Grund-
eigentum.
Dieses Resultat, an dem übrigens nicht in allen Unions-
staaten konsequent festgehalten wird, entspricht ganz den
Grundanschauungen dieses selbständigen und aufgeklärten
') Der Staat Massachussetts z. B. hatte bis 1811 noch eine
Kirchensteuer.
8*
116 Hintrager.
Volkes. Der Amerikaner will gröfstmögliche Freiheit des
Individuums und wacht eifersüchtig darüber, dafs die
Rechte des Einzelneu durch Staat oder Kirche nicht be-
schränkt werden.
Daher sind auch alle Teile mit der Lösung des Problems
zufrieden. Zwar haben anfänglich manche Neu-England-
Geistliche gegen die Lostrennung der Kirchen vom Staate ge-
eifert, allein heute freuen sich doch alle, auch die Katholiken,
der Freiheit und Autonomie. An Geld fehlt es den Kirchen
nicht, dank der Wohlhabenheit und Opferwilligkeit der Be-
völkerung. Die Gehalte der Geistlichen sind durchschnittlich
besser als in Deutschland, und ihre Stellung ist sehr ange-
sehen und einflufsreich. Der Staat anderseits fährt auch
wohl bei der friedlichen Scheidung. Er hat wenig zu
fürchten; denn keine der vielen Kirchen ist sehr mächtig.
Er kann sich sogar die Inkonsequenz erlauben, Geistliche
für die Gebete in den Parlamenten zu halten, aus den ge-
ringsten Anlässen Eide abzunehmen, Sonntagsschutzgesetze
zu erlassen und einen Danksagungstag alljährlich für die
ganze Nation festzusetzen.
Um die praktischen Resultate dieser Trennung von
Staat und Kirche für die letztere und für das kirchliche
Leben im allgemeinen beurteilen zu können, dazu sind wohl
Jahre der Beobachtung erforderlich. Aber immerhin bieten
auch die flüchtigen Beobachtungen des Reisenden Anhalts-
punkte in der genannten Richtung.
"Wie ich schon auf der Farm gesehen hatte, leben die
Christen hier mehr nach dem Worte: „Seid fröhlich mit
den Fröhlichen" als nach dem: „Weinet mit den Weinenden."
Ein froher, optimistischer Zug geht durch das ganze Leben.
Auch das religiöse Leben macht hierin keine Ausnahme.
Die grofse St. Patricks-Prozession der katholischen Kirche
hier gleicht mehr einem Maifestumzuge als dem , was wir
VII. Die Kirchen. 117
unter einer Prozession verstehen. Die heiteren, für deutschen
Geschmack oft zu lustigen Melodien der amerikanischen
Kirchenlieder sind allgemein bekannt. Aber weniger be-
kannt ist, dafs fast alle Kirchen hier Nebenräume für ge-
sellschaftliche Veranstaltungen, Vorträge, Konzerte, Lotte-
rien, Basare, ja sogar Bälle haben. Besonders die Damen
lieben es, derartige Unterhaltungen zugunsten der Kirchen-
kasse zu veranstalten.
Schon in den ersten Wochen auf der Farm wurde ich
zu einem „Kirchenessen" eingeladen, das die weiblichen
Mitglieder bereiteten und auftrugen. Die reizenden Mädchen
in ihren schönen Kleidern bürgen dafür, dafs der Ton,
der an dieser Tafel waltete, nicht sehr kirchlich war. In
einer der hiesigen Presbyterianer-Kirchen veranstaltete
kürzlich der Klub der „13" eine musikalische Abendunter-
haltung mit 13 Programmnummern, 13 cts. Eintrittsgeld
und so fort. Als ich einmal mit einem Richter über Land
fuhr, sahen wir in der Nähe eines kleinen Städtchens eine
Abteilung 15 — 18 jähriger Jünglinge in der Uniform der
Infanterie der Vereinigten Staaten mit Gewehren exerzieren.
Auf meine Frage, was dies zu bedeuten habe, sagte der
Richter wörtlich: „Es ist der Baptistenkirchen-Drill." In
der ersten Strafanstalt des Staates New York für Jugend-
liche zu Rochester ist in der Anstaltskapelle eine voll-
ständige Theatereinrichtung; der Altar läuft auf Schienen,
um, falls Theateraufführungen stattfinden, von der Bühne
hinter die Kulissen gefahren werden zu können. Hierin
findet niemand etwas Anstössiges,
In den Augen des Deutschen sind diese Dinge An-
zeichen einer gewissen Äufserlichkeit und geringer Tiefe
des religiösen Fühlens. Sie sind, abgesehen von der
Jugendlichkeit des ganzen Volkes und seiner Kultur, aus
der Trennung von Staat und Kirche zu erklären. Die
118 Hintrager.
Kirchen müssen sich selbst unterhalten, sie müssen danach
trachten, dafs sie möglichst viele Mitglieder gewinnen und
sich erhalten. Hierauf ist die angenehme Ausstattung des
Gotteshauses wie des Gottesdienstes in erster Linie be-
rechnet. Hieraus erklären sich die Kirchenessen , die
derwischartigen Erweckungsversammlungen und die weifse
Flagge an der Kirche, die in reklamehaften Buchstaben
verkündet, dafs heute abend in „illuminierter" Kirche das
Evangelium in Bildern dargestellt werde, anderseits aber
auch die viel regere und freiere Tätigkeit der religiösen
Gemeinschaften und ihrer Prediger. Würde hier ein
Geistlicher in der bei uns auf dem Lande üblichen Weise
predigen, er hätte in kurzer Zeit Zuhörer und Stellung
verloren. Auch der Pfarrer hat sich hier in erster Linie
nach dem Volke zu richten.
Dafs der Wille des Volkes das oberste Gesetz in diesem
Lande ist, hatte insbesondere die katholische Kirche wieder-
holt zu erfahren. Drüben über dem Mississippi in Ost-
St. Louis ist zurzeit die ganze irisch-katholische Gemeinde
in Aufruhr gegen den Bischof. Der Bischof hat zum
Geistlichen dieser Gemeinde einen Deutschen ernannt, die
Gemeinde verlangt jedoch einen irländischen Geistlichen
und bezahlt nun seit sechs Wochen eine bewaffnete Wach-
mannschaft von zwölf Mann (ä 2.50 $ pro Tag), die das
Pfarrhaus umstellt hat , um das Aufziehen des deutschen
Geistlichen eventuell mit Gewalt zu verhindern. Die welt-
liche Obrigkeit läfst sie natürlich gewähren, und niemand
zweifelt daran, dafs der Bischof schliefslich nachgeben mufs.
— Selbst die römische Kirche hat, um ich anzupassen,
einen so liberalen Ton hier angeschlagen, dafs der Papst
Veranlassung nahm, gegen den „Amerikanismus" in der
katholischen Kirche einzuschreiten. Ihr Hauptaugenmerk
richtet die katholische Kirche auf die Schulen, Sie hat
VII. Die Kirchen. 119
sehr schöne und gute Privatschulen, über deren Vorzüge
selbst hohe kirchliche Würdenträger gelegentlich Zeitungs-
artikel veröffentlichen. Den unentgeltlichen öffentlichen
Schulen hat sie aber bis jetzt kaum Eintrag zu tun ver-
mocht, und auch die gelegentlichen Versuche, an der Kon-
fessionslosigkeit der öffentlichen Schulen zu rütteln, haben
bisher keinen Erfolg gehabt.
VIII. Eine Woche unter Kommu-
nisten.
„ Wir müssen die menschliche Natur
nehmen, wie tcir sie finden. Voll-
kommenheit ist Sterblichen nicht be-
schieden." G. Washington.
Arnana, Jowa.
Etwa eine halbe Tagereise westlich vom Mississippi
im Staate Jowa liegt ein Stück deutschen Lebens, wenig
bekannt und doch kennenswert, ein stilles Eiland im be-
wegten Ozean amerikanischer Entwicklung. Etwas mehr
als 2000 Deutsche leben hier der Verwirklichung eines
hohen Ideals, der Wiederherstellung des Lebens der ersten
Christengemeinde nach dem Wort der Apostelgeschichte
(4,32): „Keiner sagte von seinen Gütern, dafs sie sein
wären, sondern es war ihnen alles gemein". In sieben
Dörfern angesiedelt, haben sie sich von der Aufsenwelt ab-
geschlossen durch eine unsichtbare Mauer, und wer sie be-
sucht, wird deutsche Sitten, deutsche Sprache, deutsche
Ordnung, deutschen Haushalt, ja selbst deutsche Kleidung
dort finden, alles so wie es im Mutterlande war zur Zeit,
da sie es verlassen haben.
Unter den zahlreichen religiösen Sekten, die im
18. Jahrhundert über ganz Deutschland zerstreut waren und
bis in unser Jahrhundert hinein so viel unter der Unduld-
samkeit von Regierungen und Kirchen zu leiden hatten,
VIII. Eine Woche unter Kommunisten. 121
war eine mit dem Namen „Wahre Inspiiationsgemeinde".
Sie wurde im Jahre 1714 gegründet von zwei Württem-
bergern, Bernhard Ludwig Gruber und Johann Friedrich
Rock, die ihres Glaubens wegen aus Württemberg aus-
gewiesen worden waren. Freilich waren ihre Ideen, die
sie mit Begeisterung in ihren Versammlungen ver-
kündeten, so ungewöhnlich, dafs sie auch heute noch die
Kritik herausfordern. Machen wir gleich die Probe; denn
der Glaube dieser Menschen hat zu ihrer Gütergemeinschaft
geführt und hält sie heute noch. Sie sind Christen, aber
nicht Christen einer bestimmten Konfession ; sie wollen sich
über den Streit der Konfessionen stellen, der so unchrist-
liehe Früchte zeitigt. Nicht das Dogma, nicht diese oder
jene Form religiöser Gebräuche und Einrichtungen, lediglich
die Gesinnung und die Tat ist es, was sie anerkennen.
Hier aber sind sie streng. Jede Form in Glaubenssachen
erscheint ihnen unnütz, ja gefährlich. Darum leugnen sie die
Berechtigung der Taufe : nur die Feuer- und Geistestaufe,
von der Christus sprach, ändert den Menschen, aber nicht
eine äufserliche und daher überflüssige Zeremonie. Als
ein Zeichen der Aufnahme in einen kirchlichen Verband
hat die Taufe nach dem Gesagten vollends keinen Platz
in der „Wahren Inspirationsgemeinde". Eine berufsmäfsige
Ausübung des Predigtamts kennen sie nicht ; jeder, so sagen
sie , ist berufen , zu lehren und zu zeugen von Gott , der
doch in allen wohnt. Auch heute noch giefst Gott seinen
Geist aus über seine Jünger, und seinem Geist allein, der
unvermittelt zu uns spricht, wollen wir folgen. Darum
müssen wir streng an uns arbeiten, uns zu reinen Gefäfsen
des göttlichen Geistes zu bilden und zu erhalten. Mit
diesen Sätzen hängt eben der Name der Gemeinde zu-
sammen ; sie glauben an eine Inspiration , die auch heute
noch Gott dem Begnadeten zuteil werden läfst. Ähnlich
122 Hintrager.
wie über die Taufe denken sie auch über das Abendmahl.
Besonders charakteristisch und folgenschwer sind ihre An-
schauungen über Liebe und Ehe. Sie sagen mit Paulus:
Heiraten ist gut, Ledigbleiben ist besser. Wer Gott sein
Leben weiht, mufs frei sein von Erdenbanden. Wie könnte
auch ein Mensch zwei Herren dienen, der heiligen und der
profanen Liebe ! Die 24 Lebensregeln Grubers, die gleich-
sam zum Glaubensbekenntnis der Inspirationisten gehören,
enthalten die Mahnung, den Umgang mit dem Frauenvolk
als einen „sehr gefährlichen Magneten und magnetisches
Feuer" zu fliehen. Ein Weib anschauen, ihrer zu begehren,
ist schon der erste Schritt zum Fall ; und wer gar heiratet,
der ist der Versuchung erlegen, den hat zur Erde die
Begier gezogen. Er kann von nun an nicht mehE der
göttlichen Inspiration teilhaftig werden, sein Leib ist be-
fleckt; erst lange, ernste Bufse vermag ihn wieder zu
reinigen. Und auch dann kehrt die Gabe der Inspiration
erst wieder in den Jahren, in denen das Blut nicht
mehr so munter in den Adern springt. So hat die in
der Geschichte der Gemeinde grofs dastehende Barbara
Heinemann (1795 bis 1883), die von Gottes Geist in
hohem Grade erleuchtet war, und deren Schriften bei
den Inspirationisten hochgeschätzt sind, mit ihrer Ver-
heiratung auch die Gabe der Inspiration verloren und sie
erst in hohem Alter wiedergewonnen. Dies sind die
Grundlinien des Glaubens der Wahren Inspirationsgemeinde,
wie er heute noch von deren Mitgliedern bekannt wird.
In dieser Lebensauffassung liegt schon der Keim zum
Kommunismus.
Um diesem Glauben ganz sich hinzugeben , ein Leben
zu führen in der Welt, aber nicht von der Welt, dazu war
ein Land nötig, wo keine Obrigkeit, kein religiöser Zwie-
spalt, kein unduldsamer Nachbar den einzelnen hinderte,
VIII. Eine Woche unter Kommunisten. 123
nach seiner tJberzeugung zu handeln. Daher lenkten sich
die Blicke der Inspirationisten , die nirgends geduldet
wurden und schliefslich in den 20er Jahren des vorigen
Jahrhunderts nach vielen Ausweisungen in ein paar Ge-
meinden in Hessen und im Elsafs sich niedergelassen
hatten , nach dem Lande der Freiheit jenseits des Ozeans.
Dorthin wiesen auch die einzelnen unter ihnen gewordenen
göttlichen Offenbarungen. Im Jahre 1842 berichtete eine
Kommission von vier Männern, die sie aus ihrer Mitte zur
Erkundung der Verhältnisse in Nordamerika und zum
Ankauf von Land hinübergeschickt hatten, dafs sie in der
Nähe von Buffalo ein grofses Stück Landes gekauft habe.f
Ein paar Hundert der eifrigsten Anhänger gingen sofort
hinüber; im Laufe der nächsten Jahre folgten die übrigen,
und unter dem Namen Ebenezer gründete sich die damals
etwa 1200 Seelen starke Gemeinde. Hart war die Arbeit
der ersten Jahre ; der Boden war noch nie gepflügt worden,
Wohnstätten waren zu errichten , oft auch Haus und Hof
gegen den Indianer der nahen Reservation zu schützen.
Aber deutsche Ausdauer war von Erfolg gekrönt, und von
dem emporschiefsenden jungen Lande getragen, wurden die
Verhältnisse der Kolonisten immer besser. — Jedoch was
war äufserer Wohlstand für diese Männer des Glaubens,
die kein Band an die Erde fesseln durfte! Was wollten
sie von Geld und Gut! Ist nicht das Gold die Wurzel
alles Übels? Wer hat in seinem Dienst die Seele rein
bewahrt? So entschlossen sich die Kolonisten, auch auf
wirtschaftlichem Gebiet ihrem hohen Vorbild, der ersten
Christengemeinde, nachzuleben, sie beschlossen Güter-
gemeinschaft. Das war der Schlufsstein des Gebäudes, die
letzte praktische Konsequenz ihres Glaubens. Welche
Aufgabe haben sich die Inspirationisten damit gestellt!
Und sie haben sie gelöst! Die Ältesten der Gemeinde
124 Hintrager.
haben ein kommunistisches System aufgebaut, dessen
Durchführung und Ergebnisse sehr lehrreich sind.
Im Jahre 1854 zog die junge Kommunistengemeinde
gen Westen und siedelte sich in ihren heutigen Sitzen nahe
Ceder Rapids, Jowa, unter dem Namen Amana-Gesellschaft
an (Amana ist entnommen Hohel. 4, 8). Die Amana-Gesell-
schaft ist von den zahlreichen im Laufe des vorigen Jahr-
hunderts in N.-A. gegründeten kommunistischen Gemein-
wesen das einzige, welches seinen Gründer überlebt hat
und heute noch blüht. Die andern haben meist kein Jahr-
zehnt gelebt ; so ist die bekannte Brook-Farm, ein lediglich
auf Vernunftgrundsätze basierter Kommunismus, schon nach
fünf Jahren in die Brüche gegangen. Ebenso erging es
den Rappisten in Pennsylvania vor wenigen Jahren. Die
Perfektionisten in Oneida haben sich in eine Aktiengesell-
schaft umgewandelt, und die ebenfalls kommunistischen
Separatisten zu Zoar bei Cleveland tragen sich lebhaft mit
diesem Gedanken. Die Amana-Gesellschaft dagegen hat
nicht allein ihre Mitgliederzahl nicht unwesentlich ver-
mehrt, sondern sie hatte sich auch eines steten wirtschaft-
lichen Gedeihens zu erfreuen. Die Gesellschaft, der als
Amana-Society die Rechte einer juristischen Person ver-
liehen sind, zählt heute etwas über 2000 Mitglieder und
hat einen zusammenhängenden Grundbesitz von 25000 acres
(1 acre = 40,47 ar).
Die Leitung und Verwaltung aller Angelegenheiten der
Gesellschaft liegt in den Händen von 13 Ältesten, Trustees,
die jährlich aus der Zahl der älteren Gesellschaftsmitglieder
gewählt wei'den. Die Trustees wählen aus ihrer Mitte den
Vorsteher, der aber nur primus inter pares ist. Diesen
Trustees hat nach Artikel 5 der Verfassung der Amana-
Gesellschaft jedes Mitglied bei seiner Aufnahme sein ganzes
Vermögen, bewegliches und unbewegliches, für die gemein-
VIII. Eine Woche unter Kommunisten. 125
schaftliche Kasse ohne Vorbehalt zu übergeben. Es ist
weiter verpflichtet, seine ganze Arbeitskraft in den Dienst
der Gesellschaft zu stellen, nicht mehr für sich selbst,
sondern für die Gesellschaft zu arbeiten. Der Artikel 6
der Verfassung fährt nun fort:
„Jedes Glied dieser Gesellschaft ist aufser der freien
Kost und Wohnung , sowie auch der ihm zugesicherten
Verpflegung und Versorgung im Alter oder in Krankheit
und Gebrechlichkeit zu einer jährlichen ünterhaltungssumme
für sich selbst, Kinder und Angehörige in der Gesellschaft
aus der gemeinschaftlichen Gesellschaftskasse berechtigt,
und dieses Unterhaltungsgeld soll jedem Glied, sei es ledig,
einzeln oder familienweise, von den Trustees nach Recht
und Billigkeit bestimmt und von Zeit zu Zeit geprüft und
aufs neue berichtigt werden nach einem darüber zu halten-
den Verzeichnis. Und in Anbetracht dieses Genusses der
Segnungen im Gemeinschaftsband verzichten wir unter-
schriebene Glieder dieser Gesellschaft freiwillig für uns
selbst, unsere Kinder, Erben und Administratoren auf alle
anderen Ansprüche von Lohn, Zinsen von unsern Ein-
schüssen, Einkommen oder Errungenschaft, sowie überhaupt
auf einen vom Ganzen abgetrennten Anteil an dem gemein-
schaftlichen Gut und Eigentum."
Diese Gedanken sind im Leben in folgender Weise
durchgeführt: Die Arbeit wird den Mitgliedern von den
Ältesten zugewiesen und hierbei die Fähigkeit, die Anlagen
(Schulzeugnisse) und Wünsche des einzelnen tunlichst be-
rücksichtigt. Ermöglicht wird dies durch eine ziemliche
Vielseitigkeit der Beschäftigung; denn die Gesellschaft
macht natürlich möglichst alles selbst, was sie braucht. Da
ist vor allem Ackerbau und Viehzucht , welche sie mit
Lebensmitteln versehen; die Spinnereien und Webereien
der Gesellschaft decken nicht allein die Bedürfnisse der
126 Hintrager.
Gesellschaft, sondern sind auch in den Vereinigten Staaten
bekannt wegen der Güte ihrer Produkte. Den Taba4^, den
sie rauchen , den Wein , den sie trinken , bauen sie selbst.
Da sind weiter Gerbereien, Säge- und Getreidemühlen,
Schreinereien, Schlossereien usw., auch eine Buchdruckerei
fehlt nicht. An den — übrigens unter staatlicher Aufsicht
stehenden — Schulen der Gesellschaft gibt es Stellen für
Lehrer und Lehrerinnen; endlich bietet der Verwaltungs-
mechanismus des ganzen Gemeinwesens Gelegenheit genug
für die Begabteren, tätig zu werden und auch höhere
Stufen zu ersteigen. Denn es ist natürlich kein Mitglied
an das ihm zugeteilte Arbeitsfeld für immer gebunden. Es
kann steigen und fallen, je nach seinen Leistungen, die
der Vorstand des betreffenden Departements, meist einer
der Ältesten, wohl zu schätzen in der Lage ist. So kommt
der Tüchtige an seinen Platz, der Lässige und Dumme
bleibt zurück; so dienen sie sich untereinander, ein jeg-
licher mit der Gabe, die er empfangen hat. Als Gegen-
leistung gleichsam ist nun jedem einzelnen, selbst jedem
Kinde, nach dem Ermessen der Ältesten eine jährliche
Unterhaltungssumme, deren Höhe von Zeit zu Zeit geprüft
und verändert wird, ausgesetzt. Diese Summe erhält das
Mitglied am Anfang jedes Jahres. In Geld? Bewahre!
Geld gibt es nicht in Amana. Nein! In Gestalt eines
Guthabenbüchleins. Jede Teilgemeinde hat ihr Warenhaus
(störe), in dem alles zu haben ist, was die täglichen Be-
dürfnisse der Menschen verlangen. Da kommen nun die
Mitglieder mit ihren Büchlein, holen, was sie brauchen,
und der Storeverwalter schreibt ihnen den Betrag an
ihrem Guthaben ab. In diesem Laden gibt's natürlich
kein Handeln, das hätte ja keinen Sinn; ebensowenig An-
und Verkaufs- und Nettopreise, vielmehr nur einen, und
wie ich mich überzeugte, sehr niederen Preis für jede
Vin. Eine Woche unter Kommunisten. 127
Ware. Da war kein Nutzen des Rohstofflieferanten, des
Fabrikanten und des eventuellen Grossisten zuzuschlagen.
Die Gesellschaft macht alles, wie sollte sie an sich selbst
einen Nutzen nehmen! Kost und Wohnung erhält jedes
Mitglied frei; das Haus ist Eigentum der Gesamtheit.
Während die dem öffentlichen Interesse in beonderer
Weise gewidmeten Häuser (Schule, störe etc.) meist aus
Backsteinen gebaut sind, sind die Wohnhäuser in Amana
durchweg Fachwerkhäuser; sie liegen alle in kleinen
Gärten und geben ein Bild der Ordnung zu beiden Seiten
der breiten, sauberen Strafsen. Die Mahlzeiten werden
gemeinschaftlich in den Speisehäusern eingenommen. Sie
sind musterhaft in Ordnung gehalten von fleifsiger Frauen-
hand; denn wie in einer grofsen Familie wechseln
die weiblichen Glieder der je zu einem Speisehaus ge-
hörigen Familien unter sich ab mit dem Kochen, Tisch-
decken und den übrigen Arbeiten im Speisehaus. Die
Mahlzeiten sind reichlich und gut; schon auf dem Früh-
stückstisch prangt die Fleischspeise. Das Fleisch kommt
von der Schlächterei, deren es nur eine in jedem Dorfe
gibt. Dorthin wird der tägliche Bedarf an Tieren von dem
Viehzuchtdepartement überwiesen, und vom Schlachthaus
hinwiederum wird das Fleisch in die verschiedenen Speise-
häuser gefahren. Entsprechend geht es auch mit den
Früchten des Feldes: alles geht nach den Zentralen, und
von dort fliefst es wieder nach allen Seiten, wie das Blut
vom Herzen. Die Amanisten waren weise, das Leben in
getrennten kleinen Dörfern zu erwählen ; denn die Einfach-
heit und der gute Überblick über das einzelne Gemein-
wesen erleichtert die Verwaltung. Wird ein Amanist krank,
so steht ihm die Hilfe eines der Gesellschaftsärzte unent-
geltlich zur Verfügung. Der Arzt schreibt das Rezept,
die Gesellschaftsapotheke bereitet es umsonst; nichts
128 Hintrager.
kostet etwas, selbst nicht das Begräbnis. Kein Wunder,
dafs hier die Menschen durchschnittlich älter werden als
sonst in den Vereinigten Staaten. Da gibt es wenig
Streit und Hader, der am Lebensmark zehrt; denn es
fehlt ja die Hauptursache des Streits. Da gibt es keine
Gläubiger, keine Wucherer, keine Doktor- und Apotheker-
rechnungen — welch ein Elysium! Jedem gehört alles
und nichts. Alles ist umsonst, sogar das Heiraten. Jeder
Vogel mufs sein Nest bauen; nicht so der Amanist. Wenn
er heiratet, bekommt er die eingerichtete Wohnung frei.
Die Ehen werden nur aus Liebe geschlossen; es gibt ja
keine Mitgift. Die Frau hat keine Haushaltungssorgen;
sie braucht nicht heidnisch sich — oder gar ihren Mann —
zu fragen: was werden wir essen? was werden wir
trinken? Zum Essen geht man ja in das Speisehaus.
Mitgiften gibt es nicht, wohl aber Aussteuern. Aber das
sind keine Aussteuern in unserem Sinn ; sie sind nicht von
den Eltern, sondern von der Gesellschaft gegeben. Und
die Gesellschaft behandelt ihre Kinder alle gleich; darum
gibt es auch keinen Neid in Amana, wenigstens keinen
solchen um Besitz von Geld und Gut. Welch ein Dasein
ohne den Brotneid, ohne den Unterschied von hoch und
nieder, ein reich und arm! Und endlich: In Amana gibt
es auch wenig Verbrecher; es fehlt der mächtigste Anreiz
zum Verbrechen. Welch ein Friede!
Aber sind denn diese Amanisten Engel? Haben sie
alle Selbstliebe aufgegeben, damit das Ganze gedeihe?
In den Annalen der Gesellschaft sind harte Kämpfe ver-
zeichnet, die das junge Gemeinwesen in Ebenezer (bei
Buffalo) durchzumachen hatte. Es waren das Kämpfe gegen
den immer und immer wieder sich erhebenden Egoismus
der einzelnen. Noch waren die Mitglieder nicht an die
Entsagung, die Selbstverleugnung gewöhnt, die das kom-
Vlir. Eiue Woche unter Kommunisten. 129
munistische Leben erheischte. Es waren Mafsregelungen
notwendig, Verweisungen Ungetreuer auf längere oder
kürzere Zeit aus der Gemeinde oder gar Ausweisungen für
immer. Man hatte auf Mittel zu sinnen, einen Zwang auf
renitente Mitglieder auszuüben, und da war es ganz selbst-
verständlich, dafs die Amanisten zum Grundgedanken ihres
Systems griffen, zur Religion. Ein strenger Glaube, sagt
der Amanist, ermöglicht allein die Durchführung der Güter-
gemeinschaft. Immer wieder werden in den Versammlungs-
häusern der Amanisten die Schriften der alten Gründer
und Gröfsen der Gemeinden verlesen, vor allem jene strengen
Regeln Grubers ; die Säumigen werden zur Selbstlosigkeit
ermahnt, und das einzelne Glied wird durch selbsttätige
Teilnahme am Gottesdienst (lautes Beten des einzelnen) ge-
zwungen zur Einkehr in sich selbst, zur Aufgabe des Ich.
Aber das war nicht genug; es bedurfte stärkerer Mittel.
So kamen die Amanisten, entgegen der christlichen Gleich-
heit und Brüderlichkeit, auf der sie sich gründeten und
die sich heute noch in der allgemeinen Anrede mit „du"
und „Bruder" und „Schwester" äufsert, zu einer strengen
Klasseneinteilung. In der höchsten Klasse sind die 80
Ältesten, die Junggesellen und die alten Jungfern, deren
es eine stattliche Anzahl in Amana gibt. Es sind dies die
Heiligen, die Gottesfürchtigen , die weltlichen Wünschen
entsagt haben, die sich ausgezeichnet haben durch einen
streng christlichen und daher , im Sinne der Amanisten,
auch ehelosen Lebenswandel. In der zweiten Klasse sind
diejenigen Verheirateten, deren Ehen aufgehört haben,
fruchtbar zu sein. Sie sind , so ist der Gedanke , der
irdischen Liebe zum Opfer gefallen; aber nun, da die
Gewalt der Leidenschaft sich gelegt hat, mögen auch sie
die verlorene Reinheit wiedergewinnen. So lange die Ver-
heirateten Kinder bekommen, sind sie in der dritten, der
Hintrager. 9
130 Hintrager.
untersten Klasse, der Klasse derer, die noch nicht durch-
gedrungen sind zur christlichen Selbstverleugnung. In
dieser sind aufser ihnen auch die Kinder und die jungen
Ledigen.
Die Verheirateten bilden die Mehrzahl unter den
Amanisten. Daher ist auch die Zahl der Amanisten bis jetzt
immer langsam gestiegen. Grund und Tendenz der Klassen-
einteilung ergibt sich ohne weiteres. Nun war ein Hebel
geschaffen, der gegen den Selbstsüchtigen wirkte, welcher
sich nicht dem Wohl des Ganzen ausschliefslich hingab.
Nun winkt dem Selbstlosesten der Rang besonderer Heilig-
keit, dem Egoisten droht die Strafe der Versetzung in
eine niedere Klasse; der Arzt z. B., der über Land zu
einem Nichtmitglied gerufen wird und sein Honorar nicht
ganz an die Gemeinschaftskasse abgibt, oder wer mit seiner
jährlichen Unterhaltungssumme nicht reicht, gewärtigt
Degradation. Wer dagegen sein Guthaben nicht ganz auf-
braucht und auf den Rest zugunsten der Gesamtheit ver-
zichtet, hat besondere Ehre zu erwarten. Aber auch dieses
System zur Erweckung eines selbstlosen Gemeinsinns hat
die Amanisten nicht abzuhalten vermocht von den Freuden
der Ehe. Ist doch das Heiraten so einfach, so leicht, wo
die Gesamtheit die Familie unterhält. So war man ge-
zwungen, der Heiratslust einen weiteren Riegel vor-
zuschieben; dem jungen Paar, das mit seinem W^unsche vor
die Trustees tritt, wird eine Prüfungszeit für seine Treue
und seinen Glauben auferlegt, während welcher es getrennt,
entweder beide oder nur der eine Teil aufserhalb der Ge-
meinde, zu leben hat. Diese Mafsregeln gegen das
Heiraten waren in der Geschichte der Amanisten strenger
oder weniger streng, je nachdem die Heiratslust stieg oder
fiel oder, mit anderen Worten, je nachdem die Gefahr sich
erhöhte, mehr Konsumenten oder mehr Produzenten im
VIII. Eine Woche unter Kommunisten. 131
Gemeinwesen zu bekommen, als eine gesunde Wirtschaft
erlaubt. In den ersten Jahrzehnten des Bestehens der Ge-
meinde waren die Schwierigkeiten, die der damals be-
sonders starken Heiratslust gemacht wurden, so energische,
dafs oft Streit entstand. Zurzeit ist die innere Politik
der Gesellschaft in dieser Hinsicht liberaler.
Wohl mag man an der Möglichkeit der Durchführung
des geschilderten Systems zweifeln; denn die menschliche
Natur ist zu sehr jeder Vernichtung des Unterschieds von
Mein und Dein entgegen. Dies haben auch die Gründer
der Amanagesellschaft erkannt, und das Geheimnis ihres
bisherigen Gedeihens liegt wohl mit darin, dafs sie in
-weiser Berücksichtigung der menschlichen Natur die Kon-
sequenzen ihrer Grundgedanken nicht auf die Spitze trieben.
Sie haben ein Sondereigentum im kleinen! An dem, was
der Einzelne sich aus der jährlichen Unterhaltungssumme
anschafft, hat er Sondereigentum. Dies sind nun freilich
in der Hauptsache nur Gebrauchsgegenstände des täglichen
Lebens, allein da der Amanist das Recht hat, über den
etwa von ihm nicht gebrauchten Rest seines Guthabens
nach Belieben zu verfügen, so ist eine Ungleichheit des
Besitzes unter den Mitgliedern die Folge. Dieser hat sich
eine kleine Bibliothek angeschaff"t, jener Spielzeuge für
seine Kinder usw. Diese Ungleichheit ist natürlich eine
grofse Gefahr. Sie erregt den Neid. Um diesem vor-
zubeugen, war es notwendig, vorzuschreiben, welche Arten
von Sachen die einzelnen sich anschaffen dürfen. Und dies
geschah wiederum entsprechend der strengen Lebens-
anschauung der Amanisten in der Weise, dafs Luxusgegen-
stände, als vor allem den Neid herausfordernd, verboten
sind. Ein Luxusgegenstand ist für den Amanisten im
wesentlichen das, was im Store nicht zu haben ist, und hier
ist nur vorhanden, was wirklich im Auge eines einfachen
9 *
132 Hintrager.
Bürgers ein Lebensbedürfnis genannt werden kann. Es
würde zu weit führen, das alles aufzuzählen. Bezeichnend
ist, dafs eigentliche Kunstgegenstände und damit auch
weiblicher Schmuck fehlen. Das Auge soll nichts sehen,
was den Neid, diesen gefährlichen Feind, erwecken könnte.
Darum gleichen sich auch die Häuser der Amanisten aufsen
und innen sehr, die Mitglieder kleiden sich fast ganz gleich,
die Frauen nach der in Hessen zur Zeit ihrer Auswanderung
üblichen Kleidungsweise. Selbst die Gräber sind eines wie
das andere: ein einfacher Hügel, und am Kopfende kleine,
hölzerne, durchweg gleichgeformte Tafeln mit Namen, Ge-
burts- und Todestag der Verstorbenen. So liegen sie da,
Mann neben Mann, in trauriger Einförmigkeit, Wie könnte
auch die Gesellschaft verschiedene Gedenktafeln errichten,
ohne sofort Neid zu erregen?
So haben die Amanisten alles vermieden, was den
scheelen Blick des Nachbars auf den Nachbarn richtet.
Wie sehr das notwendig ist, mögen folgende Geschicht-
chen zeigen, die ich in Amana hörte: Am Kanal, der
die Wasserkraft des Jowa-Flusses der Gesellschaft dienst-
bar macht, waren Ausbesserungen nötig. Mehreren jungen
Leuten von Amana und Süd -Amana waren diese Arbeiten
zugewiesen worden. Da nun die Arbeiter von Süd-Amana
^'2 Stunde später am Ort der Arbeit ankamen als die von
Amana, erklärten die letzteren, nun auch V2 Stunde früher
aufhören zu w^ollen. Als seiner Zeit Jowa Temperenzstaat
wurde und die Bierbrauerei der Amana-Gesellschaft auf-
hören mufste, da wurden neben manchem schmerzlichem
Bedauern auch gegenteilige Stimmen laut: nun sei wieder
ein Ärgernis weniger da, sagten viele; denn so mancher
habe gedacht, er bekomme zu wenig und sein Bruder zu
viel von dem Bier! — Dafs es für die Amanisten von un-
endlicher Wichtigkeit ist, sich gegen die Aufsenwelt ab-
VIII. Eine Woche unter Kommunisten. 133
zuschliefsen , erhellt aus dem Gesagten. Wie könnte ein
Amanist, der einmal das kosmopolitische Leben der Yer-
■einigten Staaten gekostet hat, in der Kolonie sich glücklich
fühlen? Daher schliefsen sich die Amanisten bewufst von
der Aufsenwelt ab, was am wirksamsten dadurch geschieht,
dafs sie die englische Sprache nicht unter sich aufkommen
lassen. In den Schulen wird zwar englisch gelehrt,
dies verlangt die Regierung; aber es wird in der Kolonie
nur deutsch gesprochen, daher können die wenigsten
Üiefsend englisch sprechen.
Sind diese Mensehen glücklich? — Ja! wird
der Amanist auf diese Frage antworten; denn wäre ich
unglücklich , so würde ich gehen. Jedem Mitglied steht
jederzeit der Austritt aus dem Gemeinwesen frei , für
welchen Fall das eventuell eingeschossene Vermögen dem-
selben zurück bezahlt wird. Allein wir wollen uns mit dieser
Antwort des Amanisten nicht begnügen.
Der Freundlichkeit eines der Ältesten, Charles Mörsehel,
an den mich der Agent der Gesellschaft in Cedar Rapids
empfohlen hatte, dankte ich es, dafs ich mit ver-
schiedenen Mitgliedern , darunter auch dem Vorstand der
Gemeinde, Dr. Winzenried, persönlich in Berührung kam.
Ich suchte sie bei der Arbeit und in ihren Wohnungen auf.
Manchen Sohn Schwabens habe ich da getroffen. Schon
auf der Strafse waren mir diese Amanisten aufgefallen.
Über ganz Amana liegt eine eigentümliche Stille. Ich
Trennte mich des Gefühls, auf einem Kirchhof zu sein, oft
nicht erwehren. Nur um die Mahlzeiten und zu den Ver-
sammlungsstunden belebten sich die Strafsen ein wenig.
Da wandeln diese Kommunisten dahin, alle mit derselben
Ruhe, das Auge entweder zu Boden oder gradeaus gerichtet,
unbekümmert um die Umgebung. Ihr Gang ist langsam
und eigentümlich kraftlos und — sonderbar — bei allen
134 Hintrager.
gleich. Aber noch merkwürdiger! Gleich ist auch ihr
Blick ! Ihr Auge hat etwas Weltverlorenes, als ob es ver-
lernt hätte, auf den Dingen der Aufsenwelt mit Interesse
zu haften ; keine Neugier, kein Feuer, keine Kraft ! Das-
selbe Bild bietet ihre Arbeit. Ich habe in der Weberei
zu Amana lange den arbeitenden Brüdern zugesehen:
schwer und langsam brachte der eine den Stoff an die
Maschine, gleichgültig und müde drehte der zweite das
Rad. Es war ein Bild der Arbeit, zu der kein Sporn, kein
Interesse den Arbeiter treibt. Und was reden sie? Meist
nichts. Schweigsamere Menschen kann man sich kaum vor-
stellen. War nicht Veranlassung zu sprechen, wenn ein
Landsmann kommt vom lieben, alten Vaterland? Auch
unter sich habe ich sie gleich schweigsam gesehen. Nur mit
wenigen war es mir überhaupt möglich, eine fortlaufende
Unterhaltung zu führen. Sie schienen an nichts ein
Interesse zu nehmen. Nur der „Glaube" erfüllte ihre
Seelen und war stets auf ihrer Zunge. Immer wieder habe
ich die Worte gehört fast von jedem: „Ja! dazu gehört
Glaube! Ohne Glauben geht das nicht! (nämlich die Güter-
gemeinschaft). Man mufs stark sein im Glauben" usw.
Ich werde diese Menschen nicht vergessen. Das also
war der Einflufs dieses Lebens. Ihnen fehlte gerade das
eine: das Leben. Sie waren nicht mehr Menschen,
Menschen mit Kräften und Leidenschaften, mit Freuden
und Schmerzen. Ihr Ziel war zu himmlisch, darum starben
sie ab für diese Welt, an die kein süfser Wunsch
sie fesseln durfte. Sie haben nie zu kämpfen gehabt um
ihr tägliches Brot. Wie sollten sie erfahren, was Sorge
heifst? Sie konnten nie dem Triebe folgen, etwas für sich,
für Weib und Kind zu eigen zu erwerben. Wie sollten sie
empfinden, was Erleichterung von Sorge ist? Ewig gleich
fliefst ihr Leben dahin. Da ist kein Ringen um den Besitz,
VIII. Eine Woche unter Kommunisten. 135
das Tugenden und Laster hervorbrächte, kein Steigen und
Fallen auf des Glückes Welle, kein weltlich Heldentum,
kein Diehtersang von Lust und Leid. Denn alle diese
setzen Kampf voraus und Gegensätze. Kampf ist das Leben,
und dieser fehlt in Amana. So sehr vermeidet der Amanist
den Kampf der Welt, dafs die Gesellschaft, die als
juristische Person mit der Aufsenwelt in Verkehr treten
mufs, einen amerikanischen Rechtsanwalt mit festem Gehalt
bezahlt, dessen Tätigkeit in der Verhinderung von Rechts-
streiten besteht. Wird die Amanagesellsehaft in einen
Prozefs verwickelt, so werden die Gehaltzahlungen gekürzt
oder sistiert. Nach alledem ist es erklärlich, dafs in der
Geschichte der Amanagemeinde die meisten Mitglieder,
die einmal aus der Gemeinde schieden, sei es freiwillig,
sei es gezwungen, bald wieder zurückgekehrt sind. Sie
besafsen die Kraft nicht, im heifsen Konkurrenzkampf des
nordamerikanischen Lebens standzuhalten, sie, die ihre
Kräfte nie geübt hatten, die nie gelernt hatten, für sieh
selbst zu denken, zu sorgen und zu kämpfen. Hier war
es also greifbar und lebendig, was von den Kathedern ge-
predigt wird , dafs im Kommunistenstaat die Menschen
nicht mehr Menschen, das Leben nicht mehr wert zu
leben wäre. Wenn etwas einen überzeugten Sozialisten
wankend machen kann in seinem Glauben, so ist es ein
Besuch in Amana. Ich zahlte meine Rechnung an meinen
Gastwirt, den frommen Junggesellen Haas. Ihm war der
Ausnahmeposten als Verwalter desjenigen Speisehauses, in
dem auch Fremde Unterkunft finden, zuteil geworden. Er
bekam Geld zu sehen und zu fühlen; er kam mit Nicht-
mitgliedern in häufige Berührung, daher mufste er be-
sonders stark sein im Glauben. Als ich ihm mein Geld
reichte — das er natürlich an die Gemeinschaftskasse ab-
zuliefern hatte — , dachte ich: Glücklicher, für dich gibt
130 Hintrager.
es Versuchungen, für dich gibt es Tugend ! Auf den Bahn-
hof begleitete mich Bruder Mörschel. Von allen, die ich
sah, war er der einzige, der ein lebendiges Interesse am
Leben sich bewahrt hatte. Er hatte viel gelesen, und wir
sprachen oft und viel zusammen. Über das Buch Bellamys
„Rückblick aus dem Jahr 2000" sagte er: „Bellamy hat in
vielen Punkten eine getreue Schilderung unserer inneren
Organisation gegeben, nur das Wichtigste hat er weg-
gelassen, die religiöse Grundlage. Er stellt es dar, als
ob ein kommunistisches Gemeinwesen aufgebaut werden
könnte auf blofser Vernunft und Nützlichkeitsgrundsätzen.
Das ist aber unmöglich. Nur eine tiefe Religiosität vermag
die Selbstverleugnung der einzelnen zu erzielen , die ein
kommunistisches Gemeinwesen erfordert."
Nach einem herzlichen Abschied von Bruder Mörschel
kehrte ich nach Cedar-Rapids zurück. Hier suchte ich den
Agenten auf, der mich gebeten hatte, ihm meine Eindrücke
und Erlebnisse mitzuteilen. „Nicht wahr," so empfing mich
der Amerikaner, „das sind merkwürdige Menschen? So
etwas können nur Deutsche machen."
IX. Die Amerikanerin.
„Der Mutter Herz ist des Kindes
Schulzimmer."
H. W. Beecher.
Boston.
Im Laufe einer Unterhaltung mit dem ehrwürdigen
Anstaltsgeistlichen des New Yorker Staatsgefäugnisses zu
Auburn , Horatio Yates , kamen wir auf die auffallend ge-
ringe Zahl der in den amerikanischen Strafanstalten be-
findlichen weiblichen Gefangenen zu sprechen. Zwar stellt
in allen Kulturstaaten der Mann den gröfseren Prozentsatz
der Gesetzesübertreter; allein in den Vereinigten Staaten
sind nur verschwindend wenig Frauen in Strafanstalten.
