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Full text of "Wiener Eranos; zur fünfzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Graz, 1909"

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WIENER  ERANOS 


ZUR  FÜNFZIGSTEN  VERSAMMLUNG 

DEUTSCHER  PHILOLOGEN  UND  SCHULMÄNNER 

IN  GRAZ  1909 


WIEN 
ALFRED  HOLDER 

1909. 


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641272 


Alle    Rechte    vorbehalten. 


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rPAMMATIKHA  HAfAßN  TE  AIAASKAAIIIN  SOa>()l  AMPE2 
ASHASIOI  XAOEPAS  ASTf  TOAE  SirPIAS 

HAÖET'  A0HNAIH2  AE  BIENNAIHS  EPANISTAI 

XAIPEIN  nOAA'  rJVIIN  TQIAE  AEPOrS'  EPANQI 

Q2  Ea>'  OMO<I>POSrNHI  6'  OMOE0NEIHI  T'ArAnHTOIS 
KAI  nEPl  KAAAIXTÜN  SrMMAXIHI  nOAEMOr. 


iMiAi/r. 


Seite 

I.  Th.  Gomperz,  Philodem   und  die  aristotelische  Poetik 1 

II.  H.  V.  Arnim,  Pindars  Päan  für  die  Abderiten 8 

III.  S.M ekler,  Zur  Farce  von  Oxyrhynchos 20 

IV.  A.  Kappe  1  mach  er.  Zu  den  Kretern  des  Euripides 26 

V.  A.  R.  V.  Kleemann,  Piaton  und  Prodikos 38 

\1.  M.Ni stier,  Die  Gedankenabfolge  in  der  pseudoxenophontischen  lli9'?;»'a«(>j' 

Tcolneia  und  die  UmsteUungsversuche 55, 

VII.  K.  Mras,  Lueian  und  die   ..Neue  Komödie" 77 

VIII.  K,  Burkhard,  Johannes  von  Damaskus'  Auszüge  aus  Nemesius     ....  89 

IX.  .T.Keil,  Meter  Hipta 102 

X.  R.  Weißhäupl,  Die  Brunneninschrift  von  Lusoi .  104 

XI.  J.  Weiß,  Eine  Brunneninschrift  aus  Adamklissi  (Dobrudscha) 114 

XII.  P.  Kret Schmer,  Zur  griechischen  Wortkunde 118 

XIII.  A.Wilhelm,  Parerga 125 

XIV.  W.  Weinberge r,   Die  griechischen  Handschriften  des  Prinzen  Eugen  von 
Savoyen 137 

XV.  R.  Kauer,  Textkritisches  zu  Terenz 145 

XVI.  A.  Engelbrecht,  Zu  Catulls  Passer 150 

XVII.  E.  Kaiinka,  Catulls  LI.  Gedicht  und  sein  Sapphisches  Vorbild      ....  157 

XVIII.  K.  Prinz,  Zu  Properz      1G4 

XIX.  H.  Jurenka,  Horatiana 175 

XX.  R,  C.  Kukula,  Die  sechzehnte  Epode  des  Horaz 179 

XXI.  F.  Ladek,    Die  römische  Tragödie  Ociavia  und  die  Elektra  des  Sophokles  189 

XXII.  A.  Scheindler,  Eine  noch  unbenutzte  Sallusthandschrift 200 

XXIII.  E.H auler,  Zum  Sendschreiben  des  Catulus  und  über  die  Consilia  des  Asinius 
PoUio 213 

XXIV.  J.  Kromayer,  Heirkte.  (Mit  5  Abbild,  u.  1  Karte) 225 

XXV.  J.  Mesk,  Der  mauretanische  Feldti^ug  unter  Antoninus  Pius 246 

a 


—    VI    — 

Seite 

XXVI.  E.  Groag,  Alexander  in  einer  Inschrift  des  3.  Jahrhunderts  n.  Ch.       .    .    .  251 

XXVII.  A.  V.  Premerstein,  Die  Dreiteilung  der  Provinz  Dacia 256 

XXVIII.  L.  "VVenger,  Zu  den  neuen  Oxyrhynchus  Papyri 270 

XXIX.  St.  Braßloff,  Der  Amtstitel  der  städtischen  Quaestoren 277 

XXX.  .1.  Scholz,  Ein  Beitrag  zu  den  Münzen  von  Grimenothyrae-Phrygiae    .    .    .  283 

XXXI.  L   Radermacher,  Der  Knäuel  Ariadnes 285 

XXXII.  E.  Reise h.  Zu  den  Friesen  der  delphischen  Schatzhäuser.  (Mit  1  Abbild.)    .  293 

XXXIII.  P.  BieükoAvski,  De  ephebi  Attici  capite  Cracoviensi.  (Cum  8  üg.  et  1  tab.)  302 

XXXIV.  H.Sitte,  Zur  Niobide  der  Banca  Commerciale 307 

XXXV.  E.  Bormann,  Aus  Pompeji 309 

Register 317 


Erklärung  der  Titel  vi  gn  et  te      ^4 


Philodem  und  die  aristotelische  Poetik. 


Von 
THEODOR  GOMPERZ. 


Die  Wahrnehmung,  daß  in  des  Epikureers  Philodem  Werk  „Über 
Gedichte"  eine  Polemik  gegen  einige  Grundlehren  der  aristotelischen 
Poetik  enthalten  ist,  habe  ich  einst  in  einem  Bericht  über  die  herkula- 
nischen  Rollen  (Zeitschr.  für  die  österr.  Gymnasien ,  1865 ,  Heft  10, 
S.  719  f.)  verzeichnet.  War  es  die  Schuld  meiner  allzu  zaghaften  An- 
deutungen oder  des  Mangels  an  breiterer  Ausführung  meiner  Ergebnisse 
—  jedenfalls  sind  diese,  so  viel  ich  sehen  kann,  vollständig  unbemerkt 
und  unbeachtet  geblieben.  Ich  glaube  daher,  auf  die  nicht  aller  Wich- 
tigkeit entbehrende  Tatsache  noch  einmal  in  etwas  größerer  Ausführ- 
lichkeit zurückkommen  zu  sollen.  Inwieweit  der  betriebsame  epikureische 
Literat  mit  dieser  Bestreitung  aristotelischer  Theorien  auf  eigenen  Füßen 
stand,  inmeweit  er  einer  Schultradition  gefolgt  ist,  das  wird  sich  mit 
den  uns  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  schwerlich  entscheiden  lassen ; 
daß  aber  seine  polemischen  Äußerungen  auf  Aristoteles  gemünzt  sind, 
das  läßt  sich,  wie  ich  meine,  mit  voller  Sicherheit  erweisen,  nicht 
minder,  daß  sie  wirkliche  Schwächen  und  Einseitigkeiten  der  aristo- 
telischen Kunsttheorie  mit  sicherer  Hand  aufdecken. 

Es  handelt  sich  um  die  Trümmer  eines  Bestandteils  des  obge- 
nannten  Werkes,  die  Voll.  Hercul.  Collectio  Altera  II.  Fol.  148  bis 
158  nachgebildet  sind.  Das  mir  vorliegende  Faksimile  des  Oxforder  Apo- 
graphon  dieses  Papyrus,  Nr.  207,  enthält  dieselben  Blätter  mit  Ausnahme 
der  Kol.II.  Wie  gewöhnlich  ergänzen  sich  beide  Abschriften,  doch  ist  die 
Überlegenheit  von  0  diesmal  weniger  offenkundig  als  in  den  meisten  Fällen. 
Sogleich  im  Titelblatt  kompensieren  sich  Vorzüge  und  Mängel  der  beiden 
Abschriften.     Die  in  N  erhaltenen  Reste   der  Buch  zahl   (J  mit  einem 

Wiener  Eranos.  1 


—     2    — 

darüber  geschriebenen  ^,  d.  h.  wohl:  vierte  Abteilung  des  ersten 
Buches)  fehlen  in  0,  während  in  diesem  die  Zeilenzahl  durch  den 
erhaltenen  Oberstrich  des  77  vor  J  (d.h.  50)  nach  dem  gleichmäßig 
erhaltenen  .  .  .  XX  =  2000  deutlicher  bestimmt  wird.  Die  Anordnun«: 
und  der  Bestand  der  Blättchen  weist  Abweichungen  auf,  indem  K  II 
in  0  fehlt,  NIY  =  OIL  X  V  =  0  IV,  X  VI  =  OV,  X  YII  =  0  VI, 
X  VIII  =  0  VII,  X  IX  =  0  VIII  und  X  X  =  0  IX  ist.  Dieses  scheint 
das  letzte  Blatt  des  Buches  gewesen  zu  sein,  da  das  stets  am  Schluß 
befindliche  Titelblatt  in  0  mit  10  bezeichnet  ist.  Da  zwar  jedesmal 
der  Oberrand,  in  keinem  einzigen  Falle  aber  der  Unterrand  und  wohl 
kaum  jemals  mehr  als  die  Hälfte  der  Kolumne  erhalten  ist,  so  wäre 
es  ein  vergebliches  Bemühen,  den  Fortgang  der  Erörterung  ermitteln 
zu  wollen. 

Es  war  vor  allem  die  nicht  ohne  eristische  Beflissenheit  durch- 
geführte Vergleich  ung  von  Epos  und  Tragödie  im  Schlußkapitel  der 
Poetik,  die  den  Widerspruch  des  Epikureers  herausgefordert  hat.  Ich 
hebe  zunächst  die  entscheidende  Stelle  hervor  und  setze  ihr  die  ent- 
sprechende aristotelische  Äußerung  gegenüber. 


Kol.  VI  X  =  VO  Mitte 

12  ovdt  7tdv(r)a 

13  iv  T:i]i  rqa(y)widiai  (a)  zal 

14  iv  i'/c(el)vijL^  ToivavTiov 

15  d^  oi'x  vTtaQyuv^  dXXä  tä(f.i- 

16  7caXiv  df^wd-r^fd-f  oaa  neQi- 

17  kaf.ißdveiv  (fvaewg  eqya 

18  y>a(l)  tv/rig  yial  d^ewv  ymI  tcuv 

19  r)o(Sa)7tcov  Ccüto(v)  a 

20  od  övvad-^  fj  rQaycüL(dlJa^ 

21  7th)p  e(7z  d)/dy(ov  .  .   . 


Aristot.  Poet.  c.  5  fin:  a  uiv 
yaQ  tTtoTtOLia  iyßi^  vTtaQxei  tij  tqcc- 
yoßdlcc^  a  de  avti]^  od  Ttdvta  iv  r[] 
STtoTtoua  und  c.  26  (1462a,  14 f.) 
eTieira  diön  (1.  ian  d^  ijtel  rä) 
Ttdvr^  i'xei  oaa  tieq  i]  iTCOTtoila 
(nämlich  die  Tragödie  steht  höher 
als  das  Epos,  wenn  gewisse,  ihr 
im  Vorangehenden  vorgeworfene 
Fehler  ihr  nicht  mit  Xotwendig- 
keit  anhaften  und  sie  überdies  die 
nachfolgenden  Vorzüge  besitzt). 

Ich  hcibe  in  diesem  wie  in  den  später  mitzuteilenden  Textes- 
stücken die  Lesarten  von  X  und  0  kombiniert,  die  Ergänzungen  von 
Lücken  und  an  einer  Stelle  auch  die  Berichtigung  einer,  wie  ich 
annehmen  muß,  irrtümlichen  Schreibung  in  runde  Klammern  ein- 
geschlossen. Mein  a  in  Z.  13  nämlich  beruht  auf  Konjektur,  da  nur 
X  eine  Lücke,  0  hingegen  ein  T  mit  darauffolgendem  leeren,  für 
einen  Buchstaben  ausreichenden  Raum  darbietet.  Liegt  hier  nicht  ein 
Fehler  Hayters  oder  meines  Kopisten  (Cohen)  vor,  so  stand  im 
Papyrus  wenig  sinngemäß:  ovdi  Ttdvta  |  iv  rf^i  xqaycodiai  %e  xal  iv 
iyMvrii.     Buchstabenreste,    die  nur   eine  Deutung  gestatten,    habe  ich 


durch  die  entsprechenden  unverstümmelten  Buchstaben  ersetzt.  Hier 
ist  die  Entscheidung  freilich  nicht  immer  eine  unbedingt  sichere.  Das 
zweifellos  richtige  TtavtodaTtdjv  Z.  18/9  habe  ich  aus  Resten  gewonnen, 
die    in  N  wie    folgt   aussehen:    Tl^N  \  .  NO  .  .  uiE^JSy  in  0  hingegen: 

n^N  I . .  NommiN. 

Um  zunächst  den  Zweifel  zu  beschwichtigen,  ob  hier  in  Wahr- 
heit die  von  mir  vorausgesetzte  Polemik  vorliegt,  will  ich  denselben 
Parallelismus  zwischen  dem  Inhalt  des  unmittelbar  vorangehenden 
Bruchstückes  mit  einem  anderen  Teil  jener  aristotelischen  Erörterung 
nachweisen. 


Kol.YX  =  IVO 

13  ä'llä  fiir^v  zal  tö)  Xe- 

14  yeiv  xbv  ri(Q)wiov  o(TL)yov  (dv- 

15  %i  Tcöv  TQCcyr/.cüv  i(x£0^'-)  (o^'^- 

16  y.)ei(a)9^aL  yaQ  ex  7zävT(o)v  ^le- 

17  rQco(i'  T)t)p  TQaya)td(la)v  .  .  . 

18  ....  dL(8)xpevoiai   .... 

19  (oci)xoLS  xrii  xa- 

20  Taöxe(v)r^L  Ttaqä  Tolg  87to(7toi- 

21  olg  zdv)  Talg  TQayv)(iöiaig 


Aristoteles  1.1.1462  a  15 
xal  yäo  tu)  fievQci)  e'^eoTi  xqUiöS^cci 

und  c.  5,  1449b  10 
TU)  de  Tb  fisTQOv   ärckovv  e%£iv   xal 
aTtayyeUav  eivai^  TavTt]  dtacpeQOvoLV 


Mit  der  Bestreitung  der  These,  daß  die  erzählende  Darstellung 
für  das  Heldengedicht  charakteristisch  sei,  indem  hier  nur  ein  Unter- 
schied des  Grades  obwalte  —  man  denke  an  die  Botenberichte  im 
antiken  Trauerspiel  und  an  die  von  Aristoteles  (Poetik  c.  24)  so 
warm  befürwortete  dramatische  Gestaltung  auch  des  Epos  —  damit 
beschäftigt  sich  der  Oberteil  der  Kolumne,  in  deren  ersten  Zeilen  ich 
leider  nur  einzelne  Worte,  wie  uTioxQiTal  ....  (ä)Tceq  avtög  .  .  .  (djuet- 
ßö/.ie(voL?)  .  .  .  7t(Q)dTve(iv  zu  erkennen  vermag.     Dann  folgt: 

6  xdv  (uTjO  £7i(o7toii)a  xdv  Ta(lg 

7  TQayioöiaig^  (ä)oTe  ov  tfig 

8  /.dv  TQaycoö(i)ag  t6  te  d- 

9  7tayye(Xl)eiv dyy(e 

10  loig  (x)ai  tö tv 

11  Tolg  älloig (e)v  i'- 

12  7te(aL)  TÖ  (.i()(vov  d7tayy)kX- 

13  Xuv  dXX xal 

14  daipiXtaceQov  tö  (d7z)ayyeX- 

15  Xtiv.  d'kkd  (.irjv  xrk. 

1* 


—    4    — 

Zur  Textgestaltung  sei  das  Folgende  bemerkt.  Z.  6  führt  das  in 
beiden  Kopien  erhaltene  ol  auf  zäv  zolg  tTteGi.  aber  das  gleichfalls 
hier  und  dort  erscheinende  a  vor  zäv  valg  auf  xdv  ttil  eTioTtoiia. 
Z.  9  widerspricht  das  i  am  Schluß  der  Zeile  in  0  dem  von  uns  ver- 
muteten äyye^.oig.  Ebenso  Z.  12  teX  am  Schluß  der  Zeile  in  0  unserem 
vom  Zusammenhang,  wie  es  scheint,  geforderten  d7tayye?.keLV.  Z,  13  folgt 
auf  «/r  in  N  OBIOIC  .  .  PQK^I,  in  0  OMOIC^  .  .  onK^I.  Endlich 
habe  ich  Z.  14 f.  rö  o.Tcayykk'kEiv  geschrieben,  während  N  TOT  ATTEA  \ 
AEIN  und  0  TO  .  TArrEyl  \  ylElN  darbietet.  So  zweifelhaft  hier 
das  Einzelne  ist,  der  Widerspruch  gegen  die  aristotelische  Behauptung, 
die  aTvayyeXia  bilde  ein  das  Epos  von  der  Tragödie  unterscheidendes 
Merkmal,  liegt  klar  zutage;  am  deutlichsten  spricht  ()"aT//iAf(jr£^oj' dafür, 
daß  nur  das  Vorhandensein  eines  quantitativen  Unterschiedes  behauptet 
wurde.  Im  übrigen  verweise  ich  auf  meine  am  angegebenen  Orte  mit- 
geteilten Restitutionsversuche  zu  den  übrigen  Kolumnen.  Zur  Polemik 
gegen  die  aristotelische  These,  daß  die  Tragödie  sich  auch  des  heroischen 
Versmaßes  bediene,  gehören  fast  sicherlich  die  Worte  (Kol.  VII N  = 
VI  0,  Z.  10)  ycal  h^af-dx^w  y,(al  \  TtavTL  (.ie(TQ)cüt  xQco(.iiv(7]  'Aa)td  töv 
TovTOv  Xoyov  xal  (7tQoo\eLkri(pvla  (.leXoTCo'iav  (£l-\'/A)tü)g  av  vof.ii'QoLto  .  .  . 
(Ich  hatte  damals  in  genauerer  Übereinstimmung  mit  den  erhaltenen 
Zeichen,  aber  weniger  sinngemäß  und  überdies  mit  einem  schweren  Hiat 
xatTOL  eiXifjcpula  geschrieben.)  Gegen  die  auch  dem  modernen  Leser 
so  auffällige  Vernachlässigung  des  schauspielerischen  Elementes  in  der 
aristotelischen  Poetik  wenden  sich  wahrscheinlich  die  von  mir  dort 
mitgeteilten  Stücke  aus  Kol.  VIII  und  IX. 

Ich  kehre  zum  Ausgangspunkt  dieser  Erörterung  zurück.  Um 
das  Verständnis  nicht  eher  zu  verwirren  als  zu  fördern,  habe  ich  den 
zerrütteten  Oberteil  der  wichtigen  Kol.  VI  N  ==:  V  0  vorerst  zurück- 
behalten. Ich  vermag  sie  nur  in  unsicherer  und  unvollkommener 
Weise  zu  restituieren;  mögen  andere  darin  erfolgreicher  sein!  Ich 
setze  das  Wenige  hierher,  was  trotz  des  unvollständigen  Zusammen- 
hanges wenigstens  durch  einige  Schlagworte  auf  Sinn  und  Grehalt  der 
Stelle  ein  wenngleich  mattes  Licht  wirft. 

1  ev)deyou(iv)aLg  eb- 

2  QLO )yx(T)aL  TQay(wdia 

3       ([Jö  TToXv 

4        

5        (^^Os  T^(d 

6  f.i(x(XLöTa) ov  ^(6- 

7  vrj  (TQayü))idla  juerä  T(fig 


-     5    — 

8  älX(rig  'ÄOLvJovrjrog  (?) 

9       7tQooS-)eTeov  ti)v  d- 

10  7cayy(elia)v  log  ih6qi(ov 

11  Ttjg  (dywvOaTixfjg  (?)^  dlX'  d(v- 

12  TiaTQ(ö)(pa)g  oöds  7iäv(T)a  xtL 

Die  Hauptsache  ist  diese.  Philodem  widerspricht  der  aristotelischen 
Behauptung:  die  Tragödie  besitzt  alles,  was  dem  Epos  eigen  ist,  und 
übertrifft  es  durch  ein  Mehr  an  Kunstmitteln  —  ein  Mehr,  das  in  den 
„Würzen"  der  Darstellung,  in  dem  von  Musik  begleiteten  Gresang  und 
im  szenischen  Apparat,  außerdem  aber  auch  in  der  Verwendung 
mannigfacher  Versmaße  bestehe ;  könne  doch  der  Tragödiendichter 
sogar  das  dem  Epos  eigene  Versmaß,  den  Hexameter,  verwenden.  Die 
letzte  dieser  Aufstellungen,  die  ein  äußerst  selten  begegnendes  Vor- 
kommnis ungebührlich  verallgemeinert,  ist  vom  Epikureer,  wie  wir 
sahen,  mit  der  ihm  eigentümlichen  Schärfe  zurückgewiesen  worden. 
In  dem  eingangs  mitgeteilten  Unterteil  der  jetzt  besprochenen  Kolumne 
aber  spielt  Philodem  seinen  Haupttrumpf  aus.  Es  stehe  gerade  um- 
gekehrt, als  Aristoteles  behauptet.  Der  Stoff  kreis  des  Epos  sei  ein 
umfassenderer  als  jener  der  Tragödie.  Jenem  stehe  es  frei,  Natur- 
vorgänge und  zufällige  Geschehnisse,  ferner  aber  auch  das  Tun  der 
Götter  und  Handlungen  der  Tiere  darzustellen.  Damit  trifft  der  Vertreter 
der  epikureischen  Ästhetik  ein  wirkliches  Gebrechen  nicht  nur  der 
aristotelischen,  den  Vorrang  der  Tragödie  verfechtenden  Beweisführung, 
sondern  der  Kunstlehre  des  Stagiriten  selbst.  Freilich  ist  dieses 
Gebrechen  nur  die  Übertreibung  einer  Wahrheit.  Menschliches  Tun  — 
zu  dem  allerdings  auch  der  von  Aristoteles  vernachlässigte  Ausdruck 
menschlichen  Empfindens,  der  Gegenstand  der  von  ihm  hintangesetzten 
Lyrik  gehört  —  bildet  sicherlich  das  Großteil  poetischer  StofPe  über- 
haupt. Die  bloß  deskriptive  Poesie,  die  Tierfabel  und  die  rein 
mythologischen  Dichtungen  treten  daneben  zurück  und  durften  füglich 
an  die  zweite  Stelle  gerückt  werden.  Allein  Aristoteles  geht  weiter. 
Er  bezeichnet  schon  nahe  am  Anfang  der  Poetik  „Handelnde"  als  das 
Objekt  der  Dichtung;  und  daß  er  dabei  ausschließlich  an  handelnde 
Menschen  denkt,  das  zeigt  die  anläßlich  der  Spaltung  der  verschiedenen 
Dichtungsarten  daran  geknüpfte  Scheidung  der  Handelnden  in  edle 
und  gemeine  (vgl.  Poetik  c.  2  in.  1448a  Iff.  und  c.  4,  1448b  24ff.). 
Gegen  diese  Einseitigkeit  Einsprache  erhoben  zu  haben,  darf  als  ein 
wirkliches  Verdienst  des  Epikureers  gelten. 

Zum  Schluß  noch  eine  Vermutung.  Aus  Kol.  IV  N  =  II  0  habe 
ich,    was    mir    damals    verständlich    war,    in    meinem    alten    Aufsatz 


—     6    — 

hervorgehoben.  Doch  möchte  ich  diesen  Anlaß  zu  einem  vielleicht 
nicht  bedeutungslosen  Nachtrag  benützen.  Die  soeben  erwähnte,  gewiß 
anfechtbare  aristotelische  These,  daß  der  Betrieb  der  Poesie  sich  nach 
der  moralischen  Sinnesart  ihrer  Pfleger  gespalten  habe,  scheint  dort 
gleichfalls  von  Philodem  bestritten  zu  werden.  Die  Worte  der  Poetik 
lauten,  wie  folgt:  ÖLeoTtdad^r^  di  %aTa  tcl  oHela  r^drj  i)  Ttolriaig'  ol  ^liv 
yaQ  GE(.ivÖTeqoL  rag  xakäg  e(.nf.iovvTO  Ttgä^eig  ymI  rag  twv  tolovtwv^ 
ol  de  tvTeXeoTEQOi  tag  tmv  q^avhov,  wobei  auf  den  Gegensatz  zuerst 
zwischen  Jamben-  und  Hymnendichtern,  dann  vornehmlich  von  Tragödien- 
und  Komödiendichtern  hingewiesen  wird.  Dazu  stimmt  es  sehr  wohl^ 
wenn  hier  der  Jambendichter  par  excellence,  Archilochos,  und  der 
vornehmste  Komödiendichter  miteinander  verbunden  erscheinen  und 
einem  Vertreter  jener  aristotelischen  Ansicht,  der  behauptet  hatte, 

5  ävd-Q(ix)7t)iVÄo(T)iQag  M(Q)y(i- 

6  Ao[t]xov  ('/.al)  34Qi(JTOff(d- 

7  vjriv  iLt£f.i(€c)!iifio^aL  7iQä'^ei(g' 
entgegnet  wird: 

8  wv  (6)  (.itv  34QyJ?^oy/())g  ov- 

9  d^  dv  ^lef^ieififiG^ai  .... 

10  ...  (())  ö^ 34(Q)iazorfid- 

11  vrig  (d)u(O^rix)  ev  rä  Ttdvua^  ((pav- 

12  X6(T£Qa)  (?)  YMT    avihv  llavoix)- 

13  vog  fiejULfiTj^ievov^  Tcghg 

14  Ttoi  (.iriv  ercog  elvai  (.liire 

15  TQ(xy(ßidia(v)  ttjv  ziouco- 

16  diav  'jial  T(o)vg  idfußorg^  v- 

17  TTSQ  wv  fj  (CtjJzT^aig  ('^v.  S(fi- 

18  Xov  ovv zara 

19  TU  (G)e{.iv6TE(Q0v  {.ief.i)i(.n]a- 

20  d-)a(i (.i)ad^i]Tr)g  (?) 

21       (^o(p)oy.Xea  ... 

(Z.9/10  möchte  man  etwa  liyoiTo  oder  öoy.oi  einsetzen,  doch  wider- 
sprechen dem  die  erhaltenen  Zeichen  JIEC\TOI^  ...  in  0,  JIE\nE 
in  N.  Z.  11  habe  ich  öied^rf/  aus  XIE  in  0,  A^ .  .  .  in  N  gewonnen, 
Z.  20   entspricht   mein   Anfangsbuchstabe  -^  einem   T  der   Apographa.) 

Geradezu  entscheidend  scheinen  mir  hier  die  in  0  erhaltenen  Reste 
von  öe(.iv6teqov.  Auch  der  Einwand,  daß  bei  Archilochos  von  i^d^riGig 
im  aristotelischen  Sinne  (nämlich  von  einem  Darstellen  irgendwelcher 
Handlungen)  überhaupt  nicht  die  Rede  sein  könne,  paßt  aufs  trefflichste 
in  den  von  mir  vermuteten  Zusammenhang.     Der  Gegensatz  des  Rhy- 


—    7     — 

parographen  Pauson  zu  Aristophanes  (und  seinem  lyrischen  Schwung?) 
ist  wohl  verständlich,  zumal  die  zwei  Zeitgenossen  in  der  Poetik  als 
Vertreter  des  niedrigen  Stiles  erscheinen  (c.  2).  Nicht  minder  die  Her- 
vorhebung des  spezifischen,  nicht  bloß  in  den  Objekten  der  Darstellung 
beschlossenen  Unterschiedes  zwischen  den  einander  gegenübergestellten 
Dichtungsarten.  Was  wohl  der  Name  des  Sophokles  am  Schluß  des 
Bruchstückes  besagen  soll?  Vielleicht  hat  Philodem  im  folgenden  vom 
Satyrspiel  gehandelt  und  davon,  daß  dieselben  Dichter,  darunter  auch 
der  Musterdichter  Sophokles  (vgl.  Arist.  Poet.  c.  3,  1448a  26),  im  hohen 
Stil  der  Tragödie  und  in  dem  der  Komödie  so  nahe  verwandten  Satyr- 
spiel heimisch  waren  und  dadurch  vollends  die  Haltbarkeit  der  aristo- 
telischen These  widerlegt  haben.  Ist  das  in  N  erhaltene  (iJ.)ad^r(rrig 
richtig,  so  ward  wohl  auf  eine  Lehre  Theophrasts  angespielt,  der  für 
Philodem  der  „Jünger"  des  Stagiriten  zar  e^oxrjv  ist  (vgl.  Zeitsch.  f.  öst. 
Gymn.,  1865,  Heft  11,  S.  816). 

Die  oben  erörterte  Polemik  Philodems  gegen  die  aristotelische 
„Poetik"  habe  ich  jetzt  in  wenige  Sätze  zusammengefaßt  in  „Griechische 
Denker"  III,  328. 


Piiidars  Päari  für  die  Abderiten. 


H.  V.  ARNIM. 


Unter  den  Päanen  Pindars,  die  von  B.  P.  Grenfell  und  A.  S.  Hunt 
1908  im  5.  Bande  der  „Oxyrhynchus  Papyri"  herausgegeben  wurden 
und  auch  bereits  in  Otto  Schroeders  Pindari  Carmina  cum  fragmentis 
selectis  Teubn.  bibl.  1908,  p.  273  f.  Aufnahme  gefunden  haben,  erweckt 
neben  dem  sechsten  (der  durch  seine  Beziehung  zum  siebenten  neme- 
ischen  Gedicht  interessiert)  der  zweite,  den  Abderiten  gewidmete, 
durch  seinen  geschichtlichen  Gehalt  das  größte  Interesse.  Es  soll  hier 
der  Versuch  gemacht  werden,  Lesung  und  Erklärung  des  Gedichtes 
durch  ein  paar  Einzelbeobachtungen  zu  fördern. 

Das  aus  drei  Triaden  bestehende  Gedicht  ist  in  der  Weise 
verstümmelt ,  daß  von  der  ersten  Triade  die  zweite  Hälfte  der 
Strophe  samt  der  ganzen  Antistrophe  verloren  ist ,  von  der  dritten 
Triade  ebenfalls  der  Schluß  der  Strophe  samt  der  ganzen  Antistrophe, 
während  in  der  zweiten  Triade  von  der  Strophe  sämtliche  Zeilenan- 
fänge fehlen,  aber  durch  Kombination  der  erhaltenen  Zeilenenden  mit 
den  Marginalscholien  der  Gedankengang  (wenn  auch  nicht  der  Wort- 
laut) rekonstruiert  werden  kann. 

Die  geschichtlichen  Anspielungen  des  Gedichtes  beziehen  sich 
teils  auf  die  zur  Zeit  der  Vorfahren  bei  der  Gründung  von  Abdera 
und  später  geschehenen  Kämpfe,  teils  auf  einen  zur  Abfassungszeit 
des  Päans  den  Abderiten  bevorstehenden  schweren  Kampf,  für  welchen 
die  Hilfe  des  Heilgottes  anzurufen  und  den  Abderiten  Mut  und  Hoff- 
nung einzusprechen  Hauptzweck  des  Gedichtes  ist. 

In  erster  Linie  richtet  sich  das  Flehen  des  Chors  an  den  in 
Abdera  mit  dem  Kultbeinamen  Derainos  verehrten  Apollon,  der  gleich 
im  Anfang  der  ersten  Strophe  genannt  wird.  Ihm  gilt  das  TtaiavLKÖv 
eTtiQQTjt^ia^  das  am  Schlüsse  jeder  Triade  wiederkehrt.  Die  dritte  Epode 


—    9    - 

sclieint  zu  beweisen,  daß  der  Dichter  diesen  Apollon  mit  dem  pythischen 
Apollon  von  Delphoi  gleichsetzte.  Doch  lassen  die  erhaltenen  Worte 
•der  ersten  Strophe 

Idovi  tÖvöe  law   Ttaiäva  diio^o) 
Jr^QaLvov  247i6X)M)va  jtccQ  x    24cpQo(^diTav 
deinem  Zweifel  Raum,  daß  der  Päan  zur  Aufführung  nicht  in  Delphoi, 
sondern  in  Abdera  selbst,  im  Heiligtum  des  Apollon  Derainos  (vgl.  Ttaq) 
bestimmt    war.    Neben  Apollon ,    dem  das  Lied   vorzüglich   gilt ,    wird 
aber  auch  Abderos,  der  ^i]QO)g  'ATiarrjg  von  Abdera,  als  Sohn  des  Poseidon 
und  der  Quellnymphe  Thronia  angerufen ;  und  zwar  beginnt  und  schließt 
der  Päan  mit  der  Anrufung  des  Abderos.  Der  Anfang  des  Gedichtes : 
NatSog   Qooviag  ^^ßdr^oe  yaly.od^vjoa^ 
Ilooeiöävög  ts  tcol, 

(^oe&yev  ^IdovL  rövde  Xmo  7taiäva  öuo^o) 
z/tJQan'ov  ^Tto'kXLova  tzuq  t    2dcpQodLTav 

beweist,  da  olO^ev  als  sichere  Ergänzung  der  englischen  Herausgeber 
anerkannt  werden  muß ,  daß  Abderos  nicht  als  Heilgott  angerufen, 
sondern  nur  honoris  causa  mitgenannt  wurde. 

Vielfach  begegnet  in  dem  Päan  die  erste  Person  des  Singularis. 
Diese  muß  m.  E.  überall,  wo  sie  vorkommt,  auf  dieselbe  Person,  und 
zwar  auf  die  durch  den  Bürgerchor  dem  Gotte  gegenüber  repräsentierte 
Bürgerschaft  von  Abdera  bezogen  werden.  Da  vaito  Yers  24,  t.ioL  Yers  26, 
vEÖrroXig  eiui  Vers  28,  ^/«ro5g — e/iiäg  Vers  29,  /naQvauaL  Vers  39  nur  auf  die 
Abderiten  bezogen  werden  kann,  muß  duo^co  Vers  4  und  iuol  Vers  102 
ebenso  gedeutet  werden.  Unmöglich  kann  man  annehmen,  daß  an  einzelnen 
Stellen  der  Dichter  mit  „ich"  von  sich  redet.  Der  Bürgerchor  von 
Abdera,  der  bei  einer  städtischen  öffentlichen  Festfeier  die  Schutz- 
göttin der  Stadt  um  Beistand  anruft,  konnte  von  Pindar  nicht,  wie 
ein  Chor  bezahlter  Berufssänger,  als  bloßes  Sprachrohr  benutzt  werden. 
Er  mußte  im  eigenen  Namen  reden,  freilich  nicht  im  Namen  der  ein- 
zelnen Choreuten ,  aus  denen  sich  der  Chor  zusammensetzte ,  sondern 
im  Namen  der  nöhg^  die  er  dem  Gotte  gegenüber  vertritt. 

Nach  der  großen  Lücke,  die  nebst  der  zweiten  Hälfte  der  ersten 
Strophe  die  ganze  erste  Antistrophe  verschlungen  hat,  folgt  vom  An- 
fang der  ersten  Epode  an  eine  gut  erhaltene  Partie : 
TLva  (^rdvöey  vaUo 

Qqr^'i'/Äav  y^^aiyav  äf-i7teX6(^eo')0(xv  xe  v.al 

ehiaoTrov  •   urj  f.ioi  /ueyag  I'qtvwv  yM/noi  e^OTtiow  xqövog  eiuvedog. 

veoTto/Jg  eluL  •  /.iccTgög  de  (.lareQ    ifiäg  er(^acpyov  etiTtav 

7toXefil<i)  Ttvql  7cXayelGav '  ei  de  xig  dq^eojv  (piXoLg 


—     10    — 

5  eyßQolGi  rqaxhg  vTcavnä^ei, 

fAÖyßog  fjGvyJav  (fSQSL  ymlqw  VMtaßaivwv. 
Ir^'ie  TtaidVf  Irjie  Tzaiav  d^.  f^irjTzoTS  XeiTtoi. 

Der  Text  ist  vortrefflich  erhalten  und  bedurfte  nirgends  einer 
Nachbesserung,  außer  in  dem  dritten  der  ausgeschriebenen  Verse ,  wo 
ich  statt  des  sinnlosen  überlieferten  ere%ov  nicht  mit  den  englischen 
Herausgebern ,  denen  auch  0.  Schröder  folgt ,  htidiw ,  sondern  STaq)ov 
geschrieben  habe.  „Ich  bewohne  diese  thrakische  Erde ,  die  reich  an 
Weinstöcken  ist  und  trefflichen  Feldfrüchten.  0  möchte  mir  unermüd- 
lich in  Zukunft  die  gewaltige  Zeit  heranschreiten  immerdar!  Ich  bin 
noch  eine  junge  Stadt;  aber  meiner  Mutter  Mutter  hab'  ich  dennoch 
(schon)  mit  staunendem  Schrecken  von  feindlichem  Feuer  zerschmettert 
gesehen.  Doch  wenn  einer  schützend  die  Seinen  den  Feinden  trotzig 
entgegengeht,  das  ist  eine  Mühsal,  die  zum  Frieden  führt,  wenn  sie 
rechtzeitig  den  Kampfplatz  betritt." 

Passend  schließt  sich  an  das  Lob  der  Heimat,  ihrer  Weinstöcke 
und  Fruchtfelder  der  innige  Wunsch,  sich  diesen  schönen  Besitz  auch 
für  alle  Zukunft  erhalten  zu  sehen,  dessen  Äußerung  hier  um  so  be- 
greiflicher erscheint,  weil  wir  aus  dem  weiteren  Verlauf  des  Liedes 
wissen ,  daß  Abdera  damals  gerade  einem  schweren  Kampfe  entgegen- 
sah. Die  folgenden  Worte,  die,  wie  schon  die  englischen  Herausgeber 
erkannt  haben,  auf  die  Zerstörung  Athens  durch  Xerxes  480  zu  be- 
ziehen sind  (Teos  die  Mutter  von  Abdera,  Athen  die  Mutter  von  Teos), 
hängen  mit  dem  vorausgehenden  Wunsche  dadurch  zusammen,  daß  die 
Zerstörung  Athens ,  der  um  soviel  größeren  und  mächtigeren  Stadt, 
den  Abderiten  bei  der  bevorstehenden  Kriegsgefahr  Besorgnisse  einflößen 
könnte.  Das  Schicksal,  das  Abdera,  obgleich  damals  kaum  siebzig  Jahre 
alt  (gegründet  von  den  durch  Harpagos'  Zug  gegen  die  Jonier  um 
545  vertriebenen  Teiern),  schon  über  das  ihm  verwandtschaftlich  nahe- 
stehende, mächtige  Athen  hat  hereinbrechen  sehen,  könnte  auch  Abdera 
selbst  ereilen.  Die  Größe  der  Gefahr  gibt  der  Dichter  zu ,  aber  nur 
um  im  folgenden  um  so  entschiedener  den  Abderiten  die  Zuversicht 
einzuflößen,  daß  sie  durch  Eintracht  im  Innern  und  durch  energische 
Abwehr  der  feindlichen  Angriffe  die  Gefahr  überwinden  können. 

Bevor  wir  die  Frage  stellen,  auf  welche  Zeit  diese  Anspielungen 
für  die  Entstehung  des  Gedichtes  führen,  müssen  wir  über  die  Lesart 
handeln.  Nach  dem  überlieferten  Wortlaut : 

f-iaTQog  öi  f-iareQ    if-iäg  svETiOv  e/nTtav 
Ttoleiiiq)  jcvQi  TtXayeLGav 
würde  sich  Abdera  rühmen,  die  Stadt  Athen,  die  Mutter  seiner  Mutter,, 
als  sie  von  den  Persern  eingeäschert  war,  neugeboren  zu  haben.    Den 


—  11  — 

Gelehrten,  die  sich  bisher  über  diese  Stelle  geäußert  haben,  ist  m.'E, 
mit  vollem  Recht,  auch  ganz  abgesehen  von  allen  sachlichen  Bedenken, 
diese  bildliche  Wendung  vom  Standpunkte  des  poetischen  Stils  als 
absurd  und  unmöglich  erschienen.  Daß  Abdera  seine  Großmutter  ge- 
boren habe,  ist  eine  so  abgeschmackte  Vorstellung,  daß  wir  sie  selbst 
als  Witz  Pindar  nicht  zutrauen  können.  (Vgl.  Fraccaroli  in  seiner 
Anzeige  der  englischen  Ausgabe  Rivista  di  Filol.  e  d'Istr.  class.  XXXVII,  1). 
Noch  größer  aber  sind  die  sachlichen  Bedenken.  Unmöglich  können 
wir  annehmen,  daß  Abdera  bei  dem  479  erfolgten  Wiederaufbau  des 
zerstörten  Athen  eine  so  erhebliche  Hilfe  geleistet  habe ,  daß  ihm 
Pindar,  ohne  sich  und  es  lächerlich  zu  machen,  die  Rolle  einer  Mutter- 
stadt des  wiedergeborenen  Athen  hätte  zuschreiben  können.  Man  kann 
weiter  gehen  und  behaupten ,  daß  eine  Athen  bei  dieser  Gelegenheit 
von  Abdera  geleistete  Beihilfe  auch  nur  der  bescheidensten  Art  ganz 
unwahrscheinlich  ist.  Denn  nach  Herodot  VIII,  120  stand  Abdera  noch 
nach  Salamis  treu  zu  den  Persern ,  nahm  den  auf  der  Flucht  befind- 
lichen Xerxes  gastlich  in  seinen  Mauern  auf  und  erhielt  von  ihm  als 
Gastgeschenk  einen  goldenen  Ehrensäbel  und  eine  vergoldete  Tiara. 
Die  Abderiten  erzählten  dem  Herodot,  bei  ihnen  habe  Xerxes  auf  seiner 
Flucht  zum  erstenmal  Station  gemacht  cog  ev  ädeirj  hov.  Daß  schon 
gleich  nach  der  Schlacht  von  Plataiai  Abdera  seine  politische  Stellung 
geändert  und  sich  eng  an  Athen  sollte  angeschlossen  haben ,  ist  ganz 
unwahrscheinlich.  Noch  lange  blieb  in  diesen  Gegenden  der  persische 
Einfluß  vorherrschend  und  wurde  erst  durch  den  thrakischen  Feldzug 
Kimons  476/5  gebrochen.  Nicht  gleich  bei  der  Gründung  des  delisch- 
attischen  Seebundes  sind  wohl  Abdera  und  die  anderen  thrakischen 
Städte  dem  Bunde  beigetreten,  sondern  erst  nach  der  Eroberung  von 
Ei'on.  Diese  Erwägungen  machen  es  ganz  unwahrscheinlich,  daß  Ab- 
dera überhaupt  bei  der  Wiedergeburt  Athens  Beihilfe  leistete.  Wenn 
wir  also  evexov  wegen  seiner  Absurdität  für  verderbt  halten ,  werden 
wir  als  Ersatz  dafür  nicht  einen  Ausdruck  für  „ich  unterstützte" 
suchen  (Fraccaroli  sagt:  bisognerebbe  che  invece  di  etevMv  si  potesse 
trovare  un  altro  verbo  del  senso  di  soccorrere,  risarcire),  sondern  mit 
den  englischen  Herausgebern  einen  Ausdruck,  der  besagt,  daß  Abdera 
die  Zerstörung  Athens  „erlebt"  hat.  Wenn  ich  statt  eTcidov  lieber 
eiacpov  schreiben  möchte,  so  ist  es  nicht  nur,  um  den  überlieferten  Schrift- 
zeichen etwas  näher  zu  bleiben  und  die  Verderbnis  durch  Lesefehler 
begreiflich  zu  machen ,  sondern  auch  weil  Abdera  m.  E.  nicht  sagen 
kann,  daß  es  die  Einäscherung  Athens  mit  eigenen  Augen  mitangesehen 
hat.  Einige  Abderiten  mochten  sich  ja  in  dem  Heere  des  Xerxes  be- 
finden, hier  aber  muß  ein  Ausdruck  stehen,  der  auf  Abdera  als  Ttöhg 


—    12    — 

paßi:.  Den  Aorist  eracpov  verwendet  Pindar    auch  Pyth.  IV,  95  =  ,.ich 
erschrak'',  wenn  er  von  Pelias,  der  den  Jason  erblickt,  sagt: 
idcpe  ö^   auTixa  TzaTtTrivag  dQLyvojTOv  TteöiXov 
SE^iveoit)  fiövov  djLKpl  Tcodi  .  %Xe7tvcov  de  d^vfiq) 
detua  7rQ0GrjveTce  usw. 
Mit  öeliia  wird  hier  zäcpe  aufgenommen.  Dadurch  ist  die  Bedeutung 
„erschrecken"'  gesichert.   Den  Objektsakkusativ  TteöUov  wird  man  hier 
von  7ta7CTrivaig  abhängen  lassen;  daß  aber  auch  zacpelv^  ced^rirchat  einen 
Objekts akkusativ  zu  sich  nehmen  kann,  zeigt  Hom.  Od.  L,  168. 

In  welche  Zeit  führt  uns  nun  diese  Anspielung?  Um  welche 
Kämpfe  Abderas  kann  es  sich  handeln  ?  Mir  scheint  die  Art,  wde  Athen 
erwähnt  wird,  auf  eine  Zeit  zu  deuten ,  wo  Abdera  zw^ar  schon  Sym- 
pathien für  Athen,  die  Befreierin  der  Jonier,  empfand,  aber  noch  nicht 
als  Mitglied  des  delisch-attischen  Seebundes  unter  dem  Schutze  Athens 
und  dieses  Bundes  stand.  Aus  der  Wendung  (.icciQog  Sa  (.laveQ  ijnäg 
fühlt  man  heraus,  daß,  als  Pindar  die  Abderiten  so  singen  ließ,  Abdera 
sich  nicht  mehr  als  Untertanenstadt  des  Großkönigs  fühlte,  daß  also 
die  Schlacht  von  Plataiai  sicher  bereits  geschlagen  war.  Man  erblickte 
bereits  in  Athen  die  Vormacht  des  Jonertums  und  war  stolz  auf  seine 
Abkunft  von  der  Mutter stadt  Joniens.  Andrerseits  war  man  doch, 
wie  aus  dem  w^eiteren  Verlauf  des  Gedichtes  hervorgeht,  für  die  Ver- 
teidigung der  Stadt  noch  ganz  auf  die  eigene  Kraft  angewiesen.  Das 
führt  auf  die  Jahre  vor  Kimons  thrakischem  Feldzug  und  der  Eroberung 
von  Eion ,  auf  die  Jahre  478 — 476 ,  die  für  die  Griechenstädte  der 
thrakischen  Küste  als  Übergangsjahre  anzusehen  sind.  Die  Bedrohung 
der  Stadt  kann  entweder  von  den  umwohnenden  Thrakern  ausgegangen 
sein  oder  von  den  Persern  in  Eion  und  anderen  Plätzen  der  thrakischen 
Küste.  Es  konnten  auch  die  Perser  mit  den  Thrakern  gemeinsame 
Sache  machen,  wie  es  nach  Plut.  Kimon  cp.  7  während  der  Belagerung 
von  Eion  tatsächlich  geschah.  Als  Ursache  für  Kimons  thrakischen 
Feldzug  erwähnt  Plutarch  a.  a.  0.  ausdrücklich:  Tti'v&avöjuevog  IleQOcdv 
ävÖQag  ivöö^ovg  —  "Hwva  —  yMiexorzag  evo^Xelv  Toig  Tteql  tov  tÖtcov 
6y,Elvov  "Ellrioi.  So  unbestimmt  dieser  Ausdruck  ist,  zeigt  er  doch, 
daß  die  Perser  sich  keineswegs  darauf  beschränkten,  Eion,  Doriskos 
und  andere  feste  Plätze  Thrakiens  besetzt  zu  halten,  sondern  noch 
immer  eine  Art  von  Herrschaft  über  die  Griechenstädte  Thrakiens  aus- 
zuüben suchten ,  wodurch  mit  den  Städten ,  w^elche  national  gesinnt 
waren  und  die  Fremdherrschaft  nicht  mehr  dulden  wollten  ,  Konflikte 
entstanden.  In  diese  Zeit  und  in  diesen  Zusammenhang  scheint  mir 
unser  Päan  zu  gehören.  Wenn  wir  annehmen  ,  daß  es  sich  um  einen 
Kampf  gegen  die  Perser  handelt,  gewinnt  die  besprochene  Anspielung 


—     13     — 

auf  Athen  an  Bedeutung.  Es  lag  näher,  den  Kampf  der  x4.bderiten 
mit  dem  Athens  in  Parallele  zu  stellen,  wenn  es  sich  um  denselben 
Feind,  den  Erbfeind  der  griechischen  Nation  handelte.  Vorzüglich  paßt 
zu  dieser  Annahme,  daß  nach  den  Schollen  zur  Strophe  der  zweiten 
Triade  die  Feinde  über  ein  besonders  gutes  Reiterkorps  verfügten. 
Auch  die  in  der  Epode  der  dritten  Triade  ausgesprochene  Hoffnung 
der  Abderiten,  der  jetzt  bevorstehende  Krieg  werde  der  letzte  sein  und 
endgültig  Glück  und  Frieden  herbeiführen: 
'Aal  OTQaTÖP  \7i7tox(iqf.iav 
evSyia  TeXevTaiii)  TtoXsixii)  TtQoßißd^oLg 
paßt  gut  dazu.  Es  handelte  sich  eben  um  die  Abschüttelung  des  letzten 
Restes  der  Perserherrschaft.  Handelte  es  sich  um  Konflikte  mit  den 
Thrakern,  so  könnte  ein  definitiver  Abschluß  der  Kämpfe  nicht  so  be- 
stimmt in  Aussicht  genommen  werden.  Auch  die  Erwähnung  innerer 
Zwistigkeiten  der  Bürgerschaft  von  Abdera  in  dem  Scholion  zur  zweiten 
Antistrophe  mrd  verständlicher,  wenn  wir  das  Gedicht  auf  einen  Kampf 
gegen  die  Perser  beziehen.  Wir  werden  annehmen  dürfen,  daß  auch 
in  Abdera ,  wie  in  so  vielen  anderen  Städten,  die  konservative  Adels- 
partei perserfreundlich,  die  demokratische  Partei  athenerfreundlich  und 
national  gesinnt  war.  Dann  hatte  der  Dichter  um  so  mehr  Veranlassung, 
das  Volk  von  Abdera  zur  Zurückstellung  der  inneren  Zwistigkeiten 
und  zu  einmütigem  Zusammenstehen  in  der  Stunde  der  Gefahr  durch 
sein  Lied  zu  mahnen. 

Es  folgt  nun  die  Strophe  der  zweiten  Triade^  von  der,  wie  schon 
bemerkt,  nur  die  Versenden  erhalten  sind.  Mit  Hilfe  der  Marginal- 
scholien  kann  man  ihren  Gedankengang  ungefähr  so  rekonstruieren : 
[„Stark  ist  zwar  der  Feind] ,  aber  durch  tapfere  Gegenwehr  wird  ja 
die    Mauer   des  Volkes    erhöht   gegen    gewalttätigen    Angriff  (äh/M    öe 

Telxog    dvÖQcov    { T^at     (^tvotI    xa    y.aQveqd}) ,    ich    kämpfe    mit 

guter  Zuversicht  gegen  die  Feinde  (iLidQvajuat  f.idv  (^O-aQaeojv  (pqhay 
ödoig)^  das  neptunische  Geschlecht  der  Rosse  bildet  meine  Stärke 
((lo^vg  To)  UoGELÖdvLOv  yevog  (JiTtTtcov  etiioiy).  Denn  den  Gegnern  in  dem, 
was  ihre  Stärke  ist ,  es  zuvorzutun ,  das  verspricht  des  Sieges  Glanz 
(Schol. :  TÖ  voTjua  toiovto  '  iv  oig  yaQ  diacpeQeiv  öo'äovolv  ol  dvTiTtaXoL 
vMTä  7TA')XeLiov,  TüvTa  EY.TtovEiv  dya^ccg  vTcovi^erai  vr/.rig  elTtidag  =  riov 
yäo  ävtouei'iov  (^rd  So/Jovray  (peQEGd-ai  (^vr/,rjg  SfcoQevy  ötXag). 

Weiter  scheint  dann  von  dem  Xeide  eines  Gottes  die  Rede  zu 
sein  (f.iavi€L ,  schol.  =  cp^ovel) ,  den  Abdera  nicht  zu  fürchten  braucht. 
Der  fehlende  Anfang  der  zweiten  Antistrophe  enthielt,  wie  das  ver- 
derbte Scholion  zeigt,  den  Gedanken:  „Möge  nicht  Übermut  die  Bürger 
unserer  Stadt  entzweien,  möge  Hader  und  Zwietracht  lieber  unter  den 


—    14    — 

Eeinden,  die  uns  angreifen,  ausbrechen  (Xa<^>  e^'^  vßQLOai  zovg  ev  zij 
TtöXu  \j=:'kaov  affTcSv],  GTaatd^owag  di  xal  (^dtayTtoXirevovTag  tcoXXoj  f.iäXlov 
Tovg  eTCYjlvdag  eTtiTideod^aL)."  Und  nun  folgt  gut  erhaltener  zusammen- 
hängender Text: 

Antistr.  B  Tb  d'evßovkia  te  y.al  alöol 

eyy.eluevov  aiel  &dlXEi  f.iaXay.alg  evcUaig. 
/ML  tö  fxev  ölSötw  d-eog  '  o  S'ixO^Qcc  vo7]Gaig 
rjÖTj  (pd-ovog  oYxerai  riov  TtdXat  TCQod-avovvwv  ' 
yorj  d    ävdqa  xoy.evöiv  (ptQetv  ßccd-vdo^ov  aioav  ' 

Epod.    B    Tol    GVV    7toktjU(l)    'if'1^fl(^CCjU€V0C    /i^OVCT    TtoXvÖcOQOV    oXßoV 

eyyMuiS^rj/MV,   jciqav  34<^d-6cüy   Uaiövcov 

aix/itaräv  (^Xaobg  eXdoavTe)g  t^aS^iag  TQOCpov'  äXXa  (^d*  äyoiaa 

STteTceae  /uolQa  -zXdvTwv  ^  eTtEiza  ^eol  ovveteXeaoav. 
6  Si  yaXüv  tl  Tcovrioaig  eöayoQiaiGiv  cpXeyei. 
XELvoig  S'  VTctQTaTov  9jXd^E  cpeyyog 

aVTa    SvGflEVSWV    MEXafXCpvXXoV    TtQOTtcÜQOLd-EV. 

h'JLE  Ttaidv,  ir/iE  Tzaiäv  de  ^nqTtovE  Xeltcol. 

Str.   r.  äXXd  VLV    Ttoraini)    g/eSöv  fAoXövice  (pvQGE  ( — gei  pap  J 
ßaiolg  GVV  evEEGLV 

TioTi  TcoXvv  GCQavöv  '  EV  Öe  fiTjvbg  TtQioTOv  TvyEv   diiaq. 
ayyEXkE  öe  (foivL/MTCE^a  Xoyov  TvaQ&Evog 
Ev/LiEvrjg  '^E/Mva  t6v  hd^eXovTa  yEVEGd^at. 
(^v^vv  6*  av  yXü/.vfiaxdvwv  — ^— '  —  ^^^  ^^  (^MoiGävy 

Nachdem  er  die  Abderiten,  die  ja  im  Bürgerzwist  lebten,  zur 
■EvßovXla  und  aldcog,  denen  der  schönste  Lohn  Mdnke,  ermahnt  hat, 
schließt  der  Dichter  mit  den  Worten  xal  tö  juev  diSovco  ^Eog  diesen 
Teil  des  Liedes  ab,  um  sich  einem  neuen  Thema,  dem  Lob  der  Vor- 
fahren zuzuwenden.  Sie  zu  loben  ist  ganz  unbedenklich.  Denn  der 
feindselige  Neid  verfolgt  sie  nicht  mehr ,  die  längst  im  Grabe  ruhen. 
Auch  ziemt  es  sich  für  den  Menschen,  seinen  Eltern  reichen  Ruhmes 
geziemenden  Teil  darzubringen.  Jene  haben  einst  mit  kriegerischer 
Hand  dies  gabenreiche  Land  erobert  und  sich  in  ihm  einen  Wohlstand 
gegründet,  indem  sie  bis  jenseits  des  Athos  der  speerbewaifneten  Paioner 
Scharen  forttrieben  von  ihrer  hochheiligen  Ernährerin,  minderes  zwar 
ließ  dann  das  Schicksal  über  sie  hereinbrechen.  Als  sie  das  aber  auf 
sich  genommen  hatten,  führten  hernach  die  Götter  ihr  Unternehmen 
^um  Ziel. 


—     15    — 

Ich  habe  in  Text  und  Übersetzung  der  zweiten  Epode  eine  von 
der  englischen  Ausgabe,  der  auch  0.  Schröder  unbedenklich  folgt,  ab- 
weichende Ergänzung  zugrunde  gelegt.  Bei  jenen  Herausgebern  lautet 
der  Text: 

Tol  övv  7coXeu(o  Y^Tr^öduevoi  xd-ova  TtoXvdayQOv^  oXßov 
ey'Kazed^ri'Aav  TtsQav  d(^yQUov)^  Ilaiovcov 
aly^fÄGTäv  <(r£  ^tqvfxoviag  ya)g  ^a&eag  TQOcpov, 
lind  die  Übersetzung  lautet  in  der  englischen  Ausgabe:  ;,They  gained 
hy  war  a  bountiful  land  and  stored  up  wealth  beyond  the  borders  of 
Strymon,  the  hallowed  nurse  of  wild  Paeonian  warriors/'  Es  soll  also 
von  Tteqav  zunächst  der  Genetiv  ^iQU/Liovlag  yäq  abhängen ,  zu  diesem 
der  Genetiv  L^a^lag  TQOcpov  in  Apposition  stehen  und  dieser  wieder 
durch  den  Genitivus  objectivus  Ilaiövwv  alxuaväv  näher  bestimmt  sein. 
Das  nach  aixiiaräv  ergänzte  re  ist  bei  dieser  Erklärung  nicht  berück- 
sichtigt. Wie  soll  man  ferner  die  Ortsbestimmung  „jenseits  des  stry- 
monischen  Landes"  verstehen?  Zur  Bezeichnung  der  Lage  Abderas  sind 
diese  Worte  vom  Standpunkt  der  Abderiten,  die  den  Päan  singen, 
und  der  Vorfahren,  die  von  Klazomenä  herüberkamen ,  gleich  unge- 
eignet. Ferner  ist  die  Wortstellung  dieser  Erklärung  nicht  günstig. 
Wer  die  Worte  unbefangen  hörte,  mußte  verstehen:  ;, jenseits  der 
wilden  Paionen  und  der  Speerkämpfer  des  strymonischen  Landes,  der 
hochheiligen  Ernährerin."  Aber  die  Wildheit  und  kriegerische  Tapfer- 
keit der  Paionen,  jenseits  deren  Gebietes  sich  die  Gründer  von  Abdera 
ansiedelten,  hätten  doch  nur  dann  zu  ihrem  Ruhme  hervorgehoben 
werden  können,  wenn  sie  sich  durch  die  Paioner  und  das  strymonische 
Land  hätten  durchschlagen  müssen,  um  zu  der  Stätte  von  Abdera  zu 
gelangen.  Das  war  aber  nicht  der  Fall,  weder  bei  den  klazomenischen 
noch  bei  den  teischen  Colonisten.  Nun  lesen  wir  am  Rande  das  Scho- 
lion:  VTTeQ  tov ''Jdd^co  e'ußlri&avrEg  oi  ivocxovvzEg  STtriXS^ov  d^vvov^evoi  Tovg 
mßalövrag  %al  hUr^oav.  Dieses  Scholion  stimmt  vortrefflich  zu  der 
Nachricht  Herodots  I,  168  tcöXlv  'Jdßdrioa,  vtjv  TtQozsQog  rovrcov  (seil,  tiüv 
TriiCüv)  KXa^ofisviog  Tijui^aiog  %Tioag  ovx  dTtcovriTo^  dl?J  v/rö  QQYi't-Awv 
^§£?.ad^Elg  TL^dg  vvv  VTtö  Tri'iwv  nov  ev  MßötJQoig  cog  fJQCog  eyßi.  Die  Ein- 
geborenen (Thraker),  die  zunächst  „über  den  Athos  hinaus"  von  den 
Klazomeniern  unter  Timesios  vertrieben  worden  waren,  kehrten  zurück, 
um  sich  gegen  die  Eindringlinge  zur  Wehre  zu  setzen,  und  schlugen 
.sie.  In  diesem  Scholion  enthält  offenbar  der  Ausdruck  ;,über  den  Athos 
hinaus"  (vTceQ  töv  'Jdd-co)  eine  dichterische  Übertreibung,  deren  sich  nicht 
ein  nüchterner  Interpret,  sondern  nur  der  Dichter  selbst  bedient  haben 
kann.  Da  nun  das  überlieferte  iti^av  offenbar  dem  VTthq  des  Scholiasten 
entspricht  und  auf  Jtkqav  im  Text  ein  mit  A  anlautendes  Wort  folgte, 


—  Io- 
was liegt  näher,  als  daß  wir  statt  Tzkqctv  d^yQuop}  lieber  Ttsoav  34{^%ü)y 
schreiben?  Denn  so  lautet  auch  IL  B  229  s^  ^d-oco  6*  etzI  tcövtov  sßvj- 
GEvo  der  Genetiv  dieses  Bergnamens.  In  die  Lücke  nach  UaLOvwv  aix- 
jLiaräv  müssen  wir  dann  ein  dem  s/.ßalovreg  des  Scholiasten  entspre- 
chendes Partizipium  hineinbringen.  So  gelangte  ich  zu  der  vorge- 
schlagenen Ergänzung: 

TtEQCcv  24(^d-(')(j)y  IJaiovcov 
aix^aräv  ^Xaovg  eldaavieyg  tad-iag  rgocpov 
=  , .bis  jenseits  des  Athos  der  speerbewafFneten  Paioner  Scharen  hinweg- 
treibend von  der  hochheiligen  Ernährerin."  Der  bloße  ablativische 
Genitiv  bei  iXavvco  steht  in  demselben  Sinne  z.  B.  Eur.  Med.  70  rovg- 
de  Ttaidag  yrig  eläv  KoQivd-iag.  Daß  das  bisher  von  den  Paionern  be- 
wohnte Land  als  ihre  ^ad^ea  TQOcpög  (ohne  den  Zusatz  //j)  bezeichnet 
wird ,  ist  nicht  viel  kühner  als  Pyth.  II,  1  Co  ^voccxoGat  —  dvögcov 
iTtTvwv  TS  OLÖaqoxaQuäv  SaijuovicfL  iQocpoi.  Leicht  wird  aus  dem  voraus- 
gehenden yßöva  TCoXvöcoQov  der  Ausdruck  verstanden.  Den  Ausdruck 
Tteqav  Jd&oo)  fasse  ich  als  eine  poetische  Hyperbel  auf.  Es  ist  gemeint^ 
daß  die  Paioner  ihren  Anspruch  auf  ihre  früheren  Wohnsitze  end- 
gültig aufzugeben  schienen  und  weit  hinweg  zogen,  um  sich  andere 
zu  suchen ,  jenseits  des  Strymon.  Man  darf  dem  Dichter  hier  nicht 
mit  der  Karte  kommen.  Auch  finde  ich  keine  Schwierigkeit  darin,  daß 
die  von  den  Abderiten  vertriebenen  Thraker  als  IlaiovEg  bezeichnet 
werden,  während  man  sich  die  Päoner  sonst  viel  weiter  nordwestlich 
wohnend  denkt  und  in  der  Nähe  von  Abdera  andere  thrakische  Stämme 
lokalisiert  findet.  Es  kann  entweder  ein  von  der  Hauptmasse  abge- 
splitterter Teil  der  Päoner  wirklich  hier  gewohnt  oder  auch  Pindar 
den  Namen  ethnographisch  ungenau  gebraucht  haben. 

Über  die  Mißerfolge,  von  denen  die  ersten  Ansiedler  in  Abdera 
nach  anfänglichen  großen  Erfolgen  betroffen  wurden,  mit  der  euphe- 
mistischen Wendung:  älla  (^6*  ayoLoa  f.itvy  IntTCEOE  ^loioa  schnell  hin- 
weggleitend ,  eilt  Pindar  weiter  zu  den  ruhmvollen  und  mit  Hilfe  der 
Götter  erfolgreichen  Kämpfen  der  Teier,  unter  denen  er  die  uns  bisher 
unbekannte  Schlacht  bei  Melamphyllon  verweilend  hervorhebt.  „Ihnen 
erschien  der  höchste,  leuchtendste  Ehrentag  im  Angesicht  der  Eeinde 
vor  Melamphyllon.  Freilich  hat  er  sie,  die  nur  über  wenig  Streitkräfte 
verfügten,  ins  Handgemenge  mit  dem  nah  zum  Flusse  herangerückten 
zahlreichen  Heere  gebracht.  Aber  es  war  ja  des  Monats  erster  Tag 
und  gemeldet  hatte  purpurfüßig  die  freundliche  Jungfrau  Hekate  eine 
Botschaft,  die  in  Erfüllung  gehen  sollte." 

Ich  habe  mit  Fraccaroli  a.  a.  0.  statt  des  überlieferten  (pvqOELf 
das    der  Scholiast   unsinnig   mit    ccttoxteveI   erklärt,    cßvQOE  hergestellt. 


—     17    — 

Der  Versuch  von  Blaß,  das  Futurum  durch  die  Annahme  zu  erklären,, 
daß  hier  der  Wortlaut  eines  Orakels  wiedergegeben  werde,  scheitert 
meines  Erachtens  daran,  daß  in  einem  zum  Gesangsvortrag  bestimmten 
Liede  direkte  Rede,  die  in  die  Erzählung  eingeschaltet  wird,  um  ver- 
standen zu  werden,  sei  es  durch  Einführungsworte,  sei  es  auf  andere 
Weise  als  solche  gekennzeichnet  werden  muß.  Hier  ist  aber  kein  aus- 
reichendes Kennzeichen  für  den  Hörer  angebracht.  Nur  für  den  Leser 
könnte  graphisch,  durch  Anführungsstrichelchen,  die  direkte  Rede  als 
solche  kenntlich  gemacht  werden.  Die  Fortsetzung  der  Erzählung  wird 
mit  Ss  koordinierend  angeschlossen  (ev  öi  fir^vög  tiqmtov  %vyßv  a/naQ),  also 
muß  auch  der  vorausgehende  Satz  Erzählung  sein.  Überdies  würde  das 
Orakel  für  die  Abderiten  wenig  rühmlich  gewesen  sein,  wenn  es  gelautet 
hätte:  ,.but  they  shall  put  him  to  confusion,  when  he  has  come  near  the 
river ,  matched  with  a  small  array  against  a  great  host"  =  er  (d.  h. 
der  abderitische  Heerbann)  wird  den  Feind  in  Verwirrung  bringen,  wenn 
er  nahe  zum  Flusse  kommt  mit  geringen  Streitkräften  gegen  ein  großes 
Heer.*'  Denn  so  würde  die  Übermacht  auf  Seiten  der  Abderiten  gewesen 
sein  und  es  wäre  der  ihnen  verheißene  Sieg  über  den  soviel  schwächeren 
Feind  nicht  sehr  rühmlich  gewesen.  Auch  würde  die  Anknüpfung  dieser 
Verheißung  mit  dlXd  an  den  vorausgehenden  Satz:  /.elvoig  VTtiQtaxov 
^Id^e  cpeyyog  unpassend  gewesen  sein :  Sie  erlebten  den  schönsten  Ehren- 
tag vor  Melamphyllon;  aber,  sagt  das  Orakel,  sie  werden  vermöge 
ihrer  Übermacht  den  schwachen  Feind  besiegen.  Es  scheint  mir  ganz 
sicher,  daß  die  Abderiten  eine  feindliche  Übermacht  besiegt  haben,  die 
überdies  durch  ihre  Aufstellung  längs  des  Flußufers  unangreifbar  schien, 
daß  also  TcoTaiKn  GyeSöv  (.lolowa  mit  ttotl  tcoLvv  azQazov  zu  verbinden 
ist  und  sich  das  Hyperbaton  aus  dem  Wunsche  erklärt,  den  besonders 
wichtigen  und  für  die  Abderiten  gefährlichen  Umstand  durch  Stellung 
nahe  dem  Satzanfang  hervorzuheben.  Es  muß  dann  vlv  =  eos  erklärt 
(vgl.  Nem.  IV ,  3)  und  auf  die  vorher  erwähnten  /.elvoi,  die  Vorfahren 
der  Abderiten,  bezogen  werden.  Subjekt  zu  (pvqae  ist  der  am  Schlüsse 
der  vorausgehenden  Epode  erwähnte  Tag  (cpeyyog).  Auch  wir  können 
den  Tag  als  Urheber  aller  der  Dinge  ansehen  und  bezeichnen,  die  er 
gebracht  hat.  „Jenen  erschien  der  höchste  Ehrentag  im  Angesicht  der 
Feinde  vor  Melamphyllon.  Freilich  führte  er  sie  gegen  den  am  Flußufer 
(scheinbar  unangreifbar)  aufgestellten  und,  mit  nur  geringen  Streitkräften, 
gegen  den  an  Zahl  überlegenen  Feind.  Aber  sie  hatten  doch  günstige 
Verheißungen,  die  sich  auch  erfüllten."  Wvqelv  ist  mit  nqog  konstruiert, 
wie  Plat.  Hipp.  mai.  291  A  l^ol  oiSiv  Ttgäyiiia  (pvQead^ai  yrqbg  rbv  äv&QO)- 
710V.  Es  bezeichnet  hier  das  Handgemeinwerden.  Die  vEO{.ir(via  wird  hier 
offenbar  als  ein  Tag  günstiger  Vorbedeutung  für  die  Abderiten  genannt 

Wiener  Eranos.  2 


-     18    — 

und  unter  der  Jungfrau  Hekate  kann,  im  Anschluß  an  die  Erwähnung 
der  vEo^riviay  nur  die  Mondgöttin  verstanden  werden.  (DoLVLAOTteL^a 
scheint  mir  darauf  hinzudeuten,  daß  die  Röte  des  Mondes  bei  seinem 
Aufgang  an  diesem  Tage  als  günstige  Vorbedeutung  aufgefaßt  wurde. 
Mit  Thv  iS^ekovza  yeraa-S-ac  hat  der  Dichter  für  die  Abderiten  deutlich 
genug  daran  erinnert,  daß  der  Tag  der  Vorbedeutung  entsprechend  ein 
siegreicher  war  und  kann  nun  zu  etwas  anderem  übergehen,  d.  h.  zur  Gegen- 
wartzurückkehren. Ich  möchte  daher,  statt  des  von  den  englischen  Heraus- 
gebern vorgeschlagenen  und  von  Schröder  unbedenklich  übernommenen 
oijv  lieber  vvv  ergänzen:  (^vyOv  d'at  yXv'/,v/Liaxccva)v  usw.  Denn  unter  den 
yXv'/^vf-idyavoL  kann  ich  nur  die  Musen  verstehen.  Auf  sie  paßt  der  Ausdruck 
einzig,  da  y)^v%vg  im  übertragenen  Sinne  von  Pindar  stets  auf  die  Gaben  der 
Poesie  und  der  Musik  angewendet  wird.  Wer  ersinnt  denn  sonst  und 
wirkt  kunstreich  etwas  „Süßes"  außer  den  Musen?  Da  nun  eine  Er- 
wähnung der  Musen  schwerlich  mit  ovv  d'av  an  die  vorausgehende 
Erzählung  angeschlossen  werden  kann,  möchte  ich  vvv  d'av  vorziehen, 
eine  Verbindung ,  die  ganz  am  Platze  ist,  wo  die  Gegenwart  mit  der 
Vergangenheit  parallelisiert  wird.  So  wie  damals  werden  auch  jetzt 
wieder  die  Musen  Stoff  zum  Gesänge  bekommen;  oder:  und  auch  jetzt 
wieder  —  darum  flehen  wir  mit  dem  von  den  Musen  geschenkten  Liede  — 
möge  uns  durch  deine  Hilfe,  Apollon,  der  Sieg  zuteil  werden. 

So  ging  der  Dichter  vielleicht  zu  Apollon  über,  dem  ja  der  Päan 
hauptsächlich  galt.  Nach  der  großen  Lücke,  die  hier  folgt,  in  der  die 
dritte  Triade  und  das  ganze  Gedicht  abschließenden  Epode,  steht  der 
Dichter  noch  immer  bei  Apollon  und  schildert  die  Verehrung,  die  ihm 
in  Delphi  zuteil  wird.  Denn  auch  in  den  ersten  erhaltenen  Worten 
handelt  es  sich  schon  um  Delphi  und  ohne  Grund  scheinen  mir  die 
englischen  Herausgeber,  denen  O.Schröder  folgt,  den  Pindos  hinein- 
gebracht zu  haben,  der  für  die  Lücke  von  3 — 4  Buchstaben  und  für 
das  Beiwort  £voöj.iog  zu  groß  ist.  Ich  erwarte  statt  dessen  yßqov,  vabv, 
ol/.ov  (wie  mein  Schüler  Kampas  vermutete),  kurz  ein  Wort,  das  den 
weihrauchduftigen  Tempel  in  Delphi  bezeichnet.  Das  Rufen  des  Gottes 
findet  im  Tempel  selbst  statt,  der  Reigentanz  und  Gesang  der  Mädchen- 
ohöre  im  Freien,  in  dem  nach  den  Felswänden  zu  gelegenen  Teile  des 
heiligen  Bezirkes  (d^cpl  JJaQvaooiaLQ  TteT^aig  viprjkatg). 

Da  ich,  wie  oben  ausgeführt,  in  den  wieder  an  Abderos  gerichteten 
Schlußworten  des  Päans  das  euol  mit  den  englischen  Herausgebern  auf 
Abdera,  nicht  mit  0.  Schröder  (B.  Ph.  W.  1908,  pag.  164)  und  Fraccaroli 
auf  den  Dichter  beziehen  zu  müssen  glaube ,  bin  ich  genötigt ,  statt 
des  Partizipiums  XQalvwv  einen  Imperativ  Aoristi  zu  ergänzen.  Denn 
sonst   würde  die  Bitte   für  den  Sieg  des  Heeres,    die   naturgemäß    die 


~    19    — 

Hauptsache  ist,    durch    das   xal    im    folgenden  Verse    zur   Nebensache 
gemacht.  Ich  möchte  daher  den  Schluß  so  schreiben: 

(^JdßSyrjge,  /ml  OT(^Qazbvy  \7t7toxdQf.iav 

(^evdyla  Ttolef-ici)  TeXevvaui)  TtqoßißaQoig. 

Irji'e  Txaidv,  itjie  Tzaiäv  di  f.irj7ioTE  Xelttoi. 
Die  Ergänzung  d^STcitov  statt  des  de  sytcov  der  englischen  Heraus- 
geber stammt  von  meinem  Schüler  stud.  phil.  Drechsel.  Der  Chor  verlangt 
als  Dank  für  die  salä  e^tea,  d.  h.  für  sein  schönes  Lied  von  Abderos 
«inen  Dank,  der  ihm  Ruhm  bringen  würde.  Worin  dieser  Dank  bestehen 
soll,  sagt  der  mit  xal  im  etwas  bescheideneren  Optativ  angeschlossene 
Satz:  der  Schutzheilige  der  Stadt  soll  bewirken,  daß  dieser  Krieg  gegen 
die  Perser  der  letzte  sei  und  die  reisige  Bürgerschaft  zu  dauerndem 
Glück  und  Frieden  führe.  Evölcc  ist  eine  auch  von  Fraccaroli  gebilligte 
sehr  naheliegende  Ergänzung;  es  ist  Zieldativ,  Ttolefui)  dagegen  Instru- 
mentalis. Der  Scholiast,  der  zu  eudla  beischrieb:  l'awg  tt]  vl-jct],  verstand 
es  nicht  richtig.  Das  TelevTalci)  bei  Ttolef^Kpy  das  auch  zu  dem  Inhalt 
des  Wunsches  gehört,  zeigt,  daß  der  Dichter  an  das  auf  den  Krieg 
folgende  friedliche  Grlück  denkt. 


Zur  Farce  von  Oxyrhynclios. 

Von 
SIEGFRIED  MEKLER. 


Auf  die  Worte,  mit  denen  der  Orestes  der  „skurrilen  Ipliigenie^^) 
am  Schluß  der  zweiten  Szene  (S.  104  Cr.,  Y,  56  f.)  das  Erscheinen  des 
Barbarenkönigs  und  seines  Gefolges  ankündigt,  airol  de  oizoi  leXov- 
l-ievoL  fievä  rcov Ttagayehovrai,  folgt  die  zweimalige  Bühnen- 
anweisung  des  Tympanismos   und   auf  diese   wieder    eine   Reihe    zum 

größeren  Teil  unsicherer  Buchstaben,    SeovT oaakk  .  .  .  Crusius 

läßt  die  Wahl,  diese  letzteren  als  vox  barbara  oder  als  Bestandteil  einer 
weiteren  szenischen  Note,  etwa  TV^Ttaviaf-iol  (f  iovtojv  Ttqhg  älXri'kovg^ 
anzusprechen;  das  zwischen  den  beiden  f  stehende  ävaTceG  dagegen 
deutet  er,  wenn  auch  zweifelnd,  mit  den  englischen  Herausgebern 2) 
als  TVfiTtavLGubg  ävaTtaiGTi'Aog.  Der  Zweifel  scheint  mir  in  Anbetracht 
der  Art,  wie  überhaupt  in  dem  Stück  die  Trommelzeichen  auftreten, 
durchaus  berechtigt.  Mit  Einrechnung  von  Z.  211,  welche  Variante 
sich  mit  der  Doppelanweisung  in  Z.  39  nach  Inhalt  und  Stellung  an- 
näherungsweise deckt,  weist  die  Farce  10  (11?)  einfache  neben  8 
qualifizierten  Tympanismoi  auf,  und  zwar  Z.  10  (gleichfalls  nach  otvoi 
TtaQayeivovTaL  und  unmittelbar,  ehe  das  fremde  Idiom  einsetzt:  also 
neue  Szene),  39  (hinter  aQjiuvd^l  =  2^2  /uivet),  59  (?),  61,  65.  67,  68, 
72,  75,  77,  80;  t  TtoXvg  69,  t  uolvg^  %QOvotg  92,  dasselbe  mit  zaraffroAri 
95 ;  T  6  (nach  Cr.  fünffacher  Schlag)  87 ;  mit  TtegSeTai  22,  mit  tvoqÖ)] 
39,  93,  211. 

So  natürlich  nun    als  Zeichen    des    neuen  Auftritts    das  wieder- 
holte   Signal   erscheinen    mag,    so    auffällig   wiche   gerade   diese  eine 


1)  Sudhaus,  Hermes  41,  270,  dazu  Crusius  S.  109  zu  V.  226  (lies  daselbst  1015) 
und  Schroeder,  Berl.  phil.  Wochenschr.  1903,  1448. 

^)  Oxyrhyneh.  Pap.  edd.  Grenfell-Hunt,  III,  54.  Ebenso  G.  AYinter  in  der  Leipziger 
Dissertation  de  mimis  Oxvrh.  1906,  S.  40. 


—    21     — 

Stelle  von  allen  übrigen  ab,  wenn  der  Ehythmus  des  Wirbels  notiert 
wäre,  der  es  nicht  einmal  dort  ist,  wo  man  es  allenfalls  erwarten 
könnte,  vor  und  nach  den  Sotadeen  des  Tanzcouplets.  Ist  aber  eine 
andere  Deutung  der  drei  fraglichen  Silben,  die  jenes  allem  Anschein 
nach  einheitliche  Doppelzeichen  einschließt,  überhaupt  möglich?  Ich 
glaube  wohl,  doch  bedarf  es,  um  meiner  abweichenden  Erklärung  den 
Boden  zu  bereiten,  eines  kleinen  Umweges  über  ein  paar  überlieferungs- 
und  literargeschichtliche  Fragen. 

So  mancher  Leser  unseres  Possenfragments  wird  es  wunderlich 
gefunden  haben,  daß  mit  alleiniger  Ausnahme  der  Heldin  Charition 
alle  diese  Griechen,  Barbaren  und  Halbbarbaren  namenlos  bleiben, 
auch  Charit ions  Bruder,  der  augenscheinliche  Spiritus  rector  der  Be- 
freiungsaktion. Daß  ein  König  an  der  „Handlung"  beteiligt  ist,  würden 
wir  ohne  das  als  Spitzmarke  wiederkehrende  Appellati vum  nicht  wissen. 
Die  Anonymität  des  Sannio  und  der  Bootsleute  unterliegt  allerdings 
keinen  weiteren  Bedenken;  dagegen  ist  es  seltsam  genug,  daß  zu  den 
sieben  oder  acht  durch  Ziffern  unterschiedenen  Personen  auch  Cha- 
rition zählt,  die  allemal  mit  A  bezeichnet  ist.  Wer  diese  Umstände 
im  Verein  mit  der  Menge  der  Bühnenanweisungen ,  einschließlich  der 
zwischen  Z.  71  und  87  stark  gehäuften  Pausenzeichen,  unbefangen 
erwägt,  wird  der  von  H.  Reich ^)  geäußerten  Annahme,  daß  sich  ein 
Liebhaber  das  Stück  nach  der  Vorstellung  aus  dem  Gedächtnis 
niederschrieb,  schwerlich  beipflichten.  Viel  mehr  Wahrscheinlichkeit 
möchte  seiner  zweiten,  auch  von  Horovitz^)  geteilten  Vermutung 
beizumessen  sein,  daß  auf  den  Papyrusblättern  von  Oxyrhynchos  nur 
der  Rahmen  für  das  Szenenbild  vorliege,  die  Gußform,  der  erst  die 
Kunst  des  Schauspielers  Inhalt  zu  geben  bestimmt  war.  Die  abrupte 
Kürze  der  wenigen  wirklichen  Dialogstellen,  die  mehrfach  auch  da, 
wo  durchwegs  griechisch  geredet  wird,  ans  Epigrammatische  grenzende 
Wortknappheit  verbunden  mit  der  erwähnten  Reichhaltigkeit  des  Textes 
an  TtaQETtLyQmpai  aller  Arten,  läßt  in  der  Tat  an  ein  Theaterexemplar, 
ein  Inspizientenbuch  mit  allem  für  die  mise  en  scene  nötigen  Detail 
denken.  Dafür  spricht  auch  noch  die  Analogie  der  MoixevvQia,  für  die 
z.  B.  Sudhaus  das  gleiche  postuliert. 3) 


')  Deutsche  Lit.-Ztg.  1903,  2685. 

^)  Spuren  griechischer  Mimen  im  Orient,  S,  11.  —  Im  A^orübergehen  sei  bemerkt,  daß 
ebd.  S.  61,  Note  2  das  syrische  Menandros  qömiqos  be-Tais  zu  Recht  bestehen  muß  und  nicht 
in  b-Atenas  zu  ändern  war,  wenn  anders  das  von  H.  Etienne  zu  Korinth.  1,  15,  33  bei- 
geschrieben gefundene  Scholion  Mevavdgov  tov  xcof-uxov  yvco^it]  iv  Oadia  richtig  auf  die 
Thais  bezogen  wird,  s.  Fragm.  218  K. 

«)  a.  0.  264. 


—     22     — 

Und  nun  frage  ich,  was  das  wohl  für  ein  Publikum  sein  mochte, 
das  an  dem  „mimischen  Drama",  wie  Reich  die  Farce  einmal  nennt ^), 
Gefallen  fand,  und  halte  die  beiden  uns  gemeinsam  überlieferten  Probe- 
stücke der  mimischen  Muse,  die  uns  Gren felis  und  seines  Mitarbeiters 
rinderglück  und  Arbeitseifer  vor  nun  sechs  Jahren  geschenkt  hat, 
gegeneinander.  Ich  denke,  es  könne  kaum  ernstlichen  Zweifeln  unter- 
liegen, welchem  von  beiden  der  höhere  Wert  und  Belang  zukommt. 
Wird  auch  die  ästhetisch-literarische  Bedeutung  der  „Ehebrecherin"  von 
ihrer  soziologisch-sittengeschichtlichen  um  ein  beträchtliches  überwogen, 
vermag  auch  das  „sonderbare"  Spezimen  einer  dekadenten  Zeit  den  Ver- 
gleich mit  Herondas'  künstlerisch  geschlossener  Zrikövinog  nach  keiner 
Richtung  zu  bestehen,  so  geschähe  doch  dem  Miniaturdrama  sicherlich 
Unrecht,  wollte  man  es  als  grobschlächtige  Dutzendware,  als  gering- 
wertige Ausgeburt  einer  konventionellen  Mache  schonungslos  verwerfen. 
Auf  den  ungenannten  Verfasser  des  provinzialen  Giftmischerdramolets 
mag  füglich  das  von  Henri  Weil  auf  den  Meister  des  Mimiambus  ge- 
münzte Wort  vom  realiste  Anwendung  finden,  qui  ne  recule  devant 
aucune  crudite  de  langage^);  stellt  doch  auch  er  ein  Bild  von  erschreckend 
unbefangener  Wiedergabe  der  dovyywQTjTa  (um  mit  Theophrast  zu  reden  s) 
des  Geschlechts-  und  Gesellschaftslebens,  in  dessen  verhohlenste  Winkel 
er  mit  unerhört  dreister  Fackel  hineinleuchtet.  Hier  geht  es  noch  um 
einige  Grade  krasser  zu  als  bei  Gastron  und  Bitinna,  leidenschaftliche 
Ausbrüche  und  brutale  Effekte  brechen  wie  Sturzwellen  über  uns  herein ; 
durch  die  skizzenhaft  geführte  Szenenreihe  blickt  dramatisch  bewegtes 
Leben,  und  es  fehlt  nicht  an  tragischen  Akzenten,  wenn  auch  Madames 
ruchlose  Pläne  durch  die  Machenschaften  des  Gegenspielerkleeblatts 
vereitelt  werden,  derart  daß  die  blutrünstige  Geschichte  am  Ende  ins 
Heitere  umschlägt. 

Dagegen  das  Recto  des  Papyrus,  dessen  Kehrseite  die  MoixevtQia 
trägt!  Man  mag  dem  Umstand,  daß  wir  nichts  als^ einen  Canevas  in 
Händen  haben  und  das  vielleicht  beste,  Gestus  und  Improvisation,  ver- 
loren ist,  noch  so  viel  Gewicht  beimessen,  die  Schnurre,  an  der  sich 
im  zweiten  Jahrhundert  unserer  Ära  die  guten  Oxyrhjnchiten  faute  de 
mieux  erbaut  haben,  erfährt  zu  viel  Ehre,  wenn  man  mit  Horovitz*) 
von  einer  literarisch  nicht  hoch  stehenden  Hypothese   spricht.    Besser 


^)  a.  0.  2681 ,    ebenso  im  Jahrb.  d.  deutschen  Shakespeare-Gesellschaft,    40.  Jahrg., 
S.  12  des  Sep.-Abdr.  (Der  Mann  mit  dem  Eselskopf.) 
-)  Journ.  d.  sav.  Nov.  1891,  18. 

^)  Diomedes,  Leo  in  Kaibels  Comic.  Fragm.  61,  232. 
')  a.  0. 


—    23    — 

trifft  Sudhaiis'  „klägliche  Farce"  zu^);  auch  Körtes  Urteil 2)  sei  an- 
geführt: um  das,  wie  er  mit  nur  zu  gutem  Grunde  sagt,  fade  Gericht 
schmackhaft  zu  machen,  würzt  der  zu  seinem  Heil  namenlos  bleibende 
„Dichter"  die  herzlich  magere  szenische  Kost  mit  allerlei  Zutaten,  hüllt 
das  Minimum  von  Handlung  —  Befreiung  einer,  jungen  Griechin  aus 
der  Gewalt  eines  unbekannt  wo  gebietenden  Maharadscha  durch  ihren 
den  Bedränger  samt  den  Seinen  trunken  machenden  Bruder  —  in  das 
geräuschvolle  Brimborium  einer  Boulevardrevue  mit  Clown  und  Ama- 
zonencorps, Gesangsnummern,  Trommelwirbel  und  TanzdivertissementSy 
bringt  ein  angebliches  Indisch^)  und  zwischendurch  ein  kauderwelsches 
Barbarengriechisch  zu  Gehör  und  verwendet  überdies  in  psychologischen 
Momenten  einen  Knalleifekt  eigener  Art,  den  der  erwähnte,  im  übrigen 
von  allem  Witz  verlassene  Clown,  ein  Meister  der  —  sagen  wir  Bdeo- 
technik,  zu  apotropäischem  Behuf  produziert.*)  Reich  hat  der  Posse 
eine,  von  der  wunderlichen  Heiligen  UoQÖt]  abgesehen,  nicht  zu  ver- 
kennende Anständigkeit  nachgerühmt^),  und  wer  den  Maßstab  der  an 
unbemäntelter  Nacktheit  das  möglichste  leistenden  MoiyßviQLa  anlegt^ 
wird  ihr  das  Prädikat  der  Dezenz  nicht  vorenthalten;  doch  hat  Crusius 
nicht  unterlassen,  auf  den  redenden  Namen  des  Flusses  Wjletxog  auf- 
merksam zu  machen^),  den  wir  vielleicht  haplographisch  als  ipcoXöleixog 
zu  verstehen  haben  (vgl.  cunnilingus).  Entsprechend  purifiziert,  als 
Ballett  „Die  Touristen  in  Malabar",  würde  die  Farce  zweifellos  Figur 
machen ;  daß  sie  mit  Typen,  Motiven  und  Requisiten  arbeitet,  die  aus 
dem  Hausrat  der  Romantik  und  der  älteren  szenischen  Kunst  erborgt 
sind,  könnte  ihrem  Erfolg  keinen  Eintrag  tun.  Nur  soviel  möchte  ich  aus- 
gesprochen und  zur  Evidenz  gebracht  haben,  daß  ihr  literarischer  Gehalt 
gleich  Null  ist.  Die  Vorgänge  —  pneumatische  Doktrin  und  Moral 
des  Buffo  in  der  ersten  Szene,  folgerechte  Praxis,  dann  Verabredung 
über  den  Berauschungsplan  in  der  zweiten,  dessen  Gelingen  in  der 
dritten  und  letzten  —  mögen  für  ein  Puppenspiel  gut  genug  sein, 
und   höchstens    als   Libretto    für    ein    solches    lasse   ich   unseren  Text 


^)  a.  0.  274.  jVile  et  futile'  nennt  das  Stück  sein  Schüler  G.  Knoke  in  der  mir 
erst  während  des  Drucks  bekannt  werdenden  Kieler  Dissertation  de  ,Charitio'  mimo 
Oxyrhynchio,  1908. 

2)  Ehein.  Mus.  60,  415.  Vgl.  Schubert,  Das  Buch,  79. 

')  Grierson  bei  Grenf.-Hunt  S.  55,  Hultzsch,  Herrn.  39,  307 f.,  hiezu  Nöldekes  zurück- 
haltende Bemerkung  bei  Knoke  23  f. 

*)  Dergleichen  Scherze  im  Karagöz,  Eeich  Mim.  665,  Körte  a.  0.  Auch  das  Pariser 
Cabaret  verschmäht  die  Darbietungen  der  Petomanen  nicht,  wie  ich  mich  vor  einem  Jahr- 
zehnt oder  länger  gelesen  zu  haben  erinnere. 

5)  D.  L.  Z.  2684. 

«)  Zu  V.  27. 


—     24    — 

gelten,  dessen  Wirkung  auf  kindliche  Gemüter  vermutlich  nicht  gering 
war,  wenn  der  König  mit  yoQßovoQliod-OQßa  und  ovaiieoaQEövf^npaQaöaqa  per- 
orierte  und  B  mit  ^afwvva  luag^a  (.laqLd^oviia  den  Mjstagogen  spielte, 
einen  Text,  dessen  Harmlosigkeit  ihr  Höchstes  leistet  in  dem  Augen- 
blick, da  der  bis  dahin  anscheinend  nur  des  Kanaresischen  mächtige 
Gaicovar  zu  einem  Quatrain  mit  unterlegtem  Griechisch  das  Tanz- 
bein schwingt. 

Ich  kehre  zum  Ausgangspunkt  dieser  Betrachtungen  zurück,  zu 
der  7taQE7ZLyqa(frj^  die  in  dvaTreo  enthalten  sein  muß.  Ich  ergänze  es 
zu  äva7tieG(.ia^).  Die  einzige  von  diesem  Mechanismus  handelnde  Stelle, 
Pollux  IV,  127,  132,  ist  bekanntlich  so  dürftig  und  zugleich  so  wenig 
klar  gehalten,  daß  über  dessen  Anordnung  im  griechischen  Theater 
keine  Einigung  hat  erzielt  werden  können ;  2)  soviel  freilich  ist  fest- 
zuhalten, daß  eine  Vorrichtung  zu  dem  Zweck  (hg  Ttova/ndv  ävEkd^elv  i) 
toiovtÖp  TL  TCQÖatoTtov  uuscreu  Versenkungen  gleich-  oder  nahekommt. 
Ich  erwarte  nun  den  Einwurf,  hier  sei  der  Anlaß  zu  solchem  Empor- 
tauchen aus  der  Tiefe  nicht  gegeben.  Für  mich,  der  ich  an  eine  Mario- 
nettenbühne denke,  ist  er  es:  mochte  sie  nun  für  den  Handbetrieb 
eingerichtet  oder  automatische  Konstruktionen,  wie  sie  Heron  be- 
schreibt 2) ,  für  die  Bewegung  der  Figuren  vorgesehen  sein ,  immer 
bedurfte  sie  eines  für  die  Zuschauer  unsichtbaren  Manipulationsraums, 
der  aus  klarliegenden  Gründen  unterhalb  des  Spielraums  angeordnet 
zu  werden  pflegte  und  noch  pflegt.  Liest  man  bei  Ernest  Maindron*), 
welcher  in  ihrer  Art  hervorragenden  Leistungen  im  18.  und  19.  Jahr- 
hundert die  Fantoches  eines  Mourguet  und  Josserand  fähig  waren,  wie 
Pierre  Rousset  die  Weiße  Dame,  Robert  den  Teufel,  Romeo  und  Julie 
usw.  zu  humorvollen  Parodien  umgestaltete,  aber  dabei  se  gardait  bien 
de  suivre  exactement  les  textes  originaux,  mais  on  retrouve  souvent 
dans  ses  livrets,  •  des  lambeaux  de  phrases,  parfois  des  scenes  qui 
permettent  de  les  reconnaitre'^),  so  wird  man  lebhaft  an  die  am  Schluß 
unserer  Posse   vernehmbaren  Anklänge    an    das    attische  Intrigenstück 


*)  Lautlich  nahe  stehen  die  Schreibungen  neTv  f.  meXv  Z.  66  und  Mcty.  162.  Über 
aoj.-iäv ^^ (TuoTiäv  handelt  Warren  im  Album  grat.  für  Herwerden,  das  ich  leider  nicht  ein- 
sehen konnte,  —  Die  Alternativerklärung  bei  Knoke  S.  4,  avaTieg  =  dvä  nsvie,  lasse  ich 
auf  sich  beruhen. 

2)  Schneider,  Att.  TheaterAV.  103,  AVecklein,  Phüol.  XXXI,  442,  Sommerbrodt, 
Scaen.  284,  A.  Müller,  Bühnenalt.  149,  Oehmichen,  Bühnen w.  248,  Reisch,  Pauly-Wiss. 
1,  2,  2061. 

2)  Prou,  Les  Theätres  d'Automates  en  Grece,  99;  Herons  von  Alexandria  Druck- 
werke und  Automatentheater,  gr,  u.  dtsch.  v.  AV.  Schmidt,  I,  411. 

^)  Marionettes  et  Guignols,  Paris  o.  J. 

5)  ebd.  237. 


—    25    — 

erinnert.  Nur  sind  hier  Personen  und  fjS-OTtotia  auf  das  Niveau  eines 
Theaters  für  kleine  und  große  Kinder  herabgezogen,  jene  zu  Inventar- 
nummern des  Impresario  degradiert,  der  vielleicht  die  Künste  des 
gesticularius  wie  Thomas  Holden i)  praktizierte,  diese  nur  mehr  ein 
kümmerliches  Dasein  fristend  in  der  Symbolik  der  Namengebung  der 
Heldin  und  der  „grotesken  Unflätigkeit"  2)  der  lustig  sein  sollenden 
Person.  Daß  auch  der  fragliche  akustische  Effekt  sich  mit  Hilfe 
hydraulischer  Vorkehrungen  unschwer  erzielen  ließ,  steht  für  jeden, 
der  die  hierhergehörigen  Abschnitte  der  heronischen  Pneumatika  gegen- 
wärtig hat^).  außer  Frage. 


^)  ebd.  191  schildert  er  sich:  chantant,  parlant,  criant  selon  le  besoin  du  moment 
n'ayant  pas  raeme  le  temps  de  respirer,  changeant  le  timbre  de  ma  voix  selon  le 
personnage  presente  au  public,  Avomit  nicht  Bauchrednerei  gemeint  sein  muß. 

'')  Sudhaus,  a.  0.  265. 

")  Zwitschern  des  ^ueXayy.ÖQVfpog  88,  300  Schm.,  xvi^ißäXiov  xal  rv^uTiävcov  xriTvog 
388  usw. 


Zu  den  Kretern  des  Euripides. 

Von 
ALFRED  KAPPELMAGHER. 


Daß  Euripides  ein  Drama  KqriTeg  geschrieben  hat,  bezeugt  der 
Scholiast  zu  Aristophanes  ran.  1356  eovi  de  ex  Kqtitcov  EiQiTtiöov;  über 
den  Inhalt  unterrichtet  der  Scholiast  zu  Yers  849  desselben  Stückes. 
OL  fj.ev  eig  ttjv  tov  ^Ixdgov  luoptpöiav  sv  Tolg  Kgr^ol  —  Tif^axlSag  Se  Site 
Trjv  ev  Tolg  Kqriol  fil^iv  IlaaKpdrig  Ttqhg  tov  xavQOv.^)  Die  Rekonstruk- 
tion der  verlorenen  Tragödie  des  Euripides  ist  oft  2)  versucht  worden, 
die  geringe  Zahl  der  Fragmente  3)  wurde  durch  die  Einbeziehung  bild- 
licher Darstellung*)  erweitert;  eine  Kritik  dieser  Forschungsresultate 
erscheint  jedoch  durch  die  Auffindung  eines  neuen,  größeren  Bruch- 
stückes, das  in  den  Berliner  Klassikertexten  V,  2,  S.  73  veröffentlicht 
wurde,  angezeigt. 

I. 

Ehe  wir  uns  diesem  neuen  Bruchstücke  und  seiner  Bedeutung 
für  die  Rekonstruktion  des  Stückes  zuwenden,  ist  es  nötig,  die  mytho- 
graphische  Überlieferung  zu  prüfen,  zumal  sich  zeigen  wird,  daß  sie 
nicht  ohne  Bezug  auf  die  Frage  der  Wiederherstellung  des  Stückes 
ist.  Apoll,  bibl.  II,  1,  3 ff.  erzählt:  MoteQiwvog  de  arcaiöog  ärtod-avovxog 
Mlvcog  ßaOLXeveiv  d^ekcov  Kqi^Trig  e/MXvero.  (priGag  de  Tta^a  &ed}v  ttjv 
ßaatAelav  eikri(pevai^  xdqiv  tov  niiarevd^^vaL  ecpi]^  el'  tl  av  ev^rjTaL,  yeveG&ai. 


^)  Vgl.  noch  Job.  Malalas  p.  86,  10  Tie^l  6s  zijg  JTaaicpärjg  i^e^sro  ÖQäf-ia  EiüQimörjg 
6  noiTjTiqg. 

2)  Härtung,  Eurip.  restitutus  I,  103 if.;  Welcker,  Griech.  Trag.  II,  801  f.;  0.  Jahn, 
Archaeol.  Beitr.,  240ff".;  G.  Körte,  Hist.-phil.  Aufs.  f.  E.  Curtius,  p.  197,  I  rüievi  delle  ume 
etrusche  II;  Kuhnert,  Suppl.  Fleckeisens  Jahrb.  XY,  192;  Wilamowitz,  de  Trag.  Gr. 
fragm.  S.  17;  Eobert,  Der  Pasiphaesarkophag  (14.  Winkelmannprogramm)  und  dazu 
Antike  Sarkophag-Eel.  III,  26.  R.  Holland,  Die  Sage  von  Daedalos  und  Ikaros,  Progr., 
Leipzig  1902,  S.  7ft\ 

8)  Vgl.  Nauck  III,  471,  472  und  Wilamowitz  a.  a.  0.  17. 

*)  Jahn,  Robert,  Körte,  Holland  a.  a.  0. 


f 


—    27    — 

v.al  UoGEidwvL  d-viov  r^v^aro  ravQov  dva(fav7]vai  £X  tcov  ßvd-coVy  vrcoaxöjxevog 
ytavad-voeiv  zbv  fpavevua.  tov  di  nooeidcovog  ravQOv  dvivvog  auTuj  diaTcqeTcfj 
Tijv  ßaOiXELav  TcaqUaße,  rbv  de  zavQov  eig  rä  ßov'/,öha  Tteuipag  ed-voev 
tiEQOv.  (■d-aXaGGO'/.Qarrjoag  Se  TiQcorog  TcaOLov  tcov  vriaoiv  oxedbv  VTcriQ^ev). 
ÖQyiGd-elg  Sa  avru)  Tlooeidiov ^  du  ^irj  y^ared^voe  rbv  xavQov,  tovtov  jusv 
l^riyQiiooey  UaaLCfdijv  di  el&elv  Eig  S7tid-vfJ.lav  avrov  TtaqeGvxvaGev.  fj  ds 
BQaGd^eiGa  tov  ravqov  Gvveqyov  Xaußdvu  z/aiöaXov^  dg  fjv  dQXirs/,Twv 
n:e(pevyiüg  i§  ZdLd-rivcov  ertl  (povip.  ovvog  ^vXlvriv  ßovv  ItcI  tqoxcov  VMta- 
Gy.evdGag  ytal  ravzr^v  Xaßtov  vmI  v.oiXdvag  iGwd-ev^  ixdeiQag  te  ßovv^  ttjv 
doQav  7ZEQiEQQaipe,  %al  d^Eig^  ev  i^tieq  elS^lgto  6  ravQog  Xeijucovl  ßaG-nEG-S-ai^ 
zrjv  IlaGLCpdriv  svEßißaGEv.  iX&tov  Se  6  zavQog  chg  d?^rid'ivfj  ßol  GvvfjXd^Ev. 
i)  de  2dGteQL0v  syevvriGE  rbv  y.lrid^evra  MLVioravQov.  olvog  eIxe  zavQov 
TiQÖGiOTCov^  rä  Se  Xotrih  dvS^og.  ISTiviog  Se  ev  Zip  XaßvQivd^ci)  'Aard  zivag 
XQTjGf^ovg  'AazaxXEiGag  avibv  ecpvXaxzEv.  fiv  Se  6  XaßvQLV&og,  ov  JaiSaXog 
y.azEGXEvaGEv,  oYnrjua  yiccjUTzalg  n:oXv7rX()y.oig  TtXavcov  zrjv  e^oSov.  NacK 
dieser  Erzählung  hat  Minos  durch  seinen  Betrug  sich  den  Zorn  des 
Poseidon  zugezogen ,  die  Folge  war  die  unselige  Leidenschaft  der 
Königin,  ferner  hat  Minos  auf  Grund  von  Orakelsprüchen,  also  unter 
Beihilfe  von  Priestern,  eine  Sühnung  des  Verbrechens  der  Königin 
vorgenommen,  indem  er  den  Minotaurus  im  Labyrinth  einschloß.^)  Der 
Bericht  des  Apollodor  geht  auf  Pherekjdes  zurück.  2) 

Eine  davon  meines  Erachtens  wesentlich  andere  Version  der  Sage 
bietet  Hygin  fab.  40  =  S.  69  Schm;  Pasiphae^  Solls  filia,  uxor  Mhiois, 
Sacra  deae  Veneri  per  aliquos  annos  non  fecerat.  oh  id  Venus 
amorem  infandum  Uli  ohiecit,  ut  tauruni  illum  amaret.  in  hoc  ^  Dae- 
dalus  exul  cum  venisset,  petiit  ah  eo  auxilium.  is  ei  vaccam  ligneam  fecit 
et  verae  vaccae  corium  induxit,  in  qua  illa  cum  tauro,  quem  ipsa  amabat^ 
concuhuit.  ex  quo  compressu  Minotaurum  peperit  capite  huhulco  parte 
inferiore  humana.  tunc  Daedalus  Minotauro  lahtjrinthum  inextri- 
cahili  exitu  fecity  in  quo  est  conclusus.  Minos  re  cog^iita  Daedalum 
in  custodiam  coniedt.  at  Pasiphae  euni  vinculis  liheravit.  Itaque 
Daedalus  pennas  sibi  et  Icaro  filio  suo  fecit  et  accomodavit  et  inde  avo- 
larunt.  Icarus  altius  volans  a  sole  cera  cah facta  decidit  in  mare,  quod  ex 
eo  Icarium  pelagus  est  appellatum.  Daedalus  pervolavit  ad  regem  Cocalum 
in  Siciliam.  .  .  . 


^)  Wenn  Zenob.  IV,  92  zu  Apoll,  ep.  Vat.  II,  56  Wagner  sagt:  AaiSaXov  yciQ  avv 
'IxaQcp  Tcö  Tcaidi  xad-etQ^e  MCvwg,  öi'  ötibq  elQyäaazo  /^vaog  im  tcp  zfjg  naaiq)ür]g  egcori  tm 
TiQog  TOV  ravQOv,  so  stammt  dies  nicht  aus  Apollodor;  denn  es  paßt  weder  hier  noch  zur 
Theseussage,  es  ist  vielmehr  dieselbe  Quelle,  die  Hygin  ausschreibt,  anzuerkennen;  anders 
urteilt  Wagner  a.  a.  0.  p.  131. 

2)  Vgl.  Wagner,  a.  a.  0.,  p.  128—130. 


—    28    — 

Darnach  ist  Pasiphae  dem  Zorn  der  Venus  verfallen,  die  Göttin 
treibt  sie  zur  Liebe  zum  Stier,  die  Hilfe  des  Daedalus  ist  eine  doppelte 
er  verfertigt  die  Kuh  und  errichtet  das  Labyrinth,  offenbar  damit 
Minos  die  Frucht  des  sündigen  Verhältnisses  nicht  zu  sehen  bekomme. 
Als  aber  Minos  das  Verbrechen  doch  erfährt,  wird  Daedalus  gefangen 
gesetzt,  nun  befreit  ihn  Pasiphae,  sie  kann  also  von  Minos  nicht 
der  Freiheit  beraubt  sein.  Die  Unterschiede  gegenüber  der  Erzählung 
des  Apollodor  a.  a.  0.  sind  klar. 

Weitere  Berichte  der  Mythographen  lassen  sich  nun  mit  einer 
der  beiden  Erzählungen  vereinen  oder  geben  eine  beide  Versionen  ver- 
einigende Darstellung.  So  kennt  Diodor  IV,  77  beide  Erzählungen.  Er 
erzählt  von  der  Leidenschaft  der  Königin  zum  Stier,  von  der  werk- 
tätigen Beihilfe  des  Daedalus,  IV,  77, i)  1,  dann  5  rbv  ovv  Jaidalov 
7tvd-6f.ievov  TfjV  ä7t£L?.rjv  tov  MIvü)  Sid  tijv  7,auaay,eurjv  rij^  ßoög  (paai 
q)oßrii>evTa  Trjv  OQyrjv  vov  ßaailewg  ey,  zrjg  KQ^iTrig  iy,7tlevGai,  övveq- 
yovoijg  TTjg  naoupdrig  '/,al  tcXoIov  dovarig  TtQog  tov  e/.Tzloui'.  Minos 
hat  also  von  der  Mithilfe  des  Daedalos  gehört,  dem  Strafe  droht,  er 
entgeht  ihr  mit  Hilfe  der  Königin,  die  also  noch  nicht  bestraft  sein 
kann  oder  nicht  der  Freiheit  beraubt  wurde.  Diese  Erzählung  deckt 
sich  ^  wenn  sie  auch  eine  rationalistische  Ausdeutung 2)  gibt  —  in 
einem  wesentlichen  Punkte,  der  Mithilfe  der  Königin  bei  der  Flucht 
des  Daedalus,  mit  Hygin.  Mit  dieser  Erzählung  des  Diodor  ist  nun  zu 
vergleichen,  was  der  Scholiast  im  Ven.  A  zu  Hom.  II.  II,  145  (=Kalli- 
machus  Frg.  5  Sehn.)  erzählt:  .  .  .  fuevä  ti)v  r^g  UaOKfdr^g  Ttqbg  rbv  ravQov 
fU^LV^)  JaLdaXog  eulaßovf^isvog  rrjv  Mlvcoog  dqyt^v  TcreQcocbg  ovv 
iTiccQi^  T(p  viel  ecplQEVo.  '/.avaTteaovcog  öe.  tov  Tzaidbg  elg^)  to  v7zo/,elf.iEvov 
7tiKayog  ^iKaQwv  i-iETWvouda&rj.  o  ftevrot  JaiöaXog  StaTttdg  elg  Kdur/Mv 
zr^^   ^ixeliag  /ml  Tbv  vlbv  aviov  ezöe/juievog  eueivE  Tcaqh   Toig  Kco/mIov 

d-vyazQaGiv, laroQEl    Oiloaveipavog    /mI    Kal/J/.iaxog    h  ^irloig. 

Wenn  Daedalus  TtvEQcovbg  entflieht,  ist  ihm  jeder  andere  Weg  versperrt, 
daher  muß  der  König  bereits  von  seiner  Tat  wissen;  die  Worte  EvXa- 
ßov{.iEvog  rrjv  Mivcoog  OQyrjv  decken  sich  mit  dem,  was  Diodor  sagt 
<poßri9-evTa  tyjv  ooyrjv  tov  ßaatXkog,  es  liegt  also  bei  Diodor  und  dem 
Scholiasten  dieselbe  Quelle  vor  und  wir  können  ^)  demnach  den  Bericht 
des    Scholiasten     durch    den    des    Diodor    ergänzen.     Die    Quelle    des 


*)  IV,  77,  2 — 4  stammen  aus  Apoll,  a.  a.  0. 

^)  Im  übrigen  kommen  die  rationalistischen  Ausdeutungen  der  Sage  nicht  in  Betracht, 
da,  wie  sich  ergeben  wird,  auch  bei  Eurip.  die  f^ti^tg  mit  dem  Stier  vorkam. 
^)  Vgl.  die  Worte  des  Timachides  zu  Aristoph.  ran.  1356. 

*)  So  nach  0.  Fiebiger  bei  E.  Dittrich,  Suppl.  zu  Fleckeisens  Jahrbücher  23,  187. 
5)  Vgl.  Holland  a.  a.  0.,  S.  2. 


—    29    — 

Scholiasten  und  somit  Diodors  an  der  angeführten  Stelle  ist  Philo- 
steplianoS;^)  der  seinen  Bericht  den  .Aivia  seines  Lehrers  Kallimachus 
entnommen  hat.  Kallimachus  hatte  also  die  Mithilfe  der  Pasiphae 
bei  der  Flucht  des  Daedalus,  wie  Diodor  zeigt,  erwähnt,  diese  Flucht 
war  eingetreten,  als  Minos  von  der  Geburt  des  Minotaurus  gehört  hatte, 
doch  bevor  Daedalus  vom  König  zur  Verantwortung  gezogen  war; 
ferner  mußte  Pasiphae  beim  König  durchgekommen  sein,  sonst  wäre 
ihre  Hilfeleistung  bei  Daedalus'  Flucht  unmöglich.  Damit  enthält 
nun  die  Sagen wendung,  die  Kallimachus  gab,  Motive,  die  sich  bei 
Hygin  a.  a.  0.  hnden,  auch  hat  Hygin  das  aXcLov^  ferner  erwähnt  er  die 
Flucht  zu  Kokalos.  Doch  bei  Hygin  ist  die  Sache  trotz  derselben 
Sagenelemente  raffiniert  verwickelter,  indem  Daedalus  bereits  vom 
König  gefangen  gesetzt  ist  und  dann  erst  befreit  wird.  Es  stellt 
also  Hygins  Quelle  unter  Benützung  der  von  Kallimachus  gegebenen 
Sagenwendung  ein  weiteres  Ausgestalten  der  Erzählung  dar.  Hygins 
letzte  Quelle  ist,  wie  auch  allgemein  angenommen  wird,  ein  Drama. 
Dieses  benützte  also,  wenn  Philostephanos  Richtiges  berichtet,  die  von 
Kallimachus  in  den  ^ixia  gegebene  Version  der  Sage;  es  ist  demnach 
ein  Drama  der  hellenistischen  Zeit. 

II. 

Betrachten  wir  nun  die  Fragmente,  die  wir  vor  der  Publikation 
des  Berliner  Papyrusblattes  sicher  den  Kretern  des  Euripides  zuweisen 
konnten,  so  wird  das  Fragm.  472  N.  durch  Porphyr,  de  abst.  IV,  19, 
direkt  für  unser  Stück  bezeugt. 2)  Es  treten  die  Mysten  des  idäischen 
Zeus  auf,  um  Minos,  „dem  Sohn  der  Europa  und  des  gewaltigen  Zeus'' 
zu  helfen.  Der  Chor  bekennt  sich  in  diesen  der  Parodos  zugehörigen 
Versen  zu  einer  asketischen  Mystik.  Der  Minotaurus  ist  offenbar 
aufgefunden  worden  und  der  Chor  steht  dem  König  bei,  die  Freveltat 
zu  sühnen,  wozu  die  Worte  des  Apoll,  a.  0.  xar«  Tivao,  xQri(yf^iovg  passen. 
Die  endgültige  Sühnung  der  Zeugung  und  Geburt  des  Minotaurus 
bildete  gewiß  den  äußeren  Rahmen  des  Stückes,  in  dem  dann  die 
asketische  Mystik  eine  wichtige  Rolle  spielte.  3) 

Daß  auch  das  kleine  Fragm.  471  N.  i^H' w  KQrireg^  "löyjg  xixva^ 
zu  dem  der  Scholiast  bemerkt  xovg  KovQr^vag  leyei'  eon  ds  ez  KQrjTcov 
EvQLuidov,  auf  die  Kureten  sich  bezieht,  hat  nach  Fritsche  richtig 
Wilamowitz  a.  a.  0.  p.  77,  1  betont. 


^)  über  ihn  und  seinen  Einfluß  auf  Apoll,  spricht  Wagner  a.  a.  0.  137  und  sonst. 
2)  Über  den  Text  handeln  neuerdings  Wilamowitz,  Berl.  Klassikertexte  Y,  2,  S.  77,  1 
und  Schmidt,  W.  f.  cl.  Ph.  1908,  Heft  XVI,  XYII. 

»)  Vgl.  Eobert  a.  a.  0.,  p.  20if.  und  Wilamowitz,  B.  Kl.  T.  a.  a.  0.,  p.  77/78. 


—    30    — 

Dadurcli  aber  ist  klar,    daß    der   folgende  Vers  des  Aristophanes 

(ran.  1357) 

To.  T()^a  Xaßövieg  hca^itvaTE 

niclit  aus  Euripides  stammt  und  die  ganze  Monodie  der  Frösche  nichts 
mit  den  Kretern  ihrem  Inhalte  nach  zu  tun  hat.  Somit  fallen  aber 
auch  die  Folgerungen,  die  Kuhnert^)  und  Holland 2)  aus  der  Monodie 
des  Aristophanes  zogen:  wir  können  hier  weder  das  Klagelied  des 
Minos  noch  das  der  Pasiphae  bei  der  Flucht  des  Daedalus  erkennen. 
Zu  diesen  zwei  Fragmenten  kommt  nun  das  Berliner  Bruch- 
stück, 2)  das  durch  Form  und  Inhalt  sich  als  echt  euripideisch  erweist 
und  wegen  seines  Stoffes  gewiß  den  Kretern  angehört.  Auf  der  Szene 
befinden  sich  der  Chor,  Minos  mit  einem  Gefolge  von  Speerträgern,  Pasi- 
phae und  ihre  Dienerin: 

Chor    ov  yaQ  Tiv  äXXriv  (frif^d  ToXf^iiiaat  rdde' 
ab  de  (^xa'KOvy  sy,  ym-äcov  äva^ 
cpQÖvTLöov  el  TiaXvxpai. 
Pasiphae    aQVOv/uevri  fxev  ov'Aer  av  Ttid^oiuL  ge' 

TtävTcos  ytcQ  y]Srj  drilovy  ojg  eyßt  tdöe.  5 

iy(i<jy  yäQ  el  {.lev  dvdqi  TZQOvßakov  Ssfiag 
TOcf,ibv  Xad^Qalav  e^TtoXwf^ievr]  Kij7Cqiv^ 
oQd-idg  dv  rjÖTj  {.laQ^^yo^g  ovoa  ifpaivöuriv' 
vvi   d\  ex  ^eov  yäq  JtQoaßokijg  ef^i7jvdfj.riv^ 
dXyco  (.lev,  iarl  ö^  ovx  e'Ko(yoyiov  %avMv'         10 
exei  yaQ  oudev  einog'    eig  tl  yäg  ßoög 
ßlexpaoa  eöi^yß-rjv  d-viihv  alGyiorrj  vöotp; 
log  EUTvqeTztjg  fxev  £P  TieTtXoiOiV  fjv  Idelv, 
TzvQOTig  ^^  XOLiTrig  xal  Ttaq  öiu/^dtojv  oelag 
olviOTtbv  e^eXaf.L7tE  tieq  (^/.aiy  vwv  yevvv.  15 

ov  fi))v  de{.iag  y  EVQ(^vd-f.i6v  eart  v^vj-icpiov. 

TOUOVÖE    XeATQC0(v    E%VE'A    ELQ^    TtEÖOOTLßri 

Qlvöv  '/.ad-eq\p^)(^aodv  /he  jud^yop  f^ie^fp^ETai.  (?  Ergänzung) 


0  a.  a.  0.  196. 

*)  a.  a.  0.  10. 

^)  Nebst  dem  Text  haben  Schubert  und  Wilamowitz  auf  Tafel  IV  und  V  im  Licht- 
druck den  Papyrus  wiedergegeben.  Die  dadurch  ermöglichte  Nachvergleichung  nahm  Schmid 
a.  a.  0.  vor ;  ich  nehme  seine  Lesungen  auf,  soweit  ich  sie  durch  eine  neuerliche  Yergleichung 
■des  Lichtdruckes  bestätigt  finde. 

*)  So  liest  Schmid  richtig,  doch  seine  Ergänzung  ist  zweifelhaft;  ^ä^Kpeiai 
hat  kein  entsprechendes  Subjekt,  denn  von  IVIinos,  der  Subjekt  sein  soll,  ist  noch  nicht  die 
Hede  gewesen.  Wilamowitz  liest  qlvov  y.ad-eia(j]  adna  KvuQig  äyßeyiai;  aber  KvTiQig  ist 
üer  ohne  jedwede  Begründung,  offenbar  aus  Hygin,  eingeführt. 


—    31    — 

«A^  ovde  Ttaidiov  XQ(r\v  exarl-  viv}  Ttooiv^) 

S^ead^ai-  tL  driTa  rf]  (^ö*  ij^icayvouriv  vöaqj;     20 

daiuwv  0  Tovöe  zäu  e{ve7tlria£v  Y.ay/Aov, 

f.idXiGTa  d^  ouTog^  oig  eXS^ao^  avayvog)  cov, 

ravQov  yaQ  ovy,  i'G(pa^{ev,  cog  naTriv^yaTO 

eXd-ovva  -d-riaeiv  (fdo^a  (^tco^vtLi)  (ß-eyo). 

iy,  Tcovös  TOi  ff'  V7trild-{e  '/,dy7tetela(^aToy        25 

SiXTjv  noGuöoJv,  ig  d*  sfi  eö%ri\p(^ev  Tcdd-ogy- 

TiaTtELT  avTelg  v.dTCi(.iaQTVQrj  O^eovg-) 

avvbg  rdö^  eQ^ccg  xal  '/.azaiGyvvag  8i.d. 

yidycü  fxev  fj  xevMVGa  xovdtv  aivla 

eyiQvtpa  Ttlriyrjv  Sali^iovog  d^ei]laTOV,  30 

Gv  d^  ^  evTiQETtri  ydq  yM/ciÖEi^aGd-aL  '/.ald 

rrig  Gijg  yvvaLxög,  o)  '/m'klgt  dvögcov  q)QOvcdv^ 

log  ov  (.ieS-e^wv  TcäGi  %riQVGGEig  xdÖE. 

GV  TOi  LI  drcollvg^  Grj  yäq  fj  ^^(^auyaQvia^ 

£Z  Gov  voGovf^iEV.    Ttoög  vdö  eYte  novtiav        35 

yiTELVELV^)  SoTiEl  GOl,  XTeIvE'    ETriGtaGCCi  ÖE  TOi 

(.aaicpov  eqya  Kai  Gcpaydg  dvÖQOXToroug' 

EiT  d)f.WGiTOv  TTig  6^^^^  EQäg  (fayElv 

GaQXog^  TvdQEGTi^  f^i^  Xi^fjg  S^oiVioj^iEvog. 

eXEv&EQOi  ydq  xal  ovdev  r^diKTpiOTeg  40 

Tf^g  Gfjg  tvMTi  L,r^(.i(^iayg  d^avovjUEd-a. 
Chor    noXXolGi  dfilov,  <(ihg  d-ErjlaTovy   '/mkov 

TÖd^  EGTiv  oQyfi  <^ut)  llav  ei^yjjg  dva§. 
Minos    aQ  EGTÖf-iiOTai  ^{ )  ßoai 

XcoQEiTE  Xoyxri  <( oyvfievri  45 

IdLuG&E  Trjv  7Tavo(yQyov  w)^  xakcog  d-dvvj 

Aal  TTjv  ^vvEQyov  (^Tr^vÖE,   dycojiidvcüv  S^  SGCO 

{äyoyvTEg  auzäg  EQ^^aT  ig  cpQazTy7]QL0v^^) 

(^ihg  (^lyriKET  EiGiS^^wGiv  7]Xiov  '/S)vy.Xov. 
Chor    <(«)v«^  E7tiG%(Eg'  (pqoyvTiidogy  yäq  d^iov       50 

To  Tigäyina'  vrilrjg  d   ovTig  Evßovlog  ßqoTMV. 

z{ ).  <( )  (,ifj  dvaßdX'kEGdal  SiAiqv. 

Die  Worte   der  Königin  Vers  4  zeigen,  daß  die  Klärung  über  den 
Frevel   und   seinen  Urheber   soweit   gediehen   ist,    daß    die  Schuld  der 


^)  So  Schmid,  der  xq  sah,  Wil. :  äXX'  oüös  Tiaiöojv  (pfvio^'  eixog  tjv)  Tiöaiv. 
^)  Es  beginnt  die  Rückseite  des  Papyrusblattes. 

^)  Wilamowitz  vermutet  einen  Schreibfehler  und  liest  qijitelp  .  .  .  qcttts. 
*)  So  ergänzt  Schmid  a.  a.  0.  richtig. 


~    32    — 

Königin  feststellt,  es  muß  also  schon  der  Minotaurus  aufgefunden  sein 
(das  ist  bereits  vor  dem  Auftreten  des  Chores  der  Fall,  vgl.  oben), 
ferner  bekannt  geworden  sein,  wie  er  gezeugt  Avurde.  Auch  daß  eine 
Dienerin  der  Pasiphae  geholfen  und  sie  beraten  hat  —  man  denke  an 
die  Amme  im  Hippolytos  —  geht  aus  Vers  1  klar  hervor.  Wenn 
Pasiphae  29 ff.  es  besonders  beklagt,  daß  Minos  ihre  Schande  aller 
Welt  preisgibt,  so  ist  dies  wieder  eine  Parallele  zum  Hippolytos;  man 
vergleiche  die  schöne  Analyse  des  Charakters  der  Phaedra  bei 
Wilamowitz:  „Was  sie  (Phaedra)  fürchtet,  ist  nicht  die  Sünde; 
bewahre,  sie  meint  ja,  nichts  dafür  zu  können,  daß  sie  liebt;  was  sie 
fürchtet  ist  die  Schande.     Repräsentation  war  ihr  Leben  .  .  .  .i) 

Auch  für  das  Verständnis  des  Aufbaues  des  Stückes  ist  das 
Fragment  nicht  ohne  Wert.  Wie  steht  es  mit  der  Mitschuld  des 
Daedalus?  Daß  er  im  Stücke  eine  Rolle  spielte,  geht  aus  der  Monodie 
des  Ikarus  sicher  hervor.  Meines  Erachtens  weist  aber  auch  der 
Ausdruck  TteSooTißrjg  qivog  auf  ein  Kunstwerk  hin;  auch  ist  nach 
der  Überlieferung  der  Mythographen  die  hölzerne,  auf  Rädern 
ruhende  Kuh  mit  einer  Rindshaut  überzogen  worden.  Also  ist 
doch  kein  Grund,  die  Mithilfe  des  Daedalus  in  Frage  zu  stellen,  wie 
Wilamowitz  es  tut  2) ;  daß  der  Ausdruck  ungenau  ist,  ist  freilich  zuzugeben ; 
die  Erklärung  liegt  wohl  darin,  daß  die  Mitschuld  des  Daedalus  bisher 
noch  nicht  erwiesen  ist;  die  Vorführung  und  Bestrafung  des  schuldigen 
Daedalus  erfolgen  später. 

Wenn  man  ferner  bisher  wegen  der  verschiedenen  Überlieferung 
der  Mythographen  über  den  Urheber  3)  der  Schuld  der  Pasiphae  im 
Zweifel  sein  konnte,  so  zeigen  die  Verse  21  ff.,  daß  Poseidon  und  nicht 
Aphrodite  die  unselige  Leidenschaft  in  der  Königin  erregt  hat;  daß 
auch  Vers  18  nicht  von  der  KvftQig  die  Rede  war,  haben  wir  bereits 
in  der  Texteskonstitution  zu  diesem  Verse  gezeigt.  So  fällt  aber  auch 
wenigstens  in  diesem  wesentlichen  Punkte  die  Beziehung  zu  Hygin  fab.  40 
und  es  ergibt  sich  sicher,  wie  wir  schon  oben  vermuteten,  daß  es  einvon 
Euripides'  Kretern  verschiedenes  Drama  gab,  das  dieselbe 
Fabel  behandelte.  — Pasiphae  klärt  hier  den  König  auf,  daß  Poseidon 
an  Minos  Rache  nimmt  wegen  des  unterlassenen  Opfers.  Nun  ist  es 
unmöglich,  daß  Minos  als  gemeiner  Betrüger  gehandelt  hat,  aus  bloßer 
Grewinnsucht,  wie  bei  Apollodor  a.  a.  0.,  der  nach  Pherekydes  die  vor- 


')  Euripides  Hipp.  S.  48. 

^)  „Nun  drückt  sich  aber  Pasiphae  über  ihren  Verkehr  mit  dem  Stier  so  aus,  daß 
die  hölzerne  Kuh  kaum  vorgekommen  sein  kann;  oder  darf  man  den  Tteöoanßrjg  Qivög 
(Vers  18)  so  deuten?" 

^)  Für  Aphrodite  traten  Härtung,  Jahn,  Kürte  a.  a.  0.  ein. 


—     33    — 

euripideische  Sagenversion  erzählt;  Minos  wäre  sich  sonst  seiner  Schuldbe- 
wußt. Diese  Verse  ergeben  somit  eine  Bestätigung  der  Vermutung 
C.Roberts,!)  daß  Minos,  der  Sohn  des  idäischen  Zeus,  sich  auch  später 
zu  dessen  Religion,  die  im  Stücke  die  Mysten  vertreten,  bekannt  hat 
und  deshalb  aus  religiösen  Bedenken  das  blutige  Stieropfer  unterlassen 
hat.  Daß  nur  diese  Verse  die  Robertsche  Hypothese  stützen,  wird 
sich  noch  zeigen. 

Die  Szene  schließt  damit,  daß  Minos  den  Befehl  gibt,  Pasiphae 
und  ihre  Dienerin  ins  Gefängnis  zu  führen.  Es  fragt  sich  nun,  ob  nicht 
ein  Aufschub,  ja  eine  Versöhnung  eingetreten  ist,  wie  Körte  annahm  -) 
und  wie  sie  die  Quelle  Hygins  wiegen  der  Teilnahme  der  Königin  an 
der  Flucht  des  Daedalus  voraussetzt.  Bedenken  wir  jedoch,  daß  die 
Königin  rücksichtslos  mit  dem  König  abrechnet,  daß  sie  vollkommen 
die  Brücken  abbricht,  so  werden  wir  die  Möglichkeit  einer  Versöhnung 
bezweifeln.  Auch  ist  das  gewichtigste  Argument  für  die  Frei- 
sprechung der  Königin  bereits  von  ihr  aufgezeigt  worden,  die  Rache  des 
Poseidon;  und  was  sonst  sich  sagen  ließ,  brachte  der  Chor  vor.  An  ein 
Dazwischentreten  irgend  einer  Person,  die  hier  eine  Freilassung  der 
Pasiphae  erwirken  könnte,  ist  demnach  nicht  zu  denken;  sie  kann 
daher  dem  Daedalus  bei  seiner  Flucht  nicht  geholfen  haben  und  es 
fällt  eine  w^eitere  Beziehung  zu  Hygins  fab.  40. 

Daß  am  Schlüsse  des  Stückes  ein  deus  ex  machina  eine  für 
Pasiphae  günstige  Wendung  herbeiführte ,  ist  nicht  ohneweiters  aus- 
geschlossen, doch  auch  dann  konnte  Pasiphae  dem  Daedalus  nichts  mehr 
nützen.  Suchen  wir  nach  gleichen  Situationen  bei  Euripides,  so  gehört 
hieher  Andromache  490  ff.  Andromache  und  Molossos  sind  auf  des 
Menelaus'  Befehl  gefesselt  worden  und  sollen  getötet  werden,  da  er- 
scheint 531  plötzlich  Peleus  und  führt  eine  glückliche  Wendung  für 
Andromache  und  ihr  Kind  herbei;  doch  dieser  plötzliche  Situations- 
wechsel ist  in  der  Schuldlosigkeit  der  Andromache  wohl  begründet. 
Nicht  überraschend,  sondern  wohl  vorbereitet  ist  dagegen  in 
der  durch  Oxyrhynchus  papyri  VI,  59  ff  nunmehr  z.T.  bekannten 
Hypsipyle  das  Auftreten  des  Sehers  Amphiaraos,  der  die  schuldige 
Hypsipyle  rettet,  vgl.  Fragm.  60  Vers.  10 — 24. 

III. 

Zur  Rekonstruktion  des  Dramas  sind  endlich  bildliche  Darstel- 
lungen herangezogen   worden.    Aus    der  Menge    der  Denkmäler  heben 


')  a.  a.  0.  22. 

-)  Hist.  phil.  Untersuch,  f.  E.  Curtius  S.  207. 
Wiener  Eranos. 


—     34     — 

sicli  zwei  Gruppen  ab ,  erstens  der  sogenannte  Pasiphaesarkophag  ^) 
und  zweitens  die  etruskischen  Aschenurnen,  die  zuletzt  Körte  in 
Rilievi  delle   urne  etrusche  II,  1  auf  Tafel  28,3  bis  29,6  publiziert  hat. 

Der  Sarkophag  stammt  aus  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Jahr- 
hunderts n.  Chr.  2j  Daß  die  Vorderseite  —  jetzt  im  Louvre  —  die  in 
der  Kaiserzeit  besonders  im  Ballett  ^)  viel  behandelte  Geschichte  von 
der  Verfertigung  der  hölzernen  Kuh  und  das  Einsteigen  der  Pasiphae 
darstellt,  hat  Robert  bereits  richtig  erkannt,  desgleichen,  daß  hier 
keineswegs  eine  direkte  Benützung  einer  literarischen  Quelle  ange- 
nommen werden  muß.  Daß  auch  die  Schmalseiten,  von  denen  die  eine  *) 
sich  jetzt  gleichfalls  im  Louvre ,  die  andere  ^)  in  der  Villa  Borghese 
befindet,  demselben  Mythenkreis  (also  dem  kretischen)  angehören,  ist,  wie 
Robert  darlegt,  ebenfalls  anzunehmen;  denn  Ausnahmen  von  dieser 
Regel  sind  selten  und  auch  dann  wohl  motiviert.  ^) 

Auf  der  in  der  Villa  Borghese  befindlichen  Schmalseite  erblicken 
wir  einen  Tempel,  der  im  Giebelfeld  einen  jugendlichen  Triton  zeigt; 
der  Triton  stößt  ins  Muschelhorn  und  trägt  in  der  rechten  Hand  ein 
Ruder.  Vor  zwei  Säulen  stehen  auf  Sockeln  zwei  Eroten,  der  eine 
mit  einer  Fackel,  der  andere  wohl^)  mit  dem  Bogen,  zwei  Attribute, 
die  seit  der  hellenistischen  Zeit  besonders  beliebt^)  sind.  Vor  dem 
Tempel  steht  adorierend  ein  greiser  Mann  mit  der  Königsbinde,  hinter 
ihm  eine  Frau,  —  Robert  nennt  sie  ältlich,  richtiger  ist  trauernd  — 
gleichfalls  mit  einem  Diadem,  ein  Fruchtopfer  in  der  Hand.  Robert 
erkennt  darin  Minos,  der  vor  dem  Tempel  des  Poseidon  in  Gegenwart 
der  Europe  ein  unblutiges  Opfer  darbringt.    Es  ist  das  Opfer,  das  der 

^)  Vgl.  die  Tafeln  bei  Robert ,    der   auch   die   früheren  Deutungs versuche    behandelt. 

')  Robert  a.  a.  0.  S.  18. 

^)  Vgl.  Suet.  Nero  12  Inter  pyrricharum  argumenta  taurus  Pasiphaam  ligneo  iuvencae 
simulacro  abditam  iniit,  ut  multi  spectantium  crediderant ;  Icarus  primo  statim  conatu  iuxta 
cubiculum  eins  decidit  ipsumque  craore  respersit,  und  Liban.  vtt.  oq-/.  IY,  467  F  Xeyoi 
Selv  xai  —  xexXeia&ai  xolq  VTtoxQiidig  t6  ^kaxQOv ,  Iva  fxrj  t^aycoSog  elgeX&ojv  Ilaai- 
<pdrjv  fjn^iiiaetai  rijv  i^oxsilaaav  eig  dlXöxoTOV  eQOixa  und  in  ap.  Socr.  III,  64  R  o^i  ÖQäxe 
zov  Mivcü  öecva  Tiäa/ovra  im  Ttjg  axr]vrjg  xai  zijv  oixiav  avrov  dca  zov  zfjg  Uaüicpär^g 
eQOjTog  iv  alayvvr^  ysyevi]fievt]v;  ravra  fdvzoi  noXXovg  äv  dvd^Qwnovg  eXad-ev,  ei  fii]  jiavzaxoü 
zov  Xöyov  ai  zQaycpdtat  dieujieiQav.  Daß  die  oxy^vrj  des  Libanius  das  Ballett  ist,  bemerkt 
"Wilamowitz  a.  a.  0.  79,  1. 

*)  Vgl.  sg.  Cod.  Berol.  (des  Berliner  Kupferstichkabinetts)  fol.  28. 

•^)  Vgl.  sg.  Cod.  Beiol.  fol.  4.  Über  den  Kodex,  vgl.  Robert,  Antike  Sarkophag-Rel.,  S.  XI. 

^)  Ausnahmen  bespricht  C.  Robert,  a.  a.  0.  19,  20. 

"')  „Das  Attribut  .  .  sieht  bei  Ferrari  wie  ein  Tympanon  oder  wie  ein  Kranz  aus, 
jetzt  ist  es  als  Palmzweig  ergänzt,  aber  nach  der  Form  des  antiken  Stückes  und  der  Art, 
Avie  es  getragen  Avird,  möchte  man  lieber  an  einen  Bogen  denken"  Robert  a.  a.  0.  p.  20. 

^)  Vgl.  Furtwängler  in  Roschers  Lexikon  s.  v.  Eros  p.  1365.  „Seine  ständigen  Attri- 
bute sind  nunmehr  der  Bogen  und  die  Fackel  in  Poesie  und  Kunst.'' 


—    35    — 

König  darbringt,  um  nicht  den  aus  den  Fluten  aufgestiegenen  Stier  opfern 
zu  müssen.  Die  zweite  Schmalseite  bringt  drei  Jünglinge,  die  aufmerksam 
nach  rechts  blicken.  Ihre  Aufmerksamkeit  konzentriert  sich  auf  den  be- 
kränzten und  mit  Früchten  bedeckten  Altar  vor  ihnen ;  der  Altar  stellt 
offenbar  die  Verbindung  mit  der  anderen  Schmalseite  dar.  In  ihnen 
erblickt  Robert  die  drei  Söhne  des  Minos,  die  der  neuen  vom  Yater 
angenommenen  Religion    feindlich    gegenüberstehen. 

Sicherlich  ist  Robert  zuzugeben,  daß  wir  hier  Minos  ein  unblutiges 
Opfer  darbringen  sehen.  Doch  daß  der  Gott,  dem  das  Opfer  gilt ,  Posei- 
don ist,  ergibt  sich  Robert  bloß  aus  dem  Giebelschmuck;  der  ist  aber 
doch  nicht  für  einen  Poseidontempel  ein  zwingendes  Charakteristikum,  so 
z.B.  befanden  sich  blasende  Tritonen  auf  dem  Giebel  des  Saturntempels 
in  Rom,  vgl.  Macrob.  Sat.  1, 8 :  illud  non  omiserim  Tritonas  cum  bucinis  fasti- 
gio  Saturni  aedis  superpositos.  Ferner  sind  Tritonartige  Wesen,  die 
s.  g.  iyJ)-vo}i€vTauQOL  (vgl.  Tzetzes,  Lykophr.  34),  seit  der  hellenistischen  Zeit 
der  übliche  Schmuck  der  Giebelfelder  jedweder  Tempel.^)  Die  Eroten 
erklärt  Robert  für  eine  dekorative  Zugabe,  natürlich  gilt  dasselbe  zu- 
nächst auch  für  den  Giebelschmuck.  Eine  Interpretation  kann  weder 
vom  Giebelschmuck  noch  von  den  Eroten  ausgehen;  denn  nur  das 
Opfer  ist  klar  zu  erkennen.  Der  Schluß  Roberts  wäre  ferner  dann 
2:wingend,  wenn  das  Opfer  für  Poseidon  überhaupt  bezeugt  wäre,  und 
zwar  dann  als  das  einzige  unblutige  Opfer  des  Königs.  Xun  wissen 
wir  aber  von  anderen  unblutigen  Opfern  des  Minos:  Wilamowitz  hat 
die  bei  Porphyr,  de  abst.  IV,  19  für  Sophokles'  Polyidos  2)  bezeugten 
Verse  (=366N):* 

rjv  jLiev  ytiQ  oiög  iiaXlog^  ^v  S  df,i7V6?MV 
OTtovdrj  TB  xal  qä^  ev  TEd-rjaavQiaiievri' 
Ivriv  öe  7tay%dq7LELa  ovf.ifiiyrjg  olaig 
XiTcog  TeXaiag  xal  xb  Tvor/ulcoTavov 
^ovd^rig  jueXiaarig  %riq67tXaoTov  oQyavov 

für  Minos  in  Anspruch  genommen.  Näheres  ist  nicht  bekannt;  doch 
jedenfalls  bringt  hier  Minos,  falls  die  Vermutung  von  Wilamowitz 
richtig  ist,  daß  Minos  der  Sprecher  der  zitierten  Verse  ist,  ein  un- 
blutiges Opfer  dar.  —  Nun  wird  aber  noch  ein  unblutiges  Opfer  für  Minos 
unzweifelhaft  bezeugt:  Apoll,  bibl.  III,  15,  7  erzählt,  daß  Minos  den 
Charitinnen»)  auf  Paros  opferte  und  während  des  Opfers  den  Tod  seines 

^)  Vgl.  z.  B.  die  Tafeln  34,  37,  40  in  Schreiber,  Hellenistische  Reliefbilder. 

2)  De  Trag.  Gr.  fr.  S.  17.  Über  die  Sage  vgl.  Hygin  f.  13G  und  ApoU.  bibl.  in,  1,  2, 
femer  den  Artikel  Glaukos  in  Roschers  Lexikon. 

')  Den  Charitinnen  wurde  überhaupt  unblutig  geopfert ;  vgl.  das  Material  in  Pauly- 
Wissowa  R.  E.  III,  2,  2158,  wo  auch  die  einzige  scheinbare  Ausnahme  besprochen  ist. 

3=== 


—    36     — 

Sohnes  Androgeos  erfuhr:  31ivcog  de  dyyeld-evzog  auru)  tov  ^avccTOv 
(seil,  des  Androgeos)  S-vcov  iv  IldQO)  ralg  Xägtoi  zbv  iiev  Gxecpavov 
uttö  TYig  y,E(paXrig  egQLipe  ymI  top  aulhv  zorrfa/e  'Aal  Tip'  d^ioiav 
ouöiv  fjTTov  s-n^eTeleaev.  oS-ev  evi  'Aal  öevQo  x^^Q^S  avkiov  y,al  örerfdvov 
iv  ndQO)  d-vovGL  Talg  XaQcGi.  Diese  Geschichte  war  ferner  noch  in 
der  Kaiserzeit,  aus  der  der  Sarkophag  stammt,  wohl  bekannt, 
denn  Sueton  Ti.  70  berichtet:  Et  quo  primum  die  post  excessum 
Augusti  curiam  intravit  (seil.  Ti.),  quasi  pietati  simul  ac  religioni  satis- 
facturus  Minois  exemplo  ture  quidem  ac  vino  sine  tibicine  supplicavit, 
ut  olim  in  morte  filii.  Daß  wir  nun  diesen  Vorgang  auf  den  Schmalseiten 
dargestellt  haben^  läßt  sich  damit  stützen,  daß  bei  dieser  Deutung  die  ganze 
Darstellung  auch  in  ihren  Details  erklärlich  wird.  Die  Eroten  passen 
nämlich  zu  einem  Tempel  der  Charitinnen  und  sind  nicht  mehr  bloß 
dekorativer  Schmuck.  Pausanius  VI ,  24  erzählt  z.  B. ,  daß  das  Bild 
des  Eros  in  Elis  auf  demselben  Bathron  stand  wie  das  Kultbild  der 
Charitinnen.  ^)  Die  Frau  ist  natürlich  die  mit  Minos  trauernde  Pasiphae, 
die  Mutter  des  Androgeos.  Daß  die  zweite  Schmalseite  die  Söhne  dar- 
stellt, gilt  auch  für  diese  Deutung;  ihre  Zahl  aber  ergibt  sich  aus 
Apoll,  bibl.  III,  1,  2  Tlalöag  /uiv  eTezvcoae  (mit  Pasiphae)  KaTQea^  Jei- 
%aXuova^  rXav/.ov^  ^divSQcoyecov.  Androgeos  ist  tot,  so  bleiben  eben  drei 
Söhne  und  diese  blicken  erstaunt  auf  den  Vater,  der  sich  trotz  der 
Todesnachricht  in  der  Opferhandlung  nicht  stören  läßt ;  dazu  paßt,  daß 
sie,  wie  Eobert  sagt,  „befremdend  und  zögernd  auf  das  Fruchtopfer 
blicken  ..."  Diod.  IV,  60,  dem  Robert  folgt,  gibt,  wie  die  Zahl  der 
Töchter  zeigt  —  er  kennt  nur  eine ,  nicht  vier  —  nicht  die  vollstän- 
dige Liste ;  er  führt  mit  Androgeos  nur  drei  Söhne  des  Minos  an. 

Ist  diese  Deutung  richtig,  so  fällt  natürlich  auch  die  Hypothese 
Roberts,  daß  Europe,  die  Mutter  des  Minos,  als  Ahnfrau  im  Stücke  des 
Euripides  eine  ähnliche  Rolle  gespielt  hat  wie  Kadmos  in  den  Bakchen.  ^) 

Die  zweite  Gruppe  bildlicher  Darstellungen  ist  in  mehreren  Re- 
pliken erhalten ;  als  Vertreter  sei  hier  die  von  Körte  a.  a.  0.  Tafel 
XXIX,  3)  4  abgebildete  xlschenurne  aus  Volterra  (Museum  n  435  L  0.55m) 
betrachtet.  Die  Kuh  und  das  Kind  mit  dem  Stierkopf  weisen  deut- 
lich auf  die  Pasiphaesage.  Wir  erkennen  den  König,  der  in  der  Linken 
ein  Szepter  führt,  die  erhobene  Rechte  droht  den  Gestalten  vor  ihm. 
Zu  seinen  Füßen  kniet  eine  jugendliche  Frauengestalt,  die  offenbar  die 


^)  Ein    gemeinsamer   Kult    scheint    auch    in    Thespiai    vorhanden    gewesen  zu   sein 
CJGI  3207,  vgl.  noch  Eurip.  Bakch.  412,  Aristoph.  Av.  1320. 
2)  a.  a.  0.  p.  23. 
«)  Hist.  phil.  Untersuch,  f.  E.  Curtius,  S.  201. 


—    37     - 

links  Stehenden  vor  der  Wut  des  Königs  zu  schützen  sucht.  Die  eine 
dieser  Frauen  trägt  schützend  den  Minotaur,  die  andere  ist  durch  ein 
Halsband  als  höher  stehend  gekennzeichnet.  Es  ist  Pasiphae  mit  ihrer 
Dienerin.  Der  Mann  mit  auf  dem  Rücken  gebundenen  Händen  ist,  wie 
seine  Kleidung  —  es  ist  die  Tracht  des  Handwerkers  —  und  die  Kuh 
zeigen ,  Daedalus.  Hinter  dem  König  steht  ein  Doryphoros ,  der  ihn 
gleichfalls  zu  beruhigen  sucht,  dann  eine  Furie  mit  Fackel.  Körte 
erblickt  nun  in  der  jugendlichen  Frauengestalt  eine  Fürbitterin  für 
Pasiphae;  er  meint,  es  sei  Ariadne,  und  da  an  der  dramatischen  Grund- 
lage der  Szene  kein  Zweifel  ist ,  so  nimmt  er  i)  für  Euripides'  Kreter 
eine  Szene  an,  in  der  „im  Augenblicke  der  höchsten  Gefahr  sich 
Ariadne  dem  Vater  zu  Füßen  wirft  und  durch  flehende  Bitte  das  Leben 
der  Mutter  und  des  kleinen  Minotaurus  rettet." 

Die  oben  dargelegten  Folgerungen  aus  dem  Berliner  Papyrus 
schließen  das  Dazwischentreten  einer  Fürbitterin  bei  Euripides  aus;  da- 
gegen ergänzt  dieses  Relief  treff'lich  die  Darstellung  Hygins;  für  das 
dem  Hygin  in  letzter  Quelle  zugrunde  liegende,  natürlich  von  dem 
euripideischen  Stücke  beeinflußte  Drama  hellenistischer  Zeit  ergibt 
sich  notwendig,  daß  Pasiphae  vom  König  nicht  verurteilt  wird,  sonst 
könnte  sie  dem  Daedalus  nicht  beistehen.  ^) 


^)  So  auch  rilievi  delle  ume  etrusche  S.  84. 

2)  A'ergil.  Ecl.  VI,  46-60  und  Ovid  Art.  am.  I,  289—326  bieten  Klagelieder  der  Pas.; 
die  Königin  ist  von  furchtbarer  Liebesglut  nach  dem  Stier  erfaßt  und  sucht  eine  Vereinigung 
mit  ihm.  Wie  wir  wissen,  ist  es  Daedalus,  der  (auf  Veranlassung  der  Amme  bei  Euripides  ?) 
ihr  die  Befriedigung  ihrer  Leidenschaft  endlich  ermöglicht.  Daß  für  die  römischen  Dichter 
Euripides  die  Quelle  ist,  ist  unwahrscheinlich;  denn  bei  ihm  beginnt  die  Handlung  sofort 
mit  der  Auffindung  des  Minotaurus,  also  war  kein  Platz  für  lange  Klagen  der  liebeskranken 
Pas. ;  auch  ein  Chorlied  solchen  Inhaltes  im  Munde  der  Mysten  ist  undenkbar.  Dagegen 
kann  ganz  gut  das  Drama  der  hellenistischen  Zeit,  das  überhaupt  Pas.  in  den  Vorder- 
grund stellte  und,  wie  Hygin  zeigt,  nicht  mit  der  Auffindung  des  Minotaurus  begann,  die 
Quelle  für  Vergil  und  Ovid  sein. 


Piaton  und  Prodikos, 

Von 
AUGUST  R.  V.  KLEEMANN. 


Jedem,  der  auch  nur  einmal  den  platonischen  Dialog  „Protagoras^*" 
gelesen  hat,  wird  die  ebenso  feine  als  unwiderstehliche  Komik  in  der 
Zeichnung  der  drei  großen  Sophisten  Protagoras,  Hippias  und  Prodikos 
wie  in  der  Schilderung  des  ganzen  bildungsdurstigen  Treibens  im  Hause 
des  Kallias  unvergeßlich  sein.  Der  ängstliche  Respekt,  der  z.  B.  den 
um  Protagoras  versammelten  Chor  begeisterter  Jünger  erfüllt,  ist  von 
Piaton  aufs  glänzendste  karikiert.  Wie  die  Jünger,  die  hinter 
Protagoras  aufmerksam  lauschend  einherschreiten,  im  Augenblick,  da 
dieser  sich  wendet,  auseinanderstieben,  um  dem  Geistesheros  nicht  im 
Wege  zu  stehn,  und  dann  sich  Avdeder  hinter  ihm  zusammenschließen, 
bis  er  abermals  das  Gemach  durchmessen  hat,  das  ist  hochergötzlich 
geschildert.  Piaton  war  boshaft  genug,  die  Erlebnisse  des  Sokrates 
im  Hause  des  Kallias  nach  dem  Vorbild  von  Odysseus'  Hadesfahrt  zu 
schildern.!)  Das  Haas  des  KalKas,  welches  nicht  nur  den  großen 
Sophisten  und  ihren  begeisterten  Anhängern  offenstand,  sondern  ver- 
mutlich auch  manch  unwürdigem  Schmarotzer,  der  die  gute  Gelegen- 
heit zu  nutzen  wußte,  ist  dem  alles  aufnehmenden  Hades  gleichgesetzt. 
Auch  der  grimme  Höllenhund  Kerberos  fehlt  nicht:  er  erscheint  in  der 
Gestalt  des  mürrischen  Türhüters,  dem  die  Sophisten  und  das  ganze 
Treiben  im  Hause  seines  Herrn  ein  Dorn  im  Auge  sind  (314  d  ff.). 
Nur  einen  vermissen  wir  und  darin  zeigt  sich  Piatons  Meisterschaft 
in  der  Satire:  es  ist  Teiresias,  von  dem  zwar  Odysseus  die  gewünschte 
Auskunft  erhielt,  der  aber  im  Hause  des  Kallias  keine  Repräsentanten 
zu  finden  vermochte. 2)    Denn  Protagoras,  dem  eigentlich  diese  Aufgabe 

^)  Wie  schon  Welcker ,  Prodikos  von  Keos ,  Vorgänger  des  Sokrates ,  Kleine 
Schriften  II,  396,  gezeigt  hat. 

^)  Dieser  Vergleich  begegnet  uns  noch  einmal  im  „Menon''  p.  100  a,  wo  der  wahr- 
haft Avissende  ein  Teiresias  unter  den  Schatten  genannt  wird. 


—    39    — 

obgelegen  hätte,  tritt  uns  in  der  Rolle  des  Sisyphos,  des  vergebens 
sich  Mühenden,^)  entgegen,  was  ja  auch  durch  den  Verlauf  seiner 
Unterredung  mit  Sokrates  als  vollauf  berechtigt  sich  erweist.  Hippias, 
stets  bereit,  jeder  Frage  Rede  und  Antwort  zu  stehen,  ist  Herakles 
gleichgesetzt,  der  den  stets  gespannten  Bogen  in  Händen  hält,  indes 
die  Toten  mit  lautem  Geschrei  ihn  umdrängen. ^j  Prodikos  von  Keos 
endlich  erscheint  als  Tantalos'*),  und  zwar  heißt  es  von  ihm  p.  315  c: 
„Kai  (.dv  öi)  y.al  Tdvvalov  ye  eloeldov'^y  ähnlich  wie  an  der  zitierten 
Stelle  der  Odyssee  vmI  jurjv  TdviaXov  eloeldov  vaX.  Jedermann,  meint 
nun  Welcker*),  setzte  zu  Piatons  Worten  in  Gedanken  die  andere 
Hälfte  des  Verses  hinzu  ^,'AQaieQ  äkye  Eyovva^' y  so  daß  also  die  Gleich- 
setzung von  Tantalos  und  Prodikos  auf  den  schmerzensreichen  Zustand 
zurückzuführen  wäre,  in  dem  sich  beide  befanden.  Indessen  gedenkt 
Welcker  noch  der  Möglichkeit,  Prodikos  könnte  auch  deshalb  mit 
Tantalos  verglichen  sein,  weil  der  kranke  Mann  am  Tische  des  reichen 
Kallias  „ Tantalusqualen'^  ausgestanden  und  überhaupt  infolge  seines 
leidenden  Zustandes  auf  jeden  Lebensgenuß  habe  verzichten  müssen.^) 
Daß  aber  diese  Auffassung  des  Vergleiches  ;,  Prodikos -Tantalos '^  aus- 
geschlossen ist,  geht  wohl  schon  daraus  zur  Genüge  hervor,  daß  Piaton 
den  Prodikos  in  der  ausgeräumten  Vorratskammer  untergebracht 
sein  läßt  (s7tsöi]f.ieL  yaq  ä^a  UgoörAog  6  KeTog^  rjv  de  iv  ol'/.rjixaTi  tlvl, 
^>  TCQO  Tov  fisv  (hg  TauLeiti)  ey^rixo'^lTCTcovi/.og,  vvv  de  VTtb  tov  rcXrjS'Ovg 
Tcov  vMTaXvövTwv  6  Kalllag  vmI  tovto  b/./,evd)Gag  ^evoig  YMrdXvoiv 
7CETcoirf/.Ev  p.  315d).  Hätte  Piaton  beabsichtigt.  Prodikos  dadurch 
lächerlich  zu  machen,  daß  er  ihn  verlangend  nach  Speise  und  Trank 
bKcken  ließ,  deren  ausgiebigen  Genuß  sein  leidender  Zustand  ihm  ver- 
wehrte, so  hätte  er  vermutlich  die  Vorratskammer  gefüllt  gelassen. 
Und  es  wäre  gewiß  für  einen  Meister  der  Satire  wie  Piaton  ein  sehr 
dankbarer  Vorwurf  gewesen,  den  „weisen  Prodikos '^ß)  in  verzweifeltem 
Kampf  mit  seiner  Eß-  und  Trinklust  darzustellen.  Die  leere  Vor- 
ratskammer aber  zeigt  deutlich,  daß  Piaton  den  Vergleich  „Prodikos- 
Tantalos^'  nicht  also  verstanden  wissen  wollte.  Warum  er  die  Aus- 
räumung der  Vorratskammer  überhaupt  erwähnt,  liegt  übrigens  so 
ziemlich    auf  der  Hand:   Kallias,   ganz    anders   geartet    als    sein  spar- 


^)  Welcker  a.  a.  0.,  p.  397. 
2)  Odyss.  XI,  601  if. 
')  Nach  Odyss.  XI,  582. 
*)  A.  a.  0.,  p.  396. 

^)  p.  416    meint  Welcker   übrigens ,    auch    des  Prodikos    großer    Eeichtum    möge    es 
Piaton  nahe  gelegt  haben,  ihn  mit  Tantalos  zu  vergleichen. 

^)  Ein  geflügeltes  Wort  im  Altertum  lautete:  „Weiser  als  Prodikos". 


—    40    — 

samer  Yater  Hipponikos,  konnte  die  Vorratskammer  um  so  unbedenk- 
licher ausräumen,  als  er  nicht  zweifeln  durfte,  daß  die  große  Schar 
der  Sophisten  und  Sophistenjünger,  unter  denen  sich  gewiß  so  mancher 
berufsmäßige  Schmarotzer  befand,  seine  Vorräte  ohnehin  in  kürzester 
Frist  aufzehren  würde.  So  paradox  es  zunächst  auch  klingen  mag, 
Piaton  spielt  hier  auf  den  Gegensatz  der  alten  und  der  neuen  Zeit 
an,  verkörpert  in  Hipponikos  und  Kallias.  Ein  helles  Licht  auf  diesen 
Gegensatz  wirft  noch  das  sophistenfeindliche  Verhalten  des  Tür- 
hüters, der  vermutlich  schon  unter  Hipponikos  seine  Stellung  bekleidete 
und  darum  mit  der  Wirtschaft  seines  neuen  Herrn  so  gar  nicht  ein- 
verstanden ist. 

Müssen  wir  also  schon  nach  dem  bisherigen  es  ablehnen,  in  der 
Gleichsetzung  von  Prodikos  und  Tantalos  eine  Anspielung  auf  die 
„Tantalusqualen"  des  Keers  am  Tische  des  reichen  Kallias  zu  sehen, 
so  dürfen  wir  doch  noch  das  folgende  gewichtige  Moment  nicht  außer 
acht  lassen :  niemals  hat  Piaton  die  großen  Sophisten,  wie  Protagoras, 
Prodikos,  Gorgias,  Hippias,  in  so  possenhaften  Zügen  geschildert. 
Wenn  er  sie  auch  bis  aufs  Messer  bekämpfte,  er  hat  sie  doch  niemals 
persönlich  angegriffen. ^j  Dies  ist  am  deutlichsten  aus  dem  „Gorgias" 
zu  ersehen,  in  welchem  er  - —  trotz  der  unverkennbar  grimmigen 
Grundstimmung  des  Werkes  —  doch  scharf  zwischen  Gorgias  und 
jenen  Männern  unterscheidet,  die  skrupellos  die  letzten  unsittlichen 
Konsequenzen  aus  des  Leontiners  Lehre  zogen.  Er  macht  wohl  Gorgias 
verantwortlich  für  jene  Philosophie  der  Sittenlosigkeit,  aber  er  erkennt 
gleichzeitig  an,  daß  er  für  seine  Person  ein  rechtschaffener  Mann 
gewesen  sei  und  die  Konsequenzen  seiner  eigenen  Lehre  nicht  gebilligt 
habe.  Wie  immer,  greift  er  also  in  dem  Sophisten  den  Denker  an, 
aber  seine  Persönlichkeit  läßt  er  völlig  unangetastet.  Nicht  anders 
verfährt  er  mit  Protagoras  und  Hippias,  denen  er  stets  nur  die  Un- 
zulänglichkeit ihrer  Weisheit  nachzuweisen  sucht,  deren  Moralität  er 
aber  nicht  im  entferntesten  in  Zweifel  zieht.  Daß  nun  aber  Piaton 
den  Prodikos,  den  er  ja,  wie  aus  zahlreichen  Stellen  in  seinen  Schriften 
hervorgeht,  zwar  stets  mit  mehr  oder  minder  unverhüllter  Ironie, 
jedoch  zum  Unterschied  von  den  übrigen  Sophisten  mit  sichtlicher 
Sympathie  behandelt  hat,  darum  mit  Tantalus  vergleicht,  weil  er  etwa 
sagen  will,  er  leide  ;, Tantalusqualen '^  wenn  ihn  sein  kränklicher 
Zustand  daran  verhindere,  sich  den  Freuden  einer  wohlbesetzten  Tafel 
nach  Herzenslust  hinzugeben,  ist  undenkbar,  schon  darum,  weil  wir 
keinen  Augenblick  zweifeln  könnten,  daß  Piaton  ihn  gar  keines  Blickes 

1)  Vgl.  Th.  Gomperz,    Griech.  Denker  I,  336  ff. ;    auch   die   von  E.  Horneffer,    Piaton 
gegen  Sokrates  p.  50,  mitgeteilte  Äußerung  v.  Wilamowitz'  über  Piatons  Verhältnis  zu  Gorgias. 


—    41    — 

gewürdigt  hätte,  wenn  er  in  ihm  einen  ganz  gewöhnlichen  Schmarotzer 
an  den  Tischen  der  Reichen  gesehen  hatte.  Es  ist  also  als  gänzlich 
ausgeschlossen  zu  betrachten,  daß  Piaton  solches  mit  dem  Vergleich 
,,Prodikos-Tantalos^^  ausdrücken  wollte.  Auch  Welcker  selbst  meint 
ja,  es  sei  bei  dem  Vergleich  in  erster  Linie  an  den  leidenden  Zustand 
des  Prodikos  zu  denken.  Mir  scheint  indessen  auch  dies  nicht  das 
Richtige  zu  treffen.  Wenn  Welcker,  wie  oben  erwähnt,  der  xlnsicht 
ist,  daß  jeder  Leser  bei  den  Worten  y-al  f^iiv  örj  xal  Tävialöv  ye  eloeldov 
in  Gedanken  noch  die  Worte  y.QazsQ  äXye  s/ovra  hinzugesetzt  habe, 
so  könnte  man  auch  umgekehrt  den  Standpunkt  vertreten,  gerade  da- 
durch, daß  Piaton  die  erwähnten  drei  Worte  nicht  zitiert  habe,  sei 
angedeutet,  daß  er  auf  den  leidenden  Zustand  des  Prodikos  hier  nicht 
den  Hauptton  lege. 

Wir  werden  also  nach  einer  andern  Begründung  jenes  Vergleiches 
suchen  müssen,  um  so  mehr,  wenn  wir  erwägen,  in  welcher  Absicht 
Protagoras  mit  Sisyphos,  Hippias  mit  Herakles  gleichgesetzt  ist.  Es 
gilt,  ihre  geistige  Beschaffenheit,  ihre  philosophischen  Fähigkeiten  zu 
•charakterisieren:  vergeblich  wie  Sisyphos  müht  Protagoras  sich  um 
die  Weisheit ;  und  schlagfertig  gleich  Herakles,  dessen  allzeit  gespannter 
Bogen  die  Gegner  bedroht,  weiß  Hippias  jeder  Frage  Rede  und  Ant- 
wort zu  stehen.  Sollte  da  wirklich  Prodikos  nur  deshalb  mit  Tantalos 
verglichen  sein,  weil  er  nicht  essen  und  trinken  darf  oder  weil  er  Schmerzen 
■erdulden  muß?  Essoll  ja  nicht  geleugnet  werden,  daß  dies  alles  zur  Tanta- 
losrolle  des  Prodikos  ganz  vortrefflich  paßt,  aber  es  sind  nur  leise  mit- 
klingende Untertöne,  das  tertium  comparationis  dürfen  wir  darin  nicht  er- 
blicken. Denn  Piaton  wollte  doch  wohl  wie  bei  Protagoras  und  Hippias  so 
auch  bei  Prodikos  vornehmlich  die  geistige  Physiognomie  kenn- 
zeichnen. Hätte  er  aber  den  Vergleich  „Prodikps-Tantalos^^  so  gemeint, 
wie  Welcker  ihn  deutet,  so  hätte  er  ihm  jede  geistige  Physiognomie 
überhaupt  abgesprochen.  Davon  aber  kann  natürlich  gar  keine  Rede 
sein.  Vielmehr  müssen  wir  es  als  gewiß  annehmen,  daß  Piaton,  als 
er  Prodikos  dem  Tantalos  gleichsetzte,  des  Keers  Philosophieren 
charakterisieren  wollte.  Einen  Fingerzeig  zur  Beantwortung  der  Frage, 
w^as  Piaton  mit  jenem  Vergleich  andeuten  wollte,  erhalten  wir  nun, 
wenn  wir  die  Natur  der  Schmerzen  bedenken,  die  Tantalus  im  Hades 
erduldete.  Tantalus  leidet  die  schrecklichsten  Qualen  des  Hungers 
und  des  Durstes,  da  sich  ihm  das  Wasser  und  die  Früchte,  nach 
denen  er  greift,  im  Augenblick,  da  er  sie  schon  erfaßt  zu  haben 
glaubt,  entziehen.  Es  handelt  sich  hier  also  um  ein  erfolgloses 
Haschen,  um  ein  Greifen  nach  Dingen,  die  den  haschenden  Händen 
im  letzten  Moment  doch  noch  entgehen.  Auf  das  geistige  Gebiet  über- 


—    42     — 

tragen  und  auf  Prodikos  angewendet,  würde  dies  besagen,  Prodikos. 
habe  stets  vergeblich  nach  Erkenntnissen  gehascht,  so  oft  er  sie  auch 
gefunden  zu  haben  glaubte,  seien  sie  ihm  gleichsam  unter  den  Händen 
zerronnen.  Ist  diese  Vermutung  richtig,  so  muß  sich  die  Bestätigung 
im  ;,Protagoras"  selbst  finden;  denn  es  ist  nicht  anzunehmen,  daß- 
Piaton  die  Erklärung  für  den  Vergleich  Prodikos -Tantalos  erst  in 
einem  späteren  Werke  zu  geben  beabsichtigte.  Jedes  Werk  soll  ja- 
für  sich  allein  verständlich  sein.  Auch  hat  es  Piaton  mit  den  beiden 
anderen  Vergleichen  „Protagoras-Sisyphos"  und  „Hippias- Herakles" 
tatsächlich  so  gehalten.  Die  Erklärung  des  letzteren  gibt  er  sofort 
an  Ort  und  Stelle,  die  des  ersteren  im  Laufe  des  Gesprächs,  während 
dessen  es  sich  herausstellt,  daß  Protagoras'  Mühen  vergeblich  sind. 
Daher  ist  es  nun  an  uns,  die  Rolle,  die  Prodikos  im  „Protagoras "'^ 
spielt,  schärfer  ins  Auge  zu  fassen  und  darauf  zu  prüfen,  ob  sie  wirk- 
lich eine  „Tantalusrolle"  ist.  Prodikos  tritt  erst  hervor,  als  das 
Gespräch  zwischen  Protagoras  und  Sokrates  mit  einem  Mißklang  zu 
enden  droht  (337  a  ff. j,  und  gibt  bei  diesem  Anlasse  eine  Probe  seiner 
besonderen  Kunstfertigkeit,  seiner  Synonymik.  Damit  findet  er  zwar 
den  lauten  Beifall  der  Zuhörer,  die  selbstverständlich  jede  Leistung  der 
fremden  Wundermänner  beklatschen,  in  uns  aber  ruft  seiiie  Leistung- 
einen läppischen  Eindruck  hervor  und  es  kann  auch  gar  kein  Zweifel 
sein,  daß  Piaton  gar  nichts  anderes  damit  beabsichtigte.  Was  soll  z.  B.  die 
alberne  Unterscheidung  von  eödoxifuelv  und  eTtaLvelad^ai  oder  die  von 
EvcpQaLveod-aL  und  fjöeod-aL?  Jedenfalls  ruht  sich  der  Leser  bei  den  Geistes- 
erzeugnissen des  Prodikos  von  den  Strapazen  der  vorausgegangenen 
Untersuchung  gründlich  aus;  und  wenn  diese  Stelle  auch  von  Piaton 
als  eine  Art  Ruhepunkt  gedacht  war,  so  ist  dies  doch  alles  eher  denn 
ein  Kompliment  für  die  Weisheit  des  Prodikos.  Die  Fragen,  die  zwischen 
Protagoras  und  Sokrates  schweben,  auch  nur  einen  Schritt  ihrer  Lösung 
zu  nähern,  erweist  sich  die  Synonymik  des  Prodikos  als  völlig  unver- 
mögend. Es  ist  wohl  mehr  als  Zufall,  daß  die  Spielereien  des  Prodikos 
in  einem  Zeitpunkt  einsetzen ,  da  Sokrates  erst  aus  dem  gemeinsamen 
Gegensatz  der  dcpqoGvvri  die  Identität  der  Begriffe  aocpia  und  owcpQoovvri 
gefolgert  hat.  Sonst  würde  Prodikos  über  ihre  Diversität  wohl  auch 
so  manches  zu  faseln  wissen.  Wie  gering  Piaton  im  Protagoras  über 
die  Weisheit  des  Prodikos  denkt,  geht  noch  aus  mehreren  anderen 
Stellen  deutlich  hervor.  Zunächst  aus  der  Stelle  339  e,  wo  Sokrates, 
durch  Protagoras'  Frage  bezüglich  des  Widerspruches  im  simonideischen 
Gedicht  überrascht,  sich  an  die  Synonymik  des  Prodikos  wendet, 
indessen,  wie  er  selber  eingesteht,  nicht  etwa,  um  sich  wirklich  Be- 
lehrung zu  holen ,  sondern  um  Zeit  zum  Nachdenken  zu  gewinnen  (sTceiraj 


—    43    — 

log  ye  n-gög  oe  eigfjoS^at  rdlrj&ri,  %va  jlioi  xqövog  iyyivrjTai  vf^  oytsxpet 
Ti  leyoL  b  TtOLTirrig,  rqeTto^ai  Ttqbg  xbv  nqüör/jov  %tI.)\  Sehr  sonderbar 
berührt  uns  auch  die  weitere  Stelle  o41  c,  wo  Sokrates  den  Prodikos 
fragt,  ob  Simonides  unter  xalsTtöv  nicht  xazov  verstanden  habe,  was 
dieser  bejaht  mit  der  Bemerkung,  Simonides  habe  dem  Pittakos  vor- 
werfen wollen,  er  wisse  als  Lesbier  die  Worte  nicht  zu  unterscheiden, 
während  sich  dann  doch  ganz  im  Gegenteil  Simonides  einer  Vermengung 
der  Worte  schuldig  gemacht  hätte  und  durchaus  nicht  Pittakos !  Freilich 
sagt  Sokrates,  durch  den  energischen  Widerspruch  des  Protagoras  ver- 
anlaßt. Prodikos  habe  dies  nicht  ernst  gemeint,  dies  ist  aber  nichts 
anderes  als  Höflichkeit  (und  Ironie  zugleich),  da  er  sogleich  aus  dem 
folgenden  Vers 

d-ebg  av  /uövog  tovt    eyoi  ysQag 

beweist,  daß  Simonides  unter  xaleTtöv  unmöglich  y.a/Mv  verstanden  haben 
könne,  er  demnach  den  Prodikos  nicht  allzusehr  bloßstellen  wollte.  Den 
schlagendsten  Beweis  für  Piatons  abfällige  Beurteilung  der  prodikeischen 
Synonymik  aber  liefert  die  Stelle  358  a,  wo  Sokrates,  nachdem  er  die 
Frage  nach  der  Einheit  der  Tugend  —  noch  abgesehen  von  der  Stellung  der 
Tapferkeit  zur  Gesamttugend  —  einer  gedeihlichen  Lösung  zugeführt 
hat,  sich  die  Synonymik  des  Prodikos  ausdrücklich  verbittet, 
offenbar,  da  sie  nur  geeignet  wäre,  die  bereits  sicher  gestellten  Resultate 
neuerdings  in  Verwirrung  zu  bringen.  In  ihrer  ganzen  ünersprießlichkeit 
zeigt  sie  sich  endlich  noch  358  e,  wo  Prodikos  wieder  einmal  zwischen 
diog  und  (päßag,  zwischen  Angst  und  Furcht  unterscheidet,  worauf 
Sokrates  mit  nicht  mißzuverstehender  Deutlichkeit  erwidert:  „ovdiv 
dl  affSQSL " ,  und  zwar  durchaus  mit  Recht,  da  Prodikos  den  springenden  Punkt, 
nämlich  ob  es  möglich  sei,  dem  Furcht  einflößenden  Gegenstand  nachzu- 
gehen, wenn  es  einem  freisteht,  das  zu  verfolgen,  was  man  nicht  zu 
fürchten  hat,  gar  nicht  erfaßt  hat.  Man  sieht  also,  den  Prodikos 
hindert  seine  Synonymik  wiederholt,  der  wahren  Erkenntnis  teilhaftig 
zu  werden;  er  verschwendet  Zeit,  Mühe  und  Geist  an  völlig  frucht- 
lose Spielereien,  während  die  sokratische  Begriffsethik  Triumphe  feiert. 
Tatsächlich  erscheint  neben  der  zielbewußten  begrifflichen  Untersuchung 
des  Sokrates,  wie  sie  sich  insbesondere  bei  der  Zurückführung  auch 
der  Tapferkeit  auf  das .  Wissen  glänzend  bewährt,^)  die  Synonymik 
des  Prodikos  direkt  als  Karikatur.  Und  doch  kann  nicht  geleugnet 
werden,  daß  die  Synonymik  als  solche  durchaus  nicht  ungeeignet  wäre, 
die  strittigen  Probleme  zu  fördern ,  wie  sie  ja  auch  im  „Laches"  bei  der 
Unterscheidung  der  Begriffe  ^Qaovg  und  dvögelog  196  d  ff.  und  schließlich 


')  359  a  ff. 


—    44    — 

schon  im  Protagoras  350  b.  fF.  (bezeichnenderweise  allerdings  nicht  durch 
Prodikos,  sondern  durch  Protagoras)  wirklich  zur  Geltung  gelangt  ist. 
Es  liegt  ihr  eben  ein  völlig  gesundes  Prinzip  zugrunde,  das  einer 
scharfen,  logischen  Definition  und  Distinktion.  Dazu  scheint  vortrefflich 
zu  passen,  daß  Sokrates  sich  sowohl  im  ,.Protagoras"  341a  als  auch 
im  „Charmides"  163d  und  im  „Menon"  96d  als  Schüler  des  Prodikos 
bezeichnet.  Und  mag  dies  auch  bis  zu  einem  gewissen  und  wahrscheinlich 
ziemlich  hohen^)  Grade  ironisch  gemeint  sein,  es  beweist  doch,  daß 
Sokrates'  BegriiFsethik  von  der  Sj^nonymik  des  Prodikos  beeinflußt  war 
oder  wenigstens  sich  mit  ihr  berührte. 2)  Oder  mit  anderen  Worten: 
Sokrates  stimmte  mit  Prodikos  darin  überein,  daß  es  notwendig  sei, 
den  Inhalt  und  Umfang  der  einzelnen  Worte  und  Begrifl'e  festzustellen, 
ehe  an  ein  ersprießliches  Philosophieren  gedacht  werden  könne.  Während 
aber  Prodikos  diese  Kunstfertigkeit  auf  die  Spitze  trieb  und  sich  in 
unfruchtbare^)  Grübeleien  verlor,  war  es  Sokrates  um  nutzbringende 
Definitionen  vor  allem  der  ethischen  Begriffe  zu  tun.  Der  charakte- 
ristische Unterschied,  der  Sokrates  von  den  Sophisten  trennt,  machte 
sich  eben  auch  hier  geltend.  Prodikos  ist  es,  wie  allen  anderen  Sophisten, 
nur  darum  zu  tun,  seinen  Geist  leuchten  zu  lassen,  und  darüber  ver- 
liert er  die  Sache  aus  dem  Auge,  w^ahrend  es  Sokrates  einzig  und 
allein  um  die  Sache  zu  tun  war  und  ganz  und  gar  nicht  um  seine 
Person.*)  So  gingen  Prodikos  und  Sokrates  wohl  ein  Stück  Weges 
zusammen;  dort  aber,  wo  sie  sich  trennten,  begann  für  Sokrates  wie 
für  Piaton  erst  die  wahre  Wissenschaft.  Durch  das  Tor,  das  zur  echten 
Wissenschaft  und  Erkenntnis  zu  führen  schien,  trat  Prodikos  nicht  ein, 
er  wählte  statt  dessen  einen  Seitenpfad,  wohl  einen  recht  steinigen  und 
mühevollen,  der  aber  nichtsdestoweniger  nicht  zum  Ziele  führte.  Es  war 
demnach  in  gewisser  Hinsicht  ganz  wohl  begründet,  wenn  ihn  Welcker 
einen  Vorläufer  des  Sokrates  nannte.  Aber  er  ist  dies  nicht  so  sehr 
aus  den  von  Welcker  p.  402  ff.  angeführten  Gründen  (Sokrates  habe 
mit  besonderer  Teilnahme  bemerkt,  was  der  keische  Weise  über  die 
Tugend,  die  Erziehung  der  Jugend ,    das  Heilsame    des  Landlebens  (?), 


^)  Worüber  noch  im  folgenden  gesprochen  werden  soll. 

2)  Schon  Welcker  a.  a.  0.  p.  438  hat  auf  Xenophons  Meni.  III,  14,  2  u.  7;  IV, 
5,  12;  IV,  6,  1  hingewiesen,  woraus  hervorgehe,  daß  Sokrates  die  Methode  des  Prodikos 
befolgte.  Dies  wurde  von  Joel,  D.  echten,  d.  xenophont.  Sokrates  I,  351,  allerdings  bestritten. 

^)  „unschuldige"  sagt  Hermann,  Plat.  Philos.  I,  213. 

*)  Sehr  schön  hat  Piaton  dies  im  Gorgias  459a  ausgedrückt:  'Ey(o  6s  xlvov  eifAl; 
xCiv  r]bE(}ig  f.iev  av  sXsy/&svrcov,  sl  jui]  xi  u?.f]'&eg  Myco,  rjöeoig  d'äv  sXey^dvxcov,  sl'  reg  rt 
fj,i]  dXrj'd'eg  Isyoi,  oüh  urjÖEoxsQOv  ftsvx'  av  iksyx'd'svxMV  ^  sXey^ävxcov  ftelCov  yäg  avxo 
dya&ov  ijyovfiai,  ö'acojieg  f^ieT^ov  äya&ov  eaxiv  adxov  djiaXXayfjvat  y.axov  xov  fisytaxov 
i]  äXXov   dTtaXXd^ai. 


—    45    — 

die  Geringschätzung  der  irdischen  Güter  und  des  Lebens  selbst  im  Auf- 
blick zu  einem  himmlischen  Dasein,  über  Gottheit  und  Götter  in 
Reden  oder  in  Gesprächen  mit  Jünglingen  oder  mit  ihm  selbst  vortrugt); 
denn  vor  kurzem  erst  hat  Robert  Pöhlmann  treffend  gezeigt^),  wie 
wenig  wir  eigentlich  noch  immer  vom  historischen  Sokrates  wissen  und 
wie  zahlreiche  unsokratische  Züge  unser  Sokratesbild  auch  heute  noch 
aufweist.  Daß  aber  Welcker  unrecht  hat,  wenn  er  dem  Prodikos  eine 
Methode,  von  der  Sprache  auszugehen  und  den  Begriff  ethischer 
Ausdrücke  zu  bestimmen,  zuschrieb^),  hat  Zeller  mit  Recht  betont,  der 
dem  Prodikos  den  Ehrennamen  eines  Vorgängers  des  Sokrates  geradezu 
abspricht,  weil  ,,von  dem  großen  Prinzip  der  Selbsterkenntnis,  dem  Zu- 
rückgehen auf  allgemeine  Begriffe,  der  Lehre,  daß  die  Tugend  ein 
Wissen  sei,  bei  ihm  sich  keine  Spur  finde*'*).  Es  ist  jedenfalls  kein 
Zweifel,  daß  die  Wortkunde  des  Prodikos  und  seine  Tugendlehre  in 
einem  inneren  Zusammenhange  nicht  standen.  Die  Begriffsethik  ist  ja 
eben  erst  des  Sokrates  bahnbrechendes  Verdienst!  Auch  Brandis-"^)  hat 
mit  Recht  gefragt:  „Ob  aber  Prodikos  verdient,  als  Vorgänger  des 
Sokrates  bezeichnet  zu  werden?  ob  zu  natürlichem  sittlichen  Sinn  auch 
hinzukam  eine  bestimmte  Erkenntnis  dessen,  was  vor  allem  Not  tat, 
um  den  sophistischen  Trug  von  Grund  aus  zu  zerstören?"  In  dieser 
Streitfrage  aber  scheint  mir  K.  F.  Hermann  den  Nagel  auf  den  Kopf 
getroffen  zu  haben,  wenn  er  Piaton.  Philos.  I,  230  erklärt,  daß  „Prodikos 
durch  die  Schärfe  seiner  Synonymik,  wodurch  er  einen  mächtigen  Schritt 
zu  einer  gesunden  Logik  tat,  noch  bei  weitem  mehr  den  Ehrennamen 
einesVorgängers  von  Sokrates  verdiene,  als  dieser  ihm  neuerdings  (nämlich 
eben  durch  Welcker)  um  seiner  übrigen  Lehr-  und  Lebensweisheit  willen 
erteilt  worden  sei";  und  in  einem  Briefe  an  Welcker,  welchen  dieser 
a.  a.  0.  p.  538  f.  zitiert,  bezeichnet  er  Prodikos  als  den  „Vorläufer  der 
echtlogischen  Begriffsbestimmung,  in  welche  Aristoteles  eben  des 
Sokrates  wissenschaftliche  Bedeutung  setzt".  ^)  Da  aber  demgegenüber 
Welcker  p.  539  mit  der  gleichen  Berechtigung  erklärt,  „daß  dieses  Ver- 
dienst zufällig  scheine,  da  Prodikos  damit  einem    anderen  Bedürfnis 


*)  Vgl.  auch  p.  531  II.  535. 

-)  Sokratische  Studien,  Sitzungsberichte  d.  bayr.  Akad.  d.  Wissensch.  1906,  p.  49  ff. 

")  A.  a.  0.  p.  447. 

*)  Schon   von  AVelcker   selbst  zitiert   im  Zusatz  zu  seiner  prodikeischen  Abhandlung 
a.  a.  0.  p.  529. 

^)  Geschichte  der  griech.-röm.  Philosophie  I,  p.  547. 

^)  Vgl.    auch,    was  Hermann    bei   Welcker     p.  536,  Z.  5.  v.  u.  und  noch  an  anderen 
Stellen  über  Prodikos  sagt. 


~     46     — 

der  Zeit,  dem  der  Sprachkunde  und  Redekunst,  des  richtig  und  genau 
bestimmten  Ausdrucks  über  alle  Dinge  des  Lebens  und  der  Erfahrung 
gründlich  zu  Hilfe  zu  kommen  suchte",  so  wird  uns  Piatons  eigentüm- 
liche und  gleichsam  schillernde  Haltung  dem  Weisen  von  Keos  gegen- 
über verständlich.  Insoferne  er  durch  seine  Forderung  nach  Definitionen 
und  genauer  Unterscheidung  der  Worte  ein  Gesinnungsgenosse  des 
Sokrates  ist,  gibt  ihm  Piaton  vor  allen  anderen  Sophisten  von  Puf 
unbedingt  den  Vorzug.  Da  es  aber  Prodikos  nicht  verstand,  sich  zu 
den  Höhen  der  sokratischen  Begriff*sethik  emporzuschwingen,  vielmehr 
Mühe,  Zeit  und  Geist  darauf  verschwendete,  seine  vielverheißende  Syno- 
nymik zu  einer  läppischen  Spielerei  ausarten  zu  lassen,  behandelt  ihn 
Piaton  wiederum  mit  einer  spöttischen  Höflichkeit  und  mitleidigen 
Ironie,  wie  er  sie  z.  B.  Protagoras  oder  Gorgias  gegenüber  niemals  an- 
gewendet hat.  ,.ndvG(Kpog  y.al  d-elog'^  nennt  er  ihn  im  „Protagoras"  315  e, 
„0  ßelriOTog  ÜQüöizog^^  lesen  wir  im  Gastmahl  177  b.  Es  liegt  jedenfalls 
in  all  diesen  Urteilen  eine  merkwürdige,  aber  uns  nun  recht  wohl 
verständliche  Mischung  von  Hochachtung  und  Geringschätzung.  Sehr 
richtig  sagte  schon  Bayle^):  Piaton  parle  de  lui  assez  souvent  et 
meme  avec  eloge,  mais  non  pas  sans  se  souvenir  quelquefois  deTironie". 
Und  es  läßt  sich  ja  unter  solchen  Umständen  auch  tatsächlich  nicht 
leugnen,  daß  Prodikos  eine  komische  Figur  war.  All  die  Fülle,  welche 
ihm  eine  richtig  angewandte  Synonymik  zu  bescheren  vermöchte,  vor 
Augen,  weiß  er  doch  trotz  heißen  Bemühens  keine  Erkenntnis  zu  gemnnen, 
die  irgend  welchen  Wert  oder  Nutzen  hätte.  Und  ich  glaube,  es  ist 
nun  klar  genug  geworden,  was  der  Vergleich  „Prodikos-Tantalos"  besagen 
will:  Piaton  nennt  den  Prodikos  darum  Tantalos,  weil  er  trotz  der 
vielen  Anstrengung  und  Mühe,  die  ihm  seine  Sj-iionymik  und  Wort- 
kunde bereitet,  doch  niemals  die  herrlichen  Früchte  der  auf  den 
gleichen  Prinzipien  fußenden  sokratischen  Begriffsethik  zu  fassen 
vermag.  Dies  scheint  mir  die  geistige  Physiognomie  des  Weisen  von 
Keos  weit  treffender  zu  charakterisieren,  als  eine  Anspielung  auf 
seinen  leidenden  Zustand  oder  seinen  großen  Reichtum. 

Je  herrlichere  Früchte  aber  die  sokratische  Begriff'sethik  Piaton 
zu  tragen  schien,  d.  h.  je  mehr  die  Ideenlehre  in  des  Dichterphilosophen 
Geiste  erstarkte,  desto  mehr  mußte  natürlich  die  Geringschätzung  des 
Prodikos  über  die  einstige  Achtung  und  Anerkennung  für  diesen  Sophisten 
das  Übergewicht  erlangen.  So  tadelt  Sokrates  im  ,Menon'  96  d  den 
Unterricht  des  Prodikos,  der  ihn  nicht  gelehrt  habe,  daß  es  neben  dem 
Wissen  (sTCLGTrjuri)  noch  eine  richtige  Meinung  (dXrid-rjg  do^a)  gebe,  die 


1)  Bei  AVelcker  a.  a.  0.  p.  407,  Aiim.  38. 


—    47    — 

in  der  Praxis  nicht  Geringeres  als  das  Wissen  zu  leisten  vermöge,  i) 
Noch  viel  schroffer  aber  ist  die  Ablehnung  von  Prodikos'  Kunst  im 
Euthydem  und  im  Theätet,  in  den  Gesprächen  aus  der  späteren  Zeit 
Piatons,  da  die  Ideenlehre  längst  ihre  volle  Entfaltung  gefunden  hatte ; 
im  Euthydem  p.  277  e  ff.  erscheint  die  Wortkunde  des  Prodikos  in  sehr 
zweifelhaftem  Licht:  sie  dient  wohl  den  beiden  eristischen  Klopffechtern 
Euthydemos  und  Dionysodoros  als  Grundlage  ihrer  „Kunst" ,  den 
Gegner  durch  plumpe  Fangschlüsse  zu  übertölpeln  2),  sie  ist  aber,  wie 
Sokrates  ausdrücklich  erklärt ,  durchaus  nicht  imstande ,  Einsicht  in 
das  Wesen  der  Dinge  zu  verleihen  (ei  Y.al  TzolXd  tk^  5y  y.al  Tcdvra  tä 
roiaira  udd-otj  rä  f,iiv  7CQccyjuaTa  ovöiv  av  (.läXXov  eldeiri  tvt]  i'x^t  278  b), 
noch  auch  ein  Streben  nach  Weisheit  und  Tugend  zu  erwecken  (278  d); 
und  im  Theätet  sagt  Sokrates  151  b,  er  habe  Prodikos  viele  Jünglinge 
abgegeben,  die  er  nicht  mit  Ideen  schwanger  gefunden  habe  (ivloze 
di^  10  OeahriTE ,  ot  äv  f,ioc  fifj  do^coal  Ttcog  syzvjuovEg  eivai ,  yvovg  ort 
ovöiv  sf^ov  Seovrac,  Ttävv  €Vf.i€vcdg  TCQOiivcoiiaL  ymI,  ohv  d-eco  eiTceXv,  Tcdvv 
\yLav(7ig  tOTraLco  otg  av  GvyyevouEvoi  ovaivro'  lov  jcoXXovg  juiv  örj  e^söar/.a 
noodi/jo  -jiTk.).  Sonderbarerweise  faßt  Welcker  p.  400  dies  als  ein  Lob 
des  Prodikos,  er  sieht  darin  eine  Auszeichnung ,  daß  Sokrates  die  un- 
brauchbaren Schüler  gerade  dem  Prodikos  übergeben  habe.  Xach  den 
Msherigen  Erwägungen  aber  ist  es  klar,  daß  diese  Stelle  eine  Miß- 
achtung der  prodikeischen  Weisheit  enthält  und  zum  Ausdruck  bringen 
Avill,  daß  Prodikos  mit  seiner  Wortkunde  sich  zur  Höhe  der  Ideenlehre 
nicht  zu  erheben  vermochte;  die  an  jener  Stelle  des  Theätet  neben 
Prodikos  noch  erwähnten  aocpol  re  %al  d-eOTteaioi  ävöqeg  sind  zweifellos 
die  übrigen  Sophisten,  so  daß  Prodikos  auch  auf  den  ihm  einstens  vor 
•diesen  eingeräumten  Vorzug  schließlich  verzichten  mußte. 

Man  könnte  nun  vielleicht  die  Frage  aufwerfen,  ob  denn  auch 
alles,  was  Piaton  von  Prodikos  erwähnt,  tatsächlich  Avörtlich  zu  nehmen 
ist,  ob  nicht  vielmehr  in  manchen  Fällen  —  und  dies  gilt  insbesondere 
von  den  Schriften  aus  der  späteren  Zeit  —  das  über  Prodikos  Gesagte 
eigentlich  auf  einen  anderen  zielt,  der  nur  die  Maske  des  Prodikos 
trägt.  Wir  müssen  dabei  bedenken,  um  wieviel  wahrscheinlicher  es  schon 
a  priori  ist,  daß  Piaton,  was  er  von  den  großen  Sophisten,  den  Zeit- 
genossen   des    Sokrates,    sagt,    in   Wahrheit    auf   eigene    Zeitgenossen 


*)  Welcker  hat  diese  Stelle  nicht  richtig  verstanden,  wenn  er  p.  427  Sokrates  auf 
■Grund  derselben  als  Schüler  des  Tugendlehrers  Prodikos  faßt.  Die  gleichzeitige  Erwähnung 
■des  Gorgias  besagt  nichts,  da  Gorgias  ja  schon  früher  als  Lehrer  des  Menon  bezeichnet 
Avurde  und  es  an  der  erwähnten  SteUe  nicht  mehr  als  eine  faQon  de  parier  ist,  wenn  Sokrates 
auch  des  Lehrers  seines  Mitunterredners  gedenkt.  Meine  Auffassung  teilt  auch  Joel  a.a.  0.  II,  140. 

2)  A'gl.  auch  p.  288  a. 


—    48    — 

gemünzt  hat,  da  er  erstens  eine  dringendere  Notwendigkeit  empfinden 
mußte,  sich  mit  den  letzteren  auseinanderzusetzen,  und  zweitens  keine 
Möglichkeit  hatte  ^j,  die  eigenen  Gegner  anders  auftreten  zu  lassen,  als 
in  den  Masken  von  Zeitgenossen  seines  Meisters  Sokrates.  in  dessen  Maske 
er  selber  seine  eigenen  Gedanken  verkündete.  So  scheint  in  der  Tat  die  Er- 
wägung gerechtfertigt,  ob  denn  wirklich  der  platonische  Prodikos  auch 
immer  der  historische  sei?  Ob  wir  nicht  befürchten  müssen ,  von  dem 
Keer  ein  falsches  Bild  zu  bekommen,  wenn  wir  ohne  Bedenken  alle  Züge, 
die  ihm  Piaton  zuschreibt,  auf  ihn  übertragen?  Man  denke  nur  an  den 
platonischen  ,Theätet'!  Die  Lehre,  die  Piaton  dort  als  protagoreisch 
vorträgt,  hat  man  teils  (z.  B.  Joel  a.  a.  0.  II,  842)  Antisthenes,  teils  (fast 
alle  anderen  Forscher)  Aristipp  zugeschrieben,  jedenfalls  in  allen  ihren 
Details  und  Konsequenzen  dem  Protagoras  unbedingt  abgesprochen. 
Wäre  es  nun  nicht  denkbar,  daß  es  sich  mit  der  Rolle,  die  Prodikos 
bei  Piaton  spielt,  ähnlich  verhält? 

Ohne  indessen  dieses  prinzipielle  Bedenken  zu  mißachten,  meine 
ich  doch,  daß  hier  eine  Analogie  nicht  vorliegt.  Abgesehen  davon,  daß  die 
im  „Theätet"  mitgeteilte  Lehre  des  Protagoras  von  Piaton  ausdrücklich 
als  eine  Geheimlehre  bezeichnet  (152  d),  also  dem  verständigen  Leser 
recht  nahe  gelegt  wird,  sie  nicht  dem  historischen  Protagoras  zuzuteilen, 
handelt  es  sich  beim  ,. Theätet"  um  eine  detaillierte  und  ins  einzelne 
gehende  Theorie  des  Abderiten,  in  deren  Darstellung  Piaton  sehr  leicht 
erst  von  Späteren  gezogene  Konsequenzen  hinein  verweben  konnte,  während 
wir  nirgends  in  seinen  Schriften  einer  in  gleicher  Weise  bis  ins  kleinste 
ausgeführten  Darlegung  einer  prodikeischen  Lehre  begegnen.  Aus- 
führlicher spricht  Piaton  von  Prodikos  ja  nur  im  „Protagoras"  und 
dort  ist  der  Keer,  was  er  ja  wirklich  war,  als  Synonymiker  und  Meister 
der  Wortkunde  geschildert,  richtiger  gesagt,  karikiert.  Daß  die  Schilderung 
Karikatur  ist,  kann  ja  kein  Zweifel  sein;  niemandem  wird  es  einfallen, 
alle  Beispiele  der  prodikeischen  Synonymik  aus  dem  „Protagoras"  auch 
wirklich  mit  peinlicher  Genauigkeit  dem  historischen  Prodikos  zuzu- 
schreiben. Was  aber  Piaton  sonst  noch  in  seinen  Schriften  über  Prodikos 
berichtet ,  ergänzt  nur  das  Bild,  welches  uns  schon  der  ,. Protagoras" 
bietet,  und  ist  meistens  ernster  gemeint,  als  was  im  „Protagoras"  über 
Prodikos  steht.  Wir  haben  sonach  keinen  Anlaß,  Piatons  Schilderung 
des  Prodikos  und  seine  Anspielungen  auf  den  Keer  anders  als  wörtlich 
zu  nehmen;  aber  eine  Möglichkeit  besteht  freilich  noch.  Wenn  auch 
alles,  was  Piaton  über  Prodikos  mitteilt,  buchstäblich  von  diesem  gilt, 
so  wäre  es  doch  gar  wohl  denkbar,    daß  so  mancher  Hieb,    der  gegen 


^)  Sehr  richtig  betont  Joel  a.  a.  0.  II,  140  u.  149  diesen  Punkt. 


—    49    — 

Prodikos  geführt  wird,  zugleich  noch  einen  andern  treffen  soll,  der 
Piaton  in  den  Bahnen  des  Prodikos  zu  wandeln  schien.  Ich  habe  oben 
dargelegt,  was  Sokrates  von  Prodikos  unterschied,  w^odurch  der  Athener 
den  Keer  übertraf.  Wenn  wir  dies  bedenken,  so  erscheint  es  zweifellos, 
daß  für  eine  Identihkation  mit  Prodikos  namentlich  solche  Denker 
aus  dem  Kreise  der  Sokratiker  sich  eigneten,  welche  dem  w^esentlichen 
Verdienste  des  Sokrates,  seiner  Begriffsethik,  nicht  die  gebührende  An- 
erkennung entgegenbrachten,  insonderheit  deren  Kind,  die  platonische 
Ideenlehre,  nicht  akzeptieren  zu  können  glaubten.  Ein  solcher  Denker 
aber  war  in  erster  Linie  der  überzeugte  Nominalist  Antisthenes.  Nun 
ist  gerade  dieses  Mannes  Verbindung  mit  Prodikos  schon  durch  das 
Gastmahl  des  Xenophon  bezeugt.  ^ )  Bereits  Welcker  hat  darauf  hinge- 
wiesen 2)^  daß  Antisthenes  in  seinen  Grundsätzen  manche  Beziehung  zu 
Prodikos  hatte  und  nach  Diogenes  Laertius  VI  17  Schriften  vom  Sterben 
und  vom  Tod  und  Leben  verfaßt  hat  (:n:€Qi  tov  aTcod-avelv,  TteQi  ?w^g  /.al 
^avdxov),  Antisthenes  hat  aber  auch  fünf  Bücher  tteqI  7caideLag  rj  ovoudzcüv^) 
geschrieben  und  ferner  ist  uns  ein  Ausspruch  des  ersten  Kynikers  erhalten, 
der  lautet:  ccQxrj  TtaiSevaecog  fj  twv  ovoaaTcov  STtiö'/.eipLg.^)  Im  platonischen 
„Euthydem'*  277  e  aber  heißt  es  von  den  antisthenischen  Sophisten 
Euthydem  und  Dionysodor,  daß  sie  der  Methode  des  Prodikos  folgen, 
der  da  sage:  tiqmvov  TteQi  dvof^idtcov  ogS-örriTog  fuaS-elv  del^).  Zum  Über- 
fluß ward  im  „Charmides"  163  d  „des  Kritias  streng  antisthenische  Auf- 
fassung des  dyad-ov  =  ol/xlov  und  des  TtQdrreLv  =  tcolelv  des  dyad-ov  auf 
die  diaiQEGig  ovo/udrojv  des  Prodikos  zurückgeführt".®)  Aus  all  dem 
folgert  Joel'),  wie  mir  scheint,  durchaus  mit  Recht,  daß  hinter  dem 
Onomatologen  Prodikos  bei  Piaton  stets  der  Onomatologe  Antisthenes 
stecke.  Richtig  scheint  mir  auch  die  Behauptung  Joels  (II,  139  f.), 
Antisthenes  habe  in  seinen  Schriften  Sokrates  von  Prodikos  lernen 
lassen.  Diesen  Prodikosschüler  Sokrates  aber  habe  Piaton  in  seinen 
Schriften  bestritten,  einmal  ernsthaft  im  „Laches"  186  c  —  eine  Stelle,  auf 
die  Joel  p.  141  mit  Nachdruck  hinweist  —  und  zu  wiederholten  Malen 
ironisch  an  andern  Stellen,  an  denen  Sokrates  sich  auf  seinen  „Lehrer" 
Prodikos  beruft  und  die  sämtlich  im  Vorausgehenden  erwähnt  wurden. 
Wir  haben  oben  gesehen,  daß  dieses  Schülerverhältnis  des  Sokrates  zu 


')  IV,  62. 

2)  A.  a.  0.  p.  510  u.  536. 

')  Diog.  Laert.  ibid. 

*)  Arrian.  Epictet.  Diss.  I,  17. 

5)  Joel,  a.  a.  0.  II,  140. 

«)  Joel  ibid. 

')  Ibid. 

Wiener  Eranos. 


—     50    — 

Prodikos  von  Platon  stets  mit  der  gleichen  Ironie  behandelt  wurde  wie 
der  Meister  Prodikos  selbst.  Hauptsächlich  kommt  hier  ja  der  ,.Protagoras'' 
in  Betracht  und  da  glaube  ich  gezeigt  zu  haben,  inwiefern  auf  Grund 
dieses  Dialoges  Prodikos  als  „Lehrer"  des  Sokrates  verstanden  werden 
konnte  und  welch  klägliche  Rolle  dortselbst  der  berühmte  Keer  neben 
seinem  „Schüler"  spielt.  Es  scheint  mir  daher  sehr  wohl  denkbar,  daß 
Platon  durch  den  „Protagoras"  u.  a.  zeigen  wollte,  was  an  jenem  von 
Antisthenes  behaupteten  Schülerverhältnis  in  Wirklichkeit  war.  Und 
wie  Piatons  Urteil  über  Prodikos  desto  geringschätziger  werden  mußte, 
je  herrlichere  Früchte  ihm  die  sokratische  Begriffsethik  in  der  Ideen- 
lehre zu  bescheren  schien,  so  eignete  sich  Prodikos  immer  mehr  als 
Maske  für  den  hartgesottenen  Nominalisten  Antisthenes,  der  die  Ideen- 
lehre unbedingt  und  mit  derbem  Spott  zurückwies.  So  gelten  jedenfalls 
die  betreffenden  Stellen  in  den  späteren  Werken,  wie  im  „Kratylos", 
„Theätet",  „Euthydem" ,  wohl  hauptsächlich  dem  Antisthenes.  Aber 
schon  jene  oben  zitierte  „Menon "-Stelle  96  d,  wo  Sokrates  spottet, 
Prodikos  habe  ihn  nicht  darüber  aufgeklärt,  daß  es  neben  der  STtiGvrifxij 
noch  eine  dö^a  oq^i]  gebe ,  scheint  mir  ein  Hieb  auf  Antisthenes  zu 
sein,  der  zwar  vier  Bücher  Ttegl  döBrig  xal  smorrju^g  geschrieben i), 
aber  keinen  tieferen  Unterschied  zwischen  öö^a  ogS-rj  und  eTtiOTriui] 
gemacht  hat.  2)  Zweifellos  hat  Joel  ferner  Recht,  wenn  er  II,  143  A.  2 
die  „Theätet"-Stelle  151  b,  an  der  Sokrates  erklärt,  er  weise  die  Un- 
begabten an  Prodikos  xal  äXloig  oofpolg  re  y,al  S^eGTrEGioig  dvdQaoiVy 
gegen  Antisthenes  gerichtet  sein  läßt ,  der  demnach  von  Platon  jene 
Schüler  zugewiesen  erhielt,  welche  die  Ideenlehre  nicht  zu  fassen  ver- 
mochten. Es  ist  Joel  auch  zuzustimmen ,  wenn  er  II,  141  A.  3  die 
homerische  Einführung  der  drei  Sophisten  im  „Protagoras"  als  spöttische 
Anspielung  auf  die  homerische  Traidela  des  Antisthenes  auffaßt;  des- 
gleichen, wenn  er  II,  487  Platon  über  die  fiaXazla  des  Prodikos  3)  spotten 
läßt,  mit  einem  ironischen  Seitenblick  auf  dessen  kynischen  Verehrer 
Antisthenes ,  dessen  Idol  kein  anderer  als  Herakles  war.  Auch  mag 
die  Sympathie,  die  Platon  trotz  allem  gegen  Prodikos  zeigt,  teilweise 
dem  Sokratiker  Antisthenes  gelten,  ebenso  wie  die  Ironie  und  der 
Spott  über  seine  geistige  Kurzsichtigkeit ;  oder  mit  anderen  Worten : 
nicht  so  sehr  der  historische  Prodikos  wird  von  Platon  mit  jener 
sonderbaren  Mischung  von  Sympathie  und  Ironie  behandelt,  als  Prodikos, 
der  Held  des  Antisthenes. 


1)  Diog.  Laert.  VI,  17. 

2)  F.  Dümmler,  Akad.  p.  197 
«)  Vgl.  Protag.  315  d. 


—    51    — 

Jene  Entdeckung  Joels ,  daß  hinter  dem  Onomatologen  Prodikos 
bei  Piaton  gewöhnlich  der  Onomatologe  Antisthenes  stecke ,  scheint 
mir  aber  auch  das  Verständnis  der  platonischen  Dialoge  „Laches"  und 
„Charmides*'  sehr  bedeutend  gefördert  zu  haben.  Es  hat  schon  manchen 
sonderbar  berührt,  daß  Piaton  in  diesen  beiden  Dialogen  durch  den  Mund 
des  Sokrates  Ansichten  bekämpfte,  die  wir  eigentlich  als  sokratisch  be- 
zeichnen müssen.  So  wird  z.  B.  im  ,,Laches"  jene  Definition  der  Tapfer- 
keit, welche  Sokrates  im  „Protagoras"  360  d  als  die  Kenntnis  des 
Furchtbaren  und  Nichtfurchtbaren  erarbeitet  hat,  als  unzulänglich  zu- 
rückgewiesen,  da  sie  den  Unterschied  zwischen  der  Gesamttugend 
((XQeTi])  und  der  Einzeltugend  der  Tapferkeit  (dvÖQela)  aufhebe.  ^)  Es 
scheint  mir  besser,  dies  einzugestehen,  als  sich  durch  erkünstelte  Deu- 
tungen über  die  Schwierigkeiten  der  Sache  hinweghelfen  zu  wollen. 
Auch  der  neueste ,  von  Heinrich  Gomperz  ^)  unternommene  Versuch, 
die  Schwierigkeiten  hinwegzudeuten,  kann  nicht  als  geglückt  bezeichnet 
werden.  Gomperz  meint,  die  Definition  des  Nikias  (welche  mit  der 
aus  dem  „Protagoras"  übereinstimmt)  werde  im  „Laches"  nicht  be- 
kämpft, sondern  nur  berichtigt.  Der  „Laches"  habe  durchaus  ein  posi- 
tives Resultat,  und  des  Sokrates  Schlußargument  besage  nur,  wegen 
der  Einheit  des  Tugend wissens  sei  die  Tapferkeit  besser  denn  als 
iTtLOxrjfxri  künftiger  Güter  und  Übel,  vielmehr  als  eTCiarri^ri  von  Gütern 
und  Übeln  überhaupt  (also  als  ägExr])  in  ihrer  Anwendung  auf  künf- 
tige Güter  und  Übel  zu  definieren.  Damit  scheint  mir  aber  der  Schwierig- 
keit durchaus  nicht  ausgewichen  zu  sein.  Denn  abgesehen  davon,  daß 
nicht  einzusehen  wäre,  warum  Piaton  dies  nicht  einfach  und  deutlich 
sagt,  3)  kann  man  doch  nicht  in  der  Anwendung  des  Wissens  auf  Künf- 
tiges das  Charakteristische  der  Tapferkeit  erblicken.  Denn  die  Anwen- 
dung des  Wissens  auf  Künftiges  ist  nichts  anderes  als  die  Betätigung 
der  Tugend,  d.  h.  jeder  Tugend,  nicht  etwa  bloß  der  Tapferkeit.  Wenn 
ich  gerecht  handle,  weil  ich  von  der  Überzeugung  ausgehe,  daß  jede 
Übeltat  ihre  Strafe  findet ,  bin  ich  da  tapfer?  Heinrich  Gomperz  scheint 
mir  ebenso  wie  sein  Vater,    der  den  „Laches"  (und  den  „Charmides") 


*)  Lach.  p.  199  d. 

2)  Archiv  f.  Geschichte  d.  Philosophie  XIX,  527. 

')  Man  komme  mir  nicht  mit  der  Fabel,  Piaton  habe  ursprünglich  die  sokratische 
Methode  befolgt,  welche  die  Gespräche  gewöhnlich  mit  dem  Eingeständnis  des  Nichtwissens 
endete.  Denn  resultatlos ,  d.  h,  ohne  daß  die  Hauptfrage  eine  entschiedene  Beantwortung 
erführe,  verlaufen  meines  Wissens  nur  der  ,.Laches''  und  der  „Charmides",  eben  weil  sie 
vorwiegend  polemischen,  d.  i.  negativen  Charakters  sind.  In  den  anderen  Schriften  vermag 
eine  aufmerksame  und  scharfsinnige  Erklärung  ohne  Künstelei  ein  Ergebnis  fest- 
zustellen. 

4* 


—    52    — 

dem  „Protagoras*'  vorausgehen  läßt  ^) ,  die  Tragweite  der  Polemik  im 
„Ladies"  entschieden  zu  unterschätzen.  Man  darf  auch  nicht  übersehen, 
daß  die  Bedenken  gegen  die  Auffassung  der  Tapferkeit  als  des  Wissens 
vom  Furchtbaren  und  Nichtfurchtbaren  sehr  gegründet  sind.  Ist  denn 
derjenige  überhaupt  tapfer  zu  nennen,  der  etwas  Furchtbar-Erscheinen- 
des  auf  sich  nimmt,  weil  er  weiß,  daß  es  in  Wahrheit  gar  nicht  furcht- 
bar ist?  Wir  mögen  ihn  weise,  klug  u.  ä.  nennen;  aber  tapfer?  Und 
dieses  Bedenken  soll  Piaton  dann  später,  als  er  den  „Protagoras" 
schrieb,  ignoriert  haben?  Ich  glaube  kaum;  auch  sehe  ich  nicht,  was, 
wenn  wirklich  zwischen  dem  ,.Protagoras*'  und  dem  „Laches"  in  dieser 
Frage  kein  Widerspruch  vorliegt,  Piaton  veranlaßt  haben  kann,  die- 
selbe Frage  zweimal  im  gleichen  Sinne  zu  behandeln.  Daß,  wie  Zeller  2) 
vermutet,  der  Satz  von  der  Einheitlichkeit  der  Tugend  als  das  Ergebnis 
des  „Laches"  anzusehen  sei,  ist  auch  nicht  glaublich:  denn  es  wäre 
doch  sehr  sonderbar,  wenn  die  Definition  der  Tapferkeit  gesucht  und 
die  Einheitlichkeit  der  Tugend,  also  etwas  völlig  Verschiedenes,  gefunden 
würde;  auch  ist  die  Polemik  gegen  die  Definition  der  dvögeia  aus  dem 
„Protagoras"  viel  zu  nachdrücklich ,  als  daß  ihr  weiter  keine  Beach- 
tung zukäme.  Ich  setze  mich  also  ruhig  dem  Vorwurf  der  Oberflächlich- 
keit aus,  den  Bonitz  ^)  zunächst  gegen  Schaarschmidt  geschleudert  hat, 
weil  dieser  auf  den  Widerspruch  zwischen  dem  „Laches"  und  dem 
letzten  Teil  des  „Protagoras"  hinwies.  Es  fällt  mir  freilich  nicht  ein, 
aus  diesem  Widerspruch  mit  Schaarschmidt  die  Unechtheit  des  „Laches'' 
folgern  zu  wollen;  ebensowenig  allerdings  mit  Ernst  Horneffer*)  darin 
eine  von  Piaton  versuchte  Widerlegung  der  sokratischen  Tugend- 
wissenslehre (!)  zu  erblicken.  Ich  sehe  vielmehr  darin  nur  den  Beweis, 
daß  Piaton  mit  dem  Problem,  in  welchem  Verhältnis  die  Einzeltugen- 
den zur  Gesamttugend  stehen,  anhaltend  und  schwer  gerungen  hat. 
Dieses  Problem  bestand  für  ihn  noch  nicht,  da  er  den  „Protagoras" 
schrieb;  im  „Charmides"  und  „Laches"  ist  es  ihm  in  seiner  ganzen 
Schärfe  zum  Bewußtsein  gekommen,  doch  ringt  er  mit  den  Schwierig- 
keiten noch  vergebens:  er  hält  zwar  an  der  Tugendwissenslehre  fest 
—  darauf  muß  Horneffer  gegenüber  nachdrücklichst  hingewiesen 
werden  — ,  aber  die  Form,  die  ihr  von  Sokrates  gegeben  wurde  und 
die  noch  im  „Protagoras"  vorzuliegen  scheint,  befriedigt  ihn  nicht 
mehr;  gelöst  ist  das  Problem  erst  im  „Gorgias",  und  zwar  mit  Hilfe 
der  pythagoreischen  Psychologie  und  der  auf  ihr  fußenden  Lehre  von 


^)  Gr.  Denker  IT,  250;  desgleichen  H.  Eaecler,   Piatons   philosophische  Entwicklung. 

'')  Philos.  der  Griechen  II  *,  p.  598*    und  5991. 

ä)  Piaton.  Studien   3,  p.  219,  A.  2. 

*)  Piaton  gegen  Sokrates,  Leipzig  1904. 


—    53    — 

der  Dreiteilung  der  Seele ,  wie  ich  bereits  in  meinem  Aufsatz  „Das 
Problem  des  platonischen  Symposion"  ^)  p.  12  kurz  bemerkt  und  in  einer 
im  Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  demnächst  erscheinenden 
Abhandlung  über  den  platonischen  „Gorgias"  ausführlich  auseinander- 
gesetzt habe. 

Wenn  es  nun  immerhin  befremden  konnte,  Piaton  in  den  beiden 
Dialogen  „Laches*'  und  ,.Charmides*'  gegen  Sokrates  polemisieren  zu 
sehen,  so  gebührt  Joel  das  Verdienst,  diese  Bedenken  entkräftet  zu 
haben.  Es  gelang  ihm  zu  zeigen ,  daß  jene  Partien ,  in  denen  Piaton 
den  historischen  Sokrates  zu  bekämpfen  schien,  in  Wahrheit  gegen 
Antisthenes  gerichtet  sind.  Dies  geht  aus  folgendem  hervor:  Sokrates 
sagt  im  „Laches*'  197  d ,  Mkias  habe  seine  feine  Unterscheidung  der 
Begriffe  S-gaoig  und  dvÖQeiog  von  Dämon,  der  seinerseits  wieder  sehr 
genau  mit  Prodikos,  dem  berühmten  Sjnonymiker,  bekannt  sei. 
Diesen  Dämon  hat  nun  Sokrates  dem  Mkias  als  Lehrer  seiner  Kinder 
empfohlen  (180  d).  Gegen  Schluß  der  Unterredung  (200  a)  spottet 
Laches  darüber,  daß  die  Weisheit  des  Dämon  sie  nicht  zu  dem  er- 
sehnten Ziel,  zu  der  Erkenntnis  des  Wesens  der  Tapferkeit  geführt 
habe,  wogegen  Xikias  den  Dämon  verteidigt  und  erklärt,  er  glaube, 
die  Sache  bereits  hinlänglich  aufgeklärt  zu  haben,  doch  werde  er, 
falls  noch  Bedenken  bestünden,  mit  der  Hilfe  Dämons  und  anderer 
seine  Auffassung  berichtigen  (200  b).  Die  geheimnisvolle  Rolle,  die  da 
der  Musiker  Dämon  spielt,  wird  mit  einem  Schlage  klar,  wenn  wir 
Tins  vor  Augen  halten ,  daß  Dämon  Lach.  197  d  in  Verbindung  mit 
Prodikos  und  dieser  wieder  von  Xenophon  Conv.  IV,  62  in  enge  Be- 
ziehung mit  Antisthenes  gebracht  wird,  und  wenn  wir  ferner  bedenken, 
was  Joel  über  den  Onomatologen  Prodikos  bei  Piaton  sagt:  die  An- 
sicht, welche  Xikias  im  „Laches"  mit  Zuhilfenahme  der  prodikeischen 
Synonymik  verficht  und  die,  obwohl  sie  im  „Protagoras"  als  sokratisch 
auftritt,  von  Piaton  bekämpft  wird,  gehört  keinem  anderen  als  Anti- 
sthenes; 2)  und  sollte  dieser  selbst  mit  der  im  Laches  bekämpften  An- 
sicht nur  an  der  Meinung  des  historischen  Sokrates  festgehalten  haben 
—  eine  Annahme,  die  ja  der  „Protagoras"  nahe  legt  — ,  so  konnte 
Piaton  dem  immerhin  in  der  Person  des  Sokrates  entgegentreten,  da 
er  eben  als  Fortbildner  der  sokratischen  Lehre  viel  mehr  im  Geiste 
des  Sokrates  zu  verfahren  glaubte  als  Antisthenes,  der  der  Lehre  des 
Meisters  wortwörtlich  treu  blieb.  Darauf  scheinen  auch  die  Worte  201  a 
hinzuweisen,    wo    Sokrates  verlangt,    man   müsse    in    der    allgemeinen 


*)  Im  Jahresbericht  des  k.  k,  Sophiengymnasiums  zu  Wien  1906. 
«)  Joel,  a.  a.  0.  II,   141,  A.  4. 


—    54    — 

Verlegenheit  den  besten  Lehrer,  SidaoKaXov  (hg  agiarov^  suchen.  Sollte 
damit  ein  anderer  gemeint  sein,  als  Piaton  selbst?  i) 

Das  gleiche  Licht  wie  über  den  „Laches"  hat  Joel  auch  über 
den  „Charmides"  gebreitet.  Wie  in  jenem  die  ävÖQela,  so  wird  in  diesem 
die  acücpQoavvrj  erfolglos  gesucht,  da  sich  jene  Definition,  die  wir  als 
sokratisch  ansprechen  müssen,  owg)QOGvvri  =  zä  eavTov  TtQdtteiv^  als  un- 
zulänglich erweist.  Auch  hier  hat  Joel  gezeigt,  daß  jene  scheinbar 
sokratische  Definition  in  Wahrheit  dem  Antisthenes  gehört  hat.  2)  Die 
Rolle  des  Nikias  im  „Laches"  spielt  im  „Charmides"  Kritias.  Er  ver- 
tritt die  antisthenische  Auffassung  des  äyad-öv  =  ol^elov  und  des  tzqüct- 
TEiv  =  /coielv  des  dyad-ov,  ^)  zeigt  sich  also  als  Synonymiker,  wodurch 
sich  Sokrates  an  Prodikos  erinnert  fühlt  (163  d).  Es  wird  also 
auch  im  „Charmides"  nicht  der  historische  Sokrates  bekämpft,  sondern 
der  antisthenische.  Natürlich  bleibt  auch  hier  die  bereits  bezüglich  des 
„Laches"  erwähnte  Möglichkeit  bestehen,  daß  die  von  Piaton  bekämpfte 
antisthenische  Ansicht  zugleich  die  des  historischen  Sokrates  gewesen 
ist;  aber  jedenfalls  spricht  schon  vom  psychologischen  Standpunkt  die 
größere  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  Piatons  Polemik  mehr  als  dem 
toten  Sokrates  dem  lebenden  Antisthenes  gilt.  Für  die  Entwicklung 
der  platonischen  Philosophie  ist  es  allerdings  im  Grunde  ziemlich  gleich- 
gültig, ob  die  Polemik  sich  mehr  gegen  den  antisthenischen  oder  gegen 
den  historischen  Sokrates  gerichtet  hat. 


^)  DesAvegen   wurde    der  „Laches"  natürlich  noch  nicht   die  Akademiegründung  vor- 
aussetzen. 

*)  A.  a.O.  II,  140. 

8)  Außer  der  eben  zitierten  Stelle  vgl.  noch  I,  356,  A.  1  u.  II,  1134. 


Die  Geclankenabfolge  Inder  pseudoxenophontischen 
'Ad-fivaim  ^oXcTcia  und  die  Umstellungsversuche. 

Von 
M.  NISTLER. 


Von  den  vielen  Problemen,  welche  die  unter  Xenoplions  Namen 
überlieferte  Schrift  vom  Staate  der  Athener  brachte,  war  das  meist- 
umstrittene die  Frage,  ob  die  von  den  Handschriften  gegebene  Reihen- 
folge der  einzelnen  Paragraphen  auch  der  vom  Autor  getroffenen  Anord- 
nung entspreche.  Da  bei  der  Untersuchung  der  Frage  sich  ergab,  daß 
den  Forderungen  nach  streng  logischer  Deduktion,  die  von  den  ein- 
zelnen Gelehrten  an  den  Aufbau  des  Werkes  gestellt  wurden,  nicht 
entsprochen  sei,  wenn  die  Überlieferung  beibehalten  werde ,  so  suchte 
man  diesem  Mangel  durch  verschiedene  Umstellungsversuche  abzu- 
helfen. Erst  Kaiinka  (Prolegomena  zur  pseudoxenoph.  J4ürivalwv  Ttoh- 
xeia,  Wien.  Stud.  XVIII,  1896,  S.  27  ff.)  hat  diese  Umstellungsversuche 
entschieden  abgelehnt  und  den  Wert  der  überlieferten  Anordnung 
endgültig  bewiesen. 

Wenn  ich  trotzdem  dieses  Problem  in  breiter  Ausführlichkeit 
wieder  aufnehme,  so  hat  mich  dazu  die  Überzeugung  bestimmt,  daß 
Kalinkas  Ansicht  von  der  Richtigkeit  der  Überlieferung  durch  Klar- 
legung der  Ideenassoziation  zwischen  den  einzelnen  Paragraphen  und 
den  einzelnen  Kapiteln  besser  gestützt  werden  kann  als  durch  seine 
Annahme,  daß  wir  in  dem  Werkchen  ein  „lockeres  Aggregat  einzelner 
nebeneinander  gestellter  Argumente  zu  gewärtigen  haben".  Dazu  kommt 
die  Tatsache,  daß  ich  an  mehreren  Stellen  in  der  Einzelinterpretation 
zu  einem  anderen  Resultate  kam  als  Kaiinka,  eine  Stellungnahme  aber 
deswegen  für  nötig  hielt,  weil  zwischen  der  Ansicht  Kalinkas,  die  er 
in  den  Prolegomena  niederlegte ,  und  der  in  der  Editio  durch  die 
Texteskonstruktion  zum  Ausdruck  gekommenen    mehrfach    Differenzen 


—    56    — 

bestehen.  Schließlich  ergab  sich  mir  eine  völlig  andere  Auffassung 
der  Stellung  der  einzelnen  Kapitel  zum  Thema. 

Die  ältere  Literatur,  auf  die  zurückzugreifen  ich  wenig  Anlaß 
hatte,  habe  ich  hier  nicht  angeführt,  weil  sie  Kaiinka  in  der  Praefatio 
zu  seiner  Ausgabe  p.  8  ff.  vollständig  gegeben  hat.  Nach  Kalinkas 
Prolegomena  erschienen  1907  von  Gustav  Hofmann  „Beiträge  zur 
Kritik  und  Erklärung  der  pseudoxenophon tischen  Athen,  polit."  [=  zweiter 
Teil  des  Programms  des  kgl.  Maximilians-Gymnasiums  (in  München) 
für  das  Schuljahr  1906/07] ,  die  sich  mit  der  Interpretation  einzelner 
Stellen  befassen.  ^) 

Über  die  ersten  10  Paragraphen  ist  es  leicht,  sich  zu  einigen.  Der 
Autor  bringt  als  ersten  Beleg  für  seine  Behauptung  cog  el)  diaac^^avTai 
TTjv  Ttohreiav  die  Tatsache,  daß  in  Athen  der  Demos  und  die  Armen 
vor  den  Edlen  und  Reichen  bevorzugt  werden.  Da  jene  es  seien,  welche 
dem  Staate  seine  Macht  verschaffen,  so  sei  es  nur  billig,  daß  sie  An- 
spruch hätten  auf  die  Rechte  eines  Bürgers,  damit  Zutritt  zu  allen 
Ämtern,  unbeschränkte  Betätigungsfreiheit  in  Rat  und  Volksversamm- 
lung. Daß  aber  der  Demos  in  Wirklichkeit  nicht  zu  allen  Ämtern 
Zutritt  habe,  sei  keine  Verletzung  des  Gleichheitsprinzipes ,  sondern 
nur  ebenfalls  ein  Mittel,  den  demokratischen  Staat  in  seiner  Macht 
zu  erhalten.  Denn  würde  jeder  auch  jene  Ämter  bekleiden  dürfen, 
zu  denen  eine  gewisse  Befähigung  notwendig  ist,  so  würde  aus  einem 
solchen  Zustande  bei  ungeeigneter  Besetzung  der  Stellen  dem  Staate 
bald  der  schwerste  Nachteil  erwachsen.  Der  Demos  verlangt  für  sich  nur 
jene  Ämter,  die  ihm  materiellen  Nutzen  bringen.  Die  Bevorzugung  des 
Demos  vor  den  Edlen  zur  Stärkung  der  Demokratie  erfolgt  aber  nicht 
bloß  in  der  Ämterfrage,  sondern  überhaupt  in  allen  Stücken; 2)  das 
tun  die  Athener  mit  Überlegung,  denn  der  natürliche  Gegensatz 
zwischen  arm  und  reich,  vornehm  und  gering  verlangt  in  einer  Demo- 
kratie zu  deren  Sicherung  die    durchgängige  Bevorzugung    des  Demos. 

In  §§  6 — 10  gibt  dann  der  Verfasser  in  Form  einer  Widerlegung 
eines  Einwurfes  die  Begründung,  warum  in  einer  Demokratie  allge- 
meine Redefreiheit  herrschen  müsse. 

Kaiinka  (a.  a;  0.  36)  mißt  den  Worten  von  I,  2,  eine  zu  große  Bedeu- 
tung zu.  Schon  durch  diesen  Paragraphen  würden  wir  darauf  vorbereitet, 
daß   wir   statt    einer   wissenschaftlich    gegliederten    und    abgerundeten 


*)  Der  Vollständigkeit  halber  sei  noch  verwiesen  auf  den  Bericht  von  E.  Ullrich 
über  Xenophon  in  dem  Jahresber.  d.  philol.  Vereins  zu  Berlin  1904,  S.  63—224. 

^)  Kaiinka  hat  im  Anschlüsse  an  Rettig  überzeugend  die  Übersetzung  von  vcavTayov 
„in  allen  Stücken"   als  die  an  unserer  Stelle  einzig  mögliche  erwiesen. 


fr 


—    57    — 

Studie  ein  lockeres  Aggregat  einzelner,  nebeneinander  gestellter  Ar- 
gumente zu  gewärtigen  hätten.  Insbesondere  seien  aber  die  Worte 
deshalb  bedeutungsvoll,  weil  der  damit  eingeleitete  Gredanke  nicht  ein- 
mal ein  Argument  der  angekündigten  Beweisführung  sei,  sondern  eher 
eine  auf  den  Anfang  der  Einleitung  zurückgreifende  Vorfrage  er- 
ledige, nämlich  die .  ob  denn  überhaupt  und  warum  die  Bevorzugung 
der  großen  Masse  vor  dem  Adel,  wie  sie  im  Wesen  der  athenischen 
Demokratie  liege,  berechtigt  sei.  Beide  Behauptungen  scheinen  mir 
unberechtigt.  Das  von  Kaiinka  bemerkte  Vorausempfinden  der  lockeren 
Aneinanderreihung  der  i^rgumente  ist  durch  tvqcütov  (.lev  ovv  absolut 
nicht  gegeben,  es  könnte  jede  wissenschaftliche  Untersuchung  damit 
beginnen.  Die  Bevorzugung  der  großen  Masse  vor  dem  Adel  ist  gewiß 
ein  Argument  der  angekündigten  Beweisführung,  der  Gedankengang 
ist  höchst  einfach:  die  Behauptung,  wg  ed  diaai^l^ovvai  rrjv  Ttohreiav 
( =  demokrat.  Verfassung)  wird  trefflich  gestützt  durch  den  Satz :  daher 
begünstigen  sie  auch  die  große  Masse  vor  dem  Adel.  Also  die  Be- 
günstigung der  großen  Masse  ist  eine  konsequente  Folgerung  aus  dem 
demokratischen  Prinzipe.  Kalinkas  Auffassung  geht  aus  seiner  an 
dieser  Stelle  gemachten  Texteskonstruktion  ^)  hervor :  on  dixaUog  avvoS-i 
y,al  (^cpahoviaiy  ol  7iev}jTeg  xal  6  dfjfiog  TtXeov  ex^iv  tcov  yevvalcov  '/mI  tcov 
Ttkovoicov.  d.  h.  nach  Kalinkas  eigenen  Worten :  „daß  es  auch  wirklich 
den  Anschein  habe  (nicht  bloß  eine  grundlose  Einbildung  des  attischen 
Demos  ist) ,  daß  in  Athen  mit  Recht  die  Armen  und  überhaupt  die 
Masse  den  Vorzug  haben  vor  den  Vornehmen  und  den  Reichen.*' 

Dem  Autor  kommt  es  ja  gar  nicht  an  auf  die  Konstatierung 
eines  berechtigten  oder  unberechtigten  Anscheines,  sondern  vielmehr 
auf  die  Konstatierung  der  Tatsache ,  und  daß  diese  berechtigt  ist  als 
notwendige  Folge  des  demokratischen  Prinzips.  Die  einfachste  Kon- 
jektur ist  doch,  das  überlieferte  ex^iv  in  s'xei  zu  ändern,  das  uns  von 
M  geboten  wird.  ^)  Die  anstößige  Koordinierung  der  TtevTjTeg  und  des 
6ri(.iog  wird  gedeckt  durch  I,  4,  2  (vml  TtevTqGi  y.ai  drif.wTr/.o'ig)  und  II, 
18,  6  (oXiyoi  ÖS  TLveg  twv  TievrJTcov  xal  driuoTLy.cdv).  Vielleicht  ging  diese 
Koordinierung  der  Begriffe  hervor  aus  dem  Streben  des  Autors  nach 
Deutlichkeit  und  Vollständigkeit;  denn  Tatsache  ist,  daß  unter  dri/nog 
die  Tttvr^ieg  nicht  ganz  subsumiert  werden  können,  ebensowenig  wie 
die  "/evvaioL  unter  TtlovaioL.  Bei  der  Annahme  der  Konjektur  exet 
bekommt  die  Stelle  erst  ihre  richtige  Bedeutung :    die  Armen  und  der 


*)  Er  hat  sie  aber  in  der  ein  Jahr  später  erschienenen  Ausgabe  wieder  fallen  gelassen. 
2)  Zu  dem  eklektischen  Prinzipe  sind  wir  durch  das  Wertverhältnis  der  codd.  A,  (B), 
C,  M  zueinander  berechtigt. 


—    58    — 

Demos  genießen  mit  vollem  Rechte  ihre  Begünstigungen,  denn  sie  sind 
es,  die  dem  Staate  seine  Macht,  sein  Leben  erhalten. 

Nach  den  freien  Bürgern  kommen  naturgemäß  die  Sklaven  und 
Metöken  an  die  Reihe :  I,  10  tcov  dovXcov  d^  av  ^)  y,al  tcov  f.iexoi'Kwv 
TtleiGTTi  eartv  Jdd-i^vriotv  duokaaia.  Der  Gedankenfortschritt  und  Zusammen- 
hang ist  hier  zu  fast  allgemeiner  Übereinstimmung  klargestellt.  Dagegen 
hat  der  in  der  Überlieferung  folgende  Abschnitt  I,  13,  welcher  vor 
die  Behandlung  der  Bundesgenossen  eingeschoben  ist,  seit  jeher  große 
Schwierigkeiten  gemacht.  Sie  liegen  einerseits  in  der  Erklärung  des 
yv^vaCöuevoL  und  tyjv  juovaiy,rjv  STtirrjSevovTeg,  nach  deren  Fixierung  erst 
die  Frage,  ob  das  in  der  Überlieferung  hier  stehende  Stück  auch  die 
ursprüngliche,  ihm  vom  Autor  gegebene  Stelle  inne  hat,  beantwortet 
werden  kann,  anderseits  in  der  Gestaltung  und  Interpretation  des 
partizipialen  Beisatzes.  Dazu  kommt  noch  als  erschwerend,  daß  über 
die  im  Text  erwähnten  Vorgänge  uns  die  antiken  Quellen  im  Stiche 
lassen.  Ausnahmslos  wurde  versucht,  die  Klärung  des  ersten  Satzes 
im  §  13  losgelöst  aus  seiner  Umgebung,  manchmal  noch  mit  Rücksicht 
auf  das  Vorangehende,  aber  immer  ohne  Berücksichtigung  des  Nach- 
folgenden zu  geben.  Da  aber  weder  Text  noch  Inhalt  gesichert  sind  — 
nur  soviel  ist  klar,  daß  es  sich  um  eine  der  Ausübung  musisch- 
gymnastischer Künste  feindliche  Aktion  des  athenischen  Demos 
handelt  —  halte  ich  einen  derartigen  Versuch  für  aussichtslos.  Der  darauf- 
folgende Satz  aber  ,Jv  Talg  x^Q^y'^^'-S  •  •  •  bis  ylyvcuvTar^  bezeichnet 
sich  schon  sprachlich  als  Gegensatz  des  ersten  Satzes,  und  da  hier 
Text  2)  und  Inhalt  gesichert  sind,  muß  hier  die  Untersuchung  einsetzen 
und  das  erste  Glied  des  Gegensatzes  aus  dem  zweiten  Glied  rekon- 
struieren. Nun  steht  im  2.  Satze  nichts  anderes,  als  daß  der  Demos 
seine  feindselige  Haltung  nicht  betätigt  bei  Choregien  etc.,  da  er  sieht, 
daß  er  hier  selbst  herangezogen  wird  und  materielle  Vorteile  davon 
hat.  Es  bleibt  also  für  den  Gegensatz :  der  athenische  Demos  be- 
tätigt seine  feindliche  Haltung  dort,  wo  er  nicht  herangezogen  wird  und 
keine  materiellen  Vorteile  davon  hat,  wo  er  einer  Konkurrenz  ausgesetzt 
ist.  der  er  nicht  die  Spitze  bieten  kann.  Diese  Konkurrenten  können 
aber  weder  die  3f^r?(7zrot  und  tcXovölol  sein ,  denn  der  Autor  gibt  ja 
selbst  an,  daß  (II,  10)  die  Reichen  nicht  in  der  Ausübung  musisch- 
gymnastischer  Künste   gehindert   werden,    noch   dem  Hauptteile   nach 


^)  Die  aus  dem  av  von  Kirchhoff  gezogenen  Schlüsse  auf  das  Vorhandensein  einer 
Lücke  vor  §  6  sind  als  nichtig  erwiesen  von  Eettig  246. 

^)  Daß  es  heißen  muß  xal  yvfxvaaiaQXOvaiv  oi  nXovaioi  xal  xQirjQaQXOvatv,  6  6s  öfjfiog 
etc.  ist  ganz  klar;  daß  TQirjQaQxovaLv  in  A  und  M  ausfallen  konnte,    ist  leicht   erklärlich. 


—    59    — 

der  Demos,  denn  damit  wäre  ja  der  in  I,  13  ausgesprochene  Gegen- 
satz zwischen  Siiuog  als  dem  verfügenden  Teil  und  dem  nicht  zum  dfjfxog 
gehörigen  als  von  der  Verfügung  betroffenen  Teil  wieder  aufgehoben. 
Die  Konkurrenten  müssen  also  Nichtathener  sein  (das  ist  Metöken  und 
Sklaven),  und  zwar  solche,  die  die  Ausübung  der  angegebenen  Künste 
als  Profession  betreiben.  Die  Auffassung  der  yvuvaLÖiievoL.  als  pro- 
fessionell Ausübender  wird  gestützt  durch  die  Bedeutung  der  Parti- 
cipia  praesentis  und  durch  die  Interpretation  des  partizipialen  Bei- 
satzes, in  welchem  der  Grund,  resp.  die  Gründe  für  das  Verhalten  des 
Demos  angegeben  werden.  Ich  will  zuerst  den  mit  yvovg  on  einge- 
leiteten vornehmen.  Überliefert  ist  sowohl  öwarog  (C)  als  dwazd  (A,  M). 
Wie  oben  bemerkt  wurde,  hat  der  Sfif^og  den  musisch-gymnastischen 
Künsten  gegenüber  ein  anderes  Verhalten  bei  den  Choregien  etc.,  weil 
er  erkennt,  daß  er  hier  selbst  herangezogen  wird  und  materielle  Vor- 
teile hat ;  Konkurrenten  aber  gegenüber,  welche  die  Künste  professions- 
mäßig betreiben,  geht  der  Demos  feindlich  vor.  Der  Grund  dafür  in 
den  mit  yvovg  oti  eingeleiteten  Worten  kann  eben  nur  sein :  weil  der 
Sfiiuog  erkennt,  daß  er  diese  Künste  nicht  professionsmäßig  betreiben 
kann,  nicht  etwa  wegen  geistiger  oder  körperlicher  Unfähigkeit,  sondern 
einfach  der  gegebenen  Verhältnisse  wegen,  meist  natürlich,  weil  der 
größte  Teil  des  Demos  gezwungen  ist,  sich  in  der  Zeit,  da  er  derartige 
Übungen  vornehmen  sollte,  sich  seinen  Lebensunterhalt  zu  verschaffen. 
Die  Wenigen  aber,  die  es  sich  gestatten  könnten,  die  Kosten  für  die 
Erlernung  auszugeben  und  auch  genug  Zeit  und  Muße  zur  Übung 
hätten,  würden  eben  dadurch,  daß  es  nur  wenige,  nicht  aber  alle  sind, 
das  demokratische  Prinzip  durchbrechen.  Damit  scheint  mir  die  Lesart 
dvvarog  gesichert  zu  sein.  Kaiinka,  der  meint  (a.  a.  0.  39),  daß  eine  so 
absprechende  Selbstkritik  des  Volkes  hier  nicht  enthalten  sein  könne, 
weil  unmittelbar  danach  die  aktive  Beteiligung  desselben  Volkes  an 
den  choregischen  und  gymnasiarchischen  Aufführungen  betont  wird, 
hat  die  Lesart  Sward  verteidigt.  Er  hat  aber  das  övvaTog  eben 
auf  die  Befähigung,  nicht  aber  auf  die  durch  die  Umstände  bedingte 
Unmöglichkeit,  resp.  Möglichkeit  bezogen,  i)  Eine  weitere  Schwierigkeit 
bot  der  erste  Partizipialsatz  wegen  des  zaAoV.  Durchwegs  wurde  hier 
'/,ak6v  als  „geziemend,  schön''  aufgefaßt;  man  geriet  damit  aber  in  eine 
heikle  Situation.  Sollte  diese  Begründung  ernst  genommen  werden, 
so  mußte  man  annehmen,  der  Autor  habe  hier  dem  athenischen  Demos 
ethische  Gründe    unterschoben,    dies  widerspricht  aber  dem  Tenor  und 


*)  Kaiinka  hat  übrigens  in  seiner  Ausgabe  die  in  den  Prolegomena  vertretene  Lesart 
aufgegeben  und  övvaTÖg  aufgenommen. 


—     60    — 

Charakter  der  Schrift,  in  der  ja  alle  Entscheidungen  des  Demos  als 
rein  materiellen  Interessen  entsprungen  dargestellt  werden.  Man  suchte 
sich  daher  zu  helfen,  indem  man  ein  ov  vor  vo(.iilwv  einschob.  Das  ist 
sicher  verfehlt.  Wollte  man  aber  die  Begründung  als  nicht  ernst  ge- 
meint, sondern  als  Ironie  nehmen,  so  entstand  wieder  eine  Schwierig- 
keit: es  ließen  sich  die  beiden  Partizipien  syntaktisch  nicht  recht 
miteinander  vereinigen. 

Ich  glaube,  man  muß  hier  TiaXov  nicht  mit  ,, geziemend",  ,. schön", 
übersetzen,  sondern  mit  der  anderen  Bedeutung,  die  vmIov  ebenfalls 
hat,  nämlich  „nützlich,  praktisch",  ^j  Die  oben  angegebenen  Schwierig- 
keiten fallen  dadurch  weg  und  der  Sinn  der  Stelle  ist  dann:  Der 
Demos  von  Athen  hat  die  Verbände  ^)  derjenigen,  die  in  Athen  musisch- 
gymnastische Künste  professionsmäßig  betrieben ,  aufgelöst ,  weil  er 
glaubte,  daß  diese  Art  des  .Kunstbetriebes  für  den  Demos  nicht  nütz- 
lich sei,  da  er  erkannt  hat,  daß  er  selbst  zu  derartigem  Betriebe  nicht 
die  äußere  Möglichkeit  habe.  Der  Zusammenhang  zwischen  10 — 12  und 
13  ist  also  gesichert.  Hofmann  (a.  a.  0.  S.  14  ff.)  schließt  sich  der  von 
Lange  vorgeschlagenen  Emendation  an,  nämlich  statt  des  überlieferten 
ov  ein  avTÖg  einzusetzen,  und  verbindet  damit  die  Erklärung  des  yvjuva- 
^of^svovg,  wie  sie  Kaiinka  und  Wilamowitz  gegeben  haben.  Abgesehen 
davon,  daß  durch  seine  Annahme  der  Sinn  der  Stelle  banal  genug 
bleibt,  widerspricht  die  Textesänderung  dem  von  Hofmann  sonst  stets 
aufs  eifrigste  betonten  Grundsatze  des  strengen  Konservativismus. 

Der  Autor  fährt  nach  den  beiden  Sätzen  des  §  13  fort:  ev  ze 
Tolg  SiycaGTriQLOLg  ov  tov  diytaiov  avvolg  fiällov  ^leXei  ^  tov  amolg  ovu- 
(pÖQov.  Auch  hier  besteht  ein  enger  Zusammenhang.  Der  Autor  em- 
pfindet das  Vorgehen  der  Athener  als  eine  Ungerechtigkeit  und  er- 
klärt es  zugleich  als  höchsten  Egoismus,  wenn  der  athenische  Demos 
bei  den  Choregien  nur  Geld  nehmen  ^^dll,  damit  er  bekomme,  die 
B;eichen  aber  ärmer  würden.  Das  sei  zwar  praktisch,  aber  nicht  ge- 
recht. Doch  man  dürfe  sich  nicht  wundern,  selbst  im  Gerichtshofe 
siege  dieses  Streben  nach  materiellen  Vorteilen  über  das  allgemeine 
Rechtsbewußtsein. 


')  Für  diese  Bedeutung  von  xaköv  haben  wir  auch  aus  der  Zeit,  in  der  die  Schrift  abge- 
faßt wurde,  Beispiele:  So  Thuk.  III,  94  Ar] uoad-ev}]g  d'  ävajrsidevai  ....  vtio  Meaar]vuov  wg 
xakov  aviw  cTTQauäg  Tooamrjg  ^vveiXsyfievtjg  AhoiXoig  ijiideo&at;  Soph.  Phil.  1155  vvv 
xaXov  ävTL(povov  xoQeaat  atöfia;  Soph.  El.  384  Nvv  ya.Q  iv  xaXco  rpQovelv;  Thuk.  V,  59 
äyX  EV  y.aXcp  iSoy.ei  f]  ftdxf]  eaead-ai,  wozu  der  Scholiast  bemerkt  iTii  av^cpeQOvxi.  Xen. 
Hell.  IV,  3,  5  vofiiaavTsg  odx  iv  xaXco  elvat  TiQog  rovg  ÖTcXCiag  iJtTio/iiaxeTv. 

^)  Das  xttTaXveiv  lovg  yvf^vaCof^epovg  setzt  organisierte  Verbände  voraus. 


—    61    — 

Mit  §  14  beginnt  ein  neuer  Abschnitt ,  den  man  Ttegl  ovfAf-idywv 
überschreiben  könnte.  Der  Autor  bespricht  in  14  und  15  die  Stellung- 
nahme Athens  zwischen  den  beiden  großen  politischen  Parteien  in  den 
einzelnen  Bundesstädten,  den  Demokraten  und  Aristokraten,  und  er- 
klärt die  Parteinahme  des  athenischen  Demos  für  die  demokratischen 
Parteien  in  den  Bundesstädten  als  ganz  konsequent;  denn  im  gegen- 
seitigen Falle  dUyiGTOv  ;f^oror  ^  ccQxrj  saxat  xov  örn-iov  tov  Md-rjvriGL. 
Für  ebenso  konsequent  erklärt  er  auch  die  Unterdrückung  und  mate- 
rielle Schädigung  der  Aristokratie  in  den  Bundesstädten,  eine  Konse- 
quenz, die  auch  gegen  den  etwaigen  Einwand  völlig  geschützt  werde, 
es  müsse  doch  Athen  daran  gelegen  sein,  die  Bündner  möglichst  steuer- 
kräftig zu  erhalten. 

Von  §  16  an  ist  die  Ausführung  dem  Verhältnis  zwischen  Athen 
und  den  Bundesstädten  überhaupt  gewidmet,  es  findet  allerdings  nur 
der  Gerichtszwang  seine  Behandlung. 

Punkt  für  Punkt,  sprachlich  deutlich  gekennzeichnet  (t^cqcotov  uiv^ 
eira,  Ttgbg  öi  rovjoLg ,  ^Qbg  de  Tovroig)  werden  die  Vorteile,  die  der 
athenische  Demos  aus  dieser  Einrichtung  zieht,  aufgezählt.  Das  Volk 
erzielt  durch  den  Gerichtszwang  nach  Athen  viel  größere  Unterwürfigkeit 
jedes  einzelnen  Bundesgenossen  gegenüber  jedem  Angehörigen  des 
attischen  Demos,  während  sonst  nur  denjenigen,  die  in  amtlicher 
Stellung  als  Vertreter  Athens  zu  den  Bundesgenossen  kommen .  diese 
Ehrerbietung  gezollt  werde. 

Die  anschließenden  Worte  des  §  19  ^Qog  de  rovroig  Sid  zrjv 
y,T7iöiv  bis  Kap.  II  gaben  vorerst  Anstoß  zu  Bedenken  über  den  Zu- 
sammenhang und  damit  zugleich  zu  Texteskonjekturen.  Man  fand  es 
auffällig,  daß  der  Autor,  der  in  den  unmittelbar  vorangehenden  §§  16 
bis  18  von  dem  Gerichtszwange  gesprochen,  auf  einmal  ohne  jeden 
Übergang  die  aus  den  überseeischen  Besitzungen  hervorgehenden  Vor- 
teile erwähnt.  Bezüglich  des  Inhaltes  wurde  schon  von  Eettig  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  der  Autor  diese  ZTijdftg  ev  rölg  vTreQOQioig 
schon  §  14  erwähne  und  dort  gegen  etwaige  Kritik  schütze.  Bezüglich 
der  sprachlichen  Form  der  Anknüpfung  hat  zuerst  Kaiinka  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  diese  unverkennbare  Art  der  Aufzählung 
von  16 — 20  TiQtoTOv  fiev,  eira,  Ttqhg  de  Tovroig,  Ttqog  de  Tovroig ,  Ttobg 
de  TovToig  die  Zusammengehörigkeit  aller  dieser  Glieder  sichere.  Es 
ist  allerdings  nicht  zu  leugnen,  daß  I,  19  inhaltlich  sich  nicht  direkt  an 
die  unmittelbar  vorhergehende  Erörterung  über  die  Gerichtshoheit 
Athens  anschließt;  es  ist  aber  leicht  begreiflich,  daß  der  Autor  in 
freierer  Bezugnahme  auf  das  in  Rede  stehende  Thema  /reQl  zcov  aviuLid- 
/wv  den  Vorteil  nautischer  iVusbildung   anreiht,    der  sich    infolge    des 


—     62     — 

schon  I,  15  beiläufig  erwähnten  Besitzes  von  Kleruchien  und  der  Not- 
wendigkeit, wiederholt  staatliche  Funktionäre  zu  den  Bundesgenossen 
zu  entsenden  (I,  18),  von  selbst  als  erfreuliche  Nebenwirkung  einstellte. 
Bei  dieser  Annahme  ist  also  der  Zusammenhang  und  zugleich  die  über- 
lieferte Lesart  yaTjOiv  gesichert.  Die  versuchte  Textesänderung  in  yJS]aiv 
ist  von  Kaiinka  als  aus  sachlichen  Grründen  unmöglich  abgetan  worden. 
—  Eine  für  die  Komposition  der  Schrift  wichtige  Tatsache  können 
wir  erkennen  in  den  §§  16 — 18,  an  deren  Reihenfolge  aufeinander  und 
innigen  Zusammengehörigkeit  noch  von  keiner  Seite  gerüttelt  wurde 
und  die  daher  sich  am  besten  zur  Demonstration  eignen.  Die  Art  der 
Aufzählung  der  Vorteile  des  Gerichtszwanges  zeigt  uns,  daß  der  Ver- 
fasser die  einzelnen  Glieder  der  Darlegung  einfach  nebeneinander  stellt, 
sowie  sie  sich  ihm  gerade  bieten,  ohne  sich  ihre  logische  Verknüpfung 
und  Anordnung  stets  angelegen  sein  zu  lassen.  Diese  Tatsache  allein 
hätte  genügen  können,  von  der  Forderung  nach  streng  logischem  Auf- 
bau der  Schrift  abzustehen,  wodurch  auch  die  meisten  Umstellungs- 
versuche vermieden  worden  wären. 

Es  ist  ganz  begreiflich,  daß  dem  Autor  bei  Behandlung  der  aus 
dem  Verkehr  mit  den  überseeischen  Besitzungen  sich  ergebenden  Aus- 
bildung und  Tüchtigkeit  zum  Seedienst,  bei  dem  Gedanken  an  die  Vor- 
trefflichkeit  der  athenischen  Marine  (I,  19,  20)  zugleich  auch  der  Ge- 
danke an  die  Landmacht  Athens,  an  das  Hoplitenheer  kommt;  damit, 
daß  dies  die  schwächste  Seite  der  Athener  zu  sein  scheint,  ist  es  nun 
in  der  Tat  so  bestellt.  Doch  wenn  sie  auch  gewissen  Landmächten 
nicht  gewachsen  sind,  ihren  Bundesgenossen  —  und  darauf  kommt  es 
ihnen  vor  allem  an  —  sind  sie  gewachsen  und  w^erden  noch  durch 
einen  günstigen  Umstand  unterstützt,  daß  nämlich  die  Bundesstädte 
durch  ihre  Lage  entweder  als  Inselstädte  oder  Festlandsstädte  ge- 
zwungen sind,  sich  den  Athenern  unterzuordnen.  Der  Zusammenhang 
ist  völlig  klar.  Belots  und  Kalinkas  Ansicht  von  der  versuchten 
logischen  Gliederung  der  Bündneruntertanen  in  ogol  vriaicoTal  elölv  und 
OTtooai  ev  TJj  rjTVEiQU)  eiol  TtoXeig  und  letztere  meder  in  große  und 
kleine  ist  ganz  zutreffend.  Wenn  aber  Kaiinka  meint,  daß  in  dem  Auf- 
geben dieser  logischen  Gliederung  im  weiteren  Verlaufe  etwas  von 
einer  Sophistik  darinliege,  die.  um  den  formellen  Eindruck  einer  rein- 
lichen und  scharfen  Einteilung  hervorzurufen,  lieber  die  sachliche  Treue 
opfere ,  so  ist  diese  Ansicht  nur  eine  Folge  von  seiner  Anschauung 
über  die  Form  des  Werkes.  Das  Aufgeben  der  logischen  Gliederung 
ist  vielmehr  der   Ungeübtheit  des  Autors  zuzuschreiben. 

Die  Erwägung,  daß  Athen  seinen  Bundesgenossen  genugsam  über- 
legen ist   durch    seine  Seemacht,    führen   den  Autor   zu   einem   neuen 


—    63    — 

Abschnitt,  der  von  den  Vorteilen  einer  Seemacht  handelt,  i)  Die  ein- 
zelnen Punkte  reihen  sich  deutlich  aneinander:  1.  Leichtere  Möglich- 
lichkeit,  im  feindlichen  Gebiete  zu  landen.  2.  Möglichkeit,  auf  längere 
Zeit  und  größere  Strecken  sich  von  der  Heimat  zu  entfernen.  3.  Mög- 
lichkeit, im  Falle  eines  Mißwachses  den  Schaden  durch  die  überseeischen 
Handelsverbindungen  zu  ersetzen.  ^) 

Es  ist  ganz  begreiflich  und  psychologisch  sehr  gut  erklärbar, 
daß  mit  dem  Gedanken  an  die  überseeische  Einfuhr,  welche  die  Gefahr 
eines  Mißwachses  in  Attika  aufheben  kann,  sich  zugleich  die  Vor- 
stellung von  anderen  Einfuhrartikeln,  von  Luxus-  und  Genußartikeln, 
welche  ebenfalls  mit  dem  Getreide  über  See  kamen,  verband.  Der 
Autor  kann  daher  nicht  umhin,  sie  anzuführen,  und  tut  dies  mit 
den  entschuldigenden  Worten  el  ds  Sei  xal  o/niyiQOTSQcov  uvrjad-rivaL  Siä 
Tjyr  (XQXrjv  TtQCOTOv  jitev  TQimovg  euwxuov  e^iqvqov  .  .  .  eTteiTa  g)a}vrjv 
näoav  d^ovovieg  e^eXi^awo  tovto  uev  i/.  r»]g  tovto  di  ey.  rfig.  Daß  der 
Autor  damit  die  Aufeinanderfolge  der  Hauptpunkte  unterbrochen  hat, 
ist  gewiß  nicht  zu  leugnen,  deswegen  aber  auf  eine  Lücke  oder  irgend 
einen  Mangel  in  der  überlieferten  Anordnung  der  einzelnen  Paragraphen 
schließen  zu  wollen,  ist  unstatthaft. 

Die  beiden  nächsten  Paragraphen  II,  9  und  10  waren  neben  I,  13, 
IL  17  und  dem  Schlüsse  der  ganzen  Schrift  die  meist  umstrittenen 
Stellen,  die  mit  Ausnahme  von  MüUer-Strübing ,  Rettig  und  Kaiinka 
von  allen  anderen  Gelehrten  als  nicht  an  der  gehörigen  Stelle  stehend 
bezeichnet  und  irgendwo  andershin  versetzt  wurden.  3)  Das  Sonderbare 
an  all  den  Umstellungsversuchen  ist  aber,  daß  sich  diese  zwei  Paragraphen 
dann  doch  nicht  hineinfügen  wollten  in  den  Zusammenhang,  in  den  man 
sie  brachte. 

Was  zunächst  Inhalt  und  Tendenz  der  beiden  Paragraphen  an- 
langt, so  hat  Kaiinka  mit  Recht  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  sie, 

^)  Bei  Kaiinka  vermisse  ich  sowohl  II,  1  als  auch  hier  die  psychologische  Erklärung 
für  den  Gedankenzusammenhang.  Denn  mit  den  Worten  (a.  a.  0.  S.  44):  „die  folgende  Dar- 
legung II.  4  ft".  ...  nimmt  ihren  Ausgangspunkt  davon,  daß  eine  Seemacht  sich  eben  so  gut 
und  noch  besser  als  eine  Landmacht  für  ge^visse  strategische  Operationen  zu  Lande  eigne", 
ist  doch  der  Zusammenhang  mit  dem  Vorangehenden  gewiß  nicht  gegeben. 

^)  Es  ist  durchaus  nicht  notwendig,  zwischen  den  Beispielen,  welche  zur  Bekräftigung 
eines  Behauptungssatzes  (in  unserem  Falle:  die  Seemacht  hat  mehr  Vorteile  als  die  Land- 
macht) dienen,  einen  logischen  Zusammenhang  zu  suchen.  Der  Autor  gibt  ja  nicht  alle  Bei- 
spiele und  zweitens  gibt  er  sie  so,  vne  sie  ihm  gerade  zur  Hand  kommen,  was  sich  in 
dem  Abschnit  II,  4—14  recht  deutlich  zeigt.  Es  ist  daher  Langes  Ansicht  (Leipz.  Stud.  V, 
402),  der  zwischen  4,  5,  6  als  Bindeglied  die  Hungersnot  (in  4  und  5  erzeugt  durch  Ver- 
wüstungen, in  6  durch  Mißwachs)  annimmt,  zu  gekünstelt. 

")  So  von  Kirchhoft"  zwischen  I,  5  und  I,  13,  Schmidt  zwischen  I,  13  und  II,  17, 
Helot  zwischen  I,  12  und  I,  13,  Lange  zwischen  I,  19  und  20. 


—    64    — 

obwohl  eingangs  nur  Sakrales  zur  Sprache  kommt  (d-voiag  y,al  Ugä  ymI 
eoQräg  y.al  Te^evrj)^  doch  im  wesentlichen  die  öffentlichen  Unterhaltungs- 
vorkehrungen und  Erholungsanstalten  zum  Gegenstand  haben,  denen 
die  sakralen  Zwecke  sozusagen  zum  Vorwand  dienen.  Dies  geht  schon 
hervor  aus  der  Art,  wie  nach  dem  Verfasser  das  Volk  jene  Objekte 
und  Zeremonien  des  Kultus  auffaßt  (S-velv  xal  evwyelGd-ai  %al  XaxaGd-ai 
lega  ymI  tvoIlv  oixeZv  Tiakrjv  y,al  f^eydlriv),  und  wird  dann  direkt  aus- 
gesprochen in  den  Worten  S^vouglv  ovv  d^uooia  uiv  r]  TtoXig  legeta 
noXXa.  eorl  di.  ö  dfifxog  6  eöwxovjtievog  y,al  dialayxdvMv  rä  le^ela.  Über- 
dies kommt  ja  der  Autor  in  weiterer  Ausführung  des  7C()hv  olxelv 
ytalrjv  y,al  fieyd?^rjv  am  Schlüsse  auf  die  Profanbauten  der  yvuvdoia, 
kovTQa  und  aTtodvTT^Qia  zu  sprechen. 

Wie  und  wieweit  haben  aber  diese  beiden  Paragraphen  nach 
vorne  eine  Verbindung?  Daß  sie  mit  den  Vorteilen  einer  Seemacht  nichts 
zu  tun  haben,  ist  einleuchtend.  Also  bleiben  nur  mehr  §  7  und  §  8  zur 
Verknüpfung  übrig.  Wenn  man  nun  bedenkt,  daß  der  Autor  in  §  7 
erzählt  hat,  daß  die  Athener  vermöge  ihrer  Seeherrschaft  sich  alle 
Gattungen  des  Wohllebens  ausfindig  gemacht  haben,  ferner  beachtet, 
daß  diejenigen,  welche  die  Genüsse  kennen  lernen,  der  athenische 
Demos  sind,  der  zum  größten  Teil  aus  den  Tievrjveg  bestand,  ist  da  die 
Frage  nicht  naheliegend,  ja  wie  kann  denn  der  athenische  Demos,  der 
meist  Arme  zu  seinen  Mitgliedern  zählt,  wie  kann  der,  wenn  er  auch 
wirklich  alle  Gattungen  des  Wohllebens  kennen  lernt  und  ausfindig 
macht,  sich  auch  den  Genuß  des  Wohllebens  verschaffen?  x^Luf  diesen 
Einwurf  gibt  der  Autor  die  mit  Si  eingeleitete  Entgegnung:  bei  den 
d-vGiac  und  iegd,  koQTal  und  Tefj.ev7]^  bei  dem  olxelv  ttöXlv  ycaXrjv  '/,at 
ILieydlriv^  da  kann  der  Einzelne  sich  wohl  nichts  leisten,  da  muß  eben 
der  Staatssäckel  herhalten. 

Kalinkas  Ansicht  (a.  a.  0.  S.  45)  von  der  Verbindung  zwischen 
9/10  und  7,  daß  nämlich  in  9/10  in  einer  kleinen  Digression  dargestellt 
werde,  wie  die  Masse  der  Athener  sich  auch  zu  Hause  mit  den  alt- 
hergebrachten Einrichtungen  ein  angenehmes  Dasein  zu  sichern  ver- 
stehe, scheint  mir  nicht  das  Richtige  zu  treffen.  Er  konstruiert  da 
einen  Gegensatz  zwischen  Wohlleben  in  der  Fremde  mit  neuen 
Einrichtungen  und  Wohlleben  zu  Hause  mit  den  alten  Einrich- 
tungen ,  einen  Gegensatz ,  von  dem  in  9/10  keine  Spur  zu  finden  ist 
und  von  dem  übrigens  auch  Kaiinka  nur  das  zweite  Glied  zu  finden 
wußte.  Dagegen  stimme  ich  Kaiinka  und  Rettig  vollkommen  bei.  wenn 
sie  auf  die  Zusammengehörigkeit  von  §  7  und  §  9  schließen  aus  den 
in  beiden  Paragraphen  gebrauchten  Ausdrücken  evcoxlcc — evcoxelGd^ai, 
e^svQLG'/ico—TQÖTTog,    indem  sie   diese  Wiederkehr   zurückführen  auf  die 


—    65    — 

sprachpsychologische  Erscheinung,  daß  markante  Wörter,  wenn  sie 
einmal  zur  Verwendung  gekommen  sind,  sich  bald  darauf  wieder  dem 
Sprecher  oder  Schreiber  aufzudrängen  pflegen. 

Mit  §  11  kehrt  der  Autor  wieder  zu  dem  durch  §§  7 — 10  unter- 
brochenen Thema  von  der  Aufzählung  der  Vorteile  einer  Seemacht 
zurück  und  fügt  einen  neuen  hinzu,  daß  nämlich  eine  Seemacht  allein 
imstande  sei,  Reichtum  zu  erwerben,  denn  alle  anderen  Städte  seien 
gezwungen,  ihre  Produkte  in  den  Häfen  der  Seemacht  in  den  Handel 
und  zum  Verkaufe  zu  bringen.  Da  die  Aufmerksamkeit  durch  den 
Exkurs  von  9/10  abgelenkt  worden  war,  fügt  der  Autor  den  §  11  mit 
Si  an:  röv  Se  jckovrov  udvoi  oioi  t  elolv  exeiv  tcov  '^EXkr^viov  y.al  tu)v 
ßaqßctQOJv.  Die  Schwierigkeiten,  die  man  in  dem  Umstände  fand,  daß 
rcloiTov  ohne  nähere  Bestimmung  gesetzt  und  zu  oloi  Teialv  das  Sub- 
jekt nicht  ausdrücklich  erwähnt  ist,  haben  bereits  Rettig  und  Kaiinka 
behoben.  Bezüglich  der  Aufnahme  der  Lesart  ^QÖg  (C)  statt  /velorj 
(A.  B)  hat  Kaiinka  so  gewichtige  Argumente  vorgebracht,  daß  ein 
weiterer  Zweifel  nicht  möglich  ist.  Ebenso  hat  Kaiinka  den  folgenden 
Satz  (II,  12)  richtig  erklärt :  Tcgbg  Ss  Tovtoig  äXloae  ayetv  ovk  idoov- 
oiv  o'iTiveg  dvTiTtaXoi  fj^uv  eIglv  rj  od  %Qi]GovTai  zfj  d-aXccGoy].  Der  Per- 
sonen- und  Subjektswechsel  ist  gewiß  störend,  doch  müssen  wir  uns 
stets  vor  Augen  halten,  daß  wir  es  ja  in  dieser  Schrift  mit  dem  ältesten 
Produkte  attischer  Prosaliteratur  zu  tun  haben.  Erst  durch  Kalinkas 
Übersetzung  und  Interpretation  wurde  die  Stelle  verständlich  und  ent- 
sprechend eingereiht.  Besprach  der  Autor  in  §  11  die  Tatsache,  daß 
die  Städte  freiwillig  ihre  Produkte  nach  Athen  einführen,  weil  sie 
dieselben  dort  am  besten  absetzen  können,  so  fügt  er  in  §  12  eben  den 
Fall  an,  was  geschieht,  wenn  eine  Stadt  sich  dem  Einfluß  Athens  ent- 
ziehen und  sich  ein  anderes  Absatzgebiet  suchen  wollte.  Der  Sinn  der 
Stelle  ist:  naturgemäß  wird  jede  exportierende  Stadt  ihre  Pro- 
dukte nach  Athen  als  dem  Vororte  der  größten  Seemacht  bringen; 
sollte  sie  ab^r  aus  Feindschaft  gegen  Athen  ein  anderes  Absatzgebiet 
suchen  wollen,  so  werden  die  Athener  sie  daran  verhindern. 

Hofmann  (a.  a.  0.  S.  27)  wendet  sich  gegen  diese  Auffassung  und 
kehrt  wieder  zurück  zur  Ansicht  Böckhs  und  Müller-Strübings,  welche 
annehmen,  daß  in  dem  Relativsatze  oirtveg  ävTiTtaXot  fjf.uv  eIolv  die 
Explikation  zu  äkloae,  also  die  Bezeichnung  des  neu  gewählten  Ab- 
satzgebietes zu  sehen  sei.  Nach  ihnen  lautet  die  Erklärung  der  Stelle : 
„Außerdem  wird  man  nicht  gestatten,  diese  Erzeugnisse  anderswohin 
zu  führen,  zu  denen,  die  unsere  Gegner  sind,  oder  man  wird  jenen 
den  Gebrauch  des  Meeres  nehmen,  falls  sie  dorthin  ausführen."  Doch 
ist  die  von  diesen  Gelehrten  durchgeführte  Verbindung  von  alXooe  und 

Wiener  Eranos.  5 


—     66    — 

dem  Relativsatze  grammatiscli  einfach  unmöglich.  Hofmann  sieht  dies 
ein,  sucht  sich  aber  zu  helfen,  indem  er  den  Text  nach  seinem  Sinn 
konstruiert  und  vor  o'invEg  ein  Tzooq  rovvovg  einfügt,  ein  Aufgeben  des 
Textes,  das  dem  von  ihm  an  mehreren  Stellen  immer  als  ungemein 
notwendig  bezeichneten  Konservativismus  direkt  widerspricht. 

Für  den  ersten  Moment  scheint  in  II,  13  die  Gedankenabfolge 
gestört  und  der  Paragraph  nicht  an  der  ihm  zugedachten  Stelle  zu 
sein.  Während  nämlich  in  §§  II.  4 — 6  von  den  militärischen  Vorteilen 
der  Seemacht  gesprochen  wird .  in  §§  7 — 10  von  den  kulturellen  und 
finanziellen,  kehrt  der  Autor  in  II.  13  plötzlich  wieder  zurück  zu 
militärischen  Dingen,  um  dann  in  §^  14 — 16  den  strategischen  Mangel 
in  der  Lage  Athens  zu  besprechen. 

Es  ist  klar,  daß  hier  die  Gedankenfolge  etwas  unregelmäßig  und 
auffallend  ist,  doch  läßt  sich  die  plötzliche  Umkehr  in  II,  13  psycho- 
logisch erklären  und  rechtfertigen.  Nachdem  nämlich  der  Autor  in 
§§4^12  die  Vorteile  einer  Seemacht  dargelegt  hat,  soll  er  den  stra- 
tegischen Mangel  in  der  I^age  Athens  behandeln,  ein  Mangel,  der  Athen 
nicht  die  höchste  Vollkommenheit  einer  Seemacht  erreichen  läßt.  Bei 
dem  Gedanken  an  diesen  Mangel  aber  treten  wieder  mit  voller  Inten- 
sität die  Argumente  der  §§  4 — 6  (milit.  Vorteile  einer  Seemacht)  in 
sein  Bewußtsein  ein  und  verdrängen  das  in  §§  7 — 12  Behandelte.  Mit 
dem  Gedanken  an  die  Nachteile  der  Lage  Athens  verbindet  sich  aber 
unmittelbar  als  natürlicher  Gegensatz  noch  einmal  der  Gedanke  an  die 
militärischen  Vorteile  einer  Seemacht,  von  denen  die  früher  über- 
gangenen nachgetragen  werden.  Auch  die  sprachliche  Form  (eTc  de 
TtQÖg  TovToig).  zeigt  schon  den  Nachtrag  an .  der  mit  dem  unmittelbar 
Vorhergehenden  nicht   in    direktem  Zusammenhange  steht  (vgl.  1 ,   19). 

In  §  14  gibt  der  Autor  endlich  die  Ausführung  des  einzigen,  was 
der  athenischen  Seemacht  zur  Vollkommenheit  fehlt.  Kaiinka  hat  mit 
Recht  darauf  hingewiesen,  daß  die  hier  ausgesprochenen  Gedanken 
sich  .so  nahe  mit  II,  13  berühren,  daß  diese  inhaltliche  Verwandtschaft 
eine  nachdrückliche  Bestätigung  für  die  ursprüngliche  Nachbarschaft 
beider  Stellen  bietet.  Kalinkas  (a.  a.  0.  S.  49)  Auffassung  aber  von  dem 
Satze  vüv  de  ol  yecoQyovvieg  v.ai  oi  TcXovaiOi  Md-r^va'nßv  vTrlQyovvai  vovg 
TtoXeuiovg  fndklov,  6  Ss  Sfijuog^  are  ei  eiötog  ovi  oidev  tcov  öcpcov  sjutvqt]- 
aovoiv  ovSi  reuoiaiv ,  ddecog  ^jj  xal  ovy  VTteQxo/nevog  duTOvg  kann  ich 
nicht  beistimmen.  Kaiinka  paraphrasiert  folgendermaßen :  ,.Der  Mangel 
einer  insularen  Lage  ist  dem  Verfasser  zufolge  in  doppelter  Hinsicht 
nachteilig:  erstens  gewärtigen  jetzt  die  Athener  stets  feindliche  Ein- 
fälle und  Verwüstungen,  was  allerdings  weder  den  Großgrundbesitzern 
noch  dem  Stadtvolk  sehr  nahe  geht,   weil  jene  in  diesem  Falle  lieber 


—     67    — 

dem  Feinde  huldigen,  dieser  aber  von  der  Verwüstung  der  Ländereien 
gar  nicht  betroffen  wdrd."  Ich  glaube  vielmehr,  daß  der  Autor  das 
gerade  Gegenteil  von  dem  sagt,  was  Kaiinka  ihn  sagen  läßt.  Nämlich 
eben  dadurch,  daß  den  yecoQyovpveg  und  Ttlovaioi  die  Einfälle  so  nahe 
gehen,  sind  sie  eher  geneigt,  mit  dem  Feinde  übereinzukommen,  ihm 
nachzugeben  —  das  heißt  das  vTtiqyovrai  Tovg  TvolEuiovg,  —  während 
das  Stadtvolk .  das  ja  nichts  zu  verlieren  hat  bei  Verwüstungen  des 
flachen  Landes,  sich  nicht  um  den  Feind  kümmert. 

Ebensowenig  kann  ich  Kaiinka  beistimmen  in  der  Erklärung  von 
II,  16,  besonders  aber  der  Worte  ezegcov  dyad^cov  /nsi'^övcov  GTeQt](Jovvai. 
Kaiinka  gibt  folgendermaßen  den  Inhalt  wieder:  ..deshalb  bringen  sie 
Hab  und  Gut  unter  Preisgebung  des  heimatlichen  Bodens  auf  die 
Inseln,  womit  sie  sich  in  das  eine ,  für  sie  belanglose  Übel  freiwillig 
ergeben,  einem  größeren  aber  entgehen,  nämlich  dem  Verrate  und  der 
offenen  Empörung  der  Gegenpartei  und  weiterhin  dem  Sturze  der 
demokratischen  Verfassung.*' 

Doch  das  Übersetzen  von  Hab  und  Gut  auf  die  Inseln,  das  Preis- 
geben des  heimatlichen  Bodens  geschieht  ja  nur  in  Kriegszeiten  und 
zu  dem  Zwecke,  sich  in  die  Stadt  zu  flüchten  und  so  mit  dem  Feinde 
sich  in  keine  offene  Schlacht  einzulassen.  Sie  wäre  aber  unvermeidlich, 
wollte  man  nicht  ruhig  zusehen,  wie  die  Feinde  das  Land  verwüsten. 
Diese  Feinde  sind  aber  jene  Feinde  zu  Lande,  denen  Athen  sich  nicht 
gewachsen  fühlt.  Daß  also  eine  offene  Feldschlacht  mit  einer 
Niederlage ,  vielleicht  einer  so  entscheidenden  enden  würde ,  daß 
durch  den  Machtspruch  der  siegreichen  Feinde  auch  die  Ver- 
fassung verloren  gehen  könnte,  mußte  als  sehr  wahrscheinlich 
gelten.  Ich  verstehe  unter  den  f-'reQa  dyad-ä  /nel^ova  eine  eventuelle 
Niederlage  im  offenen  Felde  mit  allen  daraus  resultierenden  Folgen, 
halte  daher  Kalinkas  Erklärung  für  zu  eng  gefaßt.  Überdies  ist  bei 
Kalinkas  Definition  nicht  recht  gut  einzusehen,  warum  dann  der  Ver- 
rat und  die  Empörung  der  Gegenpartei  erschwert  sein  soll,  wenn  Hab 
und  Gut  auf  die  Inseln  gebracht    und  das   flache  Land   verlassen    ist. 

Nachdem  in  11,  4 — 16  die  Vorteile  einer  Seemacht  behandelt 
sind,  beginnt  der  Autor  mit  II,  IT  eine  Betrachtung,  in  der  er  dar- 
legt, wie  sich  der  athenische  Demos  den  Verpflichtungen  gegenüber 
verhält,  welche  ihm  Bundes  vertrage  und  eidliche  Abkommen  auferlegen : 
hier  sei  ein  demokratisch  regierter  Staat  besser  daran  als  eine  Olig- 
archie. Die  Verantwortlichkeit  des  Einzelnen  bei  Vertragsbrüchen  sei 
geradezu  Null,  da  er  einfach  sagen  könne,  er  sei  bei  Abschluß  des 
Vertrages  nicht  mit  dabeigewesen ,  also  auch  nicht  verpflichtet.  Ein 
demokratisch    regiertes  Staatswesen   lasse    sich    also  nicht   durch  Ver- 

5* 


—    68    — 

träge  und  eidliche  Vereinbarungen  in  seiner  Bewegungsfreiheit  in  der 
äußeren  Politik  hemmen.  Die  Behandlung  dieser  Frage  war  durch  die 
Fälle  der  Wirklichkeit  für  den  Autor  in  nächste  Nähe  gerückt.  Daß 
er  sie  hier  anschließt,  ist  vielleicht  zu  erklären  durch  die  Ideenver- 
wandtschaft zwischen  II,  14 — 16  und  17.  Es  wurden  zwar  in  §§  14 — 16 
unmittelbar  nur  strategische  Fragen  erörtert;  da  diese  aber  immer 
mit  Fragen  der  äußeren  Politik  zusammenhängen ,  konnte  der  Ver- 
fasser leicht  veranlaßt  werden  §  17  hier  anzuschließen.  Im  Anschlüsse 
daran  macht  nun  der  Autor  noch  einige  Bemerkungen  über  die  kin- 
dische Rechthaberei  des  athenischen  Volkes,  das  bei  Unglücksfällen 
die  Schuld  stets  von  sich  abzuwälzen  sucht,  während  bei  günstigen  Er- 
folgen jeder  der  Urheber,  der  geniale  Förderer  sein  will.  Dies  fordert 
in  der  Tat  zum  Spott  heraus ,  daher  ist  es  begreiflich ,  daß  der  Ver- 
fasser jetzt  auf  die  Empfindlichkeit  der  Athener  gegenüber  öffentlicher 
Verspottung  gerät  (II,  18) ,  deren  Organ  die  Bühne  der  Komödie  ist. 
Hier  halten  die  Athener  es  so,  daß  sie  eine  öffentliche  Verspottung 
der  Demokratie  nicht  zugeben ,  aber  zur  Verspottung  einzelner  durch 
ihren  Beifall  aufmuntern ,  da  sie  wissen .  daß  darunter  nur  irgendwie 
hervorragende  Männer  zu  leiden  haben ,  ihresgleichen  aber  nur  unter 
gewissen,  vom  Demos  genehmigten  Bedingungen.  Ich  schließe  mich  der 
zuerst  von  Römer  (Abh.  d.  Bayer.  Ak.  d.  Wiss.  I.  KL,  XXII.  Bd.,  III.  Abt., 
1904,  p.  643)  vertretenen  Ansicht  an,  die  dann  von  Faulmüller  (Pro- 
gramm des  Ludwigsgymn.  in  München  1906,  p.  23  ff.)  und  Hofmann 
(a.  a.  0.  p.  37  ff.)  verteidigt  wurde  ,  daß  dfiJLiog  an  unserer  Stelle  die 
Bedeutung  von  öruLWUQaTia  habe.  Sprachlich  liegt  gegen  diese  Auf- 
fassung gar  nichts  vor,  wie  die  von  den  genannten  Verfassern  gebrachten 
Belege  zeigen;  sachlich  aber  werden  durch  diese  Annahme  ohne  jede 
Textesänderung  alle  Schwierigkeiten  behoben,  während  bei  der  engeren 
Interpretation  von  örifxog  als  Volk  in  seiner  Einheit  es  einfach  un- 
möglich ist,  die  Angriffe  des  Aristophanes  in  seinen  Komödien  auf 
den  Demos  nicht  als  solche  darzustellen.  Wenn  der  Autor  hier  gerade 
den  Ausdruck  S^juog  genommen  hat ,  statt  örjiLioxQaTia ,  so  scheint  mir 
mitgewirkt  zu  haben  der  beabsichtigte  Gegensatz  zwischen  dem 
Verhalten  gegenüber  der  Verspottung  des  Einzelnen  und  der  (xesamt- 
heit  als  Vertreterin  der  Macht.  Jeder  Athener  verspürte  sofort  bei 
dem  Worte  Sfjinog  das  Mitklingen  von  driiLioy.QaTia. 

Den  schon  in  ev  eiSozeg  on  etc.  entsprechend  der  partizipialen 
Form  und  Unterordnung  ausgesprochenen  Gedanken  wiederholt  der 
Verfasser  in  II,  19  in  selbständiger  Form:  „ich  sage  also,  daß  der 
Demos  zu  Athen  erkennt,  wer  von  den  Mitbürgern  ein  edler,  wer  ein 
gemeiner   Mann   ist;    den   gemeinen  Mann  aber,    der    ihm    gesinnungs- 


--    69    — 

verwandt  und  nützlicli  ist,  liebt  er,  den  edlen  aber  haßt  er."  An  den 
Grund  dafür,  den  er  im  nächsten  Satze  gibt,  schließt  sich  sofort  ein 
Einwand:  ivavviov  ye  tovtov  enoL  ovveg  ihg  äkriS-iog  tov  drj^ov  tyjv  cpvöiv 
od  dri^OTi'/,oi  eioLv,  der  nichts  anderes  heißen  kann,  als  daß  dennoch 
einige,  die  man  in  Wahrheit  unter  die  Männer  des  Demos  zählen 
muß,  ihrer  Geburt  nach  nicht  dem  Volke  angehören,  sondern  der 
Klasse  der  xqtjgtoi. 

Kaiinka  hat  zwischen  II,  18  und  19  einen  Zusammenhang  kon- 
struiert, den  ich  nicht  für  richtig  halte.  Nach  ihm  ist  die  Angabe 
in  II,  19,  der  Demos  hasse  den  Edlen,  liebe  den  Gemeinen,  eine  vom 
Autor  gezogene  Schlußfolgerung  aus  II,  18,  daß  nämlich  der  Demos 
die  Verspottung  einzelner  gestatte,  im  Bewußtsein,  daß  die  Verspotteten 
nicht  zu  ihm  gehören.  Kaiinka  fühlt  selbst,  daß  die  von  ihm  gewollte 
Gedankenverbindung  sich  nur  herstellen  läßt  mit  grammatischen  An- 
stößigkeiten. Abgesehen  davon  können  wir  doch  unmöglich  annehmen, 
daß  der  Autor  erst  das  Verhalten  des  Demos  gegenüber  der  Spottlust 
der  Komödie  kennen  mußte,  um  die  Behauptung  von  dem  Hasse  des 
Demos  gegen  die  xQrjOTol  aufzustellen. 

In  §  20  endlich  wendet  sich  der  Autor  mit  vollster  Schärfe 
gegen  jene,  die,  obwohl  geborene  xQ^OToi^  sich  doch  für  ein  demokratisch 
regiertes  Gemeinwesen  entscheiden. 

Der  Inhalt  dieser  beiden  Paragraphen  konnte  erst  in  den  Zu- 
sammenhang richtig  eingereiht  werden,  nachdem  Kaiinka  die  ent- 
sprechende Einzelinterpretation  von  lov  tov  dri(.iov^  dXrid^iog  („durch 
seine  politische  Tätigkeit'')  und  tyjv  cpvöLv  („der  Abstammung  nach") 
gegeben  hatte. 

In  III,  1  schließt  der  Autor  sein  Thema  fast  mit  denselben 
Worten  wie  in  I,  1.  Die  eingehende  Besprechung  dieser  Stelle  soll 
weiter  unten  folgen. 

Ausführlich  wird  dann  in  III,  1  Mitte  bis  9  über  die  umläng- 
liche Gerichtstätigkeit  der  Athener  und  die  daraus  sich  ergebenden 
Mängel  in  der  Verwaltung  gesprochen.  Daß  der  Inhalt  mit  dem  voran- 
gehenden Teile  der  Abhandlung  in  keinem  engeren  Zusammenhange 
steht,  wird  weiter  unten  besprochen.  Die  Reihenfolge  der  einzelnen 
Paragraphen  und  der  Gedankenfortschritt  innerhalb  dieses  Abschnittes 
w^urden  gegen  die  Angriffe  von  Kirchhoff,  Faltin,  Moritz  Schmidt 
entschieden  und  mit  Erfolg  verteidigt  von  Rettig,  Lange  und  Kaiinka. 

Die  beiden  letzten  Abschnitte  des  dritten  Kapitels  behandeln  die 
äußere  Politik  der  Athener  bei  Parteistreitigkeiten  in  anderen  Staaten 
(in,  10,  11)  und  die  Zahl  und  das  Verhältnis  der  Atimen  (III,  12,  13). 


—     70    — 

Die  Abschnitte  von  III,  1  Mitte  bis  III.  13  stehen  weder  unter- 
einander noch  mit  dem  Vorangehenden  in  einem  engeren  Zusammen- 
hange. Ich  habe  diesen  Umstand,  ebenso  den  Inhalt  in  dem  an- 
schließenden Teile  der  Untersuchung  erörtert  bei  der  Frage  nach  dem 
Verhältnisse  der  einzelnen  Teile  zum  Thema,  weil  ja  gerade  die  drei 
Abschnitte  des  letzten  Kapitels  in  dieser  Hinsicht  den  meisten  Anstoß 
erregt  haben  und  mit  der  Grund  waren  zu  den  verschiedenen  Hypo- 
thesen, welche  über  die  Anordnung  der  Schrift  aufgestellt  wurden. 

Ich  will  daher  bei  einem  Überblick  über  den  Zusammenhang  und 
Fortschritt  der  einzelnen  Gedanken  der  Schrift  hauptsächlich  nur  auf 
die  beiden  ersten  Kapitel  Rücksicht  nehmen  und  da,  glaube  ich,  hat 
sich  ergeben,  daß  die  Abfolge  der  einzelnen  Paragraphen  keinem  An- 
stand unterliegt,  vielmehr  psychologisch  gut  erklärlich  ist,  so  daß 
wir  überall  nocl»  der  Ideenassoziation  nachgehen  können.  Die  Schrift 
ist  ein  in  sich  abgeschlossenes  Ganzes,  dessen  Mängel  nicht  der  Un- 
fähigkeit des  Autors  oder  schlechter  ÜberKeferung  zuzuschreiben  sind, 
sondern  der  geringen  Übung  der  Zeit,  aus  der  sie  als  erstes  Prosa- 
werk stammt,  an  das  man  keineswegs  noch  die  Anforderung  einer 
strengen  Komposition  und  systematischen  Deduktion  stellen  darf. 

Nach  der  Untersuchung  der  einzelnen  Paragraphen  bezüglich 
ihres  Zusammenhanges  untereinander  stellt  sich  die  Frage  ein,  inwie- 
weit die  einzelnen  Paragraphen  mit  dem  in  I,  1  ausgesprochenen 
Thema  in  Beziehung  stehen:  eTrel  Se  xama  edo^ev  ovriog  auvoig,  ojg  ev 
dtaöipCovTat  rrjv  TtokiTeiav  '/,al  xaXXa  SLaTZQccTTOvTaL  a  doYMvaiv  äfxaQTavEtv 
rolg  älXoig  "Ellriat ,  tovt  ccTtodel^cj.  Das  nächste  Problem  ist  nun,  ob 
in  diesen  Worten  eine  Zweiteilung  des  Themas  ausgesprochen  ist 
oder  nicht. 

Vom  grammatischen  Standpunkte  aus  spricht  nichts  dafür,  alles 
dagegen:  es  steht  am  Schlüsse  der  Sätze  nicht  ravva  sondern  tovto^ 
es  sind  ferner  die  beiden  Glieder  durch  das  einmalig  gesetzte  ev  zu 
einer  Einheit  zusammengefaßt  und  nicht,  wie  man  bei  angenommener 
Zweiteilung  erwarten  sollte,  das  eu  zweimal  gesetzt,  das  zweitemal 
vor  diarcQdTTovTai,  oder  bei  einmaligem  ev   ein  re-YMc  verwendet. 

Um  nun  die  Frage  auch  vom  inhaltlichen  Standpunkte  aus  zu  beant- 
worten, muß  zuerst  die  Bedeutung  des  läXXa  vorgenommen  werden; 
aus  der  folgenden  Darlegung  ergibt  sich,  daß  unter  xakXa  durchwegs 
Einrichtungen  zu  verstehen  sind,  welche  sich  als  Folgen  der  demo- 
kratischen Verfassung  ergeben  und  auf  den  Bestand  der  Demokratie 
mit  größerer  oder  geringerer  Stärke  zurückwirken. 

Es  empfiehlt  sich  also  auch  vom  inhaltlichen  Standpunkte  nicht 
eine  Zweiteilung  in  dem  Sinne,  daß  beide  Teilungsglieder  gleichwertig 


—    71    — 

sind,  sondern  nur  insoferne,  als  Ursache  nnd  Wirkung  berücksichtigt 
werden  sollen.  Daß  aber  der  Autor  beim  Niederschreiben  der 
Stelle  die  Anschauung  und  Empfindung  gehabt  hat,  daß  er  in  den 
Worten  I,  1  eine  logische  Zweiteilung  ausgesprochen  habe,  möchte  ich 
glauben. 

Verhält  es  sich  aber  mit  der  Dispositionsangabe  so,  wie  ich 
gesagt  habe,  daß  nämlich  die  Zweiteilung  bloß  Ursache  und  Folge 
enthält,  so  ist  von  vornherein  zu  erwarten,  daß  sie  auch  nicht  scharf 
..Glied  für  Glied"  getrennt,  eingehalten  wird,  sondern  daß  wir  beide 
Belege  oft  miteinander  verbunden  sehen  werden. 

Die  ersten  neun  Paragraphen  können  wir  in  der  Hauptsache  dem 
Xachweis  (hg  sc  diaaw^ovrai  vrjv  noIiTeiav  zuschreiben.  §  10  können 
wir  nur  mit  etwas  Zwang  noch  zu  vjg  ev  diaG<iß^ovTaL  rrjv  TtoXitelav  in 
Beziehung  bringen,  während  die  weiteren  Ausführungen  in  §§  11  und  12 
ohne  Zweifel  als  Beleg  für  das  ev  diciTCQdtuea&aL  rälla  dienen.  §  13 
bringt  wieder  eine  wenn  auch  gewaltsame  Kombination  der  Liturgien 
mit  dem  demokratischen  Prinzip :  es  sei  ihr  Zweck ,  die  Gegen- 
partei finanziell  zu  schwächen,  um  dadurch  die  eigene  Kraft  zu  heben. 
Mit  voller  Deutlichkeit  tritt  das  Motiv,  die  Yolksherrschaft  zu  halten, 
wieder  in  der  Politik  gegenüber  den  Bundesgenossen,  welche  einen 
wesentlichen  Teil  des  attischen  Reiches  bilden,  hervor  in  §§  14^16. 
(I,  14  yr/vibo'/.ovveq  an.  .  .  .,  el  .  .  .  ioxvGovinv  o'i  tvXovgiol  y,al  xQ^^^t^oI 
tv  Talg  TcöleoLV,  oXlyiGTOv  xQO'^^ov  fj  aQyJ]  eGuat  rov  6/juov  tov  31d-rjvrjGi; 
I,  15  .  .  .  do'jisl  f-iei^ov  dyaiybv  eivai  .  .  .  ixelvoug  de  ogov  ^fjv  /mI  iQydCeG^-ac 
döivdvovg  oviag  STtißovleveLv.)  I.  16  ist  trotz  der  sprachlichen  Ein- 
kleidung ebenfalls  als  Beleg  für  die  Wahrung  der  Yolksherrschaft  zu 
betrachten  (ei  de  oiy.oi  eiyov  t'/MGTOi  zag  6r/,ag,  ace  d%3-6^evoi  Jld-rjvaloig 
TOVTOvg  dv  Gcpwv  avciöv  aTicbXXvGav  o'iCLveg  cpiloi  (.idXiGva  fjGav  ^dl^^r^vaitov 
TW  öi]Li(i))  und  weist  wieder  zurück  auf  I.  14  (el  de  Igxvgovglv  .  .  .  ij 
dQyi)  eGzaL  tov  ökjUov  tov  2dd-i]vriGi).  I,  17,  welches  die  Vorteile  auf- 
zählt, welche  den  verschiedenen  Menschenklassen  aus  dem  Gerichts- 
zwang der  Bundesgenossen  erwachsen,  gehört  dagegen  zum  ev  öia- 
TtQdTTeG&ai,  während  I,  18  wieder  ein  Beitrag  für  das  ev  SiaGi^l^eGd-ai 
Tt)v  TToltTelav  ist.  I,  19  und  20  betrachtet  Kaiinka  (a.  a.  0.  S.  oO)  als 
bloß  durch  natürliche  Ideenassoziation  entstandene  Exkurse,  die  mit 
keinem  der  beiden  Programmpunkte  in  ersichtlichem  Zusammenhange 
stünden.  Ich  glaube  aber,  daß  sie  die  in  II,  15  als  Beleg  für  die 
Erhaltung  der  Volksherrschaft  angeführte  Tatsache  der  Erwerbung 
von  Besitz  in  bundesgenössischem  Gebiete  hier  als  einen  Beleg  bringen 
für  das  kluge  Vorgehen  des  Demos.  Diese  Paragraphen  zeigen  besonders, 
wie    schwer,    ja    unmöglich    es    dem  Autor    wurde,    die    von    ihm   an- 


—     72    — 

genommene  Zweiteilung  wirklicli  überall  in  der  Anordnung  der  Belege 
durchzuführen. 

Während  also  das  erste  Kapitel  seinem  Hauptteil  nach  die  Vor- 
kehrungen zur  Erhaltung  der  Herrschaft  und  des  Ansehens  der  großen 
Men^e  bespricht,  me  es  der  erste  Punkt  der  Disposition  in  Aussicht  gestellt 
hat,  kann  man  in  folgenden  Partien,  soweit  sie  die  Macht  und  die  Vorteile 
der  Seeherrschaft  betreffen,  eine  solche  Beziehung  nicht  sofort  erkennen. 

Der  Grundgedanke  des  zweiten  Kapitels  bis  §  14  geht  dahin,  daß 
die  Athener  ihr  Landheer  nur  in  solcher  Starke  halten,  daß  sie  damit 
den  Bundesgenossen  überlegen  sind,  während  sie  ihren  Feinden  gegen- 
über sich  auf  die  Übermacht  zur  See  stützen.  Dieser  Grrundgedanke 
scheint  den  zweiten  Punkt  der  Disposition  zu  illustrieren  (cog  ev  %al 
TakXa  StaTTQccrvovtaL).  Wenn  nun  aber  der  Autor  bei  dieser  Gelegen- 
heit die  Vorteile  einer  Seeherrschaft  in  verschiedensten  Variationen 
vorbringt,  so  darf  dies  nicht  wundernehmen,  da  ja  dieser  Gegenstand 
einem  jeden  Athener  seinerzeit  nahe  lag  und  anderseits  schon 
vom  Themistokles  an^  dem  Begründer  der  athenischen  Seeherrschaft, 
eine  stetige  Streitfrage  bildete  zwischen  den  großen  Parteien  der 
Demokratie  und  Aristokratie.  Daß  aber  die  besprochenen  Paragraphen 
auch  enge  mit  dem  ersten  Punkte  der  Disposition  zusammenhängen, 
zeigt  neben  inhaltlichen  Beziehungen,  die  sich  leicht  herausfinden 
lassen,  auch  eine  Stelle  im  Texte  selbst  (II,  4),  dort,  wo  die  Rede 
davon  ist,  daß  die  Genüsse,  die  sich  das  Volk  zu  seinem  Privat- 
vergnügen auf  Staatskosten  verschafft,  mehr  der  Masse  als  den  oberen 
Klassen  zugute  kommen.  Die  Schlußwendung  Tcleito  tovvwv  aizoXavEi 
ö  ox^og  ^  Ol  dliyoi  y,al  ol  evöaliioveg  weist  über  I,  4  (oi  iiiv  yäg  TtevijTeg 
y,al  Ol  driuoiai  '/,al  ol  yeiQOvg  ev  TCQctTxovTEg  ....  tyjv  SrifMOXQaTiav 
av^ovGtv)  zurück  auf  cog  er   öiaGcpl^owaL  rrjv  Ttohzeiav. 

§§  14 — 16  gehören  eigentlich  nicht  mehr  zu  den  Vorteilen  der 
Seeherrschaft,  bringen  aber,  durch  innigsten  Gedankenzusammenhang 
damit  verknüpft,  neue  Belege  für  das  cog  ev  diaTCQdzTovTat  xäXXa.  Die 
Schlußworte  in  II,  16  eTzeiörj  ovv  i^  ccQxrjg  ov%  erv^ov  ol'/.rjGavieg  vfiaov, 
vvv  Tccde  TtoiovOL'  ttjv  ^sv  ovaiav  Tolg  vrjaoig  TtaQazlS^evTat  TciövevovTeg 
TTj  aQxfj  Tfj  zaror  d-dXaGoav^  rrjv  dt  3ltTr/J]V  yrjv  TceQLoqcoGi  Te^vo^tvr^v 
yiyvtoGAOvreg  ovi  el  avurjv  ileiJGOvGiv  exiqwv  äyad^wv  jueL^övcov  GTeqrjGovTaL 
weisen  ebenfalls  zurück  auf  wg  ev  diaG(p^ovTai  rrjv  Tzohreiav.  Denn 
unter  dem  Verlust  der  ^eit^co  äyad-ä  ist  jener  Verlust  zu  verstehen,  der 
sich  als  Folge  einer  schweren  Niederlage  einstellt  und  auch  Vernichtung 
der  Volksherrschaft  bringen  kann. 
-  §  17,  der  den  Vorteil  der  Demokratie  behandelt,  sich  leicht  über 

^Verträge  und  Eide  hinwegsetzen  zu  können,    ist  doch  wohl   ein  Beleg 


—    73    — 

für  das  ev  Siaacit^ovrai  ttjv  TcoliTslav^),  während  der  näcliste  Paragraph 
mit  dem  zweiten  Satze  (og  ev  öiaTtQaTzovTaL  raXXcc  zu  verbinden  ist. 

II,  20  kehrt  über  19  A\ieder  zurück  zu  dem  schon  in  I,  4  be- 
sprochenen scharfen  Gegensatz  zwischen  den  TtovriQol  und  xq^otoI  und 
dem  im  demokratischen  Prinzipe  begründeten  Hasse  und  der  Bedrückung, 
welchen  die  xQ'H^^ol  von  seiten  der  TtovriQol  ausgesetzt  sind.  Beide 
Paragraphen  stehen  näher  dem  ev  diaöwLOVTai  als  dem  ev  diaTtgccTTOvrai. 

III,  1  schließt  die  ganze  Abhandlung  ab  fast  mit  denselben 
Worten,  wie  sie  in  I,  1  stehen;  es  fehlen  von  I,  1  nur  y,al  Talka 
diangdTTOviai  a  do-Kovaiv  a/^agräveiv  zoig  äXloig  "Ellriöi  tovt  änoöet^co. 

Daß  der  Autor  hier  fast  dieselben  Worte  wie  in  I,  1  gebraucht, 
ferner  den  angegebenen  Teil  (vmI  xakka  .  .  .  dLaTZQücTTovrai)  ausläßt, 
hat  zu  den  verschiedensten  Annahmen  Anlaß  geboten. 

Daß  ein  Ruhepunkt  hier  anzunehmen  sei,  ist  allgemein  anerkannt. 
Ob  aber  damit  bloß  ein  Teil  oder  die  ganze  Abhandlung  abgeschlossen 
sei,  darüber  konnte  keine  Einigung  erzielt  werden. 

Wenn  war  bedenken,  daß  in  der  vorangehenden  Erörterung  Sätze 
vorkommen,  welche  bei  der  angenommenen  Zweiteilung  in  I,  1  entweder 
nur  mit  ev  SiaTtQccTTovraL  xaXXa  oder  doch  höchst  wahrscheinlich  am 
besten  damit  verbunden  werden  müssen,  so  kann  unmöglich  ein  weiterer 
Zweifel  darüber  bestehen,  ob  der  Autor  hiemit  den  Schluß  für  die 
ganze  Schrift  gesetzt  oder  nur  für  einen  ersten  Teil.  Es  bleibt  aber 
noch  immer  die  Frage  offen,  warum  der  Autor  nicht  auch  die  Worte 
ev  öiaTtoaTTowaL  etc.  wieder  angeführt  hat,  da  doch  in  III,  1  eine 
deutliche  Bezugnahme  auf  I,   1  zu  konstatieren  ist. 

Nach  einer  genügenden  Erklärung  habe  ich  mich  vergebens  um- 
gesehen, auch  bei  jenen,  die  III,  1  als  Schluß  des  ganzen  Werkes 
betrachten.  Denn  Kalinkas  Ansicht,  es  sei  erklärlich,  daß  der  Autor 
•bloß  den  die  Erhaltung  der  Volksherrschaft  berührenden  Satz  aus 
der  Einleitung  herübergenommen  habe,  weil  der  letzte  der  Belege 
gerade  die  Wahrung  der  Demokratie  betreife,  scheint  mir  dem  Autor 
doch  zu  große  Ungeschicklichkeit  zuzumuten.  Kaiinka  gibt  ja  un- 
mittelbar vorher  an,  daß  der  Autor  sehr  breit  und  mit  absichtlicher 
Liebe  die  Darstellung  der  Vorteile  einer  unbestrittenen  Seeherrschaft 
ausgemalt  habe,    welche    sich   zunächst    als  Illustration    des  Satzes  chg 


*j  Daß  hier  der  Bestand  der  Demokratie  für  den  Verfasser  gar  nicht  in  Frage 
komme,  wie  Kaiinka  meint,  muß  ich  bezweifeln ;  denn  unter  den  Verträgen,  welche  man 
am  ersten  brach ,  waren  eben  jene ,  welche  durch  ihre  Erfüllung  der  Demokratie  Schaden 
gebracht  hätten.  —  Was  oben  bei  I,  13  von  den  Gerichtshöfen  gesagt  wurde,  das  hat 
auch  hier  wieder  seine  Gültigkeit:  oö  tov  dtxaiov  amöTg  fmkXov  f^isXei  rj  zov  adzoTg 
av^cpÖQov. 


—     74     — 

ev  '/mI  xälka  öiaTCQccTTOvvai  einführe.  Da  wäre  es  doch  auffallend^ 
daß  der  Autor  durch  die  kurzen  Paragraphen  II,  18 — 20  wieder  ganz 
von  diesem  Gedanken  des  ev  öiaTtQaTTead-at  zäkla  abgekommen  sei  und 
nur  mehr  an  das  ev  öiaoc(j(^eGd-ai  tyjv  TtohTelav  gedacht  habe. 

Bedenken  wir  aber,  daß  dem  Autor  während  seiner  Darstellung 
zum  Bewußtsein  gekommen  sein  muß,  daß  die  in  I,  1  ausgesprochene 
Zweiteilung  eigentlich  nicht  zwei  gleichwertige  Glieder  enthält,  sondern 
sich  vielmehr  wie  Ursache  und  Folge  verhalten,  daß  mit  der  Setzung 
des  ev  diaotpteod^ai  ttjv  TcoXixeiav  und  der  Beweisführung  dafür  implizite 
letztere  auch  mitgegeben  werde  für  das  ev  diaTtQävTeod^ai  tälla  — 
eine  Tatsache,  die  sich  sehr  deutlich  zeigt  in  II,  16 — 18  —  und 
nehmen  wir  dann  noch  den  von  Kaiinka  betonten  Umstand  hinzu,  daß 
der  Autor  mit  einem  Belege  schloß,  der  unmittelbar  die  Wahrung  der 
Demokratie  betrifft, i)  dann,  glaube  ich,  können  wir  es  erklärlich  finden» 
daß  der  i^utor  in  dem  Schlußsatz  bloß  den  die  Erhaltung  der  Yolks- 
herrschaft  berührenden  Satz  aus  der  Einleitung  her  übergenommen  hat. 

Den  größten  Teil  des  dritten  Kapitels  bildet  der  Abschnitt 
§  1™ — 9,  in  welchem  ein  sehr  empfindlicher  Mangel  der  öffentlichen 
Verwaltung  in  Athen,  nämlich  die  Verschleppung  aller  Agenden,  bloß- 
gelegt und  gezeigt  wird,  daß  er  in  tatsächlich  gegebenen  Verhältnissen 
seinen  Grund  habe;  eine  Milderung  entweder  durch  Bestechung 
(III,  3)  oder  durch  Verringerung  der  Anzahl  der  Richter  bei  einem 
Gerichtshofe  (III,  7)  sei  nur  in  unzureichendem  Maße  möglich.  Daß 
die  Schlußworte  in  III,  8  tovto)v  tolvvv  ovvcov  ov  (prjiui  olÖv  t  eivai  ä)j.o)g 
exetv  rä  Tzgayiiara  31&/jvriGiv  })  ügTteQ  vvv  exet  TtXrjv  rj  /.arä  uly.qüv  tl 
oTöv  re  TÖ  iiiv  dcpeXelvy  rb  de  nqoöd-elvai  %iX.  nur  auf  diesen  Abschnitt 
sich  beziehen,  auf  den  Übelstand  der  unabsehbaren  Verschleppungen 
aller  Agenden,  hat  Lange  bewiesen. 

Der  nächste  Abschnitt  III,  10  handelt  über  die  äußere  Politik 
Athens. 

Der  an  den  Athenern  gerügte  Brauch,  sich  bei  auswärtigen 
Händeln  in  der  Regel  für  die  niedrige  Bevölkerungsklasse  zu  ent- 
scheiden, wird  auf  bewußte  Absicht  zurückgeführt,  da  die  ße/.riovg 
nicht  dieselben  Interessen  wie  die  Demokraten  verfolgen.  Der  Ge- 
dankengang ist  folgender:  Wenn  sich  die  Athener  für  die  ßelriovg 
entschieden,  würden  sie  sich  damit  für  Andersdenkende  entscheiden» 
denn   in  jedem  Staatswesen   hält   es  nicht   der   brave  Teil  der  Bevöl- 


^)  Ein  Beleg,  der  übrigens  mit  dem  vorangehenden  Beleg  für  das  ev  öiajiQdTreadac 
läXXa  gedanklich  auf  das  innigste  zusammenhängt  und  nur  wiederum  die  Unmöglichkeit 
einer  scharfen  Trennung  zeigt. 


—    75    — 

kerung  mit  dem  Demos,  sondern  der  Pöbel,  weil  gleich  und  gleich  zu- 
sammenhält. Im  weiteren  Verlaufe  wird  dann  an  drei  aus  etwa  der- 
selben Zeit  entnommenen  Beispielen  gezeigt,  welche  Folgen  sich  für 
die  Athener  ergaben,  so  oft  sie  ihr  gewohntes  und  in  der  demokra- 
tischen Verfassung  begründetes  Prinzip  aufgaben.  Kaiinka  (a.  a.  0. 
S.  o3)  hat  behauptet,  daß  dieser  Abschnitt  gleichfalls  aus  dem  Rahmen 
der  angekündigten  Untersuchung  herausfalle.  Denn  es  werde  hier  im 
Gegensatz  zu  sämtlichen  Erörterungen  der  zwei  ersten  Kapitel  nicht 
mit  dem  UtiKtätsprinzipe,  sondern  mit  der  natürlichen  Anziehungskraft 
der  politischen  Massen  argumentiert.  Diese  Behauptung  wird  aber  so- 
fort widerlegt  durch  den  Hinweis  auf  die  drei  von  dem  Autor  ange- 
führten Beispiele,  welche  ganz  deutlich  auf  das  Utilitätsprinzip  Bezug 
nehmen.  Daß  Kaiinka  den  Abschnitt  als  aus  dem  Rahmen  der  ange- 
kündigten Darstellung  herausfallend  beweisen  wollte,  hat  seinen  Grund 
darin,  daß  er  auf  diese  Weise  dartun  wollte,  daß  dieser  Abschnitt 
seinen  Platz  mit  vollem  Rechte  hinter  III,   1  habe. 

Ich  glaube  aber,  daß  auch  bei  der  Annahme,  daß  der  Ab- 
schnitt III.  10  mit  dem  zweiten  Punkte  von  I,  1  (ojl:  ev  xal  ÖLaTtQdv- 
Tovrai  Tä?da)  in  Beziehung  steht,  es  möglich  ist,  die  Stellung  von 
m,  10  an  seinem  jetzigen  Platze  als  Nachtrag  zu  begründen.  In  dem 
ganzen  großen  Abschnitt  von  I,  2 — II,  20  hat  der  Autor  seine  in 
I,  1  ausgesprochene  Behauptung  auf  den  3  großen  Gebieten  (der  Bürger, 
Sklaven  und  Metöken,  Bundesgenossen)  zu  beweisen  gesucht  und  dann 
in  III.  1  die  Untersuchung  geschlossen.  Er  mußte  aber  auch  zu  der  in 
III.  10  behandelten  Frage  bezüglich  des  Verhaltens  der  Athener  in 
der  rein  äußeren  Politik  Stellung  nehmen  und  konnte  diesen  Abschnitt 
nicht  in  der  vorhergehenden  Untersuchung  unterbringen  oder  wollte 
es  nicht,  weshalb  er  ihn  hier  als  Nachtrag  gab. 

Um  die  Stellung  der  letzten  zwei  Paragraphen  zum  Thema  prä- 
zisieren zu  können,  hat  Kaiinka  die  wichtigste  Anregung  gegeben,  in- 
dem er  die  Bedeutung  des  ccQa  untersuchte  und  zu  dem  sicheren  Re- 
sultate kam,  äga  könne  hier  nicht  konklusiv  aufgefaßt  werden,  sondern 
müsse  vielmehr  zu  cog  bezogen  und  der  ganze  Satz  cog  oudelg  ccqcc 
äÖLAwg  }jTLf.uüTai  Md-rjvriaiv  dürfe  nur  als  rhetorische  Frage  angesehen 
werden.  Ich  glaube  Kalinkas  Auffassung  noch  durch  folgende  Über- 
legung fester  begründen  zu  können: 

Wäre  äga  konklusiv  zu  fassen,  das  heißt,  würde  der  Einwand 
lauten ,  es  gebe  in  Athen  keinen  ungerechterweise  mit  Atimie  Be- 
straften, so  wäre  doch  die  Aufgabe  des  Verfassers,  diesen  Einwurf  zu 
widerlegen  durch  den  Nachweis,  daß  es  solche  Menschen  in  nicht  ge- 
ringer Zahl  geben  müsse.  Ist  aber  der  Satz  tag  ovöelg  äga  .  .  .  ^d-rjvriöi 


—    76    — 

rhetorische  Frage,  die  in  die  Form  des  Aussagesatzes  umgesetzt  an- 
gibt, daß  es  in  Athen  viele  gibt,  die  ungerechtfertigt  mit  Atimie  be- 
legt wurden ,  dann  muß  der  Autor  beweisen  ,  daß  es  in  Athen  aller- 
dings Leute  gibt,  welche  ungerecht  mit  dieser  Strafe  heimgesucht 
wurden,  daß  es  aber  nur  wenige  sein  können.  Diesen  Nachweis  liefert 
nun  der  Verfasser,  welcher  mit  dem  Satze  schließt,  daß  der  athenischen 
Demokratie  kein  Umsturz  drohe,  ein  Gedanke,  der  sehr  wohl  geeignet 
ist,  den  befriedigenden  Abschluß  der  ganzen  Abhandlung  zu  bilden. 
Daß  diese  Erörterung  über  die  Atimen  hinausgreife  über  den  Kreis 
der  geplanten  Untersuchung,  darin  stimme  ich  Kaiinka  bei. 

Betrachten  wir  nun  das  Verhältnis  der  8  Abschnitte  des  dritten 
Kapitels  zu  den  vorangegangenen,  so  unterscheiden  sich  der  erste  und 
dritte  dadurch,  daß  nicht  mehr  die  Rede  davon  ist,  chg  ev  Siaffüj^owaL 
TTjv  TTokiTEiav  'A,al  TalXa  diaTTQavTovvat ,  .und  daß  sie  daher  streng  ge- 
nommen außerhalb  des  Bereiches  der  Diskusion  liegen.  Dessen  scheint 
sich  auch  der  Verfasser  bewußt  gewesen  zu  sein. 

Der  zweite  Abschnitt  hat  zwar  eine  engere  Beziehung  zum  Thema, 
konnte  aber  schwer  in  den  Kapiteln  I  und  II  ein  Unterkommen  finden. 

Da  aber  die  3  Abschnitte  doch  wichtige  Fragen  enthielten,  die 
wie  in  III,  1™— 9  und  12  und  13  allerdings  in  freierer,  in  §  10  und  11 
in  ganz  naher  Weise  mit  dem  Hauptthema  in  Beziehung  standen,  so 
hat  sie  der  Autor  als  Anhang  aufgenommen  und  als  Nachtrag  hinter 
den  Schluß  der  eigentlichen  Abhandlung  gestellt. 


Lucian  und  die  ^^Neue  Komödie^* 

Von 
KARL  MRAS. 


Verse  von  Komikern  mit  Angabe  des  Dichters  werden  bei  Lucian 
selten  zitiert;  es  ist  gewiß  sehr  bemerkenswert,  daß  er  aus  dem  ihm 
(wie  die  Anspielungen  lehren)  wohlbekannten  Aristophanes  (freilich 
finden  sich  direkte  Hinweise  bloß  auf  die  Wolken  und  auf  die  Vögel) 
nicht  einmal  einen  halben  Vers  anführt.  In  meiner  Untersuchung  will 
ich  bloß  die  „Neue  Komödie"  berücksichtigen,  wobei  ich  bemerke,  daß 
ich  unter  diesem  Namen  die  fxioTj  und  via  verstehe.  Alexis  wird  ein- 
mal (De  lapsu  6)  zitiert  (frg.  incert.  297  Kock),  ein  nur  durch  Lucian 
erhaltener  Vers.  In  demselben  Kapitel  derselben  Schrift  werden  zwei 
ebenfalls  nur  durch  ihn  bekannte  Verse  des  Philemon  (frg.  incert. 
163  K)  angeführt ,  in  den  Amores  K.  43  zehn  (sonst  nicht  erhaltene) 
Verse  des  Menander  (frg.  incert.  535  K).  Dies  sind  alle  Zitate  mit 
ausdrücklicher  Angabe  des  Autors.  Daß  Lucian  bestimmte  Figuren 
des  Menander  und  Antiphanes  im  Gedächtnis  hatte,  beweist  Rhetor, 
praecept.  12,  wo  er  von  dem  Rednerlehrer  höhnisch  bemerkt,  er  ahme 
durch  den  Liebreiz  seiner  Stimme  die  leibhaftige  Thais  der  Komödie 
oder  Malthake  oder  Glykera  nach,  i)  Wegen  der  ausdrücklichen  Be- 
merkung „die  Thais  der  Komödie^'  kann  es  sich  nicht  um  die  Per- 
sönlichkeit dieser  bekannten  Hetäre,  sondern  nur  um  ihre  Rolle  in 
einer  Komödie  handeln.  Zwei  Lustspiele  dieses  Namens  sind  uns 
bekannt,  von  denen  bloß  das  von  Menander  verfaßte  (das  andere  rührte 
von  einem  ziemlich  unbedeutenden  Dichter  Hipparch  her)  in  Betracht 
kommt.  2)   Eine   Mal^duri   (ebenfalls   die  Figur    einer   Hetäre)    schrieb 

^)  A^Tod^atSa  trjv  xojfuxtjv  ?j  Ma)3dxt]v  rj  FXvxs^av  nvä  f^tifi7]adfisvos  reo  TZQOorj' 
veT  Tov  (fd-E'/ftazog. 

^)  Es  war  auch  bei  den  Römern  beliebt,  vgl.  Propert.  II,  6,  3 f.  Turba  Menandreae 
fuerat  nee  Thaidos  olim  |  Tanta,  in  qua  populus  lusit  Erichthonius  und  Ovid.  Rem.  383  f. 
Quis  feret  Andromaches  peragentem  Thaida  partes?  |  Peceat,  in  Andromache  Thaida  quis- 
quis  agat. 


—    78    — 

niemand  außer  Antiphanes.  Und  die  dritte,  Glykera?  Wir  kennen  sie 
jetzt,  es  ist  die  Geliebte  des  Polemon  in  der  vielbewunderten  UeQixEL- 
QOfxivri  des  Menander.  ^)  Pseudolog.  4  beruft  er  einen  von  Menanders 
Prologen,  den  ^'Ekeyyog  2),  worüber  wir  uns  nicht  mehr  wundern  dürfen, 
seitdem  wir  die  'Jdyvoia  im  Prolog  der  ITeQixELQ.  finden.  Fugitivi  19 
macht  er  den  Philosophen  den  Vorwurf,  daß  sie  zwar  die  Schmeichelei, 
wie  sie  sagen,  hassen ,  daß  sie  aber  doch  in  dieser  Hinsicht  den  Gna- 
thonides  oder  den  Struthias  zu  übertreffen  imstande  sind.  ^)  ^Tgoud-iag 
hieß  in  Menanders  Kola^  der  Schmeichler  und  Parasit  (vgl.  frg.  293, 
2  K  und  Plutarch,  Mor.  57a),  den  Terenz  unter  dem  Namen  Gnatho 
in  seinen  Eunuchus  übernahm.  Außerdem  führt  Lucian  mehrere  Verse 
mit  der  Bezeichnung  6  /.M/nr/iog  (cprjatv)  an.  Daß  in  jener  Zeit  der 
Komiker  zar  e^oyj]v  Menander  war .  geradeso  wie  der"  Tragiker  xar 
e^oyrjv  Euripides,  ist  bekannt.  Es  ist  also  von  vornherein  wahrschein- 
lich, daß  unter  diesen  Versen  viele  jenem  Autor  angehören;  in  einem 
Falle  können  wir  es  beweisen,  Jupp.  trag.  53:  oqd-cog  ey,Eiv6  f.ioi  ö  vm^il- 
xbg  eiQTixevaL  öozel'  ovöiv  Ttenovd-ag  deivov  av  (xrj  TZQOGTtoifj  (es  ist  das 
bekannte  Menanderbruchstück  179K,  das  wahrscheinlich  den  ^EjtiTQe- 
Tvovreg  zuzuweisen  ist.  *)  Über  die  anonymen  Verse  brauche  ich  hier 
nicht  zu  sprechen ,  da  P.  Schulze  ^)  und  Dr.  J.  G.  Brambs  ^)  über  sie 
bereits  gehandelt  haben.  Merkwürdig  ist  die  Erwähnung  eines  sonst 
ganz,  unbekannten  Komödiendichters,  Lysimachus,  der  zwar  aus  Böotien 
stammte,  aber  der  Sprache  nach  für  einen  echten  x^ttiker  gelten  wollte 
und  daher  das  Tav  gegenüber  dem  öly^a  überwiegen  ließ.  '^)  Aber  ander- 
seits darf  man  bei  Lucian  durchaus  nicht  eine  solche  Kenntnis  der 
Komödie  wie  z.  B.  bei  Athenaeus  voraussetzen.  Ich  will  hier  auf  eine 
interessante  Tatsache  hinweisen.  In  der  nach  unserem  Geschmack  recht 
frostigen  —  aber  doch  echten  —  Schrift  IleQi  Ttagaalrov  behandelt  Lucian 
in  scherzhaft  rhetorischer  Weise  das  Thema,  daß  der  Beruf  des  Para- 
siten eine  Kunst  sei  (ovi  Teyvi]  f]  TtaQaaiCLV.rj).  Zum  ;; Beweise"  werden 


^)  V.  24  evjiQEJif]  xai  vsav. 

2)  IlaQaxXrjrsog  f^^iuv  tcov  MevävÖQOV  jiQoköycov  slg  6  "Eleyxog. 

^)  KoXaneiav  fiiasTv  cpaai  aoXaxeiag  evexa  tov  Frad'ojviöf^v  r]  tov  SvQOvd'iav  vjtsq- 
ßaXsaß^ac  dvväfisvoi. 

^)  Die  Zeugnisse  bei  Kock  C  A  P  III,  p.  52. 

^)  Quae  ratio  intercedat  inter  Lucianum  et  comicos  Graecorum  poetas  (Berol.  1883) 
p.  10  sqq. 

^)  Über  Zitate  und  Reminiszenzen  bei  Lucian  und  einigen  späteren  SchriftsteDern 
(Eichstätt  1888),  S.  54. 

')  Judic.  vocal.  c.  7:  das  Sigma  spricht:  xatt]y6fit]7'  ös  jiaQa  xoi^icoöuov  rivi  jioirjifj, 
Avaif^a/og  ixaXsTro,  Boiojviog  /iisv  (bg  ecpalvexo  t6  ysvog  avsxa&ev ,  dno  i-ieor^g  dh  d^iMV 
Xeyea^ai  rfjg  'Axxixfjg  '  JtaQa  rovrco  öt]  zcp  ^evco  xtjv  tov  xav  xovxov  jxXeovs^i'av  icptögaoa . 


—    79    — 

Stellen  aus  Euripides  (c.  4)  und  wiederholt  aus  Homer  angeführt.  Da- 
gegen fehlen  einige  höchst  bezeichnende  (durch  Athenaeus  und  Stobaeus 
erhaltene)  Komödienverse,  denen  ganz  dasselbe  Thema  wie  Lucian  zu- 
grunde liegt.  Der  Komödiendichtcr  Diodoros  führt  im  2.  Fragment 
seiner  „Erbtochter"  Kock  CAF  II,  p.  420  f,  ^)  das  Parasitenwesen  auf 
Zeus  und  Herakles  zurück  und  bezeichnet  es  in  den  Eingangsversen 
ausdrücklich  als  Kunst:  Vers  1  ff .  ßovlof.iai  del^at  oacptog  \  chg  aeiivöv 
eaxL  TovTo  .  .  .  ymI  tcov  ^ecüv  evqriua,  Thg  S*  alkag  Teyvag  j  ovödg  dscov 
'/MTeSei^ev  x.  r.  l.  Timokles  im  8.  Fragm.  des  (oder  der?)  Jqay.ovnov 
Kock  II ,  454  f.  -)  preist  die  unentbehrlichen  Helfersdienste  der  Para- 
siten und  ihr  Ansehen  (natürlich  ironisch!).  Nikolaos  frg.  incert.  1  K, 
III.  383  f.  3)  nennt  Tantalos  den  ersten  Parasiten  und  hält  einen  Vor- 
trag über  die  Eigenschaften,  welche  die  Elemente  dieser  Kunst  bilden 
(Vers  30  aror/ela  fiiv  Tavr  eötl  Tr^g  okrjg  Texvrjg).  Von  all  dem  finden 
mr  bei  Lucian  nicht  nur  kein  Zitat,  sondern  auch  nicht  die  geringste 
Gedankenähnlichkeit.  Ihm  waren  also  diese  Komiker  gänzlich  unbekannt. 

Wir  haben  somit  in  unserer  Untersuchung  von  folgender  Grund- 
lage auszugehen :  Zitate  von  Versen  der  Komödie  unter  Angabe  des 
Autors  sind  bei  Lucian  äußerst  spärlich.  Zahlreicher  sind  die  ano- 
nymen Anführungen  von  Stellen ;  übrigens  stehen  auch  sie  an  Zahl 
hinter  den  Zitaten  aus  Euripides  (von  Homer  gar  nicht  zu  reden!) 
weit  zurück.  Wichtig  ist  die  Beobachtung ,  daß  Lucian  die  zitierten 
Stellen  meist  nicht  nachschlug,  sondern  aus  dem  Gedächtnisse  an- 
führte.-^) Auch  gelegentliche  Anspielungen  (aber  ja  nicht  Nachahmungen) 
lassen  auf  die  Bekanntschaft  mit  mehreren  Komödien  schließen ,  so 
(ich  sehe  von  der  ;, Alten"  Komödie  ab)  mit  Antiphanes'  MaXd-ayiri 
und  Menanders  Sdig^  Kola^  und  neQiy.eiQOf.i£vri^  wozu  nach  Jupp.  trag. 
53  vielleicht  auch  die  ^ETtiTQenovTeg  kommen.  Anderseits  war  er  in  der 
Komödie  weit  weniger  als  Athenäus  bewandert. 

Von  dieser  Grundlage  aus  wollen  wir  an  die  Untersuchung  jener 
lucianischen  Schrift  herantreten ,  für  die  am  meisten  eine  ausgiebige 
Benützung  der  Mittleren  und  Neuen  Komödie  behauptet  wird.  Es  sind 
die  Hetärengespräche. 

Dial.  mer.  ],  1:  Ein  Soldat,  der  früher  die  Habrotonon  zur  Ge- 
liebten hatte,  ist  seiner  neuen  Maitresse  Glykera  untreu  geworden.  Wir 
werden  an  Menanders  neQiy.eLQ0U£vii  erinnert.  Aber  nur  einen  Augen- 
blick.   Zwar    stimmen    die   weiblichen   Namen ,    auch   der  Soldat  fehlt 


1)  Athen.  YI,  239  b. 

2)  Athen.  VI,  237  d. 

3)  Stobaeus  Floril.   14,  7. 


^)  S.  die  Untersuchungen  von  Brambs  a.  a.  0.,  S.  37  iF. 


—    80    — 

nicht;  allein  er  ist  bei  Menander  ein  Korinther  (Vers  10),  bei  Lucian 
ein  Akarnane.  Auch  nimmt  der  Korinther  die  Habrotonon  erst  nach 
dem  Zerwürfnis  mit  der  Glykera  —  die  durchaus  keine  gewöhnliche 
Buhlerin  ist  —  in  sein  Haus.  Im  übrigen  gibt  Lucian  ein  Gespräch 
zwischen  zwei  Hetären,  die  über  eine  dritte  losziehen.  Hier  hört  natür- 
lich jede  Ähnlichkeit  auf.  Eine  andere  Anspielung  auf  die  neQty.£iQ0Li6vrj 
werden  wir  noch  finden. 