„Nun, was denken Sie, ist der Grund dieser Tatsache?"
fragte Yates. Ich sagte, ich erkläre es mir in erster
Linie aus der bevorzugten Stellung der Frau hier; sie hat
alle Rechte, und die amerikanischen Richter und Ge-
schworenen lassen sie in den meisten Fällen straffrei aus-
gehen. „Das erklärt es wohl zum Teil," erwiderte der
greise Pfarrer, „aber das ist nicht das Wesentliche. Ich
will Ihnen sagen, was der Grund ist: Die Frauen sind
besser, sie sind reiner von Natur; Gott hat sie besser
gemacht als den Mann." — Ich glaube, es ist nicht zu
weit gegangen, wenn ich sage, so denkt die Mehrzahl der
amerikanischen Männer. Wie wir schon auf der Farm,
in der Schule, im Rechtsleben gesehen haben: in diesem
Lande herrscht, die Frau. Wenn die Stellung der Frau
138 Hintrager.
ein Mafsstab ist für die Höhe der Kulturentwicklung
eines Volkes, dann stehen die Vereinigten Staaten an der
Spitze der Kulturnationen. Das Weib ist ein hervor-
ragender Faktor im Leben dieses Volkes, wie schon ein
Blick in eine Tageszeitung zeigt. Auch im Adel , der
Diplomatie und der Gesellschaft der Alten Welt spielt ja
die Amerikanerin nachgerade eine Rolle.
Eine der ersten Vertreterinnen amerikanischer Weiblich-
keit, die ich kennen lernte, war die hübsche Mifs Daisy
D. Barbee, mit welcher ich gleichzeitig die juristischen
Vorlesungen an der Washington-Universität in St. Louis
besuchte. Sie ist die Tochter eines Farmers aus dem
westlichen Staate Washington, hat in ihrer Jugend mit
Pferden und Schiefsgewehren umzugehen gelernt, dafs sie
es hierin mit jedem Studenten der Law-sehool aufnimmt,
und ist schliefslich , wie so viele strebsame Mädchen hier,
Lehrerin geworden. Mit etwa 23 Jahren entsehlofs
sie sich, Rechtsanwältin zu werden, und besuchte zwei Jahre
lang die Universität in St. Louis. Sie hatte eine ent-
schieden juristische Begabung, das zeigten bei den praktischen
Übungen ihre Antworten, die meist die besten waren. Sie
hatte auch das beste Schlufsexamen ihrer Promotion ge-
macht. Es war mir stets ein Genufs, mich mit ihr über
juristische Fragen zu unterhalten, um so mehr, als sonst
das Leben der Studenten wenig von den Reizen bot, die
uns Deutsche am akademischen Leben erfreuen. Die
Studenten waren mehr unseren Obergymnasisten zu ver-
gleichen : sie kamen in die Vorlesungen, wo ihre Anwesen-
heit durch Aufruf kontrolliert und sie auch abgefragt
wurden, und dann ging jeder wieder seiner Wege und
arbeitete fleifsig zu Hause. Nur einmal in der Woche
kamen sie abends zusammen, aber nicht zum Singen und
Trinken, sondern zu juristischen Diskussionen und Ab-
IX. Die Amerikanerin. 139
haltuüg von nachgeahmten Gerichtsverhandlungen (moot-
courts), bei denen dann und wann ein Professor oder ein
Richter den Vorsitz führte. Mit besonderer Freude be-
grtifste ich daher die schöne Unbefangenheit und Freiheit,
die hier im Verkehr der Jugend beider Geschlechter besteht,
und wiederholt gab mir Mifs Daisy — wie man hier sagt —
„die Ehre und das Vergnügen ihrer Gesellschaft". Als
eine Ehre betrachtet das der Mann hier, für welche er
sich durch den Abschied von manchem Dollar erkenntlich
zeigt. An einem schönen Nachmittag ritten wir zusammen
spazieren. Eine Stunde vor der Stadt kamen wir an einem
Privatgestüt vorüber, auf dessen grofse Rennbahn die Sonno
freundlich niederschien. „Wollen wir nicht ein wenig hier
galoppieren?" rief meine Begleiterin und bog in den zum
Gestüte führenden Privatweg ein. Als wir uns dem Ein-
gangstore näherten , machte ich bescheiden die Bemerkung,
die Rennbahn werde wohl Privateigentum sein. Sie lächelte
— es war das Lächeln , das ich Europäer hier so manch-
mal über mich ergehen sehe — , gab ihrem Pferd den
Sporn, und ehe sie nur zu den Gestütsangestellten am Tore
gesagt hatte, sie würden wohl nichts dagegen haben, dafs
wir die Rennbahn benützen, hatten diese mit ehrerbietiger
Verbeugung das Tor geöffnet. „Sehen Sie, so ist es in
unserem Lande, wenn ein Mädchen fragt," bemerkte
schelmisch die schmucke Reiterin, und nun ging's im Sturm
hinweg über die herrliche Bahn. Schon von Anfang an war
es mir aufgefallen, dafs unsere Pferde stets dicht neben-
einander gingen, in einer für Rofs und Reiter vertraulichen
Nähe. Als ijiich nachher der Leihstallbesitzer fragte, wie ich
mit den Pferden zufrieden gewesen sei , und ich ihm dies
sagte, lachte er: „Ich sehe, Sie sind noch nicht lange im
Lande. Die beiden Pferde werden stets von Paaren geritten."
— Das Spazierenfahren und -Reiten ist in der Tat der
140 Hintrager.
Lieblingssport der Jugend hierzulande. Täglich, insbesondere
an Sonntagen, begegnet man jungen Leuten in den Städten
und auf den Landstrafsen in den leichten Hickory-Fahr-
zeugen. Selbst die kleinste amerikanische Stadt hat
mindestens einen Leihstall, deren Besitzer verständnis-
voll zu lächeln pflegt, wenn ein Herr ein Buggy für zwei
Personen und „ein ruhiges Pferd" verlangt.
Bald war die begabte Mifs Daisy ein angesehenes
Mitglied der St. Louiser Anwaltschaft geworden. Da sie
der erste weibliche Rechtsanwalt in der Stadt war, hatte
ihr Auftreten seinerzeit viel Neugierde und Aufmerksam-
keit erregt. In Zeitungen hatte ich von ihr gelesen, von
ihren Erfolgen vor Gericht, von ihrem einfachen, be-
scheidenen Auftreten, das ihr bald viele Freunde gewonnen
hatte. Ich war begierig, sie wieder zu sehen und zu hören,
wie es ihr ergangen war. In ihrem Bureau, im zehnten
Stocke eines der Himmelskratzer, traf ich sie, ganz noch
die einstige, stets zu Scherz und Disputation aufgelegte,
offene Daisy. Besonders interessierte mich zu hören, wie
sie über ihren Beruf sich äufserte: „In meinem Berufe ver-
gesse ich ganz, dafs ich ein Weib bin ; dem Arzte geht es
ja ebenso. Ich sehe nicht ein, warum ein Weib nicht die-
selben Berufe ergreifen sollte wie ein Mann. Wir haben
in Nebraska eine Staatsanwältin, die sehr tüchtig ist. Eine
meiner Kolleginnen in Illinois gibt eine juristische Zeit-
schrift heraus mit bestem Erfolge. In Wyoming haben die
Frauen das aktive und passive Wahlrecht, und in Colorado
sitzen drei Frauen in der gesetzgebenden Versammlung des
Staates; eine derselben ist Mutter von fünf Kin(\,eru. Hören
Sie einiges aus der letzten Wahlkampagne in Denver,
Colorado." Mifs Barbee ergriff eine Zeitung und las mir
folgendes vor: „Die Kandidaten für nachstehende Ämter
sind sämtlich Frauen: . . . (folgt Aufzählung). Nur die
IX. Die Amerikanerin. 141
Lehrerinnenveieine haben sich gegen einen weiblichen
Superintendenten der Staatsschulen ausgesprochen. Die
Regsamkeit der Frauen hat die Männer einfach verblüift.
Jedermann weifs, dafs Männer politische Kämpfe nach
Pickwickierart betrachten und sich trösten mit der auf
Erfahrung und Niederlagen gegründeten Überzeugung, dafs
die Sonne am Tag nach der Wahl wie gewöhnlich aufgeht,
wenn auch der verhafste Gegner gesiegt hat. Die Frauen
scheinen die Wahl als das letzte Ende der Dinge zu be-
trachten; darum haben sie sich mit einer Kraft und einer
unermüdlichem Energie in den Kampf geworfen, die die
Besten der Männer in den Schatten stellt. Natürlich in-
trigieren und manipulieren die Männer bei Angelegenheiten,
wie Nominationen und Aufstellung der Wählerlisten, auf eine
Weise, die die Frauen nicht ganz verstehen. Frauen er-
heben sich gelegentlich bei Versammlungen, und mit Tränen
in ihren glänzenden Augen verlangen sie zu wissen, wie es
kommt, dafs die Flugblätter des Gegners nicht die Wahr-
heit sagen, und wie es kommt, dafs der boss des 16. Distrikts,
der noch eine Woche zuvor auf ihrer Seite war, so bar
jeglichen Gewissens sein könne, sich jetzt mit dem Gegner
zu verbünden."
„Freilich," fuhr sie in ihrer offenen Klarheit fort, „was
meinen Beruf betrifft, mufs ich sagen, das Weib taugt
nach meiner Überzeugung und Erfahrung nicht gut zum
Rechtsanwalt. Wir nehmen alles zu leicht persönlich und
stofsen und halten uns oft an Kleinigkeiten. Ich hatte oft
und habe noch oft in diesem Punkte mit mir zu kämpfen,
und, glauben Sie mir, ich wäre nicht Rechtsanwalt ge-
blieben, wenn ich nicht meine Mutter und meinen kranken
Bruder erhalten müfste."
„Ein anderer Nachteil ist für die Frau der, dafs sie
sich nie ganz und gar dem Berufe hingibt; denn der Ge-
142 Hintrager.
danke an die Heirat ist stets im Hintergrunde. Ich leugne
gar nicht, dafs es mir gerade so geht," setzte sie lächelnd
hinzu. „Ich fühle mich auch durchaus nicht weniger
weiblich, wie damals, als ich noch im Staate Washington
meine Sehulkinder unterrichtete. Sehen Sie, ich habe auch
meine Freunde, die mich einladen zu Theater und Konzerten,
mit denen ich spazieren fahre und manchen Abend ver-
plaudere. Ich fühle, dafs ich vor Gericht einen natürlichen
Vorteil vor allen meinen Gegnern habe, eben weil ich ein
Weib bin; trotzdem ich mich für die Gerichtsverhandlungen
absichtlich sehr einfach kleide, auch nicht gestikuliere und
Phrasen mache, merke ich doch gleich, dafs die Ge-
schworenen mir mehr glauben als meinem Gegner. Kürz-
lich hatte ich eine Verteidigung zu führen; die Schuld
meiner Klientin lag auf der Hand, wir hatten auch keinen
einzigen Entlastungszeugen. Trotzdem sprachen die Ge-
schworenen frei, woran ich nicht entfernt gedacht hatte."
Regelmäfsig aus Gründen wirtschaftlicher Notwendig-
keit haben sich die Frauen in ein Berufsfeld nach dem
andern gedrängt, so dafs heute die Zahl der ihren Unterhalt
ganz oder teilweise verdienenden Frauen auf etwa 20*^/o
der ganzen weiblichen Bevölkerung der Union geschätzt
wird. Die Mehrzahl der Familienväter hier kommt nicht
dazu, Ersparnisse zu machen, und Pensionen für Witwen
und Waisen gibt es nicht.
Ich verliefs das Bureau meiner ebenso begabten als
liebenswürdigen Kollegin und betrat den je nach zehn
Stockwerken haltenden Aufzug, nahm den Hut ab, wie dies
hier Sitte ist, wenn Damen im Lift sind, und mit grofser
Schnelligkeit ging es hinab ins Erdgeschofs. Die Strafse
bot das übliche Bild der Geschäftsviertel amerikanischer
Grofsstädte: ein enormer Wagenverkehr, eine Masse
Menschen in schnellem Gange und viel Schmutz, «ßkh-
IX, Die Amerikanerin. 143
letztei'er jeden hier bald daran gewöhnt, die Strafsen nur
im rechten Winkel und an den Strafsenkreuzungen zu
übersehreiten. Oft habe ich an belebten Übergängen
gesehen, dafs Männer, Polizisten, ja selbst Knaben eine
Dame am Arme über die Strafse führten und sich dann
nach ihrem Ritterdienste mit höflichem Grufse verab-
schiedeten.
Ich war nicht lange durch die Strafsen dahingeschlendert,
da und dort beobachtend, wie ich dies hier so gerne tue,
da hörte ich meinen Vornamen und ein munteres „Hallo!"
von einer bekannten Stimme neben mir. Es war meine
Freundin Louise. Nach Taschentuch und Geldtäschchen zu
schliefsen, das sie graziös in der Hand hielt, ging sie in Läden,
„Shopping" , wie die Damen hier dies Vergnügen nennen.
Dafs man auch dies sich hier recht angenehm und zum
Vergnügen macht, das sollte Mifs Louise bald mich lehren.
Sie lud mich ein, sie zu begleiten. Wir gingen durch ver-
schiedene der gewaltigen Kaufhäuser und liefsen uns bald
dies, bald jenes zeigen. Kaufzwang gibt es hier nirgends.
Nachdem wir uns in der Musikalienabteilung eines Kauf-
hauses von der Klavierspielerin, die hier ständig zum Vor-
spielen der Noten für die Kunden angestellt ist, ein kleines
Konzert hatten geben lassen, auch die zur Reklame im
Kaufhause veranstaltete Gemäldeausstellung besichtigt
hatten, setzten wir uns in die ebenfalls im Kaufhaus be-
findliche Konditorei, um zu plaudern. Die Amerikanerin
ist die Gesellschafterin par excellence. Über was konnte
meine Freundin nicht alles sprechen! Für was hatte sie
nicht alles Interesse ! Sie hatte mit ihren Freundinnen zu-
sammen einen Klub, der jeden Winter ein anderes Thema
zum Studium sich wählte. Im einen Winter war es Kunst-
geschichte gewesen, im andern Ethik, Psychologie, Literatur-
geschichte. Zurzeit hatten sie Nationalökonomie in Be-
144 Hintrager.
hancllung; ein Universitätsprofessor gab ihnen einen Leit-
faden; eines der Mitglieder hatte regelmäfsig das Referat
zu übernehmen. Heute hatte Mifs Louise das Referat über
„Schutzzoll und Freihandel". Darum drängte sie nach
Hause, und bald war ich meinen Betrachtungen über diese
Mädchen überlassen, denen erlaubt ist, was ihnen gefällt.
In einem hiesigen Witzblatt las ich jüngst einen hübschen
Scherz voll charakteristischer Mischung von Wahrheit und
Dichtung: „Unsere Mädchen in Bildern!" 16 Jahre alt,
verteilt sie Almosen unter arme Negerkinder und bringt
dem Mörder Blumen in die Zelle. Mit 17 Jahren gibt sie
den Chinesen Sonntagsschulunterricht im Christentum.
18 Jahre alt, kleidet sie sich wie ein Herr. Mit 19 Jahren
verheiratet sie sich, und mit 20 läfst sie sich scheiden
und geht auf die andere Seite des Wassers, um alles noch
einmal von vorne anzufangen. Und dafs dieser Scherz
nicht einmal allzusehr übertreibt, beweist die Tatsache,
dafs es hier Damenklubs gibt, die in Uniform mit Waffen
exerzieren. Ich sah in St. Louis einmal eine weifshaarige
Dame in Knickerbockers an einem Damenschauturuen teil-
nehmen, und in der Turnhalle des christlichen Jünglings-
vereins zu Dubuque, Jowa, hielten lange die Damen der
besten Gesellschaft ihre „Kicking-exercises", d. h. sie traten
nach einem in Schulterhöhe aufgehängten Ball. — Kürz-
lich brachte eine ledige junge Dame der besten hiesigen
Gesellschaft eine Negerfamilie hierher aus Süd-Carolina,
von wo diese Familie anläfslich eines Falls von Lynchjustiz
flüchten mufste. Dafs eine Dame einen Fuhrmann , der
sein Pferd mifshandelt, auf der Stelle züchtigt, ist hier
wiederholt vorgekommen.
So absonderlich diese Dinge in dem kleinen Europa
draufsen erscheinen mögen, so sind sie es kaum in der freien
Luft der grofsen Räume hier und angesichts der tausend
IX. Die Amerikanerin. 145
Möglichkeiten des Lebens dieser Neuen Welt. Es ist ein
freier Geist in diesem Lande. Auch das Familienleben
zeigt dies, wie ich es dank der grofsen Gastfreundschaft
hier kennen lernte. Da wird kein Kind scharf angefafst,
kaum ihm etwas verboten. Die Achtung der Rechte und
Freiheit des einzelnen, das Gewährenlassen ist eines der
ungeschriebenen Gesetze auch im Familienleben. Die
kleine Gerty, meine Tischnachbarin an einem amerikanischen
Familientische , afs oft nur von einem Gerichte , das auf
den Tisch kam ; dies wurde als etwas ganz Natürliches hin-
genommen. Sie war kaum sechs Jahre alt, genofs aber alle
Rechte eines Erwachsenen. Nur einmal sah ich sie weinen,
als ein Gast vergafs, sich von ihr zu verabschieden. „Schlagt
ihn aus der Schöpfung, schlagt ihn aus dem Weltall hin-
aus!" rief sie oft beim Krocketspiel im Garten am Hause,
wenn meine Kugel in die Gewalt des Gegners kam. Ihrer
achtjährigen Schwester und ihren Gespielinnen wehrte nie-
mand, als sie sich damit vergnügten, an einem Seile in ein
etwa 7 Meter hoch angebrachtes Fenster ihrer Turnhalle
hineinzuklettern. Ihre Mutter, mit der ich zusah, be-
ruhigte meine europäischen Bedenken mit den Worten :
„0, wenn sie sich nicht stark genug fühlen, bleiben sie
schon weg." So erzieht dieses Land seine Kinder.
Einst war ich zu Tisch gebeten in einer amerikanischen
Familie in St. Louis, bei der die schöne, hier nicht seltene
Sitte besteht, stets ein weiteres Gedeck für einen eventuell
kommenden Gast aufzulegen. Die sonst grofse Tafel der
zahlreichen Familie war heute klein. Wie der Vater, ein
angesehener Grofskaufmann , mir sagte, war die jüngste
Tochter Etta mit einem Freunde auf den Flufs gegangen
zu einer Kahnfahrt; eine andere Tochter und ein Sohn
waren zurzeit mit einer Gesellschaft von Freunden und
Freundinnen ,camping out' einige Meilen oberhalb am
Hintrager. 10
146 Hintrager.
Mississippi, d. h. sie lebten in Zelten, jagten, fischten und
amüsierten sich in der freien Natur. So waren aufser den
Eltern nur der älteste Sohn und die älteste Tochter bei
Tische. Mir gegenüber auf dem Platz des Sohnes lag ein
schwerer Brief, „Ah, Freundin Alice läfst wieder 'mal
etwas von sich hören," sagte er, als er den Brief erblickte.
„Nicht wahr, Sie können in Deutschland nicht wohl mit
einer jungen Dame korrespondieren?" fragte mich die
Tochter, die einst mit einer Freundin zusammen eine
Reise durch Deutschland gemacht hatte. Als ich er-
widerte: „Gewifs, nur mufs man sich vorher beinahe ver-
loben," bemerkte der Sohn mit Lachen: „0, wir haben
keine Geheimnisse. Bitte, lesen Sie den Brief," und gab
mir den uneröffneten Brief. Mit Erlaubnis des Adressaten
gebe ich den Inhalt wieder ohne Indiskretion gegen die
liebenswürdige Schreiberin, eine 23jährige Tochter des
Staates Missouri, die andere ja nicht erraten werden.
„Lieber Teddy," begann sie, „wenn Gedanken Briefe
wären, hätten Sie schon viele erhalten. Ich sehe, es ist
schon einen Monat her, dafs ich Ihnen nicht mehr ge-
schrieben habe. Allein wir hatten keine Hilfe (Dienst-
boten), und was wir jetzt haben, ist nichts Hervorragendes.
Vor zwei Wochen bin ich von der Farm zurückgekehrt.
Ach, ich wäre so gern noch geblieben. Das Landleben
hat mir so gut gefallen. Die letzte Woche halfen wir
beim Dreschen. Das bedeutet aber nicht, dafs wir blofs
dastanden und zusahen, sondern zur allgemeinen Über-
raschung gingen wir zu Nachbar Prior und bestanden
darauf, dafs Frau Prior uns, d. h. Mifs L. , mich, meine
Schwester und Tante Lucy alles Kochen und das Servieren
bei Tische besorgen liefs. Diese Leute dachten, wir seien
so 'ne Art Stadtdamen, die zu nichts nütze sind (good for
IX. Die Amerikanerin. 147
nothing-girls) , und wir freuten uns, dafs wir etwas zu
zeigen hatten. Als Herr Prior in die Küche trat, machte
er eine Minute lang grofse Augen beim Anblick der neuen
Köchin, dann, als er mich, die Händen im Biskuitteig, er-
kannte, sagte er: ,Well, Potz Blitz!' Wir kochten für 22
Drescher, und ich sage Ihnen, wir hatten uns zu sputen.
Nach dem Essen fuhren wir aufs Feld hinaus und machten
einige Momentaufnahmen von den Dreschern. K.s haben
zwei tadellose schwarze Diener, und Tante L. macht sich
«in Vergnügen daraus, uns zu Tode zu füttern. Sie werden
mich kaum mehr kennen, wenn Sie mich sehen; ich habe
um sechs Pfund zugenommen und fühle mich besser als
je in meinem Leben. Meine Schwester ist noch auf der
Farm. Sie schreibt : ,Wir haben die ganze jeunesse doree
(dudes) des nahen Städtchens N. am Schürzenband und
mehr Verehrer (beaux), als wir ohne Gefahr leiten (manage)
können.' In N. ist eine allerliebste Gesellschaft von jungen
Kerls (fellows). Sie brachten die Hälfte ihrer Zeit auf der
Farm bei uns zu, brachten uns Lieder, Tanzmusik und
— werden Sie es glauben — Günthers Chicago Zucker-
backwerk. 0, sie sind all right. Wir haben auch gefischt
und gejagt. Ich glaube, ich könnte keinen Elefanten
schiefsen, wenn ich es versuchte. Dafs Herr G. hier durch-
reisen wird, freut mich sehr. Ich hoffe, er wird mich be-
suchen. Ich möchte ihn gerne wiedersehen. In unserem
Red Rose Pleasure-Club lesen wir jetzt Spinoza und Hegel.
Ich selbst habe in letzter Zeit sehr wenig gelesen, kam
oft kaum dazu, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Am
16. hatten wir eine totale Mondfinsternis. Es war eine
schöne helle Nacht. Es war sehr interessant. Sonst
regnet es hier gewöhnlich, wenn eine Mondfinsternis ist.
Aber diesmal war es schön klar. Letzten Sonntag hatten
wir einen schrecklichen Hagelsturm, der die dicksten Glas-
10*
148 Hintrager.
platten auf den Dächern durchschlug. Glücklicherweise
war er nur kurz, aber der Schaden war doch sehr grofs.
Es ist gegenwärtig so heifs, dafs man den ganzen Tag ein
türkisches Bad hat. Ich wollte, Sie wären hier gewesen
letzten Montag bei unserer Exkursion. Wir hatten viele
Waisenhauskinder und die 410 Kinder von dem Heim für
Verwahrloste (House of Refuge). Wir hatten über 2000
Personen und hatten Schinkenbrote für alle zu richten,^
aufser Tee, Kaffee, Milch und Crackers. Auch Ice-Cream
gab's. Die Familien L. und W. zahlten die Exkursion.
Hier dreht sich alles um die Bürgermeisterwahl. F. ist
bei dem N.-Komitee, R. bei dem für die republikanischen
Kandidaten. Beides gute Leute. Ich sende Ihnen einige
der kleinen Abzeichen, die die Republikaner tragen. Ich
finde sie sehr geschmackvoll.
Nach den Zeitungen regen sich die fremden Mächte
darüber auf, dafs wir die Philippinen behalten wollen. Es
scheint mir noch sehr fraglich, ob wir sie behalten werden.
Aber jedenfalls werden wir uns von keiner fremden Macht
etwas diktieren lassen. Ich glaube, die Europäer haben
nun gesehen, dafs die Amerikaner patriotisch und imstande
sind, ihre Flagge zu schützen. Ihre Handelsinteressen
sollten doch, meine ich, die fremden Zeitungen verhindern^
diese feindlichen Gefühle zu äufsern. Unsere Regierung
macht ja gewifs viele Fehler. Aber Freiheit und Gerechtig-
keit werden am Ende doch triumphieren. Denn unser
Volk ist im Grunde seines Herzens all right.
Doch ich mufs schlielsen, es ist Zeit zum Essen, und
ich glaube, Sie werden auch denken, dafs es Zeit ist.
Geben Sie meine Liebe (give my love) Ihren Ange-
hörigen, besonders dem lieben kleinen Gharley^), und
') Ist 22 Jahre alt.
IX. Die Amerikanerin. 149
denken Sie daran , wie sehr es erfreut , wenn der Postbote
kommt und einen Brief bringt.
Herzlichen Grufs
Ihre aufrichtige Freundin
Alice."
Solche Briefe , nicht unter acht Seiten lang , erhält
man, wenn man mit Töchtern dieses Landes korrespondiert.
Es scheint mir sehr bezeichnend, dafs die Lady hier
«0 viel zusammen mit dem Kinde genannt wird. Die
„Ladies and Children" sind der Gegenstand der be-
sonderen Sorgfalt und Liebe der Nation. Im Stadtpark von
New Orleans hängen Schaukeln von den Zweigen der
schönen südländischen Bäume herab, und am Stamme ist
zu lesen: „Diese Schaukeln sind ausschliefslich reserviert
für Ladies and Children." Ungütig (unkind) zu sein gegen
Frauen oder Kinder ist eine Todsünde hier, wie mir die
exemplarischen Strafdrohungen und Strafen für Verbrechen
gegen dieselben da und dort gezeigt haben. Verlöbnisbruch
ist in manchen Staaten kriminell strafbar. Th. Roosevelt
tat als Gouverneur von New York den Ausspruch , er sei
für Wiedereinführung des Schandpfahls und der Prügel-
strafe, und zwar als Strafe für die, die ein Weib schlagen.
Einst hörte ich einen Vortrag des geistreichen Redners
Ingersoll über die Bibel. Von all seinen Argumenten
gegen die Bibel, ihre Inspiration und ihren Inhalt legte
er auf keines mehr Wert und machte mit keinem mehr
Eindruck als mit dem Hinweise darauf, dafs es im Willen
des Judengottes lag, dafs ein ganzer Stamm der Feinde
des auserwählten Volkes erschlagen wurde. „Ich will
keine Worte verlieren von den Männern. Sie stehen mitten
inne im Kampfe der Interessen. Sie laden Hafs auf sich
und Schuld. Aber die armen unschuldigen Frauen und
150 Hintrager.
Kinder! Ist das ein Gott der Liebe, in dessen Ratschlufs^
solches liegt?" So sprach IngersoU, dessen Rednertalent
und edle Gesinnung ganz Amerika bewunderte trotz seines
Unglaubens. — In Kansas City brachen zwei Fuhrmanns-
frauen einen Streik der Fuhrleute. Sie fuhren für ihra
Männer. Niemand wagte ihnen entgegenzutreten.
Und doch, trotzdem das Weib hier alle Rechte hat,
trotzdem Gesetz, Gericht und öffentliche Meinung stets
auf ihrer Seite sind, gibt es auch hier eine Frauen-
emanzipation. Man ist versucht, zu fragen: Was ist noch
zu emanzipieren in einem Lande, in dem nach dem Ge-
setze die Ehefrau ganz wie ein fremdes, selbständiges
Rechtssubjekt ihrem Mann gegenübersteht, wo die Damen
ihre eigenen Bahnhof- Wartesäle, Hoteleingänge, auf Post-
ämtern ihren eigenen Raum für postlagernde Briefe haben,,
wo ein Mädchen allein, selbst in der Grofsstadt, sicherer
reist und geht als ein Mann , wo Gouverneure junge
Studentinnen zu Ehrenmitgliedern von Ausstellungs-
kommissionen ernennen V
Das Feld der Tätigkeit der Emanzipationsbewegung
ist naturgemäfs ein beschränktes. Auf dem Gebiete der
Berufstätigkeit kann die Frau hier kaum mehr etwas
begehren, was sie nicht schon hat; gibt es doch längst
weibliche Staatsanwälte, Lotsen, Apotheker, Pfarrer, Re-
porter, Architekten usw. Ein grofser Teil des Kanzlei-
personals der Gerichte und Behörden ist weiblich. Auch
die Bundesbehörden machen hiervon keine Ausnahme.
Im Bundesschatzamt in Washington sind zum Zählen
des Papiergeldes fast nur weibliche Arbeitskräfte ver-
wendet. „Sehen Sie jene grauhaarige Lady," sagte mir
der Beamte, der mich durch das Schatzamt führte, „sie
ist ein Expert; sie zählt in der Stunde so und soviel
tausend Dollarbills. Die Frauen können viel mehr Bills
IX. Die Amerikanerin. 151
zählen als die Männer. Sie haben feinere Finger, auch
stehlen sie weniger."
Das Feld der öffentlichen Wohltätigkeit gehört nahe-
zu ausschliefslich der Frau. Nicht nur alle privaten
Wohltätigkeitsorganisationen sind in ihren Händen, sondern
auch staatliche und kommunale Ämter , mit welchen
eine Tätigkeit dieser Art verbunden ist. Jedes Polizei-
bureau hat seine Matrone; in den staatlichen Straf-
anstalten-Kollegien, in den staatlichen und städtischen
Wohltätigkeitsämtern (boards of Charity), welche be-
zeichnenderweise oft mit jenen eine Behörde bilden, sind
Frauen vertreten.
So bleiben, wenn wir zunächst von der Frauenbildung
absehen, in der Hauptsache zwei Gegenstände, die hier die
Vertreter und Vertreterinnen der Frauenbewegung be-
schäftigen: das Frauenstimmrecht und alles das, was mit
„Temperenz" gemeint ist. Seit den Kämpfen für Ab-
schaffung der Sklaverei, an denen die Frauen sich lebhaft
beteiligten, gibt es fast in allen Staaten der Union Gesell-
schaften für Frauenstimmrecht (woman suffrage-societies).
Sie erstreben, zurzeit freilich ohne Aussicht, eine Ab-
änderung der Staatsverfassungen und der Bundesverfassung
dahin, dafs weiblichen Bürgern aktives und passives Wahl-
recht wie den männlichen zustehen soll, also einschliefslich
der Wählbarkeit zum Präsidenten der Union. Was sie
erreicht haben, mag, neben dem eingangs Erwähnten, aus
folgenden wenigen Daten ersehen weiden. In vielen
Staaten haben die Frauen aktives und passives Wahlrecht
in Schulangelegenheiten; in Colorado ist eine Frau staat-
licher Schulsuperintendent. Im Staate Kansas haben sie
aktives und passives Wahlrecht bei allen städtischen
Wahlen; der letzte Oberbürgermeister von Kansas City
war eine Frau. Jn Wyoming waren Frauen lange Zeit
152 Hintrager.
Geschworene. In einigen wenigen Staaten, z. B. Arkansas,
haben die Frauen das Stimmrecht bei den lokalen Ab-
stimmungen über die Frage, ob eine Wirtschaftskonzession
erteilt werden soll oder nicht. Die Mitwirkung der Frau
bei der Behandlung der Alkoholfrage ist es vor allem,
was die Frauenstimmrechtler wollen. Die Frauen stehen
zusammen mit den Kirchen, die naturgemäfs auch für
Frauenstimmrecht sind , auf Seiten der Prohibition und
haben ihre Überzeugungen mit der in der Union dem In-
dividuum eigenen Initiative und Energie gelegentlich so
sehr zum Ausdruck gebracht, dafs die kampfreiche Ge-
schichte der Vereinigten Staaten auch einen „Frauen-
"Whiskey-Krieg" zu verzeichnen hat. Nicht nur in mächtigen,
wohlorganisierten Verbänden, wie es z. B. die über das ganze
Land sich erstreckende Womens Christian Temperance
Union ist, wird dieser Kampf geführt, sondern auch von
einzelnen Frauen mit grofsem Eifer. Ich war Zeuge, wie
eine Dame der ersten Gesellschaft der Stadt Dubuque vor
dem Gerichtsgebäude vorfuhr und den Gerichtsvollzieher
photographierte , als dieser gerade Wein im Zwangs-
vollstreckungswege öffentlich versteigerte. Sie wollte den
Beweis festhalten, dafs in einem Temperenzstaate, in dem
das Gesetz den Verkauf alkoholischer Getränke verbietet,
ein Beamter Wein versteigerte. Nicht lange darauf war
das Ereignis in Wort und Bild allgemein verbreitet. Die
meisten Gesetzgebungen verbieten hier weibliche Bedienung
in W^irtschaften. Letztere spielen überhaupt keine so
grofse Rolle, da der Amerikaner abends nicht im Wirts-
haus sitzt. In der Stadt Kokomo, Ind. (16000 Einwohner),
führte eine Dame die Schliefsung von 16 Wirtschaften
herbei, die dem Gesetz zuwider betrieben wurden. Ein
Richter im Staate Jowa erzählte mir, dafs er einst auf
der Strafse von einer Dame, die Mitglied der obenge-
IX. Die Amerikanerin. 153
nannten Temperance Union war, wegen eines Urteilsspruchs
in einer Wirtschaftsfrage zur Eede gestellt wurde. „Ja,"
meinte er, „mit unseren Frauen ist nicht zu spafsen. Sie
gehen selbst ins Parlament und verfechten ihre Sache mit
einem Eifer, gegen den man nichts tun kann." In der Tat
habe ich im gesetzgebenden Körper des Staates New York
viele Damen im Sitzungssaal (nicht auf den Tribünen) den
Sitzungen anwohnen sehen. Dem Einflufs der Frauen war
es hauptsächlich zuzuschreiben, dafs der Mormonensenator
Roberts aus dem Kongrefs ausgeschlossen wurde, weil er
mehrere Frauen hatte. Abgesehen von den berührten Ge-
bieten nimmt übrigens die Frau hier an der Politik nicht
tätigen Anteil.
Man sieht, an Regsamkeit und Streben fehlt es diesen
Amerikanerinnen wahrlich nicht. Sie sind so unruhig wie
ihr Lieblingsmöbel, der Schaukelstuhl. Aber wie steht es
mit ihrer Tätigkeit im Hause, da, wo sie in erster
Linie hingehört? — Soviel ich davon sah und verstehe,
leistet die Amerikanerin viel und Tüchtiges, wenn auch
nicht so gründlich gearbeitet wird wie in Deutschland.
Da ich aber weniger meine Ansichten als vielmehr eine
Feststellung des Tatbestandes geben möchte, so will ich die
Frage auch mit ein paar Tatsachen beantworten. In jener
Familie, deren religiöses Leben ich in den Aufzeichnungen
über die Kirche geschildert habe, begann jeden Montag
früh 4 Uhr ein Wäschefest, bei dem aufser den Dienst-
boten sämtliche weiblichen Mitglieder der Familie so tätig
sich beteiligten, dafs abends 4 Uhr die Wäsche fertig wieder
an ihrem Platze war. Dann machten die Damen Toilette.
Wenn nach der Abendmahlzeit Tante Anna von Literatur
und Politik sprach, wer hätte da gedacht, dafs sie die Seife
für das Wäschefest selbst herzustellen pflegt! — Nur reiche
Leute können sich hier Dienstboten halten. Die Dienst-
154 Hintrager.
boten wollen hier wie Damen behandelt sein und tun keine
niedere Arbeit. Daher stammen die zahlreichen praktischen
Einrichtungen für den Haushalt, die nach und nach auch
nach Europa kommen, aus diesem Lande. Nach der
Statistik des Patentamtes in Washington sind sie zu einem
grofsen Teil von Frauen erfunden. Wie der biedere Farmer
Alexander seiner Frau dieses oder jenes Geschäft im Haus-
halt abnimmt, so ist es hier in den meisten Haus-
haltungen üblich. —
Ich will nicht die Umstände aufzählen, aus denen die
bevorzugte Stellung der Amerikanerin erklärt zu werden
pflegt. Nur auf ein Moment, das in dieser Richtung be-
sonders beachtet zu werden verdient, möchte ich die Auf-
merksamkeit noch lenken : Die Bildung der amerikanischen
Frau. Aus ihr erklärt sich das meiste. Wie bekannt,
stehen dem Mädchen hier dieselben Bildungsgelegenheiten
offen wie dem Knaben. Je höher die Altersstufen steigen,
desto mehr Mädchen sitzen auf der Schulbank. Selbst auf
den Universitäten gibt es Kurse, in denen die weiblichen
Zuhörer zahlreicher sind als die männlichen. Das Weib
teilt die allgemein amerikanische Lern- und Wifsbegierde
in solchem Mafse, dafs sie in gewissen Gegenständen und
Altersstufen den Mann an Eifer übertrifft. Während
der Mann jung dem Erwerbsleben sich zuwendet und für
unverwertbare Wissenschaft wenig Sinn und Mufse zu
haben pflegt, setzt die Amerikanerin den Schulbesuch in der
Regel bis zum 18. oder 19. Jahre fort und pflegt auch
nachher noch Wissenschaft und Kunst. Viel zu wissen ist
ihr Stolz, ihr Ruhm. Sie liest sehr viel. Einst sagte mir
auf dem Wege durch die Strafsen einer Stadt mittlerer
Gröfse meine amerikanische Begleiterin: „Sehen Sie, in
diesem Hause wohnt die gescheiteste und gelehrteste
Dame der Stadt." In St. Louis kennt jedes Kind die ehr-
IX. Die Amerikanerin, 155
Würdige Bibliothekarin , von der man sagt , dafs sie alles
weifs. In einer kleinen Stadt hörte ich, »dafs Damen sich
gelegentlich fremde Essays kaufen, um bei ihren literarischen
Soireen mit denselben zu glänzen. Hier in Boston kann
man täglich im Museum der bildenden Künste Mädchen
aller Altersstufen sehen, die die klassischen Statuen des
griechischen und römischen Altertums abzeichnen oder nach-
bilden. In allen gelehrten Berufen mehren sich die Frauen.
Schriftstellerinnen gibt es sehr viele. Selbst Mädchen der
Arbeiterklassen haben ihre Klubs für Zwecke der Gesellig-
keit und Bildung. Kurz, die Frau ist im allgemeinen dem
Mann an Geistesbildung überlegen, — eine bedeutsame
Tatsache, die nicht zum wenigsten von gebildeten Männern
des Landes beklagt wird. Kenner der Union erblicken in
der Entwicklung der letzten Jahrzehnte eine Gefahr der
Verweiblichung der amerikanischen Kultur.
Th. Koosevelt hat einmal dem amerikanischen Weibe
den Vorwurf gemacht, sie sei zu selbstsüchtig, zu wenig
zu Opfern bereit. Auch dem nur flüchtigen Besucher
dieses Landes kann es nicht entgehen, dafs viele des Wissens
Gut mit dem Herzen zahlen. Viele verschmähen die Ehe
oder entziehen sich in der Ehe den Pflichten derselben. Von
den zahlreichen Ehescheidungen erfolgt die Mehrzahl auf
Antrag der Frau. Da und dort trifft man Familien, die
in Hotels oder Pensionen leben. Manche, besonders unter
den Töchtern des Westens, machen von ihrer Freiheit und
ihren Rechten einen sehr weitgehenden Gebrauch.
Auf der Reise vom Westen hierher besuchte ich das
bekannte Smith-College in Northampton, Mass. Es ist
das eine der ausschlief slich für Damen bestimmten höheren
Lehranstalten, deren es in den alten Staaten des Ostens
mehrere gibt. Mit dem sonst überall in der Union
hochgehaltenen Grundsatz der Coeducation, d. h. der ge-
156 Hintrager.
meinschaftlichen Erziehung beider Geschlechter, hat man
hier, auf dem Boden der alten, euroi)aähnlichen Kultur,
gebrochen. „So viel auch die Jungeus bei Coeducation
gewinnen mögen, die Mädchen verlieren immer dabei,"
sagte mir eine Schulvorsteherin im Laufe einer Unter-
haltung über diesen Gegenstand. Dieselbe Frau tat auch
von ihrem College den vielsagenden Ausspruch: „Wenn
die Jünglinge allein in die Stadt gehen, bin ich immer
in Sorge. Wenn die Mädchen mitgehen, bin ich ganz
ruhig." Eine der Collegegirls, die ich in grofser Zahl in
den Gängen und auf den Treppen eines der Lehrgebäude
der Anstalt traf, führte mich zu dem Professor der Natur-
wissenschaften, den ich besuchen wollte. In seinem Zimmer
empfing mich seine Assistentin, eine etwa 26jährige
Doktorin', deren Anmut zu den Skeletten und Präparaten
um uns her in eigentümlichem Gegensatz stand. Um mir
die Zeit des Wartens auf den abwesenden Professor zu
verkürzen, lud mich die Assistentin ein, einer Vorlesung
anzuwohnen , die sie nun zu geben habe. Da sprach
nun die liebenswürdige Dame vor einer Zuhörerschaft
von 17 — 2.3jährigen Mädchen über die Entwicklung der
Knochenbildung beim Menschen, und zwar schon bei der
Frucht im Mutterleib beginnend. Und auf dem Podium
neben ihr stand ein Skelett. — Als der Professor, ein
Mann in den 30 er Jahren, kam und wir in seinem Zimmer
alte Erinnerungen austauschten, traten zwei junge
Mädchen herein zu ihm mit der Frage: „Herr Wilder,
wann werden wir unsere Katzen bekommen?" — „Die
Frau ist nicht gekommen, die sie bringen sollte," erwiderte
der Professor; „allein in der Kiste im Erdgeschofs sind
noch ein paar Ratten; nehmen Sie einstweilen diese." Es
waren dies die Objekte für Sektionen und Vivisektionen.
Auf unserem Piundgaug durch die Anstalt sah ich denn
IX. Die Amerikanerin. 157
auch bald die sezierenden Damen mutig an der Arbeit.
Eine derselben war eben beschäftigt, ein blendend weifses,
schön präpariertes Eattenskelett auf Samt aufzunähen.
— Sie hatten durchweg deutsche anatomische und
mikroskopische Instrumente, und die Mehrzahl ihrer
wissenschaftlichen Bücher war deutsch. Nach einer Be-
sichtigung des eleganten Schwimmbads und der reich
ausgestatteten Turnhalle, in der auch eine Eennbahn für
Dauerlauf angelegt war, nahm ich auf Einladung des
Professors das Mittagessen an der gemeinschaftlichen Tafel
der unverheirateten Lehrerschaft ein. Den Vorsitz führte
die Professorin der Astronomie, eine weifshaarige , ernste
Dame; dann kamen nacheinander die Professorinnen der
alten und neuen Sprachen, der Mathematik, Geschichte und
Geographie, die Doktorinnen und Assistentinnen, und ganz
unten, bescheiden und stille, safsen die zwei einzigen unver-
heirateten Professoren des College. Als auf dem Wege
zum Bahnhofe Professor Wilder davon sprach, was hier
die Frau in der Schule und für die Schule leistet, dafs im
Staate Massachussets z. B. neunmal soviel Lehrerinnen sind
als Lehrer, da mufste ich wiederum denken: Man merkt
es dem ganzen Volke an, dafs es zu den Frauen in die
Schule geht.
X. Die Verfassung".
„Kein Mensch ist gut genug, über
einen andern ohne dessen Zustimmung
zu herrschen." Lincoln.