Dial.  mer.  7,  4:  Eine  Mutter  macht  ihrer  Tochter  Musarion 
Vorwürfe,  daß  sie  nur  den  Chaereas  liebe.  „Du  mllst  anständig  sein. 
als  ob  du  keine  Hetäre,  sondern  eine  Priesterin  der  Demeter  (QeojLio- 
(fÖQOv)  wärest!"  i)  Derartige  Witze  scheinen  in  der  Komödie  vorge- 
kommen zu  sein;  sie  waren  übrigens  naheliegend  genug.  Die  Lauten- 
schlägerin  Habrotonon  beklagt  sich  in  Menanders  ^ETttTQSTtovTEg  über 
die  Vernachlässigung  durch  Charisius  (Vers  251  ff.):  „Wenn  es  auf 
diesen  ankäme,  könnte  ich  jetzt  den  Korb  der  Göttin  tragen,"  2)  sie 
meint  offenbar,  als  Jungfrau  (ytogri  y.avriq)6qoQ)  im  Festzuge  der  Pana- 
thenäen.  In  demselben  Kapitel  tadelt  die  Mutter,  daß  der  junge  Mann  der 
einzige  sei,  der  keinen  Ausweg  finde,  sich  Geld  zu  beschaffen,  der  einzige, 
der  nicht  durch  einen  Sklaven  einen  Betrug  ins  Werk  setze,  nicht  von 
der  Mutter  durch  die  Drohung,  er  werde  als  Soldat  in  die  Fremde 
ziehen,  es  erpresse.  Die  verschlagenen  Sklaven,  die  den  jungen  Herrn 
helfen  und  die  alten  prellen ,  sind  aus  Plautus  und  Terenz  bekannt. 
Ins  Ausland  als  Söldner  zu  gehen,  war  bei  unzufriedenen  jungen  Leuten 
zur  Zeit  der  Neuen  Komödie  beliebt.  In  Menanders  ^a/ula  will  Moschion 
auf  seinen  Vater  Demeas  durch  diese  Drohung  Eindruck  machen : 
Vers  362  ff.  el  .  .  .  jurj  TOöavr  -^v  ifiTioSiüv^  .  .  .  (XTtocpd^aQelg  \  iy,  Trjg 
Tcokecog  av  satcoöcov  eig  BdytTQa  ttol  \  ^  Kaglav  öteTQißov  alxj^id^cüv  i'/,el. 
In  Plautus'  Trinummus  (nach  dem  QriGavqog  des  Philemon)  596  ff.  sieht 
der  Sklave  Stasimus  des  ruinierten  Lesbonicus  dieses  Los  voraus  (ibit  .  .  . 
latrocinatum  aut  in  Asiam  aut  in  Ciliciam  ^j. 

Im  Heaut.  des  Terenz  quält  sich  Menedem  mit  Gewissensbissen, 
daß    er    seinen    Sohn    Clinia(s)    durch    schlechte  Behandlung   dahin    ge- 


^)  Reinheit  war  für  das  Fest  der  Demeter  erforderlich ;  so  heißt  es  in  dem  wichtigen 
Scholion  zu  D.  mer.  II,  1,  H.Rabe  (Scholia  in  Lucian.,  Lips.  1906)  S.  276,  3  ff .  rä  de 
oajievra  rojv  Ef.ißXr)d-evroiv  —  d.  h.  der  an  den  Thesmophorien  in  Erdschlünde  geworfenen 
Ferkel  —  ...  dvatpsgovoiv  m>xXrirQLai  xaXovfievai  yvvdiHEs  xai^uQEvoaoai  (d.  i.  ohne  ge- 
schlechtlichen Verkehr)  xqiüv  iiue^cov,  und  zu  unserer  SteUe  bemerkt  der  Scholiast  R.  a. 
a.  0.   S.  279,   21  :   r^g  0ea[xo(pÖQOv  ai  isgecai  ijiagd^evevovro  diä  ßiov  'A'O'tjvrjaiv.  — 

^)  sjiel  TÖ  y'  im  lovrcp  ro  xfjg  ■&eov  (psQeiv  \  xavovv  sjuoiy'  olov  rs  vvv  ior'. 

^)  Mercator  851  ff.  (der  von  Liebesleid  gequälte  Charinus  will  in  die  Fremde  ziehen) 
gehört  nicht  hieher  trotz  Egomet  mihi  .  .  .  agaso  sum,  armiger  (852):  denn  der  junge 
Mann  will  seine  Geliebte  in  der  Fremde  suchen  (858  ff.). 


—    81    — 

bracht  habe .  in  Asien  Kriegsdienste  zu  nehmen  (96  ff.) ;  übrigens  war 
auch  der  Vater  in  seiner  Jugend  Söldner  gewesen  (Vers  111  f.). 

Dial.  mer.  8,  1 :  „Wer  weder  eifersüchtig  ist"  —  sagt  Ampelis 
zu  Chrysis  —  „noch  aufbraust  noch  seine  Geliebte  je  geprügelt  oder 
ihr  die  Haare  gestutzt  oder  ihr  die  Kleider  zerrissen  hat,  ist  das  noch 
ein  Liebhaber?"  Die  Äußerungen  des  Zornes  sind  alle  zu  natürlich, 
als  daß  wir  an  ein  Vorbild  zu  denken  hätten  —  bis  auf  TceQLs/.eiQEv. 
Daß  ein  Liebhaber  sein  Mädchen  so  grausam  und  dauernd  bestrafte, 
war  doch  gewiß  etwas  Außergewöhnliches.  Wir  werden  also  nicht  fehl- 
gehen, wenn  ^\iv  annehmen,  daß  sich  Lucian  an  Menanders  TleQiXEiQo- 
jusvri  erinnerte;  dieser  Dichter  hat  übrigens  auch  eine  ^PanLC^oiitvri  ge- 
schrieben (Bruchstücke  bei  Kock  CAF,  III,  p.  123  ff.),  und  weil  es  nun 
bei  Lucian  heißt  eöqaTtLOs  noxe  lij  TreQiexeiQev  ^  könnte  man  vielleicht 
meinen,  er  habe  an  beide  Komödien  gedacht.  Allein  um  das  QaTtlKeiv  zu 
erwähnen,  braucht  man  keine  Komödie  im  Sinne  zu  haben. 

Dial.  mer.  12,  3:  Lysias  wird  von  seinem  Vater  wegen  seiner 
Liebschaft  mit  einer  Hetäre  im  Hause  eingesperrt.  Ähnliches  mochte 
ich  im  Alltagsleben  nicht  selten  ereignen.  Auch  die  Komödie  nahm 
davon  Notiz;  in  der  2af.iia  Menanders  passiert  es  dem  jungen  Moschion 
wegen  seines  Verhältnisses  mit  Plangon  (Vers  20 — 31 ,  nach  Roberts 
Rekonstruktion ) . 

Dial.  mer.  9,  5:  der  abgewiesene  Soldat  Polemon — Athener,  ^tei- 
Qievg  Tlavdiovidog  (pvlr^g  (K.  4) ,  nicht  Korinther  wie  in  der  UeQixei- 
QOuh'Ti,  aber  Chiliarch  wie  in  dieser  i)  —  droht  mit  der  Erstürmung 
des  Hauses ,  in  das  sich  seine  einstige  Freundin  geflüchtet  hat ; 
er  kommandiert:  „die  Thraker  sollen  gewappnet  kommen  und  mit 
ihrer  Phalanx  die  Gasse  absperren.  An  die  Front  das  Hopliten- 
kontingent,  an  die  beiden  Flügel  die  Schleuderer  und  Bogenschützen, 
die  übrigen  rückwärts!"  Ähnliche  Szenen  kamen  in  der  Komödie  vor. 
In  Menanders  UeQiy.eiQoinsvrj  droht  Sosias,  der  Sklave  des  Polemo,  das 
Haus  zu  stürmen .  in  dem  Glykera  Aufnahme  gefunden  hat  (Vers  273 
bis  277):  oi-Miov  tovt  auTty!  i^atQiJGOjLiev  \  otvXi^e  töv  jlwixÖv  .  .  .  ol 
Ttaldeg  oi  TzeXTagi  s'xovreg  ^)^  tvqIv  Ttxvoai,  \  diaqTcdaovxcii  Ttdvxa.  Am 
meisten  Ähnlichkeit  mit  jener  Stelle  hat  Terent.  Eunuch.  773 — 782 
(der  Soldat  Thraso  ^)  spricht) :  Primum  aedis  expugnabo  ...  In  medium 


*)  Luc.  ebenda    (zum  Kommandanten   über  5000  Mann    avanciert)  und  Men.  V.  178 
11  d-eolg  ix^Qcp  jiTSQOcpÖQw  xi^Xidgxcp. 

2)  So  ist  wohl  mit  Leo  zu  lesen  (cod.  UEÄTPAY). 

^)  Bei  Menander,  aus  dessen  Köla^  Terenz  außer  der  Figur  des  Parasiten  (s.  oben) 
auch  die  des  Soldaten  entlehnte  (vgl.  Prolog  30—33),  hieß  nach  frg.  293  K  III,  p.  83  der 
Bramarbas  Bias. 

Wiener  Eranos.  fi 


—    82    — 

huc  agmen  cum  vecti ,  Donax ;  j  Tu.  Simalio,  in  sinistrum  cornu ;  tu, 
Syrisce,  in  dexterum,  |  Cedo  alios  .  .  .  ego  ero  post  principia ;  inde  Om- 
nibus Signum  dabo.  In  Men.  KöXa^,  frg.  Oxyrhynch.  Pap.  III,  Vers  82  f. 
(vgl.  Leo,  Götting.  Nachr.  1903,  S.  674— 678)  fürchtet  ein  Kuppler, 
der  Soldat  (Blas)  werde,  wenn  er  ihm  das  zweifach  umworbene  Mädchen 
nicht  verkaufe,  Gewalt  gebrauchen:  ueTaTtkiil'eS-'  ereQovg  {ouyozQa- 
Tuorag  ...  \  ovg  TiaqacpvXaSeL'  Traldeg ,  ey.TQißo<^Lf.iEd^  aV) ,  aber  Ähn- 
liches droht  ihm  auch  von  Bias*  Nebenbuhler  ^  einem  jungen  Bürgers- 
sohn (CDettJ/or^;  S.  685),  Vers  91 — 95:  vjveI^^  6  yelTtüv  äXt  kav  alöd-r^^ , 
ujLtov  I  TtQOöeiOLv,  l^rj/.ovd-^  IvaiQovg  JvaQccXaßtov  .  .  .  ßoiov  d7tei?.iüv  z.  t.  X. 
Lucian  hat  dieses  Thema  in  einem  anderen  Dialog  (15)  variiert. 
Während  nämlich  im  9.  Gespräch  der  Einbruch  bloß  angedroht  wird, 
ist  er  im  15.  wirklich  erfolgt;  die  Musikantin  Parthenis  erzählt  ihrer 
Freundin  Kochlis  voller  Entsetzen ,  wie  in  das  Haus  einer  Hetäre  ein 
ätolischer  Soldat  mit  acht  handfesten  Jünglingen  eindrang  und  alles 
über  den  Haufen  warf.  Die  Personen  sind  übrigens  andere  als  in 
jenem  Dialog. 

Auch  im  13.  Gespräch  behandelt  Lucian  das  Thema  Soldaten- 
liebe, aber  wieder  von  einer  andern  Seite.  Der  Hauptmann  Leontichos 
erschreckt  seine  Geliebte  durch  Erzählungen  von  seinen  angeblichen 
Mord-  und  Heldentaten.  Sein  Diener  Chenidas  hilft  ihm  beim  Erdichten, 
ja  er  reizt  ihn  dazu.  Geradeso  macht  es  in  Plautus'  Miles  glor.  (nach 
dem  M.XaC,(J)v  eines  unbekannten  Dichters)  der  Parasit  mit  dem  Bra- 
marbas (Vers  25 — 60) ;  der  Inhalt  der  Lügen  ist  freilich  hier  und  dort 
verschieden.  Durch  seine  Schaudermären  erregt  Leontichus  in  der 
Hetäre  Ekel  und  Abscheu.  Dies  war  das  Thema  von  Menanders  Mioov- 
fiEvog  (K.  C  A  F.  III,  p.  97—101).  Denn  Libanius  IV,  512,  1  Reisk.  sagt: 
sxsi^g  £>t  r^?  /.cjuiüölag  TcaoaXaßiov,  cbg  uTteQoyxov  tl  vmI  ooßaqbv  y.al 
tzoXXtI]  Tig  äXaCovüa  GTQaruoTTjg  dvt'^Q  '  eY  ng  vfAiov  (paPTCcCeTai  töv  Mevdv- 
ÖQOu  QQaacjvLöv^v,  oidev^  o  Xsyo) ;  er  spricht  nun  davon,  daß  der  Mensch 
„an  militärischer  Unleidlichkeit  krankte"  (aTQatuortxrjv  arjölav  voGoüvra) 
und  dadurch  seiner  Geliebten  verhaßt  wurde. 

In  dem  erwähnten  15.  Gespräch  bemerkt  K.  3  die  Hetäre,  nach- 
derti  ihr  die  Parthenis  ihr  Mißgeschick  erzählt  hat:  ^^Diese  Genüsse 
kann  man  von  diesen  Soldatenliebschaften  haben,  Schläge  und  Prozesse."  ^) 
So  bedauert  in  der  neQiy.£iQoiLi6vri  (Vers  66 — 68)  Doris .  die  Dienerin 
der  mißhandelten  Glykera,  eine  jede,  die  einen  Soldaten  zum  Geliebten 
hat:  dvGTvxrjg  \  fjvig  arQaTuorrjv  sXaßev  avöga'  JTaQdvof.iOL  \  ccTcavzeg,  ovdiv 
rtiöcöv.  Die  Hetäre  fährt  bei  Lucian  fort:   ».Wenn's  zum  Zahlen  kommt. 


^)   TaDr'  eoriv  djco?,avaai   zcbv  otquikotihcov  tovtcüv  eQcbicov,  Tihp/äg    y.al   öi'y.ag. 


—    83    — 

dann  sagen  sie:  ,Wart  auf  meinen  Sold  (ovvTa^ig) ^  bis  ich  meine 
Löhnimg  bekomme,  und  ich  werde  dann  alles  tun!'"  Diese  Manier  der 
Söldner  und  Prahlhänse  beleuchtet  auch  ein  ergötzliches  Bruchstück  aus 
einer  Komödie  (unbekannten  Titels)  des  (DoLvi-Kiörig  Frg.  4  K.  (III,  p.  334) : 
Eine  Hetäre  will  ihren  Beruf  aufgeben ;  sie  legt  einer  Genossin  (oder 
Dienerin?)  ihr  Mißgeschick  dar  (Yersöif.):  „Gleich  zu  Anfang  bekam 
ich  einen  Soldaten  zum  Freund ;  ununterbrochen  erzählte  er  von  den 
Schlachten  und  zeigte  dabei  seine  Wunden .  zahlte  aber  nichts ;  er  be- 
hauptete, eine  Pension  (dayQedv)  vom  König  zu  beziehen,  und  das  sagte 
er  immer ;  wegen  dieser  Pension,  von  der  ich  spreche ,  hatte  mich  der 
Schelm  ein  Jahr  lang  geschenkt  (dcoQedv,  d.  i.  gratis).''  Die  Zeichnung 
des  rohen  und  prahlerischen  Söldnerführers  ist  für  Lucians  Verhältnis 
zur  Komödie  von  Bedeutung.  Denn  während  er  alle  anderen  Figuren 
noch  in  seiner  eigenen  Zeit  finden  und  von  dort  entlehnen  konnte  — 
die  Hetäre  so  gut  wie  ihre  Liebhaber  waren  gewiß  zu  Lucians  Zeit 
nicht  anders  als  in  der  Epoche  der  Neuen  Komödie !  —  fehlte  einzig 
und  allein  der  Bramarbas,  seitdem  römische  Legionen  die  von  Söldner- 
heeren gestützten  Diadochenstaaten  über  den  Haufen  geworfen  hatten. 
Somit  konnte  Lucian  seine  Kenntnis  des  Bramarbas  nur  aus  literarischen 
Quellen ,  nicht  aus  eigener  Anschauung  schöpfen ;  hier  bot  ihm  die 
Komödie  die  beste  Belehrung. 

Wichtig  sind  die  Namen  der  in  den  Hetärengesprächen  auftreten- 
den Personen.  Da  die  eingehende  Behandlung  dieser  Frage  zuviel 
Raum  einnehmen  würde  —  es  wären  etliche  90  Namen  zu  besprechen  — 
so  will  ich  mich  hier  ganz  kurz  fassen.  Namen,  wie  sie  uns  aus  Plautus 
und  Terenz ,  aus  den  Bruchstücken  der  Komiker  und  jetzt  auch  aus 
Menander  bekannt  sind,  fehlen  nicht.  Wir  finden  unter  den  Männern: 
MvvLcptov  (Dial.  mer.  7.3).  Jr^umg  (2,  2:  ein  „Alter"  wie  bei  Menander 
[2a^ulaJ  und  Terenz  [Eunuch  und  Adelphoe] !),  KXeiviag  (10:  ein  ,,adu- 
lescens''  wie  bei  Terenz  He  au  t.  und  Andr.  86!),  Accy^riq  (7,  2),  Mooxlcov 
(11,  3,  Jüngling  wie  in  Menanders  UeQi/XiQ.  und  2ajula)  ^  ITcciLKpilog 
(2,  Jüngling  wie  in  Terenz'  Andria  und  Hecyra),  llole^cüv  (s.  oben!), 
(Davlag  (4,4),  (Dillvog  (6,1),  XaiQsag  (7),  XaQivog  (A,  ein  „adulescens", 
wie  in  Plautus*  Mercator  und  Pseudolus  sowie  in  Terenz'  Andria!), 
XaQ^idrig  (2, 4  und  11).  Aber  die  Figur  des  Jcoqlcdv  (14,  ein  armer 
Ruderknecht)  hat  mit  dem  Kuppler  Dorio  im  Phormio  gar  keine  Ver- 
wandtschaft. Hingegen  stoßen  wir  auf  die  durch  die  Komödie  typisch 
gewordenen  Sklavennamen  Jqouwp  (10,  2  und  12,  3,  bei  Plautus,  Terenz 
und  in  den  Komikerfragmenten)  und  UaQi^evcov  (9,  1,  es  gilt  dasselbe 
wie  von  JqolimvI)-^  den  TißLog  (9,5)  kennen  wir  jetzt  als  TlßEiog  aus 
Menanders  Heros  Vers  21. 

6* 


—    84    — 

Wie  frei  Lucian  verfuhr,  beweist  er  durch  seine  Verwendung  des 
Namens  Ggdacov  (D.  mer.  12,  1).  In  der  Komödie  ist  es  eine  Bezeichnung 
des  Bramarbas:  Terenz,  Eunuch i);  ein  Stück  des  Alexis  hatte  diesen 
Titel  (Kock  frg.  92.  II,  p.  326);  ein  Bramarbas  QQaavlkov  kam  in 
Menanders  gleichnamiger  Komödie  vor  (K.  III,  p.  69  f.),  ein  Ogacjovidrig 
(ebenfalls  miles  gloriosus)  im  Mioovjuevog.  Bei  Lucian  hingegen  ist 
Ggdocüv  ein  Zechbruder  des  Lysias,  also  athenischer  Jüngling.  In  der 
Tat  kommt  dieser  Name  in  allen  drei  Bänden  des  CIA  vor,  war  also 
gut  attisch.  Hätte  sich  Lucian  an  den  Brauch  der  Komödie  gehalten^ 
so  hätte  er  den  yleövTtxog  (13)  so  nennen  müssen. 

Von  diesen  eben  besprochenen  Namen  abgesehen,  bleiben  noch 
etwa  dreißig  übrig,  die  den  typischen  Personennamen  der  Komödie 
ferne  stehen. 

Unter  den  Fraueniiamen  finden  wir  gleichfalls  manche  aus  der 
Komödie  bekannte;  Hetären:  MßQÖiovov  (D.  mer.  1,  Men.  ^^/rtir^.  und 
neQL-aeiQ.^)),  J4u7teUg  (8,  Plaut.  Rud.  Ampelisca,  Mädchen  des  Kupplers 
Labrax),  Bay,yig  (4,  Plaut.  Bacch.,  Terent.  Heaut.,  Hec,  Adelph.  II,  1), 
rivAeqa  (1,  Men.  iZe^r/.  [Maitresse] ,  Ter.  Andr.  [Glycerium,  angebliche 
Schwester  der  Hetäre  Chrysisj),  Jelcplg  (14, 4,  Plaut.  Mosteil.  [Del- 
phium]),  Qatg  (1;  3,  2;  Ter.  Eun.,  auch  sonst  in  der  Komödie,  so  schrieb 
bekanntlich  Men.  eine  Gatg)^  yteaiva  (5,  Plaut.  Cure.  [Türhüterin  des 
Kupplers]),  MeXiTza  (4;  Antiphanes,  Titel  einer  Komödie  [K.  II,  p.  73]), 
MvQTcilri  (14;  nicht  in  der  Komödie,  aber  bei  Herondas  I,  89^)  und  II.  65 
und  79  [Hetäre]),  üavwxlg  (9,  Titel  einiger  Komödien  [Fest  oder 
Hetäre?]),  ^Yf.ivlg  (13,  Titel  eines  Stückes  des  Men.*)),  QiXaivlg  (6,  1; 
Plaut.  Asin.  [Philaenium]) ,  WLlrj/uäTLOv  (11,  2;  Plaut.  Most:),  Olhwa 
(3,  Men.  FecoQyog  [Vertraute,  vielleicht  Amme  der  Myrrhine]),  Xgco/g 
(8,  Terent.  Andr.  69 ff. ;  Antiphanes,  TiteP);  Men. -5"«^/«  [Konkubine], 
Plaut.  Pseud.  659  [alte  Wirtin]);  fraglichen  Standes  yieaßla  (2,  3; 
Terent.  Andr.  [Hebamme] ) ;  Dienerinnen  der  Hetären:  JwQig  (2,3; 
Men.  IleQiiiELQ.  [Dienerin  der  Grlyk.],  Ter.  Eun.  [Dorias  ancilla,  aber  im 
Kod.  A  IV,  3  Doris],  Diphilus  56  K  [Sklavin]),  nv^idg  (12,  Terent.  Eun., 
(DoLVixLörig  frg.  4,  2  [die  Person,  mit  der  die  Hetäre  spricht;  s.  oben]); 
die  Witwe  eines  athenischen  Schmiedes  hat  D.  mer.  6  den  bezeichnenden 
Namen  KQwßvXn]  (von  KQwßvAog)^  wie  bei  Men.  frg.  incert.  929  gleich- 
falls eine  Mutter  und  frg.  402  {niövAOv)  eine    reiche  Erbtochter  heißt. 


^)  Allerdings  hieß  im  Original  der  Soldat  anders;  s.  oben. 

^)  Wenn  ich  nichts  bemerke,  sind  ebenfalls  Hetären  gemeint. 

^)  Eine  der  Frauen  aus  dem  Volke,  bei  denen  die  Kupplerin  ihr  Glück  versucht. 

^)  K.  III,  p.  135ff'. ;  es  wird  aber  zweimal  mit  h  Tcp"Yf4viSi  zitiert. 

5)  K.  II,  p.  110. 


—    85    — 

Auch  unter  den  Frauennamen  bleiben  etliche  dreißig  —  ebenfalls 
die  überwiegende  Mehrzahl  —  die  wir  —  bisher  wenigstens  —  aus 
der  Komödie  nicht  belegen  können;  einige  sind  ihr  überhaupt  von 
vornherein  abzusprechen,  so  Jeivo/^dxri  (1,  2),  Jri^iovaaoa  (5),  ^Egaal-KleLa 
(10,  3),  Meyilla  (5). 

Als  Attizist  war  Lucian  ein  guter  Kenner  des  Wortschatzes  der 
Komiker.  Ich  will  also  zum  Schlüsse  auf  einige  solche  Ausdrücke  ver- 
weisen, mit  besonderer  Berücksichtigung  der  neugefundenen  Menander- 
stücke. 

Dia],  mer.  1, 1  nennt FAr/tf'^or den akarnanischen Soldaten £^7ra^f^og. 
Das  war  eine  bei  den  Komikern  beliebte  Bezeichnung,  wie  Pollux  und 
Plutarch  bezeugen,  ersterer  VII,  §  46:  i^  ^^  (%^(^f-i^s)  ^ccQ^fpiQ  y^ccl  Ttaqa- 
7t()Q(pvQog  lij  cbg  rj  vsa  y^wuojdia,  euTtaQucpog,  letzterer  Quaest.  conviv. 
615  D  ^evog  Tig  üotisq  evTtdovcpog  1%  /.co/iuijöiag^)]  in  der  Tat  lesen 
wir  beim  Komiker  Nikostratos  frg.  9,  K.  II,  222  (aus  den  BmJilelg) 
ipvy,vt]Qiov  TJig  evTvaQvcpov  kejcToceoov  (nach  Athen.,  der  diese  Worte 
YI,  230  d  zitiert,  beziehen  sie  sich  auf  einen  dXaC,v)v  aTQaTuoTrjg). 

Weniger  besagt  Dial.  mer.  7,  2  die  Erwähnung  des  Tagavtivldiov 
(eines  in  Tarent  verfertigten  Festgewandes). 2)  Zwar  können  wir  als 
Gewährsmänner  für  dieses  Wort,  abgesehen  von  Lucian  (nebst  seinem 
Nachahmer  Alkiphron  I,  36,  2)  und  den  Lexikographen  und  Gramma- 
tikern, nur  Komiker  anführen,  nämlich  Nikostratos ^ )  und  jetzt  auch 
Men.  Epitr.  302  (in  der  Form  ra^avTivor,  dem  Grundwort  zu  zagavTividiov; 
es  ist  das  Kleid,  das  die  naiicpllr^  bei  der  Nachtfeier  trägt);*)  allein  daß 
die  feinen  Kleider  von  Tarent  allgemein  bekannt  und  geschätzt  waren, 
lehrt  Luc.  Rhet.  praec.  15,  wo  das  blumige  weiße  Gewand  tarentinischer 
Fabrikation  ebenso  wie  die  attische  Sandale  und  der  sikyonische  Schuh 
sal  Ausstattung  dem  Zögling  der  Rhetorik  empfohlen  wird,  und  De 
calumnia  16,  wo  er  erzählt,  daß  es  dem  Platoniker  Demetrios  am  Hofe 
des  Ptolemaeus  Dionysos  schlecht  ergangen  wäre ,  wenn  er  nicht ,  an- 
getan mit  einem  ragavTiviÖLov,   am  Dionysosfeste    teilgenommen    hätte. 

*)  Es  ist  interessant,  daß  sowohl  Lucian  als  auch  Plutarch  dieses  Vokabel  in  ihren 
Wortvorrat  aufnahmen;  das  beweisen  Stellen,  wo  beiden  die  Erinnerung  an  die  Komödie 
fernelag:  Luc.  Somn.  16  (der  Flügelwagen  nach  Fiat.  Phaedr.  p.  246 e)  i\uoi  söoxovv  evjtaQvqpög 
reg  enavrjxeiv  und  Plut.  Aem.  Paul.  33  veaviaxoi  jceQtC(Of4aoiv  sdiiaQvcpoig  sataXfievoi  (die 
Jünglinge,  die  im  Triumphzug  des  Paulus  die  Rinder  zum  Festopfer  führen) ;  dagegen  ist 
letzterer  Moral.  547  e  tavxa  yaQ  od  Jigög  azQaxioiTag  /^ovov  ovöe  vEOJiXovxovg  söJiaQvcpa 
xal  ooßaoa  öirjyrjuaTa  JiEQdtvovxeg  von  dem  unmittelbar  vorangehenden  Menanderfragment 
ine.  563  K  (beginnt  mit  acpdxxei  fte)  beeinflußt. 

^)  Hesych.  sub  xaQUvxivov  p.  1436  Schm. :  ifidxiov  yvvaixelov  /.e:ix6v,  XQOoaovg  e/or 
£X    xov  evog  ftSQOvg. 

^)  Suidas  sub  Ta^arxiviSiov  p.  1008  Bekk. :  ovxcog  NixöaxQaxog. 

*)  xaQavxlva  will  Robert  auch  TleQix.  111  herstellen;  doch  ist  die  Lesung  unsicher. 


—    86    — 

Dial.  mer.  5,  1:  ÜQbg  xrig  novqoTQÖcpov.  Der  Ausdruck  ist 
dichterisch  und  wird  zunächst  als  Attribut  verschiedener  Göttinnen 
(Ft],  Jriut]TriQ^  ^ET-arri,  'JäQTCfxig,  KijrcQig  [Venus],  aber  auch  von  Ländern) 
gebraucht;  hier  aber  steht  er  als  Substantivum  (Aphrodite)  wie  beim 
Komiker  Plato  frg.  174,  K.  I,  648  (aus  dem  (Ddcov^)),  Vers  7  f.  TCQÜxa 
(A.iv  i/nol  yäq  yiovQOTQÜcpo)  TCQo&vExai  \  nKa'Aovg  svoQxris. 

Der  Atticismus  '/,Ey,Trji.tivri  ,,Herrin"  (Men.  Her.  37,  Epitr.  380, 
TIeqix.  62,  68,  146.  306)  war  Lucian  geläufig,  denn  er  verwendete  ihn 
einigemale  im  neunten  Gespräch. 

Dial.  mer.  10,  3  gebraucht  Lucian  das  bloß  dichterische  Wort 
zdlav  in  derselben  abgeschwächten  Bedeutung  wie  Menander.  Denn 
Drosis,  gekränkt,  daß  ihr  der  ungetreue  Liebhaber  in  seinem  Brief 
nicht  einmal  einen  Gruß  entbiete,  meint  mit  aial  zdlav  nicht  „ach, 
der  Unglückliche!*'  (unglücklich  ist  ja  sie  selber),  sondern  „ach,  der 
arme  Narr!''^)  Genau  so  („du  armer  Narr*',  manchmal  „du  Ver- 
blendeter") —  beachte  auch  die  Setzung  der  dritten  Person  trotz  des 
Vokativs  —  bei  Menander  (unendlich  oft!):  .2"«^.  95  (w  zdXav  bezieht 
sich  auf  das  kleine  Kind,  „du  armer  Wurm!"),  103  („ich  Törin!"), 
212  („du  Verblendeter!");  'E7citq.  247  („der  Narr!"  [von  Charisius], 
daher  249f.  rdlag  o'^rog;  rdlav  ist  mit  ot'x  ea  [Subj.  Charisius]  ver- 
bunden), 252  (wieder  von  Char.  to  räXav),  279,  359  (,,du  Trottel,  wes- 
halb scheine  ich  dir  ein  Verlangen  nach  Kindern  zu  haben?"  erwidert 
die  Hetäre  dem  etwas  begriifstützigen  Sklaven),  449  (me  .2'«^/.  95; 
xlaviLWQi^eTai  trotz  des  Vokativs),  451  („ich  arme  Närrin!";  so  sagt 
Sophrone  von  sich  selbst,  denn  die  Habrotonon  wird  von  ihr  erst 
Vers  456  x^^Q^)  (pi^i^ctiri  bemerkt);  neQi%eLq.?Al  (wie  Epitr.  451).  In 
derselben  Bedeutung  wird  auch  dvofxoQog  verwendet,  2a{,i.  98  („du 
[vorlaute]  Törin"),  213  (nom.,  =  w  zälav  212;  Demeas  entgegnet  val 
„dvGf^oQog^^)  imd  ^E7tLTQ.2Sl  (al^  Svo/hoq\  „du  abscheulicher  Mensch" 3))^ 
sowie  xaxodaLfiov,  ITe^rKEiQ.  243  und  257.  Wenn  wir  von  den  beiden 
letzten  Versen,  in  denen  wir  uns  über  die  sprechenden  Personen  noch 
nicht  recht  im  klaren  sind,  absehen,  so  bedienen  sich  außer  UeotxeiQ.  317 
nur  Frauen  dieser  Bezeichnung.*) 


*)  Dieses  Stück,  Olymp.  97,  1  (s.  Kock  a.  a.  0.,  p.  646)  aufgeführt,  gehörte  nach  Zeit 
und  Stoff  der  mittleren  Komödie  an. 

'^)  Es  folgt  ovös  ro  ;i^a<()£fr  JiQOoeyQaxpe. 

")  So  übersetzt  es  Prof.  v.  Arnim. 

*)  Natürlich  kommt  TaXag  bei  Menander  auch  in  der  Grundbedeutung  (miser,  misera) 
vor:  2"«/^.  241,  307,  337;  'Ethtq.  ?,i2,  408.  Unsicher  ist  UeQix.'^m.  Sa^uia  84  hält  es 
die  Mitte  zwischen  den  beiden  Bedeutungen :  „Ich  leider  unentbehrliches  Hausmöbel  (c5 
räXaiv'  syco)  mußte  einst  den  jungen  Herrn  ammen  und  jetzt  soll  ich  auch  seinen  Kleinen 
betreuen ! "  klagt  die  alte  Amme. 


—    87    — 

Dial.  mer.  12.  4:  Lysias  erzählt,  wie  er  sich  nachts  ins  Haus 
seiner  Geliebten  Joessa  schlich  und,  in  der  Dunkelheit  herumtastend, 
zu  ihrem  Bett  gelangte.  Joessa  unterbricht  ihn  lebhaft  (Lysias  hatte 
behauptet,  bei  ihr  einen  Jüngling  gefunden  zu  haben):  TL  egeXg  .  . 
äycovico  yccQ  (d.  h.  „ich  bin  voller  Aufregung,  Spannung").  Dieselbe 
Bedeutung  hat  dywnäv  bei  Men.  Her.  2:  xof>cov  ri^  Jäe,  (.lot  do%tlg 
.csTTOTi'KsvaL  j  Ttaf-tfAtynd-egy  elva  .  .  dycoviäv. 

Dial.  mer.  15,  2:  h.cpd^eiqov  „troll  dich  hinaus!''  In  dieser  Be- 
deutung bei  Menander  drcocpd^eiQEöd'ai^) :  ^a/ula  216  ärtoipd-EiQOV  xctyv 
(der  erzürnte  Demeas  weist  seine  Konkubine  aus  dem  Haus)  und  306 
(Worte  des  Moschion;  s.  oben);  daher  elocpd^eiQeöd^ai  „sich  hineintrollen": 
IleQiXEiQ.  119  oi'Z    £ioq)0^eQEiGd^e    d-ärrov    vf^ieig    l^rcodiov    und    Sam.  313 

^äZTOV    El(J(pd^dQ)]i>i    GV. 

Dagegen  heißt  avog  Dial.  mer.  14,  1  „ausgesogen,  arm''  (Dorion 
beklagt  sich,  von  seiner  Geliebten,  ausgebeutet  worden  zu  sein)  wie 
auch  Toxar.  16  (ebenfalls  von  einem  durch  seine  Freundin  ausgebeuteten 
Jüngling);  aber  bei  Menander  wird  das  Wort  von  geängstigten  Menschen 
gebraucht:  Epitr.  497  TtecpQL^  syto  iuev,  avog  elfii  ti^  öeei  und  ITeQrK.  237 
(avog  eif.1^  sagt  Daos,  voller  Angst,  weil  er    nichts    ausgerichtet   hat). 2) 

Wenn  ich  nun  aus  meinen  Ausführungen  den  Schluß  ziehe ,  so 
verweise  ich  auf  die  Tatsache,  daß  Lucian  die  berühmtesten 
Stücke  nicht  bloß  der  älteren,  sondern  auch  der  neuen 
Komödie  gekannt  hat;  anderseits  waren  freilich  seine 
Kenntnisse  auf  diesem  Gebiete  der  Literatur  nicht  so 
ausgebreitet  wie  die  des  Athenäus.  Außer  jenen  Stellen, 
an  denen  er  selber  sich  auf  Komödien  oder  Figuren  derselben 
beruft,  kommen  noch  andere  in  Betracht,  wo  er  Anregungen  durch 
die  Komödie  erhalten  hat.  Hier  konnten  wir  feststellen,  daß  der  Ver- 
such ,  der  oft  gemacht  wurde  ^) ,  aus  Lucian  Anhaltspunkte  für  den 
Inhalt  von  Lustspielen  oder  gar  ganze  Verse  zu  gewinnen ,  verfehlt 
ist.  Denn  es  handelt  sich  nur  um  Anregungen,  nicht  um  Nachahmungen, 
und  die  Untersuchung  kann  daher  kein    anderes  Ziel   haben  als  jenes, 

*)  So  auch  bei  Aristoph. :  Wölk.  789  ovji  ig  xoqaxag  djiocpdeQsl  und  Ritt.  892 
(dasselbe);  sxcpdeiQeadai:  Fried.  72  ix(p&a^€ig  ovx  oJS'ötioi;  ävacp^.:  Vögel  916  dxaQ,  c5 
noirjxä,  xaxa  xi  devo'  uvefd-äQrjg ;  7iQoa(p&.:  Eccles.  248  i)v  Kecpakög  aoi  loiöogr^xai  jxqoo- 
(pßaQFAg  (falls  er  sich  an  dich  anhängt).  Wie  man  sieht,  gehört  diese  Bedeutung  so  recht 
dem  Sprachgebrauch  der  Komödie  an, 

2)  Heißt  es  „steif  wie  ein  dürrer  Ast^  oder  (was  ich  eher  annehmen  möchte)  „blut- 
leer'*, weil  dem  Erschreckten  das  Blut  bekanntlich  aus  dem  Gesicht  und  aus  den  Gliedern 
weicht  ? 

^)  So  von  Kock  im  Eh.  Mus.  43  (1888)  S.  29  ff;  von  den  Hetärengesprächen  ist 
.'^.  67  ff.  die  Rede. 


den  psychologischen  Vorgang  aufzudecken,  der  sich  in  Lucians  Geiste 
abspielte,  als  er,  durch  Erinnerungen  an  die  von  ihm  gekannten  Lust- 
spiele angeregt ,  diese  Apperzeptionsmassen  mit  neuen  Phantasievor- 
stellungen verband.  Von  Pedanterie  weit  entfernt  (manchmal  mag  man 
ihn  sogar  oberflächlich  nennen),  schlug  er  seine  Autoren  nicht  einmal, 
wenn  er  sie  zitierte,  nach,  geschweige  denn,  wenn  er  ihnen  bloß  Motive 
entlehnte.  Mit  der  Sprache  der  Komiker  war  er,  wie  wir  gesehen 
haben,  so  vertraut,  daß  er  aus  ihr  seinen  eigenen  Wortschatz  bereicherte. i) 
Das  Wesen  Lucians  ist  lange  verkannt  worden,  obwohl  die  Kon- 
trolle an  der  Hand  der  erhaltenen  Schriftsteller  stets  möglich  gewesen 
v/äre.  Erst  P.  J.  Ledergerber  hat  in  seiner  vortrefflichen  Dissertation 
„Lukian  und  die  altattische  Komödie*'  (Einsiedeln  1905)  bezüglich  des 
Aristophanes  gezeigt,  daß  bei  Lucian  zwar  sehr  viele  Anklänge  an 
jenen  vorkommen,  daß  der  Samosatener  aber  die  vorgefundenen  Motive 
durchaus  frei  und  originell  umgestaltet  hat.  Ich  verweise  auch  auf 
Plato,  dessen  Technik  er  in  vielen  Dialogen  zum  Vorbild  nimmt,  ohne 
in  ein  Plagiat  zu  verfallen.  Wir  haben  nun  in  den  Hetärengesprächen 
dasselbe  Verhalten  Lucians  gegenüber  der  Neuen  Komödie  gefunden. 
Er  hätte  übrigens,  selbst  wenn  er  wollte,  die  Stücke  der  berühmten 
Komiker,  besonders  des  Menander ,  gar  nicht  ausplündern  können ,  da 
sie  zu  seiner  Zeit  noch  allgemein  bekannt  waren.  Was  also  der  mittel- 
alterliche Scholiast,  Rabe  a.a.O.  p.  275,  1—5,  zu  den  Hetärenge- 
sprächen bemerkt :  ^loziov  ibg  avrai  Ttäoai  ai  eralgat  7.8710) laodijv rat  y,al 
Ttäoi  f.iti'  To7g  xcoiLKijöiOTtoioigj  udhata  Sa  MevdvÖQüj,  u(p  ov  yial  Ttäoa 
avcri  rj  v?.ij  yiovaiavLu  tlij  7tQ0'/.eLfj.tvii)  evTrÖQYitai,  diese  Worte,  sag'  ich, 
sind  nur  mit  der  von  uns  vorgenommenen  starken  Einschränkung  zu 
verstehen;  bleibt  uns  doch  der  Scholiast  den  Nachweis  durchaus  schul- 
dig, indem  er  in  seinem  ganzen  Kommentar  zu  den  Hetärengesprächen 
kein  einziges  Mal  einen  Dichter  der  mittleren  oder  neuen  Komödie 
zitiert.  Lucian  charakterisiert  sich  selbst  so,  wie  ich  ihn  eben  charak- 
terisiert habe ;  denn  nichts  anderes  besagen  seine  Worte  im  Bis  accus. 
34 :  STtl  näai  (zu  alledem)  öe  zrjv  xwfi(i)diav  auTcij  (d.  i.  ntj  diaXoyco) 
TtaQeCev^a  und  Prometh.  es  c.  5:  eTteiSrj  ovöi  to  £/  dvöiv  xolv  y,aX)do€OLv 
ovyxelo&ai,  diahr/ov  %al  y.cx)/Liqjdlag^  ovös  tovto  drröyQii]  elg  evuoocpiav^  el 
f.tr^  /.al  i)  f^l^ig  svaQf^övLog  v.al  z«rd  ro  övf.i(xerQOv  yr/voiTO. 


^)  Auf  die  AnAvendung  von  attischen  Wörtern  kam  es  ihm  besonders  an:  er  erklärt 
sie  (ovofidzMv  xofjoiv  röjv  'Aztixöjv)  Advers.  indoct.  26  als  unerläßlich  für  die  vollkommene 
Bildung. 


Johannes  von  Damaskus'  Auszüge  aus  Nemesius. 

Von 
KARL  BURKHARD. 


Wie  der  Mönch  Meletius  im  9.  Jahrhundert  unter  dem  Titel  Ttegl 
TYig  Tov  äv&QO)7tov  YMTaGyiEvrig  auszugsweise  einen  großen  Teil  der 
Xemesischen  Schrift  Ttegl  cpvoewg  ävd-qcojcov,  die  gewissenhaft  ihre  Ge- 
währsmänner nennt,  meist  wörtlich  wiedergibt,  seine  Quelle  aber  ver- 
schweigt, so  hat  auch  schon  der  Mönch  und  Priester  Johannes  Dama- 
scenus.  etwa  hundert  Jahre  früher,  hauptsächlich  im  zweiten  Buche 
seiner  exS-eaig  d/.QLßrjg  Tf]g  oQd-odiY^ov  Tzlöceiog,  welche  den  dritten  Teil 
seines  Sammelwerkes  jcriyri  yvcoaecog  bildet,  neben  anderen  Schriftstellern 
unseren  Xemesius  besonders  reichlich  benützt,  ohne  seinen  Namen  zu 
nennen,  i)  Kommt  uns  ein  solches  Verfahren  recht  befremdend  vor,  so 
ist  doch  der  Umstand  selbst,  daß  uns  durch  die  Tätigkeit  jener  Männer 
i>:rößere  Stücke  aus  Nemesius  in  alter  Überlieferung  erhalten  sind, 
gewiß  zu  begrüßen. 

Was  wir  durch  eine  Textvergleichung  aus  Meletius  gewinnen 
können,  hat  Bender  am  angeführten  Orte,  S.  83  ff.,  gezeigt.  (Vgl.  meine 
Anzeige  in  der  Zeitschr.  f.  d.  österr.  Gjmn.  1899,  S.  59Iff.)^)  An  einer 

*)  Vgl.  Matthäi  in  seiner  Ausgabe  des  Nemesius  (Hai.  Magd,  1802)  praef.  5,  13  und 
in  der  adnot.  er  it.;  ferner  Bender,  Untersuchungen  zu  Nemesius  von  Emesa  (Heidel- 
berger Doktordiss. ,  Leipz.  1898)  S.  8:  „Am  schärfsten  tritt  der  Undank,  welcher  in  der 
schweigenden  Benutzung  liegt,  hervor  bei  Johannes  Damascenus,  der  einen  großen  Teil 
des  zweiten  Buches  seines  um  die  Mitte  des  8.  Jahrhunderts  verfaßten  Werkes  ^de  ßde 
or thodoxa"  '^emesiun  verdankt,  und  bei  dem  Mönche  Meletius"  und  S.  82:  „Das  II.  Buch 
v<m  dessen  [Joh.  v.  Damasc]  Werk  de  ßde  orthodoxa  stellt  eigentlich,  besonders  von  Ka- 
pitel 26—36,  in  Kapitel  38  und  43  (resp.  XII— XXII,  XXIY,  XXIX  Migne,  Fatrol.  Graeca 
tom.  94,  col.  917—941,  952,  958)''  —  die  Zahlenangaben  sind,  wie  man  sich  leicht  über- 
zeugen kann,  nicht  ganz  richtig  —  „nur  einen  ungenauen  Auszug  aus  Nemesius'  Ttegl  (pvaecog 
dv&oojn:ov  dar.  Bas  zeigt  schon  ein  Vergleich  der  Kapitelfolge,  im  allgemeinen  ist  sogar 
die  Einteilung  beil)ehalten.''  Darüber  näheres  weiter  unten,  S.  96. 

')  Dort  ist  S.  593,  Anm.  1  dahin  zu  ergänzen,  daß  die  Hs.  von  Patmos  (IT),  wie  ich 
.*ieit<lom  fM-mittelt  habe,  der  Urschrift  am  nächsten  steht  und  als  Führerin  zu  gelten  hat. 


90 


ähnlichen  Untersuchung  über  Johannes'  Auszüge  gebricht  es  noch  heute. 
Denn  mag  auch  schon  Matthäi  „die  von  Johannes  Damascenus  ohne 
Namensnennung  aus  Nemesius  entnommenen  Stellen  in  den  Varia e 
lectiones  et  animadversiones  seiner  Ausgabe  ausgiebig  notiert" 
haben  (Bender  S.  82),  erschöpfend  tat  er  es  nicht,  noch  auch  in 
zweckentsprechender  Weise.  Varianten  sind  selten  ausgeschrieben,  ge- 
wöhnlich wird  nur  ungenau  auf  eine  längere  Stelle,  die  einen  Nemesius- 
Auszug  enthält,  verwiesen  und  so  der  Wert  der  an  sich  verdienstlichen 
Arbeit  wesentlich  verringert.  Um  diesen  Übelständen  abzuhelfen,  genügt 
es  aber  nicht,  sämtliche  Parallelstellen  einfach  zusammenzustellen  und  die 
wichtigeren  Abweichungen  hervorzuheben,  wir  müssen  auch  beachten, 
wie  die  Vorlage  benutzt  wurde,  um  die  Auszüge  für  die  Nemesius- 
Kritik  richtiger  einschätzen  und  gelegentlich  wieder  ihren  Wortlaut 
nach  Nemesius  sicherer  verbessern  zu  können. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  will  die  folgende  Übersicht  beurteilt 
sein.  Die  Nemesius-Stellen  sind  nach  Matthäi  gegeben.  Bei  den  Stellen 
aus  Johannes  von  Damaskus  weist  die  erste ,  niedrigere  Zahl  oder 
Zahlengruppe  (nach  der  Kapitelziffer)  auf  die  Ausgabe  von  Lequien 
(Paris  1712),  die  zweite,  höhere  auf  Migne  (a.  a.  0.)  hin. 


Nemesius 

Kap.        S. 
1,      36,  6  (.og — OiO(.ian 


Johannes   Damascenus       Bemerkung 

Kap. 
=  11,  12, 179  A,     924  B 

/'Anfang  des  Satzes  frei 
wiedergegeben  ,      dann 


38,  7—39,  2  yvcüQtuov  _ 
bis  divauiv 


39,    4 — 7    Gvvd7tT€Tat 

bis  do7ta<6juevog 
45,  5 — 8  vc7)v — öcbiiaTi 


179D.      925  CD 

180  A, 


180B,      928  A 


wörtlich  von  aal  xoTg 
(8)  bis  d-QETiTLy.riv  (12), 
Rest  freier  durch  Zu- 
sätze, Auslassungen,  Um- 
stellungen, Wort- 
änderungen. 


CVD 


47,  11 — 13  hxL — Eyvü) 

48.  7 — 10  TOf-i^ — %Evov- 
xai  ycxQ 

53  tf.  cvD 

64.   2  ÖLo — 'Aoa/Liog  = 

3,  136.  4 — 6  TOTtog  —  rcegie- 

4,  145.  3—5  7täv—xi\utdv   cvdII,  12,  179 B,      925 A 


180 C,       928 B       Anfang  frei,  von  xai  (7) 
wörtlich. 
11,  177A,       913B      Vgl.  LXX,    Gen.  3,  7. 


12, 180B,  928A 

4,  160A.  877  C 

12,  180B,  928  A 

I,  13,  149 A,  849  C  Zusatz  aMfiarixog. 


—    91 


Nemesius 


Kap 


5,  151.  II  — Ib  hon— ^TjQov  = 
157.  1 — 2  7CVQ — e^aegov- 

rai  und  5 — 6  oßea^iv 
bis     yLvETai  cnj 

157.  6—9  eoTiv—d-EQiid  — 

6,  171.   8—10  Aufschrift 

bis  evegyotaa 

11 — 112,2 (favraaia  _ 

bis  yivo/Lievov 
1 73;  9  f.  OQyava — ytotUai  co 
174,  1   €OTL — Tcevve         oo 

176,    7  f.  dvvauLV — }!>q- 
yavov 

7,  182,11— 183,7aZ(T^crV£-  _ 

Tai ^TjQOV 

8,  189,    5—6    e-jcaatov      _ 

bis  y,ateoy,evaae 
1 — 11  y,al  yäg — äv 

190,    7    XOLVrj UiJfJÜV  := 

190.   12—14  TcArjv  bis  _ 

TOIOVTIOV 

192.  6—193,  8  To  &eQ-  _ 
(xbv — dvTiXa^ßdveTai 

9,  195,  10—13  ri^v-^av-  _ 


Johannes  Dam 

Kap. 

179C, 


7,  168B, 
8, 169  B. 

r=        17, 183B, 


CV) 


196,  1 — 9  eovi — 7toLÖ- 
TtiTag 


10,  197,  14—198,   5  «xoj) 

bis  coTa 

11,  199.  3 — 4  oocpQTiOLQ  bis 


ascenus       Bemerkung 
925  A  Einige  Freiheiten. 

897  B 

900  C  Einige  Freiheiten. 

9  3  3  B   Das  folgende  frei  erweitert. 


183B.   933B 


183B, 
18,1830, 

183C. 

183D, 

184E, 

184E, 
184C, 
184E, 

184C, 
185  A, 


933  C 
933  C 

(Ende.) 

933  C 

(Anfang.) 

933D 
937  A 

937  AB 

936  C 

937  B 


Einige  Freiheiten. 


936D 
937  A 

937  B 


184B,   936B 


183E, 
184  A, 


936  A 


936B 


Zusatz  xal  vevQcov  nach 
oatcüv  (12). 

Mehrere    Auslassungen, 

Zusatz  ijyovv  dgaiov 

(193,  3). 

Bis  ögäv  (11)  freier. 
Zusätze :    ijyovv  alod-rj- 
Ttxii   nach   dvxiXrjmixri 
(2);    r)v   xaXoval   rtveg 
odoaviay.ov  n^ch  imeQcpa 
(8),  tlyovv  aYad-rjatv  n2iQ\x 
dvTikrjyjiv  (5),  yhaxQ^- 
rrjg  nach  XiTiagöttjg  (8), 
Umstellungen,  Abwei- 
chungen. 
Ausgelassen  /.idXiara  (3) 

bis  x^^^Q^S  (4). 
Zusatz  dvaTcef^movacov 
Toi'g     dxf^ovg    im     tov 
lyxE(paXov  nach    gtvatv 
(3),    vgl.  Nem.  192,    4. 


—    92 


Ne 


mesius 


Kap. 


12—200,  3Tcovhis 
dvowdia 


12,    200,  5  Aufschrift 


8—201,  9  Tov   bis 


Ende  d.  Abschnittes 


13,    202,    2—10   Aufschrift 
bis  XeyevaL 


CO 


CSD 


12-208.   1    ra  bis 

VOTlTa 

203,  a— 4  oTi—fie^vi]- 

4  T:fig  —  exof.iEv 
5 — 6  ^ — evvoiag 
12 — 13   dvdjLivriGig 
bis  dvccxTriGig 

14—15    Aiy6^7^    bis_ 

(XTtoßollj 
204.3 b/6  TÖ TOVTOVOsD 

6 — 8  fj — TcveviLia     = 

14,  208,  2—3  Aufschrift    = 

5 — 7    ^rega — ttqo 

(fOQiytng 

7—209,  6  fo-T^  bis  _ 
j/  — 

sxei 

15,  213,5 — löiaiQel — Xoyovcsct 

16,  215,12- — 13  To — llyETai  = 

14 — 216,  4  XeyeTai 

bis  XvTti] 


CVD 


185 AB,  937  C^ 


Johannes  Damascenus        Bemerkung 

Kap. 

Zusatz  Ttecp&hxoiv   vor, 
184  A,        936  B     ^^^    ylverai     nach    (fy) 
dvaojöta  (200,  3). 

19,  185 A,      937 B 

Bis  ÖQfiai  201 ,  2  freier 

(ausgelassen  yevixüg 
f^iEv  (1),  hinzugesetzt  a«^ 
TT^o^  r?;v  Ttgä^iv  xal  al 
a(poQ^aC  nach  dem  um- 
gestellten ai    ÖQfiaL, 
ferner  Tfj£  Ttgä^sojc,  nach 

djtocpvyai  2). 
Zusatz  ijyovv  aia&äve- 
zai  (8)  nach  dviikaft- 
ßdvezai,  Auslassung  von 
d)g  f^iev  'ÜQiysvrjg  [lies 
'AgiaTOT£X7]g\  (prjoiv  (4) 
und  c5?  8k  nXdxcov  (6, 
dafür  ■//  eingesetzt). 


20, 185  C,     937  CD 
940A 


Mitte  frei. 


216,  5—6  Th—de 


CVD 


185D,  940A 

185D,  940A 

185D.  940A 

185C.  940A 

185D,  940  A 

185D,  940A 

185DE,  940AB 

185E,  940B 

21, 185E,  940B 

185E,  940B 


186 A.  940BC  ^^^^^^^^T^^t/'^'" 

12,  180C,  928B 

22,  186B,  940C 

186B,  940CD  A-g«i----^;(i)b- 

'  Xoyog  (2). 

186  C,  940D 


Ausgelassen  xal  Ttag- 
eyxQaviöa  (7). 


93    — 


Nemesius 


Joh 


Kap. 


annes  Damascenus 

Kap. 


6—217,  8  ot-x  aqa 
bis  TcdÖ-og 


218. 


-8  ov — Tzdd-og 


17,    218.    17—219.    1    Tä 


CSD 


jLiev — g)av/M 
219,    5 — 7    TtQoadoAio 

18,    220.    9—11  Aufsclirift_ 
bis  ^h 

13 — 22\.?>cni)iiaTL- 

%al — fidovdg 
221,  7—9  al—aio^riOLv  = 


13—222,3  Tiovhh 


eig 


222,    3—11,    ÖLadoz^v 


CSD 


bis  fidovdg 

11 — 15  rag — xarof- 

dovXoTjöag 

19,  229,  8—12  Aufschrift  _ 

bis  '/M'Aotg 

20,  231,    2—232,    1  Auf- _ 

scbrift— 7r£7c^a//^6Vf/^ 

21,  234,    2—235,   4   Auf- _ 

Schrift — XoyiG^ov       ~ 


186C-E, 


940  D 
-941 B 


Bemerkung 

Zusätze:  Ijyovv usyannch 
elvai  (216,  8);  'ij  l^dv 
ovv  v7i6Xt]yjig  tov  xaXov 
TTjv  kmd'Vf.nav  xiveX'  ij  8s 
TÖv  xaxov  vnoXrjipig  zov 
■&vf.i6v  nach  xaxov  (12), 
ilyovv  xoivov  nach  yevt- 
xöv  (12);  cpvaixi]  ovaa 
nach  xivrjoig  (217,  8), 
äjxeTQog  ovaa  xal  oi 
xaxa  9P?5o'fv(aus  217, 14) 
nach  7iaXi.iov£  und  iazi^ 
xal  o^x  ivsQyeta  (aus 
218, 1)  nach  Tra^oj  (217; 
8) ;  ausgelassen  Srav  bis 
(fvaiv  (217,  3). 


=      186E,  941 B 
=    12, 181 B,   929B 


181B,  929B 


13  181 C      929  B    H^^^^"^  bi^  V'vzr}?  (13) 

^  '  "^  freier. 

181C,     929BC 

181  D,        929  C      Zusatz  xal  &ecoQiav  nach 
iTiLGzri^rjv  (9). 

1  ft  1  "n TT  Anfang  frei,  von  iiöovüv 

^        ^^   932A  (14)  wörtlich. 

181E,      932AB 
182A, 

182AB,  932B 


14, 182B,      932  B 
15,  182C,      932  C 


über  die  Reihenfolge  der 

Begriffsbestimmungen 

siehe  Seite   101! 


[Darauf    bis    ans    Ende 
16,  182DE,  932D     ) des  Abschnittes    (4-6) 
183  A,      933  A    ] freie,     erweiterte    Dar- 
l  Stellung. 


94 


Nemesius 


Kap. 


22,    236,   4—7   toC— Ende 
des  Abschnittes 


Johannes  Damascenus       Bemerkung 

Kap. 

Ausgelassen  (pvaixöv  (6, 
ebenso  10  q)vaixai),  Zu- 

i2,i80DE,928D,:rjsz:r6"; 

dasselbe  Wort    38,    12 
hinzugesetzt. 


23,    2'dQ,  10—11  T()u~d7to-  _ 

'jiQlTl'Kl]  ' 


26,    249,  4—250,   1  rdgbis 


CVD 


-.  8 1  1      T^g TtOielv  CVD 


29,    263,   10  Aufschrift        = 

264,  3—7  e7tel-Tli>ev-  _ 
Tat 

8 — lA.TtQä^lgeaTLV 

bis  y.oXdZovvai 
15 — 265,  1  ovv  bis 
ipoyov 

265,  1 — 5  '/Mi — or<^£rag= 


CVD 


30,  265,  9  Tov — EOTi  = 

12 — 14    OQog — ßia-  _ 
Gd^lvTog 
14  dqxr^ — alxia         cvd 

31,  271.  7  f.  di   a>omr  bis 

TtOLEiV 

272,3 — iorav — avveßri 

(lies  ov(.ißfi) 
5 — 6  tv — d7ts'/,TELvev  = 

15 — 273.     1    Tavxa  _ 
bis  jÄOQia 

32,  274.  10—12  Tov—yiv6-  _ 

juevov 


180E,      928  D 


Ausgelassen  cpvaixai 
(10,  wie  oben  (pvaixöv 
qnq  \      6)»   in^   übrigen   Erwei- 
terungen durch  das  fol- 
gende. 


181 A,      929 A 

I  Diese,  181 A  (929  A) 

180A,       925  D  I  wiederholte  SteUe  lehnt 

928  A  sich  hier  mehr   an  den 

'  Nemesius-Text  an. 

24,  191 B,      952  B 

952 B    Anfangsworte  frei;  Ö€i- 
'       Q^U  A     ;ci?^Jffera« — od  (5)  über- 
gangen. 

191BC,  953A 


191 C,  953 A 

191  C,  953  AB  Eine  beabsichtigte  Ab- 
weichung. 

191  D,  953  B        Das  folgende  freier. 

191 D,  953B 

192  A. 
192  A.  953  B 


Anfangsworte  frei. 


192  A,     953  C 
192  A.      953  C 

(Anfang.) 
192  A,       953  C      Umstellung     und     Aus- 
lassung. 


192B,      953D 


Anfangswort  frei.  Nach 
fWQia  freie  Zusammen- 
fassung des  folgenden. 


192AB,  953C      ^•"!"''':    ü»-teUu.gen, 

'  \\  ortanderungen. 


m 


95 


Nemesius 


Kap. 


CV2 


275,    2 — 3    Sgi^ö/ned-a 

bis  Ttgä^ig 
33,    277.    11—278,    i5    za  _ 

TcaiSia — de 

37,    299,    6—7    r))v—elvai  csd 

39,    311,   8—314,  16  Auf- _ 

Schrift — TTQä^Lv 

314,   10  ff.  ^riöefiiägK 

vgl.  325,  13  f. 


40,    317.  6—318.  11  Ttdvia 
bis  Tt^vai 


41,    324,    2—3   Aufschrift 


5 — 6    (pauev    bis 

aVTE^OVOLOV 


Johannes  Damascenus 
Kap. 

192  B 


,y^ö,  ;> 


■326.    1  Tov  bis 


avTe^ovoLOv 

326,  2if.  u.  324.  7  flP.  cxd 

42,  331,  4  Aufschrift  = 

43,  343.  9—10  TtQÖvoia  bis  _ 

IrziueleLa 

11 — 344.  1  TtQÖvoLa 

bis  dvdyxri 
344,1— 13xard— Ende 
des  Abschnittes  bald  = 
bald  CK) 

44,  354.  2  eQ£i — e^fig  cv) 

362,  7—364, 2  avyxwQsl  _ 
bis  uaQTvoojv 


192C, 

29,  197  C. 
25,  192D 


-193E.  -957C 
7, 166C,      893B 


26,  194A-C.  957D 
— 960B 


27,  194  C.      960B 


Bemerkung 

Anfangsworte  frei,  zwei 
Zusätze. 

Viele  Auslassungen  und 
Wortänderungen. 

968  A 

956  B     Mehrere  Zusätze,  einige 
Wortänderungen. 


953  C 
956  A 


Ausgelassen  i(p'  ^luiv 
elvai{^\l,l),  xai—iöei- 
yßr]{\0-\\),  ^5(317, 
12) — TiQoXaßovaiv  (318, 
1),  Zusatz  öfioicog  xal 
Icp'  olg  oi)  dei  nach  fiij 
yaiQsiv  (8). 


Die  unmittelbar  darauf- 

folgenden    Worte      bis 

194D, 

960B 

TQOTiriv  (7)   sind   in  Jo 
von      Combeficius      aus 

Nemesius  ergänzt. 
Zwei      Wortänderungen 
mit  Zusätzen  ;  näoa  (12) 

194E. 

960  CD 

bis     ßovlevead-ai     (14) 

195  A, 

übergangen.      Schluß 

nach  TiQd^eoiv  (326,  1) 

frei  verkürzt. 

194D. 

960  C 

29,  196A, 

964  A 

196  A, 

964  A 

Nächster  Satz   frei    zu- 
sammengezogen. 

196  A, 

964  A 

Wörtliche   Stellen   344, 

1  —  2    xara — d^eonge- 

neaiaia,    4 — 6  dväyxii 

196AB,964AB  ^j,  ,,,, 

12, 177  C.      920  AB 

^Ausgelassen  c5^  etQtjtac 

29,197A-C.965Ab"^  J,"  <2'    ^""^  ""■ 

^  schließendem  Zitat 

l  363,  3. 


—    96    — 

Nemesius  Johannes  Damascenus       Bemerkung 

Kap.  Kap. 

364,   11  —  365.  2  on  bis  ^c^ar^         nail:>r^ 

.  ^       '  CVD  196C,       964 BC    Schlußworte  Avörtlich. 

e7rLjLie/£iTaL 

366,    1 — 4   TMV—ädr/MCsD  196  C,       964  C        Schlußsatz  wörtlich. 

Die  allen  Nemesius-Kapiteln  (außer  2,  24,  25,  27,  28,  34—36 
und  38)  entnommenen  Auszüge,  von  denen  der  Auszug  136,  4 — 6  dem 
ersten,  alle  anderen  dem  zweiten  Buche  angehören,  halten  je  nach 
Bedürfnis  des  Verfassers  bald  die  Reihenfolge  seiner  Vorlage  ein,  bald 
weichen  sie  von  ihr  ab.i)  Wir  können  sie  in  zwei  Gruppen  einteilen. 
Die  eine  umfaßt  Stellen,  an  denen  Johannes  von  Damaskus  mit  dem 
Nemesius-Text  ganz  frei  verfährt,  indem  er  ihn,  erweitert  oder  ver- 
kürzt, mehr  dem  Gedanken  als  der  Form  nach  wiedergibt,  die  andere, 
viel  umfangreichere  Gruppe  solche,  die  durchaus  oder  wenigstens  zum 
größten  Teile  wörtlich,  d.  h.  nur  mit  unbedeutenden,  teils  notwendigen, 
teils  überflüssigen  Änderungen  aus  Nemesius  entlehnt  sind.  Wir  haben 
die  Stellen  der  ersten  Gruppe  durch  cnd.  die  der  zweiten  durch  —  ge- 
kennzeichnet. Wenn  die  im  allgemeinen  wörtlich  gehaltenen  Stellen 
irgendwo  auffallendere  Abweichungen  aufweisen,  die  sich  nur  mit 
geringer  Wahrscheinlichkeit  durch  die  Verschiedenheit  der  Nemesius- 
Texte  rechtfertigen  lassen,  sondern  wohl  größtenteils  auf  Johannes  von 
Damaskus  selbst  zurückzuführen  sind,  ist  dies  in  der  „Bemerkung" 
angedeutet.  Daß  namentlich  die  zweite  Gruppe  für  die  Nemesius- 
Kritik  in  Betracht  kommt,  liegt  auf  der  Hand. 

Wir  geben  im  folgenden  bemerkenswertere  Abweichungen  vom 
Nemesius-Text  nach  Matthäis  Ausgabe  mit  Berücksichtigung  unserer 
Nemesius -Handschriften,  -Übersetzungen  und  -Auszüge  und  heben 
die  vermutlich  richtigen  Lesarten  bei  Johannes  v.  D.  durch  den  Druck 
hervor.  Verwendet  wurden  hiebei  unter  anderen  folgende  Abkürzungen : 
^4//=  Alfanus'  lateinische  Übersetzung,  ^?i  =  Anastasius'  Auszug, 
^rm  =  Armenische  Übersetzung,  ^^  =  Burgundios  lateinische  Über- 
setzung,   Jo  ^=  Johannes  Damascenus'  Auszug,    Ilel  =  Meletius'  Auszug, 


^)  Dies  läßt  sich,  abgesehen  von  einzelnen  Sätzen,  schon  bei  der  Kapitelordnung 
beobachten.  So  entsprechen  die  Kapp.  13,  14,  15,  16  bei  Johannes  den  Kapp.  18,  19,  20,  21 
in  den  Nemesius-Ausgaben,  während  die  Nemesius-Handschriften  die  Eeihenfolge  18,  19,  21,  20 
bieten,  die  ich  im  Philo logus  1909,  H.  3  als  ursprünglich  zu  erweisen  hoffe.  Femer  ist 
Kap.  17  =  6;  18  unter  dem  allgemeinen  Titel  tisqI  aiad-riaeoig  =  1 ,  10,  11,  9,  8:  19—21  = 
12—14 ;  22  mit  geändertem  Titel  (neQi  jiä&ovg  xal  iveQyeiag)  =  16  ;  24  =  29—33 ;  25  =  39 ; 
26  mit  geändertem  Titel  (Tiegi  twv  yivofzsvcovJ  —  AO;  27=41;  29=42—44.  Ton  den 
übrigen  Kapiteln  enthält  nur  das  12.  unter  dem  Titel  tibqI  dv&QWTiov  ansehnlichere  Auszüge 
aus  verschiedenen  Nemesius-Kapiteln. 


—    97    - 

77  rr  Handschrift  von  Patmos  aus  dem  10.  Jahrhundert.  Im  übrigen 
vergleiche  man  Wiener  Studien  X  93—155,  XI  143—152.  243—267 
und  XXVI  212  f. 

36,  6  ibgj  ojOTteQ,  —  38,  9  T^g  tiov  äXöywv  Cqjcov  {ÄETsyei  Ccorig] 
'Jl')(ov  fehlt,  auch  bei  PM.  —  11  f.  rolg  Se  (pvTolg  '/.axd  re  xavta  -Aal  tyjv 
S^QtTCTL/Jiv  xal  OTceQ/iiaTixrjv  SvvajLiivJ  nachd-QercTixi^vZns^tz  ytal  au^rjTLiitjv  und 
nach  OTiEQLi.  Zusatz  rjyovv  yevvrjrixi^v.  Ähnlich  findet  sich  bei  Jo  236,  6  rb 
av^TjVixbv  '/mI  vor  vb  d-geTcrr/MV .  Vgl. Nem.  249,  Vdiog  fj d-QeTrzLytrj  yial  av^rjCLxrj 
zal  G7t£Q/iiai;r/.i].  —  39,  4  de  fehlt.  —  45,  7  t/jv  vor  dvafpoQav  fehlt.  —  47,  12 
uTL  yvjuvbg  cov  eyvo)]  syvco  oti  yvfxvbg  ^v  Joy  sciens  quia  nudus  esset  Alf 
(^v  auch  F  Arm  Bg,  vgl.  Wien.  Stud.  XXVI  214).  —  64,  2  dt  ä]  ötö 
wie  SPD,  ÖL  (i  An  Arm,  propterea  Alf.  —  136,  5  Ttegiex^tJ  TCEQiexeTai,  — 
157,  6  ovvj  yovv  wie  PD.  —  157,  8  u.  9  fehlt  rä  Ttqbg  ttj  yfj  und  %ai 
Ttqbg  TU)  TtcQi.    —    171,  8  tov  fehlt   wie  in  M.    —    9  f^ev  olv  fehlt.  — 

172.  2    ueoeoLv]  a  a  51   fehlt    mit    der    allgemeinen    Überlieferung.    — 

173,  9  cci  TtQÖöd-LOi  X.  6.  xoillaij  fj  efLiTtQoa^iog  /.oiXla  r.  i.  (aber  Plur.  199, 4), 
vgl.  P  al  efxcrtQÖöS^iOi  r.  e.  xotUaL.  —  183,  1  tcov  xQ^ofiaTcov]  tov  %Q(x)(.iaTog 
und  dem  entsprechend  181,  1/2  Tt^  xQiouaTL  für  avTÖlg.  —  3  rrjv  x^oqav] 
TOV  tÖtvov.  —  xb  didoTr\iia]  SidaTruua  Tb  fieTa^ij.  —  6  vSaTcoöeg  eiTe 
yeßdeg  sgtiv  olov  vyqbv  rj  ^tiqÖv]  vöaTiodrig  sotIv  ^  yeiodiqg  (vgl.  fj  yecodtg 
Mel)  rjyovv  vyqä  fj  ^^qd.  —  190.  7  sotl  vor  7r«Wwi' gestellt.  —  12 — 13  JtXfjv — ■ 
TOiyßv]  TzXrjv  daxeov  y.al  vevQwv  ovvimv  te  xal  'jiEQaTiov  Aal  TqiXMV  ycal 
oivÖEGuiov  (so!).  —  192,  8  TTig  vor  dcprig  fehlt.  —  9 — 10  o^v  Aal  dinßlv 
Aal  t6  fehlt.  —  11  ävcj  xal  'AdTcoJ  avco  te  'Aal  xdrco  Jo,  dvco  ndTco  P, 
vgl.  Wien.  Stud.  XXX  57.  —  'Aal  yäq  6  TOTtog  to  te  jueyE-d-ogJ  nal  b 
TOTcog  Aal  Tb  f.ieyEd-og,  —  193,  5  Sa  nach  f^ivrjf.irj  beigefügt,  6  d/Aof  über- 
gangen. —  övolv]  ovo  wie  M.  —  7 — 8  fAälXov — dvTilafißdvETai]  tovtcov 
06  f-täXlov  TTJg  äcprig  rj  ogaaig  dvTilaf.ißdv£Tai.  —  195,  14  TckiqoidawacJ 
TckifiOLaC(x)OL.  —  196.  2  Liällov]  tzXeov.  —  4 — 5  drtayyiXXovTa — f]yE(.iovLAÖv] 
aTcayyeXXovTa  Tcp  fjyE^uovr/jp  tyjv  yEvojuevrjv  dvTiXrjipiv  fjyovv  al'a&rjGiv.  — 
5 — 6  Twv  Ö6  /t'jt/wv — TzoLOTTiTEg]  al  ÖE  AaXov^EvaL  yEVGTixal  TtoLOTrireg 
Tojv  yvf.uov.  —  7  d^vTif]g  dQLf.ivTr^g  umgestellt.  —  8  nach  /UTtaQOTrjg  ist 
yXiGyQOTTig  beigefügt.  (Vgl.  Nem.  192,  7  yXioyqov.)  —  9 — 10  AUTa  TavTag — 
XiyETai]  TO  öe  vdog  aTtotov  Igtl  'Aavä  TavTag  Tag  TcoiOTTizag.  —  198, 
1 — 2  vmI  TavTTß]  avrrig.  —  2  Ta  e^  EyxEfpdXov]  zd  eyAEcpdXov  Lequien, 
falsch  Toi  iyAE(pdXov  Migne.  —  198,  5 — 6  tcov — auTd  fehlt  wie  in 
Ann.  Jedenfalls  eine  Glosse.  —  199,  4  tcov  TtgoGS-lcov  tov  ey-AEcpdXov  _ 
'/.olXuovJ  tcov  Ef.i7tQ0Gd^Lcjjv  'aolXuov  tov  eyAEcpdXov.  Vgl.  173,  9.  —  12  öia- 
(pOQa  eöcoSla  te  egtl  'Aal  duGcoölaJ  öiacpoga  egtlv  Evcoöia  xal  dvGcoSia  Jo, 
iE  fehlt  auch  in  D.  —  200,  2  fj  fehlt.  —  3  jurjdöXcog  öuGcoölaJ  inride 
'(>Xcog    (vgl.  f-iTjö'  oXcxjg  F,    firjö^  oXcog  P)    TtEcp^EVTCxtv    fj    SvGCüSla    ylvExai    (^ 

Wiener  Eranos.  7 


—    98    — 

auch  n,  rj  AD).  —  201,  1  a^  vor  GuyKaTad-eaeig  wie  //APD  b  Mel.  — 
2  elöixiogj  iSiKoig  wie  AD  b.  —  3  ovtcov]  votitiov  wie  A  5^;  vgl.  Wiener 
Stud.  XXX  53  zu  132,  4.  —  4  7cqoaiQEVi/Mv]  rb  TtQoaLQETixov  wie 
AFP 51.  —  203,  5  ävalrixpig]  ävvllTjipLg.  —  204,  7  a/;x7f/}/  a^r^  wie  M.  — 
208,  2 — 3  Titel  Ttegl  rov  hdiad-sTOv  koyov  %al  tov  TvqofpOQLAov]  M, 
ähnlich  Treql  ivöiad^hov  löyov  ymI  7tQO(poQiy.ov  Jo.  Allgemein  überliefert 
ist  TüEQL  Tof)  evÖLad-hov  '/ML  7tQO(pOQrAov  löyov.  —  8  fehlt  beidemal  to.  — 
10  Ttaq]  iv.  —  209,  2 — 3  ou — tovtov  fehlt.  —  209.  3  y,al  oi  öiä  Ttdd-og 
rj  voGijiiiaJ  ^  ol  öid  ri  vÖGrjfia  rj  Ttdd-og  (zu  tl  vöorj^a  vgl.  voa/j/^aTt  M, 
vÖGrifza  TL  Ellebod.)  —  b  sv  auch  vor  Talg  wie  M.  —  216,  3  Cf/K/j  TtdS-og 
umgestellt.  —  216,  7  x«/  fehlt.  —  9  sötl  dem  OQog  beigefügt.  — 
14  yiath  cpvaiv  (D)  fehlt  wie  in  den  übrigen  Handschriften.  —  15  oi)v 
fehlt.  —  17  Töv  Oio^avog  ijutov  Ttavvög]  Tcaviög  tov  Gco/Liarog.  —  tov 
■d-vfiodj  tov  fehlt.  —  217,  2  ilsyoiuev  eivat]  llyeiai,  wohl  beabsichtigte 
Änderung.  —  3  ovav — cpvoLv  fehlt.  —  5  —  7  zcr^  Aatd  tovtov — ETtqov] 
Aaih  TOVTOV  /iiiv  ovv  tov  Xöyov  fj  Ivegyeia  jcdd^og  MyeTat,  OTav  /nrj  7,aTd 
cpvöiv  /uvriiai,  ute  «|  mviov,  eI'te  i^  eteqov.  —  7  yovv]  ovv — Tovg  fehlt. — 
218,  5  Ttdd-riJ  Ttdd-ri  eIgl.  —  t6  auch  vor  fueyE^og  gesetzt.  —  6  fehlt 
T().  —  8  Ti)  vor  Ttdd^og  beigefügt.  —  219,  5  ydqj  ^iv  ovv  Jo,  uev 
/TFD  a  %  quidem  Bg,  fehlt  in  AP.  —  6  TzdXiv]  6fj.ouog  de  Ttdliv, 
vgl.  das  Wahrscheinliche  TtdXiv  de  IT;  /.al  Ttdhv  51  =  et  iterum  Alf^  et 
rursus  Bg.  —  f.iev  (51  ==  quidem  Bg)  fehlt  wie  bei  ilFAPD  a  M,  Alf.  ~ 
220,  11  yiai  vor  iIw/l/ml  beigesetzt  wie  in  F.  —  221,  1  tog  al]  oGat 
wie  P  (dasselbe  in  P5r  220,  11);  hier  und  222,  1  und  2  fehlt  bei  Jo 
überall  der  Artikel,  vor  7tX7iay,ovai  (222,  2)  auch  in  AF  «  51.  — 
9  eIglv  (FM)  fehlt  hier  wie  in  /ZAPD  a  51,  steht  aber  bei  Jo  Zeile  8: 
a\  fisv  eiGiv  dlrid-Eig^  al  Si  ipEvÖEig  (Umstellung).  — ^14  dvayaalaL  und 
cpvGLxal  umgestellt.  Umgekehrt  222,  6,  vgl.  222,  1.  —  19  '/.al  fehlt, 
ebenso  235,  2.  —  222,  2  y.al  ij  (pLlaqyvQia  (D Mel)  fehlt  Avie  in 
/ZFAP  b.  —  222,  9  juetqov  -/al  tqotvov]  tqÖtvov  '/al  f^ieTQov  Stellung 
wie  FA  a  51  Alf  Bg;  '/al  tÖtcov  fehlt  wie  in  51,  übrigens  ist  die  ganze 
Stelle  freier  behandelt.  —  12  ff.  für  fj.y]TE,  das  letzte  Glied  ausgenommen, 
überall  ^ii]dL  —  Vo  ßXdßrig  hsQag  umgestellt.  —  /lietqlov  TteQavwieJ)^, 
fÄETQiov  TTEQa  FD 2,  jusTQOv  Ttiqa  /TAP.  —  14  fiaag  egyiov  umgestellt  wie 
in  F.  —  229,  10  egtl  öi  dxogj  "Jdxog  juiv  ovv  egtl  wohl  absichtliche 
Änderung,  vgl.  die  ähnliche  Abweichung  231 ,  5  tOTC  de  o'/vog  t.iev] 
oKvog  fxev  ovv  egtl.  —  7  tovtegtiv]  rjyovv,  bei  Jo  beliebt,  siehe  „Be- 
merkung" S.  91  bis  93.  —  234,  5  eGTt  d^  ote  -/al  ö  d-v^uSg  egtiv  })QE'§Lg  dvTi- 
TLf,itoQrjöeo)gJ  tGTi  de  ote  b  -d-vfAog  y.al  OQE^lg  egtlv  dvTLTijLicoQriGEcog.  — 
234,  Sf.  Eidrj  de  tov  d-vf.iov  (DM,  S-vf-ir/ov  die  übrigen)  Tqla'  oQyri,  ij 
'/al — yiijTogJ  eldr^  de  tov  d^v^iov  TQia'  oQyrj.^  fJTig  '/aXelTai  yolij  '/al  %6log 


—    99    — 

%al  fATivig  %a.l  y,6Tog.  Ähnlicli  las  von  oQyj^ — yjhog  Bg:  oQyi^i,  fj  xaXelTac 
XoXrj  xal  ;coAog  y.al  jurivig  %ai  xovog,  77  hat  oQyi]^  fj  ymI  /oA^  yial  yj)log 
Y.aXetTai'  jurivig'  'KÖrog,  die  übrigen  Handschriften  zeigen  größere  Ab- 
weichungen. —  235,  1  yccgj  de,  —  TtaQadedoad-aL]  TzagaSlSoad-aL  auch  P.  — 
2=221,  19.  —  236,  5  re  fehlt  wie  bei  FAPD.  —  10  tovJ  tov  fiiv  ovv 
Jo.    TOV  de  PD.  —  249,  5  u.  11  Formen    von    g)VTix6g   für    (pvoiytög.  — 

264,  4  xat  aurö  übergangen.  —  5  TtQa^etJ  TrQd^ei  tlvl  wie  IIAlfBg; 
Ser/^r^oerai — ov  absichtlich  übergangen  und  der  Rest  des  Zwischensatzes 
Tvolv  mit  dem  folgenden  Tivig  ds  in   tcoXXoI   öi  nveg   umgewandelt.  — 

9  tTtatvog  ^   ipoyog   tTcevaiJ  i-Tterai   eTtaivog   lij  ipöyog    (Umstellung).  — 

10  al  fX8v]  al  nev  avzwv.  —  11  zort  xiov]  tcov  de.  —  12  de  übergangen.  — 

265.  3  Toi)  de  ä'AOvoLov  yvcouovegj  xi^  öe  aKovaui).^  dem  freien  Anfang 
264,  15  entsprechend,  von  Jo  geändert.  —  265,  9  tovJ  tov  de.  —  eOTt 
nach  jiiev  gestellt.  —  272,  4  ti]p  fehlt.  —  GvveßriJ  Gvaßfj  Jo^  Gv/ußccv  D.  — 
274,  10  TOV  dnovaiovj  TOV  ovv  dyiovalov.  —  275,  3  avTcpJ  eauvip  wie  PD. — 
278,  1  de  fehlt  nach  oaa  wie  in  A,  steht  aber  vorher  nach  /.iriv^  siehe 
S.  101.  —  4  oi)  ju^v  de  7rQorjQv^^tvoig]  ov  (.irjv  ytal  TCQoaLQOv/uevoig  Joy 
ov  urjv  TtQoaLQOVjLievoig  7751,  ov  firjv  TtQorjQTjf^ievotg  APM^  ov  fiirjv  ttqo- 
ELQr^uevotg  D.  —  299,  6  7iQay,TtdvJ  TCQayiTewv  wie  Mw  9Jl.  —  311,  7  f.  TteQi 

TOV    aVZE^OVOLOV.^    0    eöTL    TOV    eCp    l)iUv]  m  TtEQi    TOV    e(p^  fllllv,    TOVTeOTL    TOV 

avTE^ovoiov  Joj  TtEql  TOV  ecp  fyuv,  o  egtl  tov  avTE^ovalov  77P,  tteqI  tov 
e(p  ^iLilv,  o  EÖTL  TtEQi  TOV  avTE^ovolov  D  51  »  tt  3?  ^'^^  auch  Bg;  tceql  tov 
avTE§ovolov  F.  —  312,  4  tlJ  Tiva.  —  %al  fehlt  wie  in  77F  Alf  Bg  51  m.  — 
312.  5  TidvTCüvJ  aTrdvTcov.  —  10  %al  yäg  avTi]J  %al  yäq  /ml  avtr]  Jo, 
zal  ydo  avxi]  77FamD2.  —  813,  2  oItiwv — ixövrwv  —  drcoTEXovvTOJv] 
aiTuov—ixovacov—dTcoTElovatov;  die  Partizipien  ohne  Zweifel  nach  der  Lesart 
ahudv^  die  auch  FPDSIm,  (causarum)  ^Z/"  5^ haben,  absichtlich  geändert. 
—  3  y,al  fehlt  wie  in  77FP  b  a  Alf  Bg.  —  TacpQovJ  Tacpov  wie  77 PD  Alf 
Bg.  —  4  d-ELg]  d-Etg  tov  d-r]aavQ6v.  —  4 — 5  Ted-etxEv]  eS-vf/.Ev  wie  FPDH, 
red^EY-Ev  m^.  Te^ELXEv  m'^,  richtig  wohl  xed-riXEv  11.  —  5  tovtovJ  aXkov  tovtov.  — 
^  7toorJQT(vro]  TCQorjQOvvzo.  —  9  Teivr^g]  Teyyr\g'  ovTcog  avToi  (paoL.  — 
10  yLvö/LiEva  fehlt  wie  in  77FP  ha.  —  314,  2  dll^  ovteJ  ovde  ydq  Jo^ 
ov  ydq  las  Bg.  —  7  avtoudv^)]  Tip  avToudvii)  wie  7TFPD5tm.  —  8  r« 
ov^TtTCüLiaTa]  Td  ov(,i7CTib^aza  toC  avzojuaTOv  Jo,  GVjUTtzcojnaza  77FPD5I 
(Gij/xTtzüjfxa  a  a).  —  12  zat  fehlt  wie  in  77F  b  aAlfBg.  —  13  TiuLWTaTov] 
TLjiiuüzazov  Tiov.  —  317.  7  äv  fehlt.  —  318,  2  evdExouEvöv  egtlv  wie 
77 F  m  AlfBg  (Umstellung).  —  4  '/.al  zavzaj  zavza  tolvvv.  —  6  f^irj  ytivElGd-aiJ 
10  urj  -KivElod-ai.  —  8  oig]  ecp  olg.  —  y,ai  f,irj  yaiQEivJ  /al  (xi]  xaiQELv 
öfiolcüg.^  -/al  E(p  olg  ov  dEi.  —  9—10  '/a/lag  und  dgETTjg  vertauscht  wie 
in  Bg.  —  324.  2  IIeqI  tov  vor  did — yEyovauEv  beigesetzt  wie  in  PD. — 
325.  10  de]  olv.  —  343,  10  i^  vor  1%  beigefügt.  —  344.  5—6  dv.oXovd-ov 


—    100   — 

und  TZQeTtov  vertauscht.  —  354,  2  IqeI  tiT)  'Äega/uEl  xat  rd  t^figj  egel  zqi 
TtkaOTovQyqj'  TL  fue  iTtolrjaag  ovriog  Jo^  SQel  tw  TtXdoavTc^  xi  f.ie  BTtXaoag 
ovTwg  D^,  £qeI  (tö  7iXdof.ia  für  o  Ttrjlög^  das  dem  eQsl  bei  Nemesius 
vorausgeht)  tlo  TtXdoavTi'  xi  ^e  htoiriGag  ovxwg  NT.  Rom.  9,  20,  SQel 
allein  ilFAPg.'  —  362,  8  dvadei^rjj  del'^r].  —  10  T7]g  vor  Soxovorig 
fehlt.  —  13  -aal  fehlt  wie  in  m.  —  13  ff.  'iva  (xrj  Iz  tov  oq^-ov  ovveiöoTog 
vmI  Trjg  öod-Eiorig  avc(^  öwd/uecog  eig  dla^oveiav  ixTitarj  (c)g  stvI  rof; 
IlauXov.  So  die  allgemeine  Überlieferung,  nur  für  ev.Tieorj  hat  JT  eiGTceorj^ 
D  ifXTtsar^,  Jo  %va  fxrj  in  tov  ÖQS^or  ovveidÖTog  exTveorj  fj  xal  ex  T^g^ 
Sod-eiGrig  avTcp  dvvd^Etog  te  vmI  xdqiTog  Eig  dka^ovEiav  ijUTteGr]  wg  etvI 
JJavXov.  —  16  Elg]  TtQog.  —  363,  5  h.  yEVET^jgJ  1%  yEvrjTTjg  Jo,  h.  yEvrivrjg 
A  w,  €z  yEvvr^Trig  ilFPD.  —  364,  1  TtQOGÖoxwuevojvJ  ^eXXövtwv  wie 
iVPD.  —  13  oQ&OTaTa  oxonifiGELEv  (so  fiir  gxotcijgelv  zu  lesen)y  oQd-oTaTa 
GxoTtrjGELEv  dv  Jo,  —  366,  1 — 2  dvE^ETaGTwg'  xaküg  de  Tcdvza  aTtodexEGd^ai] 
TidvTa  dvE^ETdGTCog  dTiodexEGd-ai  Jo,  vgl.  avt^ETdonog  öe  TtdvTa  dTtodeyjE- 
Gd^ai  n^,  wo  gleichfalls  xaAwc;  fehlt. 

Bei  der  Beurteilung  dieser  Varianten  muß  man  sich  vor  Augen 
halten,  daß  sie  nicht  einer  gewöhnlichen  Abschrift  eines  librarius^ 
sondern  einem  x^uszuge  eines  gelehrten  Theologen  entnommen  sind. 
Daher  werden  gar  manche  Abweichungen  nicht  auf  Rechnung  der 
ausgezogenen  Nemesius-Vorlage  und  ihrer  Verbesserung  zu  setzen,  son- 
dern dem  besonderen  Geschmacke  ihres  Benutzers  und  dem  Zwecke,, 
den  er  verfolgte,  zuzuschreiben  sein  und  deshalb  in  einer  künftigen 
Nemesius-Ausgabe  nicht  berücksichtigt  werden  können.  Aber  sie  werden 
wenigstens  dazu  beitragen,  das  von  uns  oben  über  die  Tätigkeit  des 
Damasceners  entworfene  Bild  zu  vervollständigen  und  in  dieser  Hin- 
sicht vielleicht  nicht  ganz  unwillkommen  sein.  Übrigens  bietet  uns 
Johannes  auch  eine  Reihe  guter  Lesarten,  die  er  in  seiner  Nemesius- 
Vorlage  vorgefunden  haben  wird.  Einige  von  ihnen  hat  er  uns  allein 
erhalten,  die  überlegende  Mehrzahl  teilt  er  mit  alten  Nemesius-Hand- 
schriften ,  unter  denen  die  Handschrift  JT  durch  ihr  Alter  und  ihre 
Güte  den  ersten  Rang  einnimmt.  Mit  dieser  Handschrift  stimmt  er  am 
häufigsten  überein  und  erhöht  dadurch  noch  ihren  Wert. 

Wie  der  Nemesius-Text  nach  dem  Johannes-Auszug,  so  läßt  sich  auch 
umgekehrt  dieser  —  und  vielleicht  in  größerem  Umfange  —  nach  Nemesius 
verbessern.  Manches  ist  von  den  Herausgebern  schon  geschehen,  viel  mehr 
bleibt  noch  zu  tun  übrig.  Soll  aber  eine  solche  Arbeit  von  erheblichem  Erfolge 
begleitet  sein,  dann  muß  zuvor  der  Johannes-Text  auf  sicherere  handschrift- 
liche Grundlage  gebracht  werden.  Dessen  ungeachtet  mögen  zum  Schlüsse 
schon  heute  einige  A^erbesserungen  hier  ihren  Platz  finden,  die  der  Nemesius- 
Text  zu  empfehlen  scheint.  Wir  führen  sie  nach  Migne  und  Matthäi  an. 


—   101   — 

Migne  Col.  849  C  (Matth.  S.  136,  5)  ist  für  TveQiexETai  wohl  TxeQiexei 
zu  schreiben.  Man  vgl.  auch  Plut.  De  plac.  phil.  I  884  A  MQiGTorelrig 
tö  eaxdTov  tov  TteQiixovTOQ  ovvccTtTov  toj  TtsQiexoftevqj.  928  B  (45,  7)  t^v 
vor  dvacpoQccv  einzusetzen.  D  (236,  6)  cpvGLTtüv  für  g)vvL'/,6v  zu  ergänzen.  — 
29 B  (219,  6)  vermute  ich  für  6/uoiwg  de  Ttdliv  entweder  öf^oicog  Si 
öder  nach  Xemesius  ^tahv  de.  —  Ebenda  (220,  14)  ist  die  Wortstellung 
rot'  Gio/.iaTog  ymI  Tr^g  ifJvx^g  wahrscheinlich,  bald  darauf  ow/nazt  Tcal 
Druckfehler  für  owf.iaTLy.ai.  —  932  B  (222,  12  ff.)  lies  überall  fnqre  für 
Lii(]öe.  —  (231,  5  ff.)  ist  die  Reihenfolge  der  Satze  (Begriffsbestimmungen) 
nach  dem  Nemesius-Texte ,  mit  dem  viele  Jo- Handschriften  überein- 
stimmen, herzustellen.  —  933  A  (234,  7)  Ivnovfie&a  Druckfehler  für  d^v- 
uovued-a.  —  B  (171,  8)  zu  schreiben  Tiegl  <Toi5>  (pawaorLnoiK,  vgl.  die  Titel 
937  B  Tteol  TOV  SiavoriTiytov  und  C  Ttegl  tov  jLivriuovEVTr/,ov.  —  933 C  (173,  9) 
erwartet  man  für  ^'Oqyavov  de  tov  (pavTaaTixov  fj  iuTtQÖo&wg  ytoilla  tov 
ey/,e(fdXov  auch  nach  936B  (199,  4)  OQyava  .  .  .  al  iftTtgoad^iOL  ytotXiai 
T.e.  —  936  A  (198,  1)  '/mI  TQaxvTrjTa  nach  XewTTiTd  te  im  Druck  aus- 
gefallen. —  937  AD  (193,  1  u.  3)  ij  für  el'ri  und  (2)  Se  für  te  zu  lesen.  — 
B  195,  12—13)  wohl  oi;re — ovte  für  ovöe — ovSe  zu  lesen.  —  C  (201,  1) 
vermißt  man  yEvr/,idg  f.iev  nach  eI(7l(v)  ^  dem  lÖTucdg  (lies  Eidr/,cdg)  de 
gegenübergestellt.  D  (202,  5)  ist  für  te  xal  voriGecog,  das  offenbar  aus 
der  folgenden  Zeile  hier  eingedrungen  ist,  nur  Tf^g  zu  schreiben.  — 
940D  (216.  3)  Uijou  vor  ndd-ovg  zu  stellen.  —  941 B  (218,  5  f.)  der 
Artikel  vor  iiayeö-og  ist  vor  xivriGig  (6)  zu  stellen.  —  953  A  (265,  2) 
aiQETOvg  Druckfehler  für  aigeTdg.  —  956  A  (278,  1)  für  ou  fxrjv  de  /.al 
lies  ov  f-ir^v  '/.al  wie  weiter  unten;  de  Glosse  zu  iir\v  oder  wahrschein- 
licher aus  dem  folgenden  (nach  &'aa,  wo  es  fehlt  und  zu  ergänzen  ist,) 
irrtümlich  versetzt.  —  957  B  (314,  1)  ixqd^Eiov  mit  den  Jo-Hand- 
schriften  und  Xemes.  für  Ttga^Ecog  zu  schreiben;  ebenso  965  A  (362,  11) 
/.aioQd-cüGrj  mit  einer  Jo- Handschrift  und  Nemes.  für  ■/aroQd-iodjj.  — 
957  B  (314;  3)  ist  ov  nach  ovde  {ovte  Nemes.)  als  Druckfehler  zu 
tilgen.  —  (314,  13  u.  15)  jraaa  yäg  ßovXr)  TCQd^EOjg  tvE^/a  nach  Tt^d^Ecog 
(13)  und  TcäGa  yäo  ßaulrj  Tcgd^Ewg  tvE/a  ßovkevETai  nach  ßovlEVETai  (15) 
Tvohl  als  Glossen  oder  Doppelschreibungen  zu  streichen. 


Meter  Hipta, 

Ton 
JOSEF  KEIL. 


iTtTCav  "Ki'AXrjaxo),  Bdxxov  TQOcpov,  evdda  /.ovqtiv 
(ivOTiTtoXov,  TeXerfJGiv  dyaX?,0f.itv7]v  ^dßov  äyvoi) 
vvy.TEQiOig  TB  yOQoloiv  £QißQ£fihao  ^Idy.xov. 
'jilvd-L  (.lev  Evxo(.i£voVy  x^ovItj  juriTeg,  ßaalleia, 
Eive  ov  y    iv  (DQvyirj  xarex^Lq  "iSrig  ogog  ayvhv 
^  Tf.uoXog  reQTtEL  ge,  xaXbv  ^vöoIgl  d-daai-ia' 
6QXE0  TTQÖg  TElsTag  tEQip  yj^d-ovoa  TiQoaiÖTtt^. 

Die  in  dem  hier  wiederholten  orphischen  Hymnus  (XLIX,  p.  84  Abel) 
angerufene  mystische  Amme  des  Dionysos,  die  sich  an  den  Weihen  des 
heiligen  Sabos=Sabazios  ergötzt  und  deren  Beziehungen  zu  Lydien  auch 
in  dem  Hymnus  an  Sabazios  (XLYIII,  p.  83  Abel  v.  4)  hervorgehoben 
werden,  hat  in  der  orphischen  Literatur  eine  nicht  unbedeutende  Rolle 
gespielt.  Proklos  berichtet  in  seinem  Kommentar  zum  Timaios  (III, 
p.  171  F  =  p.  2o7  Abel,  frgt.  207)  von  tveql  ^'iTZTtag  Xöyoi  des  Orpheus 
und  teilt  II,  p.  124  =  p.  236  Abel,  frgt.  207  daraus  einiges  mit:  "inTta^ 
die  Seele  des  Alls  (i]  rov  TcavTog  it'vxt^J  nimmt  in  der  mit  der  Schlange 
umwundenen  Futt erschwinge  (XUvov),  die  sie  auf  ihren  Kopf  setzt,  das 
Dionysoskind  —  den  weltdurchwaltenden  Geist  (EyyA)Of,uog  vovg)  auf. 
Wenn  es  richtig  ist,  was  A.  Dietrich  nachzuweisen  sich  bemüht  hat  i), 
daß  die  orphischen  Hymnen  in  wirklichen  Kulten  zum  Vortrage  ge- 
kommen sind,  so  dürfen  wir  solche  für  Hippa  nach  den  deutlichen 
Angaben  derselben  am  ehesten  in  Lydien  oder  Phrygien  voraussetzen. 
Nun  hat  sich  in  Grjölde  bei  Kula,  d.  h.  in  dem  Gebiete  des  maeonischen 
Stammes,  dessen  ethnische  Zugehörigkeit  zu  den  Phrygern  oder  Lydern 
noch  nicht  ausgemacht  ist,  eine  Votivstele  gefunden,  deren  im  Mov- 
oeIov  ytal  ßLßho&t^xri  Tijg  EuayyEXr/,fig  öxoXrig  ev  ^iivQvrj  1878/80,  S.  169, 
«p~  T(.iß'  veröffentlichte  Inschrift  lautet: 

MyivqI  "iTtza  xal  JleI  — a- 

fßa^lo) 

•  ^)  De  hymnis  Orphicis,  Marpurgi  Cattorum  1891. 


t 


—    103   — 

Es  lag  nahe,  die  hier  im  Vereine  mit  Zeus  Sabazios  genannte  Meter 
Hipta  mit  der  namensverwandten,  an  den  Sabaziosweihen  beteiligten 
orphischen  Hippa  in  Verbindung  zu  bringen.  F.  A.  Voigt,  der  es  meines 
Wissens  zuerst  getan  hat,  half  sich  dabei  mit  der  Annahme  eines  Fehlers 
bei  der  Aufzeichnung  oder  Abschrift  der  Inschrift.  ^)  Diese  Annahme  ist 
heute  nicht  mehr  zulässig.  Während  einer  1908  im  Auftrage  der 
Direktion  des  österreichischen  archäologischen  Institutes  durchgeführten 
Forschungsreise  in  Lydien  haben  A.  v.  Premerstein  und  ich  nicht  nur 
die  richtige  Lesung  der  Stele  in  Gjölde  festgestellt,  sondern  auch  in 
dem  Dorfe  Menje,  das  den  Namen  der  alten  Stadt  Maionia  bis  auf 
den  heutigen  Tag  bewahrt  hat,  eine  zweite  Weihung  an  Meter  Hipta 
gefunden,  welche  in  unserem  Reiseberichte  veröffentlicht  werden  wird- 
Der  Xame  der  in  Maeonien  verehrten  Göttin  ist  damit  imzweifelhaft 
festgestellt;  ist  sie  wirklich  mit  der  orphischen  Amme  des  Dionysos 
Hippa  identisch,  so  muß  eine  Korruptel  in  unserer  literarischen  Über- 
lieferung vorliegen.  Und  dies  ist  in  der  Tat  der  Fall.  Für  die  orphischen 
Hymnen  kann  ich  es  nicht  untersuchen,  weil  wir  eine  x^usgabe  der- 
selben mit  ausführlicher  Adnotatio  critica  bekanntlich  nicht  besitzen; 
dagegen  zeigt  die  Überlieferung  des  Prokloskommentars  zum  Timaios,  wie 
sie  in  der  Ausgabe  von  E.Diehl  (Bibliotheca  Teubneriana)  jetzt  leicht  zu- 
gänglich vorliegt,  daß  an  den  drei  Stellen,  wo  dort  Hippa  genannt 
wird,  die  beste  oder  die  besten  Handschriften  die  Schreibung  "ijtTa^  die 
schlechteren  "iTtTta  bieten.  So  haben  II,  p.  124  C  (I,  p.  407,  24  Diehl) 
die  besten  Handschriften  M(arcianus)  und  P(arisinus)  "iTtra,  N(eapoli- 
tanus)  "/TTTTof ;  II,  p.  124  D  (I,  p.  408,  7  Diehl)  hat  wenigstens  die  beste 
Handschrift  M^'/n^ra,  P  und  N  "iTtia,  an  der  dritten  Stelle  III,  p.  171  C 
(III,  p.  106,  1  Diehl)  geben  die  in  Betracht  kommende  Handschriften  P  u.  Q 
"iTtva.  Diehl  hat  trotz  dieses  Befundes  der  Überlieferung  mit  Rücksicht 
auf  die  orphischen  Hymnen  Hippa  in  seinen  Text  gesetzt.  Ich  zweifle 
nicht  daran,  daß  nunmehr  nach  dem  Zeugnis  der  beiden  maeonischen 
Inschriften  auch  in  den  Hymnen  "iTiia  herzustellen  ist.  So  erwächst 
aus  ihrer  Auffindung  oder  Verwertung  ein  doppelter  Gewinn :  für  die 
Philologie ,  indem  der  Text  zweier  Autoren  berichtigt  w^rd ,  für  die 
Religionswissenschaft,  indem  ein  bisher  nur  in  der  orphischen  Literatur 
vorkommendes  göttliches  Wesen  als  eine  in  ganz  bestimmten  klein- 
asiatischen Kulten  verehrte  Göttin  nachgewiesen  wird. 
Athen. 


\)  Roschers  Lexikon  der  Mythologie  I,  1085;  vgl.  W.  Drexler,  ebenda,  II,  317,  und 
III,  2866;  In  K.  Bureschs  Privatexemplar  des  MovasTov,  das  mir  vorliegt,  findet  sich  die- 
selbe Vermutung.  . 


Die  Brunneniiischrift  von  Lusoi, 

Von 
RUDOLF  WEISSHÄUPL. 


Nachdem  Reichel  und  Wilhelm  in  ihrem  Berichte  über  die 
österreichischen  Ausgrabungen  in  Lusoi  (Jahreshefte  IV,  4fF.)  das  von 
Isigonos  und  Vitruv  überlieferte  und  von  Preger  in  seine  Inscriptiones 
Graecae  metricae  unter  Nr.  215  aufgenommene  Brunnenepigramm  von 
Lusoi  zu  erklären  versucht  hatten,  unterzog  es  Robert  in  derselben 
Zeitschrift,  VIII,  174  ff.,  neuerdings  einer  ausführlichen  Besprechung. 
Seine  weitgehenden  Textesänderungen  veranlassen  mich,  mit  Gedanken 
an  die  Öffentlichkeit  zu  treten,  die  mir  vor  Jahren  bei  der  Lektüre 
des  erstgenannten  Aufsatzes  auftauchten. 

Das  Gedicht  lautet  folgendermaßen: 

Myqoxa^  ovv  Ttoif-ivaig  tö  f^iearjußQivbv  Y^v  ge  ßaQVVTj 

Sixpog  dv  eaxaTLag  KleiTOQog  eQyof^ievov, 
TT^g  (.liv  ccTtb  Y.QTivrß  ägiaac  Tcöf-ia  y,al  Ttaqä  Nvf^icpaig 

vdfjLctai  OTT^Gov  Ttäv  tI)  obv  aiTvöXiov 
5     dkXä  ab  fii]T  tTtl  XovvQa  ßdhjg  %^ot,  (^irj  oe  y.al  avQTj 

TtTfif-irivrj  TSQTtvfig  ewbg  eövva  jus&rjg' 
(pevye  d^  ifi^v  ^cTjyrjv  f^iLöd^TceXoVy  svO-a  Mekdf^ircovg 

Xovadftevog  Xvaörig  IIooiTidag  dgrefisag 
Ttdvva  YM&aQjiibv  e'ytoipev  dTtimQvcfov  al  yccQ  aTt  ^JdQyoug 
10  ovQEa  TQTixeirig  rfkvd^ov  Jlgxadlrjg 

3.  Tag  V.  —  5.  fii]at]xaiSvQf]  V.  —  6.  7ii/vt](TVTvg  V.  —  8.  aQyaXer^g  J.,  aQzefieiag  \.  — 
9.  oxoxpevETiaxQvxpov  V.,  dessen  Gedicht  hier  schließt;  ayaq  J.,  al  yctQ  EUis  und  Heringa. 
Mehr,  aber  für  unsere  Zwecke  Unwesentliches  bei  Preger. 

Preger  und  seine  Vorgänger  meinten,  das  Epigramm  besage  im 
allgemeinen:  Hirte,  trinke  aus  der  Quelle  und  tränke  hier  auch  deine 
Herde;    aber    hüte    dich   vor   einem   Bade,    fliehe    die    rebenfeindliche 


—    105   — 

Quelle!  So  stand  das  Gedicht  einerseits  in  schroffem  G-egensatze  zur 
sonstigen  Überlieferung,  derzufolge  schon  ein  bloßer  Trunk  aus  der 
Quelle  gefährlich  war,  anderseits  enthielt  es  in  sich  selbst  einen  unlös- 
baren Widerspruch:  die  Aufforderung,  von  dem  Wasser  zu  trinken 
und  den  Rat.  es  zu  fliehen.  Die  erste  Schwierigkeit  suchte  Preger 
durch  die  Annahme  aus  dem  Wege  zu  räumen.  Isigonos  und  Vitruv 
hätten  das  Gedicht  ihrer  Quelle,  die  es  noch  nicht  gekannt  habe, 
sinnloser  Weise  hinzugefügt;  den  zweiten  Widerspruch  berücksichtigt 
er  nicht.  Gegen  diese  Erklärung  Preger s  wenden  Reichel  und  Wilhelm 
•ein:  „Diese  Vorstellung  geht  deshalb  irre,  weil  die  Inschrift,  an  Ort 
und  Stelle  angebracht,  jedenfalls  in  Übereinstimmung  mit  dem  Glauben, 
der  an  der  Quelle  haftete,  gedacht  werden  muß,"  und  erklären  das 
Epigramm  folgendermaßen:  Vers  1 — 4  beziehen  sich  auf  eine  '^Qrivij^ 
einen  Laufbrunnen,  Vers  5 — 10  hingegen  auf  eine  ^^//J,  eine  natürliche 
Quelle;  „ein  Trunk  aus  der  z^^i^i^  ist  gestattet,  .  .  .  dagegen  wird 
Waschung  mit  dem  Wasser  der  Ttriyt]  und  ihre  Benützung  überhaupt 
verwehrt''.  „Xeben  der  Höhle  mit  der  Quelle  muß  eine  Leitung 
anderswoher  Wasser  gebracht  haben,  an  dem  die  Nachrede  der  Ver- 
Tinreinigung  nicht  haftete." 

Robert  erkennt  den  Unterschied  von  y.Qi]vri  und  Ttrjyri  mit  Recht 
an,  bekämpft  aber  jene  Auffassung  im  übrigen  mit  folgenden  triftigen 
Gründen:  1.  die  y,Qt]vri  spricht  und  bezeichnet  in  Vers  7  die  ttt^/zJ  als 
„ffirjv  7r^//}v';  sie  kann  also  ihr  Wasser  nicht  aus  einer  anderen  Quelle 
heziehen.  2.  Vers  5  f.,  das  Verbot  der  Waschung,  kann  nur  auf  die 
früher  erwähnte  xo/Jj^r^,  nicht  auf  die  erst  in  Vers  7  angeführte  Ttrjyi^ 
gehen.  Er  selbst  hält  die  Überlieferung  für  sehr  verderbt.  Er  schreibt 
in  Vers  3  ovag  f.iiv  für  t^^  f/eV;  Vers  5flP.  lauteten  einst  nach  ihm  etwa: 

dllä  ob  utjv  eiii  Xovtqcc  ßdlrjg  xQol  (.irjc  dqvTriQa 

/tr^Lirivrjg^  TeoTzvfig  svxog  eövva  fied-rig' 
(peiye  d^  sfirjv  Ttijyrjv  jULad/LiTzeÄor^  evd-a  l\leXd(.i7tovg 

Xovoa(.i8vag  Xvaorig  ngoiTLÖag  dQTe}dag 
TtavTi  y,ad-aQjiai)  svLipev  aTtOKQijcpo)^  ai  gd  t  dn  'JdQyovg 

ovQ€a  TQTjyeLTjg  rjXui^ov  J4Q'/.adl7jg. 

Das  hieße  mit  den  Worten  Roberts:  Durstiger  Hirte,  mach'  Halt, 
trinke  von  der  y,Qfjvrj  und  laß  auch  deine  Herde  Halt  machen;  miß- 
brauche aber  das  Wasser  nicht  zum  Waschen  und  schone  den  Becher, 
da  er  das  Gerät  des  lieblichen  Trankes  ist;  fliehe  hingegen  meine 
rebenfeindliche  7rr^//J,  wo  Melampus  die  Proitiden,  während  sie  sich 
gerade  zufällig    badeten,   mit  jedem   geheimen  Heilmittel  vom  Wahn- 


—   106  ~ 

sinn  frei  wusch  (oder:  mit  jedem  geheimen  Heilmittel  des  Wahnsinns 
freiwusch). 

Es  ist  Roberts  Verdienst,  die  Schwierigkeiten  des  Epigramms 
klar  aufgezeigt  zu  haben.  Seinen  Rekonstruktionsversuch  aber  nennt 
er  selber  nur  „einen  Vorschlag  oder  richtiger  eine  Reihe  von  Vor- 
schlägen, die  aber  doch  durch  schärfere  Formulierung  einzelner  Fragen 
das  Problem  fördern  werden''.  Und  tatsächlich  muß  ja  die  Annahme 
einer  so  weitgehenden  Textesverderbnis  schon  an  und  für  sich  nach- 
denklich stimmen  und  das  um  so  mehr,  als  Isigonos  und  Vitruv  fast 
überall  die  gleichen  Lesearten  bieten;  scheint  doch  sogar  die  Haupt- 
variante APr^AEH^  und  APFEMEIA^  in  Vers  8  auf  den  gleichen 
Ursprung  zurückzugehen.  Es  müßte  demnach  schon  Isigonos  oder  aber 
seine  und  Vitruvs  gemeinsame  Quelle  jene  Korruptelen  enthalten  haben. 

Was  nun  die  Einzelheiten  betrifft:  Den  Gegensatz  zu  uev  in 
Vers  3  bildet  dlXd  in  Vers  5 ;  die  beiden  Glieder  Vers  5  f.  und  Vers  7  ff. 
sind  durch  (-ii]re — öe  verbunden.  Das  ist  alles  recht  ungeschickt,  denn 
1.  der  von  Reichel  und  Wilhelm  mit  Recht  geforderte  und  durch 'die 
Stellung  des  i^iev  in  Vers  3  vorbereitete  Gegensatz  von  /.qt^vti  und  Ttr^yi^ 
wird  durch  die  eingeschobenen  Verse  5  f.  vollständig  verdunkelt;  2.  der 
Platz  des  fuv  zwischen  r^g  und  aTtö  ytQi^vr^g^  der,  wie  gesagt,  jene 
Gegenüberstellung  erwarten  ließe,  paßt  schlecht  zu  der  tatsächlichen 
Gegenüberstellung  von  ägvoai  .  .  .  ovrioov  und  //^T£  ßdkrjg  .  .  .  <peiye  Se; 
3.  die  Verbindung  mit  f^it^Te  .  .  .  de  selber  ist  hier  hart,  weil  das  erste 
Glied,  das  Verbot  der  Waschung,  auf  die  x^/jt^r^,  das  zweite  aber,  die 
Aufforderung  zur  Flucht,  auf  die  yrr^/yj  geht.  Die  Sache  wäre  sofort 
in  Ordnung,  wenn  man  Vers  5 f.  striche;  ich  schlage  das  nicht  vor, 
ich  führe  es  nur  an,  um  das  Gesagte  zu  verdeutlichen.  Durch  die 
Konjektur  aväg  iuev  wird  bei  der  von  Robert  als  möglich  anerkannten 
Belassung  von  f^itjve  .  .  Se  nur  der  zweiten,  bei  Annahme  des  Schluß- 
vorschlages Roberts  (f-iriTe  .  .  f^n^ze)  nur  der  zweiten  und  dritten  Härte 
abgeholfen.  Es  ist  nicht  zu  wundern,  wenn  Roberts  sonst  so  klare 
Darstellung  in  diesem  Punkte  etwas  Unbestimmtes  bekommt.  Er  sagt 
S.  175:  „daß  in  dieser  Gegenüberstellung  von  Laufbrunnen  /.Qrivrj  und 
Quelle  Ttr^yj^  die  Pointe  des  Epigramms  liegt  ....  haben  Reichel  und 
Wilhelm  erkannt,"  schlägt  dann  ordg  vor  und  fährt  fort:  „Also  wird 
hier  der  Gegensatz  zur  7criyri  noch  nicht  erwähnt,  wie  man  vielleicht 
erwartet  hätte"  .  .  .  nun  „ist  die  Stellung  des  f.i£v ,  dem  das  dXld  der 
5.  Zeile  entspricht,  ganz  in  der  Ordnung;  denn  es  handelt  sich  zunächst 
noch  nicht  um  den  Gegensatz  von  XQrivri  und  ^r^y/J,  sondern  um  den 
von  Erlaubnis  und  Verbot".  Besser  entspräche,  hielte  ich  überhaupt 
eine    Änderung    für    angezeigt,    die    Heckersche    Konjektur    i^r)   tvotI 


—    107    — 

XovTQcc  atL;  denn  dann  würde  das  Epigramm  besagen:  Aus  der  XQi^vri 
trinke  und  tränke  deine  Herde,  doch  wasche  dich  nicht  an  ihr;  die 
Ttrjyt]  aber  fliehe.     Freilich  bleibt  auch  hiebei  ein  irrationaler  Rest. 

Zu  i'vrog  in  Vers  6  erwähnt  Robert  selber,  daß  es  nur  durch 
eine  Archilochos-Stelle  zu  belegen  sei.  Nehmen  wir  an,  es  hätte  einst 
wirklich  hier  gestanden:  würde  man  nun  nicht  die  Anordnung  der 
^Gedanken  eigentümlich  linden?  1.  Schöpfe  dir  einen  Trank,  2.  Lass' 
deine  Herde  trinken,  3.  Wasche  dich  nicht,  4.  Beschädige  nicht  das 
Schöpfgefäß.  —  Mit  lovaaf^isvag  (Vers  8)  brächte  das  Epigramm  etwas 
ganz  Zufälliges,  eine  nebensächliche  Bemerkung,  es  bezeichnete  ,.die 
Situation,  in  der  sich  die  Proitiden  befanden,  als  Melampus  seine 
Zeremonie  mit  ihnen  vornahm"  (S.  180).  Und  könnte  das  Wort  über- 
haupt bedeuten:  während  des  Bades?  —  Zu  ol  /a^,  der  leichtesten 
Änderung,  die  bisher  für  das  überlieferte  ayag  vorgeschlagen  \^Tirde, 
bemerkt  Robert,  es  sei  hier  weder  die  Kausalpartikel  an  ihrem  Platze, 
noch  sei  es  stilgerecht ,  daß  eine  so  nebensächliche  Bemerkung  in 
einem  Hauptsatze  stehe.  Das  zweite  ist  richtig,  nur  ist,  denke  ich, 
mit  Roberts  erweiterndem  Relativsatz  wenig  geholfen.  FdQ  könnte 
erklären,  wie  Melampus  in  Lusoi  die  Sühnung  vornehmen  konnte:  die 
Proitiden  waren  nämlich  von  Argos  nach  Arkadien  gekommen. 

Zu  all  dem  tritt  aber  eine  inhaltliche  Schwderigkeit,  die  auch 
Robert  in  seinen  Schlußbemerkungen  anerkennt.  Er  identifiziert 
nämlich  ein  in  Lusoi  aufgedecktes  Brunnenhaus  mit  der  XQrivri  des 
Epigramms  und  fährt  fort:  ,.Es  bezog  also  der  Brunnen  des  Tempel- 
bezirkes sein  Wasser  aus  dem  verhängnisvollen  Quell,  und  es  war  zu 
befürchten,  daß  sich  der  an  diesem  haftende  Aberglaube  auch  auf 
jenen  übertragen  würde.  Diesen  Aberglauben  im  Keime  zu  ersticken, 
ist  die  Tendenz  des  Epigramms.  Indem  man  die  Schädlichkeit  des 
Quellwassers  uneingeschränkt  zugibt,  verlangt  man  auch  für  die  in 
Form  einer  Einladung  gekleidete  Behauptung,  daß  das  Wasser  des 
Brunnens  durchaus  zu  empfehlen  sei,  unbedingten  Glauben,  ohne  daß 
man  sich  die  Mühe  nimmt  zu  erklären,  durch  welchen  Prozeß  das 
Wasser  auf  dem  Wege  von  der  Höhle  zum  Heiligtum  seine  magische 
Kraft  verloren  habe.  Man  rechnet  eben  auf  gläubige  Gemüter."  Wir 
wissen  nicht,  wie  weit  die  XQrivt]  von  der  Ttriyt]  entfernt  war.  Nach 
dem  Gedichte,  das  von  beiden  Punkten  spricht,  möchte  man  auf  ziem- 
liche Nähe  schließen,  möchte  glauben,  daß  der  griechische  Leser  von 
der  XQrivri  aus  die  ^riyrj^  vor  der  er  gewarnt  wird,  wenigstens  sehen 
konnte.  Hiezu  würde  Vitruv  stimmen,  der  das  Epigramm  —  die 
Stelle  ist  im  folgenden  ausgeschrieben  —  in  oder  bei  der  Höhle,  aus 
der  das  Wasser  fließt,  also  in  unmittelbarer  Nähe  der  ttt^^/J  eingegraben 


—   108   — 

sein  läßt.  Freilich  ist  diese  Angabe,  wie  Robert  bemerkt,  nicht  un- 
bedingt vertrauenswürdig.  Mag  aber  die  Distanz  auch  größer  sein, 
jener  von  ihm  geforderte  Glaube  setzt  recht  naive  Gemüter  voraus. 

Wenden  wir  uns  nun  zur  Überlieferung. 

Steph.  Byz.  s.  V.  J^^av/a  berichtet:  Evdo^og  de  —  der  Knidier  — 
€v  ^'xtT]  yr^g  TCeQioöou  q)7jalv'  eon  XQrivrj  zfig  ^^aviag^  ^  rohg  yevaauevovg 
xov  vdarog  Ttotel  ^irjöi  rrjv  dojiirjv  xov  oYvov  ävexeod-aiy  elg  f]v 
XeyovoL  MeldfiTtoda,  ots  rag  IlQOiTidag  exäd-ai^ev,  ei-ißaXelv  xa 
äTtozad-dQi-iaTa.  Vgl.  Plinius  n.  h.  XXXI,  16:  Vinum  taedio  venire 
US,  qui  ex  Clitorio  lacu  hiherint,  alt  Eiidoxus. 

Athen.  II,  43 f.:  (DvXaQyog  de  (pr^öiv  ev  KIeItoql  elvai  XQi^ivriv^  dcp 
rjg  Tovg  Tiiowag  ovx  ävex^od-ai  tijv  tov  oYvov  oS^t^v. 

Isigonos  Nie.  bei  Westermann  Paradoxogr.  186:  ^Ev  KleiTOQioig 
df.  Trig  ^Q'/MÖlag  XQi^vrjv  cpaalv  elvai ^  d(p  Jjg  tovg  Ttivovxag  fiioelv 
xhv  oivov,  eTtixexccQdx^ai  de  eTt  aiTrig  eTilyQafiua  roLÖvöe' 
MyQÖra  atX. 

Vitruv  VIII,  3,  21:  Arcadia  vero  civitas  est  non  ignota  Clitoriiy 
in  cuius  agris  est  spelunca  profluens  aqua,  e  qua  qui  biberint  fiunt 
abstemii.  Ad  eum  autem  fontem  epigramma  est  in  lapide 
inscriptum  hac  sententia  versibus  Graecis,  eam  non  esse  idoneam  ad 
lavandum  sed  etiam  inimicam  vitibus,  quod  apud  eum  fontem  Melampus 
sacrificiis  purgavisset  rabiem  Froeti  filiarum  restituissetque 
earum  virginum  mentes  in  pristinam  sanctitatem.  Epigramma  autem  est 
id,  quod  est  subscriptum:  MyQika  xzl.  bis  Vers  9  d7töxQvq)ov. 

Ovid  Metam.  XV.  321  ff.: 

ClitoHo  quicumqiie  s'itim  de  fönte  levarit, 

vina  fugit  gaudetque  meris  abstemius  undis, 

seu  vis  est  in  aqua  calido  contraria  vino, 

sive,  quod  indigenae  memorant,  Amythaone  natus, 

Proetidas  attonitas  postquam  per  Carmen  et  herbas 

eripuit  furiiSy  purgamina  mentis  in  illas 

mersit  aquas  odiumque  meri  permansit  in  undis. 

Die  inhaltlichen  und,  wie  durch  den  Druck  hervorgehoben  ist, 
nicht  selten  auch  wörtlichen  Übereinstimmungen  dieser  Stellen  erweisen 
zwischen  ihnen  ausgesprochene  Quellenverwandtschaft.  Engste  Zu- 
sammengehörigkeit besteht  zwischen  Eudoxos  und  Phylarchos,  zwischen 
Isigonos  und  Vitruv.  Ovid  weist  starke  Berührungspunkte  mit  Vitruv 
und  Eudoxos  auf.  Der  Hauptsache  nach  ist  es  also  eine  einzige 
primäre  Quelle,    auf  die   unsere  Nachrichten  zurückgehen;    diese  laß 


—    109   — 

sich  über  Theophrast i),  der  ja  auch  bei  Plinius  XXXI,  13 f.  erzählt: 
In  Lusis  Ärcadiae  quodam  fönte  mures  terrestres  vivere  et  conservari 
(ähnlich  Theopompos,  vgl.  Jahreshefte  IV,  5),  zurückverfolgen  bis 
Eudoxos  von  Knidos,  also  tief  ins  vierte  Jahrhundert  hinein.  Den 
stärksten  Gegensatz  hiezu  bietet  das  Epigramm  des  Isigonos  und  des 
Vitruv,  das  ja  direkt  zum  Trinken  auffordert.  Aus  diesem  ist  aber 
nicht  einmal  die  Inhaltsangabe  geschöpft,  die  Vitruv  von  ihm  gibt, 
man  müßte  denn  annehmen  ^  daß  er  einerseits  dessen  erste  vier  Verse 
vollständig  vernachlässigt  habe,  anderseits  seine  Übereinstimmung  mit 
Ovid,  der  das  Epigramm  nicht  benützt,  ein   merkwürdiger  Zufall  sei. 

Diesem  Sachverhalt  steht  aber  ein  anderer  entgegen:  Zwischen 
dem  Gedichte  und  der  sonstigen  Überlieferung  herrschen  auch  sehr 
enge  Beziehungen;  letztere  gibt  zum  Teil  nichts  als  Entlehnungen 
oder  direkte  Übersetzungen  des  Epigramms.  Das  sehen  wir  schon  bei 
Eudoxos  und  Phylarchos.  Deren  Worte  z^/Jv^,  fj  .  .  .  Ttotel  /htjös  rrjv 
ÖGfir^v  Tol  ol'vov  ävexead-ai  und  }CQi]vriv^  äcp  fjg  Tovg  Ttiovvag  ovz 
ävexeod-ai  ttjv  tov  ol'vov  ddjiirjv  scheinen,  wie  lange  erkannt,  eine 
Übertragung  von  Ep.  Vers  5  f.  firj  oe  zal  avQirj  Ttrjinrivrj  TeqTtvrig  eviög  iovra 
l-ie^ijg  zu  sein.  Die  avQr^  xeQTCvrig  f^dd-rig  findet  an  den  (.led-rig  evtodeeg 
avQat  des  Nonnos,  Dionys.  XIV,  416,  XVI,  111,  wie  ich  gegen  Robert 
S.  175 f.  glaube,  eine  entsprechende  Parallele;  auch  der  metonymische 
Gebrauch  des  Wortes  ined^vi  bietet  keine  Schwierigkeit,  wie  denn  auch 
Robert  selber  den  Ausdruck  in  seiner  Rekonstruktion  mit  „erfrischender 
Trunk''  übersetzt.  Aber  allerdings  ist  dabei  evuog  eövva  ebenso  un- 
verständlich ^^ie  die  Konjektur  evrög  lövia^  und  jener  Sinn  der  Phrase 
mit  dem  übrigen  Gedichte  vollständig  unvereinbar. 

Eudoxos  'AQrivri  .  .  .  eig  i]v  bis  d7to'Aa3-äQ(.iaTa  entspricht  Ep.  Vers  7 
bis  9.  In  beiden  Fällen  die  Sage  von  Melampus.  Er  entsühnt  die 
Proitiden:  ey.dd^aiQev  sagt  Eudoxos  wie  sacrißciis  purgavisset  rabiem 
Vitruv  und  ^J>er  Carmen  et  herbas  eripuit  furiis  Ovid.  Im  Epigramm 
lesen  wir  loidäf-ievog  kvaor^g  n^oiiidag  dQveiieag^  wobei  XvoGr^g  recht 
hart  von  aQvefieag  abhängt,  kovodf-ievog  singulär  etwa  in  der  Bedeutung 
gebraucht  ist:  er  ließ  sie  für  seine  Zwecke  ein  Bad  nehmen.  Man  wünschte 
lieber  /.voä/nevog.  Das  ungeschickte  koi^odfievog  könnte  seinen  Ursprung 
späterer  Sucht  verdanken,  unter  allen  Umständen  auf  den  Namen  yiovGoi 
anspielen  zu  wollen,  der  doch  im  Epigramm   gar  nicht  erwähnt  wird. 

Nach  der  Reinigung  wurden  die  aTioxa^dQ^iara  nach  alter  Sitte 
ins  Wasser  versenkt:    einßakelv  rä  dTtoxad-dQfiara  Eudoxos,   purgamina 


^)  Vgl.  Rusch,  De  Posidonio  Lucreti  Cari  auctore  S.  23ff.,  dessen  Ausfühningen  sieh 
zum  Teil  auf  Rose,  Aristot.  Pseudepigr.  lOft'.,  280  und  Rohde,  Acta  soc.  phil.  Lips.  I,  25  ff. 
gründen. 


—   110  — 

mentis  in  illas  mersit  aquas  Ovid.  Dasselbe  meint  das  Epigramm  mit 
Vers  9:  Tcdvra  '/a&aQiubv  e'/.o\pev  aTtöxgvcpov;  aber  sxoipev  ist  unpassend 
und  es  etwa  durch  den  Hinweis  „auf  das  Sühnopfer,  das  Ferkel"  zu 
erklären,  ..mit  dessen  Blut  die  Proitiden  auf  einer  de  Witteschen 
Gemme  benetzt  werden"  (Robert,  S.  181;  Wiener  Vorlegeblätter, 
B  IV,  4),  bedenklich;  denn  dadurch  käme  ein  der  Überlieferung 
Ovids  fremder  Zug  in  das  Gedicht.  Am  ehesten  könnte  man  sich  bei 
einer  der  vorgeschlagenen  Konjekturen  (eßaxpsv,  e/.QvxpEv)  beruhigen. 

Des  Isigonos  ^iiaelv  tov  olvov  mag  auf  Ep.  Vers  7  LuaduTtelov 
zurückgehen.  —  Vitruv  übersetzt  angeblich  das  ganze  Epigramm,  in 
Wirklichkeit  aber  nur  Vers  5  ff.,  und  auch,  dabei  übergeht  er  Vers  5  f. 
^/?J  oe  bis  f^ie&^]g  und  Vers  9.  MioäiiTteXov  ist  durch  inimicam  vitibus 
gegeben,  in  Vers  8  las  er  äQie(.ieag  und  vielleicht  Ivodiievog. 

Und  nun  Ovid.  Daß  dieser  „einer  anderen  Version  folgt  wie  das 
Epigramm,  lehren  die  Worte  carmen  et  herbas^^  sagt  Robert  S.  181. 
Aber  diese  sind  nur  eine  Ausmalung  der  sacrificia  Vitruvs  und  ent- 
sprechen hiemit  ebenso  Ep.  Vers  8,  wie  purgamina  bis  aquas  Ep.  Vers  9, 
odiumque  bis  undis  Ep.  Vers  7  Ttrjyrjv  iiiödiiTteXov.  —  Die  Wirkung  der 
Quelle  beruht  nach  Ovid  entweder  auf  den  versenkten  dno/Md^dQuaTa 
oder  aber  ,,vis  est  in  aqua  calido  contraria  vino'\  Diese  dem  calidum 
vinum  entgegengesetzte  vis  ist  doch  nur  die  Kälte  des  Wassers,  dessen 
kalter  Hauch,  die  avQiy.  ihr  steht  die  reQTtvr)  fied^ri  gegenüber.  Mit 
anderen  Worten:  Es  scheint,  als  ob  Ovid  oder  dessen  Quelle  auch  die 
Elemente  von  Ep.  Vers  5  f.  jut^  oe  %tX.  in  irgend  einer  Verbindung 
vorgelegen  hätten.  So  paraphrasiert  denn  Jacobs,  Animadv.  in  Anth. 
Graec.  III,  1.  405  die  Stelle:  cave  ne^  cum  vini  calorem  visceribus 
conceperis  ^  hac  aqua  laveris,  ne  te  vel  sola  aura,  inde  afflans^  male 
afficiat/''  nur  daß  dieser  Sinn  für  unser  Epigramm  nicht  paßt  (Robert 
S.  176). 

Dasselbe  Verhältnis  der  Gegensätzlichkeit  und  der  Überein- 
stimmung nun,  das  zwischen  dem  Epigramm  und  den  sonstigen  Xach- 
richten  über  das  heilige  Wasser  von  Lusoi  besteht,  muß  auch  zwischen 
ihm  und  deren  primärer  Quelle  herrschen:  Eudoxos  lag  das  Gedicht 
in  einer  Form  vor,  die  sich  der  Fassung  Isigonos -Vitruv  enge  anschloß, 
aber  auch  wieder  von  ihr  wesentlich  verschieden  war.  Es  fehlte  ihm 
vor  allem  der  erste  Teil  des  Isigonos-Epigrammes  (Vers  1 — 4j.  Das 
zeigt  nicht  nur  sein  Inhalt,  sondern  auch  ein  zeitliches  Moment.  In 
seiner  jetzigen  Gestalt  gehört  das  Gedicht,  wie  von  Preger  aus- 
gesprochen, von  Reichel -Wilhelm  a.  a.  0.,  S.  4  durch  den  Hinweis  auf 
Vers  2  dv  ea/avidg  KlEiTOQog  begründet  worden  ist,  im  günstigsten 
Falle  erst  dem  Anfange  des  2.  Jahrhunderts  an. 


—  111  — 

Auf  die  Existenz  eines  solchen  Gedichtes  weist  unser  Epigramm 
selber  hin.  In  Vers  1 — 4  ist  in  schlichter  Form  ein  einfacher  Gedanke 
ausgesprochen,  der  in  einer  größeren  Anzahl  verwandter  Epigramme 
wiederkehrt.     So  dichtet  die  Arkadierin  Anyte  Anth.  Pal.  IX,  313: 

"l^ev  ccTtag  V7tb  y.aka  Sd(pvag  evd-akea  cpvlka 

lüQaiov  T  äqvoai  vdf^iazog  ddu  7t()(.ia^ 
o(f>Qa  TOi  dod-uaivovua  Ttovoig  ^egeog  cplka  yula 

diiTvavatjgy  Ttvoia  TVTtroueva  CecfVQOv. 

Ganz  ähnlich  Nikias  von  Milet  (ibid.  315): 

'I^eu  VTc  aiyelooLGLv,  ercel  rAueg,  svd-dd^  öölva, 

'Aal  Tzld^  daoov  itov  Ttlöaxog  äf-ieTeqag  usw., 

und.  das  erstere  Gedicht  nachahmend,  Satyros  A.  P.  X,  13.  Die  z^/jvr^ 
Hesychie  mit  ihrem  Ttty.gbv  vdfia  ruft  dem  Wanderer  zu:  ^LyriGag 
dgiaat  (IX,  37);  die  Salmakis:  'JdQvoai,  ^eve,  rrig  6^  am)  Ttriyrig  (IX,  38); 
die  Kathare:     M/J  iie  d-eoevg  TtaQaueißeo'  Slipav  dXaXycov 

äiiTiavoov  Ttaq  F.iiot  '/,al  •/M7rov  fjöv^ij]  (IX,  374). 
Die  vier  letztgenannten  Gedichte  gehören  wahrscheinlich  sämtlich 
dem  Stephanos  des  Philippos  an.  Wiederum  bei  Anyte  (IX.  314) 
bietet  Hermes  dem  müden  Wanderer  einen  schattigen  Ruheplatz  und 
reines,  frisches  Wasser  an;  sie  ahmt  ein  unbekannter  Dichter  des 
philippischen  Kranzes  nach  (X,  12).  Wie  der  Hirte  mit  seiner  Herde 
in  Lusoi  Ttaqä  Nvug^aig  vdqiäoi  halten  soll,  so  auch  i^ristokles, 
Hermokreon,  Damostratos  und  Timokles  in  Epigrammen  der  niele- 
agrischen  Sammlung  an  die  Mficpai  scpvÖQidÖEg  und  die  Nriiddeg^ 
IX,  326—329. 

Entsprechen  so  Vers  1 — 4  unseres  Epigrammes  einer  ganzen 
Menge  von  Gedichten  und  darunter  auch  arkadischen  Stücken  (Anyte) 
in  einem  Grade,  daß  sie  geradezu  auf  ein  ähnliches  Muster  zurück- 
gehen und  für  sich  eine  selbständige  Quellinschrift  darstellen  könnten, 
so  bietet  auch  Vers  5  dlld  gv  f^itJT  tTtl  lovTqä  ßdljjgxQoL  nichts  irgend- 
wie Befremdliches.  Den  gleichen  Gegensatz  spricht  Nikias  A.  P.  IX, 
330  aus : 

Kqdvag  evvdgov  Ttagd  vduaöi  /ml  Ttagd  Nvf.i(paig 
eoTaoev  ue  ^iucovj  Iläva  tov  alytTtödriv. 

TEv  de  xdQLv;    le^co  toi'    oaov  Txod-eeig   d7rb  xqdvag 
ymI  7t le  %al  %oiXav  xdlTtLv  shov  ägvoai, 

7toGol  de  firj  7votI  viTtTQa  cpegeiv  novGvdlhva  Nvf.i(päv 
öiooa,  TOV  vßQLGThv  elg  iui  öegyMuevog  /.tL 


—   112   — 

Das  Baden  und  Waschen  in  '/.grivai  nahe  dem  Heiligtum  der  Demeter 
verbietet  eine  Inschrift  aus  Keos,  I.  Gr.  XII,  569.  Umgekehrt  sagt  das 
auch  bei  Reichel -Wilhelm  a.  a.  0.,  S.  4  angeführte  Epigramm  Preger  12: 

"Ydara  ytgavdevTa  ßXeTteig^  ^evE,  tcov  cctto 

XovTQa  ftiv  dv&QWTtoig  dßlaßri  e'ffTLv  i'xetv 

riv  de  ßdXrjg  y,oi?,rjg  /.arä  vrjSvog  dyXaöv  vScoq 
aAQa  f-tovov  doXiyov  xEiXeog  dipdfAEvog^ 

avTTi^iaQ  TtQLGzfiQEg  ETtl  x^ovl  öaiTÖg  ddowEg 
TtiTtTovaiv  yEvvwv  ogcpavä  ^evvEg  töri. 

Vgl.  A.  P.  IX,  392  'JdSrikov 

El'  Tig  dTvdy^aöd^aL  /nev  dzm,  d-avaTOv  ö^  ETtid-vf-iEL^ 
£^  'legäg  7t6kE(x)g  xpvxghv  vdcoQ  TCihco. 

Ist  aber  bisher  alles  verständlich  und  reichlich  belegbar,  so  tritt 
nun  plötzlich  mit  Vers  5 f.  fii^  ae  ...  jus^rjg  ein  Finalsatz  ein,  der  an 
Klarheit  alles  zu  wünschen  übrig  läßt,  der  höchstens  verständlich  wäre, 
wenn  mit  ihm  das  Epigramm  schlösse.  Denn  dann  könnte  er  bedeuten; 
Damit  dich  nicht  schon  ,.der  kalte  Hauch",  oder  aber  ,.ein  Lüftchen" 
schädige,  wenn  du  im  erquickenden  Bade  bist.  Aber  wie  eigentümlich 
wäre  auch  da  der  Gebrauch  des  Wortes  f^Ed-rj.  Und  nun  folgt  in 
Vers  7  die  nach  dem  dXXd  harte  Anknüpfung  mit  de-,  die  Aufforderung: 
Fliehe  meine  rebenfeindliche  Quelle,  von  der  y.Qi]V7^  gesprochen,  deren 
Wasser  durchaus  nicht  rebenfeindlich  ist;  mythologische  Gelehrtheit, 
die  weder  an  und  für  sich,  noch  auch  in  der  Form,  in  der  sie  auf- 
tritt —  der  Gleichklang  lovad/nEvog  Ivootig  mit  dem  merkwürdigen 
XovaduEvog,  das  harte  dgrEjueag  mit  seinem  eigentümlich  gestellten 
Objekt  IvGGTig,  das  unerklärbare  e'yioipEv  —  zur  Einfachheit  von 
Vers  1 — 5  passen  will;  endlich  in  Vers  9 f.,  mit  ai  ydg  oder  ähnlichem 
angeknüpft,  eine  Erläuterung,  die  wie  ein  spätes  Anhängsel  aussieht, 
bei  Vitruv  auch  mrklich  fehlt. 

Das  Gedicht  besteht  also  aus  zwei  verschiedenen  Teilen,  Vers  1—5 
XQol  und  Vers  5  firj  bis  Schluß,  die  nur  mit  Mühe  durch  jui^te—öe  zu 
einer  Einheit  zusammengeschweißt  sind.  Der  erste  Teil  stellt  eine 
wirkliche  Inschrift  dar,  die  ursprünglich  auf  irgend  einem  Brunnen 
im  Grenzgebiet  von  Kleitor  stand,  möglicherweise,  aber  durchaus 
nicht  notwendig,  in  Lusoi,  sicher  nicht  an  der  heiligen  Quelle.  Gegen 
letzteres  sprechen  der  Volksglaube,  der  gerade  das  Gegenteil  vom 
Epigramm  fordert;  und  die  sonstige  Überlieferung,  die  das  Gedicht 
nicht  kennt.  Auffällig  wäre  auch,  daß  hier  im  Gegensatze  zu  ander- 
weitigem Brauche    (Jahreshefte  VIII,  S.  12)    direkt  zum  Tränken  des 


—    113   — 

Viehs  an  gottgeweihtem  Wasser  aufgefordert  würde.  Die  Inschrift 
kann  ebensogut  erst  dem  zweiten  Jahrhundert  vor  Christus  angehören 
als  auch  in  die  Zeit  der  älteren  meleagrischen  Epigramme  hinauf- 
reichen. 

Den  zweiten  Teil  des  Epigrammes  und  das  Isigonos-Gedicht  als 
Ganzes  kann  man  sich  vielleicht  in  folgender  Weise  entstanden  denken: 
Auf  dem  Stein  in  der  heiligen  Höhle  war  ein  altes  Epigramm  ein- 
gegraben, das  mit  dem  Volksglauben  in  Übereinstimmung  stand.  Es 
wurde  von  Eudoxos  benützt  und  als  Beweis  für  seine  Überlieferung 
von  der  y,Qiivri  angeführt,  ohne  beigeschrieben  zu  werden.  Mit  der  Zeit 
war  es  schwer  lesbar  oder  fast  unleserlich  geworden.  Da  wurde  im 
zweiten  Jahrhundert  mit  Benützung  der  spärlichen  noch  erkennbaren 
Reste  und  des  aus  literarischen  Quellen  bekannten  Quellepigramms 
Vers  1—4,  so  gut  es  ging,  ein  neues  Gedicht  hergestellt.  Anlaß  zur 
Verknüpfung  dieser  beiden  Bestandteile  gab  die  geographische  Angabe 
in  Vers  1,  die  vielleicht  erst  jetzt  auf  Lusoi  bezogen  wurde.  Zweck 
des  Epigramms  mag  gewesen  sein,  in  einer  Epigramm-  oder  Paradoxen- 
sammlung  zu  prangen.  Daß  sein  Sinn  vollständig  unklar  ist,  wird 
durch  dessen  Entstehung  verständlich.  Dieses  Gedicht  nun  wurde  von 
Isigonos  und  Vitruv  für  das  eTtlyQaiiina  gehalten,  das  sie  in  ihrer 
alten  Quelle  erwähnt  fanden,  und  ohne  Rücksicht  auf  die  sonstige 
Überlieferung  beigeschrieben.  Es  liegt  uns  demnach  hier,  wenn  auch 
nicht  derselbe,  so  doch  ein  ähnlicher  Fall  von  Erweiterung  vor,  wie 
sie  von  Wilamowitz ,  Gott.  Nachr.  1897,  306  und  Wilhelm,  Jahres- 
hefte II,  227  auch  für  andere  Epigramme  erwiesen  ist.^) 


^)  Es  möge  hier  eine  Yermutuug  W.  v.  Harteis  Platz  finden,  die  mir  vor  Jahnen  mitgeteilt 
wurde,  daß  nämlich  auch  das  sprachlich  wie  inhaltlich  höchst  eigentümliciie  .Koroibos- 
Epigramm  A.  P.  VII,  154  die  Erneuerung   einer    alten  halb   verwischten  Inschrift  darstelle. 


Wiener  Eranos. 


Eine  Brunneninsclirift 
aus  Adamklissi   (Dobrudscha), 

Von 
JAKOB  WEISS. 


Die  Dobrudscha  ist  das  Land  zwischen  der  untersten  Donau  etwa 
von  Rassova  an  und  dem  Schwarzen  Meere  von  den  Donaumündungen 
bis  zur  Batovabai.  Der  größere  (südliche)  Teil  dieses  Gebietes  ist  ein 
Plateau  von  100  bis  200  m  Meereshöhe,  das  zur  Donau  und  dem  Pontus 
meist  steil  abfällt.  Die  Oberfläche  bildet  eine  Lößdecke,  unter  welcher 
die  horizontalgelagerten  Schichten  der  bulgarischen  Kreidetafel  liegen. 
Wie  im  Altertum  ist  auch  heute  dieses  Land  waldlos,  da  einerseits 
der  Löß  dem  Wald  abhold  ist,  andrerseits  die  höchstens  500  mm 
erreichende  jährliche  Niederschlagsmenge  für  sein  Gedeihen  zu  gering 
ist.  Größere  rinnende  Wässer  fehlen,  das  Wasser  sinkt  in  den  Boden 
und  kommt  erst  an  den  tiefen  Stellen  des  Plateauabfalles  in  größerer 
Menge  zum  Vorschein.  Daher  ist  die  Bevölkerung  fast  ausschließlich 
auf  den  Gebrauch  von  Schachtbrunnen  angewiesen,  die  oft  auf  dreißig 
und  mehr  Meter  in  die  Tiefe  getrieben  werden  müssen,  bis  der  tief- 
liegende Grundwasserspiegel  erreicht  wird.  Nur  wenige  Orte  in  den 
fast  immer  trockenen  Tälern  haben  den  Vorzug  einer  Quelle.  Diese 
kurze  Skizze^)  der  heutigen  Wasserverhältnisse  der  Süddobrudscha  soll 
das  Milieu  kennzeichnen,  in  welches  die  Inschrift  gehört,  deren  Be- 
sprechung wir  uns  nun  zuwenden. 

Sie  ist  von  Prof.  Tocilescu  in  Bukarest  der  französischen  Akademie 
im  Jahre  1905  mitgeteilt  worden  und  wurde  ohne  weiteren  Kommentar 


■')  Genaueres  über  die  physische  Geographie  des  Landes  in  alter  und  neuer  Zeit  in 
meiner  demnächst  erscheinenden  historischen  Landeskunde  der  Dobrudscha.  (Zur  Kunde  der 
Balkanhalbinsel.  Reisen  und  Beobachtungen.  Hgb.  von  C.  Patsch.) 


#► 


—   115  — 

publiziert.  ^)  Herrn  Prof.  Tocilescu  verdanke  ich  einen  Abklatsch,  nach 
dem  ich  die  untenstehende  Kopie  mittels  Pantograph  hergestellt  habe. 
Die  Inschrift  stammt  aus  dem  römischen  Municipium  Tropaeum,  unter- 
halb des  Dorfes  Adamklissi  im  Tal  von  Urluja  gelegen,  18  A-m  (Luft- 
linie) südlich  von  Rassova  a.  D.  Auf  der  Plateaufläche,  in  die  das  Tal 
eingeschnitten  ist,  liegt  die  Ruine  des  großen  Siegesdenkmales,  welches 
Kaiser  Traian  nach  dem  endgültigen  Siege  über  die  Daker  dem  Mars 
ültor  an  jener  Stelle  geweiht  hat,  an  der  —  nach  den  glänzenden 
Untersuchungen  von  Cichorius'^)  —  die  Römer  unter  der  Regierung 
Domitians  eine  vernichtende  Niederlage  durch  jenen  Feind  erlitten 
hatten.  Im  Jahre  109  n.  Chr.  war  das  Denkmal  nach  der  Weihinschrift*) 
vollendet  und  die  nach  dem  Ausweis  der  in  Tropaeum  gefundenen 
Inschriften  lateinische  Gemeinde  drunten  im  Tal,  wo  man  dem 
Grundwasser  näher  war,  wohl  gleichzeitig  konstituiert  worden.  Schon 
115/116  n.  Chr.  setzen  die  Traianenses  Tropaeenses  dem  Kaiser  eine 
Ehreninschrift.  *) 

H  PHBACI 
AICCHVI 

nEPTHCEV 

YAATOCHno 
AlCTPonPI 

CILUNEYXfC 
XAPlN 

Besonders  auffällig  ist  zunächst,   daß  die  Inschrift,  eine  offizielle 
Kundgebung  der  sonst  lateinischen  Gemeinde,    in  griechischer  Sprache 
l)gefaßt  ist.     Ich  gebe  hier  die  Umschrift: 

^'Hqti  ßaai\kiaari  v\716q  Tf^g  Ev\Qi]Oewg  tov  \  vdavog  f)  7t6\hg   Tqoti:€i\ 
olcüv  evyT\g  \  yccQiv. 

In  der  zweiten  Zeile  ist  nach  dem  v  noch  eine  Hasta  eingehauen. 
Der   Steinmetz   hat   wohl    den    begonnenen   Buchstaben   11  nicht    aus- 


')  Comptes  rendus  de  l'academie  des  insc.  et  belies  lettres,  1905,  565. 
")  Die  röm.  Denkmäler  in  der  Dobrudscha.  Berlin  (Weidmann)  1904. 
')  CIL  III  12467. 
*)  CIL  III  12470;  vgl.  Arch.  epigr.  Mitt.  XVII,  106  f. 

8* 


—   116  — 

geführt,  da  der  Platz  für  die  ganze  Silbe  tveq  —  die  Inschrift  hat 
durchwegs  Silbentrennung  —  nicht  gereicht  hat.  In  der  ersten  Publikation 
der  Inschrift  ist  in  der  vorletzten  Zeile  die  Ligatur  von  rj  und  a  über- 
sehen. Auffällig  ist  die  ¥orm  Hgri.  Doch  gibt  es  für  den  Übergang  von 
or  zu  r^  auch  sonst  im  späten  Griechischen  und  im  Neugriechischen  Belege,  i) 
TQOTiEiGLwv  ist  eine  Mißbildung  nach  Tropaeensium. 

Der  Umstand,  daß  die  Inschrift  griechisch  ist,  läßt  vermuten^ 
daß  sie  nicht  den  ersten  Zeiten  dieses  als  römisches  Municipium 
gegründeten  Gemeinwesens  angehört,  während  der  Inhalt  gerade  das 
Gegenteil  zu  verlangen  scheint. 

Die  Stadt  Tropaeum  hat  der  ^'Hgr]  ßaoiliaari  (die  griechische 
Übersetzung  des  lat.  Juno  Regina  ^j  eine  Weihung  gelobt  für  den  Fall, 
daß  die  Suche  nach  Wasser  von  Erfolg  begleitet  wäre;  der  hat  sich  auch 
eingestellt  und  diese  Weiheinschrift  bildet  die  Erfüllung  des  Gelöbnisses. 
Das  Suchen  nach  Wasser  ist  aber  doch  wohl  eine  Sorge,  die  nur  eine 
entstehende  Gemeinde  drücken  kann.  Gerade  in  der  Dobrudscha,  wa 
Quellen  und  rinnendes  Wasser  auf  Meilen  hin  fehlen,  mußte  jederzeit 
bei  Anlage  einer  Siedlung  zuerst  das  Hauptaugenmerk  auf  die  Wasser- 
beschaffung  gerichtet  sein. 

So  kämen  wir  auf  einen  Widerspruch :  Die  Sache,  um  die  es  sich 
in  der  Inschrift  handelt,  gehört  aus  praktischen  Gründen  in  die  Ent- 
stehungszeit von  Tropaeum,  die  Inschrift  selbst  aber  infolge  des  offiziellen 
Gebrauches  der  griechischen  Sprache  nicht  in  diese,  wofür  auch  die 
späten  Buchstabenformen  und  die  Dürftigkeit  der  Urkunde  sprechen. 

Aber  dieser  Widerspruch  verschwindet,  wenn  wir  eine  andere 
Inschrift  aus  Tropaeum  heranziehen,  die  aus  der  Zeit  zwischen  315 
und  317  n.  Chr.  stammt:  CIL  III,  13734. 

Bomanaesecuritatislihertatisq(ue)  vifidicibHs\d(ominis)  n(ostris)  Fl(avio) 
Val(erio)  Constantino  et  Vfal.  Licmiano]  \  [Licinio]  Piis  Felicibiis  aeternis 
Äug(ustis)  I  quorum  virtute  et  Providentia  edomitis  uhique  barbararum  gen- 
tium populis  \  ad  confirmandam  limitis  tutelam  etiam\Tropeen' 
sium  civitas  auspicato  afiindamentis  \  feliciter  opere  constructa 
est.  Petr(onius)  Annianm v(ir)  cßarissimiis)  et  Jul(ius)  Julianus  v(ir)  em(inen- 
tissimus)  praef(ecti)  praet(orio)  numini  eorum  semper  dicatissimi. 

Wir  erfahren,  daß  die  Stadt  Tropaeum  im  zweiten  Jahrzehnt  des 
vierten  Jahrhunderts  a  fmidamentis,   vom  Grund  auf,  zur  Verstärkung 


^)  Ygl.  Hatzidakis,  Einleitung  i.  d.  neugriech.  Grammatik,  S.  86.  Dieterich  K., 
Untersuchungen  zur  Gesch.  d.  griech.  Sprache.  Byzant.  Archiv  I,  172  f. 

^)  Weihungen  an  diese  Gottheit  besonders  in  Verbindung  mit  Juppiter  sind  in 
der  Dobrudscha  zahlreich.  CIL  III  7488.  7533.  12465.  12487  usw.  Möglicherweise  befand 
sich  am  Brunnen  eine  zweite  Inschrift  für  Juppiter. 


—   117   — 

•der  Grenzwehr  neu  gebaut  wurde.  Der  Feind,  der  seit  Anfang  des 
dritten  Jahrhunderts  hier  an  der  unteren  Donau  drohte  und  sie  fast 
jährlich  verheerend  überschritt,  waren  die  Goten  i)  und  einem  ihrer 
Züge  muß,  wohl  am.  Ende  des  dritten  Jahrhunderts, '*)  Tropaeum  zum 
Opfer  gefallen  sein.  Die  Zerstörung  der  festen  Stadt  war  vollständig, 
•da  der  Neubau  „von  Grund  auf  vorgenommen  werden  mußte.  Die 
Goten  hatten  allem  Anschein  nach  die  Absicht,  eine  rasche  Wieder- 
besiedlung des  Platzes  möglichst  zu  verhindern,  und  ein  weiteres 
wirksames  Mittel  zur  Erreichung  dieser  Absicht  war  in  der 
Dobrudscha  die  Zuschüttung  der  Brunnen.  Und  als  die  Stadt  wieder 
erstehen  sollte,  da  werden  die  herbeigezogenen  Kolonisten  nach  dem 
Wasser  gesucht  haben,  das  in  der  Tiefe  versteckt  war;  denn  das 
spärliche,  oft  ganz  aussetzende  Gerinne  im  Tal  von  Urluja  kam  nicht 
in  Betracht.  Als  man  den  Brunnen  gefunden  und  wieder  benutzbar 
gemacht  hatte,  setzte  man  an  seinem  Rande  die  Weiheinschrift  an  Hera. 
Die  neue  Gemeinde  hat  die  griechische  Amtssprache  eingeführt, 
welche  sich  in  jener  Zeit  in  der  östlichen  Reichshälfte  allgemein  ein- 
bürgerte. Daß  sie  Gelübde  und  Weihung  an  Hera  richtet,  ist  in  den 
ersten  Jahrzehnten  des  4.  Jahrhunderts  nicht  auffällig,  ja  in  der  Zeit 
um  317  n.  Chr.  gerade  zu  erwarten,  da  der  Herr  des  Ostens  der 
Christenverfolger  Licinius  war.  3) 


*)  Über  diese  Einfälle  vorzüglich  L.  Schmidt,  Gesch.  der  deutschen  Stämme  bis  zum 
Ausgang  der  Völkerwanderung.  (In  den  Quellen  u.  Forschungen  z.  alten  Gesch.  u.  Geogr. 
hrg.  V.  Sieglin,  VII). 

')  Eine  Inschrift  aus  Diokletianischer  Zeit  aus  Tropaeum  CIL  III  12464. 

')  Ein  inschriftlich  erhaltener  Erlaß  des  Licinius  (er  liegt  mir  in  einer  Abschrift  vor, 
die  ich  Tocilescu  verdanke)  gebietet  in  dem  LimeskasteU  Salsovia  (Norddobrudscha)  und 
wahrscheinlich  in  allen  anderen  die  Verehrung  des  Mithras. 


Zur  griechischen  Wortkunde, 

Von 
PAUL  KRETSGHMER. 


1.   YJKINOO:^. 

Das  sogenannte  Hemerologium  Florentinum  führt  in  dem  Ver- 
zeichnis der  kretischen  Monatsnamen  einen  Monat  Paßlvd-iog  auf,  der 
vom  24.  Mai  bis  23.  Juni  reichte.^)  Dieser  etwas  rätselhafte  Name 
hat  seine  Aufklärung  erhalten  durch  das  in  Delos  zu  Tage  gekommene 
Dekret  der  kretischen  Gemeinden  Lato  und  Olus,  Bull.  corr.  hell.  XXIX, 
1905,  S.  204f.,  in  welchem  (Z.  2)  ein  Monat  von  Lato  Ba-Ktvd^Log 
genannt  wird:  die  Herausgeber  der  Inschrift,  Dürrbach  und  Jarde^ 
haben  erkannt,  daß  PABINQI02  nur  eine  (paläographisch  leicht  be- 
greifliche) Entstellung  von  B^KINQIO^  ist.  Daß  aber  letzteres  für 
fa'Mv&Log  steht  und  mit  ^Ya/Jv^iog  identisch  ist,  hat  schon  M.  Nilsson 
(Griech.  Feste  1392)  ohne  weiteres  angenommen.  Dabei  ist  daran  zu 
erinnern,  daß  das  lakonische  Hj^akinthien-Fest,  von  dem  ein  Monat 
^YaTiivd^iog  seinen  Namen  habeil  müßte,  nach  der  Berechnung  von 
Ungar,  Busolt,  Nilsson  in  die  Zeit  des  attischen  Monats  Thargelion 
(11.  Mai  bis  11.  Juni),  also  auch  ungefähr  in  die  des  kretischen  Monats 
Baxlvd^iog  fiel. 

Die  Form  f  dytivd^og  für  ^Yd'/,iv&og,  die  sich  uns  so  ergibt,  ist 
nun  einer  Vermutung  von  J.H.Voss  (Virg.  Georg.  S.  778  ff.)  günstig, 
die  bis  jetzt  eigentlich  als  etwas  gewagt  gelten  mußte:  er  sah  den 
lateinischen  Pflanzennamen  vaccmium  für  das  äolisch  ausgesprochene 
vdytLvd^og  an.  Die  Identität  der  Pflanzen  geht  aus  den  Zeugnissen  von 
Dioskorides  2)    und     dem    Vergil-Kommentar    des    Pseudo-Philargyrius 


^)  Tgl.  Ideler,  Handb.  d.  Chron.  I,  426. 

^)  IV,  62,  rec.  Vindob.  vänivd-os ,    'PcofAuToi    ßäxxovf^,    oi    ds    ovaxxiviovfA. 

[ovXxivovjii  HADi]. 


—   119   — 

(Georg.  IV,  183  ed.  Thilo  i)  hervor;  und  Voss  beruft  sich  noch  weiter 
darauf,  daß  Vergil  Ekl.  10,  39  mit  et  nigrae  violae  sunt  et  vaccinia 
nigra  den  Theokrit-Vers  10,  28  ycal  toYov  y.eXav  eorl  nal  ä  yQaTtxh 
vdycivd^og  übersetzt,  und  daß  Plinius  dieselbe  Pflanze  n.  h.  XVI,  18,  31 
vaccinia  nennt,  die  er  XXI,  26,  97  unter  hjacinthus  versteht.  Natür- 
lich von  der  äolischen  Aussprache,  die  früher  für  jedes  /  verant- 
wortlich gemacht  wurde,  schweigen  vdv  besser,  und  ohne  die  Annahme 
einer  volksetymologischen  Anlehnung  an  vaccmus,  wie  sie  schon 
0.  Keller,  Lat.  Volksetym.  S.  59  aufgestellt  hat,  kommen  wir  auch  nicht 
durch.  Aber  es  ist  klar,  daß  wohl  ein  *vacinthus  an  vaccmus  leicht  an- 
gelehnt werden  konnte,  aber  weniger  leicht  ein  hyacinthus. 

So  bleibt  die  Frage:  wie  verhält  sich  das  mehrfach  bezeugte 
ßd/,ivd-og  lautlich  zu  dem  gewöhnlichen  ^Ydyitv-3-og^)?  Danielsson  (bei 
Nilsson,  Griech.  Feste  139)  geht  von  der  Form  vamvO-og  aus,  die  im 
Kretischen  als  einer  psilotischen  Mundart  uakinthos  ausgesprochen 
worden  sei:  daraus  sei /aztj'^og  entstanden,  dadas  vor  Vokal  stehende  w- 
leicht  „unsilbisch"  (konsonantisch)  werden  konnte,  wofür  Danielsson 
auf  G.  Meyer.  Gr.  Gr.^  §  146  if.  verweist.  3)  Mir  scheint  diese  Erklärung 
sehr  bedenklich:  für  einen  derartigen  Übergang  von  anlautendem  va- 
in  fcc-  gibt  es  in  den  griechischen  Dialekten  keine  Parallele.  Nach 
kret.TLTvfog  (Gortyn  GDI.  4976),  TLTovfsoS^co  z=:  titevso^o)  (Vaxos 
GDI.  5128)  erwartet  man  eher  eine  Aussprache  vfa-^  bei  der  das  v 
durch  den  folgenden  Übergangslaut  /  geschützt  war.  Was  G.  Meyer 
a.  a.  0.  222  verzeichnet,  sind  Synizesen  von  v,  wie  sie  sich  aus  der 
Metrik  ergeben  und  von  denen  die  wenigsten  gesichert  sind 
(vgl.  Kühner-Blass  I^  228).  Damit  kann  man  einen  dialektischen 
Wandel  von  va  in  fa^  noch  dazu  im  Wortanlaut,  nicht  wohl  stützen. 

Der  nächstliegende  Weg,  die  Erscheinung  zu  erklären,  ist  doch 
wohl  der,  daß  man  sie  mit  den  parallelen  Fällen  eines  Nebeneinander 
von  anlautendem  v  und  /  vergleicht.  Auf  einer  Inschrift  von  Knosos 
in  ionischem  Alphabet  GDI.  5072,  die  f  (in  e^aOTog,  Y^axi)  nicht  mehr 
schreibt,  steht  zweimal  veqyu)v  (h  5,  8)  für  ßeqymv.  Also  in  einer  Zeit 
und  einer  Schrift,  die  den  Buchstaben  /  aufgegeben  hatte,  wurde  v  zur 
Bezeichnung  von  u  d.  i.  des  konsonantischen  u  verwendet.     Ebenso  ist 


*)  qui  enim  graece  ht/acinthus,  latine  vaccinium  dicitur. 

*)  Die  Vokalisierung  von'Iaxvvd--  (in  'A^rdfuri, 'laxvvd-orgöfpojc  Knidos  GDI.  3502. 
3512,  'Iaxv\'^oiQocpioig  3501)  beruht  auf  derselben  Umstellung  von  v — t  wie  das  späte  Mirvh'jvr] 
für  Mviu/]vrj ,  femer  Tvgivdi  =  TiQvvd-i  auf  einer  attischen  rotfigurigen  Amphora 
(Gr.  Vaseninschr.  121,  G.  Meyer,  Griech.  Gr.»  154  f.). 

^)  Dieselbe  Ansicht  äußert  jetzt  J.  Brause,  Lautlehre  der  kret.  Dialekte  (Halle  1909) 
S.  12f.,  38,  43.    Er  vermutet  Ba[xLv&ioi   auch   auf  der   Inschrift   von  Malla  GDI.  5101,  40. 


—    120   ~ 

offenbar  vQeiyaXsov  {cod.  vQeLydhov),dieQQO)y6gILesych,  d.i.fQriyakeovzu 
beurteilen,  und  vielleicht  auch  l'cffföToA/j.  TldcpLOL, wenn— fsGi,^)v€ordy.a' 
If^ariafAog^::  feordxa.  Längst  festgestellt  ist,  daß  die  alte  Namensform 
der  ionischen  Gründung  Elea,  'FfiA^,^)  das  einheimische  Velia  wieder- 
gibt. 3)  Die  lonier  haben  also  gegenüber  dem  ihnen  verloren  gegangenen 
w;-Laut  in  Fremdwörtern  ein  doppeltes  Verfahren  geübt:  sie  haben  ihn 
entweder  ganz  weggelassen  (Elsa,  ^EXri  Strab.  VI,  252)  oder  mit  v 
wiedergegeben  (*^Yek6a,  YeAfi).  Man  vergleiche  das  analoge  Verfahren  in 
^IvTa(peQV7]g^  alti^ers.  Vi(n)da(h)farnah-  and  anderseits  'FaraaTTt^g  ^ 
Vütäspa-,  ^Yddqvrig^^Vidarna-j  'YQ7,avia  z=  Varkäna-^  wo  v  allerdings 
«;+ Vokal  wiedergibt.  Als  v  wie  ü  gesprochen  wurde,  hat  man  dann 
o  wie  für  u  auch  für  w  verwendet.  Daß  sich  so  das  merkwürdige 
^'Oa^og  hellenistischer  Urkunden  für  das  echtkretische  fd^og  erklärt, 
hat  Schulze,  Kuhns  Zeitschr.  33,  395,  bemerkt  und  Beispiele  für 
0  =  lat.  V  (^OaXeQiog  =  Valerhis^  ^OdS/Lia)v=^  Vadimo  u.  a.)  hinzugefügt.*) 
Später  wird  bekanntlich  ov  zu  demselben  Zweck  verwendet  (OödQQcov^ 
OvaksQiog  usw.). 

Nach  diesen  Parallelen  ist  es  doch  wohl  das  nächstliegende, 
fdKLvd-og  neben  '^Ydxiv^og  als  die  primäre  Form  anzusehen,  die  in  einem 
Dialekt,  dem  f  schon  verloren  gegangen  war^  also  einem  ionischen, 
durch  '^YduLvd'og  wiedergegeben  wurde.  Man  wird  gegen  diese  Er- 
klärung vielleicht  einwenden,  daß  das  v,  wenn  es  Wiedergabe  von  f 
war,  nicht  vokalisch  und  nicht  aspiriert  sein  durfte.  Allein  wir 
müssen  uns  eben  den  Ersatz  des  f  durch  v  hier  nicht  als  einen  bloß 
graphischen,  sondern  als  eine  Lautsubstitution  denken,^)  d.  h.  /  ^  kon- 
sonantisches u  (wie  engl,  w)  wurde  durch  vokalisches  u  ersetzt 
(vgl.  franz.  ouest,  span.  port.  oeste  aus  engl,  west)  und  entwickelte  sich 
wie  solches  weiter,    wurde    also    gleich  jedem  anlautenden  v  aspiriert. 

^)  0.  Hoffmann,  Gr.  Dial.  I,  125,  196,  313,  liest  veart  und  erwägt  Zusammensetzung 
von  ij-eoTi  mit  einer  Präposition  v-  =  im. 

«)  Herodot  I,  167.  Strab.  VI,  252.  Steph.  Byz.  s.  ^E'Xm  (die  Betonung  'YeXi]  nach 
Schulze,  Kuhns  Zeitschr.  33,  396).    Auf  Münzen  J^ eX(rjXE(üv)  und  'YeXtjt soiv  GDI.  5631. 

3)  Hartel,  Hom.  Stud.m,  36.  Bechtel,  Ion.  Inschr.  n.  172.  Kühner -Blass  I,  82. 
Schulze  a.  a.  0. 

*)  Auch  daran  sei  erinnert,  daß  Herodot  IV,  110  mit  o^'o'^  =  ävÖQU  —  nach  Müllenhoff, 
Deutsche  Altert.  III,  106,  richtiger  oiqo-  —  ein  skjthisches  vlro-  oder  viro-  und  mit 
016 ßaCog  IV,  84  u.  ö.  ein  persisches  ^Vayabäzu  (Müllenhoff  a.  a.  0.)  mederzugeben  scheint. 

^)  WennSchulze  a.  a.  0.  in  bezug  auf  "Oa^o  ^,  'Oitv Xo g ,'OiXev g  sagt,  es  sei  das 
alles  nur  Sache  der  „Schreibung"  oder  künstliche  Anpassung  fremder  Formen,  so  hat  er 
wohl  nicht  bedacht,  daß  hom.  dreisilbiges  'OiXevg  ^^^  Ol'rvXog  — -^^ -^^  mit  der  ersten 
Alternative  nicht  vereinbar  sind.  Auch  die  Alexandriner  haben  "Oa^og,  wie  das  von 
ihnen  gekünstelte  OXa^og  lehrt,  dreisilbig  gesprochen,  o  also  als  Vokal,  nicht  als  Zeichen 
für  f  aufgefaßt. 


—   121    — 

Wir  können  uns  da  nieder  auf  FffradTri^g  Hi/staspes  =  i^ers.  Vistäspa, 
^YQxavia  Hi/rcania=^Varkäna  berufen.  —  Ein  gewichtigeres  Bedenken 
könnte  man  aber  aus  dem  hohen  Alter  der  Form  vanivd-og  ableiten, 
die  ja  viel  früher  ols  fdyttvd-og  belegt  ist,  nämlich  vdytiv&ov  IL  H348, 
^ay,cv-9-iv(^  äv^ei  Od.  l  231  =  tp  158,  wo  es  sich  überall  um  die  Blume 
handelt.  Der  Ausweg,  daß  ursprünglich  der  Heros  fd'/.Lvd-og  und  die 
Blume  id-/,ivi>og  geheißen  hätte  und  beide  Namen  erst  später  zusammen- 
gefallen seien,  wird  durch  lat.  vaccinium  verlegt,  wenn  dies  in  der  Tat 
auf  ein  griech.  fd%Lvd-og  zurückgeht.  Allein  daß  die  Wiedergabe  von  f 
durch  einen  Vokal  bis  in  die  Periode  des  ionischen  Epos  hinaufreicht, 
wird  durch  einen  Fall  erwdesen,  den  Schulze  (a.  a.  0.  396,  A.  2),  Bethe 
(N.  Jahrb.  f.  d.  klass.  Alt.  1904,  S.  5f.)  und  Solmsen  (K.  Z.  42,  208,  A.  2), 
eigentlich  schon  Cartius.  Etym.^  574,  wohl  mit  Recht  hierherziehen: 
"OiXevg  ^Oikiddrig  in  der  Ilias  neben  ^Ilevg  bei  Hesiod,  Stesichoros, 
^Iliddrig  Zenodots  Lesung  iV203,  ^IXiddag  Pindar  01.9,  167,  viXag 
^iXidö rig  auf  einer  rotfigurigen  Amphora  des  British  Museum,  Journ.  of 
Hell.  Stud.  XVIII,  Taf.  15,  etrusk.  Vilatas  auf  der  Wand  des  Francois- 
Grabes  in  Vulci,  1 1/ 1  O  5  auf  einer  praenestinischen  Cista,  Bethe  a.  a.  0. 

Ein  zweiter  epischer  Fall  scheint  der  Ortsname  OYrvlog  im  SchifFs- 
katalog  B  bSo  —  Belwlog  CIG.  1323,  BUvXa  Ptol.  III,  16,  22,  noch 
heute  in  dem  Bergnamen  BixovXo  fortlebend:  nur  würden  wir,  nach 
''OiXevg,  viersilbiges 'O/ry^o ff  bei  Homer  erwarten  i);  wir  müssen  wohl 
annehmen ,  daß  diese  Form  in  der  Zeit  des  SchifFskataloges  schon 
dreisilbig  geworden  war. 

War  /«'/tv^o ff  die  ursprüngliche  Form  des  Namens,  so  sind  natür- 
lich alle  Etymologien  hinfällig,  die  von  "^Ydxcvd-og  ausgehen,  wie  die 
Zusammenstellung  mit  lat.  iuvencus ,  skr.  yuvagäs  „jugendlich",  und 
wenn  meine  Ansicht  zutrifft,  daß  der  von  Apollon  verdrängte  alte 
Lokalgott  v(m  Amyklai  der  vorgriechischen  Urbevölkerung  entstammt 
(Einleit.  404) ,  dann  ist  der  Versuch  einer  etymologischen  Deutung 
seines  Namens  überhaupt  aussichtslos, 

2.  zdöTWQ. 

Der  griechische  Name  des  Bibers,  y.darcüQ,  zuerst  bei  Herodot  IV, 
109  und  Hippokrates  I,  476  Kühn  belegt,  ist  etymologisch  noch  nicht 
aufgeklärt. 


^)  Zwar  ließe  sich  ^d'  OhvXov  df^cpBvi^ovxo  leicht  in  xal  'OtxvXov  afxcpevefAOvxo 
ändern,  aber  es  wäre  dann  nicht  einzusehen,  warum  sich  nicht  die  richtige  Überlieferung 
hätte  halten  sollen. 


—    122   — 

Nach  0.  Schrader,  Reallexikon  der  indogerm.  Altertumskunde  85, 
beruht  '/,äöTtoQ  auf  einer  Verwechslung  mit  skr.  kastürJ  ,.Moschustier". 
Veranlassung  dazu  habe  die  Ähnlichkeit  des  stark  duftenden  Biber- 
geils mit  dem  aromatischen  Beutel  des  Moschustieres  gegeben,  von 
dessen  Bekanntschaft  bei  den  Alten  freilich  sonst  keine  Spuren  vor- 
handen seien.  Allein  wenn  der  [Biber  den  Griechen  mindestens  seit 
dem  V.  Jahrhundert  vor  Chr.  bekannt  war,  der  Moschus  dagegen 
zum  erstenmal  im  IV.  Jahrhundert  nach  Chr.  von  Hieronymus, 
und  zwar  als  muscus  genannt  wird  (das  Moschustier  wird  über- 
haupt nicht  erwähnt) ,  so  sieht  man  nicht  ein ,  wie  der  Biber  vom 
Moschus  seinen  Namen  erhalten  konnte.  Hat  Schrader  mit  Absicht 
ignoriert  oder  nur  übersehen,  daß  kastürl  „Moschus"  (denn  das 
bedeutet  das  indische  Wort)  bereits  im  Petersburger  Wörterbuch 
umgekehrt  als  das  entlehnte  griechische  '/.aoTogeiov  „Bibergeil"  be- 
trachtet wirdi)? 

Über  die  Identität  des  Namens  des  Tieres  mit  dem  des  Dioskuren 
pflegt  man  hinwegzugehen,  und  doch  kann  man  sie  nicht  ohne  weiteres 
für  zufällig  halten,  wenn  man  sich  erinnert,  daß  den  Hellenen,  wie 
ich  in  Kuhns  Zeitschr.  33,  559  ff.  gezeigt  habe,  die  Übertragung  von 
Personennamen  auf  Tiere  so  wenig  als  anderen  Völkern  fremd  war : 
der  Hahn  ist  mit  den  aus  dem  Epos  bekannten  Heroennamen  J^Aezrw^ 
3äXey.TQiiov  (Od.  d  10 ,  IL  P  602)  belegt  worden .  weil  deren  Grundbe- 
deutung „Kämpfer"  zu  der  kampflustigen  Natur  des  Vogels  paßte. 
Der  Affe  wird  nach  seiner  OL^örrig  ^ifAiag  =  lat.  simia  genannt  oder  — 
Tcar  ev^riJLiiOjubv  rijg  dvzicpQcioecog — KaVJag.  Für  den  Esel  ist  die  Be- 
zeichnung Msjiivwv  überliefert.  2)  In  diesen  Zusammenhang  fügt  sich 
KdoTOQ  =:  Biber  gut  ein ,  und  es  bleibt  nur  zu  ermitteln ,  warum  ge- 
rade dieser  Heroenname  auf  das  Tier  übertragen  wurde,  d.  h.  das 
tertium  comparationis  zu  finden.  Ich  kann  da  nur  eine  Vermutung 
geben. 

Die  Griechen  haben  den  Biber,  der  in  ihrem  Lande  nicht  vorge- 
kommen zu  sein  scheint,  nicht  zum  wenigsten  wegen  seines  Drüsen- 
sekrets, des  Bibergeils,  /MGTOQetov,  geschätzt,  das  im  Altertum  me 
noch  heute  als  Medikament  gegen  Krämpfe  u.  a.  verwendet  \^Tirde. 
Schon  die  ersten  Autoren,  die  den  Biber  erwähnen,  Herodot  und  Hippo- 
krates,  sprechen  davon.  Nach  Herodot  IV,  109  benutzten  die  Budinen 
(im  südlichen  Rußland)  die  Hoden  des  Tieres,  die  die  Alten  irrig  für 
den  Sitz  des  Bibergeils  hielten,  zur  Heilung  der  Gebärmutter  (ig  vove- 


^)  Ebenso  Uhlenbeck,  Etym.  Wo.  d.  altind.  Sprache  50.  Bei  Leumann  fehlt  das  Wort. 
^)  Lycaon  für  eine  äthiopische  Wolfsart  (Plin.,  Mela)  ist  wohl  eine  gelehrte  Benennung. 


—   123   — 

Qe((jv  äxeoiv) ,  und  dieselbe  Verwendung  kennen  Hippokrates,  Plinius 
und  Galen  (vgl.  Wellmann  in  Pauly-Wissowas  RE.  unter  Biber).  Ander- 
seits sind  die  Dioskuren  ihrer  Xatur  nach  in  erster  Linie  owvriQeg, 
Retter  und  Schützer  der  Bedrängten,  und  daß  sie  insbesondere  auch 
den  Frauen  sich  hilfreich  erwiesen,  hat  man  in  neuerer  Zeit  aus 
mehreren  Anzeichen  geschlossen.  So  hat  Fr.  Marx  (Athen.  Mitt.  X, 
1885,  S.  194)  in  einer  Marmorgruppe  aus  Sparta  die  beiden  Gestalten, 
die  einer  gebärenden  Frau  zur  Seite  stehen,  auf  die  Dioskuren  ge- 
deutet und  weiter  darauf  hingewiesen,  daß  in  Sparta  wie  in  Argos 
das  Heiligtum  der  Dioskuren  in  der  Nähe  des  Tempels  der  Eileithyia 
lag,  und  daß  nach  Varro  bei  Gellius  XI,  6  in  älterer  Zeit  der  Schwur 
bei  den  Dioskuren ,  später  nur  der  bei  Kastor  (mecastor)  den  Frauen 
vorbehalten  war.  Bethe  (Pauly-Wissowas  RE.  V,  1095)  erinnert  an  eine 
Weihinschrift  aus  Akrai,  in  der  die  Geburtsgöttin  Kalligenia,  Kastor 
und  Pollux  (letzterer  ergänzt)  zusammen  genannt  werden.  So  darf  man 
wohl  wenigstens  die  Frage  aufwerfen,  ob  in  dieser  Richtung  das  Motiv 
für  die  Bezeichnung  des  Tieres  mit  dem  Namen  des  hilfreichen  Heros 
zu  suchen  ist. 


3.  J ieazovQidriQ. 

Die  Erwähnung  der  Dioskuren  mag  uns  hinüberleiten  zu  der 
Namensform  zJLea%OQiddeo)  einer  thasischen  Inschrift,  die  ich  früher 
(bei  E.  Jacobs,  Athen.  Mitt.  XXII,  1897,  S.  126  f.)  besprochen  habe. 
Sie  ist  dadurch  merkwürdig,  daß  sie  für  das  Griechische  einen  Genitiv 
Sing,  auf -65,  Jtig^^Jiös  bezeugt,  der  dem  lateinischen  auf  -es,  -is  (alt- 
lat.  Apolones)  entspricht.  Jieg  :  Jiög  —  Jovis  :  Diovo(s)  (CIL.  XIV  2863). 
Nun  ist  aber  die  thasische  Inschrift  nur  durch  Cyriacus  von  Ancona 
überliefert,  also  ein  etwas  unsicheres  Zeugnis ,  und  ein  zweites  daher 
sehr  erwünscht.  Ein  solches  liefern  die  roTroff-Inschriften  des  Gym- 
nasiums von  Priene ,  Inschr.  v.  Priene  313,  67:  z/ieG'/.ovQidov  neben 
sonstigem  JcoGytovQidov. 

Ein  weiteres  Zeugnis  hat  Schulze,  Quaest.  ep.  79,  A.  2,  erschlossen 
aus  amorg.  Jueivvoog  GDI.  5349=^^if(xrt'(J0  5  neben  thess.  Jcövvvoogy 
lesb.  Zovvvaog,  hom.  Jicovvoog  (boi.  JuovovGog)  aus  *Ji6Gvvaog.  Für 
letztere  Annahme,  daß  aus  *z/wGvvGog  hom.,  d.  i.  ion.  JicovvGog^  nicht 
*Jiovvvaog  entstanden  ist,  kann  jetzt  das  auf  einer  lesbischen  Inschrift 
in  Delos  zutage  gekommene  owa  =  lovi]  (Bull.  corr.  hell.  XXIX,  1905, 
S.  210  f.,  Z.  17,  21j  geltend  gemacht  werden.  Denn  dieses  aiol.  ovvä 
macht  im  Verein  mit  skr.  vasndm  ;, Kaufpreis"  wahrscheinlich,  daß  ion. 


—   124    — 

att.  Covri,  hom.  wvog  aus  */o(Jva,  ^föavog  hervorgegangen  sind;  eine 
Grundform  ^fcoavoL  hätte  wenigstens  keinen  Anhalt.  ') 

Also  in  den  Götternamen  *JieoxovQOL  und  *JLeavuaog  scheint  sich 
vereinzelt  ein  alter  Genetiv  auf  -eg  erhalten  zu  haben,  der  sonst  über- 
all durch  die  Ablautsform  mit  o  (-og)  verdrängt  ist. 


^)  Man  wird  vielleicht  an  ion.  att.  wfios  „Schulter"  erinnern,  das  Solmsen,  K.  Z.  29, 
62,  auf  *cu jM  ö o ^  neben  "^öf^aog  in  aiol.  snof^f^adiaigj  skr.  dmsa-,  got.  amsa,  hii.  umerus 
Mmhr.onse  zurückgeführt  hat.  Allein  es  wird  mir  jetzt  zweifelhaft,  ob  nicht  auch  w/nog 
auf  das  im  Aiolischen  und  in  allen  verwandten  Sprachen  vorliegende  ^'ömsos  zurückgeht. 
Wir  müssen  dann  eben  annehmen,  daß  in  jener  älteren  Periode,  in  die  diese  Ersatzdehnungen 
hinaufreichen,  o  auch  im  Ionischen  nicht  geschlossen,  wie  später,  sondern  noch  offen  war, 
wie  in  den  meisten  übrigen  Dialekten,  und  daher  zu  w,  nicht  ov  gedehnt  wurde. 


Parerga. 

Von 
ADOLF  WILHELM. 


Zwei  Stellen  des  von  Th.  Wiegand  und  U.  v.  Wilamowitz  in  den 
Berliner  Sitzungsberichten  1904,  917  veröffentlichten  Gesetzes  aus 
Samos  über  die  Beschaffung  von  Brotkorn  aus  öffentlichen 
Mitteln  scheinen  mir,  wie  ich  in  meinen  Beiträgen  zur  griechischen 
Inschriftenkunde  S.  315  andeutete,  bisher  nicht  völlig  richtig  erklärt. 
Es  heißt  Z.  27  ff. : 

TÖ  di  VTtEQoiQOv  äqyvQLOv^  eä(.i  f.iiv  /tirj  S6§rii  rcot   drp 
ucoL  oiTcovetv  ,  TriQEiTcoaav  avrol  {.dxQi  otov  f'cEQOt  aTtoÖEi- 
yßüoiv  BTcl  Tov  aiTOv    '    elrev  ÖLayQacpeTwaav  syteivotg.  häv  6e 
30        dö^TiL  OLTwveiv  ,  dnoÖLayqacpeTCjaav  rcaQaxQfifia  tml  7.e- 
XeiQOTOvriuevwi   oiTcovrj    '  Izuvog  Si  äyoQa^iTO)  rov  al- 
Tov  xhv  ex  Tfig  34vaielriSog  xcoqag  ov  tqottov  av  vo/ulCr] 
XvöLTeXioraia  xaTaaTTJaeLv  r^t  Ttölei^    iäii  f.it]  tio&ev  äX'ko- 
&EV  IvaiTEkioTEQOv  (paLvritai  zcül  Srif^icjL  gltcoveIv. 

Der  Satz  Z.  31  f.  wird  folgendermaßen  übersetzt :  „Der  erwählte  Korn- 
käufer soll  das  Getreide  aus  der  Landschaft  von  Anaia  einkaufen, 
so  wie  er  es  der  Stadt  am  billigsten  einzurichten  glaubt;  es  sei  denn, 
Üaß  der  Demos  es  irgendwo  andersher  billiger  bekommen  zu  können 
glaubt."  Th.  Thalheim  ist  in  seiner  Erläuterung  des  Gesetzes,  Hermes 
XXXTX  604  ff.,  auf  die  Worte  ov  tqottov  av  vo/hi^t]  IvoLTElearaTa  xara- 
GTi^aeiv  Tru  tzoXel  (nämlich  xbv  oItov)  nicht  eingegangen,  ebensowenig 
H.  Francott  ein  der  kurzen  Inhaltsangabe  in  den  Melanges  Nicole  p.  151. 
Die  Redensart  begegnet  noch  an  einer  zweiten  Stelle,  Z.  47  ff. : 

yivea^co  Si,  eäv  öo^riL,  y.al  jLtiad-ioaig  tov  aQ- 
yvQlov  TOV  i'A  TOV  TOTLOVy  Eccv  TLVEg  ßovXwvzai  VTCO&ijUa- 


—   126  — 

50       xa  öovreg  ä^iöxQea  y.al  diEyyvriaavreg    Tcqokaßelv 
xal   kvoLTekeOTeqov  -/.araorrioai   rov  attov. 

„Es  soll,  wenn  es  gut  scheint,  auch  eine  Ausleihung  des  aus  den 
Zinsen  erwachsenden  Geldes  stattfinden,  falls  Leute  gegen  Stellung  hin- 
reichender Hypothek  und  Bürgschaft  das  Geld  vorwegnehmen  und  so 
das  Getreide  nutzbringender  machen  wollen" .  S.  928  wird  diese  Bestimmung 
erläutert:  ,.Da  Zinsen  gemeiniglich  alle  Monate  bezahlt  werden,  die 
Ankäufe  aber  nur  einmal  im  Jahre ,  lag  das  Geld  monatelang  brach ; 
daher  wird  den  srcl  rov  öitov  anheimgegeben,  es  zinstragend  anzulegen, 
aber  auf  ihre  eigene  Gefahr."  Auch  Th.  Thalheim  sucht,  Hermes  XXXIX 
608,  in  dieser  Bestimmung  nur,  daß  die  Kornverwalter  das  Geld  nach 
ihrem  Gutdünken  gegen  die  nötige  Sicherheit  in  Unterpfand  und  Bürg- 
schaft ausleihen.  Doch  scheint  mir  durch  ein  solches  Vorgehen  wohl  das 
Geld,  nicht  aber  das  Getreide  nutzbringender  gemacht,  also  der  Zweck 
nicht  erreicht  zu  werden,  den  kvGLTeAeaTEQov  xaraOTTJoai  xbv  olrov  nach 
Meinung  des  Übersetzers  ausdrückt.  Richtig  hat  zuerst  J.  Bartsch, 
Griechisches  Bürgschaftsrecht  S.  406  Anm.  1  eingewendet,  daß  das  eäv 
Sabril  auf  den  unmittelbar  vorher  genannten  Demos  geht  und  diese 
Bestimmung  ein  anderes  Verfahren  zur  Wahl  stellt.  Er  glaubt  ferner, 
daß  juloO-coais  i^ov  ccQyuQiov  rov  iy,  rov  ro'/iov  „kaum  auf  ein  Darlehen 
gehen  kann :  anstatt  daß  diese  Beamten  die  Zinsen  eintreiben,  soll  der 
staatliche  Zinsanspruch  auch  wie  andere  Gefälle  verpachtet  werden 
und  die  Korn  Verwalter  diese  Verpachtung  vornehmen".  Aber  auch 
diese  Auffassung  der  jLiiod-cooig  tov  äQ/vgiov  tov  £z  xov  toxov  macht 
TtQoXaßelv  xal  XvoLTeXiovEQOv  yaraGiriaai  tov  oItov  nicht  verständ- 
licher. 

Eine  befriedigende  Lösung  der  bisher  kaum  erkannten  Schwierig- 
keiten hat  die  Feststellung  der  Bedeutung  des  Ausdruckes  '/Md^iOTavai 
TÖv  gItov  an  den  beiden  Stellen:  ov  tqÖtvov  av  vofA.itrj  XvoLTekeGraia 
yaraGTriGELv  (nämlich  rbv  gItov)  T/jt  7c6XEi  und  mv  tlveq  ßovkcovTaL 
TCQokaßElv  nal  /a'GlteIegteqov  -/.axaGTr^GaL  tov  gItov  zur  Voraussetzung. 
An  letzterer  Stelle  wird  erklärt:  „das  Geld  vorwegnehmen  und  so  das 
Getreide  nutzbringender  machen",  anersterer:  „wie  der  Kornkäufer  es  am 
billigsten  einzurichten  glaubt."  Doch  ist  ohne  Zweifel  auch  in  Z.  33 
zu  zaTaGTi^GEiv ,  wie  ich  andeutete,  hinzuzudenken  tov  gXtov  und 
xad-LGTavai  töv  gZtov  an  der  einen  Stelle  wie  an  der  anderen  zu  deuten: 
von  dem  Liefern  des  Getreides.  Denselben  Ausdruck  glaube  ich  in  dem  Be- 
schlüsse aus  Chorsiai  IG  VII  2383  nachweisen  zu  können,  der  von  Ditten- 
berger  für  verschollen  gehalten  und  nach  unzureichender  Abschrift  ab- 
gedruckt, von  mir  im  Nationalmuseum  zu  Athen  wieder  aufgefunden 
(s.  Jahreshefte  II  236,  Anm.  43)  und  sodann  von  Alex.  Gaheis,  Wiener 


—    127    — 

Studien  XXIV  279  f..  in  vollständigerer  Lesung  veröffentlicht  worden 
ist.  Es  heißt  Z.  4ff.: 

x/)  OTtavoaiTiag  yevofxevag  tceqI 
5         LUV  x^oQav  xj)  täv  noXitov  Ttaaduyv  aTtexpacpiO },ii- 

V(x)V    TCCV    T(d    GITW    [d^OO]T[oX^v]    TtQoixQSlOE    TT]    7t6- 

ki  7tovQ(dv  xoipivüjg  öia/.aTuos  ytrj  xaTeovaae 
.  .  .  .  To  vfi  7ti)h  xrl. 

Die  Lücke  füllt  [^raQ  au]TÖ ,  wie  sonst  TtaQ*  avTa,  tzüq  aözovg  rovg 
xaiQOvg  GDI  4568  Z.  5,  Tcaga/griua.  Und  vMxkoxaöE  kann  nur  den  Sinn  des 
Lieferns  haben.  Nicht  anders  in  dem  Gesetze  aus  Samos.  Der  gewählte 
Kornkäufer  soll  das  Getreide  aus  der  Landschaft  von  Anaia  einkaufen 
auf  die  Weise,  auf  die  er  es  der  Stadt  am  billigsten  liefern  zu  können 
glaubt,  und  die  filaO^cüatg  tov  äoyuQiov  rov  sx,  rod  tÖ'/,ov  soll  es 
denen,  die  dieses  Geld  gegen  Pfand  und  Bürgschaft  übernehmen, 
ermöglichen  TtQoXaßElv  zort  IvGireleGVEQov  (als  Adverbium)  ytataGTrjaai 
töv  oItov,  das  Getreide  billiger  zu  beschaffen  —  nicht  es  nutzbringender 
zu  machen;  es  fiele  auch  schwer,  zu  sagen,  w^ie  das  Getreide  durch 
dieses  Vorgehen  nutzbringender  werden  soll.  Und  TtQoXaßElv  ist  nicht  vom 
„Vorwegnehmen  des  Geldes",  d.  h.  der  einzelnen  Raten  der  Zinsen,  zu 
verstehen  —  müßte  dann  nicht  der  inf.  praes.  TiQo'kaf.ißdvELv  stehen?  — 
auch  nicht  mit  Thalheim  S.  609  zu  TtQoxQriGai  zu  stellen,  sondern  absolut 
in  dem  Sinne  zu  fassen,  den  es  auch  im  Neugriechischen  ganz  gewöhn- 
lich hat,  von  einem  „Zuvorkommen".  Worin  besteht  dieses  Zuvorkommen? 
Das  Gesetz  bestimmt  zunächst,  daß  die  Ircl  tov  Gitov  XExstQOTovrjfievoi 
ävÖQEg  von  dem  Gelde,  das  ihnen  die  ^ieIeöcovoI  als  Ertrag  der  Zinsen 
des  ausgeliehenen  Kapitals  übergeben,  das  Korn  der  Göttin,  den  ihr  aus 
Anaia  gelieferten  Zwanzigsten,  zu  einem  festen  Preise  einkaufen  sollen. 
Falls  der  Demos  den  Überschuß,  der,  wie  vorausgesetzt  wird,  nach 
diesem  Kaufe  bleibt,  nicht  für  das  nächste  Jahr  aufzuheben,  sondern 
zum  Ankauf  weiteren  Kornes  zu  verwenden  beschließt,  wird  ein  oiTcovrig 
bestellt,  der,  sei  es  aus  dem  Gebiete  von  Anaia,  sei  es  anderswoher 
Getreide,  natürlich  zu  den  vorteilhaftesten  Bedingungen,  zu  kaufen  hat. 
Es  ist  aber  auch  gestattet,  das  Zinsenerträgnis:  to  aQyvQLov  tö  ex  tov 
T()/.ou  —  also  nicht  bloß  den  Überschuß :  to  vTtEQaiQov  dqyvQLOv  —  in 
anderer  Weise  für  den  Erwerb  von  Getreide  zu  verwenden,  durch  eine 
lUGO^coGig,  indem  die  betreffende  Summe  gegen  Stellung  von  Pfand  und 
Bürgschaft  an  den  vergeben  wird,  der  für  sie  der  Stadt  Getreide,  wie 
und  wo  immer  eingekauft,  unter  den  günstigsten  Bedingungen  zu  liefern 
übernimmt.  Ob  der  Überschuß,  der  nach  dem  Einkauf  des  Girog  drtb 
Tf^g  EixoGTfjg  dTcofiETQOvjLiEvog   TT^g  l§  ^valiov  verbleibt,  für   das  nächste 


—   128  — 

Jahr  aufbewahrt  oder  noch  weiteres  Korn  anderswoher  gekauft  werden 
soll ,  hat  der  Demos  im  Artemision  zu  entscheiden  (Z.  35  ff.) ,  „dem 
attischen  Munichion  entsprechend,  also  sobald  der  Ausfall  der  Ernte  sich 
einigermaßen  übersehen  läßt,  von  dem  einerseits  das  Zwanzigstel  der 
Hera,  anderseits  der  Preis  des  sonst  zu  beschaffenden  Kornes  abhängt", 
wie  U.  V.  Wilamowitz  erläuternd  bemerkt.  Indes  können  Getreidehändler, 
namentlich  falls  die  Ernteaussichten  für  Anaia  und  andere  nächste 
Gegenden  ungünstig,  in  entfernteren  Gebieten  aber  günstig  sind,  die 
Lage  des  Marktes  beizeiten ,  bevor  es  in  Anaia  usw.  zur  Ernte 
kommt,  ausnutzen  (TtQoXaßelv),  und  dem  Demos,  der  ihnen  auf  ihr  An- 
gebot sein  Geld  zum  Ankaufe  leiht,  für  dieses  mehr  Getreide  ver- 
schaffen, als  er  von  der  Hera  zu  dem  ein  für  allemal  festgesetzten 
Preise  und  aus  Anaia  oder  sonstwoher  durch  seinen  airtüvr^g  zu  erwerben 
erwarten  kann.  Die  Göttin  mag  dann  für  ihr  Zwanzigstel  andere  Käufer 
suchen.  Für  ihr  Vorgehen,  das  eine  sehr  beträchtliche  Gefahr  in  sich 
schließt,  sind  die  erwählten  Beamten  selbstverständlich  verantwortlich: 
TYjv  de  ÖLeyyvriaLv  Ttoieiod^iaoav  o\  ävdqes  oi  /eiQorovri&ivTeg  S7tl  tov  gItov 
XLvövvtoL  rioL  havTwv. 

n. 

Es  ist  seltsam,  daß  Meisterhans-Schwyzer  in  ihrer  Grammatik 
der  attischen  Inschriften ^  S.  207  den  Genetiv  bei  vizäv  in  den  Aus- 
drücken i)  (pvXfj  ävÖQCüv^  Tcaidojv,  iTtTckov  usf.  evixa  „beachtenswert'' 
finden  und  ihn  als  genetivus  comparationis  erklären.  „Daneben  auch, 
aber  seltener  oWe  ivi/Aüv  avöqag.  Der  Genetiv  mochte  passender  erscheinen, 
weil  es  sich  nur  um  Spiele ,  also  mehr  um  ein  Übertreffen  als  Über- 
wältigen handelt."  Und  auch  K.  Meister  bemerkt,  Indog.  Forsch.  XVIII 
162:  „Wie  das  Iviza  TtalScoVj  dvögiov  in  den  attischen  Staatsurkunden, 
die  die  Siege  der  Phylen  in  den  öffentlichen  Agonen  verewigen,  zu 
erklären  ist,  muß  bei  dem  Mangel  an  alten  Belegen  dahingestellt  bleiben." 
Die  Erklärung  ist  einfach  genug.  In  den  Listen  der  Sieger  an  den 
städtischen  Dionysien  IG  II  971  (Urk.  dram.  Auff.  18  ff;  E.  Reisch,  Zeit- 
schrift f.  d.  österr.  Gymn.  1907,  290),  deren  erster  Teil  lautet:  fVl  tov 
öelva  äqxovTog  \  fj  Selva  (pvlr^  Ttalöcov  \  ö  Selva  exoqrjyei  \  fj  öelva  (pvlr^ 
dvÖQMv  I  6  öelva  exoQtjyei,  und  in  den  sogenannten  choregischen  Inschriften 
ist  zu  Ttalöwv  und  dvÖQiov  offenbar  70()w  hinzuzudenken ;  so  sagt  z.  B. 
Lysias  XXI  1 :  vi'Arpag  dvögiKiij  x^Q^^i  IGr  II  1248:  vL'Ar^oag  xoQcot  Ttalöcov, 

Nicht  anders  erklärt  sich  die  Fassung  des  zweiten  Teiles  jener 
Listen :  y,cüf.iq)öajv  ö  öelva  exoQriyei  \  ö  öelva  eöiöaGxe  und  TQayc^öiov  6  öelva 
ixoQTjyeL  \  ö  öelva  eöiöaoze;  ich  hatte  nie  gezweifelt,  daß  nach  eTtl  tov 
öelva  äqxovTog  und  'jicofAcpöwv  vor  dem  Namen  des  Choregen  ivi-na  x^Q^S  ^^ 


—   129    — 

hinzuzudenken  sei;  doch  muß  diese  Ergänzung  wohl  nirgends  ausge- 
sprochen worden  sein ,  da  sie  E.  Bethe,  De  scaenicorum  certaminum 
victoribus  p.  6.  auf  eine  Mitteilung  H.  v.  Arnims  zurückführt,  vgl. 
J.  H.  Lipsius ,  Leipziger  Studien  XIX  310M.  Mit  dieser  Ausdrucks- 
weise durften  Meisterhan s-Schwyzer  die  der  Siegerverzeichnisse  von 
den  Theseien  IG  II  444  ff.  t(7)v  htLlmnov  evavöqiq  (nach  o'ide  evr/Mv 
rbv  äycova  tcov  Oriadtov  und  den  ersten  Posten:  Tovg  öaXTct/accg  und  vovg 
XilQuxag)  oder  tcüv  iTtTrewv  euoTtUa  nicht  zusammenwerfen ;  augenschein- 
lich handelt  es  sich  da ,  wie  z.  B.  IG  II  446  Z.  63  rij  ka/uTtdÖL  6z 
T(dv  tviov  icprißov  zeigt,  um  partitive  Genetive;  in  den  Überschriften 
rij  Xaf.i7rdöc  tcov  Ttaidwv  usw.  kann  aber  nov  Ttaldcov  auch  einfach  zu 
lau7cddi  gehören,  zumal  in  den  von  mir,  Ath.  Mitt.  XXX  213  fP.,  ver- 
öftentlichten  Listen  nach  meiner  Ergänzung  rel  XaiiycdSt  tiov  ecpi^ßwv' 
i/,  Tiov  e(prjß<.ov  steht.  Wie  ich  schon  Jahreshefte  VII  108.  113  und 
neuerdings  in  meinen  Beiträgen  zur  griechischen  Inschriftenkunde 
S.  230  Anm.  hervorhob,  bedarf  das  dankenswerte  und  nützliche,  aber 
sehr  überschätzte  Werk  Meisterhans-Schwyzers  einer  durchgreifenden 
Erneuerung  nicht  nur  hinsichtlich  der  Datierungen  der  Denkmäler  und 
der  aus  ihnen  für  die  Spracherscheinungen  gewonnenen,  meist  zu 
scharfen  Zeitbestimmungen,  nicht  nur  wegen  der  unzureichenden  Be- 
rücksichtigung des  literarisch  überlieferten  Sprachgutes,  nicht  nur 
wegen  der  hie  und  da  auffällig  stumpfen  Auffassung  des  Syntaktischen 
(s.  Beiträge  a.  a.  O.j,  sondern  auch  hinsichtlich  des  inschriftlichen  Mate- 
riales  selbst,  das  nicht  mit  der  erforderlichen  Zuverlässigkeit  ausge- 
beutet ist.  So  heißt  es  S.  156  ausdrücklich :  „für  6,  Cov,  a,  dg  trifft  man 
vereinzelt  —  nie  in  Staatsdekreten  —  to,  rm\  rdg^  xd^ .  Aber  IG  II 
5,  314  (Sylloge  197)  Z.  66  steht  doch  Iv  zölg  dycoui  röig  fj  Tiohg 
TiO-riGip  a.uf  dem  Steine,  freilich  nicht  unter  den  Grammatica  et  Ortho- 
graphica  der  Indices. 

IIL 

In  den  Städtebildern  des  Herakleides,  deren  Bruchstücke  FHG 
II  254  ff.  und  Geogr.  gr.  min.  I  97  ff.  abgedruckt  sind  (E.  Fabricius^ 
Bonner  Studien  58  ff. ;  G.  Kaibel,  Strena  Helbigiana  143  ff.),  heißt  es  7 
von  den  Oropiern  nach  C.Müllers  Ausgabe:  ol  tio'AXoI  aurcov  TQaxelg 
iv  lalg  buiXiaig  xovg  ouveTOug  iTtavelo^ievoi.  dQvovf.ievoL  zovg  BouoTovg 
24i}T^valoL  eiol  BoitoToi.  Die  Handschrift  hat  eTtavel/Mjitevoi,  unverständlich 
und  bisher  nicht  verbessert.  Denn  S7taveh)f.ieioi  hilft  nicht.  Schon  weil 


^)  In  meinen  Beiträgen  S.  44  sind  Zeile  17  v.  u.  durch  ein  mir  unerklärliches  Ver- 
sehen die  Citate  in  Unordnung  geraten :  es  ist  nach  IG  II 1281  b,  1282  b  nicht  1283b,  1283c 
zu  lesen,  sondern  1285,   1285  b  und  in  Zeile  11  v.  u.  nicht  IG  II  5,  1182  b,  Spendern  1280  b. 

Wiener  Eranos.  9 


—   130  — 

der  Aorist  unmöglich  ist,  den  auch  Jacobs'  Übersetzung:  „asperi 
homines  qui  absurdis  sermonibus  cordatiores  enecant"  ebensowenig  wie 
die  Müllers:  „cordatiores  viros  de  medio  tollunf  berücksichtigt.  Von 
einem  Umbringen  kann  in  dem  Zusammenhange  weder  im  eigentlichen 
noch  im  übertragenen  Sinne  die  Rede  sein.  Was  von  den  Oropiern 
gesagt  wird,  scheint  mit  der  folgenden  abschließenden  Charakteristik 
in  Beziehung  zu  stehen,  deren  Sinn  nur  sein  kann,  daß  sie  ,.Boioter'' 
sind,  aber  „Athener"  sein  möchten.  Sicherlich  ist  statt  Tovg  ovverovg 
iTTaveXkofievoL  zu  lesen  e7tayyelh')i.ievoi. 

Allerdings  vermag  ich  im  Augenblicke  die  von  mir  angenommene 
Verbindung  von  eTcayyeklEad-ai  mit  einem  Adiectiv  und  dem  Artikel 
sonst  nicht  aufzuzeigen.  Doch  genügen,  sie  vollauf  zu  rechtfertigen, 
die  in  den  Wörterbüchern  nachgewiesenen  Wendungen  wie  dQerrjv 
iTtayyeXXofxai  schon  bei  Xenophon  Mem.  1  2,  7,  yvvai^lv  i^iayyeXlo/nevaig 
■d-eoasßeiav  in  dem  ersten  Briefe  an  Timotheos  2,  10,  rovg  oaycpQoovvriv 
■eTTayyeXXouevovg  yeqovvag  bei  Clem.  Alex.  Paed.  III  80,  3  Stählin  einerseits 
und  der  durchaus  entsprechende  Gebrauch  von  VTto/.QivEod^ai  andrerseits, 
z.  B.  Polybios  XV  26,  3  VTrenQLveio  töv  ov  dvvdf.iEvov^  Makk.  II  5, 
25  Tov  £iQrivL7,bv  v/roK^i^elg ^  Euagr.  h.  e.  IV  p.  454,  31  töv  aidovjuevov 
v7te^QLVET0\  neugriechisch  sagt  man  z.  B.  6%af.ie  tbv  ^ovtöv.  Die  aus- 
geschriebenen Stellen  zeigen,  daß  IrcayyhXXEO^ai  in  solcher  Verbindung, 
dem  diskreten  v7to%QiveG^ai  gegenüber,  das  aufdringliche  unaufgeforderte 
Bekennen,  das  zur  Schau  tragen  von  Vorzügen  bedeutet,  die  man 
nicht  besitzt. 

Ungehobelt  im  Umgange  spielen  sich  die  meisten  Oropier  als 
intelligent  und  gediegen  auf,  verleugnen  die  Boioter,  die  sie  sind,  wollen 
nicht  mit  ihnen  zu  tun  haben  und  Athener  sein,  sind  aber  doch  nur 
„boiotische  Athener"  oder,  wie  wir  auch  sagen  können,  „athenische  I 
Boioter"  ,  aber  nicht  „Athenienses  in  Boeotia"  ,  wie  Müller  übersetzt, 
was  ein  Lob  w^äre ,  wie  es  der  Schriftsteller  dem  habgierigen  Ge- 
sindel sicherlich  nicht  zu  erteilen  beabsichtigt.  Vielmehr  ist  in  der 
Bezeichnung  Jld^rivaloL  Bouorol  der  engere  Begriff  mit  dem  weiteren 
ebenso  verbunden  wie  in  anderen  entsprechenden  Bezeichnungen  der 
Herkunft ,  die  meines  Erachtens  immer  die  Zugehörigkeit  zu  einem 
Koivöv  bezeugen ,  sei  es,  daß  die  Angabe  der  weiteren  Heimat  vorher- 
geht, z.  ^.3dyiaQv^v  ^YTtojQsa  IG  II  2765  nach  meiner  Erklärung 
Attische  Grabreliefs  1630  (für  den  Nominativ  ohne  -g  vgl.  F.  Solmsen, 
Rhein.  Mus.  LIX  494  und  meine  Beiträge  S.  195;  iv  'YTztoQeaLg  IG  IV 
1504  Z.  35)  oder  24.%cLiog  art  "Jdqyovg  IG  II  966  (vgl.  W.  S.  Ferguson, 
Klio  VIII  350)  A  Z.  17,  sei  es,  daß  umgekehrt  die  Angabe  der  engeren 
Heimat  vorangestellt  ist,  z.  B.  JdQyela  drc    Zdiauag  in   derselben  Liste 


-    131    — 

IG  II  966  A  Z.  48  oder  EvQcoTtaiog  May,edtov  Sylloge  917  Z.  3.  Ob  nun 
die  Oropier  ^d-rivaloL  Boicovol  oder  Bouovol  M&rjvalot  sind :  sie  sind  und 
bleiben  „Boioter"". 

Die  Auffassung  der  Stelle  wird  scliließlich  durch  die  Charakteristik 
l)estätigt,  die  der  Verfasser  der  Städtebilder  von  den  Athenern  im  Gregen- 
satz  zu  den  Attikern  gegeben  hat  (G.  Kaibel,  Strena  Helbigiana  144): 
iiüv  d* ivoixovvrcov  iu  f.tev  avTcov  34vrr/,oi,  ol  d" ^if^r^valoi  '  oi  (ä^v  24uTrxol 
TtEQieqyoi  zalg  Xahalg^  \j7tovXoL  ^  avy,o(pavrcodeLg^  Tca^aTr^Qr^Tal  rcov  ^ivcjv 
ßiiov '  Ol  6*  JlO-rivaloi  (.leyaJAnpvxot,  ärthu  Totg  TQÖTioig  ,  cpiXiag  yvi]aiOL 
<pvXay.eg.  Wie  W.  Dittenberger  in  der  letzten  größeren  Untersuchung, 
die  er  uns  geschenkt  hat,  der  ausgezeichneten  Abhandlung  über  Ethnika 
und  Verwandtes,  Hermes  XLII 19,  zeigte,  bezeichnet  dasEthnikon  M^O-rivaloi 
die  vollberechtigten  Staatsbürger,  das  Ktetikon  34rTLy,ot  die  nichtbürger- 
lichen Klassen  der  attischen  Bevölkerung,  in  der  Elemente  fremder  oder 
unfreier  Abkunft  eine  große  Rolle  spielten.  Bemüht,  aufdringlich  sich 
auf  die  Intelligenz  und  Gediegenheit  der  altathenischen  Bürger  hinauszu- 
spielen, die  der  Verfasser  der  Städtebilder  als  ^eyaXöipvxoi  und  äTtXol  xolg 
fQo/toig  gerühmt  hat,  sind  die  meisten  Oropier  doch  nur  XQaxElg  iv  valg 
ouüiaLg,  echte  Boioter. 

IV. 

Der  Friedensvertrag,  der  zmschen  König  Prusias  und  den 
Byzantiern  im  Jahre  220  v.  Chr.  geschlossen  wurde,  enthielt  nach 
Polybios  IV   52,    4 ff.  unter    anderen    Bestimmungen    die   folgende: 

drtodovvaL  de  IlQOvalav  BuZavvioig  zag  re  xdi^ag  xal  rä  (pqovqia 
y.al  Tovg  Xaovg  -Kai  xä  TtoXeuLzh  acojiiara  /Cfi^tg  XvtQcov^  ^QÖg  de  rovroig 
T«  TzXiua  xa  '/MV  ccQxag  XrifpO-evia  zov  TcoXejuov  xal  rtt  ßsh]  zä  /.ara- 
h](fi>tvTa  SV  Toig  SQVjiiaGiv^  S/^iolcog  de  y.al  xa  ^vXa  xal  xr)p  liO-iav 
jtal     xbv  xsQauov  xbv  i/,  xov  'Ieqov  ;fo>o/of. 

Wie  B.  Niese  in  seiner  Geschichte  der  griechischen  und  make- 
donischen Staaten  II  387  schreibt,  sollten  demnach  „alle  Gefangenen 
i)hne  Lösegeld"  zurückgegeben  werden;  über  die  Bedeutung  von  xovg 
Xaovg  hat  er  sich  nicht  geäußert.  Dagegen  hat  W.  Dittenberger  zur 
Inschrift  aus  Rosette  OGI  90  p.  149  n.  48  Letronnes  Bemerkung 
wiederholt,  daß  in  dem  Satze  OTtwg  b  xe  Xaög  xal  ol  älXoL  Ttdvxeg  sv 
ecÜ^r^viai  toaiv  mit  6  Xaog  „volgus  Aegyptiorum"  gemeint  sei  und  der 
Plural  ol  Xaol  in  derselben  Bedeutung  auch  in  den  Papyri  und  in  der 
Poh^biosstelle  begegne.  Mit  diesen  Xaol  ist  in  dem  Vertrage  augen- 
scheinlich die  an  die  Scholle  gefesselte  leibeigene  Bevölkerung  des 
byzantinischen  Gebietes  gemeint,  die  also  ebenso  wie  die  thrakischen 
Mariandyner  im  Gebiete  von  Herakleia  am  Pontos  für  ihre  griechischen 
Herren  die  Äcker  bestellt  und  wie  jene  in  Kriegszeiten  vielleicht  auch  im 

9* 


—    132   — 

Heere  und  auf  der  Flotte  Verwendung  gefunden  hat.  Die  ßaaihxot 
Xaol,  die  in  den  Briefen  Antiochos  I  an  Meleagros,  OGI  221  Z.46^ 
ferner  in  den  Urkunden  über  den  Verkauf  von  Domänen  durch  Antiochos 
Theos  an  Königin  Laodike ,  OGI  225  Z.  4.  22.  34  und  Th.  Wiegand, 
Sechster  vorläufiger  Bericht  über  die  Ausgrabungen  in  Milet  und 
Didyma  S.  35  ff.,  in  dem  Beschluß  der  Pergamener^  Inschriften  von 
Pergamon  I  249  (OGI  338)  Z.  21,  und  bei  Athen.  XV  697  d  erwähnt 
werden,  sind  neuerdings  öfter  besprochen  worden  (B.  Haussoullier,  Etu- 
des  sur  l'histoire  de  Milet  et  duDidymeion  p.  105;  J.  Beloch,  Gr.  G.  III 1, 
310.  406;  M.  Rostowzew,  Klio  I  295).  Ich  finde  aber  in  diesen  Erörtungen 
den  Vertrag  der  Byzantier  und  des  Königs  Prusias  ebensowenig  angeführt 
wie  den  Beschluß  aus  Zeleia,  Ath.  Mitt.  IX  58  und  GDI  5533  e,  der 
einem  Wohltäter  der  Stadt,  Kleandros,  dem  Sohne  des  Parmenon,  zu 
dem  ihm  überwiesenen  Besitz  auch  lecbv  avroL'Kov  gibt:  K/.EdvÖQcoL  IJaQjue- 
vovTog  evsQyhrii  yevojuevioi  (vgl.  meine  Beiträge  S.  280)  Tr^g  uöXeißg  dovvai 
i)liti'/,^Qiov  daaeiTß,  y.Xi]Qov  iv  rioi  ^ceöicoL^  oixlrjv,  yJjTtov^  xega^iov  ä^cpoQecov 
exaTOv^  lecov  avTor/.ov,  ccTeleiav  äyoQalcüv  reXkov  y,al  TtQoeÖQiriv^  avTcoi 
y.al  ly.yövoig,  %al  GTecpavov  XQ^^^^^-  Nach  Gramer  Anecd.  I  265,  beige- 
bracht von  F.  Bechtel,  hat  Hekataios  den  Herakles  als  lEihg  des 
Eurystheus  bezeichnet.  yleCog  avToi'Kog  ist  der  Leibeigene  samt  dem 
Hause,  vermutlich  auf  dem  /.IriQog  ev  tiol  Tceduot  ansässig;  ebenso  gehen 
die  Xaoi  auf  der  Domäne  bei  Kyzikos  7cavoi'/.LOi  obv  Tolg  ^vra^^otat*' 
avtöig  Ttäaiv  in  den  Besitz  der  Laodike  über. 

An  7roXe^ii-/.ä  otü^iaxa  nehme  ich  Anstoß.  Ich  glaube,  TioXe^iAa 
acüf-iava  kann  weder  die  Combattanten,noch,  wie  etwa  im  Neugriechischen, 
militärische  Corps  bedeuten  und  erwarte  den  Nachweis,  daß  sich  der 
Ausdruck  in  dem  einen  odei:  dem  anderen  Sinne  finde.  Weder  die  Her- 
vorhebung der  kriegerischen  Eigenschaft,  im  Gegensatz  zu  elQrivrKÖg^ 
noch  die  der  besonderen  kriegerischen  Eignung,  gleich  evTtöXe^og^  hat 
bei  diesen  gefangenen  oihf-iaza  Sinn.  Sicherlich  also  ist,  vermöge  der 
Schreibung  Tcolei%i'/,ä  dem  überlieferten  7voXeinr/.d  besonders  naheliegend,. 
Ta  TtoXiTi'Aa  oto^ara  zu  schreiben.  Diese  Bezeichnung  für  Personen 
bürgerlichen  Standes  ist  der  hellenistischen  Sprache  geläufig,  vgl.  z.  B. 
IG  XII  7,  386  (Dittenberger ,  Sylloge  225)  Z.  25:  {.ir^ös  Siacpwvi^OEL 
ocdjiia  jiiri&iv  tzoIltlaÜv  und  früher  in  Z.  5  ff.  älovaiov  TtaQ^-evcov  xe  v.al 
ywar/Mv  xal  aXlcov  GcojuaTcov  Aal  elev^sQcov  y.al  Sov/.cov,  16  aTroXvaat,  rd 
T  eler^s^a  acüjnava  /mI  Tiva  tcov  i^elev^SQcov  %al  tcüv  dov'Awv,  IG  II  968  Z.  54 
€x  TCOV  7to'jLltl/.c7)v^  und  besonders  Diodor  XIX  106,  2:  tiov  /uev  Ttohrixiov 
OTQaTuorcüv  %tL  Also  hat  Prusias  den  Byzantiern  die  gefangenen  laol, 
die  zu  ihren  yßQ^^  gehören,  und  die  gefangenen  Bürger  ohne  Lösegeld 
zurückgegeben,   vgl.  F.  Bender,    Beiträge    zur    Kenntnis    des    antiken 


—    133   — 

Völkerrechts,  Bonn  1901,  S.  23.  Als  ich.  von^  Büttner- Wobsts  Ausgabe 
auf  die  Hultschs  zurückgrifF,  sah  ich,  daß  bereits  Emperius,  Opuscula 
p.  319  —  freilich  ohne  Begründung  —  7zoXiTiy.ä  otüi.iaza  vermutet  hatte, 
außerdem  —  an  sich  unwahrscheinlich  —  Tohg  dovXovg  statt  Tovg 
Aaovg-,  mit  Unrecht  haben  die  Neueren  die  Verbesserung  unberück- 
sichtigt gelassen.  Auch  daß  Büttner- Wobst  an  der  irrigen  Schreibung  ki^la 
statt  li^ela  festhielt,  befremdet ;  zu  den  von  Edw.  Mayser,  Grammatik 
der  griechischen  Papyri  S.  418  als  Zeugnis  für  h^ela  erwähnten  In- 
schriften OGI  132  Z.  7,  BGH  XXVII  75  Z.  90  füge  ich  noch  eine 
bisher  übersehene  Stelle:  in  dem  Beschlüsse  von  Kyzikos  für  De- 
metrios,  den  Sohn  des  Oiniades,  den  F.  W.  Hasluck,  Journ  of  hell.  stud. 
XXIII  89,  nach  Lollings  Abschrift,  Ath.  Mitt.  IX  28  ff.,  mit  Er- 
gänzungen und  Erläuterungen  herausgegeben  hat,  die  sich  mit  den 
von  mir  einst  für  meine  „Beiträge"  vorbereiteten  decken,  ist  in  Z.  19  f. 
offenbar  zu  lesen:  ävaTe^rivai  öe  ytal  gttjItjv  ['le]vxfi[g  h-^-]elag  ttqo  rov 
yviivaoiov  statt  [/e]t'Xj)[i^  h^]eLav,  weil  es  doch  wohl  äevkov  oder  tov 
XevKov  /J^ov  oder  levKÖh^ov  heißen  würde  und  Lollings  Abschrift 
denn  auch  ^TII^HN .  .  YKHZ  .  .  E[A:2  bietet.  Für  die  Entführung 
der  ^vla  und  des  '/.EQa(.iog  mag  jetzt  an  den  Bericht  des  neuen  Histo- 
rikers, Oxyr.  Pap.  V  p.  175  col.  XIII  Z.  33  ff.,  erinnert  werden:  tyjv  e^, 
T^^'  ^üTi/.riQ  'AaTaöY.evrjv  äve  TiQÖaxcoQOL  xatOLXovvreg  aTtaaav  {.ieveyMij.iöav 
(die  Boioter)   iog  avvovg  aTvö  tlov  ^vlwv  ymI  tov  yieQu/nov  rov  rcov  oIxlcov 

aQ^df-lEVOL. 

V. 

In  der  sechsten  Spalte  des  Index  Stoicorum  Herculanensis 
liest  man  von  Zenon  (H.  v.  Arnim,  Stoicorum  veterum  fragmenta  I 
p.  12,  32):  .  .  .  Toig  ovyioig  y.al  Tobg  7j.eaaf.tovg  Ttgäcog  y.al  TtQod-vtucog 
irpegev.  Xach  Comparetti  steht  im  Papyrus:  H  E^ACMOYC:  „vedesi 
la  metä  a  destra  di  un  II  q  prima  di  ^CMOYC  un  E".  Bücheier  schrieb 
fjXiaoiuovg  und  berief  sich  auf  Diog,  Laert.  VII  1 :  ExaiQe  öe  ovytoig 
xlcoQolg  ymI  filLO/Miaig.  Aber  mit  Recht  bemerkte  H.  v.  Arnim, 
Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie ,  phil.  hist.  Gl.  GXLIII  (1901), 
XIV  5,  daß  zu  den  fjhaoiLwl  in  diesem  Sinne  Ttgacog  xal  TtgoS-vi^cog 
ecpeQe  nicht  passe;  „das  Objekt  muß  etwas  Unangenehmes  bezeichnet 
haben,  bei  dem  sonst  die  sanftmütige  Geduld  den  Menschen  im  Stiche 
zu  lassen  pflegt".  Er  vermutet  eHaOfxovg^  von  „der  im  Altertum 
beliebten  Art  der  Neckerei"  zu  verstehen,  „die  darin  besteht,  daß 
man  den  Geneckten  mit  irgend  einem  Gegenstand  vergleicht".  Ich  glaube 
in  demselben  Sinne  passender  ein  Wort  allgemeinerer  Bedeutung 
ergänzen  und  der  Überlieferung  ungleich  näher  kommen  zu  können: 
xohg    [yX^eaofiovg.     Die    Schreibung    [xl]eaGy.ovg    statt   xXevaafxovg   zeigt 


—    134   — 

den  in  Inschriften  und  ^Papyri  auch  sonst  bezeugten  Schwund  des 
zweiten  Teiles  des  Diphthongs  ev  vor  folgendem  Vokal  (s.  Edw. 
Mayser,  Grammatik  der  griechischen  Papyri  114),  und  daß  Comparetti 
den  Rest  des  Anfangsbuchstabens  des  Wortes  für  die  rechte  Hälfte 
eines  H  nahm,  wird  sich  daraus  erklären,  daß  dieser  Buchstabe  in  den 
Papyri  nicht  selten  stark  geschwungene  Linien  zeigt  (F.  G.  Kenyon,  The 
Palaeography  of  Greek  Papyri  p.  66). 

Den  Sinn  der  zweiten  Spalte  desselben  Index  (W.  Crönert,  Kolotes 
und  Menedemos  30),  hat  H.  v,  Arnim  a.  a.  0.  S.  2  treffend  erkannt  und 
für  den  ganzen  Satz  etwa  folgenden  Wortlaut  vermutet:  [zoig  (.isv  yaQ 
TtokXolg  Toig  ^cXovaiovg  IvUne  Soxelv  evdai(.iovag  eivaiy  '/,aTadaLf.ioveGTä%ovg 
ovrag^  nad^aTieQ]  6  KaooavÖQerg  M7toXl6do)QOQ ,  y,al  Si'/mi(}v[q]  VTtdqxEiVy. 
ddfKO)[T](XTOvg  ov[Ta\g,  y.a[0-d7T\tQ  "AQTtaXog^  xcd  cpi/.()[vg  d-e]()(^iyg  doeßeig 
V7cdQxov[tag  üg  6]  Mevicog  atX.  Statt  (fiXo[vg  v^]€o<<)g  empfehle  ich  zur 
Prüfung  am  Originale  (/f/[o^]6o<t')g.  Comparetti  hat  Oü^lraiQJog  ge- 
lesen, im  Glauben,  es  folge  '.AqTtakog  durch  Aal  angereiht  ein  zweiter 
Name;  es  müßte  also  der  von  Comparetti  als  e  gelesene  Buchstabe  vor 
der  Lücke,  auch  nach  H.V.Arnims  Vorschlag,  o  sein  und  zwischen  o 
und  g  ein  v  eingeschoben  werden. 

VI. 

Eine  Stelle  der  Liebesgeschichte  von  Metiochos  und 
Parthenope  (Reitzenstein ,  Hellenistische  Wundererzählungen  167) 
lautet  nach  der  Lesung  von  W.  Krebs  und  den  Zusätzen  von  G.  Kaibel 

und  C.Robert,  Hermes  XXX  146  und  150: 

[xal 

(paoi\v  (.ilv  Toig  tiov  eQiovxwv  xpvyalg  eyyiyveo\d-aL 

25        .  .  .  .  ]  EQhv  Ttveifia  .  vq  oiov  ^ r^v  .  .  lod-    [ol 

TtEiqav]   i]Srj  toi;  TtdO^ovg  e}Xricp6T[eg\   .  .  .  q  .  .  .  h/to   [//fV 
yäq  ov^mo  fxrfie  TceiQad^elriv  tog  ....   [dArjO-](üg  ös  [ö  e- 
Qwg  eGr]iv   y.ivriJLta  diavoiag   V7t\h  ^;QV(p7lg^^  yiyv6/iie[vov 
TiQcüTOv]  zal  VTTO  owrid^ELag  av^öf-ievov. 
Dazu  gab  U.  Wilcken ,  Archiv  für  Papyrusforschung  I  265,  folgenden 
Nachtrag:   „Z.  25  scheint  hinter  Trvev/iia  zu  stehen  xal  olov  ^o  .  .  tj  .  o. 
Bleibt   mir  unverständlich.     Dagegen  glaube   ich   das  Folgende    sicher 
erkannt  zu  haben: 

'Y'Gd-[<iüY 

Ipav  ol\   rjdri  tov  Ttd-^-ovg  eilTjcpoTeg  nelqav.  ^Eyco   [S^  eTca]- 
[d-QV  ?  ov]7tco  fiTjös  TtELQad-eiriv  zog  ....  ot.    "Egcog 
[ydQ  sGTi]v  '/,Elvrif.ia  diavoiag  vtvo  [7t\dd-(wg  yivö[xEv\ov  y.x'k. 
Hinter  'Egcog  in  Z.  27  braucht  nichts  zu  fehlen." 


—    135  — 

Ich  glaube,  wie  ich  U.  Wilcken  bereits  im  September  1901  brief- 
lich mitteilte,  lesen  zu  sollen: 

[xal 

(paGiv]   uiv  Tolg  tcov  eqojvtcov  xpvyalg  8yyLyve\oO-aL 
25        ffhiy^EQhv  Tvveiua  [^]vQ  olov  ü^eQuovriTa '  l'o&^   [v- 

uelg]  i]dri  rov  Tcd&ovg  eikrifforeg  JteiQav  .  J/w  [d*  e)jx- 

ßov  ov]7tco  f.irjöe  TteiQad^elriv  rb  [stz^  eu]oL 

Als  ich  wenig  später  in  Berlin  Gelegenheit  hatte,  von  Herrn 
Dr.  W.  Schubart,  der  übrigens  ein  zweites  Bruchstück  der  Liebes- 
geschichte in  dem  Papyrus  9588  der  Berliner  Sammlung  erkannt  hat, 
freundlichst  unterstützt,  das  Original  einzusehen,  haben  sich  diese 
Vermutungen  lediglich  bestätigt.  In  iyylyvea&ac  ist  das  zum  Schluß 
erhaltene  e  hoch  gestellt  und  die  Endung  findet  nur  in  gedrängter 
Schreibung  oder  mit  einem  Schnörkel  abgetan  Raum.  Daß  die 
Spuren  nach  [^]vQ  auf  d^eQuözr^Ta  führen,  hatten  schon  Kaibel  und 
Bobert  erkannt.  Mit  to  erc  iuol  vereinigen  sich  die  kenntlichen  Beste 
vortrefflich.     Zum  Schlüsse  sei  bemerkt,  daß  mir  in  Z.  20  ff. 

el'rj  di^  av  ycdxelvo  rtavveXiog  äTci^\avov^  sYttsq 

ßQ6^]()g  eJTiv  6  ^'Eotog^  TteoivoGTelv  au[Tbv  ^6vo]v  tc[£qI  tijv 

ol7iov]u6vriv 

statt  7t[£Ql   Tijv  oi-Kovlfievriv   erforderUch  scheint  7c[äoav  Trjv  oixov^e]vriv. 

vn. 

In  Plaut  US  Captivi  sagt  der  Parasit  85  ff.: 

prolatis  rebus  parasiti  venatici 
sumus:  quando  res  redierunt,  molossici 
odiosicique  et  multum  incommodestici. 

Ist  schon  bemerkt,  daß  der  Vergleich  des  prolatis  rebus  hungernden 
Parasiten  mit  dem  Jagdhund,  des  Parasiten  quando  res  redierunt  mit 
dem  Molotter  an  den  Ausspruch  des  Kynikers  Diogenes  anknüpft,  den 
Diog.  Laert.  VI  55  und  der  Papyrus  Rainer,  von  K.  Wessely  in  der 
Festschrift  für  Th.  Gomperz  67  ff.  herausgegeben  (AV.  Crönert, 
Archiv  für  Papyrusforschung  II  369 ff.),  überliefern?  Nach  Diogenes 
lautet  das  Apophthegma:  iocoriri^^eig^  TtoraTtög  eiri  xicov^  ecprj^  Tteivcov 
Liev  Mehralog^  /o^ra(j;9-€tg  Ss  MoXoTTixog;  in  erweiterter,  drei  Fälle 
berücksichtigender  Gestalt  teilt  es  die  Spruchsammlung  des  Papyrus  mit: 

iocüTtovrcov  de  tlvcov  avibv 

Tig  eiri^  iyto  xvcov.    dXÄä  TzodaTtög, 


—    136   — 

eiTcav.  sycf),  t(fri^  säu  jusv  Tzeivco, 
DlaQüJVi'/j'jg'  oiav  Ss  /u}j^  31iieli- 
ToioQ  '  llvav  de  euTtkuja^tOj  BIo- 
'loTVi'/,()g. 

Wie  W.  Crönert  ausführt,  ist  „der  leicht  verständliche  Gedanke : 
Wenn  mich  hungert,  dann  bin  ich  so  lieb  wie  ein  Schoßhündchen, 
mit  vollem  Magen  aber  bin  ich  ein  grimmiger  Molotterhund,  hier  ganz 
verändert;  es  sind  drei  Stufen  unterschieden,  indem  zwischen  die 
TtEivrj  und  die  TtXrfif-wvr)  noch  eine  mittlere  tritt,"  und  der  hungernde 
Kyniker  sich  mit  dem  MaQMvr/A)si^)^  der  ohne  Hunger  mit  dem 
34f.iehTaiog  (^) ,  der  gesättigte  mit  dem  MokoTTixög  vergleicht.  Über 
den  IlIaQovLxög  hat  sich  Wessely  nicht  geäußert;  dagegen  hat  W.  Crönert, 
wie  sich  nun  zeigt,  mit  Recht  vermutet,  daß  statt  31aQCüny,ög,  da 
maronische  Hunde  nicht  bekannt  sind,  y/axcuvLXog  zu  lesen  sei;  denn 
der  lakonische  Hund  ist,  wie  0.  Keller  in  seiner  Abhandlung  über 
Hunderassen  im  Altertum,  Jahreshefte  VIII  251,  ausführt,  als  Jagd- 
hund berühmt;  „man  kann  sagen,  er  ist  der  Jagdhund  '/mt  e^oxtjv  vom 
König  Lykurgos  an  bis  in  die  späteste  römische  Kaiserzeit".  Es 
leuchtet  ein,  wie  sehr  der  Vergleich  mit  dem  lakonischen  Hund  für  den 
hungrigen  Philosophen  paßt,  und  bei  Plautus  vergleicht  der  hungernde 
Parasit  sich  denn  geradezu  mit  dem  venaticus.  Den  ZiueliTalog  wollte 
Wessely,  sehr  gesucht,  durch  ein  „schwer  wiederzugebendes  Wortspiel" 
erklären:  „wenn  mich  der  Hunger  nicht  treibt,  bin  ich  ein  Hündchen 
aus  Sanssouci".  Ich  kann,  wie  Crönert,  ^ueXivalog  nur  für  einen  Fehler 
des  Schreibers  statt  Mehvalog  halten. 


Die  griechischen  Handschriften 
des  Prinzen  Eu^en  von  Savoven. 

Von 
WILHELM   WEINBERGER. 

Außer  den  von  Lambeck  und  (1690)  von  Nessel  (dem  Urheber  der 
jetzigen  Aufstellung)  katalogisierten  griechischen  Handschriften  besitzt 
die  Wiener  Hofbibliothek  ein  Supplementum  graecum,  das 
120  Xummern  umfaßt  und  mit  wenigen  Ausnahmen  bei  Kollar  i)  be- 
schrieben ist.  Es  sind  Stücke  mit  den  Ex-libris  des  Bischofs  Fabri"^) 
und  des  Grafen  Windhag  2)  darunter,  ferner  Hss.,  die  unter  Karl  YI. 
von  neapolitanischen  Klöstern  3)  und  von  dem  Venezianer  Apo- 
stolo  Zeno^),  aus  der  Bibl.  Hohendorfiana  (im  Jahre  1720)  und 
gegen  eine  Leibrente  von  der  Erbin  des  Prinzen  Eugen,  der  Prinzessin 
Anna  Viktoria  von  Savoyen,  erworben  wurden. 

Die  beiden  zuletzt  genannten  Sammlungen  sind  berücksichtigt  in 
dem  handschriftlichen  Index  contentoi'um  in  Manuscriptis  Codicibus  ex 
Bihliotheca  Principis  Eugenii  et  Baronis  Hohendorfii,  auf  den  mich  Herr 
Dr.  Bick  freundlichst  aufmerksam  gemacht  hat.  Der  Index  enthält 
zwar  nur  wenige  von  den  griechischen  Eugeniani,  offenbar  weil  der 
Inhalt  der  meisten  damals  noch  nicht  erkannt  war,  hilft  aber  doch 
beim  Nachweis  der  Zugehörigkeit  zur  Bibliotheca  Eugeniana  und  bei 
der  Berichtigung  einiger  Irrtümer,  die  in  Kopitars  gleichfalls  hand- 
schriftlicher Konkordanz  der  Bibl.  Eugeniana  mit  den  gegenwärtigen 
Nummern  unterlaufen  sind. 


*)  A.  F.  Kollarii  ad  P.  Lambecii  Commentariomm  de  aug.  bibl.  Caes.  Vind.  libros  VIII 
Supplementorum  liber  primus  posthumus.  Wien  1790.  (Die  1.  Aufl.  der  Commentarii  erschien 
1655—1679,  die  2.  von  Kollar  besorgte  1766-1782). 

^)  Vgl.  meine  Beiträge  zur  Handschriftenkunde.  I.  (Wiener  Sitzungsber.  CLIX,  VI) 
S.  33,  62  A.  1,  67  A.  1,  69. 

")  Vgl.  F.  Mencik,  Die  Neapolitaner  Hss.  der  Hofbibl.,  Mitteil.  d.  österr.  Vereins  f. 
Bibl.  VIII,  183,  170.  IX,  31. 


—    138   — 

14  Hss.  tragen  auf  der  Innenseite  des  Yorderdeckels  und  mit 
wenigen  Ausnahmen  i)  auch  auf  einem  an  den  Rücken  geklebten  weißen 
Zettel  die  charakteristische  Bezeichnung  MS  N^  I  (usw.).  Mit  Nr.  1 5 
bezeichne  ich  eine  Hs. ,  die  auf  dem  Rücken  einen  unbeschriebenen 
weißen  Zettel  und  auf  der  Innenseite  des  Deckels  den  Vermerk  auf- 
weist: Codex  hie  extra  'numermn  exhibet  Phüosophiam  hodiernam  inter 
Graecos.  Bei  Nr.  1 6—1 8  spricht  die  Konkordanz ,  bei  1  8  überdies  der 
Index  für  die  Zugehörigkeit  zur  Eugeniana. 

Die  folgende  Tabelle  gibt  Aufschluß  über  die  verschiedenen  Signa- 
turen der  Codices;  in  der  2.  Kolumne  stehen  die  von  Kopitar  zugrunde 
gelegten,  den  Eugeniani  anscheinend  bei  der  Übernahme  durch  die^of- 
bibl.  gegebenen  Nummern  '^)  mit  der  Unterscheidung  f(olio)  und  q(uarto).  ^) 


Eugen. 


Auctarium 
II 


Forlosia 


Kollar 


Geo-enwärt. 

Signatur : 

Suppl.  graec. 


I 
II 

ni 

IV 

V 

VI 

VII 

VIII 

IX 

X 

XI 

XII 

XIII 

XIV 

15 

16 

17 

18 


lG5f.*) 

166  f. 

167  f. 

63  q. 

64  q. 

65  q.  ^) 

66  q. 

67  q^) 

68  q. 

69  q. 

70  q. 

71  q. 

72  q. 

-  ') 

73  q. 

171  f.  ^) 

172  f. 
Iq. 


IV 

V 
XI 
IX 
XVI 
VII 
XIII 
VIII 
XII 
XV 
XVII 


XIV 

II 
III 

VI 


2 

34 
37 

7  (aus  6) 
22 

12  (aus  10) 
21 

26 
40 
55 
54 
25 

-') 

53 

10 

11 

15 


29 
46 
70 
71 
31 

34 
125 
68 
40 
61 
53 
36 
43 
62 
30 
32 


2 
31 
29 
85 
80 
70 
72 
79 
87 
90 
86 
82 
89 
100 
78 
34 
22 
52 


*)  Bei  IV,  einem  fehr  dünnen  Bande,  sieht  man  noch  Spuren  des  aufgeklebten  Zettels, 
tei  X  ist  der  Einbandrücken  nicht  erhalten. 

'^)  Spuren  einer  anderen  Bezeichnung  finden  sich  bei  IV  (H  83 :  38  al.  39),  VI  (H  90 ; 
57  al.  58),  VIII  (EH  121:  42  al.  43),  XIII  (H  194;  22  al.  23  4«). 

^)  Beim  Oktavformat  sind  die  'gegenwärtigen  Signaturen  von  Kopitar  nicht  beige- 
setzt worden. 

^)  Daß  Kopitar  in  der  KoUar-Nummer  irrte  (39  statt  29)  und  so  zu  165  f.  96  K(ollar) 
39  setzte,  wird  durch  den  Index  erwiesen. 

^)  Kopitar  Aviederholte  infolge  eines  nicht  seltenen  Versehens  die  eugenianischen 
Nummern  65  und  67;  da  uns  der  Index  im  Stiche  läßt,  bleibt  es  zweifelhaft,  ob  nicht  65 


—    1B9   — 

Nr.  18^  die  einzige  Pergamentliandschrift,  wird  von  Kollar  ins  13.^ 
von  Gregory  (Novum  Testamentum  graece  reo.  Tischendorf.  Editio 
octava  critica  maior.  III  [1894]  458;  vgl.  H.  von  Soden,  Die  Schriften 
des  Neuen  Testaments.  Berlin  1902  [d  253])  richtiger  ins  12.  Jahrh. 
gesetzt.  Nach  den  bei  Kollar  abgedruckten  Eintragungen  war  sie,  als 
sie  von  Erasmus  von  Rotterdam  benützt  wurde,  im  Besitze  des 
Klosters  Corsendonck,  das  sie  von  Radulf  oder  Roland  de  Rivo 
aus  Breda  erhalten  hatte.  Im  Jahre  1666  wurde  sie  bei  der  Verstei- 
gerung des  Nachlasses  des  Finanzkommissärs  van  denWouwere  von 
Frater  Martinus  Harney  O.'P.  erworben;  auf  der  Innenseite  des 
Deckels  trägt  sie  den  Vermerk:  Bibliothecae  Conventus  Bruxel- 
lensis  FF.  Praedicatorum.  Schwarzer  Lederband;  auf  dem  Rücken : 
K0VU3I  TESTAM.  GRAEC.  MS. 

Dieser  Kodex  ist  also  aus  Belgien  in  den  Besitz  des  Prinzen 
Eugen  gelangt  (der  von  1716 — 1724  Greneralgouverneur  der  Nieder- 
lande war);  die  übrigen  17  Hss.  stammen  aus  der  Walachei.  Es  sind 
junge  Papierhandschriften  meist  vulgärgriechischer  Texte,  i) 


mit  YIII  und  67  mit  VI  zu  identifizieren  sei.  Sowohl  die  gej^enwärtigen  als  die  Kollar- 
Nummern  65  und  67  (jetzt  12  und  40)  sind  auch  durch  anderweitige  Provenienz  (Jesuiten- 
bibl.;  Brassican,  Windhag;  Apostolo  Zeno ;  Hohendorf)  ausgeschlossen.   — 

Die  Eintragungen  in  65  (Kollar  33)  f.  114  :  Jo  Giovanne  S^^  maura  Ci/prioto  fo 
fede  havere  copiato  ü  p(rese)nte  libro  claW  originale  di  Hieremia  Patriarcha  Constanti- 
nopolitano  et  sconirato  diligentem(enle).  In  Borna  ä  di  2  de  luglio  1583.  Jo  Giovanni 
santatnaura  ho  scritto  e  sottoscriito  da  mia  propria  mano.  Nos  Bibliothecae  vaticanae 
Custodes  fidcm  facimus  exemplar  huius  libri  asservari  in  eadem  Bibliotheca  ad  cuius 
rei  ßdem  nostra  manu  subscripsimus  Bomae  die  2a  Jtdij  1583.  Ego  Federicus  Banaldus 
Vaticanae  BibJ.  Custos.  Ego  Mariniis  Banaldus  eiusdem  Bibliothecae  Custos  ergeben  eine 
Berichtigung  zu  H.  Omont,  Le  demier  des  copistes  grecs  en  Italic  Jean  de  Sainte  Maure, 
Revue  et.  gr.  I  (1880)  177,  der  angibt,  Johannes  von  Santamaura  sei  von  1585—1612 
ständig  in  Rom  gewesen. 

^)  Im  Index  steht  fälschlich  170  f. 

')  In  der  Hs.  ist  vermerkt :  Nullius  pretii  codex  docto  Forlosiae  judicio  scilicet 
und  Forlosiae  non  recensitus. 

(Die  Anmerkungen  6  und  7  gehören  zur  vorigen  Seite.) 

^)  I.  Theophylakts  Evangelien-Kommentar  von  loannes  ComnenusMedicus 
im  Auftrage  Brankovans  ins  Vulgärgriech.  übersetzt  und  diesem  1702  gemdmet.  11.  Matthaios 
Blastares  von  Kunalis  Kritopulos  übersetzt  (vgl.  Krumbacher,  Müllers  Handbuch  IX 2 
S.  607;  1632).  Hl,  Platin ae  Yitae  summorum  pontificum  von  Hieremias  Kakabelas 
aus  Kreta  aus  dem  Lat.  ins  Vulgärgriech.  übersetzt  (17.  Jahrh.).  IV,  Äthan asios  von  An- 
tiochien,  Geschichte  des  Patriarchats  von  Antiochien  (bis  1702)  in  vulgärgriech.  Sprache, 
Brankovan  gewidmet.  V.  Im  15.  Jahrh.  gefertigte  Abschrift  von  16:  Johannes  Kan ta- 
kuzen os'  Schrift  gegen  die  Mohammedaner  (aus  dem  Jahre  1380) ;  bei  Krumbacher  106,  1 
Avird  nur  17:  die  vulgärgriech.,  Mai  1700  geschriebene  Übersetzung  des  Meletios  Zyrigos 
(öl  iTiixayfjg  xov  ixXaf^nQoxdxov  xai  ■&eoa€ßeaTdxov  avd-evxov  ndarjg  MGlöoßXaxiag  hvqCov 
'loiävvov  Baaileiov  ßoeßövöa]  Anfang  des  17.  Jahrh.)    erwähnt.    VI,  (bei  Kollar  nicht  be- 


—    140   — 

Die  Hss.  TU,  IX,  XII,  XIII  und  17  haben  auf  der  1.  Seite 
den  Vermerk  £Z  tcov  tov  Kiovözaviivov  Kavvai^ov'C.rivov,  meines  Erachtens 
nicht  von  derselben  Hand  (in  XII  wurde  die  verblaßte  Eintragung 
mit  dunklerer  Tinte  erneuert);  sie  waren  also  im  Besitze  des  Truch- 
sessen  (avolvr/.og)  Konstantin  Kantakuzen,  der  1688  seinen  älteren 
Bruder  Serban  II.,  Fürsten  der  Walachei,  im  Verein  mit  dem  Sohne 
seiner  Schwester  Helene,  Konstantin  Bassarabas  Brankovan,  vergiftet 
zu  haben  scheint  und  selbst  1716  mit  seinem  Sohn  Stephan,  der  seit  1712 
Brankovans  Nachfolger  in  der  Fürstenwürde  war,  enthauptet  wurde.  0 

schrieben).  Vulgärgriechische  Übersetzung  von  Isokrates  (ad  Demonicum ,  ad  Nicoclem, 
Nicocles  seu  Cyprii)  mit  Kommentar  (91  Folia,  2\OXlQ0mm,  Ende  des  17.  Jahrb.,  f.  10 
Bild  eines  Schreibers).  VII.  Georgius  Coressius,  in  apocal^'psim  usw.,  17. /18.  Jahrb. 
Vi II.  Joannes  Comnenus  Medicus,  Leben  des  Joannes  Kantakuzenos  (im  April  1G99 
Konstantin  Kantakuzen  gewidmet)  und  die  auf  Befehl  Brankovans  im  April  1698  (iv  Tgiyo- 
ßvaicp)  verfaßte  vulgärgriech.  Übersetzung  des  von  Stanislaus  Reinhard  Axtelmeier  (Augs- 
burg 1698)  in  deutscher  Sprache  herausgegebenen  Moscoviticum  prognosticum  (f.  17)  sind  wahr- 
scheinlich (im  Mai  1699)  von  der  gleichen  Hand  geschrieben  worden,  von  der  auch  der  vul- 
gärgriech. (f.  113  beginnende)  Dialog  zwischen  Rom  und  Tiber  herrühren  kann.  Kollar 
hält  diesen  Dialog,  in  dem  auch  Christine  von  Schweden  auftritt,  für  eine  Übersetzung 
aus  dem  Italienischen.  IX.  A'ulgärgriech.  Brankovan  im  Jahre  1700  gewidmete  Übersetzung 
des  Fürstenspiegels  (Krumbacher  456)  von  Sebastos  Trapezuntios  Kyminites. 
X  wird  unten  besprochen  werden.  XI,  Kommentar  zu  Aristoteles  de  anima,  nach  Kollar 
wahrscheinlich  von  Caesar  Cremoninus  verfaßt  und  von  Theophilos  Korydalleus 
ins  Griechische  übersetzt  (17.  Jahrb.);  die  Hs.  wird  im  Ann.  de  l'assoc.  p.  l'encour.  d.  et.  gr. 
XV,  192  nicht  erwähnt.  XII  besteht  aus  2  Codices:  a)  Nixoläov  Kegafieiog  sxboaig 
avvTO(.iog  tov  d-eo)Qritixov  fisQovg  Tfjg  iaxQixiig  (1680) ;  b)  Zvvor^ng  elaaycoyixcotsQa  elg 
yeoiyQa(piav  oi'yygacpeTaa  dbiö  (poivfjg  tov  aocpoitdxov  xai  Xoyioiräxov  xvqiov  Qeocp IXov  tov 
KoQvöaXXecog.  XIII.  Schriften  des  [Euthymios  Zygabenos],  [Gennadios  Scholarios], 
Thalassios,  Hesychios  Presbyteros,  Diadochos,  Niketas  Steth  atos,  Elias 
(1646?).  XIV.  Hermologium  (17.  Jahrb.).  15.  Theophilos  Korydalleus  (Caesar 
Cremoninus?),  Kommentar  zu  Aristoteles  negl  (pvatxijg  dxQodoEOig  (1683).  'Avöocviy.ov 
TieQinazrjTixov  negi  Trd&cvg.  16  u.  17  s.  V.  —  Von  Schreibern  nennen  sich :  Alexander 
von  Trikka  (XII a),  Gregor  (olxovöf,iog  ryg  äyiwrdtrjg  dQxtsmaxoTifjg  Uoiycoiavfjg  (II), 
Michael  Byzantius  (VIII  f.  llOv  und  17),  Stephanos  von  Chios  (XIV);  vgl.  XIII  f.  15  v  (mit 
roter  Tinte):  MAPKOi::  ZOrPA^ÜS:  "ü  ES  APMENHON:  1646  (die  Hs.  macht 
einen  älteren  Eindruck). 

*)  Vgl.  A.  M.  Del  Chiaro,  Istoria  delle  moderne  rivoluzioni  della  Valachia.  Florenz 
1718  (nach  S.  192  Tafel  mit  Brankovans  Wappen),  Demetrii  Procopii  i7iaQi{>^ir}aig 
TOtv  .  .  XoyioivrQaix&v{Qon?:m^i^  menseJunio  a.lVIDCCXX  transmissaque  Bucuresti  in  J.  A.  Fa- 
bricius,  Bibl.  Graeca  XI  (Hamburg  1808)  533  (Hamburg  1722,  784;  Kantakuzen  war  des  Griech., 
Lat.  und  des  Italienischen  mächtig),  Demetrius  Cantimir,  Hist.  de  l'empire  Othoman  .  .  . 
traduite  en  Fran^'ais  par  M.  de  Joncquieres.  Paris  1743,  Demetrie  Kantemir,  Gesch.  d. 
osmanischen  Reiches,  aus  dem  Engl,  übersetzt,  Hamburg  1745,  Michel  de  Kogalnitchan, 
Hist.  de  la  Dacie,  des  Valaques  transdanubiens  et  de  la  Valachie.  Berlin  1834  (S.  331,  352, 
369),  Michauds  Biographie  universelle,  endlich,  Avorauf  mich  Herr  Skriptor  Dr.  H.  Jarnik 
von  der  Landesbibliothek  in  Brunn  aufmerksam  machte,  Enciclopedia  Rom  an  a,  hgg. 
von  C.  Diaconovich  I  (Hermannstadt  1898)  565,  700. 


—    141    — 

XIII  muß  Konstantin  Kantakuzen  von  seinem  Vater,  dem  gleichnamigen 
1663  verstorbenen  Ho fmarschall.fTroffreA^'izo^^,  ererbt  haben.  Ob  Pana- 
giotes,  der  diese  Hs.  dem  Hofmarschall  zum  Geschenke  machte,  mit 
dem  Panagiotes  identisch  ist,  für  den  YIII  im  Jahre  1699  geschrieben 
Avurde,  kann  ich  nicht  entscheiden;!)  jedenfalls  haben  YIII  und  17 
den  gleichen  Einband  (rotbrauner  Lederband  mit  radförmigem  Silber- 
ornament in  der  Mitte  —  bei  YIII  nur  des  Yorderdeckels)  und  rühren 
von  demselben  Schreiber  her. 

I^  lY^)  und  Y^)  waren  im  Besitze  Brankovans.  Nr.  15  gehörte 
seinem  Sohne  Stephan  *),  der  mit  ihm  1712  in  Konstantinopel  enthauptet 
A\nirde.  Xun  haben  I,  lY  und  die  Kantakuzen-Hss.  YII,  IX^  ferner 
III,  XI  und    XIY^)    ähnliche  Einbände^),    für    die  Mittelbilder    aus 


^)  Auf  dem  2.  Vorsteckblatt  von  XIII  steht :  Tco  jTSQKpaveaTdto^  xal  evyeveaxdzco 
UQ'/iovTi  (so)  kvqLm  KoiVOTavTLvo)  TCO  Kavza>iov^r)v(p  reo  ^leyäXq)  noaTeXvlxoi  /.ivt] f.io(rvvov 
XccQiv  öoiQeXiat  t6  jiaQov  navayubrrjg,  in  VIII  auf  f.  110"'  iyQacprj  zo  naQov  dia  xsiQog 
Mi/ar]X  zov  BvCavziov  öiä  XQV^'^^  ^^^  zif^iicozaTov  xal  loyicozäzov  aQXOvzog  f^ieydXov 
xafiuQag  zfjg  aMevzixijg  wxvag  (supremi  salinarum  ad  principem  pertinentium  praefecti) 
üavaytdizov,  iv  ezsi  a{oizr])Qiq)  axc^v  ftaico  fit]vi  iv  BovKOVQeazicp. 

'^)  Zu  beiden  Seiten  des  (bei  KoUar  genau  beschriebenen)  Wappens  (Rabe  mit  einem 
Kreuz  im  Schnabel;  s.  oben  S.  140  A.  1)  stehen  die  Buchstaben  IBEAn\KBeHO,  die 
Anfangsbuchstaben  des  Titels  'Io)ävvr]g  KoivozavzTvog  BaaaaQaßag  BoeßövSag  'Elsco  Oeov 
AvS-svzTjg  xal  '^Hysfiwv  Ildarjg  Oi)yyQoß).axiag. 

")  Auf  dem  1.  Vorsetzblatt:  -\-7iQ6g  zov  vxprjXozazov  xal  ivSo^cozazov  aQyov  (so)  ^eya 
(so)  Xoyoß^szYjv  zijg  XaiATiQOzdztjg  avd-evzeiag  (so)  syxQwßXaxCag  (so)  yiVQiov  xv  xcovazavz'^vov 
(so)  idioQrj&eL  zo  TiaQov  ßißXlov  naQO.  Z7\g  ^ja^mv  zansLvözrjzog.  L  aynrj  (peßQOvaQto)  xC 
-f  6  TiQCorjv  A  QvozQag  rsvvdöiog  (?;  auf  f.  1  ist  nach  den  Worten  ix  ziLv  zov  infolge 
einer  Korrektur  oder  Tilgung  ÄQvazQag  Fewaötov  noch  fraglicher).  Brankovan  war  Groß- 
Logothet,  als  er  1688  zur  Fürsten  würde  erhoben  wurde. 

^)  F.  1  oben:  Kai  zöde  TCQog  xoXg  aXXotg  Qeoöcoqov  zov  ix  TQajie^ovvzog^ 
im  unteren  Teile  der  Seite  ZAvischen  dem  Texte  und  dann  am  Eande:  ix  ziov  Zzecpdvov 
MuQ'xyxo ßdvov  xal  zoöe  TiQog  zoTg  äXXoig  icovrjf^ievov  ^lexa  zrjv  davrjv  zov  ävodev  (so) 
öeojiözov. 

^)  Scheint  nach  f.  65''  im  Jahre  1691  dem  Vladulas  Grammaticus  gehört 
zu  haben. 

^)  I  und  III  haben  in  der  Mitte  des  Schlußdeckels  Christus  mit  den  Aposteln,  in 
der  des  Vorderdeckels  Christus  am  Kreuz  [I(r]aovgJ  N(aCaQt]v6g)  B(aaiXevg)  7(ovöauov)], 
darunter  Maria  und  Johannes  (l  überdies  beiderseits  in  den  vier  Ecken  die  Evangelisten 
mit  den  Beischriften:  Z  lüAN,  2  MATSEH  (so),  Z  MAPRO,  2  AuKA ;  die  Bilder 
der  Evangelisten  stehen  auch  in  der  Hs.  am  Beginn  jedes  Evangeliums).  Bei  YII 
stehen  unter  dem  Kreuz  beiderseits  je  zwei  Gestalten  mit  den  Beischriften  M(rizr])P  OfeoJY 
und  lüAN  (über  dem  Kreuz  INBI  nnd  eine  Zeile  tiefer  Ifr}oov)C  X(Qiaz6jC;  in  der  Mitte 
des  Rückdeckels  befindet  sich  ein  Bild  der  Madonna.  Ein  solches  ist  auch  dem  Vorderdeckel 
von  IT  eingepreßt  (MP  &Y,  IC  XC;  ein  ähnliches  Mittelstück  bei  K.  Westendorp,  Die 
künstlerischen  Bucheinbände  der  Metzer  Bibl.  vom  14.  bis  zum  18.  Jahrb.,  Jahrbuch  d.  Ges. 
f.    lothring.   Gesch.  XIX   [1907]    425   mit  A.  3):     der  Rückdeckel    zeigt  ein    Bild    David.s 


—    142   —   . 

dem  Kreise  der  biblischen  Ikongroaphie  M  charakteristisch  sind.  Die 
wechselnden  Beziehungen  Kantakuzens  zu  Brankovan,  dessen  Spieß- 
geselle und  Nebenbuhler,  Minister  und  Gegner  er  nacheinander  ge- 
wesen ist,  bieten  verschiedene  Möglichkeiten  der  Erklärung,  aber  eben 
deshalb  läßt  sich  keine  besonders  wahrscheinlich  machen.  Wenn  KoUar 
zu  IX  bemerkt:  pertinuit  primo  ad  Brancovanum j  deinde  ad  Constan- 
tinum  Cantacuzenum ,  so  hat  er  sich  anscheinend  von  der  Widmung 
bestimmen  lassen,  die  sich  aber  eher  auf  das  Werk  als  auf  das  Exem- 
plar bezieht.  Ähnlich  steht  es  mit  Kollars  auf  dem  2.  Teil  von  XII 
beruhender  Hypothese,  sämtliche  17  Hss.  seien  von  Nikolaus  Mauro- 
kordato  an  den  Prinzen  Eugen  gelangt;  übrigens  starb  Alexander 
Maurokordato ,  dem  die  Widmung  gilt,  vor  Kantakuzen  (1709)  und 
Hss.  konnten  von  ihm  an  Brankovan  (mit  dessen  Tochter  Ilinka  einer 
seiner  Söhne  vermählt  war)  oder  Kantakuzen  gelangen.  Die  Möglichkeit, 
daß  sowohl  Brankovans  als  auch  Kantakuzens  Hss.  in  der  fürstlichen 
Bibl.  blieben  und  erst  nach  beider  Tode  einzelne  neu  gebunden  wurden, 
ist  nicht  abzuweisen;  auch  die  Eintragung  in  II ^j  läßt  daran  denken, 
daß  dieser  Kodex  an  Serban  11.  und  von  diesem  entweder  an  seinen 
Bruder  Konstantin  oder  an  seinen  Nachfolger  in  der  Fürstenwürde, 
Brankovan,  kam.  1716  wurde  aber  Nikolaus  Maurokordato  Fürst  der 
Walachei.  Hss.  seiner  Bibl.  sind  auch  in  Oxford  und  Paris  zu  finden.  ^) 
Überdies    wurde    Maurokordato    am    25.   November    1716    von    einem 


(IIPÖAABIA).  IX  hat  ein  Christusbild  (IC  XC)  vorne  in  Gold,  auf  dem  Schlußdeckel  in 
Silber,  XI  vorne  eine  an  einem  Altar  kniende  Figur,  darüber  einen  aus  Wolken  segnenden 
Christus,  XIV  ein  silbernes  Kruzifix.  Unter  den  Verzierungen  des  roten  Lederbandes  von 
VI  ist  in  der  Mitte  beiderseits  ein  kleines  Kreuz  zu  sehen.  IVIit  Ausnahme  von  X  (dunkler 
Papiereinband)  haben  alle  Hss.  dunklen  Lederband  meist  mit  farbigem  Schnitt 
(I  hat  grünen  Schnitt  mit  goldenen  Rosetten,  III  Goldschnitt  mit  Girlanden,  V  Goldschnitt, 
XI  roten  Schnitt  mit  goldenen  Rosetten  [zum  Einbände  wurde  ein  wallachischer  Druck 
A^erwendet:  auf  der  Innenseite  der  Deckel  von  16  ist  ein  überklebter  griechischer  Druck, 
anscheinend  des  16.  Jahrh.  zu  bemerken]).  XIII  weist  einen  orientalischen  (portefeuille artigen) 
Lederband  auf.    Die  Einbände  von  VIII  und  17  sind  oben  besprochen  worden. 

^)  Vgl.  auch  Nr.  483,  484,  487,  506  des  Katalogs  der  Ausstellung  von  Einbänden 
der  k.  k,  Hofbibl.  in  Wien. 

^)  Auf  der  letzten  Seite  (vgl.  Kollar):  iyeiQOTOvrjd^^v  iyco  ö  Ila^d-sviog  'ÄÖQiavov- 
7ioXhr]g  6  XQvaoxevrrjrrjg  (so)  UQ/jeQevg  Scort] QiovTiöXsfog  .  .  .  Sca  avvÖQOftrjg  xai  dvri- 
Xrnpeoig  tov  navevyeveaiärov  xal  yQ7]aiuoiTäTOV  äoxovrog  xvqlov  xvq  SeQßävov  Kavxay.ov- 
^tjvov  xal  fxeydXov  TiQtoxooTiad-iov  Tfjg  aii^svTslag  OvyxQoß)Mxiag  (im  Jahre  1670).  'Ex 
Tcbv    TOV  2 oiTi] QLOvTiöXeoig  UaQ'd'evlov  tov  xQvaoxevTijTOV  steht   f.  1   und  f.  201. 

2)  G.  W.  Kitchin,  Cat.  cod.  mss.  qui  in  bibl.  Aedis  Christi  (Christ  Church)  adservantur, 
Oxford  1867:  26.  Evang.  12.  Jahrh.  J5r  Dona  Maiiri  Cordati  Princijns  Hungaro-Walachiae 
A.  D.  1726.  —  H.  Omont,  Missions  archeol.  fran^aises  en  Orient.  Collection  de  documents 
inedits  sur  l'hist.  de  France  1.  Ser.  LXX  (1902)  385,  683.  (Die  Hss.  haben  nach  freund- 
lichen Mitteilungen  von  Poole  und  Omont  nicht  den  oben  charakterisierten  Einband.) 


—    143   — 

Untergebenen  Eugens,  dem  Grenzkapitän  Dettin,  gefangen  genommen 
vind  samt  seiner  Familie  nach  Hermannstadt  gebracht;  die  Auswechs- 
lung erfolgte  im  Frieden  von  Passaro witz  (1718).  i) 

Daß  die  17  Hss.,  mit  denen  wir  uns  beschäftigen,  über  Hermann- 
stadt  gegangen  seien,  ist  mir  auch  wegen  X  nicht  unwahrscheinlich. 
Auf  dem  1.  Yorsteckblatt  dieser  Hs.  steht  (außer  MS  Xl!  X):  Magni 
Gregorü  DecapoUtae  Histona  Vitae  et  Miraculorum.  Item  Officium  in 
ejusdem  Festo  in  Ecclesiis  Graeco -Valachicis  celehrari  consuettim.  Vixit 
ante  mille  annos.  Corpus  aiitem  integrum  et  nunc  ostenditur  in  Templo 
Monasterii  Valachiae  Ois-Älutanae  de  Bißtricza.  Die  Hs.  beginnt  mit 
dem  vom  Metropoliten  Matthias  von  Myra  verfaßten  und  zu  Beginn 
des  17.  Jahrh.  geschriebenen  Officium.  Daran  schließt  sich  ein  Bericht 
des  Matthias  über  die  Abfassung  dieses  Werkes,  wobei  er  auch  er- 
wähnt, daß  er  seine  Diözese  verlassen  und  in  der  Walachei  bei  Serban 
(I.  mit  dem  Beinamen  Radula)  freundliche  Aufnahme  gefunden  habe. 
Mit  f.  29  (Yitaf)  beginnt  ein  anderer  vielleicht  etwas  älterer  Kodex. 
Die  Eintragung,  von  der  wir  ausgegangen  sind,  rührt  meines  Erachtens 
von  derselben  Hand  her,  wie  die  im  Yind.  lat.  224:  Codex  hicce  Ms.  Catulli 
Tihnlli  et  Propertii  .  .  Carmlna  .  .  continens  inssu  Matthiae  Corvini  Regis 
Hungariae  descriptus  e  Bibliotheca  eiusdem  Budens'i  tempore  Ex-Regis  Jo- 
hannis  de  Zapolya  in  Transilvaniam  delatus  e  Suppellectili  subhastata  Prin- 
cipis  Michaelis  Apafi  [fl713  in  Wien]  Bihliothecae  Serenissimi  Ducis 
Eugenii  de  Sabaudia  demisse  adscriptus  a  Samuele  Köleseri  de  Keres- 
Eer  Consil.  Guber.  Transilv.;  sie  nimmt  ja  auch  auf  Siebenbürgen  Bezug. 
Daß  die  Xumerierung  (MS  Xo.  I  usw.)  von  derselben  Hand  herrührt, 
halte  ich  nicht  für  unwahrscheinlich,  wenn  sich  dies  auch  bei  einer, 
ich  möchte  sagen,  stilisierten  Eintragung  schwer  entscheiden  läßt. 

Man  könnte  dann  daran  denken ,  daß  Köleseri  (der  am  24.  De- 
zember 1732  zu  Hermannstadt  starb,  2  Jahre  nach  Xikolaus  Mauro- 
kordato,  4  Jahre  vor  dem  Prinzen  Eugen;  s.  J.  Szinnyei,  Magyar  Irok 
VII  —  Budapest  1900  — .28f)  nicht  mehr  dazu  gekommen  sei,  die 
Hss.  15 — 17  mit  Nummern  zu  versehen  (daß  16  und  17  auf  anderem 
Wege  in  Eugens  Besitz  gekommen  seien,  ist  wohl  nicht  anzunehmen). 

Vielleicht  können  die  hier  gesammelten  Anhaltspunkte  bei  der 
Untersuchung  über  die  Bibl.  Eugeniana  verwertet  werden,  die  erst  vor 


^)  A.  Arneth,  Prinz  Eugen  von  Savoyen,  II  (AVien  1858)  411,  453. 

2)  Das  Initium  ist  das  gleiche  ^vie  bei  der  in  den  Paris,  gr.  501,  (1525,  1549)  dem 
Ignatios  zugeschriebenen.  Daß  auch  die  in  dem  mir  unzugänglichen  Werke  von  Theo- 
philos  Joannu,  M^rj/neia  dyioXoyiy.ä,  Venedig  1884,  S.  129  (vgl.  Krumbacher,  S.  73,  6) 
veröffentlichte  Vita  mit  denselben  Worten  beginnt,  ergibt  sich  aus  der  Bibl.  Hagiographica 
Graeca. 


—    144   — 

Kurzem  Boinet  i) ,  als  er  zwei  lateinisclie  Eugeniani  (2605  ii.  2624) 
besprach,  die  aus  der  Pariser  Bibliothek  Sainte-Genevieve 
stammen,  mit  Recht  als  wünschenswert  bezeichnet  hat. 

Ob  nun  Eugen  selbst  auf  die  Erwerbung  der  griechischen  Codices 
bedacht  war  oder  ihm  diese  von  Köleseri,  Maurokordato  oder  einer 
wenigstens  bisher  nicht  bekannten  Person  verehrt  wurden,  jedenfalls 
lassen  sie  bei  Österreichs  ruhmgekröntem  Feldherrn  Interesse  nicht  nur 
für  lateinische  und  französische,  sondern  auch  für  griechische  Hss. 
voraussetzen,  ein  achtungsvoller  Gruß  aus  vergangenen  Zeiten  für  die 
Philologen ,  die  nun  schon  zum  dritten  Male  ihre  regelmäßig  wieder- 
kehrenden Versammlungen  in  einer  österreichischen  Stadt   abhalten. 


')  Revue  des  bibliotheques  XVIII  (1908)  142. 


Textkritisches  zu  Terenz. 

Von 
ROBERT  KAUER. 


Die  Überlieferung  des  Terenz  wird  für  vortrefflich  gegenüber  der 
des  Plautus  gehalten;  im  allgemeinen  mit  Recht,  aber  der  Kenner  weiß, 
daß  es  auch  hier  noch  ungelöste  Fragen  gibt,  die  nicht  so  leicht  zu 
beantworten  sind,  sie  sind  auch  bis  jetzt  ungelöst.  Denn  wir  wissen 
zwar,  daß  dem  Bembinus  die  sogenannte  Calliopius-Rezension  gegen- 
übersteht, aber  wir  wissen  nichts  Bestimmtes  über  diesen  Calliopius, 
weder  was  seine  Zeit  —  denn  Joviales  gibt  nur  ungefähr  die  spätere 
Grenze  —  noch  was  seine  Berechtigung  als  Veranstalter  einer  Rezen- 
sion betriflPt.  Ob  er  metrisches  Verständnis  besaß,  wie  es  nach  Sydows 
und  Schindlers  Arbeiten  als  feststehend  angenommen  wurde,  ist  mit 
guten  Gründen  von  Ramain  in  Frage  gezogen  worden ;  von  den  Beispielen, 
die  Sydow  hiefür  aufgezählt  hat,  bleibt  nur  eines  zu  Recht  bestehen. 
Alle  diese  Arbeiten  leiden  aber  darunter,  daß  sie  nur  ein  eklektisches 
Verfahren  einschlugen  oder  sich  auf  einen  kleinen  Teil  der  Komödien 
unseres  Dichters  beschränkten.  Aber  eine  noch  viel  wichtigere  Frage 
ist  noch  ungelöst:  die  unzweifelhafte  Scheidung  innerhalb  der  Callio- 
pius-Rezension 1)  in  eine  y-  und  d-  Klasse  führte  von  selbst  zum  Aufwerfen 
der  Prioritätsfrage.  Da  es  hiebei  nur  eine  Wahl  zwischen  zwei  Ansichten 
gab,  stehen  sich  auch  natürlich  noch  beide  Ansichten  unversöhnlich 
gegenüber.  Die  Frage  wird  aber  noch  komplizierter,  wenn  man  ergründen 
will,  und  man  ist  doch  dazu  genötigt,  wie  die  in  allen  Handschriften 
gleichmäßig  verdorbenen  Stellen,  zum  Beispiel  die  bei  Umpfenbach  mit 
einer    crux  versehenen,    zu    erklären    sind.    Soll  sich    an   diesen  Stellen 


^)  Wobei  als  Kriterien  für  die  Scheidung  weder  die  Personenbezeichnung  durch 
griechische  Buchsta'jcn  noch  das  Vorhandensein  von  Bildern,  noch  die  Ordnung  der  Stücke, 
sondern  die  einzelron  ^  bv:eichungen  im  Texte,  vor  allem  die  merkwürdigen  Änderungen  in 
der  Wortfolge  anr.  .Sj'ioj  sind. 

Wiener  ErJir.o».  10 


—   146   — 

Calliopius  keinen  Rat  gewußt  haben,  so  daß  er  sie  in  der  Verderbnis, 
in  der  sie  auch  in  A  erscheinen,  übernahm,  ohne  daß  sich  sein 
angebliches  metrisches  Gefühl  rührte?  Bedenklicher  wird  es,  wenn  man 
sieht,  daß  z.  B.  Haut.  818  durch  Einsetzung  des  im  Lyoner  Fragment 
ausradierten,  aber  noch  lesbaren  nunc  geheilt  wird  (Wien.  Stud.  XXVIII, 
127  fF.),  wo  also  dieses  Wort  schon  vor  A  getilgt  worden  sein  muß, 
sich  aber  in  dieser  einen  Handschrift  erhalten  hat. 

Dadurch  ergibt  sich  von  selbst  die  Frage,  ob  es  denn  nicht 
Gesichtspunkte  allgemeiner  Art  gibt,  die  aus  den  einzelnen  Fällen 
abgeleitet,  zu  einer  klareren  Einsicht  vordringen  lassen,  ohne  daß  man 
hiebei  durch  die  Rücksicht  auf  die  Handschriftenklasse  und  deren 
Beurteilung  gebunden  oder  beinflußt  zu  sein  braucht. 

Auf  einen  dieser  Gesichtspunkte  will  ich  hier  hinweisen  und 
greife  zu  diesem  Zwecke  ein  Beispiel  heraus,  das  mir  hiefür  sehr 
instruktiv  zu  sein  scheint,  es  ist  Phorm.  73:  Cepisti  duram.  GE.  Mihi 
usus  nenit,  hoc  scio. 

Überliefert  ist:  usus  (AC^PDi)  venit  (evenit  AD^,  derselbe  Fehler 
Haut.  556  in  A,  557  in  D;  Eindringen  des  zur  Erklärung  darüber  ge- 
schriebenen cuenit)  und  usu  (C  [noch  m^]  tilgt  s  durch  einen  Punkt, 
FOi)p)  venit  und  schließlich  per  usum  (ELG.  tisü  uenit  der  Codex  in 
Valenciennes  (=  v) ;  per  tisum  ist  als  Glosse  in  CF  über  usu  ge- 
schrieben) venit. 

Hier  spricht  zunächst  alles  für  usus  venit;  denn  A  und  /  und  der  als 
bester  Vertreter  der  (J-Klasse  geltende  Victorianus  geben  usus.  Für 
dieses  haben  sich  auch  bisher  alle  Herausgeber  entschieden,  Hauler 
sagt  im  Krit.  Anh.  z.  d.  Vers:  „Dazu  kommt,  daß  usu^  venit  bei  Terenz 
die  übliche  Wendung  ist  (z.  B.  Vers  505;  vgl.  auch  P.  Langen,  Beitr. 
S.  163)",  nur  W.  Hayley  (Harv.  Stud.  XI,  159)  tritt  für  usu  venit  ein, 
weil  es  siebenmal  in  Ciceros  Reden  und  zum  mindesten  einmal  bei 
Cäsar  vorkommt.  Man  sieht  auf  den  ersten  Blick,  daß  beide  Begründungen 
nicht  ausreichen.  Hayleys  Argument  kann  für  Terenz  nichts  ent- 
scheiden und  Haulers  Begründung  läßt  es  sonderbar  erscheinen,  daß 
gerade  an  dieser  Stelle  der  Sprachgebrauch  des  Terenz  von  einigen 
Abschreibern  verletzt  ^Aairde.  Sachlich  läßt  sich  die  Entscheidung  nicht 
geben  (Bentley:  utrumque  more  dicitur,  sensu  eodem).  Hier  gibt  es  aber 
m.  E.  ein  Moment  der  Entscheidung,  das  bisher  gar  nicht  beachtet 
worden  ist,  nämlich  die  Berücksichtigung  der  Glossen. 2) 


^)  0  ist  der  Dunelmensis,  p  =  Par.  10304,  ein  ausgezeichneter  Vertreter  der  ^-Klasse. 
*)  Ich  habe  schon  zu  wiederholten  Malen  betont,  daß  Schlees  Sammlung  unzureichend 
ist.  Sein  Ansatz  des  commentarius  antiquior  ist  außerdem  zu  spät. 


—    147    — 

Die  Phrase  usus  venu  erscheint  bei  Terenz  noch  Ad.  895,  Phorm.  505, 
Haut.  553,  556  und  557,  usu  venu  an  keiner  anderen  Stelle.  An  allen 
diesen  Stellen  ist  nur  usus  (venu)  ohne  Variante  überliefert.  An  allen 
diesen  Stellen  (mit  Ausnahme  von  Haut.  557,  weil  usus  mit  der  Glosse  im 
vorhergehenden  Vers  steht)  wird  usus  ganz  richtig  durch  opus  (seil,  est) 
glossiert  (so  auch  Donat  zu  Phorm.  505:  opus  fuit  auf  necesse  fuit)^ 
resp.  durch  necessitas  vel  opus  in  Dv  zu  Haut.  553.  Dagegen  lautet  die 
Glosse  nur  an  unserer  Stelle  _p6'r  usum,  w^as  selbstverständlich  nur  dann 
einen  Sinn  hat,  wenn  im  Texte  usu  steht. 

Daraus  folgt  m.  E.  mit  mathematischer  Gewißheit,  daß  an  unserer 
Stelle  nur  usu  venW^)  die  primäre  Lesart  war,  die  einerseits  durch  das 
Einsetzen  des  sonst  bei  Terenz  üblichen  usus  venu  (so  in  AC^PD^) 
beseitigt,  anderseits  durch  die  Glosse  verdrängt  \^airde  (so  in  ELGv), 
durch  einen  Zufall,  der  in  paläographischen  Dingen  bekanntlich  eine 
sehr  große  Rolle  spielt,  in  pOF  erhalten  blieb.  Wäre  es  erst  einem  Ab- 
schreiber eingefallen,  die  Phrase  ustis  venu  bewußt  durch  usu  venu  zu 
ersetzen,  so  wäre  es  doch  höchst  sonderbar,  daß  er  es  nur  hier  getan 
hätte.  Daß  jedoch  die  nur  hier  vorkommende  Phrase  ^isu  venu  die  Ab- 
schreiber reizte,  die  üblichere  einzuführen,  ist  von  vorneherein  klar. 
Das  Verdrängen  des  Textwortes  durch  die  Glosse  ist  aber  eigentlich 
mehr  ein  mechanischer  Prozeß.  Somit  hat  Hayley  Recht,  aber  nicht 
mit  seiner  Begründung;  er  ^^rde  zu  der  richtigen  Ansicht  durch  die 
scharfe  Interpretation  geführt,  und  sieht  man  die  Stelle  genau  an,  so 
paßt  für  sie  usu  venu  (Hayley:  „I  have  found  this  out  hy  experience") 
besser  als  usus  ve7iit  (Hayley:  „There  has  heen  need,  opportunity,  occasion.") 

Daraus  ergibt  sich,  daß  diese  Glossenerklärung,  und  es  ist  dies 
■die  im  sogenannten  commentarius  antiquior  vorliegende,  schon  vor  der 
Niederschrift  des  Bembinus  geübt  wurde,  was  übrigens  für  jeden  klar 
ist,  der  es  einmal  versucht,  einen  großen  Teil  des  Donat-Kommentars  in 
Marginal-  und  Interlinearglossen  aufzulösen,  wie  dies  teilweise  noch  in 
P  in  der  Andria  zu  sehen  ist. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  läßt  sich  nun  an  einer  Anzahl  von 
Stellen  die  Entscheidung  fällen.  Ein  schlagendes  Beispiel  ist  Haut.  846 : 
A:  die  qiddvis  faciani^  rell.:  cedo  quid  uis  faciam;  die  ist  im  commen- 
tarius antiquior  die  stehende  Glosse  für  cedo^  sie  hat  bereits  in  A 
an  dieser  Stelle  das  richtige  cedo  verdrängt.  Oder  Haut.  1066:  A:  satis 
placet,    rell.  perplacet;    satis  placet   glossierte    die    für  Terenz  typische 


*)  Der  Einwand,  daß  die  Glosse  per  usum  erst  durch  die  willkürliche  Änderung  von 
usus  zu  usu  entstand,  ist  nicht  stichhältig,  denn  warum  sollte  dies  nur  an  dieser  einen 
Stelle  geschehen  sein  und  nicht  auch  an  den  anderen  Stellen  in  der  einen  oder  anderen 
Handschrift  ? 

10* 


—   148  — 

Zusammensetzung  perplacet.  Oder  Haut.  321 :  A:  potes^  rell.  potis  est  usw. 
(vgl.  Wien.  Stud.  XXVI,  Die  sogenannten  Neumen  im  Codex  Victorianus, 
S.  222,  Anm.  1,  ebendaXXYIII,  Handschriftliclies  zu Terenz,  S.  134,  Anm. 2). 

Daraus  erwächst  für  uns  die  Pflicht,  die  Überlieferung  des  Terenz 
immer  im  Zusammenhang  mit  der  Glosse  zu  prüfen,  resp.  in  zweifel- 
haften Fällen  die  Frage  stets  zu  stellen,  ob  nicht  eine  Auswechslung 
mit  einem  als  Glosse  anzusehenden  Worte  vorliegen  kann.  Eine  Reihe 
von  Stellen  erfährt  hiedurch  eine  Klärung.  Nur  ein  schlagendes  Beispiel, 
das  eigentlich  schon  längst  damit  seine  Lösung  erfahren  hat,  führe 
ich  hier  an:  Bei  Umpfenbach  finden  wir  Eun.  267  Set  Parmenonem  ante 
ostium  Thaidis  tristem  video  mit  einer  Crux  versehen.  Mit  genialem 
Scharfblick  hat  schon  Muretus  meretricis  für  Thaidis  vorgeschlagen 
und  damit  den  Vers  geheilt.  Thaidis  war  von  den  Erklärern  über 
meretricis  geschrieben  worden  und  hatte  dann  meretricis  verdrängt.  Wer 
aus  einer  der  älteren  Terenz-Handschriften  einmal  die  Glossen  alle 
abgeschrieben  hat  und  gesehen  hat,  wie  mit  rührender  Unermüdlichkeit 
stets  die  Namen  über  die  gleichen  Bezeichnungen  darüber  geschrieben 
werden,  wird  nicht  im  mindesten  daran  zweifeln.  Hier  war  die  Ver- 
drängung schon  so  früh  erfolgt,  daß  sich  in  keiner  Handschrift  eine 
Spur  erhalten  hat.  Derselbe  Fall,  nur  klarer,  liegt  Andr.  685  vor: 
Tuom  Pdmphilum:  modo  tu,  anime  mi,  noli  te  macerare.  So  wird  der 
Vers  seit  Bentley  mit  Umstellung  des  in  den  Handschriften  überlieferten 
tu  modo  geschrieben,  was  dem  Sprachgebrauche  und  Sinne  entschieden 
entspräche.  Wo  steckt  aber  der  Fehler?  Aufschluß  bringt  uns  v,  in 
welchem  pamphilum  mit  amicum  glossiert  ist.  Wer  die  Art  der  alten 
Erklärer  kennt,  wird  mir  ohneweiters  zugeben,  daß  es  undenkbar  ist, 
daß  Pamphilus  durch  amicus  glossiert  wird,  daß  es  jedoch  selbstverständ- 
lich ist,  daß  über  amicum  als  Erklärung  Pamphilum  geschrieben  wird. 
Sobald  wir  aber  amicum  einsetzen,  ist  der  Vers  in  Ordnung,  ohne  daß 
die  Umstellung  von  tu  modo  nötig  wäre. 

Der  den  einzelnen  Beiträgen  dieser  Festschrift  zugemessene  Raum 
verbietet  mir,  auf  diesen  Punkt  weiter  einzugehen,  ich  begnüge  mich, 
auf  diese  mir  wichtig  erscheinende  Frage  hiemit  bloß  hingewiesen  zu  haben. 

Auch  auf  einen  zweiten  Punkt,  der  mir  von  Bedeutung  zu  sein 
scheint,  kann  ich  nur  andeutungsweise  hier  eingehen.  Ich  habe  in 
meinem  Aufsatze :  Die  sogenannten  Neumen  im  Codex  Victorianus  des 
Terenz  (Wien.  Stud.,  XXVI,  S.  222  ff.),  auf  die  Wichtigkeit  der 
sogenannten  Konstruktionshilfen i)  für  die  Textkritik  hingewiesen;. 


^)  Wie  sehr  diese  Zeichen  verkannt  wurden,  zeigt  Tafel  49  in  der  Lateinischen 
Paläographie  von  Dr.  Franz  Steffens,  wo  sogar  dieser  sie  noch  für  Neumen  hält;  erst  in. 
den  Ergänzungen  und  Berichtigungen,  S.  XL,  hat  er  sie  erkannt. 


—    149  — 

damals  standen  mir  nur  die  Zeichen  in  E  zur  Verfügung.  Ein  ein- 
gehendes Studium  der  Terenz-Handschriften  in  dieser  Hinsicht  hat  nun 
ergeben,  daß  sich  solche  Konstruktionshilfen  noch  an  872  Stellen  er- 
halten haben,  und  zwar  in  A  4mal  (durch  Joviales),  in  C  44mal,  in 
P  125mal,  in  E  196mal,  in  F  8mal,  in  D  16mal,  in  G  13mal,  in 
L  11  mal,  in  p  6  mal,  in  dem  1.  Einsidlensis  (rf)  19  mal,  in  dem  2.  Ein- 
sidlensis  {e)   Imal,  in  v   17  mal,  (in  B  2mal?),  in  ^^)  Imal. 

An  derselben  Stelle  haben  diese  Zeichen  2  Handschriften  47 mal, 
3  Handschriften  12 mal,  4  Handschriften  Imal,  5  Handschriften  Imal. 
Schon  diese  Zahlen  und  Übereinstimmungen,  anderseits  der  Zusammen- 
hang mit  der  häufig  wiederkehrenden  Bemerkung  bei  Donat:  Ordo  est: 
worauf  er  dieselbe  Ordnung  gibt,  wie  die  in  den  Handschriften  durch 
Zeichen  hergestellte,  z.  B.  Hec./ö81  (und  E),  zeigen,  daß  uns  nur  mehr 
spärliche  Reste  einer  einst  durchgehenden  2)  Behandlung  des  Textes  in 
dieser  Weise  erhalten  sind.  Ich  behalte  mir  die  ausführliche  Behand- 
lung dieser  Zeichen  vor  und  bemerke  hier  nur,  daß  sie  die  Frage 
der  Unterabteilungen  der  Calliopischen  Rezension,  die  sich,  soweit  der 
Text  in  Frage  kommt,  namentlich  durch  die  verschiedene  Wortstellung 
unterscheiden,  hauptsächlich  zu  einer  paläographischen  Frage  machen. 

^)  Es  ist  dies  das  Pariser  Fragment  cod.  Par.lat.  12244  (über  das  Kaiinka  Wien. 
Stud.  XVI,  S.  78  ff.  gehandelt  hat),  das  zu  dem  in  cod.  Par.  lat.  12322  erhaltenen  Fragmente 
gehört.  Der  handschriftliche  Katalog  der  Nationalbibliothek  weist  zwar  jenes  dem  IX,  dieses 
dem  XI.  Jahrhundert  zu,  sie  sind  aber  Stücke  derselben  Handschrift,  die  im  X.  Jahrhundert 
geschrieben  Avurde.  Über  die  Einsiedler-Handschriften  vgl.  Wien.  Stud.  XXVIII,  S.  115, 
Anm.  1. 

^)  Eine  solche  zeigt  zum  Beispiel  noch  der  codex  Viechtianus  des  Vergil,  der  sich 
derzeit  in  Melk  befindet. 


Zu  Catulls  Passer. 

Von 

AUGUST  ENGELBRECHT. 


Die  wenigen  Zeilen  des  einst  in  Rom  so  populären  Sperlings- 
liedchens,  das  im  catullianischen  Liederbuch  die  Nummer  -2  trägt, 
bereiten  der  Erklärung,  wie  männiglich  bekannt,  manche  Schwierig- 
keiten und  können  heute  weniger  als  je  sich  einer  allgemein  anerkannten 
Deutung  erfreuen.  Die  mehr  geistreiche  als  wahrscheinliche  Auslegung, 
die  Theodor  Birt  im  Marburger  Lektionskatalog  für  das  Sommer- 
semester 1895  dem  Gedichte  zuteil  werden  ließ  und  die  er  im  Jahre  1904 
gelegentlich  einer  neuerlichen  literarischen  Behandlung  i)  in  allem 
wesentlichen  aufrecht  hielt,  scheint  nicht  viele  Anhänger  gefunden 
zu  haben,  ja  der  neueste  Interpret  der  Muse  Catulls,  Gustav  Friedrich  2), 
kümmert  sich  um  Birts  Ausführungen  so  gut  wie  gar  nicht.  Und  doch 
hat  Birt  vollste  Berücksichtigung  auch  von  selten  derjenigen  verdient, 
die  ihm  nicht  Gefolgschaft  leisten  können;  denn  er  hat  zuerst  die 
Schwächen  der  bisherigen  Auffassungen  allseitig  beleuchtet  und  unter 
schonendster  Behandlung  der  Überlieferung  seine  neue  Erklärung  vor- 
getragen, die  bekanntlich  darauf  hinausläuft,  daß  die  Verse  keine 
Apostrophe  an  den  passer  enthalten,  sondern  daß  CatuU  vom  Sperling 
plaudert,  mit  dem  sein  Liebchen  spielt,  indem  es  dabei  die  scherzenden 
Worte  spricht,  die  den  Inhalt  von  V.  9 — 13  bilden.  Birt  zwingt  uns 
also  zu  einer  radikalen  Umdeutung  unserer  bisherigen  Ansicht  vom 
Thema  des  Gedichtchens,  während  Friedrich  im  großen  und  ganzen 
mit  der  landläufigen  Tradition  auszukommen  sucht,  dabei  aber  manche 
Details  unaufgeklärt  läßt  und  einer  zusammenhängenden  Erklärung 
bzw.  Paraphrase,  die  ihm  manche  Aporie  zu  stärkerem  Bewußtsein 
gebracht  hätte,  aus  dem  Wege  geht. 

*)  Philologus  LXIII  (N.  F.  17),  S.  426. 

^)  Catulli  Veronensis  liher  (Sammlung  wissenschaftlicher  Kommentare  zu  griechischen 
und  römischen  Schriftstellern).  Leipzig  und  Berlin  (Teubner)  1908. 


—    151   — 

Da  die  folgenden  Zeilen  das  Verständnis  des  Gedichtes  nicht 
unwesentlich  fördern  zu  können  glauben,  sei  es  gestattet,  zunächst 
darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  der  erste  und  letzte  deutsche 
Kommentator  Catulls  ebenso  wie  Birt,  so  verschieden  sie  auch 
sonst  in  ihren  Auffassungen  sind,  in  gleicher  Weise  ihrer  Ansicht 
Ausdruck  verleihen,  daß  die  stilistische  Form  des  Gedichtes  nicht 
einwandfrei,  teils  wenig  gewandt,  teils  minder  korrekt,  wenn  auch  ver- 
ständlich sei.  So  meint  A.  Riese:  „Der  Satzbau  des  Gedichtes  ist 
wenig  gewandt,  besonders  v.  7  und  8,  aber  richtig  und  verständlich" 
und  Friedrich  schreibt  S.  88:  „V.  1 — 7  ist  nur  eine  lang  ausgesponnene 
Anrede  und  V.  8  schließt  sich  nicht  völlig  korrekt  an.  Das  ist  aber 
eine  leichte  Inkonzinnität,  wie  sie  lebendiger  Rede  eigen  ist."  Auch 
Birt  läßt  sich  das  Geständnis  entschlüpfen,  i)  aus  dem  er  allerdings 
nicht  die  Konsequenzen  zieht:  yjatendum  est  hunc  versiim  8  si  quis  pro 
spurio  delcat,  ?iihil  propemodum  esse  quod  desideremus ;  concinnat  enim 
minus  sententias  quam  disrumpitJ'  Wer  würde  aber -nicht  gern 
gerade  jenes  Gedicht,  das  CatuU  selbst  wohl  für  besonders  gelungen 
hielt,  infolgedessen  an  die  Spitze  seiner  Sammlung  stellte  —  die 
Widmungszeilen  an  Cornelius  Nepos  sind  ja  nur  das  Vorwort  des 
Dichters  —  und  das  dem  ganzen  Liederbuch  seinen  Namen  gab  (vgl. 
z.  B.  Martial  IV.  14,  14),  als  ein  in  seiner  Art  omnibus  numeris  absolutum 
Carmen  genießen?  Ist  nicht  anzunehmen,  daß  dieses  zierliche  Vers- 
getändel auf  dem  Gebiete  subjektiver  Gefühlslyrik  nach  der  Intention 
des  Dichters  für  jeden  Leser  leicht  verständlich  sein  sollte?  Jene 
Erklärung  wird  daher  vor  allen  anderen  den  Vorzug  beanspruchen 
dürfen,  die  in  der  Lage  ist,  von  der  Annahme  jeglicher  stilistischer 
Inkorrektheit  und  Inkonzinnität  abzusehen  und  das  kleine 
Kunstwerk  ohne  jegliche  Einschränkung  als  solches  auf- 
zuzeigen. 

Der  Ausgangspunkt  für  Birts  revolutionäre  Umdeutung  des 
Gedichtes  war  der  Umstand,  daß  die  drei  letzten  Verse,  die  nach  der 
Überlieferung  unserem  Gedichte  eignen,  sich  nicht  so  ohneweiters  mit 
den  vorausgehenden  10  Zeilen  in  inhaltlichen  Zusammenhang  bringen 
lassen,  er  aber  keine  Lücke  annehmen  wollte  und  die  noch  radikaleren 
Auskunftsmittel,  jene  drei  Verse  als  Fragment  eines  verlorenen 
Gedichtes  oder  als  irrtümlich  hieher  geratenen  Schluß  von  14  b,  um 
von  anderen  Hypothesen  zu  schweigen,  anzusehen,  verschmähte.  Nach 
Birt  sind  die  Verse  1 — 10  für  sich  betrachtet  zu  inhaltsarm  und  bilden 
erst  V.  11 — 13  die  eigentliche  Pointe  des  Ganzen;    nach  ihm  bestehen 


*)  Marburger  Lektionskatalog  1895,  pag.  X. 


—   152   — 

auch  diese  13  Verse  aus  einer  einzigen  Satzperiode  einschließlich  einer 
direkten  Kede,  eine  für  ein  lyrisches  Liedchen  bedenkliche  stilistische 
Langatmigkeit.  Doch  sehen  wir  uns  die  ersten  zehn  Verse  an,  ob  sie 
wirklich  für  sich  keinen  abgeschlossenen  und  poetisch  befriedigenden 
Gedanken  geben.  Ich  setze  zuerst  ihren  Text  her: 

Passer,  deliciae  meae  puellae, 
quicum  ludere,  quem  in  sinu  teuere , 
quoi  primum  digitum  dare  adpetenti 
et  acris  solet  incitare  morsus, 
6  cum  desiderio  meo  nltenti 
carum  nescio  quid  lubet  iocari, 
et  solaclolum  sui  dolor is 
(credo,  tum  gravis  acqulescet  ardor) :  , 

tecum  ludere  sicut  ipsa  possem 
10   et  tristis  animi  levare  curas! 

Birt  bestreitet,  daß  V.  9  als  Wunschsatz  aufgefaßt  werden  könne, 
und  es  ist  zuzugeben,  daß  die  Grammatiken  kein  zweites  Beispiel  bieten, 
in  dem  der  Optative  Conjunctiv  Lnperfecti  (oder  Plusquamperfecti)  ohne 
beigefügtes  utinam  sich  fände.  Dementsprechend  lehrt  auch  die  Trivial- 
grammatik, daß  ein  erfüllbarer  Wunsch  im  Lateinischen  durch  den 
Conjunctiv  Praesentis  oder  Perfecti  mit  oder  ohne  utinam,  ein  unerfüllbarer 
Wunsch  aber  durch  den  Conjunctiv  Imperfecti  oder  Plusquamperfecti 
stets  in  Verbindung  mit  utinam  ausgedrückt  werde.  Man  darf  aber 
doch  füglich  sich  wundern,  warum  in  dem  einen  Falle  utinam  entbehr- 
lich, im  anderen  unentbehrlich  sein  sollte,  wo  doch  in  beiden  Fällen 
die  Wunschform  durch  den  Konjunktiv  und  die  Auffassung  des  Wunsches 
durch  die  Verschiedenartigkeit  der  Tempora  bestimmt  wird.  Zum 
mindesten  für  die  Umgangssprache  dürfen  wir  ohne  Bedenken  annehmen, 
daß  dort,  wo  die  optativische  Bedeutung  eines  Conjunctiv  Imperfecti 
oder  Plusquamperfecti  mit  der  nötigen  Deutlichkeit  auch  ohne  utinam 
zutage  trat,  dieses  ebenso  wie  beim  Conjunctiv  Praesentis  (Perfecti) 
fehlen  konnte.  Wer  einen  literarischen  Beleg  hiefür  wünscht,  kann 
ihn  aus  einem  Brief  des  hl.  Hieronymus  erhalten,  demnach  aus  einem 
Dokument,  das,  wenn  auch  erst  dem  4.  christlichen  Jahrhundert  angehörig, 
doch  für  die  Existenz  des  Gebrauches  in  der  Umgangssprache  beweis- 
kräftig ist.  Es  heißt  also  bei  Hieron.  epist.  50,  3  (S.  391,  9  der  bald 
erscheinenden  kritischen  Ausgabe  von  I.  Hilberg) :  si  errare  nie  arhitratus 
est..,  dehuit  vel  arguere  vel  interrogare  per  litteras . .  .  imitatus  saltim 
tuam  fuisset  verecundiam,  qui  ea  loca,  quae  scandalum  quibusdam  faccre 
videbantur,    excerpta   de  volumine  per   ordinem    digessisti  poscens,   ut   vel 


—   153   — 

emendarmn  vel  exponer em,    et  non  tantac  me  putasset  dementiae,   ut  in 
uno  aique  eodem  lihro  et  pro  nuptiis  et  contra  nuptias  scriberem ! 

Wie  demnach  das  Fehlen  von  utinam  bei  Catull  für  uns  kein 
Hindernis  sein  kann,  den  Satz  als  Wunsch  aufzufassen,  sondern  viel- 
mehr zur  Markierung  des  weniger  rigorosen  Plaudertones  dient,  darf 
man  auch  an  einer  anderen  Stelle  nicht  vergessen,  daß  Catull  in 
seinen  nugae  sich  den  sermo  familiaris  erlauben  konnte,  wenn  er  wollte. 
In  V.  7  ist  nämlich  einstimmig  überliefert  et  solaciolum  sui  doloris, 
was  auch  eine  Anzahl  von  Herausgebern  beibehielt,  aber  mit  dem  vor- 
ausgehenden Satz  verbinden  zu  müssen  glaubte.  Infolgedessen  wurden 
dem  Dichter  Verbindungen  wie  ioeari  nesclo  quid  carum  et  solaciolum 
sui  dolor Is  (carum  und  solaciolum  als  Objekte  zu  ioeari)  oder  ioeari  luhet 
et  solaciolum,  sui  doloris  (der  Infinitiv  und  solaciolum  als  Subjekte  zu 
lubet;  so  Friedrich)  zugemutet,  während  die  weniger  Kühnen  et  in 
in  oder  ut  korrigierten:  carum  ioeari  in  (ut)  solaciolum  doloris^)  Daß 
die  richtige  Auffassung  der  Stelle  bisher  verborgen  blieb,  hat  der  zu 
große  Respekt  vor  den  Hegeln  der  Normalgrammatik  verschuldet:  sui 
ist  hier  eben  nicht  das  reflexive  Possessivpronomen  der  dritten  Person, 
sondern  ist  Stellvertreter  von  eius  (seil,  puellae),  wodurch  man  in  die 
Lage  versetzt  wird,  solaciolum  als  Vokativ  zu  fassen  und  auf  diese 
Weise  die  von  so  vielen  vermißte  Konzinnitat  des  Satzbaues  zu  ge- 
winnen, dessen  Hauptgerippe  folgendes  ist: 

passer,  deliciae  meae  puellae 
et  solaciolum  sui  doloris, 
tecum  ludere  sicut  ipsa  passem 
et  tristis  animi  levare  curas ! 

Der  durch  die  dazwischenstehenden,  gewissermaßen  parenthetischen 
Zeilen  zu  noch  größerer  Deutlichkeit  gelangende  Gedanke  dieser 
4  Verse  ist:  „Vöglein,  du  Spielzeug  meines  Mädchens  in  heiteren 
Stunden  und  Tröster  in  ihrem  Schmerz,  könnte  ich  doch  auch  wie  sie 
dich  als  Spielzeug  und  Tröster  haben!" 

Daß  im  Spätlateinischen  suus  für  eius  ganz  gewöhnlich  ist, 
braucht  nicht  durch  Beispiele  erhärtet  werden;  natürlich  stammt  der 
Gebrauch  aus  der  Umgangssprache  und  deshalb  dürfen  wir  uns  nicht 
wundern,  ihn  hier  bei  Catull  zu  finden. 

Aber  nicht  bloß  die  konzinnere  Gestaltung  des  Gedichtes  gewinnen 
wir  durch  unsere  Auffassung,  sondern   auch  das  Deminutiv  solaciolum 


*)    Die    vielen    anderen  Verbesserungsvorschläge    zu   diesen    und  anderen  Stellen   des 
Gedichtes  glaube  ich  unberücksichtigt  lassen  zu  können. 


—   154   — 

kommt  erst  so  zu  seiner  eigentlichen  Geltung.  P.  de  Labriolle,  der 
zuletzt  am  eingehendsten  über  den  Gebrauch  der  Deminutiva  bei  CatuU 
gehandelt  hat^)  und  sie  auf  ihre  Existenzberechtigung  prüft,  weiß  mit 
solaciolum  nichts  Rechtes  anzufangen  und  erwähnt  es  nur  so  nebenbei 
(S.  285).  Ganz  anders  steht  die  Sache,  wenn  wir  nicht  mehr  genötigt 
sind,  das  Wort  als  Abstractum  zu  fassen,  sondern  es  direkt  als 
Concretum  mit  dem  passer  identifizieren  können.  Nicht  des  zierlichen 
Tones  wegen,  wie  Riese  will,  steht  das  Deminutiv,  sondern  diQv  passer 
ist  der  „kleine  Tröster."  2) 

Wir  haben  oben  die  bisher  nicht  besprochenen  Verse  als  paren- 
thetisch bezeichnet;  denn  sie  trennen  die  beiden  Vokative  von  einander 
und  dem  dazugehörigen  Verbum,  indem  die  Verse  2 — 6  den  Begriff 
deliciae  dichterisch  yeranschaulichen  und  V.  8  das  sonst  zu  allgemeine 
solaciolum  doloris  determiniert.  Die  reizende  Schilderung  des  Mädchens, 
das  mit  dem  Vögelchen  heiter  tändelt,  bietet  in  den  Versen  2 — 5  dem 
Verständnis  nicht  die  geringste  Schwierigkeit  und  ein  Maler  könnte 
ihnen  den  Stoff  zu  einem  herzigen  Genrebildchen  entnehmen;  dagegen 
ist  V.  6  noch  nicht  entsprechend  erklärt.  Daß  iocari  hier  per  iocum 
aliquid  dicere  heißt,  hat  Birt  siegreich  erwiesen^)  und  vergebens 
behauptet  Friedrich,  daß  das  Verbum  nicht  bloß  „scherzhaft  reden", 
sondern  „Scherz  treiben",  also  iocose  aliquid  agere  bedeute,  indem  das 
iocari  die  V.  2—4  beschriebenen  Handlungen  zusammenfasse  (was  hieße  aber 
dann  nescio  quid  ?).  Auch  die  weitere  Konstatierung  Birts,  daß  das  Wort 
iocari  dem  humile  dicendi  genus  angehört  habe,  werden  wir  uns  dankbar 
zu  eigen  machen,  da  sie  neben  dem  fehlenden  utinam  und  dem 
unklassischen  Gebrauch  von  suus  einen  weiteren  Beleg  für  den  volks- 
tümlichen Ton  des  Gedichtes  bietet.  Aber  auch  Birt  hat  das  nescio  quid 
unerklärt  gelassen,  und  gerade  hier  liegt  der  Schlüssel  zum  richtigen 
Verständnis.  Das  Mädchen  spricht  scherzend,  ich  weiß  nicht  was^ 
Liebes:  zu  wem  oder  für  wen  spricht  es  und  wem  lieb?  Da  das 
poetische  Gemälde  nur  das  Mädchen  und  das  Vögelchen  berücksichtigt, 
ist  es  offenbar  der  Sperling,  an  den  seine  Herrin  heitere  Kose w orte 
verschwendet  (carum  iocatur),  Koseworte,  Gott  weiß,  welche  (carum 
nescio  quid).  Jetzt  erst  haben  wir  die  Situation  in  ihrer  vollen  Lebens- 
wahrheit:   das  Mädchen,    das  mit  dem  Sperling  spielt,    ihn    auf  ihrem 


*)  Revue  de  Philologie  XXIX  (1905)  S.  279  ff. 

^)  Ob  der  Verfasser  des  Pentameters  einer  afrikanischen  Grabinschrift  (Renier,  Inscr. 
Alg.  2017,  CIL.  Yin.  7472,  Bücheier,  Carm.  epigr.  1288,  3)  est  autem  vitae  dulce 
solaciolum  die  Catullstelle  gekannt  und  für  die  Deminutivbildung  mehr  Verständnis  als 
für  die  Prosodie  {solaciolum!)  gehabt  hat,  weiß  ich  nicht. 

')  Marburger  Lektionskatalog  1895,  p.  \T[I— VIII. 


-rr       155       — 

Körper  hernmhüpfen  läßt  und  die  Fingerspitze  hinhält,  um  ihn  zum 
Biß  zu  reizen,  bleibt  dabei  nicht  stumm,  sondern  gibt  ihm  Kosenamen 
und  plaudert  heiter  mit  dem  befiederten  Zimmergenossen.  Wer  hätte 
ähnliches  nicht  schon  selbst  getan? 

Bei  der  Gestaltung  (nicht  Erklärung)  des  V.  8  bin  ich  in  der 
Lage,  Friedrich  zu  folgen,  der  tum  für  das  überlieferte  ut  cum 
schreibt  und  den  Fehler  als  in  den  Text  eingedrungene  Variante,  die 
die  ursprüngliche  Lesart  verdrängte,  plausibel  erklärt:  ein  über  tum 
geschriebenes  ui(=:uel)  cum  wurde  als  ut  cum  gelesen  und  in  den  Text  ge- 
setzt. Dieses  tum  gibt  jedenfalls  den  passendsten  Sinn,  wenn  der  Yers  eine 
erklärende  Parenthese  zur  vorausgehenden  Zeile  sein  soll:  der  Sperling 
wird  als  kleiner  Tröster  in  ihrem  (des  Mädchens)  Schmerz  apostrophiert 
und  durch  die  Parenthese  dieser  Schmerz  als  durch  die  Liebe  verursacht 
charakterisiert:  „ich  glaube,  dann  wdrd  der  drückende  Liebesdrang 
sich  beruhigen."  Kaum  nötig  zu  sagen,  daß  die  Parenthese  mit  ihrem 
eingeschobenen  credo  zur  sonstigen  zwanglos  sich  gehen  lassenden 
Diktion  des  Gredichtes  trefPlich  paßt. 

Ich  lasse  nunmehr  die  Übersetzung  folgen: 

Spätzlein,  herziges  Spielzeug  meiner  Liebsten, 
Du,  mit  dem  sie  auf  ihrem  Schöße  tändelt, 
Dem  sie,  pickt  es  darnach,  des  Fingers  Spitze 
Neckend  hinhält,  zu  scharfem  Biß  es  reizend. 
Während  meinem  holdschönen  Schatz  es  Spaß  macht, 
Koseworte  zu  rufen,  Grott  weiß,  welche; 
Kleiner  Tröster  du  auch  in  ihren  Schmerzen 
(Leichter  wird  dann  ihr  liebgequältes  Herze): 
Könnt  ich  spielen  mit  dir  doch  wie  sie  selber 
Und  mein  armes  gequältes  Herz  erleichtern! 

Das  ist  der  nicht  allzu  tragisch  zu  nehmende  Stoßseufzer  des 
liebeskranken  Dichters,  der  niemand  hat,  der  mit  ihm  seiner  Liebe 
Lust  und  Leid  teilen  würde  —  „geteilte  Freud'  ist  doppelt'  Freude, 
geteilter  Schmerz  ist  halber  Schmerz"  (Tiedge)  — ,  während  seine 
Geliebte  an  ihrem  Lieblingsvögelchen  in  ihren  heiteren  Stunden  ein 
stets  zur  Verfügung  stehendes  Objekt  ihrer  Freudenbezeugung  und 
in  den  Stunden  ungestillter  Liebessehnsucht  ein  unschuldiges  Beruhigungs- 
mittel ihrer  Leidenschaft  hat.  Nicht  mehr  und  nicht  weniger  besagen 
diese  Verse:  genug,  um  ihnen  die  Berechtigung  ihrer  selbständigen 
Existenz  zu  sichern.  Ob  aber  das  Gedichtchen  ursprünglich  nicht  doch 
länger  war,  wie  die  in  der  Überlieferung  noch  folgenden  3  Verse,  die 


—   156  — 

einen  der  Mythologie  entnommenen  Vergleich  enthalten,  anzudeuten 
scheinen,  wer  möchte  das  sicher  zu  entscheiden  wagen  bei  einem  poeta 
doctus,  der  selbst  der  reizendsten  Gefühlslyrik  einen  gelehrten  Aufputz 
zu  geben  auch  sonst  kein  Bedenken  trug?  Wenn  die  drei  Verse  unserem 
Gedichte  je  angehörten  —  was  ich  übrigens  trotzdem  nicht  für  wahr- 
scheinlich halte  — ,  so  klafft  jetzt  zwischen  ihnen  und  V.  1 — 10  eine 
Gedankenlücke.  Doch  darüber  weiter  zu  sprechen  liegt  außerhalb  des 
Zieles  dieser  Zeilen,  die  nur  zeigen  wollten,  wie  die  Erkenntnis,  daß 
das  Liedchen  durchwegs  den  Ton  der  leichten  und  die  grammatikalischen 
Regeln  des  Hochlatein  verschmähenden  Umgangssprache  festhält,  den 
Schlüssel  zum  richtigen  Verständnis  liefert. 


1 


Catulls  LI.  Gedicht 
und  sein  Sapphisches  Vorbild, 

Von 
ERNST  KALINKA. 


Mit  eignem  Herzblut  hat  Sappho  das  Gedichtchen  geschrieben, 
das  in  glühenden  Farben  das  Bild  ihrer  Leidenschaft  malt  (Lyrici 
Graeci  ed.  Bergh  2) :  wenn  sie  das  geliebte  Mädchen  auch  nur  flüchtig 
sieht,  erstirbt  ihr  der  Laut  auf  der  Zunge;  wie  Feuer  schießt  es  ihr 
durch  die  Adern,  daß  die  Wangen  erglühn,  die  Augen  flimmern,  die 
Ohren  sausen,  der  Schweiß  ihr  auf  die  Stirne  tritt;  ihre  Grlieder 
erschauern  und  Totenblässe  überzieht  dann  ihr  Antlitz;  vgl.  Piaton 
Phaidros  XXXI,  251  AB.  Dieses  Übermaß  von  Liebe  soll  den  Satz 
begründen  to  f^ioi  /aar  /.agSlav  ev  arijS-eaiv  eTcroaaev^  denn  unmittelbar 
auf  ihn  folgen  die  Worte  tog  yäq  eiaidoj  ßQoxscog  cre,  qcbvag  ovdev  et* 
u'A.u  ktL  Was  ist  mit  to  gemeint  ?  Man  hat  geantwortet :  ^)  das  süße 
Geplauder  und  holdselige  Lächeln  der  Geliebten  (ädv  cpwvevoag  .  .  .  ytat 
yelaioaq  IfXEQoev).  Doch  das  wäre  ein  übler  Zusammenhang:  ihr  heitres 
Geplauder  hat  mir  das  Herz  erschüttert  oder  —  gnomisch  verstanden  — 
erschüttert  mir  jedesmal  das  Herz,  weil  schon  ihr  flüchtiger  Anblick 
mich  ganz  außer  Fassung  bringt.  Wenn  wirklich  das  Reden  und 
Lachen,  das  in  der  Tat  nicht  bloß  ungeahnten  Liebreiz  auf  weibliche 
Züge  zu  zaubern  vermag,  sondern  auch  als  verheißungsvolles  Geständnis 
herzlicher  Xeigung  gelten  kann,  dem  bloßen  Anblick  derart  gegenüber- 
gestellt würde,  daß  der  Eindruck  des  einen  mit  dem  des  andern 
erklärt  werden  sollte,  so  müßte  ganz  selbstverständlich  die  Wirkung 
in  jenem  Falle   als  die  weitaus  tiefere  und  mächtigere  gekennzeichnet 

^)  Z.  B.  Jurenka,  Römische  Lyriker,  Kommentar  S.  12;  A.  Wilbrandt,  Sappha 
(Deutsche  Rundschau,  1909,  S.  44): 

„Ja,  dein  Lachen,  das  mir  im  warmen  Busen, 
Hör  ich's  kaum  ertönen,  das  Herz  erschüttert." 


—    158   — 

sein.  Das  nehnien  auch  alle  Vertreter  dieser  Ansicht  an,  aber  es 
stimmt  nicht  zum  Wortlaut ;  mit  viel  mehr  Recht  könnte  man  behaupten, 
daß  ETtvöaGEv  kurz  und  matt  klinge  neben  der  überschwenglichen 
Schilderung  der  Gefühle,  die  der  bloße  Anblick  des  Mädchens  auslöst. 
Es  ist  somit  schlechterdings  unvereinbar  mit  der  Überlieferung,  Sappho 
sagen  zu  lassen:  „Weil  schon  ein  flüchtiger  Blick  auf  die  Geliebte 
mich  außer  Fassung  bringt,  so  bin  ich  vollends  nicht  imstande,  ihr 
fröhliches  Geplauder  zu  ertragen." 

Überblickt  man  die  ganze  vorangehende  Strophe 

(paivETaL  (.lOL  XTJwg  Tdog  d-soiaiv 
ef^iftev  covr^Q  oarig  evavvlog  toi 
KdvEL  ytal  TtXaolov  adv  cpwvev- 

oag  VTcaxovei 
'Aal  yelalaag  ijUEQoev^ 

so  erübrigt  nur  noch  die  Beziehung  von  to  auf  den  ganzen  Relativ- 
satz: die  Tatsache,  daß  jetzt  ein  Mann  ihr  gegenübersitzt  und 
mit  ihr  traulich  spricht  und  scherzt,  das  zerreißt  der  Dichterin  das 
Herz;  sie  will  den  teuern  Besitz  mit  niemandem  teilen.  Eifersucht 
also  ist  es,  die  Sappho  mit  ihrer  Liebe  rechtfertigt;  und  mag  auch 
selbst  ein  Welcker  (Kleine  Schriften,  II,  99*^)  diese  Erklärung 
zurückgewiesen  haben,  sie  ist  die  einzig  mögliche.^)  Da  demnach 
nicht  ein  starker  Eindruck  mit  einem  schwächeren  verglichen  werden 
soll,  hat  man  kein  Recht,  verschiedene  Stärke  des  Ausdrucks  zu 
erwarten;  und  die  Wortwahl  der  feinen  Seelenkennerin  kommt  so  erst 
zu  ihrer  vollen  Geltung:  die  Eifersucht  regt  ihr  das  Herz  auf,  die 
Liebe  dringt  ihr  in  alle  Sinne  und  Glieder. 

Erst  von  dieser  Grundlage  aus  kann  man  an  die  Deutung  der 
Eingangsworte  schreiten.  Welcker,  Kleine  Schriften,  II,  99*^  gibt 
folgende  Erklärung:  ,.Der  Mann,  der  dir  nahe  sitzen  und  ruhig  ver- 
w^ eilend  deinem  süßen  Gespräch  und  Lachen  zuhören  kann,  scheint 
mir  wie  ein  Gott  —  nicht  bloß  glücklich,  wie  Hör.  Od.  I,  1,  PO,  sondern 
auch  eine  stärkere  Natur  als  ich  Weib."  Der  Irrtum  dieses  Großen 
wirkt  noch  im  jüngsten  Kommentar  nach; 2)  und  doch  hatte  schon 
Neue  (Sapphonis  Mytilenaeae  fragmenta,  1827,  S.  29f.)  das  befreiende 

^)  Heller,  Philol.  1856,  XI,  432,  zutreffend:  „potius  i^rj)Mrvmag  affectiones  Sappho 
describat  necesse  est;  quam  enim  oh  rem  aliter  virum  commemoraret  sedentem  ex 
adverso  puellae?" 

'')  Catulli  Veronensis  Über  erklärt  von  G.Friedrich,  1908,  S.  237:  „sie  preist  den 
glücklich  —  er  müsse  ein  Gott  sein  an  Stärke  — ,  der  es  erträgt,  ihrer  Geliebten 
gegenüber  zu  sitzen,  ihren  ganzen  Reiz  auf  sich  wirken  zu  lassen,  ihn  in  sich  zu  trinken ; 
sie  selbst  vermag  das  nicht".     Wo  steht  das? 


—    159   — 

Wort  gesprochen:  „Ät  veteres  poetae  constanter  deos  aeque  ac  mortales 
amoris  potentiae  neganf  pares  esse ;  ncque  in  verbis  quidquam  reperitur, 
quod  ad  toleranüam  pertineat,  7iullum  öuvaiai^  vtcoliIvu^  ir^Tj^  sed 
vocahula  Xooq  d-eolaiv  altiorem  quendam  dignitatis  et  felicitatis  gradum 
ostendunt,  in  quem  ille  csccndisse  vldeatur."  Die  bloße  Andeutung  der 
Kraft ,  die  in  dem  charakterisierenden  Wesen  des  allgemeinen  Pronomens 
oavig  liegenkann (s.Kühner-Gerth,  Grammatikll,  399"f.),  hätte  in  einem 
Falle,  wo  sich  alles  gerade  um  die  Fähigkeit  oder  Unfähigkeit,  die 
Fülle  weiblichen  Liebreizes  zu  genießen,  drehen  würde,  der  Dichterin 
gewiß  nicht  genügt.  Doch  e^  bedarf  dafür,  daß  die  Worte  laog  &eoioiv 
himmlische  Seligkeit  ausdrücken  (Belegstellen  bei  Baehrens),  keines 
weitern  Beweises  mehr,  nachdem  der  Sinn  des  Sätzchens  t6  {uoi  {.läv 
■/MQÖlap  h  Gcr^d-eaiv  htiöaa^v  festgelegt  ist.  Damit  ist  zugleich  der- 
Grundton  des  Liedes  gefunden,  das  wehmütig  ausklingt  in  den  letzten 
erhaltenen  Worten  dlXä  Ttäv  TÖXuacov.  Den  Anstoß  zur  Eifersucht 
gibt  die  Vorstellung  bräutlichen  Glückes,  das  Mädchen  und  Mann  zu 
innigem  Schwätzen  und  Schäkern  zusammenführt;  unleugbar  gewinnt 
das  Gedicht  wesentlich  durch  die  Annahme  eines  tragischen  Konfliktes 
der  Liebesansprüche  der  bisherigen  Freundin  und  des  künftigen  Gatten, 
und  das  Pronomen  oaiig  hindert  keineswegs,  unter  %rivog  eine  bestimmte 
Persönlichkeit  zu  verstehen  (Kühner-Gerth,  II,  400).  Die  Anfangs- 
worte aber  cpalvetal  /not  'Afji'og  l'aog  d-eoiOLv  efifiev  cjvriQ  sind  nur  eine 
Ankündigung  jenes  Hauptmotivs.  In  solchem  Zusammenhang  hat  die 
Stärke  des  Mannes,  die  mit  ruhiger  Zuversicht  die  Pfeile  des  Liebes- 
gottes auf  sich  eindringen  läßt,  keinen  Platz;  ja  eine  Anspielung 
darauf  würde  in  das  zart  abgestimmte  Tongemälde  hineingellen  wie 
eine  schneidende  Dissonanz. 

So  allein  vermag  ich  das  entzückende  Liedchen  zu  verstehen, 
und  so  verstehe  ich  das  Gedicht  CatuUs,  das  ihm  nachgebildet  ist.^) 
Auch  hier  ist  natürlich  mit  par  deo  und  seiner  echt  CatuUischen 
Steigerung  videtur  superare  divos^)  nicht  göttliche  Stärke,  sondern 
göttliche  Seligkeit  gemeint,  wie  es  jeder  unbefangene  Leser  zunächst 
auffassen  wird;  auch  hier  ist  das,  was  den  Dichter  erschüttert  und 
ihm  die  Besinnung  raubt,  nicht  das  süße  Lächeln,  da  dessen  Eindruck 
nicht  damit  begründet  sein  kann,  daß  der  erste  Anblick  einen  viel 
tiefer  aufwühlenden  Eindruck  hervorrief,  sondern  die  Eifersucht  quod 


^)  Vgl.  übrigens  Lucrez  III,  152 ff.  ubi  vementi  magis  est  commota  metu  mens  .... 
videmus  sudoresque  ita  palloremque  existere  toto  corpore  et  infrinyi  linguam  vocemque 
ahoriri  caligare  oculos  sonere  auris  succidere  artus  und  Hei nzes  Kommentar,  der  trotz 
der  weitgehenden  Übereinstimmung  Abhängigkeit  bestreitet. 

2)  Vahlen ,  Berliner  Universitäts-Programm  1896  7,  S.  15  =  Opuscula  academica  II,  229. 


—   160   — 

nie  sedens  adversus  identidem  te  spectat  et  audit  dulce  ridentem,  und 
zwar  wohl  gleichfalls  Eifersucht  auf  einen  einzelnen  bestimmten  Mann, 
weshalb  denn  auch  misero  (Z.  5)  nicht  einfach  „leidenschaftlich  verliebt" 
heißt, ^)  sondern  mit  der  ganzen  Wucht  seiner  Grundbedeutung  dasteht; 
auch  hier  wird  die  Eifersucht  begründet  mit  jener  rasenden  Liebe, 
die  beim  ersten  Anblick  aufloderte,  seine  Zunge  gelähmt,  seine  Sinne 
betäubt  hat;  und  wie  sehr  Catull  verzehrender  Eifersucht  unterworfen 
war,  zeigen  Gedichte  wie  72  und  85. 

Die  Hauptfrage  aber,  die  dieses  Gedicht  stellt,  knüpft  sich  an  die 
von  Catull  hinzugefügte  Schlußstrophe: 

Otium  Catulle  tibi  molestum  est, 
Otio  exsultas  nimiumque  gestis, 
Otium  et  reges  prius  et  heatas 
Perdidit  urbcs. 

Nach  dem  leidenschaftlichen  Gefühlsausbruch,  der  den  Schein  der 
Originalität  durch  die  namentliche  Ansprache  der  Lesbia  vortäuscht, 
klingt  sie  mit  ihrer  frostigen  Rhetorik,  die  nicht  bloß  in  der  aufdring- 
lichen Anaphora,  sondern  auch  in  der  Klimax  '^)  zur  Geltung  kommt, 
und  mit  der  schulmäßigen  Belehrung  aus  der  Geschichte  der  Könige 
und  Städte  entsetzlich  nüchtern.  Man  hat  es  längst  gefühlt,  daß  hier 
eine  unüberbrückbare  Lücke  klafft;  in  der  Tat  wäre  es  eine  psycho- 
logische Ungeheuerlichkeit,  wenn  derselbe  Mann,  der  eben  noch  in  heißer 
Liebesbrunst  die  einzig  Eine  anschmachtete,  nun  plötzlich,  um  sich  zur 
Selbstbesinnung  zu  mahnen,  gerade  solche  Worte  an  sich  richtete,  die 
den  Schwung  und  die  Innigkeit  der  vorausgehenden  Lügen  straften.  ^) 


^)  So  Baehrens  und  Friedrich. 

")  molestum  =  ennuijant,  du  langweilst  dich ;  exsultas  nimiumque  c/estis  =  die  Muße 
macht  dich  übermütig  und  begehrlich;  sie  ist  auch  im  Großen  eine  verheerende  Gewalt. 

^)  Goldbacher,  Wiener  Studien  XXIX,  1907,  112:  „sonderbar  nimmt  es  sich  denn 
doch  aus,  daß  der  Dichter  in  einem  und  demselben  Gedichte,  in  dem  er  seine  Geliebte  in 
so  zarter  Weise  seiner  Liebe  versichert,  derselben  zugleich  erklärt,  das,  was  ihn  in  diesen 
Seelenzustand  gebracht  habe,  sei  nichts  anderes  als  Mangel  an  ernster  Arbeit,  nichts  anderes 
als  Müßiggang".  Das  Mißverhältnis  wird  nicht  gebessert  durch  die  haltlose  Annahme  Neues 
(Sapphonis  Mytilenaeae  fragmenta  1827,  S.  35  f.)  und  Lachmanns  (Epistola  ad  C.  Fran- 
kium  1839  ^  Kleinere  Schriften  II,  79),  daß  Catull  den  Grundgedanken  der  Strophe  von  der 
Sappho  herübergenommen  habe,  oder  durch  Drachmanns  Einfall  (Catulls  Dichtung  beleuchtet 
im  Verhältnis  zu  der  früheren  griechischen  und  römischen  Literatur  1887),  daß  vorher  ein 
krankhafter  Zustand  geschildert  sei,  für  den  der  sich  beobachtende  Dichter  schließlich  den 
Grund  angebe  (s.  Magnus  im  Jahresbericht  über  die  Portschritte  der  Altertumswissenschaft 
LXXXXVII,  1898,  203).  Unempfindlich  gegen  den  schrofTen  Zusammenstoß  der  zwei  unver- 
einbaren Stimmungen  waren  nur  wenige,  wie  Westphal,  Catulls  Gedichte,  1867,  48f.^ 
Baehrens  II,  259  f.,  \g\.  EUis,  A  commentary  on  CaiuUus,  175. 