Philadelphia.
„Zu bezweifeln ist, ob je eine Bundesverfassung merk-
würdiger war als die der Vereinigten Staaten von Amerika,
und je ein Staat zum Nachdenken des Staatsmanns taug-
licher, als dieses Wunder unserer Zeit. Ich rede hier nicht
von der Riesenmacht, zu welcher dieses Land, noch gestern
ein kaum am Saume der "Wildnis angebauter Pflanzort,
heranwuchs und täglich noch weiter heranwächst; ich rede
nicht von dem Phänomen einer vor unseren Augen in noch
nie gekannten Verhältnissen sich vermehrenden rastlosen
Bevölkerung, vor deren Nahen die seit der Schöpfung
brachliegende Wildnis und ihre Bewohner zurückweichen;
ich rühme nicht die wohltätige Geschicklichkeit seiner
Maschinen, welche jene ungeheuren Ströme mit Handel
und Leben bedecken; ich erinnere nicht an den unermefs-
lichen Umfang seines Gebietes, welches, nur dem russischen
Reiche nachstehend, von einem Weltmeer bis zum andern
durch beinahe alle Himmelsstriche sich erstreckt. Mit
einem Worte, es ist hier nicht die Rede von dem politischen
Gewichte, von den Hilfsquellen, vom Handel und Gedeihen
des Landes, — es sind dieses Gegenstände, deren Be-
trachtung und Würdigung der Staatsweisheit und der
Staatenkunde zustehen. — Allein wir treffen bei Be-
X. Die Verfassimg. 159
trachtung der Vereinigten Staaten auf zwei Gegenstände,
welche nicht weniger würdig sind, unsere ganze Aufmerksam-
keit in Anspruch zu nehmen, als jene Beweise einer grofsen
politischen Bedeutsamkeit; ich meine das Verhältnis des
Bundes zu seinen Gliedern, die Bundesverfassung selbst,
und das Prinzip, auf welchem das ganze Gebäude der Ver-
einigten Staaten ruht."
So schrieb im Jahre 1824 der württembergische Staats-
rechtslehrer Robert Mohl, und seine Worte treffen im
wesentlichen heute noch zu. Der Bedeutung seiner staat-
lichen Einrichtungen ist sich das amerikanische Volk sehr
wohl bewufst. Mit Stolz und Neugier fragt der Amerikaner
und auch die Amerikanerin den Fremden hier: „Was denken
Sie von unserer Verfassung? Was denken Sie von unseren
Einrichtungen?" Die Bundesverfassung ist das politische
Glaubensbekenntnis, welches schon das Schulkind (auch das
Mädchen) verstehen und auswendig lernen mufs. Die
Bundesverfassung zusammen mit der Unabhängigkeits-
erklärung und Washingtons politischem Testament ist gleich-
sam die Bibel in diesem religionslosen Staate ^). Die Ver-
fassung heilig zu halten, war die Abschiedsmahnung
Washingtons an sein Volk.
Hier in Philadelphia ist der Geburtsort der Verfassung
der Vereinigten Staaten, die, wie jede Verfassung, in erster
Linie aus ihrer Entstehungsgeschichte verstanden sein will.
Schon 1774, also zwei Jahre vor Ausbruch des Unabhängig-
keitskrieges, tagte in dem alten Pennsylvania-Staatshause hier
der sogenannte „kontinentale Kongrefs", eine revolutionäre
Körperschaft, in welcher jede der 13 Kolonien eine Stimme
hatte , die aber nur beschliefsen , nicht vollziehen konnte.
^) Die genannten drei Urkunden sind im Anhang in wörtlicher
Übersetzung wiedergegeben.
160 Hintrager.
Aus der Mitte dieses Kongresses, der sich vornehmlich mit
der Beratung der Mafsnahmen beschäftigte, die das ge-
trübte Verhältnis zum Mutterlande angezeigt erscheinen
liefs, ging die Unabhängigkeitserklärung hervor, von
Jefferson, dem feurigen Vertreter Virginias, entworfen.
Damit waren „die guten Leute dieser Kolonien" zu Re-
bellen geworden. Schiefsen und Glockengeläute ver-
kündeten im ganzen Lande am 4. Juli 177(3 die Erklärung
der Unabhängigkeit. Bis heute ist dieser Geburtstag der
Freiheit der höchste nationale Festtag geblieben, dessen
Feier man hier einmal mit erlebt haben mufs, um einen
Begriff von der Begeisterungsfähigkeit dieses jugendlichen
Volkes zu bekommen.
Im Jahre 1776 war in dem kontinentalen Kongrefs ein
Ausschufs eingesetzt worden, der eine Form finden sollte,
in welcher die 13 nunmehr für unabhängig erklärten
Staaten in ein engeres Verhältnis zueinander treten könnten.
Dieser Ausschufs legte 1777, also im zweiten Jahre des
Freiheitskrieges, dem Kongresse die sog. „Konföderations-
artikel" vor, die vom Kongrefs und den Regierungen der
Einzelstaaten angenommen wurden und die rechtliche
Grundlage des Bundesverhältnisses der 13 Staaten bis 1789
bildeten. Man mufs sich vor Augen halten, dafs damals
weitaus die Mehrzahl der amerikanischen Kolonialbe-
völkerung aus Bauern auf Einzelhöfen bestand, um zu er-
messen, wie viel Eigensinn, Mifstrauen und Kirchturm-
politik bei ihren Erwägungen mitsprachen. Trotz des ge-
meinsamen Feindes war es nicht möglich gewesen, in den
Konföderationsartikeln mehr zu verwirklichen , als einen
losen Freundschaftsbund der 13 Staaten, einen Bund, dessen
Macht oder Ohnmacht von dem Belieben der einzelnen
Mitglieder abhing. Schon die erste Bestimmung der
Artikel ist charakteristisch für die Eifersucht, mit der
X. Die Verfassung. 161
diese kleinen Bauernstäätchen ihre Rechte hüteten: „Jeder
Staat behält seine Souveränität, Freiheit und Unabhängig-
keit, sowie jede Gewalt und jedes Recht, das nicht aus-
drücklich dem Kongrefs verliehen ist." Gewalten aber
wurden dem Kongrefs überhaupt keine verliehen ; er konnte
wohl beschliefsen , aber die Ausführung seiner Beschlüsse
hing völlig von dem Belieben der 13 Staatsregierungen
ab. Ebensowenig wie eine Bundesexekutive gab es eine
Bundesgerichtsbarkeit. Wiederholt und vergeblich schrieb
Oberbefehlshaber Washington während der Freiheitskämpfe
an den Kongrefs um Geld , um Kleider , ja um Truppen,
wenn um die Erntezeit die Reihen seiner Farmersoldaten
sich lichteten. Der Kongrefs war machtlos. Dafs in den
Konföderationsartikeln dem Unabhängigkeitssinn der ein-
zelnen Staaten viel zu grofse Zugeständnisse gemacht
worden waren , das zeigte sich insbesondere , als 1783 die
Unabhängigkeit erkämpft war und nun die Regelung der
im Kriege eingegangenen hohen Schulden und des Ver-
hältnisses des Bundes nach aufsen in den Vordergrund trat.
Jetzt verlangten die Einsichtigeren eine Revision der Kon-
föderationsartikel. Im Mai 1787 trat dann auch eine
Konvention von Vertretern der einzelnen Staaten unter
dem Vorsitz Washingtons hier in Philadelphia zusammen.
Nicht unter günstigen Auspizien: Das ebenso kleine als
eigensinnige Rhode Island weigerte sich , die Konvention
zu beschicken, und unter den übrigen Vertretern erhoben
sich die gröfsten Schwierigkeiten. Die einzelnen Staaten
waren an Flächeninhalt und Einwohnerzahl zu ver-
schieden; die kleinen fürchteten, von den grofsen ver-
gewaltigt zu werden; die Interessen der Sklavenhalter
des Südens machten sich gebieterisch geltend. Zu dem
allem kam ein eingefleischtes Mifstrauen gegen alle Obrig-
keit und eine tiefe Unlust, neue finanzielle Lasten zu über-
Hintrager. 11
162 Hintrager.
nehmen. Dies zeigt ein Ereignis jener Tage : Als der
Kongrefs 700 Mann stehendes Militär forderte, bis die
Engländer das amerikanische Gebiet gänzlich geräumt
hätten, schlugen die Staaten dies ab als gefährlich für die
Freiheit und bewilligten als ganze bewaffnete Macht
80 Mann und einen Hauptmann. Heftige Kämpfe gab es
in den Beratungen, die auf Washingtons Vorschlag von
vornherein auf eine Neuschöpfung und nicht auf eine blofse
Revision der Konföderationsartikel gerichtet wurden, und
manchmal schien das Verfassungswerk aussichtslos.
Im September 1787 legte schliefslich die Konvention
den Entwurf der Verfassung der Vereinigten Staaten von
Amerika dem Kongresse vor „als ein Ergebnis eines
Geistes der Freundschaft und des wechselseitigen Entgegen-
kommens".
Noch war es zweifelhaft, ob die Verfassungskonventionen
der einzelnen Staaten nun auch die Verfassung annehmen
würden. Sie sollte in Kraft treten, wenn neun Staaten sie
ratifiziert hatten, und zwar nur für die ratifizierenden
Staaten. In der Presse, in den Legislaturen und in Volks-
versammlungen wurde der Entwurf der lebhaftesten Kritik
unterworfen, aber doch nach und nach von allen Staaten
angenommen, zuletzt 1790 von dem eigensinnigen „Little
Rhody".
Das weiträumige Gebäude war errichtet, unter dessen
Dach die künftigen Staaten und Generationen Nordamerikas
leben sollten. Mit welchem Geiste die Väter der Ver-
fassung das Zustandekommen des grofsen Werks betrachteten,
zeigt das Wort des geistreichen Alexander Hamilton , des
späteren Bundesfinanzministers unter Washington: „Die
Festsetzung einer Verfassung in Zeiten tiefen Friedens
durch die freiwillige Zustimmung eines ganzen Volkes ist
ein Wunder, dessen Vollendung ich mit zitternder Sorge
X. Die Verfassung. 163
entgegensehe." — „Wir haben nur die Wahl zwischen An-
nahme der Verfassung und Anarchie," hatte Washingtons
einflufsreiche Stimme gemahnt.
Bis jetzt hat das Werk seinen Schöpfern Ehre gemacht.
Zwar wurden in den ersten Jahren des Bestehens der Union
der Verfassung zehn Zusätze hinzugefügt , die sogenannte
amerikanische „Deklaration der Rechte". Durch sie werden
dem einzelnen Bürger gewisse Rechte gesichert und dem
Kongrefs gewisse Dinge verboten. Dies ausdrücklich in
der Verfassung niederzulegen hatten die jeder Autorität
mifstrauenden freien Farmer des kolonialen Landes für
notwendig befunden. Weitere drei Amendements von Be-
deutung hat die kriegerische Entscheidung der Sklaverei-
frage veranlafst, die man einst bei der Verfassungsgründung
zu berühren ängstlich vermieden hatte. Allein abgesehen
von den wenigen Zusätzen, ist die Bundesverfassung der
Union bis heute unverändert geblieben. Ja, sie ist nicht
nur vielen Republiken des übrigen Amerika, sondern auch
•der letzten Bundesverfassung der Schw^eiz zum Vorbild
geworden.
Und welche Veränderungen hat Land und Volk der
Vereinigten Staaten unter dieser Verfassung durchgemacht!
Schon 1803 kaufte die junge Union das grofse, fruchtbare
Mississippital bis zum Felsengebirge von Frankreich (der
sogenannte Louisianakauf), nicht ohne vorher Napoleon I.
für den Fall der Weigerung mit einem Bündnis der Union
mit England bedroht zu haben. Im Jahre 1813, während
des Krieges mit dem Mutterlande, besetzte die Union die
spanische Kolonie Florida militärisch, 1819 mufste Spanien
Florida abtreten. Die 30 er Jahre waren erfüllt von
Indianerkriegen. 1846 begann der durch die Annexion von
Texas veranlafste Krieg der Union gegen Mexiko, der in
den folgenden Jahren zur Annexion von Californien und
11*
164 Hintrager.
den anderen an Mexiko grenzenden Gebieten führte. Nun
war das Meer erreicht. 1852 wurde England zur Auf-
gabe seiner Ansprüche auf Oregon gezwungen, 1876 Alaska
von Rufsland gekauft, 1898 Hawaii, die Philippinen und
Porto-Rico annektiert und die Spanier aus Cuba verdrängt,
dessen Eroberung schon Präsident Pierce 1854 angedroht
hatte. Aus dem kleinen Gebiet der 13 Kolonien war in
einem Jahrhundert ein Kontinental reich entstanden, an-
nähernd so grofs als ganz Europa, und gleichzeitig waren
schwere Krisen im Innern überwunden worden. Von
3,9 Millionen im Jahre 1790 ist die Einwohnerzahl auf
über 86 Millionen gestiegen, denen trotz des weiten Flächen-
raums das Mutterland schon zu eng zu werden beginnt.
Dem ganzen Kontinente mit den mannigfaltigsten Raum-
und Klimaverhältnissen und der gemischten Bevölkerung
ist der Stempel einer im wesentlichen einheitlichen Kultur
aufgedrückt worden.
Dafs dies alles geschehen konnte ohne wesentliche
Änderungen des Staatsgrundgesetzes, ist nicht so sehr dem
Umstände zuzuschreiben , dafs Verfassungsänderungen
ziemlich schwer gemacht sind, als der Kompromifsnatur
der Verfassung selbst. Die Verschiedenheit der Interessen
der 13 alten Staaten , ihr Verlangen nach Selbständigkeit
innerhalb des Bundes hatte in vielen Punkten zur Fest-
setzung von Kompromissen und allgemeinen, dehnbaren
Bestimmungen geführt. Schon die Einteilung des gesetz-
gebenden Körpers in zwei Häuser war ein Vergleich.
Das Repräsentantenhaus, auf dem Boden des demo-
kratischen Zahlenprinzips ruhend, war eine Forderung der
grofsen Staaten. Seine alle zwei Jahre neugewählten Mit-
glieder gehen hervor aus direkten Wahlen der Bevölkerung
nach Mafsgabe ihrer Verteilung über die Staaten. Eine
Forderung der kleinen Staaten ist der Senat gewesen, in
X. Die Verfassung. 165
welchem jeder Staat durch zwei von der Legislatur des
betreffenden Staates auf sechs Jahre gewählte Senatoren
vertreten ist. Er ist die konservative Kraft im Staate,
das Gegengewicht gegen das demokratische Kepräsentanten-
haus. Zur Gesetzgebungskompetenz des aus Senat und
Repräsentantenhaus bestehenden Bundeskongresses gehört
nur das, was ihm durch die Verfassung ausdrücklich
zugeteilt ist. Es ist dies im wesentlichen das Verhältnis
der Einzelstaaten untereinander (Binnenhandel, Land- und
Wasserstrafsen, Rechtshilfe), ferner das Verhältnis zu aus-
wärtigen Mächten (Handel, Krieg, Völkerrechtliches) und
gewisse gemeinsame Angelegenheiten, wie Post, Münzen,
Mafse, Gewichte, Heer und Flotte, Bundesverwaltung,
-Finanzen und -Gerichtsbarkeit. In allen anderen Dingen
sind die Einzelstaaten völlig selbständig; sie haben ihre
eigene gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt.
Allein die Bundesverfassung legt ihnen die Beobachtung
gewisser Grundsätze auf hinsichtlich des Schutzes des
Wahlrechts, der religiösen und bürgerlichen Freiheit des
einzelnen. Sie schreibt im Interesse der Homogenität der
Bundesmitglieder vor, dafs die Einzelstaaten republikanische
Regierungsformen haben müssen. Die Verfassungen der
einzelnen Staaten sind einander sehr ähnlich, die der
neueren sind denjenigen der alten Staaten nachgebildet.
Die vollziehende Gewalt des Bundes ruht in den Händen
des verantwortlichen Präsidenten , der auf vier Jahre vom
Volke mittels Wahlmänner gewählt wird. Kein Mitglied
des Kongresses und kein Beamter der Vereinigten Staaten
kann Wahlmann werden, eine Bestimmung, die Hamilton
einen Grundpfeiler der Verfassung nennt. Nach einem
seit Washington beobachteten Herkommen wird der
Präsident ein drittes Mal nicht wiedergewählt. Die
Gerichtsbarkeit in Bundesangelegenheiten haben die
166 Hintrager.
Bundesgerichte, deren Richter der Präsident auf Lebenszeit
ernennt.
Das Verhältnis von Präsident und Kongrefs ist in der
Verfassung durch mehrfache gegenseitige Kontrollbefugnisse
in vorsichtiger Weise geregelt. Die Väter der Verfassung
haben fast jede Machtbefugnis, die sie dem einen gaben,
durch ein Gegengewicht in der Wagschale der Rechte des
andern auszugleichen gesucht. Nur einige Beispiele hiervon
seien angeführt. Der Kongrefs kann zwar von dem Präsi-
denten in der Gesetzgebung nicht beeinflufst werden; der
Präsident kann höchstens Anregungen zu Gesetzen geben,
aber keine einbringen; kein Minister kann im Kongrefs
erscheinen, da kein Kongrefsmitglied ein öiTentliches Amt
haben darf. Wohl aber wird der Kongrefs in der Aus-
übung seiner Gesetzgebungsgewalt sehr wesentlich kon-
trolliert durch das sogenannte Vetorecht des Präsidenten.
Sendet der Präsident dem Kongrefs ein Gesetz mit seinem
Veto zurück, so wird es nur Gesetz, wenn es nun eine
Zweidrittel-Majorität der Anwesenden in beiden Häusern
eilangt.
Die Macht des Präsidenten andererseits, die infolge
seines Oberbefehls über Heer und Flotte und seines Er-
nennungsrechts für die zahlreichen Bundesämter sehr grofs
ist, haben die Urheber der Verfassung dadurch beschränkt,
dafs zu allen Ernennungen und zu Verträgen mit fremden
Mächten der Präsident der Zustimmung des Senats bedarf.
Krieg erklärt der Kongrefs, Frieden schliefst der Präsi-
dent, aber sein Friedensvertrag bedarf der Zustimmung
des Senats. Um den Präsidenten wiederum vom Senate
nicht zu sehr abhängig zu machen, ist bestimmt, dafs
nur das Repräsentantenhaus den Präsidenten in Anklage-
zustand versetzen kann. —
Die Bundesverfassung ist der schriftlieh fixierte Wille
X. Die Verfassung. 167
des souveränen Volkes, der über allem steht. „Nach diesen
Grundsätzen will ich regiert werden," hat gleichsam das
Volk bei Festsetzung der Verfassung gesagt. Dafs das
Volk der Souverän ist, von dem alle Gewalt der Regierung
abgeleitet wird, und dafs die Regierung nur so viel Macht
hat, als das Volk ihr in der Verfassungsurkunde aus-
drücklich übertragen hat, das sind Grundsätze, die hier
jedes Kind in der Schule lernt. Aus dem Gesagten folgt,
dafs jedes Gesetz, das im Widerspruch mit der Bundes-
verfassung steht, nichtig ist. Es bedarf deshalb in zweifel-
haften Fällen eines Auslegers der Verfassung. Dies ist
der oberste Bundesgerichtshof der Vereinigten Staaten in
Washington, der angesehenste Gerichtshof, dessen Mit-
glieder vom Präsidenten mit Zustimmung des Senats auf
Lebenszeit ernannt werden. Vor dieses Gericht, das sich
als ein zuverlässiger Hüter der Bundesverfassung sowohl
gegenüber dem Kongrefs als den Legislaturen der Einzel-
staaten bewährt hat, werden Verfassungsfragen durch
Test-cases gebracht. —
Dies ist der Rahmen, innerhalb dessen die Kräfte im
Staatswesen wirken.
XI. Parteien und Politik.
„Es ist ein Land der Gegensätze,
voll blendenden Lichts und tiefer
Schatten." Kaiser Wilhelm IL »
Washington.
Als ich das erste Mal hierher kam, war Cleveland
Präsident (1895). Noch ist es mir, als wäre es gestern
gewesen, dafs ich am Morgen durch die Strafsen dieser
schönen Stadt ging und dem Präsidenten begegnete,
der mit Frau Cleveland in einem einfachen Einspänner
durch die Pennsylvania Avenue fuhr. Er lenkte das Pferd
selbst, niemand schenkte ihm besondere Beachtung, und als
er an einen Brunnen kam, hielt er an, gab Frau Cleveland
die Zügel, stieg ab, um dem Pferd den Aufsatzzügel
abzunehmen und es zu tränken, wie dies hier üblich
ist. Mein junges Herz war entzückt ob dieser Einfach-
heit; ich dachte an Jefferson, den dritten Präsidenten, der
einst zu seiner Beeidigung allein nach dem Capitol ritt
und dort sein Pferd an einen Zaun band. Aber nicht
lange sollte meine Freude währen. Ich war auf dem
Wege zum Capitol; was ich in dessen Räumen hörte, war
nicht dazu angetan, meine Stimmung zu erheben. Mit
den Gemütsstimmungen geht es wie mit der Lufttemperatur
und den meisten Dingen hier: alles wechselt rasch und
schroff.
Im Repräsentantenhause sprach ich zunächst den be-
XI. Parteien und Politik. 169
kannten Col. Henderson, den nachmaligen Sprecher des
Hauses, an den Freund Henry, der Rechtsanwalt, mir ein
Empfehlungsschreiben mitgegeben hatte. „Hier werden
Sie nicht viel hören oder vielmehr zu viel," meinte Col.
Henderson; „der Raum und die Zahl der Mitglieder (356)
ist zu grofs, und die boys sind so laut. Eine Debatte ist
unmöglich." So war es. Ein Lärm und ein Durcheinander
herrschte, der kaum das eigene Wort verstehen liefs. Ein
erheblicher Schaden ist das übrigens nicht. Denn da auch
hier die meisten Parlamentsreden „zum Fenster hinaus"
gehalten werden , sind die praktischen Amerikaner längst
auf das einfache Mittel gekommen, die grofsen Reden gar
nicht mehr zu halten, sondern lediglich in den steno-
graphischen Berichten als gehalten wiederzugeben. Diese
ungehaltenen Reden wandern dann hinaus über das ganze
Land, der Redner schickt auch wohl ein paar hundert
Exemplare in seinen Wahlbezirk, und jedermann ist zu-
frieden: die Abgeordneten darüber, dafs sie die Wahlrede
ihres Kollegen nicht anhören mufsten , dieser , dafs er sie
nicht halten mufste und die Wähler darüber, dafs ihr
Kandidat eine so schöne Rede gehalten hat. ^ Doch
kehren wir zurück in das Repräsentantenhaus.
In den mannigfaltigsten, zum Teil sehr ungezwungenen
Stellungen safsen oder lagen die Repräsentanten , alles
rauchte und sprach, und der neben jedem Platze aufgestellte
Spucknapf fand die übliche Würdigung. Auch der jeweilige
Redner widmete ihm gelegentlich mitten im Satze eine
wohlgezielte Abschweifung. Der ganze Anblick erinnerte
an eine hier in letzter Zeit bekannt gewordene Äufserung
der Susan B. Anthony, der Führerin der Bewegung für
Frauenstimmrecht. Als jemand sie fragte, was sie sich
von der Wählbarkeit von Frauen in den Kongrefs ver-
spreche, erwiderte sie: „Die Spucknäpfe neben jedem Sitz
170 Hintrager.
Würden verschwinden, die beiden Häuser wären nicht mehr
von dickem Tabaksqualm erfüllt, die Pulte würden nicht
mehr als Fufsschemel benützt; Schicklichkeit und Ordnung
würden in der Diskussion herrschen; Gerechtigkeit würde
in der Gesetzgebung walten und nicht Käuflichkeit und
Handel." —
Meine Betrachtungen von der Galerie desKepräsentanten-
hauses wurden bald dadurch unterbrochen, dafs eine Pause
gemacht und diese von den Abgeordneten durch Singen
nationaler Lieder ausgefüllt wurde. Ich begab mich daher
in den Senat, der in dem anderen Flügel des Capitols
tagt. Hier, in dem Oberhaus des Bundes, herrschte so
viel Ruhe, dafs man leicht dem Gang der Verhandlungen
folgen konnte. Zuerst kamen zwei Vetobotschaften des
Präsidenten Cleveland zur Verlesung. Die erste betraf ein
Gesetz, durch das einer Eisenbahngesellschaft die weit-
gehendsten Rechte eingeräumt wurden. Der Präsident be-
gründete sein Veto nicht nur mit der völligen Aufseracht-
lassung der Interessen der Allgemeinheit, sondern auch
damit, dafs das Gesetz im einzelnen viel zu unbestimmt sei.
Das Gesetz war von einem Senator, vermutlich auf Ver-
anlassung der betreffenden Eisenbahngesellschaft, entworfen
und eingebracht worden. Das zweite Veto betraf eine
Pensionsbewilligung an einen angeblichen Invaliden des
Bürgerkriegs, namens Rhea. Diese Pensionsbewilligungen
sind aus naheliegenden Gründen bei beiden Parteien so
beliebt, dafs dieselben anstatt ab- stetig zunehmen und
zurzeit über 140 Millionen Dollars jährlich ausmachen.
Rhea hatte 1871 eine Pension bewilligt erhalten, die aber
1892 aufgehoben wurde, da es sich herausgestellt hatte,
dafs sie durch Betrug und Meineid erlangt war. Nun
hatte der Kongrefs demselben Rhea dieselbe Pension wieder
bewilligt. In der Begründung seines Vetos sagte Cleve-
XI. Parteien und Politik. 171
land: „Icli kann nicht verstehen, wie der Kongrefs es
rechtfertigen kann, diesen Mann wieder auf die Pensions-
liste zu bringen, angesichts der dem Kongrefs bekannten
Tatsachen, die zur Aufhebung jenes Gesetzes führten, auf
Grund dessen Rhea beinahe 22 Jahre lang unrechtmäfsiger-
weise eine Pension bezogen hat."
Von seinem Vetorechte macht der Präsident insbesondere
dann Gebrauch, wenn er dadurch an Popularität zu ge-
winnen überzeugt ist; denn dem amerikanischen Volke
imponiert Kraft und ein starkes Rückgrat über alles. Cleve-
land hat sehr viele Freunde auch in den Reihen seiner
politischen Gegner gewonnen dadurch, dafs er dem oft ge-
wissenlosen Kongrefs rücksichtslos die Gesetze mit seinem
Veto zurückschickte.
Der nächste Gegenstand der Verhandlungen waren
zwei Gesetze, die Pensionen bewilligten, und ein Gesetz, das
sämtlichen Angestellten des Kongresses, einschliefslieh der
Privatsekretäre der Kongrefsmitglieder, für Extra arbeit einen
Monatsgehalt zubilligte. Alles ging ohne Widerspruch
durch. Es folgte ein Gesetz, betreifend die Verleihung
von Rechten an eine Eisenbahn gesellschaft im Distrikt
Columbia , welches mit der darin gelegenen Hauptstadt
Washington direkt und ausschliefslich der Gesetzgebung
des Kongresses untersteht. Kaum hatte der Senator, der
die Bill eingebracht hatte, geschlossen, da rief Senator Hill
(New York): „Ich mufs widersprechen." Nach der Ge-
schäftsordnung durfte nämlich in die Beratung nur solcher
Gesetze eingetreten werden , gegen die ein Widerspruch
nicht erhoben wurde. Der Antragsteller wandte sich nun
an Senator Hill mit der Bitte, doch seinen Widerspruch
zurückzunehmen, da die Bill sehr wichtig sei und durchaus
bona fide eingebracht. Hill erwiderte: „Ich mufs der Be-
ratung dieses Gesetzes widersprechen und tue es im
172 Hiutrager.
Interesse ehrlichen Spiels („fair play")." Der Antragsteller
bemerkte: „Das bezieht sich nicht auf mich," und das
Gesetz wurde beiseite gelegt. Als dann etwa eine Stunde
nachher Senator Hill den Senat verlassen hatte, wurde
dasselbe Gesetz auf Antrag eines anderen Senators vom
Vorsitzenden wieder aufgerufen; niemand widersprach,
und es ging durch. — Wieder kam eine „Railroad-Bill"
diesmal zwecks Verleihung gewisser Rechte an sämtliche
Eisenbahngesellschaften des Landes. Da diese wie die
andern grofsen Kapitalgesellschaften ihre eigenen „legis-
lative agents" am Sitz der gesetzgebenden Versammlungen
unterhalten und durch diese die Gesetzgebung zu be-
einflussen bemüht sind, war die Debatte erregt und
lang. Gleich zu Beginn sagte Senator Gorman: „Ich
widerspreche, und ich wünsche zu sagen, Mr. Präsident,
dafs ich unter meinen besten Freunden Eisenbahn-
magnaten habe. Sie waren hier und bedrängten mich,
wie sie fast jeden anderen Senator gedrückt und bedrängt
haben. Ich wurde überhäuft mit Telegrammen hier und
in meinem Hause. Es sind gar viele Leute, die ein
Interesse an diesem Gesetze haben. Sie haben gebettelt,
sie haben gefordert; einzelne sind auch mit Drohungen
gekommen." Es folgte eine lebhafte Debatte der Sena-
toren Gallinger und Hill, zwischen welchen schon vorher
eine gereizte Stimmung bestand, da jeder der Beratung
der von dem andern eingebrachten Gesetzanträge wider-
sprach. Gallinger: „Der Senator von New York (Hill)
hat, wie ich höre, ein Interesse an der Suburban Railway-
Bill. Er bat um Zustimmung zur Beratung dieses Gesetzes,
trotzdem dasselbe von der Hälfte der Kommissionsmitglieder
verworfen worden war. Der Beratung dieses Gesetzes
konnten wir unmöglich zustimmen. Weil nun gegen dieses
Gesetz Widerspruch erhoben wurde, hat der Senator von
XI. Parteien und Politik. 173
New York seither jedem andern derartigen Gesetz wider-
sprochen. Mr. Präsident, wenn dieser Kurs des Senators
von New York die Regel hier sein soll, dann können wir
sofort aufhören mit unserer Arbeit. Ich bin für ehrliches
Spiel; das ist alles, um was ich bitte." Hill erwiderte: „Was
die Suburban Railway-Bill betrifft, so wurde mir schon vor
der Sitzung gesagt, dafs sie "Widerspruch begegnen würde.
Es haben auch mehrere Senatoren sich bemüht, sich da-
gegen zu erklären, und zwar, wie ich glaube, nicht sowohl
deshalb, weil sie mit dem Inhalt des Gesetzes nicht einig
gehen, als deshalb, weil sie andere Gesetze einbringen
wollen , bei denen sie ein gewisses Interesse haben. Ich
nehme an, der Senator will nicht behaupten, dafs ich irgend
ein Interesse an der Suburban Railway-Bill habe, ab-
gesehen von dem Interesse einiger Freunde von mir. Das
ist alles."
Gallinger: „Natürlich will ich das nicht sagen; aber
ich meine, der Senator sollte seine Andeutung zurück-
nehmen, dafs wir möglicherweise ein weitergehendes
Interesse an anderen Gesetzen haben."
Hill : „Ich sagte nur — "
Gallinger: „Ich werde ein offenes Wort mit dem
Senator reden."
Hill: „Ich weifs nichts von des Senators Interesse, und
ich nehme an, er hat keines."
Gallinger: „Das ist gut." —
Hierauf erhob sich der Senator Quay, der sich durch
die Bemerkung Hills offenbar getroffen fühlte: „Auch ich
wünsche für meinen Teil zu sagen, dafs ich kein Interesse
und keinen Anteil an irgend einem Eisenbahngesetz in
diesem Hause habe."
Hill: „Der Senator hat mir offen gesagt, dafs das
174 Hintrager.
Philadelphia-Syndikat die Leute sind, für welche er Ein-
sprache erhob."
Quay: „Das sagte ich nicht."
Hill: „Und zwar deshalb, weil das Gesetz gewisse
Vorrechte wegnahm, die das Syndikat bekommen wollte."
Quay: „Ich^habe das Philadelphia-Syndikat nicht er-
wähnt. Das ist eine Erfindung des Senators."
Hill: „Gewifs, weil es allgemein bekannt ist. Der
Senator leugnet auch jetzt nicht ab, dafs er für das Phila.
delphia-Syndikat sprach. Durchaus nicht. Er ist ein
offener Mann." —
Unter solchen Debatten, die ich hier nach dem offiziellen
Stenogramm (Congressional Record) widergebe, verstrich
die Zeit. Schon war es gegen 10 Uhr abends, aber immer
noch gingen die Aufzüge im Capitol, die Zuschauertribünen
waren immer noch besetzt, nicht zum kleinsten Teil von
Damen, und die Bills folgten aufeinander, als wollte es kein
Ende nehmen. Es war die letzte Woche des Kongresses
unter Cleveland; da wollte jeder noch schnell ein Gesetz
durchbringen, das ihm nützen sollte.
Als ich am folgenden Morgen eine Zeitung zur Hand
nahm — damit beginnt hier jedermann den Tag — , fiel
mein Blick auf die Überschrift eines Artikels: „Es war
der Tag der Diebe!" „Der 53. Kongrefs," so begann der
Artikel, „wird in der Geschichte als die Versammlung der
Billion-Dollars-Verschwender ^) dastehen. Um die Habgier
einiger Zuckerpflanzer und sonstiger Interessenten zu be-
friedigen, werfen sie das Geld des Volkes mit ebenso
grofser als grundloser Generosität hinaus. Hat eine Manie
den Geist der Senatoren erfafst, dafs sie so mit den Rechten
^) Der 53. Kongrefs hat insgesamt beinahe eine Billion Dollars
bewilligt.
XI. Parteien und Politik. 175
des Volkes spielen ? Zwar ist es erfreulich, dafs der Senat
den kleinen Trick des Mr. Livingston und anderer aufheben
will, wonach den angeblichen Privatsekretären der Repräsen-
tanten ein monatliches Extrasalär von 100 $ bewilligt werden
soll. Es ist genug am übrigen. Wie jedermann weifs, ist
die Tätigkeit der Angestellten des Kongresses durchweg
zu hoch bezahlt, viele der Stellen sind Sinecuren. Das
Schlimmste an dem 50 000 »gl Diebstahl für die Angestellten
von Haus und Senat am Ende jeder Session ist die Art,
wie dieses Amendement durch den Kongrefs „gelobbyt" wird.
Alle Sekretäre, Clerks usw. stehen um den Tisch des
Hauses herum , um den zu notieren , der den Mut hat,
gegen die Extra-Salär-Bill zu stimmen. Es ist ein öffeut- -
lieber Skandal ! Kein Wunder, denn einzelne, wie der voll-
bärtige Senator von Kansas, haben Familienangehörige als
Angestellte des Senats, also ein direktes Interesse
Sie denken," so schlofs der Artikel, „es sei nicht so schlimm,
wenn sie vor Torschlufs noch ein wenig stehlen." —
Dieses Augenblicksbild zeigt einige wesentliche Eigen-
tümlichkeiten der amerikanischen Gesetzgebungsmaschine.
Da nicht der Regierung, sondern nur den Mitgliedern der
gesetzgebenden Körper das Recht zusteht, Gesetzentwürfe
einzubringen, so werden sehr viele solche eingebracht.
Jeder Abgeordnete bringt eine grofse Zahl Gesetze ein,
nur um seinen Wählern einen Gefallen zu erweisen. Er
erwartet selbst nicht, dafs sie alle durchgehen. Denn der
Geschäftsbetrieb der Legislaturen erinnert in dieser Hin-
sicht an das, was ich einst in den Gerichten gesehen
habe: Was nicht wichtig ist, was nicht ernstlich vertreten
und verfochten wird, das „geht in den Taubenschlag" auf
Nimmerwiedersehen. Dieser Ausdruck der Gerichtssprache
ist auch im parlamentarischen Sprachgebrauch üblich. Oft
sagt man auch weniger verblümt, das Gesetz wird „in der
176 Hintragei".
Kommission tot gemacht" (killed in the Commitee). Allein
trotzdem man annimmt, dafs nur etwa Vao aller Gesetz-
entwürfe zu Gesetzen werden, wird doch mit solcher Eile
gearbeitet, dafs die amerikanischen Gesetzbücher einen
ganz aufserordentlichen Umfang zeigen und die Rechts-
beflissenen es längst aufgegeben haben, mit der Gesetz-
gebungsmaschine Schritt zu halten. Als ich einst meinem
Freunde Henry das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch nach
Dubuque sandte, da brachten alle Zeitungen der Stadt
lange Artikel über das wunderbar kleine Gesetzbuch, und
täglich, so schrieb mir Henry, kämen Leute auf sein
Bureau, um den Codex zu sehen, den man in die Tasche
stecken könne. Unsere Politiker, so war das allgemeine
Urteil der Zeitungen, könnten sich ein Beispiel nehmen
an dieser klaren, präzisen Sprache und vor allem an der
Kürze des Werkes, an welchem deutsche Gesetzgeber viele
Jahre lang gearbeitet haben.
Dafs die amerikanischen Gesetze an Klarheit und
Präzision oft sehr viel zu wünschen übrig lassen, ist nach
der Art ihrer Entstehung wohl erklärlich. Eine Ausnahme
machen diejenigen Gesetze, die aus dem Schofse von
Anwaltsvereinen hervorgehen. Die Anwaltsvereine der
meisten Staaten haben ihre Abteilung für Gesetzesreform.
Allein soweit die einzelnen Abgeordneten entweder selbst
oder mit Hilfe ihrer Rechtsbeistände die Gesetze entwerfen,
werden oft merkwürdige Gesetzgebungsblüten gezeitigt.
In Missouri und Texas erging jüngst im Interesse des
Schutzes der reichen Mädchen ein Gesetz, das jeden im
Staate sich aufhaltenden fremden Adeligen als solchen be-
steuert. In Missouri brachte ein Senator einen Gesetz-
entwurf ein gegen das Flirten; ein Gesetz, das die
Fabrikation von Kleidern in Mietskasernen wegen Infektions-
gefahr verbot, ging durch. Die bösliche Verlassung der
XI. Parteien und Politik. 177
Ehefrau seitens des Mannes ist in vielen Staaten eine
strafbare Handlung. In Illinois erging ein Gesetz, wonach
nicht mehr als sechs Personen in einem Zimmer schlafen
dürfen. Das bei dem ruhelosen Volke so beliebte Spucken
ist da und dort auf Strafsen und öffentlichen Plätzen ver-
boten. In Massachussetts ist es verboten , mit kleinen
Kindern auf einem Zweirad zu fahren, wegen der für das
Kind damit verknüpften Gefahr. Im gleichen Staate hat
das Bestreben , der Trunksucht zu steuern , zu der ge-
setzlichen Bestimmung geführt, dafs die Wirte in den
Bar-Räumen Sitzgelegenheit und Efswaren gratis geben
müssen , da man hoffte , der sitzende Gast werde nicht so
schnell trinken und der essende nicht so schnell betrunken
sein. Gesetze, die immer und immer wieder eingebracht
werden, aber zum gröfsten Teil in den Taubenschlag
wandern, sind arbeiterfreundliche Gesetze, gegen die im
Plenum niemand zu sprechen wagt, und Gesetze gegen
Korporationen und Trusts.
Das Wort: „Wir müssen ein Gesetz machen gegen das
und das" hört man hier gar oft. Da nun vor diesen
Wünschen der Weg so eben liegt, so gibt es hier, im
„süfsen Lande der Freiheit", eine Menge Gesetze, die ganz
aufserordentliche Eingriffe in Privatangelegenheiten und
die Freiheit des einzelnen statuieren. Und doch ist es
das Land der Freiheit, insofern diese Gesetze einfach nicht
beachtet werden. Zu einer strengen Durchführung der
Gesetze fehlen viele Voraussetzungen, namentlich der von
Volkswahlen nicht abhängige Beamte. Gelegentlich kommt
es auch vor, dafs ein Gesetz in Kraft tritt, ohne dafs zu
dessen Durchführung irgendwelche Vorkehrungen getroffen
sind. Es gibt hier manche Staaten, welche Herstellung
und Verkauf alkoholischer Getränke verbieten; aber auch
Hintrager. 12
178 Hintrager.
in diesen Staaten brauen und trinken die Deutscheu un-
gestört ihr Bier.
I Auch hier liegt der Schwerpunkt der Tätigkeit der
J gesetzgebenden Körper in den Kommissionen. Diese haben
I nicht nur das Recht, jedermann, dessen Auskunft ihnen
wünschenswert erscheint, insbesondere Beamte, vorzuladen
und zu vernehmen, sondern auch das Recht, alle diejenigen
vorzulassen und zu hören, die ein Interesse am Zustande-
kommen oder Fallen des Gesetzes haben. Der Vertreter
(legislative agent) einer Eisenbahngesellschaft, eines Trusts,
der ein ihm nachteiliges Gesetz verhindern will, der Mann,
der eine Konzession, eine Pension wünscht, der Minister,
der seinen Etat für sein Departement gerne erhöht sehen
möchte, sie alle erscheinen vor der Kommission und
plädieren für ihre Sache. Selbst Strafanstaltsvorstände
habe ich kennen gelernt, die in die Hauptstadt
reisten und die Konimissionsmitglieder bearbeiteten, wenn
der Etat ihrer Anstalt in der Kommission zur Be-
ratung kam.
Hier in der Kommission ist daher der Boden, wo die
Versuchungen an die amerikanischen Gesetzgeber heran-
treten. Dafs sie ihnen nur zu oft unterliegen , ist auch
aufserhalb der Union wohl bekannt. Ein Arzt im Staate
New York, ein ernster, durchaus glaubwürdiger Mann, er-
zählte mir einst folgende Geschichte: In den achtziger
Jahren wurde in der Legislatur des Staates New York ein
Gesetz eingebracht, wonach in Zukunft die Approbation
als Arzt auch zur Voraussetzung haben sollte, dafs der
Kandidat bei seinem Zulassungsexamen zur Universität
auch in der griechischen Sprache geprüft worden war und
bestanden hatte. Da nun bei vielen damals im Staate
New York Medizin Studierenden diese Voraussetzung nicht
zutraf, beschlossen die Studenten, in der Legislatur vor-
XI. Parteien und Politik. 179
stellig zu werden, dafs man das Gesetz nicht auf die-
jenigen Anwendung finden lassen solle, die sich zur Zeit
des Inkrafttretens des Gesetzes schon auf den Hochschulen
des Staats New York befinden. Diesen Wunsch trugen die
Vertreter der Studenten dem Vorsitzenden der Kommission
vor, an welche das Gesetz verwiesen worden war. „Sie
müssen eine Petition einreichen," war dessen Bescheid.
Als die Studenten dann ihre ausführlich begründete und
mit einigen tausend Unterschriften versehene Petition ein-
gereicht hatten, erhielt der Vertreter der Studenten von
<Iem Sekretär des Vorsitzenden ein Schreiben, in welchem
u. a. gesagt wurde , dafs eine Petition , wenn sie durch
nichts unterstützt sei , nicht auf Berücksichtigung seitens
der Kommission rechnen könne, dafs schon das Lesen der
langen Petition eine ziemliche Arbeit sei, und dafs jeder-
mann mit Recht erwarten dürfe, einen Lohn für seine
Arbeit zu sehen. Diesem deutlichen Winke folgend, ver-
-anstalteten die Studenten eine Sammlung und sandten das
Ergebnis derselben , einen 1000 Dollar-Scheck, an den ge-
nannten Vorsitzenden. Das Geld und das Gesetz ver-
schwand , ohne dafs die Studenten je wieder etwas davon
hörten. —
Diese Begebenheit ist ein kleines Musterbeispiel, wie es
gemacht wird. Wie diese Studenten im kleinen, so beein-
flussen die Kapitalisten im grofsen die Gesetzgeber. Die in
den Wandelgängen der Parlamentsgebäude sich tummelnden
Vertreter des Grofskapitals werden schlechtweg die „Lobby"
genannt; zu ihr gehören auch die berufsmäfsig mit der
Vermittlung solcher Geschäfte sich befassenden „Lobbyisten".
„Die Lobby herrscht!" so rief jüngst der Sprecher des
Repräsentantenhauses des Staates Missouri während einer
Sitzung. Es ist noch nicht lange her, dafs im gleichen
Staate drei Senatoren wegen Bestechung angeklagt wurden.
12*
180 Hintrager.
Dies kommt immer wieder da und dort vor. Die Haupt-
verhaudlung ergab, dafs der „Gesetzgebungsagent" der
Vereinigten Strafsenbahn-Gesellschaften 150000 Dollar, in
das Futter seines Rocks eingenäht, in die Hauptstadt
nahm und dort unter die professionellen Lobbyisten ver-
teilte, dafs ein Senator nach einer Kommissionssitzung
verschiedene Tausend - Dollarscheine bei einer Bank de-
ponierte u. dergl.
Derartige Vorkommnisse sind nicht etwa auf den
Kreis der Mitglieder gesetzgebender Versammlungen be-
schränkt; sie kommen ebenso vor bei städtischen Vertretern
wie unter den staatlichen und kommunalen Beamten. Die
Stadtverwaltung von New York z. B. hat in dieser
Hinsicht eine auch über die Grenzen der Union hinaus-
gehende Berühmtheit erlangt. Die in Chicago erscheinende
„Illinois-Staatszeitung" brachte vor einiger Zeit folgendes
Gedicht :
AneinenAlderman^).
0 stiehl, so lang' du stehlen kannst!
Stiehl alles, was du kriegst, geschwind —
Die Stunde kommt, die Stunde kommt.
Wo wieder neue Wahlen sind.
0 stiehl, so lang' du stehlen kannst,
Und schlage fromm die Augen auf,
Dann nennt man dich den Biedermann,
Und Ehren häuft man auf dich auf.
0 stiehl, so lang' du stehlen kannst —
Die Ehrlichkeit ist eitler Wahn;
Zwei Jahr nur bist du Alderman,
Dann kommen wieder andre dran.
^) = Gemeinderat.
XI. Parteien und Politik. 181
0 stiehl, so lang' du stehlen kannst,
Denn was nicht du stiehlst, nimmt sich dann
Doch der, der dir im Amte folgt —
Auch so ein braver Biedermann !
0 stiehl, so lang' du stehlen kannst —
Genier' dich nicht, nur zugefafst!
Die Stunde kommt, wo du beklagst,
Dafs du nichts mehr zu stehlen hast!
Öffentliche Gebäude und Arbeiten kosten daher ganz
enorme Summen. Das Capitol des Staats New York zu
Albany , das Rathaus der Stadt St. Louis , das County-
Court-Haus zu Carlin ville, Illinois, haben skandalöse Er-
bauungsgeschichten. — Noch viele Beispiele wären anzu-
führen ; allein ich will mich darauf beschränken , diese
wenigen typischen Tatsachen aus der Fülle des im einzelnen
nicht Feststellbaren zu erwähnen. —
Woher kommt diese Verdorbenheit, und was sagt das
Volk dazu ?
Die gesetzliche Notwendigkeit von häufigen Wahlen für
zahlreiche Stellen und Ämter barg von vornherein die Ge-
fahr des Entstehens einer Menschenklasse in sich, die mit
den Wahlen und der inneren Politik berufsmäfsig sich be-
fafst, da die Masse der Bürger nicht so viel Zeit für diese
Dinge hat. Eine solche Menschenklasse besteht in der
Union schon seit langer Zeit, die „Politiker" (politicians).
Zu dieser Klasse gesellte sich etwa seit der Präsidentschaft
Jacksons (1829) noch eine schlimme Gesellschaft, die
„Stellen- und Ämterjäger". Jacksons Anhang gab nämlich
die jedem Kinde hier bekannte Losung aus: „Dem Sieger
die Beute!", d. h. alle Ämter vergibt die im Wahlgang
siegende Partei. Seit Jackson ist auch die sogenannte
Rotation im Amte üblich geworden, d. i. die Neubesetzung
der Ämter nach der neuen Wahl, ein Grundsatz, der heute
182 Hintrager.
noch von vielen einsichtigen Amerikanern vertreten wird.
Der Mangel an Geschäftsroutine und Erfahrung im Amte,
so wird geltend gemacht, sei unter allen Umständen ein ge-
ringeres Übel als der Bureaukratismus.
Dieses Beutesystem erzeugte die „Ringe", d. h. die
geschlossenen Gruppen aller derer, denen die Politik nichts
weiter ist als die Jagd nach Ämtern. Ihr gemeinsames
Interesse am Sieg ihrer Partei verbindet und einigt sie,
meist unter strenger Führung eines schlauen Kopfes
(boss), da der bestorganisierte und disziplinierte Ring
naturgemäfs am mächtigsten zu wirken vermag. „Weshalb
anders sind wir hier, als wegen der Ämter?" rief einst
ein Mitglied eines solchen Ringes auf einer Partei-
versammlung. Das ist der Geist dieser Leute und zur-
zeit auch im wesentlichen der Geist, der im Kampfe
der Parteien waltet. Denn die zwei grofsen, an Zahl
ziemlich gleichen Parteien , die republikanische und die
demokratische, neben 'denen die kleineren verschwinden,
haben aufgehört, prinzipielle Gegensätze in bestimmten
Fragen zu bilden. Ihre Programme, meist inhaltlose all-
gemeine Phrasen, vermeiden es, eine bestimmte Haltung in
irgend einer Frage einzunehmen. Bei beiden Parteien sind,
wenn man das ganze Land in Betracht zieht, Schutzzöllner
und Freihändler, bei beiden sind die arbeitenden Klassen,
bei beiden die Bemittelten und die Unbemittelten ver-
treten. Einst war der Gegensatz der zentrifugalen und
zentripetalen Kräfte, der schon bei Gründung des Bundes
eine so grolVe Rolle gespielt hatte, das, was auch die
Haltung der zwei grofsen Parteien bestimmte. Mit dem
Sieg derUnionisten (Republikaner) über die sezessionierenden
Staatenrechtler (Demokraten) im Bürgerkriege ist vorerst
dieser Gegensatz in den Hintergrund getreten, und zur-
zeit haben die Parteien im wesentlichen nur noch Tra-
XI. Parteien und Politik. 183
ditionen. Ihr Hauptprogramm ist „die Patronage der
Regierung", wie man es hier nennt.
Die Wirksamkeit der Politiker, die der Amerikaner
bezeichnenderweise „die Maschine" nennt, ist ein fein aus-
gedachter Wahlmechanismus, ein zu einer Art Wissenschaft
ausgebildetes System der Wahlbearbeitung. Die Art, wie
hier eine Wahl gemacht wird, wie hier der Kandidat dem
Publikum auf jede Weise näher gebracht wird , zeugt von
einem auf Erfahrung gegründeten, tiefen Verständnis der
Masseninstinkte, neben welchem unsere heimische Tätigkeit
in dieser Richtung nur als ein schüchterner Versuch er-
scheint. Schon für die ja oft ausschlaggebende Auswahl
der Kandidaten wird der ganze Apparat der Maschine in
Bewegung gesetzt. Beginnt der eigentliche W^ahlkampf,
so wird der ganze Wahlbezirk durch die bienenartige
Emsigkeit der Politiker in Unruhe gebracht. In jedem
Stadtteil und Landl)ezirk werden Leute aufgestellt, die mit
allen Mitteln die Wähler zu beeinflussen haben. Er-
scheint dann der Boden hinreichend vorbereitet, um mit
Erfolg in der Öffentlichkeit auftreten zu können , dann
kommen jene grofsen Demonstrationen, die dem Sinn {und
der Empfänglichkeit für kaufmännische Reklame ent-
sprechen: Kolossale Massenversammlungen, stundenlange
Paraden und Massenumzüge mit Musik und Radau aller
Art, Fackelzüge, Plakatwagen, Transparente — davon sind
die Strafsen erfüllt Tag und Nacht. Reklame für die
eigenen und Hohn für die gegnerischen Kandidaten ist das
Feldgeschrei, das stark genug ist, um selbst die Trägsten
aufzurütteln. Die Presse und — nicht zuletzt — der
Kandidat selbst wirken mit aufserordentlicher Emsigkeit
mit. In Chicago sandte jüngst ein Kandidat für eine
Gerichtsschreiberstelle an alle Wähler seines Bezirks sein
Bild mit Lebenslauf und ein ausführliches Schreiben, in
184 Hintrager.
dem er sieh warm empfahl. Mit steigender Erregung
stellen sich auch die unlauteren Mittel des Kampfes ein :
Nicht nur Wahllügen, sondern auch Naturalisations-
fälschungen, falsche Registrierung von Stimmberechtigten,
„Kolonisation" von Wählern im Wahldistrikt, Bestechung
u. dergl. werden angewendet. Auch die sogenannte „Wahl-
geometrie" , d. h. die für die Partei günstige Einteilung
der Wahlbezirke, ist ein beliebtes Mittel. Wie der kauf-
männische Konkurrenzkampf, so wird auch der Wahlkampf
geführt, heifs, rücksichts- und gewissenlos.
Wer in diesem Kampf Dienst tut, wird bezahlt, ent-
weder mit Geld aus dem von den Kandidaten und den
Parteimitgliedern aufgebrachten Campagnefonds oder
durch ein Amt oder eine Stellung. Dafs jemand ohne Lohn
arbeitet, und wäre es auch für allgemeine Zwecke, das
erwartet in diesem Lande niemand. Dies, im Zusammen-
hang mit der Natur der zu leistenden Dienste, erklärt,
dafs sich die Klasse der Politiker im grofsen und ganzen,
namentlich in gröfseren Städten, aus Menschen rekrutiert,
mit denen der gute Teil der Bürger nichts zu tun haben
will, und dafs der zum Beamten gewählte Politiker im
Amt darauf zu sehen pflegt, wie er zum mindesten
seine Wahlunkosten decke. Der Name „Politician" hat
etwas Anrüchiges. Die guten Bürger halten sich von
der Politik ziemlich fem, pflegen insbesondere nicht nach
öfi'entlichen Ämtern zu trachten. Das Leben aufserhalb
der politischen Sphäre bietet mehr anziehende Möglich-
keiten als die meist mittelmäfsig bezahlten Ämter. Auch
lassen die Politiker einen Ehrlichen nicht leicht auf-
kommen.
Dafs das Volk diese Zustände erträgt, und schon lange
erträgt , gehört zu den Dingen , die , glaube ich , nur der
versteht , der lange im Lande gelebt hat , und die auch
XI. Parteien und Politik. 185
nur dieser ganz wird erklären können. Nicht als ob die
Korruption, die übrigens nicht überall im gleichen Mafse
vorhanden ist, nur im stillen arbeitete! Im Gegenteil, sie
ist allgemein bekannt, und der einzelne Fall bleibt bei
der Öffentlichkeit aller Verhältnisse selten lange geheim.
Immer wieder bringt die Presse neue Skandale dieser Art;
Tageszeitungen und Witzblätter überbieten sich an Dar-
stellungen des unlauteren Treibens von Volksvertretern
und Beamten. Wohl arbeiten schon seit Jahrzehnten
die besseren Elemente, namentlich der gewissenhafte
Deutsche hier, dem Übel entgegen (Civil Service Reform-
bewegung, Good Government Clubs usw.). Es ist auch
manches gebessert, schon manches Amt dem Zugriff der Poli-
tiker entzogen worden. Allein noch ist es nicht gelungen,
wesentliche Änderungen herbeizuführen. Der einzelne
Bürger schaut dem Treiben der Politiker zu, meist mit
lächelndem Optimismus; er hat nicht Zeit, sich auch noch
um diese Dinge zu kümmern, er sagt wohl auch, wie ich
hier oft hörte : „Das ist das Geschäft der Politiker und
nicht das meinige", und huldigt einer fatalistischen Unter-
werfung unter die Majorität, die nach Jefferson das Lebens-
prinzip der Republiken ist. Er beruhigt sich mit dem
Gedanken, dafs im Grunde das Volk selbst die Schuld an
allem trägt, da es ja ehrliche Männer wählen kann. Vor
allem aber: er spürt die Mifswirtschaft, die mit den öffent-
lichen Mitteln getrieben wird, nicht oder kaum am eigenen
Beutel. Im reichen Hause können die Dienstboten viel
stehlen, bis es dem Hausherrn wehe tut. Dazu kommt,
dafs fast nur das sichtbare, also vor allem das unbeweg-
liche Vermögen, richtig fatiert zu werden pflegt, während
das bewegliche Eigentum in weitestem Umfang der Be-
steuerung entzogen wird.
Nur dann und wann, wenn das Treiben der Politiker
18(3 Hintrager.
gar zu bunt wird, regt sich das Volk. Dann zeigt es,
dafs von ihm alle Macht im Staate hergeleitet wird. Ein
oft plötzlicher Umschwung der öffentlichen Meinung
stürzt den Beamten; wie im Sturm fegt eine Wahl den
boss und seine Söldner weg. Dann ist die Luft wieder
geklärt, und der Kampf des Guten und des Bösen beginnt
von neuem.
XII. Die öirentliche Meinung* und
die Presse.
„Mit der öffentlichen Meinung für
sich gelingt alles; mit der öffent-
lichen Meinung gegen sich gelingt
nichts." Lincoln.
Atlantic City.
Auch Amerika hat seinen Zaren; er heifst öffentliche
Meinung. Sie regiert, sie erhebt zur Macht, sie stürzt
den Höchsten über Nacht. Sie ist die unsichtbare Macht,
der jeder huldigen mufs, welcher Erfolge haben will. Sie
steht über Präsident und Kongrefs, über den Staats-
gouverneuren und Legislaturen. Alle schauen auf sie
und, was das Wunderbare ist, alle glauben an sie,
glauben daran, dafs sie am Ende stets das Gute und das
Rechte treffe. Lincoln , der zweite im Herzen des Volkes
nach Washington, hat diesem Glauben den charakteristischen
Ausdruck gegeben, der ebenso wie der oben zitierte Aus-
spruch zu den geflügelten Worten hier gehört: „Alle Leute
kann man eine Zeitlang zu Narren haben (fool), einige
Leute kann man allezeit zu Narren haben. Aber alle
Leute allezeit zu Narren haben, das kann man nicht."
Wie die Verfassung, so ist auch die öffentliche Meinung
der Ausdruck des Willens des souveränen Volkes. In der
Verfassung hat das Volk seinen Willen im allgemeinen
niedergelegt, hat gewisse, für alle Zeiten bestimmte Regeln
und Grundsätze aufgestellt, nach denen es regiert sein
will. Durch die öffentliche Meinung bringt das Volk seinen
188 Hintrager.
Willen im einzelnen Fall zum Ausdruck, fordert gleich-
sam: In diesem konkreten Falle soll das und das geschehen.
Die öffentliche Meinung hat also eine wichtige Funktion
im gesamten Staatsorganismus. Sie ist der oberste Schieds-
richter, wenn Konflikte und Zweifel in öffentlichen An-
gelegenheiten entstehen, insbesondere bei Parteikonflikten.
Weil alle Macht vom Volke hergeleitet ist, beugen sich
vor seinem Willen alle, vornehmlich die, die Macht haben
oder begehren. Es bindet sie die Rücksicht auf die
nächste Wahl.
Einige Beispiele aus dem Leben werden diese Herrschaft
der öffentlichen Meinung veranschaulichen.
Als der Bürgerkrieg mit dem völligen Sieg des
republikanischen Nordens über den demokratischen Süden
geendigt hatte und sich die schwierige Frage der Be-
handlung der Sezessionsstaaten erhob, verlangte die
republikanische Partei die Anwendung äufserster Strenge.
Die meisten Republikaner wollten die Südstaaten als er-
obertes Gebiet behandelt sehen , Jefferson Davis und Lee
sollten gehängt und die anderen Rebellenführer exemplarisch
bestraft werden. Eine Zeitlang wurden auch strenge Mafs-
regeln ergriffen; die republikanische Partei hatte die
Herrschaft im Kongrefs. Aber bald erhoben sich Stimmen
dagegen, immer lauter und einstimmiger verlangte das
Volk Nachsicht, Vergeben und Vergessen der Feindselig-
keiten, und die republikanische Partei wurde, trotz ihres
bedeutenden Übergewichtes, durch die Rücksicht auf die
eigene Popularität gezwungen, dem Süden gegenüber gröfste
Milde walten zu lassen. Dafs dies sehr gut war, hat die
Geschichte gezeigt.
Als sich während des spanisch-amerikanischen Krieges
herausstellte, dafs einzelne Armeelieferauten schlechtes
Konservenfleisch geliefert hatten, erhob sich ein Sturm der
XII. Die öflfentliche Meinung und die Presse. 189
Entrüstung im ganzen Lande, dem als erster der Kriegs-
minister Mc. Kinleys, Alger, zum Opfer fiel. Ohne die
Frage seiner Schuld zu prüfen , machte die öffentliche
Meinung ihn verantwortlich, die gesamte Presse fiel über ihn
mit amerikanischer Freiheit her, und Mc. Kinley mufste
ihn entlassen , wollte er nicht selbst seine Popularität
riskieren. Ein hiesiges Witzblatt stellte damals den grofsen,
hageren Uncle Sam dar, der zu dem wie ein Liliputaner
vor ihm stehenden Mc. Kinley mit warnend erhobenem
Finger sagt: „Wenn du mir diesen Algerbuben nicht fort-
schickst, werden wir Schwierigkeiten miteinander haben."
Im Hintergrunde des Bildes safs der Kriegsminister Alger
auf einer grofsen Konservenbüchse mit der Aufschrift:
„Einbalsamiertes Ochsenfleisch".
Die öffentliche Meinung trieb Mc. Kinley zum Krieg
mit Spanien , wie sie einst den Präsidenten Grant ver-
hinderte, San Domingo zu annektieren.
Anschaulicher ist ihre Wirksamkeit im kleineren
Kreise: Der Gemeinderat der Stadt New York gab vor
einigen Jahren einer Strafsenbahngesellschaft das Recht,
in der Amsterdam- Avenue ein viertes Geleise zu legen.
Die schon in Angriff genommene Legung des Geleises
mufste unterbleiben, da die ganze Bevölkerung der Stadt
wie ein Mann sich dagegen erklärte. Selbst in den
Kirchen wurde dagegen gearbeitet, und auch die Presse
mufste der allgemeinen Stimmung folgen. In einer Zeitung
las ich damals unter den kirchlichen Nachrichten einen
langen Artikel mit der Überschrift: „In den Kirchen der
Ostseite wird gegen das vierte Geleise in Amsterdam-
Avenue gepredigt."
Ebenso erging es einem Asche- und Abfalldepositorium,
das an der Strafse Riverside Drive in New York errichtet
werden sollte. Hier waren e^ vor allem die Frauen, welche
190 Hintrager.
Opposition machten und den Strom der öffentlichen Meinung
dagegen lenkten.
Ein New Yorker Richter machte sich durch eine Ent-
scheidung so unbeliebt, dafs nicht einmal seine eigene
Partei es wagte, ihn wieder als Richterkandidaten vorzu-
schlagen. Einem von Hause nicht vermöglichen Kongrefs-
mitglied, das sich in Washington ein sehr elegantes Haus
gekauft hatte, erging es ebenso, als eines Tages alle
Blätter Bild und Kaufpreis seines Hauses und die ver-
hältnismäfsig geringe Summe seiner Bezüge als Kongrefs-
mitglied brachten.
In einer Stadt des jungen Westens, wo die Verehrung
der Frau in dem Mafse steigt, als sie seltener wird, schlug
ein Mann seine Frau. Die öffentliche Meinung erhob sich
so einmütig gegen ihn, dafs sämtliche Tageszeitungen der
Stadt ihm ankündigten, dafs er im Wiederholungsfalle die
Stadt verlassen müsse.
Gewifs ist auch bei uns in Deutschland die öffentliche
Meinung eine Macht. Wo in der Welt nimmt man nicht
Rücksicht darauf, „was die Leute sagen"? Das Gefühl,
das von Mund zu Munde geht, berücksichtigt auch bei
uns der einzelne meist aus politischen oder wirtschaftlichen
Gründen. Allein in keinem modernen Staate hat die
öffentliche Meinung eine so bedeutende Macht wie in der
Union. Nirgends kann sie so wohl studiert werden. Hier
schauen die jeweils Regierenden, die Inhaber der gesetz-
gebenden, der ausführenden und auch der richterlichen
Gewalt, fortwährend auf Äufserungen der öffentlichen
Meinung und richten sich nach ihr. Das Volk übt eine
wachsame Aufsicht aus über alle öffentlichen Angelegen-
heiten. Es betrachtet sich als den Herrscher und die Re-
gierenden als seine Diener. Darin liegt der fundamentale
Unterschied des Lebens dies- und jenseits des Atlantischen
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse. 191
Ozeans, den jeder Europäer alsbald empfindet, wenn er
amerikanische Luft atmet, die lebhafte Anteilnahme des
Volks an allen öifentlichen Angelegenheiten sieht und eine
Zeitung liest. Dafs der einzelne an der Bildung der
eigenen Meinung arbeitet und dadurch mitwirkt bei der
Bildung der öffentlichen Meinung, dazu führt und zwingt
ihn der Geist des Lebens hin. Ergreift dieser doch den
Eingewanderten bald mit solcher Macht, dafs auch er an
diesem subtilen Prozesse Anteil nimmt, lange ehe seine
Meinung durch das Stimmrecht praktischen Wert erlangt.
Die Schule , die in allererster Linie zu amerikanischen
Bürgern erziehen will; der immer noch mehr oder weniger
koloniale Typus des Lebens, den Selbständigkeit und
Selbstvertrauen des einzelneu charakterisiert; die lange
Übung der Selbstregierung, die durch häufig wiederkehrende
Wahlen in dem Individuum immer wieder das Gefühl
weckt: „Ich habe mitzuentscheiden"; endlich die grofsen
Anforderungen des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes und
eine überaus tätige Presse, die alles an die Öffentlichkeit
zieht, — alles wirkt dahin, eine Masse rein praktischen
Wissens im Kopfe des einzelnen anzusammeln. Welche
Früchte das Zusammenleben solcher Individuen zeitigt, das
habe ich in meinen bisherigen Schilderungen des amerika-
nischen Lebens zu zeigen versucht.
Nicht als ob die öffentliche Meinung hier eine Summe
wohlüberlegter Ansichten wäre, von aufgeklärten Individuen
selbständig gebildet. Wohl ist es wahr, dafs das
amerikanische Volk ein sehr hohes Durchschnittsmafs
praktischer Kenntnisse und grofse politische Keife besitzt.
Allein auch hier ist die öffentliche Meinung eine Mischung
von Verständnis und Unsinn, von Vorurteil und Ge-
rechtigkeit, von Schwachheit und Zeitungsklatsch. Auch
hier entscheidet die Masse mehr nach dem Gefühl als
192 Hintrager.
nach dem Verstände; das Interesse, der Vorteil bestimmt
meist Meinung und Tat. Der einzelne hört oder liest
von einer Begebenheit, er spricht mit anderen darüber, er
liest die Urteile der Presse, er bewegt wohl auch die An-
gelegenheit mehr oder weniger in seinem Innern, — und
wie wenig von alledem, was dann als eigene Meinung er-
scheint, ist in Wahrheit eigenes Erzeugnis! Wie wenige
haben Zeit und Lust und Wissen, sich ein Urteil zu
bilden! Wie oft fehlt die Möglichkeit, auch nur die Vor-
aussetzung des Urteils festzustellen, den Tatbestand!
Und trotzdem ist hier die öffentliche Meinung eine
solche Macht Nicht die Weisheit hat sie für sich, aber
die Kraft; denn in diesem jungen Lande ist sie nicht die
Meinung von Klassen, sondern die Meinung der Masse, des
ganzen Volkes. Noch ist das Land, von verhältnismäfsig
geringen Ansätzen im Osten abgesehen, frei von Klassen-
bildung und Klassengegensätzen. Alles ist noch in
lebendigem Flusse; der Arbeiter ist morgen Arbeitgeber,
der Arme morgen reich und umgekehrt, der Beamte bald
wieder Privatmann. Daher ergreift der Eindruck des
Augenblicks viel gröfsere Massen des Volkes in gleicher
Weise, als in alten Kulturstaaten. Und diese Massen ent-
scheiden mit dem Stimmzettel über die Wahl des
Präsidenten sowohl als irgend eines Gerichtsvollziehers.
Endlich, — und das ist ein wesentlicher Grund der Macht
der öffentlichen Meinung — alles glaubt an sie. Alles ver-
traut auf die Richtigkeit ihrer Entscheidung. Der Glaube,
dafs niemand auf die Dauer das Volk täuschen könne, dafs
am Ende das Volk stets das Richtige finden werde, ist
allgemein. Wohl mögen da und dort einzelne sein , die
anders denken, die mit Elisabeth in Schillers „Maria
Stuart" fühlen: „0 Sklaverei des Volksdienstes!" Allein
sie werden sich hüten, das zu sagen. Wie der einzelne
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse. 193
Amerikaner voll Zuversicht und Selbstvertrauen ist, so
sind es auch die Massen in naturgemäfs erhöhtem Grade.
Nicht vom „Staate" reden sie, der dies gemacht hat und
jenes machen wird oder soll, sondern von: „wir".
Zu den Folgen der Macht der öffentlichen Meinung
gehört vor allem das Buhlen um die Volksgunst. „Dem
Volke wird geschmeichelt wie einem Herrscher" (Aristo-
teles), Je mehr einer vom Volke zu erwarten hat, desto mehr
schmeichelt er ihm. Macht der Präsident eine Popularitäts-
reise, so sagt er den Farmern in Süd -Dakota, was die
Bundesregierung für die Landwirtschaft getan habe,
tue und tun werde; den Arbeitern in einem Industrie-
bezirke hält er eine Rede über ihre hervorragende Tüchtigkeit
und kündigt die Erlassung von Mustergesetzen zugunsten
der Arbeiter im Distrikt of Columbia an , und in Jowa
bewundert und küfst er Hunderte von Babies, um der
Mütter Gunst nicht zu verscherzen. Der gefeierte Grant
sagte vor seiner Wahl zum Präsidenten : „Dem Präsidenten
als einem blofsen Verwaltungsbeamten liegt es stets ob,
den Willen des Volkes zur Geltung zu bringen," und
Buchanan versprach gar dem Volke vor seiner Wahl zum
Präsidenten die Annexion von Cuba. Journalisten, Redner,
Beamte, Politiker, alle sagen dem Volke, was es gerne
hört. In der Einleitung seiner Botschaft an den Kongrefs
vom Dezember 1902 sagte der Präsident z. B. folgendes:
„Diese Nation wohnt auf einem Kontinent zwischen
zwei grofsen Meeren. Sie setzt sich zusammen aus den
Nachkommen von Pionieren oder, in gewissem Sinne, aus
Pionieren selbst; aus Männern, welche gleichsam ausgesiebt
wurden aus den Völkern der Alten Welt durch die
Energie, Kühnheit und Abenteuerlust, die sich in ihren
stürmischen Herzen fand. Eine solche Nation auf einem
solchen Boden mufs dem Schicksal den Erfolg abringen.
Hintrager. 13
/
194 Hintrager.
/ — Als ein Volk haben wir eine grofse Rolle in der Welt
gespielt, und wir sind im Zuge, unsere Zukunft noch
gröfser zu gestalten als die Vergangenheit. Insbesondere
haben die Ereignisse der letzten vier Jahre endgültig ent-
schieden, dafs unsere Stellung grofs sein mufs unter den
Nationen. Mögen wir grofse Mifserfolge haben oder grofse
Erfolge, wir können den Aufgaben nicht aus dem Wege
gehen, von denen grofse Erfolge oder Mifserfolge kommen
müssen. Selbst wenn wir wollten, wir können keine kleine
Rolle spielen. Sollten wir es versuchen, die Folge würde
nur die sein, dafs wir eine grofse Rolle schlecht und ohne
Ehren spielen würden.
Aber unser Volk , die Söhne der Männer des Bürger-
kriegs, die Söhne von Männern, die Eisen in ihrem Blute
hatten, freut sich der Gegenwart und schaut in die Zu-
kunft mit gehobenem Herzen und starkem Willen. Das
Bekenntnis des Schwächlings und des Feigen ist nicht das
unsrige ; unser ist das Evangeliuin der Hoffnung und trium-
phierenden Strebens. Wir schrecken nicht zurück vor dem
Kampfe vor uns. Viele Probleme liegen vor uns am An-
fang des 20. Jahrhunderts, — ernste Probleme, besonders
im Innern; aber wir wissen, dafs wir sie gut lösen können,
vorausgesetzt, dafs wir ihrer Lösung die Eigenschaften
von Kopf und Herz entgegenbringen, welche jene Männer
besafsen, die in den Tagen Washingtons diese Regierung
gründeten und in den Tagen Lincolns sie erhielten.
Kein Land hat jemals einen höheren Grad materieller
Wohlfahrt erreicht als das unsrige gegenwärtig. Diese
Wohlfahrt ist nicht plötzlichen oder zufälligen Ursachen
zuzuschreiben, sondern dem Spiel der wirtschaftlichen
Kräfte in diesem Lande seit mehr als 100 Jahren, unseren
Gesetzen, unserer konstanten Politik und vor allem der
durchschnittlich hohen politischen Reife unserer Bürger."
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse. 195
In dieser Weise werben die Führer um die Gunst der
«ifentlichen Meinung, um welche gelegentlich auch fremde
Mächte sich bemühen.
Am mächtigsten spricht die Stimme des amerikanischen
Zaren durch die_ Presse. Wohl haben auch öffentliche
Versammlungen, Wahlen, Reden und Aussprüche hervor-
ragender Menschen als Organe der öffentlichen Meinung
ihre Bedeutung. Allein ihr einflufsreichstes Organ ist die
Presse. Sie ist hier ein überaus wichtiger Faktor des
Lebens und zugleich etwas so spezifisch Amerikanisches,
dafs man sagen kann, das Verständnis einer amerikanischen
Zeitung ist geradezu ein Mafsstab des Verständnisses des
ganzen Landes und Volkes. Schon von alters her spielt
die Presse hier eine grofse Rolle, und sie hat sich wegen
der zwischen ihr und der öffentlichen Meinung bestehenden
Wechselwirkung zu einer Macht entwickelt, gröfser als in
irgend einem andern Lande. Kein Land hat so viele
Zeitungen wie die Vereinigten Staaten. Sie haben über
20000 Zeitungen und Zeitschriften, auf der ganzen Welt
gibt es deren (nach Rowells Zeitungsalmanach) zurzeit
etwa 50 000. Sie bestehen dank der grofsen Reklame,
die hier als ein Zeichen guten Geschäftssinnes gilt, und
dank ihrer Massenverbreitung. Ich bin in kein amerika-
nisches Haus gekommen, in dem nur eine Tageszeitung,
von Zeitschriften, Wochenschriften u. dergl. abgesehen, zu
finden gewesen wäre, selbst Alexanders Farm nicht aus-
genommen. Kirchen, Schulen, Strafanstalten haben ihre
eigenen Zeitungen ; auf Mississippi-Dampfern gibt es solche.
Wie der Amerikaner den Tag mit Zeitungslesen beginnt
und beschliefst , davon weifs jeder zu erzählen , der auch
nur kurze Zeit in diesem Lande war. Nirgends bieten
auch die Zeitungen so viel wie hier. Betrachten wir ein-
mal in behaglicher Ruhe eine hiesige Tageszeitung mit
13*
196 Hintrager.
ihrem grofsen Umfang, ihren schreienden Artikelüberschriften
und ihrem mannigfaltig zugerichteten, reich illustrierten
Stoif I Sie enthält alles Erfindliche und Unerfindliche, was
nur irgend jemand interessieren kann. Und alles ist im
Interesse des Massenabsatzes dem Sinn und Geschmack
der Massen angepafst.
1 Da ist zunächst eine Fülle von Auslandsnachrichten,
[ spaltenlange Telegramme, die den einzelnen Zeitungen
1 durch die an allen bedeutenderen Orten der Welt be-
1 findlichen Vertreter der „Assoziierten Presse" zugehen; sie
berichten über die Kaisertage in Kopenhagen, über Pariser-
klatsch, über die Stimmung in den Balkanstaaten , über
das, was an irgend einem Platze der Welt geschieht,
ebenso ausführlich wie über die Dinge in den Vereinigten
Staaten und meist mehr ins einzelne gehend als die
europäische Presse. Denn das amerikanische Publikum
will alles bis ins einzelne wissen, es hungert nach Neuig-
keiten und begnügt sich nicht mit kurzer Wiedergabe
nackter Tatsachen, vor allem, wenn es sich um Dinge
handelt, die die Interessen der Vereinigten Staaten irgend-
wie berühren. „Unsere Flagge wird in vielen Ländern
geehrt. Überall feiern die Fremden mit uns den Geburts-
tag der Nation", so lauten die grofsen Überschriften der
seitenlangen telegraphisehen Berichte darüber, wie der
4. Juli, der Tag der Unabhängigkeitserklärung, in allen
bedeutenden Städten der Welt gefeiert wurde. „Frank-
reich ist uns herzlich wohlgesinnt" , steht über dem Tele-
gramm aus Paris, das die Teilnahme der Pariser Gesell-
schaft an der Feier beschreibt. „Die amerikanische
\ Diplomatie ist der Gesprächsgegenstand der Zeit. Die
meisterhafte Erledigung der Venezuela - Angelegenheit ist
der gröfste diplomatische Erfolg seit Jahren". Mit diesen
Überschriften werden Berichte aus London, Berlin,
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse. 197
Paris usw. über diesen Gegenstand eingeleitet. Nicht allein
grofse Ereignisse, wie z. B. die Schlacht von Sedan, deren
genaue Beschreibung schon am Morgen nach der Schlacht
in allen amerikanischen Zeitungen zu lesen war, sondern
auch, dafs die Zarin bei einem Ball eine „Drei Millionen-
Dollar-Kleidung" trug, dafs „das merkwürdige Benehmen
der Prinzessin von Wales gegen ihren Gatten in ganz
Europa Aufsehen macht" , dafs „der Deutsche Kaiser in
Kopenhagen lange mit dem sozialistischen Bürgermeister
sich unterhielt, und dafs er den einsamen Mädchen von
Krefeld zuliebe ein Husarenregiment dorthin in Garnison
schickt" , all das ist in der Zeitung hier zu lesen. Von
allen Fürstlichkeiten Europas, für die der Amerikaner ein
besonderes Interesse hegt , ist keine so sehr der Gegen-
stand der Neugier als unser Kaiser, den Volk und Presse
hier schlechthin „the Kaiser" nennen. Über sein Leben
mufs die Zeitung dem amerikanischen Volke immer von
Zeit zu Zeit in Wort und Bild berichten; da ist ausführlich
zu lesen, dafs er keine englischen Austern mehr auf seinem
Tische haben will , sondern nur holländische und dänische,
wie die kaiserliche Prinzessin in ihrer eigenen Küche ihre
erste Omelette zubereitete, wie der Kaiser auf seiner
Nordlandreise sich mit seiner Begleitung amüsierte. Unter
der Überschrift „Amerikanische Manieren für den künftigen
Kaiser" las ich einst, dafs der Kaiser sich von der Gräfin
Waldersee (geborene Amerikanerin) habe versprechen
lassen , dafs sie sieh des Kronprinzen annehme , wenn er
nach Hannover auf die Reitschule komme.
Weitaus den gröfsten Teil der Zeitungen nehmen die
zahlreichen Telegramme aus Stadt und Land ein. Wie ein
Spürhund, der alles aufstöbert, berichtet die Presse zu-
nächst über jede Kleinigkeit, die in irgendeinem öffent-
lichen Amte und Institute geschieht. Da ist zu lesen,
198 Hintrager.
was der Pfarrer Dawson gegen das Radfahren in der
Kirche gesagt hat, welche Verfügungen der Staatsanwalt
in einem Prozesse getroffen hat, dafs die Schüler und
Schülerinnen des Gymnasiums am Freitagabend einen
Diskussionsabend über Schutzzoll und Freihandel hatten.
Nichts unter der Sonne ist sicher davor, dafs nicht eines
Tages ein Vertreter der Presse es in Augenschein nimmt
und an die Öffentlichkeit bringt. „Arbeitsszenen und
Arbeitsmethoden in unserem Postamte, unserem Amts-
gerichte, unseren Strafanstalten, bei unserer Feuerwehr"
bringen das Ergebnis von Besuchen eines Prefsvertreters,
dessen Augen scharf sind und dessen Fragen tausendfach.
Selbst im Kriege kann man in den Zeitungen innere Ver-
fügungen der Heeresorgane schon vor der Ausführung
lesen. Die Findigkeit der Presse führt oft zur Entdeckung
von Verbrechen und Verbrechern ; denn sie wirkt mit ihren
Illustrationen und genauen Berichten als wie ein aus-
führliches Fahndungsblatt. „Die Polizei sucht nach
Barrington" , — Bild und Handschriftfaksimile ist bei-
gefügt, — „Wie der Strafanstaltsvorstand Brockway seine
Gefangenen behandelt", „Der schwere Dienst unserer
Feuerwehrleute, sie wachen für uns", „Wie Dr. Runge
seine Kranken in der Irrenanstalt nach modernen Prin-
zipien behandelt", „Was unsere Truppen im Felde zu
essen bekommen", „Admiral Dewey hat grofse Flotten-
pläne, er hat Fehler unserer Schiffe beim Manövrieren
entdeckt", „Die Bewohner unseres Altenheims erleben fried-
liche Tage'; sie haben wenig Vergnügen, aber die wohl-
verdiente Ruhe nach vielen Jahren des Kampfs" : Das
sind Beispiele von Inhaltsangaben, wie ich sie hier über
Zeitungsartikeln gelesen habe. Und der Inhalt solcher
Artikel ist stets ein sehr persönlicher. Die Bilder und
Lebensläufe der betreffenden Personen und was sie dem
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse. 199
Berichterstatter sagten, wird wiedergegeben meist mit irgend
einer schmeichelhaften Bemerkung. Niemand ist hier so
unbedeutend, dafs er nicht bälder oder später einmal in der
Zeitung seines Orts eine Rolle spielte. Aber neben diesen
kleinen Liebenswürdigkeiten, die sich wohl bezahlt machen,
findet sich schärfste Kritik und rücksichtsloseste Publizität
überall da, wo die Presse die öffentliche Meinung hinter
sich zu haben glaubt. Eine St. Louiser Zeitung brachte
eines Tages einen Artikel mit der Überschrift: „Nehmt
Euch vor dem Schulsuperintendenten Carrington in acht!
Er schreibt allen Lehrern und Lehrerinnen Briefe, dafs
sie eine Petition für ein gewisses Gesetz unterzeichnen
sollen, das sie nie gesehen haben". Eine andere Zeitung
schrieb von den Stadträten von St. Louis: „Sie handeln
wie Narren ; einige werden wahrscheinlich ins Gefängnis
wandern wegen Unterschlagung", und von den Mitgliedern
des Kongresses: „Der Fabrikation des ,Grösser New York'
kommt nur gleich das Verlangen einzelner Kongrefs-
mitglieder nach einem gröfseren Diebstahl". In den Blättern
sind Bilder und Namen von Senatoren zu finden mit der
Überschrift: „Angeklagt wegen Bestechung!" — „Ein Ver-
treter unserer Zeitung findet die Polizei, wie sie dem ver-
botenen Glücksspiel zusieht. Der Sohn des Polizeichefs
Kelly spielt mit. Viele Zeugen sagen, sie mufsten sich
ihre Straflosigkeit von der Polizei erkaufen", „Der Straf-
anstaltsdirektor Brockway prügelt seine Gefangenen", „Der
Napoleon Mc. Kinley soll für seine Aufstellung als Kan-
didat teuer bezahlt haben" : also bellt der Wachthund
„Presse".
Nicht minder grofs ist die Publizität aller Verhältnisse
im wirtschaftlichen Leben, das hier auch in der Presse
eine gröfsere Rolle spielt als in alten Kulturländern. Die
Zeitungen geben die monatlichen Ein- und Ausfuhrziffern
200 Hintrager.
wieder, den am ersten jeden Monats vorhandenen Bar-
vorrat an Gold und Silber im Staatsschatze und den Be-
trag der Staatsschuld (Public debt Statement), sowie all-
jährlich die Handelsbilanz der Nation. Aufser diesen
regelmäfsig wiederkehrenden Daten veröffentlichen sie eine
Masse Einzelheiten aus dem wirtschaftlichen Leben der
Union und des Auslandes: dafs die Oststaaten nach Münze
verlangen; welche Pläne der Finanzminister hat, um das
Problem zu lösen; dafs in London ein grofser Handel in
United States Bonds ist, und dafs die Eisenbahngesellschaften
des Landes sich der Besteuerung nach Kräften entziehen.
Ein Kaufmann erhält einen Brief aus Chemnitz , der An-
gaben über die Löhne von Arbeitern in dortigen Schuh-
fabriken enthält. Ein Berichterstatter einer schutz-
zöllnerischen Zeitung hört hiervon und macht aus dem
Brief einen langen Artikel , der mit dem Argument
endigt: Dank unserem Schutzzoll haben unsere Arbeiter
bessere Löhne als die deutschen. Eine bildliche Darstellung
all dessen, was in den verschiedenen Distrikten eines
Staates produziert wird, Statistisches über die Entwicklung
von Bevölkerung, Handel und Reichtum der Kulturmächte
ist von Zeit zu Zeit in der Zeitung zu lesen.
Ein sehr ergiebiges Feld der Tätigkeit der Presse ist
das Privatleben und der Lokalklatsch, der ja überall für
die Massen von besonderem Interesse ist. Hier ist niemand
vor einem Reporter sicher, und lebe er auch noch so
zurückgezogen. Kommen doch die Reporter schon vor der
Landung an Bord der Dampfer um festzustellen, wer da
kommt, woher, wozu er kommt, wohin er geht u. s. f. Wer
einen Berichterstatter abweist, kann erleben, dafs er bald
etwas ihm Unangenehmes in der Zeitung liest. Sein
Schweigen mag gegen ihn gedeutet werden. Das Volk
kann die Geheimnisse nicht leiden. Als dei- südstaatliche
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse. 201
General Lee in Washington den ihn belagernden Vertretern
der Presse hartnäckig ein Interview verweigerte, las er als-
bald in allen Blättern : „Gespräche mit General Lee". Die
Leute wollten von ihm etwas lesen, daher raufste die Zeitung
etwas bringen. Als ich in Boston in Begleitung eines
Strafanstaltsvorstandes durch ein Gefängnis ging und jener
einige Fragen an einen Gefangenen richtete, antwortete
dieser mit einem Blick auf mich: „0 bitte, bringt mich
nicht in der Zeitung!" (Er hatte mich für einen Reporter
gehalten.) Denn auch der Verbrecher wird „interviewed".
„Er findet sein jetziges Leben sehr verschieden von dem
Leben früher, da er noch mit Geld gefüllte Koffer hatte",
berichtet dann die Zeitung. Als der junge Rockefeller
sich einst auf dem Wege zu seiner Sonntagsschulklasse von
zwei Detektiven begleiten liefs, brachte die New Yorker
Presse dies mit folgendem Kommentar: „Ist das sein Ver-
hältnis zum Nebenmenschen? Meint er, mit Furcht und
Argwohn werde er je glücklich werden?" Und als er in
der Sonntagsschule das Wort Christi an den reichen Jüng-
ling auf seine Art erklärte , brachten tags darauf die
Zeitungen eine Unterredung ihres Vertreters mit Tolstoi
über Rockefellers Erklärung.