—   161   — 

Damit,  daß  man  einen  spöttischen  Ton  hinzudenkt,  ist  der  Anstoß 
nicht  beseitigt.  Es  fehlt  in  der  antiken  Literatur  und  insbesondere 
bei  Catull  nicht  an  Stellen,  wo  der  Dichter  zu  sich  spricht i);  aber 
die  alten  Dichter  wußten  es  sehr  lebenswahr  darzustellen,  wie  man 
sich  selbst  aus  dem  Luftreich  der  Schwärmerei  auf  den  rauhen  Boden 
der  Wirklichkeit  zurückruft  ^) ;  nichts  ist  dazu  weniger  geeignet  als 
rhetorische  Phrase  und  hohles  Pathos.  Verschiedene  Versuche  sind  an- 
gestellt worden,  um  jenen  unerträglichen  Widerspruch  zu  lösen.  Man 
hat  vermutet,  daß  die  Schlußstrophe  interpoliert,  daß  davor  ein  Über- 
gang ausgefallen,  daß  sie  der  karge  Rest  eines  andern  Gedichtes  sei.  ^) 
Die  letzten  Jahre  haben  drei  neuartige  Vorschläge  gebracht. 
Goldbacher  (Wiener  Studien  XXIX,  1907,  llOflP.)  hat  scharf  betont, 
daß  die  ersten  drei  Strophen  Catulls,  die  nur  eine  Übersetzung  des  Gedichtes 
der  Sappho  sind,  gar  nicht  seine  eigenen  Gefühle  wiedergeben  und  daß  er 
mit  der  vierten  das  Ganze  als  dichterische  Spielerei  kennzeichne.  Dem- 
gemäß setzt  er  für  otium  die  Bedeutung  otium  litteratum ,  otium  studi- 
osum  fest,  „die  Beschäftigung  mit  der  Poesie,  die  Hingebung  an  den 
poetischen  Flug",  und  gibt  S.  114 f.  die  Erklärung:  „Otium  Catulle  tibi 
molestum  est^  d.  h.  wohin  verlierst  du  dich,  CatuUus?  Die  molestiae,  von 
denen  du  sprichst,  sind  ja  nicht  deine  molestiae,  sie  sind  vielmehr  ein 
Ausfluß  deines  otium  ^  deiner  Beschäftigung  mit  dem  Gedichte  der 
Sappho  und  der  darin  schaffenden  dichterischen  Phantasie,  otio  exsuUas 
nimiumque  gestis:  dichterische  Phantasie  ist  es,  die  dieses  Übermaß 
(nimium)  von  Liebesdrang  und  Leidenschaft  in  dir  erzeugt;  otium  reges 
prius  et  heatas  perdidit  urbes :  hat  doch  dichterische  Phantasie  Könige 
und  Städte,  die  vormals  glücklich  waren,  im  Liebeswahn  sich  auf- 
reiben lassen  ...  Er  spielt  auf  die  Homerische  Dichtung  an,  welche 
aus  dem  Raube  der  Helena  durch  Paris  den  trojanischen  Krieg  ent- 
brennen ließ."  Dieser  Ausweg  ist  nicht  gangbar.  Nicht  einmal  das 
griechische  oxo^,  geschweige  otium  ist  in  der  übertragenen  Bedeutung, 
die  Goldbacher  zugrunde  legt,  so  geläufig,  daß  die  römischen  Leser 
hier  auf  sie  verfallen  Avären.  Ich  kenne  überhaupt  nur  eine  Stelle,  wo 
das  nackte  otium  ähnlich  gebraucht  wird:  Ovids  Trist.  II,  223 f. 
lusibus  ut  possis  advertere  numen  ineptis 
excutiasque  oculis  otia  nostra  tuis, 
und  hier  ist  es  der  Zusammenhang,  der  die  Bedeutung  unzweifelhaft 
an  die  Hand  gibt.  Überdies  läßt  sich  die  von  Goldbacher  geforderte 

^)  S.  z.  B.  Ellis,  Ä  commentary  on  CatuUus,  p.  XXIXf. 

2)  Vgl.  Theokrit  XI,  72,  c5  KvxXcor/j  KvxXmp  na  zag  cpgevag  ixnenöiaaai,  Vergil  Ed. 
II,  69,  a  Corydon  Corydon  quae  te  dementia  cepit. 

3)  Umfassender  Überblick  über  diese  Vermutungen  in  der  Ausgabe  von  Ellis. 
Wiener  Eranos.  H 


—   162   — 

Bedeutung  nur  mit  Gewalt  in  jener  Strophe  durchsetzen,  besonders 
in  den  zwei  Schlußversen ,  und  was  ist  das  für  ein  Zusammenhang: 
„die  soeben  dargestellte  Liebesqual  ist  nur  dichterische  Spielerei,  auf 
deren  Rechnung  auch  der  angebliche  Liebesdrang  zu  setzen  ist,  und 
dichterische  Phantasie  hat  schon  Könige  und  Städte  zugrunde  gerichtet 
oder  untergehen  lassen;"  soll  derartige  Bösartigkeit  der  dichterischen 
Phantasie  etwa  begründen,  daß  sie  auch  unechte  Liebessehnsucht  zu 
suggerieren  vermag?  Goldbacher  hat  das  Rätsel  nicht  gelöst;  aber 
mit  Recht  hat  auch  er  mehrmals  hervorgehoben,  daß  die  letzte  Strophe 
selbständig  den  vorangehenden  gegenübertritt. 

Der  Wahrheit  sehr  nahe  gekommen  istBirt  (Philol.  LXIII,  1904, 
446),  der  die  letzte  Strophe  dem  alter  ego  CatuUs,  seinem  Genius,  in 
den  Mund  legt,  dessen  Eingreifen  er  auch  in  andern  Gedichten  ver- 
mutet. Aber  Birt  ist  auf  halbem  Wege  stehen  geblieben;  denn  im 
Grunde  ist  der  Genius  nur  die  ins  Göttliche  erhobene  Persönlichkeit 
selbst,  ihr  daL(.i6vLov ^  und  für  den  Eindruck  des  Gedichtes  macht  es 
daher  keinen  wesentlichen  Unterschied,  ob  diese  Worte  dem  Catull 
selbst  oder  seinem  Genius  zugewiesen  sind. 

Der  jüngste  Erklärer  Catulls,  G.  Friedrich,  verlegt  das  rätsel- 
hafte „Postskriptum"  in  eine  spätere  Lebenszeit  Catulls:  „der  Stand- 
ort, von  dem  die  Leidenschaft  zu  Clodia  angesehen  wird,  ist  ein  völlig 
anderer:  es  kann  unmöglich  von  Anfang  an  dazu  gehört  haben.  Unsere 
Strophe  hat  in  dem  lihellus,  der  dem  Cornelius  gewidmet  war,  aber  der 
Clodia  allein  galt,  gefehlt  und  ist  in  merkwürdiger  Selbsterkenntnis 
erst  hinzugefügt  worden,  als  das  Verhältnis  eine  schlimme  Wendung 
nahm."  Das  Heilmittel  ist  nicht  viel  weniger  gewaltsam  als  die  längst 
abgetane  Interpolationstheorie. 

Nein!  Birt  hat  recht,  daß  die  Worte  nicht  dem  Dichter  selbst 
in  den  Mund  zu  legen  sind,  sondern  jemand  anderem,  aber  dieser 
Andere  ist  nicht  sein  besseres  Ich,  sein  Genius,  sondern  —  Lesbia. 
Mit  feiner  Schmeichelei,  wie  sie  nur  gegenüber  einer  literarisch  ge- 
bildeten Dame  angebracht  war,  besingt  der  Dichter  seine  Göttin  im 
Tone  der  lesbischen  Dichterin  und  wählt  vielleicht  mit  Rücksicht  dar- 
auf den  Namen  Lesbia.  i)  Er  bekennt  ijir,  wie  tief  der  Gedanke,  daß 
ein  andrer  mit  ihr  scherze  und  kose,  ihn  erregt,  weil  er  vor  Liebe 
seiner  nicht  mehr  mächtig  sei.  Nicht  bloß  ein  Liebesbekenntnis  ist 
das ,  sondern  zugleich  eine  Liebeswerbung ;  aber  spröde  weist  sie  ihn 
zunächst  mit  überlegen  kühlem  Spotte  ab:   „Du  suchst  meine  Liebe  nur 


^)  So  auch  AVestphal,  Catiüls  Gedichte,  49:  Baehrens  stellte  II,  27  die  ansprechende 
Vermutung  auf,  daß  Clodia  für  Sapphos  Gedichte  schwärmte. 


—   163   — 

zum  Zeitvertreib,  weil  die  Muße  dir  schon  lästig  geworden  ist  und 
weil  dich  der  Haber  sticht;  dazu  bin  ich  mir  zu  gut  (nimium  gestis). 
Solcher  Müßiggang  hat  sogar  mächtige  Könige  und  Städte  zugrunde 
gerichtet.  Fang  lieber  was  Gescheites  an ;"  vgl.  Ovid  Remedia  amo7^s 
139  Otia  si  tollas ,  periere  Cupidinis  armes  und  143  f.  Tani  Venus  otia 
amat,  qui  finem  quaeris  amoris ,  (cedit  anior  rebus)  res  age ,  tutus  eris, 
weitere  Parallelstellen  in  den  Kommentaren  von  Baehrens  und  Fried- 
rich. Von  Königen  1)  scheint  mir  hier  in  erster  Linie  Sardanapal  in 
Betracht  zu  kommen,  der  gerade  damals  durch  das  Werk  des  Tima- 
genes  (s.  Justin  I,  3)  den  literarisch  angeregten  Kreisen  der  griechisch- 
römischen  Welt  näher  gerückt  worden  war. 

Ich  fürchte  nicht,  daß  jemand  den  pedantischen  Einwurf  erheben 
könnte,  es  müßten  die  Namen  Catulls  und  Lesbias  vor  Rede  und  Ge- 
genrede stehen;  denn  es  genügte  ein  größerer  Zwischenraum  vor  der 
letzten  Strophe,  um  das  Verhältnis  klar  zu  machen.  Aber  meine  Auf- 
fassung des  Gedichtes  tritt  in  Gegensatz  zu  der  Behauptung  Fried- 
richs (65),  daß  die  Initiative  in  diesem  Liebesverhältnis  auf  Lesbia 
zurückgehe;  doch  er  nimmt  seine  Beweise  nur  aus  Gedichten,  die  auf 
Erneuerung  der  Beziehungen  gehen.  Jetzt  sehen  wir  es  klar,  sie  hat 
sich  ihm  nicht  an  den  Hals  geworfen,  sondern  ließ  sich  erst  in  wieder- 
holtem Ansturm  erobern ;  2)  aus  der  ersten  Abfertigung  klang  es  ja 
allerdings  wie  eine  Aufforderung  durch,  die  Echtheit  der  Liebe  erst 
zu  erweisen,  und  das  konnte  dem  jungen  Feuergeist  nicht  schwer  fallen. 

Gerne  möchte  man  wohl  wissen,  wie  Lesbias  erste  Entgegnung 
tatsächlich  gelautet  hat;  doch  wer  könnte  sich  unterfangen,  der  Dich- 
tung schimmernden  Schleier  so  weit  zu  heben.  Gleichwohl  darf  an  der 
Wirklichkeit  der  Situation,  die  den  Dichter  inspiriert  hat,  nicht  ge- 
zweifelt werden,  wie  ja  selbst  Tibulls  Gedichten  gegenüber  jetzt  die 
ängstliche  Zurückhaltung,  die  bis  vor  kurzem  Mode  war  und  in  jeder 
Einzelheit  ein  griechisches  Vorbild  witterte,  einer  gesunden  Ausdeutung 
zu  weichen  beginnt. 


^)  Vgl.  Eilis,  A  commentary  on  Catullus,  178. 

^)  Baehrens  II,  27,  zu  optimistisch;  ^feminam  quoque  in  initio  certe  probam 
honestamque  videmus  per  aliquod  tetnpus  officii  erga  maritum  memorem(?)  restitisse 
precibus  cupidi  amatoris." 


11* 


Zu  Properz. 

Von 
KARL  PRINZ. 


In  meiner  Anzeige  von  Rothsteins  erklärender  Properz- Ausgabe 
(Zeitschr.  f.  d.  österr.  Gymn.  1899,  S.  308 — 316)  war  ich  bemüht,  ihren 
Yorzügen  gerecht  zu  werden,  ohne  jedoch  zu  verschweigen,  daß  des 
Gelehrten  Erklärung  oft  dem  Dichter  eine  auffallende  Gespreiztheit 
und  Geschraubtheit  der  Sprache  und  Gedanken  zumute.  Diese 
Behauptung  suchte  ich  durch  eine  kurze  Besprechung  mehrerer  Stellen 
zu  erhärten.  Im  nachstehenden  sei  es  mir  gestattet,  drei  Stellen  heraus- 
zuheben und  zum  Teil  dort  bereits  kurz  Angedeutetes  hier  des  weiteren 
auszuführen  oder  zu  berichtigen.  Das  Ziel,  das  ich  mir  setzte,  ist  ein 
sehr  bescheidenes:  handelt  es  sich  mir  doch  in  allen  drei  Fällen  bloß 
darum,    älteren   Erklärungen   wieder   zu   ihrem   Rechte    zu   verhelfen. 

I,  8,  4. 

Es  ist  eine  alte  Streitfrage,  wie  es  scheint,  ob  man  in  diesem 
Yerse  quolihet  mit  vento  zu  verbinden  oder  es  davon  zu  trennen  und 
als  Adverbium  zu  ire  zu  ziehen  habe.  Denn  schon  Passeratius  hatte 
geschwankt  und  sich  dann  doch  für  die  letztere  Auffassung  entschieden. 
Burmann  widersprach  und  erklärte,  die  Verbindung  mit  vento  ent- 
spreche viel  besser  dem  Sinne;  ihm  schloß  sich  unter  den  neueren 
Erklärern  Herzberg  an.  Rothstein  dagegen  ist  wieder  zur  Anschauung, 
des  Passeratius  zurückgekehrt  und  bemerkt  in  seinem  Kommentare: 
„vento  ire  gehört  zusammen  (vgl.  sequere  Italiam  ventisYirg.  Aen.  IV,  381) 
und  quolihet  ist  Adverbium."  Es  dürfte  also  vielleicht  doch  nicht  ganz, 
überflüssig  sein,  noch  einmal  zu  prüfen,  welche  von  beiden  Auffassungen 
die  richtige  ist. 

Zunächst  soll  nicht  bestritten  werden,  daß  die  Verbindung  vento- 
(ohne  Attribut)  ire  in  aliquem  locum  sprachlich  möglich  ist;  freilich  zu 


* 


—   165   — 

der  von  Rothstein  angeführten  Vergilstelle  bemerkte  schon  Servius: 
„sane  multi  Italiam  distinguunt,  ut  sequatur:  Ventis  pete  regna  per  undas," 
wozu  sie  vielleicht  durch  die  Erinnerung  an  eine  andere  Stelle  ver- 
leitet wurden,  wo  sich  diese  Verbindung  findet:  Aen.  II,  25  vento  pe- 
frtsse  Mycenas  (ebenso  Aen.  II,  180  und  Ov.  met.  XV,  643),  so  daß  ihre 
Ansicht  auch  unter  den  jüngsten  Vergil-Erklärern  Anhänger  gefunden 
hat.  Aber  wenn  man  sagen  kann:  nam  modo  Threicio  Borea,  modo 
ciirrimiis  Euro  (Ov.  ars  am.  II,  431)  oder  vento  accedere  oras  (Verg.  Aen.  I, 
307;  schon  bei  Enn.  Ann.  387  V.  cum  procul  aspiciunt  hostes  accedere 
ventis  navibus  velivolis)  oder  ventis  in  patriam  properare  (Cic.  epist.  XII, 
25,  3),  so  ist  gewiß  gegen  vento  ire  (in  aliquem  locum)  nichts  einzuwenden. 
Naturgemäß  wird  freilich  in  solchen  Wendungen  häufiger  ein  Attribut 
zu  ventus  hinzugefügt;  man  vergleiche  beispielsweise:  secundissimo 
vento  cursum  tenere  (Cic.  nat.  deor.  III,  83;  Plane.  94),  suo  vento  navigare 
(Ov.  rem.  14),  suo  vento  ire  (Ov.  trist.  III,  5,  4),  dubiis  ventis  venire 
(Claudian.  XXII,  255),  (venire)  vento  molesto  (Cic.  Att.  V,  12,  1),  (venire) 
saevo  vento,  non  adverso  (Cic.  ibid.),  flatu  secundo  ire  (Ov.  met.  XIV,  226), 
mediis  aquilonibus  ire  (Verg.  Aen.  IV,  310).  Man  sieht,  der  Sprach- 
gebrauch allein  kann  an  unserer  Stelle  nicht  entscheiden,  welche  von 
beiden  Erklärungen  vorzuziehen  ist;  zum  Ziele  kann  uns  vielmehr 
bloß  die  Erwägung  führen,  welche  wohl  dem  Sinne  mehr  entspricht. 
Der  Dichter  hatte  gefragt:  „Bist  du  also  wirklich  wahnsinnig? 
Die  Sorge  um  mich  hält  dich  gar  nicht?"  Er  fährt  fort:  ,.Ziehst  du 
mir  selbst  das  kalte  Illyrien  vor  oder  gilt  dir  jener  Mann,  wer  immer 
er  ist,  bereits  so  viel,  daß  du  ohne  mich  (d.  h.  wenn  du  mich  nur  los 
bist)  mit  dem  Winde,  gleichviel  wohin,  gehen  willst?"  Das  wäre  der 
Sinn  der  Stelle,  wenn  wir  quoUbet  als  Adverbium  fassen.  Aber  ich 
denke,  so  würde  der  im  letzten  Vers  ausgesprochene  Gedanke  bloß 
den  des  zweiten  wiederholen  und  überdies  nach  der  bestimmten  Angabe 
des  Reiseziels,  des  unwirtlichen  Illyriens,  das  unbestimmte  quolibet 
keine  Steigerung  des  Effekts,  eher  eine  Abschwächung  bringen.  Auch 
nimmt  sich  das  unbestimmte  vento  in  diesem  Zusammenhange  doch 
etwas  sonderbar  aus.  An  einen  vorschwebenden  Gegensatz  zu  remis 
ist  nicht  zu  denken,  vielmehr  könnte  der  Sinn  meines  Erachtens  bloß 
sein:  „gleichviel,  wohin  dich  der  Wind  trägt";  aber  das  stimmte 
dann  wieder  nicht  zu  Vers  2,  der  uns  ein  bestimmtes  Reiseziel  angibt. 
Wie  aber  steht  es,  wenn  wir  vento  quolibet  verbinden?  Nun  ergibt  sich 
sichtlich  eine  Steigerung:  V„Nach  dem  unwirtlichen  Illyrien  willst  du 
fort?  So  wenig  gelte  ich  dir?  Und  jener  Nebenbuhler  steht  bei  dir 
schon  in  solcher  Gunst,  daß  du  bereit  bist,  wenn  nur  von  mir  befreit, 
bei  jeglichem  Winde,    ob   günstig   oder  widrig,  die  Reise  zu  machen?" 


—    166   — 

Ich  gestehe,  daß  mir  die  Gedanken  so  dem  Ethos  der  Stelle  viel 
angemessener  zu  laufen  scheinen.  An  welchen  Wind  bei  vento  quolihet 
gedacht  ist,  ergibt  sich  aus  diesen  Versen  von  selbst  und  lehrt  noch 
deutlicher  der  unmittelbar  folgende:  „Du  bringst  es  über  dich,  tapfer 
das  Brausen  des  wütenden  Meeres  (vesani  ponti)  zu  hören?  Du  vermagst 
auf  hartem  Verdeck  zu  liegen?"  und  etwas  später  Vers  13:  tales 
suhsidere  ventos,  das  heißt  „hosßatos  hibernos",  wie  Lachmann  richtig 
erklärte.  Mit  den  Versen  5 — 8  scheint  mir  trefflich  die  Liebesleiden- 
schaft des  Weibes  zu  dem  neuen  Galan  charakterisiert  zu  werden,  sie 
sei  echt  oder  affektiert:  „Das  schwache,  verwöhnte  Geschöpfchen  ist 
jetzt  auf  einmal  abgehärtet  genug,  um  auf  den  Dielen  des  Verdecks 
zu  liegen  und  der  Seekrankheit  zu  trotzen!  Ist's  möglich?"  Wem  fiele 
hier  nicht  die  ausgezeichnete  Schilderung  jener  liebestollen  verwöhnten 
Römerin  ein,  die  wir  bei  Juvenal  VI,  88  ff.  lesen: 

„Sed  quamquam  in  magnis   opibus  plumaque  paterna 
et  segmentatis  donnisset  parvula  cimis, 
contempsit  pelagus ;  famani  contempserat  olim, 
ciiius  apud  molles  minima  est  iactura  cathedras. 
Tyrrhenos  igitur  fluctus  lateque  sonantem 
pertulit  lonium  constanti  pectore,  quamvis 
mutandum  totiens  esset  mare.    iusta  pericli 
si  ratio  est  et  honesta,  timent  pavidoque  gelantur 
pectore  nee  tremuUs  possunt  insisfere  plantis : 
fortem  animum  praestant  rebus  quas  turpiter  audent. 
si  iubeat  coniunx,  durum  est  conscendere  navem, 
tunc  sentina  gravis,  tunc  sunimus  vertitur  aer : 
quae  moechum  sequitur,  stomacho  valet.  illa  maritum 
convomit,  haec  inter  natitas  et  prandet  et  errat 
per  puppern  et  duros  gaudet  tractare  rudeyitis." 

Welche  Jahreszeit  Properz  für  diese  Fahrt  voraussetzt,  ergibt  sich 
klar  aus  den  folgenden  Versen,  in  welchen  vom  Schnee  die  Rede  ist,  der 
Illyrien  bedeckt,  und  von  den  tempora  hibernae  hrtimae;  es  ist  also 
W^interszeit,  zum  mindesten  steht  der  Winter  vor  der  Tür.  Wenn  sich 
hieran  gleich  der  Wunsch  anschließt,  es  möge  die  Winterszeit  doppelt 
lange  dauern,  so  ist  das  nur  verständlich,  wenn  man  annimmt,  der 
Dichter  könne  sich  doch  nicht  denken,  daß  sich  Cynthia  wirklich  in 
dieser  Jahreszeit  zu  einer  solchen  Reise  entschließen  werde ;  offenbar 
denkt  er:  Zeit  gewonnen,  alles  gewonnen.  So  scheint  sich  mir  alles 
wohl  zusammenzuschließen,  wenn  wir  uns  zu  der  Auffassung  Bur- 
manns bekennen.    Ich  möchte  sie  aber  auch  noch   durch  den  Hinweis 


—   167   — 

darauf  stützen,  daß  aucli  zwei  andere  Dichter  in  ähnlicher  Situation 
den  gleichen  Gedanken  betonen:  „mir  zu  entfliehen,  scheust  du  selbst 
das  stürmische  Wetter  nicht?"  Ich  meine  die  Stelle  in  der  Äneide 
(IV,  307  fF.),  wo  Dido  klagt: 

„Nee  te  noster  amor  nee  te  data  dextera  quondam 
nee  moHtura  tenet  erudeli  funere  Dido? 
quin  etiam  hiberno  moliris  sidere  elassem 
et  mediis  proper as  aquilonibus  ire  per  altum, 
crudelis?  quid,  si  non  arva  aliena  domosqiie 
ignotas  peteres  et  Troia  antiqua  maneret, 
Troia  per  umlosum  peteretur  classibiis  aeqiior?. 
mene  fiigis?" 

und  Ovid,  epist.  YII.  39  fF.,  wo  er  Dido  gleichfalls  sagen  läßt: 

„.  .  .  mare^  quäle  indes  agitari  nunc  quoque  ventis: 
quo  tarnen  adversis  fluctibus  ire  paras. 

quo  fugis?   obstat  hiempsf   hiemis  mihi  gratia  prosit, 
aspice,  ut  eversas  concitet  eurus  aquas. 

quod  tibi  malueram,  sine  me  debere  procellis : 
iustior  est  animo  ventus  et  unda  tuo." 

Man  beachte,  wie  auch  hier  die  Verlassene  vom  Aufschub  der 
Fahrt  infolge  der  stürmischen  Winterszeit  für  sich  selbst  eine  günstige 
Wendung  erhofft;  noch  deutlicher  wird  dies  etwas  später  (Vers  51)  mit 
den  Worten  ausgesprochen:  tu  quoque  cum  ventis  utinam  mutabilis  esses ! 

IV,  3,  51  ff. 

Arethusa  bedauert  es,  daß  die  Römermädchen  nicht  in  den  Krieg 
mitziehen  dürfen ;  sie  würde  sonst  gern  ihren  Gatten  auf  seinen  Kriegs- 
zügen begleiten;  es  folgen  die  Verse: 

46        Essern  miUtiae  sarcina  fida  tuae, 

nee  me  tardarent  Scythiae  iuga,  cum  pater  alias 

astricto  ^)  in  glaciem  fiigore  7iectit  aquas. 
omnis  amor  magnus,  sed  aperto  in  coniuge  maior: 
50        hanc  venus,  ut  vivat,  Ventilat  ipsa  facem. 

nam  mihi  quo?  Foenis  tibi  purpura  fulgeat  ostris 

crystallusque  meas  ornet  aquosa  manus. 
omnia  surda  tacent,  rarisque  adsueta  kalendis 
vix  aperit  clausos  una  puella  lares, 


^)  Africus  oder  Affricus  die  Handschriften. 


—   168   -• 

55    GJaucidos  et  catulae  vox  est  mihi  grata  querentis: 
illa  tili  partem  vindicat  una  toro. 

Hier  haben  den  Erklärern  besonders  Vers  51  und  52  Schwierig- 
keiten gemacht.  Liit Johann  wunderte  sich  in  seinen  Commentationes 
Propertianae  (Kiel  1869),  was  für  ein  sonderbarer  Beweis  doch  damit 
für  den  vorausgehenden  Gedanken:  omnis  amor  magnus  etc.  erbracht 
werde.  Er  sagt  (S.  37):  ,,htmis  aiitem  sententiae  quäle  tandeni  testimonium 
proferunt  vv.  51  sq.,  quippe  qiii  '^nani  particula  incipiant?  si  prohamus^ 
ut  decet,  Neapoliiani  in  v.  52  scriptnram  ^meas"  (cfr.  Jacohus  ad  h.  v.) 
„cur  mihi,^  itiquit  Arethusa  „ornamenta  induam?  non  mea  causa,  sed  ut 
tibi  placeam  oimare  me  soleo".  haec  tarnen  eniintiatio  ut  praecedentis 
distichi  normam  conßrmet,  tantum  ahest,  ut  non  possit  no7i  causam  olim 
attuUsse,  cur  Arethusa  absente  marito  se  sordidis  vestibus  indutam  quasi 
maerere  questa  sit.  eius  igitur  generis  aliquot  versus  ante  v.  51  deperditi 
sunt,  nisi  ^nam*  particula  sano  sensu  prorsus  carere  existimanda  est."'^) 
Seiner  Anschauung  schloß  sich  Baehrens  in  seiner  Textausgabe  an, 
indem  er  nach  Vers  50  eine  Lücke  statuierte.  Andere  Herausgeber 
aber,  wie  Müller,  Haupt-Vahlen,  Rothstein,  Schulze,  verhalten 
sich  dagegen  ablehnend.  Wie  wird  nun  von  ihnen  nam  mihi  quo?  erklärt? 

Rothstein  sagt  (Ausg.  II,  S.  211),  das  begründende  nam  knüpfe 
nicht  an  die  unmittelbar  vorhergehende  allgemeine  Bemerkung  an, 
sondern  an  den  Wunsch,  mit  im  Felde  zu  sein;  das  wäre  trotz  aller 
Mühe  und  Gefahren  angenehmer  als  das  einsame  Leben  im  Hause, 
das  eine  rechtmäßig  verheiratete  Frau  in  der  Abwesenheit  ihres 
Mannes  führen  müsse.  Die  Worte  mihi  quo"^  faßt  er  als  einen  ver- 
kürzten Fragesatz  auf,  bei  dem  ein  Verbum  der  Bewegung  zu  ergänzen 
sei,  etwa  fuger e  licet,  „wohin  soll  ich,  was  soll  ich  mit  mir  anfangen?"; 
das  sei  anders  gemeint,  aber  sprachlich  nicht  verschieden  von  Fällen 
wie  quo  tu  matutinus,  ait,  speculator  amicae  (II,  29  b,  31).  Ferner  faßt 
Roth  stein  die  folgenden  Konjunktive  fulgeat  und  ornet  konzessiv  und 
verbindet  damit  als  Nachsatz  omnia  surda  tacent  etc.  „Vom  Standpunkte 
der  sehnsüchtig  wartenden  Gattin,"  erklärt  er,  „erscheinen  diese  Vor- 
bereitungen wie  ein  Mittel,  das  den  Mann  heranziehen  soll,  das  aber 
seine  Wirkung  verfehlt"  und  „Alle  diese  Vorkehrungen  werden  für 
den  heimkehrenden  Gatten  getroffen  (tibi  fulgeat),  aber  vergebens;  alles 
bleibt  still  wie  zuvor." 

So  richtig  nun  Rothstein  erkannt  hat.  daß  das  begründende  nam 
über    die   unmittelbar    vorhergehende    allgemeine    Sentenz    hinweg    an 


^)  Auf  Lütjohanns  anderweitige  Vorschläge  von  Yersumstellungen  hier  einzugehen, 
verleimt  sich  nicht. 


—   169   — 

Arethusas  Wunsch,  ihrem  Manne  doch  ins  Feld  folgen  zu  können, 
angeknüpft  werden  muß  —  wodurch  sich  die  Bedenken  Lütjohanns 
«riedigen  — ,  so  unrichtig  ist  alles  andere,  was  er  zur  Erklärung  der 
Stelle  vorgebracht  hat.  Ganz  entschieden  muß  man  vor  allem  die 
Erklärung  von  nam  mihi  'quo?  ablehnen.  Arethusa  hat  gar  keinen 
Anlaß  zu  einer  Frage :  quo  mihi  fugere  licet  ?  Sie  kann  ruhig  in  ihrem 
Hause  die  Eückkehr  ihres  Gatten  abwarten,  nichts  nötigt  sie,  an  ein 
fugere  zu  denken.  Daß  vollends  diese  Wendung  soviel  bedeuten  könne 
me:  „was  soll  ich  mit  mir  anfangen?"  ist  eine  durch  nichts  bewiesene 
Behauptung.  Aber  auch  der  zweite  Teil  seiner  Interpretation  ist  durchaus 
nicht  einwandfrei.  Wenn  man  bedenkt,  daß  Lycotas  viele  tausend 
Meilen  weit  von  Rom  entfernt  vor  Baktra  weilt,  so  muten  uns  die 
Worte  seiner  Frau:  „Ich  mag  mich  für  dich  schmücken,  wde  ich  will, 
es  bleibt  alles  still,  du  kommst  nicht",  doch  recht  sonderbar  an.  Auch 
darf  nicht  übersehen  werden,  daß  die  Worte  omnia  siirda  tacent  ja  doch 
noch  eine  Fortsetzung  haben:  rarisque  adsueta  kalendis  vix  aperit  claiisos 
una  puella  lares,  Glaucidos  et  catulae  vox  est  mihi  cara  querentis:  illa 
tut  partem  vindicat  una  toro.  Kann  das  alles  auch  noch  Nachsatz  sein 
zu  einem  konzessiven  Vordersatz:  „Mag  ich  mich  auch  für  dich 
schmücken?''  Mit  einer  solchen  Interpretation  würden  wir  dem  Dichter 
eine  große  Geschmacklosigkeit  zumuten,  wozu  uns  nichts  berechtigt, 
aber  auch  nichts  zwingt. 

Betrachten  wir  die  Yerse  53 — 56  für  sich!  Mehrere  Einzelzüge 
ergänzen  hier  das  schon  früher  begonnene  Gemälde  des  einsamen 
Lebens  der  armen,  verlassenen,  nach  ihrem  Gatten  sich  sehnenden  Frau 
in  der  glücklichsten  Weise.  Sahen  wir  früher  Arethusa  an  den  Winter- 
abenden Wolle  spinnen,  Länderkunde  studieren,  umgeben  bloß  von 
ihrer  Schwester  und  der  alten  Amme,  so  hören  wir  jetzt,  wie  still  es 
in  dem  Hause  ist,  wie  selbst  die  bescheidensten  häuslichen  Freuden, 
die  der  Larenkult  sonst  an  den  Kaienden,  Nonen  und  Iden  mit  sich 
brachte,  sich  nun  auf  ein  Minimum  beschränken  —  einmal  im  Monat 
öffnet  eine  einzige  Sklavin  den  Larenschrein!  Das  ist  alles!  —  wie 
Arethusa  selbst  das  Winseln  ihres  Hündleins  Glaucis  schon  als  Trost 
in  dieser  Öde  empfindet;  sie  schließt:  „die  Glaucis  ist's  allein,  die 
einen  Teil  des  für  dich  bestimmten  Platzes  im  Ehebett  in  Anspruch 
nimmt."  Sehr  bezeichnend  für  die  in  der  ganzen  Elegie  herrschende 
Stimmung  klingt  auch  hier  wieder  der  gleiche  Ton  an,  der  schon 
früher  (Vers  11)  mit  haecne  maHta  fides  et  pactae  in  gaudia^)  noctes? 
und  am  vollsten  in  den  Versen  29 — 32  angeschlagen  worden  war: 


*)  Diese  Besserung  Rothsteins   (im  Anschluß  an  Haupt    und  L.  Müller)  scheint 
ipir  richtig;  et  parce  avia  noctes  hat  der  Neapolitanus. 


—    170  — 

Ät  mihi  cum  noctes  induxit  vesper  amaraSj 

si  qua  relicta  iacent,  osculor  arma  tua. 
tum  queror  in  toto  non  sidere  pallia  lecto, 

lucis   et   auctorcs   non   dare   Carmen   aves. 

Aus  jedem  Worte  atmet  es:  „Dich,  dich  verlange  ich!  Ohne 
dich  keine  Ruhe  und  Rast,  ohne  dich  keine  Freude!"  Wie  kann 
sich  in  diesen  Zusammenhang  die  vorhergehende  Erwähnung  der 
Pracht  von  Purpurkleidern  und  des  Gefunkeis  von  Edelgestein 
an  der  Hand  logisch  allein  einreihen?  Doch  nur  so:  „jetzt 
leuchtet  kein  Purpurkleid  an  meinem  Leibe,  funkelt  kein  Stein  an 
meiner  Hand."  Warum?  Klarlich  doch  nur,  weil  aller  Schmuck  für 
Arethusa  wertlos  ist,  wenn  er,  für  den  allein  sie  sich  schmückt,  ferne 
weilt.  Und  dieser  Sinn  läßt  sich  unschwer  den  Versen  abgewinnen ;  man 
hat  dies  längst  erkannt  und  der  alten  Erklärung  soll  hier  wieder  zu 
ihrem  Recht  verholfen  werden. 

Was  Arethusa  Vers  52 — 56  schildert,  das  ruhige  Leben  zu  Hause 
während  der  Abwesenheit  ihres  Gatten,  wird  als  wertlos,  als  bar  aller 
Freuden  hingestellt  mit  den  Worten:  7iam  mihi  quo?  „Denn  was  hab^ 
ich  davon?",  ti  töv  jaoi  r^S^^^'^  wie  es  bei  Homer  (S  80)  heißt.  Eben 
hatte  sie  sich  im  Geiste  wie  Hippolyte  in  Kriegskleidung,  den  drückenden 
Helm  auf  dem  zarten  Haupte,  alle  Beschwerden  des  Krieges  im  eisigen 
Skythien  an  ihres  Mannes  Seite  ertragen  gesehen  (Vers  43—48) ;  o,  vde 
leicht  würde  ihr  dies!  Wie  wenig  mirde  sie  die  Purpurkleider,  den 
Edelstein  an  ihrer  Hand,  das  ruhige,  stille  Leben  zu  Hause  vermissen, 
wenn  sie  ihn.  den  Ersehnten,  nur  T\ieder  hätte!  Hat  dies  ja  doch  alles 
keinen  Wert  für  sie,  wenn  er  ihr  fehlt.  Das  ist  der  Gedankengang. 
Beabsichtigt  war  also  etwa :  7iam  quo  mihi  fulgere  ptirpura,  ornare  m^nus 
crystalJo,  cum  tu^  unicus  mei  cultus  auctor^  ahsis?  Diese  Bedeutung  von 
quo  mihi  ?  ist  gesichert  durch  Beispiele  i)  wie  Ov.  ars  am.  I,  303  quo  tibi, 
PasiphaCy  pretiosas  sumere  vestes?  amor.  III,  8,  47  quo  tibi  turritis  incin- 
gere  moenibus  urhes?  quo  tibi  discordes  addere  in  arma  tnanus?  Pont.  I, 
5,  67  quo  mihi  diversum  fama  contendere  in  orbem?  Hör.  sat.  I^  6,  24  quo 
tib%  Tilliy  sumere  depositum  clavum  fierique  trihuno?  Ov.  amor.  III,  4,  41 
q^uo  tibi  formo7isam,  si  non  7iisi  casta  placebat?  11,  19.  7  quo  mihi  for- 
tunam,  quae  nunqu am  /allere  curetf  (Hör.  epist.  I,  5,  12  der  gleiche  Vers- 
anfang) III,  7,  49  quo  mihi  fortunae  tantum?  quo  regna  sine  usu?  Selbst 
in  Prosa:  Cic.  epist.  VII,  23.  2  Martis  vero  signum  quo  mihi,  pacis 
auctori?   Freilich    erscheint   hier   überall   dabei    entweder    ein    Infinitiv 


')   Sie     sind    größtenteils    gesammelt   von   Krüger,    Gr.  d.  L.  Spr.  §  662  c    (darnach 
Eliwald  zu  Ovid  met.  XIII,  103) ;  die  übrigen  gibt  Heinsius  zu  Ovid  ars  am.  I,  308. 


—   171    — 

oder  ein  Akkusativ;  an  unserer  Stelle  fehlt  eine  solche  Ergänzung. 
Wir  müssen  also  eine  Ausnahme  konstatieren,  doch  erklärt  sie  sich 
durch  den  Gegensatz  mihi  —  Vibi,  Indem  sich  Arethusa  der  Gedanke: 
„schmücke  ich  mich  ja  doch  für  dich  allein"  aufdrängte,  wurde  der 
mit  nam  mihi  quo  begonnene'  Satz  nicht  zu  Ende  geführt,  sondern  ihm 
der  neue  Gedanke  in  scharfer  Antithese  entgegengestellt:  tibi  purpiira 
fidgeat  et  crystallus  manus  meas  ornetf 

Diese  Erklärung,  die  ich  im  einzelnen  näher  zu  begründen 
suchte,  ist,  wie  erwähnt,  nicht  neu,  sondern  schon  in  älteren  Ausgaben 
versucht  worden.  Sie  läßt  sich  auch  noch  durch  den  Hinweis  auf  zwei 
Parallelen  stützen,  die  mir  zu  beweisen  scheinen,  daß  der  nach  unserer 
Erklärung  in  den  Versen  51 — 52  enthaltene  Gedanke  mit  Vorliebe 
Frauen  in  den  Mund  gelegt  wurde,  die  von  ihrem  Geliebten  oder 
ihrem  Manne  getrennt  sind  oder  werden.  Die  eine  finde  ich  in  dem 
Sappho-Briefe  —  ob  er  Ovid  zum  Verfasser  hat  oder  nicht,  kann  für 
uns  hier  gleichgültig  sein  — ;  dort  schreibt  die  verlassene  Dichterin 
(Vers  73 ff.)  an  ihren  Geliebten: 

„Ecce,  iacent  collo  sparsi  sine  lege  capilli^ 

nee  premit  artieulos  lucida  gamma  meos. 

veste  tegor  vili^  nullum  est  in  crinihiis  aurum^ 
non  Arabum  noster  rore  capillns  ölet. 

Olli  colar  infelix,  aut  cui  placuisse  laboremf 
nie  mei  cultiis  unicus  auctor  abest.'' 

Da  haben  wir  dieselbe  Stimmung  wie  in  unseren  Properz-Versen 
und  sehen,  me  der  Dichter  die  gleichen  Mittel  verwendet,  um  sie  zum 
Ausdrucke  zu  bringen.  Ferner  möchte  ich  auf  Stat.  Theb.  IV,  200  ff. 
hinweisen;  dort  spricht  Argia  zu  ihrem  Gatten,  der  in  den  Krieg  zieht, 
indem  sie  ihm  ihren  Schmuck,  das  berühmte  Halsband  der  Harmonia, 
einhändigt,  Worte,  die  ihr  das  gleiche  Empfinden  treuer,  inniger  Liebe 
zum  Manne  eingibt;  die  Stelle  lautet: 

lila  libens  ....  ipsa  sacros  gremio  Polynicis  amati 
exuerat  ciiltus  haut  maesta  atque  insuper  addit: 
„non  haec  apta  mihi  nitidis  ornatibtis"  inquity 
„tempora,  nee  miserae  placeant  insignia  formae 
te  sine:  sat  dubiiim  coetu  solante  timorem 
/allere  et  incultos  aris  adverrere  crines. 
scilicet  (infandumf),  cum  tu  claudare  minanti 
casside  ferratusque  sones^  ego  divitis  auriim 
Harmoniae  dotale  geramf" 


—    172  — 
IV,  5,  47  ff. 

Die  Kupplerin  Acanthis  stellt  als  Grundsatz  in  ihrem  Hetären- 
katechismus  auf: 

Janitor  ad  dantes  vigilet:  si  pulset  inanis, 
Surdiis  in  ohductam  somniet  usque  seram. 

Der  zweite  Vers  ist  verschieden  erklärt  worden ;  selbst  Änderungen 
wurden  versucht,  doch  ist  die  handschriftliche  Überlieferung  jetzt  auch 
durch  eine  Wandinschrift  in  Pompeji  (CIL  lY,  1894)  gesichert.  Ich 
bespreche  den  jüngsten  Erklärungsversuch  Rothsteins  (Ausgabe  II, 
S.  239)  zunächst.  Nach  ihm  bedeutet  der  Vers,  der  Türhüter  solle, 
wenn  ein  Armer  klopfe,  so  tun,  als  ob  er  so  fest  schlafe,  daß  er  das 
IQopfen  nicht  höre.  Die  Folge  dieses  Verhaltens  werde  durch  in  ohduc- 
tam seram  bezeichnet.  Und  zwar  gebe  in  mit  dem  Akkusativ  den  Zweck 
oder  die  Wirkung  der  Handlungen,  etwa  so,  wie  man  dormiat  in  meam 
calamitatem  sagen  könne;  nur  werde  der  abstrakte  Begriff  hier  durch 
ein  Substantiv  mit  einem  Partizip  vertreten.  Rothstein  führt  zur 
Stütze  seiner  Erklärung  folgende  Stellen  an:  1)  Prop.  III,  9,  56 
Äntonique  graues  in  sua  fata  manus  \  2)  III,  22,  38  curvatas  in  sua  fata 
trabes;  3)  IV,  5,  71  eanis  in  nostros  nimis  experreda  dolores;  4)  IV,  6,  13 
Caesaris  in  nomen  ducuntur  carmina;  5)  Hör.  od.  II,  3,  27  nos  in  aeternum 
exilium  impositura  cymhae;  6)  Ov.  am.  I,  13,  46  commisit  noctes  in  sua 
Vota  duas;  7)  met.  VII,  738  in  mea  pugno  vulnera;  8)  fast.  III,  482  in 
lacrimas  cognite,  Bacche^  meas;  9)  Liv.  XXVI,  16,  11  multitudo  civium 
dissipata  in  nullam  spem  reditus. 

Prüft  man  jedoch  die  angeführten  Stellen  und  versucht,  die 
gleiche  Erklärung,  die  sie  zulassen,  auch  auf  unsere  Stelle  anzuwenden, 
so  ergibt  sich,  daß  dies  unmöglich  ist.  Man  kann  die  Beispiele  in  zwei 
Gruppen  teilen; ^j  zur  ersten  gehören  1,  4,  6,  7,  deren  Sinn  ist:  Die 
Grausamkeit  der  Hände  des  Antonius  (1)  hat  seinen  eigenen  Tod  zum 
Ziel,  wie  das  Singen  des  Liedes  (4)  Cäsars  Ruhm,  die  Vereinigung 
zweier  Nächte,  die  Jupiter  vornimmt  (6),  die  Erfüllung  seiner  Wünsche; 
so  strebt  auch  Cephalus  (7)  mit  seinem  Kampfe  nach  seinem  eigenen 
Leide.  Zur  zweiten  Gruppe  gehören  die  Beispiele  2,  3,  8,  9;  ihr  Sinn 
ist:  Das  Biegen  der  Bäume,  das  Sinis  beliebt  (2),  sollte  seinen  eigenen 
Tod  zur  Folge  haben,  wie  das  Wachen  des  Hundes  (3)  die  Schmerzen 
des  Dichters,  die  Bekanntschaft  mit  Bacchus  (8)  die  Tränen,  die  Zer- 
streuung der  Bürger  Capuas  (9)  den  Verlust  jeder  Hoffnung  auf  Rückkehr. 
Demnach  könnte  somniare  in  ohductam  seram  nur  bedeuten,  das  Träumen 
des  Türhüters  habe  zur  Folge,  daß  der  Riegel  vorgeschoben  wird  (oder 


^)  Beispiel  5  möchte  ich  lieber  nicht  hieher  ziehen. 


—   173   — 

bezwecke,  daß  er  es  werde) ;  ich  denke,  das  Widersinnige  einer  solchen  Er- 
klärung liegt  auf  der  Hand,  selbst  wenn  man  Rothsteins  Ausflucht,  der 
abstrakte  BegriiF  sei  hier  durch  ein  Substantiv  mit  einem  Partizipium 
vertreten,  gelten  lassen  wollte.  Wir  müssen  eben  annehmen,  daß  die 
Tür  auch  geschlossen  ist,  wenn  ein  Reicher  kommt;  nur  daß  dann  der 
Türhüter  wachen,  das  heißt,  auf  sein  Klopfen  hin  den  Riegel  zurück- 
schieben und  den  Besucher  einlassen  soll;  kommt  aber  ein  armer 
Teufel,  dann  soll  er  ruhig  weiter  schlafen  und  den  Riegel  hübsch  vor- 
geschoben lassen.  Letzteres  kann  also  nicht  erst  als  eine  Folge  oder 
als  Zweck  seines  Schlafens  hingestellt  werden.  Anders  liegt  die  Sache 
in  dem  von  Rothstein  vergleichsweise  beigesetzten  Beispiele:  ianitor 
dormit  in  meam  calamitafem;  hier  ist  die  Folge  seines  Schlafens  wirklich 
mein  Unglück. 

Demnach  wird  man  diese  neueste  Erklärung  aufgeben  und  sich 
nach  einer  anderen  umsehen  müssen.  A^on  den  schon  vorgebrachten 
verdient  meines  Erachtens  nur  eine  einzige  wirklich  Beachtung;  es  ist 
die  Joh.  Fr.  Grronovs,  der  (Diatr.  Stat.  cap.  51,  p.  336)  die  Stelle  so 
verstanden  hatte:  „somniet  inclinatus  in  seram^  iaceat  acclinis  serae 
ohductae  ceu  somniet.^'  Ich  hoffe  diese  Erklärung,  für  die  sich  u.  a.  auch 
Hertzberg  (Ausg.  II,  453)  ausgesprochen  hat,  durch  einige  Parallelen 
stützen  zu  können. 

WieCelsus  (med.  YII,  27,  p.  314,  21  D.)  sagt  (aeger)  collocari  dehet . . . 
in  ventrcm^  so  an  anderer  Stelle  (YII,  26,  5,  p.  313,  37  D.)  cubare  in 
ventrem  iucundius  est  (ebenso  Y,  26,  10)  oder  II,  3,  p.  32,  25  D.  si 
(aeger)  in  latus  aut  dextrum  aut  sinistrum,  ut  ipsi  visum  est,  cubat;  daß 
auch  der  Poesie  diese  Ausdrucksweise  nicht  fremd  ist,  lehrt  z.  B.  Juv. 
III,  280  cubat  in  fadem,  mox  deinde  supimis  (Nachahmung  von  Hom. 
IL  XXIY  9  ällov  STtl  TcXevQccq  '/MiaKel/Ltevog,  älloze  ö  avte  VTtnog^ 
älXoxe  de  TtQrjvrig)  oder  Ov.  ars  am.  III,  788  (femina)  iacct  in  dextrum 
semisupina  latus.  Nur  gering  wäre  die  Abweichung  von  diesem  Sprach- 
gebrauch, wenn  nach  Analogie  von  cubare  in  dextram  aurem  gesagt 
würde:  dormire  in  dextram  aurem;  und  daß  dies  wohl  möglich  war, 
beweist  Terent.  Haut.  342  ademptum  tibi  tarn  faxo  omnem  metum,  in 
aurem  utramvis  otiose  ut  dormias  und  Plin.  epist.  lY,  29,  1  nihil  est,  quod 
in  dextram  aurem  fiducia  mei  dormias.  Wir  wissen,  daß  man  so  sprich- 
wörtlich von  Sorglosen  zu  sagen  pflegte,  und  zwar  in  Nachbildung 
eines  griechischen  Sprichwortes  icrt  ducpÖTeQa  (nämlich  xä  wta)  '/.ad^evöeiv 
(Corp.paroem.  Gr.  I,  p.  409,  nr.  78;  II, p.  415,  nr.  72a;  erhalten  in  einem 
Menander-Yers,  Com.  Gr.  fr.  coli.  Meineke  lY,  189  v.  1);  wie  gebräuchlich 
die  Wendung  gewesen  sein  muß,  können  wir  aus  Plaut.  Pseud.  122  ff. 
ersehen,    wo  die  scherzhafte  Umbildung   gewagt   wird:    de   istac   re   in 


—    174   — 

octilum  utrumvis  conquiescito,  worauf  die  Frage  folgt:  utriim?  anne  in 
atirem?  und  die  Erwiderung:  at  hoc  pervolgatumst  minus.  Diese  Stellen 
scheinen  mir  zu  beweisen,  daß  ianitor  dorm'it  in  seram  obductam  eine 
dem  Römer  ganz  leicht  verständliche,  gar  nicht  auffällige  Ausdrucks- 
weise gewesen  wäre;  die  Situation  ist  klar:  der  Türhüter  sitzt  hinter 
der  verschlossenen  Tür,  wahrscheinlich  auf  einem  Schemel,  den  Rücken 
ihr  zugewandt;  der  Schlaf  hat  ihn  übermannt,  das  Haupt  ist  nach 
rückwärts  auf  den  vorgeschobenen  Türbalken  gesunken  und  so  schläft 
er  ruhig  fort  und  träumt,  trotz  des  Pochens  draußen.  Das  einzig  Auf- 
fallende unserer  Stelle  ist  also,  daß  Properz  statt  dormire  sonmiare 
gesagt  hat;  und  wenn  sich  dafür  auch,  wie  es  scheint,  kein  zweiter 
Beleg  beibringen  läßt,  so  denke  ich  doch,  daß  die  Wendung  keine  so 
gewagte  war,  daß  der  Dichter  ein  Mißverständnis  seitens  seiner  Leser 
hätte  befürchten  müssen. 


Horatiana. 

Von 
HUGO  JURENKA. 


A.  Zur  Kritik.  Carm.  I,  23,  4 ff.  nam  seu  mohilihus  veris  in- 
horruit  \  adventus  foliis  .  .  .  ,denii  seis,  daß  in  beweglichen  Blättern 
erschauerte  des  Frühlings  Nahn  .  .  .'  Es  mag  genug  Leute  geben, 
die  solch  blühenden  Unsinn  auch  einem  lateinischen  Dichter  zutrauen 
möchten. 1)  Mit  vollem  Rechte  hat  ihn  schon  Bentley  zurückgewiesen, 
denn  man  kann  zwar  sagen  arhoi^  inhorrescit  foliis  oder  folia  arboris 
inhorrescunt ,  nimmer  aber  ver  und  schon  gar  nicht  adventus  veris  in- 
horrescit foliis.  Bentleys  Konjektur  .  .  .  vepris  inhorruit  \  ad  ventum 
foliis  wurde  allgemein  gepriesen  und  von  den  meisten  Horazkritikern 
in  den  Text  gesetzt.  Indes  erscheint  die  Nominativform  vepris  durch 
die  Appendix  Probi  p.  198,  16  K.  ,vepres  non  vepris^  schwerlich  zur 
Genüge  beglaubigt.  Vielleicht  läßt  sich  aber  die  Heilung  durch  einen 
einzigen  Schnitt,  durch  Tilgung  eines  einzigen  Buchstabens  herbeiführen: 

nam  seu  mohilihus  veris  inhorruit 
adventu  foliis ^  seu  virides  ruhum 
dimovere  lacertae  .... 

Ein  Vorwitziger,  der  nicht  gleich  daraufkam,  daß  das  Subjekt  von 
inhorruit  aus  dem  folgenden  ruhum  zu  ergänzen  ist,  schwärzte  ein 
neues  ein,  indem  er  zu  adventu  ein  s  hinzufügte.  Freilich  kann  ich 
meine  Konjektur  nicht  entgültig  aufstellen;  es  fehlt  mir  das,  was  das 
Wirksamste  ist  ad  persuadendum,  die  Belegstellen  für  eine  solche  aTvö 
zotroO-Ergänzung.  Ich  muß  sie  schuldig  bleiben  und  mich  vorläufig 
mit    einem    deutschen    Beispiel    begnügen:    Bedenk,    auf   ungetreuen 


')  Noch  neuestens  verteidigt  von  .T.  W,  Beck,  Horazstudien  pag.  22. 


—    176   — 

Wellen,  |  wie  leicM  kann  sie  der  Sturm  zerschellen,  |  schwimmt 
deiner  Flotte  zweifelnd  Glück. i) 

B.  Zur  Erklärung.  A.  Kornitzer  hat  in  der  Z.  f.  ö.  G.  1906, 
876 ff.  und  1907,  865 ff.  A.  Kießlings  neuartige  Erklärung  von 
carm.  III,  5,  27  neque  amissos  colores  lana  refert  medicata  fuco  an- 
gefochten und  die  bisher  übliche  mit  aller  Entschiedenheit  ver- 
teidigt. Jedermann  muß  ihm  recht  geben.  Es  steht  aber  dieser 
Fall  nicht  vereinzelt  da!  im  ganzen  Buche  herrscht  das  Streben  vor, 
einfach -natürliche  und  erbgesessene  Erklärungen  aus  dem  Sattel  zu 
heben  und  an  ihre  Stelle  überraschende  Neudeutungen  zu  setzen. 
Leider  hat  Richard  Heinze  auch  in  der  6.  Auflage  des  Buches  nicht 
die  Zeit  gefunden,  den  Kommentar  in  dieser  Hinsicht  einer  gründlichen 
Revision  zu  unterziehen.  Um  daher  den  Leser  vor  Irrwegen  zu  be- 
wahren, will  ich  noch  einige  Fingerzeige  geben,  mit  ganz  kurzer 
Begründung  und  nur  aus  dem  ersten  Buche  der  Oden,  um  den  mir 
gewährten  Raum  nicht  zu  überschreiten. 

2,  17  ff.  Iliae  dum  se  nimium  querenti  \  iactat  ultorem.  Nimium 
soll  nicht  zu  querenti  gehören,  sondern  als  Attribut  zu  ultorem.  Vgl.  aber 
33,  1  ne  doleas  plus  nimio  und  auch  das  deutsche  Volkslied  (Universal- 
Liederbuch,  Reutlingen,  Enßlin  und  Laiblin,  S.  293):  ...Mädchen, 
warum  weinest  du,  weine  nicht  zu  sehr.  Die  Stellen  lehren,  daß  in 
nimium  kein  Tadel  zu  liegen  braucht.  —  3,  9  Uli  robur  et  aes  triplex  [ 
circa  pectus  erat.  Nicht  an  Schild  und  Harnisch  müße  hier  gedacht 
werden,  sondern  an  das  homerische  öidijQELOv  '^voq  als  Bezeichnung  der 
Unempiindlichkeit.  Man  mag  sich  einreden  lassen,  daß  zur  Bezeichnung 
der  Härte  an  Stelle  von  Eisen  (oder  Stahl:  Bind.  fr.  100,  oder  Stein: 
Tib.  I,  1,  63)  auch  Erz  und  Holz  treten  könne  und  daß  circa 
pectus  nicht  ,um  die  Brust',  sondern  ,in  der  Brust'  bedeute:  daß  bei 
tri-plex  an  etwas  anderes  zu  denken  sei  als  an  die  od/.Eog  TtTv^eg. 
wird  kein  Mensch  glauben.  —  4,  5.  iam  Cytherea  choros  ducit  Venus 
inminente  luna.  Möglicherweise  richtig  ist  die  Erklärung,  daß  Cytherea 
kein  bloßes  Beiwort  ist,  da  die  Verbindung  des  Namens  mit  einem 
geographischen  Attribut  nicht  häufig  oder  überhaupt  prosaisch  sei 
(s.  aber  z.  B.  w  1  '^EQ/ufig  .  .  .  KvXlrjviog),  sondern  uns  nach  der  Kult- 
stätte versetzt.  Die  beste  Parallele  hiefür  ist  Verg.  Aen.  III,  162  non 
haec  tibi  litora  siiasit  Delius  (III,  73  ff.)  aut  Cretae  iussit  considere 
Apollo.    Für  notwendig  erachte   ich    sie  nicht.     Sicherlich  abzulehnen 


^)  Ein  lateinisches  Beispiel,  das  ich  jedoch  gleichfalls  nur  vorläufig  geltend  machen 
will,  stellt  mir  A.  K  a  p  p  e  1  m  a  c  h  e  r  zur  Verfügung :  Tac.  ann.  II  55  sed  tan  ta  mansuetudine 
agehat,  ut,  cum  orta  tempestas  raperet  in  ahrupta  (sc.  inimicum)  possetgue  interitus 
inimici    ad    casum   referri,  miserit  triremes,  quariim  suhsidio  discrimini  eximeretur. 


—    177   — 

ist  aber  die  Deutung  von  inminente  Luna.  Wenn  der  Dichter  das 
sagen  wollte,  was  Kießling  hineinlegt,  so  mußte  er  wenigstens  e  curni 
oder  dgl.  hinzufügen,  wie  eben  Val.  Flacc.  VI,  681  tut:  inminet  e  celsis 
audentius  inproba  muris  virgo.  Nichts  anderes  bedeutet  inminente  luna 
als  GelrivT^q  e7teyovGi]g,  vgl.  (Diod.  III,  20,  1  ävcod-ev  STteyorai^g  Trergag 
vipY^Xiig  und)  Sappho  frgm.  Berol.  2,  4  cpäog  (aeldvvag)  d'  eTtioyeL  d^dXaooav 
Itc  dXfiVQav  locog  xal  .  .  .  aQovQag.  —  Ebensowenig  wie  hier  luna  ist 
6,  9  pudor  groß  zu  schreiben.  Denn  das  folgende  Miisa,  dem  zuliebe 
es  geschehen  soll,  ist  ja  kein  nomen  proprium,  sondern,  wie  sehr  oft 
bei  allen  Dichtern,  ein  appellativum.  Es  bezeichnet  nicht  die  leib- 
haftige Muse  der  Lyrik,  sondern  die  Dichtkunst  des  Horaz,  die  nur 
des  lyrischen  Liedes  mächtig  ist.  —  12,  45  f.  crescit  occulto  velut  arbor 
aevo  I  fama  Marcelli,  Occulto  aevo  soll  nicht  ahl.  qual.^  sondern  abl.  abs. 
oder  noch  besser  dat.  sein:  ,es  wächst  für  verborgene  Zeiten  (=  für 
eine  ferne  Zukunft)  der  Ruhm  des  M.  wie  ein  Baum'.  Wenn  Kieß- 
ling auf  II,  2,  5  vivet  extento  Proculeius  aevo  hinweist,  so  ist  zu  ent- 
gegnen, daß  hier  der  Ausdruck  extento  ,  ausgedehnt'  eine  Beziehung 
auf  die  Zukunft  nötig  macht  (Plaut.  Bacch.  III,  3,  26  ibi  siiam  aetatem 
extendebanty  non  in  latebrosis  locis^  Liv.  XXVII,  2,  6  ab  hora  tertia  cum 
ad  noctem  pugnam  extenderent^  Verg.  Gr.  II,  405,  curas  venientem  in  annum 
€xtendere)y  was  bei  occulto  ("=  ignoto)  nicht  der  Fall  ist.  Weiterhin 
kann  aber  der  Baum  an  sich  doch  nicht  als  Sinnbild  der  Fortdauer 
in  eine  ferne  Zukunft  hingestellt  sein,  wohl  aber  ein  sehr  alter  Baum 
als  das  unverwüstlichen  Wachstums  (crescit).  Wenn  ferner  der  Ruhm 
der  Marzeller  sich  seit  Clastidium  herschreibt,  d.  i.  seit  222  v.  Chr.,  also 
rund  zweihundert  Jahre  alt,  vorhannibalisch  ist,  so  kann  ihn  Horaz 
gewiß  als  sehr  alt  bezeichnen.  An  einen  Gegensatz  aber  zwischen  dem 
Alter  des  Geschlechtes  der  Julier  und  Marzeller  ist  an  dieser  Stelle 
überhaupt  nicht  zu  denken.  Endlich  scheint  Kießling  selbst  das 
Mißliche  des  unausgeglichenen  ,wie  ein  Baum'  gefühlt  zu  haben,  denn 
er  zitiert  Bind.  Nem.  8,  40  av^evac  d'  dgerä  x^cogalg  eegaaig  chg  ore 
devÖQiov  aöoei.  Hier  aber  ist  der  sprachliche  Ausdruck  vollkommen 
abgerundet:  ,der  Ruhm  wächst  durch  das  Siegeslied  (das  sagen  die 
nächsten  Worte  ev  [=  durch]  oofpolg  dvdQÜv  [—  die  Dichter]  .  .  .)  wie 
durch  den  Tau  der  Baum'.  —  28,  15  sed  omnis  una  manet  nox  \  et 
calcanda  semel  via  leti.  Una  nox  sei  nicht  die  alle  einigende  (una  = 
eadem)  Nacht,  sondern  die  eine  Nacht,  der  keine  zweite  folgt,  die  nox 
perpetua  una  dormienda  CatuUs  (5, 6).  Bei  dieser  Erklärung  wird  aber  der 
vom  Dichter  offenbar  gewollte  Gegensatz  Vielheit  (omnes)— Einheit  preis- 
gegeben, weil  dann  una,  wie  das  von  Catull  hinzugefügte  perpetua  lehrt, 
kein  Numerale  sondern  ein  Adjektiv  wäre:    ,alle  bedräut  die  ewig- 

Wiener  Eranos.  12 


—    178    — 

währende  Nacht  (des  Todes)".  Und  diesen  Gegensatz  soll  K.  nicht 
gefühlt  haben,  er,  der  allerorten  Gegensätze  wittert,  auch  dort,  wo  sie  sonst 
kaum  jemand  wahrnimmt,  z.  B.  1,  8  tollere  honoribus  und  9  si  proprio 
condidif  hör  reo,  4,  9  caput  impedire  myrto  und  10  terrae  solutae, 
7,  19  fulgentia  signis  castra  und  Tiburis  umbra  tut,  9,  11  cupressi — 
orni,  22,  12  inermem  und  13  militaris  Daunias  usw.?  Übrigens  ist  hier 
die  Erklärung  vorgeschrieben  durch  Ovid  Met.  X,  32  omnia  debentur 
vobis  paulumque  niorati  \  serius  aut  citius  sedem  properamus  ad  unam.  — 
Endlich  zeigt  der  Kießlingsche  Kommentar  eine  Vorliebe  dafür,  bei 
Wörtern,  deren  ursprüngliche,  aus  den  Etyma  sich  ergebende  Bedeutung 
längst  verblaßt  ist,  die  Bedeutungskraft  der  Etyma  geltend  zu  machen, 
so  z.B.  zu  12,  15  variis  mundum  temperat  horis  und  26,  6  apricos 
necte  flores.  Gleich  zwei  solche  Erklärungen  gibt  K.  zu  dem  kurzen 
38.  Gedicht.  Persicos  adparatus  seien  nicht  prächtige  Zurüstungen 
nach  Perserart,  sondern  persische  Zu- taten,  worauf  auch  das  V.  5 
folgende  ad-labores  hinweise.  Da  fehlte  also  nur  noch,  daß  für  das 
einfache  paratus  hingewiesen  würde  auf  Ovid  Met.  YIII,  683  veniam  .  .  . 
nuUisque  paratibus  orant.  V.  6  sedulus  bedeute  endlich  nicht  bloß  , emsig, 
geschäftig',  sondern  bezeichne  (se  dolo^:^sine  dolo)  die  hingebende 
Beflissenheit  des  Dieners. 


Die  sechzehnte  Epode  des  Horaz. 


Von 
R.  G.  KUKULA. 


In  einer  trefflichen  i^bhandlung  hat  Franz  Skutsch  (N.  Jahrbuch, 
f.  d.  klass.  Alt.  1909,  S.  23ff.)  das  Problem  der  sechzehnten  Epode  des 
Horaz  abermals  zur  Erörterung  gestellt.  Mit  Recht  hebt  er  hervor, 
daß  das  Gedicht,  ,, gleich  hervorragend  durch  seine  formelle  Vollendung 
wie  durch  Schwung  und  Männlichkeit,  Abrundung  und  Klarheit",  ganz 
besonders  eine  erschöpfende  Interpretation  verdiene.  Wie  weit  wir 
gleichwohl  von  der  Erfüllung  dieses  Wunsches  noch  immer  entfernt 
zu  sein  scheinen,  möchte  ich  ohne  weitschweifige  Polemik  und  ohne 
Rücksicht  auf  das  strittige  Verhältnis  zur  vierten  Ekloge  Vergils  an 
dem  Gedicht  selbst  darzulegen  versuchen.     Sein  Text  lautet: 

I.     Altera  iam  teritur  bellis  civilibus  aetas, 

suis  et  ipsa  Roma  viribus  ruit: 
quam  neque  finitimi  valuerunt  perdere  Marsi, 

minacis  aut  Etrusca  Porsenae  manus, 
aemula  nee  virtus  Capuae  nee  Spartacus  acer  5 

novisque  rebus  infidelis  Allobrox 
nee  fera  caerulea  domuit  Germania  pube 

parentibusque  abominatus  Hannibal, 
impia  perdemus  devoti  sanguinis  aetas 

ferisque  rursus  oceupabitur  solum.  10 

barbarus  heu  cineres  insistet  victor  et  Urbem 

eques  sonante  verberabit  ungula, 
quaeque  carent  ventis  et  solibus  ossa  Quirini 

(nefas  videre)  dissipabit  insolens. 

n.     Forte,  quid  expediat,  communiter  aut  melior  pars         15 
malis  carere  quaeritis  laboribus? 
nulla  sit  hac  potior  sententia:  Phocaeorum 

velut  profugit  exsecrata  civitas 
agros  atque  laris  patrios  habitandaque  fana 

12* 


—    180   — 

apris  reliquit  et  rapacibus  lupis,  20 

ire,  pedes  quocumque  ferent,  quocumque  per  undas 

Notus  vocabit  aut  protervus  Africus. 
sie  placet?  an  melius  quis  habet  suadere?  secunda 

ratem  oceupare  quid  moramur  alite? 
sed  i Urem  US  in  haec:   sinml  imis  saxa  renarint  25 

vadis  levata,  ne  redire  sit  nefas, 
neu  conversa  domiim  pigeat  dare  lintea,  quando 

Padus  Matina  laverit  cacumina, 
in  mare  seu  celsus  procurrerit  Appenninus 

novaque  monstra  iunxerit  libidine  30 

mirus  amor,  luvet  ut  ticjris  suhsidere  cervis, 

adulteretur  et  columba  miluo, 
credula  nee  ravos  iimeant  armenta  leones 

ametque  salsa  levis  hircus  aequora. 
haec  et  quae  poterunt  reditus  abscindere  dulcis  35 

eamus  omnis  exsecrata  civitas 
aut  pars  indocili  melior  greg;e;   moUis  et  exspes 

inominata  perprimat  cubilia: 
vos  quibus  est  virtus,  muliebrem  tollite  luctum, 

Etrusca  praeter  et  volate  litora.  40 

III.  Nos  manet  Oceanus  circum  vagus:  arva  beata 

petamus,  arva,  divites  et  insulas, 
reddit  ubi  cererem  teUus  inarata  quotannis 

et  imputata  floret  usque  vinea, 
germinat  et  numquam  fallentis  termes  olivae  45 

suamque  pulla  ficus  ornat  arborem, 
mella  cava  manant  ex  ilice,  montibus  altis 

levis  crepante  Ij-mpha  desilit  pede. 
iUie  iniussae  veniunt  ad  mulctra  capellae 

refertque  tenta  grex  amicus  ubera  50 

nee  vespertinus  circumgemit  ursus  ovile 

neque  intumeseit  alta  viperis  humus. 
pluraque  feliees  mirabimur:    ut  neque  largis 

aquosus  Eurus  arva  radat  imbribus, 
pinguia  nee  siceis  urantur  semina  glaebis,  55 

utrumque  rege  temperante  caelitum. 
nulla  nocent  pecori  contagia,  nullius  astri  61 

gregem  aestuosa  torret  impotentia.  62 

non  huc  Argoo  contendit  remige  pinus  57 

neque  impudica  Colchis  intulit  pedem; 
non  huc  Sidonii  torserunt  cornua  nautae, 

laboriosa  nee  cohors  TJlixei,  60 

IV.  luppiter  illa  piae  secrevit  litora  genti,  63 

ut  inquinavit  aere  tempus  aureum, 
aere,  dehine  ferro  duravit  saecula,  quorum  65 

piis  secunda  vate  me  datur  fuga. 


—   181   — 

Bevor  ich  auf  die  Frage  nach  Gattung  und  Zweck  des  Gedichtes 
eingehe,  lohnt  sich's  ^yohl,  ein  altes  Mißverständnis  der  Einzelerklärung 
unter  die  Lupe  zu  nehmen.  Man  verbindet  nämlich,  offenbar  durch 
Vers  25  sed  iiiremus  in  haec  verleitet,  in  Vers  35  f.  haec  mit  exsecrata  und 
bezieht  es  unbedenklich  auf  die  in  Vers  25  ff.  vorgesprochene  Eidesformel. 
Daß  dieser  Auffassung  sowohl  die  Stellung  als  auch  der  sonst  bezeugte 
Gebrauch  von  exsecratus  widersprechen,  lehren  Grammatik  und 
Lexikon.  Um  so  größere  Vorsicht  wäre  gegenüber  der  Meinung  am 
Platze  gewesen,  daß  gerade  in  Vers  18  und  in  Vers  36  unserer  Epode 
exsecratus  beide  Male  anders  gedeutet  werden  müsse,  als  in  der 
übrigen  Literatur,  aus  der  uns  das  Wort  in  der  Bedeutung  TiavaQao&elg, 
verflucht^  durchaus  geläufig,  in  der  Bedeutung  yMTaQaadfievog  nur  ganz 
vereinzelt  wie  bei  Val.  Max.  III,  2,  20  belegt  ist.  Denn  just  die 
„gewöhnliche"  Bedeutung  paßt  ja  tadellos  sowohl  in  Vers  18  auf  die 
dort  genannte  Phocaeorum  civitas  als  auch  in  Vers  36  auf  das  mit  Phokaia 
verglichene  Rom  und  stimmt  im  übrigen  mit  impius  und  devot us  in 
Vers  9  trefflich  zusammen.  Aber  ein  schiefer  und  durch  nichts  begrün- 
deter Vergleich  mit  Herodot  I,  165  eTtotriaavTO  iaxvQag  xarccQag  toj 
v7to?.£L7tof.ievq)  kcovTcov  rov  otoXov  hat  genügt,  um  für  das  horazische 
exsecrata  Vers  18  die  Version  sich  seihst  verwünschend-  und  im  Hand- 
umdrehen Vers  36  mit  abermaligem  Bedeutungswandel  die  Übersetzung 
unter  Verwünschungen  schwörend  herzustellen.  Daß  dieses  Kunststück 
bis  heute  allgemein  gebilligt  wird,  berührt  trotz  aller  Langmut,  mit 
der  wir  Tradition  und  Autorität  in  unseren  Kommentaren  walteji  und 
schalten  zu  lassen  pflegen,  doch  einigermaßen  seltsam.  Denn  wie 
reliquit  Vers  20  nach  dem  Ohiekif ana,  so  verlangt  das  ihm  koordinierte 
proßigit  Vers  18  klärlicher  Weise  nach  dem  Objekt  agros,  und  nicht 
anders,  als  perprimat  Vers  38  und  praetervolate  Vers  40  ihre  Akkusative 
cuhilia  und  litora  fordern,  begehrt  auch  das  ihnen  gleichgestellte  eamus 
mit  zwingender  Deutlichkeit  nach  seinem  Ziele,  das  offenbar  in  Vers  35 
genannt  ist:  haec,  i.  e.  salsa  aequora  et  quae  poterunt  reditus 
abscindere  dulcis  (vgl.  z. B.  Liv.  XXIV 34,  3  submissa  quaedam  et  quae 
planis  vallibus  adire  possent).  Nicht  auf  den  Eidschwur  hätte  man  also  haec 
Vers  35  beziehen  sollen,  sondern  auf  den  Raum  oder  Weg,  über  den  sich 
die  in  eamus  ausgedrückte  Bewegung  erstreckt  (Kühner,  Ausf.  Gramm.  11, 
S.  197),  d.h.  auf  die  unmittelbar  vorher  genannten  salsa  aequora: 
„Hinaus  denn  mit  uns  Unseligen  auf  die  salzige  Flut,  die  uns  die 
süße  Heimkehr  wehren  mag!"  Diese  Interpretation  wird  geboten 
durch  den  dargelegten  Parallelismus  der  Satzglieder,  gefestigt  durch 
die  offenliegenden  Gegensätze  salsa  aequora  (Vers  34)  oo  dulcis  reditus 
(Vers  35)  und  haec  (sc.  aequora,  Vers  35)  od  cuhilia  (Vers  38),  endlich 


—   182   — 

empfohlen  durch  die  in  Sache  und  Ausdruck  gegebene  Übereinstimmung 
mit  Verg.  Aen.  III,  190  sq.:  hanc  quoque  deserimus  sedem 
paucisque  relictis  vela  damus  vastumque  cava  trabe  currimus 
aequor;  vgl.  ebendort  I,  67;  524;  III,  377;  385;  V,  235;  VI,  122;  georg. 
III,  260;  Ov.  fast.  IV,  289;  trist.  V,  7,  36;  Lucan.V,  347;  IX,  1057; 
auch  Hom.  e  100  rlg  d^  ctv  eKihv  Toaaovde  diaSgccfioi  aX(.ivQÖv  vScoq  äoTte- 
Tov  u.  dgl.  m. 

Im  Zusammenhange  mit  dem  besprochenen  Interpretationsfehler 
steht  die  in  letzter  Zeit  wiederholt  erörterte  Frage  nach  der  Tendenz: 
der  XVI.  Epode.  Theodor  Plüsz  ist  mit  seinem  originellen  Versuche^ 
das  lambenbuch  des  Horaz  „im  Lichte  der  eigenen  und  unserer  Zeit" 
zu  deuten,  auf  scharfe  Ablehnung  gestoßen.  Trotzdem  wäre  es  un- 
gerecht, den  Dank,  den  wir  seinem  Buche  schulden,  etwa  in  den 
Ausspruch  des  älteren  Plinius  kleiden  zu  wollen:  nuUum  esse  librum 
tam  malum,  ut  non  aliqua  parte  prosit.  Denn  so  wenig  man  leugnen 
kann,  daß  Plüsz  nicht  selten  mit  phantastischer  Überspannung  an  dem 
Register  zweifelhafter  Möglichkeiten  gezogen  hat:  die  Genugtuung, 
daß  er  dennoch  in  sehr  wesentlichen  Beziehungen  dem  richtigen  Ver- 
ständnis der  Epodendichtung  gedient  habe,  kann  ihm  schwerlich 
vorenthalten  werden.  Seiner  Anregung  folgend,  werden  wir  in  bezug 
auf  die  XVI.  Epode  vor  allen  anderen  literarhistorischen  Rätseln 
folgende  Fundamental  frage  untersuchen  müssen: 

Vernimmt  man  in  den  Worten  des  Dichters  wirklich  das  „Flügel- 
rauschen seiner  hoffnungsvollen  Sehnsucht  nach  den  seligen  Gefilden 
im  Westmeer",  wie  unsere  Kommentare  behaupten  —  oder  tönt  aus 
ihnen  vielmehr  der  bittere  Groll  des  Horaz  über  hedonistische  Utopien,, 
die  damals  weniger  denn  je  am  Platze  waren?  Ist  die  XVI.  Epode  in 
der  Tat  etwa  ein  Seitenstück  zu  der  schwärmerischen  Vision  des  euri- 
pideischen  Hippolytos  V.  732  ff.  —  oder  soll  sie  nur  ein  neutralisierendes 
Antidoton  gegen  die  erschlaffenden  Wirkungen  jener  religiösen  Senti- 
mentalpoesie sein,  die  von  den  Hofpoeten  der  Epigonenzeit  ausgebildet 
und  zu  populärer  Klassizität  erhoben  worden  ist?  Ist  das  Gedicht 
ohne  allen  Zweifel  ein  inbrünstiger  Appell  des  jugendlichen  Dichters 
an  die  wTindertätige  Gottheit  —  oder  ganz  im  Gegenteil  ein  wohl- 
verständlicher Weckruf  an  den  kritischen  Verstand  der  Römer,  die 
ihre  letzten  Hoffnungen  nicht  auf  Märchen  und  Wunder  bauen  sollen? 
Ist's  dem  Dichter  ernst  mit  seinem  Vorschlag  Vers  21:  ire,  pedes  quo- 
cumque  ferent  —  oder  will  er  vielmehr  wie  der  Athener  bei  Thukydides 
V,  103  nur  warnen  vor  der  „Verschwenderin"  Elpis,  von  der  sich  die 
Mehrzahl  der  Menschen  betrügen  läßt?  Klammert  sich  Horaz  trotz 
der  „verbitterten  lambenstimmung"  des  Eingangs  Vers  1 — 14  in  der  Tat 


—    183   — 

mit  unverwüstlichem  Optimismus  (Vers  63 — 66)  an  das  volkstümliche 
elTtead-ai  XQ^  Ttdvxa  —  oder  will  er  vielmehr  mit  drastischer  Verspottung 
der  evTtQüatOTTog  'EXyrlg  moralisch -praktisch  wirken  und  wie  in  der 
verwandten  VII.  Epode  nur  zur  Besinnung  und  Umkehr  auf  den 
Boden  der  realen  Wirklichkeit  aufrufen? 

Man  hat  gelegentlich  auf  den  oratorischen  Charakter  der  Epoden 
VII  und  XVI  hingewiesen.  Mit  Recht.  Denn  beide  Gedichte  sind,  ohne 
Zweifel  nach  archilochischem  Vorbild  (Friedrich  Leo,  Univ.-Progr. 
Göttingen  1900.  p.  9),  als  Reden  vor  dem  Volke  gedacht.  Dieser 
Charakter  wird  für  Epode  VII  durch  einen  ganz  auffälligen  stilistischen 
und  gedanklichen  Parallelismus  mit  dem.  Anfange  der  I.  Catilinaria 
erhärtet  und  zeigt  sich  nicht  minder  deutlich  in  Situation  und 
Gliederung  der  Epode  XVI.  Horaz  hat  die  Versammlung  einberufen 
und  präsidiert  ihr:  nach  seinem  einleitenden  Vortrag  (exordium, 
relatio),  Vers  1 — 14,  schreitet  er  zur  Umfrage  (rogatio)  Vers  15  f.  (vgl. 
Vers  23  f.)  und  stellt,  an  der  Fiktion  einer  parlamentarischen  Behandlung 
des  Gegenstandes  festhaltend,   seinen  Initiativantrag:   nuUa  sit  hac  potior 

sententia (Vers  17 — 40),  auf  den  Vers  41 — 62  die  Begründung  (con- 

firmatio)  mit  der  ausführlichen  Beschreibung  (e'jiffQaGLg)  des  seligen 
Landes  (vgl.  das  Lob  Siziliens  in  der  IL  Verrine)  und  als  Schluß 
(Vers  63 — 66)  die  nachdrucks  volle  per  oratio  folgen.  Aber  während  in 
Epode  VII  der  „grimmige"  Charakter  der  Anklagerede  und  ihr 
praktischer,  auf  Besserung  der  überführten  Menge  zielender  Zweck 
deutlich  hervortritt,  soll  sich,  wie  man  lehrt,  in  Epode  XVI  „der 
zornige  Eiferer  in  einen  begeisterten  Seher  verwandeln,  aus  der 
archilochischen  Epode  (Vers  1^14)  eine  regelrechte  Elegie  (Vers  15 — 66) 
werden"  (Kießling-Heinze).  Horaz,  qui  timuit  mutare  modos  et  carminis 
artem  (ep.  I,  19,  27),  hat  sich  also  nach  dieser  Lehrmeinung  in 
Epode  XVI  im  Widerspruche  mit  sich  selbst  und  mit  der  Praxis  des 
ganzen  Altertums  über  die  Autorität  seines  Vorbildes  und  die  vor- 
geschriebenen Grenzen  der  literarischen  Gattung  kühn  hinweggesetzt, 
indem  er  „in  jugendlichem  Feuer  aus  der  verbitterten  Stimmung  des 
ergrimmten  Patrioten  heraus"  ein  merkwürdiges  Mittelding  zwischen 
lambus  und  Elegie  geschaffen  haben  soll  mentemqtie  totam  occtipari 
passus  est  heatae  vitae  hlanda  imogine,  quae  quam  apta/tierit  iambico 
ge7ieri  dubitamus  (Leo  a.  0.). 

Wie  wohlbegründet  der  leise  Zweifel  Leos  an  der  Stichhältigkeit 
seiner  eigenen  Auffassung  sei,  läßt  sich  leider  nur  mehr  an  dem 
horazischen  Gedichte  selbst  erkennen.  Denn  die  erhaltenen  Fragmente 
des  Archilochos  sind  auch  noch  heute  gänzlich  unzureichend,  um  über 
Sonderinhalt  und  Sonderzweck  jener  Dichtungen,    deren  Echo  wir  aus 


-   184  — 

Horaz  vernehmen,  einigermaßen  ins  Reine  zu  kommen.  Ob  z.  B.  die 
„Vorlage"  der  XVI.  Epode  auf  den  —  vermutlichen  —  Ton  des  51.  Frag- 
ments bei  Bergk  FLG.: 

"Ea    ndqov   '/mI    ovxa    /.elva    -/.al  ^aldaaiov   ßlov 
oder  des  53.  gestimmt  war: 

Mri^  ö  TavzüXov  Xld-og  ttjoS'  l'TtfQ  vt^aov  XQ^judad-w^ 
läßt  sich  unmöglich  entscheiden,  bevor  uns  nicht  neue,  noch  viel 
ausgiebigere  Funde  zu  Hilfe  kommen.  Die  Erkenntnis  übrigens,  daß  selbst 
„wr)rtliche  Entlehnungen  mit  vollkommener  Veränderung  des  Sinnes, 
des  Gedankenzusammenhangs  Hand  in  Hand  gehen  können"  (Skutsch 
a.  0.  S.  34),  sollte  überhaupt  in  der  Heranziehung  und  Ausnützung  von 
griechischen  Parallelstellen  für  die  Interpretation  römischer  Dichter  zu 
größerer  Behutsamkeit  als  bisher  veranlassen.  Auf  welche  Irrwege  man 
mit  dieser  unablässig  „vergleichenden"  Methode  geraten  kann,  läßt  uns  zum 
Beispiel  besonders  deutlich  Rothsteins  Kommentar  des  Properz  erfahren. 
Kein  stärkeres  Gewicht,  als  derlei  Versuchen  auch  bei  Horaz  aus  mehr 
oder  weniger  ähnlich  lautenden  „Belegstellen"  immer  wieder  identische 
Gedankengänge  zu  erschließen,  möchte  ich  der  Plüszschen  Deutung 
der  epodischen  Form  beimessen,  die  allenfalls  auf  den  daktylischen 
Hexameter  den  iambischen  Trimeter  folgen  läßt.  Erwägt  man  nämlich 
gleich  an  der  XVI.  Epode,  daß  sie  ja  nichts  anderes  als  einen  poetisch 
stilisierten  koyog  Ttqog  xovg  '^Pwfialovg  darstellt,  so  rückt  der  Zweifel  nahe, 
ob  in  solclier  ausgesprochenen  Deklamationspoesie  für  das  Ohr  des 
Römers  die  Kuppelung  des  fallenden  Rhythmus  mit  dem  steigenden 
viel  mehr  bedeutet  haben  könne,  als  bloße  juifxriaig  der  Prosarede, 
die  an  einheitlichen  Rhythmus  nicht  gebunden  ist.  Wesentlich  weiter 
führt  uns  dagegen  eine  kritische  Betrachtung  des  von  Horaz  gestellten 
Antrags  Vers  21  f.: 

ire,  pedes  quocumque  ferent,  quocumque 
Xotus  vocabit  aut  protervus  Africus, 
sowie    eine    Analyse    jener     „leuchtenden"    Farben,    mit    denen    er 
Vers  41  tf.  das  gelobte  Land  geschildert  hat. 

Für  die  Entdeckung,  daß  Horazens  Vorschlag  nicht  etwa  durch 
Hom.  d  561  ff.,  Hes.  op.  167  flP.,  Eur.  Hippol.  732  ff..  Piatos  Atlantis  und 
andere  Idealschilderungen  der  Griechen  (vgl.  den  schönen  Vortrag  von 
A.  Bertholet,  Die  Gefilde  der  Seligen,  Tübingen  1903),  sondern  durch 
den  bei  Plutarch  Sert.  8  (=  Sali.  hist.  I,  61  f.)  erwähnten  Plan  des 
Sertorius  inspiriert  worden  sei,  vermag  ich  mich  nicht  zu  erwärmen. 
Denn  des  Sertorius  selige  Inseln,  zu  denen  er  von  der  spanischen 
Küste  aus  die  Fahrt  unternehmen  wollte,  lagen  im  Westen  von  Afrika: 
das  Ziel   der   horazischen  Fahrt   liegt    anderswo,    in   unbekannter    und 


-    185   — 

unbestimmter  Ferne  (pedes  quocumque  ferent),  aber  sicherlich  nicht  im 
Westmeer,  sondern  „irgendwo"  (quocumque)  in  entgegengesetzter 
Richtung,  vorbei  an  den  Gestaden  Etruriens  (Vers  40),  im  Nordost  oder 
im  Norden,  wohin  der  Südwind  (Notus)  oder  der  „wilde"  Südwest 
(protervus  Africus)  die  Auswanderer  tragen  mag.  Welche  noch  so  ent- 
fernte Spur  des  Ausdrucks  weist  hier  auf  ein  bestimmtes  Ziel  und 
auf  eine  spezielle  Beeinflussung  des  Horaz  durch  die  Idee  des  Sertorius 
hin?  Sertorius  blickt  unentwegt  nach  Westen,  wo  phönizische  Händler 
längst  die  seligen  Inseln  entdeckt  haben  wollten:  Horaz  späht  irrenden 
Blicks  nach  einem  Land  aus,  dessen  Schilderung  ganz  auf  Nirgend- 
heim-^cpdvaL  paßt.  Und  warum  sollteHoraz  erst  durch  Sertorius  an  jenen 
Glauben  erinnert  worden  sein,  der  —  aus  dem  Osten  importiert  —  bei 
den  Griechen  und  Römern  von  Hesiod  und  Plato  herab  bis  Prokop  von 
Caesarea  seine  klassische  Ausbildung  gefunden  und  seither  in  den 
Literaturen  aller  Völker  ein  wahres  „Kompendium  von  Geschichte  des 
menschlichen  Heimwehs"  geschaffen  hat?  Woher  wollen  wir  die  Be- 
rechtigung ableiten,  aus  den  parallelen  „Zeugnissen"  bei  Horaz  und 
Plutarch  mehr  zu  erschließen,  als  daß  sich  eben  in  der  allgemeinen 
Drangsal  des  ersten  vorchristlichen  Jahrhunderts,  an  der  Schwelle  einer 
neuen  Zeit,  der  törichte  Optimismus  der  Massen  immer  mehr  und  mehr 
an  jenen  Aberglauben  klammerte,  durch  ihn  locken,  trösten,  betäuben, 
erschlaffen  ließ?  Nicht  bloß  Sertorius  ward  von  ihm  erfaßt:  ein  müdes 
Volk  sehnt  sich  nach  Ruhe  und  Frieden,  und  der  Verarmten  und  Ver- 
elendeten viele  fanden  wohl  Trost  in  dem  Glauben  an  das  prophezeite 
Land  des  Segens  (Vers  63 — 66),  an  dessen  geographischer  Existenz  sich 
ihr  naiver  Wirklichkeitssinn  berauschte.  Die  regna  Saturni  und  die  civitas 
Dei,  das  „Reich  Gottes"  und  die  „seligen  Inseln"  sind  von  der  Menge 
nie  als  etwas  Innerliches  verstanden,  sondern  stets  in  irdischen, 
politisch-eudämonistischen  Hoffnungen  materialisiert  worden. 

Daß  dieser  Optimismus,  wie  begreiflich,  stark  banausisch  gefärbt 
war,  zeigt  sich  auch  an  den  Einzelheiten  der  horazischen  Schilderung: 
daß  aber  Horaz  jemals  für  solche  Utopien  „geschwärmt"  oder  sich  in 
schwacher  Stunde  für  sie  „begeistert"  hätte,  sollte  man  zum  mindesten 
nicht  als  selbstverständlich  hinzustellen  wagen.  Denn  w^as  er  sonst  von 
der  Landflucht  dachte,  hat  er  uns  ep.  I,  11,  27  fP.  gesagt: 

Caelum,  non  animum  mutant,  qüi  trans  mare  currunt. 
strenua  nos  exercet  inertia,  navibus  atque 
quadrigis  petimus  bene  vivere:  quod  petis,  hie  est, 
est  Ulubris,  animus  si  te  non  deficit  aequus. 
Wie  sich  Horaz  die  Rettung  in  Wahrheit  vorstellte,  sagen  carm.  I, 
35,  37  ff.;  II,  16,   18 ff.: 


—   186   — 

quid  terras  alio  calentes 
sole  mutamus?  patriae  quis  exsul 
se  quoque  fugit? 
Daß  nicht  diese  „Fluclit",  wie  unsere  Epode  emphatisch  vorschlägt 
(Vers  66,  vgl.  18),  sondern  nur  besonnene  Kraft  und  opferfreudige  Vater- 
landsliebe zur  Wiedergeburt  führen  können,  sagen  in  zahlreichen  Varia- 
tionen   die  Römeroden   und  vor    allem  das    berühmte  Gegenstück    der 
XVI.  Epode,  carm.  1, 14;  denn  die  überraschende  und  im  Zusammenhalt  mit 
den  eben    zitierten  Stellen    doch  recht  sonderbare,    nicht  etwa  an  zer- 
mürbte Schwächlinge,  sondern  ausschließlich  an  diejenigen,   ,.quibus  est 
virtus"y  gerichtete  Aufforderung  der  Epode  Vers  40:   Etrusca  praeter  et 
volate  litora,  wird   dort  mit  dem  Zuruf: 

fortiter  occupa  portum 
in  ihr  gerades  Gegenteil  verkehrt.  Daß  dieses  Gegenteil:  „Ans  Vater- 
land, ans  teure  schließt  euch  an!",  die  wahre  Meinung  des  Dichters 
sei,  soll  wohl  auch  seine  Epode  XVI  dartun,  in  der  seine  Unzufriedenheit 
und  das  ddvvazov  (s.  Skutsch  a.  0.  S.  29  ff.;  vgl.  die  wertvolle  Material- 
sammlung von  Theodor  Birt,  Elpides,  Marburg  1881;  Crusius,  Unters,  zu 
Herondas,  S.  72  ff.;  Rothstein  zu  Properz  I,  15b,  29;  Otto,  Sprich- 
wörter d.  Römer,  Nr.  678)  allenthalben  so  kräftig  unterstrichen  sind,  daß 
kein  gebildeter  Stadtrömer  jener  Zeit  über  die  forcierte  Torheit  des 
in  Vers  21  f.  gestellten  „Antrags"  in  Zweifel  geraten  konnte.  Wie  vollends 
in  Vers  63  ff.  die  an  das  „fromme  Geschlecht"  gerichtete  Prophezeiung 
„glücklicher  .  .  .  Flucht"  (secunda  .  .  .  fuga,  man  beachte  auch  die  Stel- 
lung) zu  verstehen  sei,  darüber  mußte  der  Hörer  aus  exordium  und 
conßrmaUo  der  Rede  längst  ins  klare  gekommen  sein:  nam  urbana 
dissimulatio  est,  sagt  Cicero  de  orat.  II,  67  (269  ff.),  cum  toto  genere 
orationis  severe  ludas,  cum  aliter  sentias  ac  loquare;  ...  in 
hoc  genere  Fannius  in  annalibus  suis  Africanum  hunc  Aemilianum 
dicit  fuisse  egregium  et  Graeco  eum  verbo  appellat  eiQwva ;  sed,  uti 
ferunt,  qui  melius  haec  norunt,  Socratem  opinor  in  hac  ironia  dissi- 
mulantiaque  longe  lepore  et  humanitate  omnibus  praestitisse.  Genus 
est  perelegans  et  cum  gravitate  salsum  cumque  oratoriis 
dictionibus  tum  urbanis  sermonibus  accomodatum;  et  hercule 
omnia  haec,  quae  a  me  de  facetiis  disputantur,  non  maiora 
forensium  actionum  quam  omnium  sermonum  condimenta  sunt. 
Indem  sich  also  Horaz  in  der  XVI.  Epode  zum  ironischen  Tcqö^axog 
jener  utopischen  Phantasien  macht,  folgt  er  einer  Technik,  von  der 
die  Rhetorik  unter  den  Schlagwörtern  elQwvela,  aaQxaO(.wg^  dvricpQaOLq, 
TtaQOLjiila,  fivxTTiQtafAÖg ,  illusio  gehandelt  und  besonders  auch  Cicero 
mannigfaltigen   Gebrauch    gemacht   hatte;    Quintilian   VIII,    6,    54  sq. 


—   187   — 

(vgl.  IX,  2,  44  sq.)  hat  uns  darüber  gesagt:  aliqiiando  diversa  est 
orationi  voluntas;  nam  .  .  .  cum  risu  quodam  contraria  dicuntur  iis, 
quae  intellegi  volunt,  quemadmodum  in  Clodium  integritas  tua  te 
purgavit,  mihi  crede,  pudor  eripuit,  vita  anteacta  servavit. 
Daß  sich  die  Schlußverse  unserer  Epode  (63 — 66)  im  Ausdruck 
und  im  Gedanken  wie  eine  richtige  Parallelstelle  mit  dem  hier 
von  Quintilian  gebrachten  Beispiel  aus  der  Clodiana  decken,  schließt 
m.  E.  den  vorgebrachten  Indizienbeweis  und  widerlegt  endgültig  die 
bis  heute  herrschende  sentimental-seriöse  Auslegung  des  Gedichtes. 

Die  XVI.  Epode  ist  kein  iambisch-elegischer  Bastard  von  zweifel- 
haftem künstlerischen  Wert,  sondern  von  Anfang  bis  zum  Ende  eine 
ausgesprochen  archilochische  Invektive,  ein  durchaus  realpolitisches 
Gedicht  ohne  jeglichen  empfindsamen  Beigeschmack,  mit  einem  Wort 
ein  loyog,  der  die  Zeitgenossen  des  Dichters  mit  deren  eigenen  Ideen 
ad  absurdum  führen  und  seinen  Zweck  (veXog)  geradeso  wie  die  ver- 
wandte Epode  YII  nicht  in  tvqotqotvt]^  sondern  in  aTtoigoTti^ ,  nicht  in 
einem  aneifernden  „Vorwärts!",  sondern  in  einer  nachdrucksvoll  sar- 
kastischen Mahnung  zur  Umkehr  auf  den  Boden  der  realen  Wirklich- 
keit erfüllen  soll.  Aus  dieser  apotreptischen  Tendenz  des  Gedichtes 
erklärt  sich  jetzt  das  vom  Dichter  gewählte  Beispiel  der  Phokaeer,  das 
durch  die  düsteren  Farben,  in  die  seine  Schilderung  (Vers  17 — 20)  mit 
durchsichtiger  Absicht  getaucht  wird,  den  Hörer  keineswegs  zur  Nach- 
ahmung zu  überreden ,  sondern  nur  mit  Abscheu  und  Grauen  zu  er- 
füllen geeignet  war.  Nur  um  so  zwingender  ergibt  sich  mir  daraus  eine 
Gesamtauffassung  des  Gedichtes,  der  etwa  folgende  Inhaltsangabe  ge- 
recht wird: 

I.  Vers  1 — 14:  Roms  Unglück  sind  die  Römer  (suis  ipsa  Roma 
viribus  ruit,  Vers  2). 

IL  Vers  15 — 40 :  Aber  statt  euch  aus  dieser  Erkenntnis  heraus  zur 
Selbstläuterung  aufzuraffen  (vgl.  carm.  III,  2,  Iff.;  6,  1  ff.) ,  hofft  ihr 
auf  ein  Wunder,  das  euch  helfen  soll,  „der  Not  zu  entrinnen"  (carere 
laboribus,  Vers  16):  statt  zu  handeln,  laßt  ihr  euch  planlos  (quocumque) 
von  den  Stürmen  treiben  (Vers  21  f.):  die  „Helden"  unter  euch  stimmen 
für  —  feige  Flucht  ins  SchlarafPenland   (Vers  39  f.,    vgl.  18  und  66). 

III.  Vers  41 — 62:  Natürlich,  denn  dort  ist's  wundervoll:  von  Arbeit 
keine  Rede  (Vers  43 — 50),  Gefahren  ausgeschlossen  (Vers  51  f.),  Klima 
vortreflplich  (Vers  53 — 56),  besonders  für  die  Viehzucht  (Vers  61  f.),  Ehe- 
bruch und  Habgier  und  Mühsal  kennt  man  in  euerem  Wunderlande 
nicht  (Vers  57—60) ;  vgl.  epod.  IL 

IV.  Vers  63—66:  Gar  kein  Zweifel!  luppiter  hat  justament  euch 
„reinem   Volke"    (piae   genti,    Vers  63,    vgl.  Vers  9   impia   aetas   und 


—    188   — 

V.  36  exsecrata  civitas)  jene  Zufluchtsstätte  vorbehalten :  zieht  hin,  ihr 
Auserwählte,  mit  meinem  priesterlichen  Segen  (vate  me,  Vers  66)! 

"Was  Horaz  hier  als  Archilochus  redivivus  in  moralisch-didaktischer 
Absicht  verhöhnt,  gehört  in  das  Grebiet  jener  religio  poetica.  an  der  seit 
Scaevolas  Zeiten  der  Unglaube  nagte.  Man  werfe  nicht  ein,  daß  solche 
Verspottung  schlecht  zum  Bild  des  Odendichters  passe,  der  an  eine 
göttliche  Vorsehung  und  eine  strafende  Gerechtigkeit  geglaubt  hat. 
Denn  ganz  abgesehen  davon,  daß  es  sich  hier  nur  um  ein  Hirngespinst 
des  Aberglaubens,  um  eine  superstitio  prava  et  inmodica  im  Sinne  von 
Plin.  ad  Trai.  96,  8  handelt,  war  ja  auch  Cicero  in  seinen  Reden  der 
Göttergläubige,  in  seinen  Gesprächen  der  Skeptiker.  Daß  Horaz,  je 
nach  dem  Charakter  des  literarischen  gemts,  an  dem  er  schafft,  hier 
den  deoriim  cultor,  dort  den  superstitiomim  contemptor  hervorkehrt,  ist 
nicht  auffällig.  Die  Epode  ist  kein  frommes  Lied:  wie  alle  lamben- 
dichtung  ist  sie  aus  des  Lebens  Not  und  Kampf  erstanden;  süße  Visi- 
onen, empfindsame  Trugbilder  widerstreiten  ihrer  Form  und  ihren  Zielen. 
Der  vates,  der  carm.  I,  2  mit  dem  Blick  in  eine  bessere  Zukunft  zu 
Apoll  und  Venus,  Mars  und  Mercurius  betet,  ist  ein  anderer  als  der 
TtQocprivrig^  der  epod.  VII  und  XVI,  die  wüste  Gegenwart  vor  Augen, 
sein  Volk  aus  frevelhaftem  Wahnwitz  oder  stumpfsinnigen  Träumen 
aufrütteln  will.  Vom  Altar  künstlicher  Andacht  mag  Horaz  durch  diese 
Erkenntnis  ohne  Bedauern  herabgestürzt  werden  (vgl.  dagegen  Reitzen- 
stein,  Gott.  gel.  Anz.  1904,  S.  947  ff.) :  als  Mensch  und  Dichter  gelangt 
er  dadurch  in  eine  zwar  neue,  aber  richtigere  und  darum  auch  wür- 
digere Beleuchtung.  Er  gewinnt.  Denn  die  vermeintlichen  „Mängel" 
seiner  „Jugendlieder"  erweisen  sich  allmählich  als  Mißverständnisse  seiner 
Erklärer  und  als  charakteristische  Eigentümlichkeiten  einer  selbstän- 
digen literarischen  Gattung,  deren  Erforschung  und  Ausdeutung 
zu  unseren  nächsten  Aufgaben  gehört.  Das  Endergebnis  kann  gewiß 
nicht  zweifelhaft  sein;  denn  auch  Vergleiche  von  epod.  9  mit  carm. 
I,  37,  epod.  10  mit  carm.  I,  3,  epod.  13  mit  carm.  I,  4;  7;  9,  von  epod.  15 
mit  carm.  11,8  (1,5)  zeigen  unmderleglich ,  daß  die  horazische  Epode 
in  ihrem  Wesen  schlechterdings  nichts  Gemeinsames  mit  der  Ode  und 
den  anderen  Spielarten  sentimentaler  Poesie  aufzuweisen  hat. 


Die  römische  Tragödie 
Octavia  und  die  Elektra  des  Sophokles. 

Ton 
FRIEDRICH  LADEK. 


Ein  oberfläcliliclier  Vergleich  der  unter  den  Seneca -Tragödien 
überlieferten  Octavia  mit  dem  Taciteischen  Berichte  (Ann.  XIY)  über 
das  Schicksal  der  unglücklichen  Frau  des  Nero  verleitete  immer  wieder 
zur  Behauptung,  der  Dichter  verdanke  seine  historischen  Kenntnisse 
der  Lektüre  des  Tacitus.  Erst  genauere  Untersuchungen^)  zeigten,  daß 
dies  nicht  der  Fall  sei.  Da  nun  jene  falsche  Annahme  allein  darüber 
hatte  hinwegsehen  lassen,  daß  die  Überlieferung  der  Prätext a,  die  Wahl 
des  Stoffes,  die  Sprache  und  Metrik,  das  Verhältnis  des  Stückes  zu  den 
übrigen  Tragödien  und  zu  den  Prosaschriften  Senecas,  die  Behandlung 
und  Art  der  Erwähnung  der  historischen  Tatsachen,  endlich  die  Ge- 
schichte der  römischen  Tragödie  auf  das  1.  Jahrhundert  hinweisen, 
kann  heute  mit  voller  Bestimmtheit  erklärt  werden:  Die  Octavia  ist 
vor  Tacitus  geschrieben. 

„Vielleicht  wird  noch  einmal"',  sagte  einst  K.  Meiser  („Über  hist. 
Dramen  d.  Rom.",  München,  1887,  S.  14  f.),  „wenn  feststeht,  daß  der 
Dichter  der  Octavia  vor  Tacitus  geschrieben  und  sein  Stück  sich  größerer 
Autorität   als   bisher   erfreut,    daraus   eine   neue  Waffe  gegen  Tacitus 

*)  Fr.  Ladek,  de  Oct.praet.,  diss.  Vindob.  111(1891).  —  G.  Nordmeyer,  sched.phil. 
H.  Usener  .  .  ohl.,  Bonn,  1891,  S.  94  if.  —  Derselbe,  Jahrb.  f.  kl.  Ph.,  XIX.  Suppl.  (1893), 
S.  257  ff.  Der  letzte  Versuch,  Tacitus  als  Quelle  zu  erweisen,  unternommen  von  A.  Cima, 
La  trag.  rom.  'Octavia'  e  gli  'Ännalf  di  Tacito,  Pisa,  1904,  mißlang;  man  vgl.  Fr.  Ladek, 
„Zur  Frage  üb.  d.  hist.  QueU.  d.  Oct.",  Zeitschr.  f.  d.  ö.  Gymn.,  1905,  S.  673  ff.  —  Y.  Ussani, 
Sul'  Octavia,  Riv.  di  fil.,  XXXIII,  S.449f.  —  C.  Hosius,  Berl.  ph.  Wochenschr.,  1906,  Nr.  30. 
—  Selbst  A.  Cima  kann  es  nunmehr  nicht  für  unmöglich  halten,  daß  der  Dichter  zur  Zeit 
Neros  gelebt  hat  (s.  Riv.  di  fil.,  XXXIV ,  529  ff.).  Während  der  Korrektur  ging  mir  zu : 
J.  Vürtheim,  Octavia  praetexta  cum  proleg.,  annotat.  crit.,  not.  exeg.  ed.  Lugd.  Bat.,  1909. 
Ohne  die  nötige  Kenntnis  neuerer  Literatur  wird  hier  wieder  zu  beweisen  gesucht,  daß  das 
Stück  nach  Tacitus  geschrieben  sei.  Doch  die  angeführten  Gründe  sind  nichtig,  wie  ich 
in  Nr.  24  u.  31  (1909)  der  Deutschen  Literaturzeitung  gezeigt  habe.  Die  Ausgabe  bedeutet 
überhaupt  in  keinem  Punkte  einen  Fortschritt. 


—    190    — 

gesclimiedet  und  eine  Rettung  Poppäas  unternommen."  Auf  die  Ver- 
schiedenheit der  Charakteristik  der  Personen  bei  Tacitus  und  in  der 
Tragödie  ist  seit  jeher  hingewiesen  worden  und  man  hat  natürlich 
auch  daraus  geschlossen,  daß  der  Dichter  die  Taciteische  Darstellung 
nicht  gekannt  habe.  Wenn  aber  auch  heute  die  Priorität  des  Dramas 
feststeht,  ja  auch,  wenn  zugegeben  wird,  daß  durch  die  Darstellung 
des  Schiffbruches  und  Todes  der  Agrippina  in  der  Prätexta  spätere 
Darstellungen  beeinflußt  worden  sein  könnten,  was  ich  in  der 
Zeitschr.  f.  d.  ö.  Grymn.,  1905,  S.  673  ff.  als  möglich  zu  erweisen 
suchte,  in  der  Charakteristik  der  einzelnen  Personen  werden  wir 
beim  Dichter  nicht  ohneweiters  historische  Treue  voraussetzen 
dürfen.  Denn,  wie  ich  meine,  läßt  sich  sogar  zeigen,  daß  er  einige 
Züge  in  der  Zeichnung  seiner  Charaktere  der  Elektra  des  Sophokles 
verdankt. 

Daß  man  Nero  mit  Orest  verglich  (s.  Suet.  Nero  39),  war  natürlich, 
auch  der  Vergleich  Octaviens  mit  Elektra  mußte  sich  aufdrängen.  In 
dem  Stücke  läßt  der  Dichter  die  Octavia  selbst  an  Elektra  erinnern 
(57  ff.)  und  schon  0.  Ribbeck  bemerkte  (Gesch.  d.  r.  D.,  III.,  S.  86), 
zu  den  Klageanapästen  am  Anfange  des  Stückes  und  dem  folgenden 
Wechselgesang  habe  offenbar  der  Eingang  der  Sophokleischen  Elektra 
das  Motiv  hergegeben;  es  fänden  sich  sogar  wörtliche  Anklänge. 

Der  Dichter  verdankt  aber  Sophokles  weit  mehr.  Schon  daß  er 
Octavia  zur  Heldin  einer  fabula  praetexta  machte,  läßt  sich  aus  der 
Rücksicht  auf  das  Sophokleische  Stück  wohl  begreifen.  Hier  steht  ja 
im  Mittelpunkte  „eine  völlig  passive  Heldin,  deretwegen  alles,  was 
geschieht,  zu  geschehen,  alles,  was  gesagt  wird,  gesagt  zu  werden 
scheint"  (G.  Kaibel).  Ein  römischer  Dichter,  der  sich  nach  Euripides 
gerichtet  hätte,  hätte  denselben  Stoff  wohl  in  einer  „Poppäa"  im  Sinne 
des  Tacitus  behandelt,  wenn  er  der  historischen  Wahrheit  zuliebe 
Octavia  nicht  hätte  handelnd  einführen  wollen.  Unser  Dichter  läßt  alles 
für  Octavia  geschehen,  zeigt  uns,  wie  die  Vorgänge  auf  sie  wirken, 
vermeidet  es  jedoch,  sie  selbst  irgendwie  eingreifen  zu  lassen,  obwohl 
er  dies  leicht  hätte  tun  können.  Seneca  beschleunigt  im  Drama  gegen 
seinen  Willen  (gerade  durch  sein  Eintreten  für  Octavia)  die  Katastrophe, 
der  Volksaufruhr  führt  den  Untergang  der  Heldin  herbei;  doch  Seneca 
wie  das  Volk  handeln  durchaus  selbständig,  Octavia  wendet  sich  weder 
selbst  noch  durch  die  Amme  an  Seneca  oder  sonst  jemanden  um  Hilfe. 
Vom  Volke  erwartet  sie  überhaupt  keine  Rettung,  da  sie  dessen  Ohn- 
macht gegenüber  dem  Kaiser  kennt  (V.  185),  ja  sie  warnt  es  geradezu, 
für  sie  einzutreten  (646  ff.),  weil  sie  darin  nur  dessen  Verderben  sehen 
kann.  Auch  jede  Anspielung  auf  die  Hilfe  einer  einzelnen  Person,  wie 


# 


—   191   — 

des  Seneca  oder  gar  des  Flottenpräfekten  Anicetus,  ist  vermieden  — 
Octavia  wurde  ja  tatsächlich  eines  verbrecherischen  Einverständnisses 
mit  Anicetus  beschuldigt  (Tac.  Ann.  XIV,  63)  — ,  obgleich  der  im 
Stücke  auftretende  Präfekt  auch  vor  Nero  für  Octavia  spricht  (860  ff.). 
Allerdings,  die  Absicht  des  Dichters  ist  klar:  auf  den  grausamen 
Wollüstling  Nero  allein  soll  alle  Schuld  fallen. 

Und  doch  ist,  man  kann  fast  sagen  entgegen  dieser  Absicht,  die 
Heldin  nicht  ganz  ohne  Schuld,  wodurch  sie  uns  freilich  nur  sym- 
pathischer erscheint.  Tacitus  sagt  von  Octavia  (Ann.  XIII,  16):  „quamvis 
rudibus  annis  dolorem,  caritateni,  omnes  qffectus  ahscondere  didicerat'%  -der 
Dichter  läßt  aber  die  Heldin  auch  gerade  deswegen  zugrunde  gehen,  weil 
sie  äff.  absc.  non  didicerat;  stellt  doch  die  Amme  im  Prolog  (55  ff.) 
das  scelus  nefandum,  das  ihre  Angst  voraussieht,  eben  als  Folge  davon 
hin,  daß  mentis  generosiis  ardor  (Octaviae)  regt  non  potest  (53  f.),  irä 
coacta  vermöge  sie  ihre  Trauer  nicht  zu  verbergen.  Octavia  hat  sich 
zwar  auch  nach  des  Dichters  Darstellung  bemüht,  sich  zu  beherrschen, 
sie  sagt  ja  (65  f.),  Furcht  hindere  sie,  die  Eltern  zu  betrauern,  aber  es 
gelingt  ihr  immer  weniger  (54),  so  daß  auch  Nero  behaupten  kann, 
sie  habe  ihm  ihren  Haß  deutlich  merken  lassen  (540  ff.).  Vergebens  sucht 
A.  Cima  neuerdings  wieder  (Riv.  XXXIV,  544,  A.  1)  die  Taciteischen 
Worte  mit  der  Haltung  der  Heldin  im  Drama  in  Einklang  zu  bringen, 
indem  er  darauf  hinweist  —  er  meint,  das  hätten  andere  nicht  be- 
achtet — ,  daß  Octavia  sich  doch  nur  vor  ihrer  Vertrauten  in  leiden- 
schaftlichen Worten  ergehe,  aber  dem  Chore  gegenüber  viel  maßvoller 
und  vorsichtiger  ausdrücke.  Der  Dichter  hat  Octavia  eben  nur  mit 
Amme  und  Chor  sprechen  lassen;  doch  erfahren  wir  aus  dem  Munde 
Octavias,  der  Amme  und  Neros,  wie  sie  sich  Nero  und  Poppäa  gegen- 
über benahm.  Natürlich  ist  Octavia  vor  dem  Chore  maßvoller; 
denn  es  wäre  unwürdig  für  sie,  sich  in  der  Öffentlichkeit  ebenso  zu 
benehmen  wie  vor  ihrer  Vertrauten.  Dann  soll  auch  die  Vorstellung 
erweckt  werden,  daß  Octavia  mit  Willen  die  Volksbewegung,  die  sie 
für  vergeblich  hält,  nicht  veranlaßt;  riete  sie  nicht  zur  Mäßigung, 
so  triebe  sie  die  Leute  nutzlos  ins  Verderben.  Doch  weist  Octavia  vor 
dem  Chore  auf  alle  ihre  Leiden  hin  (V.  652  graviora  tuli)  und  gibt  ihrer 
Freude  Ausdruck,  daß  sie  nicht  mehr  gezwungen  sei,  saevi  coniiigis 
ora  videre  und  invisos  thalamos  famulae  (der  jetzigen  Kaiserin)  intrare. 
Mag  also  der  Dichter  auch  Octavia  am  Hochzeitstage  Neros  und  Poppäas 
in  ihr  Schicksal  ergeben  erscheinen  lassen,  ihren  Groll,  ihren  Haß  läßt 
er  sie  nicht  verbergen. 

Und  gerade  die  ira  {oQyr]),  diesen  Mangel  an  Selbstbeherrschung, 
der  nach   der  Darstellung   des  Dichters  eine    der  Ursachen    des  Unter- 


—   192   — 

ganges  der  Heldin  ist,  hat  Octavia  mit  der  Sophokleischen  Elektra  gemein^ 
einen  Seelenzustand,  der  freilich  aus  der  ähnlichen  Lage  der  beiden  leicht 
erklärlich  ist.  Nach  langen  Jahren  des  Leidens  ist  Elektra  noch  immer 
die  mißachtete  Sklavin  des  Mörders  ihres  Vaters,  um  ihrer  Trauer 
willen  von  der  eigenen  Mutter  beargwöhnt  und  gehaßt;  Octavia  ist 
nach  dem  Verluste  ihrer  Nächsten  in  der  Gewalt  des  rohen  Mörders 
ihres  Bruders,  seine  Gattin  zwar,  aber  gehaßt,  beargwöhnt,  einer 
Buhlerin  nachgesetzt.  Vergebens  mahnt  der  Chor  Elektren,  sich  zu 
beherrschen,  erinnert  sie  daran,  daß  sie  sich  ihre  Lage  durch  ihr 
Benehmen  selbst  geschaffen  habe,  und  warnt  sie,  mit  den  Mächtigen 
zu  streiten ;  ebenso  führt  die  Amme  die  gegenwärtige  Lage  Octaviens 
auf  ihren  Mangel  an  Selbstbeherrschung  zurück,  fürchtet  von  einer 
Fortsetzung  dieses  Benehmens  das  Ärgste,  sucht  sie,  auf  ihre  Ohnmacht 
hinweisend,  zu  ruhigem  Dulden,  zu  geliorsamem  Nachgeben  zu  bewegen. 
Elektra  wie  Octavia  weisen  diese  Ratschläge  durch  die  Darstellung 
ihrer  Leiden  zurück.  Ja,  der  römische  Dichter  ist  in  der  Angleichung 
noch  weiter  gegangen.  In  der  Verzweiflung  will  Elektra  sterben,  bald 
aber,  als  sie  bei  Chrysothemis  Hilfe  voraussetzt,  faßt  sie  den  Plan^ 
mit  der  Schwester  Aigisthos  zu  töten,  und  schließlich  will  sie  die  Tat 
allein  vollführen.  Auch  der  Dichter  der  Prätexta  läßt  Octavia  den 
Gedanken  fassen,  den  Gatten  mit  eigener  Hand  zu  töten.  Er  hat 
es  allerdings  psychologisch  wohl  begründet,  daß  er  seine  Heldin  diesen 
für  sie  ungeheuerlichen  Gedanken  ernstlich  aussprechen  läßt.  Schon 
in  der  zusammenfassenden  Schilderung  ihrer  Leiden  (100  ff.)  deutet 
Octavia  an,  daß  ihr  dieser  Gedanke  gekommen  sei:  coniugi  invisa,  sagt 
sie  (104  ff.),  ac  meae  \  subiecta  famulae  (Poppaeae)  luce  non  grata  fruor^ 
\trepidante  semper  corde  7ion  mortis  metu,  \  sed  sceleris  —  absit  crimen 
a  fatis  meis.  \  mori  iuvabit;  poena  natu  gravior  nece  est\  videre  .... 
vultus  tgra?ini  ....  Es  folgt  eine  ausführlichere  Darstellung  ihres 
(im  V.  104  f.)  angedeuteten  Verhältnisses  zu  Nero  ( — 124)  und  zu  Poppäa 
( — 133).  Scehis  kann  an  dieser  Stelle  nur  „Mord  durch  meine  Hand", 
crimen  nur  „Schuld"  bedeuten.  Hier  weist  also  Octavia  den  Mord- 
gedanken, der  ihr  im  Zusammensein  mit  dem  Verhaßten  öfter  aufge- 
stiegen sein  muß,  noch  ab  („Das  Leben  ist  der  Güter  höchstes  nicht, 
der  Übel  größtes  aber  ist  die  Schuld"),  als  ihr  aber  die  Amme  die 
series  facinorum  und  besonders  den  Tod  ihres  geliebten  Britanniens  so 
lebhaft  vor  Augen  führt,  vergißt  sie  sich  einen  Moment  und  bricht  in 
die  Worte  aus  (174):  exstinguat  et  me,  ne  manu  nostra  cadat.  Die  xlmme 
aber  weist  nur  auf  die  Schwäche  der  weiblichen  Natur  hin  (vgl.V.  870) 
mit  den  Worten  (175):  natura  vires  non  dedit  tantas  tibi  genau  so,  wie 
Chrysothemis  die  Elektra  erinnert  (997) :  yvvrj  (.liv  ovo'  ävrjQ  ecpvg^  \  oS-eveig 


—    193   — 

d'eXaaoov  tcov  imiTicov  xeQi.^)  Den  späteren  Worten  der  Chrysothemis 
(1009  ff.):  cDX  ca'Ttd^o).  TtQiv  Tvavotked-Qovg  xh  7täv\  ^fiäg  ToXiödai  zßje^r^- 
^ndaai  yevog,  j  -/Mtdoxeg  OQyrjv  entsprechen  die  folgenden  Worte  der 
Amme  (177  und  179  f.) :  vince  obsequendo  potius  immitem  virum  —  incolumis 

0  Die  Rücksicht  auf  0.  175  hätte  A.  Cima  vor  seiner  Erklärung  des  Y.  174  (Riv. 
XXXIV,  539  ff.)  bewahren  sollen.  Er  meint,  hier  sei  auf  das  crimen  reriim  novarum 
(Tac.  Ann.  XIV,  62)  hingewiesen,  das  sich  von  dem  crimen  adulterii  (mit  Anieet)  nicht 
trennen  lasse.  Wozu  eine  derartige  Interpretation  führt,  zeigt  schon  der  Vergleich  mit  V.  107. 
Dort  soll  Octavia  nach  Cima  sagen:  „Ich  fürchte  nicht  den  Tod,  sondern  eine  Schurkerei 
Neros  (mit  einer  falschen  Anklage  wegen  Ehebruches)  —  fern  sei  diese  Anklage",  hier 
aber  soll  sie  sagen :  „Nero  töte  mich,  sonst  begehe  ich  einen  Ehebruch  mit  Anieet,  um  mit 
dessen  Hilfe  den  Gatten  zu  töten. '^  Derartiges  halte  ich  für  unvereinbar.  Octavia 
erscheint  in  dem  Stücke  als  vollkommen  rein;  sie  leitet  selbst  all  ihr  Unglück  vom  Incest 
ihrer  Mutter  her  (V.  260).  Amme,  Chor,  Seneca  weisen  wiederholt  auf  ihre  völlige  Reinheit 
hin,  Nero  hat  auf  die  die  Sittsamkeit  Octaviens  rühmenden  Worte  Senecas  kein  Wort  der 
Entgegnung  —  V.  536  bezieht  sich  auf  die  Vaterschaft  des  Claudius  —  und  beschuldigt 
sie  später  im  Monologe  me  vor  dem  Präfekten  nur  der  Aufreizung  des  Volkes.  Jede,  auch 
die  leiseste  Anspielung  auf  die  abscheuliche  Anklage  ist  sonst  in  dem  Stücke  vermieden, 
selbst  die  Feinde  der  Heldin  reden  davon  nichts.  Und  da  soll  der  Dichter  Octavia  selbst 
davon  haben  reden  lassen?  Ebenso  verkehrt  ist  es  zu  glauben,  die  Tötung  Neros  könne  von 
Octavia  nicht  als  scelus,  sondern  nur  als  Heldentat  hingestellt  werden.  Nach  der  Art,  wie 
der  Dichter  den  Charakter  der  Heldin  darstellt,  muß  ihr  der  Gattenmord  als  ein  Ver- 
brechen erscheinen,  vor  dem  sie  zurückschaudert.  Nur  in  höchster  Erregung  läßt  sie  darum 
der  Dichter  den  Mordgedanken  aussprechen.  Der  Gegensatz  aber:  „Ich  fürchte  nicht,  daß 
er  mich  mordet,  sondern  daß  ich  ihn  morde"  ist  nicht  matter,  sondern  im  Gegenteile 
viel  schärfer  als:  „Ich  fürchte  nicht  den  Tod,  sondern  eine  Schurkerei  Neros".  Nicht  immer 
zeigt  sich  natürlich  Octavia  so  entschlossen  und  mutvoll.  Als  sie  am  Hochzeitstage  (Neros 
mit  Poppäa)  den  Palast  verläßt,  ist  sie  doch  froh,  vielleicht  von  tristes  poenae  und  leti  metus 
frei  zu  sein  (V.  659  f.)  —  man  vermißt  den  Hinweis  auf  diese  Worte  bei  Cima  — ,  sie  hat 
sich  nun  mit  dem  neuen  Lose  schon  abgefunden;  der  Stimmungswechsel  ist  begreiflich. 
Cima  behauptet  merkwürdigerweise,  scelus  habe  in  der  ganzen  Szene  eine  Bedeutung  wie 
'scelleratezza  (commessa  da  Nerone)',  nicht  'uccisione'.  Liest  man  die  von  ihm  angeführten 
Verse  (102,113,153,159,166,178),  so  findet  man,  daß  der  Singular  scelus  überall  „Mord" 
(durch  Nero  oder  Agrippina)  bedeutet  und  der  Plural  diese  Bedeutung  einschließt.  Nicht  deswegen 
ist  scelus  im  V,  107  nicht  als  „Mord  an  mir"  zu  verstehen,  weil  der  Gegensatz  dann  keinen  Sinn 
hätte  —  „ich  fürchte  nicht  den  Tod  an  und  für  sich,  sondern  den  Tod  durch  ein  Verbrechen" 
gibt  einen  ganz  guten  Sinn  — ,  sondern  weil  Octavia  fortfährt  poena  gravior  nece,  ein 
Argument,  das  Cima  gar  nicht  erfaßt  hat,  obwohl  ich  (Zeitschr.  f.  d.  ö.  Gymn.,  1905,  S,  690) 
nece  an  die  Spitze  des  Zitates  stellte.  Zu  jener  widersinnigen  Erklärung  d.  V,  174  sieht 
sich  Cima  gedrängt,  da  er  um  jeden  Preis  die  Verbindung  von  0.  100  ff.  und  Tac.  Ann. 
XIV,  63  aufrecht  erhalten  will,  die  andere  längst  aufgegeben  haben.  So  begreiflich  dieses  Streben 
sein  mag  —  wenn  er  zugibt,  daß  keine  Verbindung  besteht,  erklärt  er  selbst  seine  beiden 
Aufsätze  für  zwecklos  — ,  die  Verbindung  läßt  sich  eben  nicht  erhalten.  Deut- 
lich wird  das  daraus,  daß  in  V.  105  (meae  subiecia  famulae)  von  Poppäa  gesprochen 
wird,  während  sich  die  Taciteischen  Worte,  die  für  die  Octavia-Stelle  maßgebend  gewesen  sein 
sollen  (ancilla  dominä  validior),  auf  Acte  beziehen.  Daß  famulae  gleich  Poppaeae  ist, 
ergibt  sich  mit  vollkommener  Klarheit  aus  dem  Präsens  fruor  (V,  105),  zusammengehalten 
mit  den  Worten  jyrima,  qtusa  est  (Perfektum),  possedit  (Perfektum)  im  V.  193  f.,  wodurch 
Wiener  J^ranos.  13 


—   194    - 

üt  sis  ipsa,   lahentem  ut  domum restituas.     Dieser  Mordplan  wird 

natürlich  im  Stücke  nicht  weiter  berührt,  es  ist  aber  doch  ganz  be- 
greiflich, daß  der  Dichter  auch  die  edle  Tochter  des  Claudius  derartiges 
denken  läßt.  Sie  ist  ist  zwar  wie  Elektra  ovre  tl  tov  d-avelv  7tQ0(,iri&rjg 
t6  t£  jWj)  ßXeTtELv  eTolf.ia  (1078  f.),  doch  selbst  sie  hat  eben  Momente, 
in  denen  die  ira  stärker  ist  als  die  pietas,  da  gelten  Elektras  Worte: 
iv  TOLOVTOLg  ovre  awcpQOvelv  ovv  euaeßelv  TtaQeöiiV  äXX  ev  rolg  '/.anolg 
Tzollii  ^OT   dväyy.T^  /MTCLTTjSeveLv  %ai^a  (E.  307  ff.)- 

Der  Schatten  Agrippinas  erscheint  in  der  Prätexta  als  pronuha 
Erinys  der  Hochzeit  Neros  mit  Poppäa.  Selbst  in  der  Unterwelt  kann 
die  Mutter  die  Schandtaten  des  Sohnes  an  ihr  nicht  vergessen.  Auch 
Claudius,  sagt  sie,  verlange  von  ihr  den  Brudermörder  und  schon  be- 
reite die  rächende  Erinys  dem  Ruchlosen  den  verdienten  Tod.  Nach 
der  ins  einzelne  gehenden  Beschreibung  dieses  Todes  —  die  nur  nach 
Neros  Ende  geschrieben  sein  kann,  was  unbegreiflicher  Weise  wieder 
von  A.  Siegmund  („Zur  Texteskritik  d.  Tr.  Oct.",  Wien,  1907,  S.  33  f.) 
verkannt  wurde  —  ruft  sie  auf  einmal  (632  ff.) :  quo  te  furor  provexit 
...  I  et  fata,  nate,  cedat  ut  tantis  maus  \  genetricis  ira,  quae  tuo  scelere 
occidtt?  „Vor  solchem  Unglück  schwindet  auch  der  Groll  der  Mutter, 
die  du  gemordet  hast."  Sie  wünscht,  wilde  Tiere  hätten  ihren  Leib 
zerrissen,  als  sie  mit  dem  Sohne  schwanger  ging,  damit  sie  ihn  jetzt 
in  der  Unterwelt  als  unschuldiges  Kind  in  den  Armen  halten  könne. 
Diese  Worte  Agrippinens  hat  man  auffallend  gefunden;  Gercke  meinte 
(Jahrb.  Suppl.  XXIL,  S.  196),  der  Geist  spreche  vom  Kummer,  den 
Nero  Eltern  und  Vorfahren  dort  unten  bereite,  kindlich  einfach  und 
rührend,  nur  nicht  im  Geiste  Agrippinens.  Doch  bis  V.  631  redet  die 
Furie,  erst  dann  bricht  die  Mutterliebe  durch,  ein  trefflicher,  echt 
menschlicher  Zug.  Anregung  konnten  die  berühmten  Worte  bieten,  in 
denen  sich  das  elementar  durchbrechende  Muttergefühl  Klytaimestras 
äußert  (7 70 f.):  Setvbv  to  tl^telv  earlv  ovdi  yäq  naxwg  TtaGxovn  (.uGog^  cjv 
venTj,  TCQogylyveTai. 

Mitbestimmend  zur  Einführung  des  Schattens  —  welche  an- 
deren Momente  noch  heranzuziehen  w^ären,  kann  ich  hier  nicht 
ausführen  —  war  wohl  die  Vision  des  Chores  in  der  Elektra,  der 
auf  die  Nachricht  vom  Traume  der  Klytaimestra  singt  (488  ff.) : 
TJ^EL  %al  TtohüTtovg  xal  tzoXvx^lq  ä   ÖEcvolg  XQVTtrofieva  lö^oig  xalxÖTtovg 

Acte  ausdrücklich  als  die  abgelegte  (jetzt  maclitlose,  selbst  um  ihr  Leben  besorgte)  Geliebte 
ÜSTeros  bezeichnet  wird.  Übrigens  muß  jedem  Unvoreingenommenen  aus  der  Partie  100—133 
allein  klar  sein,  daß  im  V.  104  f.  Nero  und  Poppäa  gemeint  sind;  die  V.  108 — 133  sind 
eben  die  nähere  Ausführung  von  104  und  105.  Auf  Cimas  sonstige,  von  mir  noch  nicht 
berücksichtigte  Bemerkungen  in  seinen  beiden  Artikeln  werde  ich,  soweit  es  nötig  erscheint, 
anderswo  zurückkommen. 


—   195   — 

^Egivvg.^)  Dike  und  Agamemnon,  der  gleich  Agrippina  (0.598)  ovTtov 
di^vrjGveX  (E.  481),  sind  es  nach  der  Meinung  des  Chores,  welche  durch 
den  Traum  die  Erinys  der  Verbrechen  des  Aigisthos  und  der  Klytai- 
mestra  ankündigen.  Auch  in  der  Pratexta  wird  auf  die  Erinys  der  Ver- 
brechen Neros  durch  den  Traum  Poppäas  hingewiesen,  nur  tritt  Agrip- 
pina selbst  als  diese  auf  und  erscheint  auch  so  ihrer  neuen  Schwieger- 
tochter im  Traume  als  Zeichen  des  nahen  Verderbens. 

V.  712  ff.  erzählt  nämlich  Poppäa  auf  die  Frage  der  Amme, 
warum  sie  heute,  am  Tage  nach  ihrer  Hochzeit,  ganz  verstört  zur 
heimlichen  Unterredung  mit  ihr  aus  dem  Palaste  stürze,  sie  habe  im 
Traume  der  letzten  Nacht  römische  Frauen  jammernd  ihre  —  Poppäens  — 
Hochzeit  feiern  sehen ,  Agrippina  sei  als  Furie  dabeigewesen.  Ihr 
habe  sie  folgen  müssen  und  sei  in  den  Tartaros  gesunken.  Dort  habe 
sie  sich  auf  ihrem  Brautbette  niedergelassen,  hereingekommen  sei  aber 
ihr  einstiger  Gatte  Crispinus  mit  ihrer  beider  Sohn,  habe  sie  umarmt 
und  mit  langentbehrten  Küssen  überschüttet,  als  plötzlich  Nero  voll 
Angst  hereingestürmt  sei  und  sich  das  Schwert  in  die  Kehle  gestoßen 
habe.  Durch  diesen  Traum  soll  die  Erfüllung  der  Prophezeiung  des 
Schattens  als  sicher  hingestellt  werden;  man  denkt:  }]tol  (MavTelat  ßgoraiv 
ouTi  eiolv  SV  ÖEivolg  dveiQOig  ovo*  ev  d-eocpavoig^  ei  i^irj  rode  q)ccOfA,a  ev 
'AaxaöyriQEi  (E.  498  ff.).  Der  Dichter  hat  aber  nicht  bloß  das  Traum- 
motiv, dessen  sich  ja  schon  Aischylos  bedient  hatte,  aus  Sophokles 
her  übergenommen.  Wie  Klytaimestra  durch  die  Angst  hinausgetrieben 
wird,  stürzt  Poppäa  heraus,  und  wie  jene  sich  schließlich  zum  Gebete 
wendet,  so  Poppäa,  als  ihr  die  Amme  gezeigt  hat,  daß  der  Traum  auch 
«ine  günstige  Auslegung  zulasse.  Mit  der  Doppeldeutigkeit  beruhigt 
sich  auch  Klytaimestra  (E.  644).  Agamemnon  erscheint  im  Traume 
^ur  SevT£Qa  b^iXia  (418),  nicht  anders  Crispinus,  dessen  Erscheinung 
allerdings  nicht  gerade  als  unbedingt  nötig  bezeichnet  werden  kann  (zur 
Erkl.  der  Stelle  vgl.  Zeitschr.  f.  d.  ö.  G.  1905,  S.  868,  A.  1).  Der  Dichter 
wollte  offenbar  auf  die  Parallele  Agamemnon — Aigisthos — Klytaimestra 
und  Crispinus — Nero — Poppäa  nicht  verzichten,  für  Otho  war  da  selbst- 
verständlich kein  Platz.  Endlich  ist  sogar  das  Gebet,  das  Poppäa 
sprechen  will,  im  Wesen  dasselbe  wie  das  der  Klytaimestra.  Man  vgl. 
0.  756  ff. :  deliihra  et  aras  petere  constitui  sacras,  caesis  litare  victhnis 
numen  deum,  iit  expientur  noctis  et  somni  minae  terrorque  inhostes 
redeat  meos.   tu  ....  superos  adora,    maneat  ut  praesens  status  mit 


^)  Auch  daß  die  uUrix  Erinys  (0.  619)  als  Abgesandte  der  Mutter  erscheint,  ist 
■der  griechischen  Tragödie  entsprechend.  Aus  dem  Fluche  der  Mutter  entstehen  die  Erinyen, 
4x1  ^tjTQog  ^yxoTOc  xxn>eg  (Aisch.  Cho.  923,  1052).  In  den  Eumeniden  hetzt  ja  der  Schatten 
Klytaimestrens  (94  ff.)  die  Furien  des  Muttermordes  auf  den  Sohn. 

13- 


—   196   — 

E.  644  ff.:  cc  ftQogeldov  vvy.tl  Tf^de  cfdo^ara  diGGiov  ovelqiov,  Tavtä  fioi^ 
Av^BL  ava^^  d  (-lev  7t£q)7ivev  eod-Xd^  dhg  TeXeocpoQa,  ei  ö'iyßQa^  Tolg 
exS-qolöiV  £f.i7ta)uv  fied^eg'  /.al  fii]  //£  tiXoutov  tov  TcaQÖvxog 
El  Tiveg  doXoLGi  ßovXevovoLv  sxßalelv^  ^(f^^i  ^^^  f^^£  /<'  «fi^  ^cooav  äßka- 
ßel  ßlq)  dofxovg  Mt^elÖcov  oy.ri7tTqd  t  df-icpSTtecv  rdde  %t'L  Doch  wird 
aus  Sophokles  allein  die  Haltung  Poppäas  in  der  Prätexta  nicht  zu 
erklären  sein,  da  Josephus  Flavius,  der  Poppaa  persönlich  gekannt  hat, 
sie  ja  auch  als  -d-eoaeßrig  (Ant.  lud.  XX  195)  bezeichnet.  In  bezug  auf 
Poppäa  also  ist  die  Hoffnung,  die  K.  Meiser  an  der  erwähnten  Stelle 
aussprach,  noch  nicht  aufzugeben. 

Hinsichtlich  der  Komposition  der  Prätexta  kann  für  den  Ver- 
gleich nur  der  I.Akt  in  Betracht  kommen.  Von  den  V.  57 — 99  hebt 
Leo  (Rhein.  Mus.  1895,  S.  513)  hervor,  daß  wir  hier  das  einzige  Duett  der 
10  Seneca-Dramen  haben.  „Es  ist  offenbar,"  bemerkt  er,  „daß  die  Octavia 
nicht  einzig  von  Seneca  abhängig  ist. "  Das  Vorbild  ist  eben  die  komma- 
tische Parodos  der  Elektra  des  Sophokles.  Auffallend  konnte  es  erscheinen, 
(s.  Leo,  Plaut.  Forsch.,  S.  194),  daß  die  Amme  erst  nach  dem  1.  Liede 
der  Heldin  „einen  richtigen  Prolog  spricht".  Ob  aber  der  Dichter  hier 
Senecas  Phaedra  nachahmt,  „deren  Prolog  auch  auf  das  1.  Lied  des 
Hippolytus  folgt,  das  noch  nichts  exponiert,"  ist  zu  bezweifeln.  Daß 
der  Prolog  nach  dem  Anfang  häufiger  war,  als  wir  sonst  wissen,  zeigt 
Leo  selbst  und  man  erkennt  leicht,  wie  der  Dichter  dazukam,  zuerst 
Octavia  auftreten  zu  lassen.  Sie  sollte  wie  Elektra  in  aller  Frühe,  ihr 
Leid  klagend,  aus  dem  Hause  treten,  damit  man  den  Eindruck  erhalte, 
wenn  alle  noch  schliefen,  fände  sie  keine  Ruhe.  Das  Gespräch  des  Orest 
und  des  Pädagogen,  die  aus  der  Fremde  kommen,  war  nicht  verwendbar, 
der  römische  Dichter  setzt  also  erst  bei  V.  86  der  Sophokleischen  Elektra 
ein,  nur  das  Motiv  der  im  Hause  klagenden  Stimme  (E.  77)  hat  er 
noch  benutzt  (72  ff.)  Hätte  er  die  Amme  zuerst  auftreten  lassen,  so 
wäre  der  gewünschte  Eindruck  verloren  gegangen;  hätte  er  Octavia 
nicht  wieder  abtreten  lassen  —  ^\de  Elektra  auf  der  Bühne  bleibt  — , 
so  hätte  die  Amme  den  Prolog  nicht  sprechen  können,  auch  das  Motiv 
der  Klage  im  Palaste  wäre  unbenutzt  geblieben.  Sonst  hat  die  Amme 
die  PoUe  des  Chores,  der  erst  am  Schlüsse  des  1.  Liedes  der  Elektra 
einzieht.  Doch  erinnern  die  ersten  Worte  der  Octavia  an  die  Worte 
des  Pädagogen  (E.  17ff.);  wie  die  aufgehende  Sonne  die  Stimmen  der 
Vögel  und  dann  Elektrens  Klage  wieder  erweckt,  erweckt  sie  hier  die 
Klage  der  Octavia. 

In  welcher  Weise  der  Dichter  der  Prätexta  den  ersten  Klage- 
gesang des  Sophokleischen  Stückes  (86  ff.)  verwendet  hat,  zeigt  die  Ver- 
gleichung  von  0.  6  und  E.  87  ff.,   103  ff.,    0.  8  und   E.  107   —    das  äg 


—    197   — 

Tig  äriÖLüv  wird  mit  Älcyo7ias  und  Pandionias  übertrieben  (vgl.  auch 
E.  UT  ff.,    1077  f.)  — ,    0.  10   und  E.  94  f.  (auch  132  f.,    241  f.),   0.  16 

(inaerens foedo  sparsu  cruore)  und  E.  101  f.  (aiTicog  oixTQcog  te  d-avovTog)^ 

0.  18  (o  lux  .  .)  und  E.  80  (co  cfdog  .  ,).  Octavia  empfindet  aber  nicht 
wie  Elektra,  „aus  dem  dumpfen  Hause  in  die  Morgenfrische  heraus- 
tretend, zunächst  die  wohltätige  Wirkung"  (Kaibel)  des  Lichtes,  ihr 
ist  es,  wie  ja  ihr  Leiden,  als  hoffnungslos,  größer  ist,  funesta,  magis 
invisa  tenehrls.  Besonders  bezeichnend  jedoch  scheint  mir  folgendes:  Octavia 
weist  (25  f.)  mit  rhetorischem  Pathos  auf  die  Weltherrschaft  des  Clau- 
dius hin,  dem  sich  selbst  die  Britannen  unterworfen  hätten.  Was  sie 
damit  meint,  zeigen  deutlicher  im  folgenden  Prolog  (38  ff.)  die  Worte 
der  Amme,  die  ausführlicher  über  den  Zug  spricht  und  dessen  Er- 
wähnung schließt :  en  qui  Britannis  imposuit  iugum  .  .  .  interque  gentes 
harharas  tutus  fuit  .  .  .  coniugis  scelere  occidit.  Nicht  anders  sagt 
Elektra  (95  f.) :  (d^Qi^vio)  7caEeQ\  ov  ^axa  (.lev  ßdqßaqav  alav  cpoiviog 
''JäQTig  ovx  e^ev Loev^  (.itittiq  d^riiu^x^o  y,oivoleyj)g ^l'yiod^og  .  .  .  oyLLovGi  xäga. 
„Ares  hat  ihn  geschont,  die  eigene  Frau  hat  ihn  erschlagen"  (nach 
Od.  Ä  406),  wie  Kaibel  bemerkt.  Die  von  Grercke  a.  o.  0.  ohnehin  unter 
starkem  Zweifel  geäußerte  Vermutung ,  die  Kämpfe  in  Britannien 
könnten  mit  Rücksicht  auf  spätere  Kämpfe  hervorgehoben  sein,  ist 
demnach  erledigt.  Man  vgl.  weiter  0.  31  f.  und  E.  124  f.,  außerdem 
zu  0. 12  f.  E.  1066  ff.  und  zu  0.  21  E.  597  f. 

Im  Prolog  führt  die  Amme  (36  f.)  die  Vernichtung  des  Claudischen 
Hauses  auf  den  Angriff  der  aus  verborgenem  i)  Hinterhalte  (s.  E.490) 
plötzlich  hervorbrechenden  Fortuna  zurück  und  erinnert  so  an  E.  1414  f. 
(fioLQa  xaS^aiisQLa  (fd^ivei);  der  Geschlechtsfluch,  der  „Tag  für  Tag  auf 
dem  Hause  gelegen  hat"  (Kaibel),  vernichtet  auch  Octavia  (s.  V.  898, 
931  und  bes.  962);  zum  Ausdruck  vgl.  E.  764  f.  Das  irä  coacta 
in  V.  46  f.  (meieret  infelix  soror  \  eademque  coniunx  nee  graves  luctus 
valet  I  ira  coacta  tegere.  crudelis  viri  \  secreta  refugit  semper  ...  ist  mit 
den  Handschriften  zu  lesen)  weist  auf  E.  222 f.:  Seivotg  (malis)^vayxdG^7iv, 
Seivolg^  od  IdS-ei  (.lÖQyd  (vgl.  E.  256  u.  369).  Weiter  vgl.  man  0.  51  (75) 
mit  E.  130,  0.  54  mit  E.  217  ff.,  235  f.,  0.  55  mit  E.  374  f. 

Aus  dem  Duett  kann  man  zusammenstellen  0.  57  und  E.  376  ff., 
0.  60  und  E.  132  f.;  0.  62  und  E.  14,  603,  811,  1156;  0.  63  und  E.  12, 
1132;  0.65  und  E.  285f.;  0.68  und  E.  809  f.,  846,  949  ff.;  0.71  und 


^)  Immer  noch  wird  an  der  Richtigkeit  der  Überlieferung  des  V.  36  gezweifelt;  ich 
habe  die  handschriftliche  Lesart  subito  (sub  uno  in  einer  Anzahl  von  Handschriften  ist 
ein  leicht  begreiflicher  Schreibfehler),  latentis  ecce  Fortunae  impetu  schon  in  meiner  Diss., 
p.  97f.  verteidigt  und  jüngst  gegen  Siegmund  (in  der  genannten  Schrift)  in  d.  deutsch. 
Literaturz.  V.  29.  Februar  1908,  Sp.  550  f.  Für  die  Richtigkeit  des  latentis  genügt  jetzt 
wohl  der  Hinweis  auf  Soph.  El.  490:  a  deivoTg  xQVTtxo^ieva  Xöxois  'EQivvg. 


—   198   — 

E.  677  (1140  fF.);  0.  72  und  E.  78.  Der  Dichter  läßt  nicht  (wie  Sophokles 
von  Elektra)  nur  ein  paar  Worte  der  Klage  vernehmen,  er  steigert  in 
seiner  Weise;  Octavia  ist  ja  ebenso  äväQid^fwg  S-qt^vwv  (E.  232),  ihre 
Leiden  sind  aber  auch  wirklich  älvTa  (E.  230),  wie  die  V.  77  f.  besagen. 
Zu  0.  83  f.  (255  f.)  kann  noch  E.  174  f.  verglichen  werden. 

Zwischen  0.  99''  und  100  fehlt  der  Gedanke :  „Kann  man  denn  in 
solch  einer  Lage  Maß  halten?"  Das  kommt  in  demselben  Zusammenhange 
bei  Sophokles  auch  wirklich  zum  Ausdruck.  E.  213  fF.— 221  ff.— 236  ff. 
Zu  0. 105  kann  man  E.  393  stellen.  Wie  Elektra  dem  Vorwurf  der  Maß- 
losigkeit durch  eine  ausführliche  Schilderung  ihrer  Leiden  begegnet, 
ebenso  Octavia.  Und  so  findet  sich  natürlich  0.  100  ff.  und  E.  261  ff. 
manches  Entsprechende  (0.  104f.  u.  E.  261  ff.,  0.  111  ff.  u.  E.  267,  270). 
Auch  von  dem,  was  Elektra  nach  dem  Berichte  von  Orests  Tod  spricht, 
läßt  sich  einzelnes  heranziehen;  vgl.  0.105  und  E.  814f.,  0.108  und 
E.  821  f.  Octavia  ist  eben  wie  Elektra  rolg  (povevoL  avvxQocpog  (E.  1190). 

Die  Bitte,  die  Octavia  (134  ff.)  ausspiricht  (emergere  umbris  et  fer 
auxilium  nafae . .  .),  soll  Chrysothemis  am  Grabe  des  Vaters  tun  (E.453f. 
yrid-Ev  Ev^evri  fifuv  aQioybv  avrbv  eig  ex^Qovg  /nolelv),  die  Worte  der 
Amme  aber  (0.  137  friistra  parentis  invocas  manes)  klingen  an  an  die 
Worte  des  Chores  (E.  137  f.):  äl)^  ovtol  tov  y  s^  34iSa  Xi/nvag  TzaTsq 
dvoTciGeig,  vgl.  den  ähnlichen  Gedanken  0.  178  und  E.  940.  Was  die 
Amme  von  Britanniens  sagt  (0.  168  sidus,  columen  domus),  das  sagt 
und  hofft  Orest  von  sich  (E.  65  f.  cxgtqov  cog  .  .  .  xaTaotazTiv  dof^cov)^  die 
Worte  nunc  levis  tantum  cinis  (0.  169)  erinnern  an  Elektra  mit  dem 
Aschenkruge.  Vom  Gespräch  zwischen  Octavia  und  der  Amme  kommen 
außer  den  oben  besprochenen  Stellen  noch  in  Betracht:  0.  177  und 
E.  396;  0.  179  und  E.  1009 f.;  0.  227  und  E.  175 f.,  209 f.;  0.  243  und 
E.  785 f.;  0.  245  und  E.  824,  1063;  0.  256  und  E.  919,  1065;  0.  257 f. 
und  E.  513;  0.  260  und  E.  493  f. 

Daß  der  römische  Dichter  auch  durch  den  Schluß  des  1.  Stasimon 
der  Elektra  (504  ff.),  der  das  Verbrechen  des  Pelops  behandelt,  zur 
Erwähnung  der  Verbrechen  im  römischen  Königshause  und  der  des  Nero 
gegen  die  Mutter  in  dem  entsprechenden  Chorliede  (0.  273  ff.)  angeregt 
wurde,  ist  w^ohl  nicht  ganz  ausgeschlossen. 

Im  folgenden  finden  sich  außer  an  den  erwähnten  Agrippina  und 
Poppäa  betreffenden  Stellen  erst  wieder  am  Schlüsse,  wo  Octavia  auf- 
tritt. Anklänge  an  Sophokles,  vgl.  0.  911  mit  E.  249,  307  f.;  0.  915  mit 
E.  146,  1077  (s.  Aisch.  Ag.  1140,  der  Gedanke  von  0.  916  f.  bei  Aisch. 
Ag.  1144);  0.  981  mit  E.  391. 

An  der  Spitze  des  Liedes,  in  dem  der  Chor  Octavia  auf  die  Frauen 
ihres  Hauses  hinweist,  stehen  dieselben  Gedanken,  die  der  Chor  in  der 


—    199   — 

El.  860  f.  und  916  f.  ausspricht  (Ttäai  dyaTolg  fyv  fiOQog  und  rolg  avTolal  tol 
ovx  avTog  del  daiuövwv  TtaQaoxaTEi  ist  zu  vergleichen  mit  0.  924  fF.:  regitur 
fatis  mortale  geniis  \  nee  sibi  quisquam  spondere  potest  \  firmum  et  stabile). 
Der  etwas  sonderbare  Trost  in  den  Worten:  quid  saevior  est  Fortuna 
tibi?  —  „die  Schicksalsgöttin  geht  doch  mit  dir  nicht  grausamer  um 
als  mit  andern"  —  mit  der  folgenden  Erinnerung  an  die  ältere 
Agrippina.  die  Livia  Drusi,  ihre  Tochter  Julia,  die  Messalina  und 
jüngere  Agrippina  findet  seine  Erklärung  in  den  Worten  des  Chores 
der  El.  (153  fF.):  ovroi  ool  f.iovva^  tcxvov,  äxog  icpdvrj  ßgorcov^  TCQog 
0  TL  ov  Tcov  evSov  el  TieQiGod^  olg  öf-iöd-ev  ei  ytal  yova  ^vvai(.iog. 
Möglicherweise  hat  eben  die  Erwähnung  der  Geschwister  Elektrens 
unseren  Dichter  auf  den  Gedanken  gebracht,  Octavia  das  Los  jener 
vorzuhalten.  Das  etwas  Befremdende  des  Trostes  wird  so  erklärlich. 
Die  Anrufung  der  Unterweltsgötter,  mit  der  Octavia  zu  Schiffe  geht, 
steht  in  Elektrens  Klagegesang  V.  110  f. 

Wir  sehen  also  den  Dichter,  dessen  Stück  sich  in  Sprache  und  Kom- 
positionsweise von  den  Seneca-Dramen  nicht  wesentlich  unterscheidet, 
in  manchem  auch  von  Sophokles  abhängig;  man  wird  aber  nicht  sagen 
können,  daß  er  Motive  seines  Vorbildes  in  plumper  Weise  verwendet 
hat.  Natürlich  bin  ich  weit  entfernt,  behaupten  zu  wollen,  daß  der 
Dichter  der  Prätexta  sämtKche  Stellen,  die  ich  herangezogen  habe 
bewußt  nachgeahmt  hat;  von  Nachahmung  im  gewöhnlichen  Sinne  kann 
gleichwohl  eher  Sophokles  als  Seneca^)  gegenüber  gesprochen  werden. 
Indem  der  Dichter  im  Drama  selbst  auf  sein  Vorbild  hinweist,  scheint 
er  geradezu  dessen  Vergegenwärtigung  von  seinen  Lesern  zu  verlangen. 

Daß  die  Prätexta  vor  den  mit  ihr  überlieferten  Seneca-Dramen 
manches  voraus  hat,  wird  man  0.  Ribbeck  (Gesch.  d.  r.  D.  IIL,  S.  88) 
wohl  ohneweiters  zugeben.  Dieser  Vorzug  hat  aber  zum  Teil  seinen 
Grund  auch  in  der  geschickten  Benutzung  der  Elektra  des  Sophokles. 

^)  über  das  Verhältnis  der  Prätexta  zu  den  Seneca-Dramen  vgl.  man  meine  Diss., 
p.  49  ff. ;  was  meine  Zusammenstellungen  bedeuten  (s.  Zeitschr.  f.  d.  ö.  Gymn.  1905,  S.  675), 
versteht  A.  Cima  (Riv.  XXXIV,  S.  530  A.)  immer  noch  nicht.  Aus  den  Seneca-Dramen 
bringe  ich  ihm  zu  viel  Stellen  mit  der  Prätexta  in  Verbindung  (natürlich  habe  ich  da  noch 
einiges  übersehen,  wie  ich  mir  verschiedentlich  anmerkte),  aus  Tacitus  zu  wenig;  da  ist 
freilich  nicht  zu  helfen.  Beziehungen  zu  Prosaschriften  Senecas  sind  in  meiner  Diss.  p.  76  ff. 
besprochen.  Sonderbarerweise  erwähnt  W.  Gemoll  davon  nichts  in  der  Wochenschr,  f.  kl.  Phil. 
1906,  Sp.  1088  ff.,  wo  er  meine  letzte  Arbeit  und  die  Ussanis  „bespricht",  wenn  man  den  Aus- 
druck gebrauchen  darf.  So  hat  es  den  Anschein,  als  ob  mir  entgangen  wäre,  daß  die  Prätexta 
„unter  starker  BenutzungSenecas"  geschrieben  ist.  Gerade  auf  Grund  meiner  Zusammen- 
stellungen in  jener  Dissertation,  auf  die  sich  der  von  Gemoll  angeführte  Nordmeyer  aus- 
drücklich beruft,  kann  dies  heute  jedem,  der  sich  mit  dem  Stücke  beschäftigt,  bekannt  sein.  Auf 
die  Aufstellungen  Gemolls  in  seiner  Besprechung  der  Arbeit  Nordmeyers  (Wochenschr.  f. 
kl.  Ph.  1893,  Sp.  124  ff.)  einzugehen,  schien  mir  bisher  nicht  nötig;  da  er  sie  nun  wiederholt 
hat  (Wochenschr.  1906  a.  a.  0.),  werde  ich  gelegentlich  auf  sie  zurückkommen. 


Eine  noch  unbenutzte  Sallusthandschrift. 

Von 
AUGUST  SCHEINDLER. 


Vor  Jahren  wurde  ich  von  Professor  Dr.  Petschenig  in  Graz  auf 
eine  ältere  Sallusthandschrift  aufmerksam  gemacht ^  die  sich  im 
Benediktiner  stifte  St.  Paul  in  Kärnten  befindet.  Erst  im  verflossenen 
Herbst  kam  ich  dazu,  sie  einzusehen  und  vollständig  zu  vergleichen. 
Sie  wurde  mir  hiezu  auf  meine  Bitte  mit  größter  Bereitmlligkeit 
nach  Wien  geschickt  und  ich  erfülle  eine  angenehme  Pflicht,  wenn  ich 
auch  hier  dem  hochwürdigen  Stiftsarchivar,  Herrn  Professor  Dr.  P.  Sieg- 
fried Christian,  für  sein  überaus  freundliches  Entgegenkommen  meinen 
herzlichsten  Dank  ausspreche. 

Die  Handschrift  trägt  die  Signatur:  alt  XXVII  c,  126,  neu: 
XXVI,  1,  21;  sie  ist  ein  Miszellanband  aus  Pergament  in  Kleinquart 
und  enthält  mehrere  theologische  Schriften  (I.  Variae  admonitiones ; 
II.  Contemplatio  S.  Bernardi  abbatis  de  passione  Domini,  de  dedicatione 
ecclesiae;  III.  De  pulchritudinibus);  dann  folgen  die  beiden  bella  des 
Sallust.  Nach  dem  bellum  Catilinae  enthält  die  Handschrift  auf  der 
unteren  Hälfte  der  Rückseite  des  Blattes  147  und  auf  Blatt  148  ein 
Stück  aus  Boetius  topica,  das  nachträglich,  offenbar  zur  Füllung  des 
leeren  Raumes,  eingetragen  wurde. 

Der  Salkisttext  ist  sehr  schön  und  gleichmäßig  in  Minuskeln, 
wahrscheinlich  in  der  zweiten  Hälfte  des  XII.  Jahrhunderts  auf 
67  Blättern  geschrieben.  Sachverständige,  die  ich  um  ihr  Urteil  über 
das  Alter  der  Handschrift  befragt  habe,  schwankten  anfangs  zwischen 
dem  XI.  und  XII.  Jahrhundert ;  doch  entschieden  sie  sich,  und  zwar 
unabhängig  voneinander,  für  das  XII.  Jahrhundert. 

Zur  Charakteristik  der  Schrift  sei  erwähnt,  daß  sich  am  Schluß 
meist   das   lange  Zeichen  für  s  findet;    doch  kommt  auch  das  kleine  s 


i 


—   201    — 

vor;  ferner  stets  ufürv^);  es  finden  sich  auch  viele  Unterscheidungs- 
zeichen. Punkte  zwischen  den  Wörtern  etwas  über  der  Zeile  und  fast 
desmal  das  Fragezeichen;  die  Präposition  wird  stets  mit  dem  dazu- 
ehörigen  Worten  zusammengeschrieben;  Initialen,  zumeist  in  roter 
arbe,  durchziehen  die  ganze  Handschrift. 

Die  vollen  Seiten  enthalten  eine  ungleiche  Zeilenzahl,  sie 
schwankt  zwischen  26  und  31,  beträgt  jedoch  meistens,  solange  die 
gleichmäßige  Schrift  anhält,  28. 

Auf^  fol.  1  steht  in  roter  Kapitale  die  Überschrift:  INCIPIT 
SALUSTI  LIBRI  CATILINAEII(!).  Es  folgt  nun  der  Text  bis  c.5; 
am  Ende  von  c.  4  steht  gleichfalls  in  roter  Kapitale:  EXPLICIT 
PROLOGUS.  Ebenso  steht  vor  der  Rede  de^Cat.  c.  20 :  ÖR  CATILINE ; 
c.  35.  1  vor  dem  Briefe  Catilinas:  ORAT  CATILINE,  ferner  c.  51 
vor  der  Rede  Caesars:  ORAT  GAYCESARIS  und  c.  52  vor  der  Rede 
Catos:  ORATIO  MARCI  PORCI  C ATONIS.  Nach  dem  Stück  aus 
Boetius  folgt  der  Beginn  des  bell.  Jug.  mit  dem  Vermerk :  INCIPIT 
LIBER  lUGURTHINUS.  Auf  fol.  157  Vorderseite  findet  sich  nach 
c.  17,    2   eine  Weltkarte^).    Von    pag.  c.  56  1    venturum    an  wird   die 


^)  Nur  in  wargunteius  steht  meist  w  statt  v,  und  hie  und  da  findet  sich  am  Anfange  Yfür  v. 