Eine Zeitungsblütenlese wird diese Seite und Art der
Prefstätigkeit veranschaulichen :
„Ella Seifert, Zimmermädchen im Madison-Hotel, fand
im Hotel 4000 $ und gab sie dem Eigentümer zurück.
Dieser, Mr. Bradley, bedankte sich nicht." Dem eine
Spalte langen Artikel ist das Bild des ehrlichen Mädchens
beigefügt.
„Bild und Beschreibung des Schuhs, der in St. Louis
für die Frau des chinesischen Weltausstellungskommissars
gemacht wurde."
„Die Studentinnen von Harvard veranstalten Diners
202 Hintrager.
in Nachtgewändern; ein Angriif der Studenten wird mutig
zurückgesehlagen."
„Unsere neuerwählten Beamten in Stadt und Bezirk."
Es folgen Bilder und Lebensläufe derselben.
„Dem Friedrich Heer gingen die Esel durch, als er
nach der Kirche fuhr; er brach den Arm."
„Unsere beste Schwimmerin in der Stadt, Mifs Etta
Wilson. Sie gibt Ratschläge, wie man schwimmen lernen
soll." Dem Artikel ist ihr Bild im Schwimmanzuge bei-
gefügt.
„Rechtsanwalt Michel in der sechsten Strafse hat
sieben Stenographinnen und liebkost sie alle; er ist nicht
wählerisch, denn sie sind alle nett; die Hausmieter be-
klagen sich und meinen, er brauche eine Frau, die nach
ihm sieht."
„Der fürchterliche Brand des Windsor-Hotel." Wenige
Stunden nach dem Brande bringen die Zeitungen hierüber
schon eine ganze Seite mit Bildern.
„Wie unsere jungen Leute das Geld verdienen, um an
der Washington-Universität zu studieren", so ist ein Auf-
satz überschrieben, der die Studenten rühmend aufzählt,
die durch Stundengeben, Schreiben, landwirtschaftliche und
häusliche Dienste ihre Studiengelder verdienen.
„Bei einer Parade wird der ledige Gouverneur von
Kansas von Mädchen der Stadt St. Louis attackiert:
, Sagen Sie, Gouverneur,' rufen sie, ,haben Sie immer noch
keine Frau gefunden? Warum kommen Sie nicht nach
St. Louis?"
„Wie Onkel Sam im New Yorker Hafen der Frau
Dulles ihre 28000 $ Diamanten nahm, die sie in Paris
gekauft hatte und einschmuggeln wollte." So ist ein
ganzer Diamantenroman überschrieben , der in Paris be-
ginnt, wo ein Geheimpolizist des Bundeszoll amtes die Mrs.
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse. 203
Dulles den fraglichen Diamantenschmuck kaufen sah. Der
über eine Seite einnehmenden Darstellung des Verlaufs ist
u. a. ein grofses Bild beigefügt, wie die Hand eines Zoll-
beamten am Hals der Mrs. Dulles das eingeschmuggelte
Halsband ergreift.
Ein Pastor in Illinois, dessen Frau gelegentlich für
ihn predigt, wird „interviewed". Das Ergebnis ist ein
langer Aufsatz über Leben und Treiben im genannten
Pfarrhaus und Pfarramt. „Ich helfe ihr in der Küche und sie
mir im Amte. Meine Frau ist 30 Jahre alt. Ich hätte
gute Lust, gegen die Zeitung, die meiner Frau Alter als
40 angab, zu klagen," — so erklärte der Pfarrer dem
Berichterstatter u. a. Über dem Artikel ist ein Bild, wie
die Frau Pfarrer auf der Kanzel predigt, und daneben ein
zweites des Herrn Pfarrer, der in der Küche sitzt, die
Kaffeemühle zwischen den Beinen haltend.
Dafs der Pastor David von Brockton an den Präsidenten
eine Bibelstelle und „wir beten für Sie in dieser Krisis"
telegraphierte, ist ebenso in der Zeitung zu lesen, wie der
Wortlaut des Antwortbriefes des Präsidenten.
„Herr Stetson kommt soeben von Hawaii und erzählt
sehr interessant von dort; obwohl er sagt, er habe auf der
Insel keine wichtigere Stellung als die eines Buchhalters
einer Plantage, ist es sehr wohl bekannt, dafs er jüngst
sehr viel Geld in Plantagen dort angelegt hat." Dieser
Einleitung folgt die von Herrn Stetson dem Reporter ge-
gebene Auskunft über Land und Leute auf Hawaii.
Ein Vertreter der Presse erfährt, dafs ein deutscher
Postbeamter auf Besuch in St. Louis weilt. Sofort fragt er
ihn aus über deutsches Postwesen und bringt am folgenden
Tage einen Aufsatz hierüber mit der Überschrift: „Was der
deutsche Postbeamte Schulze vom Postwesen in Deutsch-
land erzählt. Die deutschen Postämter haben noch nicht
204 Hintrager.
die Weisheit erkannt, den Zeitungen Konzessionen zu
machen. Dort zahlen Zeitungen im allgemeinen denselben
Tarif wie das Publikum."
Dafs ich am Tage nach meiner Landung in New York
im Jahre 1899 einer Gerichtsverhandlung angewohnt hatte,
las ich am gleichen Tage nachmittags 2 Uhr schon in der
New Yorker Staatszeitung. Bald kamen auch die Reporter
und wollten wissen, was ich von amerikanischer Rechts-
pflege und amerikanischen Gefängnissen und vom ganzen
Lande denke. —
Einen grofsen Teil des lokalen Zeitungsklatsches
machen die sogen. Society-News, die Neuigkeiten „aus der
Gesellschaft" aus. Hier ist das Gebiet der weiblichen
Reporters und Redakteure. Wer bei Frau Mc Carty
zum Tee eingeladen war, in welchen Toiletten die
Damen erschienen, welche Verdienste die Damen der
„Frische Luft -Mission" um die armen Kinder der Stadt
sich erwarben, wie die schönsten Masken beim letzten
Maskenballe aussahen, dafs das Brautpaar Soundso am
Krankenbett des Bräutigams getraut wurde, dafs die Braut
des Dr. Curtis am Abend vor der Hochzeit floh, — all
das und noch viel mehr wird ausführlich in Wort und
Bild berichtet. Diese Abteilung gehört zum Witzigsten,
was die amerikanische Zeitung enthält. Der ohnehin über-
mütige und ausgelassene Ton des freien gesellschaftlichen
Lebens wird von der Presse durchaus nicht gedämpft.
Jüngst sah ich in einer St. Louiser Zeitung neun Bilder
von Junggesellen aus der Gesellschaft, gut karikiert und
mit der Überschrift: „Diese neun Jungen unserer Stadt
sind bereit, Heiratsanträge in diesem Jahre anzunehmen".
In einem Schaltjahr, sagt man, haben die Damen das
Recht des Antrags. In der gleichen Zeitung stand auch
ein äufserst unterhaltender langer Aufsatz: „Liebesfreud
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse. 205
und Liebesleid in Clayton". Fünf Paare, so wurde unter
Angabe der einzelnen Namen erzählt, wallfahrteten gestern
nach Clayton zu dem bekannten Friedensrichter Greens-
felder. (Dieser Kichter ist bei der heiratslustigen Jugend
der Gegend als Standesbeamter sehr beliebt.) Alle möglichen
Einzelheiten der Trauungen wurden da berichtet, meist
heiterer Art. Denn man nimmt auch das Heiraten nicht
so ernst hier. Ein Pärchen, so schlofs der Artikel, zog
enttäuscht wieder ab, da das Mädchen noch minderjährig
war und deshalb die Heiratserlaubnis der Eltern beizu-
bringen hatte. Dafs auch die Presse den Frauen alles zu-
liebe tut, ist selbstverständlich. „Die Königinnen der Ge-
sellschaft unserer Stadt", „Schöne Frauen unseres Staates",
„Eine neue Blüte von Kentucky- Schönheiten" — so werden
ganze Seiten von Bildern von hübschen Frauen und
Mädchen vorgeführt, meist mit einigen schmeichelnden
Personalnotizen.
Die meisten Zeitungen haben ihre eigene Seite für
Frauen, enthaltend: Mode, Kochrezepte, Preisaufgaben
über Kindererziehung, Ratschläge, wie man schlank wird
und eine schöne Hautfarbe erhält und dergleichen.
An die „Frauenecke" schliefst sich die „Seite für die
Kinder". Anleitungen für Spiele, Rätsel, Schulnachrichten,
Naturgeschichtliches und ähnliches füllen diese Seite. Die
Kinder, die die reichsten Eltern haben, die die besten Schul-
zeugnisse erhielten, die am letzten Sonntag den Kuchen-
tanz am schönsten tanzten, — sie kann man alle in dieser
Abteilung der Zeitung abgebildet sehen. —
All dies ist nur ein kleiner Teil von dem, was eine
gelegentlich bis zu 100 Seiten haltende Tageszeitung hier
bringt. In ebenso buntem Durcheinander steht es in der
eiligst hergestellten Zeitung; jedermann betrachtet die
206 Hintrager.
Bilder und die Überschriften und liest nur das, was ihn
interessiert.
Die Fülle des Stoffs sowohl als die Wahl und die Form
desselben ist in erster Linie aus dem Bestreben der
Zeitungen zu verstehen, einen möglichst grofsen Massen-
absatz zu erzielen. Daher wird so viel geboten, um jedem
etwas zu bieten ; daher wird dem einzelnen wie dem ganzen
Volke so freigebig die Freude gemacht, sich in der Zeitung
gelobt zu sehen ; daher spielt sich die Presse bei jeder Ge-
legenheit als die Beschützerin der Rechte des Volkes, der
Armen und Unterdrückten auf^); daher rührt endlich der
auf die Masseninstinkte berechnete Ton der meisten Tages-
blätter. Die Zeitung mufs gemeinverständlich, sensationell
und grob im Tone sein, soll sie die Massen interessieren.
Der Bericht über einen Strafsenbahnarbeiterstreik in Chicago
wird überschrieben: „Chicago mufs zu Fufs gehen!" ein
solcher über die Wiederwahl dreier Senatoren: „Drei alte
Streitrosse wieder im Kongrefs!" Ein Parlamentsbericht
erhält die Überschrift: „Viel Geschrei, aber wenig Wolle
in unserer Legislatur!" Die Nachricht von einem Mord
wird eingeführt mit: „War ihr Haus eine Mördergrube?"
Die Meldung von der Eröffnung der Weltausstellung lautet :
„Sesam, öffne dich! spricht unser Präsident, und die Tore
der Ausstellung öffnen sich der Welt. Unbeschreiblich
grofsartiger Anblick!" In dieser Art von Sensation und
Geschrei leistet die sogenannte „gelbe Presse" ganz Aufser-
ordentliches. —
Dafs die Zeitungen auch hier in erster Linie sich
rentieren müssen, das darf man nicht aus dem Auge ver-
*) Die Zeitungen leisten Hervorragendes in der Unterstützung
von Armen und Kranken, in der Förderung gemeinnütziger Zwecke
durch Aussetzen von Preisen und dergleichen.
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse. 207
lieren bei Beurteilung der Frage, inwieweit die Presse die
öifentliche Meinung macht und beeinflufst. Auf diese
Frage eine allgemeine Antwort zu geben , erscheint mir
sehr gewagt. Bryce sagt in seinem klassischen Werke
hierüber, in den Vereinigten Staaten nehmen an der
Wechselwirkung zwischen den Massen und deren Leitern
bei Bildung der öffentlichen Meinung die letzteren etwa
zu ein Viertel, die Massen zu dreiviertel Anteil; in Europa
sei es etwa gerade umgekehrt. Immerhin wird man sagen
können, dafs die Macht der amerikanischen Presse, die im
Interesse der Publizität aller Verhältnisse, der raschen
Verbreitung und derVolksaufklärung Beförderungsprivilegien
bei der Post geniefst, ein ganz erhebliches Gegengewicht
findet in der grofsen Selbständigkeit des einzelnen Lesers.
Was die Zeitungen sagen, überhaupt was gedruckt wird,
geniefst hier bei weitem nicht die Achtung, die ihm in
Deutschland zuteil wird; der einzelne schwatzt der Zeitung
nicht viel nach. Daher kann man hier oft beobachten, wie
die Presse vorsichtig dem Publikum den Puls fühlt,
sondiert, was die Stimmung der Massen ist, um nicht durch
Aussprechen einer anderen Ansicht sich zu schaden. Die
Presse achtet auf das Publikum, dieses schaut wiederum
auf die Presse — so wächst und bildet sich nach und nach
das, was man öffentliche Meinung nennt, einer Wind-
richtung gleich, die von der Wetterfahne „Presse" an-
gezeigt wird. Glaubt die Presse einmal mit Sicherheit die
öffentliche Meinung hinter sich zu haben, dann ist sie eine
Macht, gegen die es keinen Widerstand gibt. Der Richter
Peabody in St. Louis, der eines Tages eine Blütenlese
seiner Urteile mit der Überschrift: „Gauls -Verstands-
Entscheidungen des Richters Peabody" in der Zeitung las,
der Kriegsminister Mc. Kinleys, Alger, der einst so sehr
gefeierte Sieger von Manila, sie und noch viele andere,
208 Hintrager.
Schuldige und Unschuldige, verschwanden vom Schauplatze,
als plötzlich der Wind gegen sie ging. Schon einige Jahre
vor Ausbruch des spanisch-amerikanischen Krieges brachten
die amerikanischen Zeitungen immer wieder Bilder und
Beschreibungen der Grausamkeiten der Spanier auf Cuba
und des Elends der dortigen Bevölkerung. Illustrationen,
wie Präsident Cleveland (1892 — 1890) und sein Staats-
sekretär Olney untätig der Folterung des Mädchens
„Cuba" durch den spanischen General Weyler zuschauen,
kehrten immer wieder, bis schliefslich die allgemeine
Stimmung dahin ging: das mufs ein Ende nehmen. Diese
Stimmung wurde — besonders nachdem einmal das: „Ge-
denke der Maine!" Schlagwort geworden war — so stark,
das Clevelands Nachfolger, Mc. Kinley, nicht mehr untätig
bleiben konnte. Zeitungen boten öffentlich Wetten an,
dafs in drei Monaten Krieg mit Spanien sein werde,
im Kongrefs und in Versammlungen machten die Demo-
kraten ihre am Ruder befindlichen Gegner für die Zu-
stände auf Cuba verantwortlich und benützten die all-
gemeine Stimmung mit aller Macht gegen die republikanische
Partei. Wollten die Republikaner am Ruder bleiben, so
mufsten sie eine Änderung schaffen.
Die Art der Herbeiführung des spanisch-amerikanischen
Krieges zeigt die Gefahren des Regierens nach Mafsgabe
der öffentlichen Meinung. Zwar darf man es für ausge-
schlossen ansehen , dafs die Zeitungen zur Kriegshetze ge-
kauft waren; dieses plumpe Mittel haben mir viele Ameri-
kaner, die heftige Gegner dieses Krieges waren, für un-
möglich erklärt, da es nicht geheim zu halten gewesen
wäre. Allein wer einen schlauen Herrscher nach seinem
Willen leiten will, mufs seine Sache schlau angreifen. Das
amerikanische Volk ist ein schlauer Souverän, aber auch
er kann gelenkt werden, ohne dafs er es weifs. Ich kann
XII. Die öffentliche Meinung und die Presse. 209
nicht sagen , dafs dies bei Herbeiführung des genannten
Krieges der Fall gewesen ist. Aber möglich erscheint es
mir; denn die immerwährende Wiederholung einer Be-
hauptung mufs schliefslich auf jeden Menschen wirken.
So kühn und fest ist das Vertrauen des Amerikaners
im Anerkennen und Befolgen der öffentlichen Meinung,
dafs er diese und die mancherlei anderen Gefahren und
Nachteile gering achtet. Er schaut auch hier mehr auf
die Lichtseiten : die heilsamen Wirkungen der Öffentlichkeit
und freien Diskussion, die Leichtigkeit, mit der jede hervor-
ragende Persönlichkeit sich Achtung verschafft und die Er-
ziehung und Anregung des einzelnen zur Teilnahme an
öffentlichen Angelegenheiten. Ein berechtigter Optimismus
im Hinblick auf die Geschichte der Union, die keinen
korrupten Präsidenten aufweist und zeigt, dafs das Volk
selbst grofse, lang geduldete Übel immer wieder überwand,
und vor allem im Hinblick darauf, dafs die öffentliche
Meinung in der Union im allgemeinen eine gesunde ist.
Trotz allen Übels durchzieht ein Hauch jugendlichen,
frischen, gesunden Geistes das Leben hier. Noch leben
über 2/8 des Volkes auf dem Lande, nicht in Städten. Der
einzelne ist sehr aufgeweckt, vorurteilslos und patriotisch ;
er weifs, was das Land braucht; in der Achtung jeder
ehrlichen Arbeit und in dem Wunsch der Gröfse des Vater-
lands sind alle einig. Wie im Kriege im gesunden Körper,
so liegt im Frieden im gesunden Sinn der einzelnen die
Hauptkraft einer Nation. In der Gesundheit der öffent-
lichen Meinung liegt die Hauptstärke des ganzen amerika-
nischen Regierungssystems.
Hintrager. 14
XIII. Das Land der Arbeit.
„Der Arbeitsamkeit gibt Gott
alle Dinge."
Benj. Franklin.
New York.
Wer hat nicht den hageren Onkel Sam schon im Bilde
gesehen, wie er auf einem Schaukelstuhle sitzt, die Füfse
auf den Tisch gelegt, und an einem Stückchen Holze
Späne schnitzelt? — Dies ist der Amerikaner, wie er sich
erholt. Er kann nicht untätig sein. Unter den ersten
Dingen, die mir einst nach meiner Ankunft hier ins Auge
fielen, war die Gleichheit der Kleidung der Männer und
der Arbeitsfanatismus, der geradezu in der Luft liegt.
Hier arbeitet alles. Wer hier etwas sehen und lernen
will, der mufs sich hineinstellen in den Kampf, mufs mit-
arbeiten, so habe ich mir damals gesagt. Privatiers gibt
es hier nicht. Wer etwas erreicht hat, setzt das Erreichte
von neuem ein, um noch mehr zu gewinnen. Vorwärts zu
kommen strebt jeder; keiner steht stille und wird fett.
Wer nicht arbeitete, hätte bald alle Fühlung mit dem
Leben hier verloren. Nach dem „Geschäft" — ein gar oft
gehörtes Wort ! — richtet sich alles. Hier kann man nicht
nur den Bürgersteig, sondern gelegentlich die halbe Strafsen-
breite mit Waren, Kisten, Verladerampen und dergleichen
verbarrikadiert finden; der Fufsgänger macht seinen Um-
weg, und die Obrigkeit findet nicht, dafs man dem Ge-
schäfte ein Hemmnis in der freien Entfaltung bereiten
XIII. Das Land der Arbeit. 211
sollte. Auch die Sitten richten sich nach der Arbeit. Die
Besuchszeit, die Zeit für alle öffentlichen Sammlungen und
Veranstaltungen ist abends nach der Abendmahlzeit. Die
Tageszeitung hat ihre grofse Abteilung für Arbeit und
Arbeiter. Die ganze Nation hat einen nationalen Festtag,
„Arbeitstag" (Labor-day) genannt, an dem mit grofsen Um-
zügen und Paraden das Volk, vom Präsidenten bis zum
Strafsenkehrer, die Arbeit als solche feiert.
Manchmal wurde ich auf der Reise von den stets
frage- und unterhaltungslustigen Bewohnern dieses Landes
gefragt: .,In was für einem Geschäfte sind Sie?" — Was
sollte ich antworten? Dafs jemand in diesem Kontinente
reist, ohne in einem „Geschäfte" zu sein, das ist den
meisten hier ebenso merkwürdig, als dafs jemand still und
untätig im Eisenbahnwagen oder im Restaurant sitzen
kann. Noch ist das Land zu jung, um viele historische
Sehenswürdigkeiten, Denkmäler der Kunst und des Alterr
tums zu besitzen. Diese Dinge sucht der Amerikaner in
■der Alten Welt. Die Sehenswürdigkeiten seines Landes
sind neu; es sind die Denkmäler des Geschäftssinns, der
Technik, des kaufmännischen Unternehmungsgeistes. Diese
zeigt er mit berechtigtem Stolze dem Fremden. So viele
Fabriken und Geschäfte habe ich in Jahren nicht gesehen,
wie hier in wenigen Monaten. In jener gastfreundlichen
Familie in St. Louis wurde ich fast täglich zum Besuch
einer neuen Fabrik eingeladen. So kam ich in die ver-
schiedenartigsten geschäftlichen Anlagen, und freue mich in
4em Gedanken an die aufserordentliche Liebenswürdigkeit
dieser geschäftigen Amerikaner, die mir viel Zeit widmeten,
«tets die Maschinen erklärten und oft auch einen Gegenstand
von Anfang bis zu Ende vor meinen Augen herstellen
liefsen. Grofse Firmen haben meist eigene Angestellte, um
Besucher herumzuführen.
U*
212 Hintrager.
Übrigens hat wiederholt nicht viel gefehlt, dafs ich
auf die Frage nach meinem „Geschäfte" eine Antwort
hätte geben können, wie etwa der Frager sie erwartet
hatte. An Versuchungen fehlte es nicht. Verlockende
Gelegenheiten boten sich, darunter manche, bei denen die
hier hochgeachtete deutsche Bildung gewinnbringender zu
verwerten war, als dies wohl je in der Heimat der Fall
sein kann. Das erste Geld, das ich in meinem Leben ver-
diente, habe ich in diesem Lande verdient, und zwar ohne
dafs ich die Arbeit (eine Übersetzung) gesucht hatte.
Diese kleinen Erlebnisse zeigen, welche Menge von
Möglichkeiten dieses Land bietet. Darin liegt die grofse
Anziehungskraft, die dieses Land immer noch für die Aus-
wanderung hat. Hier sucht die Arbeit geradezu den
Mann; er hat kaum nötig, sie zu suchen. Das grofse Land
braucht Menschen, in erster Linie zur Besiedlung des
Bodens. Zwar hat dies Volk schon etwa ein Viertel alles
bebauten Areals unserer Erde in Kultur genommen; die
besten, fruchtbarsten Strecken sind besiedelt. Aber immer
noch hat Onkel Sam ilber 500 Millionen Acres an öffent-
lichen Ländereien zur Ansiedlung zu vergeben, immer
noch ist Raum und Nahrung für viele Millionen Menschen.
Private Tätigkeit und die günstigen Bedingungen des
Bundesgesetzes, betreifend die Heimstätten, arbeiten zu-
sammen der Überzeugung gemäfs, dafs jede weitere Hand
das Nationalvermögen vermehrt und den Markt vergröfsert,.
ohne den anderen ihr gutes Auskommen zu beeinträchtigen.
In diesen glücklichen Siedlungsgegenden, die nun in die
Mitte und mehr noch in den Westen des Kontinents vor-
gerückt sind, ist der Fremde nicht der Feind. Der Neu-
ankömmling ist nicht der Konkurrent, der den Platz an
der Sonne verringert. Diese Auffassung, die die Kultur-
entwicklung der Alten Welt seit Jahrhunderten beherrscht,.
XIIL Das Land der Arbeit. 213
und bis in die kleinsten Kreise zu verspüren ist, hat hier,
von dem dichter besiedelten Osten abgesehen, noch keinen
Boden. Hieraus ist wohl zu einem grofsen Teil die ameri-
kanische Zuvorkommenheit gegenüber dem Fremden zu er-
klären und das Gefühl , das jedermann in diesem Lande
empfindet, dafs der Mensch dem Menschen hier mit offenem
Wohlwollen gegenübertritt.
In zweiter Linie braucht dies Land Menschenkräfte
zur Hebung der Schätze des Bodens, mit denen es in ver-
schwenderischer Fülle gesegnet ist. Noch ist es sehr dünn
besiedelt, und schon findet man die Erzeugnisse seines
Bodens fast überall auf der Welt. Seine Ausfuhr hat
selbst die Englands überflügelt. Etwa ^k dieser Ausfuhr
sind Bodenerzeugnisse. Von der landwirtschaftlichen Pro-
duktion ganz abgesehen, sind die Vereinigten Staaten in
wenigen Jahrzehnten in der Kohlenförderung wie in der
Erzeugung von Gold, Silber, Eisen, Stahl, Kupfer, Blei
und Quecksilber an die erste Stelle getreten; in anderen
Zweigen sind sie nicht mehr ferne von diesem Ziele.
In dritter Linie verlangt dies Land nach Arbeitern
für seine Fabriken. Auch die Industrie hat einen den
übrigen Riesenzahlen entsprechenden Aufschwung ge-
nommen.
Der Mangel an Arbeitskräften im Verhältnis zu der
Gröfse und den tausend Möglichkeiten des Landes war
von Anfang an ein wesentlicher Faktor in der wirtschaft-
lichen Entwicklung der Union und ist es heute noch.
Dieser Umstand im Zusammenhang mit der Natur des
Landes hat insbesondere die Art bestimmt, wie der
Amerikaner arbeitet. Zwar habe ich schon manche Szenen
der Arbeit skizziert, allein einige weitere Beobachtungen
in dieser Richtung werden dazu beitragen, das wirtschaft-
liche Leben hier zu erklären.
'214 Hintrager.
Eine Fahrt mit der Eisenbahn zeigt viele charakte-
ristische Eigentümlichkeiten der amerikanischen Arbeits-
methode. Nur ein Kondukteur begleitet den Zug. Seine
tadellose Kleidung und sein Benehmen zeigen sofort,
dafs er gut bezahlt ist. Die Tätigkeit des Kondukteurs
erfordert sehr viel Aufmerksamkeit, besonders wenn aus-
nahmsweise viele Reisende im Zuge sind. Es geht ihm
wie der grofsen Lokomotive vor dem Zuge; sie mufs
allen Anforderungen, auch den aufsergewöhnlichsten , ge-
nügen; denn mehr als eine wird nicht verwendet. Dafs
die Kraft des einzelnen nach Möglichkeit ausgenützt wird,
findet man hier selbstverständlich. Ein Amerikaner, dem
auf der Reise durch Deutschland die grofse Zahl des Zug-
personals auffiel, erklärte es sich damit, dafs die Regierung
angesichts der Übervölkerung für die Untertanen Stellungen
schaffe. Mit ausnehmender Höflichkeit begegnet der
Kondukteur dem Publikum. Die Fahrkartenkontrolle voll-
zieht sich mit der denkbar geringsten Belästigung des
Fahrgastes. Er nimmt die Karte vom Hute des sich Unter-
haltenden und steckt sie wieder dorthin oder an die bei
den Sitzen angebrachten Befestigungsvorrichtungen, wo ihm
die Karte stets sichtbar bleibt. Auf einer Fahrt, die eine
Zeitlang durch kanadisches Gebiet führte, sah ich einmal,
wie der Kondukteur die Handtaschen der durchreisenden
Fahrgäste bei der Zollrevision emporhob und der Bundes-
zollbeamte das gegen die kanadische Zollrevision schützende
kleine Zollplakat auf den Boden der Taschen klebte, damit
diese nicht verunziert werden. Die meist mit Landkarten
versehenen Fahrpläne erhält man überall unentgeltlich.
Bekannt ist die amerikanische Liebe für Komfort. Ist
der Bahnhof nicht zu ebener Erde, so will das Publikum
«inen Aufzug. Im Zuge ist fast alles zu haben, was man
bei uns nur auf den gröfsereu Bahnhöfen zu finden pflegt.
XIII. Das Land der Arbeit. 215
Nicht allein der Fahrgast geniefst die Bequemlichkeiten
der oft luxuriös eingerichteten Eisenbahnzüge , auch der
Kondukteur hat sie ; denn niemand erwartet von ihm, dafs
er auf der Plattform sich aufhalte. Hat doch selbst der
Lokomotivführer seinen gepolsterten Sitz auf der Maschine.
Das Gebot „look out!", das dem Ankömmling zuerst
hier eingeschärft zu werden pflegt, lehren auch die
Eisenbahnen. Da sind keine Bahnwärter und keine
schützenden Schranken. Wohl aber befindet sich da und
dort eine Warnungstafel und an der Lokomotive eine Vor-
richtung, die den bezeichnenden Namen „Kuhfänger" führt
und Tiere und Menschen von den Schienen wegfegt. Ge-
legentlich auch Menschen, denn Spaziergänge werden oft
auf Bahnlinien gemacht, da die Landstrafsen bei der
Jugend des Landes meist noch sehr viel zu wünschen übrig
lassen. Da ist wohl auch an den Wagentüren zu lesen :
„Passagiere, die auf der Plattform stehen, tun dies auf ihre
eigene Gefahr". Auf der Fahrt durch Städte kann man oft
sehen, wie Reisende jeweils da aus dem fahrenden Zuge
springen, wo sie den nächsten Weg zu ihrem Ziele haben.
Jeder hilft sich selbst und hat die Folgen selbst zu tragen.
Niemand sorgt für den Reisenden; dieser soll alles
wissen; denn der Kondukteur ist, wie überhaupt der
Amerikaner bei der Arbeit , sehr schweigsam. Mit Hand-
und Laternenzeichen werden Züge rangiert, nicht mit
Pfeifen oder Rufen.
Dafs, wie die Statistik der Eisenbahnunfälle zeigt,
die Sicherheit auf den Bahnen hier viel geringer ist als
in Europa , das beunruhigt die Menschen wenig in einem
Lande, in dem das Leben überhaupt „ein ewiges
Schwanken und Schwingen und Schweben auf der steigenden
fallenden Welle des Glücks" ist. Auch die Eisenbahnaktien
teilen dieses Schwanken. Wir wollen daher den unsicheren
216 Hintrager.
Zug verlassen und, auf festem Boden stehend, unsere Be-
obachtungen fortsetzen.
Als mich einst der freundliche Vorstand der Straf-
anstalt zu Huntingdon, Pa., zu einer Spazierfahrt einlud,
lenkte er die Pferde in solch flottem Trabe auf sein ge-
schlossenes Hoftor zu, dafs es schien, als müfsten sie dem-
nächst die Köpfe daran einrennen. Obwohl man dergleichen
Ängstlichkeiten in diesem Lande, in dem alles möglich ist,
verlernt, war ich doch nicht wenig begierig, wie dies enden
werde. Als wir noch eine Pferdelänge von dem Tore ent-
fernt waren , sprangen beide Flügel desselben von selbst
auf, wir fuhren durch, und das Tor schlofs sich in gleicher
Weise hinter uns. Die automatische Vorrichtung war je
mittels eines am Boden angebrachten Bügels, über den
das Rad des Wagens fuhr, in Tätigkeit gesetzt worden.
Menschliche Arbeit leicht zu machen und durch Maschinen-
kraft zu ersetzen ist geradezu eine Liebhaberei des
Amerikaners. Jeder Knabe ist hier ein kleiner Maschinen-
konstrukteur. Diesem Streben wird oft in einer Weise ge-
huldigt, dafs es als Bequemlichkeit oder Spielerei erscheint.
Ich habe hier Kaffee- und Teelöffel mit so langen Stielen
gesehen, dafs man sie bequem benützen konnte, ohne irgend
etwas aufser dem Handgelenk zu bewegen. Der Lastwagen-
fuhrmann — Handkarren gibt es nicht — hat eine winden-
ähnliche Vorrichtung unter seinem Kutschersitz, mittels
deren er die Kisten und Ballen von hinten her leicht
auf seinen Wagen zieht, ohne sie dabei anzufassen. Eisen-
bahnschienen werden mit hebelarmigen Scheren auf-
gehoben, um auf einen Wagen geladen zu werden. Bretter-
beigen in Holzsägereien werden aufgebeigt, ohne dafs eine
Menschenhand sie berührt. In den Stallungen der Unions-
kavallerie fährt der Futter wagen auf Schienen in der
Stallgasse, und eine kleine Misteisenbahn besorgt das, was
XIII. Das Land der Arbeit. 217
bei uns die Stallwache mit der bekannten Wanne tut. Auf
statistischen Buieaux und auf Banken werden gröfsere Be-
rechnungen mit Maschinen gemacht. In Boston war ich in
einem Hotel mit einer Art „Tischlein-deck-dich "-Einrichtung :
In jedem Zimmer war eine grofse Tafel, auf welcher für
jeden nur denkbaren Wunsch je ein elektrischer Drücker
angebracht war, im ganzen fünfzig. In Boston sah ich
auch ein Restaurant, in welchem die Speisen auf der
Speisekarte numeriert waren. Ein Druck auf den mit
der betreffenden Nummer versehenen elektrischen Drücker
auf dem Tische bestellte die Speise in der Küche. —
Weitere Beispiele brauche ich wohl nicht anzuführen, da
ja viele der arbeitsparenden Maschinen des Amerikaners
auch in Deutschland Eingang gefunden haben ; nur das
möchte ich nicht unerwähnt lassen, dafs hier nicht nur
Weberei und Spinnerei, sondern auch Maurerei, Schlosserei,
Schreinerei, Schuh-, Hut- und Kleidermacherei , Fischerei
und Gärtnerei längst zum maschinellen Grofsbetriebe über-
gegangen sind.
Dafs Eile ein sehr wesentlicher Faktor bei der
amerikanischen Arbeit ist, ist bekannt. Man denke an
den Richter, der 30—40 Straffälle in der Stunde erledigt.
Am Fenster eines Restaurants einer kleinen Stadt des
Westens las ich einst die Aufschrift: „Das schnellste
Mittagessen in der Stadt" ! Der Amerikaner betreibt
nicht ein Geschäft, er „rennt" es (run a business); daher
fliefst ihm auch der gewaltige Mississippi selbst im Ober-
lauf zu langsam: Dampf boote bewegen die Flöfse strom-
abwärts. Ein dreistöckiges Haus ist in einem Monat
unter Dach,
Das Streben nach Eile und möglichster Ausnutzung
der Kraft des einzelnen hat auch zu der weitgehenden
Teilung der Arbeit geführt, die insbesondere dem amerika-
218 Hintrager.
uischen Fabrikbetriebe eigentümlich ist. Jeder Arbeiter
ist gleichsam Spezialist. Er versieht jahraus jahrein die-
selbe Arbeit, die oft in nur wenigen Griffen besteht, und
gewinnt dadurch eine hervorragende Fertigkeit. Ein Back-
steinsetzer tut hier keine andere Maurerarbeit, setzt 2500
bis 3000 Steine per Tag, verdient leicht 50 Cents in der
Stunde, und seiner Mauer sieht man es sofort an, dafs sie
von einem Spezialisten gesetzt ist. Man stelle sich vor,
dafs an Stelle von ein oder zwei Mann einige Dutzend die
zum Schlachten und Zerlegen eines Schweins nötigen
Einzelhandlungen vornehmen, dafs jeder nur einen oder
zwei Griffe macht, dann das in Rollen und Schienen
hängende Tier seinem Nebenmann zustöfst, um hierauf so-
fort dieselbe Arbeit an einem ihm inzwischen in gleicher
Weise zugeschobenen Tier zu tun und so weiter, so hat
man ein kleines Bild von dem Kreislauf der Arbeit in
einer der Riesenschlächtereien Chicagos. In einem eigen-
tümlichen Gegensatze hierzu steht der Mangel an Spezialisten-
tum in denjenigen Berufen, zu welchen nach unserer Auf-
fassung besondere Sachkunde nötig ist. Von den zahl-
reichen Stellen , die durch Wahlen besetzt werden , sei
hierbei ganz abgesehen, ebenso von Erscheinungen, wie sie in
allen jungen Ländern zu finden sind, dafs jemand zugleich
Musikdirektor, Barbier und öffentlicher Notar ist. Allein
in diesem Lande kann ein Rechtsanwalt zum Chef der
Marine, ein Kaufmann zum Kriegsminister, ein Zeitungs-
redakteur zum Gesandten oder General ernannt werden.
Und trotz alledem gedeiht das Land , und die Ämter
werden leidlich gut versehen, Wohl werden viele Fehler
gemacht, wohl mufs gelegentlich ein Offizier wegen
politischen Sprechens oder Tuns gerügt werden, und der
Mangel an staatsmännischer oder diplomatischer Fach-
kenntnis mag an mancher Stelle sich sehr unangenehm
Xm. Das Land der Arbeit. 219
fühlbar machen. Allein der praktische Sinn des einzelnen
ersetzt vieles.
Praktisch zu sein bei aller Arbeit ist das oberste
Gesetz. Die Arbeit mufs sich lohnen. Alle andern Er-
wägungen, Rücksichten der Sicherheit, der Schönheit, der
Genauigkeit und der Gründlichkeit, kommen erst in zweiter
Linie. Ein Gesetz des Staats Missouri bestimmt die Höhe
des Schadenersatzes bei Tötung eines Menschen durch
eine unerlaubte Handlung schlechthin auf 5000 Dollars,
bei Verstümmlung auf 10000 Dollars. Die Berechnung
der Freiheitsstrafen geschieht in keinem Falle von Augen-
blick zu Augenblick; auf ein paar Stunden mehr oder
weniger an Strafzeit kommt es nicht an. Was Geschäfts-
sinn und kaufmännische Reklame auf Kosten der Schön-
heit zu sündigen vermögen, kann man hier überall sehen.
Manche amerikanische Maschine ist ebenso praktisch als
gefährlich.
Der schöne Zug der Vorurteilslosigkeit und des Wohl-
wollens gegen den Nebenmenschen zeigt sich in sehr
sympathischer Weise auch bei der Arbeit. Hier nahm ich
einmal an einer Ausschufssitzung für die Vorbereitung der
Carl Schurz -Feier (1899) teil; der Gerichtsschreiber
des Magistratsgerichts führte den Vorsitz in einer Ver-
sammlung, die in jeder Hinsicht die Elite des hiesigen
Deutschtums repräsentierte. — Auf Kegelbahnen traf ich
gelegentlich den Prinzipal mit seinem jüngsten Angestellten
bei derselben Kegelgesellschaft. Auch das Alter als.
solches gibt keine Vorrechte. In Illinois erhielt ein Knabe
mit 15 Jahren die Konzession zur Ausübung des Gewerbes
eines „embalmers", das er mit Erfolg ausübt; es ist dies
das hier allgemeine übliche Einbalsamieren der Leichen.
In Dubuque, Jowa, lernte ich einen Sohn deutscher Eltern
kennen, der ohne jede technische Schulbildung mit dem
220 Hintrager.
Verdienste seiner sechsjährigen praktischen Arbeit in
Maschinenfabriken im Alter von 22 Jahren „sein Schild
heraushängte" als Fabrikant von Motorbooten. Einer
seiner ersten Erfolge seines nun gut gehenden Geschäfts
war, dafs die Bundesregierung für ihre Arbeiten auf dem
Mississippi ein Boot bei ihm bestellte. Abgesehen von
dem Gewerbe der Wirte und der Politiker, die wenig
Achtung geniefsen — das Wirtsgewerbe wird von den
Gesetzgebungen der meisten Staaten schlecht behandelt — ,
kann man nicht sagen, dafs ein Gewerbe mehr geachtet
werde als ein anderes. Oft habe ich mich wundern müssen,
wieviel Zeit die Menschen hier für Gefälligkeitsdienste
und für wohltätige oder gemeinnützige Zwecke übrig
haben. In fast jeder Stadt, in der eine Strafanstalt oder
ein Heim für Verwahrloste ist, habe ich auch ein paar
Männer und Frauen gefunden, die aus freiem Antriebe,
lediglich aus Mitleid, die Insassen besuchten und sich
ihrer annahmen. Auch in den Gerichten traf ich oft solche
Menschenfreunde. Der Umfang der privaten Wohltätigkeit
verdient angesichts des Reichtums des Landes wohl nicht so
sehr Beachtung als die Art, wie die Wohltätigkeit entfaltet
wird. Ein typisches Beispiel hierfür ist die hiesige Ge-
fängnisgesellschaft. Schon die Gesetzgebung geht hier sehr
weit in der Fürsorge für entlassene Strafgefangene. Sie
erhalten fast durchweg Bargeld und neue Kleider bei
der Entlassung. Die Mädchen in der Strafanstalt für
Jugendliche zu Rochester, N. Y. , bekommen bei der Ent-
lassung alle Kleidungsstücke doppelt und ein Sonntags-
kleid. Ein Gesetz des Staates New York macht es den
Gerichten zur Pflicht, die Strafzeit nach Möglichkeit so zu
bemessen, dafs der Gefangene nicht im Winter zur Ent-
lassung kommt. Geschieht letzteres trotzdem, so erhält er
einen Winterüberzieher mit. Noch mehr aber als der
XITI. Das Land der Arbeit. 221
Staat leistet die mit reichen Mitteln ausgestattete New
Yorker Gefängnisgesellschaft. Sie hat trotz des Vorurteils
und trotz des regelmäfsigen Zuflusses billiger Arbeitskräfte
aus Europa im Februar 1899 von 46 entlassenen Straf-
gefangenen 39 in dauernde Arbeitsstellungen gebracht. Da
auf schriftlichem Wege nur schwer solche Gelegenheiten
zu finden waren, begannen die Beamten der Gesellschaft
die Praxis, mit den Entlassenen persönlich zu den Arbeit-
gebern zu gehen und diese durch Bitten zu bewegen, es
mit dem Betreffenden einmal zu versuchen. Diejenigen
Arbeitgeber, bei denen solche Versuche gut ausfielen, über-
wanden nach und nach das Vorurteil gegen den Sträfling.
Mit ihrer Einwilligung trug die Gesellschaft sie in eine
geheime Liste ein, die im Februar 1899 400 Arbeitgeber
zählte. An diese wenden sich die Beamten der Gesellschaft
im Bedürfnisfalle und meist mit Erfolg.
Ein Beweis der wenig bekannten Gutherzigkeit des
Amerikaners ist auch die Geduld der Massen hier. Um
diese zu ermessen, mufs man beobachtet haben, wie der
Riesenverkehr über die grofse Brooklyner Brücke um
die Zeit des Geschäftsschlusses sich abspielt. Mit Engels-
geduld werden Verkehrsstockungen ertragen. Ich safs
einmal in einem Strafsenbahnwagen , der wegen eines auf
den Schienen umgefallenen Wagens nicht weiterfahren
konnte. Über zehn Minuten dauerte der Aufenthalt;
niemand murrte. Nur ein Gast begann schliefslich seinem
Unmut energisch Luft zu machen, — und dieser eine war
ein Deutscher. Geneigtheit zu Kritik und Protest ist eine
Eigentümlichkeit des Deutschen. Sehr oft habe ich be-
obachtet, wie ein Redner die Geduld der Zuhörerschaft in
einer Weise in Anspruch nahm, die ein deutsches Publikum
niemals ertragen hätte.
Nur in einem Falle hört die Gutherzigkeit de&
222 Hintrager.
Amerikaners stets auf: Wenn ihm jemand im wirtschaft-
lichen oder nationalen Kampfe in den Weg tritt. Denn er
ist ein geborener Kämpfer. Wetten, Kraftmessungen und
Kampfspiele sind ihm ein Genufs. Bei Volksfesten bildet
selbst das „Ehefrauen -Rennen" eine beliebte Programm-
nummer. Das amerikanische Nationalspiel (Baseball) ist
ein sehr anstrengendes Ballschlagspiel, das nicht nur für die
Mitwirkenden, sondern auch für die Zuschauer gefährlich
ist. Bei seiner Vorliebe für eine offene Aussprache wird
der Amerikaner zwar gewöhnlich vor dem Kampfe, be-
sonders dem wirtschaftlichen, gütlichen Ausgleich suchen.
Schlägt dies fehl , dann wird er mit gröfster Rücksichts-
losigkeit und oft auch mit der Gewissenlosigkeit des
Tätigen seine Interessen verfechten. Ebenso hals-
abschneiderisch wie seine Konkurrenz wird nachher seine
Güte gegen den geschlagenen Gegner sein. Das Kleinliche
hat wenig Raum im Leben der Menschen, die in so grofsen
Verhältnissen aufwachsen. Dafs hier oft Postsachen auf
die Briefschalter gelegt werden, habe ich schon erwähnt.
Auf den Stationen der Hochbahn hier nimmt man sich die
Zeitung vom Zeitungsstand und legt das Geld in das offen
dastehende -Oeldschüsselchen ; niemand kontrolliert den
Verkauf, ausgenommen die Öffentlichkeit. Im amerika-
nischen Privathause wird sehr wenig verschlossen.
Dies sind Gelegenheitsbilder der Arbeitsmethoden des
Volkes, dessen Tätigkeit zu dem beispiellosen wirtschaft-
lichen Aufschwung der Vereinigten Staaten geführt hat.
So gut ist die Lebenshaltung des einzelnen, dafs mit
Recht schon Hackländer auf die amerikanische „Armut
mit Kuchen" hingewiesen hat. Das Leben zeigt hier oft
die übermütige Art gesunder Kinder, die jedes Verlangen
erfüllt sehen. Von Leiden und Entsagen will niemand
etwas wissen: Genufs und Rechte begeJirt jedennann, und
XIII. Das Land der Arbeit. 223
die Wünsche dieser Menschen kennen kein Ziel. Ihre
Unternehmungslust schreckt vor nichts zurück, ein fehl-
geschlagenes Beginnen entmutigt sie nicht, das unmöglich
Scheinende machen sie möglich. Ihre Städte sehen aus
wie von einem Riesenknaben mit dem Baukasten erbaut;
für diesen Knaben hat das Haus längst aufgehört, eine
unbewegliche Sache zu sein. Ihr Witz ist das Groteske
und die grandiose Übertreibung. Sie spielen oft mit
Dingen , die jeder ernst nimmt , für den das Leben Be-
deutung gewonnen hat.
Es ist wohl begründet, dafs auf dem Gebiet der Wohl-
tätigkeit hier so viel geleistet wird. Denn sehr grofs ist
die Zahl derer, die aus dem Kampf nicht unversehrt
hervorgehen. Das amerikanische Leben ist eine fort-
währende Spannung, eine harte Auslese der Starken. Das
Schlagwort „Selection of the fittest" hört man hier oft.
Mehr als die zahlreichen Bankrotte und mehr als die
vielen Unglücksfälle redet die Tatsache, dafs auch hin-
sichtlich der Zahl der Geisteskranken die Vereinigten
Staaten an erster Stelle stehen. Allein im Staate New
York befanden sich im April 1899, wie mir der Direktor
der Irrenanstalt bei Rochester N. Y. angabt rund 22000
Menschen in Irrenhäusern. Sehr viele davon sind Ein-
gewanderte, deren Kräfte den Anforderungen des amerika-
nischen Lebens nicht gewachsen waren.
Und es hat nicht den Anschein , als ob der Kampf
dieses Lebens in ruhigere Bahnen kommen wollte. Die
wirtschaftlichen Gegensätze verschärfen sich mehr und mehr.
Der Kampf zwischen der Arbeit und dem Kapital hat schon
grofse Dimensionen angenommen. Beide Teile sind wohl-
organisiert. Die Arbeiterschaft der Vereinigten Staaten
ist organisiert in lokale Gewerkschaften (Labor-Unions), die
224 Hintrager.
wiederum eine gemeinsame, über die ganze Union sich er-
streckende Organisation in der American Federation of
Labor haben. Ihr gehören zurzeit etwa 1400 Gewerk-
schaften mit annähernd zwei Millionen Arbeitern an. Ob-
wohl übrigens der gröfste Teil der Arbeiterschaft noch
nicht organisiert ist, so haben doch die organisierten
Arbeiter schon sehr viele Erfolge aufzuweisen, vor allem
ein seit Jahrzehnten andauerndes Steigen der Löhne. Im
Jahre 1900 war der Durchschnittsjahreslohn eines er-
wachsenen männlichen Arbeiters 491 $. Wie gut sie
wohnen, essen und sich kleiden, habe ich bei anderer
Gelegenheit schon erwähnt. Gleichzeitig ist die Zahl der
täglichen Arbeitsstunden stetig herabgesetzt worden. Der
Bund und manche Staaten haben gesetzlich den Acht-
stundentag. In den Neuenglandstaaten haben die Labor-
Unions das Lehrlingswesen beseitigt. Die Arbeiter-
vereiuigungen spielen eine grofse Rolle im Leben einer
amerikanischen Stadt. Da sie nach Berufszweigen
organisiert sind, ist ihre Zahl sehr grofs. Bei nationalen
oder kirchlichen Umzügen und Festlichkeiten nehmen sie
stets einen stattlichen Raum ein. Ihre Programme
heben als ihr Hauptziel die Hebung der Lage ihres
Standes und der Stellung des einzelnen Mitglieds her-
vor und sind fast durchweg sehr gemälsigt. Viele er-
klä)en Mäfsigkeit und Sittlichkeit als die erste Pflicht. Die
Union der Lokomotivführer z. B. hat die Devise: „Was
ihr wollt, dafs euch die Leute tun sollen, das tut ihr
ihnen." Unter den Mitteln, mit denen sie ihre Ziele ver-
folgen, steht auch hier der Streik obenan: In den 1901
vorangehenden 20 Jahren hatten die Vereinigten Staaten
22793 Streike. Ein Mitglied der Genossenschaft der
Eisen- und Stahlarbeiter zahlt monatlich 25 Cents allein
in den Streikfond. Das Streben nach einer besseren Lebens-
XIII. Das Land der Arbeit. 225
haltung veranlafst in der Regel den Streik. Ist einmal der
Streik da, so wird vor Gewalt nicht zurückgeschreckt. In
Cleveland, Ohio, wurde der Strafsenbahnverkehr bei dem
grofsen Streik der Strafsenbahnangestellten dadurch er-
möglicht, dafs auf jedem Wagen einige Polizisten mitfuhren
und unter die Menge mit Revolvern schössen, wenn ein An-
griff auf den Wagen gemacht wurde. Ein anderes Kampf-
mittel sind die Gewerkschaftsetiketten (Labels): Das Ge-
werkschaftsmitglied darf nur solche Dinge kaufen, die diese
Labels tragen, d. h. in einem nur Gewerkschaftsarbeiter ver-
wendenden Betriebe hergestellt sind (Union-made). Eine
politische Partei haben die amerikanischen Arbeiter bis
jetzt nicht gebildet. Jede Partei schmeichelt ihnen, bringt
arbeiterfreundliche Gesetze ein und verspricht ihnen alles,
was sie wünschen.
Der organisierten Arbeit steht gegenüber das organi-
sierte Kapital. Hierzu gehören die in der ganzen Union
existierenden Verbände der Arbeitgeber (Employers-Asso-
ciations) , die der gemeinsame Feind , die Gewerkschaften,
geeinigt hat, und insbesondere alle die zahlreichen Kapital-
vereinigungen , die mit Recht und mit Unrecht Trusts ge-
nannt werden. Die innere Organisation dieser modernen
Formen des kapitalistischen Grofsbetriebs ist noch wenig
bekannt; aucii über deren Grundlagen sind die Meinungen
sehr verschieden. Die 1899 in Chicago abgehaltene so-
genannte Trustkonferenz, auf welcher Kongrefsmitglieder,
Richter, Eisenbahnmagnaten, Bankpräsidenten, Vertreter
der Arbeiterorganisationen, der Landwirtschaft, der Wissen-
schaft und viele Gouverneure einzelner Staaten in freier
Diskussion ihre Meinungen über diese Frage austauschten,
hat im wesentlichen nur die Erkenntnis gezeitigt, dafs die
Frage noch lange nicht reif ist. Immerhin ist das unbe-
stritten, dafs viele dieser Vereinigungen in grofsem Um-
Hintrager. 15
226 Hintrager.
fange mit fiktiver Kapitalisation und schwindelhafter Wert-
papierfabrikation (watered Stocks) arbeiteten und arbeiten,
und dafs sie ihre Macht gegen das Volk und gegen dessen
Vertreter in rücksichtsloser Weise gebrauchen. Das Wort
„das Publikum soll der Teufel holen !" (the public be
damned) wird einem der gröfsten dieser „Könige" nach-
gesagt, die die Marktpreise bestimmen, die Wahlen und
Kongrefsleute mit grofsem Geldaufwand beeinflussen, die
auch Orden und Vergünstigungen austeilen in Gestalt von
Freikarten, Preisermäfsigungen und dergleichen. Viele
Gesetze sind in den letzten Jahren gegen alle trustartigen
Organisationen ergangen, jedoch meist mit geringem Er-
folge. In der Politik ist diese Angelegenheit ein wunder
Punkt, den die Politiker nicht gerne berühren. Denn
noch ist die allgemeine wirtschaftliche Lage eine so
günstige, dafs der einzelne den Druck nicht schwer
empfindet. Die öffentliche Meinung hat sich daher auch
noch nicht geklärt. Der Ausgang dieses inneren Kampfes
dürfte das Geschick der Vereinigten Staaten für lange
Zeit bestimmen.
XIV. Sehlursbetraelitung'en.
„Der Prüfstein der Zivilisation
ist nicht der Zensus, nicht die
Gröfse der Städte und der
lernten, sondern die Art von
Menschen, die ein Land hervor-
bringt." Emerson.
New York.
Der Deutsche , der seine nationale Eigenart kennen,
sein Vaterland schätzen lernen und geschätzt sehen will,
gehe nach den Vereinigten Staaten. Seit Jahrzehnten
haben viele Tausende von Deutschen, denen das Vaterland
zu eng oder zu streng Avar, in den weiten Räumen dieses
Landes eine neue Heimat sich geschaffen. So schwer es
ist, ihren Anteil an der Zusammensetzung des ameri-
kanischen Völkergemisches auch nur annähernd ziflfernmäfsig
zvL bestimmen, so läfst sich doch auf Grund der Zensus-
listen der Union feststellen, dafs im Jahre 1900 von 6,2
Millionen Einwohnern beide Eltern, und von 1,5 Millionen
ein Elternteil in Deutschland geboren war, und dafs von
der eingewanderten Bevölkerung die deutsche den gröfsten
Prozentsatz ausmacht. Grofses haben die Deutschen hier
geleistet, Grofses hat auch das Land an ihnen vollbracht,
was das enge Vaterland nicht hatte vollbringen können.
Zu den schönsten Früchten , die die Schule des amerika-
nischen Lebens in ihnen reifen liefs, gehört die Liebe zum
iilten Vaterlande, das die meisten von ihnen aus Un-
15*
228 Hintrager.
Zufriedenheit mit dessen wirtschaftlichen, politischen, so-
zialen oder kirchlichen Verhältnissen verlassen haben. So
uneinig auch hier im allgemeinen die Deutschen sind, so
eins sind sie in dem Gefühl der Liebe zur alten Heimat,
die selbst der Amerikaner „the Vaterland" zu nennen
liebt. Sie sind bessere Deutsche geworden , als sie es in
Deutschland gewesen waren. Als zu Beginn des deutsch-
französischen Krieges die hiesige Presse, die hinsichtlich
Kabelnachrichten sehr von England beeinflufst ist, das Ge-
fecht bei Saarbrücken als eine grofse Niederlage der Deutschen
darstellte, weinte mancher starke deutsche Mann hier. Wie
grofs die Freude über die deutschen Siege und die Betätigung
der Teilnahme an dem Kriege durch Sammlungen war, davon
wissen die Deutschen hier zu erzählen. Mit dem Auf-
schwung des geeinten Deutschen Reichs wuchs die Liebe
und kam der Stolz. Früher war der deutsche Michel
ebenso mifsachtet als bescheiden. Nun kam ihm zum Be-
wufstsein, was Deutsche im Unabhängigkeitskampfe und im
Bürgerkriege geleistet hatten, welchen Anteil der deutsche
Bauer und der deutsche Ingenieur an dem Fortschritt der
Union haben. Nun erinnerten sich die Deutschen hier,
dafs die ersten Bibeln und die ersten Schulbücher dieses
Landes von den Deutschen Pennsylvaniens gedruckt worden
waren, und dafs die Deutschen immer das gediegene , solide
Element im wirtschaftlichen und politischen Leben des
Landes gewesen sind. Nun wurden sie stolz, Deutsche zu
sein: der deutsche Michel hatte sich selbst entdeckt.
Aber auch der Amerikaner entdeckte nun den
Deutschen. Ihm, dem der Erfolg über alles geht, imponierte
der Sieg der deutschen Waffen nicht weniger als Deutsch-
lands Leistungen in Handel und Industrie. Er kam zu
uns in die Schule, um deutsche Technik, deutsche Wissen-
schaft und Kunst, deutsche Musik zu lernen. Dem
XIV. Schlufsbetrachtungen. 229
Deutschen, der durch dies Land reist, macht es das Herz
höher schlagen, wenn er aus dem Munde des Amerikaners
immer wieder hört: „Die Deutschen sind unsere besten
Bürger", und wenn er sieht, welchen Raum deutsche Ge-
sittung im Leben dieses Volkes einnimmt. In Fröbels
„Kindergarden" geniefst Amerikas Jugend die erste Er-
ziehung. Deutsche Bücher bilden einen bedeutenden Teil
des amerikanischen Bücherschatzes. Unsere grofsen
Männer sind hier gar wohl bekannt. Die „gemütliche"
deutsche Geselligkeit und vor allem das deutsche Lied
sind Bestandteile der Gesittung dieses Landes geworden.
Die Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit des Deutschen
erscheint dem gebildeten Amerikaner vorbildlich. Oft
wurde ich hier schriftlich und mündlich um Auskunft dar-
über gebeten , wie diese oder jene Frage in der Gesetz-
gebung Deutschlands geregelt sei, und ich freue mich,
wiederholt Gelegenheit gehabt zu haben, diesem Lande zu
dienen, dessen Gastfreundschaft ich genossen habe. Der
Staat Massachussetts hat im Jahre 1900 verschiedene Be-
stimmungen aus dem deutschen Strafprozefsrecht über^
uommen ; im Staate Pennsylvanien hat in neuester Zeit die
von der Pennsylvania State -Bar -Association eingesetzte
Kommission für Gesetzgebungsreform den Entwurf einer
Grundbuchordnung für den Staat Pennsylvanien aus-
gearbeitet, der sich in allen wesentlichen Punkten an das
Vorbild der deutschen Grundbuchorduung hält.
Nicht mit gleicher Vorurteilslosigkeit wie der
Amerikaner uns sind wir ihm begegnet. Es gab eine
Zeit, da man in Deutschland die bösen Buben nach
Amerika schickte, und da ein schwäbischer Dorfschultheifs
ein Zeugnis dahin ausstellte: „Leumund nicht gut; war
schon in Amerika!" Da waren wir geneigt, manchen
heimgekehrten Parvenue als Repräsentanten des amerika-
230 Hintrager.
nischen Volkes zu nehmen. Mehr als von denen, welchen
es drüben gut gegangen war, hörten wir von denen, die
i keine Erfolge hatten und mifsmutig heimkehrten oder
I in Briefen ihrem enttäuschten Herzen Luft machten.
I Unsere Presse pflegte uns mit den Auswüchsen und
I Extremen des amerikanischen Lebens bekannt zu machen,
/ nicht mit dem gewöhnlichen Lauf der Dinge. So ge-
wannen wir eine falsche Vorstellung des Lebens in der
Union. Mit ein paar Schlagworten richteten wir ebenso
rasch als ungerecht.
Doch die Vorurteile schwinden mehr und mehr. Der
Anfang einer neuen Ära in unserm Verhältnis zu den
Vereinigten Staaten ist gekommen : Wir haben angefangen,
Amerika noch einmal zu entdecken. Unser Kaiser ging
voran, und die Nation folgt ihm. Amerika und
Amerikanisches ist mehr als je ein Gegenstand unserer
/ Betrachtung und unseres Studiums. Mit dem Verständnis
/_ schwinden die Gegensätze.
~^Äuch die Vereinigten Staaten wollen in erster Linie
aus sich selbst heraus verstanden werden. Land und Volk
sind noch jung. In vielen Beziehungen trägt das Leben
trotz aller Fortschritte auf dem Gebiete der Technik noch
kolonialen Typus. Vor allem natürlich im Westen. Die
Landschaft zeigt noch lange nicht die tausendfältigen
Spuren menschlicher Tätigkeit, nicht die Poesie und die
Geschichte, die die alten Kulturlandschaften aufweisen.
Mit Axt und Pflug mufsteu die Siedler hier beginnen und
beginnen sie noch immer. Sind sie gleich Kinder des
alten zivilisierten Europa , so zwingt sie doch die un-
gepflügte Scholle zur Natur zurückzukehren. Gleich Robinson
Crusoe müssen sie sozusagen die menschliche Kultur-
entwicklung wieder von den Anfängen an beginnen. So
werden sie selbst wieder kindlich und lernen einfach zu
XIV. Schlufsbetrachtungen. 231
denken und zu fühlen. Jeder einzelne ist auf sich selbst
gestellt; kein Nachbar hindert ihn oder hilft ihm. Jeder
hat an sich selbst zu denken, jeder will bald Herr über
ein Stück der Erdoberfläche sein. Da ist keine Zeit für
Feder und Pinsel, kein Ort für beschauliche Mufse, kein
Sinn für Sentimentalität und Naturschwärmerei. Koloni-
sationsarbeit ist das Los aller. Keiner , empfindet es er-
niedrigend, irgendeine Arbeit zu tun; denn er sieht, wie
alle andern sie tun. Nur das Nichtstun ist eine Schande.
Ein demokratischer Zug geht durch das Ganze; denn vor
der Natur und ihren Gesetzen sind alle gleich. Ein ge-
wisser roher Durchschnitt herrscht in allem.
Ungeheuer ist der Raum, über den der Menschenstrom
sich ergofs und noch sich ergiefst. Daher besetzt jeder ein
grofses Stück Landes und nimmt zunächst die Teile darin
in Angriff, die ihm den besten Ertrag versprechen. Ober-
flächlich und verschwenderisch mufs die Wirtschaft werden;
man kann sich unmöglich um jedes Fleckchen Erde
kümmern. Der grofse Raum ist auch dem Freiheitssinn
des Pioniers willkommen. Da ist viel Reibung und viel
Streit vermieden ; man braucht wenig Regierung. Alle
Regierung ist dem Pionier zuwider; keiner will eigene
Interessen um des Ganzen willen aufgeben.
Und die Kulturarbeit dieser Pioniere war und ist von
anhaltendem Erfolge begleitet, denn das Land ist un-
ermefslich reich. Wer stets Erfolg hat, wem es stets gut
geht, der wird nicht vertieft; er wird der Eigenschaften
entbehren , die Leiden und Entsagen im Menschen erzeugen.
Der Optimismus Amerikas ist die frohe Zuversicht des
reichen Jünglings, der sich keinen Wunsch versagen mufs
und ein grofses Feld der Willensbetätigung vor sich sieht.
Nichts erscheint ihm grofs oder schwer angesichts der
232 Hintrager.
Gröfse seines Landes und angesichts der unbegrenzten
Möglichkeiten, die es bietet.
Solche Pioniere oder ihre Kinder in einer der ersten
Generationen sind die Bewohner der Vereinigten Staaten.
Ihr Leben ist nicht geeignet, das hervorzubringen, was
man in Deutschland in Verkennung der Gesetze der
Kulturentwicklung an dem Amerikaner oft vermifst.
Ein wesentlich anderes Bild freilich bietet heute schon
der ältere Osten des Landes. Hier ist dichtere Besiedlung
mit allen ihren Folgen für die Entwicklung menschlicher
Kultur: Die gröfsere Reibung führt zum Zusammenschlufs
gleicher Interessen und Gesinnungen. Die Gegensätze ver-
schärfen sich. Klassenbildung hat begonnen. Die Ziele
werden höher gesteckt. Gediegener ist der Ton des
Lebens. Ernster werden seine Aufgaben genommen. Die
Pflege von Kunst und "Wissenschaft hat ein Heim auf dem
Boden angesammelten Besitzes. Das Leben hat an Be-
deutung gewonnen. Mit einem Worte: der Osten wird
Europa ähnlich.
Allein der Osten ist ein verhältnismäfsig kleiner Teil
der Union. Zwar liegt in ihm das finanzielle und kulturelle
Schwergewicht des Landes; aber die Menschen, mit denen
die Mitte und der Westen besiedelt sind und werden, sind
so verschiedenartiger Abstammung, dafs man noch nicht
sagen kann, welcher nationale Typus aus dem ganzen
Schmelztiegel hervorgehen wird. Das amerikanische Volk
ist noch im Werden; schon deshalb gehört ihm die Zukunft.
Wie viele Millionen Mensehen mag dies Land einst er-
nähren, das mehr als 16 mal so grofs ist als Deutschland
und jetzt nur 86,8 Millionen Einwohner^) zählt! Gladstone
') 8,8 Einwohner per Quadratkilometer gegenüber 104 Einwohner
per Quadratkilometer in Deutschland.
XIV. Schlufsbetrachtuiigen. 233
hat gesagt, die Vereinigten Staaten werden die erste Grofs-
macht der Zukunft sein. Der unermefsliche Reichtum
des Landes, der Geist und die Zunahme seiner Bewohner,
sowie die Geschichte der Union deuten darauf hin, dafs
diese Weissagung in Erfüllung gehen wird. Westindien,
Canada und Zentralamerika hat schon die wirtschaftliche
Annexion ergriffen , die der politischen Annexion in der
Geschichte der Vereinigten Staaten gewöhnlich voran-
gegangen ist. Wirtschaftlich und politisch greift Onkel
Sam schon über die Meere. Seine stürmischen Erfolge
erscheinen geradezu als eine Gefahr.
Aber die Bäume wachsen nicht in den Himmel. Die
Zeit wird kommen, da die Vereinigten Staaten mehr als
je mit sich selbst beschäftigt sein werden. Die Probleme,
die ihrer im Innern harren , sind so grofs , dafs neben
ihnen die inneren Aufgaben der europäischen Kulturstaaten
klein erscheinen. Die gebildeten Amerikaner geben sich
keinen Illusionen darüber hin, dafs ihnen die Sonne des
Glücks in wunderbarer Weise gelächelt hat und dafs die
Tage der Prüfungen und der grofsen Aufgaben noch im
Schofse der Zukunft liegen.
Als die nächsten Probleme erscheinen ihnen die Neger- h
frage und die Anhäufung der Geldmacht in wenigen V
Händen. Wird der Neger verschmolzen werden mit der
weifsen Rasse, oder wird er erdrückt werden wie der
Indianer? Oder sollte es möglich sein, einen modus
vivendi mit den Millionen Negern im Lande zu finden? —
Wozu wird der Kampf zwischen den modernen Feudal-
herren des Grofskapitals und den Massen führen? Solange
die Massen hier immer noch mehr um Komfort kämpfen
als um das Dasein , solange ist dieser Kampf noch nicht
auf seiner Höhe. Er wird erst dann zu seinem vollen
Ernst gelangen , wenn die Bevölkerung dichter geworden
234 Hintrager.
ist. Mit der gröfseren Dichtigkeit der Bevölkerung wird
die Freiheit des einzelnen vermindert. Dem Interesse des
Lebensunterhalts mufs der Mensch vieles opfern. Armut
und Beschränktheit werden kommen. Der einzelne wird an
Selbständigkeit und Selbstvertrauen verlieren. Wird es dann
möglich sein, das zu erhalten, was als das wesentliche Ge-
heimnis des amerikanischen Erfolgs bezeichnet wird: Die
politische Gleichberechtigung aller und das hohe Durch-
schnittsmafs freier Intelligenz? Die gröfsere Reibung der
Interessen wird den Zwang steigern, und eine kräftigere,
schwerfälligere Regierungsmaschine wird nötig werden. Man
wird präzise Gesetze brauchen und gewissenhafte Beamte
für ihre Durchführung. Man wird sparen lernen müssen
im öffentlichen wie im privaten Haushalt. Die schon jetzt
bedeutend vorgeschrittene Machtkonzentration wird, gestützt
auf Armut und Beschränktheit, bedrohlich werden. —
Dann erst werden die wirtschaftlichen und staatlichen
Grundlagen der Vereinigten Staaten die Feuerprobe zu be-
stehen haben, die jeder Mensch und jedes Volk bestehen
mufs: Den Kampf gegen Beschränktheit, Schwachheit und
Schlechtigkeit im eigenen Innern. Niemand hat alle diese
Aufgaben und Gefahren dem amerikanischen Volke ein-
dringlicher vor Augen geführt als der Vater de& Vater-
landes, Washington, in seinem politischen Testament (An-
hang III).
Aber höher als die Lösung dieser im Leben eines
Volkes doch nur vorübergehenden Aufgaben steht die
Schaffung eines Gutes, das den Bestand einer Nation über-
dauert, das der ganzen Menschheit dient und das einst
die Geschichte von dem gesegneten Volke der Vereinigten
Staaten in erster Linie fordern wird: Die Schaffung einer
nationalen Kultur. — Der geistvolle Emerson hat seine
Landsleute ermahnt, auch in geistiger Hinsicht selb-
XIV. Schlufsbetrachtungen. 235
ständig und unabhängig zu werden. Grofse Anfänge einer
eigenen Kultur haben die Vereinigten Staaten aufzuweisen;
das zeigt ein auch nur flüchtiger Blick, wie ihn diese
lückenhaften Gelegenheitsbilder amerikanischen Lebens
gewähren. Wer wollte angesichts dieser Anfänge zweifeln,
dafs auch die Fortsetzung grofs sein wird?
Erster Anhang.
Die ünabhängigkeitserklärung
vom 4. Juli 1776.
Wenn es im Laufe menschlicher Ereignisse für ein
A^olk notwendig wird, die staatlichen Bande zu lösen,
welche es mit einem anderen verknüpft haben , und unter
den Mächten der Erde die abgesonderte und gleich-
berechtigte Stellung einzunehmen, zu der es die Gesetze
der Natur und des Gottes der Natur berechtigen, so ver-
langt eine gebührende Achtung vor dem Urteil der Mensch-
heit, dafs das Volk die Ursachen darlege, welche es zu
der Trennung zwingen.
Wir halten es für selbstverständliche Wahrheiten,
dafs alle Menschen einander ebenbürtig geschaffen sind;
dafs sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten, unveräufser-
lichen Rechten ausgestattet sind und dafs zu diesen Leben,
Freiheit und das Streben nach Glück gehört; dafs zum
Schutze dieser Rechte unter den Menschen Regierungen ein-
gesetzt sind, die ihre rechtmäfsigen Gewalten von der Zu-
stimmung der Regierten ableiten ; dafs, so oft eine Regierungs-
form diesen Endzwecken verderblich wird, das Volk das
Recht hat, sie zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Re-
gierung einzusetzen und diese auf solche Prinzipien zu
gründen und ihre Gewalt in solche Formen zu kleiden,
welche die Sicherheit und das Glück des Volkes gewähr-
leisten. Wohl gebietet die Klugheit, dafs lange be-
stehende Regierungen nicht um leichter und vorüber-
Erster Anhang. 237
gehender Ursachen willen geändert werden sollten, und
alle Erfahrung hat gezeigt, dafs die Menschen eher bereit
sind zu leiden, so lange die Übelstände erträglich sind,
als sich selbst Recht zu schaffen durch Zerstörung ge-
wohnter Formen. Aber wenn eine lange Reihe von Mifs-
bräuchen und Anmafsungen, die unveränderlich dasselbe Ziel
verfolgen, die Absicht erweist, sie unter einen vollkommenen
Despotismus zu zwingen, so ist es ihr Recht, ja ihre Pflicht,
eine solche Regierung zu entfernen und neue Wächter ihrer
künftigen Sicherheit zu bestellen. Also sind die geduldig
ertragenen Leiden dieser Kolonien gewesen, und daher
zwingt sie jetzt die Notwendigkeit, ihr bisheriges Regierungs-
system zu ändern. Die Geschichte des gegenwärtigen Königs
von Grofsbritannien ist eine Geschichte fortgesetzter Krän-
kungen und Anmafsungen, die alle die Errichtung einer
vollkommenen Tyrannei über diese Staaten zum Ziele haben.
Zum Beweise hierfür lafst uns der ehrlichen Mitwelt
Tatsachen unterbreiten:
Er hat seine Zustimmung zu den heilsamsten und für
die öffentliche Wohlfahrt notwendigsten Gesetzen verweigert.
Er hat seinen Statthaltern verboten, Gesetze von un-
mittelbarer und dringender Wichtigkeit zu erlassen, es sei
denn, dafs ihr Inkrafttreten hinausgeschoben werde bis zur
Einholung seiner Zustimmung; und wenn diese eingeholt
werden sollte, hat er einfach sich nicht darum ge-
kümmert.
Er hat sich geweigert, andere Gesetze für die Be-
siedlung grofser Bezirke zu erlassen, es sei denn, dafs die
Bevölkerung dieser Bezirke auf das Recht verzichte, in
der gesetzgebenden Versammlung vertreten zu sein ; ein
Recht, unschätzbar für sie, schreckhaft allein für die
Tyrannen.
Er hat die gesetzgebenden Körperschaften an un-
238 Hintrager.
gewöhnliehen, unbequemen und von dem Aufbewahrungsort
ihrer öffentlichen Akten entfernten Plätzen zusammen-
berufen, lediglich zu dem Zwecke, sie durch Ermtldung
zur schliefslichen Zustimmung zu seinen Mafsregeln zu
bringen.
Er hat die Volksvertretungen wiederholt aufgelöst,
weil sie sich mit männlicher Festigkeit seinen Angriffen
auf die Volksrechte widersetzten.
Er hat es nach solchen Auflösungen lange Zeit ab-
gelehnt, Neuwahlen anzuordnen, wodurch die gesetzgebenden
Gewalten, die niemand vernichten kann, an das Volk im
ganzen zur Ausübung zurückgefallen sind, während der
Staat in der Zwischenzeit allen Gefahren äufserer Angriffe
und innerer Verwicklungen ausgesetzt blieb.
Er hat die Vermehrung der Bevölkerung dieser
Staaten dadurch zu hindern gesucht, dafs er die Gesetze
betreffend die Naturalisation von Ausländern hintertrieb
und sich weigerte , andere Gesetze zuzulassen , welche die
Einwanderung hierher befördern sollten, und endlich da-
durch, dafs er die Bedingungen zum Erwerbe von Ländereien
erschwerte.
Er hat die Rechtspflege gehemmt, indem er Gesetzen
seine Zustimmung versagte, die die Schaffung richterlicher
Gewalten zum Zweck hatten.
Er hat Richter ernannt, die hinsichtlich der Dauer
ihrer Anstellung, des Betrags und der Zahlung ihrer Ge-
hälter allein von seinem Willen abhängig sind.
Er hat eine Menge neuer Ämter errichtet und eine
Masse von Beamten hierher geschickt, um unser Volk zu
plagen und auszusaugen.
Er hat in Friedenszeiten ohne Zustimmung unserer
gesetzgebenden Versammlungen stehende Heere unter uns
gehalten.
Erster Anhang. 239
Er hat danach getrachtet, die militärische Gewalt
von der bürgerlichen unabhängig zu machen und ihr über-
zuordnen.
Er hat sich mit anderen verbunden, uns einer Gerichts-
barkeit zu unterwerfen , die im Widerspruche zu unserer
Verfassung steht und durch unsere Gesetze nicht an-
erkannt ist.
Er hat ferner seine Zustimmung zu Mafsregeln einer
angemafsten Gesetzgebung erteilt,
um grofse Truppenkörper bei uns einzuquartieren,
um diese durch ein Scheinverfahren vor der Bestrafung
wegen irgend eines Mords zu schützen, den sie an den Ein-
wohnern dieser Staaten begehen würden,
um unseren Handel nach allen Teilen der Welt hin
abzuschneiden,
um uns Steuern ohne unsere Zustimmung aufzuerlegen,
um uns in vielen Fällen der Wohltaten des Ge-
schworenen-Gerichts zu berauben,
um uns zur Aburteilung wegen angeblich strafbarer
Handlungen über die Meere zu schleppen,
um die freiheitliche Ordnung englischer Gesetze in
einer benachbarten Provinz abzuschaffen durch Errichtung
einer willkürlichen Regierung daselbst und durch Er-
weiterung der Grenzen derselben in der Absicht, diese
Regierung gleichzeitig zu einem Beispiel und zum geschickten
Werkzeug der Einführung der gleichen unumschränkten
Herrschaft in diesen Kolonien zu macheu,
um unsere Freibriefe zu beseitigen, unsere wichtigsten
Gesetze abzuschaffen und die Grundformen unserer Re-
gierungen abzuändern, endlich
um unsere eigenen gesetzgebenden Versammlungen
aufser Wirksamkeit zu setzen und sich selbst im Besitze der
gesetzgebenden Gewalt über uns in allen Fällen zu erklären.
240 Hintrager.
Er liat es aufgegeben hier zu regieren, indem er uns
aufserhalb seines Schutzes erklärte und Krieg gegen uns
anfing.
Er hat unsere Meere geplündert, unsere Küsten ver-
heert, unsere Städte verbrannt und viel Blut unseres
Volkes vergossen.
Er ist jetzt daran, grofse Heere fremder Söldner
herbeizuschaffen, um das schon begonnene Werk des Todes,
der Verwüstung und der Tyrannei zu vollbringen, und
zvf&Y mit einer Grausamkeit und Treulosigkeit, die in den
Zeiten der gröfsten Barbarei kaum ihresgleichen hat und
des Oberhauptes einer gesitteten Nation gänzlich un-
würdig ist.
Er hat unsere Mitbürger, die er auf hoher See ge-
fangen nahm, gezwungen, die Waffen gegen ihr Vaterland
zu tragen und die Henker ihrer Freunde und Brüder zu
werden oder selbst durch deren Hände zu fallen.
Er hat Aufstände im Innern gegen uns erregt und
versucht, auf die Bewohner unserer Grenzen die er-
barmungslosen, wilden Indianer zu hetzen, deren bekannte
Kriegsweise die Vernichtung aller ist , ohne Unterschied
von Alter und Geschlecht.
In jedem Stadium dieser Bedrückungen haben wir in
den ehrerbietigsten Ausdrücken um Abhilfe gebeten, aber
unsere wiederholten Bitten wurden lediglich mit wieder-
holten Kränkungen beantwortet. Ein Fürst, dessen
Charakter durch tyrannische Handlungsweise in dieser Art
gekennzeichnet ist, ist nicht geeignet, der Herrscher eines
freien Volkes zu sein.
An Rücksicht gegen unsere britischen Brüder haben
wir es gewifs nicht fehlen lassen. Wir haben sie von Zeit
zu Zeit vor den Versuchen ihrer gesetzgebenden Gewalt
gewarnt, eine unberechtigte Gerichtsbarkeit über uns zu
Erster Anhang. 241
schaifen. Wir haben sie an die Umstände erinnert, unter
denen wir ausgewandert sind, und uns hier niedergelassen
haben. Wir haben ihren angeborenen Gerechtigkeitssinn
und ihre Grofsmut angerufen , und wir haben sie bei den
Banden unserer gemeinsamen Verwandtschaft beschworen,
gegen diese Anmafsungen aufzutreten, die unvermeidlich
unser Einvernehmen und unsere Beziehungen stören müfsten.
Aber auch sie sind taub gegen die Stimmen der Oerechtig-
keit und der Blutsgemeinschaft gewesen. Wir konnten
daher nicht anders, als uns trennen, und betrachten sie wie
die übrige Menschheit im Kriege als Feinde, im Frieden
als Freunde.
Wir, die Vertreter der Vereinigten Staaten von
Amerika, im allgemeinen Kongrefs versammelt, rufen da-
her den höchsten Richter der Welt als Zeugen an für die
Lauterkeit unserer Absichten und verkünden und erklären
im Namen und kraft der Machtvollkommenheit des guten
Volkes dieser Kolonien feierlich , dafs diese Vereinigten
Kolonien freie und unabhängige Staaten sind und von
Rechts wegen sein sollen , dafs sie von jeder Untertanen-
pflicht zur britischen Krone befreit sind, und dafs jedes
staatliche Band zwischen ihnen und dem Staate von Grofs-
britannien gänzlich gelöst ist und sein soll, und dafs sie
als freie und unabhängige Staaten volle Gewalt haben,
Krieg zu führen , Frieden zu schliefsen , Verträge einzu-
gehen, den Handel zu regeln und all das zu tun, was un-
abhängige Staaten von Rechts wegen tun dürfen. Und
mit festem Vertrauen auf den Schutz der göttlichen Vor-
sehung verpfänden wir zur Bekräftigung dieser Erklärung
uns gegenseitig unser Leben, unser Vermögen und unsere
heilige Ehre.
(Unterzeichnet von Vertretern der dreizehn ursprünglichen Staaten.
Hintrager. 16
Zweiter Anhang.
Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika
(1787).
Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, beschliefsen
und begründen hiermit in der Absicht, eine vollkommenere
Union zu bilden, Gerechtigkeit walten zu lassen, die Ruhe
im Innern sicherzustellen , für die Landesverteidigung zu
sorgen, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern und die
Segnungen der Freiheit uns und unseren Nachkommen zu
sichern, diese
Verfassung für die Vereinigten Staaten
von Amerika.
Artikel I. Die gesetzgebende Gewalt.
Abschnitt I.
Alle gesetzgebende Gewalt, die in dieser Verfassung
bewilligt ist, liegt in den Händen eines Kongresses der
Vereinigten Staaten, welcher aus einem Senat und einem
Hause der Repräsentanten bestehen soll.
Abschnitt II.
§ 1. Das Haus der Repräsentanten soll aus Mitgliedern
zusammengesetzt sein, welche alle zwei Jahre vom Volke
der einzelnen Staaten erwählt werden, und die Wähler in
jedem Staate sollen diejenigen Eigenschaften haben, welche
für die Wähler der zahlreichsten Kammer der Gesetzgebung
des Staates erforderlich sind.
Zweiter Anhang. 243
§ 2. Niemand darf Mitglied des Repräsentantenhauses
«ein, der nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und seit
«ieben Jahren Bürger der Vereinigten Staaten gewesen ist,
und der nicht zurzeit seiner Erwählung ein Bewohner des
Staates ist, in welchem er erwählt wurde.
§ 3. Die Zahl der Repräsentanten und die direkten
Steuern werden zwischen den einzelnen Staaten im Ver-
hältnis zu ihrer Bevölkerung verteilt in der Weise, dafs
der ganzen Anzahl freier, männlicher Personen, ein-
schliefslich derer, die auf eine bestimmte Zeit von Jahren
zu dienen verpflichtet sind, und ausschliefslich der nicht
besteuerten Indianer, drei Fünftel aller andern Personen
zugerechnet werden. Die Zählung soll innerhalb drei
Jahren nach der ersten Versammlung des Kongresses der
Vereinigten Staaten stattfinden und innerhalb eines jeden
darauffolgenden Zeitraums von zehn Jahren in der Art und
Weise, wie es der Kongrefs durch Gesetz bestimmen wird.
Die Zahl der Repräsentanten soll einen auf je 30000
Einwohnern nicht überschreiten, doch soll jeder Staat
wenigstens einen Repräsentanten haben.
Bis eine Zählung vorgenommen ist, soll der Staat
New -Hampshire 3 Repräsentanten zu wählen berechtigt
sein; Massachussetts 8; Rhode -Island und Providence-
Plantations 1; Connecticut 5 ; New York 6; New Jersey 4;
Pennsylvania 8; Delaware 1; Maryland 6; Virginia 10;
North-Carolina 5; South-Carolina 5 und Georgia 3.
§ 4. Wenn in der Vertretung irgend eines Staates ein
Mandat erledigt ist, soll die vollziehende Gewalt desselben
zur Wiederbesetzung der erledigten Stelle Neuwahlen aus-
schreiben.
§ 5. Das Haus der Repräsentanten wählt seinen
Sprecher und seine anderen Beamten und hat das aus-
16*
244 Hintrager.
schliefsliche Recht der politischen Anklage gegen Bundes-
beamte.
Abschnitt III.
§ 1. Der Senat der Vereinigten Staaten soll aus je
zwei Senatoren von jedem der Staaten bestehen, welche
durch deren gesetzgebende Versammlungen auf sechs
Jahre zu erwählen sind , und jeder Senator soll eine
Stimme haben.
§ 2. Unmittelbar nach der ersten Wahl soll der Senat
versammelt und so gleichmäfsig als möglich in drei
Klassen geschieden werden. Die Sitze der Senatoren der
ersten Klasse sollen nach Ablauf des zweiten Jahres, die
der zweiten Klasse nach Ablauf des vierten und die der
dritten Klasse nach Ablauf des sechsten Jahres erledigt
sein, so dafs ein Drittel derselben alle zwei Jahre durch
Neuwahl ersetzt wird. Wenn Mandate durch Verzicht oder
auf andere Weise sieh erledigen, während die gesetzgebende
Versammlung eines Staates nicht beisammen ist, so soll
die vollziehende Gewalt desselben vorläufige Ernennungen
bis zum nächsten Zusammentritt der gesetzgebenden Ver-
sammlung eintreten lassen; diese hat dann die erledigten
Stellen wieder zu besetzen.
§ 3. Niemand darf zum Senator ernannt werden, der
nicht das 30. Lebensjahr vollendet hat und seit neun Jahren
Bürger der Vereinigten Staaten ist, und der nicht zurzeit
seiner Erwählung ein Einwohner desjenigen Staates war,,
von welchem er erwählt wurde.
§ 4. Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten soll
Präsident des Senats sein , jedoch keine Stimme haben,:
aufser bei Stimmengleichheit.
§ 5. Der Senat soll seine andern Beamten selbst er-
wählen und ebenso einen zeitweiligen Präsidenten, der den
Vorsitz führt in Abwesenheit des Vizepräsidenten oder
Zweiter Anhang. 245
für den Fall, dafs dieser das Amt des Präsidenten der
Vereinigten Staaten zu bekleiden hat.
§ 6. Der Senat soll das ausschliefsliche Recht haben,
auf politische Anklagen des Repräsentantenhauses das Ur-
teil zu fällen. Wenn der Senat zu diesem Zwecke
Sitzungen hält , sollen die Senatoren durch Eid oder Ver-
sicherung an Eidesstatt verpflichtet werden. Sollte der
Präsident der Vereinigten Staaten in Anklagestand versetzt
werden, so soll der Oberrichter den Vorsitz führen; nie-
mand soll für schuldig erklärt werden ohne die Zu-
stimmung von zwei Dritteln der anwesenden Senatoren.
§ 7. Das Urteil darf in solchen Fällen nur auf Amts-
entsetzung und auf Unfähigkeit zur Bekleidung eines be-
soldeten oder eines Ehrenamts oder zum Genufs eines Ein-
kommens unter der Hoheit des Bundes lauten; doch soll
der Verurteilte nichtsdestoweniger vor den ordentlichen
Oerichten dem Gesetze gemäfs in Untersuchung gezogen,
angeklagt, verurteilt und bestraft werden können.
Abschnitt IV.
§ 1. Zeit, Ort und Art der Erwählung der Senatoren
und Repräsentanten sollen in jedem Staate von der gesetz-
gebenden Versammlung desselben bestimmt werden; doch
darf der Kongrefs zu jeder Zeit durch Gesetze derartige
Bestimmungen ändern , mit Ausnahme der zur Wahl der
Senatoren bestimmten Orte.
§ 2. Der Kongrefs soll sich wenigstens einmal im
Jahre versammeln, und diese Versammlung soll am ersten
Montag des Dezember stattfinden, wofern nicht durch Ge-
setz ein anderer Tag dafür bestimmt wird.
Abschnitt V.
§ 1. Jedem Hause steht die Entscheidung über die
Gültigkeit der Wahlen, der Wahlprotokolle und über die
246 Hintrager.
Wahlfähigkeit seiner eigenen Mitglieder zu. Jedes Haus
ist beschhifsfähig, wenn die Mehrzahl der dem Hause an-
gehörenden Mitglieder anwesend ist; eine kleinere Zahl
soll sich von einem Tage zum andern vertagen können
und berechtigt sein, das Erscheinen abwesender Mitglieder
in der Art und durch solche Strafen zu erzwingen, wie
es von jedem Haus festgesetzt wird.