-)  In  einem  Kreise  mit  dem  Halbmesser  von  ungefähr  3  —  4  c/w  sind  in  einem  x\bstande 
von  1  cm  zwei  unterbrochene  Halbkreise  eingezeichnet ;  in  dem  Zwischenraum  stehen  in 
gleichen  Abständen  9  Buchstaben,  und  zw^ar  von  oben  nach  der  Eichtung  des  Uhrzeigers 
a  T  ij)  L  g  X  O  C  2"  (?)  e;  die  beiden  Enden  des  oberen  Halbkreises  verbindet  eine  hori- 
zontale Zickzacklinie,  eingetragen  ist  in  diesen  Raum  nur  Asia  oben,  zava?  links  in  der 
Ecke,  ihrl-m  in  der  Mitte  und  ein  Namen  rechts,  von  dem  nur  P'  ig  leserlich  ist.  Der 
untere  Halbkreis  ist  durch  eine  mit  der  oberen  parallel  gehende,  von  der  Hälfte  nach  unten 
senkrecht  abbiegenden  Zickzacklinie  dreifach  geteilt;  links  steht  im  sonst  leeren  Zwischen- 
raum zwischen  den  beiden  parallelen  Zickzacklinien  tyr';  in  dem  durch  den  Bogen  des 
inneren  Eo-eises,  den  linken  Teil  der  unteren  und  die  senkrecht  zum  inneren  Kreise  ab- 
biegenden Zickzacklinie  eingeschlossenen  Stück  der  Kreisfläche  steht  in  der  IVIitte:  europa, 
in  der  rechten  Ecke  roma  oben,  in  der  rechten  Ecke  unten  hispania;  dann  folgt  ein  Streifen 
zwischen  beiden  Erdteilen :  mediterraneum  mare,  der  unteren  Ecke  zunächst  stehen  die  Namen 
calpe  und  cades:  dann  folgt  das  rechte  Stück  der  Kreisfläche;  das  enthält  die  Namen: 
atlas,  medi,  darunter  libies,  getuli,  ethiopes;  rechts  oben  limens  (?),  darunter  mulucha; 
unter  der  parallelen  Zickzacklinie  stehen  die  Namen:  Cartago,  ^rarabatmon,  darunter 
numidia,  afirica.  Am  linken  Rande  neben  der  Zeichnung  stehen  die  Worte :  tenet  ambitus 
iste,  am  rechten  DIVISÜS  PER  SE  3IUNDÜS;  außerdem  am  rechten  Rande  noch  in  fünf 
Zeilen  4  Verse  aus  Lucan  (Phars.  IX,  411—14  (gegen  Hosius  weicht  der  Text  ab:  412  at 
si  celum  ventosque  sequeris  und  413  neque  enim)  mit  der  Unterschrift  Lucanus.  Die 
Karte  zeigt  also  Ähnlichkeit  mit  den  übrigen  SaUustkarten,  namentlich  mit  der  zweiten 
von  Görlitz,  12.  Jahrh.  nach  Wuttke,  und  der  dritten  von  Leipzig,  Stadtbibl.  13.  Jahrh.  nach 
Wuttke;  vgl.  Dr.  Konrad  MiUer,  die  ältesten  Weltkarten,  m.  Heft,  S.  llOif.  Eine  ganz 
ähnliche,  allerdings  einfachere  Karte  mit  Avenig  Namen  und  ohne  Einzeichnung  der  Meere 
findet  sich  in  zwei  Handschriften  des  Lucan;  siehe  zur  Stelle  die  Ausgabe  von  Franc ken, 
n.  p.  177. 


—   202   — 

Schrift,  die  bisher  sehr  sauber,  sorgfältig,  deutlich  und  gleichmäßig 
war,  flüchtiger,  größer,  ungleichmäßiger  und  weniger  sorgfältig,  doch 
dürfte  sie  immerhin  noch  von  derselben  Hand  herrühren.  Eine  andere, 
jüngere  Hand  setzt  aber  zweifellos  lug.  c.  80,  1  von  nichil  an,  ein; 
sie  ist  ersichtlich  ungeübt,  kopiert  mühsam  und  unvollkommen  die 
frühere,  hält  die  Zeilen  nicht  ein  und  ändert  häufig  die  Lage  der  Buch- 
staben, die  größer  und  ungleicher  werden;  auch  die  Tinte  ist  blässer 
und  die  ganze  Schrift  undeutlicher.  Der  Text  des  bell.  Jug.  reicht  bis 
c.  104,  3  und  endet  mit  dem  Worte  benignitatem.  Von  ganz  junger 
Hand  steht  am  oberen  Eande :  in  nomine  domini  nostri  Jesu  Christi. 
Am  Rande  sind  von  Jug.  c.  17  an  mehrere  Bemerkungen  nachgetragen, 
so  zu  c.  85  ÖRÖCMARIY.  Mit  c.  104,  3  bricht  also  die  Hand- 
schrift mit  dem  Worte  benignitatem  ab;  doch  stehen  die  Worte  qui 
bis  benignitatem  von  derselben  ganz  jungen  Hand  in  drei  Zeilen  am 
unteren  Rand;  die  letzte  regelrechte  Zeile  endigt  mit  Gn.  octavio 
rufone. 

Das  letzte  Fol.  der  Handschrift  enthält  meder  einen  Text  theo- 
logischen Inhaltes. 

Die  Sallusthandschrift  ist  demnach  unvollständig;  sie  war  offen- 
bar einmal  vollständig  und  sind  die  letzten  Blätter  vor  dem  Einbinden 
verloren  gegangen.  Von  der  Jugurthalücke  enthält  sie  jetzt  nur  mehr 
einen  kleinen  Teil,  nämlich  von  quinque  c.  103,  2  bis  c.  104,  3  beni- 
gnitatem. 

Endlich  sei  erwähnt,  daß  die  Handschrift  zahlreiche  Glossen 
interlinear  und  am  Rande  und  einige  längere  Schollen  enthält. 

Die  Stellung  unserer  Handschrift  wdrd  zunächst  dadurch  be- 
stimmt, daß  in  ihr  Cat.  6,  2  die  Worte  ita  bis  facta  erat,  Jug.  21,  4 : 
de  controversiis  bis  disceptare  und  44,  5  die  Worte  muniebantur  ea 
neque  fehlen. 

Was  die  Orthographie  betrifft,  so  liegt  sie  sehr  im  argen;  ich 
führe  zur  Charakterisierung  der  Handschrift  nach  dieser  Richtung  fol- 
gendes an:  die  Eigennamen  sind  durchaus  mit  kleinen  Anfangsbuch- 
staben geschrieben,  stets  hat  die  Handschrift  michi,  nichil ;  für  ae  und 
oe  meist  e,  und  zwar  nicht  nur  im  Aus-  sondern  auch  im  Inlaute; 
im  Auslaute  findet  sich  das  Häkchen  unter  dem  e.  Als  Beispiele 
führe  ich  an  ^j :  que  Cat.  1,  1;  querere  1,  3;  grecia  2,  1;  lace- 
demonii  2,  1;  equabilius  3,  3;  edifficaret  3,  7;  estimo  3,  8;  etas  3,  4; 
celum  48,  1;  sepe  51,  6;  cede  18,  4;  cesar  49,  1;  preterea  48,  4; 
edem  49,  4;  ceteri  51,  2,  dagegen  athaenienses  2,  2;  8,  3;  aliaena  51,  37. 


')  Ich  beschränke  mich  der  Kürze  wegen  in  meinen  Belegstellen  auf  das  bell.  Cat. 


203 


■ 

^V  Ebenso   ist   für   oe    zumeist   einfaches   e   geschrieben :    obedientia 

^■Cat.  1,  2;  immer  cepi  (st.  coepi),  menia  6,  2;  penam  46,  2;  51,  8  usw. 

^V  Das  anlautende  h  fehlt  öfter  in  Formen  von  homo  (Cat.  3,  7),  in 

aveto  35,  6,  actenus  20,  5;  dagegen  findet  sich  wieder  habunde  21,  1. 

Nach  u  (für  v)  steht  immer  u,  z.  B.  uultus,  uultis,  nouus,  uulnus 
uulturcius,  uulgus,  uiuus;  nur  einmal  equom  Cat.  59,  1.  Stets  schreibt 
die  Handschrift:  adolescentulus ,  adolescens,  adolescentia,  formidolosus 
(nur  Cat.  7,  5  formidulosus);  für  ti  steht  immer  ci:  diuicia  (7,6), 
auaricia  (3,  3  usw.) ;  arcium  (3,  4),  uicia  (3,  4)  milicieque  (5,  9),  flagi- 
ciosissima  (5,  9),  iusticia,  potencia  (58,  11),  spacio  (55,  1),  negociis 
(54,  4),  pudicicie  (52,  23),  moUicia  (52,  18),  inerciam  (52,  22),  opulencia 
(52,  9),  sentencia  (51,  21),  ocium  (52,  5),  licencia  (51,  29),  inicium 
(51,  33),  attencius  (52,  18),  silencio  (53,  6),  leticia  (31,  1  usw.),  tri- 
sticia  (31,  1),  concione  (43,  1),  tercium  (47,  2),  sedicio  (34,  2  usw.), 
precio  (50,   1),  inducias  (51,  6),  seuicia  (51,  9)  usw. 

Umgekehrt  steht  auch  für  ci  häufig  ti:  sotiis  (6,  5  usw.)  sotie- 
tatem  (48,  7),  tribunitia  (38,  1),  inditio  (46,  4),  fallatiis  (11,  2),  delitiis 
(31,  3),  fidutiam  (35,  1),  conditio  (20,  6),  ditionem  (20,  7) ,  suspitione 
(35,  3) ;  einmal  sogar  amiticiam  (14,  4)  und  inimiticias  (49,  2). 

Die  assimilierten  Formen  sind  die  Regel,  so  notiere  ich:  immu- 
tatur  (2,  5),  immoderata  (5,  5),  imminutum  (37,  9),  immortales  (51, 
10),  impelli  (44,  1),  impunitas  (30,  6),  imparatam  (17,  1  usw.),  impo- 
neret  (43,  1),  impurus  (15,  4),  impunitos  (51,  5),  comperata  (51,  8), 
impendeat  (28,  2),  implores  (52,  4),  impudicus  (14,  2) ,  imbuta  (11,  3), 
corruptus  (3,  4  usw.),  arrexit  (39,  3),  assequeretur  (5,  6  usw.),  assistit 
(59,  3),  assedit  (31,  7),  assenciebantur  (51,  1),  accitum  (47,  1),  acce- 
debat  (11,  5),  affluerent  (36,  4),  aff'erre  (46,  6),  aggressos  (19,  5), 
appetens  (5,  4),  attriverat  (16,  3),  allatus  (30,  1);  sogar  ammonuit 
(5,  9),  annitente  (19,  1)  und  approbo  (51,  8);  suppetebat  (16,  2),  ille- 
cebris  (14,  4),  illexerat  (16,  1),  coUegam  (26,  3),  collocatis  (45,  2), 
collibuissent  (51,  9),  oppressos  (40,  1);  ja  sogar  Impromptu  (7,  1)  und 
impraesens  (16,  2). 

Dissimilation  begegnet  in  beiden  bella  sehr  selten:  im  Catilina 
nur:  inbutus  (13,  5),  inprouiso  (28,  1),  inponatis  (33,  5),  inpellat 
(40,  1),  inpunitatem  (46,  2),  inmissum  (48,  8),  obpugnatus  (49,  2), 
inpiis  (51,  15),  adtendere  (53,  2),  obstinatis  (36,  4). 

Ebenso  sind  Reste  alter  Schreibart  sehr  spärlich  erhalten  ;  in  beiden 
bella  nur  folgende :  Cat.  24, 2  faciundi ;  46, 2  perdunde ;  48, 5  leniunda ;  48, 6 
faciundam;  Jug.  13,  6  largiundo;  13,  8  ambiundo;  31,  22  faciundi;  35,  3 
gerundi;  37,  3  capiunde;  37,4  potiundi;  54, 5  gerundum ;  63.2  capiundum; 
63,  3  faciundi;  89,  6  potiundi;  93,  2  legunda;  97,  1  faciundi.  Nirgends 


—   204   — 

erscheint  u  für  i  im  Superlativ,  stets  verto ;  von  vester  und  seinen 
Formen  kommt  nur  die  Abkürzung  ur,  ura  usw.  vor ;  docli  weisen  schon 
Formen  wie  uultus  und  ähnliche  den  Gedanken  an  voster  gänzlich  ab. 
Außerdem  hat  die  Handschrift  noch  senati  (Cat.  51,  1),  praesidi  (49,4), 
consili  (51,  37),  pompei  (19,  2),  und  darnach  obnoxi  (20,  7),  insomnis 
(27,  2),  dis  (15,  4),  saucis  (60,  4),  colonis  (28,  4);  nirgends  aber  die 
Endung  des  Plur.  auf  -is. 

Trennung  von  Kompositionsteilen  ist  selten :  ad  eant  (41,  5)  trium 
uiros  (55,  1),  qui  cumque  (37,  10),  medius  fidius  (35,  2) ,  ante  capere 
(32,  1 ;  55,  1),  quo  usque  (20,  9),  enim  uero  (20,  10),  post  quam  (21, 
5),  quam  uis  (23,  6),  ante  hac  (25,  4),  in  erat  (15,  5;  17,  2),  cuius 
uis  (17,  7),  non  dum  (18,  8),  dagegen  priusquam  (44,  3). 

Die  Vokale  e  und  i  sind  hie  und  da  vertauscht:  liniri  (23,  3), 
delectum  (36,  3),  inconsulti  (42,  2),  lapedeis  (55,  5),  uendicemus  (20, 
7),    mauritaniam  (21,  3),  eines  (31,  7),  superiori  (19,  6). 

Einfache  Buchstaben  statt  geminata  notiere  ich:  ocultum  (23,  4), 
oculte  (26,  4),  (gleich  darauf  richtig  occulte  26,  5),  ocupauere  (46,  2), 
ocasionem  (51,  6;  56,  4),  operior  (58,  4),  cominus  (60,  3),  succurere 
(60 ,  4) ;  umgekehrt  geminata  statt  des  einfachen  Buchstabens : 
peccora  (1,  1),  strennuum  (51,  6,  u.  ö.j,  edilFicant  (20,  12  u.  ö.)  flam- 
minium  (36,   1). 

Der  Text  selbst  zeigt  in  mehrfacher  Richtung  erhebliche  Ab- 
weichungen. 

Zumeist  enthält  er  eine  große  Zahl  von  Zusätzen ;  im  b.  Catilinae 
an  85  Stellen. 

Der  längste  ist  9,  1  :  nach  auaritia  erat:  per  na  tu  r  am  maxime 
iusticiam  colebant,  worauf  dann  folgt:  ins  bonum  apud  illos  non 
legibus  magis  quam  natura  ualebat :  derselbe  Einschub,  wie  ihn  g  ^ 
(bei  Dietsch).  eine  Handschrift  aus  dem  XIII.  Jahrhundert  mit  vielen 
Glossen,  enthält;  die  Worte  besagen  nichts  anderes  als:  ins  bonumque 
.  .  .  natura  valebat,  sind  also  zweifellos  eine  in  den  Text  gedrungene 
Glosse. 

Wichtiger  ist,  daß  unsere  Handschrift  an  41  von  diesen  85  Stellen 
allein  den  Zusatz  aufweist.  Die  korrigierende,  erläuternde  Tendenz 
fast  aller  dieser  Zusätze  leuchtet  ohneweiters  ein :  so  ist  5,  2  ab  ado- 
lescentia  sua;  25,  2  liberis  suis  satis  fortunata ;  46,  3  coniirmato 
animo  suo  das  ohnehin  selbstverständliche  Possessiv  ergänzt;  an 
drei  Stellen:  32,  1  que  in  hello  usui  forent;  51,  25  fortuna,  cuius 
libido  in  gentibus  moderatur;  ib.  36  potest  in  alio  tempore  ist  die 
Präposition  unnötigerweise  eingesetzt;  dazu  die  Wiederholung  der- 
selben  20,    3    perignauiam   aut   peruana  ingenia    (entgegen    dem    son- 


m 


205 


M 


stigen  Gebrauche  des  Sallust;  vgl.  Kunze  Sallustiana  III,  2,  S.  188). 
Hieran  reihe  ich  die  Stellen,  in  denen  die  Konjunktion  ergänzt  ist: 
2,  2  et  lacedemonii;  9,  1  ius  que;  16,  4  tuteque  tranquilleque  res; 
20,  11  illos  autem  binas  aut  amplius  domos  continuare ;  31,  1  et 
X  summa  leticia  atque  lasciuia  .  .  .  inuasit;  51,  19  de  timore  uero 
superuacuum  est;  ib.  41  ego  autem  hanc  causam  .  .  .  magnam  puto; 
52,  6  et  non  agitur;  54,  1  igitur  his  genus  et  aetas  eloquentia  prope 
equalia  fuere;  ib.  5  At  catoni  studium  modestie  et  decoris;  55,  6  De 
cethego,  statilio  atque  gabinio  cepario  .  .  .  sumptum  est.  An  zwei 
Stellen  ist  das  Hilfszeitwort  eingesetzt:  40,  2  percontatus  est  pauca  .  .  . 
et;  52,  36  sumendum  supplicium  esse.  An  weiteren  vier  Stellen  ent- 
stand die  Einschiebung  durch  Wiederholung  eines  Wortes  aus  der 
nächsten  Umgebung:  37,  5  postremo  omnes  quos  flagitium  aut  facinus 
domo  expulerat,  hü  omnes  romam  .  .  .  confluxerant ;  51,  5  Sed  post- 
quam  de  hello  confecto  de  rodiis  consultum  est;  52,  35  si  in  me  hercule 
si  peccato  locus  esset;  58,  18  cum  uos  considero  milites  et  uos  facta 
ura  estimo.  An  weitaus  der  größeren  Zahl  der  Stellen  ist  aber  eine 
erklärende  Glosse  ^)  in  den  Text  gedrungen  :  20,  16  in  dies  mihi  animus 
mens  magis  accenditur;  24,  1  Jgitur  comitiis  habitis  consules  declaran- 
tur  marcus  tullius  cicero  .  .  .  25,  5  prorsus  multe  facecie  sales 
multusque  lepos  inerat;  51,  19  cum  praesertim  diligentia  clarissimi 
uiri  consulis  ciceronis  .  .  .  ib.  38  imitari  bonos  quam  inuidere  bonis 
malebant;  52,  12  sint  sane  uri  ciues  quoniam  .  .  .;  53,  6  quin  utrius- 
que  naturam  et  mores  et  animum  .  .  .  aperirem ;  58,  12  Quo  audacius 
adgrediamini  illos  memores  pristine  virtutis;  ib.  19  animus  etas 
uirtus  ura  me  hortantur  praeterea  necessitudo  hortatur.  Ebenso  sind 
sicherlich  auch  folgende  Einschübe  zu  beurteilen :  1 8,  5  Cum  hoc  ca- 
tilina  et  publius  autronius  und  28,  2  Quintus  curius  (Ergänzung 
des  Praenomen);  25,  3  ut  saepius  peteret  uiros  quam  ipsa  peteretur, 
31.  4  tametsi  ipsi  praesidia  parabantur;  48,  2  incendium  uero  crudele 
rei  p.  immoderatum  ...  61,  4  sed  catilina  uero  .  .  .  Wahrscheinlich 
auch  noch  20,  13  At  nobis  domi  inopia,  foris  grande  alienum  es.  Es 
bleibt  somit  eine  Stelle:  13,  2  Quibus  profecto  michi  uidentur  ludi- 
brio  fuisse  diuicie;  hier  liegt  allerdings  die  Erinnerung  an  Cat.  2,  8 
Quibus  profecto  contra  naturam  corpus  uoluptati,  anima  oneri  fuit 
und  ähnliche  Stellen  nahe,  die  der  Lesung  unserer  Handschrift  eine 
ernstere  Bedeutung  verleihen. 

Diesen  Zusätzen    stehen  Auslassungen    im  Texte  gegenüber,    im 
b.  Cat.  an  53  Stellen ,    von  denen  sich  28    nur  in    unserer  Handschrift 


*)  über  die  Glossen  in  der  Handschrift  siehe  unten. 


—    206   — 

finden.  Von  diesen  sind  auf  den  ersten  Blick  als  zufällige  Übersehen 
erkenntlich:  17,  7  fehlt  ea  vor  tempestate,  das  allein  natürlich  sinn- 
los ist;  23,  6  consulatum  nach  et  quasi  pollui  credebat;  das  folgende 
eum  verliert  dadurch  sein  Beziehungswort;  27,  2  neque  vor  insom- 
nia;  29,  3  nach  earum  rerum;  41,  5  ceteros  ad  eant.  poUiceantur ; 
hier  ist  bene  unentbehrlich;  47.  2  quem  sepe  prodigiis  auruspices 
respondissent ;  durch  das  Fehlen  der  Präposition  ex  wird  der  Satz  sinnlos; 
52,  18  tanto  illis  infirmior  erit;  animus  ist  unentbehrlich;  ib.  27,  si 
arma  ceperint;  illi  kann  nicht  fehlen;  ib.  29  prospera  cedunt;  omnia 
ist  für  den  Sinn  notwendig;  ebenso  steht  die  Sache  15,  3,  wo  das 
unentbehrliche  fuisse  nach  causa  fehlt;  hier  ist  es  dem  Schreiber 
ergangen  wie  sonst  öfter,  z.  B.  59,  1,  wo  animus  nach  periculo  im 
Texte  fehlt  und  erst  am  Rande  nachgetragen  ist. 

Diesen  offenbaren  Übersehen  zunächst  stehen  Stellen,  an  denen  die- 
selbe Fehlerquelle  wahrscheinlich  ist:  so  fehlt  que  6,  4  reges  populi  fini- 
timi;  52,  36  conuicti  confessi  und  15,  4  nam  (st.  namque).  Ernstere 
Erwägung  beanspruchen  die  Auslassungen  in  unserer  Handschrift  an 
folgenden  Stellen:  6,  3  sed  postquam  res  eorum  acris  moribus  aucta 
(ciuibus  fehlt  1);  11,  3  fehlt  in  finita  vor  insatiabilis ;  20,  7  Nam 
postquam  res  p.  inpaucorum  ius  atque  ditionem  concessit.  Das  fehlende 
potentium  nach  paucorum  wird  nicht  vermißt,  da  es  eigentlich  selbst- 
verständlich ist,  20,  13  At  nobis  domi  inopia  usw.  Das  fehlende  est 
nach  nobis  scheint  allerdings  sehr  hart;  24,  3  fehlt  homines 
nach  plurimos  cuiusque  generis.  32,  1  fehlt  ex  curia  nach  se;  hier 
dürfte  die  Abkürzung  exe.,  das  nach  se  leicht  ausfallen  konnte,  den 
Ausfall  erklären;  37,.  4  Sed  urbana  plebs  ea  praeceps  erat  (ohne  vero 
nach  ea) ,  wodurch  die  Kraft  des  Ausdrucks  verliert ;  ebenso  denke  ich 
über  44,  6  ne  cunctetur  propius  accedere,  wo  ipse  vor  propius  durch- 
aus notwendig  ist;  dagegen  vermißt  man  50,  2  das  selbstverständliche 
cum  telis  nach  grege  facto  kaum;  51,  36  cui  item  exercitus  sit  st.  in 
manu  sit;  ib.  39  eodem  tempore  st.  eodem  illo  tempore;  ib.  fehlt  sum- 
mum  vor  supplicium,  52,  33  ullis  nach  hominibus  und  57,  5  sed 
vor  postquam  catilina;  6,  7  ist  per  licentiam  nach  putabant  ausge- 
lassen; hier  spricht  die  ratio  sogar  für  unsere  Handschrift. 

Am  auffälligsten  vard  jedoch  die  Handschrift  durch  zahlreiche 
Änderungen  in  der  Stellung  der  Worte  charakterisiert;  in 
dieser  Hinsicht  übertrifft  sie ,  soweit  sich  dies  aus  dem  Apparat  bei 
Dietsch   konstatieren    läßt,    weitaus    alle  übrigen  Sallusthandschriften. 


^)  Vgl.  GrenfeU  und  Hunt,  Oxyrh.  Pap.  VI,  p.  196. 


—   207    — 

So  finden  sich  im  bell.  Cat.  allein  an  147  Stellen  Umstellungen  gegen- 
über der  vulgata,  davon  69  in  unserer  Handschrift  allein. 

Doch  zeigen  auch  diese  vielfach  eine  gewisse  Regelmäßigkeit, 
die  den  Zufall  ausschließen  und  die  Absicht  nicht  verkennen  lassen; 
so  wird  gern  das  Adjektiv  vor  das  Substantiv  gestellt:  Cat. 
11,  6  r(omano)  p(opulo);  19,  3  ab  hyspanis  equitibus;  15,  1  cum 
nobili  uirgine;  23,  3  cum  nobili  uirgene  fuluia;  20,  13  alienum  es; 
33.  2  alieni  eris;  20.  12  suas  diuicias;  31,  9  meum  incendium;  die 
chiastische  Wortstellung  wird  in  die  Parallele  geändert:  15,  5  color 
eins  exsanguis,  oculi  fedi;  ib.  citus  modo,  tardus  modo;  20,  11  in 
extruendo  mari  et  coequandis  montibus;  ib.  13  mala  res,  multo 
asperior  spes;  58,  1  neque  exignauo  strenuum  •  neque  ex  timido 
fortent.  Das  Verb  wird  ferner  von  der  letzten  Stelle  gerückt:  18,  8 
Signum  dare  sotiis;  20,  11  cui  est  uirile  Ingenium;  30,  4  mos  erat 
uendere;  34,  2  oriretur  sedicio;  36,  3  praesidio  sit  urbi;  39,  3 
animos  arrexit  eorum;  45,  1  rem  aperit  omnem;  51,  13  minima 
est  licentia;  ib.  24  neglexeris  inmaiori;  ib.  34  suos  expleuit  diui- 
ciis;  52,  32  huic  obstat  sceleri;  ib.  36  sumendum  supplicium 
esse;  58,  8  in  dextris  portare  uestris. 

Das  Adverb  wird  zum  Verb  gerückt:  16,  4  largius  usi  suo; 
29,  2  plerumque  solet  in  atroci  negotio;  51,  11  non  est  ita;  52, 
12  quoniam  se  mores  ita  haben t.  Der  attributive  Genetiv  wird  vor- 
angestellt: 17,  1  magna  coniurationis  praemia;  18,  6  cedis  con- 
silium;  51,  8  pro  eorum  factis;  dann  wieder  nachgestellt:  30,  3 
decreta  senatus;  36,  5  plerosque  animos  ciuium;  53,  3  uiolentiam 
fortunae.  Vielfach  wird  die  gewöhnliche  Wortfolge  hergestellt:  21,  1 
postquam  ea  accepere  homines;  25,  3  Sed  ei  semper  omnia  cari- 
ora;  37,  9  quorum  parentes  uictoria  sylle;  52,  4  nichil  reliqui 
uictis  fit;    55,  3  Est  locus  incarcere. 

An  anderen  Stellen  wieder  wird  stärkere  rhetorische  Färbung 
gewonnen:  20,  3  uos  fortes  cognoui  fidosque  mihi;  20,  8  nobis  re- 
pulsas  reliquere,  pericula,  iudicia,  egestatem;  ib.  10  uerum  enim 
uero  uictoria  prodeum  atque  hominum  fidem  nobis  in  manu 
est;  29,  2  decreuit  senatus;  ib.  3  Ea  potestas  per  senatum 
maxima  more  romano  magistratui  permittitur;  32,  1  domum  se 
proripuit;  45,  4,  deinde  a  legatis  ubi  desertus  est;  51,  17  uerum 
sententia  eins  non  mihi  crudelis;  52,  15  ubi  ad  defendendum  minores 
opes  sunt;  ib.  35  intra  menia  alii  atque  in  sinu  urbis  sunt  hostes. 
Doch   gibt   es    auch  Stellen,  an  denen    weder  Zufall   noch  Absicht   zu 

I erkennen  ist,  so:  2,  6  Ita  semper  Imperium;  30,  39  metellus 
creticus  inapuliam  quintus  martius  rex  fessulas;  31,  6  editit 
I 


—   208   — 

vor  und  nach  scriptum;  51,  12  aliis  alia  licentia;  ib.  31  ciuitas 
oppressa  seruitute;  ib.  43  ipsos  habendes  permunicipia  in  uincu- 
lis;  52,  18  Si  paulum  uos  modo;  ib.  24  sed  hec  ego;  59,  5  exer- 
citum  ceterum  usw. 

Aber  schon  hier  will  ich  hervorheben,  daß  unsere  Handschrift 
mit  dem  Vaticanus  u.  a.  35,  1  in  magnis  meis  und  58,  11  pugnare 
pro  potencia  paurorum^)  übereinstimmt. 

Ich  komme  nun  zu  den  eigentlichen  Yarianten  selbst,  deren  Zahl, 
wie  schon  aus  dem  bisher  Gesagten  zu  vermuten,  sehr  groß  ist.  Im 
bell.  Cat.  erreicht  sie  nahezu  250;  hievon  sind  gegen  90  unserer 
Handschrift  allein  eigen.  Ich  übergehe  offenbare  Schreibfehler,  wie 
z.  B.  C.  3,  2  quamquam  (st.  quaquam),  3,  4  intanta  (st.  intertanta), 
17,  5  occultioris  (st.  occultius),  26,  5  euenerat  (st.  euenerant),  28,  4 
cupidum  (st.  cupidam),  32,  2  nomine  (st.  numero),  36,  1  signibus  (st. 
insignibus),  36,  3  maturent,  39,  4  extorquet  (st.  extorqueret) ,  40,  5 
propinquum  (st.  propinqua),  51,  39  animaduertebat  (st.  animaduertebant), 
52,  36  sunt  (st.  sint),  54,  6  innocencie  (st.  innocente),  57,  4  tum  (st. 
tamen),  58,  11  via  (st.  vita),  59,  6  eo  (st.  ea)  u.  a.,  denn  derartige 
Versehen  finden  sich  ja  in  allen  Handschriften;  auch  daß  gelegentlich 
et  und  que  vertauscht  werden  (z.  B.  2,  8  vitam  et  mortem  st.  mortemque, 
10,  5  magis  et  magis  st.  magisque,  35,  3  videbam  et  me  st.  meque)  oder 
et  und  at  wechseln  (z.  B.  35,  3  et  alienis  nominibus  st.  at  alienis  nominibus) 
ist  kaum  zu  erwähnen.  Erwähnenswert  ist  jedenfalls,  daß  die  Handschrift 
29,  1 ;  36,  1 ;  47,  2  allein  ante  statt  antea  bietet.  Doch  sind  das  immer- 
hin noch  geringfügigere  Dinge. 

Von  größerer  Bedeutung,  namentlich  für  die  Beurteilung  des  Charak- 
ters der  Handschrift,  sind  jedoch  folgende  Stellen :  C.  34,  1  ut  nüquam  ab 
eo  quis  frustra  auxilium  petiuerit  (st.  ut  nemo  umquam  ab  eo) ;  40,  3  miseriis 
suis  praeter  mortem  nonsperare  remedium  (st.  miseriis  suis  remedi- 
um  mortem  exspectare),  also  derselbe  Gedanke  in  ganz  anderer  Fassung ; 
42,  1  paratis  ut  sibi  uidebatur  magnis  copiis  (st.  ut  videbantur); 
6,  5  Post  ubi  pericula  uirtute  propulerant,  sotiis  atque  amicis  auxilia 
portare  (st.  portabant)  magisque  ....  parabant;  36,  5  atque  uti 
(st.  ac  ueluti);  51,  76  agitouerant  (st.  exagitauerant) ;  51,  26consti- 
tuatis  (st.  statuatis);  51,  19  tuta  (st.  tanta);  58,  17  tenetur  (st. 
habetur);  60,  2  agitur  (st.  geritur). 

An  allen  diesen  Stellen  liegt  entweder  eine  andere  Überlieferung 
vor  oder  die  bewußte  Änderung  eines  sprachkundigen  Korrektors. 


*)  So  aucli  N(azarianus). 


-    209    — 

Als  Produkt  der  korrigierenden  Tätigkeit  nun  verät  sich  die  Schreib- 
weise in  unserer  Handschrift  an  einer  ganzen  Reihe  von  Stellen  dadurch, 
daß  eine  gewisse  ratio  erkenntlich  ist;  so:  Cat.  11,  4  feda  crudeliaque 
inciuibus  (st.  in  ciues)  facinora  facere;  15,  3  uidetur  causa  facinoris 
(st.  facinus)  maturandi;  25,  3  omnia  .  .  cariora  quam  decus  atque 
pudicitia  fuerunt  (st.  fuit);  ebenso  39,  4  magna  clades  atque  cala- 
mitas  rem  p.  oppressissent  (st.  oppressisset) ;  an  diesen  beiden  Stellen 
scheint  die  Verbindung  der  Subjekte  durch  atque  den  Plural  des 
Prädikates  veranlaßt  zu  haben;  35,  3  et  me  mala  (st.  falsa)  suspitione 
alienatum  esse  sentiebam;  42,  2  festinando,  agendo  (st.  agitando); 
42,  2  Sed  ea  diuisa  oc  modo  dicebant  (st.  dicebantur);  45,  2  occulte 
pontem  obsidebant  (st.  obsidunt);  51,  12  multis  eas  (sc.  iniurias) 
grauius  equo  habent  (st.  habuere);  51,  40  Postquam  res  p.  adolevit  et 
multitudine  civium  factiones  ualuere,  circumueniebant  innocentes 
(st.  circumueniri) ;  52,  4  hoc  nisi  prouideris  neaccidat,  ubi  eueniet 
(st.  euenit)  frustra  iudicia  implores;  52,  28  qui  hanc  re  p.  .  .  seruare 
(st.  seruauere);  55,  5  laqueo  galam  frangere  (st.  fregere);  59,  1  in- 
struxit  (st.  instruit);  52,  33  si  non  (st.  nisi)  iterum  patrie  bellum  fecit; 
60,  2  ubi  (st.  unde)  aferentariis  proelium  cömitti  posset. 

An  jeder  einzelnen  dieser  Stellen  erscheint  die  abweichende  Lesart 
unserer  Handschrift  als  das  Ergebnis  grammatikaKscher,  stilistischer 
oder  lexikalischer  Überlegung. 

Aber  diese  kommentatorische  Arbeit  sehen  wir  in  unserer  Hand- 
schrift sogar  noch  mit  eigenen  Augen. 

An  einzelnen  Stellen  finden  sich  nämlich  im  Texte  erklärende 
Glossen  von  derselben  Hand  über  dem  betreffenden  Worte  geschrieben,  so : 

s  bonus  ignauo 

11,  2     sedille  uera  uia  nititur  huic  quia  .  .  . 

luxuriari 
11,  6     amare 

exspectare 
13,  3     operiri 

hispanos 
19,  4     barbaros 

s  catiline 
41,  2     In  altera  parte 

mortem 
51,  20  eam 

post  mortem 

Wiener  Eranos.  14 


210   — 


ib.  ultra 

ideo 

52, 

11  Eo 

i.  inmunicipiis 

15  minores  opes  sunt 

sc.  cesar 

16  non  tinnet 

utile  ee 

ib.  refert 

ut  testatus  est  cesar 

19  fecisse 

catoni 

54, 

2     huic 

consul 

55, 

1     iubet.  ipse 

hortatur 

58. 

19  necessitudo 

planum 

59, 

1  in  locum   equom 

Daß  wir  es  mit  Glossen  und  nicht  Varianten  zu  tun  haben,  beweist 
das  ausdrückliche  i.  (id  est)  oder  sc.  (scilicet),  namentlich  aber  die 
Stelle  56,  3,  wo  über  sparos  „tremel"   also  eine  deutsche  Glosse  steht. 

Wie  solche  Glossen  zu  Varianten  wurden,  wird  deutlich  aus 
folgenden  Stellen:  4,  1  Jgitur  ubi  animus  .  .  .  requieuit  et  ubi  (st.  et 
mii)  reliquani  .  .  .;  26,  5  quas  consulibus  in  martio  parauerat 
(st.  in  campo  fecerat);  51,  4  magis  uolo  (st.  malo);  ib.  11  neque 
cuiquam  hominum  (st.  mortalium);  52,  1  interrogatus  (st.  rogatus); 
ib.  31  ille  egregius  iuuenis  (st.  adulescens). 

Hier  hat  natürlich  die  erklärende  Glosse  das  zu  erklärende  Wort 
im  Texte  verdrängt. 

Diese  erklärende  Tätigkeit  liegt  uns  in  der  Handschrift  noch  in 
umfänglichen  Randnotizen  vor,  die  von  derselben  Hand  geschrieben 
sind;  ich  führe  sie  zur  Charakteristik  der  Reihe  nach  an:  Cat.  14,  2 
steht  im  Texte  pede,  darüber  ein  Zeichen;  am  Rande  mit  demselben 
Zeichen:  pene:  membro  uirili  et  idem  dicitur  penus  oris  substantiam 
domus  signiiicat.  Penus  us  nui  promptuarium  significat.  pene  adverbium. 
Pena  ne  nomen  est.  —  15,  1  zu  ueste:  Vestam  deam  antiqui  terram  et 
ignem  esse  perhibebant  quia  terram  ignem  habere  non  dubium  est  et 
idem  virginem  putabant.  quia  ignis  inuiolabile  est  elementum  nichilque 
na  sei   potest  ex   eo.  quippe    qui    omnia  quae  arripuerit  consumit  unde 


—   211    — 

ovidius:  hec  tu  aliud  uestam  quam  uiuam  intellegi  flammam^).  Nataque 
de  flamma  corpora  nulla  uides.  Propterea  uirgines  ei  seruire  dicuntur 
quia  sicut  e  uirgine  ita  ex  igne  nichil  nascitur.  —  20,  7  Vectigal  est 
tributum  iiscale  et  dicitur  auehendo  eo  quod  accipitur  de  vectis  i.  de 
portatis  mercibus.  —  52,  12  Quia  morte  ,inala  mortalium  dissoluere  per- 
bibuit  ultraque  nee  gaudio  nee  eure  locum  esse.  —  55,  2  fP.  Praetor  a 
praeeundo  di.  i.  praeceptor  inde  praetorium  praeceptor  (?).  Patres  nri 
hie  et  boc  carcer  dixerunt  Pronomen  in  proprium  positum  et  appella- 
tiuum  infFertur  ad  utrumque  sed  sepius  ad  proprium  ut  in  K  Est  locus 
in  carcere.  —  56,  2  legio  sex  milibus  armatorum  legitur;  pabet  autem 
IX  centurias,  XXX  manipulos,  XII  cotortes  ducentas  turmas.  Centuria 
habet  C  milites  manipulus  ducentos.  cohors  quingentos.  turma  XXX 
equites  continet.  —  61,  9  gaudium  est  exultatio.  cordis  et  corporis,  leticia 
tantum  cordis. 

Das  sind  offensichtlich  Notizen  aus  einem  Kommentar  sachlichen, 
grammatischen  und  interpretierenden  Inhaltes. 

Was  ich  nun  hier  im  einzelnen  von  der  Überlieferung  des  bell. 
Cat.  in  unserer  Handschrift  vorgetragen  habe,  erhält  seine  volle  Geltung 
durch  den  im  ganzen  gleichen  Zustand  der  Textesüberlieferung  des  bell. 
Jugurthinum,  auf  den  ich  wegen  Mangels  an  Zeit  und  Raum  diesmal 
im  einzelnen  nicht  eingehen  kann. 

Ziehen  wir  das  Ergebnis,  so  muß  es  dahin  lauten,  daß  unsere 
Handschrift  einen  stark  korrigierten  Text  bietet  und  keineswegs  zu 
den  lauteren  Quellen  zählt,  sondern  mit  großer  Vorsicht  befragt  werden 
muß,  aber  immerhin  befragt  werden  muß;  denn  sie  ist  ein  eigenartiger 
Eepräsentant  ihrer  Klasse,  ergänzt  unsere  Kenntnis  der  Geschichte  des 
Textes,  indem  sie  an  nicht  wenigen  Stellen  ein  besonderes  Stadium  im 
Fortschritt  der  Verderbnis  darstellt,  gleichsam  also  ein  Mittelglied 
bietet  zwischen  der  ursprünglichen  und  der  Fassung  in  anderen  Hand- 
schriften,  in  denen  sich  die  Verderbnis  noch  weiter  fortgeschritten 
findet;  endlich  stimmt  sie  mit  den  besten  Zeugen  an  vielen  Stellen  im 
Guten  und  Schlechten  überein,  ich  meine  mit  dem  Korrektor  p  im 
Parisinus  Sorb.  500  und  mit  dem  Vat.  3864,  deren  Bedeutung  für  die 
Sallustkritik  ich  selbst  wohl  längst  geahnt,  Edmund  Hauler  aber 
endgültig  erwiesen  hat;  so  verweise  ich  nur  auf  folgende  Lesarten :  c.  33, 
1  patria  (mit  V);  51,  5  infida  et  aduersa  (mit  p  in  marg.  und  V);  ib.  12  in 
obscuro  uitam  agunt  (mit  p  in  marg.  u.  V;  52,  18  paululum  (mitV); 
ib.  24  accersunt  (mit  p  in  marg.  und  V  allein);  54,  11  uobis  (mit 
p  V);  ib.  21  cauete  ne  inulti  (mit  V). 

1)  fast.  VI,  291  f.  (natürlich  ist  inteUege  zu  lesen). 

14* 


212   

Über  das  Verhältnis  unserer  Handschrift  zu  den  übrigen  der 
interpolierten  Klasse  läßt  sich  bei  unserer  überaus  mangel-  und  lücken- 
haften Kenntnis  der  Überlieferung  ein  genauer  Nachweis  nicht  einmal 
versuchen,  geschweige  denn  erbringen;  doch  so  viel  glaube  ich  behaupten 
zu  können,  daß  sie  den  Münchener  Handschriften  ziemlich  nahe  steht; 
vor  allem  stimmt  sie  mit  dem  Monacensis  cod.  lat.  4603  (Benedic- 
toburanus  103,  312  bei  Dietsch  I  p.  11)  an  auffallend  vielen  Stellen 
allein  überein. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  Wort  über  die  Jugurthalücke.  Die  Über- 
lieferung unserer  Handschrift  von  Jug.  c.  103,  2  an  ist  nicht  ohne 
Interesse;  mit  anderen  bietet  sie  103,  3  placeat;  ib.  ipsis  permittit; 
5  romanorum  auaritie;  ib.  rati  sunt;  7  beniuolentie ;  ib.  poUicitus;  104,  1 
postquam;  ib.  fehlt  et  vor  de  aduentu;  2  in  qui;  ib.  fit  et  ab  consule; 
3  Omnibus  rebus;  ib.  rufone. 

Neu  sind  folgende  Varianten:  103,  4  deinde  agetulis  in  itinere 
latronibus;  ib.  ille  vor  circumuenti;  5  ut  (st.  uti);  ib.  acurate  (st.  accurate); 
ib.  fehlt  ob  vor  munificenciam ;  104,  1  ipse  vor  intenderat;  ib.  rediit 
cirtam ;  ib.  lucium  bestiam  (st.  L.  Billienum) ;  2  feroces  (st.  ferocius) ; 
ib.  humane  res  nach  quae;  3  mauri  fehlt;  ebenso  cum  vor  Cn.  octavio; 
ib.  adportabat  (st.  portauerat) ;   ib.  nach  regem  steht  bochum. 

Wir  sehen  also:  in  diesen  wenigen  Zeilen  schon  wandelt  unsere 
Handschrift  ihre  eigenen  Wege;  man  kann  sich  vorstellen,  was  die 
Kritik  für  Arbeit  bekommen  hätte,  wenn  die  ganze  Lücke  in  unserer 
Handschrift  erhalten  geblieben  wäre. 


Zum   Sendschreiben   des   Catulus   und  über  die 
Consilia  des  Asinius  Pollio. 


Von 
EDMUND  HAULER. 


I 


Eine  literargesciliciltlich  wichtige  Stelle  ist  uns  in  dem  längeren 
Schreiben  Frontos  an  L.  Verus  (auf  S.  126  der  Naberschen  Ausgabe) 
erhalten.  Fronto  bespricht  darin  einen  brieflichen  Bericht,  den  Verus 
über  seine  Erfolge  (oder,  besser  gesagt,  über  die  seiner  Generale,  besonders 
des  tüchtigen  Statins  Priscus)  gegen  die  Parther  offenbar  aus  dem 
Feldlager  an  den  Senat  gerichtet  hatte.  Dieses  Schriftstück  gibt  Fronto 
Anlaß,  literarische  Vergleiche  mit  den  Reden  und  Briefen  bei  Thucydides 
und  bei  Sallust  sowie  mit  einem  Schreiben  des  Catulus  anzustellen. 
Aber  der  Text  dieser  Partie  war  bisher,  besonders  was  den  Anfang 
und  den  Schluß  anlangt,  schlecht  und  lückenhaft  gelesen,  wie  der 
Wortlaut  bei  Naber  zeigen  kann: 

Extant  epistulae  ver(his  i)doneis  (in)  ser^ie}^)  partim  scribtae 
historiarum,  vel  a  (singulis}  compositae:  ut  illa  Thucydidi  nobilissima 
Niciae  ducis  epistula  ex  Sicilia  missa :  item  apud  G.  Sallustium  ad  Arsacen 
regem  Mithridatis  auxilium  implorantis  litterae  criminosae :  et  Cn.  Fmnpei 
ad  senatum  de  stipendio  litterae  graves :  et  Aderbalis  apud  Cirtam  obsessi 

invidiosae  litterae ^)  omnes postulabat:  breves  nee  ullam  rerum 

gestarum  expeditionem  continentes.  Inlatae  ^)  autefni,  quoiniodo)  scribsisti  tu, 
extant  Catuli  litterae,  quibus  .  .  a  sema  .  .  dico  .  .  historia  tarnen  .  . 
scribenda,  si  ad  senatum  scriberetur  .  .  sensi  horum  suorum  si  in  turmam 

1)  Naber  gibt  nach  Du  Eieu  als  Überlieferung  an :  UCR  .  .  |  DONIS— SER—  und 
fügt  hinzu:  Supplementa  Maii  non  satisfaciunt.  Dieser  liest  p.  129'':  Extant  epistulae 
[variae]   (.ad  fidemy  partim  scribtae  historiarum,  vel  <arte>  compositae. 

')  Im  Palimpsest  soll  nach  Du  Rieu-Naber  in  dieser  Lücke  CIE  .  .  stehen.  Mai  las 
litterae,  <quibus>  omnes  [patres]  postulabat. 

^)  Hiezu  bemerkt  Naber :  Ita  codex :  Maius  'latae'.  Cetera  rix  legi  possimt,  nee 
contulit  amicus  (Du  RieuJ. 


—   214   — 

epistulae  contulisset  necessario  .  .  expeditius  et  de  .  .  quod  [Paterculm]  .  . 
res  inomatius  scribsisse.  Tuae  litterae  et  eloquentes  sunt  ut  oratoris,  strenuae 
ut  duciSy  graves  ut  ad  senatum,  ut  de  re  militari  non  redundantes. 

Naber  hat  sich  bei  der  Gestaltung  des  Anfangs  an  den  Gedanken 
Niebuhrs  angeschlossen,  der  ohne  Kenntnis  vom  Umfange  der  Lücken 
folgende  Fassung  (S.  168)  vorgeschlagen  hatte:  Extant  epistulae  (veteresy 
in  historicorum  lihris,  partim  ah  ipsis  ducibus  scriptae ,  partim  ab 
auctoribus  historiarum  vel  interpolatae  vel  compositae.  Die  Unmöglich- 
keit beider  Textierungen  hat  bereits  H.  Jordan  in  seinem  Aufsatze: 
„Der  Brief  des  Quintus  Catulus  D e  consulatu  suo"  (Hermes  YI  68  ff.) 
gut  dargetan.  Indem  er  den  Anfang  offen  ließ,  hielt  er  einen  Satzschluß 
wie:  partim  scribtae  historiarum  vel  a(nnaliumy,  compositae  für  „sehr  denk- 
bar". Schon  W.  Studemund,  der  die  erste  auf  S.  417  des  Ambrosianischen 
Palimpsestes  stehende  Spalte  (bis  postula\\bat ,  breves)  verglich  und 
darüber  in  der  Epistula  critica  p.  XXVII  f.  berichtete,  konnte  die  Richtig- 
keit dieser  Vermutung  bestätigen.    Er   las   nämlich:    Extant   epistulae 

utraque  \  lingua partim  a  (?) |  ducibus  conscribtae  par\tim  a  scrihtorihus 

histo\Harum  vel  annalium  \  compositae.  Ich  kann  nicht  nur  diese  Lesung  (ab- 
gesehen von  den  mir  wahrscheinlichen  orthographischen  Varianten  Ex- 
(sytant  und  conscriptae)  bekräftigen,  sondern  auch  seinen  zweifelnd  ge- 
machten Ergänzungsvorschlag  partim  ab  ipsis  \  ducibus^)  als  gesichert 
hinstellen. 

Der  unmittelbar  folgende  Text  des  Palimpsestes  stimmt  bis  auf  die 
Sigle  C.  (so  eher  als  G.)  Sallustium  und  apud  Cirtam  obsessi  mit  dem  Mai- 
Naberschen  Wortlaut  überein ;  nach  Cirta  aber  findet  sich  noch  vor  der 
Lücke,  die  das  o  von  (^o^bsessi  samt  einem  Buchstaben  verschlungen  hat, 
sas  mit  einem  Reste  von  1 2).  Es  war  Cirtas  ast^u}  geschrieben,  worin 
der  Plural  die  seit  Traian  inschriftlich  gesicherten  quattuor  coloniae 
Cirtenses  (vgl.G.Wilmanns  C.J.L.VIII  S.618)  bezeichnet.  Die  Lücke  des 
Naberschen  Textes  nach  litteraehai  aber  Jordan  unrichtig  durch  scilicet 
omnes  ut  res  postulabat  breves  nee  ullam  rerum  gestarum  memoriam  conti- 
nentes  auszufüllen  versucht.  Dafür  hat  bereits  Studemund  richtig 
invidiosae  litterae,  verum  omnes,  uti  res  postulabat,  breves  entziffert.  Ich 
füge  hinzu,  daß  sich  die  Worte  bei  Mai-Naber:  nee  ullam  rerum  gestarum 
expeditionem  conthientes  hieran  unmittelbar  anschließen. 


^)  Unter  die  weniger  sicheren  Zeichen  setze  ich  einen,  unter  die  sehr  unsicheren 
zwei  Punkte ;  Ergänzungen  stelle  ich  zwischen  Spitzklammern  <     >. 

2)  Studemund  bemerkt  darüber  a.  0.  weniger  genau :  Tres  primae  huius  verhi  (obsessi) 
litterae  incertissimae  sunt ;  tertia  utrum  s  an  c  fuerit,  dici  neqiiit.  Ante  hoc  participium 
duae  evanidae  litterae  extant ,  quae  aut  ,eo'  aut  ,eu'  aut  similes  aliqiiae  fuerunt.  Das 
von  obsessi  ist  mir  ebenso  wahrscheinlich  wie  das  folgende  s,  dessen  untere  Hälfte  ausgefallen  ist. 


—   215  — 

Darin  weist  expeditio  die  seltene  Bedeutung  „Erläuterung,  Ent- 
wicklung, ausführliche  Darlegung"  auf;  nur  entfernt  ähnlich  ist  die 
Verwendung  dieses  Substantivs  beim  Auetor  ad  Her.  IV  68:  Habet 
paticis  comprehensa  hrevitas  multarum  verum  expeditionem,  da  es  hier  wie 
a.  0.  IV  40  als  Xame  einer  rednerischen  Figur  „Abwicklung,  Er- 
ledigung" heißt.  Jener  Sinn  ergibt  sich  aber  ungezwungen  aus  der 
nicht  ungewöhnlichen  Gebrauchsweise  des-  Zeitwortes  expedire,  z.  B. 
Cic.  Ep.  ad  Brut.  I  15,  1:  Quibus  igitur  litteris  tarn  accurate  scriptis 
adsequi  possum ,  subtilius  ut  explicem,  quae  gerantur  quaeque  sint  in 
re  publica^  quam  tibi  is  exponet^  qui  et  optime  omnia  novit  et  elegantissime 
expedire  et  deferre  ad  te  potest?;  vgl.  Sali.  B.  lug.  5,3;  Tac.  Hist.  IV 
48  u.  a. 

Die  weiteren  Zeilen  hat  Studemund  nicht  mehr  gelesen,  ebenso- 
wenig Du  Bieu.  Wegen  der  stärkeren  Dunkelheit,  tiefer  gehenden  Ab- 
schürfung und  teilweisen  Durchlöcherung  des  Pergaments  bieten  sie 
für  den  Entziffernden  viel  größere  Schwierigkeiten  als  das  Vorher- 
gehende; dazu  ist  gerade  an  den  wichtigsten  Stellen  die  Lesung  durch 
Korrekturen  der  zweiten  Hand  noch  mehr  erschwert.  Nur  nach  oft 
vriederholter  Vergleichung  ist  mir,  wie  ich  hoffe,  ein  nennenswerter 
Fortschritt  gelungen.  Doch  möchte  ich  meine  Angaben  ausdrücklich 
nicht  als  für  alle  Einzelheiten  völlig  abschließend  bezeichnen,  da  der 
rührige  und  gelehrte  Bibliothekar  der  Ambrosiana  Dr.  A.  Batti  diese 
Seite  inzwischen,  wie  ich  erfahre,  vorsichtig  zu  glätten  und  etwas 
zu  lichten  versucht  hat.  Immerhin  wird  das  von  mir  schon  jetzt  Gebotene 
für  Vermutungen  eine  geeignetere  Grundlage,  als  sie  bisher  vorhanden 
war,    darbieten  und  daher  den  Mitforschern  nicht  unwillkommen  sein* 

Was  zunächst  Jordans  Wiederher stellungs versuche  betrifft,  so 
entfernen  sie  sich  in  diesen  Zeilen  ziemlich  weit  vom  Wahren.  Er  liest 
nämlich  auf  S.  79  seiner  Abhandlung:  Latae  autem,  qtw{modo}  scribsisti 
tu,  extant  Catuli  litterae,  quibus  (de  rebusy  a  se  Ma(rioque  gestis  egit  maley 
dice ;  aber  schon  auf  der  nächsten  Seite  macht  er  ohne  Bücksicht  auf 
diese  seine  Gestaltung  folgenden  anderen  Vorschlag:  Latae  autem  quomodo 
tu — ,  maUydicae  (nimisque  redmidantes :y^)  historia  tarnen  scribenda  (^fuit. 
Quody  si  ad  senatum  scribere  (^GaytuKjis  maluisset  rationemque^  consiliorum 
suorum  si  in  formam  epistulae  contulisset,  necessario  (^omnia^  expeditius 
et  -fde  ...  quod  paterculus  (?)  ,  .  .  res  inornatius  scribsisset.  Richtig  ist 
davon  seine  schöne  Vermutung  consiliorum  für  sensi  horum,  ferner 
scribsisset   statt   scribsisse   und   die    schon   von   Niebuhr  vorgeschlagene 


^)  Offenbar  ein  Druckversehen  ist  es,  wenn  eine  Anfangsklammer  sowohl  nach  male 
als  auch  nach  dicae  steht  und  hinter  scribere  ein  Punkt  gesetzt  ist. 


—   216   — 

Verbesserung  in  formam  epistulae  für  das  bei  Mai-Naber  stehende  sinn- 
lose in  turmam  epistulae.  Ebenso  hat  bereits  Niebuhr  wie  Jordan  an 
der  höchst  auffallenden  Erwähnung  des  Paterculus  Anstoß  genommen, 
ohne  aber  eine  Besserung  zu  wagen.  Sachlich  widerlegt  Jordan  zudem 
richtig  die  von  Mai,  Niebuhr,  Naber  und  selbst  in  neuester  Zeit  von 
R.  Büttner  (Porcius  Licinus  und  der  litter.  Kreis  des  Q.  Lutatius  Catu- 
lus  1893,  S.  178)  geteilte  Meinung,  der  hier  erwähnte  Brief  stamme 
aus  Sallusts  Historien  und  sei  dem  jüngeren  Catulus  zuzuschreiben. 
Jeden  Zweifel  dürfte  der  von  mir  entzifferte  Text  beseitigen. 

Ich  lese  statt  inlatae  autem,  quo^modo}  scribsisti  tu,  extant  Catuli 
litterae,  quibu^  .  .  a  sema  .  .  dico   vielmehr :  In  hunc  autem  modum,  \  quo 

scribsisti  tu,  extant  \  Catuli  litterae,  quib(us)  res  \  a  se  iacturis  (Von  m.^ 
über  derZ.:  atq(ue)  damnis  sane  gestas,  at)  lauro  fr  über  der  Z.  von  m. 9 
meren  \  das  histoirici  exe^mplo  \  exposuit;  ve^rum)  turgent  \  elate  (^pyrolata 
teneris  prope  \  {vyerbis.  Besondere  Schmerigkeiten  machte  die  Ent- 
rätselung der  auf  res  folgenden  Wörter  bis  einschließlich  exposuit, 
worüber  ich  das  Wichtigste  in  der  Anmerkung  ^)  beibringe,  im  übrigen 
auf  meine  vorbereitete  Ausgabe  verweise. 

Erklärungsbedürftig  scheint  in  diesen  Worten  nur  die  Wendung  a  se 
iacturis  atq(ue)  damnis  sane  gestas,  at  lauro  merendas  zu  sein.  Der 
Ausfall  der  gesperrt  gedruckten  Worte^  die,  von  der  zweiten  Hand  über- 
schrieben, mir  im  wesentlichen  wahrscheinlich  sind,  wird  durch  das  Abirren 
des  Schreibers  von  atque  auf  at  leicht  erklärlich.  Die  Verbindung  von 
iactura  atque  damnum  erscheint  auch  bei  Cicero  De  leg.  agr.  I  21  flagi- 
tium  huius  iacturae  atque  damni ;  darin  steht  iactura  zutreffend  von  dem 

^)  Auf  das  mir  sichere  a  se  folgt  ein  w?-ähnliches  Zeichen,  das  von  zweiter  Hand 
am  ehesten  in  i  a  c  verbessert  erscheint.  Das  nächste  Zeichen  ist  wohl  t  (nicht  a),  dann  steht, 
obwohl  durch  eine  Lücke  im  Pergament  beschädigt,  doch  sehr  wahrscheinlich  u,  auch  die  fol- 
genden Eeste  weisen  trotz  der  Durchlöcherung  der  Stelle  am  ehesten  auf  ris.  Hier  hat  die 
verbessernde  Hand  eine  Eeihe  von  Buchstaben  überschrieben,  die  trotz  der  Schattenhaftigkeit 
mehrerer  mir  das  oben  Verzeichnete  zu  ergeben  scheinen.  Es  folgt  innerhalb  der  Zeile  ein 
ziemlich  wahrscheinliches  l,  dann  ein  sicheres  a  von  zweiter,  weiter  u  von  erster  Hand; 
darüber  hat  m.'^  schief  r  beigeschrieben.  Der  Eest  dieser  Zeile  ist  fast  ganz  sicher.  Minder 
gilt  dasselbe  von  der  nächsten,  in  der  nur  das  hist  zumeist  erkennbar  ist,  während 
weiter  <rici  exey  durch  eine  Lücke  ganz  ausgefallen,  von  m  nur  schwache  Reste,  größere 
von  ylo  (oder  ple)  erhalten  sind.  Vom  Verbum  exposuit  ist  der  Beginn  undeutlich ,  für 
explicavit  aber,  an  das  ich  auch  dachte,  außer  einigen  wenig  fügsamen  Überbleibseln  der 
Raum  etwas  zu  klein.  Hier  hatte  aber,  wie  ein  Häkchen  (»  der  verbessernden  Hand 
beweist,  ein  Satz  geschlossen.  Auf  ve  folgt  eine  Lücke,  in  der  rum  gut  Platz  findet.  Nach 
elate  (dessen  letztes  e  vielleicht  aus  a  verbessert  ist)  steht  eher  <p^rolata  als  allata ;  der 
Anfangsbuchstabe  der  nächsten  Zeile  (ohne  Zweifel  v)  ist  vor  erhis  ausgefallen. 


—    217   — 

Opfer,  das  absichtlich  gebracht  wird,  um  dadurch  größeres  Unheil  zu  ver- 
hüten, während  damnum  auf  die  Einbuße,  den  Verlust  an  Geld 
und  Geldeswert  hinweist.  Res  lauro  merendae  aber  ist  eine  knappe 
und  prägnante,  vielleicht  aus  Catulus'  Schreiben  selbst  entlehnte  Ver- 
bindung =  Taten,  für  die  der  laurus  (z=z  Jaurea  oder  trimnphus)  der  ge- 
bührende Preis  sein  würde,  also  fast  synonym  mit  res  lauro  donandae. 
Diese  Bedeutung  ergibt  sich  aus  merere  durch  (guten)  Kauf  erwerben, 
(mit  Vorteil)  erkaufen,  erstehen,  wie  Plautus  Most.  281  sagt :  anus  dmni 
sunt  uxores  y  quae  vos  dote  meruerunt,  wo  vos  von  den  viri  dote 
meriti  gebraucht  ist;  ebendarauf  weist  die  Verwendung  des  Substan- 
tivs meritum  als  Preis,  Lohn,  Belohnung,  so  bei  Apul.  Met.  VIII  28 
quäle  .  .  meritum  reportaverit  sowie  in  Donats  Erklärung  zu  Terenz 
Phormio  305  (nihil  suave  meritum  est)  suave  meritum  enim  suavem  mercedem 
signißcat.  Der  attributive  Gebrauch  des  Gerundivs  entspricht  dem  aller- 
dings seltenen,  aber  schon  in  der  Plautinischen  Zeit  üblichen  (wie  bei 
expetunduSy  mirandus  und  pudendus);  hier  wird  merendus  durch  die  Ver- 
bindung mit  dem  vorhergehenden  Participium  Perfecti  gestützt,  zugleich 
durch  den  Gegensatz  der  Begriff  der  erst  zu  vollziehenden  Tätigkeit 
hervorgehoben. 

Fronto  stellt  zunächst  mit  In  hunc  .  .  modum  die  Komposition  des 
Schreibens  des  Q,  Lutatius  Catulus  auf  gleiche  Linie  mit  der  des 
Kriegsberichtes  seines  früheren  Zöglings  Verus.  Beide  gaben  also  nach 
Art  eines  Geschichtschreibers  eine  ausführliche  Darstellung  der  Kriegs- 
taten. Die  Parallele  in  sachlicher  Beziehung  ist  auch  darin  gelegen, 
daß  Verus  gleich  Catulus  anfangs  eine  schwere  Schlappe  erlitten  hatte. 
Dieser  hatte  es  nämlich  nicht  verhindern  können,  daß  seine  Legionen 
vor  der  über  den  Brenner  heranbrandenden  Flut  der  Cimbern  und 
ihrer  Bundesgenossen  zurückwichen  und,  obwohl  er  selbst  die  Waffen- 
ehre zu  retten  gesucht ,  hatte  er  doch  nach  dem  Versäumnis  der 
Besetzung  der  Alpenpässe  sich  auf  das  rechte  Poufer  zurückziehen 
und  alles  Land  nördlich  davon  den  Feinden  überlassen  müssen.  Auf 
diese  für  den  Konsul  Catulus  verlustreichen  Ereignisse  des  Jahres  102 
bezog  sich  offenbar  das  Schreiben.  Denn  bei  Cicero  heißt  es  im  Brutus 
§  lo2  von  demselben  Schriftstücke:  quae  (incorrupta  quaedam  Latini 
sermonis  integi'itas)  perspici  cum  ex  orationihus  eius  potestj  tum  fadllume 
ex  eo  libro,  quetn  de  consulatu  et  de  rebus  gestis  suis  conscriptum 
molli  et  Xenopho7iteo  genere  sermonis  misit  ad  A,  Furtum  poetam,  fami- 
liärem suum.  Die  res  gestae  hatte  man  bisher  auch  und  vor  allem  auf 
Catulus'  Taten  nach  seinem  Rückzuge,  also  auf  sein  Prokonsulat 
und  die  siegreiche  Kooperation  mit  Marius  im  Jahre  101  beziehen  zu 
müssen  geglaubt,    während    sie,    wie  wir   aus  unserer  Stelle  ersehen, 


—   218   — 

ungezwungen  auf  die  Ereignisse  des  Konsulatsjahres  gehen.  Cicero  konnte 
aber  schon  aus  stilistischen  Gründen  die  leicht  zu  ergänzende  und  die 
Verbindung  völlig  erhellende  Präpositionalbestimmung  in  consulatu  oder 
a  se  consule  nicht  in  die  Wendung  de  rebus  gestis  suis  einfügen.  Sicher 
scheint  es  mir,  daß  nach  der  Fassung  unserer  Frontostelle  die  Ansicht 
H.O.Simons  (Vita  Q.Lutatii  Q.  f.  CattiU  in  d.  Festschrift  zur  dritten 
Säkularfeier  des  Gymnasiums  zum  Grauen  Kloster,  Weidmann  1874) 
abzulehnen  ist,  der  S.  14  ff.  des  Separatabdruckes  annimmt,  die  Denk- 
schrift sei  unmittelbar  nach  der  Unterdrückung  des  Aufstandes  des  Satur- 
ninus  und  Glaucia  (100)  verfaßt  worden.  Catulus  habe  damit  die  Römer 
möglichst  bald  über  die  Mißgunst  und  Böswilligkeit  des  Marius ,  der 
ihn  fortwährend  verfolgt  habe,  aufklären  und  ihnen  seine  und  der 
Optimaten  Politik  empfehlen  wollen  ;  diese  Schrift  habe  Marius'  Abgang 
nach  Kleinasien  wesentlich  mitveranlaßt.  Auch  will  er  (S.  7)  das  bei 
Varro  (1.  L.  V  150)  stehende  Zitat  Lufatius  (ohne  irgendwelche  nähere 
Angabe)  mit  einer  Erklärung  des  Namens  lacus  Curtius  in  diese  Schrift 
versetzen,  da  Catulus  bei  Gelegenheit  der  Schilderung  seines  Triumphes 
und  der  Taten  des  Jahres  100  die  beste  Gelegenheit  gehabt  habe,  diese 
örtlichkeit  zu   nennen  i).    Aber  die  Abfassung    des  Schreibens    durch 


')  M.  Schanz,  der  übrigens  auch  die  Abfassung  der  Broschüre  bald  nach  101  setzt, 
weist  in  der  Rom.  Lit.-Gesch.  I  1^,  S.  290  diese  Stelle  den  Commune^  historiae  des  Catulus 
zu,  die  nach  seiner  Ansicht  Göttermythen  und  Lokalsagen  behandelten.  Dieses  Werk  soll 
nach  dem  Titel  xotval  iaio^lai  wissenschaftliche  Untersuchungen  nicht  über  ein  Volk, 
sondern  über  mehrere  Völker  gemeinsam  dargeboten  haben.  Über  die  zum  Teil  unglaub- 
lichen Mutmaßungen  anderer  über  diesen  Titel  vgl.  Schanz  a.  0.  S.  289.  Ich  kann  aber  meine 
Zweifel  über  den  von  ihm  angenommenen  Lösungsversuch  nicht  ganz  unterdrücken.  Die  zwei 
Stellen,  an  denen  das  Werk  wirklich  angeführt  wird:  Prob,  zu  Verg.  Georg.  III  293  (App» 
Serv.  p.  382  Hagen) :  Apollo  autem  dicitur  Musagetes,  quia  Musarum  (dux)  existimetiiry 
ut  Lutatiiis  in  primo  Cotnmunis  historiae  ait,  qui  deorum  curam  egerat  (Haupt  wohl 
richtig:  quod  earum  chorum  regat)  und  Schol.  Dan.  zu  Verg.  Aen.  IX  707:  Postumius  de 
adventu  Aeneae  et  Lutatius  Communium  historiarum:  tioiam  Euximi  comitis  Aeneae 
nutricem  et  ab  eins  nomine  Boias  vocatas  dicunt  sowie  das  wohl  auch  hieher  gehörige 
dritte  Zitat  Schol.  Vat.  zu  Verg.  Georg.  IV  563 :  Lutatius  libro  IV.  dicit  Cumanos  incolas 
a  parenfibus  digressos  Parthenopen  urbem  constituisse  usw.  lassen  sich  wohl  mit  der 
Annahme  vereinigen,  daß  Catulus  in  einer  größeren  Geschichtsdarstellung,  die  auch  oder  vor 
allem  sein  mit  Marius  gemeinsames  Wirken  und  Ringen  behandelte,  seine  und  seiner  Familie 
Biographie,  mit  gelehrten  Notizen  verbrämt,  gegeben  habe.  Nahe  verwandt  scheint  damit  eine 
Vermutung  A.  Solaris  {Riv.  di  fil.  XXXIV  1906,  S.  140),  die  ich  nur  aus  Schanz  (a.  0.  S.  290, 
wo  er  sie  'verfehlt'  nennt)  kenne.  Bei  dem  Preis  seines  Geschlechts  und  der  Erwähnung  des 
Furius  konnte  Catulus  wohl  auf  Apollo  Musagetes  und  auf  Neapel,  bei  der  Schilderung  seiner 
Kämpfe  gegen  die  Cimbern  und  deren  König  Boiorix  auf  die  Etymologie  der  Boii  und 
Boiae  zu  sprechen  kommen.  Man  kann  in  der  Verwertung  von  so  wenigen ,  uns  zufällig 
überlieferten  Bruchstücken  für  die  Deutung  des  Titels  nicht  vorsichtig  genug  sein.  Auf  ein 
historisches  oder  historisch-biographisches  Werk  weist  wohl  auch  der  Titel  der  Schrift 
des  Timaeus  und  die  Verwendung  der  Kotval  iorogiat  als  Quellenwerke  für  die  den 
Autoren  vorangeschickten  biogra])hischen  Notizen  (die  sogenannten  yh'?j)  nach  Dionys.  Hai, 
Opusc.  (Usener-Radermacher  I  260):    dväyy.rj    d'Xacog  jIQÖjtov,    wg  jiaQsXaßov  ix  rd)v  y.oivoiv 


—   219  — 

Catulus  ein  Jahr  nach  dem  Triumphe  ,  zwei  Jahre  nach  den  iacturae 
atque  damna  ist  nicht  nur  an  und  für  sich  unwahrscheinlich ,  sondern 
w^rd  auch  durch  die  Wendung  res  .  .  gestas  .  .  lauro  merendas  ge- 
radezu ausgeschlossen.  Veranlassung  zu  der  wohl  im  Feldlager  ver- 
faßten Schrift  war  die  erwähnte  große  Schlappe,  welche  der  ehr- 
geizige und  von  Marius  und  der  Volkspartei  angefeindete  Mann  mög- 
lichst bald  in  Rom  aufklären  wollte.  Die  Widmung  an  den  Dichter 
A.  Furius  erfolgte  aber  offenbar  in  der  Absicht,  daß  der  künftige  Herold 
seines  Ruhmes  die  bösen  Vorgänge  sofort  in  günstigerem  Lichte  er- 
blicke und  wohl  auch  außer  den  anderen  Vertrauten  weitere  Kreise  be- 
einflusse. Das  Schreiben  könnte  mit  dazu  beigetragen  haben,  daß  Marius, 
der  nach  dem  Siege  bei  Äquae  Sextiae  nach  Rom  gerufen  wurde  und  den 
Triumph  bewilligt  erhielt,  auf  diesen  verzichtete  und  Catulus  zu  Hilfe 
eilte  (Plut.  Mar.  24). 

Wollte  man  aber  durchaus  die  Ereignisse  des  Prokonsulates  mit 
einbeziehen,  so  wird  doch  jedenfalls  zuzugeben  sein,  daß  die  Darstellung 
der  Ereignisse  darin  nicht  über  den  gemeinsamen  Triumph  nach  dem 
Siege  bei  Vercellae  (101)  hinausgegangen  sein  kann.  Denn  alle  bei 
Plutarch  daraus  (oder  aus  den  Commtmes  historiae  ?)  erwähnten  Einzel- 
heiten, die  dieser  höchst  wahrscheinlich  aus  Sullas  Denkschrift  über- 
nommen hat,  fallen  vor  den  Triumph;  die  letzte  betrifft  den  Schiedsrichter- 
spruch der  im  Lager  anwesenden  Abgeordneten  von  Panormus  über  den  Sieg 
(Plut.  Mar.  27).  Unmittelbar  nach  dem  besonders  für  Catulus'  Heer  erfolg- 
reichen Schlachttage  und  noch  vor  der  Bewilligung  beider  Triumphe, 
welche  die  Bürgerschaft  anfangs  Marius  allein  zuerkennen  wollte  (Plut. 
Mar.  27),  ließe  sich  die  Absendung  des  Schreibens  allerdings  auch 
denken.  Aber  die  Stelle  bei  Fronto,  der  offenbar  die  Schrift  gekannt 
und  gelesen  hat,  ist  in  Verbindung  mit  den  Worten  Ciceros  m.  E.  dieser 
Auslegung  nicht  günstig. 

Wenn  ferner  H.  Peter  (Der  Brief  in  der  röm.  Literatur,  Abh.  der 
philol.-hist.  Cl.  der  k.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  1903 ,  S.  243)  behauptet,  daß 
Q.  Lutatius  Catulus  seine  Memoiren  griechisch  geschrieben  dem  Dichter 
A.  Furius  geschickt  habe,  so  ist  hiefür  schon  der  Umstand  wenig 
günstig,  daß  dieser  seine  Taten  in  lateinischen  Versen  besingen  sollte, 
und  daß  es  an  unserer  Stelle  heißt:  In  hunc  autem  modum,  quo  scripsisti 


iaioQicöv,  a  (äg  Handschr.)  v.areXiTiov  'f]^lv  ol  rovg  ßCovg  xG)V  ävbqGiv  ovvxa^aiiBvoi ,  jigoeiTieiv 
(s.  V.  Wilamowitz  Hermes  XII  341  u.  Leo.  Die  griech.-röm.  Biogr.  S.  20  f.).  Die  Überschrift 
Communes  historiae  oder  Communis  historia  könnte  hienach  gewählt  sein,  vielleicht  zugleich 
als  kurzer  Ausdruck  im  Sinne  von  Historiae(a)  rerum  communium  oder  verum  commu- 
niter  (jestarum ,  \^\.  Historia  August a ,  sacra  und  Cic.  Phil.  15  haec  omnia  communiter 
cum  collega,  alio  porro  propria  Dolabellae;  Mur.  11  ut  rebus  communiter  gestis  paene 
simul  cum  patre  triumpharet. 


~   220   — 

tu,  da  Vems  natürlich  lateinisch  an  den  Senat  berichtet  hatte.  Wider- 
legt aber  wird  diese  Meinung  durch  die  schon  angeführte  Cicerostelle 
Brut.  132,  die  klar  das  Gegenteil  besagt:  inconupta  quaedam  Latini 
sermonis  integritas ,  quae  perspici  cum  ex  orationibus  eius  jpotest,  tum 
facillume  ex  eo  lihro,  quem  de  consulatu  et  de  rebus  gestis  suis  conscriptum 
molli  et  Xenopho7iteo  gener e  sermonis  misit  ad  A.  Furium  poetam,  familiärem 
suum.  Dies  hatte  übrigens  Peter  früher  Histor.  Rom.  rell.  I,  p.  CCLXXIII 
selbst  richtig  angegeben. 

Es  ist  eine  nicht  gleich  sicher  zu  beantwortende  Frage,  ob  dieser 
zur  Buchform  gediehene  Brief  des  Catulus  nur  für  den  Dichter 
A.  Furius  zum  Zwecke  der  Verherrlichung  seiner  Taten  bestimmt  war 
oder  ob  das  Schreiben  mit  Jordan  (S.  78)  als  politische  Broschüre  auf- 
zufassen und  mit  dem  ausführlichen  Briefe  Ciceros  an  Pompeius  (pro 
Sulla  67:  epistulam  meam  .  .,  quam  ego  ad  Cn.  Pompeium  de  meis 
rebus  gestis  et  de  summa  re  publica  misi  und  Schol.  Bob.  in  Cic.  or. 
pro  Plane.  85)  auf  gleiche  Stufe  zu  stellen  ist.  Dies  leugnet  H.  Peter 
(Fleck eisens  N.  Jahrb.  CXV  751  f.),  indem  er  die  Verschiedenheit  der 
Adressaten,  von  denen  dieser  eine  politische  Größe  ^  jener  ein  Dichter 
gewesen,  betont  und  alle  Folgerungen^  soweit  sie  sich  „von  den  klaren  und 
bestimmten  Worten  Ciceros  entfernen",  ablehnt.  Aber  gerade  der  Umstand, 
daß  das  Schreiben  Eingang  in  die  Literatur  und  das  Lob  Ciceros  auch 
in  formeller  Hinsicht  fand,  scheint  dafür  zu  sprechen,  daß  es  von 
Anfang  an  nicht  bloß  als  Materialsammlung  für  Furius'  Dichtung  ge- 
dacht war  und  daß  die  Widmung  nicht  als  ein  wesentliches  Moment 
anzusehen  ist.  Der  wahre  Adressat  war  wohl  das  größere  römische 
Publikum.  Freilich,  ob  die  Schrift  aus  einer  Art  Rechenschaftsbe- 
richt an  den  Senat  erwachsen  ist,  scheint  auch  mir  zweifelhaft,  da 
die  folgende  Wendung  Frontos  si  ad  senatum,  scriberetur ,  etiam  caute 
gegen  eine  solche  Annahme  spricht. 

Für  den  Charakter  dieser  Schrift  des  Catulus  gewinnen  wir  ferner 
aus  unserer  Stelle  das  Ergebnis,  daß  sie  mit  gehörigem  Selbstbewußt- 
sein (vgl.  besonders  elate  prolatd)  verfaßt  war.  Der  hochgestimmte 
Ton  des  Aristokraten  stand  aber  nach  Fronto  mit  den  tenera  prope 
verba  des  Textes  nicht  im  Einklang.  Diese  Wendung  ist  ohne  Zweifel 
mit  dem  Ausdruck  molle  et  Xenophonteum  genus  sermonis  bei  Cicero 
synonym.  Der  freundlichere  Ton  bei  diesem  erklärt  sich  aber 
unschwer  aus  der  Sympathie  des  Redners  für  den  fein  gebildeten 
Senator. 

Die  nächsten  Worte  lauten  nach  meiner  Lesung  so:  Historia 
tamen  \  potius^)  splendide  fjer  \  scribenda;  si  ad  senatum  \  scriberctur,  etiam 


—   221    — 

caute.  Damit  erklärt  Fronto  eine  glänzende,  d.  h.  geschmückte  Darstellung 

für  die  Geschichtschreibiing  als  wünschenswert  in  Übereinstimmung 
mit  den  vorherrschenden  Anschauungen  der  Alten;  ebenso  z.  B.  Quint. 
X  1,  ol:  Historia  —  est  enim  proxima  poetis  et  quodam  modo  Carmen 
solutum  —  et  verhis  remotioribus  et  liberioribus  figuris  narrandi  taedium 
evitat.  Dazu  empfiehlt  Fronto  Behutsamkeit  in  der  Fassung  von  Berichten 
an  den  Senat.  Vielleicht  ist  damit  ein  versteckter  Tadel  gegen  Verus'  Be- 
richt ausgesprochen,  obwohl  dieser  am  Schluß  unserer  Stelle  als  nach 
allen  Richtungen  vollendet  hingestellt  wird. 

Wichtiger  ist  das  sich  unmittelbar  Anschließende,  das  ich  so  lese : 
Pollio  2)    As(ini)us    iubilatus  ^)   \  consiliorum    suorum ,     si    ein  \  formam 

epistulae  con\tulisset,  necessario  bre\vius  et  expeditius  et  de(n)\sius ,  si  quod 

interdum  \  respondit  inornatius  \  scribsisset  melius.  \  Tuae  litterae  et  eloquen-\ 

tes  sunt  ut  oratoris ,  stre\\nuae^)  ut  ducis,  graves  \  ut  ad  senatum ,  ut  de 
re  I  militari   non  redunda(n)\tes. 

Der  Name  Pollio  ist  mir  also  sehr  wahrscheinlich.  In  dem  fol- 
genden Asinius  stammt  der  sichere  Anfangsbuchstabe  von  der  Hand  des 
Korrektors ,  der  auch  die  Schlußsilbe  us  aus  os  verbessert  zu  haben 
scheint;  die  Buchstaben  ini  sind  bis  auf  kleine  Reste  ausgefallen.  Die 
Ursprünglichkeit  dieser  beiden  Namen  im  Frontotexte,  die  in  der  gleichen 
Aufeinanderfolge  Pollio  Asinius  auch  sonst  begegnen  (Plin.  N.  H.  XXXVI 33; 
Sen.Contr.IV  praef.  2 ,  p.225M.;  Sen.  Ep.  100,  7  ;  Suet.  Caes.  56;  Plut. 
Caes.  46,  2),  halte  ich  im  ganzen  für  höchst  glaublich. 

Mit  den  unfeinen  Äußerungen^)  der  (7on5^Z^a  Pollios,  die  nach  Fron- 
tos Ansicht  besser  in  Briefform  abgefaßt  worden  wären,  ist  m.  E.  eine 
eigene  Schrift  von  der  wir  bisher  nichts  wußten,  gemeint.  Der  Name  ist, 
wie  ich  glaube,  nach  der  ebenso  betitelten  Ciceros  (De  -consiliis  suis  oder 
Über  consiliorum  suorum)  gewählt.  Diese  mit  Theopompischer  Schärfe  abge- 
faßte, erst  nach  Ciceros  Tod  veröffentlichte  Schrift  bezog  sich  auf  Politik, 
wie  aus  Cassius  Dio  XXXIX  10,  2  hervorgeht:  Bißliov  jusvtoltl  aTtoQQriTov 
ovve&rjTie  %al eTteyQaipev  avTi[)  cog  xal  Tteql  zcov  havTov  ßovlevfidTcov  a/ro- 

^)  Statt  potius  ist  weniger  wahrscheinlich  potens. 

^)  Po  und  das  zweite  l  hat  m.^  korrigiert. 

'*)  Das  Wort  ist  von  l  ab  wohl  schon  von  m.^  verbessert:  statt  tus  (s  von  m.^  hin- 
zugefügt) stand  früher  vielleicht  ta.  Über  der  Zeile  lese  ich  cur  (eher  r  als  l)  io(^se),  von 
w.^  wohl  zur  Hervorhebung  der  seltenen  Form  gesetzt.  Von  derselben  Hand  ist  um  im 
folgenden  Consiliorum  nachgetragen. 

■*)  Hier  beginnt  S.  408  des  Ambrosianischen  Teiles. 

^)  Iubilatus  ist,  soweit  ich  sehen  kann,  eine  bisher  nur  als  Glosse  bezeugte  Form 
(=  öXoXvyfiös,  üQavyrj  dyQoUoiv)  für  iubilum  (Marc  Aurel  bei  Fronto  S.  68  ,  21  N.)  oder 
iuhilatio  (Apul.  Met.  VIII  17). 


—   222    — 

koyiGfxov  Tiva  e'xovuL.  Ihr  Titel  ist  wohl  genau  bei  Boethius  De  inst,  mus, 
I  1:3/.  Tullius  in  eo  Uhro,  quem  De  consiliis  suis  composuit,  etwas  freier 
bei  Asconius  p.  74  (K.-Sch.,  83  Clark):  in  expositione  consiliorum  suorum 
(ebenso  bei  Augustin  c.  lul.  Pelag.  V  5, 23)  und  bei  Charisius  Gr.  L.  1 146,  31 : 
in  ratione  consiliorum  suorum  zitiert.  Darin  wird  Cicero  seine  politischen 
Vorschläge,  Wünsche,  Ziele  oder  sein  Programm  behandelt  habend).  Wir 
werden  danach  auch  von  Pollio,  der  im  Bürgerkrieg  und  nach  der  Ermor- 
dung Caesars  am  liebsten  neutral  geblieben  wäre,  und,  solange  es  ging,  zu- 
wartete und  vermittelte  (vgl.  Cicero  ad  fam.  X  31 — 33),  ebenso  zuerst  im 
perusinischen  Kriege  NeutraKtät  beobachtete  (ebenda  41  und  Appian 
B.  C.  V  33),  später  aber  sich  ganz  von  den  politischen  Kämpfen  zurück- 
zog, annehmen,  daß  er  seine  von  beiden  gegnerischen  Parteien  ungern 
gesehene  und  angefeindete  Haltung  literarisch  rechtfertigte  und 
sein  politisches  Glaubensbekenntnis  offen  darlegte.  Auf  das  Vorhanden- 
sein einer  solchen  Broschüre  scheint  übrigens  auch  das  keiner  seiner  uns 
bisher  bekannten  Schriften  sicher  zuweisbare  Zitat  bei  Charisius  Gr.  L. 
180,  2  f.  hinzuweisen :  Asinius  contra  maledicta  Äntonii :  Volitantque  urbe 
tota  catilli.  Selbst  wenn  die  Stelle  auf  eine  Rede  sich  bezöge,  wie  Grobe 
in  dem  eingehenden  Artikel  in  Pauly-Wissowas  R.-Enc.  IV.  Halbband, 
Sp.  1594  meint,  wäre  doch  deren  Aufnahme  in  unsere  Schrift  nicht 
ausgeschlossen,  da  der  politisch  wie  literarisch  unabhängige  und  frei- 
mütige Mann  sich  gegen  Antonius'  Invektiven,  dem  er  nicht  mehr  hatte 
folgen  wollen,  auf  jede  mögliche  Weise,  also  mündlich  wie  schriftlich, 
verteidigt  haben  wird  2).  Die  in  dem  alten  Vaticanus  3864  (s.  IX — X) 
auf  die  Reden  und  Briefe  Sallusts  folgende  anonyme  Schrift  Ad  Caesarem 
senem  De  re  publica  hat  aber  inhaltlich  und  sprachlich  mit  der  PoUio- 
nischen  m.  E.  nichts  gemein  3). 

*)  Da  die  ConsiUa  mit  Ciceros  ävsadota  (Att.  II  6,  2)  oder  uvsyiöoTov  (XIV  17,  6) 
wahrscheinlich  zusammenfallen  (vgl.  Ed.  Schwartz,  Hermes  XXXII  558  f.,  Schanz  Rom.  Lit.-G.  I 
2^,  S.  389)  und  zu  seinen  Zeiten  als  Geheimschrift  gehütet  wurden,  könnte  die  auffällige 
Stelle  bei  Lyd.  De  mag.  I  30  xovacha  xä  ßovksvfxaxa  xal  f^vartTiä  axefifiara  Xsyezai  Tiag' 
ixeivoic,  djco  rov  ^xördege',  olovsi  xov  xgvjixeiv  damit  in  Zusammenhang  gebracht  werden. 

^)  Vielleicht  könnte  auch  das  bei  demselben  Grammatiker  (Charis.  I  134,  3)  uns 
aufbewahrte  und  von  Grobe  (a.  0.  Sp.  1599)  zweifelnd  in  einen  Brief  versetzte  Bruchstück: 
Insequenti\  Asinius  Pollio  ad  Caesarem  I.:  Insequenti  die  zu  den  ConsiUa  gehört  haben. 
Man  hätte  sich  dann  diese  Schrift  aus  mehreren  Abschnitten  zusammengesetzt  zu 
denken.  Die  einzelnen  Teile,  zu  verschiedenen  Zeiten  entstanden  {interdum  unseres  Fronto- 
satzes  ist  wohl  neben  si  quod,  das  stellen  weises  Vorkommen  des  respondere  inomatius 
bezeichnet,  so  zu  deuten),  dürften  später  vereinigt  worden  sein;  die  Grundidee  des  Ver- 
fassers, die  Verteidigung  seiner  neutralen  Haltung  und  seines  republikanischen  Ideals,  'svurden 
sie  wohl  auch  innerlich  zusammenhalten. 

")  Es  sind  darin  eine  Suasorie,  die  den  Sieg  Caesai*s  zur  Voraussetzung  hat  (4,  8),  und 
ein  Brief  vereinigt,  den  R.  Pöhlmann  „Zur  Geschichte  der  antiken  Publicistik"  (Sitzungsber. 


I 

I 


—   223    — 

Unwahrscheinlicli  dünkt  mich  die  Ansicht,  daß  die  Consüia  Teile  der 
Historien  oder  Reden  Pollios  bezeichnen  sollten.  Der  ganze  Zusammen- 
hang der  Frontostelle  weist  auf  ein  Schriftstück,  das  nicht  eigentliche  Ge- 
schichtsdarstellung war,  sondern  nur  Geschichtliches  behandelte  und 
sich  in  Briefform  kürzer,  flotter  und  gedrängter  hätte  gestalten  lassen. 
Die  Wendung:  si  quod  interdum  respondit  tnornatius  bestätigt  unsere 
Vermutung,  daß  der  Verfasser  darin  auf  Angriffe  zu  antworten  hatte. 
Das  Urteil  über  die  Sprache  der  Schrift  stimmt  nicht  nur  mit  dem, 
was  wir  über  den  Stil  Pollios  aus  den  Briefen  bei  Cicero  entnehmen 
können,  überein,  sondern  auch  mit  dem  ihm  fast  , durchaus  zuge- 
schriebenen Mangel  an  Ebenmäßigkeit  und  Glätte,  vgl.  Sen.  Epist.  100,  7: 
Pollionis  Asiyiii  salebrosa  et  exsiliens  et,  uhi  minime  exspectes,  relictura 
(compositio).  luhilatus  und  inornatius  zeigen  zugleich,  daß  die  Sprache  von 
der  seiner  blumenreichen  Deklamierübungen  (Sen.  Contr.  IV  praef.  3)  ver- 


d.  Münchener  Akad,  d.  Wiss.  1904,  S.  3  if.)  als  durch  den  Staatsstreich  des  Konsuls  C.  Clau- 
dius Marcellus  veranlaßt  ansieht,  „der  sich  —  anfangs  Dezember  50  auf  eigene  Faust  mit 
Pompeius  dahin  verständigte,  daß  derselbe  den  Oberbefehl  über  die  Truppen  in  Italien  und 
zugleich  das  Mandat  übernahm,  dieselben  durch  Aushebungen  in  Italien  zu  verstärken". 
Diesem  Briefe  legt  Pöhlmann  wegen  der  Anspielungen  auf  die  Zeitgeschichte  und  der  darin 
entwickelten  Ideen  höheren  Wert  bei,  als  es  bisher  der  Fall  war,  und  er  glaubt  (S.  71),  daß 
dieser  Teil  „vielleicht  doch  ein  echtes  Erzeugnis  der  publicistischen  Literatur  der  Übergangs- 
epoche von  der  Republik  zur  Kaiserzeit"  sei,  femer,  daß  vielleicht  auch  die  im  Hinblick 
auf  den  Brief  geschriebene  Suasorie  von  demselben  Verfasser  herrühren  könnte.  Weniger 
behutsam  urteilt  soeben  M.  Schanz  (Rom.  Lit.-Gesch.  I  2^,  S.  183  ff.),  der  beide  „Pamphlete" 
Sallust  selbst  zuschreiben  will.  Dagegen  spricht  m.  E.  namentlich  die  Erwägung,  daß  dieser 
seinem  im  J.  50  fünfzig]  ährigen,  dazu  nur  etwa  um  vierzehn  Jahre  älteren  Gönner  nicht  in 
dieser  Form  (ad  senem)  Ratschläge  wirtschaftlicher  und  staatsrechtlicher  Art  hätte  geben 
können.  Die  übrigen,  hauptsächlich  von  H.  Jordan  (De  suasoriis  ad  Caesarem  senem  de 
re  publica  inscriptis  commentatio,  Berlin  1868)  gegen  die  Echtheit  vorgebrachten  sachlichen 
und  sprachlichen  Bedenken  sind  m.  E.  durch  Pöhlmanns  Kritik  noch  keineswegs  völlig 
entkräftet.  Die  aus  Sallusts  Schriften  erborgten,  oft  unzutreffenden  Wendungen  und  der 
noch  altertümlichere  Anstrich  der  Sprache  soll  dessen  „ersten  Versuch  darstellen,  sich  einen 
künstlichen  Stil  zu  bilden".  Da  aber  Schanz  auch  die  Invectiva  Sallustii  in  Ciceronem,  deren 
Situation  ins  Jahr  54  fällt,  von  Sallust,  und  zwar  wohl  in  demselben  Jahre  verfaßt  sein  läßt,  ihre 
Sprache  aber  nicht  die  Sallusts  ist,  so  muß  er  annehmen,  daß  der  Schriftsteller  in  kuraer  Zeit 
seinen  Stil  dreimal  gewechselt  habe ,  da  ja  der  seiner  Monographien  weder  mit  dem  der 
Invektive  noch  dem  der  Suasorie  sowie  des  Briefes  übereinstimmt.  Darauf,  daß  auch  die  Übungs- 
arbeiten der  Invektiven  und  Suasorien  bestimmten  Personen  und  Situationen  galten,  hat 
F.  Scholl,  Rh.  Mus.  LVII  160  bei  verwandter  Gelegenheit  mit  Recht  hingewiesen.  Läßt  sich 
übrigens  die  Charakteristik  Catos  II  9,  3  ingenium  versutum,  loquax,callidum  mit  der  Sallusts 
Cat.  54,  6  esse  quam  videri  honus  malebat  vereinigen?  oder  gar  II  4,  2,  wo  Pöhlmann  unrichtig 
geändert  hat?  Auch  die  Überlief eiung  im  alten  Vatic.  hinter  Sallusts  Reden  und  Briefen,  aber 
ohne  dessen  Namen  und  nach  einem  freigelassenen  kleinen  Zwischenraum  spricht  nicht  für 
Sallustischen  Ursprung  (vgl.  meine  Bemerkung  in  den  AViener  Studien  XVII,  129).  Einem  Jüng- 
ling von  26  Jahren,  der  Mitglied  des  jungrömischen  Dichterkreises  gewesen  war,  wie  Asinius 
PoUio,  könnte  man  noch  eher  ein  solches  Schriftstück  zutrauen.  Auch  wird  ihm  starker  Archais.- 
mus  von  Quintilian  X  1,  113  und  Tacitus  Dial.  21  (Asinius  . .  .  videtur  mihi  infer  Menenios  et 
Appios  studuisse)  zugeschrieben.  Aber  man  erwartet  von  einer  so  selbständigen  Persönlichkeit 
anderes  und  besseres.  Dazu  zeigte  nach  der  Frontostelle  die  Schrift  PoUios  nicht  die  Briefform. 


—    224   — 

schieden  war;  er  hatte  danach  in  den  ConsiUa  seinen  schriftstellerischen 
Charakter  nicht  verleugnet,  den  Tacitus  im  Dial.  21  durus  et  siccus  nennt. 
Jenes  Substantiv  bringt  endlich  das  Selbstgefühl  und  die  Ungebunden- 
heit  Pollios  glücklich  zum  Ausdruck. 

Vielleicht  ist  es  nicht  überflüssig,  den  Text,  wie  ich  ihn  entziffert 
und  wiederhergestellt  zu  haben  glaube,  im  Zusammenhang  zu  wieder- 
holen, ohne  auf  die  Einzelheiten  der  Überlieferung  nochmals  einzugehen : 

Ex{sytant  epistulae  utraque  lingua  partim  ab  ipsis  ducibus  conscriptae, 
partim  a  scribtoribus  historiarum  vel  annalium  compositae^  ut  illa  Thucy- 
didi  nobilissima  Niciae  ducis  epistula  ex  Sicilia  missa,  item  apud 
C.  Sallustium  ad  Armeen  regem  Mithridatis  auxilium  inplorantis  litterae 
criminosae  et  Cn.  Pompei  ad  senatum  de  stipendio  litterae  graves  et 
Ad(}i)erbalis  apud  Cirtas  ast(u  o^bsessi  invidiosae  litterae,  verum  omneSy 
utires postula\\bat,  breves  nee  ullam  rerum gestarum  expeditionem  continentes. 
In  hunc  autem  modum,  quo  scrihsisti  tu,  extant  Catuli  litterae,  quibus  res  a 
se  iacturis  atque  damnis  gestas,  at  lauro  merendas  histo<^rici  exe^mplo  exposu- 
it;  ve^rum}  turgent  elate  (^p^rolata  teneris  prope  (v^erbis.  Historia  tamen 
potius  splendide  perscribenda ;  si  ad  senatum  scriberetur,  etiam  caute.  Pollio 
Äsinius  iubilatus  Consiliorum  suorum,  si  in  formam  epistulae  contulisset, 
necessario  brevius  et  expeditius  et  densius,  si  quod  interdum  respondit  inorna- 
tius,  scribsisset  melius.  Tuae  litterae  et  eloquentes  sunt  ut  oratoris,  stre\\nuae 
ut   ducis,  graves  ut  ad  senatum,  ut  de  re  militari  non  redundantes. 

Der  vielbespöttelten,  aber  aus  der  Zeitströmung  unschwer  erklär- 
lichen Vorliebe  Frontos  für  die  ältere  Literatur  verdanken  wir  somit 
auch  die  Erhaltung  näherer  Nachrichten  über  das  zu  Ciceros  Zeit  fast 
schon  verschollene  Schreiben  des  Catulus  und  über  Pollios  ConsiUa, 
von  denen  uns  sonst  jede  Kunde  fehlt. 


Wiener  Eranos. 


Masstat  l! 

1 1 i 


Verlag  von  Alfred  Holder,  k.  u.  k.  Hof-  und  Uni> 


Kromajer.  Heirkte,  Karte 


J$o)a  äelU  Prmmiu 


Verlag  von  Alfred  Holder,  k.  u.  k.  Hof-  und  Universitätsbnchhändler,  Wien.  —  Druck  von  Gottlieb  Gistel  &  Cie.,  Wien, 


Heirkte. 


Von 

JOHANNES  KROMAYER. 

(Mit  1  Karte.) 


Der  Monte  Pellegrino  bei  Palermo  gehört  unstreitig  zu  den  land- 
schaftlich und  historisch  interessantesten  Punkten  des  an  landschaft- 
lichen Schönheiten    und   geschichtlichen  Erinnerungen    so    überreichen 

Abbild.  1. 

Telegrafo 
Prozessionsstraße  (Scala) 


Aioi.t.-   1.1.   _  Palermo  aus  geseluMi. 

sizilianischen  Eilandes :  Als  gewaltig  imponierende  kahle  Felsmasse 
mit  vielfach  fast  senkrecht  abstürzenden  Wänden  steigt  der  Berg  aus 
der  umgebenden  Ebene  auf,  vollständig  isoliert  von  den  anderen  Ge- 
birgen des  Landes  und  von  der  Seeseite  her  kenntlich  als  weithin 
sichtbare  Landmarke,  die  dem  Schiffer  schon  von  ferne  kundtut,  daß 
€r  sich  seinem  Reiseziele  zu  nähern  im  Begriffe  ist. 


Wiener  Eranos. 


15 


—    226   — 

Historisch  betrachtet  beruht  das  Interesse  an  diesem  bedeutsamen^ 
Punkte  in  erster  Linie  auf  den  Vorgängen  des  ersten  Punischen 
Krieges,  da  es  nach  bisher  allgemein  herrschender  Ansicht  dieser 
Berg  gewesen  ist,  welchen  sich  Hamilkar  Parkas,  der  genialste  kartha- 
gische Kondottiere  dieses  Kampfes,  als  Operationsbasis  erwählt  hatte, 
um  von  hier  aus  Sizilien  gegen  Roms  Übermacht  zu  halten  und  die 
Römer  in  ihrem  eigenen  Gebiete  zu  beunruhigen.  Heirkte  i),  so  nennt 
Polybios  den  Berg,  auf  welchem  Hamilkar  sich  festgesetzt  hatte  und 
von  wo  aus  er  drei  Jahre  lang^j  trotz  der  sinkenden  Kräfte  Karthagos 
den  Krieg  mit  aggressiver  Tätigkeit  und  wachsendem  Erfolg  geführt  hat. 

Es  war  bei  der  Wichtigkeit  dieser  Stätte  für  die  Geschichte  der 
Punischen  Kriege  ganz  natürlich,  daß  eine  Expedition,  welche  zur  Er- 
forschung der  Schlachtfelder  des  zweiten  Punischen  Krieges  ausgesandt 
war,  auch  den  Besuch  dieses  Punktes  mit  in  ihr  Programm  einschloß, 
und  so  benutzten  wir ,  der  Herr  Hauptmann  Veith  und  ich,  den  Auf- 
enthalt in  Sizilien  vor  unserer  Überfahrt  nach  Afrika  dazu ,  diesen 
Berg  zu  besteigen  und  näher  zu  untersuchen. 

Wir  fühlten  uns  dazu  um  so  mehr  angeregt,  als  manches  in  den 
historischen  Berichten,  die  wir  besonders  dem  Polybios  verdanken,  und 
in  seinen  ausführlichen  Beschreibungen  der  Örtlichkeiten  nicht  gut  zu 
dem  Bilde  zu  passen  schien ,  welches  man  nach  den  Karten  von  der 
Stätte  des  Monte  Pellegrino  zu  erwarten  hatte.  (S.  d.  Karte.) 

Wir  brachen  in  der  Frühe  zu  Fuß  von  Palermo  auf,  erstiegen 
auf  der  sogenannten  Skala,  der  Prozessionsstraße  zur  heiligen  Posalia, 
von  Süden  her  die  Höhe  und  erklommen  den  höchsten  Gipfel  des  ganzen 
Berges,  auf  dem  der  Telegraph  steht.  Dann  ging  es  teils  am  Rande  des 
Plateaus,  teils  mitten  hindurch  bis  zu  dessen  nördlichstem  Punkte  404,  von 
wo  wir  versuchten,  unter  großen  Schwierigkeiten  und  Klettereien  ohne 
Weg  in  nördlicher  Richtung  abzusteigen.  Das  stellte  sich  indessen  als 
ganz  unmöglich  heraus,  und  wir  wollten  schon  wieder  umkehren ,  als 
es  dem  Hauptmann  Veith ,  der  infolge  seiner  vielfachen  Wanderungen 
im  Karste  für  solche  Felsformationen  ein  sehr  geübtes  Auge  hat,  zum 
Schlüsse  noch  gelang,  an  der  Nordwestseite  des  Grates  einen  allerdings 
sehr    unbequemen   Abstieg    zu    entdecken,    die    sogenannte    Pertica^j. 

^)  Der  Berg  heißt  genau  genommen  niclit  Heirkte,  sondern  dieser  Name  kommt 
einem  Kastell  zu,  welches  in  der  Nähe  des  Berges  lag.  So  wird  das  Wort  sowohl  von  Diodor 
gebraucht,  der  es  zwv  'Eq^czmv  to  öyvgcojua  und  Eqxti^v  cpqovQiov  nennt  (XXII  10,  4  und 
XXIII  20),  als  auch  von  Polybios  (1 56,  3),  nach  welchem  Hamilkar  xov  stzI  zijg  ElQHifjg 
Xeyofievov  rÖTiov  besetzte.  Ich  folge  indessen  der  eingebürgerten  Gewohnheit,  den  Berg  selber 
so  zu  nennen.  Über  die  wahrscheinliche  Lage  des  Kastells  siehe  unten  pag.  244. 

2)  Pol.  156,  11. 

»)  Der  Name  bei  Schubring  S.  26  und  ReveUi  S.  23,  s.  d.  folg.  A. 


227 


(S.  Abbild.  2.)  Es  ist  ein  schmaler,  sehr  steiler,  nur  für  einen  Einzelnen 
passierbarer,  zum  Teil  mit  Stufen  in  den  Fels  gehauener  Pfad.  Die  Be- 
trachtung der  Ostseite  des  Berges  von  unten  her  und  die  Besichtigung 
des  Hafens  Mondello  bildeten  den  Schluß  dieses  Tagemarsches. 

Das  Resultat  unserer  Untersuchung  war,  daß  dieser  Berg  un- 
möglich der  Heirkte  des  Polybios  sein  kann,  da  eine  ganze  Anzahl  von 
militärischen  Unmöglichkeiten  und  topographischen  Widersprüchen  mit 
der  Beschreibung  des  Polybios  diese  Grleichsetzung  unhaltbar  macht. 
Bisher  allerdings  ist,  soviel  ich  sehe,  an  der  Identität  beider  Örtlich- 
keiten nie  gezweifelt  worden,  sondern  seit  Fazello  (1558)  haben  alle 
Darsteller  des  ersten  Punischen  Krieges  und  auch  alle  Topographen 
Palermos  und  seiner  Umgebung  diese  Gleichsetzung  angenommen,  ohne 
sich  jedoch   über   ihre    Möglichkeit   nähere   Rechenschaft   zu    geben,  i) 


Abbild.  2 


Nördlicher  Auslaufgrat  des  Monte  Pellegrino,  von  Norden  gesehen  (mit  Pertica). 


^)  Eine  Aufzählung  der  Vertreter  dieser  Ansicht  ist  zugleich  eine  Aufzählung  der 
Literatur  über  die  Frage  überhaupt.  Ich  gebe  die  einzelnen  Werke  hier  mit  vollem  Titel, 
um  später  kurz  darauf  verweisen  zu  können:  Fazello  Tomm. :  de  rebus  Siculis  decades  duae, 
1558  bei  Graevius,  thesaurus  antiqu.  Italiae  tom.  X  4  a  p.  427  E.  Cluver  Phil.  1619 :  Sicilia 
antiqua,  11  3,  bei  Graevius,  tom.  X  1,  wonach  ich  zitiere.  Inveges  1649  bei  Graevius,  tom.  XIV 
S.  16.  Amico,  1757:  Lexicon  topograph.  Siculum.  3  Bde.  (neu  bearb.  v.  Gioach,  di  Marzo  1858, 
2  Bde.),  tom.  11244  f.  Swinbume  1783:  Travels  into  te  two  Sicilies.  Deutsch  v.  Forster, 
1785.  II  210.  Smyth  W.  H.  1824:  Memoir  of  Sicily  and  his  islands.  Hudemann  1842: 
Progr.  Schleswig.  Hamilkars  Kampf  usw.  Dennis  1864  :  Handbook  for  travellars.  Amari : 
Storia  dei  Musulmani.  1318.  II  443.  Schubring  1870:  Die  bist.  Topographie  v.  Panormus, 
Progr.  Lübeck.  S.  24  ff.  Holm:  Geschichte  Siziliens  1870—1898.  Italienisch  von  Dal  Lago  u. 
Graziadei.  Eevelli :   Monte  Pellegrino  in  Zeitschr.  Sicula  Juli — Okt.    1906.  Gaetano  Columba 

15* 


—   228    — 

Die  imponierende  Gestalt  des  Berges,  der  die  Ebene  zu  beherrschen 
scheint  und  Palermo  aus  nächster  Nähe  bedroht,  die  steilen,  unersteig- 
lichen  Felswände,  von  denen  er  begrenzt  ist,  das  ebene  Plateau  auf 
der  Oberfläche,  das  sich  für  eine  Armee  als  Lagerplatz  vorzüglich  eignet, 
alles  das  mußte  dem  Laien  die  Vorstellung  erwecken,  daß  es  sich  hier 
um  eine  Position  ersten  Ranges  handle,  die  den  für  Hamilkar  erforder- 
lichen Bedingungen  und  der  von  Polybios  geschilderten  Natur  des  Berges 
vortrefflich  entspreche. 

So  hat  man  die  Schwierigkeiten ,  die  dabei  vorliegen,  meist  ganz 
übersehen  oder  sich  leicht  über  sie  hinwegzusetzen  gesucht. 

Nur  Adolf  Holm  geht  in  seiner  Geschichte  Siziliens  Bd.  III,  S.  29 
auf  eine  derselben  näher  ein,  ohne  sie  jedoch  in  ihrer  vollen  Bedeutung 
zu  erfassen  und  ohne  die  nötigen  Konsequenzen  daraus  zu  ziehen.  Er 
sagt  nach  Erzählung  der  Besetzung  des  Berges  durch  Hamilkar  und 
seiner  dreijährigen  Kämpfe  gegen  die  Römer  hierselbst:  „Übrigens  ist 
doch  manches  wunderbar  bei  dieser  Geschichte.  Es  ist  besonders  seltsam, 
daß  die  Römer,  wenn  sie  nun  einmal  die  Heirkte  selbst  nicht  nehmen 
konnten,  den  Hafen  derselben  nicht  nahmen.  Denn  man  kann  nicht 
eigentlich  sagen,  daß  die  Bucht  von  Mondello  vom  Monte  Pellegrino, 
der  gerade  dort  recht  niedrig  ist,  beherrscht  werde.  Oder  sollten  wir 
annehmen,  daß  der  Hafen  mehr  nach  Palermo  zu,  unter  dem  Gipfel 
des  Pellegrino  lag,  wo  es  ja  auch  kleine  Buchten  gibt?''i) 

Hier  ist  also  die  ganz  richtige  Erkenntnis  vorhanden ,  daß  der 
nördlich  vom  Pellegrino  gelegene  Hafen  von  Mondello,  der  gewöhnlich 
für  Hamilkars  Schiffsstation  angesehen  wird,  für  diesen  Zweck  nicht 
geeignet  sei.  (S.  Abbild.  3.)  Aber  diese  Erkenntnis  hat  Holm  auf  den 
unmöglichen  Ausweg  verfallen  lassen,  diese  Schiffs-  und  Flottenstation,  die 
allein  seinen  Verkehr  mit  der  See  aufrecht  erhielt  und  der  Ankerplatz  der 
bedeutenden  Kriegs-  und  Verproviantierungsflotten  für  seine  Armee  war. 


bei  Mirabello:  Monografia  storica  dei  porti  dell'  antichitä  nel  Italia  insolare,  Roma  1906. 
S.  272  ff.  Ebenso  die  Historiker  Niebuhr  r.  G.  III  719  (1832),  Mommsen,  Ihne .  Meltzer  11 
341  usw.  Nur  Mannert  S.  388  erklärt  den  Heirkte  für  den  Berg  Baido  am  Kap  S.  Tito, 
was  niclit  möglich  ist,  weil  der  Berg  nach  Pol.  I  56,  3  u,  11  im  Gebiete  von  Panormus, 
und  zwar  nicht  allzufern  von  der  Stadt  selbst  gelegen  haben  muß.  Dei  Grund,  den  Holm 
I  344  gegen  Mannert  anführt,  daß  die  Römer  ihr  Lager  Hamilkar  gegenüber  5  Stadien 
vor  der  Stadt  gehabt  hätten,  ist  allerdings  nicht  stichhältig.  S.  unten  S.233. 

^)  Diese  Ansicht  ist  von  Holm  in  der  italienischen  Übersetzung  seiner  Geschichte 
Siziliens  zwar  wieder  aufgegeben,  scheint  aber  von  Amari  festgehalten  zu  werden,  der  I  319  A 
den  früheren  Namen  von  Vergine  ]\[aria,  der  „Barca"  lautete,  mit  Hamilkar  Barkas  in  Be- 
ziehung bringen  möchte.  Nach  anderen  hieß  Barca  der  ganze  Küstenstrich  von  Palermo  bis 
zum  Pellegrino  hin.  Amari,  Bibliotheca  arabo-sicula  I  120.  Inveges  p.  358  f.  La  Lumia, 
Palermo  e  il  suo  passato,  Palermo  1875,  p.  10. 


229   

an  den  Ostfuß  des  Pelle^rino  zu  verlegen.  Ein  Blick  auf  die  Karte 
genügt  aber,  um  zu  erkennen,  daß  die  Küste  an  dem  felsigen  Absturz 
des  Pellegrino  fast  geradlinig  verläuft  und  die  winzigen  Biegungen 
bei  S.  Antimo,  Vergine  Maria  und  Arenella  vielleicht  gut  als  Landungs- 
plätze einzelner  Fischerbarken  sind,  aber  niemals  als  dauernde  Station  für 
eine  größere  Flotte  dienen  konnten,  die  an  dieser  ganzen  felsigen  Steilküste 
vielmehr  schutzlos  den  Stürmen  von  Nord,  Ost  und  Süd  preisgegeben 
wäre.  Auch  das  beliebte  Auskunftsmittel,  für  frühere  Zeiten  eine  andere 
Geländegestaltung  anzunehmen ,    „weil  das  Ufer  dieser  Gregend  —  wie 

Abbild.  3. 
Montagna  del  Gallo  Bucht  von  Mondello 

Ansiaufgrat  des  Pellegrino 


Hafen  von  Mondello  und  nördlicher  Auslaufgrat  des  Monte  Pellegrino,  von  Süden  gesehen. 

Holm  meint  (S.  354)  —  sich  sehr  geändert  haben  kann  durch  Hebung 
des  Landes''  verfängt  hier  nicht.  Ein  Blick  auf  die  Karte  belehrt  uns 
nämKch,  daß  die  Höhenlinien  an  der  ganzen  Ostseite  des  Pellegrino 
alle  ebenso  geradlinig  verlaufen,  wie  heute  die  Küste.  Wenn  das  Wasser 
selbst  bis  zur»  Höhe  des  Plateaus  stiege,  ein  Hafen  käme  hier  doch  nie 
zustande.  Auch  hätte  die  Flotte  hier  unten  mit  dem  Heere  oben  auf 
dem  Pellegrino  absolut  keine  Verbindung  gehabt.  Die  Felsen  fallen  an 
der  ganzen  Ostseite  fast  senkrecht  ab,  und  Herr  Themistokles  Sona  hat 
von  dieser  Seite  her  vergeblich  den  Berg  zu  ersteigen  versucht.^)    Es 


1)  ßeveUi,  S.  24. 


—    230   — 

muß  also  dabei  bleiben,  daß  der  einzige  Hafen,  der  beim  Monte  Pelle- 
grino  in  Betracht  kommen  könnte,  der  Hafen  von  Mondello  wäre,  i) 

Hier  hat  nun  aber  Holm  ganz  richtig  gesehen,  daß  derselbe  gar 
nicht  im  Schutze  des  Pellegrino  liegt,  sondern  nach  der  Ebene  zu  ganz 
offen  ist ,  weil  der  Berg  mit  seinen  Ausläufern  kaum  an  das  südliche 
Ende  heranreicht.  Daß  der  Pellegrino  hier  nicht  mehr  so  hoch  ist,  tut 
allerdings  nichts  zur  Sache,  desto  mehr  aber,  daß  er  zu  steil  ist  und 
deshalb  keine  Verbindung  mit  dem  Hafen  hat. 

Denn  die  eben  erwähnte  Pertica,  die  wir  heruntergegangen  sind, 
kommt  nicht  in  Betracht,  da  sie  zu  weit  landeinwärts  den  Fuß  des 
Berges  erreicht,  wegen  ihrer  Steilheit  und  Enge  nur  einzelnen  Fußgängern 
Platz  gewährt  und  daher  überhaupt  nicht  als  militärisch  brauchbare 
Verbindung  angesehen  werden  kann. 

Auch    sonst    ist   eine  solche  hier  nicht  vorhanden. 

Allerdings  soll  auch  noch  an  der  Ostseite  des  Grates  bei  AUauro 
ein  Pfad  auf  den  Berg  hinaufführen.  Wir  haben  ihn  nicht  gefunden, 
und  auf  der  italienischen  Generalstabskarte  ist  er  nicht  verzeichnet; 
auch  wußten  die  Eingeborenen,  die  wir  an  Ort  und  Stelle  befragt  haben, 
nichts  davon.  Trotzdem  will  ich  nicht  in  Abrede  stellen,  daß  hier  irgend- 
wo ein  Ziegenpfad,  ähnlich  wie  die  Pertica,  in  irgend  einem  Felsspalt 
oder  über  eine  Schutthalde  hinaufführen  mag.  Denn  es  wird  von  Italienern, 
die  den  Berg  untersucht   zu    haben    scheinen,    behauptet. 2)    Aber  eine 

^)  Columba  bei  llkßrabello  hat  allerdings  noch  einen  anderen  Ausweg  versucht. 
Er  meint  S.  280,  daß  die  Ankerplätze  Hamilkars  bei  Acquasanta  und  südlich  davon  bei 
Lazaretto,  Consolazione  und  Santa  Lucia,  also  bis  in  den  heutigen  Hafen  von  Palermo  hinein 
gelegen  hätten.  "Wäre  das  richtig,  so  hätte  Polybios  weder  von  einem  Hafen  sprechen 
können ,  noch  davon ,  daß  Hamilkars  Lager  oben  auf  dem  Berge  gewesen  sei.  Denn  ein 
Hafen  ist  diese  über  2  km  lange,  mehrfach  gewundene  Küstenlinie  überhaupt  nicht,  noch  hätte 
sie  bei  ihrer  unmittelbaren  Nähe  von  Palermo  gedeckt  werden  können  durch  eine  Stellung  des 
Heeres  auf  dem  Pellegrino. 

'^)  Ich  fasse  hier  gleich  zusammen,  was  ich  in  der  Literatur  über  die  Zugänge  zum 
Pellegrino  überhaupt  gefunden  habe:  Fazello  S.  186  B  und  Cluver  113,  S.  341  D  sprechen 
nur  von  dem  Südaufgange ,  der  sog.  Scala ,  von  Palermo  aus.  Amico  kennt  zwei ,  nämlich 
außer  dem  genannten  noch  den  von  Westen  her  von  dem  Lustschlosse  La  Favorita  durch 
das  valle  del  porco :  aditus  alter  —  sagt  er  II  245  —  circa  occasum  per  vallem  porci,  ut 
appellant,  aperitur,  sed  nee  equis  valentibus  fit  pervius.  Einen  dritten  gangbaren  Pfad  leugnet 
er  ausdrücklich:  a  mari  denique  citra  vitae  periculum  tertium  tentare  audet  nullus.  Ähnlich 
äußert  siöh  Amari  I  318:  il  Pellegrino  ha  una  salita  aspra  ma  praticabile  in  faccia  di 
Palermo,  un  altra  piu  malagevole  assai  verso  libeccio  (also  durch  das  valle  del  porco),  poi 
due  o  tre  sentieri  arrisicatissimi.  Ton  drei  Zugängen  sprechen  Inveges  S.  358  f., 
der  als  dritten  den  Pfad  supra  Addaumm  nennt,  und  Schubring,  der  S.  26  sagt:  „der  dritte 
vom  Meere  her ,  genannt  AUauro,  kommt  von  Norden,  vom  Hafen  Mondello ;  hier  war  es, 
wo  Hamilkar  auf  Maultieren  den  .  .  .  Proviant  heraufbringen  ließ,  da  an  Wagen  ja  nicht 
zu  denken  ist."  Inveges  und  Schubring  schreiben  von  dem  Gedanken  aus,  die  Identität  von 


—   231   — 

militärische  Kommunikation  ist  ein  solcher  Pfad  natürlich  so  wenig 
wie  die  Pertica. 

Ziehen  wir  nun  aus  dieser  Sachlage  die  militärischen  Konsequenzen, 
so  sehen  wir ,  daß  die  ganze  Pellegrinoposition  dadurch  zu  einer  Un- 
möglichkeit wird. 

Schon  die  Besitznahme  des  Berges  mit  einer  Armee  von  15.000  bis 
20.000  Mann  —  denn  so  hoch  müssen  wir  nach  allem,  was  wdr  davon 
wissen ,  Hamilkars  Armee  mindestens  schätzen  i)  —  macht  die  größte 
Schwierigkeit,  da  Palermo  in  den  Händen  der  Römer  war  und  die  Be- 
setzung auf  der  Scala  allein  erfolgen  konnte.  2) 

Aber  nehmen  wir  an,  es  wäre  wirklich  gelungen,  und  Hamilkar 
hätte  seine  Truppen  hinaufgebracht,  wie  wollte  er  dann  seine  Verbindung 
mit  dem  Meere,  auf  die  alles  ankam,  aufrecht  erhalten  und  seine  Flotten- 
station  schützen,  wenn  dieselbe  plötzlich  von  den  Römern  angegriffen 
wurde. 

Ein  Nachtmarsch  von  7 — 8  km  konnte  die  Römer  von  Palermo 
aus  durch  die  Ebene  unbemerkt  dahin  führen,  und  Hamilkar  war  dann 
gar  nicht  in  der  Lage,  auf  einer  so  schwierigen  und  nur  von  einzelnen 
Leuten  passierbaren  Verbindung  seiner  Station  unten  schnell  genug 
Hilfe  zu  bringen. 

Wollte  Hamilkar  diese  Gefahr  vermeiden,  so  mußte  er  einen  sehr 
beträchtlichen  Teil  seiner  Armee  zum  Schutze  unten  lassen.  Die  Rhede 
von  Mondello  ist  jetzt  etwa  2  km  lang.  Alte  Karten  und  Nachrichten 
aus  dem  Mittelalter  lassen  aber  keinen  Zweifel  darüber,  daß  der  Hafen 
früher  sehr  viel  tiefer  ins  Land  eingedrungen  ist.   Noch  heute  ist  das 


Heirkte  und  Pellegrino  beweisen  zu  wollen.  Schubring  nennt  dann  auch  noch  die  Pertica. 
Die  vier  Pfade  erwähnt  auch  Eevelli  und  nennt  Pertica  und  Addauro  sogar  verhältnismäßig 
leichte  Aufstiege  —  nämlich  vom  Standpunkte  des  Alpinisten  aus  —  was  nicht  bestritten 
werden  soll. 

*)  Das  ergibt  sich  aus  den  allgemeinen  Verhältnissen  und  den  Schilderungen  der 
Kämpfe  am  Heirkte  und  Eryx  (Pol.  157,  6 :  ai  dvväjueig  d/utporsQcov  ^oav  iq)d/LidXoL),  wenn 
auch  hier  nirgends  eine  bestimmte  Zahl  genannt  Avird.  Die  Söldner,  welche  sich  nach  Be- 
endigung des  Krieges  empörten  und  vor  Karthago  zogen,  waren  allein  über  20.000 Mann 
stark  (Pol.  I  67,  13).  Das  waren  noch  nicht  einmal  alle.  Denn  ein  Teil  hatte  bei  Hamilkar 
ausgehalten  (Pol.  I  75,  2).  Andrerseits  kann  man  aber  diese  Zahl  wieder  nicht  im  ganzen 
Umfange  für  die  Armee  am  Heirkte  in  Anschlag  bringen,  weil  ja  zur  Zeit  der  Heirktekämpfe 
zugleich  noch  anderswo  Besatzungen  lagen,  besonders  in  Drepana  und  Lilybaeon.  An  gallischen 
Söldnern  hatte  die  Armee  allein  3000  Mann  (Pol.  II  7,  7;  vgl.  auch  I  77,  4.).  Sie  bestand 
aber  außerdem  noch  aus  Iberern,  Ligurem,  Balearen,  nicht  wenigen  griechischen  Mischlingen 
(f^c^sXh]veg)  und  größtenteils  (to  fteyiarov  /^SQog)  aus  Libyern  (Pol.  I  67,  7). 

0  Vgl.  S.  230,  A.  2.  —  Hamilkar  hatte  natürlich  auch  Reiterei  (Diod.  XXIV  9, 1200  Reiter, 
erwähnt  bei  den  Kämpfen  am  Eryx).  Wie  mag  die  hinaufgekommen  sein  und  was  sollte 
sie  oben? 


—    232   — 

Gebiet  um  den  Hafen  künstlich  durch  Gräben  entwässert,  vor  200  Jahren 
waren  hier  noch  Lagunen,  i) 

Wenn  wir  annehmen,  daß  die  Küstenlinie  im  Altertum  auch  nur 
der  heutigen  Niveaulinie  von  10  m  entsprochen  hat ,  so  erhalten  wir 
schon  eine  Ausdehnung  von  über  3  km  für  die  Strand linie.  ^j  Diese  mit 
Verschanzungen  in  verteidigungsfähigen  Zustand  zu  setzen,  würde  eine 
Länge  von  etwa  4  km  erfordert  haben,  d.  h.  die  Verschanzung  hätte  den 
Umfang  einer  Stadt,  wie  Carthago  Nova  in  Spanien  gehabt.  ^)  Bei  dem 
3Iangel  jedes  natürlichen  Schutzes  hätte  diese  Linie  bedeutender  künst- 
licher Befestigungen  und  einer  sehr  starken  Besatzung  bedurft. 

Dadurch  wäre  Hamilkars  Armee  in  zwei  Teile  geteilt  worden, 
die  ohne  Verbindung  miteinander  gewesen  wären,  die  ungünstigste  Auf- 
stellung, die  man  sich  denken  kann,  während  die  Feinde  durch  die 
Ebene  hin  ihre  ganze  Macht  ungehindert  bald  gegen  Mondello,  bald 
gegen  den  Pellegrino  gebrauchen  konnten.  Es  wäre  kaum  zu  verstehen, 
daß  Hamilkar  sich  eine  so  nachteilige  Position  ausgesucht  und  der 
Gegner  diesen  Vorteil  in  den  drei  Jahre  lang  dauernden  Kämpfen  gar 
nicht  ausgenutzt  hätte. 

Man  könnte  bei  einer  solchen  Verteilung  der  Kräfte  auch  eigent- 
lich nicht  mehr  davon  reden,  daß  Hamilkar  sein  I^ager  auf  dem  Berge 
gehabt  hätte ,  da  ja  dann  der  Schwerpunkt  der  ganzen  Kämpfe  bei 
Mondello  in  der  Ebene  gelegen  hätte. 

Aber  es  kommen  zu  dieser  ersten  Schwierigkeit  noch  andere  Be- 
denken von  nicht  geringerer  Bedeutung  hinzu. 

Die  Anhänger  der  Pellegrinotheorie ,  welche  sich  ernstlich  mit 
der  Lok alisierungs frage  im  einzelnen  befaßt  haben,    haben   sich  natür- 


^)  Die  alte  und  für  die  damalige  Zeit  vorzügliche  Karte  von  Sizilien  von  Schmettau  1720 
gibt  hinter  der  jetzigen  Strandlinie  drei  Lagunen,  und  im  12.  Jahrhundert  nennt  der  arabische 
Schriftsteller  Ediisi  den  Hafen  Marsa-t-tin,  was  nach  Amari  I  318,  dem  das  Zitat  ent- 
nommen ist,  „porto  fangoso"  bedeutet.  Amari  meint,  die  Ebene  beim  Hafen  sei  im  8.  Jahr- 
hundert mezzo  tra  pantono  e  lago  gewesen  und  habe  zu  Hamilkars  Zeit  ausgereicht,  dessen 
ganze  Flotte  zu  fassen ;  die  Trockenlegung  sei  durch  Hebung  der  Küste  entstanden.  Auch 
ein  gewisser  Johannes  Yincentius  in  seinem  AVerke  Panormus  restaurata,  über  den  ich  nichts 
Näheres  finden  kann,  wird  bei  Inveges  (1649)  p.  358  zitiert  und  spricht  von  einem  „lacus 
Mondelli,  cuius  aqua  utebatur"  (Hamilkar).  Daß  also  hier  früher  eine  weit  tiefer  einschneidende 
Bucht  gewesen  ist,  die  ebenso  wie  der  Hafen  von  Palermo  selber  im  Laufe  der  Zeiten  ge- 
schwunden ist,  soll  nicht  geleugnet  werden.  Aber  die  Schwierigkeit,  welche  uns  beschäftigt, 
wird  dadurch  nicht  berührt.  Man  kann  über  die  allgemeine  Frage  der  Hebung  der  Küste 
hier  noch  Philippson ,  Das  Mittelmeergebiet,  1908  und  Holm,  Gesch.  Sizil.  I  S.  331,  ver- 
gleichen; Über  Mondello  speziell  äußern  sich  auch  noch  Freeman,  bist,  of  Sic.  I  256.  Schubring 
S.  6  u.  a. 

^)  Soviel  rechnet  sogar  schon  Joh.  A'incentius  a.  a.  0. :  ambitus  fere  duorum  miliarium. 

'■)  Polyb.X  11,  4. 


—   233   — 

lieh  auch  die  Frage  vorgelegt,  wo  denn  eigentlich  bei  dieser  Ansicht 
der  Schauplatz  der  drei  Jahre  lang  dauernden  Kämpfe  anzusetzen  sei, 
in  denen  sich  Hamilkars  Heer  und  die  ihm  entgegenstehende  konsu- 
larische Armee  miteinander  gemessen  haben.  Unzählige  kleine  und  größere 
Kämpfe  —  so  berichtet  uns  ja  Polybios  (I  56 — 57)  —  lieferten  sich 
die  beiden  Armeen.  Aber  sie  alle  verliefen,  ohne  eine  große  Entscheidung 
zu  bringen.  Denn  die  beiden  Lager  waren  nur  5  Stadien,  d.  h.  900  m 
voneinander  entfernt,  und  wenn  die  eine  Partei  zu  unterliegen  drohte, 
zog  sie  sich  in  den  Schutz  ihres  Lagers  zurück,  das  bei  beiden  Teilen 
wegen  der  Steilheit  des  Geländes  ganz  unzugänglich  war. i) 

Die  Beantwortung  dieser  Frage  ist  nun  von  den  Vertretern  der 
Pellegrinotheorie  durchgehends  dahin  gegeben  worden,  daß  man  sich 
das  römische  Lager  unmittelbar  nördlich  von  dem  alten  Palermo  zu 
denken  habe,  und  zwar  noch  innerhab  der  heutigen  Stadt,  in  der 
Gegend  der  via  Amari  und  Stabile  oder  nach  dem  Lazaretto  zu.  Es 
müßte  dann  also  in  der  völlig  flachen  Ebene  zwischen  der  Stadt  und 
dem  Südfuße  des  Pellegrino  der  Schauplatz  des  dreijährigen  von  Polybios 
beschriebenen  Positionskrieges  gesucht  werden.  ^)  Und  in  der  Tat  kann 
man  bei  Identifizierung  des  Pellegrino  mit  dem  Heirkte  des  Polybios 
überhaupt  nicht  anders.  Der  einzige  einigermaßen  praktikable  Ausgang, 
den  der  Pellegrino   hat,    ist  ja   eben  die    alte  Scala    auf  der  Südseite, 


^)  Pol.  I  56,  11 :  ^azä  yrjv  naQaaxqazojieöevadvTOiv  adroj  (dem  Hamilkar)  'Pcoftaicov 
TTQo  Tijs  IlavoQftiTOjv  7iÖAE0)g  Ev  IG (o £  TcevTS  OTttötoig  TioXkovg  xal  TioixiXovg  uyMvag 
aweairjuaro  xaxa  yfjv  ayeöov  iitl  tgsTg  eviavrovg.  Folgt  langer  Vergleich  mit  zwei  Faust- 
kämpfem.  Dann  57,  6 :  y.olaiv  ye  fxrjv  öXogx^QV  yevead-ai  .  .  ov'i  olöv  r'rjv .  al'  ze  yäo  övvä/neig 
uLicpoxEQCOv  Tjoav  icpäfidXoi,  xä  ze  xaza  xovg  yjxQaxag  6 ij,oicog  äjiQO  aixa  ö  la  xr]v  oyv qö- 
zr)z<x,  zö  ZE  öidaz7]fia  zatv  oxQaxojzE8o)v  ßgayv  Tzavxslöjg.  Die  Angabe  von  5  Stadien  hat 
man  auf  die  Entfernung  des  römischen  Lagers  von  Panormus  beziehen  wollen  (Cluver  II, 
3  p.  341,  Holm  I,  344  u.  a.)  Das  hat,  wenn  es  auch  grammatisch  möglich  ist,  im  Zusammen- 
hang der  Stelle  gar  keinen  Sinn.  Es  kommt  dem  Polybios  für  seine  militärische  Schilderung 
darauf  an  anzugeben,  wie  nahe  die  beiden  Gegner  aneinander  sind.  Er  greift  diesen  Umstand 
deshalb  auch  nachher  noch  einmal  auf  mit  den  Worten :  z6  didoxrjfia  xcöv  axgaxoTzsdffiv 
ßgayv  TzavxElcijg.  Schon  Schweighäuser  und  Meltzer ,  Gesch.  d.  Karth. ,  II,  343  haben  die 
Stelle  richtig  verstanden.  —  Den  Ausdi'uck  xä  xaxä  xovg  yäoaxag  ojuoiojg  djroöaixa  öid  xt]v 
oyvoöztjxa  auf  künstliche  Befestigung  zu  beziehen,  geht  nicht  an,  weil  Polybios  kurz 
vorher  (156,  5)  von  der  durch  die  dnoömxa  x^rjfivä  natürlichen  Festigkeit  des  karthagischen 
Lagers  gesprochen  hat. 

■^)  Mirabello  S.  280 :  press'  a  poco  su  di  una  linea  che  dal  Samuzzo  (—  Castella- 
mare)  correrebbe  verso  ponente  nello  spacio  tra  l'attuale  via  Stabile  e  la  via  Emerico  Amari. 
Inveges  p,  858:  planum  illum  agrum,  qui  urbi  Panormitanae  et  monti  Peregrino  interjacet, 
ubi  ipse  (Hamilkar)  castra  metatus  est  .  .  .  (Inveges  verlegt  auch  Hamilkars  Lager  in  die 
Ebene  „ad  radices  M,  Pergrini")  ..  castra  Eomanorum  tenuerunt  ad  locum ,  cui  nomen  alla 
Consolazione,  seque  extenderunt  versus  radices  illas  montis ,  qui  hodie  dicitur  „la  Castel- 
lana"  (?);  wohl  gleich  Castellamare. 


—   234   — 

dort,  wo  jetzt  die  Prozessionsstraße  hinaufführt.  An  anderen  Stellen 
ist  eine  Berührung  zwischen  einer  Armee  oben  und  einer  unten  über- 
haupt nicht  möglich. 

Wo  bleibt  aber  bei  dieser  Ansetzung  die  Entfernung  von  900  Metern 
zwischen  den  beiden  Lagern?  Und  wo  bleibt  das  unzugängliche  Gelände 
vor  dem  römischen?  Für  Hamilkar  könnte  man  es  ja  allenfalls  in  dem 
Aufstieg  zum  Pellegrino  erblicken,  für  die  Römer  aber  ist  es  überhaupt 
nicht  da.  Wo  bleibt  ferner  bei  diesen  Kämpfen  in  der  ganz  flachen 
Ebene  die  Möglichkeit  für  die  täglichen  gegenseitigen  Hinterhalte  und 
Gegenhinterhalte,  Angriffe  und  Überfälle,  von  denen  Polybios  spricht?  i) 
Das  Terrain  paßt  einfach  nicht  zu  dieser  Beschreibung. 

Oder  sollte  man  gar  annehmen,  daß  die  Römer  auf  den  Pellegrino 
hinaufgestiegen  wären  und  dort  eine  von  den  Felsenkuppen  besetzt 
gehabt  hätten,  die  links  von  der  Prozessionsstraße  liegen,  etwa  den 
Punkt  344  oder  die  Teile  unmittelbar  nördlich  davon? 

Es  hat  bisher  kein  Vertreter  der  Pellegrinotheorie  diese  Annahme 
zu  machen  gewagt,  und  sie  ist  auch  in  der  Tat  unmöglich.  Der  Platz 
ist  hier  für  ein  konsularisches  Lager  oder  auch  nur  für  ein  größeres 
Detachement  zu  klein  und  viel  zu  zerrissen. 

Wenn  wir  nun  nach  diesen  Erörterungen  den  Berg  als  militärische 
Position  überhaupt  noch  einmal  ins  Auge  fassen,  so  schwinden,  je 
genauer  wir  ihn  betrachten ,  die  vorher  aufgezählten  Vorteile,  die  er 
zu  gewähren  schien,  immer  mehr  zusammen.  Seine  imponierende  Höhe, 
seine  unersteiglichen  Felsen  machen  ihn  wohl  uneinnehmbar  und  zu 
einer  guten  Position  für  ein  kleines  Häuflein  von  Soldaten,  das  sich 
gegen  eine  große  Übermacht  in  starrer  Defensive  halten  will  und  muß. 
Aber  eine  Armee  von  ansehnlicher  Größe  verurteilt  gerade  diese  Un- 
zugänglichkeit zu  völliger  Untätigkeit.  Wie  der  Gegner  nicht  hinauf, 
so  kann  sie  nicht  hinunter.  Der  einzige  allenfalls  für  Truppenabteilungen 
praktikable  Weg,  den  der  Pellegrino  besitzt,  eben  jene  erwähnte  Scala, 
erlaubt  überhaupt  keine  überraschende  Entwicklung  größerer  Kräfte, 
und  daß  er  noch  dazu  von  unten  und  aus  der  Stadt  Palermo  in  seiner 
ganzen  Länge  einsehbar  ist,  läßt  ihn  noch  weniger  brauchbar  erscheinen.  2) 
Ausfälle  auf  diesem  Wege,  Streifzüge  ins  Land  sind  fast  ausgeschlossen. 
Man  muß  auf  dem  Hinwege  und  —  was  noch  schlimmer  ist  —  auf 
dem  Rückwege  mit  Beute  beschwert  unmittelbar   am  römischen  Lager 


^)  Pol.  157,  3:  dv'  sxdaztjv  r^fisgav  ejioiovvro  xax'  dXX/ßcov  eveö  gag,  avx eviÖQag, 
emd-saeig,  Jtgog ßoXäg  ...  5;  ovxe  yo-Q  xojv  s^  laxogCag  axgax?]'/?] /iidx  oiv  ovxe  xcov 
F.>c  ZGV  xaiQOv  y.al  xfjg  vjioxeiiisvrjg  TieQiaxdascog  sTiivor}  udx oiv  ovxe  xcov  elg  Jia^dßa/.ov 
xal  ßiaiov  dvtjHovxcov  xöliiav  odösv  :iaQelei(pd'r}. 

2)  Photographie  1,  S.  225. 


—   235    — 

vorbei ,  und  wird  das  nicht  ungestraft  versuchen  dürfen.  Das  einzige 
Ausgangsloch,  das  der  Pellegrino  besitzt,  ist  eben  gar  zu  leicht  zu 
verstopfen.  Dazu  ist  die  Verbindung  mit  dem  Meere,  wie  wir  sehen, 
nicht  einmal  gesichert.  Hamilkar  schwebte,  wenn  er  sich  hier  festsetzte, 
jeden  Augenblick  in  der  Gefahr,  von  der  See  abgeschnitten  zu  werden 
und  damit  den  einzigen  Rückzug  zu  verlieren ,  den  er  hatte.  Diese 
Stellung  war  eine  Falle  und  ein  Kerker.  Hamilkars  offensiver  Geist, 
seine  Initiative  und  lebhafte  Tätigkeit  wären  hier  fast  völlig  lahmgelegt 
gewesen. 

Und  wie  steht  es  nun  nach  alledem  mit  der  sonstigen  Beschreibung, 
die  Polybios  von  dem  Heirkte  gibt?  Ist  sie  wirklich  so  speziell,  daß 
sie  nur  auf  den  Pellegrino  paßt,  und  paßt  sie  auf  ihn  wirklich  in  allen 
Punkten  ? 

Wir  wollen  das  im  einzelnen  nachprüfen. 

Eine  Reihe  von  Merkmalen  stimmt  ja,  wie  ohne  weiteres  zuzugeben 
ist:  die  Höhe  und  isolierte  Lage  in  der  Ebene,  die  steilen  Felswände 
nach  Land  und  Meerseite  hin,  der  Hügel,  welcher  sich  wie  eine  Akropolis 
aus  seiner  oberen  Fläche  erhebt  und  einen  guten  Überblick  über  das 
Land  gewährt  1).  Aber  das  sind  doch  alles  mehr  allgemeine  Eigenschaften, 
die  der  Pellegrino  mit  manchen  anderen  Bergen  Siziliens  gemein  hat 
und  also  auch  mit  dem  Heirkte  des  Polybios  geteilt  haben  kann. 

Sobald  man  dagegen  ins  spezielle  geht,  hört  die  Übereinstimmung 
auf,  und  darauf  kommt  es  an. 

Schon  die  Lagebestimmung  überrascht.  Der  Heirkte  liegt  nach 
Polybios  zwischen  Palermo  und  dem  Berge  Eryx  bei  Trapani^).  Das 
trifft  für  den  Pellegrino  genau  genommen  nicht  zu.  Der  Eryx  liegt 
westlich,  der  Pellegrino  nördlich  von  Palermo.  Nicht  einmal  die  Straße 
von  Palermo  nach  dem  Eryx  geht  am  Pellegrino  vorbei. 

Vom  Heirkte  heißt  es  dann  weiter,  daß  der  obere  Umfang  des 
Berges     100    Stadien,     über    17  km,     betrage.  3)    Die    Hauptvertreter 


^)  Pol.  I  56,  4 :  BOTL  yao  ÖQOg  jisqItojliov  i^aveazyxog  sx  xfjg  jisQixeif^ievrjg  x^^Qag  elg 
vxpog  Ixavöv  .  .  5 :  :^€qi€xstcci,  6k  XQtjfxvolg  anooaixoig  ex  xe  xov  xaxa  d-a/.axxav  fisQOvg  xal 
xov  Tiaga  trjv  [xsaöyaiav  7iaQi]xovxog.  6 :  exsi  d'iv  avxcp  xai  fiaoxov,  dg  ä^ua  fxhv  dxQOJiöXeoig 
df-ia  ÖE  axojiijg  ev(pvovg  Xafzßdvei  xd^tv  xaxa  xfjg  vTioxsi^uivijg  ;if<üoa?. 

■^)  ib  §  3 :  xsTxai  ^ikv  "E^vxog  xai  UavÖQfiov  fiexa^v  jiQog  d-aXdxxj].  Man  hat  an 
dieser  Bestimmung  auch  schon  deshalb  Anstoß  nehmen  wollen,  weil  der  Berg  ja  viel  näher 
an  Panormos  als  an  dem  Eryx  liege.  Ich  glaube  mit  Büttner- Wobst  (Klio  Y  97)  ohne  Grund. 
Polybios  orientiert  griechische  Leser  über  die  Örtlichkeit  nach  solchen  Punkten,  die  er 
bei  ihnen  als  bekannt  voraussetzen  kann.  Der  Versuch  von  Inveges  (p.  359),  Polybios'  Be- 
stimmung dadurch  verständlicher  zu  machen,  daß  er  den  Namen  Eryx  auf  das  ganze  Gebirge 
von  Trapani  bis  zum  Castellaccio  ausdehnt,  ist  ebenso  unnötig  wie  unberechtigt. 

^)  Ib.  §  4 :   xovxov  ö't]  jieQif-iEXQOg  xfjg  ävco  aiEcpdvrjg  od  Xeitiec  xcöv  ixaxov  axadicov. 


—   236   — 

der  Pellegrinotheorie,  Holm  und  Schubring,  geben  selber  zu,  daß  das 
auf  ihren  Berg  nicht  paßt.  Holm  (I  15)  hält  die  Angabe  für  um  ein  Drittel 
zu  groß.  Schubring  glaubt,  ,.15,  höchstens  16  km  oder  84  Stadien" 
herausbringen  zu  können.  In  Wirklichkeit  ist  der  obere  Umfang  des 
Berges  bedeutend  kleiner.  Bei  objektiver  Messung  hat  das  obere  Plateau^ 
im  weitesten  Sinne  gemessen,  nur  etwa  11 V2  km  Umfang.  1) 

Das  Plateau  des  Heirkte  hat  nach  Polybios  weiter  guten  Weide- 
und  Ackerboden.-)  Weide  ist  auf  dem  Pellegrino  vorhanden,  Acker- 
boden heutzutage  nicht,  sondern  Fels.  An  eine  Abspülung  in  größerem 
Umfange  ist  bei  der  geringen  Neigung  der  oberen  Fläche  und  ihrer 
zum  großen  Teil  muldenförmigen  Gestalt  wohl  nicht  zu  denken  3),  es 
müßte  denn  sein,  daß  wie  beim  Karste  die  Bora,  so  hier  die  Nordstürme 
das  Erdreich  fortgetragen  hätten. 

Der  Heirkte  des  Polybios  lag  ferner  günstig  gegen  die  Winde 
von  der  See.*)  Man  hat  das  so  interpretieren  wollen,  als  ob  er  gegen 
die  Seewinde  offen  gewesen  sei,  die  gesunde  und  frische  Luft  gebracht 
hätten  und  Fieber  nicht  aufkommen  ließen.  ^)  Und  so  hätte  diese  Eigen- 
schaft des  Heirkte  auf  den  Pellegrino  gepaßt,  der  bekanntlich  nach 
Norden  zu  vollkommen  offen  ist.  Aber  für  eine  Armee,  die  Sommer  und 
Winter  drei  Jahre  lang  auf  einem  hohen  Bergplateau  an  der  Nordküste 
Siziliens  kampiert,  ist  es  offenbar  viel  wichtiger,  gegen  die  im  Sommer  und 
noch  mehr  im  Winter  äußerst  lästigen  und  heftigen  Nordstürme  geschützt 
zu  sein.  Ganz  abgesehen  davon,  daß  in  Palermo  überhaupt  keine  Malaria 
vorkommt.  Die  Worte  des  Polybios  bedeuten  also,  daß  das  Bergplateau 


^)  An  der  ganzen  Ostseite  ist  der  Plateaurand  deutlich  ausgeprägt,  so  daß  man  nicht 
zweifeln  kann,  ebenso  im  nördlichen  Teile  der  Westseite,  wo  er  von  Punkt  404  nach  Punkt  475 
geht.  Von  hier  an  könnte  man  schwanken.  Ich  habe  am  oberen  Hange  der  Steilabstürze 
entlang  gemessen,  so  daß  Punkt  344  und  300  mit  eingeschlossen  sind. 

^)  Ib.  §  4 :  o  üiSQiexö^ievog  töjioq  (das  von  den  Felsabstürzen  eingeschlossene  Plateau) 
ei'ßoTog  vjiUQX^i  y-ai-  yeco^yi^atuog, 

^)  Nur  nördlich  von  der  Grotte  der  heiligen  Rosalie  bei  einem  kleinen  See  ist  eine 
Stelle,  die  vielleicht  pflügbar  ist.  Sonst  sind  nur  kärgliche  Weiden  und  Fels  vorhanden. 
Man  vergleiche  auch  Amico  II,  244  f.  über  den  Zustand  zu  seiner  Zeit  im  18.  Jahrb.: 
soli  fertilitas  —  sagt  er  —  tanta  re  vera  non  est,  qualem  historicus  (Polybius)  describit; 
frugum  enim  feraces  quam  vis  radices  sint,  juga  tamen  lapidosa  pascuis  tan  tum  abundant 
uberrimis,  sed  magna  ex  parte  sterilitate  squallescunt.  So  auch  Schubring  S.  25.  Übrigens 
war  der  Pellegrino  nach  Amari  II,  443  noch  im  15.  Jahrh.  bewaldet:  Pellegrino  fu  terreno 
boschivo  fino  al  secolo  XV.  Auch  das  stimmt  nicht  zu  Polybios'  Beschreibung,  die  von  Wald 
ganz  schweigt. 

'*)  Ib.  §  4 :  JiQog  fisv  zag  jis/.ayiovg  Jivoiäg  ev(pviog  ^iei/uevog. 

^)  So  Schubring  S.  25  u.  Schweighäuser  zur  Stelle  V,  291 ,  wo  auch  noch  weitere 
Literatur. 


—    237    — 

gegen  Norden  geschützt  war  und  das  paßt  wiederum  nicht  auf  den 
Pellegrino.i) 

Der  Heirkte  des  Polybios  bedarf  auf  kurze  Strecken  der  Be- 
festigungen zwischen  den  Felsabstürzen  nach  dem  Meere  und  denen 
nach  der  Landseite  zu. 2)  Am  Pellegrino  sind  solche  überhaupt  nicht 
nötig,  weil  die  Felsen  überall  zu  steil  sind:  Schubring  sagt  selber  S.  25: 
j.Von  diesen  letzteren  (Strecken)  wüßte  ich  außer  den  Aufgängen  in 
der  Tat  keine.*' 

Der  Heirkte  beherrschte  fernerhin  einen  guten  Hafen  mit  reich- 
lichem Wasser.  Der  Pellegrino  beherrscht  den  Hafen  von  Mondello 
nicht,  und  dieser  hat  wenigstens  heutzutage  kein  Trinkwasser,  sondern 
die  Bewohner  des  Fleckens  beziehen  —  wie  wir  an  Ort  und  Stelle 
erfuhren  —  ihr  Wasser  durch  Wasserleitung  aus  Palermo  vom  Scilato.  ^) 


*)  Herr  Geheimrat  Th.  Fischer  in  Marburg,  der  beste  Kenner  des  Mittelmeerklimas, 
hatte  die  Güte,  mir  auf  meine  Anfrage  folgendes  mitzuteilen :  „Bei  der  Stelle  bei  Poh'bios 
Ev(pv(ji)g  xeifxevog  Jigög  zag  neXayiovg  Jivoiäg  könnte  man  im  ersten  Augenblicke  an  die 
Malaria  verhindernden  Seewinde  denken,  die  in  dieser  Eigenschaft  im  Mittelmeer  eine  große 
EoUe  spielen.  Aber  bei  Palermo  gibt  es  keine  Malaria  und  hat  es  erst  recht  im  Altertume 
keine  gegeben.  Nach  meiner  Ansicht  ist  für  diese  Stelle  nur  eine  Deutung  möglich,  und 
zAvar  die,  welche  Sie  geben.  Es  kann  sich  nur  um  Schutz  gegen  die  Nord-Nordost-  und 
Nord  Westwinde  handeln,  deren  Heftigkeit  im  Winter  und  im  Sommer  ich  nur  zu  oft  an 
der  Nordküste  Siziliens  und  Nordafrikas  kennen  gelernt  habe.  Nördliche  Winde  herrschen 
hier  im  Sommer  vor  und  sind  auch  dann  noch  äußerst  lästig,  noch  mehr  freilich  im  AVinter. 
Die  sommerlichen  Winde  um  die  Nordrichtung  haben  hier  dieselben  Ursachen,  wie  die  Ihnen 
aus  Griechenland  bekannten  Etesien,  Meltemien,  die  in  der  Tat  geradezu  scheußlich  werden 
können.  So  schlimm  sind  sie  in  Sizilien  nicht."  Man  vergleiche  dazu  noch  die  Windtabellen 
für  Palermo  in  Fischers  Studien  über  das  Klima  der  Mittelmeerländer,  S.  61  (Petermann, 
Ergänzungsheft  58)  und  die  hübsche  Schilderung  bei  ^V.  H.  Smyth  a.  a.  0.  S.  4.  7.  8  über 
Siziliens  gelegentlich  sehr  ungemütliches  Winterklima.  Auch  Philippson,  Das  Mttelmeergebiet, 
1908,  gibt  S.  94  ff.  110,  115  einige  hierher  gehörige  Bemerkungen. 

'^)  Pol.  ib.  §  5 :  TU  de  /neta^v  tovzcdv  eaxlv  oUyrig  xal  ßgaxeiag  deö[.ieva  y.aiaaxevrjg. 
")  Schubring  sagt  S.  26  im  Anschlüsse  an  die  Bemerkung  des  Polybios  I  56,  7,  daß 
der  Hafen  des  Heirkte  Trlrj^og  vdaiog  äcp^ovov  habe,  „in  der  Tat  sind  (bei  Mondello)  auch 
süße  Quellen  da,  die  das  Austrocknen  verhindern".  Wir  haben  nur  einen  Entwässerungs- 
graben konstatiert,  der  in  einer  Entfernung  von  50— 200 w  hinter  der  Strandlinie  läuft, 
aber  nach  den  Angaben  der  Einwohner  kein  trinkbares  Wasser  enthält.  Auch  Joh.  Vincentius 
bei  Inveges,  s.  oben,  S.  232,  A.  1,  weiß  nichts  von  Quellen,  sondern  nur  von  einer  Lagune, 
deren  Wasser  Hamilkar  nach  seiner  Ansicht  benutzt  hat ;  die  Worte  des  Polybios  bezieht  er 
daher  auf  das  tiefe  Fahrwasser  des  Hafens:  varias  habet  aquarum  profunditates,  quoniam 
alibi  profundus  est  XXVIII  alibi  XXX  alibi  XL  passuum.  Eine  ganz,  unbedeutende  kleine 
Quelle ,  die  nur  tropfenweise  aus  dem  Fels  hervorsickerte ,  fanden  wir  bei  der  Villa  des 
Marchese  Spartano  etwa  600  m  südlich  vom  Südende  der  Bucht  von  Mondello  am  Ostabstura 
des  Pellegrino.  Nach  starkem  Regen  soll  sie  kräftiger  fließen,  und  es  kann  natürlich  auch 
nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  daß  sie  vielleicht  in  früheren  Zeiten,  wenn  der  Pellegrino 
bewaldet  war,  weit  stärker  gewesen  sein  mas:. 


—   238   — 

Der  Heirkte  hat  endlich  drei  schwierige  Zugänge,  zwei  vom  Lande 
und  einen  von  der  See.^)  Der  Pellegrino  hat  entweder  zwei,  die  Skala 
von  Palermo  und  den  Weg  durch  das  valle  del  porco ,  beide  von  der 
Landseite,  oder  aber  vier,  wenn  man  die  Kletterpfade  der  Pertica 
und  von  Allauro  mitrechnen  will. 

So  ergibt  sich  also  auch  hier  eine  ganze  Anzahl  von  Wider- 
sprüchen zwischen  der  Beschreibung  des  Polybios  und  dem  tatsäch- 
lichen Befund  auf  dem  Pellegrino.  Bei  dieser  Sachlage  bestehen  für 
die  Kritik  zwei  Möglichkeiten:  sie  kann  sich  erstens  auf  den  heut- 
zutage vielfach  beliebten  Standpunkt  stellen,  der  Bericht  des  Poly- 
bios leide  an  so  vielen  militärischen  und  topographischen  Un Wahr- 
scheinlichkeiten und  Verkehrtheiten,  daß  er  überhaupt  nicht  zu 
brauchen  sei;  die  Vorgänge  hätten  sich  in  Wirklichkeit  ganz  anders 
abspielen  müssen.  Oder  sie  kann  sagen ,  der  Bericht  paßt  nicht  auf 
die  Örtlichkeit,  auf  welche  er  bisher  bezogen  worden  ist;  suchen  wir 
eine  andere. 

Den  letzteren  Weg  einzuschlagen,  zogen  wir  vor  und  begaben  uns 
am  nächsten  Tage  zu  Wagen  nach  der  Isola  delle  Femmine.  (Vgl. 
die  Karte.) 

Dieser  Platz  liegt  etwa  12  km  in  der  Luftlinie  nordwestlich  von 
Palermo.  Den  dortigen  Hafen  und  die  ganze  südlich  davon  ausgebreitete 
Berggruppe  hatten  wdr  als  möglichen  Standort  Hamilkars  ins  Auge 
gefaßt.  Die  Berggruppe  erstreckt  sich  nach  Süden  bis  zu  dem  tiefen 
Einschnitte,  über  den  jetzt  die  Chaussee  von  Palermo  nach  Torretta  und 
Carini  führt,  und  ist  somit  von  der  übrigen  Gebirgsmasse  abgeschnitten. 
Sie  fällt  im  Westen  nach  der  Bucht  von  Carini,  im  Osten  nach  der  Ebene 
von  Palermo  hin,  zum  Teil  auch  nach  Süden  mit  steilen  Felswänden  ab, 
und  steigt  in  ihrem  höchsten  Punkte,  dem  Monte  Castellaccio,  bis  zu 
959  m  auf.  Sie  ist  also ,  wie  Polybios  verlangt ,  ein  OQog  jrEQLxouov 
i^av£GTri'A,bg  ey,  Tijg  7t£Qr/,€Lf.ievYig  x^^Q^S  ^iS  vipog  iTiavov  und  TtEQieyeTai 
%QT^y.vdig  ccTt^oGLTOLg  ex  xe  tov  Y,ava  MlazTav  /,ieQOvg  xal  zov  Tzaqä 
Tijv  /LiEOoyatav  Ttaqrf/.ovxog.  Die  Südseite  zwischen  beiden,  die  nicht 
so  schroff  ist,  bedarf  künstlicher  Nachhilfe  und  hierauf  würden  sich 
dann  die  Worte  des  Polybios  beziehen:  tu.  Je  f^ieva^v  tovtcov  Igtlv 
oXiyrß  y.al  (^gayeiag  de6fj.eva  v.aTaG'/xvfß.  Der  umfang  der  plateauartig 
welligen  oberen  Fläche  beträgt  oberhalb  der  schroffen  Felsabstürze 
gemessen   etwa    1 7  hm ,    entspricht  also  genau  der  von  Polybios   erfor- 


^)  Pol.  ib.  §  8 :  TiQogödovg  de  tag  ndaag  eyet  xQixxa?  ovo ye geig,  Svo  ^itev  cbio  xfjg  yjoQag, 
f^iCav  ö'aTTO  xfjg  d^akdxxrjg. 


—   239   — 

derten  Größe  ^)  und  hat  in  sich  neben  anderen  Punkten  in  dem  er- 
wähnten Castellaccio  jenen  Akropolishügel .  den  inaoTog^  dg  äfja  ^ev 
d'A,Q07r6Aecog  a^ua  Si  oy.OTtTjg  ev(pvovg  kaußdveL  tcc^lv  VMzh  Tr^g  VTCoxeiuivrig 
XCüQag. 

Zu  gleicher  Zeit  beherrscht  diese  Bergmasse  sowohl  die  Straße, 
welche  von  Palermo  am  Meere  hin  nach  Carini  und  weiter  nach  dem 
Eryx  und  Trapani  führt,  als  auch  die  südlichere  über  Torretta.  Man 
kann  also,  da  der  antike  Weg  eine  dieser  Richtungen  —  wahrscheinlich 
die  am  Meere  hin  —  genommen  haben  muß  ^),  von  ihr  mit  ganz  anderem 
Rechte  als  von  dem  abseitigen  Pellegrino  sagen,  daß  sie  zwischen 
Palermo  und  Eryx  gelegen  habe. 

Das  war  ungefähr,  was  man  von  der  Karte  ablesen  konnte,  und 
was  unsere  Hoffnung  erregte,  hier  den  Heirkte  des  Polybios  gefunden 
zu  haben. 

Die  Rekognoszierung  an  Ort  und  Stelle  mußte  zeigen,  ob  diese 
Hoffnung  nicht  trügerisch  war.  Von  der  vielfach  gewundenen  Küste 
aus,  die  wir  zuerst  betrachteten,  geht  eine  Landzunge  in  nordwestlicher 
■Richtung  etwa  1  km  weit  ins  Meer  hinein.  Vor  ihr  liegt  in  Entfernung 
von  etwa  Y2  ^*^^  die  ebenfalls  V2  ^^^^  lange  Insel  Isola  delle  Femmine, 
die  auch  dem  Dorfe  auf  dem  Festlande  den  Namen  gegeben  hat. 

Eine  solche  Küstenbildung,  ein  Kap  mit  vorliegender  Insel,  war 
bei  den  Alten  als  Anker-  und  Hafenplatz  sehr  beliebt,  weil  sie  Schutz 
gegen  fast  alle  Winde  gewährte,  ^j  Blies  hier  der  Wind  aus  West  oder 
Südwest,  wie  das  an  der  Xordküste  Siziliens  vorwiegend  im  Winter  der 


^)  Am  deutlichsten  ist  hier  die  Grenze  der  oberen  Bergfläche  im  Westen,  wo  un- 
mittelbar südöstlich  vom  Dorfe  Isola  delle  Femine  eine  Felsenmauer  5  km  weit  in  der  Luft- 
linie mit  mehrfachen  Windungen  fast  direkt  südlich  läuft  bis  Casa  Zurcate.  Von  hier  geht  sie 
4  k7n  Luftlinie  in  östlicher  Eichtung  wiederum  mit  mehrfachen  Windungen  über  eine  zweite 
Casa  Zurcate  nach  Cuzzo  Biddiemi.  Von  da  zieht  sie  nördlich  2  km  weit  nach  Cuzzo  di  Paola 
und  läuft  endlich  4  km  Luftlinie  in  nordwestlicher  Richtung  zu  ihren  Ausgangspunkt  zurück. 
Diese  15  km  Luftlinien  ergeben  mit  den  Windungen  gerade  die  erforderte  Zahl  von  17 — 18  km. 
Man  vergleiche  die  Karte. 

2)  Die  Tabula  Peutingeriana  gibt  für  die  Straße  Lilybaeum-Drepanum-Panormus  die 
Station  Hyccara,  welche  in  der  Ebene  von  Carini  gelegen  hat,  mit  16  MiUien  Entfernung  von 
Panormus  an.  Das  Itinerarium  rechnet  einmal  16,  einmal  13  Millien  (Wessel.  91  u,  97).  Diese 
Entfernungen  passen  besser  auf  die  Seestraße.  Auch  zu  arabischer  Zeit  lief  die  Verbindung 
zwischen  Cap  Gallo  und  dem  Heirkte  an  der  See  entlang.  Schubring  S.  5. 

^)  Vgl.  Philippson  a.  a.  0.  S.  68 :  „Beliebt  waren  (im  Altei*tuni)  vor  allem  Stellen, 
wo  eine  Insel  vor  einem  Kap  lag  und  so  einen  Doppelhafen  bildete".  Über  das  Fahrwasser 
und  die  Küsten  sagt  W.  H.  Smyth  in  seinem  ausgezeichneten,  S.  227,  Anm.  1  angeführten  Werke 
Appendix  III :  There  is  a  passage  between  Femina  Island  and  the  coast,  throug  which  small 
boats  may  pass,  and  the  other  parts  aie  bold  to.  Die  Angabe,  daß  hier  eine  der  Schiffahrt 
gefährliche,  unterseeische  Klippe  sei,    erweist  sich  ihm  bei  näherer  Untersuchung  als  irrig. 


240 


Fall  ist,  so  gewährte  die  Ost-  und  Nordostseite  von  Insel  und  Halbinsel 
Schutz.  Kam  er  von  der  entgegengesetzten  Seite,  wie  vorwiegend  im 
Sommer,  so  bot  das  südliche  und  südwestliche  Ufer  Deckung.  Auch 
die  kleinen  Buchten  bei  Sferracavallo  und  Punta  di  Barcarello  konnten 
noch  ausgenutzt  werden.  Auch  im  Mittelalter,  wo  die  SchifFahrtsverhaltnisse 
ja  denen  des  Altertums  nahe  standen,  wird  in  den  Portolanen  Isola 
delle  Femmine  als  Landeplatz  erwähnt,  während  es  von  Mondello  heißt, 
daß  hier  kein  Ankerplatz  sei.  i)  (S.  Abbild.  4.) 