§ 2. Jedes Haus darf seine "Geschäftsordnung selbst
bestimmen, seine Mitglieder wegen ordnungswidrigen Be-
nehmens bestrafen und durch Beschlufs einer Zweidrittel-
Mehrheit ein Mitglied ausschliefsen.
§ 3. Jedes Haus soll ein Protokoll seiner Ver-
handlungen führen und dasselbe von Zeit zu Zeit ver-
öffentlichen , mit Ausnahme solcher Teile , die nach der
Entscheidung des Hauses Geheimhaltung erfordern. Bei
Abstimmungen sind die Stimmen der Mitglieder eines jeden
Hauses auf Verlangen des fünften Teiles der gegen-
wärtigen Mitglieder in dem Protokoll zu vermerken.
§ 4. Keines der Häuser darf während der Dauer des
Kongresses ohne die Zustimmung des anderen sich auf
länger als drei Tage vertagen noch an einem andern Orte
tagen als demjenigen, an dem beide Häuser ihre Sitzungen
abhalten.
Abschnitt VI.
§ 1. Die Senatoren und Repräsentanten sollen eine
Entschädigung für ihre Dienstleistungen erhalten, die
durch Gesetz bestimmt und aus der Staatskasse der Ver-
einigten Staaten bezahlt wird. Sie dürfen in keinem Falle,
ausgenommen bei Hochverrat, mit Todesstrafe bedrohten
Verbrechen und Verletzungen der öffentlichen Ordnung,
während ihrer Teilnahme an den Sitzungen des betreffenden
Hauses, sowie während der Hin- und Rückreise verhaftet
werden, auch dürfen sie wegen einer Rede oder Äufserung
Zweiter Anhang. 247
in einem der beiden Häuser an einem andern Orte nicht
zur Verantwortung gezogen werden.
§ 2. Kein Senator oder Repräsentant darf während
der Zeit, für die er gewählt worden ist, für ein unter der
Hoheit der Vereinigten Staaten stehendes bürgerliches
Amt ernannt werden , das erst geschaffen worden ist oder
dessen Einkünfte während der genannten Zeit erhöht
worden sind. Niemand, der irgend ein Amt unter der
Hoheit der Vereinigten Staaten bekleidet, darf während
seiner Amtsdauer Mitglied eines der beiden Häuser sein.
Abschnitt VII.
§ 1. Gesetzesentwürfe über die Beschaffung von
Staatseinkünften können nur von dem Hause der Re-
präsentanten ausgehen, doch kann der Senat, wie bei
andern Gesetzesentwürfen, Zusätze oder Abänderungen be-
schliefsen.
§ 2. Jeder Gesetzentwurf, der in dem Hause der Re-
präsentanten und im Senat durchgegangen ist, soll, bevor
er zum Gesetz wird, dem Präsidenten der Vereinigten
Staaten vorgelegt werden; billigt er denselben, so hat er
ihn zu unterzeichnen; andernfalls sendet er ihn mit seinen
Einwendungen dem Hause zurück, aus welchem er hervor-
gegangen ist. Dieses Haus vermerkt die Einwendungen
ausführlich im Sitzungsprotokoll und hat den Entwurf
nochmaliger Beratung zu unterwerfen. Wenn dann nach
solcher Wiederberatung zwei Drittel des Hauses be-
schliefsen , den Entwurf anzunehmen , wird er samt den
Einwendungen des Präsidenten dem andern Hause zu-
gesendet. Dieses unterzieht den Entwurf gleichfalls einer
neuen Beratung. Wird der Entwurf von einer Zweidrittel-
Mehrheit dieses Hauses genehmigt, so wird er Gesetz. In
allen solchen Fällen aber sollen die Stimmen beider Häuser
248 Hintrager.
durch Ja und Nein abgegeben und die Namen derer, die
für oder gegen den Entwurf gestimmt haben, in das
Sitzungsprotokoll eingetragen werden. Wenn ein Entwurf
vom Präsidenten nicht innerhalb zehn Tagen (Sonntage
nicht gerechnet) zurückkommt, nachdem er demselben
übergeben worden ist, so soll er ebenso Gesetzeskraft er-
halten, als ob er vom Präsidenten unterzeichnet wäre, es
sie denn , der Kongrefs verhindere durch seine Vertagung
deren Rückkunft. In diesem Falle wird der Entwurf
nicht Gesetz.
§ 3. Jede Anordnung, jeder Beschlufs oder jede Ab-
stimmung, zu der die Zusammenwirkung von Senat und
Repräsentantenhaus notwendig ist (ausgenommen wenn es
sich um Vertagungsbeschlüsse handelt), mufs dem Präsi-
denten der Vereinigten Staaten vorgelegt werden und er-
langt erst Wirksamkeit, wenn er sie genehmigt hat. Ver-
sagt er die Genehmigung, so kann die Wiederannahme
durch eine Zweidrittelmehrheit des Senats und des Re-
präsentantenhauses erfolgen, übereinstimmend mit den für
Gesetzentwürfe vorgeschriebeneu Bestimmungen.
Abschnitt VTII.
Der Kongrefs ist zuständig:
§ 1. Abgaben, Zölle, Auflagen und Steuern fest-
zusetzen und beizutreiben, um die Staatsschulden zu be-
^ahleji und für die gemeinsame Verteidigung und allge-
meine Wohlfahrt der Vereinigten Staaten Fürsorge zu
treffen ; aber alle Zölle , Auflagen und Steuern sollen
durchaus gleich im ganzen Gebiet der Vereinigten
Staaten sein.
§ 2. Anleihen auf den Kredit der Vereinigten Staaten
aufzunehmen.
Zweiter Anhaue:. 249
§ 3. Den Handel mit fremden Nationen und zwischen
den einzelnen Staaten und mit den Indianerstämmen zu regeln.
§4. Gleichförmige Vorschriften über die Naturalisation
und gleichförmige Gesetze über den Bankerott zu erlassen.
§ 5. Münzen zu prägen, deren Wert sowie den Wert
fremden Geldes zu bestimmen und das Mafs- und Gewichts-
system zu ordnen.
§ 6* Bestimmungen zu treffen für die Bestrafung der
Fälschung von Papier- und Metallgeld der Vereinigten
Staaten.
§ 7. Postämter zu errichten und Poststrafsen an-
zulegen.
§ 8. Den Fortschritt von Kunst und Wissenschaft da-
durch zu fördern, dafs er den Schriftstellern und Erfindern
das ausschliefsliche Recht ihrer Schriften und Entdeckungen
auf bestimmte Zeit sichert.
§ 9. Gerichtshöfe zu errichten, die dem obersten Ge-
richtshof untergeordnet sind.
§ 10. Strafbestimmungen gegen Seeräuberei und auf
hoher See begangene Verbrechen, sowie gegen Verletzungen
des Völkerrechts zu erlassen.
§ 11. Krieg zu erklären, Kaperbriefe auszustellen und
hinsichtlich der Prisen zu Land und zu Wasser Vorschriften
zu erlassen.
§ 12. Heere auszuheben und zu unterhalten; doch
dürfen Geldmittel zu diesem Zweck nicht für einen längeren
Zeitraum als auf zwei Jahre bewilligt werden.
§ 13. Eine Flotte zu schaffen und zu unterhalten.
§ 14. Bestimmungen über die Leitung und Verwaltung
der Seemacht zu treffen.
§ 15. Vorschriften über das Aufgebot der Miliz zu
erlassen, um die Gesetze der Union zu vollstrecken, Auf-
stände zu unterdrücken und feindliche Einfälle abzuwehren.
250 Hintrager.
§ 16. Fürsorge zu treffen für die Organisierung, Be-
waff'nung und Ausbildung der Miliz und für die Be-
fehligung desjenigen Teiles derselben , der im Dienst der
Vereinigten Staaten verwendet wird, vorbehaltlich des
Rechts der einzelnen Staaten, die Offiziere zu ernennen
und die Miliz nach den von dem Kongrefs gegebenen Vor-
schriften auszubilden.
§ 17. In allen Fällen die ausschliefsliche Gesetzgebung
über einen Distrikt (der nicht zehn Quadratmeilen über-
schreiten soll) auszuüben , der durch Cession einzelner
Staaten und durch Genehmigung des Kongresses Sitz
der Regierung der Vereinigten Staaten werden soll, und
die gleiche Hoheit über alle Plätze auszuüben, die mit
Zustimmung der gesetzgebenden Versammlung des be-
treff'enden Staats für die Errichtung von Festungen,
Magazinen , Zeughäusern , Schiff'swerften und anderen not-
wendigen Baulichkeiten erworben worden sind ; und
§ 18 alle Gesetze zu erlassen , welche notwendig und
geeignet sind, die vorstehenden und alle anderen Befugnisse
auszuüben, die durch diese Verfassung der Regierung der
Vereinigten Staaten oder irgend einem Departement oder
Beamten derselben zustehen.
Abschnitt IX.
§ 1. Die Einwanderung oder Einführung von Personen,
die zuzulassen einer der jetzt bestehenden Staaten für
zweckmäfsig hält, soll von dem Kongrefs vor dem Jahr 1808
nicht verhindert werden. Es kann aber auf diese Ein-
führung eine Steuer oder Abgabe gelegt werden, welche
10 $ für die Person nicht überschreiten soll.
§ 2. Das Vorrecht der Habeas-Corpus-Akte soll nicht
aufgehoben werden, es sei denn, dafs in Fällen eines Auf-
ruhrs oder feindlichen Einfalls die öff"entliche Sicherheit
es fordere.
Zweiter Anhang. 251
§ 3. Gesetze, die eine strafgerichtliche Verurteilung
enthalten, und Gesetze mit rückwirkender Kraft dürfen
nicht erlassen werden.
§ 4. Keine Kopfsteuer oder andere direkte Steuer
darf auferlegt werden, die nicht im Verhältnis zur Be-
völkerungszahl oder der weiter oben verfügten Berechnung
der Bevölkerung auf die Staaten verteilt wird.
§ 5. Auf Gegenstände, die von einem Staate aus-
geführt werden, dürfen Zölle oder Abgaben nicht gelegt
werden.
§ 6. Die Häfen des einen Staats dürfen durch handels-
politische Mafsnahmen oder Zollgesetze vor denen eines
anderen nicht bevorzugt werden , noch dürfen Schiffe , die
von oder zu einem Staate fahren, gezwungen werden, in
einem anderen Staate anzulaufen, zu löschen oder Abgaben
zu entrichten.
§ 7. Gelder dürfen nur infolge gesetzlicher Bewilligung
aus dem Staatsschatz genommen werden; eine Zusammen-
stellung der Einnahmen und Ausgaben an öffentlichen
Geldern ist von Zeit zu Zeit zu veröffentlichen.
§ 8. Die Vereinigten Staaten dürfen keinen Adel ver-
leihen. Niemand, der unter der Hoheit der Vereinigten
Staaten eine besoldete oder eine Ehrenstelle bekleidet, darf
ohne Genehmigung des Kongresses Geschenke, Bezüge,
Ämter oder Titel irgend welcher Art von einem Könige,
Fürsten oder fremden Staate annehmen.
Abschnitt X,
§ 1. Dem einzelnen Staat ist es verboten, in irgend
ein Vertrags- oder Bundesverhältnis zu treten oder Bünd-
nisse untereinander zu schliefsen , Kaperbriefe zu erteilen,
Münzen zu prägen, Staatspapiere in Umlauf zu setzen oder
ein anderes Zahlungsmittel als Gold- und Silbergeld zur
252 Hintrager.
Bezahlung von Schulden zu verwenden. Ferner darf kein
Staat ein Gesetz, das eine strafgerichtliche Verurteilung
enthält, oder ein solches mit rückwirkender Kraft erlassen
oder durch ein Gesetz die Verbindlichkeit von Verträgen
mindern oder Adel verleihen.
§ 2. Kein Staat darf ohne Zustimmung des Kongresses
Zölle oder Abgaben auf Ein- und Ausfuhr legen , aus-
genommen insoweit dies zur Durchführung seiner Kontroll-
gesetze durchaus notwendig ist. Der Reinertrag aller Ab-
gaben und Zölle, die in irgend einem Staate auf Ein- oder
Ausfuhr gelegt sind, fiiefst in den Staatsschatz der
Vereinigten Staaten. Alle diese Kontrollgesetze sind der
Abänderung seitens des Kongresses unterworfen.
§ 3. Kein Staat darf ohne Zustimmung des Kongresses
Tonnengeld auferlegen , Truppen oder Kriegsschiffe in
Friedenszeiten halten, irgend eine Übereinkunft oder einen
Vertrag mit einem anderen Staate oder mit einer fremden
Macht festsetzen oder in einen Krieg sich einlassen, es
sei denn, er würde tatsächlich angegriffen oder es drohe
ihm eine so augenscheinliche Gefahr, dafs kein Verzug
zulässig ist.
Artikel II. Die vollziehende Gewalt.
Abschnitt I.
§ 1. Die vollziehende Gewalt ruht in den Händen
eines Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Er bekleidet sein Amt auf die Dauer von vier Jahren und
wird zugleich mit dem Vizepräsidenten, der für den
gleichen Zeitraum gewählt wird, in folgender Art gewählt :
§ 2. Jeder Staat ernennt auf eine von seiner gesetz-
gebenden Versammlung zu bestimmende Art eine Anzahl
von Wahlmännern, die der ganzen Zahl der Senatoren und
Repräsentanten gleichkommt, zu der der Staat im Kongrefs
Zweiter Anhang. 253
berechtigt ist. Ein Semitor oder Repräsentant oder eine
Person, welche ein einträgliches oder Ehrenamt unter der
Hoheit der Vereinigten Staaten bekleidet, darf zum Wahl-
mann nicht ernannt werden.
§ 3. (Dieser Paragraph ist 1804 durch Zusatzartikel 12
ersetzt worden.)
§ 4. Der Kongrefs hat die Zeit für die Wahl der
Wahlmänner und den Tag zu bestimmen, an welchem sie
ihre Stimmen abzugeben haben. Dieser Tag soll ein und
derselbe in der ganzen Union sein.
§ 5. Niemand als ein eingeborener Bürger oder jemand,
der zurzeit der Annahme dieser Verfassung Bürger der
Vereinigten Staaten war, ist zum Präsidenten wählbar.
Auch kann niemand zu diesem Amt erwählt werden , der
nicht das 35. Lebensjahr vollendet und seit 14 Jahren in
den Vereinigten Staaten seinen Wohnsitz hat.
§ 6. Im Fall der Amtsentsetzung des Präsidenten,
seines Todes, seines Rücktritts oder seiner Unfähigkeit, die
Rechte und Pflichten seines Amtes wahrzunehmen, hat der
Vizepräsident sein Amt zu versehen. Für den Fall der
Amtsentsetzung, des Todes, des Verzichts oder der Unfähig-
keit des Präsidenten sowohl als des Vizepräsidenten ist
der Kongrefs zuständig, durch Gesetz zu bestimmen, welcher
Beamte alsdann die Befugnisse des Präsidenten ausüben
soll. Dieser Beamte hat demgemäfs das Amt des Präsidenten
zu führen, bis die Unfähigkeit beseitigt oder ein Präsident
gewählt sein wird.
§ 7. Der Präsident erhält zu bestimmten Zeiten für
seine Dienste eine Entschädigung, die während der Zeit,
für welche er erwählt ist, weder erhöht noch verringert
werden darf. Innerhalb dieser Zeit darf er weder von den
Vereinigten Staaten noch von einem einzelnen Staate irgend
welche andere Einkünfte beziehen.
254 Hintrager.
§ 8. Bevor er sein Amt antritt, hat er einen Eid oder
ein Gelöbnis dahin abzulegen:
„Ich schwöre (oder gelobe) feierlich, dafs ich das
Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten getreulich
ausüben und nach meinen besten Kräften die Ver-
fassung der Vereinigten Staaten erhalten, schützen
und verteidigen werde."
Abschnitt II.
§ 1. Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Streit-
kräfte der Vereinigten Staaten zu Wasser und zu Lande,
sowie der Miliz der einzelnen Staaten , wenn diese zur
Dienstleistung für die Vereinigten Staaten einberufen wird ;
er kann von den leitenden Beamten jeder Abteilung über
alle Gegenstände, die sich auf die Obliegenheiten der be-
treffenden Abteilung beziehen , eine schriftliche Äufserung
einverlangen. Auch hat er das Recht, Strafaufschub und
Begnadigung bei strafbaren Handlungen gegen die Ver-
einigten Staaten zu gewähren, ausgenommen im Falle eines
Strafverfahrens vor dem Senat auf Grund einer Anklage
des Repräsentantenhauses.
§ 2. Er hat das Recht, unter Beirat und mit Zu-
stimmung des Senats Verträge zu schliefsen, vorausgesetzt,
dafs zwei Drittel der gegenwärtigen Senatoren zustimmen.
Ebenso hat er unter Beirat und mit Zustimmung des
Senats Botschafter, andere diplomatische Vertreter, die
Konsuln, die Richter des höchsten Gerichtshofs und alle
anderen Beamten der Vereinigten Staaten zu ernennen,
deren Anstellung nicht auf andere Weise in dieser Ver-
fassung geregelt ist. Der Kongrefs kann jedoch gesetzlich
die Anstellung aller unteren Beamten dem Präsidenten
allein oder den Gerichten oder den Vorständen der ver-
Zweiter Anhang. 255
schiedeneu Abtei lungeu überlassen, insoweit er dies für
zweckmäfsig erachtet.
• § 3. Der Präsident hat das Recht , alle Stellen , die
während der Unterbrechung der Senatssitzungen erledigt
werden, vorläufig zu besetzen. Diese Bestallungen treten
jedoch am Schlüsse der nächsten Sitzungsperiode des
Senats aufser Kraft.
Abschnitt III.
Der Präsident hat dem Kongrefs von Zeit zu Zeit
Nachricht über die Lage der Union zu geben und dessen
Erwägung solche Mafsregeln zu empfehlen, die er für not-
wendig und zweckdienlich hält; er darf bei aufserordentlichen
Gelegenheiten beide Häuser oder eines derselben zusammen-
berufen; im Falle von Uneinigkeit unter ihnen bezüglich
der Zeit der Vertagung kann er sie auch so lange ver-
tagen, als es ihm nützlich erscheint.
Er hat Botschafter und andere diplomatische Vertreter
zu empfangen, hat Sorge für den ordnungsmäfsigen Vollzug
der Gesetze zu tragen und die Bestallungen aller Beamten
der Vereinigten Staaten auszufertigen.
Abschnitt IV.
Der Präsident, der Vizepräsident und alle bürgerlichen
Beamten der Vereinigten Staaten werden ihrer Ämter ent-
setzt, wenn sie wegen Hochverrats, Bestechung oder anderer
schwerer Verbrechen oder Vergehen vor dem Senat an-
geklagt und von demselben verurteilt werden.
Artikel III. Die richterliche Gewalt.
Abschnitt I.
Die richterliche Gewalt der Vereinigten Staaten liegt
in den Händen eines obersten Gerichtshofs und so vieler
Untergerichte als der Kongrefs von Zeit zu Zeit einsetzen
256 Hintrager.
will. Die Richter des obersten Gerichtshofes sowohl als
der Untergerichte werden auf Lebenszeit ernannt. Zu
festgesetzten Zeiten erhalten sie für ihre Dienste eine Ent-
schädigung, die während ihrer Amtsdauer nicht verringert
werden darf.
Abschnitt II.
§ 1. Die richterliche Gewalt soll sich auf alle Fälle
von Gesetzesreeht und Billigkeitsrecht erstrecken, die unter
dieser Verfassung, unter den Gesetzen der Vereinigten
Staaten und unter den Verträgen entstehen, die unter der
Hoheit derselben geschlossen sind; auf alle Fälle, welche
Botschafter, andere diplomatische Vertreter oder Konsuln
betreifen, auf alle Fälle der Admiralität und Seegerichts-
barkeit; auf Streitigkeiten, in denen die Vereinigten
Staaten Partei sind; auf Streitigkeiten zwischen zwei und
mehreren Staaten, zwischen einem Staate und den Bürgern
eines anderen Staats , zwischen Bürgern verschiedener
Staaten, zwischen Bürgern desselben Staats über Ansprüche
auf Land auf Grund von Rechtstiteln, die in verschiedenen
Staaten erworben wurden, und zwischen einem Staate oder
dessen Bürgern und fremden Staaten oder deren Bürgern.
§ 2. In allen Fällen , welche Botschafter , andere
diplomatische Vertreter und Konsuln betreffen, und in
solchen, in welchen ein Staat Partei ist, entscheidet der
oberste Gerichtshof in erster und letzter Instanz. In allen
anderen oben erwähnten Fällen aber entscheidet der oberste
Gerichtshof in der Berufungsinstanz sowohl in Rechts- als
Tatfragen , und zwar mit den Ausnahmen und unter An-
wendung der Prozefsordnung, die der Kongrefs festsetzt.
§ 3. Die Aburteilung aller Verbrechen, mit Ausnahme
der Anklagefälle vor dem Senat, erfolgt durch Geschworenen-
gerichte, und zwar in demjenigen Staate, in dem das Ver-
brechen begangen wurde. Liegt der Begehungsort nicht
Zweiter Anhang. 257
in einem der einzelnen Staaten, so bestimmt der Kongrefs
das zuständige Gericht.
Abschnitt III.
§ 1. Hochverrat gegen die Vereinigten Staaten besteht
allein in der Herbeiführung eines Krieges gegen dieselben
oder in der Gewährung von Hilfe und Unterstützung an
die Feinde derselben. Niemand darf des Hochverrats
schuldig erklärt werden ohne die eidliche Aussage zweier
Zeugen über dieselbe Tat, ausgenommen im Falle eines
gerichtlichen Geständnisses.
§ 2. Der Kongrefs ist zuständig, die Strafe des Hoch-
verrats zu bestimmen. Mit der Verurteilung wegen Hoch-
verrats darf jedoch der Verlust der Rechtsfähigkeit oder
die Vermögenseinziehung auf keine längere Zeit verbunden
werden als die Lebensdauer des Verurteilten.
Artikel IT. Verschiedene Bestimmungen.
Abschnitt I.
Öifentliche Akten und Urkunden, insbesondere ge-
richtliche Urkunden eines Staates, sollen in jedem anderen
Staate vollen Glauben haben. Der Kongrefs kann durch
allgemeine Gesetze die Art der Prüfung und die Beweis-
kraft solcher Akten und Urkunden bestimmen.
Abschnitt II.
§ 1. Die Bürger eines jeden Staates geniefsen alle
Vorrechte und Freiheiten der Bürger in den verschiedenen
Staaten.
§ 2. Eine Person, die in einem Staate wegen Hoch-
verrats oder eines anderen Verbrechens verfolgt wird,
flüchtig ist und in einem anderen Staate ergriffen wird,
soll auf Antrag der vollziehenden Gewalt des Staates, aus
Hintrager. 17
258 Hintrager.
dem sie geflüchtet, ausgeliefert und in den Staat zurück-
gebracht werden, dem die Aburteilung zusteht.
§ 3. Niemand, der in einem Staate zu Dienst oder
Arbeit nach den Gesetzen gehalten ist und in einen
anderen entflieht, soll dort infolge irgend eines Gesetzes oder
einer Bestimmung von diesem Dienst oder dieser Arbeit
befreit werden, vielmehr auf Antrag desjenigen, dem er
jenen Dienst oder jene Arbeit zu leisten verpflichtet ist,
ausgeliefert werden.
Abschnitt m.
§ 1, Neue Staaten können durch den Kongrefs in die
Union aufgenommen werden; aber es darf kein neuer
Staat innerhalb des Hoheitsgebietes eines anderen Staates
gebildet oder errichtet werden; auch darf kein Staat
durch Vereinigung von zwei oder mehr Staaten ge-
bildet werden ohne die Zustimmung der gesetzgebenden
Versammlungen der betreifenden Staaten sowohl als des
Kongresses.
§ 2. Der Kongrefs ist zuständig, hinsichtlich der
Territorien und des anderen Eigentums der Vereinigten
Staaten Verfügungen zu treffen und diesbezügliche An-
ordnungen und Bestimmungen zu erlassen. Keine Be-
stimmung dieser Verfassung darf so ausgelegt werden,
dafs dadurch den Ansprüchen der Vereinigten Staaten oder
irgendeines besonderen Staates Eintrag geschehen kann.
Abschnitt IV.
Die Vereinigten Staaten gewährleisten jedem Staat in
der Union eine republikanische Regierungsform ; sie
schützen einen jeden derselben gegen feindliche Angriffe
und auf Ansuchen der gesetzgebenden Versammlung oder
der vollziehenden Gewalt (falls jene nicht zusammenberufen
werden kann) auch gegen Aufstände im Innern.
Zweiter Anhang. 259
Artikel Y. Verfassungsänderung.
Der Kongrefs hat, wenn zwei Drittel beider Häuser es
für notwendig erachten, Zusätze zu dieser Verfassung vor-
zuschlagen oder auf das Ansuchen der gesetzgebenden
Versammlungen von zwei Drittel der einzelnen Staaten
einen Konvent zu diesem Zwecke zusammenzurufen. In
beiden Fällen gelten diese Abänderungen ihrem ganzen In-
halt und Zwecke nach als Teile dieser Verfassung, sobald
sie durch die gesetzgebenden Versammlungen von drei
Vierteln der einzelnen Staaten oder von drei Vierteln der
Mitglieder der Konvention genehmigt worden sind, je nach-
dem eine oder die andere Art der Genehmigung vom
Kongrefs bestimmt ist; vorbehalten wird, dafs keine Ver-
besserung, die vor dem Jahre 1808 gemacht wird, den
«rsten und vierten Satz im neunten Abschnitt des ersten
Artikels irgendwie verletzen, und dafs kein Staat ohne
«eine Einwilligung seines gleichen Stimmrechtes im Senat
beraubt werden darf.
Artikel VI. Staatsschulden u. a.
§ 1. Alle vor der Annahme dieser Verfassung ein-
gegangenen Verbindlichkeiten sollen ebenso gültig gegen-
über den unter dieser Verfassung vereinigten Staaten sein,
wie sie es unter den Konföderationsartikeln waren.
§ 2. Diese Verfassung und alle Gesetze der Ver-
einigten Staaten , welche gemäfs derselben erlassen
werden, und alle unter Hoheit der Vereinigten Staaten ge-
schlossenen oder noch zu schliefsenden Verträge sollen das
oberste Gesetz des Landes sein, und die Richter eines jeden
Staates sollen durch sie gebunden sein, ungeachtet aller
etwa entgegenstehenden Bestimmungen in der Verfassung
oder den Gesetzen irgend eines einzelnen Staates.
17*
260 Hintrager.
§ 3. Die vorerwähnten Senatoren und Repräsentanten,
die Mitglieder der gesetzgebenden Versammlungen der
einzelnen Staaten und alle "Verwaltuugs- und richterlichen
Beamten der Vereinigten Staaten sowohl als der einzelnen
Staaten werden durch Eid oder Gelöbnis zur Aufrecht-
erhaltung der Verfassung verpflichtet. Doch soll ein
religiöses Bekenntnis niemals zur Vorbedingung für die
Bekleidung eines Amts oder einer öffentlichen Vertrauens-
stellung unter der Hoheit der Vereinigten Staaten gemacht
werden.
Artikel TU. Annahme der Verfassung.
Die Annahme seitens neun Staaten ist zur Errichtung
dieser Verfassung zwischen den annehmenden Staaten hin-
reichend.
Zusätze und Abänderungen.
Artikel I.
Der Kongrefs darf kein Gesetz erlassen, welches die
Einführung einer Religion bezweckt, oder die freie Aus-
übung einer Religion hindert , oder die Freiheit der Rede
oder der Presse oder das Recht des Volkes verkürzt, sich
friedlich zu versammeln und bei der Regierung um Abhilfe
von Beschwerden nachzusuchen.
Artikel II.
Da eine wohleingerichtete Miliz zur Sicherheit eines
freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes,
Waffen zu tragen, nicht beschränkt werden.
Artikel III.
Kein Soldat darf in Friedenszeiten ohne Zustimmung
des Eigentümers in ein Haus einquartiert werden. In
Zweiter Anhang. 261
Kriegszeiten darf dies nur in der gesetzlich vorgeschriebenen
Weise geschehen.
Artikel IT.
Das Recht des einzelnen , hinsichtlich seiner Person,
seines Hauses, seiner Papiere und seines Eigentums gegen
unbegründete Durchsuchungen und Beschlagnahmen sicher
zu sein, darf nicht verletzt werden. Ein Haftbefehl darf
nur erlassen werden , wenn ein hinreichender, durch Eid
oder Gelöbnis unterstützter Verdachtsgrund vorhanden ist.
Der zu durchsuchende Ort und die zu verhaftenden Per-
sonen oder zu beschlagnahmenden Gegenstände sind im
Haftbefehl zu bezeichnen.
Artikel T.
Niemand soll wegen eines todeswürdigen oder eines
anderen entehrenden Verbrechens zur Verantwortung ge-
zogen werden, es sei denn auf Grund eines Beschlusses
oder einer Anklage der Grofsgeschworenen. Ausgenommen
ist der Fall einer Straftat bei der Land- oder Seemacht
oder der Miliz, wenn diese in Zeiten des Krieges und öffent-
licher Gefahr im Dienst sich befindet. Niemand darf
wegen derselben Straftat zweimal zur Verantwortung ge-
zogen oder genötigt werden , in einer Strafsache
Zeugnis gegen sich selbst abzulegen, oder anders als auf
dem ordentlichen Prozefswege des Lebens, der Freiheit
oder des Eigentums beraubt werden. Privateigentum darf
nur gegen gerechte Entschädigung für öffentliche Zwecke
entzogen werden.
Artikel VI.
In allen Strafsachen hat der Angeklagte ein Recht
auf eine baldige und öffentliche Verhandlung vor einer
unparteiischen Geschworenenbank des Staates und Bezirkes,
26^ Hintrager.
innerhalb dessen das Verbrechen begangen wurde; das zu-
ständige Gericht mufs vorher gesetzlich bestimmt sein.
Der Angeklagte ist mit dem Gegenstand und Grund der
Anklage bekannt zu machen und den gegen ihn auftretenden
Zeugen gegenüber zu stellen; er kann verlangen, dafs von
Amts wegen Entlastungszeugen geladen werden, und dafs
ihm ein rechtsgelehrter Verteidiger beigeordnet wird.
Artikel TU.
In Sachen des bürgerlichen Rechtes, in denen der
Streitwert 20 Dollars übersteigt, besteht ein Anspruch auf
Entscheidung durch Geschworene. Keine von einem
Schwurgericht festgestellte Tatsache darf von irgend einem
Gerichtshof der Vereinigten Staaten auf andere Weise
einer Nachprüfung unterzogen werden als nach den Regeln
des gemeinen Rechts.
Artikel VIII.
Übermäfsige Bürgschaften dürfen nicht gefordert, noch
übermäfsige Geldbufsen auferlegt, noch grausame und un-
gewöhnliche Strafen verhängt werden,
Artikel IX.
Die Aufzählung bestimmter Rechte in der Verfassung
soll nicht dahin ausgelegt werden, dafs dadurch andere,
dem Volke gebührende Rechte ausgeschlossen oder be-
einträchtigt werden.
Artikel X.
Die Gewalten, welche den Vereinigten Staaten durch
die Verfassung nicht übertragen sind, noch durch dieselbe
den Staaten entzogen wurden , sind den einzelnen Staaten
oder dem Volke vorbehalten.
Zweiter Anhang. 263
Artikel XI.
Die richterliche Gewalt der Vereinigten Staaten er-
streckt sich nicht auf Prozesse , die nach Gesetzesrecht
oder Billigkeitsrecht zu beurteilen sind, und die gegen
einen Staat der Vereinigten Staaten von Bürgern eines
anderen Staates, oder von Bürgern oder Untertanen irgend-
eines fremden Staates anhängig gemacht werden.
Artikel XII.
§ 1. Die Wahlmänner versammeln sich in ihren
Staaten und geben Stimmzettel für den Präsidenten und
Vizepräsidenten ab, von denen einer wenigstens kein Ein-
wohner ihres eigenen Staates sein darf. Sie bezeichnen
auf dem einen Stimmzettel die Person, welche sie zum
Präsidenten , und auf dem andern die Person , welche sie
zum Vizepräsidenten wählen. Ferner legen sie getrennte
Listen über alle Personen vor, welche zum Präsidenten,
und über alle, welche zum Vizepräsidenten Stimmen erhielten,
und über die Zahl der für jeden abgegebenen Stimmen, welche
Listen sie dann unterzeichnen und versiegelt nach dem
Sitz der Regierung der Vereinigten Staaten an den Präsi-
denten des Senats schicken. Der Präsident des Senats
öffnet alsdann in Gegenwart des Senats und des Hauses
der Repräsentanten die versiegelten Urkunden. Hierauf
werden die Stimmen gezählt. Die Person , welche die
gröfste Zahl der für den Präsidenten abgegebenen Stimmen
hat, ist Präsident, wenn diese Zahl die Mehrheit aller
Wahlmänner in sich schliefst. Falls jedoch niemand eine
solche Mehrheit erhält, so wählt sofort das Repräsentanten-
haus durch Stimmzettel den Präsidenten aus den drei
Personen, welche nach der Liste die meisten Stimmen als
Präsident erhalten haben. Bei der Wahl des Präsidenten
264 Hintrager.
werden in diesem Falle die Stimmen nach Staaten ab-
gegeben , und die Vertretung eines jeden Staates hat eine
Stimme. Die beschlufsfähige Stimmenzahl besteht zu diesem
Zwecke aus zwei Dritteln aller Staaten. Die Mehrheit
aller Staaten ist zur Wahl notwendig. Sollte aber im ge-
nannten Falle das Repräsentantenhaus den Präsidenten
nicht vor dem vierten Tag des nächstfolgenden März
wählen, so versieht der Vizepräsident das Amt des Präsi-
denten wie im Falle des Todes oder einer anderen ver-
fassungsmäfsigen Verhinderung des Präsidenten.
§ 2. Die Person, welche die gröfste Zahl der für den
Vizepräsidenten abgegebenen Stimmen erhalten hat, ist Vize-
präsident, wenn diese Zahl die Mehrheit aller Wahlmänner
in sich begreift. Wenn niemand eine solche Mehrheit er-
halten hat, so wählt der Senat den Vizepräsidenten aus
den beiden Personen auf der Liste, für die die meisten
Stimmen abgegeben sind. Die zu diesem Zwecke nötige
Stimmenzahl besteht in zwei Dritteln der ganzen Zahl der
Senatoren, und die Mehrheit aller Senatoren ist zur Wahl
notwendig.
§ 3. Niemand, der verfassungsmäfsig zum Amte eines
Präsidenten nicht wählbar ist, kann zum Vizepräsidenten
•der Vereinigten Staaten erwählt werden.
Artikel XIII.
§ 1. In den Vereinigten Staaten oder in einem Ge-
biete, das ihrer Hoheit unterworfen ist, darf weder
Sklaverei noch unfreiwillige Dienstbarbeit bestehen, aus-
genommen als Strafe für ein Verbrechen, dessen die be-
treffende Person im ordentlichen Verfahren überführt
worden ist.
§ 2. Der Kongrefs ist zuständig, diesen Artikel durch
geeignete Gesetze zur Durchführung zu bringen.
Zweiter Aubang. 265
Artikel XIY.
-" Abschnitt I.
Alle Personen, die in den Vereinigten Staaten ge-
boren oder naturalisiert und ihrer Hoheit unterworfen
sind, sind Bürger der Vereinigten Staaten und des Staates,
in welchem sie ihren Wohnsitz haben. Kein Staat darf
ein Gesetz erlassen oder durchführen, welches die Vor-
rechte oder Freiheiten der Bürger der Vereinigten Staaten
schmälern könnte; auch darf kein Staat eine Person des
Lebens, der Freiheit oder des Eigentums ohne gesetzlichen
Prozefs berauben, oder irgend einer Person innerhalb seiner
Gerichtsbarkeit den gleichen Schutz der Gesetze ver-
weigern.
Abschnitt II.
Die Zahl der Repräsentanten wird den einzelnen
Staaten nach ihrer Bevölkerungszahl zugeteilt, wobei die
volle Zahl der in einem Staate lebenden Personen mit
Ausnahme der unbesteuerten Indianer gezählt wird. Wenn
aber bei einer Wahl von Wahlmännern für den Präsidenten
und Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, bei der Wahl der
Repräsentanten zum Kongrefs, oder von Verwaltungsbeamten
und richterlichen Beamten, oder von Mitgliedern der gesetz-
gebenden Versammlung eines Staates irgendwelchen männ-
lichen Bewohnern eines solchen Staates, die 21 Jahre alt
und Bürger der Vereinigten Staaten sind, das Stimmrecht
entzogen oder irgendwie verkürzt wird, so wird, sofern
dies nicht wegen Beteiligung an einem Aufstande oder
einem anderen Verbrechen geschehen ist, die Zahl der
Repräsentanten dieses Staates verringert nach Mafsgabe
des Verhältnisses, in welchem die Zahl solcher männlicher
Bürger zu der ganzen Zahl einundzwanzigjähriger Bürger
in dem betreffenden Staate steht.
266 Hintrager.
Abschnitt III.
Niemand darf Kongrefsmitglied oder Wahlmann für
den Präsidenten oder Vizepräsidenten sein, oder irgend ein
bürgerliches oder militärisches Amt im Dienste der Ver-
einigten Staaten oder eines einzelnen Staates bekleiden,
der — sei es als Mitglied des Kongresses oder als Be-
amter der Vereinigten Staaten oder als Mitglied der ge-
setzgebenden Versammlung oder als Verwaltungs- oder
richterlicher Beamter eines Einzelstaates — einen Eid auf
die Verfassung der Vereinigten Staaten abgelegt und hier-
auf an einer Empörung oder einem Aufstande gegen sie
teilgenommen oder ihren Feinden Beistand geleistet hat.
Der Kongrefs kann jedoch durch Beschlufs einer Zwei-
drittelmehrheit eines jeden Hauses diesen Ausschliefsungs-
grund beseitigen.
Abschnitt IV.
Die Gültigkeit der öffentlichen, in gesetzlicher Weise
gemachten Schulden der Vereinigten Staaten , mit Ein-
schlufs der Schulden, die zur Zahlung von Pensionen und
Belohnungen für Dienste bei Unterdrückung von Aufstand
und Rebellion eingegangen worden sind, darf nicht in
Frage gestellt werden. Dagegen dürfen weder die Ver-
einigten Staaten noch ein Einzelstaat irgend eine Schuld
übernehmen oder zahlen, welche zur Förderung von Auf-
ruhr oder Rebellion gegen die Vereinigten Staaten ein-
gegangen worden ist; ebensowenig eine Forderung, welche
für den Verlust oder die Freilassung eines Sklaven er-
hoben wird. Alle derartigen Schulden , Verpflichtungen
und Forderungen sind als ungesetzlich und nichtig anzu-
sehen.
Abschnitt V.
Der Kongrefs ist zuständig, durch geeignete Gesetze
die Bestimmungen dieses Artikels durchzuführen.
Zweiter Anhang. 267
Artikel XV.
Das Stimmrecht eines Bürgers der Vereinigten Staaten
darf weder von den Vereinigten Staaten noch von einem
Einzelstaate wegen seiner Abstammung, Hautfarbe, oder
weil er vorher ein Sklave war, entzogen oder verkürzt
werden.
Der Kongrefs wird ermächtigt, die Bestimmungen
dieses Artikels durch geeignete Gesetzgebung durch-
zuführen.
Dritter Anhang.
Washingtons Absehiedsadresse an das Volk der
Vereinigten Staaten von Amerika.
Freunde und Mitbürger!
Da die Periode für die Neuwahl eines Bürgers, der
die vollziehende Gewalt der Vereinigten Staaten aus-
zuüben hat, nicht ferne und die Zeit schon gekommen ist,
da eure Gedanken sich damit beschäftigen müssen, die
Person zu bestimmen, welche mit diesem wichtigen Amte
betraut werden soll, so scheint es mir angezeigt, besonders
weil es zu einem bestimmteren Ausdruck der öffentlichen
Meinung führen dürfte, dafs ich euch Kenntnis gebe von
meinem Entschlüsse, nicht unter der Zahl derjenigen in
Betracht kommen zu wollen, unter denen gewählt werden soll.
Gleichzeitig bitte ich euch, mir die Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen, die Versicherung anzunehmen, dafs
dieser Entschlufs nicht gefafst worden ist ohne eine
strikte Rücksicht auf alle Pflichten eines seinem Lande
treuen Bürgers, und dafs ich — was Schweigen in meiner
Lage vermuten lassen könnte — bei Zurückziehung des
Angebots meiner Dienste nicht beeinflufst bin durch eine
Verringerung des Eifers für euer künftiges Wohl, auch
nicht durch einen Mangel an dankbarer Anerkennung der
von euch erfahrenen Güte; ich bin vielmehr erfüllt von der
Dritter Anhang. 269
Überzeugung, dafs dieser Schritt sich mit meinem Eifer
„und meiner Dankbarkeit vereinigen läfst.
Die Annahme und die Ausübung des Amtes, zu dem
eure Stimmen mich zweimal berufen haben, war für mich
ein stetes Aufopfern meiner Neigung für das Pflichtgefühl
und die Hingabe an das, was mir als euer Wunsch er-
schien.
Ich hoffte immer, es werde früher in meiner Macht
liegen, mich wieder in die Zurückgezogenheit zu begeben,
der ich wider meinen Willen entrissen worden bin. So
stark ist dieser Wunsch vor der letzten Wahl gewesen,
dafs er zur Ausarbeitung einer Adresse führte, um ihn
euch zu erklären ; aber die reifliche Erwägung des damals
kritischen Standes unserer Beziehungen zu fremden
Völkern und der einstimmige Rat von Menschen , die ein
Recht auf mein Vertrauen haben , zwangen mich den Ge-
danken aufzugeben. Ich freue mich, dafs die Lage eurer
äufseren und inneren Angelegenheiten mir es nicht länger
unmöglich macht , Neigung und Pflichtgefühl in Einklang
zu bringen , und ich bin überzeugt, dafs ihr bei der gegen-
wärtigen Lage unseres Landes meinen Entschlufs, mich
zurückzuziehen, nicht mifsbilligen werdet.
Die Gefühle, mit denen ich einst zum ersten Male
dies schwere Amt übernahm , habe ich bei der geeigneten
Gelegenheit dargelegt. In der Bekleidung desselben habe
ich mit den besten Absichten und mit den Kräften, deren
ein sehr fehlbares Urteil fähig ist, bei der Organisation
und Verwaltung unseres Staatswesens mitgewirkt. Von
vornherein war ich mir der Mangelhaftigkeit meiner
Fähigkeiten bewufst; Erfahrung hat in mir — vielleicht
noch mehr als in anderen — die Gründe verstärkt, mir
selbst zu mifstrauen , und täglich mahnt mich das
wachsende Gewicht der Jahre mehr und mehr daran, dafs
270 Hintrager.
der Schatten der Zurückgezogeüheit ebenso notwendig für
mich ist , als er mir willkommen sein wird. Ich weifs,
dafs, wenn irgendwelche Umstände meinen Diensten be-
sonderen Wert verliehen haben, diese vorübergehend waren,
und ich tröste mich in dem Glauben, dafs die Liebe zum
Vaterland meinen Abschied vom politischen Leben nicht
verbietet, zu dem Neigung und Klugheit mich einladen.
So sehr ich auch den Augenblick herbeisehne, in dem
die Laufbahn meines öffentlichen Lebens enden soll , so
läfst mein Gefühl mich doch keinen Augenblick die Schuld
der Dankbarkeit vergessen für die vielen Ehren, die mein
geliebtes Vaterland auf mich gehäuft hat, mehr noch für
das stetige Vertrauen , das es mir entgegenbrachte , und
für die Gelegenheiten, deren ich mich erfreute, meine un-
wandelbare Liebe zu zeigen durch treue und ausdauernde
Dienste, deren Nützlichkeit nicht meinem Eifer gleichkam.
Wenn diese Dienste unserem Lande genützt haben, so lafst
es zu eurem Lobe und als ein lehrreiches Beispiel in
unserer Geschichte gesagt sein, dafs — inmitten der Er-
regung irreführender Leidenschaften, inmitten von zweifel-
haften, oft entmutigenden Erscheinungen des wandelbaren
Schicksals, inmitten von Situationen, in denen oft der
Mangel an Erfolg den Geist der Kritik ermutigte — eure
stetige Unterstützung allein es gewesen ist, die die
Richtigkeit der verfolgten Pläne bewies und deren Aus-
führung garantierte. Dieser Gedanke, von dem ich tief
durchdrungen bin, wird mich bis ins Grab begleiten
als ein starker Anreiz für die unablässigen Wünsche:
dafs der Himmel euch auch fernerhin mit seinen besten
Gaben segne; dafs eure Union und eure brüderliche
Zuneigung immer bestehe; dafs die freie Verfassung,
die das Werk eurer Hände ist, heilig gehalten werde;
dafs eure Regierung in allen Teilen gekennzeichnet
Dritter Anhang. 271
sein möge durch Weisheit und Tugend, mit einem Worte,
.dafs unter den Auspizien der Freiheit das Glück des
Volkes dieser Staaten vollkommen werde durch eine
solch vorsichtige Wahrung und einen solch weisen Gebrauch
der Segnungen der Freiheit, dafs dies Volk den Ruhm
haben möge, allen Nationen, denen diese Segnungen noch
fremd sind, als ein empfehlenswertes, nachahmungswtirdiges
Vorbild zu erscheinen.
Hier sollte ich vielleicht schliefsen; allein die Sorge
für euer Wohl, die nur mit meinem Leben enden kann,
und die daraus entspringende Ahnung von Gefahren
drängen mich , bei dieser Gelegenheit euch zu ernster,
häufiger Erwägung einige Gedanken zu empfehlen, die das
Resultat von viel Überlegung und nicht unbedeutsamer
Beobachtungen sind, und die mir überaus wesentlich er-
scheinen für die Dauer eures nationalen Glücks. Ich
biete sie euch dar mit um so gröfserer Freiheit, als ihr
in denselben nur die uneigennützigen Warnungen eines
scheidenden Freundes erblicken könnt, der unmöglich aus
persönlichen Gründen in seinem Rate parteiisch sein kann.
Auch ermutigt mich die Erinnerung an die nachsichtige
Aufnahme, die der Ausdruck meiner Gefühle bei einer
früheren, ähnlichen Gelegenheit bei euch gefunden hat.
Da jede Faser eurer Herzen durchdrungen ist von der
Liebe zur Freiheit, bedarf es keiner Empfehlung meiner-
seits, diese Liebe in euch zu stärken und zu festigen.
Die Einheit der Regierung, die euch zu einem Volke
macht, ist euch nunmehr ebenfalls teuer. Mit Recht,
denn sie ist eine Hauptstütze des Gebäudes eurer wirklichen
Unabhängigkeit, — die Stütze eurer Ruhe im Innern und
eures Friedens nach aufsen, eurer Wohlfahrt, eben dieser
eurer Freiheit, die ihr so hoch schätzet. Allein es ist
272 Hintrager.
leicht vorauszusehen, dafs aus verschiedenen Gründen und
von verschiedenen Seiten viele Versuche und Anstrengungen
gemacht werden , um in eurem Geiste die Überzeugung
von dieser Wahrheit zu schwächen. Hier liegt der
Punkt in eurer politischen Festung, gegen welchen die
Batterien eurer inneren und äufseren Feinde unablässig
ihre wohl oft verborgene und hinterlistige Wirksamkeit
richten werden. Daher ist es von unendlicher Bedeutung,
dafs ihr den ungeheuren Wert eurer nationalen Union für
euer Glück als Volk und als Individuen richtig zu schätzen
wisset, dafs ihr dies Band mit unveränderlicher
Liebe pflegt, dafs ihr euch daran gewöhnt, von ihm zu
denken und zu sprechen als dem Palladium eurer poli-
tischen Sicherheit und Wohlfahrt, dafs ihr für ihre Er-
haltung wachet mit eifersüchtiger Sorgfalt und allem
entgegentretet, was auch nur den Verdacht erregen mag,
die Einheit könnte je verloren gehen, und dafs ihr mit
Entrüstung auch den leisesten Versuch zurückweiset, einen
Teil eures Landes dem übrigen zu entfremden oder die ge-
heiligten Bande zu schwächen , die jetzt die verschiedenen
Teile zusammenhalten.
Diesen Weg weist euch ebenso sehr Neigung als Vor-
teil. Auf das gemeinsame Vaterland, dessen Bürger ihr
seid durch Geburt oder Wahl, mufs mit Recht eure Liebe
sich konzentrieren. Der Name „Amerikaner", der euch in
eurer Eigenschaft als Nation gehört, mufs stets den ge-
rechten Stolz der Vaterlandsliebe mehr erheben als irgend-
ein Appell, der sich auf lokale Unterscheidungen gründet.
Von geringen Schattierungen abgesehen, habt ihr die
gleiche Religion, die gleichen Sitten, Gewohnheiten und
politischen Prinzipien. Ihr habt zusammen gekämpft und
triumphiert in einer gemeinsamen Sache ; die Unabhängigkeit
und Freiheit, die ihr besitzt, ist das Resultat gemeinsamer
Dritter Anhang. 273
• Beratungen und Anstrengungen, gemeinsamer Gefahren,
Leiden und Erfolge.
Allein so mächtig auch diese Betrachtungen auf euer
Gemüt wirken mögen, sie werden an Gewicht weit über-
troffen von Erwägungen, die sich unmittelbar an euren
Vorteil wenden; hierin findet jeder Teil unseres Landes
die am stärksten gebietenden Motive dafür, die Einheit
des Ganzen sorgfältig zu bewachen und zu bewahren.
Der Norden, unbeschränkt im Handel mit dem Süden
und geschützt durch die gleichen Gesetze einer gemein-
samen Regierung, findet in den Erzeugnissen des Südens
bedeutende neue Hilfsquellen für Handels- und Schiffahrts-
unternehmungen und wertvolle Rohstoffe für seine Industrie.
Der Süden zieht in gleicher Weise aus der Tätigkeit des
Nordens Vorteil , sieht seine Landwirtschaft wachsen und
seinen Handel sich ausdehnen. Die Seeleute des Nordens
finden ihre Schiffahrt durch die des Südens gehoben; und
da der Süden auf verschiedene Weise zur Blüte und
Hebung der gesamten nationalen Schiffahrt beiträgt,
wünscht er sich selbst den Schutz einer nationalen See-
macht. Der Osten findet in dem Handel mit dem Westen
einen wertvollen Absatz für alle Waren , die er vom Aus-
land bringt oder selbst herstellt, und er wird diesen bei
der fortschreitenden Entwicklung unserer inneren Ver-
bindungsmittel zu Lande und zu Wasser mehr und mehr
finden. Der Westen bezieht vom Osten alles, was er für
sein Wachstum und seine Bequemlichkeit braucht, und —
was vielleicht noch gröfsere Folgen hat — er ist ge-
zwungen, den sicheren Genufs des unentbehrlichen Ab-
satzes seiner eigenen Erzeugnisse dem Gewicht, dem Ein-
flufs und der Seestärke der atlantischen Seite der Union
zu verdanken; hierauf weist die unauflösliche Interessen-
gemeinschaft der Nation. Jede andere Art, auf die der
Hintrager. ^ 18
274 Hintrager.
Westen diesen wesentlichen Vorteil sich erhalten kann, .
mufs in sich unsicher sein, sei es, dafs er sich allein auf
seine Stärke stützen oder diese in einer treulosen, un-
natürlichen Verbindung mit einer fremden Macht suchen
wollte.
Wenn also jeder Teil unseres Landes ein unmittel-
bares und besonderes Interesse an der Union hat, so
müssen notwendig alle Teile in der V^ereinigung der Mittel
und Kräfte gröfsere Stärke, gröfsere Hilfsquellen, ver-
hältnismäfsig gröfsere Sicherheit gegen äufsere Gefahren
und seltenere Störung ihres Friedens durch fremde Völker
finden; und — was von unschätzbarem Werte ist — sie
verdanken der Union die Freiheit von jenen Unruhen und
Kriegen unter sich selbst, die so häufig benachbarte,
nicht unter derselben Regierung befindliche Länder treffen,
und die durch ihre eigene Rivalität zwar sehr wohl er-
zeugt werden können, aber durch fremde Bündnisse,
Neigungen und Intrigen verstärkt und erbittert würden.
Aus demselben Grunde werden sie auch der Notwendigkeit
entgehen, jene übergrofsen militärischen Schutzmafsregeln
zu ergreifen, die unter jeder Regierungsform kein Glück
für die Freiheit sind, und die der republikanischen Frei-
heit besonders gefährlich zu erachten sind. In diesem
Sinne sollte eure Union als eine Hauptstütze eurer Frei-
heit angesehen werden, und die Liebe zu dieser sollte euch
die Erhaltung jener ans Herz legen.
Diese Erwägungen sprechen eine überzeugende Sprache
für jeden klugen und tugendhaften Sinn, und sie lassen
die Erhaltung der Union als den ersten Gegenstand
unserer patriotischen Wünsche erscheinen. Besteht ein
Zweifel, ob eine Regierung ein solch grofses Gebiet
umfassen kann? Lafst die Erfahrung diesen Zweifel lösen!
In einem solchen Falle blofsen Spekulationen das Ohr zu
Dritter Anhang. 275
schenken, wäre verbrecherisch. Wir haben ein Recht, zu
hoffen, dafs eine passende Organisation des Ganzen mit
Hilfe der Tätigkeit der Regierungen der einzelnen Unter-
abteilungen dem Experiment einen glücklichen Ausgang
verschaffen werden. Es lohnt sich wohl, das Experiment
^ut und ganz zu machen. Angesichts solch mächtiger und
klarer, für alle Landesteile bestehenden Gründe für die
Union und angesichts der Tatsache, dafs die Erfahrung die
Unausführbarkeit nicht gezeigt hat, wird man stets Ver-
anlassung haben, an der Vaterlandsliebe derer zu zweifeln,
■die ihre Bande in irgendeinem Teile zu schwächen be-
strebt sind.
Wenn wir die Ursachen betrachten, die zu einer Störung
imseres Bundes führen mögen, so fällt als eine Angelegen-
heit ernster Art die Möglichkeit ins Auge, dafs die Charakte-
risierung von Parteien durch geographische Unterscheidungen
— nördliche und südliche, atlantische und westliche — je
Boden finden sollte, ein Umstand, den ränkesüchtige
Menschen zur Erzeugung des Glaubens benützen mögen,
4afs in Wirklichkeit Unterschiede lokaler Interessen und
Anschauungen bestehen. Eines der Mittel einer Partei,
um in bestimmten Bezirken Einflufs zu gewinnen, ist, die
Meinungen und Ziele anderer Bezirke zu entstellen. Ihr
könnt euch nicht genug gegen die Eifersüchteleien und
Übel schützen, die aus solchen Entstellungen hervorgehen ;
sie führen zur gegenseitigen Entfremdung derer, die
brüderliche Liebe verbinden sollte. Die Einwohner unserer
westlichen Landesteile haben kürzlich eine heilsame
Lektion dieser Art gehabt; sie haben in dem Abschlufs
des Vertrags mit Spanien, in dessen einstimmiger Rati-
fizierung durch den Senat und in der allgemeinen Be-
friedigung, die dieses Ereignis im ganzen Lande hervorrief,
«inen deutlichen Beweis dafür erblickt , wie . unbegründet
18*
276 Hintrager.
die unter ihnen ausgestreuten Verdächtigungen waren, als
ob die Bundesregierung oder die atlantischen Staaten eine
ihrer Interessen unfreundliche Politik verfolgten; sie sind
Zeugen des Abschlusses zweier Verträge gewesen, mit
Grofsbritannien und mit Spanien, die ihnen alles sichern,
was sie hinsichtlich unserer auswärtigen Beziehungen für
ihr Gedeihen nur wünschen konnten. Werden sie nun nicht
künftig so weise sein, die Erhaltung dieser Vorteile bei der
Union zu suchen, die sie ihnen verschaffte? Werden sie
nicht künftig taub für etwaige Ratgeber sein, die sie von
ihren Brüdern trennen und mit Fremden verbinden
möchten ?
Für die Wirksamkeit und die Dauerhaftigkeit eurer
Union ist eine Regierung für das Ganze unentbehrlich.
Keine Allianz der einzelnen Teile, so strikt sie auch sein
möge, vermag die Union ganz zu ersetzen; denn sie
müfste die Verletzungen und Unterbrechungen erfahren,
unter denen Allianzen zu allen Zeiten gelitten haben. In
der Erkenntnis dieser wichtigen Wahrheit habt ihr euren
ersten Versuch verbessert durch die Annahme einer Ver-
fassung, welche besser als eure frühere, einen innigen
Bund und die zweckentsprechende Besorgung eurer gemein-
samen Angelegenheiten garantiert. Diese Regierung, die
das Ergebnis unserer eigenen , unbeeinflufsten und un-
beengten Wahl ist, die angenommen wurde nach gründlicher
Untersuchung und reiflicher Überlegung, die völlig frei-
heitlich ist in ihren Grundsätzen und in der Verteilung^
ihrer Gewalten, die Sicherheit mit Kraft vereinigt und eine
Bestimmung für ihre eigene Verbesserung vorsieht, —
diese Regierung hat einen gerechten Anspruch auf euer
Vertrauen und eure Unterstützung. Achtung vor ihrer
Autorität, Gehorsam gegen ihre Gesetze, Fügsamkeit gegen
ihre Anordnungen sind Pflichten , die die grundlegenden,
Dritter Anhang. 277
Prinzipien wahrer Freiheit auferlegen. Die Basis unseres
politischen Systems ist das Recht des Volks, seine Ver-
fassungen zu machen und zu ändern ; aber die Verfassung,
die einmal besteht, soll heilig gehalten werden von allen,
bis sie durch einen ausdrücklichen und authentischen
Willensakt des ganzen Volks geändert ist. Gerade die
Idee der Macht und des Rechts des Volks, eine Regierung
einzusetzen, setzt die Pflicht des einzelnen Individuums
voraus, der eingesetzten Regierung zu gehorchen.
Alle Hemmnisse, die dem Vollzug der Gesetze bereitet
werden, alle Kombinationen und Vereinigungen, die, so un-
verfänglich sie auch erscheinen mögen, zum wahren Ziele
haben , die ordnungsmäfsigen Erwägungen und Ent-
schliefsungen der gesetzlichen Autoritäten zu leiten, zu
hindern oder durch Furcht zu beschränken, laufen diesem
Grundprinzip zuwider und haben eine unheilvolle Tendenz.
Sie dienen dazu, Parteien zu organisieren, diesen eine
künstliche und aufserordentliche Macht zu geben, an Stelle
des Willens der Nation den Willen einer Partei zu setzen,
die oft eine kleine, aber ränkevolle und unternehmende
Minorität des Gemeinwesens ist; und sie machen, je nach
dem wechselnden Siege der verschiedenen Parteien, die
Staatsverwaltung eher zum Spiegel unharmonischer und
widersprechender Parteiprojekte als zum Organ überein-
stimmender und gesunder Pläne, die gemeinsame Be-
ratungen hervorgebracht, und entgegengesetzte Interessen
modifiziert haben.
Wohl mögen dann und wann Kombinationen und Ver-
einigungen der genannten Art allgemeine Zwecke fördern;
allein sie pflegen im Laufe der Zeit und Dinge mächtige
Maschinen zu werden, mittels deren schlaue, ehrgeizige
und gewissenlose Menschen die Macht des Volkes stürzen,
um selbst die Zügel der Regierung in die Hand zu nehmen ;
278 Hintrager.
und dann zerstören sie eben diese Maschine, die sie zu
ihrer ungerechten Herrschaft emporgehoben hat.
Für die Erhaltung eurer Regierung und für den Be-
stand eurer gegenwärtigen glücklichen Lage ist es nicht
allein nötig, dafs ihr jeder ordnungswidrigen Opposition
gegen ihre gesetzliche Autorität konsequent entgegentretet,
sondern auch dafs ihr mit Vorsicht dem Geiste prinzipieller
Neuerungen widerstehet, so richtig auch seine Yorwände
erscheinen mögen. Eine Art des Angriffs mag darin be-
stehen, dafs auf verfassungsmäfsigem Wege Änderungen
herbeigeführt werden, welche die Kraft des Systems
schwächen und so das untergraben, was nicht unmittelbar
umgestürzt werden kann. Bei allen Änderungen . zu
denen ihr veranlafst werden möget, behaltet stets im Auge,
dafs Zeit und Gewohnheit zur Bildung des wahren
Charakters einer Regierung mindestens ebenso notwendig
ist, als zur Bildung anderer menschlicher Einrichtungen,
dafs Erfahrung der sicherste Mafsstab ist, um die wahre
Tendenz der bestehenden Verfassung eines Landes zu be-
stimmen , dafs die Leichtigkeit der Änderung zu fort-
währendem Wechsel nach Mafsgabe von Ansichten und
Meinungen führt. Und behaltet insbesondere das im Auge,
dafs zur wirksamen Wahrung eurer gemeinsamen Interessen
in einem Lande von der Ausdehnung des unserigen eine
Regierung unentbehrlich ist, die so viel Kraft besitzt, als
sich mit der vollkommenen Sicherheit der Freiheit ver-
einbaren läfst. Die Freiheit selbst wird in einer solchen
Regierung, deren Gewalten richtig verteilt und bemessen
sind, den sichersten Wächter finden. Sie ist in der Tat
kaum etwas anderes als ein leerer Name da, wo die
Regierung zu schwach ist, um den Unternehmungen der
Parteien zu widerstehen, um jedes Glied der Gesellschaft
in den gesetzlich vorgeschriebenen Grenzen zu halten und
Dritter Anhang. 279
allen den sicheren und ruhigen Genufs der Rechte der
Person und der Vermögensrechte zu gewährleisten.
Ich habe euch schon auf die Gefahren von Parteien
im Staate hingewiesen , mit besonderer Beziehung auf
geographische Unterscheidungen als Grundlage derselben.
Nun lafst mich an eine umfassende Betrachtung dieses
Gegenstandes gehen und euch auf das ernstlichste vor den
unheilvollen Wirkungen des Parteigeistes im allgemeinen
warnen.
Unglücklicherweise ist dieser Geist untrennbar von
unserer Natur; denn er hat die stärksten Leidenschaften
des menschlichen Geistes zur Wurzel. Er existiert in ver-
schiedenen Formen unter allen Regierungen, mehr oder
weniger gedämpft, geleitet oder unterdrückt; aber unter
republikanischer Regierungsform erscheint er in seiner
gröfsten Üppigkeit und ist in Wahrheit ihr schlimmster
Feind.
Die abwechselnde Herrschaft einer Partei über die
andere, die durch den alle Parteigegensätze naturgemäfs
beseelenden Rachegeist verschärft wird — ein Geist , der
in verschiedenen Zeiten und Ländern zu den entsetzlichsten
Ausschreitungen führte — , ist nichts anderes als eine
schreckliche Despotie, die schliefslich zu einer dauernden
wird. Die Unordnungen und Leiden, welche folgen, machen
den Geist der Menschen nach und nach geneigt, Sicherheit
und Ruhe in der absoluten Macht eines Individuums zu
suchen; und früher oder später benützt der Leiter einer
führenden Partei, der fähiger oder glücklicher ist als seine
Gegner, diese Geneigtheit zu dem Zwecke, sich selbst auf
den Ruinen der Freiheit des V^olkes zu erheben.
Aber auch wenn wir an diese äufserste Folge nicht
denken wollen (die übrigens nicht völlig aufser acht ge-
280 Hintrager.
lassen werden sollte), so sind doch die gewöhnlichen und
dauernden Übel des Parteigeistes grofs genug, um es einem
weisen Volke im eigensten Interesse zur Pflicht zu machen,
jenen Geist zu entmutigen und zu beschränken.
Er bewirkt stets eine Zersplitterung der öffentlichen
Körperschaften und eine Schwächung der Regierung. Er
erregt das Gemeinwesen durch grundlose Eifersüchteleien
und falschen Lärm. Er pflegt die Feindseligkeit des einen
Teils gegen den andern. Er schürt gelegentlich Aufruhr
und Erhebung. Er öfi"net fremden Einflüssen und der
Korruption die Türe; diese finden durch die Kanäle der
Parteileidenschaften leicht Zutritt selbst zu der Regierung.
So wird die Politik und der Wille eines Landes denen
eines anderen unterworfen.
Man hört wohl die Ansicht, dafs Parteien in freien
Ländern nützliche Beschränkungen der Staatsregierung
sind und dazu dienen, den Geist der Freiheit wachzuhalten.
Dies mag bis zu einem gewissen Grade wahr sein, und in
Ländern mit monarchischer Regierungsform mag der
Patriot mit Nachsicht, wenn nicht mit Gunst, auf den
Parteigeist schauen. Aber unter demokratischen Regierungs-
formen, da wo die Wahlen allein die Regierung bestimmen,
darf der Parteigeist nicht ermutigt werden. Sicher wird
stets genug davon für jeden heilsamen Zweck vorhanden
sein ; das liegt in ihrer Natur. Vielmehr sollte angesichts
der steten Gefahr der Ausschreitung das Bestreben dahin
gehen, den Parteigeist durch die Kraft der öfl'entlichen
Meinung zu besänftigen und zu beruhigen. Er ist ein
nicht zu erstickendes Feuer; daher ist stete Wachsamkeit
nötig, um zu verhindern, dafs es aufflamme und verzehre,
anstatt zu wärmen.
Ebenso wichtig ist es, dafs die in einem freien Lande
bestehende Art zu denken die Regierenden zur Vorsicht
Dritter Anhang-. 281
mahne, sich streng innerhalb ihrer verfassungsmäfsigen
Grenzen zu halten und in der Ausübung der Gewalten
eines Departements nicht in ein anderes überzugreifen.
Der Geist des Übergriffs führt zur Konsolidierung der
Gewalten aller Departements in eines und erzeugt, wie
auch die Regierungsform sein mag, eine wirkliche Allein-
herrschaft. Dafs dem so ist, zeigt schon ein erster Blick
darauf, wie sehr die Menschen die Macht lieben und ge-
neigt sind , sie zu mifsbrauchen. Dafs es notwendig ist,
die Ausübung politischer Gewalt wechselseitig zu be-
schränken (reciprocal checks), indem dieselbe getrennt und
in verschiedenen Depositorien verteilt und jedes der-
selben zum Wächter des öffentlichen Wohls gegen Angriffe
der anderen gemacht wird, das hat die Erfahrung in
alter und neuer Zeit gelehrt, zum Teil in unserem
eigenen Lande und unter unseren eigenen Augen. Diese
Sehranken zu erhalten ist ebenso notwendig, als sie zu er-
richten. Wenn nach der Ansicht des Volkes die Verteilung
und Gestaltung der verfassungsmäfsigen Gewalten in
irgend einer Hinsicht falsch ist, dann lafst sie verbessert
werden auf dem in der Verfassung vorgesehenen Wege.
Aber duldet keine Änderungen durch Usurpation; denn
obwohl dies in einem einzelnen Falle ein Mittel zum
Guten sein mag, so ist es doch die gewöhnliehe Waffe,
mit welcher freie Regierungen zerstört werden. Ein
solcher Präzedenzfall wird stets mehr dauernd schaden,
als er vorübergehend nützen kann.
Unentbehrliche Stützen aller Anlagen und Gewohn-
heiten, die zu politischem Gedeihen führen, sind Religion
und Moral. Vergebens wird der seine Vaterlandsliebe ge-
priesen wünschen , der daran arbeitete , diese starken
Säulen menschlichen Glücks zu untergraben, diese festesten
Stützen der Pflichten der Menschen und Bürger. Der
282 Hintraojer.
reine Politiker wie der fromme Mensch raufs sie gleich
achten und pflegen. Bände würden nicht genügen , alle
ihre Verknüpfungen mit dem Glück des einzelnen und der
Gesamtheit nachzuweisen. Lafst uns nur einmal die Frage
aufwerfen: Wo bleibt die Sicherheit für Eigentum, für
Ehre , für Leben , wenn das Gefühl einer religiösen Ver-
pflichtung den Eid verläfst, der das Mittel der Wahrheits-
erforschung vor Gericht ist? Die Annahme wollen wir
mit Vorsicht dahingestellt sein lassen, dafs Moral aufrecht-
erhalten werden könne ohne Religion. So grofs auch der
Einflufs höherer Bildung auf besonders veranlagte Naturen
sein mag, Vernunft und Erfahrung verbieten uns zu er-
warten, dafs die Moral eines Volkes unter Ausschlufs
religiöser Grundlagen bestehen kann.
Es ist im wesentlichen wahr, dafs Tugendhaftigkeit
und Sittlichkeit zur Lebenskraft einer Volksregierung ge-
hören. Dies trifft fürwahr mehr oder weniger für jede
freie Regierungsform zu. Wie sollte ein aufrichtiger
Freund derselben gleichgültig einem Versuche zusehen, das
Fundament des Gebäudes zu erschüttern?
Ein Gegenstand ganz besonderen Anliegens sei euch
die Förderung aller Einrichtungen zur allgemeinen Ver-
breitung von Wissen. In dem Mafse, als die Struktur
einer Regierung der öffentlichen Meinung Kraft gibt, ist
es wesentlich , dafs die öffentliche Meinung aufgeklärt ist.
Als eine sehr wichtige Quelle der Kraft und der
Sicherheit pfleget den öffentlichen Kredit. Eine Art, ihn
zu erhalten, ist, ihn so sparsam als möglich zu gebrauchen,
durch Pflege des Friedens Veranlassungen zu Ausgaben zu
vermeiden, aber auch dessen eingedenk zu sein, dafs durch
rechtzeitige Ausgaben zur Vorbereitung für die Gefahr
oft viel gröfsere Ausgaben zu ihrer Abwehr erspart
werden. Vermeidet grofse Schulden anzuhäufen, nicht
Dritter Anhang. , 283
allein dadurch, dafs ihr keine Gelegenheiten zu Ausgaben
schaift, sondern auch dadurch, dafs ihr euch nach Kräften
bemüht, in Friedenszeiten die Schulden unvermeidlicher
Kriege zu tilgen, anstatt in kleinlicher Weise auf die
Nachkommenschaft eine Last zu wälzen , die wir selbst
tragen sollten. Zwar liegt die Ausführung dieser Grund-
sätze in den Händen eurer Vertreter, allein es ist not-
wendig, dafs die öffentliche Meinung dabei mitwirke. Um
ihnen die Erfüllung ihrer Pflicht zu erleichtern, ist es
wesentlich, dafs ihr euch stets vergegenwärtigt, dafs zur
Tilgung von Schulden Einkünfte da sein müssen, dafs man,
um Einkünfte zu haben , Steuern auferlegen mufs , dafs
keine Steuern erfindlich sind, die nicht mehr oder weniger
unbequem und unangenehm sind, und dafs die un-
vermeidlichen Schwierigkeiten bei der Wahl der zu be-
isteuernden Gegenstände ein dringender Grund dafür sein
sollte, das Verhalten der Regierung in dieser Angelegenheit
mit Billigkeit und Wohlwollen zu beurteilen und sich den
Mafsregeln zu fügen, die das öifentliche Interesse zur Be-
schaffung von Einkünften erheischen mag.
Beobachtet Treu und Glauben und Gerechtigkeit gegen
alle Nationen, pfleget Frieden und Eintracht mit allen.
Religion und Moral machen dies zur Pflicht; und ist es
möglich, dafs eine gute Politik diese Pflicht nicht eben-
falls auferlegt? Es wird einer freien, aufgeklärten und
in nicht ferner Zeit auch grofsen Nation würdig sein, der
Menschheit das hochherzige und neue Beispiel eines Volks
zu geben , das stets von Gerechtigkeit und Wohlwollen ge-
leitet wird. Wer wollte zweifeln, dafs die Früchte eines
solchen Tuns im Lauf der Zeiten und Dinge reichlich all
den Verlust an vorübergehenden Vorteilen ersetzen werden,
die die Treue für jene Prinzipien mit sich bringen mag?
Ist es möglich, dafs die Vorsehung das dauernde Glück
284 Hintrager.
einer Nation nicht mit ihrer Tugend verknüpft hat?
Jedes Gefühl, das die menschliche Natur veredelt, empfiehlt
das Experiment. Sollten ihre Laster es unmöglich
machen ?
Zur Ausführung eines solchen Planes ist nichts
wesentlicher , als dafs dauernde , eingefleischte Antipathien
gegen einzelne Nationen ebenso ausgeschlossen sind wie
leidenschaftliche Sympathien für andere, dafs vielmehr
gerechte und freundschaftliche Gefühle gegen alle gehegt
werden. Die Nation, die gegen eine andere gewohnheitsmäfsig
Hafs oder Liebe empfindet, ist in gewissem Sinne ein Sklave.
Sie ist ein Sklave ihrer Feindseligkeit oder ihrer Liebe;
denn die eine wie die andere genügt, sie vom Wege ihrer
Pflicht und ihresVorteils abzulenken. Herrscht bei einemVolke
Antipathie gegen ein anderes, so ist jedes leicht geneigt,
das andere zu beleidigen und zu verletzen, sich an gering-
fügige Verdachtsgründe zu halten, hochmütig und un-
zugänglich zu sein, wenn zufällige oder geringe Anlässe
zu Differenzen sich einstellen. Daher häufige Kollisionen,
eigensinnige, erbitterte und blutige Kämpfe. Das Volk,
das sich von Übelwollen und Erbitterung leiten läfst,
zwingt oft die Regierung zum Kriege entgegen den Er-
wägungen einer guten Politik. Die Regierung nimmt oft
auch Teil an der Voreingenommenheit des Volkes und tut
aus Leidenschaft, was Vernunft verwerfen würde; sie stellt
gelegentlich auch die Erregung des Volkes in den Dienst
kriegerischer Projekte, die Stolz, Ehrgeiz und andere ver-
derbliche Motive erzeugt haben. Oft ist der Friede, hier
und da wohl auch die Freiheit einer Nation das Opfer ge-
wesen.
In gleicher Weise erzeugt eine leidenschaftliche Zu-
neigung eines Volkes zu einem anderen mancherlei Übel.
Die Sympathie für die begünstigte Nation erzeugt leicht
Dritter Anhang. 285
die Illusion eingebildeter gemeinsamer Interessen in
Fällen, in denen solche nicht vorhanden sind, und über-
trägt die Feindschaften des einen Volkes auf das andere;
sie verleitet das eine zur Teilnahme an den Streitigkeiten
und Kriegen des anderen, ohne dafs hierzu ein hinreichender
Grund geboten wäre. Sie führt auch dazu , dafs der be-
günstigten Nation Privilegien gewährt werden, die man
anderen versagt, und dafs hierdurch in zweifacher Weise
die gewährende Nation Schaden nimmt: einmal, indem sie
unnötigerweise das aufgibt, was sie hätte behalten sollen,
sodann dadurch, dafs sie Eifersucht, Mifsgunst und den
Wunsch der Vergeltung in denen erregt, denen die
Privilegien vorenthalten werden. Sie gewährt ferner ehr-
geizigen, schlechten und irregeführten Bürgern Gelegenheit,
die Interessen ihres Vaterlands zu verraten oder preis-
zugeben , — was ohne Hafs , gelegentlich sogar mit
Popularität geschehen mag, — und unter dem Deckmantel
ehrlicher Schulderfüllung, löblicher Fügsamkeit gegenüber
der öffentlichen Meinung und dem guten Eifer für das all-
gemeine Wohl die niedrigen oder törichten Machinationen
des Ehrgeizes, der Verdorbenheit und der Dummheit zu
verbergen.
Für den wahrhaft aufgeklärten und unabhängigen
Vaterlandsfreund sind solche Verbindungen mit fremden
Nationen ein Gegenstand besonderer Beunruhigung, da sie
fremdem Einflufs unzählige Wege öffnen. Wie viele Ge-
legenheiten bieten sie, in die Parteiangelegenheiten sich
einzumischen, die Kunst der Verführung zu üben, die
öffentliche Meinung irrezuleiten, die Ratgeber des Volks
zu beeinflussen oder zu bedrohen! Besteht eine solche
Verbindung zwischen einer kleinen, schwachen mit einer
grofsen , starken Nation , so verdammt sie jene dazu , der
Trabant der letzteren zu sein.
286 Hintrager.
Gegen die Ränke und Nachstellungen fremder Einflüsse
— ich beschwöre euch Mitbürger, mir zu glauben —
mufs die Eifersucht eines freien Volkes stets auf der
Hut sein; denn Geschichte und Erfahrung beweisen, dafs
fremder Einflufs einer der gefährlichsten Feinde einer
republikanischen Regierung ist. Aber diese Eifersucht
mufs unparteiisch sein, wenn sie nützlich sein soll; andern-
falls wird sie zum Werkzeug eben dieses Einflusses, anstatt
ihn abzuwehren. Zu grofse Parteilichkeit für eine fremde
Nation und zu grofse Abneigung gegen eine andere lassen
diejenigen, die davon beseelt sind, die Gefahr nur auf einer
Seite sehen und dienen dazu, auf der anderen die Künste
der Beeinflussung zu verdecken oder gar zu unterstützen.
Wahre Patrioten, die den Intrigen des Günstlings wider-
stehen möchten, werden verdächtigt und verhafst. während
dessen Werkzeuge und die Getäuschten das Vertrauen und
den Beifall des Volkes dafür finden, dafs sie seine Interessen
preisgeben.
Die grofse Verhaltungsmafsregel im Verkehr mit
fremden Völkern ist für uns die, unsere Handelsbeziehungen
auszudehnen, allein so wenig als möglich in politische Be-
ziehungen zu ihnen zu treten. Soweit wir schon Ver-
pflichtungen eingegangen haben, lafst uns nach Treu und
Glauben sie erfüllen. Allein hier lafst uns halten.
Europa hat eine Anzahl wesentlicher Interessen, die
für uns keine oder nur sehr geringe Bedeutung haben.
Daher mufs Europa häufig in Diff'erenzen verwickelt
werden, deren Gründe unseren Angelegenheiten im wesent-
lichen fremd sind. Es wäre deshalb unklug, wollten wir
uns durch künstliche Bande in die regelmäfsigen Ver-
änderungen seiner Politik oder in die Kombinationen und
Kollisionen seiner Bündnisse und Feindschaften verwickeln.
Unsere getrennte und entfernte Lage rät und er-
Dritter Anhang. 287
möglicht uns, einen anderen Kurs zu verfolgen. Wenn wir
ein Volk unter einer starken Regierung bleiben, so ist die
Zeit nicht mehr ferne, da wir von äufseren Feinden nicht
mehr viel zu fürchten brauchen ; da wir eine solche Haltung
einnehmen können , dafs unsere Neutralität , falls wir sie
zu irgend einer Zeit beschliefsen , wohl geachtet wird;
da kriegerische Nationen sich wohl hüten werden, uns
herauszufordern, und da wir zwischen Frieden und Krieg
wählen können, wie unser Interesse, geleitet von Ge-
rechtigkeit, uns rät.
Warum sollten wir die Vorteile einer solch eigen-
artigen Lage aufgeben? Warum unseren Boden verlassen,
um auf fremdem zu stehen? Warum sollten wir unser
Schicksal mit dem irgend eines Teils Europas verknüpfen
und dadurch unseren Frieden und unsere Wohlfahrt in die
Netze des Ehrgeizes, der Rivalitäten und Interessen, der
Stimmungen und Launen Europas verwickeln?
Die richtige Politik für uns ist, frei von dauernden
Allianzen mit irgend einem Teil der fremden Welt zu
steuern. Ich meine das natürlich nur, insoweit wir zur Zeit
die Freiheit haben, dies zu tun, denn ich möchte nicht dahin
verstanden werden, als predigte ich Untreue gegen be-
stehende Verbindlichkeiten. Daher wiederhole ich: Haltet
bestehende Verträge in ihrem wahren Sinne. Aber meines
Erachtens ist es unnötig und wäre es unklug, sie aus-
zudehnen.
Wenn wir darauf bedacht sind, unsere Landesver-
teidigung mit geeigneten Mitteln in einem Achtung ge-
bietenden Stande zu halten , so können wir in aufser-
ordentlichen Notfällen zu vorübergehenden Bündnissen
getrost unsere Zuflucht nehmen,
Politik, Menschlichkeit und Vorteil empfehlen in
gleicher Weise Eintracht und einen freien Verkehr mit
288 Hintrager.
allen Völkern. Aber selbst unsere Handelspolitik sollte
einen stets gleichmäfsigen, unparteiischen Kurs verfolgen;
sie sollte ausschliefsliche Begünstigungen oder Vorzüge
weder gewähren noch suchen , bei dem natürlichen Gang
der Dinge Rats sich erholen und durch sanfte Mittel, nicht
durch Gewalt, die Handelswege teilen und vervielfältigen.
Sie sollte mit fremden Mächten die hergebrachten Regeln
des Verkehrs festsetzen , um dem Handel einen stetigen
Kurs zu geben, die Rechte unserer Kaufleute zu bestimmen
und die Regierung in den Stand zu setzen , sie zu unter-
stützen; und diese Regeln sollten auf Zeit, so gut als Um-
stände und Meinungsunterschiede es immer gestatten, fest-
gesetzt und von Zeit zu Zeit aufgegeben oder geändert
werden , je nachdem Erfahrung und Verhältnisse dies ge-
bieten. Unsere Handelspolitik soll stets im Auge behalten,
dafs es eine Torheit ist, wenn ein Volk uneigennützige
Vergünstigungen von einem anderen erwartet, dafs ein Volk,
was es auch in dieser Art empfangen möge, mit einem
Teil seiner Unabhängigkeit bezahlen mufs, und dafs es da-
durch in die Lage kommen mag, wahre Werte für schein-
bare Vergünstigungen hingegeben zu haben und dazu noch
des Undanks geziehen zu werden. Keinen gröfseren Irrtum
kann es geben, als darauf zu warten oder zu rechnen, dafs
eine Nation einer andern wahre Vergünstigungen erzeige.
Dies ist eine Illusion, die die Erfahrung beseitigen mufs,
und die ein gerechter Stolz aufgeben sollte.
Wenn ich euch, meine Landsleute, diese Ratschläge
eines alten, liebenden Freundes darbiete, so wage ich nicht
zu hoffen, dafs sie den tiefen und dauernden Eindruck
machen werden, den ich wünschen möchte, dafs sie den
üblichen Sturm der Leidenschaften bezähmen oder dafs sie
verhindern werden, dafs unsere Nation die Bahn wandeln
wird, die bisher die Bestimmung der Völker gewesen ist,
Dritter Anhaoor. 289
Aber wenn ich mir auch nur damit schmeicheln darf, dafs
diese Ratschläge teilweise und gelegentlich von Nutzen
sein mögen, dafs sie dann und wann hervortreten, um das
Wüten des Parteigeistes zu mäfsigen, vor fremden Intrigen
zu warnen und gegen die Täuschungen angeblicher
Vaterlandsliebe zu schützen, so werde ich in dieser Hoffnung
den vollen Lohn für all die Sorge um euer Wohl finden,
die mir diese Zeilen diktiert hat.
Inwieweit ich in der Erfüllung meiner Amtspflichten
von den dargelegten Grundsätzen mich leiten liefs, das
müssen die Staatsdokumente und andere Beweismittel
meines Verhaltens euch und der Welt zeigen. Mich selbst
versichert mein Gewissen, dafs ich wenigstens geglaubt
habe, von diesen Grundsätzen geleitet zu sein.
Was den immer noch dauernden Krieg in Europa be-
trifft, so enthält meine Proklamation vom 22. April 1793
meinen Standpunkt. Der Geist dieser Mafsregel , die ihr
und eure Vertreter in beiden Häusern des Kongresses ge-
billigt habt, hat mich stets beherrscht, unbeeinflufst durch
irgendwelche Versuche, mich davon abzubringen.
Nach sorgfältiger Prüfung und mit Hilfe der besten
Aufklärung, die ich erhalten konnte, habe ich die Über-
zeugung gewonnen, dafs unser Land nach Lage der Sache
nicht nur ein Recht hatte, eine neutrale Stellung ein-
zunehmen, sondern dafs auch Pflicht und Interesse dies
geboten. War diese Stellung einmal genommen, so be-
schlofs ich, sie mit Mäfsigkeit, Ausdauer und Festigkeit
zu behalten, insoweit dies von mir abhängt.
Es ist nicht nötig, die Erwägungen im einzelnen
wiederzugeben, die diesen Standpunkt berechtigt erscheinen
lassen. Nur das will ich bemerken, dafs meines Wissens dieses
Recht nicht nur von keiner der kriegführenden Mächte be-
stritten, dafs es vielmehr von allen zugestanden worden ist.
Hintrager. 19
290 Hintrager.
Schon ein Umstand allein heifst uns neutral bleiben,
nämlich die Verpflichtung, welche Gerechtigkeit und
Menschlichkeit jeder Nation auferlegen , Friede und
Freundschaft mit anderen Nationen nach Möglichkeit zu
bewahren.
Die Gründe des eigenen Vorteils für unser Verhalten
tiberlasse ich am besten eurer eigenen Erwägung und Er-
fahrung. Für mich lag ein Hauptmotiv darin, dafs wir
für unser Land Zeit gewinnen müssen, um seine noch
jungen Einrichtungen zu festigen und auszugestalten, und
sich ohne Unterbrechung zu dem Grade von Stärke und
innerem Halt zu entwickeln, der notwendig ist, um es
— menschlich gesprochen — zum Herrn seines Schicksals
zu machen.
Obwohl ich bei dem Gedanken an meine Amtsführung
keiner absichtlichen Fehler mir bewufst bin, so empfinde
ich doch meine Mängel zu sehr, als dafs ich es nicht für
wahrscheinlich halten sollte, dafs ich viele Fehler gemacht
habe. Welche dies auch sein mögen, so bitte ich den
Allmächtigen inbrünstig, dafs er die Übel abwende oder
lindere, zu denen jene Fehler führen mögen. Auch werde
ich mich der Hoffnung hingeben, dafs mein Land auf sie
immer mit Nachsicht schauen wird, und dafs, nachdem ich
45 Jahre meines Lebens mit redlichem Eifer seinem
Dienste geweiht habe, die Mängel ungenügender Fähig-
keiten vergessen werden, wie ich selbst bald zur ewigen
Ruhe eingehen werde.
In dieser wie auch in anderer Hinsicht baue ich auf die
Güte meines Vaterlandes. Beseelt von der ebenso innigen
als natürlichen Liebe zu ihm, in welchem meine und
meiner Ahnen Wiege stand, geniefse ich jetzt schon das
Vorgefühl von jener Zurückgezogenheit, von der ich mir
das reine, süfse Glück verspreche, unter meinen Mit-
Dritter Anhang. 291
bürgein den wohltätigen Einflufs guter Gesetze unter einer
freien Regierung zu empfinden — was stets der Lieblings-
gegenstand meines Herzens gewesen ist — , und an dem
herrlichen Lohne unserer gemeinsamen Sorgen , Mühen
und Gefahren teilzunehmen.
Vereinigte Staaten, den 17. September 1796.
George Washington.
19*
Pierersche Hof buchdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenljurc
18111
DATE DUE
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5'c8
1
KECD Jür:
LC 19G9
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