Abbild.  4. 

Montaprna  del  Gallo       Sforrarnvallr 


Fnß  des  TToirkte 


Die  Blicht  bei  Isola  delle  femmine,  von  Westen  gesehen. 


^)  Uzzano,  Verfasser  eines  Portolano  vom  Jahre  1440  (gedruckt  bei  Pagnini,  della 
decinia  et  diverse  altre  gravezze  di  Firenze,  Lissabon  1765  Bd.  IV)  sagt  S.  264:  5  miglia 
lungi  (vom  Golf  v.  Castellamare)  est  una  Isola.  onde  ä  buone  parago,  ch'ä  nome  l'Isola 
del  Fim.  Portolano  A  foglio  30  und  Gioeni  foglio  25  geben  für  Isola  einen  „piccolo  riparo", 
während  es  für  Mondello  in  A  30  heißt :  non  gli  e  stanzia,  in  B :  senza  stanza.  Nach  Mra- 
bello  S.  273  A.  2.  Die  den  Sommer\\dnden  aus  Nord  und  Ost  ausgesetzte  und  auch  sonst 
keineswegs  günstige  Lage  der  Bucht  von  Mondello  bestätigen  auch  andere  Nachrichten. 
AV.  H.  Smyth  sagt  a.  a.  0.  in  seiner  sorgfältigen  Segelan  Weisung  Appendix  III :  on  sailing  in 
(den  Golf  von  Palermo  von  Westen  her)  a  ship  may  proceed  boldly  towarts  the  anchorage, 
only  observing  to  be  guarded  on  passing  the  little  sandy  bay  of  Mondello, 
on  account  of  the  v i o  1  a n t  and  sqally  gusts  of  wind,  that  rush  between  Mount  PeUe- 
grino  and  Cape  di  GaUo,  espacialh'  in  winter;  it  is  therefore  advisable  on  standing  along 
the  west  side  of  the  bay  during  a  fresh  breeze,  to  Station  hands  b}-  the  shuts  and  haulyards 
and  be  ready  to  keep  large.  ]\Ian  vergleiche  über  diese  Stoßwinde  an  Steilküsten  des  Mittel- 
meeres im  allgemeinen  auch  Philippson  a.  a.  0.  S.  98.  Auf  diese  Erscheinung  bezieht  sich 
vielleicht  auch  die  merkwürdige  Äußerung  von  Inveges  p.  358 :  portus  Gallus  (Mondello) 
subjacet  septentrionali  montis  (Perlgrino)  lateri  et  infestatur  a  ventis  occidentalibus  (sie). 


—   241   — 

Dazu  kommt  aber  weiter,  daß  dieses  lange  und  daher  einer  be- 
deutenden Anzahl  von  Schiffen  Raum  gebende  Gestade  von  der  Landseite 
her  leicht  zu  verteidigen  war.  Den  größten  Teil  deckte  der  von  den 
Karthagern  besetzte  Heirkte  selber.  Nur  in  Südost  und  Südwest  waren 
Zugänge.  Der  Zugang  von  Südost  her  führt  über  die  tief  zwischen  dem 
Heirkte  und  dem  Monte  Gallo  eingeschnittene  Senke  von  Sferracavallo, 
die  schnell  und  leicht  zu  sperren  ist,  weil  die  beiden  Berge  hier  sofort 
mit  unersteiglich  steilen  Felsen  aufsteigen.  So  war  der  Hafen  gegen 
jeden  Angriff  von  Palermo  her  geschützt.  Auf  der  anderen  Seite  zieht 
sich  die  schmale  Küstenebene  von  Carini  zwischen  dem  Meer  und 
den  Felswänden  des  Heirkte  hin.  Auch  sie  ist  nur  ^j^  km  breit  und 
daher  leicht  zu  sperren.  Wasser  ist  heutzutage  allerdings  in  Isola  so 
wenig  zu  finden  wiq  in  Mondello.  Der  laufende  Brunnen  in  Sferracavallo 
wird,  wie  man  uns  sagte,  von  dem  nahen  Xatale  aus  gespeist,  und  der 
laufende  Brunnen  in  Isola  selber  erhält  sein  Wasser  durch  eine  Leitung 
aus  dem  3  hn  entfernten  Capaci.  Aber  am  Ausgang  des  Tales,  das  einen 
starken  Kilometer  östlich  von  dem  Dorfe  Isola  die  Küste  erreicht,  fanden 
wir  eine  große  Muhre,  und  es  ist  wohl  sehr  wahrscheinlich,  daß  dieses 
tief  in  die  Berggruppe  einschneidende  Tal  in  früheren  Zeiten,  als  das 
Gebirge  noch  bewaldet  war,  ständig  Wasser  geführt  hat. 

Wir  stiegen  an  der  Westseite  dieses  Tales  dem  Wege  folgend 
aufwärts.  Ein  leidlich  bequemer  Pfad  führte  über  zum  Teil  verkarstetes, 
zum  Teil  von  spärlichen  Matten  bedecktes  Gelände  bergan,  der  Pfad, 
welcher  die  Kommunikation  vom  Heirkte  zum  Hafen  gebildet  haben 
mußte.  Was  ihn  von  den  Pellegrino aufstiegen  unterschied,  war  der  aus- 
schlaggebende Umstand,  daß  er  über  ein  Terrain  hinführte,  welches  auch 
rechts  und  links  vom  Wege  selbst  überall  begehbar  ist  und  also  Be- 
wegungen von  größeren  Truppenmassen  gestattete,  eine  militärische 
Verbindung,  \^ie  sie  zwischen  Heer  und  Hafen  durchaus  erforderlich  war. 

Nachdem  wir  den  Sattel  zwischen  Pizzo  Immenso  und  Monte 
Monolfi  überstiegen  hatten,  tat  sich  vor  uns  eine  breite,  flache,  nach 
Osten  hin  geöffnete  Talmulde  auf,  die  besonders  in  ihrem  unteren, 
dolinenartig  geformten  und  geschützten  Teile  in  der  Nähe  der  Casa  Isca 
eine  üppige  Vegetation  trug.  Wir  durchquerten  den  oberen  Teil  der 
Talmulde,  immer  den  Monte  Castellaccio  zur  rechten,  und  gelangten 
über  einen  zweiten  flachen  Sattel  zwischen  dem  Monte  Castellaccio  und 
dem  Cuzzo  S.  R-occo  auf  die  Südseite  des  Berges,  eine  langsam  nach 
Süd  und  Südost  sich  senkende  Matte,  welche  dann  plötzlich  mit  einem 
steilen  Rideauabsturze  nach  Süden  zu  in  das  kleine  Tälchen  abbrach, 
welches  sich  zwischen  Cuzzo  S.  Croce  und  Cuzzo  Gibelliforni  in  süd- 
östlicher Richtung  zur  Ebene  hinabsenkt.  Auch  hier  waren  große  Teile 

Wiener  Eranos.  Iß 


-   ^*2   -  .^ 

der  Fläche,  besonders  in  der  Nähe  der  Casa  Trippatore,  mit  Korn  und 
Opuntienkaktus  gartenähnlich  bepflanzt. 

Von  diesem  flachen  Südhange  und  schon  von  der  Mitte  des  Berges 
ab  südlich  des  Pizzo  Immenso  gilt  also  die  Beschreibung  des  Polybios, 
daß  der  Berg  gegen  die  kalten  Nordstürme  wohl  gedeckt  sei;  hier  sind 
auch  die  ausgedehnten  Weiden  und  das  anbaufähige  Land  vorhanden, 
welches  das  obere  Plateau  des  Heirkte  bedeckte.  Hier  an  der  zugleich 
von  Natur  schwächsten  Stelle  des  Berges  werden  wir  uns  daher  auch 
das  Hauptlager  des  Hamilkar  konzentriert  denken  müssen,  nach  Süden 
hin  geschützt  durch  den  oben  erwähnten  Rideauabsturz,  der  die  Süd- 
grenze des  Hauptlagers  und  der  ganzen  Befestigung  des  Berges  über- 
haupt gebildet  haben  wird. 

In  der  Tat  bedarf  diese  Seite  des  Berges,  um  völlig  unangreifbar 
zu  sein,  einiger  Nachhilfe  durch  die  Kunst,  wie  das  ja  Polybios  aus- 
drücklich verlangt;  besonders  der  westliche  Teil  am  Südhange  des 
Monte  Castellaccio  selber. 

Daß  die  übrige  Oberfläche  des  Berges  nur,  wo  es  nötig  war,  mit 
Posten  und  Detachements  besetzt  war,  die  für  Beobachtung  und  besonders 
für  ungestörte  Verbindung  mit  dem  Meere  zu  sorgen  hatten,  versteht 
sich  von  selber. 

So  stimmt  die  Polybianische  Beschreibung  Punkt  für  Punkt  mit 
dem  vorliegenden  Gelände.  Eine  Schwierigkeit  machen  nur  die  drei  Wege 
des  Polybios,  von  denen  einer  von  der  See,  zwei  von  der  Landseite 
her  auf  den  Berg  hinaufgeführt  haben  sollen.  Zwar  der  von  der  See- 
seite her  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  bestimmt  vorgezeichnet  und  durch- 
aus zweckentsprechend.  Aber  von  der  Landseite  gibt  es  heutzutage  eine 
ganz  beträchtliche  Anzahl,  die  von  der  Ost-  und  Südseite  her  die  Gebirgs- 
gruppe  erklimmen.  Indessen  erkennt  man  bald,  daß  diese  scheinbar  so 
zahlreichen  Zugänge  die  Höhe  doch  nur  an  drei  Punkten  erreichen, 
weil  sie  sich  nämlich  zum  größten  Teile  vor  Beendigung  des  Aufstieges 
vereinigen.  So  laufen  die  Wege  von  Natale  und  Sferracavallo  nordöstlich 
von  Monte  Monolfi  zusammen  und  bilden  hier  den  ersten  Zugang;  die 
Wege  von  Villa  Bonocore,  Colleggio  Romano  und  Casa  Ferrerri  treffen 
sich  bei  Casa  Isca,  und  endlich  die  Wege  von  Südost  und  Südwest 
erreichen  alle  in  der  unmittelbaren  Nähe  von  Casa  Trippatore  die  Hoch- 
fläche. So  kommen  in  der  Tat  für  den  Zugang  zum  Plateau  selber  nur 
drei  Eingänge  in  Betracht.  Immerhin  ist  das  einer  mehr,  als  Polybios 
angibt.  Aber  man  muß  bedenken,  daß  es  sich  ja  hier,  wie  wir  schon  beim 
Pellegrino  betont  haben,  nicht  um  Jägerpfade,  sondern  um  militärisch 
brauchbare  Kommunikationen  handelt,  und  diese  Wege  sind  dazu  wohl 
zum  größeren  Teile   überhaupt   nicht    geeignet.    Der  Weg   wenigstens, 


—   243   — 

den  wir  zum  Abstiege  wählten ,  durch  das  oben  erwähnte  Tal  nach 
Südosten  hin  zum  Cuzzo  S.  Rosalia,  ist  als  solche  überhaupt  nicht  zu 
bezeichnen.  Es  mag  also  sehr  wohl  sein,  daß  der  eine  der  von  Osten 
herkommenden  Wege  als  unpraktikabel  nicht  mitgezählt  ist,  oder  daß  im 
Altertum,  wo  wir  uns  den  Berg  doch  wohl  noch  zum  großen  Teile  mit 
Urwald  bedeckt  denken  müssen,  hier  überhaupt  noch  kein  Zugang  be- 
standen hat. 

Südlich  von  jenem  Rideauabsturz ,  den  wir  oben  als  Grenze  von 
Hamilkars  Befestigungen  betrachtet  haben ,  zieht  sich  nun  ein  breiter 
und  flacher  Talboden  in  westöstlicher  Richtung  hin  in  einer  liänge  von 
etwa  2V2  ^''^^  allmählich  nach  Osten  zu  sich  senkend.  Im  Süden  dieser 

Abbild.  5. 
Hügel  des  Bömerlagers 


K()iner];i"er   von   Nordwesten  tresetieii. 


Senkung  erhebt  sich  das  Gebirge  noch  einmal  wieder  zu  einer  flachen 
Doppelkuppe  von  etwa  IV2  ^^*  Länge  und  in  einer  Formation,  die  für  ein 
Lager  sehr  passend  ist.  (S.  Abbild.  5.) 

Die  Entfernung  dieser  Kuppe  von  dem  Lager  des  Hamilkar  beträgt 
genau  900  m,  also  den  von  Polybios  für  den  Raum  zwischen  den  beiden 
Lagern  geforderten  Platz.  (S.  S.  233,  A.  1.) 

Hier  auf  der  Kuppe  hätten  wir  demnach  das  römische  Lager  und 
nördlich  von  ihm  in  erster  Linie  den  Schauplatz  der  dreijährigen  Kämpfe 
zwischen  Karthagern  und  Römern  anzusetzen :  er  besteht  in  einem  flachen 
Talboden,    dessen  Ränder   nach  Norden   und   Süden  ansteigen    zu  den 

16* 


—    244   — 

Lagern  der  beiden  Gegner.  Von  diesem  Terrain  also  gilt  die  soeben 
besprochene  Schilderung  des  Polybios,  daß,  so  oft  die  Heere  oder  Teile 
von  ihnen  sich  hier  auch  maßen,  eine  Entscheidung  doch  nicht  erfolgen 
konnte ,  weil  die  unterliegende  Partei  sich  sofort  in  den  Schutz  ihres 
Lagers  zurückziehen  konnte,  das  wegen  seiner  erhöhten  Lage  —  und 
auch  von  dem  römischen  wird  das  hier  mit  vollem  Rechte  gesagt  — 
für  den  Gegner  unangreifbar  war.    (S.  S.  233,  A.  1.) 

Jetzt  erkennen  wir  auch,  was  die  Erwähnung  der  Hinterhalte 
und  Gegenhinterhalte  und  Überfälle  während  dieser  langen  Kampfe 
zu  bedeuten  hat.  Denn  hier  in  diesem  coupierten  und  welligen  Terrain 
war  zu  solchen  Dingen  Gelegenheit  in  Fülle  gegeben. 

Natürlich  haben  wir  nicht  anzunehmen,  daß  immer  nur  zwischen 
den  Lagern  selber  gekämpft  wurde. 

Hamilkar  war  hier  nicht  zu  so  starrer  Defensive  verurteilt,  wie 
er  es  auf  dem  Pellegrino  gewesen  wäre.  Außer  dem  Ausgange  nach 
Süd  mit  seinen  verschiedenen  Verzweigungen  nach  Ost  und  West  hatte 
er  noch  den  Ausgang  über  Casa  Isca  oder  nach  Natale  in  die  Ebene 
von  Palermo.  Er  hatte  ferner  von  seinem  Schiffslager  aus  nach  Süd- 
osten hin  die  erwähnte  Senke  zwischen  dem  Heirkte  und  dem  Monte 
del  Gallo  zu  seiner  Verfügung,  die  ihm  Plünderungszüge  in  die 
reiche  Ebene  von  Palermo  gestattete  i),  und  nach  Südwesten  hin  konnte 
er  von  derselben  Stelle  aus  ebenso  leicht  in  die  fruchtbare  Ebene  von 
Carini  und  Partinico  vorstoßen.  Ja,  es  war  sogar  möglich,  auf  diesem 
Wege  von  der  Landseite  her  mit  den  einzigen  Punkten,  die  Karthago 
damals  in  Sizilien  noch  hielt,  mit  Drepanum  und  Lilybaeum  in  Ver- 
bindung zu  treten. 

So  sehen  vdr,  wie  die  ganzen,  drei  Jahre  langen  Kämpfe,  die  wir 
sonst  kaum  recht   verstehen   können ,    durch  diese   neue  Lokalisierung 


^)  Möglicherweise  hat  hier  das  Kastell  Heirkte  (s.  S.  226,  A.  1)  gelegen,  welches  schon 
Pyrrhos  eroberte  und  das  die  Eömer  im  Jahre  252  mit  angeblich  40.000  Mann  und  1000  Eeitem 
vergeblich  belagerten.  (Diodor  XXII  10,  4.  XXIII  20.)  Man  übersetzt  EIqxx'^  gewöhnlich 
mit  „carcer''  (Schweighäuser  z.  Stelle  u.  a.).  Da  es  ein  ^qovqiov  war,  könnte  das  Wort  hier 
aber  wahrscheinlicher  die  Bedeutung  „Sperrfort"  haben.  Auf  dem  Berge  kann  es  nach  dem 
Ausdruck  des  Polybios  (I  56,  3.),  daß  Hamilkar  den  ml  zfjg  EiQHrfjg  keyöfievov  xöjiov  besetzt 
habe,  nicht  gelegen  haben,  sondern  am  Fuße,  und  da  würde  die  Lage  an  dem  Passe  von  Sferra- 
cavaUo  sehr  gut  passen,  weil  hier  die  Hauptstraße  von  Panormos  nach  Lilybaeum  hindurch- 
führte (S.  239,  A.  2).  Dem  entspräche  dann  auch  die  Bedeutung,  die  das  Kastell  im  Kriege 
des  Pyrrhos  gehabt  hat,  und  der  Wert,  den  die  Eömer  seinem  Besitze  schon  vor  Hamilkars 
Auftreten  beilegten.  Wo  man  sich  das  Kastell  denken  soUte,  Avenn  der  Pellegrino  Hamilkars 
Lager  gewesen  wäre,  ist  nicht  abzusehen.  Einen  isolierten  •  und  strategisch  wertlosen  Berg 
und  noch  dazu  unten  zu  schützen,  das  hat  doch  keinen  Sinn, 


—   245   — 

einen  ganz  anderen  Charakter  erhalten,  einen  Charakter,  der  der  ge- 
rühmten Aktivität  und  Beweglichkeit  des  großen  Puniers  und  seinem 
Geiste  der  Initiative  in  viel  besserer  Weise  gerecht  wird,  als  es  bei 
der  alten  Anschauung  vom  Schauplatze  dieser  Kämpfe  am  Pellegrino 
der  Fall  gewesen  wäre.  — 

Als  wir  nach  getaner  Arbeit  an  Ort  und  Stelle  die  Sachlage 
überlegten,  hatten  wir  das  lebhafte  Gefühl,  daß  durch  diese  Lösung 
des  Problems  unsere  Kenntnis  der  antiken  Kriegsgeschichte  um  die 
lebendige  Anschauung  eines  nicht  unwichtigen  kriegsgeschichtlichen 
Vorganges  reicher  geworden  sei.  Ich  hoffe,  daß  es  mir  gelungen  ist, 
dasselbe  Gefühl  auch  in  dem  Leser  dieser  Zeilen  erweckt  zu  haben. 


Der  mauretanische  Feldzug*  unter  Antoninus  Pius. 

Von 
JOSEF   MESK. 


Die  Kämpfe  gegen  die  Mauren  setzten  unter  Antoninus  Pius  er- 
folgreich ein,  endeten  aber  erst  viel  später  mit  der  endgültigen  Unter- 
werfung des  leicht  beweglichen  und  schwer  zu  fassenden  Reitervolkes. 
Der  Feldzug  unter  dem  ersten  Antoninen  wird  mehrfach  erwähnt; 
allein  die  Unbestimmtheit  der  Überlieferung  erschwert  ebensosehr  die 
zeitliche  Umgrenzung  der  Ereignisse  wie  den  Einblick  in  ihren 
Verlauf. 

Nachstehend  unsere  Quellen.  Die  vita  Pii  5,  4  meldet  kurz: 
jper  legatos  suos  plurima  hella  gessit  .  .  .  Mauros  ad  imcem  postu- 
landain  coegit.  Ausführlicher  ist  Pausanias  VIII  43,  3 :  ö  de  ^Avtio- 
vlvog  .  .  .  Ttoke^ov  .  .  .  aQ^avzag  MavQOVQj  ^ißvwv  twv  avTovofnwv 
Tr)v  fi^yiörr(v  juolQav,  vofidöag  te  ovrag  vmI  ToactiSe  e'xi  öva^axwxeQOvg 
Tov  ^iiv&L%ov  ysvovg  ool()  jurj  stiI  d^a^cov^  stcI  %7tTci.ov  de  avToi  te  xal  ai 
yvvaiiiEg  ^Xcjvto^  xovvovg  ^ev  e§  äTzccGTjg  iXavvcov  Tijg  xcogag  ig  ra  EGyara 
rjväy'/,aOEv  äva(pvyelv  ^Lßvrjg,  etzL  te  ^.AxXavTa  ib  oQog  '/,al  ig  Tovg  Ttqbg 
Ti^  ^AtIccvtl  dvd-QcoTtovg.  Nur  beiläufig  gedenkt  des  Geschehnisses  der 
Rhetor  Aristides  (XXVI  70  Keil);  doch  ist  der  Zusammenhang,  in 
dem  er  die  Notiz  bringt,  nicht  ohne  Bedeutung:  7ti')XEuoi  de  ovo*  et 
TtdfTtoTE  iyevovTO  in  (zur  Zeit  des  Pius)  TtLOTEvovvaLy  äX)^  iv  aXXcog  f,iv- 
S-cüv  zd^EL  TÖig  TtoXXoig  dycovovuaiy  eI  de  ttov  %al  GCjurcXa/.ElEv  in  io^a- 
xiaigy  oia  Eiytög  iv  dQyfj  fiEydXr^  v.ai  diÄErqrjTii)  Ttagavola  Fetcov  ^  övotv- 
xLcf  ^ißvwv  5J  '/.ay.odaLf.iovia  tmv  TtEQL  rrjv  iQvd-Qav  d^dXazTav,  dyad-olg 
TtaqovGL  XQi^GaGd^ai  (Afj  öwauivcov ,  dzExvcog  ügtteq  juvd^ot  Tayecog  auTol 
TE  Ttagr^Xd-ov  vmI  ol  tzeqI  avrcüv  Xoyoi.  Wichtig  sind  die  Inschriften 
CIL  III  5211 — 5215;    wir  erfahren  aus  ihnen,  daß  zur  Zeit  des  Feld- 


—   247    — 

zuges  Hilfstruppen  unter  T.  Varius  Clemens  aus  Spanien  nach  Maure- 
tania  Tingitana  geschickt  wurden:  5211  praef(ecto)  auxiliariorum 
(5212  auxiliorum)  tempore  expeditionis  in  Tingitanam  (5212, 
5214,  5215  in  Mauretaniam  Tingitanam)  ex  Hispania  misso- 
orum.  Derselbe  Clemens  war  nach  Bekleidung  dreier  weiterer  Ämter 
i.  J.  152  oder  153  Prokurator  von  Mauretania  Caesariensis  (CIL  VIII 
2728).  In  Verbindung  mit  diesen  Kämpfen  bringt  man  i)  in  der  Regel 
vermutungsweise  den  Umstand,  daß  i.  J.  145  eine  Vexillatio  der  legio 
VI  Ferrata  aus  Syrien  eine  Militärstraße  über  den  mons  Aurasius 
in  Numidien  anlegte  (CU^  VHI  10230  cf.  2490),  ebenso  die  gleich- 
zeitige Anwesenheit  einer  Abteilung  der  in  Bostra  stationierten  leg.  III 
Cyrenaica  (Henzen,  Annal.  1860,  p.  54,  der  auch  das  Distichon  CIL 
VI  1208  auf  diesen  Feldzug  bezieht).  Endlich  wies  man  ^)  zur  Kenn- 
zeichnung der  Unsicherheit  im  numidisch-mauretanischen  Grenzgebiete 
während  der  Jahre  147—149  darauf  hin,  daß  nach  CIL  VIII  2728 
um  diese  Zeit  ein  Militäringenieur,  der  dienstlich  von  Lambaesis 
nach  dem  mauretanischen  Saldae  reiste,  unterwegs  samt  seiner  Es- 
korte überfallen  und  ausgeplündert  wurde  und  nur  das  nackte  Leben 
rettete. 

Auf  Grund  dieses  Materials  gelangt  Cagnat  ^) ,  der  über  diese 
Kämpfe  ausführlicher  handelt,  zu  folgender  Darstellung.  Der  Feldzug 
habe  vor  145  begonnen ;  die  Vexillatio  der  leg.  VI  Ferrata  habe  mög- 
licherweise einen  Teil  der  in  Lambaesis  garnisonierenden,  damals  gegen 
die  Mauren  geschickten  leg.  III  Augusta  ersetzt.  Varius  Clemens  habe 
die  Aufgabe  gehabt,  dem  Feinde  mit  den  spanischen  Truppen  in  die 
Flanke  zu  fallen;  die  beiden  Truppenkörper  in  Mauretanien  und  Tin- 
gitanien  hätten  einander  ergänzt  und  in  die  Hände  gearbeitet.  Den 
Erfolg  dieser  gemeinsamen  Operation  lehre  Pausanias.  Einen  weiteren 
chronologischen  Anhaltspunkt  biete  die  Laufbahn  des  Varius  Clemens. 
Zwischen  seiner  Entsendung  nach  Tingitanien  und  seiner  Ernennung 
zum  Prokurator  von  Mauretanien  (152)  sei  er  Präfekt  einer  Eeiterala 
und  Prokurator  von  Cilicien  und  Lusitanien  gewesen  (CIL  III  5211  if.); 
darnach  falle  die  Sendung  der  Hilfstruppen  aus  Spanien  nach  Afrika 
unter  der  Voraussetzung,  daß  die  drei  Ämter  unmittelbar  aufeinander 
folgten,  spätestens  148  und  vielleicht  146  oder  147,  wenn  zwischen 
den  einzelnen  Ämtern    eine  Unterbrechung   lag.    Man   könne   demnach 


^)  SchiUer,  Gesch.  d.  röm.  Kaiserzeit,    I,  2.  Abt,  S.  631 ,    Anm.  6.    Cagnat,  L'armee 
romaine  d'Afrique  (Paris  1892),  S.  42.  v.  Rohden  in  Pauly-Wiss.  n  2503. 
2)  Schiller  a.  a.  0. 
«)  Cagnat  a.  a.  0.  S.  42  f. 


—   248    — 

(auch  im  Hinblick  auf  CIL  YIII  2728)  den  Krieg  gegen  die  Mauren 
unter  Antoninus  Pius  zwischen  144  und  149  ansetzen.  Schiller  i)  gibt 
keinen  festumgrenzten  Zeitansatz,  scheint  aber  auch  anzunehmen .  daß 
die  Kämpfe  von  145 — 149  währten,  v.  Rohden  -)  läßt  den  Feldzug  gegen 
die  Mauren  „um  das  Jahr  145"  stattfinden. ») 

Bei  der  Untersuchung  empfiehlt  es  sich,  zunächst  die  Stellen  aus- 
zuscheiden ,  die  auf  den  Kampf  mit  den  Mauren  nicht  ausdrücklich 
Bezug  nehmen;  sie  kommen  erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht.  Wenn 
Schiller  (a.  0.)  bemerkt,  daß  die  verschiedenen  Yexillationen  zu  be- 
weisen scheinen,  daß  in  Afrika  Unruhen  häufig  waren,  so  ist  das  zu- 
zugeben ;  einen  sicheren  Schluß  kann  man  aber  beispielsweise  in  unserem 
Falle  auf  die  Anwesenheit  einer  Abteilung  der  leg.  YI  Ferrata  nicht 
bauen,  da  dieselbe  ganz  wohl  auch  einen  anderen  Grund  gehabt  haben 
kann.  Auch  der  Überfall  auf  den  Militäringenieur  auf  seiner  Reise  nach 
Saldae  zeigt  nicht  mehr,  als  daß  das  Häuberunwesen  an  der  numidisch- 
mauretanischen  Grenze  in  Blüte  stand.  Der  librator  erzählt  kurz  und 
drastisch:  profectus  sum  et  inter  vias  latrones  sum  passus; 
nudus  saucius  evasi  cum  meis.  Daß  Räuber  in  Nordafrika  etwas 
ganz  Gewöhnliches  waren,  erhellt  schon  aus  den  griechischen  Romanen 
oder  aus  Apuleius.  Die  Grundlage  für  die  Erörterung  bilden  die  In- 
schriften auf  Yarius  Clemens :  sie  bieten  nebst  der  ausdrücklichen  Er- 
wähnung des  Zuges  gegen  die  Mauren  auch  die  Möglichkeit  einer 
Datierung  desselben.  Fürs  erste  ist  zu  betonen,  daß  nicht  von  einem 
Kriege  die  Rede  ist,  sondern  von  einem  Feldzuge.  Die  Inschrift  5211 
besagt  deutlich  tempore  expeditionis;  hier  ist  allem  Anschein  nach 
kein  langwieriger  Krieg ,  sondern  ein  einzelner  Feldzug  gemeint. 
Wenn  ferner  Yarius  Clemens  152  oder  153  Prokurator  von  Maure- 
tanien war,  so  läßt  sich  auch  bei  der  Annahme,  daß  er  die  drei  Ämter, 
die  er  nach  dem  mauretanischen  Feldzug  bis  zur  Erlangung  dieser 
Stellung  innehatte,  nicht  unmittelbar  nacheinander  bekleidete,  doch  nur 
schwer  bis  aufs  Jahr  145  kommen,  in  dem  die  kombinierte  Aktion  der 
spanischen  Truppen  und  der  durch  die  syrische  Yexillatio  teilweise 
ersetzten  leg.  III  Augusta  stattgefunden  haben  soll.  Allerdings  könnte 
diese  Legion  vor  dem  Eintreff'en  des  Hilfskorps  schon  längere  Zeit  im 
Felde  gestanden  sein;    aber  die  Annahme  eines   mehrjährigen  Krieges 


^)  A.  a.  0. 

2)  A.  a.  0. 

^)  Die  Argumentation  Müllers,  der  (in  Büdingers  Untersuchungen  z.  röm.  Kaiser- 
geseh.  II  309)  den  Aufstand  ins  Jahr  139  setzt,  wurde  schon  von  Schiller  und  Cagnat 
a.  a.  0.  zurückgewiesen. 


—  249  — 

ist  eben  nicht  wahrscheinlich.  Eine  Stütze  erhalt  diese  Auffassung  auch 
durch  die  Aristidesstelle,  bei  der  freilich  der  epideiktische  Charakter  der 
Rede  in  Betracht  zu  ziehen  ist.  Der  Rhetor  sagt  von  den  Kämpfen 
(er  spricht  allerdings  von  ^rtoXejiwi) ,  die  er  erwähnt ;  raxswg  adrol  ts 
TtaQTil&ov  xtA.  Xun  mag  ja  xaxecog  nicht  allzusehr  zu  pressen  sein; 
aber  an  langjährige  Kriege  A\^rd  man  auch  nicht  gern  denken  wollen. 
Wenn  andrerseits  Aristides  von  diesen  Ereignissen  wie  von  längst- 
vergangenen spricht,  so  liegt  die  Vermutung  nahe,  daß  er  sie  in  epi- 
deiktischer  Perspektive  schaut  und  gerade  deshalb  nennt,  weil  sie  nicht 
gar  so  ferne  lagen,  daß  er  sie,  me  es  im  Sinne  seiner  Darstellung  ge- 
wesen wäre,  hätte  übergehen  dürfen.  Da  nun  der  Sieg  über  die  Mauren 
in  einem  Atem  mit  zwei  anderen  Ereignissen  genannt  wird,  so  wäre 
es  von  Bedeutung,  wenn  sich  beide  oder  doch  eines  davon  sicher  da- 
tieren ließe ;  das  ist  leider  nicht  der  Fall.  Der  Kampf  mit  den  Geten 
oder  Daciern  wird  von  Schiller  i)  mit  Bezug  auf  CIL  III  1416  zwei- 
felnd ins  Jahr  157  gesetzt;  da  Aristides  seine  Rede  wahrscheinlich 
156  2)  hielt,  läßt  sich  das  Datum  nicht  halten ,  wenn  man  nicht  nach- 
trägliche Einschaltung  des  Passus  annehmen  will.  Der  Aufstand  am 
roten  Meer  wird  von  Rhoden  '^)  vom  ägyptischen  Krieg  unter  Antoninus 
getrennt,  von  Müller  *j  mit  demselben  identifiziert  und  nach  Letronne 
148 — 149  gesetzt.  Jedenfalls  dürften  beide  von  dem  Zeitpunkt,  in  dem 
die  Rede  gehalten  wurde,  nicht  gar  zu  weit  abzurücken  sein ;  sie  waren 
wohl  noch  allen  erinnerlich  und  mußten  darum  mit  einem  Worte  be- 
rührt werden.  Ein  indirekter  Beweis  dafür  liegt  darin,  daß  Aristides 
von  früheren  Kriegen  schweigt,  so  namentlich  von  dem  wichtigen  bri- 
tannischen (von  142  an). 

Die  Aristidesstelle  und  die  Inschriften  auf  Varius  Clemens  stützen 
sich  somit  gegenseitig  und  scheinen  mir  zu  ergeben,  daß  der  Feldzug 
gegen  die  Mauren  einerseits  nicht  von  langer  Dauer  war,  andrerseits 
gegen  Ende  der  vierziger  Jahre  des  2.  Jahrhunderts  unternommen 
wurde.  Unter  Verwertung  des  feststehenden  Datums  in  der  Ämterlauf- 
bahn des  Clemens  (Prokurator  von  M.  152  oder  153)  und  unter  der 
jetzt  empfehlenswerteren  Annahme,  daß  er  die  drei  oben  erwähnten 
Ämter  unmittelbar  nacheinander  bekleidete,  lassen  sich  als  Zeit  der 
Unternehmung  mit  Wahrscheinlichkeit  die  Jahre  148  oder  149  nennen, 
wobei  ich  voraussetze,    daß    der  Feldzug   etwa   ein  Jahr   lang   währte 


*)  A.  a.  0.  S.  631,  Anm.  7. 

0  W.  Schmid,  Rh.  Mus.  XL VIII  (1893),  S.  80  f. 

3)  A.  a.  0.  2507. 

^)  A.  a.  0.  S.  314. 


—   250   — 

oder  doch  nicht  viel  darüber.  Über  Verlauf  und  Erfolg  desselben  lehren 
die  Quellen  nur  das  Folgende:  die  Mauren  begannen  mit  den  Feind- 
seligkeiten, Hilfstriippen  wurden  aus  Spanien  nach  Tingitana  geschickt^ 
der  Gegner  wurde  bis  an  die  äußersten  Grenzen  Libyens  und  bis  ans 
Atlasgebiet  zurückgeworfen.  Der  Angriff  der  römischen  Hauptmacht 
kam  natürlich  zunächst  von  Osten;  aber  die  Entscheidung  dürfte,  nach 
der  Richtung  zu  schließen,  die  der  fliehende  Feind  nahm,  mit  Hilfe 
der  spanischen  Truppen  in  Tingitana  gefallen  sein.  Der  Sieg  der  Römer 
war  ein  vollständiger,  seine  Wirkung  eine  nachhaltige :  erst  ein  Viertel- 
jahrhundert später  wagten  die  Mauren  einen  neuen  Einfall  in  römisches 
Gebiet. 


1 


Alexander 
in  einer  Inschrift  des  3.  Jahrhunderts  n.  Ch, 


Von 
EDMUND  GROAG. 


In  der  Xähe  des  Ortes  Blace  bei  Uesküb  schrieb  Noe  Morien  im 
Jahre  1872  die  Inschrift  eines  Marmor steines  ab,  der  damals  in  der 
Türschwelle  einer  Kirche  verbaut  war,  seither  aber  verschollen  ist. 
Der  Text  wurde  nach  Mortens  Aufzeichnungen  und  einem  Abklatsche 
in  der  Eph.  epigr.  II  n.  493  =' Corpus  III  8238,  dann  nach  seinem 
Skizzenbuch  in  etwas  abweichender  Form  von  Premerstein  und  Vulic 
in  den  Jahresheften  VI,  1903,  Beibl.  S.  38  publiziert: 

Jovi  et  Juno|ni  [e]t  dracco|ni  et  dracce|na[e]  ^)  et  Ale|xandro 
Ep[i|t]ynchanus2)    s(ervus)  |  [F]uri    Octavi^)  |  c(larissimi)    v(iri)    posu[it]. 

Die  Inschrift  erregte  Interesse  wegen  der  darin  genannten  Gott- 
heiten. Es  war  zuerst  Mommsen  (Eph.  epigr.  II,  493,  wiederholt  CIL); 
der  den  Alexander  des  obermösischen  Denkmals  mit  dem  Pseudo- 
propheten  Alexander  von  Abonuteichos  identifizierte,  dessen  Wirken 
Lucians  Satire  mit  boshafter  Übertreibung  schildert.*)  Mommsens 
Deutung  hat  allgemeinen  Beifall  gefunden,  auch  Cumont  hält  an  ihr 
fest;  ^)  sie  unterliegt  jedoch  gewissen  Bedenken. 

Während  die  draccena  der  mösi sehen  Inschrift  in  dem  von 
Alexander   begründeten    Kulte    kaum    unterzubringen    ist,^)    wird    die 

*)  dracce|nae  Eph.  u.  CIL. 

2)  Epi|tynchanus  Eph.  u.  CIL. 

3)  Octavi[aiii],  CIL;  posuit  Eph.  u.  CIL. 

*)  Vgl.  Gruppe,  Griech.  Myth.  u.  Rel.  Gesch.  II,  1487. 

^)  Alexandre  d'  Abonotichos.  Un  Episode  de  l'hist.  du  paganisme.  Mem.  cour.  publ.  par 
r  Acad.de  Belg.  XL,  1887,  7,  38;    ebenso  in  Pauly-Wissowas  RE  V,  1635. 

^)  „dracaenae  alibi  mentio  non  fit",  Mommsen  Eph.  u.  CIL.  Cumonts  Erklärung 
(Mem.  25),  daß  es  in  Abonuteichos  schon  vor  Alexander  einen  —  weiblichen?  —  Schlangen- 
gott gegeben  habe,  dem  der  Prophet  den  seinen  zugesellte,    dürfte  wohl  nicht  befriedigen. 


—   252   — 

männliclie  Schlange  gemeinhin  für  Glykon  erklärt,  den  Schlangen- 
gott, in  dem  sich  nach  Alexanders  Verkündigung  Asklepios  mani- 
festierte. Wir  besitzen  in  der  Tat  Votivgaben  für  diesen  Gott^), 
aber  er  wird  in  ihnen  mit  dem  ihm  zukommenden  Namen  Glykon 
genannt.  Es  ist  nicht  zu  verstehen,  warum  gerade  Epitynchanus  von 
dieser  Übung  abgesehen  und  den  Namen  des  Gottes  durch  das  farb- 
lose dracco  ersetzt  hätte. 

Den  Herrn  des  Epitynchanus,  den  die  Inschrift  nennt,  hat  man 
früher  dem  Furius  Octavianus  gleichgesetzt,  einem  mehrfach  be- 
zeugten Zeitgenossen  der  Severischen  Dynastie.  2)  Ulpian  schrieb  von 
ihm   in    seinem  Buche   de    officio    praetoris  tutelaris:^)    Memini  itaque 

me  suadfente] Alcimum    libertum    maternum   Furi  Octav[iani] 

clarissimi  viri  p[raetorem  in  cura  retinuisse],  cum  tutelam  eius  ad- 
ministrasset  necessariusque  ad  [res  gerendas  videretur].  Wie  nicht 
eben  häufig,  besitzen  ^\dr  für  diese  Juristenstelle  einen  epigraphischen 
Beleg  in  einer  Bauinschrift  aus  Ulpianum*):  Amphilochii^).  |  Fortunae 
aeter[n]ae  domus  Furianae  |  proc(uratores)  ^j  Furi  Octaviani  c(larissimi) 
v(iri)  Furius  A[l]cimus,  Pon|tius  Uranius  pecunia  Octavianin[a]  faci- 
endum  curaverunt.  Eine  dritte  Inschrift,  in  der  derselbe  Mann  schon 
als  Consular  und  Pontifex  genannt  wird,  ist  stadtrömischer  Provenienz 
(CIL  VI  1423,  vgl.  p.  3141):  Furiae  L.  f.  Caeciliae  matri  piissimae 
Furius  Octavianus  co(n)s(ul)  pontif(exj  fil(ius). 

Ulpians  Schrift  de  officio  praetoris  tutelaris  ist  unter  Caracalla 
(211 — 217)  herausgegeben.^)  Furius  Octavianus  ist  demnach  der  Mann 
gleichen  Namens,  den  das  Album  von  Canusium  im  Jahre  223  unter 
den  senatorischen  Patronen  registriert  (CIL  IX  338),  und  zwar  ziemlich 
vorne  in  der  Reihe,  woraus  zu  schließen,  daß  er  schon  in  konsularischem 
E-ange  stand. 

Da  uns,  wie  gesagt,  nur  ein  Senator  Furius  Octavianus  bekannt 
ist,  lag  es  nahe,  den  vir  clarissimus  der  Inschrift  von  BlaÖe  eben  für 
diesen  zu  halten.  Dem  widersprechen  v.  Premerstein  und  Vulic.^)  Ihr 
Hauptargument  ist  die  chronologische  Ansetzung  der  Votivgabe. 
Alexander  von  Abonuteichos  mrkte  zur  Zeit  des  Kaisers  Marc  Aurel; 

')  CIL  m  1021,  1022  ;  vgl.  Cumont  Mem.  37  f.,  Drexler  in  Roschers  Lexikon  I,  1692. 
-)  Vgl.  Dessau,  Prosop.  imp.  Rom,  II,.  100  u.  403. 

^)  Frgm.  Vat.  ed.  Mommsen  220.  Die  Ausfüllung  der  Lücken  rührt  von  Mommsen 
her,  das  Cognomen  Octav[ianus]  hat  schon  Borghesi,  Oeuvr.  III,  121,  ergänzt. 

^)  CIL  in    8169 ;    besser,   nach   einer  Kopie  Mortens,   Jahresh.  Beibl.  VI,  1903,  28. 

^)  Das  Signum  des  Octavianus. 

^)  procc.  ist  wahrscheinlicher  als  proc.  C.  Furi  cet. 

^)  Jörs  in  Pauly-Wissowas  RE  V,  1453.  1508. 

^)  Jahresh.  a.  a.  0. 


< 


—   253   — 

sein  Tod  erfolgte  in  den  siebziger  Jahren  des  zweiten  Jahrhunderts i). 
Daher  kann  der  Senator  aus  der  gens  Furia,  dessen  Sklave  Epi- 
tynchanus  war,  nicht  der  um  mindestens  eine  Generation  jüngere 
Konsular  Furius  .Octavianus  sein,  sondern  dessen  Vater.  Nachdem 
dieses  Ergebnis  gewonnen  war,  gelangten  die  beiden  Gelehrten  zu  dem 
Schlüsse,  daß  die  Kopie  Mortens,  die  nur  die  Form  Octavi  enthält,  den 
richtigen  Namen  gebe. 

Dagegen  läßt  sich  zunächst  einwenden,  daß  der  untere  Teil  des 
Steines  anscheinend  am  Rande  lädiert  war  und  daher  von  Morten 
nicht  vollständig  kopiert  werden  konnte;  in  seinem  Skizzenbuch  fehlen 
Buchstaben  vom  Namen  des  Ep[it]ynchanus  wie  von  posu[it].  Es 
wird  daher  auch  bei  [F]uri  Octavi  ein  Ausfall  am  Schlüsse  anzunehmen 
sein,  wobei  am  ehesten  die  Ligatur  ^^  in  Betracht  käme.  Denn  es 
ist  mißlich,  bloß  auf  Grund  einer  unvollständigen  Abschrift  einen  sonst 
unbekannten  Senator  Furius  Octavius  zu  proponieren,  während  uns 
Furius  Octavianus  mehrfach,  und  zwar  gerade  als  Großgrundbesitzer 
in  der  Gegend,  in  der  Epitynchanus  den  Votivstein  setzte,  bezeugt  ist. 

Endlich  nötigt  die  Aufstellung  der  beiden  Forscher  zur  Annahme, 
daß  Furia  Caecilia,  die  Mutter  des  Furius  Octavianus,  einen  nahen 
Verwandten  und  Gutsnachbarn  geheiratet  habe.  Der  Name  Furius 
Octavianus  beweist  jedoch  keineswegs,  daß  der  Vater  dieses  Mannes 
gleichfalls  der  gens  Furia  angehörte,  sondern  gibt  nur  die  abgekürzte , 
im  täglichen  Leben  gebrauchte  Nomenklatur,  in  welcher,  wie  viele 
Beispiele  aus  der  Kaiserzeit  beweisen,  nur  das  Gentile  der  Mutter, 
beziehungsweise  des  mütterlichen  Großvaters  geführt  werden  konnte  2) 
—  zumal  wenn  die  Mutter,  wie  dies  bei  Furia  Caecilia  wohl  der  Fall 
war.  den  größeren  Besitz  in  die  Ehe  mitgebracht  hatte. 

Nach  alledem  wird  man  ohne  Bedenken  in  dem  Herrn  des 
Sklaven  Epitynchanus  den  reichen  Senator  Furius  Octavianus  erkennen 
dürfen  —  vorausgesetzt,  daß  sich  für  den  in  der  Inschrift  neben 
Göttern  und  halbgöttlichen  Wesen  genannten  Alexander  eine  mögliche 
Deutung  ergibt^).  Dies  ist  in  der  Tat  der  Fall. 

Dio  Cassius  (LXXIX  10,  1 — 3)  berichtet  unter  den  Vorzeichen, 
die    in    der    Regierungszeit    Elagabals     die     Nachfolge     des    Severus 


^)  Nach  Cumont  Mem.  52  um  171,  nach  Premerstein  und  Yuliö  im  J.  177. 

2)  Vgl.  z.  B.  Hist.  Aug.  Marc.  1,9:  Marcus  Antoninus  principio  aevi  sui  nomen  habuit 
Catili  Severi,  materni  proavi,  ferner  die  Namen  des  späteren  Kaisers  Antoninus  Pius,  der 
auf  den  Ziegeln  nur  Arrius  Antoninus  genannt  wird,  der  Domitia  Lucilla  minor,  der 
jüngeren  Faustina,  des  Q.  Sosius  Priscus  cos.  169,  des  Terentius  Gentianus  cos.  211  u.v.a. 

^)  Es  braucht  kaum  gesagt  zu  werden,  daß  an  Severus  Alexander  nicht  gedacht 
werden  kann.   ' 


—   254   — 

Alexander  verkündigten,  auch  eines,  das  sich  „in  Obermösien  und 
Thrazien  begeben  habe":  daljucov  Tig,  ^Ale^avÖQÖg  xe  ö  MazeSiov  ixelvog 
Eivai  Xiy(x>v  y.al  xh  eiSog  aurov  rrjv  xe  oy^evrjv  ärraoav  (peQcov^  wQ/urjO-rj  xe 
i/C  rmv  TteQi  rbv  ^'Igtqov  /w^/wv,  o/;>t  oiS^  o^cwg  i-iielvrj  sKcpaveig,  xal  ölo, 
TE  TTjg  Mvalag^)  y,al  xr^g  OQaycrjg  dLe^Tjld-E  ßaxxevojv  /uex  dvÖQcov  xexqa- 
y^oGLWv,  S-vQGovg  xe  yial  veßQidag  sveaÄevaatnevcov,  'Aa/Jbv  ovdev  Sqcovxcov. 
w/uoX6yrixo  Se  Ttaqh  Tzdvxcov  xcov  Iv  xf]  Qq^atj  xoxe  yevof^ievwv  on  xal 
7,axaycüyal  xal  xä  tTtixrjdeLa  auTtp  rcdvxa  Sifjf^oala  TzaQea'Aevdad-ri'  '/.al 
ovöelg  exoXjLiTjaev  ovx^  dweiTtelv  ol  ovx^  dvxäQai^  ova  d^yMv,  ov  oxqaxuo- 
xrig  ovyc  STtlxQOTtog  oux  ol  xcov  ed-vüv  fjyovf-ievoL^  dXl^  ioOTceq  iv  TzofXTzfj 
XLVi  (xed^  fj^eQav  e/.  TXQOQQtpEcog  iyioinlad'ri  jusxql  xov  BtXavvlov.  svtev&ev 
yaQ  i^avax^elg  TZQoaeoxß  /^£v  xfj  Xak-Kv^dovia  yfj  ^  e'/.el  de  örj  vuxTÖg  le^d 
TLva  TTotrjöag  '/,al  Iltttcov  S,vIlvov  VMxaxcooag  dcpavrjg  syivexo.  xavxa  juiv 
€v  xfj  ]AoLq  i'xi^  (hg  eiTcov^  cov,  tvqIv  ymI  öxiovv  TteQi  xbv  BaooLavbv  iv  xfj 
"^PioiiTj  yeviad-ai,  i'^ad-ov. 

Nichts  nötigt  uns,  in  diesen  Bericht  des  zwar  abergläubischen, 
aber  wahrheitsliebenden  und  korrekten  Dio  Zweifel  zu  setzen.  Viel- 
mehr liegt  hier  wohl  einer  jener  in  der  Geschichte  nicht  allzu  seltenen 
Fälle  vor,  daß  sich  ein  ekstatischer  Schwärmer  für  die  Inkarnation 
einer  früheren,  mythisch  gewordenen  Persönlichkeit  hält,  deren  Wieder- 
kehr erwartet  wird,  und  daß  er  durch  seinen  Glauben  an  sich  selbst 
auch  die  Massen  mit  fortreißt.  Am  wenigsten  nimmt  der  Glaube  an 
das  Wiedererscheinen  des  Großen  Alexander  Wunder.  Franz  Kampers 
hat  in  seiner,  auf  ausgedehnter  Literaturkenntnis  beruhenden  Schrift 
„Alexander  der  Große  und  die  Idee  des  Weltimperiums  in  Prophetie 
und  Sage "2)  nachgewiesen,  daß  der  uralte  Glaube  an  die  messianische 
Erscheinung  des  königlichen  Gottesmannes  sich  im  Orient  an  Alexanders 
Gestalt  geheftet  3)  und  Jahrhunderte  lang  fascinierende  Kraft  bewahrt 
hat.  Ist  doch  sogar  noch  Napoleon  von  den  Beduinen  für  den  wieder- 
erschienenen Iskender  gehalten  worden.*) 

Ein  neuerstandener  Alexander,  und  zwar  wie  die  Art  des  Auf- 
tretens beweist,  ein  Alexander  als  Hypostase  des  Dionysos^),  wird  der 
daifitov  gewesen  sein,  der  unter  Elagabal,  in  einer  politisch  aufgeregten, 
religiös  erhitzten  Zeit,  die  wenige  Jahre  vorher  den  ins  Absurde  ge- 
steigerten Alexanderkult  Caracallas  erlebt  hatte,  auf  mösischem  und 
thrazischem  Boden  erschien.     Sein    plötzliches  Entrücktwerden  erklärt 

^)  'AoCag  Hs.,  Mvoiag  schon  Bekker,  ebenso  ßoissevain. 

^)  Studien  u.  Darst.  aus  d.  Gebiete  der  Geschichte  hg,  v.  Grauert  I,  2/3.  1901. 
^)  Vgl.  auch  Schrader-Zimmern-Winckler,   Keilinschr.  u.  das  Alte  Testament,    121  f., 
380,  Lehmann-Haupt,  Klio  III,  157,  IV  111,  2. 
*)  Kampers  42. 
^)  Vgl.  Kornemann,  Klio  I,  58.  70;  Kern  in  Pauly-Wissowas  RE  V,  1039  f. 


—   255   — 

sich  ohne  Schwierigkeit.  Die  römischen  Behörden,  denen  der  Spuk 
unbequem  zu  werden  begann,  mögen  für  das  geräuschlose  Verschwinden 
Sorge  getragen  haben. 

Die  Gegend,  in  der  „Alexander"  sein  Unwesen  trieb,  ist  eben 
jene,  in  der  die  Inschrift  des  Epitynchanus  gefunden  wurde;  in  Ober- 
mösien  lagen  die  großen  Besitzungen  der  domus  Furiana.  Desgleichen 
fällt  die  Stiftung  der  Votivgabe  in  dieselbe  Zeit,  der  das  Auftreten 
des  SaUaov  angehört;  im  Jahre  nach  der  Ermordung  Elagabals  (223) 
ist  Furius  Octavianus  als  Senator  bezeugt.  Es  läßt  sich  auch  begreifen, 
daß  der  Sklave,  der  für  den  abw^esenden  Herrn  in  Scupi  die  Geschäfte 
führte,  vor  dem  rätselhaften  Alexander  und  seinem  Gefolge  Besorg- 
nisse hegte  und  ihn  durch  die  Weihung  eines  Altars  günstig  zu 
stimmen  suchte,  in  dem  der  Name  des  Gottkönigs  i)  neben  olympischen 
Göttern  und  Wesen  dämonischer  Art  genannt  war. 

Man  könnte  geneigt  sein,  diese  letzteren  gleichfalls  mit  Alexander 
dem  Großen  in  Beziehung  zu  setzen.  Juppiter  und  dracco  bieten 
keine  Schwierigkeit,  da  Juppiter  als  Zeus  Ammon,  dracco  als  die 
Schlange  gedeutet  werden  könnte,  in  deren  Gestalt  der  Gott  Olympias 
beiwohnte^).  Doch  bezüglich  der  Juno  ließe  sich  höchstens  daran  er- 
innern, daß  Kampers  in  dem  „Religionsgespräch  am  Hofe  der  Sassa- 
niden"  Spuren  einer  Tradition  erkennen  will,  derzufolge  Hera  oder 
eine  dieser  gleichgesetzte  orientalische  Göttin  als  Mutter  Alexanders 
erscheint^).  Endlich  die  weibliche  Schlange  ist  in  der  Alexander- 
prophetie  meines  Wissens  ebensowenig  unterzubringen,  wie  im  Kult  des 
Asklepios  Glykon.  Ich  möchte  daher  die  Annahme  vorziehen,  daß  die  Zu- 
sammenstellung der  Gottheiten  in  unserem  Yotivstein  des  einheitlichen 
Charakters  entbehrt  und  den  vielen,  in  Inschriften  der  Kaiserzeit  be- 
gegnenden Götterreihen  *)  an  die  Seite  zu  stellen  ist,  in  denen  die  Auswahl 
entweder  aus  lokalen  Rücksichten  oder  aus  persönlichen  Verhältnissen  ab- 
geleitet werden  muß.  Demnach  wird  man  in  dracco  und  draccena  am  wahr- 
scheinlichsten Gestalten  des  mösischen  Volksglaubens  erblicken  dürfen. &) 

^)  Daß  sich  der  Kult  Alexanders  an  gewissen  Stätten  bis  in  die  nachantoninische  Zeit  er- 
hielt, zeigt  Le  Bas -Waddington  57  (Erythrae),  vgi.Kaerst,  Gesch.  d.  hellenist.  Zeitalters  II,  388. 

2j  Ausfeld,  Der  griech.  Alexanderroman,  1907,  127.  Drexler  bei  Röscher  III,  837 f. 
Christensen  N.  Jb.  f.  d.  kl.  Alt.  XII,  1909,  108.  Mazedonische  Provinzialmünzen  aus  der  Zeit 
des  Severus  Alexander  stellen  Olympias  und  die  Schlange  dar  (Dressel,  Abh.  d.  Berl.  Akad.  1906, 
S.  31  des  Sep.  Abdrucks). 

»)  A.a.O.  S  134. 

^)  Vgl.  Wissowa,  Eel.  U.Kultus  d.  Römer,  77. 

^)  Vgl.  Drexler  in  Roschers  Lexikon  I,  1692  f.  Cumont  bei  Pauly- Wissowa  V,  1634  f. 
An  die  Schlangen,  die  den  Genius  des  Hausherren  und  die  Juno  der  Hausfrau  symbolisieren 
(Wissowa,  Rel.  u.  Kult.  155),  ist  wohl  nicht  zu  denken. 


Die  Dreiteilung  der  Provinz  Dada. 

Von 
ANTON  V.  PREMERSTEIN. 


Xach  der  Eroberung  durch  Trajan  wird  uns  zum  erstenmal  unter 
Hadrian  in  einem  Militärdiplom  vom  J.  129  (unten  S.  265,  A.  3) 
eine  Teilung  Daciens  in  zwei  Verwaltungsgebiete,  Dacia  superior  und 
Dacia  inferior,  bezeugt  i).  An  der  Spitze  des  nördlichen  Distrikts, 
der  Dacia  superior,  welche  in  der  Hauptsache  das  heutige  Siebenbürgen 
umfaßte  und  die  Hauptstadt  der  Provinz,  Sarmizegetusa,  sowie  ihren 
bedeutendsten  Waffenplatz,  das  Lager  der  legio  XIII  gemina  zu  Apulum, 
in  sich  schloß,  stand  der  prätorische  Legat  von  Dacia,  der  in  den 
Militärdiplomen  aus  den  J.  157  und  158  (unten  S.  263 ,  A.  1)  als 
Kommandierender  der  in  Dacia  superior  liegenden  Auxilien  erscheint; 
dem  Legaten  war,  wie  anderwärts,  ein  kaiserlicher  Prokurator  als 
oberster  Finanzbeamter  beigegeben  (unten  S.  263,  A.  1).  Dagegen 
wurde  Dacia  inferior,  welches  annähernd  mit  der  sog.  kleinen  Walachei 
zusammenfiel  und  nur  mit  Auxilien  besetzt  war,  von  einem  präsidialen 
Prokurator  geleitet,  der  uns  in  dem  Diplom  vom  J.  129  und  in  mehreren 
Inschriften  (unten  S.  265,  A.  28)  als  der  Chef  der  Truppen  von  Dacia 
inferior  entgegentritt.  Über  sein  Verhältnis  zum  Legaten  liegt  keine 
ausdrückliche  ÜberKeferung  vor;  indessen  dürfte  der  Umstand,  daß 
zum  Titel  des  legatiis  Äugusti  pro  praetore  provinciae  Daciae  niemals 
der  Beisatz  superioris  beschränkend  hinzutritt,  im  Verein  mit  anderen 
Erwägungen   zugunsten    der  A^nnahme    sprechen,    daß    der   Prokurator 


^)  Tgl.  dazu  und  zum  folgenden  Marquardt,  St.-Yerw.  I^,  308  ft'. ;  A.  v.  Domaszewski, 
Rhein.  Mus.  XL VIII  (1893)  243  f.;  Bonner  Jahrb.  CXVII  (1908)  156;  164;  J.  Jung, 
Fasten  der  Provinz  Dacien  (Innsbruck  1894)  S.  VI ;  S.  1 ;  40  f. ;  C.  G.  Brandis  in  Pauly- 
Wissowas  RE  IV,  1970  f.;  dazu  Sp.  1972;  0.  Hirschfeld,  Verw.-Beamte -  377  mit  A.  4; 
N.  Feliciani  in  E.  de  Ruggieros  Diz.  epigr.  II,  1443.  S.  auch  H.  Kiepert,  Formae  orbis 
antiqui  XVII  (dazu  Text  S.  3). 


—   257   — 

von  Dacia  inferior  nicht  vollkommen  selbständig,  sondern  der  Ober- 
aufsicht des  Legaten  unterworfen  war,  der  somit  als  Statthalter  der 
Gesamtprovinz  zu  gelten  hat. 

Das  bereits  erwähnte  Militärdiplom  vom  8.  Juli  158  ist  das 
späteste  datierte  Zeugnis  für  ein  zweigeteiltes  Dacien.  In  der  Folgezeit 
trat  eine  einschneidende  administrative  Änderung  ein,  infolge  deren 
die  Provinz  in  drei  nach  den  Hauptorten  genannte  Sprengel  zerfiel; 
es  waren  dies  Dacia  Apulensis  und  Porolissensis,  welche  durch  Teilung 
der  bisherigen  Dacia  superior  in  einen  südlichen  und  nördlichen  Distrikt 
entstanden,  sowie  Dacia  Malvensis,  die  bisherige  Dacia  inferior.  Es  ist 
bisher  nicht  gelungen,  dieses  wichtige  Ereignis,  welches  die  herrschende 
Meinung  den  ersten  Regierungsjahren  des  Marcus  zuweist  (unten  S.  261 
mit  A.  3) ,  mit  Sicherheit  zeitKch  festzulegen  und  damit  auch  sein 
Verhältnis  zu  anderen  um  die  nämliche  Zeit  getroffenen  Maßregeln, 
der  Verlegung  einer  zweiten  Legion  nach  Dacien  und  der  dadurch 
bedingten  Rangerhöhung  des  Gesamtstatthalters,  der  seit  Marcus  ein 
Konsular  war,  ausreichend  klarzustellen.  Dies  soll  im  folgenden  ver- 
sucht werden  durch  erneute  Betrachtung  des  seit  B.  Borghesi^ 
wiederholt  behandelten  Bruchstückes  eines  von  Antoninus  Pius  erteilten 
Militärdiploms,  welches  auf  dacischem  Boden  zu  Damasna  oberhalb 
Mehadia  gefunden  ist  und  in  der  Antikensammlung  des  Wiener  Hof- 
museums aufbewahrt  wird.  Unter  freundlicher  Beihilfe  des  Beamten 
am  Hofmuseum,  Herrn  Dr.  Julius  Banko,  habe  ich  im  September  1908 
Mommsens  Kopie  des  Fragments  (CIL  III  p.  886  n.  XLIV)  und  dessen 
Berichtigung  einiger  Lesarten  (ebd.  Suppl.  p.  1990  n.  LXX)  am  Original 
nachprüfen  können  und  beinahe  in  allen  Einzelheiten  (zu  Innenseite  Z.  13 
Anf.  s.  unten  S.  260  u.  263)  bestätigt  gefunden,  so  daß  ich  als  Grundlage 
für  das  folgende  auf  den  Abdruck  im  Corpus  und  die  dort  (p.  886) 
gegebene  Umschrift  hinweisen  kann. 2) 

Um  das  Militärdiplom  für  die  oben  gestellte  Frage  zu  verwerten, 
ist  es  vor  allem  nötig,  seine  Zeit  zu  bestimmen.  Die  Reste  der  Kaiser- 
titulatur auf  der  Innenseite  Z.  1 — 4,  verbunden  mit  dem  Datum  a(nte) 
d(iem)  V  k(alendas)  Oct(ohres)  (Außenseite  Z.  7),  zeigen  sofort,  daß  das 
Diplom  von  Antoninus  Pius  (138 — 7.  März  161)  am  27.  September  eines 
der  Jahre  von  145  bis  160  erteilt  wurde.  Dagegen  glückte  es  bisher 
nicht,  die  nach  Z.  7.  8  damals  im  Amte  befindlichen  Suffektkonsuln 
{Sex.  Calpurnio  Ägricola  Ti.  Claudio  luliano  cos.)  und  damit  das  Diplom 


^)  Oeuvres  III,    370  ff.  Vgl.    auch   L.  Eenier,    Recueil  de  dipl.  milit.    195  ff.  n.  42. 
.2)  S.  auch  das  Faksimile  bei  J.  Arneth,  Zwölf  röm.  Militärdiplome  Tf.  XXII  n.  IX; 
Schriftprobe  bei  E.  Hübner,  Exempla  scripturae  epigr.  p.  295  n.  845. 

Wiener  Eranos.  17 


—   258   — 

selbst  einem  bestimmten  Jahre  zuzuweisen  i),  was  im  folgenden  unter- 
nommen werden  soll.  Vorausgeschickt  sei  noch,  daß  nach  der  damaligen 
Ordnung  der  Amtsfristen  2)  das  Konsulat  des  Agricola  und  lulianus 
mindestens  die  beiden  Monate  September  und  Oktober  umfaßt  haben  muß. 

Für  Sex.  Calpurnius  Agricola 3)  ergibt  sich  der  gesuchte  Termin 
ohne  weiteres  daraus,  daß  er  dem  Consul  ord.  des  J.  159,  M.  Statins  Priscus 
Licinius  Italiens*),  in  der  Legation  Britanniens,  welche  dieser  im  J.  161/2 
bekleidete ,  nachgefolgt  ist.  Die  Vita  Marci  8,  8  berichtet :  et  ad- 
versus  Brittanos  quidem  Calpurnius  Agricola  missus  est.  Dies  geschah, 
wie  die  Stellung  der  Notiz  in  dem  trefflichen  sachlich-historischen 
Exzerpt  der  Vita  erkennen  läßt,  im  J.  162,  kurz  vor  oder  gleichzeitig 
mit  der  Abreise  des  Verus  nach  dem  Osten,  also  zu  derselben  Zeit, 
als  M.  Statins  Priscus  an  Stelle  des  im  J.  161  oder  anfangs  162  im 
Partherkriege  umgekommenen  M.  Sedatius  Severianus  ^)  das  Kommando  in 
Kappadokien  übernahm.  Da  Agricola  demnach  als  Konsular  rangjünger 
war  als  der  Consul  ord.  des  J.  159,  kann  sein  eigenes  Suffektkonsulat, 
welches  nach  dem  Diplom  noch  unter  Pius  fällt,  nur  auf  den  Septem- 
ber und  Oktober  entweder  des  J.  159  oder  160  angesetzt  werden. 
Dazu  stimmt  nun  auch  sein  um  das  J.  168/9  zu  datierendes  Kommando 
über  die  drei  Legionen  am  Unterlauf  der  Donau,  welches  aus  der  In- 
schrift CIL  III  S.  7505  (Dessau  n.  2311)  zu  erschließen  sein  wird  (unten 
S.  268 ,  A.  4) ;  Agricola  war  in  dieser  Stellung  der  (unmittelbare  ?) 
Nachfolger  des  M.  Servilius  Fabianus  Maximus  (Legat  von  Moesia  in- 
ferior im  J.  162),  dessen  Konsulat  in  den  Juli  158  fällt. 

Die  so  gewonnene  Datierung  wird  bestätigt  und  ergänzt  durch 
das,  was  über  die  Laufbahn  des  zweiten  Konsuls,  Ti.  Claudius  luli- 
anus, überliefert  ist.    Dabei  stellt  sich  zunächst  heraus,    daß  mehrere 


1 


^)  Nur  vermutungsweise  hat  B.  Borghesi  in  seinen  Fasten  das  J.  158  angenommen; 
vgl.  L.  Renier  zu  Oeuvres  III,  379,  3;  472,  8. 

'')  Vgl.  Mommsen,  StR  II'',  85  f.;  B.  Kubier  in  Pauly-Wissowas  RE  IV,  1128  f. 

^)  Über  ihn  E.  Klebs,  Prosopogr.  I,  p.  274  n.  196';  E.  Groag  in  Pauly-Wissowas  RE  III, 
1366  n.  18.  Zur  Legation  Britanniens  s.  auch  E,  Napp,  De  rebus  imp.  M.  Aurelio  Antonino 
in  Oriente  gestis  (Bonn  1879)  55  mit  A.  5;  W.  Liebenam,  Forschungen  zur  Verw.-Gesch. 
I,  ICO,  2;    101. 

^)  Seine  Laufbahn  gibt  die  stadtrömische  Ehreninschrift  CIL  VI  1523  (Dessau 
n.  1092).  Dazu  E.  Napp,  a.  a.  0.  p.  55  f. ;  116  n.  41 ;  J.  Jung,  a.  a.  0.  S.  11  If.  n.  15  ;  Dessau- 
V.  Rohden,  Prosopogr.  III,  p.  269  n.  637.  Zum  Jlgianog  vjiooxQärrjyog  eines  Exzerptes  aus 
Cassius  Dio,  der  mit  ihm  nicht  identisch  sein  kann,  vgl.  U.  Ph.  Boissevain  zu  Dio  III,  p.  290; 
J.M.Heer,  Philologus  Suppl.-Bd.  IX,  93;  E.Ritterling,  Rhein.  Mus.  LIX,  189,  4. 

5)  E.  Ritterling,  a.  a.  0.  S.  186  f. ;  A.  Stein  in  Pauly-Wissowas  RE  III,  1842  f.  Eine 
unedierte  Ehreninschrift  des  Mannes   wird  erwähnt  BGH  XXXIII  (1909)  26  f. 


—   259  — 

in  der  Prosopog-raphia  imperii  Romani  i)  getrennt  angeführte  Zeugnisse 
für  senatorische  Träger  des  Namens  Claudius  lulianus,  wie  übrigens 
schon  seit  langem  vermutet  wurde,  mit  Sicherheit  auf  eine  und  dieselbe 
Persönlichkeit  zu  beziehen  sind.  Ti.  Claudius  lulianus  war  demnach 
unter  Antoninus  Pius,  wahrscheinlich  nicht  nach  dem  J.  146,  Legat  der 
legio  XI  Claudia  in  Untermoesien  (CIL  III  Suppl.  7474),  sodann  als  Kon- 
sular  leg(atus)  Aug(usti)  pro  prae(tore)  von  Germania  inferior,  als  welcher 
er  auf  einer  Inschrift  aus  Bonna  (CIL  XIII  8036;  Dessau  n.  2907) 
vom  J.  160  und  wohl  auch  noch  unter  Marcus  und  Verus  in  der  Korre- 
spondenz des  Fronto  (ad  amicos  I  5.  18,  vgl.  p.  187,  7  N.)  erscheint. 
Wegen  der  Inschrift  von  Bonna  werden  wir  sein  zugleich  mit  Agricola 
bekleidetes  Suifektkonsulat  wohl  auf  den  September  und  Oktober 
159,  nicht  160,  ansetzen  müssen;  denn  sonst  hätte  Claudianus  noch  im 
Winter  des  J.  160  die  Legation  von  üntergermanien  antreten  und  die 
in  CIL  XIII  8036  erwähnten  Steinbrucharbeiten  durchführen  lassen 
müssen,  was  wenig  wahrscheinlich  ist. 

Das  Diplom,  welches  wir  nach  dem  Vorstehenden  dem  27.  Septem- 
ber 159  zuweisen  dürfen,  führte  drei  Alen  (Innenseite  Z.  5  if.)  und 
zwölf  Kohorten  (ebd.  Z.  7  ff.)  namentlich  an.  Davon  sind  zwei  Namen 
von  Alen,  sieben  von  Kohorten  teils  vollständig,  teils  soweit  erhalten,  daß 
sie  mit  Sicherheit  ergänzt  werden  können.  Nach  dem  von  C.  Cichorius 
gesammelten  MateriaP),  welches  seither  meines  Wissens  nicht  wesent- 
lich vermehrt  worden  ist^),  sind  die  meisten  dieser  Auxilien  im  zweiten 
Jahrhundert  n.  Chr.  als  Kastellbesatzungen  in  Dacien,  und  zwar  durch- 
aus im  äußersten  Norden  und  Nordwesten  der  Provinz  am  dortigen 
Limes  (so  in  Alsö-Ilosva,  Sebesvaralja,  Magyar  Egregy)  nachweisbar, 
also  in  jenem  Distrikte,    der   nach  der  Dreiteilung  der  Provinz  Dacia 


1)  I,  p.  382  f.  n.  718.  719.  726 ;  E.  Groag  in  Pauly-Wissowas  RE  III,  2726  f.  n.  187. 
188.  194.  Vgl.  auch  J.  lOein,  Bonner  Jahrb.  LXXX  (1885)  154  f. ;  A.  v.  Domaszewskis 
Note  zu  CIL  III  Suppl.  7474. 

'')  In  Pauly-WissoAvas  EE  I  (Artikel  „Ala")  1245  f. ;  1268  (zu  Z.  7,  avo  Cichorius 
[et  I  Ttmgror(um)  Fr]ont(oniana)  ergänzt;  anderer  Meinung  ist  Jung,  a.  a.  0.  S.  108); 
ebenda  IV  (Artikel  „Cohors",  hier  nach  der  Folge  des  Diploms  zitiert)  295  f. ;  286  (zuZ.  9: 
[I  AeJ(ia)]  gaesa(torum)  (milliaria)\  318;  263;  296  f. ;  299  f. ;  341. 

^)  Die  cohors  I  Flavia  Ulpia  Hisjpanorum  mill.  {7a.  8)  erscheint  als  ch(ors)  I Hi- 
sp(anorum)  (milliaria)  auch  auf  der  in  Ostgalizien  gefundenen  bronzenen  Votivhand  (Österr. 
Jahreshefte  VII  [1904]  Beibl.  149 ;  dazu  J.  Zingerle,  ebd.  Sp.  155  f.).  Dagegen  möchte  ich 
die  Ziegel  aus  Magyar  Egregy  CIL  III  Suppl.  8074,  18  mit  Cichorius  (IV,  296  f.)  und  gegen 
E.  Ritterling  (Jahreshefte  a.  a.  0.  Sp.  156,  22)  auf  die  andere  cohors  I  Hispatwrum  des 
vorliegenden  Diploms  (Z.  10)  beziehen.  Der  nachmalige  Gardepräfekt  T.  Furius  Victorinus 
ist  nach  seiner  stadtromischen  Ehreninschrift  (Ch.  Huelsen,  Ausonia  II  "[1907]  lOi.)  prae- 
fe(ctus)  it/ae  Frontcnianae  (vgl.  Diplom  Z.  1)  gewes^en. 

17::: 


—   260   — 

Porolissensis  hieß  ^).  Von  den  angeführten  Truppenkörpern  gehören 
drei  {cohors  I  Flavia  ülpia  Hispanorum  mill.  Z.  8 ;  cohors  I  Hispanorum 
Z.  10;  cohors  II  Hispanorum  scutata  Cy[renaica]  Z.  11)  erweislich  zum 
alten  Bestände  der  Okkupationstruppen  Daciens,  wo  sie  uns  bereits  auf 
Denkmälern  aus  den  J.  108 — 110  begegnen.  Unter  den  übrigen  war 
die  ala  I  Gallorum  et  Pannoniorum  (catafractaria)  (Z.  6)  offenbar  erst 
kürzlich  aus  Moesia  inferior,  wo  sie  noch  ein  Diplom  vom  J.  134 
erwähnt,  herangezogen  worden;  desgleichen  die  im  J.  114  in  Pannonia 
inferior  stehende  ala  [I  Tungrorum  Fr] ont(oniana)  (7a.  1)  und  die  cohors  1 
Augusta  Nerv.  (Z.  9),  die  jedenfalls  mit  der  cohors  1  Augusta  Nerviana  velox 
des  Heeres  von  Mauretania  Caesarensis  (Diplom  vom  J.  107)  2)  identisch 
ist  und  wahrscheinlich  mit  den  vexil(larii)  Afri[c(ae)]  et  Mauretan(iae) 
Caes(arensis)^  welche  das  oberdacische  Diplom  von  J.  158  (unten  S.  263, 

A.  1)  nennt,  nach  der  Provinz  gekommen  war.  Auch  die  oben  erwähnte 
cohors  II  Hisp.  scutata  Cyren.  hatte  früher  (J.  108)  zu  Werschetz  im 
Banat  im  Süden  Daciens  gestanden,  bevor  sie  nach  dem  Norden  (Sebes- 
varalja)  verlegt  wurde.  Man  gewinnt  aus  diesen  Daten  den  Eindruck, 
daß  um  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  die  Besatzungen  gerade 
im  Norden  der  Provinz  durch  neue  Zuschübe  verstärkt  wurden. 

Aus  der  Beobachtung,  daß  die  in  dem  Diplom  aufgezählten  Auxi- 
lien  im  Norden  und  Nordwesten  der  Provinz  Dacien  stationiert  waren^ 
ergibt  sich  nun  auch  die  Antwort  auf  die  Frage,  welcher  Provinz- 
name auf  der  Innenseite  Z.  13  zu  ergänzen  ist.  Erhalten  sind  von 
ihm  nur  die  Peste  EN.  Mommsen  (CIL  III,  p.  1990)  bemerkt  dazu 
allerdings:  „ante  EN,  quod  certum  est,  potest  fuisse  D"  ;  doch  ver- 
mochte ich  bei  meiner  Nachvergleichung  keine  irgendwie  sicheren  Spuren 
dieses  letzteren  Buchstaben  wahrzunehmen. 

Nach    dem  Vorgang   des    ersten   Herausgebers,    Gazzera,    schlug 

B.  Borghesi^)  als  Ergänzung    von  Z.  12  f.  vor:   et  sunt  [in et 


')  Vgl.  auch  die  Zusammenstellung  der  in  Dacien  stehenden  Auxilia  und  ihrer  Stationen 
bei  J.  Jung,  a.  a.  0.  S.  104  if.,  der  S.  134  if.  ausführlich  über  die  Kohortenlager  im  nördlichen 
Dacien  handelt;  dazu  E.  Sehmsdorf,  Die  Germanen  in  den  Balkanländern  (Leipzig  1899) 
69  ff. ;  N.  Feliciani  in  E.  de  Euggieros  Diz.  epigr.  II,  1450  f.  Unbekannt  sind  bisher  die 
dacischen  Garnisonen  der  ala  I  Gallorum  et  Pannoniorum  (Z.  6)  und  der  Kohorten 
/  Augusta  Nerviana  (Z.  9;  s.  unten)  und  /  Ulpia  Brittonum  mill.  (Z.  10;  vgl.  Außen- 
seite Z.  9). 

2)  Cichorius,  a.  a.  0.  IV,  318. 

^)  Oeuvres  III,  370  ff.,  bes.  p.  373  ff. ;  VIII,  201 ;  X,  60  mit  A.  5 ;  vgl.  auch  zu  CIL 
X  4860,  61.  Dagegen  W.  Henzen,  Annali  dell'  Inst.  1855,  p.  31  Anm. ;  derselbe  zu  Borghesi, 
Oeuvres  III ,  373,  1.  3;  Heron  de  Villefosse  zu  Borghesi  X,  60,  5;  Paul  Meyer,  Hermes 
XXXII  (1897)  225;  W.  Liebenam,  Forschungen  zur  Verw.-Gesch.  I,  137  f.,  4.  Borghesi  selbst 
hat  seine  Ansicht  später   zugunsten  der  Henzenschen    aufgegeben,  Oeuvres  VIII,  472;  483. 


—  261   — 

Cyrjen.  siih  Macrinio  [Vmdice]  und  sah  in  Macrinius,  welchen  er  mit 
dem  im  J.  172  als  Praefectus  praetorio  gegen  die  Markomannen  ge- 
fallenen M.  Macrinius  Yindex  identifizierte,  den  damaligen  Praefectus 
Aegypti,  der  in  der  Nachbarprovinz  Kyrene  Krieg  zu  führen  hatte. 
Abgesehen  von  zwei  noch  unten  zu  erörternden  Einwänden,  wird  diese 
Vermutung  jetzt  schon  dadurch  hinfällig,  daß  im  Herbst  des  J.  159, 
in  welchen  unser  Diplom  gehört,  nicht  ein  Macrinius,  sondern  höchst 
w^ahr scheinlich  T.  Furius  Victorinus  Präfekt  von  Ägypten  gewesen  ist^). 

Im  Gegensatze  zu  Borghesi  hat  W.  Henzen  2)  auf  Grund  der 
Erkenntnis,  daß  einige  von  den  Truppenkörpern  nach  dem  Diplom  vom 
J.  157  in  Dacien  standen,  mit  Recht  an  diese  Provinz  gedacht;  nur 
stimmt  seine  Ergänzung  et  sunt  [in  Dada  Apnljen(si)  oder  Malvjen(si) 
nicht  zu  den  anderweitig  bekannten  Garnisonsorten,  welche  vielmehr 
auf  die  Dacia  Porolissensis  hinweisen. 

Henzens  Annahme,  nach  welcher  die  Dreiteilung  Daciens  bereits 
unter  Pius  durchgeführt  war,  vermochte  nicht  durchzudringen,  zumal 
ein  neugefundenes  Militärdiplom  aus  dem  Ende  dieser  Regierung,  vom 
8.  Juli  158,  ein  unumstößliches  Zeugnis  dafür  bot,  daß  wenigstens 
damals  die  Einteilung  in  Dacia  superior  und  inferior  noch  bestand. 
Man  glaubte  daher  die  neue  Organisation,  welche  man  im  Cursus 
honorum  des  M.  Claudius  Fronto  (s.  unten  S.  268,  A.  4)  zum  erstenmal 
etwa  für  die  J.  168/170  ausdrücklich  bezeugt  fand,  in  die  Zeit  des 
Marcus  verlegen  zu  sollen  und  brachte  sie  in  ursächliche  und  zeitliche 
Beziehung  zu  der  sicher  erst  nach  dem  Partherkriege,  also  nicht  vor 
J.  166,  erfolgten  Verlegung  einer  zweiten  Legion,  der  V  Macedonica, 
aus  Troesmis  (Moesia  inferior)  nach  Dacien  und  der  dadurch  bedingten 
Rangerhöhung  des  dacischen  Legaten. ^j 


*)  Vgl.  L.  Cantarelli,  La  serie  dei  prefetti  d'Egitto  I  (Memorie  dell'  Accad.  dei  Lincei 
ser.  5,  scienze  morali  XII,  1906),  95  f.  n.  49 ;  Ch.  Huelsen,  Ausonia  II  (1907)  73. 

2)  Annali  dell'  Inst.  1855,  p.  31  f. ,  2:  vgl.  auch  oben  S.  260,  A.  3.  Ihm  stimmen 
außer  Borghesi  (oben  S.  260,  A.  3)  bei  L.  Eenier,  Recueil  de  dipl.  mil.  p.  195  ff.  n.  42; 
Heron  de  Villefosse,  a.  a.  0. ;  H.  Dessau,  Prosopogr.  II,  p.  313  n.  15.  Auch  C.  Cichorius  hat 
an  den  oben  (S.  259,  A.  2)  angeführten  Stellen  der  Artikel  „Ala"  und  „Cohors"  in  Pauly- 
Wissowas  RE  das  Diplom  für  Dacien  verwertet.  E.  Keil,  De  Thracum  auxiliis  (Berlin  1885) 
13  f.  hält  den  hier  genannten  Macrinius  für  identisch  mit  dem  M.  Macrinius  Avitus  Catonius 
Vindex  jproc(urator)  prov(inciae)  Daciae  Malv(ensis)  (CIL  VI  1449  =  Dessau  n.  1107); 
dagegen  J.  Jung,  a.  a.  0.  S.  11  zu  n.  14;  S.  42  zu  n.  4.  Avitus  hat  indessen  Dacia 
Malvensis  erst  im  germanisch-sarmatischen  Kriege  des  Marcus  (.T.  169 — 175)  verwaltet;  vgl. 
über  ihn  A.  v.  Domaszewski,  Neue  Heidelberger  Jahrb.  VI  (1896)  128 ;  Marcus-Säule,  Text- 
band 114;  E.  Ritterling,  Arch.-epigr.  Mitt.  XX  (1897)  30  zu  n.  X;  A.  Stein  in  Pauly-Wissowas 
RE  III,  1850  f. 

^)  Vgl.  Marquardt,  St.-Verw.  I'^  309  f.;  Mommsen,  CIL  III,  p.  160;  A.  v.  Domaszewski, 
Rhein.  Mus.  XLVIII  (1893)  244;    Neue  Heidelb.  Jahrb.  V  (1895)  110  (vgl.  S.  117  mit  A.3); 


—    262   — 

Von  dieser  neueren  Kombination  ausgehend,  verwarf  J.  Jung  i)  die 
Annahme,  daß  in  Z.  13  einer  der  auf  -en(sis)  ausgehenden  dacischen 
Distrikte  genannt  war.  Wie  er  vermutet ,  könnte  man  nach  Analogie 
des  Militärdiploms  vom  1.  August  löO^),  demzufolge  Auxilien  aus  Pannonia 
superior  und  inferior  zum  Maurenkriege  nach  Mauretania  Caesarensis 
abkommandiert  waren ,  an  eine  zeitweilige  Abordnung  von  dacischen 
Hilfstruppen  oder  Teilen  derselben  ebendorthin  denken,  so  daß  zu  er- 
gänzen wäre:  et  sunt  [in  Mauretania  Caesar] en(si).  Dieser  Annahme, 
wie  der  früher  angeführten  Borghesi's,  steht  jedoch  zunächst  entgegen, 
daß  eine  derartige  umfangreiche  Abkommandierung,  von  welcher  drei 
Alen  und  zwölf  Kohorten  betroffen  gewesen  wären,  noch  dazu  aus  einem 
und  demselben  enger  begrenzten  Gebiete  des  nördlichen  Daciens  und 
gerade  im  J.  159,  wo  dieser  Teil  der  Provinz  selbst  von  Feinden  bedroht 
war  (s.  unten  S.  264),  sehr  geringe  Wahrscheinlichkeit  hat.  Geradezu 
das  Umgekehrte  ergibt  sich  aus  dem  Diplom  vom  8.  Juli  158  (s.  unten 
S.  263,  A.  1),  wonach  damals  Vexillationen  aus  Afrika  und  Mauretania 
Caesarensis  in  Dacia  superior  standen  (unten  S.  264,  A.  1).  Dazu  kommt 
aber  noch  ein  formales  Bedenken.  Der  Passus  der  Militär diplome 
et  sunt  in  (illa  provincia)  suh  (illo)  gibt,  soweit  unser  Material  reicht, 
stets  den  Bereich  der  ständigen  Garnison  und  dessen  Höchstkomman- 
dierenden an.  Dies  gilt  insbesondere  auch  von  dem  soeben  er- 
wähnten, der  gleichen  Zeit  angehörigen  Diplom  aus  dem  J.  150;  der 
Umstand,  daß  die  Angehörigen  der  darin  genannten  Truppenkörper 
nach  einer  anderen  Provinz  entsendet  waren  und  nicht  von  ihrem 
ordentlichen  Kommandanten  entlassen  wurden,  kommt  korrekterweise 
durch  einen  besonderen  Beisatz  zum  Ausdruck:  d[i]m[iss(is)]  hfojnesta 
miss(ione)  per  Porcium  Vetiis [tin] um  proc(uratorcm)  ^  cum  essent  in  ex- 
pedition(e)   Mauretanßae)   Caesarens(is)  ^).    Eine   ähnliche    Formulierung 

J.  Jung,  a.  a.  0.  17  f. ;  C.  G.  Brandis  in  Pauly-Wissowas  RE  IV,  1971 ;  B.  Filow,  Die  Legionen 
der  Provinz  Moesia,  Klio,  Beiheft  VI  (1906)  56  mit  A.  5  (dazu  S.  77  f.) ;  N.  Feliciani  in 
E.  de  Ruggieros  Diz.  epigr.  II,  1443  f.  S.  auch  H.  van  de  Weerd,  Etüde  historique  sur  trois 
legions  rom.  du  Bas-Danube  (Löwen  1907)  38  ff.;  87;  89. 

*)  In  seinem  für  die  römische  Verwaltungsgeschichte  wichtigen  Buche :  Fasten  der 
Provinz  Dacien  10  f.  n.  14 ;  vgl.  auch  S.  42  zu  n.  4. 

2)  CIL  III  Suppl.  p.  2213  n.  C;  dazu  E.  Bormann,  Arch.-epigr.  Mitt.  XVI  (1893)  229  ff. 

^)  Vgl.  auch  das  Diplom  Trajans  vom  J.  113  oder  114  (CIL  III  Suppl.  p.  1975  n. 
XXXIX).  Keine  Instanz  gegen  die  oben  vorgetragene  Deutung  des  Passus  et  sunt  usw.  bildet 
das  Diplom  CIL  III  Suppl.  p.  1960  n.  XIV  (Dessau  n.  1995)  vom  J.  82.  Die  hier  im  Anschluß 
an  obergermanische  Auxilien  aufgeführten  Truppenkörper,  quae  sunt  in  Moesia  suh  C.  Vettu- 
leno  Civica  Ceriale ,  waren  nämlich  icht  etwa  bloß  zeitweilig  vom  obergermanischen 
Exercitus  detachiert,  sondern  übergingen  dauernd  in  den  moesischen  Heeresverband;  vgl. 
C.  Cichorius  in  Pauly-Wissowas  RE  I,  1238;  IV,  289  f. ;  302.  Ihre  entlassenen  Angehörigen 
erscheinen  hier   offenbar   nur  deshalb   zusammen    mit   Auxiliaren   ihres   früheren  Exercitus, 


—   263   — 

wäre,  wenn  wirklich  eine  Abordnung  dacischer  Auxilien  nach  auswärts 
vorläge,  auch  in  unserem  Diplom  zu  erwarten. 

Xach  alledem  bleibt  nichts  anderes  übrig,  als  in  der  Lücke  Z.  13 
Dacien,  und  zwar  seinen  nördlichen  Distrikt  als  ständigen  Garnisons- 
bereich, d.  h.  also,  da  der  abgekürzte  Provinzname  auf  en  auslauten  muß, 
die  Porolissensis  einzusetzen.  Die  mit  Notwendigkeit  sich  ergebende 
Ergänzung  von  Z.  12  f.  et  sunt  [in  Dada  Poroliss] en(si)  sub  Macrinio 
[Cognomen]  füllt  genau  den  zur  Verfügung  stehenden  Raum;  eine  Yer- 
gleichung  des  Originals  lehrt,  daß  das  S  vor  dem  erhaltenen  EN  zwar 
keine  Spur  zurücklassen  hat,  wohl  aber  nach  der  Beschaffenheit  der 
schmalen  leeren  Stelle  zu  Anfang  von  Z.  13  durchaus  möglich  erscheint. 
Damit  haben  wir  das  früheste  datierte  Zeugnis  für  die  Dreiteilung 
Daciens  gewonnen. 

Das  Militärdiplom  vom  8.  Juli  158^)  setzt,  wie  schon  erwähnt, 
noch  ein  zweiteiliges  Dacien  voraus,  indem  es  den  Legaten  Statins  Priscus 
als  Kommandierenden  in  Dacia  superior  nennt.  Demnach  ist  die  Neu- 
organisation der  Provinz  zwischen  dem  8.  Juli  158  und  dem 
27.  September  159  offiziell  ins  Leben  getreten.  Damit  entfällt  jede 
Möglichkeit,  diese  Dreiteilung  mit  der  erst  nach  dem  Partherkriege 
erfolgten  Verlegung  einer  zweiten  Legion  nach  dem  nördlichen  Dacien 
und  der  damit  verbundenen  Rangerhöhung  des  Statthalters  in  unmittel- 
baren Zusammenhang  zu  bringen. 

Die  Abtrennung  eines  neuen  Distriktes  im  Norden,  der  Dacia 
Porolissensis,  hängt  jedenfalls,  wie  schon  oben  (S.  260)  angedeutet  ^\Tirde, 
mit  einer  Verstärkung  der  Besatzungsarmee  in  diesem  Gebiete  zusammen, 
welche  offenbar  durch  die  Erfahrungen  veranlaßt  war ,  die  man  un- 
mittelbar zuvor  unter  der  Statthalterschaft  des  Statins  Priscus,  etwa 
in  den  J.  157  und  158,  in  Kämpfen  gegen  die  nördlich  von  der  Provinz 

weü  sie  sich  vor  ihrer  Versetzung  nach  Moesien  zugleich  mit  diesen  bei  kriegerischen  Er- 
eignissen bewährt  hatten ,  wofür  eben  die  Bürgerrechts  Verleihung  durch  Eintragung  auf 
ehernen  Tafeln  die  Belohnung  ist  (vgl.  A.  v.  Domaszewski,  Bonner  Jahrb.  CXVII  [1908]  75,  2). 
^)  CIL  III  Suppl.  p.  1989  n.  LXVII  (Dessau  n.  2006):  qui  sunt  .  .  .  in  Dacia 
super(iore)  et  sunt  sub  Statio  Prisco  leg(ato).  Danach  ist  auch  der  Provinzname  in  dem 
Diplom  vom  43.  Dezember  157  (CIL  III  Suppl.  p.  1989  n.  LXVI)  Z.  12  ergänzt.  —  In  die 
allerletzte  Zeit  des  zweigeteilten  Daciens  fällt  die  Wirksamkeit  des  T.  Desticius  Severus  als 
proc(urator)  Aug(usti)  jprov(inciae)  Daciae  superior(is),  der  darauf  zunächst  Prokurator 
Kappadokiens,  dann  Eaetiens  wurde  (CIL  V,  8660  =  Dessau  n.  1364)  und  in  letzterer  SteUung 
für  das  J.  166  bezeugt  ist;  vgl.  H.  Dessau,  Prosopogr.  II,  p.  8  n.  50;  Jung,  a.  a.  0.  S.  40f.n.3; 
80 ;  A.  Stein  in  Pauly-Wissowas  RE  V,  254  n.  5 ;  A.  v.  Domaszewski,  Bonner  Jahrb.  CXVII  (1908) 
217.  —  In  die  spätere  Zeit  des  Pius  gehört  jedenfalls  auch  die  Erwähnung  der  Kolonie 
Traiana  Sarmizr-getusensium  ex  Dacia  superiore  in  der  Ehreninschrift  des  Zollpächters 
Julius  Capito  (CIL  III  753  =  Suppl.  7429;  Dessau  n.  1465),  welcher  in  dieser  Eigenschaft 
noch  unter  den  dici  fraires  erscheint  (CIL  III  751  =  Suppl.  7434;  Dessau  n.  1855). 


—   264   — 

sitzenden  sogenannten  freien  Daker  gemacht  hatte,  i)  Doch  wurden 
in  den  nengebildeten  Sprengel  nur  Auxilien  gelegt.  Die  legio  V  Mace- 
donica,  welche  späterhin  (seit  etwa  166;  s.  unten  S.  268)  nach  Dacia 
Porolissensis  versetzt  ^^nirde.  stand  in  den  J.  158 — 162,  bis  zu  ihrem 
Auszug  in  den  Partherkrieg,  nachweislich  unter  dem  Legaten  von 
Moesia  inferior  in  ihrem  bisherigen  Lager  zu  Troesmis^).  An  eine 
Veränderung  ihrer  Garnison  war  vorderhand  mit  Rücksicht  auf  die 
Lage  im  Orient,  wo  in  den  letzten  Jahren  des  Pius  beständig  Kriegs- 
gefahr drohte  ^) ,  kaum  zu  denken ;  sicherlich  war  schon  damals  in 
Aussicht  genommen,  daß  sie  als  die  unter  den  Donaulegionen  dem 
Kriegsschauplatz  nächste  im  Bedarfsfalle  sofort  nach  dem  Osten  auf- 
brechen sollte.*)  So  erklärt  sich  denn  auch,  daß  der  Norddistrikt  Daciens 


^)  Kämpfe  gegen  die  nicht  unterworfenen  Dakerstämme  (über  sie  C.  G.  Brandis  in 
Pauly-Wissowas  RE  IV,  1975)  unter  Antoninus  Pius  erwähnen  ohne  nähere  Zeitbestimmung 
die  Vita  Pii  5,  4 :  et  Germanos  et  Dacos  et  midtas  gentes  .  .  .  contudit  jper  praesides  ac 
legatos ;  Polyainos  strateg.  VI  praef .  (p.  277  ed.  Woelfflin  ^) :  reziöv  jieTixoixÖToyv ;  Oracula 
Sibyll.  XII  180  f.  {f^eydXovg  Adxag).  Sie  fallen  zum  Teil,  wie  es  scheint,  bereits  in  seine 
ersten  Regierungsjahre;  in  der  Rede  sig  ^Poi^irjv,  welche  der  smymäische  Sophist  Aelius 
Aristides  anläßlich  seines  römischen  Aufenthaltes  im  ersten  Krankheitsjahre»,  d.  h.  (nach 
den  Darlegungen  R.  Eggers,  Österr.  Jahreshefte  IX,  Beibl.  71  if.)  im  .1.143,  gehalten  haben 
dürfte ,  spricht  dieser  von  gelegentlichen  Zusammenstößen  an  den  äußersten  Grenzen  des 
Reiches,  herbeigeführt  u.a.  dfisxQrjxco  naqavoia  Ferojv  (or.  XXVI  §70,  II  p.  111,  9  ff. 
ed.  B.  Keil ;  dazu  Keils  Zusatz  p.  471).  Sicher  aber  sind  unter  dem  Legaten  Statins  Priscus 
Kriege  an  der  Nordgrenze  Daciens  geführt  worden;  vgl.  CIL  III  1416  (angeführt  von 
P.  V.  Rohden  in  Pauly-Wissowas  RE  II,  2507);  CIL  III  1061  (Dessau  n.  4006,  vom 
J.  158).  Auf  kriegerische  Verwicklungen  deutet  auch  die  Anwesenheit  der  vexil(larn) 
Afn[c(ae)]  et  Mauret(aniae)  Caes(arensis) ,  qui  sunt  cum  Mauris  gentilih(us)  in 
Dada  super(iore)  nach  dem  Diplom  vom  8.  Juli  158  (oben  S.  263,  A.  1).  Wenn  A.  v.  Do- 
maszewskis  (Bonner  Jahrb.  CXVII,  1908,  S.  75,  2)  Annahme  zutrifft,  daß  die  in  den  Militär- 
diplomen vorliegende  Form  der  Bürgerrechtsverleihung  an  ausgediente  Auxiliare  durch  Ein- 
tragung auf  bronzene  Tafeln  eine  Auszeichnung  oh  virtutem  bedeutet  und  immer  die  Folge 
kriegerischer  Ereignisse  ist  (vgl.  oben  S.  263,  A.  20),  so  sind  die  drei  dacischen  Diplome 
aus  den  J.  157 — 159  für  Angehörige  von  Tiuppen  ausgestellt,  die  sich  in  den  eben  er- 
wähnten Kämpfen  hervorgetan  hatten. 

^)  CIL  III  6169  (Troesmis)  :  [p]ro  sal(ute)  imp(eratorum)  Ant(onini)  et  Verl 
Aug(ustorum),  leg(ionis)  VMac(edonicae),  lalli  Bassi  leg(ati)  Äug(usti)  pr(a)  pr(aetore), 
Marti  Verl  le[g(ati)]  Äug(usti)  P.  Atl(ius)  Quintianus  Magni  fil(ius)  (centurio)  leg(ionis) 
V  M(acedonicae).  M.  lallius  Bassus  Fabius  Valerianus  war  Legat  von  Moesia  inferior  im 
J.  161  und  Anfang  162,  wo  er  als  Comes  des  Verus  zum  Partherkrieg  berufen  Avurde ; 
vgl.  H.  Dessau,  Prosopogr.  II,  p.  150n.  2;  A.Stein  in  Pauly-Wissowas  RE  III ,  1844.  S.  auch 
H.  van  de  Weerd,  a.  ä.  0.  p.  39  ff. 

^)  Vita  Marci  8,  6 :  Parthicum  bellum  .  .  .  paratum  suh  Pio ;  CIL  IX  2457 ;  dazu 
A.  Stein  in  Pauly-Wissowas  RE  III,  1840  f. 

*)  Zur  Teilnahme  der  gesamten  legio  V  Macedonica  am  Partherkriege  s.  A.  Stein, 
a.  a.  0.  Sp.  1845 ;  E.  Ritterling,  Rhein.  Mus.  LIX,  193  ff. 


—   265   — 

nicht  von  dem  späteren  Hauptquartier  der  legio  V  Macedonica,  Potaissa, 
sondern  von  dem  vorgeschobenen  Auxilienlager  Porolissum  im  äußersten 
Norden,  welches  damals  offenbar  der  Hauptwaffenplatz  war,  seinen 
Namen  erhielt. 

In  Übereinstimmung  damit,  daß  auch  im  dreigeteilten  Dacien 
anfänglich  nur  eine  Legion,  die  XIII  gemina  zu  Apulum,  vorhanden 
war,  ist  zunächst  keine  Rangerhöhung  des  Statthalters  der  Gesamt- 
provinz erfolgt.  P.  Furius  Saturninus,  der  noch  nach  dem  Regierungs- 
antritt des  Marcus  und  Verus  (7.  März  161)  hier  als  legatus  Äugustorum 
pro  praetore  fungierte,  hat  die  Provinz  als  Prätorier  erhalten  und 
wurde  erst  während  seiner  Legation  zum  Konsul  designiert. ^j 

Für  die  Dacia  Porolissensis  im  besonderen  ist  während  der  ersten 
Jahre  ihres  Bestandes  (bis  etwa  166,  s.  unten  S.  268),  solange  nur 
Auxilien  dort  lagen,  die  nämliche  Form  der  Verwaltung  durch  einen 
präsidialen,  aber  dem  Gesamtstatthalter  untergeordneten  Prokurator 
anzunehmen,  welche  uns  in  der  gleichfalls  nur  von  Nichtbürgertruppen 
besetzten  Dacia  inferior,  nunmehr  Dacia  Malvensis,  entgegentritt. 2) 
Ähnlich  wie  in  dem  Diplom  für  die  dortigen  Truppen  vom  J.  129  ^j, 
wird  auch  in  der  vorliegenden  Urkunde  unter  den  Worten  suh  Macrinio 
[Cognomen]  nicht  der  Legat  des  gesamten  Daciens,  sondern  dieser  dem 
Ritterstande  angehörige  Unterstatthalter  zu  verstehen  sein.  Nichts  steht 
der  Vermutung  im  Wege,  daß  der  hier  Genannte  identisch  ist  mit  dem 
M.  Macrinius  Vindex,  der  etwa  in  den  Jahren  168/9—172  als  Kollege 
des  M.  Bassaeus  Rufus  Gardepräfekt  war.*)  Zu  letzterem  Datum  würde, 
da  um  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  in  den  ritterlichen  Karrieren 
der  zeitliche  Abstand  von  den  untersten  Offiziersstellen  bis  zur  Garde- 


1)  Napp,  a.  a.  0.  p.  73  f.;  Jung,  a.  a.  0.  S.  14  f.  n.  16;  Prosopogr.  II,  p.  101  f.  n.  407. 
Die  auf  ihn  bezügliche  Inschrift  CIL  III  1412  =  Suppl.  7902  jetzt  auch  bei  Dessau  n.  7155. 

2)  Vgl.  A.  V.  Domaszewski,  Rhein.  Mus.  XLVm  (1893)  243  f. ;  C.  G.  Brandis  in  Pauly- 
Wissowas  RE  IV,  1970  f.    S.  auch  oben  S.  256. 

^)  CIL  III  p.  876  n.  XXXIII  =  Suppl.  p.  1977  n.  XL  VI:  sunt  in  Dada  imferiore 
(so)  suh  Plautio  Caesiano;  letzterer  ist  wohl  identisch  mit  dem  gleichnamigen  Prokurator 
von  Noricum  (CIL  III  5177).  Vgl.  Jung,  a.  a.  0.  S.  6  n.  5 ;  Prosopogr.  III,  p.  45  n.  349.  350. 
Aus  den  J.  137  und  138  stammen  mehrere  Dedikationen  von  Truppenkörpern  der  Dacia 
inferior  sub  T.  Fl(avio)  Constanie  2>roc(uratore)  AugCusti) ,  CIL  III,  Suppl.  12601  a 
und  b  (dazu  13793;  13794);  13795;  vgl.  Gr.  G.  Tocilescu,  Arch.-epigr.  Äütt.  XVII 
(1894)  224  ff. 

'*)  Zu  diesem  Prosopogr.  II,  p.  313  f.  n.  19;  dazu  A.  v.  Domaszewski,  Neue  Heidelb. 
Jahrb.  V  (1895)  117;  124,  5;  VI  (1896)  128;  E.Ritterling,  Arch.-epigr.  Mitt.  XX  (1897) 
30  zu  n.  X  mit  A.  71.  Eine  Gleichsetzung  mit  dem  P.  Macrinius  Macer  proc(urator)  Augg. 
(CIL  III  1310  =  Suppl.  12563  aus  Zalatna  in  Dacia  Apulensis)  hätte  wenig  Wahrscheinlichkeit. 


—   266   — 

präfektur  in  der  Regel  etwa  zwanzig  Jahre  betrug  i),  die  zehn  Jahre 
vorher  bekleidete  Prokuratur  der  Dacia  Porolissensis,  die  dem  Range 
nach  wohl  eine  centenaria  gewesen  sein  wird,  sehr  gut  passen.  Die 
Ergänzung  von  Z.  13  f.  suh  Macrinio  [  Vindice  proc(uratore) ,  qui]nq(iie) 
et  vigint(i)  stip(endis)  usw.  füllt  gerade  den  verfügbaren  Raum. 

Eine  Änderung  in  diesen  Verwaltungsverhältnissen  ist  erst  in 
den  Anfängen  des  germanisch-sarmatischen  Krieges  unter  Marcus  ein- 
getreten. Bisher  hat  man  wohl  allgemein  den  M.  Claudius  Fronto 
(s.  unten  S.  268,  A.4)  für  den  ersten  uns  bekannten  konsularischen  Statt- 
halter der  tres  Daciae  gehalten.  Indessen  läßt  sich  ein  noch  früherer 
Träger  dieser  Funktion  nachweisen  in  der  Person  des  L.  Aemilius 
L.  f.  Cam.  Carus^).  Nach  dem  Zeugnis  seiner  stadtrömischen  Ehren- 
inschrift CIL  VI  1333  (Dessau  n.  1077),  welche  vor  seiner  dacischen 
Legation  gesetzt  ist,  war  dieser  in  den  xVnfängen  seiner  Laufbahn 
trih(unus)  militum  leg(ionis)  Villi  Hispanae  gewesen,  einer  Truppe,  die 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  bereits  unter  Hadrian  im  britannischen 
Feldzuge  des  J.  119/120  untergegangen  ist  2).  Nach  Eintritt  in  den 
Senat  und  nach  erreichter  Prätur  wurde  er  Legat  der  untergermanischen 
Legion  XXX  ülpia  victrix  (dazu  CIL  XIII  8197),  sodann  nacheinander 
curafor  viae  Flaminiae,  leg(atus)  Äug(usti)  i)r(o)  pr(aetore)  provinciae 
Ärahiac,  als  welcher  er  nach  einem  seit  der  zweiten  Hälfte  des  ersten 
Jahrhunderts  bei  den  prätorischen  Legaten  kaiserlicher  Provinzen 
allgemein  zu  beobachtenden  Brauche*)  zum  Konsul  (suffectus)  designiert 
ward.  Als  Konsular  war  er  zuerst  legatus  Aug.  pr(o)  pr(aetore)  censitor 
provinciae  Lugdunensis,  dann  leg(atus)  Äug(usti)  pr(o)  pr(aetore)  provinciae 
Cappadociae. 

Die  schon  von  Borghesi^)  vorgeschlagene  Ansetzung  der  prä- 
torischen liCgation  des  Aemilius  Carus  in  Arabia,  aus  welcher  auch 
die  von  ihm  errichtete  Dedikation  CIL  III  Suppl.  14149  ^  (Dessau 
n.  3013)  stammt,  unter  Antoninus  Pius  wdrd  jetzt  durch  eine  Inschrift 


^)  Vgl.  die  Tabelle  bei  Ch.  Hiielsen,  Ausonia  II  (1907)  75  und  dazu  p.  74. 

^)  Über  seine  Ämterlaufbahn  s.  Jung,  a.  a.  0.  S.  20  f.  n.  22,  wo  die  ältere  Literatur 
zitiert  wird;  ebd.  S.  101  n.  2;  R.  Heberdey,  Arch.-epigr.  Mitt.  XIII  (1890)  188,  3;  E.  Klebs, 
Prosopogr.  I,  p.  27  n.  219;  P.  v.Rohden  in  Pauly-AVissowas  RE  I,  548  f.  n.  38;  dazu  E.  Groag, 
ebd.  Suppl.  I,  17  n.  38. 

^)  E.  Hübner  zu  CIL  VII  241;  Hermes  XVI,  537;  Mommsen,  Rom.  Gesch.  V,  171,  2; 
P.  Trommsdorff,  Quaest.  duae  ad  hist.  legionum  Rom.  spectantes  (Diss.  Leipzig  1896)  86; 
R.  Cagnat  in  Daremberg-Saglios  Dict.  des  ant.  III,  2,  p.  1084  mit  A.  52;  AV.  Weber,  Lnters. 
zur  Gesch.  des  Kaisers  Hadrianus  110  f. 

')  E.  Ritterling,  Arch.-epigr.  Mitt.  XX,  12  f. 

5)  Oeuvres  IV,  159. 


—   267    — 

aus  Gerasa^)  gesichert.  Als  äußerster  Terminus  ante  quem  für  sie 
und  die  Designation  zum  Konsulat  muß  das  J.  162  gelten,  in  welchem 
P.  lulius  Geminius  Marcianus  Arabia  verwaltete  2).  Die  konsularische 
Statthalterschaft  von  Cappadocia  kann  Aemilius  Carus  entweder  als 
(unmittelbarer)  Vorgänger  des  M.  Sedatius  Severianus  lulius  Rufinus, 
der  die  Provinz  zu  Ende  der  Regierung  des  Pius  innehatte  und  im 
J.  161  oder  Anfang  162  im  Partherkriege  umkam  3),  versehen  haben, 
oder,  was  mich  freilich  minder  w^ahrscheinlich  dünkt,  als  nächster 
Nachfolger  des  M.  Statins  Priscus  Licinius  Italiens  (cos.  ord.  J.  159; 
in  Kappadokien  für  162/3  bezeugt;  s.  oben  S.  258),  so  daß  er  in  die 
Lücke  ■^)  zwischen  diesem  und  dem  im  J.  166  zum  Konsulat  gelangten, 
als  Legat  von  Cappadocia  erst  seit  etwa  172  nachweisbaren^)  P.  Martins 
Verus  eintreten  würde. 

Erst  nach  der  Statthalterschaft  Kappadokiens,  welche  die  stadt- 
römische Inschrift  als  spätestes  Amt  aufführt,  ist  L.  Aemilius  Carus 
legatus  Aug(usti)  111  Daciarum  gewesen,  als  welcher  er  in  drei  von 
ihm  selbst  gesetzten  Inschriften  0)  erscheint.  Diese  Funktion  liegt 
zwischen  dem  J.  161,  in  welchem  Dacien  noch  einem  prätorischen 
Legaten  (P.  Furius  Saturninus;  oben  S.  265)  unterstand,  und  dem 
J.  177;  letzterer  Termin  ergibt  sich  daraus,  daß  Carus  spätestens  im 
J.  162  Consul  suffectus  war  und  die  normale  konsularische  Ämterlauf- 
bahn damals  nach  längstens  fünfzehn  Jahren  —  mit  dem  Termin 
für  das  Prokonsulat  von  Asia  oder  Africa  —  abzuschließen  pflegte. 
Da  nun  Carus  spätestens  im  J.  162,  dagegen  M.  Claudius  Fronto  erst 
gegen  Ende  des  Partherkrieges,  etwa  J.  164/6,  zum  Konsulat  gelangte, 
muß  die  Verwaltung  der  tres  Daciae  durch  den  ersteren  unbedingt 
früher  fallen "')  als  die  Legation  Frontos,  der  nach  seiner  stadtrömischen 
Ehren  Inschrift  (s.  u.)  zur  Zeit  des  germanisch-sarmatischen  Krieges  als 


^)  Inscr,  Graecae  ad  res  Rom.  pert,  III,  n.  1364;  dazu  die  Anm.  zu  CIL  III,  Suppl. 
14149 ^ 

'')  CIL  III,  Suppl.  14177;  dazu  E. Ritterling,  Rhein.  Mus.  LIX,  194.  Vgl.  Prosopogr.  II, 
p.  194  f.  n.  227. 

3)  E.  Ritterling,  a.  a.  0.  S.  186  f.    S.  oben  S.  258,  A.  5. 

*)  Vgl.  A.  Stein  in  Pauly-Wissowas  RE  III,  1843 ;  E.  Ritterling,  a.  a.  0.  S.  193. 
Unrichtig  Prosopogr.  III,  p.  270  zu  n.  637. 

^)  Cassius  Dio  LXXI  14,  2;  dazu  Prosopogr.  II,  p.  351  zu  n.  261 ;  III,  p.  325  n.  178. 

«)  CIL  III  1153;  1415;  Suppl.  7771  (=  Dessau  n.  4398). 

^)  Gegen  ihre  Ansetzung  unter  die  Samtherrschaft  des  Marcus  und  Verus  kann 
keinesfalls  eingewendet  werden,  daß  Aemilius  Carus  sich  in  seinen  drei  dacischen  Inschriften 
(oben  Anm.  6)  als  legatus  Aug. ,  nicht  Augg.  bezeichnet;  vgl.  z.  B.  CIL  III  6169 
(oben  S.  264,  A.  2)  und  die  Zusammenstellung  bei  E.  Ritterling,  Arch.-epigr.  Mitt.  XX 
(1897)  25,  61. 


—   268   — 

Legat  von  Obermoesien  im  J.  168/9  zugleich  in  einem  Teile  Daciens, 
der  Dacia  Apnlensis,  sodann  in  den  Jahren  169 — 170  in  den  tres  Daciae 
(zuletzt  wieder  in  Verbindung  mit  Moesia  superior)  kommandiert  hat. 
Die  Voraussetzung  für  die  Rangerhöhung  der  Legation  Daciens 
war,  wie  allgemein  zugestanden  wird,  die  Verlegung  einer  zweiten 
Legion  in  diese  Provinz.  Die  im  J.  162  von  Troesmis  aus  (s.  oben  S.  264) 
in  den  Partherkrieg  ausgezogene  legio  V  Macedonica  kann  kaum  vor 
dem  Friedensschluß  im  J.  166  nach  dem  Westen  zurückgekehrt  sein, 
wo  sie  dann  sofort  ihr  neues  Lager  zu  Potaissa  in  der  Dacia  Poro- 
lissensis  bezogen  haben  wird^).  Diese  Maßregel  war  durch  die  damalige 
kritische  Lage  der  Provinz  gefordert,  welche  die  Barbaren  bereits 
im  Frühsommer  des  J.  167  bedrohten  2).  Fortan  führte  ein  Konsular, 
als  erster  wohl  L.  Aemilius  Carus  in  den  Jahren  166/7,  mit  dem  Sitze 
in  Apulum  das  Kommando  über  Dacien  und  seine  zwei  Legionen,  die 
XIII  gemina  und  die  V  Macedonica.  Ihm  unterstanden  der  prätorische 
Legat  der  V  Macedonica  zu  Potaissa,  der  vermutlich  an  Stelle  des 
präsidialen  Prokurators,  welchen  wir  für  die  Jahre  158/9 — 166  annehmen 
mußten,  die  Verwaltung  der  Dacia  Porolissensis  übernahm,  und  der 
Prokurator  von  Dacia  Malvensis,  beide  wohl  mit  den  Befugnissen  von 
Unterstatthaltern  ausgestattet  ^j,  während  die  Prokuratoren  der  Apulensis 
und  Porolissensis  bloße  Finanzbeamte  waren.  Auf  die  schon  oben 
kurz  berührten ,  ausnahmsweisen  administrativen  Maßnahmen ,  welche 
sich  aus  der  stadtrömischen  Ehreninschrift  des  M.  Claudius  Fronto*) 
für   die  Jahre  168 — 170    erschließen  lassen    und  durch    die    Not    des 


^)  Das  früheste  Zeuj^nis  für  ihre  Anwesenheit  in  Dacien  ist  CIL  III,  Suppl.  7505 
(Dessau  n.  2311),  errichtet  von  einem  Veteranen  der  legio  V  Macedonica,  der  nach  dem 
Partherkriege  an  der  expeiUtio  Gerntanica  zuerst  unter  Calpurnius  Agricola  (wahrscheinlich 
J.  168/9;  s.  unten  A.  4),  dann  unter  M.  Claudius  Fronte  (Legat  der  drei  Dacien  im 
J.  169 — 170;  unten  A.  4)  teilgenommen  hatte  und  im  J.  170  von  Frontos  Nachfolger 
in  Dacia  entlassen  wurde.  Dazu  A.  v.  Domaszewski ,  Ehein.  Mus.  XLVIII,  244,  3; 
Neue  Heidelb.  Jahrb.  V,  109;  B.  Filow,  a.  a.  0.  S.  74  ff.;  E.  Kornemann,  Klio  I,  131,  1; 
VII,  94,  3 ;  H.  van  de  Weerd,  a.  a.  0.  p.  40  ff. 

'^)  Mommsen ,  CIL  III,  p.  161 ;  921 ;  F.  E.  Conrad,  Mark  Aureis  Markomanenkrieg 
(Programm  des  Gymn.  in  Neu-Euppin  1889;  auch  als  Eostocker  Diss.  erschienen)  9  mit 
A.  2;  11  •  A.  V.  Domaszewski,  Neue  Heidelb.  Jahrb.  V,  113  mit  A.  3. 

''^)  Nach  A.  V.  Domaszewski,  Westdeutsche  Zeitschr.  XIV,  110  f.,  452  (vgl.  Österr. 
•Jahreshefte  IV,  Beibl.  6  mit  A.  8 ;  Bonner  Jahrb.  CXVII  (1908)  156  mit  A.  4)  hätte  auch 
der  Legat  der  legio  XIII  gemina  als  Unterstatthalter  in  der  Apulensis  fungiert. 

^)  CIL  VI,  1377  (=  31640);  Dessau  n.  1098.  Dazu  Jung,  a.  a.  0.  S.  18  f.  n.  20; 
E.  Klebs,  Prosopogr.  I,  p.  373  f.  n.  699;  A.  v.  Domaszewski,  Neue  Heidelberger  Jahrb.  V 
(1895)  107  ff.,  besonders  S.llO;  113;  ferner  Bonner  Jahrb.  CXVII  (1908)  156  mit  A.  7 ; 
E.  Groag  in  Pauly-Wissov.'as  EE  III,  2722  n.  157.  Abweichend  von  den  bisherigen  Ergänzungs- 
versuchen,  welche   von   der   Voraussetzung  ausgehen,    daß  die  bloß   von  Ligorio  überlieferte 


—   269  — 

germanisch-sarmatischen  Krieges  hervorgerufen  waren,  hier  näher  ein- 
zugehen, liegt  kein  Anlaß  vor. 

Inschrift  in  Z.  3 — 7  durch  willkürliche  Interpolationen  entstellt  ist,  möchte  ich  diesen 
Passus  der  absteigend  geordneten  Ämterfolge  in  engem  Anschluß  an  die  Kopie  folgender- 
maßen herstellen :  leg.  Aug.  jpr.  pr.  provinciarum  Daciarum  et  [Moesiae]  super(ioris) 
simul  (J.  170);  leg.  Aug.  pr.  pr.  provincia[rum]  Daciar(um)  (J.  169/70);  leg.  Augg.  pr. 
pr.  Moesiae  super(ioris)  [et]  Daciae  Apulesis  simul  (J.  168/9);  leg.  Augg.  pr.  pr. 
provinciae  Moesiae  super(ioris)  (J.  166—168);  comiti  divi  Veri  usw.  Im  J.  168/9,  als 
Fronto  Obermoesien  und  Dacia  Apulensis  unter  seinem  Kommando  vereinigte,  wird  Dacia 
Malvensis  und  die  wahrscheinlich  aus  der  Porolissensis  zeitweilig  zurückgezogene  legio  V 
Macedonica,  was  hier  nur  angedeutet  werden  kann,  zugleich  mit  Moesia  inferior  dem  Calpur- 
nius  Agricola  (s.  o.),  der  schon  zuvor  in  Britannien  (um  J.  162)  drei  Legionen  unter  sich  gehabt 
hatte,  unterstellt  gewesen  sein,  vgl.  CIL  III,  Suppl.  7505  (Dessau  n.  2311);  die  Uacia 
Porolissensis,  deren  Erwähnung  zugleich  mit  der  Apulensis  man  in  Frontos  Inschrift 
erwarten  würde,  fehlt  vielleicht  deswegen,  weil  sie  damals  von  den  Barbaren  okkupiert 
war.  In  den  J.  169 — 170  gebot  Fronto  in  ganz  Dacien,  somit  auch  über  die  legio  V 
Macedonica  (CIL  III,  Suppl.  7505). 


Zu  den  neuen  Oxyrhynchus-Papyri, 


Von 
LEOPOLD  WENGER. 


Der  Oxyrhynchus-Band,  der  den  klassischen  Philologen  als  köst- 
lichste Gabe  des  Euripides  Hypsipyle  gebracht,  der  ihnen  daneben  den 
neuen  Thukydides-Kommentar  und  noch  19  andere  mehr  oder  weniger 
vollständige  new  classical  texts  beschert  hat,  ließ  auch  die  Juristen 
nicht  leer  ausgehen.  Freilich  neben  jener  stolzen  Hypsipyle  stehen 
unsere  Urkunden  bescheiden  zurück,  aber  der  Rechtshistoriker  setzt 
doch  dankbarst  die  Steinchen  zum  Mosaikbilde  des  hellenistischen  Rechts 
zusammen,  dessen  Umrisse  jetzt  schon  allenthalben  viel  deutlicher 
hervortreten,  seit  immer  mehr  Hände  an  der  Rekonstruktion  arbeiten. 
Möge  es  mir  heute,  da  die  Stadt,  der  meine  Lern-  und  ersten  Lehr- 
jahre gehörten,  gastlich  in  ihren  Mauern  Deutschlands  und  Österreichs 
Philologen  vereint,  gestattet  sein,  an  einigen  Papyri  aus  Oxyrhynchus  VI 
zu  zeigen,  was  der  Jurist  aus  ihnen  lernen  kann.  Der  Raum  ist  zu  klein 
für  monographische  Erörterung  eines  papyrologischen  Problems  der 
antiken  Rechtsgeschichte,  aber  eine  Nachlese  zu  bisher  gewonnenen 
Ergebnissen  mag  wohl  am  Platze  sein,  und  wenn  einiges  Neue  dazu- 
kommt, so  wird  dessen  Einreihung  keine  systematische  Schwierigkeit 
bereiten. 

Daß  Frauen  in  Ägypten  zur  Vormundschaftsführung  zugelassen 
wurden,  habe  ich  schon  gelegentlich  erörtert.  Für  die  Vormundschaft 
der  Mutter  sind  die  damals  vorhandenen  Belege  in  der  Ztschr.  d. 
Savigny-Stift.  Roman.  Abt.  (Z.  S.  St.)  XXVI,  449  ff.  zusammengestellt. 
Da  ist  denn  mancherlei  hinzugekommen,  was  aber  alles  das  dort  Aus- 
geführte nur  bestätigt  hat.  Auf  BGU  IV,  1070  (a»  218)  und  Lips.  9 
(a^  23^>),  worin  die  Mutter  als  eTvaxoXovd'/jTQia  auftritt,  hat  bereits 
Mitteis  (Z.  S.  St.  XXVIII,  387)  verwiesen.  Aber  selten  schön  zeigt  sich 
das    Zusammenwirken    von    Vormund    und   Mutter    im   Kaufkontrakte 


—   271   — 

Oxy.  VI,  909  (a«  225).  Da  geben  in  direkter  Stellvertretung  der  Kinder 
die  Yerkaufserklärung  ab:  AvQrjkLog  IIuoXUwv  —  iTtLTQOTzog  dcfri/J/,ajv 
xh.vMv  ATtokkuiVLOv  —  xoft  }\  Twv  ä(pr[Xiy.u)v  j^rivriQ  ymI  iTca'Aokovd-i^T gia 
AvQvl^da  Evöaii.iovlg  —  XcoQig  livglou  XQr^uaTiCovGa  zcrra  'PwiiiaUüv  ed-iq 
T£iiv(ji)v  ÖL-KaLO).  Korrekt  heißt  es  von  den  Vormündern  weiter:  ouokoyovfiev 
TtBTtQaxevai  vfielv  (sc.  emptoribus)  —  rag  ovaag  —  tmv  dipr^lrMov  — 
dycdvd^ag,  und  so  fort  bis  ytal  iTtriQwxri^evreg  w/uoloyT^aai-iev.  Erst  in  der 
Subskription  tritt  die  Mutter  gegenüber  dem  Vormund  zurück :    Avqiq'kLog 

IJTokXi\(.ov   —    (.lET^  STtajiolov^^r^TQLag    Tfi[g  fir^zQÖg Bezeugten  uns 

zunächst  keine  römischen  Namen  das  Institut  der  Muttervormundschaft 
auch  fürs  römische  Bürgerrecht,  so  sind  wir  nunmehr  auch  dieses 
Zweifels  (a.  a.  0.  XXVI,  455)  durch  die  Aurelier  und  Aurelierinnen 
der  neuen  Papyri  enthoben.  Ganz  entsprechend  dem  eben  zitierten  Falle 
ordnet  im  römischen  (p.  248)  Testamente  Nr.  907  (a»  276)  der  Erblasser 
AvQTilLog  '^EQj.ioyevrig  die  Vormundschaft  über  seine  drei  unmündigen 
Kinder,  indem  er  einen  eTziiQOTzog  einsetzt  (Z.  18:  STtiTQOTtov  de  tzolio 
Tcdv  —  dcpriXUcov  fiov  tsxvwv  —  AvqtiXlov  J7iij.riiQLov)  und  dann  fortfährt 
(Z.  20  f.):  eTray.oXovd-ovaiqg  Ttäoi  xdlg  Tf]  eTtiXQOTreta  dLa(p6Q\ovoi  xf^g 
7tQoyeyQa(Ä(.dvrig  f-iov  ywaiyög  ztA.  Bemerkt  sei  noch,  daß  die  Vormund- 
schaft über  die  Tochter  mit  der  Ehe  enden  soll,  die  über  die  Söhne 
mit  der  ^Atz/or,  dann  auch,  daß  der  Testator  sich  mit  starkem  Willen 
behördliche  Einmischung  in  seine  getroffenen  Anordnungen  verbietet: 
'Aal  ÖLa  TOVTO  [od  ßo~\vlo/Liai  aQ/ovra  rj  dvrdQyovxa  ^  ereQOv  Tiva  Ttagewid^evat 

havT[bv (Z.  21).  Das  Zusammenhandeln  von  Vormund  und  Mutter 

ist  die  Regel.  Aber  wer  heutige  Verhältnisse  in  Ländern,  wo,  wie  in 
Österreich,  dasselbe  System  üblich  ist,  kennt,  weiß  auch,  wie  leicht 
sich  dabei  selbständiges  Handeln  der  Mutter  entwickeln  kann,  während 
die  Gefahr  ihrer  Zurückdrängung  viel  geringer  ist.  So  mag  sich  im 
Papyrusrecht  vielfach  wider-  oder  doch  außergesetzlich  die  AUeinvormund- 
schaft  der  Mutter  gebildet  haben.  Allein  begegnet  die  ungetreue  Vor- 
münderin  des  P.  Nr.  898  (a»  123).  Da  klagt  Didymos,  der  Sohn  des 
Dionysios,  gegen  seine  Mutter  Matrina  (Z.  6  f.  o]vad  (.lov  e7T[iTQo\7tog)j 
daß  sie  die  Vormundschaft  zu  eigener  Bereicherung  mißbrauchte  und 
durch  Erpressung  Decharge  {dTtoxrjv  zfig  eTtixQOTiTig  Z.  23  f.)  erlangen 
wolle,  oioiisvrj  e/,  tovtwv  dvvaai>aL  excpvyelv  a  öuTiQa^ev  (Z.  24  ff.). 
Didymos  hat  also  nur  seine  Mutter  zum  ercizQOTcog.  Wie  kommt  aber  dann 
der  junge  Mann  selbständig  zur  Klage?  Am  nächsten  läge  die  Annahme, 
daß  er  eben  mündig  geworden  und  selbst  die  Rechenschaft  von  der 
Mutter  in  die  Hand  genommen.  Aber  es  fiele  bei  dieser  Annahme  auf,  daß 
er  seine  eigene  Handlungsfähigkeit  nicht  betonte ;  dann  hat  ihn  auch  die 
Mutter  wenigstens  noch  faktisch  in  ihrer  Gewalt,  denn  durch  Alimenten- 


—   272   — 

entziehung  und  allerhand  andere  Mittelchen  versuchte  sie  ein  Vorgehen 
des  Sohnes  gegen  sie  zu  vereiteln.  Vielleicht  gibt  den  richtigen  Schlüssel 
die  Bemerkung  des  Klägers  (Z.  26  if.) :  xaiToi  0ilovUov  rov  OTQa(Triyov)  i) 
TLad^  v7zof.ivrii.iaTLOf.iovg  ytQelvavTog  tteQov  fiov  eTtiTQOTtov  'AaraOTaS^rivaij 
ov  TTLOTETJOVTOS  ovte  avvfj  ovdi  xrii  fikiY^La  fiov.  Das  sieht  so  aus,  als  ob 
Philonikos  es  nun  für  gut  befunden  habe,  wegen  zu  großer  Jugend  dem 
Dionysios,  dessen  Mutter  des  Vertrauenspostens  nicht  würdig  war, 
einen  Vormund  zu  bestellen.  Und  es  wäre  dann  vielleicht  die  Deutung 
zulässig,  daß  die  Behörde  auch  nach  erreichter  Mündigkeit  von  Fall 
zu  Fall  für  jugendKche  Personen  einen  Vormund  bestellen  konnte.  Der 
Vergleich  mit  der  römischen  Tutel  und  Kuratel  liegt  zu  nahe.  In 
unserem  Falle  wäre  es  dann  etwa  infolge  einer  Geschäftsstockung  beim 
Wechsel  in  der  Strategie  Verwaltung  nicht  zur  Kreierung  dieser  neuen 
Epitropie  gekommen  und  so  erklärte  es  sich,  daß  der  junge  Mann  noch 
einmal  selber  mit  der  Klage  auftrat.  Denn  ein  zweiter  eTTiTQOTcog 
scheint  nie  bestellt  worden  zu  sein,  und  jetzt  wenigstens  hat  der 
Petent  an  der  Zulässigkeit  seiner  persönlichen  Klage  keinen  Zweifel. 
Auch  terminologische  Bedenken  würden  gerade  fürs  griechische  Papyrus- 
recht nicht  schwer  ins  Gewicht  fallen  (vgl.  den  nächsten  Papyrus). 
Neben  der  mütterlichen  Vormundschaft  wird  auch  die  anderer 
Frauen  im  P.  Nr.  888  aufs  neue  bestätigt.  Zu  den  von  mir  im  Aufsatze 
Curatrix  (Z.  S.  St.  XXVIII,  305  fP.  und  XXIX,  474)  gesammelten 
Stellen,  wo  uns  Schwester  und  Tante  als  Vormünderinnen  begegneten, 
hat  Mitteis  noch  auf  die  (fQOVTiaTQia  tov  vIcüvov  im  verstümmelten 
Londoner  Texte,  Lond.  III,  1164  a,  6  (212  n.  C.)  hingewiesen  (Z.  S.  St. 
XXVIII,  383).  Oxy.  VI,  888  (3./4.  Jhd.)  ist  der  Beginn  einer  Eingabe 
an  den  Exegetes  erhalten,  die  von  zwei  Geschwistern,  entweder  Bruder 
und  Schwester  oder  zwei  Schwestern,  als  den  Vormündern  der  Kinder 
ihrer  verstorbenen  Schwester  ausgeht.  Z.  11  f.:  TvyJ)VTEg  Trig  %]ride  fiov  lag 
Tc5v  d(priXh/.wv  ddeXfpidcov  fifiwVy  tsxvcov  TTjg  fiET7iklaxv\iag  —  das  Weitere 
ist  zerstört.  Wissen  wir  darum  auch  nicht,  welchen  Zweck  das  Ein- 
schreiten der  Vormünder  verfolgte,  so  ist  doch  der  Papyrus  auch 
noch  in  anderer  Hinsicht  sehr  bemerkenswert.  Dem  Eingabenfragmente 
vorgestellt  ist  nämlich  die  Abschrift  eines  Statthalteredikts  vom  J.  287, 
das  der  Präfekt  Flavius  Valerius  Pompeianus  über  die  Notwendigkeit 
der  Vormundsbestellung  erlassen  hat.  Über  die  Kompetenz  zur  Vor- 
mundsbestellung sei  hier  nur  auf  den  jüngst  erschienenen  Aufsatz  von 

^)  Oder  aTQa(Tr}yrioavzos),  je  nachdem  wir  Philonikos  als  vorübergehend  verhinderten 
oder  bereits  dauernd  von  seinem  Posten  geschiedenen"  Strategen  ansehen  wollen,  jedenfalls 
ist  der  königliche  Schreiber  Hermodoros,  an  den  sich  die  Klage  richtet,  zur  Zeit  sein  Ver- 
treter. Grenfell-Hunt  p.  222,  lin.   1  und  26. 


HWi. 


—   273   — 

Mitteis  (Z.  S.  St.  XXIX,  390  fF.,  396)  verwiesen.  Ich  will  micli  hier 
auf  eine  terminologisch  interessante  Beobachtung  beschränken,  die 
indes  schon  in  gewohnt  feiner  Weise  Grenfell-Hunt  (p.  205  zu  lin.  3) 
angedeutet  haben.  An  dieser  Stelle  des  mitgeteilten  Edikts  ist  die 
römische  Unterscheidung  des  tutor  impuberis  und  curator  puberis  minoris 
zwar  vorhanden,  aber  keineswegs  scharf  ausgeprägt.  Es  begegnet  bereits 
der  für  das  gemeine  Recht  so  fruchtbare  Gedanke,  daß  doch  beide 
Institute  Vormundschaft  bedeuten:  jenen  oQcpavols,  die  keine  yiridefwveg 
haben,  sollen  die  kompetenten  Behörden  rovg  %a^  riXixlav  xrjSefwvag 
bestellen,  denn  schwere  Schäden  haben  sich  daraus  ergeben  diä  t6  fir) 
Ttagelvai  rolg  OQcpavolg  eTtiTQOTCovg  tjtol  -/.ovQaTOQag.  Die  synonyme  An- 
wendung von  ol  xad^  fiXimav  Tcridefiöveg^^zsTtlTQOTtot  rjTOt  xovQocTOQeg  ist 
nicht  besser  wiederzugeben,  als  es  die  Engländer  tun:  'tutores  or 
curatores  as  the  case  may  be'.  Die  theoretische  Trennung  und  doch 
praktische  Zusammengehörigkeit  beider  Institute  könnte  aber  auch  nicht 
besser  ins  Licht  gerückt  sein. 

Im  Vormundschaftsrecht  muß  auch  der  merkwürdige  VTtoyQa- 
cpevg  Aurelius  Dionysios  Erwähnung  finden,  der  im  Mietvertrage  Nr.  911 
(a^  233  oder  265)  dem  schwachsichtigen  (dad-evl  rag  oifiig)  Mieter 
Aurelius  Theogenes  zur  Seite  steht.  Zwar  handelt  Dionysios  nicht  als 
Stellvertreter,  sondern  Theogenes  selbst  i^ier  v7toyQaq)6wg,  aber  der 
Papyrus  bemerkt  dazu  tov  ovvxcoQrj&svTog  avTto  e/.  t[ijöv]  v7tO(.ivri^dTa)v 
Tr^g  OTQaTYiyiag.  Ein  solcher  amtlich  bestellter  vTcoyqacpevg  ist  uns  bisher 
noch  nicht  begegnet.  Auch  wird  sonst  der  hlo^Q'  mcoyqaipevg  eines  Schreib- 
unkundigen nicht  schon  im  Texte  genannt,  sondern  erst  in  der  Sub- 
skription erwähnt,  die  hier  leider  nicht  erhalten  ist.  Auch  der  vTtoyqacpEvg 
eines  Schreibunkundigen  bekleidet  gewiß  nicht  minder  einen  Vertrauens- 
posten als  der  eines  Schwachsichtigen ;  es  wäre  auffällig,  wenn  dort  private 
Bestellung  genügte,  hier  aber  amtliche  Bestellung  einträte.  Ich  möchte 
darum  einen  Schritt  weiter  gehen  als  die  Herausgeber,  die  (p.  263)  an 
eine  Stellung  zwischen  der  eines  curator  mente  captus  und  eines 
gewöhnlichen  Unterschreibers  denken,  und  möchte  hier  im  VTtoyQacpevg 
den  curator  eines  infirmus  sehen.  Ich  erinnere  dazu  an  Dig.  Just.  III, 
1,  4,  wo  es  im  Anschluß  an  die  vorbesprochenen  Fälle  der  Kuratel  für 
den  mutus,  surdus,  prodigus  und  adulescens  allgemein  heißt:  item  quibus 
propter  infirmitatem  curatorem  praetor  dare  solet.  Blinde  bekommen 
allerdings  nach  Eeichsrecht  keinen  Kurator,  da  sie  sich  selbst  einen 
Prokurator  ernennen  können  (Paul.  Sent.  IV,  2,  9),  aber  nach  der  ent- 
gegengesetzten Anschauung  deutscher  Rechtsbücher  ist  im  gemeinen 
Recht  die  Zulässigkeit  der  Bestellung  eines  Kurators  oder  doch  Beistands 
und  Ratgebers  für  gewisse  Geschäfte   auf  Verlangen   des  Blinden  ent- 

Wiener  Eranos.  18 


—   274   — 

standen  (vgl.  RudorfF,  Eecht  der  Vormundscliaft  I,  143).  Einen  solchen 
Fall  scheint  das  im  Vormundschaftsrechte  überhaupt  selbständige  Wege 
wandelnde  Volksrecht  hier  ausgebildet  zu  haben.  Im  //era-Handeln  kann 
ein  Hinweis  darauf  gelegen  sein,  daß  der  Kurator  nicht  als  direkter 
Stellvertreter,  sondern  mit  dem  Iniirmus  zusammen  handelt,  aber  aus- 
geschlossen ist  direkte  Vertretung  durch  diese  Terminologie  so  wenig 
als  etwa  Fir.  81,  wo  ein  sechsjähriges  Kind  (.lETtt  TtaxQog  handelt. 

Der  schon  oben  genannte  Kaufvertrag  Nr.  909  ist  noch  in  anderer 
Hinsicht  als  für  das  Vormundschaftsrecht  von  Interesse.  Er  bietet 
zunächst  ein  hübsches  Beispiel  der  Abnahmepflicht  des  Käufers.  Kauf- 
objekt sind  Akazienbäume.  Die  Käufer  verpflichten  sich  nun,  die  Bäume 
auszuheben  und  bis  längstens  zu  einem  festgesetzten  Termine,  wenn 
sie  wollen  auch  früher,  fortzuschaff'en.  Die  Planierung  des  Bodens 
sollen  dann  beide  Parteien  gemeinsam  vornehmen.  Zwar  ist  hier  die 
Abnahmepflicht  ausdrücklich  in  den  Kaufvertrag  aufgenommen,  aber 
wir  dürfen  in  unserem  Falle  darin  wohl  ein  naturale  negotii  sehen  und 
an  Pomponius  Dig.  Just.  XIX,  1,  9  erinnern:  Si  is  qui  lapides  ex  fundo 
emerit,  tollere  eos  nolit,  ex  vendito  agi  cum  eo  potest,  ut  eos  toUat. 
Allgemeines  naturale  negotii  war  ja  bekanntlich  im  römischen  Kauf- 
recht die  Abnahmepflicht  des  Käufers  noch  nicht,  aber  in  Fällen  wie 
Oxy.  909  oder  der  zitierten  Digestenstelle  galt  wohl  das  schon  als 
Ausnahme  des  Falls,  was  später  zur  Regel  (BGB  §  433)  wurde. 

Schwieriger  ist  die  Erklärung  der  im  Papyrus  namhaft  gemachten 
Verwendung  des  Kaufpreises.  Da  heißt  es  von  den  1200  Drachmen 
nicht,  daß  sie  den  Verkäufern  bar  ausgezahlt  oder  etwa  auf  ihr  Bank- 
konto eingetragen  wurden,  sondern  (Z.  200".):  ai  TtQooexcoQr^av  dg  Guvcovrjv 
TtvQOv  /w^/j(j[a]vro5  VTceQ  fieTQrjf^drcjv  zfig  :n:QO'/,[£L]f.avrig  äiiTcslov  xqovwv 
Koi.iööo[v^  also  wohl,  daß  das  Geld  zum  Ankauf  von  Weizen  verwendet 
wurde,  der  Gegenstand  einer  noch  aus  den  Zeiten  des  Commodus 
schuldigen  Abgabe  des  nunmehrigen  Weinlandes  war.  Es  sollte  also 
mit  dem  Kaufpreise  ein  Naturalsteuerrückstand  angeschaflt  und  beglichen 
werden.  Da  von  Weingartenland  in  Geld,  von  Weizenäckern  in  natura 
gesteuert  wurde  (Wilcken,  Ostraka  199),  so  müssen  wir  eine  Kultur- 
änderung des  früheren  Weizenlandes  in  den  jetzigen  Weingarten  an- 
nehmen, wozu  auch  das  ä^iTcehxoi)  y,Tj^f.iaTog  veocpvvov  der  Urkunde  gut 
paßt.  Eine  Adaeration  der  schon  seit  mindestens  32  Jahren  (Commodus 
regiert  bis  193,  wir  stehen  im  4.  Jahre  des  Alexander,  also  225)  rück- 
ständigen Steuer  hat  nicht  stattgefunden.  Die  Beitreibung  der  Steuer 
ist  aber  auch  nicht  vergessen  worden.  Daß  das  Geld  nicht  in  die  Hände 
der  Verkäufer  gekommen,  darf  wohl  daraus  mit  ziemlicher  Sicherheit 
erschlossen  werden,  weil  es  sonst  unverständlich  wäre,  warum  die  nach- 


—  275  — 

trägliche    Verwendung   des    Geldes   zur   Begleichung    von    Steuerrlick- 
ständen    in    den    Kaufvertrag    aufgenommen    würde.    Aber    auch,    die 
Eventualität,  daß  die  Käufer  auf  Wunsch  der  Verkäufer  für  diese  die 
Anschaffung   der   dem   Staate   geschuldeten    Kornsteuern   übernommen 
hätten,   ist   ganz  unwahrscheinlich.    Warum    sollte  sich  der  Verkäufer 
in    so  komplizierter   Form    seiner   Verbindlichkeit    entledigen    wollen? 
Viel  eher   möchte    ich    die  Vermutung  äußern,    daß    die  Steuerbehörde 
die  Kaufsumme  in  Beschlag  genommen  habe  und  folglich  dem  Käufer  als 
Drittschuldner  die  Zahlung  an  den  Verkäufer  untersagt  und  etwa  Zahlung 
an  die  Kornhändler  aufgetragen  worden  sei,  die  dann  ihrerseits  das  Korn 
dem  Staate  lieferten.  Über  die  Kompetenzen  für  diese  Beschlagnahme 
und   deren  Durchführung   will   ich   mangels   irgend   welcher  Anhalts- 
punkte keine  müßigen  Kombinationen  aufstellen,  aber  daß  die  Beschlag- 
nahme einer.  Forderung  zulässig  war,  die  dann  zu  einem  der  vertrags- 
mäßigen Zession  verwandten  Ergebnis  (ZPO  §  835  f.  BGB  §  408  Abs.  2, 
vgl.  Dernburg,  Bürgerl.  Recht  II,  1,  373)  führte,  unterliegt  um  so  weniger 
einem  Zweifel,  als  der  Zessionsgedanke  dem  Papyrusrechte  keineswegs 
fremd  war  (Studi  giuridici  in  onore  di  Carlo  Fadda  vol.  IV,  p.  79  ss.). 
Nr.  914  (a^  486)  enthält  ein  formloses  Versprechen,  rückständige 
Kaufpreisforderungen  im  Betrage  von  zwei  Goldsolidi  im  zweitnächsten 
Monate   begleichen   zu  woUen.     Man  wird    es  trotz  des  abschließenden 
y,al    STteQcoTT^d^Etg    couoloyriaa    nicht    als    novatorische    Stipulation,    Um- 
wandlung   des    kausalen    Verpflichtungsgeschäftes    in    eine    abstrakte 
Obligation  betrachten,    sondern    in  Anbetracht    der    rein   fioskelhaften 
Beifügung    der    sogenannten    Stipulationsklausel    das  Versprechen    als 
constitutum  debiti  proprii,  und  zwar  ohne  novatorische  Wirkung  behandeln 
dürfen.  Alle  Erfordernisse  eines  solchen  Konstitutes  sind  vorhanden:  das 
bereits  bestehende  Schuldverhältnis,  Geld  als  Objekt  des  Versprechens 
und  Verpflichtung  zur  Zahlung  bis  zu  einem  bestimmten  Termine  (vgl.- 
Girard-Mayr,  Geschichte  und  System  des  röm.  R.  653 — 7). 

Auf  den  Eid,  mit  dem  der  Schuldner  dem  Bürgen  Rückendeckung 
verspricht,  Nr.  904  (5.  Jhd.)  (Z.  3:  ovrog  yaq  hr/ov  ivw^ikcog  ^loi  Se- 
Scüxcog)  sei  als  auf  ein  Zeichen  niedergehenden  Kredits  verwiesen  und 
schwindender  normaler  Sicherheit  der  Erfüllung  rechtlicher  Verbind- 
lichkeiten. Der  Eid  soll  da  eine  Garantie  ersetzen,  die  bei  gesunden 
Rechtszuständen  das  Versprechen  als  solches  bietet. 

Von  mehr  als  gewöhnlichem  Interesse  ist  das  Dokument  Kr.  903 
(4.  Jhd.),  worin  die  Frau  in  langer  und  eindringlicher  Klage  alle 
Unbill  aufzählt,  die  ihr  von  ihrem  Manne  geschehen  —  und  dieser 
war,  wenn  nur  ein  Teil  des  Erzählten  wahr  gewesen,  wirklich  kein 
angenehmer    Eheherr.      Alle    Hausangehörigen     leiden     unter     seiner 

18* 


—   276   — 

Grewalttätigkeit.  Neben  Einschränkung  der  persönlichen  Freiheit  und 
Körperverletzung  nehmen  die  Injurien  einen  breiten  Raum  in  der 
Klage  ein,  die  darin  lagen,  daß  er  der  Frau  die  Schlüssel  versteckte, 
daß  er  den  Dienstboten  mehr  traute  als  ihr,  daß  er  sie,  als  sie  vom 
Kirchgang  heimkam,  hinaussperrte  und  sie  mit  der  höhnischen  Frage 
begrüßte:  ölo.  tL  aTcriXd^aq  eig  rb  ytvQiaKÖv^  was  sie  denn  in  der  Kirche 
zu  suchen  habe?  Schließlich  hat  er  sie  mit  ehelicher  Untreue  bedroht. 
Er  kündigt  ihr  einen  nahen  Termin  an,  bis  zu  welchem  er  sich  eine 
TtohrLyir]  nehmen  werde.  Die  merkwürdige  Bedeutung  des  Wortes,  das 
hier  im  Sinne  von  tcoqvt]  steht,  haben  die  Herausgeber  hervorgehoben 
(p,  241  zu  lin.  37).  Die  Klage  schließt  mit  den  Worten:  Gott  ist  mein 
Zeuge  (ravza  di  olöev  6  d-(£Ögj).  Die  Frau  erzählt,  daß  schon  einmal 
ein  Versöhnungsversuch  gemacht  worden  war,  und  es  ist  für  den 
Hechtshistoriker  von  besonderem  Interesse,  daß  dieser  Versuch  ,,vor 
den  Bischöfen  und  den  Brüdern  des  Manns"  stattgefunden  hat  und  mit 
dem  eidlichen  Versprechen  des  Mannes  zu  künftigem  besseren  Betragen 
endete  —  einem  Versprechen  allerdings,  dessen  Wirkung  nicht  lange 
vorhielt  (Z.  15:  xort  wfxoGev  eitl  TtaQovali^  tmv  STCiaytuTtcov  xal  zcov  äSeX(p6)v 
avTov).  Nicht  sicher  ist  es  darum  zwar,  aber  doch  sehr  naheliegend, 
daß  auch  dieser  Notschrei  der  Frau  sich  an  ein  geistliches  Gericht 
wendet.  Die  Injurie  ob  des  Kirchgangs  und  der  angedrohte  Bruch 
der  ehelichen  Treue  müssen  vor  diesem  in  besonderem  Maße  wirken. 
Auf  jeden  Fall,  auch  wenn  wir  nur  den  Versöhnungs versuch  vor  dem 
bischöflichen  Forum  —  daß  mehr  als  ein  Bischof  fVcDr  sTttayiOTrojv) 
gegenwärtig  ist,  mag  besonders  bemerkt  sein  —  in  Betracht  ziehen^ 
ist  dieses  Dokument  kirchlicher  Ehegerichtsbarkeit  von  besonderem 
Werte.  Einen  anderen  Fall  bischöflicher  Gerichtsbarkeit  hat  uns 
Lips.  43  (ebenfalls  4.  Jhd.)  kennen  gelehrt.  S.  Mitteis  zum  Papyrus 
und  meine  Besprechung  Gott.  Gel.  Anz.  1907,  309  f. 

Es  sind  nur  einige  Miszellen,  die  ich  anführte.  Aber  würden 
uns  die  Urkunden  nicht  jetzt  in  so  verschwenderischem  Maße  in  den 
Schoß  geworfen,  wir  würden  jedes  einzelne  Dokument  mehr  beachten 
und  höher  einschätzen  als  jetzt,  da  uns  die  Fülle  verschwenderisch 
auch  in  der  Verwertung  macht.  Aber  wir  müssen  uns  darum  das 
undankbar  scheinende  Geschäft  nicht  verdrießen  lassen,  alle,  auch  die 
kleinsten  Splitter  zu  sammeln  und  mit  philologischer  Akribie  an- 
einander zu  passen.  Und  zu  solcher  Detailarbeit  geben  die  Tage  neuen 
Mut,  an  denen  alle  Arbeiter  beisammen  stehen  und  die  Blicke  aufs 
große  und  fertige  Werk  der  Zukunft  gerichtet  sind. 


Der  Amtstitel  der  städtischen  Quaestoren. 

Von 
STEPHAN  BRASSLOFF. 


Die  städtischen  Quästoren  führen  seit  der  Einsetzung  der  Provinzial- 
quästur  den  Amtstitel  quaestor  urbanus.  Die  Determination  urhanus, 
die  der  ursprünglichen  Amtsbezeichnung  hinzugefügt  wird,  enthält 
einen  Hinweis  auf  die  rechtliche  Verpflichtung  dieses  Magistrats,  die 
Stadt  während  der  Amtsdauer  nicht  zu  verlassen,  i)  Inwiefern  nun  der 
Inschriftenstil  die  neuere  Titulatur  akzeptiert  hat,  ist  bisher  von  den 
Epigraphikern  nicht  erwogen  worden.  Allgemein  wird,  wie  die  Ergän- 
zungen fragmentierter  Inschriften  zeigen  2) ,  angenommen,  daß  seit  der 
Einsetzung  von  Provinzialquästoren  die  Amtsbezeichnungen  quaestor 
und  quaestor  urbanus  in  allen  Gattungen  von  Inschriften  promiscue 
gebraucht  wurden.  Diese  Annahme  ist  aber,  wie  im  folgenden  nach- 
gewiesen werden  soll,  grundfalsch.  Es  muß  unterschieden  werden 
zwischen  Urkunden  (Gesetzen)  und  Inschriften,  welche  den  cursus 
honorum  nicht  enthalten,  einerseits  und  Inschriften  mit  vollständiger 
Wiedergabe  der  Ämterlaufbahn  anderseits. 

I.  In  den  Gesetzesurkunden  begegnet  der  vollere  Amtstitel  nach- 
weislich schon  im  zweiten  Jahrhundert  v.  Chr.;  in  der  lex  Bantia^ 
welche  dieser  Zeit  zuzuweisen  ist,  wechseln  die  Bezeichnungen  q(uaestor) 
und    q(uaestor)    urb(anus)^).   Beispiele    aus    dem    ersten   vorchristlichen 


^)  Mommsen,  Eöm.  Staatsrecht,  II,  p.  535. 

^)  Vgl.  z.  B.  die  dem  späteren  Kaiser  Nerva  gesetzte  Ehreninschrift  CIL  XI  5743, 
wo  gewöhnlich  [quaestor]  urb  (anus)  ergänzt  wird.  Diese  Lesung  ist,  wie  ich  anderwärts 
(Hermes  XXXIX,  p.  641)  gezeigt  habe,  verfehlt,  da  Nerva  als  Patrizier  quaestor  principis 
gewesen  sein  muß.  Es  ist  statt  [quaestor]  urb.  vielmehr  [praef]  urb.  zu  ergänzen. 

^)  cap.  2  u.  3  (CIL  I  n.  197  =  Bruns,  fontes  p.  48). 


—   278   — 

Jahrhundert   bieten   die    lex  Cornelia   de   viginti  quaestoribus^)    und    die 
sog.  lex  Julia  iminicipalis^). 

II.  Es  ist  meines  Erachtens  auch  nicht  zu  bestreiten,  daß  der  Amts- 
titel quaestor  urhanus  schon  im  ersten  Jahrhundert  v.  Chr.  in  Dedika- 
tionen,  die  den  cursus  honorum  nicht  enthalten,  angewendet  mrd.  Ein 
Zeugnis  dafür  ist  in  einer  Inschrift  aus  Tibur  erhalten  (CIL  I  636): 
M.  Acilio  Canino  \  q.  urb.  \  7iegotiatores  ex  area  Saturni  \ .  Die  Dedikanten 
sind  Kaufleute,  welche  ihre  Buden  auf  dem  zum  aerarium  Saturni 
gehörigen  Grundstück  aufgestellt  haben;  daß  die  Widmung  gerade  an 
den  quaestor  urbanus  erfolgt,  erklärt  sich  daraus,  daß  er  der  Ressort- 
beamie  ist,  welchem  die  Lokation  der  Verkaufsplätze  obliegt.  Diese 
Inschrift  muß  vor  dem  Jahre  28  v.  Chr.  gesetzt  sein,  weil  damals  den 
städtischen  Quästoren  die  Kassaverwaltung  entzogen  ^oirde.  Zu  demselben 
zeitlichen  Ansatz  führt  auch   die  Betrachtung  des  Schriftcharakters  ^j. 

IIL  Ganz  anders  verhält  es  sich  dagegen  mit  den  Ehreninschriften, 
w^elche  den  vollen  cursus  honorum  von  Männern  aus  dem  Senatoren- 
stande bieten.  Hier  wird  in  der  Republik  und  in  der  Kaiserzeit 
bis  auf  Hadrian  der  städtische  Quästor  niemals  als  q(uaestor) 
urb(anus) ,  sondern  immer  nur  einfach  als  q(uaestor)  bezeichnet. 
Erst  unter  diesem  Kaiser  kommt  die  erwähnte  Determination 
bei  Wiedergabe  der  vollständigen  Ämterlaufbahn  auf.  Daneben 
erhält  sich  die  ältere  Bezeichnung;  neben  q(uaestor)  urb(anus)  wird  auch 
jetzt  vielfach  q(uaestor)  ohne  Distinktiv  gebraucht.  Den  Beweis  für  diese 
Behauptung  ergeben  die    nachfolgenden    chronologischen  Übersichten.*) 

^)  CIL  I  n  202  =  Bruns  1.  c.  p.  91. 

2)  In  dem  Abschnitt  über  die  Instandhaltung  der  Straßen  CIL  I  206 ;  Z.  35 ;  46, 
48.  =  Bruns  1.  c.  p.  104.) 

^)  In  der  Kaiserzeit  gehören  gewisse  Lokationen  allerdings  zur  Kompetenz  der  städtischen 
Quästoren.  Eine  Notiz  über  die  Verdingung  der  Instandhaltung  der  Tempel  durch  die  städtischen 
Quästoren  weist  darauf  hin ,  daß  die  letzteren  noch  später  in  Verwaltungsgeschäften  tätig 
waren;  ob  diese  Befugnis  den  Quästoren  einfach  verblieben  oder  ihre  Kompetenz  später 
erweitert  worden  ist,  ist  nicht  mit  Sicherheit  festzustellen.  Übrigens  kommt  noch  in  Betracht, 
daß,  wenn  auch  den  städtischen  Quästoren  die  Vorstandschaft  des  aerarium  Saturni  gleich 
bei  Beginn  des  Prinzipates  entzogen  wurde,  dieses  Amt  nicht  zu  einem  rein  titularen  herab- 
gesunken ist.  Im  Jahre  11  v.  Chr.  ist  den  quaestores  urbani  die  Aufbewahrung  der  senatus 
consulta,  welche  ihnen  bis  dahin  gemeinsam  mit  den  plebeischen  Ädilen  zustand,  mit  Ausschluß 
der  letzteren  übertragen  worden.  „Demnach  muß"  ,  wie  Mommsen  mit  Eecht  betont,  „bei 
Einsetzung  der  neuen  Vorsteher  der  Gemeindekasse  derjenige  Teil  des  Archivs,  der  sich 
nicht  auf  das  Eechnungswesen  der  Gemeinde  bezog,  als  selbständige  Kompetenz  den  bis- 
herigen VerAvaltem  des  aerarium  überlassen  worden  sein"  (vgl.  Eöm.  Staatsrecht  II,  p.  427 
n.  2  und  p.  560) ;  der  Schriftcharakter  der  obigen  Inschrift  (vgl.  Eitschel,  prisc.  lat.  mon.) 
weist  aber  unbedingt  auf  die  republikanische  Periode  als  ihre  Entstehungszeit  hin. 

^)  Berücksichtigt  sind   nur  die  datierbaren  Inschriften;  über   die    Folgerung    für   die 
nicht  datierbaren  s.  unten. 


—  279   — 

A,  Der  Amtstitel  quaestor  findet  sich  in  Ehreninschriften: 

1.  der  Republik  (Ende  der  Republik) :  CIL  VI  1460  ±=  CIL  XIV  2264; 
CIL  X  6082; 

2.  der  augusteischen  Zeit:  CU.  I  640  =  CIL  VI  1323;  CIL  V  862; 
VI  1364b;   add.  31705;    IX  2845;    X  3851,    3852,    5060; 

3.  der  Zeit  des  Tiberius:   CIL  V  4348;  VI  91;    1376;    IX  5645; 
XIV  3598;  3602;  Xotizie  degli  scavi  1896  p.  468; 

4.  der  Zeit  nach  Tiberius:    CIL  V  2823; 

5.  der  Zeit  des  Claudius:    CIL  VI  31661;    CIL  XI  1835; 

6.  der  Zeit   des    Claudius  oder  seines  Nachfolgers:  CIL  VI  1440; 

7.  der  Zeit  Neros:  CIL  V  531; 

8.  der  Zeit  vor  Vespasian:  CII^  VI  31706; 

9.  der  Zeit  Domitians :  CIL   XII   670; 

10.  der  Zeit  Trajans:    CIL  III  1463;    X  6321;  V  7153; 

11.  der  Zeit  Trajans  oder  seiner  Vorgänger:  CIL  VI  1466; 

12.  der  Zeit  des  Antoninus  Pius:  CIL  VII  270  =  11451;  VIII  7044; 
IX  2457; 

13.  der  Zeit  Marc  Aureis:  CIL  XI  1433;  XIV  4244;  Ephem.  epigr. 
IV  823  =  CIL  VI  31717; 

14.  der  Zeit  des  Marc  Aurel  und  L.  Verus:  Revue  crit.  1893,  p.  156; 

15.  der  Zeit  des  Commodus:  CIL  VI  1343; 

16.  aus  dem  Ende  des  2.  oder  Anfang  des  3.  Jahrhunderts :  CIL  11 5506 ; 
in  52;  add.  p.  908; 

17.  dem  Anfang  des  3.  Jahrhunderts:  Cn.  III 10471—73;  XIV  3586; 

18.  der  Zeit  nach  Aurelian:    CIL  X  1706. 

B.  Der  Amtstitel  quaestor  urbanus  ist  aufgenommen  in  Inschriften : 

1.  der  Zeit  Hadrians:    CIL  III  10336:    V  5813  (dazu  XI  14);    VI 
1550  =  XIV  155;  VIII  6706;  XII  4345;  XIV  2925; 

2.  der  Zeit  Hadrians  oder  seiner  Nachfolger:  CIL  II  4110; 

3.  der  Zeit  nach  Hadrian:  CIL  III  1458; 

4.  der  Zeit  des  Antoninus  Pius:  CIL  VI  31746 ;  XI  3364; 

5.  der  Zeit  nach  Antoninus  Pius:  CIL  X  4750; 

6.  der  Zeit  vor  M.  Aurel  (Hadrian  oder  Antoninus  Pius):  CIL  II 
1929;  in  1455  =  7972; 

7.  der  Zeit  M.  Aureis:  CIL  III  1457; 

8.  derzeit  des  M.  Aurel  und  L.  Verus:  CIL  X  3722; 

9.  der  Zeit  M.  Aureis  oder  seiner  Nachfolger:  CIL  VI  1431;  1455 
(dazu   1456);  VHI  18907  (dazu  18908);   IX  3667; 

10.  der  Zeit  Commodus:  CIL  VI  1450;  VIII  2582;  2744;  2745; 


—   280   — 

11.  der  Zeit  Caracallas  und  Elagabals:    CIL  IX  2213; 

12.  der  Zeit   nach  Caracalla :    CIL  XII  3163; 

13.  aus  dem  Ende  des  dritten  Jahrhunderts:  CIL  YI  1338. 

IV.  Zweifel  können  über  den  bei  den  Elogien  (mit  cursus  honorum) 
aus  republikanischer  Zeit  resp.  den  Anfängen  der  Kaiserzeit  herrschen- 
den Brauch  bestehen.  Die  in  ihnen  Geehrten  werden  gewöhnlich  in 
vollem  Einklang  mit  der  für  die  Ehreninschriften  nachgewiesenen 
Regel  einfach  q(uaestor)  genannt.  Eine  Ausnahme  bildet  das  Elogium 
des  Ahnherrn  der  gens  Claudia^  Ap.  Claudius  Sahinus ,  des  bekannten 
Volksfeindes  aus  der  Zeit  der  ersten  secessio  plebis  (CIL  I,  p.  281), 
welches  uns  inschriftlich  im  Codex  Redianus  f.  26  erhalten  ist^).  Hier 
wird  der  Geehrte ,  dessen  cursus  honorum  angegeben  wird ,  als  q.  urh. 
bezeichnet.  Es  ist  nun  gewiß  nicht  als  ausgeschlossen  zu  betrachten, 
daß  das  Denkmal  erst  nachhadrianischer  Zeit  angehört;  wissen  wir 
doch,  daß  noch  im  dritten  Jahrhundert  das  Praenomen  Appius  in  der 
gens  Claudia  festgehalten  wurde,  das  vom  Namen  des  Ahnherrn  abge- 
leitete Cognomen  Sahinella  bei  den  Angehörigen  der  claudischen  Familie 
in  Brauch  war  und  auf  die  fiktive  Abstammung  von  Appius  Claudius 
großes  Gewicht  gelegt  wurde  2).  Darum  wäre  es  ja  immerhin  möglich, 
daß  in  späterer  Zeit  ein  Kaiser  oder  ein  Privatmann  in  einem  von 
ihm  gestifteten  Tempel  oder  in  einem  Privathause  ein  Elogium  des 
Ahnherrn  des  claudischen  Geschlechtes  anbringen  ließ.  Aber  es  würde 

^)  Äp.  Claudius  \  q.  urb.  \  cos.  cum  P.  \  Servilio  Prisco.  Das  dem  Stammvater  der 
gens  Claudia  gesetzte  Elogium  enthält  also  lediglich  die  Angabe  des  cursus  honorum;  es 
entspricht  ganz  der  Form,  welche  die  Elogien  in  ihren  Anfängen  aufweisen,  wo  sie  den 
im  atrium  des  Hauses  aufgestellten  imagines  beigesetzt  wurden.  Der  Taten  des  Mannes, 
über  welche  die  Historiker  der  Kaiserzeit  so  viel  zu  berichten  wissen,  wird  hier  kaum 
Erwähnung  getan.  —  Der  Name  besteht  hier  nur  aus  Pränomen  und  Gentilnamen,  Die 
Filiation  ist  nicht  angegeben,  und  zwar  aus  dem  Grunde,  weil  Appius  Claudius  erst  im 
Jahre  504  v.  Chr.  aus  Eegillum  nach  Rom  einwanderte  und  dort  das  Bürgerrecht  erwarb, 
also  einen  Nichtbürger  zum  Vater  hatte.  Von  den  Ämtern,  die  er  bekleidet  hat,  werden  das 
Konsulat  und  die  Quästur  erwähnt;  daß  er  das  Konsulat  im  Jahre  495  v.  Chr.  gemeinsam 
mit  P.  Servilius  Priscus  bekleidete,  stimmt  mit  den  übrigen  Nachrichten  über  ihn  überein; 
dagegen  wird  sonst  nirgends  berichtet,  daß  er  Quästor  war.  Durch  diese  Angabe,  durch  die 
das  Elogium  von  der  literarischen  Überlieferung  abweicht,  ist  uns  keineswegs  eine  wirklich 
historische  Nachricht  gegeben.  Die  Quästur  ist  offenbar  nur  deswegen  aufgenommen  worden, 
weü  der  Verfasser  einen  cursus  honorum  nach  den  der  alten  Zeit  entsprechenden  Verhält- 
nissen geben  wollte,  damals  aber  neben  Konsulat  nur  die  Quästur  als  ordentliche  Magistratur 
bestanden  hat.  Indes  entspricht  die  Fassung  der  Inschrift  nicht  ganz  den  zur  Zeit  des 
Claudius  geltenden  Ämterbezeichnungen.  Im  dritten  Jahrhundert  d.  St.  gab  es  ja  nur  einen 
Quästor.  Die  Determination  urbanus  hatte  erst  Sinn,  als  später  die  Provinzialqästoren  ein- 
gesetzt wurden.  Das  Elogium  ist  also  von  einem  Halbgebildeten  verfaßt  worden,  eine  Tat- 
sache, die  auch  sonst  in  der  Stilisierung  anderer  Denkmäler  dieser  Gattung  zutage  tritt. 
(Siehe  die  Erläuterung  im  C.  I.  L. 

2)  cf/Groagin  Pauly-Wissowas  RE  III  2900  n.  438. 


—  281   — 

auch  gar  nicht,  wie  besonders  betont  werden  soll,  gegen  die  von  uns 
aufgestellte  Regel  verstoßen ,  wenn  das  Denkmal  mit  Sicherheit  der 
augusteischen  Periode  zuzuweisen  wäre.  Die  Elogien  sind  eben  nicht 
in  jeder  Hinsicht  den  Ehreninschriften  gleichzustellen,  sondern  nehmen 
eine  Mittelstellung  zwischen  diesen  und  den  literarisch-historischen 
Dokumenten  ein;  sie  beziehen  sich  nämlich  nicht  auf  die  Gegenwart 
und  jüngste  Vergangenheit,  sondern  auf  Personen  der  Vorzeit,  und 
auch  in  ihrer  einfachsten  Form,  wo  sie  lediglich  die  Ämterlaufbahn 
enthalten,  unterscheiden  sie  sich  stilistisch  von  den  übrigen  Inschriften, 
indem  sie  den  Namen  des  Geehrten  im  Nominativ,  nicht  im  Dativ 
angeben  1).  Wenn  ich  nun  auch,  soweit  der  Amtstitel  der  städtischen 
Quästoren  in  Betracht  kommt,  der  Ansicht  bin,  daß  die  Elogien  sich 
nicht  durchgehends  der  Regel  der  Ehreninschriften  angeschlossen  haben 
dürften,  so  geschieht  es  hauptsächlich  mit  Rücksicht  auf  meine  Beob- 
achtungen über  die  Amtsbezeichnung  des  Stadtprätors  in  den  römischen 
Inschriften. 

Für  den  Stadtprätor  besteht  seit  Errichtung  des  Amtes ,  ebenso 
wie  für  den  städtischen  Quästor,  die  Verpflichtung,  die  Stadt  Rom 
während  des  Amtsjahres  nicht  zu  verlassen;  die  Bindung  an  den 
Amtssitz  kommt  in  dem  Determinativ  urbanus  zum  Ausdruck  2).  Was 
nun  die  Verwendung  dieses  Beisatzes  in  den  Inschriften  anlangt,  so 
muß  auch  hier  ein  Unterschied  zwischen  Urkunden  und  Ehreninschriften 
mit  cursus  honorum  gemacht  werden.  Während  er,  soweit  die  Urkunden 
(Gesetze,  Senatuskonsulte)  in  Betracht  kommen,  bereits  in  republikanischer 
Zeit  begegnet  3),  läJßt  er  sich  in  Ehreninschriften,  welche  einen  cursus 
honorum  enthalten,  erst  seit  Hadrian  nachweisen  •^).  Die  Elogien  folgen, 
wie  die  berühmte  Inschrift  vom  Grabmal  der  Plautier  ^)  zeigt ,  dem 
Brauche  der  Urkunden. 

Durch  den  hier  konstatierten  Gegensatz  von  Urkunde  und  Ehren- 
inschrift gewinnen  wir  ein  neues  Hilfsmittel  für  die  (annähernde) 
chronologische  Fixierung  bisher  undatierbarer  Inschriften  ^).     Zu  seiner 


^)  S.  Hirschfeld  in  Philolog.  XXXIV,  p.  85ff;  Peter,  GeschichÜiche  Literatur 
über  die  römische  Kaiserzeit,  I,  p.  263.  Premerstein  in  Pauly-Wissowas  EE 
V  2440  ff. 

'')  Mommsen  a.  a.  0.  II,  p.  194  ff. 

')  sog.  lex  Jul.  munic.  Z.  8,  11;  SC  de  Bacch.  (ex  176  v.  Chr.)  CIL  I  196 
(=  CIL  X  104  =  Bruns  1.  c.  p.  160),  Z.  8.    Ebenso  in  den  Arvalakten. 

1^)  Vgl.z.B.  CIL  V4341;  VI  313,  314a,  314c,  316,  317,  318,  319,  332,  760, 
1408,  1409,  3146;  31740;  VIII  7059;  X  3723,  4950,  7581,  8291;  XIV  3586;  Kev.  arch. 
1898  p.  442  n.  111. 

5)  CIL  XIV  3608.  S.  auch  das  elogium  in  Eev.  arch.  1907  p.  351  n.  18. 

«)  CIL  II  3661,  3838,  4120;  VI  1361,  1463;  Vm  5179;  IX  973;  XI  5670. 


•    —  282   — 

Erklärung  möchte  ich  noch  auf  eine  bekannte  Analogie  in  der  Ver- 
wendung der  Ehrenbezeichnung  vir  clarissimus  hinweisen.  Diese  ist  be- 
kanntlich unter  den  Kaisern  M.  Aurel  und  L.  Verus  dem  Senator 
titular  beigelegt  worden  und  wird  fortan  von  den  Angehörigen  sena- 
torischer Familien  hinter  dem  Eigennamen  in  fester  Abkürzung  geführt. 
Während  nun  die  Hervorhebung  des  Clarissimates  in  den  eigentlichen 
Urkunden  bereits  im  ersten  Jahrhundert  n.  Chr.  nachweisbar  ist,  hat 
sie  sich  in  den  Ehreninschriften  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten 
Jahrhunderts  eingebürgert^). 

Der  oben  fixierte  Zeitpunkt,  in  welchem  der  Beisatz  urbanus  zam 
Amtstitel  des  städtischen  Quästors  und  Stadtprätors  allgemeine  An- 
wendung findet,  fällt  ungefähr  mit  jenem  zusammen,  in  welchem  der 
Beisatz  candidatus  (ohne  Cacsaris)  einen  Teil  des  Amtstitels  zu  bilden 
beginnt  2)  und  auch  sonst,  wie  z.  B.  bei  den  curatores  ab  actis,  Änderungen 
in  der  Amtsbezeichnung  eingeführt  werden  3). 


^)  Mommsen,  a.  a.  0.  III,  p.  471. 

2)  Brassloff,  Wiener  Studien  XXII,  p.  149. 

")  Auch  der  Beisatz  ,j>eregrinus'  im  Amtstitel  des  Fremdenprätors  kommt,  soweit 
ich  sehe,  in  Inschriften  mit  cursus  honorum  erst  in  der  zweiten  Periode  vor.  (CIL  II  1283  j 
1371;  Vm  270;  XIV  2509.)  Anders  die  Arvalakten. 


Ein  Beitrag  zu  den  Münzen  von  Grimenothyrae- 

Phrygiae. 

Von 
JOSEF    SCHOLZ. 


Grimenothyrae  war  eine  kleine  Stadt  zmschen  Themenothyrae 
(Ushak)  und  Keramon  Agora  am  oberen  Sindrus  bei  Akmonea.  Ptolemaeus 
erwähnt  dieselbe  im  Text  als  Trimenothyrae.  B.  Y.  Head  hält  noch 
dafür,  daß  sie  auch  Trajanopolis  genannt  wurde,  doch  F.  Imhoof- 
Blumer  hat  nachgewiesen,  daß  es  zwei  verschiedene  Städte  waren  (Fest- 
schrift für  0.  Benndorf,  S.  204),  letztere  vier  Meilen  südlich  von  ersterer. 
Die  Münzung  Grimenothyraes  setzt  spät  ein,  seit  Domitian,  und  reicht 
bis  Gordianus,  es  erscheinen  autonome  und  kaiserliche  Münzen,  in  der 
Regel  mit  rPIMENOQYPEÜ.N  im  Eeverse.  Die  autonomen  Münzen 
haben  an  der  Vorderseite  öfter  die  Legende  JHMOC,  lEFA  CYN- 
KAHTOC,  selten  lEPA  BOY^II,  letztere  nur  von  J.  N.  Svoronos 
erwähnt  in  B.  V.  Head  y^ hToqia  tcov  vofxiGfxaTtov"  Tofi,  B'  S.  216, 
doch  nicht  beschrieben,  und  in  meiner  Sammlung.  Von  Magistraten 
kommen  vor :  ^PXQN undi  rEAMM^TEY^,  Magistratsnamen  werden  ver- 
zeichnet: Eni:  A.  TYAAl,  M.  TYAAI,  A.  TYAAIOY,  A.  TYAA.HE 
ACKAIiniAJ(OY)An.,  ACKAHniAJOYAnO,  und  ACKAHIIIA- 
JOYAJJOAA.  Von  Typen  erscheinen:  Men,  Pallas,  Hermes,  Kybele, 
Zeus  Laodikeos,  Asklepios  und  Hygieia,  Amazone  reitend,  und  andere. 
Es  wird  nur  Bronze  geprägt.  In  der  Numismatik  tritt  der  Name 
spät  auf,  Eckhel  kennt  ihn  noch  nicht,  Mionnet  führt  ihn  schon  an, 
dann  folgt  Waddington ,  das  britische  Museum ,  Imhoof-Blumer  usw., 
doch  ist  die  Zahl  der  beschriebenen  Münzen  sehr  gering.  Babelon, 
Inventaire  sommaire  de  la  coUection  Waddington  No  6047 — 6058, 
bringt  11  Stück,  der  Kat.  des  brit.  Museums  12  Stück,  die  bis  auf  zwei 
die  Stücke  Waddingtons  wiederholen,  dann  einzelne  bei  anderen,  so 
F.  Imhoof-Blumer  „Kleinasiatische  Münzen*',  I,  S.  232,  ein  neues  Stück, 
das  dann  auch  im  Kat.  des  brit.  Mus.  S.  223,  Nr.  10  erscheint. 


—   284   — 

Ich  bin  nun  in  der  Lage,  aus  meiner  Sammlung  vier  Stücke  bei- 
zutragen, \Yelche  in  den  genannten  Verzeichnissen  nicht  beschrieben 
sind.  Sie  sind  einer  größeren  Arbeit  entnommen ,  welche  demnächst  in 
der  numismatischen  Zeitschrift  erscheinen  soll. 

1.  Br.  20  mm,  ö'OO  ^,  Av.  E.  oben:  EIII-S-TYyl.  Zeuskopf 
r.,  vor  demselben  Adler.  Rev.R.  oben:  FPIMENO- eYPEQN,  Pallas 
stehend  r.,  in  der  E,.  Lanze,    die  L.  auf  den  Schild  zu  Füßen  gestützt. 

Die  kürzeste  Avers-Legende,  bisher  nicht  angeführt. 

2.  Br.  26  mm.  10' 10  6^.  Av.R.  unten:  lEEA  BOYAH.  Jugend- 
liches Brustbild  r.  Rev.  R.  unten:  ^CEHO  (litteris  fugientibus), 
^noC^PH^-TPIMENOQYPOY,  Zeus  mit  bloßem  Oberkörper  sitzend  1., 
in  der  R.  Patera,  in  der  L.  Stab. 

Zu  bemerken  ist  die  Vorderseite ;  auf  der  Rückseite,  von  der  undeut- 
lichen ersten  Hälfte  der  Legende  abgesehen,  die  deutliche  Bezeichnung 
X  PIMENOQYP  und  die  Endung:  OY.  Das  T  am  Beginne  und  der 
Genetiv  am  Ende  nicht  bekannt. 

3.  Br.  19  mm.  3-50  g.  Av.  R.  unten:  .  .  .  (^VTJ  C^IC^P 
lOY  .OYH  .  MAXIMOC,  Brustbild  mit  Lorbeer  und  Panzer  r.  Rev.  R. 
oben:  EPIMENO- QYPE[0^ ,  Pallas  stehend  1.,  in  der  R.  Patera, 
in  der  L.  Lanze.  Maximus  caesar?  nicht  erwähnt,  barbarische  Prägung. 

4.  Br.  33  mm.  17'50  g.  Av.  R.  unten:  AVTKAIM  —  AVP 
^NTQNEINO-C,  Kopf  mit  Lorbeer  r.,  Rev.  R.  unten :  TP^IANO- 
nOAEITQN  ...  ME  im  Felde  1.  NOQY,  im  Felde  r.  PECIN.  Men 
stehend  1.,  in  der  R.  Pinienzapfen,  in  der  L.Lanze.  Im  Felde  r.oben :  Kopf  1. 

Von  Caracalla  ist  eine  Münze  nicht  beschrieben.  Zu  bemerken  ist 
die  Legende  des  Reverses,  welche  die  Namen  beider  Städte  bringt, 
was  also  wohl  die  Verschiedenheit  beider  und  damit  die  Ausführungen 
Imhoof-Blumers   in  der  Festschrift    für  0.  Benndorf  bestätigen  dürfte. 


Der  Knäuel  Ariadnes. 

Von 
LUDWIG  RADERMACHER. 


Vinzenz  Zingerle  hat  in  Wolfs  Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie 
und  Sittenkunde,  2.  Bd.,  S.  59  unter  Nr.  16,  folgende  Tiroler  Sage  mit- 
geteilt: ,.Den  Namen  Salgfräulein  hatten  mehrere  wilde  Fräulein  von 
ihrem  Aufenthaltsorte.  Sie  wurden  nämlich  so  genannt,  weil  sie  in  der 
„gross  gond"  auf  der  Salg,  einem  erhöhten  Platze  zwischen  Gnaun  und 
Alund,  der  teils  mit  Bäumen  besetzt,  teils  öde  ist,  hausen.  Diese  Fräulein 
waren  gar  schön  und  führten  ein  heiteres,  emsiges  Leben.  Sie  konnten 
so  schön  singen,  daß  noch  heutzutage  das  Sprichwort  lebt:  Du  singst 
so  schön  wie  ein  Salgfräulein.  Ein  Bauer  aus  Gnaun  hörte  sie  einmal 
singen  und  war  von  ihrem  schönen  Gesänge  so  berückt,  daß  er  jeden 
Abend  sich  vom  Hause  wegstahl  und  dem  Salg  zuwanderte.  Da  faßte 
sein  Weib  Mißtrauen  und  wollte  seinen  Schlichen  auf  die  Spur  kommen. 
Deshalb  schob  sie  ihm  eines  Abends  einen  Zwirnknäuel  in  die  Jacken- 
tasche und  behielt  davon  das  Ende  zurück.  Dann  folgte  sie  dem  leitenden 
Faden  und  fand  ihren  Mann  auf  der  Salg,  wo  sie  ihm  die  bittersten 
Vorwürfe  machte  und  den  Fräulein  fluchte.  Seitdem  ließen  sich  die 
Fräulein  nicht  mehr  hören." 

Es  ist  vielleicht  der  Mühe  wert  zu  untersuchen,  in  welchem  Ver- 
hältnis diese  Erzählung  zu  der  bekannten  altgriechischen  vom  Knäuel 
der  Ariadne  steht,  mit  dessen  Hilfe  Theseus  den  Weg  aus  dem  La- 
byrinth zurückfand,  nachdem  er  den  Minotaurus  erschlagen  hatte.  Ohne 
weiteres  springt  in  die  Augen,  daß  beide  Geschichten  völlig  voneinander 
verschieden  sind  bis  auf  den  einen  Punkt,  daß  ein  Garnknäuel  dazu 
dienen  muß,  einen  Weg  zu  kennzeichnen.  Trotzdem  ist  die  Möglichkeit 
einer  Reminiszenz  nicht  ausgeschlossen.  Aber  wenn  dem  auch  so  sein 
sollte,  so  erkennen  wir  doch  schon  jetzt,  daß  der  Faden  als  Wegweiser 
innerhalb  volkstümlicher  Erzählung  durchaus  ein   natürliches  Element 


—   286   — 

sein  kann;  sonst  würde  die  Tiroler  Sage  ihn  wohl  verschmäht  haben. 
Denn  daß  ihr  noch  andere  Möglichkeiten  zur  Verfügung  standen,  werden 
wir  gleich  sehen.  Es  bedarf  also  unseres  Erachtens  keiner  künstlichen 
Erklärung  für  die  Ariadnelegende.  Miß  Jane  Ellen  Harrisoni)  nämlich 
hat  die  Vermutung  geäußert,  der  Knäuel  sei  ursprünglich  eine  dekorative 
Spirale  auf  Kunstdarstellungen  gewesen.  Sehr  viel  plausibler  als  dieser 
seltsame  Einfall  ist  eine  Bemerkung  von  Hermann  Diels^).  Er  verweist 
auf  deji  Strick,  mittelst  dessen  Tanzende  nach  antiken  Nachrichten  viel- 
fach die  Verbindung  des  Reigens  unterhalten  haben,  und  weiter  auf 
eine  Überlieferung  der  Iliasscholien^) ,  wonach  Theseus  und  seine  Ge- 
nossen nach  ihrem  Entkommen  aus  dem  Labyrinth  das  Abenteuer  noch 
einmal  in  mimischem  Tanz  dargestellt  haben  sollen;  ferner  soll  nach 
Plutarch*)  ein  Rundtanz  auf  Delos,  der  in  seinen  Verschlingungen 
die  Labyrinthfahrt  imitierte,  von  Theseus  begründet  worden  sein.  Wenn 
wir  bestimmt  wüßten,  daß  bei  diesen  Tänzen  Stricke  zur  Verbindung 
der  Reihe  verwendet  wurden,  würde  die  Vermutung  wohl  manchen  be- 
stechen; wir  erfahren  freilich  durch  ein  uraltes  Zeugnis^),  daß  wenigstens 
bei  dem  kretischen  Tanz,  „wie  ihn  einst  zu  Knosos  Daidalos  der  lockigen 
Ariadne  darbrachte*',  die  Aufführenden  sich  vielmehr  bei  den  Händen 
hielten.  In  jedem  Falle  würde  auch  hier  eine  mißverständliche  Über- 
tragung vorliegen,  da  der  Strick^)  für  den  Tänzer  etwas  anderes  be- 
deutet als  der  Faden  für  den  Heros,  der  aus  dem  Labyrinth  zu  ent- 
kommen trachtet.  Von  einem  Strick  bis  zum  Begriff  des  Knäuels  ist 
erst  recht  ein  weiter  Weg.  Wir  wollen  der  Andeutung,  die  wir  anfangs 
erhalten  haben,  weiter  folgen  und  sehen,  zu  welchem  Ziele  sie  uns  führt. 
Ich  hole  dabei  etwas  weiter  aus  und  verweise  zunächst  auf  ein 
Märchen  aus  Malta  bei  Stumme,  Maltesische  Märchen,  Nr.  I;  es  trägt 
Züge,  die  uns  wohl  vertraut  sind.  Ein  Holzhacker,  der  sehr  arm  ist, 
beschließt,  sich  seiner  zehn  Kinder  zu  entledigen,  zumal  eine  große 
Hungersnot  ausgebrochen  war,  und  so  kommt  er  mit  seiner  Frau  überein, 
die  Jungen  in  den  Wald  zu  schaffen,  damit  sie  dort  verloren  gingen. 
Aber  der  Jüngste,  Kugelchen  genannt,  hatte  bei  der  Verabredung  ge- 


*)  Mythologj'^  and  Monuments  of  ancient  Athens  CXXV. 

'^)  Bei  Pallat,  De  fabula  Aiiadnaea,  S.  5. 

^)  PaUat  a.  0.  S.  4. 

*)  Vita  Thesei  16. 

'")  llias  2  590  if. 

^)  Der  technisclie  Ausdruck  ist  QVfAÖg  und  lateinisch  restis.  Vgl.  die  Zeugnisse  bei 
Pallat  S.  5  f.  Übrigens  bedeutet  QVfiög ,  wie  mich  Kollege  Wilhelm  belehrt,  wahrscheinlich 
nicht  Strick, .  sondern  ein  Holz;  s.  Bull,  de  corr.  hell.  1907,  S.  55  und  Crönert,  Jahresh.  des 
österr.  Inst.  XI  (1908),  Beiblatt  S.  189. 


# 


—   287   — 

lauscht,  begab  sich  früh'  am  Tage  an  das  Gestade  des  Meeres,  füllte 
seine  Taschen  mit  kleinen  Kieselsteinen  und  kehrte  meder  heim.  Beim 
Wege  durch  den  Wald  laßt  er  einen  Kiesel  nach  dem  andern  fallen 
und  führt  dann  auf  der  so  bezeichneten  Straße  die  Brüder  glücklich 
nach  Hause  zurück ;  dort  werden  sie  von  den  Eltern,  denen  der  Arbeit- 
geber inzwischen  eine  größere  Geldsumme  als  Lohn  ausgezahlt  hatte, 
mit  Freuden  empfangen.  Als  das  Geld  später  ausgegeben  war  und  die 
Not  A^ieder  kam,  machen  die  Eltern  einen  zweiten  Versuch,  sich  ihrer 
Kinder  zu  entledigen ;  Kugelchen,  der  verhindert  wird,  sich  Steinchen 
zu  verschaffen,  steckt  Brot  Stückchen  ein  und  streut  sie  unterwegs  aus, 
aber  Vögel  kommen  und  verzehren  die  Krümchen ;  so  wissen  die  Kinder 
den  Rückweg  nicht  zu  finden,  irren  im  Walde  umher  und  kommen  zum 
Hause  eines  Zauberers  und  Menschenfressers.  Ich  brauche  den  Inhalt 
der  Erzählung  nicht  weiter  anzugeben ;  es  ist  klar,  daß  wir  eine  nah 
verwandte  Fassung  unseres  Märchens  von  Hansel  und  Gretel  vor  uns 
haben  und  uns  im  Fahrwasser  des  weitverbreiteten  Däumlingmärchens 
befinden.  Für  unsere  Zwecke  kommt  nur  der  erste  i^bschnitt,  der  von 
der  glücklichen  Rettung  der  Kinder  aus  dem  Walde  handelt,  in  Betracht ; 
er  weist  Züge  auf,  die  immerhin  einen  Vergleich  mit  der  Theseuslegende 
gestatten.  Es  würde  meines  Erachtens  nicht  den  Kern  der  Sache  treffen, 
wollte  man  sich  darauf  versteifen,  daß  statt  des  Labyrinthes  ein  Wald, 
statt  des  Fadens  eine  durch  Kieselsteine  hergestellte  Verbindung  er- 
scheint; im  Gegenteil  halten  wir  diese  Abweichungen  für  wichtig, 
weil  sie  die  Unabhängigkeit  der  beiden  Geschichten  verbürgen.  Eine 
Übereinstimmung  aber  besteht  tatsächlich  in  der  Idee,  insofern  als 
jemand  sich  frühzeitig  eines  Mittels  versichert,  um  aus  einer  Gegend, 
in  der  er  sich  sonst  verirren  müßte,  durch  geschickte  Bezeichnung  des 
Weges  \\"ieder  zu  entkommen.  Auch  ein  Gegenstück  zum  Minotaurus 
fehlt  zuletzt  nicht,  da  ja  in  dem  Walde,  aus  dem  die  10  Jungen  keinen 
Ausweg  finden,  ein  Menschenfresser  wohnt.  Man  wird  freilich  nicht 
vergessen  dürfen,  daß  der  Minosstier  gegenüber  einem  „Menschenfresser" 
ebensosehr  reale  Persönlichkeit  ist,  wie  Theseus  gegenüber  einem  namen- 
losen Däumling.  Immerhin^  läßt  sich  aus  den  bisher  gemachten  Fest- 
stellungen ein  Schluß  ziehen,  so  wäre  es  der,  daß  die  Theseussage 
echte  und  charakteristische  Züge  volkstümlicher  Erzählungskunst  trägt. 
Die  Zahl  der  Parallelen  ist  indessen  noch  nicht  erschöpft.  Ich  will 
die  mir  bekannten  zunächst  vorlegen,  indem  ich  die  wichtigsten  bis 
zum  Schluß  aufspare.  Eine  Sage  bei  Bartsch,  Sagen,  Märchen  und 
Gebräuche  aus  Meklenburg  I,  N.  344,  berichtet  von  einem  Räuber,  der 
auf  dem  Kellerberge  bei  Wismar  hauste.  Er  hatte  viele  Höhlen  in 
diesem  Berge,    die    alle  miteinander  in  Verbindung  standen  und  viele, 


—   288   — 

so  geschickt  angelegte  Ein-  und  Ausgänge  hatten,  daß  der  Räuber 
allen  Verfolgungen  stets  glücklich  entging.  Eines  Tages  verschwindet 
ein  Bauernmädchen  aus  der  Gegend  und  schon  sind  einige  Jahre  ver- 
flossen, da  taucht  die  Verlorene  plötzlich  zu  Grevesmühlen  auf  dem 
Jahrmarkt  wieder  auf.  Man  bestürmt  sie  mit  Fragen,  endlich  versteht 
sich  das  Mädchen,  das  geschworen  hatte,  sein  Geschick  keinem  Menschen 
zu  enthüllen,  auf  den  Rat  eines  Verwandten  dazu,  dem  Ofen  zu  er- 
zählen, der  Räuber  habe  sie  in  dem  Berge  am  Tressower  See  gefangen 
gehalten.  Man  gibt  der  Gefangenen  Erbsen  und  heißt  sie,  dieselben  auf 
ihrem  Rückwege  ausstreuen.  Eine  Anzahl  Bewaifneter  folgt  der 
Spur  und  dringt  so  in  den  Berg  ein.  Wesentlich  verschieden  ist 
das  Märchen  vom  Räuberbräutigam  (Grimm,  Nr.  40),  von  dem  ich  eine 
Variante  verzeichne,  die  Schulenburg,  Wendische  Volkssagen,  S.5,  Anm.  1, 
mitteilt.  Danach  verlockt  ein  Räuberhauptmann  Ragazki  als  Freier 
eine  junge  Gräfin  in  den  Wald.  Hingestreuten  Erbsen  folgend,  gelangt 
sie  durch  eine  Eiche  in  die  Räuber wohnung,  findet  dort  den  Finger 
eines  anderen  Opfers  und  entkommt  glücklich  in  das  Schloß  ihres  Vaters. 
Es  ist  wichtig  festzustellen  ^  daß  eine  Gruppe  von  nächst  verwandten 
Märchen  das  Motiv  des  Erbsenstreuens  nicht  kennt ^) ;  ähnlich  liegt  die 
Sache  in  einem  zweiten  Falle,  den  ich  zu  behandeln  habe.  Von  dem 
Zauberer  Virgilius  erzählt  eine  mittelalterliche  Sage,  wie  er  eine  schöne 
Sultanstochter,  um  ihre  Liebe  zu  genießen,  nachts  heimlich  durch  die 
Luft  entführte,  bis  ihr  Vater  ihn  durch  eine  List  fing;  dem  Gericht 
entgeht  er  wiederum,  indem  er  den  König  und  seine  Leute  durch  seine 
Zauberkunst  bindet  und  über  eine  Luftbrücke  mit  der  Prinzessin  ent- 
flieht 2).  Einen  eigenartigen  Reflex  dieser  Geschichte  hat  Simon  Grünau 
in  seiner  Chronik  verzeichnet  (XVIII,  bei  Tettau  und  Temme,  Die  Volks- 
sagen Ostpreußens,  Litthauens  und  Westpreußens  Nr.  122,  S.  127  fl".). 
Unter  dem  Regimente  des  neunundzwangzigsten  Hochmeisters  Heinrich 
Reuß  von  Plauen,  so  heißt  es  dort,  lebte  in  einem  Städtchen  Preußens 
ein  Schulmeister,  welcher  der  schwarzen  Kunst  kundig  war.  Durch 
diese  bewirkt  er,  daß  des  Bürgermeisters  Tochter,  für  die  er  in  Liebe 
entbrannt  war,  ihm  von  Geistern  jede  Nacht  zugeführt  wurde.  Die 
Eltern,  die  das  Verschwinden  des  Mägdleins  bemerkten,  verfallen  zuletzt 
auf  den  Gedanken,    der  Tochter    einen  Knäuel   mitzugeben;    den  läßt 


*)  Gesammelt  und  besprochen  hat  sie  Cosquin ,  Contes  populaires  de  Lorraine  I, 
S.  180  ff. 

2)  Ich  beziehe  mich  auf  die  Übertragung  des  englischen  Volksbuches  bei  R.  0.  Spazier, 
Altenglische  Sagen  und  Märchen  nach  alten  Volksbüchern,  Braunschweig  1830,  S.  124  ff. 
Vgl.  dazu  Comparetti,  Virgilio  nel  medio  evo,  Bd.  II,  S.  164.  S.  167  ff. 


m 


—  289   — 

sie  bei  ihrer  Heimführiing  an  dem  Orte  zurück,  an  dem  sie  die  Nacht 
zugebracht  hat,  und  behält  den  Faden  in  der  Hand.  Der  Vater  folgt 
dann  der  bezeichneten  Spur  und  läßt  den  Schulmeister  verhaften.  Auf 
dem  Scheiterhaufen  bittet  dieser  die  Bürgermeisterstochter  um  ein  Pfand 
der  Vergebung.  Sie  reicht  ihm,  da  sie  gerade  nichts  anderes  zur  Hand 
hat,  aus  ihrem  Täschchen  einen  seidenen  Faden ;  da  wirft  er  ihn  in  die 
Luft,  schwingt  sich,  indem  er  das  Mädchen  umfaßt,  an  ihm  empor 
und  verschwindet. 

Hier  findet  sich  wieder  der  Knäuel,  der  abgehaspelt  zum  Weg- 
weiser A\ird,  und  nachher  noch  einmal  ein  Seidenfaden  in  eigentümlicher 
Verwendung.  Auch  in  diesem  Falle  möchte  ich  an  der  Meinung  fest- 
halten, daß  eine  unmittelbare  Beeinflussung  durch  die  Ariadnelegende 
nicht  als  unm()glich  gelten  darf,  und  wichtiger  als  die  Übereinstimmung 
des  Motivs  dünkt  mir  die  nunmehr  klar  hervortretende  Tatsache,  daß 
der  Gedanke,  einen  eingeschlagenen  Weg  listig  zu  bezeichnen,  der  Volks- 
erzählung an  sich  durchaus  vertraut  erscheint ;  ob  man  sich  dabei  der 
Kieselsteine  oder  der  Erbsen  oder  eines  Knäuels  bedient,  steht  erst  in 
zweiter  Linie.  Wer  aber  vor  allem  Wert  legt  auf  volle  Übereinstimmung 
der  Motive,  sei  noch  auf  eine  wendische  Erzählung  (Schulenburg,  Wen- 
dische Volkssagen,  S.  20)  hingewiesen.  Da  heißt  es  von  einem  Jäger, 
der  das  alte  Schloß  bei  Lübbenau  entdeckt  hatte,  lange  habe  er  es 
nachher  nicht  wiederfinden  können  und  gesucht,  bis  er  es  nach  sieben 
Jahren  wiederfand.  „Und  hatte  einen  Faden  bei  sich,  zum  Knaul  gewickelt. 
Den  Faden  hat  er  an  einer  Stelle  angebunden  und  abgewickelt  und 
gezogen,  bis  er  wieder  an  das  Schloß  kam.  Dann  sind  mehrere  Jäger 
und  andere  Leute  mitgegangen  und  haben  das  Schloß  aufgesucht."  An 
Reminiszenz  ist  hier  kaum  noch  zu  denken.  Jedenfalls  lehren  die  bei- 
gebrachten Parallelen,  wie  ich  meine,  zur  Genüge,  daß  wir  einer  künst- 
lichen Erklärung  des  Ariadnefadens  nicht  bedürfen,  aber  sie  wecken 
auch  den  Verdacht,  daß  die  Dichtung  vom  Entkommen  des  Theseus 
aus  dem  Labyrinth  kein  in  diesem  Falle  ursprüngliches  und  originales 
Motiv  verwendet.  Könnte  der  Knäuel  nicht  in  die  Geschichte  des  Theseus 
ähnlich  hineingebracht  worden  sein  wie  in  die  des  Zauberers  Virgilius? 
Aber  vielleicht  darf  man  noch  einen  Schritt  weiter  gehen,  darf  noch 
einmal  auf  unser  Däumlingsmärchen  verweisen  und  die  Möglichkeit 
betonen,  daß  ein  Märchen  vom  Däumlingstypus  in  die  Theseussage 
verwebt  ist.  Mehr  als  eine  Möglichkeit  kann  uns  freilich  die  ver- 
gleichende Methode  in  dem  vorliegenden  Falle  nicht  zeigen.  Entscheidend 
kann  nur  die  Analyse  der  antiken  Berichte  über  das  Theseusabenteuer 
sein.  Ehe  ich  dazu  übergehe,  möchte  ich  noch  ein  Wort  über  das 
Labyrinth    sagen.     Daß    bei    der    Bildung    dieses    BegrifPs    historische 

Wiener  Erano?.  ^*^ 


—   290   — 

Erinnerungen  wirksam  waren i),  wäre  heute  verkehrter  als  je  zu  leugnen, 
nachdem  die  Ausgrabungen    auf  Kreta   die  Überbleibsel  jener   uralten 
Paläste  zutage  gefördert  haben,  deren  Weitläufigkeit  in  Erstaunen  setzt. 
Es  ist  durchaus  wahrscheinlich,    daß  diese  Ruinen,  in  alter  Zeit  noch 
sichtbar,    dem  Beschauer  die  Annahme  von  Bauten  nahegelegt  haben, 
in  deren  Gängen  man  sich  verirren  mußte.  Lehrreich  für  das  Zustande- 
kommen der  Vorstellung   scheint  mir    eine  Sage  der  heutigen  Provinz 
Preußen  zu  sein.     Die  Erinnerung    an   die  ausgedehnten  Befestigungs- 
anlagen, mit  denen  einst  die  Ritter  vom  deutschen  Orden  ihre  Burgen 
stark  und  wehrhaft  machten,   hat  nämlich  in  der  Gegend  von  Riesen- 
berg Anlaß  gegeben,  von  einem  Irrgarten  zu  erzählen,  in  dessen  Gängen 
die  Ordensritter  einst  allerhand  Unwesen    trieben   und   heute  noch  als 
Verdammte   treiben    müssen  2).     Geben   wir   nun    auch   das   historische 
Moment  zu,   so  darf  doch  der  Anteil  der  Phantasie  nicht  unterschätzt 
werden.    Auch   die    antike  Anschauung    vom  Labyrinth   auf  Kreta  ist 
schwerlich  ohne  deren  Mitwirkung 3)  zustande  gekommen;    wir   dürfen 
es  mit  um  so  größerer  Zuversicht  vermuten,  weil  die  Sage  verwandter 
Völker  ähnliches  kennt,  ohne  daß  man  dort  einen  anderen  Hintergrund 
wahrnähme  als  den  rein  phantastischer  Erfindung.    So  heißt  es  in  der 
Legende  Südtirols,  daß  der  Teufel  einen  Garten  mit  unzähligen  Wegen 
besitze*) ;    ich  möchte  daneben  ein  litauisches  Märchen  stellen,    in  der 
Sammlung  Leskiens  und  Brugmans  Nr.  21.  Ein  Schloß  liegt  unter  der 
Erde ;  es  ist  verzaubert  mitsamt  seinem  Besitzer,  dem  König  Blaubart. 
Eine  Prinzessin  soll  den  Fluch  lösen,    indem   sie   drei  Nächte  in  dem 
Schlosse  zubringt  und  dort  Besuch   von    einem  Unhold  empfängt,    der 
sich  ihr  in  Ketten  naht,    ihr  Lager  teilt  und   nachher  mit  klirrenden 
Ketten  wieder  verschwindet.  In  der  dritten  Nacht  zündet  das  Mädchen 
ein  Licht  an,  um  zu  sehen,  wer  der  Besucher  ist.    Alsbald  schrie  alles 
im    Schloß :  Weh ,    die  Unglückselige    hat   uns   ins    Unglück   gebracht. 
Sie  wartete  bis  es  Tag  würde,    aber  es  wurde    nicht  Tag.    In  immer- 
währender Nacht  wandelte  sie  in  allen  Zimmern  umher  und  fand  keinen 
Ausgang  und  bekam  keinen  Menschen  zu  Gesicht;  so  wandelte  sie  ein 


^)  Man  hat  damit  operiert,  daß  das  Labyrinth  zuerst  bei  Diodor  als  Bauwerk  bestimmt 
charakterisiert  wird;  ich  fürchte,  nach  den  Funden  der  letzten  Jahre  wird  diese  Tatsache 
wenig  Eindruck  machen ;  auch  findet  sich  meines  Wissens  bei  keinem  Früheren  Gelegenheit 
zu  einer  ausführlichen  Beschreibung.    Über  das  Zeugnis  des  Philochoros  siehe  unten. 

'^)  Tettau  und  Temme,  Die  Volkssagen  Ostpreußens,  Litthauens  und  Westpreußens 
Nr.  221,  S.  213.      . 

^)  Man  darf  vielleicht  sogar  sagen :  nicht  ohne  Mitwirkung  von  mythologischen  Ele- 
menten; vgl.  die  Nachweise  über  die  Vorstellung  des  Irrweges  in  antiken  Eiten,  die  Diels 
bei  Pallat  a.  0.  S.  3  if.  gegeben  hat. 

*)  Bacher,  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  1901,  S.  172. 


ß 


—   291   — 

ganzes  Jahr  lang.  In  dieser  Erztählung,  die,  nebenbei  gesagt,  eine 
interessante  Parallele  zu  dem  antiken  Märchen  von  Amor  und  Psyche 
Kefert,  ist  das  Umherirren  in  dem  Schlosse  ein  rein  phantastischer 
Vorgang.  Ich  möchte  glauben,  daß  die  antike  Vorstellung  vom  Labyrinth 
dementsprechend  nicht  erst  durch  die  kretischen  Ruinen  wachgerufen 
wurde,  sondern  daß  sich  Vorstellungen,  die  in  der  Phantasie  schon 
vorhanden  waren,  hier  mit  WirkKchem  verschmolzen  haben. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  den  antiken  Berichten  über  das  La- 
byrinthabenteuer zu,  so  ergibt  sich  ohne  weiteres,  daß  die  ÜberKeferung 
keine  einheitliche  und  geschlossene  ist.  Sehr  alte  Sage  (denn  sie  war 
schon  auf  dem  Kypseloskasten  ^)  gemalt)  berichtete ,  daß  Ariadne  dem 
Theseus  beim  Antritt  seines  Abenteuers  einen  Strahlenkranz  reichte. 
Dazu  kommt  eine  Nachricht  des  Suidas,  wonach  Minotaurus  sich  vor 
Theseus  in  einer  Höhle  verbargt).  Die  Angabe  3),  daß  die  Greisein  im 
Labyrinth  verhungert  seien,  wird  man  hiemit  schwerlich  verbinden 
dürfen ;  denn  in  diesem  Falle  scheint  die  Ausschaltung  des  Minotaurus 
durch  die  Absicht  begründet,  den  Mythus  zu  historisieren ;  aus  demselben 
Grunde  ist  ja  das  Labyrinth  bei  Philo choros  *)  zu  einem  normalen  Ge- 
fängnis geworden.  Die  Nachricht  des  Suidas  muß  als  jung  gelten,  solange 
wir  ihre  Quelle  nicht  kennen,  aber  eine  Erwägung  drängt  sich  auf. 
Konnte  der  Strahlenkranz  einem  Verirrten  entscheidenden  Nutzen 
bringen?  Man  nehme  die  moderne  Großstadt  als  Beispiel;  wer  nicht 
die  Kunst  der  Orientierung  versteht,  wird  als  Fremdling  auch  am 
hellen  Tage  in  heillose  Bedrängnis  geraten.  So  schließe  ich :  der  Strahlen- 
kranz gehört  ursprünglich  zu  der  Höhle,  der  Knäuel  zum  Labyrinth. 
Daß  dies  ein  unterirdisches  Bauwerk  war,  scheint  mir  erst  spätere 
Ausgestaltung:  sie  hätte  rechtmäßig  dazu  führen  müssen,  dem  Theseus 
sowohl  einen  Knäuel  als  auch  den  Strahlenkranz  in  die  Hand  ?u  geben. 
Dann  kann  freilich  auch  kein  Zweifel  sein,  wo  wir  die  ältere  Sage 
haben.  Ist  Ariadne  eine  alte  Göttin,  so  sind  der  strahlende  Kranz  und 
die  Bestreitung  des  Unholdes  in  der  Höhle  sogar  ein  Stück  echter 
Mythos.  Die  Vorstellung  vom  Labyrinth  auf  Kreta  hat  dann,  so  ver- 
muten wir  weiter,  Veranlassung  gegeben,  Züge,  wie  sie  uns  ähnlich  aus 
dem  Däumlingmärchen  vertraut  sind,  einzumischen  :  nachdem  Minotaurus 
ins   Labyrinth    versetzt    worden   war.    hat    man    Theseus    den   Knäuel 


^)  Pausanias  V  19,  1.    Siehe   dazu    die  Zeu;2:nisse    bei   Gruppe  Gr.  Mythologie  603^. 
-)  Suidas  V.  AlyaXov  Jislayng. 
")  Plutarch  vita  Thesei  15. 
*)  Plutarcli  V.  Thesei  1(5. 

19* 


t 


—   292   — 

gegeben,  der  ihm  den  Rückweg  sicherte^).  Danach  wäre  eine  Frage,  ob 
nicht  auch  die  Geiseln,  die  der  Held  befreit,  zum  jüngeren  Bestand 
der  Sage  gehören ;  denn  sie  entsprechen  scheinbar  den  vom  Däumling 
geretteten  Brüdern.  Es  ist  schwer  und  ohne  Rücksichtnahme  auf  die 
Vorgeschichte  jedenfalls  unmöglich,  auf  diese  Frage  eine  einigermaßen 
befriedigende  Antwort  zu  geben,  aber  daß  in  der  Erzählung  vom 
kretischen  Abenteuer  verschiedene  Fäden  durcheinander  geschlungen 
sind,  ergibt  sich  noch  aus  einer  ganz  allgemeinen  Erwägung.  Theseus 
löst  in  Kreta  eine  doppelte  Aufgabe,  indem  er  nicht  allein  die  Geiseln 
befreit,  sondern  auch  eine  Braut  gewinnt.  Haben  wir  schon  oben  Er- 
zählungen von  einfacherem  Typus  kennen  gelernt,  so  ist  noch  weiter 
hervorzuheben,  daß  auch  das  Motiv  der  Brautfahrt  für  sich  in  Sage 
und  Märchen  einen  überaus  beliebten  Vorwurf  bildet. 


1 


*)  Hiezu  stimmt;  daß  niemand  vor  Pherekydes  diesen  Zug  berichtet  hat,  wie  Eobert 
(Ber.  der  arehäol.  Gesellschaft,  Berlin,  März  1889)  feststellte.  Schon  er  erklärte  danach 
diese  Sage  für  jünger. 


Zu  den  Friesen  der  delphischen  Schatzhäuser 


Von 
EMIL  REISGH. 


1.   Die  Zweikampfdarstellung  des  „Ostfrieses*'. 

Dem  Ostfriese  des  sogenannten  Knidier-Schatzhauses  hatHomolle  be- 
kanntlich zwei  Plattenbruchstücke  mit  Darstellungen  einer  Götterver- 
sammlung (als  linke  Hälfte)  und  eine  fast  vollständig  erhaltene,  über 
3  Meter  lange  Platte  mit  einer  reich  ausgeführten  Zweikampfdarstellung 
(als  rechte  Hälfte)  zugewiesen.  R.  Heberdey  hat  aber  soeben  in  einer 
ergebnisreichen  Untersuchung  über  das  Schatzhaus  der  Knidier  in  Delphi 
(Athen.  Mitteilungen  XXXIV  1909)  gezeigt^),  daß  die  „Götterversamm- 
lung" von  dem  „Zweikampf"  getrennt  und  dem  Friese  einer  Langseite 
zugewiesen  werden  muß,  während  die  Zweikampfdarstellung,  die  links 
(auf  einem  anschließenden  Eckblocke)  noch  durch  eine  rechtshin  stehende 
Figur  vervollständigt  war,  den  Fries  einer  Schmalseite  desselben  Ge- 
bäudes bildete.  Diese  Zweikampfdarstellung,  die  lange  nur  durch  un- 
genügende Photographien  und  Zeichnungen  bekannt  war 2),  jetzt  aber 
in  einer  schönen  farbigen  Reproduktion  nach  di  Fonsecas  Aquarell 
vorliegt  (Fouilles  de  Delphes  IV  T.  XXL  IL  III),  wird  bisher  nach 
Homolies  Vorgang  allgemein  als  Meveldov  ^^LOTeia^  als  eine  Darstellung 
der  im  XVIL  Buch  der  Ilias  erzählten  Ereignisse  aufgefaßt.  Ich  glaube 
zeigen  zu  können,  daß  ihre  Erklärung  vielmehr  in  einem  anderen  Sagen- 
kreise zu  suchen  ist. 


*)  Durch  die  Freundlichkeit  des  Verfassers  ist  mir  der  Aufsatz  schon  im  Aushänge- 
bogen Juli  1909  bekannt  geworden. 

'^)  Vgl.  Perrot-Chipiez,  Histoire  de  l'art  VIII,  371  f.  Auf  den  photographischen  Re- 
produktionen ist  der  auf  dem  Grunde  unter  den  Pferden  links  aufgemalte  Wagen  nicht 
sichtbar;  ein  gleicher  Wagen  war  einst  auch  rechts  aufgemalt,  wie  zur  Zeit  der  xVuf findung 
der  Reliefs  noch  deutlich  war;  vgl.  BuU.  de  corr.  hell.  XVIII  (1894),  S.  1^1 ;  XXV  (1901), 
S.  477.  Die  über  den  Pferderücken  beiderseits  sichtbaren  Männer  standen  also  auf  dem  Wagen. 


—   294   — 

HomoUe  ist  bei  seiner  Deutung  von  den  Resten  der  Namens- 
inschriften ausgegangen,  die  auf  dem  Reliefgrunde,  zum  Teil  auch  auf 
der  unten  vortretenden  Leiste  aufgemalt  waren.  Als  er  sich  zum  ersten- 
mal um  ihre  Entzifferung  bemühte i),  vermeinte  er  noch  folgende  Namen 
(in  der  Reihenfolge  von  rechts  nach  links)  erkennen  zu  können:  ....  estor, 
Helisomenos  und  Xanthos  (als  Namen  der  Pferde),  Automedon (?), 
^XLlleog  (auf  dem  Schilde  des  in  zweiter  Linie  rechts  kämpfenden 
Griechen),  Menelaos,  Hektor,  Aineas,  Kebriones  (?).  Durch  die  Inschrift 
Z±xLXliog  glaubte  HomoUe  den  Genossen  des  „Menelaos"  als  „Träger  der 
Waifen  des  Achilleus",  d.h.  also  als  Patroklos  gekennzeichnet,  woraus 
er  dann  den  weiteren  Schluß  zog,  daß  in  dem  Friese  in  Anlehnung 
an  Ilias  XVI  der  Kampf  um  die  Leiche  des  Sarpedon  dargestellt  ge- 
wesen sei  (Bull,  de  corr.  hell.  XIX  1895,  S.  535).  Homolle  hat  später 
freimütig  einbekannt  (Bull,  de  corr.  hell.  1896,586  2),  daß  er  bei  den 
angestrengten  Versuchen ,  verblaßte  Buchstaben  zu  entdecken ,  durch 
eine  Art  „d'hallucination  de  la  vue"  getäuscht  worden  sei,  und  hat  nach 
erneuter  Prüfung  der  Reliefplatten  anerkannt,  daß  eine  Anzahl  der 
vermeintlichen  Beischriften,  darunter  auch  jenes  MxLXkeog^  tatsächlich 
nicht  vorhanden  sei.  Wieviel  er  von  den  übrigen  Lesungen  (außer  dem 
völlig  deutlichen  Namen  des  Aineas)  noch  aufrecht  erhalten  wissen 
wolle,  hat  er  leider  nicht  genauer  gesagt ;  an  der  Lesung  des  Namens 
Menelaos  hat  er  aber  auch  späterhin  mit  Bestimmtheit  festgehalten 
und  zugleich,  wenn  auch  zweifelnd,  als  Namen  des  zweiten  griechischen 
Kämpfers:  „Meriones"  entziffern  zu  können  geglaubt  (Bull.  hell.  1896,  586). 
Daraus  schien  sich  dann  weiter  zu  ergeben,  daß  der  Künstler  des 
Frieses  seinen  Stoff  aus  dem  XVII.  Buche  der  Ilias  genommen  habe, 
der  Gefallene  also,  um  den  der  Kampf  tobt,  Patroklos  oder  Euphorbos 
sei.  Während  Homolle  zuletzt  der  Deutung  auf  Euphorbos  den  Vorzug 
gab,  glaubte  kürzlich  Poulsen  (Bull,  de  corr.  hell.  1908,  S.  187)  sich 
für  Patroklos  entscheiden  zu  sollen.  Auf  die  Schwierigkeiten,  die  diese 
Deutungen  bieten,  wenn  wir  die  Darstellung  im  einzelnen  mit  den 
Schilderungen  der  Ilias  vergleichen,  will  ich  nicht  weiter  eingehen. 
Wie  gegen  Euphorbos  die  Anwesenheit  des  Aineas,  so  spricht  gegen 
Patroklos  die  Tatsache,  daß  der  Gefallene  im  Friese  noch  seine  volle 
Rüstung  besitzt.  Auch  wäre  es  erstaunlich,  wenn  ein  in  seinen  unmittel- 
baren Resultaten  wenig  bedeutsamer  Kampf  zum  Gegenstand  eines 
Friesbildes  gemacht  worden  wäre,  zumal  in  der  sonstigen  bildlichen 
Überlieferung  Parallelen  zu  einer  solchen  Darstellung  nicht  vorhanden  sind. 


^)  Comptes  lendus  de  racademie  dc^  inscriptions  1894,  S.  357.  Vgl.  auch  den  Bericht 
Hartwigs,  Berl.  phil.  Wochenschr.  1895,  S.  573. 


—   295   — 

In  Wahrheit  führen  aber  die  Inschriften  zu  einer  ganz  anderen 
Deutung.  Wir  werden  uns  dabei  freilich,  da  Homolle  seiner  ersten 
Lesungen  selbst  nicht  sicher  war,  auf  jene  Inschriften  beschränken 
müssen,  die  heute  noch  erkennbar  sind  oder  wenigstens  als  bis  vor 
kurzem  noch  lesbar  durch  einwandfreie  Beobachter  bezeugt  sind.  Ich 
habe  im  Spätherbst  1903  durch  mehrere  Tage  unter  verschiedenen 
Beleuchtungsverhältnissen  mich  bemüht,  die  Inschriften  der  delphischen 
Friese  festzustellen  und  Sicheres,  Unsicheres  und  Irriges  in  den  bis- 
herigen Lesungen  zu  scheiden.  Die  Inschriften  auf  dem  Reliefgrunde, 
die  ursprünglich  wohl  mit  roter  Farbe  aufgemalt  waren,  heben  sich 
jetzt  nur  durch  die  hellere  Tönung  des  Marmors  von  der  Grundfläche 
ab.  Wie  schon  mehrfach  beklagt  worden  ist^),  sind  —  vermutlich  an- 
läßlich der  Herstellung  der  Aquarellkopien  —  die  meisten  Buchstaben- 
spuren mit  Bleistift  nachgezogen  worden,  wodurch  die  Nachprüfung 
sehr  erschwert  ist ;  aber  wenn  auch  in  einigen  Fällen  durch  den  Bleistift 
falsch  gedeutete  Spuren  festgelegt  worden  sind,  so  daß  die  alte  Schrift 
darunter  nicht  mehr  erkennbar  ist,  so  läßt  sich  doch  bei  den  meisten 
Beischriften  das  ursprünglich  Vorhandene  noch  mit  Sicherheit  ermitteln 2). 

Auf  dem  Blocke  nun,  der  uns  hier  beschäftigt,  vermochte  ich 
nur  noch  folgende  Beischriften  festzustellen ^j :  links  hinter  dem  Rücken 
des  zweiten  Kämpfers  der  linken  Seite  steht  klar  lesbar  die  rückläufige 
Inschrift  S^JfM;  rechts  vor  dem  Vorkämpfer  der  Troer-Partei,  etwas 
höher  als  sein  Kopf,  sind  die  Buchstaben  ME  deutlich.  Beste  zweier 
weiterer  Buchstaben  in  verschmiertem  Bruche  undeutlich  zu  erkennen. 
Unter  dem  rechten  Arm  des  zweiten  Kriegers  der  rechten  Seite  ist 
noch  die  Buchstabenreihe  NOJRM  erkennbar,  die,  rückläufig  geschrieben, 
ihren  Anfang  etwa  bei  dem  Halse  des  Wagenlenkers  genommen  haben 
muß,  also  zweifellos  zu  ^vro/neSojv  zu  ergänzen  ist.  Unter  dem  gehobenen 
rechten  Arm  des  rechts  stehenden  Mannes  endlich  vermochte  ich  noch 
die  Buchstaben  ^10  als  Best  eines  rückläufig  geschriebenen  Namens 
zu  lesen.*) 

Ist  durch  die  Namen  von  Aineas  und  Automedon  gesichert,  daß 
links  die  Troer,  rechts  die  Griechen  stehen,  so  hängt  die  genauere  Inter- 

*)  Vgl.  Pomtow,  Berliner  philol.  Wochenschr.  1909,  Delphika,  S.  74  des  Sonderabdruckes. 

^)  Gegenüber  den  Ausführungen  von  Lechat,  Rev.  des  etudes  anc.  XI  (1909)  S.  3  ff., 
bemerke  ich,  daß  auf  dem  „Nordfriese "  der  Krieger  mit  dem  Kantharos-Helm  neben  Apollon 
und  Artemis  durch  die  Inschrift  auf  der  Leiste  als  Dionysos  sichergestellt  ist. 

^)  Auf  einen  Versuch,  die  Formen  der  Buchstaben  im  Drucke  wiederzugeben,  muß 
ich  hier  verzichten.  Ich  kann  hiefür  jetzt  auf  die  sorgfältige  Wiedergabe  der  Zeichen  auf 
dem  Aquarelle  di  Fonsecas  (Fouilles  T.  XXI  f.)  verweisen. 

^)  Von  den  Buchstabenresten  auf  der  JMitte  der  unten  vorspringenden  Leiste  konnte 
ich  kein  deutliches  Bild  gewinnen. 


—   296  — 

pretation  der  Darstellung  von  der  Auffassung  der  Buchstabenspuren 
ab,  die  neben  dem  Haupte  des  troiscben  Vorkämpfers  erhalten  sind. 
Homolle  hat  sie  zu  ,.Menelaos"  ergänzt  und  auf  den  Vorkämpfer  der 
Griechen  bezogen.  Aber  die  Beischriften  sind  auf  den  delphischen 
Friesen  durchwegs  so  gesetzt,  daß  sie  bei  den  Figuren,  zu  denen  sie 
gehören,  ihren  Anfang  nehmen :  der  erste  Buchstabe  erhält  seinen  Platz 
unmittelbar  neben  Kopf,  Brust  oder  Rücken  der  zugehörigen  Figur, 
und  die  folgenden  Buchstaben  schließen  dann,  je  nachdem  der  Platz 
es  erlaubt,  nach  rechts  oder  links  (also  rückläufig)  oder  nach  unten 
hin  an.  Es  erscheint  also  durch  die  gleichmäßige  Gewohnheit  des  Fries- 
malers geradezu  ausgeschlossen,  daß  die  von  dem  Kopfe  des  troischen 
Vorkämpfers  rechtshin  ausgehende  Beischrift  sich  auf  den  gegenüber- 
stehenden Kämpfer  beziehe;  vielmehr  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  die 
Buchstaben  ME  zu  dem  links  stehenden  Vorkämpfer  der  Troer  gehören. 
Dann  ist  aber  die  Ergänzung  des  Namens  zvl  Me^nvDv  von  selbst  gegeben^). 
Der  Gegner  des  Memnon  auf  griechischer  Seite  ist  dann  natürlich 
Achilleus,  und  damit  findet  zugleich  die  Anwesenheit  des  Wagenlenkers 
Automedon  ihre  beste  Erklärung. 

Soweit  war  ich  gekommen,  als  mir  vor  etwa  zwei  Jahren  Fonsecas 
farbige  Aufnahme  des  Frieses  (Fouilles  IV  T.  XXI.  11.  III)  vor  Augen 
kam,  die  in  der  Wiedergabe  der  Inschriften  mit  meinen  Aufzeichnungen 
völlig  übereinstimmte,  in  einem  Punkte  aber  eine  willkommene  Ver- 
vollständigung bot.  Hatte  ich  von  dem  Namen  des  rechtsstehenden 
Mannes,  den  man  bisher  als  einen  „Knappen"'  angesehen  hatte,  nur 
mehr  die  Endbuchstaben  ermittelt,  die  die  Ergänzung  NeövwQ  erlaubten, 
aber  nicht  erwiesen,  so  ließ  Fonsecas  Zeichnung  in  schwachen,  aber 
deutlichen  Spuren  die  Beischrift  S\Ö7^J<f  erkennen.  Da  diese  Lesung 
des  Zeichners  gewiß  nicht  durch  eine  vorgefaßte  Meinung  beeinflußt  ist, 
—  mit  Homolies  Deutung  ließe  die  Anwesenheit  Nestors  sich  nur  schwer 
vereinigen  —  so  wird  man  nicht  bezweifeln  dürfen,  daß  Fonseca,  der 
die  Reliefs  früher  als  ich  und  unter  günstigeren  Lichtverhältnissen 
studieren  konnte,  richtig  Gesehenes  wiedergegeben  hat'^).  Dadurch,  daß 
die  Deutung  des  rechts  stehenden  „teilnehmenden  Zuschauers"  als  „Nestor" 
gesichert  ist,  —  dem   auf  der   anderen  Seite  vielleicht   ein  „Priamos" 


^)  Nacliträglich  hat  mir  Pomtow,  der  im  Herbste  1908  die  Freundlichkeit  hatte,  auf 
meine  Bitte  hin  die  Inschrift  nachzuprüfen,  bestätigt,  daß  die  auf  ME  folgenden  Spuren 
die  Homolle  auf  iVE"  gedeutet  hatte,  unter  Vergleich  der  sonst  im  Friese  verwendeten  Buch- 
stabenformen vielmehr  auf  die  Lesung  MN,  also  auf  die  Ergänzung  MEMNON  führen. 

^)  Ich  bemerke  noch,  daß  die  Buchstabenspuren  an  dieser  Stelle  nicht  durch  Blei- 
stiftstriche entstellt  sind.  Homolle  hatte  im  Jahre  1894  (Comptes  rendus  S.  357)  .  . .  EZTOP 
gelesen,  ohne  eine  Ergänzung  des  Namens  zu  geben. 


m 


—   297    — 

entsprach,  —  erhält  die  oben  vorgetragene  Deutung  des  Reliefs  nicht 
nur  eine  Bestätigung,  sondern  auch  eine  bedeutsame  Ergänzung.  Denn 
es  kann  jetzt  keinem  Zweifel  mehr  unterliegen,  daß  in  dem  Gefallenen 
zwischen  Achilleus  und  Memnon  der  Sohn  des  Nestor,  Antilochos,  zu 
erkennen  ist.  Als  Antilochos  ist  der  Gefallene  zwischen  Achilleus  und 
Memnon  inschriftlich  auch  auf  der  gleich  zu  besprechenden  Yasen- 
scherbe  in  Florenz  (vgl.  S.  298)  und  auf  der  schwarzfigurigen  Vase  bei 
Gerhard,  A.  V.  B.  III  T.  205,  3  u.  4  bezeichneti). 

Daß  diese  Deutung  des  delphischen  Frieses  bisher  noch  nicht 
ausgesprochen  worden  ist,  mag  darin  seinen  Grund  haben,  daß  wir  von 
den  Vasenbildern  her  gewöhnt  sind,  bei  dem  Zweikampf  von  Achilleus 
und  Memnon  die  göttlichen  M^itter  Eos  und  Thetis  mitdargestellt  zu 
sehen,  wie  dies  auch  für  den  Kypseloskasten  bezeugt  ist  (Pausan.V  19,  1). 
Aber  von  der  Naivität,  mit  der  die  Vasenmaler  in  ihrem  Streben  nach 
vielsagender  Deutlichkeit  die  Göttinnen  hart  neben  die  menschlichen 
Kämpfer  stellen,  hat  der  mit  sorgfältigerer  Überlegung  schaffende 
Künstler  des  Marmorfrieses  sich  ferngehalten;  er  hat  dafür  durch 
Hinzufügung  von  Kampfeshelfern,  Gespannen  und  nächstbeteiligten 
Zuschauern  die  Situation  des  Kampfes  seinen  Wirklichkeitsvorstellungen 
entsprechend  reicher  ausgeführt.  Daß  er  bei  dieser  Ausgestaltung  der 
Szene  durchaus  in  Übereinstimmung  steht  mit  der  sonstigen  dichterischen 
und  bildlichen  Überlieferung  des  Memnonkampfes,  läßt  sich  trotz  der 
Dürftigkeit  der  erhaltenen  Zeugnisse  noch  ausreichend  zeigen. 

Die  überraschendste  Parallele  zu  dem  Friesrelief  bietet  die  —  leider 
nur  in  Bruchstücken  erhaltene  —  chalkidische  Amphora  in  Florenz 
n.  17842) ,  die  jetzt  bei  Milani,  Monumenti  scelti  del  r.  museo  archeoL 
di  Firenze  (1905)  T.  I,  1  veröffentlicht  ist  (danach  die  Abbildung  auf 
S.  298.)  Hier  stehen  sich  links  Memnon ,  rechts  Achilleus  über  der 
Leiche  des  Antilochos  gegenüber,  neben  Memnon  steht  Eos,  neben 
Achilleus  Thetis  ;  alle  Figuren  sind  durch  Beischriften  benannt.  Rechts 
von  Thetis  sind  noch  Brust,  Schulter  und  Arm  eines  Mannes  sichtbar, 
auf  den  sich  die  Inschrift  .  .  TOME^OV  bezieht;  sein  Körper  erscheint 
im  Bildfeld  höher  hin  aufgerückt,  er  war  also  reitend  oder  auf  dem 
Wagen  stehend  dargestellt.  Die  Entscheidung  bringt  ein  Detail  der 
Zeichnung,    dessen    in    den    bisherigen  Beschreibungen   der  Vase  keine 


^)  Im  Anschlüsse  an  diese  Erklärung  des  „Zweikampfes"  hatte  ich  früher  geglaubt, 
daß  inmitten  der  „Götter Versammlung",  die  nach  Homolle  ihren  Platz  links  von  dem  „Zwei- 
kampf" hatte,  die  Seelenwägung  (durch  Hermes V)  dargestellt  gewesen  sei.  Nach  Heberdeys 
Darlegungen  muß  aber  nunmehr  diese  „Götterversammlung"  einem  anderen  Friese  und  dem- 
nach auch  einem  anderen  mythologischen  Zusammenhange  zugewiesen  werden. 

-)  Vgl.  Bull.  d.  Inst.  1870,   p.  187  (Heydemann) ;  Archaeol.  Jahrb.  I  89'''*  (Studniczka). 


—  298   — 

Erwähnung  geschehen  ist.  Wir  sehen  (knapp  ober  dem  Rande  des  Bruch- 
stückes) den  Körper  der  Thetis  von  einem  horizontalen  Kontur  über- 
schnitten, der  nach  rechts  sich  weiter  fortsetzte ;  ich  zweifle  nicht,  daß 
wir  darin  die  obere  Begrenzungslinie  von  Hinterleib  und  Schweif  eines 
rechtshin  stehenden  Pferdes  zu  erkennen  haben.  Allem  Anschein  nach 
war  also  auf  der  Vase  das  Viergespann  in  ganz  ähnlicher  Verschiebung 
und  Automedon  in  fast  gleicher  Haltung  wie  auf  dem  Relieffriese  dar- 
gestellt; das  Kompositionsschema  des  Vasenbildes  weicht  von  dem  des 


Vasenscherbe  in  Florenz. 


^~"~Onfc^ 


« 


Frieses  nur  insofern  ab,  als  hier  Eos  und  Thetis  an  Stelle  der  Kampfes- 
helfer erscheinen.  So  ist  es  gewiß  auch  mehr  als  zufällige  Überein- 
stimmung, daß  auch  auf  dem  Vasenbilde  Achilleus  rechts  steht  und  als 
Schildzeichen  ein  mächtiges  Gorgoneion  führt.  Ja,  man  wird  den  Ver- 
such, in  solcher  Weise  Achilleus  zu  charakterisieren,  auch  schon  auf 
der  bekannten  melischen  Vase  (Conze,  Melische  Tongefäße  T.  III) 
erkennen  dürfen,  wo  bei  der  Darstellung  des  Memnonkampfes  der  rechts- 
stehende   Krieger    mit    dem    Gorgoneionschilde    ausgerüstet    ist,    und 


L 


—   299   — 

gleiches   mag    auch   noch  für   die   schwarzfigurige   Vase  München  328 
gelten  1). 

Als  ein  weiteres  Zeugnis  für  die  Rolle,  die  in  der  älteren  Typik 
des  Meinnonkampfes  den  Gespannen  und  ihren  Lenkern  zugewiesen  war, 
kann  noch  der  schwarzfigurige  „Deinos"  im  Wiener  Österreich.  Museum 
(n.  235  Masner)  angeführt  werden,  auf  dessen  Mündungsrande  —  neben 
Memnon  und  Achilleus,  Eos  und  Thetis  —  beiderseits  die  Gespanne 
mitdargestellt  sind.  Daß  aber  auch  die  Figuren  des  Nestor  und  seines 
vorauszusetzenden  Gegenstückes  nicht  erst  eine  eigenwillige  Zutat  des 
Reliefkünstlers  sind,  dafür  scheint  der  Umstand  zu  sprechen,  daß  auch 
bei  dem  Memnonkampfe  auf  der  schwarzfigurigen  Vase  des  Museo 
Gregoriano  II  28  (=  A  II  32,  1;  Helbig-Reisch  n^  1195)  rechts  und 
links  von  Eos  und  Thetis  noch  je  eine  bärtige  Gestalt  mit  lebhaft 
erhobenem  Arme  dargestellt  ist,  die  ich  nun  nicht  mehr  als  bloße  Füll- 
figuren, sondern  mit  P.  J.  Meier,  Rhein.  Mus.  XXXVII  (1882),  S.  352  als 
Nestor  und  Priamos(?)  deuten  möchte. 

Die  charakteristischen  Züge  dieser  Komposition  des  Friesreliefs 
wurzeln  also  schon  in  einer  älteren  bildlichen  Tradition,  die  ihrerseits 
gewiß  bestimmt  war  durch  die  Erzählung  des  Epos,  d.  h.  doch  wohl 
der  iiithiopis  -).  Daß  Antilochos  seinen  Tod  durch  Memnon  gefunden 
habe ,  als  er  seinen  Vater  Nestor  aus  schwerer  Bedrängnis  errettete, 
berichtet  ausführlich  Pindar  Pyth.  VI,  29  (vgl.  Odyssee  IV,  187),  und 
bei  demselben  Dichter  (Nem.  VI,  50)  wird  bei  der  Erwähnung  von  Memnons 
Tod  erzählt,  wie  Achilleus  xaraßäg  äcp  ägiidtojv  auf  den  Gegner  eindringt. 
Und  auch  das  Roßegespann  des  Memnon  scheint  im  Epos  besonders 
gefeiert  worden  zu  sein,  vgl.  Aristoph.  Ran.  963  und  dazu  Luckenbach, 
Jahrb.  f.  klass.  Philol.  Supplem.  XI  (1880),  616.  Aus  der  gewiß  nicht 
geringen  Zahl  von  Helden,  denen  im  Epos  ein  Anteil  bei  den  Kämpfen 
gegen  Memnon  zugewiesen  war,  waren  im  delphischen  Friese  Aineas 
und  ein  Grieche  hervorgehoben,  dessen  Name  leider  nicht  mehr  erhalten 
ist;  vielleicht  war  hier,  me  in  der  figurenreichen  Gruppe  des  Memnon- 
kampfes ,    die    Lykios  für   Olympia    gearbeitet    hat   (Paus.  V    22 ,    2), 


1)  Dagegen  ist  auf  der  rotligurigen  Yase  Tyskiewicz  (Robert,  Szenen  der  Ilias  und 
Aethiopis,  XV.  Hallisches  Winckelmannsprogr.  1891),  die  nicht  mehr  derselben  Linie  bild- 
licher Tradition  angehört;  wie  die  vorerwähnten  Vasen,  der  rechtsstehende  Krieger,  der  das 
Gorgoneion  als  Sehüdzeichen  führt,  als  Memnon  bezeichnet.  Der  Gefallene  wird  in  der  Bei- 
schrift Melanippos  genannt. 

■^)  Wenn  wirklich  Pindar  Nem.  VI,  53  in  einer  Einzelheit  auf  die  .,kleine  Ilias'* 
zurückgeht  (Schol.  Nem.  VI,  85 ,  vgl.  0.  Schröder,  Hermes  1885,  494),  so  dürfen  wir  doch 
annehmen,  daß  alle  Hauptmomente  der  Eraählung  durch  die  Aithiopis  festgelegt 
worden  sind. 


—   300   — 

Diomedes  dem  Aineas  entgegengestellt  i).  Inwieweit  freilich  auch  im 
Epos  die  Personen  und  Ereignisse  so  nahe  aneinandergerückt  waren,  wie 
das  Bild  sie  zeigt,  das  ist  eine  Frage,  die  ich  hier  nicht  erörtern  kann. 

2.  Der  ..Lenkippidenranb"  des  „Südfrieses". 

Der  von  Heberdey  in  der  vorher  erwähnten  Studie  unternommene 
Versuch,  die  von  Homolle  dem  „Knidier-Schatzhause"  zugewiesenen 
Skulpturen  auf  verschiedene  Schatzhäuser  aufzuteilen ,  scheint  mir 
in  den  Hauptsachen  überzeugend  begründet.  Mit  seiner  Rekonstruktion 
der  dem  „Südfries"  zugerechneten  Platten  (Fouilles  IV  T.  IX/X)  vermag 
ich  mich  aber  nicht  einverstanden  zu  erklären.  Mir  ist  immer  die  Meinung 
unhaltbar  erschienen,  daß  die  beiden  Fragmente  mit  den  „Frauenräubern'' 
(d.  h.  offenbar  den  Dioskuren)  —  ich  bezeichne  das  größere  Bruchstück 
mit  c,  das  kleinere  mit  d  — ,  das  Stück  mit  dem  Viergespann  links 
vom  Altar  (a)  und  die  Platte  mit  den  Reitern  und  dem  Gespann  (b) 
zu  einer  Komposition  zu  vereinigen  seien.  Zunächst  fällt  auf,  daß  die 
Pferdeschweife  auf  c  (Fouilles  T.  IX/X  unten  links)  anders  stilisiert 
sind,  als  auf  a  und  b ;  es  fällt  schwer,  diesen  Unterschied  mit  Heberdey 
S.  153^  bloß  aus  künstlerischer  Lust  an  der  Abwechslung  oder  aus 
verschiedenartiger  „Haartracht"  der  Pferde  zu  erklären.  Von  ent- 
scheidender Bedeutung  aber  ist,  daß  sich  die  verschiedenen  Bewegungs- 
momente, in  denen  die  Gespanne  auf  o^  b,  c  dargestellt  sind,  nicht  zu 
einem  einheitlichen  Vorgang  von  Flucht  und  Verfolgung  zusammen- 
schließen lassen.  Die  Dioskuren  sind,  wie  c  zeigt,  eben  erst  im  Begriff, 
die  geraubten  Mädchen  auf  die  ruhig  stehenden  Wagen  zn  heben.  Dazu 
paßt  es  wenig,  daß  auf  a  schon  einer  der  „Verfolger"  den  Wagen 
besteigt  2),  auf  b  (T.  IX/X  oben  rechts)  die  „verfolgenden"  Reiter  und 
Gespanne  gar  schon  in  lebhafter  Bewegung  dargestellt  sind.  Die  „Ver- 
folgung" wäre  also  schon  im  Gang,  bevor  noch  die  „Verfolgten"  ihre 
Fahrt  begonnen  hätten.  Zudem  macht  die  Gruppe  der  berittenen 
Knappen  und  des  Viergespannes  auf  b  mehr  den  Eindruck  eines  wohl- 
geordneten hippischen  Zuges,  als  den  einer  hastigen  Schar  von  Ver- 
folgern. 

Alle  diese  Erwägungen  scheinen  zu  dem  Schlüsse  zu  drängen, 
daß  die  Stücke  a  b  nicht  mit  der  Darstellung  der  Dioskuren    auf  c  d 

^)  Wie  vorhin  S.  294  erwähnt  wurde,  glaubte  HomoUe  (Bull,  de  corr.  hell.  1896,  S.  586) 
Buchstabenspuren  neben  dem  zweiten  griechischen  Krieger  auf  den  Namen  „Meriones"  — 
was  von  „Diomedes"  nicht  weit  abliegen  würde  —  deuten  zu  können.  Ich  habe  keine  Reste 
einer  Beischrift  mehr  feststellen  können. 

^)  Der  Wagenbesteigende  auf  a  kann  nicht  der  zweite  der  Dioskuren  sein,  da  seine 
Haltung  unvereinbar  ist  mit  dem  „Frauenräuber"  auf  d,  er  kann  aber  auch  nicht  ein  Wagen- 
lenker dieses  Dioskuren  sein,  da,  Avie  c  zeigt,  die  Dioskuren  keine  Lenker  neben  sich  hatten. 


—   301    — 

zusammengehören,  sondern  einem  anderen  Friese  zuzuweisen  sind.  Ob 
diese  Gruppen  von  Reitern  und  Wagen  der  Darstellung  einer  mythischen 
Handlung  zuzurechnen  sind,  oder  ob  sie,  wie  ich  lieber  glauben  möchte, 
zur  Darstellung  eines  festlichen  Aufzuges  gehörten  (so  daß  wir  hier 
schon  einen  Vorläufer  des  Parthenonfrieses  vor  uns  hätten),  mag  dahin- 
gestellt bleiben.  Gewiß  wird  man  aber  auf  Grund  der  stilistischen  Gleich- 
artigkeit (vgl.  Heberdey  S.  153)  diese  Platten  (a,  h)  dem.selben  Bau, 
wie  die  Platten  des  sogenannten  „Westfrieses",  und  zwar  einer  Lang- 
seite dieses  Baues,  zuweisen  dürfen. 

Für  die  Ergänzung  des  Dioskurenfrieses  bieten  leider  die  Fragmente 
c  d  keine  ausreichenden  Anhaltspunkte.  Beachtet  man  aber ,  daß  auf 
d  der  Frauenkopf  rechts,  auf  c  links  von  dem  Dioskurenkopf  angeordnet 
ist  und  daß  die  Köpfe  der  beiden  Paare  nach  verschiedenen  Richtungen 
gedreht  scheinen,  so  wird  man  der  Annahme  zuneigen,  daß  die  beiden 
Gruppen  im  Gegensinne  komponiert  und  die  beiden  Gespanne  nicht 
nach  derselben  Richtung  bewegt,  sondern  auseinanderstrebend  dargestellt 
waren.  Das  würde  eine  symmetrische  Komposition  ergeben,  die  für  den 
Fries  an  der  Schmalseite  eines  kleinen  Gebäudes  wohl  passen  würde. 
Die  Frage  aber,  ob  die  uns  erhaltenen  Bruchstücke  dieses  Frieses  mit 
der  Nebenseite  der  „Götterversammlungs" -Platte,  auf  der  ein  Knappe 
mit  Handpferd  dargestellt  ist,  zusammengebracht  werden  können,  also 
dem  gleichen  Bau,  wie  „Götter Versammlung",  ,,Zweikampf"  und  „Giganto- 
machie"  angehören,  oder  ob  sie  einem  anderen  Gebäude  zuzuweisen 
sind,  wage  ich  ohne  nochmalige  Prüfung  der  Reliefs  nicht  mit  Ent- 
schiedenheit zu  beantworten. 


De  ephebi  Attici  capite  Gracoyiensi. 


Scripsit 

PETRUS  BIENKOWSKI 

(cum  1  tabula). 


In  museis  provincialibus  haud  exigua  artis  statuariae  monumenta, 
inprimis  capita  antiqua  exstant,  quae  licet  summam  operis  perfectionem 
non  exhibeant,  nullo  modo  tamen  pro  vilioribus  exemplis  accipi  possunt. 
Quae  opera,  quamquam  parum  in  vulgus  nota  sunt,  nihilominus  ad 
artem  antiquam  cognoscendam  multum  proficere  in  propatulo  est.  Itaque 
quam  vim  capita  supra  dicta  habeant,  quo  tempore  et  quo  genere  efficta 
nee  non  quomodo  cum  praecipuis  sculpendi  scholis  et  rationibus  conexa 
sint,  diligenter  harum  rerum  periti  definiant  atque  demonstrent  necesse  est. 
Quae  cum  ita  sint,  ingenuarum  artium  studiosis  ephebi  Attici  formosum 
capitis  simulacrum  paucis  verbis  proponere  ac  illustrare  animum  induxi. 

Quod  Caput  in  tabula  adnexa  (I  a  et  b)  duabus  ex  diversis  partibus 
repraesentatum,  nunc  in  Cracoviensi  museo  principum  Czartoryski  asser- 
vatum,  a.  1884  Marianus  Sokolowski  Athenis  apud  negotiatorem  quendam 
Sicyoni  repertum  esse  existimantem  acquisiviti).  Factum  est  ex  candido 
marmore,  opinor,  Pario,  pusillis  spissisque  hie  illic  micantibus  granis 
insigni.  Est  autem  iusta  mensura  paulo  minus,  una  cum  collo  0*24  m. 
altum;  facies  ab  extremo  mento  usque  ad  primos  capillos  0'15  m.  efficit, 
genarum  vero  ossa  0*12  m.  intervallo  distant.  Quod  caput  pro  fragmento 
statuae  aut  hermae,  non  anaglyphi  accipiendum  esse,  facile  ex  collo 
undique  tornato  et  dextri  humeri  frustulo  conieceris.  Atque  faciem 
tantum  crinesque,  qui  ipsam  frontem  quasi  corolla  cingunt,  artifex 
Omnibus  numeris  effinxit,  capillos  autem  in  vertice  aversaque  parte 
semirotundae  parvae  calvae  convolutos  in  transitu  strictimque  confor- 
mavit  ipsasque  auriculas  a  reliquo  capite  non  seiunxit. 

Jacturas  quoque  nonnullas  fragmentum  passum  est,  id  quod  ex 
adiecta   imagine   patet.     Inprimis   moneo    musculum  -sinistri    supercilii 

^)  Conf.  Stromata  in  honorem  Casimiri  Morawski  (Cracoviae  1908),  p.  49sfj[. 


1? 


—   303   — 

decussum  quasi  contritum  fuisse,  quam  ob  rem  laevus  oculus  vim  sane 
insolentem,  quodammodo  affectatam  prae  se  ferat.  x4.1iquot  locis  reliquiae 
fusci  vel  russei  coloris  deprehenduntur,  ex  quibus  probabiliter  conieceris 
singulas  partes  capillaturae  pigmento  distinctas  fuisse. 

Jam  si  reputaveris,  quam  moUi  subtilique  modo  marmor  sit 
tractatum ,  quot  praeter ea  res  quasi  casu  fortuito  minus  accurate 
expressae  restent,  opus  hoc  non  timidi  cuiusdam  imitatoris,  sed  veri 
sibique  artis  suae  conscii  artificis  esse  sine  dubio  statueris.  Crines 
etiam  partim  duri,  non  plene  perfecti,    diligenter  vero  genae  expolitae 


Fig.  1. 


et  frontis  luculenta  formatio  demonstrant  monumentum  primigenium 
auctori  tribuendum  esse,  qui  rationem  fingendi  naturamque  materiae 
affatim  cognitas  habuerit.  Umbrae  deinde  et  luminis  discrimina  exquisita 
cum  cura  per  faciem  ac  crines  distributa  aetatem  indicant,  qua  ipsius 
formae  venustate  non  sufficiente  optica  adhiberi  coepta  sunt  adiumenta, 
ut  animus  efticacius  commoveretur.  Saeculum  quartum  etiam  artificium 
prodit ,  quo  caput  eifictum  est.  Oculi  enim  eodem  modo  exprimuntur 
neque  secus  ad  nasum  collocantur  atque  in  musei  Britannici  capite 
barbato  (A.  H.  Smith,    Catal.  of  sculpt.  n.  1054,  pl.  XX,  üg.  1),    quod 


—   304   — 

cum  prope  Mausoleum  Halicarnassi  effossum  esset ,  procul  dubio  orna- 
mento  erat  huic  aediiicio  circa  a.  350  exstructo. 

Quaerentibus  autem^  ex  quanam  artis  officina  fragmentum  Craco- 
viense  provenerit,  res  ipsa  optime  absolvi  poterit,  si  capita  eandem 
speciem  gerentia  comparaveris.  Simillimum,  fere  idem  et  par  atque 
adeo  melius  conservatum  huc  spectat  caput  Musei  Dorpatensis,  cuius 
quidem  accuratiorem  notitiam  non  habeo,  exemplum  tamen  eius  ex 
imagine  gypso  expressa  lucis  ope  factum  hie  ante  oculos  nunc  primum 
ponere  contigit  (fig.  1).  Haud  alienum  est  alterum  caput  multum,  quod 


Fig.  2. 


Fig.  3. 


dolendum  est,  laesum,  nunc  in  Museo  Britannico  collocatum  (Catal.  of 
sculpt.  n.  1001,  tab.  III).  Omnia  lineamenta  iuvenis;  quem  describimus, 
quasi  incrassata  facies  Herculis  in  Museo  Louvre  exstans  exhibet 
(S.  Reinach,  Tetes  pl.  148,  149).  Quae  quamquam  nonnulla  signa  Her- 
mae  Praxitelii  propria  ostendit,  indicia  tamen  vetustioris  aetatis,  for- 
tasse  principia  Cephisodoti  maioris  prae  se  fert.  Minima  vero  similitudo 
inter  Cracoviense  fragmentum  et  illud  Herculis  Aequini  caput  inter- 
cedit,  quod  Reinachius  Parisino  proximum  putat  (v.  Schneider,  Archäol.- 
cpigraph.  Mitteil.  1885,  tab.  I).  At  eadem  signa  praecipua  caput  athletae 


—   305   — 

continet,  quod  Romae  in  aedibus  Caetani  constitutum  (Matz-Duhn 
n.  1673)  aeque  ac  caput  Musei  „Barracco"  dicti  (Collection  Barracco 
pl.  LV) ,  ut  ex  adiuncta  imagine  phototypica  nunc  primum  divulgata 
(flg.  2  et  3)  elucet,  ad  exemplum  graeci  archetypi  medii  quarti  saeculi 
a  nescio  quo  romano  opiiice  languidius  expressum  esse  persuasum  habeo! 
Cranium  quidem  athletae  formam  longiorem,  quadratam  magis  efficit^ 
crines  eins  prolixioribus  cincinnis  compositi  et  in  genis  prima  lanugo 
apparet,  sed  ovata  faciei  species  oblongior  nee  non  forma  frontis  babi- 
tusque  oculorum  et  labrorum  epbebum  Cracoviensem  plene  in  memo- 
riam  revocant.  Hunc  autem  typum  iuvenis  prius  ortum  esse  caput  pan- 
cratiastae  Musei  Berolinensis  (Beschreibung  der  Skulpturen  Nr.  481)  et 
prorsus  par  herma  olim  Gottingensis  (Wieseler,  Göttingische  Antiken, 
1858,  Nr.  la_,b)  demonstrant.  Quamquam  vero  B»olinense  caput  ex- 
politum  exstat,  coniciendo  tamen  facile  definiri  potest  typum  illum 
circa  a.  400  ante  Chr.  in  lucem  prolatum  esse.  Medium  autem  quartum 
saeculum  imagines  designant,  quae  dicuntur  Alcibiadis  vel — id  quod 
Arndtio  auctore  veri  est  similius — Macedonis  Philippi  II  (cf.  Strena 
Helbigiana  p.  10—18). 

Omnia  adhuc  enumerata  capita  mea  quidem  opinione  artis  Atticae 
aetatis  Praxiteliae  rationem  referunt.  Unicuique  sciiicet  enormem  fron- 
tis et  nasi  figuram^  penitius  oculos  collocatos  respicienti  simulque  habi- 
tum  faciei  et  animum  quietum  dulci  cogitationi  intentum  consideranti' 
ultro  se  Hermes  et  Hercules  Praxitelis  (ßeinach,  Tetes  pl.  270)  otferre 
debent.  Sicut  enim  in  utriusque  dei  efFigie^  ita  etiam  in  hoc  capite  in- 
ferior pars  frontis  longa  directa  ruga  a  cetera  fronte  secernitur  et 
supra  nasi  dorsum  maxime  prominet,  superior  vero  eiusdem  frontis  pars 
multum  depressa  et  retracta  in  conspectum  venit.  Supra  arcus  super- 
ciliorum  recessus  cavi  comparent,  musculi  autem  temporum  manifesto 
intumuerunt  (cf.  I^echat,  Melanges  Perrot,  p.  207;  Graef,  Strena  Hel- 
bigiana p.  109).  Radix  nasi  ubique  praeter  modum  lata  et  praeceps  ad 
oculorum  orbes  fertur.  Oculi  (si  collatione  aliorum  aestimemus)  parum 
aperti,  tamquam  madidi;  inferior  palpebra  quasi  consulto  imminuta. 
Nares  tenerae  et  nonnihil,  ut  videtur,  coartatae,  os  leniter  reclusum 
quasi  semihians.  Quae  attuli,  signa  sunt  peculiaria  artis  Praxiteliae. 
Non  me  fugit  vestigia  artis  a  Scopa  excultae  Helbigium  in  capite  Bar- 
racco (Collection  B.  p.  43) ,  S.  Reinachium  in  supra  laudato  Herculis 
capite  Parisino  observasse.  Verumtamen  illi  Scopae  adamati  magnifici 
oculi  prorsus  desunt  et  frustra  quadratum  mentum  brevemque  faciem 
cum  validis  maxillis  quaesiveris.  Quod  enim  capitum  Barracco  et  Cae- 
tani proprium  est  cranium  iusta  forma  paulo  minus  rotundatum,  hoc 
haud  sufficere  credo,  ut  et  illa  capita  et  fragmentum  Cracoviense  ullo 

Wiener  Eranos.  20 


—   306    — 

vinculo  cum  operibus  Scopae  conecti  probetur.  Ne  longius  abeam,  con- 
ferantur  velim  illa  capita  cum  Scopae  Meleagro  aut  cum  eiusdem 
temporis  stela  sepulcrali  Ilissea  (Conze,  Attische  Grabreliefs  tab.  211), 
cuius  effigies  manifeste  Ingenium  artemque  Scopae  redolent.  Immo  vero 
breves  capillos  supra  frontem  erectos  parvisque  cincinnis  in  calva  re- 
cumbentes  iuvenes  Atticos  saec.  V  et  IV  in  deliciis  habuisse  Ludovicus 
Sybel  docuit  (Rom.  Mitteil.  VI,  241),  idemque  genus  comae  compo- 
nendae  huius  aetatis  operibus  Atticis  divulgatum  est.  Itaque  —  ut 
meam  proferam  opinionem  —  omnia  modo  enumerata  capita  Craco- 
viensi  non  excepto  conatus  progressusque  Atticae  artis  statuariae, 
quales  medio  IV  saec.  a.  Chr.  viguerunt,  manifestos  faciunt.  Licet  multa 
iis  insint,  quae  a  consuetudine  Praxitelis  minime  abhorrent,  non  sunt 
tamen  opera  ex  Praxitelis  schola  profecta  neque  ullam  vim  auctoritas 
huius  artificis  ad  e»  coniicienda  habuit,  sed  quasi  praecipuum  funda- 
mentum  summasque  condiciones  artis  Atticae  repraesentant,  ex  quibus 
demum  nata  est  Praxitelis  illa  singularis  indoles  egregiumque  Ingenium. 
Atque  aegre  ferendum  nos  omnibus  destitui  subsidiis ,  quibus  horum 
monumentorum  opifex  vel  opifices  monstrari  possint. 

Quod  tradunt  caput  Cracoviense  Sicyone  provenisse,  quamquam 
pro  certo  affirmari  nequit,  coniectura  tamen  haec  iis ,  quae  supra  de 
genere  fingendi  statuimus,  non  repugnat  neque  digna  est,  quae  a  prin- 
cipio  reiciatur.  Etenim,  ut  Hauser  (Jahreshefte  V,  216)  recte  animad- 
vertit,  officinae  statuariae  adhuc  arctissimis  finibus  civitatum  circum- 
scriptae  circa  medium  quartum  saeculum  singulae  suam  cuique  pro- 
priam  indolem  exuunt  sive  abiciunt,  atque  inter  se  iuvant  itaque  per- 
manant;  ut  opera  vere  Atticum  Ingenium  spirantia  fora  templaque 
Peloponnesi  et  versa  vice  implere  coeperint. 


Zur  Niobide  der  Banca  Commerciale. 

Von 
HEINRICH  SITTE. 

Als  im  Sommer  1906  dieses  griechische  Marmororiginal  wohler- 
halten dem  einstigen  Boden  der  sallustianischen  Grärten  in  Rom  ent- 
stieg, als  es  dann  rasch  in  Abbildungen  überallhin  verbreitet  wurde, 
da  staunten  viele  über  die  doch  schon  zu  wiederholten  Malen  an  Werken 
dieser  Epoche  der  griechischen  Kunst  festgestellte  Mischung  von  Nach- 
klängen des  strengen  Stiles  mit  freier  ISTaturbeobachtung ,  viele  auch 
über  die  für  ein  originales  Werk  der  großen  Rundplastik  dieser  Zeit 
weitgehende  Entblößung,  denn  so  starke  oder  völlige  Entkleidung  des 
weiblichen  Körpers  war  bis  dahin  allerdings  nur  durch  die  Kleinkunst, 
Terrakotten  und  Spiegelstützen,  durch  die  Vasenmalerei  und  das  Relief 
nachweislich  gewagt  worden.  Bald  aber  lenkten  die  schwankenden 
Urteile  über  das  Kunstwerk  in  festere  Bahnen:  man  erkannte  seine 
Zusammengehörigkeit  mit  anderen  früher  an  der  gleichen  Stelle  ge- 
fundenen Statuen,  man  schloß^  daß  sie  Alle  Reste  einer  kurz  nach  der 
Mitte  des  fünften  Jahrhunderts  v.  Chr.  geschaffenen  Griebelgruppe  seien. 
Von  den  vielen  und  teilweise  wohl  recht  schwierigen  Fragen ,  welche 
die  Forschung  angesichts  dieser  Gruppe  von  Skulpturen  bedrängen, 
soll  hier  nur  flüchtig  jene  berührt  werden,  welche  die  Entstehungs- 
zeit der  neu  hinzugekommenen  Figur  betrifft. 

Della  Seta  datiert  in  seinem  Aufsatze  in  der  Ausonia  II  p.  8  die 
Niobide  in  das  dritte  Viertel  des  fünften  Jahrhunderts;  Furtwängler, 
der  dem  Werke  seinen  letzten  Münchner  Sitzungsbericht  vom  Juni  1907 
widmete,  zog  die  Grenzen  enger  auf  das  Jahrzehnt  von  450 — 440.  In 
beiden  Arbeiten  und  auch  in  allen  anderen  Besprechungen  der  Niobide 
ist  nun  zur  Begründung  dieses  frühen  Ansatzes  eine  wichtige  Stelle 
der  Dichtung  nicht  mit  verwertet  worden,  welche  von  einem  der  gr()ßteii 
Zeitgenossen   des    Schöpfers    dieser  Giebelgruppe    stammt,    von    einem 


—   308   — 

Tragiker,  der  einer  allerdings  nicht  völlig  sicheren  Kunde  zufolge  sich 
in  seiner  Jugend  auch  als  Maler  betätigt  haben  soll ,  von  Euripides. 
Als  ich  zum  erstenmal  archäologisch  geschult  den  Bericht  des  Talthy- 
bios  vom  Tode  der  Polyxena  in  seiner  Hekabe  las,  da  ergriff  mich  bei 
den  Versen  (557  ff.) 

za/ret  tod'   elöri%ovoe  Öeötcotlov  eWog, 
Xaßovoa  TteTzXovg  l§  äy,Qag  STtiof-iidog 
eggr^^e  Xayovog  elg  (.leaov  7t aQ    df-Kpakov, 
(xaöTOvg  T*    t'dei^e  OTtqva  iP  tog  äyäXfxaTog 
xcckkiGTa,  '/Mi  YMi^eioa  Tiqbg  yaiav  yövv 
ele^e  ndvTtov  rXriJUovtaTaTov  köyov 

dasselbe  Staunen ,  das  vielen  der  Anblick  der  neuen  Niobide  erregte, 
denn  vor  423  war  ja  dieses  Drama  aufgeführt  worden  und  ayalf^a  be- 
deutet doch  im  fünften  Jahrhundert  schon  hauptsächlich  das  Götter- 
bild im  Gegensatz  von  dvdqiäg,  also  ein  Werk  der  Rundplastik.  Euri- 
pides konnte  doch  wohl  diesen  direkten  Hinweis  auf  die  Bildhauerei 
nur  anwenden,  wenn  er  tatsächlich  solche  dyäkf-iaTa  oder  wenigstens 
ein  ähnliches  bedeutendes  Werk  der  Eundskulptur  als  seinen  Zuhörern 
bekannt  voraussetzen  durfte;  ich  notierte  mir  die  Stelle  als  kunstge- 
schichtlich von  höchstem  Interesse  und  wartete  eigentlich  seitdem  auf 
das  Bekanntwerden  mit  irgendeinem  zu  dieser  Schilderung  passenden 
Werke  der  zeitgenössischen  Plastik,  da  mich  Kinkels  Heranziehung 
der  Hippodameia  des  Phigaliafrieses  in  seinem  „Euripides  und  die 
bildende  Kunst"  S.  44  als  Relief  nicht  ganz  befriedigen  konnte. 

Als  nun  die  Niobide  gefunden  und  der  Kampf  um  ihre  richtige 
Datierung  geführt  vnirde,  da  sollte  doch  auch  die  Stimme  des  größten 
damaligen  Dichters  lebendig  miteingreifen;  ich  wollte  dem  Forscher^ 
der  die  glühendste  Begeisterung  für  das  neue  Denkmal  bezeugt  hatte, 
die  oben  angeführten  Verse  in  einem  Briefe  mitteilen;  bevor  ich  ihn 
absenden  konnte,  traf  aus  Athen  die  Nachricht  von  dem  Ableben  Furt- 
wänglers  ein ;  damals  schien  es  mir  nicht  recht,  das  einem  eben  Heim- 
gegangenen Bestimmte  anderweitig  zu  veröffentlichen.  So  blieb  die 
Stelle  für  diesen  speziellen  Fall  weitere  zwei  Jahre  unbeachtet  und 
wendet  sich  erst  jetzt  als  Festgruß  an  Alle ,  welchen  es  gegönnt  ist, 
sich  aufzuerbauen  an  der  hohen  Schönheit  einer  von  euripideischer 
Tragik  durchströmten  Statue ,  sich  aufzuerbauen  an  dem  Bericht  des 
Talthybios,  der  aus  dem  dunklen  Hintergrunde  schauerlichen  Schweigens 
seine  Gestalten  in  plastischer  Klarheit  hervortreten  läßt. 


Aus  Pompeji, 

Von 
E.  BORMANN. 


Im  vorigen  Winter  ließ  ich  in  der  epigraphischen  Abteilung 
unseres  archäologiscli  -  epigraphisclien  Seminars  römische  Munizipal- 
inschriften  behandeln  und  mit  Pompeji  beginnen.  Einzelne  Vermutungen 
oder  Bedenken  gegenüber  den  gewöhnlichen  Erklärungen,  die  uns, 
den  Studierenden  oder  mir,  sich  dabei  aufgedrängt  hatten,  gedachte 
ich  auf  meiner  nächsten  Frühjahrsreise  nach  Rom  August  Mau  zur 
Prüfung  vorzulegen.  Aber  das  Geschick,  das  so  plötzlich  den  aus- 
dauerndsten, vielseitigsten,  besonnensten  und  erfolgreichsten  Erforscher 
Pompejis  der  Wissenschaft  des  klassischen  Altertums  entrissen  hat, 
versagte  mir  die  Erfüllung  dieses  Wunsches.  Indem  ich  daher  bei 
dem  jetzigen  Anlasse  die  folgenden  Bemerkungen  ohne  Maus  Prüfung 
di'ucken  lasse,  habe  ich  doch  überall  an  seine  Ausführungen  anzuknüpfen. 

Ja  in  einem  Punkte  (1)  hat  er  noch  selbst  mir  das  Erforderliche 
mitgeteilt,  da  es  in  dem  nach  seinem  Tode  ausgegebenen  Supplement- 
bande zu  CIL  IV  mit  den  Dipinti  ui^d  Graffiti  von  Pompeji  enthalten  ist. 

1.  In  dem  im  Jahre  1902  in  Pompeji  aufgedeckten  Teile  des 
Hauses  4  in  der  Regio  V,  insula  III  hatte  Paribeni  ein  Graffito  so 
gelesen : 

VIINIMVSHOCCVPIDIMVLTOMALO 
IRIICVIETVS 
und  verstanden: 

venimus  hoc  cupidi  niulto  malo  i(n)requietus(?). 

Franz  Bücheier,  der  auch  dadurch  die  vielen  Zweige  der  Alter- 
tumswissenschaft zu  einer  Einheit  verbinden  half,  daß  er  rasch  neue 
epigraphische  Funde  für  die  Erforschung  der  Sprache  und  Metrik  ver- 
wertete,   hat    diesen  Vers  am  Schlüsse  des  Aufsatzes   „Grammatica  et 


—   310  — 

epigraphica*'  behandelt,  mit  dem  er  die  neue  Zeitschrift  „Glotta"  eröffnete, 
die  auch  Philologen  und  Sprachforscher  auf  dem  Gebiete  der  klassischen 
Altertumskunde  vereinigen  will  (I,  1909,  S.  1 — 9).  Er  schrieb  (S.  9), 
die  Worte  seien  anders  zu  trennen: 

venimus  hoc  cupidi:  multo  malo  |  ire  cuietus 
und  zu  verstehen  tzoIv  ixäXXov  ßovlofiaL.  Und  er  schloß  mit  den  Worten : 
„causam  carminis  si  quaeris,  ecce  ego  qui  haec  conscripsi,  ad  Glottam 
veni  cupidus,  iam  malo  ire  quietus".  Und  in  der  Tat  ist  er  kurz  darauf 
zur  ewigen  Euhe  hingegangen. 

Bücheier  hatte  nicht  bemerkt,  daß  derselbe  Vers  bereits  in  einem 
Graffito  vorkommt,  allerdings  etwas  verstümmelt  und  bisher  nicht 
völlig  richtig  gelesen,  aber  auch  um  den  Pentameter  vermehrt,  C.  IV 
1227,  abgebildet  Tafel  XIII 6,  danach  ergänzt  bei  Bücheier  selbst 
carmina  Lat.  epigr.  928,  und  daß  der  Hexameter  sich  auch  im  großen 
Theater  findet,  mit  Kohle  auf  die  weiße  Tünche  aufgeschrieben,  aber 
im  ersten  Worte  unvollständig,  C.  IV  2995,  Tafel  XLVIII  23. 

Jetzt  ist  die  Lesung  aller  drei  Exemplare  von  Mau  sichergestellt, 
im  Supplementband  p.  704  zu  den  Nummern  1227  und  2995  und  p.  705 
n.  6697.  Danach  lautet  das  Distichon: 

venimus  hoc  cupidi,  multo  magis  ire  cupimus,  ut  liceat  nostros  visere, 
Roma,  lares. 

Nur  hat  der  Schreiber  des  ganzen  Distichons  (IV  1227)  hire  statt 
ire  geschrieben  und  danach  aus  Versehen  das  Wort  cupimus  ausgelassen. 

Demnach  stammt  das  Distichon  von  einem  Dichter,  der  die  Haupt- 
stadt Rom  zur  Heimat  hatte,  und  wenigstens  derjenige,  der  das  ganze 
Distichon  wiederholt  hat,  wird  wohl  auch  aus  Rom  sein.  Dagegen 
mag  in  dem  neuen  Graffito  IV  6997  und  in  dem  Dipinto  IV  2995  der 
Pentameter  weggelassen  sein,  weil  die  Heimat  ihrer  Schreiber  oder 
ihres  Schreibers  nicht  Rom  war. 

2.  In  der  Festschrift  zu  Otto  Hirschfelds  sechzigstem  Geburtstage 
(1903)  hat  der  russische  Gelehrte  Krascheninikov  die  Wahlempfehlungen 
des  M.  Cerrinius  Vatia  durch  die  seribibi  universi,  dormientes  universi 
und  furunculi  —  C,  IV  581  M.  Cerrunium  |  Vatiam  aed(ilem)  ovf.  seri- 
bibi universi  rogant.  |  Scr(ipsit)  Florus  cum  Fructo  ...  |  .  .  .  .;  575: 
Vatiam  aed(ilem)  rogant  |  Macerio,  dormientes  universi  cum  |  .  .  .  .  | ; 
576  Vatiam  aed(ilem)  |  furunculi  rog(ant)  —  in  Verbindung  gebracht 
niit  einem  zur  Zeit  der  Parlamentswahlen  1893  an  den  Straßen  von 
Rom  angeschlagenen  Plakat:  Regina  Coeli,  cella  No.  61.  |  Costanzo 
Chauvet  |  raccomanda  agli  elettori  |  Enrico  Galluppi  |  suo  intimo  ed 
ottimo  amico.    Chauvet,  der  einflußreiche  Begründer  und  Herausgeber 


—   311   — 

der  Zeitung  ,.I1  popolo  Romano"  saß  damals  im  Gefängnis  regina  coeK, 
wohl  wegen  ehrenrühriger  Dinge,  und  das  Plakat  wurde  von  den 
Gegnern  des  Kandidaten  Galluppi  verbreitet,  um  diesem  zu  schaden. 
Krascheninikov  nimmt  an.  daß  die  Empfehlungen  zum  Aedilen  durch 
„sämtliche  Spättrinker",  „sämtliche  Schläfer"  und  die  „Spitzbuben" 
denselben  Zweck  hatten,  wie  jenes  Plakat  mit  dem  Namen  Chauvets. 
Er  hat  damit  auch  bei  Mau  Glauben  gefunden .  C.  IV  Sp.  696  zu 
n.  575  und  „Pompeji  in  Leben  und  Kunst",  S.476i=5062:  „Es  lag  nahe, 
die  Form  der  Empfehlung  auch  als  drastisches  Kampfmittel  gegen 
einen  Kandidaten  zu  verwenden.  Dies  begegnete  dem  M.  Cerrinius  Yatia". 

Es  wäre  ja  sehr  interessant,  wenn  solche  Mittel,  wie  sie  die 
leidenschaftlichen  Parteikämpfe  der  modernen  parlamentarisch  regierten 
Großstaaten  in  den  Hauptstädten  gezeitigt  haben,  schon  im  Frieden 
des  ersten  Jahrhunderts  der  römischen  Kaiserzeit  in  einer  kleinen 
Munizipalstadt  bei  den  Gemeindewahlen  vorgekommen  wären.  Aber 
man  muß  doch  sagen,  daß  dies  äußerst  unwahrscheinlich  ist;  wissen 
wir  doch,  daß  es  in  jener  Zeit  in  den  Gemeinden  Italiens  eigentliche 
Wahlkämpfe  kaum  gegeben  hat  und  es  eher  schwer  fiel,  Kandidaten 
für  die  Gemeindeämter  zu  finden,  deren  Bekleidung  mit  großen  Ausgaben 
verbunden  war.  Ferner  muß  man  sagen,  daß  zur  Erlangung  des  voraus- 
gesetzten Zweckes  das  vorausgesetzte  Mittel  wenig  wirksam  gewesen  wäre : 
Empfehlungen  mit  scherzhaften  Namen,  alle  drei  nur  in  einem  Exemplar 
und  an  derselben  Stelle.  Gerade  dieser  Umstand  gibt,  glaube  ich,  die  Er- 
klärung. Schon  Zangemeister  hat  hervorgehoben,  daß  in  dem  Zimmer,  einem 
Laden,  an  dessen  Außenwand  die  Empfehlung  der  seribibi  miiversi  steht,  an 
der  linken  Wand  das  Graffit  C.  IV  1679  sich  befindet:  Invicte  castresi(s) ! 
habeas  propiteos  deos  tuos  tres,  ite(m)  et  qui  leges :  Calos  Edone  (wohl : 
Heil  Dir  Hedone)  Valeat,  qui  legerit.  — 

Edone  dicit: 
assibus  hie  bibitur;  dipundium  si  dederis  meliora  bibes. 

quattus  si  dederis,  vina  Falerna  bib(es). 

Und  deshalb  ist  draußen,  wie  ich  mich  am  vorigen  Sonntag  selbst 
überzeugt  habe,  unmittelbar  neben  der  Empfehlung  der  seribibi  von  der 
Leitung  der  Grabungen  die  Aufschrift  angebracht  worden:  „taberna 
Edones".  Durchaus  angemessen  oder  ebenso  angemessen  ist  doch  wohl 
die  Folgerung  von  Zangemeister  „In  earundem  aedium  muro  seribiborum 
programma  (n.  581)  extat,  ut  hoc  illa  factio  conventiculo  usa  esse 
videatur".  Hier  verkehrten  und  ließen  sich  von  der  Schenkdame 
(H)edone  Wein  verschiedener  Güte  kredenzen  diejenigen,  die  draußen 
sich    scherzhaft    die   Spättrinker    nennen    und    zu    denen    ein    invictus 


—  :-^i2  — 

castre(n)sis,  wohl  ein  besonders  angesehener  Kämpfer  aus  den  nicht  weit 
entfernten  eastra  (oder  ludus)  gladiatoria  gehörte.  Die  beiden  anderen 
Dipinti  aber  der  dormientes  und  der  furunculiy  die  ich  nicht  gesehen 
habe,  befinden  sich  nach  Zangemeisters  Zeugnis  in  unmittelbarer 
^ähe:  auch  in  der  via  degli  Augustali,  das  der  dormientes  n.  575 
„inter  13  et  14,  ostium  a  via  Stabiana",  der  furunculi  n.  576  „inter 
12  et  13  ostium  a  via  Stabiana",  während  das  der  seribibi  n.  581  „inter 
10  et  11  ostium  a  via  Stabiana"  ist.  Die  Folgerung  ist  wohl  nicht 
zu  kühn,  daß  mit  den  dormientes  und  furunculi  in  scherzhafter  Weise 
dieselben  Kumpane  bezeichnet  sind.  Für  die  erstere  Bezeichnung  ist 
eine  besondere  Erklärung  wohl  nicht  erforderlich.  Die  spat  trinken, 
schlafen  leicht  ein  und ,  wie  ich  am  Sonntag  mich  überzeugt  habe, 
führte  in  der  Kneipe  der  Hedone  nach  den  Spuren  an  der  Wand  eine 
Treppe  in  ein  höheres  Stockwerk,  wo  man  also  sich  vom  Rausche 
ausschlafen  konnte.  Für  die  Bezeichnung  furunculi  gestatte  ich  mir 
einen  Einfall  vorzubringen.  Zur  Zeit  unserer  Dipinti  war  wohl  das 
gewöhnlichste  Spiel,  mit  dem  man  sich  in  gedeckten  Räumen  die  Zeit  ver- 
trieb, das  der  latrunculi,  so  genannt,  wie  es  scheint,  nach  den  geringeren, 
etwa  den  Bauern  unseres  Schachspiels  entsprechenden  Figuren.  Könnten 
nicht  die  Leute,  die  dort  regelmäßig  zusammenkamen  und  zum  Wein 
mit  den  latrimculi  spielten,  insgesamt  oder  zum  Teil  scherzweise  einen 
Namen  erhalten  oder  sich  selbst  gegeben  haben,  der  mit  dem  der 
Figuren  des  Spieles  gleichbedeutend  war? 

3.  In  einer  der  von  dem  Bankier  L.  Caecilius  Jucundus  verwahrten 
Quittungen,  die  nach  unserer  Zeitrechnung  am  8.  Mai  60  n.  Chr.  aus- 
gestellt ist  (C.  IV  S  p.  392  f.  n.  CXLIV),  ist  in  der  Bezeichnung  des 
Jahres  mit  den  Namen  der  höchsten  Gemeindebeamten  von  Pompeji 
zu  den  Namen  der  beiden  duoviri  iure  dicundo  der  eines  praefectus  iure 
dicundo  hinzugefügt  worden,  so  (zweite  Seite):  N.  Sande[lio]  Messio 
Balbo  P.  Yedio  Sirico  |  duomviris  iure  die.  |  Sex.  Pompeio  Proculo 
[p]raef.  i.  d.  |  V[III  i]dus  Maias. 

In  einer  anderen  Quittung  aus  demselben  Amtsjahr  von  Pompeji, 
das  vom  1.  Juli  59  bis  zum  30.  Juni  60  lief,  nämlich  vom  10.  Juli  59 
(C.  IV  S  p.  389—891  n.  CXLIII)  ist  mit  den  Namen  zweier  anderer 
Duovirn  datiert  worden  (Seite  II:)  Cn.  Pompeio  Grospho,  Grospho  | 
Pompeio  Gaviano  Ilvir.  iur.  die.  |  VI  idus  Julias.  Dafür  steht  auf 
den  Seiten  V  und  VI:  duobus  Grosphis  (Grospis  VI)  d.  (v.)  i.  d.  Es 
hatte  also  zwischen  dem  10.  Juli  59  und  dem  8.  Mai  60  ein  Wechsel 
der  Oberbeamten  stattgefunden.  Schon  der  erste  Herausgeber  Giulio 
de  Petra  und  Fiorelli  hatten  dies  einleuchtend  richtig  mit  den  Unruhen 


—   313  — 

in  Pompeji  im  Jahre  59  in  Verbindung  gebracht,  die  wir  auch  etwas 
durch  die  Denkmäler,  hauptsächlich  aber  durch  den  Bericht  von 
Tacitus  ann.  14,   17  kennen: 

Sub  idem  tempus  levi  initio  atrox  caedes  orta  inter  colonos 
Nucerinos  Pompeianosque ;  gladiatorio  spectaculo,  quod  Livineius 
Regulus,  quem  motum  senatu  rettuli.  edebat.  Quippe  oppidana  lascivia 
in  vicem  incessentes  probra,  dein  saxa,  postremo  ferrum  sumpsere, 
validiere  Pompeianorum  plebe.  apud  quos  spectaculum  edebatur.  Ergo 
deportati  sunt  in  urbem  multi  e  Nucerinis  trunco  per  vulnera  corpore, 
ac  plerique  liberorum  aut  parentum  mortes  deflebant.  Cuius  rei  iudi- 
cium  princeps  senatui,  senatus  consulibus  permisit.  Et  rursus  re  ad 
patres  relata,  prohibiti  publice  in  decem  annos  eiusmodi  coetu  Pom- 
peiani  collegiaque,  quae  contra  leges  instituerant,  dissoluta;  Livineius 
et  qui  alii  seditionem  conciverant,  exilio  multati  sunt. 

Mommsen  hatte  in  der  Behandlung  der  neugefundenen  Quittungen 
(Hermes  12,  1877,  S.  88  ff.,  wiederholt:  Gesammelte  Schriften III,  S.  221  f.) 
sich  der  Erklärung  der  italienischen  Gelehrten  angeschlossen,  S.  125 
=  259:  „daß  dieser  Vorfall  den  Rücktritt  der  zur  Zeit  desselben  in 
Pompeji  fungierenden  Duovirn  herbeiführte,  ist  begreiflich".  Aber 
daraus,  daß  in  der  Quittung  vom  8.  Mai  60  neben  den  neu  eingetretenen 
Duovirn  ein  praefectus  iure  dicundo  erscheint,  hatte  er  in  dem  Abschnitt 
„Die  Präfektur  als  munizipale  Diktatur",  S.  125  =  258  ff.  abgeleitet, 
daß  in  gewissen  Fällen  „neben  zwei  Duovirn  iure  dicundo  ein  praefectus 
iure  dicundo  fungieren  kann*'  und  daß  man  berechtigt  sei,  „zumal  da 
der  dritte  Beamte  ein  gewesener  Duovir  ist,  .  .  .  hier  eine  ungleiche 
Kollegialität  zu  erkennen  und  den  Praefectus  von  Pompeji  und  die 
beiden  Duovirn  von  59/60  gleichzustellen  dem  römischen  Diktator  und 
den  zwei  ihm  zur  Seite  gestellten,  zur  Zeit  machtlosen  Konsuln.  Daß 
auch  die  Diktatur  wie  alle  ältesten  Ordnungen  der  römischen  Republik 
ein  integrierender  Bestandteil  der  von  Rom  aus  geordneten  Munizipal- 
verfassung gewesen  ist,  erfahren  wir  hier  zum  ersten  Mal."  Mommsens 
Aufstellungen  scheinen  allgemeine  Billigung  gefunden  zu  haben,  auch 
bei  Mau,  Pompeji,  S.  12:  „Ein  solcher  (Präfekt)  wurde  auch  ernannt, 
wenn  einmal  besondere  Verhältnisse  eine  außerordentliche  Behörde, 
eine  Art  Diktatur  nötig  machten."  Indessen  erklärt  sich  das  Vorkommen 
des  Praefectus  auf  die  einfachste  Weise,  wie  bei  unseren  Verhandlungen 
sogleich  ein  Teilnehmer,  stud.  Fritz  Blumenthal,  sah.  Mommsen  selbst 
erwähnt  a.  a.  0.  (S.  125  =  259)  die  längst  bekannte  Verwendung  des 
Präfekten,  „wonach  für  den  aus  dem  Amtsgebiet  abwesenden  Ober- 
beamten auf  die  Dauer  der  Abwesenheit  ein  praefectus  eintritt".  Das 
Stadtrecht  von  Salpensa  bestimmt  im  Kapitel  25,  daß,  wenn  auch  der 


—  314   — 

zweite  Duovir  iure  dicundo  die  Stadt  auf  länger  als  einen  Tag  verläßt, 
er  einen  ans  den  über  35  Jahre  alten  Dekurionen  genommenen  Präfekten 
zurücklassen  muß,  und  dieselbe  Bestimmung  bat  sich  teilweise  mit  den- 
selben Worten  in  dem  im  Jahre  1906  im  Legionslager  von  Lauriacum  ge- 
fundenen und  von  mir  in  den  Jahresheften  des  österr.  archäol.  Institutes 
9,  1906,  S.  315  ff.,  veröffentlichten  Bruchstücke  eines  Stadtrechtes  aus 
der  Zeit  Caracallas,  also  des  Anfanges  des  dritten  Jahrhunderts  n.  Chr., 
gezeigt.  Nach  dem  Berichte  von  Tacitus  haben  die  Unruhen  in  Pompeji 
zu  langwierigen  Untersuchungen  und  Verhandlungen  in  Rom  vor  dem 
Kaiser ,  dem  Senat ,  den  Konsuln ,  dann  wieder  vor  dem  Senat  und 
schließlich  zu  empfindlichen  Strafen  für  die  Gemeinde  geführt.  Es  ist 
fast  undenkbar,  daß  die  beiden  obersten  Beamten  nicht  längere  Zeit 
in  Rom  hätten  sein  müssen,  und  unterdessen  mußte  verfassungsmäßig 
in  Pompeji  selbst  ein  Präfekt  eintreten.  Daß  aber  die  Duovirn  durch 
ihre  Abwesenheit  nicht  das  Recht  einbüßten,  daß  das  Jahr  mit  ihrem 
Namen  bezeichnet  wurde,  ist  wohl  selbstverständlich.  So  werden  denn 
auch,  wenn  ein  Duovir,  der  Kaiser  oder  ein  Prinz  das  ganze  Jahr 
hindurch  abwesend  ist  und  durch  einen  Präfekt  vertreten  wird,  beide 
Duovirn  und  der  Präfekt  zusammen  genannt;  zur  Bezeichnung  des 
Jahres:  C.  X  904  aus  dem  Jahre  40/1  n.Chr.  mit  [C.  Caesare]  M.  Epidio 
Flacco  I  quinq(uennaUbus)  M.  Holconio  Macro  j>raef(ecto)  i(ure)  d(icundo); 
sogar  bei  der  Angabe  einer  Amtshandlung:  C.  X  901  aus  dem  Jahre  34 
mit  iussu  [C.  Caesaris]  M.  Vesoni  Marcelli  IIvir(um)  i.  d.,  M.  Lucreti 
Epidi  Flacci  praefecti. 

4.  Die  eben  angeführten  zwei  Inschriften  gehören  zu  der  ziemlich 
viel  Nummern  aus  der  Zeit  vor  729  der  Stadt  =  25  v.  Chr.  bis  40  n.  Chr. 
umfassenden  Gruppe  pompejanischer  Inschriften,  die  vielfach  als  Haupt- 
quelle  für  die  Entwicklung  des  Kaiserkultus  zu  Anfang  der  Kaiser- 
zeit verwendet  wird.  Es  sind  Weihungen  ex  d(ecreto)  d(ecurionum)^ 
auf  Beschluß  des  Gemeinderats,  und  iussu  zweier  Beamtenkollegien, 
nämlich  der  beiden  d(uo)  v(iri)  i(ure)  dßcundo)  und  der  gewöhnlich  mit 
den  Siglen  d.  v.  v.  a.  s.  (einmal,  allerdings  in  einer  Inschrift  einer  anderen 
Gruppe  der  Wahlempfehlung  C.  IV  S  3684,  steht  dafür  sacr.)  p.p.  (einmal 
proc.J  bezeichneten.  Nach  den  Darlegungen  von  Willems,  dem  sich  Mau  an- 
geschlossen hat,  ist  wohl  zu  lesen  d(uo)  v(iri)  v(iis)  a(edihus)  sacr(is)  p(ublicis) 
proc(urandis)  und  sind  diese  Beamten  von  den  Aedilen  nicht  ver- 
schieden. Die  Weihenden  gehören  wohl  alle  dem  Stande  der  Sklaven 
oder  der  Freigelassenen  an  und  ihre  Normal-  und  zugleich  höchste 
Zahl  ist  vier.  In  der  späteren  Zeit,  sicher  seit  dem  Jahre  752  der 
Stadt  =   2    V.    Chr.    nennen     die     Weihenden     sich     gewöhnlich    min. 


•—    315  — 

(ministri)  Aug.  (einmal  C.  X  892  Augusti).  Aber  die,  so  viel  ich  sehe, 
noch,  nie  bezweifelte  Annahme,  die  Weihenden  hätten  früher  ministri 
Mercuri  Maiae  und  dann  ministri  Augusti  geheißen,  erscheint  mir 
keineswegs  sicher.  Mommsen  sagt  allerdings  in  den  Bemerkungen  vor 
der  Sammlung  dieser  Inschriften  C.  X  884 — 923:  Ministri  dicuntur 
nude  in  titulo  omnium  antiquissimo  n.  884,  deinde  ministri  Mercurii 
Maiae  in  tituKs  a.  740  (n.  885  et  886)  et  anni  incerti  n.  887,  item  ministri 
Augusti  Mercurii  Maiae  in  titulo  anni  incerti  n.  888,  deinceps  certe 
ab  a.  752  ministri  Augusti. 

Aber  die  Angabe  ist  nicht  völlig  genau.  Die  größtenteils  identischen 
zwei  Inschriften  des  Jahres  740/14  C.  X  885 .  886  lauten  im  ersten 
Teil:  M.  Sittius  M.  1.  Papia  (so  885;  886  Serapa)  Merc.  Maiae  sacrum 
ex  d.  d.  Die  Bezeichnung  ministri  fehlt  also  und  das  Merc.  Maiae  ist 
der  Dativ  der  Gottheiten,  denen  die  Weihung  gilt.  So  steht  denn  auch 
in  der  im  Jahre  1895  in  der  Nähe  von  Boscoreale  gefundenen  und 
von  Sogliano  Not.  d.  scavi  1895  p.  215  herausgegebenen,  unten  unvoll- 
ständigen Inschrift  nach  den  Namen  von  drei  ser(vi)  und  einem  l(ihertus): 

MERCMAIAE-SACR 
EX-D-DIVSSV 

daher  wird  wohl  in  der  links  und  unten  abgebrochenen  Inschrift 
X  887,  die  durch  ihre  Form  auf  ältere  Zeit  hinweist,  in  den  nach  den 
Namen  dreier  Sklaven  stehenden  Zeilen  4  und  5: 

ri-merc-mai 
\acr-ivssv 

zwar  vielleicht  zu  Anfang  [minisi\riy  dann  aber  Merc{urio)  Mai(ae) 
\s\acr(um)  zu  lesen  sein 

Also  ist  für  ministri  Mercurii  Maiae  kein  einziger  Beleg  vor- 
handen. In  C.  X  888,  die  ich  vorgestern  sehen  konnte,  steht  allerdings 
nach  den  vier  ersten  Zeilen  mit  den  Namen  zweier  Sklaven  und  eines 
Messius  Arrius  luventus,  wohl  eines  Freigelassenen,  als  Zeile  5 

^■^^^AVG- MERC -MAI 

und  es  wird  zu  Anfang  MIN  =  [minßstri)]  zu  ergänzen  sein.  Aber 
die  Formen  der  Buchstaben  scheinen  mir  entschieden  auf  spätere  Zeit 
als  das  Jahr  752  hinzuweisen,  in  welchem  die  Weihenden  sich  schon 
min.  Aug.  nennen.  Ich  möchte  daher  auch  hier  nur  das  [min.]  AYG. 
als  Bezeichnung  der  Weihenden  ansehen  und  demnach  Merc(urlo) 
Mai(ae)  lesen. 

Es  ist  ja  auch  aus  demselben  ersten  Halbjahr,  aus  dem  wir 
bisher  die  Weihung  seitens  zweier   ministri  hatten,  C.  X  892:   Messius 


—  316   — 

Arrius  |  Helenus  |  M.  Devidius    M.  M.  1.  |  [FJaustus   ung(uentarius),   | 
min.  Augusti  |  M.  Numistrio   Frontone    |    Q.  Cotrio  Q.  f.  d.  v.  i.  d.   | 
M.  Servilio  L.  Aelio  |  Lamia  cos.,  neuerdings  die  Weihung  seitens  eines 
dritten  minister   an    eine    bisher   nicht    mit   Sicherheit   zu   benennende 
Gottheit  zum  Vorschein  gekommen,  Not.  d.  scavi  1890  p.  44  =  Ephem. 
epigr.  YIII  p.  87  n.  316  (hier  nach  eigener  Kopie  und  Durchreibung): 
I  :  AA.P.R.DD.  I  GRATYS  •  CAESAE  |  L  •  MINIST  •  IVSSV  | 
Q.COTßlDVI.D  I  C.ANNIMAEYLI  |  D  •  ALFIDI  ■  HYPSAI  | 
DY-YAS-PP  I  M-SERYILIO-L.  AELIO  |  COS 

Danach  ist  die  Frage  noch  nicht  beantwortet,  welcher  Körper- 
schaft diese  anscheinend  jährlich  in  der  Yierzahl  ernannten  ministri 
zuzuweisen  sind.  Wir  sehen  nur,  daß  einzelne  von  ihnen  im  Jahre  740/14 
und  anscheinend  in  ein  paar  anderen  Jahren  dem  Mercur  und  der 
Maja  und  einer  im  Jahre  3  n.  Chr.  der  Gottheit  oder  den  Gottheiten 
A  •  A  •  P  •  R  •  etwas  geweiht  haben,  und  daß  sie  mindestens  vom 
Jahre  752/2  an  sich  min.  Aug.  nennen.  Ob  dies  Aug(usti)  zu  lesen  ist,  ist 
vielleicht  trotz  des  Zeugnisses  von  X  892  zweifelhaft.  Die  ministri 
stehen  gewöhnlich  den  magistri  zur  Seite  und  wenigstens  einmal  hat 
sich  in  Pompeji  ein  mag.  Aug.  gefunden,  in  der  Grabschrift  C.  X  1055 
C.  Novellius  Natalis  mag.  Aug.  Wie  hier  sicher  mag(ister)  Aug(ustalis) 
zu  lesen  ist,  so  käme  für  unsere  Inschriften  auch  die  Lesung  mm(ister) 
Aug(ustalis)  in  Frage  und  das  vereinzelte  AYGYSTI  in  X  892  könnte 
ein  Fehler  sein,    der   vielleicht   auf  dem  Steine  selbst  verbessert  war. 

Am  glaublichsten  erscheint  mir  bis  jetzt,  daß  unsere  Ministri 
einem  Stadtteil  Pompejis,  etwa  einem  Pagus  angehören,  me  nach  dem 
Zeugnis  der  Denkmäler  der  pompejanische  Pagus  Augustus  Felix 
suburbanus  außer  magistri  auch  jährlich  wechselnde  ministri^  und  zwar 
ungefähr  in  derselben  Zeit,  nämlich  im  Jahre  747  der  Stadt  =  7  n.  Chr., 
und  gleichfalls  in  der  Yierzahl  erhielt;  das  beweist  die  Weihung  dieses 
Jahres  C.  X  924 :  Dama  Pup(i)  Agrippae,  |  Manlianus  Lucreti,  |  Anteros 
Stai  Rufi,  I  Princeps  Mescini,  |  ministri  pagi  |  Aug.  Fei.  sub[urb]an.  | 
primi  posie[run]t  |  Ti.  Claudio  Nerone  iter(um)  |  Cn.  Calpurnio  Pisone 
cos.  Es  ist  dasselbe  Jahr  747/7,  in  welchem  die  Yici  der  Hauptstadt 
Rom  einen  aus  jährlichen  vier  Magistri  und  vier  Ministri  bestehenden 
Yorstand  erhielten,  dessen  Tätigkeit  wie  die  der  entsprechenden  Organi- 
sation in  Pompeji  wesentlich  mit  dem  Kaiserhaus  in  Yerbindung  gebrachte 
Kulthandlungen  betraf. 

Rom,  2.  September  1909. 


REGISTER 


(Die  fetten  Zahlen  bezeichnen  die  Seiten.) 


A.  Autoren. 

(*  hinter  einem  Autornamen  verweist  auf  den 
Sachindex.) 

Anth.  Pal.  VII  154  113;  Quellenepigramme 

111 
Antiphanes  Malthake  77 
Apollodor  Bibl.  II  1,  3  if.  26;  IH  15,  7  35 
Archilochus*  Frg.  51  u.  53 B  184 
Aristides  Aelius  XXVI  70  216 
Aristophanes*  Ran.  1357  30 
Aristoteles*  Poet.  c.  5  fin.  2;  1462  a  15, 

c.  5,  1449  b  10  u.  a.  3  ff. 
Asinius  Pollio  Consilia  221    Bruchstücke 

b.  Charisius  227 
Athenaeus  II  43  ff.  (Phylarchus)  108 


Callimacbus  Frg.  5  Sehn.  28 
CatuU  Passer  150;  c.  LI  157 
Charisius  Gr.  L.  I  80,  2  f.  222 
Cicero    Brutus    132,    Erklärung  217;     De 
consiliis  suis  221;  'Ävexöoza  222 


Die  Cassius  LXXIX  10,  1-3  253 
Diodor  IV  60  36;  IV  77  28;    XIX  106,  2 

132 
Diogenes  La.  VI  55  135 


Eudoxusvon  Knidus  s.  Steph.  Byz.  und 
Plinius 


Euripides  Andromache  490  ff.  33;  Hekabe 
557  ff.  308;  Hypsipyle  33;  Kreter  26 

Fronto  S.  126  Nab.  Schreiben   an  L.  Verus 
213 

Geogr.  Gr.  min.  I  97  129 

Heraklides  Städtebilder  129 

Herodot  IV  110  120 

Fragm.  Histor.  Graec.  II  254  129 

Homer  IL  II  145  Schol.  Ven.  A  28 ;  II  585 

121 
Horaz  Carm.  II,  8  f.  178;  I  2,  17  ff.,  13, 

9,  I  4,  5  176;  I  4,  9  f.  178;  I  6,  9  177; 

I  7,    19,   I  9,    11,  I  12,    15  178;    I  12, 

45  f.  177;  I  22,  12  f.  178;  I  28,  4  ff  175; 

I  26,  6  178;    I  28,  15  177;    I  38  178; 

m  5,  27  176;  Epod.  XVI  179 
Hygin  Fab.  40  27 
Hymn.  Orph.  XLIX  p.  84  Abel  102 

Johannes  v.  Damaskus,  Auszüge  aus  Ne- 

mesius  89 
Isigonus    Nie.    (Westermann    Paradoxogr. 

186)  108 

Luc  an  Phars.  IX  411—414  201 
Lucian*   Fugitivi   19  78;    lupp.  trag.    53 

78 ;  Dial.  mer.  79  ff. ;  ticqI  jraQaauov  78 ; 

Pseudolog.  4  78;  Bhetor.  praecept.  12  77 


318   — 


Q.  Lutatius  Catulus,  Sendschreiben  213; 

communes  historiae  218 
Lydus  De  mag.  I  30  222 

Menauder*  Elench.  78;  Epitrep.  78;  251ff. 
80;  497  87;  Kol.  81  f.;  Mis.  82;  Perik. 
78 ff.;  111  85;  Ehapiz.  81;  Thais  77 

Nemesius  s.  Johannes 

„Octavia",  die  röm.  Tragödie  189 
Ovi d  Am.  I  289—326  37 ;  Metam.  XV  321  ff. 
108,  110 

Tansanias  V 19,  1    291;     VIII43,3    246 
Phoinikides  Frg.  4  K  83 
Phylarchus  s.  Athenaeus 
Pin  dar  Päan  für  die  Abderiten  8;  Xem.  VI 

53  299;  Pyth.  IV  12 
Pia  ton*  Charm.  51;    Euthyd.  277  e  ff.  47, 

49;  Gorg.  40,  53;  Laches  51;  Menon  96  d 

4G,  50;   Protag.  38;  Theät.  151  b  47,  50 
Plautus*  Capt.  85  ff.  135 
Plinius  N.  h.  XXXI  16  (Eudoxus)  108 
Plutarch*  Thes.  15  291;  Sert.  8  184;  Moral. 

547  e  85 
Pollio  s.  Asinius 
Polybius  IV  52,  4  131 
Proclus  Comm.  z.  Tim.  II  p.  124  C,  D,  III 

p. 171  C  103 
Properz  18,4164;  IV  3,  51ff.  167;IV5, 

47  ff,  172 

Salin  st  unbenutzte  Handschrift  200 

Salin  st  pseud.  Ad  Caesarem  senem  De  re  pu- 
blica 222;   Invectiva   in   Ciceronem  223 

Sappha  (Syr.  Gr.  2  Bergk)  157 

Seneca  pseud.  Oct.  36  197^;  46  f.  197; 
104  ff.  192  ff:  924  ff.  199 

Sophokles*  Polyidos  366  N.  35 

Steph.  Byz.  'A^avia  (Eudoxos)  108 

Sueton  Tib.  70  36 

Suidas  Alyatov  nelayog  291 

Tacitus*  Ann.  XIV  Bericht  über  Octavia 
189;  XIV  17  313 

Terenz*  Andr.  685  148;  Eun.  267  148; 
737-782  81;  Haut.  321  148;  846,  1066 
147;  Phorm.  73  146;  Handschriften  149 

Theophrast  7;  über  Lusoi  109 


Ulpian  Frgm.  A^at.  220  252 

Varro  L.  L.  V  150  218 

Vergil*  Aen.  IV  381  165;  Georg.  III  293, 
Prob,  zu  —  218 ;  Georg.  IV  563,  Schol. 
Vat.  218;  Georg.  VI  46—60  37;  Hand- 
schriften 149 

Vita  Pii  5,4  246 

Vitruv  VIII  3,  21  108 

„X e  n  0  p h  on"  pseud.  'Adrjv.  noXix.  55 
Zenob.  IV92  27 


Pap yri :  Berl.  Samml.  9588  135;  pap.  Eainer, 
Festschr.  f.  Th.  Gomperz  67  135;  index 
stoiconim  Herculanensis  133 ;  Metiochos 
u.Parthenope  134;  skurrile  Iphigenie  20; 
Moicheutria  22  f. ;  Pindars  Päan  f.  d.  Ab- 
deriten 8 ;  Eechtsurkunden  a.  Oxyrh.  270 

B.  Inschriften. 

I.  Griechische. 
IG  11  5,  314;   444;  446  129;  II  971  128 

VII  2383  126 
OGI  90  131 
GD  I  5349  123 
I.  V.  Priene  313,  67  123 
Prag  er  IGM  215  (aus  Lusoi)  104 
Ath.  Mitth.  IX  28  133;  XXII  126  f.  123; 

XXX  213  129 
Bull.  corr.  hell.  XXIX,  210  f.  123 
Journ.  of  hell.  stud.  XXIII  89  133 
Berl.  Sitz ber.  1904,  917  125 
C.  E.  de  l'acad.  des  inscr.  et  beUes  lettres 

1905,  565  115 
Mova.  X.  ßißX.  T.  evayy.  ayoX.  iv    ZfivQVf] 

1878/80  S.  169  dQ.tftß'  (aus  Gjölde,  Mae- 

onien)  102 
Delphische     Schatzhausfriese,     In- 
schriften 295 
Unveröffentlichte  I.  a.  Menje  (Maeonien) 

103 

II.  Lateinische. 

CIL  I  636  278;  I  p.  281  280  —  III  4416 
249;  ni  5211-5215  246;  III  6179  264; 
III  8169  252;  III  8238  251;  III  13734 
116;  III  p.  886  n.  XLIV  257 ;  III  p.  1960 


319    — 


n.  XIV  2ß2:    III  p.   2213  202    n.  C;   III 
7505  268 ;  cf.  III  7505  269 ;  IV  575,  576, 
581  310;   IV  1227  310;  IV  1679  311; 
IV    2995    (cf.  IV    S  p.  704)   310:    IV  S 
3687    316;    IV   S   6697  310;   IV   S   n. 
CXLIII,  CXLIV  312;   VI  1208  247;  VI 
1333  266;  VI  1377=31640268;  VI  1423 
252;   VIII  2490,  2728,  10230  247;  VIII 
747  2154;  X  885-888  315;  X  892  316 
XI  5743  277 
Ephem.  epigr.  VIII  p.  87  n.  316  316 
Jahreshefte  VI  1930  Beibl.  S.  38  251 
unveröffentlicht:  Erlaß  des  Licinius,  Do- 
bradscha  117 

C.  Sachliches. 

Abdera  Apollon  Derainos  8;  —  n.  Athen  1.0; 
—  u.  Päoner  16;  —  u.  Perser  8ö".  12; 
Abderos,   fj^cog  y.xLaxrjg  v.  Abdera  9 

Abnahmepflicht  d.  Käufers  274 

Achilleus  a.  Schatzhausfrij[^s  in  Delphi  296 

Adamklissi  Brunneninschrit't  114 

L.  Aemilius  Carus,  Legat  v.  Dacia  266,  268 

äyoiviäv  Bedeutung  87 

Ägypten  Krieg  d.  Antoninus  Pius  249; 
Vormundschaft  d.  Mutter  270 

Aineas  a.  Schatzhausfries  in  Delphi  295 

Aithiopis  304 

Alen  d.  Heeres  v.  Dacia  259 

Alexander  d.  Gr.  254;  —  v.  Abonuteichos 251 

„Alcibiades"  -Köpfe  305;  a.  Halikarnaß  in 
London  304 

Allauro  230 

Amor  u.  Psyche,  Märchen  291 

Anaia  125 

dvameafia  im  griech.  Theater  24 

Antilochosa.  Schatzhausfries  in  Delphi 297 

Antiphanes  Malthake  77 

Antisthenes  b.  Piaton  49 

Antoninus  Pius  Dakerkänipfe  264;  maure- 
tanischer Feldzug  246 

Apollon  V.  Delphi  18;  —  Derainos  v.  Ab- 
dera 8 

Apostel  Einbandbild  141 

Archilochos  u.  Aristophanes  6;  —  u. 
Horaz  183,  187 

Ariadne- Knäuel  285 

Aristophanes  u.  Lucian  77 


Aristoteles  Kunstlehre  5 

Asehenurne  mit  Pasiphae  36 

A  s  i  n  i  u  s  PoUio,  neue  politische  Schrift  213, 

Stil  224 
Asklepios-Glykon  252 
Athen  Zerstörung  durch  Xerxes  10 ;   'Äd^rj- 

vaTot  M. 'Arnzoi  131;  'A&rjvdiot    Boicoioi 

129 
Athletenköpfe,  attische,  in  Eoni  305 
avog  Bedeutung  87 
Aurasius  mons  247 
Aurelius  Antoninus,    Marcus,  Germanisch- 

sarmatischer  Krieg  266 
A u 1 0  m e d 0 n  a.  Schatzhausfries  in  Delphi  295 

Bay-ivd-Log,  favJvdiog,  'Yay.iv&cog  118 
Ballett  d.  röni.  Kaiserzeit  34 
Bauernschaft,  leibeigene,  in  Byzanz  u, 

Zeleia  131 
Belgien,  griech.  Codex  a.  —  139 
Blace  (Mösien),  Inschrift  251 
Blaubart  Sage  290 
Bostra  247 

Brankovan  Handschriften,  Wappen  141 
Brautfahrt  Sagenmotiv  288,  292 
Brunnen -Inschrift    a.  Adamklissi    114;    a. 

Lusoi  104 
Byzanz  Krieg  mit  Prusias  131;  leibeigene 

Bauernschaft  131 

Sex.  Calpurnius  Agricola,  cos.  suff.  258, 

268  f. 
Carini  238 
Castellaccio  238 
Chalkidische  Vase  in  Florenz  297 
Charitinnen,  Opfer  d.  Minos  an  d.  —  36 
X^e(vjaafiög  133 
choregische  Inschriften  128 
XOQÖg  ausgelassen  128 
Chorsiai  (Boeotien)  126 
Christus  Einbandbild  141 
Cimbernkämpfe  217 
Cirtae  =  quattuor  coloniae  Cirtenses 

214 
M.  Claudius  Fronto,  Legat  v.  Dacia  266  f.; 

Ti.  lulianus,  cos.  sutl.  258;  Ap.  —  Sabinus 

280 
communes  historiae  (Communis  historia) 

d.  Catulus  218 


—    320 


consilia  Ciceros,  Pollios  221 
constitutum  debiti  proprii  275 
cubare,  dormire  u.  ä,  mit  in  c.  acc.  173 
curator  infirmi  273;  — puberis  minoris  273 
cursus  bonorum  277 

Dacia,  Provinz,  Zwei-  u.  Dreiteilung  256; 
Besatzungstruppen  259  if. ;  Legaten,  Pro- 
kuratoren 256,  265  f.,  268;  Römerkriege 
249,  264 

Daedalus  u.  Pasiphae  27 

Däumlings-Märchen  287,  289,  291 

David  Einbandbild  141 

Dedikationen,  römische  278 

Delphi  Schatzhausfriese  293 

Demeter-Priesterinnen  in  Athen  80 

Aieivvaog,  Atsa?<ovQi6t]g  123 

Diogenes,  Kyniker,  Ausspruch  135 

Diomedes  im  Memnonkampf  300 

Dionysos  a.  Schatzhausfries  in  Delphi  295 

Dioskuren  das.  300 

Dobrudscha  Geographisches  114 

draccena,  dracco  251 

Dramen,  hellenistische  29,  32,  37 

övofioQog  Bedeutung  86 

sa  st.  eva  133 

Ehegerichtsbarkeit,  kirchliche  276 

Ehreninschriften  m.  cursus  bonorum  278, 
281 

E  i  d  des  Schuldners  gegenüber  d.  Bürgen  275 

Einbände  von  Hss.  m.  bibl.  Mittelbildem  141 

EX(pd'EiQead-ai,  ujio-,  sig-,  Bedeutung  87 

Elegien  230 

Eos  a.Vase  298 

ETiayysXXeo^ai  Bedeutung  u.  Gebrauch  130 

Ephebenköpfe,  attische  in  Krakau  302, 
in  Dorpat  u.  in  London  304 

kjiCxQonoi  i'iTOi  xovQäTogeg  273 

Epos  u.  Tragödie  2 

Erb  senstreuen  Märchenmotiv  288 

Eros  u.  Charitinnen  36 

Eryx  235 

Ethnika  z.  Bezeichnung  d.  engeren  u.  wei- 
teren Heimat  130 

Eugen  von  Savoyen,    Prinz,  griech.  Hss. 

d.  Wr.  Hofbibl.  137 
vTiaQVfpog  85 


I    ..Europe"    (Pasiphae)    a.  Sarkophag   34,  36 
Evangelisten  Einbandbild  141 
expeditio  Erläuterung  215 

F  Wiedergabe  118 
Fabula  Prätexta  Octavia  189 
Favorita  230 
Frauen,  Vormundschaft  270 
A.  Furius,  Widmung  v.  Catulus'  Sendschrei- 
ben an  —  219  f. 
Furius  Octavianus  252 
furunculi  =  latrunculi  312 

Genetiv  b.  vixäv  128 
Gerichtsbarkeit,  kirchliche  Ehe—  276 
Gerundiv  attributiv  217 
Geten-Krieg  249 
Getreideversorgung  125 
Gjölde  Inschrift  102 
Glykon  Schlan^ngott  252 
Gorgoneion  Schildzeichen  Achills  2;)8 
Goten  Einfälle  in  die  Dobrudscha  117 
Grab  Stele,  attische  306 
Grimenothyrae  Münzen  283 

Handschriften  Sallusts200;  d.  Terenz  u. 

d.  Vergil   149;    d.  griech.    —    d.  Prinzen 

Eugen  V.  Savoyen  d.  Wiener  Hofbibl.  137 ; 

—    Einbände   m.  bibl.  Mittelbildern  141 
Hansel  u.  Gretel,  Märchen  287 
Heirkte  225,  235 
Hekate  ^otvtxöJieCa  18 
Hera  Baatltoar],  .Weihnng  116 
Herakleides  Städtebilder  129 
Heraklesköpfe   im  Louvre   u.  in  Aequum 

304  f. 
Hermannstadt,  Hss.  a.  —  143 
Hippodameia  im  Phigaliafribs  308 
Hipta  (Hippa),  Meter  102        1 
Hunderassen  135 
Hypsipyle  d.  Euripides  33 

Ixd-voyievtavQoi  in  Tempelgiebel  35 

in  c.  acc,  Zweck  o.  Folge  172;  bei  cubare  u.  ä. 

173 
Inkarnation  Alexanders  254 
Inschriften,   lateinische,    Stilisierung  280 
iocari  Bedeutung  154 


321 


Johannes  Einbandbild  141 
Ionischer  Dialekt,  w-Laut  120 
Jordan,  H.  über  Catulus'  Brief  214 
Isola  delle  Femmine  238 
Inno  (Hera)  u.  Alexander  d.  Gr.  255 
lubilatus,  US  =  iubilum  221 
luppiter  u.  Alexander  d.  G.  255 

Kaiserkult  314 

Kantakuzen  Konstantin,    Hss.  des  —  140 
Karte,   Welt—   in  Sallusthandschrift  201^ 
xdoTO)Qy  KäaxoiQ  121 
xad'iaTO.vat  xbv  oItov  125 
Kaufpreis    f.   Steuerrückstände     beschlag- 
nahmt 274 
Kaufrecht,  römisches  274 
xrjöe^öveg,  ol  aad-'  tjXtHtav  —   273 
xey.TTjfiivrj   „Herrin"   86 
Kephisodot  d.  Ä.,  Herakles  304 
Kirchliche  Ehegerichtsbarkeit  276 
Knidier  Schatzhaus  in  Delphi,  Friese  293 
Kohorten  d.  Heeres  v.  Dacia  259 
Komödie,  Neue,  u.  Lucian  77 
Konjunktiv,  Optativer,  d. Impf. u. Plqupf. 

ohne  utinam  152 
>covQOTQÖq)0£  Wortgebrauch  86 
Kreter  d.  Euripides  26 
Kypseloskasten  Ariadne  291 

Labyrinth  289 

Lambaesis  247 

Xaoi  ßaaiXiyiOi,  Xewg  aihoixog  131  f. 

lata  (Neutr.  plur.)  substantiviert  221 

latrunculi  Spiel  312 

Legaten   v.  Dacia,    prätorische  256,  265, 

268;  consularische  266,  268 
Legionen:  Y  Macedonica  in  Moesia  inferior 

264,  nach  Dacia  verlegt  261,  268;  VIII 

Gemina  in  Dacia  265 
Leukippiden-Raub   im  Schatzhausfries  v. 

Delphi  300 
Licinius  Erlaß  117 
Xi&eia  133 
Lucian    u.   d.   Neue    Komödie    77:    —    u. 

Flautus-Terenz,  Personennamen  83 ;  —  u. 

Piaton  88 
Lusoi  Brunneninschrift  104 
Q.  Lutatius  Catulus,  Cimbemkämpfe  217; 

Sendschreiben  213;    Communes  historiae 

218 

Wiener  Eranos. 


Lycaon  äthiopischer  Wolf  122 
Lysimachus  Koraödiendichter  78 

Macrinius  [Vindex?],  Statthalter  (Proku- 
rator?) v.  Dacia  Porolissensis  261,  265 

Maeonien  Inschriften  102 

Malta  Märchen  286 

Maria  Einbandbild  141 

Mari  US  u.  Catulus  218 

Matthias  v.  Myra,  Werke  143 

Mauretanischer  Feldzug  d.  Antoninus 
Pius  246 

Maurokordato  Nikolaus,  Hss.  d.  —  142 

M  e  i  s  t  e  r  h  a  n  s-Schw3^zer,  Grammatik  d.  att. 
Inschr.  128 

Meklenburg  Märchen  287 

Melamphyllon  Teierschlacht  16 

Meletius  u.  Nemesius  89 

Memnon  in  Schatzhausfries  v.  Delphi  296 

Menander  b.  Lucian  77 

Menschenfresser  u.  Minotaurus  287 

mereri,  meritum,  sjTionym  m.  donari,  donum 
(merces)  217 

M  i  1  i  t  ä  r  d  i  p  1 0  m  e ,  dakische  257  ff. ;  Formular 
262,  264 

ministri  in  Pompeji  314 

Minos  und  Pasiphae  26;  Opfer  d.  —  auf  d. 
Pasiphae-Sarkophag  34 

Minotaurus  26;  —  u.  Menschenfresser 287 

Mithras  Verehrung  befohlen  117 

Mondello  226 

Mösien  Volksglaube  251 

Münzen  v.  Grimenothyrae  283 

Munizipalinschriften  a.  Pompeji  309 

Musen  yXvxvfiäxcivoi  18 

Namen  b.  Lucian  u.  in  d.  Komödie  83;  Per- 
sonen- u.  Tier  —  122 ;  römische  — gebung 
253,  280 

naturale  negotii  274 

veofxrjvia  günstige  Vorbedeutung  17 

Nestor  im  Schatzhausfries  v.  Delphi  296 

vixäv  c.  gen.  128 

Niobide  d.  Banca  Commerciale  307 

"Oa^og,  ViTvXog,  'Odevg  120 
Octavia  fabula  praetexta  189 
'OiXevg,  'OiXidörjg  :  'IXet'fg,  IXiddrjg  1 21 
OiTvXog ,  Behvlog  121 
wfiog,  ömsos  124 

21 


322 


övva,  divt'i,  wvog  124 

Oropos  129 

Orden,  Deutscher,  Volkssage  290 

otium  Bedeutung:  161 

Pankrati astenköpfe    in  Berlin  und 
Güttingen  305 

Panormus  226 

Päoner  u.  Abderiten  16 

Parasiten  b.  Lucian  78 

naQ  ai)iö  127 

naQeniyQacpai  20 

Paros  Tempel  d.  Charitinnen  36 

Pasiphae  26:  Darstellungen  33 

St.  Paul  (Kärnten),  Sallusthandschrift  200 

Pauson  Rhyparograph  7 

Pellegrino  monte  225,  234 

TT SQivo  avelv  rrjv  olxovf.iEvr}v  135 

Pompeji  Municipalinschriften  309 ;  ministri 
316 

praefectus    iure     dicundo    neben    duoviri 
iure  dicundo  313 

Perser  in  Thrakien  12 

Pertica  226 

Phigaliafries  Hippodameia  308 

Philodem,  Epikureer  1 

Philostephanos  Quelle  Diodors  29 

(piXöd-eog  134 

Phrygische  Münzen  283 

Piaton  u.  Prodikos  38;  —  Vorbild  d. 

Lucian  88 
Plautus  u.  Lucian  83 
Plutarch  u.  Horaz  184 
noXiri-aa  öw/uara,  nicht  TroXe^uau  132 
Pollio  s.  Asinius 
Prätoren,  städtische,  Amtstitel  281:  pere- 

grine  282 
Praxitelische  Köpfe  305 
Preußen  Volkssagen  288,  290 
Priamos(?)  im  Schatzhausfries  v.  Delphi 

296 ;  a.  schwfg.  Vase  299 
Prodi  kos  b.  Piaton  38 
Prokuratoren  in  Dacia,  Finanzbeamte  256, 

268;  präsidiale  256,  265,  268 
TiQoXafxßdveiv  Bedeutung  127 
Prusias  Krieg  m.  Byzanz  131 
Puppenspiel,  griechisches  23 

Uuaestoren,  städtische,  Amtstitel;  277 
Kompetenz  278 


Quellenepigramme  111 
Quo  mihi?  170 


Ragazaki -Märchen  288 
Räubersagen  287 

Rom,  sallustianische  Gärten,  Niobide  307 
Rotes  Meer,  Aufstand  am   —  249 
QVfxög  Bedeutung  286 

Sabazios  102 

Sage  V.  Ai-iadne-Knäuel  u.  ä.  285 

S  a  1  d  a  e  Räuberunwesen  247 

Salgfräulein  Sage  285 

Sallust-Handschrift,  unbenutzte  200 

S also  via  Inschrift  117 

Samos  Gesetz  ü.  Brotkorn-Beschaffung  125 

Sardanapal  163 

Sarkophag,  Pasiphae  —  34 

Satyrspiel  7 

Scala  des  M.  Pellegrino  226 

Schildzeichen  Achills  298 

Schlangengötter  251 

Seneca  pseud.  Octavia  189 

Serban  II.  Handschrift  142 

Sferracavallo  240 

Sklaven  in  d.  Komödie  80 
Skopasische  Köpfe  (Meleager)  306 
Sokrates  u.  Prodikos  42  ff', 
solaciolum  Bedeutung  154 
Soldatenliebe  in  d.  Komödie  81 
Söldner  in  d.  Neuen  Komödie  80 
Sophokles  Satyrspiel  7;   —  Elektra  und 

(Senecas)  Octavia  189 
Steuereintreibung  in  Rom  274 
süus  statt  eins  153 


Tacitus  und  (Senecas)  Octavia  189 
zäXav  Bedeutung  86 
TaQavTtvidiov  85 
Teier  Schlacht  b.  Melamphyllon  16 
Terenz   Handschriften  149;    Konstruktions- 
hilfen 148;   —  u.  Lucian  83 
Theaterexemplare,  griechische  21 
Theseus  u.  Ariadne  285 
Thetis  a.  Vase  298 
Thrakien,  d.  Perser  in  —  12 
Tirol  Sagen  285,  290 


^2;\ 


ToTg  st.  oU  129 

Torretta  238 

Tragödie  u.  Epos  2 

Trajanopolis  283  f. 

Trapani  235 

Tri  tone  in  Tempelgiebel  34 

Tropaeum,  Municipium  —  115 

tutor  impuberis  273 

Tympanismoi  a.  griech.  Bühne  20 

Urkunden  (Gesetze),  römische  277,  281 
utinam  fehlt  b.  coni.  opt.  impf.  u.  Plqpf.  152 

vaccinium,  växivd-og  118 

T.  Varius  Clemens,  Prokurator  247 

Vase,  chalkidische  in  Florenz  n"  1784  297; 

schwarzlig.   im  Mus.  Gregor.  II  28    299: 

— n  m.  Darstellung   des  Memnonkampfes 

297 
vento  ire  1G5 
Vergil     Handschriftliches     149;    Virgilius, 

Zauberer  288 


L.  Verus,  Schreiben  Frontos  an   —  213 

vir  clarissimus  281 

Virgilius  s.  Vergil 

Vladulas  Grammaticus,    Handschrift  d.  — 

141 
Vormundschaft  d.  Mutter  in  Ägypten  270 

Walach ai,  Handschriften  a.  d.  —  139 

Wappen  Brankovans  141 

Wendische  Sagen  288  f. 

AVien,  Hofbibliothek,    griech.  Handschriften 

des  Prinzen  Eugen  v.  Savoyen  137 
Wortschatz    b.  Lucian    u.  d.  Komikern  85 

"^Y^äxivd-og,  fäytivd-og  118 

deoi,  vsaiäna:  feat,  featäxa  120 

vTioy Qa(pevg  eines  Schwachsichtigen  273 

vjionQcveaß^ac  Bedeutung  u.  Gebrauch  130 

V QEiyaXsov,  fgrjyaXsov  120 

Zeleia,  leibeigene  Baueraschaft  132 
Zenon,  Stoiker  133 


Druckfehler-Berichtigung. 

S.  256,  Z.  6  V.  u.:  (S.  2G5,  A.  3  st.  A.  28). 

,  264,  Anm.  1,  Z.  3  v.  u. :  (vgl.  oben  S.  262,  A.  3  st.  263,  A.  20). 

„  281,  Anmerkungen:  4  st.  14. 

„   283,  Z.  12  V.  o. :  ^lazoQCa  st.  'leiogia. 

„  310,  Z.  8  V.  u. :  Cen-inium  st.  Cerrunium. 

-  311,  Z.  6  V.  u. :  angemessen;  aber  st.  angemessen  oder. 

.  314,  Z.  15  V.  u. :  von  729  st.  vor  729. 

„  314,  Z.  8  V.  u. :  Gruppe,  der. 

„   315,  Z.  10  V.  u. :  Inventus  st,  luventus. 

,.  316,  Z.  1  V.  o. :  Decidius  st.  Devidius. 

..   318,   Sp.  2:   XpTKtphmi   st.  ..Xenophon". 


21* 


Die  Heliogravüre  des  Titelblattes  gibt  eines  der  reizvollsten  Werke  römischer  Klein- 
kunst wieder,  das  der  Boden  Camuntums  spendete.  Es  ist  ein  bronzenes  Köpfchen  der 
Athena  Parthenos,  das  bei  Feldarbeiten  auf  der  Burgbreite  unweit  des  Pälffyschen  Gartens 
im  Frühlinge  1903  zutage  kam.  Nach  seinem  regelmäßig  begrenzten  Halsrande  rührt  es 
nicht  von  einer  Statuette  her,  sondern  war  für  sich  gearbeitet  und  bestimmt  in  einen 
Hermenschaft  aus  Marmor,  Holz  oder  Elfenbein  eingelassen  zu  werden. 

Dünn  und  rein  im  Gusse,  sorgfältig  geglättet  und  ziseliert  und  mit  Silb3r  maßvoll 
inkrustiert,  hat  das  nur  007  hohe  Köpfchen  die  Reize  eines  kleinen  Kabinettstückes.  Aus 
Silber  sind  die  Rankenomamente  des  Stirnstulpes ,  die  Augenbrauen  und  die  Augen ,  doch 
löste  sich  ihr  einstiger  Belag  aus  seinen  vertieften,  scharfumrissenen  Betten.  Die  fehlenden 
Helmbüsche  waren  gesondert  gegossen  und  mit  Hilfe  von  Zäpfchen  in  die  Rücken  der  den 
Helm  bekrönenden  Tiere  eingesetzt.  Wie  der  mittlere  die  seitlichen  Büsche  an  Größe  über- 
ragt, so  ist  auch  das  für  seine  Aufnahme  bestimmte  Loch  im  Rücken  der  Sphinx  nicht 
unbeträchtlich  größer  und  tiefer  als  die  Stiftlöcher  im  Rücken  der  Flügelpferde. 

Gleichwie  bei  anderen  Darstellungen  der  Athena  Parthenos  beschränkt  sich  das 
Gemeinsame  der  Camuntiner  Bronze  und  des  berühmten  Tempelbildes  auf  diese  drei 
Fabeltiere,  den  Trägem  ebensovieler  Helmbüsche.  Aus  der  Fülle  des  übrigen  Zierrates,  den 
Phidias'  Statue  bot,  hat  der  Bildner  des  Köpfchens  mit  Takt  und  feinem  Bedacht  gewählt, 
was  für  sein  kleines  Werk  dienlich  war  und  sich  gehütet,  es  mit  Details  zu  überladen.  Auch 
folgt  er  in  der  Modellierung  des  Antlitzes  nicht  dem  Stile  des  großen  Meisters,  obgleich  er 
über  dem  mehr  schmächtigen  als  vollen  Gesichte  mit  der  schlanken  Nase,  den  mandelfcirmigen 
Augen,  dem  zarten  Munde  und  dem  kräftig  runden  Kinne  einen  Hauch  herber  altattischer 
Anmut  zu  breiten  wußte.  Man  wird  dem  Bronzeköpfchen  die  Eigenart  nicht  bestreiten.  Dim 
kommt  ein  selbständiger  Kunstwert  zu,  für  den  wir  Kopistentreue  nicht  eintauschen  wollten. 

Vgl.  Robert  v.  Schneider  Jahreshefte  YII,  151,  Taf.  I,  dessen  Ausführungen  die  obige 
Beschreibung  im  Wortlaute  entnommen  ist. 


Druck  von  GottUeb  Gistel  &  Cie.,  Wien. 


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V33 


Wiener  Eranos 


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